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German Pages 1564 Year 2015
Tipke /Lang · Steuerrecht
Steuerrecht begründet von
Prof. Dr. Klaus Tipke Universitätsprofessor (em.) in Köln
fortgeführt bis zur 20. Aufl. u.a. von
Prof. Dr. Joachim Lang Universitätsprofessor (em.), Rechtsanwalt u. Steuerberater in Köln
fortgeführt von
Prof. Dr. Roman Seer Universitätsprofessor an der Ruhr-Universität Bochum
Prof. Dr. Johanna Hey Direktorin des Instituts für Steuerrecht der Universität zu Köln
Dipl.-Kfm. Heinrich Montag Generalbevollmächtigter und Bereichsleiter Steuern der E.ON SE
Prof. Dr. Joachim Englisch Universitätsprofessor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Prof. Dr. Joachim Hennrichs Universitätsprofessor an der Universität zu Köln
22. neu bearbeitete Auflage 2015
Vorauflagen: 1. Auflage 1973 2. Auflage 1974 3. Auflage 1975 4. Auflage 1977 5. Auflage 1978 6. Auflage 1978 7. Auflage 1979 8. Auflage 1981 9. Auflage 1983 10. Auflage 1985 11. Auflage 1987
12. Auflage 1989 13. Auflage 1991 14. Auflage 1994 15. Auflage 1996 16. Auflage 1998 17. Auflage 2002 18. Auflage 2005 19. Auflage 2008 20. Auflage 2010 21. Auflage 2012
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-20147-0 (geb.) ISBN 978-3-504-20148-7 (brosch.) © 2015 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Jan P. Lichtenford, Mettmann Satz: Schäper, Bonn Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany
„Die gerechte Verteilung der Gesamtsteuerlast auf die einzelnen Bürger ist ein Imperativ der Ethik … Die vornehmste Aufgabe eines Rechtsstaates ist es, für gerechte Regeln zu sorgen und sie durchzusetzen, seine Bürger vor Unrecht zu schützen.“
Klaus Tipke Die Steuerrechtsordnung, 1993, S. 261
Bearbeiter Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung (§ 1) Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung (§ 2)
Prof. Dr. Roman Seer
System des Steuerrechts und Steuerverfassungsrecht (§ 3)
Prof. Dr. Johanna Hey
Europarechtliche Grundlagen des Steuerrechts (§ 4) Rechtsanwendung im Steuerrecht (§ 5)
Prof. Dr. Joachim Englisch
Allgemeines Steuerschuldrecht (§ 6)
Prof. Dr. Roman Seer
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht (§ 7)
Prof. Dr. Johanna Hey/ Prof. Dr. Joachim Englisch
Einkommensteuer (§ 8)
Prof. Dr. Johanna Hey/ Prof. Dr. Roman Seer
Bilanzsteuerrecht, Mitunternehmerschaften (§§ 9, 10)
Prof. Dr. Joachim Hennrichs
Körperschaftsteuer (§ 11)
Prof. Dr. Johanna Hey
Gewerbesteuer (§ 12)
Dipl.-Kfm. Heinrich Montag
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung (§ 13)
Prof. Dr. Johanna Hey/ Dipl.-Kfm. Heinrich Montag
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht (§ 14)
Dipl.-Kfm. Heinrich Montag
Erbschaft- und Schenkungsteuer (§ 15) Grundsteuer/Vermögensteuer (§ 16)
Prof. Dr. Roman Seer
Umsatzsteuer (§ 17) Spezielle Verkehr- und Verbrauchsteuern (§ 18)
Prof. Dr. Joachim Englisch
Steuervergünstigungen, Gemeinnützigkeit (§§ 19, 20)
Prof. Dr. Johanna Hey
Steuerverfahrens- und Steuerstrafrecht (§§ 21–24)
Prof. Dr. Roman Seer
Zitierempfehlung Bearbeiter in: Tipke/Lang22, Steuerrecht, § … Rz. …
Vorwort zur 22. Auflage Die Steuerpolitik hat die in der letzten Dekade aus den Reihen der Steuerwissenschaften unterbreiteten, teilweise sehr ambitionierten Reformvorschläge nicht erhört. Waren zu Beginn der 17. Legislaturperiode mit der Ankündigung etwa einer Reform der Kommunalfinanzen oder der Streichung von Umsatzsteuerprivilegien noch gewisse Erwartungen geweckt worden, hat die nunmehr regierende Große Koalition aus CDU, CSU und SPD von vornherein für die 18. Legislaturperiode auf Reformperspektiven gänzlich verzichtet und stattdessen die „Verlässlichkeit der Steuerpolitik“ in den Vordergrund gestellt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass seit dem Erscheinen der 21. Auflage keine Gesetzesänderungen zu verarbeiten gewesen sind. Im Gegenteil, auch die derzeitige Gesetzgebungsmaschinerie lässt es an kleinteiliger, technokratischer Arbeit nicht mangeln. So mussten wir viele Detailregelungen in der Neuauflage unter systematisch-kritischer Reflektion verarbeiten. Dies ist auf dem Stand des 31.12. 2014 geschehen. Im materiellen Steuerrecht sind beispielhaft der Verzicht auf eine moderne Gruppenbesteuerung zugunsten einer nur „kleinen Organschaftsreform“, die Besteuerung von Streubesitzdividenden, die umsatzsteuerlichen Regelungen zur Steuerschuldnerschaft und zum Ort elektronischer Dienstleistungen sowie zum „Mini-One-Stop-Shop“ zu nennen. Das Gesetz zur Stärkung des Ehrenamts hat Erleichterungen im Gemeinnützigkeitsrecht mit sich gebracht. Die Möglichkeit der Selbstanzeige ist einerseits noch einmal verschärft, anderseits aber auch wieder erleichtert, jedenfalls aber durch die Erweiterung von Zuschlägen sichtlich verteuert worden. Gerade in dem strafrechtlich sensiblen Umfeld scheint die Steuerpolitik von kurzfristigen Stimmungen geprägt zu sein. Wenn überhaupt, sieht sie sich derzeit nur im Bereich des Steuerverfahrens in der Lage, zu neuen Ufern aufzubrechen. Hier ist die Elektronifizierung der Steuerverwaltung besonders hervorzuheben. Dabei hebt sich der vor Jahren noch für unmöglich gehaltene, rasante Ausbau des grenzüberschreitenden Auskunftsverkehrs von den im Bereich des materiellen Steuerrechts zu beobachtenden Beharrungskräften signifikant ab. Die Steuerrechtsanwender leiden nach wie vor unter der hohen Komplexität des geltenden Steuerrechts. Auf die nationale Steuerrechtsordnung wirkt zunehmend das Europarecht ein; mittlerweile ist nahezu jede steuerrechtliche Materie – nicht nur das Umsatz- und Verbrauchsteuerrecht – davon erfasst. Zudem setzt das nationale Verfassungsrecht der Gestaltungsmacht des Gesetzgebers Grenzen. Vernachlässigt der Gesetzgeber insoweit seine Verantwortung für das geltende Recht, bleibt nur das BVerfG, um eine Änderung herbeizuführen, wie das aktuelle Beispiel der Erbschaft- und Schenkungsteuer zeigt. Ein ähnliches Schicksal ist für die Grundsteuer zu erwarten. Aber auch der Bundesfinanzhof als das höchste nationale Fachgericht in Steuersachen hinterlässt erhebliche Spuren, wie das Beispiel der Judikatur zum sog. subjektiven Fehlerbegriff zeigt. Gerade wenn sich die Steuerpolitik in kasuistischen Einzelregelungen übt, bedarf es einer Steuersystemlehre, die den Wald vor lauter Bäumen erkennen lässt. Hierfür steht unverändert das von Klaus Tipke begründete und von Joachim Lang bis zur 20. Auflage fortgeführte Werk nunmehr in dritter Generation. Nachdem die 21. Auflage den Übergang mit einer Reihe konzeptioneller Neuerungen zu bewältigen hatte, stand die 22. Auflage im Zeichen der Konsolidierung des gefundenen Konzepts und der umfassenden Aktualisierung. Unser Dank gilt dem Verlag Dr. Otto Schmidt und der zuverlässigen, angenehmen Lektoratsbetreuung durch Frau Dr. Sabine Kick. Sie hat den Terminplan koordiniert, überwacht und für die notwendigen Abstimmungen der einzelnen Kapitel gesorgt. An den beteiligten Lehrstühlen haben sich die wissenschaftlichen Mitarbeiter und studentischen Hilfskräfte durch Recherchen, Fundstellenkontrollen und Korrekturlesearbeiten sehr engagiert um das Werk verdient gemacht. Eine besondere Verantwortung übernahm dabei der wissenschaftliche Mitarbeiter des Kölner Instituts Matthias Modrzejewski vor allem in der redaktionellen Schlussphase.
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Aus dem Vorwort zur 21. Auflage
Ihnen allen gebührt der Dank ebenso wie Herrn Alexander Witfeld (Bochum), der mit großer Sorgfalt erneut das Stichwortverzeichnis erstellt hat. Köln und Bochum, im März 2015
Johanna Hey
Roman Seer
Aus dem Vorwort zur 21. Auflage Zwischen der 20. und der 21. Auflage liegen statt der üblichen zwei Jahre diesmal drei Jahre. Dies hat zwei Gründe. Zum einen sah es zu Beginn der 17. Legislaturperiode so aus, als müssten große Reformgesetzgebungen in der Neuauflage verarbeitet werden. Diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Zum anderen war ein Generationenwechsel zu bewältigen. Unser verehrter Lehrer Joachim Lang und der langjährige Autor Wolfram Reiß hatten schon seit längerem ihr Ausscheiden in der 21. Auflage angekündigt. Vor allem die bisher von Joachim Lang mit einzigartiger Schaffenskraft bewältigte Stofffülle machte es erforderlich, das Autorenteam neu aufzustellen und die Zuständigkeiten neu zuzuschneiden. Wir freuen uns, dass es gelungen ist, für die Neuauflage Joachim Englisch, der sich als einer der führenden deutschen Umsatzsteuerspezialisten auch international eine Namen gemacht hat, für die indirekten Steuern, namentlich die Umsatzsteuer, zu gewinnen. Aus seiner Feder stammt zudem ein neuer Grundlagenteil zum Einfluss des Europarechts auf das Steuerrecht. Unser Kölner Kollege Joachim Hennrichs übernimmt als anerkannter Bilanzsteuerrechtler von Johanna Hey die Gewinnermittlung und die Besteuerung der Personenunternehmen. Auf diese Weise war es möglich, die Teile von Joachim Lang wie folgt zu verteilen: Die Einführungskapitel sowie die finanzverfassungsrechtlichen Grundlagen werden zukünftig von Roman Seer geschultert. Joachim Englisch bearbeitet die Rechtsanwendung im Steuerrecht. Johanna Hey nimmt sich künftig der Darstellung der verfassungsrechtlichen Grundlagen sowie der Einkommensteuer an. Ansonsten bleibt alles beim alten. Heinrich Montag führt in bewährter Manier die Abschnitte zur Gewerbesteuer und zur Unternehmensbesteuerung fort. Mit dem neuen Autorenteam hoffen wir, das Werk von Klaus Tipke und Joachim Lang erfolgreich fortzuführen und fortzuentwickeln. Der von Klaus Tipke bereits in der ersten Auflage erhobene und von Joachim Lang bei Übernahme der 12. Auflage bekräftigte Anspruch, dem real existierenden Steuerchaos Prinzipien und Strukturen einer Steuersystemlehre entgegenzusetzen, dient uns weiterhin als Leitbild gerade auch in einer Besteuerungswelt, die an Komplexität deutlich zugenommen hat. Die personelle Neu- und Umbesetzung haben wir zudem für eine Reihe konzeptioneller Neuerungen genutzt, einzelne Abschnitte zusammengelegt oder neu platziert, um Sinnzusammenhänge noch deutlicher zu machen. Hierzu haben wir im vorderen Teil einige kleinere Paragraphen zusammengelegt. Das bisher im hinteren Teil des Buchs behandelte Unternehmensteuerrecht haben wir in den §§ 10–14 an die Darstellung der Einkommen- und Körperschaftsteuer herangerückt. Einen neuen Abschnitt gibt es zur Grund- und Vermögensteuer, in dem Roman Seer derzeit vor allem die Grundsteuer behandelt, in dem aber auch Raum ist für neue vermögensbezogene Abgaben, die derzeit in der politischen Debatte eine Renaissance erleben. Trotz einer durch absolute Reformunfähigkeit geprägten Legislaturperiode war in der vorliegenden 21. Auflage aber auch inhaltlich wieder viel zu tun. Denn die Probleme werden durch die Untätigkeit der Politik nicht weniger, allenfalls bleibt mehr Zeit, sie wissenschaftlich aufzuarbeiten. Die ungelöste Staatsschulden- und Eurokrise lenkt alle Aufmerksamkeit auf die Haushalts- und Währungspolitik. Der Finanzminister hetzt von einem Krisengipfel zum nächsten. Dies mag
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Aus dem Vorwort zur 19. Auflage
einer der Gründe sein, warum von den hochfliegenden steuerpolitischen Ankündigungen des Koalitionsvertrags von CDU/CSU und FDP vom 26.10.2009 nichts in die Tat umgesetzt wurde. Dabei hatte die Politik zu Beginn der 17. Legislaturperiode hohe Erwartungen geweckt: Reform der Kommunalfinanzen, Streichung von Umsatzsteuerprivilegien, Einführung einer modernen Gruppenbesteuerung. Drei Jahre später ist die Bilanz ernüchternd. Die Kommission zur Reform der Kommunalfinanzen hat ihre Arbeit vorzeitig eingestellt. Die Umsatzsteuerreform wurde wegen der politisch als nicht aushaltbar eingestuften verteilungspolitischen Debatten gar nicht erst in Angriff genommen, und selbst eine verhältnismäßig begrenzte Maßnahme wie die Abschaffung des Gewinnabführungsvertrages für Zwecke der körperschaftsteuerrechtlichen Organschaft hatte keine Verwirklichungschancen. Das Steuervereinfachungsgesetz 2011 verdient seine Namen nicht. Der Entwurf eines Gesetzes zum Abbau der kalten Progression hängt im Vermittlungsausschuss fest. Die Länder werden in ihrer Blockadehaltung durch das 2020 infolge der Schuldenbremse einzuhaltende Nullverschuldungsgebot geeint. Überhaupt stehen die Zeichen trotz eines sich nach dem konjunkturellen Einbruch 2009/2010 überraschend schnell erholenden Steueraufkommens überall auf Steuererhöhung. Köln und Bochum, im August 2012
Johanna Hey
Roman Seer
Aus dem Vorwort zur 19. Auflage Es gibt kein Rechtsgebiet, das so änderungsanfällig ist wie das Steuerrecht, und zwar nicht nur hierzulande. Die Loseblattkommentierung von Steuergesetzen ist nicht in Deutschland, sondern in den USA erfunden worden. Die steuerlichen Normsysteme sind in sehr vielen Ländern zersplittert und hochkompliziert. Das hängt mit der Vielfalt von Interessenkollisionen zusammen, auf der einen Seite divergierende fiskalische Interessen vieler Steuergläubiger auf föderaler, regionaler und lokaler Ebene und auf der anderen Seite die Gruppeninteressen der Steuerzahler, die mit unterschiedlicher lobbyistischer Kraft durchgesetzt werden. Jeder Steuerrechtler, der sich mit ausländischen Steuerrechtsunordnungen befasst hat und noch die deutsche Sprache beherrscht, lernt die Kernstruktur des deutschen Steuerrechts schätzen, das vor einem Jahrhundert noch Vorbild war. Die Abgabenordnung von Enno Becker wurde in viele Länder importiert. Es gibt keinen Steuerrechtler weltweit, der die Ordnung des Steuerrechts tief greifender herausgearbeitet hat als Klaus Tipke. Es gibt im Ausland kein dreibändiges Werk über die „Steuerrechtsordnung“. Noch in den 1990er Jahren suchten die mittel- und osteuropäischen Regierungen nach dem Zusammenbruch des Sozialismus deutschen Rat. Wir mussten sie davon überzeugen, dass die deutschen Steuergesetze kein Vorbild mehr sein können. Ich entschloss mich, den dogmatisch gesunden Kern des deutschen Steuerrechts in dem „Entwurf eines Steuergesetzbuchs“ zu verdeutlichen. Eine Reihe von Haushaltsministern – einen Steuerreformminister wie Johannes von Miquel und Matthias Erzberger kennt die Geschichte der Bundesrepublik nicht – sowie eine tages- und lenkungspolitisch ausgerichtete Steuergesetzgebung hat das deutsche Steuerrecht im Stakkato der Steueränderungsgesetzgebung so zerstört, dass es in regelmäßigen Umfragen des World Economic Forum auf den letzten Plätzen landet. Auch die gegenwärtige Koalition hat ihre Reformversprechen nicht eingehalten. Sie hat im Gegenteil einen steuersystematischen Scherbenhaufen produziert und den Trend zur Experimentiergesetzgebung verstärkt. Die Wettbewerbsfähigkeit eines Steuersystems erschöpft sich nicht in niedrigen Steuersätzen, sie lebt ebenso von Einfachheit, Transparenz, Planungssicherheit, Entscheidungsneutralität und einer Art von Gerechtigkeit, die den Steuerzahler nicht fiskalisch oder ideologisch beliebig schröpft, sondern Prinzipien der Steuergerechtigkeit wie das Leistungsfähigkeitsprinzip und
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Aus dem Vorwort zur 12. Auflage
das Nettoprinzip folgerichtig verwirklicht. Die Unfähigkeit, das deutsche Steuerrecht zu seinem früheren internationalen Ansehen zurückzuführen, mündet in Einmauerungspolitik zur Sicherung von Steuersubstrat, was im Ausland mittlerweile belächelt wird. Ein Schweizer Kollege bemerkte schmunzelnd, die Steuerpolitik der Deutschen erinnere ihn an den Mauerbau der DDR, die auch unfähig gewesen war, ihre Bürger im Land zu halten. Besonders ärgerlich ist, dass die Verrottung des deutschen Steuerrechts der Steuerhinterziehung einen spieltheoretisch positiven Wert vermittelt und sich dabei die Bankenbranche unserer Nachbarländer die Hände reibt. Die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs ist gegen Einmauerungspolitik gerichtet. Der EuGH schält seine Vision eines europäischen Raumes ohne Binnengrenzen und seine Rechtfertigungsdogmatik immer klarer heraus. Er weist die Steuersubstratmentalität der Mitgliedstaaten in die Schranken, kann allerdings nicht zu einem Hoffnungsträger für die Verbesserung nationalen Steuerrechts hochstilisiert werden. Hierfür ist er nicht zuständig. Die deutschen Finanzgerichte leisten zunehmend Widerstand gegen eine verfassungsfremde Steuergesetzgebung, u.a. gegen die Verletzung von Normenklarheit und -bestimmtheit, die Missachtung des Nettoprinzips und die Benachteiligung von Arbeitnehmern. Das Richterrecht ist wesentlicher Faktor der Rechtsdogmatik, die auch das Steuerrecht beanspruchen darf. Die systematisch-kritische Darstellung des Steuerrechts bildet das Hauptanliegen dieses Lehrbuchs, das den Umfang eines „systematischen Grundrisses“ (so der Untertitel bis zur 13. Auflage) mittlerweile weit überschritten hat. Seit der Übernahme des Lehrbuchs von meinem verehrten Lehrer Klaus Tipke im Jahre 1989 haben die Materien dramatisch zugenommen, nicht zuletzt wegen der Sündenfälle der deutschen Steuergesetzgebung, die nicht nur darzustellen, sondern auch kritisch zu würdigen sind. Es freut uns, dass das Lehrbuch zunehmend von Steuerpraktikern genutzt wird, denen der Gesetzgeber den Orientierungsrahmen geraubt hat. Mit zunehmendem Alter wird es Zeit, das Werk in jüngere Hände zu geben. Ich freue mich, die Federführung Johanna Hey und Roman Seer anvertrauen zu können. Beide verfügen über das Talent, die dogmatische Phantasie und Leidenschaft, um das System des Steuerrechts im Umfeld einer systematisch schwer zu bewältigenden Gesetzgebung zu pflegen und fortzuentwickeln. Joachim Englisch hat die Überarbeitung des § 16 übernommen und steht für weitere Teile des Lehrbuchs bereit. Wie Klaus Tipke im Jahre 1989 bin ich zuversichtlich, dass meine Schüler das systematisch-dogmatische Konzept der bisherigen 19 Auflagen erfolgreich weiterführen und vertiefen werden. Köln, im Februar 2008
Joachim Lang
Aus dem Vorwort zur 12. Auflage Als ich 1973 die erste Auflage dieses Grundrisses vorlegte, war ich mir nicht sicher, ob es je eine zweite Auflage geben würde. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, bis 1989 würden 12 große Auflagen erscheinen, hätte ich gewiß erheblich an seinem Realitätssinn gezweifelt. Das Buch hat Eigenarten, von denen man – jedenfalls 1973 – nicht sicher sein konnte, ob sie angenommen werden würden. Der bloße Steuertechniker, der über das unkritische Subsumieren einzelner Fälle und Verfahrensförmeleien nicht hinaus will, kommt nicht auf seine Kosten. Ohnehin lassen sich die technischen Details des Steuerrechts weder auf 500 noch auf 800 Seiten darstellen. Im übrigen gibt es technische Darstellungen, die durchaus ihren eigenen Wert haben, zur Genüge. Praktiker sind in der Regel daran gewöhnt, mit Spezialkommentaren zu arbeiten, weniger mit systematischen Büchern. Das ist verständlich. In der Tat kann eine systematische
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Aus dem Vorwort zur 12. Auflage
Gesamtübersicht über das Steuerrecht die Kommentare nicht ersetzen. Das systematische Buch ist ein aliud. Das Buch konnte auch nicht mit dem Zuspruch derer rechnen, die Orientierung an Prinzipien und teleologische Auslegung für Rechtspolitik oder für Ideologie halten und den Subsumtionsautomaten als idealen Steuerrechtler ansehen. Im juristischen Universitätsbereich mußte allein die Tatsache, daß das Steuerrecht bloß ein Wahlfach zusammen mit anderen Fächern ist, bloß ein Wahlfachteil mit anderen Worten, dem Erfolg des Buches Grenzen setzen. Und doch, das Buch muß in eine Lücke hineingeraten sein; anders wäre sein bisheriger Erfolg nicht zu erklären. Die Eigenart des Buches besteht im folgenden: Es bemüht sich, das Steuerrecht als Ganzes zu erfassen und aufzufassen, das Steuerrecht als eine Einheit zu sehen und zu verstehen, seine Prinzipien aufzudecken und sich an ihnen zu orientieren. Das Buch enthält zur Erhellung systematischer Mängel auch Ausführungen de lege ferenda. Aber primär ist es ein dogmatisches Werk. Dogmatik arbeitet systemimmanent, nicht systemtranszendent. Aber Dogmatik besteht eben auch nicht bloß aus einer Summe streng wörtlich zu nehmender Normen, sondern in der Erfassung und dem systematischen Inbeziehungsetzen des gesamten Normengefüges. Will Steuerrechtswissenschaft eine rationale Disziplin sein, so muß sie dogmatisch-systematisch wirken und eine sytemadäquate Terminologie entwickeln. Steuerrechtswissenschaft muß rechtliche Unordnung kritisieren und versuchen, eine systematische Ordnung aufzuzeigen, und zwar eine Wertordnung. Sonst ist die blendendste Rhetorik, ist auch der größte Zitatenwald wertlos. Steuerrechtswissenschaft darf es nicht hinnehmen, daß der Inhalt der Steuergesetze kurzfristig nur an der nächsten Wahl orientiert wird. Politischer Opportunismus braucht rechtliche Gegengewichte, soll das Recht nicht ethisch verkrüppeln. Das Buch beläßt es nicht bei generellen, abstrakten Ausführungen, es geht auch auf das Besondere ein. Aber es kann und will den Spezialisten nicht ersetzen, sondern auch zeigen: Spezialisierung, die die speziellen Teile nicht als eingebunden in das Ganze sieht, die Sekundärregeln des Spezialgebiets nicht als Folgeregeln von übergreifenden Primärregeln versteht, kann rechtlich borniert sein. Mancher Spezialist sieht kein Bedürfnis, sich um Regeln zu kümmern, die über sein Spezialgebiet hinausgreifen, vorausgesetzt er interessiert sich überhaupt für Regeln. Der Spezialist für Bilanzsteuerrecht mag das Maßgeblichkeitsprinzip als das Fundamentalprinzip des Steuerrechts ansehen. Der Spezialist für Versicherungsrecht mag diese Materie a priori für gerecht halten und die Frage gar nicht erst aufkommen lassen, inwieweit sich Versicherungsrecht mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip vereinbaren lasse. Das Buch kann auf 800 Seiten nur begrenzt Stoff anhäufen. Aber maximale Stoffanhäufung ist auch nicht das Anliegen des Buches. Bloße Stoffanhäufung kann dazu führen, daß viel gelernt werden muß, nicht selten aber wenig begriffen wird. Viel lernen und wenig verstehen ist aber das Gegenteil eines akademischen Lehr- und Lernideals. Seit Mai 1988 bin ich von Lehr- und Prüfungsverpflichtungen in der Universität befreit. Ermöglicht worden ist mir das durch den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, dem ich auch an dieser Stelle aufrichtig danke. Um möglichst viel Kraft für meine Forschungsarbeit freisetzen zu können, hat mein Lehrstuhlnachfolger Joachim Lang die Gesamtverantwortung für das Buch übernommen. Eine solche Gesamtverantwortung ist unentbehrlich, soll ein Buch aus einem Guß entstehen. Ich bin zuversichtlich, daß Joachim Lang das systematisch-dogmatische Konzept der bisherigen elf Auflagen erfolgreich weiterführen und vertiefen wird … Köln, im März 1989
Klaus Tipke
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Aus dem Vorwort zur 1. Auflage Dieser Grundriß, der die Grundzüge des Steuerrechts darstellt, ist aus meinen Vorlesungsskripten „Allgemeines Steuerrecht“, „Besonderes Steuerrecht“ und „Rechtsschutz in Steuersachen“ hervorgegangen. Den Inhalt habe ich nochmals überarbeitet. Es handelt sich um einen systematischen Grundriß, der einen Überblick über die steuerliche Gesamtrechtsordnung geben soll. Dem dafür bestehenden Bedürfnis vermögen die Kommentare zu den Einzelsteuergesetzen nicht abzuhelfen. Das mangelhaft systematisierte Steuerrecht besteht aus etwa 50 Steuerarten, die in mehr als 90 Steuergesetzen und in über 100 Rechtsverordnungen geregelt sind. Steuerverwaltung und Steuerberatung haben über 5000 (noch) relevante Urteile des Reichs- und Bundesfinanzhofs zu beachten, die Steuerverwaltung überdies zahlreiche Verwaltungsanordnungen (Richtlinien; Erlasse und Verfügungen der Finanzministerien und Oberfinanzdirektionen, von denen jährlich über 1000 zu ergehen pflegen). Es ist weder möglich, noch ist es die Aufgabe eines systematischen Grundrisses, das gesamte, zu einem nicht unerheblichen Teil situationsabhängige Steuerrecht nach Art eines Kommentars als bloße Summe von Vorschriften quantitativ bis in seine sich ständig ändernden Details darzustellen. Vielmehr ist es dem Verfasser darauf angekommen, die vorhandenen systemtragenden Prinzipien herauszuarbeiten und in einer konzentrierten, erklärenden und problematisierenden Kurzdarstellung einen auf das Wesentliche beschränkten Gesamtüberblick in der Weise zu geben, daß die systematischen Grundzüge erkennbar werden und nach Bedarf ein vertieftes Nacharbeiten ermöglicht wird. Trotz der ständigen Bewegung im besonderen Steuerrecht zeigt sich immer wieder, daß fast alle Probleme allgemeinen, insbesondere systematischen Charakter haben. Der Systemgedanke erweist sich namentlich in dreierlei Hinsicht als fruchtbar: Das systemtragende Prinzip ist gleichbedeutend mit dem für die Gesetzesauslegung maßgeblichen Telos des Gesetzes; an ihm orientiert sich die Lückenausfüllung, soweit diese zulässig ist; und schließlich ist es Vergleichsmaßstab für die Prüfung von Verstößen gegen den Gleichheitssatz. Die Steuerrechtswissenschaft ist ihrem Ordnungsauftrag, das Steuerrecht systematisch aufzuarbeiten und darzustellen, bisher kaum nachgekommen. Die wenigen Lehrbücher, die bisher zum besonderen Steuerrecht erschienen sind, lassen jedenfalls weithin noch keine systematische Ordnung erkennen. Sie sind durchweg auf die bloße Wiedergabe des Gesetzesinhalts und weniger auf die Anleitung zu dessen Verständnis – das heißt im wesentlichen: auf Herausarbeitung der systemtragenden Prinzipien sowie der Systembrüche – angelegt. So existiert denn bis heute kein geschlossenes steuerjuristischer Lehrgebäude mit weitgespannten systematischen Ableitungszusammenhängen. Dieser Grundriß kann und will nicht für sich in Anspruch nehmen, das Versäumte bereits nachgeholt zu haben. Es handelt sich um einen Anfang, den ich geglaubt habe, nunmehr tun zu sollen, zumal in Anbetracht des mit Recht allseits beklagten Lehrbuchmangels. Das Buch bietet nicht nur fertige Lösungen an, es will auch dazu anregen, entsprechend seiner Konzeption systematisch weiterzudenken. Einzelne Teile des Stoffes weiter zu differenzieren und auch einen Grundriß des internationalen Steuerrechts vorzulegen, wird die Aufgabe der kommenden Jahre sein. Dem Benutzer des Buches wird auffallen, daß viele Dissertationen zitiert sind; es sind dies insbesondere die im Kölner Institut für Steuerrecht vorhandenen Arbeiten. Sie sind wissenschaftlich von recht unterschiedlichem Wert. Wenn sie gleichwohl weitgehend erfaßt worden sind, so deshalb, weil sie in den Literaturangaben der Kommentare und Lehrbücher durchweg fehlen, weil sie in der Regel brauchbare Materialsammlungen enthalten und weil gezeigt werden soll, welche Bereiche des Steuerrechts schon häufig, welche hingegen durch Dissertationen bisher noch gar nicht behandelt worden sind. Auch Doktorvätern fehlt hier offenbar die Übersicht.
XII
Aus dem Vorwort zur 1. Auflage
Dieser Grundriß ist in erster Linie als Anleitung für das akademische Studium des Steuerrechts gedacht. Ich denke allerdings, daß das Buch auch sonst in der steuerrechtlichen Ausbildung von Nutzen sein kann. Der Grundriß soll es aber auch dem bereits in der Praxis tätigen Juristen ermöglichen, sich in das Steuerrecht einzuarbeiten. Den nicht juristisch vorgebildeten Angehörigen der steuerberatenden Berufe soll er in das spezifisch steuerrechtliche Denken einführen; er soll ihm zeigen, daß steuerrechtliche Normen, Richtlinien und Urteile keine fixen oder unabänderlichen Daten sind. Mit seiner systematischen Konzeption wird das Buch auch Steuerrichtern und Steuerbeamten dienen, denn sie brauchen diese Konzeption für die richtige Rechtsanwendung, auch für die Prüfung von Verstößen gegen den Gleichheitssatz. Köln, im September 1973
Klaus Tipke
XIII
Inhaltsübersicht Seite
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . Allgemeines Literaturverzeichnis
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. VII . XVII . LI . LXV
Grundlagen der Steuerrechtsordnung §1
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
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1
§2
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung . . . . . . . . . . . .
35
§3
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
§4
Europäisches Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
139
§5
Rechtsanwendung im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185
§6
Allgemeines Steuerschuldrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225
Besonderes Steuerschuldrecht §7
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247
§8
Einkommensteuer
283
§9
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
................................................ ....................
485
§ 10 Besteuerung von Mitunternehmerschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
619
§ 11 Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
669
§ 12 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
717
§ 13 Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
739
§ 14 Konzern- und Umwandlungssteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
785
§ 15 Erbschaft- und Schenkungsteuer
.....................................
813
...........................................
869
§ 17 Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
889
§ 18 Spezielle Verkehr- und Verbrauchsteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1071
§ 19 Arten und Rechtfertigung von Steuervergünstigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1123
§ 20 Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1135
§ 16 Grund-/Vermögensteuer
XV
Inhaltsübersicht Seite
Steuerverfahrens- und Steuerstrafrecht § 21 Durchführung der Besteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1145
§ 22 Rechtsschutz in Steuersachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1283
§ 23 Materielles Steuerstraf- und -ordnungswidrigkeitenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1367
§ 24 Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1401
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1421
XVI
Inhaltsverzeichnis Seite
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . Allgemeines Literaturverzeichnis
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VII XV LI LXV
Gegenstand und Bedeutung des Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzung von steuerwissenschaftlichen Nachbardisziplinen . . . . . . . . . . . . Steuerrecht als Referenzgebiet des öffentlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis des Steuerrechts zu anderen Rechtsgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Steuerrecht und Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Steuerrecht und Sozialrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Steuerrecht und „Einheit der Rechtsordnung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gebiete und Gesetze des allgemeinen Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Das allgemeine Steuerrecht im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Abgabenordnung als Teilkodifikation (Mantelgesetz) des Steuerrechts 6.3 Das Bewertungsgesetz als Teilkodifikation (Mantelgesetz) des Steuerrechts 6.4 Allgemeines Steuerschuldrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Steuerverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Gebiete und Gesetze des besonderen Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Besonderes Steuerschuldrecht und Sondergebiete des Steuerrechts . . . . . . 7.2 Internationales Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Europäisches Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 6 9 11 11 14 16 17 17 18 19 21 22 25 25 25 32
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35 39 40 41 42 44 45 47 55 59
A. System des Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
I. Problemstellung: Systemhaftigkeit versus Steuerchaos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
Grundlagen der Steuerrechtsordnung § 1 Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung 1. 2. 3. 4.
§ 2 Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Steuerbegriff; Abgrenzung von anderen Abgaben . . . . . . . . . . 2.1 Verfassungsrechtlicher Inhalt und Bedeutung des Steuerbegriffs 2.2 Die Merkmale des Steuerbegriffs in § 3 I AO . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Gebühren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Sonderabgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Steuergesetzgebungshoheit (Art. 105 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Steuerertragshoheit (Art. 106; 107 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Steuerverwaltungshoheit (Art. 108 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 3 Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
XVII
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II. Formale und inhaltliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
1. Das äußere System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das inhaltliche oder innere System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Prinzipien als Träger des inhaltlichen oder inneren Systems 2.2 Die steuergesetzlichen Normgruppen im System . . . . . . . . 2.2.1 Drei Normgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Relevanz der richtigen Einordnung . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Effizienz des Systemgedankens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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64 66 66 68 68 71 71
B. Das Leistungsfähigkeitsprinzip als allgemein anerkanntes Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
I. Das Leistungsfähigkeitsprinzip als systemtragender Vergleichsmaßstab für Fiskalzwecknormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
II. Konkretisierungen des Leistungsfähigkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
1. Zuordnungssubjekte steuerlicher Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips im Vielsteuersystem durch Besteuerung von Einkommen, Vermögen und Konsum . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Vielsteuersystem vs. Alleinsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Leistungsfähigkeitsindikatoren Einkommen, Vermögen, Konsum . . . . .
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77 77 78
C. Verfassungsrechtliche Maßstäbe des Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Steuern im Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. 2. 3. 4.
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II. Gleichmäßigkeit der Besteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
1. Bedeutung und Inhalt des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 I GG) im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtssetzungsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Steuerrechtsspezifische Konkretisierungen des Allgemeinen Gleichheitssatzes . . . 5. Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen und Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Willkürverbot oder Gebot verhältnismäßiger Gleichheit? . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Rechtfertigung von Sozialzwecknormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Rechtfertigung von Vereinfachungszwecknormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gleichmäßige Besteuerung und Steuerföderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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92 94 96 97 98 98 100 101 102 105
III. Der verfassungsrechtliche Schutz des Existenzminimums . . . . . . . . . . . . . . . . . .
105
IV. Leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
106
V. Freiheitsrechtliche Schranken der Besteuerung und Übermaßverbot . . . . . . . . .
111
1. Rechtsstaatlicher und grundrechtlicher Gehalt des Übermaßverbots . . . . . . . . . . . . 1.1 Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
111 111
Formale und materiale Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . Verwirklichung formaler Rechtsstaatlichkeit im Steuerrecht . Verwirklichung materialer Rechtsstaatlichkeit im Steuerrecht Steuergerechtigkeit und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . .
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1.2 Relative Wirkungslosigkeit des freiheitsrechtlichen Übermaßverbots gegenüber dem Steuereingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Das Verbot der Erdrosselungssteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 2 I GG als allgemeine Schranke der Besteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung von Art. 4 GG für das Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steuern als Eingriff in die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Prinzip eigentumsschonender Besteuerung (Art. 14 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . .
112 112 113 114 114 115
VI. Sozialstaatlich gerechte Besteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
118
2. 3. 4. 5.
VII. Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung
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1. Steuerrechtliches Legalitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Inhalt und Bedeutung des steuerrechtlichen Legalitätsprinzips . . . 1.2 Rechtsgrundlagen des steuerrechtlichen Legalitätsprinzips . . . . . . 1.3 Konkretisierungen des steuerrechtlichen Legalitätsprinzips . . . . . . 1.4 Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gebote der Bestimmtheit und Normenklarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtssicherheit durch Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Prinzipielles Verbot rückwirkender Steuergesetze . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Verfassungsrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung 3.1.3 Rechtfertigung rückwirkender Steuergesetze . . . . . . . . . . . . 3.2 Rückwirkende Gesetzesanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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119 119 120 121 122 124 127 127 128 128 133 136
A. Rechtsnormen des Europäischen Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
140
§ 4 Europäisches Steuerrecht 1. 2. 3. 4.
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140 141 142 143 143 145
B. Einwirkung des Europarechts auf nationale Steuerrechtsnormen . . . . .
146
1. 2. 3. 4. 5.
Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundär- und Tertiärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis von Primär- und Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . Keine Rechtsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Rechtlich unverbindliche Erklärungen von EU-Organen 4.2 Entscheidungen der europäischen Gerichte . . . . . . . . . .
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Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unionsrecht und harmonisiertes Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durchführungsverbot und Rückforderungsgebot für steuerliche Beihilfen . Durchsetzung des Unionsrechts im Wege nationalen Steuerverfahrensrechts Verhältnis zu verfassungsrechtlichen Wertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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146 148 152 154 157
C. Rechtsgrundlagen und Stand steuerrechtlicher Harmonisierung . . . . . .
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1. Harmonisierung der indirekten Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Harmonisierung der direkten Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159 160
D. Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten . . . . . . . . .
163
1. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XIX
Inhaltsverzeichnis Seite
2. Gewährleistungsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung von Grundfreiheitsverstößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
167 172
E. Das Beihilfenverbot im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
178
§ 5 Rechtsanwendung im Steuerrecht A. Rechtsnormen des Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Parlamentsgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsverordnungen . . . . . . . . . . . . . . Autonome Satzungen . . . . . . . . . . . . . Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . Supranationales europäisches Recht . . Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keine Rechtsnormen . . . . . . . . . . . . . 7.1 Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . 7.2 Entscheidungen der Steuergerichte
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185 186 188 188 188 189 190 190 192
B. Methoden der Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Struktur von Rechtsnormen, Syllogismus der Rechtsfolgebestimmung und Primat teleologischer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Kanon der traditionellen Auslegungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wirtschaftliche Interpretation der Steuergesetze (wirtschaftliche Betrachtungsweise) 4. Ausfüllung von Gesetzeslücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verfassungskonforme Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Richtlinienkonforme Gesetzesinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
195 198 203 204 209 209
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C. Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise 1. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei Divergenz zwischen wirtschaftlichem Verhalten und juristischem Zustand (§ 41 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Ergänzende Ableitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei gesetzwidrigem oder sittenwidrigem Verhalten (§ 40 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei Gestaltungsmissbrauch (§ 42 AO) . . . . . . . . 3.1 Zweck und Anwendungsbereich des § 42 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Tatbestand des Gestaltungsmissbrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wirtschaftliche Zurechnung statt Maßgeblichkeit der zivilrechtlichen Berechtigung (§ 39 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
D. Ermessensausübung (§ 5 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
210 210 211 212 213 214 218 220 220 222
§ 6 Allgemeines Steuerschuldrecht 1. Inhalt des Steuerschuldverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Steuerschuldverhältnis als materiell-rechtlicher Teil des Steuerrechtsverhältnisses
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225 225
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A. Grundsätze der Gestaltung von Steuerarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Steueraufkommen, Steuerquote und Steuerarten in Deutschland . . . . .
252
C. Steuern auf das Einkommen und Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. 3.
4. 5.
6. 7.
8. 9.
1.2 Kanon der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis . . . . . . . . . . . . . Gläubiger- und Schuldnerwechsel, Verpfändung, Pfändung . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Vorgänge kraft Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Vorgänge kraft Rechtsgeschäft, Pfändung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erlöschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steueranspruch und Steuerschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Steuergläubiger und Steuerschuldner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Entstehung des Steueranspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Der Entstehungstatbestand des Steueranspruchs (Steuertatbestand) . . . . . . 5.3.1 Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Das Steuersubjekt und die Steuerrechtsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Das Steuerobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Die Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.5 Die abstrakten Merkmale des inländischen Steuerschuldverhältnisses 5.3.6 Die Steuerbemessungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.7 Der Steuersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.8 Die Steuervergünstigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Konkurrenz der Steuertatbestände oder Steueransprüche . . . . . . . . . . . . . Die Gesamtschuldnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Haftungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Haftungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Haftungsumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Akzessorietät der Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Legalitätsprinzip oder Opportunitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Subsidiarität der Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Steuervergütungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Steuererstattungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Besonderes Steuerschuldrecht § 7 Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
1. 2. 3. 4.
Steuern auf das Erwerbseinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besteuerung des Vermögenstransfers durch die Erbschaft- und Schenkungsteuer Besteuerung des Vermögensbestandes durch Substanzsteuern . . . . . . . . . . . . . . . Reform der Besteuerung von Einkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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255 258 260 261
D. Steuern auf die Verwendung von Einkommen und Vermögen . . . . . . . .
273
XXI
Inhaltsverzeichnis Seite
E. Besondere Sozialzwecksteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275
1. Zölle und Abschöpfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umweltsteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275 275
§ 8 Einkommensteuer A. Allgemeine Charakterisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
283
B. Steuerpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
286
1. Natürliche Personen als Steuersubjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Internationale Abgrenzung der Steuerpflicht durch die unbeschränkte und beschränkte Steuerpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
286
C. Objekt und Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer . . . . . . . . . . . .
291
1. Grundelemente des § 2 EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Bedeutung des § 2 EStG für den Einkommensteuertatbestand . . . . . . . . . . . . . 1.2 Disponibles Einkommen als Maßstab objektiver und subjektiver Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Periodizität der Einkommensteuer und Jahressteuerprinzip (§ 2 VII EStG) . . . 1.4 Periodischer Entstehungszeitpunkt der Einkommensteuer . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Einkommensteuerobjekt: Summe der Einkünfte (§ 2 I-III EStG) . . . . . . . . . . . 2.1 Zur rechtlichen Bestimmung des Steuerguts „Einkommen“ . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Das Einkommen als zentraler Begriff des öffentlichen Schuldrechts . . . . . 2.1.2 Reinvermögenszugangs-, Quellen- und Markteinkommenstheorie . . . . . . 2.1.3 Pragmatische Legaldefinition des Einkommens durch den Einkünftekatalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Bestimmung der Einkünfte nach dem objektiven Nettoprinzip . . . . . . . . . . . . . 2.3 Ermittlung der Einkünfte nach dem Nominalwertprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zeitliche Zuordnung der Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Verluste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Verlustausgleich und Verlustabzug (Verlustrücktrag/-vortrag) . . . . . . . . . 2.5.2 Beschränkungen des Verlustausgleichs und Verlustabzugs . . . . . . . . . . . . 3. Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer: das zu versteuernde Einkommen i.S.d. § 2 V EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Private Abzüge i.S.d. § 2 IV, V EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Berücksichtigung unvermeidbarer Privataufwendungen nach dem subjektiven Nettoprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Berücksichtigung des existenznotwendigen Lebensbedarfs . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Reform der Familienbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Tatbestandstechnischer Aufbau des zu versteuernden Einkommens . . . . . . . . . . . .
291 291
288
292 293 294 294 294 294 295 296 296 298 299 300 300 302 307 307 307 311 313 318 320
D. Bestimmung steuerpflichtiger Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
321
1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuerbare Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Objektiver Tatbestand: Erzielen von Einkünften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
321 322 322
XXII
Inhaltsverzeichnis Seite
2.2 Subjektiver Tatbestand: Einkünfteerzielungsabsicht 3. Steuerfreie Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Objektive Befreiungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Freibeträge/Freigrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
323 329 329 333
E. Die persönliche Zurechnung von Einkünften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
334
1. 2. 3. 4.
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. . . .
Allgemeine Zurechnungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konkretisierung der Zurechnungsregeln bei einzelnen Einkunftsarten Zurechnung von Einkünften unter Familienangehörigen . . . . . . . . . . Zurechnung von Einkünften im Erbfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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334 335 338 340
F. Ermittlung der Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
341
I. Unterschiedliche Ermittlung der Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
341
1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Dualismus der Einkünfteermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
341 342
II. System der Einkünfteermittlung
.....................................
343
1. Typen der Einkünfteermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Ermittlung der Einkünfte durch Bilanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Überschussrechnungen nach dem Zufluss- und dem Abflussprinzip (§§ 4 III; 8 ff.; 11 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Ergänzende Ermittlung von Veräußerungseinkünften (§§ 16; 17; 23 EStG) . . . . 1.4 Privilegierende Einkünfteermittlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Personelle Zuordnung der Gewinnermittlungsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Schätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundbegriffe der Einkünfteermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Das terminologische System der Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen . . 2.1.1 Die Abgrenzung der Erwerbssphäre zur Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.1 Finalität und Kausalität des Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.2 Risikosphäre des Handelns und Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.3 Bestimmung der Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen durch das Veranlassungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.4 Subjektiv-finale und objektive Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.5 Zusammentreffen mehrerer Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Die persönliche Zurechnung von Erwerbsbezügen, Erwerbsaufwendungen und von sog. Drittaufwand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Die zeitliche Zuordnung von Erwerbsbezügen und Erwerbsaufwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Abgrenzung der Betriebsausgaben/Werbungskosten zu den Privatausgaben . . . 2.2.1 Inhaltsgleiche Interpretation des Betriebsausgaben- und des Werbungskostenbegriffs nach dem Veranlassungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Gemischt veranlasste Aufwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.1 Bedeutung des § 12 EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.2 Aufteilungsgebot bei gemischter Veranlassung . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Praktisch besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Gesetzgeberische Typisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
343 344 345 346 348 349 350 350 350 351 351 351 353 354 354 356 358 359 360 360 364 364 365 367 367
XXIII
Inhaltsverzeichnis Seite
2.3.2 Arbeitsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Arbeitszimmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Berufsverbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Bewirtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.6 Doppelte Haushaltsführung: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.7 Fahrten zwischen Wohnung und Erwerbsstätte . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.8 Fort- und Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.9 Geschenke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.10 Kleidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.11 Kraftfahrzeugkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.12 Reisekosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.13 Telefonkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.14 Umzugskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.15 Verlust von Wirtschaftsgütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.16 Verpflegungsmehraufwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.17 Zinsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Nichtabziehbare Erwerbsaufwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Allgemeine Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Besondere Regeln für privat mitveranlasste Erwerbsaufwendungen 2.4.3 Besondere Regeln zum Schutz der Gesamtrechtsordnung . . . . . . . 2.5 Pauschalierung von Erwerbsaufwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
367 368 370 370 371 372 373 376 376 376 378 378 379 379 380 381 382 382 384 385 386
.....................
388
1. Allgemeine Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Werbungskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
388 388 390
G. Die einzelnen Einkunftsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
392
I. Einführung in das Einkunftsartenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
393
III. Ermittlung der Überschusseinkünfte (§§ 8–9a EStG)
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Gewinneinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 1 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
394
1. Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft (§§ 13–14a EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Bestimmung und Privilegierung der Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft 1.2 Gewinnermittlung nach Durchschnittssätzen (§ 13a EStG) . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§§ 15; 16 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Allgemeine Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Überblick über die Arten der gewerblichen Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einkünfte aus selbständiger Arbeit (§ 18 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
394 394 396 397 397 399 400
III. Überschusseinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
404
1. Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der Begriff des Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Arbeitslohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Durch die nichtselbständige Beschäftigung veranlasste Einnahmen . . 1.2.2 Versorgungsbezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Lohnsteuerpauschalierungen, insb. geringfügige Beschäftigung . . . . . 2. Einkünfte aus Kapitalvermögen mit Abgeltungsteuer (§§ 20; 32d; 43 V 1 EStG) 2.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XXIV
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404 405 405 405 408 410 411 411
Inhaltsverzeichnis Seite
. . . . . . . . . .
412 417 418 420 423 427 431 432 433 433
. . . . . . .
434 436 438 439 439 440 442
IV. Gemeinsame Vorschriften zu allen Einkunftsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
443
V. Konkurrenzen mehrerer Einkunftsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
444
H. Private Abzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
445
3. 4. 5. 6. 7.
8.
1. 2. 3. 4.
2.2 Arten der Kapitaleinkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Ermittlung der Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Reichweite der Abgeltungsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Kritik und Reformbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wiederkehrende Bezüge (§ 22 Nrn. 1–1c EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgeordnetenbezüge (§ 22 Nr. 4 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einkünfte aus sonstigen Leistungen (§ 22 Nr. 3 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einkünfte aus der Veräußerung von Privatvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Ungleiche Erfassung von Veräußerungseinkünften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Einkünfte aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften (§ 17 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften (§§ 22 Nr. 2; 23 EStG) . . . . . 7.4 Zur gleichmäßigen Besteuerung von Veräußerungseinkünften . . . . . . . . . . . . . Alterseinkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Rürup-Kommission und geltende Rechtslage nach dem Alterseinkünftegesetz 8.3 Kritik und Reformüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Allgemeines zu den privaten Abzügen . . . . . . . . . . . . . . Abzugsfähigkeit sog. Sonderausgaben . . . . . . . . . . . . . . . Außergewöhnliche Belastungen (§§ 33; 33a; 33b EStG) . Unterhaltsabzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Allgemeiner Unterhaltsabzug (§ 33a I EStG) . . . . . . 4.2 Unterhalt für Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Allgemeine Voraussetzungen (§ 32 I-V EStG) . 4.2.2 Familienleistungsausgleich (§§ 31; 32 VI EStG) 4.2.3 Zusätzliche Abzüge für den Kindesunterhalt . .
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445 447 449 454 454 455 456 457 458
J. Einkommensteuertarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
460
1. Der linear-progressive Tarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuerermäßigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Fiskalzweckermäßigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Sozialzweckermäßigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Steuerermäßigungen für außerordentliche Einkünfte (§§ 34; 34b EStG) 2.3 Begünstigung nicht entnommener Gewinne (§ 34a EStG) . . . . . . . . . . 2.4 Steuerermäßigung bei Auslandseinkünften (§§ 34c; 34d EStG) . . . . . . 2.5 Pauschale Anrechnung der Gewerbesteuer (§ 35 EStG) . . . . . . . . . . . 3. Veranlagung von Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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460 464 464 464 465 466 468 470 471 472
K. Zum Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
474
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XXV
Inhaltsverzeichnis Seite
L. Annexsteuer: Kirchensteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
477
1. Arten der Kirchenfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Besteuerungsrecht der Religionsgemeinschaften nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 VI WRV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Kirchensteuerpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ausgestaltung der Kirchensteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verwaltung der Kirchensteuer, Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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477
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478 479 481 483
A. Überblick über das System betrieblicher Gewinnermittlung . . . . . . . . . .
485
I. Gewinnermittlungsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
485
II. Subjektiver Anwendungsbereich der Gewinnermittlungsarten . . . . . . . . . . . . . .
487
B. Betriebsvermögensvergleich nach §§ 4 I; 5 I EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
488
I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
488
1. Gewinn i.S.d. § 4 I 1 EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bestandteile des Betriebsvermögensvergleichs . . . . . . . 2.1 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Gewinn- und Verlustrechnung . . . . . . . . . . . . . . . 3. Technik der Bilanzierung und doppelten Buchführung
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488 490 490 491 491
II. Bilanzberichtigung und Bilanzänderung; steuerbilanzieller Fehlerbegriff . . . . . .
494
III. Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (§ 5 I 1 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
500
§ 9 Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
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1. Prinzipielle Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen GoB für die Steuerbilanz . . . . . 1.1 Überblick über den Inhalt des Maßgeblichkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Rechtfertigung des Maßgeblichkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Zur Zukunft des Maßgeblichkeitsprinzips und Überlegungen de lege ferenda (einschließlich GKKB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung und Bilanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Rechtsnatur und Ermittlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Reichweite der Verweisung gem. § 5 I 1 EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Insb.: GoB und Europäische Bilanzrichtlinien, Unzuständigkeit des EuGH in Steuerstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Formelle Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Materielle Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Prinzipien der Richtigkeit und Vollständigkeit; GoB der Nichtbilanzierung schwebender Geschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Prinzip der Bilanzidentität und Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3 Realisations- und Vorsichtsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.4 Wirtschaftliche Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.5 Wesentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.6 True and Fair View . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.7 Nominalwertprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XXVI
500 501 502 505 509 509 511 512 513 514 514 515 515 516 517 517 520
Inhaltsverzeichnis Seite
2.5.8 Stichtagsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grenzen der Maßgeblichkeit handelsrechtlicher Bilanzierungsregeln für das Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Vorrang expliziter steuerrechtlicher Ansatz- und Bewertungsvorschriften (§ 4 I 9; § 5 VI EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Insb.: Steuerrechtliche Wahlrechte (§ 5 I 1 Hs. 2 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Handelsrechtliche Wahlrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ansatz von Wirtschaftsgütern des Betriebsvermögens und sonstigen Bilanzposten (Bilanzierung dem Grunde nach) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der steuerrechtliche Begriff des Wirtschaftsguts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Vermögensgegenstand – Wirtschaftsgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Besonderheiten einzelner Wirtschaftsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Immaterielle Wirtschaftsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Selbständige Vermögensgegenstände und unselbständige Teile, insb.: Grundstücke und Gebäude, selbständige Gebäudeteile und selbständige bewegliche Wirtschaftsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Subjektive Zurechnung von Wirtschaftsgütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Passivierung von Verbindlichkeiten und Rückstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Voraussetzungen der Passivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Verbindlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Rückstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Allgemeine Kennzeichnung und Überblick über die Rückstellungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Außenverpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Rechtliche Entstehung und wirtschaftliche Verursachung . . . . . . . . . . 2.3.4 Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Wesentlichkeit kein Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.6 Steuerrechtliche Sondervorschriften: § 5 III-IVb, § 6a EStG . . . . . . . . 2.3.7 Insb.: sog. angeschaffte Rückstellungen; §§ 4f; 5 VII EStG . . . . . . . . . 2.3.8 Auflösung von Rückstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechnungsabgrenzungsposten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zugehörigkeit zum Betriebsvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
521 521 522 524 526
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526 526 528 528
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531 531 532 537 538 538 541
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541 543 544 549 550 550 552 556 556 558
V. Bewertung von Wirtschaftsgütern und sonstigen Bilanzposten (Bilanzierung der Höhe nach) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wertbegriffe des § 6 EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Anschaffungskosten (§ 6 I Nr. 1 Satz 1, Nr. 2 Satz 1 EStG) . . . . . . . . . . . . . 1.2 Herstellungskosten (§ 6 I Nr. 1 Satz 1, Nr. 1a, Nr. 2 Satz 1 EStG) . . . . . . . . 1.3 Teilwert (§ 6 I Nr. 1 Satz 2 u. 3, Nr. 2 Satz 2, Nr. 4 Satz 1 Hs. 1, 5, 7 EStG) 1.4 Gemeiner Wert (§ 6 I Nr. 4 Satz 1 Hs. 2, Nr. 5a, IV, VI 1 EStG) . . . . . . . . . 1.5 Beizulegender Zeitwert (§ 6 I Nr. 2b EStG i.V.m. § 255 IV HGB) . . . . . . . . 1.6 Buchwert (§ 6 III 1, V 1 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bewertung einzelner Wirtschaftsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Einzelbewertungsgrundsatz und Ausnahmen (insb. Bewertungseinheiten, § 5 Ia 2 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Insb.: Bewertungseinheiten gem. § 5 Ia 2 EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . .
520
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560
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561 561 565 567 568 568 568 569
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569 569 569
XXVII
Inhaltsverzeichnis Seite
2.2 Abnutzbares Anlagevermögen (§ 6 I Nr. 1 EStG) . . . . . . . . . . . . . 2.3 Andere aktive Wirtschaftsgüter (§ 6 I Nr. 2 EStG) . . . . . . . . . . . . 2.4 Lifo (§ 6 I Nr. 2a EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Passive Wirtschaftsgüter (§ 6 I Nrn. 3, 3a EStG) . . . . . . . . . . . . . 3. Abschreibungen und Zuschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Absetzung für Abnutzung (AfA) und Substanzverringerung (AfS) 3.2 Teilwertabschreibungen und Wertaufholungen . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Bewertungsfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Subjektive Abschreibungsberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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572 573 573 574 579 579 584 587 588
VI. Entnahmen und Einlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
590
1. Entnahme- und Einlagefähigkeit von Wirtschaftsgütern, Nutzungen und Leistungen 2. Bewertung von Entnahmen und Einlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
590 591
VII. Gewinn- und Verlustrealisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
593
1. 2. 3. 4.
Prinzipien der Gewinn- und Verlustrealisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriff und Entstehung stiller Reserven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewinnrealisierung bei Umsatzgeschäften (Lieferung und Leistung) . . . . . . . . . . Aufgeschobene Gewinnrealisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Aufschub der Besteuerung stiller Reserven bei demselben Stpfl. (Rücklage für Ersatzbeschaffung; §§ 6b, 6c; § 6 V 1, 2 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Übergang stiller Reserven auf andere Steuerrechtssubjekte (§ 6 III, V 3 EStG; UmwStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Besteuerung stiller Reserven ohne Realisationsakt als ultima ratio . . . . . . . . . . . . 5.1 Entstrickungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Gesetzliche Ersatzrealisationstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Entnahme i.S.d. § 4 I 2 EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Betriebsaufgabe als Totalentnahme (§§ 14; 14a III; 16 III; 18 III EStG); Betriebsunterbrechung und Betriebsverpachtung (§ 16 IIIb EStG) . . . . . 5.2.3 Ausschluss oder Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (§§ 4 I 3; 16 IIIa EStG; § 12 I KStG) . . . . . . . . . .
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593 594 595 597
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597
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599 603 603 603 603
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604
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606
C. Besonderheiten der bilanziellen Gewinnermittlung bei Kapitalgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
608
1. Gewinnermittlung nach § 5 I EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formale Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Besondere Bilanzierungs- und Bewertungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
608 609 610
D. Vereinfachte Gewinnermittlung durch betriebliche Überschussrechnung nach § 4 III EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
610
1. 2. 3. 4.
Persönlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien der Gewinnermittlung nach § 4 III EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betriebseinnahmen und -ausgaben in der Kassenrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitliche Erfassung von Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben nach dem Zuund Abflussprinzip (§ 11 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Abweichungen vom Zu- und Abflussprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Aufzeichnungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Wechsel der Gewinnermittlungsart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XXVIII
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611 611 612
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614 615 616 617
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Inhaltsverzeichnis Seite
§ 10 Besteuerung von Mitunternehmerschaften A. Dualismus der Unternehmensbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
619
B. Besteuerung von Mitunternehmerschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
622
I. Besteuerung der laufenden Einkünfte von Mitunternehmern (§§ 15 I 1 Nr. 2, III; 15a; 13 VII; 18 IV 2 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
622
1. 2. 3. 4.
Besteuerung der Mitunternehmerschaft nach dem Transparenzprinzip Zweistufigkeit der Einkünfte von Mitunternehmern . . . . . . . . . . . . . . Mitunternehmerschaft als Unterfall der Personengesellschaft . . . . . . . Qualifikation und Zurechnung der Einkünfte von Mitunternehmern . 4.1 Der Begriff des Mitunternehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Funktion des Mitunternehmerbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Zivilrechtliche Gesellschafterstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Mitunternehmerrisiko und Mitunternehmerinitiative . . . . . . 4.2 Zweistufige Qualifikation der Einkünfte von Mitunternehmern . . 4.2.1 Steuerbarkeit der Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Qualifikation der Einkunftsart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Zurechnung der Einkünfte von Mitunternehmern . . . . . . . . . . . . . 5. Arten der Mitunternehmerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Zweistufige Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern . . . . 6.2 Buchführungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Einzelheiten zur ersten Stufe der Einkünfteermittlung . . . . . . . . . 6.4 Einzelheiten zur zweiten Stufe der Einkünfteermittlung . . . . . . . .
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II. Besteuerung von Sondervorgängen: Gründung, Umstrukturierungen, Veräußerungen, Erbfolge, Betriebsaufgabe und Realteilung . . . . . . . . . . . . . . . .
655
1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Sacheinlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils (§ 24 UmwStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Beitritt eines neuen Gesellschafters in eine bestehende Personengesellschaft; Aufnahme in ein Einzelunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern innerhalb der Mitunternehmerschaft und zwischen beteiligungsidentischen Schwestergesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Übertragung von Anteilen an einer Mitunternehmerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Veräußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Ausscheiden von Gesellschaftern gegen Abfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Unentgeltliche Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Tod eines Mitunternehmers und vorweggenommene Erbfolge . . . . . . . . . . . . . 5. Auflösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Aufgabe des Gewerbebetriebs der Mitunternehmerschaft und Liquidation . . . . 5.2 Realteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
656 656 656
659 662 662 663 664 665 666 666 666
III. Begünstigung des nicht entnommenen Gewinns (§ 34a EStG) . . . . . . . . . . . . . .
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XXIX
Inhaltsverzeichnis Seite
§ 11 Körperschaftsteuer A. Allgemeine Charakterisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
669
I. Dualismus der Unternehmensbesteuerung durch Nebeneinander von Trennungs- und Transparenzprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
669
II. Bedeutung der Körperschaftsteuer nach den Unternehmensteuerreformen 2008
670
III. Körperschaftsteuersystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vermeidung wirtschaftlicher Doppelbelastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Frühere Körperschaftsteuersysteme in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Seit 2001: Klassisches System mit pauschaler Entlastung auf Anteilseignerebene 3.1 Grundstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Gründe für den Systemwechsel vom Anrechnungsverfahren zu einem klassischen System mit Teilentlastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Bewertung der Belastungswirkungen beim Anteilseigner . . . . . . . . . . . . . .
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B. Subjektive Steuerpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
678
I. Körperschaftsteuersubjekte i.S.d. §§ 1 I Nrn. 1–6, 3 KStG . . . . . . . . . . . . . . . . . .
678
II. Beginn und Ende der Körperschaftsteuerpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Juristische Personen des Öffentlichen Rechts (Öffentliche Unternehmen) . . . . .
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IV. Unbeschränkte und beschränkte Körperschaftsteuerpflicht . . . . . . . . . . . . . . . .
684
V. Subjektive Steuerbefreiungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
685
C. Steuerobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einkommen als Steuerobjekt, zu versteuerndes Einkommen als Bemessungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Objektive Steuerbefreiungen, insb. Steuerfreiheit von Beteiligungserträgen (§ 8b KStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unterscheidung zwischen betrieblichen und außerbetrieblichen Vermögensmehrungen und -minderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Abgrenzung von Betriebsausgaben, Gewinnausschüttungen und betriebsfremden Aufwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Kapitalerhöhungen und Gesellschaftereinlagen, Einlagenrückgewähr . . . . 4. Besondere Vorschriften über den Abzug von Aufwendungen . . . . . . . . . . . . . 4.1 Abziehbare und nicht abziehbare Aufwendungen nach §§ 9; 10 KStG . . . 4.2 Beschränkung des Abzugs von Finanzierungsaufwand im Konzern (Zinsschranke, § 4h EStG; § 8a I KStG) und Gesellschafterfremdfinanzierung (§ 8a II, III KStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verlustausgleich und Verlustabzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Freibeträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Verdeckte Gewinnausschüttungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XXX
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670
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II. Ermittlung des Einkommens
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687
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687
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690 691 692 692
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694 699 701 701 701
Inhaltsverzeichnis Seite
7.1.1 Voraussetzungen der verdeckten Gewinnausschüttung . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Rechtsfolgen der verdeckten Gewinnausschüttung . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Verdeckte Einlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Besondere Fälle der Gewinnrealisierung und ihres Aufschubs . . . . . . . . . . . . . 8.1 Liquidation (§ 11 KStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Ausschluss oder Beschränkung des Besteuerungsrechts, insb. Sitzverlegung (§ 12 KStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Eintritt in eine subjektive Steuerbefreiung (§ 13 KStG) . . . . . . . . . . . . . . . .
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702 710 712 714 714
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D. Tarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
716
§ 12 Gewerbesteuer 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuerobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Stehender Gewerbebetrieb . . . . . . . . . . . . 2.2 Reisegewerbebetrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Mehrheit von Gewerbebetrieben . . . . . . . . 2.4 Beginn und Ende der Besteuerung . . . . . . 3. Steuersubjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bemessungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Bemessungszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Gewerbeertrag (§ 7 GewStG) . . . . . . . . . . 4.2.1 Allgemeine Modifikationen . . . . . . . 4.2.2 Hinzurechnungen (§ 8 GewStG) . . . 4.2.3 Kürzungen (§ 9 GewStG) . . . . . . . . 4.3 Verlustabzug nach § 10a GewStG . . . . . . . 4.4 Steuermessbetrag (§ 11 GewStG) . . . . . . . 4.4.1 Freibeträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Steuermesszahlen . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zerlegung des einheitlichen Steuermessbetrags 6. Entstehung, Festsetzung und Erhebung . . . . . 6.1 Entstehung der Steuerschuld . . . . . . . . . . . 6.2 Festsetzung der Gewerbesteuer . . . . . . . . . 6.3 Vorauszahlungen und Abrechnung . . . . . . 7. Steuererklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Grundsätzliche Unterschiede in der Besteuerung von Personenunternehmen und Kapitalgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Unterschiede in der laufenden Besteuerung von Personenunternehmen und Kapitalgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Besteuerungsunterschiede bei einzelnen Steuerarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 13 Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
XXXI
Inhaltsverzeichnis Seite
1.2 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zusammenfassender Vergleich laufender Besteuerungsunterschiede . . . . . . . 2.1 Wesentliche Belastungsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Bedeutung des Thesaurierungs- und Entnahme-/Ausschüttungsverhaltens 2.3 Bedeutung der Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Unterschiede in der Besteuerung von Sondervorgängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Gründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer 1.3 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anteilsveräußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer 2.3 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erbfall und Schenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer 3.2 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Erbschaft- und Schenkungsteuer . . . . . . . . 4. Liquidation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer 4.2 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Besteuerung zusammengesetzter Unternehmensformen . . . . . . . . . . . . . .
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I. GmbH & Co. KG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Betriebsaufspaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
760 763
III. GmbH (AG) & Stille Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
763
1. Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer 2.1 Atypisch stille Gesellschaft . . . . . . . . . 2.2 Typisch stille Gesellschaft . . . . . . . . . . 3. Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Typisch stille Gesellschaft . . . . . . . . . . 3.2 Atypisch stille Gesellschaft . . . . . . . . .
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764 764 764 766 767 767 767
C. Internationales und Europäisches Unternehmensteuerrecht . . . . . . . . . .
767
I. Grundzüge der Besteuerung grenzüberschreitender Unternehmenstätigkeit . . .
767
1. Rechtsformabhängige Zuweisung von Besteuerungsrechten im Internationalen Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auslandsinvestitionen von Steuerinländern (Outbound-Sachverhalte) . . . . . . . . . . . 3. Inlandsinvestitionen von Steuerausländern (Inbound-Sachverhalte) . . . . . . . . . . . . .
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XXXII
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II. Der Einfluss des Europarechts auf die Besteuerung von Unternehmen . . . . . . .
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1. Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überprüfung des nationalen Unternehmensteuerrechts am Maßstab der Grundfreiheiten durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . .
776
1. Ursachen fehlender Rechtsformneutralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungs- und europarechtliche Dimension des Gebots der Rechtsformneutralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Methoden zur Verwirklichung von Rechtsformneutralität und ihre Umsetzung in der Unternehmensteuerreform 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 14 Konzern- und Umwandlungssteuerrecht A. Organschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Körperschaftsteuerliche Organschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Organgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Organträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Finanzielle Eingliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Gewinnabführungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Materiell-rechtliche Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.1 Verlustausgleichsverbot nach § 14 I 1 Nr. 5 KStG . . . . . . . . . . 2.2.2.2 Vorvertragliche Rücklagen und Verluste . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.3 Bruttomethode nach § 15 Satz 1 Nr. 2 KStG . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.4 Bruttomethode nach § 15 Satz 1 Nr. 3 KStG . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.5 Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG und Gewerbesteueranrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.6 Ausgleichszahlungen nach § 304 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.7 Mehr- und Minderabführungen nach § 14 III, IV KStG . . . . . . 3. Gewerbesteuerliche Organschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Materiell-rechtliche Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Gesonderte Ermittlung und Zusammenrechnung bereinigter Gewerbeerträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Verfahrensrechtliche Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fortentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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791 791 791 793 793 794 794
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B. Umwandlung von Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Gesellschaftsrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Umwandlungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sonstige Umwandlungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XXXIII
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II. Steuerrechtliche Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umwandlungen im Inland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Vermögensübergang auf eine Personengesellschaft oder eine natürliche Person (§§ 3–10 UmwStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Vermögensübertragung auf eine andere Körperschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.1 Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.2 Zusätzliche Voraussetzungen und Restriktionen bei Spaltung und Teilübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils in eine Kapitalgesellschaft gegen Gewährung von Gesellschaftsanteilen (§§ 20–23, 25 UmwStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Anteilstausch (§ 21 UmwStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils in eine Personengesellschaft (§ 24 UmwStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3 Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grenzüberschreitende und ausländische Umwandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
802 803 803 803 805 805 805 805 806 807 808 808
809 809 810 810 810 810 811 811 811 811 812 812 812
§ 15 Erbschaft- und Schenkungsteuer I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Rechtfertigung und Charakter der Erbschaft- und Schenkungsteuer . . . . . . . . . . . . 2. Unveränderter Reformbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Steuerobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Erwerb von Todes wegen (§§ 1 I Nr. 1; 3 ErbStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Erwerb durch Erbanfall (§ 3 I Nrn. 1, 3 ErbStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Erwerb auf Grund von Vermächtnis oder Pflichtteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Erwerb durch Schenkung auf den Todesfall (§ 3 I Nr. 2 ErbStG) . . . . . . . . . . . 1.4 Erwerb durch Vertrag zugunsten Dritter auf den Todesfall (§ 3 I Nr. 4 ErbStG) 1.5 Erweiterung um Ergänzungs- und Ersatztatbestände (§ 3 II ErbStG) . . . . . . . . 2. Schenkung unter Lebenden (§§ 1 I Nr. 2; 7 ErbStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Grundtatbestand der freigebigen Zuwendung unter Lebenden (§ 7 I Nr. 1 ErbStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XXXIV
822
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2.2 Gemischte Schenkung/Schenkung unter Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Mittelbare Schenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Erweiterung um Ergänzungs- und Ersatztatbestände (§ 7 I Nrn. 2–10, V–VII ErbStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zweckzuwendung (§§ 1 I Nr. 3; 8 ErbStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ersatzerbschaftsteuer bei Familienstiftungen und -vereinen (§ 1 I Nr. 4 ErbStG) III. Subjektive Steuerpflicht
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1. Steuersubjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Kreis der Steuerschuldner (§ 20 I ErbStG) . . . . . . . . 1.2 Steuersubjektivität von Gesellschaften . . . . . . . . . . . 2. Steuerschuldnerschaft und spezielle Haftungstatbestände 3. Internationale Abgrenzung der Steuerpflicht/Unionsrecht
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IV. Bewertung des steuerpflichtigen Vermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. 2. 3. 4.
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Bedarfsbewertung, Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spannungsverhältnis Verkehrswert/Ertragswert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verkehrswert als leitender Bewertungsmaßstab des Erbschaftsteuerrechts . . Bewertung des Grundvermögens und der Betriebsgrundstücke . . . . . . . . . . 4.1 Unbebaute Grundstücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Mietwohn- und Geschäftsgrundstücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Ein- und Zweifamilienhäuser, Wohn- und Teileigentum . . . . . . . . . . . . 4.4 Sachwertverfahren als Auffang-Bewertungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Erbbaurechte/Gebäude auf fremdem Grund und Boden . . . . . . . . . . . . 4.6 Nachweis des niedrigeren gemeinen Werts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bewertung land- und forstwirtschaftlichen Vermögens (§§ 158–175 BewG) 6. Bewertung des Betriebsvermögens (§§ 95–109; 199–203 BewG) . . . . . . . . . 6.1 Ansatz und Zurechnung des Betriebsvermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Erforderlichkeit einer Unternehmensbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Bewertung sonstigen Vermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Geldvermögen, Wertpapiere, Kapitalforderungen, Schulden u.Ä. . . . . . 7.2 Anteile an nichtnotierten Kapitalgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Steuerbefreiungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Persönliche Freibeträge (§ 16 i.V.m. § 15 ErbStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Besonderer Versorgungsfreibetrag (§ 17 ErbStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sachliche Steuerbefreiungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Verschonungsabschlag/Abzugsbetrag für Unternehmensvermögen (§§ 13a; b ErbStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Verschonungsabschlag für zu Wohnzwecken vermietete Grundstücke (§ 13c ErbStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Ehebedingte (unbenannte) Zuwendung unter Ehegatten (§ 13 I Nr. 4a ErbStG) 3.4 Sonstige sachliche Steuerbefreiungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Steuerbemessungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VII. Entstehung der Steuer, Bewertungsstichtag
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VIII. Tarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XXXV
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IX. Besonderheiten des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Anzeigepflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuererklärungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kontrollmitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 16 Grund-/Vermögensteuer A. Grundsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Charakter der Steuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Rechtfertigung der Steuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuerobjekt (§ 2 GrStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einheitsbewertung des Grundbesitzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Bewertungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Einheitswert land- und forstwirtschaftlicher Betriebe (§§ 19 I; 33–67 BewG) 3.3 Einheitswert von Grundstücken (§§ 19 I; 68–94; 99 BewG) . . . . . . . . . . . . . 3.4 Besonderheiten in den „neuen“ Bundesländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Steuerbefreiungen (§§ 3–8 GrStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Steuersubjekt (§ 10 GrStG), Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Steuermessbetrag (§ 13 GrStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Bemessungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Steuermesszahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Hebesatzrecht der Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Periodizität, Besteuerungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Besondere Billigkeitsmaßnahmen (§§ 32–34 GrStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Sondervorschriften für die „neuen“ Bundesländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Reform der Grundsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Vermögensteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Derzeitiger Rechtszustand: Existenz eines außer Kraft getretenen Vermögensteuergesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reformüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 17 Umsatzsteuer A. Entwicklung und System der Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geschichtlicher Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsgrundlagen im nationalen und im Unionsrecht . 3. Belastungsgrund und Belastungstechnik . . . . . . . . . . . 3.1 Die Umsatzsteuer als indirekte Verbrauchsteuer . . 3.2 Die Umsatzsteuer als Allphasen-„Mehrwertsteuer“ 3.3 Die Umsatzsteuer als Verkehrsteuer . . . . . . . . . . . 3.4 Die Bedeutung des Neutralitätsprinzips . . . . . . . .
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B. Steuersubjekte und Steuerschuldner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XXXVI
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1. Unternehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Abstrakte Unternehmerfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Selbständige Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Gewerbliche oder berufliche Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Beginn und Ende der Unternehmereigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Unternehmenseinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Unternehmereigenschaft von juristischen Personen des öffentlichen Rechts 1.7 Organschaftliche Unternehmensverbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8 Nur im Interesse der Mitglieder tätige Vereinigungen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.9 Kleinunternehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausnahmen: Nichtunternehmer als Steuersubjekte und Steuerschuldner . . . . . 3. Verlagerung der Steuerschuldnerschaft auf den Leistungsempfänger . . . . . . . .
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C. Steuerobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entgeltliche Leistungen von Unternehmern im Inland (§ 1 I Nr. 1 UStG) . . . . 1.1 Leistungen (Lieferungen und sonstige Leistungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Lieferungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Sonstige Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Regeln für gemischte Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4 Sonderbestimmungen zum Leistungsgegenstand kraft wirtschaftlicher Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zurechnung der Leistung zum Unternehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Entgeltlichkeit der Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Tauschumsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Einzelfälle zum Leistungsaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Leistungen im Rahmen des Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Inländischer Leistungsort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unentgeltliche Wertabgaben aus dem Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Entnahmetatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Sachentnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Verwendungsentnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Leistungsentnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Unentgeltliche Wertabgaben an Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Unentgeltliche Sachzuwendungen an Dritte für Unternehmenszwecke . . . . 3. Nichtsteuerbarkeit der Geschäftsveräußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Steuerbefreiungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtfertigung dem Grunde nach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Versagung des Vorsteuerabzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausgewählte Befreiungstatbestände im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Grundstücksüberlassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Heilberufliche, soziale und kulturelle Leistungen . . . . . . . . . . . 3.3 Finanzdienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Befreiungen wegen Konkurrenz zu besonderen Verkehrsteuern 3.5 Befreiung nach § 4 Nr. 28 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
904 906 907 908 911 912 913 917 920 921 922 923
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973 974 977 979 979 980 983 985 987
XXXVII
Inhaltsverzeichnis Seite
4. Option . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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E. Bemessungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Entgelt beim Leistungsaustausch . . . . . . . . . . Tauschgeschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unentgeltliche Wertabgaben . . . . . . . . . . . . . Mindestbemessungsgrundlage . . . . . . . . . . . . Innergemeinschaftlicher Erwerb und Einfuhr Umsatzsteuer und Bemessungsgrundlage . . . Differenz-(Margen-)besteuerung . . . . . . . . . .
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F. Steuersätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Rechtfertigung von Steuerermäßigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelne Ermäßigungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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G. Steuerentstehung und nachträgliche Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1001
1. Dualismus von Soll- und Ist-Besteuerung beim Leistungsaustausch . . . . . . . . . . . . 2. Korrekturen nach § 17 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1001 1003
H. Rechnungsausstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1005
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuerschuld bei unrichtigem oder unberechtigtem Steuerausweis . . . . . . . . . . . . . .
1005 1007
J. Vorsteuerabzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abzug der im zwischenunternehmerischen Leistungsaustausch abgerechneten Vorsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Leistung von einem anderen Unternehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Unternehmereigenschaft des Leistungsempfängers . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Leistung für das Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Grundsätzliche Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Gemischte Verwendung und Zuordnungswahlrecht . . . . . . . . . . . . . 2.4 Ordnungsgemäße Rechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Analoge Anwendung einkommensteuerlicher Abzugsverbote . . . . . . . . . . . . . 4. Ausschluss des Vorsteuerabzugs bei steuerfreien Umsätzen . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Anteiliger Vorsteuerabzug bei gemischter Verwendung . . . . . . . . . . . . . .
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1013 1013 1014 1017 1017 1022 1027 1029 1029 1029 1033
K. Berichtigung des Vorsteuerabzugs nach § 15a UStG . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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L. Zum Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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M. Sonderregelung für Land- und Forstwirte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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N. Grundzüge des Internationalen Umsatzsteuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Leitgedanken territorialer Zuordnung von Steuerhoheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XXXVIII
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2. Grundlagen des geltenden Regelungssystems in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zuordnung der Steuerhoheiten im Warenhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Grundregeln zum Ort der Lieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Grenzausgleich im Handel mit Drittstaatenbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Handel innerhalb des EU-Binnenmarkts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Virtueller Grenzausgleich v.a. im zwischenunternehmerischen Handel . 3.3.3 Handel mit Endverbrauchern und Gleichgestellten . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Reihengeschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Sonderregelungen für Energielieferungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zuordnung der Steuerhoheiten bei sonstigen Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Grundregeln zum Ort der sonstigen Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Leistung für unternehmerische und gleichgestellte Zwecke . . . . . . . . . . 4.2.2 Leistung für private Endverbraucher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Überblick der speziellen Ortsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das innergemeinschaftliche Kontrollverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Perspektiven der Besteuerung grenzüberschreitender Leistungen im Binnenmarkt
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1041 1043 1043 1044 1045 1046 1047 1051 1053 1057 1057 1057 1058 1059 1061 1062 1066 1066
O. Bekämpfung von Umsatzsteuerbetrug und -ausfällen . . . . . . . . . . . . . . . .
1068
§ 18 Spezielle Verkehr- und Verbrauchsteuern A. Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuerobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Eigentumswechsel an inländischem Grundstück (§ 1 I GrEStG) . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Eigentumserwerb und schuldrechtlicher Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Kaufverträge und andere schuldrechtliche Verträge (§ 1 I Nr. 1 GrEStG) 2.1.3 Die Auflassung (§ 1 I Nr. 2 GrEStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Der Eigentumserwerb (§ 1 I Nr. 3 GrEStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Das Meistgebot (§ 1 I Nr. 4 GrEStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.6 Abtretung von Übereignungsansprüchen und Rechten aus Kaufangeboten 2.2 Übergang der Verwertungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Änderung im Gesellschafterbestand einer Personengesellschaft (§ 1 IIa GrEStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Anteilsvereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Grundstück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Befreiungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Steuersubjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bemessungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Regel-Bemessungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Erwerb noch zu bebauender Grundstücke im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Ansatz von Grundbesitzwerten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Steuersatz und Steuerschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1071 1073 1074 1074 1074 1075 1076 1077 1077 1078
B. Versicherungsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1078 1082 1086 1086 1090 1090 1090 1092 1093 1094
XXXIX
Inhaltsverzeichnis Seite
C. Feuerschutzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Rennwett- und Lotteriesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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E. Kraftfahrzeugsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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F. Luftverkehrsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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G. Spezielle Verbrauch- und Aufwandsteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. 2. 3. 4. 5. 6.
Überblick . . . . . . . . . . . . . Steuerschuldner . . . . . . . . Steuerobjekte . . . . . . . . . . Steuerbemessungsgrundlage Steuerentstehung . . . . . . . . Verfahren . . . . . . . . . . . . .
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A. Wirtschaftslenkende Steuervergünstigungen und Direktsubventionen .
1123
B. Gesetze und Förderungszwecke wirtschaftslenkender Steuervergünstigungen und Direktsubventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1124
C. Techniken wirtschaftslenkender Begünstigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1125
§ 19 Arten und Rechtfertigung von Steuervergünstigungen
1. Entlastung durch wirtschaftslenkende Steuervergünstigungen 1.1 Arten der Steuervergünstigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Wirkung und Eignung der Steuervergünstigungen . . . . . 2. Begünstigung durch Zulagen und Prämien . . . . . . . . . . . . . .
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D. Rechtfertigung wirtschaftslenkender Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Allgemeine Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vereinbarkeit mit Europarecht und Internationalen Abkommen . . . . . . . . . . . . . . .
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E. Abbau von Steuervergünstigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 20 Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht A. Gemeinnützigkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Gemeinnützigkeit als Förderung der Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wirtschaftliche Betätigung gemeinnütziger Körperschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Spendenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Spenden für gemeinnützige Zwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Spenden an politische Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1141 1144
XL
Inhaltsverzeichnis Seite
3. Haftung und Vertrauensschutz bei Spendenbestätigung (§ 10b IV EStG; § 9 III KStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Steuerverfahrens- und Steuerstrafrecht § 21 Durchführung der Besteuerung A. Prinzipien des Steuerverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1145
I. Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1145
1. Rechtsstaatlicher Auftrag der Finanzbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahrensmaximen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Untersuchungsmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Kooperationsmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsstaatlicher Steuervollzug unter den Bedingungen einer Massenverwaltung
. . . . .
1145 1146 1146 1146 1147
II. Übermaßverbot als Schranke der Sachaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1149
III. Recht auf Informationsteilhabe, Grundsatz rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . .
1150
IV. Vertrauensschutzprinzip; Grundsatz von Treu und Glauben . . . . . . . . . . . . . . .
1151
1. Rechtsstaatlichkeit des Vertrauensschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zusammenhang zwischen Vertrauensschutz und allgemeinem Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Tatsächliche Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung durch das Steuergeheimnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Organisation und Zuständigkeit der Finanzbehörden . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Die Hierarchie der Finanzbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1164
1. Der zweigleisige dreistufige Verwaltungsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weisungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1164 1165
II. Die Zuständigkeit der Finanzbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Sachliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Örtliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1167 1168
C. Der Steuerverwaltungsakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1168
I. Bedeutung des Verwaltungsakts für das Besteuerungsverfahren
............
1168
II. Begriff und Typologie des Verwaltungsakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1169
1. Abgrenzung des Verwaltungsakts von anderen Handlungsformen . . . . . . . . . . . . . 2. Typologie der Verwaltungsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1169 1171
III. Entstehung des Steuerverwaltungsakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1172
1. Entstehungsphasen eines Steuerverwaltungsakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1172
XLI
Inhaltsverzeichnis Seite
2. Wirksamwerden des Steuerverwaltungsakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Geltung der Erklärungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Bekanntgabe des Steuerverwaltungsakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Zeitpunkt der Bekanntgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Inhalts- und Bekanntgabeadressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Fehler bei der Bekanntgabe des Steuerverwaltungsakts und deren Rechtsfolgen
1172 1172 1173 1173 1174 1175
IV. Bestandskraft des Steuerverwaltungsakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1176
1. Formelle und materielle Bestandskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundlagen- und Folgebescheide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1177 1177
V. Anforderungen an die Ausgestaltung des Steuerverwaltungsakts . . . . . . . . . . . .
1178
1. Inhaltliche Bestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Nebenbestimmungen
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1180
VII. Rechtswidrigkeit des Steuerverwaltungsakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1182
VIII. Spezielle Steuerverwaltungsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1183
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Steuerbescheid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feststellungsbescheid . . . . . . . . . . . . . . . . Steuermessbescheid . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steuervergütungsbescheid . . . . . . . . . . . . . Erstattungs- bzw. Rückforderungsbescheid Abrechnungsbescheid (§ 218 II AO) . . . . . Haftungs- und Duldungsbescheid . . . . . . .
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1183 1184 1187 1188 1188 1189 1189
D. Verwaltungsverfahren im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1191
I. Besteuerung im gestuften Verwaltungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1191
II. Beteiligte des Besteuerungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1192
1. 2. 3. 4.
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1192 1192 1192 1193
E. Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1195
I. Untersuchungs- und Kooperationsmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1195
II. Mitwirkungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1196
1. 2. 3. 4. 5.
1196 1197 1198 1199 1201 1201 1201
Begriff des Beteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . Beteiligungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bevollmächtigung (gewillkürte Vertretung)
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Allgemeiner Grundsatz (§ 90 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesteigerte Mitwirkungspflicht bei Auslandssachverhalten Mitwirkung bei Erfassung der Stpfl. . . . . . . . . . . . . . . . . . Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten . . . . . . . . . . . Steuererklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Verpflichtung zur Abgabe der Steuererklärung . . . . . . 5.2 Form, Inhalt, Frist der Steuererklärung . . . . . . . . . . . .
XLII
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Inhaltsverzeichnis Seite
5.3 Verspätungszuschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Berichtigungspflicht bei unrichtigen Steuererklärungen 6. Spezielle Mitwirkungspflichten (§§ 93 ff. AO) . . . . . . . . . 6.1 Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Grenze: Übermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Mitwirkungsverweigerungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Benennungsverlangen nach § 160 AO . . . . . . . . . . . . . . . .
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1203 1205 1205 1205 1206 1207 1210
III. Beweis und Beweismaß in finanzbehördlichen Steuerverfahren . . . . . . . . . . . . .
1211
1. 2. 3. 4.
Gewissheitsgrad finanzbehördlicher Sachaufklärung . . . . . . . . Beweisvermutung nach § 158 AO, Vertrauensvorschussprinzip Beweisreduzierung nach § 162 AO/Sphärenverantwortlichkeit Beweiserhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Beweisgegenstand und Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Beweisverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Beweisverwertungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Arten der Steuerfestsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1232
1. 2. 3. 4.
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II. Festsetzungsverjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Endgültige Steuerfestsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung Vorläufige Steuerfestsetzung, Aussetzung . . . . . . . . . . . . Abweichende Festsetzung aus Billigkeitsgründen . . . . . .
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F. Festsetzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. 2. 3. 4.
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V. Amtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Amtshilfe im engeren Sinn . . . . . . . . . . Sog. Spontanhilfe, Kontrollmitteilungen Internationale Amtshilfe . . . . . . . . . . . . Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Besondere Verfahren der Sachaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. ..
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1211 1212 1212 1214 1214 1214 1215 1215 1215
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1. Außenprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zweck der Außenprüfung . . . . . . . . . . . . 1.2 Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . 1.3 Außenprüfung als Ermessensentscheidung 1.4 Prüfungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Prüfungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Digitale Außenprüfung . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Rechtliches Gehör, Schlussbesprechung . . 1.8 Verwertung der Prüfungsfeststellungen . . 1.9 Kontrollmitteilungen in der Außenprüfung 1.10 Besondere Arten von Außenprüfungen . . 2. Steuerfahndung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Steueraufsicht in besonderen Fällen . . . . . . . . .
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XLIII
Inhaltsverzeichnis Seite
1. 2. 3. 4.
Wirkung der Festsetzungsverjährung Festsetzungsfristen . . . . . . . . . . . . . Fristbeginn, Anlaufhemmung . . . . . Fristablauf, Ablaufhemmung . . . . .
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1237 1238 1239 1239
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1241
G. Erhebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1241
I. Verwaltungsakte mit Titelfunktion (§ 218 I AO) als Grundlage für die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Fälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hinausschieben der Fälligkeit . . . 2.1 Stundung (§ 222 AO) . . . . . . 2.2 Zahlungsaufschub (§ 223 AO)
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1241 1242 1242 1243
III. Erlöschen fälliger Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1243
III. Feststellungsverfahren
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1. Zahlung (§§ 224; 225 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufrechnung (§ 226 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Billigkeitserlass; Erstattung aus Billigkeitsgründen (§ 227 AO) 3.1 Grundgedanke des Erlasses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Erlass als Ermessensentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Billigkeitsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Sachliche Unbilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Persönliche Unbilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Billigkeitsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zahlungsverjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Verhältnis von Festsetzungs- und Zahlungsverjährung . . . 4.2 Verjährungsfrist, Hemmung, Unterbrechung . . . . . . . . . . IV. Verzinsung, Säumniszuschlag
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1251
1. Überblick über das Zinssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die einzelnen Verzinsungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen (§ 233a AO) 2.2 Stundungszinsen (§ 234 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Hinterziehungszinsen (§ 235 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge und Steuervergütungen (§ 236 AO) . . 2.5 Aussetzungszinsen (§ 237 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Konkurrenz der Zinstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zinsbescheid (§ 239 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Säumniszuschlag (§ 240 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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H. Vollstreckungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1256
I. Besonderheit der Verwaltungsvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1257
II. Vollstreckung wegen Geldforderungen (§§ 259–327 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1257
XLIV
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Inhaltsverzeichnis Seite
III. Vollstreckung wegen anderer Leistungen als Geldforderungen (Zwangsmittel, §§ 328–336 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1260
J. Korrektur von Steuerverwaltungsakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1261
I. Zweigleisigkeit des Korrektursystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1261
II. Korrekturterminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Allgemeine Korrekturvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten (§ 129 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sonstige allgemeine Korrekturvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Spezielle Korrekturvorschriften für Steuerbescheide und diesen gleichgestellte Steuerverwaltungsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Grundtatbestand des § 172 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Korrektur wegen nachträglich bekannt werdender Tatsachen oder Beweismittel (§ 173 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Grundgedanke der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Tatbestandsmerkmale der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Tatsachen oder Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Nachträgliches Bekanntwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Rechtserheblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Negativmerkmale: Ermittlungspflichtverletzung und grobes Verschulden 2.2.5 Negativmerkmal: Änderungssperre nach § 173 II AO . . . . . . . . . . . . . . 3. Korrektur wegen widerstreitender Steuerfestsetzung (§ 174 AO) . . . . . . . . . . . . . 3.1 Mehrfachberücksichtigung eines Sachverhaltes (§ 174 I, II AO) . . . . . . . . . . . 3.2 Nichtberücksichtigung eines Sachverhalts (§ 174 III AO) . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Folgekorrektur nach § 174 IV, V AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Korrektur von Folgebescheiden (§ 175 I 1 Nr. 1 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Korrektur wegen rückwirkenden Ereignisses (§ 175 I 1 Nr. 2 AO) . . . . . . . . . . . 6. Unselbständige Korrektur von materiellen Fehlern (§ 177 AO) . . . . . . . . . . . . . . 7. Vertrauensschutz nach § 176 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Korrekturvorschriften für andere Steuerverwaltungsakte
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1279
1. Überblick über die Regeln der §§ 130; 131 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rücknahme eines rechtswidrigen Steuerverwaltungsakts (§ 130 AO) . . . . . 2.1 Rücknahme eines belastenden Steuerverwaltungsakts (§ 130 I AO) . . . 2.2 Rücknahme eines begünstigenden Steuerverwaltungsakts (§ 130 II AO) 3. Widerruf eines rechtmäßigen Steuerverwaltungsakts (§ 131 AO) . . . . . . . . 3.1 Widerruf eines belastenden Steuerverwaltungsakts (§ 131 I AO) . . . . . 3.2 Widerruf eines begünstigenden Steuerverwaltungsakts (§ 131 II AO) . .
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A. Überblick über das Rechtsschutzsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1283
§ 22 Rechtsschutz in Steuersachen
I. Der Justizgewährleistungsanspruch des Art. 19 IV GG
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1283
II. Die verschiedenen Rechtswege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1285
XLV
Inhaltsverzeichnis Seite
B. Außergerichtliches Rechtsbehelfsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1285
I. Zweck und Rechtsnatur des Rechtsbehelfsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1285
II. Durchführung des Rechtsbehelfsverfahrens
............................
1. Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eingeschränkter Suspensiveffekt des Einspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Grundsatz des § 361 I AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Aussetzung der Vollziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Hinzuziehung zum Verfahren (§ 360 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Ausgestaltung des Einspruchsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Charakter eines verlängerten Verwaltungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Rechtliches Gehör, Erörterung des Sach- und Rechtsstandes (§ 364a AO) 4.3 Präklusion verspäteten Tatsachenvortrages (§ 364b AO) . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Aussetzung und Ruhen des Verfahrens (§ 363 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Abschluss des Rechtsbehelfsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1294
C. Gerichtliches Rechtsbehelfsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Die Gerichtsverfassung der Finanzgerichtsbarkeit
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.......................
1297
1. Zweistufiger Gerichtsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Senatsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der sog. fakultative Einzelrichter (§ 6 FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Das Klagesystem der FGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1301
1. Überblick über das Klagesystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Klagearten im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Anfechtungsklage (§ 40 I 1. Alt. FGO) . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Verpflichtungsklage (§ 40 I 2. Alt. FGO) . . . . . . . . . . . . 2.3 Sonstige (allgemeine) Leistungsklage (§ 40 I 3. Alt. FGO) 2.4 Feststellungsklage (§ 41 FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1301 1302 1302 1303 1303 1304
III. Zulässigkeit der Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1304
1. 2. 3. 4.
Zulässigkeit des Finanzrechtswegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuständigkeit des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Statthafte Klageart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfolgloses Vorverfahren (§ 44 I FGO) . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Grundsatz des obligatorischen Vorverfahrens . . . . . . . 4.2 Ausnahmen vom Vorverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Sog. „Untätigkeitsklage“ (§ 46 FGO) . . . . . . . . 4.2.2 Sprungklage (§ 45 FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Klagebefugnis (§ 40 II FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Anwendungsbereich und Funktion der Klagebefugnis 5.2 Rechtsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Subjektive Betroffenheit des Klägers . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Vortrag zur Klagebefugnis („Geltendmachung“) . . . . . 5.5 Klagebefugnis bei Feststellungsbescheiden (§ 48 FGO) 6. Beteiligten-, Prozess-, Postulationsfähigkeit . . . . . . . . . . . 7. Wahrung der Klagefrist (§ 47 FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . .
XLVI
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Inhaltsverzeichnis Seite
8. 9. 10. 11.
Richtiger Beklagter (sog. Passivlegitimation, § 63 FGO) . Ordnungsmäßigkeit der Klageerhebung (§§ 64; 65 FGO) Rechtsschutzbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Negative Sachurteilsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . .
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1316 1317 1318 1319
IV. Übersicht über die gerichtlichen Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1319
V. Das Klageverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1320
1. Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Untersuchungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Offizial- und Dispositionsmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Grundsatz der Mündlichkeit und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Grundsatz rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beiladung (§§ 60; 60a FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sachaufklärung und Entscheidungsfindung durch das Gericht . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Überblick über die Stationen der Sachaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Vorbereitende Sachaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Beweiserhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Beweismaß und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Regelbeweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Beweismaßorientierung an der Sphärenverantwortlichkeit/fundamentale Beweisregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Beweislastorientierung an der Sphärenverantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . 3.5 Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Grundsatz der freien Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Indizien- und Anscheinsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Aussetzung des Verfahrens (§ 74 FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Klageänderung (§§ 67; 68 FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Entscheidung des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Entscheidungsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Entscheidungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Klagerücknahme/Erledigung der Hauptsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1320 1320 1321 1322 1322 1323 1324 1324 1324 1326 1328 1328
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VI. Vorläufiger Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1336
1. Zweigleisigkeit des vorläufigen Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aussetzung der Vollziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einstweilige Anordnung (§ 114 FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VII. Rechtsmittel
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1. Überblick über das Rechtsmittelsystem . . . . . . . 2. Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zweck der Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Statthaftigkeit der Revision (§ 115 I, II FGO) 2.3 Revisionszulassungsgründe (§ 115 II FGO) . 2.4 Grundsatz der Vollrevision . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Revisionsgründe (§ 118 FGO) . . . . . . . . . . . 2.6 Revisionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Entscheidung des Bundesfinanzhofs . . . . . . . 3. Nichtzulassungsbeschwerde (§ 116 FGO) . . . . .
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XLVII
Inhaltsverzeichnis Seite
4. Beschwerde (§ 128 FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1349
VIII. Anhörungsrüge (§ 133a FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1349
IX. Kosten des Gerichtsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1350
X. Rechtskraft (§ 110 FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1352
D. Verfassungsrechtlicher Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1353
I. Verfassungsbeschwerde (Art. 93 I Nr. 4a GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1353
II. Konkrete Normenkontrolle (Art. 100 I GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1356
III. Entscheidung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1357
E. Europarechtlicher Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1360
§ 23 Materielles Steuerstraf- und -ordnungswidrigkeitenrecht A. Überblick über das System des Steuerstraf- und -ordnungswidrigkeitenrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1367
I. Rechtfertigung eines Steuerstraf- und -ordnungswidrigkeitenrechts . . . . . . . . .
1367
II. Unterscheidung zwischen Steuerverfehlungen und allgemeinen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1369
III. Unterscheidung zwischen Steuerstraftaten und Steuerordnungswidrigkeiten . .
1370
B. Die einzelnen Steuerstraftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1371
I. Steuerhinterziehung (§ 370 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1371
1. Geschütztes Rechtsgut und Deliktscharakter . . . . . . . . . . . . . 2. Objektiver Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Tathandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Taterfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Steuerverkürzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Erlangung eines nicht gerechtfertigten Steuervorteils 2.2.3 Kompensationsverbot (§ 370 IV 3 AO) . . . . . . . . . . 2.3 Kausalität zwischen Tathandlung und Taterfolg . . . . . . . . 2.4 Verkürzung von harmonisierten EU-Abgaben . . . . . . . . . 3. Subjektiver Tatbestand, Irrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zeitliche Stadien der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Selbstanzeige (§ 371 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Rechtsnatur und Zweck der Selbstanzeige . . . . . . . . . . . . 5.2 Positive Strafbefreiungsvoraussetzungen (§ 371 I, III AO) 5.3 Negative Strafbefreiungsvoraussetzungen (§ 371 II AO) . . 6. Konkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1372 1373 1373 1376 1376 1377 1378 1379 1380 1380 1382 1383 1384 1384 1386 1389 1389
II. Gewerbs-/Bandenmäßige Schädigung des Umsatzsteueraufkommens (§ 26c UStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1394
III. Steuerhehlerei (§ 374 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1394
XLVIII
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Inhaltsverzeichnis Seite
C. Die einzelnen Steuerordnungswidrigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1394
I. Leichtfertige Steuerverkürzung (§ 378 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1394
II. Schädigung des Umsatzsteueraufkommens (§ 26b UStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1396
III. Steuergefährdungen (§§ 379–382 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1397
1. 2. 3. 4. 5.
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Steuergefährdung (§ 379 AO) . . . . . . . . . . . Gefährdung von Abzugsteuern (§ 380 AO) . . . . . . . . . Gefährdung von Verbrauchsteuern (§ 381 AO) . . . . . . Gefährdung von Ein- und Ausfuhrabgaben (§ 382 AO)
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1397 1397 1398 1399 1399
IV. Unzulässiger Erwerb von Steuererstattungs- und Vergütungsansprüchen (§ 383 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1399
V. Zweckwidrige Verwendung des Identifikationsmerkmals des § 139a AO (§ 383a AO) 1400 VI. Verletzung der Aufsichtspflicht in Betrieben und Unternehmen (§ 130 OWiG)
1400
§ 24 Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenverfahren A. Steuerstrafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1401
I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1401
II. Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1401
1. 2. 3. 4. 5.
Zuständigkeit zur Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung des Ermittlungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden . . . . . . . . . . . . . Rechtsstellung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren Abschluss des Ermittlungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Strafbefehlsantrag, öffentliche Anklage . . . . . . . . . . . . 5.2 Einstellungen nach §§ 153, 153a StPO . . . . . . . . . . . . 5.3 Absehen von der Strafverfolgung nach § 398a AO . . . 5.4 Verständigungen im Ermittlungsverfahren . . . . . . . . .
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1401 1403 1406 1410 1412 1412 1412 1413 1414
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1415 1415 1415 1415 1416
B. Steuerordnungswidrigkeitenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1417
I. Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1417
II. Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätze des Ermittlungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abschluss des Ermittlungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1418 1418 1418
III. Rechtsbehelf des Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1418
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1421
III. Verfahren vor den Strafgerichten in Steuersachen 1. Zuständiges Strafgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Öffentliche Klage vor den Strafgerichten . . . . . . . . 2.1 Strafbefehlsverfahren (§§ 407 ff. StPO) . . . . . . . 2.2 Öffentliche Klage nach § 170 I StPO . . . . . . . .
. . . .
. . . . .
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XLIX
Abkürzungsverzeichnis a.A. a.a.O. AB abl. ABl. EG Abl. EU Abs. Abschn. abw. AcP AdV a.E. AEAO AEUV a.F. AfaA AfK AfS AG
AnfG Anm. AO AO-StB AöR arg. Art. ASA AStBV AStG Aufl. ausf. AusfG AVmG AWD, AWD BB AWG AW Prax AZO
andere(r) Ansicht am angegebenen Ort Ausführungsbestimmung(en) ablehnend Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (bis Januar 2003) Amtsblatt der Europäischen Union (seit Februar 2003) Absatz Abschnitt abweichend Archiv für die civilistische Praxis (Zeitschrift) Aussetzung der Vollziehung am Ende Anwendungserlass zur Abgabenordnung Vertrag über die Arbeitsweise der EU alte(r) Fassung Absetzung wegen/für außergewöhnliche Abnutzung Archiv für Kommunalwissenschaften (Zeitschrift) Absetzung für Substanzverringerung Aktiengesellschaft; auch „Die Aktiengesellschaft“ (Zeitschrift); mit Ortsbezeichnung: Amtsgericht Aktuelle Juristische Praxis/Pratique juridique actuelle (Zeitschrift) Anschaffungskosten Aktiengesetz Aktuelle Steuerrundschau (Zeitschrift) Alternative amtlich(e) Gesetz zur Umsetzung der Amtshilferichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften Anfechtungsgesetz Anmerkung Abgabenordnung AO-Steuerberater (Zeitschrift) Archiv für öffentliches Recht (Zeitschrift) argumentum Artikel Archiv für Schweizerisches Abgaberecht (Zeitschrift) Anweisungen für das Straf- und Bußgeldverfahren Außensteuergesetz Auflage ausführlich Ausführungsgesetz Altersvermögensgesetz Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters (Zeitschrift) Außenwirtschaftsgesetz Außenwirtschaftliche Praxis (Zeitschrift) Allgemeine Zollordnung
BAföG BAG BAnz
Bundesausbildungs-Förderungsgesetz Bundesarbeitsgericht Bundesanzeiger
AJP/PJA AK AktG AktStR Alt. amtl. AmtshilfeRLUmsG
LI
Abkürzungsverzeichnis
BauGB BayObLG BayRS BayStMFin. BayVBl. BayVerfGH BB BBauG BBG BBK Bd., Bde. BdF BDI Begr. Beil. BeitrRLUmsG BEPS ber. BerlinFG Bespr. bestr. betr. BetrAVG BewÄndG BewDV BewG BewRGr BewRL BfF BFG BFH BFHE BFH/NV BFuP BgA BGB BGBl. BGE BGHSt BGHZ BierStG BIFD BilMoG BilReG BIP BiRiLiG BIT
LII
Baugesetzbuch Bayrisches Oberstes Landesgericht Bayerische Rechtssammlung Bd. I–V Bayerisches Staatsministerium der Finanzen Bayerische Verwaltungsblätter (Zeitschrift) Bayerischer Verfassungsgerichtshof Betriebs-Berater (Zeitschrift) Bundesbaugesetz Bundesbeamtengesetz Buchführung, Bilanz, Kostenrechnung, Zeitschrift für das gesamte Rechnungswesen Band, Bände Bundesminister der Finanzen Bundesverband der Deutschen Industrie Begründung Beilage Gesetz zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Beitreibungsrichtlinie – Umsetzungsgesetz) Base Erosion and Profit Shifting berichtigt Berlinförderungsgesetz Besprechung bestritten betrifft, betreffend Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung Bewertungsänderungsgesetz Bewertungs-Durchführungsverordnung Bewertungsgesetz Richtlinien für die Bewertung des Grundvermögens Bewertungs-Richtlinien für das land- und forstwirtschaftliche Vermögen Bundesamt für Finanzen Beweissicherungs- und Feststellungsgesetz; Berlinförderungsgesetz Bundesfinanzhof Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis (Zeitschrift) Betrieb gewerblicher Art Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Entscheidungen des schweizerischen Bundesgerichts Amtliche Sammlung von Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Amtliche Sammlung von Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Biersteuergesetz Bulletin for International Fiscal Documentation (Zeitschrift) Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz Bilanzrechtsreformgesetz Bruttoinlandsprodukt Bilanzrichtlinien-Gesetz Bulletin for International Taxation (Zeitschrift)
Abkürzungsverzeichnis
BKGG BlStSozArbR
BZRG BZSt.
Bundeskindergeldgesetz Blätter für Steuerrecht, Sozialversicherung und Arbeitsrecht (Zeitschrift) Bundesminister(ium) der Finanzen Bundesminister(ium) für Wirtschaft und Finanzen Bundesminister(ium) für Wirtschaft Betriebsprüfung Betriebsprüfungsordnung Bundesrat Bundesgebührenverordnung für Rechtsanwälte Bundesrats-Drucksache Branntweinmonopolgesetz Beamtenrechtsrahmengesetz Bundessozialgericht Bundessozialhilfegesetz Bruttosozialprodukt beispielsweise Bundessteuerblatt Bundestag Bundestags-Drucksache British Tax Review (Zeitschrift) Bulletin for International Taxation Betrieb und Wirtschaft (Zeitschrift, ab 1991) Bundesverfassungsgericht Amtliche Sammlung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Amtliche Sammlung von Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bundeszentralregistergesetz Bundeszentralamt für Steuern
CDFI CGI CIR CMLRev CpD-Konto
Cahiers de Droit Fiscal International (Zeitschrift) Code général des impôts Code des impôts sur les revenues Common Market Law Review (Zeitschrift) Conto-pro-Diverse
DATEV
Datenverarbeitungsorganisation des steuerberatenden Berufs in der Bundesrepublik Deutschland e.G., Nürnberg Der Betrieb (Zeitschrift) Doppelbesteuerungsabkommen Die Betriebswirtschaft (Zeitschrift) Gesetz zum Abbau von Hemmnissen bei Investitionen in der DDR einschl. Berlin (Ost) (DDR-Investitionsgesetz) Deutscher Familiengerichtstag dergleichen Deutsche Gemeindesteuer-Zeitung (Zeitschrift) das heißt Digesten Deutscher Industrie- und Handelstag
BMF BMWF BMWi. Bp BpO BR BRAGO BR-Drucks. BranntwMonG BRRG BSG BSHG BSP bspw. BStBl. BT BT-Drucks. BTR Bull. Int. Tax BuW BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerfGK BVerwG BVerwGE
DB DBA DBW DDR-IG DFGT dgl. DGStZ d.h. Dig. DIHT
LIII
Abkürzungsverzeichnis
dingl. Diss. DJT DNotZ DÖV DR DRiZ Drucks. DStB DStBl. DStG DStJG DStR DStRE DStZ DStZA und B DStZ/E DV (DVO) DVBl. DVR DWS
dinglich Dissertation Deutscher Juristentag Deutsche Notar-Zeitschrift Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsches Recht (Zeitschrift) Deutsche Richterzeitung (Zeitschrift) Drucksache Der Steuerbeamte (Zeitschrift) Deutsches Steuerblatt (Zeitschrift) Deutsche Steuergewerkschaft Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft (Tagungsbände s. Allgemeines Literaturverzeichnis) Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift) Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst Deutsche Steuer-Zeitung, seit 1980 (Zeitschrift) Deutsche Steuer-Zeitung Ausgabe A und B, bis 1979 (Zeitschrift) Deutsche Steuer-Zeitung/Eildienst, seit 1980 (Zeitschrift) Durchführungsverordnung Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) Deutsche Verkehrsteuer-Rundschau (Zeitschrift) Deutsches wissenschaftliches Steuerinstitut der Steuerberater e.V.
EAG EAO 1974 EATLP ECOFIN EC Tax Rev. Ed. EDV E-EStG EFG EFTA e.G. EG EGAO EGBGB EGHGB EGKS EGMR EGV EigZulG Einf. Einl. EK ElektroG EMRK EnergieStG EnergieStRL entspr. ErbBstg. ErbR ErbSt
Europäische Atomgemeinschaft Regierungsentwurf einer Abgabenordnung von 1974 European Association of Tax Law Professors Economic and Financial Council EC Tax Review Editor (Herausgeber) Elektronische Datenverarbeitung Entwurf eines Einkommensteuergesetzes Entscheidungen der Finanzgerichte (Zeitschrift) Europäische Freihandelsassoziation eingetragene Genossenschaft Europäische Gemeinschaft Einführungsgesetz zur AO Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Einführungsgesetz zum Handelsgesetzbuch Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Eigenheimzulagengesetz Einführung Einleitung Eigenkapital Elektro- und Elektronikgerätegesetz Europäische Menschenrechtskonvention Energiesteuergesetz Energiesteuerrichtlinie entsprechend Erbfolgebesteuerung (Zeitschrift) Zeitschrift für die gesamte erbrechtliche Praxis Erbschaftsteuer
LIV
Abkürzungsverzeichnis
ErbStDV ErbStG ErbStR ErbStRG ESA ESt estpfl. EStB EStDV EStG EStGE EStR
ET EU EuG EuGH EuGHE EuGRZ EuR EuRS EuSt EuStZ EuZW e.V. EWG EWGV EWiR EWIV EWS EZ
Erbschaftsteuer-Durchführungsverordnung Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz Erbschaftsteuer-Richtlinien Erbschaft- und Schenkungsteuerreformgesetz European Space Agency Einkommensteuer einkommensteuerpflichtig Ertrag-Steuerberater (Zeitschrift) Einkommensteuer-Durchführungsverordnung Einkommensteuergesetz Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, 2005 Einkommensteuer-Richtlinien (mit Hinweisteil) Zitierweise: R 134 EStR (Richtlinienteil) H 134 EStR (Hinweisteil) European Taxation (Zeitschrift) Europäische Union Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften Europäischer Gerichtshof Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht (Zeitschrift) Europarechtsschutz (Kommentierungsteil in Tipke/Kruse) Einfuhrumsatzsteuer Europäische Steuerzeitung Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht eingetragener Verein Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG-Vertrag Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Zeitschrift) Erhebungszeitraum
FA FAG FAGO FamRZ FAZ FeuerschStG FG FGO FHF FinArch. FinBeh. FinMin. FinSen. FinVerw. FlurBG FMK Fn. Fördergebietsgesetz
Finanzamt Finanzausgleichsgesetz Geschäftsordnung für die Finanzämter Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Frankfurter Allgemeine Zeitung Feuerschutzsteuergesetz Finanzgericht Finanzgerichtsordnung Fachhochschule für Finanzen Finanzarchiv (Zeitschrift) Finanzbehörde Finanzministerium Senator/Senatorin für Finanzen Finanzverwaltung Flurberinigungsgesetz Finanzminister-Konferenz Fußnote Gesetz über Sonderabschreibungen und Abzugsbeträge im Fördergebiet
LV
Abkürzungsverzeichnis
FR FS FuE FuSt FVG GA GBO GbR gem. GenG GewArch. GewSt GewStDV GewStG GewStR GG GKG GKKB gl. A. GmbH GmbHG GmbHR GmbHStB GmbH-Stpr GmSOGB GNOFÄ
Finanz-Rundschau (bis 1990); Finanz-Rundschau für Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer (bis 1999); Finanz-Rundschau Ertragsteuerrecht (Zeitschrift) Festschrift Forschung und Entwicklung Finanzen und Steuern Gesetz über die Finanzverwaltung
GoB G-REIT GrESt GrEStDV GrEStG GrR-Charta GrS GrStG GS GStB GuV GVBl. GVG
Generalanwalt; Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Grundbuchordnung Gesellschaft bürgerlichen Rechts gemäß Genossenschaftsgesetz Gewerbearchiv (Zeitschrift) Gewerbesteuer Gewerbesteuer-Durchführungsverordnung Gewerbesteuergesetz Gewerbesteuer-Richtlinien Grundgesetz Gerichtskostengesetz Gemeinsame Konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage gleicher Ansicht Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betreffend die GmbH GmbH-Rundschau (Zeitschrift) GmbH-Steuerberater (Zeitschrift) GmbH-Steuerpraxis (Zeitschrift) Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes Grundsätze zur Neuorganisation der Finanzämter und zur Neuordnung des Besteuerungsverfahrens Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung/Bilanzierung German Real Estate Investment Trust Grunderwerbsteuer Grunderwerbsteuer-Durchführungsverordnung Grunderwerbsteuergesetz Charta der Grundrechte der EU Großer Senat Grundsteuergesetz Gesetzessammlung oder Gedächtnisschrift Gestaltende Steuerberatung (Zeitschrift) Gewinn und Verlust Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz
H Habil. HBeglG 2004 Hdb. HdJ HdU HdWW HFA des IdW HFR
Hinweis Habilitationsschrift Haushaltsbegleitgesetz 2004 Handbuch Handbuch des Jahresabschlusses (Loseblatt) Handbuch der Unternehmensbesteuerung Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft Hauptfachausschuss des Instituts der Wirtschaftsprüfer Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung
LVI
Abkürzungsverzeichnis
HGB HHR HHSp Hifo HK h.L./h.M. HRRS Hrsg., hrsgg. Hs. HStR HWB HWStR
Handelsgesetzbuch Herrmann/Heuer/Raupach, Komm. zum EStG/KStG (Loseblatt) Hübschmann/Hepp/Spitaler, Komm. zur AO/FGO (Loseblatt) Highest in – first out Herstellungskosten herrschende Lehre/herrschende Meinung Höchstrichterliche Rechtsprechung Strafrecht (Zeitschrift) Herausgeber, herausgegeben Halbsatz Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (Bände s. Allgemeines Literaturverzeichnis) Handwörterbuch der Betriebswirtschaftslehre Handwörterbuch des Steuerrechts
IAS IBFD-Bulletin i.d.F. i.d.R. i.d.S. IdW i.E. i.Erg. i.e.S. IFA IFA-Bulletin IFRS IFSt i.H.v. INF insb. InsO InvStG InvZulG I.R.C. i.S.d. ISR IStR i.S.v. i.Ü. i.V.m. IVM IWB i.w.S.
International Accounting Standards Bulletin of the International Bureau of Fiscal Documentation in der Fassung in der Regel in dem (diesem) Sinne Institut der Wirtschaftsprüfer im Einzelnen im Ergebnis im engeren Sinne International Fiscal Association Bulletin for International Fiscal Documentation, Amsterdam International Financial Reporting Standards Institut für Finanzen und Steuern in Höhe von Die Information über Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift) insbesondere Insolvenzordnung Investmentsteuergesetz Investitionszulagengesetz Internal Revenue Code im Sinne des/der Internationale Steuer-Rundschau (Zeitschrift) Internationales Steuerrecht (Zeitschrift) im Sinne von im Übrigen in Verbindung mit International VAT Monitor (Zeitschrift) Internationale Wirtschafts-Briefe im weiteren Sinne
JA Jb. JbFSt. Jg. JGG JöR jPdöR JR JStG
Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift) Jahrbuch Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht Jahrgang Jugendgerichtsgesetz Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart juristische Person des öffentlichen Rechts Juristische Rundschau (Zeitschrift) Jahressteuergesetz
LVII
Abkürzungsverzeichnis
Jura JuS JW JZ
Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Juristische Schulung (Zeitschrift) Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) Juristenzeitung (Zeitschrift)
KAG KAGB KapErhG
Kommunalabgabengesetz Kapitalanlagegesetzbuch Gesetz über die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln und über die Verschmelzung von Gesellschaften mit beschränkter Haftung Kommanditgesellschaft Kommanditgesellschaft auf Aktien Kirchensteuergesetz Karlsruher Juristische Bibliographie (Zeitschrift) Kommunal-Kassen-Zeitschrift Kleine und mittlere Unternehmen Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes (s. Allgemeines Literaturverzeichnis) Dokumente der Kommission der Europäischen Gemeinschaften Kommentar Kölner Steuerdialog (Zeitschrift) Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz Kraftfahrzeugsteuergesetz kritisch Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (Zeitschrift) Gesetz zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG-Komm. (Loseblatt) Körperschaftsteuer Körperschaftsteuer-Durchführungsverordnung Körperschaftsteuergesetz Körperschaftsteuer-Richtlinie Kommunale Steuer-Zeitschrift Kölner Schrift zum Wirtschaftsrecht
KG KGaA KiStG KJB KKZ KMU Kölner EStGE KOM Komm. KÖSDI Korb-II-Gesetz KraftStG krit. KritV KroatienAnpG KS/KSM KSt KStDV KStG KStR KStZ KSzW LAG LBH LBP lfd. Lfg. Lifo li. Sp. lit. LPartG LS LStDV LStR LT-Drucks. LuF
Lastenausgleichsgesetz Littmann/Bitz/Hellwig, EStG-Komm. (Altzitate) Littmann/Bitz/Pust, EStG-Komm. (Loseblatt) laufend Lieferung Last in – first out linke Spalte Literatur Lebenspartnerschaftsgesetz Leitsatz Lohnsteuer-Durchführungsverordnung Lohnsteuer-Richtlinien (mit Hinweisteil) Zitierweise: R 70 LStR (Richtlinienteil)/H 70 LStR (Hinweisteil) Landtags-Drucksache Land- und Forstwirtschaft
m. Anm. m.a.W.
mit Anmerkung(en) mit anderen Worten
LVIII
Abkürzungsverzeichnis
MDR MinölStG m.N. MoMiG
MRK MSchrKrim MünchKomm. m.w.N. MwStSystRL MZK
Monatsschrift für Deutsches Recht (Zeitschrift) Mineralölsteuergesetz mit Nachweisen Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen Gesetz zur Modernisierung der Rahmenbedingungen für Kapitalbeteiligungen Menschenrechtskonvention (s. EMRK) Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (Zeitschrift) Münchener Kommentar mit weiteren Nachweisen Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie Der Modernisierte Zollkodex
NB Nds. n.F. N.F. NJW N&R nrkr. NRW NSt NV NVwZ NWB NZG
Neue Betriebswirtschaft (Zeitschrift) Niedersachsen/niedersächsisch neue(r) Fassung Neue Folge Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) Netzwirtschaften und Recht (Zeitschrift) nicht rechtskräftig Nordrhein-Westfalen Neues Steuerrecht von A–Z Nicht-Veranlagung Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Wirtschafts-Briefe Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht
OECD OECD-MA ÖJT ÖPP österr. EStG (öEStG) ÖStZ öVwGH OFD(en) OFH OHG OLG ORDO OVG OVGE OVGSt OWiG
Organization for Economic Cooperation and Development OECD-Musterabkommen Österreichischer Juristentag Öffentlich-private Partnerschaft österreichisches Einkommensteuergesetz Österreichische Steuerzeitung (Zeitschrift) Österreichischer Verwaltungsgerichtshof Oberfinanzdirektion(en) Oberster Finanzgerichtshof Offene Handelsgesellschaft Oberlandesgericht Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Oberverwaltungsgericht Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte Entscheidungen des preuß. OVG in Staatssteuersachen Ordnungswidrigkeitengesetz
p.a. PIR PIStB Preuß. (pr.) ProtErklG
per annum Praxis der internationalen Rechnungslegung (Zeitschrift) Praxis Internationale Steuerberatung (Zeitschrift) preußisch Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz Praxis Steuerstrafrecht (Zeitschrift) Publizitätsgesetz
MoRaKG
PStR PublG
LIX
Abkürzungsverzeichnis
RAO RAP RdA R/D RechtsVO Reg.Begr. RegE REIT RennwLottG re. Sp. resp. RFH RFHE RGBl. RIW/AWD RJF R/K/L RL RLA Rn./Rnrn. Rs. RS Rspr. RStBl. RT RWP Rz. S. sc. SchaumweinStG sec. SEStEG SGb. SGB SGB-AT SGG Slg. SolZ SolZG StA StÄndG StandOG StAnpG StB StBereinG 1999 StBerG Stbg.
LX
Reichsabgabenordnung Rechnungsabgrenzungsposten Recht der Arbeit (Zeitschrift) Rau/Dürrwächter, Komm. zum UStG (Loseblatt) Rechtsverordnung Regierungsbegründung Regierungs-Entwurf Real Estate Investment Trust Rennwett- und Lotteriegesetz rechte Spalte respektive Reichsfinanzhof Sammlung der Entscheidungen des Reichsfinanzhofs Reichsgesetzblatt Recht der Internationalen Wirtschaft/Außenwirtschaftsdienst (Zeitschrift) Revue de Jurisprudence Fiscale (Zeitschrift) Reiß/Kraeusel/Langer, Komm. zum UStG (Loseblatt) Richtlinie Rundschau für den Lastenausgleich Randnummer/Randnummern Rechtssache Rechtssammlung Rechtsprechung Reichssteuerblatt Reichstag Rechts- und Wirtschaftspraxis (Zeitschrift bis 1991) Randziffer(n) Satz/Seite scilicet (nämlich) Schaumweinsteuergesetz section Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften Sozialgerichtsbarkeit (Zeitschrift) Sozialgesetzbuch Sozialgesetzbuch, Allgemeiner Teil Sozialgerichtsgesetz Amtliche Sammlung der EuGHE Solidaritätszuschlag Solidaritätszuschlagsgesetz Staatsanwaltschaft Steueränderungsgesetz Gesetz zur Verbesserung der steuerlichen Bedingungen zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland im Europäischen Binnenmarkt (Standortsicherungsgesetz) Steueranpassungsgesetz Der Steuerberater (Zeitschrift) Steuerbereinigungsgesetz 1999 Steuerberatungsgesetz Die Steuerberatung (Zeitschrift)
Abkürzungsverzeichnis
StbJb. StbKongrRep. StBp. StBVV StBW StEK StEntlG SteuerStud SteuK StGB StJ StKl. StKongrRep. StMBG Stpfl. StPO StQ str. StraBu StrbEG StRG StRev, Schweiz StRK StRO
StuB StuW StV StVergAbG StVj StWa StWG subj. SWI
Steuerberater-Jahrbuch Steuerberaterkongress-Report (seit 1977) Die steuerliche Betriebsprüfung (Zeitschrift) Steuerberatervergütungsverordnung Steuerberater-Woche (Zeitschrift) Steuererlasse in Karteiform (Hrsg.: Felix/Carlé) Steuerentlastungsgesetz Steuer und Studium (Zeitschrift) Steuerrecht kurzgefasst (Zeitschrift) Strafgesetzbuch Steuerliches Journal (Zeitschrift) Steuerklasse Steuerkongreß-Report (bis 1976) Missbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz Steuerpflicht/Steuerpflichtiger Strafprozessordnung Quintessenz des Steuerrechts strittig Straf- und Bußgeldstellen vgl. ZStAmnG Steuerreformgesetz Steuer-Revue (Zeitschrift) Steuerrechtskartei Tipke, Die Steuerrechtsordnung (Bände s. Allgemeines Literaturverzeichnis) Stromsteuergesetz ständige Rechtsprechung Gesetz zur Ergänzung des Steuersenkungsgesetzes (Steuersenkungsergänzungsgesetz) Gesetz zur Reform der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung (Steuersenkungsgesetz) Steuern und Bilanzen (Zeitschrift) Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift) Strafverteidiger (Zeitschrift) Steuervergünstigungsabbaugesetz Steuerliche Vierteljahresschrift (Zeitschrift bis 1993) Steuer-Warte (Zeitschrift) Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft subjektiv(e) Steuer & Wirtschaft International (Zeitschrift)
ThürVBl. TKG TW Tz.
Thüringer Verwaltungsblätter Telekommunikationsgesetz Teilwert Textziffer
u.a. UAbs. Ubg. u.E. umf. umstr. UMTS
und andere, unter anderem Unterabsatz Die Unternehmensbesteuerung (Zeitschrift) unseres Erachtens umfassend umstritten Universal Mobile Telecommunication System
StromStG st. Rspr. StSenkErgG StSenkG
LXI
Abkürzungsverzeichnis
UmwG UmwStG UntStFG UUntStRefG 2008 UR US-GAAP USt UStÄndG UStDV UStG USt-IdNr. UStKongrBericht UStR u.U. UVR VA VAG VAT VBlBW VCI VerfRS VermBG Verpfl. VersR VersStG VerwArch. Vfg. VG vGA VGH VGR VJSchrStFR VO Vol. Vorb. vs. VSF VSSR VStG VuR VVDStRL VwGH VwGO VwVfG VwZG VZ WEG
LXII
Umwandlungsgesetz Umwandlungssteuergesetz Gesetz zur Fortentwicklung des Unternehmenssteuerrechts Unternehmensteuerreformgesetz 2008 Umsatzsteuer-Rundschau (Zeitschrift) (Zitierweise seit 1984) Generally Accepted Accounting Principles (USA) Umsatzsteuer Umsatzsteueränderungsgesetz Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung Umsatzsteuergesetz Umsatzsteuer-Identifikationsnummer Umsatzsteuerkongress-Bericht Umsatzsteuer-Rundschau (Zeitschrift) (Zitierweise bis 1983)/Umsatzsteuerrichtlinien unter Umständen Umsatzsteuer- und Verkehrsteuer-Recht (Zeitschrift) Verwaltungsakt Versicherungsaufsichtsgesetz Value added tax Verwaltungsblätter für Badem-Württemberg (Zeitschrift) Verband der Chemischen Industrie Verfassungsrechtsschutz (Kommentierungsteil in Tipke/Kruse) Vermögensbildungsgesetz Verpflichtung Versicherungsrecht, Juristische Rundschau für die Individualversicherung (Zeitschrift) Versicherungsteuergesetz Verwaltungsarchiv (Zeitschrift) Verfügung Verwaltungsgericht verdeckte Gewinnausschüttung Verwaltungsgerichtshof Tagungsband der Jahrestagung der Gesellschaftsrechtlichen Vereinigung Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht (Zeitschrift) Verordnung Volume Vorbemerkung versus Vorschriftensammlung Bundesfinanzverwaltung Vierteljahresschrift für Sozialrecht (Zeitschrift) Vermögensteuergesetz Verbraucher und Recht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtshof Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz Verwaltungszustellungsgesetz Veranlagungszeitraum Gesetz über das Wohnungseigentum und das Dauerwohnrecht (Wohnungseigentumsgesetz)
Abkürzungsverzeichnis
WG WiB wirtschaftl. Wiss. Beirat wistra WJSU Wj. WJOVL WM WoBauG WoPG WPg. WRV WTJ
Wirtschaftsgut Wirtschaftliche Beratung (Zeitschrift, ab 1994) wirtschaftlich Wissenschaftlicher Beirat Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht Das Wirtschaftstudium (Zeitschrift) Wirtschaftsjahr World Journal of VAT/GST Law (Zeitschrift) Wertpapier-Mitteilungen (Zeitschrift) Wohnungsbaugesetz Wohnungsbauprämiengesetz Die Wirtschaftsprüfung (Zeitschrift) Weimarer Reichsverfassung World Tax Journal (Zeitschrift)
zahlr. ZBJV ZEuS ZEV ZevKR ZEW ZfWG ZIP zit. ZfB ZfbF ZfgK ZfhF ZfIR ZfZ ZG ZGR ZHR ZIS ZK ZKF ZLW ZollVG ZPO ZPr. ZRP ZSt ZSteu ZStW zust. zutr. ZVG ZWH ZwSt zzgl.
zahlreiche(n) Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins Zeitschrift für europarechtliche Studien Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge (ab 1994) Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung Zeitschrift für Wett- und Glücksspielrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht zitiert Zeitschrift für Betriebswirtschaft Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung Zeitschrift für Immobilienrecht Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern Zeitschrift für Gesetzgebung/Zollgesetz Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik Zollkodex/Zivilkammer/Zollkasse Zeitschrift für Kommunalfinanzen Zeitschrift für Luft- und Weltraumrecht Zollverwaltungsgesetz Zivilprozessordnung Die Zollpraxis (Zeitschrift) Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift zum Stiftungswesen Zeitschrift für Steuern und Recht Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft zustimmend zutreffend Zwangsversteigerungsgesetz Zeitschrift für Wirtschaftsstrafrecht und Haftung im Unternehmen Zweitwohnungsteuer zuzüglich
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Allgemeines Literaturverzeichnis Beermann/Gosch, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Loseblatt Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht, 17. Aufl. 2014 Blümich, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, Loseblatt Born/Albers/Dürr, Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, 10 Bände, 1977 ff. (zit. HdWW) Crezelius, Steuerrecht I u. II, 2. Aufl. 1994 DStJG 1: Tipke (Hrsg.), Übertragung von Einkunftsquellen im Steuerrecht, 2., unveränderte Aufl., 1979 DStJG 2: Kruse (Hrsg.), Die Grundprobleme der Personengesellschaft im Steuerrecht, 1979 DStJG 3: Söhn (Hrsg.), Die Abgrenzung der Betriebs- oder Berufssphäre von der Privatsphäre im Einkommensteuerrecht, 1980 DStJG 4: Ruppe (Hrsg.), Gewinnrealisierung im Steuerrecht, 1981 DStJG 5: Tipke (Hrsg.), Grenzen der Rechtsfortbildung durch Rechtsprechung und Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht, 1982 DStJG 6: Kohlmann (Hrsg.), Strafverfolgung und Strafverteidigung im Steuerstrafrecht, 1983 DStJG 7: Raupach (Hrsg.), Werte und Wertermittlung im Steuerrecht, 1984 DStJG 8: Vogel (Hrsg.), Grundfragen des Internationalen Steuerrechts, 1985 DStJG 9: Stolterfoht (Hrsg.), Grundfragen des Lohnsteuerrechts, 1986 DStJG 10: Schulze-Osterloh (Hrsg.), Rechtsnachfolge im Steuerrecht, 1987 DStJG 11: Kruse (Hrsg.), Zölle, Verbrauchsteuern, europäisches Marktordnungsrecht, 1988 DStJG 12: Friauf (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht, 1989 DStJG 13: Woerner (Hrsg.), Umsatzsteuer in nationaler und europäischer Sicht, 1990 DStJG 14: Doralt (Hrsg.), Probleme des Steuerbilanzrechts, 1991 DStJG 15: Kirchhof (Hrsg.), Umweltschutz im Abgaben- und Steuerrecht, 1993 DStJG 16: Lang (Hrsg.), Unternehmensbesteuerung in EU-Staaten, 1994 DStJG 17: Wassermeyer (Hrsg.), Grundfragen der Unternehmensbesteuerung, 1994 DStJG 18: Trzaskalik (Hrsg.), Der Rechtsschutz in Steuersachen, 1995 DStJG 19: Lehner (Hrsg.), Steuerrecht im Europäischen Binnenmarkt, 1996 DStJG 20: Widmann (Hrsg.), Besteuerung der GmbH und ihrer Gesellschafter, 1997 DStJG 21: Fischer (Hrsg.), Steuervereinfachung, 1998 DStJG 22: Birk (Hrsg.), Steuern auf Erbschaft und Vermögen, 1999 DStJG 23: Pelka (Hrsg.), Europa- und verfassungsrechtliche Grenzen der Unternehmensbesteuerung, 2000 DStJG 24: Ebling (Hrsg.), Besteuerung von Einkommen, 2001 DStJG 25: Seeger (Hrsg.), Perspektiven der Unternehmensbesteuerung, 2002 DStJG 26: Jachmann (Hrsg.), Gemeinnützigkeit, 2003 DStJG 27: Pezzer (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht, 2004 DStJG 28: von Groll (Hrsg.), Verluste im Steuerrecht, 2005 DStJG 29: Mellinghoff (Hrsg.), Steuern im Sozialstaat, 2006 DStJG 30: Schön (Hrsg.), Einkommen aus Kapital, 2007 DStJG 31: Widmann (Hrsg.), Steuervollzug im Rechtsstaat, 2008 DStJG 32: Seer (Hrsg.), Umsatzsteuer im europäischen Binnenmarkt, 2009 DStJG 33: Hüttemann (Hrsg.), Gestaltungsfreiheit und Gestaltungsmissbrauch im Steuerrecht, 2010 DStJG 34: Hey (Hrsg.), Einkünfteermittlung, 2011 DStJG 35: Wieland (Hrsg.), Kommunalsteuern und -abgaben, 2012 DStJG 36: Achatz (Hrsg.), Internationales Steuerrecht, 2013 DStJG 37: Jachmann (Hrsg.), Erneuerung des Steuerrechts, 2014
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Allgemeines Literaturverzeichnis
Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002 (zit. Hey, Steuerplanungssicherheit) Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 6. Aufl. 2010 Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Loseblatt (zit. HHSp) Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I: Historische Grundlagen, 3. Aufl. 2003, Band II: Verfassungsstaat, 3. Aufl. 2004, Band III: Demokratie-Bundesorgane, 3. Aufl. 2005, Band IV: Aufgaben des Staates, 3. Aufl. 2006, Band V: Rechtsquellen, Organisation, Finanzen, 3. Aufl. 2007, Band VI: Bundesstaat, 3. Aufl. 2008, Band VII: Freiheitsrechte, 3. Aufl. 2009, Band VIII: Grundrechte: Wirtschaft, Verfahren, Gleichheit, 3. Aufl. 2010, Band IX: Allgemeine Grundrechtslehren, 3. Aufl. 2011 (zit. HStR I–IX) F. Kirchhof, Grundriss des Steuer- und Abgabenrechts, 2. Aufl. 2001 P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch. Ein Vorschlag zur Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer, 2003 (zit. Kirchhof, Einkommensteuer) P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch. Ein Reformentwurf zur Erneuerung des Steuerrechts, 2011 (zit. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch) P. Kirchhof, Einkommensteuergesetz, Kommentar, 13. Aufl. 2014 P. Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Einkommensteuergesetz, Kommentar, Loseblatt (zit. KS) Klein, Abgabenordnung, Kommentar, 12. Aufl. 2014 Kohlmann, Steuerstrafrecht, Kommentar, Loseblatt Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Band I: Allgemeiner Teil, 1991 Kube/Mellinghoff u.a., Leitgedanken des Rechts, Festschrift für Paul Kirchhof, Bd. I: Staat und Verfassung, Bd. II: Staat und Bürger, 2013 Kühn/v. Wedelstädt, Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 20. Aufl. 2011 J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Habil., 1981/88 (zit. J. Lang, Bemessungsgrundlage) J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuches, BMF-Schriftenreihe Heft 49, 1993 (zit. J. Lang, Steuergesetzbuch) J. Lang u.a., Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, 2005 (zit. Kölner EStGE) Littmann/Bitz/Pust, Einkommensteuergesetz, Kommentar, Loseblatt v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 3 Bände, 6. Aufl. 2010 Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl. 2011 L. Schmidt, Einkommensteuergesetz, Kommentar, 33. Aufl. 2014 Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, Habil., 1996 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band I: Wissenschaftsorganisatorische, systematische und grundrechtlich-rechtsstaatliche Grundlagen, 2. Aufl. 2000, Band II: Steuerrechtfertigungstheorie, Anwendung auf alle Steuerarten, sachgerechtes Steuersystem, 2. Aufl. 2003, Band III: Steuerrechtswissenschaft, Steuergesetzgebung, Steuervollzug, Steuerrechtsschutz, Steuerreformbestrebungen, 2. Aufl. 2012 (zit. StRO I–III) Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Loseblatt
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Grundlagen der Steuerrechtsordnung § 1 Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung Literatur: Tipke, Die Steuerrechtsordnung (StRO I–III), Band I (Wissenschaftsorganisatorische, systematische und grundrechtlich-rechtsstaatliche Grundlagen), Band II (Steuerrechtfertigungstheorie, Anwendung auf alle Steuerarten, sachgerechtes Steuersystem), Band III (Föderative Steuerverteilung, Rechtsanwendung und Rechtsschutz, Gestalter der Steuerrechtsordnung), 2. Aufl.: Bd. I, 2000; Bd. II, 2003; Bd. III, 2012.
1. Gegenstand und Bedeutung des Steuerrechts In keinem Rechtsgebiet begegnet der Bürger dem Staat häufiger als im Steuerrecht. Bereits mit seiner Geburt tritt er in ein Dauer-Steuerrechtsverhältnis zum Staat ein1, das sich, sobald das Erwerbsleben beginnt, zu sukzessiven Schuldverhältnissen verdichtet (s. § 6 Rz. 1 ff.). Das Steuerrecht beeinflusst jede wirtschaftliche Betätigung. Von der Höhe der Gesamtsteuerlast hängt es ab, in welchem Umfang der Bürger sein Einkommen investieren, sparen oder konsumieren kann. Die Besteuerung besitzt daher einen großen Einfluss auf die Freiheitsbetätigung der Bürger und Unternehmen. Umgekehrt hängt vom Steueraufkommen der Umfang der Staatsleistungen ab, ohne die eine moderne Gesellschaft funktionsunfähig wäre.
1
Die Steuerrechtswissenschaft befasst sich mit der rechtlichen Ordnung der Besteuerung2. Sie eruiert die Besteuerung als Rechtsverhältnis zwischen Staat und Bürger, der vom Staat erwartet, dass die Steuerlasten freiheitsschonend und gerecht verteilt werden. Dadurch wird die Steuerrechtswissenschaft, wenn sie ihre Verantwortung gegenüber Bürgern, Staat und Gesellschaft wahrnimmt, notwendig zur Steuergerechtigkeitswissenschaft3. Wenn der wirtschaftlich handelnde Bürger dem Staat im Steuerrecht alltäglich begegnet, so wird der Staat im Steuerrecht auf die Probe gestellt, wie viel Recht und wie viel Gerechtigkeit er dem Bürger zu vermitteln vermag. Deshalb ist es zentrales Anliegen dieses Buches, das Steuerrecht als Teil einer rechtsstaatlichen Ordnung des Rechts und besonders als Recht mit der Aufgabe der Steuergerechtigkeit, kurzum als Steuerrechtsordnung zu entfalten, wie sie umfassender Erkenntnisgegenstand von Klaus Tipke, dem Begründer dieses Buches war und ist4. Der Rechtsstaat erschöpft sich nicht in formellen Institutionen. Es genügt nicht, dass Behörden nach dem Gesetz verfahren und dass es Gerichte gibt, die für die Einhaltung der Gesetze sorgen. Der Rechtsstaat muss auch Staat des Rechts sein und die Idee der Gerechtigkeit verbürgen.
2
Das Grundgesetz bindet nach den Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat die vollziehende Gewalt und die Rspr. an „Gesetz und Recht“ (Art. 20 III, 79 III GG); dadurch wird die formal rechtsstaatliche Gesetzmäßigkeit in den Dienst der materiellen Gerechtigkeit gestellt und die Steuergerechtigkeit zu einem wesentlichen Aspekt der Rechtsstaatlichkeit. Das Verfassungsrecht durchdringt das Steuerrecht als in die Vermögens- und Privatsphäre des Bürgers tief eingreifendes öffentliches Recht (s. Rz. 26 f.). Damit haben nahezu alle Grundfragen des Steuerrechts verfassungsrechtliche Ausgangspunkte. Steuerrechtswissenschaft ist also zu
3
1 Mit seiner Geburt wird dem Säugling bereits eine lebenslange Steueridentifikationsnummer zugeteilt (s. § 21 Rz. 183). 2 „(Steuer-)Rechtswissenschaft durch Systemrationalität“, s. Tipke, FS J. Lang, 2010, 21 (26 ff.). 3 So die Besprechung der „Steuerrechtsordnung“ (Literaturübersicht) von K. Vogel, JZ 1993, 1121; s. auch J. Lang, StuW 1989, 201, 203; s. auch Rodi, ZG 1993, 369; Selmer, FinArch. 52 (1995), 234; J. Lang, FS Tipke, 1995, 3; P. Kirchhof, StuW 1996, 3; zur Steuergerechtigkeitstheorie von Tipke auch J. Lang, StuW 2001, 78 ff. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht Liebert, Steuergerechtigkeit in der Globalisierung, 2011, 36 ff. 4 Zum grundlegenden dreibändigen Werk Tipkes (Literaturübersicht) s. insb. K. Vogel, JZ 1993, 1121 (zur Erstauflage); zur Zweitauflage: J. Lang, H. Schaumburg/H. Schaumburg, Drüen, Bozza-Bodden, Brandis, Hey, StuW 2013, 53–120.
Seer
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1
§1
Rz. 4
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
einem bedeutenden Teil Verfassungsrechtswissenschaft1. Sie dogmatisiert und kommentiert das Finanzverfassungsrecht (s. § 2) und entfaltet für das Steuerrecht die Grundrechte und die Strukturprinzipien der Verfassung, besonders das Rechtsstaatsprinzip (s. § 3 Rz. 90 ff.) und das Sozialstaatsprinzip (s. § 3 Rz. 210 ff.). Die Steuergerechtigkeit lebt von der Besteuerungsmoral des Staates und der Steuermoral der Bürger2: Der Staat hat für die gerechte Austeilung der Steuerlasten zu sorgen. Er hat rechtsstaatlich und nicht fiskalisch zu agieren. 4
Das Steuerverfassungsrecht bildet die Grundlage für die von Tipke begründete und in der „Steuerrechtsordnung“ weiterentwickelte steuerrechtswissenschaftliche Systemlehre. Diese Lehre fordert vom Gesetzgeber und vom Anwender der Steuergesetze den folgerichtigen Vollzug systemtragender Prinzipien3, ein folgerichtig entwickeltes Steuersystem sachgerechter Regeln4, das Steuergerechtigkeit, Rechtssicherheit im Steuerrecht und auch Zweckmäßigkeit der Besteuerung verbürgt. Die Notwendigkeit einer solchen Lehre erwächst besonders aus der realen Unordnung des Steuerrechts, dem sog. Steuerdschungel oder Steuerchaos5. Vor allem hat die Steuerrechtswissenschaft dem Gesetzgeber zu verdeutlichen, dass Steuern in einem rechtsstaatlich ausgerichteten Steuerstaat nicht beliebig eingeführt und gestaltet werden können. Dies leistet die Steuerrechtfertigungslehre6.
5
Je mehr Mittel der Staat benötigt, desto mehr wird er zum Steuerstaat, desto mehr findet der Rechtsstaat im Steuerstaat seinen wesentlichen Ausdruck. Als eine Staatsstrukturbestimmung impliziert der Begriff des Steuerstaats aber nicht nur ein Primat der Steuerfinanzierung staatlicher Ausgaben, sondern zugleich auch die freiheitsrechtliche Garantie privatwirtschaftlicher Betätigung7. Die Steuerstaatlichkeit bedeutet die Trennung zwischen Staat und Wirtschaft; der Steuerstaat partizipiert lediglich in Gestalt der Steuer am ökonomischen Erfolg der sich in sei1 Zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen des Steuerrechts insb. die Beiträge in HStR: K. Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, II3, § 30; Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, V3, § 116; P. Kirchhof, Die Steuern, V3, § 118; außerdem in „Leitgedanken des Rechts“, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013: Korioth (§ 135), Reimer (§ 136), Birk (§ 147), Eckhoff (§ 148), Jochum (§ 149), Wernsmann (§ 152). 2 Dazu Tipke, Besteuerungsmoral und Steuermoral, 2000 (empirisch reflektiert von Lösel/Brähler/Hackert, StuW 2009, 221 ff.); Dahm/Gatermann, Besteuerungsethik u. Steuermoral, 2002; Sausgruber, Ursachen und Wirkungen von Steuerillusionen, Eine experimentelle Untersuchung zur Wahrnehmung von Steuern, 2002; Kirchgässer, FS M. Rose, 2003, 215; Bizer/Falk/Lange (Hrsg.), Am Staat vorbei, Transparenz, Fairness u. Partizipation kontra Steuerhinterziehung, 2004; BMF, Monatsbericht März 2005: Steuermoral – Das Spannungsfeld von Freiwilligkeit der Steuerzahlung u. Steuerhinterziehung (Forschungsbericht des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung Tübingen); Fuest, DFGT 4 (2007), 87 ff.; Birk, FS Spindler, 2011, 13 ff.; Feld/Schneider, Steuerunehrlichkeit, Abschreckung und soziale Normen: Empirische Evidenz für Deutschland, 2011, Stiftung Marktwirtschaft Schrift Nr. 112; Schmiel, Warum Steuermoral?, ZfB 2012, 59; Högemann, Besteuerung und Steuermoral; Möhlmann, FinArch. Bd. 70 (2014), 3, wonach die Steuermoral in Ost-Deutschland ausgeprägter als die in WestDeutschland sein soll. 3 Tipke, StRO I2, 256 ff. (Gerechtigkeit durch systemtragende Prinzipien), 263 (Konsequentes Zu-EndeDenken); zur Folgerichtigkeit als zentraler Leitidee des Steuerrechts und zum Misstrauen gegenüber dem Begriff der „Steuergerechtigkeit“ s. Schön, StuW 2013, 289 (295 ff.). 4 Tipke, StRO I2, 273 ff. (Sachgerechtigkeit als auf die Sache bezogene, sachangemessene Gerechtigkeit). 5 Zutreffend K. Vogel, JZ 1993, 1121 (1123): Der Zustand der Steuergesetzgebung stelle die „Steuerrechtswissenschaft vor ein Problem, wie es die anderen Teil-Rechtswissenschaften, zumindest in vergleichbarem Ausmaß nicht kennen … Will sie sich nicht auf eine Kartographie des ,Dschungels’ beschränken, will sie ihren Anspruch, dogmatische Rechtswissenschaft zu sein, also aufrechterhalten, so muß die Steuerrechtswissenschaft – viel mehr als alle anderen Rechtswissenschaften, das Sozialrecht allenfalls ausgenommen – System und Sachgesetzlichkeiten und Spannung zum Gesetz entwickeln. Das heißt: sie muß auf zwei Ebenen gleichzeitig arbeiten, der des positiven Gesetzes und der des sachgesetzlichen Systems …“; zum sog. Steuerchaos außerdem J. Lang, FR 1993, 661 (664 ff.); J. Lang, FS Kriele, 1997, 965 (966 ff.); Mössner, FS Lang, 2010, 83 (84 ff.); Schenke, FS Wahl, 2011, 803 (809 ff.). 6 Dazu Tipke, StRO II2. 7 Zur Steuerstaatlichkeit als Strukturmerkmal s. Isensee, FS H.P. Ipsen, 1977, 426; K. Vogel, HStR II3, 2004, § 30 Rz. 51 ff.; Heintzen, FS Isensee, 2007, 831 (835 ff.); Crezelius, DStR-Beihefter zu 51-52/2013, 99 f.; dagegen eher deskriptiv Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, 22 ff.; aus finanzwissenschaftlicher Sicht: Gawel, Der Staat 2000, 209.
2
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Gegenstand und Bedeutung des Steuerrechts
Rz. 8
§1
nem Hoheitsgebiet betätigenden Wirtschaftssubjekte. Das Steuerrecht ist damit Teil einer freiheitlich verfassten Rechtsordnung. Besteuerung ist Teilhabe am Privateigentum, am privaten Wirtschaften1. Steuern sind nicht erforderlich, wenn dem Staat bereits alles gehört und wenn die Wirtschaft allein vom Staat betrieben wird. Daher wird die Privatnützigkeit des Eigentums und der Wirtschaft durch die Institution der Besteuerung bestätigt. Die Frage, wie viel das freiheitlich verfasste Gemeinwesen von dem privaten Erwerb beanspruchen und Privatkonsum beschneiden kann, hängt von dem Ausmaß der Sozialpflichtigkeit ab, das Verfassung (Art. 14 II GG) und Gesellschaft dem Privateigentum abverlangen (s. Rz. 39 ff.). Der klassisch-liberale Zweck der Besteuerung erstreckt sich lediglich auf den eigenen Finanzbedarf des Staates, der benötigt wird, um die Rechts- und Wirtschaftsordnung zu verwirklichen, die das Individuum schützt und ihm den institutionellen Rahmen für die Entfaltung der Persönlichkeit bietet. Danach sind Steuern der Preis für den Schutz des Staates, für die institutionelle Sicherheit2, die für das private Wirtschaften erforderlich ist3. Ein Staat, der wie die Bundesrepublik Deutschland eine führende Position in der Weltwirtschaft einnimmt, hat bereits einen großen institutionellen Finanzbedarf. Seine Bürger erwarten von ihm ein hohes Niveau an innerer Sicherheit sowie Funktionstüchtigkeit seiner Organe, und die Völkergemeinschaft bindet ihn in ein dichtes Netz internationaler Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten ein. Die aktive, eben auch finanziell bedeutsame Teilnahme an kollektiven Sicherheits- und Finanzsystemen und internationalen Hilfsprogrammen ist wesentlicher Faktor für die Prosperität der Privatwirtschaft in einer eng verflochtenen Weltwirtschaft4.
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Aus Art. 20 I, 28 I 1 GG ergibt sich, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Sozialstaat ist. Obgleich das Grundgesetz damit keine bestimmte Wirtschaftsordnung vorschreibt5, gibt es in der Bundesrepublik Deutschland einen breiten gesellschaftlichen Konsens über die „soziale Marktwirtschaft“ und ein hohes Maß staatlich gewährleisteter sozialer Sicherheit. Die Besteuerung besitzt damit auch eine Umverteilungsfunktion6. Zu dem institutionellen Finanzbedarf tritt ein sozialer Finanzbedarf der sozialen Sicherung, Fürsorge, Vorsorge und Umverteilung hinzu, der Steuerlasten zum beherrschenden Faktor der Wirtschaftsordnung macht.
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Zudem werden Steuergesetze zur wirtschafts-, sozial- und kulturpolitischen Lenkung eingesetzt (s. § 3 Rz. 21). Die Vorstellung, das Steuerrecht könne beliebig als Vehikel der Sozialgestaltung instrumentalisiert werden, hat das Steuerrecht sozialpolitisch überfrachtet. Es wird dazu missbraucht, Gruppen- und Individualinteressen zu befriedigen, denn wählerorientierte Steuerpolitik ist anfällig, gruppenorientierte Steuerpolitik zu sein. Angesichts dieser Steuerpolitik gehen Steuermoral und Rechtsbewusstsein des Steuerzahlers gänzlich verloren: Gerecht sind
8
1 Dazu grundl. P. Kirchhof, Besteuerung und Eigentum, VVDStRL 39 (1981), 213; P. Kirchhof, HStR V3, 2007, § 118 Rz. 1 ff. (Steuer als Preis der Freiheit); Pausenberger, Eigentum und Steuern in der Republik, Diss., 2008, 255 ff. 2 Institutionelle Sicherheit als wesentliche Voraussetzung für die Effizienz einer Volkswirtschaft hat insb. der Wirtschaftshistoriker u. Nobelpreisträger Douglas C. North nachgewiesen (North, Theorie des institutionellen Wandels, 1988). 3 So forderte bereits Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776 (dt. Ausgabe [hrsgg. v. Recktenwald]: Der Wohlstand der Nationen5, 1990), in seiner ersten Steuermaxime (s. § 7 Rz. 2), dass Steuern nach dem Einkommen, das die Bürger „jeweils unter dem Schutz des Staates erzielen“, bemessen werden sollten. Zu den sog. Assekuranztheorien des 17. Jahrhunderts s. Mann, Steuerpolitische Ideale, Vergleichende Studien zur Geschichte der ökonomischen und politischen Ideen und ihres Wirkens in der öffentlichen Meinung 1600–1935, 1937 (Nachdruck: 1978), 105 ff. 4 Zum Spannungsverhältnis zwischen dem internationalen Steuerwettbewerb und dem Steuerstaatbegriff s. Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, Diss., 2014, 20 ff.; zur Position Deutschlands im internationalen Steuerwettbewerb s. Endres/Stellbrink, StuW 2012, 96. 5 Dazu P. Kirchhof, HStR VIII3, 2010, § 169 Rz. 101. 6 Zum Umverteilungszweck der Besteuerung s. etwa Fellinger, FS M. Fischer, 2010, 365 (367 ff.); Genser/Ramser/Stadler, Umverteilung und soziale Gerechtigkeit, 2011; Kammer, Die Politische Ökonomie der Umverteilung, Diss., 2013, 23 ff., 59 ff.; aus philosophischer Sicht Black, Eigentumsfreiheit und Besteuerung aus liberaler Perspektive, Diss., 2010.
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§1
Rz. 9
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
dann solche Steuern, die von den anderen bezahlt werden1. Das damit legitimierte Bestreben, die eigene Steuerbelastung möglichst gering zu halten, macht Gegenmaßnahmen des Gesetzgebers erforderlich. Der für und wider gesellschaftliche Gruppen agierende Aktionismus des Steuergesetzgebers verändert das Steuerrecht zum viel zitierten Steuerchaos (s. § 3 Rz. 1). 9
Je höher jedoch der Finanzbedarf des Staates ist, der von seinen Bürgern zu tragen ist, desto gerechter muss die Verteilung der Steuerlasten sein, desto strikter ist die Allgemeinheit und Gleichheit der Besteuerung zu handhaben. Wer viel Steuern zu zahlen hat, erwartet, dass er nicht auch noch die Steuern der anderen mitbezahlt. Er vermag nur die Verteilung von Steuerlasten zu akzeptieren, die sich von Gruppen- und Individualinteressen sichtbar distanziert. Und wenn das Steuerrecht schon durch die Größe des Finanzbedarfs zum beherrschenden Faktor der Wirtschaftsordnung wird, dann sollte der Steuergesetzgeber tunlichst davon absehen, die infolge hoher Steuerlasten unvermeidbaren Lenkungswirkungen noch durch Lenkungsmaßnahmen zu verstärken. Er sollte sich darauf besinnen, dass Steuern vornehmlich für die institutionelle Sicherheit der Wirtschaftsplanung erhoben werden, die durch die Hektik der Steueränderungsgesetzgebung untergraben wird. Die Qualität einer Ordnung des Rechts bietet auch Rechtssicherheit (s. § 3 Rz. 4 ff.). Die institutionelle Unsicherheit des Steuerrechts, die Planungsunsicherheit, die permanente Veränderung von Investitionsbedingungen beeinträchtigen die Effizienz der Volkswirtschaft, ohne dass dadurch ein einziger Cent für das Steueraufkommen gewonnen wird.
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Wie die anderen Rechtswissenschaften ist die Steuerrechtswissenschaft rechtstheoretische, rechtspraktische und didaktische Normenlehre. Sie unterscheidet zwischen Fiskalzweck-, Sozialzweck- und Vereinfachungszwecknormen (s. § 3 Rz. 19 ff.), beschäftigt sich mit methodischen und praktischen Fragen der Rechtsanwendung (s. § 5), dogmatisiert, systematisiert und kommentiert das geltende Steuerrecht und vermittelt den Stoff des geltenden Steuerrechts in Kommentaren und Lehrbüchern. Indessen veranlasst der gegenwärtige Zustand der Steuergesetzgebung auch dazu, sich de lege ferenda mit dem Steuerrecht zu befassen, weil ordnungswidrige Steuergesetze den rechtswissenschaftlichen Ordnungsauftrag verhindern. Das Rechtssystem der Besteuerung muss also notgedrungen in Spannung zum geltenden Gesetz2 entwickelt werden. Je tiefer das Steuerrecht im Chaos versinkt, desto unabweisbarer fällt der Steuerrechtswissenschaft die Aufgabe zu, auf die Erneuerung des Rechts hinzuarbeiten. Das ideale Ergebnis einer Rechtsreform wäre die Schaffung eines konsistenten Steuergesetzbuches3. Alle großen Kodifikationen des Rechts gingen aus einer gesteigerten Unordnung des Rechts hervor (s. § 3 Rz. 8).
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Das Steuerrecht hat aber auch eine besondere Bedeutung für die Rechtsberatung und Rechtsgestaltung4. Die (internationale) Planung von Unternehmensstrukturen und -standorten, Investitionsplanungen und -entscheidungen, Gestaltungen von Gesellschaftsverträgen, Testamenten u.a. ökonomisch bedeutsamen Rechtsgeschäften von Vermögensübertragungen und -nachfolgen bedürfen wesentlich auch der steuerrechtlichen Würdigung, nicht allein zum Zwecke der Steuerminimierung, sondern auch aus Gründen der finanziellen Planungssicherheit, auch zur Absicherung gegen steuerstrafrechtliche Vorwürfe. Wegen des engen Zusammenhangs mit dem Steu1 Dazu Klotz, FS F. Klein, 1994, 289; Schmidtchen, Vom nicht marginalen Charakter der Steuermoral, in Smekal/Theurl (Hrsg.), Stand und Entwicklung der Finanzpsychologie, 1994, 185; Salditt, FS Tipke, 1995, 475; W. Wendt, FS Ritter, 1997, 637; Körner/Strotmann, Steuermoral – Das Spannungsfeld von Freiwilligkeit der Steuerzahlung und Regelverstoß durch Steuerhinterziehung, 2006. 2 So K. Vogel, JZ 1993, 1121 f. 3 Vgl. J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, 1993; Stiftung Marktwirtschaft (Kommission Steuergesetzbuch); P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch – Ein Reformentwurf zur Erneuerung des Steuerrechts, 2011; J. Lang/M. Eilfort (Hrsg.), Strukturreform der deutschen Ertragsteuern, 2013; M. Jachmann (Hrsg.), Erneuerung des Steuerrechts, DStJG 37 (2014). Allgemein zu Zukunftsaufgaben der Steuerrechtswissenschaft Tipke, StRO III2, 1879 ff.; Tipke, StuW 2013, 97; Bareis, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, 1799. Zur Kritik gegenüber einer umfassenden reformatorischen Erneuerung des Steuerrechts aus ökonomischer Sicht F. W. Wagner, FR 2012, 653, m. Replik von P. Kirchhof, FR 2012, 701; F. W. Wagner, DStR 2014, 1133. 4 S. etwa J. Lang, StuW 1976, 76 (79); Jacobsen, FR 2009, 162; zum wirtschaftshistorischen Rollenverständnis der Steuerberatung seit dem 19. Jahrhundert s. Krüger, Steuerberatung und Gerechtigkeit, Diss., 2014.
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Gegenstand und Bedeutung des Steuerrechts
Rz. 13
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errecht befasst sich die Steuerrechtswissenschaft auch mit dem Recht der Steuerberatung und mit dem Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht (s. §§ 23, 24). Die Internationalität des Wirtschaftsverkehrs führt die Steuerrechtswissenschaft außerdem auf die Felder des Völkerrechts und des Europarechts (s. § 4) sowie der Rechtsvergleichung1. Ein Teilgebiet des Steuerrechts, das wegen seiner Komplexität in diesem Buch nicht dargestellt werden kann, ist das Internationale Steuerrecht2 (s. dazu Rz. 81 ff.).
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Auch vermag dieses Buch aus Platzgründen keine zusammenhängende Darstellung der Steuerrechtsgeschichte anzubieten3, weist jedoch geschichtliche Entwicklungen dort nach, wo sie für das geltende Steuerrecht besondere Bedeutung haben, denn Recht ist fixierte Geschichte, so dass sich Bedeutung und Inhalt rechtlicher Institutionen ohne Kenntnis ihrer Geschichte nicht ausmessen lassen. Gesamtdarstellungen der Steuergeschichte haben hauptsächlich Ökonomen4 verfasst. Von Juristen sind vornehmlich begrenzte Zeitabschnitte und spezielle Themen bearbeitet worden5. Somit bestehen auf dem Gebiete des Steuerwesens zahlreiche Lücken rechtshistorischer Forschung und das Bedürfnis nach einer rechtshistorischen Gesamtdarstellung. Ein besonders wichtiges Thema der deutschen Geschichte ist die Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechts6.
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1 Die Rechtsvergleichung gewinnt im Zuge globalisierter Wirtschaftsbeziehungen und der gewachsenen Mobilität von Menschen und Kapital eine immer größere Bedeutung; s. dazu die Arbeiten der International Fiscal Association (IFA), des OECD-Steuerausschusses und der European Association of Tax Law Professors (EATLP). Zum Rechtsvergleich im Internationalen Steuerrecht s. Reimer in Lehner (Hrsg.), Reden zum Andenken von K. Vogel, 2010, 89. 2 Dieses Buch ergänzt Schaumburg, Internationales Steuerrecht3. 3 Vgl. hierzu die kurzen Abrisse von Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht17, § 1; Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, § 1 I; Homburg, Allgemeine Steuerlehre6, 2010, 23 ff.; Schomburg, Lexikon der deutschen Steuer- und Zollgeschichte, Abgaben, Dienste, Gebühren, Steuern und Zölle von den Anfängen bis 1806, 1992. Unterhaltsame u. zugleich lehrreiche Einblicke in die Steuergeschichte bieten die Buchreihe von Pausch/Pausch, Kleine Weltgeschichte der Steuerzahler/der Steuerobrigkeit/der Steuerberatung, 1988, 1989, 1990; A. Pausch, Persönlichkeiten der Steuerkultur, Steuergeschichte in Lebensbildern von Miquel bis Spitaler, 1992; U. Schultz (Hrsg.), Mit dem Zehnten fing es an, Eine Kulturgeschichte der Steuer, 1986; Tipke, StRO III2, 1276 ff. Die DStJG hat in 2013 erstmalig ein steuerhistorisches Symposium durchgeführt, deren Referate v. Drüen, Waldhoff, Reimer, Piltz, Hüttemann, Schmoeckel u. Thier in StuW 2014, 16-87, abgedruckt sind. 4 Eine ausf. Ideengeschichte der Besteuerung der Zeit von 1600 bis 1636 enthält Mann, Steuerpolitische Ideale, 1937 (Nachdruck 1978). Im Weiteren A. Wagner, Finanzwissenschaft3, 3. Teil, 1. Buch: Steuergeschichte vom Altertum bis zur Gegenwart, 1910 (Nachdruck 1973); Webber/Wildavsky, A History of Taxation and Expenditure in the Western World, 1986; Kolms, Geschichte der Steuern, HdWW, Bd. VII, 310 ff. (m.w.N.). 5 Insb. K.H. Lang, Historische Entwicklung der teutschen Steuerverfassungen seit der Karolinger bis auf unsere Zeiten, 1793; Fuisting, Die geschichtliche Entwicklung des Preußischen Steuersystems und systematische Darstellung der Einkommensteuer2, 1894; Jenetzky, System und Entwicklung des materiellen Steuerrechts in der wissenschaftlichen Literatur des Kameralismus von 1680–1860, 1978; Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, Hamburg 1980, Erster Teil: Rekonstruktion der Steuerrechtsgeschichte in rechtspraktischer Absicht; Großfeld, Die Einkommensteuer, Geschichtliche Grundlage und rechtsvergleichender Ansatz, 1981; H. Schulz, Das System und die Prinzipien der Einkünfte im werdenden Staat der Neuzeit dargestellt anhand der kameralwissenschaftlichen Literatur (1600–1835), 1982; Oechsle, Die steuerlichen Grundrechte in der jüngeren deutschen Verfassungsgeschichte, Zugleich eine Untersuchung über das historische Verhältnis von Steuerverfassungsrecht und Finanzwissenschaft, 1993; Schwennicke, „Ohne Steuer kein Staat“, Zur Entwicklung und politischen Funktion des Steuerrechts in den Territorien des Heiligen Römischen Reichs (1500–1800), 1996; Kruse, StuW 1998, 3; Mathiak, Zwischen Kopfsteuer und Einkommensteuer, Die preußische Klassensteuer von 1820, 1999; Thier, Steuergesetzgebung und Verfassung in der konstitutionellen Monarchie, Staatssteuerreformen in Preußen 1871–1893, 1999; Mathiak, StuW 2001, 324; Harris, Income Tax in Common Law Jurisdictions – From the Origins to 1820, 2006; Seer (Hrsg.), Steuern im historischen Kontext, Bochumer Schriften zum Steuerrecht, 2014. 6 Aktualisiert durch die 75-Jahr-Feier des RFH/BFH: Felix, BB 1993, 1297; 1993, 1597; 1993, 1964; Tipke, BB 1993, 1813; List, DStZ 1993, 610; Kumpf, DStZ 1994, 65; Kumpf, StuW 1994, 15; Kumpf, FS 75 Jahre RFH/BFH, 1993, 23; Franzen, FS F. Klein, 1994, 1061; Voß, Steuern im Dritten Reich, Vom Recht zum Unrecht unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, 1995; Engel, StB 1998, 469; Friedensberger/Gössel/Schönknecht (Hrsg.), Die Reichsfinanzverwaltung im Nationalsozialismus,
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Rz. 14
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
2. Abgrenzung von steuerwissenschaftlichen Nachbardisziplinen 14
a) Mit dem Phänomen der „Steuern“ befasst sich nicht nur die Steuerrechtswissenschaft. Die klassische Steuerlehre mit einer bedeutenden geschichtlichen Tradition ist die finanzwissenschaftliche Steuerlehre (s. Rz. 16 ff.). Sie ist ein Teil der Volkswirtschaft (früher: Nationalökonomie) und daher makroökonomisch orientiert. Hingegen hat die betriebswirtschaftliche Steuerlehre (s. Rz. 20 ff.) die Steuerbelastung des mikroökonomischen Wirtschaftens zum Gegenstand. Der mikroökonomische Ansatz ist der rechtswissenschaftlichen Sicht insofern ähnlich, als die aus Rechtsverhältnissen resultierenden Steuerbelastungen eruiert werden. Im Bereich der betriebswirtschaftlichen Steuerberatungswissenschaft wird naturgemäß auch mit juristischen Methoden gearbeitet, vermengt sich das betriebswirtschaftliche und juristische Schrifttum. Das Steuerberaterexamen ist (nach wie vor) weitgehend juristisch ausgerichtet.
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Die interdisziplinäre Kooperation der Steuerwissenschaften1 dient dem Ziel, die ökonomische Rationalität des Steuerrechts zu verbessern. Das Steuerrecht ist ökonomisches Recht; deshalb beruht seine Sachlogik nicht zuletzt auch auf ökonomischen Sachgesetzlichkeiten. Daher kann das Steuerrecht eine sachlogische Struktur nur entwickeln, wenn es ökonomisch rational verfasst ist und besonders auch das utilitaristische Verhalten des Menschen hinreichend berücksichtigt. Juristische und ökonomische Betrachtungsweisen ergänzen und befruchten sich gegenseitig. Mithin sollten Ökonomen und Juristen in ihren Zielen, ein „gutes“ Steuersystem zu gestalten, nicht auseinander streben und vermeintliche Gegensätze aufbauen, sondern sich darum bemühen, grundsätzliche Missverständnisse der interdisziplinären Diskussion aufzuklären.
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b) Die finanzwissenschaftliche Steuerlehre2 hat die Finanzierung des öffentlichen Sektors zum Gegenstand. Dabei geht es ihr um die volkswirtschaftlich optimale Verteilung der Steuerlasten, um die Minimierung von Wohlfahrtsverlusten, von negativen Steuerwirkungen auf Produktion, Konsum, Preisgestaltung, Wettbewerb, Konjunktur, Wachstum, Beschäftigung, Kapitalbildung, Sparen und Investieren. Es lassen sich zwei Hauptströmungen, eine normative und eine positive3, unterscheiden:
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aa) Die klassische nationalökonomische Steuerlehre4 war stets auch normativ-ethisch angelegt. Ihre Werke sollte jeder Steuerjurist kennen, der sich wissenschaftlich mit dem Steuerrecht beschäftigt. Die klassischen Steuermaximen von Adam Smith (Gleichheit, Bestimmtheit, Bequemlichkeit und Wohlfeilheit der Besteuerung, s. § 7 Rz. 2) können durchaus auch als rechtliche Grundsätze der Ausgestal-
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2002; Schauer, Die Steuergesetzgebung des Nationalsozialismus als Mittel der Machtpolitik, 2003; Kuller, Finanzverwaltung und Judenverfolgung, 2008; zur Praxis der unteren Finanzbehörden in dieser Zeit instruktiv die rechtsgeschichtliche Studie von Otterbeck, Das Finanzamt Bonn im Nationalsozialismus, Diss., 2014. Dazu Popitz, Festgabe von Schanz, Bd. I, 1928, 39; Höhn/Meier, FS Keller, 1971, 123; Elschen, StuW 1991, 99; Wagner, FS D. Schneider, 1995, 723; Schmiel, Rechtskritik als Aufgabe der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, 2005; Raupach, FS Mellwig, 2007, 367. Einen Überblick über die Methoden und Interdisziplinarität juristischer und ökonomischer Steuerforschung geben Betting/Wagner, StuW 2013, 266. S. dazu Handbuch der Finanzwissenschaft3, Bde. I–IV, 1977–1983. Lehrbücher der Finanzwissenschaft von Stiglitz/Schönfelder2, 1989 (Nachdruck 2000); Musgrave/Musgrave/Kullmer, Die öffentlichen Finanzen in Theorie und Praxis6, Bd. 1–4 (Bd. 2: Steuern), 1994; Andel, Finanzwissenschaft4, 1998; Bohley, Die Öffentliche Finanzierung, Steuern, Gebühren u. öffentliche Kreditaufnahme, 2003; Homburg, Allgemeine Steuerlehre6, 2010; Scherf, Öffentliche Finanzen2, 2011; Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie8, 2011; Zimmermann/Henke/Broer, Finanzwissenschaft11, 2012; Brümmerhoff/ Büttner, Finanzwissenschaft11, 2014. Vgl. Andel, Finanzwissenschaft4, 1998, § 2. Insb. Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, erstmals veröffentlicht im Jahre 1776 (dt. Ausgabe [hrsgg. v. Recktenwald]: Der Wohlstand der Nationen8, 1999, 703 ff. [5. Buch, 2. Kap., 2. Teil: Steuern]; John Stuart Mill, Grundsätze der politischen Ökonomie, dt. Ausgabe von Soetbeer, 1869 (3. Band, 5. Buch, 2. Kap.: Von den allgemeinen Grundsätzen der Besteuerung); David Ricardo, Grundgesetze der Volkswirtschaft und Besteuerung, dt. Ausgabe von Baumstark, 1877 (Achtes Hauptstück: Von den Steuern); Adolph Wagner, Finanzwissenschaft3, 1910 (Nachdruck 1973), 5. Buch: Allgemeine Steuerlehre oder Theorie der eigentlichen Besteuerung.
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Abgrenzung von steuerwissenschaftlichen Nachbardisziplinen
Rz. 20
§1
tung von Steuern verstanden werden. Die Erkenntnisse, die David Ricardo, John Stuart Mill und Adolph Wagner zur Steuergleichheit, Steuergerechtigkeit und Besteuerungsmoral gewonnen haben, sind steuerrechtswissenschaftlich unmittelbar verwertbar. Später ist die normativ-ethische Seite der Besteuerung herausragend von Fritz Neumark, Heinz Haller und Richard A. Musgrave erfasst und herausgearbeitet worden1. bb) Demgegenüber operiert die sog. positive Finanzwissenschaft wertfrei quantifizierend, zumeist in mathematischen Modellen. Zu dieser Richtung gehört die Optimalsteuertheorie, deren Forschungsgegenstand sich auf die Steuerwirkungen, auf eine wohlfahrtsoptimale Verteilung (Allokation) der Steuerlasten konzentriert2. An erster Stelle steht die Effizienz (das Steuersystem soll die effiziente Allokation der Ressourcen nicht behindern) und an letzter Stelle ein normatives Verständnis von Gerechtigkeit3. Wichtigstes Ergebnis der Optimalsteuertheorie ist die Konsumorientierung des Steuersystems (s. § 3 Rz. 55 ff.), die besonders in einem Spannungsverhältnis zur Umverteilungsgerechtigkeit steht, weshalb sie von normativ-ethisch denkenden Finanzwissenschaftlern mit Skepsis betrachtet wird4. In der Tat sind die Erkenntnisse der Optimalsteuertheorie einer normativ orientierten Steuerrechtswissenschaft, -praxis und -politik schwer zu vermitteln, wie umgekehrt Optimalsteuertheoretiker normative Bedingungen, rechtliche und gesellschaftliche Realitäten weitgehend außer Acht lassen, was die „wertfreie“ Forschung augenscheinlich realitätsfremd macht. Bei näherer Betrachtung liefern jedoch die optimal-taxation-Analysen sehr wohl rechtlich verwertbare Erkenntnisse, weil eine ökonomisch richtig wirkende Besteuerung nicht nur zur Steuergleichheit, sondern auch zur verfahrenstechnischen Vereinfachung des Steuerrechts beiträgt5.
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cc) Zur Finanzwissenschaft gehört auch die Steuerpsychologie und -soziologie6. Die Steuerpsychologie liefert (empirische) Erkenntnisse über Einstellungen, Motivationen, Emotionen und Verhalten der Steuerzahler gegenüber der Besteuerung. Die Steuermentalität gibt Auskunft über die innere Einstellung zur Besteuerung insgesamt. Die Steuermoral spiegelt die Einstellung gegenüber der Erfüllung oder Vernachlässigung der Steuerpflichten wider. Auf der Grundlage der Erkenntnisse können Gesetzgeber und Finanzverwaltung Maßnahmen zur Überwindung des Steuerwiderstandes entwickeln (zur sog. Tax-Compliance-Strategie s. § 21 Rz. 183).
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c) Die betriebswirtschaftliche Steuerlehre7 befasst sich mit dem Einfluss der Besteuerung auf ökonomische Entscheidungen, und zwar als Disziplin der Entscheidungstheorie, der Steuerberatung und Beratung der Steuergesetzgebung nicht nur mit dem Einfluss der Besteuerung auf unternehmerische
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1 Haller, Die Steuern3, Grundlinien eines rationalen Systems öffentlicher Abgaben, 1981; Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, 1970; Musgrave/Musgrave, Public Finance in Theory and Practice5, 1989 (dt. Ausgabe: Musgrave/Musgrave/Kullmer, Die öffentlichen Finanzen in Theorie und Praxis6, Bde. 1–4 [Bd. 2: Steuern], 1994). 2 Dazu Pohmer (Hrsg.), Zur optimalen Besteuerung, mit Beiträgen von Hackmann, M. Rose, Seidl, Wiegard, 1983. 3 So Stiglitz/Schönfelder, Finanzwissenschaft2, 1989 (Nachdruck 2000), 408, im Gegensatz zu Musgrave/ Musgrave/Kullmer, Die öffentlichen Finanzen in Theorie und Praxis6, Bd. 2, Kap. 10, B (Anforderungen an ein „gutes Steuersystem“), die der Steuergerechtigkeit Vorrang vor Effizienz u. Wohlfeilheit einräumen. S. im Weiteren § 7 Rz. 2 ff. 4 Haller, FinArch. 46 (1988), 236; Haller, FS Pohmer, 1990, 21, 31 ff.; Musgrave in M. Rose (Hrsg.), Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, 1991, 35 (37): „Das gute Steuersystem ist, wie Adam Smith klar, klarer noch als unsere gegenwärtige Diskussion, erkannte, keine Frage der Ökonomie alleine. Es ist auch eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit …“. 5 Zur Umsetzung von optimalsteuertheoretischen Konzepten in der Steuergesetzgebung J. Lang, Steuergesetzbuch, 93, 129 ff., 140 f.; s. auch den Meinungsstand bei Krause-Junk (Hrsg.), Steuersysteme der Zukunft, Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik, 1998; Smekal (Hrsg.), Einkommen versus Konsum – Ansatzpunkte zur Steuerreformdiskussion, 1999. 6 Dazu Mann, FinArch. 2 (1934), 281; Schmölders, Finanz- und Steuerpsychologie3, 1970; Lewis, The Psychology of Taxation, 1982; Smekal/Theurl (Hrsg.), Stand und Entwicklung der Finanzpsychologie, 1994; Bizer/Falk/Lange (Hrsg.), Am Staat vorbei – Transparenz, Fairness und Partizipation kontra Steuerhinterziehung, 2004 (mit Beiträgen zur Steuermoralforschung); Kirchler, The Economic Psychology of Tax Behaviour, 2007; zur Empirie der Steuerhinterziehung s. Franzen, Neue Kriminalpolitik 2008, 72 ff., 94 ff. Eine empirische Untersuchung der Einstellung gegenüber Steuerhinterziehung im Hinblick auf Faktoren wie Nationalität, Alter, Geschlecht, Einkommenslevel, Bildung, Religion, u.s.w. findet sich bei McGee (Hrsg.), The Ethics of Tax Evasion, 2012. 7 Zum Gegenstand und zur Entwicklung der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre D. Schneider, FS Scherpf, 1983, 21 ff. Grotherr, SteuerStud 1995, 101; Kußmaul, StuW 1995, 3; Seibold, Steuerliche Betriebswirtschaftslehre in nationaler und transnationaler Sicht, Habil., 2002; Jacobs, StuW 2004, 251; König, StuW
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Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
Entscheidungen. Vielmehr untersucht sie unter dem mikroökonomischen Aspekt des Verhaltens einzelner Wirtschaftssubjekte das gesamte, auch private Vermögensdispositionen erfassende Spektrum der Besteuerung. Ihr Ausgangspunkt ist das Bestreben der Wirtschaftssubjekte, das Nettoergebnis des Handelns zu maximieren. Ihr steuerpolitisches Ideal ist die Entscheidungsneutralität der Besteuerung1. In der Theorie pflegt sich die betriebswirtschaftliche Steuerlehre als „wertfreie“ Wissenschaft zu verstehen2; tatsächlich ist sie jedoch bei der Ermittlung von Steuerfolgen und im steuerpolitischen Bereich zwangsläufig normative Wissenschaft3. Die betriebswirtschaftliche Steuerlehre hat folgende Aufgaben4:
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aa) Die betriebswirtschaftliche Steuerwirkungslehre5 untersucht den Einfluss der Besteuerung auf betriebliche Zustände und Vorgänge. Sie untersucht die Abhängigkeit der Steuerbelastung von bestimmten betrieblichen Dispositionen, von der Art betrieblicher Organisation, der Wahl der Rechtsform und des Standorts, Beschaffung, Produktion, Absatz, Finanzierung und Investition. Dabei ermittelt die betriebswirtschaftliche Steuerlehre die Gesamtbelastung aller Steuerfolgen einer betrieblichen Größe oder Disposition.
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bb) Die betriebswirtschaftliche Steuergestaltungslehre6 (Steuerplanung und Steuerpolitik, insb. Bilanzpolitik) zieht die Schlussfolgerungen aus der Steuerwirkungslehre. Sie untersucht, welche betrieblichen Dispositionen getroffen werden müssen, damit die steuerliche Belastung minimiert wird. Dabei hat sie den Steuerfaktor in der Rangfolge der Entscheidungsparameter ökonomisch optimal einzustufen und zu gewichten. Steuerlich vorteilhafte Standorte, Rechts- und Finanzierungsformen, Investitionen können i.Ü. so nachteilhaft sein, dass sie als optimale Entscheidungsalternativen ausscheiden7. Besonders problematisch ist die Ungewissheit der Steuergestaltung8 durch Nichtaner-
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2004, 260; Wagner, StuW 2004, 237; Treisch, StuW 2006, 255; Hundsdoerfer/Kiesewetter/Sureth, ZfB 38 (2008), 61; Wagner, StuW 2008, 97; Watrin, StuW 2011, 299; Schneeloch, BFuP 63 (2011), 243. Dazu Elschen, StuW 1991, 99; Wagner, StuW 1992, 2; Jansen, Entscheidungsneutrale Gewinnbesteuerung und Liquidität, Köln 2000; Treisch, SteuerStud 2000, 368; Musil/Leibohm, FR 2008, 807; M. Rose, FS Lang, 2010, 641 ff. Wöhe, FS Scherpf, 1983, 5 (8). Allerdings hat sich die betriebswirtschaftliche Steuerlehre in jüngster Zeit von der normativen Forschung abgewandt und auf eine empirische Steuerforschung konzentriert, um in englischsprachigen Top-Ranking-Journals international akzeptiert und anerkannt zu werden. Dies ist aus wirtschaftswissenschaftlicher (Karriere-)Sicht nachvollziehbar, birgt allerdings die Gefahr, dass der Dialog zwischen betriebswirtschaftlicher Steuerlehre und den Rechtswissenschaften bzw. der Steuerpraxis weitgehend zum Erliegen kommt. Daher mit Recht krit. gegenüber einer einseitig-empirischen Ausrichtung der Forschung Siegel/Bareis/Förster/Kraft/Schneeloch, FR 2013, 1128; für eine normative betriebswirtschaftliche Steuerforschung: Schneider/Bareis/Siegel, DStR 2013, 1145. Dazu Wöhe, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, Bd. I/16, 1988, 7 ff.; Schneeloch, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, Bd. I/16, 2012, 1 ff.; Denk, Vom Nutzen der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, FS Schlager, 2012, 127 (130 ff.). Dazu D. Schneider, Investition, Finanzierung und Besteuerung7, 1992; D. Schneider, Steuerlast und Steuerwirkung, 2002. Zur sog. Teilsteuerrechnung grundl. G. Rose, BFuP 1979, 293; G. Rose, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre3, 1992, 16 ff. Besondere Lit.: Brähler, DBW 2008, 654; Marx/Hetebrügge, DB 2007, 2381; Thönnes, StuW 2008, 134; zum European Tax Analyzer zur Berechnung von mikrosimulierten internationalen Steuerbelastungsvergleichen von Unternehmen s. Reister, Steuerwirkungsanalysen unter Verwendung von unternehmensbezogenen Mikrosimulationsmodellen, 2009; Grünewald, Internationales Steuerinformationssystem, 2010. Dazu Wagner/Dirrigl, Die Steuerplanung der Unternehmung, 1980; Siegel, Steuerwirkungen und Steuerpolitik in der Unternehmung, 1982; G. Rose, FS von Wallis, 1985, 275; Rödder, Gestaltungssuche im Ertragsteuerrecht, Entwicklung von Gestaltungsmöglichkeiten und Gestaltungsbeispiele, Diss., 1991; D. Schneider, Investition, Finanzierung und Besteuerung7, 1992; Scheffler, Besteuerung von Unternehmen III – Steuerplanung2, 2013; J. Hey, FS Kirchhof, 2013, 1657 ff. Vor diesem Hintergrund kann Steuervermeidungsplanung doppelt ineffizient sein, da sie dem Staat Einnahmen vorenthält und zugleich betriebswirtschaftlich sinnvolle Entscheidungen stört, s. J. Hey, FS P. Kirchhof, 2013, Bd. 2, 1657 (1659). F. W. Wagner, DStR 2014, 1133 (1136), folgert vom Ansatz des „Homo Oeconomicus“ aus, dass Steuersysteme entweder so zu konstruieren seien, dass sie für eine Steuervermeidung keine Anreize setzen, oder die Eingriffe des Staats so vorzunehmen seien, dass die Neigung zur Steuervermeidung in den Dienst demokratisch kontrollierter Lenkungsmaßnahmen gestellt wird (Homo Oeconomicus als „Partner“ des Steuerstaats). Dazu G. Rose, Verunsicherte Steuerpraxis, StbJb. 1975/1976, 41; G. Rose, FS Wöhe, 1989, 289; G. Rose, FS D. Schneider, 1995, 479; G. Rose, GS B. Knobbe-Keuk, 1997, 515; zu G. Roses Bemühen um Steuerplanungssicherheit s. Tipke, FS G. Rose, 1991, 91; s. auch Voss, Ungewissheit im Steuerrecht, 1992.
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Steuerrecht als Referenzgebiet des öffentlichen Rechts
Rz. 27
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kennung von Steuergestaltungen und durch die permanente Veränderung des Steuerrechts; dabei erweist sich die institutionelle Unsicherheit des Steuerrechts als erheblich wirtschaftsschädlicher Faktor. cc) Die Steuerberatungswissenschaft1 zieht die praktischen Schlussfolgerungen aus der Steuerwirkungslehre und Steuergestaltungslehre. Der standesrechtliche Aufgabenbereich der Steuerberatung macht diese weitgehend zur Rechtsberatung. Besonders die externen Aufgaben, die sich aus der Vertretung der Wirtschaftssubjekte gegenüber Behörden und Gerichten ergeben, die sog. Steuerdeklarationsberatung und die Durchsetzung steuerrechtlicher Auffassungen, werden mit juristischen Methoden und Kenntnissen erfüllt, was auch den Charakter der Steuerberaterprüfung prägt2. Hingegen greift die interne, zukunftsorientierte Beratung des Wirtschaftssubjekts auf spezifisch betriebswirtschaftliche Methoden zurück. Die Steuerberatungswissenschaft fundiert schließlich die Erkenntnis, dass der schlecht oder gar nicht Beratene häufig der Dumme ist. Je komplizierter die Steuergesetze ausgestaltet sind, desto mehr ist die Steuervermeidung den gut Beratenen vorbehalten. Die Steuern verkommen zu „Dummensteuern“3.
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dd) Das steuerliche Rechnungswesen basiert zunächst auf einer propädeutisch gelehrten kaufmännischen Technik des Rechnens und Kalkulierens, der Buchführung und Bilanzierung. Diese auf kaufmännischer Praxis und Übung beruhende Technik wird sodann durch akademische Methoden und Erkenntnisse angereichert und zu einer betriebswirtschaftlichen bilanznormbildenden Disziplin, die auf die Fortbildung des Bilanzsteuerrechts wesentlich Einfluss nimmt. Die betriebswirtschaftliche Steuerbilanzlehre hat zum einen die analytische Aufgabe, betriebswirtschaftliche Erkenntnisse in Normen externer Rechnungslegung umzusetzen, und zum anderen die gestaltende Aufgabe der Bilanzpolitik, der Entwicklung von Normen interner Rechnungslegung für die Finanz-, insb. die Investitionsplanung der Unternehmung.
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ee) Schließlich fällt der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre auch die normbildende Aufgabe einer Gesetzeswissenschaft zu, die betriebswirtschaftliche Erkenntnisse bei der Interpretation und rechtspolitischen Gestaltung von Steuergesetzen fruchtbar macht. Hier geht es um die betriebswirtschaftlich orientierte Kommentierung von Steuergesetzen namentlich des Bilanzsteuerrechts, sodann um Grundfragen der Steuerrechtsordnung und um die Mitwirkung an Entscheidungsprozessen der Steuergesetzgebung.
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3. Steuerrecht als Referenzgebiet des öffentlichen Rechts a) Das Steuerrecht ist die Gesamtheit der Rechtsnormen, die Rechte und Pflichten im Steuerrechtsverhältnis (s. § 6 Rz. 1) regeln. Es ist öffentliches Recht, denn die Normen des Steuerrechts sind Trägern hoheitlicher Gewalt, den nach Art. 106, 107 GG steuerberechtigten Körperschaften (s. § 2 Rz. 57 ff.) und den nach Art. 108 GG verwaltenden Behörden, zugeordnet4. Das Steuerrecht ist ein Teil des öffentlichen Finanzrechts, welches das Finanzverfassungsrecht, das Abgabenrecht, das Recht des Haushalts-, Kassen-, Rechnungs- und Kreditwesens, das Währungs- und Subventionsrecht umfasst5. Das Abgabenrecht besteht aus dem Steuerrecht, dem Recht der Gebühren, Beiträge, Sonderabgaben sowie dem Abgabenrecht der EU6.
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b) Das Steuerrecht ist Verwaltungsrecht, und zwar ebenso wie z.B. das Polizeirecht ist es das Recht der Eingriffsverwaltung. Dieser Charakter des Steuerrechts wird besonders im Steuerver-
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1 Dazu G. Rose, StbKongrRep. 1977, 191; Wagner, DB 1991, 1; A. Söffing, Gestaltung der steuerlichen Beratung, Ein Ansatz zur Begründung der institutionell-orientierten Steuerlehre als Teilbereich der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, 1993; Kaiser, Steuerberatung als Risiko-Management, 1995; Schiffers, StuW 1997, 42. 2 Zum Verhältnis zwischen Steuerberatung und Rechtsstaat s. Symposium für Pelka, 2010, mit Beiträgen v. J. Lang, Pelka, Salditt, Seer, Thiel u. Tipke; zur Ethik der Steuerberatung s. Hommerich, DStR 2008, 1161. 3 Den Begriff „Dummensteuer“ hat G. Rose eingeführt (G. Rose, FS Tipke, 1995, 153); s. auch Wagener, Dummensteuern und die (Un-)Möglichkeit ihrer Vermeidung, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 2001, 87. 4 Zu den Zuordnungslehren s. Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I12, 2007, § 22 Rz. 28 ff. 5 Dazu Henneke, Öffentliches Finanzwesen – Finanzverfassung2, 2000, Rz. 38 ff.; Tipke, StRO I2, 34. 6 Dazu F. Kirchhof, Grundriss des Steuer- u. Abgabenrechts2, 2001, 5, 125.
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Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
fahren deutlich. Die Finanzbehörden handeln überwiegend durch Verwaltungsakte (§ 118 AO), die sie selbst vollstrecken können (s. § 21 Rz. 50 ff.). Sie erlegen den Stpfl. nicht nur Geldleistungs-, sondern auch Mitwirkungspflichten auf (s. § 21 Rz. 172 ff.). Bei der Durchführung der Besteuerung greifen die Finanzbehörden nicht nur in die Vermögenssphäre, sondern auch in die nichtvermögensrechtliche Privatsphäre ein1. Charakteristisch für das Steuerrecht als Eingriffsrecht sind die rechtsstaatlichen Anforderungen an die Steuergesetzgebung und Steuerverwaltung (s. § 3 Rz. 90 ff.). Hervorzuheben ist besonders die überragende Bedeutung des Gleichheitssatzes (Gleichmäßigkeit der Besteuerung), die Abwehrfunktion der Grundrechte, die rechtsstaatliche Rechtssicherheit und der strenge Gesetzesvorbehalt. Die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis entstehen regelmäßig allein auf Grund Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands (§ 38 AO); dieser anspruchsbegründende Tatbestand räumt grds. kein Verwaltungsermessen ein (§ 5 AO gilt hauptsächlich für Verfahrensakte). Schließlich ist die Finanzgerichtsbarkeit ein Zweig der besonderen Verwaltungsgerichtsbarkeit (§ 1 FGO). In wesentlichen Teilen (z.B. im System der Klagen gegen Verwaltungshandeln; dazu § 22 Rz. 73 ff.) stimmt die Finanzgerichtsordnung mit der Verwaltungsgerichtsordnung überein. 28
c) Innerhalb des Verwaltungsrechts bildet jedoch das Steuerrecht ein eigenständiges rechtliches Subsystem2 mit einer eigenen, speziell ausgebildeten Verwaltung, eigener Gerichtsbarkeit, der Finanzgerichtsbarkeit, und mit eigenen Berufen, wie z.B. dem des Steuerberaters oder des Fachanwalts für Steuerrecht. Wie andere große Rechtsgebiete ist das Steuerrecht von spezifischen Zwecken und Wertungen geprägt. Wirtschaftliche Begriffe wie Einkommen, Gewinn, Umsatz, Vermögen, Wirtschaftsgut und Materien eines speziellen wirtschaftlichen Wissens wie insb. die verschiedenen Formen der Rechnungslegung spielen im Steuerrecht eine zentrale Rolle und versperren ökonomiefremd ausgebildeten Juristen den Zugang zum Steuerrecht, was sich etwa in der Steuerstrafjustiz fatal zu Lasten des Rechtsstaats auswirken kann. Mitunter werden bei Schadensersatzprozessen steuerrechtliche Gutachten eingeholt, das Steuerrecht außerhalb des Grundsatzes „iura novit curia“ wie ausländisches Recht (§ 293 ZPO) behandelt. Die Steuerberatung liegt überwiegend in den Händen von Nichtjuristen. Dieser Befund darf nicht den Blick dafür verstellen, dass Steuerrecht Verwaltungsrecht par excellence ist, dessen Grundfragen verwaltungsrechtlicher Natur und häufig auch (ebenso wie im Wirtschaftsverwaltungsrecht) vom Standpunkt des Verfassungsrechts zu lösen sind. Das verfassungsrechtlich abgeleitete Fundamentalprinzip des Steuerrechts, das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (s. § 3 Rz. 40 ff.), wird konkretisiert in einer wirtschaftlich orientierten Begrifflichkeit und Teleologie, die das Steuerrecht als selbstständigen Rechtszweig3 von dem übrigen Verwaltungsrecht abheben, wo wirtschaftliche Begriffe eine weniger herausragende Rolle spielen oder wo wirtschaftliche Begriffe wie etwa der des Einkommens gern vom Steuerrecht übernommen werden (s. Rz. 41). Die wirtschaftliche Orientierung des Steuerrechts ermöglicht es Ökonomen, das Steuerrecht kompetent anzuwenden. Allerdings muss die wirtschaftliche Orientierung des Steuerrechts bei seiner Anwendung stets auf juristische Methoden zurückgeführt werden. So ist die sog. wirtschaftliche Betrachtungsweise oder wirtschaftliche Auslegung des Steuergesetzes eine teleologische Methode zur Verwirklichung des Gesetzeszwecks, einen wirtschaftlichen Vorgang oder Zustand erfassen zu wollen (s. § 5 Rz. 70). Allgemein zielt die wirtschaftliche Betrachtungsweise in ihrer verwaltungsrechtlichen Funktion darauf ab, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gleichmäßig zu erfassen und damit die Steuergleichheit zu verwirklichen.
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d) Steuerrecht ist ebenso wie das Sozialrecht und das Subventionsrecht öffentliches Schuldrecht4. Das Steuerschuldverhältnis (§§ 37 ff. AO) ist ein gesetzliches Schuldverhältnis, das ebenso wie die Schuldverhältnisse des Sozial- und Subventionsrechts vermögensrechtliche Ansprüche statuiert (s. § 6 Rz. 11). Dadurch bestehen zwischen dem Steuerrecht und Rechts1 Vgl. dazu v. Hammerstein, Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatsphäre im Steuerrecht, Diss. 1993; zum Datenschutz s. § 21 Rz. 264 ff. 2 Tipke, StRO I2, 35 (m. zahlr. N. in Fn. 10). 3 Zum Steuerrecht als selbständigem Zweig des Verwaltungsrechts mit historischen Hinweisen Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 18 ff. 4 S. Tipke, StRO I2, 36 f.
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gebieten der sog. Leistungsverwaltung dogmatische Gemeinsamkeiten, die teils auf zivilrechtliche Institutionen zurückgreifen, teils eine eigenständige übergreifende Terminologie hervorbringen1 und die teils als verwaltungsrechtliche Besonderheiten z.B. die Dogmatik von Geldleistungsverwaltungsakten (s. § 21 Rz. 50 ff.) bewältigen müssen. Gegenüber dem gesetzlichen Anspruch einer Privatperson ist der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis wesentlich durch das Durchsetzungsgebot charakterisiert. Während die Privatperson auf ihren gesetzlichen Anspruch (als zivilrechtlich Unterhaltsberechtigte oder Sozialhilfeberechtigte) verzichten kann, zwingen Legalitätsprinzip und Gleichheitssatz den Steuergläubiger grds. dazu, den Steueranspruch durchzusetzen (s. § 21 Rz. 254). Die Rechtsstaatlichkeit lässt es auch nicht zu, die Verjährung eines Anspruchs disponibel zu gestalten. Deshalb begründet die Verjährung nicht lediglich eine Einrede; sie bewirkt vielmehr das Erlöschen des Anspruchs (s. § 6 Rz. 16). Gleichwohl deutet die Verwendung des Begriffs „Steuerschuldrecht“ in der Abgabenordnung auf viele Gemeinsamkeiten des Steuerschuldrechts mit dem zivilrechtlichen Schuldrecht hin2. Dies ist wesentlich Enno Becker, dem Schöpfer der Reichsabgabenordnung, zuzuschreiben (s. Rz. 53).
4. Verhältnis des Steuerrechts zu anderen Rechtsgebieten Das Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung ist mit vielen Rechtsgebieten mehr oder weniger eng verflochten. Im Bereich des Internationalen Steuerrechts hat es partiell die Qualität von Völkerrecht (s. § 2 AO) und Europarecht (dazu ausf. § 4). Die Tatbestände des Steuerstrafrechts und des Steuerordnungswidrigkeitenrechts sind als sog. Blankettvorschriften dadurch gekennzeichnet, dass sie ohne Rückgriff auf das Steuerrecht nicht angewendet werden können (s. § 23 Rz. 22). Enge Bezüge in der Lösung von Grundfragen bestehen auch zwischen Steuerrecht und Wirtschaftsverwaltungsrecht auf den Gebieten des Wirtschaftsverfassungsrechts, namentlich des Grundrechtsschutzes von Unternehmen, der Wirtschaftslenkung (zu direkten/ indirekten Subventionen s. § 19 Rz. 5) und des Rechtsschutzes (z.B. Konkurrentenklage, s. § 22 Rz. 126). Soweit i.Ü. Steuergesetze zur Lenkung eingesetzt werden, wird das Steuerrecht in der Rechtsordnung vielfältig vernetzt mit dem Umweltrecht (s. § 7 Rz. 111 ff.), dem Parteienrecht (s. § 20 Rz. 21 f.) und mit allen vom Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht (s. § 20) begünstigten Rechtsgebieten (z.B. Wissenschaftsrecht, Schulrecht, Denkmalschutzrecht). In einem ausführlicher zu behandelnden Verhältnis steht das Steuerrecht zum Zivilrecht und zum Sozialrecht.
4.1 Steuerrecht und Zivilrecht Literatur: Ball, Steuerrecht und Privatrecht, Theorie des selbständigen Steuerrechtssystems, 1924; Flume, Steuerwesen und Rechtsordnung, 1952 (Nachdruck: Köln 1986); Tipke, Steuerrecht und Bürgerliches Recht, JuS 1970, 149; Meincke, Bürgerliches Recht und Steuerrecht, JuS 1976, 693; Crezelius, Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, Habil., 1983; Walz, Die steuerrechtliche Herausforderung des Zivilrechts, ZHR 147 (1983), 281; Knobbe-Keuk, Das Steuerrecht – eine unerwünschte Quelle des Gesellschaftsrechts?, 1986; Schulze-Osterloh, Zivilrecht und Steuerrecht, AcP 190 (1990), 139; Koller, Privatrecht und Steuerrecht, Eine Grundlagenstudie zur Interdependenz zweier Rechtsgebiete, Habil., 1993; ders., Privatrecht und Steuerrecht – Ein erschöpftes Thema?, ZBJV 131 (1995), 92; Klingelhöffer, Die Bedeutung des Steuerrechts bei der Auslegung und Anwendung zivilrechtlicher Normen, DStR 1997, 544; Schön, Die zivilrechtlichen Voraussetzungen steuerlicher Leistungsfähigkeit, StuW 2005, 247; Crezelius, Der Pflichtteilsanspruch zwischen Zivilrecht und Steuerrecht, in FS Bengel/Reimann, 2012, 33; A. Meyer, Steuerliches Leistungsfähigkeitsprinzip und zivilrechtliches Ausgleichssystem, Habil., 2013.
1 Zum Einkommen als zentralem Begriff des öffentlichen Schuldrechts § 8 Rz. 49 ff. 2 Vgl. Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 93 ff.
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Obwohl Steuerrecht öffentliches Recht ist, bestehen enge Beziehungen zwischen Steuerrecht und Zivilrecht, die seit jeher kontrovers diskutiert werden. Die namentlich von Crezelius1 vertretene Auffassung bewertet das Steuerrecht als Annexrecht oder Folgerecht des Zivilrechts. Mithin lebe das Steuerrecht weitgehend von der Teleologie und Dogmatik des Zivilrechts. Das Zivilrecht sei dem Steuerrecht prävalent2. Die herrschende, namentlich von Tipke3 fundierte Meinung, der sich auch das BVerfG4 angeschlossen hat, entwickelt das Verhältnis des Steuerrechts zum Zivilrecht5 wie folgt:
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a) Entsprechend dem verfassungsrechtlich abgeleiteten Fundamentalprinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit knüpfen Steuergesetze durchweg an wirtschaftliche Vorgänge oder Zustände an, wie Einkommen, Vermögen, Bereicherung, Verbrauch, Aufwand. Diese wirtschaftlichen Vorgänge und Zustände werden weitgehend durch das Zivilrecht gestaltet. Das Zivilrecht liefert die Institutionen für den Rechtsverkehr, der für die an ihm Beteiligten wirtschaftliche Ergebnisse hervorbringt, an die das Steuerrecht anknüpft6. Diese Anknüpfung an einen zivilrechtlich vorgegebenen wirtschaftlichen Vorgang oder Zustand7 bringt der steuergesetzliche Tatbestand unterschiedlich zum Ausdruck.
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Teils bezieht sich das Steuergesetz ausdrücklich auf zivilrechtliche Institutionen, z.B. auf das Eigentum (§ 39 I AO; § 1 I Nr. 3 GrEStG), den Erwerb durch Erbfall i.S.d. § 1922 BGB (§ 3 I Nr. 1 ErbStG), durch Schenkung auf den Todesfall i.S.d. § 2301 BGB (§ 3 I Nr. 2 ErbStG), auf die Begriffe „Kaufvertrag“, „Auflassung“, „Meistgebot im Zwangsversteigerungsverfahren“ (§ 1 I GrEStG). Der Aufbau der vorgenannten Vorschriften verstärkt den zivilrechtlichen Bezug, indem der zivilrechtlich orientierte Tatbestand durch einen Tatbestand ergänzt wird, der erkennbar abweichend von der Zivilrechtslage an bestimmte wirtschaftliche Sachverhalte anknüpft (z.B. § 39 I AO im Verhältnis zu den Tatbeständen des § 39 II AO). Zum weit überwiegenden Teil verwenden jedoch die Steuergesetze Begriffe zivilrechtlicher Herkunft wie Vermietung, Verpachtung, Nießbrauch, Leibrente, Veräußerung, ohne eine Maßgeblichkeit des zivilrechtlichen Begriffsinhalts für den steuerlichen Tatbestand erkennbar zu machen.
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b) Bei der Auslegung zivilrechtlich vorgegebener Begriffe ist zunächst davon auszugehen, dass es keine teleologische Prävalenz des Zivilrechts gibt; das dem Zivilrecht nebengeordnete Steuerrecht hat seine eigene Teleologie, die bei der Interpretation von Steuergesetzen zu entfalten ist8. Dazu konstatiert das BVerfG, dass steuerrechtliche Tatbestandsmerkmale, auch wenn sie einem anderen Rechtsgebiet entnommen sind, nach dem steuerrechtlichen Bedeutungszusam-
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1 Crezelius, Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, 1983 (dazu krit. Schulze-Osterloh, StuW 1986, 74 u. AcP 190 [1990], 139 ff.); ausgewogener Crezelius, Steuerrecht II2, 1994, 6 ff. Vermittelnd Schön, StuW 2005, 247: Teleologie und Systematik des Steuerrechts drängten zur „autonomen“ Auslegung des Steuerrechts. Jedoch sei die „Begriffswahl des historischen Gesetzgebers“ zu berücksichtigen. 2 So leitete insb. Flume, Steuerwesen und Rechtsordnung, 1952 (Nachdruck: 1986) aus einem Gebot der Kongruenz des Steuerrechts zur allgemeinen Rechtsordnung einen Vorrang der Zivilrechtsordnung vor der Steuerrechtsordnung ab, leugnete allerdings nicht, dass das Steuerrecht eine eigenständige, vom Zivilrecht abgelöste Begrifflichkeit statuieren kann (1986, 24). Aus Schweizer Sicht hat Koller, Privatrecht und Steuerrecht, 1993, 395 f., 447 ff.; Koller, ZBJV 131 (1995), 92 (102 f.), die These aufgestellt, dass das Steuerrecht grundlegende zivilrechtliche Ordnungsstrukturen nicht unterlaufen dürfe und vom Zivilrecht vorgegebene Grundinstitutionen und Leitbilder mit imperativen Charakter zu beachten habe. Dabei seien die Wertungen beider Teilrechtsordnungen für den jeweiligen konkreten Problemkreis zuvor gegeneinander abzuwägen. 3 StRO I2, 43 ff. 4 BStBl. II 1992, 212 ff. = StuW 1992, 186 ff. (m. Anm. Meincke). 5 Die in der Literatur vertretenen Ansätze hat umfassend aufbereitet: A. Meyer, Steuerliches Leistungsfähigkeitsprinzip und zivilrechtliches Ausgleichssystem, 2013, 32 ff. 6 So auch Crezelius, Steuerrecht II2, 1994, 6; A. Meyer, Steuerliches Leistungsfähigkeitsprinzip und zivilrechtliches Ausgleichssystem, 2013, 15 ff. 7 Dazu ausf. Tipke, StRO I2, 44 f. 8 BVerfG BStBl. II 1992, 212 (213), im Anschluss an Ruppe, Schulze-Osterloh, Tipke/Lang: Zivilrecht und Steuerrecht seien nebengeordnete, gleichrangige Rechtsgebiete, „die denselben Sachverhalt aus einer anderen Perspektive und anderen Wertungsgesichtspunkten beurteilen“; Sieker, FS P. Kirchhof, 2013, 1667 (1668 f.).
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menhang, nach dem Zweck des jeweiligen Steuergesetzes und dem Inhalt der Einzelregelung zu interpretieren seien; es bestünde weder eine Vermutung für ein übereinstimmendes noch für ein abweichendes Verständnis1. Damit bestätigt das BVerfG2 für das Steuerrecht den allgemeinen methodologischen Ansatz, dass nach Zweck und Wertung der anzuwendenden Norm zu bestimmen ist, ob und ggf. wie viel die anzuwendende Norm von dem Regelungsinhalt des anderen Rechtsgebiets übernommen hat. Diese Fragen stellen sich in allen Rechtsgebieten (z.B. Relevanz des zivilrechtlichen Eigentumsbegriffs für den Diebstahlstatbestand) und eben auch im Steuerrecht, wo die sog. wirtschaftliche Betrachtungsweise (besser: wirtschaftliche Auslegung) als teleologische Methode die Maßgeblichkeit zivilrechtlicher Regelungsinhalte zu begrenzen hat (s. § 5 Rz. 70 ff.). aa) Danach ist der zivilrechtliche Regelungsinhalt maßgeblich, wenn er wirtschaftliche Vorgänge oder Zustände konstituiert, an die das Steuergesetz anknüpft. Zivilrechtlich zwangsläufige Unterhaltspflichten mindern die steuerliche Leistungsfähigkeit und sind deshalb im Steuerrecht realitätsgerecht zu berücksichtigen (im Weiteren § 8 Rz. 75). Dort, wo Steuergesetze ausdrücklich an zivilrechtliche Institutionen anknüpfen, hat der Rechtsanwender die Rezeption der zivilrechtlichen Institution zu beachten. Er darf beispielsweise die abschließende Aufzählung von Kapitalgesellschaftsformen in § 1 I Nr. 1 KStG nicht um die Publikums-GmbH & Co. KG erweitern (s. § 11 Rz. 24). Jedoch kann auch bei einer strikten Anknüpfung an zivilrechtliche Institutionen eine spezifisch steuerrechtliche Würdigung des Sachverhalts geboten sein, so etwa im Falle wirtschaftlicher Betätigung vor dem Entstehen einer juristischen Person (s. § 11 Rz. 26) oder im Falle von Steuersparkonstruktionen3. Vor diesem Hintergrund überzeugt es nicht, wenn der BFH in Änderung seiner langjährigen Rspr. eine an den weichenden Erbprätendenten in Ausführung eines Erbvergleichs gezahlte Abfindung mit einer rein zivilrechtlichen Begründung nicht mehr als Erwerb von Todes wegen nach § 3 I Nr. 1 ErbStG erfasst4.
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bb) In aller Regel aber verwenden Steuergesetze Begriffe zivilrechtlicher Herkunft a priori nicht in Übereinstimmung mit dem Zivilrecht, sondern sie sind auf den steuerrechtlichen Normzweck zugeschnitten. Der Katalog von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung in § 21 I EStG enthält nicht ausschließlich Vermietungen und Verpachtungen im zivilrechtlichen Sinne. In dieser Weise sind die meisten Begriffe als spezifisch steuerrechtliche zu erkennen, auch wenn sie in anderen Rechtsgebieten verwendet werden wie der in § 15 II EStG definierte Begriff des Gewerbebetriebs, wie die Begriffe Unternehmen (steuerrechtlich insb. spezifiziert durch den Begriff der Mitunternehmerschaft), Rente, Nießbrauch, Zinsen, wie Begriffe des Handels- und Gesellschaftsrechts (Lieferung, Werklieferung, Einlage, Entnahme, Gewinnanteil) sowie des Arbeitsrechts, dessen Arbeitnehmerbegriff von dem steuerrechtlichen erheblich abweicht.
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Indessen gebietet auch die Interpretation spezifisch steuerrechtlicher Begriffe, dass der Rechtsanwender genau erklärt, welche Wirkungen die zivilrechtliche Regelung auf den wirtschaftlichen Vorgang oder Zustand entfaltet. Dazu ist es erforderlich, dass die Zivilrechtslage selbst genau eruiert wird. Wenn etwa eine verdeckte Gewinnausschüttung infolge Verletzung eines Wettbewerbsverbots durch den beherrschenden Gesellschafter angenommen wird, dann ist zuvor das zivilrechtliche Bestehen eines solchen Wettbewerbsverbots zu klären (s. § 11 Rz. 86). Bei der Bestimmung von Einkünften aus einer Mitunternehmerschaft wirkt sich das Gesellschaftsrecht maßgeblich aus, weil die zivilrechtliche Regelung der Rechtszuständigkeiten auch die wirtschaftliche Zurechnung der Vorgänge mitkonstituiert (s. § 10 Rz. 31 ff.). Gleichwohl darf der Rechtsanwender bei dem Rückgriff auf das Zivilrecht die Aufgabe, ein Steuergesetz zu interpretieren, nicht aus dem Auge verlieren. So hätte die Regelung des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 2 EStG zur doppelstöckigen Personengesellschaft auch de lege lata gewonnen werden können, weil es nach steuerrechtlichem Verständnis auf die Unmittelbarkeit von Vergütungen nicht ankommen kann.
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1 BVerfG BStBl. II 1992, 212 (214) unter Berufung auf Kruse, Ruppe, Tipke/Lang. 2 Unter Berufung auf Engisch, Einführung in das juristische Denken11, hrsgg. u. bearb. v. Würtenberger/ Otto, 2010, 140 ff. (m.w.N.), 274 (sog. Relativität der Begriffe: Begriffe haben in verschiedenen Rechtssätzen jeweils eine verschiedene Bedeutung). 3 So BVerfG BStBl. II 1992, 212 (213) zum Fall eines Bauherrenmodells: „Die Grenzen der Auslegung sind nicht deshalb überschritten, weil § 1 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG ersichtlich an zivilrechtliche Rechtsgeschäfte anknüpft, das Finanzgericht den Gegenstand des Erwerbs aber nach dem Erfolg beurteilt, der aufgrund der zivilrechtlichen Gestaltung in der Person des Erwerbers letztlich eintreten soll“ (3. LS). 4 BFH BStBl. 11, 725 (726), s. dazu näher § 15 Rz. 21.
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Neben dem Einfluss des Zivilrechts auf das Steuerrecht lässt sich umgekehrt auch ein Einfluss des Steuerrechts auf das Zivilrecht registrieren1. Personen und wirtschaftliche Vorgänge sind mit Steuern unterschiedlich belastet. Dies veranlasst Bürger und Unternehmen dazu, Vertragsgestaltungen und Rechtsformen so zu wählen, dass die Steuerlasten möglichst gering sind. Zum Abbau der Spannungen zwischen dem Zivil- und dem Steuerrecht hat beigetragen, dass die wirtschaftliche Betrachtungsweise auch in das Zivilrecht eingedrungen ist. I.Ü. kann ein Steuerrecht, das seine eigene Teleologie missachtet, das Zivilrecht erheblich stören (s. Rz. 47).
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
4.2. Steuerrecht und Sozialrecht Literatur: Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993; Gutachten der Experten-Kommission „Alternative Steuer-Transfer-Systeme“, Probleme einer Integration von Einkommensbesteuerung und steuerfinanzierten Sozialleistungen, Heft 59 der BMF-Schriftenreihe, 1996; Kaltenborn, Abgaben u. Sozialtransfer in Deutschland, 2003; Jachmann, Nachhaltige Entwicklung u. Steuern, 2003, 275 ff.; Mitschke, Abstimmung von steuerfinanzierten Sozialleistungen u. Einkommensteuer durch Integration, in FS M. Rose, 2003, 463; Hinz, Einkommensteuerrecht u. Sozialrecht – Gegensätzlichkeit u. Nähe, 2004; Mellinghoff (Hrsg.), Steuern im Sozialstaat, DStJG 29 (2006) mit Beiträgen v. Raupach, Kube, F. Kirchhof, Wenner, Brandis, D. Felix, P. Axer, Richter, Myßen, Otto, M. Lang; Seiler, Staatliches Nehmen – Staatliches Geben – Zum wechselbezüglichen Selbststand von Steuer- u. Sozialrecht, AöR 136 (2011), 95 ff.; Leibohm, Bedarfsorientierung als Prinzip des öffentlichen Finanzrechts – Zur wechselseitigen Abstimmung von Steuerrecht und Sozialrecht, Diss., 2011; Ott/Schürmann/Werding, Schnittstellen im Sozial-, Steuer- und Unterhaltsrecht, 2012; Jahresberichte über das Sozialrecht in der Rspr. des BFH in JbSozR (Bearbeiter: G. Axer, JbSozR 31 [2010], 583; 32 [2011], 593; 33 [2012], 601; 34 [2013], 555; 35 [2014], 565).
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a) Die Beziehungen zwischen Steuerrecht und Sozialrecht bewegen sich zunächst auf verfassungsrechtlicher Ebene: Soweit der Sozialstaat von Verfassungs wegen das materielle sog. sozial-kulturelle Existenzminimum zu gewährleisten hat2, wirken die sozialrechtlichen Maßstäbe auf das Steuerrecht ein3: Der Staat darf dem Bürger nicht etwas nehmen, was er ihm auf der anderen Seite (wieder) zu geben hat, wenn es ihm fehlt. Dem hat das BVerfG im Grundsatz entsprochen: „Die Höhe des steuerlich zu verschonenden Existenzminimums hängt von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen und dem in der Rechtsgemeinschaft anerkannten Mindestbedarf ab. Der Steuergesetzgeber muss dem Einkommensbezieher von seinen Erwerbsbezügen mindestens das belassen, was er dem Bedürftigen zur Befriedigung seines existenznotwendigen Bedarfs aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellt“4. Der Sozialstaat und das ihm immanente Subsidiaritätsprinzip5 werden auf den Kopf gestellt, wenn die Steuerfreiheit des
1 Dazu Walz, ZHR 147 (1983), 281 ff.; Knobbe-Keuk, Das Steuerrecht – eine unerwünschte Quelle des Gesellschaftsrechts?, Köln 1986; Schulze-Osterloh, AcP 190 (1990), 139 ff.; Meincke, AcP 190 (1990), 358 (insb. zum Finanzierungsleasing); eingehend zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen grundlegende Wertungen des Steuerrechts auf das zivilrechtliche Ausgleichssystem Einfluss nehmen können, A. Meyer, Steuerliches Leistungsfähigkeitsprinzip und zivilrechtliches Ausgleichssystem, 2013, passim. 2 Formuliert in § 9 SGB I: „Wer nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften seinen Lebensunterhalt zu bestreiten oder in besonderen Lebenslagen sich selbst zu helfen, und auch von anderer Seite keine ausreichende Hilfe erhält, hat ein Recht auf persönliche und wirtschaftliche Hilfe, die seinem besonderen Bedarf entspricht, ihn zur Selbsthilfe befähigt, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht und die Führung eines menschenwürdigen Lebens sichert“. Zur verfassungsrechtlichen Absicherung s. BVerfGE 125, 175 (223 ff.) – zum verfassungsrechtlich gebotenen Mindestumfang von Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV). 3 Dazu umfassend die Habilitationsschrift von Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993; s. auch Seiler, AöR 136 (2011), 95 (101 ff.); Leibohm, Bedarfsorientierung als Prinzip des öffentlichen Finanzrechts, 2011, 184 ff. 4 LS 2 des Beschlusses v. 25.9.1992, BVerfGE 87, 153 (dazu § 3 Rz. 160 f.; § 8 Rz. 81 ff.). 5 Dazu umfassend Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, 1968.
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Existenzminimums1 unter dem Niveau des Sozialhilferechts angesetzt und damit der sich selbst versorgende Steuerzahler schlechter gestellt wird als der Sozialhilfeempfänger2. Nach dem zumindest bisher im Sozialrecht vertretenen sog. Lohnabstandsgebot3 soll die Regelsatzbemessung unter den durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelten von Niedrigverdienern liegen. Dementsprechend müsste die Steuerfreiheit des Existenzminimums über dem Sozialhilfeniveau angesetzt werden4. Der soziale Steuerstaat gefährdet seine finanzielle Grundlage, zerstört die Steuermoral, öffnet der Ausbeutung der sozialstaatlichen Einrichtungen Tür und Tor, ermutigt die Nichtbedürftigen zum Trittbrettfahren, wenn er den, der für sich selbst und die Gesellschaft erwirbt, nicht besser stellt als den, der von der Gesellschaft ohne eigenen Beitrag lebt. b) Obgleich das Sozialrecht auf verfassungsrechtlicher Ebene auf das Steuerrecht einwirkt, sind Sozialrecht und Steuerrecht gleichrangig5. Das bedeutet, dass das Steuerrecht sozialrechtlich relevante Sachverhalte möglichst in Abstimmung mit dem Sozialrecht, jedoch eigenständig und ungebunden an das Sozialrecht zu regeln hat6. Das Steuerrecht ist kein Annexrecht zum Sozialrecht. Wenn z.B. die Sozialhilfe so stark gekürzt wird, dass sie das verfassungsrechtlich gewährleistete Existenzminimum nicht mehr abdeckt, dann ist der Gesetzgeber nicht befugt, dem Sozialrecht im Steuerrecht nachzufolgen; er hat vielmehr den verfassungswidrigen Zustand des Sozialhilferechts zu beseitigen.
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c) Die grundlegende Wesensverwandtschaft zwischen Sozialrecht und Steuerrecht ist darin begründet, dass das Fundamentalprinzip der Besteuerung, die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, sein Spiegelbild im Sozialrecht hat7: Das Steuerrecht nimmt den wirtschaftlich Leistungsfähigen Mittel; das Sozialrecht gewährt den wirtschaftlich Bedürftigen Mittel. Bedürftigkeit ist negative Leistungsfähigkeit. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Indikatoren der steuerrechtlichen Leistungsfähigkeit und der sozialrechtlichen Bedürftigkeit aufeinander abzustimmen. Zahlreiche Sozialleistungsgesetze (Sozialgesetzbuch, Bundeskindergeldgesetz, Bundeselterngeldgesetz, Bundesausbildungsförderungsgesetz, Wohngeldgesetz, Wohnungsbau-Prämiengesetz etc.) verweisen auf den steuerrechtlichen Einkommensbegriff und modifizieren ihn sehr unterschiedlich, so dass eine unübersehbare Vielheit von Einkommensbegriffen und damit auch ein starkes Bedürfnis nach Vereinheitlichung entsteht8. Die sozialgesetzlichen Modifikationen des steuerrechtlichen Einkommensbegriffs beruhen im Wesentlichen darauf, dass der sozialhilferechtliche Einkommensbegriff auf die bedarfsorientierten Net-
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1 Krit. gegenüber dem Abzug der das Existenzminimum sichernden Aufwendungen von der einkommensteuerlichen Bemessungsgrundlage aber Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vom dem Bundesverfassungsgericht, Diss., 2011, passim. 2 S. auch BVerfGE 120, 125 (155). 3 So die bis zum 31.12.2010 gültige Fassung des § 28 IV SGB XII; zur Bedeutung des Lohnabstandsgebots als Programmsatz für die Bemessung der Grundsicherung nach neuem Recht s. R. Martens, SozSich 2010, 103 (104 ff.); Waltermann, SGb. 2011, 305 (307). 4 So auch Beschluss des 57. DJT, 1988, 215 („Das steuerliche ,Existenzminimum’ darf von Verfassungs wegen nicht unter dem sozialrechtlichen, sondern muss um der Grundrechte willen deutlich über diesen liegen“), im Anschluss an P. Kirchhof, Gutachten F zum 57. DJT, 1988, 51; s. auch Brandis, DStJG 29 (2006), 93 (104 f.); Schmal, Der Abzug von Vorsorgeaufwendungen im Einkommensteuerrecht, Diss., 2013, 107; a.A. Leibohm, Bedarfsorientierung als Prinzip des öffentlichen Finanzrechts, 2011, 190: „exakte Verschonung des sozialrechtlichen Existenzminimums – nicht mehr und nicht weniger“. 5 Tipke, StRO I2, 39, gegen J. Martens, StVj 1989, 199 ff., der einen „Vorrang des Sozialrechts“ damit begründet, dass der Gesetzgeber Regeln, die er im Sozialrecht festgelegt habe, konsequenterweise auch im Steuerrecht gelten lassen müsse. 6 Eingehend Ott/Schürmann/Werding, Schnittstellen im Sozial-, Steuer- und Unterhaltsrecht, 2012, 23 ff., 102 ff. 7 Tipke, StRO I2, 39 f. (m. zahlr. N.). Zur Diskussion über die Geltung des Leistungsfähigkeitsprinzips in der Sozialversicherung Dickhöfer, Zufluss- und Entstehungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, Diss., 2011, 102 ff, 133 ff. 8 IFSt, Einkommensbegriffe und Einkommensermittlung in Transfergesetzen, Brief Nr. 252, 1985; Franz, StuW 1988, 17; Burger, Der Einkommensbegriff im öffentlichen Schuldrecht, 1991; Brandis, DStJG 29 (2006), 93 (113 ff.); Leibohm, Bedarfsorientierung als Prinzip des öffentlichen Finanzrechts, 2011, 71 ff. Eine tabellarische Übersicht der verschiedenen Einkommensbegriffe findet sich bei Ott/ Schürmann/Werding, Schnittstellen im Sozial-, Steuer- und Unterhaltsrecht, 2012, 83 f.
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togrößen (unter Anrechnung von Steuern) zugeschnitten ist, während der steuerrechtliche Einkommensbegriff primär an die Einkommensentstehung anknüpft1. Demnach wäre der Weg zu einer Harmonisierung der Einkommensbegriffe eröffnet, wenn der steuerrechtliche Einkommensbegriff die Bedarfssituation des Stpfl. so berücksichtigen würde, wie es das Leistungsfähigkeitsprinzip gebietet (§ 3 Rz. 40 ff.; § 8 Rz. 70 ff.). Hieran zeigt sich die Spiegelbildlichkeit von steuerlicher Leistungsfähigkeit und sozialrechtlicher Bedürftigkeit2. 42
d) Schließlich ist das Steuerrecht mit dem Sozialrecht auch durch die steuergesetzlichen Sozialzwecknormen (s. § 3 Rz. 21) verbunden, soweit diese in Fällen der Bedürftigkeit gezielte Steuerentlastungen gewähren. Im Allgemeinen sollten bedürftige Bürger durch sozialrechtliche Transferzahlungen finanziell gefördert werden, weil das steuerrechtliche Instrumentarium die Bedürftigsten, nämlich die Einkommens- und Vermögenslosen, gar nicht zu erfassen vermag. Besondere Abzüge von der Bemessungsgrundlage sind zur Förderung nach dem Bedürftigkeitsprinzip am wenigsten geeignet, weil sie dem Steuerzahler mit dem höchsten Einkommen im Widerspruch zum Bedürftigkeitsprinzip den höchsten finanziellen Vorteil verschaffen.
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Gänzlich verfehlt ist indessen die Bewertung des Kinderfreibetrags als Sozialsubvention; der Kinderfreibetrag ist Pauschale für den existenznotwendigen Regelbedarf des Kindes und unentbehrlicher Baustein für die Steuerfreiheit des verfassungsrechtlich gewährleisteten Existenzminimums (s. § 8 Rz. 93). Ein Dualismus zwischen Kindergeld und Kinderfreibetrag3 besteht nur insofern, als im Umfange staatlicher Finanzierung des Existenzminimums ein Kinderfreibetrag nicht erforderlich ist.
5. Steuerrecht und „Einheit der Rechtsordnung“ Literatur: Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, 1995; Tipke, Über die Einheit der Steuerrechtsordnung, in FS Friauf, 1996, 741; Felix, Einheit der Rechtsordnung, Zur verfassungsrechtlichen Relevanz einer juristischen Argumentationsfigur, 1998; Lamprecht, Verschränkungen zwischen Unternehmensrecht und Unternehmensteuerrecht – Zur Einheit der Rechtsordnung und dem Verhältnis beider Rechtsgebiete zueinander, in FS Blaurock, 2013, 291.
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Das Steuerrecht ist Teil der Gesamtrechtsordnung. Wesentliches Element einer Ordnung ist die Widerspruchsfreiheit ihrer Grundwertungen des Rechts und der Gerechtigkeit: Wenn der Gesetzgeber solche Grundwertungen in einem Teil der Rechtsordnung festgelegt hat, dann muss er sie in anderen Teilen der Rechtsordnung beachten. Diese wertungsmäßige Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als Ordnungselement des Rechts wird mit dem Postulat „Einheit der Rechtsordnung“ zum Ausdruck gebracht4. Die „Einheit der Rechtsordnung“ ist in folgenden Fällen von Bedeutung:
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a) Die Regelungen der verschiedenen Rechtsgebiete sind von einer einzigen, rechtsgebietübergreifend wirksamen Grundwertung, insb. von einer verfassungsrechtlichen Grundwertung betroffen. Demzufolge sind die betroffenen Regelungen in einer sog. Werteinheit verklammert. Die „Werteinheit der Rechtsordnung“ prägt insb. die Beziehungen zwischen Steuerrecht und Sozialrecht, soweit das sozialrechtliche Bedürfnisprinzip als Spiegelbild zum steuerrechtlichen Leistungsfähigkeitsprinzip Platz greift (s. Rz. 41). So ist der Gesetzgeber insb. verpflichtet, die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Existenzminimums im Sozialhilferecht wie im Steuerrecht zu vollziehen, wobei ein über dem 1 Dazu ausf. Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993, 137 ff. 2 Dazu Schmal, Der Abzug von Vorsorgeaufwendungen im Einkommensteuerrecht, Diss., 2013, 84 ff. 3 Dazu ausf. Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993, 239 ff.; krit. zur Kombination von Kindergeld und Kinderfreibetrag etwa Mellinghoff, Referat 66. DJT, 2006, Q 95 f.; Leibohm, Bedarfsorientierung als Prinzip des öffentlichen Finanzrechts, 2011, 204 ff. Zu den Einkommensschwellen Ott/Schürmann/Werding, Schnittstellen im Sozial,- Steuer- und Unterhaltsrecht, 2012, 127 f. 4 Für das Steuerrecht insb. Tipke, StRO I2, 57 ff.; Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, 142 ff.; zur verfassungsrechtlichen Fundierung P. Kirchhof, StuW 2000, 316; A. Meyer, Steuerliches Leistungsfähigkeitsprinzip und zivilrechtliches Ausgleichssystem, 2013, 56 ff., 63 ff.
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Rz. 51
§1
Sozialhilferecht liegendes steuerrechtliches Existenzminimum eine auch im Sozialrecht gültige Grundwertung befriedigt (s. Rz. 39). b) Die „Einheit der Rechtsordnung“ wird auch gestört, wenn das Steuerrecht Grundwertungen anderer Rechtsgebiete nicht beachtet, die jedoch nach der eigenen Teleologie des Steuerrechts zu beachten sind. So mindern z.B. zivilrechtlich zwangsläufige Unterhaltspflichten die steuerliche Leistungsfähigkeit. Wenn sie nicht realitätsgerecht im Steuerrecht berücksichtigt werden, so wird dadurch nicht nur die steuerrechtliche Grundwertung des Familien-Nettoprinzips verletzt (s. § 8 Rz. 75 f.), sondern auch die „Einheit der Rechtsordnung“ negiert1. Demnach gerät die „Einheit der Rechtsordnung“ immer dann in Gefahr, wenn die Steuernorm wirtschaftliche Ergebnisse von Regelungen anderer Rechtsgebiete entgegen der eigenen Grundwertung unberücksichtigt lässt.
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Die Missachtung der steuerrechtlichen Grundwertung führt häufig zu erheblichen Störungen der vom Steuerrecht betroffenen Rechtsgebiete2. So veranlasst die ungleiche steuerliche Belastung der verschiedenen Unternehmensformen (s. § 13 Rz. 1 ff.) zur Gestaltung gesellschaftsrechtlich zweifelhafter Gesellschaftsformen.
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c) Am schwierigsten ist die „Einheit der Rechtsordnung“ in den Fällen der Wertekonkurrenz einzuhalten. Das Steuerrecht darf Grundwertungen anderer Teile nicht durchkreuzen oder unterlaufen, sofern dies durch die eigene Teleologie nicht hinreichend gerechtfertigt ist. Demnach muss eine „Werteabwägung“ vorgenommen werden3, um die im Schrifttum häufig heftig gerungen wird. Beispiele hierfür sind die Abzugsverbote für Geldstrafen, Geldbußen (s. § 8 Rz. 294), Schmier- und Bestechungsgelder (s. § 8 Rz. 299). Das Nettoprinzip hat hier gegenüber den Wertungen des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts zurückzutreten, um die dort angeordneten Sanktionen für rechtswidriges Verhalten nicht durch steuerliche Abzugsfähigkeit zu entkräften.
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6. Gebiete und Gesetze des allgemeinen Steuerrechts 6.1 Das allgemeine Steuerrecht im Überblick Das allgemeine Steuerrecht umfasst drei Teile. Neben den Grundlagen der Steuerrechtsordnung (s. Rz. 50 f.) umfasst es das allgemeine Steuerschuldrecht (s. Rz. 63 ff.) und das Steuerverfahrensrecht (s. Rz. 67 ff.).
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Die Grundlagen der Steuerrechtsordnung werden weitgehend durch das Verfassungsrecht bestimmt. Das Steuerrecht wird zunächst durch den Steuerbegriff (s. § 2 Rz. 9 ff.) abgegrenzt, der zwar in der Abgabenordnung (§ 3 I AO) normiert ist, jedoch hauptsächlich für die Anwendung des Finanzverfassungsrechts Bedeutung hat, das für Steuern gilt. Dieses regelt in den Art. 105–108 GG die Aufteilung der steuerlichen Staatsgewalten und der Steuerhoheiten (s. § 2 Rz. 1 ff.) zwischen Bund und Ländern. Außerhalb der Finanzverfassung gibt es keine steuerspezifischen Bestimmungen des Grundgesetzes (s. § 2 Rz. 7). Es entspricht jedoch dem Charakter des Steuerrechts als öffentlichem Eingriffsrecht (s. Rz. 27), dass die Grundrechte, besonders Art. 1–3; 6; 12–14 GG, und die Strukturprinzipien der Verfassung, besonders das Rechtsstaatsprinzip und das Sozialstaatsprinzip das rechtsstaatliche System des Steuerrechts tragen (s. § 3).
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Weitere Gebiete des Grundlagenteils sind die steuerliche Rechtsquellenlehre (s. § 5 Rz. 1 ff.), die sich mit dem am rechtsstaatlichen Legalitätsprinzip orientierten Gesetzesbegriff (§ 4 AO) und mit den Arten von Rechtsnormen des Steuerrechts befasst, die Anwendung der juristischen Methodenlehre auf die Auslegung und Fortbildung von Steuergesetzen (s. § 5 Rz. 46 ff.) sowie die allgemeine Dogmatik und Begrifflichkeit des Steuerrechtsverhältnisses (s. § 6 Rz. 1 ff.).
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1 S. Zeidler, Ehe und Familie, in Benda/Maihofer/Vogel, Hdb. des Verfassungsrechts der BRD2, 1995, 555 (604). 2 Dazu Raupach, FS Tipke, 1995, 105. 3 Dazu Tipke, StRO I2, 49 ff.; s. auch Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, 110 ff.
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§1
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Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
6.2 Die Abgabenordnung als Teilkodifikation (Mantelgesetz) des Steuerrechts 52
Das bedeutendste Gesetz des Steuerrechts ist die Abgabenordnung, eine Teilkodifikation des allgemeinen Steuerrechts, die auch als Mantelgesetz des Steuerrechts bezeichnet wird. Sie „zieht“ diejenigen Materien „vor die Klammer“, die für alle oder doch mehrere Steuerarten gemeinsam gelten. Dadurch werden die Einzelsteuergesetze entlastet, Wiederholungen und widersprüchliche Regelungen vermieden. Sie regelt in ihrem Ersten Teil Grundbegriffe des Steuerrechts, sodann das Steuerschuldrecht (Zweiter Teil), das Steuerverfahren (§§ 16 ff. AO, sowie Dritter bis Siebenter Teil) und schließlich das nicht dem Steuerrecht angehörende Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht (Achter Teil).
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Die geltende Abgabenordnung ist als AO 1977 am 1.1.1977 in Kraft getreten1 und hat die bis dahin geltende Reichsabgabenordnung von 1919 abgelöst2. Die RAO geht auf einen im Sommer 1918 gefassten Beschluss des Reichsschatzamtes zurück, ein Mantelgesetz für das Steuerrecht zu schaffen, in dem die allgemeinen und sich zum Teil widersprechenden Vorschriften der Einzelsteuergesetze zusammengefasst werden sollten. Es war ein Glücksfall für die Steuergesetzgebung, dass mit dieser Aufgabe allein Enno Becker betraut wurde, der hauptamtlich Zivilrichter und nebenamtlich zwölf Jahre (1906–1918) Richter am Oberverwaltungsgericht Oldenburg war, wo er u.a. auch mit Steuerstreitsachen befasst war. Enno Becker war deshalb kein betriebsblinder Steuerspezialist und ohne störende politische Vorgaben ausschließlich der juristischen Ordnungsaufgabe verpflichtet. Er erarbeitete in kurzer Zeit (November 1918 bis Sommer 1919) den Entwurf einer RAO, ohne sich auf ein wissenschaftliches Fundament stützen zu können3. Da die RAO zahlreiche systematische und terminologische Mängel aufwies, die zum Teil aus der Hast der Entwurfsarbeit zu erklären waren4, ersuchte der Bundestag die Bundesregierung 1963, das allgemeine Steuerrecht zu reformieren, dabei Systematik und Terminologie zu verbessern und die Abgabenordnung als Mantelgesetz wiederherzustellen. Der Regierungsentwurf einer Abgabenordnung 1974 – EAO 1974 – ist vom sechsten Bundestag nicht mehr verabschiedet worden. Er wurde im siebenten Bundestag mit dem Ergebnis der AO 1977 neu eingebracht5.
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Die Abgabenordnung ist kein Steuergrundgesetz. Die Grundnormen der Steuerrechtsordnung ergeben sich aus der Verfassung (s. Rz. 50). Anders als etwa der Allgemeine Teil des Sozialgesetzbuchs enthält die AO wenig Grundsätzliches, die rechtsstaatlichen Grundsätze der Besteuerung werden nur bruchstückhaft (z.B. in den §§ 30; 85 AO) angesprochen6. Die Gliederung der Abgabenordnung ist im Ganzen akzeptabel, wenngleich auch nicht optimal, so wenn etwa Vorschriften zum Steuerrechtsverhältnis (§§ 33 ff. AO) und zur Rechtsanwendung (§§ 39 ff. AO) mit dem Steuerschuldrecht vermengt oder wenn grundlegende Vorschriften zum Verwaltungshandeln (§§ 118 ff. AO) hinter Vorschriften zum Verfahrensablauf (Beweismittel, Fristen, Termine) angeordnet werden7. Die Anpassung der AO an Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes ist teilweise missglückt8: So sind z.B. die steuerspezifischen Vorschriften über die Stpfl. (§§ 33 ff. AO) nicht mit den Regelungen über die Beteiligung am Verfahren (§§ 78 ff. AO; §§ 11 ff. VwVfG) abgestimmt worden, unbrauchbar für das Steuerverfahren sind z.B. die Begriffe „Antrag1 AO 1977 v. 16.3.1976, BGBl. I 1976, 613. Materialien: EAO 1974, BT-Drucks. VI/1982; BR-Drucks. 23/71; BT-Drucks. 7/1979; BR-Drucks. 726/75; krit. zur AO 1977 Tipke, StKongrRep. 1976, 121. 2 Ausf. zur Entstehungsgeschichte der RAO u. AO 1977 HHSp/Musil, Einf. AO, u. zur RAO Cordes, Untersuchungen über Grundlagen und Entstehung der Reichsabgabenordnung vom 23.12. 1919, Diss., 1971; BT-Drucks. VI/1982, 92 f.; Tipke, StRO I1, 32 ff. 3 Dazu ausf. Cordes, Untersuchungen über Grundlagen u. Entstehung der RAO, 1971; Tipke, StuW 1990, 74. 4 Dazu Tipke, StbJb. 1968/69, 69 ff.; Tipke, AöR 94 (1969), 224 ff., 235 ff. 5 BT-Drucks. 7/79 v. 25.1.1973 (93 ff.: Übernahme BT-Drucks. VI/1982). 6 Vgl. Tipke, StRO I2, 109; J. Lang, Steuergesetzbuch, 1993, §§ 3–7 (Grundsätze der Besteuerung). 7 Unzutreffend die Abschnittsüberschrift „Verfahrensgrundsätze“ für die §§ 78–117 AO u. signifikant für das Grundsatzdefizit; vgl. i.E. Kritik u. Vorschläge von Tipke, FR 1970, 240; StuW 1971, 96; sowie die Gliederung in Grundvorschriften u. Vorschriften der einzelnen Verfahrensstationen v. J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, 1993, 349 ff. 8 S. i.E. Tipke, StbKongrRep. 1976, 121; Kruse, JbFSt. 1976/77, 53; Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 212 f.
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Rz. 56
§1
steller/-gegner“ (§ 78 Nr. 1 AO). Der Steuererklärungspflichtige (§ 33 I AO) ist kein Antragsteller; er begehrt nicht den Steuerbescheid, sondern er erfüllt eine missliebige Mitwirkungspflicht. Auch ist die Tauglichkeit von Vorschriften über die „Verwaltungsakte“ (§§ 118 ff. AO) nicht hinreichend überprüft worden. So sind die Korrekturvorschriften (§§ 130; 131 AO) für Steuerverwaltungsakte nur bedingt tauglich1. Das Ermittlungsverfahren ist nicht auf die Bedürfnisse und Situation einer Massenverwaltung normativ ausgerichtet (s. § 21 Rz. 5 ff.)2. Schließlich fehlt ein in sich geschlossener und abgestimmter Abschnitt über die kooperativen Handlungsformen (sog. tatsächliche Verständigung, verbindliche Auskunft, Zusage, s. § 21 Rz. 14 ff.). Die Abgabenordnung (1977) gilt nicht für alle Steuern, sondern nach § 1 I AO nur für solche Steuern (einschließlich Steuervergütungen), die durch Bundesrecht (Art. 105 GG) oder Recht der Europäischen Gemeinschaften geregelt werden, soweit sie durch Bundesfinanzbehörden oder Landesfinanzbehörden verwaltet (Art. 108 GG) werden (s. dazu § 2 Rz. 73 f.).
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Für Realsteuern (§ 3 II AO) gilt die Abgabenordnung nach § 1 I AO insoweit, wie sie durch Landesfinanzbehörden (Finanzämter) verwaltet werden; diese Verwaltung erstreckt sich auf das Verfahren zur Festsetzung und evtl. zur Zerlegung des Steuermessbetrages (§§ 22 I; 184 III; 185 AO). Außer in den Stadtstaaten obliegt die Festsetzung, Erhebung und Beitreibung dieser Steuern den steuerberechtigten Gemeinden (s. Art. 108 IV 2 GG); insoweit regelt § 1 II AO den Anwendungsbereich der Abgabenordnung.
Für die von den Gemeinden verwalteten kommunalen Steuern (insb. Vergnügungs-, Hunde-, Getränke-, Jagd-, Schankerlaubnis-, Fremdenverkehrssteuer) gilt die Abgabenordnung nur, soweit in den Landesgesetzen über die kommunalen Steuern die Abgabenordnung für anwendbar erklärt worden ist. Zu beachten sind insb. die Kommunalabgabengesetze der Länder3. Der sprachlich missglückte § 1 III AO will ausdrücken, dass für die Verwaltung der steuerlichen Nebenleistungen (§ 3 IV AO) nicht ein anderes Gesetz gilt, sondern auch die Abgabenordnung (insb. auch §§ 130; 131 AO).
6.3 Das Bewertungsgesetz als Teilkodifikation (Mantelgesetz) des Steuerrechts Mit der Funktion der AO vergleichbar ist das Bewertungsgesetz. Das BewG ist durch Gesetz v. 10.8.1925, RGBl. I 1925, 214, eingeführt worden, um steuerartenübergreifend reichseinheitliche Bewertungsmaßstäbe zu normieren4. Die Konzeption der Einheitsbewertung baute das Reichsbewertungsgesetz v. 16.10.1934, RGBl. I 1934, 1035, weiter aus, indem es die einheitliche Wertfeststellung auf Realsteuern (Grund- und Gewerbesteuer) ausdehnte und einen periodisch wiederkehrenden Hauptfeststellungszeitpunkt einführte. Zweck der Einheitsbewertung war es, für alle an Vermögenswerte anknüpfenden Steuern in verwaltungsökonomischer Weise einen einheitlichen Wert (Einheitswert) festzustellen. Diese Verklammerungsfunktion hatte das BewG auch nach dem 2. Weltkrieg beibehalten5. Die Idee der Einheitsbewertung (s. §§ 19–109 BewG) ist heute allerdings gescheitert (s. § 16 Rz. 23). Sie könnte auf Dauer nur überzeugen, wenn der Belastungsgrund und das Belastungsziel aller erfassten Steuern im Wesentlichen vergleichbar wären und die von den jeweiligen einheitswertabhängigen Steuern erfassten Bewertungsobjekte im Einheitswertverfahren zumindest annäherungsweise vergleichbare Werte zugewiesen erhielten6. Bereits Albert Hensel hatte aber erkannt, dass jeder im Steuerrecht verwendete „Wert“ nur wegen seiner im Steuertatbestand zu erfüllenden Funktion von Bedeutung ist7, dass bei der Bewertung also zwischen den einzelnen Steuerarten differenziert werden kann und ggf. sogar muss8. Den objektiven Wert schlechthin, den (für alle Steuerarten maßgebenden) Wert „an 1 2 3 4 5 6 7 8
Vgl. hierzu J. Lang, Steuergesetzbuch, 1993, 219 ff. S. dazu Seer, StuW 2003, 35; Seer, DStJG 31 (2008), 7 (9 ff.). S. i.E. die Nachweise bei Tipke/Kruse/Seer, § 1 AO Rz. 44. Zur rechtshistorischen Entwicklung s. P. Kirchhof, Die Steuerwerte des Grundbesitzes, 1985, 8 ff. Vgl. Bewertungsgesetz v. 13.8.1965, BGBl. I 1965, 851. Zitzelsberger, FS Ritter, 1997, 661 (662). Hensel, Steuerrecht3, 1933, 82. S. die steuerartenübergreifende Analyse von Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 105 ff.: „Der Rechtswert als Funktionsbegriff“.
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sich“, gibt es nicht (s. auch § 15 Rz. 54, § 16 Rz. 6 ff.)1. Zudem vermittelte die verwaltungsaufwendige und rechtstechnisch komplizierte Einheitsbewertung des BewG nur den Schein von Präzision und führte tatsächlich zu Phantasiewerten. Da es vor allem nicht gelingen konnte, die Einheitsbewertung des Grundbesitzes der realen Wertentwicklung auch nur einigermaßen zeitgerecht anzupassen2, blieb das Bewertungsgleichmaß in eklatanter Weise auf der Strecke3. 57
Das BVerfG hat seine jahrzehntelange Zurückhaltung4 in den beiden sog. Einheitswertbeschlüssen5 aufgegeben und die Verfassungswidrigkeit des evidenten Missverhältnisses zwischen der Bewertung des Grund- und des Geldvermögens für die Vermögensteuer sowie die Erbschaft- und Schenkungsteuer klar ausgesprochen6. Diese Judikate des BVerfG haben die Einheitsbewertung und die von dieser Bewertung abhängigen Steuern, insb. die beiden genannten Steuerarten, tiefgreifend erschüttert. Die vom BVerfG bei einheitlichem Steuertarif verlangte realitätsgerechte Wertrelation in der Bemessungsgrundlage (§ 15 Rz. 5, 58) erfordert für die periodisch den Vermögensbestand belastenden Steuern, die unterschiedlichen Vermögen permanent gegenwartsnah zu bewerten. Die historische Erfahrung mit der Einheitsbewertung lehrt jedoch, dass dies mit zumutbarem Verwaltungsaufwand praktisch unmöglich ist (§ 3 Rz. 145 f.). Deshalb sah der Gesetzgeber von einer fristgerechten Neufassung des Vermögensteuergesetzes ab, ohne es allerdings ausdrücklich aufzuheben, so dass es seit dem 1.1.1997 außer Vollzug getreten ist (s. § 16 Rz. 64 ff.; § 7 Rz. 15). Während die explizite Abschaffung der Vermögensteuer am Widerstand der damaligen Opposition und der SPD-regierten Länder scheiterte, gelang es der Regierungskoalition, die Aufhebung der Gewerbekapitalsteuer mit Wirkung vom Erhebungszeitraum 1998 an durchzusetzen.
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Eine Einheitsbewertung existiert damit praktisch nicht mehr. Zwar werden nach § 19 I BewG für den inländischen Grundbesitz weiterhin sog. Einheitswerte gesondert festgestellt (§ 21 Rz. 122). Diese „Einheitswerte“ gelten steuerrechtlich jedoch nur noch für die Grundsteuer (§ 13 I GrStG; s. § 16 Rz. 16), nicht mehr für die aperiodisch anfallende Erbschaft- und Schenkungsteuer. Dort sind an die Stelle der Einheitswerte nach § 12 III ErbStG Grundbesitzwerte getreten, die nur noch im Bedarfsfalle zum Besteuerungszeitpunkt festzustellen sind (sog. Bedarfsbewertung, § 151 I 1 Nr. 1 BewG; dazu § 15 Rz. 50 ff.). Der Wegfall der Vermögenund Gewerbekapitalsteuer erlaubte es außerdem, die für inländische gewerbliche und freiberufliche Betriebe früher ebenfalls vorgesehene Einheitsbewertung (§ 19 I Nr. 2 BewG a.F.) mit Wirkung v. 1.1.1998 abzuschaffen. Der Wert des Betriebsvermögens braucht seitdem nur noch im Erb- oder Schenkungsfall für die Bemessung der Erbschaft- oder Schenkungsteuer ermittelt zu werden (s. § 151 I 1 Nr. 2 BewG, s. § 15 Rz. 51).
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Geblieben ist die Mantelgesetzfunktion des BewG. Die allgemeinen Bewertungsvorschriften (= Erster Teil, §§ 1–16 BewG) gelten nach § 1 I BewG für alle öffentlich-rechtlichen Abgaben, die durch Bundesrecht geregelt sind (§ 2 Rz. 32 ff.), soweit sie durch Bundes- oder Landesfinanzbehörden verwaltet werden (§ 2 Rz. 73) und nichts anderes vorgeschrieben ist. Das BewG enthält so den Allgemeinen Teil des Bewertungsrechts und fasst als Mantelgesetz Vorschriften zusammen, die für alle oder mehrere Steuerarten gelten. § 2 regelt den noch auf die Einheitsbewertung zugeschnittenen Begriff der wirtschaftlichen Einheit (s. § 16 Rz. 7). § 3 BewG behandelt die Wertermittlung eines Wirtschaftsguts bei mehreren Beteiligten. §§ 4–8 BewG behandeln die Zurechnung von Wirtschaftsgütern und Lasten, die von einer Bedin1 Zu der Bewertung als Tatfrage u. Rechtsproblem s. grundl. Raupach (Hrsg.), Werte und Wertermittlung im Steuerrecht, DStJG 7 (1984), mit 20 Referaten ausschließlich zu steuerrechtlichen Bewertungsproblemen. Aus neuerer Zeit: Seer, DStJG 36 (2013), 337 (340 ff.); eingehend Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 143 ff., 321 ff. 2 Eine weitere Hauptfeststellung gelang für das Grundvermögen nach 1935 in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt nur zum 1.1.1964. 3 Zur Verfassungswidrigkeit der Grundbesitz-Einheitsbewertung s. 15. Aufl., § 12 Rz. 52 ff.; zur verbliebenen Verfassungswidrigkeit der Grundsteuer s. § 15 Rz. 23. 4 BVerfGE 23, 242 (254); 41, 269 (284); 65, 160 (168); 74, 182 (200); 89, 329 (336). 5 BVerfGE 93, 121 u. 165; dazu § 3 Rz. 65. 6 Bestätigt durch BVerfGE 117, 1 (45 ff.).
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gung oder Befristung abhängig sind. I.Ü. richtet sich die Zurechnung nach § 39 AO (dazu § 5 Rz. 140 f.). §§ 9–16 BewG legen allg. Bewertungsmaßstäbe und Wertbegriffe1 fest: gemeiner Wert (§ 9 BewG), Teilwert2 (§ 10 BewG), Kurswert (§ 11 I BewG), Nennwert (§ 12 I BewG), Rückkaufswert (§ 12 IV 2, 3 BewG) und Kapitalwert (§§ 13 ff. BewG). Zur Bedeutung der einzelnen Wertmaßstäbe s. etwa § 15 Rz. 54 ff. Der Besondere Teil des BewG (§§ 17 ff. BewG) ist gem. § 17 I BewG nach Maßgabe der Einzelsteuergesetze anzuwenden. Umfänglich verweisen § 12 ErbStG für die Erbschaft- und Schenkungsteuer und § 13 I GrStG für die Grundsteuer („Einheitsbewertung“ des inländischen Grundbesitzes, § 17 II BewG) auf das BewG. Daneben finden sich in den Einzelsteuergesetzen punktuelle Verweisungen: z.B. für die Grunderwerbsteuer in § 8 II GrEStG (bei fehlender Gegenleistung, bei Umwandlung oder Gesellschafterwechsel: Anknüpfung an Grundbesitzwerte; s. § 18 Rz. 5) oder für die Einkommensteuer in § 13a IV, V EStG (s. § 8 Rz. 410)3.
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Das BewG regelt grds. nicht die Bewertung von Markteinkommen. Die Bewertungen für Steuern auf Markteinkommen (§ 7 Rz. 30 ff.) basieren wesentlich auf realisierten, marktbestätigten Werten. Die realisationsorientierten Bewertungen (z.B. nach §§ 6; 8 II EStG) schließen gem. § 1 II BewG die Anwendung des BewG aus. Obgleich das BewG im Wesentlichen Sonderrecht für die nach einem ruhenden oder zugewendeten Bestand des Vermögens bemessenen Steuern regelt, gilt es in bestimmten Sonderfällen auch außerhalb dieser Steuern. Subsidiäre Regeln des Ersten Teils des BewG finden nach § 1 I BewG z.B. bei der einkommensteuerlichen Bewertung des Tausches (§ 6 VI EStG) oder der Wirtschaftsgüter bei Betriebsaufgabe (§ 16 III EStG) oder vergleichbaren Fällen der Entstrickung (§ 9 Rz. 450 ff.) Anwendung.
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Die unübersichtlich geregelte Anwendung des BewG ist in folgender Reihenfolge zu prüfen:
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1. Gibt es anzuwendende spezielle Vorschriften außerhalb des BewG (z.B. § 6 EStG)? 2. Verweist ein Steuergesetz ausdrücklich auf die Anwendung des BewG (z.B. § 13a EStG)? 3. Gelten besondere Bewertungsvorschriften des Zweiten Teils des BewG (§ 17 BewG)? 4. Soweit die Prüfung nach 1.–3. nichts anderes ergibt, gelten die allgemeinen Bewertungsvorschriften (§§ 2–16 BewG) nach Maßgabe des § 1 I BewG.
6.4 Allgemeines Steuerschuldrecht Das allgemeine Steuerschuldrecht umfasst das allgemeine Recht der Steuerschuldverhältnisse; dieses ist in der Abgabenordnung geregelt. Die Verwendung des Begriffs „Steuerschuldrecht“ (Zweiter Teil der AO) deutet auf die Gemeinsamkeiten des Steuerschuldrechts mit dem zivilrechtlichen Schuldrecht hin4. Dies ist wesentlich Enno Becker zu verdanken, der bis 1918 hauptamtlicher Zivilrichter war (s. Rz. 53). In der Zeit nach Inkrafttreten der RAO wurde das Steuerschuldrecht mehr in Kategorien des Zivilrechts als des öffentlichen Rechts entwickelt5. So erinnert die Regelung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) an das Zivilrecht. § 37 AO knüpft an den Inhalt des § 241 I 1 BGB an: Kraft des Schuldverhältnisses ist der Gläubiger berechtigt, von dem Schuldner eine Leistung zu fordern. In dem Steuerschuldverhältnis entsteht der Anspruch als das Recht des Gläubigers, von dem Schuldner eine konkrete Geldleistung i.S.d. § 37 AO zu fordern, rechtsstaatlich kraft Gesetzes (§ 38 AO). Auf der passiven Seite des Steuerschuldverhältnisses muss der Steuerschuldner (s. § 6 Rz. 6) als der Adressat des Steueranspruchs 1 Dazu Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil. 2014, 132 ff. 2 Dazu Gabert, Der Bewertungsmaßstab des Teilwerts im Bilanzsteuerrecht, Diss., 2011; C. Lange, 75 Jahre Teilwert, Diss., 2011. 3 Dazu Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 105 ff. 4 Vgl. Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 93 f. 5 Vgl. dazu insb. die Schrift von Merk, Steuerschuldrecht, 1926. Die öffentlich-rechtliche Rechtsnatur des Steuerschuldverhältnisses war zwar erkannt (Merk, a.a.O., 8 ff.), jedoch vermochte man noch keine verwaltungsrechtlich brauchbaren Ergebnisse, etwa zum Verhältnis von Tatbestandsverwirklichung u. Steuerfestsetzung, zu gewinnen.
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(§ 241 I 1 BGB) von anderen Schuldnern unterschieden werden, so z.B. von dem Haftungsschuldner, der akzessorisch für eine fremde Steuerschuld einzustehen hat (§ 6 Rz. 8)1. Auch das Schicksal der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ist in Anlehnung an die zivilrechtliche Terminologie geregelt, die Fälligkeit (§§ 220 ff. AO), das Erlöschen (§ 47 AO) durch Zahlung (§§ 224–225 AO), Aufrechnung (§ 226 AO), Erlass (§§ 163; 227 AO) und Verjährung (§§ 169–171; 228–232 AO), im Weiteren die Gesamtschuldnerschaft (§ 44 AO), die Gesamtrechtsnachfolge (§ 45 AO), sowie die Abtretung, Verpfändung und Pfändung (§ 46 AO). 64
Diese Terminologie darf nun nicht den Blick auf den Charakter des Steuerschuldrechts als öffentliches Recht verstellen. Dieser Charakter tritt hervor in der strengen Gesetzmäßigkeit der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 38 AO), sodann in dem bereits erwähnten (s. Rz. 29) Durchsetzungsgebot; hierbei muss die rechtsstaatlich-gesetzliche Anspruchsentstehung von der Anspruchsverwirklichung durch Verwaltungshandeln unterschieden werden. Wenn etwa eine Steuerschuld abweichend vom Gesetz festgesetzt wird, so wird dadurch der materiell-rechtliche Bestand des Steueranspruchs nicht berührt2. Vielmehr beruht die Regelung der Bestandskraft von Verwaltungsakten auf der allein verfahrensrechtlich notwendigen Begrenzung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung durch die rechtsstaatlichen Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes (s. § 21 Rz. 80 ff.). Das bedeutet, dass ein materiell-rechtlich weiterhin bestehender Anspruch seitens der Behörde nicht mehr durchgesetzt werden kann.
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Indessen besteht die Besonderheit des Steuerschuldrechts gerade darin, dass seine Normen auf die Rechtsstaatlichkeit des Verwaltungshandelns zugeschnitten sein müssen. Wenn demnach die Behörde im Interesse des Rechtsfriedens Steueransprüche nicht mehr verfolgen soll, dann ist es zweckmäßig, auch ihr Erlöschen anzuordnen. So bewirkt der Eintritt der Festsetzungsverjährung nicht nur eine verfahrensrechtliche Festsetzungssperre (§ 169 I 1 AO), sondern auch das Erlöschen der Steuerschuld (§ 47 AO); die zivilrechtliche Regelung, dass dem Verpflichteten lediglich eine Einrede zusteht (§ 214 I BGB), die er geltend zu machen hat, ist mit Durchsetzungsgebot und Untersuchungsgrundsatz (§ 88 AO) nicht zu vereinbaren. Im Weiteren orientieren sich die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Schuldnern gem. § 44 AO im Rahmen des Auswahlermessens sowie die Voraussetzungen für Stundung und Erlass von Steueransprüchen an spezifisch öffentlich-rechtlichen Maßstäben der Gerechtigkeit und Billigkeit. Auch wenn das Steuerschuldrecht vom Steuerverfahrensrecht (s. Rz. 67 ff.) abzugrenzen ist, ist es mit diesem jedoch an vielen Stellen verzahnt. Diese Verzahnung findet ihren Niederschlag insb. in der Platzierung steuerschuldrechtlicher Vorschriften in den Abschnitten der Abgabenordnung über das Verfahren (z.B. §§ 152; 163; 169 ff.; 218 ff.; 228 ff.; 233 ff.; 240 AO).
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Das Steuerschuldrecht ist außerdem von den übergreifenden Normen des Steuerrechtsverhältnisses abzugrenzen. So gehören die Regelungen über den Stpfl. (§§ 33–36 AO) nicht zum Steuerschuldrecht. Bereits aus der Lektüre des § 33 AO ist zu erkennen, dass mit dem Begriff des Stpfl. das Verfahrenspflichtverhältnis (s. § 6 Rz. 2) miterfasst ist.
6.5 Steuerverfahrensrecht 67
Die Ansprüche aus dem Steuerschuldrecht müssen durchgesetzt, die Gesetze des materiellen Steuerrechts in einem rechtsstaatlichen Verfahren vollzogen werden. Das Steuerverfahren ist ein Verwaltungsverfahren; deshalb bestand das Bedürfnis, die verfahrensrechtlichen Vorschrif1 Mit der Begründung einer eigenen Schuldnerposition durch Verwirklichung eines Haftungstatbestandes (§§ 69 ff. AO) weicht das Steuerrecht von der zivilrechtlichen Unterscheidung von Schuld u. (beschränkter/unbeschränkter) Haftung ab. Hierzu ausf. Merk, Steuerschuldrecht, 1926, 74 ff.; Hess, Schuld und Haftung im Abgabenrecht, Diss., 1972. 2 So die von Schranil, Besteuerungsrecht und Steueranspruch, 1925, begründete Lehre, dass die Steuerschuld durch eine rechtlich wirksame Steuerfestsetzung zur Steuerzahlungsschuld konkretisiert werde. Diese entspricht der sog. formalen Rechtsgrundtheorie (s. P. Kirchhof, NJW 1985, 2978), dazu Tipke/ Kruse/Drüen, § 38 AO Rz. 11.
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Gebiete und Gesetze des allgemeinen Steuerrechts
Rz. 73
§1
ten der Abgabenordnung an das Verwaltungsverfahrensgesetz1 anzugleichen, was allerdings teilweise missglückt ist (s. Rz. 54). a) Verwaltungsverfahren ist nach der Definition des § 9 VwVfG „die nach außen wirkende Tätigkeit der Behörden“, demnach Verwaltungshandeln. Daher hat das Steuerverfahrensrecht zunächst das Handeln der Behörden im Steuerrechtsverhältnis, und zwar die Zuständigkeit zum Verwaltungshandeln (s. § 21 Rz. 38 ff.) und die Formen rechtsverbindlichen Handelns (z.B. durch Steuerverwaltungsakt, s. § 21 Rz. 50 ff.) zu regeln. Die sachliche Zuständigkeit der Finanzbehörden (§ 6 II AO) ist im Gesetz über die Finanzverwaltung2 geregelt, das die Verteilung der Verwaltungshoheiten auf Bund und Länder in Art. 108 GG vollzieht (s. hierzu § 2 Rz. 73 ff. sowie § 21 Rz. 30 ff.).
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b) Die Abgabenordnung unterscheidet die Durchführung der Besteuerung (Vierter Teil) und das Erhebungsverfahren (Fünfter Teil) und markiert damit zwei Phasen des Steuerverfahrens; die erste Phase bis einschließlich der Feststellung der gesetzlich fixierten Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis durch Steuerverwaltungsakte (Steuerfestsetzungsverfahren) und die zweite Phase der Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis auf der Grundlage der anspruchsfeststellenden Steuerverwaltungsakte i.S.d. § 218 I AO (Steuererhebungsverfahren). Nach dieser Grundunterscheidung ergeben sich folgende Stationen des Steuerverfahrens:
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aa) Vorbereitung der Steuerfestsetzung (zu den Ermittlungsverfahren s. § 21 Rz. 170 ff.): Die Feststellung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis (Steuerfestsetzung i.w.S.) wird zunächst vorbereitet durch die Erfassung der Stpfl. (§§ 134 ff. AO), die Mitwirkung der Stpfl. (§§ 90; 134 ff. AO), besonders durch die Abgabe einer Steuererklärung (§§ 149 ff. AO), ggf. durch weitere Sachaufklärung und Beweiserhebung (§§ 88; 91 ff. AO3). Die besonderen Verfahren der Sachaufklärung (§§ 193–207 AO: Außenprüfung; §§ 208–217 AO: Steuer-/Zollfahndung/Steueraufsicht) greifen regelmäßig allerdings erst nach Erlass des Erstbescheides und bereiten daher dann zumeist einen Änderungsbescheid vor.
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bb) Steuerfestsetzung, das ist die Steuerfestsetzung i.e.S. (§§ 155–157 AO) und abweichend von § 157 II AO die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen (§§ 179–183 AO), die Festsetzung, Zerlegung und Zuteilung von Steuermessbeträgen (§§ 184 ff. AO), ferner der Erlass von Haftungsbescheiden (§§ 191; 192 AO) und Festsetzung steuerlicher Nebenleistungen (§ 3 IV AO); dabei findet die Beweiswürdigung statt, die in den §§ 158–162 AO lediglich rudimentär und ohne eine dem § 96 I 1 FGO entsprechende Generalklausel geregelt ist (s. § 21 Rz. 204 ff.).
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cc) Steuererhebung, das ist die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis auf der Grundlage von Steuerverwaltungsakten mit Titelfunktion (s. § 21 Rz. 310). Die Steuererhebung geschieht durch Zahlung an die Finanzbehörde (§ 224 AO), z.B. durch Abschlusszahlungen gem. Einkommensteuerbescheid (§ 36 IV EStG), oder durch Vorauszahlungen gem. Vorauszahlungsbescheid (§ 37 III EStG), durch Quellenabzug, z.B. durch Steuerabzug vom Arbeitslohn (§§ 38 ff. EStG), durch Aufrechnung (§ 226 AO) und schließlich durch Vollstreckung (Sechster Teil der AO), die zwangsweise Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis.
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Das Steuerverfahren ist nicht ausschließlich in der Abgabenordnung geregelt. Vielmehr enthalten die Einzelsteuergesetze steuerartspezifische Verfahrensvorschriften über Mitwirkungspflichten, über Art und Zeitraum von Steuerfestsetzungen sowie über Steuererhebungsformen, insb. Vorauszahlungen und Quellenabzüge.
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1 VwVfG v. 25.5.1976, BGBl. I 1976, 1253, etwa zeitgleich mit der AO 1977 v. 16.3.1976, BGBl. I 1976, 613. 2 FVG i.d.F. v. 4.4.2006, BGBl. I 2006, 846. 3 Diese Vorschriften gehören nicht in einen Abschnitt über „Verfahrensgrundsätze“; die Sachaufklärung und Beweiserhebung müssten vielmehr in einem gesonderten Abschnitt nach der Mitwirkung des Stpfl. (insb. durch Steuererklärung) und vor der Steuerfestsetzung geregelt sein.
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§1
Rz. 74
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c) Der Rechtsstaat gewährt sowohl gegen die rechtswidrige Tätigkeit, als auch gegen die rechtswidrige Untätigkeit (§ 347 I 2 AO; § 46 FGO) seiner Behörden Rechtsschutz, indem das Verwaltungshandeln in einem besonderen Rechtsbehelfsverfahren überprüft wird, wenn das Verwaltungshandeln durch Rechtsbehelf von dem beanstandet wird, der die Verletzung seiner Rechte geltend macht.
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aa) Im rechtsstaatlichen System der Gewaltenteilung wird die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns grds. von unabhängigen, allein Gesetz und Recht (Art. 20 III GG) unterworfenen Gerichten überprüft; dabei hat der gerichtliche Rechtsschutz nach Maßgabe des Art. 19 IV GG lückenlos zu sein. Den Rechtsschutz in Steuersachen nehmen hauptsächlich die Finanzgerichte wahr (s. § 33 FGO). Das durch den Rechtsbehelf der Klage eingeleitete Verfahren vor den Finanzgerichten, der Steuerprozess, ist in der Finanzgerichtsordnung geregelt. Im Finanzrechtsweg (Rechtsweg vor den Finanzgerichten) wird zunächst nach § 33 I Nr. 1, 2 FGO nur das Handeln von Bundes- und Landesfinanzbehörden überprüft. Demnach ist besonders in Gemeinde- und Kirchensteuersachen gem. § 33 I Nr. 4 FGO zu prüfen, ob die Ausführungsgesetze der Länder zur Finanzgerichtsordnung den Finanzrechtsweg angeordnet haben oder ob (i.d.R. in Gemeindesteuersachen) die Generalklausel des § 40 I 1 VwGO Platz greift und der Rechtsweg vor den allgemeinen Verwaltungsgerichten (Verwaltungsrechtsweg, § 40 VwGO) eröffnet ist, für den die Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) gilt (s. § 22 Rz. 6).
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bb) Dem Steuerprozess ist nach Maßgabe der § 44 I FGO; §§ 68 ff. VwGO ein Vorverfahren vorgeschaltet, in dem die Behörde selbst prüfen soll, ob sie das Recht richtig angewandt und ein ihr eingeräumtes Ermessen richtig (§ 5 AO) ausgeübt hat. In Abgabenangelegenheiten der AO (§ 347 I Nr. 1 i.V.m. § 1 AO) sind die Vorschriften der §§ 347–367 AO über das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren anzuwenden (s. im Weiteren § 22 Rz. 9).
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Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
Rz. 80
§1
Das besondere Steuerrecht umfasst zwei Komplexe: Zum einen regelt es die Steuerschuldverhältnisse der einzelnen Steuerarten. Die einzelnen Steuerarten, ihr Entstehen auf Grund eines zumeist sehr normenreichen Tatbestandes i.S.d. § 38 AO, ihre Fälligkeit und Tilgung (verknüpft mit steuerartspezifischen Verfahrensvorschriften) sind in den sog. Einzelsteuergesetzen geregelt. In Anlehnung an die zivilrechtliche Terminologie wird die Regelung der Einzelsteuergesetze als besonderes Steuerschuldrecht bezeichnet. Die Steuern auf das Einkommen und Vermögen sind geregelt im EStG (Einkommensteuer, s. §§ 8, 10) und in den Kirchensteuergesetzen (s. § 8 Rz. 950 ff.)1, im KStG (Körperschaftsteuer, s. § 11) und GewStG (Gewerbesteuer, s. § 12) sowie im ErbStG (Erbschaft- und Schenkungsteuer, s. § 15) und im GrStG (Grundsteuer, s. § 16). Die Steuern auf die Verwendung von Einkommen und Vermögen sind geregelt im UStG (s. § 17), in den Verbrauchsteuergesetzen (s. § 18 Rz. 105) sowie in den Verkehrsteuergesetzen (GrEStG, VersStG, FeuerschStG, Rennwett- und Lotteriegesetz, KraftStG, s. § 18 Rz. 1 ff.).
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Zum anderen haben sich im Steuerrecht, das im Steuerstaat zu einem riesigen Rechtsgebiet ausgewuchert ist, umfassende Sondergebiete entwickelt. Teils sind diese Sondergebiete besondere Lehr- und Forschungsgebiete wie das der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre (s. Rz. 20 ff.) nahe stehende Bilanz- und Unternehmensteuerrecht (s. §§ 9, 13, 14); hier wird das Steuerrecht steuerartenübergreifend unter den Aspekten der Unternehmensformen, der Änderung der Unternehmensform (deren Steuerfolgen z.T. im Umwandlungsteuergesetz geregelt sind) und der einzelnen Unternehmensvorgänge behandelt, und es werden steuerliche Gesamtbelastungen ermittelt (s. § 13 Rz. 177 ff.). Teils sind die Sondergebiete rechtliche Spezialgebiete mit einer eigenständigen teleologischen Struktur auf Grund spezifischer Prinzipien und Wertungen wie das Steuersubventionsrecht und das Internationale Steuerrecht.
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Das Steuersubventionsrecht besteht aus Sozialzwecknormen, die auf den verschiedensten außersteuerrechtlichen Prinzipien und Wertungen beruhen (s. § 3 Rz. 21 f.). Dem Steuersubventionsrecht gehört insb. das Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht an. Es ist allgemein im Zweiten Teil der AO „Steuerschuldrecht“ (§§ 51–68 AO) und im Besonderen in den Einzelsteuergesetzen geregelt (s. § 19 Rz. 7 ff.). Wegen seiner außersteuerrechtlichen Qualität gehört es jedoch materiell nicht zum Steuerschuldrecht. Dort sind seine sozial- und kulturpolitisch motivierten Steuervergünstigungen nur eingebaut; diese verbauen und gefährden die Statik des Steuerschuldrechts.
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Gebiete und Gesetze des besonderen Steuerrechts
7. Gebiete und Gesetze des besonderen Steuerrechts 7.1 Besonderes Steuerschuldrecht und Sondergebiete des Steuerrechts
7.2 Internationales Steuerrecht Literatur: Bühler, Prinzipien des Internationalen Steuerrechts, 1964; K. Vogel (Hrsg.), Grundfragen des Internationalen Steuerrechts, in DStJG 8, 1985; K. Vogel, Über „Besteuerungsrechte“ und über das Leistungsfähigkeitsprinzip im Internationalen Steuerrecht, in FS F. Klein, 1994, 361; Schaumburg, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im internationalen Steuerrecht, in FS Tipke, 1995, 125; Schaumburg, Systemdefizite im Internationalen Steuerrecht, StuW 2000, 369; M. Lang, Wohin geht das Internationale Steuerrecht?, IStR 2005, 289; Schaumburg/Schaumburg, Steuerliche Leistungsfähigkeit u. europäische Grundfreiheiten im Internationalen Steuerrecht, StuW 2005, 306; FS Schaumburg, 2009, mit diversen Beiträgen zum Internationalen Steuerrecht; Scheffler, Internationale betriebswirtschaftliche Steuerlehre3, 2009; Bächle/Rupp/Ott/Knies, Internationales Steuerrecht2, 2010; Jankowiak, Doppelte Nichtbesteuerung im Internationalen Steuerrecht, Diss., 2009; Grotherr/Herfort/Strunk, Internationales Steuerrecht3, 2010; Schaumburg, Das Nettoprinzip im Internationalen Steuerrecht, in FS J. Lang, 2010, 1099; Birk, Doppelbesteuerungsabkommen im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland, in FS J. Lang, 2010, 1131; Rödder, Globalisierung und Unternehmenssteuerrecht, in FS J. Lang, 2010, 1147; Lampert, Doppelbesteuerungsrecht und Lastengleichheit, Diss., 2010; Grotherr (Hrsg.), 1 Die Kirchensteuergesetze sind nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 WRV Landesgesetze (aufgezählt bei Tipke/Kruse/Seer, § 1 AO Rz. 53).
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§1
Rz. 81
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
Hdb. der internationalen Steuerplanung3, 2011; Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, 2011; Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung7, 2011; Brähler, Internationales Steuerrecht7, 2012; Mössner u.a., Steuerrecht international tätiger Unternehmen4, 2012; Achatz (Hrsg.), Internationales Steuerrecht, DStJG 36 (2013), 7; Haase, Internationales u. Europäisches Steuerrecht4, 2014.
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Das Internationale Steuerrecht wird zum Sondergebiet durch die Erweiterung der Rechtsquellen auf völkerrechtliche und supranationale Normen (s. § 5 Rz. 26 f.) und durch seine Aufgabe, die nationalen Steuerrechtsordnungen aufeinander abzustimmen1. Die Darstellung des stoffund normenreichen Internationalen Steuerrechts kann nur von einem Speziallehrbuch geleistet werden2, so dass das Sondergebiet des Internationalen Steuerrechts hier nur wie folgt kurz skizziert werden kann:
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a) Über den Begriff des Internationalen Steuerrechts (IStR) wird seit Jahrzehnten relativ fruchtlos gestritten3, was mit der Vielfalt der Aufgabe zusammenhängt, die nationalen Steuerrechtsordnungen aufeinander abzustimmen. Der Ausgangspunkt ist die Notwendigkeit, Wirtschaftssubjekte nicht mit einem prohibitiven Übermaß an Steuern zu belasten, wenn sie sich grenzüberschreitend betätigen. Aus dieser Sicht ist das Internationale Steuerrecht zunächst vergleichbar dem Internationalen Privatrecht Kollisions- bzw. Konfliktrecht mit der Funktion, die Steuertatbestände gegeneinander abzugrenzen und eintretende Mehrfachbelastungen zu beseitigen4.
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Ein derart enger Begriff des IStR wird der Aufgabe nicht gerecht, die das IStR infolge der zunehmenden Verdichtung des internationalen Wirtschaftsverkehrs zu bewältigen hat. Es geht nicht allein darum, den internationalen Wirtschaftsverkehr vor Steuererdrosselung zu bewahren. Die nationalen Steuerrechtsordnungen sind nicht nur kollisionsrechtlich aufeinander abzustimmen. Vielmehr sind die Steuerfolgen der verschiedenen Steuerrechtsordnungen auch in einer Weise zu harmonisieren und an international gültigen Besteuerungsprinzipien (Gleichheitssatz, Diskriminierungsverbote5, Leistungsfähigkeitsprinzip, Prinzip der Wettbewerbsneutralität, Übermaßverbot etc.)6 auszurichten, so dass Diskriminierungseffekte möglichst nicht eintreten und der Wettbewerb möglichst wenig gestört wird. Die so beschriebene Aufgabe des IStR erstreckt sich auf alle Normen, die Steuerfolgen für den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr haben. Dementsprechend ist der Begriff des IStR weit zu fassen: Das IStR umfasst alle nationalen, völker- und europarechtlichen Normen mit Steuerfolgen für den internationalen, d.h. grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr7.
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b) Abgrenzungsfunktion des nationalen IStR: Dem IStR stellt sich grds. das Problem, dass die nationalen Steuerhoheiten (s. § 2 Rz. 32 ff.) über das Staatsgebiet hinausreichen8: Das Völker1 Sehr zu empfehlen ist die zweibändige Sammlung v. van Raad, Materials on International & EU Tax Law, International Tax Center Leiden, mit den relevanten Rechtsquellen des Internationalen und Europäischen Steuerrechts in englischer, deutscher u. französischer Sprache (Bezugsquelle: www.itcleiden.nl). Die Materialsammlung wird regelmäßig neu aufgelegt. 2 Dieses Buch wird ideal ergänzt durch das Lehrbuch des Tipke-Schülers u. langjährigen Honorarprofessors an der Universität zu Köln Schaumburg, Internationales Steuerrecht3. 3 Dazu ausf. m.w.N. Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, 2011, § 1; K. Vogel, DStZ 1997, 269. 4 So insb. Bühler, Prinzipien des Internationalen Steuerrechts, 1964, 1 ff. (IStR i.e.S.: völkerrechtlich begründete Normen des Kollisionsrechts; IStR i.w.S.: völker- u. internationalrechtliche Kollisionsnormen). 5 IFA-cahiers, Vol. 78b (1993), Non-Discrimination Rules in international Taxation; Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, 2011; Ribbrock, EWS 2005, 401; Lang/Schuch/Staringer (Hrsg.), Die Diskriminierungsverbote im Recht der DBA, 2006. 6 Dazu insb. K. Vogel, FS F. Klein, 1994, 361; Schaumburg, FS Tipke, 1995, 125. 7 So auch K. Vogel, DStZ 1997, 269: Gesamtheit der Rechtsvorschriften, die sich auf die Besteuerung von grenzüberschreitenden Sachverhalten beziehen. Es setze sich zusammen aus Normen des Völkerrechts, des Staatengemeinschaftsrechts u. aus Normen des innerstaatlichen Rechts (von Bühler sog. Außensteuerrecht). 8 Zum Folgenden insb. K. Vogel, Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, Frankfurt/M. 1965, 101 ff.; Vogel/Lehner, DBA6, 2015, Grundlagen Rz. 11 ff. (m.w.N.). S. auch Burmester, Grundlagen internationaler Regelungskumulation und -kollision unter besonderer Berücksichtigung des Steuerrechts, 1993; Burmester, JZ 1993, 698.
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Gebiete und Gesetze des besonderen Steuerrechts
Rz. 87
§1
recht verbietet zwar die Vornahme von Hoheitsakten im Ausland (Grundsatz der formellen Territorialität). Hingegen gibt es völkerrechtlich kein Prinzip materieller Territorialität, das es verbieten würde, Rechtsfolgen des innerstaatlichen Rechts auch an ausländische Sachverhalte anzuknüpfen, z.B. die ausländischen Einkünfte einer Person mit Wohnsitz im Inland zu besteuern (s. § 8 Rz. 25 f.). Dieser Fall zeigt aber, dass die formelle Territorialität dazu zwingt, die Besteuerung ausländischer Sachverhalte mit inländischen Zugriffsmerkmalen auszustatten (Besteuerung von Exporten/Importen an der Staatsgrenze, Besteuerung von ausländischen Einkommen und Vermögen bei inländischen Steuerschuldnern). Besteuerte der Staat rigoros alles, was ihm im Rahmen seiner formellen Territorialität möglich ist, würde der internationale Wirtschaftsverkehr zum Erliegen kommen. Daher hängt die Entwicklung der nationalen Volkswirtschaften und der Weltwirtschaft wesentlich davon ab, ob und inwieweit die Ausübung der Steuerhoheiten vom Grundsatz der internationalen Rücksichtnahme1 bestimmt ist. Die Beschränkung der Besteuerung durch die formelle Territorialität und die im vitalen wirtschaftlichen Interesse aller Handelsstaaten liegende internationale Rücksichtnahme finden im IStR folgenden Niederschlag: aa) Das Recht der Zölle (Steuern gem. § 3 III AO) liefert das archaische Beispiel für steuerrechtliche Verhinderung des internationalen Wirtschaftsverkehrs in Gestalt sog. Schutzzölle, die dem Zweck dienen, die inländische Wirtschaft gegen ausländische Konkurrenz abzuschirmen (s. § 7 Rz. 108). Nach den Prinzipien der liberalen Wirtschaftsordnung, die früher im GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) und heute in der WTO (World Trade Organisation) ihren Ausdruck finden, dient das Zollrecht nicht mehr der Warenstromerdrosselung, sondern allenfalls der Warenstromregulierung (bestenfalls müssten Zölle ganz abgeschafft werden). Es gelten die Grundsätze des nichtdiskriminierenden Marktzuganges und der Verhältnismäßigkeit2.
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bb) Das IStR der indirekten Steuern (zum Begriff s. § 7 Rz. 20), insb. des Umsatz- und Verbrauchsteuerrechts ist seit jeher von dem Grundsatz geprägt, die Steuerbelastung auf das Staatsgebiet zu begrenzen. Technisch geschieht dies durch Umsatzsteuerbefreiung von Exporten sowie durch Verbrauchsteuerbefreiungen und -vergütungen. Die Begrenzung der Steuerbelastung auf das Staatsgebiet macht das Recht der indirekten Steuern prinzipiell kollisionsfrei. Dies setzt allerdings eine weitgehende Harmonisierung der indirekten Steuern und eine übereinstimmende Interpretation der Regeln über den Besteuerungsort voraus (s. § 17 Rz. 393 ff.).
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cc) Die praktischen und didaktischen Schwerpunkte des IStR liegen im Recht der direkten Steuern auf das Einkommen und Vermögen (ESt, KSt, GewSt, VSt, Erbschaft-/Schenkungsteuer). Das IStR der vorgenannten Steuern ist von den Grundsätzen der Quellenbesteuerung (source taxation) und der weltweiten Besteuerung (worldwide taxation) beherrscht3. Die durchgängige Befolgung des Quellenprinzips, nur inländische Steuergüter zu besteuern, würde auch das Recht der direkten Steuern theoretisch kollisionsfrei machen. Dazu bedürfte es aber eines weltweit akzeptierten Territorialprinzips im Sinne einer geschlossenen Gerechtigkeitsordnung, innerhalb derer für alle Staaten gleiche oder vergleichbare territoriale Anknüpfungspunkte der Quellenbesteuerung gelten4. Zu einem solchen Konsens konnten sich bisher nicht einmal die Industriestaaten durchringen. Solange dieser nicht erzielt worden ist, besteht aus Sicht der nationalen Fisci die Gefahr sog. weißer Einkünfte, die in keinem Staat besteuert werden. Das in der Staatenpraxis bevorzugte Prinzip der weltweiten Besteuerung bewirkt demgegenüber Überschneidungen der Steuertatbestände und damit steuerliche Mehrfachbelastun-
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1 S. Menck, FS Debatin, 1997, 305; Lindencrona, FS Ritter, 1997, 539. 2 Vgl. Petersmann, DStJG 11 (1988), 5 (9 ff.); Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, Habil., 2008, 193 ff. (Mehrebenensystem), 362 ff. (GATT u. GATS); zur Bedeutung der WTO für das Steuerrecht s. Farrell, The Interface of International Trade and Taxation, Diss., 2012. 3 Dazu K. Vogel, DStJG 8 (1985), 3 ff., 17 ff.; K. Vogel, Intertax 1988, 216 ff., 319 ff., 393 ff.; IFA-Cahiers, Vol. 90a (2005), Source and residence: new configuration of their principles (dazu auch Lehner/Reimer, IStR 2005, 542); Andersson, IBFD-Bulletin 2006, 395; Mössner, IBFD-Bulletin 2006, 501; Pinto, IBFD-Bulletin 2007, 277; Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, 5.52 ff. 4 Klarsichtig Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, 5.60.
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Rz. 88
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
gen, die erst durch die sog. Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) zu vermeiden bzw. zu beseitigen sind (s. Rz. 91). Soweit DBA allerdings die Freistellung ausländischer Einkünfte vorsehen, besteht auch bei einer im Ausgangspunkt weltweiten Besteuerung die Gefahr weißer Einkünfte1. Dem versucht der nationale (deutsche) Gesetzgeber zunehmend durch unilaterale Normen, die einen Rückfall des Besteuerungsrechts an die Bundesrepublik Deutschland in bestimmten Fällen vorsehen, zu begegnen (sog. Treaty Override; s. auch § 5 Rz. 26)2. 88
Das Prinzip der weltweiten Besteuerung, konkretisiert durch das Welteinkommensprinzip (Universalitätsprinzip)3 und das Weltvermögensprinzip, wird auf den Umstand gestützt, dass der Stpfl. im Staatsgebiet residiert, d.h. dort Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt, Geschäftsleitung oder Sitz (§§ 8–11 AO) hat. Dies befähigt den Staat, die steuerliche Leistungsfähigkeit des Stpfl. umfassend zu besteuern, weil er den besten Zugriff auf die Gesamtverhältnisse hat, so in den Fällen unbeschränkter Einkommen- und Körperschaftsteuerpflicht. Demgegenüber reduziert sich der Zugriff auf die inländischen Steuergüter, wenn der Stpfl. im Ausland residiert, wie in den Fällen beschränkter Steuerpflicht. Die Besteuerung erfolgt dann zwangsläufig nach dem Quellenprinzip, auch Ursprungs- oder Territorialitätsprinzip genannt. Danach werden nur inländische Einkünfte (§ 49 EStG) und Inlandsvermögen (§ 121 BewG; § 2 I Nr. 3 ErbStG) besteuert. Nach § 2 I 1 GewStG unterliegen der Gewerbesteuer nur Gewerbebetriebe, soweit sie im Inland betrieben werden. Das Gewerbesteuerobjekt ist damit nach dem Territorialitätsprinzip abgegrenzt. Das Zusammenspiel von Quellenprinzip und Prinzip weltweiter Besteuerung zeigt sich im System der Vermeidung von Doppelbesteuerungen (s. Rz. 91 ff.).
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Ein besonderes Problem der Hochsteuerländer ist die Steuerflucht in Niedrigsteuerländer (sog. Steueroasen/Tax Haven)4. Multinational tätige Konzerne nutzen gezielt das Steuergefälle und bauen sogar ihre Konzernstruktur zwecks Steuerminimierung darauf auf5. Die OECD hat das Problem eines unfairen Steuerwettbewerbs zum Anlass genommen, das sog. Base Erosion and Profit Shifting (BEPS) durch einen sog. Aktionsplan zu bekämpfen6 (dazu auch § 7 Rz. 74). Als nationales Maßnahmegesetz existiert in Deutschland bereits seit mehr als vierzig Jahren das Außensteuergesetz7, das sich gegen den Wohnsitzwechsel (§§ 2 I; 6 I AStG) und Einkünfteverlagerungen (§§ 1; 7 ff. AStG) in niedrigbesteuernde Gebiete (§§ 2–6 AStG) richtet. Das AStG ist ungemein kompliziert und schwierig zu handhaben. Es geht um eine z.T. überspannte, die Selbständigkeit von Kapitalgesellschaften bewusst negierende Verwirklichung des Quellenprinzips: Es sollen die in der Bundesrepublik Deutschland erwirtschafteten Einkommen und Vermögen dem deutschen Steuerzugriff trotz entgegenwirkender Gestaltungen erhalten bleiben. Die Maßnahmen des AStG gipfeln in der Hinzurechnungsbesteuerung der §§ 7 ff. AStG, die thesaurierte Gewinne sog. Zwischengesellschaften in Niedrigsteuerländern zum Zwe1 M. Lang, DStJG 36 (2013), 7 (22 ff.). 2 Ein sog. treaty override ist ein Bruch eines Völkervertrags durch nationales Recht (s. Jankowiak, Doppelte Nichtbesteuerung im internationalen Steuerrecht, Diss., 2009, 219 ff., 254 ff.; ausf. Gebhardt, Deutsches Tax Treaty Overriding, Diss., 2012). Zur Zulässigkeit und Verfassungsmäßigkeit eines treaty override sind derzeit mehrere Verfahren vor dem BVerG anhängig: 2 BvL 1/12, 15/14 u. 21/14 aufgrund der Vorlagebeschlüsse des BFH: BFHE 236, 304; BFH BStBl. 2014, 791; 2015,18; dazu Schwenke, FR 2012, 443; Krumm, AöR 2013, 363; Prinz, GmbHR 2014, 729. Vorzugswürdig ist es, auf völkerrechtskonforme Weise sog. subject-to-tax- oder switch-over-Regeln in die DBA einzubauen, dazu ausf. Jankowiak, Doppelte Nichtbesteuerung im internationalen Steuerrecht, Diss., 2009, 129 ff. 3 Dazu Beil, Der Belastungsgrund des steuerstaatlichen Synallagmas, Zur Zulässigkeit des Welteinkommensprinzips im deutschen internationalen Einkommensteuerrecht, 2001. 4 Zum Begriff und zu Erscheinungsformen der Steuerflucht s. Bürger, Steuerflucht, 2006, 31 ff. 5 Dies gilt vor allem für US-amerikanische Konzerne wie Apple, Google oder Starbucks, s. Pinkernell, StuW 2012, 369; ders., IStR 2013, 180; Watrin/Ebert, StuW 2013, 299 (dazu Treidler/Grothe, StuW 2014, 175); Kroppen, DStJG 37 (2014), 259 (261 ff.). 6 OECD, Action Plan on Base Erosion and Profit Shifting v. 19.7.2013, wo 15 Maßnahmen aufgeführt sind, die bis Ende 2015 durchgeführt werden sollen; zum Stand s. http://www.oecd.org/tax/bepsabout.htm. 7 Gesetz über die Besteuerung bei Auslandsbeziehungen v. 8.9.1972, BGBl. I 1972, 1713, zuletzt geändert durch Art. 6 des Gesetzes v. 26.6.2013, BGBl. I 1809 (1826 ff.).
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Gebiete und Gesetze des besonderen Steuerrechts
Rz. 91
§1
cke der Besteuerung in der Bundesrepublik Deutschland als ausgeschüttet fingiert (zur Europarechtswidrigkeit s. § 4 Rz. 99). Das Quellenprinzip wird schließlich konkretisiert durch die Grundsätze internationaler Einkünftezuordnung1. Hauptsächlich handelt es sich hier um international anerkannte Methoden der Aufteilung von Steuerquellen, u.a. der Gewinnabgrenzung bei verbundenen Unternehmen durch das Instrument von Verrechnungspreisen2 sowie der Abgrenzung von Betriebsstättengewinnen3. Art. 7 II OECD-MA fingiert die unselbständige Betriebstätte nicht nur für die Einkünftezuordnung, sondern auch für die Einkünfteermittlung als selbständige Einheit (Authorized OECD Approach [AOA] in der Ausgestaltung des sog. functionally separate entity approach), so dass zwischen Stammhaus und Betriebsstätte grenzüberschreitend getätigte Innentransaktionen nach Verrechnungspreis-Grundsätzen beurteilt werden4. Die Maßnahmen der Steuersubstratsicherung durch das AStG fallen aus dem System international anerkannter Einkünftezuordnung heraus. Das gilt besonders für die Berichtigung von Einkünften nach § 1 AStG5. Mit der durch Verordnung6 konkretisierten Besteuerung der Funktionsverlagerungen ab 2006 ist § 1 AStG zu einem umfassenden, technisch komplexen und unausgereiften Gewinnrealisierungstatbestand ausgebaut worden. In 2013 ist der sog. AOA durch Einfügung von § 1 V AStG in das innerstaatliche Recht transformiert worden7. Als einseitige nationale Maßnahme zur Sicherung von Steuersubstrat birgt § 1 AStG erhebliches zwischenstaatliches Konfliktpotenzial. Dem Stpfl. wird übermäßiger, kostenintensiver Ermittlungsaufwand aufgebürdet. Die Methode, mit der Besteuerung von Funktionsverlagerung Steuersubstrat zu sichern, dürfte letztlich ihr Ziel verfehlen, weil die international tätigen Unternehmen angereizt werden, Unternehmensstruktur und Wertschöpfung von Drittstaaten aus zu organisieren, um die Anwendung des AStG auszuschalten. Zudem will der deutsche Gesetzgeber nicht zur Kenntnis nehmen, dass die Steuersubstratmaßnahmen des AStG Grundfreiheiten des AEUV verletzen können (s. § 4 Rz. 97 ff.).
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Die Gesamtheit der Normen einer nationalen Steuerrechtsordnung, die dazu dienen, die Besteuerung auslandsbezogener Sachverhalte zu bestimmen, wird als Außensteuerrecht
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1 Dazu Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, Kap. 18; Piltz/Schaumburg (Hrsg.), Internationale Einkünfteabgrenzung, 2003; Wheeler, The Attribution of Income to a Person for Tax Treaty Purposes, IBFD-Bulletin 2006, 477; IFA-cahiers, Vol. 92b (2007), Conflicts in the attribution of income to a person. 2 Dazu OECD, Transfer Pricing Guidelines for Multinational Enterprises and Tax Administrations, 2010; Kroppen (Hrsg.), Handbuch Internationale Verrechnungspreise, Loseblatt; Wassermeyer/Baumhoff (Hrsg.), Verrechnungspreise international verbundener Unternehmen2, 2012; außerdem s. § 11 Rz. 85 m.w.N.; zur Verrechnungspreisdokumentation s. § 21 Rz. 175, 209; zu Advance Pricing Agreements (APA) s. § 21 Rz. 16; Rodemer, Advance Pricing Agreements im US-amerikanischen und im deutschen Steuerrecht, Diss., 2001; Bär, Verständigungen über Verrechnungspreise verbundener Unternehmen im deutschen Steuerrecht, Diss., 2009. 3 Dazu Peter, Fortentwicklung des Betriebsstättenprinzips, 2002; Füg, Neuere Entwicklungen zum nationalen und abkommensrechtlichen Betriebsstättenbegriff, 2005; Kroppen, FS Wassermeyer, 2005, 691; Puls, Die Betriebsstätte im Abgaben- u. Abkommensrecht, 2005; IFA-cahiers, Vol. 91b (2006), The attribution of profits to permanent establishments (dazu Förster/Neumann/Rosenberg, IStR 2005, 617; Brülisauer, ASA 2006/2007, 337); Löwenstein/Looks/Heinsen (Hrsg.), Betriebsstättenbesteuerung2, 2011; Bendlinger, Die Betriebsstätte in der Praxis des internationalen Steuerrechts2, 2013. 4 Krit. Kroppen, FS Herzig, 2010, 1072 (1085 ff.); Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, Rz. 18.26; Kußmaul/Ruiner/Delarber, Ubg. 2011, 873. 5 Neugefasst durch Art. 7 des UntStRefG 2008 v. 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912; zuletzt geändert durch Art. 6 des Gesetzes v. 26.6.2013, BGBl. I 1809 (1826 ff.). 6 VO zur Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes nach § 1 I AStG in Fällen grenzüberschreitender Funktionsverlagerungen (Funktionsverlagerungsverordnung – FVerlV) v. 12.8.2008, BGBl. I 2008, 1680, i.V.m. § 1 III 13 AStG; s. dazu außerdem als Verwaltungsvorschrift BMF BStBl. I 2010, 774 (sog. Verwaltungsgrundsätze Funktionsverlagerung); dazu Kroppen/Rasch, IWB 2010, 824; Blum/Lange, GmbHR 2011, 65; Baumhoff/Ditz/Greinert, Ubg. 2011, 161; Freudenberg/Ludwig, BB 2011, 215; Greil, DStZ 2011, 285. 7 Argumente für die Umsetzung des AOA in deutsches Recht nennt Naumann, DStJG 36 (2013), 253 (256); krit. hierzu Ditz/Quilitzsch, DStR 2013, 1917 (1919 f.). S. nun die sog. BetriebsstättengewinnaufteilungsVO (BsGaV) v. 13.10.2014, BGBl. I 2014, 1603; dazu Busch, DB 2014, 2490; Höreth/Zimmermann, DStZ 2014, 743.
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§1
Rz. 92
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
bezeichnet1. Das nationale Außensteuerrecht enthält kollisionsbegründende Normen, d.s. Normen, die sich mit Steuernormen einer ausländischen Rechtsordnung überschneiden und Doppelbesteuerung auslösen. 92
c) Dadurch gewinnt das IStR kollisionsauflösende Funktion, die hauptsächlich durch völkerrechtliche, zu innerstaatlichem Recht (s. § 5 Rz. 26) gewordene Verträge zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (Doppelbesteuerungsabkommen2) vollzogen wird3. DBA begründen keine Steueransprüche. Sie bilden vielmehr ein durch Musterabkommen4 entwickeltes Normensystem, das die Steuertatbestände kollisionsauflösend beschränkt5. Vor Anwendung eines DBA muss also immer zuerst das Bestehen des nationalen Steueranspruchs geprüft werden. DBANormen gehen schon kraft ihrer Spezialität den Normen der Einzelsteuergesetze vor (klarstellend § 2 AO). Soweit sie nicht Platz greifen, kommen kollisionsauflösende Normen des nationalen Rechts, die sog. unilateralen Maßnahmen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung in Betracht.
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Es gibt zwar keine allgemeine völkerrechtliche Verpflichtung, Doppelbesteuerungen zu beseitigen. Jedoch folgt aus dem international anerkannten Normensystem der DBA, welche Art von Doppelbesteuerungen vermieden werden sollen. Allgemein dient das kollisionsauflösende IStR dem Ziel, die Kollision gleichartiger Steuern verschiedener Hoheitsträger auf Einkünfte und Vermögen, die demselben Steuersubjekt zuzuordnen sind, zu beseitigen. Maßgeblich für die kollisionsauflösende Funktion des IStR ist also ein Begriff der Doppelbesteuerung6 mit folgendem Inhalt: Identität von Steuerobjekt und Steuersubjekt; Gleichartigkeit von Steuern verschiedener Hoheitsträger7. Liegt eine derartige Doppelbesteuerung vor, so soll das Steuerobjekt im Verhältnis der verschiedenen Hoheitsträger nur einmal besteuert werden (Grundsatz der Einmalbesteuerung).
1 So schon Bühler, Prinzipien des internationalen Steuerrechts, 1964, 44 ff.; vgl. heute Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, 2011, § 1.5 (Begriff des IStR). 2 Zu den von der Bundesrepublik Deutschland abgeschlossenen DBA s. Debatin/Wassermeyer (Hrsg.), Doppelbesteuerung, Loseblatt; Gosch/Kroppen/Grotherr (Hrsg.), DBA-Kommentar, Loseblatt; zum OECD-Musterabkommen nebst Musterkommentar Vogel/Lehner, DBA6, 2015; Schönfeld/Ditz, DBA, 2013; s. auch Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, Kap. 16. 3 Einen steuerlichen Sonderstatus kraft allg. Regeln des Völkerrechts (Art. 25 GG) u. völkerrechtlicher, zumeist multilateraler Abkommen (Wiener Übereinkommen, Nato-Truppenstatut etc.) gibt es für Diplomaten, UN-/EG-Bedienstete u. Angehörige von Streitkräften (dazu die Kommentierungen des § 1 EStG). 4 In erster Linie OECD-Musterabkommen. Dazu die Kommentare von Vogel/Lehner, DBA6, 2015; Schönfeld/Ditz, DBA, 2013, auf der Grundlage der Musterabkommen. Zur Bedeutung des OECDMusterabkommens u. -kommentars Waters, FS Loukota, 2005, 671; Waldhoff, StbJb. 2005/2006, 161; Ward, IBFD-Bulletin 2006, 97 (Erwiderung: Ellis, IBFD-Bulletin 2006, 103); Engelen, IBFD-Bulletin 2006, 105; Pijl, IBFD-Bulletin 2006, 351; M. Lang, ÖStZ 2006, 203. Darüber hinaus existieren z.B. ein UN-Musterabkommen, ein Musterabkommen der USA und seit 2013 auch in der Bundesrepublik Deutschland eine so genannte „Verhandlungsgrundlage für Doppelbesteuerungsabkommen im Bereich der Steuern vom Einkommen und Vermögen“, BMF IV B 2 - S 1301/13/10009, Stand 22.8.2013; Anmerkungen hierzu Lüdicke, IStR-Beih. 2013, 26; Rotter/Welz/Lammers, Kommentar zur Verhandlungsgrundlage für DBA, 2014. 5 Zur Vermeidung des Missbrauchs der Ausnutzung von Doppelbesteuerungsabkommen (sog. treaty shopping) s. Rudolf, Treaty Shopping und Gestaltungsmissbrauch, Diss. 2012; Schade, Die deutsche Anti-Treaty-Shopping-Regelung des § 50d Abs. 3 EStG – Zu den Grenzen und dem Bedürfnis nach einer spezialgesetzlichen Regelung, Diss. 2013; Domschat, Die deutsche Vorschrift zur Verhinderung von Abkommens- und Richtlinienmissbrauch und ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht, Diss. 2013. 6 Dazu Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, Rz. 12.1 ff.; Vogel/Lehner, DBA6, 2015, Grundlagen Rz. 6 ff.; Krause, Internationale Doppelbesteuerung, Ursachen und Lösungen, Diss., 2003. 7 So auch der Begriff der „juristischen Doppelbesteuerung“ im amtl. Kommentar zu Art. 23 A OECD-Musterabkommen, Rz. 1: Dieselben Einkünfte oder dasselbe Vermögen werden bei derselben Person durch mehr als einen Staat besteuert.
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Rz. 97
§1
Im Wesentlichen gibt es zwei Methoden, mit denen Doppelbesteuerung beseitigt werden kann, die Freistellungsmethode und die Anrechnungsmethode1. Mit der Freistellungsmethode verzichtet der freistellende Staat auf die Besteuerung; er gewährt eine sachliche Steuerbefreiung, eine „Ausgrenzungs“-Befreiung (s. § 6 Rz. 41). Beispiel: Die Bundesrepublik Deutschland stellt ausländische Betriebsstätteneinkünfte steuerfrei, weil diese im Quellenstaat besteuert werden. Nach der Anrechnungsmethode wird die auf das Steuerobjekt entfallende ausländische gleichartige Steuer auf die eigene Steuer angerechnet (s. z.B. die unilateralen Maßnahmen in den § 34c I EStG, § 26 KStG, § 21 ErbStG).
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Gebiete und Gesetze des besonderen Steuerrechts
Im System der Vermeidung der Doppelbesteuerung haben das Prinzip der weltweiten Besteuerung und das Quellenprinzip folgende Bedeutung: aa) Der Wohnsitzstaat beansprucht das Prinzip weltweiter Besteuerung (s. Rz. 88). Er will aber nicht nur das Welteinkommen oder Weltvermögen besteuern, sondern die Umstände steuerlicher Leistungsfähigkeit einschließlich der persönlichen Lebensumstände umfassend berücksichtigen. Dem Prinzip weltweiter Besteuerung entspricht die Anrechnungsmethode, weil sie das Konzept der Steuerbemessung nach dem Welteinkommen oder Weltvermögen aufrechterhält. Dieses Konzept gibt der Wohnsitzstaat selbst dann nicht vollständig auf, wenn er Einkünfte freistellt, weil die Besteuerung dem Quellenstaat überlassen ist; in diesem Fall berücksichtigt er die freigestellten Einkünfte bei der Anwendung des progressiven Steuersatzes (sog. Progressionsvorbehalt, s. § 8 Rz. 808 f.).
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bb) Der Quellenstaat beansprucht das Quellenprinzip (s. Rz. 88) und will die unter seinem Schutz erwirtschafteten Einkünfte und belegenen Vermögen besteuern. Dieser Anspruch ist unabweisbar in einer auf gegenseitiger Anerkennung der Souveränität und gegenseitiger Rücksichtnahme basierenden Völkergemeinschaft. Daher verdient das Quellenprinzip den grundsätzlichen Vorrang vor dem Prinzip weltweiter Besteuerung2. Soll also im Interesse des internationalen Wirtschaftsverkehrs der Grundsatz der Einmalbesteuerung gelten, so gebührt dem Quellenstaat das Besteuerungsrecht. Das fiskalisch motivierte Ziel des Wohnsitzstaates, steuerliche Leistungsfähigkeit für die eigene (progressive) Besteuerung total zu erfassen, hat gegenüber dem Ziel des IStR, übermäßige Besteuerung zu vermeiden und zugleich die Steuerquellen fair unter den Staaten aufzuteilen, zurückzutreten. Die Anrechnungsmethode trägt beiden Zielen Rechnung, weshalb sie auch als unilaterale Maßnahme üblich ist. Hingegen befolgt die Freistellungsmethode konsequent das Quellenprinzip, weil sie allein dem Quellenstaat das Besteuerungsrecht belässt. I.Ü. verwirklicht auch das Quellenprinzip die Totalität der Besteuerung, eben nur nicht zu Gunsten eines einzigen Staates. Die Totalität der Besteuerung nach dem Quellenprinzip kann aber von einem einzigen Staat zu leisten sein: Im Falle der sog. Grenzgängerbesteuerung (s. § 8 Rz. 30) stellt sich nämlich die Frage, ob der Quellenstaat nicht verpflichtet ist, die gesamten Umstände steuerlicher Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen, wenn sämtliche Einkünfte im Quellenstaat erwirtschaftet werden.
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d) Harmonisierungsfunktion des IStR: Die in Rz. 83 genannten Prinzipien der Steuergleichheit und Wettbewerbsneutralität gebieten schließlich die Harmonisierung von Steuerfolgen. Die Verschiedenheit der Steuerrechtsordnungen lässt sich durch ein IStR, das Steueransprüche in Bezug auf die grenzüberschreitende Tätigkeit abgrenzt und Anspruchskollisionen beseitigt, nur sehr bedingt ausgleichen. Besteuerung ist ein mehr oder weniger erheblicher Standortfaktor, der wesentlich außerhalb des herkömmlichen IStR angesiedelt ist, weil die meisten Steuersubjekte nicht grenzüberschreitend tätig werden. Je größer jedoch der Anteil internationaler Betätigung wird, desto stärker wird der Druck auf die Staaten, für internationale Steuergleichheit und
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1 Dazu Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, Rz. 14.16 ff.; s. auch Sutter/Wimpissiner, Freistellungs- u. Anrechnungsmethode in den DBA, 2002; Hüsing, SteuerStud 2007, 312 (Vermeidung der Doppelbesteuerung u. Verluste); Winhard, Die Funktion der abkommensrechtlichen Steuerfreistellung und ihre Auswirkungen auf das deutsche Recht, 2007; Lampert, Doppelbesteuerung und Lastengleichheit, 2010, 250 ff.; E.Schmidt, DStJG 36 (2013), 87. 2 So die h.M., s. Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, Rz 5.53 ff., 5.60; Schaumburg, FS Tipke, 1995, 125 (128 ff.); K. Vogel, DStJG 8 (1985), 3 ff., 17 ff.
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§1
Rz. 98
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
Wettbewerbsneutralität zu sorgen. Aus dem sog. Wettbewerb der Steuersysteme (s. § 7 Rz. 71 ff.) wachsen dem IStR neue Aufgaben der Harmonisierung von Steuerrechtsordnungen zu. 98
Die Neutralitätseffekte des kollisionsauflösenden IStR sind begrenzt1. Die Anrechnungsmethode hat den Effekt, dass binnenwirtschaftlich tätige Unternehmen und Exportunternehmen gleichgestellt werden (sog. Kapitalexportneutralität). Die Freistellungsmethode verwirklicht die sog. Kapitalimportneutralität, indem ausländische Investoren und ihre Konkurrenten gleicher Besteuerung unterworfen werden. Derartige Neutralitätseffekte verbessern nur geringfügig die internationale Steuerneutralität, nach der es steuerlich gleichgültig wäre, an welchem Ort, im Inland- oder im Ausland, sodann in welchen Ländern die wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet wird. Antworten auf die Frage, in welchem Umfang die sog. Globalisierung der Märkte dazu zwingt, die Verschiedenheit der Steuerrechtsordnungen zu Gunsten der internationalen Steuerneutralität preiszugeben, liefert exemplarisch der Europäische Binnenmarkt und damit die Entwicklung des europäischen Steuerrechts. Während das kollisionsauflösende IStR die nationalen Steuertatbestände wohl beschränkt (Rz. 81 ff.), i.Ü. aber auf den Inhalt des nationalen Steuerrechts nicht einwirkt, ist das europäische Steuerrecht darauf angelegt, die nationalen Steuerrechtsordnungen inhaltlich anzugleichen und damit der internationalen Steuerneutralität eine gegenüber dem kollisionsauflösenden IStR fortgeschrittene Qualität zu vermitteln. Demnach ist das europäische Steuerrecht Teil des IStR, soweit es harmonisierend die Besteuerung des internationalen Wirtschaftsverkehrs gestaltet und damit die Aufgabe des IStR erfüllt, die nationalen Steuerrechtsordnungen möglichst diskriminierungsfrei und wettbewerbsneutral aufeinander abzustimmen (Rz. 83)2. Soweit das europäische Steuerrecht Normen mit Steuerfolgen außerhalb des internationalen Wirtschaftsverkehrs erfasst, reicht es über den Begriff des IStR (s. Rz. 82 ff.) hinaus.
7.3 Europäisches Steuerrecht 99
Aufgrund der kontinuierlich gestiegenen Bedeutung des Unionsrechts für das nationale Steuerrecht der Mitgliedstaaten, wird dem europäischen Steuerrecht nunmehr ein eigener Paragraf (s. § 4) gewidmet.
1 Ausf. zur Kapitalexport-/Kapitalimportneutralität Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung7, 2011, 18 ff.; Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, Rz. 14.16 ff.; Vogel/Lehner, DBA6, 2015, Grundlagen Rz. 267a f.; krit. K. Vogel, StuW 1993, 380 (386 ff.): verfehlte Unterscheidung. Eine Analyse der Neutralitätskonzepte findet sich bei Spengel, DStJG 36 (2013), 39. 2 Zum Verhältnis des Internationalen Steuerrechts zum Europarecht K. Vogel, StuW 1993, 380; Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1995; Gassner/Lang/Lechner, Doppelbesteuerungsabkommen und EU-Recht, 1996; M. Lang, FS Rädler, 1999, 429; R. Klapdor, Effiziente Steuerordnung durch ein europäisches Musterabkommen?, 2000; Lehner, IStR 2001, 329; Schaumburg, DB 2005, 1129; Kofler, ÖStZ 2007, 495; Metzler, ÖStZ 2007, 441; Rosenthal, IStR 2007, 610; Jirousek, FS Nolz, 2008, 43; Beiser, ÖStZ 2009, 211; Keuthen, Die Vermeidung der juristischen Doppelbesteuerung im EG-Binnenmarkt, 2009.
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Gebiete und Gesetze des besonderen Steuerrechts
Rz. 100
§1 100
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§ 2 Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung Literatur: Selmer/Kirchhof, Grundsätze der Finanzverfassung des vereinten Deutschlands, VVDStRL 52 (1993), 10, 74; Tipke, Vom Konglomerat herkömmlicher Steuern zum System gerechter Steuern, Steuerreformen und Gleichheitssatz unter dem Aspekt der Art. 105, 106 GG, BB 1994, 437; Verhandlungen des 61. Deutschen Juristentages, Empfehlen sich Maßnahmen, um in der Finanzverfassung Aufgaben- und Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden stärker zusammenzuführen?, Bd. I, II/1, 1996, mit Gutachten v. F. Kirchhof u. Referaten von Geske (M 9 ff.), Milbradt (M 35 ff.) u. Dieckmann (M 59 ff.); K. Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, HStR, II3, § 30; Kube, Finanzgewalt in der Kompetenzordnung, Habil., 2004; Siekmann, Die Staatsfinanzierung nach dem Grundgesetz, 2005; Schwarz/Reimer, JuS 2007, 119 ff., 219 ff. (Einführung); Waldhoff/Hey, Finanzautonomie und Finanzverflechtung in gestuften Rechtsordnungen, VVDStRL 66 (2007), 216 ff., 277 ff.; Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, HStR, V3, § 116; Seer, Zukunft des Steuerföderalismus, in FS Schnapp, 2008, 303; Hummel, Verfassungsrechtsfragen der Verwendung staatlicher Einnahmen, Diss., 2008; Korte, Die konkurrierende Steuergesetzgebung im Bereich der Finanzverfassung, Diss., 2008; Kommission von Bundestag u. rat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, Beratungen u. Ergebnisse, 2010; Kahl (Hrsg.), Nachhaltige Finanzstrukturen im Bundesstaat, 2011; Haag, Die Aufteilung steuerlicher Befugnisse im Bundesstaat, Diss., 2011; Kube, Der bundesstaatliche Finanzausgleich, 2011; Kempny, Die Staatsfinanzierung nach der Paulskirchenverfassung, Diss., 2011; Henneke, Die Kommunen in der Finanzverfassung des Bundes und der Länder, 2012; Tipke, StRO III2, 2012, 1307 ff.; Korioth, Finanzverfassung, in FS P. Kirchhof, Bd. II. 2013, 1469; Link, Föderalismusreform III – Kritische Analyse der föderalen Finanzbeziehungen und aktuell diskutierte Reformansätze, Ifst-Schrift 501, 2014; Haltern/Reimer, Die künftige Ausgestaltung der bundesstaatlichen Finanzordnung, VVDStRL 73 (2014), 103 ff., 153 ff.; Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages, Neuordnung der Finanzbeziehungen – Aufgabengerechte Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, Bd. I, 2014, Abt. D, mit Gutachten v. Kempny/Reimer (dazu Begleitaufsätze v. R. Schenke, NJW 2014, 2542; Fromme/Ritgen, DVBl. 2014, 1017) u. Referaten v. Feld, Henneke u. Voß; s. außerdem die Kommentierungen der Art. 104a–115 GG.
1. Einführung a) Abschnitt X (Das Finanzwesen) des Grundgesetzes umfasst zwei Komplexe: das bundesstaatliche Finanzverfassungsrecht (Art. 104a–108 GG) und das Haushaltsverfassungsrecht (Art. 109–115 GG). Das Finanzverfassungsrecht des GG regelt nach der Ausgabenzuständigkeit von Bund und Ländern in Art. 104a GG nicht die Einnahmenzuständigkeit umfassend für alle Arten von Abgaben (Steuern, Gebühren, Beiträge, Sonderabgaben), wie es aus heutiger Sicht im Hinblick auf den Wildwuchs von Abgaben sinnvoll wäre1. In den Art. 105–108 GG sind vielmehr nur Zuständigkeiten für Steuern, die sog. Steuerhoheiten normiert: die Steuergesetzgebungshoheit (Art. 105 GG), die Steuerertragshoheit (Art. 106; 107 GG) und die Steuerverwaltungshoheit (Art. 108 GG). Das BVerfG versteht die Finanzverfassung als eine in sich geschlossene Rahmen- und Verfahrensordnung, die auf Formenklarheit und auf Formenbindung angelegt und nicht analogiefähig ist2. BVerfGE 108, 1 (17 ff.) betont die Begrenzungsund Schutzfunktion der Finanzverfassung nicht nur für Sonderabgaben (s. Rz. 25 ff.), sondern auch für Gebühren (s. Rz. 20 ff.).
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Indessen ist in einem Bundesstaat die Staatsgewalt auf Gesamtstaat (Bund) und Gliedstaaten (Länder) sachlich zu verteilen3. Einem solchen Regelungszweck dient das Finanzverfassungs-
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1 So F. Kirchhof, VVDStRL 52 (1993), 71, 95 ff. Zu den ökonomischen Wirkungen Kaltenborn, Abgaben und Sozialtransfers in Deutschland, 2003. 2 BVerfGE 67, 256 (288 f.); 105, 185 (193 f.). BVerfGE 105, 185, hat deshalb eine Beteiligung der Länder an den Bundeseinnahmen aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen in Höhe von 99,3 Mrd. DM nach Art. 106 III GG zurückgewiesen. 3 Vgl. dazu Döhler, Autonome Besteuerungsrechte für Gliedstaaten und Gemeinden in ausgewählten föderativen Finanzverfassungen, 2002; Lienemeyer, Die Finanzverfassung der Europäischen Union, Ein Rechtsvergleich mit bundesstaatlichen Finanzverfassungen, 2002; Haag, Die Aufteilung steuerli-
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§2
Rz. 3
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
recht der Art. 105–108 GG. Es sucht in differenzierter und eben auch komplizierter Weise zwei einander widerstrebende Prinzipien auszugleichen, einerseits das Autonomieprinzip, das Bund und Ländern gesonderte Zuständigkeiten zuweist, und andererseits das „bündische Prinzip“1, das gemeinsame Zuständigkeiten begründet2. Demzufolge sind die Steuern nach einem Mischsystem verteilt3: Die großen Steuern (Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Umsatzsteuer) sind in einem Verbundsystem der Gemeinschaftsteuern (Art. 106 III 1 GG) mit quotenmäßiger Aufteilung zusammengefasst (s. Art. 106 III, IV GG u. Rz. 60 f.). Die übrigen Steuern werden nach einem Trennsystem entweder vollständig dem Bund (s. Art. 106 I GG u. Rz. 58) oder vollständig den Ländern (s. Art. 106 II GG u. Rz. 59) zugewiesen. 3
b) Demnach ist das bundesstaatliche Finanzverfassungsrecht Staatsorganisationsrecht, dessen Funktion nicht in einer materiellen Ausgestaltung der Steuerrechtsordnung besteht. Der Katalog der Steuerarten in Art. 106 GG bildet lediglich eine historische Bestandsaufnahme von Steuern und beruht nicht auf konkreten Wertentscheidungen des Verfassungsgebers zu einer gerechten Aufteilung der Steuerlasten auf die Stpfl.4 Schon die mangelnde Systematik des Art. 106 GG lässt klar erkennen, dass der Verfassungsgeber nicht über ein für die Steuerschuldner gerechtes oder gar nur zweckmäßiges Steuersystem mit dem Ziel reflektiert hat, eine ethisch rationale und damit zeitlos gültige Steuergrundordnung schaffen zu wollen5. Er hatte vielmehr nur die andere Seite, die der Steuergläubiger, im Blickfeld und verteilte unter den Gebietskörperschaften der bundesstaatlichen Ordnung das Aufkommen aus einem historischen Konglomerat real existierender Steuern.
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Nach wie vor ist es umstritten, ob und ggf. inwieweit die Regelung des Art. 106 GG das sog. Steuererfindungsrecht der nach Art. 105 GG gesetzgebungsbefugten Körperschaften limitiert, der Einführung neuer Steuern oder gar einer Fundamentalrevision der Steuerrechtsordnung entgegensteht. Unter Hinweis auf den Wortlaut des Art. 105 II GG und die in dem Finanzreformgesetz 1969 vorgenommene bewusste Abkehr vom Enumerationsprinzip vertritt ein Teil der Literatur, dass Bund oder Länder auch völlig neuartige, bisher in der Finanzverfassung des Grundgesetzes nicht geregelte Steuern einführen könnten6. Die fundamentale Schwäche dieser Auffassung besteht darin, dass sie die Frage der Ertragsverteilung offen lassen muss, weil Art. 106 GG über dort nicht aufgeführte (neue) Steuerarten nichts aussagen kann. Die angebotenen unterschiedlichen Problemlösungen (Regelung durch den einfachen Gesetzgeber, Ertragshoheit kraft Sachzusammenhangs zugunsten der regelnden Gebietskörperschaft, durch den Verfassungsgeber zu schließende Regelungslücke) vermögen nicht zu überzeugen. Eine Ergänzung der Verteilungsregel kann nicht der einfache Gesetzgeber, sondern nur der Verfassungsgeber, der über die erforderliche Mehrheit sowohl im Deutschen Bundestag als auch im Deutschen Bundesrat verfügt, beschließen. Da es angesichts der qualifizierten Mehrheitserfordernisse höchst ungewiss ist, ob der Verfassungsgeber hinsichtlich der neuartigen Steuer überhaupt eine
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cher Befugnisse im Bundesstaat, 2011, 39 ff. Zur Möglichkeit der Ausweitung des nationalen Steuerwettbewerbs anhand eines Rechtsvergleichs mit der Schweiz und den USA Nücken, Nationaler Steuerwettbewerb, Diss., 2013, 22 f., 51 f., 257 ff., 279 ff.; s. auch Gutachten 70. DJT v. Kempny/Reimer. BVerfGE 72, 330. Zur Systematik der Verteilung von Mangoldt/Klein/Starck/Schwarz, Bd. 36, 2010, Art. 106 GG Rz. 21 ff.; Sachs/Siekmann7, 2014, Vor Art. 104a GG Rz. 46 ff.; Art. 106 GG Rz. 2. Idealtypisch kann die Steuerhoheit allein beim Gesamtstaat liegen, der sodann den Gliedstaaten die nötigen Mittel zuweist (Gesamtverbundsystem), oder die Steuerhoheit liegt allein bei den Gliedstaaten, die dem Gesamtstaat die nötigen Mittel überweisen (Überweisungssystem), oder jede Körperschaft hat Steuerautonomie für alle Steuergüter, so dass sich innerstaatliche Doppelbesteuerungen ergeben (Konkurrenz- oder Parallelsystem). Ausf. mit Rechtsvergleich zum System in Kanada, Schweiz u. den USA: Haag, Die Aufteilung steuerlicher Befugnisse im Bundesstaat, 2011, 266 ff., 306 ff. Grundl. Tipke, StRO III2, 1353 ff.; Tipke, BB 1994, 437. R. Wendt, Finanzhoheit und Finanzausgleich, HStR VI3, § 139 Rz. 29 f. R. Wendt, Finanzhoheit und Finanzausgleich, HStR VI3, § 139 Rz. 29; Dreier/Heun, Bd. III2, 2008, Art. 106 GG Rz. 14; Tipke, StRO III2, 1325, 1353 ff.; Osterloh, NVwZ 1991, 823 (828); Söhn, FS Stern, 1997, 587 (599 ff.); Hartmann, DStZ 2012, 205 (206); van Heek/Lehmann, Die Kernbrennstoffsteuer als „Verbrauchsteuer“?, 2012, 29 ff.; de constitutione ferenda gegen eine Beschränkung der Gesetzgebungskompetenz nach bestimmten Steuertypen Kempny/Reimer, Gutachten 70. DJT, 2014, D 50.
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Einführung
Rz. 6
§2
Ertragsverteilungsregel zustande bringt, hinge die Steuerverteilung ansonsten in der Luft. Wer auf das Erfordernis einer verfassungsrechtlichen Ertragsverteilungsregel verzichtet und den Steuerertrag kurzerhand der jeweils gesetzgebenden Körperschaft zuweist, reizt zum „Wettlauf“ (zwischen Bund und Ländern) in der Erfindung neuer Steuern an. Dies widerspricht der vom BVerfG betonten Schutzfunktion der Finanzverfassung1. Deshalb hält die h.M. die Aufzählung der Ertragszuweisung in Art. 106 GG für abschließend, so dass weder der Bund noch die Länder Steuererfindungsrechte außerhalb der vom GG genannten Steuern und Steuerarten reklamieren können2. Die Regelung des Steuertatbestands hängt insofern von einer Regelung in Art. 106 GG ab, als dort die Gläubigerseite normiert ist. Ein Steueranspruch ist erst dann vollständig normiert, wenn auch bestimmt ist, wer den Steueranspruch innehat. Wollen Bund oder Land eine neue, in Art. 106 GG nicht aufgeführte Steuerart einführen, müssen Bundestag und Bundesrat mit qualifizierter Mehrheit gleichzeitig die austarierte Ertragsverteilungsregel des Art. 106 GG ergänzen3. Art. 106 GG gibt dem Steuergesetzgeber damit einen Handlungsrahmen vor. Dieser Handlungsrahmen dient nur dem Zweck der Aufkommensverteilung und kann deshalb nicht dazu dienen, herkömmliche Steuerarten oder herkömmliche Besteuerungsformen verfassungsrechtlich zu institutionalisieren. Das bedeutet, dass Steuern abgeschafft werden können. Art. 106 GG regelt die Ertragshoheit nur für den Fall, dass die Steuer erhoben wird; er ordnet die Erhebung nicht an und sichert somit nicht den Bestand der in Art. 106 GG aufgeführten Steuern4. Nach BVerfGE 120, 1 (24 f.) ist die Steuer durch ihre Verankerung in Art. 106 GG wohl „dem Grunde nach“ in „ihrer wesentlichen Struktur“ gerechtfertigt; sie muss jedoch grundrechtskonform ausgestaltet sein. I.Ü. unterliegen die finanzverfassungsrechtlich festgelegten Steuern dem Wandel der Anschauungen über die „richtige“ Besteuerung; dementsprechend besteht unabhängig von der historischen Prägung der in Art. 106 GG aufgeführten Steuern ein einfachgesetzliches Steuererfindungsrecht, das fundamentale Steuerreformen durchaus gestattet5: Die Steuern des Art. 106 GG können grundl. umgestaltet und es können auch neuartige Steuern eingeführt werden, sofern sich diese einer der in Art. 106 GG aufgeführten Steuern zuordnen lassen6. Ist dies nicht möglich, so bedarf Art. 106 GG der Ergänzung, weil der Steuergläubiger in Gestalt der Ertragshoheit nicht einfachgesetzlich normiert werden kann, vielmehr verfassungsrechtlich bestimmt sein muss. Art. 106 GG ist vorher oder uno actu mit dem Gesetz zur Einführung der neuen Steuer zu ergänzen (s. Rz. 4). Die Erfahrung lehrt allerdings, dass Steuerreformen besonders im Falle von Bundesgesetzen, die der Zustimmung des Bundesrats bedürfen (Art. 105 III GG), häufig nur durch überparteilichen Konsens mit den für die Ergänzung des Art. 106 GG erforderlichen Zweidrittelmehrheiten (Art. 79 Abs. 2 GG) zustande kommen.
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In der Vergangenheit sind die Straßengüterverkehrsteuer (Art. 106 I Nr. 3 GG), die Gesellschaftsteuer (Kapitalverkehrsteuer i.S.d. Art. 106 I Nr. 4 GG)7, die Wechselsteuer (Art. 106 I Nr. 4 GG) sowie die einmaligen Vermögensabgaben und Lastenausgleichsabgaben (Art. 106 I
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1 S. dazu BVerfGE 93, 319 (342); 105, 185 (193 f.); 108, 1 (15). 2 S. K. Vogel, FS Tipke, 1995, 93 (100 ff.); Bonner Komm./Vogel/Waldhoff, Vorb. Art. 104a–115 GG Rz. 519; von Mangoldt/Klein/Starck/Schwarz, Bd. 36, 2010, Art. 106 GG Rz. 18; von Münch/Kunig/ Heintzen6, Art. 105 GG Rz. 45 f.; Sachs/Siekmann7, 2014, Art. 105 GG Rz. 49 f. 3 Seer, DStR 2012, 325 (330); Wernsmann, ZfZ 2012, 29 (30); Waldhoff, ZfZ 2012, 57 (59); Drüen, ZfZ 2012, 309 (311); Gärditz, ZfZ 2014, 18 (19 f.), sämtlich zur Kernbrennstoffsteuer; s. auch Eilers/Hey, DStR 2011, 97 (99, 102), zur Luftverkehrsteuer. 4 Anders noch Wacke, Das Finanzwesen der Bundesrepublik Deutschland, 1950, 62 ff. 5 Grundl. hierzu von Mangoldt/Klein/Starck/Jachmann, Bd. 36, 2010, Art. 105 GG Rz. 32 ff. (Bedeutung der Ertragshoheit). 6 Möckel, DÖV 2012, 265 (266 ff.). Zur Abgrenzung sowie zur Begriffsbestimmung von Verkehr-, Verbrauch- und Aufwandsteuer s. Rz. 48 f.; Seer, ZfZ 2013, 146. 7 Die Bundesregierung plant allerdings im Wege einer sog. verstärkten Zusammenarbeit von 11 Mitgliedstaaten der EU (s. Art. 326 ff. AEUV; s. dazu EuGH C-2309/13 [Vereinigtes Königreich./.EU], IStR 2014, 407) die Einführung einer Finanztransaktionssteuer; s. dazu Büttner/Erbe/Hannig/von Schweinitz, Steuern und Abgaben im Finanzsektor II, IFSt-Schrift Nr. 502, 2015, mit einem Blick auf die bereits bestehenden Finanztransaktionssteuer in Frankreich u. Italien.
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§2
Rz. 6
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
Nr. 5 GG) abgeschafft worden1. Die Gewerbesteuer dürfte gänzlich abgeschafft werden, wenn Art. 28 II 3 GG beachtet bleibt (s. Rz. 53). Die Vermögensteuer (Art. 106 II Nr. 1 GG) wird derzeit nicht erhoben und darf u.E. nicht erhoben werden, weil sie mit einer gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit nicht zu vereinbaren ist (s. § 3 Rz. 121; § 16 Rz. 62)2. Über die grundrechtliche Zulässigkeit einer Steuer trifft die staatsorganisatorische Regelung des Art. 106 GG keine Aussage, so dass eine dort aufgeführte grundrechtswidrige Steuer verfassungsrechtlich keinen Bestand haben kann3. Allerdings hat der Gesetzgeber in der jüngeren Vergangenheit auch nicht wenige Steuern neu eingeführt. Der zum 1.1.1995 erneuerte Solidaritätszuschlag4 ist eine Ergänzungsabgabe zur ESt/KSt (Art. 106 I Nr. 6 GG); seine mangelnde Befristung hält die h.M. (bisher) für unschädlich5. Auch wenn eine Befristung nicht bereits aus dem Begriff „Ergänzungsabgabe“ hergeleitet werden kann, so aber doch wohl aus dessen Funktion, in „Ausnahmelagen“ oder „besonderen Notfällen“ Bedarfsspitzen des Bundes zu finanzieren, womit keine dauerhafte Aufkommensverschiebung zugunsten des Bundes verbunden sein sollte6. Die Offenheit der finanzverfassungsrechtlichen Steuerbegrifflichkeit exemplifiziert die Stromsteuer; sie weicht vom tradierten Verbrauchsteuerbegriff als Privatkonsumsteuer insoweit ab, als sie nicht nur die Stromkonsumenten, sondern auch Unternehmen belastet und insoweit den Charakter einer Produktionsmittelsteuer erhält (s. auch Rz. 48). Gleichwohl hat das BVerfG die Stromsteuer dem Verbrauchsteuerbegriff i.S.d. Art. 106 I Nr. 2 GG zugeordnet (s. § 18 Rz. 116)7. Vom Verbrauchsteuerbegriff des Art. 106 Abs. 1 Nr. 2 GG jedenfalls nicht mehr gedeckt sind aber direkte Produktionsmittelsteuern, wie z.B. die durch Gesetz v. 8.12.2010, BGBl. I 2010, 1814, zum 1.1.2011 neu (befristet) eingeführte Kernbrennstoffsteuer8. Dagegen hat das BVerfG die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die mit Gesetz v. 9.12.2010, BGBl. I 2010, 1885, eingeführte (unbefristete) Luftverkehrsteuer nach Art. 105 II i.V. mit Art. 106 I Nr. 3 GG („sonstige auf motorisierte Verkehrsmittel bezogene Verkehrsteuer“) bejaht9. Von der Einführung neuer, in Art. 105; 106 GG bisher nicht genannter Steuerarten 1 Zum Vorschlag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nach Art. 106 I Nr. 5 GG einmalig eine „Vermögensabgabe“ zur Sanierung der durch die Finanz- und Bankenkrise strapazierten Staatsfinanzen einzuführen (auf der Basis eines Gutachtens v. Bach/Beznozka/Steiner [DIW], Politikberatung kompakt, Bd. 59, 2010), s. G. Kirchhof, StuW 2011, 189 (201 f.); Kube, DStR-Beihefter 2013, 37 (47 f.); s. auch § 16 Rz. 63. 2 Kube, DStR-Beihefter 2013, 37 (38 f.). 3 So BVerfGE 120, 1 (24) zur GewSt: Art. 106 VI GG rechtfertige die Steuer zwar dem Grunde nach, entziehe sie aber nicht der gleichheitsrechtlichen Überprüfung. Wegweisend Tipke, StRO I2, 298 ff. 4 Der zunächst befristete Solidaritätszuschlag (s. Gesetz v. 24.6.1991, BGBl. I 1991, 1318) ist durch das Gesetz v. 23.6.1993, BGBl. I 1993, 944, zu einem unbefristeten Zuschlag gemacht worden. 5 BVerfG v. 8.9.2010 – 2 BvL 3/10, FR 2010, 999, mit krit. Anm. v. Birk; BFH BStBl. 2012, 43 (45 ff.); Hilgers/Holly, DB 2010, 1419 (1420); a.A. durch die Kammerentscheidung des BVerfG als unzulässig verworfene Normenkontrollvorlage des Niedersächs. FG EFG 2010, 1071 (1077). Das BVerfG hatte bereits zuvor gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlags gerichtete Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG v. 19.11.1999 – 2 BvR 1167/96, HFR 2000, 134; BVerfG v. 11.2.2008 – 2 BvR 1708/06, DStZ 2008, 229). 6 Krit. auch Schemmel, Verfassungswidriger Solidaritätszuschlag, Karl-Bräuer-Institut, Heft 102, 2008, 27 f.; Selmer/Hummel, Jahrbuch für öffentliche Finanzen, 2013, 365 (372 ff.); Wiss. Beirat Ernst & Young, DStR 2014, 1309 (1311 ff.). Das Niedersächs. FG DStRE 2014, 534, hat das BVerfG erneut angerufen (dortiges Az. 2 BvL 6/14). 7 BVerfGE 110, 274 (296), wonach es keinen Rechtssatz geben soll, der das Anknüpfen einer Verbrauchsteuer an ein Produktionsmittel verbietet. Zum Verbrauchsteuerbegriff s. Rz. 48. 8 So in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes: FG Hamburg DStRE 2012, 53 (56 f.); FG München DStRE 2012, 48; FG Hamburg EFG 2014, 1172 (1176); von BFH BStBl. 2012, 418 offen gelassen; Vorlagebeschluss an das BVerfG (Az.: 2 BvL 6/13): FG Hamburg EnWZ 2013, 422; Schoenfeld, AW-Prax 2011, 415 (416 ff.); Seer, DStR 2012, 325 (331 ff.); Drüen, ZfZ 2012, 309 (315 ff.); Seer, ZfZ 2013, 146 (149 f.); Gärditz, ZfZ 2014, 18 (20 f.); a.A. FG Baden-Württemberg EFG 2012, 537 (539 f.); Wernsmann, NVwZ 2011, 1367 (1368 f.); Bruch/Greve, BB 2012, 234 (235); Waldhoff, ZfZ 2012, 57 (63 ff.); Hartmann, DStZ 2012, 205 (209 ff.); Möckel, DÖV 2012, 265 (272 f.); Gawel, ZfZ 2014, 230 (236 ff.); Gutachten zur Einführung der KernbrSt: Waldhoff/Aswege, Kernenergie als „goldene Brücke“?, 2010, 56 ff. 9 BVerfG v. 5.11.2014 – 1 BvF 3/11, HFR 2014, 1111 f.; a.A. Eilers/Hey, DStR 2011, 97 (99 ff.); Lehmann/Sterner/Wölfel, IStR 2014, 616 (617 ff.), mit einem Rechtsvergleich.
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Der Steuerbegriff; Abgrenzung von anderen Abgaben
Rz. 8
§2
zu unterscheiden ist die Erweiterung bzw. Umgestaltung bekannter Steuerarten. So ist es u.E. noch vom Kompetenztitel des Art. 105 II GG i.V.m. Art. 106 III GG gedeckt, wenn der Bund die Körperschaftsteuer zu einer allgemeinen Unternehmensteuer, die rechtsformneutral an den Gewinn des Unternehmens anknüpft (s. § 13 Rz. 168 ff.), ausdehnen würde1. Eine verfassungsändernde Mehrheit ist nur erforderlich, wenn die Fundamentalreform eine andere Verteilung des Steueraufkommens und damit eine Änderung oder Ergänzung des Art. 106 GG erfordert (s. Rz. 4). c) Die für den Stpfl. relevanten materiellen Grundwertungen der Steuerrechtsordnung sind damit nicht dem Finanzverfassungsrecht, sondern anderen Teilen des Grundgesetzes, so insb. dem Abschnitt I (Die Grundrechte) und den Strukturprinzipien der Verfassung (Rechtsstaatsprinzip, Sozialstaatsprinzip) zu entnehmen (s. § 3). Zu materiellen Grundwertungen der Steuerrechtsordnung enthält das Grundgesetz keine ausdrücklichen Bestimmungen (s. § 1 Rz. 50).
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Demgegenüber war in Art. 134 WRV die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit festgeschrieben (s. § 3 Rz. 40). Auch in vielen geltenden Verfassungen ist das Leistungsfähigkeitsprinzip entsprechend dem Vorbild in Art. 13 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 ausdrücklich verankert2. Darüber hinaus enthalten einige Verfassungen konkrete materielle Festlegungen, z.B. die Progressivität der Besteuerung (u.a. Italien, Spanien), das Verbot steuerlicher Privilegierung (Art. 112 I der belgischen Verfassung) oder gar ein konkretes Steuerprogramm wie das Ziel „egalitärer Vermögens- und Einkommensverteilung“ (Art. 106 I der portugiesischen Verfassung). Die praktischen Erfahrungen und besonders auch der Streit um Art. 106 GG lehren, dass konstitutionelle Konkretisierungen oder Begrenzungen der Besteuerung3 nicht den Effekt haben, die Situation des Steuerrechts zu verbessern, z.B. das belgische Steuerrecht privilegienfrei zu gewährleisten, die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit oder ein sozialistisches Steuerprogramm4 zu effektuieren. Vielmehr wird das Ringen um ein besseres Steuerrecht lediglich zum Thema verfassungsrechtlicher Zulässigkeit gemacht, was die Prozessflut anschwellen lässt, den Fortschritt des Steuerrechts aber eher hemmt als fördert. Daher ist das Schweigen des Grundgesetzes zu materiellen Inhalten der Besteuerung nicht als Nachteil zu bewerten, eine Einfügung steuerrechtlicher Programmsätze in das Grundgesetz nicht erforderlich5. Letztlich liegt es überall nicht so sehr am Verfassungstext als vielmehr an der durch Legislative, Rspr. und Exekutive geschaffenen Verfassungswirklichkeit, wie viel Recht und Gerechtigkeit eine Steuerrechtsordnung gewährt.
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2. Der Steuerbegriff; Abgrenzung von anderen Abgaben Literatur: Leon, Der Begriff der Steuer, FinArch. 31 (1914), 489; Friauf, Verfassungsrechtliche Grenzen der Wirtschaftslenkung und Sozialgestaltung durch Steuergesetze, 1966; Selmer, Steuerinterventio1 Zu den Reformüberlegungen s. J. Lang, DStJG 24 (2001), 50 (107 f.); zur Idee einer sog. Inhabersteuer J. Lang, Perspektiven der Unternehmensteuerreform, in Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung, BMF-Schriftenreihe, Heft 66, 1999, Anh. Nr. 1, S. 19 ff. Die Inhabersteuer ist als Einkommensteuer für Personenunternehmen konzipiert und soll der Rechtsformneutralität im Verhältnis zur Körperschaftsteuer dienen. 2 Art. 13 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte v. 26.8.1789, u. z.B. Art. 53 I der italienischen, Art. 31 der spanischen, Art. 4 V der griechischen Verfassung. Umfassender Überblick von Tipke, StRO I2, 488 ff. 3 Dazu K. Vogel, FS Maunz, 1981, 424; K. Vogel, HStR I1, § 27 Rz. 73 f.; Tipke, StRO I2, 463 ff.; Folkers, Begrenzungen von Steuern und Staatsausgaben in den USA, 1983 (zur berühmten kalifornischen Steuerrevolte); Schemmel/Borell, Verfassungsgrenzen für Steuerstaat und Staatshaushalt, Ein Beitrag zur Reform der Finanzverfassung, Karl-Bräuer-Institut, Heft 75, 1992. 4 Die Verfassung hat Portugal nicht daran gehindert, auf Madeira eine Steueroase für flüchtendes Kapital einzurichten. Obgleich in Art. 31 der spanischen Verfassung Prinzipien der Steuergerechtigkeit (Leistungsfähigkeitsprinzip, Progressionsprinzip, Verbot der Erdrosselungssteuer, Verbot der Steuerverschwendung, Gesetzmäßigkeit der Besteuerung) positiviert sind, räumt das spanische Verfassungsgericht dem Gesetzgeber mehr Handlungsspielraum ein als das BVerfG. Dazu Taboada, FS Tipke, 1995, 583 ff. 5 Der Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drucks. 12/6000 v. 5.11.1993, hat sich mit Fragen der Finanzverfassung aus Zeitgründen nicht befassen können (s. S. 114 f.). F. Kirchhof, VVDStRL 52 (1993), 74 (77 f.), lehnt die Aufnahme des Leistungsfähigkeitsprinzips in die Verfassung nachdrücklich ab.
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§2
Rz. 9
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
nismus und Verfassungsrecht, 1972; Starck, Überlegungen zum verfassungsrechtlichen Steuerbegriff, in FS Wacke, 1972, 193; Knies, Steuerzweck und Steuerbegriff, Habil., 1976; Bodenheim, Der Zweck der Steuer, Diss., 1979; Schaefer, Der verfassungsrechtliche Steuerbegriff, Diss., 1997; Jarass, Nichtsteuerliche Abgaben und lenkende Steuern, 1999; Kreibohm, Der Begriff der Steuer im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Diss., 2004; Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, Habil., 2005; Roland, SteuerStud-Beilage Nr. 1/2009; Reimer, Abgaben, in FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 136; Söhn, Steuer, in FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 145; s. außerdem Kommentare zu Art. 105 GG und § 3 AO.
2.1 Verfassungsrechtlicher Inhalt und Bedeutung des Steuerbegriffs 9
Die Legaldefinition der Steuer in § 3 I AO hat in der Steuerpraxis keine nennenswerte Bedeutung. Der Steuerbegriff wird vielmehr hauptsächlich für die Abgrenzung der in den Art. 105–108 GG normierten Steuerhoheiten benötigt. Er ist relevant für die Fragen der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Abgaben, die als Steuer, aber auch als Gebühren, Beiträge oder Sonderabgaben qualifiziert werden können. I.Ü. kann der Steuerbegriff überall dort verfassungsrechtlich relevant werden, wo der verfassungsrechtliche Inhalt steuerbegriffsabhängiger Institutionen zu eruieren ist1.
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Das BVerfG2 vertritt in st. Rspr. die Auffassung, dass der Verfassungsgeber den einfach-gesetzlichen Steuerbegriff in § 1 der RAO von 1919 übernommen habe (sog. Rezeptionsargument)3. Der auf Otto Mayer zurückgehende Steuerbegriff der RAO4 brachte indessen nicht hinreichend zum Ausdruck, dass Steuern auch wirtschaftslenkenden Charakter haben können. Insoweit bedurfte der historische Steuerbegriff der Ergänzung. Der verfassungsrechtliche Steuerbegriff hat auch der Notwendigkeit Rechnung zu tragen, „dass die Steuer in der modernen Industriegesellschaft zwangsläufig auch zum zentralen Lenkungsinstrument aktiver staatlicher Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik geworden ist“5 (s. §§ 19, 20). Der Gesetzgeber der AO 1977 hat dem Lenkungscharakter der Steuer durch Anfügung des § 3 I Hs. 2 AO Rechnung getragen. § 3 I Hs. 2 AO lässt es zu, dass der fiskalische Hauptzweck „Erzielung von Einnahmen“ gegenüber dem von der Steuer in erster Linie verfolgten Sozialzweck (s. § 3 Rz. 21) zu einem Nebenzweck degradiert wird. Der Fiskalzweck „Erzielung von Einnahmen“ darf aber nicht gänzlich wegfallen. Der Steuerbegriff ist nicht erfüllt, wenn die Abgabe lediglich dem Zweck dienen soll, den Betroffenen wirtschaftlich zu „erdrosseln“. Die Finanzierungsfunktion der Steuer schlägt dann in eine Verwaltungsfunktion mit Verbotscharakter um (zum Verbot der Erdrosselungssteuer s. § 3 Rz. 184).
1 Bsp.: Geltung des Steuergeheimnisses gegenüber Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen (vgl. BVerfGE 67, 100 [143]). 2 BVerfGE 3, 407 (435); 4, 7 (13 f.); 7, 244 (251 f.); 8, 274 (317); 10, 372 (380 f.); 29, 402 (408 f.); 36, 66 (70); 38, 61 (79 f.); 42, 223 (228); 49, 343 (353); 55, 274 (299); 65, 325 (344); 67, 256 (282). 3 Zum verfassungsrechtlichen Steuerbegriff näher Knies, Steuerzweck und Steuerbegriff, 1976, 116 ff.; Schaefer, Der verfassungsrechtliche Steuerbegriff, 1997; Bonner Komm./Vogel/Waldhoff, 1997, Vor Art. 104a–115 GG Rz. 352 ff.; Waldhoff, HStR V3, § 116 Rz. 85. 4 S. Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1991, 29 f. 5 So BVerfGE 67, 256 (282) zur Investitionshilfeabgabe; aus jüngerer Zeit s. BVerfGE 84, 239 (274); 93, 121 (147); 98, 106 (117); 105, 73 (112); 110, 274 (293); 116, 164 (182); 117, 1 (30): „Der Gesetzgeber darf seine Steuergesetzgebungskompetenz grds. auch ausüben, um Lenkungswirkungen zu erzielen“. Eingehend hat sich der 63. DJT (2000) mit der folgenden Frage befasst: Inwieweit ist die Verfolgung ökonomischer, ökologischer und anderer öffentlicher Zwecke durch Instrumente des Abgabenrechts zu empfehlen?: Gutachten: Trzaskalik, 2000, Referate: Juchum, Raupach, R. Schmidt; Aufsätze: Rodi, JZ 2000, 827; Sacksofsky, NJW 2000, 2619; Selmer/Brodersen, DVBl. 2000, 1153; F. Kirchhof, DVBl. 2000, 1166; Birk in Internationale Juristenkommission (Hrsg.), Grundrechtsschutz im Steuerrecht, 2001, 67; Gawel, StuW 2001, 26; Weber-Grellet, NJW 2001, 3657; Waldhoff, StuW 2002, 285; P. Kirchhof, GS Trzaskalik, 2005, 395; umfassend: Wernsmann, Verhaltenslenkung, Habil., 2005; ders., FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 152; Zu verfassungs- und unionsrechtlichen Grenzen steuerlicher Lenkung auch Glaser, StuW 2012, 168.
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Rz. 16
§2
Das klassische Beispiel für eine Sozialzwecksteuer mit lenkendem Hauptzweck und fiskalischem Nebenzweck (Lenkungsteuer) ist der Zoll. Er dient heutzutage nicht mehr der Warenstromerdrosselung, sondern der -regulierung (s. § 1 Rz. 85). Historische Beispiele für Lenkungsteuern sind die Werkfernverkehrsteuer1 und der Konjunkturzuschlag2. Keine echten Sozialzwecksteuern sind die Tabak- und Alkoholsteuern (als spezielle Verbrauch- und Aufwandsteuern). Sie werden von der Rechtspolitik gern als Mittel zum Schutze der Volksgesundheit ausgewiesen, dienen aber nach wie vor primär der Einnahmeerzielung (Ausnahme: sog. Alkopopsteuer, s. § 18 Rz. 107, 113). Kampfhunde- und Gewaltspielautomatensteuern wirken regelmäßig erdrosselnd3, so dass an die Stelle der verfassungswidrigen Steuer das ordnungsrechtliche Verbot der Kampfhundezucht und des Inverkehrbringens von Gewaltspielen zu treten hat, das i.Ü. die Bevölkerung wirksamer zu schützen vermag als eine Sozialzwecksteuer. Zunehmende Bedeutung gewinnt die Besteuerung von Energie (Energie-, Stromsteuer); diese Steuern werden gern als Steuern zum Schutze der Umwelt ausgewiesen, dienen aber ebenso dem Fiskalzweck (s. § 18 Rz. 116). Nach BVerfGE 98, 106 (118) sollen Sozialzwecksteuern auch keine zur Steuergesetzgebungskompetenz hinzutretende Sachkompetenz erfordern (s. Rz. 55)4. Sozialzwecksteuern bedürfen aber der Rechtfertigung durch ein Sonderbelastungsprinzip, das sich grds. am Gemeinwohl zu orientieren hat; dabei darf das Leistungsfähigkeitsprinzip wohl eingeschränkt, jedoch nicht ausgeschaltet werden (s. § 3 Rz. 133).
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Im einfachgesetzlichen Bereich hat der Steuerbegriff vor allem Bedeutung für die Anwendung der AO (§ 1 AO), die sachliche Zuständigkeit der Finanzbehörden nach dem Gesetz über die Finanzverwaltung (s. § 21 Rz. 30 ff.) und die Art des Rechtsschutzes (Einspruch nach den §§ 347 ff. AO sowie Finanzrechtsweg nach § 33 FGO).
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Der Steuerbegriff; Abgrenzung von anderen Abgaben
2.2 Die Merkmale des Steuerbegriffs in § 3 I AO a) Die Legaldefinition des Steuerbegriffs in § 3 I AO lautet: Steuern sind Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft; die Erzielung von Einnahmen kann Nebenzweck sein.
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b) Demnach bestimmt § 3 I AO folgende Merkmale des Steuerbegriffs: aa) Die Steuer ist eine Geldleistung; nicht erfasst werden also Naturalleistungen, Hand- und Spanndienste, Wehrdienst, Feuerwehrdienst, Melde-, Anzeige- und andere Mitwirkungspflichten, Schöffenpflicht etc.
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bb) Die Steuer ist keine Gegenleistung für eine besondere Leistung und unterscheidet sich dadurch von den mit staatlichen Gegenleistungen verknüpften Vorzugslasten (Gebühren [s. Rz. 20–22] und Beiträge [s. Rz. 23 f.]). Von den Sonderabgaben unterscheidet sich die Steuer als Einnahme zur Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs; sie dient grds. nicht der Finanzierung besonderer Aufgaben (s. Rz. 25).
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Eine Zweckbindung des Steueraufkommens ist mit dem haushaltsrechtlichen Grundsatz der Gesamtdeckung (Non-Affektationsprinzip) unvereinbar, wonach alle Einnahmen als Deckungsmittel für alle Ausgaben zu dienen haben (§ 7 Satz 1 Haushaltsgrundsätzegesetz). Nach der
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1 BVerfGE 16, 147. 2 BVerfGE 29, 402. 3 Die Rspr. setzt die Schwelle der „Erdrosselung“ dagegen sehr hoch und toleriert diese Steuern regelmäßig als noch verfassungsmäßige Sozialzwecksteuern (zu Kampfhundesteuern s. BVerwGE 110, 265 [270 f.]; BVerwG BFH/NV 2011, 2224; eine erdrosselnde Wirkung bejahend bei 2 000 Euro p.a. BayVerwGH ZKF 2013, 235; zu sog. Killerautomatensteuern s. BVerfG BFH/NV-Beilage 2/2001, 159 [160]; BVerwGE 110, 248 [251]). 4 Allerdings hat BVerfGE 98, 106 (125 f.) kommunale Verpackungsteuern wegen Unvereinbarkeit mit den bundesrechtlichen Vorgaben des Abfallrechts und damit widersprüchlichen Unterlaufens der Entscheidungen des Sachgesetzgebers als verfassungswidrig verworfen (s. Rz. 55).
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Rz. 17
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
Rspr. des BVerfG sind Zwecksteuern finanzverfassungsrechtlich zulässig1. Diese Rspr. bestätigte BVerfGE 110, 274 (294) zur Verknüpfung des Strom- und Mineralölsteueraufkommens mit der Senkung der Rentenversicherungsbeiträge. Eine Zweckbindung von Steuern sei „verfassungsrechtlich unbedenklich“. Dem Grundsatz der Gesamtdeckung des Haushalts komme kein Verfassungsrang zu. 17
cc) Die Geldleistung muss von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen (Bund, Land, Gemeinde, Kirche) – hoheitlich – auferlegt sein; folglich scheiden vertragliche und freiwillige Zahlungen sowie Zahlungen an andere Institutionen aus.
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dd) Die Geldleistung muss – mindestens nebenzwecklich – zur Erzielung von Einnahmen auferlegt sein, zur Deckung des Finanzbedarfs. Folglich werden nicht erfasst: Geldstrafen, Bußgelder, Zwangsgelder, Säumnis- und Verspätungszuschläge, Zinsen, Kosten; solche in Steuergesetzen vorgesehenen Geldschulden werden aber zum Teil als Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 I i.V.m. § 3 IV AO) den Steuern gleichbehandelt (vgl. etwa §§ 222; 226; 227; 228 AO). Die Einnahmen müssen endgültig erzielt werden, dürfen nicht zur Rückzahlung vorgesehen sein. Daher war die sog. Zwangsanleihe nach dem Haushaltsbegleitgesetz 1983 keine Steuer2.
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ee) Die Geldleistung muss allen auferlegt sein, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Dieser Passus zielt auf Gleichmäßigkeit (Allgemeinheit) und Tatbestandsmäßigkeit (Gesetzmäßigkeit) der Besteuerung (s. § 3 Rz. 230 ff.).
2.3 Gebühren Literatur: Wilke, Gebührenrecht und Grundgesetz, 1973; Clausen, Das gebührenrechtliche Kostendeckungsprinzip, 1978; K. Vogel, Vorteil und Verantwortlichkeit. Der doppelgliedrige Gebührenbegriff des Grundgesetzes, in FS Geiger, 1989, 518 ff.; Gawel, Die kommunalen Gebühren, 1995; Gramm, Vom Steuerstaat zum gebührenfinanzierten Dienstleistungsstaat?, Der Staat 36 (1997), 267; Hendler, Gebührenstaat statt Steuerstaat?, DÖV 1999, 749; Gawel, Umweltabgaben zwischen Steuerund Gebührenlösung, 1999; Sacksofsky/Wieland, Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat, 2000; Drömann, Nichtsteuerliche Abgaben im Steuerstaat. Ein Beitrag zur dogmatischen Bewältigung von Verleihungsabgaben, 2000; Wienbracke, Bemessungsgrenzen der Verwaltungsgebühr, 2004; Wild, Renaissance des Kostendeckungsprinzips?, DVBl. 2005, 733; P. Kirchhof, Nichtsteuerliche Abgaben, HStR V3, § 119 Rz. 26 ff.; Perlitius, Die vorteilsabschöpfende Verwaltungsgebühr, Diss., 2010; Habermann, Gebühren für Gefahrenabwehr, Diss., 2011; Cicek, Ökologische Komponenten im Abfallgebührenrecht, Diss., 2011; Wieland, Gebühren, Beiträge und Sonderabgaben im System der Kommunalfinanzierung, in DStJG 35 (2012), 159 ff.; Droege, Legitimation und Grenzen nichtsteuerlicher Abgaben, Die Verwaltung 2013, 313; G. Kirchhof, Die lenkende Abgabe, Die Verwaltung 2013, 349.
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Ebenso wie die Steuer ist die öffentlich-rechtliche Gebühr eine Abgabe zur Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs (wie § 3 I AO: „Erzielung von Einnahmen“). Von der Steuer unterscheidet sich die Gebühr durch die Verknüpfung mit einer individuell zurechenbaren Gegenleistung des öffentlich-rechtlichen Gemeinwesens: Das systemtragende Gebührenprinzip ist das Äquivalenzprinzip; es erlaubt die Bemessung der Gebühr nach den Prinzipien der Kostendeckung (Gebühr überwälzt die äquivalenten Kosten) und des Vorteilsausgleichs (Gebühr schöpft den äquivalenten Vorteil ab)3. Systemfremd ist es, Vorzugslasten (Gebühren und Beiträge) nach dem Prinzip der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu bemessen. Gleichwohl hat es das BVerfG für zulässig angesehen, Kindergartengebühren nach dem Familieneinkommen zu staffeln, soweit die Höchstgebühr die anteiligen Kosten der öffentlichen Leistung 1 BVerfGE 36, 66 (70 f.); 49, 343 (353 f.); 65, 325 (344); dazu umfassend Waldhoff, StuW 2002, 285; Musil, DVBl. 2007, 1526. 2 BVerfGE 67, 256 (281 ff.). 3 Zur Diskussion über die Einführung einer zulassungsortabhängigen Autobahnbenutzungsgebühr (sog. PKW-Maut) s. Boehme-Neßler, NVwZ 2014, 97; Langeloh, DÖV 2014, 365; Korte/Gurreck, EuR 2014, 420.
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Der Steuerbegriff; Abgrenzung von anderen Abgaben
Rz. 22
§2
nicht überschreitet1. Eine einkommensabhängige progressive Staffelung von Benutzungsgebühren verstärkt jedoch den progressiven Einkommensteuertarif (dazu § 8 Rz. 2) und verwischt die Grenze zwischen Steuer und Vorzugslast. Zudem verbirgt ein einkommensabhängiger Gebührentarif eine Transferleistung zugunsten der niedrig Belasteten, kumuliert dadurch ggf. mit direkten Sozialtransfers und gefährdet so die Transparenz im Sozialstaat. Schließlich wird das Subsidiaritätsprinzip (dazu § 1 Rz. 39) verletzt, wenn das Arbeitseinkommen durch Überschreiten bestimmter Einkommensschwellen zum kompensatorischen Verlust staatlicher Leistungen der Daseinsvorsorge führt und sich dadurch Familieneinkommen sogar im Gesamtergebnis verringert. Legaldefinitionen enthalten die Kommunalabgabengesetze der Länder, z.B. § 4 II KAG NW: „Gebühren sind Geldleistungen, die als Gegenleistung für eine besondere Leistung – Amtshandlung oder sonstige Tätigkeit – der Verwaltung (Verwaltungsgebühren) oder für die Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen und Anlagen (Benutzungsgebühren) erhoben werden“. Verwaltungsgebühren werden z.B. für die Erteilung von Bescheinigungen, für Genehmigungen, Erlaubnisse und Bauabnahmen erhoben. Benutzungsgebühren sind z.B. Gebühren für die Benutzung von Sportanlagen, Büchereien, den Besuch von Schulen, die Nutzung von Verkehrseinrichtungen wie Häfen, Flughäfen (u.a. Gebühren für die Sicherheit der Fluggäste), die Versorgung mit Wasser, Strom, Gas sowie die Entsorgung (z.B. Abwasser-, Kanalgebühren)2.
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Analog zu den Lenkungsteuern (s. Rz. 11) gibt es auch Lenkungsgebühren3, bei denen der Fiskalzweck zum Nebenzweck wird. Verfassungsrechtlich sind Lenkungsgebühren ebenso zulässig wie Lenkungsteuern. Nach BVerfGE 108, 1 (18 ff.) darf der Gesetzgeber mit der Gebührenerhebung nicht nur Zwecke des Kostenersatzes und Vorteilsausgleichs, sondern auch der Verhaltenslenkung sowie soziale Zwecke (s. bereits Rz. 20) verfolgen. BVerfGE 93, 319 (345 ff.) hat Grundwasserentnahmegebühren (sog. Wasserpfennig) nicht nur mit Umweltschutzzwecken, sondern auch mit dem Äquivalenzprinzip im Sinne einer Ressourcennutzungsgebühr gerechtfertigt. Durch die Grundwasserentnahme erhielten die Nutzer einen „abschöpfungsfähigen Sondervorteil“ gegenüber all denen, die das betreffende Gut nicht oder nicht in gleichem Umfang nutzen dürfen. Mit dieser Legitimation wird jedoch die Finanzherrschaft des Staates über seine Sachherrschaft hinaus auf alle möglichen „Güter der Allgemeinheit“ und zur Erfindung von Umweltgebühren erweitert. Eine Sondernutzung von Naturressourcen ohne konkreten Gegenleistungsbezug lässt sich beliebig konstruieren4. Die Gebührenzwecke dürfen jedoch nicht beliebig zur sachlichen Rechtfertigung der konkreten Bemessung einer Gebühr herangezogen werden5. Wird Wasser nicht ebenso allgemein gebraucht wie Luft? Ist etwa die Erhebung einer Qualitätsluftgebühr für alpine Touristen gegenüber dem Prinzip des Steuerstaates legitimiert? Die Wasserpfennigentscheidung macht es dem Staat leicht, im Bereich der Gebühren seine Fiskalgier zu befriedigen, ohne auf die strengen finanzverfassungsrechtlichen Anforderungen für Steuern und Sonderabgaben Rücksicht nehmen zu müssen6. Dies gilt allgemein für die
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1 BVerfGE 97, 332 (346 f.); dazu Besprechungen v. Friedl, ZKF 1999, 152; Jestaedt, DVBl. 2000, 1820; zu dem Problemkreis ausf. Behlert, Staffelung von Leistungsentgelten der Verwaltung nach dem Einkommen der Nutzer, 2002; Schumacher, Rechtsfragen der sozialen Bemessung von kommunalen Gebühren, 2003, 23, 151 ff.; ohne erkennbares Problembewusstsein toleriert v. Droege, Die Verwaltung 2013, 313 (331 f.). 2 Zur Abgrenzung zwischen Verwaltungs- und Benutzungsgebühren OVG Münster KStZ 2013, 96. 3 S. Kloepfer, AöR 97 (1972), 232; M. Wendt, Die Gebühr als Lenkungsmittel, 1975; H.D. Jarass, Nichtsteuerliche Abgaben und lenkende Steuern unter dem Grundgesetz, 1999, 27 ff.; G. Kirchhof, Die Verwaltung 2013, 349. 4 Mit Recht krit. Birk, FS Ritter, 1997, 41. Im Weiteren S. Meyer, Gebühren für die Nutzung von Umweltressourcen, 1995; Heimlich, Die Verleihungsgebühr als Umweltabgabe, 1996; Drömann, Nichtsteuerliche Abgaben im Steuerstaat, 2000, 260 ff.; Wohlfeil/Kaeser, GS Trzaskalik, 2005, 431; den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers betont dagegen Perlitius, Die vorteilsabschöpfende Verwaltungsgebühr, 2010, 135 ff.; s. auch Cicek, Ökologische Komponenten im Abfallgebührenrecht, 2011; G. Kirchhof, Die Verwaltung 2013, 349 (377). 5 S. BVerfGE 108, 1 (19 f.); BVerfGE 132, 334 (350) zu Hochschulrückmeldegebühren. 6 Zu finanzverfassungsrechtlichen Problemstellungen einer umfassenden Wassernutzungsabgabe Durner/Waldhoff, Rechtsprobleme der Einführung bundesrechtlicher Wassernutzungsabgaben, 2013, 65 ff.
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§2
Rz. 23
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
Tendenz, Abgaben für die Einräumung von Rechten zu erheben. Damit werden öffentliche Güter durch den Staat zu Lenkungszwecken verknappt (Bsp.: Sportwettenkonzessionsabgabe1, Emmissionshandel2 oder zu einer weiteren Einnahmenquelle gemacht.Keine Lenkungsgebühr, sondern eine den Ländern nach Art. 106 II Nr. 5 GG zustehende Steuer (s. § 7 Rz. 104) ist die Spielbankabgabe. Weder bezweckt sie eine Verhaltenssteuerung noch gilt sie eine staatliche Leistung (z.B. Befreiung von einem Konzessionsverbot oder von der GewSt) ab3.
2.4 Beiträge Literatur: Wachsmuth, Richterliche Rechtsfortbildung auf dem Gebiet des kommunalen Beitragsrechts nach dem Kommunalabgabengesetz Baden-Württemberg, Diss., 1994; Beushausen, Kommunale Beiträge – Rechtfertigung und Tatbestand, KStZ 1998, 41; Küffmann, Die Finanzierung der Kommune, Teil I: Beiträge und Kostenerstattungen, 2004; Werner, Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im Beitragsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung, 2004; Aussprung, Brennpunkte des Beitragsrechts, DVBl. 2005, 740; FS Driehaus, 2005, mit Beiträgen Dietzel zur Beitragsverjährung, 49, Lohmann zum Solidaritätsprinzip, 142, O. Schneider zu kommunalabgabenrechtlichen Beitragsformen, 179, Stamm zu wiederkehrenden Beiträgen, 188, Witt zum Straßenausbaubeitragsrecht, 213; F. Kirchhof, Finanzierungsinstrumente des Sozialstaats, in DStJG 29 (2006), 39; Bauersfeld, Die Verbandslast, Diss., 2010.
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Beiträge sind hoheitlich zur Finanzbedarfsdeckung auferlegte Aufwendungsersatzleistungen a) für die Herstellung, Anschaffung oder Erweiterung öffentlicher Einrichtungen und Anlagen; b) für die Verbesserung von Straßen, Wegen und Plätzen, nicht für deren laufende Unterhaltung und Instandsetzung. Eine Legaldefinition des Beitrags findet sich in den Kommunalabgabengesetzen der Länder; s. z.B. § 8 II KAG NW.
Der Aufwendungsersatz wird erhoben, weil (kausale Verknüpfung!) eine konkrete Gegenleistung, ein konkreter wirtschaftlicher Vorteil, in Anspruch genommen werden kann, die Möglichkeit hierzu geboten wird. Umstritten ist derzeit, ob der Rundfunkbeitrag, der im Zuge des 15. Rundfunkänderungsstaatsvertrages4 die frühere „Rundfunkgebühr“ ersetzt hat, ein Beitrag5 oder eine (verfassungswidrige) „Rundfunksteuer“6 ist. Dies ist zweifelhaft, weil eine haushaltsbezogene Abgabe nur noch einen recht losen Zusammenhang mit der Nutzung des öffentlichrechtlichen Rundfunks aufweist und sich damit einer Steuer annähert. 24
Als Vorzugslast nicht klar definierbar ist die Verbandslast (Mitgliedsabgabe)7, die von Zwangsmitgliedern einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (z.B. IHK, Kammern der freien Berufe) erhoben wird. Das BVerwG bejaht einen „Beitrag im rechtlichen Sinne“ und lässt einen nicht messbaren, nur vermuteten Nutzen genügen8. Nach der h.M. im Schrifttum ist die Verbandslast ein eigenständiger Abgabentypus, den der Verfassungsgeber vorgefunden hat9. Mate1 Dazu Müller-Franken, VerwArch 2012, 315 (329). 2 Desens, DVBl. 2010, 228 (229); Ismer, Klimaschutz als Rechtsproblem, Habil., 2014, 142 ff. 3 S. BFH BStBl. 1995, 432 (437); Tipke/Kruse/Drüen, § 3 AO Rz. 18b, m.w.N.; Müller-Franken, DStZ 2012, 506 (507 ff.). 4 Für NRW GV 2011 NRW, 661. 5 So P. Kirchhof, Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 2010; Kube, Der Rundfunkbeitrag – Rundfunk- und finanzverfassungsrechtliche Einordnung, 2013, abrufbar unter: www.ard.de/ download/401140/index.pdf; VerfGH Rheinland-Pfalz DVBl 2014, 842; Bayr. VerfGH DVBl 2014, 848. 6 So Korioth/Koemm, DStR 2013, 833; Exner/Seifarth, NVwZ 2013, 1569; krit. auch Droege, Die Verwaltung 2013, 313 (316 f.). 7 Dazu insb. Tettinger, FS Kruse, 2001, 79; Hey, StuW 2008, 289; Bauersfeld, Die Verbandslast, 32 ff.; BerlinKomm./Müller-Franken, Art. 105 GG Rz. 113 ff. 8 BVerwGE 39, 100 (107); 108, 169 (179); 125, 384 (388). 9 S. BerlinKomm./Müller-Franken, Art. 105 GG Rz. 113, 114; Bauersfeld, Die Verbandslast, 52 ff.: „Sonderabgabe im weiteren Sinne“.
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Der Steuerbegriff; Abgrenzung von anderen Abgaben
Rz. 26
§2
riell-rechtlich steht die Verbandslast allerdings einer Steuer oder eine Sonderabgabe mit Finanzierungsfunktion (s. Rz. 25 ff.) nahe, so dass ihre Ausgestaltung nicht die Schutz- und Begrenzungsfunktion der Finanzverfassung durch eine steuerähnliche Abschöpfung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit der Pflichtmitglieder unterlaufen darf1.
2.5 Sonderabgaben Literatur: Arndt, Steuern, Sonderabgaben und Zwangsanleihen, 1983; Henseler, Begriffsmerkmale und Legitimation von Sonderabgaben, 1984; Köck, Die Sonderabgabe als Instrument des Umweltschutzes, Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik des Abgabenrechts, 1991; Wilms, Das Recht der Sonderabgaben nach dem Grundgesetz – Dargestellt am Beispiel der geplanten hessischen Pendler- und Großveranstaltungsabgabe, Diss., 1993; Jakob, Sonderabgaben – Fremdkörper im Steuerstaat?, in FS F. Klein, 1994, 663; Selmer, Sonderabfallabgaben und Verfassungsrecht, Ein Beitrag zum Umweltschutz durch Sonderabgaben und Steuern, 1996; P. Kirchhof, Die Sonderabgaben, in FS Friauf, 1996, 669; Jachmann, Sonderabgaben als staatliche Einnahmequelle im Steuerstaat, StuW 1997, 299; Kieser, Sonderabgaben als Steuern, 2000; Staudacher, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Sonderabgaben, Diss., 2004; Selmer, Die sog. Gruppennützigkeit der Sonderabgabe – eine Zulässigkeitsvoraussetzung im Wandel, in FS Mußgnug, 2005, 217; Waechter, Sonderabgaben sind normale Abgaben, ZG 2005, 97; Jochum, Neustrukturierung der Sonderausgabendogmatik, StuW 2006, 134; Hummel, Das Merkmal der Finanzierungsverantwortung in der Sonderabgaben-Rechtsprechung des BVerfG, DVBl. 2009, 874; Schoch, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Erhebung von Sonderabgaben, JURA 2010, 197; Reimer/Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für Sonderabgaben des Banken- u. Versicherungssektors, 2011; Ramin, Die Sonderabgabe im finanzverfassungsrechtlichen System unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, KStZ 2013, 201; Beckhaus, Der Verantwortungsbegriff im Rahmen öffentlich-rechtlicher Zahlungspflichten, Diss., 2013; Thiemann, Die Dogmatik der Sonderabgabe im Umbruch, AöR 138 (2013), 60.
a) Während Steuern dazu dienen, den allgemeinen, in den Haushaltsplänen ausgewiesenen Finanzbedarf der Steuergläubiger zu decken, sind Sonderabgaben Abgaben zur Finanzierung besonderer Aufgaben, die nicht in den Haushaltsplänen erfasst sind (sog. parafiskalische Abgaben). Sonderabgaben werden von bestimmten Gruppen von Bürgern bzw. Unternehmen erhoben und einem Sonderfonds außerhalb des Haushaltsplans zugeleitet. Da Sonderabgaben keine Steuern sind, ergibt sich die Sonderabgabenhoheit nicht aus den Art. 105 ff. GG, sondern aus den allgemeinen Regeln der Art. 70 ff. GG2. Die Anerkennung einer Abgabenkompetenz außerhalb der Finanzverfassung birgt die Gefahr, dass die Abgabenbelastung völlig unüberschaubar wird. Daher entfaltet das BVerfG die Begrenzungs- und Schutzfunktion der Finanzverfassung (s. Rz. 1) insb. für Sonderabgaben3. Zwar betont das BVerfG, dass Sonderabgaben nur als „seltene Ausnahmen“ zulässig seien4. Gleichwohl erfindet der Gesetzgeber nach wie vor neue Sonderabgaben5. Mittlerweile unterscheidet die Rechtsprechung zwischen Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion (Sonderabgaben im engeren Sinne) und Sonderabgaben mit Ausgleichs-, Abschöpfungs- oder Lenkungsfunktion (Sonderabgaben im weiteren Sinne).
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b) Lediglich für die Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion hat das BVerfG konturierte, strenge Voraussetzungen entwickelt, die sowohl materiell- als auch verfahrensrechtlicher Art sind6.
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1 Dazu Hey, StuW 2008, 289 (298 ff.); Bauersfeld, Die Verbandslast, 96 ff. 2 BVerfGE 67, 256 (274); 108, 186 (212); 124, 235 (243), m.w.N. 3 Grundl. BVerfGE 67, 256 (288 f., zur Investitionshilfsabgabe); 113, 128 (146 f., zur Abfallausfuhrabgabe); 123, 132 (140, zum Holz-/Forstabsatzfonds). 4 BVerfGE 55, 274 (308); 91, 186 (203); 92, 91 (113); 98, 83 (100); 101, 141 (147); 108, 186 (217); 113, 128 (150). 5 So etwa die sog. BaFin-Umlage (gebilligt von BVerfGE 124, 235 [243]); zu der seit dem 1.1.2011 als Vorsorgeinstrument in der sog. Bankenkrise erhobenen sog. Bankenabgabe s. Schön/Hellgardt/Osterloh-Konrad, WM 2010, 2145 (Teil I) u. 2193 (Teil II); Martini, NJW 2010, 2019; Möslein, JZ 2012, 243 (245); ausf. Reimer/Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für Sonderabgaben des Banken- und Versicherungssektors, 2011. 6 Zu den Zulässigkeitsanforderungen i.E. mit Vorschlägen zur Modifizierung der bisherigen Sonderabgabendogmatik Beckhaus, Der Verantwortungsbegriff im Rahmen öffentlich-rechtlicher Zahlungs-
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§2
Rz. 27
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
aa) Der Gesetzgeber muss mit der Sonderabgabe einen Sachzweck verfolgen, der über die bloße Mittelbeschaffung hinausgeht.
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bb) Homogene Gruppe der Abgabepflichtigen: Eine gesellschaftliche Gruppe kann nur dann mit einer Sonderabgabe in Anspruch genommen werden, wenn sie durch eine gemeinsame, in der Rechtsordnung oder in der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorgegebene Interessenlage oder durch besondere gemeinsame Gegebenheiten von der Allgemeinheit und anderen Gruppen abgrenzbar ist. Im Falle der Feuerwehrabgabe verneint BVerfGE 92, 91 (120), die Homogenität der in Anspruch genommenen Gruppe. Bei der Altenpflegeumlage leitet BVerfGE 108, 186 (223 ff.), die Homogenität der Abgabepflichtigen aus ihrer Rolle als Anbieter auf dem sozialversicherungsrechtlich regulierten Spezialmarkt der Altenpflege ab, bei der jüngst entschiedenen Weinabgabe aus dem gemeinsamen Interesse von Weinerzeuger und -abfüller an der Absatz- und Imageförderung des „deutschen Weins“ im In- und Ausland1.
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cc) Gruppenverantwortung: Der nach bb) abgrenzbaren Gruppe von Abgabenpflichtigen muss eine besondere Verantwortung zugewiesen werden, weil sie dem Abgabenzweck evident näher steht als jede andere Gruppe oder die Allgemeinheit der Steuerzahler. Aus dieser Sachnähe zum Erhebungszweck muss eine besondere Gruppenverantwortung für die Erfüllung der mit der außersteuerlichen Abgabe zu finanzierenden Aufgabe entspringen. Dies verneint BVerfGE 91, 186 (205 f.), im Falle des sog. Kohlepfennigs: Die Sicherstellung der Energieversorgung liege im Allgemeininteresse und sei deshalb als Gemeinlast durch Steuer zu finanzieren. Ebenso BVerfGE 92, 91 (120 f.), im Falle der Feuerwehrabgabe: Das Interesse an einem wirksamen Feuerschutz sei kein Gruppen-, sondern ein Allgemeininteresse. Es fehle an der besonderen Sachnähe der belasteten Gruppe zum Feuerwehrwesen, so dass deren Finanzierungsverantwortlichkeit nicht bestehe2.
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dd) Gruppennützigkeit: Das Abgabenaufkommen muss im Interesse der Gruppe der Abgabepflichtigen, also gruppennützig verwendet werden. Für eine gruppennützige Verwendung der Abgabe reicht es aus, dass das Aufkommen unmittelbar oder mittelbar überwiegend im Interesse der Gruppe der Abgabepflichtigen verwendet wird3. Unschädlich ist, wenn daneben auch andere Gruppen oder die Allgemeinheit gewisse Vorteile aus der Abgabenverwendung haben.
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ee) Schließlich fordert das BVerfG im Interesse wirksamer parlamentarisch-demokratischer Legitimation und Kontrolle der erhobenen Sonderabgabe zusätzlich die periodische Überprüfung der Abgabe durch den Gesetzgeber selbst und (in einer Anlage zum Haushaltsplan) die ergänzende Dokumentation der Sonderabgabe4. Dadurch soll die Vollständigkeit des Haushaltsplans und eine fortlaufende parlamentarische Kontrolle der (Finanzierungs-)Sonderabgabe gewährleistet werden.
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c) Wenig strikt und eher konturenlos ist das BVerfG dagegen hinsichtlich der Begrenzung von Sonderabgaben im weiteren Sinne. Insoweit hat das BVerfG die Erfordernisse der Gruppenverantwortung und Gruppennützigkeit gelockert, weil Anlass der Abgabe nicht die Finanzierung einer besonderen Aufgabe, sondern der Anreiz zu einem bestimmten Verhalten oder eine Sanktion für ein bestimmtes Fehlverhalten sei. Vor allem rechtspflichtbezogene Sonderabgaben, die einen Ausgleich für die Nichterfüllung einer bestimmten Rechtspflicht vorsehen, toleriert das BVerfG5. Jedoch kann die Lockerung nicht so weit gehen, dass umweltpolitisch motivierte „Vorteilsabschöpfungen“ ohne Gegenleistungsbezug als Ressourcennutzungsgebühren (s.
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pflichten, 2013, 102 ff., 140 ff., 150 ff.: Parallelität der Zulässigkeitsanforderungen von Sonderabgaben und Steuern; Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (87 ff.): Übertragung der Rechtsgründe der Verursachung und des Vorteilsausgleichs. BVerfG NVwZ 2014, 1306 (1308 f.), Rz. 120 ff. S. auch BVerfGE 113, 128 (153); 122, 316; 123, 132: zum Solidarfonds Abfallrückführung und zu weiteren Absatzfonds; anders für den Weinabsatzfonds aber BVerfG NVwZ 2014, 1306 (1309 f.), Rz. 132 ff., insb. Rz. 140. Sehr weitgehend jüngst auch BVerfG NVwZ 2014, 646 (651 f.), Rz. 131 ff., wonach bei der sog. Filmabgabe Kinobetreiber, Programmanbieter, Lizenzrechteinhaber der Videowirtschaft und Fernsehveranstalter eine homogene Gruppe mit einer besonderen Finanzierungsverantwortung zur Förderung des deutschen Films sei. BVerfGE 55, 274 (307 f.); 82, 159 (180); 108, 186 (229 f.); zur Filmförderung s. BVerfG NVwZ 2014, 646 (654), Rz. 149 ff. S. BVerfGE 82, 159 (181); 108, 186 (218); 110, 370 (392 f.); 124, 348 (366); BVerfG NVwZ 2014, 646, (650), Rz. 122; NVwZ 2014, 1306 (1307), Rz. 117. Bsp.: BVerfGE 57, 139 [166]: Schwerbehindertenabgabe, BVerfGE 78, 249 [269]: Fehlbelegungsabgabe im sozialen Wohnungsbau.
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Die Steuergesetzgebungshoheit (Art. 105 GG)
Rz. 35
§2
Rz. 22) oder als Sonderabgaben zulässig sind1. Eine derartige Rechtfertigung von Abgaben höhlt nicht nur den Gebührenbegriff aus; sie unterläuft erst recht die strengen Voraussetzungen für Sonderabgaben. Gerade auf dem Feld der Umweltabgaben kann die Opferbereitschaft der Bürger leicht missbraucht werden. Die Töpfchenwirtschaft der Sonderfonds und die nur eingeschränkte parlamentarische Kontrolle des Ausgabenwettbewerbs bergen große Gefahren der Mittelverschwendung und Verschleierung der Staatstätigkeit. I.Ü. kann die Effizienz einer Umweltabgabe nicht nach Kriterien der Verantwortung oder Verursachung bemessen werden; der Lenkungseffekt richtet sich allein nach der Höhe des Preises, den der Abgabepflichtige für sonderbelastetes Verhalten zu entrichten bereit ist bzw. zahlen kann und welche Vermeidungsalternativen bestehen (s. § 7 Rz. 120). I.Ü. sind auch die europarechtlichen Anforderungen an Lenkungssonderabgaben noch weitgehend ungeklärt2.
3. Die Steuergesetzgebungshoheit (Art. 105 GG) Art. 105 GG enthält für das Recht der Steuergesetzgebung (Steuergesetzgebungshoheit) spezielle Vorschriften, die den Art. 70 ff. GG vorgehen. Das GG weist den Ländern das Recht der Gesetzgebung zu, soweit das GG dem Bund nicht ausdrücklich Gesetzgebungsbefugnisse verleiht (Art. 70 I GG). Das GG unterscheidet die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes (s. Art. 71 GG) und die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes. Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat (Art. 72 I GG). Die Steuergesetzgebungshoheit ist in Art. 105 GG wie folgt geregelt:
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a) Der Bund hat nach Art. 105 I GG die ausschließliche Gesetzgebung über die Zölle und Finanzmonopole. Art. 105 I GG hat kaum noch praktische Bedeutung. Das Zollrecht ist weitgehend Recht der Europäischen Zollunion geworden (s. § 1 Rz. 85) und es gibt nur noch für eine Übergangszeit bis zum 31.12.2017 das Branntweinmonopol3 als einziges Finanzmonopol.
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b) Der Bund hat nach Art. 105 II GG die konkurrierende Gesetzgebung über alle übrigen Steuern, wenn ihm entweder das Aufkommen der Steuer ganz oder zum Teil zusteht oder wenn die Voraussetzungen des Art. 72 II GG vorliegen (s. Rz. 34). Besitzt der Bund auch nur teilweise die Steuerertragshoheit (s. Art. 106 I, III GG u. Rz. 57 ff.), bedarf es der zusätzlichen Erforderlichkeitsklausel i.S.d. Art. 72 II GG nicht (dazu Rz. 35).
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Mit Gesetz v. 27.10.1994 (BGBl. I 1994, 3146) wurde die nicht justitiable Bedürfnisklausel des Art. 72 II GG a.F. durch eine justitiable (Art. 93 I Nr. 2a GG) Erforderlichkeitsklausel ersetzt4. Dazu hat das BVerfG die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung in mehreren Entscheidungen konkretisiert5. Die verschärften Voraussetzungen des Art. 72 II GG begrenzen nicht nur die Einführung bestimmter Steuerarten dem Grunde nach, sondern können auch späteren Änderungen bundesgesetzlich geregelter Steuern (dem Umfang nach) entgegen-
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1 Die Zulässigkeit von Abschöpfungsabgaben bejahen Jachmann, StuW 1997, 299 (307 f.); Jochum, StuW 2006, 134 (143 f.); a.A. HHSp/Wernsmann, § 3 AO Rz. 240. 2 Dazu Pieper, DÖV 1996, 232; Götz, FS Friauf, 1996, 37. 3 Der Fiskalzweck des Branntweinmonopols (Gesetz über das Branntweinmonopol v. 8.4.1922, RGBl. 1922, 335 [405]) hat sich längst überlebt. Heute ist das Branntweinmonopol in Wirklichkeit eine Agrarmarktordnung mit Ablieferungszwang (s. Jarsombeck, ZfZ 1999, 38 [42]). Nach dem BranntweinmonopolabschaffungsG v. 21.6.2013, BGBl. I 1650, endet es zum 31.12.2017. Von dem Branntweinmonopol zu unterscheiden ist die Branntweinsteuer (s. § 18 Rz. 13). 4 Dazu aus finanzverfassungsrechtlicher Sicht Osterloh, GS Trzaskalik, 2005, 181 (189 ff.); Hey, FS Solms, 2005, 35 (37 ff.); Hey, VVDStRL 66 (2007), 277 (310 ff.); Seer/Drüen in Kluth (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz, 2007, Art. 105 GG Rz. 3 ff.; Wernsmann/Spernath, FR 2007, 829; Korte, Die konkurrierende Steuergesetzgebung des Bundes im Bereich der Finanzverfassung, Steuerautonomie der Länder ohne Reform?, 2008; Kempny/Reimer, Gutachten 70. DJT, 2014, D 72 ff. 5 Grundl. BVerfGE 106, 62 (Altenpflege). Im Weiteren: BVerfGE 110, 141 (Kampfhunde); 111, 10 (Ladenschluss); 111, 226 (Juniorprofessor); 112, 226 (Studiengebühren); BVerfG NVwZ 2014, 646 (649 f.), Rz. 114 ff. (Filmabgabe).
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Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
stehen1. Die seit 15.11.1994 (vgl. Art. 125a II GG) geltende Fassung des Art. 72 II GG unterscheidet alternativ drei mögliche Ziele als Voraussetzung zulässiger Bundesgesetzgebung: die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet, die Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse oder die Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse. Macht eines dieser Ziele eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich, so hat der Bund das Gesetzgebungsrecht. 36
aa) Durch die Änderung des Art. 72 II GG sollten den Ländern mehr Kompetenzen verliehen werden (s. BT-Drucks. 12/7109, 9). Das BVerfG interpretiert die alternativen Voraussetzungen des Art. 72 II GG wie folgt: – Das bundesstaatliche Rechtsgut gleichwertiger Lebensverhältnisse ist erst dann bedroht und der Bund erst dann zum Eingreifen ermächtigt, wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern „in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet“2.
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– Eine bundesgesetzliche Regelung ist zur „Wahrung der Rechtseinheit“ erforderlich, wenn und soweit die mit ihr erzielbare Einheitlichkeit der rechtlichen Rahmenbedingungen Voraussetzung für die Vermeidung einer Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen ist, die im Interesse sowohl des Bundes als auch der Länder nicht hingenommen werden kann3.
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– Eine bundesgesetzliche Regelung ist zur „Wahrung der Wirtschaftseinheit“ erforderlich, wenn und soweit sie Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des gesamtstaatlichen Wirtschaftsraums ist, wenn also unterschiedliche Landesregelungen oder das Untätigbleiben der Länder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich brächten4. Während die Wahrung der Rechtseinheit in erster Linie auf die Vermeidung einer Rechtszersplitterung zielt (s. Rz. 37), geht es bei der Wahrung der Wirtschaftseinheit im Schwerpunkt darum, Schranken und Hindernisse für den wirtschaftlichen Verkehr im Bundesgebiet zu beseitigen5.
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bb) Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, hat das BVerfG in vollem Umfang zu prüfen. Dabei billigt das BVerfG in seiner jüngsten Rspr. dem Gesetzgeber im Hinblick auf die allein zulässigen Zwecke einer bundesgesetzlichen Regelung und deren Erforderlichkeit im gesamtstaatliche Interesse i.S. des Art. 72 II GG eine Einschätzungsprärogative zu6. Von den Schranken des Art. 72 II GG betroffen sind die derzeit noch bundesgesetzlich geregelten Landesund Gemeindesteuern: die Vermögensteuer, die Erbschaft- und Schenkungsteuer, die Verkehrsteuern i.S.d. Art. 106 II Nr. 3 GG, das sind die Grunderwerbsteuer (s. § 18 Rz. 1 ff.), die Feuerschutzsteuer (s. § 18 Rz. 75 ff.) und die Rennwett- und Lotteriesteuer (s. § 18 Rz. 80 ff.), die Biersteuer (s. § 18 Rz. 112) sowie die kommunalen Realsteuern, das sind die Grundsteuer und die Gewerbesteuer. Die Abgaben von Spielbanken sind bereits landesgesetzlich geregelt. Der durch Gesetz v. 28.8.2006 (BGBl. I 2006, 2034) eingefügte Art. 105 IIa 2 GG weist den Ländern ausdrücklich die Befugnis zur Bestimmung des Steuersatzes bei der Grunderwerbsteuer zu.
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cc) Nach einer föderal ausgerichteten Interpretation des Art. 72 II GG ist zunächst eine bundesgesetzliche Kompetenz für Landessteuern mit Bezug auf die lokal gebundene Infrastruktur zu verneinen; diese fällt in die föderal angelegte „Bandbreite unterschiedlicher Lebensverhältnisse“7: Die Grunderwerbsteuer bezieht sich auf den lokal gebundenen Grundstückserwerb, die Biersteuer auf regional unterschiedliches Trinkverhalten und örtliche Qualitätskontrolle. Es ist auch den Ländern zu überlassen, ob der Feuerschutz als Teil der örtlichen Sicherheit mit einer 1 S. dazu BVerfGE 125, 141 (155) – zur Gewerbesteuer; BVerfG BStBl. 2015, 50 (65 f.) Rz. 106–116 – zur Erbschaft- und Schenkungsteuer. 2 BVerfGE 106, 62 (144). 3 BVerfGE 125, 141 (155); BVerfG BStBl. 2015, 50, (65), Rz. 109. 4 BVerfG BStBl. 2015, 50, (65), Rz. 109. 5 BVerfGE 125, 141 (155 f.); BVerfG BStBl. 2015, 50, (65), Rz. 109. 6 BVerfG BStBl. 2015, 50, (65), Rz. 111; ebenso BVerfG NVwZ 2014, 646 (649 f.), Rz. 115 f., zur Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 74 I Nr. 11 GG zu einer bundeseinheitlichen Filmabgabe (Sonderabgabe, s. Rz. 25 ff.) nach dem Filmförderungsgesetz (FFG). 7 BVerfGE 112, 226 (248) - Studiengebühren.
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Die Steuergesetzgebungshoheit (Art. 105 GG)
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Feuerschutzsteuer verknüpft ist. Demzufolge fallen die vorgenannten Steuern in die Kompetenz der Länder. Die Regelung des Art. 105 IIa 2 GG zur Bestimmung des GrESt-Satzes durch die Länder bleibt hinter der Erforderlichkeit des Art. 72 II GG zurück. Dagegen sind Wetten und Lotterien infolge des Internets nicht lokal gebunden. Die Wahrung sowohl der Rechtseinheit als auch der Wirtschaftseinheit ist für gleiche Wettbewerbsbedingungen der Anbieter sogar europaweit erforderlich, so dass die bundesgesetzliche Regelung der Rennwettund Lotteriesteuer nicht zu beanstanden ist1. Hingegen ist bei den kommunalen Realsteuern eine bundesgesetzliche Kompetenz nicht ohne weiteres zu erkennen. Im Bereich der Kommunalsteuern sind die Steuerbelastungen ohnehin schon unterschiedlich. Mithin ist den Ländern im Bereich der lokalen Steuern grundsätzlich eine umfassende Gesetzgebungskompetenz zuzusprechen, zumal bisher die gleichheitsrechtlich dringend gebotene Reform der Kommunalsteuern bundesgesetzlich nicht geglückt ist (s. § 7 Rz. 92 f., § 16 Rz. 38 f.). Schon von daher muss es den einzelnen Ländern grds. möglich sein, insb. die gleichheitswidrige Misere der Gewerbe- und Grundsteuer zu überwinden und die kommunalen Steuerlasten so zu verteilen, wie sie der Infrastruktur des Landes am besten entspricht. Allerdings kann umgekehrt der Bund die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um einen Steuertourismus in allein aus steuerlichen Gründen geschaffenen Niedrigsteuergebieten (Beispiel: ostfriesische Kleinstgemeinde Norderfriedrichskoog) bundesweit zu unterbinden2.
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dd) Bei der Vermögensteuer sowie der Erbschaft- und Schenkungsteuer ist die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung insofern anzuerkennen, als die Bemessungsgrundlage über das Gebiet eines Landes hinausreicht. Hier droht eine „Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen“, wenn die VSt oder ErbSt der landesgesetzlichen Kompetenz zugewiesen wären. Beide Steuern dienen dem Zweck, eine nach dem Weltvermögen bzw. nach dem Weltvermögenserwerb bemessene Gesamtleistungsfähigkeit zu belasten. Dieser Zweck wird international durch Doppelbesteuerungsnormen notgedrungen eingeschränkt. Innerhalb des Bundesgebiets ist jedoch die gesamtstaatliche Verantwortung für die Verwirklichung gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit wahrzunehmen. Eine landesbezogene Besteuerung/ Nichtbesteuerung von Erbschaften und Schenkungen und ein Doppelbesteuerungsrecht nach dem Muster des Schweizer interkantonalen Steuerrechts konterkariert die gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, damit auch das Anliegen des Erbschaftsteuerbeschlusses v. 7.11.2006 (s. § 15 Rz. 58); zudem wird das Vermögen- und Erbschaftsteuerrecht hochkomplex zersplittert. Demnach gebietet die Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung von VSt und ErbSt3.
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ee) Recht, das auf Grund der bis zum 15.11.1994 geltenden Fassung des Art. 72 II GG erlassen worden ist, gilt als Bundesrecht fort (Art. 125a II GG). Die Änderungskompetenz des Bundes ist eng auszulegen: Die wesentlichen Elemente sind beizubehalten4, so dass für eine Neukonzeption von Regelungen kein Raum ist. Sollten z.B. die Kommunalsteuern wegen einer Entscheidung des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der GewSt oder GrSt grundl. reformiert werden müssen, hat der Bund nach Art. 125a II 2 GG die Länder zur Neuregelung der Kommunalsteuern zu ermächtigen5.
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1 S. BFH/NV 2005, 1379 (1382). 2 BVerfGE 125, 141 (143) – Mindesthebesatz bei der Gewerbesteuer; s. auch Hey, FS Solms, 2005, 35 (41); nur i.Erg. ebenso Korte, Die konkurrierende Steuergesetzgebung des Bundes, 2008, 217 (Kompetenz auf der Grundlage der Übergangsregelung des § 125a II GG). 3 So jedenfalls für die Verschonungssubvention der §§ 13a, 13b ErbStG (s. § 15 Rz. 106 ff.) BVerfG BStBl. 2015, 50, (65 f.); s. auch Hey, FS Solms, 2005, 35 (37); Hey, VVDStRL 66 (2007), 277 (298 ff.); Seer/Drüen in Kluth (Hrsg.), FödRefG, Art. 105 GG Rz. 8; R. Wendt, HStR VI3, § 139 Rz. 35; Schubert, Die Verfassungswidrigkeit der Erbschaft- und Schenkungsteuer und die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Neuregelung, Diss., 2011, 239 ff.; a.A. Wernsmann/Spermath, FR 2007, 829 (833); Haag, Die Aufteilung steuerlicher Befugnisse im Bundesstaat, Diss., 2011, 404 ff.; differenzierend Korte, Die konkurrierende Steuergesetzgebung des Bundes, 2008, 128–153; differenzierend auch Kempny/Reimer, Gutachten 70. DJT, 2014, D 75 ff., die dem Bund eine Koordinierungskompetenz hinsichtlich der Bemessungsgrundlage und deren Zerlegung, den Ländern aber eine Kompetenz zur Festlegung der Steuersätze und persönlichen Freibeträge zubilligen wollen. 4 BVerfGE 111, 10 (31). 5 So BVerfGE 111, 10 (31).
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c) Bundesgesetze über Steuern, deren Aufkommen den Ländern oder Kommunen ganz oder zum Teil zufließt, bedürfen der Zustimmung des Bundesrates (Art. 105 III GG). Verweigert der Bundesrat die Zustimmung, so können Bundesrat, Bundestag oder Bundesregierung die Einberufung eines Vermittlungsausschusses verlangen (Art. 77 II GG). Der Vermittlungsausschuss hat kein eigenes Gesetzesinitiativrecht (Art. 76 I GG), sondern vermittelt lediglich zwischen den Regelungsalternativen. Daher ist bei den häufig hektischen Steuergesetzgebungsverfahren zu beachten, dass der Vermittlungsausschuss eine Änderung, Ergänzung oder Streichung der vom Bundestag beschlossenen Vorschriften nur vorschlagen darf, wenn und soweit der Einigungsvorschlag im Rahmen des Anrufungsbegehrens und des ihm zu Grunde liegenden Gesetzgebungsverfahrens verbleibt. Der Vermittlungsvorschlag muss dem Bundestag aufgrund der dort geführten parlamentarischen Debatte zurechenbar sein1.
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d) Die Länder haben
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– die Befugnis zur konkurrierenden Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nach Art. 105 II GG (s. Rz. 34) keinen Gebrauch durch Gesetz macht (Art. 72 I GG). Entsprechendes gilt, wenn der Bund ein Gesetz aufhebt; dadurch gibt er der Landesgesetzgebung den Weg frei. Ist die bundesgesetzliche Regelung einer Steuer, an deren Aufkommen der Bund nicht beteiligt ist, nicht erforderlich i.S.d. Art. 72 II GG, so haben die Länder nach der Grundregel des Art. 70 I GG das ausschließliche Recht der Gesetzgebung (s. Rz. 35); 46
– die ausschließliche Befugnis zur Gesetzgebung über die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern (Art. 105 IIa 1 GG) und über die Bestimmung des Grunderwerbsteuersatzes (Art. 105 IIa 2 GG). Art. 105 IIa 2 GG wurde durch Gesetz v. 28.8.2006, BGBl. 2006, 2034, eingefügt. Nach der in Rz. 35 favorisierten Auslegung haben die Länder darüber hinaus bereits nach Art. 105 II GG i.V.m. Art. 72 II GG das Gesetzgebungsrecht für die Grunderwerbsteuer (s. Rz. 40); – die Befugnis zur Kirchensteuergesetzgebung nach Maßgabe des Art. 137 VI WRV i.V.m. Art. 140 GG (s. § 8 Rz. 956).
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e) Der Verbrauchsteuerbegriff hat für die Steuergesetzgebungshoheit grundsätzliche Bedeutung (s. bereits Rz. 6). Er ist aber weder im GG noch in den Steuergesetzen legaldefiniert, sondern wird dort vorausgesetzt. Das BVerfG rekurriert auf das traditionelle (historisch gewachsene) Verständnis und bezeichnet Verbrauchsteuern als Warensteuern, die den Verbrauch vertretbarer, regelmäßig zum baldigen Verzehr oder kurzfristigen Verbrauch bestimmter Güter des ständigen Bedarfs belasten2. Verbrauchsteuern schöpfen die in der Einkommensverwendung zu Tage tretende steuerliche Leistungsfähigkeit des Konsumenten ab. Sie werden zwar in der Regel bei demjenigen Unternehmer erhoben, der das Verbrauchsgut für die allgemeine Nachfrage anbietet; sie sind aber auf Überwälzung auf den Verbraucher angelegt, auch wenn die Überwälzung nicht in jedem Fall gelingen muss3. BVerfGE 110, 274 (296 – Stromsteuer)4 hat gemeint, dass der Verbrauchsteuerbegriff nicht nur die Besteuerung
1 S. näher BVerfGE 101, 297 (307 f. – Arbeitszimmer); 120, 56 (73 ff. – UntStRefG 2004); 125, 104 (122 – HaushaltsbegleitG 2004); Hey, FS Spindler, 2011, 97 (99 ff.). 2 So BVerfGE 98, 106 (123 f.). 3 BVerfGE 14, 76 (95 f.); 27, 375 (384); 98, 106 (123 f.); 110, 274 (295 ff.); aus der Literatur: Birk/Förster, DB-Beil. 17/1985, 7; J. Förster, Die Verbrauchsteuern, Geschichte, Systematik, finanzverfassungsrechtliche Vorgaben, Diss., 1989, 97 f.; Jatzke, Das System des deutschen Verbrauchsteuerrechts unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Verbrauchsteuerharmonisierung in der Europäischen Union, Diss., 1997, 65 ff.; Voß, DStJG 11 (1988), 261 (265 ff.); Waldhoff, ZfZ 2012, 57; Drüen, ZfZ 2012, 309 (310 ff.); Hartmann, DStZ 2012, 205 (206 ff.); Möckel, DÖV 2012, 265 (268 ff.); Seer, ZfZ 2013, 146; aus finanzwissenschaftlicher Sicht Schmölders, Hdb. der Finanzwissenschaft2, Bd. II, 1956, 635; Hansmeyer, Hdb. der Finanzwissenschaft3, Bd. II, 1980, 635; Pollak, Verbrauchsteuern, HdWW, Bd. 8, 1980, 188. 4 Zur Stromsteuer s. auch Ismer, Klimaschutz als Rechtsproblem, Habil., 2014, 199 ff.
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des Privatkonsums1, sondern auch den produktiven Bereich erfassen könne. Es gebe keinen Rechtssatz, der das Anknüpfen einer Verbrauchsteuer an ein Produktionsmittel verbiete. Diese Aussage des BVerfG darf allerdings nicht aus dem Gesamtzusammenhang gerissen werden. Sie steht im Zusammenhang mit Steuern (z.B. Energie-, Stromsteuer), die in ihrem Kern durchaus auf einen konsumtiven Endverbrauch hin ausgerichtet sind, dabei allerdings auch Produktionsprozesse belasten können. Auch BVerfGE 110, 274 (298) hat auf das Merkmal der Überwälzbarkeit nicht verzichtet. Im verfassungsrechtlichen Sinne ist die Überwälzbarkeit keine Seins-, sondern eine Sollenskategorie. Eine Steuer ist dann auf „Überwälzung angelegt“ (rechtliche Inzidenz), wenn nach Zweck und Ausgestaltung des Gesetzes Steuerschuldner und Steuerträger auseinanderfallen sollen2. Steuern, die von ihrer typischen Ausgestaltung her auf den Endkonsum ausgerichtet sind3, bleiben Verbrauchsteuern, auch wenn ein Produktionsprozess betroffen sein sollte. Handelt es sich dagegen um eine von diesem Typus abweichende direkte Steuer, die den Produktionsmittelprozess belasten soll (Beispiel: KernbrSt, s. Rz. 6), handelt es sich um eine besondere Betrieb-/Unternehmensteuer, die einer besonderen kompetenzrechtlichen Grundlage bedarf4. Ansonsten könnten Bund, Länder und Kommunen im Gewande der „Verbrauchsteuer“ beliebig neue partikulare Unternehmensteuern einführen, an die der Verfassungsgeber bei Erlass der Art. 105 ff. GG nie gedacht hatte. Die in Art. 105; 106 GG festgelegten kompetenzrechtlichen Konturen wären vollends verschwommen. Aufwandsteuern sind Steuern auf das Halten bzw. den Gebrauch von Gütern und Dienstleistungen. Der sich darin zeigende Einsatz finanzieller Mittel wird nicht nur indirekt besteuert, so dass Aufwandsteuern nicht notwendig auf Überwälzung angelegt sind5. So wird z.B. der Hunde-/Kraftfahrzeughalter und der Inhaber einer Zweitwohnung direkt durch die Hunde-, die Kraftfahrzeug- (s. § 7 Rz. 107; § 18 Rz. 85) oder die Zweitwohnungsteuer besteuert. Unabhängig davon charakterisiert die st. Rspr. des BVerfG Aufwandsteuern als „Steuern auf die in der Einkommensverwendung für den persönlichen Lebensbedarf zum Ausdruck kommende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit“6. Die ursprünglich als direkte Konsumsteuer konzipierte Kraftfahrzeugsteuer7 ist mittlerweile allerdings mit dem Lenkungszweck des Umweltschutzes „bepackt“ worden und damit eher eine Lenkungsteuer (s. § 18 Rz. 86). Sie ist mit Wirkung vom 1.7.2009 von einer Landes- zur Bundessteuer (s. Art. 106 I Nr. 3 GG) mutiert8, so dass dem Bund nun ohne weiteres die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz nach Art. 105 II GG 1 So vor allem Schmölders, Hdb. der Finanzwissenschaft2, Bd. II, 1956, 640 f.: Die Verbrauchsteuer ziele auf „die in der Einkommensverwendung zutage tretende steuerliche Leistungsfähigkeit“ ab. Dagegen sei an eine Inanspruchnahme der „Produktionsbetriebe, die aus steuertechnischen Gründen zur Abführung oder Verauslagung der Steuer herangezogen werden“ bei einer „echten Verbrauchsteuer niemals gedacht“. 2 S. BVerfGE 91, 186 (205); 108, 186 (222 f.); 110, 370 (390); BVerfG NVwZ 2014, 1306 (1308), Rz. 129: „Überwälzung keine bloße marktabhängige Möglichkeit, sondern die rechtlich vorbereitete und vorgesehene Regelfolge der Abgabenbelastung“; s. auch Zitzelsberger, Grundlagen der Gewerbesteuer, 1990, 140 f.; Seer, DStJG 23 (2000), 87 (116). 3 Der historische Gesetzgeber (BT-Drucks. II/480, S. 107, Tz. 160) zählte folgende Beispiele auf: Tabak-, Kaffee-, Tee-, Zucker-, Salz-, Branntwein-, Mineralöl-, Schaumwein-, Essigsäure-, Zündwaren-, Leuchtmittel-, Spielkarten-, Süßstoffsteuer sowie die Kohlenabgabe. 4 Birk/Förster, DB-Beilage 17/1985, 12; Förster, Die Verbrauchsteuern, 1989, 101 f.; J. Lang, DStJG 15 (1993), 115 (136 f.); Jatzke, Das System des deutschen Verbrauchsteuerrechts, 1997, 65 ff.; Herdegen/ Schön, Ökologische Steuerreform, 2000, 33; Drüen, ZfZ 2012, 309 (315 ff.); Seer, DStR 2012, 325 (330 ff.); ders., ZfZ 2013, 146 (149); von Mangoldt/Klein/Starck/Jachmann, Bd. 36, Art. 105 GG Rz. 57; a.A. Wernsmann, NVwZ 2011, 1367 (1369); Bruch/Greve, BB 2012, 234; Waldhoff, ZfZ 2012, 57 (64 f.). 5 Zur Relevanz der subjektiven Absicht des Gesetzgebers in diesem Zusammenhang Birk/Haversath, Verfassungsmäßigkeit der kommunalen Vergnügungsteuern auf Geldspielgeräte am Beispiel Berlins, 2013, 19 f. 6 BVerfGE 16, 64 (74); 49, 343 (354); 65, 325 (346); 114, 316 (334), 123, 1 (10). 7 Zum Verhältnis zur geplanten sog. PKW-Maut (s. Rz. 20): Welz, UVR 2014, 119. 8 Gesetz zur Änderung des GG (Föderalismusreform Stufe II) v. 19.3.2009, BGBl. I 2009, 606.
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zusteht1. Den Konsumsteuercharakter der Zweitwohnungsteuer beachtet die Rspr. wenigstens insoweit, als sie reine Kapitalanlagen ausscheidet und juristische Personen nicht heranzieht2. Nach BVerfGE 114, 316 (332 ff.) verletzt die Zweitwohnungsteuer Art. 6 I GG, soweit eine Zweitwohnung am Arbeitsort eines nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten besteuert wird3. Für zulässig hält die Rspr. dagegen die Zweitwohnungsteuer in den sog. Kinderzimmerfällen, in denen Studierende mit Hauptwohnsitz noch am Wohnsitz ihrer Eltern gemeldet sind und am Studienort eine „Zweitwohnung“ (ggf. sogar in einem Studentenwohnheim) unterhalten4. Diese Besteuerung hat mit dem Belastungsgrund einer Aufwandsteuer jedoch nichts mehr zu tun und erweist sich als „Mobilitätssteuer“, die überflüssiger Weise die berufliche Aus- und Fortbildung behindert. Entgegen der Auffassung der Rspr. betrifft die Besteuerung von Erwerbs- und Ausbildungswohnungen, insb. von Studentenwohnungen, nicht die Konsumleistungsfähigkeit und fällt damit aus dem Kompetenzbereich des Art. 105 IIa 1 GG heraus5. 49
f) Der ebenfalls finanzverfassungsrechtlich determinierte Typus einer Verkehrsteuer (Art. 106 I Nr. 3, II Nr. 3 GG) knüpft an Akte des Rechtsverkehrs an (s. § 18 Rz. 1 ff.). Typischerweise wird der wirtschaftliche Aufwand belastet, der durch den Verkehrsakt ausgelöst wird und eine bestimmte Leistungsfähigkeit indiziert. Belastet werden soll dabei nur der Beteiligte, bei dem der Rechtsverkehrsakt einen wirtschaftlichen Aufwand ausgelöst hat. Eine Überwälzung ist damit gleichsam nicht kategorisch ausgeschlossen, jedenfalls aber nicht intendiert6.
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g) Die Gesetzgebungsbefugnis nach Art. 105 IIa 1 GG (s. Rz. 46) erstreckt sich nur auf die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern7, solange und soweit sie nicht bundesgesetzlich geregelten Steuern gleichartig sind. Die Gleichartigkeitssperre soll verhindern, dass die einem Steuerberechtigten zugewiesenen Steuerquellen von einem anderen Steuerberechtigten gleichfalls ausgeschöpft werden. Es soll der Steuerbürger vor Mehrfachbelastung, vor übermäßiger, unkoordinierter Besteuerung und damit zugleich auch vor ungleichmäßiger Belastung durch mehrere Steuerberechtigte geschützt werden. Daher ist Gleichartigkeit zu bejahen, wenn Steuertatbestände miteinander konkurrieren, indem sie die gleiche Quelle steuerlicher Leistungsfähigkeit
1 Dies nimmt BVerfG v. 5.11.2014 – 1 BvF 3/11, HFR 2014, 1111 f., ohne weiteres auch für die Luftverkehrsteuer an und versteht Art. 106 I Nr. 3 GG damit letztlich als einen Bundeskompetenztitel zur Gestaltung von Mobilitätssteuern auf motorbetriebene Vehikel. 2 Zur Zweitwohnung als Kapitalanlage: BVerfG v. 29.6.1995 – 1 BvR 1800/94 u.a., HFR 1995, 749; BVerwG v. 10.10.1995 – 8 C 40/93, BStBl. II 1996, 37; zur Besteuerung juristischer Personen: BVerwG v. 27.9.2000 – 11 C 4/00, JZ 2001, 603, mit Anm. Birk/Tappe; zur grds. verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Zweitwohnungsteuer s. BVerfGE 65, 325 (344 ff.); BVerfG DStR 2014, 420, zur Verfassungswidrigkeit einer degressiv ausgestalteten Zweitwohnungsteuer. 3 Dazu BFH BStBl. II 2012, 389 (391), Rz. 20. 4 BVerfG NVwZ 2010, 1022 (1023 ff.); BFHE 229, 572 (573 ff.); BVerwG NVwZ 2009, 1437 (1438 ff.); nach BVerfGE 134, 1 (23), Rz. 65; nach BVerfG DStR 2014, 420 (422), Rz. 51, soll es ein legitimes Lenkungsziel der Zweitwohnungsteuer sein, Studierende zur Ummeldung des Nebenwohnsitzes in einen Hauptwohnsitz nach Maßgabe des Melderechts zu bewegen; gegen die Rspr. überzeugend mit dem Argument mangelnder Folgerichtigkeit Buchmaier, Bundesstaatliche, verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Zweitwohnungsteuer, Diss., 2010, 178 ff.; s. auch Petry, BB 2010, 2860. 5 Für die Hundesteuer hat BVerwG v. 16.5.2007 – 10 C 1/07, KStZ 2007, 211, entschieden, dass ein Diensthund nicht der Hundesteuer unterliegt, weil es an einem besteuerbaren Aufwand für die persönliche Lebensführung fehle. Warum für die Zweitwohnungsteuer wertungsmäßig etwas anderes gelten soll, erschließt sich nicht. Nach BVerwGE 143, 301 (303 ff.) ist einer Bettensteuer, die neben privaten auch berufliche oder gewerbliche Übernachtungen erfasst, der Charakter einer Aufwandsteuer abzusprechen. 6 Desens, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 189 Rz. 15; Seer, ZfZ 2013, 146 (148, 150 ff.), dort auch zur mangelhaften Abstimmung von Verbrauch- und Verkehrsteuern. 7 Lit.: David, StVj 1990, 164; Tipke, DÖV 1995, 1027; Schwarting, Kommunale Steuern, Grundlagen, Verfahren, Entwicklungstendenzen, 2007; Becker, BB 2011, 1175 (1177 ff.); Wernsmann u. Henneke, DStJG 35 (2012), 95 ff., 117 ff.; Tipke, StRO III2, 1327 ff.; Wernsmann, NVwZ 2013, 124.
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ausschöpfen und die gleiche wirtschaftliche Wirkung haben. Auf unterschiedliche Steuertechniken kommt es nicht an; zu vergleichen sind die Steuergüter1. Die Rspr. des BVerfG unterscheidet bei der Prüfung der Gleichartigkeit örtlicher Verbrauchund Aufwandsteuern mit bundesgesetzlich geregelten Steuern (insb. mit Einkommen-, Umsatzsteuer) zwischen herkömmlichen örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern, die bei Inkrafttreten des Finanzreformgesetzes 1969 zum 1.1.1970 bereits bestanden, und neueren Steuern. Die herkömmlichen Steuern habe der Verfassungsgeber nicht antasten wollen, so dass sie nicht als gleichartig anzusehen seien2. Zu diesen Steuerarten zählen die Vergnügung-, Spielgeräte-3, Getränke-, Hunde-, Jagd- u. Fischereisteuer. Für die nicht herkömmlichen Steuern (z.B. Zweitwohnungsteuer) führt das BVerfG einen Vergleich der steuerbegründenden Merkmale durch. Dabei stellt das BVerfG4 darauf ab, ob Steuern dieselbe Quelle wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ausschöpfen. Der steuerbegründende Tatbestand dürfe nicht denselben Belastungsgrund erfassen wie eine Bundessteuer5; er habe sich in Gegenstand, Bemessungsgrundlage, Erhebungstechnik und wirtschaftlicher Auswirkung von der Bundessteuer zu unterscheiden6.
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Das Merkmal der Örtlichkeit charakterisiert Steuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis7, das sind z.B. Steuern, die den „Verzehr an Ort und Stelle“ belasten8. So verwirklichte die Kasseler Verpackungsteuer das Merkmal der Örtlichkeit, weil ihr Steuertatbestand das Steuerobjekt auf Einwegverpackungen für Speisen und Getränke zum Verzehr an Ort und Stelle begrenzte und damit typisierend darauf abstellte, dass die Verpackung im Gemeindegebiet verbraucht wird9. Örtlichkeitsmerkmal und Gleichartigkeitsverbot dürfen nicht miteinander vermengt werden10. Örtlichkeit bedeutet nicht schon Ungleichartigkeit.
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h) Die Gemeinden haben nach der abschließenden Regelung des Art. 105 GG kein eigenes Recht zur Steuergesetzgebung. Nach Art. 106 VI 2 GG ist den Gemeinden lediglich das Recht einzuräumen, die Hebesätze der Grundsteuer und Gewerbesteuer im Rahmen der Gesetze festzusetzen. BVerfGE 125, 141 (166 ff.) hat es von der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 105 II GG für gedeckt angesehen, dass der Bund in § 16 IV 2 GewStG einen Mindesthebesatz in Höhe von 200 % (s. § 12 Rz. 43) eingeführt hat. Vor dem gesetzgeberischen Hintergrund der Verhinderung einer gezielten Steueroasenpolitik von Kleinstkommunen (s. Rz. 41) ist dieser Eingriff in das kommunale Selbstverwaltungsrecht (Art. 28 II 3 GG) vertretbar11. Der im Jahre 1997 hinzugefügte 2. Hs. des Art. 28 II 3 GG sichert den Gemeinden eine „mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle“. Dadurch wird die Eigenverantwortlichkeit ertrags- und nicht gesetzgebungshoheitlich abgesichert. Art. 28 II 3 Hs. 2 GG sichert auch nicht den Bestand der Gewerbesteuer. Diese darf durch adäquate andere wirtschaftskraftbezogene Steuerquellen ersetzt werden12.
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1 Tipke, StuW 1975, 242; Tipke, StRO III2, 1328 f.; K. Vogel, StuW 1971, 308 (311 f.); K. Vogel, HStR IV2, § 87 Rz. 55 ff.; R. Wendt, HStR VI3, § 139 Rz. 40 ff. Zu den unterschiedlichen Auffassungen über die Gleichartigkeit von Steuern s. Küssner, Die Abgrenzung der Kompetenzen des Bundes und der Länder im Bereich der Steuergesetzgebung sowie der Begriff der Gleichartigkeit von Steuern, 1992; Bultmann, DStZ 1996, 760; eher nach der technischen Ausgestaltung der Steuer unterscheidet aber weiterhin Wernsmann, DStJG 35 (2012), 95 ff. 2 BVerfGE 40, 56 (63 f.); 42, 38 (41); 44, 216 (226 f.); 69, 174 (183 f.). 3 Birk/Haversath, Verfassungsmäßigkeit der kommunalen Vergnügungsteuern auf Geldspielgeräten am Beispiel Berlins, 2013, 19 ff.: „verkappte Unternehmenssteuer“. 4 BVerfGE 49, 343 (355); 65, 325 (351); 98, 106 (124 f.). 5 BVerfGE 98, 106 (125), zur Verpackungsteuer. 6 BVerfGE 65, 325 (351); 98, 106 (125). 7 So die präzise Formulierung in Art. 105 GG vor der Einfügung des Art. 105 IIa GG durch Finanzreformgesetz v. 12.5.1969, BGBl. I 1969, 359; sie gilt als in Art. 105 IIa GG rezipiert (BVerfGE 40, 56 [60 f.]; 65, 325 [343]); dazu Wernsmann, DStJG 35 (2012), 95 ff.; Henneke, DStJG 35 (2012), 117 ff. 8 BVerfGE 44, 216 (226 f.); 69, 174 (183). 9 BVerfGE 98, 106 (124). 10 BVerfGE 40, 56 (61); 58, 230 (239). 11 Dazu auch Faber, Die Kommunen zwischen Finanzautonomie und staatlicher Aufsicht – Vorgaben zur Einnahmenoptimierung und Ausgabenkontrolle in der Haushaltssicherung, 2012, 24 ff, 43 ff. 12 Vgl. Beschlussempfehlung des BT-Rechtsausschusses v. 10.9.1997, BT-Drucks. 13/8488, 3.
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§2
Rz. 54
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In Landesverfassungen und Kommunalabgabengesetzen der Länder wird den Gemeinden indessen vielfach das Recht auf Erschließung eigener Steuerquellen eingeräumt. Insb. delegieren die Länder ihr Steuererfindungsrecht für die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern (Art. 105 IIa GG) an die Gemeinden1. Das geschieht z.B. durch § 1 I KAG NW. Die abgeleitete Steuergesetzgebungskompetenz der Kommunen steht indessen unter dem Vorbehalt anderweitiger Bundes- oder Landesgesetzgebung und ist regelmäßig von Genehmigungen durch Landesbehörden abhängig. Die Gemeinden erlassen Steuersatzungen, die der Genehmigung der Aufsichtsbehörden bedürfen (s. z.B. § 2 II KAG NW); als Richtschnur dienen den Aufsichtsbehörden Mustersatzungen (Mustersteuerordnungen), sie sind keine Rechtsnormen, können aber von den Genehmigungsbehörden durchgesetzt werden. Die Steuersatzungen können keine Steuern festsetzen, für die die Länder kein Steuererfindungsrecht haben; folglich kann dieses auch nicht übertragen werden. Obwohl der Anteil der kommunalen Verbrauch- und Aufwandsteuern an den Gesamteinnahmen der Kommunen weniger als 1 % beträgt, schießen in Zeiten kommunaler Finanznot neue örtliche Verbrauch- oder Aufwandsteuern aus dem Boden (Beispiele: Betten-, Boots-, Camping-, Mobilfunkmasten-, Pferde-, Sauna-, Schusswaffenbesitz-, Sexsteuer)2. Um hier einem steuerlichen Wildwuchs entgegenzuwirken, bedarf es über die bloße technische Ausgestaltung hinausgehend eine Rückbesinnung auf den eigentlichen steuerlichen Belastungsgrund insb. im Vergleich zu der bundesgesetzlich geregelten Umsatzsteuer (s. Rz. 51). Dies sollten die Aufsichtsbehörden der Länder sorgfältig prüfen.
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i) Eine steuerrechtliche Regelung, die Lenkungswirkungen in einem nicht steuerlichen Kompetenzbereich entfaltet, setzt keine zur Steuergesetzgebungskompetenz hinzutretende Sachkompetenz voraus; jedoch darf der Steuergesetzgeber keine Regelungen herbeiführen, die den vom zuständigen Sachgesetzgeber getroffenen Regelungen widersprechen3. Es gilt das Prinzip der Widerspruchsfreiheit, nach dem das Bundesrecht die Normen des Landesgesetzgebers und des kommunalen Satzungsgebers bricht, wenn z.B. das bundesumweltrechtliche Kooperationsprinzip den Normen von Landesabfallgesetzen4 oder der kommunalen Normierung einer Verpackungsteuer5 entgegensteht.
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j) Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass – im Interesse der Einheit der Wirtschaftsordnung (und der Lebensverhältnisse sowie der Einheit der Gesetzesanwendung) – die Kompetenz des Bundes gänzlich dominiert. Allerdings hat die Neufassung des Art. 72 II GG die Kompetenz der Länder bei den Steuern, an deren Steueraufkommen der Bund nicht beteiligt ist, erweitert (s. Rz. 35 ff.). Wird gegen die Steuerkompetenzordnung verstoßen, indem Bund, Länder oder Gemeinden zu Unrecht eine Kompetenz in Anspruch nehmen oder auf Grund Art. 105 GG eine nichtfiskalische Abgabe auferlegen, so ist der Stpfl., der aus einem solchen Gesetz in Anspruch genommen wird, in seinem Recht auf Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) verletzt; er kann Klage und Verfassungsbeschwerde erheben, dies allerdings mit Erfolg nur dann,
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
1 Dies ist finanzverfassungsrechtlich zulässig (dazu m.w.N. von Mangoldt/Klein/Starck/Jachmann, Bd. 36, Art. 105 GG Rz. 54). 2 Zur Pferdesteuer: Rauscher/Rauber, KStZ 2011, 161; zur Bettensteuer: BVerwGE 143, 301; Petry, BB 2010, 2860; Meier, ZKF 2010, 265; Rutemöller, DStZ 2011, 246; Dürrschmidt, KStZ 2013, 1; Wienbracke, KStZ 2013, 41; zur Mobilfunkmastensteuer: Funke, KStZ 2010, 121 (Teil I), 143 (Teil II), 206 (Replik auf die Stellungnahme des Städte- u. Gemeindebundes NRW); Funke, Die Handymastensteuer, Diss., 2009; zur Schusswaffensteuer: Meier/Kievits, KStZ 2011, 103; Braun, StuW 2012, 348; allgemein s. Henneke, DStJG 35 (2012), 117 ff.; Betzinger/Müller, KStZ 2012, 101; Stolterfoht, FS P. Kirchhof, Bd. II, § 191. 3 Grundl. BVerfGE 98, 83 (Landesabfallgesetze); 98, 106 (Kasseler Verpackungsteuer); dazu Jobs, DÖV 1998, 1039; Rodi, StuW 1999, 105; P. Kirchhof, StuW 2000, 316 (323); Trzaskalik, Gutachten E zum 63. DJT, 2000, 31 ff.; Westphal, DÖV 2000, 996; Kloepfer/Bröcker, DÖV 2001, 1; K. Vogel, FS Badura, 2004, 589; Sodan/Kluckert, NVwZ 2013, 241; Dürrschmidt, KStZ 2013, 1; Birk/Haversath, Verfassungsmäßigkeit der kommunalen Vergnügungsteuern auf Geldspielgeräte am Beispiel Berlins, 2013, 21 ff. 4 BVerfGE 98, 83 (98 ff.). 5 BVerfGE 98, 106 (118 ff.).
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Die Steuerertragshoheit (Art. 106; 107 GG)
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§2
wenn sich die Kompetenz nicht aus einer anderen Vorschrift ergibt, etwa aus Art. 74 Nr. 11 GG. Allein wegen falscher Etikettierung ist ein Gesetz nicht verfassungswidrig.
4. Die Steuerertragshoheit (Art. 106; 107 GG) a) Art. 106 GG verteilt das Steueraufkommen nach Steuerarten. Dies hat zur Folge, dass der Gläubiger der einzelnen Steuerart verfassungsrechtlich bestimmt sein muss (zum eingeschränkten Steuererfindungsrecht s. Rz. 4 ff.). Die in Art. 106 GG zwischen Bund und Ländern verankerte Ertragsverteilung ist nur auf Steuern (zum Begriff s. Rz. 9 ff.) anwendbar und nicht auf andere Staatseinnahmen (z.B. Gebühren, Beiträge, Sonderabgaben, Erlöse aus der Versteigerung von UMTS-Lizenzen u.ä.) analogiefähig (zur Formenstrenge der Finanzverfassung s. Rz. 1).
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b) Die Erträge (das Aufkommen) aus folgenden Abgaben (Bundesabgaben, Bundesertragsabgaben) stehen dem Bund zu (Art. 106 I GG):
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(1) Finanzmonopole (s. Rz. 33); (2) Zölle (s. Rz. 33); (3) Verbrauchsteuern, soweit sie nicht den Ländern (Biersteuer), Bund und Ländern (Umsatzsteuer) oder den Gemeinden (Art. 106 II GG: örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuer, s. Rz. 50 ff.) zustehen; (4) Straßengüterverkehrsteuer (abgeschafft), und seit 1.7.2009 Kraftfahrzeugsteuer (s. Rz. 48) u. sonstige auf motorisierte Verkehrsmittel bezogene Steuern (nach BVerfG HFR 2014, 1111 f.: Luftverkehrsteuer). Dafür erhalten die Länder nach Art. 106b GG eine finanzielle Kompensation aus dem Steueraufkommen des Bundes (Gesetz zur Änderung des GG v. 19.3.2009, BGBl. I 2009, 606). Die Beträge sind in dem Gesetz zur Regelung der finanziellen Kompensation zugunsten der Länder in Folge der Übertragung der Ertragshoheit der KfzSt auf den Bund v. 29.5.2009, BGBl. 2009, 1170, festgelegt; (5) Kapitalverkehrsteuern (abgeschafft); Versicherungsteuer; Wechselsteuer (abgeschafft); (6) einmalige Vermögensabgaben (s. Rz. 6) und zur Durchführung des Lastenausgleichs erhobene Ausgleichsabgaben Gesetz über den Lastenausgleich v. 14.8.1952, BGBl. I 1952, 446, neugefasst durch Gesetz v. 2.6.1993, BGBl. I 1993, 845; (7) die Ergänzungsabgabe zur Einkommen- und zur Körperschaftsteuer: Solidaritätszuschlag (s. Rz. 6), wieder eingeführt mit Wirkung v. 1.1.1995 durch Gesetz v. 23.6.1993, BGBl. I 1993, 944 (975). (8) Abgaben im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften, sog. Abschöpfungen.
c) Die Erträge aus folgenden Steuern (Landessteuern, Landesertragsteuern) stehen den Ländern zu (Art. 106 II GG): (1) Vermögensteuer (erhoben bis zum VZ 1996, s. § 16); (2) Erbschaftsteuer (s. § 15); (3) Kraftfahrzeugsteuer (bis 30.6.2009); (4) Verkehrsteuern, soweit sie nicht dem Bund (bis zum 30.6.2009: Kraftfahrzeugsteuer) oder Bund und Ländern gemeinsam (so die Umsatzsteuer, s. § 17) zustehen: Grunderwerbsteuer, Feuerschutzsteuer, Rennwett- und Lotteriesteuer (s. § 18); die Umsatzsteuer wird zweimal ausgeschaltet, zum einen durch Art. 106 I Nr. 2 GG als Verbrauchsteuer, zum anderen durch Art. 106 II Nr. 3 GG als Verkehrsteuer (dazu § 17 Rz. 21); (5) Biersteuer (s. § 18 Rz. 105, 112); (6) Spielbankabgabe (s. Rz. 22). Das Aufkommen dieser Steuern steht den einzelnen Ländern insoweit zu, als die Steuern von den Finanzbehörden in ihrem Gebiet (endgültig) vereinnahmt werden, sog. örtliches Aufkommen (Art. 107 I 1 GG).
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§2
Rz. 60
60
d) Außerdem erhalten Bund und Länder einen Anteil an der Gewerbesteuer, sog. Gewerbesteuerumlage (Art. 106 VI 4, 5 GG; dazu Rz. 67).
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
e) Gemeinschaftsteuern, d.h. solche, deren Aufkommen Bund und Ländern gemeinsam zusteht, sind (Art. 106 III GG): 61
(1) Einkommensteuer (s. § 8), Körperschaftsteuer (s. § 11), soweit das Aufkommen aus der Einkommensteuer nicht den Gemeinden zugewiesen ist (s. Rz. 65 f.). Am Aufkommen der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer sind der Bund und die Länder je zur Hälfte beteiligt (Art. 106 III 2 GG). Der Länderanteil am Aufkommen der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer steht den einzelnen Ländern insoweit zu, als die Steuern von den Finanzbehörden in ihrem Gebiet vereinnahmt werden (Art. 107 I 1 GG; s. auch §§ 19; 20 AO). Durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, sind für die Körperschaftsteuer und die Lohnsteuer nähere Bestimmungen über die Abgrenzung sowie über Art und Umfang der Zerlegung des örtlichen Aufkommens zu treffen (Art. 107 I 2 GG). Das ist geschehen durch das Zerlegungsgesetz, neugefasst durch das Zerlegungs- und Kraftfahrzeugänderungsgesetz v. 6.8.1998, BGBl. I 1998, 1998 (zuletzt geändert durch Gesetz v. 25.7.2014, BGBl. I 2014, 1266 [1290])1.
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(2) Umsatzsteuer2: Die Anteile von Bund und Ländern werden durch Bundesgesetz festgesetzt, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf (Art. 106 III 3 GG). Art. 106 III 4 GG bestimmt die Grundsätze für die Festsetzung der Anteile. Der durch Gesetz v. 3.11.1995 (BGBl. I 1995, 1492) eingefügte Art. 106 III 5 GG bezieht in die Festsetzung der Anteile den Familienleistungsausgleich ein. Die Anteile sind neu festzusetzen, wenn sich das Verhältnis zwischen den Einnahmen und Ausgaben des Bundes und der Länder wesentlich anders entwickelt (Art. 106 IV 1 GG). Nach Art. 106 IV 2, 3 GG ist ein Ausgleich auch durch Finanzzuweisungen des Bundes zulässig. Die Anteile von Bund, Ländern und Gemeinden ergeben sich aus § 1 Finanzausgleichsgesetz (zuletzt geändert durch Gesetz v. 15.7.2013, BGBl. I 2013, 2401 [2402]). Die Regelung trägt die Handschrift des politischen Detailkompromisses und ist sehr kompliziert. Grob vereinfacht ergeben sich für 2014 die folgenden Anteile: ca. 54 % Bund, 44 % Länder u. 2 % Gemeinden3.
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Der Länderanteil am Umsatzsteueraufkommen steht den einzelnen Ländern nach Maßgabe ihrer Einwohnerzahl zu; für einen Teil, höchstens für ein Viertel des Länderanteils, können Ergänzungsanteile für die Länder vorgesehen werden, deren Aufkommen aus Einkommensteuer und Körperschaftsteuer je Einwohner unter dem Länderdurchschnitt liegt (Art. 107 I letzter Satz GG).
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Über den Finanzausgleich4 hat das BVerfG fünfmal grundl. entschieden: BVerfGE 1, 117 (in 1952); 72, 330 (in 1986); 86, 148 (in 1992); 101, 158 (in 1999); 116, 327 (in 2006)5. Den nach den Vorgaben von BVerfGE 101, 158 neu geordneten Finanzausgleich6 regelt zunächst das Maßstäbegesetz v. 9.12.2001, BGBl. I 2001, 2302 (zuletzt geändert durch Gesetz v. 29.5.2009, BGBl. I 2009, 1170 [1176])7. Allerdings ist es dem Gesetzgeber in dem Maßstäbegesetz nicht gelungen, die vom BVerfG geforderten Zuteilungs- und Ausgleichsmaßstäbe (befreit von tagesund machtpolitischen Interessen) in einer mittleren Ebene einzuziehen, auf deren Basis sodann das Finanzausgleichsgesetz (s. Rz. 62) Detailregelungen festlegt. Der vom BVerfG vorgenom1 2 3 4
Zum ZerlG s. Kommentar v. Hidien, ZerlG, 2012. Dazu Hidien, Die Verteilung der Umsatzsteuer zwischen Bund und Ländern, 1998. Zu den Berechnungsschritten s. näher Hidien, Kommentar zu § 1 FAG, 2012. Zum Finanzausgleich s. Habilitationsschriften v. Häde, Finanzausgleich, 1996; Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997; Hidien, Der bundesstaatliche Finanzausgleich in Deutschland, 1999; s. außerdem Geske, Der bundesstaatliche Finanzausgleich, 2001; Korioth, ZG 2007, 1; Geske, Der Staat 46 (2007), 203; Kahl (Hrsg.), Nachhaltige Finanzstrukturen im Bundesstaat, mit Beiträgen insb. v. Kahl, Feld, Reimer, Waldhoff, Korioth u. Wieland; Kube, Der bundesstaatliche Finanzausgleich, 2011; Wendt, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 144; Reimer, VVDStRL 73 (2014), 153 (176 ff.); Kempny/Reimer, Gutachten 70. DJT, 2014, D 54 ff., 93 ff. 5 Derzeit sind beim BVerfG Normenkontrollklagen der Länder Bayern und Hessen gegen den Länderfinanzausgleich anhängig (Az.: 2 BvF 1/13). 6 Dazu BMF, Die Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs, BMF-Schriftenreihe, Heft 73, 2003 (Materialien); Helbig, Der steuerverfassungsrechtliche Halbteilungsgrundsatz, Maßstab für Steuerbelastung und Ausgleichsverpflichtung im Länderfinanzausgleich?, 2002; Lintner, Die verfassungsrechtlichen Grenzen des horizontalen Länderfinanzausgleichs nach Art. 107 II GG, 2004. 7 Dazu näher s. Hidien, MaßStG, Kommentar, 2012.
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Die Steuerertragshoheit (Art. 106; 107 GG)
Rz. 66
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mene Rückgriff auf John Rawls theoretische Denkfigur eines „Schleiers des Nichtwissens“1 hat den Gesetzgeber offensichtlich überfordert2. Die Maßstäbe bündischer Solidarität, staatlicher Autonomie und föderaler Gleichbehandlung3 sind auf vier Stufen der Finanzverteilung in Einklang zu bringen. Auf der ersten Stufe ist Steuerertragsverteilung im Verhältnis zwischen dem Bund und der Ländergesamtheit gem. Art. 106 GG (s. Rz. 58 ff.) durchzuführen (sog. primärer vertikaler Finanzausgleich). Der durch Art. 106 GG im vertikalen Bund-Länder-Verhältnis zugeordnete Länderanteil wird daraufhin auf der in Art. 107 Abs. 1 GG geregelten zweiten Stufe unter den Ländern verteilt (primärer horizontaler Finanzausgleich). Leitend ist insoweit das Prinzip der Steuerverteilung nach der regionalen Steuerkraft. Diese vornehmlich vom Gedanken der gebietskörperschaftlichen Eigen- und Folgenverantwortung geprägte Steueraufteilung korrigiert auf der dritten Stufe der sog. Länderfinanzausgleich (sekundärer horizontaler Finanzausgleich) des Art. 107 Abs. 2 GG durch Umverteilung der primären Steueraufkommen der Länder. Hintergrund dieser Regelung ist, dass die Länder eine unterschiedliche Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftskraft aufweisen und deshalb die insoweit schlechter gestellten Länder – aufgrund entsprechend geringerer Steuererträge – ihre Aufgaben nicht angemessen erfüllen können. Deshalb soll der Länderfinanzausgleich nach dem Solidaritätsprinzip zu einer angemessenen Annäherung der Finanzkraft führen, ohne allerdings zu einer Nivellierung zu führen oder die Finanzkraftreihenfolge zu verändern4. Schließlich eröffnet Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG auf der vierten Stufe dem Bund die Möglichkeit, aus seinen Mitteln Bundesergänzungszuweisungen (sekundärer vertikaler Finanzausgleich) zugunsten leistungsschwacher Länder zu gewähren. Dabei werden allgemeine Bundesergänzungszuweisungen (Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen) und Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen unterschieden. Auch diese vom Prinzip der bündischen Solidarität getragene vierte Stufe des Finanzausgleichs unterliegt dem aus dem Prinzip der gebietskörperschaftlichen Eigenverantwortung folgendem Verbot der Nivellierung und Veränderung der Finanzkraftreihenfolge5. Dementsprechend hat BVerfGE 116, 327 (386 ff.) verdeutlicht, dass zum Zweck der Sanierung eines in Not geratenen Landeshaushalts eingeforderte Bundesergänzungszuweisung einem strengen ultima ratio-Prinzip unterliegen. Die Gemeinden erhalten6 (1) einen Anteil am Aufkommen der Einkommensteuer (Art. 106 V GG i.V.m. §§ 1–5; 7 Gemeindefinanzreformgesetz [GFRG] i.d.F. der Bekanntmachung v. 10.3.2009, BGBl. I 2009, 502, zuletzt geändert durch Gesetz v. 8.5.2012, BGBl. I 2012, 1030). Das Gemeindefinanzreformgesetz sieht Folgendes vor:
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Die Gemeinden erhalten 15 % des Aufkommens an Lohnsteuer und veranlagter Einkommensteuer sowie 12 % des Aufkommens aus Kapitalertragsteuer nach § 43 I 1 Nrn. 6, 7, 8–12 EStG. Der Gemeindeanteil wird nach den Steuerbeträgen bemessen, die von den Finanzbehörden im Gebiet des Landes unter Berücksichtigung der Zerlegung nach Art. 107 I GG vereinnahmt werden (§ 1 GFRG). Dieses Aufkommen wird anhand einer Schlüsselzahl auf die einzelnen Gemeinden verteilt. Die Schlüsselzahl ergibt sich aus dem Anteil der Gemeinde an den durch Bundesstatistiken
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1 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (deutsche Übersetzung), 1975, 159 ff.; ausführlich zum juristischen Gebrauch dieser Leitidee: Heinz, Der Schleier des Nichtwissens im Gesetzgebungsverfahren, Diss., 2009. 2 Dazu mit unterschiedlichen Folgerungen krit. Korioth, ZG 2002, 334 (341); Jung, Maßstäbegerechtigkeit im Länderfinanzausgleich, Diss., 2008; Heinz, Der Schleier des Nichtwissens im Gesetzgebungsverfahren, 2009, 31 ff., 276 ff., 306 ff.; Kube, Der bundesstaatliche Finanzausgleich, 2011, 39 ff., 93 ff; Reimer, VVDStRL 73 (2014), 153 (176 ff.); Kempny/Reimer, Gutachten 70. DJT, 2014, D 56 ff., 97 ff., zu den Reformoptionen. 3 BVerfGE 101, 158 (219 ff.). 4 S. BVerfGE 72, 330 (418 f.); 86, 148 (250); 101, 158 (221 f.); 116, 327 (380). 5 Seer, FS Schnapp, 2008, 303 (309); Kube, Der bundesstaatliche Finanzausgleich, 2011, 30. 6 Dazu Hidien, KStZ 1998, 101; Hidien, ZKF 1999, 270; Weiß, ZKF 2001, 26 ff., 52 ff.; Wendt/Elicker, DÖV 2001, 7621; Kaspar, KStZ 2008, 1; J. Müller, Die Beteiligung der Gemeinden an den Gemeinschaftsteuern, Diss., 2010. Zur verfassungsrechtlich bedenklichen Finanzierung von Konsolidierungshilfen für überschuldete Gemeinden durch eine sog. Solidarumlage Koblenzer/Günther, IFSt-Schrift Nr. 499 (2014), 39 ff.
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Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
ermittelten Einkommensteuerbeträgen, die auf das zu versteuernde Einkommen ihrer Einwohner bis zu einem Höchstbetrag von jährlich 35 000 Euro, bei Zusammenveranlagung von Ehegatten 70 000 Euro entfallen (§ 3 GFRG). Die Einkommensgrenzen bei der Berechnung der Schlüsselzahl dienen dazu, Steuerkraftunterschiede zwischen den Gemeinden in einem politisch gewünschten Umfang zu nivellieren. Damit andererseits die Angleichung nicht zu stark ausfällt, werden die Höchstbeträge von Zeit zu Zeit an die gesamtwirtschaftliche Einkommensentwicklung angepasst. Der darüber hinausgehende Gemeindeanteil wird nach Einwohnerzahl verteilt;
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(2) das Aufkommen der Realsteuern (Art. 106 VI 1 GG), d.h. der Gewerbesteuer und der Grundsteuer (s. § 3 II AO). Bund und Länder werden jedoch durch Gesetz an dem Gewerbesteueraufkommen beteiligt, sog. Gewerbesteuerumlage (Art. 106 VI 4, 5 GG)1. Die Höhe der Umlage wird nach § 6 GFRG durch die folgende Formel ermittelt: Istaufkommen der Gewerbesteuer : Hebesatz × (Bundesvervielfältiger [2014: 14,5 %] + Landesvervielfältiger [2014: neue Bundesländer = 20,5 %; alte Bundesländer = 49,5 %]). Die vertikale Aufteilung der Umlage zwischen Bund und Ländern richtet sich nach dem Verhältnis zwischen Bundes- und Landesvervielfältigern (§ 6 I 2 GFRG). Die horizontale Verteilung der Umlage unter den Ländern dem Örtlichkeits- und Vereinnahmungsgrundsatz (§ 3 FAG).
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(3) das Aufkommen der örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern (s. dazu Rz. 46, 50 ff.) nach Maßgabe der Landesgesetzgebung (s. Art. 106 VI 1 GG);
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(4) vom Länderanteil am Gesamtaufkommen der Gemeinschaftsteuern (s. dazu Rz. 60 ff.) einen von der Landesgesetzgebung zu bestimmenden Hundertsatz (Art. 106 VII 1 GG);
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(5) einen Anteil am Aufkommen der Landessteuern (s. Rz. 59), soweit es die Landesgesetzgebung vorsieht (Art. 106 VII 2 GG);
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(6) einen Anteil am Aufkommen der Umsatzsteuer (s. Rz. 62 f.). Der Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer wird nach den §§ 5a–5e GFRG (s. Rz. 65) auf die Länder und Gemeinden verteilt.
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Die Verfassungen der Länder verpflichten die Landesgesetzgeber zu einem kommunalen Finanzausgleich, der die Finanzkraftunterschiede der Gemeinden abmildern soll2.
1 Für eine Abschaffung der Gewerbesteuerumlage und eine Erhöhung der Grundsteuermesszahlen im Rahmen einer Gemeindefinanzreform jenseits der Gewerbesteuerdiskussion plädiert Broer, DStZ 2014, 352; weitergehend Kempny/Reimer, Gutachten 70. DJT, 2014, D 56 ff. 2 Dazu Meyer, ZG 1996, 165 (Verfassungsrechtliche Determinanten); Inhester, Kommunaler Finanzausgleich im Rahmen der Staatsverfassung, 1998; Würtenberger, FS Leisner, 1999, 973; Eschenbach, ZKF 1999, 53 ff., 80 ff. (Niedersachsen); Münstermann, ZKF 1999, 122 (neue Länder); zu den westdeutschen Ländern: Münstermann, ZKF 2000, 122 (Teil I), 152 (Teil II); Katz, DÖV 2000, 235; Mandelartz/ Neumeyer, DÖV 2000, 103; Scherf, FS Oberhauser, 2000, 499; Broer, KStZ 2001, 63 (Steuerkraft); Wohltmann, ZKF 2001, 98 (systematische Mängel); zu Strukturfragen u.a. Münstermann, ZKF 2004, 245 (Teil I), 265 (Teil II), 294 (Teil III), 2005, 5 (Teil IV), 25 (Teil V); Laier, Der Kommunale Finanzausgleich, Diss., 2010; Rauber, KStZ 2012, 201; speziell zu Hessen mit empirischen Belegen und Handlungsempfehlungen Rauber, Finanzierung zentralörtlicher Funktionen, 2012, 43 ff.; 135 ff.; 167 f.; ebenso zu Niedersachsen Broer, KStZ 2012, 161 (Teil 1), 181 (Teil 2); zum sog. Ausgleichsstock Huylmans, Der Ausgleichsstock in Nordrhein-Westfalen, 2013; zur Bestimmung der Beschwerdebefugnis in Verfahren des kommunalen Finanzausgleichs Dombert, FS Klein, 2013, 411 (414 ff.); zu möglichen Auswirkungen von Verfassungsklagen Broer, KStZ 2014, 110 (Teil I), 125 (Teil II).
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Die Steuerverwaltungshoheit (Art. 108 GG)
Rz. 72
Ertragshoheit gem. Art. 106 GG über die zurzeit erhobenen Steuern Bund (Art. 106 I GG)
Länder (Art. 106 II GG)
Gemeinden und Gemeindeverbände (Art. 106 VI GG)
– Einnahmen aus den – Erbschaft- u. – Finanzmonopolen SchenkungSt (zzt. nur Brannt– Verkehrsteuern weinmonopol) i.S.d. Art. 106 II – Zölle Nr. 3: – Verbrauchsteuern – – Grunderi.S.d. Art. 106 I Nr. 2 werbSt GG: – Rennwett- u. – BranntweinSt LotterieSt – KaffeeSt – Feuer– EnergieSt schutzSt – StromSt – BierSt – SchaumweinSt – Spielbankab– TabakSt gabe (s. § 7 – KfzSt u. auf motoriRz. 104) sierte Verkehrsmittel bezogene Verkehrsteuern i.S.d. Art. 106 I Nr. 3 (z.B. LuftVSt) – VersicherungsSt – Solidaritätszuschlag (Ergänzungsabgabe i.S.d. Art. 106 I Nr. 6 GG) Abgaben im Rahmen der EU Gemeinschaftsteuern gem. Art. 106 III GG Einkommensteuer – Lohnsteuer/veranlagte Einkommensteuer – Zinsabschlagsteuer Körperschaftsteuer Umsatzsteuer (2014, s. Rz. 62)
Realsteuern (GrSt u. GewerbeSt) unter Berücksichtigung der GewerbeSt-Umlage an Bund u. Länder örtliche Verbrauch- u. Aufwandsteuern (z.B. HundeSt, VergnügungsSt, ZweitwohnungSt)
42,5 % 44 %
42,5 % 44 %
15 % 12 %
50 %
50 %
–
ca. 54 %
ca. 44 %
ca. 2 %
5. Die Steuerverwaltungshoheit (Art. 108 GG) Literatur: Bonsels, Einwirkungs- und Mitwirkungsrechte des Bundes bei der Verwaltung der Steuern durch die Länder, Diss., 1995; Uelner, Die Finanzminister im System der sog. Gewaltenteilung, in FS Friauf, 1996, 217; Oeter, Die Finanzverwaltung im System der bundesstaatlichen Kompetenzteilung, Thür. VBl. 1997, 1; Löwer, Verfassungsrechtsfragen der Steuerauftragsverwaltung, BMF-Schriftenreihe, Heft 70, 2001; Seer, Kooperativ-föderale Steuerverwaltung in Deutschland, in FS Ruppe, 2007, 533; Drüen, Die föderale Steuerverwaltung aus der Sicht des Grundgesetzes, FR 2008, 295; Schmitt, Steuervollzug im föderalen Staat, in DStJG 31 (2008), 99; Hidien/Walden, Brauchen wir eine Bundessteuerverwaltung?, in FS FH des Bundes für öffentliche Verwaltung, 2009, 651; Senger, Die Reform der Finanzverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland, Diss., 2009; M. Schmitt, Steuerverwaltung, in FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 161; s. außerdem die Kommentierungen zu Art. 108 GG (insb. Seer in Bonner Kommentar, 2011).
Seer
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§2
§2
Rz. 73
73
Auf Druck der Alliierten hat Art. 108 GG mit der Tradition einer unitarischen Reichsfinanzverwaltung gebrochen und eine föderale Steuerverwaltung vorgesehen1. Die heutige Gestalt der Steuerverwaltungshoheit entspricht im Wesentlichen dem FinanzreformG v. 12.5.1969, BGBl. I 1969, 359. Art. 108 GG folgt der Konzeption eines sog. kooperativen Föderalismus. Während die Gesetzgebungskompetenz für die wesentlichen Steuern zur Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse beim Bund liegt (s. Rz. 35), besitzen die Länder – von den reinen Bundessteuern (insb. Zöllen, besondere Verbrauchsteuern, nunmehr auch Kfz-Steuer) abgesehen – die Steuerverwaltungskompetenz. Um für die sog. Gemeinschaftsteuern i.S.d. Art. 106 III GG (Einkommen-, Körperschaft-, Umsatzsteuer, s. Rz. 61 f.) einen vereinheitlichten Steuervollzug im Bundesgebiet zu sichern, statuiert Art. 108 III GG insoweit eine Bundesauftragsverwaltung. Diese ermöglicht es dem Bund, im gesamtstaatlichen Interesse auf die Verwaltung der Gemeinschaftsteuern durch die Länder einzuwirken2.
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Um die Effizienz der Steuerverwaltung zu steigern, ist in jüngerer Zeit ein Bündel von Maßnahmen getroffen worden. Art. 108 I 3, II 3 GG enthält seit 2001 eine Öffnungsklausel, um den früher durchgängig dreistufigen hierarchischen Verwaltungsaufbau verschlanken zu können (s. § 21 Rz. 33, m.w.N.)3. Auf einfachgesetzlicher Ebene ist der Zuständigkeitskanon des Bundeszentralamts für Steuern – BZSt (bis zum 31.12.2005: Bundesamt für Finanzen) in § 5 FVG als Bundesoberbehörde deutlich erweitert worden. Das BZSt besitzt nicht nur eine Zentralzuständigkeit für internationale Steuersachverhalte und den grenzüberschreitenden Datenaustausch, sondern fungiert nunmehr als Datensammelstelle und Bindeglied der miteinander zunehmend vernetzten Länderfinanzverwaltungen (s. § 21 Rz. 34, 40). Im Zuge der Föderalismusreform hatte der Bundesrechnungshof darüber hinausgehend die Einführung einer Bundessteuerverwaltung gefordert4. Aufgrund des massiven Widerstands der Länder konnte die Stellung des Bundes im Verhältnis zu den Ländern beim Steuervollzug in den Föderalismusreform Stufen I und II aber nur „in kleiner Münze“ durch die beiden Begleitgesetze gestärkt werden5. Neben dem Ausbau der Zuständigkeiten des BZSt wurden die Mitwirkungsrechte der Bundesbetriebsprüfung bei den von den Landesfinanzbehörden durchzuführenden Außenprüfungen (§ 19 FVG, s. § 21 Rz. 244) ausgedehnt und die Steuerungsrechte des Bundes zur Verwirklichung der länderübergreifenden Vollzugsziele durch das Instrument von sog. Zielvereinbarungen erweitert (s. § 21a FVG; zum Weisungsrecht des BMF s. § 21 Rz. 35). Die verstärkte Zusammenarbeit zwischen Bundes- und Landesfinanzbehörden ist von Art. 108 IV GG (s. Rz. 77) gedeckt6.
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Es werden verwaltet
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
– von Bundesfinanzbehörden: Zölle, bundesgesetzliche Verbrauchsteuern (einschließlich Einfuhrumsatzsteuer und Biersteuer), Kfz-Steuer, Abgaben im Rahmen der EU (s. Art. 108 I GG); – von Landesfinanzbehörden im Auftrage des Bundes: Steuern, die ganz oder zum Teil dem Bund zufließen: Versicherungsteuer, Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Umsatzsteuer (s. Art. 108 III GG); 1 2 3 4
Zur Entstehungsgeschichte s. Bonner Komm./Seer, 2011, Art. 108 GG Rz. 17 ff. S. dazu BVerfGE 81, 310 (332); 104, 249 (264); Bonner Komm./Seer, 2011, Art. 108 GG Rz. 107 ff. Eingeführt durch Gesetz v. 26.11.2001, BGBl. I 2001, 3219. Präsident des BRH, Probleme beim Vollzug von Steuergesetzen, 2006, 157 ff.; F. Kirchhof, ZG 2006, 288 (298 f.); Kienbaum Management Consultant GmbH, Forschungsbericht im Auftrag des BMF, BMF-Monatsbericht 03/2007, 75 ff.; Schleicher, DStJG 31 (2008), 59 (78 ff.); dagegen Schmitt, DStJG 31 (2008), 99 (122 ff.); Hidien/Walden, FS Fachhochschule öffentliche Verwaltung des Bundes, 2009, 651 ff.; ferner dazu Tipke, StRO III2, 1410 ff. 5 Föderalismusreform-Begleitgesetze v. 5.9.2006, BGBl. I 2006, 2098, u. v. 10.8.2009, BGBl. I 2009, 2702. 6 Dazu näher Seer/Drüen in Kluth (Hrsg.), FödRefG, Art. 108 GG Rz. 31; Drüen, FR 2008, 295 (299); Bonner Komm./Seer, 2011, Art. 108 GG Rz. 131 ff.; zu kommunalen Informationsrechten bei Auseinanderfallen von Verwaltungs- und Ertragshoheit Drüen, DÖV 2012, 493.
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Die Steuerverwaltungshoheit (Art. 108 GG)
Rz. 79
§2
– von Landesfinanzbehörden in Landeseigenverwaltung: Erbschaft- und Schenkungsteuer, Grunderwerbsteuer, Feuerschutzsteuer, Rennwett- und Lotteriesteuer, Spielbankabgabe, Gewerbe- u. Grundsteuer, örtliche Verbrauch- u. Aufwandsteuern (s. Art. 108 II 1 GG). In Art. 108 I GG nicht besonders genannt ist die Versicherungsteuer. Diese Bundessteuer wurde bis zum 30.6.2010 durch die Landesfinanzbehörden im Auftrag des Bundes (s. Art. 108 III GG) verwaltet. Das Begleitgesetz zur zweiten Föderalismusreform v. 10.8.2009, BGBl. I 2009, 2702 (2708), hat mit Wirkung v. 1.7.2010 in § 5 I Nr. 25 FVG eine Zentralzuständigkeit des BZSt für die Verwaltung der Versicherungsteuer geschaffen, um den gleichmäßigen Vollzug dieser Steuer zu effektuieren (s. BT-Drucks. 16/12400, 16). Ob diese bloß einfachgesetzliche Verlagerung der Verwaltungszuständigkeit für eine ganze Steuerart noch von der Delegationsklausel des Art. 108 IV 1 GG (s. Rz. 78) umfasst ist, erscheint zumindest zweifelhaft1.
76
Das Ausführungsgesetz zu Art. 108 GG ist das Gesetz über die Finanzverwaltung, das die Organisation und sachliche Zuständigkeit (§ 16 AO) der Finanzbehörden regelt (s. § 21 Rz. 30 ff.). Die örtliche Zuständigkeit ist in den §§ 17 ff. AO geregelt (s. § 21 Rz. 43 ff.). Durch Gesetz v. 13.12.2007, BGBl. I 2007, 2897, ist die Trennung der Mittelbehörden in Bundesfinanzdirektionen (§ 1 Nr. 3 FVG) und Oberfinanzdirektionen (§ 2 I Nr. 3 FVG: Landesmittelbehörden; früher sowohl Bundes- als auch Landesmittelbehörden) mit Wirkung v. 1.1.2008 in § 7 FVG vollzogen worden (s. § 21 Rz. 33 m.w.N.).
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Art. 108 IV GG enthält als Ausprägung des kooperativen Föderalismus eine besondere Kooperationsermächtigung. Im Hinblick auf die begrenzte Effizienz der geteilten Verwaltungshoheit soll die Ermächtigung verhindern, dass eine rationelle und moderne Verwaltung an der verfassungsrechtlichen Trennung der Aufgabenbereiche durch Ländergrenzen scheitert2. Art. 108 IV GG ermöglicht ein Zusammenwirken von Bund und Ländern in verschiedenen Formen (Art. 108 IV GG). Es kommen sowohl Mitwirkungsbefugnisse der gliedstaatlichen Finanzbehörden in der Bundesfinanzverwaltung als auch umgekehrt Mitwirkungsbefugnisse der Bundesfinanzbehörden in den Finanzverwaltungen der Länder in Betracht. Möglich ist auch die Delegation von Steuerverwaltungsaufgaben. Allerdings enthält Art. 108 IV GG kein Blankett für eine Mischverwaltung und Zuständigkeitsdelegation, sondern gestattet als Ausnahmevorschrift nur eine punktuelle Durchbrechung der Steuerverwaltungskompetenzen des Art. 108 I–III GG3. Von der Kooperation oder Delegation muss eine messbare Effizienzsteigerung im Sinne eines gleich- und gesetzmäßigeren Steuervollzugs ausgehen. Unter dieser Voraussetzung ist die Kooperations- und Delegationsklausel des Art. 108 IV GG ein Beweglichkeitsfaktor, der eine kompetenzrechtliche Flexibilität im Bund-Länder-Verhältnis eröffnet, um so ein zweckmäßiges und anpassungsfähiges Steuerverwaltungssystem zu garantieren4.
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So kann die Verwaltung von Steuern, die den Gemeinden zufließen, etwa von den Ländern ganz oder zum Teil den Gemeinden übertragen werden (Art. 108 IV 2 GG). Das ist (außer in den Stadtstaaten) geschehen hinsichtlich der Realsteuerfestsetzung (= Anwendung der Realsteuerhebesätze auf die Realsteuermessbescheide) und der Verwaltung der kommunalen (sog. örtlichen) Verbrauch- und Aufwandsteuern (s. Rz. 48 f.: z.B. Vergnügung-, Hunde-, Getränkesteuer).
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1 S. Bonner Komm./Seer, 2011, Art. 108 GG Rz. 73, 142 f. 2 S. BT-Drucks. V/2861, 38, Rz. 174. 3 S. BVerfGE 106, 1 (26); Sachs/Siekmann7, 2014, Art. 108 GG Rz. 11; Seer/Drüen in Kluth (Hrsg.), FödRefG, Art. 108 GG Rz. 30 f.; Drüen, FR 2008, 295 (299); Bonner Komm./Seer, 2011, Art. 108 GG Rz. 131. 4 Seer/Drüen in Kluth (Hrsg.), FödRefG, Art. 108 GG Rz. 31; Drüen, FR 2008, 295 (299); Bonner Komm./Seer, 2011, Art. 108 GG Rz. 132.
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§2
Rz. 80
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
Die Steuerverwaltungshoheit gem Art. 108 GG und ihre organisatorische Umsetzung im FVG 80
Verwaltung durch Bundesbehörden (Art. 108 I GG)
Bundesministerium der Finanzen (§ 3 I FVG): Leitung der Bundesfinanzverwaltung Bundeszentralamt für Steuern (§ 5 FVG): Aufgaben, deren zentrale Erledigung zweckmäßig ist (Art. 108 IV 1 GG), z.B. Entlastung von deutschen Abzugsteuern aufgrund von DBA, Erstattung von USt an ausländische Organisationen, Vergabe von USt-Identifikationsnummern, Mitwirkung bei Außenprüfungen (§ 19 FVG), Zentral-Verbundstelle für den grenzüberschreitenden Informationsaustausch, VersicherungSt (s. Rz. 76) Bundesfinanzdirektionen (§ 8 FVG – Mittelbehörden) Leitung der Bundesfinanzverwaltung in ihrem Bezirk Hauptzollämter (§ 12 FVG – untere Bundesfinanzbehörden) Verwaltung der Zölle, der Abgaben im Rahmen der EU und der bundesgesetzlich geregelten Verbrauchsteuern (BierSt, BranntweinSt, KaffeeSt, EnergieSt, SchaumweinSt, TabakSt) einschließlich Einfuhr-USt, Kfz-Steuer
Verwaltung durch Landesbehörden (Art. 108 II, III GG)
Landesfinanzministerium bzw. -senatoren (§ 3 II FVG): Leitung der Landesfinanzverwaltung Oberbehörden der Landesfinanzverwaltung für bestimmte Aufgaben (§ 2 I Nr. 2 FVG) sowie Oberfinanzdirektionen (§ 8a FVG – Mittelbehörden) Leitung der Landesfinanzverwaltung in ihrem Bezirk Finanzämter (§ 17 FVG – untere Landesfinanzbehörden)
Bundesauftragsverw,altung gem. Art. 108 III i.V.m. Art. 85 GG: ESt u. KSt einschl. Solidaritätszuschlag, USt ohne Einfuhr-USt (Gemeinschaftsteuern i.S.d. Art. 106 III GG)
Verwaltung durch Gemeinden (Art. 108 IV 2 GG)
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Verwaltung gem. Art. 108 II GG: VSt, ErbSt, GrunderwerbSt, Rennwett- u. LotterieSt, Spielbankenabgabe, bzgl. der Realsteuern (GewSt und GrundSt) Ermittlung u. Festsetzung der Besteuerungsgrundlagen → Erlass von Grundlagenbescheiden
Steuerämter delegiert durch Kommunalabgabengesetze: örtliche Verbrauch- u. Aufwandsteuern (z.B. HundeSt, JagdSt, ZweitwohnungSt, VergnügungsSt)
Festsetzung u. Erhebung der Realsteuern durch Anwendung des Hebesatzes (§ 184 III AO) → Erlass des Folgebescheides
§ 3 Steuersystem und Steuerverfassungsrecht A. System des Steuerrechts Literatur: Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 1969; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 1991, Kap. 6 (Begriffsund Systembildung in der Jurisprudenz), 437 ff.; Tipke, Steuerrecht – Chaos, Konglomerat oder System?, StuW 1971, 2; Tipke, StRO I2, 2000, 61 ff.; P. Kirchhof, Die Steuerrechtsordnung als Wertordnung, StuW 1996, 3; P. Kirchhof, Die Widerspruchsfreiheit im Steuerrecht als Verfassungspflicht, StuW 2000, 316; Birk, Ordnungsmuster im Steuerrecht – Prinzipien, Maßstäbe u. Strukturen, in FS Schaumburg, 2009, 3; Eckhoff, Steuerrecht ohne System, in FS Steiner, 2009, 118; FS J. Lang, 2010, mit Beiträgen von Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, 21, Mössner, Prinzipien im Steuerrecht, 83 und Drüen, Über Theorien im Steuerrecht, 57; Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, in FS Spindler, 2011, 29; Birk, Das Ungerechte an der Steuergerechtigkeit, StuW 2011, 354; J. Lang, Das Anliegen der Kölner Schule: Prinzipientreue des Steuerrechts, StuW 2013, 53; Droege, Steuergerechtigkeit – eine Demokratiefrage, RW 2013, 374; Drüen, Prinzipien und konzeptionelle Leitbilder einer Einkommensteuerreform, DStJG 37 (2014), 9.
I. Problemstellung: Systemhaftigkeit versus Steuerchaos „Steuerrecht – Chaos, Konglomerat oder System?“ – diese Frage hat das Forscherleben von Klaus Tipke beherrscht1; ebenso unermüdlich wirbt Joachim Lang für eine prinzipienverpflichtete Neuordnung des Steuerrechts2. Der Zustand des geltenden Steuerrechts verleiht diesem Anliegen ungebrochene Aktualität. Das Steuerrecht befindet sich in Unordnung, in einem Steuerchaos3. Seit jeher wird es als Vehikel von parteipolitischen Positionen4 gehandhabt und nicht als Materie des Rechts. Das Gemeinwohl läuft in einer pluralistischen Demokratie Gefahr, durch Gruppeninteressen verdrängt zu werden5. Dank seiner jeden Lebensbereich und jeden Wähler erfassenden Breitenwirkung scheint das Steuerrecht prädestiniert zur „Stimmenfangpolitik“6 durch steuerliche Wahlkampfgeschenke. Diese Wahlkampfgeschenke werden durch systemverletzende Gegenfinanzierungsmaßnahmen7 in der Regel teuer erkauft. Denn dem Steuergesetzgeber führen Bundes- und Landesfinanzministerien die Feder8. Sie tragen Verantwortung nicht nur für den Zustand des Steuerrechts, sondern auch für den Haushalt. Finanzminister verstehen sich in erster Linie als Haushalts- und nicht als Steuerminister. Die Entlastung der einen Gruppe resultiert damit regelmäßig in der Belastung einer anderen Gruppe. Durch detailverliebte und überkomplexe Missbrauchsvermeidungsgesetze versucht der Gesetzgeber zudem, Steuerwiderstand zu brechen. Schließlich begründen Defizite der Gesetzgebungstechnik und der Gesetzesfolgenabschätzung permanente Nachjustierungen. 1 So der programmatische Titel der Abhandlung (StuW 1971, 2) zu Beginn der StuW-Herausgebertätigkeit. 2 Angefangen mit J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes. Münsteraner Symposion, Band II, 1985; J. Lang, Die einfache und gerechte Einkommensteuer, 1987; zuletzt J. Lang, StuW 2013, 53. 3 Dazu näher J. Lang, FR 1993, 661 (664 f.) (Steuerchaos als Produkt des Interessenpluralismus); J. Lang, Stbg. 1994, 10; Raupach, FS Klein, 1994, 309; Helsper, BB 1995, 17; Helsper, BB 1996, 2326; Jachmann, Wider das Steuerchaos, 1998. 4 Dazu Franke, Steuerpolitik in der Demokratie, Habil., 1993; Findling, Die Politische Ökonomie der Steuerreform, 1995. 5 Dazu grundl. v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977. Weber-Grellet, DB 2007, 1717, führt die Reformunfähigkeit des Steuerrechts auf strukturelle Mängel der repräsentativen Demokratie zurück. 6 Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuerwirrwarr!?, Rechtsreform statt Stimmenfangpolitik, 2006, 22 ff. 7 Zum Unheil der Gegenfinanzierungsgesetzgebung Hey, StuW 2013, 107. 8 Tipke, StRO III2, 1379 ff.; Borgmann, Stbg. 1989, 392 (393): Finanzministerium als „Ghostwriter“ der Steuergesetze, Parlament als „Leihmutter“ der Finanzverwaltung.
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§3
Rz. 2
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Folge der Unordnung des Steuerrechts ist nicht nur Steuerunrecht, sondern auch erhebliche Steuerunsicherheit. Die institutionelle Unsicherheit der Besteuerung erzeugt Planungsunsicherheit und vermittelt dem Steuerzahler das Gefühl, Besteuerung lasse sich beliebig manipulieren. Fehlende Besteuerungsmoral schlägt sich in geringer Steuermoral nieder1. Der Bürger empfindet den Steuerstaat nicht als Rechtsstaat, sondern als unersättlichen Leviathan. Folglich sieht er sich legitimiert, skrupellos nach mehr oder weniger legalen Steuertipps und Steuertricks zu fahnden. Der Betrug des Staates, die Steuerhinterziehung, gilt oft noch als Kavaliersdelikt (s. aber auch § 23 Rz. 3).
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
Global agierende Unternehmen können die sich ihnen durch die fehlende Kooperationsbereitschaft der Staaten bietenden Gestaltungsmöglichkeiten ausreizen. Im Internationalen Kampf gegen „aggressive Steuergestaltung“2, geführt unter dem Akronym BEPS (Base Erosion and Profit Shifting), müssen die Verantwortungsbereiche jedoch klar definiert werden. Für eine Kategorie der illegitimen Gestaltung unterhalb der Illegalität ist in Rechtsstaaten kein Raum. Daher sind nicht primär die Unternehmen an den Pranger zu stellen. Vielmehr ist es Aufgabe der Gesetzgeber, auch international für eine Steuerrechtsordnung zu sorgen, die Doppelbesteuerung ebenso verhindert wie doppelte Nichtbesteuerung3. 3
Eine gerechte und rechtssichere Ordnung des Steuerrechts müsste eigentlich im allseitigen Interesse liegen, nicht nur im rechtlichen, sondern auch im ökonomisch-ordnungspolitischen Streben nach Effizienz der Wirtschaftsordnung und Finanzverwaltung. Für die Agenten und Vertreter des Staates (Steuerpolitiker, Finanzbeamte, Finanzrichter) erhebt sich die Forderung, dass der Rechtsstaat dort sein Handeln rechtfertigt, wo er dem Bürger alltäglich begegnet und ihm dabei etwas wegnimmt. Für das Steuerrechtsbewusstsein der Bürger ist unabdingbar, dass ihnen der Rechtsstaat die Überzeugung vermittelt, sie müssten die Steuern der anderen nicht mitbezahlen.
4
Die Systemlehre von Klaus Tipke4, auf der dieses Buch basiert, stellt dem unsystematisch wuchernden Steuerrecht, der herrschenden Steuerunordnung die Anforderungen von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit entgegen, die ganz allgemein das Wesen „richtigen“ Rechts ausmachen5. Das Ziel der Steuergerechtigkeit ist nur dann erreichbar, wenn sich der Gesetzgeber sowohl in der formalen als auch in der inhaltlichen Ausgestaltung des Steuerrechts Prinzipien und Regeln unterwirft. Nur dann entsteht ein Steuersystem.
II. Formale und inhaltliche Ordnung 1. Das äußere System 5
Das äußere System betrifft die Art der formalen Stoffanordnung, die technische Gliederung und Ordnung des Stoffes, die möglichst übersichtlich sein soll. Elemente des äußeren Systems sind die Ordnungsbegriffe des Gesetzes6, der Gesetzesaufbau und die Stellung des einzelnen Rechtssatzes in der Gliederung des Gesetzes. Mit diesen Elementen operiert die sog. systematische Methode der Gesetzesauslegung (s. § 5 Rz. 63 ff.). Die Rechtserkenntnis aus dem äußeren System hängt von dem juristischen Reifegrad des anzuwendenden Gesetzes ab. Das äußere System setzt ein inneres System voraus, dem es folgen muss. Nur dann kann es Quelle von Rechtserkenntnis sein. Die Schaffung und Erhaltung eines äußeren Systems erfordert nicht nur die 1 Tipke, Besteuerungsmoral und Steuermoral, 2000. 2 S. die Initiativen von G 20, OECD und EU; hierzu insb. OECD, Action Plan on Base Erosion and Profit Shifting, 2013; ferner § 7 Rz. 70 ff. 3 Dazu aus gleichheitsrechtlicher Sicht Rust, ISR 2013, 241. 4 Umfassend ausgebreitet in dem dreibändigen Werk „Die Steuerrechtsordnung“ (StRO I–III), s. Allgemeines Literaturverzeichnis. 5 Vgl. auch die allgemeinen Systemlehren von Canaris, Systemdenken; Larenz, Methodenlehre, 437 ff. 6 Dazu Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, 52 ff., 142 ff.; ferner Larenz, Methodenlehre, 437 ff.: Das äußere oder „abstrakt-begriffliche“ System; Tipke, StRO I2, 61 ff.
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System des Steuerrechts
Rz. 8
§3
Existenz eines inneren Systems, sondern auch ein erhebliches Maß an Disziplin und Begriffszucht vom Gesetzgeber. Der Gesetzgeber muss klare Vorstellungen davon haben, was er regeln will. Er muss sich des inneren Systems bewusst sein, muss Begriffe eindeutig besetzen und verwenden1. Je präziser Begriffe und Gliederung eines Gesetzeswerks die vom Gesetzgeber gewollten Rechtsfolgen verdeutlichen und die rationale Fortentwicklung des Rechts und der Rechtsdogmatik gestatten, desto eher werden Juristen geneigt und in der Lage sein, mit dem äußeren System zu argumentieren. Genau an dieser äußeren Ordnung fehlt es jedoch den über Jahrzehnte regellos gewucherten geltenden Steuergesetzen. Die überstürzte legislative Umsetzung in letzter Minute gefundener politischer Kompromisse und mit „heißer Nadel“ gestrickte Gesetzestexte verhindern begriffliche Präzision. Das Fehlen eines klaren Regelungsplans schlägt sich meist auch in der äußeren Form der Gesetze nieder. Unzulässig sind allerdings Schlüsse von dem Zustand des äußeren Systems auf den des inneren Systems. Weder lässt sich aus der Regelungstechnik folgern, es handle sich um ungleiche Sachverhalte (so ermöglicht die Erfassung des Einkommens in sieben Einkunftsarten keine gleichheitsrechtlichen Schlussfolgerungen), noch kann umgekehrt ein Mangel an äußerer Systematik zwangsläufig mit fehlender innerer Systemgerechtigkeit gleichgesetzt werden2.
6
Entsprechend dem verschiedenen Entwicklungsstand des Steuerrechts verwirklichen die Steuergesetze das äußere System in unterschiedlicher Qualität. Das äußere System der Abgabenordnung ist trotz der oben (§ 1 Rz. 54) aufgezeigten Mängel im Großen und Ganzen ausgereift. Allerdings besteht auch hier die Gefahr, dass neue Entwicklungen der Automatisierung des Besteuerungsverfahrens konzeptionslos und unabgestimmt an vielen Einzelstellen eingeflickt werden statt die Abgabenordnung systematisch in das 21. Jahrhundert zu überführen. Stellenweise schlimm ist die Qualität der Steuergesetze, die die einzelnen Steuerarten regeln. So lässt etwa der Aufbau des EStG den Funktionszusammenhang von Vorschriften nicht erkennen, wenn z.B. die privaten Abzüge i.S.d. § 2 IV, V EStG (s. § 8 Rz. 700 ff.) an verschiedenen Stellen geregelt sind oder grundlegende Merkmale einkommensteuerbarer Einkünfte wie Markteinkommensqualität und Einkünfteerzielungsabsicht (s. § 8 Rz. 52) nur partiell positiviert sind (§ 15 II EStG).
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Das äußere System des Steuerrechts fände seinen idealen Ausdruck in einem Steuergesetzbuch3. Es könnte das innere, inhaltliche System steuerartenübergreifend durch Verwendung einer stimmigen Terminologie in eine formale und sprachliche Ordnungsstruktur umsetzen. Dem Steuerzahler würde ein Überblick über die Gesamtheit seiner Belastung ermöglicht. Das derzeitige Steuerchaos schreit geradezu nach einem Befreiungsschlag einer großen Neukodifikation des Steuerrechts. Rechtliches Chaos bildet einen typischen Entstehungsgrund für die Kodifikation: Alle großen Kodifikationen des Rechts hatten einen Zustand gesteigerter Unordnung des geltenden Rechts zu überwinden, dienten der Rechtsbereinigung, -vereinheitlichung und -vereinfachung, der Corpus juris civilis Justinians I., der Code civil Napoleons und das BGB, das die Verschiedenheit der deutschen Land- und Provinzrechte ablöste. Der desolate Zustand der Steuergesetze in den letzten Jahrzehnten hat dazu herausgefordert, bedeutende Fortschritte in der Rechtserkenntnis der Besteuerung zu erzielen, auf deren Grundlage die Steuerrechtswissenschaft Vorschläge für in sich geschlossene Kodifikationen erarbeitet hat4. Dennoch ist ungewiss, ob die Politik die Kraft zu einer derartigen Neuordnung aufbringen wird, denn trotz der allgegenwärtigen Forderung nach Steuervereinfachung dürfte sich der Wähler für das
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1 Bsp.: § 4 Vb EStG besagt, die Gewerbesteuer und die darauf entfallenden Nebenleistungen „sind“ keine Betriebsausgaben. Wenn die Gewerbesteuer weiterhin Objektsteuer sein soll, dann ist die Gewerbesteuer Betriebsausgabe i.S.v. § 4 IV EStG (ebenso Kirchhof/Bode13, § 4 EStG Rz. 237). Der Gesetzgeber hätte ein Betriebsausgabenabzugsverbot anordnen müssen. Andernfalls hätte die Gewerbesteuer richtigerweise in § 12 Nr. 3 EStG aufgenommen werden müssen. S. aber auch FG Hamburg EFG 2012, 933: Trotz systematischer Widersprüche Nichtabziehbarkeit verfassungskonform. 2 Englisch, FS J. Lang, 2010, 167 (178). 3 Tipke, Gedanken zu einem Steuergesetzbuch, Zugleich zum Steuergesetzbuch-Entwurf von Joachim Lang, StuW 2000, 309. 4 J. Lang, Steuergesetzbuch, 1993; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, sowie das Projekt „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, (www.stiftung-marktwirtschaft.de).
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§3
Rz. 9
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
Anliegen einer Systematisierung des Steuerrechts nur begrenzt interessieren, wenn nicht zugleich Steuersenkungsversprechen abgegeben werden1.
2. Das inhaltliche oder innere System 9
Nach dem Verständnis der herrschenden Wertungsjurisprudenz2 beruhen die Regeln einer Rechtsordnung auf bestimmten Wertungen, nach denen die Rechtsgemeinschaft ihre Verhältnisse ordnet. Diese Wertungen bilden das inhaltliche oder innere System3 einer Rechtsordnung. Ein inneres System kommt grds. nur dann zustande, wenn die verschiedenen Wertungen aufeinander abgestimmt sind und in den Regeln der Rechtsordnung folgerichtig vollzogen werden4. Die normative Folgerichtigkeit des inneren Systems begründet auch die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung (s. auch § 1 Rz. 44 ff.)5.
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Ein gerechtes, von der Rechtsgemeinschaft allgemein akzeptiertes Rechtssystem entwickelt sich nur auf der Grundlage sachgerechter Wertungen, das sind Wertungen, die zum einen den rechtsethischen Konsens der Rechtsgemeinschaft zum Ausdruck bringen und zum anderen der Sachlogik des Regelungsgegenstands gerecht werden, daher sachbezogen oder sachangemessen sind6. Angesichts des ökonomischen Regelungsgegenstands der Besteuerung ist die ökonomische Rationalität ein bedeutender Faktor der Sachgerechtigkeit. Ökonomisch unvernünftige Besteuerungsformen sind meist auch ungerechte und umgekehrt (s. Rz. 59 ff.). Demnach sollten sich juristische Wertungen den z.T. „wertfrei“ (s. § 1 Rz. 45, 46) gewonnenen Erkenntnissen der ökonomischen Wissenschaften nicht verschließen, sondern ökonomische Wirkungsmechanismen und natürliche Verhaltensweisen des homo oeconomicus einkalkulieren. Dies erklärt die eminente Bedeutung der interdisziplinären Kooperation der Steuerwissenschaften (s. § 1 Rz. 13 ff.) für die Erkenntnis ökonomischer Rationalität des Steuerrechts.
2.1 Prinzipien als Träger des inhaltlichen oder inneren Systems 11
Das inhaltliche oder innere System der Rechtsordnung wird getragen von den Prinzipien als ordnungsstiftende Grundwertungen; sie sind richtunggebende Maßstäbe, die durch den rechtsethischen Konsens rechtliche Entscheidungen zu rechtfertigen vermögen7. Derartige Rechtsprinzipien oder Rechtsgrundsätze, auch bezeichnet als (allgemeine) Rechtsgedanken oder Ausprägungen der Rechtsidee, bedürfen durchweg der Konkretisierung; sie bestimmen keine Rechtsfolgen; dadurch unterscheiden sie sich von den Einzelwertungen und Rechtssätzen (Normen, Regeln)8. Die Einzelwertung liegt dem Rechtssatz zugrunde, der die Rechtsfolge anordnet. 1 Ähnlich Wagner, DStR 2014, 1133 (1140). 2 Umfassend dazu Larenz, Methodenlehre, 119 ff.; 125 ff.; 474 ff.; auch § 5 Rz. 49. 3 Grundl. für das Steuerrecht Tipke, dessen Lebenswerk auf die Erforschung des inneren steuerrechtlichen Systems angelegt ist (s. J. Lang, StuW 2001, 78 [80 ff.]). S. zuletzt Tipke, StRO I2, 67 ff. (Das inhaltliche, materiale oder innere System als Prinzipienhierarchie). 4 Grundl. Canaris, Systemdenken, 40 ff. 5 Dazu P. Kirchhof, StuW 2000, 316; Sodan, JZ 1999, 864; Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, Diss., 2007. 6 Grundl. für das Steuerrecht Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis. Vom politischen Schlagwort zum Rechtsbegriff und zur praktischen Anwendung, 1981, sowie vertiefend Tipke, StRO I2, 273 ff. 7 Larenz, Richtiges Recht, Grundzüge einer Rechtsethik, 1979, 23 ff.; Larenz, Methodenlehre, 474. Eindringlich für das Steuerrecht Birk, FS Schaumburg, 2009, 3; Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, Habil., 2008, 9–69; Mössner, FS J. Lang, 2010, 83. 8 Dazu ausf. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 71 ff. (Regeln und Prinzipien); Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts3, 1974, 39 ff., 141 ff.; Larenz, Methodenlehre, 474 ff.; Reimer, Verfassungsprinzipien, Ein Normtyp im Grundgesetz, Diss., 2001; Progl, Der Prinzipienbegriff, Diss., 2002; Bergmann Ávila, Theorie der Rechtsprinzipien, 2006; Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, Habil., 2008, 7–69 (Zur Lehre von den Rechtsprinzipien); Heinold, Die Prinzipientheorie bei Ronald Dworkin und Robert Alexy, Diss., 2011.
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Rz. 15
§3
Während Regeln oder Normen die ihnen zu Grunde liegenden Einzelwertungen entweder erfüllen oder nicht erfüllen, anwendbar oder nicht anwendbar sind, gebieten Rechtsprinzipien als Richtwerte die optimale Verwirklichung des ihnen immanenten rechtsethischen Konsenses; sie sind Optimierungsgebote. Rechtsprinzipien sind folglich auch dadurch charakterisiert, dass sie in unterschiedlichen Graden erfüllt werden können1, weil die Ordnung des Rechts nicht prinzipienmonistisch, sondern -pluralistisch zusammengefügt ist. Deshalb können die verschiedenen Rechtsprinzipien in einer Regel zusammenwirken, sich ergänzen oder einander widersprechen2. Rechtsprinzipien haben entweder einen konstruktiven Inhalt (z.B. Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit) oder einen prohibitiven Inhalt (z.B. verfassungsrechtliche Schranken der Besteuerung); dabei wirken häufig konstruktive und prohibitive Prinzipien zusammen (z.B. Verbot einer übermäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit).
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Rechtsprinzipien haben unterschiedlichen Rang und unterschiedliche Wirkkraft. Das inhaltliche oder innere System der Steuerrechtsordnung wird durch folgende Hierarchie von Prinzipien bestimmt:
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System des Steuerrechts
a) Systemtragende Prinzipien des Steuerrechts sind Rechtsprinzipien, die das steuerrechtliche System im Ganzen tragen. Sie enthalten rechtsethische Wertungen, deren Gültigkeit unabhängig von der konkreten gesetzlichen Ausgestaltung ist. Es handelt sich um Prinzipien, die der Rechtsstaat verbürgt, um die Prinzipien formaler und materialer Rechtsstaatlichkeit3. Diese Prinzipien sind zunächst die verfassungsrechtlichen Prinzipien, das sind im Grundgesetz normierte Prinzipien wie der Gleichheitsgrundsatz, das Legalitätsprinzip, das Übermaßverbot oder das Sozialstaatsprinzip. Diese verfassungsrechtlichen Prinzipien werden sodann steuerspezifisch konkretisiert durch das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Das Leistungsfähigkeitsprinzip wird in erster Linie als Vergleichsmaßstab des Gleichheitssatzes entfaltet (Rz. 40 ff.). Es wirkt aber auch mit anderen verfassungsrechtlichen Prinzipien zusammen, etwa mit dem Übermaßverbot (s. Rz. 180 ff.), dem Verbot der Benachteiligung von Ehe und Familie (s. Rz. 162 ff.) und dem Sozialstaatsprinzip (s. Rz. 210 ff.). Wenngleich das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht ausdrücklich in der Verfassung normiert ist (s. § 2 Rz. 8), so erhält es verfassungsrechtliche Verbindlichkeit und Wirkkraft durch die Anwendung des Gleichheitssatzes und anderer steuerrelevanter Verfassungsnormen. I.Erg. ist also festzustellen, dass systemtragende Prinzipien des Steuerrechts verfassungskräftige Prinzipien sind. Sie sind aus der Wertordnung des Grundgesetzes abgeleitet; diese Wertordnung prägt die Ordnung des Steuerrechts als öffentliches Recht. b) Verfassungskräftige Subprinzipien: Die systemtragenden Prinzipien des Steuerrechts werden durch steuerrechtliche Subprinzipien konkretisiert, die nur für einzelne Normgruppen des Steuerrechts gelten. Auch sie haben (mit eingeschränkter Intensität) verfassungsrechtliche Wirkkraft, weil sie Wertungen der Verfassung konkretisieren (Beispiele zur Einkommensteuer: Universalitätsprinzip, Totalitätsprinzip, Prinzip der Individualbesteuerung, objektives/subjektives Nettoprinzip). Sie unterliegen damit nicht der freien Gestaltungsmacht des Gesetzgebers.
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c) Einfachgesetzliche Prinzipien schließlich detaillieren das inhaltliche oder innere System des Steuerrechts, ohne dass dies so verfassungsrechtlich geboten wäre. Keine verfassungsrechtliche Verbindlichkeit genießen z.B. das Markteinkommensprinzip (verfassungsrechtlich zulässig wäre auch eine Einkommensteuer auf den gesamten Reinvermögenszugang einschließlich Schenkungen und Erbschaften), das Nominalwertprinzip (dem Leistungsfähigkeitsprinzip entspräche besser ein Realwertprinzip) oder Bilanzierungsprinzipien. Einfachgesetzliche Prinzipien
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1 So die Unterscheidung von Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 75 f., der allgemein zugestimmt wird (s. Larenz, Methodenlehre, 475, m.w.N.; Drüen, DStJG 37 [2014], 9, [43 f]); ob verfassungsrechtlich eine Optimierungspflicht des Gesetzgebers besteht, ist unter Staatsrechtlern jedoch stark umstritten; abl. mit Überblick über den Meinungsstand Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, Habil., 2014, 274 ff. 2 Dazu grundl. Canaris, Systemdenken, 112 ff. 3 Grundl. Tipke, StRO I2, 103 ff. (Grundrechtlich-rechtsstaatliche Prinzipien des Steuerrechts), 256 ff. (Gerechtigkeit durch systemtragende Prinzipien). S. auch J. Lang, Über das Ethische der Steuertheorie von Klaus Tipke, FS Tipke, 1995, 12 ff.
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§3
Rz. 16
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
haben vor allem Bedeutung für die rechtsdogmatisch folgerichtige Weiterentwicklung von Teilgebieten des Steuerrechts; über das Folgerichtigkeitsgebot können sie auch verfassungsrechtliche Bindungen erzeugen (dazu Rz. 118 ff.). 16
Die Konkretisierungsbedürftigkeit der Rechtsprinzipien hängt von ihrer Stellung in der Prinzipienhierarchie ab. Hochrangige Prinzipien wie das Leistungsfähigkeitsprinzip sind ihrem Rang entsprechend abstrakt und daher vieldeutig. Für die rechtsethische Überzeugungskraft, für die Transparenz und Planbarkeit des Steuerrechts kommt es darauf an, auf welche Weise der Konkretisierungsspielraum ausgefüllt wird, ob die Schritte der Konkretisierung auf den verschiedenen Stufen der Prinzipienhierarchie folgerichtig, systemkonsequent vollzogen und Systembrüche in Gestalt unbegründeter Prinzipienverletzungen vermieden werden.
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Nach der Art der Prinzipienqualität lassen sich unterscheiden: (1) Normierte und normkonzipierende Prinzipien. – Normierte Prinzipien sind unmittelbar in einem Rechtssatz niedergelegt. Sie finden sich vor allem im Grundgesetz (z.B. Sozialstaatsprinzip, Gleichheitssatz [besser: Gleichheitsgrundsatz], Rechtsstaatsprinzip), in allgemeinen Gesetzen und im Allgemeinen Teil eines Gesetzes. – Bloß normkonzipierende Prinzipien liegen den gesetzlichen Regelungen als sinnstiftende Wertung, Regel, Motivation, Leitidee oder Zweckgedanke zugrunde (ohne normiert, positiviert zu sein). Das Gesetz selbst nennt die normkonzipierenden Prinzipien nicht ausdrücklich, es ist aber Inkarnation oder Ausfluss solcher Prinzipien. Die normkonzipierenden Prinzipien sind nicht selbst Normen, sie wirken durch die Normen, werden durch diese – das Prinzip konkretisierend – in das Normative umgesetzt (Beispiele: Leistungsfähigkeitsprinzip, Markteinkommensprinzip, Nettoprinzip, Grundsatz von Treu und Glauben, Bilanzierungsprinzipien).
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(2) Wertende und technische Prinzipien, oder mit anderen Worten: Prinzipien der Gerechtigkeit (z.B. Leistungsfähigkeitsprinzip) und Prinzipien der Zweckmäßigkeit. Prinzipien bloßer Zweckmäßigkeit sind z.B. das Stichtagsprinzip und das Jahresabschnitts- oder Annuitätsprinzip. Zweckmäßigkeitserwägungen sind Grundlage von Vereinfachungsvorschriften; sie entsprechen dem Prinzip der Verwaltungsrationalität und -praktikabilität (s. Rz. 23, 145 ff.). Vereinfachungsvorschriften können allerdings auch die Gleichmäßigkeit der Besteuerung positiv beeinflussen; Vorschriften, die wegen ihrer Kompliziertheit praktisch nicht richtig angewendet werden, beeinträchtigen die Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Technische Prinzipien haben nicht die gleiche Wertigkeit wie das (ethische) Leistungsfähigkeitsprinzip (s. Rz. 130). Der Gesetzgeber muss insoweit gleichmäßig zurückstecken, wenn die totale Durchführung des Leistungsfähigkeitsprinzips verwaltungstechnisch unmöglich oder mit unverhältnismäßigem Verwaltungsaufwand verbunden wäre.
2.2 Die steuergesetzlichen Normgruppen im System Literatur: Vogel, Die Abschichtung von Rechtsfolgen im Steuerrecht, StuW 1977, 97; Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, Habil., 1983, 67 ff., 153 ff., 194 ff., 232 ff.; McDaniel/Surrey, International Aspects of Tax Expenditures: A Comparative Study, 1985; HHR/ Hey, Einf. ESt Anm. 60–65 (2014); Tipke, StRO I2, 2000, 73 ff.
2.2.1 Drei Normgruppen 19
Bei der Aufdeckung der den Steuergesetzen zugrunde liegenden (normkonzipierenden) Prinzipien ist zunächst zu berücksichtigen, dass die in den Steuergesetzen enthaltenen Normen verschieden grundmotiviert, Ausfluss verschiedener Prinzipien sind. Das System ist also nicht monistisch, sondern pluralistisch oder multifunktional. Zu unterscheiden sind Fiskalzwecknormen, Sozialzwecknormen und Vereinfachungszwecknormen1. Mit einem Steuergesetz oder einer Norm kann allerdings auch ein Doppel- oder Mehrfachzweck verfolgt werden. 1 Grundl. hierzu Vogel, StuW 1977, 97.
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Rz. 21
§3
Die meisten Normen der Steuergesetze sind Fiskalzwecknormen (Finanz- oder Ertragszwecknormen). Sie dienen dazu, den notwendigen Finanzbedarf der öffentlichen Haushalte zu decken (Primärfunktion). Sie treffen konkrete Steuerwürdigkeitsentscheidungen nach Kriterien austeilender (besser: zuteilender) Gerechtigkeit (deshalb auch als Lastenausteilungsnormen bezeichnet), wobei selbstredend die Grundrechte zu berücksichtigen sind. Die Fiskalzwecknormen orientieren sich überwiegend am Leistungsfähigkeitsprinzip (s. Rz. 40 ff.), jedoch auch am Äquivalenzprinzip (s. Rz. 44; Gewerbesteuer: § 12 Rz. 1; Grundsteuer: § 16 Rz. 2). Fiskalzwecknormen können Steuerbefreiungen sein, die den Steuertatbestand auf die Steuerwürdigkeitsentscheidung zuschneiden1. So gibt es Fiskalzweckbefreiungen zur Abgrenzung des Steuerobjekts (s. § 8 Rz. 138; § 17 Rz. 222) und zur Vermeidung steuerlicher Mehrfachbelastungen, international (s. § 17 Rz. 226 ff.; § 8 Rz. 138) und national, z.B. im Verhältnis der Umsatzsteuer zu besonderen Verkehrsteuern (s. § 4 Nr. 9 Buchst. a und b UStG; § 14 Rz. 226 ff.) und Steuerermäßigungen zur Kompensation steuerlicher Zusatzbelastungen (s. § 35 EStG; § 8 Rz. 811 ff.), zur Vermeidung einer Übermaßbesteuerung oder zur Sicherung des Steueraufkommens im internationalen Steuerwettbewerb (s. § 7 Rz. 78 u. 88). Fiskalzwecknormen, die das Leistungsfähigkeitsprinzip ausführen, enthalten keine Steuervergünstigung, auch dann nicht, wenn Ausgaben, die die Leistungsfähigkeit mindern, zum Abzug von der Bemessungsgrundlage zugelassen werden. Dies schließt nicht aus, dass auch Fiskalzwecknormen soziale Auswirkungen (Gestaltungswirkungen) haben; diese sind jedoch Folge, nicht Zweck der Normen. So haben z.B. die Fiskalzwecknormen des Einkommen- und Umsatzsteuerrechts nicht den Zweck, die wirtschaftliche Tätigkeit, die Investition, das Sparen oder das Konsumieren zu behindern, auch wenn sie unzweifelhaft die Entscheidung zwischen Arbeit/Freizeit oder Sparen/Konsum beeinflussen.
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System des Steuerrechts
a) Fiskalzwecknormen
Eine verfassungswidrige Fiskalzwecknorm kann nicht als Sozialzwecknorm (s. Rz. 21) aufrechterhalten werden; dies schon deshalb nicht, weil Lenkung oder Intervention immer etwas Bezwecktes, Finales ist2.
b) Sozialzwecknormen Die Steuergesetze sind nicht unerheblich durchsetzt mit Sozialzwecknormen (i.w.S.). Das sind Normen, die sozialpolitisch (insb. wohlstandskorrigierend oder redistributiv), wirtschaftspolitisch, kulturpolitisch, gesundheitspolitisch, berufspolitisch etc., folglich nicht oder nicht überwiegend fiskalisch motiviert sind. Sie treffen keine Steuerwürdigkeitsentscheidungen. Sie können Steuerentlastungen durch Steuervergünstigungen (s. § 19), aber auch zusätzliche Steuerbelastungen (z.B. durch Steuerabzugsbeschränkungen) oder Sondersteuern schaffen. Wer sich „sozial erwünscht“ verhält, wird steuerlich entlastet, wer sich „sozial unerwünscht“ verhält, wird steuerlich sonderbelastet. Da es nicht nur Sozialzwecksteuern (wie Alkoholsteuern, Tabaksteuer, Hundesteuer), sondern viele in Steuergesetze eingestreute Einzel-Sozialzwecknormen gibt, machen die Sozialzwecknormen das Steuerrecht unübersichtlich und schwer verständlich, zumal sie nicht nach dem Normzweck zusammengefasst und geordnet, sondern dort platziert sind, wohin sie bloß technisch gehören (Beispiele: §§ 10b; 34g EStG). Zu unterscheiden sind: – Lenkungsnormen3: Sie wollen durch gezielte Steuerentlastung oder -belastung ein bestimmtes Gemeinwohlverhalten des Stpfl. stimulieren. Lenkungsnormen sind daher gemeinwohlbezogen nach dem Gemeinwohl- und Verdienstprinzip zu rechtfertigen (s. Rz. 135). Eine 1 Zu diesen aptiven Steuervergünstigungen J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, 1974, 118 ff. 2 S. HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 447 (2009) zur Umdeutung von Vereinfachungszwecknormen in Lenkungszwecknormen. 3 Dazu umfassend die Habil. von Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005.
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21
§3
Rz. 22
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
Umdeutung von Fiskalzwecknormen in Lenkungsnormen ist schon deshalb nicht möglich, weil das BVerfG verlangt, dass „der Lenkungszweck mit hinreichender Bestimmtheit tatbestandlich vorgezeichnet“ sein müsse1. Die Norm muss von einer – entweder anhand des Gesetzestextes oder der Gesetzesmaterialien – erkennbaren gesetzlichen Entscheidung getragen sein2. Ist ein Förder- oder Lenkungszweck im Gesetzgebungsverfahren nicht zum Ausdruck gekommen, darf ein solcher zur Rechtfertigung nicht unterstellt werden. Das Gericht statuiert damit für Sozialzwecknormen einen Begründungszwang3. Die Lenkungsnorm darf also nicht unerkennbar in einer Fiskalzwecknorm, z.B. in einer zu niedrig bewertenden Norm oder einem Abzugsverbot versteckt sein. – Umverteilungsnormen: Sie bezwecken Wohlstandskorrektur im Interesse eines sozialen Ausgleichs. Wohlstandsmehrende Steuervergünstigungen sind nach dem Bedürfnisprinzip zu rechtfertigen (Rz. 134). I.Ü. dient das Sozialstaatsprinzip der Rechtfertigung von Umverteilungsnormen (s. Rz. 212 ff.). 22
Materiell gehören die Sozialzwecknormen nicht zum Steuerrecht, sondern zum Wirtschaftsrecht, Sozialrecht oder zu anderen Bereichen4. Die Sozialzwecksteuern (z.B. Branntweinsteuer, Tabaksteuer, Hundesteuer) haben im Allgemeinen neben dem Sozialzweck – sekundär – auch einen Fiskalzweck. Steuerentlastende Sozialzwecknormen bewirken Steuervergünstigungen (s. § 19); sie werden auch als Steuersubventionen, Steuervorteile oder Steuerprivilegien bezeichnet. Von Steuersubventionen i.e.S. lassen sich Zulagen unterscheiden (z.B. Investitionszulage, Altersvorsorgezulage gem. § 83 EStG). Ist eine steuerentlastende Sozialzwecknorm nicht gerechtfertigt (hierzu i.E. § 19 Rz. 70 ff.), so liegt eine Privilegierung (und damit ein Steuergeschenk), ist eine steuer-(sonder-)belastende Sozialzwecknorm nicht gerechtfertigt, so liegt eine Diskriminierung vor. Noch nicht ausdiskutiert ist, ob nicht gerechtfertigte Sozialzwecknormen als Fiskalzwecknormen aufrechterhalten werden können, wenn sie objektiv dem Leistungsfähigkeitsprinzip entsprechen5.
c) Vereinfachungszwecknormen6 23
Sie sollen aus technisch-ökonomischen Gründen die Steuerrechtsanwendung erleichtern, vereinfachen, praktikabler oder ökonomischer gestalten; sie sollen Überkompliziertheit und Undurchführbarkeit des Gesetzes vermeiden, etwa durch Typisierungen, Pauschalierungen, Vereinfachungsfreibeträge und -grenzen. Derartige Normen bewirken Ungleichbehandlung und bedürfen daher der Rechtfertigung in einem System gleichmäßiger Austeilung der Steuerlasten (s. Rz. 145 ff.).
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Es wäre indessen verfehlt, das Ziel einfacher Steuerrechtsanwendung lediglich mit einer Vergröberung der Besteuerung verwirklichen zu wollen. Einfache Rechtsanwendung gewährleisten in erster Linie klar und bestimmt verfasste Steuergesetze, die möglichst wenig Streit und verkomplizierende Rspr. verursachen7. Der Gesetzgeber hat die Akzeptanz der Besteuerung durch folgerichtige und widerspruchsfreie Verwirklichung von Prinzipien herzustellen und daher solche Differenzierungen zu unterlassen, die das innere System des Steuerrechts stören8. Das bedeutet allerdings nicht, dass die 1 BVerfGE 93, 121 (148). 2 BVerfGE 122, 210 (238). 3 Breinersdorfer, DStR 2010, 2492 (2495); krit. zur Aufwertung gesetzgeberischer Begründungserfordernisse Schwarz/Bravidor, JZ 2011, 653 ff. 4 Dazu Tipke, StRO I2, 77 ff. m.w.N. Zu den gleichwohl bestehenden legitimatorischen Unterschieden Schön, FS Spindler, 2011, 189. 5 Bejahend Wernsmann in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, 161 (170); Vogel, StuW 1977, 97 (110). 6 Lit. zu den Vereinfachungszwecknormen s. vor Rz. 145. 7 Dazu Wolff-Diepenbrock, FS Offerhaus, 1999, 299. 8 Dazu Jachmann, StuW 1998, 193; P. Kirchhof, DStJG 24 (2001), 9 (20 ff.): Gestaltungsprinzipien der Einfachheit und Widerspruchsfreiheit. Zur Devise „Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung“ s. Rz. 146.
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System des Steuerrechts
Rz. 27
§3
Materie des Steuerrechts mit wenigen Generalklauseln bewältigt werden kann. Die für Laien leichte Lesbarkeit einer Generalklausel verdeckt häufig ihre hohe Streitanfälligkeit1.
2.2.2 Relevanz der richtigen Einordnung 25
Die Einordnung der Normen in die richtige Gruppe (s. Rz. 19 ff.) ist relevant – für die Rechtsanwendung: die teleologische Auslegung oder Auslegung auf Grund von Prinzipien setzt die Kenntnis des Normzwecks voraus (s. § 5 Rz. 49 ff.); – für die Bewertung der einzelnen Norm unter dem Gesichtspunkt der individuell gerechten Verteilung von Lasten und Vorteilen, insb. unter dem Aspekt des Gleichheitssatzes (s. Rz. 40, 43); für Fiskalzwecknormen gelten andere Prinzipien der Sachgerechtigkeit als für Sozialzwecknormen (s. Rz. 131 ff.); – für die Reichweite des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums, wenn es um die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage geht; Steuervergünstigungen kann der Steuergesetzgeber streichen, nicht hingegen steuerentlastende Fiskalzwecknormen wie Abzugstatbestände für Erwerbsaufwendungen; – für die Beweislast der tatsächlichen Voraussetzungen, die bei Steuervergünstigungen denjenigen trifft, der die Vergünstigung geltend macht (s. dazu § 22 Rz. 191); – für die Anwendung des § 40 AO; diese Vorschrift gilt nur für Fiskalzwecknormen (s. § 5 Rz. 109); ob § 41 I AO auf Steuervergünstigungen angewendet werden kann, ist zweifelhaft; – für die Erkenntnis wirtschaftlicher Effekte; – für Sozialgesetze, die an den Einkommensbegriff des Einkommensteuergesetzes anknüpfen.
3. Die Effizienz des Systemgedankens Ein systematisiertes Steuerrecht ist keine Frage bloßer juristischer Ästhetik. Es hat gegenüber einem nichtsystematisierten Steuerrecht auch nicht nur den Vorteil größerer Stimmigkeit, Übersichtlichkeit, Klarheit, Durchsichtigkeit, Verständlichkeit, Praktikabilität, Lehr- und Lernbarkeit, Prüfbarkeit und Übersetzbarkeit. Fehlt das innere System, die rechtsethische Prinzipienordnung, so ist das Steuerrecht keine Gerechtigkeitsordnung; es herrscht Willkür. Systematisches Denken, eine systematische Konzeption ist daher unentbehrliche Voraussetzung für gute Steuergesetzgebung.
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Darüber hinaus ist die Methode der Rechtsanwendung systemabhängig. Insb. verhilft das innere System mit seinen Prinzipien dazu,
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(1) die teleologischen Orientierungsmaßstäbe zu gewinnen, die für die Gesetzesauslegung erforderlich sind; denn das innere System ist eine teleologische Prinzipienordnung. Im Wege und in den Grenzen (möglicher Wortsinn!) der Auslegung ist der im System und seinen Prinzipien wurzelnde Wert- oder Zweckgedanke zur Geltung zu bringen. Auslegung als Ermittlung des Sinns einer Norm ist die Ermittlung des wertungsmäßigen Gehalts oder des technischen Zwecks der Norm. Erst bei Berücksichtigung der Grund- und Einzelwertungen oder Zwecke erschließt sich der teleologische Gehalt von Rechtsvorschriften. Eine Auslegung, die das innere System nicht berücksichtigt, entartet leicht zum freischwebenden methodischen Vagabundieren (Gefühlsjurisprudenz; im Steuerrecht oft unter dem Deckmantel sog. „wirtschaftlicher Betrachtungsweise“) oder sie erweist sich als blinde Begriffsjurisprudenz (s. § 5 Rz. 48); damit ist nichts gegen die „wirtschaftliche Betrachtungsweise“ bei der Auslegung gesagt. Richtig verstanden ist diese wirtschaftliche Betrachtungsweise nichts weiter als der Reflex des Prinzips der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und damit teleologische Auslegung; (2) Gesetzeslücken aufzudecken und auszufüllen. Sie kommen dadurch zustande, dass der Gesetzgeber von bestimmten Prinzipien oder Wertungen ausgeht, das Prinzip aber bei der 1 Vgl. dazu Kölner EStGE, Begr. Rz. 106 ff.
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§3
Rz. 28
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
Umsetzung in gesetzliche Tatbestände nicht konsequent zu Ende führt. Das Prinzip dient dann als Maßstab für die Lückenfeststellung und -ausfüllung durch Analogie u.a. Argumente juristischer Logik (s. § 5 Rz. 74 ff.); (3) Verstöße gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) aufzudecken. Dadurch erweist sich der Systemgedanke als eine dynamische Kraft. Der Gleichheitssatz verlangt eine folgerichtige, durchgängige Anwendung der gesetzgeberischen Wertungen. Eine unterschiedliche Wertung gleicher Sachverhalte verletzt den Gleichheitssatz. Allerdings ist ein Systembruch (Verstoß gegen den Gleichheitssatz) gerechtfertigt, wenn sachliche Gründe für eine Wertungsdifferenzierung vorliegen (insb. in Fällen von wertungsmäßig atypisch liegenden Tatbeständen); (4) das Ermessen entsprechend § 5 AO auszuüben. 28–39
Einstweilen frei.
B. Das Leistungsfähigkeitsprinzip als allgemein anerkanntes Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung I. Das Leistungsfähigkeitsprinzip als systemtragender Vergleichsmaßstab für Fiskalzwecknormen Literatur: Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, Ein Beitrag zu den Grundfragen des Verhältnisses Steuerrecht und Verfassungsrecht, Habil., 1983; P. Kirchhof, Der verfassungsrechtliche Auftrag zur Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, StuW 1985, 319; J. Lang (Hrsg.), FS Tipke, 1995, mit Beiträgen von Schaumburg, 125 (internationales Steuerrecht), Lehner, 237 (wirtschaftliche Betrachtungsweise), Söhn, 343 (Markteinkommenstheorie), Taboada, 583 (Spanien) und Klett, 599 (Schweiz); Jachmann, Leistungsfähigkeitsprinzip und Umverteilung, StuW 1998, 293; Herrera Molina, Capacidad Económica y Sistema Fiscal, 1998 (dazu Ehmcke, StuW 1999, 89); Moschetti/Bozza-Bodden, Die Interpretation des Leistungsfähigkeitsprinzips gem. Art. 53 I der ital. Verfassung, StuW 1999, 78; Senn, Die verfassungsrechtliche Verankerung von anerkannten Besteuerungsgrundsätzen unter besonderer Berücksichtigung des Leistungsfähigkeitsprinzips, Diss., Zürich 1999, 149–195; Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip in der Unternehmenssteuerreform, StuW 2000, 328; P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, 17 ff.; 14. ÖJT (2000): Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, Dogmatische Grundfragen – Rechtspolitischer Stellenwert, Gutachten von Gassner/M. Lang, Bd. III/1, 2000 (gegen das Gutachten Beiser, Das Leistungsfähigkeitsprinzip – Irrweg oder Richtschnur?, ÖStZ 2000, 413; Replik von Gassner/ M. Lang, Die mangelnde Leistungsfähigkeit des Leistungsfähigkeitsprinzips, ÖStZ 2000, 643); Tipke, StRO I2, 2000, 479 ff.; J. Lang, Konkretisierungen und Restriktionen des Leistungsfähigkeitsprinzips, in FS Kruse, 2001, 313; Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, 161 ff.; Ahlheim/ Wenzel/Wiegard (Hrsg.), FS M. Rose, 2003: Petersen, Werte, Prinzipien und Gerechtigkeit: Zu einem dynamischen Verständnis von Leistungsfähigkeit, 59; Windisch/Blankenburg, Globalisierung und Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, 211; Windisch, Globalisierung und Besteuerung. Krise der Leistungsfähigkeit?, 2004; Beiser, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Licht des Gemeinschaftsrechtes, StuW 2005, 295; Schön, Die zivilrechtlichen Voraussetzungen steuerlicher Leistungsfähigkeit, StuW 2005, 247; FS für den italienischen Verfassungsgerichtshof (50 anni Corte costitutionale), 2006: Beiträge zum Leistungsfähigkeitsprinzip von Fedeke, Moschetti, Boria, Stevanato; Tipke/Seer/Hey/Englisch (Hrsg.), FS J. Lang, 2010: P. Kirchhof, Leistungsfähigkeit und Erwerbseinkommen, 451, und Taboada, Leistungsfähigkeitsprinzip, Gleichheitssatz und Eigentumsgarantie, 263; Birk, § 147: Leistungsfähigkeitsprinzip, in Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013.
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Tradiertes Fundamentalprinzip der Steuergerechtigkeit und demzufolge oberster Vergleichsmaßstab gerechter Verteilung steuerlicher Lasten ist das Leistungsfähigkeitsprinzip. Die Entwicklung des Leistungsfähigkeitsprinzips1 zu einem fundamentalen Maßstab steuerlicher Lastengleichheit seit Thomas von Aquin hielt 1776 Adam Smith in seiner ersten Steuermaxime der 1 Hierzu insb. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, Habil., 1983, 6 ff.; Pohmer/Jurke, FinArch. 42 (1984), 445; Hahn, StuW 2004, 167.
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Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung
Rz. 41
§3
Steuergleichheit („equality of taxation“) fest1. Sodann war wegweisend für viele Verfassungen2 in Art. 13 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte v. 3.11.1789 niedergelegt: „Für die Unterhaltung der Streitmacht und für die Kosten der Verwaltung ist ein gemeinschaftlicher Beitrag unerlässlich; dieser soll unter allen Bürgern des Staates im Verhältnis zu ihren Vermögensverhältnissen3 auf gleiche Weise verteilt werden.“ Art. 134 der Weimarer Reichsverfassung v. 11.8.1919 lautete: „Alle Bürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze bei“4. Das Grundgesetz enthält keine dem Art. 134 WRV entsprechende Spezialnorm, so dass das Gebot gleichmäßiger Besteuerung aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abgeleitet wird.
Das Leistungsfähigkeitsprinzip wird weltweit und in allen steuerwissenschaftlichen Disziplinen als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung anerkannt5. Gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip wird allerdings eingewendet, es sei zu vieldeutig, um aus ihm konkrete Schlüsse ziehen zu können6. Diese Auffassung verkennt Charakter und Rang des Leistungsfähigkeitsprinzips: Es prägt das Steuerrecht ebenso wie der Grundsatz der Privatautonomie das Zivilrecht prägt. Mit dieser rechtsgebietsprägenden Funktion fungiert das Leistungsfähigkeitsprinzip als Primärgrundsatz des Steuerrechts; dieser leitet ein inneres System von Rechtsprinzipien, die das Leistungsfähigkeitsprinzip konkretisieren und dadurch eine dogmatisch verifizierbare Ordnung des Steuerrechts substantiieren7. Aus dem Rang eines in der Prinzipienhierarchie obersten Rechtsgrundsatzes folgt seine Konkretisierungsbedürftigkeit: Durch Subprinzipien, Legislativakte, Judikatur und wissenschaftliche Dogmatik wird das Leistungsfähigkeitsprinzip bis hin zur einzelnen Steuerfolge verwirklicht oder auch (z.B. gegenüber Sozialzwecknormen) zurückgenommen. Auch der Grundsatz der Privatautonomie wird u.a. durch das Bedürfnis nach dem Schutz des schwächeren Vertragspartners eingeschränkt. Kein Zivilrechtler würde die Konkretisierungs-, auch Restriktionsbedürftigkeit zum Anlass nehmen, die Privatautonomie als systemtragendes Prinzip des Zivilrechts zu bestreiten. Nicht anders verhält es sich mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip: Es liefert den rechtsethisch klugen Richtwert8, der für die Ordnung des Steuerrechts nicht weniger benötigt wird als die Privatautonomie für die Ordnung des Zivilrechts. Zum Leistungsfähigkeitsprinzip gibt es keine Alternative eines besser geeigneten Primärgrundsatzes; es gibt lediglich die Alternative fundamentaler Prinzipienlosigkeit. 1 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, erstmals veröffentlicht 1776, dt. Ausgabe (hrsgg. v. Recktenwald): Der Wohlstand der Nationen5, 1990, 703: Die Bürger sollen Steuern im Verhältnis zu ihren Fähigkeiten („in proportion to their respective abilities“) zahlen, und zwar besonders im Verhältnis zum Einkommen, das sie unter dem Schutze des Staates genießen. Letzterer Hs. spricht auch, nicht nur, wie Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1991, 50, meint, das Äquivalenzprinzip an (s. Rz. 44). Zu den Steuermaximen von A. Smith s. § 7 Rz. 2. 2 S. Tipke, StRO I2, 488 ff. 3 „En raison de leurs facultés“ bezog sich nach dem historischen Sprachgebrauch nicht allgemein auf die Leistungsfähigkeit, sondern auf die Vermögensverhältnisse, vgl. BVerfGE 84, 239 (269). 4 Dazu Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen des Gesetzgebers, Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit – Gleichheit vor dem Gesetz, VJSchrStFR 1930, 441. Schon zuvor § 173 der Frankfurter Reichsverfassung s. Kempny, FR 2011, 1155. 5 Dazu Tipke, StRO I2, 479 ff. In den ökonomischen Steuerwissenschaften allerdings zunehmend durch Effizienz- und Neutralitätspostulate verdrängt, s. hierzu § 7 Rz. 7 ff. 6 So nach wie vor besonders prominent Gassner/M. Lang, Gutachten für den 14. ÖJT (2000); Gassner/ M. Lang, ÖStZ 2000, 643; sowie vereinzelt in der älteren Rspr. des BVerfG (so BVerfGE 43, 108 [120] unter Verweis auf die ältere finanzwissenschaftliche Lit. von Haller, Pohmer u. Schmidt); Littmann, FS Neumark, 1970, 113; Arndt, FS Mühl, 1981, 17 ff.; Arndt, NVwZ 1988, 787; Martens, KritV 1987, 39; Schmidt, JbFSt. 1995/1996, 31. 7 Dazu Tipke, StRO I2, 492 ff. (unbestimmtes, kein unbestimmbares Prinzip), sowie auch zur Dogmatik des Leistungsfähigkeitsprinzips Costede, FS Felix, 1989, 17; Beiser, ÖStZ 2000, 413 („tragfähiges Ordnungsprinzip, aus dem systemgerechte Lösungen abgeleitet werden können“); Birk, StuW 2000, 328; Werndl, Allgemeines Steuerrecht, 2000, Rz. 154 ff.; J. Lang, DStJG 24 (2001), 55 ff.; J. Lang, FS Kruse, 2001, 313; grds. a.A. Kruse, FS Friauf, 1996, 793; Gassner/M. Lang (2000), zit. vor Rz. 40 (Ergebnis: das Leistungsfähigkeitsprinzip sei für die Steuerrechtsdogmatik wertlos); Gassner/M. Lang, ÖStZ 2000, 643. 8 Dazu umfassend Tipke, StRO I2, 479 ff. (Auf der Suche nach einem sachgerechten Fundamentalprinzip sozial gerechter Besteuerung).
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§3
Rz. 42
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Im 19. Jahrhundert ist das Leistungsfähigkeitsprinzip als klassenkämpferisches Prinzip zur Rechtfertigung der Steuerprogression entwickelt worden. Wer dies zum Anlass nimmt, das Leistungsfähigkeitsprinzip abzuwerten1, übersieht, dass sich das Leistungsfähigkeitsprinzip von einem umverteilungspolitischen zu einem Rechtsprinzip entwickelt hat, das vornehmlich den grundrechtlichen Schutz des Stpfl. gegenüber dem Staat konkretisiert2. Es ist nicht nur Zugriffs-, sondern auch Schutzprinzip. Bei der juristischen Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips geht es nicht um Steuerprogression und Umverteilung3, um Schröpfung des Steuerzahlers, sondern um leistungsfähigkeitsgerechte Steuerarten und konsistent ausgeformte Indikatoren steuerlicher Leistungsfähigkeit, auch um die Schonung des Stpfl., soweit (wie im Falle des Existenzminimums) steuerlich belastbare Leistungsfähigkeit zu verneinen ist. Das Leistungsfähigkeitsprinzip fordert keinen progressiven Tarif4. Birk5 schlägt mit seiner Steuerwirkungslehre die Brücke zur ökonomischen Steuertheorie. Danach lässt sich das juristische Verständnis des Leistungsfähigkeitsprinzips in der Formel „Gleiche Besteuerung gleicher wirtschaftlicher Sachverhalte mit gleicher Belastungswirkung“ zusammenfassen. Auf diese Weise wird dem Effizienzpostulat, das Ökonomen heutzutage an die erste Stelle zu setzen pflegen, entsprochen (s. § 7 Rz. 4). Das Ideal einer entscheidungsneutralen Besteuerung6 ist mit den historischen Vorstellungen des Leistungsfähigkeitsprinzips als Rechtfertigung von Umverteilung sicher nicht zu vereinbaren. Es entspricht aber ziemlich exakt dem modernen rechtlichen Verständnis einer gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, das u.a. in der Rechtsformneutralität der Besteuerung seinen Niederschlag findet.
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Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist der fundamentale Vergleichsmaßstab für Fiskalzwecknormen (s. Rz. 20); für Sozialzwecknormen gelten Prinzipien, die geeignet sind, Abweichungen vom Leistungsfähigkeitsprinzip zu rechtfertigen. Das Leistungsfähigkeitsprinzip gilt für alle Steuern, auch für die indirekten Steuern auf den Konsum7. Allerdings belasten indirekte Steuern wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht zielgenau. Die Indikation wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit wird in der Einkommensverwendung unterstellt, typisiert oder vermutet8. Indirekte Steuern belasten auch das Existenzminimum9.
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Das Leistungsfähigkeitsprinzip wird komplementär ergänzt durch das finanzwissenschaftlich fundierte Äquivalenzprinzip10. Dieses Prinzip hat sich aus den Assekuranztheorien des 17.
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
1 Schmidt, Die Steuerprogression, Habil., 1960, 41 ff.; Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1991, 52 f.; Leisner, StuW 1983, 97; Leisner, Demokratie: Betrachtungen zur Entwicklung einer gefährdeten Staatsform, 1998, 341 ff., 348 ff. 2 Das Leistungsfähigkeitsprinzip kann auch freiheitsrechtlich verstanden werden. Dazu Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, Habil., 1983, 123 ff., 179 ff., 202 ff.; P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, 17 ff.; Liesenfeld, Das steuerfreie Existenzminimum und der progressive Tarif als Bausteine eines freiheitlichen Verständnisses des Leistungsfähigkeitsprinzips, Diss., 2005. 3 Dazu Jachmann, StuW 1998, 293. 4 S. auch BVerfGE 115, 97 (117). 5 Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, Habil., 1983, 76 ff., 153 ff. Vgl. auch Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, 2003, 55 ff. (Leistungsfähigkeitsprinzip im Kontext von Ökonomie und Verfassungsrecht). 6 Zum Verhältnis von steuerrechtswissenschaftlichem Leistungsfähigkeitsverständnis und ökonomischen Neutralitätspostulaten Elschen, StuW 1991, 99; F.W. Wagner, StuW 1992, 2. 7 Dazu Tipke, StRO II2, 979 ff.; Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, Habil., 2008, 563 ff. 8 Insb. P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, 25 (die indirekte Besteuerung könne „allenfalls im Typus des Besteuerungsgutes eine vermutete, nicht aber individuelle Leistungsfähigkeit“ erfassen); P. Kirchhof, DStR 2008, 1 (3); P. Kirchhof, Umsatzsteuergesetzbuch, 2008, 20 (typisierend zum Ausdruck kommende Leistungsfähigkeit). 9 Zur Vergütung der das Existenzminimum belastenden USt J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, BMF-Schriftenreihe, Bd. 49, 1993, 101 (103); Tipke, StRO II2, 1003 ff.; Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, Habil., 2008, 600. Im Weiteren Schemmel, Entlastung lebensnotwendiger Ausgaben von der Mehrwertsteuer, 2009; Leipold, UR 2009, 584; Englisch, UR 2010, 400. 10 Dazu Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, Habil., 2001. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, Habil., 2004; Tipke, StRO I2, 476 ff.; HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 514 (2009); Hey, FS J. Lang, 2010, 133 ff.; J. Lang, StuW 2011, 144 (146 ff.); J. Lang, StuW 2013, 53 (58): Äquivalenzprinzip als Rechtfertigungsprinzip, nicht als Gerechtigkeitsprinzip.
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Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung
Rz. 46
§3
Jahrhunderts entwickelt, die Steuern als Prämien für staatlichen Schutz rechtfertigen1; demnach dient es in erster Linie der Rechtfertigung von Steuern dem Grunde nach2. Steuern sind allgemeines Äquivalent für die Leistungen des Staates. Über die weitergehende Bedeutung des Äquivalenzprinzips für das Steuerrecht wird gestritten. Nach dem juristischen Steuerbegriff sind Steuern Geldleistungen ohne staatliche Gegenleistung (§ 3 I AO). Damit ist einer irgendwie konkretisierbaren „Äquivalenz“ von Steuer und staatlicher Gegenleistung a priori der Boden entzogen. Steuern sind ungeeignet, die Kosten staatlich bereitgestellter Leistungen abzubilden, sondern können allenfalls den hieraus gezogenen Nutzen reflektieren3. Nur wenn man das Äquivalenzprinzip als Nutzenprinzip (benefit principle, principio de beneficio) versteht, lässt es sich auch für das Steuerrecht nutzbar machen. Die Rechtfertigung von Steuern nach dem Nutzenprinzip soll den Steuerzahler idealiter zum Gewinner machen, indem die Vorteilhaftigkeit der steuerfinanzierten Gemeinschaft die Steuerlast überwiegt. Im internationalen Steuerrecht wirkt das Nutzenprinzip seit jeher als Prinzip zwischenstaatlicher Verteilungsgerechtigkeit, und zwar in Gestalt des Quellen- oder Territorialitätsprinzips4, das der Aufteilung von Steuersubstrat auf mehrere Staaten dient und das Leistungsfähigkeitsprinzip einschränkt5. Das Nutzenprinzip ist ein Grundprinzip territorialer Zuordnung von Vermögen, Betriebstätten, Umsätzen etc. Der Staat soll den primären steuerlichen Zugriff erhalten, der die Erwirtschaftung der Steuerquelle durch Bereitstellung staatlicher Infrastruktur ermöglicht. Im Wettbewerb der Steuersysteme, der richtig verstanden ein Wettbewerb um das beste Preis-/Leistungsverhältnis zwischen Abgabenbelastung und staatlicher Infrastruktur ist (s. § 7 Rz. 71 f.) und die Staaten gleichzeitig dazu aufruft, Steuergestaltungen entgegenzuwirken, die eine Entkoppelung von territorialer Erwirtschaftung und Steuerzahlung bewirken, gewinnt das Nutzenprinzip erheblich an Bedeutung6.
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Traditionell werden auch die Gemeindesteuern, die durch eine räumlich enge Beziehung des Steuergläubigers zum Stpfl. charakterisiert sind7, mit dem Äquivalenzprinzip in Verbindung gebracht. Die Grundsteuer wird mit der Nutzung des Grundbesitzes8 gerechtfertigt. Das BVerfG hat das Äquivalenzprinzip darüber hinaus als gleichheitsrechtlichen Maßstab für die Rechtfertigung der Gewerbesteuer anerkannt9. Freilich werden hier auch die Grenzen des Äquivalenzprinzips deutlich: Es ist weder geeignet, die Sonderbelastung einer bestimmten Gruppe von Nutzern öffentlicher Infrastruktur noch eine bestimmte steuerliche Bemessungs-
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1 Dazu Mann, Steuerpolitische Ideale, 1937, 103 ff. Die erste Steuermaxime von A. Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (erstmals veröffentlicht 1776, dt. Ausgabe [hrsgg. v. Recktenwald]: Der Wohlstand der Nationen5, 1990, 703: Die Bürger sollen Steuern im Verhältnis zu ihren Fähigkeiten [„in proportion to their respective abilities“] zahlen, und zwar besonders im Verhältnis zum Einkommen, das sie unter dem Schutze des Staates genießen) bildet den historischen Übergang von einem assekuranztheoretisch fundierten Äquivalenzprinzip zum Leistungsfähigkeitsprinzip ab. 2 Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, Habil., 2001, 22, wirft der Rechtswissenschaft eine „ausgeprägte organische Staatsauffassung“ vor, „die die Steuererhebung nicht weiter hinterfragt. Als Steuerbegründungsnorm scheidet das Äquivalenzprinzip hier von vornherein aus, da für die Steuererhebung nach diesen Auffassungen nur das Leistungsfähigkeitsprinzip in Betracht kommt.“ Hingegen befasst sich Vogel, Rechtfertigung der Steuern: Eine vergessene Vorfrage, Der Staat 1986, 481, grundl. mit der äquivalenztheoretischen Rechtfertigung von Steuern. 3 Zum Unterschied zwischen Nutzen- und Kostenäquivalenz Hey, FS J. Lang, 2010, 137 f. 4 J. Lang, StuW 2011, 144 (147). Grundl. hierzu Vogel, DStJG 8 (1985), 3 (17 ff.: Prinzipien internationaler Gerechtigkeit), (23 f.: Abwägung der Opfer- und Nutzenargumente); Vogel, Worldwide vs. Source taxation of income, Intertax 1988, 216 (319 ff., 393 ff.). 5 Dazu Schaumburg, FS Tipke, 1995, 125; Schaumburg, StuW 2000, 369. 6 Dazu J. Lang, FS Schaumburg, 2009, 45. 7 Dazu Zitzelsberger, Grundlagen der Gewerbesteuer, Habil., 1990, 146 ff.; Hey, StuW 2002, 314. 8 S. § 16 Rz. 2 f. Bei der Umweltgrundsteuer (s. § 7 Rz. 123) tritt der Ausgleich umweltschädlicher Versiegelung als äquivalenztheoretische Rechtfertigung hinzu. 9 BVerfGE 120, 1, 39 f. Krit. zur äquivalenztheoretischen Rechtfertigung Tipke, StRO II2, 1139 ff.; Jachmann, DStJG 25 (2002), 195 (210 ff.).
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Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
grundlage zu legitimieren1. Als Nutzenprinzip verstanden führt das Äquivalenzprinzip zu gleichen Bemessungsgrundlagen wie das Leistungsfähigkeitsprinzip, weil einzige sinnvolle Maßeinheit des gezogenen Nutzens der mittels staatlicher Infrastruktur erwirtschaftete Gewinn ist. So kann das Äquivalenzprinzip auch im Zusammenhang mit der Gewerbesteuer in erster Linie nur die Zuordnung und Abgrenzung des Steuersubstrats zwischen den Kommunen leisten. 47
Auch (spezielle) Verbrauchsteuern werden z.T. nutzentheoretisch gerechtfertigt2. Je spezieller die indirekte Konsumsteuer belastet, desto deutlicher wird ihr nutzentheoretischer Gehalt: Die Energiesteuer kann wie eine Straßennutzungsgebühr gerechtfertigt werden. Umweltbezogene Steuern sind der Preis für die Nutzung von Umweltgütern und gesundheitsbezogene Steuern dienen der Abgeltung zusätzlicher Kosten, die Raucher und Trinker dem öffentlichen Gesundheitswesen aufbürden. Freilich darf dies nicht zu einer Wiederbelebung des überkommenen Akzisenwesens führen, das durch ein Konglomerat spezieller Verbrauchsteuern mehr oder weniger willkürlich einzelnen Konsumhandlungen besondere Kosten für das Gemeinwohl zuordnet (zu Rationalitätsdefiziten besonderer Verbrauchsteuern s. § 18 Rz. 123 ff.).
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Zusammenfassend ist damit festzustellen, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip der dominierende Maßstab für Steuergerechtigkeit bleiben muss. Ein gerechtes Steuersystem belastet nicht die Leistungsunfähigen. Aus der Zunahme indirekter Steuern an der Gesamtbelastung des Bürgers ergeben sich entsprechende Steuergerechtigkeitsverluste. Dies verpflichtet den Rechtsstaat, die direkten Steuern umso strikter am Leistungsfähigkeitsprinzip auszurichten, d.h. besonders die Einkommensteuer leistungsfähigkeitsgerechter auszugestalten und die Ertragsunabhängigkeit kommunaler Steuern zurückzuführen3.
II. Konkretisierungen des Leistungsfähigkeitsprinzips 49
Das abstrakte Leistungsfähigkeitsprinzip bedarf sowohl in persönlicher als auch sachlicher Hinsicht der Konkretisierung. Es ist danach zu fragen, wer Zuordnungssubjekt steuerlicher Leistungsfähigkeit sein kann, nur der Mensch (Art. 3 I GG) oder auch Unternehmen, zumindest in der Rechtsform juristischer Personen (Art. 19 III GG). Im Weiteren ist danach zu fragen, wie steuerliche Leistungsfähigkeit zu bemessen ist, nach dem Einkommen, nach dem Vermögen oder nach dem Konsum oder in einer Kombination der vorgenannten Indikatoren steuerlicher Leistungsfähigkeit.
1. Zuordnungssubjekte steuerlicher Leistungsfähigkeit4 50
Aus ökonomischer Sicht sind Träger steuerlicher Leistungsfähigkeit (nur) natürliche Personen5. Nur sie sind in der Lage zu konsumieren. Jede Steuer beschneidet die Konsummöglichkeiten natürlicher Personen und muss daher aus dieser Perspektive gerechtfertigt werden. Auch für die gleichheitsgerechte Lastenausteilung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip ist Bezugspunkt zunächst die einzelne natürliche Person. So wie die Gleichheit ein Recht des Bürgers und Menschen ist, beziehen sich Steuergleichheit und Leistungsfähigkeitsprinzip auf den Menschen und Bürger.
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Indes können auch Unternehmen bzw. Unternehmensträger Einkommen erwirtschaften, Vermögen bilden und mit diesem zu Zuordnungssubjekten steuerlicher Leistungsfähigkeit erklärt 1 Vanistendael, FS J. Lang, 2010, 101 (104); ausf. Hey, FS J. Lang, 2010, 133 ff. 2 Vgl. J. Lang, FS Schaumburg, 2009, 45 (52), der das Äquivalenzprinzip auch zur Rechtfertigung der allgemeinen Verbrauchsbesteuerung durch die Umsatzsteuer für besser geeignet erachtet als das Leistungsfähigkeitsprinzip. 3 Zu den Reformansätzen § 7 Rz. 82 ff. 4 Grundl. Palm, Person im Ertragsteuerrecht, Habil., 2013, insb. 438 ff. 5 Schneider, StuW 1975, 97 (102); Herzig, StuW 1990, 22 (31); Homburg, Allgemeine Steuerlehre6, 2010, 226.
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Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung
Rz. 52
§3
und separat besteuert werden1. In diesem Fall hat das Unternehmen als inländische juristische Person des Privatrechts gem. Art. 19 III GG einen Anspruch auf gleichmäßige Verteilung der Steuerlast nach dem Prinzip objektiver Leistungsfähigkeit. Allerdings kommt es durch Einschaltung juristischer Personen in den Wirtschaftsprozess nicht zu einer Vervielfältigung steuerlicher Leistungsfähigkeit. Hinter Unternehmen stehen stets natürliche Personen. Somit ist die Besteuerung der Unternehmen auf die ursprünglich menschenbezogene Bedeutung des Leistungsfähigkeitsprinzips zurückzuführen. Die Menschen können zunächst die Gleichbehandlung von Unternehmen nach dem Maßstab der von den Unternehmen verwirklichten objektiven Leistungsfähigkeit verlangen. Sodann ist der Unternehmenserfolg auch bei den unternehmenden Menschen zu berücksichtigen; dabei darf eine steuerliche Vorbelastung auf Unternehmensebene nicht ausgeblendet werden. Dem trug das abgeschaffte körperschaftsteuerliche Vollanrechnungsverfahren (s. § 11 Rz. 9) am besten Rechnung.
2. Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips im Vielsteuersystem durch Besteuerung von Einkommen, Vermögen und Konsum Literatur: Mitschke, Über die Eignung von Einkommen, Konsum und Vermögen als Bemessungsgrundlagen der direkten Besteuerung, Eine meßtechnische Analyse, 1976; Haller, Die Steuern, Grundlinien eines rationalen Systems öffentlicher Abgaben3, 1981; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer: Rechtssystematische Grundlagen steuerlicher Leistungsfähigkeit im deutschen Einkommensteuerrecht, Habil., 1981/88; Mitschke, Steuer- und Transferordnung aus einem Guß, Entwurf einer Neugestaltung der direkten Steuern und Sozialtransfers in der BRD, 1985; Bach, Die Perspektiven des Leistungsfähigkeitsprinzips im gegenwärtigen Steuerrecht, StuW 1991, 116; Tipke, StRO II2, 2003; J. Lang, Konkretisierungen und Restriktionen des Leistungsfähigkeitsprinzips, in FS Kruse, 2001, 313; Achatz, Die Auswahl von Besteuerungsgegenständen – verfassungsrechtliche Aspekte, ÖStZ 2002, 434, 536 f. Literatur zur konsumorientierten Besteuerung: Rose, Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, 1991; F.W. Wagner, Die zeitliche Erfassung steuerlicher Leistungsfähigkeit, in Hax/Kern/ Schröder, Zeitaspekte in betriebswirtschaftlicher Theorie und Praxis, 1989, 261 (270 ff.); Naust, FinArch. 49 (1991/92), 501 ff.; Schneider, FinArch. 49 (1991/92), 534 ff.; Kaiser, Konsumorientierte Reform der Unternehmensbesteuerung, Diss., 1992; Rose, BB-Beil. 5/1992; Schwinger, Einkommensund konsumorientierte Steuersysteme, 1992; Schwinger, StuW 1994, 39; Richter, Marktorientierte Neugestaltung des Einkommensteuersystems, 1995; Kiesewetter, StuW 1997, 24; Beiträge in Rose, Standpunkte zur aktuellen Steuerreform, 1997; Rose, Konsumorientierung des Steuersystems – theoretische Konzepte im Lichte empirischer Erfahrungen, in Krause-Junk, Steuersysteme der Zukunft, 1998, 247; Beiträge in Smekal/Sendlhofer/Winner, Einkommen versus Konsum, Ansatzpunkte zur Steuerreformdiskussion, 1999; Grambeck, Konsumsteuerreform und Konsumbesteuerung, 2003; Wurmsdobler, StuW 2003, 176 (Zinsbereinigung in Österreich); Beiträge in FS M. Rose, 2003, u. in FS Wagner, 2004; Waldburger, Sparbereinigung der Einkommensteuer, Diss., 2005; Petersen, StuW 2006, 266; Reis, Konsumorientierte Unternehmensbesteuerung aus verfassungsrechtlicher Sicht, 2007; Institute for Fiscal Studies, Dimensions of Tax Design. The Mirrlees Review, Oxford 2010; Boadway, From Optimal Tax Theory to Tax Policy, Cambridge, MA, USA 2012.
2.1 Vielsteuersystem vs. Alleinsteuer Das Leistungsfähigkeitsprinzip wird wesentlich durch die Auswahl und Gestaltung der Steuerbemessungsgrundlagen konkretisiert. Der Inhalt einer gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit hängt nämlich davon ab, welchen wirtschaftlichen Vorgängen und Zuständen steuerlich belastbare wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zugeordnet wird. Die Auffassungen zum geeignetsten Steuergut als Gegenstand der Steueranknüpfung und Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit haben sich in der Steuergeschichte erheblich gewandelt. Im 17. Jahrhundert 1 Dazu Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000, 16 ff.; Jachmann, DStJG 23 (2000), 9 (16 ff.); Seer, DStJG 23 (2000), 87 (90 f.); J. Lang, DStJG 24 (2001), 50 (58 ff.); differenzierend Palm, Person im Ertragsteuerrecht, Habil., 2013, 482 ff.: Unternehmen als bloße Ertragsquelle und (vermögensrechtsfähige) Unternehmensträger als mögliche personale Träger von objektiver Leistungsfähigkeit.
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Rz. 53
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
galt Grund und Boden als das geeignetste Steuergut. Im 19. Jahrhundert setzte die soziale Revolution nach dem Umbruch von der Feudalgesellschaft zur Industriegesellschaft das Kapital an die erste Stelle der Steuergüter. Die moderne Steuertheorie hat sich seit Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend dem Konsum als dem geeignetsten Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit zugewandt. 53
Der theoretischen Überzeugung, dass es überhaupt ein für die Indikation steuerlicher Leistungsfähigkeit geeignetstes Steuergut gibt, entspricht die Idee, das gesamte Steueraufkommen mit einer einzigen Steuer (einer sog. Alleinsteuer) zu bestreiten. Die Idee der Alleinsteuer geht davon aus, dass jede Steuer von den Erträgen der Volkswirtschaft abgeschöpft werden muss. Demnach sollte die Steuer nur an das Steuergut anknüpfen, das mit den Erträgen der Volkswirtschaft am besten identifiziert werden kann. Als ein solches galt im 17. Jahrhundert der „produit net“ des Grund und Bodens, der durch die physiokratische „impôt unique“ belastet werden sollte1. Im 19. Jahrhundert wurde das Ideal einer einzigen Einkommensteuer erdacht, weil sich die Überzeugung durchsetzte, dass das als Vermögenszuwachs definierte Einkommen der ideale Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit sei2. Im 20. Jahrhundert wurde die Idee der Alleinsteuer vor allem im Zusammenhang mit der persönlichen Ausgabensteuer diskutiert, weil deren Verfechter annehmen, dass sich die Produktivität einer Volkswirtschaft letztlich im individuellen Konsum niederschlägt3.
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Die Alleinsteuer ist nicht nur deshalb eine Utopie, weil das Steueraufkommen eines Steuerstaates nicht mit einer einzigen Steuer zu akquirieren ist, sondern weil die Vorstellung, es gäbe ein bestqualifiziertes Steuergut, schon theoretisch falsch ist. Vielmehr haben die einzelnen Steuergüter ihre Vor- und Nachteile, so dass die weltgeschichtliche Steuerwirklichkeit (die Alleinsteuer wurde noch in keinem Land verwirklicht), die Steuerlasten in einem Vielsteuersystem auf mehrere Steuergüter zu verteilen, auch in der Theorie richtig ist4. Das Vielsteuersystem genießt den Vorzug, dass durch die Kombination verschiedener Steuergüter die Eigenschaften des Steuersystems optimiert werden können. Die Gerechtigkeit der direkten Steuern wird durch die Unmerklichkeit der indirekten Konsumsteuern ergänzt. Das Steueraufkommen kann auf die einzelnen Steuerarten so verteilt werden, dass keine Steuer als zu drückend empfunden wird. Die Anknüpfung an eine Mehrheit von Steuergütern bietet schließlich auch die beste Gewähr für die gleichmäßige Austeilung der Steuerlasten, weil sich niemand jeder Steuer entziehen kann. Wer Einkommensteuer hinterzieht, sein Einkommen in der Schattenwirtschaft erzielt, trägt im Zeitpunkt der Einkommensverwendung immerhin noch durch die Umsatzsteuer zur Finanzierung des Staates bei. Je größer allerdings die Vollzugsdefizite bei den direkt die steuerliche Leistungsfähigkeit erfassenden Steuern sind und je mehr demzufolge die auf Überwälzbarkeit angelegten indirekten Steuern dominieren (wie insb. in den osteuropäischen Staaten), desto weniger gewährleistet das Vielsteuersystem die Besteuerung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.
2.2 Leistungsfähigkeitsindikatoren Einkommen, Vermögen, Konsum 55
Grds. lassen sich drei Leistungsfähigkeitsindikatoren unterscheiden, die – dynamische Stromgröße „Einkommen“ (Vermögenszugang); – statische Bestandsgröße „Vermögen“ (Konsum- und Investitionsfonds); – dynamische Stromgröße „Konsum“ (Güterverbrauch). 1 Dieses Ideal der Alleinsteuer wurde insb. in Frankreich u. England entwickelt. Dazu ausf. Mann, Steuerpolitische Ideale, 1937, 166 ff. 2 Mann, Steuerpolitische Ideale, 1937, 249 ff. (Das Ideal einer einzigen Einkommensteuer); Wilke, Die Entwicklung der Theorie des staatlichen Steuersystems in der deutschen Finanzwissenschaft des 19. Jahrhunderts, Diss., 1921, 18 ff.; Auerswald, Beiträge zur Lehre von einer einzigen Steuer, Diss., 1922. 3 Fisher, Income in Theory and Income Taxation in Practice, Econometrica, Wisc., 5 (1937), 1 ff.; Kaldor, An Expenditure Tax, 1955; Krause-Junk, Steuern, IV: Verteilungslehren, HdWW Bd. 7, 341. 4 So auch Tipke, StRO II2, 1213 ff.
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Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung
Rz. 59
§3 56
Jeder der Indikatoren „Einkommen“, „Vermögen“ und „Konsum“ wird durch jede Steuer belastet: Eine Steuer auf das Einkommen reduziert nicht nur das Einkommen, sondern ebenso auch die Konsummöglichkeiten des Steuerzahlers. Eine Steuer auf den Konsum belastet nicht nur den Konsum, sondern im Nachhinein auch das Einkommen, indem sie die Verwendung des Einkommens belastet. Und jede Steuer wird schließlich aus einem (u.U. fremdfinanzierten) Vermögen entrichtet. Der Umstand, dass jede Steuer Einkommen, Vermögen und Konsum belastet, lässt nun verschiedene Ansätze der Rechtfertigung von Steuern zu1: Tipke richtet seine Rechtfertigungstheorie am Einkommen aus. Es gäbe nur eine Steuerquelle: das als Vermögen gespeicherte Einkommen2. Demgegenüber konstatiert Rose3: „Die endgültige Reallast einer Steuerzahlung ist immer ein Konsumopfer. Folglich sind die Konsumenten die einzigen Träger realer Steuerlasten“. Letzteres entspricht dem in den ökonomischen Steuerwissenschaften (Optimalsteuertheorie, s. § 1 Rz. 18) vollzogenen steuertheoretischen Paradigmenwechsel von einer kapital- zu einer konsumorientierten Besteuerung (dazu ausf. Rz. 69 ff.). Von der Auswahl der Leistungsfähigkeitsindikatoren hängen entscheidend die Wirkungen des Steuersystems ab. Da im Prinzip jede Steuer jeden Leistungsfähigkeitsindikator belastet, bestimmt die Auswahl des Leistungsfähigkeitsindikators nach der ökonomischen Steuerwirkungslehre eigentlich nur den Zeitpunkt des Steuerzugriffs in dem Ablauf der ökonomischen Verhältnisse des Bürgers, wie das oben stehende Schaubild (Rz. 56) zeigt. Bei den Überlegungen, zu welchem Zeitpunkt die Steuer zugreifen soll, ist von Bedeutung, für welche Gesellschaft das Steuersystem geschaffen werden soll.
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Wird auf ein hohes Maß an Umverteilung Wert gelegt, auf die Einebnung von reich und arm, auf egalitäre Verteilung des Volksvermögens, dann muss der Anteil des Staates möglichst früh, möglichst vor dem Konsum, also in den Zeitpunkten abgeschöpft werden, in denen Vermögen entsteht oder noch nicht verwendet worden ist (Konzept der sog. kapitalorientierten Besteuerung).
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Soll jedoch die Gesellschaft möglichst freiheitlich und individualistisch nach dem Subsidiaritätsprinzip konzipiert sein4 und in erster Linie dem Bürger die Verantwortung für seinen Wohlstand und „pursuit of happiness“ zugewiesen sein, dann hat der Staat abzuwarten, bis der Bür-
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1 Dazu näher J. Lang, FS Kruse, 2001, 313. 2 So Tipke, StRO I2, 326: „Es gibt nur eine Steuerquelle: das Einkommen, genau: das als Vermögen gespeicherte Einkommen. Der Gesetzgeber muß solche Steuergegenstände und Bemessungsgrundlagen auswählen, die sich in die ,Einheit der Steuerrechtsordnung’ einfügen und in diesem Rahmen dazu führen, daß das Einkommen (Vermögen) der Stpfl. nach einem einheitlichen Maßstab belastet wird …“ S. auch Tipke, StRO I2, 97, 248, 500. Zu diesem Grundsatz Trzaskalik, FS Tipke, 1995, 321 ff. 3 Plädoyer für ein konsumbasiertes Steuersystem, in Rose, Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, 1991, 14. 4 Dafür plädieren insb. die Nobelpreisträger v. Hayek (grundl.: The Constitution of Liberty, 1960), Friedman u. Buchanan (grundl.: The Limits of Liberty, 1975). S. Zintl, Individualistische Theorien und die Ordnung der Gesellschaft, 1983.
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§3
Rz. 60
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
ger konsumiert. Der Steuerzugriff ist also möglichst spät anzusetzen (so das Konzept der sog. konsumorientierten Besteuerung). Dadurch wird das Steuersystem spar- und investitionsfreundlich; es lässt die Bildung privaten Wohlstandes zu (was gewiss nicht sozial ungerecht ist), belohnt ökonomische Tüchtigkeit und Vorsorge für die Zukunft. 60
Da das Grundgesetz keine bestimmte Wirtschaftsverfassung vorschreibt (s. § 1 Rz. 7), hat der Steuergesetzgeber bei der Auswahl der Leistungsfähigkeitsindikatoren großen Spielraum. Er hat das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I; 28 I 1 GG) zu beachten, das jedoch zu den Alternativen kapital- oder konsumorientiertes Steuersystem keine konkreten Direktiven gibt, weil beide Alternativen triftige Argumente sozialer Steuergerechtigkeit ins Feld führen können. Die Wahrheiten der Rechtswirklichkeit liegen meist in der Mitte, in einer Synthese von Extrempositionen, in einem Vielsteuersystem, das die Ziele der Freiheit und Umverteilung in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander setzt, wie es der sog. sozialen Markwirtschaft angemessen ist, dabei vor allem eines verwirklicht: Rechtsstaatliche, privilegienfeindliche Steuergleichheit. So liegt dem geltenden Steuersystem nicht puristisch ein kapital- oder konsumorientierter Ansatz zugrunde. Der hohe Anteil indirekter Steuern auf den Verbrauch begründet traditionell eine Konsumorientierung. Hält man sich vor Augen, dass rund 50 % aller Steuerzahler nur in ganz geringem Umfang mit Einkommensteuer belastet sind, ist für sie die Besteuerung weitgehend konsumorientiert. Gleichzeitig werden in die traditionell kapitalorientiert ausgerichtete Einkommensteuer zunehmend Elemente einer Konsumorientierung integriert. Problematisch ist lediglich, dass sich der Gesetzgeber seines Tuns nicht bewusst ist. Auch in der Steuerrechtswissenschaft ist es mit wenigen Ausnahmen bisher nicht zu einer vertieften Auseinandersetzung mit den Konzepten kapital- und konsumorientierter Besteuerung gekommen1. Dies birgt die Gefahr, dass Steuerwirkungen bei Ausgestaltung und Rechtfertigung von Steuern vernachlässigt werden.
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Kapitalorientierte Besteuerung: Das dem geltenden Steuerrecht weltweit noch zugrunde gelegte Verständnis von Steuergerechtigkeit ist im 19. Jahrhundert geprägt worden und ist kapitalorientiert: Dem Konzept kapitalorientierter Besteuerung entsprechen die Steuern auf den Vermögensbestand (sog. Substanzsteuern, s. § 7 Rz. 22) und die nach der Reinvermögenszugangstheorie (s. § 7 Rz. 30, § 8 Rz. 50 ff.) ausgestaltete Einkommensteuer (sog. Kapitaleinkommensteuer2).
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Zu den Steuern auf den Vermögensbestand gehören die Vermögensteuer, die nach dem Vermögensteuerbeschluss des BVerfG von 19953 in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung nicht erhoben werden darf (s. § 7 Rz. 43; § 16 Rz. 61 ff.), sowie die kommunalen Substanzsteuern, die historisch mit dem Äquivalenzprinzip gerechtfertigt werden, so die zum 1.1.1998 abgeschaffte Gewerbekapitalsteuer (s. § 12 Rz. 1) und die Grundsteuer (s. § 16 Rz. 1 ff.). Mit einer gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ist die Belastung bestimmter Vermögensarten unvereinbar: Weder aus dem gewerblichen Vermögen noch aus dem Grundbesitz lässt sich eine besondere Leistungsfähigkeit ableiten, die eine Zusatzsteuer zur Einkommensteuer rechtfertigen 1 Die vor allem von J. Lang in die Steuerrechtswissenschaft transportierte ökonomische Konsumsteuertheorie (s. insb. J. Lang, Konsumorientierung – Eine Herausforderung für die Steuergesetzgebung?, in Smekal/Sendlhofer/Winner, Einkommen versus Konsum – Ansatzpunkte zur Steuerreformdiskussion, 1999, 143) ist ansonsten nur vereinzelt Gegenstand steuerrechtlicher Diskussion gewesen, s. etwa Dorenkamp, Nachgelagerte Besteuerung von Einkommen, Diss., 2004, 90 ff.; Englisch, Dividendenbesteuerung, Diss., 2005, 182 ff. Zu den Schwierigkeiten der Umsetzung der Erkenntnisse der Optimalsteuertheorie in konkrete Steuergesetzgebung, vgl. aktuell Boadway, From Optimal Tax Theory to Tax Policy, Cambridge, MA, USA 2012; Raskolnikov, 98 Cornell Law Review (2013), 523; Jacobs, 69 Finanzarchiv (2013), 338. 2 Gegen diese Besteuerungsform insb. Sinn, Kapitaleinkommensbesteuerung, Eine Analyse der intertemporalen, internationalen und intersektoralen Allokationswirkungen, 1985, sowie die Vertreter der konsumorientierten Besteuerung (pars pro toto: Mitschke, Rose, F.W. Wagner, Wenger, Sievert, sowie Kaiser, Konsumorientierte Reform der Unternehmensbesteuerung, Diss., 1992; Bach, Der Cash-flow als Bemessungsgrundlage der Unternehmensbesteuerung, in Smekal/Sendlhofer/Winner, Einkommen versus Konsum, 1999. 3 BVerfGE 93, 121.
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Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung
Rz. 66
§3
würde. Bis auf die Grundsteuer verzichtet der deutsche Fiskus derzeit auf eine laufende Besteuerung des Vermögens1. Gleichwohl bestehen in bestimmten politischen Kreisen Intentionen zur Revitalisierung einer allgemeinen Vermögensbesteuerung2. Herkömmlicherweise wird die Sonderbelastung des Vermögens soll-ertragsteuerlich gerechtfertigt: „Fundierte“ Vermögenseinkommen sollen belastungswürdiger sein als „unfundierte“ Arbeitseinkommen. Das BVerfG hat, auch wenn es die Vermögensteuer im Hinblick auf die mangelnde Bewertungsgleichheit für verfassungswidrig erklärt hat, im Vermögensteuerbeschluss vom 22.6.19953 an dieser sog. Fundustheorie festgehalten. Hiergegen ist einzuwenden: (1) Gleichmäßige Lastenausteilung kann nicht an der Ertragsfähigkeit des Vermögens4, nicht an typisiert unterstellten Soll-Erträgen, sondern nur an Ist-Erträgen ansetzen. Vermögen erzeugt nicht per se Erträge. Das Leistungsfähigkeitsprinzip verfolgt auch keinen interventionistischen Zweck, die Stpfl. zu bestmöglicher Ressourcennutzung anzuhalten. Ein solcher ist mit einer freiheitlichen Grundordnung privatnützigen Wirtschaftens unvereinbar. Das erkennt BVerfGE 93, 121 (135) für die Nutzung von Humankapital, toleriert die Soll-Ertrags-Besteuerung aber für die Nutzung von Sachkapital: „Wer sein Talent, durch Arbeit Erträge zu erzielen, brachliegen läßt, wird grds. nicht besteuert. Wer hingegen Vermögen ungenutzt läßt, wird für Zwecke der Besteuerung so behandelt, als habe er Erträge erzielt“. Eine derartige Diskriminierung der Vermögenseinkünfte lässt sich nicht rechtfertigen
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(2) Steuerliche Leistungsfähigkeit setzt Liquidität der Steuerzahlung voraus, ist als Zahlungsfähigkeit zu verstehen. Im Falle der Ertragslosigkeit sind liquide Mittel nicht vorhanden. Dadurch können dem Stpfl. zusätzlich zur Steuerlast weitere Vermögensnachteile, z.B. Kreditkosten entstehen, weil die Fähigkeit zur Steuerzahlung einfach unterstellt wird.
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(3) Im Weiteren negiert die Besteuerung von Vermögen die laufende Geldentwertung (Inflation). Dies hängt damit zusammen, dass die Besteuerung aus währungspolitischen und praktischen Gründen vom Nominalwertprinzip (Grundsatz: 1 Euro = 1 Euro) nicht abweichen kann (s. § 8 Rz. 56). Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist aber ein Realwert-, kein Nominalwertprinzip; daher ist nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip an Realvermögen und Realeinkünfte (Realgewinn, Realzins usw.) anzuknüpfen5. Die zur Rechtfertigung einer Vermögensbesteuerung unterstellten „Soll-Erträge“ kompensieren vielfach lediglich die Geldentwertung. Sie zusätzlich zur Einkommensbesteuerung einer Vermögensbesteuerung zu unterwerfen, verschärft den Eingriff in die Vermögenssubstanz.
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Nimmt man noch die nahezu unlösbaren rechtspraktischen Probleme realitätsgerechter Bewertung ruhenden Vermögens hinzu (s. § 16 Rz. 62), ist die Steuerbelastung des Vermögensbestands ungeeignet, das Leistungsfähigkeitsprinzip sachgerecht zu konkretisieren, wie namentlich Tipke zur Vermögensteuer (StRO II2, 914 ff.), zur Grundsteuer (StRO II2, 953 ff.) und zur Gewerbekapitalsteuer (StRO II2, 1139 f.) überzeugend begründet hat. Die historischen Klischees der Fundustheorie von leicht und sicher verdienten Vermögenseinkünften haben sich überlebt6.
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1 Zur Besteuerung des Vermögensbestands durch die Erbschaft- und Schenkungsteuer s. § 7 Rz. 39; § 15 Rz. 3. 2 Insb. das Eintreten der SPD für die Wiederbelebung der Vermögensteuer und den Vorschlag von Bündnis 90/DIE GRÜNEN für die Einführung einer einmaligen Vermögensabgabe, BT-Drucks. 17/10770. Zu den rechtlichen Bedenken gegen eine Vermögensteuer s. § 16 Rz. 63. 3 BVerfGE 93, 121 (139); Böckenförde, BVerfGE 93, 149 (157). Zur Fundustheorie m.zahlr.N. Tipke, StRO II2, 922 ff. 4 Nach BVerfGE 93, 121 (137) dürfe die VSt „nur so bemessen werden, daß sie in ihrem Zusammenwirken mit den sonstigen Steuerbelastungen die Substanz des Vermögens, den Vermögensstamm, unberührt läßt und aus den üblicherweise zu erwartenden, möglichen Erträgen (Sollerträgen) bezahlt werden kann“. Mit dieser Grundaussage will das BVerfG die von Böckenförde, BVerfGE 93, 149 (152 ff.) für zulässig erachtete umverteilende Substanzabschöpfung ausschließen. 5 Dazu ausf. Tipke, StRO I2, 512 ff. (Leistungsfähigkeitsprinzip und Inflation); Weber, Inflationsberücksichtigung in der Einkommensteuer, Diss., 2012, 91 ff. 6 Kube, DStJG 37 (2014), 343 (352 f.); zur Fundustheorie im Zusammenhang mit der Ertragsbesteuerung Schön, DStJG 37 (2014), 217 (227 f.).
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§3
Rz. 67
67
Kapitaleinkommensteuer: Nach dem Ideal der Reinvermögenszugangstheorie (bzw. Reinvermögenszuwachstheorie, s. § 7 Rz. 30) wäre eine globale, alle realisierten und nichtrealisierten Wertsteigerungen erfassende Wertzuwachssteuer die richtige Steuer. Denn reicher und damit leistungsfähiger wird der Stpfl. auch durch nicht realisierte Wertsteigerungen. Eine Steuer auf den nichtrealisierten Wertzuwachs wäre indes mit den Substanzsteuern immanenten Mängeln fehlender Liquidität und Bewertungsunsicherheit behaftet. Die Wertzuwachssteuer hat sich nirgendwo, so auch nicht im deutschen Einkommensteuerrecht, durchsetzen können1.
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Die geltende Einkommensteuer erfasst nur das realisierte Erwerbseinkommen, d.i. die Summe der Einkünfte, die der Stpfl. durch eine mit Einkünfteerzielungsabsicht ausgeübte Erwerbstätigkeit erwirtschaftet hat2. Dadurch wird die Reinvermögenszugangstheorie auf das Administrierbare zurückgenommen3. Die Beschränkung auf das erwirtschaftete, am Markt realisierte und dort wertbestätigte Einkommen (zur sog. Markteinkommenstheorie s. § 7 Rz. 30 f.; § 8 Rz. 52) wirkt der Ungleichbehandlung entgegen, weil sie kaum vollständig erfassbare Nutzungen und Wertschöpfungen außerhalb der Erwerbssphäre (s. § 7 Rz. 32) ausgrenzt und die Gefahr der Ungleichbewertung von Einkommen mindert. In der Vergangenheit erfasste das geltende Recht selbst das Erwerbseinkommen höchst unvollständig, weil nach der Quellentheorie (s. § 8 Rz. 50) private Veräußerungseinkünfte prinzipiell nicht erfasst wurden. Mittlerweile werden durch Einführung der Abgeltungsteuer und Ausweitung der Veräußerungsfristen für Immobilien auch Wertsteigerungen des Privatvermögens weithin der Besteuerung unterworfen.
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Konsumorientierte Besteuerung4: Faktisch richten sich die Steuersysteme weltweit immer stärker an Konsum und konsumierbarem Einkommen aus. Damit ereignet sich in der Steuerwirklichkeit, was steuertheoretisch von der Optimalsteuertheorie (s. § 1 Rz. 18) durch den Paradigmenwechsel von einer kapital- zu einer konsumorientierten Besteuerung vorgezeichnet wurde. Bei der Konsumorientierung des Steuersystems ist die Konsumorientierung der Steuern auf das Einkommen von der Steuerbelastung des Konsums durch die indirekten, auf Überwälzbarkeit angelegten Steuern zu unterscheiden.
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Indirekte Steuern auf den Konsum sind die Umsatzsteuer (s. § 17) und die speziellen Verbrauchsteuern (s. § 18 Rz. 105 ff.). Sie belasten die in der Einkommensverwendung zum Aus-
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
1 In Gestalt einer kommunalen Steuer auf Bodenwertsteigerungen, auch Planungswertausgleich genannt, wird sie immer wieder einmal ins Spiel gebracht, vgl. Kumpmann, Wertzuwachssteuer, 1907; Müthling, Wertzuwachssteuerrecht4, 1943; Friauf, DVBl. 1972, 652; Liedschulte/Zink, Die Erfassung von Wertzuwächsen im Rahmen der Einkommens- und Ertragsbesteuerung, 1973; Figel, Die Problematik einer Bodenwertzuwachssteuer in steuerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Sicht, Diss., 1975; Schüßler-Langeheine/Steinfort, KStZ 1997, 107; Huber, DÖV 1999, 173. 2 So § 2 I Kölner EStGE. Dazu Kölner EStGE, Begr. Rz. 133 ff. (Beschränkung des Einkünftetatbestandes auf das Erwerbseinkommen) sowie § 8 Rz. 52. 3 Tipke, StRO II2, 629 ff. (Auf das Administrierbare zurückgenommene Vermögenszugangstheorie). 4 Literatur: F.W. Wagner, Die zeitliche Erfassung steuerlicher Leistungsfähigkeit, in Hax/Kern/Schröder, Zeitaspekte in betriebswirtschaftlicher Theorie und Praxis, 1989, 261 (270 ff.); Rose, Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, 1991; Naust, FinArch. 49 (1991/92), 501 ff.; Schneider, FinArch. 49 (1991/92), 534 ff.; Kaiser, Konsumorientierte Reform der Unternehmensbesteuerung, Diss., 1992; Rose, BB-Beil. 5/1992; Schwinger, Einkommens- und konsumorientierte Steuersysteme, 1992; Schwinger, StuW 1994, 39; Richter, Marktorientierte Neugestaltung des Einkommensteuersystems, 1995; Kiesewetter, StuW 1997, 24; Rose, Standpunkte zur aktuellen Steuerreform, 1997; Rose, Konsumorientierung des Steuersystems – theoretische Konzepte im Lichte empirischer Erfahrungen, in Krause-Junk, Steuersysteme der Zukunft, 1998, 247; Smekal/Sendlhofer/Winner, Einkommen versus Konsum, Ansatzpunkte zur Steuerreformdiskussion, 1999; Grambeck, Konsumsteuerreform und Konsumbesteuerung, 2003; Wurmsdobler, StuW 2003, 176 (Zinsbereinigung in Österreich); Beiträge in FS Rose, 2003, u. in FS Wagner, 2004; Waldburger, Sparbereinigung der Einkommensteuer, Diss., 2005; Petersen, StuW 2006, 266; Reis, Konsumorientierte Unternehmensbesteuerung aus verfassungsrechtlicher Sicht, 2007; Attanasio/Wakefield, The Effects on Consumtion and Saving of Taxing Asset Returns, The Mirrlees Review, Dimensions of Tax Design, Institute for Fiscal Studies 2010, 677 ff.
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Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung
Rz. 73
§3
druck kommende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit1. Indirekte Steuern auf den Konsum sind mit dem ihre Gerechtigkeitsqualität beeinträchtigenden Nachteil behaftet, dass sie die persönlichen Verhältnisse des Konsumenten, auf den die Steuer überwälzt wird, nicht berücksichtigen können; sie müssten zumindest insoweit vergütet werden, als sie den existenznotwendigen Lebensbedarf belasten (s. bereits Rz. 43). Gleichheitsrechtlich rechtfertigen lässt sich grds. nur die Umsatzsteuer als allgemeine Konsumsteuer. Die Konsumleistungsfähigkeit drückt sich in der Einkommensverwendung aus, unabhängig davon, für welche Güter das Einkommen verwendet wird. Zu rechtfertigen wäre allenfalls eine gesonderte Besteuerung von Luxusgütern, deren Konsum als Ausdruck gesteigerter Konsumleistungsfähigkeit angesehen werden kann. Freilich ist eine auch nur annähernd vollständige und damit widerspruchsfreie Erfassung gesteigerter Konsumleistungsfähigkeit nicht möglich (s. auch § 18 Rz. 123 ff.). So leidet das historische Konglomerat der speziellen Verbrauchsteuern unter der willkürlichen Auswahl der Güter2. Durch die grundsätzliche Beschränkung auf Steuergüter wie Mineralöle, Alkohol und Tabakwaren, die gemäß den Sozialzwecken des Umweltschutzes und der Gesundheit sonderbelastungswürdig sind, gewinnt das europäisch harmonisierte Verbrauchsteuersystem (s. § 4 Rz. 66 f.) an Rechtfertigungsqualität, indem die speziellen Verbrauchsteuern zunehmend den Charakter von Sozialzwecksteuern gewinnen.
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Die geltende Einkommensteuer ist nicht nur kapital-, sondern auch konsumorientiert ausgestaltet, denn ihre Bemessungsgrundlage ist im Wesentlichen zweistufig aufgebaut: Auf der ersten Stufe (§ 2 I–III EStG) erfasst sie im Tatbestand „Summe der Einkünfte“ das Erwerbseinkommen, und auf der zweiten Stufe soll der indisponible, für die Steuerzahlung nicht verfügbare Teil des Einkommens und damit die indisponible Einkommensverwendung in Gestalt privater Abzüge i.S.d. § 2 IV, V EStG ausgegrenzt werden (s. § 8 Rz. 70 ff.). Diese dualistische, kapital- und konsumorientierte Konzeption ist vornehmlich Adolph Wagner zu verdanken; er erkannte: „Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer Person liegt in zwei Reihen von Momenten, solchen, welche den Erwerb und Besitz von Sachgütern, und solchen, welche die Verwendung dieser Güter zu eigener oder anderer pflichtgemäß zu ermöglichender Bedürfnisbefriedigung betreffen“3. Infolge dieser dualistischen Konzeption des EStG hat die Steuerrechtswissenschaft4 die Lehre vom indisponiblen Einkommen entwickelt: Nach dem sog. privaten Nettoprinzip ist der für den notwendigen Lebensbedarf verwendete und demnach für die Steuerzahlung nicht verfügbare Teil des Erwerbseinkommens aus der Bemessungsgrundlage5 auszuscheiden.
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Dieser von der st. Rspr. des BVerfG seit 1982 (s. § 8 Rz. 71 ff., 76) bestätigte Konsens der Juristen, notwendige Privataufwendungen minderten die steuerliche Leistungsfähigkeit und seien daher in der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer zu berücksichtigen (s. § 8 Rz. 74 ff.), widerspricht der Vorstellung mancher Ökonomen, allein die Summe der Einkünfte, das sog. Markteinkommen bzw. Erwerbseinkommen (s. Rz. 68) sei der „richtige“ Indikator steuerlicher
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1 Dazu Schmidt, Konsumbesteuerung durch Mehrwertsteuer, Zur konsumorientierten Ausgestaltung mehrwertsteuerlicher Erhebungstechnik, Diss., 1999; Tipke, StRO II2, 982 ff. (Anknüpfung an das konsumierte Einkommen durch die Umsatzsteuer zur Ergänzung der Einkommensteuer). 2 Dazu Tipke, StRO II2, 1037 ff. 3 A. Wagner, Finanzwissenschaft, Bd. II2, 1890, 444. Zur Entwicklung dieses Ansatzes auch Bredt, Die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, Ein Beitrag zur Systematik und Reform der direkten Steuern in Preußen und dem Reiche, 1912; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Habil., 1981/88, 34 f.; Jüptner, StVj 1990, 307 (315 ff.). 4 Grundl. Tipke schon in der 1. Aufl. dieses Buchs (vgl. die Zitate in Tipke, StRO II2, 788 ff., m.zahlr.N.); jetzt scharf angegriffen von Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem BVerfG, Diss., 2010, 150 ff., 155 ff., der sowohl der Lehre vom indisponiblen Einkommen als auch dem aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip gewonnenen subjektiven Nettoprinzip jede Berechtigung abspricht. 5 A.A. Bareis, DStR 2010, 565 ff.: Abbau der Freibeträge bei steigendem Einkommen durch Ausgestaltung des Tarifs.
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§3
Rz. 74
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
Leistungsfähigkeit, der durch die Einbeziehung von Konsumausgaben verfälscht werde1. Die monistische Messung der Leistungsfähigkeit allein nach dem Erwerbseinkommen vermag schon ökonomisch nicht zu überzeugen, wie das wegweisende Konzept des großen Ökonomen Adolph Wagner belegt. Es ist nicht zu bestreiten, dass Erwerbseinkommen Leistungsfähigkeit richtig misst (s. Rz. 68). Doch darf das Erwerbseinkommen nicht mit steuerlicher Leistungsfähigkeit gleichgesetzt werden, weil das zur Bestreitung des existenznotwendigen Lebensunterhalts erforderliche Einkommen zur Steuerzahlung nicht zur Verfügung steht. Daher bedarf das Erwerbseinkommen der Ergänzung durch einen zweiten Messfaktor, der die individuelle, von der Existenz einer Familie abhängige Leistungsfähigkeit bestimmt. Die Lehre von der monistischen Messung steuerlicher Leistungsfähigkeit nach dem Erwerbseinkommen negiert die schlichte Tatsache, dass ein Junggeselle und ein Familienvater mit gleichem Erwerbseinkommen nicht gleich leistungsfähig sind. Zur verfassungsrechtlichen Fundierung durch das Gebot der Steuerfreiheit des (Familien-)Existenzminimums s. Rz. 160 f. 74
Während die Relevanz des indisponiblen Konsums für die Dogmatik des Einkommensteuerrechts mittlerweile juristisch weitgehend geklärt ist, ist die Konsumorientierung des Erwerbseinkommens nicht nur von Ökonomen, sondern auch von Juristen kontrovers diskutiert worden2. Das klassische Modell der direkten Steuer auf den Konsum ist die Ausgabensteuer3. Dieses Modell ist noch in den 1990er Jahren ernsthaft in Erwägung gezogen worden4, jedoch ist seine Untauglichkeit mittlerweile allgemein erkannt worden. Eine verwaltungspraktikable Erfassung des Privatkonsums durch eine Ausgabensteuer, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Rechtsanwendungsgleichheit (s. Rz. 111 ff.) genügen würde, ist schlichtweg nicht denkbar. Vor allem J. Lang hat sich daher für eine umfassende Ausrichtung der bestehenden Einkommensteuer an der Konsumleistungsfähigkeit eingesetzt5. Von den meisten Steuerrechtswissenschaftlern wurde die Diskussion indes ignoriert; in der Rspr. des BVerfG hat sie keinerlei Widerhall gefunden6. Sie ist mittlerweile weitgehend zum Erliegen gekommen.
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Dies ist umso bemerkenswerter, als die aktuelle Rechtsentwicklung davon geprägt ist, dass investierte Einkommen unter dem Druck des Steuerwettbewerbs (s. § 7 Rz. 70 ff.) in vielen Ländern, so auch in Deutschland, zunehmend konsumorientiert besteuert werden. Der Gesetzgeber praktiziert mithin schon seit einigen Jahren Konsumorientierung, freilich ohne für den Wechsel von einer kapitalorientierten zu einer konsumorientierten Einkommensbesteuerung Rechenschaft abzulegen oder diesen auch nur offen zu legen. Der schleichenden Konsumorientierung der Steuersysteme liegt nicht bessere Erkenntnis zugrunde, vielmehr reagiert das Steuerrecht in erster Linie auf die gesteigerte Mobilität der Steuerquellen und den europäischen und internationalen Wettbewerb um Steueraufkommen. Konsum ist schlicht weniger mobil als Kapital.
1 So insb. Schneider, StuW 1984, 356; Bareis, StuW 1991, 38 (Behandlung sog. „notwendiger Privatausgaben“); Bareis, FS Schneider, 1995, 39 (Markteinkommensbesteuerung und Existenzminima); Siegel/ Bareis, Strukturen der Besteuerung3, 1999, 22 ff.; Bareis, StuW 2000, 81 (zur Ehegattenbesteuerung); Bareis, Maßstäbe für die Besteuerung des Einkommens, in Internationale Juristen-Kommission, Grundrechtsschutz im Steuerrecht, 2001, 89; Schneider, Steuerlast und Steuerwirkung, 2002, 307 ff. 2 Dazu insb. die Beiträge in Rose, Standpunkte zur aktuellen Steuerreform, 1997, und Smekal/Sendlhofer/Winner, Einkommen versus Konsum, Ansatzpunkte zur Steuerreformdiskussion, 1999; Niehus, DStZ 2000, 697; Rasenack, FS Quaritsch, 2000, 363; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49; J. Lang, FS Kruse, 2001, 313; J. Lang, FS Rose, 2003, 325; J. Lang in Rose, Integriertes Steuer- und Sozialsystem, 2003, 83. Zum Diskussionsstand im Ausland zum Ende des 20. Jahrhunderts s. 20. Aufl., § 4 Rz. 115 Fn. 89. 3 Literaturnachweise s. 20. Aufl., § 4 Rz. 115 Fn. 90 u. 91. 4 Insb. auf dem „Heidelberger Kongress“, vgl. hierzu Rose, Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, 1991. 5 Grundl. J. Lang in Rose, Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, 1991, 291. Zu gesetzgeberischen Konsequenzen s. auch aktuell Jacobs, From Optimal Tax Theory to Applied Tax Policy, Finanzarchiv 69 (2013), 338. 6 Obwohl die Entscheidung zur Rentenbesteuerung (BVerfGE 105, 73) hierzu Anlass gegeben hätte.
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Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung
Rz. 78
§3
Dieser Befund fordert dazu heraus, unter dem Aspekt einer gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit gewürdigt zu werden1. Im Grundsatz sind zwei Methoden zu unterscheiden: – Nachgelagerte Besteuerung: Investierte Einkommen werden erst im Zeitpunkt ihrer Konsumierbarkeit besteuert. Alle Investitionen einschließlich der Ersparnisse werden bei der Einkünfteermittlung als Aufwendungen abgezogen oder als investierte Bezüge nicht besteuert (sog. Sparbereinigung der Einkünfte); dafür sind die späteren Bezüge aus den Investitionen voll zu versteuern2. Die Methode nachgelagerter Besteuerung setzt als real verwirklichtes Rechtsprinzip vor allem im Bereich der Zukunftsvorsorge von Arbeitnehmern an: Der Beamte ist bereits voll nachgelagert besteuert, weil die während seines Erwerbslebens erwirtschaftete Pension erst im Zeitpunkt des Zuflusses besteuert wird. Davon ausgehend wird die Zukunftsvorsorge mit Arbeitseinkommen nur gleichbehandelt, wenn diese insgesamt nachgelagert besteuert wird. Im Vordergrund steht hier die vom BVerfG seit 19803 geforderte Gleichbehandlung von Beamten und Pflichtversicherten der gesetzlichen Rentenversicherung, die mit dem Alterseinkünftegesetz v. 5.7.2004, BGBl. I 2004, 1427, verwirklicht worden ist (s. § 8 Rz. 570).
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– Unternehmen werden durch Cash-Flow-Steuern4 nachgelagert besteuert: Die Bemessungsgrundlage besteht aus den Einzahlungen und Auszahlungen einer Periode; es handelt sich um eine reine Überschussrechnung ohne Aktivierung von Anschaffungskosten (keine Verteilung von Anschaffungs-/Herstellungskosten durch Abschreibungen auf mehrere Perioden!). Eine voll nachgelagerte Besteuerung verwirklicht auch ein Körperschaftsteuersatz von null; erfasst werden nur die Beteiligungseinzahlungen und -auszahlungen auf der Ebene des Anteilseigners. In diese Richtung bewegt sich der internationale Trend, die Körperschaftsteuersätze weit unter das Niveau des Spitzensatzes der Einkommensteuer abzusenken. Diese Art der Spreizung von Steuersätzen ist als partiell nachgelagerte Besteuerung investierter Unternehmenseinkommen zu qualifizieren (s. auch § 7 Rz. 88)5.
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– Zinsbereinigte Besteuerung6: Einkünfte werden nur insoweit besteuert, als sie die marktübliche Verzinsung des Kapitals überschreiten. Hierzu wird ein Abzug für eine Eigenkapitalverzinsung mit standardisiertem Zinssatz gewährt. Die Zinsbereinigung der Einkünfte bewirkt dasselbe Ergebnis intertemporaler Neutralität (s. Rz. 80) wie die nachgelagerte Besteuerung, gewährleistet jedoch eine bessere Kontinuität des Steueraufkommens. Außer fiskalischen werden auch Vereinfachungsargumente angeführt: Die zinsbereinigte Einkommensteuer sieht von der schwierigen und international nicht durchsetzbaren Besteuerung von Zinsen ab, und die zinsbereinigte Unternehmensteuer neutralisiert das bilanzpolitische Ziel der Gewinnminderung. Die streitanfällige Bildung eigenkapitalmindernder Bilanzposten wie z.B. Rückstellungen wird unattraktiv, weil sie die Bemessungsgrundlage des Zinsfreibetrags mindert. Allerdings leidet die Methode der Zinsberei-
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1 Dazu ausf. J. Lang, DStJG 24 (2001), 49; J. Lang, FS Kruse, 2001, 313; J. Lang, FS Rose, 2003, 325; J. Lang in Rose, Integriertes Steuer- und Sozialsystem, 2003, 83; Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, 2003, 147 ff.; Dorenkamp, Nachgelagerte Besteuerung von Einkommen, Diss., 2004, 94 ff., 117 ff. 2 Dazu grundl. aus rechtlicher Sicht Dorenkamp, Nachgelagerte Besteuerung von Einkommen, Diss., 2004. Aus ökonomischer Sicht Fuest/Mitschke, Nachgelagerte Besteuerung und EU-Recht, 2008; Mitschke, FR 2008, 249. 3 BVerfGE 54, 11; ferner BVerfGE 86, 369; 105, 73. 4 Dazu ausf. Kaiser, Konsumorientierte Reform der Unternehmensbesteuerung, Diss., 1992, 36 ff.; Bach in Smekal/Sendlhofer/Winner, Einkommen versus Konsum, 1999, 85; Suttmann, Die Flat Tax, Diss., 2007, 190–223. 5 S. Dorenkamp, Nachgelagerte Besteuerung von Einkommen, Diss., 2004. 6 Grundl. Broadway/Bruce, Journal of Public Economics 1984, 231; Wenger, Finanzarchiv 41 (1983), 207; Institute for Fiscal Studies, Equity for Companies: a corporation tax for the 1990s, 1991 (Allowance for Corporate Equity – ACE); Devereux, National Tax Journal 2012, 709; zu den Wirkungen von ACE-Systemen Zangari, Adressing the Debt Bias: A Comparision between the Belgian and the Italian ACE Systems, EU Taxation Papers, Working Paper N.44-2014; im Weiteren Wenger in Rose, Standpunkte zur aktuellen Steuerreform, 1997, 115; Jakobs, FS Debatin, 1997, 207; Kiesewetter, Zinsbereinigte Einkommen- und Körperschaftsteuer, 1999; Lammersen, Die zinsbereinigte Einkommen- und Gewinnsteuer, 1999; Klemm, Allowances for Corporate Equity, 53 CES-ifo-Studies, 2007; Rumpf, StuW 2009, 333 (Abstimmung zwischen Abgeltungsteuer und zinsbereinigter Unternehmensteuer); Griffith/Hines/Sørensen, International Capital Taxation, in Institute for Fiscal Studies, Dimensions of Tax Design, 2010, 914 (973 ff.); Zöller, Die Zinsbereinigte Gewinnsteuer (ZGS), Diss., 2011.
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§3
Rz. 79
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
nigung unter dem Akzeptanzproblem, dass einer vollständigen Steuerfreiheit von Zinsen die Steuerpflicht von Arbeitseinkünften gegenübersteht. Daher vermittelt die Zinsbereinigung das Bild einer unvollständigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, so dass sie nicht nur von Juristen, sondern auch von prominenten Ökonomen abgelehnt wird1. Dessen ungeachtet findet eine partielle Zinsbereinigung durch niedrige Abgeltungsteuern auf private Kapitaleinkünfte weltweite Verbreitung, vgl. Einführung von § 32d EStG durch Unternehmensteuerreformgesetz 2008 v. 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912.
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– Trends/Entwürfe2: Der allgemeine Trend zur Konsumorientierung der Besteuerung3 im Zeitalter der Globalisierung ist nicht mehr zu übersehen. International lassen sich drei Wege konsumorientierter Besteuerung von Einkommen ausmachen, erstens die Verlagerung der Steuerlasten von den direkten Ertragsteuern zu den indirekten Konsumsteuern, zweitens die Schedulisierung der Ertragsbesteuerung durch duale Einkommensteuer u.a. Formen gezielt niedriger Besteuerung von investitionsrelevanten Einkommen, und drittens die immer stärkere Spreizung von niedrigem Körperschaftsteuersatz und höherem Spitzensatz der Einkommensteuer (s. § 7 Rz. 88 ff.; § 13 Rz. 181).
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Die Methoden der Konsumorientierung bezwecken die lebenszeitliche oder überperiodische Gleichmäßigkeit (sog. intertemporale Neutralität) der Besteuerung. Werden Zinsen traditionell periodenbesteuert, so steigt die „finale“ Steuerlast gegenüber der Steuerbelastung des innerhalb einer Periode konsumierten Einkommens (s. nachfolgendes Beispiel). Dieser überperiodische Anstieg der Steuerlast wird durch Inflation und Progression verstärkt. Er diskriminiert das Kapitaleinkommen gegenüber sofort konsumiertem (Arbeits-)Einkommen. Die Periodizität ist der fundamentale Fehler des traditionellen Einkommensbegriffs: Der Periodenschnitt ist mit einer lebenszeitlich angelegten Messung steuerlicher Leistungsfähigkeit unvereinbar und verzerrt die Entscheidung zwischen Sparen und Konsum. Dieser steuerlichen Präferenz des Gegenwartskonsums gegenüber dem durch Sparen ermöglichten Zukunftskonsum wirken nachgelagerte und zinsbereinigte Besteuerung entgegen4. Beispiel: Legt ein Sparer im Alter von 25 Jahren 10 000 Euro zu 6 % an, dann beträgt das Sparguthaben im Alter von 65 Jahren 102 857 Euro, wenn die Zinsen nicht besteuert werden. Wird das Sparguthaben erst im Zeitpunkt des späteren Konsums mit einem Steuersatz von 30 % besteuert, verbleiben dem Sparer nach Steuern 72 000 Euro (102 857–30 857 Euro). Im Falle der periodischen Besteuerung der Zinsen mit einem Steuersatz von 30 % verfügt der 65jährige Sparer nach Steuern über ein Sparguthaben von lediglich 36 292 Euro. Daraus resultiert eine überperiodische Steuerlast von 64,72 % Die Steuerbelastung hat sich also im Gesamtergebnis mehr als verdoppelt. Sowohl bei einer Zinsbereinigung als auch bei einer Sparbereinigung der Einkünfte bleibt die Steuerlast dagegen konstant.
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Die Konsumorientierung der Markteinkommen dient also der Verwirklichung des Gleichheitssatzes, indem die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit überperiodisch gleichmäßig gemessen wird5. 1 Homburg in Rose, Standpunkte zur aktuellen Steuerreform, 1997, 107 (111 ff.); Hackmann in Andel, Probleme der Besteuerung II, 1999, 35; Schneider, StuW 2000, 421; Nguyen-Thanh/Rose/Thalmeier, StuW 2003, 169; Wurmsdobler, StuW 2003, 176 (aus österreichischer Sicht). 2 Bach/Scheremet/Teichmann, Internationale Entwicklungstendenzen nationaler Steuersysteme – von der direkten zur indirekten Besteuerung?, 2001; Rose, Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland, 2002; Jahresgutachten 2003/04 des Sachverständigenrats: Integration von KSt u. ESt sowie duale ESt (s. § 7 Rz. 89); Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, Habil., 2004; Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, 2004; Wiss. Beirat beim BMF, Flat Tax oder Duale Einkommensteuer?, Zwei Entwürfe zur Reform der deutschen Einkommensbesteuerung, BMF-Schriftenreihe, Heft 76, 2004; Essers/Rijkers, The Notion of Income from Capital, 2005 (Kölner Jahreskongress der EATLP 2003; Bericht von Horlemann, StuW 2003, 271) mit den Grundsatzreferaten von J. Lang (pro Leistungsfähigkeitsprinzip) und Gassner (contra Leistungsfähigkeitsprinzip) zu dem Thema: „The Influence of Tax Principles on the Taxation of Income from Capital“. 3 Krit. hierzu insb. Tipke, StRO II2, 638 ff. 4 Zu den positiven volkswirtschaftlichen Wirkungen nachgelagerter Besteuerung Fuest, FR 2011, 11 ff. 5 Ausf. zu den Vorzügen einer konsumorientierten Erfassung von Einkommen s. 20. Aufl., § 4 Rz. 122–123; a.A. P. Kirchhof, FS J. Lang, 2010, 451 (476: Lebenseinkommen „als Besteuerungsgegenstand gänzlich ungeeignet“); C. Wagner, Steuergleichheit unter Standortvorbehalt, Diss., 2010, 206 ff. (Ausrichtung am Lebenseinkommen nicht mit Art. 3 I GG vereinbar).
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Verfassungsrechtliche Maßstäbe des Steuerrechts
Rz. 89
§3
Nachgelagerte Besteuerung oder Zinsbereinigung beinhalten folglich keine Steuervergünstigungen, sondern lediglich die systemkonsequente Umsetzung des Leistungsfähigkeitsindikators konsumierbares Einkommen. Trotz aller Vorzüge einer konsumorientierten Besteuerung gibt es weder steuerrechtstheoretisch noch verfassungsrechtlich einen Zwang zu einer vollumfänglich lebenszeitlichen Definition steuerlicher Leistungsfähigkeit1. Unzweifelhaft unterteilt das Periodenprinzip einheitliche wirtschaftliche Sachverhalte in willkürliche Abschnitte. Zwingend bedarf es insoweit eines periodenübergreifenden Ausgleichs leistungsfähigkeitsbegründender und leistungsfähigkeitsmindernder Umstände, insb. durch einen unbegrenzten Verlustabzug. Ob der Gesetzgeber darüber hinaus intertemporale Neutralität durch Elemente der Spar- oder Zinsbereinigung anstrebt, obliegt dagegen seinem gesetzgeberischen Gestaltungsermessen. Dieses freilich muss er gleichheitssatzkonform ausüben, so. z.B. Beamte und Sozialversicherungsrentner gleichermaßen nachgelagert besteuern (s. Rz. 116 ff.; § 8 Rz. 564 f.). Einstweilen frei.
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C. Verfassungsrechtliche Maßstäbe des Steuerrechts Literatur: P. Kirchhof, Besteuerungsgewalt und Grundgesetz, 1973; Vogel, Steuergerechtigkeit und soziale Gestaltung, DStZA 1975, 409; Friauf, Unser Steuerstaat als Rechtsstaat, StbJb. 1977/78, 39; Birk, Steuergerechtigkeit und Transfergerechtigkeit, ZRP 1979, 221; Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, 1980; Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981; P. Kirchhof, Steuergerechtigkeit und sozialstaatliche Geldleistungen, JZ 1982, 305; Loritz, Das Grundgesetz und die Grenzen der Besteuerung, NJW 1986, 1; Vogel, Rechtfertigung der Steuern: Eine vergessene Vorfrage, Der Staat, 1986, 481; Martens, Grundrecht auf Steuergerechtigkeit?, KritV 1987, 39; Schuppert, Verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstäbe bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Steuergesetzen, in FS Zeidler, Bd. 1, 1987, 691; Friauf (Hrsg.), Steuerrecht im Verfassungsstaat, DStJG 12 (1989); Rodi, Die Rechtfertigung von Steuern als Verfassungsproblem, dargestellt am Beispiel der Gewerbesteuer, Diss., 1994; J. Lang, Über das Ethische der Steuertheorie von Klaus Tipke, in FS Tipke, 1995, 3; Stang, Auswirkungen der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts auf die Besteuerung, 1995; P. Kirchhof, Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Steuern, Symposion für Vogel, 1996, 27; Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich DeutschlandSchweiz, Diss., 1997; Scholz, Steuerstaat und Rechtsstaat, in FS Leisner, 1999, 797; P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000; Tipke, StRO I2, 2000, 105 ff., 228 ff.; Jachmann, Steuerrechtfertigung aus der Gemeinwohlverantwortung, DStZ 2001, 225; Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001; F. Kirchhof, Der Weg zur verfassungsgerechten Besteuerung, StuW 2002, 185; Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, Ansätze zu einer an der Gemeinwohlverantwortung des Einzelnen ausgerichteten Lastenverteilungsgerechtigkeit, 2003; Hey, Wandel der Verfassungsrechtsprechung, StBJb. 2007/08, 19; Kiehne, Grundrechte und Steuerordnung in der Rspr. des BVerfG, 2004; Mellinghoff, Steuergesetzgebung im Verfassungsstaat, Stbg. 2005, 1; Mellinghoff, Verfassungsgebundenheit des Steuergesetzgebers, in FS Bareis, 2005, 171; Di Fabio, Steuern und Gerechtigkeit – Das Freiheits- und Gleichheitsgebot im Steuerrecht, JZ 2007, 749; Papier, Steuerrecht im Wandel – verfassungsrechtliche Grenzen der Steuerpolitik, DStR 2007, 973; Tipke, Steuergerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Folgerichtigkeitsgebots, StuW 2007, 201; Thiesen, Steuerverfassungstheorie, Diss., 2008; Birk, Verfassungsfragen im Steuerrecht, DStR 2009, 877 (zur Rspr.); Birk, Steuerrecht und Verfassungsrecht – Zur Rolle der Rechtsprechung bei der verfassungskonformen Gestaltung der Steuerrechtsordnung, 2009; Waldhoff, Die „andere Seite“ des Steuerverfassungsrechts, in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des Steuerrechts, 2009, 125; Wernsmann, Zunehmende Europäisierung und Konstitutionalisierung als Herausforderungen für den Steuergesetzgeber, in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, 161; Breinersdorfer, Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers – einige Überlegungen anhand der Rspr. des BVerfG und EuGH, StuW 2009, 211; HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 370–781 (Verfassungsmaßstäbe der Besteuerung); Mellinghoff, Verfassungsbindung und weiter Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in FS Spindler, 2011, 153; Weber-Grellet, Das Koordinatensystem des BVerfG bei der Prüfung von Steuergesetzen, FR 2011, 1028; P. Kirchhof, Die Leistungsfähigkeit des Steuerrechts – Steuerrecht und Ver1 Englisch, Dividendenbesteuerung, Diss., 2005, 188 ff.; Niehus, DStZ 2000, 697 (700 f.).
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§3
Rz. 90
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
fassungsrecht, StuW 2011, 365; Mellinghoff, Steuerverfassungsrecht im Gespräch, FR 2012, 989; Kempny, Steuerrecht und Verfassungsrecht, StuW 2014, 185; Hey, Steuerrecht und Staatsrecht im Dialog: Nimmt das Steuerrecht in der Judikatur des BVerfG eine Sonderrolle ein?, StuW 2015, 3.
I. Steuern im Rechtsstaat 1. Formale und materiale Rechtsstaatlichkeit 90
Alle Staatsgewalten, so auch Steuergesetzgebung, -verwaltung und -rechtsprechung sind an die rechtsstaatliche Ordnung des Grundgesetzes und besonders die Grundrechte gebunden (Art. 1 III; 20 III GG). Art. 20 III 2. Hs. GG bindet die vollziehende Gewalt und die Rspr., so auch die Steuerverwaltung und die Steuerrechtsprechung an „Gesetz und Recht“. Die durch das Änderungsverbot des Art. 79 III GG besonders geschützte Rechtsstaatlichkeit bedeutet, dass die Ausübung der geteilten staatlichen Macht nur auf der Grundlage einer die Grundrechte gewährleistenden Verfassung und von formell und materiell verfassungsmäßig erlassenen Gesetzen mit dem Ziel der Gewährleistung von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zulässig ist1.
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Der Rechtsstaat hat eine formale und materiale Seite2. Historisch entwickelte sich zunächst der formale Rechtsstaat, der die Gewaltenteilung, die Herrschaft des Gesetzes (rule of law), die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und den Rechtsschutz gegen Akte öffentlicher Gewalt durch unabhängige Gerichte anerkennt3. Der formale Rechtsstaat verwirklicht vornehmlich die Rechtssicherheit. Die Deformierung des Rechtsstaats durch den Nationalsozialismus machte indes klar, dass ein Rechtsstaat ohne Gewährleistung materialer Gerechtigkeit undenkbar ist. Das Grundgesetz der BRD hat die formalen Elemente des Rechtsstaats übernommen, jedoch auf Grund der negativen Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung wesentliche materiale Elemente hinzugefügt. Der Rechtsstaat des Grundgesetzes ist zwar auch Gesetzesstaat; er verbürgt aber zugleich auch den materialen Rechtsstaat, der dem Ziel der Gerechtigkeit dient, was insb. in der Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 III GG) zum Ausdruck gebracht ist4. Die Gerechtigkeit wird durch die Werteordnung der Grundrechte5 substantiiert. Damit gewährleistet der materiale Rechtsstaat vor allem die Menschenwürde sowie die Gleichheit und Freiheit der Men1 Zum Begriff der Rechtsstaatlichkeit allgemein Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, HStR II3, 2004, § 26; Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat. Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte, Habil., 1997; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I2, 1984, § 20; Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, 2006. 2 Dazu Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I2, 1984, § 20, 772 ff.; Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, HStR II3, 2004, § 26, 997 f.; Benda in Benda/Maihofer/Vogel, Hdb. des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland2, 1994, 719 (720 ff.) (vom ,formalen’ zum ,materialen’ Rechtsstaat) u. grundl. für das Steuerrecht Tipke, StRO I2, 105 ff. 3 Allgemein durchgesetzt hat sich die auch Art. 1 III; 20 III GG zugrunde liegende Dreiteilung der Gewalten nach dem 1748 in Genf veröffentlichten „De l’esprit des Lois“ von Charles de Montesquieu: Gesetzgebung (puissance législative), vollziehende Gewalt (puissance exécutrice) u. Rspr. (puissance de juger). Die geteilten Gewalten des Staates sollen sich gegenseitig begrenzen u. kontrollieren, besonders soll die Rspr. die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns kontrollieren u. gewährleisten. Zum rechtsstaatlichen Gewaltenteilungsgrundsatz Stern, Das Staatsrecht in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I2, 1984, 792 ff., u. ausf. Bd. II, 1980, § 36; Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, HStR II3, 2004, § 26, 565 ff. Im Steuerrecht wird allerdings der Gewaltenteilungsgrundsatz durch die dominierende fachliche Mitwirkung der Ministerialbürokratien von Bund und Ländern gefährdet. Dazu Westerfelhaus, DStZ 1997, 129. 4 Dazu Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I2, 1984, § 20, 772 ff.; Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht: Eine verfassungsrechtliche und verfassungstheoretische Untersuchung zu Art. 20 III GG, Diss., 2003; Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, HStR II3, 2004, § 26, 1007 (mit der Formel von „Gesetz und Recht“ wolle die Verfassung auf die Idee der Gerechtigkeit hinführen). 5 Di Fabio, JZ 2004, 1.
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Steuern im Rechtsstaat
Rz. 94
§3
schen; ohne solche Menschenrechte ist der Rechtsstaat undenkbar. Zudem dient der soziale Rechtsstaat (Art. 20; 28 I GG) dem Ziel sozialer Gerechtigkeit1. Die historische Entwicklung vom formalen zum materialen Rechtsstaat findet auch im Steuerrecht ihren Niederschlag. Während der Weimarer Zeit befasste sich die Steuerrechtswissenschaft hauptsächlich mit den Elementen der formalen Rechtsstaatlichkeit, mit der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, der Lehre vom Steuertatbestand (§ 38 AO), dem verfahrensrechtlichen Steuergeheimnis und Fragen des Rechtsschutzes, des rechtlichen Gehörs etc.2. Erst in der Nachkriegszeit, unter der Geltung des Grundgesetzes, rückten die Themen der materialen Rechtsstaatlichkeit, der Steuergerechtigkeit und Rechtfertigung von Steuern, der gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit3 und der freiheitsrechtlichen Steuereingriffsschranken in den Vordergrund, wurde die Steuerrechtswissenschaft, soweit sie sich mit den vorgenannten Themen befasste, zur Steuergerechtigkeitswissenschaft4.
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2. Verwirklichung formaler Rechtsstaatlichkeit im Steuerrecht Das Ziel des formalen Rechtsstaats, dem Bürger Rechtssicherheit zu gewähren, verwirklicht im Steuerrecht zunächst der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung (s. Rz. 230 ff.), konkretisiert durch das den Gesetzgeber verpflichtende Prinzip der Bestimmtheit von Steuergesetzen (s. Rz. 243 ff.) und das Verbot rückwirkender Steuergesetze (s. Rz. 260 ff.).
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Der formale Rechtsstaat muss überdies einen Ausgleich zwischen Rechtsrichtigkeit und Rechtssicherheit schaffen. Geschützt ist das Vertrauen in behördliches Verhalten. Deshalb darf die Finanzverwaltung aus Gründen der Rechtssicherheit Verwaltungsvorschriften nicht rückwirkend verschärfen (s. Rz. 282). Sie ist an Zusagen gebunden (s. § 21 Rz. 14 ff.). Der formal-rechtsstaatliche Vertrauensschutzgrundsatz begründet die Bestandskraft von Steuerverwaltungsakten, nach der wirksame Verwaltungsakte nur noch unter besonderen Voraussetzungen zum Nachteil des Bürgers aufgehoben oder geändert werden dürfen (s. § 21 Rz. 381 ff.). Hier wirkt die formale Rechtsstaatlichkeit und das Ziel der Rechtssicherheit zu Lasten der materialen Rechtsstaatlichkeit über die Gesetzmäßigkeit hinaus, denn auch rechtswidrige Steuerverwaltungsakte, die mit dem Gesetz nicht zu vereinbaren sind, wachsen in Bestandskraft (s. § 21 Rz. 80 ff.). Schließlich genießt der Stpfl. im formal-rechtsstaatlichen System der Gewaltenteilung lückenlosen Rechtsschutz (s. § 22).
3. Verwirklichung materialer Rechtsstaatlichkeit im Steuerrecht Der materiale Rechtsstaat wirft die Fragen über Steuergerechtigkeit und die Rechtfertigung von Steuern auf. Die Frage, ob die Auferlegung von Steuern überhaupt gerechtfertigt ist5, wird im Steuerstaat ohne Weiteres bejaht. Gerungen wird um die Fragen des „wie“ der Besteuerung in einem Vielsteuersystem6, um die Fragen der Rechtfertigung einzelner Besteuerungsformen, Steuerarten, der gerechten Ausgestaltung von Bemessungsgrundlagen und der Begrenzung der Steuerlasten. Letztere Frage, mit der sich insb. Klaus Vogel7 beschäftigt hat, lenkt auf die Staats1 Dazu Benda, Der soziale Rechtsstaat, in Benda/Maihofer/Vogel, Hdb. des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland2, 1994, 719; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland20, 1999, 83 ff. 2 S. Tipke, StRO I2, 107 f. 3 In Bezug auf Art. 134 WRV (s. § 2 Rz. 8) grundl. schon Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen des Gesetzgebers, Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit – Gleichheit vor dem Gesetz, VJSchrStFR 1930, 441. 4 Dazu eindringlich Vogel, DStZ 1975, 409. Grundl. zu Grenzen und Relativität von Steuergerechtigkeit Birk, StuW 2011, 354. 5 Nach Tipke, StRO I2, 228, die allgemeine Steuerrechtfertigungstheorie, mit der sich insb. auch Vogel, Rechtfertigung der Steuern, Der Staat, 1986, 481 ff., befasst hat. Dazu aus österreichischer Sicht Ruppe, StuW 2011, 372. 6 Dazu umfassend Tipke, StRO II2 (Steuerrechtfertigungstheorie, Anwendung auf alle Steuerarten, sachgerechtes Steuersystem). 7 Vogel, Verfassungsgrenzen für Steuern und Staatsausgaben?, FS Maunz, 1981, 415; Vogel, Rechtfertigung der Steuern, 481 ff.; Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, HStR II3, 2004, § 30, 875 ff.
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§3
Rz. 95
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
ausgaben1 hin: Der staatliche Einnahmebedarf wird nicht aus dem Steuerrecht, sondern durch die Definition von Staatsaufgaben und Staatsausgaben determiniert. Freilich stehen beide Seiten in einer Wechselbeziehung. Je drückender die Steuerlasten für den Bürger werden, desto schwieriger ist Steuergerechtigkeit gegen Steuerwiderstand, -vermeidung und -verdrossenheit durchzusetzen, und desto mehr empört Steuerverschwendung2, die der Rechtfertigung von Steuern den Boden entzieht. 95
Im materialen Rechtsstaat lassen sich Steuern nur rechtfertigen, wenn sie gerecht im Sinne der grundrechtlichen Werteordnung ausgestaltet sind; d.h. die formal-rechtsstaatliche Funktion des Legalitätsprinzips garantiert noch keine gerechten Steuern. Hierzu ist der Inhalt der verfassungsrechtlichen Werteordnung zu erforschen, der durch die Prinzipien materialer Rechtsstaatlichkeit bestimmt wird3. Es handelt sich um systemtragende Prinzipien des Steuerrechts (s. Rz. 13), die als richtunggebende Maßstäbe (s. Rz. 11) die Gerechtigkeit der Steuerrechtsordnung bestimmen.
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Die Steuergerechtigkeit wird wesentlich durch die Gleichmäßigkeit der Besteuerung bestimmt. Aus Art. 1 III; 20 III GG folgt, dass der Gesetzgeber selbst an den Gleichheitssatz und die in ihm verankerte Steuergerechtigkeit gebunden ist, gleichheitswidrige Steuergesetze verfassungswidrig sind. Mit dem material-rechtsstaatlichen Gehalt des Legalitätsprinzips ist ein wertungsfreier, gerechtigkeitsfreier Gesetzespositivismus nicht zu vereinbaren. Der Steuergesetzgeber muss sich bei der Ausübung seines Gestaltungsrechts primär von Gerechtigkeitserwägungen leiten lassen4. Die Abgabenordnung erinnert an zentralen Stellen an die das Wesen der material-rechtsstaatlichen Steuer prägenden systemtragenden Prinzipien der Steuergleichheit und der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung sowie an den Kontext beider systemtragender Prinzipien, so in der Legaldefinition des Steuerbegriffs (§ 3 I AO) und in § 85 AO, der „Besteuerungsgrundsätze“ regelt. Nach § 3 I AO muss die Steuer allen auferlegt sein, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Dieser Passus der Legaldefinition enthält keine Begriffsmerkmale der Steuer, denn eine Abgabe ist auch dann eine Steuer, wenn sie die Anforderungen der Steuergleichheit und Gesetzmäßigkeit nicht erfüllt. Er bringt vielmehr das Wesen der material-rechtsstaatlichen Steuer programmatisch, appellhaft zum Ausdruck.
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Die systemtragenden Prinzipien der Steuergleichheit und der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung werden ergänzt durch das Prinzip sozialstaatlich gerechter Besteuerung (s. Rz. 210 ff.) und durch die prohibitiven Prinzipien der Steuereingriffsschranken. Steuereingriffsschranken ergeben sich aus: – dem grundrechtlichen Schutz der Menschenwürde (Art. 1 I GG) und dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG); – dem in dem Schutzgebot des Art. 6 I GG verankerten Verbot der Benachteiligung von Ehe und Familie (s. Rz. 162 ff.); – dem rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Übermaßverbot (s. Rz. 180 ff.), u.a. in seiner Ausprägung als Verbot der Erdrosselungssteuer, das aus den Art. 12 I; 14 I GG abgeleitet ist (s. Rz. 184 f.).
1 Zu dem Zusammenhang zwischen Steuern u. Staatsausgaben grundl. auch v. Arnim, Besteuerung und Eigentum, VVDStRL 39 (1981), 286 (311 ff.) (zur Notwendigkeit eines Durchgriffs auf die Steuerverwendung). 2 Dazu insb. Tipke, Steuergerechtigkeit, 171 ff. (s. J. Lang, StuW 2001, 79). 3 Dazu umfassend Tipke, StRO I2, 228 ff. (Prinzipien materialer Rechtsstaatlichkeit), 256 ff. (Gerechtigkeit durch systemtragende Prinzipien). 4 Tipke, StRO II2, 587; krit. gegenüber dem Topos der Steuergerechtigkeit Droege, RW 2013, 374; zu Steuergerechtigkeit s. außerdem § 1 Rz. 2 ff.
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Rz. 101
§3
Gestritten wird, ob ein Unterschied zwischen Steuergerechtigkeit und Verfassungsmäßigkeit des Steuerrechts besteht. Kann es ungerechte Steuern unterhalb der Verfassungswidrigkeit geben? Gibt es einen verfassungsrechtlichen Zwang, stets die gerechteste Lösung zu wählen? Gibt es eine solche überhaupt1? Wie weit reicht die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers? Ist eine Konstitutionalisierung des Steuerrechts Fluch oder Segen?
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Prinzipien eines gerechten Steuersystems lassen sich sowohl ökonomisch als auch juristisch gewinnen. Fragen der Steuergerechtigkeit sind größtenteils universell, sie können unabhängig von einer konkreten Verfassung anhand allgemeiner rechtsethischer Prinzipen beantwortet werden. Dabei bestehen durchaus erhebliche Wertungsspielräume, die freilich nicht beliebig, sondern der Sachlogik der Besteuerung folgend auszufüllen sind.
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Steuern im Rechtsstaat
4. Steuergerechtigkeit und Verfassungsrecht
Die Steuerpolitik missachtet diese Sachgesetzlichkeiten, ist taub gegenüber Argumenten juristisch-ökonomischer Rationalität, reklamiert weitreichende Gestaltungsfreiheit und fühlt sich in erster Linie dem Steueraufkommen verpflichtet2. Sie lässt sich allenfalls mit dem Hinweis auf verfassungsrechtliche Vorgaben in die Schranken weisen. Daher ist die Intention, Fragen der gerechten Ausgestaltung von Steuern zu verfassungsrechtlichen zu machen, nur allzu verständlich. Zur Durchsetzung von Steuergerechtigkeit bedarf es des BVerfG3, dessen Pro-FuturoRspr. (s. § 22 Rz. 287 f.) allerdings hohe Risikobereitschaft des Gesetzgebers ermöglicht. Nachdem sich das BVerfG in den 1960er und 1970er Jahren größte Zurückhaltung auferlegt hat, leistet es seit Beginn der 1980er Jahre unverzichtbare Beiträge zur Durchsetzung der systemtragenden Prinzipien eines verfassungskonformen Steuerrechts4. Das BVerfG lässt keinen Zweifel, dass der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum verfassungsrechtlich durch die Prinzipien der finanziellen Leistungsfähigkeit und der Folgerichtigkeit begrenzt ist (s. Rz. 118 ff.). Stringent gewährleistet es die Steuerfreiheit des Existenzminimums (s. Rz. 160) und den Schutz von Ehe und Familie (s. Rz. 162 ff.). Es erteilt reinen (Gegen-)Finanzierungsinteressen eine scharfe Absage und hat die Anforderungen an den rechtsstaatlichen Vertrauensschutz (s. Rz. 260 ff.) verschärft. Das Prinzip eigentumsschonender Besteuerung (s. Rz. 189 ff.) hat der Zweite Senat nach Aufgabe des sog. Halbteilungsgrundsatzes zwar mittlerweile zurückgenommen, indes ohne es vollständig aufzugeben (s. Rz. 196 f.).
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Allerdings ist gerade die Rspr. zu Art. 3 I GG nicht immer vorhersehbar. Das Ausmaß der Gruppenungleichheit im Steuerrecht führt die Praxis des BVerfG immer wieder an einen Scheideweg. Das Gericht kann sich auf die formal-rechtsstaatliche Gewaltenteilung berufen, den Grundsatz richterlicher Zurückhaltung (den sog. judicial self-restraint5) bemühen und die Weite des dem Gesetzgeber eingeräumten Gestaltungsspielraums betonen. Alternativ kann es dem Steuergesetzgeber abverlangen, dass er die ihm eingeräumte Gerechtigkeitskompetenz wahrnimmt, indem er die Gerechtigkeitswertungen der Verfassung befolgt und die von ihm selbst gesetzten Wertungen und Sachgesetzlichkeiten system- und wertungskonsequent vollzieht. Das BVerfG wird zu „judicial activism“ herausgefordert, wenn der Gesetzgeber seine Verantwortung für das Recht und den ihm zugewiesenen Handlungsspielraum nicht wahrnimmt. Die verfassungsrechtliche Bindung des Steuergesetzgebers durch die Gebote der Sachgerechtigkeit und Folgerichtigkeit ist nicht nur unter Staatsrechtlern6, sondern auch unter Steuerrecht1 Hierzu grundl. Birk, StuW 2011, 354; Tipke in Kube/Mellinghoff u.a., Leitgedanken des Rechts, Bd. II 2013, § 146. 2 S. insb. Nawrath, DStR 2009, 2; zustimmend Lepsius, JZ 2009, 260 (262), der für eine Aufwertung des Fiskalzwecks auch in der verfassungsgerichtlichen Rechtfertigungsdogmatik plädiert; grundl. gegen einen derartigen Fiskalismus Hey, FR 2008, 1033; Tipke, JZ 2009, 533. 3 Englisch, FS J. Lang, 2010, 167 (169). 4 Dazu Hey, StbJb. 2007/2008, 19; Tipke, JZ 2009, 533. Grds. a.A. Lepsius, JZ 2009, 260. 5 Dazu Kriele, HStR IX3, 2007, § 188 Rz. 9 f. 6 Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, 232, 238; Kischel, AöR 124 (1999), 174 (187), Wieland, DStJG 24 (2001), 29 (37 ff., 44 ff.); Lepsius, JZ 2009, 260 (263); Droege, RW 2013, 374 (385 ff.; 394).
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§3
Rz. 102
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
lern1 nicht unwidersprochen. Der Vorwurf des judicial activism zeiht das BVerfG der Verkennung seiner Position im gewaltengeteilten Staat und Übergriffen in die Kompetenzbereiche des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. Demokratisch legitimiert ist der Gesetzgeber freilich nicht zu Steuerwillkür und Systemlosigkeit. Die Kritik an der Konstitutionalisierung des Steuerrechts läuft Gefahr, einem Rechtsgebiet die rechtsstaatliche Basis zu entziehen, auf dem der Bürger dem Staat alltäglich begegnet. Das BVerfG trägt besondere Verantwortlichkeit für die Verwirklichung des Rechtsstaats im Steuerrecht2. Es muss sich dem prinzipienlos handelnden Gesetzgeber entgegenstemmen. 102
Dies heißt freilich nicht, jedwede Frage des Steuerrechts sei verfassungsrechtlich determiniert. Es bleiben weitreichende Wertungs- und Konkretisierungsspielräume innerhalb der verfassungsrechtlichen Vorgaben3, wie etwa die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Indikatoren steuerlicher Leistungsfähigkeit verdeutlicht (Rz. 55 ff.). Sowohl Kapital als auch Konsum sind sachgerechte Maßgrößen steuerlicher Leistungsfähigkeit. Die Entscheidung zwischen beiden obliegt daher der Gestaltungshoheit des Steuergesetzgebers. Insofern führt die Steuerrechtfertigung notwendig über den Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen hinaus4, weil in der Verfassung die Steuerrechtsordnung zu wenig konkret festgeschrieben ist, um das BVerfG instand zu setzen, vom Gesetzgeber ein gerechtes Steuersystem zu erzwingen. Die formal-rechtsstaatliche Begrenzung der Richtermacht gegenüber dem Gesetzgeber erzeugt Gerechtigkeitslücken, die die Rechtfertigungslehre aufzudecken hat. Die Vermögensteuer, die Grundsteuer und die Gewerbesteuer mögen verfassungsrechtlich zulässig sein. Deshalb sind sie aber noch nicht durch Prinzipien eines gerechten Steuersystems (s. hierzu § 7 Rz. 37, 42 f.) gerechtfertigt5. Die dem Gesetzgeber verbleibenden erheblichen Gestaltungsspielräume nicht allein nach politischem Opportunismus auszufüllen, sondern anhand dogmatisch begründeter Steuergerechtigkeitsüberlegungen ist gemeinsame Aufgabe der Steuerwissenschaften. Insb. können hier auch ökonomische Effizienzpostulate einfließen6. Einstweilen frei.
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II. Gleichmäßigkeit der Besteuerung 1. Bedeutung und Inhalt des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 I GG) im Steuerrecht Literatur: Allgemeine: Kommentare zu Art. 3 GG, hier wegen der ausführlichen Behandlung der Steuergleichheit besonders zu empfehlen die Kommentierungen von Rüfner, Bonner Kommentar zum GG, Art. 3 GG Abs. 1 Rz. 196 ff. (1992); Osterloh in Sachs, GG-Kommentar6, 2011, Art. 3 GG 1 Wernsmann, in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, 161, 165 ff.; HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 520 (2009); Droege, StuW 2011, 105 ff. (insb. für die Rechtsanwendung); zwischen Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit differenzierend Drüen, FS Spindler, 2011, 29 (38 ff.); Eckhoff in Kube/Mellinghoff u.a., Leitgedanken des Rechts, Bd. II 2013, § 148 Rz. 10; zurückhaltend auch Musil in Schön/Röder (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts II, 2014, 129 (136 ff.); Kempny, StuW 2014, 185 (199): Indiz, nicht Bedingung. 2 Tipke, StRO III2, 1354 ff.; ferner dezidiert auch Schön, StuW 2013, 289 (293 ff.): „kraftvolle grundrechtliche Kontrolle“ mit Folgerichtigkeit als Leitidee; Eckhoff in Kube/Mellinghoff u.a., Leitgedanken des Rechts, Bd. II 2013, § 148 Rz. 5. 3 Englisch, FS J. Lang, 2010, 167 (201 f.); Drüen, DStJG 37 (2014), 9 (45 f.). 4 Vgl. die Rezension von Sachs, StVj 1993, 283 (287) (Tipke ginge es „letztlich nicht um die Verfassungsmäßigkeit, sondern um die Gerechtigkeit der Steuerrechtsordnung“). 5 S. Tipke, StRO II2, 914 ff. (Vermögensteuer), 953 ff. (Grundsteuer), 1132 ff. (Gewerbesteuer), u. Rz. 60 ff. 6 Englisch, FS J. Lang, 2010, 167 (181); vgl. ferner die normativ-ökonomischen Arbeiten etwa von Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, 1970; Haller, Die Steuern3, Grundlinien eines rationalen Systems öffentlicher Abgaben, 1981; Rose, Überlegungen zur Steuergerechtigkeit aus betriebswirtschaftlicher Sicht, StuW 1985, 330; Walzer, Steuergerechtigkeit, 1987; Elschen, StuW 1988, 1 ff.; Franke, Steuerpolitik in der Demokratie, Habil., 1993, 39 ff.; Fuest, DStJG 37 (2014), 67.
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Gleichmäßigkeit der Besteuerung
Rz. 110
§3
Rz. 134–171; Leibholz/Rinck, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 3 GG Rz. 496–955; Abhandlungen: Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz2, 1959; Zippelius/Müller, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), 7 (37); P. Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, HStR VIII3, 2010, § 181; Huster, Rechte und Ziele, Zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes, Diss., 1993. Besondere: P. Kirchhof, Steuergleichheit, StuW 1984, 297; Arndt, Gleichheit im Steuerrecht, NVwZ 1988, 787; Birk, Gleichheit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, StuW 1989, 212; Kruse, Über die Gleichmäßigkeit der Besteuerung, StuW 1990, 332; Sachs, Die Auswirkungen des allgemeinen Gleichheitssatzes auf das Steuerrecht in der Rspr. des BVerfG, StVj 1994, 75; Koblenzer, Der allgemeine Gleichheitssatz im Steuerrecht, SteuerStud 1999, 390; Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000 (dazu Waldhoff, StuW 2000, 217); Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz – Rechtsfolgen und Rechtsschutz, 2000; Tipke, StRO I2, 2000, 282 ff.; Vogel in FS 50 Jahre BVerfG, 2001, 527 (541 ff.); Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, 32 ff.; Seiler, Das Steuerrecht als Ausgangspunkt aktueller Fortentwicklungen der Gleichheitsdogmatik, JZ 2004, 481; J. Lang, Die gleichheitsrechtliche Verwirklichung der Steuerrechtsordnung, StuW 2006, 22; Gosch, Vielerlei Gleichheiten – Das Steuerrecht im Spannungsfeld von bilateralen, supranationalen und verfassungsrechtlichen Anforderungen, DStR 2007, 1553; Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2009, 175; Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, in FS J. Lang, 2010, 167; Eckhoff, in Kube/Mellinghoff u.a., Leitgedanken des Rechts, Bd. II 2013, § 148 Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Internationale: Klett, Der Gleichheitssatz im Steuerrecht, Zeitschrift für Schweizerisches Recht 1992, 2. Hbd., 1; Steichen, Der Gleichheitssatz im Europäischen Steuerrecht, in FS Debatin, 1997, 417; Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich DeutschlandSchweiz, Diss., 1997, 313 ff.; Meussen, The Principle of Equality in European Taxation, Kluwer Law International 1999 (Rezension von Reimer, StuW 2000, 285); Tipke/Bozza, Besteuerung von Einkommen, Rechtsvergleich Italien, Deutschland, Spanien, 2000, u.a. mit Beiträgen zur Steuergerechtigkeit (Tipke u. Moschetti) u. zum Gleichheitssatz (Birk u. Paladin); Tipke, StRO I2, 2000, 307 ff.; BinistiJahndorf, StuW 2001, 341 (346 ff.) (Frankreich); Marx, Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung in Frankreich, 2001, 104 ff.; Sokoloff/Zolt, Inequality and Taxation, Tax Law Review 2006, 167.
Die Steuergerechtigkeit wird hauptsächlich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) abgeleitet1. Dies entspricht der Bedeutung des Gleichheitssatzes als einer grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellung des GG, als einem Schlüsselbegriff der Gerechtigkeit2. Die Regelung des Art. 3 I GG gebietet die Gleichheit vor dem Gesetz, bezieht sich also unmittelbar auf die Gesetzesanwendung. Demnach schreibt Art. 3 I GG die gleichmäßige Anwendung der Steuergesetze durch die Finanzbehörden3 und die Finanzgerichte vor (sog. Rechtsanwendungsgleichheit4). Darüber hinaus ist gem. Art. 1 III; 20 III GG auch der Steuergesetzgeber an den Gleichheitssatz gebunden5. Das Gebot dieser sog. Rechtsetzungsgleichheit richtet an den Gesetzgeber einen am Wertesystem des Grundgesetzes orientierten Gerechtigkeitsauftrag. Grundrechtsberechtigt sind natürliche Personen. Nach Maßgabe des Art. 19 III GG gilt der Gleichheitssatz ferner für inländische juristische Personen, die ebenfalls Zuordnungssubjekte 1 BVerfGE 6, 55 (70); 35, 324 (335); 43, 108 (118 f.); 66, 214 (223); 82, 60 (88); 97, 332 (346); 117, 1 (30); 127, 1 (27 f.); Bonner Komm./Rüfner, Art. 3 Abs. 1 GG Rz. 2 ff. (1992); Tipke, StRO I2, 282 ff., 298 ff.; Huster, Rechte und Ziele, Diss., 1993, 29 ff. 2 Zippelius, VVDStRL 47 (1989), 7 (23), ihm zust. Böckenförde, VVDStRL 47 (1989), 63 (95) (Gleichheitssatz als Gerechtigkeitsauftrag). 3 § 85 AO: „Die Finanzbehörden haben die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben. Insb. haben sie sicherzustellen, dass Steuern nicht verkürzt, zu Unrecht erhoben oder Steuererstattungen und Steuervergütungen nicht zu Unrecht gewährt oder versagt werden“. 4 Grundl. das Zinssteuerurteil BVerfGE 84, 239 (s. Rz. 113), im Weiteren BFH BStBl. 1992, 707; 1997, 499 (508); 1999, 361 (Trinkgelder). Lit.: Tipke in Vogelgesang, Perspektiven der Finanzverwaltung, 1992, 95; Ondracek, FS Ritter, 1997, 227; Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, Habil., 1999; Tipke, FS Offerhaus, 1999, 819; Vogel, Ungleichheiten beim Vollzug von Steuergesetzen im Bundesstaat, 2000; Karl, DStZ 2002, 598; Pezzer, StuW 2007, 101; Waldhoff, StuW 2013, 121. 5 BVerfGE 1, 14 (52); 32, 346 (360); 34, 325 (328); 42, 64 (72); P. Kirchhof, HStR VIII3, 2010, § 181 Rz. 5, 8; Huster, Rechte und Ziele, Diss., 1993, 15 ff.
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§3
Rz. 111
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
steuerlicher Leistungsfähigkeit sein können (s. Rz. 51). Die ausdrückliche Ausgrenzung ausländischer juristischer Personen (s. m.w.N. BFH BStBl. 2001, 290) wird durch die europarechtlichen Diskriminierungsverbote (s. § 4 Rz. 79 ff.) teilweise aufgefangen1.
2. Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit 111
Der an den Gesetzgeber gerichtete Gerechtigkeitsauftrag muss gleichheitseffizient erfüllt werden. Im Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit treten formale und materiale Rechtsstaatlichkeit (s. Rz. 90 ff.) in eine Wechselbeziehung, die unmittelbar im allgemeinen Gleichheitssatz normiert ist: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ (Art. 3 I GG). Steuergleichheit ist nur dann verwirklicht, wenn das gleichheitssatzkonforme Gesetz auch gleichmäßig angewendet wird. Gleichheit meint Gleichheit im tatsächlichen Belastungserfolg. Dieser Kontext zwischen Steuergleichheit und Gesetzmäßigkeit erweitert den ursprünglich formal-rechtsstaatlichen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung (s. Rz. 230 ff.) um eine material-rechtsstaatliche Komponente.
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Gesetzwidrige Verwaltungspraxis verletzt sowohl das Prinzip der Gesetzmäßigkeit als auch den Gleichheitssatz in Gestalt der Rechtsanwendungsgleichheit; Beispiel: Steuervereinbarungen, s. Rz. 240. Die Gleichheit vor dem geltenden, das Recht verkörpernden Gesetz gewährt grds. keine Gleichheit im Unrecht2. Daher kann sich der Stpfl. nicht auf eine gesetzwidrige Verwaltungspraxis berufen und verlangen, ebenso wie andere Stpfl. entgegen dem Gesetz begünstigt zu werden. Beispiel: Mangelnde Kontrollen bei einer Gruppe von Stpfl. vermitteln Stpfl. einer anderen Gruppe keinen Anspruch, dass bei ihr auch der Untersuchungsgrundsatz (§ 88 AO) verletzt wird. Schöpft die Verwaltung verfassungswidrig die ihr vom Steuergesetz eingeräumten Möglichkeiten nicht aus, so kann der Stpfl. nicht verlangen, ebenso wie andere verschont zu werden.
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Eine Klagebefugnis besitzt er jedoch dann, wenn die Ungleichbehandlung nicht nur auf einem im Massenverfahren jederzeit vorkommenden Vollzugsmangel, sondern auf einem strukturellen, dem Gesetzgeber zurechenbaren Vollzugsdefizit beruht (zur Klagebefugnis s. § 22 Rz. 127). In diesem Fall führt die gleichheitswidrige Verwaltungspraxis sogar zur Verfassungswidrigkeit der materiellen Gesetzesnorm selbst3. Das gleichheitsgerecht gesetzte Recht wird gleichheitswidrig, wenn es nicht auch gleichheitsgerecht vollzogen wird. Mit dem Schluss vom Vollzugsdefizit auf die Verfassungswidrigkeit der unzureichend vollzogenen materiellen Norm hat das BVerfG dem Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht wie in keinem anderen Rechtsgebiet zum Durchbruch verholfen4. Gleichheitseffizienz heißt nach dem 1. Leitsatz des Zinsurteils von 19915: „Der Gleichheitssatz verlangt für das Steuerrecht, dass die Stpfl. durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden. Die Besteuerungsgleichheit hat mithin als ihre Komponenten die Gleichheit der normativen Steuerpflicht ebenso wie die Gleichheit bei deren Durchsetzung in der Steuererhebung. Daraus folgt, dass das materielle Steuergesetz in ein normatives Umfeld eingebettet sein muss, welches die Gleichheit der Belastung auch hinsichtlich des tatsächlichen Erfolges prinzipiell gewährleistet“. Die steuerliche Lastengleichheit fordere, „dass das materielle Steuergesetz die Gewähr seiner regelmäßigen Durchsetzbarkeit so weit wie möglich in sich selbst trägt“6. Eine gesetzliche Regelung verletze den Gleichheitssatz, wenn das „Ziel der Gleichheit im Belastungserfolg prinzipiell nicht zu erreichen“ sei7. Der Gesetzgeber müsse die Steuerehrlichkeit durch „hinreichende, die steuerliche Belastungs1 2 3 4
Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000, 21. Dazu ausf. P. Kirchhof, HStR V2, 2000, § 125 Rz. 65 ff.; Pauly, JZ 1997, 647; BFH/NV 2001, 296. S. BVerfGE 84, 239 (272). Hierzu i.E. Birk, StuW 2004, 277; Hey, DB 2004, 724; Kraft/Bäuml, DB 2004, 615 (Analyse zu BVerfG/BFH); Winterhoff, Steuerverfahrensrecht und tatsächliche Belastungsgleichheit, Zur Verfassungswidrigkeit der Spekulationsgewinnbesteuerung, Diss., 2004; Meyer, DÖV 2005, 551. 5 BVerfGE 84, 239. 6 BVerfGE 84, 239 (271). 7 BVerfGE 84, 239 (272).
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Gleichmäßigkeit der Besteuerung
Rz. 115
§3
gleichheit gewährleistende Kontrollmöglichkeiten abstützen. Im Veranlagungsverfahren bedarf das Deklarationsprinzip der Ergänzung durch das Verifikationsprinzip“1. Diese Rspr. führte das BVerfG mit dem Spekulationssteuerurteil2 zu dem von Tipke angestrengten Musterprozess fort: Verfassungsrechtlich verboten sei „der Widerspruch zwischen dem normativen Befehl der materiell pflichtbegründenden Steuernorm und der nicht auf Durchsetzung angelegten Erhebungsregel. Zur Gleichheitswidrigkeit führt nicht ohne weiteres die empirische Ineffizienz von Rechtsnormen, wohl aber das normative Defizit des widersprüchlich auf Ineffektivität angelegten Rechts“ (2. Leitsatz).
Vor allem im Spekulationssteuerurteil wird der Ausnahmecharakter der Figur des strukturellen Erhebungsdefizits deutlich. Strukturell ist insb. nicht eine durch latente Unterfinanzierung der Finanzverwaltung verursachte Vollzugsschwäche. Der Vorwurf liegt in erster Linie in der Widersprüchlichkeit der Normbefehle, der Anordnung der materiellen Steuerpflicht auf Kapitaleinkünfte einerseits, dem Verbot effizienter Ermittlungen durch § 30a AO andererseits. Die Ineffizienz des Vollzugs ist damit gesetzlich vorgegeben3. So revolutionär der Schluss vom Vollzugsdefizit auf die Verfassungswidrigkeit der materiellen Norm war, so verstellt dieser doch den Blick auf den eigentlichen Übeltäter, die unvollkommene Vollzugsnorm. Das BVerfG hat es der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen, ob er das materielle Recht den Vollzugsmöglichkeiten anpasst oder das strukturelle Vollzugsdefizit beseitigt. Bis heute ist § 30a AO unverändert geblieben, wenn auch spätestens seit Einführung der Abgeltungsteuer in seiner Wirkung deutlich reduziert.
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Ob sich die Rspr. auf andere Bereiche übertragen lässt, ist unklar. Kritikwürdige Vollzugsdefizite gibt es viele, offen ist, wann diese die Qualität eines strukturellen Vollzugsdefizit erreichen mit der Folge der Verfassungswidrigkeit der zugrundeliegenden materiellen Norm4. Diese Frage stellt sich z.B. bei Normen, die an Auslandssachverhalte anknüpfen, in denen die Verifikationsmöglichkeiten strukturell durch das Territorialitätsprinzip begrenzt sind5, oder bei Vorschriften, die den privaten Lebensbereich betreffen, der durch die verfassungsrechtliche Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) strukturell geschützt ist. Den Schritt zur Verfassungswidrigkeit der materiellen Norm wird man in unterhalb von § 30a AO angesiedelten Fällen häufig nicht gehen wollen; dann aber besteht die Gefahr, dass die unvollkommene Vollzugssituation ungerügt bleibt. Seer fordert deshalb zu Recht, dass die Frage der Vollzugstauglichkeit bereits bei der Ausgestaltung des materiellen Rechts stets mitbedacht werden muss6. Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit wird auch durch überkomplexe Normen des materiellen Rechts verletzt, deren Vollzug mit angemessenen Mitteln nicht sichergestellt oder deren Voraussetzungen vom Stpfl. nicht nachgewiesen werden können. Nachdem das BVerfG bisher nicht bereit war, gegen überkomplexe Normen die rechtsstaatlichen Gebote der Bestimmtheit und Normenklarheit in Stellung zu bringen (s. Rz. 247), könnte die Erkenntnis helfen, dass derartige Normen (auch) gegen das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit verstoßen.
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BVerfGE 84, 239 (273). BVerfGE 110, 94. HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 436 (2009). Tipke/Kruse/Seer, Vor § 85 AO Rz. 12 ff. (2008) listet Fälle von im Gesetz angelegten Vollzugsdefiziten auf, allerdings ohne zu beantworten, ob hieraus auch die Verfassungswidrigkeit des den materiellen Steueranspruch normierenden Gesetzes folgt. Waldhoff, StuW 2013, 121 (129 ff.), bemüht sich um ein „subsumtionsfähiges Modell des strukturellen Vollzugsdefizits“. 5 Hierzu im Besonderen Waldhoff, StuW 2013, 121 (132 ff.); s. ferner als Anwendungsbeispiel Pirner/ Könemann, IStR 2013, 423 zur Grunderwerbsteuer bei internationalen Umstrukturierungen; abl. BFH/NV 2008, 1529 (1531). 6 Tipke/Kruse/Seer, Vor § 85 AO Rz. 11 (2008); ebenso Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, Habil., 1999, 532 ff.; Eckhoff in Kube/Mellinghoff u.a., Leitgedanken des Rechts, Bd. II 2013, § 148 Rz. 17.
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§3
Rz. 116
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
3. Rechtssetzungsgleichheit 116
Den Gesetzgeber verpflichtet Art. 3 I GG nach st. Formulierung des BVerfG bei steter Orientierung am Gerechtigkeitsgedanken wesentlich Gleiches gleich, wesentlich Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln1.
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Da kein Mensch dem anderen, keine Situation der anderen vollkommen gleicht (identisch ist), bedarf es zur Feststellung einer relevanten Ungleichbehandlung der Identifikation, der Umstände, die in Bezug auf den jeweiligen Normzweck wesentlich sind. Es kann immer nur um einen Vergleich einzelner Bezugspunkte gehen. Hierzu bildet das BVerfG Vergleichsgruppen, fragt nach der Vergleichbarkeit von Situationen. Ob Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen den zu vergleichenden Gruppen relevant sind, hängt von dem Vergleichsmaßstab (tertium comparationis) ab. Maßgeblich für die Feststellung der Ungleichbehandlung ist der tatsächliche Belastungserfolg. Dabei geht es nur um die Belastungswirkung von Einzelnormen. Die Kompensation der Belastung durch andere Normen mit Entlastungseffekt setzt einen sachlogischen Zusammenhang der Normen voraus; sie lässt die Ungleichbehandlung nicht entfallen, sondern ist richtigerweise erst auf der Rechtfertigungsebene zu berücksichtigen (s. Rz. 129).
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Die jüngere Rspr. des BVerfG achtet besonders darauf, dass der Gesetzgeber das gleichheitsrechtliche Folgerichtigkeitsgebot2 einhält. Der Gleichheitssatz verpflichtet den Gesetzgeber zu konsequenter Umsetzung bereichsspezifisch zu gewinnender, sachgerechter Wertungen. Allerdings relativiert das BVerfG dahingehend, dass der Gesetzgeber bei Auswahl des Steuergegenstandes und Bestimmung des Steuersatzes über einen weitreichenden Gestaltungsspielraum verfüge3. Dann aber habe er die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umzusetzen. Sein Handlungsspielraum werde „vor allem durch zwei eng miteinander verbundene Leitlinien begrenzt: durch die Ausrichtung der Steuerlast an den Prinzipien der finanziellen Leistungsfähigkeit und der Folgerichtigkeit“4. Diese enge Verbindung von Leistungsfähigkeitsprinzip und Folgerichtigkeitsgebot macht deutlich, dass das Folgerichtigkeitsgebot nicht formal zu verstehen, sondern nur auf konsequente Umsetzung sachgerechter5 Belastungsentscheidungen gerichtet ist. So verstößt eine (Rück-)Ausnahme von einer systemwidrigen Ausnahmebestimmung nicht gegen das Gebot der Folgerichtigkeit. Die Sanierungsklausel in § 8c Ia KStG ist entgegen der Beihilfeentscheidung der EU-Kommission v. 26.1.2011 (IP/11/65) keine rechtfertigungsbedürftige Steuervergünstigung (notifizierungspflichtige Beihilfe), sondern nur eine (partielle) Rückkehr zu dem von § 8c KStG systemwidrig verletzten objektiven Nettoprinzip6.
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Indem das BVerfG den Anwendungsbereich des Folgerichtigkeitsgebots formal-juristisch auf den Binnenbereich einzelner Steuern beschränkt, verkennt es die dem gesamten Steuerrecht 1 Grundl. BVerfGE 3, 58 (135); vgl. ferner BVerfGE 9, 237 (244); 42, 64 (72); 110, 412 (431); 127, 224 (244). 2 Hierzu allgemein Schwarz, FS Isensee, 2007, 949; Tipke, StuW 2007, 201; P. Kirchhof, HStR VIII3, § 181 Rz. 209–231; Englisch, FS J. Lang, 2010, 167; Payandeh, AöR 136 (2011), 578; Thiemann in Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rspr. des BVerfG, Bd. 2, 2011, 179; Mellinghoff, Ubg 2012, 369; Schön, StuW 2013, 289 (295 ff.); Leisner-Egensperger, DÖV 2013, 533. 3 Grundl. Vermögensteuerbeschluss BVerfGE 93, 121 (136), im Anschluss an BVerfGE 23, 242 (256); 84, 239 (271), sodann Beschlüsse zur Erbschaftsteuer (BVerfGE 93, 165 [172]), zur doppelten Haushaltsführung (BVerfGE 107, 27 [47]), sowie der Erbschaftsteuerbeschluss (BVerfGE 117, 1 [30]). 4 Grundl. Urteil zur unterschiedlichen Besteuerung von Beamtenpensionen u. Renten BVerfGE 105, 73 (125); sodann Beschlüsse zur doppelten Haushaltsführung BVerfGE 107, 27 (47); zur Teilkindergeldregelung BVerfGE 110, 412 (433), zur Tarifbegrenzung nach § 32c EStG 1994 BVerfGE 116, 164 (180); Erbschaftsteuerbeschluss BVerfGE 117, 1 (30 f.); Gewerbesteuerbeschluss BVerfGE 120, 1 (29); Urteil zur Entfernungspauschale BVerfGE 122, 210 (230 f.); Urteil zur Erbschaftsteuer BVerfG, DStR 2015, 31 (41). 5 Krit. Eckhoff, FS Steiner, 2009, 118 (128 ff.), demzufolge kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Systemgerechtigkeit besteht, sondern nur auf konsequente Umsetzung der einfachgesetzlichen Entscheidungen. 6 S. zu Systeminkonsequenzen und Rückausnahmen auch Crezelius, FR 2009, 881 ff.
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Gleichmäßigkeit der Besteuerung
Rz. 121
§3
zugrundeliegende einheitliche Wertung des Leistungsfähigkeitsprinzips1. Wie sich am Gewerbesteuerbeschluss2 deutlich machen lässt, birgt dies die Gefahr, Wertungszusammenhänge willkürlich zu zerreißen. Die Sonderbehandlung einer einzelnen Einkunftsart in der Einkommensteuer müsste sich am Maßstab der Folgerichtigkeit messen lassen. Nichts anderes kann gelten, wenn die Grundentscheidung der Gleichwertigkeit aller Einkunftsarten durch Regelung einer Sonderbelastung in einer separaten Steuer verletzt wird. Richtigerweise ist zu fordern, dass der Gesetzgeber, wenn er mit unterschiedlichen Steuern auf ein und denselben Leistungsfähigkeitsindikator (Einkommen, Vermögen, Konsum, s. Rz. 55 ff.) zugreift, diese inhaltlich aufeinander abstimmen muss3. Das Folgerichtigkeitsgebot darf nicht zu einer Erstarrung des Rechts führen. Die Pflicht zu systemgerechter konsequenter Umsetzung einmal getroffener Belastungsentscheidungen schließt einen Systemwechsel4, die Entscheidung für eine neue Grundwertung, nicht aus, solange diese ihrerseits auf sachgerechten Prinzipien beruht. Der Gesetzgeber kann nur von einem sachgerechten Besteuerungsprinzip zu einem anderen sachgerechten Besteuerungsprinzip wechseln. So kann er sachgerechter Weise nicht von einer Allphasennettoumsatzsteuer zu einer Allphasenbruttoumsatzsteuer, von einer Netto-Einkommensteuer zu einer Bruttoeinkommensteuer wechseln. BVerfGE 122, 210 (242) fordert zudem, dass der Systemwechsel eindeutig vollzogen werden muss und ein Mindestmaß an konzeptioneller Neuorientierung aufweist, mag er auch schrittweise erfolgen.
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4. Steuerrechtsspezifische Konkretisierungen des Allgemeinen Gleichheitssatzes Der Gleichheitssatz ist insofern ein Blankett, als er den Vergleichsmaßstab selbst, die folgerichtig umzusetzende Wertung nicht liefert. Der Vergleichsmaßstab muss bereichsspezifisch gewonnen werden. Er muss richtig, d.h. eine von der Rechtsgemeinschaft anerkannte Gerechtigkeitswertung sein. Gleichheitsrelevante Gerechtigkeitswertungen sind die systemtragenden Prinzipien, das sind die im Grundgesetz normierten Prinzipien5 sowie das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit als steuerspezifischer Vergleichsmaßstab, zu dem es keine Alternativen gibt (s. Rz. 41). Nach st. Rspr. des BVerfG6 fordert der im Allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) verankerte Grundsatz der Steuergerechtigkeit, dass die Steuerlasten auf die Stpfl. im Verhältnis der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verteilt werden; dies gelte insb. im Einkommensteuerrecht, das auf die Leistungsfähigkeit des einzelnen Stpfl. hin angelegt sei7. Indes gilt das Leistungsfähigkeitsprinzip für alle Steuerarten, insb. auch für die indirekten Steuern auf den Konsum8. Besteuerbare wirtschaftliche Leistungsfähigkeit kommt auch in der Einkommensverwendung zum Ausdruck. Wird der einzige Zweck der Umsatzsteuer in der 1 Krit. Tipke, StuW 2007, 201 (208); Hey, DStR 2009, 2561 (2563); Englisch, FS J. Lang, 2010, 167 (184 ff.); a.A. Schober, Verfassungsrechtliche Restriktionen für den vereinfachenden Einkommensteuergesetzgeber, Diss, 2009, 142 ff. 2 BVerfGE 120, 1. 3 Zutr. Englisch, FS J. Lang, 2010, 167 (184, 189 ff.). 4 Ausf. Drüen, FS Spindler, 2011, 29 ff.; ferner Breinersdorfer, StuW 2009, 211 (213); Birk, StuW 2000, 328 (334); Eckhoff, FR 2007, 989 (993 f.); Englisch, FS J. Lang, 2010, 167 (192 ff.). 5 Zur Interdependenz zwischen Gleichheitssatz u. anderen Wertungen des GG Bonner Komm./Rüfner, Art. 3 Abs. 1 GG Rz. 66 ff. (1992); Leibholz/Rinck, Art. 3 GG Rz. 50 ff. (2011 u. 2013), u. grundl. P. Kirchhof, HStR VIII3, 2010, § 181 Rz. 21 ff. (Gleichheit im Umfeld der Gesamtverfassung). 6 Insb. BVerfGE 6, 55 (67) (Haushaltsbesteuerung); 8, 51 (68 f.) (Parteispenden); 9, 237 (243); 13, 290 (297); 14, 34 (41); 27, 58 (64); 32, 333 (339); 36, 66 (72); 43, 108 (118 ff.) (Kinderfreibetrag); 47, 1 (29); 55, 274 (302); 61, 319 (343 ff.) (Ehegattensplitting); 66, 214 (223) (Unterhaltsaufwendungen); 68, 143 (152 f.); 82, 60 (86 f.) (Familienexistenzminimum); 117, 1 (30 f.) (Erbschaftsteuer); 122, 210 (230 f.) (Pendlerpauschale). 7 S. insb. BVerfGE 61, 319 (343 f.); 82, 60 (86). 8 BVerfG 98, 106 (127 f.); 110, 274 (297) u. ausf. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, Habil., 2008, 563 ff.
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Rz. 122
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
Einnahmeerzielung gesehen, wird dieser jede eigene Sachlogik und Gerechtigkeitsqualität abgesprochen1. 122
An diese verfassungsrechtlich verankerten Gerechtigkeitswertungen ist der Steuergesetzgeber gebunden. I.Ü. hat der Steuergesetzgeber wertungsmäßigen Gestaltungsspielraum, auf welche Weise er die systemtragenden Prinzipien konkretisiert, für die Besteuerung sachgerechte Subprinzipien auswählt und begrenzt sowie sachgerechte Besteuerungsformen konstituiert, soweit er hierbei Wertungswidersprüche vermeidet. Zwei Kriterien des inneren Systems bestimmen seinen Gestaltungsspielraum, erstens das Kriterium der Sachgerechtigkeit als einer auf den Regelungsgegenstand, die vorgefundene Ordnungsstruktur bezogenen, sachangemessenen Gerechtigkeit2, und zweitens das soeben erläuterte (s. Rz. 118 ff.) Kriterium der Folgerichtigkeit3: Der Gesetzgeber muss das sachgerechte Prinzip, für das er sich entschieden hat, konsequent umsetzen und die einmal getroffene Wertentscheidung folgerichtig durchhalten4.
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Basis für die Effizienz des Gleichheitssatzes im Steuerrecht ist die Erkenntnis, dass das Steuerrecht ebenso wie andere Teilrechtsgebiete auf sachgerechten Prinzipien und besonders die Steueranknüpfung auf einer Sachlogik beruht, der sich der Gesetzgeber nicht beliebig widersetzen kann5. In diesem Sinne sind die Steuerarten verfassungsrechtlich vorstrukturiert6. Sachlogische Konkretisierungen am Beispiel der Einkommensteuer: Hier bedeutet Steuergleichheit zunächst Allgemeinheit der Besteuerung: Die Steuerbefreiung von Monarchen, z.B. der englischen Königin, wird heutzutage nicht mehr als gerecht empfunden. Also ist es richtig, dass alle Bürger (Universalitätsprinzip) ihr gesamtes Einkommen (Totalitätsprinzip) versteuern (s. § 8 Rz. 1). Das Einkommensteuerobjekt ist auf das Erwerbseinkommen begrenzt (s. § 7 Rz. 30; § 8 Rz. 52). Hierbei handelt es sich um eine Sachgesetzlichkeit, die systemkonsequent (Rz. 118) umgesetzt werden muss, wenn sich der Gesetzgeber für das Erwerbseinkommen als Einkommensteuerobjekt entschieden hat. Das objektive Nettoprinzip gehört zu den gesetzgeberischen Grundentscheidungen, die folgerichtig zu verwirklichen sind (s. § 8 Rz. 54 f.). Von Verfassungs wegen ist es geboten, dass der für den existenznotwendigen Lebensbedarf zu verwendende Teil des Einkommens, das sog. indisponible Einkommen, ausgegrenzt wird (s. § 8 Rz. 74). Somit ist die in § 2 EStG normierte dualistische Struktur des zu versteuernden Einkommens verfassungsrechtlich vorstrukturiert.
5. Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen und Kontrolldichte 5.1 Willkürverbot oder Gebot verhältnismäßiger Gleichheit? 124
Im Wandel begriffen und bis heute nicht abschließend geklärt sind die Anforderungen an die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen und Abweichungen vom Folgerichtigkeitsgebot. Traditionell interpretiert die Rspr. des BVerfG den Gleichheitssatz als Willkürverbot7. Danach ist der Gleichheitssatz verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet 1 BFH BStBl. 1973, 94 (95); BFHE 141, 369 (382). 2 Dazu Tipke, StRO I2, 273 ff., u. allgemein P. Kirchhof, HStR VIII3, 2010, § 181 Rz. 191 (Sachgerechtigkeit). 3 Dazu insb. P. Kirchhof, HStR VIII3, 2010, § 181 Rz. 222 ff. (Folgerichtigkeit gewährleistet Gleichheit in der vorgefundenen Ordnung, verlangt logische Konsequenz bei der Einführung des Rechtssatzes in das jeweilige Teilrechtsgebiet u. in der Gesamtrechtsordnung). 4 So Tipke, StRO I2, 327 ff. 5 Grds. a.A. Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1991, 45 ff. (fehlende Sachgesetzlichkeit der Steueranknüpfung); Brinkmann, Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung und formeller Gesetzesbegriff, Diss., 1982, 77 ff., 115: „Mangels geeigneter Vergleichsmaßstäbe ist nicht vorgegeben, welche Sachverhalte für die Besteuerung gleich zu behandeln sind“; zurückhaltend im Hinblick auf die Relativität von Gerechtigkeitsvorstellungen auch Drüen, StuW 2013, 72 (73 f.). 6 P. Kirchhof, Die Steuern, HStR V3, 2007, § 118 Rz. 220 ff. 7 Dazu Müller, VVDStRL 47 (1989), 43 f.; Leibholz/Rinck, Art. 3 GG Rz. 21 (2013); Bonner Komm./ Rüfner, Art. 3 Abs. 1 GG Rz. 16 ff. (1992); P. Kirchhof, HStR VIII3, 2010, § 181 Rz. 232 ff.; Huster, Rechte und Ziele, Diss., 1993, 45 ff.
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Gleichmäßigkeit der Besteuerung
Rz. 125
§3
werden muss1. Es darf weder wesentlich Gleiches willkürlich ungleich noch wesentlich Ungleiches willkürlich gleich behandelt werden2. 1980 näherte der Erste Senat des BVerfG das Willkürverbot jedoch der in den Freiheitsrechten zur Anwendung gebrachten Verhältnismäßigkeitsprüfung an: Der Gleichheitssatz sei dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten anders behandelt werde, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können (sog. neue Formel)3. Bis heute stehen beide Rechtfertigungsmaßstäbe nebeneinander, ohne dass sich stets vorhersagen lässt, wann sich das Gericht darauf beschränkt, lediglich evidente Ungerechtigkeiten aufzugreifen (Willkürkontrolle) und wann es den strengeren Verhältnismäßigkeitsmaßstab anlegt4. Letztlich entscheidet hierüber die Intensität der Ungleichbehandlung im Einzelfall. Als Kriterien zieht das Gericht heran: Unausweichlichkeit der Ungleichbehandlung, Nähe zu durch Art. 3 III GG verbotenen Diskriminierungen, mittelbare Berührung grundrechtlich geschützter Freiheiten, Anknüpfung an personen- statt an sachverhaltsbezogene Merkmale. Für das Steuerrecht gilt ferner Folgendes: Die abzulehnende Differenzierung zwischen der Auswahl der Steuergegenstände und der Ausgestaltung einzelner Steuern (s. Rz. 118) schlägt sich in der Rspr. des BVerfG auch im Rechtfertigungsmaßstab nieder. Die Ausübung der dem Gesetzgeber bei der Auswahl der Steuergegenstände zugebilligten Gestaltungsfreiheit wird lediglich auf evidente Ungerechtigkeiten im Wege der Willkürkontrolle überprüft. Im Binnenbereich einzelner Steuern wendet das Gericht dagegen grds. das Gebot verhältnismäßiger Gleichheit an. Abweichungen von der einmal getroffenen Belastungsentscheidung bedürfen nicht nur (irgend)eines sachlichen Grundes, sondern eines besonderen, sachlich rechtfertigenden Grundes, der hinreichend ist, um die Abweichung zu rechtfertigen5. Der strengere Maßstab gilt, ungeachtet der grundsätzlichen Gestaltungshoheit über den Tarif, auch zur Rechtfertigung von Tarifsprüngen und Sondertarifen6. Diese bisher zweistufige Konzeption, wonach auf der 1. Stufe der Auswahl des Steuergegenstandes weitreichende Gestaltungsfreiheit mit bloßer Willkürkontrolle gewährt und auf der 2. Stufe Folgerichtigkeit und verhältnismäßige Gleichheit verlangt wird, hat das BVerfG in der Entscheidung zu den Jubiläumsrückstellungen7 um eine 3. Stufe erweitert: Danach soll die Lösung „komplexer dogmatischer Streitfragen“ bei der Ausgestaltung des Steuertatbestands wiederum lediglich einer Willkürkontrolle unterliegen. So soll sich der Gesetzgeber, auch wenn er sich grds. für die Verwirklichung des Imparitätsprinzips im Bilanzsteuerrecht entschieden hat, in Einzelfällen auch ohne besonderen Grund hiervon abweichen können. Es ist indes kaum nachvollziehbar, wann eine folgerichtigkeitsgebundene einfachgesetzliche Belastungsentscheidung vorliegt und wann eine lediglich willkürbegrenzte dogmatisch komplexe Einzelfrage. Fragen der Abgrenzung von Erwerbs- und Privataufwendungen, wie sie etwa den Entscheidungen zur Entfernungspauschale8 oder zum häuslichen Arbeitszimmer9 zugrunde lagen, sind dogmatisch ebenso komplex wie die der Anerkennung von Rückstellungen. Widersprüche werden 1 St. Rspr. des BVerfG (s. Leibholz/Rinck, Art. 3 GG Rz. 21, 27 [2013]). 2 S. Leibholz/Rinck, Art. 3 GG Rz. 27 (2013). 3 Seit BVerfGE 55, 72 (88); ferner z.B. BVerfGE 89, 15 (22 f.); 121, 317 (369); 124, 199 (219 f.). Dazu ausf. Huster, Rechte und Ziele, Diss., 1993, 61 ff. In ähnlicher Weise stellt auch der Zweite Senat des BVerfG auf den Gruppenvergleich ab, s. BVerfGE 71, 39 (58 f.); 120, 125 (144); s. dazu auch Böckenförde, VVDStRL 47 (1989), 63 (96 f.). Zu Einzelheiten Sachs/Sachs6, Art. 3 GG Rz. 13 ff.; zur Weiterentwicklung in der Rspr. des BVerfG R. Wendt, FS Stern, 2012, 1553. 4 Sachs/Sachs6, Art. 3 GG Rz. 25 ff. Tendenz der aktuellen Rspr. zu abgestufter Verhältnismäßigkeitsprüfung s. Britz, NJW 2014, 346. 5 BVerfGE 99, 280 (290); 107, 27 (48); 122, 210 (234). 6 BVerfGE 116, 164 (181) zu § 32c EStG a.F.; Vorlage FG Düsseldorf EFG 2013, 692 mit Anm. Wagner zur sog. Reichensteuer im VZ 2007. Unvereinbarkeit eines degressiven Zweitwohnungssteuertarifs mit Art. 3 I GG s. BVerfG HFR 2014, 366 (369). 7 BVerfGE 123, 111. 8 BVerfGE 122, 210. 9 BVerfGE 125, 268.
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Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
nur dann vermieden, wenn einheitlich der Verhältnismäßigkeitsmaßstab zur Anwendung gebracht wird. Der Rückzug auf eine Evidenzkontrolle ist nicht nur abzulehnen, weil eine trennscharfe Differenzierung nicht möglich ist, sondern vor allem, weil die reine Willkürprüfung das Wertesystem des Grundgesetzes negiert. Um sachgerechte Grundwertungen des Steuerrechts zu durchbrechen, reicht eben nicht jedweder Grund. Stattdessen kann der Intensität der Ungleichbehandlung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung Rechnung getragen werden1, wie dies bei der Überprüfung von Freiheitsbeeinträchtigungen auch geschieht. 126
Temporäre Belastungseffekte (z.B. Rückstellungsverbote, zeitliche Streckung von Verlustvorträgen) weisen eine geringere Eingriffsintensität auf als endgültige Abzugsverbote, was freilich nicht heißt, dass sie nicht rechtfertigungsbedürftig seien, sondern lediglich, dass Gründe von geringerem Gewicht für ihre Rechtfertigung ausreichen.
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Ein Eingriff geringerer Intensität ist ferner dann anzunehmen, wenn der Stpfl. über „belastungsmindernde“ Ausweichmöglichkeiten verfügt, wie dies insb. im gestaltungsoffenen Unternehmensteuerrecht häufig der Fall ist2. Freilich darf auf diese Weise nicht dem Stpfl. aufgebürdet werden, durch intelligente Gestaltungen einer Grundrechtsverletzung ausweichen zu müssen. Die Verantwortung für einen gleichheitssatzkonformen Zustand trifft den Gesetzgeber und nicht die Stpfl. und ihre Berater3. Deshalb ist zu begrüßen, dass BVerfGE 125, 1 (33 ff.) im EK 45-Beschluss präzisiert, das in Frage kommende Verhalten (1.) müsse zweifelsfrei legal sein, (2.) dürfe keinen unzumutbaren Aufwand für den Stpfl. bedeuten und (3.) ihn auch sonst keinem nennenswerten finanziellen oder rechtlichen Risiko aussetzen. Allerdings bleibt die Frage, warum der Gesetzgeber berechtigt sein soll, Normen zu schaffen, die auf Nichtanwendung angelegt sind, denen ausgewichen werden muss, um den Eintritt eines verfassungswidrigen Zustands zu verhindern.
5.2 Rechtfertigungsgründe 128
Werden Sachgerechtigkeit und Sachlogik der Besteuerung grds. anerkannt, so vermag sich der Gleichheitssatz auch im Steuerrecht als Rechtfertigungsgebot zu entfalten: Die Durchbrechung des Prinzips, der Systembruch, bedarf der Rechtfertigung durch ein anderes sachgerechtes Prinzip.
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Anerkannt hat das BVerfG Lenkungszwecke (s. Rz. 21 f.) und Vereinfachungszwecke (s. Rz. 23 f.) sowie das Ziel der Missbrauchsvermeidung4. Letzteres ruft eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung nur dann hervor, wenn die Missbrauchsvermeidung in typisierender Weise durch Vereinfachungszwecknormen erfolgt. Da von Steuermissbrauch nur dann gesprochen werden kann, wenn Steuervorteile entgegen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und der vom Gesetzgeber in zulässiger Weise verfolgten Regelungsziele in Anspruch genommen werden, verwirklicht Missbrauchsvermeidung die Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Ein Rechtfertigungsbedürfnis entsteht erst dann, wenn der Gesetzgeber den Missbrauch in der Weise typisiert, dass auch nicht missbräuchliche Fälle miterfasst werden. Eine Rechtfertigung kann auch im Wege der Kompensation von Vor- und Nachteilen erfolgen, soweit diese in einem unmittelbaren sachlichen Zusammenhang stehen und nicht zufällig zusammentreffen5. So lässt sich die Beschränkung der Einkommensteuerermäßigung des § 35 EStG auf gewerbliche Einkünfte mit der nur den Gewerbetreibenden auferlegten Zusatzlast der Gewerbesteuer rechtfertigen.
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Die rein fiskalisch begründete Durchbrechung einer gesetzgeberischen Grundentscheidung ist gleichheitsrechtlich nicht gerechtfertigt6. Dem Trend der Steuergesetzgebung, Rechtsgrundsätze 1 2 3 4 5 6
Sachs/Sachs6, Art. 3 GG Rz. 33. BVerfGE 120, 1 (51 ff.); 125, 1 (33 f.). Verkannt in BVerfGE 120, 1 (51 f.) zur Abfärberegelung des § 15 III Nr. 1 EStG. BVerfGE 13, 331 (344 f.); 99, 88 (97); 127, 224 (253 ff.). Ausf. hierzu Hey, AöR 128 (2003), 226 ff.; s. auch HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 460 (2009). St. Rspr., s. bereits BVerfGE 6, 55 (80); ferner BVerfGE 19, 76 (84 f.); 82, 60 (89); 105, 17 (45); 116, 164 (182).
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Gleichmäßigkeit der Besteuerung
Rz. 134
§3
des Steuerrechts beliebig zur Schöpfung von Steuersubstrat aufzuopfern, hat das BVerfG gerade in jüngerer Zeit noch einmal nachdrücklich widersprochen1: Dem Ziel der Einnahmeerzielung dient jede, auch jede willkürliche Besteuerung. Für die verfassungsgerechte Lastenverteilung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip enthält der Einnahmeerzielungszweck kein Richtmaß. Der Fiskalzweck als solcher rechtfertigt folglich keine Prinzipdurchbrechungen; er heiligt nicht beliebige Besteuerung. Der Fiskalzweck kann und muss gerade mit einem strengen Verständnis des Gleichheitssatzes erfüllt werden, damit dem Steuerzahler das Bewusstsein vermittelt wird, er müsse die Steuern der anderen nicht mitentrichten.
5.3 Rechtfertigung von Sozialzwecknormen Sozialzwecknormen (s. Rz. 21 f.) weichen vom Leistungsfähigkeitsprinzip gezielt ab. Steuervergünstigungen (s. § 19) verschonen steuerliche Leistungsfähigkeit, während Sozialzwecksteuern wie z.B. Umweltsteuern und steuerverschärfende Sozialzwecknormen über dem Niveau vorhandener steuerlicher Leistungsfähigkeit belasten wie z.B. ökologisch steuerverschärfende Normen (s. § 7 Rz. 113).
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Nach st. Rspr. des BVerfG ist der Steuergesetzgeber nicht gehindert, außerfiskalische Förderungs- und Lenkungsziele aus Gründen des Gemeinwohls zu verfolgen2. Danach bedürfen Abweichungen vom Leistungsfähigkeitsprinzip und seinen konkretisierenden Prinzipien, z.B. vom Nettoprinzip (s. § 8 Rz. 54), der Rechtfertigung durch „Gründe des Gemeinwohls“. Das rechtfertigende Prinzip bildet für die Sozialzwecknormen den Vergleichsmaßstab, nach dem zu prüfen ist, ob die steuergesetzliche Bevorzugung oder Benachteiligung gerechtfertigt werden kann und ob die Sozialzwecknorm als solche gleichheitsgerecht ausgestaltet ist3. Bei Ausgestaltung und Rechtfertigung von Sozialzwecknormen sind folgende Prinzipien zu beachten:
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(1) Das Gemeinwohlprinzip ist das Generalprinzip. Da das Steuerrecht Gemeinlasten verteilt, muss letztlich jede Verteilung von Steuerlasten mit der Gemeinwohlverantwortung des Stpfl. gerechtfertigt werden können4. Ökonomisch lassen sich Steuervergünstigungen und Sonderbelastungen (nur) zur Beseitigung eines Marktversagens rechtfertigen. Eine allein im Interesse einzelner Bürger und Gruppen liegende steuerliche Sonderbehandlung ist dagegen nicht einsehbar. BVerfGE 93, 121 (148) verlangt, dass sich Steuervergünstigungen „gemeinwohlbezogen“ rechtfertigen lassen; andernfalls sei der Gleichheitssatz verletzt. Ebenso müssen Sonderbelastungen durch Sozialzwecksteuern (z.B. Umweltsteuern, s. § 7 Rz. 111 ff.), Abzugsverbote und andere Steuerverschärfungen durch das Gemeinwohl gerechtfertigt sein. Dabei darf das Leistungsfähigkeitsprinzip wohl eingeschränkt, aber nicht ausgeschaltet werden. So rechtfertigt selbst der hochrangige Gemeinwohlwert des Umweltschutzes keine existenzgefährdenden Steuerbelastungen5.
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(2) Das Bedürfnisprinzip6 berücksichtigt wirtschaftliche Bedürftigkeit durch Steuerentlastung. Sozialzwecknormen, die das Bedürfnisprinzip verwirklichen, sind scharf zu unterscheiden von Fiskalzwecknormen, die nicht vorhandene steuerliche Leistungsfähigkeit berücksichtigen wie z.B. Normen zur steuerlichen Freistellung des Existenzminimums. Die Steuerentlastung durch eine Bedürfnisnorm muss also eine zusätzliche zur Berücksichtigung steuerlicher Leistungs-
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1 BVerfGE 122, 210 (236 f.); 126, 268 (281). 2 S. zuletzt BVerfGE 117, 1 (31) betr. Erbschaftsteuer und BVerfGE 122, 210 (231) m.w.N. betr. Entfernungspauschale. 3 Grundl. hierzu Schön, FS Spindler, 2011, 189 ff.; Glaser, StuW 2012, 168; Seer, Ubg 2012, 376 (380); zum Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Vergünstigung und den Anforderungen an die Ausgestaltung BVerfG, DStR 2015, 31 (41 ff.); großzügiger noch BVerfGE 110, 274 (293 ff.) zur Ökosteuer. 4 Dazu Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, 2003, 51 ff. 5 Dazu näher J. Lang, DStJG 15 (1993), 115 (157 f.) sowie § 7 Rz. 119. 6 Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981, 16 ff., hat das Bedürfnis- und Verdienstprinzip nach den Regeln von Chaim Perelmann, Über die Gerechtigkeit, 1967, 16 ff. (Jedem nach seinen Bedürfnissen, Jedem nach seinen Verdiensten) entwickelt. S. auch Tipke, StRO I2, 261 f., 530.
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§3
Rz. 135
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
unfähigkeit sein wie z.B. die (frühere) Eigenheimförderung der Familien durch ein sog. Baukindergeld (§ 34f EStG) oder die Förderung von Vermögensbeteiligungen der Arbeitnehmer (§ 3 Nr. 39 EStG). Derartige Förderungen liegen nicht nur im Interesse der Familien oder Arbeitnehmer. Es liegt vielmehr auch im Interesse der Allgemeinheit, dass die Lebensverhältnisse der Familie materiell gesichert sind (vgl. Art. 6 I GG) und dass soziale Gegensätze zwischen Arbeitnehmern und Unternehmenseignern abgebaut werden. Die Bedürfnisnorm muss ihrem Zweck angemessen sein. Steuervergünstigungen, die die Bemessungsgrundlage verkürzen, bewirken infolge des Degressionseffekts (als Kehrseite der Progression), dass der Vergünstigungseffekt mit wachsendem Einkommen steigt. Solche Vergünstigungen pervertieren das Bedürfnisprinzip, indem sie den am wenigsten Bedürftigen die höchste Steuerentlastung zuweisen. Daher lassen sich Abzüge von der Bemessungsgrundlage nicht als Bedürfnisnormen rechtfertigen. Das richtige Instrument sind Abzüge von der Steuerschuld und Zulagen (s. § 19 Rz. 30). 135
(3) Das Verdienstprinzip will ein bestimmtes, dem Allgemeininteresse dienendes Verhalten belohnen. Zu einem solchen Verhalten sollen die am Verdienstprinzip ausgerichteten Sozialzwecknormen anreizen wie insb. Steuervergünstigungen für Investitionen in wirtschaftsschwachen Regionen oder für Gemeinwohlzwecke wie z.B. den Denkmal- und Umweltschutz. Mit dem Zweck der Kapitallenkung sind Abzüge von der Bemessungsgrundlage wie insb. erhöhte Absetzungen und Sonderabschreibungen i.S.d. § 7a EStG zu vereinbaren, denn dieser Zweck richtet sich ja gerade an diejenigen, die fähig sind, Kapital gemeinnützig einzusetzen.
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Der Gesetzgeber hält sich selten an diese Prinzipien. Steuervergünstigungen erhält jedem Bekenntnis zum Subventionsabbau zum Trotz die Gruppe mit der effizientesten Lobbyarbeit. Man denke nur an die gegen jede Vernunft durch Gesetz v. 22.12.2009, BGBl. I 2009, 3950, eingeführte Umsatzsteuerprivilegierung für Hoteldienstleistungen in § 12 II Nr. 11 UStG. Ohne politische Einsicht ist dem Problem kaum beizukommen; nur manchmal hilft das europäische Beihilfenverbot (s. § 4 Rz. 115 ff.). Ansonsten lässt sich die nichtgerechtfertigte Steuervergünstigung, das verfassungswidrige Steuerprivileg nur schwer zu Fall bringen (s. § 19 Rz. 78). Zwar berechtigt der gleichheitssatzwidrige Begünstigungsausschluss zur Klage, jedoch nur dann, wenn nicht offensichtlich ausgeschlossen ist, dass die Begünstigung auf den Kläger erstreckt werden kann. So blieben z.B. die gleichheitssatzwidrigen Steuerprivilegien der Abgeordneten (s. § 8 Rz. 539 ff.) auf die nicht zur Entscheidung angenommene Verfassungsbeschwerde eines Finanzrichters hin unbeanstandet1. Zu weiteren Fragen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Steuervergünstigungen s. § 19 Rz. 74 ff. Einstweilen frei.
137–144
5.4 Rechtfertigung von Vereinfachungszwecknormen Literatur: Bühler/Kirchhof/Klein (Hrsg.), Steuervereinfachung, in FS Meyding, 1994; Egge, Lage der Steuerverwaltungen und Folgerungen, StuW 1994, 272; Isensee, Vom Beruf unserer Zeit für Steuervereinfachung, StuW 1994, 3; Tipke, Über ein gerechteres und einfacheres Steuerrecht, Idee und Verwirklichungsschwierigkeiten, Stbg. 1994, 162; Meyding, Steuervereinfachung, in FS Oettinger, 1995, 103; Fischer, Steuervereinfachung, DStJG 21 (1998); Ruppe, Steuervereinfachung, ÖStZ 1998, 138; Rose, Steuern einfacher machen!, 1999; Jachmann, Grundlagen einer Steuervereinfachung, in FS Offerhaus, 1999, 1071; P. Kirchhof, Der verfassungsrechtliche Auftrag zur Vereinfachung des Steuerrechts, in FS Kirchhof, 2002, 201; Schön, Vermeidbare und unvermeidbare Hindernisse der Steuervereinfachung, StuW 2002, 23; Bizer, Steuervereinfachung und Steuerhinterziehung, 2008; Schober, Verfassungsrechtliche Restriktionen für den vereinfachenden Einkommensteuergesetzgeber, Diss., 2009; Ondracek, Steuervereinfachung ist machbar – aber wie und wann?, DStR 2011, 1. 1 BVerfG BFH/NV 2010, 1983 m. Anm. Bode, FR 2010, 994.
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Rz. 148
§3
Auch eine von sachgerechten Prinzipien geprägte Rechtsordnung muss praktikabel sein. Insb. eine Massenfall-Verwaltung wie die Steuerverwaltung kommt ohne Vereinfachungszwecknormen nicht aus. Solche Normen sollen das „Massengeschäft“ der Besteuerung ermöglichen oder erleichtern; sie sollen Überkompliziertheit und Undurchführbarkeit der Gesetze oder unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand verhindern (Praktikabilitätsprinzip). Da Gesetze, die nicht praktikabel sind, nicht gleichmäßig durchgeführt werden können, dienen Vereinfachungszweckvorschriften letztlich auch dem Gleichheitssatz. Das Praktikabilitätsprinzip hat – als primäres Zweckmäßigkeitsprinzip – allerdings nicht die gleiche Wertigkeit wie ethische Prinzipien. Der Gewinn an Praktikabilität darf nicht durch einen beträchtlichen Verlust an Einzelfallgerechtigkeit erkauft werden.
145
Die Bestrebungen, dem Steuerchaos zu entfliehen und das Steuerrecht grundlegend zu vereinfachen, gehen von einem Spannungsverhältnis zwischen Steuervereinfachung und Einzelfallgerechtigkeit aus1. Dieses Spannungsverhältnis besteht, wenn mit Einzelfallgerechtigkeit die Befriedigung von Individualinteressen identifiziert wird. Demgegenüber sind die Ziele von Steuergerechtigkeit und Steuervereinfachung gleichgerichtet, soweit das Steuerrecht auf rechtsstaatliche Regelhaftigkeit zurückgeführt wird. Insoweit gilt die Devise: „Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung“2 und umgekehrt, indem Besteuerungsprinzipien folgerichtig und widerspruchsfrei in Normen umgesetzt und dabei überflüssige Differenzierungen vermieden werden (s. bereits Rz. 24). Indessen wird das Ziel einfacher Rechtsanwendung verfehlt, wenn der Gesetzestext auf wenige, für den Laien (vermeintlich) leicht lesbare Generalklauseln verkürzt wird3.
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Zur Entlastung der Steuerverwaltung arbeitet der Gesetzgeber mit Typisierungen und Pauschalierungen (= Typisierung rechnerischer Grundlagen), Durchschnittssätzen, Vereinfachungsbefreiungen, Freibeträgen und Freigrenzen. Alle diese Vereinfachungszwecknormen4 sollen eine Durchschnittsnormalität fixieren; dadurch erzeugen sie im Einzelfall Ungleichbehandlung (Beispiel: Ein Werbungskosten-Pauschbetrag mit dem Betrag X behandelt nur die Fälle nach dem Nettoprinzip richtig, in denen die Werbungskosten X betragen; alle übrigen Fälle werden entweder bevorzugt oder benachteiligt). Das BVerfG lässt die „vergröbernde, die Abwicklung von Massenverfahren erleichternde Typisierung“ grds. zu5: Der Gesetzgeber dürfe „einen steuererheblichen Vorgang um der materiellen Gleichheit willen im typischen Lebensvorgang erfassen und individuell gestaltbare Besonderheiten unberücksichtigt lassen“6. Es muss indessen für die Typisierung ein Bedürfnis bestehen; sie muss zur Vereinfachung geeignet sein und sie darf nicht unverhältnismäßig sein. Gibt es verschiedene, gleich effektive Möglichkeiten der Verwaltungsvereinfachung, hat der Gesetzgeber die für die Stpfl. am wenigsten belastende zu wählen7.
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Voraussetzung einer verfassungskonformen Typisierung ist ferner, dass die Regelung nach der gesetzgeberischen Zielsetzung und nach ihrem objektiven Regelungsgehalt das Ergebnis eines
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Gleichmäßigkeit der Besteuerung
1 Dazu Thiel, FS Tipke, 1995, 295 (zum JStG 1996); Flies, StWa 1998, 7; Jachmann StuW 1998, 193 (196 ff.); P. Kirchhof, DStJG 24 (2001), 9 (20 ff.). Allgemein zur Einzelfallgerechtigkeit: Schneider, ZRP 1998, 323; Herzog, NJW 1999, 25. 2 Dazu näher J. Lang, FS Meyding, 1994, 33 ff.; Seer, StuW 1995, 184. 3 Vgl. dazu Kölner EStGE, Begr. Rz. 106 ff. 4 Dazu P. Kirchhof, VVDStRL 39 (1981), 213 (264 ff.); P. Kirchhof, HStR VIII3, 2010, § 181 Rz. 129 ff.; von Bornhaupt, NWB 1998, Fach 2, 7003; Klenke, KStZ 1998, 129; Klein, Die legislative Typisierung von Erwerbsaufwendungen im Einkommensteuerrecht, Diss., 2001; Steenken, Die Zulässigkeit gesetzlicher Pauschalierungen im Einkommensteuerrecht am Beispiel der Entfernungspauschale, Diss., 2002; Jarzyk-Dehne, Pauschalierungen im Steuerrecht, Diss., 2003; Schober, Verfassungsrechtliche Restriktionen für den vereinfachenden Einkommensteuergesetzgeber, Diss., 2009. 5 BVerfGE 87, 153 (172); ferner BVerfGE 13, 331 (341); 21, 12 (27); 63, 119 (128); 65, 325 (354); 71, 146 (157); 75, 108 (162); 82, 60 (91 ff.); 82, 126 (151 f.); 84, 348 (359); 85, 264 (317); 96, 1 (6 f.); 127, 224 (245 f.). Zur Verhältnismäßigkeit der Ausgestaltung von Vereinfachungszwecknormen (Freigrenze statt Freibetrag) s. BVerfG BFH/NV 2010, 1994. 6 BVerfGE 96, 1, LS 1. 7 BVerfGE 125, 1 (25 ff.).
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§3
Rz. 149
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
Typisierungsvorgangs ist. Der Gesetzgeber darf sich nicht von Erwägungen leiten lassen, die mit einer zulässigen Typisierung in keinem erkennbaren Zusammenhang stehen1. Die gesetzlichen Verallgemeinerungen müssen auf einer möglichst breiten, alle betroffenen Gruppen und Regelungsgegenstände einschließenden Beobachtung aufbauen2. Insb. darf der Gesetzgeber für eine gesetzliche Typisierung keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss realitätsgerecht den Durchschnittsfall als Maßstab zugrunde legen3. Auch darf die wirtschaftlich ungleiche Wirkung auf die Steuerzahler ein gewisses Maß nicht übersteigen. Vielmehr müssen die steuerlichen Vorteile der Typisierung im rechten Verhältnis zu der mit der Typisierung notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen4. Deshalb dürfen Pauschbeträge nicht unverhältnismäßig hoch oder niedrig angesetzt sein. So ist z.B. die Pauschalierung des Existenzminimums grds. so zu bemessen, dass sie in möglichst allen Fällen den existenznotwendigen Bedarf abdeckt5. Treten in Einzelfällen unbillige Härten auf, so kann ein Billigkeitserlass (§§ 163; 227 AO) in Betracht kommen6. 149
In den regelmäßig wiederkehrenden Steuervereinfachungsdebatten werden zum Teil große Hoffnungen in eine Vereinfachung durch Typisierungen und Pauschalierungen gesetzt. Weder Möglichkeiten noch Grenzen einer Vereinfachungsgesetzgebung sind indes bisher hinreichend ausgelotet. Das allenthalben wiederholte politische Bekenntnis zu Steuervereinfachung ist eine Leerformel, wenn ihr keine materielle Systematisierung vorausgeht. Durch das bloße Wegstreichen von Normtext wird das Steuerrecht im Zweifel nicht einfacher, sondern allenfalls ungerechter und streitanfälliger. Auch die Typisierung der besonders ermittlungsintensiven Erwerbsaufwendungen stößt schnell an ihre Grenzen. Je vielgestaltiger ein Lebenssachverhalt ist, desto weniger lässt sich ein der Typisierung/Pauschalierung zugänglicher Durchschnittsfall ermitteln. Eine Typisierung/Pauschalierung muss dann entweder ganz unterbleiben oder zulasten des Vereinfachungseffekts durch Härtefallklauseln flankiert bzw. widerlegbar gemacht werden. Insb. muss auf diese Weise das Existenzminimum vor dem Zugriff durch vereinfachende Erwerbsaufwendungsabzugsverbote geschützt werden7. Lässt sich ein Regelfall nicht feststellen, sollte entgegen BVerfGE 127, 224 (zu § 8b V KStG) auf die Pauschalierung grds. verzichtet werden; eine unwiderlegbare Pauschalierung ist unzulässig.
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So lässt sich etwa der Durchschnittsfall des steuerfrei zu belassenden Existenzminimums einigermaßen gut typisieren8. Zwar mögen die Preise für den lebensnotwendigen Bedarf zwischen Großstadt und ländlicher Region differieren. Der Sachverhalt als solcher ist aber klar umrissen. Auch die Werbungskosten eines Arbeitnehmers sind einer Typisierung zugänglich, wobei § 9a Nr. 1 EStG zutreffend als widerlegliche Vermutung ausgestaltet ist, die allerdings besser in Beziehung zur Höhe der Einnahmen gesetzt würde. Dagegen ist der Mitteleinsatz bei anderen Einkünften, etwa aus Vermietung und Verpachtung oder im Rahmen der Gewinneinkunftsarten, so vielgestaltig, dass sich Typisierungen von vornherein weitgehend ausschließen (so auch Schober, Verfassungsrechtliche Restriktionen für den vereinfachenden Einkommensteuergesetzgeber, Diss., 2009, 184 ff.). Abzulehnen ist daher der Vorschlag P. Kirchhofs, Bundessteuergesetzbuch, 2011, 1143 ff. (§ 8 II 2 der Bilanzordnung), die Aufwendungen in Zusammenhang mit grundstücksbezogenen Einkünften unwiderleglich i.H.v. 2,4 % des Kaufpreises zu pauschalieren.
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BVerfGE 122, 210 (240). BVerfGE 84, 348 (359); 87, 234 (255); 96, 1 (6). BVerfGE 122, 210 (238). BVerfGE 99, 280 (290); 105, 73 (127); 110, 274 (292); 117, 1 (31); 120, 1 (30); 127, 224 (245) zu § 8b V KStG. BVerfGE 87, 172. BVerfGE 16, 147 (177); 21, 54 (71); 27, 375 (385); 38, 61 (95). Zutr. Schober, Verfassungsrechtliche Restriktionen für den vereinfachenden Einkommensteuergesetzgeber, Diss., 2009, 176 f. Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem BVerfG, Diss., 2011, 231 ff.; im Vergleich zu der z.T. individualisierten Erfassung des Existenzbedarfs im Sozialrecht Kempny/Krüger, SGb 2013, 384 (390 f.).
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Rz. 161
§3
Der Gleichheitssatz wirkt nur gegenüber einzelnen Gebietskörperschaften. Rechtfertigungsbedürftig ist die Ungleichbehandlung nur, wenn sie durch ein und denselben Normsetzer veranlasst ist. So wenig der Gleichheitssatz dadurch verletzt werden kann, dass ausländische Staaten höhere oder niedrigere Steuern erheben als der Inlandsstaat, so wenig kann er durch unterschiedliche Steuerlasten in den Ländern und Gemeinden – als verschiedenen Steuerberechtigten – verletzt werden. Die unterschiedlichen Lasten haben ihre Ursache in der Gesetzgebungsautonomie der Länder und der Hebesatzautonomie der Gemeinden. Die steuerliche Gesetzesgleichheit endet also an der Grenze der zuständigen Gebietskörperschaften1.
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Da die Steuergesetzgebungskompetenz indessen ganz überwiegend beim Bund liegt (s. § 2 Rz. 56), sind die Stpfl. weitgehend gegen von Land zu Land ungleichmäßige Steuerbelastung und den sich daraus für den wirtschaftlichen Wettbewerb und die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse ergebenden nachteiligen Folgen geschützt. Eine Hauptausnahme bilden die unterschiedlichen kommunalen Realsteuerhebesätze. Allerdings wird eine Stärkung der Steuergesetzgebungsautonomie der Länder de constitutione lata im Bereich von Vermögens- und Erbschaftsteuer (§ 2 Rz. 42 f.), de constitutione ferenda als Zuschlagsrecht zur Einkommen- und Körperschaftsteuer2 intensiv diskutiert.
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Der verfassungsrechtliche Schutz des Existenzminimums
6. Gleichmäßige Besteuerung und Steuerföderalismus
Erhebliche verfassungsrechtlich nicht hinnehmbare Ungleichbehandlungen entstehen i.Ü. bereits derzeit durch den föderalen Steuervollzug, da die Länder ihre Vollzugskompetenz (Art. 108 GG) durchaus unterschiedlich und z.T. zu gezielter Standortpolitik nutzen. Bundeseinheitlich gesetztes Recht muss indes auch regional einheitlich vollzogen werden (hierzu auch § 2 Rz. 74). Einstweilen frei.
153–159
III. Der verfassungsrechtliche Schutz des Existenzminimums In der Wertordnung des GG ist die durch Art. 1 I GG geschützte Menschenwürde der oberste Wert3. Dies hat auch die rechtsstaatliche Ordnung des Steuerrechts zu beachten. Insofern ist es schlechterdings verfassungswidrig, wenn das Steuerrecht die materiellen Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein nicht verschont4. Das verfassungsrechtliche Postulat der Steuerfreiheit des Existenzminimums duldet keine Einschränkungen. Haushaltserwägungen haben vor dieser verfassungsrechtlichen Primärwertung im Steuerrecht zurückzutreten5. Auch indirekte Steuern sollten das Existenzminimum nicht antasten6.
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Das Gebot der Steuerfreiheit des Existenzminimums7 gewinnt das BVerfG in st. Rspr. aus Art. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 I GG; Art. 3 I; 6 I GG und den Freiheitsrechten. Es ist zugleich Ausdruck der Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, dem Stpfl. nicht das wegzunehmen, was ihm mit den Mitteln des Sozialrechts sogleich wieder
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1 Zur Gemeindesatzung BVerfGE 10, 354 (371); 12, 319 (324); 17, 319 (331); 21, 54 (68). Im Weiteren BVerfGE 27, 175 (179); 32, 346 (360); 51, 43 (59); aktuell: BVerfG NVwZ RR 2005, 297; BayVGH KStZ 2011, 209; BVerwG KStZ 2012, 91 ; Tipke, StRO I2, 2000, 363 ff. (m.w.N.). 2 S. etwa Hey, VVdStRL 66 (2007), 277 (308 ff.) m.w.N. 3 St. Rspr. seit BVerfGE 5, 8 (204); Poscher, JZ 2004, 756; Stern, FS Badura, 2004, 571. 4 Grundl. BVerfGE 82, 60 (85 f.). 5 A.A. die Grundfreibetragsentscheidung v. 25.9.1992, BVerfGE 87, 153 (178 f.) (s. § 8 Rz. 72 ff.). 6 Dazu Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, Habil., 2001. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, Habil., 2004; Tipke, StRO I2, 476 ff.; Hey, FS J. Lang, 2010, 133 ff.; J. Lang, StuW 2011, 144 (146 ff.). 7 Dazu Söhn, FinArch. 46 (1988), 154; Treisch, Existenzminimum und Einkommensbesteuerung, Diss., 1999; Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem BVerfG. Eine ökonomische, steuersystematische und grundrechtsdogmatische Kritik des subjektiven Nettoprinzips, Diss., 2011. Allgemein zum verfassungsrechtlichen Schutz des Existenzminimums: Soria, JZ 2005, 644; Wallerath, JZ 2008, 157 sowie umfassend zur Bestimmung des soziokulturellen Existenzminimums Hartz IV-Beschluss BVerfGE 125, 175.
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§3
Rz. 162
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
zurückgegeben werden müsste. Deshalb gilt für das steuerrechtliche Existenzminimum als verfassungsrechtlich determinierte Untergrenze das sozialhilferechtlich festgelegte Leistungsniveau1. Vor dem Steuerzugriff geschützt ist grds. nur der gegenwärtige Bedarf2; dies schließt indes den Abzug existenznotwendiger Vorsorgeaufwendungen ein3.
IV. Leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung der Familie Literatur: J. Lang, Familienbesteuerung, StuW 1983, 103; Zeidler, Verfassungsrechtliche Fragen zur Besteuerung von Familien- und Alterseinkommen, StuW 1985, 1; Böckenförde, Steuergerechtigkeit und Familienlastenausgleich, StuW 1986, 335; Pezzer, Familienbesteuerung und Grundgesetz, StuW 1989, 219; J. Lang, Verfassungsrechtliche Gewährleistung des Familienexistenzminimums im Steuerund Kindergeldrecht, StuW 1990, 331; Lingemann, Das rechtliche Konzept der Familienbesteuerung, Diss., 1994; Pechstein, Familiengerechtigkeit als Gestaltungsgebot für die staatliche Ordnung, Habil., 1994; Wendt, Familienbesteuerung und Grundgesetz, in FS Tipke, 1995, 47; Brockmeyer, Verfassungsrechtliche Maßstäbe für eine gerechte Familienbesteuerung, DStZ 1999, 666; P. Kirchhof, Ehe- und familiengerechte Gestaltung der Einkommensteuer, NJW 2000, 2792; Sacksofsky, Steuerung der Familie durch Steuern, NJW 2000, 1896; Tipke, StRO I2, 2000, 365 ff.; Birk/Wernsmann, Der Schutz von Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht, JZ 2001, 218; Gröpl, Grundgesetz, BVerfG und „Kinderleistungsausgleich“, StuW 2001, 150; Mellinghoff, Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Besteuerung von Ehe und Familie, in Internationale Juristen-Kommission, Grundrechtsschutz im Steuerrecht, 2001, 39; Papier, Ehe und Familie in der neueren Rspr. des BVerfG, NJW 2002, 2129; Tünnemann, Der verfassungsrechtliche Schutz der Familie und die Förderung der Kindererziehung im Rahmen des staatlichen Kinderleistungsausgleichs, Diss., 2002; P. Kirchhof, Maßstäbe für eine familiengerechte Besteuerung, ZRP 2003, 73; P. Kirchhof, Der Schutz von Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht, in FS Rose, 2003, 505; Di Fabio, Der Schutz von Ehe und Familie: Verfassungsentscheidung für die vitale Gesellschaft, NJW 2003, 993; Wangen, Der Familienlastenausgleich im Spannungsfeld von sozialstaatlicher Sicherheit und rechtsstaatlicher Freiheit, Diss., 2003; Maurer, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Besteuerung von Ehegatten und Familien, Diss., 2004; Henschler, Die Minderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch Kinder im Einkommensteuerrecht, Diss., 2005; Felix u. Axer, Die Familie zwischen Privatrecht, Sozialrecht und Steuerrecht, DStJG 29 (2006), 149 ff., 175 ff.; J. Lang, Familiensteuergerechtigkeit, in GS Tettinger, 2007, 553; Jachmann/Liebl, Wesentliche Aspekte zur Familienbesteuerung, DStR 2009, 2056; Merkt, Leitsätze für eine freiheits- und gleichheitsgerechte Einkommensteuer bei Ehe und Familie, DStR 2009, 221; Leisner-Egensperger, Kindergerechte Familienbesteuerung, FR 2010, 865; Jachmann, Berücksichtigung von Kindern im Focus der Gesetzgebung, FR 2010, 123; Seiler, Leitlinien einer familiengerechten Besteuerung, FR 2010, 113; Sacksofsky, Familienbesteuerung in der steuerpolitischen Diskussion, FR 2010, 119; Löhr/Serwe, Das Ehegattensplitting auf dem Prüfstand, 2011; Haupt/Becker, Kinder in schlechter Verfassung, DStR 2013, 734; Sandweg, Der Splittingtarif nach § 32a V EStG – Relikt aus alten Zeiten oder ausgewogene Berücksichtigung der steuerlichen Leistungsfähigkeit?, DStR 2014, 2097.
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Nach Art. 6 I GG stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutze des Staates. Diesen Schutz hat das BVerfG zum einen als Benachteiligungsverbot und zum anderen als Förderungsgebot entfaltet4. Das Benachteiligungsverbot konkretisiert den Gleichheitssatz. Stpfl. sind je nach Familiensituation nicht gleich leistungsfähig5. Deshalb muss der Steuergesetzgeber den familiären Verhältnissen der Stpfl. Rechnung tragen. Hingegen räumt das BVerfG6 dem Gesetzgeber bei der Erfüllung des Förderungsgebots einen weiten Gestaltungsspielraum ein. Im Steu1 St. Rspr. seit BVerfGE 82, 60 (85 f.); aktuell BVerfGE 120, 125 (155) m.w.N. 2 BVerfGE 87, 153 (179 f.). 3 BVerfGE 120, 125 (155): Sonderausgabenabzug Krankenversicherungsbeiträge; dazu Söhn, FS J. Lang, 2010, 549; noch weitergehend Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem BVerfG, Diss., 2011, 245 ff. 4 Grundl. BVerfGE 6, 55 (76) (Haushaltsbesteuerung). Dazu ausf. die vor Rz. 162 zit. Monographien von Lingemann, 60 ff., Pechstein, 129 ff. und Tünnemann, 208 ff. (Förderung der Familie im Rahmen des staatlichen Kinderleistungsausgleichs). 5 Dazu ausf. Tipke, StRO I2, 365 ff. 6 BVerfGE 11, 105 (126); 21, 1 (6); 39, 316 (326); 43, 108 (123 f.); 48, 346 (366); 59, 231 (263); 75, 348 (360); 82, 60 (81).
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Leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung der Familie
Rz. 164
§3
errecht hat das Förderungsgebot des Art. 6 I GG praktisch keine Bedeutung. Konkrete Ansprüche auf bestimmte Sozialzwecknormen lassen sich aus ihm nicht herleiten1. Jenseits des Benachteiligungsverbots verbleiben einfachgesetzliche Gestaltungsspielräume. Das Grundgesetz gibt keine konkrete Form der Ehegattenbesteuerung vor. Eine Kumulierung der Ehegatteneinkünfte (sog. Haushaltsbesteuerung) verstößt jedoch gegen das verfassungsrechtliche Benachteiligungsverbot und verletzt den Grundsatz der Individualbesteuerung (Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips!), wie das BVerfG bereits in den 1950er Jahren festgestellt hat2. Das heute geltende Ehegattensplitting3 hatte das BVerfG in seinem Beschluss zur Haushaltsbesteuerung aus dem Jahr 1957 als verfassungsmäßige Alternative erwähnt4. Die Zusammenveranlagung von Ehegatten (§§ 26; 26b EStG; s. § 8 Rz. 845 ff.) mit der tariflichen Rechtsfolge des Splittings (§ 32a V EStG; s. § 8 Rz. 846 ff.) berücksichtigt nach BVerfGE 61, 319 (345 f.); BVerfGE 133, 377 Rz. 94 die Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft der intakten Durchschnittsehe5. Das Ehegattensplitting ist danach keine Steuervergünstigung, sondern eine mögliche gesetzgeberische Antwort auf den wirtschaftlichen Sachverhalt der ehelichen Lebensgemeinschaft6. Auf das Vorhandensein oder die Möglichkeit der Geburt von Kindern in der Ehe kommt es dabei nicht an (BVerfGE 99, 216 [240]; 133, 377 Rz. 97), was allerdings nicht ausschließt, das Ehegattensplitting auch als familienpolitischen Beitrag zur staatlichen Neutralität gegenüber unterschiedlichen Modellen der Teilung von Erwerbs- und Familien-/Erziehungsarbeit zu interpretieren7.
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Die Anerkennung der Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft knüpft an den verfassungsrechtlichen Ehebegriff an. Das BVerfG definiert die Ehe i.S.d. Art. 6 I GG als das auf Dauer angelegte und zuvor staatlich beurkundete Zusammenleben von Mann und Frau in einer umfassenden (grds. unauflösbaren) Lebensgemeinschaft8. Allerdings ist das Ehegattensplitting nach wie vor lebhaft umstritten. Im Kern geht es um die Frage der Einkommensverteilung auf zwei Individuen. Das Ehegattensplitting ist verfassungsrechtlich allein unter dem Aspekt der Individualbesteuerung zu würdigen, wohingegen Ökonomen die Ehegattenbesteuerung vereinzelt aus der ganz anderen Sicht des Gegensatzes von Individual- und Globaleinkommensbesteuerung diskutieren9 oder aber die Bedeutung des Familienstandes für die Ermittlung 1 2 3 4
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BVerfGE 82, 81. BVerfGE 6, 55 (67); 9, 20 (34 f.). Begründung s. BT-Drucks. 3/260, 32 ff. BVerfGE 6, 55 (80): „Will man aus dem Gesichtspunkt der Sozialstaatlichkeit und des Schutzes von Ehe und Familie der besonderen Lage des Ehemannes und Familienvaters, der für mehrere Personen aufzukommen hat, Rechnung tragen, so gibt es dazu verschiedene, in der Öffentlichkeit bereits erörterte Wege (Erhöhung der Freibeträge, Einführung des ,splitting’).“. Im Anschluss an J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Habil., 1981/88, 627 ff. H.M. im Schrifttum, vgl. seit 1994: Verhandlungen des 60. DJT: Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie, Bd. II/1, 1994, Referat von J. Lang, O 61 (O 72 ff.); Beschluss Nr. 11 (O 92): Abschaffung des Ehegattensplittings abgelehnt (46:65:14) u. Umbau in ein Familien-Realsplitting angenommen (106:1:12); s. ferner Grönert, DStZ 1998, 895 (897, Zulässigkeit der Abschaffung des Ehegattensplittings bejahend); Lietmeyer, DStZ 1998, 849 (852); Oepen, Zur Einkommensbesteuerung von Ehegatten – Entstehung, Kritik und Änderungsvorschläge, IFSt-Schrift Nr. 370 (1999), 12; Vogel, StuW 1999, 201 (grundl.); Söhn, FS Oberhauser, 2000, 413; Tipke, StRO I2, 377 ff.; Kanzler, DStJG 24 (2001), 417 (435 ff.); Kanzler, FR 2001, 806; Seer, FS Kruse, 2001, 357; Richter/Steinmüller, FR 2002, 812; Winhard, DStR 2006, 1729; Birk, FR 2012, 1029 (1031). BVerfGE 133, 377 Rz. 98; BT-Drucks. 3/260, 34: „besondere Anerkennung der Aufgabe der Ehefrau als Hausfrau und Mutter“. BVerfGE 10, 59 (66); 49, 286 (300); neuerdings ohne den Zusatz der Unauflösbarkeit BVerfGE 105, 313 (345); 124, 199 (229); Tettinger, Der grundgesetzlich gewährleistete besondere Schutz von Ehe und Familie, Essener Gespräche, Bd. 35, 2001, 117 (133 ff.). So unterscheidet Homburg, Allgemeine Steuerlehre6, 2010, 81 ff., die Individualbesteuerung von der Globaleinkommensbesteuerung mit folgender Definition: „Die gemeinsame Steuer der Ehegatten soll nur von der Summe ihrer Einkommen abhängen und nicht von deren Verteilung“ (83). Verfassungsrechtlich ist aber gerade die Verteilung des Einkommens auf die Eheleute relevant. Das Splitting ist nicht gerechtfertigt, wenn die Einkommen in der Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft nicht hälftig
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§3
Rz. 165
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
steuerlicher Leistungsfähigkeit gänzlich negieren1. Insofern ist für die interdisziplinäre Diskussion noch keine gemeinsame Plattform gebildet worden. Auch der Rechtsvergleich ergibt höchst unterschiedliche Formen der Ehegattenbesteuerung2. Doch auch im juristischen Schrifttum sind die Meinungen geteilt, wobei zu unterscheiden ist zwischen der rechtspolitischen Kritik der mangelnden Zielgenauigkeit des Ehegattensplittings zur Familienförderung (s. hierzu § 8 Rz. 104), und der verfassungsrechtlichen Kontroverse mit den Extrempositionen der Verfassungswidrigkeit des Ehegattensplittings3 und der Verfassungswidrigkeit seiner Abschaffung4. Wer der Ehe ein emanzipiertes Leitbild zugrunde legt, betont die Gütertrennung während der Ehe und lehnt – gegen den empirischen Befund5 – schon faktisch die Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft ab. Danach bestreiten Gegner des Ehegattensplittings wie Sacksofsky und Vollmer die Einkommensverteilung innerhalb der Ehe6. Das Leitbild der grds. für sich selbst wirtschaftenden Eheleute reduziert die Verteilung des Einkommens auf die Erfüllung von Unterhaltspflichten. Noch weitergehend ist die Annahme einer mittelbaren Diskriminierung von Frauen, die durch das Ehegattensplitting von der Arbeitsaufnahme abgehalten würden7. Die entgegengesetzte These von der verfassungsrechtlichen Alternativlosigkeit des heutigen Ehegattensplittings verkennt jedoch, dass die über die Abbildung der Unterhaltsgemeinschaft hinausgehenden Wirkungen des Ehegattensplittings bei höheren Einkommen nicht zwingend durch das Benachteiligungsverbot des Art. 6 I GG geboten sind.
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Ob das Splitting in erster Linie der Abbildung (fiktiver) gegenseitiger Unterhaltspflichten dient, wie sie rechtlich (nur) bei getrenntlebenden oder geschiedenen Ehegatten bestehen, oder einer darüber hinaus gehenden Einkommensverteilung, hängt maßgeblich vom Progressionsverlauf des Einkommensteuertarifs ab. Aktuell beginnt die obere Proportionalzone bereits ab dem Betrag von 52 882 Euro (s. § 8 Rz. 805), so dass das Ehegattensplitting (s. § 8 Rz. 846 ff.) bis zu einem gemeinsam zu versteuernden Einkommen von 105 764 Euro wirkt. Damit erstreckt sich die Splittingwirkung auf einen Einkommensbereich, wo die eheliche Einkommensverteilung wesentlich aus der gesetzlichen Unterhaltsgemeinschaft resultiert. Die Frage, ob das Ehegattensplitting bei sehr hohen Einkommen „gekappt“ werden kann8, stellt sich derzeit in erster Linie für den Bereich der sog. Reichensteuer, der Anhebung des Spitzensteuersatzes für Einkommen ab 250 731/501 462 Euro auf 45 %. Vollzieht das Einkommensteuerrecht nicht zumindest die gesetzliche Unterhaltsgemeinschaft der Eheleute nach, ist zu befürchten, dass Eheleute sich gegenseitig unter Steuergestaltungsdruck setzen und den Splittingeffekt mit Verträgen wiederherstellen. Die Dummen sind dann Eheleute, die keine Gestaltungsmöglichkeiten haben.
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aufgeteilt werden. Die Erwerbsgemeinschaft der Eheleute ist durchaus der einer Personengesellschaft vergleichbar. Bei beiden Erwerbsgemeinschaften kommt es steuerrechtlich darauf an, in welchem Umfange die Beteiligten an dem Einkommen partizipieren; s. auch Homburg, StuW 2000, 261; Scherf, StuW 2000, 269. Bareis, StuW 2000, 81 (83) (ökonomische Diskussion der Abhandlung von Vogel, StuW 1999, 20). Dazu Tipke, StRO I2, 374 ff.; Kanzler, FR 2002, 760; Lindencrona, Intertax 2002, 474; Rauch/Wessing, IWB 2003, Fach 5, Gr. 2, 375 (Niederlande). Sacksofsky, NJW 2000, 1896; Sacksofsky, FR 2010, 119 (121); Vollmer, Das Ehegattensplitting: Eine verfassungsrechtliche Untersuchung der Einkommensbesteuerung von Eheleuten, Diss., 1998; Zuleeg, DÖV 2005, 687; Brosius-Gersdorf, Demografischer Familienwandel und Familienförderung, Habil., 2011, 500 ff., 505. S. Badura in Maunz/Dürig, Art. 6 GG Anm. 86; Stern, Staatsrecht IV/1, 2006, 434 f.; Burgi in Friauf/ Höfling, Art. 6 GG Rz. 56 (2002); Homburg, Allgemeine Steuerlehre6, 2010, S. 84 ff. Sehr aufschlussreich Baumgarten/Houben, StuW 2014, 116. Sacksofsky, NJW 2000, 1896 (1900); Sacksofsky, FR 2010, 119 (121): „Sozialwissenschaftler können zeigen, dass es für die bestehende Ehe nicht egal ist, wie sich die Einkommensverteilung in der Ehe gestaltet. Die Verhandlungsmacht der Ehepartner wird davon wesentlich mitbestimmt, ebenso wie die Konsumentscheidungen im Haushalt.“; Vollmer, Das Ehegattensplitting, Diss., 1998, 92: „Eine vermeintliche Halbteilung des ehelichen Einkommens und infolgedessen der Leistungsfähigkeit der EhepartnerInnen ist im Falle des Bestehens einer Zugewinngemeinschaft jedoch eine Unterstellung und damit eine rechtliche Fiktion.“; s. auch Spangenberg, Neuorientierung der Ehebesteuerung: Ehegattensplitting und Lohnsteuerverfahren, Hans-Böckler-Stiftung-Arbeitspapier 106, 2005, 39. Spangenberg, Mittelbare Diskriminierung im Einkommensteuerrecht, Diss., 2013, 109. Abl. Stöcker, BB 1999, 234; Jachmann/Liebl, DStR 2010, 2009 (2010); dagegen Söhn, FS Vogel, 2000, 639 (656 ff.): grds. zulässig bei sehr hohen Einkommen; ähnlich v. Renesse, ZRP 2013, 87 (88 f.), die zusätzlich nach Güterständen differenziert.
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Rz. 168
§3
Unterschiedliche Familienideologien bewirken auch verschiedene verfassungsrechtliche Grundauffassungen zum Verhältnis anderer Lebensgemeinschaften zur Ehe. Nach st. Rspr. des BVerfG darf der Gesetzgeber die Ehe gegenüber anderen Lebensgemeinschaften nicht diskriminieren, insb. Verheiratete nicht gegenüber Nichtverheirateten bei der Gewährung rechtlicher Vorteile benachteiligen1. Allerdings nimmt BVerfGE 107, 205 (215 f.) eine „punktuelle gesetzliche Benachteiligung“ hin, wenn die gesetzliche Regelung „im Ganzen“ betrachtet keine Schlechterstellung von Eheleuten bewirkt. Demnach ist das „spiegelbildlich“ zum Förderungsgebot gehörende Benachteiligungsverbot für Ehe und Familie im Verhältnis zu Nicht-Verheirateten und Nicht-Familien2 verfassungsgerichtlich gesichert.
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Hiervon zu unterscheiden ist die umgekehrte Frage, ob das geltende Ehegattensplitting und sonstige Steuererleichterungen für Verheiratete für andere, vergleichbare Lebensgemeinschaften geöffnet werden müssen. Sie ist rein gleichheitsrechtlich3 zu beantworten. Der Ausschluss anderer Lebensformen, „die nach dem geregelten Lebenssachverhalt und den mit der Normierung verfolgten Zielen der Ehe vergleichbar sind, lässt sich nicht durch die bloße Verweisung auf das Schutzgebot der Ehe rechtfertigen“ (vgl. BVerfGE 124, 199 [226]; 126, 400 [420]).
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Leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung der Familie
Dementsprechend hat BVerfGE 126, 400 (Erbschaftsteuer) und BVerfGE 133, 377 (Ehegattensplitting)4 ein Gebot stl. Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe aus Art. 3 I GG abgeleitet. Die hiergegen vorgebrachte Forderung nach einem rechtlichen „Schutzabstand“5 läuft mangels Konkurrenz zwischen Ehe und gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaft leer6. Aus der steuerlichen Perspektive des Leistungsfähigkeitsprinzips kann es nur darauf ankommen, dass der Gesetzgeber die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft als der Ehe vergleichbare „umfassende institutionalisierte Verantwortungsgemeinschaft“ ausgestaltet hat, so dass die Lebenspartner wie Ehegatten eine Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft bilden7. Mit dieser an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Lebenspartner orientierten Argumentation trägt das BVerfG zu einer Entideologisierung der Debatte bei. Auch erteilt es der Schutzabstandsthese eine Absage8. Der aus Art. 6 I GG abgeleitete Schutz- und Förderauftrag ist deutlich zu trennen von dem allein auf Art. 3 I GG gestützten Anspruch Dritter auf Gleichbehandlung9. § 2 VIII EStG zieht die Konsequenz der estl. Gleichstellung der Lebenspartner mit Ehegatten. Allerdings darf der Gesetzgeber über Art. 3 I GG nicht zu einer ganz anderen Familienpolitik gezwungen werden; er bleibt berechtigt, die Ehe als rechtlich verbindliche und in besonderer Weise mit gegenseitigen Einstandspflichten ausgestattete dauerhafte Paarbeziehung gegenüber anderen Lebensformen zu begünstigen10. Insb. lässt sich keine Erstreckung der Ehegattenbesteuerung auf nichteheliche Lebensgemeinschaften folgern. BVerfGE 126, 400 (419) hat besonders strenge Maßstäbe an die Rechtfertigung der Ungleich1 2 3 4
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BVerfGE 67, 168 (195 f.); BVerfGE 69, 188 (205 f.); 75, 382 (393); 107, 205 (215). So Sachs/Schmitt-Kammler6, Art. 6 GG Rz. 36. S. BVerfGE 126, 400 (420); 133, 377 Rz. 84.; Haupt/Becker, DStR 2013, 734 (737). Hierzu krit. Hillgruber, JZ 2013, 843; Greite, FR 2013, 724 f.; zust. Sanders, NJW 2013, 2236. Krit. im Vorfeld Löhr/Serwe, Das Ehegattensplitting auf dem Prüfstand, 2011, 34 ff.; Bömelburg, NJW 2012, 2753 folgert, dass sich aufgrund der richterrechtlich erzwungenen Gleichstellung die Lebenspartnerschaft als Sonderform überholt habe und die Ehe konsequenterweise für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet werden müsse („Homo-Ehe“). So Krings, ZRP 2000, 409. Für eine Besserstellung auch Pauly, NJW 1997, 1955; von Münch, NJW 1999, 260; Burgi, Der Staat, 2000, 487 (501); Pawlowski, JZ 2000, 765; Robbers, JZ 2001, 779 (783 f.); Scholz/Uhle, NJW 2001, 393 (398 f.). Abl. hingegen Freitag, DÖV 2002, 445 u. Lindenberg/Micker, DÖV 2003, 707. BVerfGE 133, 377 (411 f., Rz. 85). BVerfGE 133, 377 (414 f. Rz. 91). Vgl. auch schon BVerfGE 124, 199 (226): „Aus dem besonderen Schutz der Ehe kann kein Gebot abgeleitet werden, dass andere Lebensgemeinschaften im Abstand zur Ehe auszugestalten und mit geringeren Rechten zu versehen sind.“ Dies verkennen Löhr/Serwe, Das Ehegattensplitting auf dem Prüfstand, 2011, 29 ff. BVerfGE 105, 313 [348]; 117, 316 [328 f.]; 124, 199 [225]; 131, 239 [259 f.]; 133, 377 (410 f. Rz. 83).
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§3
Rz. 169
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
behandlung von Ehegatten und Lebenspartnern angelegt, weil sie kaum trennbar mit der sexuellen Orientierung der Betroffenen verbunden ist. Gleichgeschlechtlichen Partnern ist der Weg in die Ehe verbaut. Zudem hat die Rechtsordnung beide Partnerbeziehungen, was ihre rechtlich verfestigte Lebensnähe zum Partner betrifft, einander weitgehend angeglichen. Dies trifft auf die nichteheliche Lebensgemeinschaft gerade nicht zu. Außerdem haben verschiedengeschlechtliche Lebenspartner die Möglichkeit der Eheschließung und damit der Inanspruchnahme steuerrechtlicher Sondertatbestände, die das Bestehen einer Ehe voraussetzen. Gleichheitsrechtlich ist es daher nicht zu beanstanden, dass das Ehegattensplitting an das Zivilrecht anknüpft1, so dass andere Lebensgemeinschaften, insb. die nichteheliche Lebensgemeinschaft ausgeschlossen bleiben2. Auch die Erstreckung des Splitting auf (verwitwete) Alleinerziehende mit Kindern (abl. BFH/NV 2013, 362; 2013, 1406) lässt sich nicht mittels Art. 3 I GG erzwingen3. Rechtspolitisch mag man daran zweifeln, die Unterhaltsbedürfnisse von Kindern stl. auf ein (erweitertes) Existenzminimum zu begrenzen, Ehegatten dagegen sogar über die Unterhaltsgemeinschaft hinaus Splittingvorteile zu gewähren. Dennoch verbleiben gravierende Unterschiede, da zwischen Eltern und Kindern zwar eine Verbrauchsgemeinschaft, aber i.d.R. keine Erwerbsgemeinschaft besteht. Damit wird die Lebensgemeinschaft zwischen Eltern und Kindern nicht negiert. Es bleibt dem Gesetzgeber aber unbenommen, die Unterschiede zu betonen, gerade weil das Ehegattensplitting nicht die einzige verfassungskonforme Form der steuerlichen Abbildung familiärer Lebensgemeinschaften ist.
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Eltern und Kinder bilden eine Familie und werden durch Art. 6 I GG ebenfalls geschützt. Daher dürfen wegen der nachteiligen Progressionswirkung für Einkommensteuerzwecke auch die Einkommen von Eltern und Kindern nicht kumuliert werden4. Ab 1982 hat das BVerfG seine Judikatur zu Art. 6 I GG gegenüber dem Steuergesetzgeber schrittweise verschärft5 und die folgenden beiden Postulate bestätigt: – Die für das Existenzminimum des Stpfl. und seiner Familie benötigten Aufwendungen müssen in Höhe der staatlichen Existenzsicherung durch Sozialleistungen steuerfrei gestellt sein (privates Nettoprinzip: § 8 Rz. 71 ff., 81 ff.), und – zwangsläufige Unterhaltsleistungen müssen realitätsgerecht berücksichtigt werden (Prinzip familiärer Einkommensverteilung: § 8 Rz. 75 ff., 88 ff.). Tatsächlich durchgeführte Verträge zwischen Ehegatten oder zwischen Eltern und Kindern sind – auch steuerrechtlich – grds. wie Verträge zwischen Fremden zu behandeln (dazu ausf. § 8 Rz. 162 ff.).
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Art. 6 I GG entfaltet Schutzwirkung auch gegenüber der Besteuerung von Vermögen, Erbschaften und Schenkungen. Garantiert ist der Erhalt des familiären Gebrauchs- und Vorsorgevermögen gegenüber dem Steuerzugriff. Der Vermögensteuerbeschluss von 1995 hat folgende Garantie familiären Lebensstandards ausgesprochen: „Soweit Vermögensteuerpflichtige sich innerhalb ihrer Ehe oder Familie auf eine gemeinsame – erhöhte – ökonomische Grundlage individueller Lebensgestaltung einrichten durften, gebietet der Schutz von Ehe und Familie gem. Art. 6 I GG, dass der Vermögensteuergesetzgeber die Kontinuität dieses Ehe- und Familiengutes achtet“6. Bei der Erbschaftsteuer tritt der Schutz von Ehe und Familie neben den verfassungsrechtlichen Schutz der Testierfreiheit7. Das bedeutet i.V.m. Art. 14 GG, dass das normale bzw. durchschnittliche Gebrauchs- und Vorsorgevermögen innerhalb der Familie erbschaftsteuerlich zu verschonen ist (s. Rz. 192; § 15 Rz. 5 f., 100, 136). 1 BFH BStBl. 1957, 300; BStBl. 1973, 487; 1986, 390; 1998, 473 (474). 2 Ipsen, Ehe und Familie, HStR VII3, 2009, § 154 Rz. 44; Papier, NJW 2002, 2129 (2130 f.); Bültmann, StuW 2004, 131 (134 f.). Bereits BVerfGE 61, 319, hat eine Ausdehnung des Ehegattensplittings auf Alleinstehende mit Kindern abgelehnt (aktuell bestätigt BFH/NV 2014, 1741); s. auch BFH/NV 2005, 1050; 2012, 1125 (nichtverheiratete Eltern); BFH BStBl. 2013, 633 (zusammenlebende und füreinander sorgende Geschwister). 3 A.A. (verfassungswidrige Benachteiligung von Kindern) mit ausf. Begründung Haupt/Becker, DStR 2013, 734 (736 ff.). 4 S. BVerfGE 18, 97 (106). 5 Zur Neuorientierung der BVerfG-Rspr. J. Lang, StuW 1983, 103; Pezzer, FS Zeidler, 1987, 757. 6 BVerfGE 93, 121, Leitsatz 5. 7 BVerfGE 93, 165 (174).
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Freiheitsrechtliche Schranken der Besteuerung und Übermaßverbot
Rz. 181
§3
171–179
Einstweilen frei.
V. Freiheitsrechtliche Schranken der Besteuerung und Übermaßverbot 1. Rechtsstaatlicher und grundrechtlicher Gehalt des Übermaßverbots1 1.1 Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns Das Verhältnismäßigkeitsprinzip und das hieraus abgeleitete Übermaßverbot sind verfassungsrechtlich im Rechtsstaatsprinzip2 und in den Grundrechten3 begründet, und zwar für die Besteuerung besonders in Art. 14 I GG, aber auch in Art. 12 I GG4. Das Übermaßverbot gilt grds. für jede staatliche Maßnahme, also für Maßnahmen der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rspr. Es beschränkt den Eingriff in die freiheitlich geschützte Sphäre des Bürgers auf Maßnahmen, die das gewählte Mittel in ein vernünftiges Verhältnis zum angestrebten Zweck setzen. Diese Rationalität der Zweck-Mittel-Relation wird durch die Kriterien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit konkretisiert.
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Besondere praktische Bedeutung hat das Übermaßverbot im Steuerverfahren. Der Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit oder das Recht auf informationelle Selbstbestimmung kann ohne weiteres in Verhältnis zum Ermittlungsziel gesetzt werden. I.E. ist wie folgt zu prüfen:
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(1) Geeignetheit: Die Finanzbehörde darf keine Maßnahmen ergreifen, mit denen der angestrebte Zweck nicht erreicht werden kann. Unzulässig ist die Ermittlung von Tatsachen, die für den konkret zu prüfenden Steuertatbestand nicht relevant sind. So dürfen z.B. die Einzelheiten einer Erkrankung nicht ermittelt werden, wenn feststeht, dass Aufwendungen i.S.d. § 33 EStG geleistet worden sind. Bei der Durchführung einer Außenprüfung dürfen keine Mitarbeiter des geprüften Betriebs befragt werden, die über die steuerlich relevanten Verhältnisse des Inhabers nicht hinreichend informiert sind. Forderungen dürfen nur dann verpfändet werden, wenn die Pfändung zur Befriedigung führen kann (s. BFH/NV 2001, 81). (2) Erforderlichkeit: Die Finanzbehörde ist verpflichtet, von mehreren geeigneten Maßnahmen nur diejenige zu ergreifen, die den Betroffenen am geringsten belastet. So ist die Befragung von Betriebsangehörigen nicht erforderlich, soweit der Betriebsinhaber Auskünfte zu erteilen vermag; §§ 93 I 3; 200 I 3 AO entsprechen dem Übermaßverbot. Auswahl und Umfang von Vollstreckungsmaßnahmen müssen den Vollstreckungsschuldner so gering als möglich belasten. (3) Zumutbarkeit (Verhältnismäßigkeit i.e.S.)5: Auch eine erforderliche, den Betroffenen so gering als möglich belastende Maßnahme kann eine Belastung des Betroffenen zur Folge haben, die außer Verhältnis zur Bedeutung des angestrebten Zwecks steht, so dass die Maßnahme dem Betroffenen als nicht mehr zumutbar erscheint. Unverhältnismäßiger Verwaltungsaufwand kann die Mitwirkung des Beteiligten unzumutbar machen. In diesem Sinne befolgt die Anerkennung von Kostenpauschalen (z.B. Reisekostenpauschalen) das Übermaßverbot. Unzumutbar ist auch die Einnahme des Augenscheins in einer Privatwohnung nach 19 Uhr oder die Benen1 Lit.: Allgemeine: Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, Habil., 1961; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Habil., 1981; d’Avoine, Die Entwicklung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, Diss., 1994; von Arnauld, JZ 2000, 276; Lücke, DVBl. 2001, 1469 (additiver Grundrechtseingriff und Verhältnismäßigkeitsprinzip). Besondere: Tipke, StRO I2, 205 ff. (formelles Übermaßverbot), 417 ff. (materielles Übermaßverbot); Elicker, DVBl. 2006, 480. 2 BVerfGE 23, 133 (137: Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots ergeben sich als übergreifende Leitregeln allen staatlichen Handelns zwingend aus dem Rechtsstaatsprinzip u. haben daher Verfassungsrang); Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I2, 1984, 861 ff. 3 Dazu insb. R. Wendt, AöR (1979), 414. 4 S. P. Kirchhof, Die Steuern, HStR V3, 2007, § 118 Rz. 145 ff.; Tipke, StRO I2, unterscheidet ein aus der formalen Rechtsstaatlichkeit abgeleitetes formelles Übermaßverbot (205 ff.) u. ein aus den Art. 1 I; 2 I; 12 I; 14 I GG abgeleitetes materielles Übermaßverbot, identisch mit den verfassungsrechtlichen Grenzen der Besteuerung (417 ff.). 5 Dazu Albrecht, Zumutbarkeit als Verfassungsmaßstab, Diss., 1995.
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§3
Rz. 182
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
nung von Zahlungsempfängern, wenn dadurch die wirtschaftliche Existenz des Stpfl. gefährdet wird; das Übermaßverbot begründet eine Ausnahme von § 160 AO1.
1.2 Relative Wirkungslosigkeit des freiheitsrechtlichen Übermaßverbots gegenüber dem Steuereingriff 182
Im materiellen Steuerrecht bereitet die Anwendung des Übermaßverbots Schwierigkeiten. Auch wenn der steuerliche Zugriff eine massive Beeinträchtigung der grundrechtlich geschützten Freiheiten darstellt, spielen die Freiheitsrechte in der Begrenzung des Steuereingriffs eine untergeordnete Rolle. Die Durchsetzungsschwäche der Freiheitsrechte entsteht auf der Rechtfertigungsebene. Dies liegt im Wesen der Steuer als allgemeinem Deckungsbeitrag zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben ohne Bezug zur Erfüllung bestimmter Verwaltungszwecke2. Die Herstellung einer ZweckMittel-Relation zwischen dem Steuereingriff und dem staatlichen Finanzierungsanspruch scheitert, weil sich die Frage, ob der konkrete Steuereingriff erforderlich ist, nicht beantworten lässt, will man nicht in eine letztlich ergebnislose Debatte über Qualität und Umfang der mit den Steuereinnahmen finanzierten Staatsaufgaben eintreten. Alle Versuche, das Verhältnismäßigkeitsprinzip als wirkmächtige Schranke gegen den Fiskalhunger des Staates zu etablieren, müssen als gescheitert angesehen werden. Umso wichtiger ist es, dass die Steuerlast gleichgerecht verteilt wird.
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Dabei ist jedoch zwischen Fiskalzweck- und Lenkungsnormen zu unterscheiden. Lenkungsnormen, die darauf gerichtet sind, das Verhalten der Stpfl. zu beeinflussen, lassen sich sehr wohl an den Freiheitsrechten messen und durch diese auch wirksam begrenzen. Soweit Steuern lenkend auf das Verhalten des Stpfl. einwirken, lässt sich diese Gestaltungswirkung in Beziehung zu dem außerfiskalischen Lenkungsziel setzen, auch wenn es sich lediglich um einen durch die finanzielle Belastung vermittelten mittelbaren Eingriff3 handelt, der grds. geringer wiegt als ein ausdrückliches Ver- oder Gebot. Weniger eindeutig ist, ob die Freiheitsrechte auch als Begrenzungsnormen gegenüber nicht intendierten Gestaltungswirkungen4 von Fiskalzwecknormen fungieren können, wie sie insb. durch Normen entstehen, die gleiche wirtschaftliche Sachverhalte ungleich behandeln und den Stpfl. damit regelrecht dazu zwingen, bestimmte Gestaltungsmaßnahmen zu ergreifen, etwa eine bestimmte Rechts- oder Finanzierungsform zu wählen. Die Freiheitsgrundrechte können hier neben Art. 3 I GG in Stellung gebracht werden, freilich nur unter Beachtung des verfassungsrechtlichen Eingriffsbegriffs, der allerdings auch mittelbare Beeinträchtigungen erfasst5. Derartige Gestaltungswirkungen sind jedenfalls dann der freiheitsrechtlichen Überprüfung zugänglich, wenn sie für den Gesetzgeber vorhersehbar sind.
1.3 Das Verbot der Erdrosselungssteuer Literatur: Knies, Steuerzweck und Steuerbegriff, 1976, 129 ff.; Mußgnug, Verfassungsrechtlicher und gesetzlicher Schutz vor konfiskatorischen Steuern, JZ 1991, 993; Tipke/Kruse/Drüen, § 3 AO Rz. 17 ff. (2007); Jachmann, Sozialstaatliche Steuergesetzgebung im Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Freiheit: Belastungsgrenzen im Steuersystem, StuW 1996, 97, 100 ff.; Elicker, Darf der Steuerzugriff ein Unternehmen zahlungsunfähig machen?, StuW 2002, 217; Fenner, Erdrosselnde Abgaben als staatliches Interventionsinstrument, 2004.
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Um die Freiheitsrechte als Schutz vor übermäßiger Besteuerung nicht gänzlich leer laufen zu lassen, hat das BVerfG schon früh aus Art. 12 I; 14 I GG das Verbot der sog. Erdrosselungsteuer abgeleitet6. 1 2 3 4
S. BFH BStBl. 1987, 481 (482). BVerfGE 115, 97 (115); Tipke, StRO I2, 418. S. HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 555 u. 569 ff. (2010). Dazu grundl. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, Habil., 1983, 194 ff.; zurückhaltend Kempny, StuW 2014, 185 (188). 5 Allerdings einschränkend für sog. Selbstbeeinträchtigungen, soweit diese keinen zwangsgleichen Charakter einnehmen Sachs/Sachs6, Vor Art. 1 GG Rz. 93. 6 BVerfGE 14, 221 (241); 19, 119 (128 f.); 23, 288 (315); 27, 111 (131); 30, 250 (271 f.); 50, 57 (105); 63, 343 (368); 68, 287 (310); 70, 219 (230); 78, 214 (230); 78, 232 (243); 82, 159 (190); 87, 153 (169); 95, 267 (300); 105, 17 (32); 108, 186 (223); 115, 97 (115).
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Freiheitsrechtliche Schranken der Besteuerung und Übermaßverbot
Rz. 185
§3
BVerfGE 87, 153, formuliert das Verbot der Erdrosselungssteuer wie folgt: „Steuergesetze sind in ihrer freiheitsbeschränkenden Wirkung jedenfalls an Art. 2 I GG zu messen. Dabei ist indes zu berücksichtigen, dass Steuergesetze in die allgemeine Handlungsfreiheit gerade in deren Ausprägung als persönliche Entfaltung im vermögensrechtlichen und im beruflichen Bereich (Art. 14 I; Art. 12 I GG) eingreifen. Dies bedeutet, dass ein Steuergesetz keine „erdrosselnde“ Wirkung haben darf: Das geschützte Freiheitsrecht darf nur so weit beschränkt werden, dass dem Grundrechtsträger (Stpfl.) ein Kernbestand des Erfolges eigener Betätigung im wirtschaftlichen Bereich in Gestalt der grundsätzlichen Privatnützlichkeit des Erworbenen und der grundsätzlichen Verfügungsbefugnis über die geschaffenen vermögenswerten Rechtspositionen erhalten bleibt“1.
Die Figur der Erdrosselungsteuer ist – abgesehen von der denkwürdigen Halbteilungsentscheidung (s. Rz. 189 ff.) – theoretisch geblieben; bejaht hat das Bundesverfassungsgericht die erdrosselnde Wirkung noch nie2. Die Grenze der Konfiskation oder Erdrosselung setzt zu spät ein3. Entfaltet eine Steuer Verbotswirkung, indem sie den Stpfl. faktisch dazu zwingt, seine wirtschaftliche Tätigkeit einzustellen, handelt es sich schon begrifflich nicht mehr um eine Steuer. Soll das Übermaßverbot im Steuerrecht nicht vollends leer laufen, muss der verfassungsrechtliche Schutz vor Überbelastung (s. Art. 106 III 4 Nr. 2 GG) vorher einsetzen. BVerfGE 115, 97 (116) sieht eine – allerdings sehr zurückhaltend formulierte – Grenze in der „Zumutbarkeit“ der Belastung (hierzu im Weiteren Rz. 196): „Trotz mangelnder konkreter Verwaltungszwecke, die in ein Verhältnis zur Steuerbelastung gesetzt und bewertet werden könnten, bleibt die Möglichkeit, in Situationen zunehmender Steuerbelastung der Gesamtheit oder doch einer Mehrheit der Steuerpflichtigen, insb. etwa dann, wenn eine solche Belastung auch im internationalen Vergleich als bedrohliche Sonderentwicklung gekennzeichnet werden kann, vom Gesetzgeber die Darlegung besonderer rechtfertigender Gründe zu fordern, nach denen die Steuerlast trotz ungewöhnlicher Höhe noch als zumutbar gelten dürfe.“
2. Art. 2 I GG als allgemeine Schranke der Besteuerung Art. 2 I GG hat im Steuerrecht zunächst Bedeutung für den Gesetzesvorbehalt (s. Rz. 230 f.). Zwar gibt es kein „Grundrecht auf Steuerfreiheit“4, Art. 2 I GG schützt jedoch vor Steuereingriffen ohne gesetzliche Grundlage. Ferner gewährleistet Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG das allgemeine Persönlichkeitsrecht5; insb. gewährt die st. Rspr. des BVerfG6 dem Bürger einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung. Mit diesen Inhalten entfaltet Art. 2 I GG seinen Schutz im Steuerverfahrensrecht7: Der Stpfl. darf im Steuerverfahren nicht herabwürdigend behandelt werden. Bei Außenprüfungen (§§ 193 ff. AO), Steuerfahndungen (§ 208 AO) und bei der Einnahme eines Augenscheins (§§ 98; 99 AO) hat der Steuerbeamte darauf zu achten, dass die Integrität und Intimsphäre des Stpfl. gewahrt bleiben; er hat insb. verletzende Äußerungen, einen rüden Umgangston und die Herabwürdigung des Stpfl. gegenüber Familien- und Betriebsangehörigen zu unterlassen. 1 BVerfGE 87, 153 (169). 2 S. aber jetzt (erstmalig) EGMR v. 14.5.2013, App. Nr. 66529/11, NKM v. Hungary, mit Anm. Baker, ET 2013, 393: Grenzsteuerbelastung von 98 % als Verletzung der Eigentumsgarantie („excessively high tax, undermining the economic viability of the taxpayer“); außerdem im Zusammenhang mit erhöhter Besteuerung von Kampfhunden BVerwG v. 15.10.2014 – 9 C 8/13, juris, Rz. 22 ff. 3 BVerfGE 115, 97 (115 f.). 4 So die überspitzte Formulierung von Wacke, StbJb. 1966/67, 75 (107); dazu krit. Tipke, StRO I1, 1993, 158 f. 5 Dazu ausf. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, 646 ff.; Sachs/ Murswiek6, Art. 2 GG Rz. 59 ff. 6 St. Rspr. seit BVerfGE 54, 148 (153). Zu den Verbindungslinien zur Menschenwürdegarantie s. BVerfGE 6, 32 (41); 27, 344 (351); 34, 269 (281). 7 Dazu Hammerstein, Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatsphäre im Steuerrecht, Diss., 1993; P. Kirchhof, FS Tipke, 1995, 27.
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§3
Rz. 186
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Allerdings passt der Topos „Bereich privater Lebensgestaltung“ oder „Privatsphäre“ im Steuerrecht insofern nicht, als die Tatbestandsmerkmale von Steueransprüchen häufig intime Tatsachen der privaten Lebensgestaltung (Krankheitskosten i.S.d. § 33 EStG, Kosten eines häuslichen Arbeitszimmers etc.) erfassen, die von der Steuerverwaltung überprüft werden müssen1. Insofern bewegt sich die Ermittlung der steuerrelevanten Sachverhalte notwendig in der grundrechtlich geschützten Privatsphäre2. Der „unantastbare Bereich“ lässt sich auch nicht von einem Bereich „marktoffenbarer Vorgänge“ abgrenzen3, weil die Steuergesetze nicht nur marktoffenbare Merkmale enthalten. Art. 2 I GG als Grundlage der Legalität kann nicht die Durchsetzung der Legalität behindern, so dass der Persönlichkeitsschutz nicht die Überprüfung „privater“ Tatbestandsmerkmale untersagt, sondern mehr die Art und Weise der Überprüfung i.V.m. dem Übermaßverbot bestimmt. Schließlich eröffnet der Stpfl. selbst seine sog. Privatsphäre, wenn er Aufwendungen aus seiner Privatsphäre geltend macht, z.B. Arbeitszimmeraufwendungen: Verweigert der Stpfl. ohne hinreichenden Grund die nichtangemeldete Einnahme eines Augenscheins seiner Wohnung (§§ 98; 99 I 3 AO; Art. 13 GG), so darf das Finanzamt den Steuerabzug der Arbeitszimmeraufwendungen versagen4.
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Art. 4 GG, der die Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit regelt, hat Bedeutung für das Kirchensteuerrecht (s. § 8 Rz. 950 ff.), für den Steuerabzug der Kirchensteuer (s. § 8 Rz. 712), für die Förderung religiöser Zwecke durch das Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht (s. § 20 Rz. 1 f., 15 f.) sowie für die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen5. Diese berührt wohl den Schutzbereich der Gewissensfreiheit (Art. 4 I GG). Jedoch erkennt die Rspr.6 ein Recht auf Steuerverweigerung bzw. auf steuermindernde Billigkeitsmaßnahmen nicht an, wenn Steuern für Militäreinsätze u.a. Zwecke verwendet werden, die der Stpfl. nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann. Die Rspr. beruft sich zu Recht auf das alleinige Recht des Parlaments (Art. 110 II, III GG), über die Verwendung von Haushaltsmitteln zu entscheiden. Daher ist die Verwendung von Steuern für gewissenswidrige Zwecke der durch Art. 4 I GG geschützten Gewissensentscheidung a priori entzogen. Auch darf das parlamentarische Budgetrecht nicht durch Steuerverweigerung verletzt werden. Der Schutzbereich des Art. 4 I GG wird durch Art. 110 II, III GG begrenzt.
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
3. Bedeutung von Art. 4 GG für das Steuerrecht
4. Steuern als Eingriff in die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) 188
Steuergesetze enthalten keine unmittelbaren Regelungen der Berufswahl oder Berufsausübung, deshalb hat sich das BVerfG lange Zeit schwer damit getan, überhaupt die berufsfreiheitsrechtliche Relevanz der Besteuerung zu erkennen. Dennoch hat die Besteuerung erheblichen Einfluss auf die Berufsausübung, schließlich geht es um den Schutz von Tätigkeiten zur Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage7 und damit nicht nur um die Tätigkeit als solche, sondern auch um deren ökonomischen Erfolg. Alle Steuern, die das Ergebnis der Erwerbstätigkeit betreffen, greifen folglich in Art. 12 I GG ein8. Das BVerfG nimmt einen Eingriff in den Schutzbereich von Art. 12 GG indes nur dann an, wenn die Erhebung von Steuern und sons1 Tipke, StRO I2, 425 ff. (keine Steuereingriffsgrenze „Privatsphäre“). 2 Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, Habil., 2001, 229 f., tritt für „umfassende Sachaufklärung“ ein: „Datenschutz und Schutz der Privatsphäre haben hinter der gleichmäßigen Teilhabe an den Lasten der Gesellschaft … zurückzutreten“. 3 So P. Kirchhof, FS Tipke, 1995, 27 (34 f.); P. Kirchhof, Die Steuern, HStR V3, 2007, § 118 Rz. 204. 4 Niedersächs. FG EFG 1994, 182; FG Düsseldorf EFG 1993, 64: Die Einnahme des Augenscheins nach 19 Uhr darf verweigert werden (§ 99 I 1 AO; Zumutbarkeit i.S.d. Übermaßverbots). 5 Dazu Naujok, Gewissensfreiheit und Steuerpflicht, Diss., 2003, m. Bespr. Plum, StuW 2004, 283; Kempny, StuW 2014, 185 (192). 6 BFH BStBl. 1992, 303; BFH/NV 2002, 667; 2004, 311; 2012, 735; sowie Nichtannahmebeschluss BVerfG, NJW 1993, 455. 7 BVerfGE 105, 252 (265). 8 Friauf, DStJG 12 (1989), 3 (25).
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Freiheitsrechtliche Schranken der Besteuerung und Übermaßverbot
Rz. 190
§3
tigen Abgaben „in engem Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufes steht und – objektiv – eine berufsregelnde Tendenz deutlich erkennen lässt“1. Hiervon ausgehend zieht das BVerfG Art. 12 GG in erster Linie gegenüber Lenkungsnormen und besonderen Lenkungsteuern heran. In diesem Fall lässt sich eine Zweck-Mittel-Relation zwischen dem Lenkungszweck und der Beeinträchtigung der Berufsfreiheit herstellen. Allgemeinen Steuern soll dagegen die Nähe zu einem spezifischen Beruf fehlen. Zweifelhaft ist dies allerdings, weil auch Fiskalzwecknormen, wie z.B. das einkommensteuerrechtliche Einkunftsartenrecht, in erheblichem Maße auf die Berufsausübung einwirken können2. Von einer Regelung der Berufswahl ist auszugehen, wenn die Steuer so ausgestaltet ist, dass sie eine sinnvolle wirtschaftliche Tätigkeit unmöglich macht. Zu eng ist die Reduzierung auf verbotsähnlich wirkende Erdrosselungssteuern durch BVerfGE 31, 8 (23) (s. auch Rz. 184). Steuern, die diese Schwelle nicht überschreiten, müssen jedenfalls als Berufsausübungsregeln einer Verhältnismäßigkeitskontrolle unterzogen werden. Eine Verletzung von Art. 12 GG hat das BVerfG allerdings noch nie bejaht3.
5. Das Prinzip eigentumsschonender Besteuerung (Art. 14 GG) Die Bedeutung der Eigentumsgarantie für das Steuerrecht füllt nicht nur ganze Bibliotheken4, sie hat auch das BVerfG von Beginn an beschäftigt und zu zahlreichen Richtungswechseln veranlasst. Bis heute lassen sich allein vier Phasen ausmachen:
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Nachdem der Investitionshilfebeschluss aus dem Jahr 19545 noch jegliche Bedeutung der Eigentumsfreiheit für staatlich auferlegte Geldleistungspflichten abgelehnt hatte, waren die folgenden Jahrzehnte von der zu Recht als widersprüchlich kritisierten6 These beherrscht, der Schutzbereich sei erst dann eröffnet, wenn eine Steuer erdrosselnde bzw. substanzbeeinträchtigende Wirkung entfalte7. Schutzbereichseröffnung und Rechtsverletzung fielen uno actu zusammen, freilich ohne dass das BVerfG jemals eine substanzbeeinträchtigende Steuer hätte identifizieren können. Der als „Eigentumswende“8 gefeierte Vermögensteuerbeschluss9 war folglich nicht deshalb so Aufsehen erregend, weil der Zweite Senat ganz selbstverständlich von einem Eingriff in die Eigentümerfreiheit ausging, sondern weil mit der Postulierung einer Belastungsobergrenze auch die ungleich schwierigere Aufgabe bewältigt schien, dem Verhältnismäßigkeitsprinzip eine justitiable Besteuerungsgrenze abzugewinnen. Allerdings war die Entscheidung nicht wiederholbar. Zehn Jahre später ist der Zweite Senat im Beschluss zu Obergrenzen für Einkommen- und Gewerbesteuer von dem Versuch, konkrete Grenzen festzulegen, wieder abgerückt10. Als gesichert kann mittlerweile angesehen werden, dass Steuern in den Schutzbereich von Art. 14 I GG eingreifen, sei es, dass man Art. 14 I GG als Eigentümerfreiheit auch auf den Schutz des Vermögens ausdehnt, sei es, dass man den Umstand, dass die Steuerforderung als abstrakte Wertsummenschuld dem Stpfl. überlässt, mit welchen Mitteln er die Schuld begleicht, lediglich unter dem Gesichtspunkt der Eingriffsintensität berücksichtigt. Unzweifelhaft muss der Stpfl. eigentumsrechtlich geschützte Geldmittel hingeben, um die Steuerschuld zu beglei1 BVerfGE 98, 106 (117); ferner BVerfGE 13, 181 (186); 14, 76 (100); 16, 147 (162); 26, 1 (12); 37, 1 (17); 38, 61 (79); 42, 374 (384 ff.); 46, 120 (137); 47, 1 (21); 110, 274 (288); s. zu Art. 12 I GG und Besteuerung auch Hohmann, DÖV 2000, 406. 2 Tipke, StRO I2, 432; a.A. C. Wagner, Steuergleichheit unter Standortvorbehalt, Diss., 2010, 67 f. 3 Tipke, StRO I2, 433 mit Fn. 66. 4 Süffisant zu dieser Clusterbildung Tipke, StRO I2, 441 f. mit Nachweisen des Schrifttums zum Halbteilungsgrundsatz, S. 437. 5 BVerfGE 4, 7. 6 Z.B. Friauf, DÖV 1980, 480 (484); Isensee, FS Klein, 1994, 611 (620); Eschenbach, Der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentums, Diss., 1996, 123. 7 Erstmals in BVerfGE 10, 89 (116); ferner BVerfGE 14, 221 (241 f.); 19, 119 (128 f.); 23, 288 (315); 27, 111 (131); 63, 312 (327); 63, 343 (368); 68, 287 (310); 70, 219 (230); 78, 214 (230). 8 Leisner, NJW 1995, 2591. 9 BVerfGE 93, 121. 10 BVerfGE 115, 97.
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Rz. 191
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
chen. Steuern knüpfen regelmäßig entweder an den Erwerb von Eigentum1, seinen Bestand oder seine Verwendung an. 191
Weit schwieriger ist es, Art. 14 I GG auch auf der Rechtfertigungsebene als Prinzip eigentumsschonender Besteuerung im Sinne Paul Kirchhofs2 zu einer schlagkräftigen Begrenzung gegen übermäßige Steuereingriffe zu etablieren.
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In den Einheitswertbeschlüssen v. 22.6.1995 zu Vermögens- und Erbschaftsteuer3 hatte der Zweite Senat des BVerfG aus Art. 14 GG zwei Grenzen abgeleitet: (1) Zunächst statuierte er einen Bestandsschutz des Vermögensstammes, der allerdings der steuerlichen Anknüpfung an Soll-Erträge nicht entgegenstehen soll. Das BVerfG hat diesen absoluten Schutz des Vermögensstammes nicht näher begründet. Auch Steuern, die nach dem Vermögen bemessen werden, schlagen nicht in eine Enteignung im formalen Sinne um, da es nicht zu einem Transfer konkreter Vermögensgegenstände kommt; die Konkretisierungsbefugnis liegt weiterhin beim Stpfl.. Sie wirken aber enteignungsgleich und können folglich nur unter den für Enteignungen geltenden Voraussetzungen gerechtfertigt werden. Da aber eine Entschädigung zur Kompensation des Steuereingriffs ausscheidet, bedarf es außergewöhnlicher Umstände, um ausnahmsweise das enteignungsgleiche Opfer rechtfertigen zu können4. Im ebenfalls aus Art. 14 I GG z.T. i.V.m. Art. 6 I GG abgeleiteten besonderen Schutz des persönlichen und familiären Gebrauchsvermögens5 entfaltet Art. 14 GG seine existenzsichernde Funktion. Das normale bzw. durchschnittliche Gebrauchsvermögen ist vermögensteuerlich freizustellen und auch erbschaftsteuerlich zu verschonen, wobei der Erbschaftsteuerbeschluss die völlige Steuerfreiheit nur bei „kleineren Vermögen“ anordnet. In praxi ist das persönliche und familiäre Gebrauchsvermögen – BVerfGE 93, 121 (141) nennt den Wert eines „durchschnittlichen Einfamilienhauses“ – schwer zu quantifizieren, und zwar besonders im Hinblick auf regionale Unterschiede. Außerhalb der Vermögensteuer und der Erbschaftsteuer hat die Figur des besonderen Schutzes des persönlichen und familiären Gebrauchsvermögens bisher keine Wirkungen gezeitigt. BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats) v. 8.1.1999 (BStBl. 1999, 152) verneint den Schutz des Gebrauchsvermögens vor der Grunderwerbsteuer und BFH BStBl. 2006, 767, hat entschieden, dass das selbst genutzte Einfamilienhaus von Verfassungs wegen nicht von der Grundsteuer auszunehmen sei.
(2) Sodann leitete der Zweite Senat des BVerfG aus Art. 14 II 2 GG, nach dem der Eigentumsgebrauch „zugleich“ dem privaten Nutzen und dem Wohl der Allgemeinheit zu dienen hat6, 1 S. BVerfGE 115, 97 (112). 2 P. Kirchhof, VVDStRL 39 (1981), 213 (281): „Ein Grundrecht des Eigentümers hindert nicht eine Finanzausstattung des Staates zu Lasten des Privateigentums, sondern fordert eine eigentumsschonende Deckung des staatlichen Finanzbedarfs.“ Zur Interpretation des Art. 14 GG nach den Einheitswertbeschlüssen vgl. P. Kirchhof, Symposion für Vogel, 1996, 27 (45 f.); Butzer, Freiheitsrechtliche Grenzen der Steuer- und Sozialabgabenlast, 1999; P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, 50 ff.; Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000; Jachmann, FS Schiedermair, 2000, 391; Vogel, FS Maurer, 2001, 297; Vogel, FS 50 Jahre BVerfG, 2001, 527 (532 ff.); Löhle, Verfassungsrechtliche Gestaltungsspielräume und -grenzen bei der Besteuerung von Erbschaften und Schenkungen, Diss., 2001; Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, 2003, 65 ff.; Englisch, StuW 2003, 237; Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, Diss., 2004; Ipsen, FS Badura, 2004, 201; P. Kirchhof, StuW 2006, 3; Klawonn, Die Eigentumsgewährleistung als Grenze der Besteuerung, Diss., 2007; P. Kirchhof, Die Steuern, HStR V3, 2007, § 118 Rz. 117 ff. Dezidiert gegen die Kirchhof’sche Dogmatik das abw. Votum von Böckenförde, BVerfGE 93, 149 (153 ff.); Bull, NJW 1996, 281 (Erwiderung von Vogel, NJW 1996, 1257), und abl. auch Tipke, StRO I2, 449 ff.; Wieland, DStJG 24 (2001), 29 (35 ff.); Dreier/Wieland, GG-Kommentar, Bd. I2, Art. 14 GG Rz. 54 ff. Weitere Literaturnachweise 20. Aufl. § 4 Rz. 223, Fn. 35. 3 BVerfGE 93, 121 (VSt); 93, 165 (ErbSt). Dazu ausf. J. Lang in 20. Aufl., 2010, § 4 Rz. 214 ff. 4 Hey, Zukunft der Vermögensbesteuerung, IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), 40 ff.; zurückhaltender Musil, DB 2013, 1994 (1997): Zulässigkeit von Substanzeingriffen, sofern „strukturell kein Vermögensverlust droht“; Musil, DStR 2013, 1994 (1997). 5 BVerfGE 93, 121 (138, 140 f.); 93, 165 (174 f.). 6 P. Kirchhof, VVDStRL 39 (1981), 213 (271 f.): „Das „Zugleich“ von Allgemein- und Privatnützigkeit bringt staatliches und privates Ertragsbegehren nebeneinander zur Geltung …“.
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Freiheitsrechtliche Schranken der Besteuerung und Übermaßverbot
Rz. 196
§3
den sog. Halbteilungsgrundsatz ab: „Die Vermögensteuer darf zu den übrigen Steuern auf den Ertrag nur hinzutreten, soweit die steuerliche Gesamtbelastung des Soll-Ertrages bei typisierender Betrachtung von Einnahmen, abziehbaren Aufwendungen und sonstigen Entlastungen in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand verbleibt“1. Zur Ermittlung, ob die Belastungsobergrenze erreicht ist, nimmt der Senat die steuerliche Gesamtbelastung in den Blick. Zugrunde liegt die Erkenntnis, dass Steuern, ganz gleich wie der Gesetzgeber den Steuergegenstand bezeichnet, nur aus Einkommen bzw. Vermögen gezahlt werden können. Dabei sind freilich einige Fragen offengeblieben, z.B. ob bei der Ermittlung der Gesamtsteuerbelastung2 des Einkommens auch die indirekten Steuern auf die Einkommensverwendung zu berücksichtigen sind, ob die Kirchensteuer, evtl. sogar Sozialversicherungsabgaben einfließen müssen. Richtig ist jedenfalls die Zusammenfassung von Steuern, die im gleichen Zeitpunkt zugreifen3. Die Belastung durch Steuern, die an den Soll-Ertrag anknüpfen, ist zu den Ist-Ertragsteuern hinzuzuaddieren. Zu berücksichtigen ist zudem der Zusammenhang zwischen Bemessungsgrundlage und Steuersatz4.
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Die Einheitswertbeschlüsse von 1995 mögen einzelne Schwächen und Widersprüche aufweisen; auch erschwert die fehlende Konturenschärfe mancher Aussagen ihre konkrete Verwertbarkeit. All dies schmälert nicht die programmatische Intensität, mit der das Prinzip eigentumsschonender Besteuerung entfaltet wird: Das freiheitsethische Prinzip ergänzt die vornehmlich von Tipke ausgelotete Gleichheitsethik5. Die Antworten auf diese Fragen führen zu der Erkenntnis, dass der Wert der Eigentümerfreiheit im Steuerrecht manifestiert werden muss, um das rechtsethische Fundament des Steuerrechts mit einer weiteren starken Säule abzusichern, nicht zuletzt auch zur Abschirmung des Gleichheitssatzes gegen umverteilungsideologische Fehlentwicklungen. Der Halbteilungsgrundsatz fungiert in diesem Kontext nach wie vor als einprägsame Chiffre.
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Während sich das Schrifttum6 intensiv um dogmatische Klärung des Halbteilungsgrundsatzes bemühte, judizierte die Steuerrechtsprechung7 geschlossen gegen den Halbteilungsgrundsatz. Zehn Jahre nach den Einheitswertbeschlüssen distanzierte sich auch der Zweite Senat des BVerfG selbst im Beschluss v. 18.1.20068 von der Idee der Belastungsobergrenze. Die Aussagen des Vermögensteuerbeschlusses seien den Besonderheiten der zur Einkommensteuer hinzutretenden Vermögensteuer geschuldet. Eine „allgemein verbindliche, absolute Belastungsobergrenze in der Nähe einer hälftigen Teilung“ lasse sich Art. 14 I 1; II 2 GG nicht entnehmen (BVerfGE 115, 97 [114]).
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Mit der Aufgabe des Halbteilungsgrundsatzes ist das BVerfG zu einer dogmatisch überzeugenderen Mittellage zurückgekehrt. Zwar hat es verbindlichen Obergrenzen eine Absage erteilt, ohne jedoch den Schutz durch das Übermaßverbot ganz preiszugeben. Die Gestaltungsfreiheit des Steuergesetzgebers werde durch die allgemeinen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit
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1 BVerfGE 93, 121, LS 3. 2 Zur Gesamtbelastung allgemein Lücke, DVBl. 2001, 1469 sowie grundl. Seer, DStJG 23 (2000), 87 (106 ff.). Aus ökonomischer Sicht insb. Bareis, DB 1996, 1153; Rose, DB 1995, 1879; Rose, DB 1995, 2387; Rose, DB 1997, 494; Rose, DB 1998, 1154; Rose, StuW 1999, 12; Wagner/Hör, DB 1996, 585. Vgl. auch G. Kirchhof, NJW 2006, 732 (zur Kumulationswirkung unterschiedlicher staatlicher Maßnahmen); G. Kirchhof, Beihefter zu DStR 49/2009, 135 (136 ff.); Drüen in Kube/Mellinghoff u.a., Leitgedanken des Rechts, Bd. II 2013, § 158, Rz. 16. 3 Ebenso G. Kirchhof, Beihefter zu DStR 49/2009, 135 (137). 4 BVerfGE 115, 97 (116). 5 Dazu J. Lang, FS Tipke, 1995, 3 (18 ff.); J. Lang, StuW 2001, 78 (82 f.); Tipke, StRO I2, Vorwort (S. VIII): „Paul Kirchhof hat der Betonung der Gleichgerechtigkeit durch Gleichbelastung aus gutem Grund akzentuiert eine Höchstbelastungsgerechtigkeit an die Seite gestellt“. Symposion zum 80. Geburtstag von Tipke: P. Kirchhof, StuW 2006, 3; J. Lang, StuW 2006, 22. 6 S. zusätzlich zu den Nachw. in Rz. 191 Butzer, StuW 1999, 227; Jachmann, Verfassungsrechtliche Grenzen der Besteuerung, 1996; Jachmann, StuW 1996, 97; J. Lang, NJW 2000, 457; J. Lang, FS Vogel, 2000, 173; Seer, FR 1999, 1280; Seer, DStJG 23 (2000), 87 (106 ff.). 7 Grundl. BFH BStBl. 1999, 771. Im Weiteren BFH BStBl. 2004, 17; 2005, 647; BFH/NV 1999, 1653; 2003, 624; 2004, 237. 8 BVerfGE 115, 97. Dazu Pezzer, DB 2006, 912; Wernsmann, NJW 2006, 1169.
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§3
Rz. 197
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
begrenzt. Das BVerfG stützt sich dabei wesentlich auf das Element der Zumutbarkeit. Im Rahmen einer Gesamtabwägung zur Angemessenheit und Zumutbarkeit könnten sich Obergrenzen für eine Steuerbelastung ergeben (BVerfGE 115, 97 [115 ff.]). Eine Überbelastung des Stpfl. sei zu vermeiden: Hinweis auf Art. 106 III 4 Nr. 2 GG. Die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich zur Besteuerung niedriger Einkommen sei angemessen auszugestalten. Die steuerliche Belastung höherer Einkommen dürfe nicht so weit gehen, dass der wirtschaftliche Erfolg grundlegend beeinträchtigt wird und damit nicht mehr angemessen zum Ausdruck kommt. Das Gericht ist damit weiterhin um einen Ausgleich zwischen demokratisch legitimiertem Steuerstaat und individuellem Schutz durch das freiheitliche Übermaßverbot bemüht. 197
Wirksamwerden könnte das Prinzip eigentumsschonender Besteuerung erneut bei der Überprüfung der Übermaßbesteuerung infolge der verstärkt zu beklagenden Verletzungen des Nettoprinzips1. Hingegen dürfte der Steuerwettbewerb vorerst dafür sorgen, dass die kumulierten tariflichen Ertragsteuerbelastungen 50 % nicht wesentlich überschreiten. Die daraus resultierende Verlagerung des Aufkommens von den direkten zu den indirekten Steuern kann aber vor allem bei Niedrigverdienern übermäßige, den Schutz des Existenzminimums berührende Gesamtbelastungen durch direkte/indirekte Steuern bewirken. Einstweilen frei.
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VI. Sozialstaatlich gerechte Besteuerung 210
Aus Art. 20 I; 28 I 1 GG ergibt sich, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Sozialstaat ist. Das Sozialstaatsprinzip postuliert ein sog. Staatsziel, einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen2. Da sich das Grundgesetz nicht auf eine bestimmte Wirtschaftsverfassung festgelegt hat, verfügt der Gesetzgeber über einen großen Spielraum sozialstaatlicher Gestaltung: Art. 20 I; 28 I 1 GG bestimmen nur das „Was“, das Ziel, die gerechte Sozialordnung; lassen aber für das „Wie“, d.h. für die Erreichung des Ziels, alle Wege offen3. Im Wesentlichen ist das Sozialstaatsgebot auf einen Ausgleich sozialer Ungleichheiten ausgerichtet, und es gewährleistet zur Sicherung der Menschenwürde, also i.V.m. Art. 1 I 1 GG, soziale Mindeststandards4. Danach besteht ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Sozialhilfe5. Das Sozialstaatsprinzip entfaltet sich im Spannungsverhältnis zur freiheitlichen Verfassung des Rechtsstaats: Der Abbau sozialer Ungleichheiten kann nicht auf absolute soziale Gleichheit, auf die egalitäre Einebnung der Vermögensverhältnisse abzielen, wie sie durch eine mit den Art. 14 I; 12 I GG unvereinbare konfiskatorische Besteuerung6 bewerkstelligt werden müsste.
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Analog zur verfassungsrechtlichen Begründung des Anspruchs auf Sozialhilfe gebietet das Sozialstaatsprinzip die Steuerfreiheit des Existenzminimums in Höhe der Sozialhilfe (s. Rz. 160 u. § 1 Rz. 39). I.Ü. dient das Sozialstaatsprinzip der Rechtfertigung von Steuernormen, die dem sozialen Ausgleich dienen und auf die Belange der wirtschaftlich schwächeren Schichten der Bevölkerung Rücksicht nehmen7. Das Steuerrecht verwirklicht den sozialen Ausgleich zunächst durch Fiskalzwecknormen, nämlich durch die konsequente Umsetzung des Leistungsfähigkeitsprinzips. Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist auch sozialstaatlich geprägt8.
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Sodann dient das Sozialstaatsprinzip auch der Rechtfertigung von Umverteilungsnormen (Rz. 21). Während in der ökonomischen Literatur das Postulat der Steuergerechtigkeit mit 1 S. Frye, FR 2010, 603 u. § 7 Rz. 80, 93. 2 Dazu Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I2, 1984, § 21 (Das sozialstaatliche Prinzip); Zacher, Das soziale Staatsziel, HStR II3, 2004, § 28; Scholz, FS Mußgnug, 2005, 19. 3 So BVerfGE 22, 180 (204). 4 BVerfGE 35, 348 (355 f.). 5 BVerfGE 40, 121 (133). 6 BVerfGE 87, 153 (169). 7 BVerfGE 29, 402 (412). 8 Tipke, StRO I2, 402 f.
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Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung
Rz. 230
§3
Umverteilungsgerechtigkeit identifiziert wird (s. § 7 Rz. 8), ist die Umverteilung rechtsdogmatisch noch wenig geklärt. Die Wohlstandskorrektur durch Umverteilung ist ein Sozialzweck, der sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite normiert ist1. Umverteilung wird entweder durch Sozialzwecknormen geleistet, die von den Normen gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit abgeschichtet sind, oder die Umverteilungsfunktion tritt zur Fiskalzweckfunktion hinzu. Beispiele: (1) Sozialzwecknorm mit Umverteilungszweck ist der progressive Einkommensteuertarif: Er erfährt seine Rechtfertigung nicht aus Gleichheitssatz und Leistungsfähigkeitsprinzip; diese Prinzipien führen zu einem proportionalen Fiskalzwecksteuersatz. Die Progression ist vielmehr Ausdruck der umverteilenden Sozialstaatlichkeit2. (2) Hingegen hat die Erbschaft- und Schenkungsteuer eine Doppelfunktion: Sie ist primär Fiskalzwecksteuer mit dem Ziel, zugewendetes Einkommen in Gestalt der Bereicherung zu belasten (§ 7 Rz. 38). Da der Staat jedoch den Vermögenstransfer (§ 7 Rz. 40) zum Anlass nimmt, den Vermögensbestand umzuverteilen, hat die Erbschaft- und Schenkungsteuer zusätzlich Umverteilungsfunktion (s. § 7 Rz. 41).
Die sozialstaatliche Umverteilungsfunktion der Besteuerung wird durch die Garantie des Eigentums und des Erbrechts (Art. 14 I GG) limitiert3. Nach BVerfGE 93, 121, ist die umverteilende Substanzabschöpfung durch die Vermögensteuer unzulässig (Rz. 60 ff.). Im Weiteren hat BVerfGE 93, 121 (165) die Umverteilungsfunktion der Erbschaft- und Schenkungsteuer stark reduziert (s. Rz. 192 ff.).
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214–229
Einstweilen frei.
VII. Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung Literatur: Wacke, Gesetzmäßige und gleichmäßige Besteuerung, StuW 1947, 22; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973; Brinkmann, Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung und formeller Gesetzesbegriff, Diss., 1982; Hahn, Die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung in rechtsvergleichender Sicht, 1984; Widmer, Das Legalitätsprinzip im Abgaberecht, 1988; Birk, Gleichheit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, StuW 1989, 212; Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I Allgemeiner Teil, 1991, 54 ff.; Tipke, StRO I2, 2000, 118 ff.; P. Kirchhof, Besteuerung nach Gesetz, in FS Kruse, 2001, 17; Selmer, Zur Tatbestandsmäßigkeit öffentlich-rechtlicher Geldleistungspflichten, in FS Starck, 2007, 435; Merz, Tatbestandsmäßigkeit und Verwaltungsermessen im Steuerrecht, Diss., 2009; Jochum, § 149: Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, in Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013; Kempny, Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung. Lexikon des Rechts, 6/1100 (2013).
1. Steuerrechtliches Legalitätsprinzip 1.1 Inhalt und Bedeutung des steuerrechtlichen Legalitätsprinzips 230
Gesetzmäßigkeit der Besteuerung bedeutet zweierlei: (1) Die Auferlegung von Steuerlasten ist dem Gesetz vorbehalten; sie ist nur zulässig, sofern und soweit sie durch Gesetz angeordnet ist (sog. Vorbehalt des Gesetzes). Die Festsetzung einer Steuer setzt voraus, dass ein gesetzlicher Tatbestand erfüllt ist, an den das Gesetz als Rechtsfolge eine Steuer knüpft (Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung). Aber auch die Rechtsfolge muss sich aus dem Gesetz ergeben. 1 Dazu Jachmann, StuW 1998, 293; Mellinghoff, Deutscher Finanzgerichtstag 2005, 31; DStJG 29 (2006): m. Beiträgen von Raupach, 1; Kube, 11; F. Kirchhof, 39. 2 Tipke, StRO I2, 403 ff. (Sozialstaatsprinzip und Steuerprogression), 404 f. (gegen BVerfGE 8, 51 [68 f.]); Jachmann, StuW 1998, 298; Bareis, DStR 2010, 565 (567); vgl. auch Becker, FS Klein, 1994, 379, und grundl. Suttmann, Die Flat Tax, Diss., 2007, 169–184, 283 ff. 3 Dazu umfassend Jachmann, StuW 1996, 97 ff.
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§3
Rz. 231
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
(2) Rechtsverordnungen und Verwaltungsakte dürfen nicht gegen das Gesetz verstoßen (sog. Vorrang des Gesetzes). 231
Wie der allgemeine Gesetzesvorbehalt für Eingriffe in Freiheit und Eigentum hat auch der steuerrechtliche Gesetzesvorbehalt zwei Komponenten, die formal-rechtsstaatliche Komponente der Rechtssicherheit1 und die material-rechtsstaatliche Komponente demokratisch legitimierter Gerechtigkeit2. Entwicklungsgeschichtlicher Vorläufer des Prinzips „Keine Steuer ohne Gesetz“ („nullum tributum sine lege“) war die ständische Steuerbewilligung3. Nachdem zur Zeit des Absolutismus das Steuerbewilligungsrecht der Stände praktisch aufgehoben war, war es schon zurzeit der konstitutionellen Monarchie der Volksvertretung vorbehalten, Steuergegenstand und Steuersatz durch Gesetz zu beschließen4. Erst recht ist das durch das Parlament vertretene Volk in einer Demokratie legitimiert, selbst bestimmen zu können, mit welchen Steuern es sich belasten will; Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot (Art. 20 I, II; 28 I GG) sind die beiden tragenden verfassungsrechtlichen Säulen des Gesetzesvorbehalts5, also bestehend aus dem rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalt und dem Parlamentsvorbehalt6.
Stpfl., Steuerbeamte und Steuerrichter sind der Herrschaft eines abschließenden Normensystems unterworfen. Ohne gesetzliche Grundlage darf nicht besteuert werden. Insofern lebt das Steuerrecht aus dem „Dictum des Gesetzgebers“7, der allerdings seinerseits durch die verfassungsrechtliche Wertordnung in seiner Gestaltungsfreiheit beschränkt und daran gehindert ist, gesetzliches Unrecht zu beschließen.
1.2 Rechtsgrundlagen des steuerrechtlichen Legalitätsprinzips 232
Anders als viele ausländische Verfassungen8 ordnet das GG den steuerrechtlichen Gesetzesvorbehalt nicht ausdrücklich an. Der Gesetzesvorbehalt wird aber abgeleitet aus: (1) Art. 2 I GG: Die ökonomische Handlungsfreiheit als Ausfluss der freien Entfaltung der Persönlichkeit9 (sog. Elfes-Urteil) darf nur eingeschränkt werden auf Grund der – durch verfassungsmäßige Gesetze verkörperten – verfassungsmäßigen Ordnung. Zur Handlungsfreiheit „gehört auch das Grundrecht des Bürgers, nur auf Grund solcher Rechtsvorschriften zur Steuer herangezogen zu werden, die materiell und formell der Verfassung gemäß sind und deshalb zur verfassungsmäßigen Ordnung gehören“10. (2) Art. 20 III GG: Danach sind die vollziehende Gewalt und die Rspr. an Gesetz und Recht gebunden. In dieser Vorschrift drückt sich zugleich die Gewaltenteilung aus. Art. 20 III GG wird für den Gerichtsbereich ergänzt durch Art. 92 und Art. 97 I GG. Dem Richter obliegt nicht die Rechtsetzung, sondern die Rspr. (Art. 92 GG); er ist dem Gesetz unterworfen (Art. 97 I GG).
(3) Ergänzung aus Art. 14 I 2, III 2 GG: Nach Art. 14 I 2 GG werden Inhalt und Schranken des Eigentums und des Erbrechts durch die Gesetze bestimmt; nach Art. 14 III 2 GG darf 1 Dazu insb. Tipke, StRO I2, 137 ff., 145 ff., 199 ff. 2 Dazu insb. Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, u. aus ökonomischer Sicht Franke, Steuerpolitik in der Demokratie, Habil., 1993. 3 Dazu Friauf, Der Staatshaushaltsplan im Spannungsfeld zwischen Parlament und Regierung, Habil.,1968, 21 ff., 28 ff.; Jesch, Gesetz und Verwaltung2, 1968, 104 ff.; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, 19 ff.; Brinkmann, Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung und formeller Gesetzesbegriff, Diss., 1982, 28 ff. 4 S. Brinkmann, Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung und formeller Gesetzesbegriff, Diss., 1982, 53 ff. 5 So Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, HStR V3, 2007, § 101 Rz. 42. 6 S. Ossenbühl, HStR V3, 2007, § 101 Rz. 42 ff. 7 BVerfGE 13, 318 (328), im Anschluss an Bühler/Strickrodt, Steuerrecht I, 2. Hbd. 3, 658. 8 Dazu ausf. Tipke, StRO I2, 125 f. 9 BVerfGE 6, 32 (36). 10 BVerfGE 9, 3 (11); s. auch BVerfGE 19, 206 (215 ff., 225); 19, 226 (241 f.); 19, 243 (247); 19, 248 (251); 19, 268 (273); 31, 314 (333 f.).
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Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung
Rz. 236
§3
eine Enteignung nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Da die Besteuerung jedenfalls insofern ein schwererer Eingriff ist als die Enteignung, als sie ohne Entschädigung durchgeführt wird, ist die verfassungsmäßige Bindung an das Gesetz auch im Verhältnis zu Art. 14 III GG konsequent (s. Rz. 213). (4) Ausdruck im einfachen Gesetz: Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung kommt auch im einfachen Gesetz zum Ausdruck, und zwar in § 3 I AO (s. Rz. 65) und in § 38 AO. Nach dieser Vorschrift entsteht der Steueranspruch und entstehen andere Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis durch Verwirklichung des Tatbestands, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Die Steuerschuld ist obligatio ex lege.
1.3 Konkretisierungen des steuerrechtlichen Legalitätsprinzips Gesetzmäßigkeit der Besteuerung in der Form des Gesetzesvorbehalts heißt: Exekutive und Judikative dürfen keine Steuern erfinden. Jede Steuer braucht eine gesetzliche Grundlage. Durch Gewohnheitsrecht können Steueransprüche nicht begründet oder verschärft werden (s. § 5 Rz. 21 f.). Selbst wenn man das nicht aus dem Gesetzesvorbehalt ableiten wollte, lässt mindestens Art. 105 GG nicht zu, Steuerrecht auf Gewohnheitsrecht zu gründen1.
233
Die Gesetzmäßigkeit der Besteuerung verlangt, dass sowohl der Tatbestand als auch die Rechtsfolge im Gesetz niedergelegt sein müssen. Der in der steuerrechtlichen Literatur noch oft gebrauchte Begriff der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung greift daher zu kurz. Er dürfte dem Tatbestandsmäßigkeits-Begriff des Strafrechts nachgebildet sein. Während im Strafrecht aber weite Strafrahmen zugelassen werden2, dürfen Steuerbeamte und Steuerrichter die Steuer nicht nach ihrem Ermessen festsetzen; die Steuer muss sich auch der Höhe nach aus dem Gesetz ergeben. Ausnahmen bedürfen gesetzlicher Ermächtigung. Mit dem Begriff der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung wird aber auch noch ein anderer Sinn verbunden: Steuersubjekt, Steuerobjekt, Steuerbemessungsgrundlage und Steuersatz sollen sich aus einem formellen Gesetz – nicht aus irgendeinem Rechtssatz – ergeben müssen3. Das läuft auf einen Parlamentsvorbehalt hinaus. § 4 AO, wonach Gesetz jede Rechtsnorm ist, gilt insoweit also nicht. Dieser Auffassung ist i.Erg. beizupflichten. Dies folgt heute aber aus Art. 80 I GG, der auch für das Steuerrecht gilt4. Nach Art. 80 I GG sind Ermächtigungen des (formellen) Gesetzgebers an den Verordnungsgeber nur zulässig, wenn die Ermächtigung nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt ist. Das ist sie aber nur, wenn sie das Steuersubjekt, das Steuerobjekt, die Steuerbemessungsgrundlage und den Steuersatz festlegt.
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Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung erstreckt sich auch auf Steuerbefreiungen, Steuerermäßigungen und sonstige Steuervergünstigungen5. Folglich dürfen weder Behörden noch Gerichte die Steuerschuld ohne gesetzliche Grundlage (begünstigend) herabsetzen.
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Der Verzicht auf Steuern aus Billigkeitsgründen oder aus Gründen steuertechnischer Vereinfachung bedarf ebenfalls der gesetzlichen Ermächtigung. Solche Ermächtigungen enthalten die §§ 163; 227; 156 AO. Steuerliche Wahlrechte beeinträchtigen zwar die Strenge des Legalitätsprinzips, verstoßen indes nicht gegen den Gesetzesvorbehalt, wenn Voraussetzungen und Reichweite durch Parlamentsgesetz geregelt sind. Eine Besteuerung „nach Wahl“6 unterläuft allerdings die gleichmäßige 1 Tipke, StRO I2, 129 f. 2 S. z.B. § 370 I AO: „Mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer …“. 3 Jesch, Gesetz und Verwaltung2, 1968, 107 f.; Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1991, 54 ff.; Tipke, StRO I2, 128 f. 4 Tipke, StRO I2, 129 (m.w.N.). 5 Tipke, StRO I2, 129 (m.w.N.). 6 Dazu Birk, NJW 1984, 1325; Belser, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit steuerlicher Wahlrechte, 1986; Weber-Grellet, DStR 1992, 1417; Weber-Grellet, DB 1994, 2405; Weber-Grellet, StbJb. 1994/95, 97; Werndl, ÖStZ 1997, 189; Beck, wistra 1998, 131 (Wahlrechte und Steuerverkürzung). Zu handelsrechtlichen Bilanzierungswahlrechten s. § 9 Rz. 52.
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§3
Rz. 237
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Keinesfalls dürfen Beamte oder Richter derartige Wahlrechte im Wege der Gesetzesanwendung, etwa in Verwaltungsvorschriften, gewähren. 237
Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung steht einer Gesetzesauslegung selbstredend nicht im Wege. Er verträgt aber keine Gesetzeserweiterung oder Gesetzeskorrektur, keine Entscheidung extra oder contra legem. Das Handeln von Beamten und Richtern ist nur aufgrund Gesetzes zulässig. Zwar dürfen m.E. Lücken in einem missglückten Gesetzestext ausgefüllt werden, um den Zweck des Steuergesetzes bei seiner Anwendung beachten zu können; es gibt kein steuerrechtliches Lückenausfüllungs- oder Analogieverbot (s. § 5 Rz. 81 ff.). Das Gesetzmäßigkeitsprinzip wird indes verletzt, wenn Beamte oder Richter das Gesetz korrigieren, weil sie es für ungerecht oder sonst für verfehlt halten. Die Bindung an Gesetz und Recht in Art. 20 III 2. Hs. GG überwindet nicht die Schranken des Gewaltenteilungsgrundsatzes und des hierauf gestützten Verwerfungsmonopols des BVerfG, mag dies auch insofern unbefriedigend sein, als die Verwaltung kein Recht zur Vorlage an das BVerfG besitzt. Sieht ein Finanzgericht Grundrechte als verletzt an, ist es nach Ausschöpfung der Möglichkeiten verfassungskonformer Auslegung verpflichtet, die Entscheidung des BVerfG einzuholen (Art. 100 I GG). Dabei ist die Rspr. allerdings berechtigt, zuvor die Möglichkeiten der Rechtsfortbildung (Analogie und teleologische Reduktion) auszuschöpfen, um den verfassungsrechtlichen Gerechtigkeitswertungen auch ohne Mitwirkung des BVerfG zum Durchbruch zu verhelfen. Der BFH tendiert neuerdings dazu – zugunsten der Stpfl., aber unter Umgehung des BVerfG – gesetzgeberische Intentionen auch dann im Wege verfassungskonformer Auslegung zu berücksichtigen, wenn sie im Gesetzestext nicht angedeutet sind1. So begrüßenswert dies i.Erg. ist, bewegen sich diese teleologischen Reduktionen an den Grenzen der Rechtsanwendung (hierzu Brandis, StuW 2013, 88). Überlagert wird der demokratische Gesetzesvorbehalt durch das Europarecht. Der alle Staatsgewalten verpflichtende Anwendungsvorrang des Europarechts (s. Art. 4 III EUV) erfordert die Außerachtlassung europarechtswidriger Gesetze selbst bei explizit entgegenstehendem Gesetzeswortlaut, und zwar bei Vorliegen einer acte claire-Situation auch ohne Anrufung des EuGH (dazu § 4 Rz. 51). Allerdings lassen sich unmittelbar aus dem Europarecht keine Belastungen des Bürgers ableiten, da die Grundfreiheiten die EU-Bürger nur berechtigen und nicht verpflichten und EU-Richtlinien der Umsetzung in nationales Recht bedürfen, um staatliche Eingriffe zu legitimieren (Art. 288 III AEUV).
1.4 Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns Literatur: Isensee, Die typisierende Verwaltung, Habil., 1976; Arndt, Praktikabilität und Effizienz, Habil., 1983; Martens, Vergleichsvertrag im Steuerrecht?, StuW 1986, 97; Rickli, Die Einigung zwischen Behörde und Privaten im Steuerrecht, Diss., 1987; Sontheimer, Der verwaltungsrechtliche Vertrag im Steuerrecht, 1987; Vogel, Vergleich und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung im Steuerrecht, in FS Döllerer, 1988; Buciek, Grenzen des „maßvollen Gesetzesvollzugs“, DStZ 1995, 513; Füllsack, Informelles Verwaltungshandeln, Diss., 1995; Seer, Verträge, Vergleiche und sonstige Verständigungen im deutschen Steuerrecht, StuW 1995, 213; Eckhoff, Vom konfrontativen zum kooperativen Steuerstaat, StuW 1996, 107; Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, Habil., 1996; 4. Münsteraner Symposion, Kooperatives Verwaltungshandeln im Besteuerungsverfahren, m. Beiträgen v. Arndt, Isensee, Kansteiner, Kruse, Raupach u. Seer, 1997; Seer, Möglichkeiten und Grenzen eines „maßvollen“ Gesetzesvollzugs, FR 1997, 553; Meyding u. Stolterfoht, Vereinfachender Gesetzesvollzug durch die Verwaltung, DStJG 21 (1998), 219, 233; Hoffmann, Der maßvolle Gesetzesvollzug im Steuerrecht, 1999; Tipke, Besteuerungsmoral und Steuermoral, 2000; Tipke, StRO I2, 2000, 118 ff.; Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, Habil., 2004; Söhn, Steuervereinbarungen und Verfassungsrecht, in FS Selmer, 2004, 911.
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Das Gesetzmäßigkeitsprinzip in seiner Ausprägung als Vorrang des Gesetzes enthält nicht nur ein Abweichungsverbot (s. Rz. 230, 232), sondern darüber hinaus auch ein Anwendungs1 So etwa Beschränkung von § 2 III 2 ff. EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 auf „unechte Verluste“ durch BFH BStBl. 2011, 649, oder Ausnahme definitiv werdender Verluste aus der Mindestbesteuerung des § 10d II EStG durch BFH BStBl. 2011, 826; „verfassungskonforme Auslegung“ von § 6 V 3 EStG bei Übertragung von Wirtschaftsgütern zwischen personenidentischen Schwestergesellschaften s. BFH BStBl. 2010, 971; s. aber auch dagegen die Vorlage des I. Senats des BFH, BStBl. 2013, 1004 (1010 Rz. 50) an das BVerfG (Wortlautgrenze!).
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Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung
Rz. 240
§3
gebot1. Als Ausdruck der demokratischen Staatsform ist das Gesetz nicht bloß Schranke, sondern zugleich Antrieb des Verwaltungshandelns. Für den Bereich der Besteuerung sind die Finanzbehörden deshalb nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die gesetzlich geschuldeten Steuern fest- und durchzusetzen2. Demgemäß verpflichtet § 85 AO die Finanzbehörden, die Steuern nach Maßgabe der Gesetze festzusetzen, zu erheben und insb. sicherzustellen, dass keine Steuern verkürzt werden. Unzulässig ist damit „nicht nur die Besteuerung außerhalb des Gesetzes, sondern auch die Nichtbesteuerung trotz gesetzlicher Anordnung“3. Das Anwendungsgebot verlangt vom Finanzbeamten jedoch nicht, jeden einzelnen Steuerfall nach Art eines Untersuchungsrichters aufzuklären (zum Untersuchungsgrundsatz s. § 21 Rz. 3). Wenn die Finanzbehörde gezwungen wäre, jeden Steuerfall detailliert auf alle nach dem Gesetz u.U. verwirklichten Steuerfolgen hin zu untersuchen, so könnte sie nur einige Fälle exakt, das Gros der Fälle aber überhaupt nicht dem materiellen Steuergesetz entsprechend behandeln. Begrenzte Verwaltungsressourcen bewirken, dass sich die größtmögliche Realisierung der Gesetzmäßigkeit im Einzelfall nicht mit der größtmöglichen Realisierung der Gesetzmäßigkeit im Gesamtvollzug, d.h. in der Summe aller Einzelfälle, deckt4. Akzeptiert man als Realität, dass der Vollzug der Steuergesetze immer unter den Bedingungen mehr oder minder begrenzter Verwaltungskapazitäten geschieht, so zwingt das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit (Art. 3 I GG, s. Rz. 110 ff.) dazu, das Verwaltungshandeln auch an der praktischen Realisierbarkeit des Gesamtvollzugs der periodisch jährlich massenweise wiederkehrenden Steuerverfahren auszurichten5. Der finanzbehördliche Gesetzesvollzug steht deshalb vor einem Optimierungsauftrag zwischen beiden verfassungsrechtlichen Gütern. § 85 Satz 1 AO verdeutlicht dies, indem er die Finanzbehörde verpflichtet, die Steuern sowohl „nach Maßgabe der Gesetze“ als auch „gleichmäßig“ zu erheben6. Als dritte verfassungsrechtliche Komponente hat die Finanzverwaltung die durch den Gesetzesvollzug betroffenen Freiheitsgrundrechte (Rz. 185 ff.) in den Abwägungsprozess einzustellen und innerhalb dieses „verfassungsrechtlichen Dreiecks“7 nach einem möglichst schonenden Ausgleich8 zu suchen. Zu den konkreten Anforderungen an die Ausgestaltung des Gesamtvollzugs und der Herausbildung einer Kooperationsmaxime s. § 21 Rz. 170.
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Im Gegensatz zu Grundrechtsträgern genießen die Finanzbehörden keine Willensfreiheit, kraft derer sie zu autonomen Vereinbarungen mit Stpfl. berechtigt wären. Eine Vertragsfreiheit, welche die Verwaltung von den „Fesseln der Gesetzmäßigkeit“ befreit, existiert nicht. Als Grundrechtsverpflichtete können sie nach Art. 20 III GG vielmehr nur in den von Gesetz und Recht gezogenen Grenzen agieren9. Der Finanzbehörde ist es deshalb verwehrt, dem einseitigen Interesse des Stpfl., das naturgemäß auf eine möglichst niedrige Steuerlast gerichtet ist, aus falsch verstandener Verwaltungsökonomie, Bequemlichkeit oder Opportunismus contra legem nachzugeben10. So verletzt eine Gemeinde das aus dem Gesetzmäßigkeitsprinzip folgende sog. Koppelungsverbot, wenn sie sich gegenüber einem Unternehmen vertraglich verpflichtet, als
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1 Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, HStR V3, 2007, § 101 Rz. 4 f. 2 S. bereits Bühler, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1927, 70 f.; Isensee, FS Flume, Bd. II, 1978, 133; Hahn, Die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung in rechtsvergleichender Sicht, Diss., 1984, 69 ff.; Birk, StuW 1989, 212 (213). 3 Birk, StuW 1989, 212 (213). 4 Dazu ausf. § 21 Rz. 5. 5 Vgl. Arndt, Praktikabilität, 83. 6 Entgegen Isensee, Typisierende Verwaltung, Habil., 1976, 101 ff., 157 ff., bedarf die Finanzverwaltung keiner „überlegalen Notkompetenz“, um sich in ihrem Verwaltungshandeln an der Verwirklichung der Gesetzmäßigkeit im Gesamtvollzug orientieren zu dürfen; einlenkend Isensee in 4. Münsteraner Symposion, 20 f. 7 Dazu i.E. Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, Habil., 1996, 295 ff. 8 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, Habil., 1961, 153; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland20, 1995, Rz. 72, 317: „Prinzip praktischer Konkordanz“. 9 Grundl. Spannowsky, Grenzen des Verwaltungshandelns durch Verträge und Absprachen, Habil., 1994, 273 ff. 10 Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, Habil., 1996, 123.
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123
§3
Rz. 241
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
Gegenleistung für dessen Ansiedlung im Gemeindegebiet die Gewerbesteuer für eine gewisse Zeit zu erlassen. Ein derartiger Steuervertrag ist wegen Verstoßes gegen das Verbot gesetzesabweichender Steuervereinbarung nichtig1. 241
Entgegen verbreiteter Auffassung2 folgt daraus aber kein allgemeines Verbot öffentlich-rechtlicher Verträge im Steuerrecht. Es muss zwischen Rechtsform und Inhalt des Verwaltungshandelns deutlich unterschieden werden3. Die Rechtsform sagt über den Inhalt des Verwaltungshandelns nichts aus. Der Inhalt eines öffentlich-rechtlichen Vertrages kann ebenso wie der Inhalt eines Verwaltungsakts rechtmäßig oder rechtswidrig sein. Das Gesetzmäßigkeitsprinzip fordert daher nicht die Unzulässigkeit der Vertragsform, sondern nur eine wirksame Sanktion, wenn der Vertrag inhaltlich das Gesetz verletzt. Die Abgabenordnung hat sich weder ausdrücklich für den öffentlich-rechtlichen Vertrag entschieden4 noch hat sie „beredt geschwiegen“5. Vielmehr fehlt ein erkennbarer Regelungsplan, so dass der Rechtsanwender schlicht vor einem juristischen Vakuum steht6. Insoweit eröffnet sich für die (legislativen) Komplementärgewalten der Exekutive und Judikative ein Raum zur Rechtsfortbildung des Verfahrensrechts7.
242
Dieses Vakuum hat die Rspr. in Gestalt des unmittelbar aus Treu und Glauben abgeleiteten Rechtsinstituts der sog. tatsächlichen Verständigung ausgefüllt8. Sie trägt damit praktischen Bedürfnissen sowie der Erkenntnis Rechnung, dass das Steuerrecht keineswegs ein gesetzlich voll durchprogrammiertes Recht (ius strictum) ist, das jeweils nur eine einzig richtige Entscheidung zulässt. In Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung, zu denen Fälle der Schätzung, Wertermittlung und zukunftsorientierten Prognose gezählt werden, lässt der BFH eine beide Seiten bindende sog. tatsächliche Verständigung zu. Bei genauer Betrachtung ist das von der Rspr. kreierte Rechtsinstitut der „tatsächlichen Verständigung“ allerdings nichts anderes als ein öffentlich-rechtlicher Vertrag (s. § 21 Rz. 22).
2. Gebote der Bestimmtheit und Normenklarheit Literatur: Papier, Der Bestimmtheitsgrundsatz, DStJG 12 (1989), 61 ff.; Voß, Ungewißheit im Steuerrecht, 1992; Gassner, Gesetzgebung und Bestimmtheitsgrundsatz, ZG 1996, 37; Tipke, StRO I2, 2000, 136 ff.; Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 186 ff., 547 ff.; Fuchs, Bestimmtheit im Ertragsteuerrecht, 2004; Jehke, Bestimmtheit und Klarheit im Steuerrecht, 2005; Luttermann, Normenklarheit im Steuerrecht und „unbestimmte“ Rechtsbegriffe, FR 2007, 18; Hey, Wandel der Verfassungsrechtsprechung, in StbJb. 2007/2008, 19 (52 f.); Krüger, Normenklarheit u. Vertrauensschutz, NWB 2008, Fach 2, 9825; Ruppe, Der Anspruch auf Normenklarheit im Steuerrecht u. seine Durchsetzung im Gesetzgebungs- u. Rechtsschutzverfahren, DStR-Beihefter zu Heft 17/2008, 20; Drüen, Normenwahrheit als Verfassungspflicht?, ZG 2009, 60; Towfigh, Komplexität und Normenklarheit, Der Staat 2009, 29; Bartone, Gedanken zu den Grundsätzen der Normenklarheit und 1 Dazu ausf. Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, Habil., 1996, 376 ff.; i.Erg. zutr. BVerwGE 8, 329 (332); BVerwG BStBl. I 1963, 794; DVBl. 1964, 122; BStBl. II 1975, 679 (682); DVBl. 1984, 192 (193); OVG Lüneburg OVGE 6, 297; OVG Rheinland-Pfalz KStZ 1970, 96; OVG Rheinland-Pfalz NVwZ 1986, 68. 2 Vgl. RFH RStBl. 1938, 74; BFH BStBl. 1955, 92; 1955, 251; 1964, 88; Martens, StuW 1986, 97 (102 f.); HHSp/Schuster, § 38 AO Rz. 66 ff. (2005); HHSp/Söhn, § 78 AO Rz. 107 ff. (2009); Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, Habil., 2004, 190 ff. 3 Sontheimer, Der verwaltungsrechtliche Vertrag im Steuerrecht, Diss., 1987, 72; Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, Habil., 1996, 128 ff. 4 So unter Hinweis auf § 78 Nr. 3 AO: z.B. Meyer, NJW 1977, 1705 (1708); Iwanek, DStR 1993, 1394 (1397). 5 So z.B. von Groll, FR 1995, 814 (818). 6 Zu dieser in der Methodenlehre vernachlässigten Art von Lücken s. J. Lang, FS Höhn, 1995, 159 (164 ff.). 7 Die Rechtsform des öffentlich-rechtlichen Vertrages ist mangels spezifischer Grundrechtsrelevanz vorbehaltsneutral (dazu Rz. 230 ff.) und bedarf keiner ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung, s. Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, 133 ff., 158 ff., sowie Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, Habil., 2004, 215 f., unter Hinweis auf die Wesentlichkeitstheorie. 8 Zur Rspr. und zu den Einzelheiten der tatsächlichen Verständigung: § 21 Rz. 20 ff.
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Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung
Rz. 246
§3
Normenbestimmtheit als Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips, in Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rspr. des BVerfG – erörtert von den wissenschaftl. Mitarbeitern, 2009, 305.
Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung wird konkretisiert durch die Gebote der Normenklarheit und -bestimmtheit. Nach der Rspr. des BVerfG1 soll das Bestimmtheitsgebot sicherstellen, dass die gesetzesausführende Verwaltung für ihr Verhalten steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfindet und dass die Gerichte die Rechtskontrolle durchführen können, wozu sie von Verfassungs wegen verpflichtet sind2. Die Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit der Norm dienen insb. dazu, die Verwaltung zu binden und ihr Verhalten nach Inhalt, Zweck und Ausmaß zu begrenzen3. Der Bürger soll sich auf mögliche belastende Maßnahmen einstellen können. Bestimmtheit und Klarheit von Steuergesetzen gewährleisten die Vorhersehbarkeit des Grundrechtseingriffs. Der Bestimmtheitsgrundsatz gilt sowohl für den Tatbestand als auch für die Rechtsfolge. Dementsprechend müssen auch Ermessensentscheidungen durch Gesetz hinreichend vorbestimmt sein.
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Die Rspr. differenziert zunehmend zwischen Normbestimmtheit und Normklarheit4:
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– Das Bestimmtheitsgebot richtet sich in erster Linie gegen allzu offene, unbestimmte Tatbestandsmerkmale, die eine rechtssichere Auslegung nicht zulassen, d.h. deren Inhalt nicht nur unbestimmt, sondern unbestimmbar ist. – Der Grundsatz der Normenklarheit ist dagegen verletzt, wenn im Zusammenspiel mehrerer Bestimmungen das Verhältnis der Normen zueinander unklar ist. Das Gebot der Normenklarheit kann innerhalb eines einzelnen Paragraphen verletzt sein, häufiger sind Normenkomplexe betroffen. Ursachen sind u.a. eine Häufung von dynamischen und statischen Verweisungen, unreflektierte Begriffsbildung, widersprüchliche Begriffsverwendung, komplizierte Tatbestandsstufungen mit Regel-, Ausnahme- und Rückausnahmebestimmungen. Ein Verstoß gegen die Normenklarheit kann ferner durch eine Häufung unbestimmter, für sich betrachtet noch bestimmbarer, aber im Zusammenspiel zu einer „Gesamtunschärfe“ führender Tatbestandsmerkmale begründet werden5. Während unbestimmte Tatbestandsmerkmale zielgerichtet eingesetzt werden, um das Gesetz entwicklungsoffen zu halten, sind Verstöße gegen die Normenklarheit in der Regel nicht intendiert, sondern Folge schlechter Gesetzgebung. Dem Gebot der Normenklarheit kommt im Steuerrecht große Bedeutung zu. Die Undurchschaubarkeit von Steuergesetzen resultiert häufig nicht nur aus der Unbestimmtheit eines einzelnen Tatbestandsmerkmals oder der Verwendung vager Generalklauseln, sondern aus einem Übermaß an sprachlich unklar abgefassten Detailregelungen, deren Verhältnis zueinander unklar ist. Die vom BVerfG formulierte Forderung, steuerbegründende Tatbestände müssten so bestimmt sein, dass der Stpfl. die auf ihn entfallende Steuerlast vorausberechnen kann6, muss sich am Verständnishorizont des von der Steuernorm „Betroffenen“ orientieren. Dies ist der Stpfl., nicht sein Berater7, erst recht nicht ein mit hochqualifizierten Richtern besetzter BFH-Senat. Die verfassungsrechtlich sichergestellte Gewähr von Rechtsschutz (Art. 19 IV GG) vermag einer unbestimmten oder unklaren Norm nicht zu Bestimmtheit oder Klarheit zu verhelfen.
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Das Ausmaß der erforderlichen (hinreichenden) Bestimmtheit einer gesetzlichen Ermächtigung lässt sich indes nicht allgemein festlegen, sondern hängt von der Eigenart des geregelten Sachbereichs ab, insb. von dem Ausmaß, in dem Grundrechte betroffen werden, und von der Art
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BVerfGE 110, 33 (52 f.); 113, 348 (375 f.); sowie BVerfGE 118, 168 (186 f.). BVerfGE 129, 1 (22 f.). BVerfGE 56, 1 (12); 110, 33 (54); sowie BVerfGE 118, 168 (187). Z.B. BVerfGE 108, 52 (75); s. auch Waldhoff/Grefrath, IStR 2013, 477 (478 ff.). Zutr. Bartone in Rensen/Brink, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009, 305 (311). 6 BVerfGE 19, 253 (267); 34, 348 (365); 49, 343 (362). 7 Dazu BVerfGE 110, 33 (54); 112, 284 (304); Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 558 ff.
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§3
Rz. 247
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
und der Intensität des Verhaltens, zu dem die Verwaltung ermächtigt wird. Die Anforderungen im Einzelfall richten sich nach Art und Schwere des jeweiligen Eingriffs. Der Bestimmtheitsgrundsatz ist Prinzip, nicht Norm. Vorausberechenbarkeit meint nicht arithmetisch genaue Berechenbarkeit, sondern ein Mindestmaß an Orientierungssicherheit. Insb. verbietet das Bestimmtheitsgebot nicht von vornherein die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe. Bei vielgestaltigen Sachverhalten ist eine solche Regelungstechnik verfassungsrechtlich grds. unbedenklich. Allerdings rückt dann das Gebot der Normenklarheit in den Vordergrund. Ist eine Norm sowohl offen als auch unklar formuliert, wird sie gerade den Anforderungen des Vollzugs im Massenverfahren nicht mehr gerecht. 247
Obgleich die Bestimmtheit und Verständlichkeit des Gesetzes essentielle Voraussetzungen von Steuerplanungssicherheit sind1, nimmt die streitanfällige Unbestimmbarkeit und Unverständlichkeit der Steuergesetze permanent zu. Das BVerfG weigert sich, die Gebote der Bestimmtheit und Normenklarheit im Steuerrecht zu effektuieren2. Zwar hat BVerfGE 118, 168, in einer Sonderkonstellation zum Schutz der informationellen Selbstbestimmung festgestellt, § 93 VIII AO3 verstoße gegen das Gebot der Normenklarheit, da der Kreis der Behörden, die ein Ersuchen zum Abruf von Kontostammdaten stellen können, und die Aufgaben, denen solche Ersuchen dienen sollen, nicht hinreichend bestimmt festlegt sei. Zum materiellen Steuerrecht frustriert das BVerfG indes alle Hoffnungen, dass dem die Grundsätze der Verstehbarkeit und Vollzugstauglichkeit missachtenden Steuergesetzgeber verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt werden könnten. Es hat die wohlbegründete Vorlage des BFH (BStBl. 2007, 167) zur Einschränkung des Verlustausgleichs durch § 2 III 2–8 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 als unzulässig zurückgewiesen4 und damit die Anforderungen an die Darlegung der Anwendungsschwierigkeiten so hochgeschraubt, dass es kaum jemals möglich sein dürfte, überhaupt nur die Zulässigkeitshürde zu nehmen. Das Gericht vollzieht eine Abkehr von der richtigen, aber letztlich nur phrasenhaft erhobenen Forderung, der Stpfl. müsse in der Lage sein, seine Steuerlast vorauszuberechnen, wenn es ausreichen lässt, dass die Rechtsanwendungsorgane Zweifelsfragen mit den herkömmlichen Mitteln juristischer Methode unter Heranziehung der gesamten verfügbaren Fachliteratur bewältigen können5. Mit der Überkomplexität6 der früheren Mindestbesteuerung hat sich das Gericht gar nicht erst auseinandergesetzt (zu den Verbindungslinien zum Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit s. Rz. 115). Die aufwendige Rechenprozedur und Separierung von Verlustvorträgen war dem Sachverhalt und dem Regelungsziel (angeblicher) Missbrauchsvermeidung unangemessen. Weder galt es, einen komplexen Lebenssachverhalt zu regeln, noch betraf die Regelung nur einige wenige, steuerlich besonders versierte Stpfl. Vielmehr stellt der Verlustausgleich zwischen verschiedenen Einkunftsarten einen Grundtatbestand des Einkommensteuerrechts dar (§ 8 Rz. 60 f.). § 2 III 2–8 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 war unnötig kompliziert und damit unverhältnismäßig. Auch hat das BVerfG die Chance vertan, der häufig miserablen handwerklichen Qualität der Steuergesetze entgegenzuwirken. Im Gegenteil, es stellt dem unachtsam agierenden Gesetzgeber geradezu einen Freibrief aus: „Stilistische Mängel“ seien grds. unbeachtlich7. Gerade für handwerklich schlechte Gesetze, unklare Regelungspläne und unübersichtlichen Gesetzesaufbau 1 Dazu grundl. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 547 ff. 2 Dazu Tipke, StRO I2, 138 f.; Papier, DStJG 12 (1989), 61: „Verfassungsrecht und Wirklichkeit klaffen selten so stark auseinander wie beim Bestimmtheitsgrundsatz allgemein und bei seiner Anwendung auf das Steuerrecht im besonderen. Seine Unangefochtenheit und ,verbale Glorifizierung’ in Rspr. und Literatur stehen in einem auffälligen Missverhältnis zur tatsächlichen Beachtung in der Gesetzgebung und zur faktischen Durchsetzung seitens der Judikatur.“ 3 Eingeführt durch Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit v. 23.12.2003, BGBl. I 2003, 2928. 4 BVerfG BFH/NV 2010, 2387. 5 BVerfG BFH/NV 2010, 2387 (2394); strenger der österreichische VfGH, G 81/90, Slg. 12420/1990. 6 Zu den verfassungsrechtlichen Folgen von Überkomplexität am Beispiel der §§ 7–14 AStG Waldhoff/ Grefrath, IStR 2013, 477. 7 BVerfG BFH/NV 2010, 2387 (2394).
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Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung
Rz. 259
§3
gibt es indes keinerlei Rechtfertigung. Es handelt sich um eine auch verfassungsrechtlich nicht hinnehmbare „Rücksichtslosigkeit“1 gegenüber den Normunterworfenen. Eine Konsequenz des Zurückweisungsbeschlusses des BVerfG könnte in der Eröffnung weitergehender Spielräume für eine verfassungskonforme Rechtsanwendung liegen. Wenn stilistische Mängel des Gesetzestextes verzeihlich sind, dann muss auch eine sich stärker vom verunglückten Gesetzeswortlaut lösende steuersystematische und verfassungsrechtliche Korrektur durch die Rspr. zulässig sein. In diese Richtung weisen die Anschlussentscheidungen des BFH (BStBl. 2011, 649), wonach § 2 III 2 ff. EStG a.F. nur auf sog. „unechte Verluste“ Anwendung findet. Die Bereitschaft des BFH, mangelhaft abgefasste Normen auch ohne Anrufung des BVerfG verfassungsrechtlich zu korrigieren, wächst.
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Einstweilen frei.
3. Rechtssicherheit durch Vertrauensschutz 3.1 Prinzipielles Verbot rückwirkender Steuergesetze Literatur: (ältere Lit. s. 20. Aufl. vor Rz. 170 u. 179): Allgemein: Götz, BVerfG und Vertrauensschutz, in Festgabe für das BVerfG, Bd. II, 1976, 421; Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981; Stern, Zur Problematik rückwirkender Gesetze, in FS Maunz, 1981, 381; Stern, Das Staatsrecht der BRD, Bd. I2, 1984, 832 ff.; Vogel, Rechtssicherheit und Rückwirkung zwischen Vernunftrecht und Verfassungsrecht, JZ 1988, 833; Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, Diss., 1989; Schmidt, Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit rückwirkender Gesetze, DB 1993, 2250; Wernsmann, Grundfälle zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit rückwirkender Gesetze, JuS 1999, 1177; Vogel, Rückwirkung: eine festgefahrene Diskussion, Ein Versuch, die Blockade zu lösen, in FS Heckel, 1999, 875; Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, Diss., 2002 (krit. zu BVerfG u. EuGH); Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, Eine Analyse des nationalen Rechts, des Gemeinschaftsrechts und der Beziehungen zwischen beiden Rechtskreisen, Habil., 2002; Altmeyer, Vertrauensschutz im Recht der Europäischen Union und im deutschen Recht, Diss., 2003; Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, HStR IV3, 2006, § 79 Rz. 17 ff. Besondere: Friauf, Gesetzesankündigung und rückwirkende Gesetzgebung im Steuer- und Wirtschaftsrecht, BB 1972, 669; Selmer, Rückwirkung von Gesetzen, Verwaltungsanweisungen und Rspr., in StKongrRep. 1974, 83; P. Kirchhof, Die Rückwirkung steuerkonkurrenzlösender Rechtssätze, DStR 1979, 275; Tipke, Zu Gerd Roses Bemühen um mehr Steuerplanungssicherheit, Ein Beitrag aus juristischer Sicht, in FS Rose, 1991, 91 (98 ff.); Ruppe, Rückwirkung von Abgabengesetzen, in FS Adamovich, 1992, 567; Rose, Von den Steuerrechten im Halbschatten und ihrer Bedeutung für die Steuerplanung, in GS Knobbe-Keuk, 1997, 515; Hey, Abbau von Direktsubventionen und Steuervergünstigungen, StuW 1998, 298; J. Lang, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit rückwirkender Steuergesetze, WPg 1998, 163; Spindler, Verfassungsrechtliche Grenzen einer Rückwirkung von Steuergesetzen, DStR 1998, 953; Jachmann, Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit rückwirkender Steuergesetze, ThürVBl 1999, 269; Snelting, Vertrauensschutz als Instrument der Steuerpolitik, StuW 1999, 382; P. Kirchhof, Rückwirkung von Steuergesetzen, StuW 2000, 221; Schaumburg, Rückwirkung und Planungssicherheit im Steuerrecht, DB 2000, 1884; Tipke, StRO I2, 2000, 145 ff.; Spindler, Vertrauensschutz im Steuerrecht, DStR 2001, 725; Vogel, in FS 50 Jahre BVerfG, 2001, 527 (549 ff.); Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 203 ff.; Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip unter besonderer Berücksichtigung des Steuerrechts, Habil., 2002, 475 ff.; DWS, Rückwirkung von Steuergesetzen, 2002; Pezzer (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht, DStJG 27 (2004); Englisch/Plum, Schutz des Vertrauens auf Steuergesetze, Finanzrechtsprechung und Regelungen der Finanzverwaltung, StuW 2004, 342; Werder, Dispositionsschutz bei der Änderung von Steuergesetzen zwischen Rückwirkungsverbot und Kontinuitätsgebot, Diss., 2005; FS Raupach, 2006, m. Beiträgen von Jachmann, Wenn die Rückwirkung zur gesetzgeberischen Routine wird, 27, u. Lehner, Das Rückwirkungsproblem im Spiegel der Abschnittsbesteuerung, 67; Hey, Vom Eintreten des BFH für mehr Steuerplanungssicherheit, DStR 2007, 1; Hey, Wird die Gesetzesverkündung wieder zum Maß des Vertrauensschutzes?, NJW 2007, 408; Goebel/Eilinghof, Rechtsstaatsprinzip versus Gesetzgebungspraxis des deutschen Parlaments, DStZ 2008, 311; Versin, Rückwirkung von Steuergesetzen, SteuerStud 2009, 172; Schön, „Rückwirkende Klarstellungen“ des Steuergesetzgebers als Verfassungsproblem, in FS J. Lang, 2010, 221; Birk, Der Schutz vermögenswerter Positionen bei der Änderung von Steuergesetzen, FR 2011, 1 Altfelder, DB 2001, 350 (355).
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Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
1; Desens, Die neue Vertrauensschutzdogmatik des BVerfG für das Steuerrecht, StuW 2011, 113; Momen, Rückwirkung von Steuergesetzen, BB 2011, 2781; Schönfeld/Häck, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit „unecht“ rückwirkender Steuergesetze, DStR 2012, 1725; Wiss. Beirat Steuern Ernst & Young, Zur Rückwirkung von Normen des Steuerrechts, DB 2012, 761; Desens, Echter Vertrauensschutz bei „unechten“ Rückwirkungen im Steuerrecht, FR 2013, 148; Hey, § 153: Steuerplanung, in Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013; Hey, Rückwirkende Klarstellung und rückwirkende Nichtanwendungsgesetzgebung, JZ 2014, 500; Drüen, Verfassungsrechtliche Grenzen „klarstellender“ Gesetzesänderungen, Ubg. 2014, 683. Ausland/EU: Hahn, Vertrauensschutz im französischen Steuerrecht, IStR 2003, 593; Houloubek/ Lang, Vertrauensschutz im Abgabenrecht, 2004; Vorwold, Die Rückwirkung von Steuergesetzen im amerikanischen Verfassungsrecht, StuW 2004, 372; Mairinger/Twardosz, Die maßgebende Rechtslage im Abgabenrecht – Teil I, ÖStZ 2007, 16 (49 ff.) (Rückwirkung von Steuergesetzen); Gunacker-Slawitsch, Überblick über die Vertrauenstatbestände im Abgabenrecht, in FS Ruppe, 2007, 186 (Österreich/EuGH-Rspr.); Hahn, Neues zur Rückwirkung – die Europäische Menschenrechtskonvention, eine übersehene Rechtsquelle, IStR 2011, 437; Meindl, Rechtsschutz gegen rückwirkende Steuergesetze durch die EMRK – ein Vergleich mit der Rechtsprechung zum GG, StuW 2013, 143.
3.1.1 Verfassungsrechtliche Grundlagen 260
Das Grundgesetz enthält nicht expressis verbis ein Rückwirkungsverbot für Steuergesetze. Art. 103 II GG bezieht sich nur auf das Strafrecht und ist nicht entsprechend auf das Steuerrecht anwendbar1. Jedoch leitet das BVerfG aus dem rechtsstaatlichen Rechtssicherheitsprinzip in Verbindung mit betroffenen Grundrechten ein prinzipielles Verbot rückwirkender Gesetze ab. Dabei betont BVerfGE 97, 67 (78)2 zur Abschaffung von Subventionen für den Schiffsbau die freiheitsrechtliche Komponente: Die Verlässlichkeit der Rechtsordnung sei „eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Es würde den Einzelnen in seiner Freiheit erheblich gefährden, dürfte die öffentliche Gewalt an sein Verhalten oder an ihn betreffende Umstände im Nachhinein belastendere Rechtsfolgen knüpfen, als sie zum Zeitpunkt seines rechtserheblichen Verhaltens galten“. Das Rückwirkungsverbot greift bei der Rückwirkung von belastenden Gesetzen ein, wobei belastend auch Gesetze sind, die rückwirkend eine Vergünstigung einschränken oder aufheben3. Das Rückwirkungsverbot wirkt indes nicht absolut. Nahezu jedes neue Gesetz wirkt auf in der Vergangenheit begonnene Lebenssachverhalte ein und enttäuscht Erwartungen in die Kontinuität des Rechts. Trotzdem muss der Gesetzgeber zu Gesetzesänderungen in der Lage sein. Um Voraussetzungen und Ausnahmen eines Rückwirkungsverbots wird daher gerungen.
3.1.2 Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung 261
Zur Eingrenzung unterscheidet das BVerfG zwischen grds. unzulässiger echter (retroaktiver) und grds. zulässiger unechter (retrospektiver) Rückwirkung4. Der Zweite Senat des BVerfG5 verwendet seit 1983 auch die Begriffe der Rückbewirkung von Rechtsfolgen (statt echter Rückwirkung) und der tatbestandlichen Rückanknüpfung (statt unechter Rückwirkung), ohne dass dies zu Unterschieden in der Sache führt.
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Echte Rückwirkung nimmt das BVerfG an, wenn das Gesetz in abgeschlossene, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift und deren bereits eingetretene Rechtsfolgen nachträglich ändert. Demgegenüber liegt lediglich unechte Rückwirkung vor, wenn die Gesetzesänderung auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen, die aber in der Vergangenheit ins Werk gesetzt wurden, für die Zukunft einwirkt und damit 1 2 3 4
Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, Habil.,1986, 417 f.; s. auch BVerfGE 7, 89 (95). Anm. Hey, BB 1998, 1444; Leisner, StuW 1998, 254. BVerfGE 30, 367 (386); 38, 61 (83); 50, 177 (193); 105, 17 (37). Grundl. BVerfGE 11, 139 (145 f.); zuletzt gegen die Kritik im Schrifttum bestätigt in BVerfGE 127, 1 (18 f.). 5 Angedeutet bereits in BVerfGE 63, 343 (353); seither z.B. BVerfGE 72, 200 (242); 97, 67 (78); 105, 17 (36 f.).
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zugleich die Rechtsposition nachträglich im Ganzen entwertet1. Im Unterschied zur tatbestandlichen Rückanknüpfung (unechten Rückwirkung), die lediglich den sachlichen Anwendungsbereich einer Norm betreffe, entfalte eine Rechtsnorm nur dann echte Rückwirkung, wenn der Beginn ihres zeitlichen Anwendungsbereichs normativ auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm gültig geworden ist, d.h. vor Verkündung (Art. 82 I GG) liegt2. Im Steuerrecht führt dies zu der sog. Veranlagungszeitraumrechtsprechung. Ausgangspunkt ist das Entstehen des Steueranspruchs gem. § 38 AO. Infolgedessen nimmt das BVerfG bei den periodischen Steuern (Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Annexsteuern, Umsatzsteuer) lediglich unechte Rückwirkung an, wenn das Gesetz noch vor Jahresende mit Wirkung auf den Jahresanfang verkündet wird, weil der Steueranspruch erst mit dem Ablauf des Veranlagungszeitraums (Kalenderjahr: §§ 25 I; 36 I EStG; §§ 30; 31 KStG) entsteht3. Echte Rückwirkung soll hingegen vorliegen, wenn das Gesetz rückwirkend auf das Vorjahr erst im folgenden Jahr beschlossen wird4, weil nur dann nachträglich auf eine bereits entstandene Rechtsfolge eingewirkt wird. Beispiel: Die Einkommensteuer 01 entsteht mit Ablauf des Jahres 01. Obwohl die Sachverhalte, die zu Einkünften führen, während des ganzen Jahres verwirklicht werden, soll es zulässig sein, z.B. noch am 31.12.01 den Einkommensteuertarif 01 zu verschärfen. Darin sieht das BVerfG eine bloß unechte Rückwirkung oder tatbestandliche Rückanknüpfung. Würde der Gesetzgeber hingegen am 2.1.02 beschließen, den Steuersatz für 01 zu erhöhen, so läge eine echte Rückwirkung vor. – Unter Vertrauensschutzaspekten sind die Fälle jedoch im Wesentlichen gleich. Beispiel: Mit Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 v. 24.3.1999, BGBl. I 1999, 402, verlängert der Gesetzgeber die bisherige zweijährige Veräußerungsfrist für Immobilien auf 10 Jahre mit Wirkung für Kaufverträge, die nach dem 31.12.1998 geschlossen wurden. A verkauft am 5.1.1999 mit notariellem Vertrag ein Haus, das er sieben Jahren zuvor angeschafft hatte. Er geht dabei von der Steuerfreiheit der Veräußerung aus. Nach BVerfGE 127, 1 (18 ff.) liegt lediglich unechte Rückwirkung vor.
Die Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung hatte in der Vergangenheit deshalb zentrale Bedeutung, weil das BVerfG nur für die echte Rückwirkung ein grds. Rückwirkungsverbot annimmt. Die unechte Rückwirkung soll dagegen grds. zulässig sein. Die auch zur Überprüfung unechter Rückwirkungen vorzunehmende Abwägung zwischen dem Vertrauensschaden des Bürgers und dem gesetzgeberischen Anliegen für das Gemeinwohl5 ging im Steuerrecht stets zugunsten des Gesetzgebers aus. In 60 Jahren Verfassungsrechtsprechung wurde keine einzige unechte Rückwirkung im Steuerrecht für verfassungswidrig erklärt. Dies hat sich erst mit den drei Beschlüssen des Zweiten Senats des BVerfG vom 7.7.20106 geändert, in denen das Gericht erstmals unecht rückwirkende Steuergesetze für verfassungswidrig erklärt hat; der Erste Senat hat sich angeschlossen (BVerfGE 132, 302); hierzu Rz. 266 ff.
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Zur Kritik der Veranlagungszeitraumrechtsprechung: Die Rückwirkungsrechtsprechung des BVerfG ist im Schrifttum immer wieder kritisiert worden7; auch zeigt die relativ hohe Zahl
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1 Grundl. BVerfGE 11, 139 (146), im Weiteren m.N. BVerfGE 30, 392 (404). 2 BVerfGE 63, 343 (353); 72, 200 (241); 97, 67 (78). 3 So zuletzt BVerfGE 97, 67 (80), unter Hinweis auf BVerfGE 72, 200 (250, 252 f.: Grundsatz der Jahresbezogenheit). Dazu Lehner, FS Raupach, 2006, 67. 4 BVerfGE 13, 261 (272 ff.); 13, 274 (278); 13, 279 (282 f.); 18, 135 (143); 72, 200 (250, 252 f.); BVerfGE 97, 67. 5 Insb. BVerfGE 30, 392 (404); 75, 246 (280). Im Weiteren: BVerfGE 24, 220 (230 f.); 39, 128 (145 f.); 48, 403 (416); 50, 386 (394 f.); 51, 356 (363); 70, 69 (84 f.); 71, 255 (273); 95, 64 (92); 97, 378 (389); 101, 239 (263); 103, 392 (403); 105, 17 (37). 6 BVerfGE 127, 1; 127, 31; 127, 61. 7 Insb. Friauf, BB 1972, 669; Pieroth, JZ 1984, 971; Vogel, JZ 1988, 833 Muckel, JA 1994, 14; Arndt/ Schumacher, NJW 1998, 1538 f.; J. Lang, WPg. 1998, 163; Schaumburg, DB 2000, 1884 (1886); Tipke, StRO I2, 2000, 156 f.; Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 212 ff., 290 f.; Hey, NJW 2007, 408.
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abweichender Voten1 die Schwierigkeiten, eine allgemein einsehbare Rückwirkungsdogmatik zu entwickeln. Die Kritik setzt vor allem an der dem Veranlagungszeitraum beigemessenen Bedeutung an. Die rein technisch begründete Entstehung des Steueranspruchs mit Ablauf von Veranlagungszeiträumen korrespondiert nicht mit der Abgeschlossenheit der zugrundeliegenden Lebenssachverhalte. Der Stpfl. benötigt Rechtssicherheit nicht am Jahresende, sondern in dem Zeitpunkt, in dem er steuerrechtlich relevante Dispositionen tätigt. Die Steuerplanungssicherheit wird auch dann intensiv beeinträchtigt, wenn der Steuergesetzgeber pro futuro Steuerfolgen für in der Vergangenheit liegende Dispositionen verändert: Der Stpfl. disponiert auf Grund einer bestimmten Steuerrechtslage. Er rechnet z.B. bei dem Erwerb eines denkmalgeschützten Hauses mit einer erhöhten Absetzung (§ 7i EStG) in den Folgejahren und kalkuliert danach die Finanzierung des Kaufpreises. Er zieht bei der Verhandlung einer Entlassungsentschädigung ins Kalkül, ob diese steuerfrei ist und ihm damit als Nettobetrag verbleibt. Abgeschlossen ist eine wirtschaftliche Disposition in dem Zeitpunkt, in dem die Disposition aus rechtlichen oder wirtschaftlichen Gründen nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Der Gesetzgeber trägt dieser Forderung z.T. durchaus Rechnung. So knüpfen Übergangsregelungen bei Verschlechterung der AfA-Regeln i.d.R. an die Anschaffung oder Herstellung eines Wirtschaftsguts als vertrauensrechtlich relevante Disposition an. Auf den späteren periodischen Eintritt der steuerlichen Abschreibungsfolgen kommt es zu Recht nicht an. Ebenso wird bei der Besteuerung von Einkünften aus Versicherungsverträgen (§ 20 I Nr. 6 EStG) auf den Abschluss des Versicherungsvertrages abgestellt (§ 52 XXVIII 3 ff. EStG).
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Hieraus ergibt sich die Forderung, das Rückwirkungsverbot als ein Steuerplanungssicherheit vermittelndes Institut zum Zwecke des Dispositionsschutzes zu entfalten2. Mehr noch würde ein einheitlicher dispositionsbezogener Rückwirkungsbegriff eine umfassende Abwägung des betätigten Vertrauens des Stpfl. gegen das Interesse des Gesetzgebers an Einbeziehung in der Vergangenheit getätigter Dispositionen in die Neuregelung ermöglichen3.
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Die Beschlüsse vom 7.7.2010: Dieser Kritik ist BVerfGE 127, 14, zum Teil nachgekommen. Zwar hält das Gericht nach ausführlicher Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten an der Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung und an der Abgrenzung anhand von Veranlagungszeiträumen fest. Doch auch wenn sich das BVerfG nicht eindeutig dem im Schrifttum präferierten Dispositionsschutzkonzept zuwendet, stellen die Beschlüsse vom 7.7.2010 in mehrfacher Hinsicht einen Quantensprung dar5. Zum einen analysiert das Gericht behutsam, wann steuerliche Vorschriften Vertrauenstatbestände begründen, zum anderen legt es strenge Maßstäbe an eine Überwindung berechtigter Vertrauensschutzinteressen der Stpfl. an (s. Rz. 281 f.). Der Erste Senat des BVerfG setzt in BVerfGE 132, 302 diese Rechtsprechungslinie fort und formuliert noch deutlicher, dass Rückwirkungen in laufenden Veranlagungs- und Erhebungszeiträumen als unechte Rückwirkungen zwar nicht grds. unzulässig seien, 1 U.a. Seuffert, BVerfGE 31, 100; Rupp-von Brünneck, BVerfGE 32, 129; von Schlabrendorff, BVerfGE 37, 414; Steinberger, BVerfGE 48, 23; Steinberger, BVerfGE 72, 276; Kruis, BVerfGE 97, 85; Masing, JZ 2014, 510. 2 Dazu J. Lang, WPg. 1998, 163 (168 ff.); Schaumburg, DB 2000, 1884; Tipke, StRO I2, 156 f.; Pleyer, NJW 2001, 1985; Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 103 ff.; Spindler, DStJG 27 (2004), 69 (77 ff.). 3 J. Lang, WPg. 1998, 163 (168 ff.); Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 103 ff. 4 Zur Verlängerung der Spekulationsfrist von zwei auf zehn Jahre in § 23 I 1 Nr. 1 EStG; s. ferner die Beschlüsse vom selben Tage zur Abschaffung des halben Steuersatzes für Abfindungen (BVerfGE 127, 31) sowie zur rückwirkenden Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze in § 17 I 4 EStG a.F. (BVerfGE 127, 61). 5 So die ganz einhellige Bewertung im Schrifttum s. Werth, DStZ 2010, 712; Spindler, Stbg. 2010, 529 (533); Birk, FR 2011, 1 (5); Musil/Lammers, BB 2011, 155; krit. dagegen Musil in Schön/Röder (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts II, 2014, 129 (141 ff.). Wiss. Beirat Ernst & Young, DB 2012, 761 ff., äußert Zweifel hinsichtlich der Praktikabilität der differenzierten Abwägungen des 2. Senats.
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sie stünden den Fällen echter Rückwirkung allerdings in vielerlei Hinsicht „nahe“ und unterlägen daher „besonderen Anforderungen“ unter den Gesichtspunkten von Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit (2. Leitsatz). Zur Schutzwürdigkeit von in der Vergangenheit getätigten Dispositionen vor unecht rückwirkenden Gesetzesänderungen trifft das Gericht folgende Aussagen: (1) Es besteht kein Anspruch auf den Schutz des Vertrauens in die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen im Zeitpunkt der Anschaffung eines Wirtschaftsguts. Schutzwürdig ist der Stpfl. aber, sobald sich die Aussicht auf Steuerfreiheit mit Ablauf der Spekulationsfrist zu einer konkreten Vermögensposition (verfassungsrechtlich geschützte Rechtsposition) verfestigt. Dem Gesetzgeber ist es damit nicht verwehrt, nach der Verkündung des neuen Gesetzes entstehende Wertzuwächse zu erfassen, er muss aber eine zwischen alten und neuen Wertsteigerungen differenzierende Übergangsregelung schaffen. Ein allgemeiner Grundsatz, dass eine nachträgliche Steuerverstrickung in der Vergangenheit entstandener stiller Reserven stets rechtfertigungsbedürftig ist oder jedwede Steuererhöhung für in der Vergangenheit entstandene stille Reserven eines besonderen Grundes bedarf1, lässt sich hieraus nicht ableiten. Eine Pflicht zur Beschränkung des neuen Gesetzes auf zukünftige Wertsteigerungen wird man aber dann annehmen können, wenn in der Vergangenheit eine Sonderregelung galt, die sich auf das Investitionsverhalten des Stpfl. ausgewirkt und damit einen besonderen Vertrauenstatbestand begründet hat, z.B. für die weitere Absenkung der Beteiligungsgrenze von 10 % auf 1 % ab 20012 oder eine etwaige Rückkehr vom Abgeltungsteuersatz zum Normaltarif für Gewinne aus der Veräußerung von Kapitalbeteiligungen (§ 20 II EStG). Die Übergangsregelung zur Abgeltungsteuer geht über diese Position sogar noch hinaus, indem § 20 II EStG nur für nach dem 31.12.2008 angeschaffte Wertpapiere zur Anwendung kommt (§ 52a X 1 EStG). Damit bleiben auch nach dem 1.1.2009 entstehende Wertzuwächse außerhalb der bisherigen Veräußerungsfristen steuerfrei.
(2) Bezüglich der Abschaffung der Steuervergünstigungen für Entlassungsentschädigungen soll es grds. auf den Vertragsschluss ankommen3, da der Inhalt der Abfindungsvereinbarung wesentlich durch die bisherige steuerliche Begünstigung bestimmt worden sei. Allerdings nimmt das Gericht im Weiteren zur Risikoverteilung eine Differenzierung vor: – Schutzwürdig seien nur solche Entschädigungen, die im Jahr 1998 vor Einbringung der Neuregelung in den Bundestag (9.11.1998) vereinbart wurden, soweit die Entschädigung bis zum 31.12.1999 ausgezahlt wurde. – Ausgenommen wurden allerdings Fallgestaltungen, bei denen die Vereinbarung bereits vor 1998 geschlossen war und mithin zwischen Vertragsschluss und Auszahlung ein längerer Zeitraum lag. Dem Stpfl. müsse bewusst sein, dass das Recht über einen mehrjährigen Zeitraum nicht konstant bleibe. – Auch in diesem Fall seien aber die Stpfl. schutzwürdig, denen die Entlassungsentschädigung bereits vor Verkündung des StEntlG 1999/2000/2002 zugeflossen war.
Damit setzt Vertrauensschutz den Zufluss zwar nicht voraus, nach Zufluss ist jedoch von einer erhöhten Schutzwürdigkeit auszugehen4, weil der Stpfl. dann in Kenntnis der Steuerrechtslage über die ihm zugeflossene Entschädigungssumme Spar- oder Konsumentscheidungen trifft5. Bei Gewinnermittlung durch Bestandsvergleich wird man insofern auf den Zeitpunkt der Gewinnverwirklichung durch Realisationsakt abstellen müssen6, soweit ab diesem Zeitpunkt unternehmerische Verwendungsentscheidungen möglich sind. Dies schließt freilich nicht aus, dass zum Schutz von 1 2 3 4
In diese Richtung Birk, FR 2011, 1 (7 f.); einschränkend Desens, StuW 2011, 113 (123). Musil/Lammers, BB 2011, 155 (159). BVerfGE 127, 1 (49 f.). BVerfGE 127, 31 (57). BVerfGE 132, 302 (327 ff.) weicht diese Position allerdings durch Einbeziehung der zum Zufluss führenden Disposition wieder etwas auf; zu Recht krit. Desens, FR 2013, 148 (151 ff.). 5 So schon Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 12 f., 258 f.: besondere Schutzwürdigkeit der Verwendungsplanung. 6 Zutr. Desens, StuW 2011, 113 (121); Desens, FR 2013, 148 (151).
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betrieblichen Erwerbshandlungen, etwa Investitionsentscheidungen unter Inanspruchnahme steuerlicher Vergünstigungen, weitergehende Übergangsregelungen erforderlich sind.
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Stellungnahme: Der Kritik am zweigeteilten Rückwirkungsbegriff und der Abgrenzung zwischen beiden Kategorien geht es nicht primär um die Begrifflichkeit, sondern um die Überwindung des bisherigen Vertrauensschutzdefizits im Bereich unechter Rückwirkung. Das BVerfG ist dieser Kritik durch stärkere Differenzierung im Bereich der unechten Rückwirkung nachgekommen. Das Ergebnis ist ein Sieg für den in den Rechtsstaat vertrauenden Bürger. Die Bemühungen des BVerfG, den Dispositionsschutz einzugrenzen, orientieren sich zwar weiterhin wenig sachgerecht an Veranlagungszeiträumen1. Dies sollte indes nicht den Blick darauf verstellen, dass sich das Gericht in die richtige Richtung bewegt, indem es die Disposition bzw. unter altem Recht erworbenen Dispositionsmöglichkeiten des Stpfl. ins Kalkül zieht, statt formalistisch auf die Entstehung des Steueranspruchs abzustellen. De facto ist das Gericht damit bei einem einheitlichen, jedenfalls im Ansatz dispositionsschutzorientierten Rückwirkungskonzept angelangt, auch wenn es an der hergebrachten Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung festhält. Wenn damit die Kategorie der echten Rückwirkung unangetastet bleibt2, wäre zugleich der Befürchtung der Gegner eines einheitlichen Rückwirkungsbegriffs Rechnung getragen, dass mit der Aufgabe dieser Kategorie das bis dato verhältnismäßig hohe Schutzniveau gegenüber echten Rückwirkungen gefährdet werden könne3. I.Erg. entzieht das BVerfG der gängigen und bisher verfassungsgerichtlich tolerierten Praxis der am Jahresende mit unbegrenzter Rückwirkung auf den 1.1. des laufenden Jahres erlassenen Steuergesetze den Boden4. In Zukunft wird der Gesetzgeber stets zwischen materiell bereits voll abgeschlossenen Tatbeständen und noch offenen Tatbeständen differenzieren müssen. Dies muss grds. auch für allgemeine Tariferhöhungen während eines laufenden Veranlagungszeitraums gelten5. Sachgerecht ist auch die Differenzierung nach der Dispositionsbezogenheit der geänderten Norm6. Soweit steuerliche Vorschriften wie die bisherige Steuerfreiheit von Entlassungsentschädigungen konkreten Einfluss auf den Inhalt der zugrundeliegenden Rechtsgeschäfte haben, ist von einer erhöhten Schutzwürdigkeit auszugehen. Schon Vogel7 hat den besonderen Schutz von Normen mit dispositionslenkenden Rechtsfolgen hervorgehoben. Subventionen, mit denen der Staat zu einer bestimmten Disposition angereizt hat, dürfen nicht nachträglich wieder entzogen werden. Das wäre ein mit dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Vertrauensschutz unvereinbares venire contra factum proprium. Dispositionsbezogene Normen können die Disposition sogar konstituieren, wenn ohne die geänderte Rechtsfolge das Rechtsgeschäft nicht oder nicht so zustande gekommen wäre. Das ist bei einem Sonderabschreibungsmodell für Schiffe, Luftfahrzeuge etc. anzunehmen, auch bei Sanierungsgeschäften (§ 3 Nr. 66 EStG a.F.), Mantelkäufen (§ 8 IV KStG a.F.), Umwandlungen nach dem UmwStG oder bisher gewerbesteuerfreien Veräußerungen von Personengesellschaftsanteilen. Bei der Änderung dispositionslenkender bzw. -konstituierender Rechtsfolgen muss die Übergangsregelung an den betroffenen Rechtsakt anknüpfen. Das alte Recht hat für alle Rechtsakte weiter zu gelten, die vor dem Gesetzesbeschluss, in gemeinwohlbegründeten Ausnahmefällen vor der Ankündigung des Gesetzesbeschlusses rechtsverbindlich geworden sind oder wirtschaftlich nicht mehr rückgängig gemacht werden können.
1 Weniger krit. Desens, StuW 2011, 113 (119): Praktikabilitätserwägungen. 2 Dass dies nicht geschehen ist, sondern im Gegenteil auch im Bereich der echten Rückwirkung dem Vertrauen des Bürgers Rechnung getragen wird, belegt BVerfG HFR 2104, 359; hierzu Rz. 269. 3 Z.B. Wernsmann, JuS 2000, 39 (42 f.); Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 28 (2011). 4 Zutr. Desens, StuW 2011, 113 (120). Konsequenzen erkennbar in der Vorlage des BFH v. 7.10.2010 (IX R 70/07) zur rückwirkenden Einführung eines (nur) ratierlichen Abzugs von Erbbauzinsen. 5 Zutr. Birk, FR 2011, 1 (8); offengelassen BVerfGE 127, 1 (26). 6 Dazu näher J. Lang, WPg. 1998, 163 (172 ff.), sowie umfassend Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 306 ff. 7 JZ 1988, 838.
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3.1.3 Rechtfertigung rückwirkender Steuergesetze 269
Hinsichtlich der Rechtfertigung rückwirkender Steuergesetze gilt Folgendes: Rechtfertigungsbedürftig sind grds. nur konstitutive Rechtsänderungen. In Gesetzesmaterialien ist deshalb häufig von „reinen Klarstellungen“, redaktionellen Änderungen, etc. die Rede, um die Anwendung auf alle noch nicht bestandskräftigen Steuerbescheide ohne weitere Rechtfertigung zu begründen. Dem ist BVerfG v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, HFR 2104, 359, energisch entgegengetreten1. Konstitutiv ist eine Rechtsänderung bereits dann, wenn es zu einer Norm mehrere vertretbare Auffassungen gibt und der Gesetzgeber eine hiervon rückwirkend festschreibt. Danach dürften rein deklaratorische Rechtsänderungen die absolute Ausnahme sein. Ein Recht des Gesetzgebers zu rückwirkender „authentischer“ Interpretation existiert nicht (HFR 2014, 359 [361]; scharf kritisiert im Sondervotum von Masing). Vielmehr muss der Gesetzgeber, wenn er mit Wirkung für die Vergangenheit in den von Verfassungs wegen der Judikative zugeordneten Prozess der Gesetzesanwendung eingreifen will, über einen der anerkannten Ausnahmetatbestände vom Verbot echter Rückwirkung verfügen. Seit jeher wird das prinzipielle Verbot „echt“ rückwirkender Gesetze durch einen Katalog von vier Ausnahmen z.T. empfindlich eingeschränkt. Das BVerfG2 lässt echte Rückwirkung zu, (1) wenn der Bürger nach der rechtlichen Situation in dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge vom Gesetz zurückbezogen wird, mit dieser Regelung rechnen musste, insb. nach dem Bundestagsbeschluss über das neue Gesetz; (2) wenn das geltende Recht unklar und verworren ist3; (3) wenn der Bürger sich nicht auf den durch eine ungültige Norm erzeugten Rechtschein verlassen darf, und schließlich (4) wenn zwingende Gründe des Gemeinwohls, die dem Gebot der Rechtssicherheit übergeordnet sind, eine Rückwirkungsanordnung rechtfertigen.
Die ersten drei Ausnahmetatbestände fußen auf dem Gedanken der Vorhersehbarkeit der Gesetzesänderung, wobei in der Regel erkennbar nur das Bestehen einer Rechtsunsicherheit ist. Der Ausnahmetatbestand der zwingenden Gründe des Gemeinwohls öffnet darüber hinaus auch die echte Rückwirkung für eine umfassende Abwägung zwischen Bestands- und Änderungsinteressen. Noch nicht abzusehen ist, welche Konsequenzen sich aus BVerfG v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, HFR 2014, 359, für die zukünftige Anwendung dieser Rechtfertigungsgründe ergeben. Der Erste Senat macht deutlich, dass das Vertrauen in eine dem Stpfl. günstige Interpretation auch bei umstrittener Rechtslage schutzwürdig ist. Auslegungsstreitigkeiten führen grds. auch nicht dazu, dass das Recht unklar oder verworren ist. Das Argument, eine unklare Rechtslage erzeuge kein Vertrauen, verkennt, dass in einem Rechtsstaat den Gesetzgeber die Verantwortung für eindeutige Eingriffsgrundlagen trifft4. Auch besteht abgesehen von Haushaltsinteressen keine Notwendigkeit, Klarstellungen für die Vergangenheit stets in einer für den Stpfl. ungünstigen Auslegungsvariante vorzunehmen. Von besonderer Bedeutung ist die Entscheidung für die im Steuerrecht häufig anzutreffenden rückwirkenden Nichtanwendungsgesetze5. Zu unterscheiden sind dabei zwei unterschiedliche Konstellationen: – Die umgehende, häufig durch BMF-Schreiben angekündigte Wiederherstellung der früheren Rechtslage nach einem günstigen Rechtsprechungswechsel sowie 1 Die Entscheidung hat ein geteiltes Echo ausgelöst: zustimmend Birk, FR 2014, 338; Buchheim/Lassahn, NVwZ 2014, 562; Hey, NJW 2014, 1564; Hey, JZ 2014, 500; Wiese/Berner, DStR 2014, 1260; krit. dagegen Lepsius, JZ 2014, 488; Wißmann, ZJS 2014, 333 (335 f.). 2 BVerfGE 13, 261 (271 f.); 18, 429 (439); 30, 367 (387 ff.); 37, 363 (397); 50, 177 (193 f.); 88, 384 (404); 98, 17 (39); 122, 374 (394); 127, 31 (58). 3 Dazu Schnapp, JZ 2011, 1125. 4 Schnapp, JZ 2011, 1125 (1132). 5 S. hierzu die Vorlagen an das BVerfG BFH BStBl. 2011, 346; BFH/NV 2014, 614.
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– die gesetzgeberische Gegenreaktionen zur erstmaligen höchstrichterlichen Klärung einer offenen Rechtsfrage. Wenn BVerfG v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, HFR 2014, 359 selbst für den Fall einer noch ungeklärten Rechtslage bei ausstehender Entscheidung des BFH für ein rückwirkendes Eingreifen des Gesetzgebers besondere Rechtfertigungsgründe fordert, muss dies a maiore ad minus gelten, sobald eine (erste) höchstrichterliche Klärung vorliegt1. Der Gesetzgeber kann eine unliebsame BFH-Entscheidung zwar für die Zukunft, aber nicht ohne weiteres rückwirkend außer Kraft setzen. Anders soll der Fall der Wiederherstellung der Rechtslage nach einem Rechtsprechungswechsel zu beurteilen sein2. Hier habe der Stpfl. aufgrund der früheren ungünstigen Rspr. kein Vertrauen auf eine für ihn günstigere Behandlung bilden können. Die neue Rspr. könne keine Auswirkungen auf in der Vergangenheit getätigte Dispositionen haben und jedenfalls bei sofortiger Ankündigung der Änderung auch für die Zukunft kein Vertrauen begründen. M.E. kann jedoch auch bei Nichtanwendungsgesetzen, die auf die Wiederherstellung der früheren Rechtslage zielen, nicht von vornherein jeder Vertrauensschutz versagt werden, wenn nicht die Rechtsschutzmöglichkeiten drastisch eingeschränkt werden sollen. Schutzwürdig ist auch das Vertrauen in eine von der bisherigen höchstrichterlichen Rspr. abweichende Gesetzesauslegung, in dem der Stpfl. trotz gefestigter Rspr. den Rechtsweg einschlägt3. Primäre Vertrauensgrundlage ist das Gesetz selbst4. Unter bestimmten Umständen kann der Stpfl. auf eine gefestigte Rspr. vertrauen (s. Rz. 280 f.), er muss sich diese aber nicht entgegenhalten lassen, wenn das Gesetz zu seinen Gunsten anders auszulegen ist.
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In der Berücksichtigung sog. vorlegislatorischer Maßnahmen verbinden sich die Aspekte der Vorhersehbarkeit und der zwingenden Gründe des Gemeinwohls. Das BVerfG akzeptiert Rückbeziehungen auf frühere Zeitpunkte im Gesetzgebungsverfahren, um sog. Ankündigungseffekten entgegenzuwirken. – In st. Rspr. lässt das BVerfG die Schutzwürdigkeit des Vertrauens mit dem endgültigen Gesetzesbeschluss im Bundestag über die Neuregelung entfallen5. Dies ist jedoch gerade im Steuerrecht zu großzügig. Zustimmungspflichtige Steuergesetze (Art. 105 III GG) können in unter Ausschluss der Parlamentsöffentlichkeit stattfindenden Vermittlungsverfahren (s. § 2 Rz. 44) unvorhersehbare Veränderungen erfahren. Erst wenn das neue Gesetz im Bundesgesetzblatt verkündet ist, erhält der Stpfl. eine hinreichend verlässliche Rechtsgrundlage, aufgrund derer er disponieren kann. Notwendig ist eine klare Grenze, ab der der Stpfl. die Änderung berücksichtigen muss. Aus diesem Grund sollte auch nicht differenziert und etwa im Falle zustimmungspflichtiger Gesetze auf den Beschluss des Bundesrats oder die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses6 abgestellt werden. Vielmehr ist, wenn der Gesetzgeber hinter die Verkündung zurückgehen will, stets ein besonderer Rechtfertigungsgrund zu fordern7. Dies erkennt BVerfGE 127, 31 (57) für die unechte Rückwirkung jetzt insofern an, als Einnahmen, die vor Verkündung eines steuerverschärfenden Gesetzes zugeflossen sind, von der Gesetzesänderung auszunehmen sind (einschränkend BVerfGE 132, 302 [328] unter Einbeziehung der zugrundeliegenden Disposition; dagegen Desens, FR 2013, 148 [151]). – Noch nicht abschließend geklärt ist die Bedeutung weiter vorgelagerter Maßnahmen wie der Ankündigung von Gesetzesvorhaben durch die Bundesregierung im Wege eines Kabinettsbeschlusses8 oder durch Einbringung einer Gesetzesvorlage in den Bundestag9. BVerfGE 97, 67, nimmt an, dass sog. Ankündigungseffekte eine Rückbeziehung auf einen früheren Zeit1 Anders allerdings BVerfGE 126, 369; 131, 20; Sondervotum Masing zu BVerfG v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, HFR 2014, 359. Zu diesen Widersprüchen ausf. Hey, JZ 2014, 500 (503 ff.). 2 Ständige Rspr. des BFH, z.B. BFH BStBl. 2014, 168. 3 Hey, JZ 2014, 500 (504); ebenso Drüen, Ubg. 2014, 683 (691). 4 Ebenso Buchheim/Lassahn, NVwZ 2014, 562 (563). 5 BVerfGE 13, 261 (272); 30, 272 (287); 31, 222 (227); 72, 200 (261); 95, 64 (88); 97, 67 (79 f.); 127, 1 (16 f.). 6 So BVerfGE 132, 302 (324 ff.) für den Fall, dass die Neuregelung erst im Vermittlungsverfahren eingebracht wird; zust. Desens, FR 2013, 148 (152); krit. Krüger, DStZ 2013, 137 (142 f.). 7 S. Hey, NJW 2007, 408; ferner Rz. 269. 8 BVerfGE 97, 67. 9 BVerfGE 127, 31 (56 f.).
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punkt rechtfertigen1. Der Gesetzgeber habe ein berechtigtes Interesse zu verhindern, dass die Neuregelung leer läuft, weil Stpfl. sich Vorteile der alten Rechtslage zu sichern suchen, indem sie Investitionen vorziehen. Hier steht nicht die Vorhersehbarkeit der Gesetzesänderung im Vordergrund. Vielmehr geht es dem Gesetzgeber gerade um eine gewisse Überrumplung des Stpfl. Ein solches Vorgehen kann nur in engen Grenzen zulässig sein, wenn andernfalls schwerwiegende volkswirtschaftliche Fehllenkungen zu befürchten sind, die sich nicht allein in einem späteren Einsetzen der Aufkommenswirkungen der Neuregelung erschöpfen. Deutlich geschärft sind durch die Beschlüsse vom 7.7.20102 die Anforderungen an die Rechtfertigung unecht rückwirkender Steuergesetze:
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Hatte das Gericht in der Vergangenheit in Fällen unechter Rückwirkung stets die Enttäuschung des Vertrauens gegen die Gesetzesänderung als solche abgewogen, bezieht es jetzt die vermittelnde Wirkung von Übergangsregelungen in den Abwägungsprozess ein3. Nicht mehr ausreichend ist das allgemeine Änderungsinteresse, sondern der Gesetzgeber muss darlegen, warum er – unter Verzicht auf eine Übergangsregelung – ein Interesse gerade an der Einbeziehung von Altfällen hat. Die Gründe des Gesetzgebers für die Einbeziehung von Altfällen werden einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzogen. Die unechte Rückwirkung soll mit den grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Vertrauensschutzes nur dann vereinbar sein, „wenn sie zur Förderung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich ist und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und dem Gewicht und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt.“4 272
Nicht ausreichend ist danach – die „Verbesserung der Rechtslage“; sie betrifft lediglich das allgemeine Änderungsinteresse und begründet kein besonderes Bedürfnis nach Einbeziehung von Altfällen5. Dies muss grds. selbst dann gelten, wenn der bisherige Rechtszustand verfassungswidrig war, da der Gesetzgeber die Verfassungswidrigkeit zu verantworten hat und der Stpfl. in das geltende Gesetz, auch in dessen Verfassungskonformität, vertrauen darf.
– ein allgemeines Steuererhöhungs- oder Gegenfinanzierungsinteresse, außer in Fällen eines plötzlich und unerwartet auftretenden außerordentlichen Finanzbedarfs6; – die mit Übergangsregelungen verbundene Komplizierung; der Gesetzgeber hat jedoch einen Typisierungsspielraum bei deren Ausgestaltung7; – die Schließung von Besteuerungslücken und Missbrauchsbekämpfung. Sie kann zwar, insb. wenn sie sich gegen volkswirtschaftliche Fehllenkungen richtet, eine besondere Dring-
1 Zur Ankündigungsproblematik Friauf, BB 1972, 669; Schmidt, DB 1993, 2250 (2254 f.); J. Lang, WPg. 1998, 163 (171 f.). 2 BVerfGE 127, 1; 127, 31; 127, 67. 3 Hierzu ausf. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 392 ff. 4 BVerfGE 127, 1, 1. LS. 5 BVerfGE 127, 1 (25 f.). 6 S. BVerfGE 127, 1 (26 f.) in deutlicher Abkehr von BVerfGE 13, 272 (278). S. aber auch BFH BStBl. 2010, 414 (421): Finanzierbarkeit eines Systemwechsels als Rechtfertigung für die Ausgestaltung von Übergangsvorschriften bejahend (Verfassungsbeschwerde anhängig: 2 BvR 288/10); BFH BStBl. 2012, 867: Ausgleich unerwarteter Mindereinnahmen aufgrund Rechtsprechungsänderung. 7 BVerfGE 127, 1 (27). Diesen nutzt BMF BStBl. I 2011, 16, indem zur Umsetzung der Rspr. des BVerfG zu §§ 17; 23 EStG, die Aufteilung zwischen steuerfreien Altwertzuwächsen und neuen Wertzuwächsen linear anhand der Haltedauer ermittelt wird statt einer Wertermittlung zum Stichtag der Gesetzesverkündung der neuen Regelung. Zu gleichheitsrechtlichen Grenzen bei der Ausgestaltung des Übergangsrechts s. BVerfGE 125, 1, zur Umstellung des körperschaftsteuerrechtlichen Anrechnungs- auf das Halbeinkünfteverfahren.
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Rz. 273
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
lichkeit erzeugen, die auch die Einbeziehung von Altfällen rechtfertigt, nicht jedoch, wenn dem Gesetzgeber diese Lücken schon seit längerem bekannt waren1. Bemerkenswert ist, dass sich damit auch die Rechtfertigung der unechten Rückwirkung der echten Rückwirkung stark angenähert hat2 und zum Teil sogar strenger ausfällt. A maiore ad minus müssen die jetzt für die Rechtfertigung unechter Rückwirkungen aufgestellten Grundsätze, soweit sie strenger sind, auch auf die echte Rückwirkung angewandt werden. 273–279
Einstweilen frei.
3.2 Rückwirkende Gesetzesanwendung Literatur: P. Kirchhof, Kontinuität und Vertrauensschutz bei Änderungen der Rspr., DStR 1989, 263; Willibald, Vertrauensschutz bei verschärfender Rspr. im Bereich des Steuerrechts, DStZ 1991, 442; Felix, Zum Rückwirkungsverbot verschärfend geänderter Steuerrechtsprechung, in FS Tipke, 1995, 71; Medicus, Über die Rückwirkung von Rspr., NJW 1995, 2577; Burmeister, Grenzen rückwirkender Verschärfung der Besteuerungspraxis, in FS Friauf, 1996, 759; Lohmeyer, Vertrauensschutz bei der Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden, Stbg. 1997, 395; Offerhaus, Grundsatzfragen der Steuerrechtsprechung, Stbg. 1997, 241; Meesenburg, Das Vertrauensschutzprinzip im europäischen Finanzverwaltungsrecht, 1998; Rose, Rückwirkende Steuerrechtsprechung und Steuerplanungssicherheit, Stbg. 1999, 401; Tipke, StRO I2, 2000, 168 ff.; Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 583 ff.; A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip unter besonderer Berücksichtigung des Steuerrechts, Habil., 2002, 508 ff., 531 ff.; Leisner-Egensperger, Kontinuitätsgewähr in der Finanzrechtsprechung, DStJG 27 (2004), 191; Englisch/Plum, Schutz des Vertrauens auf Steuergesetze, Finanzrechtsprechung und Regelungen der Finanzverwaltung, StuW 2004, 342; Hey, Schutz des Vertrauens in BFH-Rspr. und Verwaltungspraxis, DStR 2004, 1897; Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, 2005; Fischer, Rückwirkende Rechtsprechungsänderung im Steuerrecht, DStR 2008, 697; Kanzler, Rechtsprechungskontinuität und -wandel, in FS Spindler, 2011, 265.
280
Die Rechtsanwendung in Steuersachen durch Verwaltungsbeamte und Angehörige steuerberatender Berufe pflegt sich an Verwaltungsvorschriften und an der höchstrichterlichen Rspr. besonders des BFH zu orientieren. Obwohl Verwaltungsvorschriften rechtlich nur an die Behörden gerichtet sind und Urteile Rechtskraft nur gegenüber den Prozessbeteiligten erlangen, bilden Verwaltungsvorschriften und Urteile faktisch doch eine Vertrauensbasis für die Stpfl. und ihre Berater. Diese pflegen sich an ihnen zu orientieren. Das gilt vor allem für BFH-Urteile. Erst aus den das Gesetz auslegenden Verwaltungsvorschriften und Urteilen ergibt sich die „Rechtslage“.
281
Die Bindung der Rspr. an das Gesetz hat grds. zur Folge, dass Gerichte nicht an vorangegangene Rspr. gebunden sind3. Sie haben vielmehr den Einzelfall nach ihrer besten Erkenntnis „richtig“ zu entscheiden. Diese Erkenntnis kann neu und abweichend von früherer Judikatur gewonnen werden. Gleichwohl ist im Schrifttum der Vertrauensschutz gegen rückwirkende, verschärfende Rspr. überzeugend begründet worden4. BFH BStBl. 2008, 405, erkennt einen Anspruch auf Vertrauensschutz an, wenn sich die Rspr. verschärft oder von einer allgemein geübten Verwaltungspraxis abweicht und der Stpfl. im Vertrauen auf die bisherige Rechtslage Dispositionen getroffen hat. Jedoch sei ein schützenswertes Vertrauen nur gegeben, wenn eine gesicherte Rechtsauffassung bestand und die Rechtslage nicht als zweifelhaft erschien. 1 BVerfGE 127, 61 (84). 2 Werth, DStZ 2010, 712 (717); Desens, StuW 2011, 113 (117, 126). 3 Vgl. BVerfGE 18, 224 (240 f.) (Verschärfung der BFH-Rspr. zur Pensionsrückstellung). Dazu A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, Habil., 2002, 531 ff.; Leisner-Egensperger, DStJG 27 (2004), 191 (196); Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 598 ff. 4 Insb. Rose, FS v. Wallis, 1985, 275; Rose, StbJb. 1987/88, 361 (369 ff.); Rose, FS Wöhe, 1989, 289; Felix, FS Tipke, 1995, 71; Rose, Stbg. 1999, 401; Tipke, StRO I2, 174 ff. Zum Meinungsstand im Schrifttum ausf. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 620 ff.; Spindler in Kube/Mellinghoff u.a., Leitgedanken des Rechts, Bd. II 2013, § 165 Rz. 21.
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Hey
Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung
Rz. 282
§3
Gegen die Gewährung von Vertrauensschutz gegenüber verschärfenden Rechtsprechungsänderungen wird die Gefahr der Erstarrung der Rspr. angeführt. Dem lässt sich begegnen, indem zwischen der richterlichen Entscheidung im Anlassfall und deren verwaltungsrechtlicher Umsetzung in Altfällen unterschieden wird1. Der Anlassfall muss richterrechtlich „richtig“ und ggf. abweichend von früherer Rspr. entschieden werden. Mit der „Ankündigung“, man werde in späteren Entscheidungen „richtig“ entscheiden, wird die Aufgabe des Richters verfehlt2. Die Verwaltung ist sodann aber gehalten, Altfälle weiterhin nach der bisherigen Rspr. zu bescheiden. Die Verwaltung ist zu einer entsprechenden Übergangsregelung verpflichtet3, die den Schutz auch über § 176 I AO hinaus auf Fälle erstreckt, in denen der Stpfl. noch keinen ihn schützenden Steuerbescheid erhalten hat. BFH GrS BStBl. 2008, 608, hat in Abkehr von der bisherigen Rspr. die Unvererblichkeit des nicht ausgenutzten Verlustabzugs entschieden (s. § 8 Rz. 63), dabei aber gleichzeitig den Vertrauensschutz respektiert: Die bisherige gegenteilige Rspr. sei weiterhin in allen bis zur Veröffentlichung des GrS-Beschlusses eingetretenen Erbfällen anzuwenden. Umsetzen kann diese Übergangsregelungen anregende Rspr. nur die Finanzverwaltung (vgl. BMF BStBl. 2008, 809). Einem derart gestuften Vorgehen ist gegenüber dem Festhalten an einer überholten Rechtsprechungspraxis unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität der Rspr4 der Vorzug zu geben. Dementsprechend dürfen Verwaltungsvorschriften grds. nicht rückwirkend erlassen werden5. Zwar sind auch Verwaltungsvorschriften dem Gesetz unterworfen. Ihr vertrauensschutzbildender Zweck ist jedoch nicht die Rechtsgewinnung im Einzelfall, sondern der gleichmäßige Gesetzesvollzug im Massenverfahren. Die Finanzverwaltung ist mit Rücksicht auf den Grundsatz „Keine Gleichheit im Unrecht“ verpflichtet, rechtswidrige Verwaltungsvorschriften durch rechtmäßige zu ersetzen. Jedoch verbietet der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz der Finanzverwaltung, den durch die Verwaltungsvorschrift geregelten Gesetzesvollzug für die Vergangenheit zu ändern. Vielmehr ist die Verwaltungspraxis pro futuro der „richtigen“ Gesetzesanwendung anzupassen. Das gilt besonders für die Anpassung von Verwaltungsvorschriften an eine verschärfende Rspr.
1 Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 639 ff. 2 Zur Problematik von Ankündigungsurteilen Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 641 ff.; Leisner-Egensperger, DStJG 27 (2004), 197 f. 3 Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 646 ff., sowie die Diskussionsbeiträge von Fischer, DStJG (2004), 216, u. J. Lang, DStJG (2004), 213. 4 Hierfür plädiert Leisner-Egensperger, DStJG 27 (2004), 191 (200 ff.). 5 Zum Verbot rückwirkend verschärfender Verwaltungsvorschriften Tipke, StRO I2, 169 ff., u. zur Übertragbarkeit der für Gesetzesänderungen entwickelten Grundsätze Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 680 ff. Vgl. auch Englisch/Plum, StuW 2004, 342 (363 ff.).
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§ 4 Europäisches Steuerrecht Deutschsprachige Literatur (Auswahl; bis 2009 s. auch 13. Aufl., S. 187; 16. Aufl., S. 37; 20. Aufl., S. 35): Lehner (Hrsg.), Steuerrecht im Europäischen Binnenmarkt – Einfluss des EG-Rechts auf die nationalen Steuerrechtsordnungen, DStJG 19 (1996); Lüdicke (Hrsg.), Deutsches Steuerrecht im europäischen Rahmen, 2004; Schäfer, Einwirkungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Steuerrecht durch Maßnahmen der Harmonisierung und die Rechtsprechung des EuGH, 2004; Birk, Das sog. „Europäische“ Steuerrecht, FR 2005, 121; Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 2005; Loewens, Der Einfluss des Europarechts auf das deutsche Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, 2007; Lüdicke (Hrsg.), Europarecht – Ende der nationalen Steuersouveränität?, 2006; Reich/König, Europäisches Steuerrecht unter besonderer Berücksichtigung der Abkommen mit der Schweiz, Zürich 2006; Loewens, Der Einfluss des Europarechts auf das deutsche Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, 2007; Sedemund, Europäisches Ertragsteuerrecht, 2008; Wernsmann, § 30 (Steuerrecht), in Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht2, 2010, 1653; M. Lang/Weinzierl (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht, FS Rödler, Wien 2010; Haase, Internationales u. Europäisches Steuerrecht3, 2011; Hecht, Einführung in das Europäische Steuerrecht, 2011; Jacobs/Endres/Spengel (Hrsg.), Internationale Unternehmensbesteuerung7, 2011, S. 95 ff. (Zweiter Teil); Rehm/Nagler, Europäisches Steuerrecht, 2012; Voß, Kapitel J: Steuerrecht, in Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 2011; Brandt (Hrsg.), Europäische Perspektiven im Steuerrecht, 2013; Kellersmann u.a., Europäische Unternehmensbesteuerung I und II2, 2013; Rehm/Nagler, Europäisches Steuerrecht, 2013; Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015. S. ferner allgemein zum Europarecht die Kommentierung von Callies/Ruffert, EUV/AEUV4, 2011; Streinz, EUV/AEUV2, 2012; Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblatt; Schwarze, EU-Kommentar3, 2012. Englischsprachige Literatur (Auswahl): Brokelind (Hrsg.), Towards a Homogeneous EC Direct Tax Law, Amsterdam 2007; M. Lang/Pistone/Schuch/Staringer/Storck (Hrsg.), Introduction to European Tax Law on Direct Taxation, Wien 2010; Helminen, EU Tax Law, Amsterdam 2011; Malherbe u.a., The impact of the rulings of the European Court of Justice in the area of direct taxation, 2011; Terra/ Wattel, European Tax Law6, Alphen aan den Rijn 2012; Panayi, European Union Corporate Tax Law, Cambridge 2013; Dourado (Hrsg.), Movement of Persons and Tax Mobility in the EU: Changing Winds, Amsterdam 2013; Richelle/Schön/Traversa (Hrsg.), Allocation Taxing Powers within the European Union, Berlin 2013; Weber (Hrsg.), EU Income Tax Law: Issues for the Years Ahead, Amsterdam 2013; Brokelind (Hrsg.), Principles of law: Function, Status and Impact in EU Tax Law, Amsterdam 2014; Sarmiento u.a. (Hrsg.), Litigating EU Tax Law in International, National and Non-EU National Courts, Amsterdam 2014. Rechtsvergleichend Mason, Common Markets, Common Tax Problems, StuW 2009, 197. Rechtstexte, Urteils- und Fallsammlungen: Haase/Hofacker, Klausurenkurs im Internationalen und Europäischen Steuerrecht, 2011; Bergmann/Ehrke-Rabel/Kofler, Materialien zum Europäischen Steuerrecht, 2011; Weber, European Direct Taxation3 (2 Bände), Alphen aan den Rijn 2011; van Raad, Materials on International & EU Tax Law 2013/2014, Bd. 2, Leiden 2013; IBFD, ECJ Direct Tax Compass 2014, Amsterdam 2014; M. Lang u.a. (Hrsg.), ECJ – Recent Developments in Direct Taxation, Wien (jährlich erscheinender Tagungsband mit Kommentierungen der beim EuGH anhängigen Verfahren zum direkten Steuerrecht); Fallsammlung der Kommission unter http://ec.europa.eu/taxa tion–customs/common/infringements/case–law/index–en.htm.; Dokumentensammlung von Kofler unter www.steuerrecht.jku.at/gwk.
Der Begriff des europäischen Steuerrechts bezeichnet diejenigen – überwiegend supranationalen – Vorgaben des Europarechts, die für die Ausgestaltung der nationalen Steuersysteme von Bedeutung sind. Dabei lassen sich im Wesentlichen zwei Arten der Einwirkung unterscheiden: Erstens wird das Steuerrecht der Mitgliedstaaten der EU zu einem nicht unerheblichen Teil durch Rechtsakte der Union harmonisiert. Diese europäische Steuergesetzgebung tritt teilweise – und namentlich im Zollrecht – an die Stelle nationaler Steuerrechtsnormen; überwiegend gibt sie in Gestalt von EU-Richtlinien die steuerpolitischen Grundwertungen und vielfach auch Einzelbestimmungen auf Teilgebieten des mitgliedstaatlich gesetzten Steuerrechts vor. Zweitens unterliegt der deutsche Gesetzgeber insb. auch in den noch nicht harmonisierten Bereichen des Steuerrechts quasi-verfassungsrechtlichen Schranken bei der Ausübung seiner Steuersouveränität, die vornehmlich im Primärrecht der europäischen Verträge wurzeln. Ganz überwiegend handelt es sich dabei um spezielle Diskriminierungsverbote: Es besteht ein grundsätzliches VerEnglisch
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1
§4
Rz. 2
Europäisches Steuerrecht
bot der steuerlichen Schlechterstellung grenzüberschreitender im Vergleich zu rein innerstaatlichen Sachverhalten (s. Rz. 83); verboten sind ferner Steuervergünstigungen, für die sich nur bestimmte Unternehmen qualifizieren (s. Rz. 117).
A. Rechtsnormen des Europäischen Steuerrechts 1. Primärrecht 2
Zentrale Grundlage des europäischen Steuerrechts sind der Vertrag über die Europäische Union (EUV) sowie der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Mit der Ratifikation des Vertrags von Lissabon v. 13.12.20071 ist die Europäische Union (EU) gem. Art. 1 EUV mit Wirkung vom 1.12.2009 an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft (EG) getreten, und der AEUV hat den früheren EG-Vertrag v. 25.3.1957 (EGV)2 abgelöst. Die Union als europäischer Staatenverbund stellt nach ihrem Selbstverständnis eine neue Stufe der Integration ihrer 28 Mitgliedstaaten dar. Zu ihren bedeutsamsten Zielen zählt gem. Art. 3 Abs. 3 EUV unter anderem und insoweit unverändert die Errichtung eines Binnenmarktes. Sowohl die Kompetenz zur Harmonisierung des Steuerrechts auf der Grundlage des AEUV (insb. Art. 113, 115 f. AEUV) als auch die Beschränkung nationaler Steuersouveränität durch Grundfreiheiten (Art. 26 II AEUV) und Beihilfeverbot (Art. 107 f. AEUV) dienen der Verwirklichung dieses Binnenmarktes und sind daher binnenmarktfinal zu interpretieren. Die EU verleiht den Staatsangehörigen ihrer Mitgliedstaaten darüber hinaus eine Unionsbürgerschaft (Art. 9 EUV und Art. 20 AEUV); das daran geknüpfte Freizügigkeitsrecht des Art. 21 AEUV darf grds. keinen steuerlichen Beschränkungen unterliegen.
3
Ferner müssen die Unionsorgane bei der sekundärrechtlichen Angleichung und Koordinierung der mitgliedstaatlichen Steuersysteme die Grundrechte der EU-Grundrechtecharta (GrRCharta)3 sowie die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts4 – insb. die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit5 und der Rechtssicherheit sowie des Vertrauensschutzes6 – beachten. Dasselbe gilt für die Mitgliedstaaten bei der Rechtssetzung und Rechtsanwendung im Anwendungsbereich des Unionsrechts, also insb. auch bei der Implementierung von harmonisiertem Steuerrecht (s. auch Art. 51, 52 GrR-Charta)7. Der neben dem EUV fortbestehende Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft v. 25.3.1957 hingegen enthält nur ganz vereinzelt besteuerungsrelevante Vorgaben, die lediglich für nukleare Brennstoffe und die damit befassten Unternehmen von Bedeutung sind.
4
Über die Kompetenztitel und Vorgaben des Unionsrechts hinaus existiert eine Reihe weiterer europäischer Verträge mit besteuerungsrelevanten Vorschriften. Das Abkommen über den 1 Gesetz zum Vertrag von Lissabon v. 13.12.2007, BGBl. II 2008, 1038. 2 Gesetz zu den Verträgen vom 25.3.1957 zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft, BGBl. II 1957, 753. 3 Die GrR-Charta wurde ursprünglich am 7.12.2000 vom Europäischen Rat ohne Rechtsverbindlichkeit proklamiert (ABl. C 364 v. 18.12.2000, 1); seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon hat sie gem. Art. 6 I EUV den Rang von EU-Primärrecht. Eingehend zur GrR-Charta Jarass, GrCH2, 2013. 4 S. Schilling, EuGRZ 2000, 3 (17 ff.); Tridimas, The General Principles of EU Law2, Oxford 2007; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Mayer, Rz. 388 ff.; Streinz, Europarecht9, Rz. 778 ff. m.w.N.; Englisch in Weber (Hrsg.), Traditional and Alternative Routes to European Tax Integration, 2010, 231 ff. 5 EuGH C-41/79 u.a., Testa u.a., Rz. 21; C-265/87, Schräder HS Kraftfutter, Rz. 21. 6 S. bspw. EuGH C-1/73, Westzucker, Rz. 5; C-201/08, Plantanol, Rz. 28 f.; Raitio, The Principle of Legal Certainty in EC Law, Dordrecht 2003; s. auch Pauwels, EC Tax Review 2013, 268 (EMRKGrundsätze). 7 S. EuGH C-260/89, ERT, Rz. 42; C-354/04, Gestoras pro amnistiá u.a./Rat, Rz. 51; C-201/10 u.a., ZeFu Fleischhandel, Rz. 36 ff.; Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 17 ff.; Englisch in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, 39 (43 ff.); Dobratz, UR 2014, 425. S. aber auch EuGH C-417/10, 3 M Italia, Rz. 25 ff.: keine Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze (oder EU-Grundrechte) bei Steuergesetzgebung ohne Bezug zum Unionsrecht.
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Rechtsnormen des Europäischen Steuerrechts
Rz. 6
§4
Europäischen Wirtschaftsraum v. 2.5.1992 (EWR) dehnt den europäischen Binnenmarkt auf die EFTA-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen aus. Insb. gelten also auch für grenzüberschreitende Sachverhalte mit Bezug zu diesen Staaten die binnenmarktfinalen Grundfreiheiten. In eingeschränktem Maße gilt dies ferner im Verhältnis zu denjenigen Drittstaaten, mit denen die EU ein Assoziierungsabkommen abgeschlossen hat1. Ferner besteht zwischen der EU und der Schweiz (noch) ein Freizügigkeitsabkommen, das am 1.6.2002 in Kraft getreten ist und ebenfalls einige steuerrechtlich bedeutsame Vorgaben enthält2. Schließlich müssen Steuergesetze und Maßnahmen des Steuervollzugs auch den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)3 genügen; besonders relevant ist dies auf dem Gebiet des Steuerverfahrens und des Steuerstrafrechts4.
2. Sekundär- und Tertiärrecht Das primäre Unionsrecht der Gründungsverträge verleiht der EU nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 4 I; 5 I EUV) Kompetenzen zur Vereinheitlichung, Angleichung und Koordination des in ihren Mitgliedstaaten geltenden Rechts durch Akte sekundären Unionsrechts. Je nach dem einschlägigen Kompetenztitel stehen hierfür die Instrumente der Verordnung oder der Richtlinie zur Verfügung. Während die Verordnung in jedem Mitgliedstaat unmittelbar geltendes Recht ist, bedarf die Richtlinie der Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber (Art. 288 II, III AEUV). Die Rechtsakte der Steuerharmonisierung erlässt der Rat regelmäßig einstimmig auf Vorschlag der Kommission; das Europäische Parlament sowie der Wirtschafts- und Sozialausschuss werden angehört5. Von der Ermächtigung zur Rechtsangleichung aufgrund qualifizierter Mehrheit nach Art. 116 II AEUV wurde bislang im Steuerrecht ebenso wenig Gebrauch gemacht wie von der Möglichkeit verstärkter Zusammenarbeit einer Kerngruppe integrationswilliger Mitgliedstaaten (Art. 20 EUV; „Europa der zwei Geschwindigkeiten“). Letzteres wird sich nach dem Willen von elf Mitgliedstaaten einschließlich Deutschlands allerdings bald ändern; ihnen wurde vom Rat die Einführung einer Finanztransaktionsteuer im Wege verstärkter Zusammenarbeit genehmigt6 (s. auch Rz. 66). Soll mit Wirkung gegenüber einem Mitgliedstaat ein Rechtsakt mit hoher Regelungsdichte erlassen werden, der anders als die Richtlinie nicht nur hinsichtlich seines Zieles verbindlich wird, ist der Beschluss i.S.d. Art. 288 IV AEUV die adäquate Handlungsform7.
5
Durch Verordnungen des Rates wurde die Europäische Zollunion (Art. 28 ff. AEUV) verwirklicht. I.Ü. wird die Aufgabe, die nationalen Steuerrechtsordnungen anzugleichen, im Wesentlichen durch Richtlinien vollzogen. Durch Beschlüsse werden auf dem Gebiet des Steuerrechts vor allem beihilferechtliche Entscheidungen der Kommission getroffen (s. Art. 108 II AEUV). Kein sekundäres Unionsrecht, sondern ein zwischen den Mitgliedstaaten geschlossener multilateraler
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1 Überblick bei Callies/Ruffert/Schmalenbach4, Art. 217 AEUV; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Vöneky/ Beylage-Haarmann, Art. 217 AEUV. 2 Abkommen der EG und der Mitgliedstaaten mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft v. 21.6.1999, ABl. L 114 v. 30.4.2002, BGBl. II 2001, 810; die Schweiz bemüht sich derzeit um eine Neuverhandlung S. zum Abkommen Kessler/Eicker/Obser, IStR 2005, 658; Reich/König, Europäisches Steuerrecht, Zürich 2006; Weigell, IStR 2006, 190 (Niederlassungsfreiheit); EuGH v. 28.2.2013 – C-425/11, Ettwein, EU:C:2013:121 (zu § 1a EStG); BFH v. 9.5.2012 – X R 3/11, IStR 2012, 508. 3 Überblick zur EMRK bei Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht6, § 17 Rz. 13 ff. 4 S. dazu Maisto in Kofler u.a. (Hrsg.), Human Rights and Taxation in Europe and the World, 2011, 373; sowie ET Sonderheft 12/2001; und die Aufsatzserie von Baker in der European Taxation (zuletzt ET 2011, 253). 5 Rechtsgrundlagen sind insb. Art. 113 AEUV (indirekte Steuern) und Art. 115 AEUV (direkte Steuern); s. auch Art. 192 II [1] Buchst. a AEUV und Art. 194 III AEUV (ökologisch bzw. energiepolitisch motivierte Steuerharmonisierung). Zur institutionellen Struktur der EU s. Streinz, Europarecht9, Rz. 262 ff. 6 S. Beschluss des Rates v. 22.1.2013 über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer; sowie den darauf fußenden Kommissionsvorschlag KOM(2013) 71 endg. 7 S. dazu Calliess/Ruffert4, Art. 288 AEUV Rz. 92.
Englisch
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§4
Rz. 7
Europäisches Steuerrecht
völkerrechtlicher Vertrag i.S.d. früheren Art. 293 EGV ist die auf dem Gebiet der steuerlichen Korrektur von Konzernverrechnungspreisen bedeutsame Schiedsverfahrenskonvention1. 7
Von zunehmender Bedeutung ist auf den Gebieten des umfassend harmonisierten Steuerrechts (s. Rz. 66 ff.) die Rechtssetzung aufgrund sekundärrechtlicher Übertragung von materiellen Gesetzgebungsbefugnissen auf Kommission und Rat. Der Vertrag von Lissabon (s. Rz. 2) hat die Möglichkeiten zum Erlass solchen Tertiärrechts nochmals deutlich ausgeweitet: Nach Art. 290 AEUV kann der Kommission die Befugnis eingeräumt werden, „nicht wesentliche“ Vorschriften eines Sekundärrechtsaktes im Wege delegierter Rechtsakte zu ergänzen oder zu ändern2. Außerdem können die Kommission oder – ausnahmsweise – der Rat auf der Grundlage des Art. 291 II AEUV ermächtigt werden, Durchführungsbestimmungen zu Sekundärrechtsakten zu erlassen3. Zur letztgenannten Kategorie gehört insb. die auf der Grundlage des Art. 397 MwSt-Systemrichtlinie 2006/112/EG vom Rat erlassene MwSt-Durchführungsverordnung 282/2011. Seit jeher sind außerdem im Zollrecht Durchführungsverordnungen der Kommission von großer praktischer Relevanz4. Demgegenüber finden delegierte Rechtsakte i.S.d. Art. 290 AEUV auf dem Gebiet des Steuerrechts bislang noch keine Anwendung.
3. Verhältnis von Primär- und Sekundärrecht 8
Nach der Konzeption der Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften unterlagen die Organe der Gemeinschaft bei der Ausübung ihrer Kompetenzen keinen materiell-rechtlichen Bindungen an rechtsstaatliche Grundsätze. Insb. enthielt das Primärrecht keine Grundrechtsgarantien. Nachdem mitgliedstaatliche und namentlich deutsche Gerichte in Vorlageverfahren dem EuGH die Grundrechtsrelevanz gemeinschaftsrechtlicher Harmonisierung verdeutlicht hatten, hat der EuGH im Wege der Rechtsfortbildung einen Katalog von Grundrechten und weitere allgemeine Rechtsgrundsätze rechtsstaatlichen Gehalts entwickelt5. Dabei orientierte sich der EuGH vornehmlich an den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sowie an den Grundrechtsgarantien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)6. Der primärrechtliche Rang speziell des Grundrechtskatalogs wurde nachfolgend durch den Vertrag von Maastricht7 bekräftigt (vgl. Art. 6 II EUV a.F.) und ergibt sich heute aus Art. 6 III EUV, ergänzt um die Inbezugnahme der EU-GrR-Charta (s. Rz. 3) in Art. 6 I EUV. Können Verstöße gegen Grundrechte oder sonstige allgemeine Rechtsgrundsätze nicht gerechtfertigt werden, ist die entsprechende Sekundärrechtsbestimmung nichtig8. Vorrangig ist jedoch eine primärrechtskonforme Auslegung des Sekundärrechts in Betracht zu ziehen9. 1 Übereinkommen über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen, ABl. L 225 v. 20.8.1990, 10. S. dazu von der Groeben/Schwarze/Eilers/Sedlaczek6, Vorbem. Art. 90–93 EGV Rz. 106 ff. 2 Zu Recht krit. Lecheler, DVBl. 2008, 873 (877); zur bisherigen Wesentlichkeits-Rspr. des EuGH s. Härtel, Hdb. Europäische Rechtsetzung, 2006, § 11 Rz. 9 ff. 3 S. zur Abgrenzung zwischen delegierten Rechtsakten und Durchführungsbestimmungen EuGH v. 18.3.2014 – C-427/12, Kommission/Parlament u. Rat, EU:C:2014:170. 4 Vgl. insb. Art. 9 der VO (EWG) Nr. 2658/87 v. 23.7.1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif. 5 Grundl. EuGH C-29/69, Stauder, Rz. 7; C-11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Rz. 4. S. dazu eingehend Lenaerts/Van Nuffel, European Union Law3, Rz. 22-016 ff.; Ludwig, EuR 2011, 715. 6 Grundl. EuGH C-11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Rz. 4 (gemeinsame Verfassungsüberlieferungen); C-4/73, Nold, Rz. 12 f.; C-44/79, Hauer, Rz. 15 (EMRK). S. Bergmann, VBlBW 2011, 169; F. Kirchhof, NJW 2011, 3681. 7 ABl. C 191 v. 29.7.1992, 1 = BGBl. II 1992, 1251. 8 S. EuGH C-92/09 u.a., Schecke, Rz. 45 f. i.V.m. Rz. 89 u. 91 (zu Garantien der GrR-Charta); C-188/10 u.a., Melki u.a., Rz. 55. 9 S. EuGH 218/82, Kommission/Rat, Rz. 15; C-135/93, Spanien/Kommission, Rz. 37; v. 19.12.2012 – C-549/11, Orfey Balgaria, EU:C:2012:832, Rz. 32. Eingehend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, 220 ff.
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Rz. 11
§4
Dementsprechend haben Kommission und Rat bei der Harmonisierung des mitgliedstaatlichen Steuerrechts den unionsrechtlichen Gleichheitssatz und die Freiheitsrechte der jeweils Betroffenen zu achten. Der EuGH ist insoweit gefordert, bereichsspezifische Maßstäbe grundrechtlicher Anforderungen an unionsrechtliche Steuergesetze zu entwickeln, so wie dies auch das BVerfG im nationalen Kontext getan hat (s. § 3 Rz. 90 ff.). Derzeit besteht ein gravierendes Kontrolldefizit; der EuGH nimmt selbst evident gleichheitswidrige Regelungen mit nicht tragfähigen Begründungen hin. Hauptverantwortlich hierfür ist eine einseitige integrationspolitische Färbung seines Prüfungsansatzes und wohl auch seiner Prüfungsbereitschaft, die sich auch auf die Kontrolldichte (vielfach eine bloße Willkürprüfung) auswirkt und selbst vor einer Deformierung der Grundrechtsdogmatik und einer faktischen Suspendierung von grundrechtlichen Bindungen nicht halt macht1. Stringenter handhabt der EuGH hingegen die Einforderung sonstiger rechtsstaatlicher Standards im Rahmen der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts und namentlich die Prüfung des Rückwirkungsverbots2.
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In der Rspr. des EuGH ist inzwischen anerkannt, dass der Unionsgesetzgeber auch auf die Wahrung der binnenmarktfinalen Grundfreiheiten des Art. 26 II AEUV verpflichtet ist3. Das betrifft grds. sämtliche sekundärrechtlichen Vorgaben zur Besteuerung grenzüberschreitender Vorgänge, einschließlich verzichtbarer Richtlinienbestimmungen sowie sekundärrechtlicher Ermächtigungen zur Implementierung optionaler Besteuerungsregime4. Auch insoweit pflegt der EuGH allerdings eine im Vergleich zur Kontrolle mitgliedstaatlicher Maßnahmen (s. dazu Rz. 24 ff.) eher großzügige Herangehensweise5. I.Ü. ist diesbezüglich ebenfalls der erwähnte Vorrang primärrechtskonformer Auslegung (Rz. 8) zu beachten. Das Beihilfeverbot des Art. 107 I AEUV wiederum gilt nur für staatliche Beihilfen; Unionsbeihilfen müssen sich nur an den Grundrechten messen lassen6.
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4. Keine Rechtsnormen 4.1 Rechtlich unverbindliche Erklärungen von EU-Organen Die Institutionen der EU, insb. die Kommission sowie die im Rat verbundenen Mitgliedstaaten äußern sich vielfach außerhalb von EU-Gesetzgebungsverfahren in amtlichen Erklärungen, die zwar auf bestimmte steuerrechtliche Standards hinwirken sollen, aber für sich genommen weder gegenüber Unionsbürgern bzw. sonstigen Privatrechtssubjekten noch gegenüber den Mitgliedstaaten Rechtsverbindlichkeit entfalten (sog. „soft law“)7. Die europäischen Verträge sehen dafür die Instrumente der Empfehlung und der Stellungnahme vor (Art. 288 V AEUV). Informell haben sich aber eine Reihe weiterer Handlungsformen herausgebildet, wie etwa Reso-
1 Exemplarisch ist die Entscheidung EuGH C-269/00, Seeling, Rz. 53 f. Ausf. Kritik bei Englisch in Weber (Hrsg.), Traditional and Alternative Routes to European Tax Integration, 2010, 231 (243 ff.). Krit. auch Dobratz, UR 2014, 425. S. nunmehr aber – implizit für eine extensivere Grundrechtsprüfung plädierend – GA Kokott, Schlussanträge v. 4.9.2014 – C-144/13 u.a., VDP Dental Laboratory u.a., EU:C:2014:2163, Rz. 84 f. 2 S. bspw. EuGH C-17/01, Sudholz; C-376/02, Stichting „Goed Wonen“. 3 S. die umfassenden Nachweise bei Zazoff, Der Unionsgesetzgeber als Adressat der Grundfreiheiten, 2011, 70 ff.; s. ferner auch speziell im Steuerrecht EuGH C-97/09, Schmelz. 4 Im Falle optionaler Besteuerungsregime sind etwaige Grundrechtsverstöße durch die nationalen Umsetzungsnormen dem Unionsgesetzgeber und nicht dem nationalen Gesetzgeber zuzurechnen, soweit schon die Ermächtigung inhärent grundfreiheitswidrig ist, s. EuGH C-97/09, Schmelz, Rz. 33. 5 S. EuGH C-97/09, Schmelz, Rz. 71. 6 S. dazu EuG T-351/02, Deutsche Bahn, Rz. 102; EuGH C-460/07, Puffer, Rz. 70; Englisch, EuR 2009, 488 (491). Zur Abgrenzung von Unionsbeihilfen und staatlichen Beihilfen s. EuGH C-460/07, Puffer, Rz. 67-71; EuG T-351/02, Deutsche Bahn, Rz. 100; EuG T-50/06 u.a., Kommission/Irland u.a., Rz. 73; s. aber auch die Rechtsmittelentscheidung des EuGH C-272/12 P, Rz. 37 ff. S. ferner die kritische Würdigung der Rspr. bei Englisch, EC Tax Review 2013, 9. 7 S. dazu ausführlich Hinnekens, EC Tax Review 2014, 247 und 313.
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lution, Verhaltenskodex und Protokollerklärung (Mitgliedstaaten bzw. Rat) oder Mitteilungen1, Erläuterungen und Hinweise (Kommission)2. 12
Nach ihrer Funktion lassen sich die betreffenden Maßnahmen im Wesentlichen wie folgt klassifizieren: Sowohl die Kommission als auch der Rat bzw. Vertreter der mitgliedstaatlichen Finanzverwaltung legen in rechtlich unverbindlichen Dokumenten ihr Verständnis von bestimmten Vorschriften des Primär- oder Sekundärrechts dar (norminterpretierende Akte). Exemplarisch sind die auf dem Gebiet des Zollwesens ausgearbeiteten Erläuterungen zum Harmonisierten System bzw. zur Kombinierten Nomenklatur3 und der Leitfaden zum Mehrwertsteuerregime für elektronische u.ä. Dienstleistungen4. Daneben veröffentlicht die Kommission gelegentlich Kriterien, von denen sie sich bei der Ausübung eines ihr kraft primär- oder sekundärrechtlicher Bestimmungen übertragenen Ermessens auf steuerrechtlich bedeutsamen Tätigkeitsfeldern leiten lässt (Ermessensleitlinien). Besonders praxisrelevant sind insoweit die Mitteilungen zur Vereinbarkeit von steuerlichen Beihilfen mit dem Binnenmarkt (Art. 107 III AEUV; s. Rz. 123). Erwähnenswert sind ferner politische Absichtserklärungen der Mitgliedstaaten, die auf „peer pressure“ statt rechtlichen Zwang zur Beseitigung steuerrechtlicher Hemmnisse bei der Verwirklichung eines freien und unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt setzen. Als sehr wirkungsvoll hat sich bspw. der vom Rat beschlossene Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung5 zwecks Beseitigung von als „schädlich“ angesehenem Steuerwettbewerb erwiesen. Schließlich bemüht sich die Kommission in Mitteilungen und Empfehlungen um eine Koordination der nationalen Steuerpolitiken der Mitgliedstaaten6, wenn eine rechtsverbindliche Harmonisierung über Richtlinien politisch (noch) nicht durchsetzbar ist.
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Norminterpretierende Akte der Unionsorgane können unbeschadet ihres Mangels an rechtlicher Verbindlichkeit im Zusammenspiel mit den ausgelegten Rechtsnormen des Unionsrechts mittelbare Rechtswirkungen erzeugen. Sie werden vom EuGH zur Auslegung von Vorschriften des Sekundärrechts herangezogen, wenn sie wie bspw. Protokollerklärungen den historischen Willen des Unionsgesetzgebers erhellen7 oder wenn sie wegen der Einbindung eines für die Auslegung erforderlichen besonderen Sachverstandes eine gewisse Vermutung der Richtigkeit für sich haben. So sollen etwa nach st. Rspr. die Erläuterungen auf dem Gebiet des Zollwesens „erheblich zur Auslegung der einzelnen Tarifpositionen beitragen“8. Außerdem sind nach der Grimaldi-Doktrin des EuGH die nationalen Gerichte dazu angehalten, Empfehlungen i.S.d. Art. 288 V AEUV bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen9. Da die Abgabe von Empfehlungen durch Kommission und Rat an keine besonderen Voraussetzungen geknüpft ist (s. Art. 292 AEUV), muss dies konsequenterweise auch für in anderer Form ergehende amtliche norminterpretierende Äußerungen dieser Unionsorgane gelten. Daraus folgt für Finanzgerichte bei Abweichungen vom Rechtsstandpunkt eines Unionsorgans nicht nur eine Begründungslast10, 1 S. Adam, Die Mitteilungen der Kommission, 1999. 2 Ausf. und m.w.N. Senden, Soft Law in European Community Law, Oxford 2004, 123 ff.; Peters, FS Bieber, 2007, 405 ff. S. auch Vega García, El soft law en la fiscalidad internacional, Diss. Barcelona 2014. 3 Dazu näher Witte/Wolffgang, Lehrbuch des Europäischen Zollrechts6, 351 ff. 4 Einsehbar unter http://ec.europa.eu/taxation_customs/resources/documents/taxation/vat/how_vat_ works/telecom/explanatory_notes_2015_de.pdf. 5 KOM(1997) 495, ABl. C 210 v. 6.7.1998, 227 = BR-Drucks. 814/97; s. dazu Monti, EC Tax Review 1998, 2; Saß, FR 1999, 77; Parly, ET 2000, 406. 6 S. bspw. Empfehlung der Kommission v. 6.12.2012 für Maßnahmen, durch die Drittländer zur Anwendung von Mindeststandards für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich veranlasst werden sollen, C(2012) 8805 final; v. 6.12.2012 betreffend aggressive Steuerplanung, C(2012) 8806 final. 7 So bspw. EuGH C-368/96, Generics u.a., Rz. 25 ff. 8 EuGH C-405/97, Mövenpick Deutschland, Rz. 18; C-396/02, DFDS, Rz. 28. 9 EuGH C-322/88, Grimaldi, Rz. 18; bestätigt z.B. durch EuGH C-188/91, Deutsche Shell, Rz. 18; C-207/01, Altair Chimica, Rz. 41; C-317/08 u.a., Alassini u.a., Rz. 40. S. dazu krit. Härtel, Hdb. Europäische Rechtsetzung, 2006, § 12 Rz. 11 ff. m.w.N. 10 Sarmiento in Weber (Hrsg.), Traditional and Alternative Routes to European Tax Integration, 2010, 53, 59 u. 64.
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sondern im Fall einer letztinstanzlichen Entscheidung auch eine Vorlagepflicht wegen objektiv zweifelhafter Rechtslage (Art. 267 III AEUV, s. § 22 Rz. 303 ff.). Zudem kommen norminterpretierende Akte oder sonstige Verlautbarungen als Grundlage für Vertrauensschutz bei der Rechtsanwendung durch Unionsorgane und nationale Stellen in Betracht. Dies gilt sowohl für Privatrechtssubjekte (z.B. betr. die Einschätzung, dass eine Steuervergünstigung keine Beihilfe i.S.d. Art. 107 I AEUV darstellt1) als auch richtigerweise im Verhältnis zu Mitgliedstaaten, insb. wenn die Begrenzung der Rückwirkung von Urteilen des EuGH (s. Rz. 44) in Rede steht. So darf ein Mitgliedstaat grds. darauf vertrauen, dass die von der Kommission vorgenommene Einstufung eines Steuerregimes als grundfreiheitskompatibel im Einklang mit der Rechtslage steht2. Zudem können Verwaltungsvorschriften (Mitteilungen, Leitlinien, usw.) der EU-Kommission, die eine Orientierungsfunktion auch gegenüber Privatrechtssubjekten entfalten sollen, nur unter gebührender Berücksichtigung schutzwürdigen Vertrauens geändert werden3.
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Ermessensleitlinien der Kommission, bspw. zur Akzeptanz steuerlicher Beihilfen als binnenmarktkompatibel, führen im Rahmen des jeweiligen Ermessensspielraums4 außerdem zu einer gleichheitsrechtlich beachtlichen Selbstbindung5. Gemeinsame politische Absichtserklärungen oder Wertungen der Mitgliedstaaten schließlich können dazu führen, dass sie damit unvereinbare Standpunkte nach Treu und Glauben nicht länger als Rechtfertigungsgrund für Grundfreiheits- oder Grundrechtsverstöße (s. Rz. 93) anführen können.
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4.2 Entscheidungen der europäischen Gerichte Die Gerichte der EU6 – missverständlich unter dem Oberbegriff „Gerichtshof der Europäischen Union“ zusammengefasst – sichern die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Unionsverträge (Art. 19 I EUV). Sie entscheiden abschließend über die Auslegung von besteuerungsrelevanten Bestimmungen des Primär- und Sekundärrechts, und ihnen kommt ein Verwerfungsmonopol für primärrechtswidrige Unionsrechtsakte zu7. Im Bereich des Steuerrechts ist überwiegend der Gerichtshof i.S.d. Art. 251 AEUV (der „EuGH“) zuständig, namentlich für Vorlageverfahren nationaler Gerichte betr. die Auslegung und Gültigkeit von Unionsrecht gem. Art. 267 AEUV und für Vertragsverletzungsverfahren der Kommission nach Art. 258 AEUV. Das Gericht i.S.d. Art. 254 AEUV („EuG“, vormals „Gericht erster Instanz“) kann nach Art. 263 AEUV gegen Entscheidungen der Kommission, insb. über steuerliche Beihilfen sowie in Zollsachen, angerufen werden. Eine Fachgerichtsbarkeit (s. Art. 257 AEUV) für Steuersachen ist bislang nicht eingerichtet worden. Die Auslegung und Anwendung des EWR-Abkommens ist zudem auch Gegenstand der Rspr. des EFTA-Gerichtshofs8. 1 EuGH C-519/07, Kommission/Koninklijke Friesland; hierzu Anm. Englisch, European State Aid Law Quarterly 2010, 397. 2 Zur Relevanz einer solchen Annahme s. EuGH 43/75, Defrenne, Rz. 71/73; 24/86, Blaizot, Rz. 32; s. aber auch EuGH C-39/10, Kommission/Estland, Rz. 60 ff. 3 S. EuGH v. 28.6.2005, C-189/02 P u.a., Dansk Rørindustri u.a., Rz. 209 ff. 4 Auch unionsrechtlich keine Gleichbehandlung im Unrecht, s. EuGH C-259/10, The Rank Group, Rz. 59 ff., m.w.N.; Tridimas, The General Principles of EU Law2, 77. Zu Recht krit. im Kontext des grundgesetzlichen Gleichheitssatzes Kirchhof, HdBStR V2, § 125 Rz. 62 ff. 5 S. EuGH C-397/03 P, ADM, Rz. 91, 93; C-106/09 P, Kommission/Gibraltar, Rz. 128; Härtel, Hdb. Europäische Rechtsetzung, 2006, § 13 Rz. 32 m.w.N. 6 S. dazu Barents, Common Market Law Review 2010, 709. Zu empfehlen sind die elektronischen Entscheidungssammlungen EuRLex (http://eur-lex.europa.eu/) und Curia (http://curia.europa.eu/). 7 Dazu grundl. EuGH C-314/85, Foto-Frost, Rz. 15 ff.; C-344/04, IATA und ELFAA, Rz. 27; C-119/05, Lucchini, Rz. 53; C-188/10, Melki, Rz. 54; s. ferner Calliess/Ruffert/Wegener4, Art. 267 AEUV Rz. 2, 12. 8 S. dazu die Online-Datenbank: http://www.eftacourt.int/index.php/cases. S. zur grds. parallelen Auslegung von im Wesentlichen identischen bzw. wortlautgleichen Vorschriften in AEUV und EWR-Vertrag EuGH C-471/04, Keller Holding, Rz. 48 m.w.N.; EFTA Gerichtshof E-2/06, Norwegian Waterfalls, Rz. 59.
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Der EuGH ist in Steuersachen grds. nicht mit der Entscheidung von Einzelfällen befasst, sondern regelmäßig mit der Interpretation und Rechtsfortbildung primär- und sekundärrechtlicher Vorgaben des Unionsrechts. Das gilt auch für Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV1 sowie in seiner Rolle als Revisionsgericht bei erstinstanzlichen Entscheidungen des EuG gem. Art. 256 I 2 AEUV. Der Gerichtshof bedient sich dabei des traditionallen Methodenkanons (s. § 5 Rz. 55 ff.), wobei jedoch die genetische Auslegung nur eine untergeordnete Rolle spielt und zudem Besonderheiten des Unionsrechts Rechnung getragen wird (insb. der Authenzität sämtlicher amtlicher Sprachfassungen2 sowie der Notwendigkeit unionsweit einheitlicher und damit idR. unionsrechtsautonomer Begriffsfindung)3. Obschon der EuGHnach Stellung und Selbstverständnis nicht rechtsschöpferisch, sondern rechtserkennend tätig wird4, kommt seinen Entscheidungen grundsätzliche Bedeutung und eine entsprechende Breitenwirkung zu. Sie weisen insb. auch über die mitgliedstaatliche Steuerrechtsordnung hinaus, die den Rahmen für ein Vorlageverfahren bzw. den Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens bildete. Gesetzgeber, Finanzgerichte und Finanzverwaltung sind daher nach Art. 4 (3) 2 EUV gehalten, nationale Steuerrechtsnormen im Lichte dieser Entscheidungen auszulegen bzw. auf ihre etwaige Unvereinbarkeit mit Unionsrecht hin zu beurteilen und ggf. Abhilfe zu schaffen5. Zumindest eine offenkundige Verkennung oder Missachtung einschlägiger Rechtsprechungsgrundsätze löst potenziell Staatshaftungsansprüche aus6.
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Kritisch anzumerken ist, dass die Entscheidungen des EuGH und ihre Begründung der herausgehobenen Rolle des Gerichtshofs für Rechtsvereinheitlichung und Rechtssicherheit in der EU häufig nicht gerecht werden. Die Urteile sind nicht nur meist knapp gehalten, was teilweise noch durch das Studium der meist ausführlicheren vorbereitenden Schlussanträge des Generalanwalts kompensiert werden kann. Sie sind vielfach auch vage oder sogar inkonsistent begründet7, zeichnen sich oft durch einen Mangel an rechtsmethodischer und rechtsdogmatischer Reflektion aus, und die Schlussfolgerungen sind mitunter nicht zu Ende gedacht oder klammern wesentliche Aspekte aus. Wenngleich derlei Rechtsprechungsdefizite gelegentlich auch bei nationalen obersten Gerichten zu beobachten sind, treten sie beim EuGH doch gehäuft auf.
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Einstweilen frei.
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B. Einwirkung des Europarechts auf nationale Steuerrechtsnormen 1. Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten 24
Nach gefestigter und allgemein anerkannter Rspr. des EuGH sind die Grundfreiheiten des AEUV und des EWR in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht, das zudem Anwendungsvorrang vor jeglicher Art nationaler Rechtsnormen beansprucht8. Der Anwendungsvor1 St. Rspr.; s. bspw. EuGH 6/64, Costa/ENEL, EuGHE 1964, 1251 (1268); C-224/01, Köbler, Rz. 60. 2 Exemplarisch EuGH v. 26.9.2013 – C-189/11, Kommission/Spanien, EU:C:2013:587, Rz. 47 ff. 3 Eingehend Lasok/Millett, Juicial Control in the EU, 2004, 375 ff.; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht6, § 9 Rz. 165 ff.; Riesenhuber in ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre3, 2015, § 10 Rz. 4 ff.; Kofler, ISR 2014, 126. 4 S. EuGH C-292/92, Hünermund u.a., Rz. 8; C-24/86, Blaizot u.a., Rz. 27; C-209/03, Bidar, Rz. 66; C-61/79, Denkavit Italiana, Rz. 16 ff.; s. auch BFH v. 23.2.2010 – VII R 8/08, BFH/NV 2010, 1381 (1386 f.). 5 S. BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07, BAGE 130, 119; Schlücke, Die Umsetzung von EuGH-Entscheidungen in das deutsche Steuerrecht, 2014, S. 77 f. 6 S. EuGH C-446/04, FII Group Litigation, Rz. 214 (gesetzgeberisches Fehlverhalten); C-224/01, Köbler, Rz. 56 und 121 f.; C-173/03, Traghetti del Mediterraneo, Rz. 42 f. (richterliche Fehlentscheidung). 7 Erklärungsansätze bei J. Kokott/C. Sobotta, EuGRZ 2013, 465 (472). 8 S. grundl. zur unmittelbaren Geltung und zum Anwendungsvorrang EuGH 26/62, van Gend & Loos, EuGHE 1962, 7 (27); 6/64, Costa/ENEL, EuGHE 1964, 1251 (1269 f.); speziell zu den einzelnen Grundfreiheiten s. die Nachweise bei Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, 213 f. Eingehend zum Anwendungsvorrang Schlücke, Die Umsetzung von EuGH-Entscheidungen in das deutsche Steuerrecht, 2014, S. 51 ff. und 119 ff.
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rang gilt dabei grds. auch im Verhältnis zu völkerrechtlichen Verträgen und namentlich Doppelbesteuerungsabkommen, die innerstaatlich (in Deutschland regelmäßig kraft Zustimmungsgesetzes i.S.d. Art. 59 II 1 GG) geltendes Recht sind1. Auch soweit die Ausgestaltung des Steuersystems und die internationale Koordination von Besteuerungsansprüchen jenseits harmonisierter Teilbereiche noch in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, müssen diese ihre Steuersouveränität somit unter Wahrung grundfreiheitlicher Vorgaben ausüben2. Ferner dürfen auch Verwaltungspraxis3 und höchstrichterliche Rspr.4 nicht im Widerspruch zu grundfreiheitlichen Vorgaben stehen. Für indirekte Steuern auf Waren gilt insoweit ein spezielles Verbot diskriminierender oder protektionistischer Besteuerung zulasten grenzüberschreitend gehandelter Güter (Art. 110 AEUV)5. I.Ü. und speziell auf dem Gebiet der direkten Steuern wirken die grundfreiheitlichen Garantien der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 45 AEUV), der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV), der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) und der Freiheit des Kapitalverkehrs (Art. 63 I AEUV) ebenfalls im Wesentlichen als Verbote steuerlicher oder steuerverfahrensrechtlicher Mehrbelastungen mit spezifischer Benachteiligungswirkung für grenzüberschreitende Vorgänge (Rz. 79 ff.).
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Verstößt eine nationale Steuerrechtsnorm in einer bestimmten Sachverhaltskonstellation ohne hinreichende Rechtfertigung gegen diese Anforderungen, so bleibt sie zwar gültig, ist aber insoweit unanwendbar6. Dies ist sowohl von den Finanzgerichten zu beachten als auch durch die Finanzverwaltung7 in geeigneter Weise – regelmäßig durch einen Erlass der obersten Finanzbehörde8 – sicherzustellen. Im Regelfall einer gleichheitsrechtlichen Akzentuierung der Grundfreiheiten (s. Rz. 83) hat dies normalerweise die Erstreckung der für innerstaatliche Sachverhalte geltenden günstigeren Regelung auf deren grenzüberschreitendes Pendant zur Folge9. Rechtsmethodisch kann dies je nach Regelungskonzept entweder durch Nichtanwendung einer benachteiligenden Spezialregelung oder aber durch Absehen von diskriminierenden Tatbestandsvoraussetzungen einer begünstigenden Regelung geschehen. In der zweiten Variante ist mit Blick auf Art. 3 I GG darauf zu achten, dass durch das Ausblenden von benachteiligenden Tatbestandsmerkmalen keine überschießende Begünstigungswirkung eintritt; ggf. sind sie daher nur teleologisch zu reduzieren10.
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Beispiel zur Unanwendbarkeit: Erstreckung der nach § 3 Nr. 26 EStG a.F. steuerfreien Aufwandsentschädigungen für bestimmte nebenberufliche Tätigkeiten im Dienst einer inländischen juristi1 S. dazu generell EuGH C-476/98, „open-skies“, Rz. 144 ff.; C-469/00, Ravil, Rz. 37; speziell im Steuerrecht s. auch EuGH 270/83, „avoir fiscal“, Rz. 26; C-307/97, Saint-Gobain, Rz. 57 ff.; MayerTheobald, Non-garden most favoured negotiating, 2011. Zu den sich aus Art. 351 AEUV ergebenden Besonderheiten bei Abkommen mit Drittstaaten s. Calliess/Ruffert/Schmalenbach4, Art. 351 AEUV. 2 EuGH C-284/09, Kommission/Deutschland, Rz. 44; C-374/04, ACT Group Litigation, Rz. 36; C-379/05, Amurta, Rz. 16; C-540/07, Kommission/Italien, Rz. 28; C-487/08, Kommission/Spanien, Rz. 37. 3 S. EuGH C-156/04, Kommission/Griechenland, Rz. 50; C-441/02, Kommission/Deutschland, Rz. 47. 4 S. EuGH C-129/00, Kommission/Italien, Rz. 30; C-77/69, Kommission/Belgien, Rz. 15. 5 Dazu eingehend Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, 633 ff. 6 Vgl. EuGH C-48/71, Kommission/Italien, Rz. 6 ff.; C-106/77, Simmenthal II, Rz. 17 f., 21 f.; C-279/93, Schumacker, Rz. 47; C-324/00, Lankhorst-Hohorst, Rz. 45; C-409/06, Winner Wetten, Rz. 53 ff.; C-314/08, Filipiak, Rz. 82; BVerfGE 75, 223 (244); 85, 191 (204). Zur Begrenzung auf eine sich gerade im konkreten Einzelfall manifestierende Grundfreiheitsverletzung s. EuGH v. 9.10. 2014 – C-326/12, van Caster, EU:C:2014:2269, Rz. 29 ff.; Rust, IStR 2009, 382 (385); i.E. auch M. Lang, FS Lang, 2010, 1003 (1016 ff.). 7 Zur Erstreckung des Anwendungsverbotes bzgl. unionsrechtswidriger Vorschriften auch auf die Verwaltung s. EuGH C-103/88, Fratelli Costanzo, Rz. 31, betr. den insoweit vergleichbaren Fall einer unmittelbar anwendbaren Richtlinienbestimmung; s. dazu auch Hey, StuW 2010, 301 (308 f.). Krit. Calliess/Ruffert/Kahl, EUV/AEUV4, Art. 4 EUV, Rz. 94, m.w.N. 8 Exemplarisch BMF v. 30.9.2013, IV B 3-S 2293/09/10005-04, BStBl. 2013, 1612. 9 S. EuGH C-284/09, Kommission/Deutschland, Rz. 94; C-10/10, Kommission/Österreich, Rz. 44; C-279/73, Rz. 57 f.; Rust, IStR 2009, 382 (384); sowie generell EuGH C-309/06, Marks & Spencer, Rz. 63. 10 S. M. Lang, FS Lang, 2010, 1003 (1014) m.w.N.
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schen Person des öffentlichen Rechts durch Außerachtlassung des Merkmals „inländisch“1; Zurücknahme des für den Abzug von Schulgeld nach § 10 I Nr. 9 EStG a.F. aufgestellten Erfordernisses einer (deutschen) staatlichen Genehmigung nach Art. 7 IV GG auf das dieser Voraussetzung teleologisch zugrunde liegende Sonderungsverbot nach den Besitzverhältnissen der Eltern2; Anpassung eines diskriminierenden Abgeltungsteuersatzes bei an Steuerausländer gezahlten Dividenden an die von Steuerinländern zu tragende Steuerbelastung durch Nichtanwendung der Spezialvorschrift, wonach der Quellensteuerabzug abgeltende Wirkung hat3.
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Dem Gebot der Unanwendbarkeit kann ausnahmsweise auch im Wege normerhaltender Reduktion i.e.S. Rechnung getragen werden: Sind grundfreiheitsbeschränkende, nach ihrer Belastungswirkung abstufbare Tatbestandsmerkmale oder Rechtsfolgen nur aufgrund der Intensität der Benachteiligung nicht rechtfertigungsfähig bzw. unverhältnismäßig, darf die Vorschrift in grundfreiheitskompatibel modifizierter Form weiter angewendet werden4. Eine beschränkende Wirkung darf also entsprechend vermindert bestehen bleiben. Beispiel: Statuierung diskriminierender, aber gerechtfertigter Nachweispflichten für die berufliche Veranlassung im Ausland angefallener Kosten5 anstelle des gesetzlich vorgesehenen pauschalen Abzugsverbots; Aufrechterhaltung einer diskriminierenden Entstrickungsbesteuerung (wie bspw. § 4 I 3, 4 EStG) unter Zuerkennung eines gesetzlich so nicht vorgesehenen Stundungsanspruchs, aufgrund dessen die Benachteiligung verhältnismäßig ist6.
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Im Lichte verfassungsrechtlicher Vorgaben und insb. des Gewaltenteilungsgrundsatzes ist eine solche normerhaltende Reduktion i.e.S. allerdings nur zulässig, wenn dem objektivierten Willen des Gesetzgebers (s. § 5 Rz. 52) dadurch besser Rechnung getragen wird als bei völliger Unanwendbarkeit der Norm bzw. des diskriminierenden Tatbestandselements. Dies darf nicht unter fiskalischen Aspekten beurteilt werden7, sondern bedarf einer subjektiv- wie systematisch-teleologischen Analyse unter Einbeziehung gleichheitsrechtlicher Vorgaben. I.Ü. hat eine grundfreiheitskonforme Auslegung der nationalen Steuerrechtsnorm8 im Rahmen der durch die allgemeine Methodenlehre gezogenen Grenzen (s. § 5 Rz. 58) Vorrang vor ihrer Nichtanwendung9; dies entspricht dem Gebot der größtmöglichen Schonung der mitgliedstaatlichen Souveränität.
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Unbeschadet der Außerachtlassung einer grundfreiheitswidrigen Norm in Rechtsprechungs- und Verwaltungspraxis kann die Kommission weiterhin mit Verweis auf den Fortbestand der Norm ein Vetragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV einleiten (s. § 22 Rz. 306). Insoweit vermag nur der Gesetzgeber Abhilfe zu schaffen, weil die Unvereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit den Grundfreiheiten nach der Rspr. des EuGH abschließend nur durch eine Änderung der Rechtslage (mindestens) auf derselben Stufe der Normenhierarchie behoben werden kann10.
2. Unionsrecht und harmonisiertes Steuerrecht 30
a) Gem. Art. 288 III AEUV ist jeder Mitgliedstaat verpflichtet, eine Richtlinie so in nationales Recht umzusetzen, dass deren Ziel erreicht wird. Im Bereich des harmonisierten Steuerrechts 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
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S. BFH BStBl. 2010, 265. S. BFH BStBl. 2008, 976. S. zu dieser Problematik EuGH C-284/09, Kommission/Deutschland. S. EuGH C-34/67, Lück, Ls. 3; sowie implizit auch EuGH C-436/08, Haribo Lakritzen, Rz. 139 ff.; s. auch BFH v. 18.12.2013 – I R 71/10, BFHE 244, 331, Rz. 27. Ebenso Rust, IStR 2009, 382 (384 ff.); differenzierend Hey, StuW 2010, 301 (314). S. EuGH C-55/98, Vestergaard, Rz. 25 ff. Zu letzterem EuGH C-470/04, „N“, Rz. 52 und Rz. 97. So M. Lang, FS Lang, 2010, 1003 (1009 ff.) gegen Zorn, RdW 2009, 171 (174). S. generell zu dem aus Art. 4 III EUV abgeleiteten Gebot primärrechtskonformer Auslegung von nationalen Rechtsnormen EuGH C-165/91, van Munster, Rz. 32 ff.; C-262/97, Engelbrecht, Rz. 38 ff. Zum Vorrang der primärrechtskonformen Auslegung s. EuGH 157/86, Murphy, Rz. 11; C-270/97 u.a., Sievers, Rz. 62; C-262/97, Engelbrecht, Rz. 38 ff.; C-188/10 u.a., Melki u.a., Rz. 50. S. generell EuGH C-145/99, Kommission/Italien, Rz. 37 m.w.N.; C-457/07, Kommission/Portugal, Rz. 38; sowie speziell zum Steuerrecht EuGH C-151/94, Kommission/Luxemburg, Rz. 18 m.w.N.; Rust, IStR 2009, 382 (383); M. Lang, FS Lang, 2010, 1003 (1004 f.).
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Einwirkung des Europarechts auf nationale Steuerrechtsnormen
Rz. 32
§4
verbleibt dabei entgegen dem Grundkonzept richtlinienbasierter Rechtsangleichung wegen der Regelungsdichte und Detailliertheit der einschlägigen Richtlinien vielfach kaum noch ein Umsetzungsspielraum. Soweit den richtlinienrechtlichen Vorgaben bei deren Inkrafttreten i.Erg. bereits durch geltendes Recht genügt wird, bedarf es keiner gesonderten Umsetzungsmaßnahmen mehr1. Dessen ungeachtet sollte der Gesetzgeber bestehende Steuergesetze zumindest an die sekundärrechtliche Terminologie anpassen2, denn Richtlinienrecht ist regelmäßig unionsrechtsautonom auszulegen3. Knüpft der Gesetzgeber – was immer noch häufig geschieht – stattdessen an tradierte Begrifflichkeiten des nationalen Steuerrechts oder gar an die allgemeingültigen Legaldefinitionen der AO an, birgt dies daher die Gefahr richtlinienwidriger Rechtsanwendung und ist der Rechtssicherheit abträglich. (Zu) hohe Anforderung an die Manifestation des mitgliedstaatlichen Umsetzungswillens stellt der EuGH hinsichtlich der Wahrnehmung von in einer Richtlinie eingeräumten Wahlrechten oder Abweichungsbefugnissen4.
b) Finanzgerichte und Finanzverwaltung müssen Normen im Anwendungsbereich von richtlinienrechtlich harmonisiertem Steuerrecht soweit als möglich richtlinienkonform auslegen5. Dieses Gebot leitet der EuGH in st. Rspr. aus der Loyalitätspflicht des Art. 4 III EUV i.V.m. Art. 288 III AEUV ab6; mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon dürfte Art. 291 I AEUV eine weitere Rechtsgrundlage bilden. Es bezieht sich nicht nur auf diejenigen Steuervorschriften, die eigens zur Umsetzung richtlinienrechtlicher Vorgaben erlassen worden sind, sondern auf jegliche Rechtsnorm, die für die Erreichung der Richtlinienziele von Bedeutung ist7. Eine richtlinienkonforme Auslegung ist dabei auch zulasten der Stpfl. möglich8.
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Das Gebot richtlinienkonformer Auslegung wirkt nur als Vorrangregel zugunsten eines bestimmten, mit den Richtlinienvorgaben zu vereinbarenden Auslegungsergebnisses unter mehreren vertretbaren Interpretationsansätzen. Es beinhaltet keine eigenständige Auslegungsmethode9. Eine richtlinienkonforme Auslegung kommt vielmehr nur im Rahmen des im jeweiligen Mitgliedstaat geltenden Kanons der Auslegungsmethoden (§ 5 Rz. 55) nebst anerkannter Methoden der Rechtsfortbildung10 (§ 5 Rz. 74) in Betracht11. Sie darf nicht contra legem zu
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1 S. EuGH C-102/08, Salix, Rz. 40; v. 15.5.2014 – C-337/13, Almos Agrárkülkereskedelmi, EU:C:2014:328, Rz. 21; sowie generell EuGH C-32/05, Kommission/Irland, Rz. 34. 2 Lohse, DStR 2011, 1740 (1741). 3 EuGH C-433/08, Yaesu Europe, Rz. 18; C-352/08, Zwijnenburg, Rz. 33, 46; C-327/82, Ekro, Rz. 11; C-287/98, Linster, Rz. 43; C-5/08, Infopaq International, Rz. 27. 4 S. EuGH C-102/08, Salix, Rz. 40; sowie allgemein EuGH C-227/09, Accardo u.a., Rz. 55; moderater hingegen EuGH v. 15.5.2014 – C-337/13, Almos Agrárkülkereskedelmi, EU:C:2014:328, Rz. 23 ff. 5 S. Schön, Die Auslegung europäischen Steuerrechts, 1993, 35 ff.; Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts, 1997; Cordewener, UR 2006, 673; Terra/Wattel, European Tax Law6, 83 ff.; Ehrke-Rabel, ÖStZ 2009, 189; sowie allgemein Roth/Jopen in Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre3, 2015, § 13, m.w.N.; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, 249 ff.; Gänswein, Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts, 2009, 219 ff. 6 S. dazu generell EuGH C-106/89, Marleasing, Rz. 8; C-397/01 u.a., Pfeiffer u.a., Rz. 110 ff.; C-555/07, Kücükdeveci, Rz. 48; sowie speziell in steuerrechtlichem Kontext z.B. EuGH C-365/98, Brinkmann Tabakfabriken, Rz. 40; C-63/06, Profisa, Rz. 13; C-138/12, Rusedespred, Rz. 37; Wittock, EC Tax Review 2014, 171 (174 f.). Zur zeitlichen Dimension s. EuGH C-212/04, Adeneler, Rz. 113 ff.; Hofmann, ZIP 2006, 2113. 7 S. EuGH C-212/04, Adeneler, Rz. 108, m.w.N.; Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, 263; Canaris, FS Bydlinski, 2002, 47 (73 f.); Everling, FS Carstens, 1984, 95 (101). 8 So ausdrücklich EuGH C-321/05, Kofoed, Rz. 45; C-80/86, Kolpinghuis Nijmegen, Rz. 10, 14; C-397/01, Pfeiffer u.a., Rz. 107 ff.; s. auch Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 96 f. 9 Zutr. BFH v. 15.2.2012 – XI R 24/09, DStR 2012, 903; Di Fabio, NJW 1990, 947; Canaris, FS Schmidt, 2006, 41 (49 ff.); Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, 282 ff. 10 S. dazu BFH BStBl. 2011, 661; BGH v. 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, NJW 2009, 427 m.w.N.; BAG BAGE 130, 119; Canaris, FS Bydlinski, 2002, 47 (91); a.A. Hummel, EuZW 2007, 268. 11 S. EuGH C-321/05, Kofoed, Rz. 45; C-268/06, Impact, Rz. 100 f.; C-109/09, Deutsche Lufthansa/ Kumpan, Rz. 54 f.
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§4
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Europäisches Steuerrecht
einem Ergebnis führen, das im Lichte der juristischen Methodenlehre der jeweiligen Rechtsordnung nicht vertretbar ist1. Eine unionsrechtskonforme Interpretation eines Gesetzes entgegen dem im Normsetzungsprozess artikulierten und in Gesetzestext und -kontext erkennbaren Gesetzeszweck ist daher unzulässig2. Anderenfalls würde entgegen dem Konzept des Art. 288 III AEUV einer unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinienrecht das Wort geredet3. Davon zu unterscheiden ist die Berücksichtigung eines etwaigen im Normsetzungsprozess zu Tage getretenen Willens des Gesetzgebers zur Umsetzung von Richtlinienvorgaben. Diesem Umstand ist im Kontext der historischen Auslegungsmethode Rechnung zu tragen4. Lassen sich die maßgeblichen gesetzgeberischen Erwägungen für die konkret in Rede stehende Norm mit Richtlinienvorgaben nicht vereinbaren, darf diese Erkenntnis indes nicht durch pauschalen Hinweis auf einen generellen Umsetzungswillen im Rahmen des jeweiligen Gesetzesvorhabens überspielt werden5. 33
c) Eine unmittelbare Wirkung von Richtlinienrecht mit Anwendungsvorrang gegenüber richtlinienwidrigen Bestimmungen nationalen (Steuer-)Rechts ist in Art. 288 III AEUV an sich nicht vorgesehen. Der EuGH hat sie aber gleichwohl im Wege der Rechtsfortbildung unter bestimmten Bedingungen befürwortet: Voraussetzung ist, dass die entsprechende Richtlinienbestimmung unbedingt und hinreichend klar ist6. Es darf also dem Gesetzgeber nicht noch ein Ermessen bezüglich verschiedener Umsetzungsmöglichkeiten eingeräumt sein; auch muss die Umsetzungsfrist abgelaufen sein7. Zudem kommt sie grds. nur zugunsten eines Privatrechtssubjekts in Betracht, das sich im Verhältnis zum jeweiligen Mitgliedstaat auf ihm günstige Richtlinienbestimmungen „berufen“ kann8. Schließlich ist vorrangig die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung in Erwägung zu ziehen9; dieses Vorrangverhältnis entspricht dem Gebot größtmöglicher Schonung der mitgliedstaatlichen Souveränität.
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Bleibt das nationale Steuerrecht mangels rechtzeitiger oder ordnungsgemäßer gesetzlicher Umsetzung hinter dem Richtlinienrecht zurück, sind also im konkreten Einzelfall steuerentlastend wirkende Richtlinienvorgaben zugunsten des Stpfl. – von Amts wegen10 – zu beachten. Hingegen bietet die Richtlinie der Finanzverwaltung keine Grundlage für eine gegenüber der 1 S. EuGH C-109/09, Lufthansa, Rz. 54; C-212/04, Adeneler, Rz. 110; GA Kokott, Schlussanträge in EuGH C-105/03, Pupino, Rz. 39; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, 234; Manthey, DÖV 2011, 921. 2 BFH v. 15.2.2012 – XI R 24/09, DStR 2012, 903; Woerner, DStJG 13 (1990), 247 (254); Probst, DStJG 13 (1990), 137 (141); Pernice, NJW 1990, 2409 (2416); Schön, DStJG 19 (1996), 167 (181 ff.). 3 S. auch EuGH C-321/05, Kofoed, Rz. 45. 4 S. Lutter, JZ 1992, 593 (599 ff.); Schön, Die Auslegung europäischen Steuerrechts, 1993, 56 f.; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, 234 m.w.N.; Nettesheim, EuR 2006, 737 (751). 5 So wohl auch BGH v. 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, NJW 2009, 427; anders wohl EuGH C-371/02, Björnekulla Fruktindustrier, Rz. 13. Wie hier Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, 258 und 274 f.; a.A. Hellert, Der Einfluß des EG-Rechts auf die Anwendung nationalen Rechts, 2001, 117 ff. Speziell zu bedenklichen Tendenzen im USt-Recht s. auch § 17 Rz. 56, 160. 6 Grundl. EuGH 8/81, Becker, Rz. 25; s. ferner EuGH C-80/86, Kolpinghuis Nijmegen, Rz. 7; 71/85, FNV, Rz. 13; sowie speziell in steuerrechtlichem Kontext bspw. EuGH C-365/98, Brinkmann Tabakfabriken, Rz. 32; C-226/07, Flughafen Köln/Bonn, Rz. 23 ff.; C-621/10 u.a., Balkan and Sea Properties u.a., Rz. 53 ff. 7 EuGH C-147/08, Römer, Rz. 57. 8 Grundl. EuGH 152/84, Marshall, Rz. 48; s. ferner C-80/86, Kolpinghuis Nijmegen, Rz. 9; C-201/02, Wells, Rz. 56; C-555/07, Kücükdeveci, Rz. 46. S. auch BFH BStBl. 2010, 88; 2010, 433. 9 Zum Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung s. EuGH C-8/81, Becker, Rz. 25; C-240/98, Oceano Grupo, Rz. 30; C-212/04, Adeneler, Rz. 113; Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, 64 f. 10 Entgegen der missverständlichen Formulierung in zahlreichen EuGH-Entscheidungen bedarf es im Steuerverfahren oder Finanzgerichtsprozess keiner ausdrücklichen „Berufung“ des Bürgers auf ihm günstiges Richtlinienrecht oder sonstiges unmittelbar anwendbares Unionsrecht, vgl. EuGH C-72/95, Aannemersbedrijf, Rz. 57, m.w.N.; C-2/06, Kempter, Rz. 45; jeweils i.V.m. § 85 AO. S. auch von Eijsden/van Dam, EC Tax Review 2010, 199 (207 ff.); unklar hingegen BFH v. 9.8.2007 – V R 27/04, BFHE 217, 314, Rz. 27.
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Einwirkung des Europarechts auf nationale Steuerrechtsnormen
Rz. 36
§4
Gesetzeslage verschärfte Besteuerung1. Etwaige richtlinienwidrige Steuerrechtsnormen sind – nur – zulasten des Fiskus unanwendbar, I.Ü. gelten sie fort. Von besonderer Bedeutung ist dies bei „zweischneidigen“ Regelungen wie bspw. der gesetzlichen Begründung der sowohl für die Steuerpflicht wie für die Vorsteuerabzugsberechtigung relevanten Unternehmereigenschaft im Umsatzsteuerrecht (§ 17 Rz. 33 ff.). Der BFH ist bestrebt, diese Rosinentheorie in ihren Folgen zu begrenzen, indem er die „Berufung“ auf eine günstige richtlinienrechtliche Bestimmung nur unter Einbeziehung systematisch verknüpfter Richtlinienvorgaben mit gegenläufiger Belastungswirkung gestattet. Macht der Stpfl. etwa eine Umsatzsteuerbefreiung kraft Richtlinienrechts geltend, muss er auch die darauf bezogenen Richtlinienregelungen für den Ausschluss des Vorsteuerabzugs gegen sich gelten lassen2. Eine solche Gesamtschau ist unionsrechtskonform, weil sie sicherstellt, dass keine im Verhältnis zum Richtlinienrecht überschießenden Begünstigungswirkungen eintreten3. Hingegen hat der BFH eine personenübergreifende Gesamtschau von vorteilhaften und nachteiligen Wirkungen der unmittelbaren Anwendung abgelehnt; es soll sich mithin keine Begrenzung der unmittelbaren Anwendbarkeit aus einer Korrespondenz steuerlicher Be- und Entlastungswirkungen einer richtlinienwidrigen Regelung beim Stpfl. einerseits und bei einer weiteren Person andererseits ergeben4. Dies dürfte mit der EuGH-Rspr. indes entgegen der Einschätzung des BFH nicht in Einklang stehen5; jedenfalls wäre wegen objektiver Zweifel zwingend eine Vorlageentscheidung des Gerichtshofes einzuholen gewesen6.
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d) Im Anwendungsbereich des richtlinienrechtlich harmonisierten Steuerrechts wirken ferner die EU-Grundrechte7 sowie die (sonstigen) allgemeinen Rechtsgrundsätze auf die nationale Steuerrechtsordnung ein (Rz. 3). Im Recht der indirekten Steuern ist nach der Rspr. des EuGH vor allem der Neutralitätsgrundsatz als bereichsspezifische Ausprägung des Gleichheitssatzes zu beachten8. Soweit die Steuergesetze zwingende Richtlinienvorgaben umsetzen, strahlen diese primärrechtlich fundierten Prinzipien nur mittelbar auf die deutsche Steuerrechtsordnung aus: Die richtlinienkonforme Auslegung deutschen Steuerrechts muss dann beachten, dass die Richtlinie ihrerseits primärrechtskonform auszulegen ist (Rz. 8)9. Erscheint dies als ausgeschlossen, darf das Richtlinienrecht nicht außer Betracht gelassen, sondern es kann allenfalls zur Überprüfung durch den EuGH gestellt werden10; anderenfalls würde das Verwerfungsmonopol des EuGH (Rz. 16) unterlaufen. Wo dem deutschen Gesetzgeber hingegen Ausgestaltungsspielräume verbleiben, ist er bei deren Ausfüllung unmittelbar selbst auf die Wahrung der unionsrechtlichen Rechtsgrundsätze verpflichtet. Das betrifft nicht nur die in den je einschlägigen Richtlinien ausdrücklich eingeräumten Wahlrechte, Abweichungsbefugnisse etc., sondern nach zutreffender Ansicht auch das weite Feld derjenigen Regelungen, die als Maßnahmen zur Durchsetzung des harmonisierten Rechts nach wie vor der Verfahrensautonomie der Mitglied-
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1 Dazu allgemein und grundl. EuGH C-152/84, Marshall, Rz. 48; speziell in steuerrechtlichem Kontext: EuGH C-321/05, Kofoed, Rz. 45. 2 S. BFH v. 7.7.2011 – V R 36/10, BFH/NV 2011, 2192 (2193 f.); s. auch FG Münster v. 24.11.2011 – 5 K 1385/07 U, EFG 2012, 764. 3 S. EuGH C-8/81, Becker, Rz. 41 ff.; C-319/12, MDDP, Rz. 46 ff.; v. 26.2.2015 – C-144/13, VDP Dental, EU:C:2015:116, Rz. 37 ff.; Dies gilt aber dann nicht, wenn lediglich das – richtlinienwidrige – nationale Recht, nicht aber die Richtlinie selbst eine Korrespondenz zwischen Be- und Entlastungswirkungen vorsieht, s. EuGH v. 3.9.2014 – C-589/12, GMAC, EU:C:2014:2131. 4 S. BFH v. 24.10.2013 – V R 17/13, BFHE 243, 456, Rz. 21. 5 Vgl. EuGH 207/87, Weißgerber, Rz. 10 ff.; s. auch BFH BStBl. 1998, 279. 6 Dieser Auffassung war der BFH zuvor auch noch selbst gewesen, vgl. BFH BStBl. 2011, 842; der EuGH hat die dahingehende Vorlagefrage aber nicht beantwortet, s. EuGH C-395/11, BLV, Rz. 51. 7 S. dazu Kofler u.a. (Hrsg.), Human Rights and Taxation in Europe and the World, Amsterdam 2011. 8 Vgl. etwa EuGH C-389/02, Deutsche See-Bestattungs-Genossenschaft, Rz. 21 und 25 (zur ehem. MineralölSt-StrukturRL); C-495/04, Smits-Koolhoven, Rz. 17 (zur TabakSt-StrukturRL); C-460/07, Puffer, Rz. 53 (zur MwStSystRL). S. generell zum Neutralitätsgrundsatz Hummel, EuR 2010, 309. 9 S. dazu – ohne spezifisch steuerrechtlichen Bezug – EuGH C-305/05, Ordre des barreaux francophones et germanophones, Rz. 28; sowie speziell zum harmonisierten Steuerrecht EuGH C-322/99, Fischer, Rz. 75. 10 S. EuGH v. 1.7.2014 – C-573/12, Ålands Vindkraft, EU:C:2014:2037, Rz. 57, m.w.N.; dazu näher Rz. 52.
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§4
Rz. 37
Europäisches Steuerrecht
staaten (Rz. 41) unterliegen (v.a. Normen des Steuerverfahrensrechts1 und das Recht der Steuerdelikte2. Die diesbezügliche Meinungsbildung ist im EuGH allerdings wohl noch nicht abgeschlossen)3. Auch insoweit gilt ein Gebot unionsrechtskonformer Auslegung; ist eine solche nicht möglich, darf die primärrechtswidrige Norm nicht angewendet werden4. Räumt das Gesetz in diesen Bereichen der Finanzverwaltung ein Ermessen ein, hat diese es soweit als möglich unter Beachtung der vorbezeichneten Primärrechtsgrundsätze auszuüben5.
3. Durchführungsverbot und Rückforderungsgebot für steuerliche Beihilfen 37
Das grundsätzliche Verbot steuerlicher Beihilfen i.S.d. Art. 107 I AEUV (Rz. 115 ff.) ist in den mitgliedstaatlichen Steuerrechtsordnungen nicht unmittelbar anwendbar. Denn infolge der z.T. im Ermessen stehenden Genehmigungsvorbehalte für Rat und Kommission ist es weder absolut noch unbedingt6. Stattdessen gilt nach Art. 108 III 3 AEUV ein Durchführungsverbot für (neue7) als Beihilfen i.S.d. Art. 107 I AEUV zu qualifizierende steuerliche Maßnahmen, solange die Kommission über sie noch nicht abschließend entschieden hat8. Dieses Durchführungsverbot entfaltet unmittelbare Wirkung und greift unabhängig davon ein, ob die Maßnahme der Kommission bereits notifiziert wurde9. Dem prinzipiellen Beihilfeverbot ist im Vorfeld einer Kommissionsentscheidung deshalb grds. nicht durch eine Ausdehnung der in Rede stehenden Steuervergünstigung auf bislang davon ausgeschlossene Wettbewerber Rechnung zu tragen10. Stattdessen darf die Steuervergünstigung vorläufig nicht gewährt werden und die ihr zugrunde liegende gesetzliche Regelung ist im Rahmen der Steuerfestsetzung unanwendbar11. Ist dies von der Finanzverwaltung nicht beachtet worden, müssen die hieraus erlangten Steuervorteile vom Begünstigten zurückgefordert werden: Es ist dazu grds. nachträglich und i.S.d. § 165 I AO vorläufig die Regelsteuerbelastung herzustellen12. Die infolge der Steuervergünstigung zwi1 Exemplarisch EuGH C-85/97, SFI, Rz. 30 ff.; v. 22.10.2013 – C-276/12, Sabou, EU:C:2013:678, Rz. 37 ff. 2 S. EuGH v. 19.7.2012 – C-263/11, Re¯dlihs, EU:C:2012:497, Rz. 44 ff.; v. 26.2.2013 – C-617/10, Åkerberg Fransson, EU:C:2013:105, Rz. 17 ff. Entgegen BVerfG v. 24.4.2013 – 1 BvR 1215/07, BVerfGE 133, 277 (316), liegt darin auch nicht ansatzweise ein ultra-vires-Akt des EuGH. Dazu ausführlich Engler, Steuerverfassungsrecht im Mehrebenensystem, 2014, S. 85 ff. 3 Vgl. die jüngste Relativierung der Entscheidung der Großen Kammer des EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, Åkerberg Fransson, EU:C:2013:105, Rz. 17 ff., durch das Urteil der Fünften Kammer des EuGH v. 10.7.2014 – C-198/13, Hernández u.a, EU:C:2014:2055, Rz. 32 ff., die wohl maßgeblich vom deutschen Kammerpräsidenten und Berichterstatter beeinflusst worden sein dürfte. 4 S. bspw. zum unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz EuGH C-309/06, Marks & Spencer, Rz. 63. 5 EuGH C-246/04, Turn- und Sportunion Waldburg, Rz. 24; C-409/04, Teleos, Rz. 44 f., 50, 52 f.; C-62/00, Marks & Spencer, Rz. 44; Englisch, UR 2008, 481 (486 f., 494). 6 EuGH C-78/76, Steinike und Weinlig, Rz. 8; C-143/99, Adria-Wien Pipeline, Rz. 30; s. auch EuGH C-156/98, Deutschland/Kommission, Rz. 67. 7 Zur Abgrenzung zu den bestehenden Beihilfen i.S.d. Art. 108 I AEUV s. Art. 1 der VerfVO (EG) 659/1999; Sutter, Das EG-Beihilfenverbot und sein Durchführungsverbot in Steuersachen, 153 ff. 8 Dieser Zustand lebt nach der Nichtigkeitserklärung einer positiven Entscheidung der Kommission durch EuG oder EuGH wieder auf, vgl. EuGH C-1/09, CELF, Rz. 23 ff.; allerdings kann der EuGH dahingehende Urteilswirkungen aus Gründen des Vertrauensschutzes begrenzen, vgl. EuGH C-333/07, Régie Networks, Rz. 121 ff. Zu Besonderheiten bei Bestehen einer GruppenfreistellungsVO s. Rz. 123. 9 Grundl. EuGH C-120/73, Lorenz, Rz. 8; s. ferner EuGH C-354/90, FCNE, Rz. 11; C-143/99, Adria-Wien Pipeline, Rz. 26; C-394/04, Air Liquide, Rz. 40. 10 S. EuGH C-393/04 u.a., Air Liquide, Rz. 43 ff.; C-368/04, Transalpine Ölleitung, Rz. 49 ff. Für eine Ausnahmekonstellation s. EuGH C-526/04, Laboratoires Boiron. 11 S. zur Unanwendbarkeit EuGH C-143/99, Adria-Wien Pipeline, Rz. 25 ff.; unter Verweis auf EuGH C-354/90, Fédération nationale, Rz. 10 ff.; 120/73, Lorenz, Rz. 7 ff.; Sutter, Das EG-Beihilfenverbot und sein Durchführungsverbot in Steuersachen, Wien 2005, 216 ff.; M. Lang, Die Auswirkungen des gemeinschaftsrechtlichen Beihilferechts auf das Steuerrecht, Wien 2009, 68; Bode, FR 2011, 1034 (1037). A.A. Hey, StuW 2010, 301 (309 f.). 12 Näher M. Lang, Die Auswirkungen des gemeinschaftsrechtlichen Beihilferechts auf das Steuerrecht, Wien 2009, 71.
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Einwirkung des Europarechts auf nationale Steuerrechtsnormen
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schenzeitlich erlangten Liquiditätsvorteile sind durch Verzinsung des Rückforderungsanspruchs zu neutralisieren. Verstöße gegen das Durchführungsverbot werden nicht durch eine spätere Positiventscheidung der Kommission geheilt, wonach die steuerliche Beihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar ist1. Allerdings ist dann lediglich der aus der vorzeitigen Inanspruchnahme der steuerlichen Begünstigung erwachsene Zinsvorteil abzuschöpfen2. Das Durchführungsverbot entfaltet drittschützende Wirkung zugunsten der von der Steuervergünstigung ausgeschlossenen Wettbewerber3, die es daher erforderlichenfalls im Wege der negativen Konkurrentenklage gerichtlich durchsetzen können4. Einstweiliger Rechtsschutz (s. § 22 Rz. 311) ist jedoch nur bei eindeutig als Beihilfe zu qualifizierenden Steuervergünstigungen zu gewähren5.
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In die gleiche Richtung zielen die Konsequenzen einer das Beihilfekontrollverfahren abschließenden Negativentscheidung der Kommission, mit der eine steuerliche Vergünstigung als nicht mit dem Binnenmarkt vereinbare (neue) Beihilfe eingestuft wird. Nach st. Rspr. des EuGH ist „die Aufhebung einer rechtswidrigen Beihilfe durch Rückforderung die logische Folge der Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit.“6 Die Kommission wird dann gem. Art. 14 I der VO 659/1999 regelmäßig eine Rückforderungsentscheidung erlassen, soweit die für unionsrechtswidrig erachtete steuerliche Vergünstigung in dem betreffenden Mitgliedstaat bereits von Stpfl. in Anspruch genommen werden konnte. Darüber hinaus sind Zinsen für die gezogenen geldwerten Vorteile zu erheben (Art. 14 II VO 659/1999 i.V.m. Kapitel 5 der VO 794/2004). Dabei ist jedoch zu beachten, dass steuerliche Beihilfen in Gestalt von gesetzlichen Steuervergünstigungen nur vom tatsächlich Begünstigten zurückzufordern sind und nur soweit sie ihm verbotene Vorteile i.S.d. Art. 107 I AEUV verschafft haben. Insb. bei den auf Überwälzung angelegten indirekten Steuern kann nicht ohne weiteres unterstellt werden, dass Steuerentlastungen (vollumfänglich) dem Steuerschuldner zugute kamen7. Die Rückforderungsentscheidung ist als Beschluss i.S.d. Art. 108 II 1; 288 IV AEUV gegenüber dem Mitgliedstaat verbindlich, der sie im Wege einzelfallbezogener Prüfung8 nach Maßgabe seines nationalen Verfahrensrechts gegenüber den betroffenen Stpfl. umzusetzen hat9. Dies hat ungeachtet eines etwa gegen die Kommissionsentscheidung angestrengten Nichtigkeitsverfahrens i.S.d. Art. 263 AEUV zu geschehen; bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung kann dem Stpfl. aber einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren sein10.
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1 EuGH C-368/04, Transalpine Ölleitung, Rz. 41 und 54. 2 EuGH C-199/06, CELF, Rz. 51 ff. 3 S. EuGH C-430/04, Feuerbestattungsverein Halle, Rz. 28 ff. (zur richtlinienwidrig unterbliebenen Besteuerung einer jPdöR nach der MwSt-RL; verallgemeinerungsfähig); sowie EuGH C-172/03, Heiser, Rz. 59; C-81/10, France Télécom, Rz. 18, 27 (Durchführungsverbot für steuerliche Beihilfen). Auf die engeren Voraussetzungen der traditionellen deutschen Schutznormtheorie (s. Schoch/Schneider/Bier/Wahl, Vorb. § 42 Abs. 2 VwGO Rz. 94 ff.) kommt es insoweit nicht an. 4 S. Englisch, StuW 2008, 43 ff.; Rennert, EuZW 2011, 576 ff.; sowie ausführlich die Bekanntmachung der Kommission über die Durchsetzung des Beihilfenrechts durch die einzelstaatlichen Gerichte (2009/C 85/01). S. dazu auch EuGH C-368/04, Transalpine Ölleitung, Rz. 38 ff. In diesem Zusammenhang kann eine Vorlage an den EuGH zur Qualifikation des fraglichen Besteuerungsregimes als staatliche Beihilfe angezeigt sein; exemplarisch EuGH C-143/99, Adria-Wien Pipeline. 5 S. EuGH C-1/09, CELF, Rz. 35 ff., auch zu den Entscheidungsalternativen. Strenger für den Fall der Eröffnung eines förmlichen Prüfverfahrens durch die Kommission EuGH v. 21.11.2013 – C-284/12, Deutsche Lufthansa, EU:C:2013:755, Rz. 36 ff.; v. 4.4.2014 – C-27/13, Flughafen Lübeck/Air Berlin, EU:C:2014:240; dazu krit. Traupel/Jennert, EWS 2014, 1. 6 EuGH C-142/87, Belgien/Kommission, Rz. 66; C-183/91, Kommission/Griechenland, Rz. 16; C-507/08, Kommission/Slowakei, Rz. 42, m.w.N. 7 S. Englisch in Rust/Micheau (Hrsg.), State Aid and Tax Law, S. 69 (82 ff); a.A. EuG v. 4.3.2009 – T-445/05, Associazione italiana del risparmio gestito, EuGHE 2009, II-289, Rz. 199 ff. 8 S. EuGH v. 9.6.2011 – C-71/09 P u.a., Comitato „Venezia vuole vivere“ u.a., EuGHE 2011, I-4727, Rz. 63 f. u. 114 f. 9 Näher dazu Rz. 41 ff. und die Bekanntmachung der Kommission 2007/C 272/05 v. 15.11.2007. 10 S. dazu EuGH v. 22.12.2010 – C-304/09, Kommission/Italien, EuGHE 2010, I-13903, Rz. 44 f.; FG Münster v. 1.8.2011 – 9 V 357/11 K, DStR 2011, 1507.
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§4
Rz. 40
40
Ausweislich des Art. 14 I der VO 659/1999 hat die Kommission von einer Rückforderung abzusehen, wenn ansonsten gegen einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts verstoßen würde. Nach st. Rspr. des EuGH ist die Rückforderung rechtswidriger steuerlicher Beihilfen zwar grds. verhältnismäßig1. Ausnahmsweise kann einer Rückforderung aber der unionsrechtliche Grundsatz des Vertrauensschutzes entgegenstehen. Als tauglicher Vertrauenstatbestand soll dabei jedoch grds. nur ein den Unionsorganen zurechenbares Verhalten in Betracht kommen2, namentlich Äußerungen der Kommission zur Vereinbarkeit der betreffenden Steuervergünstigung oder ähnlicher Steuerregime anderer Mitgliedstaaten mit Art. 107 AEUV3. Hingegen sollen Zusicherungen nationaler Behörden oder gar die „bloße“ steuergesetzliche Regelung der Vergünstigung kein schutzwürdiges Vertrauen des Stpfl. begründen können. Der EuGH verweist in diesem Zusammenhang insb. darauf, dass es einem sorgfältigen Gewerbetreibenden regelmäßig möglich sei festzustellen, ob die steuerliche Beihilfe erst nach positivem Abschluss des Notifizierungsverfahrens des Art. 108 III AEUV gewährt wurde4. Dieser Standpunkt ist indes zu rigide und überspannt vielfach die an den Stpfl. zu stellenden Sorgfaltsanforderungen5. Nicht zuletzt die rechtsdogmatischen Defizite der bisherigen EuGHRspr. zu den Kriterien einer steuerlichen Beihilfe i.S.d. Art. 107 I AEUV (s. Rz. 115 ff.) erlauben es nämlich dem Stpfl. vielfach nicht, eine Steuervergünstigung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als notifizierungspflichtige Beihilfe zu identifizieren.
Europäisches Steuerrecht
4. Durchsetzung des Unionsrechts im Wege nationalen Steuerverfahrensrechts 41
a) Für die Ausgestaltung des Steuerverfahrens existieren im Bereich des harmonisierten Steuerrechts außer auf dem Gebiet des Zollrechts kaum sekundärrechtliche Vorgaben6. Es gilt damit der sogenannte Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten, wonach diese die hierfür geltenden verfahrensrechtlichen Bestimmungen und Abläufe grds. autonom festlegen7. Für den Steuervollzug durch die deutsche Finanzverwaltung gelten damit neben evtl. spezialgesetzlichen Vorgaben die allgemeinen Regelungen der Abgabenordnung.
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Die nationalen Verfahrensregelungen stehen allerdings unter gewissen unionsrechtlichen Anwendungsvorbehalten: Sie dürfen nicht ungünstiger ausgestaltet sein als die für vergleichbare8, aber nicht dem Anwendungsbereich des Unionsrechts unterfallende Sachverhalte geltenden Vorschriften (Äquivalenzprinzip), und sie dürfen die Durchsetzung unionsrechtlicher Besteuerungsvorgaben nicht übermäßig erschweren oder praktisch unmöglich machen (Effektivitätsprinzip)9. Dies gilt ferner auch für nicht harmonisierte Bereiche nationalen Steuerrechts, weil und soweit ansonsten zugleich eine Grundfreiheitsverletzung wegen rechtlich oder faktisch 1 S. EuGH C-75/97, Belgien/Kommission, Rz. 68, m.w.N.; C-148/04, Unicredito, Rz. 113, m.w.N. Dies gilt selbst bei drohender Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz, s. EuGH v. 24.1.2013 – C-529/09, Kommission/Spanien, EU:C:2013:31, Rz. 103. 2 S. EuGH C-183/91, Kommission/Griechenland, Rz. 18, m.w.N.; C-519/07 P, Koninklijke FrieslandCampina, Rz. 84; s. auch EuGH C-194/09 P, Alcoa Trasformazioni, Rz. 71. 3 S. EuGH C-182/03 u.a., Belgien und Forum 187, Rz. 155 ff.; v. 10.12.2013 – C-272/12 P, Kommission/ Irland u.a., EU:C:2013:812, Rz. 53. 4 S. EuGH C-24/95, Alcan Deutschland, Rz. 25; C-148/04, Unicredito, Rz. 104 ff.; C-408/04 P, Salzgitter, Rz. 104. S. auch EFTA-Gerichtshof v. 30.3.2012 – E-17/10 u.a., VTM Fundmanagement, Rz. 123 ff.; BFH v. 30.1.2009 – VII B 180/08, BFHE 224, 372 (376 f.). 5 Krit. Hey, Steuerplanungssicherheit, 361 ff.; Kamps/Fraedrich, FR 2005, 969. 6 Ausnahmen jenseits des Zollverfahrensrechts sind bspw. Art. 241 ff. und Art. 250 ff. der RL 2006/112/EG (MwSt-RL) sowie Art. 8 der RL 2003/48/EG (Zins-RL). 7 S. dazu generell EuGH C-392/04, i-21 Germany, Rz. 57; Suerbaum, VerwArch 2000, 169 (173); steuerspezifisch etwa EuGH C-107/10, Enel Maritsa Iztok 3, Rz. 29; v. 12.12.2013 – C-362/12, FII (3), EU:C:2013:834, Rz. 31; Englisch in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, 49 ff.; van Eijsden u.a. in Lang u.a. (Hrsg.), Procedural Rules in Tax Law, 2011, 1 (16 ff.). 8 S. dazu EuGH C-542/08, Barth, Rz. 19 f. 9 Zusammenfassend EuGH C-2/06, Kempter, Rz. 57; C-409/06, Winner Wetten Rz. 58; C-2/08, Fallimento Olimpiclub, Rz. 24. Grundl. Ehrke-Rabel, Gemeinschaftsrecht und österreichisches Abgabenverfahren, Wien 2006, 69 ff.; Madner in Holonbek/Lang (Hrsg.), Abgabenverfahrensrecht und Gemeinschaftsrecht, 2010, 115; Wittock, EC Tax Review 2014, 171 (177 ff.).
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Einwirkung des Europarechts auf nationale Steuerrechtsnormen
Rz. 46
§4
erschwerter Rechtsdurchsetzung in grenzüberschreitenden Konstellationen zu konstatieren wäre (s. auch Rz. 83)1. b) Nach st. Rspr. des EuGH ist ferner jeder Mitgliedstaat schon europarechtlich verpflichtet, unionsrechtswidrig erhobene Steuern zu erstatten2. Davon darf einzig dann abgesehen werden, wenn die zur Steuerzahlung herangezogene Person die Steuer nachweislich auf Dritte abgewälzt hat und somit durch eine Erstattung „ungerechtfertigt bereichert“ wäre3. Dieser den Mitgliedstaaten zugestandene Vorbehalt findet aber im deutschen Besteuerungsverfahren (s. Rz. 46) keinen Niederschlag. Dessen ungeachtet ist in derartigen Fällen (auch) ein Erstattungsanspruch des eigentlichen Steuerträgers in Betracht zu ziehen4. I.Ü. sind dem Stpfl. auch etwaige Zinsnachteile zu ersetzen5.
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In zeitlicher Hinsicht ist ferner zu beachten, dass Entscheidungen des EuGH zur Auslegung von Primär- und Sekundärrecht entsprechend der institutionellen Stellung des Gerichtshofs keine neuen Rechtsnormen schaffen, sondern nur verdeutlichen, wie die bestehenden Vorschriften seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden sind6. Dementsprechend entfalten die Rechtserkenntnisse des EuGH Rückwirkung bis auf diesen Zeitpunkt; die von Gerichtshof für zutreffend gehaltene Auslegung muss daher auch auf Rechtsverhältnisse angewendet werden, die vor Erlass der jeweiligen EuGH-Entscheidung entstanden sind (näher § 22 Rz. 307). Der Gerichtshof hält sich nur ausnahmsweise aufgrund des unionsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit zur temporalen Begrenzung seiner Entscheidungswirkungen für befugt: Diese komme – nur – in Betracht, wenn vor der Entscheidung eine erhebliche Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der einschlägigen Unionsbestimmungen bestand und eine rückwirkende Klärung erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen hätte 7. Hingegen sollen finanziellen Konsequenzen, die sich aus einer Vorabentscheidung für einen Mitgliedstaat ergeben können, für sich allein nicht genügen8. Die vom EuGH entwickelten Kriterien sind zwar akzeptabel; er handhabt diese Ausnahme jedoch mit Blick auf den häufig rechtsfortbildenden Charakter der Entscheidungen zu restriktiv.
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Spiegelbildlich hierzu ist jeder Mitgliedstaat auch verpflichtet, unionsrechtswidrig gewährte steuerliche Begünstigungen zurückzufordern, soweit die maßgeblichen Vorgaben des Unionsrechts unmittelbare oder mittelbare Wirkung im konkreten Steuerrechtsverhältnis entfalten. Dies kommt vor allem in zwei Konstellationen in Betracht: Bei belastender richtlinienkonformer Auslegung von zuvor für den Stpfl. vorteilhaft ausgelegten Bestimmungen harmonisierten Steuerrechts (Rz. 31) oder im Anwendungsbereich des Beihilfekontrollverfahrens nach Art. 108 AEUV (Rz. 37).
45
In Ermangelung unionsrechtlicher Vorschriften richten sich auch Erstattungs- bzw. Rückforderungsverfahren entsprechend dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten jeweils nach den insoweit einschlägigen nationalen Vorschriften der Mitgliedstaaten9. Für das
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1 S. EuGH C-262/09, Meilicke II, Rz. 40; GA Wathelet, Schlussanträge v. 21.11.2013 – C-326/12, van Caster, EU:C:2013:757, Rz. 41 ff. 2 EuGH C-397/98 u.a., Metallgesellschaft u.a., Rz. 84; C-147/01, Weber’s Wine World, Rz. 93; C-309/06, Marks & Spencer, Rz. 35; C-398/09, Lady & Kid, Rz. 17 m.w.N. 3 EuGH C-147/01, Weber’s Wine World, Rz. 94 ff.; C-309/06, Marks & Spencer, Rz. 41, m.w.N.; C-398/09, Lady & Kid, Rz. 18 ff., m.w.N. Krit. Capriles, World Journal of VAT/GST Law 2012, 47 ff.; s. ferner Lasin´ski-Sulecki, Intertax 2014, 2. 4 Dazu eingehend EuGH C-94/10, Danfoss u.a., Rz. 19 ff.; anders im Kontext rein nationalen Steuerrechts BVerfGE 110, 274 (290). 5 S. EuGH C-524/04, Thin Cap Group Litigation, Rz. 112; v. 19.7.2012 – C-591/10, Littlewoods Retail, EU:C:2012:478, Rz. 25 ff.; v. 18.4.2013 – C-565/11, Irimie, EU:C:2013:250, Rz. 21 ff.; v. 17.7.2014 – C-654/13, Delphi Hungary Autóalkatrész Gyártó, EU:C:2014:2127, Rz. 29 ff.; Cloer/Hagemann, IWB 2014, 191. 6 S. etwa EuGH C-453/02 u.a., Linneweber und Akritidis, Rz. 41; C-292/04, Meilicke II, Rz. 34, m.w.N. 7 S. etwa EuGH, C-292/04, Meilicke II, Rz. 35 ff.; C-409/06, Winner Wetten, Rz. 60 ff.; C-73/08, Bressol u.a., Rz. 89 ff.; s. auch § 22 Rz. 307. 8 EuGH C-453/02 u.a., Linneweber und Akritidis, Rz. 44; weitere Nachweise in § 22 Rz. 307. 9 Grundl. EuGH C-392/04, i-21 Germany, Rz. 57; s. ferner EuGH C-446/04, FII Group Litigation, Rz. 203; C-262/09, Meilicke II, Rz. 55 (Erstattungsverfahren); C-177/06, Kommission/Spanien, Rz. 45, 53 (Rückforderungsverfahren).
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§4
Rz. 47
Europäisches Steuerrecht
Beihilferecht ist dies in Art. 14 III VO 659/1999 ausdrücklich vorgegeben. Rechtsgrundlage ist hinsichtlich des Anspruchs auf Erstattung von unionsrechtswidrig erhobenen Steuern grds. § 37 II AO. Materiell-rechtlich ist die Steuerzahlung bei Unanwendbarkeit der unionsrechtswidrigen gesetzlichen Besteuerungsgrundlage – oder infolge ihrer für den Stpfl. günstigen Neuinterpretation im Wege richtlinienkonformer Auslegung – nämlich rechtsgrundlos erfolgt. Allerdings erfordert die Durchsetzung dieses Anspruchs regelmäßig die vorherige Aufhebung bzw. Änderung des Steuerbescheids, in dem sich die zu beanstandende Steuerrechtsnorm ausgewirkt hat1. Hierfür gelten grds. die Korrekturvorschriften der §§ 172 ff. AO (§ 21 Rz. 394 ff.)2. Sie sind darüber hinaus auch im umgekehrten Fall der Rückforderung von Steuervergünstigungen einschlägig, soweit selbige sich bereits in einer Steuerfestsetzung ausgewirkt haben. 47
Die für die Korrektur von unionsrechtswidrigen Steuerbescheiden oder ggf. auch für die erstmalige Steuerfestsetzung maßgeblichen verfahrensrechtlichen Bestimmungen in AO und Einzelsteuergesetzen müssen ebenfalls dem Äquivalenzprinzip und dem Effektivitätsprinzip genügen (Rz. 42)3. Der letztgenannte Grundsatz steht allerdings in einem Spannungsverhältnis zu den auch unionsrechtlich anerkannten Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes4. Nach zutr. Rspr. des EuGH sind daher insb. angemessene Rechtsbehelfs- oder Verjährungsfristen sowie Bestandskraftregelungen des nationalen Steuerverfahrensrechts grds. nicht zu beanstanden5. Hingegen steht der Effektivitätsgrundsatz einer rückwirkenden Änderung solcher Regelungen ohne Übergangsregelung entgegen, zumal wenn auf diese Weise die ex-tuncWirkung eines EuGH-Urteils (Rz. 44) unterlaufen werden soll6 (s. auch § 21 Rz. 441).
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Bei der Änderung von Steuerbescheiden aufgrund einer beihilferechtlichen Rückforderungsentscheidung der Kommission ist außerdem zu beachten, dass über die Möglichkeit der Gewährung von Vertrauensschutz nach Ansicht des EuGH allein nach den von ihm entwickelten (zu) strengen unionsrechtlichen Maßstäben (Rz. 40) und damit grds. bereits abschließend in der Rückforderungsentscheidung zu befinden ist. Solange selbige Entscheidung nicht erfolgreich angefochten ist, können daher die steuerverfahrensrechtlichen Ausprägungen des Grundsatzes der Rechtssicherheit und namentlich die Bestandskraftregelungen der AO nur ausnahmsweise Anwendung finden: Es müssen besondere, im Lichte des unionsrechtlichen Vertrauensschutzgrundsatzes beachtliche Umstände des konkreten Einzelfalles vorliegen, welche die Kommission in ihrer die abstrakte Beihilferegelung betreffenden Entscheidung nicht berücksichtigt hat7. Ähnlich verhält es sich bei den im Vorfeld einer Kommissionsentscheidung unter Verstoß gegen das Durchführungsverbot nach Art. 108 III 3 AEUV gewährte 1 Dazu eingehend Tipke/Kruse/Drüen, § 37 AO Rz. 33 ff., m.w.N.; Grube, Der Einfluss des unionsrechtlichen Beihilfeverbots auf das deutsche Steuerrecht, 2014, S. 71 ff. 2 S. dazu BFH BStBl. 2011, 151; Gosch, DStR 2004, 1988 (1989 f.); Birk/Jahndorf, UR 2005, 198 (199); Lange, Der Anspruch auf Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern, 2008, 72 ff.; Tehler, FS Reiß, 2008, 81 (93 f.); de Weerth, DB 2009, 2677 (2681); Lehnert, Die Korrektur von gemeinschaftsrechtswidrigen Beihilfen in Form von Steuervergünstigungen, 2009, 159 ff.; Geisenberger, Der Einfluss des Europarechts auf steuerliches Verfahrensrecht, 2010, 100 ff., 168. 3 S. bspw. EuGH C-446/04, FII Group Litigation, Rz. 203; C-310/09, Accor, Rz. 79 (zum Erstattungsanspruch); v. 18.4.2013 – C-565/11, Irimie, EU:C:2013:250, Rz. 23 ff. (zu dessen Verzinsung); C-368/04, Transalpine Ölleitung, Rz. 44; C-148/04, Unicredito Italiano, Rz. 103, 123; C-177/06, Kommission/Spanien, Rz. 45, 53 (zur Rückforderung unionsrechtswidriger steuerlicher Begünstigungen). 4 Instruktiv EuGH C-181/04 u.a., Elmeka, Rz. 26 ff. 5 S. bspw. EuGH C-62/00, Marks & Spencer, Rz. 35; C-2/08, Fallimento Olimpiclub, Rz. 22. S. ferner EuGH C-392/04, i-21 Germany, Rz. 59 f.: einmonatige Rechtsbehelfsfrist i.d.R. nicht zu beanstanden; EuGH C-95/07, Ecotrade, Rz. 46 ff.; C-472/08, Alstom Power, Rz. 20, m.w.N.: zweijährige Ausschluss- bzw. Verjährungsfrist i.d.R. angemessen; C-427/10, Banca Antoniana Popolare Veneta. S. dazu auch BFH BStBl. 1996, 399; BStBl. 2007, 433; BStBl. 2007, 436; BStBl. 2011, 151; v. 14.2.2012 – VII R 27/10, BFH/NV 2012, 169; Schaumburg, ISR 2014, 243. Zu weitgehend in ihrer Betonung des Effektivitätsprinzips hingegen Jahndorf/Oellerich, DB 2008, 2559; ausgewogener Hummel, Verwaltungsrechtsraum Europa, 2011, 101 (117 f.). 6 S. EuGH C-262/09, Meilicke II, Rz. 54 ff., m.w.N., zu § 175 II 2 AO („lex Manninen“); v. 12.12.2013 – C-362/12, FII GL III, EU:C:2013:834, Rz. 30 ff.; v. 18.12.2014 – C-640/13, Kommission/Großbritannien, EU:C:2014:2457, Rz. 28 ff. S. auch Drüen, FS Schaumburg, 2009, 609. 7 S. dazu auch EuGH C-199/06, CELF, Rz. 42 f.
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Einwirkung des Europarechts auf nationale Steuerrechtsnormen
Rz. 50
§4
Steuervergünstigungen (Rz. 37); auch insoweit steht die Anwendung der Vorschriften der AO unter dem Vorbehalt der Vereinbarkeit mit unionsrechtlichen Vertrauensschutzkriterien1.
5. Verhältnis zu verfassungsrechtlichen Wertungen a) Ist die Vereinbarkeit einer Bestimmung des materiellen Steuerrechts oder des Steuerverfahrensrechts mit Vorgaben des primären oder sekundären Unionsrechts objektiv zweifelhaft, besteht für die Finanzgerichte die Möglichkeit und für den letztinstanzlich entscheidenden BFH sogar grds. die Pflicht, den EuGH um eine Klärung der insoweit maßgeblichen Unionsrechtslage zu ersuchen (Art. 267 AEUV; s. § 22 Rz. 303)2. Der EuGH nimmt dann zwar nur zur Auslegung des einschlägigen Unionsrechts Stellung und nicht unmittelbar zur Vereinbarkeit des nationalen Rechts hiermit3. Werden die diesbezüglichen Zweifel im Lichte dieser Vorabentscheidung jedoch bestätigt, so hat das vorlegende Gericht in der Konsequenz unbestritten eine „Verwerfungskompetenz“: Es muss nationale Steuergesetze insoweit unangewendet lassen, als sie im Widerspruch zu unmittelbar anwendbarem Unionsrecht stehen und eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht in Betracht kommt4. Dasselbe gilt in der Folge für die Finanzverwaltung5, während den Gesetzgeber nach Art. 4 III EUV eine Reparaturpflicht trifft. Die Bindung von Rspr. und Verwaltung an die deutschen Gesetze tritt insoweit hinter die ebenfalls in Art. 20 III GG verankerte Bindung an unmittelbar anwendbares Unionsrecht6 zurück, dessen Vorrang in Art. 23 I GG i.V.m. den Unionsverträgen gründet.
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Fraglich ist aber, ob die Finanzgerichtsbarkeit oder gar auch die von vornherein nicht vorlageberechtigte Finanzverwaltung auch ohne vorherige Befassung des EuGH von einer Anwendung deutscher Steuerrechtsnormen absehen dürfen, wenn sie diese für unionsrechtswidrig halten. Hiergegen könnte die in Art. 100 I GG zum Ausdruck kommende Wertung sprechen, wonach die Bindung des Rechtsanwenders an verfassungswidrige (nachkonstitutionelle) Parlamentsgesetze nur aufgrund verfassungsgerichtlicher Entscheidung gelöst werden kann; an die Stelle des BVerfG träte dabei im Falle der Unionsrechtswidrigkeit der EuGH7. Dieser selbst hat eine solche Parallelwertung freilich zurückgewiesen und betont, nationale Gerichte dürften eine nach ihrer Einschätzung im Widerspruch zu unmittelbarem Unionsrecht stehende Rechtsnorm ohne weiteres unangewendet lassen8. Dem kann verfassungsrechtlich gefolgt werden, denn die Wertung des Art. 100 I GG wird bei unionsrechtswidrigen Parlamentsgesetzen durch die in Art. 23 I GG angelegte Schaffung einer eigenständigen Kategorie von supranationalem Recht und einer ihm eigentümlichen Form der „Kooperation“ von europäischer und nationaler Gerichtsbarkeit9 überlagert. Eine
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1 S. BFH v. 30.1.2009 – VII B 180/08, BFHE 224, 372 (zu § 169 AO). 2 S. auch EuGH C-495/03, Intermodal Transports, Rz. 26 ff.; Calliess/Ruffert/Wegener4, Art. 267 AEUV Rz. 18 ff., 26 ff. 3 S. etwa EuGH 249/84, Profant, Rz. 12; C-338/04, Placanica, Rz. 37; C-443/06, Hollmann, Rz. 18; C-126/10, Foggia, Rz. 29. S. auch Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte, ABl. C 143 v. 11.6.2005, 1 ff. 4 S. EuGH C-106/77, Simmenthal II, Rz. 17, 21; C-409/06, Winner Wetten, Rz. 55; C-118/08, Transportes Urbanos y Servicios Generales, Rz. 23 ff.; BFH BStBl. 2008, 228 (231); 2008, 95 (98 f.); BFH v. 8.6.2010 – I B 199/09, BFH/NV 2010, 1863 (1864); v. 27.7.2011 – I R 32/10, BFH/NV 2012, 118 (120); BVerfGE 75, 223 (244); Streinz, Europarecht9, Rz. 700 f. 5 EuGH 103/88, Fratelli Costanzo, Rz. 31; Rust, IStR 2009, 382 (383). 6 S. dazu Sachs6, Art. 20 GG Rz. 107; Schmidt-Aßmann, FS Stern, 1997, 745 (754 f.); Jarass/Pieroth11, Art. 20 GG Rz. 38; BVerwGE 74, 241 (248 f.). 7 So etwa Rau/Dürrwächter/Stadie, UStG, Einf Rz. 257 ff.; ebenso Reiß in der 20 Aufl., § 14 Rz. 9 ff.; und früher auch noch Englisch in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, 39 (80 f.); GA Lenz, C-103/88, Costanzo, Rz. 36. Eingehend Hutka, Gemeinschaftsrechtsbezogene Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der deutschen Verwaltung gegenüber Rechtsnormen nach europäischem Gemeinschaftsrecht und nach deutschem Recht, 1997, 169 ff. und Pietzcker, FS Everling, 1995, 1095 ff. 8 EuGH GrK C-555/07, Kücükdeveci, Rz. 53 ff.; ebenso schon im Vorfeld der Entscheidung Probst, UR 1990, 302 (304); Birkenfeld, StuW 1998, 55 (61, 64, 66). 9 S. dazu etwa EuGH C-396/09, Interedil, Rz. 20; BVerfGE 89, 155 (175); F. Kirchhof, FS Herzog, 2009, 155 ff.
Englisch
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§4
Rz. 51
Europäisches Steuerrecht
unmodifizierte Übertragung des Rechtsgedankens des Art. 100 I GG ist auch insofern nicht angezeigt, als der EuGH sich ohnehin im Rahmen des Vorlageverfahrens nach Art. 267 AEUV nie direkt zur Vereinbarkeit von nationalem und Unionsrecht äußert und zudem unionsrechtswidrige Normen nur unanwendbar und nicht nichtig sind. 51
Gleichwohl sind um des gebotenen Respekts vor dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber willen aus dem Gewaltenteilungsprinzip gewisse Einschränkungen der „Verwerfungskompetenz“ nationaler Gerichte zu folgern, die auch mit der vom EuGH betonten Notwendigkeit der effektiven Durchsetzung von Unionsrecht zu vereinbaren sind: Ohne vorherige Vorlage an den EuGH dürfen auch Finanzgerichte steuergesetzliche Bestimmungen nur unangewendet lassen, wenn deren Unionsrechtswidrigkeit vor dem Hintergrund der bisherigen EuGH-Rspr. zu den je maßgeblichen primär- oder sekundärrechtlichen Bestimmungen i.S.d. „acte-clair“-Rspr.1 (s. dazu auch § 22 Rz. 303) offenkundig ist2. Des Weiteren sind gerade vor dem Hintergrund einer mitunter inkonsistenten und oszillierenden EuGH-Rspr. (Rz. 18) strenge Anforderungen an die Feststellung der Offenkundigkeit der Unionsrechtswidrigkeit zu stellen.
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Nicht ohne vorherige Vorlage an den EuGH unangewendet lassen dürfen nationale Gerichte außerdem im Bereich des harmonisierten Steuerrechts solche Steuerrechtsnormen, die nach Einschätzung des betreffenden Gerichts zwar (evtl. sogar offenkundig) primärrechtswidrig sind, aber richtlinienrechtliche Regelungen bzw. darauf basierende Tertiärrechtsakte (Rz. 7) zutreffend umsetzen3. Denn im Kern geht es hier um die Feststellung der Primärrechtswidrigkeit von abgeleitetem Unionsrecht, die sich der EuGH mit guten Gründen selbst vorbehalten hat (grundl. EuGH 314/85, Foto-Frost4). Zur damit einhergehenden Verschärfung der Anforderungen an die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes s. § 22 Rz. 311. Erklärt der EuGH die in Rede stehende Bestimmung des Unionsrechts für primärrechtswidrig und nichtig, schlägt dies regelmäßig unmittelbar auf die Umsetzungsbestimmung im deutschen Steuerrecht durch, die damit ohne weiteres unangewendet bleiben darf und muss5. Entgegen der Auffassung des BVerfG6 bedarf es keiner zusätzlichen Vorlage nach Art. 100 I GG.
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b) Unionsrechtliche Vorgaben zur Ausgestaltung des harmonisierten Steuerrechts können derzeit keiner Kontrolle anhand der Grundrechte des deutschen GG unterzogen werden. Der EuGH hat sich um der unionsweit einheitlichen Geltung des sekundären Unionsrechts schon frühzeitig gegen dessen Überprüfung am Maßstab des Verfassungsrechts der Mitgliedstaaten gewandt7. Das BVerfG hat die Verdrängung des nationalen Grundrechtsschutzes akzeptiert und übt seine Gerichtsbarkeit insoweit nicht länger aus, solange der EuGH einen „im Wesentlichen gleich zu achtenden“ Grundrechtsstandard gewährleistet8. Hiervon geht das BVerfG seit der „Solange II“-Entscheidung (BVerfGE 73, 339) aus. Vor diesem Hintergrund ist es an sich konsequent, auch deutsche Steuergesetze von einer Grundrechtskontrolle auszunehmen, soweit sie zwingende Richtlinienvorgaben umsetzen9. 1 S. EuGH 283/81, CILFIT u.a., Rz. 16, 21; C-495/03, Intermodal Transports, Rz. 33 u. 39; BVerfGE 82, 159 (193); Rüsken, ZfZ 2011, 87; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein, Art. 267 AEUV Rz. 56 ff.; Dourado/Borges, Acte clair in EC direct tax law, Amsterdam 2008. 2 Vgl. auch BVerfGE 85, 191 (203 ff.); sowie BVerfG v. 21.11.2011 – 2 BvR 516/09, NJW 2012, 598, Rz. 28; noch strenger Desens, EuGRZ 2011, 211 (213). 3 S. BFH v. 30.11.2000 – V R 30/00, BFH/NV 2001, 405 (407). 4 S. ferner EuGH C-50/00 P, Unión de Pequeños Argicultores, Rz. 40; v. 11.9.2014 – C-112/13, A / B, EU:C:2014:2195, Rz. 41-43; BVerfGE 82, 159 (194); von der Groeben/Schwarze/Gaitanides6, Art. 234 EGV Rz. 68. 5 Dazu ausf. Englisch in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, 39 (47 f.). 6 BVerfGE 118, 79 (97 f.) in Anlehnung an Cremer, Die Verwaltung 2004, 165 (186 f.). 7 Grundl. EuGH 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Rz. 3; seitdem st. Rspr., vgl. EuGH C-399/11, Melloni, EU:C:2013:107, Rz. 55 ff. S. ferner Stein, EuR 1997, 1469; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht8, 2010, Rz. 358 ff. 8 BVerfGE 37, 271 (285) (Solange I); BVerfGE 73, 339 (378) (Solange II); 89, 155 (174 f.) (Maastricht); 102, 147 (162) (Bananenmarktordnung); 118, 79 (95) (Emissionsschutz); 123, 267 (335) (Lissabon); 126, 286 (306) (Mangold). 9 S. dazu generell BVerfGE 118, 79 (95) (Emissionsschutz) sowie steuerspezifisch BVerfG (K) UR 2007, 737. S. zu Modifikationen BVerfG v. 19.7.2011 – 1 BvR 1916/09, BVerfGE 129, 78. S. ferner EuGH C-188/10 u.a., Melki und Abdeli, Rz. 54 ff. Zur eventuellen Notwendigkeit einer Vorlage an den EuGH zwecks Klärung, ob Richtlinienvorgaben zwingend sind, s. BFH v. 6.11.2012 – I B 28/12, BFH/NV 2013, 246, Rz. 14 m.w.N.
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§4
Kritisch anzumerken ist jedoch, dass der Grundrechtsschutz des EuGH speziell auf dem Gebiet des Steuerrechts rechtstatsächlich nicht einmal näherungsweise an die in den letzten 50 Jahren vom BVerfG entwickelten Standards heranreicht (Rz. 9). Sollte der EuGH in dem kaum kaschierten Bestreben nach Aufrechterhaltung von zugegebenermaßen oft mühsam zusammengezimmerten, aber eben „faulen“ Kompromissen in der Unionssteuergesetzgebung weiterhin eine so offenkundig unzureichende Grundrechtsprüfung vornehmen wie in einigen Entscheidungen der letzten Jahre1, muss das dem GG verpflichtete BVerfG ihm die Gefolgschaft versagen und künftig wieder eine eigenständige Prüfung vornehmen. Vorbild für eine Rückkehr zumindest zu einer Beanstandung evidenter und gravierender Grundrechtsverstöße könnte die entsprechende Vorgehensweise des EGMR2 sein.
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Anders verhält es sich, soweit dem deutschen Gesetzgeber bei der Ausgestaltung bestimmter Bereiche des harmonisierten Steuerrechts oder seines Vollzugs weiterhin ein steuerpolitischer Spielraum verbleibt. Insoweit kann es zu einer Verdoppelung grundrechtlicher Anforderungen kommen, weil neben den Grundrechten des GG dann auch diejenigen der EU-GrR-Charta zu beachten sind (Rz. 3)3. In gleicher Weise gilt dies für sonstige übergeordnete Rechtsprinzipien (z.B. für den verfassungsrechtlichen und den unionsrechtlichen Vertrauensschutzgrundsatz, oder für die Garantie effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 IV GG und den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz). Ähnliche Konstellationen ergeben sich ferner auch jenseits des harmonisierten Steuerrechts für die Kontrolle von außensteuerrechtlichen Normen (zum Begriff s. § 1 Rz. 91) anhand des deutschen Grundrechtekatalogs einerseits und der Grundfreiheiten andererseits, sowie bei der Überprüfung von Steuervergünstigungen mit Blick auf Art. 3 I GG und das beihilferechtliche Durchführungsverbot des Art. 108 III 3 AEUV (Rz. 37 ff.). Inwieweit diesbezügliche Bedenken die Finanzgerichte und den BFH jeweils zu einer Vorlage nach Art. 267 AEUV bzw. Art. 100 I GG berechtigen oder verpflichten, ist gesondert nach den je einschlägigen Maßstäben zu beurteilen. I.Ü. präjudiziert der Ausgang eines dieser beiden Verfahren grds. nicht den des je anderen; sie können daher auch unabhängig voneinander durchgeführt werden4. Es setzt sich damit letztlich der im konkreten Fall strengere Grundrechtsbzw. Rechtsprechungsstandard durch5. Das ist vor allem bei gleichheitsrechtlich strukturierten Prüfungen auch insofern von Bedeutung, als der EuGH in wesentlich geringerem Maße als das BVerfG zu einer Begrenzung von Urteilswirkungen bereit ist6.
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Rechtsgrundlagen und Stand steuerrechtlicher Harmonisierung
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Einstweilen frei.
C. Rechtsgrundlagen und Stand steuerrechtlicher Harmonisierung 1. Harmonisierung der indirekten Steuern Die in Art. 113 AEUV gesondert geregelte Harmonisierung der indirekten Steuern ist bereits relativ weit fortgeschritten. Das gilt besonders für das Umsatzsteuerrecht, das gegenwärtig vor allem durch die Vorgaben der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie v. 28.11.2006 geprägt wird (dazu im Weiteren § 17 Rz. 5). Die seinerzeitigen Bundesverbrauchsteuern wurden mit der sog. Systemrichtlinie von 1992 einem unionsweit geltenden „System der Verbrauchsteuern“ unterworfen (s. § 18 Rz. 106). Mit der Energiesteuerrichtlinie v. 27.10.2003 wurde die Harmonisierung auf sämtliche marktrelevanten Energieerzeugnisse ausgedehnt (s. § 18 Rz. 106, 116 f.). Daneben sieht Art. 157 der Versicherungsrichtlinie 2009/138/EG eine rudimentäre Regelung zur internationalen Abgrenzung der Besteuerungshoheiten bei der Erhebung nationaler Ver1 Exemplarisch EuGH C-46/07, Puffer, Rz. 53 ff.; C-174/08, NCC Construction, Rz. 36 ff.; v. 13.3.2014 – C-599/12, Jetair, EU:C:2014:144, Rz. 54–56. 2 S. EGMR v. 30.6.2005 – 45036/98, Bosphorus, NJW 2006, 197, Rz. 155 f. 3 S. auch EuGH v. 11.9.2014 – C-112/13, A / B, EU:C:2014:2195, Rz. 44. 4 S. dazu aus unionsrechtlicher Warte EuGH C-387/02 u.a., Berlusconi, Rz. 72; C-314/08, Filipiak, Rz. 81. Steht die Unanwendbarkeit der nationalen Regelung wegen einer Verletzung unionsrechtlicher Grundrechtsstandards fest, so fehlt es allerdings an der Entscheidungserheblichkeit einer Vorlage nach Art. 100 I GG, vgl. BFH v. 6.3.2013 – I R 14/07, BFHE 241, 185, Rz. 22. 5 Ausf. Lindner, EuZW 2007, 71 (73 ff.). 6 S. zu solchen Konstellationen EuGH C-314/08, Filipiak, Rz. 84; C-409/06, Winner Wetten, Rz. 60.
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§4
Rz. 67
Europäisches Steuerrecht
sicherungsteuern vor. Örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern (Art. 105 IIa GG) sind einer Harmonisierung grds. nicht zugänglich, da sie (wie z.B. die Hunde-, Vergnügung-, Zweitwohnung-, Verpackungsteuer) als „Steuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis“ (s. § 18 Rz. 107, 119) keine Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt hervorrufen. Die Reichweite der Harmonisierungsmaßnahmen auf fiskalisch bedeutsamen und steuerpolitisch sensiblen Gebieten des Steuerrechts steht in bedenklicher Diskrepanz zu erheblichen Defiziten an demokratischer Legitimation, die teils den institutionellen Rahmenbedingungen der Union1 und teils den Besonderheiten der steuerspezifischen Kompetenznormen geschuldet sind. Darüber hinaus führt das Einstimmigkeitserfordernis im Rat zur Versteinerung des harmonisierten Steuerrechts, was sich besonders deutlich am Reformstau im Mehrwertsteuerrecht2 zeigt. An der Notwendigkeit einstimmiger Beschlüsse ist auch das Projekt einer unionsweiten Finanztransaktionsteuer3 gescheitert. Es soll nunmehr im Wege verstärkter Zusammenarbeit i.S.d. Art. 20 EUV vorerst nur von einer Kerngruppe „williger“ Mitgliedstaaten – darunter auch Deutschland – verwirklicht werden4; ein Novum auf dem Gebiet des harmonisierten Steuerrechts. Abgesehen von der steuerpolitischen bzw. finanzwissenschaftlichen Fragwürdigkeit dieser an die „Tobin-Tax“ (Tobin, Eastern Economic Journal 1978, 153) angelehnten Steuer5 sieht sich der entsprechende Richtlinienvorschlag der Kommission zu Recht auch unionsrechtlichen sowie völkerrechtlichen Einwänden ausgesetzt6. Derzeit steht zudem angesichts der erheblichen politischen Differenzen auch innerhalb des Kreises teilnehmender Mitgliedstaaten zu befürchten, dass sich diese nur auf die Einführung einer hinsichtlich ihres sachlichen Anwendungsbereichs deutlich zurückgenommenen Version dieser Steuer – voraussichtlich zum 1.1. 2016 – werden einigen können. Die Finanztransaktionsteuer droht damit neben der Erbschaftsteuer zu einem weiteren Anwendungsfall verfehlter Steuersymbolpolitik mit erheblichen Wettbewerbsnachteilen für den Wirtschaftsstandort zu verkommen. 67
Durch Verordnungen harmonisiert ist der Bereich des Zollrechts. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang der Gemeinsame Zolltarif7 und der alle grundlegenden zollrechtlichen Vorschriften zusammenfassende Zollkodex (ZK)8, der zum 1.5.2016 durch den Unionszollkodex (UZK)9 abgelöst wird.
2. Harmonisierung der direkten Steuern 68
Die Harmonisierung der direkten Steuern erfolgt regelmäßig auf der Grundlage des Art. 115 AEUV (s. Art. 114 II AEUV). Sie setzt damit einen unmittelbaren Binnenmarktbezug der Harmonisierung voraus10. Außerdem aktiviert sie mit besonderer Intensität die in Art. 5 EUV niedergelegten Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. Denn sowohl der Stel1 Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 10 EUV Rz. 51 ff.; Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, § 1 Rz. 28 f. 2 S. dazu das Grünbuch der Kommission v. 1.12.2010, KOM(2010) 695 endg. 3 S. RL-Vorschlag der Kommission v. 28.9.2011, KOM(2011) 594 endg.; dazu Henkow, EC Tax Review 2012, 5; Hernández González-Barreda, Intertax 2013, 208. 4 S. RL-Vorschlag der Kommission v. 14.2.2013, KOM(2013) 71 endg.; s. auch Vogel/Cortez, ET 2013, 145; Kempf/Walter-Yadegardjam, MwStR 2013, 150; Ruckes/Lappas, IStR 2013, 255. Die Klage Großbritanniens gegen den diesbzgl. Ermächtigungsbeschluss des Rates v. 22.1.2013 (s. dazu Panayi, ET 2013, 358) hat der EuGH abgewiesen (EuGH v. 30.4.2014 – C-209/13, Großbritannien/Rat, EU:C:2014:283) und auf die Mglk. einer Anfechtung der etwaigen späteren RL verwiesen. 5 S. Englisch, ISR 2013, 387, m.w.N.; Kaiding, EC Tax Review 2014, 30. 6 S. Englisch/Vella/Yevgenyeva, British Tax Review 2013, 223 (236 ff.); a.A. Tietje/Bering/Zuber, Völker- und europarechtliche Zulässigkeit extraterritorialer Anknüpfung einer Finanztransaktionssteuer, 2014. 7 VO Nr. 2658/87 des Rates v. 23.7.1987, ABl. L 256 v. 7.9.1987, 1. 8 VO (EWG) Nr. 2913/92 v. 12.10.1992. 9 VO (EU) Nr. 952/2013 v. 9.10.2013. 10 Ausf. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Seiler, Art. 113 AEUV Rz. 52; Schrauwen in Weber (Hrsg.), Traditional and alternative Routes to European Tax Integration, 2010, 16 ff.
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Rechtsgrundlagen und Stand steuerrechtlicher Harmonisierung
Rz. 70
§4
lenwert der direkten Steuern im Steuersystem wie auch deren Ausgestaltung bringen die je mitgliedstaatspezifischen Vorstellungen von Steuergerechtigkeit und Umverteilungsgerechtigkeit in besonderem Maße zum Ausdruck. Es ist daher bei jedem EU-Gesetzesvorhaben auf diesem Gebiet genau abzuwägen, ob und inwieweit das Funktionieren des Binnenmarkts eine Rechtsangleichung gerade auf europäischer Ebene erfordert und ob die bestehenden Hindernisse so gravierend sind, dass ihre Beseitigung durch Harmonisierung den damit einhergehenden Verlust von Steuersouveränität zu legitimieren vermag. Die 1967 von der Kommission angestrebte umfassende Harmonisierung der direkten Steuern1 läuft nach heutigem Verständnis dem Subsidiaritätsprinzip zuwider; diesem Prinzip entspricht vielmehr das Konzept der Mindestharmonisierung2, wie es gegenwärtig bei den direkten Steuern praktiziert wird3. Realpolitisch schränkt freilich das Einstimmigkeitserfordernis (Art. 115 AEUV) die Möglichkeiten einer Harmonisierung ohnehin stark ein. Angesichts des intensiven Steuerwettbewerbs zwischen den Mitgliedstaaten wäre zwar zumindest im Körperschaftsteuerrecht eine Rechtsangleichung wohl auch auf Grundlage des bei Wettbewerbsverfälschungen greifenden Art. 116 AEUV und damit im Wege des Mehrheitbeschlusses (Art. 289 I; 294 AEUV) möglich4. Die insoweit initiativberechtigte Kommission hat von dieser Ermächtigung aber bislang noch keinen Gebrauch gemacht. Eine neue Dynamik könnte die Steuerrechtsangleichung aber durch die Möglichkeit einer verstärkten Zusammenarbeit einer Gruppe integrationswilliger Mitgliedstaaten nach dem Vorbild der geplanten Finanztransaktionsteuer (Rz. 66) erhalten. Bislang jedoch hat eine Rechtsangleichung auf dem Gebiet der direkten Steuern nur rudimentär und punktuell stattgefunden. Sie befasst sich vornehmlich mit der Koordination von nationalen Besteuerungsansprüchen, nicht mit einer Angleichung der ihnen zugrunde liegenden mitgliedstaatlichen Steuersysteme:
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a) Besteuerung von Unternehmen: Obwohl seit Jahrzehnten über eine Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung diskutiert wird5, sind bisher nur vereinzelte Harmonisierungserfolge zu verzeichnen6. Aus dem Jahr 1990 stammen die Mutter-Tochter-Richtlinie7 zur Vermeidung von Doppelbesteuerung grenzüberschreitender Schachteldividenden durch einen Vorrang der KSt-Erhebung im Ansässigkeitsstaat der Tochtergesellschaft8, die Fusionsrichtlinie9 zur Gewährleistung der Steuerneutralität grenzüberschreitender Umstrukturierungen und das Schiedsabkommen10. Letzteres stellt auf Grundlage des Art. 293 EGV a.F. in Fällen der Gewinnberichtigung zwischen verbundenen Unternehmen und der Abgrenzung von Betriebsstättengewinnen sicher, dass es zur Durchführung eines Schlichtungsverfahrens kommt. Erst im Jahr 2003 wurde
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1 S. Kommission, Programm für die Harmonisierung der direkten Steuern, Sonderbeilage zum Bulletin 8/1967. 2 Dazu Wagner, Das Konzept der Mindestharmonisierung, 2001. 3 Mitteilung der Kommission v. 23.5.2001, KOM(2001) 260 endg., 9; s. auch bereits Mitteilung der Kommission v. 20.4.1990, „Leitlinien zur Unternehmensbesteuerung“, SEK(90) 601 endg. = BRDrucks. 360/90. 4 Callies/Ruffert/Kahl4, Art. 116 AEUV m.w.N. zur parallelen Anwendbarkeit. 5 Zur Entwicklung der Harmonisierungsdebatte HHR/Hey, Einf. KSt Anm. 90 ff.; s. auch van Arendonk, FS Vanistendael, 2008, 1. 6 Eingehend zu den jeweiligen Maßnahmen Kellersmann u.a., Europäische Unternehmensbesteuerung II2, 2013. 7 Richtlinie des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (90/435/EWG), ABl. L 225 v. 20.8.1990, 6; neugefasst durch RL 2011/96/EU v. 30.11.2011, ABl. EU L 345/08, zuletzt geändert durch RL 2014/86/EU des Rates v. 8.7.2014. S. dazu Kofler, Mutter-Tochter-Richtlinie, Wien 2010. 8 In Deutschland umgesetzt durch die Quellensteuerfreiheit von Gewinnausschüttungen nach §§ 43b; 50d EStG sowie die – generelle – Steuerfreiheit von Dividendenbezügen nach § 8b I KStG. 9 Richtlinie des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen (90/434/EWG), ABl. L 225/1. 10 Übereinkommen v. 23.7.1990 über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen (90/436/EWG), ABl. L 225/10; dazu BMF BStBl. 2006, 461; Vögele/Forster, IStR 2006, 537; Bödefeld/Kuntschik, IStR 2009, 268.
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§4
Rz. 71
Europäisches Steuerrecht
mit der ebenfalls nur für verbundene Unternehmen geltenden Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie1 die nächste Harmonisierungsmaßnahme verabschiedet, die vornehmlich auf ein Verbot der Quellensteuererhebung bei grenzüberschreitenden Zins- und Lizenzgebührenzahlungen zwischen verbundenen Unternehmen im Binnenmarkt abzielt2. Nach Ansicht des EuGH kann außerdem das harmonisierte Handelsbilanzrecht in Mitgliedstaaten, die wie Deutschland für Zwecke der steuerbilanziellen Gewinnermittlung über einen Maßgeblichkeitsgrundsatz an handelsrechtliche GoB anknüpfen (s. § 9 Rz. 40 ff.), Folgewirkungen für das – als solches nicht harmonisierte – Steuerbilanzrecht haben3.
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Seit über 10 Jahren verfolgt die Kommission das ehrgeizige Ziel einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB = engl. CCCTB für „Common Consolidated Corporate Tax Base“)4. Sie hat dazu im Frühjahr 2011 einen Richtlinienvorschlag vorgelegt5. Grundanliegen ist die Schaffung eines – optionalen – Regimes unionsweit einheitlicher Regelungen zur Konzernbesteuerung für in der EU ansässige oder niedergelassene Körperschaftsteuersubjekte. Die Bemessungsgrundlage soll sich an den internationalen Rechnungslegungsstandards IAS/IFRS orientieren6. Weitere Kernelemente sind die Konsolidierung von Transaktionen zwischen Konzerngesellschaften sowie als notwendige Ergänzung ein System der formelmäßigen Aufteilung der konsolidierten Bemessungsgrundlage unter den betroffenen Mitgliedstaaten anhand eines bestimmten Verteilungsschlüssels7. Darüber hinaus beinhaltet der Kommissionsvorschlag zahlreiche Übergangsregelungen sowie administrative Vorgaben. In seiner derzeitigen Fassung hat er jedoch absehbar keine Realisierungschancen. Kommission und Rat haben dies realisiert und streben nun eine schrittweise Einführung unter (vorläufigem) Verzicht auf eine Konsolidierung an8. 1 Richtlinie des Rates v. 3.6.2003 über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten (2003/49/EG), ABl. L 157 v. 26.6.2003, 49; dazu Schöllhorn, Die Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie, 2013. 2 In Deutschland umgesetzt durch die §§ 50d; 50g EStG; s. hierzu Hahn, EWS 2008, 273. 3 S. EuGH C-306/99, BIOA, Rz. 90 ff.; v. 3.10.2013 – C-322/12, GIMLE, EU:C:2013:632, Rz. 28. 4 Dazu umfassend Lang/Pistone/Schuch/Staringer, Common Consolidated Corporate Tax Base, Wien 2008; ferner Schreiber, StuW 2004, 212; Gammie u.a., Achieving a Common Consolidated Corporate Tax Base in the EU, 2005; Endres/Oestreicher/Scheffler/Spengel, The Determination of Corporate Taxable Income in the EU Member States, Alphen aan den Rijn 2007; Wiss. Beirat beim BMF, Einheitliche Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer in der EU, 2007; Spengel/Wendt, StuW 2007, 297; Schön/Schreiber/Spengel (Hrsg.), A Common Consolidated Corporate Tax Base for Europe, 2008; Braunagel, Die Gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage in der EU, 2008; Kußmaul/ Niehren/Pfeifer, StuW 2010, 177; Dahlke, Harmonisierung der Konzernbesteuerung in der Europäischen Union, 2011; Lang u.a. (Hrsg.), Corporate Income Taxation in Europe, 2013; Garbarino, EC Tax Review 2014, 16. S. ferner die Aufsätze von Andersson, Weiner, Jarass/Obermair, Kemmeren und Kubik/Massoner in der Ausgabe 17/2008 der EC Tax Review und den Überblick zur wissenschaftlichen Diskussion bei Celebi, EC Tax Review 2013, 289. Offizielle Dokumente und aktuelle Informationen stellt die Kommission online (http://ec.europa.eu/taxation–customs/taxation/company– tax/common–tax–base/index–en.htm). 5 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) v. 16.3.2011, KOM(2011) 121/4. S. dazu Vascega/van Thiel, ET 2011, 374; Cerioni, Bull. Int. Taxation 2011, 515; van den Hurk, Bull. Int. Taxation 2011, 260; Kemmeren, EC Tax Review 2011, 208; Scheffler/Krebs, DStR-Beihefter 2011, 13; M. Lang, ET 2011, 223 (allgemeine Missbrauchsklausel); van Eijsden, EC Tax Review 2011, 217 (steuerverfahrensrechtliche Aspekte); Förster/Krauß, IStR 2011, 607; Rautenstrauch, EWS 2011, 161; Kußmaul/Niehren, StB 2011, 344; Prinz, StuB 2011, 461; Weber (Hrsg.), CCCTB: Selected Issues, Alphen aan den Rijn 2012; Borg, Intertax 2013, 581 (Verluste). 6 Dazu grundl. Herzig, IAS IFRS und steuerliche Gewinnermittlung, 2004; Jaatinen, Intertax 2012, 260. 7 S. Hernler, ET 2004, 246; Russo, Intertax 2005, 2; Bogerd, EC Tax Review 2007, 274; Panayi, ET 2008, 114; Schettler, FS Reiß, 2008, 529; Weiner, EC Tax Review 2008, 100; Mors/Rautenstrauch, Ubg. 2008, 97; Spengel/Oestreicher, DStR 2009, 773; van de Streek, Intertax 2012, 24; Petutschnig, StuW 2012, 192; Massoner, Konsolidierung im Rahmen der Common Consolidated Corporate Tax Base (CCCTB), 2013. 8 S. Scheffler/Köstler, DStR 2014, 664; s. zu den absehbaren Auswirkungen auch Oestreicher u.a., StuW 2014, 326.
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Keine Beachtung schenkt die Kommission bisher der notwendigen Korrektur der gegenläufigen Zuweisung der Besteuerungsrechte für Fremd- und Eigenkapitalvergütungen durch die Mutter-Tochter-Richtlinie und die Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie. Der unionsweite Zwang zum Verzicht auf die Erhebung von Quellensteuern auf Zinsen hat sich als Irrweg erwiesen. Er verhindert die Verwirklichung grenzüberschreitender Finanzierungsneutralität und zwingt die Mitgliedstaaten, zur Sicherung des inländischen Steuersubstrats das Nettoprinzip verletzende Zinsabzugsverbote einzusetzen (dazu § 11 Rz. 49 ff.).
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b) Eindämmung der Steuerhinterziehung auf private Zinserträge: Am 3.6.2003 wurde „zur Gewährleistung eines Minimums an effektiver Besteuerung von Zinserträgen innerhalb der Gemeinschaft“ die sog. Zinsrichtlinie verabschiedet1. In Deutschland wurde diese Richtlinie durch die Zinsinformationsverordnung2 umgesetzt. Das Problem der Besteuerung von Zinsen besteht in der Mobilität und Anonymität des Geldkapitals, das nach dem Abbau von Kapitalverkehrskontrollen und -beschränkungen leicht im Ausland angelegt werden kann. Existenz und Erträge dieses Kapitals werden dem heimischen Fiskus dann häufig verschwiegen. Die Zinsrichtlinie sucht dem primär durch Vorgaben zum umfassenden Informationsaustausch über grenzüberschreitende Zinszahlungen an natürliche Personen entgegenzuwirken. Der Anwendungsbereich der Zinsrichtlinie ist jüngst signifikant ausgedehnt worden3, dabei konnten bislang bestehende Schlupflöcher4 jedenfalls zum Teil geschlossen werden5. Zwar ist ihre territoriale Reichweite auf Europa begrenzt; sie wird aber inzwischen flankiert durch stetig intensivierte globale Bemühungen um einen automatischen Informationsaustausch v.a. auf dem Gebiet der Kapitaleinkünfte6.
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Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten
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Einstweilen frei.
D. Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten Literatur zu Grundsatzfragen: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000; Lechner/Staringer/Tumpel, Kapitalverkehrsfreiheit und Steuerrecht, 2000; Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002; von Thiel, Free Movement of Persons and Income Tax Law: The European Court in Search of Principles, Amsterdam 2002; Englisch, Zur Dogmatik der Grundfreiheiten des EGV und ihren ertragsteuerlichen Implikationen, StuW 2003, 88; Kaiser, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten des EG-Vertrages auf das deutsche Steuerrecht, 2006; Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages auf das Ertragsteuerrecht, 2006; Vanistendael (Hrsg.), EU Freedoms and Taxation, 2006; Kube, EuGH und Steuerrecht, in Reimer u.a. (Hrsg.), Europäisches Gesellschafts- und Steuerrecht, 2007, 225; Wunderlich, Direkte Steuern und Grundfreiheiten der EU, EuR 2007 Beiheft 3, 7; Musil, Rechtsprechungswende des EuGH bei den Ertragsteuern?, DB 2009, 1037; Kokott/Ost, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, EuZW 2011, 496; M. Lang, 2005 – Eine Wende in der steuerlichen Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten?, in FS Spindler, 2011, 297; Douma, Non-discriminatory Tax Obstacles, EC Tax Review 2012, 67; Smit, EU Freedoms, Non-EU Countries and Company Taxation, Alphen aan den Rijn 2012; Straßburger, Die Dogmatik der EU-Grundfreiheiten, 2012; Schaper, The Structure and Organisation of EU Law in the Field of Direct Taxes, Amsterdam 2013; Hörner, Die negative Integration einzelstaatlicher Steuerrechtsordnungen, 2014; Mitschke, Direktes Europäisches Steuerrecht auf Schlingerkurs, IStR 2014, 37; Ros, EU Citizenship and Taxation, EC Tax Review 2014, 43. 1 Richtlinie 2003/48/EG des Rates v. 3.6.2003 im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen, ABl. L 157 v. 26.6.2003, 38. S. hierzu Sailer/Ismer, IStR 2005, 1; Seiler, IStR 2004, 781; Sandt, Der unfaire Steuerwettbewerb und die Harmonisierung der Zinsbesteuerung, Diss. Köln, 2006. 2 BGBl. I 2004, 128; Ermächtigung: § 45e EStG; s. auch BMF BStBl. I 2008, 320. 3 S. Änderungsrichtlinie 2014/48/EU des Rates v. 24.3.2014; dazu Kudert/Kopec, PIStB 2014, 218. 4 S. dazu Schwarz, IStR 2006, 83: Lücken; Sandt, Der unfaire Steuerwettbewerb und die Harmonisierung der Zinsbesteuerung, Diss., 2006, 184 ff. 5 S. Strub, IStR 2014, 313. 6 S. Czakert, ISR 2013, 409; Seer, EC Tax Review 2013, 66; OECD, Bringing the International Tax Rules into the 21st Century, 2014, S. 5 f.
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§4
Rz. 79
Europäisches Steuerrecht
Literatur zu speziellen Themenbereichen (Auswahl): Busch, Deutsches Erbschaftsteuerrecht im Lichte der europäischen Grundfreiheiten, IStR 2002, 448 (Teil I) und IStR 2002, 475 (Teil II); Schön, Unternehmensbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, JbFSt. 2003/2004, 23; Schönfeld, Hinzurechnungsbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2005; Weber, Tax Avoidance and the EC Treaty Freedoms, Den Haag 2005; Cordewener u.a. (Hrsg.), Meistbegünstigung im Steuerrecht der EUStaaten, 2006; Wattel, EC Treaty Freedoms, tax treaties and national courts, in Maisto (Hrsg.), Courts and Tax Treaty Law, Amsterdam 2007; Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2007; Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007; Smit/Kiekebeld, EC Free Movement of Capital, Corporate Income Taxation and Third Countries: Four Selected Issues, Alphen aan den Rijn 2008; Fuest/Mitschke (Hrsg.), Nachgelagerte Besteuerung und EU-Recht, 2008; Amler, Direkte Steuern, EG-Grundfreiheiten und die deutsche Unternehmensteuerreform, 2009; Führch, Der Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf die deutsche Unternehmensbesteuerung, 2009; Lissner, Das Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht unter dem Einfluss der europäischen Grundfreiheiten, 2009; Braun, Die Wegzugsfreiheit als Teil der Niederlassungsfreiheit, 2010; Friese, Rechtsformwahlfreiheit im Europäischen Steuerrecht, 2010; Schröder, Meistbegünstigung im Steuerrecht auf Basis der Grundfreiheiten, 2011; Weber/da Silva (Hrsg.), From Marks & Spencer to X Holding, Alphen aan den Rijn 2011; Lohmann, Die Europarechtskonformität der Hinzurechnungsbesteuerung in der Fassung des JStG 2008, 2012; Glahe, Einkünftekorrektur zwischen verbundenen Unternehmen, 2012; Schön, Deutsche Hinzurechnungsbesteuerung und Europäische Grundfreiheiten, Beihefter 3 IStR 2013; Simader, Withholding Taxes and the Fundamental Freedoms, Alphen aan den Rijn 2013; Neyt/Peeters, Balanced Allocation and Coherence: Some Thoughts in Light of Argenta and K, EC Tax Review 2014, 64; Traversa, Tax Incentives and Territoriality within the European Union: Balancing the Internal Market with the Tax Sovereignty of Member States, World Tax Journal 2014, 315; Wrede, Europarecht und Erbschaftsteuer, 2014.
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Der EuGH hat seit 1986 die Grundfreiheiten verstärkt herangezogen, um diskriminierende bzw. beschränkende Bestimmungen der mitgliedstaatlichen Steuersysteme für unanwendbar zu erklären1. Die Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit den Grundfreiheiten erfolgt – tendenziell auch in der Entscheidungspraxis des Gerichtshofs – im Wege einer dreistufigen Prüfung: Auf der ersten Stufe ist über die Anwendbarkeit einer oder mehrerer Grundfreiheit(en) i.S.d. Art. 26 AEUV auf den in Rede stehenden Sachverhalt (bei Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV) bzw. auf die maßgebliche Norm (v.a. bei Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV) zu entscheiden. Dabei ist nach sachlichem, persönlichem, räumlichem und zeitlichem Anwendungsbereich zu differenzieren; außerdem sind ggf. Grundfreiheitskonkurrenzen zu klären. In einem zweiten Schritt ist ein möglicher Verstoß gegen die je einschlägige Grundfreiheitsgewährleistung zu prüfen. Regelmäßig erfolgt diese Analyse in zwei Teilschritten: Erstens muss das Steuerrecht des Mitgliedstaates eine materiell-rechtliche oder verfahrensrechtliche Schlechterstellung von grenzüberschreitenden Vorgängen gegenüber bestimmten rein innerstaatlichen Vorgängen bewirken. Zweitens müssen beide Vorgänge miteinander vergleichbar sein. Ist ein Verstoß zu bejahen, so wird schließlich auf einer dritten Stufe untersucht, ob eine hinreichende Rechtfertigung für die entsprechende Grundfreiheitsbeschränkung vorliegt. Dazu bedarf es der Geltendmachung eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes durch den betroffenen Mitgliedstaat; außerdem muss der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt werden. In diesem Zusammenhang verlangt der Gerichtshof schließlich auch die folgerichtige Umsetzung des geltend gemachten Rechtfertigungsgrundes.
1. Anwendungsbereich 80
Die Grundfreiheiten sind zunächst nur anwendbar auf besteuerungsrelevante Sachverhalte mit einem grenzüberschreitenden Bezug; rein innerstaatliche Vorgänge genießen keinen Grundfreiheitsschutz2. Die sodann erforderliche Zuordnung zum sachlichen Anwendungsbereich 1 S. dazu auch die eingehende empirische Analyse der maßgeblichen Präjudizien durch Schaper, Bulletin for International Taxation 2014, 236. Krit. Elwes, Intertax 2013, 15. 2 Vgl. EuGH C-112/91, Werner, Rz. 12 ff. (diese Entscheidung würde allerdings inzwischen im Lichte des allgemeinen Freizügigkeitsrechts des Art. 21 I AEUV anders ausfallen); C-415/93, Bosman, Rz. 89; C-18/95, Terhoeve, Rz. 26; Callies/Ruffert/Brechmann4, Art. 45 AEUV Rz. 42; Terra/Wattel, European Tax Law6, 32; Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 2005, 49.
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Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten
Rz. 81
§4
einer der Grundfreiheiten spielt vor allem wegen der daran geknüpften Voraussetzungen an die persönliche, räumliche und zeitliche Anwendbarkeit eine Rolle. Dabei ist die Besteuerung von Arbeitnehmern typischerweise an der Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 45 AEUV zu messen1, wohingegen für die Besteuerung von selbständiger bzw. unternehmerischer Erwerbstätigkeit ohne auf Dauer angelegte Präsenz im Bestimmungsland regelmäßig die Dienstleistungsfreiheit des Art. 56 AEUV einschlägig ist2. Die Kapitalverkehrsfreiheit des Art. 63 AEUV wiederum ist von zentraler Bedeutung im Bereich der Besteuerung von Finanzanlagen3 und sonstiger Investitionen ohne Niederlassungscharakter4 sowie hinsichtlich grenzüberschreitender Erbschaften5, Schenkungen und Spenden6. Das weite Feld der Besteuerung von Betrieben und Betriebsstätten (Unternehmensbesteuerung i.e.S.) unterfällt vornehmlich der Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV7; dasselbe gilt für die Besteuerung von Einkünften aus unternehmerischen Beteiligungen oder aus Vorgängen zwischen verbundenen Unternehmen8. Eine solche unternehmerische Beteiligung ist immer dann anzunehmen, wenn die jeweils in Rede stehende Beteiligung ihrem Inhaber eine maßgebliche Einflussnahme auf die Geschäftsführung einer anderen Gesellschaft sichert und es ihr ermöglicht, deren Tätigkeiten zu bestimmen9. Daneben wird in solchen Konstellationen meist auch der sachliche Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit tangiert sein. Ist keine Grundfreiheit sachlich einschlägig, ist subsidiär noch zu prüfen, ob das Freizügigkeitsrecht des Art. 21 AEUV oder das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV als verletzt in Betracht kommen. Mit Ausnahme der Kapitalverkehrsfreiheit weisen alle vorerwähnten Freizügigkeitsrechte auch einen persönlichen Anwendungsbereich auf. Dieser kann je nach Grundfreiheit und konkretem Gewährleistungsgehalt an die Ansässigkeit innerhalb der EU oder an die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates anknüpfen; s. dazu i.E. Art. 21; 45 II; 49; 54; 56 AEUV. Davon zu unterscheiden ist die Frage, wer die Beschränkung einer Grundfreiheit geltend machen kann. Dies wird vom EuGH weitergehend jedem Stpfl. zugestanden, dem aufgrund eines Zusammenhangs mit einem grundfreiheitlich geschützten Vorgang eine steuerliche Mehrbelastung auferlegt wird, auch wenn er das Freizügigkeitsrecht nicht selbst ausgeübt hat10. Der territoriale Anwendungsbereich der Grundfreiheiten reicht über das Gebiet der EU-Mitgliedstaaten11 hinaus. Das EWR-Abkommen enthält ebenfalls alle vier maßgeblichen Grundfreiheiten; diese sind nach der st. Rspr. des EuGH sowie des EFTA-Gerichtshofs in Übereinstim1 Vgl. bspw. EuGH C-279/93, Schumacker, Rz. 22 f.; C-182/06, Lakebrink, Rz. 12 ff. 2 Vgl. bspw. EuGH C-294/97, Eurowings, Rz. 33 ff.; C-234/01, Gerritse, Rz. 23 f.; C-290/04, Scorpio, Rz. 31 ff.; C-153/08, Kommission/Spanien, Rz. 29. 3 Vgl. bspw. EuGH C-35/98, Verkooijen, Rz. 25 ff.; C-315/02, Lenz, Rz. 17 ff.; C-292/04, Meilicke, Rz. 20 ff. 4 Vgl. bspw. EuGH C-386/04, Stauffer, Rz. 16 ff.; C-451/05, ELISA, Rz. 57 ff. 5 S. bspw. EuGH C-513/03, van Hilten-van der Heijden, Rz. 36 ff.; C-256/06, Jäger, Rz. 28 ff.; C-510/08, Mattner, Rz. 18 ff. 6 S. EuGH C-318/07, Persche, Rz. 23 ff. 7 S. bspw. EuGH C-270/83, „avoir fiscal“; C-311/97, Royal Bank of Scotland; C-251/98, Baars; C-324/00, Lankhorst-Hohorst; C-234/01, Gerritse; C-J033/91, Commerzbank; C-J008/94, Wielockx. 8 S. bspw. EuGH C-194/04, Cadbury Schweppes, Rz. 32 f.; C-524/04, Thin Cap Group Litigation, Rz. 33 f. Maßgeblich ist nach der Rspr., ob die Beteiligung dem Inhaber eine maßgebliche Einflussnahme auf die Geschäftsführung einer anderen Gesellschaft sichert und es ihm ermöglicht, deren Tätigkeiten zu bestimmen. Eine Mehrheitsbeteiligung ist nicht erforderlich, vgl. EuGH C-168/01, Bosal Holding, Rz. 26 i.V.m. Art. 3 I der Mutter-Tochter-Richtlinie 90/435/EWG. 9 S. bspw. EuGH C-194/04, Cadbury Schweppes, Rz. 32 f.; C-524/04, Thin Cap Group Litigation, Rz. 33 f.; BFH v. 29.8.2012 – I R 7/12, BStBl. 2013, 89, Rz. 13. S auch BFH v. 6.3.2013 – I R 10/11, BStBl. 2013, 708, Rz. 18 (jedenfalls typischerweise bei Beteiligungen von 10 % an aufwärts); s. aber auch EuGH v. 11.9.2014 – C-47/12, Kronos International, EU:C:2014:2200, Rz. 35: Beteiligung von 10 % nicht schon per se ausreichend. 10 S. EuGH v. 6.9.2012 – C-18/11, Philips Electronics UK, EU:C:2012:532, Rz. 38 f.; v. 1.4.2014 – C-80/12 – Felixstowe Dock and Railway Company u.a., EU:C:2014:200, Rz. 23. Krit. Henze, ISR 2014, 384 (385). 11 Zu Besonderheiten im Verhältnis zu assoziierten oder abhängigen Überseegebieten der Mitgliedstaaten s. Smit, Intertax 2011, 40; Linn/Müller, IWB 2011, 448 (450 ff.).
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Europäisches Steuerrecht
mung mit ihrem jeweiligen Pendant im AEUV auszulegen1. Die Niederlassungsfreiheit sowie die Freizügigkeit von Arbeitnehmern sind ferner auch im Wirtschaftsverkehr zwischen einem Mitgliedstaat der EU und der Schweiz kraft des bilateralen Freizügigkeitsabkommens (Rz. 4) gewährleistet2. Ähnliches lässt sich aufgrund der jeweiligen Assoziierungsabkommen auch für einige der EU assoziierte Staaten feststellen. Von besonderer Bedeutung ist schließlich die Einbeziehung jeglicher grenzüberschreitender Vorgänge zwischen einem EU/EWR-Mitgliedstaat einerseits und einem beliebigen Drittstaat andererseits in das Verbot der steuerlichen Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs nach Art. 63 AEUV3. Allerdings sind diesbezüglich gewisse Bereichsausnahmen in der sog. „Grandfathering-Klausel“ des Art. 64 I AEUV vorgesehen4; außerdem bestehen hier evtl. erweiterte Rechtfertigungsmöglichkeiten für steuerliche Diskriminierungen5. 82
Ist ein Freizügigkeitsrecht gegenüber dem anderen im konkreten Anwendungsfall nachrangig, weil letzteres schwerpunktmäßig betroffen ist, so entfaltet es keine Schutzwirkung. Von Bedeutung ist die Klärung von Grundfreiheitskonkurrenzen vor allem bei der Kontrolle unternehmenssteuerrechtlicher Sachverhalte mit Drittstaatsbezug anhand der Niederlassungs- und der Kapitalverkehrsfreiheit wegen deren je unterschiedlicher territorialer Reichweite. Dabei hat sich der Gerichtshof schon früh gegen die Ansicht6 gewandt, dass Kapitalverkehrsfreiheit und Niederlassungsfreiheit in solchen Konstellationen stets parallel anwendbar sind, also im Verhältnis der Idealkonkurrenz zueinander stehen7. Längere Zeit war aber unklar, ob eine etwaige Subsidiarität der Kapitalverkehrsfreiheit schon bei sachlicher Einschlägigkeit der Niederlassungsfreiheit im jeweiligen Einzelfall eintreten soll oder aber nur, wenn die beschränkungsverdächtige Norm schon tatbestandlich stets auch die Niederlassungsfreiheit berührt: Zahlreiche Entscheidungen verfolgten zunächst den erstgenannten, weitergehenden Ansatz8; es gab aber auch abweichende Urteile9. Mit der Entscheidung der Großen Kammer des EuGH in der Rs. FII Group Litigation II hat der Gerichtshof nunmehr aber endgültig dem zweiten Ansatz den Vorzug gegeben10: Erfasst eine den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr benachteiligende steuerliche Regelung schon abstrakt nicht ausschließlich solche Beteiligungen bzw. Vorgänge, die der Niederlassungsfreiheit unterfallen11, so kommt es auf die tatsächlichen Verhältnisse im konkreten Einzelfall nicht mehr an: Es ist stets – jedenfalls auch – die Kapitalverkehrsfreiheit anwendbar und damit eine Grundfreiheitsprüfung auch im Verhältnis zu Drittstaaten durchzuführen. In Deutschland ist dies bspw. wegen § 1 II Nr. 3 AStG für die Verrechnungspreiskorrekur nach § 1 AStG zu bejahen. Nur wenn eine beschränkungsverdächtige Norm allein auf Konstellationen unternehmerischer Beteiligungen bzw. Vorgänge anwendbar ist (z.B. Organschaftsregeln), bleibt es bei der Versagung des 1 Vgl. EuGH C-521/07, Kommission/Niederlande, Rz. 33; C-540/07, Kommission/Italien, Rz. 65 f., m.w.N.; EFTA-Gerichtshof E-1/04, Fokus Bank, EFTA Court Report 2004, 11, Rz. 22 f. 2 Dazu eingehend Maier, Die steuerlichen Implikationen der Mobilitätsgarantien des Freizügigkeitsabkommens Schweiz-EU, 2013. Hingegen gilt mit Blick auf die Dienstleistungsfreiheit kein steuerliches Diskriminierungsverbot, vgl. EuGH C-70/09, Hengartner, Rz. 35 ff. 3 S. bspw. EuGH C-101/05, „A“, Rz. 31 ff.; C-194/06, Orange European Smallcup Fund, Rz. 87 ff. Entgegen Schön, FS Wassermeyer, 2005, 489 (502 ff.) besteht im Drittstaatenkontext keine steuerliche Bereichsausnahme. S. auch Pistone, Intertax 2006, 234; Schönfeld, DB 2007, 80; Cordewener/Kofler/ Schindler, ET 2007, 107; M. Lang, StuW 2011, 209. 4 S. bspw. EuGH C-157/05, Holböck, Rz. 31 ff.; C-101/05, „A“, Rz. 45 ff. 5 S. EuGH C-101/05, „A“, Rz. 60 ff.; C-540/07, Kommission/Italien, Rz. 69 ff.; C-267/09, Kommission/Portugal, Rz. 54 ff.; s. auch M. Lang, StuW 2011, 209 (218 ff.). 6 S. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, 219 ff.; Rust, DStR 2009, 2568 (2569 ff.); Cordewener, EC Tax Review 2009, 260 (262 f.). 7 S. bspw. EuGH C-102/05, „A und B“, Rz. 25 ff.; C-284/06, Burda, Rz. 68 ff.; C-439/07 und C-499/07, KBC Bank, Rz. 68 ff. 8 Vgl. EuGH v. 12.12.2006 – C-446/04, FII GL, Slg. 2006, I-11753, Rz. 37 ff. und Rz. 80 ff.; EuGH v. 26.6.2008 – C-284/06, Burda, Slg. 2008, I-4571, Rz. 71 ff.; EuGH v. 4.9.2009 – C-439/07, KBC Bank, Slg. 2009, I-4409, Rz. 69 ff. 9 Vgl. EuGH v. 17.9.2009 – C-182/08, Glaxo Wellcome, Slg. 2009, I-8591, Tz. 49; EuGH v. 24.5.2007 – C-157/05, Holböck, Slg. 2007, I-4051, Tz. 22 (vgl. jedoch auch Tz. 31). 10 Vgl. EuGH C-35/11, FII GL II, Rz. 90 ff., insb. Rz. 99; bestätigt durch EuGH v. 3.10.2013 – C-282/12, Itelcar, EU:C:2013:629, Rz. 16 ff.; v. 11.9.2014 – C-47/12, Kronos International, EU:C:2014:2200, Rz. 29 ff. S. auch die Analyse von Hindelang, IStR 2013, 77; Nijkeuter/de Wilde, EC Tax Review 2013, 250; Kraft/Hohage, IStR 2014, 174; Mörwald/Nreka, EWS 2014, 76. 11 S. dazu auch EuGH v. 3.10.2013 – C-282/12, Itelcar, EU:C:2013:629, Rz. 20 ff.
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Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten
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Grundfreiheitsschutzes im Drittstaatenkontext. Schließlich ist auf den Anwendungsvorrang des Art. 7 RL 1612/68 bei diskriminierender Versagung von Steuerentlastungen im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit hinzuweisen.
2. Gewährleistungsgehalt Für den Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheiten ist die Abgrenzung zwischen den einzelnen Grundfreiheiten hingegen zumindest bei der Prüfung steuerrechtlicher Normen regelmäßig ohne Relevanz, denn in der Rspr.-Entwicklung ist eine Konvergenz der jeweiligen Prüfungsstandards zu beobachten: Nahezu immer interpretiert der EuGH die Grundfreiheiten gleichheitsrechtlich, geht dabei aber weit über ihren (im Wortlaut z.T. noch anklingenden) ursprünglichen Kerngehalt eines Verbotes der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit hinaus: a) I.Erg. nimmt der Gerichtshof auf dem Gebiet des Steuerrechts regelmäßig einen Vergleich der steuerlichen (oder steuerverfahrensrechtlichen1) Belastung rein innerstaatlicher Vorgänge einerseits und vergleichbarer grenzüberschreitender Vorgänge andererseits vor2. Dabei schützen die Grundfreiheiten asymmetrisch nur vor einer steuerlichen Benachteiligung grenzüberschreitender Aktivitäten. Im Recht der direkten Steuern entspricht dies typischerweise dem Verbot einer steuerlichen Benachteiligung erstens von beschränkt Stpfl. gegenüber unbeschränkt Stpfl. sowie zweitens von Auslandseinkünften unbeschränkt Stpfl. im Verhältnis zu entsprechenden Inlandseinkünften. Dasselbe gilt für an einen grenzüberschreitenden Vorgang als solchen anknüpfenden Besteuerungsnachteil wie insb. eine Wegzugs- oder Entstrickungsbesteuerung. Der EuGH effektuiert die Grundfreiheiten ganz i.S. eines Raumes ohne Binnengrenzen (Art. 14 II EGV): Im Prinzip darf eine Transaktion zwischen Köln und Paris nicht anders behandelt werden als eine Transaktion zwischen Köln und München. Beispiel: Das Recht zur freien Niederlassung in anderen Mitgliedstaaten erfordert grds., dass EUbzw. EWR-ausländischen Betriebsstätten zuzurechnende Verluste in die steuerliche Bemessungsgrundlage des inländischen Stammhauses zu den gleichen Bedingungen wie die Verluste inländischer Niederlassungen einbezogen werden3. Ebenfalls unter dem Banner eines Verbotes der Diskriminierung grenzüberschreitender Aktivitäten muss ferner beschränkt Stpfl. ein Abzug von Erwerbsaufwendungen im Zusammenhang mit im Inland steuerbaren Einkünften nach denselben Grundsätzen zuerkannt werden, die für unbeschränkt Stpfl. gelten4. Eine Entstrickungsbesteuerung (nur) bei Verbringung von Wirtschaftsgütern in eine ausländische Betriebsstätte (s. § 4 I 3, 4 EStG) ist grds. unzulässig, soweit sie zu Liquiditätsnachteilen im Vergleich zu einem rein innerstaatlichen Verbringen führt5.
Dabei können die Mitgliedstaaten grds. nicht einwenden, dass bestimmte Nachteile – wie etwa bloße Liquiditätsnachteile6 – eher gering ausfallen, denn die Grundfreiheiten kennen nach st. 1 S. dazu bspw. EuGH C-55/98, Verstergaard, Rz. 21 f.; C-470/04, „N“, Rz. 38; C-433/04, Kommission/Belgien, Rz. 30 ff.; C-155/08, X & Passenheim van Schoot, Rz. 34 ff.; C-132/10, Halley, Rz. 23 ff. 2 Vanistendael, ET 2006, 423 (418 ff.); Weber, Intertax 2006, 585 (588, 592 ff.); Kofler/Mason, Columbia Journal of European Law 2007, 63 (79 ff.); Thiel, Tax Law Review 2008, 143 (151 ff.); Wattel, Tax Law Review 2008, 205 (215 ff.); Englisch in Lang (Hrsg.), ECJ – Recent Developments in Direct Taxation, Wien 2008, 113 (134 ff.); M. Lang, EC Tax Review 2009, 98 (99); M. Gammie, WTJ 2010, 162 (171); exemplarisch etwa EuGH C-337/08, X Holding, Rz. 18 ff.; EuGH v. 12.6.2014 – C-39/13 u.a., SCA Group Holding u.a., Rz. 48. 3 EuGH C-414/06, Lidl Belgium, Rz. 23 ff.; Dörfler/Ribbrock, BB 2008, 649 (653 f.); Eisenbarth, IStR 2010, 309. 4 EuGH C-234/01, Gerritse, Rz. 25 ff.; C-345/04, Centro Equestre, Rz. 18 ff.; Cordewener, IStR 2003, 109; Schnitger, FR 2003, 745; Sedemund, DStZ 2004, 372. 5 Vgl. EuGH C-371/10, National Grid Indus; sowie bereits im Vorfeld EuGH C-9/02, De Lasteyrie du Saillant; C-470/04, „N“. S. dazu auch Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 2005, 192 ff.; Fischer, FR 2004, 630; Lenz, DB 2011, Beilage Heft 51/52, M 1; Körner, IStR 2012, 1; Mitschke, IStR 2012, 6. 6 Vgl. z.B. EuGH C-35/08, Busley/Cibrian, Rz. 26; v. 11.9.2014 – C-47/12, Kronos International, EU:C:2014:2200, Rz. 79 f.
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Rz. 84
Europäisches Steuerrecht
Rspr. keinen Deminimis-Vorbehalt1. Dies kann allenfalls für die Frage der Verhältnismäßigkeit ihrer Beschränkung eine Rolle spielen. Allerdings hat der EuGH jüngst zu erkennen gegeben, dass er wohl nur bei gravierenden Belastungsunterschieden auch die faktische Benachteiligung grenzüberschreitender Vorgänge als grundfreiheitswidrig beanstandet, wenn eine belastende Steuerregelung zwar tatbestandlich neutral ist, d.h. nicht an Merkmale mit grenzüberschreitendem Bezug (Ansässigkeit etc.) anknüpft, nachteilige Rechtsfolgen aber de facto „meistens“ bei Stpfl. eintreten, die von ihren Freizügigkeitsrechten Gebrauch gemacht haben2. Ähnliches dürfte für einheitlich anwendbare verfahrensrechtliche Erfordernisse geltend, die speziell im grenzüberschreitenden Kontext eine besondere Erschwernis für den Stpfl. bedeuten3. 84
Beim Belastungsvergleich grenzüberschreitender Aktivitäten einerseits und inländischer Aktivitäten andererseits ist auch eine etwaige Einschränkung des Besteuerungsrechts durch Doppelbesteuerungsabkommen (DBA, s. § 1 Rz. 92) zu berücksichtigen, sofern das Abkommen im konkreten Fall anwendbar ist4. Außerdem hat der EuGH wiederholt entschieden, dass der Diskriminierungsvorwurf gegenüber dem Quellenstaat entfällt, wenn mit dem Ansässigkeitsstaat ein vollständiger Nachteilsausgleich durch eine spiegelbildliche Besserstellung im dortigen Steuersystem bilateral vereinbart ist5. Ist der Ausgleich nicht bilateral abgestimmt und sind Mehr- und Minderbelastung daher nicht systematisch verknüpft, wird eine grundfreiheitsrelevante Kompensation vom EuGH aus Gründen der Rechtssicherheit hingegen zutreffend abgelehnt6.
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Ungeachtet der im Kern stets gleichheitsrechtlichen Entfaltung der Grundfreiheiten bei der Kontrolle mitgliedstaatlichen Steuerrechts differenziert der Gerichtshofs historisch bedingt terminologisch gleichwohl z.T. noch zwischen einer – ggf. indirekten – „Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit“ im Quellenstaat7 und einer „Beschränkung“ der Grundfreiheit durch den Ansässigkeitsstaat8. Relevant wird diese überkommene Sichtweise aber allenfalls im Kontext der Rechtfertigungsprüfung (Rz. 93 ff.). Hingegen darf hieraus nicht der Schluss gezogen werden, der EuGH habe die Grundfreiheiten auch im Bereich des Steuerrechts zu Freiheitsrechten weiterentwickelt9. Belastende steuerliche Konsequenzen einer bestimmten Aktivität sind als solche grds. nicht dazu angetan, einen möglichen Verstoß gegen Grundfreiheiten zu belegen. Es besteht insofern ein signifikanter Unter1 So bereits EuGH 167/73, Kommission/Frankreich, Rz. 45–47; s. aus jüngerer Zeit EuGH v. 19.6.2014 – C-53/13 u.a., Strojírny Prosteˇjov & ACO Industries Tábor, EU:C:2014:2011, Rz. 42 m.w.N. 2 S. EuGH v. 5.4.2014 – C-385/12, Hervis Sport, EU:C:2014:47, Rz. 39-41; s. auch EuGH v. 9.10.2014 – C-326/12, van Caster, EU:C:2014:2269, Rz. 36. 3 S. EuGH C-262/09, Meilicke II, Rz. 40; GA Wathelet, Schlussanträge v. 21.11.2013 – C-326/12, van Caster, EU:C:2013:757, Rz. 41 ff. 4 S. bspw. EuGH C-265/04, Bouanich, Rz. 51 ff.; C-374/04, ACT Group Litigation, Rz. 71; C-521/07, Kommission/Niederlande, Rz. 36 ff. 5 S. EuGH C-379/05, Amurta, Rz. 79 und 84; C-11/07, Eckelkamp, Rz. 68 f.; C-487/08, Kommission/ Spanien, Rz. 59 ff.; s. auch EuGH C-524/04, Thin Cap Group Litigation, Rz. 56. Zu berücksichtigen ist außerdem auch ein richtlinienrechtlich koordinierter Nachteilsausgleich, s. EuGH C-284/06, Burda, Rz. 89 ff. S. auch den Überblick bei Fortuin in Richelle u.a. (Hrsg.), Allocation Taxing Powers within the European Union, 213 ff. 6 EuGH C-379/05, Amurta, Rz. 46; C-303/07, Aberdeen Property Fininvest Alpha, Rz. 72; C-250/08, Kommission/Belgien, Rz. 71; anders noch EuGH C-470/04, „N“, Rz. 54; C-170/05, Denkavit Internationaal, Rz. 46 f.; C-524/04, Thin Cap Group Litigation, Rz. 54 ff. und 69. Überholt sein müsste damit auch die Rspr. zur ähnlich gelagerten Problematik im Bereich persönlicher Abzüge, vgl. EuGH C-385/00, de Groot, Rz. 100; s. auch erste Einschränkungen in EuGH v. 12.12.2013 – C-303/12, Imfeld & Garcet, EU:C:2013:822, Rz. 65 ff.; und dazu de Groot, Intertax 2014, 721 (725 ff.). 7 S. bspw. EuGH C-279/93, Schumacker, Rz. 26 ff.; C-107/94, Asscher, Rz. 38 ff. Der EuGH unterstellt dabei, dass beschränkt Stpfl. in der Mehrheit der Fälle ausländische Staatsangehörige bzw. Gesellschaften mit Sitz im Ausland sind. 8 Exemplarisch sind EuGH C-168/01, Bosal, Rz. 27; C-265/04, Bouanich, Rz. 30 ff. 9 S. dazu auch EuGH C-438/04, Mobistar, Rz. 31 ff.; C-513/04, Kerckhaert und Morres, Rz. 19 ff.; C-240/06, Fortum Project Finance, Rz. 27; C-128/08, Damseaux, Rz. 27. Wie hier Cordewener in Vanistendael (Hrsg.), EU Freedoms and Taxation, 2006, 1 (26 ff.); M. Lang, IStR 2010, 570 (572); N. Bammens, The Principle of Non-Discrimination in International and European Tax Law, 2012, 542 ff.
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Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten
Rz. 88
§4
schied zur freiheitsrechtlichen Ausdeutung der Grundfreiheiten in anderen Rechtsbereichen1. Der EuGH hat diesen Ansatz auf steuerliche Maßnahmen bislang nur ganz vereinzelt übertragen2.
b) Eine steuerliche Schlechterstellung grenzüberschreitender Vorgänge gegenüber rein innerstaatlichen Sachverhalten kann nur dann als grundfreiheitliche Diskriminierung oder Beschränkung qualifiziert werden, wenn die Vergleichbarkeit beider Konstellationen gegeben ist. Dies wird auch vom EuGH grds. in st. Rspr. gefordert3, wenn auch bei Benachteiligungen durch das Herkunftsland nicht immer geprüft (s. Rz. 89). Keine klare Linie hat der EuGH aber bislang zu der fundamentalen Frage gefunden, nach welchen Kriterien die Vergleichbarkeit zu bestimmen ist4:
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Geht es um die einkommensteuerliche Behandlung von beschränkt steuerpflichtigen natürlichen Personen, ist Ausgangspunkt der Überlegungen des EuGH regelmäßig die sog. SchumackerDoktrin. In der gleichnamigen Entscheidung aus dem Jahr 1995 hat der Gerichtshof apodiktisch festgestellt, dass sich im Bereich der direkten Steuern „Gebietsansässige und Gebietsfremde in der Regel nicht in einer vergleichbaren Situation“ befinden5. Etwas anderes soll nur für Quasi-Ansässige (sog. „virtual resident“) gelten, die ihre Einkünfte ganz überwiegend im Quellenstaat beziehen6. Aus der weiteren Entscheidungsbegründung sowie Nachfolgeurteilen ergibt sich jedoch, dass dieser ohnehin fragwürdige Ansatz7 grds. nur für Steuerrechtsnormen gelten soll, die das subjektive Nettoprinzip (§ 8 Rz. 70 ff.) verwirklichen oder sonst an die Gesamtleistungsfähigkeit oder an die Person des Stpfl. anknüpfen8. Für die Besteuerung von Gesellschaften und im Rahmen des objektiven Nettoprinzips gilt die Schumacker-Doktrin daher grds. nicht9. Generell nicht aufgegriffen wurde sie vom EuGH zudem – inkonsequent – bei der Würdigung erbschaftsteuerlicher Vorschriften10, wohl aber bei der (in Deutschland nicht erhobenen) Vermögensteuer11.
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Ist die Schumacker-Doktrin nicht einschlägig, analysiert der EuGH gelegentlich Parallelen und Unterschiede der jeweils für beschränkt und unbeschränkt Stpfl. geltenden Teilsteuersysteme und prüft, ob diese abgesehen von der in Rede stehenden Ungleichbehandlung im Wesentlichen ähnlich strukturiert sind12. Dies ist jedoch insofern abzulehnen, als danach gerade eine beson-
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1 S. bspw. EuGH C-415/93, Bosman, Rz. 98 ff.; C-282/04 und C-283/04, „golden shares“, Rz. 18 ff.; EuGH GrK C-325/08, Olympique Lyonnais, Rz. 34. 2 Der einzige bislang klar nach freiheitsrechtlichen Maßstäben entschiedene Fall ist EuGH C-433/04, Kommission/Belgien, Rz. 31. A.A. und weitergehend Douma, EC Tax Review 2012, 67 (78 ff.), der auch nichtsteuerliche Abgaben in die Analyse der Rspr. mit einbezieht. 3 S. bspw. EuGH C-279/93, Schumacker, Rz. 30; C-379/05, Amurta, Rz. 32; C-35/98, Verkooijen, Rz. 43; C-250/08, Kommission/Belgien, Rz. 51; C-319/02, Manninen, Rz. 29; C-10/10, Kommission/Österreich, Rz. 29. Im Rahmen der Kapitalverkehrsfreiheit wird die Vergleichbarkeit jedoch – verfehlt – erst als Teilelement der Rechtfertigungsprüfung untersucht; s. dazu Kokott/Ost, EuZW 2011, 496 (499 f.). Jüngst ist diese Fehlentwicklung auch noch auf die Niederlassungsfreiheit ausgedehnt worden, s. EuGH v. 6.9.2012 – C-18/11, Philips Electronics UK, EU:C:2012:532, Rz. 17, v. 12.6.2014 – C-39/13 u.a., SCA Group Holding u.a., EU:C:2014:1758, Rz. 28 und Rz. 50; v. 17.7.2014 – C-48/13, Nordea Bank, EU:C:2014:2087, Rz. 23; s. dazu auch Englisch, IStR 2014, 561. 4 Zu Recht krit. GA Kokott, Schlussanträge v. 19.7.2012 – C-123/11, „A“, EU:C:2012:488, Rz. 40; v. 13.3.2014 – C-48/13, Nordea Bank, EU:C:2014:153, Rz. 21 ff.; M. Lang, EC Tax Review 2009, 98 (99 ff.). 5 EuGH C-279/93, Schumacker, Rz. 31. 6 EuGH C-279/93, Schumacker, Rz. 36 f.; vgl. auch EuGH C-391/97, Gschwind, Rz. 26 ff.; C-87/99, Zurstrassen, Rz. 23; C-169/03, Wallentin, Rz. 16 ff.; C-39/10, Kommission/Estland, Rz. 49 ff. 7 Zur Kritik s. insb. Avery-Jones, ET 2000, 375; Wattel, ET 2000, 210; M. Lang, EC Tax Review 2009, 98 (100 ff.). 8 S. zur Bedeutung des Leistungsfähigkeitsprinzips in diesem Zusammenhang Vanistendael, EC Tax Review 2014, 121 (122 ff.). 9 S. bspw. EuGH C-311/97, Royal Bank of Scotland, Rz. 27 ff.; C-234/01, Gerritse, Rz. 27 und 53. Sehr deutlich nunmehr EuGH C-440/08, Gielen, Rz. 43 ff. S. auch EuGH C-287/10, Tankreederei, Rz. 32; C-253/09, Kommission/Ungarn, Rz. 55 ff.; C-450/09, Schröder, Rz. 36 ff. 10 Vgl. EuGH C-510/08, Mattner, Rz. 30 ff.; v. 17.10.2013 – C-181/12, Welte, EU:C:2013:662, Rz. 45 ff. Erklärungsversuch bei Wrede, Europarecht und Erbschaftsteuer, S. 164 f. 11 S. EuGH C-376/03, „D“, Rz. 26 ff. 12 S. bspw. EuGH C-270/83, „avoir fiscal“, Rz. 20; C-311/97, Royal Bank of Scotland, Rz. 28 ff.; C-307/97, Saint-Gobain ZN, Rz. 48 f. S. ferner zur ErbSt auch EuGH C-510/08, Mattner, Rz. 37 f.
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§4
Rz. 89
Europäisches Steuerrecht
ders weitreichende Schlechterstellung in Gestalt erheblicher Abweichungen nicht mehr als diskriminierend erfasst werden könnte1. Es ist bezeichnend, dass der EuGH in solch extremen Fällen auf andere Kriterien zurückgreift, um gleichwohl die Vergleichbarkeit bejahen zu können2. I.Ü. ist festzustellen, dass der EuGH die Schumacker-Doktrin gelegentlich ohne nähere Begründung auch dann (ergänzend) bemüht, wenn kein Bezug zur persönlichen oder familiären Situation des Stpfl. besteht3; dies ist ersichtlich verfehlt. 89
Noch weniger Konturen hat die Vergleichbarkeitsprüfung im Kontext der Kontrolle beschränkungsverdächtiger Steuerrechtsnormen des Herkunfts- bzw. Ansässigkeitsmitgliedstaates des Stpfl. gewonnen. Oft sieht der EuGH hier gänzlich von Ausführungen zur Vergleichbarkeit der grenzüberschreitenden mit der innerstaatlichen Aktivität oder Transaktion ab4. Dies ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass der EuGH hier durch seine unreflektierte Beschränkungsterminologie (s. Rz. 85) den gleichheitsrechtlichen Charakter der von ihm durchgeführten Prüfung und damit die Notwendigkeit einer Vergleichbarkeitsprüfung verschleiert. Vereinzelt werden auch wie im Quellenstaatskontext Erwägungen zur Vergleichbarkeit des je einschlägigen Steuerregimes angestellt5. Meist bestimmt der Gerichtshof die Vergleichbarkeit aber anhand des Gesetzeszwecks der beschränkungsverdächtigen Steuerbestimmung6. Diese Vorgehensweise praktiziert er zudem immer häufiger auch im Kontext steuerlicher Diskriminierung im Quellenstaat7. Die Gefahr dieses Ansatzes besteht in einer unvollständigen Prüfung der Verhältnismäßigkeit der jeweiligen nationalen Maßnahme8: Entscheiden nämlich die vom nationalen Gesetzgeber verfolgten Zwecke schon über die Vergleichbarkeit, findet stattdessen nur noch eine Art Plausibilitätskontrolle statt: Zu fragen ist nur noch danach, ob die verfolgten Zwecke aus europarechtlicher Warte als legitim akzeptiert werden können, und ob im Lichte dieser Zwecksetzung vernünftige Gründe für eine Ungleichbehandlung bestehen9. Schließlich hat der EuGH zwischenzeitlich angedeutet, dass ein vollständiger Besteuerungsverzicht des Ansässigkeitsstaates (zumindest bei abkommensrechtlicher Grundlage hierfür) seiner Ansicht nach schon die Vergleichbarkeit von Auslands- und Inlandseinkünften - etwa hinsichtlich negativer Einkünfte(bestandteile) – entfallen lässt10; bislang war Entsprechendes nur in Quellenstaatsszenarien angenommen worden11.
1 Vereinzelt hat auch der EuGH eingestehen müssen, dass dieses Kriterium an sich ungeeignet ist, um die Vergleichbarkeit zu bestimmen, vgl. EuGH C-377/07, STEKO Industriemontage, Rz. 33. 2 S. bspw. EuGH C-170/05, Denkavit Internationaal, Rz. 34 ff.; C-379/05, Amurta, Rz. 37; C-282/07, Truck Center, Rz. 34 ff.; besonders deutlich auch EuGH C-233/09, Dijkman, Rz. 46 f. 3 S. EuGH C-374/04, ACT Group Litigation, Rz. 60; C-182/06, Lakebrink, Rz. 28 ff.; C-527/06, Renneberg, Rz. 58 ff.; C-282/07, Truck Center, Rz. 38 ff.; zu Recht krit. Meussen, ET 2009, 185. 4 S. etwa EuGH C-35/98, Verkooijen, Rz. 35 f.; C-470/04, „N“, Rz. 34–39. 5 S. etwa EuGH C-466/03, Marks & Spencer, Rz. 36 f.; C-256/06, Jäger, Rz. 44; C-314/08, Filipiak, Rz. 68–70. 6 Vgl. bspw. EuGH C-315/02, Lenz, Rz. 29 ff.; C-319/02, Manninen, Rz. 32 ff.; C-418/07, Société Papillon, Rz. 27 ff.; C-318/07, Persche, Rz. 43 ff.; C-337/08, X Holding, Rz. 22 ff.; C-253/09, Kommission/Ungarn, Rz. 61 ff.; C-318/10, SIAT, Rz. 30 ff. 7 S. etwa EuGH C-386/04, Stauffer, Rz. 37 ff.; C-383/05, Talotta, Rz. 27 ff.; C-284/09, Kommission/ Bundesrepublik Deutschland, Rz. 53. Für eine kurze empirische Analyse s. Englisch, IStR 2014, 561. 8 Krit. GA Kokott v. 13.3.2014 – C-48/13, Nordea Bank, EU:C:2014:153, Rz. 27; De Broe/Bammens, EC Tax Review 2009, 131 (133); Englisch, Intertax 2010, 197 (203). 9 S. bspw. EuGH C-318/07, Persche, Rz. 45 ff. Soweit der EuGH vereinzelt Elemente der Verhältnismäßigkeitsprüfung in die Vergleichbarkeitsprüfung integriert (vgl. etwa EuGH C-10/10, Kommission/Österreich, Rz. 32), führt dies zwar wieder zu zutreffenden Ergebnissen, entbehrt aber jeder Systematik. 10 S. andeutungsweise bereits EuGH v. 7.11.2013 – C-322/11, „K“, EU:C:2013:716, Rz. 45-47; v. 17.7.2014 – C-48/13, Nordea Bank, EU:C:2014:2087, Rz. 24; nunmehr sehr deutlich EuGH v. 11.9.2014 – C-47/12, Kronos International, EU:C:2014:2200, Rz. 81–86; s. andererseits (nur teilweiser Steuerverzicht) EuGH v. 11.9.2014 – C-489/13, Verest & Gerards, EU:C:2014:2210, Rz. 30 ff. S. auch GA Kokott, Schlussanträge v. 23.10.2014 – C-172/13, Kommission/Vereinigtes Königreich, EU:C:2014:2321, Rz. 25 ff. Anders aber im nachfolgenden Urteil v. 3.2.2015, Rz. 23. 11 S. EuGH C-250/95, Futura, Rz. 21 f.; C-374/04, ACT GL, Rz. 68.
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Rz. 92
§4
Insgesamt haftet der Entscheidungspraxis ein Element gerichtlicher Willkür an. Relativierend ist freilich festzustellen, dass sich die Vergleichbarkeitsprüfung seit 2010 in der EuGH-Judikatur nur ein einziges Mal auf die Feststellung einer Grundfreiheitsbeschränkung ausgewirkt hat; der Schwerpunkt der grundfreiheitlichen Prüfung hat sich entscheidend auf die Würdigung möglicher Rechtfertigungsgründe verlagert. Richtigerweise müsste Ausgangspunkt der Betrachtung die in Art. 26 II AEUV verankerte Funktion der Grundfreiheiten im Rahmen des unionsweiten Binnenmarktes sein, also die Gewährleistung eines steuerlich nicht erschwerten Zugangs zu Märkten im EU-/EWR-Ausland und die Wettbewerbsgleichheit auf diesen Märkten. Dementsprechend sollte sich die Vergleichbarkeit zwischen einem bestimmten grenzüberschreitenden Vorgang einerseits und einem günstiger besteuerten innerstaatlichen Vorgang andererseits danach bestimmen, ob beide Alternativen in einem hinreichend engen Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen bzw. als ökonomische Entscheidungsalternativen hinreichend substituierbar sind. Jedoch wendet der EuGH einen solchen wettbewerbstheoretisch fundierten Ansatz in seinen Entscheidungen lediglich bei den indirekten Steuern auf Waren und Dienstleistungen an1.
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c) Der EuGH hat in seiner Rspr. auch Grenzen der Effektuierung der Grundfreiheiten im Steuerrecht aufgezeigt. Besteuerungsnachteile, die sich aus den fortbestehenden Disparitäten der nicht harmonisierten nationalen Rechtssysteme ergeben (z.B. höhere Steuersätze im Bestimmungsland bzw. Quellenstaat als im Herkunftsland bzw. Ansässigkeitsstaat), können grundfreiheitlich nicht beanstandet werden2. Abgelehnt hat der EuGH zu Recht auch das Ansinnen, den Grundfreiheiten ein allgemeines Meistbegünstigungsgebot zu entnehmen3. So ist es insb. nicht möglich, sich unter Verweis auf das grundfreiheitliche Diskriminierungsverbot im Quellenstaat auf ein (günstigeres) Doppelbesteuerungsabkommen zu berufen, wenn der Stpfl. mangels Ansässigkeit im anderen Vertragsstaat nicht originär abkommensberechtigt ist. Auch I.Ü. steht der Gerichtshof einem horizontalen Vergleich von verschiedenen grenzüberschreitenden Aktivitäten im Steuerrecht skeptisch gegenüber4. Allerdings ist die Rspr. (auch) insoweit nicht eindeutig5. Insb. hat der EuGH gelegentlich ein Gebot rechtsformneutraler Besteuerung von grenzüberschreitenden Niederlassungen in Form von Tochtergesellschaften einerseits und in Gestalt von rechtlich unselbständigen Filialen bzw. Betriebsstätten andererseits postuliert6, inzwischen aber auch wieder relativiert7.
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Nach st. Rspr. des Gerichtshofs beinhalten die Grundfreiheiten auch kein Verbot der internationalen Doppelbesteuerung8. Vorbehaltlich sekundärrechtlicher Vorgaben (Rz. 5 ff.) soll es im steuerpolitischen Ermessen der Mitgliedstaaten liegen, ob sie Doppelbesteuerung abmildern oder verhindern. Diesem Standpunkt kann nicht gefolgt werden9. Es besteht kein Zweifel, dass
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Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten
1 S. bspw. EuGH 261/81, Cogis, Rz. 7; C-302/00, Kommission/Frankreich, Rz. 23. 2 S. EuGH C-157/07, Krankenheim Ruhesitz, Rz. 49 f.; C-194/06, Orange European Smallcap Fund, Rz. 37; C-403/03, Schempp, Rz. 45; Terra/Wattel, European Tax Law6, 68 f. 3 S. bspw. EuGH C-376/03, „D“, Rz. 59 ff.; C-374/04, ACT Group Litigation, Rz. 84 ff.; C-194/06, Orange European Smallcap Fund, Rz. 50 f.; s. allerdings auch M. Lang, SWI 2011, 154, m.w.N. Für eine eingehende Erörterung s. Englisch in Cordewener u.a. (Hrsg.), Meistbegünstigung im Steuerrecht der EU-Staaten, 2006, 163; s. außerdem Cordewener/Reimer, ET 2006, 239 ff und 291 ff.; Wattel, Tax Law Review 2008, 208 (211 ff.); anders Schuch, EC Tax Review 2006, 6; van Thiel, Free Movement of Persons and Income Tax Law, 2002, 186 ff.; Schroeder, Meistbegünstigung im Steuerrecht auf Basis der Grundfreiheiten, 2011; differenzierend de Groot, Intertax 2014, 405. 4 Exemplarisch sind EuGH C-513/03, van Hilten-van der Heijden, Rz. 46 f.; C-298/05, Columbus Container, Rz. 39 ff. und Rz. 51. S. aber auch M. Lang, SWI 2011, 154, m.w.N. 5 S. EuGH C-521/07, Kommission/Niederlande, Rz. 36 ff.; C-307/97, Saint-Gobain ZN, Rz. 59 ff. 6 S. EuGH 270/83, „avoir fiscal“, Rz. 22; C-253/03, CLT-UFA, Rz. 14; C-231/05, Oy AA, Rz. 40. 7 S. EuGH C-298/05, Columbus Container, Rz. 52 f.; C-439/07 und C-499/07, KBC Bank, Rz. 80; C-337/08, X Holding, Rz. 38 ff. 8 S. bspw. EuGH C-513/04, Kerckhaert und Morres, Rz. 20 ff.; C-67/08, Block, Rz. 27 ff.; C-128/08, Damseaux, Rz. 20 ff.; C-96/08, CIBA, Rz. 25; C-157/10, Banco Bilbao Vizcaya Argentaria; v. 19.9. 2012 – C-540/11, Levy und Sebbag, EU:C:2012:581; s. ferner BFH v. 19.6.2013 – II R 10/12, BStBl. 2013, 746, Rz. 16 ff.; Lenaerts in Maisto (Hrsg.), Taxation of Intercompany Dividends, 2012, 3 (7). Wertungswidersprüchlich allerdings EuGH C-311/08, SGI, Rz. 53 f. 9 Eingehend Englisch, IStR 2007, 67; Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2007, 154 ff.; van Thiel in Avi Yonah u.a. (Hrsg.), Comparative Fiscal Federalism, 2007, 331 ff.; Keuthen, Die Vermeidung der juristischen Doppelbesteuerung im EG-Binnenmarkt, 2009,
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§4
Rz. 93
Europäisches Steuerrecht
internationale Doppelbesteuerung gravierende Wettbewerbsverzerrungen spezifisch zulasten des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs bewirkt. Zudem ist es wertungswidersprüchlich, wenn der EuGH gleichwohl grundfreiheitliche Anforderungen an die Ausgestaltung vorhandener Mechanismen zur Vermeidung internationaler Doppelbesteuerung stellt1.
3. Rechtfertigung von Grundfreiheitsverstößen 93
Im Steuerrecht haben die im AEUV ausdrücklich niedergelegten sog. geschriebenen Rechtfertigungsgründe kaum Relevanz. Die einzige Ausnahme bilden im Rahmen der Kapitalverkehrsfreiheit scheinbar die steuerspezifischen Vorgaben des Art. 65 AEUV. Ihnen misst der EuGH aber unter Verweis auf Art. 65 III AEUV bislang nur deklaratorische Bedeutung zu. Danach soll Art. 65 I lit. a AEUV lediglich das Erfordernis der Vergleichbarkeit von innerstaatlichem und grenzüberschreitendem Vorgang zu entnehmen sein; zudem weise Art. 65 I AEUV insgesamt auf die schon zuvor etablierte Rspr. zur Rechtfertigungsmöglichkeit aus ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe hin2: Nach der richterrechtlich entwickelten sog. „rule of reason“ können nämlich (auch) steuerliche Beschränkungen der Grundfreiheiten durch im AEUV nicht benannte zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein3. Dies soll allerdings nicht in Betracht kommen, wenn es um eine steuerliche Diskriminierung geht, die unmittelbar an die Staatsangehörigkeit anknüpft4. Da der EuGH den statutarischen Sitz einer Gesellschaft der Staatsangehörigkeit gleichsetzt, hat er gelegentlich – aber nicht durchgängig – eine Rechtfertigung von Benachteiligungen beschränkt steuerpflichtiger Kapitalgesellschaften auf Basis ungeschriebener Rechtfertigungsgründe abgelehnt5.
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I.Ü. muss jede Rechtfertigung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen6. Das grundfreiheitsbeschränkende Steuerregime muss zur Verwirklichung des betreffenden Gemeinwohlanliegens sowohl geeignet als auch erforderlich sein7. In dieser Hinsicht legt der EuGH strenge Maßstäbe an. Eine Prüfung auf Angemessenheit bzw. Verhältnismäßigkeit i.e.S. nimmt der
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155 ff.; Kofler, IStR 2011, 668 (669). Dem EuGH zustimmend hingegen Graetz/Warren, Yale Law Review 2006, 1186 (1219); Wattel, Tax Law Review 2008, 205 (215 ff.); Weber, Intertax 2006, 585 (588); M. Lang, EC Tax Review 2009, 98 (110); Eden, British Tax Review 2010, 610; Marres, Intertax 2011, 112 (115). Differenzierend Rust, DStR 2009, 2568 (2576 f.); Riedl, Die internationale Doppelbesteuerung im EU-Binnenmarkt, 2011; De Broe, EC Tax Review 2012, 180 ff.; Offermanns, ET 2013, 430. Vgl. auch die Beiträge von Kofler, Rust, Wattel und van Thiel in Rust (Hrsg.), Double Taxation within the European Union, 2011, 97 ff., 137 ff., 157 ff., 167 ff. S. EuGH v. 28.2.2013 – C-168/11, Beker und Beker, EU:C:2013:117, Rz. 32 ff.; v. 12.12.2013 – C-303/12, Imfeld & Garcet, EU:C:2013:822, Rz. 41 ff.; s. auch EuGH v. 4.7.2013 – C-350/11, Argenta Spaarbank, EU:C:2013:447, Rz. 55 f.; sowie EuGH v. 13.3.2014 – C-375/12, Bouanich II, EU:C:2014:138, Rz. 32 ff.; die dortigen Abgrenzungsversuche des EuGH überzeugen nicht. Grundl. EuGH C-35/98, Verkooijen, Rz. 44 und 46; st. Rspr.; s. auch Schönfeld, StuW 2005, 158 (163). Grundl. EuGH 120/78, „Cassis de Dijon“, Rz. 8, in Reaktion auf die Ausweitung des Gewährleistungsgehalts der Grundfreiheiten zu genuinen Beschränkungsverboten durch die sog. „DassonvilleFormel“, s. EuGH 8/74, Dassonville, Rz. 5. Erstmals allgemein formuliert in EuGH C-55/94, Gebhard, Rz. 37. S. EuGH v. 22.10.2014 – C-344/13 u.a., Blanco und Fabretti, EU:C:2014:2311, Rz. 37 ff., m.w.N. Die Einschränkung gilt nicht für die „indirekte“ Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit, dazu grundl. EuGH GrK C-382/08, Neukirchinger, Rz. 32 ff. Eine steuerliche Schlechterstellung von beschränkt Stpfl., die an die Merkmale der §§ 8–10 AO anknüpft, kann daher gerechtfertigt werden, s. bspw. EuGH C-204/90, Bachmann, Rz. 9 und 14 ff.; C-107/94, Asscher, Rz. 54 und 60 ff.; sowie eingehend Cordewener/Kofler/van Thiel, CMLRev. 2009, 1951, m.w.N. S. bspw. EuGH C-311/97, Royal Bank of Scotland, Rz. 32; C-540/07, Kommission/Italien, Rz. 49. S. aber bspw. auch EuGH C-303/07, Aberdeen Property Fininvest Alpha, Rz. 57 ff., wo derartige Erwägungen keine Rolle spielten und ungeschriebene Rechtfertigungsgründe diskutiert wurden. Grundl. EuGH C-55/94, Gebhard, Rz. 37; st. Rspr. S. bspw. EuGH C-414/06, Lidl Belgium, Rz. 27; C-418/07, Société Papillon, Rz. 51 f.; C-303/07, Aberdeen Property Fininvest Alpha, Rz. 57.
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Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten
Rz. 97
§4
Gerichtshof hingegen regelmäßig nicht oder allenfalls verklausuliert1 vor. Stattdessen ist ein unionsrechtliches Folgerichtigkeitsgebot zu beachten: Die nationale Regelung muss das fragliche Anliegen auch in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen bestrebt sein2, und nicht lediglich zulasten (bestimmter) grenzüberschreitender Vorgänge. Als zwingende Gründe des Allgemeininteresses kommen nur solche in Betracht, die auch im Lichte der Zielsetzungen und Wertungen des Unionsrechts als legitim erscheinen3. Bestimmte Zielsetzungen hat der EuGH daher als zur Rechtfertigung von Grundfreiheitsverstößen schon prinzipiell ungeeignet zurückgewiesen. Insb. können drohende Steuerausfälle für sich genommen nicht als zwingender Grund für die Aufrechterhaltung einer Grundfreiheitsbeschränkung anerkannt werden4. Auch kann sich ein Mitgliedstaat nicht darauf berufen, dass eine in seiner Steuerrechtsordnung angelegte steuerliche Benachteiligung eines grenzüberschreitenden Vorgangs gerechtfertigt sei, weil der Stpfl. im Ausland von einem generell günstigen Steuerregime profitiere5. Als schon abstrakt nicht binnenmarktkompatibel ausscheiden soll schließlich auch eine Rechtfertigung von Steuervergünstigungen durch Ziele national ausgerichteter Wirtschaftsoder Arbeitsmarktpolitik6.
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I.Ü. hat der EuGH im Steuerrecht einen bereichsspezifischen Kanon anerkannter Rechtfertigungsgründe entwickelt7:
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Seit der wegweisenden Entscheidung Marks & Spencer8 ist die Wahrung einer angemessenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten der praktisch bedeutsamste Rechtfertigungsgrund. Hatte sich der EuGH zuvor auf den – angesichts der fortbestehenden nationalen Haushaltssouveränität unhaltbaren – Standpunkt gestellt, die drohende Verschiebung von Steuersubstrat in einen anderen Mitgliedstaat innerhalb des Binnenmarktes rechtfertige wegen der dort eintretenden Besteuerung keine Grundfreiheitsbeschränkung9, so akzeptiert er nunmehr eine Reihe von auf das steuerliche Territorialitätsprinzip gestützten zwingenden Gemeinwohlinteressen.
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Grds. gerechtfertigt ist zunächst die Abrechnung bislang steuerverhafteter stiller Reserven oder unrealisierter Wertzuwächse bei drohender grenzüberschreitender Steuerentstrickung. Auslöser hierfür ist regelmäßig ein vom Stpfl. veranlasstes Ereignis mit grenzüberschreitendem Bezug. Typischerweise handelt es sich dabei um den Wegzug des Stpfl. selbst oder um den innerbetrieblichen Transfer von Wirtschaftgütern oder auch betrieblicher „Funktionen“ ins Ausland. Der Gerichtshof gesteht den Mitgliedstaaten prinzipiell zu, die bis zu diesem Zeitpunkt nach dem Realisationsprinzip nur latenten Steueransprüche im Rahmen einer Wegzugsbzw. Entstrickungsbesteuerung vorzeitig, nämlich früher als bei vergleichbarer rein innerstaatlicher Mobilität, zur Entstehung zu bringen10. 1 Seltene Fälle einer impliziten Prüfung sind bspw. EuGH C-446/03, Marks & Spencer, Rz. 55; v. 23.1. 2014 – C-164/12 – DMC, EU:C:2014:20, Rz. 62. S. auch Boulogne/Sumrada Slavnic, ET 2012, 486 (488). 2 S. bspw. EuGH C-169/08, Regione Sardegna, Rz. 42 m.w.N.; C-169/07, Hartlauer, Rz. 55; C-338/04, Placanica, Rz. 53; s. auch schon EuGH C-168/01, Bosal, Rz. 36. Dazu Haslehner, CMLRev 2013, 737. 3 S. EuGH C-330/07, Jobra, Rz. 27. 4 S. bspw. EuGH C-25/10, Missionswerk Werner Heukelbach, Rz. 30 f.; C-287/10, Tankreederei, Rz. 27; st. Rspr. 5 S. bspw. EuGH C-107/94, Asscher, Rz. 53; C-294/97, Eurowings, Rz. 44; C-196/04, Cadbury Schweppes, Rz. 49. 6 Exemplarisch EuGH C-464/05, Geurts und Vogten, Rz. 25 ff.; C-209/01, Schilling und Fleck-Schilling, Rz. 40. 7 S. hierzu auch die Übersicht bei Cordewener/Kofler/van Thiel, CMLRev. 2009, 1951 (1957 ff.) m.w.N. 8 EuGH C-446/03, Marks & Spencer, Rz. 45. 9 S. EuGH C-264/96, ICI, Rz. 26; C-324/00, Lankhorst-Hohorst, Rz. 37. 10 S. EuGH C-470/04, „N“, Rz. 42 ff.; C-371/10, National Grid Indus, Rz. 45 ff.; C-38/10, Kommission/Portugal, Rz. 31 ff.
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§4
Rz. 98
Europäisches Steuerrecht
Allerdings steht diese Rechtfertigungsmöglichkeit unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit. Dabei stellt der EuGH bei privat gehaltenen Wirtschaftsgütern, namentlich bei Beteiligungen, (noch) besonders strenge Anforderungen1: Der Steueranspruch muss grds. unverzinst und ohne Sicherheitsleistung bis zur tatsächlichen Veräußerung oder „Binnenmarkt-Entstrickung“ gestundet werden2. Ferner verlangt der EuGH die vollständige Berücksichtigung nachträgliche Wertminderungen, die anlässlich einer späteren Veräußerung aufgedeckt werden, sofern dies nicht – in Gestalt eines sog. „step up“ des Beteiligungswertes – im Bestimmungsland gewährleistet ist3. Demgegenüber hielt es der EuGH im Kontext einer betrieblichen Entstrickungsbesteuerung nicht ohne weiteres für erforderlich, späteren Wertminderungen der betroffenen Wirtschaftsgüter durch eine nachträgliche Herabsetzung der Steuerschuld Rechnung zu tragen4. Außerdem dürfen die Mitgliedstaaten die – auch in diesem Kontext gebotene5 – Steuerstundung von der Gestellung von Sicherheiten abhängig machen6 und die Steuerschuld bis zu ihrer Begleichung verzinsen7. Schließlich soll nach einer jüngsten Volte des Gerichtshofs jedenfalls bei betrieblichen Wirtschaftsgütern generell die ratierliche Geltendmachung der festgesetzten Steuer – im entschiedenen Fall bei einer zeitlichen Streckung über fünf Jahre – „in Anbetracht des mit der Zeit steigenden Risikos der Nichteinbringung“ verhältnismäßig sein8. Relevant wird diese Rechtsprechungslinie v.a. bei der Wegzugsbesteuerung von Inhabern wesentlicher Beteiligungen (s. § 6 AStG) und der Entstrickungsbesteuerung anlässlich der Überführung von Wirtschaftsgütern des Betriebsvermögens ins Ausland (§§ 4 I 3–5, 4g EStG; 12 I KStG)9, einer grenzüberschreitenden Umwandlung (UmwStG) oder einer Sitzverlegung (§§ 17 V EStG; 12 III KStG)10.
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In einer Reihe von Urteilen hat der Gerichtshof ferner dem nationalen Gesetzgeber grds. zuerkannt, Gewinne und Verluste aus Auslandstätigkeiten symmetrisch „freizustellen“, d.h. Auslandsverluste nicht zur Verrechnung mit im Inland steuerbaren Gewinnen zuzulassen, soweit entsprechende Auslandsgewinne ebenfalls nicht steuerbar sind11. Etwas anderes soll unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nur für „finale“, im Ausland nicht (mehr) verrechenbare Verluste gelten12. Wie der Gerichtshof jüngst zutreffend klargestellt hat, müssen finale Auslandsverluste auch nur dann berücksichtigt werden, wenn die mangelnde Verlustverrechnungsmöglichkeit im Ausland nicht auf die dortigen steuerrechtlichen Rahmenbedingungen (bspw. die 1 Dazu krit. Englisch, Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, 2008, 63 ff.; Zuijdendorp, EC Tax Review 2007, 5 (10 ff.); relativierend Dobratz, ISR 2014, 198. 2 S. EuGH C-470/04, „N“, Rz. 37. 3 Vgl. EuGH C-470/04, „N“, Rz. 54. 4 S. EuGH C-371/10, National Grid Indus, Rz. 56 ff. 5 S. EuGH C-371/10, National Grid Indus, Rz. 52 und 68-74; C-38/10, Kommission/Portugal, Rz. 34; v. 25.4.2013 – C-64/11, Kommission/Spanien, EU:C:2013:264, Rz. 32; v. 18.7.2013 – C-261/11, Kommission/Dänemark, EU:C:2013:480, Rz. 32. 6 S. EuGH C-371/10, National Grid Indus, Rz. 74; angedeutet bereits in EuGH C-436/00, X und Y, Rz. 59. 7 S. EuGH C-371/10, National Grid Indus, Rz. 73; C-38/10, Kommission/Portugal, Rz. 32. Ebenso der EFTA Gerichtshof E-15/11, Arcade Drilling, Rz. 103. 8 S. EuGH v. 23.1.2014 – C-164/12, DMC, EU:C:2014:20, Rz. 62; s. dazu Gosch, IWB 2014, 183 (187 f.); Mitschke, IStR 2014, 111 (112 f.); Sydow, DB 2014, 265 (268 f.). 9 S. dazu Vorlagebeschluss des FG Düsseldorf v. 5.12.2013 – 8 K 3664/11 F, EFG 2014, 119 (Az. EuGH C-657/13); Körner, IStR 2006, 109; Heurung/Engel/Thiedemann, EWS 2011, 228; Kofler/van Thiel, ET 2011, 327 (329 ff.; Vergleich mit den OECD-Empfehlungen). 10 Ausf. Stewen, Europäische Niederlassungsfreiheit und deutsches Internationales Steuerrecht, 2007; s. auch FG Hamburg v. 26.1.2012 – 2 K 224/10, IStR 2012, 305; Schnitker, BB 2004, 804; Mitscke, IStR 2011, 294; Körner, IStR 2011, 527; Blümich/Ebeling, § 17 EStG Rz. 893 ff.; Panayi, Bull. Int. Taxation 2009, 459; Zernova, Intertax 2011, 471; Rautenstrauch/Seitz, Ubg. 2012, 14; Cerioni, ET 2013, 329. 11 EuGH C-446/03, Marks & Spencer, Rz. 45 f.; C-414/06, Lidl Belgium, Rz. 33; C-337/08, X Holding, Rz. 28; v. 7.11.2013 – C-322/11, „K“, EU:C:2013:716, Rz. 51. 12 S. EuGH C-446/03, Marks & Spencer, Rz. 55; C-414/06, Lidl Belgium, Rz. 46 ff.; v. 21.2.2013 – C-123/11, „A“, EU:C:2013:84, Rz. 49 ff. S. zur Rspr.-Entwicklung (krit.) GA Kokott, Schlussanträge v. 23.10.2014 – C-172/13, Kommission/Vereinigtes Königreich, EU:C:2014:2321, Rz. 36 ff.; M. Lang, ET 2014, 530.
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Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten
Rz. 100
§4
generelle Versagung eines Verlustvortrages), sondern auf tatsächliche Umstände zurückzuführen ist1. I.Ü. muss auch bei einem in tatsächlichen Umständen wurzelnden Untergang von Verlustverrechnungspotenzial die künftige Verlustverrechnung im Ausland unter jedem realistisch in Betracht kommenden Gesichtspunkt ausgeschlossen sein2. Sind Auslandsverluste nach diesen strengen Voraussetzungen im Inland zur Verrechnung anzuerkennen, richtet sich ihre Berechnung grds. nach inländischen Gewinnermittlungsvorschriften3. Darüber hinaus hat der Gerichtshof den Mitgliedstaaten das Recht eingeräumt, Maßnahmen zur Vermeidung von sog. „weißen Einkünften“ zu ergreifen, wenn diese anderenfalls in keiner der beteiligten Steuerjurisdiktionen der Besteuerung unterlägen4. Zurückhaltender äußert sich der EuGH hingegen in jüngerer Zeit zum Anliegen, sog. „double dips“ vorzubeugen, die bei einer Inanspruchnahme von gleichen Steuerentlastungen bzw. Steuervergünstigungen in mehr als einem Mitgliedstaat entstehen könnten5.
In engem Zusammenhang mit der Anerkennung eines legitimen Interesses an der Wahrung einer angemessenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse ist in jüngerer Zeit auch eine Neuausrichtung der Rspr. des EuGH zum mitgliedstaatlichen Interesse an einer Bekämpfung des Rechtsmissbrauchs und der Steuerflucht zu beobachten. Bis vor kurzem hat der EuGH dahingehende Maßnahmen nur dann für mit den Grundfreiheiten vereinbar erachtet, wenn sie sich speziell auf „rein künstliche Konstruktionen“ beziehen, die auf die Erzielung steuerlicher Vorteile ausgerichtet sind6. Dies könne vor allem bei Gründung einer Tochtergesellschaft anzunehmen sein, die lediglich als Briefkastenfirma fungiere; nicht aber bei „greifbarem Vorhandensein der beherrschten ausländischen Gesellschaft in Form von Geschäftsräumen, Personal und Ausrüstungsgegenständen“7.
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Beispiel: Die sog. Hinzurechnungsbesteuerung nach den §§ 7 ff. AStG sah ursprünglich vor, die steuerliche Abschirmwirkung im Ausland domizilierter Kapitalgesellschaften (zum körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzip s. § 11 Rz. 1) ohne weiteres zu negieren, wenn die Gesellschaft sog. passive Einkünfte (insb. aus Vermögensverwaltung) erzielte, in einem Niedrigsteuerland ansässig war und ein bestimmter Prozentsatz ihrer Anteile von unbeschänkt Stpfl. gehalten wurde. So sollte typisierend die „missbräuchliche“ Verlagerung von Einkunftsquellen ins Ausland bekämpft werden. Im Gefolge der EuGH-Entscheidung Cadbury Schweppes8 musste ergänzend § 8 II AStG eingefügt werden, wonach von der Hinzurechnungsbesteuerung bei EU/EWR-ansässigen Gesellschaften grds. abzusehen ist, wenn diese einer „tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit“ nachgehen.
Geht es jedoch um die grenzüberschreitende Verlagerung von Steuersubstrat innerhalb einer Unternehmensgruppe, hat der EuGH diese Anforderungen in jüngerer Zeit gelockert: Hier kommt auch bei „realen“ Steuersubjekten und Leistungsbeziehungen eine Rechtfertigung von grundfreiheitsbeschränkenden Einkünftekorrekturvorschriften in Betracht, wenn anderenfalls 1 S. EuGH v. 7.11.2013 – C-322/11, „K“, EU:C:2013:716, Rz. 75 ff.; s. auch Pezzella, ET 2014, 71 (76 ff.). 2 S. EuGH v. 21.2.2013 – C-123/11, „A“, EU:C:2013:84, Rz. 51 ff.; BFH v. 9.6.2010 – I R 107/09, BFHE 230, 35; v. 5.2.2014 – I R 48/11, BFHE 244, 371; FG Köln v. 13.3.2013 – 10 K 2067/12, EFG 2013, 1430 (Rev. anhängig unter Az. I R 40/13). 3 S. EuGH v. 21.2.2013 – C-123/11, „A“, EU:C:2013:84, Rz. 59 f. und erläuternd die Schlussanträge von GA Kokott, Rz. 73 ff. S. dazu – sowie zur nach wie vor umstrittenen Frage des Zeitpunkts der Berücksichtigung – auch BFH v. 9.6.2010 – I R 107/09, BFH/NV 2010, 1744 (1746 f.); BFH BStBl. 2010, 1065 (1066 f.); Panzer/Gebert, IStR 2010, 781; Kessler/Philipp, IStR 2010, 865; Graw, DB 2010, 2469; Schwenke, IStR 2011, 368. 4 S. EuGH C-231/05, Oy AA, Rz. 58 f. 5 S. EuGH v. 6.9.2012 – C-18/11, Philips Electronics, EU:C:2012:532, Rz. 28 ff.; v. 12.12.2013 – C-303/12, Imfeld & Garcet, EU:C:2013:822, Rz. 77 ff. 6 S. bspw. EuGH C-264/96, ICI, Rz. 26; C-436/00, X und Y, Rz. 61; C-324/00, Lankhorst-Hohorst, Rz. 37; C-9/02, De Lasteyrie du Saillant, Rz. 50; C-194/04, Cadbury Schweppes, Rz. 55. S. dazu Schön in Avery Jones u.a. (Hrsg.), FS John Tiley, Cambridge 2008, 75; Englisch, StuW 2009, 3. 7 EuGH C-196/04, Cadbury Schweppes, Rz. 67 f.; s. dazu Poulsen, Intertax 2013, 230 (238 ff.). 8 EuGH C-196/04, Cadbury Schweppes; s. dazu auch Hahn, IStR 2006, 667; Waldens/Sedemund, IStR 2007, 450; Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, 133 ff.; Haarmann, IStR 2011, 565.
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§4
Rz. 101
Europäisches Steuerrecht
Gewinne entgegen dem Territorialitätsprinzip nicht bzw. nicht vollständig im Mitgliedstaat ihrer wirtschaftlichen Entstehung besteuert werden könnten1. Der maßgebliche wirtschaftliche Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit im betroffenen Mitgliedstaat darf bei einer Transaktion zwischen einander nahestehenden Personen grds. anhand des sog. Fremdvergleichsgrundsatzes („dealing at arm’s length“-Standard) beurteilt werden2. Beispiel: Gerechtfertigt ist die Beschränkung der Organschaft (§§ 14 ff. KStG, s. § 14 Rz. 1 ff.) auf Organträger, die der deutschen KSt unterliegen (vgl. §§ 14 I Nr. 2; 18 Nr. 2 KStG), um eine wirtschaftlich nicht begründete Zurechnung von in Deutschland erzieltem Einkommen zu einem Subjekt außerhalb der deutschen Steuergewalt zu verhindern3. Jedenfalls ansatzweise zu rechtfertigen ist auch die Korrektur nicht fremdvergleichskonformer Verrechnungspreise (nur) bei grenzüberschreitenden Geschäftsbeziehungen zwischen verbundenen Unternehmen nach § 1 I 1 AStG, um der wirtschaftlich nicht fundierten Verlagerung von Steuersubstrat4 (Erfolgsbeiträgen) ins Ausland entgegenzuwirken5. Auch bei der Verlagerung von Aktivitäten und damit verbundener Besteuerungsgrundlagen in Steueroasen deutet sich gegenwärtig zu Recht ein Umdenken beim EuGH an, womöglich unter dem Eindruck der gegenwärtig geführten BEPS-Debatte6.
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Stets muss der „missbräuchliche“ Charakter der Steuerumgehungshandlungen allerdings im Wege einer Prüfung aller Umstände des Einzelfalls festgestellt werden; dahingehende unwiderlegbare Vermutungen durch typisierende spezielle Missbrauchsnormen sollen unverhältnismäßig sein7. Diese Anforderungen erscheinen jedoch überzogen, zumal an den Unionsgesetzgeber wesentlich geringere Anforderungen gestellt werden8. Richtig ist es hingegen, (auch) bei widerlegbaren Vermutungen zu verlangen, dass sie sich hinreichend eng an typischen Missbrauchskonstellationen ausrichten9.
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Bereits frühzeitig hat der EuGH klargestellt, dass im Rahmen der Grundfreiheiten ein Vorteilsausgleich durch Saldierung der nachteiligen Effekte einer beschränkenden Steuerrechtsnorm mit einer anderweitig bestehenden steuerlichen Besserstellung des grenzüberschreitenden Vorgangs grds. nicht in Betracht kommt10. Eine Ausnahme hiervon stellt die Notwendigkeit dar, die Kohärenz des Steuersystems zu wahren; dies kann eine Beschränkung der Grundfreiheiten rechtfertigen11. Dazu muss ein unmittelbarer systematischer Zusammenhang zwischen dem auf innerstaatliche Vorgänge begrenzten Steuervorteil und dessen Ausgleich durch eine bestimmte 1 S. bspw. EuGH C-446/03, Marks & Spencer, Rz. 49 f.; C-524/04, Thin Cap Group Litigation, Rz. 77; C-231/05, Oy AA, Rz. 54 ff.; C-379/05, Amurta, Rz. 58; Hey, StuW 2008, 167 (182). 2 S. EuGH C-524/04, Thin Cap Group Litigation, Rz. 80–82; C-105/07, Lammers & Van Cleeff, Rz. 27 ff.; C-311/08, SGI, Rz. 71; s. auch EuGH v. 17.7.2014 – C-48/13, Nordea Bank, EU:C:2014:2087, Rz. 35 f. Dazu Meussen, ET 2010, 245; Poulsen, Intertax 2012, 200; Glahe, EC Tax Review 2013, 222. 3 Vgl. EuGH C-231/05, Oy AA. 4 Dazu eingehend Schön, Bulletin Int. Taxation 2014, 280. 5 Vgl. EuGH C-311/08, SGI; s. dazu ausf. Glahe, Einkünftekorrektur zwischen verbundenen Unternehmen, 2012; sowie Andresen, IStR 2010, 289; Englisch, IStR 2010, 139; Becker/Sydow, IStR 2010, 195; Glahe, IStR 2010, 870; Schönfeld, IStR 2011, 219; s. aber auch Schön, IStR 2011, 777. 6 S. EuGH v. 1.4.2014 – C-80/12 – Felixstowe Dock and Railway Company u.a., EU:C:2014:200, Rz. 32; v. 5.6.2014 – C-24/12 und C-27/12 – X BV und TBG Limited, EU:C:2014:1385, Rz. 51 ff. 7 S. bspw. EuGH C-196/04, Cadbury Schweppes, Rz. 70 ff.; C-451/05, ELISA, Rz. 91; C-72/09, Établissements Rimbaud, Rz. 34; st. Rspr. S. auch Fontana, ET 2006, 317 (325). 8 Exemplarisch EuGH C-283/94, Denkavit International, Rz. 31, zu Art. 3 II Mutter-Tochter-Richtlinie: Ermächtigung zur sehr grob typisierenden Missbrauchsabwehr blieb unbeanstandet. 9 S. EuGH v. 5.7.2012 – C-318/10 – SIAT, EU:C:2012:415, Rz. 56 ff.; v. 3.1.0.2013 – C-282/12, Itelcar, EU:C:2013:629, Rz. 44. 10 S. EuGH 270/83, „avoir fiscal“, Rz. 21; C-307/97, Saint Gobain, Rz. 54; C-294/97, Eurowings, Rz. 43 f.; C-35/98, Verkooijen, Rz. 61; C-315/02, Lenz, Rz. 43; C-233/09, Dijkman, Rz. 41; C-318/10, SIAT, Rz. 39. 11 Grundl. EuGH C-204/90, Bachmann, Rz. 21–23; C-300/90, Kommission/Belgien, Rz. 14–16. Seither st. Rspr., s. bspw. EuGH C-80/94, Wielockx, Rz. 23–25; C-319/02, Manninen, Rz. 42; C-418/07, Société Papillon, Rz. 43; C-250/08, Kommission/Belgien, Rz. 70. S. ferner Englisch, ET 2004, 323 und 355; Verdoner, ET 2009, 274; Kokott/Ost, EuZW 2011, 496.
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Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten
Rz. 104
§4
ebenfalls nur innerstaatliche Vorgänge treffende steuerliche Belastung bestehen. „Unmittelbarkeit“ erfordert nach Ansicht des EuGH einen betragsmäßig exakten Ausgleich und eine systematische Verknüpfung; letztere wird anhand des Ziels der fraglichen Regelung beurteilt1. Großzügig typisierende Saldierungen, wie sie das BVerfG im Kontext des Art. 3 GG sogar bei zusammenhanglosen Mehr- und Minderbelastungen akzeptiert2, weist der EuGH (zu) pauschal als unzureichend zurück3. Auch muss der Ausgleich grds. im Rahmen identischer Personenarten und in der Person ein und desselben Stpfl. erfolgen. Etwas anderes kommt nur in Betracht, wenn eine personen- und steuerartenübergreifende Betrachtung von der wirtschaftlich nachvollziehbaren Systematik des nationalen Steuersystems gefordert wird4. Beispiel: Grds. kohärent ist die Limitierung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Beiträgen zu einem System der Altersvorsorge auf solche Stpfl., die mit den zu erwartenden Rentenzahlungen absehbar der inländischen Besteuerung unterliegen werden5; kohärent ist (entgegen EuGH) auch die Entlastung nur solcher Dividenden von inländischen Ertragsteuern, bei denen die zur Ausschüttung verwendeten Gewinne zuvor im entsprechenden Umfang einer inländischen KSt-Belastung unterlegen haben6.
Zu kritisieren ist, dass der EuGH teilweise eine staatenübergreifende Steuerbelastungsanalyse vornimmt, um die Verhältnismäßigkeit eines kohärenten Vorteilsausgleichs zu beurteilen7. Da das Kohärenzargument i.Erg. nur die Perspektive der grundfreiheitlichen Beschränkungsprüfung auf systematisch zusammenhängende Be- oder Entlastungsregelungen ausdehnt8, kann es sich richtigerweise wie diese Prüfung auch nur auf inländische Steuerlasten beziehen9. Verantwortlich für die Kompensation ausländischer Belastungsnachteile ist der ausländische Mitgliedstaat; sieht er in seinem Steuersystem keinen Ausgleich vor, ist dies grundfreiheitlich als Disparität (Rz. 91) hinzunehmen10. In jüngerer Zeit hat dies der Gerichtshof selbst wiederholt zugestanden und eine staatenübergreifende Kohärenzbetrachtung ausdrücklich zurückgewiesen11.
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Der EuGH hat anerkannt, dass die Notwendigkeit wirksamer steuerlicher Kontrollen einen zwingenden Grund des Allgemeinwohls darstellt12. Jedoch hat der Gerichtshof in diesem
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1 S. bspw. EuGH C-300/90, Kommission/Belgien, Rz. 14; C-104/06, Kommission/Schweden, Rz. 26; C-150/04, Kommission/Dänemark, Rz. 70; C-443/06, Hollmann, Rz. 56 ff.; C-418/07, Société Papillon, Rz. 43 f. 2 Exemplarisch BVerfGE 11, 245 (254); 78, 214 (227); 113, 167 (236); 120, 1 (30); s. zum Vergleich auch Hey, AöR 128 (2003), 226. 3 S. bspw. EuGH C-35/98, Verkooijen, Rz. 57 f.; C-315/02, Lenz, Rz. 34 ff. 4 So für das körperschaftsteuerliche Anrechnungsverfahren EuGH C-319/02, Manninen, Rz. 45; C-446/04, FII Group Litigation, Rz. 93; C-292/04, Meilicke, Rz. 28; und für die Konsolidierung im internationalen Konzern wohl auch EuGH C-418/07, Société Papillon, Rz. 47 f. und 58. S. ferner Schön, StBJb 2003/2004, 17 (52 f.); Weber, EC Tax Review 2003, 220 (225). 5 S. EuGH C-204/90, Bachmann, Rz. 21 ff.; C-150/04, Kommission/Dänemark, Rz. 71 ff. (im Umkehrschluss); s. aber auch EuGH v. 23.1.2014 – C-296/12 – Kommission/Belgien, EU:C:2014:24, Rz. 35 ff. 6 Eingehend Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, 344 ff.; Englisch, Intertax 2010, 197 (214); anders – Kohärenz nur bei Einbeziehung auch ausländische KSt-Vorbelastung, s. dazu sogleich oben im Text – EuGH C-319/02, Manninen; C-292/04, Meilicke u.a.; zust. Denys, ET 2007, 221. 7 S. bspw. EuGH C-319/02, Manninen, Rz. 46; C-471/04, Keller Holding, Rz. 43; C-446/04, FII Group Litigation, Rz. 93; C-292/04, Meilicke, Rz. 29; dazu ausf. Englisch, Intertax 2010, 197. 8 S. van Thiel, Tax Law Review 2008, 143 (171): nur „prima facie“ Diskriminierung; ähnlich Hellerstein/Kofler/Mason, Tax Law Review 2008, 1 (21). 9 Näher dazu Englisch, Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, 2008, 129 ff.; ebenso Ståhl, EC Tax Review 1997, 227 (229 und 231); Staringer in Lehner/Staringer/Tempel (Hrsg.), Kapitalverkehrsfreiheit und Steuerrecht, 2000, 93 (108). A.A. Douma, ET 2006, 522 (529); Kemmeren, FS Vanistendael, 2007, 555 (576 f.); Vanistendael, EC Tax Review 2005, 208 (216). 10 S. dazu in anderem Zusammenhang auch EuGH C-157/07, Krankenheim Ruhesitz, Rz. 49 (keine Anpassung an ausländisches System erforderlich). 11 S. EuGH C-253/09, Kommission/Ungarn, Rz. 81-83; v. 10.4.2014 – C-190/12, DFA Investment Trust Company, EU:C:2014:249, Rz. 94. 12 S. bspw. EuGH C-254/97, Baxter, Rz. 18; C-55/98, Vestergaard, Rz. 25; C-478/98, „Eurobonds“, Rz. 38; C-386/04, Stauffer, Rz. 47; C-451/05, ELISA, Rz. 81; st. Rspr.
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§4
Rz. 105
Europäisches Steuerrecht
Zusammenhang sehr strenge Verhältnismäßigkeitserfordernisse aufgestellt: Unwiderlegbare gesetzliche Vermutungen oder eine sonstige materiell-rechtliche Schlechterstellung zur Vermeidung von Ermittlungs- und Verifikationsschwierigkeiten im grenzüberschreitenden Kontext werden im EU-Binnenmarkt1 grds. als unangemessen erachtet2. Denn es kämen zwei mildere Maßnahmen in Betracht: Aufgrund der Amtshilferichtlinie 2011/16/EU (ehem. RL 77/799/EWG) könnten die Behörden anderer Mitgliedstaaten um Sachverhaltsaufklärung ersucht werden3; und davon abgesehen könnte vom Stpfl. selbst die Vorlage aller erforderlichen Nachweise verlangt werden4, sofern darin keine unzumutbare Erschwernis für diesen liege5. Etwaige damit einhergehende „behördliche Schwierigkeiten“ bzw. „verwaltungstechnische Nachteile“ seien unbeachtlich6. Der EuGH lässt es hier an Augenmaß missen. Einerseits tendiert er dazu, die Auferlegung unverhältnismäßiger Mitwirkungspflichten zuzulassen7, andererseits bringt er Verifikationsbedürfnis8 und -aufwand in keinen angemessenen Ausgleich zu den bei einer diskriminierenden Pauschalregelung drohenden (evtl. nur geringen) Belastungsnachteilen9. Ähnliche Feststellungen lassen sich in Bezug auf das vom Gerichtshof im Ausgangspunkt ebenfalls als legitim anerkannte10 Interesse der Mitgliedstaaten an einer effektiven Beitreibung der Steuerschuld treffen. Allerdings hat der Gerichtshof hier jüngst erstmals administrativen Schwierigkeiten11 ein gewisses Gewicht in der Abwägung aller maßgeblichen Belange zuerkannt12. 105–114
Einstweilen frei.
E. Das Beihilfenverbot im Steuerrecht Literatur: Frick, Einkommensteuerliche Steuervergünstigungen und Beihilfeverbot nach dem EGVertrag, 1994; Koschyk, Steuervergünstigungen als Beihilfen nach Artikel 92 EG-Vertrag, 1999; Schön, Taxation and State Aid Law in the European Union, CMLRev. 1999, 911; Jansen, Vorgaben des europäischen Beihilferechts für das nationale Steuerrecht, 2003; Geburtig, Konkurrentenrechtsschutz aus Art. 88 Abs. 3 Satz 3 EGV. Am Beispiel von Steuervergünstigungen, 2004; Sutter, Das EG-Beihilfenverbot und sein Durchführungsverbot in Steuersachen, Wien 2005; Jochum, Die Steuervergünstigung, Vergünstigungen und vergleichbare Subventionsleistungen im deutschen und europäischen Steuer-, Finanz- und Abgabenrecht, 2006; Strüber, Steuerliche Beihilfen, 2006; Rode, Steuervergünstigungen, Beihilfen und Steuerwettbewerb, 2006; Jaeger, Beihilfen durch Steuern und parafiskalische Abgaben, 1 Anders im Wirtschaftsverkehr mit Drittstaaten einschließlich nicht der EU angehörenden EWR-Mitgliedstaaten, vgl. EuGH C-101/05, „A“, Rz. 63; C-72/09, Établissements Rimbaud, Rz. 44; v. 10.4. 2014 – C-190/12, DFA Investment Trust Company, EU:C:2014:249, Rz. 84 ff.; s. aber auch EuGH C-377/07, STEKO, Rz. 55. S. ferner FG Köln v. 15.1.2014 – 13 K 3735/10, EFG 2014, 667 (670; Vatikanstaat); M. Lang, SWI 2012, 67 (68 ff.); Binder/Pinetz, EC Tax Review 2014, 324. 2 S. bspw. EuGH C-151/94, Kommission/Luxemburg, Rz. 21; C-254/97, Baxter, Rz. 19 f.; C-386/04, Stauffer, Rz. 49; C-371/10, National Grid Indus, Rz. 65 ff. 3 S. bspw. EuGH C-254/97, Baxter, Rz. 20; C-451/05, ELISA, Rz. 96; C-318/07, Persche, Rz. 53. Dazu ausf. Hemels, ET 2009, 583; Gabert, ET 2011, 342; Gabert, IWB 2011, 250. 4 S. bspw. EuGH C-204/90, Bachmann, Rz. 18 und 20; C-136/00, Danner, Rz. 50; C-451/05, ELISA, Rz. 92 ff. S. speziell zur Verrechnungspreisdokumentation nach § 90 Abs. 3 AO auch BFH v. 10.4. 2013 – I R 45/11, BStBl. 2013, 771, Rz. 38 ff. 5 S. dazu EuGH C-524/04, Thin Cap Group Litigation, Rz. 82; C-201/05, CFC and Dividend Group Litigation, Rz. 85; C-310/09, Accor, Rz. 102; C-262/09, Meilicke II, Rz. 45. 6 S. bspw. EuGH C-334/02, Kommission/Frankreich, Rz. 29; C-386/04, Stauffer, Rz. 48; C-418/07, Société Papillon, Rz. 54; C-318/07, Persche, Rz. 55; sowie generell EuGH C-233/09, Dijkman, Rz. 60. 7 Exemplarisch EuGH C-436/08 und C-437/08, Haribo und Österreichische Salinen, Rz. 104. 8 Vgl. BVerfGE 84, 239 (273): Das Deklarationsprinzip bedarf der Ergänzung durch das Verifikationsprinzip. 9 S. dazu GA Kokott, Schlussanträge EuGH C-282/07, Truck Center, Rz. 45 ff.; GA Kokott, Schlussanträge C-371/10, National Grid Indus, Rz. 60 ff. 10 Grundl. EuGH C-290/04, Scorpio Konzertproduktionen, Rz. 36; s. ferner EuGH C-269/09, Kommission/Spanien, Rz. 64 ff. 11 S. dazu die kritische Analyse von van der Smitte, Bulletin for International Taxation 2014, 387. 12 S. EuGH C-498/10, „X NV“, Rz. 51.
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Das Beihilfenverbot im Steuerrecht
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Wien 2006; Jann, Nationale Steuern und das EG-Beihilfenverbot, in FS Baudenbacher, 2007, 419; Birkenmaier, Die Vorgaben der Beihilfevorschriften der EG-Vertrages für die direkte Unternehmensbesteuerung, 2007; Micheau, Tax Selectivity in State Aid Review: A Debatable Case Practice, EC Tax Review 2008, 276; Kämper, Nationale Steuervergünstigungshoheit und Europarecht, 2009; M. Lang, Die Auswirkungen des gemeinschaftsrechtlichen Beihilferechts auf das Steuerrecht, Verhandlungen 17. ÖJT, Band IV/1, 2009; Luja, Group Taxation, Sectoral Tax Benefits and De Facto Selectivity in State Aid Review, EStAL 2009, 473; Rossi-Maccanico, The Notion of Indirect Selectivity in Fiscal Aids: A Reasoned Review of the Communtity Practice, EStAL 2009, 161; López López, General Thought on Selectivity and Consequences of a Broad Concept of State Aid in Tax Matters, EStAL 2010, 807; Helios, Steuerliche Gemeinnützigkeit und EG-Beihilfenrecht, 2010; Lehnert, Die Korrektur von gemeinschaftsrechtswidrigen Beihilfen in Form von Steuervergünstigungen, 2009; Rydelski, Distinction between State Aid and General Tax Measures, EC Tax Review 2010, 149; Jansen, Vorgaben des europäischen Beihilferechts für das nationale Steuerrecht, 2010; Blumenberg/Kring, Europäisches Beihilferecht und Besteuerung, IFSt-Schrift Nr. 473 (2011); Raab, Das EU-Beihilfenverbot und seine verfahrensrechtlichen Auswirkungen im Steuerrecht, 2011; Traversa, Is There Still Room Left in EU Law for Tax Autonomy of Member States’ Regional and Local Authorities?, EC Tax Review 2011, 4; Englisch, Steuerliche Sonderbelastung als verbotene Beihilfe – eine unionsrechtliche Achillesferse der Kernbrennstoffsteuer, StuW 2012, 318; Schön, State Aid in the Area of Taxation, in Hancher u.a. (Hrsg.), EU State Aids, London 2012, 321; M. Lang, State Aid and Taxation, EStAL 2012, 411; Englisch, EU State Aid Rules Applied to Indirect Tax Measures, EC Tax Review 2013, 9; Markert, Deutsche Steuervergünstigungsnormen im Lichte unionsrechtlicher Vorgaben, 2013; Rust/Micheau (Hrsg.), State Aid and Tax Law, 2013; Luja (115) Rossi (123) Wattel (139), Szudoczky (163) in Richelle u.a. (Hrsg.), Allocation Taxing Powers within the European Union, Berlin 2013; Rossi-Maccanico, EU Review of Direct Tax Measures: Interplay between Fundamental Freedoms and State Aid Control, EC Tax Review 2013, 19; Rust, Regionale Steuerautonomie vor dem europäischen Beihilferecht, 2013, Wattel, Interaction of State Aid, Free Movement, Policy Competition and Abuse Control in Direct Tax Matters, World Tax Journal 2013, 128; Bernabeu, R&D&I Tax Incentives in the European Union and State Aid Rules, ET 2014, 178; Grube, Der Einfluss des unionsrechtlichen Beihilfeverbots auf das deutsche Steuerrecht, 2014; Ismer/Karch, Das Referenzsystem bei der beihilferechtlichen Überprüfung nationaler Steuervergünstigungen, IStR 2014, 130;Luja, EU State Aid Rules and Their Limits, Tax Notes International 2014, 353; Musil, Europäisches Beihilferecht und nationales Steuerrecht, FR 2014, 953; Rosenberg, Das beihilferechtliche Durchführungsverbot in Steuerverfahren, 2014; Staes, The Combined Application of the Fundamental Freedoms and the EU State Aid Rules, Intertax 2014, 106; RossiMaccanico, Fiscal Aid, Tax Competition, and BEPS, Tax Notes International 2014, 857; Micheau, State Aid, Subsidy and Tax Incentives Under EU and WTO Law, Alphen aan den Rijn 2014. S. auch die Aufsätze und Dokumentensammlung im Sonderheft Intertax 2/2012.
Das grundsätzliche Beihilfenverbot des Art. 107 I AEUV (und des parallel auszulegenden Art. 61 EWR) soll einen unverfälsschten Wettbewerb im EU-/EWR-Binnenmarkt gewährleisten und so den zwischenstaatlichen Freihandel absichern1. Es betrifft im Steuerrecht der Mitgliedstaaten vor allem Steuervergünstigungen für Unternehmen. Denn nach st. Rspr. des EuGH können steuerliche Verschonungssubventionen staatliche Beihilfen darstellen, wenn sie eine Verminderung von „normalerweise“ zu tragenden Belastungen bewirken2. Daneben können aber auch eine bloße Verwaltungspraxis oder Einzelmaßnahmen im Steuervollzug das Beihilfenverbot tangieren3. Die Kommission als Wächterin über dessen Einhaltung (Art. 108 AEUV) hat basierend auf der EuGH-Rspr. im Jahr 1998 eine Mitteilung zur Anwendung der Beihilfevorschriften im Bereich direkter Unternehmensteuern veröffentlicht4, welche die Praxis der Kontrolle steuerlicher Beihilfen noch immer prägt5. Derzeit überarbeitet die Kommission 1 Näher Englisch, EuR 2009, 488 (489 f.), m.w.N. 2 Grundl. EuGH C-30/59, Steenkolenmijnen, S. 42, zum Beihilfenverbot der damaligen EGKS; seither st. Rspr., s. bspw. EuGH C-143/99, Adria-Wien Pipeline, Rz. 38; C-393/04 u.a., Air Liquide, Rz. 29; C-182/03 u.a., Belgien und Forum 187, Rz. 86; C-169/08, Regione Sardegna, Rz. 56. 3 S. EuGH C-480/98, Magefera; C-124/10 P, EDF; C-73/11 P, Frucona Kosˇice; Callies/Ruffert/ Cremer4, Art. 116 AEUV Rz. 38, m.w.N. 4 Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf Maßnahmen im Bereich der direkten Unternehmensbesteuerung, ABl. C 384 v. 10.12.1998, 3. 5 Zusätzliche Leitlinien ergeben sich aus dem Umsetzungsbericht der Kommission v. 9.2.2004, C(2004) 434.
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Europäisches Steuerrecht
dieses zentrale Regelwerk als Teil ihrer übergreifenden Initiative zur Modernisierung des Beihilfenrechts1; ein erster Entwurf ist bereits veröffentlicht worden2. Zunehmend geraten außerdem Verbrauchsteuervergünstigungen ins Visier der Kommission3, und sie testet die Grenzen des Beihilfeverbotes bei der Kontrolle von Verrechnungspreisregeln und -abreden (§ 1 Rz. 89)4. 116
Der voll justiziable5 Beihilfenbegriff des Art. 107 I AEUV wird vom EuGH und ihm folgend von der Kommission im Steuerrecht regelmäßig über eine vierstufige Prüfungsstruktur entfaltet6: Erstens muss die untersuchte steuerliche Maßnahme Unternehmen einen selektiven Vorteil in Gestalt einer steuerlichen Entlastung7 verschaffen. Der Unternehmensbegriff ist dabei weit zu verstehen und umfasst jede selbständig ausgeübte Erwerbstätigkeit am Markt8. Zweitens muss sie als „staatliche und staatlich finanzierte“ Maßnahme zu qualifizieren sein. Drittens muss sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen und schließlich viertens eine wettbewerbsverfälschende Wirkung haben.
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Ein selektiver Vorteil wird vom EuGH angenommen, wenn eine steuerliche Entlastung nur bestimmten Unternehmen oder Produktionszweigen zugute kommen, während er vergleichbaren Unternehmen oder Branchen nicht zugänglich ist9.In diesem Zusammenhang ist nach der st. Rspr. des Gerichtshofs zunächst die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltende allgemeine oder „normale“ steuerliche Behandlung – typischerweise anhand von Belastungsgrund und -prinzipien der in Rede stehenden Steuerart – zu ermitteln10. Oftmals wird dieser Aspekt gemeinsam mit der Feststellung des Vorteils abgehandelt11. Eine potenziell selektive Begünstigung ist bei jeder Verschonung von der Regelbelastung anzunehmen; nicht erforderlich ist, dass die Begünstigung tatbestandstechnisch als explizite Ausnahmebestimmung (Steuerbefreiung o.ä.) konzipiert ist12. Liegt eine solche Abweichung vom Referenzsystem vor, soll sodann die „tatsächliche und rechtliche Vergleichbarkeit“ von begünstigten und nichtbegünstigten Unternehmen anhand des mit der steuerlichen Regelung verfolgten Ziels zu beurteilen 1 S. dazu die Mitteilung der Kommission v. 8.5.2012, Modernisierung des EU-Beihilfenrechts, KOM(2012) 209 endg.; zu den Zielen der Initiative s. vor allem Rz. 18. 2 S. Kommissionsentwurf v. 17.1.2014, Draft Commission Notice on the notion of State aid pursuant to Article 107(1) TFEU, http://ec.europa.eu/competition/consultations/2014_state_aid_notion/ draft_guidance_en.pdf. 3 Einen Überblick über laufende und abgeschlossene Beihilfeverfahren bietet die online-Datenbank der Kommission: http://ec.europa.eu/competition/elojade/isef/index.cfm?clear=1&policy–area–id=3. 4 Anlass sind die Fälle sog. „aggressiver“ internationaler Steuerplanung großer Konzerne, s. Entscheidung der Kommission v. 11.6.2014, C(2014) 3606 final, Rz. 54 ff. (Apple); v. 11.6.2014, C(2014) 3626 final, Rz. 75 ff. (Starbucks); v. 11.6.2014, C(2014) 3627 final, Rz. 58 ff. (Fiat); Gunn, H&I 2014, 124. S. dazu auch für die EU-Kommission Rossi-Maccanico Tax Notes International 2014, 857; krit. Luja, Tax Notes International 2014, 353. 5 S. EuGH C-487/06, British Aggregates, Rz. 111 f. 6 S. dazu die Mitteilung der Kommission v. 10.12.1998, Rz. 9 ff. 7 Ausnahmsweise kann der Vorteil auch in der gezielten steuerlichen Mehrbelastung von unmittelbaren Wettbewerbern bestehen, vgl. EuGH C-526/04, Laboratoires Boiron, Rz. 33 ff. m.w.N.; GA Tizzano, EuGH C-53/00, Ferring, Rz. 36 ff.; Jann, FS Baudenbacher, 2007, 419 (428 f.); Englisch, StuW 2012, 318; a.A. Schön in Hancher u.a., EU State Aids, Rz. 10–013. 8 S. bspw. EuGH C-35/96, Kommission/Italien, Rz. 36; C-264/01, AOK Bundesverband u.a., Rz. 46; Callies/Ruffert/Cremer4, Art. 107 AEUV Rz. 25; s. ferner EuGH C-222/04, Cassa di Risparmio di Firenze u.a., Rz. 111 ff. (Holdings mit Kontrollfunktion). 9 Der Begriff „Produktionszweig“ ist i.R.d. Art. 107 I AEUV weit zu verstehen und umfasst jeden Wirtschaftszweig einschließlich der Branchen des Dienstleistungssektors, s. EuGH C-148/04, Unicredito, Rz. 45 f.; Grabitz/Hilf/Nettesheim/von Wallenberg/Schütte, Art. 107 AEUV Rz. 40. 10 S. bspw. EuGH v. 8.11.2001 –C-143/99, Adria-Wien Pipeline, EuGHE 2001, I-8365, Rz. 41; v. 15.11. 2011 – C-106/09 P u.a., Kommission/Gibraltar, EuGHE 2011, I-11113, Rz. 90; v. 18.7.2013 – C-6/12, P Oy, EU:C:2013:525, Rz. 19. 11 S. bspw. EuGH C-487/06 P, British Aggregates, Rz. 82; C-409/00, Spanien/Kommission, Rz. 47; C-428/06, Unión General de Trabajadores, Rz. 46. S. dazu auch Ezcurra, Intertax 2013, 340 (343) m.w.N. 12 Grundl. EuGH C-487/06, P, British Aggregates, Rz. 89, 92; seither st. Rspr., s. auch Rydelski, EC Tax Review 2010, 149 (150).
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Das Beihilfenverbot im Steuerrecht
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sein1. In jüngerer Zeit setzt sich in Rspr. und Kommissionspraxis dabei immer mehr die Tendenz durch, die maßgebliche Zielsetzung anhand der allgemeinen Steuerwürdigkeitsentscheidungen im Rahmen der jeweiligen Steuerart zu bestimmen; stellt man hingegen auf das lenkungspolitische Anliegen der beihilfeverdächtigen Vergünstigungsregelung ab, wäre jede folgerichtig ausgestaltete Steuervergünstigung beihilferechtlich hinzunehmen2. Grds. nicht zu beanstanden, da regelmäßig nicht selektiv, sind allerdings unterschiedslos allen Unternehmen offen stehende Steuervergünstigungen3. Die Selektivität einer Maßnahme kann hingegen nicht schon deshalb ausgeschlossen werden, weil eine große Zahl von Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen4 oder ein ganzer Wirtschaftszweig5 eine Steuervergünstigung in Anspruch nehmen können. I.Ü. soll die Selektivität eines Steuervorteils nach der Rspr. des EuGH widerlegt sein, wenn selbiger trotz seines Ausnahmecharakters „durch die Natur und den inneren Aufbau des Steuersystems gerechtfertigt“ ist6. Dies ist nach Ansicht des EuGH anzunehmen, wenn der Vorteil sich als folgerichtige Entfaltung von Grund- oder Leitprinzipien darstellt, die dem betreffenden Steuersystem zugrunde liegen; „externe“, innerhalb des jeweiligen Referenzsystems nur punktuell – insb. zu Lenkungszwecken oder aus wirtschaftspolitischen Motiven – verfolgte Zielsetzungen haben hingegen keine legitimierende Wirkung7. Die Kommission hält zudem auch verhältnismäßige Vereinfachungszwecknormen8 oder sonst dem effektiven Steuervollzug dienende Regelungen für rechtfertigungsfähig9. Die Bestimmung des zutreffenden Referenzsystems zur Vorteilsbestimmung bereitet mitunter Probleme. Beispiel: § 8c I KStG lässt den körperschaftsteuerlichen Verlustvortrag bei einem sog. „schädlichen Beteiligungserwerb“ ganz oder teilweise untergehen (§ 11 Rz. 58). § 8c Ia KStG nimmt den Beteiligungserwerb zum Zwecke der Sanierung hiervon aus. Die EU-Kommission hat die Sanierungsklausel des § 8c Ia KStG als verbotene Beihilfe eingestuft10. Der Beschluss basiert maßgeblich darauf, dass § 8c I KStG als Referenzrahmen festgelegt und die Vergleichbarkeitsprüfung an dessen – angeblicher – Zielsetzung ausgerichtet wurde, die Nutzung von Verlustvorträgen bei Übergang signifikanter Anteile des Gesellschaftskapitals auf einen neuen Anteilseigner mit Einfluss auf die Geschäftsführung aus fiskalischen Gründen zu begrenzen. Dementsprechend wird die Ausnahme des § 8c Ia KStG als selektiver Vorteil zugunsten bestimmter – hinsichtlich dieser Zielsetzung mit den übrigen Gesellschaften vergleichbarer – sanierungsbedürftiger Gesellschaften qualifiziert. Eine 1 S. EuGH C-143/99, Adria-Wien Pipeline, Rz. 41; C-182/03 u.a., Belgien und Forum 187, Rz. 119; C-308/01, GIL Insurance u.a., Rz. 68; C-88/03, Portugal/Kommission, Rz. 56; C-106/09 P, Kommission/Gibraltar, Rz. 75. Zur Darlegungs- und Beweislast s. EuGH C-279/08 P, Kommission/Niederlande, Rz. 65 f. 2 Zur vor allem früher noch schwankenden Handhabung des Bezugspunkts der Finalitätsbetrachtung durch EuGH und Kommission s. Bartosch, Common Market Law Review 2010, 729 (741 f.). 3 S. EuGH C-156/98, Deutschland/Kommission, Rz. 22; C-393/04 u.a., Air Liquide, Rz. 32; C-106/09 P, Kommission u.a./Gibraltar u.a., Rz. 73; Micheau, EC Tax Review 2008, 276 (281). Dies gilt jedoch nur vorbehaltlich etwaiger faktischer Begünstigungswirkungen, s. Rz. 118. 4 S. EuGH C-75/97, Belgien/Kommission („Maribel“), Rz. 32; C-143/99, Adria-Wien Pipeline, Rz. 48; C-279/08 P, Kommission/Niederlande, Rz. 50, m.w.N. 5 S. bspw. EuGH C-148/04, Unicredito Italiano, Rz. 45 (Bankgewerbe). Krit. M. Lang, IStR 2010, 570 (578); wie hier Rossi-Maccanico, EStAL 2009, 489 (496). 6 Grundl. EuGH 173/73, Italien/Kommission, Rz. 33. Seitdem st. Rspr., s. bspw. EuGH C-143/99, Adria-Wien Pipeline, Rz. 42; C-88/03, Portugal/Kommission, Rz. 80; C-106/09 P, Kommission/Gibraltar, Rz. 146 ff. (auch zur Darlegungs- und Beweislast). 7 Grundl. EuGH C-88/03, Portugal/Kommission, Rz. 81. 8 S. Beschluss der Kommission v. 16.10.2013, K(2013) 6654 endg., Rz. 39. 9 S. Rossi-Maccanico, Intertax 2012, 92 (99). 10 S. Beschluss der Kommission v. 26.1.2011, K(2011) 275 endg. S. dazu auch de Weerth, DB 2010, 1205; Drüen, DStR 2011, 289; Linn, IStR 2011, 481; Blumenberg/Kring, Europäisches Beihilferecht und Besteuerung, IFSt-Schrift Nr. 473 (2011), 51 ff.; Arhold, EStAL 2011, 71; Hackemann/Momen, BB 2011, 2135; Drüen, FS Spindler, 2011, 29 (47 f.); Drüen, DStR 2011, 289; Blumenberg/Haisch, FR 2012, 12; Klemt, DStR 2013, 1057; Brodersen/Mückl, ET 2014, 56; Grube, Der Einfluss des unionsrechtlichen Beihilfeverbots auf das deutsche Steuerrecht, 2014, S. 103 ff.; Ismer/Karch, IStR 2014, 130 (132 ff.); Musil, FR 2014, 953 (954 f.).
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Rechtfertigung aus Gründen der Missbrauchsabwehr wurde zurückgewiesen. Hätte man hingegen das körperschaftsteuerliche Trennungsprinzip als Referenzrahmen gewählt und § 8c I KStG als Ausnahme hiervon eingestuft, die der Abwehr von Mantelkäufen u. ä. Gestaltungsmissbräuchen dient, wäre § 8c Ia KStG als Gegenausnahme in Fällen fehlender Missbrauchsgefahr systemkonform gewesen und hätte darum nicht einmal als Vorteil, jedenfalls nicht als selektiv eingestuft werden dürfen. Seit der Ergänzung des § 8c I KStG um die Sätze 4 ff. erscheint die letztgenannte Sichtweise auch überzeugender; die Kommissionsansicht überzeugt nur im Lichte der ursprünglichen, rein fiskalisch motivierten Fassung des § 8c I KStG.
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Fraglich ist, inwieweit Steuervergünstigungen mittelbar selektiv wirken, selbst wenn die Voraussetzungen für ihre Inanspruchnahme nicht nach bestimmten Unternehmensmerkmalen (wie etwa Unternehmensfunktionen, Unternehmensgröße oder öffentlich-rechtlicher Rechtsform1) differenzieren. Als geklärt kann in diesem Zusammenhang nur gelten, dass indirekte Vorteile zugunsten bestimmter Unternehmen beihilfenrelevant sind, wenn sie schon in den gesetzlichen Kriterien für die Gewährung der Steuervergünstigung angelegt sind (mittelbare Begünstigung „de jure“)2. Keiner klaren Linie folgt hingegen v.a. die Kommission hinsichtlich der Beurteilung faktisch ungleicher Verteilungswirkungen einer Steuervergünstigungen im Verhältnis zwischen verschiedenen Branchen oder Unternehmenstypen (mittelbare Begünstigung „de facto“)3. Häufig wird unter Orientierung am Vergünstigungszweck stillschweigend die Vergleichbarkeit der unterschiedlich betroffenen Unternehmen oder Wirtschaftszweige in Abrede gestellt, etwa wenn der Einzelhandel in geringerem Maße von Steueranreizen für Forschung und Entwicklung profitiert als bspw. die Automobil- oder Chemiebranche4.
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Keine Handhabe bietet das EU-Beihilfenrecht gegen den „fairen“ Steuersystemwettbewerb5, etwa in Gestalt eines allgemein niedrigen KSt-Satzes, wie ihn Irland und Zypern eingeführt haben6. Sehr instruktiv ist diesbezüglich die kontrovers diskutierte7 EuGH-Entscheidung Kommission/Gibraltar8: Bei zutreffendem Verständnis hat der EuGH hier beanstandet, dass eine Steuer auf Gewinne aus betrieblicher Tätigkeit nur bei den Produktionsfaktoren Arbeit und Boden ansetzte, den Erfolgsbeitrag des Faktors Kapital hingegen zugunsten der Gruppe der offshore-Unternehmen ausblendete. Hingegen wäre ein System gewinnunabhängiger Boden- und Lohnsummensteuern trotz seiner ebenfalls günstigen Auswirkungen auf offshore-Unternehmen als allgemeine und in sich folgerichtige Ausgestaltung des Steuersystems nicht zu beanstanden gewesen9.
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Die Prüfung des Beihilfecharakters einer Steuervergünstigung durch Kommission und EuGH weist einen Mangel an rechtsdogmatischer Stringenz auf. Richtigerweise kann schon das Vorliegen eines beihilfeverdächtigen Vorteils nur angenommen werden, wenn die Steuerentlastung 1 Zur Selektivität solcher Kriterien s. EuGH C-182/03 u.a., Belgien und Forum 187, Rz. 125; Mitteilung der Kommission v. 10.12.1998, Rz. 19 f.; Umsetzungsbericht der Kommission v. 9.2.2004, 9; Micheau, EC Tax Review 2008, 276 (277). 2 Exemplarisch EuGH C-156/98, Deutschland/Kommission, Rz. 25 ff., zu § 6b EStG i.d.F. des JStG 2009, wonach allen Unternehmen ein Besteuerungsaufschub für bestimmte Veräußerungsgewinne bei Reinvestition in Beteiligungen an bestimmten – somit indirekt begünstigten – Unternehmen im Osten Deutschlands gewährt wurde. 3 S. die wachsweiche Formulierung der Mitteilung der Kommission v. 10.12.1998, Rz. 14: Art. 107 I AEUV sei in solchen Konstellationen „nicht zwangsläufig“ anwendbar. Nach Jann, FS Baudenbacher, 2007, 419 (427), sollen derartige Effekte grds. unbeachtlich sein. Vgl. aber etwa EuGH 203/82, Kommission/Italien. 4 Vgl. dazu Kommissionsmitteilung v. 22.11.2006, Wege zu einer wirksameren steuerlichen Förderung von FuE, KOM(2006) 728, 7 f.; ebenso bspw. Bernabeu, ET 2014, 178 (187). 5 Vgl. EuGH v. 6.9.2006 – C-88/03, Portugal/Kommission, EuGHE 2006, I-7115, Rz. 56 ff.; GA Darmon, Schlussanträge v. 17.3.1992 – C-72/91 und C-73/91, Sloman Neptun u.a., EuGHE 1993, I-887, Rz. 62; GA Kokott, Schlussanträge v. 8.5.2008 – C-428/06 u.a., UGT-Rioja u.a., EuGHE 2008, I-6747, Rz. 48. 6 Der geographische Bezugsrahmen der Selektivität reicht nicht über die Grenzen des jeweiligen Mitgliedstaats hinaus, vgl. EuGH GrK C-88/03, Portugal/Kommission, Rz. 56 ff. 7 S. M. Lang, ÖStZ 2011, 593; Jaeger, EuZW 2012, 92; J.T. Lang, EStAL 2012, 805; Luja, Highlights & Insights, 2012, 98; Biondi, CMLRev 2013, 1719 (1735). 8 EuGH C-106/09 P u.a., Kommission u.a./Gibraltar u.a. 9 A.A. wohl M. Lang, Verhandlungen 17. ÖJT, Bd. IV/1, 2009, 29.
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oder -verschonung sich nicht auf den Belastungsgrund der Steuer bzw. auf ein diesen Belastungsgrund folgerichtig konkretisierendes Leitprinzip der Besteuerung (bei Lenkungsteuern ggf. das Lenkungsziel) zurückführen lässt1. Anderenfalls wäre das gesamte mitgliedstaatliche Steuerrecht einer potenziellen Beihilfekontrolle unterworfen, weil keine Steuer (außer der Kopfsteuer) vollständig wettbewerbsneutral und frei von Begünstigungswirkungen ist2; darauf sind die Art. 107 f. AEUV aber nicht angelegt3. Damit ist die vom EuGH propagierte zusätzliche, ebenfalls an den grundlegenden Steuerwürdigkeitsentscheidungen ansetzende Vergleichbarkeitsprüfung zwischen begünstigten und nicht begünstigten Unternehmen ebenso redundant wie die darauf basierende Möglichkeit der Rechtfertigung durch dem Steuersystem inhärente Grundwertungen. Als selektiv ist eine nicht systemkonforme Begünstigung nach dem Sinn und Zweck des Art. 107 AEUV (Rz. 115) zu qualifizieren, wenn sie zielgerichtet nur bestimmte Gruppen von Unternehmen steuerlich entlastet und so im (nationalen oder binnenmarktweiten) Wettbewerb mit nicht begünstigten Unternehmen stärkt, oder wenn sie ihrer bloßen Wirkung nach bestimmte Unternehmen signifikant stärker entlastet als andere (z.B. Steuervergünstigungen für Forschung und Entwicklung). Letzterenfalls ist der Ausweitung des sachlichen Anwendungsbereichs des Art. 107 I AEUV (auf Fälle jenseits des klassischen Leitbilds der gezielten Marktintervention durch Subventionen) mittels einer parallelen Ausweitung der Rechtfertigungsmöglichkeiten jenseits der geschriebenen Gründe des Art. 107 II und III AEUV Rechnung zu tragen, ähnlich wie dies auch bei den Grundfreiheiten geschehen ist (s. Rz. 93)4. Ansonsten hingegen darf eine schon den Beihilfetatbestand ausschließende Rechtfertigung selektiver Wirkungen nur bei verhältnismäßigen Vereinfachungszwecknormen u.ä. Maßnahmen angenommen werden. Besonderheiten gelten hinsichtlich der regionalen Selektivität von Steuervergünstigungen zugunsten der in einem bestimmten Gebiet innerhalb eines Mitgliedstaates niedergelassenen Unternehmen. Nach gefestigter EuGH-Rspr. ist hier wie folgt zu differenzieren5: Ist die Begünstigung dem Zentralstaat zurechenbar, also bundesgesetzlich verankert, ist die Selektivität uneingeschränkt zu bejahen6. Sind umgekehrt allein subnationale Gebietskörperschaften zur Festlegung des innerhalb ihres Gebietes jeweils geltenden Steuerniveaus befugt, soll mangels steuerlichen „Normalmaßes“ eine regionale Niedrigbesteuerung für sich genommen keine Beihilfe darstellen7. Unterschiedliche kommunale GewSt-Hebesätze (s. § 12 Rz. 43) oder relativ niedrige GrESt-Sätze in einigen Bundesländern (s. § 18 Rz. 2, 65) können daher nicht nach Art. 107 I AEUV beanstandet werden. Bei der in Deutschland praktisch nicht relevanten „asymmetrischen“ subnationalen Steuerhoheit in Gestalt einer Befugnis nur bestimmter Gebietskörperschaften zur Abweichung vom an sich bundesgesetzlich vorgegebenen Steuersystem wiederum soll es maßgeblich auf die Autonomie dieser Körperschaften ankommen8.
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Die übrigen Merkmale verbotener Beihilfen i.S.d. Art. 107 I AEUV sind auf dem Gebiet des Steuerrechts meist unproblematisch zu bejahen. So bedarf es keines konkreten Nachweises der Auswirkung auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten und einer tatsächlichen Wett-
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1 Exemplarisch EuG T-92/02, Stadtwerke Schwäbisch Hall u.a., Rz. 67 ff. (zu § 6 I Nr. 3a Buchst. d S. 3 EStG); s. auch den Diskussionsbeitrag von Schön, 17. ÖJT, Bd. IV/2, 2009, 28; sowie Jennert/Ellenrieder, EWS 2011, 305 (307 f.); abl. M. Lang, ISR 2013, 65 (67), m.w.N. Ergänzend ist beim einzelfallabhängigen Steuererlass ein Vergleich mit dem Verhalten privater Kapitalgeber bzw. Gläubiger anzustellen, vgl. EuGH v. 5.6.2012 – C-124/10 P, EDF, EU:C:2012:318, Rz. 75 ff.; v. 24.1.2013 – C-73/11 P, Frucona Kosˇice, EU:C:2013:32, Rz. 70 ff. 2 Zimmermann/Henke/Broer, Finanzwissenschaft10, 490; Wellisch, Finanzwissenschaft II, 2000, 95. 3 S. auch GA Jääskinen, Schlussanträge v. 7.4.2011 – C-106/09 P u. C-107/09 P, Kommission u.a./Gibraltar u.a., Rz. 189. 4 So tendenziell auch Micheau, EC Tax Review 2008, 276 (282). 5 S. insb. EuGH C-156/98, Deutschland/Kommission, Rz. 23 ff.; C-88/03, Portugal/Kommission, Rz. 63 ff. Dazu auch M. Lang, 17. ÖJT, Bd. IV/2, 2009, 36. 6 S. etwa EuGH C-156/98, Deutschland/Kommission, Rz. 23 ff. 7 S. EuGH C-88/03, Portugal/Kommission, Rz. 64; Arhold, EuZW 2006, 717 (719 f.); a.A. M. Lang, IStR 2010, 570 (574 f.); s. auch Glaser, EuZW 2009, 363. 8 So grundl. das sog. Azoren-Urteil des EuGH GrK C-88/03, Portugal/Kommission, Rz. 56; seither st. Rspr., s. bspw. EuGH C-428/06 u.a., UGT-Rioja u.a., Rz. 49 ff. Dazu Stein, EWS 2006, 493; Arhold, EuZW 2006, 717; de Weerth, IStR 2008, 732; Glaser, EuZW 2009, 363; M. Rust, Regionale Steuerautonomie vor dem europäischen Beihilferecht, S. 133 ff., m.w.N.
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bewerbsverzerrung; eine dahingehende von der Steuervergünstigung ausgehende abstrakte Eignung bzw. Gefahr genügt1. Die Beihilfe wird auch regelmäßig aus staatlichen Mitteln, nämlich durch einen Verzicht auf Steueraufkommen finanziert2. Eine Saldierung der Aufkommenseinbußen mit erwarteten Steuermehreinnahmen infolge der von einer Steuervergünstigung ausgehenden Investitionsanreize ist in diesem Zusammenhang nach Sinn und Zweck des Art. 107 I AEUV unzulässig3. Außerdem muss die Gewährung der steuerlichen Beihilfe dem Mitgliedstaat zurechenbar sein; es darf keine sog. Unionsbeihilfe vorliegen. Nach der Rspr. des EuGH handelt es sich dabei entgegen dem Wortlaut des Art. 107 I AEUV nicht um ein alternatives, sondern um ein kumulatives Erfordernis im Verhältnis zur Finanzierung aus staatlichen Mitteln4; dies entspricht der Abschnittsüberschrift im AEUV und der Entstehungsgeschichte der Norm5. Relevant wird diese Voraussetzung nur in harmonisierten Bereichen des Steuerrechts (s. Rz. 66): Der Beihilfeeffekt einer Steuervergünstigung ist dort dem Mitgliedstaat nicht zurechenbar, wenn er in einer EU-Richtlinie zwingend vorgegeben ist6 oder wenn eine verzichtbare Richtlinienbestimmung die beihilfenverdächtige Steuervergünstigung als Regelfall vorsieht7. Dasselbe wird man darüber hinaus annehmen müssen, wenn der Beihilfeneffekt vom EU-Sekundärrecht gedeckt ist, weil er einer den Mitgliedstaaten eingeräumten Gestaltungsoption inhärent ist8. 123
Art. 107 AEUV enthält ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Die Kommission ist gem. Art. 108 III 1 AEUV vor Einführung jeder als Beihilfe zu qualifizierenden Steuervergünstigung zu unterrichten (sog. Notifizierungsverfahren)9. Nach Art. 107 II AEUV sind bestimmte Beihilfen stets mit dem Binnenmarkt vereinbar und dürfen daher eingeführt werden; die Vorschrift wird jedoch sehr restriktiv ausgelegt10. Daneben kann die Kommission Beihilfen mit einer in Art. 107 III AEUV aufgeführten Zwecksetzung für binnenmarktkompatibel erklären. Sie verfügt hierbei nach – fragwürdiger – Ansicht des EuGH über ein sehr weites Ermessen11, das sie durch zahlreiche Mitteilungen und Leitlinien fallgruppenspezifisch konkretisiert hat. Für bestimmte Arten von Beihilfen hat die Kommission zudem in z.T. auch für steuerliche Beihilfen relevanten sog. Gruppenfreistellungsverordnungen Voraussetzungen niedergelegt, bei deren Erfüllung eine Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt unterstellt wird und eine Notifizierungspflicht entfällt12.
1 S. EuGH C-148/04, Unicredito Italiano, Rz. 54; C-393/04 u.a., Air Liquide, Rz. 34. S. allerdings auch die De-minimis-Verordnung (EU) Nr. 1407/2013 der Kommission v. 18.12.2013. 2 S. bspw. EuGH C-156/98, Deutschland/Kommission, Rz. 25 ff.; C-387/92, Banco Exterior de España, Rz. 13 f.; C-200/97, Ecotrade, Rz. 45; s. auch EuGH 173/73, Italien/Kommission, Rz. 33/35. 3 S. EuGH C-182/03 und C-217/03, Belgien und Forum 187/Kommission, Rz. 128 f.; Grube, DStZ 2007, 370 (376). 4 S. allgemein EuGH C-482/99, Frankreich/Kommission, Rz. 24; und speziell in steuerrechtlichem Kontext EuGH C-182/03 und C-217/03, Belgien und Forum 187/Kommission, Rz. 127; C-460/07, Puffer, Rz. 67 ff.; EuG T-351/02, Deutsche Bahn, Rz. 100 f. 5 S. auch Englisch, EuR 2009, 488 (489 ff.); s. auch EuG T-351/02, Deutsche Bahn, Rz. 100 m.w.N. 6 S. EuGH C-460/07, Puffer, Rz. 67 ff. 7 S. EuG T-351/02, Deutsche Bahn, Rz. 100 ff. 8 So auch Jatzke, EWS 2000, 491 (498). S. dazu in anderem Kontext EuGH C-97/09, Schmelz, Rz. 54; zurückhaltender aber EuGH v. 10.12.2013 – C-272/12 P, Kommission/Irland u.a., EU:C:2013:812, Rz. 47 ff. Eine ausdrückliche Regelung besteht für die Energiesteuerrichtlinie 2003/96/EG, vgl. deren Art. 26 II. 9 Hierzu anhand des Genehmigungserfordernisses der Ausnahmetatbestände im Strom- und Energiesteuergesetz Frenz/Roth, DStZ 2006, 465; F. Kirchhof, ZfZ 2006, 246. 10 Exemplarisch EuGH C-156/98, Deutschland/Kommission, Rz. 49. 11 S. bspw. EuGH C-301/87, Frankreich/Kommission, Rz. 15; C-372/97, Italien/Kommission, Rz. 83; C-409/00, Spanien/Kommission, Rz. 93; Calliess/Ruffert/Cremer4, Art. 107 AEUV Rz. 48. 12 S. insb. Art. 3 der allgemeinen GruppenfreistellungsVO (EU) 651/2014 i.V.m. Art. 108 IV, 109 AEUV i.V.m. Art. 1 I der Ermächtigungs-VO 994/98.
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§ 5 Rechtsanwendung im Steuerrecht A. Rechtsnormen des Steuerrechts Literatur: HHSp/Wernsmann, § 4 AO; Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO; Ehlers, Rechtsquellen und Rechtsnormen der Verwaltung, in Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht14, 2010, § 2.
Steuerrechtliche Rechtsanwendung setzt Gesetze i.S.v. Rechtsnormen1 voraus. Nach § 4 AO ist Gesetz „jede Rechtsnorm“. Normen sind Regeln, Vorschriften oder Maßstäbe; sie können rechtsverbindlich sein oder nicht. Rechtsnormen sind für von ihnen betroffene Bürger rechtsverbindlich. Rechtsnormen – auch als Außenrechtssätze oder Rechtsquellen bezeichnet – sind abstrakte und generelle (d.h. für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen geltende) Anordnungen, die in einem bestimmten örtlichen Bereich zu einer bestimmten Zeit im Verhältnis zwischen den jeweils von ihnen Betroffenen verbindlich in dem Sinne sind, dass ihre Durchsetzung von einer staatlichen Autorität garantiert wird2. Für den Bereich des Steuerrechts sind solche Rechtsnormen: förmliche Gesetze, Rechtsverordnungen, autonome Satzungen, völkerrechtliche Rechtsquellen (insb. Doppelbesteuerungsabkommen) und supranationale Normen. Nicht rechtsverbindlich sind die moralischen oder religiösen Normen.
1
Dem Rang nach steht die Verfassung mit ihren Grundnormen als „geistiger Überbau“ über den einfachen Gesetzen, die einfachen Gesetze stehen über den Rechtsverordnungen und den Satzungen (sog. Stufenbau der Rechtsordnung). Es gilt der Grundsatz: Lex superior derogat legi inferiori. Rechtsnormen des Unionsrechts gehen im Konfliktfall jeglichem nationalen Recht (grds. auch Verfassungsrecht) im Rang vor, soweit sie innerstaatlich unmittelbar anwendbar sind (dazu § 4 Rz. 24).
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Konkurrieren Gesetze gleichen Ranges, so gelten folgende ungeschriebene Regeln3: Jüngere Gesetzesvorschriften gehen älteren vor4; speziellere Gesetzesvorschriften gehen generelleren vor. Generellere jüngere Gesetzesvorschriften gehen spezielleren älteren nicht vor, sofern sich nicht ausnahmsweise im Wege der Auslegung ein abweichender gesetzgeberischer Wille feststellen lässt5. Diese Kollisionsregeln gelten auch im Verhältnis von Völkervertragsrecht (namentlich DBA) zu einfachem nationalem Gesetzesrecht, weil Völkervertragsrecht nur den Rang des nationalen Zustimmungsgesetzes hat6. Die Vorrangregelung des Art. 25 Satz 2 GG gilt insoweit nicht; hieran vermag die Bestimmung des § 2 I AO nichts zu ändern7. Lässt sich ein Widerspruch nicht anhand der vorstehenden Regeln lösen, heben sich die einander widersprechenden Vorschriften gegenseitig auf; es entsteht dann eine ausfüllungsbedürftige Lücke im Gesetz.
3
1. Parlamentsgesetze Parlamentsgesetze sind Rechtsnormen, die in einem förmlichen Gesetzgebungsverfahren zustande kommen, ordnungsmäßig ausgefertigt und in den dafür vorgeschriebenen amtlichen Blättern verkündet werden (für Bundesgesetze s. Art. 76–78; 82; 105 III GG). Sie werden auch als förmliche oder formelle Gesetze bezeichnet. 1 Zur Typologie der Rechtsnormen umfassend HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 50–201. Ausf. auch Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 50–178. 2 Dazu Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, §§ 22 f.; Jochum, Grundfragen des Steuerrechts, 2012, 64 ff. 3 Ausf. etwa Engisch, Einführung in das juristische Denken11, 2010, 276 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 1991, 266 ff. 4 S. dazu auch BFH v. 30.1.2008 – X R 1/07, BStBl. 2008, 520 (522). 5 BFH v. 29.9.1992 – VII R 56/91, BFHE 169, 564 (570). 6 Sachs/Streinz6, Art. 59 GG Rz. 63. 7 Tipke/Kruse/Drüen, § 2 AO Rz. 38; HHSp/Birk, § 2 AO Rz. 6; Klein/Gersch12, § 2 AO Rz. 3.
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Dem Rang nach ist zwischen Verfassungsgesetzen und einfachen Gesetzen, der Gesetzgebungshoheit nach ist zwischen Bundes- und Landesgesetzen (dazu Art. 105 GG betreffend Steuergesetzgebungshoheit) zu unterscheiden.
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Verfassungsgesetz ist das Grundgesetz v. 23.5.1949. Es enthält die rechtliche Grundordnung und hat Vorrang vor einfachen Gesetzen. Insb. die Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rspr. als unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 III GG; s. auch Art. 20 III GG). Sie enthalten Grundwertungen und begründen in ihrer Gesamtheit eine auch im Steuerrecht zu beachtende Wertordnung.
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Jedes Gericht i.S.d. Art. 92 GG darf ein einfaches Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit prüfen. Das Gericht kann die Verfassungsmäßigkeit allerdings nur bejahen, aber nicht selbst das Gesetz wegen vermeintlicher Verfassungswidrigkeit verwerfen. Hält ein Gericht (gleich welcher Instanz, also FG, BFH) ein (nachkonstitutionelles) Parlamentsgesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so hat es das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Verfassungsgerichts einzuholen (Art. 100 I GG). Verwaltungsbehörden haben diese Möglichkeit nicht; theoretisch können sie allerdings ein Normenkontrollverfahren der Regierung (Art. 93 I Nr. 2 GG) auslösen. Der Stpfl. kann mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Art. 20 IV; 33; 38; 101; 103; 104 GG enthaltenen Rechte verletzt zu sein (§ 90 I BVerfGG), Verfassungsbeschwerde zum BVerfG erheben (s. § 22 Rz. 271 ff.).
Rechtsanwendung im Steuerrecht
2. Rechtsverordnungen Literatur: HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 58 ff.; Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 51 ff.; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973; App, Änderungen von Rechtsverordnungen durch den Steuergesetzgeber, StVj 1990, 361; Casser, Die Ermächtigungen des § 51 Abs. 1 Einkommensteuergesetz unter besonderer Berücksichtigung von Art. 80 Grundgesetz, 1990; Danwitz, Rechtsverordnungen, JA 2002, 93.
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a) Rechtsverordnungen sind Rechtsnormen, die nicht in einem förmlichen Gesetzgebungsverfahren zustande kommen, sondern von der Exekutive erlassen werden. Im Steuerrecht geschieht dies typischerweise auf Bundesebene durch Bundesregierung oder Bundesfinanzminister. Die meisten Rechtsverordnungen über Steuern bedürfen der Zustimmung des Bundesrates (s. Art. 80 II i.V.m. Art. 105 III; 108 GG). Die wesentlichen Merkmale des Steuertatbestandes (Steuersubjekt, -objekt, -bemessungsgrundlage u. Steuersatz) müssen sich aus einem Parlamentsgesetz ergeben. Diese herkömmliche Auffassung der Steuerrechtslehre1 entspricht der Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG zu Art. 20 GG, s. BVerfGE 49, 89 (126 f.); 57, 295 (320 f.); 77, 170 (230 f.); 88, 103 (116); 98, 218 (243)2.
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b) Die Wirksamkeit von auf bundessteuergesetzlicher Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen ist zunächst von einer hinreichenden Ermächtigungsgrundlage abhängig, vgl. nachfolgend aa)–cc). Daneben muss die Verordnung selbst weiteren – unter dd)–ff) erörterten – Voraussetzungen genügen:
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aa) Es muss eine Ermächtigung durch ein formell ordnungsgemäßes Parlamentsgesetz vorliegen (Art. 80 I 1 GG), evtl. eine zusätzliche Unterermächtigung (Art. 80 I 4 GG). Beispiele für Ermächtigungen: § 156 I AO; § 51 EStG; § 33 KStG.
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bb) Art. 80 GG durchbricht das Prinzip der Gewaltenteilung. Die Verfassung begrenzt die Durchbrechung durch Anforderungen, die dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot Rech1 Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I, 1895, 388 ff.; Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I3, 1924 (Nachdruck 1961), 315 ff.; Felix/Kruse, Vom Rechtsschutz im Steuerrecht, 1960, 93, 109 ff.; Wacke, Staatsrechtliche Prüfung der Zusatzsteuer, 1957, 49 f.; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte, 1973, 67 ff., 177 ff.; Tipke, StRO III, 1993, 1150; Isensee/Kirchhof, HStR V3, § 118 Rz. 104; HHSp/ Wernsmann, § 4 AO Rz. 667. 2 Bzgl. der Notwendigkeit einer Festlegung auch des Steuersatzes durch Parlamentsgesetz allerdings offengelassen in BVerfGE 108, 186 (235).
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Rechtsnormen des Steuerrechts
Rz. 18
§5
nung tragen1: Die Ermächtigung muss nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt sein (Art. 80 I 2 GG)2. Zudem muss der Wesentlichkeitsvorbehalt (s. Rz. 8) gewahrt sein. Im Steuerrecht sind die diesbezüglichen Voraussetzungen strenger als bei nichtsteuerlichen Abgaben, weil jene anders als diese voraussetzungslos bzw. ohne einen die Abgabenhöhe und -ausgestaltung leitenden Gegenleistungsbezug erhoben werden3. Daher beschränkt sich die Bedeutung von steuerlichen Rechtsverordnungen im Wesentlichen darauf, das Gesetz von fachspezifischen, insb. technischen Details zu entlasten oder Begriffe zu konkretisieren (= das Gesetz durchzuführen). Unzulässig sind hingegen gesetzesvertretende und gesetzesändernde Rechtsverordnungen4. Der Inhalt der Ermächtigung betrifft das durch die Rechtsverordnung zu regelnde Sachgebiet, die zu regelnde Materie (BVerfGE 7, 265 [274]). Der Zweck meint das Ziel, das der Verordnungsgeber zu verfolgen hat (BVerfGE 5, 56 [76]). Das Ausmaß der Ermächtigung bestimmt die Grenzen, die der Verordnungsgeber bei seiner inhaltlichen Regelung beachten muss (BVerfGE 5, 56 [76]). Es genügt, wenn Inhalt, Zweck und Ausmaß durch Auslegung dem Gesetz im Ganzen zu entnehmen sind (BVerfGE 8, 274 [307]; 10, 20 [51]; 20, 296 [304]). Die Ermächtigung ist zu unbestimmt, wenn nicht mehr vorausgesehen werden kann, mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden, welchen Inhalt die Rechtsverordnung haben könnte. Beispiele aus dem Steuerrecht, in denen diese Voraussetzungen nicht gegeben waren: BVerfGE 23, 62 ff. und BFH BStBl. 1974, 205.
cc) Nach Art. 80 I 1 GG können durch Gesetz nur die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen (zulässige Erstdelegatare). Das Gesetz kann zwar zur Subdelegation an weitere Organe ermächtigen (Art. 80 I 4 GG), diese aber nicht selbst anordnen.
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dd) Die Rechtsverordnung muss vom ermächtigten Organ unter Wahrung der einschlägigen Verfahrenserfordernisse erlassen worden sein. Sie muss ihre Rechtsgrundlage (Ermächtigungsgrundlage) angeben (Art. 80 I 3 GG).
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ee) Inhaltlich muss sich die Rechtsverordnung in dem durch die Ermächtigungsgrundlage vorgegebenen Rahmen halten. Ihre Regelungen müssen zudem mit höherrangigem Recht und namentlich mit den Grundrechten vereinbar sein. Ist eine etwaige Grundrechtsverletzung durch die gesetzliche Ermächtigung „vorprogrammiert“, so ist bereits letztere verfassungswidrig und die Rechtsverordnung schon deshalb unwirksam.
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Beispiel Die Aufzeichnungspflichten nach § 1 IV Steuerhinterziehungsbekämpfungsverordnung (BGBl. I 2009, 3046) sind unverhältnismäßig, weil sie dem Stpfl. unabhängig von ihrer Besteuerungsrelevanz im Einzelfall auferlegt werden und in Wahrheit als Druckmittel gegenüber „unkooperativen“ Staaten (vgl. BMF BStBl. I 2010, 19) dienen sollen (s. auch Wagner, BB 2009, 2293).
ff) Unter den Voraussetzungen des Art. 80 II GG (s. dazu Rz. 8) muss der Bundesrat der Rechtsverordnung zugestimmt haben.
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gg) Die Verordnung muss ordnungsgemäß verkündet sein, im Bundesgesetzblatt (Art. 82 I 2 GG) oder im Bundesanzeiger (Gesetz v. 30.1.1950, BGBl. I 1950, 23); die Veröffentlichung im Bundessteuerblatt genügt nicht.
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Bei Verstößen gegen die in aa)–gg) aufgeführten Voraussetzungen sind Rechtsverordnungen unwirksam. Die Gerichte haben die Verordnungen selbst auf ihre Gültigkeit zu prüfen und evtl. als unwirksam zu behandeln, ohne das Verfassungsgericht anrufen zu müssen.
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Rechtsverordnungen sind insb. die zu den größeren Steuergesetzen ergangenen Durchführungsverordnungen, wie EStDV, LStDV, KStDV, GewStDV, UStDV, ErbStDV. Die meisten
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1 Dazu Isensee/Kirchhof/Ossenbühl, HStR V3, § 103 Rz. 20 ff.; Dreier/Bauer, Bd. II2, Art. 80 GG Rz. 31 ff. 2 S. dazu BVerfGE 7, 282 (301 f.); 10, 251 (258); 14, 174 (185); s. auch BVerfGE 19, 354 (362); 49, 89 (126 f.). 3 S. BVerfG v. 24.11.2009 – 2 BvR 1387/04, BVerfGE 124, 348 (381 f.), m.w.N. 4 Unstr.; vgl. statt aller Sachs/Mann6, Art. 80 GG Rz. 10 f., m.w.N. Vgl. demgegenüber auf EU-Ebene Art. 290 I AEUV, s. § 4 Rz. 7.
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Rechtsanwendung im Steuerrecht
Ermächtigungen zu Rechtsverordnungen sind am Schluss eines Gesetzes zusammengefasst, z.B. § 51 EStG; § 33 KStG; § 35c GewStG.
3. Autonome Satzungen Literatur: HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 78 ff.; Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 75 ff.
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Autonome Satzungen sind Rechtsnormen, die von einer jPdöR im Rahmen ihrer verfassungsrechtlich oder gesetzlich verliehenen Autonomie erlassen werden.
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Für das Steuerrecht relevant ist die Autonomie der Gemeinden (s. Art. 28 II GG und Gemeindeordnungen). Die Gemeindeautonomie enthält allerdings nicht die Befugnis zur Auferlegung von Steuern. Eine solche Regelungsbefugnis ergibt sich auch nicht unmittelbar aus Art. 28 II GG, der lediglich die Ertragshoheit hinsichtlich einer wirtschaftskraftbezogenen Steuerquelle und ein diesbezügliches Hebesatzrecht garantiert (bestr.). Es bedarf dazu vielmehr einer besonderen gesetzlichen, hinreichend bestimmten Ermächtigung. Da solche Ermächtigungen durch Art. 105; 106 VI 2 GG begrenzt sind, verbleibt den Gemeinden über die Festsetzung der Realsteuerhebesätze (s. Art. 106 VI 2 GG) hinaus kein Spielraum1. Allerdings wird angenommen, dass die Länder ihr begrenztes Steuererfindungsrecht (s. Art. 105 IIa GG) auf die Gemeinden übertragen können; dies entspricht auch gängiger Praxis (s. § 2 Rz. 54). Nähere Bestimmungen über kommunale Steuersatzungen enthalten die Kommunalabgabengesetze2. Sie sehen regelmäßig eine Genehmigung der Steuersatzungen durch die Aufsichtsbehörde vor.
4. Gewohnheitsrecht Literatur: HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 142 ff.; Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 100 ff.; Isensee/ Kirchhof/Ossenbühl, HStR, Bd. V3, 2007, § 100 Rz. 57 ff.; Tipke, StRO, Bd. I2, 2000, 129 f.; Tipke, StRO III, 1993, 1155 ff.
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Gewohnheitsrecht3 besteht aus ungeschriebenen Rechtsnormen. Deren Anerkennung als geltendes und gerichtlich durchsetzbares Recht setzt eine langandauernde Übung (meist veranlasst durch eine langjährige st. Rspr.) voraus sowie die allgemeine Rechtsüberzeugung der beteiligten Kreise, die Übung sei rechtens4 sowie rechtsverbindlich5. Erforderlich ist ferner die Formulierbarkeit der Übung als Rechtssatz.
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Der Parlamentsvorbehalt des steuerrechtlichen Legalitätsprinzips (s. § 3 Rz. 231) schließt die gewohnheitsrechtliche Begründung einer Steuerfolge grds. aus. Das Steuerrecht kennt darum kein steuerbegründendes oder steuergesetzliche Bestimmungen derogierendes Gewohnheitsrecht6. Soweit allerdings Gewohnheitsrecht durch Ausfüllung von Gesetzeslücken (s. Rz. 74 ff.) entsteht, vermag es auch eine Steuerfolge zu begründen, weil die Steuerfolge letztlich auf die Wertentscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzes zurückgeführt wird7.
5. Supranationales europäisches Recht 23
Das supranationale europäische Steuerrecht (s. § 4) besteht vornehmlich aus dem primären und dem sekundären Unionsrecht8. Den Kern des primären Unionsrechts machen die völkerrecht1 Zur gemeindlichen Satzungsbefugnis: Bleckmann, DVBl. 1987, 1085; Starck, Verfassungsmäßigkeit der Vergnügungssteuer?, 1973, 39 ff.; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte, 1973, 137 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland II, 1980, § 46 III, 1123 ff. 2 Für NRW vgl. § 2 KAG. 3 Ausf. zum Begriff des Gewohnheitsrechts m.w.N. HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 142 ff. 4 Dazu BFH BStBl. 1984, 751 (757); 2008, 608 (616). 5 S. BVerfG v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248 (269). 6 So auch BFH BStBl. 1959, 176 (177). 7 So auch HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 703, 142 ff.; Tipke, StRO I2, 130. 8 Dazu Hofmann, Normenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000; Kofler, FS Rödler, 2010, 433 ff.; Grotherr/Herfort/Strunk, Internationales Steuerrecht3, 723 ff.; Haase, Internationales und europäisches Steuerrecht3, § 6 Rz. 768 ff.; Lenaerts/Van Nuffel, European Union Law3, 817 ff.; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht6, § 9 Rz. 12 ff.
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Rechtsnormen des Steuerrechts
Rz. 26
§5
lichen Gründungsverträge aus. Dies sind seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1.12.2009 (BGBl. II 2008, 1038) der Vertrag über die Europäische Union (EUV, BGBl. II 1992, 1251) und anstelle des bisherigen EG-Vertrages der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV, BGBl. II 2008, 1038 [1039]). Daneben besteht der Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft fort (Euratom, BGBl. II 1957, 1014). Zum primären Gemeinschaftsrecht zählen ferner die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art. 6 I EUV), Protokolle zu den Gründungsverträgen, Verträge über den späteren Beitritt von Staaten sowie Verträge über die institutionelle Struktur der Gemeinschaft. Im Weiteren gehört zum primären Gemeinschaftsrecht auch ungeschriebenes Recht, insb. die sog. allgemeinen Rechtsgrundsätze (s. § 4 Rz. 3). Dazu zählen insb. auch Grundrechte, die der EMRK oder den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zu entnehmen sind, soweit sie nicht schon durch die GrR-Charta gewährleistet werden (Art. 6 III EUV). Das sekundäre Unionsrecht umfasst alle von Organen der EU erlassenen verbindlichen Rechtsakte (Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse; rechtlich unverbindlich sind hingegen Empfehlungen und Stellungnahmen, s. Art. 288 AEUV). Die für das Zollrecht bedeutsamen Verordnungen haben allgemeine Geltung; sie sind in allen Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat (Art. 288 II AEUV). Für das Steuerrecht hauptsächlich relevant sind Richtlinien; für die Harmonisierung speziell der direkten Steuern steht grds. allein diese Handlungsform zur Verfügung (s. Art. 114 II; 115; 116 II AEUV). Richtlinien bedürfen für ihr Wirksamwerden gegenüber dem Bürger grds. der Umsetzung durch nationale Gesetze (s. Art. 288 III AEUV). Werden sie jedoch nicht ordnungsgemäß, insb. nicht fristgemäß umgesetzt, so können sie innerstaatlich unmittelbare Geltung erlangen (s. § 4 Rz. 33 ff.).
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Zu Rang, Geltungsgrund und Wirkungsweise von primärem und sekundärem Unionsrecht innerhalb der nationalen Steuerrechtsordnung s. § 4 Rz. 8. Steuerrechtlich bedeutsam ist ferner im Verhältnis zu den nicht der EU angehörenden Staaten Liechtenstein, Island und Norwegen das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR, BGBl. II 1993, 267; s. § 4 Rz. 4).
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6. Völkerrecht Das Internationale Steuerrecht (s. § 1 Rz. 81 ff.) besteht nicht nur aus nationalen Rechtsnormen, sondern auch aus Normen des Völkerrechts. Zu den Völkerrechtsnormen zählen die in § 2 I AO angesprochenen völkerrechtlichen Verträge, ferner die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, die nach Maßgabe des Art. 25 GG als Bestandteil des Bundesrechts Vorrang vor dem einfachen Bundesrecht und Landesrecht (einschließlich Landesverfassungsrecht) haben. Im Steuerrecht hat vor allem das Völkervertragsrecht insb. in Gestalt von DBA (s. § 1 Rz. 92) Bedeutung1. Völkerrechtlich kommen Verträge durch die Zustimmungserklärungen der vertragsschließenden Staaten zustande. Die Zustimmungskompetenz steht gem. Art. 59 I GG dem Bundespräsidenten zu. Mit der Unterzeichnung und dem Austausch besonderer Urkunden (sog. Ratifikation) wird der Vertrag bestätigt und endgültig beschlossen. Seine innerstaatliche Rechtsnormqualität im Range eines Bundesgesetzes erhält er durch das Zustimmungsgesetz gem. Art. 59 II 1 GG. Als Spezialnormen gehen DBA den anderen Steuergesetzen vor, wie § 2 AO klarstellt. Allerdings bleibt der nationale Gesetzgeber befugt, durch ihrerseits speziellere Regelungen (z.B. §§ 20 I, II AStG; 15 Ia; 17 V; 50d I, III, VIII, IX EStG; 8b I; 26 VI KStG; 21 II 3 Nr. 2 UmwStG)2 DBA-Regelungen zu verdrängen. Dieses sog. „Treaty Override“3 ist zwar 1 Zum Abschluss und innerstaatlichem Wirksamwerden von DBA s. Vogel/Lehner, DBA5, Einl. Rz. 45 ff.; Birk/Kirchhof/Lehner, Steuern im Verfassungsstaat, 1996, 95; Stein, IStR 2006, 505. 2 S. auch Bestandsaufnahme von Gosch, IStR 2008, 413. 3 Zum „Treaty Override“ s. Vogel, FS Höhn, 1995, 461; Seer, IStR 1997, 481 ff. (520 ff.); Musil, Deutsches Treaty Overriding und seine Vereinbarkeit mit Europäischem Gemeinschaftsrecht, 2000; Stein, IStR 2006, 505 (aus völkerrechtlicher Sicht); Bron, IStR 2007, 431; Europarecht: Forsthoff, IStR 2006, 509; Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2007, 604 ff.; Verfassungsrecht/Europarecht: Gosch, IStR 2008, 413; Weigell, FS Spiegelberger, 2009, 575.
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Rz. 27
Rechtsanwendung im Steuerrecht
völkerrechtswidrig und berechtigt u.U. den anderen Vertragsstaat zur Kündigung des DBA. Umstritten ist jedoch, ob die völkerrechtswidrige Regelung gleichwohl innerstaatlich ohne weiteres gültig ist, oder aber ob sie im Hinblick auf das dem GG zu entnehmende Gebot der Völkerrechtsfreundlichkeit der Rechtsordnung (BVerfGE 111, 307 [318 f.]) einer hinreichend gewichtigen, nicht rein fiskalischen Rechtfertigung bedarf1. 27
Allgemeine Regeln des Völkerrechts i.S.d. Art. 25 GG sind das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht und allgemein anerkannte Rechtsgrundsätze des Völkerrechts2. Als Völkergewohnheitsrecht hat sich z.B. das Verbot für jeden Staat herausgebildet, seine Steuerpflicht ohne einen hinreichend sachgerechten räumlichen oder persönlichen Anknüpfungspunkt zum regelnden Staat auszudehnen3. Allgemeine Rechtsgrundsätze des Völkerrechts spezifizieren vor allem die Rechtsanwendung wie rechtslogische Regeln (Analogieschluss u.a. argumenta, s. Rz. 79 ff.; lex posterior derogat legi priori; lex specialis derogat legi generali), das Verbot des Rechtsmissbrauchs und der Grundsatz von Treu und Glauben.
7. Keine Rechtsnormen 7.1 Verwaltungsvorschriften Literatur: Jaenke, Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht – die Bedeutung der Richtlinien, 1959; Kampe, Verwaltungsvorschriften und Steuerprozeß, 1965; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968; Hoepffner, Gesetzverdrängung durch Verwaltungshandeln im Steuerrecht, 1970; Jaehnike, Die Bindung der Finanzgerichte an Verwaltungsvorschriften, StuW 1979, 293; Martens, Verwaltungsvorschriften zur Beschränkung der Sachverhaltsermittlung, 1980; Leisner, Verwaltungsvorschriften als „Nebengesetze“ im Steuerrecht?, 1982; Beiträge von Martens, Pelka, Schulze-Osterloh, Stolterfoht, Kohlmann, Trzaskalik, Möllinger in Tipke, Grenzen der Rechtsfortbildung … durch Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht, DStJG 5 (1982); Juchum, Verwaltungsvorschriften im Einkommensteuerrecht, ZG 1991, 56; Osterloh, Gesetzesbindung und Typisierungsspielräume bei der Anwendung der Steuergesetze, 1992; Tipke, StRO III2, 2012, 1431 ff.; Isensee/Kirchhof/Ossenbühl, Autonome Rechtsetzung der Verwaltung, HStR V3, 2007, § 104; Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 32 ff.; Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 80 ff.; Erichsen, Verwaltungsvorschriften als Steuerungsnormen und Rechtsquellen, in FS H. W. Kruse, 2001, 39; Leisner, Gesetzmäßigkeit von Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht, StuW 2007, 241; Bonner Komm/Seer, Art. 108 GG Rz. 182 ff.
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Verwaltungsvorschriften (Verwaltungsanordnungen, Verwaltungsverordnungen) können einen Einzelfall betreffen, aber auch eine Vielzahl von Fällen. Auch wenn sie, wie häufig, eine Vielzahl von Fällen betreffen, sind sie keine Rechtsnormen im hier verstandenen Sinne (s. Rz. 1). Sie sind nicht für die Staatsbürger, sondern nur für die Verwaltungsbehörden verbindlich. Soweit Verwaltungsvorschriften als Rechtsnormen oder (Innen-)Rechtssätze bezeichnet werden, weil sie Teil der Rechtsordnung sind und angewiesene Behörden rechtlich binden (Ossenbühl, Jaehnike), bedeutet dies nur eine terminologische Abweichung. Eine Bindung der Staatsbürger (und der Gerichte) an Verwaltungsvorschriften wird daraus nicht hergeleitet.
29
Verwaltungsvorschriften werden von übergeordneten Behörden (oder Vorgesetzten) kraft ihrer Organisations- und Geschäftsleitungsgewalt erlassen. Nach Art. 108 VII GG kann die Bundesregierung allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen, und zwar mit Zustimmung des Bundesrats auch, soweit die Verwaltung von Bundessteuerrecht den Landesfinanzbehörden oder Gemeinden obliegt. Die Kompetenz der Bundesfinanzverwaltung für ihren 1 Letzteres bejahend Vorlagebeschlüsse des BFH v. 10.1.2012 – I R 66/09, BFHE 236, 304, m.w.N.; v. 11.12.2013 – I R 4/13, BFHE 244, 1; Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, Rz. 3.26; Rust/Reimer, IStR 2005, 843 (845 f.); i. Erg. auch Lehner, IStR 2012, 389 (397 ff.); tendenziell auch Weigell, FS Spiegelberger, 2009, 575 (580 ff.); noch strenger Vogel, IStR 2005, 29. Krit. zu den Vorlagebeschlüssen des BFH hingegen Hahn, BB 2012, 1955; Musil, IStR 2014, 192; Ismer/Baur, IStR 2014, 421; skeptisch Schwenke, FR 2012, 443. 2 S. BVerfGE 118, 124 (134); BVerfG (K) v. 13.8.2013 – 2 BvR 2660/06, EuGRZ 2013, 563, Rz. 42. 3 Dazu eingehend Englisch/Krüger, IStR 2013, 513 (514 ff.); s. auch BVerfG v. 22.3.1983 – 2 BvR 475/78, BVerfGE 63, 343 (369).
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Keine Rechtsnormen
Rz. 32
§5
eigenen Bereich ist selbstverständlich; jedoch wird durch Art. 108 VII GG eine (von der Zustimmung des Bundesrats abhängige) Kompetenz auch für den Bereich der Landesfinanzverwaltung und der kommunalen Steuerverwaltung begründet, und zwar mit Vorrang vor entgegenstehenden Verwaltungsvorschriften der Länder. Auf Art. 108 VII GG beruhen die Richtlinien zu den großen Steuergesetzen (z.B. EStR, KStR, GewStR). Hingegen hat der Bundesminister der Finanzen keine Befugnis zum Erlass allgemeiner Verwaltungsvorschriften betr. den Vollzug von Bundesgesetzen durch Länder und Kommunen, auch nicht gestützt auf die Weisungsbefugnis nach Art. 108 III 2 i.V.m. Art. 85 III GG (s. § 21 Rz. 35 f.).
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Die Finanzverwaltung ist nicht ermächtigt, Verwaltungsvorschriften zu erlassen, – die die Aufklärungstätigkeit der Finanzbehörden in einer Weise einschränken, die die Gleichmäßigkeit der Besteuerung und damit den Gleichheitssatz (Art. 3 GG) verletzt1. Praktikabilitätsgesichtspunkte dürfen in Grenzen berücksichtigt werden2. Durch Verwaltungsvorschriften festgesetzte Pauschbeträge sind rechtswidrig, wenn sie entweder einen nicht hinreichend typisierbaren Sachverhalt betreffen oder aber sich am atypischen Fall orientieren; sie dürfen außerdem nicht angewendet werden, wenn durch sie im Einzelfall eine offensichtlich unzutreffende Besteuerung bewirkt wird3; – durch die außerhalb des Gesetzes (autonom) Wirtschafts- und Sozialpolitik betrieben wird. Im Sprachgebrauch der Praxis erlässt die Bundesregierung Richtlinien und offenbaren sich die Ministerien in Erlassen und Schreiben, die OFDen erlassen Verfügungen.
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Inhaltlich lassen sich unterscheiden: a) Organisationsvorschriften; sie betreffen die innere Organisation oder den Geschäftsgang von Behörden; b) Gesetzesanwendungsvorschriften, und zwar norminterpretierende Anordnungen, Ermessensanordnungen und Anordnungen zur Sachverhaltsermittlung (Schätzungsrichtlinien, Bewertungsrichtlinien, Typisierungs- und Vereinfachungsvorschriften). Die Gesetzesanwendungsvorschriften enthalten die Verwaltungsauffassung über gesetztes Recht, sie setzen nicht selbst Recht. Bei der Auslegung von Verwaltungsvorschriften ist nach h.M. maßgeblich, wie die Verwaltung sie verstanden hat und verstanden wissen wollte4. Dies kann jedoch nicht uneingeschränkt gelten, soweit die Verwaltungsvorschriften amtlich (insb. im BStBl. I) publiziert wurden und ihnen mittelbar über Art. 3 I GG Außenwirkung zugunsten des Bürgers (s. Rz. 36 ff.) bzw. die Bedeutung einer Vertrauensschutz begründenden Dispositionsgrundlage (s. § 3 Rz. 282, § 21 Rz. 12; s. auch § 176 II AO) zukommt. Insoweit ist primär eine objektivierende Auslegung geboten. Finanzministerien und OFD pflegen jährlich mehrere tausend Verwaltungsvorschriften zu erlassen. Insgesamt existieren mehrere zehntausend solcher Verwaltungsvorschriften. Die Vielzahl der Verwaltungsvorschriften wird oft aus bürokratischer Reglementiersucht und als Aktivitätsdemonstration der Oberbehörden erklärt. Jedoch dürfen folgende Wirkungen der Verwaltungsvorschriften nicht übersehen werden: – Verwaltungsvorschriften engen die Freiheit des Beamten zur Individualentscheidung wohl ein, sie tragen aber wesentlich zur Gleichmäßigkeit der Besteuerung bei (BVerfGE 78, 214 [228]). Solche Einengung kann sich in Ermessensfällen allerdings verbieten. Ermessensspielräume dienen gerade dazu, die Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles zu ermöglichen. Der auf den Einzelfall abgestellten Ermessensermächtigung des Gesetzes laufen ermessensregulierende abstrakte Verwaltungsvorschriften oft zuwider; – Verwaltungsvorschriften haben Entlastungswirkung für Verwaltungsbeamte und Steuerberater. Sie kommentieren das Gesetz unter Berücksichtigung von BFH-Urteilen oder enthalten Tabellen 1 2 3 4
Dazu Martens, Verwaltungsvorschriften zur Beschränkung der Sachverhaltsermittlung, 1980. Vgl. BVerfGE 78, 214 (228 f.); § 3 Rz. 145 ff. S. BFH BStBl. 1982, 302. BFH BStBl. 2006, 467; BFH v. 7.11.2013 – X R 22/11, BFH/NV 2014, 817, Rz. 18.
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Rz. 33
Rechtsanwendung im Steuerrecht
oder Pauschbeträge und ermöglichen es auf diese Weise, das „Veranlagungsgeschäft“ zu beschleunigen. Zugleich nehmen sie den mit der juristischen Gesetzesanwendungsmethode nicht vertrauten Gesetzesanwendern die Schwierigkeiten der Anwendungsarbeit ab. Das mag erklären, warum das Gros der Steuerberater sich an den Steuerrichtlinien wie an Rechtsnormen orientiert. Auch in der Steuerberaterprüfung wird in erster Linie Richtlinienwissen verlangt;
33
– Verwaltungsvorschriften erhöhen die Rechtssicherheit. Das Verhalten der Verwaltungsbehörden wird voraussehbar.
Verwaltungsvorschriften binden grds. nur die nachgeordneten Behörden und Bediensteten kraft ihrer Gehorsamspflicht. Verwaltungsvorschriften binden grds. nicht die Stpfl. und die Gerichte. Sie begründen insb. keine Pflichten für die Stpfl. (eingehend Tipke, StRO III2, 1436 ff.). 34
Norminterpretierende Vorschriften der Verwaltung haben für das Gericht prinzipiell kein größeres Gewicht als Äußerungen in der Literatur. Das Gericht darf eine Verwaltungsvorschrift grds. auch nicht unter dem Aspekt der Rechtsanwendungsgleichheit (Art. 3 I GG) zugunsten des Stpfl. anwenden, wenn sie nach der Rechtsauffassung des Gerichts keine zutreffende Gesetzesauslegung beinhaltet („keine Gleichbehandlung im Unrecht“1). Eine dadurch entstehende etwaige Verletzung des Gleichheitssatzes gegenüber dem Betroffenen kann die Verwaltung bis zur gebotenen Aufhebung der Verwaltungsvorschrift durch eine Billigkeitsmaßnahme nach § 227 AO ausgleichen (s. § 21 Rz. 337). I.Ü. ist die gesetzliche Vertrauensschutzregelung des § 176 II AO zu beachten.
35
Besondere Probleme ergeben sich bei Bewertungsrichtlinien und Typisierungsvorschriften (AfA-Tabellen, Richtsätzen, Pauschbeträgen). An sie sind die Gerichte zwar auch nicht gebunden. Da richterliche Erfahrung i.d.R. aber nicht ausreicht, solche Richtlinien zu „widerlegen“, setzt die Abweichung von ihnen aufwendige Sachverständigenarbeit voraus. Die Gerichte wenden solche Richtlinien jedenfalls insoweit an, als ihnen die Größen vertretbar erscheinen und nicht offensichtlich unzutreffend sind2.
36
Ermessensanordnungen betreffen einen Bereich, in dem die Verwaltung einen gewissen Spielraum hat, in den das Gericht nur beschränkt eindringen darf (§ 102 FGO). Legt sich die Verwaltung durch Ermessensanordnung – zulässigerweise – fest, so bindet sie sich selbst dahin, dass sie ihre Anordnung (außer im atypischen Fall) allgemein anwenden muss; andernfalls verletzt sie das Art. 3 I GG inhärente Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit (sog. Selbstbindung der Verwaltung3). Über den Gleichheitssatz können und müssen auch die Gerichte fehlerfreie Ermessensanordnungen beachten. Eine ermessensfehlerhafte (s. Rz. 152) Ermessensausübung löst keine Selbstbindung aus (keine Gleichbehandlung im Unrecht).
7.2 Entscheidungen der Steuergerichte Literatur: Fischer, Innere Unabhängigkeit und Fiskalinteresse, StuW 1992, 121; Tipke, StRO, Bd. III, 1993, 1177 ff.; Weber-Grellet, Tendenzen der BFH-Rspr., StuW 1993, 195; Pelka, Die Steuerrechtsprechung als unerwünschte Rechtsquelle für die Vertragsgestaltung, in FS Tipke, 1995, 251; FS Offerhaus, 1999: List, Die Rspr. des BFH als Spiegel der Zeit, 255, und Wolff-Diepenbrock, Der Beitrag der 1 Dazu m.w.N. Isensee/Kirchhof/Ossenbühl, Autonome Rechtsetzung der Verwaltung, HStR V3, § 104 Rz. 67; und angemessen differenzierend Isensee/Kirchhof, Gleichheit in der Funktionenordnung, HStR V2, § 125 Rz. 66 ff. S. auch BFH v. 13.1.2011 – V R 12/08, BStBl. 2012, 61 (68); v. 4.7.2012 – II R 38/10, BStBl. II 2012, 782, Rz. 56; v. 28.5.2013 – XI R 32/11, BStBl. 2014, 411, Rz. 60. 2 S. etwa BFH BStBl. 1982, 302; 1982, 500; 1986, 200; 1988, 780; 1992, 1000; 1995, 324; 2009, 983 (984). Dazu Jaehnike, StuW 1979, 293 (300 ff.); Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 87; Martens, DStJG 5 (1982), 165 (193 ff.); Seeger, BB 1984, 51 ff.; Osterloh, Gesetzesbindung und Typisierungsspielräume, 451 ff.; Osterloh, StuW 1993, 342 ff.; Tipke, StRO III2, 1441 f.; Vogel, FS Thieme, 1993, 605; Jachmann, StuW 1994, 347; Märkle, FS Meyding, 1994, 117; BVerfG (K) v. 28.6.1993 – 1 BvR 390/89, StuW 1994, 354. 3 S. bspw. BFH BStBl. 1992, 784 (785); 2009, 881 (883); BFH v. 18.4.2013 – V R 48/11, BStBl. 2013, 697 (698). Dazu Isensee/Kirchhof/Ossenbühl, HStR V3, § 104 Rz. 53 ff.; Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht14, § 10 Rz. 4, § 11 Rz. 59, 65 (Jestaedt), § 20 Rz. 21 (Möstl); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht18, § 24 Rz. 21 ff.; Isensee/Kirchhof, Gleichheit in der Funktionenordnung, HStR V2, § 125 Rz. 17; Di Fabio, VerwArch. 1995, 214 (223 ff.); Tipke/Kruse/Drüen, § 5 AO Rz. 50.
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Keine Rechtsnormen
Rz. 39
§5
Finanzrechtsprechung zur Kompliziertheit und zur Vereinfachung des Steuerrechts, 299; Spindler, Steuerrecht im Spannungsverhältnis zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, Stbg. 2006, 1; Spindler, Der Bundesfinanzhof und das Bundesverfassungsgericht im Zusammenwirken für ein verfassungskonformes Steuerrecht, in FS Schaumburg, 2009, 169.
Dadurch, dass Urteile des BFH „grundsätzliche Bedeutung“ (s. § 115 II Nr. 1 FGO) haben und die Finanzverwaltung die wichtigsten BFH-Urteile in ihre Richtlinien und Anwendungserlasse (s. Rz. 31 ff.) aufnimmt, erhalten diese große Breitenwirkung1. Auch die Wissenschaft beachtet die Urteile nicht bloß als Fallmaterial, sondern als Präjudizien2. Formal binden die Urteile der Finanzgerichte einschließlich des BFH indes nur die Beteiligten u.a. in § 110 I FGO genannte Personen (s. § 22 Rz. 264 ff.); sie erzeugen – vom Sonderfall des § 176 I AO abgesehen – keine allgemeine rechtliche Bindung3. Deshalb ist auch die Finanzverwaltung an die Entscheidungen des BFH nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus gebunden.
37
Die Finanzverwaltung trägt nach dem Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 II 2 GG) eine eigenständige Verantwortung für die zutreffende Rechtsfindung. Deshalb hat sie eigenverantwortlich darüber zu entscheiden, ob sie ein Judikat zu ihrer Verwaltungspraxis macht oder ihm die Gefolgschaft versagt. Die unkommentierte Veröffentlichung einer Entscheidung des BFH im BStBl. II verdeutlicht, dass sich die Finanzverwaltung den tragenden Rechtssätzen der Entscheidung anschließt4. Bei der Änderung einer langjährigen Rechtsprechungspraxis kann sich dabei unter rechtsstaatlich fundierten Vertrauensschutzaspekten die Notwendigkeit ergeben, den Stpfl. noch einen Übergangszeitraum bis zur Anwendung der besseren Rechtserkenntnis zuzugestehen5. Eine divergierende Rechtsauffassung der Finanzverwaltung wird mit den sog. Nichtanwendungserlassen6 zum Ausdruck gebracht, mit denen einzelne Urteile explizit aus der allgemeinen Anwendung höchstrichterlicher Rspr. ausgeschieden werden7. Der BFH hat die Möglichkeit, in neuen Prozessen die inhaltliche Richtigkeit seiner Rspr. zu überprüfen und mit neuen Fallerkenntnissen die Finanzverwaltung zu überzeugen oder ihr Recht zu geben.
38
Die rechtsstaatlich grds. akzeptable Praxis der Nichtanwendungserlasse8 ist zu unterscheiden von den Methoden der Finanzministerialbürokratie gegen fiskalisch missliebige Judikatur. So missbraucht das BMF seine redaktionelle Verantwortung für das Bundessteuerblatt, wenn es BFH-Entscheidungen mitunter um Jahre verspätet veröffentlicht oder gänzlich unterdrückt9. Auch das Instrument des Nichtanwendungserlasses kann missbraucht werden, wenn die Finanzverwaltung keine die fachliche Auseinandersetzung fördernde Begründung für ihre abweichende Haltung gibt oder trotz fundierter Zurückweisung ihrer Argumente auf ihrem Rechtsstandpunkt beharrt10.
39
1 S. dazu auch BFH GrS BStBl. 2008, 608 (618). 2 Dazu Weller, Die Bedeutung der Präjudizien im Verständnis der deutschen Rechtswissenschaft, 1979. 3 Dazu Jachmann, FS Spindler, 2011, 115 (119 ff.); Pezzer, DStR 2004, 525 (530); Tipke, StRO III2, 1629; a.A. Leisner, Die allgemeine Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, 1980. 4 S. auch OFD Karlsruhe, DB 2005, 419 (420), zur online-Vorabveröffentlichung. 5 S. BVerfG v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248 (277 f.). 6 Dazu ausf. Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung – Bedingungen und Grenzen für Nichtanwendungserlasse, 2011. S. ferner Jakob/Jüptner, StuW 1984, 148; Lang, StuW 1992, 14; Scholtz, FS Klein, 1994, 1041; Offerhaus, StbJb. 1995/96; Lange, NJW 2002, 3657; Voß, DStR 2003, 441; Pezzer, DStR 2004, 525 (531 f.); Wieland, DStR 2004, 1; Kessler/Eicke, DStR 2006, 1913 (Staatshaftung für Nichtanwendungserlasse); Spindler, DStR 2007, 1061; Weber-Grellet, FS Lang, 2010, 927; FS Spindler, 2011: Gosch, 379; Herden, 445; Vinken, 549. 7 Betroffen war im vergangenen Jahrzehnt ungefähr eine von 60 Entscheidungen des BFH. 8 S. dazu Lang, StuW 1992, 14 sowie zu den Grenzen grundl. Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, 2011, 216 ff. 9 Dazu insb. Lange, NJW 2002, 3657, mit quantitativem Nachweis der unterdrückten BFH-Entscheidungen; Pezzer, DStR 2004, 525 (531 f.); Vinken, FS Spindler, 2011, 549 (550 f.). Zur Veröffentlichungspraxis Jörißen, SteuerStud 2008, 81. Exemplarisch BFH v. 20.11.2007 – I R 85/05, BStBl. 2013, 287. 10 So auch Pezzer, DStR 2004, 525 (530); tendenziell auch Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, 2011, 319 ff. und 371 ff.; noch strenger Spindler, DStR 2007, 1061 (1064); Herden, FS Spindler, 2011, 445 (453 f.); Jachmann, FS Spindler, 2011, 115 (124 ff.).
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§5
Rz. 40
40
Die Finanzministerialbürokratie vermag ihre Funktion als Ratgeber des Gesetzgebers auch dazu zu nutzen, BFH-Entscheidungen durch sog. Nichtanwendungsgesetze auszuhebeln1. Beispiele rechtsprechungsbrechender Gesetzgebung sind u.a.: Gesetz v. 25.7.1984 (BGBl. I 1984, 1006) über Steuerabzugsverbote für Geldstrafen und Geldbußen (dazu § 8 Rz. 294); Gesetz v. 25.2. 1992 (BGBl. I 1992, 297) zur doppelstöckigen Personengesellschaft (dazu § 10 Rz. 143) und Gesetz v. 15.12.2003 (BGBl. I 2003, 2645) zum anschaffungsnahen Herstellungsaufwand (dazu § 9 Rz. 256). Die antijustizielle Gesetzgebung ist sachlich gerechtfertigt, wenn sie rechtsdogmatische Fehlurteile korrigieren soll. Besitzt sie dagegen lediglich eine rein fiskalische Motivation, so erweist sie sich meist als systemzersetzend bis hin zur möglichen Verfassungswidrigkeit.
Rechtsanwendung im Steuerrecht
Einstweilen frei.
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B. Methoden der Rechtsanwendung Allgemeine Literatur: Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, 5 Bände, 1975–1977; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 1991; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 1991; Coing/Honsell, Staudinger, BGB13, 2004, Einleitung VI, VII (betr. Auslegung, Richterrecht); Hillgruber, Richterliche Rechtsfortbildung als Verfassungsproblem, JZ 1996, 118; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil5, 1996, § 17; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 1995; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, Eine Einführung5, 2011; Hassemer, Gesetzesbindung und Methodenlehre, ZRP 2007, 213; Hillgruber, „Neue Methodik“ – Ein Beitrag zur Geschichte der richterlichen Rechtsfortbildung in Deutschland, JZ 2008, 745; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, 2009; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I10 (Grundlegung), 2009; Zippelius, Juristische Methodenlehre11, 2012; Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre2, 2012; Kramer, Juristische Methodenlehre4, 2013; Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre3, 2015. Steuerrechtliche Literatur: Hensel, Gesetz und Gesetzesanwendung im Steuerrecht, VJSchrStFR 1931, 115; Fischer, Steuergesetz und richterliche Wertung, StuW 1979, 347; Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, 1980, insb. 211 ff.; Tipke, Grenzen der Rechtsfortbildung durch Rspr. und Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht, DStJG 5 (1982); Locher, Grenzen der Rechtsfindung im Steuerrecht, Bern 1983; Kruse, Über Rechtsgefühl, Rechtsfortbildung und Richterrecht im Steuerrecht, BB 1985, 1077; Tipke, Über teleologische Auslegung, Lückenfeststellung und Lückenausfüllung im Steuerrecht, in FS von Wallis, 1985, 133 ff.; HHR/Ruppe, Einf. ESt Anm. 630 ff. (Febr. 1990); WeberGrellet, Auf den Schultern von Larenz: Demokratisch-rechtsstaatliche Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung im Steuerrecht, DStR 1991, 438; Fischer, Grundlagen und Grenzen der Rechts(fort)bildung im Steuerrecht, StVj 1992, 3; Fischer, Überlegungen zur Lückenhaftigkeit des Steuergesetzes, StuW 1995, 303; Höhn, Zweck(e) des Steuerrechts und Auslegung, in FS Tipke, 1995, 213; Lang, Die Ausfüllung von Lücken in Steuergesetzen, in FS Höhn, 1995, 159; Ahrens, Auslegung von Gesetzestexten im Steuerrecht, SteuerStud 1996, 247; Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, 1996; Woerner, Spielraum der Rechtsanwendung im steuerlichen Eingriffsrecht, Theorie und Praxis, in GS Knobbe-Keuk, 1997, 967; Grammer, Zur Rechtsanwendung im Steuerrecht, SteuerStud 1998, 201; Drüen, Zur Rechtsnatur des Steuerrechts und ihrem Einfluß auf die Rechtsanwendung, in FS H. W. Kruse, 2001, 191; Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, 187 ff.; Beger, Methodenlehre und Klausurtechnik im Steuerrecht5, 2004; Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 200 ff.; Crezelius, Zur Methodologie des gegenwärtigen Steuerrechts, Stbg. 2007, 449; Crezelius, Analogieanweisungen in Steuergesetzen, FR 2008, 889; Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007; Schenke, Kritik der steuerrechtlichen Methodenlehre, StuW 2008, 206 (dazu krit. Tipke, StuW 2008, 377); Osterloh, Methodenprobleme im Steuerrecht, JöR 56 (2008), 141; Drüen, Verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung durch die Finanzgerichte, StuW 2012, 269; Tipke, StRO III2, 2012, 1586 ff.; Weckerle, Zur teleologischen Begrenzung von Rechtsinstituten richterlicher Rechtsfortbildung im Steuerrecht, StuW 2012, 281; Brandis, Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit als Mitgestalter der Steuerrechtsordnung, StuW 2013, 88; Jochum, Grundfragen des Steuerrechts, 2012, 75. 1 Dazu insb. Lang, StuW 1992, 14, Scholtz, FS Klein, 1994, 1041; Offerhaus, StbJb. 1995/96; Pezzer, DStR 2004, 525; Huber, FS Offerhaus, 1999, 241; Völker/Ardizzoni, NJW 2004, 2413; Herden, FS Spindler, 2011, 445 (446 ff.).
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Methoden der Rechtsanwendung
Rz. 48
§5
1. Struktur von Rechtsnormen, Syllogismus der Rechtsfolgebestimmung und Primat teleologischer Auslegung a) Eine vollständige Rechtsnorm besteht als Rechtssatz aus einem Tatbestand und der Rechtsfolgeanordnung. Bei der Anwendung dieses abstrakt formulierten Rechtssatzes wird ein konkreter Sachverhalt dem Tatbestand zugeordnet (Subsumtion) oder nicht zugeordnet und je nach dem Ausgang dieses Subsumtionsversuchs eine Entscheidung über den Eintritt der Rechtsfolge getroffen. Diese Subsumtionstechnik basiert auf dem seit der Scholastik sog. modus barbara, bestehend aus dem Syllogismus eines Obersatzes (praemissa major), eines Untersatzes (praemissa minor) und einer conclusio1.
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Dieser Syllogismus sei anhand der folgenden Steuerrechtsnorm exemplifiziert: „Die Gemeinde erhebt von dem Gemeindeeinwohner für jeden ihm gehörenden Hund jährlich eine Steuer von 50 Euro“. Diese Rechtsnorm lässt sich in folgenden Obersatz umformulieren: „Wenn einem Gemeindeeinwohner ein oder mehrere Hunde gehören (Tatbestand), hat er je Hund jährlich Hundesteuer von 50 Euro an die Gemeinde zu entrichten (Rechtsfolge).“ E ist ein in der Gemeinde wohnender Eigentümer eines Hundes. Dieser Sachverhalt lässt sich unter den Tatbestand des Obersatzes subsumieren (= Untersatz). Folglich gilt, dass E eine jährliche Hundesteuer von 50 Euro an die Gemeinde zu entrichten hat (= conclusio). Die meisten Normen des Steuerrechts sind unvollständige Rechtssätze2, die die Rechtsfolge nur in Verbindung mit anderen Rechtssätzen anordnen. Der exemplarisch zitierte Hundesteuertatbestand ordnet nicht an, wann die Hundesteuer entsteht, zu Beginn oder mit Ablauf des Jahres. Er lässt die Veränderung der relevanten Verhältnisse während des Jahres (Wegzug, Zuzug, Erwerb/Veräußerung von Hunden) ungeregelt. Bereits dieses schlichte Beispiel zeigt, dass der sog. Entstehungstatbestand (§ 38 AO) der Steuerschuld (Rechtsfolge) regelmäßig nicht in einem einzigen Rechtssatz normiert werden kann; vielmehr besteht er aus einer Vielzahl von Normen, die das Steuersubjekt, Steuerobjekt, die Bemessungsgrundlage, den Steuersatz und den Zeitpunkt des Entstehens regeln. In diesem komplexen Rechtssatzgefüge geht es stets nur um die Zuordnung von Sachverhalten zu einzelnen unvollständigen Rechtssätzen (z.B. Zuordnung einer Betätigung zu einem Gewerbebetrieb i.S.d. § 15 II 1 EStG). Ist die Subsumtion unter den steuerbegründenden Tatbestand zu bejahen, so ist die Auswirkung auf die Steuerschuld in Verbindung mit der Vielzahl anderer Tatbestandsnormen zu ermitteln bzw. zu errechnen.
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b) Die Anwendung des Tatbestands einer Rechtsnorm auf einen bestimmten Sachverhalt kann problematisch sein, weil den im Tatbestand verwendeten Begrifflichkeiten sprachliche Unschärfen inhärent sind. Alle Begriffe sind mehr oder weniger vieldeutig; sie haben neben einem Begriffskern, dem bestimmte Sachverhaltskonstellationen nach dem allgemeinen Sprachgebrauch zweifellos zugeordnet werden können, auch einen Begriffshof, der mehrere Bedeutungsvarianten zulässt und darum interpretationsbedürftig ist3. Ziel der Gesetzesauslegung ist es, den Sinngehalt von Rechtsnormen zu ermitteln, um aus dem Gesetz die Rechtsfolge für den problematischen Fall gewinnen zu können. Daneben bedarf aber auch der grammatisch-philologisch scheinbar eindeutig gelagerte Fall einer Kontrolle dahingehend, ob seine tatbestandliche Erfassung dem Gesetzeszweck entspricht, oder ob dem Normgeber dessen sprachliche Umsetzung missglückt und der Wortlaut insofern überschießend ist (s. Rz. 85). Denn entgegen der inzwischen überwundenen Begriffsjurisprudenz4 sind Rechtsbegriffe kein Selbstzweck, es lassen sich aus ihnen nicht im Wege vermeintlicher Begriffslogik „begriffsnotwendige“ Ergebnisse erzielen, sondern sie sind Mittel zum Zweck der Übermittlung gesetzgeberischer Vorgaben.
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1 Dazu Klug, Juristische Logik4, 1982, 48 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 91 ff.; Tipke, StRO III2, 1591 f. 2 Dazu ausf. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 257 ff. 3 Dazu Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 118 f. 4 Näheres zur Begriffsjurisprudenz und einigen ihrer prominenten Vertreter im 19. Jahrhundert bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 19 ff.; Staudinger/Coing/Honsell13, BGB, Einl. Rz. 177.
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§5
Rz. 49
49
Es geht daher bei der Auslegung u. Rechtsfortbildung letztlich darum, die Wertungen des Gesetzgebers und in deren Rahmen auch die Wertentscheidungen der Verfassung konsequent zu verwirklichen. Dieser grundl. von Karl Larenz1 entwickelte wertungsjuristische Methodenansatz2 betont den Primat der sog. teleologischen (griech. telos = Zweck) Gesetzesinterpretation3. Nach diesem methodischen Grundansatz ist die Rechtswissenschaft wert- und wertungsgebunden, nicht wertneutral konzipiert4. Diesem Ansatz haben sich zu Recht auch alle Senate des BFH angeschlossen5.
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Das teleologische Rechtsverständnis6 unterscheidet subjektiv-teleologische7 und objektiv-teleologische8 Kriterien. Subjektiv-teleologische Kriterien sind die Regelungsabsicht und die Normvorstellungen, die zur Verabschiedung der nunmehr auszulegenden Rechtsnorm geführt haben. Hier ist nach dem „Willen des historischen Gesetzgebers“ zu fragen: Welche Wertentscheidung traf der Gesetzgeber mit dem anzuwendenden Gesetz? Welchen Zweck verfolgte er? Der demokratische Gesetzgebungsprozess erlaubt dabei keine Personalisierung des Gesetzgebers; stattdessen ist aus den Gesetzgebungsmaterialien und ggf. vorbereitenden Arbeiten auf die Wertungen zu schließen, die der Formulierung der auszulegenden Rechtsnorm zugrunde liegen. Die objektiv-teleologische Auslegung orientiert sich am Ziel der Vermeidung von Wertungswidersprüchen durch gleichmäßige Entfaltung verallgemeinerungsfähiger gesetzgeberischer Wertungen. Diese „objektiven Zwecke“9 des Gesetzes werden hauptsächlich aus den je einschlägigen Prinzipien sachgerechter Lastenzuteilung gewonnen, die der anzuwendenden Steuerrechtsnorm zugrunde liegen und die das „innere System“ des Rechts bilden (s. § 3 Rz. 9 ff.), oder aber ggf. anhand einer davon abweichenden steuerpolitischen Zielsetzung, insb. bei lenkungspolitisch motivierten Regelungen anhand des Lenkungszwecks. Diese Prinzipien bzw. Zwecksetzungen wiederum können regelmäßig sowohl induktiv aus dem vorhandenen Normenbestand als auch deduktiv unter Berücksichtigung übergeordneter verfassungsrechtlicher Vorgaben sowie ggf. auch aus historischen Materialien – d.h. subjektiv-teleologisch – hergeleitet werden. Mitunter werden sie auch im Gesetz selbst oder seiner Präambel zum Ausdruck gebracht, wie etwa das bilanzsteuerrechtliche Vorsichtsprinzip in § 252 I Nr. 4 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG.
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c) Auch der wertungsjuristische, an sich für subjektiv-teleologische wie für objektiv-teleologische Argumente offene Methodenansatz sieht sich mit der Streitfrage konfrontiert, ob nicht richtigerweise einzig auf das vom historischen Gesetzgeber mit dem Gesetz Bezweckte (subjektive Theorie) oder aber allein auf einen davon losgelösten objektiven Zweck des Gesetzes (objektive Theorie) abzustellen ist10. Einerseits gebietet es das Demokratieprinzip, die für die Willensbildung in der Volksvertretung maßgeblichen Vorstellungen und Erwägungen bei der Gesetzesinterpretation soweit erkennbar zu berücksichtigen. Andererseits verlangt die formal-
Rechtsanwendung im Steuerrecht
1 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 312 ff. 2 Die Wertungsjurisprudenz beruht auf einer Fortentwicklung der Interessenjurisprudenz (Hauptvertreter: Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932); s. dazu die Habilitationsschrift von Petersen, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz, 2001. 3 Staudinger/Coing/Honsell13, BGB, Einl. Rz. 149 ff. 4 Ganz anders die positivistischen, wertneutral konzipierten Lehren der Weimarer Zeit, insb. die „Reine Rechtslehre“ von Hans Kelsen, nach der „jeder beliebige Inhalt Recht sein“ könne (so Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, 201). 5 Dazu Woerner, Die Steuerrechtsprechung zwischen Gesetzeskonkretisierung, Gesetzesfortbildung und Gesetzeskorrektur, DStJG 5 (1982), 23 (26 f., 28 ff.); Weber-Grellet, DStR 1991, 438. 6 Dazu umfassend Mittenzwei, Teleologisches Rechtsverständnis, Wissenschaftstheoretische und geistesgeschichtliche Grundlagen einer zweckorientierten Rechtswissenschaft, 1988. Zur teleologischen Methode auch Tipke, StRO III2, 1597 ff. 7 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 328 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 449 ff. 8 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 333 ff., 334; Bydlinski, Juristische Methodenlehre2, 453 ff. 9 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 333 ff. 10 Dazu Müller/Christensen, Juristische Methodik I10, 458 f.: weder „objektive“ noch „subjektive“ Auslegungstheorie; Zippelius, Juristische Methodenlehre11, 2012, 21.
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Methoden der Rechtsanwendung
Rz. 53
§5
rechtsstaatliche Komponente der Rechtssicherheit (s. § 3 Rz. 93), dass in den Gesetzesmaterialien dokumentierte Überlegungen auch im verkündeten Gesetz, also im Gesetzestext, zum Ausdruck gebracht worden sind. Ansonsten könnte der Rechtsanwender nicht sicher feststellen, ob eine parlamentarische Meinungsäußerung tatsächlich zum subjektiv-teleologischen Kriterium (s. Rz. 50) geworden ist. Schließlich sind die Motive für eine bestimmte Einzelregelung in den öffentlich zugänglichen Materialien vielfach auch nicht offengelegt. Das darf in Zweifelsfällen aber keinen Anlass zur Rechtsverweigerung durch den Rechtsanwender geben, so dass eine objektivierende Betrachtung geboten ist. Nicht zuletzt dient die Berücksichtigung der dem Gesetz selbst zu entnehmenden Wertungen als Auslegungsmaxime auch dem gleichheitsrechtlich unterlegten Gebot der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Somit ist weder die subjektive noch die objektive Theorie ganz richtig oder ganz falsch. Das BVerfG hat das Spannungsverhältnis zwischen subjektiver und objektiver Theorie zutreffend mit der Formel aufgelöst, wonach für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift der in ihr zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend ist, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist1. Demnach sind die Gesetzesmaterialien grds. nicht allein für die Auslegung einer Vorschrift maßgeblich, sondern regelmäßig lediglich ergänzend hinzuzuziehen und nur in Zweifelsfällen von ausschlaggebender Bedeutung2. Jedenfalls kann der Wille des Gesetzgebers nur insoweit berücksichtigt werden, als er in dem Gesetz selbst einen hinreichend klaren Ausdruck gefunden hat3.
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d) Gewisse Besonderheiten bestehen bei Typusbegriffen4 im Gegensatz zu klassifikatorischen Begriffen. Letztere bilden in entwickelten Rechtsordnungen den Regelfall. Es handelt sich bei ihnen um abstrakt-deskriptive Begriffe, die das Begriffsobjekt mit einem abschließenden Katalog unabdingbarer Merkmale umschreiben. Verwendet der Gesetzgeber einen klassifikatorischen Begriff (z.B. Teilbetriebsbegriff des § 16 I 1 Nr. 1 EStG, s. § 8 Rz. 420), so müssen sämtliche Merkmale erfüllt sein, damit der begriffliche Tatbestand verwirklicht ist. Es ist also unter die einzelnen Tatbestandsmerkmale zu subsumieren. Hingegen ist der Typus nicht im strengen Sinne abschließend definiert. Für die Bestimmung derjenigen Merkmale, die insgesamt als typisch, als für die rechtliche Erfassung des Typus charakteristisch angesehen werden, ist auf empirische Kriterien wie z.B. die Verkehrsauffassung zurückzugreifen. Bei der Subsumtion ist sodann zu beachten, dass im Einzelfall das eine oder andere Merkmal fehlen oder schwächer ausgeprägt sein kann. Es kommt nur darauf an, ob im Rahmen einer Gesamtschau die „typischen“ Merkmale in solcher Zahl und Stärke vorhanden sind, dass der Sachverhalt „im Ganzen“ dem Typus entspricht5. Der Typusbegriff ist merkmalsoffen wie eine Karikatur, die mitunter nur ein einziges Merkmal verwendet, um den Typus mit einem Werturteil verknüpft abzubilden.
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1 BVerfGE 1, 312; 8, 307; 10, 244; 11, 130 f.; 24, 15; 33, 294; 35, 278; 38, 163; 48, 256; BFH v. 25.9.2013 – XI R 41/12, BStBl. 2014, 135 (138). 2 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 165; ähnlich BVerfGE 1, 299 (312); BFH v. 18.4.2012 – X R 5/10, BStBl. 2013, 785, Rz. 27; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 562 f. Tendenziell a.A. Tipke, StRO III2, 1593 f. 3 BVerfGE 11, 130; 13, 268; 54, 268; 62, 45. So im Ansatz etwa auch BFH v. 28.7.2011 – VI R 5/10, BStBl. II 2012, 553 (555), allerdings mit überspannten Anforderungen an die Erkennbarkeit der den Normgebungsprozess prägenden Vorstellungen in Gesetzessystematik und –wortlaut; sowie OVG NRW v. 11.12.2013 – 14 A 1948/13, KStZ 2014, 93 (95). 4 Dazu allgemein insb. Hassemer, Tatbestand und Typus, 1968; Leenen, Typus und Rechtsfindung, 1971; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 218 ff., 461 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 543 ff.; Kokert, Der Begriff des Typus bei Karl Larenz, 1995. Aus dem Steuerrecht: Strahl, Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht, 1996; Fischer, DStZ 2000, 885; Mössner, FS Kruse, 2001, 161; Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 212 f.; SchmidtLiebig, FR 2003, 276 f.; Florstedt, StuW 2007, 314; Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 160 ff.; Osterloh, JöR 56 (2008), 141 (142 f., 145 f., 147 f.). 5 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 221; s. auch BFH v. 28.10.2008 – VII R 32/07, BFH/NV 2009, 355 (356).
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§5
Rz. 54
54
Die Merkmalsoffenheit von Typusbegriffen bereitet der Rspr. immer wieder insoweit erhebliche Schwierigkeiten, als die Gesetzesinterpretation nicht durch objektiv-teleologische Kriterien angeleitet werden kann. Diese Problematik tritt zwar nicht stets und auch nicht nur, aber doch gehäuft bei Typusbegriffen auf. Insb. die vollkommen ausgeuferte Abgrenzungskasuistik des Einkunftsartenrechts leidet unter den empirischen Typusbegriffen, s. z.B. die Begriffe „Landund Forstwirtschaft“ (s. § 8 Rz. 404), „Gewerbebetrieb“ (s. § 8 Rz. 415), „selbständige Arbeit“, namentlich die historisch überlieferten Berufsbilder freier Berufstätigkeit (s. § 8 Rz. 425), und „nichtselbständige Arbeit“ mit dem Typusbegriff „Arbeitnehmer“ (s. § 8 Rz. 472). Der Steuergesetzgeber verschwendet die intellektuellen Kapazitäten der Rechtsanwender in erheblichem Umfang, wenn die typologischen Differenzierungen steuerliche Ungleichheit pflegen.
Rechtsanwendung im Steuerrecht
2. Der Kanon der traditionellen Auslegungsmethoden 55
Gesetzmäßigkeit der Besteuerung (s. § 3 Rz. 230 ff.), Rechtssicherheit, insb. Gesetzesbestimmtheit (s. § 3 Rz. 243 ff.) und Gleichmäßigkeit der Besteuerung (s. § 3 Rz. 110 ff.), werden nur dann voll entfaltet, wenn sich der Rechtsanwender zur Ermittlung der maßgeblichen Wertungen disziplinierender Methoden bedient. Diese sollen seine Rechtsentscheidung einsichtig und rational nachvollziehbar machen und dem Eindruck entgegentreten, das Gesetz sei freirechtlich nach dem subjektiven Rechtsgefühl angewendet worden1. Allerdings enthalten weder die Abgabenordnung 1977 noch die Einzelsteuergesetze Vorgaben zu den maßgeblichen Auslegungsregeln. Es ist daher auf die allgemeine juristische Methodenlehre zurückzugreifen. Die anerkannt wertungsjuristische Zielsetzung der Auslegung macht es erforderlich, den klassischen, aus vier „Elementen“ (grammatische, logische, historische und systematische Auslegung) bestehenden Auslegungskanon2 von Friedrich Carl von Savigny3 wie folgt neu zu bestimmen:
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a) Der Tatbestand wird durch sprachliche Begrifflichkeiten festgelegt, Rechtsfolgen werden durch Sprache angeordnet. Daher wird jede Auslegung eines Rechtssatzes zunächst mit dem Wortsinn beginnen4. Ausgangspunkt der Sinnerschließung einer Norm ist damit regelmäßig die grammatische bzw. Wortlautauslegung.
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aa) Die sprachliche Zuordnung des Sachverhalts zum Tatbestand kann dabei im Rahmen des Begriffskerns der jeweiligen Tatbestandsmerkmale so eindeutig sein, dass der verbalen Gesetzesauslegung für sich genommen klare Vorgaben zur Normanwendung auf den zu entscheidenden Sachverhalt zu entnehmen sind. Jedoch muss die Richtigkeit einer sich daraus ergebenden Rechtsentscheidung stets noch mit Blick auf teleologische Kriterien überprüft werden. Auch eine verbal eindeutige Subsumtion kann den Gesetzeszweck verfehlen. Dem ist im Rahmen des möglichen Wortsinns durch eine teleologisch modifizierte (insb. fachsprachliche) Auslegung Rechnung zu tragen, ansonsten evtl. durch eine teleologische Reduktion (Rz. 48). So ist z.B. die Zuordnung von dauerhaft verlustträchtigen Erwerbstätigkeiten zum Einkünftekatalog des § 2 I EStG sprachlich eindeutig. Sie wird rechtlich zweifelhaft durch das objektiv-teleologische Kriterium der Einkünfteerzielungsabsicht, das letztlich im Prinzip der Besteuerung nach der (Einkommens-) Leistungsfähigkeit wurzelt (s. § 8 Rz. 125). Nach längerer Befassung mit einer bestimmten Sachmaterie und den ihr zugrunde liegenden Leitprinzipien und ggf. Zielkonflikten bildet sich beim Rechtsanwender für die Wertungskongruenz oder -inkongruenz des nach der Wortlautanalyse gewonnenen ersten Eindrucks vom möglichen Sinngehalt der Norm ein gewisses Judiz heraus, das aber in Zweifelsfällen stets der methodengerechten Reflektion bedarf. 1 So die sog. Freirechtslehre zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Überreaktion auf die Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts. Dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 59 ff.; Tipke, StRO III2, 1596. 2 S. auch BFH v. 25.9.2013 – XI R 41/12, BStBl. 2014, 135 (138). 3 von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts I, 1840, § 33. Dazu ausf. Zippelius, Juristische Methodenlehre11, 2012, 42 ff. 4 So Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 320, und die ganz h.M.
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Rz. 60
§5
Auf der anderen Seite bildet der mögliche Wortsinn die Grenze der Auslegung und damit der Subsumtion eines Sachverhaltes unter die maßgebliche Rechtsnorm1. Ein Normverständnis, das nicht mehr innerhalb des den „Begriffshof“ kennzeichnenden sprachlichen Interpretationsspielraumes angesiedelt ist, kann und darf nicht mehr im Wege der Ausdeutung des Gesetzestextes gewonnen werden, mag es auch durch teleologische Erwägungen gestützt oder gar im Lichte gleichheitsrechtlicher Vorgaben gefordert sein. Jenseits des möglichen Wortlauts kommt vielmehr nur noch die Ausfüllung von Gesetzeslücken durch Rechtsfortbildung in Betracht (s. dazu Rz. 74).
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bb) Bei der Heranziehung grammatischer Kriterien der Auslegung ist zu beachten, dass Gesetze fachsprachliche Zweckschöpfungen sind. Der Bau und die Regeln der Sprache (Grammatik) sind auf den sprachlich formulierten Gesetzeszweck bezogen2. Der Rückgriff auf allgemeinsprachliche Hilfsmittel wie Wörterbücher ist nur zulässig, wenn der Rechtsanwender davon ausgehen kann, dass das Gesetz einen Begriff mit seinem allgemeinsprachlichen Inhalt verwendet. Bspw. rezipiert der hundesteuerliche Begriff „Hund“ entsprechend dem allgemeinen Sprachverständnis den zoologischen Terminus in das Steuerrecht. Bei der Entscheidung zwischen fachund allgemeinsprachlichem Verständnis ist auch der Adressatenkreis des jeweiligen Gesetzes zu berücksichtigen, da sich die Wortwahl regelmäßig an dessen Verständnishorizont orientiert3. So werden etwa im Einkommensteuerrecht verwendete Begrifflichkeiten tendenziell eher dem allgemeinen Sprachgebrauch entlehnt sein als solche in einer vornehmlich an den juristischen Berater gerichteten unternehmensteuerlichen Spezialmaterie wie dem Umwandlungsteuerrecht.
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b) Mit der historischen Methode4 werden subjektiv-teleologisch die im Normentstehungsprozess für die gesetzliche Begriffsverwendung maßgeblichen Zweckvorstellungen und Wertungen eruiert. Zu diesem Zweck ist primär auf die veröffentlichten Gesetzgebungsmaterialien zurückzugreifen. Die Gesetzesbegründungen sind in den allermeisten Fällen in Regierungs- oder Fraktionsentwürfen niedergelegt. Sie sollten zuerst gelesen und es sollte dann geprüft werden, ob und inwieweit die Entwürfe Gesetz geworden sind. Ist die Vorschrift eines Regierungs- oder Fraktionsentwurfs ohne textliche Veränderung Gesetz geworden, so kann die Entwurfsbegründung in aller Regel herangezogen werden. Jedoch können auch in diesen Fällen andere Materialien des Gesetzgebungsverfahrens Aufschluss darüber geben, warum der Gesetzgeber den Regierungs- oder Fraktionsentwurf unverändert verabschiedet hat. Dazu sind vornehmlich die Berichte des Finanzausschusses, Stellungnahmen des Bundesrats und Gegenäußerungen der Bundesregierung heranzuziehen, die auch i.Ü. zu berücksichtigen sind. Nicht selten kommt das Steuergesetz auch erst in einem Vermittlungsverfahren nach Art. 77 GG zustande. In derartigen Fällen kann es erforderlich sein, alle Drucksachen sorgfältig zu prüfen, um die letztlich ausschlaggebenden Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten feststellen zu können5; die Protokolle der Sitzungen des Vermittlungsausschusses selbst werden üblicherweise (erst) in der jeweils übernächsten Legislaturperiode zur Einsicht freigegeben.
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Traditionelle Auslegungsmethoden
1 S. BFH v. 11.4.2013 – III R 11/12, BStBl. 2013, 666 (667), m.w.N. So bereits Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, 1914, 33. Im Weiteren Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, 42 (Wortlaut stecke die Grenzen richterlicher Auslegungstätigkeit ab); Tipke, StRO III2, 1624 f.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 322: „Was jenseits des sprachlich möglichen Wortsinns liegt“, könne nicht mehr „im Wege der Auslegung“ verstanden werden. Ausf. zur Funktion des Wortlauts als Grenze zulässiger Normkonkretisierung Müller/Christensen, Juristische Methodik10, 294 ff. 2 Grundl. zur juristischen Hermeneutik (Verstehenslehre) Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 204 ff., im Anschluss an Gadamer, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik5, 1986. Zur grammatischen Methode s. auch Tipke, StRO III2, 1606 ff. 3 Dazu näher Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 438 f. S. dazu bspw. OVG NRW v. 11.12.2013 – 14 A 1948/13, KStZ 2014, 93 (94). 4 Dazu Fikentscher, Methoden des Rechts IV, 674 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 328 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 449 ff.; Redeker/Karpenstein, NJW 2001, 2825; Kanzler, FR 2007, 525; Kirchhof, FS Spindler, 2011, 641 (650 f.); Tipke, StRO III2, 1613 f. 5 Exemplarisch BFH v. 29.11.2012 – IV R 47/09, BStBl. 2013, 324 (326).
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§5
Rz. 61
61
Zu eruieren ist die gesamte Entstehungsgeschichte eines Gesetzes. Daher können auch Äußerungen von Parteien oder von einzelnen Abgeordneten für die historische Auslegung relevant sein. Sie müssen aber sorgfältig daraufhin überprüft werden, ob und inwieweit sie den Normgebungsprozess tatsächlich beeinflusst haben. Dasselbe gilt ggf. für vorbereitende Arbeiten außerhalb des eigentlichen Gesetzgebungsverfahrens (vgl. Art. 76 ff. GG), wie etwa Referentenentwürfe des Ministeriums und Stellungnahmen des wissenschaftlichen Beirats beim BMF. Zur auslegungsrelevanten Entstehungsgeschichte gehören ferner Kommissionsentwürfe, soweit sie die Gesetzgebung beeinflusst haben, Rspr., soweit sie der Gesetzgeber übernommen oder verworfen (zu Nichtanwendungsgesetzen s. Rz. 40) hat, und den Gesetzgeber erkennbar inspirierende wissenschaftliche Erkenntnisse.
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Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die historische Methode vornehmlich ergänzend zu den übrigen Auslegungsmethoden heranzuziehen ist (s. Rz. 52), um deren Ergebnisse zu untermauern oder in Zweifelsfällen den Ausschlag für eine im Lichte der übrigen Methoden mögliche Interpretationsvariante zu geben. Eine Sperrwirkung speziell gegenüber gegenläufigen systematisch-teleologischen Erwägungen (s. Rz. 63 ff.) vermag der „Wille des Gesetzgebers“ hingegen allenfalls dann zu entfalten, wenn er sich aus der Entstehungsgeschichte eindeutig ergibt und zudem auch im Gesetzestext einen hinreichend klaren Ausdruck gefunden hat (s. Rz. 52)1. Bei wertausfüllungsbedürftigen unbestimmten Gesetzesbegriffen verliert die historische Methode mit dem Zeitablauf an Bedeutung. Dazu zählen Begrifflichkeiten wie die „Angemessenheit“, „Billigkeit“, „sittliche Verpflichtung“ oder „Ordnungsmäßigkeit der Buchführung“. Die für die Konkretisierung solcher Konzepte erforderlichen Wertungen sind regelmäßig einem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, technischen etc. Wandel unterworfen; gerade der demokratisch legitimierte Gesetzgeber erwartet daher keine „Versteinerung“ der zunächst einschlägigen historischen Maßstäbe. Soweit die Rspr. solche unbestimmten Begriffe regelmäßig in Orientierung am Gesetzeszweck fallgruppenbildend und fallvergleichend konkretisiert hat2, bedarf es daher stets der Reflektion, ob die jeweilige Konkretisierung noch angemessen ist.
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c) Die systematische Methode3 ist eine teleologisch-systematische. Sie gewinnt Erkenntnisse zu dem Gesetzeszweck sowohl aus dem äußeren (s. § 3 Rz. 5 ff.) als auch aus dem inneren (s. § 3 Rz. 9 ff.) System, aus äußeren wie inneren Bedeutungszusammenhängen.
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aa) Bei einer Auslegung anhand des äußeren Systems orientiert sich der Rechtsanwender vornehmlich an der Stellung des Rechtssatzes im Gesetz (z.B. EStG) oder in bestimmten Gesetzesabschnitten sowie an der Paragraphenfolge und dem inneren Aufbau des jeweiligen Paragraphen. Insb. aus den amtlichen Abschnittsvorschriften lassen sich häufig Rückschlüsse auf den Bedeutungsgehalt einer Rechtsnorm ziehen. Allerdings darf die Stellung der Rechtsnorm im äußeren System als Auslegungskriterium nicht überbewertet werden4. Sie kann im Einzelfall auch verfehlt sein, etwa wenn es dem Gesetzgeber bzw. den mit der Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs befassten Ministerialbeamten bei punktuellen Ergänzungen des Gesetzestextes an Überblick mangelte oder wenn bestimmte Zuordnungen historisch überholt sind. Überlegungen auf Basis der Stellung der Norm im äußeren System sind daher vor allem ergänzend zur Verifizierung oder Infragestellung anderweitig gefundener Auslegungsergebnisse anzustellen; sie wer-
Rechtsanwendung im Steuerrecht
1 S. bspw. BFH v. 23.10.2013 – X R 3/12, BStBl. 2014, 58, Rz. 23-25; v. 12.11.2013 – VIII R 36/10, BStBl. 2014, 168, Rz. 17 f.; v. 19.11.2013 – IV B 86/13, BFH/NV 2014, 336. Dementsprechend kann eine nachträgliche „authentische Interpretation“ des Gesetzgebers von bereits in Kraft getretenen Vorschriften für den Rechtsanwender keine Verbindlichkeit beanspruchen, vgl. BVerfG v. 21.7.2010 – 1 BvL 11/06 u.a., BVerfGE 126, 369 (392); BVerfG (K) v. 16.2.2012 – 1 BvR 127/10, HFR 2012, 545 (547). 2 Dazu Tipke, Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, in Leffson/Rückle/Großfeld (Hrsg.), Handwörterbuch unbestimmter Rechtsbegriffe im Bilanzrecht des HGB, 1986, 1 ff. 3 Dazu Fikentscher, Methoden des Rechts IV, 676 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 324 ff. (Bedeutungszusammenhang des Gesetzes); Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 453 ff. 4 S. auch BFHv. 15.12.2010 – VIII R 50/09, BStBl. 2011, 506, Rz. 32.
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Traditionelle Auslegungsmethoden
Rz. 67
§5
den nur ausnahmsweise bei anderweitig nicht auszuräumenden Zweifeln ausschlaggebende Bedeutung erlangen1. Bspw. könnte die Verortung der Regelungen betr. den Abzug der Aufwendungen für außergewöhnliche Belastungen (§ 33 EStG) im Abschnitt über den „Tarif“ zu der Annahme verleiten, das Tatbestandsmerkmal des Anfalls „größerer Aufwendungen als [bei] der überwiegenden Mehrzahl der Stpfl. gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes“ im Sinne der Maßgeblichkeit einer klassen- bzw. schichtenspezifischen Betrachtung sowie der mangelnden Breitenwirkung des außergewöhnlichen Ereignisses auszulegen. Denn die Stellung im Abschnitt über den Tarif reflektiert den ursprünglichen Billigkeitscharakter der Vorschrift (vgl. § 8 Rz. 85), der eine solche Betrachtung nahelegt. Indes ist diese historisch überkommene Charakterisierung des Abzugs außergewöhnlicher Belastungen im Lichte verfassungsrechtlicher Vorgaben zur steuerlichen Verschonung des Existenzminimums (vgl. BVerfGE 125, 175 [222], m.w.N.) seit Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht mehr aufrechtzuerhalten. Stattdessen ist im Rahmen des möglichen Wortsinns einer objektiv-teleologischen, verfassungskonformen Auslegung (vgl. Rz. 92) der Vorzug zu geben, wonach es darauf ankommt, ob die entsprechenden Aufwendungen (etwa im Grundfreibetrag nach § 32a I 1 Nr. 1 EStG) bereits anderweitig typisierend berücksichtigt sind.
Darüber hinaus kann aus dem normlogischen Kontext mit anderen Einzelvorschriften argumentiert werden. Als systematisch verfehlt sind regelmäßig solche Interpretationsvarianten zu verwerfen, die dazu führen würden, dass eine andere Norm ihren Anwendungsbereich verliert2. Zur Kategorie kontextbezogener normlogischer Argumentation gehört vordergründig auch der Umkehrschluss (argumentum e contrario), wenn er darauf abstellt, dass in anderen Normkomplexen mit vergleichbarer übergeordneter Zielsetzung ausdrücklich vorgesehene Einschränkungen, Bedingungen etc. im Text der auszulegenden Vorschrift nicht enthalten sind3. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass dieses Argument juristischer Logik nicht ohne eine teleologisch fundierte Wertung dahingehend auskommt, dass durch die unterschiedliche Handhabung keine Wertungswidersprüche auftreten oder selbige jedenfalls vom Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen wurden. Ansonsten nämlich ist gerade umgekehrt angezeigt, über eine extensive Auslegung im Rahmen des möglichen Wortsinns oder aber durch eine Analogiebildung (s. Rz. 80) einen Gleichklang zwischen den beiden in Bezug gesetzten Normenkomplexen herzustellen. Beide Argumente hängen also insofern zusammen, als jenseits der (subjektiv-teleologisch oder objektiv-teleologisch bestimmten) Reichweite einer gesetzgeberischen Wertung der Umkehrschluss Platz greift, während innerhalb ihres Geltungsbereichs der Analogieschluss Platz greift (s. dazu das Bsp. in Rz. 77).
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Schon normlogisch nicht begründbar ist schließlich der gelegentlich – insb. vom EuGH4 – postulierte Standpunkt, Ausnahmeregelungen seien eng bzw. restriktiv auszulegen. Dies kann vielmehr nur aufgrund einer teleologisch angeleiteten Normanalyse festgestellt werden. In Betracht kommt eine enge Auslegung insb. im Lichte höherrangigen Rechts, namentlich bei gleichheitsrechtlich problematischen Ausnahmeregelungen, soweit diese (evtl. gerade infolge der restriktiven Interpretation) überhaupt verfassungsrechtlich Bestand haben können5.
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bb) Die systematische Methode arbeitet mit dem inneren System, wenn Prinzipien, Richtwerte oder einer Regelung zugrunde liegende politische Zielsetzungen6 effektuiert werden. Dies entspricht einer objektiv-teleologischen Vorgehensweise. Leitziel ist die Vermeidung von Wer-
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1 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 443. 2 S. Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 306a. 3 In einer simpleren Variante des Umkehrschlusses wird schon aus der bloßen Nichterfassung eines Sachverhalts in der auszulegenden Rechtsnorm gefolgert, dass für diesen die darin vorgesehene Rechtsfolge nicht eintreten soll; dazu Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 476 f.; Larenz/ Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 209 f. Bsp.: Argumentum e contrario sind die im Hundesteuertatbestand nicht erfassten Katzen nicht hundesteuerpflichtig. 4 S. EuGH v. 19.7.2012 – C-33/11, A Oy, EU:C:2012:482, Rz. 49, m.w.N.; v. 16.5.2013 – C-169/12, TNT, EU:C:2013:314, Rz 24, m.w.N.; Riesenhuber, Europäische Methodenlehre3, § 10 Rz. 62 ff. 5 S. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 400, m.w.N. 6 Zur Unterscheidung zwischen den verschiedenen Kategorien s. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, 43 ff.
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§5
Rz. 68
Rechtsanwendung im Steuerrecht
tungswidersprüchen im Steuersystem oder mindestens innerhalb ein und derselben Steuerart. Dies geschieht durch die gleichmäßige Entfaltung sowohl gesetzgeberischer Grundwertungen (Fundamentalprinzipien der Besteuerung) als auch ggf. der gesetzlichen Vorrangwertungen zugunsten gegenläufiger Prinzipien oder (bspw. wirtschaftspolitischen oder umweltpolitischen) Zielsetzungen, die etwaigen Durchbrechungen der Fundamentalprinzipien (bspw. Steuervergünstigungen) zugrunde liegen. Aus der gleichheitsrechtlichen Fundierung ergeben sich zugleich die inhärenten Grenzen einer Argumentation aus dem inneren System: Stützt sie sich auf steuerspezifische Fundamentalprinzipien oder deren Subprinzipien (vgl. § 3 Rz. 40 ff.), so kann sie nicht weiterreichen als deren jeweiliger Geltungsbereich. So können bspw. aus dem im Steuerbilanzrecht wirkmächtigen Realisationsprinzip keine Rückschlüsse auf die Auslegung des Zuflussbegriffs (§ 11 I EStG) im Rahmen der Einnahmen-Überschuss-Rechnung gezogen werden. Zudem muss der Rechtsanwender auch die Relativierbarkeit solcher Leitmaximen durch gegenläufige Prinzipien oder politische Zielsetzungen beachten; er kann sie daher im Wege systematisch-teleologischer Auslegung nur entfalten, soweit sie im Gesetz nicht erkennbar durchbrochen werden1. 68
Bei der Anwendung der systematisch-teleologischen Auslegung anhand des inneren Systems ist es im Steuerrecht wichtig, zwischen Fiskalzwecknormen, Sozialzwecknormen und Vereinfachungsnormen zu unterscheiden (s. § 3 Rz. 19 ff.). Objektiv-teleologischer Maßstab für Fiskalzwecknormen ist regelmäßig das Leistungsfähigkeitsprinzip mit seinen steuerartspezifischen Subprinzipien. Bei Sozialzwecknormen (s. § 3 Rz. 21) muss sich von Verfassungs wegen ein subjektiv-teleologischer Lenkungszweck oder Umverteilungszweck feststellen lassen2, der die Auslegung anzuleiten hat. Bei Vereinfachungsnormen kommen vor allem die Praktikabilität und die typisierende Rechtsanwendung zum Zuge. Das Praktikabilitätsprinzip (s. § 3 Rz. 145) ist jedoch für alle Normen ein objektiv-teleologischer Maßstab: Gesetze sollen praktikabel, d.h. durchführbar, nicht lebensfremd ausgelegt werden. Das entspricht ganz allgemein der Gesetzesvernunft (s. auch Tipke, StRO III2, 1615 f.)3. In diesem Zusammenhang hat der Rechtsanwender Spielräume der Typisierung.
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d) Zumindest auf unionsrechtlich harmonisierten Gebieten des Steuerrechts (s. dazu § 4 Rz. 66) ist darüber hinaus die Rechtsvergleichung als weitere „Auslegungsmethode“4 in Betracht zu ziehen. Vor allem bei der Auslegung optionaler, unionsrechtlich nicht voll vereinheitlichter Besteuerungsregime trägt die Rechtsvergleichung zur unionsweiten Entscheidungsharmonie bei5, da eine unitarische Wirkung von EuGH-Entscheidungen insoweit nicht in Betracht kommt. Sie sichert damit das binnenmarktbezogene Ziel internationaler Wettbewerbsneutralität und ggf. einer kollisionsfreien zwischenstaatlichen Aufteilung von Besteuerungsbefugnissen ab, das nahezu alle EU-Rechtsakte auf dem Gebiet des Steuerrechts prägt. Bei der Anwendung von Steuerrechtsnormen, die zwingende EU-Richtlinienvorgaben umsetzen, wiederum ist zumindest der BFH zur Vorlage an den EuGH verpflichtet, wenn ein nach dem traditionellen Methodenkanon gefundenes Auslegungsergebnis Zweifel an der Vereinbarkeit mit den zugrundeliegenden Richtlinienbestimmungen aufwirft (s. § 4 Rz. 49). Die Feststellung entsprechender Zweifel kann eine Befassung mit der Umsetzung der Richtlinienvorgaben in den Steuerrechtsordnungen der übrigen EU-Mitgliedstaaten erforderlich machen (s. § 4 Rz. 31). Jenseits harmonisierter Steuerarten bzw. Steuerregime kann ein Vergleich mit ausländischer Judikatur zu ver1 Dazu auch Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 291; Tipke, StRO III2, 1615. 2 BVerfGE 93, 121 (147 f.) hat ein dahingehendes Begründungsgebot für das Leistungsfähigkeitsprinzip durchbrechende Steuervergünstigungen aufgestellt; seither st. Rspr., s. auch Englisch, FS Lang, 2010, 167 (206 ff.), m.w.N.; sowie § 3 Rz. 21. Krit. mit gewichtigen Argumenten Tappe, Die Begründung von Steuergesetzen, Habil. Münster 2012. 3 Vgl. auch EuGH v. 26.1.2012, C-218/10, ADV Allround Vermittlungs AG, EU:C:2012:35, Rz. 31; BFH v. 11.4.2013 – III R 11/12, BStBl. 2013, 666 (667); GA Kokott, Schlussanträge v. 4.9.2014 – C-144/13 u.a., VDP Dental Laboratory u.a., EU:C:2014:2163, Rz. 60. 4 Grundl. Häberle, JZ 1989, 913 (916 ff.). 5 Dazu Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung3, 1996, 19 f.; s. zur Parallele im internationalen Steuerrecht Vogel/Lehner, DBA6, 2015 Grundlagen Rz. 114 ff.
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Wirtschaftliche Betrachtungsweise
Rz. 72
§5
gleichbaren Regelungskomplexen immerhin die für eine systematisch-teleologische Auslegung maßgeblichen Wertungen erhellen1. Als sprachlich wie organisatorisch problematisch erweist sich freilich stets der Zugang zu ausländischen Rechtsquellen; hier sind in Zukunft weitere Verbesserungen zu erwarten2.
3. Wirtschaftliche Interpretation der Steuergesetze (wirtschaftliche Betrachtungsweise) Steuerrechtsnormen, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erfassen sollen (Fiskalzwecknormen, s. § 3 Rz. 20), knüpfen an wirtschaftliche Vorgänge und Zustände an (s. bereits § 1 Rz. 32). Sofern sich aus Normkontext und -genese nichts anderes ergibt, bedürfen sie deshalb grds. einer am wirtschaftlichen Gehalt des Sachverhalts orientierten Interpretation, die als wirtschaftliche Betrachtungsweise3 bezeichnet wird. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise ist keine Sondermethode des Steuerrechts, sondern überall dort anzutreffen, wo der Gesetzgeber ökonomische Sachverhalte zu regeln hat. Sie ist Teil systematisch-teleologischer Gesetzesinterpretation4, da sie der gleichmäßigen Belastung von wirtschaftlich vergleichbaren Vorgängen und Zuständen dient. So lassen sich die meisten zivilrechtlich nicht vorgeprägten steuerrechtlichen Begriffe wie z.B. das Wirtschaftsgut (§§ 39 AO; 4 I EStG), die Bereicherung (§ 10 I 1 ErbStG), der Teilbetrieb (§ 16 I 1 Nr. 1 Satz 1 EStG) oder die Lieferung (§ 3 I UStG) a priori nur wirtschaftlich auslegen. Aber auch die vom Steuergesetzgeber verwandten Begriffe des Zivilrechts sind teleologisch an dem Zweck des Steuergesetzes auszurichten und damit vielfach in Abweichung vom zivilrechtlichen Verständnis nach ihrem im Lichte der spezifisch steuerrechtlichen Wertungen maßgeblichen wirtschaftlichen Gehalt zu interpretieren:
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Weder eine freischwebende „wirtschaftliche Betrachtungsweise“ noch eine zivilrechtshörige Interpretation der Steuergesetze führen zu steuerrechtlich adäquaten Auslegungsergebnissen. Bei der Auslegung steuergesetzlicher Begriffe ist zunächst davon auszugehen, dass es keine teleologische Prävalenz des Zivilrechts gibt (s. bereits § 1 Rz. 34)5. Vielmehr ist auf Grund der Teleologie der Steuerrechtsnorm zu prüfen, ob und inwieweit ein zivilrechtlicher Regelungsinhalt auch die Rechtsfolge des Steuergesetzes mitbestimmt.
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Ergibt die Auslegung eines Tatbestandsmerkmals der Steuerrechtsnorm, dass es unmodifiziert an zivilrechtliche Konzepte anknüpft, hat seine fallbezogene Konkretisierung auch für die Zwecke des Steuerrechts nach den zivilrechtlich maßgeblichen Kriterien zu erfolgen. Die Qualifikation des Sachverhalts nach dem zivilrechtlichen Begriffsverständnis schlägt dann unmittelbar auch auf die Subsumtion unter die deckungsgleiche steuerrechtliche Begrifflichkeit durch6.
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1 S. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung3, 1996, 16 ff.; von Bogdandy, JZ 2011, 1. 2 So arbeiten etwa EU und auch IBFD (International Bureau of Fiscal Documentation) am Aufbau einer Datenbank von Entscheidungen nationaler Obergerichte u.a. zum Mehrwertsteuerrecht; europäische bzw. globale Vereinigungen von mit Steuerrecht befassten Wissenschaftlern (z.B. EATLP, GREIT), Richtern (IATJ) und Beratern (CFE, IFA) fördern die Rechtsvergleichung auch jenseits des Internationalen Steuerrechts u.a. durch Kongresse und Publikationen, und internationale Zeitschriften drucken mit zunehmender Tendenz auch nationale Entscheidungen zum je thematisch einschlägigen Steuerrechtsgebiet ab. 3 Dazu Groh, StuW 1989, 227; Tipke, StRO III2, 1629 ff.; Lehner, FS Tipke, 1995, 237; Eibelshäuser, DStR 2002, 1426; Breidert/Moxter, WPg. 2007, 912 (Bilanzrechtsprechung). 4 Lehner, FS Tipke, 1995, 237; Tipke, StRO III2, 1630. 5 Anders noch die Rspr. der Nachkriegszeit; exemplarisch BFH BStBl. 1962, 304 (305) (zur Leibrente: „Wenn in Steuergesetzen Begriffe verwendet werden, die im bürgerlichen Recht einen bestimmten festen Inhalt haben, so sind sie im Steuerrecht nach dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung im Interesse der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit in demselben Sinn auszulegen, sofern sie nicht erkennbar nach dem Willen des Gesetzgebers im Steuerrecht einen anderen Sinn haben sollen“). Weitere Nachw. in HHR/Ruppe, Einf. Anm. 454, 457. Zur Tendenzwende ab 1965 Beisse, StuW 1981, 1 (5 ff.); Tipke, StRO III2, 1634 ff. BVerfGE 18, 224; im Weiteren BVerfGE 22, 156; 25, 28; 26, 327; 29, 104 (117) billigte die vom Zivilrecht abweichende wirtschaftliche Betrachtungsweise. Die Rspr. des BFH wandte sich der teleologischen Lehre von Larenz (s. Rz. 49) zu. Ausführlich Meyer, Steuerliches Leistungsfähigkeitsprinzip und zivilrechtliches Ausgleichssystem, 2013, S. 15 ff. 6 S. Tipke, StRO III2, 1636 f.
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§5
Rz. 73
Rechtsanwendung im Steuerrecht
So wird etwa der Telos der Ehegattenbesteuerung durch den verfassungsrechtlichen Ehebegriff fundiert, weshalb BFH BStBl. 1957, 300, zutr. entschieden hat, die §§ 26; 26b EStG knüpften direkt an das Zivilrecht an (s. § 3 Rz. 164). 73
Führt indessen die teleologische Auslegung der Steuerrechtsnorm zu einem vom Zivilrecht abweichenden steuerrechtlichen Begriffsverständnis, so ist zu prüfen, ob die zivilrechtliche Qualifikation des Sachverhalts den Kriterien der wirtschaftlich-teleologisch interpretierten Steuerrechtsnorm genügt. Meist wird die steuerrechtliche Norm dann sämtliche Fallkonstellationen erfassen, die im Zivilrecht unter dieselbe Begrifflichkeit zu subsumieren sind, aber darüber hinaus noch weitere, ihrem nach dem Steuergesetz relevanten wirtschaftlichen Gehalt vergleichbare Zivilrechtsgestaltungen. Bspw. zählen zu den Einkünften aus „Vermietung und Verpachtung“ i.S.d. § 21 I 1 Nr. 1 und 2 EStG nicht nur Einkünfte aus schuldrechtlichen Miet- und Pachtverhältnissen, sondern auch eine vergleichbare dingliche Nutzungsüberlassung (s. § 8 Rz. 509). Mitunter weicht das steuerrechtliche Begriffsverständnis aber auch vollständig von der zivilrechtlichen Begriffsprägung ab. So hat z.B. der Begriff „Veräußerung“ i.S.d. § 23 EStG teleologisch an das obligatorische und nicht wie im Zivilrecht an das dingliche Rechtsgeschäft anzuknüpfen (s. § 8 Rz. 555)1. Schließlich ist eine zivilrechtskonforme Auslegung auch dann nicht stets geboten, wenn das Steuergesetz ausdrücklich auf zivilrechtliche Begriffe und Vorschriften verweist. So umfassen etwa die Verweisungen auf deutsches Erbrecht in § 3 ErbStG auch wirtschaftlich vergleichbare Vorgänge, für die ausländisches Erbrecht gilt2.
4. Ausfüllung von Gesetzeslücken 74
a) Von der Auslegung ist die jenseits des möglichen Wortverständnisses beginnende Ausfüllung von Gesetzeslücken durch Rechtsfortbildung3 zu unterscheiden. Die Grenze der Auslegung in Gestalt der Subsumtion als die Grundform des juristischen Schlusses (s. Rz. 46) ist der mögliche Wortsinn (Rz. 58). Damit endet jedoch nicht notwendig die rechtliche Würdigung des Sachverhalts. Ist eine Rechtsnorm gar nicht anwendbar, ohne dass ihr jenseits des Wortlauts des Gesetzes eine weitere Bestimmung hinzugefügt wird, ist sie also schon „normlogisch“ lückenhaft4, so darf der Rechtsanwender das Recht nicht verweigern. Er hat eine teleologisch adäquate Ergänzung vorzunehmen (Beispiel: § 4 I 2 EStG sieht die außerbilanzielle Korrektur auch bei der Nutzungs- und Leistungsentnahme vor; § 6 I Nr. 4 Satz 1 EStG enthält aber eine Bewertungsregelung nur für den Fall der Entnahme von Wirtschaftsgütern i.e.S. Es bedarf einer richterrechtlichen Rechtsfortbildung, s. dazu § 9 Rz. 371). Darüber hinaus sind jedoch auch teleologische Lücken zu schließen, die durch eine Diskrepanz von Wortlaut und gesetzgeberischem Regelungsanliegen gekennzeichnet sind. Wenn der Eintritt der Rechtsfolge einer tatbestandlich nicht einschlägigen Vorschrift auch in dem von ihrem Wortlaut nicht mehr erfassten Fall dem Gesetzeszweck entspricht, ist deren Anwendung kraft Analogie oder verwandter Argumente juristisch wertender Logik in Betracht zu ziehen. Umgekehrt verhält es sich bei der teleologischen Reduktion, wenn der Wortlaut der Norm nicht zu eng sondern zu weit geraten ist (s. Rz. 85). Stets gilt, dass der Rechtsanwender bei der Lückenschließung nicht an die Stelle des demokratisch legitimierten Gesetzgebers treten und dessen Wertungen korrigieren darf. Er hat ihm vielmehr bei der Verwirklichung seines Plans und der Effektuierung seiner Wertungen 1 Bereits die das Primat des Zivilrechts verfolgende Rspr. des BFH (s. Rz. 71) erkannte mit BFH BStBl. 1962, 127 (128), dass § 23 EStG an das obligatorische Geschäft anknüpft. 2 S. BFH v. 4.7.2012 – II R 38/10, BStBl. 2012, 782, Rz. 22 ff., m.w.N. 3 Dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 366 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 472 ff.; Tipke (Hrsg.), Grenzen der Rechtsfortbildung durch Rspr. und Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht, DStJG 5 (1982); Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht; Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 204 ff.; Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 344 ff. 4 Dazu Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 473 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 193 und 220 f.; Zippelius, Juristische Methodenlehre11, 2012, 64.
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Ausfüllung von Gesetzeslücken
Rz. 77
§5
behilflich zu sein. Sind selbige nicht hinreichend klar erkennbar, muss richterliche Rechtsfortbildung unterbleiben1. b) Hauptanwendungsfall der Lückenschließung durch Rechtsfortbildung ist die teleologisch ermittelte Unvollständigkeit des Gesetzes. Ist der Rechtsanwender zu dem Ergebnis gelangt, dass der rechtlich zu würdigende Sachverhalt nicht mehr vom Wortlaut der nach ihrem Gesetzeszweck als anwendbar in Betracht zu ziehenden Rechtsnormen erfasst ist, so hat er zunächst sorgfältig zu prüfen, ob der Gesetzestext im Hinblick auf den Gesetzeszweck eine Lücke enthält. Hierzu definiert Claus-Wilhelm Canaris2 die Gesetzeslücke als „planwidrige Unvollständigkeit“: Der Gesetzgeber hat einen bestimmten Plan gehabt, er wollte bestimmte Grundwertungen (Fundamentalprinzipien der Besteuerung) durch gesetzliche Anordnungen entfalten oder einen Zielkonflikt durch eine bestimmte gesetzliche Vorrangwertung auflösen; es ist ihm dies aber nicht vollständig gelungen. Das Gesetz ist, gemessen an dem zu Grunde liegenden Plan bzw. den zugrundeliegenden Wertungen, lückenhaft, d.h. unvollständig bzw. fehlerhaft formuliert.
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Dieser teleologisch adäquate Lückenbegriff ist inzwischen im Steuerrecht allgemein anerkannt3. Im Falle einer solchen Lücke ist der Rechtsanwender zur Rechtsfortbildung befugt. Die planwidrige Unvollständigkeit ist scharf vom bewussten Regelungsverzicht zu unterscheiden4. Das ist der Bereich, der vom Gesetzgeber absichtlich von bestimmten Rechtsfolgen ausgenommen wurde (Beispiele: Katzen unterliegen nicht der Hundesteuer; Gewinne aus der Veräußerung von privat verwaltetem Erwerbsvermögen sind jenseits der §§ 20 II; 23 I EStG nicht einkommensteuerbar; Beschränkung von Steuervergünstigungen auf bestimmte Investitionen5). Der Richter darf hier nicht im Wege der Rechtsfortbildung seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen; anderenfalls liegt unzulässige Rechtsschöpfung contra legem vor6. Stattdessen kann die planmäßige Lücke einen Gleichheitssatzverstoß und damit die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung begründen, die jedoch nur vom BVerfG festgestellt werden darf7.
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Vor diesem Hintergrund ist der Rahmen zulässiger Rechtsfortbildung im Steuerrecht stets unter Berücksichtigung sowohl subjektiv-teleologischer als auch objektiv-teleologischer Kriterien festzustellen8. Namentlich kann eine planwidrige Regelungslücke einerseits (aufgrund subjektiv-teleologischer Analyse) in Erwägung zu ziehen sein, wenn die im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich geäußerten Vorstellungen zum Anwendungsbereich einer Norm oder zur Umsetzung bzw. Einschränkung eines Rechtsprinzips im Gesetzeswortlaut keinen hinreichenden Niederschlag gefunden haben. Sie kann andererseits auch (nach objektiv-teleologischen Kriterien) naheliegen, wenn die Vermeidung von Wertungswidersprüchen eine Gleichbehandlung von gesetzlich geregelten Fallkonstellationen und dem ungeregeltem Sachverhalt erfordert9. Abschließend bejaht werden kann das Vorliegen einer vom Rechtsanwender auszufüllenden Regelungslücke jedoch nur dann, wenn sich aus der je komplementären Betrachtungsweise keine gegenteiligen Anhaltspunkte betreffend die Planwidrigkeit der Lücke ergeben10: Würde die Umsetzung des im Gesetzeswortlaut nicht zum Ausdruck gekommenen „Willens des
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1 S. bspw. BFH v. 11.4.2013 – III R 11/12, BStBl. 2013, 666 (668). 2 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, Eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem2, 1983. 3 Tipke, FS von Wallis, 1985, 133; Fischer, StuW 1995, 303; Lang, FS Höhn, 1995, 159; Tipke/Kruse/ Drüen, § 4 AO Rz. 345 ff. 4 S. dazu BFH v. 18.1.2012 – II R 31/10, BStBl. 2012, 519; Tipke, StRO III2, 1641. 5 S. auch BFH v. 19.3.2013 – VII R 57/11, BFHE 240, 480, Rz. 9–12, zum umgekehrten Fall eines bewussten Absehens von Ausnahmebestimmungen zu Steuervergünstigungen. 6 S. BVerfGE 82, 6 (12); BVerfG (K) v. 16.2.2012 – 1 BvR 127/10, HFR 2012, 545 (546). 7 S. zu diesem Zusammenhang exemplarisch BFH v. 10.4.2013 – I R 80/12, BStBl. 2013, 1004. 8 S. dazu auch Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 194; BFH v. 11.2.2010 – V R 38/08, BStBl. 2010, 873 (874 f.). 9 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 374 f.; strenger BFH v. 18.4.2012 – X R 7/10, BFH/NV 2012, 1363: „sinnwidriges Ergebnis“. 10 S. auch BFH BStBl. 2010, 873.
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§5
Rz. 78
Rechtsanwendung im Steuerrecht
Gesetzgebers“ Wertungswidersprüche erst erzeugen oder vertiefen und damit gleichheitsrechtlich bedenkliche Ergebnisse zeitigen, ist mangels objektiv verstandener Planwidrigkeit der Rechtslage von einer Lückenfüllung abzusehen. Das Gesetz ist dann klüger als sein Schöpfer. Umgekehrt darf der vom Gesetzgeber ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien gewollte Systembruch nicht durch die Annahme einer planwidrigen Lücke vom Rechtsanwender korrigiert werden1. Beispiel: § 4 V Nr. 7 EStG schließt den Betriebsausgabenabzug aus, wenn Aufwendungen die Lebensführung des Stpfl. oder anderer Personen berühren, soweit sie nach allgemeiner Verkehrsauffassung als unangemessen anzusehen sind. Dieses Angemessenheitsprinzip konkretisiert das objektive Nettoprinzip (s. § 8 Rz. 54 f.) in bestimmten Konstellationen privater Mitveranlassung von Aufwendungen. BFH BStBl. 1990, 423, hatte für ein Jahr vor Einführung des § 9 V EStG zu entscheiden, ob das in § 4 V Nr. 7 EStG positivierte Angemessenheitsprinzip analog auf Werbungskosten i.S.d. § 9 I EStG, d.h. auf Erwerbsaufwendungen im Rahmen nichtbetrieblicher Einkünfte anzuwenden ist. Der BFH legte dar, dass der Gesetzgeber absichtlich – wenn auch auf Basis fragwürdiger empirischer Vermutungen – von einer Erstreckung des Abzugsverbotes auf das Werbungskostenrecht abgesehen hatte, und lehnte dementsprechend die Annahme einer planwidrigen Regelungslücke ab. Argumentum e contrario (s. Rz. 65) folgerte er aus dem Fehlen einer dem § 4 V Nr. 7 EStG entsprechenden Einschränkung des Werbungskostentatbestandes in § 9 EStG, dass auch unangemessene Aufwendungen unter den Werbungskostenbegriff des § 9 I EStG fallen. Instruktiv ist ferner der Streit zwischen erstem Senat (vgl. BFH BStBl. 2010, 471 [475]) und viertem Senat (vgl. BFH BStBl. 2010, 971 [972 f.]) zur Möglichkeit einer analogen Anwendung von § 6 V EStG auf den Transfer von Wirtschaftsgütern zwischen Schwesterpersonengesellschaften; im Lichte der obigen Erwägungen dürfte der erste Senat die besseren Argumente für seinen Standpunkt haben.
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In zeitlicher Hinsicht ist zwischen anfänglichen, dem Gesetzgeber an sich erkennbaren, und nachträglichen Lücken zu unterscheiden2. Nachträgliche Lücken können sich zum einen durch nicht vorhersehbare wirtschaftliche oder technische Entwicklungen ergeben (s. etwa BFH BStBl. 2000, 467 [468], zur analogen Anwendung des § 21 I 1 Nr. 1 EStG auf in die Luftfahrzeugrolle eingetragene Flugzeuge). Sie können aber auch aus rechtsdogmatischen Erkenntnisfortschritten insb. in der höchstrichterlichen Rspr. resultieren, wenn der Gesetzgeber den Regelungsbedarf noch anhand des traditionellen Rechtsprechungsansatzes abgeschätzt hat (Beispiele: BFH BStBl. 1964, 122 f.; BFH BStBl. 2011, 233 [235]).
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c) Im vorstehenden Sinne planwidrige Unvollständigkeiten des Steuergesetzes sind möglichst durch Argumente juristisch wertender Logik zu beseitigen:
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aa) Die Grundform der wortlautergänzenden Rechtsanwendung ist der Analogieschluss3, das argumentum a simile: In einer bestimmten Rechtsnorm (sog. Gesetzes- oder Einzelanalogie) oder in einer Kombination von Rechtsnormen (sog. Rechts- oder Gesamtanalogie) manifestiert sich eine gesetzgeberische Wertung, in deren Lichte der nicht wortlautgedeckte Sachverhalt dem geregelten Fall so ähnlich erscheint, dass die gesetzlich vorgesehene Rechtsfolge auch auf den ungeregelten Fall erstreckt wird. Bei der maßgeblichen Wertung kann es sich um eine steuerartspezifische Grundwertung gerechter Lastenausteilung, d.h. um ein Fundamentalprinzip der Besteuerung bzw. um dessen kontextspezifische Konkretisierung handeln (z.B. BFH v. 3.3. 2011 – V R 23/10, BStBl. II 2012, 74 [76]: analoge Anwendung einer gesetzlichen Konkretisierung des dem umsatzsteuerlichen Vorsteuerabzug innewohnenden Neutralitätsprinzips bei gemischt veranlassten Aufwendungen). In Betracht kommt aber bei Sozialzwecknormen (s. § 3 Rz. 21) auch eine Vorrangwertung zugunsten von Lenkungszielen u. ä. Durchbrechungen fundamentaler Lastenausteilungsmaßstäbe (z.B. BFH BStBl. 1964, 122 f., gesetzliche Privilegierung 1 Insoweit a.A. wohl Drüen, StuW 2012, 269 (274); Brandis, StuW 2013, 88 (90 f.). 2 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 199 f. 3 Dazu Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, 78 ff.; Hemke, Methodik der Analogiebildung im öffentlichen Recht, 2006; Würdinger, Jura 2007, 15; Beaucamp, AöR 2009, 83 (84 ff.), m.w.N. Zu Analogieanweisungen in Steuergesetzen Crezelius, FR 2008, 889.
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Ausfüllung von Gesetzeslücken
Rz. 83
§5
des Sanierungsgewinns – nur – im KStG), eine Vorrangwertung zwischen gegenläufigen Prinzipien (etwa zwischen dem Legalitätsprinzip und dem Prinzip der Rechtssicherheit im Besteuerungsverfahren; vgl. BFH BStBl. 2011, 233 [235]), oder eine der Verwaltungspraktikabilität geschuldete Wertung (z.B. BFH BStBl. 2011, 30 [31 f.]). Stets kommt es darauf an, ob der vom Wortlaut nicht erfasste Sachverhalt mit dem gesetzlich geregelten wertungsmäßig vergleichbar ist. Ansonsten ist statt des argumentum a simile ein argumentum e contrario (s. Rz. 65) angezeigt. Auch i.Ü. setzt die gleichheitsrechtliche Fundierung des argumentum a simile dem Analogieschluss inhärente Grenzen: Er darf nicht zur Vertiefung im Gesetz bereits angelegter Gleichheitssatzverstöße führen. Namentlich ungerechtfertigte, nicht durch hinlängliche Gemeinwohlerwägungen legitimierte Steuerprivilegien sind nicht analogiefähig1. bb) Die Zulässigkeit der Gewinnung von Rechtsfolgen außerhalb des möglichen Wortsinns bedarf im Steuerrecht nach teilweise vertretener Ansicht zusätzlicher Beschränkung. Im Anschluss an das heute in Art. 103 II GG verankerte strafrechtliche Analogieverbot wurde vor dem Zweiten Weltkrieg ein Verbot steuerverschärfender Analogie entwickelt, das bis zum Beginn der 1980er Jahre herrschende Meinung blieb. Seit der Jahrestagung der DStJG von 19822 wurde die positivistische These des Verbots steuerverschärfender Analogie zunehmend zurückgedrängt3.
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Es ist evident, dass es auch im Steuerrecht analogiefähige Prinzipien und Wertungen gibt4. Das steuerrechtliche Legalitätsprinzip5 (s. § 3 Rz. 230 ff.) wird nicht verletzt, wenn der Rechtsanwender planwidrige Unvollständigkeiten des Gesetzestextes bereinigt. Die Lückenausfüllung durch Analogie entspricht dem Demokratieprinzip und dem Gleichheitssatz; sie verwirklicht den sprachlich unvollkommen zum Ausdruck gebrachten Gesetzeszweck. Der lückenausfüllende Rechtsanwender bestreitet dem Gesetzgeber nicht seine Kompetenz, verdrängt ihn nicht unter Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip, sondern handelt „nachbessernd“ i.S.d. Intention des Gesetzgebers. Nur wenn ausnahmsweise weder unter Berücksichtigung der Wertungen des historischen Gesetzgebers noch bei objektivierender Betrachtung auf der Grundlage des Gesetzeszwecks feststellbar ist, wie der Gesetzgeber eine Lücke zu schließen gedacht hätte – insb. weil sie aufgrund nachträglicher Entwicklungen systemwidrig entstanden ist – muss eine Rechtsfortbildung durch die Gerichte unterbleiben6.
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Die Lehre vom Verbot steuerverschärfender Analogie nimmt ferner nicht zur Kenntnis, dass Rspr. und Wissenschaft weite Teile des Steuerrechts ziemlich losgelöst von Gesetzestexten dogmatisieren. Die markteinkommenstheoretische Interpretation des Einkünftekatalogs (s. § 8 Rz. 52), die richterrechtliche Entwicklung eines Steuerbilanzrechts für die Personengesellschaft (s. § 10 Rz. 10 ff., 115), weil die §§ 4 ff. EStG nur die Gewinnermittlung eines Einzelunternehmers regeln7, und richterrechtliche Konstrukte wie z.B. die Betriebsaufspaltung8 decken die ganz erheblichen Regelungsdefizite auf, die im Steuerrecht trotz der steuergesetzlichen Textmassen zu bewältigen sind. Daher ist ein Lückenausfüllungsverbot gerade im Steuerrecht nicht nur methodisch verfehlt. Es bleibt in den meisten Fällen wirklicher, geradezu freischöpferischer Rechtsfortbildung unerwähnt, m.a.W. es wird schlicht nicht praktiziert9. Nicht das Analogie-
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1 Vgl. auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 440. 2 Tipke (Hrsg.), Grenzen der Rechtsfortbildung durch Rspr. und Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht, DStJG 5 (1982). 3 Dazu umfassend mit Historie und gegenwärtigem Meinungsstand inkl. ausländischer Lit. und Rspr. Tipke, StRO I2, 177–204. S. ferner BFH v. 7.7.2009 – VII R 24/06, BFH/NV 2009, 1920; Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 172 ff. Tendenziell abl. auch jüngst noch BFH BStBl. 2011, 831 (833); Beaucamp, AöR 2009, 83 (89 ff.); differenzierend Doralt/Ruppe/Ehrke-Rabel, Steuerrecht II6, Wien 2011, Rz. 99. 4 Dazu eindringlich Tipke, StRO I2, 197 ff. 5 Zur verfassungsrechtlichen Problemstellung ausf. Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, 341 ff. Die Frage nach der Zulässigkeit der Analogie ist keine rechtsanwendungsmethodische, sondern Verfassungsfrage. 6 Missachtet in BFH v. 22.8.2013 – V R 19/09, BFHE 243, 8, Rz. 29 ff. 7 Vgl. hierzu §§ 25, 26 Kölner EStGE (Ermittlung von Einkünften aus einer Erwerbsgemeinschaft). 8 S. Drüen, GmbHR 2005, 69. 9 S. zu den überschießenden Tendenzen in der Rspr. näher Weckerle, StuW 2012, 281.
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§5
Rz. 84
Rechtsanwendung im Steuerrecht
verbot, sondern die folgerichtige und methodengerechte Rechtsfortbildung und Lückenausfüllung schafft in Wahrheit Rechts- und Regelsicherheit1. 84
cc) Normlogisch mit der Analogie eng verwandt sind Erst-Recht-Schlüsse (argumenta a fortiori). Sie lauten: Wenn für Tatbestand A die Rechtsfolge eintritt, muss sie erst recht für Tatbestand B gelten. Hierfür gibt es zwei Varianten: der Schluss vom Größeren auf das Kleinere (argumentum a maiore ad minus) und der Schluss vom Kleineren auf das Größere (argumentum a minore ad maius). Diese Varianten zeigen deutlich, dass die Auswahl der argumenta nicht beliebig sein kann, sondern teleologisch zu fundieren ist. Beispiele: Im Wege des argumentum a maiore ad minus ist der auf unwirksame Rechtsgeschäfte anwendbare § 41 I AO auch bei unvollkommenen Verbindlichkeiten i.S.d. §§ 762 f. BGB einschlägig, vgl. BFH BStBl. 2009, 735 (738): Lotteriesteuer bei nicht genehmigter Lotterie. Benötigt ein Waffenhändler ein Kreuzfahrtschiff, um die Vertragsbeziehungen mit seinen Vertragspartnern angemessen pflegen zu können, so kommt mit Blick auf das Abzugsverbot für Motorjachten (§ 4 V Nr. 4 EStG) das argumentum a minore ad maius zum Zuge: auch für das Schiff gilt ein Abzugsverbot.
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d) Die teleologische Reduktion ist ebenfalls eine Form teleologisch angeleiteter Lückenschließung2. Sie kommt zur Anwendung, wenn der Wortlaut der Rechtsnorm zu weit geraten ist und das Fehlen einer teleologisch gebotenen Einschränkung des Anwendungsbereichs „verdeckt“3. Die Lückenfeststellung erfolgt anhand der Rz. 77 beschriebenen subjektiv- wie objektiv-teleologischen Analyse, wobei die teleologische Reduktion auf die Vermeidung von Wertungswidersprüchen durch Ungleichbehandlung von wertungsmäßig Verschiedenem gerichtet ist. Beispiele: Reduktion des Anwendungsbereichs der Absetzungen für Substanzverringerung (AfS, § 7 I, VI EStG) bei Zuführung eines im Privatvermögen entdeckten Bodenschatzes zum Betriebsvermögen, um die nach der Gesetzessystematik vorgesehene Besteuerung des Abbauertrages sicherzustellen (BFH GrS BStBl. 2007, 508 [510 f.]). Reduktion des § 40 AO bei Steuervergünstigungen (s. Rz. 109).
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Das Gegenstück, die teleologische Extension, steht nach ihrer Zielrichtung wie die argumenta a fortiori der Analogie nahe. Der im Lichte teleologischer Erwägungen zu eng geratene bzw. unvollständige Wortlaut einer Rechtsnorm wird im Wege der Rechtsfortbildung erweitert bzw. ergänzt, allerdings mangels analogiefähigen Rechtssatzes nicht durch ein argumentum a simile, sondern unter unmittelbarem Rückgriff auf die der Regelungsmaterie zugrundeliegenden Rechtsprinzipien bzw. Grundwertungen4. Beispiel für teleologische Extension ist die höchstrichterliche Anerkennung einer sog. „Aufwandseinlage“ jenseits des Wortlauts des § 4 I 8 EStG, weil anderenfalls das objektive Nettoprinzip (s. § 8 Rz. 54 f.) gleichheitssatzwidrig durchbrochen würde (s. BFH BStBl. 1988, 348 [353]): Ist die Nutzung privater Wirtschaftsgüter betrieblich veranlasst, muss der dadurch entstehende Aufwand den einkommensteuerpflichtigen Gewinn mindern, was im Rahmen der Gewinnermittlung durch periodischen Vergleich des Bestands an Betriebsvermögen (vgl. § 4 I 1 EStG) nur außerbilanziell durch Ansatz einer Einlage möglich ist. Normlogische Lücken (s. Rz. 74) lassen sich meist ebenfalls nur im Wege teleologischer Extension lösen5. Einstweilen frei.
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1 Dazu Tipke, StRO I2, 200 ff. 2 S. BFH BStBl. 2011, 839 (Anwendung auch zu Lasten des Stpfl.); BFH v. 27.3.2012 – I R 62/08, BStBl. 2012, 745. 3 Grundl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 391 ff. 4 Dazu näher Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 216 ff.; s. auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 481 ff.; s. auch BFH v. 18.4.2012 – X R 7/10, BFH/NV 2012, 1363. 5 Dazu auch Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 220 f.
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Rz. 94
§5
Ergeben sich bei Anwendung der oben (Rz. 55 ff.) erörterten Auslegungsmethoden mehrere Möglichkeiten der Gesetzesinterpretation und lässt sich nicht bei allen Auslegungsergebnissen die Verfassungswidrigkeit der Norm ausschließen, so gebührt einer verfassungskonformen Auslegung der Vorzug, die mit dem Grundgesetz vereinbar ist1. Zum einen kann im Zweifel davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber die Verfassungskonformität des Gesetzes gewollt hat. Zum anderen gebietet es der Respekt vor dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber, seine Vorgaben im Zweifel so zu verstehen, dass sie einer verfassungsrechtlichen Kontrolle standhalten und damit keiner Verwerfung durch das BVerfG unterliegen2. Die verfassungskonforme Auslegung ist jedoch keine eigenständige Auslegungsmethode, sondern eine Vorrangregel bei der Anwendung der traditionellen Auslegungskriterien3. Nach st. Rspr. des BVerfG4 findet die verfassungskonforme Auslegung daher „ihre Grenze dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem [anhand der anerkannten Auslegungsmethoden zu ermittelnden] klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde“5.
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Ausfüllung von Gesetzeslücken
5. Verfassungskonforme Rechtsanwendung
Z.B. verfassungskonforme Auslegung des nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Systematik mehrdeutigen § 32 IV 2 EStG a.F.: Zwecks gleichmäßiger Erfassung der Minderung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit nach dem subjektiven Nettoprinzip (s. § 8 Rz. 71) fließen nicht nur Bezüge, sondern auch Einkünfte des Kindes nur dann in den Jahresgrenzbetrag des § 32 IV 2 EStG a.F. ein, wenn sie zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind (BVerfGE 112, 164 [182 ff.]).
Über die verfassungskonforme Auslegung hinaus dürfen auch die Methoden der Lückenausfüllung (s. Rz. 74 ff.) uneingeschränkt eingesetzt werden, um einer verfassungswidrigen Rechtsanwendung entgegenzuwirken6. Der Rechtsanwender kann alle zulässigen argumenta einsetzen, um planwidrige Unvollständigkeiten des Gesetzestextes verfassungskonform zu beseitigen. Freilich gilt auch insofern, dass deren oben erörterte allgemeine Voraussetzungen vorliegen müssen; das Bemühen um Verfassungskonformität rechtfertigt keine methodisch freischwebende Ergänzung des Gesetzestextes7.
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6. Richtlinienkonforme Gesetzesinterpretation Vorschriften, die auf der Umsetzung von EU-Richtlinien (s. Rz. 24) beruhen, wie insb. Vorschriften des Umsatzsteuer- und Verbrauchsteuerrechts, sind richtlinienkonform zu interpretieren8. Analog zur verfassungskonformen Gesetzesinterpretation ist im Zweifel davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die EU-Richtlinie umsetzen wollte. Auf dieser Grundlage wird auch die EuGH-Rspr. für den Rechtsanwender verbindlich. Das Argument richtlinienkonformer Auslegung darf aber nicht dazu missbraucht werden, ein anhand der traditionellen Aus1 Prägnant BVerfGE 112, 164 (182 f.); BFH v. 20.9.2012 – IV R 36/10, BStBl. 2013, 498 (504). S. ferner allgemein: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 339 ff.; Zippelius, Festgabe für das BVerfG, Bd. II, 1976, 108 ff.; Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung – Grenzen und Gefahren, 1986; Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177; Lüdemann, JuS 2004, 27; Sachs, GG6, Einf. Rz. 52 ff. m.w.N. besonders zur Rspr. des BVerfG. Zum Steuerrecht: Birk, StuW 1990, 300; Kotschnigg, ÖStZ 1997, 38; Lembke, Einheit aus Erkenntnis?, 2009 (krit. Analyse der verfassungskonformen Auslegung); Drüen, StuW 2012, 269 (270 ff.). 2 Vgl. BVerfGE 86, 28 (320), m.w.N.; HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 280; zu weiteren Begründungsansätzen und Kritik in Teilen der Lit. s. Drüen, StuW 2012, 269 (271). 3 Deutlich z.B. in BFH BStBl. 2011, 506; s. auch Drüen, StuW 2012, 269 (271). 4 BVerfGE 2, 398; 8, 41; 18, 111; 48, 46; 72, 295; 83, 144; 112, 164; sowie m.w.N. Sachs, GG6, Einf. Rz. 54; Nöcker, AO-StB 2011, 22 (23). 5 I.E. fragwürdig daher bspw. FG Baden-Württemberg v. 17.12.2012 – 9 K 1637/10, EFG 2013, 1041 (1044), Rev. anhängig unter Az. VIII R 13/13. 6 Exemplarisch BFH v. 27.3.2012 – I R 62/08, BStBl. 2012, 745; v. 15.2.2012 – I B 7/11, BStBl. 2012, 751, Rz. 13 f. 7 S. auch BFH v. 15.2.2012 – I B 7/11, BFH/NV 2012, 879; Drüen, StuW 2012, 269 (278 f.). 8 Dazu ausf. Roth/Jopen in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre3, § 13. S. ferner die Nachweise in § 4 Rz. 31.
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§5
Rz. 95
Rechtsanwendung im Steuerrecht
legungskriterien gewonnenes eindeutiges – richtlinienwidriges – Auslegungsergebnis zu überspielen1. Der EuGH betont zu Recht, dass die Verpflichtung das nationale Recht möglichst richtlinienkonform anzuwenden keine Grundlage für dessen Auslegung contra legem bietet2 (zu Einzelheiten s. § 4 Rz. 32 ff.). Zu beachten ist ferner, dass der EuGH rechtsfortbildende Methoden der Lückenausfüllung (s. Rz. 74 ff.) vielfach als unzureichend für die Herstellung eines unionsrechtskonformen Rechtszustandes im jeweiligen Mitgliedstaat ansieht3. In der Konsequenz besteht die Gefahr von Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 AEUV) trotz Erzielens richtlinienkonformer Ergebnisse. Der Gerichtshof neigt hier (wie auch bei seiner Interpretation des EU-Sekundärrechts4) zu einer Überbetonung des Wortlauts als Grenze hinreichend rechtssicherer Gesetzesanwendung; es steht zu hoffen, dass insoweit noch ein methodologischer Reifungsprozess einsetzt5.
C. Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise 1. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei Divergenz zwischen wirtschaftlichem Verhalten und juristischem Zustand (§ 41 AO) 95
§ 41 AO regelt die Divergenz zwischen wirtschaftlichem Verhalten und (außersteuer-)rechtlicher Bewertung des Vorgangs: Das Steuerrecht knüpft nicht ohne weiteres an die zivilrechtliche Bezeichnung oder Gültigkeit des Rechtsgeschäfts an; steuerlich maßgeblich ist nach der wirtschaftlichen Betrachtungsweise der Sachverhalt vielmehr grds. so, wie ihn die Beteiligten tatsächlich gewollt und gestaltet haben6. Auch hier ist die wirtschaftliche Betrachtungsweise vornehmlich ein Reflex der Anknüpfung der Besteuerung an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit.
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1.1 Unwirksame (nichtige) Rechtsgeschäfte lösen gleichwohl steuerliche Folgen aus, soweit und solange die Beteiligten das wirtschaftliche Ergebnis des unwirksamen Rechtsgeschäfts, trotz der Unwirksamkeit, eintreten und bestehen lassen (§ 41 I AO), das Rechtsgeschäft also durchführen. Wird ein Rechtsgeschäft erst nachträglich unwirksam, etwa durch Anfechtung, Eintritt einer auflösenden Bedingung oder Wegfall der Geschäftsgrundlage, so gilt ebenfalls das wirtschaftliche „Ist“. Beispiele: Entstehen der Erbschaftsteuer mit Erfüllung eines formunwirksamen Vermächtnisses7; Erwerb wirtschaftlichen Eigentums (s. Rz. 143) an einem Wirtschaftsgut bei Vollzug eines formunwirksamen Kaufvertrags8.
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§ 41 I 1 AO will den durch das unwirksame Rechtsgeschäft geschaffenen wirtschaftlichen Vorgang oder Zustand erfassen. Die faktische Durchführung des Rechtsgeschäfts beeinflusst nämlich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der am Rechtsgeschäft Beteiligten9. Gem. § 41 I 2 AO gilt jedoch § 41 I 1 AO nicht, „soweit sich aus den Steuergesetzen etwas anderes ergibt“. So können z.B. Stpfl. nur nach § 26 EStG zusammenveranlagt werden, wenn sie in einer nach deutschem Zivilrecht gültigen Ehe leben10. 1 Zutr. BFH v. 8.3.2012 – V R 14/11, BStBl. 2012, 630, Rz. 20. 2 EuGH C-268/06, Impact, Rz. 100, m.w.N.; st. Rspr. 3 S. bspw. EuGH C-236/95, Kommission/Griechenland, Rz. 12–14; C-144/99, Kommission/Niederlande, Rz. 21. 4 Dazu die ausf. und differenzierte Analyse von Lasok/Millett, Judicial Control in the EU, Oxford 2004, Rz. 656 ff. 5 S. etwa jüngst die Entscheidung der Großen Kammer des EuGH v. 23.10.2012, C-581/10 u.a., Nelson; der EuGH praktizierte hier mit ausführlicher Begründung geradezu lehrbuchartig einen (nicht als solchen bezeichneten) Analogieschluss. 6 BFH BStBl. 1983, 744 (746); 1993, 825 (827); 1994, 687 (689); 1997, 755 (760); 1997, 761 (766). 7 BFH BStBl. 2007, 461. 8 BFH BStBl. 2004, 651. 9 Tipke, StRO III2, 1649. 10 BFH BStBl. 1998, 473 (474).
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Rz. 102
§5
Negativ gewendet lässt sich § 41 I 1 AO der Grundsatz entnehmen, dass die Rückgängigmachung eines unwirksamen oder nachträglich unwirksam gewordenen, aber zunächst vollzogenen Rechtsgeschäfts das Erlöschen des zuvor entstandenen Steueranspruchs zur Folge hat1. Das verfahrensrechtliche Pendant zu § 41 I 1 AO findet sich in § 175 I 1 Nr. 2 AO (dazu s. § 21 Rz. 439); die Rückgängigmachung i.S.d. § 41 I 1 AO ist – ungeachtet ihrer zivilrechtlichen Wirkungen2 – ein Ereignis mit steuerlicher Wirkung für die Vergangenheit3. Dies gilt jedoch gem. § 41 I 2 AO nicht, soweit sich aus den Steuergesetzen etwas anderes ergibt. Daher ist zu prüfen, ob spezielle Vorschriften in den einzelnen Steuergesetzen eine von § 41 I 1 AO abweichende Steuerfolge ergeben4. Insb. bei laufend veranlagten Steuern sind die materiell-rechtlich erforderlichen steuerlichen Anpassungen regelmäßig nicht rückwirkend vorzunehmen5. Speziell für die Einkommensteuer ergibt sich dies aus dem Zu- und Abflussprinzip des § 11 EStG (s. § 8 Rz. 58) bzw. – bei Gewinnermittlung durch Bilanzierung – aus den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung (s. § 8 Rz. 59), für die Umsatzsteuer aus § 17 I 7, II UStG. Faktisch gelangt § 41 I 1 AO in seiner negativen Ausprägung daher nur ausnahmsweise zur Anwendung.
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Da Scheingeschäfte und Scheinhandlungen keinen wirtschaftlichen Effekt auslösen, Scheingeschäfte nicht durchgeführt werden, sind sie steuerrechtlich unerheblich (§ 41 II AO)6. Ein Scheingeschäft liegt nur vor, wenn es den Parteien am ernsthaften Geschäftswillen fehlt, wenn sie die Rechtsfolgen, die das Geschäft gewöhnlich auslöst, nicht wollen7. Steuerlich unbeachtliche Scheinhandlungen sind Handlungen, die einen bestimmten tatsächlichen Erfolg nur vortäuschen.
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Im Steuerrecht geht es nicht um den Gegensatz zwischen scheinbarem und ernsthaftem Geschäftswillen, sondern um den Gegensatz zwischen vorgespiegeltem und tatsächlichem wirtschaftlichen Ergebnis. Daher ist auch gem. § 41 II 2 AO ein verdecktes, tatsächlich anstelle des Scheingeschäfts durchgeführtes Rechtsgeschäft steuerlich zu erfassen, und zwar gem. § 41 I 1 AO unbeschadet seiner etwaigen zivilrechtlichen Unwirksamkeit8. Von Bedeutung ist das insb. für den sog. Schwarzkauf.
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Problematisch kann sich die Abgrenzung zwischen Scheingeschäften und Umgehungsgeschäften gestalten. Im theoretischen Ansatz schließen sich die Anwendung des § 41 II AO und des § 42 AO wechselseitig aus: Das Umgehungsgeschäft ist gerade dadurch charakterisiert ist, dass die missbräuchliche (insb. die zirkuläre und die über ein komplexes Transaktionsbündel und/oder Personengeflecht abgewickelte) zivilrechtliche Gestaltung tatsächlich wie vereinbart durchgeführt wird, während die Parteien aus dem Scheingeschäft gerade nicht die notwendigen Folgerungen aus dem Vertrag ziehen wollen. In der Praxis erschwert die Rspr. des BFH aber eine klare Unterscheidung. So wird bspw. die Rückzahlung von zunächst zugeflossenen Beträgen „in Verwirklichung eines gemeinsamen Gesamtplans“ undifferenziert als mögliche Scheinhandlung i.S.d. § 41 II AO qualifiziert9. Richtigerweise kommt es hier darauf an, ob die Rückzahlung verdeckt ohne Rechtsgrund (Scheinhandlung) oder offen aufgrund eines zusätzlich in die Gestaltung eingebauten zivilrechtlichen Rechtsverhältnisses (evtl. Umgehungsgeschäft) erfolgte. Die korrekte Qualifizierung ist auch nicht bedeutungslos; so wirkt etwa nur § 41 II AO auch zugunsten des Stpfl.
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Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
1.2 Ergänzende Ableitungen §§ 39 II Nr. 1; 41; 42 AO enthalten lückenhafte Ausführungen des Prinzips, dass es unter dem Aspekt der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auf die Erfassung des 1 Dazu BFH BStBl. 1989, 989 (990); HHSp/Fischer, § 41 AO Rz. 40; Jakob, Abgabenordnung5, 2010, Rz. 641; Tipke, StRO III2, 1653. S. auch BFH GrS BStBl. 1993, 897 (901). 2 Dazu HHSp/Fischer, § 41 AO Rz. 42 und Rz. 99 ff.; BFH GrS BStBl. 1993, 897 (901). 3 S. BFH v. 29.3.2012 – IV R 18/08, BFH/NV 2012, 1095 (1097 f.); v. 16.5.2013 – IV R 6/10, BFH/NV 2013, 1584 (1585), m.w.N. 4 Grundl. und umfassend HHSp/Fischer, § 41 AO Rz. 43–61. 5 BFH GrS BStBl. 1993, 897 (901). 6 Dazu Hahn, DStZ 2000, 433; HHSp/Fischer, § 41 AO Rz. 151 ff.; Heuermann, DB 2007, 416. 7 BVerfG v. 26.6.2008 – 2 BvR 2067/07, NJW 2008, 3346 (3347). 8 S. bspw. BFH BStBl. 2007, 372. 9 Vgl. BFH BStBl. 1997, 655 (656).
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102
§5
Rz. 103
Rechtsanwendung im Steuerrecht
wirtschaftlichen oder des sonstigen tatsächlichen Verhaltens ankommt. Denkt man dieses lückenhaft ausgeführte Prinzip weiter, so ergibt sich: 103
a) Ist ein Rechtsgeschäft zwar wirksam, wird es aber nicht tatsächlich durchgeführt, so ist es steuerrechtlich grds. irrelevant. Dieser Ausfluss des Prinzips, dass es auf das wirtschaftliche „Ist“ ankommt, ist im Gesetz nicht artikuliert; § 41 AO ist insoweit lückenhaft. Soweit die Verkehrsteuergesetze an obligatorische Rechtsgeschäfte anknüpfen, wird dieses Prinzip allerdings nicht angewendet; § 16 GrEStG bestimmt eine Ausnahme.
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b) Da es auf das wirtschaftliche „Ist“ ankommt, ist die Rückdatierung von Verträgen (= Einsetzen eines falschen Datums) und die Rückbeziehung von Verträgen (= Inkraftsetzen mit Rückwirkung) steuerrechtlich irrelevant. Es fehlt in der Zeit der Rückdatierung/Rückbeziehung an wirtschaftlicher Durchführung. Aus der Rspr.: Keine rückwirkende Inkraftsetzung von Arbeitsverträgen (BFH BStBl. 1959, 172 f.) oder speziell von Gehaltsvereinbarungen (BFH BStBl. 1956, 17); keine rückwirkende Inkraftsetzung von Gesellschaftsverträgen (BFH BStBl. 1960, 157 f.; 1961, 94 f.; 1973, 389); keine rückwirkende Pachtzinserhöhung (BFH BStBl. 1960, 513); keine rückwirkende Änderung der Gewinnverteilung (BFH BStBl. 1980, 723).
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c) Für die Bestimmung des Inhalts des Rechtsgeschäfts ist maßgeblich, wie die Beteiligten das Rechtsgeschäft tatsächlich durchführen1. Auch dieser Grundgedanke hätte durch § 41 AO erfasst werden sollen.
2. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei gesetzwidrigem oder sittenwidrigem Verhalten (§ 40 AO) 106
Für die Besteuerung ist es unerheblich, ob ein Verhalten, das den Tatbestand eines Steuergesetzes ganz oder zum Teil erfüllt, gegen ein gesetzliches Gebot oder Verbot oder gegen die guten Sitten verstößt (§ 40 AO)2. Zum Verstoß gegen gesetzliches Verbot s. § 134 BGB, zum Verstoß gegen die guten Sitten s. § 138 BGB. Beispiele: Biersteuerpflicht trotz verbotenen Wasserzusatzes; Umsatzsteuerpflicht auch bei illegalem Glücksspiel; Einkommensteuerpflicht auch bei unerlaubter Steuerberatung oder sonstiger Rechtsberatung, bei Verstoß gegen Mietpreisrecht, bei erpressten Einnahmen3.
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Damit soll nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass das Steuerrecht wertfrei sei. Das Steuerrecht ist nicht wertfrei, sonst wäre es kein Recht. § 40 AO will in erster Linie dem Stpfl. den Einwand abschneiden, der Vorgang dürfe nicht besteuert werden, weil der Staat sonst Verbotenes oder Anstößiges legalisiere. Durch die Anknüpfung an das wirtschaftliche „Ist“ auch in Fällen gesetzwidriger oder sittenwidriger Handlungsweise soll erreicht werden, dass illegales oder unanständiges Verhalten gegenüber legalem, anständigem Verhalten nicht begünstigt und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gleichmäßig belastet wird. Ein Wertungswiderspruch zum Ziviloder Strafrecht ist darin nicht zu erblicken4. Auch Rückzahlungs- oder Herausgabeverpflichtungen können nur bei wirtschaftlicher Belastung (entsprechend der Systematik des jeweiligen Steuergesetzes) berücksichtigt werden.
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Allerdings kann sich § 40 AO im Einzelfall auch zugunsten des Stpfl. auswirken. Ausgaben oder Schulden, die mit sitten- oder gesetzeswidrigem Verhalten zusammenhängen, sind im Rahmen von Abzugstatbeständen bzw. gewinnmindernd zu berücksichtigen (Beispiele: BFH BStBl. 1993, 152: gewinnmindernde Rückstellung für betriebliche Schadensersatzpflichten wegen strafbaren Verhaltens; FG Düsseldorf v. 29.10.2010 – 1 K 4206/08 U, EFG 2011, 927 [930]: Vorsteuerabzug eines im Profifußball tätigen Spielervermittlers trotz evtl. strafbaren Parteiverrats; s. aber auch BFH BStBl. 2014, 278, mit fragwürdi1 St. Rspr.: RFHE 1, 1; BFH BStBl. 1961, 133; 1963, 239; 1967, 175 (betr. Vergleich). 2 Dazu grundl. Popitz, AöR 40 (1921), 129. Im Weiteren Claßen, Besteuerung des Unrechts, Das Wirklichkeitsprinzip des § 40 AO im Licht der Einheit der Rechtsordnung, 1981; HHSp/Fischer, § 40 AO; Tipke/Kruse, § 40 AO. 3 FG Münster v. 12.9.2008 – 6 K 676/04 E, EFG 2009, 466 (467). 4 So auch BVerfG v. 12.4.1996 – 2 BvL 18/93, HFR 1996, 597, (600).
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Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
Rz. 115
§5
ger Begründung: Übernahme von Bußgeldern durch den Arbeitgeber). § 40 AO ist nicht einseitig. Denn auch insoweit greift das Gebot gleichmäßiger Besteuerung nach der (geminderten) wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit; anderenfalls bekäme die Besteuerung einen ihr wesensfremden Strafcharakter.
§ 40 AO ist insoweit teleologisch zu reduzieren, als es um Steuervergünstigungen geht1. Auf Grund illegalen oder sittenwidrigen Verhaltens kann niemand Steuervergünstigungen beanspruchen. Steuervergünstigungen wollen Gemeinwohlverhalten fördern oder prämieren. Gemeinwohl- und Verdienstprinzip (s. § 3 Rz. 133 ff.) schließen die Förderung von illegalem, sittenwidrigem oder gar strafbarem Verhalten aus. Dementsprechend sind auch die einzelnen Steuervergünstigungen zu interpretieren. So versagte BFH BStBl. 1985, 106; 1995, 134, einer gesetzwidrig handelnden Körperschaft die Gemeinnützigkeit. BFH BStBl. 1995, 875, versagte baurechtswidrigen Objekten die damalige steuerliche Eigenheimbegünstigung.
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Der Anwendungsbereich des § 40 AO wird ferner spezialgesetzlich eingeschränkt durch Abzugsverbote zum Schutze der Gesamtrechtsordnung, insb. durch die Abzugsverbote für Geldstrafen, Geldbußen u.a. Sanktionen sowie für Schmier- und Bestechungsgelder (s. § 8 Rz. 294 f.). Schließlich besteht in der Umsatzsteuer die Notwendigkeit einer teleologischen Reduktion des § 40 AO, soweit per se illegale Umsätze in Rede stehen. Eine Steuerbelastung würde hier absehbar zu keinem Zeitpunkt auf den Verbraucher als intendierten Steuerträger abgewälzt (s. § 17 Rz. 93). Aus diesem Grund greift hier umgekehrt auch keine teleologische Reduktion für die Inanspruchnahme von Steuerbefreiungen durch illegal tätige Konkurrenzunternehmen2.
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111–115
Einstweilen frei.
3. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei Gestaltungsmissbrauch (§ 42 AO) Literatur: Hensel, Zur Dogmatik des Begriffs „Steuerumgehung“, in Bonner Festgabe für Zitelmann, 1923, 217 ff.; Tipke, An den Grenzen der Steuerberatung: Steuervermeidung, Steuerumgehung, Steuerhinterziehung, StbJb. 1972/73, 510; Kruse, Steuerumgehung zwischen Steuervermeidung und Steuerhinterziehung, StbJb. 1978/79, 443 ff.; Danzer, Steuerumgehung, 1981; Kirchhof, Steuerumgehung und Auslegungsmethoden, StuW 1983, 173; HHR/Ruppe, Einf. ESt Anm. 465–467 (Februar 1990); HHSp/Fischer, § 42 AO; Tipke, StRO III2, 2012, 1661 ff.; Flick, Mißbrauchsgesetzgebung contra Steuerumgehung, in FS F. Klein, 1994, 309; M. Klein, Die nicht „angemessene rechtliche Gestaltung“ im Steuerumgehungstatbestand des § 42 AO, 1994; Fischer, Die Umgehung des Steuergesetzes, DB 1996, 644; Lee, Methoden zur Verhinderung der Steuerumgehung und ihr Verhältnis zueinander, 1999; Neuhausen, § 42 AO und das Erbschaft- und Schenkungssteuerrecht, 1999; Gosch, § 42 AO – Anwendungsbereich und Regelungsreichweite, Harzburger Steuer-Protokolle 1999, 2000, 225; Sieker, Umgehungsgeschäfte, Typische Strukturen und Mechanismen ihrer Bekämpfung, 2001; Gassner, Das allgemeine und das besondere Umgehungsproblem im Steuerrecht, in FS H. W. Kruse, 2001, 183; Rödder, Good Business Reasons – Theorie des Gestaltungsmissbrauchs und praktische Vorgaben für die Steuergestaltungsberatung, in FS Gocke, 2002, 235; Clausen, Struktur und Rechtsfolgen des § 42 AO, DB 2003, 1589; Tipke/Kruse/Drüen, § 42 AO; Glorius-Rose, Gestaltungsmissbrauch und Steuerberatung, 2005; Hahn, „Gestaltungsmissbrauch“ i.S.d. § 42 AO, DStZ 2006, 431; Haas, Der Missbrauchstatbestand des § 42 AO, in FS Raupach, 2006, 13; Drüen, Unternehmerfreiheit u. Steuerumgehung, StuW 2008, 154; Hüttemann (Hrsg.), Gestaltungsfreiheit und Gestaltungsmissbrauch im Steuerrecht, DStJG 33 (2010), insb.: Kirchhof, 9, und Schön, 29 (Gestaltungsfreiheit und Belastungsgleichheit), Rödder, 93 (Steuergestaltung), Wendt, 117 (§ 42 AO n.F.), Hey, 139 (spezialgesetzliche Missbrauchsvorschriften), Tanzer, 189 (Gesamtplan); Then, Der Gestaltungsmissbrauch i.S.d. § 42 AO im Rahmen von Vermietungseinkünften, 2009. Zur Neufassung des § 42 AO s. auch die 20. Aufl. Internationale Literatur: Gassner, Wirtschaftliche Betrachtungsweise und Gestaltungsmißbrauch im Steuerrecht, Rechtsvergleichende Betrachtungen zum schweizerischen, deutschen und österreichischen Recht, in FS Höhn, 1995, 65; IFA, Form and substance in tax law, CDFI vol. LXXXVIIa, 2002; Lutz, Abkommensmissbrauch, 2005; Sasseville in FS Loukota, 2005 (Tax Treaties); Lampe, Missbrauchsvorbehalte in völkerrechtlichen Abkommen am Beispiel der Doppelbesteuerungsabkom1 Dazu Tipke, StRO III2, 1659 f. und ausf. HHSp/Fischer, § 40 AO Rz. 17 ff. Grds. a.A. Tipke/Kruse, § 40 AO Rz. 6; BFH BStBl. 1990, 251. Zur Unanwendbarkeit des § 40 AO bei § 33 EStG s. § 8 Rz. 722. 2 S. EuGH C-283/95, Fischer, zur Erweiterung der Umsatzsteuerbefreiung des § 4 Nr. 9b UStG a.F. auf unerlaubte Glücksspiele.
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§5
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Rechtsanwendung im Steuerrecht
men, 2006; Locher, Rechtsmissbrauchsüberlegungen im Recht der direkten Steuern der Schweiz, ASA 2007, 675; Freedman, Interpreting Tax Statutes: Tax Avoidance and the Intention of Parliament, 123 Law Quarterly Review (2007), 5 (UK); Freedman, Beyond Boundaries: Developing Approaches to Tax Avoidance and Tax Risk Management, 2008 (Länderberichte, insb. zu Commonwealth-Staaten); Avery Jones u.a., Comparative Perspectives on Revenue Law, Cambridge 2008: Gammie, 25 (UK), McMahon, 40 (Rechtsvergleich USA/UK); Cooper, The design and structure of general anti-tax avoidance regimes, Bull. for Int. Taxation 2009, 26; de Monès u.a., Abuse of Tax Law across Europe, EC Tax Review 2010, 85 und 123.
3.1 Zweck und Anwendungsbereich des § 42 AO 116
a) Die Umgehung von Steuergesetzen durch Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten ist ein Unterfall der Gesetzesumgehung1: Der Normadressat gestaltet einen Sachverhalt so, dass eine ungünstige Steuerrechtsfolge nicht eintritt, obwohl sie nach dem Zweck des Gesetzes den von ihm letztlich angestrebten und verwirklichten wirtschaftlichen Zustand erfassen sollte (Steuerumgehung i.e.S.), oder er erwirkt gegen den Zweck des Gesetzes eine für ihn günstige Rechtsfolge wie bspw. eine Steuervergünstigung („Erschleichung“ von Steuervorteilen bzw. Tatbestands„ergehung“). § 42 AO soll derartigen Gestaltungen durch eine zweckentsprechende, i.d.R. wirtschaftliche Gesamtbetrachtung des maßgeblichen Geschehens entgegenwirken und so eine gleichmäßige Steuerbelastung entsprechend der ratio legis des Steuergesetzes sicherstellen. Soweit sich letzteres Ziel bereits mit den Mitteln der teleologischen Auslegung (s. Rz. 48) und Rechtsfortbildung durch Ausfüllung von Gesetzeslücken (s. Rz. 74 ff.) erreichen lässt, bedarf es keines Rückgriffs auf § 42 AO2.
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§ 42 AO regelt als Generalklausel die Steuerumgehung im Allgemeinen und gilt daher für das gesamte Steuerrecht, auch für das Steuerverfahrensrecht und grds. auch für das internationale Steuerrecht3. Hier wird allerdings der Anwendungsbereich des § 42 AO durch spezielle Regelungen völkerrechtlicher Verträge, besonders der DBA, begrenzt. Das deutsche Verständnis von Steuerumgehung muss bilateral angepasst werden. Ebenso modifiziert das europäische Steuerrecht die Anwendbarkeit des § 42 AO4 (s. auch § 4 Rz. 99).
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Außerhalb des Steuerrechts fehlen generelle Umgehungsvorschriften, so dass die Umgehung im Wege der Rechtsanwendung zu bewältigen ist5. Zudem wird die Steuerumgehung in einigen ausländischen Rechtsordnungen auch ohne Umgehungsnorm bekämpft, z.B. in den USA mit verschiedenen richterrechtlichen „doctrines“6, deren bekannteste die substance over form doctrine ist. Vor diesem Hintergrund wird die Frage kontrovers diskutiert, ob § 42 AO neben 1 Teichmann, JZ 2003, 761; Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, 2004. 2 So die sog. Innentheorie, insb. vertreten von HHSp/Fischer, § 42 AO Rz. 71 ff., 77 ff. (2009); WeberGrellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, 222 ff. („Bei Licht betrachtet ist der Missbrauchstatbestand unter der Herrschaft einer teleologischen Auslegung entbehrlich“); Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, 409 ff. Auch Tipke, StRO III2, 1667 ff., neigt auf Basis des hier vertretenen wertungsjuristischen Methodenansatzes der Innentheorie zu. Vgl. auch Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001, 58 ff.; sowie zur Diskussion in den USA: Hariton, 60 Tax Law Review (2006), 29; und im Vereinigten Königreich Freedman, 123 Law Quarterly Review (2007), 5; s. auch die Urteilsbegründung durch Lord Walker of Gestingthorpe zur Entscheidung des UK Supreme Court, Rs. Tower MCashback [2011] 2 W.L.R. 1131, Rz. 43, m.w.N. 3 Dazu m.w.N. BFH BStBl. 1998, 235; 2002, 819; 2003, 50; 2005, 14; Vogel, FS Höhn, 1995, 461; Hundt, FS Debatin, 1997, 153; Schaumburg, FS 50 Jahre Fachanwälte, 1999, 467; Paschen, Steuerumgehung im nationalen und internationalen Recht, 2001. 4 Dazu BFH v. 11.4.2013 – V R 28/12, BFH/NV 2013, 1638, Rz. 28; Schön, IStR-Beihefter 2/1996; Höppner, FS Rädler, 1999, 305; Bauschatz, IStR 2002, 291; Kärgel, Steuerrechtliche Anti-MissbrauchsRegeln in Konflikt mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003; Böing, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch in Europa, 2006; Hahn, IStR 2007, 323; Hey, StuW 2008, 167; Englisch, StuW 2009, 3. S. ferner grundl. zum europäischen Konzept der missbräuchlichen Steuerumgehung pars pro toto die Beiträge in de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, Oxford 2011; sowie Englisch, Curbing ‚Abusive‘ International Tax Planning under EU Law, 2012, 35 ff. 5 Vgl. Teichmann, JZ 2003, 761 (765 f.). 6 S. McMahon, Comparative Perspectives on Revenue Law, 2008, 44 ff.
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Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
Rz. 121
§5
den Methoden teleologischer Interpretation von Steuergesetzen überhaupt eine eigenständige Bedeutung entfalten kann. Dabei stehen sich insofern Innen- und Außentheorie gegenüber, als die Steuerumgehung von innen durch teleologische Interpretation der umgangenen Norm oder von außen durch die Anwendung des § 42 AO abgewehrt werden kann1. Den innentheoretischen Standpunkt scheinen die Länder zu bestätigen, in denen eine Steuerumgehungsvorschrift fehlt. Allerdings zeigt die Rechtspraxis gerade dieser Länder, dass durchaus ein Bedürfnis nach einer gesetzlichen Spezifikation der Steuerumgehung besteht2. Demnach dient § 42 AO dem Legalitätsprinzip und der Steuerplanungssicherheit. Die Steuerumgehungsregelung ist unselbständiger Rechtssatz (Rz. 47) in Gestalt einer teleologischen Hilfsnorm; sie unterstützt den Zweck der steuergesetzlichen Tatbestandsnorm positivrechtlich. In den Fällen des § 42 AO vermeidet der Stpfl. den Tatbestand so, dass die Methoden der Auslegung und Rechtsfortbildung nicht mehr ausreichen, um den Stpfl. einer nach dem Zweck des Gesetzes zutreffenden Besteuerung zuzuführen3. Das ist bei der Steuerumgehung i.e.S. namentlich dann anzunehmen, wenn die in Rede stehende Rechtsnorm einen besteuerungsrelevanten wirtschaftlichen Vorgang oder Zustand tatbestandlich vertypt durch Anknüpfung der Steuerfolge an bestimmte rechtliche Gestaltungen oder Transaktionen zu erfassen sucht, der Stpfl. im Wesentlichen dasselbe wirtschaftliche Ergebnis aber durch eine Kombination andersartiger Rechtsgeschäfte – evtl. unter Zwischenschaltung weiterer Personen – erreicht. Weder dem solcherart umgangenen Tatbestand selbst noch dem argumentum a simile (s. Rz. 80) lassen sich hier nämlich Kriterien dazu entnehmen, unter welchen Bedingungen diese komplexe Ausweichgestaltung als ein zusammenhängender Vorgang mit Blick auf das erreichte Endergebnis beurteilt werden darf. Ähnlich verhält es sich, wenn der Stpfl. bei der Steuererschleichung auf die genannte Art und Weise über komplexe Gestaltungen die wirtschaftlichen oder sonstigen Folgen neutralisiert oder modifiziert, die nach dem Gesetzeszweck eine steuerliche Entlastung rechtfertigen.
119
Beispiel (BFH BStBl. 1991, 205): V überträgt die Immobilie, in der er seine Freiberufler-Praxis betreibt, im Wege der Schenkung auf seine Ehefrau M. In derselben notariellen Urkunde räumen die Eheleute dem gemeinsamen 16jährigen Sohn S einen auf elf Jahre befristeten Zuwendungsnießbrauch an der Immobilie ein. S, der später wie vorgesehen studiert, vermietet die Praxisräume wie geplant an den V. Dieser macht in entsprechender Höhe Betriebsausgaben geltend. Der BFH nahm zu Recht eine missbräuchliche Umgehung des Abzugsverbots für Unterhaltszahlungen (§ 12 Nr. 2 EStG) an.
Damit korrespondierend lässt sich auch die Rechtsfolge des § 42 I 2 AO – die Besteuerung entsprechend einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen Gestaltung – nicht mehr in das Konzept der Subsumtion eines tatsächlichen Geschehens unter den Tatbestand einbetten. Nach § 42 I 2 AO wird zunächst ein angemessener Sachverhalt hypothetisiert und dann dem Tatbestand zugeordnet, um hieraus die Rechtsfolge auch für die missbräuchliche Gestaltung zu gewinnen.
120
b) Der Anwendungsbereich des § 42 AO wird also zum einen durch den normativen Ansatz des Gesetzgebers und zum anderen durch den vom Rechtsanwender eingenommenen Standpunkt in der steuerrechtlichen Methodendiskussion beeinflusst:
121
1 Zur Diskussion Innen- vs. Außentheorie HHSp/Fischer, § 42 AO Rz. 71 ff., 87 ff.; Gassner, FS Kruse, 2001, 187 f. („Innentheorie“ in Österreich); Kontroverse von Rose, FR 2003, 1274 ff. (Innentheorie beeinträchtigt Steuerplanungssicherheit) und Fischer, FR 2003, 1277 ff.; Clausen, DB 2003, 1589; Heuermann, StuW 2004, 124 ff. (methodenkritische Bemerkungen über den Sinn der Unterscheidung von Innen- und Außentheorie); Fischer, FR 2005, 585 (zum österr. VwGH). 2 Exemplarisch Freedman, British Tax Review 2004, 332, zur Situation im Vereinigten Königreich. 3 So bereits Hensel, VJSchrStFR 1931, 115 (244): „Die echte Steuerumgehung fängt genau dort an, wo die Auslegungskunst zu versagen beginnt.“ Für eine eigenständige Bedeutung des § 42 AO Gosch in Harzburger Steuer-Protokolle 1999, 225; Rose, FR 2003, 1274 ff.; Clausen, DB 2003, 1589; Heuermann, StuW 2004, 124 ff.
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§5
Rz. 122
Rechtsanwendung im Steuerrecht
Verwendet der Gesetzgeber zur tatbestandlichen Vertypung des besteuerungs- oder entlastungswürdigen Geschehens Rechtsbegriffe, die unmittelbar auf in der Person des Stpfl. eintretende wirtschaftliche Folgen abstellen, können diese eher so ausgelegt werden, dass sie eine Subsumtion verbundener Rechtsgeschäfte im Wege einer auf deren wirtschaftliches Endergebnis rekurrierenden Gesamtwürdigung erlauben. Einer Anwendung des § 42 AO bedarf es dann nicht. Beispiel: Gestaltung zwecks Kumulierung von ErbSt-Kinderfreibeträgen für vom Vater der Tochter zugedachtes Vermögen durch sog. Kettenschenkung: ein Teil des Vermögens wird zunächst der Ehefrau und Mutter geschenkt (Inanspruchnahme des Ehegattenfreibetrages, § 16 I Nr. 1 ErbStG) verbunden mit der Verpflichtung, es an die Tochter weiterzuschenken (zusätzliche Inanspruchnahme des der Mutter zustehenden Freibetrags, § 16 I Nr. 2 ErbStG). Der BFH (BStBl. 1994, 128) urteilte, (auch) hinsichtlich des formal der Mutter zugewendeten Vermögensteils sei wegen der Verpflichtung zur Weiterschenkung von vornherein nur die Tochter auf Kosten des Vaters als Zuwendendem (§ 7 I Nr. 1 ErbStG) „bereichert“ i.S.d. § 10 I 1 ErbStG1.
122
Der Anwendungsbereich des § 42 AO schrumpft ferner umso mehr, je stärker sich die Anwendung von Steuergesetzen an teleologischen Kriterien orientiert. So kann etwa zahlreichen Gestaltungen, die auf einer Kombination von einander neutralisierenden Transaktionen beruhen und außer Steuervorteilen keinen wirtschaftlichen Ertrag versprechen, wegen der mit ihnen regelmäßig verbundenen Transaktionskosten schon unter Verweis auf das objektiv-teleologisch hergeleitete Merkmal der Gewinnerzielungsabsicht (s. Rz. 50 und § 8 Rz. 125) die steuerliche Anerkennung versagt werden. Die bloß formale Zwischenschaltung von Personen zwischen den Stpfl. und eine Einkunftsquelle wiederum kann vielfach durch eine ausgereifte Zurechnungsdogmatik überwunden werden. S. dazu bspw. FG München v. 25.3.2010 – 5 V 312/10, DStRE 2011, 344 (345): Zwischenschaltung eines ausländischen Trust.
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c) In einer methodologisch ausgereiften Steuerrechtsordnung bedarf es des Rückgriffs auf eine Generalklausel wie § 42 AO zur Bekämpfung von Steuerumgehung i.e.S. vornehmlich bei Gestaltungen, in denen durch einen Gesamtplan2 Rechtsgeschäfte oder Handlungen miteinander verbunden werden, die bei isolierter Betrachtung den gesetzlichen Tatbestand weder dem Wortlaut noch dem Sinn und Zweck nach erfüllen würden3. Zeigt sich bei einer Gesamtschau der Geschäfte und Handlungen, die nach dem Plan des Stpfl. in einem sachlichen Gestaltungszusammenhang stehen (inkl. der Ausweich-, Korrektur-, und Nebengeschäfte), dass die Nichtanwendung der umgangenen Bestimmung den Gesetzeszweck verfehlt, ermöglicht § 42 I 3 AO grds. eine normzweckadäquate steuerrechtliche Behandlung des Vorgangs. Ebenso verhält es sich bei der Erschleichung von Steuervorteilen, wenn erst eine einzelaktübergreifende Betrachtung die Zweckwidrigkeit der Gewährung des Vorteils zutage fördert. Richtigerweise kann die erforderliche Gesamtschau immer dann vorgenommen werden, wenn und soweit der Stpfl. oder ein in seinem Interesse handelnder Dritter die einzelnen Geschäfte oder Handlungen entsprechend einem vorgefassten Plan ausführt, kontrolliert (bei Ein-/Zwischenschaltung weiterer Personen4) oder als mit hoher Wahrscheinlich auch ohne eigenes Zutun eintretende Entwicklung 1 Dazu auch Spiegelberger, FS Spindler, 2011, 809 (881 ff.). Vgl. demgegenüber BFH v. 18.7.2013 – II R 37/11, BStBl. 2013, 934: Fehlt es an einer vertraglichen Verpflichtung zur Weiterschenkung, kommt allenfalls § 42 AO in Betracht. 2 Dazu z.B. BFH BStBl. 2001, 393 (395); 2002, 463 (464); 2002, 685 (687); 2004, 787 (792); und zusammenfassend BFH v. 19.1.2011 – X B 43/10, BFH/NV 2011, 636 f. Der BFH tendiert allerdings dazu, Festlegung zur dogmatischen Verortung der Rechtsfigur des Gesamtplans im Verhältnis zu § 42 AO zu vermeiden, s. BFH v. 9.11.2011 – X R 60/09, BStBl. 2012, 638 (643), m.w.N. Zur Gesamtplan-Rspr. des BFH s. auch HHSp/Fischer, § 41 AO Rz. 199 ff.; Crezelius, FR 2003, 537; Förster/Schmidtmann, StuW 2003, 114 (Gesamtplanrechtsprechung mit Vergleich der step-transaction-doctrine im amerikanischen, britischen und belgischen Steuerrecht); Spindler, DStR 2005, 1; Förster, FS Korn, 2005, 3; Fischer, FR 2006, 297; Kugelmüller-Pugh, Der steuerrechtliche „Gesamtplan“, 2006; Osterloh, JöR 56 (2008), 141 (143, 149); Tanzer, DStJG 33 (2010), 189 (205 ff.); Offerhaus, FR 2011, 878; krit. Krüger, DStZ 2014, 194. Vgl. auch zur US-amerikanischen step transaction-doctrine McMahon, Comparative Perspectives on Revenue Law, 2008, 49 ff. 3 Wie hier Hey, Beihefter zu DStR 3/2014, 9 (10). 4 S. dazu BFH v. 22.1.2013 – IX R 18/12, BFH/NV 2013, 1094, Rz. 20: Kontrolle insb. durch vertragliche, gesellschaftliche oder verwandtschaftliche Verflechtungen.
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Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
Rz. 124
§5
einkalkuliert1. Ein bestimmter zeitlicher Zusammenhang ist nicht erforderlich, da Gestaltungsmissbrauch auch dann vorliegen kann, wenn der Stpfl. zwischen Ausweich- und Korrekturgeschäft längere Zeit verstreichen lässt, um den Gestaltungszusammenhang zu verschleiern. Maßgeblich ist also grds. nur die sachliche Verknüpfung der Geschäfte. Die Kürze der zwischen den Geschäften liegenden Zeit kann aber ein Indiz für die sachliche Verknüpfung sein2 (s. auch § 32d II Nr. 1c Satz 3 und 4 EStG). Beispiele aus der Rspr.3: Gestaltungsmissbrauch bei Grundstückskaufvertrag zwischen Angehörigen mit Rückschenkung des Kaufpreises zur Erlangung der Eigenheimzulage (BFH BStBl. 2006, 359); Vorschaltung nahe stehender Personen zur Erreichung des Vorsteuerabzuges (BFH BStBl. 1984, 388; 1989, 376, 399; 1992, 446 [448]); Vermeidung von gewerblichem Grundstückshandel durch Zwischenschaltung von keinen eigenen Wertschöpfungsbeitrag erbringenden Gesellschaften (BFH BStBl. 1998, 667; u.E. überzeugender über eine extensive Interpretation der Zurechnungsregeln zu lösen); Zwischenschaltung sog. Basisgesellschaften im niedrig besteuerten Ausland ohne außersteuerliche Rechtfertigung (BFH BStBl. 1975, 553; 1992, 1029; 1998, 163; 2002, 819); Zwischenschaltung naher Angehöriger zwecks Vermeidung von GrESt (FG München v. 28.8.2013 – 4 K 1975/11. EFG 2013, 952). Grenzfälle: Anteilsrotation4; Vermieten durch gegenläufige Geschäfte5; Einschaltung von nahen Angehörigen in einen gewerblichen Grundstückshandel (BFH BStBl. 2005, 817 [821 f.]).
d) Der Generalklausel des § 42 AO gehen Spezialklauseln6 zur Bekämpfung der Steuerumgehung vor, z.B. §§ 2b (Verlustzuweisungsgesellschaften), 6 V 4–6; 7b I 4; 50d EStG; §§ 8a (s. § 11 Rz. 49 ff.); 8b III 4–7 (s. § 11 Rz. 41 ff.); 8c (s. § 11 Rz. 58 ff.) KStG; §§ 1 I Nrn. 5–7, IIa, III; 6 IV; 7 III GrEStG; §§ 22; 24 V UmwStG, sowie Spezialklauseln des internationalen Steuerrechts. Verwirklicht ein Sachverhalt den Tatbestand einer Vorschrift, die der Verhinderung von Steuerumgehungen dient, so bestimmen sich die Rechtsfolgen nach dieser Vorschrift (§ 42 I 2, 3 AO); anderenfalls beim Vorliegen eines Missbrauchs nach § 42 I 3 AO. Mit dieser durch JStG 2008 eingefügten Neuregelung ist die Rechtsfolgenabgrenzung zwischen General- und Spezialnorm nicht klarer geworden. Nach zutr. Ansicht7 ist daran festzuhalten, dass eine Gestaltung jenseits der tatbestandlichen Grenzen einer „echten“, nicht nur als Regelbeispiel gefassten Spezialklausel nach deren immanenter gesetzgeberischer Wertung auch im Kontext des § 42 II 1 AO nicht mehr als missbräuchlich eingestuft werden kann8 (z.B. Entnahme eines nach § 6 V 3 EStG übertragenen Wirtschaftsguts einen Tag nach Ablauf der Sperrfrist des § 6 V 4 EStG). Ist die Spezialklausel tatbestandlich nicht verwirklicht, bleibt für § 42 AO damit nur ein schmaler Anwendungsbereich, namentlich bei Umgehung der Tatbestandsmerkmale der Spezialnorm9. 1 Näher dazu Englisch in Dourado (Hrsg.), Movement of Persons and Tax Mobility in the EU, 2013, 213 (251 ff.); s. auch Tanzer, DStJG 33 (2010), 189 (190 einerseits und 209 andererseits). 2 S. BFH BStBl. 2001, 395; 2002, 687; BMF BStBl. I 1992, 729. S. aber etwa auch BFH v. 18.7.2013 – II R 37/11, BStBl. 2013, 934. 3 Zur Kasuistik insb. HHSp/Fischer, § 42 AO Rz. 201 ff.; Tipke/Kruse/Drüen, § 42 AO Rz. 55 f.; Tanzer, DStJG 33 (2010), 189 (195 ff.). 4 Zu unterschiedlichen Sachverhalten Gestaltungsmissbrauch bejahend: BFH BStBl. 2003, 854; FG Rheinland-Pfalz v. 5.2.2009 – 4 K 1394/09, EFG 2009, 729; verneinend: BFH v. 18.7.2001 – I R 48/97, BFH/NV 2001, 1636; BFH v. 19.8.2003 – VIII R 44/01, BFH/NV 2004, 925. 5 BFH BStBl. 2004, 648 (649); 2008, 502 (503): rechtsmissbräuchlich, wenn die Beteiligten wechselseitige Verpflichtungen begründen, damit aber ihre jeweilige Position weder tatsächlich noch wirtschaftlich verändern. Gestaltungsmissbrauch sind Überkreuzvermietungen (dazu m.w.N. BFH BStBl. 2003, 510; BFHE 244, 247). Kein Gestaltungsmissbrauch: Vermietung eines Hauses durch Kind an Eltern bei gleichzeitiger unentgeltlicher Nutzung eines Hauses der Eltern (BFH BStBl. 2003, 509); Wohnungsvermietung an unterhaltsberechtigtes Kind: BFH v. 17.12.2002 – IX R 58/00, BFH/NV 2003, 750. S. dazu auch Heuermann, BB 2003, 1465; StuW 2004, 124; Schießl, SteuerStud 2007, 403. 6 Dazu umfassend Hey, StuW 2008, 167. 7 Tipke/Kruse/Drüen, Vor § 42 AO Rz. 13 ff., m.w.N. 8 S. die st. Rspr. des BFH zur sog. Abschirmwirkung spezialgesetzlicher Missbrauchsverhinderungsnormen, z.B. BFH BStBl. 2003, 50 (53); BFH v. 20.11.2007 – I R 85/05, BFH/NV 2008, 551 (553). S. auch Drüen, Ubg. 2008, 31 (34); Hey, Beihefter zu DStR 3/2014, 9 (11); relativierend Tipke, StRO III, 1688. 9 S. Hey, DStJG 33 (2010), 139 (145 f.); Hey, Beihefter zu DStR 3/2014, 9 (12).
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§5
Rz. 125
Rechtsanwendung im Steuerrecht
3.2 Tatbestand des Gestaltungsmissbrauchs 125
Nach § 42 I 1 AO kann das Steuergesetz durch Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts nicht umgangen werden. Nach § 42 II 1 AO liegt ein Missbrauch vor, wenn eine unangemessene rechtliche Gestaltung gewählt wird, die beim Stpfl. oder einem Dritten im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt. Die seit dem 29.12.2007 geltende Neufassung des § 42 AO1 ist dogmatisch und terminologisch nicht durchdacht, könnte aber im Rahmen ihres Wortlauts wie nachfolgend ersichtlich im Wesentlichen zweckadäquat interpretiert werden..
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a) Ob eine Gestaltung unangemessen ist, kann nur in Bezug auf den durch sie herbeigeführten wirtschaftlichen Zustand beurteilt werden, wobei auf diejenigen Aspekte abzustellen ist, die nach dem Be- oder Entlastungsgrund der potenziell umgangenen Norm besteuerungsrelevant sind. Das kommt in § 42 I 1 AO nicht hinreichend zum Ausdruck, klingt aber in § 42 I 3 AO an. Bei gesamtplanmäßig verbundenen Einzelakten (s. Rz. 123) dürfen deren jeweilige Einzelauswirkungen kumuliert bzw. saldiert werden, um den als Bezugspunkt der Angemessenheit letztlich maßgeblichen wirtschaftlichen Zustand zu ermitteln. Das wirtschaftliche Verhalten selbst ist hingegen nicht auf seine Angemessenheit hin zu prüfen.
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Das Tatbestandsmerkmal stellt gleichsam einen ersten „Grobfilter“ für das letztlich maßgebliche Kriterium dar, ob ein mit der Gestaltung einhergehender steuerlicher Vorteil dem Zweck der um- oder ergangenen Norm widerspricht (s. Rz. 116): Hat nämlich der Gesetzgeber sehenden Auges eine mögliche Steuerarbitrage in Kauf genommen, kann ihre Ausnutzung dem Stpfl. nicht als „missbräuchlich“ entgegengehalten werden. Potenziell missbräuchlich ist hingegen die Ausnutzung des Umstandes, dass der Gesetzgeber regelmäßig nur typische und naheliegende Gestaltungen zur Erreichung eines bestimmten wirtschaftlichen Ergebnisses in den gesetzlichen Tatbestand aufnimmt, nicht aber fernliegende und künstliche Gestaltungen2. Deshalb hat es die Rspr. als Indiz für die Unangemessenheit der gewählten Gestaltung angesehen, wenn diese angesichts des letztlich erreichten wirtschaftlichen Ergebnisses „umständlich, schwerfällig, kompliziert, unvernünftig, überflüssig, intransparent oder ineffizient“ ist3. Ist eine Gestaltung unüblich und ungewöhnlich, kann das ebenfalls ihre Unangemessenheit indizieren4. In aller Regel unangemessen ist eine Gestaltung schließlich dann, wenn sich die wirtschaftlichen Wirkungen gesamtplanmäßig (s. Rz. 123) verbundener Einzelakte vollständig neutralisieren, also gar kein wirtschaftliches Ergebnis außer der Steuerersparnis erreicht werden soll5.
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b) Der Stpfl. muss sodann aufgrund der unangemessenen Gestaltung einen „gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil“ erlangen. Dieses Tatbestandsmerkmal ist missverständlich6; bei zutreffender Charakterisierung des § 42 AO als teleologische Hilfsnorm (s. Rz. 119) ist es zu bejahen, wenn der vom Stpfl. auf unangemessene Weise bewirkte wirtschaftliche Zustand im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung eine dem Gesetzeszweck widersprechende steuerlich vorteilhafte Behandlung erfährt. Ein solcher Vorteil kann sich sowohl aus der Vermeidung des Tatbestands einer steuerbegründenden oder steuererhöhenden Norm ergeben, als auch aus der formalen Erfüllung des Tatbestands einer dem Stpfl. günstigen steuerlichen Regelung7. Er liegt hingegen nicht vor, wenn die Gestaltung steuerliche Wirkungen zeitigt, die im Einklang 1 Art. 14 Nr. 2 JStG 2008 v. 20.12.2007, BGBl. I 2007, 3150 (3171). Zur Neufassung des § 42 AO BMF BStBl. I 2008, 694; HHSp/Fischer, § 42 AO Rz. 61 ff.; Drüen, StuW 2008, 154 (161 ff.); Hahn, DStZ 2008, 483; Hey, BB 2009, 1044; Hey in Brandt (Hrsg.), Neue Lösungsansätze für Dauerbrennpunkte der Besteuerung, 2011, 27; Spindler, StbJb. 08/09, 39. 2 S. BFH v. 12.7.2012 – I R 23/11, BFHE 238, 344, Rz. 29 ff. 3 BFH BStBl. 1991, 607 (610); 2001, 43; 2001, 520 (523); ebenso Abschn. 2.2. AEAO zu § 42 AO. 4 BFH BStBl. 2008, 789; 2004, 648. Die Neufassung des § 42 AO durch das JStG 2008 hat an dieser Indizwirkung nichts geändert; vgl. Tipke/Kruse/Drüen, Vor § 42 AO Rz. 19; Hey, BB 2009, 1044 (1046); a.A. Schön, DStJG 33 (2010), 29 (60); Wendt, DStJG 33 (2010), 117 (127 f.). 5 BFH BStBl. 2004, 648 (649); BFH v. 21.8.2012 – VIII R 32/09, BStBl. 2013, 16 (18); s. auch das beim BFH anhängige Verfahren I R 43/13; und Tipke, StRO III2, 1677. 6 S. zum breiten Meinungsspektrum Tipke/Kruse/Drüen, Vor § 42 AO Rz. 20 ff., m.w.N. 7 S. Hey in Brandt (Hrsg.), Neue Lösungsansätze für Dauerbrennpunkte der Besteuerung, 2009, 27 (34).
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Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
Rz. 132
§5
mit systemtragenden Prinzipien stehen, die vom Gesetzgeber insoweit auch nicht eingeschränkt worden sind. Beispiel (BFH BStBl. 2001, 43): Die Herbeiführung eines dem objektiven Nettoprinzip entsprechenden, in § 10d EStG positivierten Verlustabzugs (s. § 8 Rz. 62) durch inkongruente Gewinnausschüttung verschafft dem begünstigten Anteilseigner keinen gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil.
Die Feststellung der Zweckwidrigkeit des Vorteils (d.h. bei Umgehung lastenausteilender Normen die Zweckadäquanz der Belastung) setzt voraus, dass die ratio legis der Norm klar erkennbar ist. Bei echten, das Leistungsfähigkeitsprinzip durchbrechenden Steuervergünstigungen kann dies wegen des richterrechtlich entwickelten Begründungsgebotes1 i.d.R. festgestellt werden. Bei begünstigenden wie belastenden Fiskalzwecknormen (s. Rz. 68) bedarf es einer eingehenden subjektiv- wie objektiv-teleologischen Analyse. Lässt sich – wie häufig bei rein fiskalisch motivierten Nichtanwendungsgesetzen (s. Rz. 40) – kein die Regelung tragendes Rechtsprinzip feststellen, geht grds. auch § 42 AO ins Leere2. Des Weiteren darf der Stpfl. grds. vom Gesetzgeber bewusst hingenommene Besteuerungslücken und Systembrüche ebenso ausnutzen wie die einer gesetzlichen Typisierung oder einer pragmatischen Konkretisierungen fundamentaler Entlastungsprinzipien immanenten „überschießenden“ Wirkungen. Das Anliegen einer gleichmäßigen, optimal leistungsfähigkeitsgerechten steuerlichen Belastung ist in diesen Fällen bereits vom Gesetzgeber preisgegeben worden und kann daher allenfalls vom BVerfG, nicht aber vom Rechtsanwender über § 42 AO rehabilitiert werden3.
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Beispiele: Es ist legitim, eine privat vermietete Immobilie erst 10 Jahre und einen Tag nach ihrer Anschaffung zu veräußern und dadurch einer nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip an sich gebotenen, in § 23 I 1 Nr. 1 EStG aber nur unvollkommen verwirklichten Besteuerung als privates Veräußerungsgeschäft zu entgehen4. Entgegen der Rspr5. war der gesetzlichen Regelung des Abflussprinzips in § 11 II EStG a.F. vor Einfügung der Sätze 3-5 bei Vorauszahlungen auch keine Begrenzung auf marktübliche Entgelte zu entnehmen; das Abflussprinzip als pragmatische, gegenüber der Gewinnermittlung durch Bilanzierung bewusst vereinfachend wirkende zeitliche Konkretisierung des Nettoprinzips durfte für Steuerstundungseffekte ausgenutzt werden6.
Eine Ausnahme besteht nur insoweit, als sich gesamtplanmäßig verbundene Rechtsgeschäfte des Stpfl. vollständig neutralisieren und darum keine wirtschaftlich ins Gewicht fallenden Auswirkungen hervorrufen. Es kann regelmäßig unterstellt werden, dass der Gesetzgeber solche Vorgänge nicht zum Anlass für eine steuerliche Entlastung bzw. zur Verschonung von einer steuerlichen Belastung nehmen will (s. bspw. BFH BStBl. 1981, 223; vgl. aber auch BFH BStBl. 2009, 999: wirtschaftlich relevantes Kursrisiko bei taggleichem An- und Verkauf von Aktien).
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c) Gem. § 42 II 2 AO ist kein Gestaltungsmissbrauch anzunehmen, wenn der Stpfl. die Gestaltung – zumindest auch – aus beachtlichen außersteuerlichen Gründen gewählt hat. Durch diese Formulierung soll zugleich die objektive Beweislast für die einzelnen Kriterien einer Steuerumgehung i.S.d. § 42 AO verteilt werden7.
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Die h.M. versteht den Verweis des § 42 II 2 AO im Sinne eines – auch international üblichen – Motivtests, der in erster Linie nach wirtschaftlichen Gründen („good business reasons“), aber auch nach einem privaten oder sonstigen Anlass für die Wahl einer komplexen, ungewöhnlichen etc. Gestaltung fragt (vgl. auch die Spezialnorm des § 50d III 1 Nr. 1 EStG)8. Diese wirtschaftlichen oder auch privaten Beweggründe werden überwiegend dann als „beachtlich“ anerkannt,
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1 2 3 4 5 6 7 8
S. die Fußnotennachweise bei Rz. 68. Wendt, DStJG 33 (2010), 117 (130 f.); krit. Drüen, Ubg. 2008, 31 (36). S. dazu auch BFH v. 27.9.2012 – II R 9/11, BStBl. 2012, 899, Rz. 116 u. 120. S. dazu BFH BStBl. 2001, 22 (24). Vgl. BFH BStBl. 1987, 219, m.w.N. S. ferner Rödder, DStJG 33 (2010), 93 (97 ff.). So sinngemäß BT-Drucks. 16/6290, 115. Dazu Tipke/Kruse/Drüen, Vor § 42 AO Rz. 34, m.w.N.; Wendt, DStJG 33 (2010), 117 (131); Pahlke/ Koenig, § 42 AO Rz. 26; Beermann/Gosch/Schmieszek, § 42 AO Rz. 112ee.
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§5
Rz. 133
Rechtsanwendung im Steuerrecht
wenn sie im Verhältnis zur Höhe des erlangten Steuervorteils als hinreichend gewichtig erscheinen1. Insb. soll dann anstelle eines Gesamtplans, der die steuerrechtliche Würdigung des wirtschaftlichen Endergebnisses der vom Stpfl. aufeinander abgestimmten Einzelschritte erlaubt, ein „Plan in Einzelakten“ vorliegen, die nur je für sich unter die maßgeblichen steuerrechtlichen Bestimmungen subsumiert werden dürften2. Die Rechtsprechungspraxis nahm dabei bislang (zu § 42 AO a.F.) tendenziell einen großzügigen Standpunkt ein, weshalb ein gut beratener Stpfl. fast immer beachtliche außersteuerliche Gründe für seine Gestaltung finden wird. Beispiele aus der Rspr.3: aufsichtsrechtliche Gründe; Wunsch nach Haftungsbeschränkung (BFH BStBl. 2010, 622 [626]); Struktur- und Strategiekonzepte im Konzern (BFH BStBl. 2006, 118 [119]; Nichtanwendungserlass BMF v. 30.1.2006, BStBl. 2006, 166).
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Indes kommt es im Steuerrecht generell nicht darauf an, welche Beweggründe oder Begleitmotive ein Stpfl. für die Herbeiführung eines bestimmten nach dem Gesetzeszweck belastungswürdigen bzw. nicht entlastungswürdigen Vorgang hatte. Die gleichmäßige Verwirklichung des gesetzgeberischen Be- oder Entlastungskonzepts hat sich allein anhand der gesetzlich konkretisierten Maßstäbe wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit bzw. bei Steuervergünstigung anhand der ihnen zugrunde liegenden Gemeinwohlziele zu orientieren. Dem Prinzip der Rechtssicherheit wiederum, das die Vorhersehbarkeit steuerlicher Belastungen verlangt (s. Rz. 11), wird bereits hinreichend durch eine methodengerechte Bestimmung des Gesetzeszwecks und durch die Gesamtplandogmatik (s. Rz. 123) Rechnung getragen. „Außersteuerliche Gründe“ sollten darum im Kontext des § 42 AO nur ausnahmsweise beachtlich sein, um das Vorliegen eines vom Stpfl. kontrollierten Geschehens entsprechend einem vorgefassten Plan zu widerlegen. Bei Steuervergünstigungen wird dann meist schon die Zweckwidrigkeit der Gewährung des Steuervorteils entfallen, weil sie nur eine reale Anreizwirkung aber keine Garantie dauernden Erfolges voraussetzen; i.Ü. sind solche Gründe jedenfalls unter dem Aspekt der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit der Besteuerung beachtlich.
3.3 Rechtsfolge 134
Liegt ein Gestaltungsmissbrauch vor, so entsteht der Steueranspruch so, wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entsteht (§ 42 I 3 AO), es sei denn, eine spezialgesetzliche Missbrauchsklausel i.S.d. § 42 I 2 AO geht vor (s. Rz. 124). Das bedeutet, dass an die Stelle des wirklichen Sachverhalts ein angemessener Sachverhalt zu setzen und dann dieser Sachverhalt der gesetzlichen Vorschrift zuzuordnen ist. Steuerumgehung ist nicht strafbar. Steuerhinterziehung kommt aber in Betracht, wenn der Stpfl. den für die Anwendung des § 42 AO relevanten Sachverhalt verschleiert oder verheimlicht. Einstweilen frei.
135–139
4. Wirtschaftliche Zurechnung statt Maßgeblichkeit der zivilrechtlichen Berechtigung (§ 39 AO) Literatur: Ahlbäumer, Treuhandverhältnisse im Steuerrecht, 1935; Schmidt, Das Treuhandeigentum, 1940; Seeliger, Der Begriff des wirtschaftlichen Eigentums im Steuerrecht, 1962; Gädeke, Die Behandlung der Sicherungsübertragung im Steuerrecht, 1972; Werndl, Wirtschaftliches Eigentum, 1983; Eisgruber, Bauten auf fremdem Grund und Boden, DStR 1997, 522; Walz, Wirtschaftsgüter und wirtschaftliches Eigentum, Rechtsvergleichende Überlegungen zur Gegenstandswelt von Zivilrecht und Steuerrecht, in FS L. Fischer, 1999, 463; Fischer, Wirtschaftliches Eigentum am Gebäude auf fremdem 1 Dazu Drüen, Ubg. 2008, 31 (38); Hey, BB 2009, 1044 (1047); Wendt, DStJG 33 (2010), 117 (132); Abschn. 2.6 AEAO zu § 42 AO. S. auch die Begründung im Bericht des Finanzausschusses, BTDrucks. 16/7036, 24. 2 S. BFH v. 9.11.2011 – X R 60/09, BStBl. 2012, 638, Rz. 51; s. auch BFH v. 22.10.2013 – X R 14/11, BStBl. 2014, 158, Rz. 35 ff., zu einer Konstellation, in der eine (außerhalb des § 42 AO vorgenommene) Gesamtplanbetrachtung für den Stpfl. günstig gewesen wäre. 3 Zur Kasuistik eingehend HHSp/Fischer, § 42 AO Rz. 283 ff.
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Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
Rz. 143
§5
Grund und Boden, DStR 2001, 2014; Herff, Wirtschaftliches Eigentum im Ertrag- und Erbschaftsteuerrecht, KÖSDI 2001, 12885; Mayer, Wirtschaftliches Eigentum an Kapitalgesellschaftsanteilen, 2003; Kolbinger, Das wirtschaftliche Eigentum an Aktien, 2008; Lüdenbach/Hoffmann, Wirtschaftliches Eigentum und bilanzielle Ertragsrealisierung bei rechtsunwirksamen Geschäften, DB 2009, 861; Warth/Plenk, Eigentum im Zivil- und Steuerrecht, SteuerStud 2009, 61; Englisch, Wirtschaftliches Eigentum beim Kauf girosammelverwahrter Aktien, FR 2010, 1023; Kleinheisterkamp/Schell, Der Übergang des wirtschaftlichen Eigentums an Kapitalgesellschaftsanteilen beim Unternehmenskauf, DStR 2010, 833; Tipke, StRO III2, 1689 ff.
Im Steuerrecht kommt es vielfach auf die Zurechnung von Gegenständen bzw. Wirtschaftsgütern zum Vermögen eines Stpfl. an. Diese personelle Zuordnung bzw. diesbezügliche Veränderungen sind oft – nicht stets – Anknüpfungspunkt für die Indikation von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und für die Bestimmung des Steuersubjekts.
140
Beispiele: Versteuerung von Dividendeneinkünften durch den (wirtschaftlichen) Eigentümer der Aktien (§ 20 V EStG); steuerbilanzieller Ausweis von Wirtschaftsgütern (§ 246 I 2 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG); Entstehung eines nach § 17 I 1 EStG steuerbaren Veräußerungsgewinns mit Übertragung des (wirtschaftlichen) Eigentums an den Anteilen (s. BFH BStBl. 2007, 296 [297]); Realisation eines Warenumsatzes mit Verschaffung der Verfügungsmacht an dem gelieferten Gegenstand (§ 3 I UStG). Gegenbeispiele: Bauten auf fremdem Grund und Boden sind nach BFH (GrS BStBl. 1995, 281; BStBl. 2010, 670) dem Hersteller für Zwecke der steuerlichen Berücksichtigung der Herstellungskosten „wie ein materielles Wirtschaftsgut“ zuzurechnen, auch wenn jener nicht der (zivilrechtliche oder wirtschaftliche) Eigentümer ist (s. auch § 9 Rz. 151); Zurechnung von Einkünften i.S.d. § 21 I Nr. 1 EStG aus Untervermietung an den Mieter.
Eine Generalklausel für die Zurechnung von Wirtschaftsgütern enthält § 39 AO. Die Vorschrift gilt für alle Steuerarten, soweit sich aus der Systematik einzelner Vorschriften nichts Gegenteiliges ergibt1. Nicht unmittelbar geregelt wird durch § 39 AO die Zurechnung von Einkünften, Erwerbsaufwendungen, Umsätzen, etc. Ob es hierfür auf die personelle Zurechnung der für die maßgeblichen Aktivitäten genutzten Wirtschaftsgüter ankommt, muss durch Auslegung im jeweiligen Regelungszusammenhang geklärt werden. Dabei kann ggf. auf den in § 39 AO positivierten Rechtsgedanken wirtschaftlicher Dispositionsbefugnis zurückgegriffen werden2 (§ 9 Rz. 145).
141
a) Allgemein schließt die umfassende Dispositionsbefugnis des zivilrechtlichen Eigentümers die wirtschaftliche Verfügungsmacht mit ein. Daher knüpft § 39 AO für die Zurechnung von Wirtschaftsgütern zunächst an das zivilrechtliche Eigentum an: Nach § 39 I AO sind Wirtschaftsgüter grds. dem Eigentümer zuzurechnen. Allerdings kann der Begriff des Eigentümers in § 39 I AO nicht ausschließlich zivilrechtlich gedeutet werden, weil der Begriff des Wirtschaftsguts nicht rein zivilrechtlich determiniert ist (s. § 9 Rz. 125).
142
b) § 39 II AO regelt die Abweichungen vom Zivilrecht.
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aa) Nach § 39 II Nr. 1 Satz 1 AO ist das Wirtschaftsgut einem anderen als dem zivilrechtlichen Eigentümer zuzurechnen, wenn er die tatsächliche Herrschaft über ein Wirtschaftsgut in einer Weise ausübt, dass er den Eigentümer im Regelfall für die gewöhnliche Nutzungsdauer von der Einwirkung auf das Wirtschaftsgut wirtschaftlich ausschließen kann. Mit dieser Formulierung bringt der Gesetzgeber den analogiefähigen Rechtsgedanken des sog. wirtschaftlichen Eigentums zum Ausdruck, der keinen eigenen steuerrechtlichen Eigentumsbegriff schafft, sondern lediglich die wirtschaftliche Betrachtungsweise in Bezug auf die Zurechnung von Wirtschaftsgütern spezifiziert3. So ist z.B. bei der Übertragung von Wirtschaftsgütern grds. auf den Übergang des wirtschaftlichen Eigentums abzustellen und dementsprechend das Wirtschaftsgut 1 Dazu eingehend HHSp/Fischer, § 39 AO Rz. 13 ff. 2 Lang/Seer, FR 1992, 637. 3 Grundl. Seeliger, Der Begriff des wirtschaftlichen Eigentums im Steuerrecht: In § 39 II Nr. 1 AO ist die sog. Seeliger-Formel positiviert. Grds. zu § 39 II Nr. 1 AO insb. HHSp/Fischer, § 39 AO Rz. 39 ff.; BFH BStBl. 1998, 97 (98 f.); 1999, 263 (264); 2011, 540 (542).
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§5
Rz. 144
Rechtsanwendung im Steuerrecht
nach § 39 II Nr. 1 Satz 1 AO dem wirtschaftlichen Eigentümer zuzurechnen1. Maßgeblich für die Annahme eines von der zivilrechtlichen Zuordnung abweichenden wirtschaftlichen Eigentums ist stets das Gesamtbild der Verhältnisse (s. BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10, BStBl. 2012, 407); die Rspr. hat das Konzept für praxisrelevante Fallgruppen konkretisiert. Von erheblicher praktischer Bedeutung ist die Zurechnung von Wirtschaftsgütern in den Fällen des Leasing (s. § 9 Rz. 148 und § 17 Rz. 99). Nießbrauchern2, Mietern und Pächtern sind die ihnen überlassenen Wirtschaftsgüter regelmäßig nicht zuzurechnen (u.U. aber die damit erzielten Einkünfte, s. § 8 Rz. 153). So verneint BFH BStBl. 2001, 440, wirtschaftliches Eigentum beim Dauernutzungsvertrag mit Wohnungsgenossenschaft. Zu typischen Kriterien für wirtschaftliches Eigentum an Kapitalgesellschaftsanteilen s. BFH BStBl. 2011, 540 (542); BStBl. 2012, 318 (320 f.).
144
bb) Bei Treuhandverhältnissen3 – kennzeichnend für sie ist eine die Innenbindung überschießende Zuständigkeit nach außen – sind die Wirtschaftsgüter dem Treugeber, beim Sicherungseigentum (Unterart der Treuhand) sind sie dem Sicherungsgeber (wirtschaftlich ist der Sicherungsgeber „Eigentümer“, der Sicherungsnehmer Pfandgläubiger) und beim Eigenbesitz (§ 872 BGB) sind sie dem Eigenbesitzer zuzurechnen (§ 39 II Nr. 1 Satz 2 AO).
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cc) Wirtschaftsgüter, die mehreren zur gesamten Hand zustehen, werden den Beteiligten anteilig zugerechnet, soweit eine getrennte Zurechnung für die Besteuerung erforderlich ist (§ 39 II Nr. 2 AO).
D. Ermessensausübung (§ 5 AO) Literatur: Kommentare zu § 5 AO; Lohmann, Die Zweckmäßigkeit der Ermessensausübung als verwaltungsrechtliches Rechtsprinzip, 1972; Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensermächtigungen im Verwaltungsrecht, 1979; Bullinger, Verwaltungsermessen im modernen Staat, 1986; Herdegen, Beurteilungsspielraum und Ermessen im strukturellen Vergleich, JZ 1991, 747; Starck, Das Verwaltungsermessen und dessen gerichtliche Kontrolle, in FS Sendler, 1991, 167 ff.; Di Fabio, Die Ermessensreduzierung – Fallgruppen, Systemüberlegungen und Prüfprogramm, VerwArch. 1995, 214; Held-Daab, Das freie Ermessen, Von den vorkonstitutionellen Wurzeln zur positivistischen Auflösung der Ermessenslehre, 1996; Volkmann, Das „intendierte“ Verwaltungsermessen, DÖV 1996, 282; Pump, Das Ermessen im Steuerrecht, StBp. 2006, 37; Dauven, Ermessensentscheidungen und ihre (gerichtliche) Überprüfung im Steuerrecht, SteuerStud 2009, 254; Merz, Tatbestandsmäßigkeit und Verwaltungsermessen im Steuerrecht, 2009.
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a) Das Ermessen verschafft den Finanzbehörden eine gewisse Flexibilität. Die eigentlichen Steuertatbestände4 enthalten grds. keine Ermessensermächtigungen. Tatbestand i.e.S. und Rechtsfolge werden durchweg vom Gesetzgeber bestimmt. I.Ü. ist dem Steuerrecht die Einräumung von Ermessen aber nicht unbekannt. Es kann z.B. eine Steuer gestundet (§ 222 AO) oder erlassen (§ 227 AO) werden. Es kann ein Verspätungszuschlag festgesetzt werden (§ 152 AO). Es können Zwangsmittel angewendet werden (§ 328 I 1 AO). Auch im Verfahrensrecht spielt das 1 So z.B. bei Veräußerungen i.S.d. § 17 EStG (dazu BFH BStBl. 2007, 296; 2007, 937; 2009, 124; 2012, 308; Mayer, DStR 2009, 674), Übertragungen unter Nießbrauchsvorbehalt (BFH BStBl. 1999, 263) oder Übertragungen im Wege vorweggenommener Erbfolge mit Rückfallklausel (BFH v. 17.6.1998 – XI R 55/97, BFH/NV 1999, 9). Gegenbeispiel: Für Zwecke der GrESt genügt nach Gesetzesbegründung und -systematik der Übergang zivilrechtlichen Eigentums (s. bspw. BFH BStBl. 1952, 310; FG Hamburg v. 28.10.1996 – II 82/95, EFG 1997, 552). 2 Dazu Fendt, Der Nießbrauch in betriebswirtschaftlicher und steuerrechtlicher Sicht, 1966, 84 ff.; Meyer, Einkommensteuerliche Behandlung des Nießbrauchs und anderer Nutzungsüberlassungen, 1984, 128 ff.; Stengel, Die persönliche Zurechnung von Wirtschaftsgütern im Einkommensteuerrecht, 1990. 3 Dazu Blaurock, Unterbeteiligung und Treuhand an Gesellschaftsanteilen, 1981; Heidner, Treuhandverhältnisse im Steuerrecht, 1994; Stahl, KÖSDI 1995, 10159; Lang/Seer, FR 1992, 637; Heidner, DB 1996, 1203; Wachter, DStR 2005, 1844 (ErbSt/Vermögensgegenstände); Fuhrmann, KÖSDI 2006, 15293; Micker, Gesamthandsgemeinschaften und Treuhandverhältnisse bei privaten Anteilsveräußerungen, 2006; Rödl, BB 2006, 20 (ErbSt/Treuhandverhältnisse); Benz/Grundke, StuW 2009, 151. S. auch Kubik, Der Trust im Steuerrecht, 2011. 4 Vgl. § 6 Rz. 11.
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Ermessensausübung (§ 5 AO)
Rz. 150
§5
Ermessen eine erhebliche Rolle (s. § 21 Rz. 56, 136, 170, 226 ff.). Der Gesetzgeber pflegt Ermessen durch Vokabeln wie: die Finanzbehörde „kann“, „darf“, „ist berechtigt“, „ist befugt“ einzuräumen. Das „soll“ (s. etwa § 222 Satz 2; § 361 II 2 AO) verstärkt die Ermessensbindung. „Soll“ drückt aus: i.d.R., also außer in atypischen Fällen, besteht ein Anspruch des Bürgers bzw. eine Verpflichtung der Behörde. b) Ermessen wird i.d.R. nicht auf der Tatbestandsseite, sondern auf der Rechtsfolgenseite einer Rechtsnorm eingeräumt. Die Rechtsfolge wird in das Ermessen der Behörde gestellt. Von der Ermessensermächtigung ist der regelmäßig im Tatbestand angesiedelte unbestimmte Rechtsbegriff zu unterscheiden1. Der Begriff ist insofern irreführend, als nahezu alle Rechtsbegriffe mehr oder minder unbestimmt sind und durch Auslegung präzisiert werden müssen (s. Rz. 48)2. Die Besonderheit bei unbestimmten Rechtsbegriffen i.e.S. besteht darin, dass ihre Konkretisierung im Einzelfall von Wertungen oder Prognosen der Finanzverwaltung abhängt, die nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle zugänglich sind3. Ob ganz ausnahmsweise (vgl. Art. 19 IV GG; BVerfGE 84, 34 [50]; BVerwGE 130, 39 [48]) ein solcher Beurteilungsspielraum der Verwaltung anzuerkennen ist, muss durch Auslegung ermittelt werden.
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Mitunter koppelt das Gesetz einen „unbestimmten Rechtsbegriff“ mit einer Ermessensermächtigung. Im Falle des § 227 AO hat der BFH BStBl. 1962, 290, angenommen, dass das Ermessen („kann“) durch den unbestimmten Rechtsbegriff „unbillig“ nicht eingeschränkt werde; die Unbilligkeit sei lediglich Ermessensrichtmaß. Diese Auffassung ist i.Erg. vom Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes bestätigt worden4; dazu auch § 21 Rz. 331.
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c) Durch die Ermessensermächtigung wird der Behörde ein Entscheidungsspielraum eingeräumt. Dieser kann sich zunächst darauf beziehen, ob die vom Gesetz angeordnete Rechtsfolge überhaupt vollzogen werden soll (sog. Entschließungsermessen). So kann die Finanzbehörde von der ihr durch § 152 I AO eingeräumten Möglichkeit, einen Verspätungszuschlag festzusetzen, gänzlich absehen. Im Weiteren kann der Finanzbehörde zusätzlich oder auch nur lediglich eine Auswahl zwischen verschiedenen Rechtsfolgen zustehen (sog. Auswahlermessen)5. Auswahlermessen kann in sachlicher Hinsicht bestehen, indem die Verwaltung in der Person eines Normadressaten unterschiedliche Rechtsfolgen vollziehen kann, z.B. einen Verspätungszuschlag in unterschiedlicher Höhe festsetzen kann. Es kann auch in persönlicher Hinsicht zugestanden werden, indem sie zwischen mehreren Normadressaten auswählt, z.B. die Auswahl zwischen mehreren Gesamtschuldnern (§ 44 AO, s. § 6 Rz. 59) trifft, oder bestimmte Personen für die Außenprüfung auswählt (s. § 21 Rz. 232).
149
d) Die Einräumung von Ermessen unterliegt im Steuerrecht zunächst insofern verfassungsrechtlichen Grenzen, als das Ideal gleichmäßiger Besteuerung aller Bürger nach ihrer Leistungsfähigkeit (Art. 3 I GG) grds. die unausweichliche Entstehung der Steuerschuld bei Verwirklichung des Steuertatbestands verlangt. Daher kennt der materiell-rechtliche Teil des besonderen Steuerschuldrechts (s. § 1 Rz. 78 ff.) praktisch keine Ermessensvorschriften. Doch auch i.Ü. und insb. im Steuerverfahren sind Ermessensspielräume der Verwaltung problematisch, weil damit der Eingriff in Grundrechtspositionen des Bürgers aus der strikten Bindung an das Gesetz entlassen wird. Der Gesetzgeber darf daher Ermessen nur zwecks situationsspezifischer Bewältigung von Ziel- und Interessenkonflikten einräumen, die nach vertretbarer Einschätzung wegen ihrer Vielschichtigkeit nicht schon abstrakt und damit schematisch abwägend im Gesetz selbst, sondern angemessen nur von beruflich vorgebildeten Beamten unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles aufzulösen sind. Unverzichtbar ist das Ermessen bei Billigkeitsmaßnahmen, da dort die Einzelfallgerechtigkeit gegenüber der abstrakten, die besonderen Umstände des Einzelfalls nicht erfassenden Gesetzesgerechtigkeit zu berücksichtigen ist
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1 Dazu ausf. Stoll, Ermessen im Steuerrecht2, 2001. 2 Dazu etwa BFH BStBl. 1999, 370 (373); BFH/NV 2011, 1056 (1057). 3 Dazu ausf. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht18, 2011, § 7 Rz. 26 ff.; s. auch HHSp/Wernsmann, § 5 AO Rz. 66 ff.; Tipke/Kruse, § 5 AO Rz. 22 ff. 4 BFHE 105, 101; BFH BStBl. 1972, 603; BVerwGE 39, 355; s. auch BFH BStBl. 2011, 11 (17). 5 S. BFH v. 28.8.2012 – I R 10/12, BStBl. 2013, 266, Rz. 16.
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§5
Rz. 151
Rechtsanwendung im Steuerrecht
(s. § 21 Rz. 329 f.). Stets muss das Gesetz hinreichend klare Maßstäbe für die Ermessensausübung bereitstellen1; ein freies Ermessen der Verwaltung wäre rechtsstaatswidrig. Das setzt voraus, dass der Ermessenszweck feststellbar ist; andernfalls ist die Ermächtigung unwirksam. Beispiele: Festlegung ermessensleitender Gesichtspunkte für die Festsetzung eines Verspätungszuschlages in § 152 II 2 AO (dazu § 21 Rz. 188). Bei der Stundung ergibt sich aus dem Normkontext, dass regelmäßig nur ein Auswahlermessen bzgl. der Dauer und Modalitäten besteht, wenn der Tatbestand („erhebliche Härte“ / „keine Gefährdung des Steueranspruchs“) erfüllt ist2. Zweck des Billigkeitserlasses ist es, die Einziehung einer Steuer zu vermeiden, wenn dies nach Lage des Falles unbillig wäre (s. § 227 I AO; dazu § 21 Rz. 333 ff.). Aus § 122 I 3 AO über die Bekanntgabe an den Bevollmächtigten lässt sich kein Zweck entnehmen; die Ermächtigung ist daher unwirksam.
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e) Die Finanzbehörde muss ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermessensermächtigung ausüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einhalten (§ 5 AO). Dazu muss sie im konkreten Einzelfall diejenige Rechtsfolgen-Alternative wählen, die am besten geeignet ist, den Zweck der Ermessensvorschrift zu verwirklichen. Aus der Zweckbindung ergibt sich, dass nach sachlichen Kriterien entschieden werden muss, dass die Ermessensermächtigung aber keinen Spielraum lässt für Laune und Willkür.
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§ 5 AO lässt sich folgende – auch verwaltungsrechtsdogmatisch übliche – Dreiteilung der Ermessensfehler3 entnehmen: – Ermessensnichtgebrauch/Ermessensunterschreitung: Die Ausübung des Ermessens entsprechend dem Zweck der Ermächtigung nach § 5 AO setzt voraus, dass die Finanzbehörde überhaupt Ermessenserwägungen anstellt. Erkennt die Finanzbehörde nicht, dass sie eine Ermessensentscheidung zu treffen hat, oder wägt sie die Gründe für ein Ermessen nicht ausreichend ab, so liegt im ersten Fall ein Ermessensnichtgebrauch und im zweiten Fall eine Ermessensunterschreitung vor. – Ermessensüberschreitung: Nach § 5 AO muss die Finanzbehörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einhalten. Beispiel: Überschreitung der 10 %-Grenze bzw. der Höchstgrenze von 25 000 Euro in § 152 I 1 AO (s. § 21 Rz. 189). – Ermessensfehlgebrauch: Lässt sich die Finanzbehörde nicht ausschließlich vom Zweck der Ermessensvorschrift leiten, so liegt Ermessensfehlgebrauch (auch bezeichnet als Ermessensmissbrauch) vor. Ermessensfehlerhaft in diesem Sinne sind sachfremde Erwägungen wie persönliche oder parteipolitische Rücksichtnahmen (Beispiele: Billigkeitserlass gegenüber einem Parteifreund oder Ablehnung einer Billigkeitsmaßnahme gegenüber dem unliebsamen Nachbarn)4, Verknüpfen der Amtshandlung mit einer Gegenleistung (dies verletzt das sog. Koppelungsverbot; Beispiel: kein Verspätungszuschlag gegenüber einer Sängerin, nachdem diese an der Dienststelle vier Konzert-Freikarten hinterlassen hat), Verletzung des Grundsatzes von Treu und Glauben sowie Verfehlungen des konkreten Gesetzeszwecks, z.B. Benennungsverlangen nach § 160 AO, wenn bekannt ist, dass der Empfänger die Einnahme versteuert hat (s. § 21 Rz. 202).
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Umstritten ist, ob die Überschreitung verfassungsrechtlicher Grenzen der Ermessensüberschreitung oder dem Ermessensfehlgebrauch zuzuordnen ist5. U.E. liegt Ermessensüberschreitung vor: Wenn die Finanzbehörde die „gesetzlichen Grenzen des Ermessens“ (§ 5 AO) einzuhalten hat, so gilt dies erst recht (s. Rz. 84) für die grundgesetzlichen Grenzen. Ermessensakte der Finanzbehörde sind vor allem daraufhin zu überprüfen, ob sie den Gleichheitssatz (s. § 3 Rz. 40 ff.) und das Übermaßverbot (s. § 3 Rz. 180 ff.) beachten. 1 BVerfGE 113, 348 (376). 2 S. Tipke/Kruse, § 222 AO Rz. 54 ff., sowie § 21 Rz. 314 f. 3 Dazu ausf. m.w.N. HHSp/Wernsmann, § 5 AO Rz. 150 ff.; s. auch BFH v. 28.8.2012 – I R 10/12, BStBl. 2013, 266, Rz. 17. 4 S. dazu auch BFH v. 28.9.2011 – VIII R 8/09, BStBl. 2012, 395. 5 Vgl. m.w.N. HHSp/Wernsmann, § 5 AO Rz. 154, 157 ff.
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§ 6 Allgemeines Steuerschuldrecht Literatur: Schranil, Besteuerungsrecht und Steueranspruch, 1925; Merk, Steuerschuldrecht, 1926; Mirbt, Beiträge zur Lehre vom Steuerschuldverhältnis, FinArch. Bd. 44 (1927), 1; Stoll, Das Steuerschuldverhältnis, 1972; Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I (Allgemeiner Teil), 1991, 91 ff.; Kruse, Zum Entstehen und Erlöschen von Steueransprüchen, in FS Tipke, 1995, 277; von Groll in GS Trzaskalik, 2005, 19 (zur Tatbestandsverwirklichung); Heuermann, Was ist eigentlich eine Entrichtungssteuerschuld?, StuW 2006, 332.
1. Inhalt des Steuerschuldverhältnisses 1.1 Steuerschuldverhältnis als materiell-rechtlicher Teil des Steuerrechtsverhältnisses a) Das Steuerrechtsverhältnis besteht aus dem in der AO zuerst (§§ 33–77 AO: Steuerschuldrecht) geregelten Steuerschuldverhältnis (materielles Steuerrechtsverhältnis) und dem anschließend (§§ 78 ff. AO) normierten Steuerverfahrensverhältnis (formelles Steuerrechtsverhältnis; zu den Verwaltungsverfahren s. § 21 Rz. 150 ff.). Richten sich gegen den Stpfl. mehrere Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (z.B. Haftung als Arbeitgeber und Schuldner von ESt, USt, GewSt), so werden für jeden Anspruch gesonderte formelle und materielle Steuerrechtsverhältnisse begründet, die sich unterschiedlich entwickeln können. Werden mehrere Steuern wie z.B. die ESt und KiSt in einem Bescheid festgesetzt (sog. Sammelbescheid, s. § 21 Rz. 54), liegen mehrere Steuerrechtsverhältnisse und mehrere getrennt anfechtbare Steuerfestsetzungen vor.
1
Das Steuerschuldverhältnis umgrenzt § 37 AO, der eine abschließende Aufzählung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis enthält (s. Rz. 4). Das Steuerverfahrensverhältnis beinhaltet dagegen die Durchführung der Besteuerung, nicht allein die Durchsetzung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis durch die Finanzbehörden, sondern auch die Verfahrensteilhabe des Stpfl., seine Pflichten und Rechte in den Steuerverfahren (s. § 21 Rz. 9 f.). Die verfahrensrechtlichen Pflichten zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen ergeben sich für die Finanzbehörden und den Stpfl. zunächst unmittelbar aus dem Gesetz. Der Stpfl. kann aber auch durch einen Verwaltungsakt verpflichtet (z.B. zu einer Auskunft aufgefordert) werden (s. § 21 Rz. 50 ff.).
2
b) Beteiligt am Steuerrechtsverhältnis sind die Steuerberechtigten (Bund, Länder, Gemeinden, Religionsgemeinschaften) und die Stpfl. Der Begriff des Stpfl. ist in § 33 AO definiert. Zu unterscheiden sind formell- und materiellrechtliche Beteiligungsformen. Der Begriff des Stpfl. bringt nicht hinreichend zum Ausdruck, dass er die Gesamtheit von Rechten und Pflichten umfasst, und zwar zum einen als Beteiligter des Steuerverfahrens (s. § 78 AO, dazu § 21 Rz. 153 ff.) und zum anderen als Beteiligter des Steuerschuldverhältnisses. Als Letztgenannter kann er insb. auch Gläubiger einer Steuervergütung (s. Rz. 86 ff.) oder einer Erstattung (s. Rz. 89 f.) sein.
3
1.2 Kanon der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis a) Nach § 37 AO umfasst das einzelne Steuerschuldverhältnis folgende „Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis“ (so die Überschrift zu § 37 AO) 1: (1) Steueranspruch = steuerschuldverhältnisbegründender Hauptanspruch (§ 37 I AO); (2) Haftungsanspruch (§§ 37 I; 69 ff.; 191 AO, s. Rz. 62 ff.); (3) Steuervergütungsanspruch (§ 37 I AO, s. Rz. 86 ff.); (4) Erstattungsanspruch (§ 37 I, II AO, s. Rz. 89 f.); 1 S. auch die Übersicht v. Schmieszek, Stbg. 2012, 211, mit Hinweisen zum AO-Anwendungserlass (AEAO).
Seer
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4
§6
Rz. 5
Allgemeines Steuerschuldrecht
(5) Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen (§ 37 I AO), das sind nach § 3 IV AO das Verzögerungsgeld (§ 146 IIb AO, s. § 21 Rz. 181), Ansprüche auf Verspätungszuschläge (§ 152 AO, s. § 21 Rz. 188 ff.), Zuschläge bei Verletzung der Dokumentationspflichten für Verrechnungspreise (§ 162 IV AO, s. § 21 Rz. 175), Zinsen (§§ 233–237 AO, s. § 21 Rz. 347 ff.), Säumniszuschläge (§ 240 AO, s. § 21 Rz. 363 ff.), Zwangsgelder (§ 329 AO, s. § 21 Rz. 377) und Kosten (z.B. die Auskunftsgebühr nach § 89 III–VII AO, s. § 21 Rz. 18; s. auch §§ 178; 178a; 337–345 AO). 5
b) Der Begriff „Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis“ wird z.B. verwendet in den §§ 38, 47, 218, 220, 222, 226, 227, 228 AO. Jedes Steuerschuldverhältnis wird konkretisiert und abgegrenzt durch den einzelnen Anspruch mit bestimmten Beteiligten (Gläubiger/Schuldner). Verschiedene Steuern begründen verschiedene Steuerschuldverhältnisse; bei periodischen Steuern wird für jedes Jahr ein neues Schuldverhältnis begründet. Auf der Pflichtenseite sind folgende Beteiligte der Steuerschuldverhältnisse zu unterscheiden:
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(1) Steuerschuldner: Gegen ihn richtet sich der Steueranspruch, der Hauptanspruch des Steuerschuldverhältnisses. Während der Steuergläubiger verfassungsrechtlich (s. § 2 Rz. 5) normiert ist (zu Art. 106; 107 GG s. § 2 Rz. 57 ff.), ist der Steuerschuldner in den einzelnen Steuergesetzen (§ 43 AO) bestimmt (s. Rz. 19).
7
(2) Steuerentrichtungspflichtiger: Er hat die Steuer einzubehalten und abzuführen (zu entrichten, § 43 Satz 2 AO)1. Der Steuerentrichtungspflichtige ist Stpfl. i.S.d. § 33 I AO. Er schuldet die Steuer aber nicht; er handelt als Dritter für Rechnung des Steuerschuldners: Arbeitgeber hinsichtlich der Lohnsteuer (§ 38 III EStG, s. § 8 Rz. 904); Schuldner von Kapitalerträgen sind inländische Zahlstellen (z.B. Kreditinstitute, s. § 44 V 1 EStG) hinsichtlich der Kapitalertragsteuer; Versicherer hinsichtlich der Versicherungsteuer (§ 7 I VersStG).
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(3) Haftungsschuldner: Er haftet für eine fremde Schuld aus dem Steuerschuldverhältnis (s. Rz. 62 ff.).
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Kein Stpfl. i.S.d. § 33 I AO und Beteiligter des Steuerschuldverhältnisses ist der Steuerträger; er trägt die Steuer wirtschaftlich. Wird die Steuer vom Steuerschuldner auf einen anderen überwälzt, so sind Steuerschuldner und Steuerträger nicht identisch, wie dies insb. bei den indirekten Steuern (s. § 7 Rz. 20) der Fall ist. Soll der mit der Steuer wirtschaftlich Belastete nach dem Zweck des Gesetzes die Steuer nicht tragen, so wird sie ihm vergütet (s. Rz. 87: Schaubild). Der Steuervergütungsgläubiger, der nicht Steuerträger sein soll, ist Beteiligter des Steuerschuldverhältnisses.
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Wer in einer fremden Steuersache lediglich bei der Sachaufklärung mitzuwirken hat (sog. Dritter oder andere Person i.S.d. § 93 AO), ist weder Steuerschuldner noch Stpfl. (s. § 33 II AO). Durch seine Inanspruchnahme wird er aber nach § 78 Nr. 2 AO Beteiligter eines eigenen Verwaltungsverfahrens (s. § 21 Rz. 154).
2. Entstehung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis 11
Die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis entstehen, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft (§ 38 AO); über die Rechtswirkungen der Anspruchsentstehung s. Rz. 22; über die Entstehung des Steueranspruchs s. Rz. 20 ff. Das Steuerschuldverhältnis ist damit grds. ein gesetzliches Rechtsverhältnis (obligatio ex lege). Es entsteht kraft Gesetzes; das Gesetz ersetzt das private Willensmoment, die Parteivereinbarung. § 38 AO ist lückenhaft; er erfasst Ermessensentscheidungen nicht. Bei Ermessensentscheidungen wird die Leistungspflicht nicht allein an das Gesetz geknüpft, nicht allein durch das Gesetz, sondern erst durch die Ermessensentscheidung ausgelöst. Ermessensabhängige Ansprüche (auf Verspätungszuschlag, Zwangsgeld und Kosten nach § 178 I AO) entstehen daher erst mit der 1 Eingehend Drüen, Die Indienstnahme Privater für den Vollzug von Steuergesetzen, Habil., 2012, 107 ff.; ders., DStR-Beihefter 2012, 85.
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Gläubiger- und Schuldnerwechsel, Verpfändung, Pfändung
Rz. 14
§6
(positiven) Ausübung des Ermessens und der Bekanntgabe der Entscheidung. Über die Entstehung des Haftungsanspruchs s. Rz. 65; über die Entstehung des Erstattungsanspruchs s. Rz. 89.
3. Gläubiger- und Schuldnerwechsel, Verpfändung, Pfändung 3.1 Vorgänge kraft Gesetzes Literatur: Schulze-Osterloh (Hrsg.), Rechtsnachfolge im Steuerrecht, DStJG 10 (1987), mit Beiträgen von Kruse, Meincke, Ruppe, Heinicke, Groh, Pöllath, Brenner, Brezing; Reiß, Rechtsnachfolge im Umsatzsteuerrecht, StVj 1989, 103; Gassner, Die Bedeutung der Rechtsnachfolge im Steuerrecht, in FS Stoll, 1990, 317.
Bei Gesamtrechtsnachfolge (= Übergang des gesamten Vermögens kraft Gesetzes, insb. durch Erbfolge, Verschmelzung oder Umwandlung von Gesellschaften) gehen die Forderungen und Schulden aus dem Steuerschuldverhältnis auf den Rechtsnachfolger über (§ 45 I 1 AO)1. Im Falle der Erbfolge gilt dies jedoch nicht für Zwangsgelder (§ 45 I 2 AO). Erben haben für auf sie übergegangene, aus dem Nachlass zu erfüllende Schulden des Erblassers (aus dem Steuerschuldverhältnis) nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts über die Haftung der Erben für Nachlassverbindlichkeiten (§§ 1967 ff.; 2058 ff. BGB) einzustehen, d.h. Haftungsbeschränkung auf den Nachlass ist möglich2. Vorschriften, durch die eine steuerrechtliche Haftung der Erben begründet wird, bleiben unberührt (§ 45 II 2 AO; s. etwa die Fälle §§ 69; 71 AO).
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Bei Einzelrechtsnachfolge gehen die Forderungen und Schulden aus dem Steuerschuldverhältnis grds. nicht auf den Rechtsnachfolger über (Umkehrschluss aus § 45 I 1 AO). Die Einzelrechtsnachfolge ist zivilrechtlich der Regelfall. Der Rechtsakt, insb. jedes Rechtsgeschäft bezieht sich auf die Übertragung einzelner Rechtspositionen, auch wenn eine Mehrheit von Rechtspositionen übertragen wird. Daher gilt § 45 I 1 AO z.B. nicht für den Erbschaftskauf (§ 2371 BGB) und den Erwerb eines Unternehmens oder Betriebes.
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Zu beachten sind aber spezielle Vorschriften wie insb. die Haftung des Betriebsübernehmers (§ 75 AO), die Sachhaftung (§ 76 AO) und der Übergang der bedingten Verbrauchsteuerschuld nach § 50 II AO.
3.2 Vorgänge kraft Rechtsgeschäft, Pfändung Privatpersonen können nach § 46 I AO bestimmte Ansprüche, nämlich Ansprüche auf Erstattung von Steuern, von Haftungsbeträgen und von steuerlichen Nebenleistungen (§ 37 II AO) sowie Ansprüche auf Steuervergütungen abtreten (§ 398 BGB), verpfänden (§ 1273 BGB) und pfänden (§§ 829; 835 ZPO). Die Abtretung wird erst wirksam, wenn der Gläubiger sie formgerecht der Finanzbehörde anzeigt (s. § 46 II, III AO; s. auch § 46 V AO)3. Der geschäftsmäßige Erwerb von Erstattungs- und Vergütungsansprüchen zum Zwecke der Verwertung auf eigene Rechnung ist grds. nicht zulässig (§ 46 IV AO). Zur Pfändung s. auch § 46 VI, VII AO4. Leistungen aus dem Steuerschuldverhältnis gegenüber der Finanzbehörde können auch durch Dritte bewirkt werden (§ 48 I AO). Dritte können sich vertraglich verpflichten, für solche Leis1 Zur fehlenden Gesamtrechtsnachfolge bei Ausgliederung oder Abspaltung nach § 123 II Nr. 2 UmwG s. BFH BStBl. 2003, 835 (836); 2006, 432 (433); BFHE 226, 492 (497 ff.); zust. Witt, DStRE 2010, 113; a.A. Leitzen, DStR 2009, 1853 (1855 f.); Podewils, GmbHR 2010, 163 (166 ff.); zur Erstreckung der Gesamtrechtsnachfolge im Erbfall auf die umsatzsteuerliche Unternehmereigenschaft s. BFH BStBl. 2011, 241 (242 f.), m. Anm. Michel, DB 2010, 1275; von Cölln, BB 2010, 2032. 2 Halaczinsky, DStR 2006, 828; A. Müller, AO-StB 2006, 18; Vogt, DStR 2007, 1373; Hartman, ZEV 2009, 324. 3 Die Abtretungsanzeige soll Zweifeln darüber begegnen, an wen die Finanzbehörde schuldbefreiend leisten kann (s. BFH BStBl. 2002, 402; 2005, 238; 2012, 92; 2014, 507). Die Anzeige ist von der Abtretung zu unterscheiden (s. BFH BStBl. 2006, 348). 4 Zur zivilprozessualen Zwangsvollstreckung in Steuererstattungsansprüche Privater Fest, WM 2012, 1565.
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§6
Rz. 15
Allgemeines Steuerschuldrecht
tungen einzustehen (§ 48 II AO), etwa um ein eigenes Recht oder den Besitz an Gegenständen nicht zu verlieren. In Betracht kommen kumulative (nicht private) Schuldübernahme1, Schuldversprechen, Garantievertrag, Bürgschaft2. 15
Wer sich vertraglich verpflichtet hat (§ 48 II AO), kann nur nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts in Anspruch genommen werden (§ 192 AO). Bei Nichterfüllung muss die Finanzbehörde vor dem Zivilgericht klagen. Erfüllt der Dritte in Ausübung eines Ablösungsrechts die Schuld, so geht der Anspruch als privatrechtlicher auf ihn über (s. §§ 268 III 1; 774; 1143 I 1; 1150; 1225 Satz 1; 1249 Satz 2 BGB)3.
4. Erlöschen 16
Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 I AO) erlöschen nach § 47 AO insb. durch Zahlung (§§ 224; 224a; 225 AO, s. § 21 Rz. 320 f.), Aufrechnung (§ 226 AO, s. § 21 Rz. 322 ff.), Erlass (§§ 163; 227 AO, s. § 21 Rz. 329 ff.) und Verjährung (§§ 169–171 AO, s. § 21 Rz. 296 ff.; §§ 228–232 AO, s. § 21 Rz. 343 ff.), ferner durch Eintritt der Bedingung bei auflösend bedingten Ansprüchen (§ 50 AO)4. Von den steuerlichen Nebenleistungen i.S.d. § 3 IV AO (s. Rz. 4) existiert nur für Zinsen eine Festsetzungsverjährung (s. § 239 I AO); die Zahlungsverjährung der §§ 228 ff. AO ist dagegen auf alle Anspruche aus dem Steuerschuldverhältnis anwendbar (s. § 21 Rz. 343). § 47 AO regelt das Erlöschen nicht abschließend. Ein weiterer Erlöschungsgrund ist die Rückgängigmachung von steuerlich relevanten Rechtsgeschäften mit dinglicher Wirkung (s. Rz. 25). Leistungen aus dem Steuerschuldverhältnis gegenüber der Finanzbehörde können auch dadurch erlöschen, dass sie durch Dritte bewirkt werden (§ 48 I AO). Dritte können sich vertraglich verpflichten, für solche Leistungen einzustehen (§ 48 II AO). Von dem Erlöschen eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis ist dessen Verwirkung (s. § 21 Rz. 25 ff.) zu unterscheiden. Ein verwirkter Anspruch ist zwar nicht erloschen, kann aber nach Treu und Glauben nicht mehr geltend gemacht werden.
5. Steueranspruch und Steuerschuld 17
Das Steuerschuldverhältnis umfasst alle in Rz. 4 aufgeführten „Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis“ (§ 37 AO). Hauptanspruch des Steuerschuldverhältnisses ist der Steueranspruch als Kehrseite der Steuerschuld.
5.1 Steuergläubiger und Steuerschuldner 18
a) Steuergläubiger ist der Inhaber der Ertragshoheit (s. § 2 Rz. 5, 57 ff.). Im Falle von Gemeinschaftsteuern liegt eine Mehrheit von Gläubigern (eine Gläubigergemeinschaft) vor. Die Regelung der Gläubigerseite im Grundgesetz hat zur Folge, dass der Steuergesetzgeber bei der Begründung eines Steueranspruchs notwendig an eine ertragshoheitliche Verfassungsnorm anknüpfen muss; dadurch wird sein Steuererfindungsrecht begrenzt (s. § 2 Rz. 5). Für die Aufrechnung gilt als Gläubiger (oder – bei Steuervergütungen/-erstattungen – Schuldner) auch die Körperschaft, die die Steuer verwaltet (§ 226 IV AO), also die Inhaberin der Steuerverwaltungshoheit (Art. 108 GG, s. § 2 Rz. 73 ff.; § 21 Rz. 324).
19
b) Steuerschuldner ist, wer durch Einzelsteuergesetz dazu bestimmt wird (s. auch § 43 Satz 1 AO). Prinzipiell wird in den Steuergesetzen zum Steuerschuldner bestimmt, wer den Tatbestand verwirklicht, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft (s. auch § 38 AO). Jedoch 1 2 3 4
Durch (kumulative) Schuldübernahme eines Dritten wird der gesetzliche Steuerschuldner nicht frei. Zur Bürgschaft Friedrich, StuW 1979, 259; Hogrefe, BB 2009, 27 (Anspruch des Steuerbürgen). Dazu Stolterfoht, JZ 1975, 658. Spielt im Verbrauchsteuerrecht eine Rolle (s. § 50 AO).
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Steueranspruch und Steuerschuld
Rz. 22
§6
gibt es Ausnahmen1. Dadurch wird es notwendig, den Steuerschuldner wie folgt zu bestimmen: „Steuerschuldner ist das Rechtssubjekt2 eines Steuergesetzes (Steuersubjekt), dem das Steuerobjekt (Steuergegenstand) dieses Gesetzes kraft gesetzlicher Anordnung zugerechnet wird.“ Idealiter sollte es ein Träger steuerlicher Leistungsfähigkeit (dazu § 3 Rz. 40 ff.) sein. Kein Steuerschuldner ist, wer die Steuer für Rechnung des Steuerschuldners einzubehalten und an das Finanzamt abzuführen (zu entrichten) hat; er ist Entrichtungspflichtiger (s. Rz. 7).
5.2 Entstehung des Steueranspruchs a) Der Steueranspruch entsteht, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft (s. Rz. 11). Der Entstehungszeitpunkt wird i.d.R. durch die Einzelsteuergesetze konkretisiert (s. §§ 36 I; 37 I 2; 38 II 2; 44 I 2 EStG; § 30 KStG; §§ 18; 21 GewStG; § 9 II GrStG; § 9 ErbStG; § 13 UStG).
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Die Höhe des Steueranspruchs kann nicht nur durch die Gestaltung des realen Lebenssachverhalts, sondern auch durch Rechtsgestaltung, insb. durch Anträge oder Ausübung von Wahlrechten3, etwa bei Aufstellung der Bilanz, beeinflusst werden4. Auf den Willen, einen bestimmten Lebenssachverhalt zu gestalten, kommt es grds. nicht an; auch der Irrtum über steuerliche Folgen ist grds. unbeachtlich (s. aber Rz. 25 f.).
b) Dass der Steueranspruch kraft Gesetzes entsteht, bedeutet auch, dass er nicht kraft Verwaltungsakts oder kraft Vertrags entsteht5. Dadurch wird sichergestellt, dass für die Entstehungsfolgen (s. Rz. 22) der gleiche Stichtag für alle Stpfl. maßgeblich ist und der ganz unterschiedliche Zeitpunkt der Steuerfestsetzung keine Rolle spielt.
21
Der Steuerbescheid, durch den die Steuer festgesetzt wird, ist deklaratorisch (rechtsfeststellend), soweit er lediglich dem Gesetz entsprechend den Steueranspruch konkretisiert. Er wirkt allerdings konstitutiv (rechtserzeugend – auf Grund der Wirkungen der Bestandskraft), soweit die festgesetzte Steuer über die gesetzliche Steuerschuld hinausgeht (s. § 21 Rz. 114). 22
c) Rechtswirkungen der Anspruchsentstehung sind: (1) Gehaftet wird prinzipiell nur für entstandene Steueransprüche (Akzessorietät der Haftung). Ausnahme: § 76 II AO; danach Haftung mit Beginn der Herstellung statt mit Entfernung aus dem Betrieb (= Anspruchsentstehung). (2) Die Festsetzungsfrist beginnt grds. mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist (§ 170 I AO, s. § 21 Rz. 299). (3) Der Anspruch, gegen den aufgerechnet (dazu § 21 Rz. 322 ff.) wird, muss entstanden sein (§ 226 I AO i.V.m. § 387 BGB). (4) Nur entstandene Steuerschulden gehen auf den Gesamtrechtsnachfolger über (§ 45 I AO). (5) Dinglicher Arrest ist ab Anspruchsentstehung zulässig, nicht erst ab Fälligkeit (§ 324 I AO). (6) Im Falle einer Insolvenz kann die Entstehung für die Zuordnung des Steueranspruchs als eine zur Insolvenztabelle anzumeldende (nur mit der Insolvenzquote zu befriedigende) Insolvenzforderung (§ 38 InsO) oder als später begründete, vorweg zu befriedigende Masseforderung (§§ 53; 55 InsO) relevant sein6. 1 Vgl. etwa die Lohnsteuerpauschalierung (§§ 40 ff. EStG): Steuerschuldner ist der Arbeitgeber (§§ 40 III 2; 40a V; 40b IV EStG), den Steuertatbestand verwirklicht aber der Arbeitnehmer (§ 19 I Nr. 1 EStG). 2 Vgl. in den Darstellungen des besonderen Steuerschuldrechts jeweils unter „Steuersubjekt“. 3 Dazu Gluth, Der Einfluß von Wahlrechten auf die Entstehung des Steueranspruchs, 1997. 4 Dazu Klemp, Öffentlich-rechtliche Willenserklärungen Privater im Steuerrecht, Diss. Köln, 1971. 5 S. BFH BStBl. 2012, 489 (491), Rz. 19. 6 Farr, Die Besteuerung in der Insolvenz, 2005, Rz. 39; Kahlert/Rühland, Sanierungs- u. Insolvenzsteuerrecht2, 2011, 7.48 ff.; Roth, Insolvenzsteuerrecht, 2011, Rz. 4.171; Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern10, 2014, Rz. 701 ff.; Uhländer/Steinbeck, SteuerStud 2014, 344 (Teil I), 417 (Teil II).
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§6
Rz. 23
Allgemeines Steuerschuldrecht
(7) Soweit keine Sondervorschriften bestehen, wird die Steuerschuld mit der Entstehung fällig (§ 220 II AO). (8) Entstehung der Steuerschuld beeinflusst die bilanzielle Behandlung. 23
d) Die Steuerschuld entsteht unabhängig von der Fälligkeit (zur Fälligkeit s. § 220 AO; s. § 21 Rz. 311).
24
e) Der Steueranspruch entsteht durch Tatbestandserfüllung grds. unabänderlich. Ein realer Lebenssachverhalt (tatsächliches Geschehen) lässt sich nach seiner Verwirklichung ohnehin nicht mehr rückwirkend ändern. Tatsächliche Vorgänge sind z.B. Beförderung, Einfuhr, Inverkehrbringen.
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Von der Unabänderlichkeit gibt es jedoch Ausnahmen: (1) Die Steuergesetze knüpfen nicht nur unmittelbar an reale Lebenssachverhalte an, sondern häufig auch an Rechtsgeschäfte, Verwaltungsakte oder Rechtsverhältnisse des privaten oder öffentlichen Rechts. Solche Vorgänge lassen sich jedoch mit rückwirkender Kraft aufheben oder ändern, etwa durch Verwaltungsakt oder Gesetz, durch Anfechtung, Wegfall (Störung) der Geschäftsgrundlage, Gerichtsentscheidung. Soweit es sich um Fälle dinglicher Rückwirkung oder um ex tunc-Beseitigung von Rechtsgeschäften handelt, greift § 41 AO („wird es unwirksam“) i.V.m. § 175 I 1 Nr. 2 AO (dazu § 21 Rz. 437 ff.) ein. Die Rückwirkung wird berücksichtigt. Sie wird jedoch nicht berücksichtigt, wenn es sich um eine Einwirkung nur durch schuldrechtliche Verträge handelt, denen rückwirkende Kraft beigelegt wird1. Von der „Rückgängigmachung“ durch schuldrechtlichen Vertrag ist die bloße Rückdatierung des Vertrages (= Einsetzen eines falschen Datums) und die Rückbeziehung des Vertrages (= Inkraftsetzen mit Rückwirkung) zu unterscheiden. In diesen Fällen entspricht die formelle Behandlung nicht der wirtschaftlichen Durchführung; auf die wirtschaftliche Durchführung kommt es aber an. Stornieren ist Aufheben einer Fehlbuchung durch Gegenbuchung (erforderlich, da Durchstreichen und Radieren unzulässig); es betrifft nur den Buchungsvorgang, nicht den rechtlichen oder wirtschaftlichen Vorgang, der der Buchung zugrunde liegt. Ausnahme: § 41 I AO ist nicht anzuwenden, „soweit sich aus den Steuergesetzen etwas anderes ergibt“ (§ 41 I 2 AO). Die h.M.2 nimmt unter Bezug auf § 41 I 2 AO an, dass § 41 I 1 2. Alt. AO („wird es unwirksam“) keinen Einfluss hat auf die Einkünfteermittlung durch Ertrag/Einnahmen oder Aufwand/Ausgaben.
(2) Sonderfälle der Berücksichtigung rückgängig gemachter Rechtsgeschäfte regeln § 29 ErbStG; § 17 UStG; § 16 GrEStG; § 9 VersStG. 26
f) Ob sog. Steuerklauseln geeignet sind, die Steuerschuld rückwirkend zu beeinflussen, ist umstritten3. U.E. sind Steuerklauseln unechte auflösende Bedingungen, die einem bürgerlichrechtlichen Vertrag hinzugefügt werden; die Gültigkeit des Vertrags wird davon abhängig gemacht, dass die steuerlichen Folgen, von denen die Parteien ausgehen, – gemessen an der Steuerfestsetzung des Finanzamts – zutreffen. Treffen sie nicht zu, folgt das Finanzamt der Rechtsauffassung des Stpfl. nicht, so ist der Vertrag von vornherein unwirksam. Wird er nicht durchgeführt, so ergeben sich aus ihm keine steuerlichen Folgen (arg. § 41 I AO). Der Bescheid ist dann nach § 175 I 1 Nr. 2 AO zu korrigieren. Allerdings hat BFH BStBl. 1993, 296 (297) 1 Dazu Beker, Die Einwirkung der Rückgängigmachung von Rechtsgeschäften auf Steueransprüche, Diss., 1965, wesentlicher Inhalt veröffentlicht unter dem Titel „Hinfällige Rechtsgeschäfte im Steuerrecht“, 1969. 2 Dazu Tipke/Kruse/Loose, § 175 AO Rz. 33 ff. 3 Dazu Tipke, NJW 1968, 865; Hellmuth, Die Zulässigkeit und die Wirkungen von Steuerklauseln, Diss., 1972; Lagemann, Die Steuerklausel, Diss., 1979; Balmes, DStZ 1993, 620; Beiser, ÖStZ 2005, 178; Kober, Steuer- und Satzungsklauseln, Diss., 2006; Piltz, FS Spindler, 2011, 693 (699 ff.); Haase, StuW 2012, 148: tripolares Rechtsverhältnis sui generis; Endert, StuW 2014, 106 (111 f.); BFH BStBl. 2010, 142 (145) setzt die Zulässigkeit einer Steuerklausel immerhin inzident voraus (wohl auch BFH BStBl. 2010, 539 [540]).
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Steueranspruch und Steuerschuld
Rz. 29
§6
eine Steuerklausel nur dann für wirksam gehalten, wenn sie dem Finanzamt vor dessen Entscheidung bekannt gegeben worden ist1.
5.3 Der Entstehungstatbestand des Steueranspruchs (Steuertatbestand) Literatur: Hensel, Steuerrecht3, 1933, 56 ff.; J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, Ein Beitrag zur Lehre vom Steuertatbestand, 1974; Hahn, Die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung in rechtsvergleichender Sicht, Diss., 1984; Bayer, Der Stufenbau des Steuertatbestandes, FR 1985, 337; Tipke, Von der formalen zur materialen Tatbestandslehre, StuW 1993, 105; Burmester, Begriff und Funktion des Steuergutes im Steuerrecht, StuW 1993, 221; von Groll, Zur mittelbaren Tatbestandsverwirklichung im Steuerrecht, StuW 1995, 326; Tipke, Das Steuerrechtsverhältnis und seine Elemente, in FS Höhn, 1995, 401; Waldhoff, Struktur und Funktion des Steuertatbestandes, in FS Spindler, 2011, 853; Tipke, StRO III2, 1316 ff.
5.3.1 Begriff Der Steuertatbestand ist der Inbegriff der Tatbestandsmerkmale, die das Entstehen des Steueranspruchs begründen. Die Steuertatbestände sind durchweg überaus kompliziert (s. § 5 Rz. 46 ff.) und pflegen sich aus zahlreichen positiven (steuerbegründenden, steuererhöhenden) und negativen (steuermindernden) Elementen zusammenzusetzen. Während der strafrechtliche Tatbestand sich meist in einem oder wenigen Paragraphen ausdrücken lässt, benötigt das Steuerrecht für einen Tatbestand durchweg ein ganzes Gesetz (Beispiel: Einkommen-, Umsatzsteuergesetz). Alle Gesetze sind von zahlreichen Ausnahmebestimmungen durchsetzt.
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Folgende Ausnahmebestimmungen sind zu unterscheiden:
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a) Formelle oder technische: Sie betreffen Fälle, in denen der Wortlaut des Grund- oder Regeltatbestands, gemessen am Steuerwürdigkeitsprinzip, das der Gesetzgeber gesetzlich realisieren möchte, zu weit ist, so dass weitere Vorschriften erforderlich sind, die den Grundtatbestand auf das Prinzip reduzieren (sog. „Ausgrenzungs“-Befreiungen); b) scheinbare: Sie ordnen nichts an, was vom Grundtatbestand differiert oder ihm gar zuwiderläuft. Vielmehr detaillieren, präzisieren, differenzieren oder deklarieren sie den prinzipiellen Grundtatbestand (der meist eine Steuerwürdigkeitsentscheidung enthält), ohne dessen Rahmen zu sprengen; c) echte oder inhaltliche: Sie weichen inhaltlich von der Regelvorschrift des Grundtatbestandes und dem darin statuierten Prinzip ab oder laufen ihm gar zuwider. Häufig handelt es sich um Interventionsnormen oder um Vereinfachungsnormen.
Werden die Merkmale des gesetzlichen Steuertatbestands bewusst nicht erfüllt, so werden sie vermieden; man spricht von Steuervermeidung, sie ist legal. Eine systematisch betriebene Steuervermeidung oder Steuerverminderung verlangt Steuerplanung. Von der Steuervermeidung ist die Steuerumgehung (§ 42 AO) zu unterscheiden2; die Umgehung wird so behandelt, als sei das Gesetz nicht umgangen worden (s. § 5 Rz. 116 ff.). Werden die Merkmale des Steuertatbestands zwar erfüllt, der Finanzbehörde aber vorsätzlich verschwiegen oder leichtfertig vorenthalten, so liegt Steuerhinterziehung oder leichtfertige Steuerverkürzung (§§ 370; 378 AO, dazu § 23 Rz. 20 ff.; 90 ff.) vor. Sie ist illegal. Steuerflucht3 ist dagegen kein präziser Begriff. Steuerflucht besteht in einem Verhalten, das bewirkt, dass das Steuerfluchtland den Zugriff auf das Steuergut verliert, das Steuerzufluchtland (i.d.R. ein 1 Bsp. für eine Steuerklausel: Teilbetriebsveräußerung unter der auflösenden Bedingung, dass die Finanzbehörde die ermäßigte Besteuerung nach den §§ 16 I 1 Nr. 1; 34 EStG anerkennt (vgl. BFH BStBl. 2004, 107); zum Unternehmenskauf s. Hülsmann, DStR 2008, 2402; Ott, DStZ 2009, 90; Heinrichshofen, FS Spiegelberger, 2009, 198 (zur USt); Dietrich, Ubg. 2010, 712; zu Gesellschaftsverträgen Carlé/Demuth, KÖSDI 2008, 15979; Eßers/Sirchich von Kis-Sira, StbJb. 2009/2010, 89; D. Klein, GStB 2010, 391; Querschnittsdarstellung: Wollweber, FS Streck, 2011, 275; ders., AG 2013, 796. 2 Zur sog. Gesamtplanrechtsprechung im Vergleich zum (früheren) strafrechtlichen Fortsetzungszusammenhang s. Krüger, DStZ 2014, 194 (199 ff.). 3 Dazu Bürger, Steuerflucht, Diss., 2006.
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§6
Rz. 30
Allgemeines Steuerschuldrecht
Niedrigsteuerland) ihn erhält. Steuerflucht kann Steuervermeidung, Steuerumgehung oder Steuerhinterziehung sein.
5.3.2 Das Steuersubjekt und die Steuerrechtsfähigkeit 30
Steuersubjekt (hier i.S.v. Steuerschuldner) ist das Rechtssubjekt eines Steuergesetzes, dem ein Steuerobjekt und die damit verbundene Steuerschuld zugerechnet wird (s. Rz. 42). Als Steuersubjekte kommen in Betracht: Einzelpersonen, Haushalte (nicht nach deutschem Recht), Personen-, Kapitalgesellschaften, Genossenschaften1, nicht rechtsfähige Personenvereinigungen, Unternehmen beliebiger Rechtsform, überhaupt alle Gebilde, die etwas erwirtschaften und/oder über Wirtschaftsgüter verfügen, die m.a.W. wirtschaftlich leistungsfähig sind.
31
Die Eigenschaft als Steuersubjekt führt zur Steuerrechtsfähigkeit. Die AO verwendet diesen Begriff nicht. Da im Steuerrechtsverhältnis die Pflichten gänzlich überwiegen, spricht sie vom „Stpfl.“ (§ 33 AO). Der Stpfl. ist zugleich steuerrechtsfähig. Die Steuerrechtsfähigkeit ist eine von der BGB-Rechtsfähigkeit unabhängige Sonder-Rechtsfähigkeit. Steuerperson kann jedes Subjekt sein, das sich dazu eignet, steuergesetzliche Rechte und Pflichten zu übernehmen. Im Steuerrecht geht es darum, solche Gebilde zu Steuerrechtssubjekten zu deklarieren, in denen sich wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verkörpert (Beispiele: EStG, KStG) oder über die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erfasst werden kann (Beispiele: UStG, besondere Verbrauchsteuergesetze).
32
Im Steuerrecht sind die steuerrechtsfähigen Subjekte2 nicht allgemein bestimmt, ihr Kreis ist je nach Einzelsteuergesetz (Steuerart) verschieden. Je nach Einzelsteuergesetz können auch (bürgerlich-rechtlich) nichtrechtsfähige Personenvereinigungen und Vermögensmassen steuerrechtsfähig sein (s. etwa § 34 AO; § 1 I Nr. 5 KStG; § 2 I UStG). Beispiele: Steuerrechtsfähig sind z.B. bei der Einkommensteuer: natürliche Personen (§ 1 EStG, s. § 8 Rz. 20); Körperschaftsteuer: insb. juristische Personen, auch nichtrechtsfähige Vereine, Anstalten, Stiftungen und andere Zweckvermögen (§ 1 KStG, s. § 11 Rz. 23 ff.); Umsatzsteuer: Unternehmer, gleich in welcher Rechtsform das Unternehmen betrieben wird, z.B. auch BGB-Gesellschaften und Personengesellschaften des Handelsrechts (s. § 2 I UStG, s. § 17 Rz. 33 ff.).
33
Aus Gründen prinzipieller Wettbewerbsneutralität des Steuerrechts sind die gewerblichen Betriebe von Körperschaften des öffentlichen Rechts zu steuerrechtsfähigen Personen erhoben und den privaten Gewerbebetrieben gleichgestellt worden (s. § 11 Rz. 28).
34
Bei natürlichen Personen beginnt die Steuerrechtsfähigkeit mit der Geburt; sie endet mit dem Tode (bei Verschollenheit s. die Todestagsfiktion des § 49 AO). Bei juristischen Personen ist im Einzelfall zu prüfen, wann die Steuerrechtsfähigkeit beginnt und endet. Das Steuerrecht kann hier vom Zivilrecht abweichen. So kann z.B. die Steuerrechtsfähigkeit vor dem zivilrechtlichen Entstehen der juristischen Person beginnen (s. § 11 Rz. 26).
35
Werden aus der allgemeinen Bestimmung des Kreises der Steuerschuldner bestimmte Steuerschuldner eliminiert, so dass ihnen das Steuerobjekt nicht zugerechnet wird und folglich die angeordnete Rechtsfolge für sie (ausnahmsweise) nicht eintritt, so spricht man von subjektiver oder persönlicher Steuerbefreiung (Beispiele: § 5 KStG; § 3 GewStG).
1 Dazu P. Kirchhof, Die Eigenständigkeit der Genossenschaft als Steuerrechtssubjekt, 1980. 2 Eingehend Palm, Person im Ertragsteuerrecht, Habil., 2013, 152 ff.; ders., FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 157.
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Rz. 41
§6
Das Steuerobjekt (= Steuergegenstand) erfasst das Steuergut1 (oder Besteuerungsgut), das der Gesetzgeber als besteuerungswürdig erkannt und rechtlich normiert hat. Durch die rechtliche Normierung wird das Steuergut zum Steuerobjekt. Steuerobjekt ist das Steuergut mit dem Inhalt und Umfang der Tatbestandsverwirklichung. Zum Steuerobjekt gehören auch Bestimmungen, die bei periodischen Steuern das Steuergut zeitlich abgrenzen (zum Periodizitätsprinzip s. § 3 Rz. 80).
36
Die Steuergesetze pflegen die Begriffe „Steuergegenstand“ (z.B. Überschriften zu §§ 1 ff. UStG; § 2 GewStG; § 2 GrStG; §§ 1; 2 GrEStG; § 1 KraftStG), „steuerbar“ (z.B. Überschrift zu § 1 UStG), aber auch „steuerpflichtig“ (z.B. Überschrift zu § 1 ErbStG) zu verwenden. Tatbestandstechnisch wird das Steuergut in ganz unterschiedlicher Weise erfasst, als Vorgänge wie z.B. das Einkommen, der Erwerb von Todes wegen, die Schenkung, der Umsatz oder als körperliche Gegenstände wie das Vermögen, der Grundbesitz, Güter des Verbrauchs wie Mineralöle, Tabakwaren, Bier etc. oder als Handlungen wie das Halten eines Kraftfahrzeugs, eines Hundes, einer Zweitwohnung, die Benutzung von Spielautomaten, Tanzveranstaltungen, Schönheitstänze und andere Vergnügungen. Diese unterschiedliche tatbestandliche Anknüpfung darf indessen nicht den Blick dafür verstellen, dass die Steuer stets einen Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit belasten will, entweder Einkommen, Vermögen oder Konsum (s. § 3 Rz. 55 ff.). Unter diesem Aspekt der Steuergerechtigkeit sind die einzelnen Steuerobjekte unbeschadet ihrer tatbestandstechnischen Anknüpfung zu beurteilen2. Deswegen ist es verfehlt, eine „steuerbare Handlung“ dogmatisch in den Mittelpunkt der Lehre vom Steuergegenstand stellen zu wollen3. Stpfl. werden nicht wegen ihrer Handlungen besteuert, sondern wegen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, über die sie, aus welchem Grunde auch immer, verfügen.
37
Das Steuerobjekt erfasst nicht selten, etwa aus technischen Gründen, das Steuergut nicht zur Gänze. So bleibt das auf sieben Einkunftsarten (§ 2 I EStG) begrenzte Steuerobjekt „Einkommen“ hinter dem Steuergut „Einkommen“ zurück. Steuerobjekt und Steuergut können aus technischen Gründen auch ganz auseinander fallen4. So ist Steuergut der Umsatzsteuer der Verbrauch oder Aufwand durch Nichtunternehmer. Steuerobjekt ist aber der Umsatz der Unternehmer (dazu § 17 Rz. 84 ff.). – Juristen neigen dazu, die steuertechnische Anknüpfung für das Wesentliche zu halten oder sie mit dem steuerwirtschaftlichen Tatbestand oder Steuergut zu identifizieren oder zu vermengen.
38
Der Gesetzgeber muss solche Steuergüter erfassen, die wirkliche Indikatoren der steuerlichen Leistungsfähigkeit (dazu § 3 Rz. 52 ff.) sind, und zwar muss er sie im Interesse einer gleichmäßigen Besteuerung möglichst voll erfassen.
39
Das quantifizierte Steuerobjekt ist die Steuerbemessungsgrundlage (s. Rz. 44 f.). Quantifizierte Berechnungsgrundlagen von Teilen des Steuerobjekts bezeichnet man auch als Besteuerungsgrundlagen (Beispiele: Einkünfte bei der Einkommensteuer, aber auch Einnahmen, Werbungskosten, Sonderausgaben; Gewerbeertrag bei der Gewerbesteuer).
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Steueranspruch und Steuerschuld
5.3.3 Das Steuerobjekt
Die Terminologie ist jedoch nicht gesichert. Auch die Steuerbemessungsgrundlage (s. Rz. 44 f.) wird nicht selten als Besteuerungsgrundlage bezeichnet. § 199 I AO enthält für das Besteuerungsverfahren eine eigenständige Definition des Begriffs der Besteuerungsgrundlage (s. § 21 Rz. 117). Statt von „Besteuerungsgrundlage“ wird in der Literatur auch von „Steuermerkmal“ oder „Steuerfaktor“ gesprochen.
Werden aus dem Grundtatbestand i.e.S. besondere Tatbestände eliminiert, so dass die angeordnete Rechtsfolge für einen Teil des Steuerobjekts (ausnahmsweise) nicht eintritt, so spricht man von objektiver oder sachlicher Steuerbefreiung. Beispiele: §§ 3 ff. EStG; §§ 4 ff. UStG; § 18 RennwLottG; § 4 VersStG; § 3 KraftStG; § 3 BierStG; § 23 SchaumwZwStG. 1 Dazu ausf. Burmester, StuW 1993, 221. 2 Dazu Tipke, StuW 1993, 105; Tipke, FS Höhn, 1995, 401. 3 So etwa die Lehre von Bayer, Steuerlehre, Rz. 503 f.; dagegen etwa Hey, StuW 1998, 285 (286 f.); Waldhoff, FS Spindler, 2011, 853 (862 f.): Die Handlung kann nur für die Zurechnung des Steuerobjekts (s. Rz. 42) relevant sein. 4 Dazu Haaser, Die wirtschaftliche und juristische Bedeutung der Lehre vom Steuertatbestand, Diss., 1937.
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§6
Rz. 42
Allgemeines Steuerschuldrecht
Eine Steuerbefreiung kann aus Gründen fehlender steuerlicher Leistungsfähigkeit ausgesprochen sein, sie kann aber auch Vereinfachungsbefreiung oder Sozial-/Lenkungszweckbefreiung (s. § 3 Rz. 21) sein. Eine Befreiung eigener Art, die in mehreren Steuergesetzen wiederkehrt, ist die Befreiung wegen ausschließlicher und unmittelbarer Verfolgung gemeinnütziger, mildtätiger oder kirchlicher Zwecke durch Körperschaften (z.B. § 5 I Nr. 9 KStG; § 3 Nr. 6 GewStG; § 3 I Nr. 3b GrStG; § 4 Nr. 18 UStG; s. dazu § 20).
5.3.4 Die Zurechnung 42
Durch sie wird festgelegt, welchem Steuerschuldner das Steuerobjekt zuzurechnen (zuzuordnen) ist. Durchweg ergibt sich die Zurechnung aus dem oder in Zusammenhang mit der Bestimmung des Steuerschuldners selbst; die Bestimmung des Steuerschuldners wiederum orientiert sich i.d.R. am Steuerobjekt. Das Einkommensteuergesetz schreibt inhaltlich vor: Natürliche Personen haben das von ihnen erzielte Einkommen zu versteuern. Die Zurechnung wird hier durch den Tatbestand des Erzielens (s. § 8 Rz. 121 ff.) hergestellt. Der Einkommensbezieher ist Steuerschuldner, ihm wird das Einkommen zugerechnet. Bei Einkommensverlagerungen kann sich die Zurechnung komplizieren (s. § 8 Rz. 150 ff.).
Allgemeine Zurechnungsnormen sind § 39 AO und bestimmte Vorschriften des Bewertungsgesetzes1. Zahlreich sind die Spezialnormen, die die Zurechnung für Teile des Steuerobjekts (z.B. §§ 22 Nr. 1 Satz 2; 24 EStG; § 14 KStG; § 7 AStG) oder für eine bestimmte Steuerperiode (z.B. § 11 EStG) bestimmen.
5.3.5 Die abstrakten Merkmale des inländischen Steuerschuldverhältnisses 43
Sie bestimmen die Grenzen der Zugehörigkeit zur inländischen Steuergewalt. Allgemein wird unterschieden zwischen unbeschränkter Steuerpflicht (s. §§ 1 I, II EStG; 1 KStG), die an den Wohnsitz (§ 8 AO) oder gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO), die Geschäftsleitung (§ 10 AO) oder den Sitz (§ 11 AO) anknüpft (persönliche Zugehörigkeit) und in einer Zurechnung des vollen Steuerobjekts besteht, gleich, ob es inlands- oder auslandsradiziert ist, und der beschränkten Steuerpflicht (§§ 1 IV; 49 ff. EStG; 2 KStG), die nur das inlandsradizierte Steuerobjekt erfasst (wirtschaftliche Zugehörigkeit). Zum Ganzen s. § 1 Rz. 87 f.
5.3.6 Die Steuerbemessungsgrundlage2 44
Die Steuerbemessungsgrundlage bilden diejenigen Normen, die das Steuerobjekt als Ganzes quantifizieren. Der numerische Charakter der Steuer setzt voraus, dass das, was zu besteuern ist, in einer Zahl ausgedrückt wird. Das geschieht durch die Steuerbemessungsgrundlage (Besteuerungsgrundlage, Steuermaßstab, maßgeblicher Wert). Die Steuergesetze verwenden unterschiedliche Begriffe. Mehrere Steuergesetze sehen überhaupt von der Verwendung eines besonderen Begriffs für die Quantifizierung des Steuertatbestands ab. Der Begriff „Besteuerungsgrundlage“ für Steuerbemessungsgrundlage sollte vermieden werden; seine Bedeutung ist auch in der Abgabenordnung nicht gesichert (s. Rz. 40; §§ 157 II; 162 I; 163 I; 199 I AO).
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Zu unterscheiden sind Steuerbemessungsgrundlagen, die an den Wert des Merkmals eines Steuerobjekts anknüpfen (Wert, Entgelt, Gegenleistung), und technische Bemessungsgrundlagen (Stückzahl, Menge, Gewicht, Hohlmaß, Flächenmaß). Die Bemessungsgrundlage setzt sich aus einzelnen Faktoren, die die Grundlage erhöhen oder mindern, zusammen. Lückenhafte oder durch Steuervergünstigungen geminderte Bemessungsgrundlagen können die tarifliche Belastungsentscheidung verzerren, so z.B. die Nichterfassung privater Veräußerungseinkünfte außerhalb der Fristen des § 23 I 1 EStG oder erhöhte Abset1 §§ 3 Satz 1; 26; 34 IV–VI; 70 II; 94 I; 97 Ia BewG sowie verfahrensrechtlich die Zurechnungsfortschreibung (§ 22 II BewG). 2 Dazu Drüen, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 158.
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Steueranspruch und Steuerschuld
Rz. 49
§6
zungen und Sonderabschreibungen (§§ 7a ff. EStG). Umgekehrt kann die Nichtberücksichtigung leistungsfähigkeitsmindernder Umstände eine u.U. verfassungswidrig zu hohe Besteuerung bewirken wie im Falle der Verletzung des Nettoprinzips (s. § 8 Rz. 42 f.). Ohne eine leistungsfähigkeitsgerechte Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer kann ein Einkommensteuertarif nicht fair sein (zu den Reformvorschlägen s. § 7 Rz. 70 ff.).
5.3.7 Der Steuersatz Das ist diejenige Größe, aus der sich der Steuerbetrag in Bezug auf die Steuerbemessungsgrundlage ergibt. Er ist die funktionelle Beziehung zwischen Steuerbemessungsgrundlage und Steuerbetrag.
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Der Steuersatz ist entweder – meist bei technischen Steuereinheiten – ein fester Geldbetrag, bezogen auf eine bestimmte Größe der Bemessungsgrundlage, oder – bei der Mehrheit der Steuern – ein Prozent- bzw. Protausendsatz. Die Steuergesetze bezeichnen eine Mehrheit von Steuersätzen als Steuertarif. So die Überschriften zu Abschnitt IV EStG, III KStG. Die Bezeichnung ist allerdings nicht konsequent durchgeführt (vgl. z.B. § 19 ErbStG).
Der Tarif kann sein: proportional (Steuersatz bleibt gleich), progressiv (Steuersatz steigt mit wachsender Bemessungsgrundlage) oder regressiv (Steuersatz fällt mit wachsender Bemessungsgrundlage). Diese Tariftypen können auch kombiniert werden. Die aktuellen Steuern sind unterschiedlich angelegt. Die Einkommensteuer ist progressiv (s. § 8 Rz. 800 ff.), die Körperschaftsteuer proportional (s. § 11 Rz. 110), die Erbschaftsteuer progressiv (s. § 15 Rz. 136 ff.; sie nimmt aber auch Rücksicht auf den Verwandtschaftsgrad), die Verbrauchsteuern wirken regressiv.
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Aus der Anwendung des Steuersatzes ergibt sich die Steuerschuld, die durch zwei Arten von Steuerermäßigungen modifiziert wird: Tarifermäßigungen sehen für besondere Fälle einen milderen Steuersatz vor1 und Steuerbetragsermäßigungen sind Abzüge von der Steuerschuld2.
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5.3.8 Die Steuervergünstigungen3 Die Steuervergünstigungen gehören zu den Sozialzwecknormen (s. § 3 Rz. 21 f.: Lenkungs-/ Umverteilungsnormen). Begriffe wie „Steuervergünstigung“, „-vorteil“ oder „-erleichterung“ werden irreführend oft als Sammel- oder Oberbegriffe für alle die Steuerbemessungsgrundlage und/oder die Steuerschuld mindernden Normen mit Ausnahmecharakter verwendet. Terminologisch sind die folgenden Typen zu unterscheiden: Steuerbefreiungen nehmen bestimmte Steuersubjekte (s. Rz. 35, persönliche Steuerbefreiung) oder Teile des Steuerguts (s. Rz. 36, sachliche Steuerbefreiung) zur Lenkung oder Umverteilung vom weiterreichenden Ausgangstatbestand aus4. Steuerermäßigungen wirken auf der Tarifebene oder durch Abzug von der Steuerschuld (s. Rz. 48). Bewertungsfreiheiten und Sonderabschreibungen stehen dem Stpfl. für Wirtschaftsgüter einen von der Grundregel des § 7 EStG abweichenden niedrigeren Bewer1 Z.B. der ermäßigte Umsatzsteuersatz (§ 12 II UStG; dazu § 17 Rz. 277). Zur Ermäßigungstechnik des § 34 EStG s. § 8 Rz. 820 ff. 2 Z.B. § 34g EStG: Ermäßigung der tariflichen Einkommensteuer um 50 % der Spenden an politische Parteien/Wählervereinigungen bis 825 Euro/Ehegatten: 1 650 Euro (s. § 20 Rz. 21); z.B. § 35a EStG: Ermäßigungen für haushaltsnahe Beschäftigungsverhältnisse, Dienst- u. Handwerkerleistungen. 3 Dazu J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, Diss., 1974; Jochum, Die Steuervergünstigung, Diss., 2006; Reinke, Die Identifikation der Steuervergünstigung, Diss., 2006; Fann, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Steuervergünstigung, Diss., 2009; zu den europarechtlichen Grenzen s. Kemper, Nationale Steuervergünstigungshoheit und Europarecht, Diss., 2009; sowie § 4 Rz. 115 ff. und im Besonderen §§ 19, 20. 4 Dagegen schränken Fiskalzweck-/Ausgrenzungsbefreiungen den Steuertatbestand nur scheinbar ein; sie führen vielmehr einen (überschießenden) Ausgangstatbestand auf den eigentlichen materiellen Belastungsgrund zurück (s. auch Rz. 28). Von Sozialzweckbefreiungen sind außerdem Vereinfachungszweckbefreiungen zu unterscheiden (s. auch § 3 Rz. 23 f.); sie machen den Steuertatbestand in den steuerlichen Massenverfahren überhaupt erst operabel und dienen damit der Verwirklichung des Fiskalzwecks in der Realität.
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§6
Rz. 50
Allgemeines Steuerschuldrecht
tungsansatz zu (s. § 9 Rz. 335 ff.)., Freibeträge klammern einen (festen oder abschmelzenden) Betrag von der Bemessungsgrundlage aus1. Freigrenzen statuieren jeweils eine Obergrenze, bis zu der bestimmte Bezüge nicht angesetzt werden (z.B. § 22 Nr. 3 Satz 2, § 23 III 5 EStG) oder ein bestimmter Aufwand abgezogen wird (s. § 4 V Satz 1 Nr. 1 Satz 2 EStG); wird die Freigrenze auch nur um 1 Euro überschritten, fällt die Erleichterung in vollem Umfang weg2. 50
Tatsächlich ist es nicht gerechtfertigt, Abzüge, die die Bemessungsgrundlage wegen verminderter Leistungsfähigkeit mindern (wie Betriebsausgaben/Werbungskosten, Sonderausgaben, persönliche Freibeträge), als Vergünstigungen zu bezeichnen. Auch die Einordnung der Steuervergütungen (s. Rz. 86 ff.) als Vergünstigungen durch § 178 II Nr. 3a AO erscheint verfehlt. Der Begriff „Steuervergünstigung“ sollte auf solche Vorschriften beschränkt werden, die den Stpfl. in Durchbrechung des steuerartbegründenden Prinzips, insb. in Durchbrechung des Leistungsfähigkeitsprinzips, bevorzugen wollen und bevorzugen. Unerheblich für die Qualifizierung als Vergünstigung ist die angewendete Technik; unerheblich ist auch, wie hoch die Zahl der Begünstigten ist. Setzt etwa der Deutsche Gewerkschaftsbund für alle Arbeitnehmer einen durch das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht gerechtfertigten Freibetrag durch, so ist trotz der hohen Zahl der Begünstigten eine Vergünstigung gegeben. Geschieht die Vergünstigung ohne zureichende Rechtfertigung, so handelt es sich um ein Privileg oder Steuergeschenk. Nicht gerechtfertigt sind Steuervergünstigungen, die einer Gruppe von Stpfl. nur um der Vorteile dieser Gruppe willen gewährt werden, nicht aber (mittelbar) aus Gemeinwohlgründen3. Was nicht (be-)steuerbar ist, kann verdeckte Begünstigung oder Privilegierung sein.
51
Danach sind insb. die aus sozialen, wirtschaftlichen oder aus anderen Gemeinwohlgründen gewährten Steuervorteile Steuervergünstigungen. Insb. werden auch die aus Gründen der Gemeinnützigkeit gewährten Steuervorteile (§§ 51 ff. AO; dazu § 20 Rz. 1 ff.) mit Recht als Steuervergünstigungen bezeichnet4.
52
Allerdings ist die Bezeichnung „Steuervergünstigung“ insofern irreführend, als diese Vergünstigungen mit der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit nichts zu tun haben. Durch sie wird keine Steuerwürdigkeitsentscheidung getroffen, sondern ein sozialer oder wirtschaftlicher Lenkungszweck, kein Besteuerungszweck verfolgt. Da die in die Steuergesetze eingestreuten Lenkungsvorschriften innerlich nichts mit der Besteuerung zu tun haben, können sie auch nicht an Prinzipien der Steuergerechtigkeit gemessen werden (s. daher das Sonderkapitel § 19). Von Steuervergünstigungen zu sprechen, ist nur deshalb gerechtfertigt, weil es sich um Vergünstigungen handelt, die in Steuergesetze eingestreut sind. Da sie mangels Offenlegung im Haushaltsplan nach Tendenz und Effekt für die Öffentlichkeit und selbst für viele Parlamentarier nicht klar erkennbar, der Erfolgskontrolle im Rahmen der jährlichen Haushaltsberatungen entzogen sind, nennt man diese Vergünstigungen auch verschleierte, verdeckte, unsichtbare oder indirekte Subventionen5.
53
Das Pendant zu den Steuervergünstigungen sind die Steuerbenachteiligungen; das sind steuerbelastende Ausnahmevorschriften, sie wirken wie Prohibitivabgaben. Ungerechtfertigte Steuerbenachteiligungen sind Steuerdiskriminierungen.
5.4 Konkurrenz der Steuertatbestände oder Steueransprüche 54
Wird ein Steuersubjekt im gleichen Zeitraum mit demselben Steuerobjekt mehrfach zu einer Steuer herangezogen, so liegt eine Doppelbesteuerung (Mehrfachbesteuerung) vor. Die Doppelbesteuerung ist mit der strafrechtlichen Idealkonkurrenz vergleichbar. Dementsprechend ist 1 Bsp.: §§ 3 Nr. 26; 13 III; 16 IV; 17 III; 32 VI EStG; zum Kinderfreibetrag s. § 8 Rz. 91 ff.; allg. Knief, Steuerfreibeträge als Instrumente der Finanzpolitik, 1968; Traxel, Die Freibeträge des Einkommensteuerrechts, Diss., 1986. 2 S. Luck, Alles oder Nichts – Die Freigrenze im Steuerrecht, Diss., 2014, 36. 3 Tipke, StuW 1980, 286 (288). 4 Dazu ausf. J. Lang, StuW 1987, 221 ff. 5 Dazu Bayer, StuW 1972, 149 ff.
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Die Gesamtschuldnerschaft
Rz. 58
§6
Doppelbesteuerung die mehrfache Erfassung ein und desselben Steuergutes durch die Steuerobjekte verschiedener Steuergesetze oder durch das Steuerobjekt eines Gesetzes1. Die h.L. spricht von Doppelbesteuerung nur bei Schuldneridentität. Sie spricht von Doppelbelastung, wenn ein und dasselbe wirtschaftliche Substrat belastet wird, ohne dass die Schuldner identisch sind.
Die Krux der Untersuchungen über die Frage, ob eine Doppelbesteuerung vorliegt, besteht darin, dass unter Vernachlässigung des Vergleichszwecks bloße Steuertechniken hauptsächlich ins Auge gefasst, die Steuerwirkungen aber vernachlässigt oder nur sekundär berücksichtigt wurden (etwa weil Juristen irrtümlich annahmen, sonst die Grenze zur Finanzwissenschaft zu überschreiten). Auf formaljuristische oder tatbestandstechnische Übereinstimmungen (auf die Steuerobjekte) kann es aber nicht ankommen. Da die Belastungswirkungen sich aus dem Steuergut ergeben, sind die Steuergüter zu vergleichen. Sie verkörpern den besteuerungswürdigen, eine bestimmte Steuerkraft repräsentierenden Sachverhalt, die Quelle der Leistungsfähigkeit. Geprüft werden muss, ob die Steuer die gleiche Quelle steuerlicher Leistungsfähigkeit (erzieltes oder verwendetes Einkommen, Vermögen, Bereicherung durch Erbschaft/Schenkung) „anzapft“ und ob sie die gleiche Wirkung auf Konsum, Investition, Sparen hat.
55
Beispiele für Belastung durch mehrere Steuergesetze: Mehrfachbesteuerung des Verbrauchs oder Aufwands mit Umsatzsteuer und speziellen Verbrauchsteuern2; Doppelbelastung des Kfz-Aufwands durch Kraftfahrzeugsteuer und Energiesteuer.
Die Mehrfacherfassung führt zur Mehrfachbelastung des nämlichen Steuerguts. Auf die Identität des Steuerschuldners und der Steuerperiode kommt es nicht an. Damit entfällt die übliche Unterscheidung zwischen Doppelbesteuerung und Doppelbelastung. Dasselbe Steuergut belasten auch Steuern, die das BVerfG als ungleichartig i.S.d. Art. 105 IIa GG beurteilt. Der vom BVerfG angestellte Vergleich der steuerbegründenden Tatbestände ist so spezifisch, dass vor allem Doppelbelastungen durch die Umsatzsteuer und die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern durchgängig in Kauf genommen werden (s. § 2 Rz. 51).
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Die Doppelbesteuerung kann demselben Steuergläubiger, sie kann auch verschiedenen Steuergläubigern zugute kommen (Bund, Ländern, Gemeinden; verschiedenen Völkerrechtssubjekten), sog. mehrfachberechtigte Doppelbesteuerung. Ist ein anderes Völkerrechtssubjekt beteiligt, so spricht man von internationaler Doppelbesteuerung3.
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6. Die Gesamtschuldnerschaft Literatur: Lauter, Gesamtschuld im Steuerrecht, Diss., 1966; Preißer, Die Gesamtschuld im Steuerrecht nach der AO 1977, Diss., 1985; Bartone, Die Gesamtschuld im Steuerrecht, AO-StB 2003, 13; Krumm, Die Gesamtschuld für öffentlich-rechtliche Geldleistungsverpflichtungen, Die Verwaltung 2013, 59.
Der Sicherung des Steuereingangs dient auch die Gesamtschuldnerschaft. § 44 AO erklärt zu Gesamtschuldnern: a) Personen, die nebeneinander dieselbe Steuer schulden (= Mehrheit von Steuerschuldnern, z.B.: § 10 III GrStG – mehrere Grundstückseigentümer, § 20 I ErbStG – Schenker und Beschenkter, § 13 I Nrn. 1, 2 GrEStG – Veräußerer und Erwerber), b) Personen, die nebeneinander für dieselbe Steuer haften (= Mehrheit von Haftungsschuldnern, z.B.: § 69 u. § 71 AO: Haftung des Geschäftsführers und des Steuerhinterziehers für dieselbe Steuer), 1 J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, Diss., 1974, 36 ff. 2 Dazu Seer, ZfZ 2013, 146. 3 Zur Beseitigung der internationalen Doppelbesteuerung s. § 1 Rz. 92 ff.
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§6
Rz. 59
Allgemeines Steuerschuldrecht
c) Personen, die nebeneinander (für) dieselbe Steuer schulden und haften (= Mehrheit von Steuer- und Haftungsschuldner, z.B.: § 42d III 1 EStG – Arbeitnehmer und Arbeitgeber für die Lohnsteuer, s. § 8 Rz. 905), d) Personen, die zu einer Steuer zusammen zu veranlagen sind (z.B.: § 26 EStG – Ehegatten zur Einkommensteuer; s. § 8 Rz. 843 ff.). 59
Soweit nichts anderes bestimmt ist, schuldet jeder Gesamtschuldner die gesamte Leistung. Welcher Gesamtschuldner in welcher Höhe in Anspruch zu nehmen ist, entscheidet die Finanzbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 5 AO, s. § 5 Rz. 146 ff.). Es handelt sich um ein Auswahlermessen; das gilt insb. im Verhältnis der Steuerschuldner zu Haftungsschuldnern (Beispiel: nach § 42d III 2 EStG zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber). Zwar kann ein Haftungsbescheid neben einem Steuerbescheid oder gar bereits vor Festsetzung der Steuer ergehen (s. § 21 Rz. 139). Zur Zahlung darf der Haftungsschuldner gem. § 219 Satz 1 AO jedoch regelmäßig (aber praktisch wichtige Ausnahmen: § 219 Satz 2 AO!) durch Leistungsgebot (§ 254 AO) nur aufgefordert werden, soweit die Vollstreckung in das bewegliche Vermögen des Steuerschuldners ohne Erfolg geblieben ist oder die Vollstreckung aussichtslos erscheint (Subsidiaritätsprinzip, s. Rz. 84). War die Inanspruchnahme des Steuerschuldners erfolglos, so muss der Haftungsschuldner in Anspruch genommen werden; das Legalitätsprinzip gestattet kein Entschließungsermessen (s. Rz. 83 und § 21 Rz. 136, m.w.N.).
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Erfüllung, Aufrechnung und Sicherheitsleistung durch einen Gesamtschuldner wirken auch für die übrigen Schuldner; andere Tatsachen – wie Erlass, Verjährung (s. aber § 191 V AO; § 21 Rz. 138), Stundung, Verwirkung, Niederschlagung – wirken nur in persona (§ 44 II 3 AO). Ein Gesamtschuldner kann nicht mit der Forderung eines anderen Gesamtschuldners aufrechnen. Säumniszuschläge entstehen nur gegenüber säumigen Gesamtschuldnern (s. § 240 IV 1 AO). Das Gleiche gilt für Zinsen. Erfüllt ein Gesamtschuldner die Steuerschuld, richtet sich der interne Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 BGB und ist auf dem ordentlichen Rechtsweg geltend zu machen1.
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Im Vollstreckungsverfahren kann nach Maßgabe der §§ 268 ff. AO die Aufteilung der Gesamtschuld beantragt werden, wenn Gesamtschuldner zusammenveranlagt werden2. Jeder Gesamtschuldner kann beantragen, dass die Vollstreckung auf den Betrag beschränkt wird, der sich bei getrennter Veranlagung ergeben würde. Die Entscheidung über den Antrag trifft das Finanzamt durch sog. Aufteilungsbescheid (s. § 21 Rz. 86).
7. Der Haftungsanspruch Literatur: Brune, Die steuerliche Haftung beim Unternehmenserwerb, Diss., 1990; Mösbauer, Die Haftung für Steuerschulden, 1990; Bax, Die Haftung nach allgemeinem Abgabenrecht aus steuerund verfassungsrechtlicher Sicht, Diss., 1992; Brodersen, Haftung und Schuld im Steuerrecht, in FS Thieme, 1993, 895; Blesinger, Haftung und Duldung im Steuerrecht, 2005; Kruse, Über Dienstleistungspflichten und Haftung, in GS Trzaskalik, 2005, 169; Bröder, Die Haftung im Steuerrecht, SteuerStud, Beilage 2/2005; Marosek, Die Haftung im Einkommensteuerrecht, Diss., 2005; Eich, Abwehr von Steuerhaftungen, KÖSDI 2006, 15060; Carlé, Das Verhältnis von Steuerschuld und Haftungsschuld, AO-StB 2008, 118; Nacke, Die Haftung für Steuerschulden3, 2012; Krumm, Die Drittwirkung eines Rechtserkenntnisaktes gegenüber dem Haftungsschuldner, StuW 2012, 329; Nacke, Ungeklärte Rechtsfragen des steuerlichen Haftungsrechts, DStR 2013, 335; Halaczinsky, Die Haftung im Steuerrecht4, 2013.
1 Zum internen Gesamtschuldnerausgleich bei zusammen veranlagten Ehegatten s. BGH v. 31.5.2006 – XII ZR 111/03, NJW 2006, 2623 (2624); dazu Witt, DStR 2007, 56; Schulenburg, FR 2008, 668; umfassend A. Meyer, Steuerliches Leistungsfähigkeitsprinzip und zivilrechtliches Ausgleichssystem, Habil., 2013, 241 ff., 335 ff.; zum Gesamtschuldnerausgleich zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer beim Lohnsteuerabzug s. Kloubert, FR 2001, 465. 2 Dazu Eich, AO-StB 2004, 335.
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Rz. 67
§6
Das Schulden besteht in einem „Leistenmüssen“. Wer leisten muss, haftet, d.h. er muss einstehen für die Erfüllung der eigenen Schuld und sich für den Fall, dass er nicht leistet, den Zugriff des Gläubigers auf den Haftungsgegenstand – prinzipiell das gesamte Vermögen – gefallen lassen (Eigenhaftung). Naturalobligationen kennt das Steuerrecht nicht. Es gilt: Wer schuldet, haftet; keine Steuerschuld ohne Haftung.
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Steuergesetze pflegen die Erfüllung der Steuerschuld (und evtl. auch anderer Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis) zusätzlich dadurch zu sichern, dass sie Haftungs- (haftungsbegründende) Tatbestände schaffen, Dritte für die Steuerschuld haften lassen (Fremdhaftung). Die Steuergesetze lassen denjenigen, der den Haftungstatbestand erfüllt, für eine fremde Steuerschuld einstehen und gewähren dem Steuergläubiger den Zugriff auf Vermögensgegenstände des Haftenden oder Haftungsschuldners (Fremdhaftung). Solche Haftungstatbestände finden sich in §§ 69–76 AO, aber auch in Einzelsteuergesetzen.
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Das Haftungsrecht regelt,
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Der Haftungsanspruch
7.1 Allgemeines
(1) wer wegen welcher Handlungen oder Zustände für die Erfüllung welcher Schulden (Haftungstatbestand) haften soll (Rz. 66 ff.); (2) womit gehaftet werden soll: unbeschränkte, beschränkte Haftung, Sachhaftung (Rz. 80); (3) in welchem Umfang die Haftung akzessorisch sein soll (Rz. 81 ff.); (4) ob für die Inanspruchnahme von Haftungsschuldnern das Legalitäts- oder das Opportunitätsprinzip gelten soll (Rz. 84); (5) ob primär oder subsidiär gehaftet werden soll (Rz. 85).
Der Haftungsanspruch entsteht, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Haftung knüpft (§ 38 AO i.V.m. § 37 I AO), jedoch entsteht der Haftungsanspruch nicht vor Entstehung des Hauptanspruchs, für den gehaftet wird; insoweit ist der Haftungsanspruch akzessorisch (s. Rz. 81 ff.). Steuerschuldner und Haftungsschuldner sind Gesamtschuldner (§ 44 I 1 AO; s. Rz. 58). Für die Entstehung des Haftungsanspruchs ist ein Haftungsbescheid nicht erforderlich1. Demnach sind die Entstehung des Haftungsanspruchs und der Erlass des Haftungsbescheids nach § 191 AO sowie die subsidiäre Inanspruchnahme nach § 219 AO (s. Rz. 85) auf Grund des Haftungsbescheids als Titel zu unterscheiden (s. § 21 Rz. 136 ff.).
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Jede Prüfung von Haftungsfällen muss folgende Paragraphenkette berücksichtigen: §§ 69 ff.; 44; 191; 219 AO. Ist die Hauptschuld erloschen, so sind §§ 44 II; 191 V AO besonders zu beachten.
7.2 Haftungstatbestände a) Die Haftungstatbestände knüpfen zum einen daran an, dass Dritte – i.d.R. durch Pflichtverletzungen – Ursachen dafür setzen, dass die Möglichkeit der Realisierung des Anspruchs sich verschlechtert, der Anspruch gefährdet wird. Insb. wer Ursachen dafür setzt, dass Steuern verkürzt werden, oder wer gar Mittäter oder Teilnehmer der Steuerhinterziehung ist, gefährdet den Anspruch; denn es ist fraglich, ob sich der Anspruch bei Aufdeckung der Tat noch realisieren lässt.
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aa) Gesetzliche Vertreter und Geschäftsführer2, Vermögensverwalter und als Verfügungsberechtigte Auftretende haften nach § 69 AO i.V.m. §§ 34; 35 AO insoweit, als Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung
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1 BFH BStBl. 1997, 171. 2 S. dazu Steeger, Die steuerliche Haftung des Geschäftsführers, Diss. 1998; Britz, Die Haftung des Geschäftsführers für Steuerschulden der GmbH2, 2002; Mösbauer, DB 2005, 1816 (Haftungsumfang); Schießl/Küpperfahrenberg, DStR 2006, 445 (Vorstände von Vereinen u. Verbänden); Beckmann, DB 2007, 994 (neuere finanzgerichtliche Rspr.); Jochum, DStZ 2007, 561 (Grundsätze); Mösbauer, SteuerStud 2007, 185 (Überblick); Blesinger, DStZ 2008, 747 (Haftungsquote); Peetz, GmbHR 2009, 186
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§6
Rz. 68
Allgemeines Steuerschuldrecht
der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt werden oder soweit infolgedessen Steuervergütungen oder Steuererstattungen ohne rechtlichen Grund gezahlt werden. Die gesetzlichen Vertreter und Geschäftsführer haben die steuerlichen Pflichten der Vertretenen zu erfüllen (§ 34 I AO)1. Die Haftung umfasst alle Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis einschließlich der Nebenleistungen2. Die Kausalität zwischen Pflichtverletzung und dem nach § 69 AO geltend gemachten Schaden ist nach der Adäquanztheorie zu beurteilen (so BFH BStBl. 2009, 342). Hypothetische Kausalverläufe sind nicht zu berücksichtigen3. 68
bb) § 71 AO begründet eine Haftung des Steuerhinterziehers, des Steuerhehlers oder des Teilnehmers an einer solchen Tat für die verkürzten Steuern und die zu Unrecht gewährten Steuervorteile sowie für die Zinsen nach § 235 AO4. Voraussetzung für die Haftung ist, dass der Täter oder Teilnehmer den objektiven und subjektiven Tatbestand einer vollendeten Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei verwirklicht hat (dazu § 23 Rz. 23 ff., 41 ff., 82 f.)5.
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cc) § 72 AO begründet eine Haftung dessen, der vorsätzlich oder fahrlässig nach Verletzung der Kontenwahrheit Guthaben, Wertsachen oder Stahlkammerinhalt herausgibt (Zuwiderhandlung nach § 154 III AO; s. § 21 Rz. 200), und zwar insoweit, als durch die Handlung die Verwirklichung von Steueransprüchen beeinträchtigt wird.
70
dd) Haftungstatbestände außerhalb der AO: Steuerentrichtungspflichtige (s. Rz. 7) haften für die einzubehaltenden und abzuführenden Steuern (§ 42d EStG betr. Arbeitgeber6; §§ 44 V 1; 45a VII EStG betr. Schuldner und die auszahlende Stelle der Kapitalerträge; § 7 IIVersStG betr. Versicherer; § 50a V 4, 5 EStG betr. Schuldner der Aufsichtsratsvergütung). Hat der Erbschaftsteuerschuldner die Erbschaft vor Entrichtung der Erbschaftsteuer einem anderen unentgeltlich zugewendet, so haftet dieser andere für die Erbschaftsteuer (§ 20 V ErbStG).
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b) Haftung Vertretener: Ein anderer Gedanke liegt dem § 70 I AO zugrunde7. Er lässt diejenigen haften, deren steuerliche Rechte und Pflichten durch solche Dritte (s. §§ 34; 35 AO) wahrgenommen werden, die sich der Steuerhinterziehung schuldig machen, und zwar für die durch die Tat verkürzten Steuern und die zu Unrecht gewährten Steuervorteile. Die Vorschrift läuft leer, wenn der Vertretene bereits originär Schuldner der hinterzogenen Steuer ist. Darüber hinaus ist eine verschuldensunabhängige Haftung des Vertretenen (z.B. nach § 42d I EStG als Arbeitgeber, s. Rz. 70) vorrangig. Die Haftung des Vertretenen für die von dem Vertreter mindestens leichtfertig verkürzten Steuern kommt dem zwar nahe; jedoch besitzt der Vertretene nach § 70 II 2 AO noch die Möglichkeit der Exkulpation.
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(Mitwirkungspflichten); Möllmann, DStR 2009, 2125 (Haftungsfalle Ehrenamt); Nacke, SteuerStud 2010, 262 (Überblick); Bruschke, DStZ 2012, 407 (Überblick); Berninghaus, DStR 2012, 1001 (Mitwirkungspflichten, Haftungsquote). Zu den Pflichten in Insolvenzfällen BFH BStBl. 2006, 201 (Lohnsteuer); 2006, 397 (LSt-Abzugspflicht auch dann, wenn Geschäftsführer Löhne aus seinem Privatvermögen zahlt); 2009, 129 (LSt-Abzugspflicht besteht bis zum Entzug der Verfügungsbefugnis); 2009, 348 (zur Pflichtenkollision zwischen Insolvenz- u. Steuerrecht). Literatur: Frotscher, BB 2006, 351; Nacke, DB 2006, 1182; Stahlschmidt/ Laws, GmbHR 2006, 410; Heeg, DStR 2007, 2134; Jatzke, ZIP 2007, 1977; Arends/Möller, GmbHR 2008, 169 (aktuelle Rspr.); Tiedtke/Peterek, GmbHR 2008, 617 (Sozialabgaben u. LSt); Kahlert, ZIP 2009, 2368; Nacke, DB 2013, 1628; A. Meyer, DStZ 2014, 228. S. BFH BStBl. 1980, 375; 2001, 271. BFH BStBl. 2008, 273 (274 ff.); 2009, 129 (131); s. auch Haunhorst, DStZ 2006, 369; Laws/Stahlschmidt, BB 2006, 1031. Dazu Joecks, wistra 1987, 248; Buß, Die Haftung des Steuerhinterziehers nach § 71 AO, Diss., 1991; Merkt, AO-StB 2009, 81; Pflaum, wistra 2010, 368; Zugmaier, SteuerStud 2012, 73. Zu den verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Feststellung einer Steuerhinterziehung und Beihilfehandlung s. BFH BStBl. 2013, 526 (527 f.). Gast-de Haan, DStJG 9 (1986), 141; Schäfer, Die Dreiecksbeziehung zwischen Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Finanzamt beim Lohnsteuerabzug, Diss., 1990, 220 ff.; Heuermann, Systematik und Struktur der Leistungspflichten im Lohnsteuerabzugsverfahren, Diss., 1998, 272 ff.; Heuermann, StuW 1998, 219; Winter, Der Arbeitgeber im Lohnsteuerrecht, Diss., 1998, 19 ff.; G. Kirchhof, Die Erfüllungspflicht des Arbeitgebers im Lohnsteuerverfahren, Diss., 2006, 120 ff.; Drüen, Die Indienstnahme Privater für den Vollzug von Steuergesetzen, Habil., 2012, 133 ff., 278 ff., 314 ff. Dazu Bruschke, StB 2012, 359.
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Rz. 76
§6
c) Eine letzte Gruppe von Haftungsvorschriften knüpft daran an, dass die Haftungssubstanz, auf die normalerweise zurückgegriffen werden kann (und mit deren Hilfe die Umsätze und Erträge meist erzielt werden), sich in fremder Hand befindet (befunden hat).
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aa) Nach § 73 AO1 haftet eine Organgesellschaft für solche Steuern des Organträgers, für welche die Organschaft zwischen ihnen steuerlich von Bedeutung ist (also nicht nur für die Beträge, die auf die Organgesellschaft entfallen). In Betracht kommen: Körperschaft-, Umsatz- und Gewerbesteuer. Die Haftung der Organgesellschaft erstreckt sich nicht auf Nebenleistungen2. Zu den Merkmalen einer Organschaft s. § 14 Rz. 1 ff.; § 17 Rz. 66 ff.
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bb) Nach § 74 AO haftet der Eigentümer von Gegenständen, die einem Unternehmen dienen3, für betriebliche Steuern, wenn der Eigentümer am Unternehmen wesentlich beteiligt (§ 74 II AO: unmittelbare oder mittelbare Beteiligung von mehr als einem Viertel am Grundoder Stammkapital oder am Vermögen des Unternehmens) ist. Die Haftung erstreckt sich auf Steuern des Unternehmens, bei denen sich die Steuerpflicht auf den Betrieb des Unternehmens gründet (z.B. Umsatzsteuer, Gewerbesteuer, Verbrauchsteuern) und die während des Bestehens der wesentlichen Beteiligung entstanden sind (§ 74 I AO).
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cc) Nach § 75 AO haftet, wer ein Unternehmen oder einen in der Gliederung des Unternehmens gesondert geführten Betrieb im Ganzen4 übereignet erhält (gilt nicht für Erwerbe aus einer Insolvenzmasse oder für Erwerbe im Vollstreckungsverfahren, s. § 75 II AO), und zwar für betriebliche Steuern (Umsatz-, Gewerbe-, Verbrauchsteuern) und für Steuerabzugsbeträge (Lohn-, Kapitalertragsteuer)5. Die Steuerschuld muss seit dem Beginn des letzten, vor der Übereignung liegenden Kalenderjahres entstanden sein und bis zum Ablauf von einem Jahr (beginnend mit der Anmeldung des Betriebs durch den Erwerber) festgesetzt (§ 155 AO) oder angemeldet (§§ 167; 168 AO) werden. Die Haftung beschränkt sich auf den Bestand des übernommenen Vermögens (§ 75 I 2 AO).
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dd) Nach den §§ 113; 120 RAO 1931 bestand eine Haftung für Steuerschulden auch auf Grund zivilrechtlicher Vorschriften. Zwar sind diese Vorschriften nicht in die Abgabenordnung 1977 übernommen worden. Wie sich aus § 191 I 1 AO („kraft Gesetzes“) i.V.m. § 191 IV AO („Ergibt sich die Haftung nicht aus den Steuergesetzen …“) und der Gesetzesbegründung (s. BT-Drucks. VI/1982, 159, zu § 172) ergibt, sollte nach Vorstellung des Gesetzgebers die Haftung für Steuerschulden nach Zivilrecht gleichwohl weiter bestehen. Dementsprechend wenden Rspr. und h.M. die zivilrechtlichen Haftungsvorschriften auch innerhalb der Abgabenordnung 1977 an6. Als zivilrechtliche Haftungsvorschriften kommen insb. in Betracht: §§ 31;
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Der Haftungsanspruch
1 Dazu Bröder, SteuerStud 2008, 164; Bruschke, StB 2009, 201; M. Schmidt, Die Inanspruchnahme der Organgesellschaft für Steuerschulden des Organträgers, Diss., 2014, 92 ff. 2 S. BFH BStBl. 2006, 3 ff.; zur Anwendung der Subsidiaritätsklausel des § 219 Satz 1 AO s. BFH BStBl. 2010, 215 (217 f.). 3 Die Haftung ist nicht nur auf körperliche Gegenstände beschränkt, sondern erfasst auch Rechte und Forderungen (z.B. auf ein Erbbaurecht), s. BFH BStBl. 2012, 763 (764 f.), Rz. 14. Darüber hinaus erstreckt sie sich auch auf ein etwaiges Surrogat (z.B. einen Veräußerungserlös oder Schadensersatz), s. BFH BStBl. 2012, 223 (225 f.), Rz. 18 ff. 4 Der Erwerb „im Ganzen“ bedeutet, dass das Unternehmen mit seinen wesentlichen Betriebsgrundlagen übergehen muss und der Erwerber dieses ohne nennenswerte Investitionen fortführen kann, s. BFH BStBl. 2011, 477 (478); zur Abgrenzung und Konkurrenz zu § 25 HGB s. Heeg, DStR 2012, 2159. 5 Dazu Dietz, Die Abgrenzung der Begriffe ,Teilbetrieb’ und ,ein in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführter Betrieb’ im Steuerrecht, Diss., 1980; Brune, Die steuerliche Haftung beim Unternehmenserwerb, Diss., 1990; Commandeur, Betriebs-, Firmen- und Vermögensübernahme, Diss., 1990, 232 ff.; Depping, DStZ 1994, 208; Mösbauer, DStZ 1995, 481. 6 Vgl. BFH BStBl. 1986, 156; 1986, 383; 1989, 952; 1990, 939; Schick, Haftung für Steuerschulden aufgrund Privatrechts, 1993; Frei, Die Erbenhaftung für Forderungen aus dem Steuerrechtsverhältnis, 1995; Mösbauer, DStZ 1996, 257; Mösbauer, DStZ 1997, 813; Els, Die außensteuergesetzliche Haftung für Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, Diss., 2004; Heintzen, DStZ 2010, 199; Tipke/Kruse/ Loose, Vor § 69 AO Rz. 22 ff.; § 191 AO Rz. 74 ff.
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§6
Rz. 77
Allgemeines Steuerschuldrecht
421; 427 (i.V.m. 714); 2382 BGB; §§ 25; 27; 28; 128; 161; 171 ff. HGB; §§ 93; 116; 117; 278; 309; 317; 318 AktG; §§ 9; 11; 24; 30–32 GmbHG; § 34 GenG. 77
Die allenfalls rudimentär im Gesetz verankerte Verweisung ist rechtsstaatlich wegen ihrer Unbestimmtheit (zum Bestimmtheitsgebot s. § 3 Rz. 243 ff.) mangelhaft. Als eine Art dynamische Verweisung erhält sie den Charakter eines konturenlosen Globaltitels, der die grundrechtsrelevante Inhaftungnahme durch einseitigen Hoheitsakt (Haftungsbescheid, dazu § 21 Rz. 136 ff.) nicht zu rechtfertigen vermag. Die mit den zivilrechtlichen Haftungsvorschriften verfolgten Schutzzwecke bedürfen zudem der Abstimmung mit dem durch die steuerrechtliche Haftung verfolgten Sicherungszweck. Dieser Reflektion wäre es dienlich, wenn der Gesetzgeber die Haftung für Steuerschulden allein durch spezifisch steuerrechtliche Haftungstatbestände zu verwirklichen suchen würde. Erben haften für die aus dem Nachlass zu entrichtenden Schulden aus dem Steuerschuldverhältnis nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts über die Haftung des Erben für Nachlassverbindlichkeiten (§ 45 II AO).
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ee) Mit Waren, die einer Verbrauchsteuer oder einem Zoll unterliegen, wird – ohne Rücksicht darauf, wem sie gehören – für die darauf ruhenden Verbrauchsteuern und den Zoll gehaftet (§ 76 AO).
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ff) Vgl. auch noch die außerhalb der Abgabenordnung geregelten Haftungsfälle: § 7 II VersStG; § 12 GrStG; § 20 V, VI ErbStG.
7.3 Haftungsumfang 80
Wenn nicht ausdrücklich etwas anderes angeordnet ist, richtet sich der Umfang der Haftung nach dem Umfang der Steuerschuld. Für diese Steuerschuld wird i.d.R. unbeschränkt, d.h. mit dem ganzen Vermögen, gehaftet. Die Sachhaftung besteht in dem Recht, sich aus einer Sache zu befriedigen. Jedoch bestehen auch Haftungsbeschränkungen. Der wesentlich Beteiligte (§ 74 AO) haftet nur mit den eingebrachten Gegenständen. Nach § 75 AO haftet der Betriebsübernehmer nur mit dem Bestand des übernommenen Vermögens. Die Sachhaftung des § 76 AO erstreckt sich nur auf die Waren, auf denen die Steuer ruht. §§ 69; 72 AO erstrecken die Haftung auf alle Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO); §§ 73 Satz 2; 74 I 3 AO erfassen neben den Steuern nur Ansprüche auf Erstattung von Steuervergütungen. § 76 AO ist antiquiert gefasst. Waren (Sachen) können nicht steuerpflichtig sein oder sonst Pflichten haben. Es gibt auch keinen Leistungsanspruch gegen Sachen. Nur Personen können Pflichten haben und Schuldner sein.
7.4 Akzessorietät der Haftung 81
Der Haftungsanspruch ist insofern akzessorisch, als er nur entstehen kann, wenn (mindestens gleichzeitig) der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis, für den gehaftet werden soll, entstanden ist. Die Entstehung des Haftungsanspruchs setzt die Verwirklichung des Schuldtatbestands und des Haftungstatbestands (s. Rz. 66 ff.) voraus (Ausnahme: § 76 II AO). Beispiel: BFH BStBl. 1993, 775, hat entschieden, dass der Arbeitgeber nach § 42d EStG nur für die gesetzlich einzubehaltende Lohnsteuer und nicht für gesetzwidrig zu hoch einbehaltene Lohnsteuer haftet. Dies folgt aus dem (vom BFH nicht erwähnten) Akzessorietätsprinzip. Der Haftungsanspruch hängt von der endgültig entstandenen Einkommensteuerschuld des Arbeitnehmers ab1. 1 So die h.M. im Schrifttum: J. Lang, StuW 1975, 130; J. Lang, RdA 1999, 65 f.; Gast-de Haan, DStJG 9 (1986), 141 (158 f.); Blümich/Wagner, § 42d EStG Rz. 28 ff.; Schmidt/Krüger33, § 42d EStG Rz. 2; HHR/Gersch, § 42d EStG Anm. 74 ff.; a.A. BFH BStBl. 1974, 756 (Lohnsteuerschuld), u. KSM/Trzaskalik, § 42d EStG Rz. A 9 ff.: keine Akzessorietät. Dies widerspricht BFH BStBl. 1985, 164 (169): „Die Haftungsschuld des Arbeitgebers ist akzessorisch“.
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Rz. 87
§6
Indessen ist die Akzessorietät limitiert. Zunächst wirken nach § 44 II AO nur Erfüllung, Aufrechnung und Sicherheitsleistung des Steuerschuldners für den Haftungsschuldner; andere Tatsachen wirken auch im Verhältnis des Steuerschuldners zum Haftungsschuldner nur in persona (§ 44 II 3 AO, s. Rz. 60). Jedoch wird § 44 II 3 AO wesentlich durch die Akzessoritätsregelung in § 191 V AO eingeschränkt: Nach § 191 V AO kann ein Haftungsbescheid in den Fällen der Verjährung und des Erlasses nicht mehr ergehen (s. § 21 Rz. 138). § 191 V AO ist lex specialis gegenüber § 44 II 3 AO. § 191 V AO ist im Steuerverfahren fehlplaziert; seine Regelung gehört in das materielle Steuerschuldrecht, d.h. in den § 44 AO.
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Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Drittwirkung der Steuerfestsetzung (§ 166 AO), wenn der Haftende als Vertreter für die Steuer des Vertretenen in Anspruch genommen wird (z.B. nach § 69 AO; s. Rz. 67). § 166 AO bewirkt in diesen Fällen einen Einwendungsausschluss des Haftungsschuldners im Interesse der Straffung des Verwaltungsverfahrens1.
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Der Steuervergütungsanspruch
7.5 Legalitätsprinzip oder Opportunitätsprinzip Das „kann“ in § 191 I 1 AO will u.E. nur dem Umstand Rechnung tragen, dass Steuerschuldner und Haftender Gesamtschuldner (§ 44 I AO) sind und die Finanzbehörde nach ihrem Ermessen entscheiden kann, welchen Gesamtschuldner sie in Anspruch nehmen will (Auswahlermessen)2. Es will hingegen nicht besagen, dass die Finanzbehörde, wenn beim Schuldner „nichts zu holen ist“, auch darauf verzichten könne, den Haftenden in Anspruch zu nehmen. Das widerspräche dem Zweck der Haftungsvorschriften und dem Legalitätsprinzip.
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7.6 Subsidiarität der Haftung Nach § 219 Satz 1 AO darf ein Haftungsschuldner, wenn nichts anderes bestimmt ist, auf Grund eines Haftungsbescheides (durch ein Leistungsgebot i.S.d. § 254 AO) auf Zahlung nur in Anspruch genommen werden, soweit die Vollstreckung in das bewegliche Vermögen des Steuerschuldners ohne Erfolg geblieben oder anzunehmen ist, dass die Vollstreckung aussichtslos sein würde (s. bereits Rz. 59). § 219 Satz 2 AO hebt die Subsidiarität allerdings für die in der Praxis am häufigsten vorkommenden Massenfälle der Haftung für den Steuerabzug (insb. Lohn-, Kapitalertragsteuer, s. § 8 Rz. 904 f., 907 ff.) wieder vollständig auf.
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8. Der Steuervergütungsanspruch Einen Anspruch auf Steuervergütung räumt der Gesetzgeber ein, wenn er eine bestimmte Steuerbelastung beseitigen will. Im Unterschied zur Steuererstattung (s. Rz. 89 ff.) entsteht der Steuervergütungsanspruch nicht infolge einer rechtsgrundlosen Zahlung; der Steuervergütungsanspruch ist vielmehr Teil der vom Gesetzgeber konzipierten tatbestandsmäßigen Belastungsregelung. Daher bestimmen die Steuergesetze den Gläubiger einer Steuervergütung ebenso wie den Steuerschuldner (§ 43 Satz 1 AO).
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Die AO enthält keine Legaldefinition der Steuervergütung; sie setzt den Begriff der Steuervergütung vielmehr voraus (s. etwa §§ 1 I; 37; 43; 46; 155 AO). Der Steuervergütungsanspruch ist ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 I AO); dementsprechend gelten für ihn die Regeln der AO und FGO.
a) Die Regelung der Steuervergütung dient hauptsächlich und herkömmlicherweise dem Zweck, eine Person zu entlasten, die nicht Steuerschuldner ist. Hierzu sind folgende zwei Fallgruppen zu unterscheiden: (1) Beseitigung der Steuerbelastung bei Überwälzung: Steuerschuldner pflegen indirekte Steuern im Preis auf die Empfänger von Waren zu überwälzen (s. § 7 Rz. 20, 106). Nun gibt es Fälle, in denen Anlass besteht, die überwälzte Steuer zurückzugewähren. Der wichtigste Fall dieser Art von Steuer1 Eingehend Krumm, StuW 2012, 329; s. auch Nacke, DStR 2013, 335 (338 ff.). 2 Dazu Gressel, KStZ 1999, 201; Nacke, GmbHR 2006, 846 (Ermessensfehler).
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§6
Rz. 88
Allgemeines Steuerschuldrecht
vergütung ist der (prinzipiell durch Verrechnung mit der Umsatzsteuerschuld gewährte) Vorsteuerabzug (s. § 17 Rz. 15, 307 ff.). Entsprechend der Intention des Umsatzsteuergesetzes, den Endverbraucher zu belasten, soll der vorsteuerabzugsberechtigte Unternehmer mit Umsatzsteuer nicht belastet, also kein Steuerträger sein. Mithin ist auf den Steuervergütungsgläubiger die Steuer zwar überwälzt worden. Die Steuervergütung beseitigt jedoch hier die Steuerbelastung, die durch Überwälzung entstanden ist. Weitere wichtige Fälle sind die Verbrauchsteuervergütungen, die bei Ausfuhr der verbrauchsteuerbelasteten Waren dem exportierenden Händler gewährt werden, auf den die Verbrauchsteuer überwälzt worden ist (vgl. z.B. § 46 EnergieStG; § 23 TabakStG). (2) Beseitigung der Steuerbelastung bei Mehrfachbesteuerung: Eine Steuervergütung gewährt das Gesetz auch dann, wenn es eine Mehrfachbesteuerung beseitigen will, so z.B. die Vergütung der KSt im (früher gegoltenen) Vollanrechnungssystem (s. § 11 Rz. 6 f., 9).
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b) Mit dem Familienleistungsausgleich (dazu § 8 Rz. 91 ff., 746 ff.) hat das JStG 1996 eine neue Art von Steuervergütung eingeführt, die dem Steuerschuldner zusteht. § 31 Satz 3 EStG behandelt das Kindergeld als Steuervergütung mit der Folge, dass für die Direktsubvention des Kindergeldes die AO und FGO anzuwenden sind1. Während ansonsten bisher lediglich die analoge Anwendung der für Steuervergütungen geltenden Vorschriften vorkam (z.B. § 6 I 1 InvZulG 1999), wird hier die Direktsubvention selbst als Steuervergütung statuiert: Das Kindergeld ist (partiell, s. § 31 Satz 2 EStG) die Vergütung der das Existenzminimum des Kindes belastenden Steuer bzw. eine monatliche kindesunterhaltsbedingte Vorab-Entlastung der Einkommensteuer (s. § 8 Rz. 92 ff.), die bei letztendlicher Gewährung des Kinder- u. Betreuungsfreibetrages nach § 31 Satz 4 EStG aber negativ anzurechnen (d.h. der Einkommensteuer hinzuzurechnen) ist. Soweit das Kindergeld die steuerliche Wirkung des Kinder- und Betreuungsfreibetrages übersteigt, besitzt es den Charakter einer Direktsubvention. Damit folgt der Gesetzgeber der verfehlten Rspr. des BVerfG, nach der das Kindergeld in einen fiktiven Kinderfreibetrag umgerechnet werden darf (zur Kritik s. § 8 Rz. 95 ff.).
9. Der Steuererstattungsanspruch2 89
Ist eine Steuer, eine Steuervergütung, ein Haftungsbetrag oder eine steuerliche Nebenleistung ohne rechtlichen Grund gezahlt oder zurückgezahlt worden, so entsteht für den, auf (gemeint 1 BMF-Einführungsschreiben zum Familienleistungsausgleich, BStBl. I 1995, 806; 1998, 348; BFH/NV 2007, 865. 2 Dazu Drenseck, Das Erstattungsrecht der AO 1977, Diss., 1977; Bergmann, BB 1992, 893; Nacke/Peichert, DStZ 1996, 207; Seer/Drüen, StuW 1998, 208 (§ 37 II AO u. Sicherungszession); Seer/Drüen, NJW 1999, 265 (Sicherungszessionar). Zu Erstattungsansprüchen bei Ehegatten: Arens, NJW 1996, 704; Urbahns, DStZ 1997, 563; Paus, FR 1998, 143; Grönwoldt, DStR 2007, 1058 (Abtretung von Erstattungsansprüchen); Jüptner, UVR 2008, 180 (Erbschaftsteuer).
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Der Steuererstattungsanspruch
Rz. 91
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ist: für) dessen Rechnung gezahlt worden ist (das ist i.d.R. der, dessen – vermeintliche – Schuld getilgt werden sollte), ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch gegen den Leistungsempfänger, den § 37 II AO allgemein umschreibt. § 37 II 1 AO gilt sowohl für den Erstattungsanspruch des Stpfl. gegen die Finanzbehörde1 als auch für den umgekehrten Fall der Rückforderung einer an den Stpfl. oder an einen Dritten rechtsgrundlos geleisteten Steuererstattung durch die Finanzbehörde2 und erfasst damit folgende Fälle: (1) Zahlung einer Steuer durch den Stpfl. oder Entrichtungspflichtigen; (2) Rückzahlung einer Steuer durch das Finanzamt; (3) Zahlung einer Steuervergütung durch das Finanzamt; (4) Rückzahlung einer Steuervergütung durch den Vergütungsgläubiger; jeweils ohne rechtlichen Grund; (5) Zahlung eines Haftungsbetrags durch einen Haftenden; (6) Rückzahlung eines Haftungsbetrags durch das Finanzamt; (7) Zahlung einer steuerlichen Nebenleistung (s. Rz. 4) durch den Leistungspflichtigen; (8) Rückzahlung einer steuerlichen Nebenleistung (s. Rz. 4) durch das Finanzamt.
Zahlung ohne rechtlichen Grund liegt nach h.M. vor, wenn mehr gezahlt worden ist als nach dem Verwaltungsakt, der die Leistung festsetzt, geschuldet wird. Ist der Verwaltungsakt nichtig, ist unstreitig ohne rechtlichen Grund gezahlt worden. Ist der Verwaltungsakt zwar rechtswidrig, aber rechtswirksam (s. § 21 Rz. 106 ff.), so bildet die Rechtswirksamkeit des Verwaltungsakts den rechtlichen Grund3. Ein Erstattungsanspruch entsteht erst, wenn der rechtswidrige Verwaltungsakt aufgehoben oder geändert worden ist. Das Vorliegen oder Fehlen eines rechtlichen Grundes ist unmittelbar aus dem Gesetz zu entnehmen, wenn ein Verwaltungsakt zur Festsetzung der Leistung nicht vorgesehen ist. Auch ein verfassungswidriges Gesetz liefert einen rechtlichen Grund, wenn das BVerfG die Weitergeltung des Gesetzes zugelassen hat (dazu § 22 Rz. 285 ff.)4.
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Erstattungsberechtigt ist derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung geleistet worden ist. Es kommt nicht darauf an, von wem oder mit wessen Mitteln gezahlt worden ist. Maßgeblich ist vielmehr, wessen Steuerschuld nach dem Willen des Zahlenden, wie er im Zeitpunkt der Zahlung der Finanzbehörde erkennbar hervorgetreten ist, getilgt werden sollte5. Hinsichtlich eines Erstattungsanspruchs sind Gesamtschuldner (z.B. zusammenveranlagte Ehegatten, s. Rz. 58) weder Gesamtgläubiger i.S.d. § 428 BGB noch Mitgläubiger i.S.d. § 432 BGB. Übersteigen die Steuerabzugsbeträge (z.B. Lohn-, Kapitalertragsteuer) und Vorauszahlungen die gemeinsame Steuerschuld, richtet sich der Erstattungsanspruch des einzelnen Ehegatten (z.B. nach einer zwischenzeitlichen Trennung) danach, auf wessen Rechnung die Zahlungen erfolgt sind. Bei Vorauszahlungen ohne besondere Tilgungsbestimmung kann davon ausgegangen werden, dass
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1 Davon zu unterscheiden sind von Insolvenzverwaltern gegen den Fiskus geltend gemachte (bürgerlichrechtliche) Ansprüche auf Rückgewähr insolvenzrechtlich angefochtener Steuerzahlungen; s. BFH BStBl. 2012, 854 (855), Rz. 11; 2013, 109 (110 f.), Rz. 9 ff.; 2014, 359 (360); Krumm, ZIP 2012, 959 (961 f.). 2 BFH BStBl. 2011, 607 f. Der Rückforderungsanspruch richtet sich nicht gegen das Kreditinstitut, das lediglich als „Zahlstelle“ fungiert, s. BFH BStBl. 2012, 167 f., Rz. 8 ff.; 2013, 270 (271 f.), Rz. 15 ff. 3 So die wohl herrschende formelle Rechtsgrundtheorie (s. BFH BStBl. 2003, 43; HHSp/Boeker, § 37 AO Rz. 35 ff.; Kühn/v. Wedelstädt/Blesinger20, § 37 AO Rz. 10). A.A. die insb. von Tipke/Kruse/ Drüen, § 37 AO Rz. 35 ff., vertretene materielle Rechtsgrundtheorie, nach der sich der rechtliche Grund i.S.d. § 37 II AO allein aus dem materiellen Recht ergibt. Allerdings könne der Erstattungsanspruch erst nach Änderung bzw. Aufhebung des rechtswidrigen Verwaltungsakts geltend gemacht werden. Drenseck, Das Erstattungsrecht nach der AO 1977, 64 f., begründet dies mit einem formellen Behaltensrecht. Damit hat der Theorienstreit i.Erg. geringe praktische Bedeutung, da beide Theorien die Wirksamkeit des fehlerhaften Verwaltungsakts respektieren. 4 Gegen diese unbefriedigende Rechtslage Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, Diss., 2003 (dazu Tipke, StuW 2004, 187). 5 BFH BStBl. 2009, 38 (40); 2011, 607 (608).
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§6
Rz. 91
Allgemeines Steuerschuldrecht
der leistende Ehegatte nicht nur auf seine, sondern auf die gemeinsame Steuerschuld geleistet hat1.
1 S. i.E. BFH BStBl. 2011, 607 (609 f.); ausf. BMF BStBl. I 2013, 70, mit Fallgruppen. Zum internen Ausgleich bei Ehegatten ausf. A. Meyer, Steuerliches Leistungsfähigkeitsprinzip und zivilrechtliches Ausgleichsystem, Habil., 2013, 427 ff., 452 ff.
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Besonderes Steuerschuldrecht § 7 Einführung in das besondere Steuerschuldrecht A. Grundsätze der Gestaltung von Steuerarten Literatur1: Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, 1970; Neumark (Hrsg.), Hdb. der Finanzwissenschaft3, Bd. I–IV, 1977–1983; Schmölders/Hansmeyer, Allgemeine Steuerlehre5, 1980; Haller, Die Steuern, Grundlinien eines rationalen Systems öffentlicher Abgaben3, 1981; Stiglitz/Schönfelder, Finanzwissenschaft2, 1989 (Nachdruck 1996), 408 ff.; J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, BMF-Schriftenreihe, Heft 49, 1993; Musgrave/Musgrave/Kullmer, Die öffentlichen Finanzen in Theorie und Praxis, Bd. 25, 1993; Thuronyi, Tax Law Design and Drafting, 1996/98 (rechtsvergleichend); Tipke, StRO II2, 2003; Homburg, Allgemeine Steuerlehre6, 2010; Institute for Fiscal Studies, Dimensions of Tax Design, The Mirrlees Review, Oxford 2010.
Das besondere Steuerschuldrecht, d.h. die Gesamtheit der einzelnen Steueransprüche und ihrer Entstehungsgründe, bestimmt die material-rechtsstaatliche Qualität der Steuerrechtsordnung sowie die ökonomischen Wirkungen der Verteilung von Steuerlasten. Ob die Verteilungswirkungen gerecht oder ungerecht sind, ob die Wirtschaft schonend behandelt oder geschröpft wird, ob die Bildung privaten Wohlstands gefördert oder gehemmt wird, dies alles hängt davon ab, welche Steueransprüche der Steuerstaat statuiert, wie er ihre Tatbestandsvoraussetzungen gestaltet, welches Steueraufkommen er mit der Verwirklichung welcher Steueransprüche schöpft, kurzum: für welches System von Steueransprüchen sich der Steuerstaat entscheidet. Deshalb führt das besondere Steuerschuldrecht zu materiellen Grundfragen der Besteuerung, die Ökonomen und Juristen gleichermaßen interessieren und diskutieren. Ein „gutes Steuersystem“ kann nur ein interdisziplinär durchdachtes sein.
1
Die Finanzwissenschaft reflektiert seit jeher über die optimale, ökonomisch rationale Gestaltung von Steuern, über ein sog. „gutes“ oder „rationales“ Steuersystem2. Adam Smith entwickelte in seinem 1776 publizierten Werk „Wohlstand der Nationen“3 folgende vier Besteuerungsgrundsätze:
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– Gleichheit der Besteuerung: Die Bürger sollen Steuern im Verhältnis zu ihren Fähigkeiten zahlen, und zwar besonders im Verhältnis zum Einkommen, das sie unter dem Schutze des Staates genießen. – Bestimmtheit der Besteuerung: Zahlungstermin, Zahlungsart und Zahlungsbetrag sollen jedermann klar und deutlich sein. – Bequemlichkeit der Besteuerung: Die Steuer soll zu der Zeit und in der Weise erhoben werden, die dem Bürger am bequemsten ist. – Wohlfeilheit der Besteuerung: Die Kosten der Steuererhebung sollten möglichst gering sein. Bis heute haben diese, von John Stuart Mill4 sog. klassischen Steuermaximen nichts von ihrer Richtigkeit eingebüßt und lassen sich auch verfassungsrechtlich im Grundgesetz verankern. Die beiden ersten Steuermaximen beinhalten die Steuergleichheit (s. § 3 Rz. 110 ff.) und die Bestimmtheit von Steuergesetzen (s. § 3 Rz. 243 ff.). Das Bequemlichkeitspostulat enthält die rechtsstaatliche Komponente des Übermaßverbots (s. § 3 Rz. 180 ff.) und die Komponente der Effizienz und Entscheidungsneu1 S. auch die in § 1 Rz. 17 zitierten Klassiker sowie das § 3 vor Rz. 52 zitierte Schrifttum zur Konsumorientierung des Steuersystems. 2 Demgegenüber befasst sich die Rechtswissenschaft erst in jüngster Zeit mit der juristisch rationalen Gestaltung von Steuerarten, die über die Dogmatisierung des vorgefundenen Steuerartenrechts hinausgeht. Band II der StRO von Tipke ist der erste, umfassende u. detaillierte Entwurf zu einem juristisch rationalen System von Steuerarten. Das 2011 erschienene Bundessteuergesetzbuch von P. Kirchhof zielt ebenfalls auf ein verfassungsrechtlich legitimiertes, rationales Gesamtsteuersystem ab. 3 An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations in der dt. Ausgabe von Recktenwald: Der Wohlstand der Nationen5, 1990, 703 ff. 4 Grundsätze der politischen Ökonomie, dt. Ausgabe von Soetbeer, 1869, 3. Bd., 4. Buch, 2. Kap.
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3
§7
Rz. 4
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
tralität der Besteuerung. Wird nämlich die Steuer in einer dem Stpfl. „unbequemen“ Weise und zum „unbequemen“ Zeitpunkt erhoben, dann aktiviert sie den Steuerwiderstand und das Ausweichverhalten des Bürgers. Schließlich fordert die vierte Steuermaxime die Praktikabilität und Einfachheit der Besteuerung. Die vierte Steuermaxime scheint der Gesetzgeber völlig aus den Augen verloren zu haben.
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Während die Vertreter der klassischen nationalökonomischen Lehre (s. § 1 Rz. 17) den normativ-ethischen Besteuerungsgrundsätzen wie Adam Smith stets einen hohen Stellenwert eingeräumt haben1, ist die moderne finanzwissenschaftliche und betriebswirtschaftliche Steuerlehre stark quantitativ-empirisch ausgerichtet und scheut sich, normativ-ethische Anforderungen an das Steuersystem aufzustellen. Effizienz steht dabei an erster Stelle; gegenüber normativen Aussagen zur Steuergerechtigkeit übt man dagegen Zurückhaltung2.
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Mit dem Blick auf die vorgenannten „klassischen“ und „modernen“ Steuermaximen lassen sich an die Gestaltung von Steuerarten folgende vier Grundanforderungen ökonomischer und rechtsstaatlicher Rationalität stellen3: – Gerechtigkeit (einschließlich wirtschaftlicher Effizienz); – Ergiebigkeit (einschließlich Flexibilität); – Unmerklichkeit (einschließlich Bequemlichkeit); – Praktikabilität (einschließlich Bestimmtheit, Transparenz, Einfachheit und Wohlfeilheit).
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1. Gerechtigkeit (einschließlich wirtschaftlicher Effizienz): Erste Voraussetzung für die Rationalität und Akzeptanz einer Steuer ist ihre Gerechtigkeit. In einem Rechtsstaat gilt der Primat der Gerechtigkeit; eine ungerechte Steuer ist in einem Rechtsstaat unhaltbar, auch wenn sie i.Ü. alle Steuermaximen optimal erfüllt4.
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Die Maxime der Steuergerechtigkeit ist in das rechtsstaatliche Postulat der Steuergleichheit eingebunden und beinhaltet gleichmäßige Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (s. § 3 Rz. 110 ff., 40 ff.). Steuergerechtigkeit im Rechtssinne ist der systemkonsequente Vollzug der Steuergleichheit und der Prinzipien, die den Gleichheitssatz konkretisieren5. Wie bereits ausgeführt (§ 3 Rz. 42), zielt die rechtliche Dogmatisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips auf ein von Sozialzwecknormen möglichst entlastetes Steuersystem ab, in dem wirtschaftlich gleiche Sachverhalte möglichst gleich mit gleicher Belastungswirkung besteuert werden; das rechtliche Verständnis von Steuergleichheit kann um so besser mit dem ökonomischen Effizienzpostulat vereinbart werden, je strenger es gehandhabt wird. Auf diese Weise treffen sich das juristische Ziel der Steuergerechtigkeit im Sinne von Steuergleichheit und das ökonomische 1 In dieser Tradition insb. Musgrave/Musgrave/Kullmer, Öffentliche Finanzen, 9 f. (an 1. Stelle: „Die Verteilung der Steuerlast soll gerecht sein. Jeder soll seinen ,gerechten Anteil’ zahlen müssen“). Neumark, Steuerpolitik, unterscheidet: I. Fiskalisch-budgetäre Besteuerungsgrundsätze; II. Ethisch-sozialpolitische Besteuerungsgrundsätze (1. Gerechtigkeitspostulate: Allgemeinheit, Gleichmäßigkeit der Besteuerung, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder Prinzip der Besteuerung nach der persönlich-individuellen Leistungsfähigkeit; 2. Grundsatz der steuerlichen Umverteilung von Einkommen und Vermögen); III. Wirtschaftspolitische Besteuerungsgrundsätze; IV. Steuerrechtliche und steuertechnische Grundsätze (1. Grundsatz der Widerspruchslosigkeit und Systemhaftigkeit der Steuermaßnahmen; 2. Grundsatz der Steuertransparenz; 3. Grundsatz der Praktikabilität der Steuermaßnahmen; 4. Grundsatz der Stetigkeit des Steuerrechts; 5. Grundsatz der Wohlfeilheit der Besteuerung; 6. Grundsatz der Bequemlichkeit der Besteuerung); etwas anders die Gewichtung von Stiglitz/Schönfelder, Finanzwissenschaft, 408: 1. Effizienz, 2. Einfachheit, 3. Flexibilität, 4. Transparenz, 5. Gerechtigkeit. 2 Z.B. Homburg, Steuerlehre, 141 ff.; 195 ff., der allerdings die Beschäftigung mit Gerechtigkeitsfragen durchaus auch für die Finanzwissenschaft als sinnvoll erachtet. Zum möglichen Beitrag der Finanzwissenschaft zur Diskussion über Steuergerechtigkeit s. auch Stiglitz/Schönfelder, Finanzwissenschaft, 408 ff., 427. Zur erfahrungswissenschaftlichen Dimension der Gleichmäßigkeit der Besteuerung Schmiel, ORDO Bd. 64 (2013), 137. 3 Dazu ausf. J. Lang, Steuergesetzbuch, 93 ff. 4 Tipke, StRO II2, 2003, 593 f. 5 Der von Neumark, Steuerpolitik, 172, aufgestellte „steuerrechtliche“ Grundsatz der Widerspruchslosigkeit und Systemhaftigkeit der Steuermaßnahmen konkretisiert also das Gerechtigkeitspostulat der Gleichheit (II.1). Vgl. auch Tipke, StRO II2, 2003, 592.
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Grundsätze der Gestaltung von Steuerarten
Rz. 10
§7
Ziel der Effizienz in dem Postulat der Besteuerungsneutralität, das die Entscheidungsneutralität der Besteuerung fordert1. Indessen verflüchtigt sich die Zielharmonie von Steuergerechtigkeit und ökonomischer Effizienz, wenn die sozialstaatliche, auf den Ausgleich sozialer Ungleichheiten (s. § 3 Rz. 212) gerichtete Steuergerechtigkeit in Gestalt der Umverteilungsgerechtigkeit ins Spiel gebracht wird. In der ökonomischen Literatur ist es üblich geworden, das Postulat der Steuergerechtigkeit mit dem sozialethischen Postulat der Umverteilung zu identifizieren und sodann hinter das erstrangige Ziel der Effizienz zu setzen2. Die Wohlstandskorrektur durch Umverteilung ist jedoch ein sozialstaatlich fundierter Sozialzweck der Besteuerung (zu Umverteilungsnormen s. § 3 Rz. 21, 212), der von der gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit abzuschichten ist3. So ergibt sich insb. die Progressivität des Einkommensteuerrechts nicht aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip (s. § 3 Rz. 212). Hohe Umverteilungsintensität stört nicht nur die Effizienz, sondern wegen der Substanzsteuer- und Steuerwiderstandseffekte auch die gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit (s. § 3 Rz. 59 ff.). Angesichts der sozialpolitischen Überfrachtung des Steuerrechts (s. § 1 Rz. 8) vermag man auch als Jurist das Effizienzpostulat als Komponente der Steuergerechtigkeit zu verstehen und die sozialschädlichen Effekte einer zu umverteilungsintensiven Besteuerung zu erkennen4.
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2. Ergiebigkeit (einschließlich Flexibilität5): Eine Steuer dient der Deckung des Finanzbedarfs. Also sollte sie ergiebig sein. Indessen verhindert ein Fiskalismus, der auf die Leistungskraft der Wirtschaft keine Rücksicht nimmt und die ökonomischen Eigenschaften und Wirkungen eines Steuersystems negiert, das Wachstum der Wirtschaft und richtet sich letztlich gegen sich selbst, weil der Staat nur an dem teilhaben kann, was erwirtschaftet worden ist. Deshalb sollte das Steuersystem flexibel sein, d.h. möglichst ohne die mittlerweile gefürchtete Steueränderungsgesetzgebung auf Veränderungen der wirtschaftlichen Lage reagieren können, zumal es wegen politischer Kontroversen häufig unmöglich ist, per Änderung von Steuergesetzen zur rechten Zeit das ökonomisch Richtige zu tun. Im Idealfall ist also die Flexibilität im Steuertatbestand eingebaut (sog. built-in-flexibility), d.h. das Steueraufkommen entwickelt sich ohne Steueränderungsgesetzgebung konjunkturgerecht; die Steuer wirkt konjunkturstabilisierend.
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Die beste built-in-flexibility haben die Steuern auf die konjunkturabhängigen Einkommen (ESt/KSt). In einer Periode der Stagflation (Stagnation + Inflation) verschlechtert sich die Flexibilitätseigenschaft der ESt/KSt, weil deren Belastung infolge nominaler Erhöhung der Einkommen steigt, obwohl die Senkung der Ertragsteuerbelastung konjunkturgerecht wäre. Die built-in-flexibility von Einkommensteuern wird gestört durch ertragsunabhängige Besteuerungselemente (insb. Zins- und Verlustabzugsverbote). Die Vorstellung, auf diese Weise das Steueraufkommen von Konjunkturverlauf und unternehmerischen Risiken abzukoppeln, ist trügerisch. Vielmehr besteht die Gefahr, Unternehmen, die sich bereits in einer wirtschaftlich prekären Situation befinden, durch den Steuerzugriff in die Insolvenz zu treiben. Auch ertragsunabhängige Steuern auf den Vermögensbestand (Grundsteuer und früher Vermögensteuer, Gewerbekapitalsteuer) reagieren relativ wenig auf die Konjunktur und werden daher besonders
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1 Dazu Elschen, StuW 1991, 99, u. F.W. Wagner, StuW 1992, 2, sowie Osterloh, FS Selmer, 2004, 875; Schmiel, ORDO Bd. 64 (2013), 137; Fuest, DStJG 37 (2014), 65 (66 ff.). Zur Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung s. § 13 Rz. 168 ff. (m.w.N.). Dabei hat aus ökonomischer Sicht das Postulat der Finanzierungsneutralität Vorrang vor Rechtsformneutralität, Spengel/Zinn, FS J. Lang, 2010, 399 (420); Schreiber/Spengel, BFuP 2006, 275; krit. hinsichtlich der realpolitischen Bedeutung des Postulats der Finanzierungsneutralität Broer, StuW 2010, 57; zur Abgrenzung zwischen Fremd- und Eigenkapital grundl. Schrecker, Mezzanine-Kapital im Handels- und Steuerrecht, Diss., 2012. 2 So z.B. Schneider, StuW 1989, 328 (329): 1. Effizienz; 2. Gleichmäßigkeit als Aufgabe einer Verteilungspolitik; 3. Einfachheit der Besteuerung; zum Zielkonflikt auch Homburg, Steuerlehre, 205 ff.; Raskolnikov, 98 Cornell Law Review (2013), 523 (544 ff.). 3 P. Kirchhof, Die Steuern, HStR V3, § 118 Rz. 23 ff., ist sogar der Meinung, dass das derzeitige Steuerrecht überhaupt nicht mit dem Ziel der Umverteilung gerechtfertigt werden könne. S. auch § 3 Rz. 212. 4 Prägnant Schneider, StuW 1989, 328 (329): „Das Steuerrecht unter den Vorrang der Effizienz zu stellen, heißt zugleich, einer ersten Stufe von Gerechtigkeit zu genügen; denn ein Wachstum des Kuchens Volkseinkommen erlaubt, den Ärmsten mehr zu geben, ohne den anderen ihr Bisheriges zu nehmen“. 5 Dazu Neumark, Steuerpolitik, 283 ff. (Grundsatz der aktiven Flexibilität), 295 ff. (Grundsatz der passiven [„eingebauten“] Flexibilität); Stiglitz/Schönfelder, Finanzwissenschaft, 413 ff.
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§7
Rz. 11
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
in der Rezession unerträglich. Die indirekten Steuern auf den Konsum wie insb. die Umsatzsteuer vermögen besonders in Bezug auf den notwendigen Konsum nicht konjunkturgerecht zu reagieren. 11
3. Unmerklichkeit1 (einschließlich Bequemlichkeit): Unmerklich ist eine Steuer, wenn ihre Belastung vom Bürger nicht oder kaum bemerkt wird. Als unmerklich gelten indirekte Steuern; sie werden im Preis versteckt und überwälzt (s. Rz. 20). Für den Bürger sind sie insofern „bequeme“ Steuern, als er die Steuerlasten durch sein Konsumverhalten steuern kann. Durch endgültigen oder vorübergehenden Konsumverzicht kann er die für ihn „unbequeme“ Steuer vermeiden oder zu einem späteren, für ihn „bequemen“ Zeitpunkt tragen. Als merklich und unbequem gelten direkte Steuern, namentlich die progressive Einkommensteuer. Bei dieser Steuer ist der circulus vitiosus von Merklichkeit und Steuerwiderstand am deutlichsten zu beobachten: Die Merklichkeit aktiviert den Steuerwiderstand. Der Steuerwiderstand bricht durch Einwirkung auf den Gesetzgeber, steuerminimierende Rechtsgestaltung und Steuerhinterziehung Lücken in die Besteuerung; die dadurch notwendigen hohen Steuersätze verschärfen den Steuerwiderstand, dem durch Missbrauchsvorschriften entgegengewirkt wird, die eine der Hauptursachen der Kompliziertheit der Einkommensteuer sind. Durch die in § 3 Rz. 76 ff. dargelegte Sparbereinigung der Einkommensteuer wird deren Bequemlichkeit bedeutend verbessert: Durch Konsumverzicht kann die Besteuerung aufgeschoben werden; entsprechend dem klassischen Bequemlichkeitspostulat entsteht die Einkommensteuer zum ökonomisch „richtigen“ Zeitpunkt. Dies ist sowohl aus traditioneller opfertheoretischer Sicht (s. § 8 Rz. 801) als auch aus moderner optimalsteuertheoretischer Sicht der Zeitpunkt, in dem das Einkommen für den Konsum verfügbar ist und das Konsumopfer erbracht werden kann, und nicht ein Zeitpunkt während der Phase des Sparens und der Sicherung des zukünftigen Konsums.
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4. Praktikabilität (einschließlich Bestimmtheit, Transparenz, Einfachheit und Wohlfeilheit): Steuern müssen sowohl im Interesse des Staates als auch der Bürger praktikabel sein. Ihre gesetzlichen Tatbestände müssen einfach und verständlich, die Steuerbelastung transparent und die Kosten der Steuererhebung gering sein. Die Praktikabilität der Besteuerung hängt also von mehreren Bedingungen „klassischer“ und „moderner“ Steuermaximen ab2:
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(1) Praktikabilität setzt zunächst rechtsstaatliche Bestimmtheit voraus: Unklare, unverständlich formulierte Steuergesetze verunsichern die Steuerpraxis, werfen überflüssige Zweifelsfragen auf, verzögern Entscheidungsprozesse, erschweren die Vorhersehbarkeit von Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen.
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(2) Eng verknüpft mit dem klassischen (rechtsstaatlich fundierten) Bestimmtheitspostulat ist die moderne Forderung der Transparenz3: In einem rechtstechnisch schwierigen Gebiet wie dem Steuerrecht sind dem Bemühen um einfache Gesetze mit bürgernaher Sprache Grenzen gesetzt. Aber Steuergesetze müssen nicht so kompliziert formuliert und verklausuliert sein, dass ihre Texte selbst von Steuerexperten nicht mehr verstanden werden. Das rechtsstaatliche Gebot der Normenklarheit ist verletzt, wenn das Zusammenspiel der einzelnen Tatbestände und Gesetze nicht mehr verständlich ist. Dabei ist die Kompliziertheit und Undurchschaubarkeit der Steuergesetze auch der Zerklüftung des Steuerrechts durch Gruppeninteressen zuzuschreiben (s. § 3 Rz. 1). Komplizierte Steuergesetze mindern die Gerechtigkeitsqualität einer Steuer, weil nur der Wohlinformierte, der gut Beratene die vom komplizierten Gesetz gewährten Möglichkeiten der Steuervermeidung ausschöpfen kann (sog. Dummensteuereffekt, s. § 1 Rz. 23). Insofern gilt die Devise: „Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung“ (s. § 3 Rz. 145 ff.).
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(3) Komplizierte Steuergesetze vereiteln schließlich die Wohlfeilheit der Besteuerung, nach der die Kosten der Steuererhebung möglichst gering sein sollen, denn der Staat muss zu viele Finanzbeamte und Richter beschäftigen, um Steueransprüche mit komplizierten Tatbestandsvoraussetzungen durch1 Zur Ambivalenz des Postulats der Unmerklichkeit aus demokratischer Sicht Hey, FS Stern, 2012, 25 (29 ff.). 2 Zu den verschiedenen Aspekten der Praktikabilität insb. Neumark, Steuerpolitik, 368 ff.; Arndt, Praktikabilität und Effizienz, Zur Problematik gesetzesvereinfachenden Verwaltungsvollzuges und der „Effektuierung“ subjektiver Rechte, Habil., 1983; Locher, FS Höhn, 1995, 189; Herzig, BB 2000, 1863 (aus betriebswirtschaftlicher Sicht). Zur Steuervereinfachung s.§ 3 Rz. 145 ff. (m.w.N.). 3 Vgl. Stiglitz/Schönfelder, Finanzwissenschaft, 416 ff.
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Grundsätze der Gestaltung von Steuerarten
Rz. 18
§7
zusetzen; für den Stpfl. ist der Beratungsaufwand zu hoch. Im Allgemeinen verursachen indirekte Steuern (s. Rz. 20) weniger Verwaltungsaufwand als direkte Steuern, weil indirekte Steuern wegen ihrer Unmerklichkeit weniger Steuerwiderstand erzeugen und von relativ wenigen Steuerschuldnern, z.B. nur von den Herstellern und Importeuren verbrauchsteuerpflichtiger Waren (s. § 18 Rz. 109 ff.) erhoben werden. Die Relation von Aufkommen und Verwaltungsaufwand ist besonders günstig bei der Energiesteuer und Tabaksteuer, weil nur sehr wenige Unternehmen Steuerschuldner sind und die Bürger infolge ihrer Gewohnheiten bereit sind, einen hohen Preis für Autofahren und Rauchen zu bezahlen. Demgegenüber verursacht die Erhebung der direkten Steuern einen fragwürdig hohen Verwaltungsaufwand; dieser könnte verringert werden, wenn die Steuertatbestände um Ausnahme- und Sondertatbestände bereinigt und auf Grundstrukturen gleichmäßiger Lastenausteilung zurückgeschnitten werden würden1. Besonders ungünstig ist die Relation von Verwaltungsaufwand und Aufkommen bei den Substanzsteuern, wo der Verwaltungsaufwand zudem noch für die Ungleichheiten der Bewertung verschwendet wird (s. § 16 Rz. 6 u. 62).
5. Gerechtigkeit und Ergiebigkeit einer Steuer sind Eigenschaften, welche die materielle Rationalität einer Steuer bestimmen. Unmerklichkeit und Praktikabilität bestimmen die formelle Rationalität. Die direkten Steuern auf das Einkommen haben prinzipiell eine hohe materielle Rationalität; sie sind am besten geeignet, die gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu verwirklichen und sie sind ergiebig. Indessen entfaltet sich die materielle Rationalität zulasten der formellen Rationalität, zulasten der Unmerklichkeit und Praktikabilität. Hingegen sind die indirekten Steuern auf die Verwendung von Einkommen wohl unmerklich, praktikabel und ergiebig, allerdings zulasten der Gerechtigkeit. In einem Rechtsstaat ist aber auch bei den indirekten Steuern darauf zu achten, dass die Grundanforderung der Steuergerechtigkeit nicht ausgehöhlt wird (vgl. § 3 Rz. 70 f.).
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Rechtsstaatlich inakzeptabel ist die Vernachlässigung der Gerechtigkeit dort, wo sie im Steuersystem am besten verwirklicht werden könnte: Traditionell wird die Einkommensteuer wegen ihrer Gerechtigkeit und Ergiebigkeit als „Königin“ der Steuern bezeichnet2. Der desolate Zustand des heutigen Einkommensteuerrechts (s. § 3 Rz. 1 f.) hat die Ergiebigkeit der Einkommensteuer nicht beeinträchtigt3, wohl aber hat die Einkommensteuer ihre Krone verloren: die Gerechtigkeit. 6. Zusammenfassend ist festzustellen, dass es keine Steuerart gibt, welche die Grundanforderungen materieller und formeller Rationalität optimal zu erfüllen vermag. Deshalb ist das Vielsteuersystem das theoretisch richtige System (s. § 3 Rz. 54), weil in einem solchen System die unterschiedlich strukturierten Steuerarten in ihren Eigenschaften ergänzt und Rationalitätsdefizite einzelner Steuerarten im ganzen Steuersystem aufgefangen und ausgeglichen werden können4. Das Rationalitätsdefizit des sog. Steuerchaos, der Steuerrechtsunordnung (s. § 3 Rz. 1) beruht indessen nicht auf dem Syllogismus von Gerechtigkeit, Ergiebigkeit und damit notwendig verknüpfter Merklichkeit und Inpraktikabilität; es bringt vielmehr Ungerechtigkeit um den Preis von Merklichkeit und Inpraktikabilität hervor.
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Schema der Steuerartenbewertung materielle Rationalität der Steuer
Gerechtigkeit
Unmerklichkeit
Ergiebigkeit
Praktikabilität
formelle Rationalität der Steuer 18
Einstweilen frei. 1 Vgl. dazu J. Lang, Steuergesetzbuch. 2 Popitz, Einkommensteuer, in Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 3. Bd.4, 1926, 400, 402; Raupach/Tipke/Uelner, Niedergang oder Neuordnung des deutschen Einkommensteuerrechts?, 1985, 18. 3 Dies hebt hervor Raupach/Tipke/Uelner, Niedergang oder Neuordnung des deutschen Einkommensteuerrechts?, 1985, 183. 4 Aus finanzwissenschaftlicher Sicht Homburg, Steuerlehre6, 144 f.
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§7
Rz. 19
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
B. Steueraufkommen, Steuerquote und Steuerarten in Deutschland 19
Im Jahre 2013 betrug in Deutschland das Steueraufkommen insgesamt 620 Mrd. Euro (exkl. KiSt) und die Steuerquote1 22,7 %. Allein die Einkommensteuer deckte 36,3 % des gesamten Steueraufkommens ab. Die Umsatzsteuer liegt allerdings mittlerweile nahezu gleichauf mit der Einkommensteuer. Die sechs aufkommenstärksten Steuern (ESt, USt, GewSt, EnergieSt, KSt, TabakSt) erbrachten 87,0 % des Steueraufkommens. I.E. verteilte sich das Steueraufkommen 2013 auf die einzelnen Steuerarten wie folgt (Beträge in Mio. Euro)2: Einkommensteuer3:
225 300
Kraftfahrzeugsteuer:
8 520
Umsatzsteuer4:
197 450
Stromsteuer:
7 050
Gemeindesteuern5:
57 375
Grunderwerbsteuer:
8 460
Energiesteuer:
39 400
Erbschaft- und Schenkungsteuer:
4 508
Körperschaftsteuer:
19 840
Branntweinsteuer:
2 100
Tabaksteuer:
13 950
Rennwett- und Lotteriesteuer:
1 640
Solidaritätszuschlag:
14 300
Kaffeesteuer:
1 030
Versicherungsteuer:
11 575
Sonstige Steuern6:
7 979
Kirchensteuer:
9 119 (2009)
Es werden folgende Steuerarten unterschieden: 20
1. Direkte und indirekte Steuern: Bei direkten Steuern sind Steuerschuldner und Steuerträger identisch. Indirekte Steuern werden vom Steuerschuldner auf einen anderen, den Steuerträger, überwälzt; Steuerschuldner und Steuerträger sind also verschiedene Personen oder Subjekte. Im Allgemeinen gilt, dass Steuern auf das Einkommen und Vermögen direkte Steuern sind, also nicht überwälzt werden, während Steuern auf die Verwendung von Einkommen und Vermögen (Umsatzsteuer, Verbrauch- und Verkehrsteuern) im Preis der umsatz-, verbrauch-, verkehrsteuerbelasteten Ware überwälzt werden. So enthält z.B. der Benzinpreis die überwälzte Umsatzsteuer und Mineralölsteuer. Allerdings kann je nach Marktlage jede Steuer „überwälzt“ werden7. Beispiele: Überwälzung der Grundsteuer auf den Mieter; Überwälzung der Gewerbesteuer auf die Löhne; Nettolohnvereinbarung des Arbeitnehmers. 1 Die Steuerquote ist der prozentuale Anteil des gesamten Steueraufkommens am Bruttoinlandsprodukt (BIP), d.i. der Geldwert aller in der Periode von den Wirtschaftseinheiten im Inland produzierten Waren und Dienstleistungen nach Abzug des Wertes der im Produktionsprozess als Vorleistungen verbrauchten Güter (so das Statistische Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.3). Von der Steuerquote zu unterscheiden sind die Staatsquote (Anteil der öffentlichen Ausgaben am BIP) und die Sozialbeitragsquote (Anteil der Sozialversicherungsbeiträge am BIP); diese ergibt zusammen mit der Steuerquote die Abgabenquote. Ausf. zu diesen Quoten Stern, Die Entwicklung der Steuer- und Abgabenbelastung, 2006, und die vom BMF jährlich hrsg. Finanzberichte. 2 Über das Steueraufkommen, Staats-, Abgaben-, Steuer- und Sozialbeitragsquoten informieren die Statistischen Jahrbücher, die jährlich vom BMF hrsg. Finanzberichte sowie die Schriften des IFSt, Daten und Trends der öffentlichen Finanzwirtschaft (vormals „Entwicklung wesentlicher Daten der öffentlichen Finanzwirtschaft“); Herrn Felix Hammer, Geschäftsführer der Steuerkommission des Verbandes der Diözesen Deutschlands, danke ich für die Mitteilung des Kirchensteueraufkommens. 3 Veranlagte ESt: 41 750; LSt: 157 800; nicht veranlagt: 17 200; Abgeltungsteuer einschließlich ehem. Zinsabschlag: 8 550 Mio. Euro. Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamts (Fortschreibung der Lohn- und Einkommensteuerstatistik 2007) tragen die oberen 10 % der Stpfl. (Einkünfte ab 74 455 Euro) 54,5 % und die obere Hälfte der Stpfl. (Einkünfte ab 27 246 Euro) 94,9 % des Einkommensteueraufkommens. 4 USt: 148 700; Einfuhrumsatzsteuer: 48 750 Mio. Euro. 5 GewSt: 43 750; GrSt: 12 485; sonstige Gemeindesteuern: 1 140 Mio. Euro. 6 Zölle: 4 200; Kernbrennstoffsteuer: 1 300; Luftverkehrsteuer: 960; Biersteuer: 674; Schaumweinsteuer: 435; Feuerschutzsteuer: 394; Zwischenerzeugnissteuer: 14; Alcopopsteuer: 2. 7 Zur Theorie der Steuerüberwälzung Homburg, Steuerlehre, Kap. 4, 89–139.
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§7
2. Personal- und Realsteuern: Personal- oder Subjektsteuern sind auf die Person zugeschnitten; sie berücksichtigen die persönlichen Verhältnisse des Steuerschuldners (wie Familienstand, Anzahl der Kinder, Alter, Krankheit). Beispiel: Einkommensteuer. Real- oder Objektsteuern belasten Steuergüter losgelöst von den persönlichen Verhältnissen des Steuerschuldners. Der Gesetzgeber verwendet den Begriff der Realsteuern nur für zwei Gemeindesteuern: die Grundsteuer und die Gewerbesteuer (§ 3 II AO).
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Steueraufkommen, Steuerquote und Steuerarten in Deutschland
Die Unterscheidung zwischen Personal- und Realsteuern ist für eine Systematisierung der Steuerarten nur begrenzt tauglich, da selbst Subjektsteuern wie die Einkommensteuer in bestimmten Fällen objektsteuerartigen Charakter annehmen können. Beispiel: Beschränkte Einkommensteuerpflicht (s. § 8 Rz. 27). 3. Ertrag- und Substanzsteuern: Ertragsteuern knüpfen an Einkünfte an. Der Begriff „Ertragsteuer“ rekurriert auf den historischen Begriff des Reinertrages, zu verstehen als Gewinn1. Die betriebswirtschaftliche Steuerlehre2 hat diesen historischen Inhalt des Ertragsteuerbegriffs übernommen und bezeichnet Steuern, die an den erwirtschafteten Gewinn eines Betriebes anknüpfen, als Ertragsteuern, so die Einkommensteuer, die Kirchensteuer als Annex zur Einkommensteuer, die Körperschaftsteuer und die Gewerbeertragsteuer.
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Während sich die ältere finanzwissenschaftliche Literatur3 im Wesentlichen darauf beschränkte, den Gegensatz der Ertragsteuer zur Einkommensteuer als einer Steuer auf mehrere Einkunftsarten herauszustellen, differenziert die betriebswirtschaftliche Steuerlehre zwischen Ertragsteuern und Substanzsteuern, um die Belastungswirkungen der Steuern zu verdeutlichen4. Gemeinsam ist den Substanzsteuerarten die Anknüpfung an Roh- und Reinvermögensgrößen; diese Anknüpfung kann Steuern zur Folge haben, die nicht aus den Vermögenserträgen entrichtet werden können. In diesem Falle schöpft die Steuerlast Vermögenssubstanz ab (s. § 3 Rz. 59 ff.). Substanzsteuern i.S.d. betriebswirtschaftlichen Steuerlehre sind die Grundsteuer, die frühere Vermögensteuer und Gewerbekapitalsteuer, die Erbschaft- und Schenkungsteuer. 4. Generelle und spezielle Steuern: Generelle Steuern erfassen das Gesamteinkommen, das Gesamtvermögen, den Gesamtumsatz. Spezielle Steuern erfassen nur Teile des Einkommens (z.B. Gewerbeertragsteuer), des Vermögens (z.B. Grundsteuer) oder einzelne Verkehrsvorgänge (z.B. spezielle Verkehrsteuern). Verbrauch- und Aufwandsteuern belasten speziellen Konsum (z.B. das Rauchen, Biertrinken, Halten eines Hundes).
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Häufig konkurriert eine generelle Steuer mit speziellen Steuern. Es gilt aber nicht der Satz „tributum speciale derogat tributo generali“. Vielmehr belastet die spezielle Steuer das Steuergut i.d.R. zusätzlich zur Steuerbelastung durch die allgemeine Steuer. Beispiele: Belastung des Benzinverbrauchs durch Energiesteuer und Umsatzsteuer; Belastung des Rauchens durch Tabaksteuer und Umsatzsteuer. In Einzelfällen hat der Gesetzgeber indessen Doppelbelastungen beseitigt (vgl. z.B. § 4 Nrn. 9, 10 UStG). Steuersystematisch ist zu bedenken, dass Sonderbelastungen durch spezielle Steuern besonderer Rechtfertigung durch zusätzliche Leistungsfähigkeit oder durch Sozialzwecke bedürfen. 5. Gleichartige und nicht gleichartige Steuern: Die Unterscheidung zwischen gleichartigen und nicht gleichartigen Steuern hat für die Frage Bedeutung, ob die Länder nach Art. 105 IIa GG die Gesetzgebungskompetenz für örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern haben (s. § 2 Rz. 50 f.) sowie für die Gleichartigkeit mit der harmonisierten Mehrwertsteuer (Art. 401 MwStSyst-RL. s. § 17 Rz. 21).
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6. Periodische Steuern (z.B. Einkommensteuer, Umsatzsteuer) und nichtperiodische Steuern (z.B. Erbschaftsteuer, Grunderwerbsteuer).
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1 Vgl. Bräuer, Ertragsteuern, in Hdb. der Finanzwissenschaft, Bd. II1, 1927, 3. 2 Vgl. z.B. den Titel „Ertragsteuern“ im Lehrwerk Betrieb und Steuer von Rose/Watrin oder den Titel „Besteuerung von Erträgen“ des Lehrbuchs von Wellisch. 3 Vgl. Bräuer, Ertragsteuern, in Hdb. der Finanzwissenschaft, Bd. II1, 1927, 3. 4 Grundl. Rose, Die Steuerbelastung der Unternehmung, Grundzüge der Teilsteuerrechnung, 1973.
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§7
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7. Proportionale und progressive Steuern, je nachdem, ob der Steuersatz proportional oder progressiv ist.
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8. Verwaltungstechnische Unterscheidungen:
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
– Die Organisation der Finanzverwaltung unterscheidet die Besitz- und Verkehrsteuerverwaltung einerseits sowie die Zoll- und Verbrauchsteuerverwaltung andererseits (Beispiel: § 8a II 1 FVG). Im verwaltungsorganisatorischen Sinne sind Besitzsteuern die Steuern vom Einkommen, vom Ertrag, vom Vermögen sowie die Erbschaft- und Schenkungsteuer, Verkehrsteuern die Umsatzsteuer sowie die speziellen Verkehrsteuern. Nach dieser verwaltungsorganisatorischen Terminologie differenzieren steuerschuldrechtliche (z.B. § 169 II AO) und verfahrensrechtliche (z.B. § 172 I AO) Vorschriften. – Zu unterscheiden sind die Steuerart und die Erhebungsform. Insb. sind die Lohnsteuer und die Kapitalertragsteuer keine eigenen Steuerarten, sondern lediglich Erhebungsformen der Einkommensteuer. Statistisch werden das Lohnsteuer- und das Kapitalertragsteueraufkommen gesondert von dem Aufkommen aus der veranlagten Einkommensteuer ausgewiesen. Das Lohnsteueraufkommen dominiert das übrige Einkommensteueraufkommen. Schon von daher wird verständlich, dass die Besteuerung des Arbeitnehmers in einem Massenverfahren abgewickelt werden muss. – Die Formen der Steuererhebung schöpfen häufig an der Quelle wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, so die Lohnsteuer in Gestalt eines Abzuges vom Arbeitslohn, den der Arbeitgeber einzubehalten und an das Finanzamt abzuführen hat (vgl. §§ 38 ff. EStG). Eine solche Form der Steuererhebung bezeichnet man als Quellensteuer. Auch die Kapitalertragsteuer (vgl. §§ 43 ff. EStG) ist eine Quellensteuer. – Die Unterscheidung zwischen Veranlagungs- und Fälligkeitssteuern ist steuerstrafrechtlich relevant (s. § 23 Rz. 30 ff.). 28
9. Die jährlich vom Bundesfinanzministerium herausgegebenen Finanzberichte unterscheiden – Steuern auf das Einkommen und Vermögen, unterteilt in Steuern vom Einkommen (Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Ergänzungsabgabe zur ESt und zur KSt/Solidaritätszuschlag), Steuern vom Vermögensbesitz (Vermögensteuer [letztmalig erhoben für VZ 1996], Grundsteuer, Feuerschutzsteuer) und Steuern vom Gewerbebetrieb (Gewerbesteuer); – Steuern auf den Vermögensverkehr (Erbschaft- und Schenkungsteuer, Grunderwerbsteuer); – Steuern auf die Einkommensverwendung, unterteilt in Steuern vom Umsatz (Umsatzsteuer, Versicherungsteuer), Kraftfahrzeugsteuer, Energiesteuer, Zölle sowie sonstige Steuern vom Verbrauch und Aufwand (u.a. Tabaksteuer, Branntweinabgaben).
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10. Entsprechend der in § 3 Rz. 56 ff. dargelegten Einwirkung der Steuern auf Einkommen, Vermögen und Konsum lassen sich die Steuern in Deutschland nach dem Zeitpunkt des steuerlichen Zugriffs in folgende zwei Hauptgruppen einteilen: – Steuern auf das Einkommen und Vermögen: Im Zeitpunkt der Entstehung von Vermögen (s. § 3 Rz. 56) setzen die Einkommensteuer, die Körperschaftsteuer, die Kirchensteuer sowie die Annexsteuern zur Einkommensteuer/Körperschaftsteuer an (Art. 106 I Nr. 6 GG: Ergänzungsabgabe, z.B. in Gestalt eines Stabilitäts- bzw. Solidaritätszuschlages, s. Rz. 36). Steuern auf den Vermögensbestand (sog. Substanzsteuern, s. Rz. 42 f.; § 3 Rz. 59 ff.) sind Grundsteuer (s. § 16 Rz. 1 ff.), die frühere Vermögensteuer und Gewerbekapitalsteuer, schließlich auch die Erbschaft- und Schenkungsteuer, die den Vermögenstransfer besteuert (s. Rz. 38 ff.). – Steuern auf die Verwendung von Einkommen und Vermögen: Diese Steuern setzen nach der Entstehung von Vermögen an (s. Schaubild in: § 3 Rz. 56); sie belasten grds. den Verbrauch (Privatkonsum) wie die Umsatzsteuer als allgemeine Verbrauchsteuer (s. § 17 Rz. 10 ff.) sowie die speziellen Verbrauch- und Aufwandsteuern (s. § 18 Rz. 105 ff.). Die speziellen Verkehrsteuern belasten auch die nicht konsumtive Vermögensumschichtung. 254
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Steuern auf das Einkommen und Vermögen
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Steuern (§ 3 I AO)* Steuern auf die Verwendung von Einkommen und Vermögen
Steuern auf das Einkommen und Vermögen
Markteinkommen
ESt
KSt
Vermögenstransfer
GewSt
ErbSt SchenkSt
Vermögen
VSt**
GrSt
USt
besondere Verkehrsteuern
KiSt
am erwirtschafteten Vermögenszuwachs
am Vermögensbestand
besondere Verbrauchund Aufwandsteuern
am Konsum
Teilhabe des Staates * Ohne Zölle u. Abschöpfungen (Rz. 108ff.). ** Die VSt kann gegenwärtig nicht erhoben werden (s. Rz. 43).
C. Steuern auf das Einkommen und Vermögen 1. Steuern auf das Erwerbseinkommen a) Universelle Erfassung der Erwerbseinkommen durch die Einkommensteuer und Körperschaftsteuer Dem Charakter der Einkommensteuer als Leistungsfähigkeitssteuer scheint die sog. Reinvermögenszugangstheorie (genauer: Reinvermögenszuwachstheorie) am besten zu entsprechen. Nach dieser Theorie ist Einkommen der „Zugang von Reinvermögen in einer Wirtschaft während einer gegebenen Periode“ (von Schanz1). Dem entspricht die „net accretion theory“ der Amerikaner Haig und Simons: „Income is the money value of the net accretion of one’s economic power between two points of time“ (Haig2). Das Haig-Simons-Schanz-Konzept (so der internationale Sprachgebrauch) zielt darauf ab, die steuerliche Leistungsfähigkeit am gesamten Bedürfnisbefriedigungspotential des Stpfl. zu messen3. Mithin erfasst die Reinvermögens1 Von Schanz, Der Einkommensbegriff und die Einkommensteuergesetze, FinArch. 13. Jg. (1896), 1; von Schanz, Der privatwirtschaftliche Einkommensbegriff, FinArch. 39. Jg. (1922), 505. 2 The Concept of Income: Economic and Legal Aspects in Haig, The Federal Income Tax, 1921, 7. Simons, Personal Income Taxation, 1938. 3 Grundl. für die Schanz’sche Lehre Schmoller, Die Lehre vom Einkommen in ihrem Zusammenhang mit den Grundprincipien der Steuerlehre, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 19. Jg. (1863), 1 (50): Einkommen sei die „Summe von Mitteln, welche der Einzelne, ohne in seinem Vermögen zurückzukommen, für sich und seine Familie, für seine geistigen und körperlichen Bedürfnisse, für seine Genüsse und Zwecke, kurz für die Steigerung seiner Persönlichkeit in einer Wirtschaftsperiode
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Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
zugangstheorie nicht nur Vermögenszugänge und -abgänge im juristischen Sinne einschließlich unrealisierter Wertsteigerungen und Zuwendungen (insb. Geschenke und Erbschaften), sondern darüber hinaus auch private Nutzungen und Wertschöpfungen (sog. imputed income)1. Dem Haig-Simons-Schanz-Konzept liegt also ein extensiver ökonomischer Güterbegriff zugrunde, der alle für die Bedürfnisbefriedigung geeigneten Vorteile erfasst. Die Einkommensteuer knüpft indes nicht an den Reinvermögenszugang an. Der Gesetzgeber des EStG 1925 hat die von von Schanz entwickelte Theorie zugunsten eines pragmatischen, aus einem enumerativen Katalog von zunächst acht (EStG 1925), sodann sieben (ab EStG 1934) Einkunftsarten bestehenden Einkommensbegriffs verworfen2. Besteuert werden nur Einkünfte, die der Stpfl. durch eine mit Gewinnabsicht ausgeübte Erwerbstätigkeit erwirtschaftet hat. Diesen Begriff des Erwerbseinkommens3 (s. § 3 Rz. 68; § 8 Rz. 52) hat im Ansatz bereits der Nationalökonom Wilhelm Roscher4 formuliert. Die Rspr. des Preußischen OVG5 definierte den Begriff des Gewerbebetriebs als „Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr“ und legte damit eine erste Grundlage für die sog. Markteinkommenstheorie, nach der die Einkommensteuer grds. nur am Markt erwirtschaftete Einkünfte erfasst6. 31
Jedoch erweist sich der Begriff „Markteinkommen“ bei genauerer rechtlicher Betrachtung als zu eng7: Nach der Dogmatik des geltenden Rechts ist es gleichgültig, ob Einkünfte am Markt, außerhalb des Marktes, privatwirtschaftlich oder hoheitlich erwirtschaftet werden. Das geltende Recht beschränkt die Objekte der Einkommen- und Körperschaftsteuer auf das Erwerbseinkommen und prägt dadurch den Charakter der Steuern auf das Einkommen, was aber entgegen der Auffassung von P. Kirchhof nicht verfassungsrechtlich vorgegeben ist. Vielmehr verliert die Einkommensteuer ihren Charakter als reine Leistungsfähigkeitssteuer, wenn sie mit dem Nutzen der Teilhabe am Markt8 gerechtfertigt wird. Die Beschränkung auf das Erwerbseinkommen bestimmt lediglich einfachgesetzlich die Struktur des nach deutschem Recht zu versteuernden Einkommen (dazu näher § 8 Rz. 52).
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Während Erbschaften und Schenkungen der von der Einkommensteuer abgesonderten Erbschaft- und Schenkungsteuer unterworfen sind (s. Rz. 38 ff.), bleibt das sog. imputed income
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verwenden kann.“ Zum Einfluss von Schmoller auf die Reinvermögenszugangstheorie s. Hansen in Strümpel, Beiträge zur Wirtschaftswissenschaft, 1990, 1. Zur rechtlichen Würdigung des Haig-SimonsSchanz-Konzepts m.w.N. J. Lang in Rose, Integriertes Steuer- u. Sozialsystem, 2003, 83 (97 ff.); Tipke, StRO II2, 2003, 624 ff. Von Schanz, FinArch. 13. Jg. (1896), 1 (24): „Wir rechnen also zum Einkommen alle Reinerträge und Nutzungen, geldwerte Leistungen Dritter, alle Geschenke, Erbschaften, Legate, Lotteriegewinne, Versicherungskapitalien, Versicherungsrenten, Konjunkturengewinne jeder Art, wir rechnen ab alle Schuldzinsen und Vermögensverluste …“. Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 39 ff. Hierzu grdl. P. Kirchhof, FS J. Lang, 2010, 451. System der Volkswirtschaft, Bd. 1: Grundlagen der Nationalökonomie5, 1864, 292: Der Begriff „Einkommen“ umfasse „nur solche Einnahmen, die aus einer wirtschaftlichen Tätigkeit herrühren.“ Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 235 ff.; Schön, FS Vogel, 2000, 661 (663). Grundl. Ruppe, DStJG 1 (1978), 7 (16): Definition der Einkunftsquelle als „entgeltliche Verwertung von Leistungen (Wirtschaftsgütern oder Dienstleistungen) am Markt“. Dazu ausf. Wittmann, Das Markteinkommen – einfachgesetzlicher Strukturbegriff und verfassungsdirigierter Anknüpfungsgegenstand der Einkommensteuer?, Diss., 1992; Wittmann, StuW 1993, 35; Elicker, DStZ 2005, 564; Pannen, Grundfragen zur Einkommensteuerpflicht, Markteinkommenstheorie kontra Wohnsitz- und Welteinkommensbesteuerung, Diss., 2005. Dazu die Kritik in FS Tipke, 1995, von Söhn, 343, u. Steichen, 365. Im Weiteren Schön, FS Offerhaus, 1999, 385 (395 ff.); Tipke, StRO II2, 2003, 629 f. (die Markteinkommenstheorie bleibe „hinter dem nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip zu Erfassenden zurück“). So die äquivalenztheoretische Rechtfertigung der ESt von P. Kirchhof, Gutachten F zum 57. DJT, 1988, 16 f.; P. Kirchhof, DStJG 24 (2001), 14 ff.; P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, 53; P. Kirchhof, FS J. Lang, 2010, 451 (462): Nicht der Zuwachs an Leistungsfähigkeit allein, sondern erst deren Ermöglichung durch den Staat rechtfertigt die staatliche Teilhabe. „Mitwirkung der Rechtsgemeinschaft am individuellen Einkommen“ als rechtfertigender Gedanke der Einkommensteuer.
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nach der Markteinkommenstheorie allgemein unversteuert1. Eine Ausnahme bilden die Immobiliennutzungswerte, deren Besteuerung in Deutschland allerdings 19862 abgeschafft wurde (s. § 8 Rz. 520). Imputed income kann nicht gleichheitskonform besteuert werden: Es können nicht alle Nutzungen von privaten Konsumgütern und alle Wertschöpfungen in der privaten Konsumsphäre einschließlich des Werts eigener Leistungen (z.B. Hausarbeit) erfasst werden. Die gegenwärtige Rechtspraxis gewährleistet nicht einmal die vollständige Besteuerung der Erwerbseinkommen. Sie leidet unter Vollzugsdefiziten besonders in den Bereichen der Schattenwirtschaft und der Privatvermögen. Zudem erfasst der markteinkommenstheoretisch fundierte Begriff des Erwerbseinkommens im Unterschied zur Reinvermögenszugangstheorie grds. nur die realisierten, am Markt bestätigten Einkommen und vermeidet dadurch die bereits oben (§ 3 Rz. 60 ff., 67) bemängelten Substanzsteuereffekte. Anders als der nicht realisierte Wertzuwachs ist das realisierte Einkommen ein sicherer Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit. Die Körperschaftsteuer ist die Einkommensteuer der juristischen Person (insb. Kapitalgesellschaften) und anderer Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen i.S.d. § 1 KStG. Das Körperschaftsteuerrecht basiert darauf, dass juristische Personen als solche (unabhängig von ihren Mitgliedern) im Wirtschaftsverkehr auftreten und Gewinne erzielen, die sich vom Einkommen der Teilhaber unterscheiden. Das Körperschaftsteuerrecht knüpft prinzipiell an die juristische und wirtschaftliche Selbständigkeit der juristischen Personen und sonstigen Körperschaften an und erfasst auf diese Weise deren nicht ausgeschütteten Gewinn. Sie legt der Besteuerung über § 8 I KStG das Erwerbseinkommen zugrunde und ist damit wie die Einkommensteuer der natürlichen Person im Wesentlichen eine Steuer auf den erwirtschafteten und realisierten Vermögenszuwachs. Dualismus Einkommensteuer/Körperschaftsteuer: Erst das Nebeneinander von Einkommensteuer und Körperschaftsteuer gewährleistet die totale Besteuerung aller Erwerbseinkommen. Dies gebietet die Wettbewerbsgleichheit besonders bei Körperschaftsteuersubjekten, die Einkommen nicht für bestimmte natürliche Personen erwirtschaften, das sind insb. Betriebe gewerblicher Art von juristischen Personen des öffentlichen Rechts, Vereine, Anstalten und Stiftungen. Allerdings wirft die steuerliche Verselbständigung der Körperschaft auch das Problem der wirtschaftlichen Doppelbelastung ausgeschütteter Gewinne auf, die bei einkommen-/ körperschaftsteuerpflichtigen Anteilseignern nochmals erfasst werden. Während die Doppelbelastung bis 2001 durch ein Vollanrechnungssystem vollständig beseitigt wurde, mildert das seither geltende Teileinkünfteverfahren bzw. die Anwendung der Abgeltungsteuer die Belastung mit Körperschaft- und Einkommensteuer lediglich ab (s. § 11 Rz. 9 ff.). Da der Dualismus Einkommensteuer/Körperschaftsteuer an bestimmte Rechtsformen anknüpft (s. § 11 Rz. 3), bewirkt er eine rechtsformabhängige Besteuerung, die eine ungleiche Belastung wirtschaftlich gleich gelagerter Sachverhalte zur Folge hat (s. § 13 Rz. 168 ff.).
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b) Annexsteuern zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer Die Erwerbseinkommen von Einkommen- und Körperschaftsteuersubjekten werden zusätzlich durch die sog. Annexsteuern belastet. Annexsteuern sind Steuern, die nach der Einkommensteuer- bzw. Körperschaftsteuerschuld bemessen werden, so die Kirchensteuer (s. § 10) und die Ergänzungsabgaben i.S.d. Art. 106 I Nr. 6 GG: 1968–1976 Ergänzungsabgabe; 1973/74: Stabilitätszuschlag; 1991/92 Solidaritätszuschlag von 3,75 % (Vorauszahlungen/Lohnsteuer/Kapitalertragsteuer ab 1.7.1991: 7,5 %), und ab 1998: SolZ v. 5,5 %3. Der SolZ dient nicht nur der För1 S. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 251 ff. Zum sog. imputed income grundl. Marsh, Political Science Quarterly, Vol. LVIII (1943), 514. Zu den Wertschöpfungen in der Privatsphäre J. Lang, Bemessungsgrundlage, 251 ff.; zur Wertschöpfung der Hausfrau Böckli, Steuer-Revue 1978, 98 (105 ff.). 2 Zur Besteuerung der Nutzungswerte von Immobilien in der Schweiz grundl. Weisflog, Eigenmietwertbesteuerung und Abzüge (insb. Schuldzinsenabzug), ASA 63 (1995), 517; Gurtner/Locher, Theoretische Aspekte der Eigenmietwertbesteuerung, ASA 69 (2001), 597. 3 § 4 Satz 1 SolZG 1995 i.d.F. der Bekanntmachung v. 15.10.2002, BGBl. I 2002, 4130, geändert durch Art. 14 Nr. 2 JStG 2007, BGBl. I 2006, 2878.
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derung der neuen Bundesländer, sondern auch der Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs1. Entgegen der Auffassung des BVerfG, das keine grundlegenden Zweifel an der auf Art. 106 I Nr. 6 GG gestützten alleinigen Ertragskompetenz des Bundes zu haben scheint, ist die Einordnung des SolZ als (außerordentliche) Ergänzungsabgabe angesichts der weitgehenden Entkoppelung vom ursprünglichen Erhebungszweck und der langen Dauer seiner Erhebung nicht länger haltbar2 (s. hierzu auch § 2 Rz. 6). Ein dauerhafter Bundeseinkommenszuschlag würde das Gefüge der Gemeinschaftsteuern maßgeblich verändern und bedürfte einer Verfassungsänderung.
c) Zusatzbelastung der gewerblichen Gewinne durch die Gewerbesteuer 37
Die Gewerbesteuer soll nach dem Äquivalenzprinzip dem Zweck dienen, durch Gewerbebetriebe verursachte Infrastrukturlasten der Gemeinden zu finanzieren3. Bis 1997 knüpfte sie an zwei völlig verschiedene Maßgrößen steuerlicher Leistungsfähigkeit an, erstens an den Gewinn i.S.d. EStG/KStG (§ 7 GewStG) und zweitens an das Gewerbekapital. Die Gewerbekapitalsteuer wurde zum 1.1.1998 abgeschafft. Die Ausrichtung der Gewerbesteuer am Äquivalenzprinzip hat zur Folge, dass die Gewerbesteuer auch steuerlich nicht leistungsfähige Unternehmen belastet. Durch Hinzurechnungen (§ 8 GewStG) wird die Maßgröße des erwirtschafteten Gewinns verfälscht, indem Aufwand negiert wird. Das Ergebnis ist eine Gewerbeertragsteuer mit erheblichem Substanzsteuereffekt. Die Einordnung als Real- oder Objektsteuer ist ungeeignet, die Hinzurechnungen zu rechtfertigen4. Ein Steuertypus unklaren Inhalts liefert keine Begründung für Abweichungen vom Leistungsfähigkeitsprinzip. I.Ü. ist die Gewerbesteuer, spätestens seitdem sie pauschal auf die Einkommensteuer angerechnet wird (§ 35 EStG, eingeführt durch StSenkG v. 23.10.2000, BGBl. I 2000, 1433) und nicht mehr als Betriebsausgabe abziehbar ist (§ 4 Vb EStG, eingeführt durch UntStRefG 2008 v. 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912), vollends zu einer (kommunalen) Ertragsteuer mutiert. Entgegen BVerfGE 120, 1, entbehrt die auf Bezieher gewerblicher Einkünfte i.S.v. § 15 EStG beschränkte Gewerbesteuer heutiger Fassung jeglicher Legitimation.
2. Besteuerung des Vermögenstransfers durch die Erbschaft- und Schenkungsteuer 38
Nach der Reinvermögenszugangstheorie sind Erbschaften und Schenkungen Einkommen. Danach ist die Erbschaft- und Schenkungsteuer eine Steuer auf das Einkommen5, nämlich im Gegensatz zu den Steuern auf das erwirtschaftete Einkommen eine Steuer auf das zugewendete Einkommen. Ein Fundamentalprinzip der Erbschaft- und Schenkungsteuer ist das Bereicherungsprinzip (§ 10 ErbStG)6. Der Qualifikation der Erbschaft- und Schenkungsteuer als Steuer auf das Einkommen entspricht die technische Anknüpfung an den Erbanfall beim einzelnen Erben (sog. Erbanfallsteuer, s. § 15 Rz. 2). Eine Erbschaftsteuer kann technisch aber auch an den Nachlass anknüpfen, und zwar unabhängig davon, wie viele Erben daran teilhaben und in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis sie zum Erblasser standen (sog. Nachlasssteuer, s. § 15 Rz. 2). In diesem Falle wäre die Erbschaftsteuer aus der Sicht des Erblassers zu klassifizieren. Sie wäre eine Steuer auf das Vermögen des Erblassers. 1 BT-Drucks. 12/4401, 4 f. 2 Vgl. die Zurückweisung der Vorlage des Niedersächs. FG (EFG 2010, 1071) durch BVerfG (BFH/NV 2010, 2217) als unzulässig ohne vertiefte Auseinandersetzung in der Sache; ferner BFH BStBl. 2006, 692; Rohde/Geschwandtner, NJW 2006, 3332; Hilgers/Holly, DB 2010, 1419. Grds. a.A. Schemmel, Verfassungswidriger Solidaritätszuschlag, Karl-Bräuer-Institut, 2008; Wiss. Beirat Steuern Ernst & Young, DStR 2014, 1309. 3 Bestätigt durch BVerfGE 120, 1 (33, 37 f.); krit. Tipke, StRO II2, 2003, 1139 ff.; Hey, StuW 2002, 314. Vgl. auch Conradi, Die Legitimation der Gewerbesteuer. Eine wirtschaftspolitische, rechtshistorische u. steuersystematische Analyse, Diss., 2001. 4 So jetzt auch FG Hamburg, Vorlage an das BVerfG v. 29.2.2012, EFG 2012, 960; sehr deutlich Selder, FR 2014, 174 (177 f.); a.A. BFH BStBl. 2013, 30. 5 Dazu ausf. Tipke, StRO II2, 2003, 872 ff. 6 Dazu ausf. Tipke, StRO II2, 2003, 879 ff.
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Rz. 41
§7
Indessen wird auch die geltende Erbschaft- und Schenkungsteuer nicht allein aus dem Blickwinkel der Reinvermögenszugangstheorie und der Bereicherung beurteilt. Dieser Blickwinkel erweist sich für die ökonomische und juristische Beurteilung der Erbschaft- und Schenkungsteuer als zu eng. Der Staat beteiligt sich mit der Erbschaft- und Schenkungsteuer nicht am Bruttosozialprodukt, sondern an dem bereits produzierten Vermögen. Mithin schöpft die Erbschaft- und Schenkungsteuer von einem Vermögensbestand ab, und zwar mit dem Substanzsteuereffekt1, dass dem Stpfl. zusätzlich zur Steuerlast weitere Vermögensnachteile infolge Illiquidität oder Fehlbewertung des Vermögens entstehen können. Diesen Umstand berücksichtigt z.B. § 28 I ErbStG, der eine Stundung der Erbschaftsteuer vorsieht, soweit dies zur Erhaltung eines Betriebs notwendig ist. Die Betriebswirtschaftslehre beurteilt die Erbschaft- und Schenkungsteuer aus der Sicht des Betriebs als Substanzsteuer2.
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Steuern auf das Einkommen und Vermögen
Der Finanzbericht klassifiziert die Erbschaft- und Schenkungsteuer als eine Steuer auf den Vermögensverkehr (s. Rz. 28). BFH BStBl. 1983, 179 (180) zählt sie zu den Verkehrsteuern3. Der Gesetzgeber bestätigt diese Betrachtungsweise, indem er eine Grunderwerbsteuerbefreiung für den Grundstückserwerb von Todes wegen und für Grundstücksschenkungen unter Lebenden i.S.d. Erbschaftund Schenkungsteuergesetzes gewährt (§ 3 Nr. 2 GrEStG).
U.E. kann die Vielzahl der Klassifikationsmöglichkeiten nur dann auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden, wenn die Erbschaft- und Schenkungsteuer weder einseitig aus der Sicht des Zuwendenden noch einseitig aus der Sicht des Zuwendungsempfängers qualifiziert und damit auch nicht von der technischen Anknüpfung abhängig gemacht wird. Steuersystematisch gesehen liegt bei Zuwendungen (z.B. auch bei Unterhaltsleistungen, s. § 8 Rz. 75) ein Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit vor. Der Bereicherung des Zuwendungsempfängers entspricht die Entreicherung des Zuwendenden. Demnach ist die Maßgröße steuerlicher Leistungsfähigkeit, die durch die Erbschaft- und Schenkungsteuer belastet wird, ein transferierter Vermögensbestand. Nach Auffassung des BVerfG will der Gesetzgeber „den wirtschaftlichen Vorgang des Substanzübergangs“ (BVerfGE 67, 86), den „Substanzzugewinn“ (BVerfGE 117, 1 [34]) besteuern. Anders als die Vermögensteuer lässt sich die Erbschaftsteuer nicht als Steuer auf den Sollertrag des erworbenen Vermögens rechtfertigen, auch wenn sie sich ökonomisch in eine Belastung der zukünftigen Erträge umrechnen lässt.
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Mithin ist die Erbschaft- und Schenkungsteuer zwischen den Steuern auf das Einkommen und den Steuern auf das Vermögen anzusiedeln4. Sie erfasst den Vermögenstransfer5, auf den sich insb. die Erbrechtsgarantie in Art. 14 I GG bezieht6 (s. § 3 Rz. 189 ff.). Der Staat nimmt den Vermögenstransfer zum Anlass, den Vermögensbestand umzuverteilen. Die Erbschaft- und Schenkungsteuer hat also neben ihrer Fiskalzweckfunktion auch Umverteilungsfunktion7. Angesichts großzügiger Freibeträge und Verschonungsregeln wird allerdings nur eine verschwindend geringe Anzahl großer Vermögen in nennenswertem Umfang zur Umverteilung herangezogen8.
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1 Oberhauser, Erbschaft- und Schenkungsteuern, in Hdb. der Finanzwissenschaft, Bd. II3, 1980, 487 (488): „Steuersystematisch kann die Erbschaftsteuer als eine Vermögenssubstanzsteuer angesehen werden, da sie einen Teil des Vermögensüberganges … abschöpft und im allgemeinen aus der Vermögenssubstanz getragen werden muß“. Vgl. auch Northmann, FS 50 Jahre Fachanwälte, 1999, 89. 2 Z.B. Kußmaul, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre7, 2014, 411: Die ErbSt besteuere „den Transfer von Vermögenssubstanz zwischen zwei Steuersubjekten (Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit)“. 3 Vorherrschend allerdings BFH BStBl. 1973, 329 (349); 1984, 27 (28); 2008, 897 (898): Bereicherungssteuer. 4 Ausf. zum Streit um die Rechtsnatur der Erbschaftsteuer insb. auch im Verhältnis zur ESt. Ritter, BB 1994, 2265; Crezelius, FS Tipke, 1995, 403; Meincke, FS Tipke, 1995, 391; Huber/Reimer, DStR 2007, 2042. 5 Zum Transfersteuergedanken Timm, FinArch. Bd. 42 (1984), 571 ff.; Kußmaul, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre6, 2010, 370. 6 S. BVerfGE 93, 165. 7 Dazu Crezelius, FS Tipke, 1995, 403 (407 f.); Tipke, StRO II2, 2003, 875 f. (umf. N.: StRO II1, 1993, 748 f.); Birk, StuW 2005, 346 (347 f.). 8 Wiss. Beirat beim BMF, Die Begünstigung des Unternehmensvermögens in der Erbschaftsteuer, 2012, 13 ff.: In 2009 belief sich die Zahl der zur ErbSt veranlagten Fälle auf 177 000, von denen 0,5 % (885 Fälle) ca. 25 % des Aufkommens erbrachten.
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§7
Rz. 42
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
3. Besteuerung des Vermögensbestandes durch Substanzsteuern 42
Der Vermögensbestand wird derzeit laufend lediglich durch die Grundsteuer belastet. Als Substanzsteuer ist die Grundsteuer aus den bereits aufgeführten Gründen (s. § 3 Rz. 60 ff.) nicht mit der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu vereinbaren1. Die nun auch seitens des BFH per Normenkontrollantrag2 gerügte verfassungswidrige Bewertungsungleichheit der Bemessung anhand veralteter Einheitswerte3 macht die Grundsteuer zum Gegenstand von Reformüberlegungen. Die Diskussion verläuft zwischen wertbezogener und flächenbezogener Bemessung bzw. einer Kombination beider Maßstäbe4. Eine wertunabhängige Anknüpfung an die Grundstücksfläche mag den Vorteil der Einfachheit haben, würde sich aber weitgehend vom Ziel gleichheitsgerechter Erfassung steuerlicher Leistungsfähigkeit verabschieden (s. auch Rz. 42)5. Im Hinblick auf die Schwierigkeiten, die Grundsteuer nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip oder nach dem Äquivalenzprinzip zu rechtfertigen (s. § 16 Rz. 2 ff.), bietet sich auch eine Ausgestaltung als Sozialzwecksteuer mit ökologischer Rechtfertigung an6. Dies würde es erlauben, einen verwaltungseffizienten Flächenmaßstab zugrunde zu legen.
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Eine (allgemeine) Vermögensteuer kann gegenwärtig nicht erhoben werden, weil BVerfGE 93, 121 in der Anwendung eines einheitlichen Steuersatzes für einheitswertgebundenes und nicht einheitswertgebundenes Vermögen eine Verletzung von Art. 3 I GG erkannte. Der Verpflichtung, eine Neuregelung spätestens zum 31.12.1996 zu treffen, ist der Gesetzgeber nicht nachgekommen. Legt man die neuere Rspr. des BVerfG zur Erforderlichkeit bundeseinheitlicher Regelungen (Art. 72 II i.V.m. Art 105 II 3. Alt. GG) zugrunde, ist zweifelhaft, ob der Bund für die notwendige konzeptionelle Erneuerung des VStG, die auch nicht von Art. 125a II 1 GG gedeckt ist, überhaupt noch zuständig (s. § 2 Rz. 32 ff.) wäre. Indessen haben die Länder bisher keine Anstalten unternommen, die Vermögensteuer wiederzubeleben, wohl weil sie die Abwanderung von Kapital in vermögensteuerfreie Länder nicht riskieren wollen; zu den rechtlichen Problemen einer allgemeinen Vermögensteuer s. § 16 Rz. 61 ff. Einstweilen frei.
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1 Überzeugend Tipke, StRO II2, 2003, 916 ff. (Vermögensteuer), 953 ff. (Grundsteuer), 1134 ff. (Gewerbesteuer). 2 BFH v. 22.10.2014 – II R 16/13, DStR 2014, 2438. 3 Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung in Österreich s. Daxkobler/Kerschner, ÖStZ 2012, 517. 4 Darstellung in Karl-Bräuer-Institut, Reform der Grundsteuer, Heft 109 (2011), das sich für einen Flächenbezug ausspricht (sog. Süd-Modell); ebenso J. Lang, DStJG 35 (2012), 307 ff.; a.A. sog. Nord-Modell (Orientierung an Verkehrswerten); in dieselbe Richtung Stellungnahme zur Reform der Grundsteuer des Wiss. Beirats beim BMF, Dez. 2010, mit Kritik Löhr, Wirtschaftsdienst 2011, 333. 5 Becker, BB 2011, 535; Becker, BB 2011, 2391 (2396); a.A. Zachert, BB 2011, 3105; Schulemann, BB 2012, 813. 6 Dazu die interdisziplinäre Studie im Auftrag des Umweltbundesamtes von Bizer/Lang, Ansätze für ökonomische Anreize zum sparsamen und schonenden Umgang mit Bodenflächen, 1998 (veröffentlicht vom Umweltbundesamt in Texte 21/00, 2000) sowie die Rezension von Jachmann, StuW 2001, 379: Reformvorschlag einer Grundsteuer in Gestalt einer Flächennutzungssteuer mit bauleitplanungsrechtlich bestimmter Bemessungsgrundlage. Dieser Grundsteuertypus verzahnt den Steuertatbestand mit der kommunalen Planungshoheit der Gemeinden und verbessert damit die finanzielle Eigenverantwortung der Gemeinden i.S.d. Art. 28 II 3 GG (s. § 2 Rz. 53, 65 ff.). Die ökologische Grundsteuer lässt sich von den Kommunen einfach verwalten, da die Grundstücke nicht mehr bewertet werden müssen, sondern nach einem von der Gemeinde einfach feststellbaren äußeren Zustand besteuert werden.
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Rz. 71
§7
Die Steuern auf das Einkommen (und Vermögen) sind seit Jahrzehnten einem erheblichen Reformdruck ausgesetzt1. Das allseits beklagte Steuerchaos (s. § 3 Rz. 1) fordert Politik2 und Wissenschaft (hierzu ausf. Rz. 82 ff.) zu umfassenden Entwürfen einer Reform der Besteuerung von Einkommen heraus. Zentrale Zielsetzungen sind die Verwirklichung von Steuergerechtigkeit und Steuervereinfachung. Die reale Entwicklung der Einkommensbesteuerung ist indes weniger von der Erkenntnis beseelt, dass nur ein systemgerecht und folgerichtig ausgestaltetes Steuersystem gerecht sein kann. Sie erschöpft sich überwiegend in kleinteiliger, oftmals rein fiskalisch motivierter Reparaturgesetzgebung. Politischer Handlungsdruck für größere Reformen entsteht in erster Linie durch den Wettbewerb der Staaten um Steuersubstrat.
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Der sog. Wettbewerb der Steuersysteme3 ist mittlerweile zentraler Bestimmungsgrund der Ausgestaltung der nationalen Steuerrechtsordnungen. Als Teil des Staatenwettbewerbs um mobile Produktionsfaktoren hat sich der Steuerwettbewerb infolge der Globalisierung der Weltwirtschaft ganz erheblich verschärft. In der Europäischen Union wird dieser Wettbewerb rechtlich durch die grenzöffnende Wirkung der Grundfreiheiten beflügelt; die gegen selektive
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Steuern auf das Einkommen und Vermögen
4. Reform der Besteuerung von Einkommen a) Einflussfaktor Steuerwettbewerb
1 Wichtige Literatur bis 1971: Wiss. Beirat beim BMF, Zur organischen Steuerreform, 1953; Troeger, Diskussionsbeiträge des Arbeitsausschusses für die Große Steuerreform, 1954; Troeger, Denkschrift zur Verbesserung der Einkommensbesteuerung, 1958; Falk-Kommission (sog. Durchforstungskommission), Untersuchungen zum Einkommensteuerrecht unter besonderer Berücksichtigung textkritischer, rechtssystematischer und verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte, BMF-Schriftenreihe, Heft 7, 1964; Wiss. Beirat beim BMF, Gutachten zur Reform der direkten Steuern, BMF-Schriftenreihe, Heft 9, 1967; Eberhard-Kommission, Gutachten der Steuerreformkommission 1971, BMF-Schriftenreihe, Heft 17, 1971. I.Ü. s. Nachweise Rz. 85 2 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Für eine durchgreifende Einkommensteuerreform: Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung, BT-Drucks. 13/3874 v. 27.2.1996; BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Einkommensteuerreform für Gerechtigkeit und Transparenz, BT-Drucks. 13/7895 v. 10.6.1997; SPD, Für eine gerechte und einfache Einkommensbesteuerung, BT-Drucks. 13/3701 v. 6.2.1996; CDU/ CSU, Ein modernes Steuerrecht für Deutschland – Konzept 21, BT-Drucks. 15/2745 v. 23.3.2004; FDP, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer neuen Einkommensteuer und zur Abschaffung der Gewerbesteuer, BT-Drucks. 15/2349 v. 14.1.2004; FDP, Entwurf eines Gesetzes zur Reform der direkten Steuern, BT-Drucks. 16/679 v. 15.2.2006; sowie die zwei gescheiterten Gemeindefinanzreformkommissionen (s. Rz. 93); zu aktuellen steuerpolitischen Reformforderungen Spengel/Evers, DB 2012, 705. 3 Lit. (ab 2000): Dümler, Steuersysteme im Standortwettbewerb, Diss., 2000; Gerken/Märkt/Schick, Internationaler Steuerwettbewerb, 2000; Schön, DStJG 23 (2000), 191; OECD, Tax and the Economy, A Comparative Assessment of OECD Countries, 2001; Dickescheid, Steuerwettbewerb u. Direktinvestitionen, Diss., 2002; Genschel, Steuerharmonisierung und Steuerwettbewerb in der Europäischen Union, Habil., 2002; Hasse/Schenk/Wass von Czege, Europa zwischen Wettbewerb u. Harmonisierung, 2002; Esser, Internationaler Steuerwettbewerb, Vorteile u. Gefahren, IFSt-Schrift Nr. 422, 2004; Schorn, Steuersysteme in der Europäischen Union, Diss., 2002; Schön, ET 2002, 490; Schön, ASA 2002/2003, 337; Brosius, Internationaler Steuerwettbewerb und Koordination der Steuersysteme, 2003; Schön, Tax Competition in Europe, IBFD Publication, 2003 (EATLP-Tagung in Lausanne); Fischer, FR 2004, 630; Becker/Schön, Steuer- und Sozialstaat im europäischen Systemwettbewerb, 2005; Esser, Internationaler Steuerwettbewerb, IFSt-Schrift Nr. 427, 2005; Mehde, Wettbewerb zwischen Staaten, Habil., 2005; Fuest, Steuerharmonisierung und Steuerwettbewerb, 2006; Müller, StuW 2006, 173; Sandt, Der unfaire Steuerwettbewerb und die Harmonisierung der Zinsbesteuerung, Diss., 2006; Seer, IWB Gruppe 2 (2005), Fach 11, S. 725; Seiler, Gutachten F zum 66. DJT (2006), 15 ff.; Spengel, Gutachten G zum 66. DJT (2006), 28 ff. (Effizienz u. Folgen des Steuerwettbewerbs); Rodi, StuW 2008, 327; Fuest, Ist Deutschland dem Internationalen Steuerwettbewerb gewachsen?, in Lüdicke, Wo steht das deutsche Internationale Steuerrecht?, 2009; Schmehl in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, 99; J. Lang, StuW 2011, 144. Zur aktuellen Entwicklung Endres/Heckemeyer/Spengel/Finke/Richter, DB 2013, 896; Spengel/Bräutigam/Evers, DB 2014, 1096. Markle/Shackelford, National Tax Journal 2012, 493, weisen für den Zeitraum 1988–2009 einen signifikanten Rückgang der effektiven Steuerbelastungen nach, aber kaum Veränderungen in der Rangfolge der Staaten.
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§7
Rz. 72
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
Steuervergünstigungen gerichteten Beihilfevorschriften (Art. 107 ff. AEUV) lassen sich nur eingeschränkt entgegenhalten. 72
Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes bestimmen eine Vielzahl von Standortfaktoren, u.a. Infrastruktur, Qualität von Arbeitskräften und Bildungsniveau, gesellschaftliche und wirtschaftliche Stabilität, Marktnähe der Produktion, Marktgröße und Absatzchancen. Die Abgabenbelastung wird in Relation zu den anderen Standortfaktoren akzeptiert. Je günstiger diese Relation ausfällt, desto wettbewerbsfähiger ist die Abgabenbelastung, die nicht nur aus Steuern, sondern auch aus Sozialabgaben u.a. nichtsteuerlichen Abgaben resultiert. Ungeachtet dessen, dass erst das Zusammenspiel aller Faktoren die Standortqualität definiert, kommt Steuern, insb. Steuersätzen insofern eine Signalwirkung im Staatenwettbewerb zu, als sie einen vermeintlich leicht ermittel- und vergleichbaren Preis staatlicher Leistung darstellen. Der Vergleich anderer Standortfaktoren ist ungleich schwieriger, so dass Hochsteuerländer, selbst wenn der Belastung ein herausragendes staatliches Infrastrukturangebot gegenübersteht, Schwierigkeiten haben, sich im Wettbewerb zu behaupten. Wettbewerbsrelevant sind nicht nur Standortbedingungen für Unternehmen, sondern auch für ortsungebundene Personen (Manager, Wissenschaftler, Sportler, Künstler etc.). Personenbezogene Standortbedingungen beeinflussen häufig unternehmerische Standortentscheidungen: In Unternehmen werden solche Standorte bevorzugt, wo die Führungskräfte mit ihren Familien Lebensqualität und maßvolle Besteuerung genießen. Der Wettbewerb um Kapital erfordert dagegen häufig nur einen sicheren Finanzplatz, wo Geldvermögen finanzbehördengeschützt deponiert werden kann.
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Es sind fairer und unfairer Wettbewerb zu unterscheiden. Steuerwettbewerb ist fair, wenn günstige Steuerbedingungen allen Steuerzahlern eingeräumt sind. Der faire Wettbewerb fördert die Steuergerechtigkeit, soweit der Staat niedrige Steuersätze durch den Abbau von Subventionen und Steuervergünstigungen finanziert. Dadurch werden die Steuerlasten verringert und gleichmäßiger verteilt. Das Streben der Nationen nach Wohlstand in einem fairen Wettbewerb miteinander ist staatsethisch gerechtfertigt. Er hält die Staaten dazu an, den Leviathan zu bändigen und Abgabenlasten und staatliches Leistungsangebot in ein attraktives Verhältnis zueinander zu setzen. Zunehmend wird die Steuergerechtigkeit jedoch durch „Mogelpackungen“ gefährdet, die vordergründig attraktive niedrige Steuersätze durch Verletzungen des objektiven Nettoprinzips (z.B. restriktive Verlustverrechnungsbestimmungen) erkaufen.
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Der Steuerwettbewerb ist unfair, wenn Steuervorteile gezielt nur gebietsfremden Unternehmen und Personen gewährt werden. Vor allem der Wettbewerb um Kapital ist häufig unfair, weil die Zinsen von Devisenausländern nicht besteuert und die Behörden des Wohnsitzstaats nicht informiert werden. Daneben umwerben die Staaten gezielt besonders mobile Einkommen, etwa durch Vergünstigungen für die Handelsschifffahrt (vgl. § 5a EStG) oder sog. Patent- und Lizenzboxen1, die eine niedrige Sonderbesteuerung für Lizenzeinnahmen vorsehen. Gegen unfairen Steuerwettbewerb kämpfen sowohl OECD2 als auch EU3. Die von G 20 und OECD mit hohem Aufwand betriebene BEPS-Initiative, die sich gegen „Base Erosion and Profit Shifting“4 richtet, adressiert neben „aggressiven“ Steuergestaltungen der Stpfl. auch das Verhalten
1 Baaijens/Breuer, BB 2010, 2932 (Niederlande); außerdem Patentboxen u.a. in Belgien, Luxemburg und Großbritannien, Übersicht BT-Drucks. 18/1238, 2. Zu der in Österreich eingeführten und auch in Deutschland diskutierten Alternative von Lizenzschranken analog der Zinsschranke s. Wimpissinger, SWI 2014, 220; Trinks, IWB 2014, 211; Peyerl, ÖStZ 2014, 223; zu den Lizenzgebühren betreffenden Vorschlägen im Rahmen der BEPS-Initiative Pinkernell/Quilitzsch, IStR 2014, 45. 2 Z.B. OECD, Harmful Tax Competition, An Emerging Global Issue, 1998; OECD, 2000 Progress Report: Towards Global Tax Co-operation: Progress in Identifying and Eliminating harmful Tax Practices, 2000; OECD, Tax Co-operation 2010: Towards a Level Playing Field – Assessment by the Global Forum on Transparaency and Exchange of Information, 2010. 3 EU-Kommission, Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung, KOM (1997) 495, ABl. EG 1998 C 210, 227; s. im Weiteren auch § 4 Rz. 12. 4 OECD, Addressing Base Erosion and Profit Shifting, Febr. 2013; OECD, Action Plan on Base Erosion and Profit Shifting, 2013; krit. Darstellung z.B. Pinkernell, FR 2013, 737; Valta, ISR 2014, 176 u. 214 u. 249.
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Steuern auf das Einkommen und Vermögen
Rz. 76
§7
der Staaten, die derartige Gestaltungen überhaupt erst ermöglichen1. Allerdings steht das völkerrechtliche Interventionsverbot der unmittelbaren Einwirkung der Völkergemeinschaft auf nationale Steuersysteme entgegen. Abgesehen von den europarechtlichen Beihilfevorschriften (s. § 4 Rz. 115 ff.) und der WTO-Rahmenordnung des GATT sind europäische und internationale Organisationen vorwiegend auf das rechtlich unverbindliche „soft law“ von Verhaltenskodizes beschränkt. Daher begegnen die Steuerstaaten den Steueroasen im Wege der Selbsthilfe mit sog. Defensivmaßnahmen u.a. Verstärkung des zwischenstaatlichen Auskunftsverkehrs2, Verweigerung von Maßnahmen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, Steuerabzugsverbote, Nachversteuerung von Kapitalflüssen aus dem niedrig besteuerten Gebiet u.a. nationalgesetzliche Maßnahmen (s. zum Außensteuergesetz § 1 Rz. 89), auch außersteuerliche Maßnahmen, z.B. Maßnahmen gegen Geldwäsche und Maßnahmen gegen Oasenbanken, wenn sie im nationalen Zugriffsbereich tätig werden. Einseitige nationale Maßnahmen sind allerdings auf der einen Seite nicht hinreichend effizient, auf der anderen Seite schießen sie über das Ziel hinaus, indem sie, statt lediglich ein angemessenes Steuerniveau herzustellen, Doppelbelastungen verursachen. Auch die aktuelle OECD BEPS-Initiative und die begleitendenden Bemühungen der EU3 können diesen Zustand nur dann verbessern, wenn die beteiligten Staaten die Vorteile eines koordinierten Vorgehens erkennen. Instrumente einseitiger Durchsetzung stehen nur in sehr begrenztem Umfang zur Verfügung, deshalb bedarf es eines konsensualen Vorgehens aller Staaten, sich auf fairen Steuerwettbewerb zu beschränken. Gestaltungsmöglichkeiten, die aus dem unabgestimmten Nebeneinander unterschiedlicher Steuersysteme entstehen, lassen sich grds. nur durch Angleichung beseitigen, die indes wenig realistisch ist. Immerhin könnten übereinstimmend angewendete Regelungen zur Auflösung von Qualifikationskonflikten Gestaltungsmöglichkeiten reduzieren, ohne in das Gegenteil steuerlicher Diskriminierung grenzüberschreitender Sachverhalte umzuschlagen. Mittlerweile haben sich die Staaten auf den Steuerwettbewerb eingestellt und suchen nach Konzepten, sich erfolgreich am Markt mobiler Faktoren gesellschaftlichen Wohlstandes zu behaupten. Dabei hat sich herausgestellt, dass eine Strategie der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage zur Finanzierung eines allgemein niedrigen Einkommensteuersatzes, wie sie weltweit durch die amerikanische Steuerreform von 1986 angestoßen wurde, nicht ausreicht, um die Wettbewerbsfähigkeit langfristig zu gewährleisten. Zwar folgten viele Staaten dem Motto von Ronald Reagan „Reduce tax rates, reduce complexity, increase fairness“4. International sind niedrigere Steuersätze und breitere Bemessungsgrundlagen zu beobachten. Flat Tax Modelle5, wie von Paul Kirchhof vorgeschlagen6, konnten sich indes nicht durchsetzen, weil ein allgemein niedriger Proportionalsatz der Einkommensteuer auch bei gleichzeitigem Abbau von Steuervergünstigungen nicht ausreicht, die Aufkommensbedürfnisse des Sozialstaates zu befriedigen.
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Stattdessen folgen viele Staaten mittlerweile – mehr oder weniger konsequent – dem Modell der dualen Einkommensteuer7. Es geht davon aus, dass der Staat gegenüber der sozial ortsgebun-
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1 OECD, Action Plan on Base Erosion and Profit Shifting, 2013, Action 5: „Revamp the work on harmful tax practices with a priority on improving transparency, including compulsory spontaneous exchange on rulings related to preferential regimes, and on requiring substantial activity for any preferential regime. …“ 2 Czakert, FS Frotscher, 2013, 5; ders., ISR 2013, 409. Zum Foreign Account Tax Compliance Act (FATCA) der USA Hartrott/Heinemann, BB 2012, 671; Eimermann, IStR 2013, 774. 3 Vgl. insb. Empfehlung der Kommission v. 6.12.2012 betr. aggressive Steuerplanung, KOM (2012) 8806 endg.; hierzu z.B. M. Lang, SWI 2013, 62. 4 The President’s Tax Proposals for Fairness, Growth, and Simplicity (May 1985), StuW 1985, 264. Zur amerikanischen Steuerreform Pechmann StuW 1985, 267; Gaddum, DStZ 1986, 211; Tipke, StuW 1986, 150; J. Lang, Die einfache und gerechte Einkommensteuer, Ziele, Chancen und Aufgaben einer Fundamentalreform, 1987. 5 Grundl. zu Wirkungen und Vorzügen einer Flat Tax Suttmann, Die Flat Tax, Diss., 2007; Owens, Bull. International Taxation 2013, 679 (pro und contra). 6 Aktuell P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 43 Rz. 32 ff. 7 Lit. (ab 2000): F.W. Wagner, StuW 2000, 431; Schreiber/Rüggeberg, DB 2004, 2767; Seer, BB 2004, 2272 (Flat Tax oder Dual Income Tax?); Wiss. Beirat beim BMF, Flat Tax oder Duale Einkommensteuer?, BMF-Schriftenreihe, Bd. 76, 2004; Englisch, Die Duale Einkommensteuer – Reformmodell für Deutschland?, IFSt-Schrift Nr. 432 (2005); Gjems-Onstad, StuW 2006, 90 (Erfahrungsbericht);
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§7
Rz. 77
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
denen Arbeitskraft erheblich höhere Steuerbelastungen durchsetzen kann als gegenüber dem flüchtigen Geld- und Sachkapital. Daher besteuert die duale Einkommensteuer nur noch Arbeitseinkommen progressiv. Hingegen werden Kapitaleinkommen mit einem Proportionalsteuersatz endbesteuert, der wesentlich unter dem Spitzensatz der Arbeitseinkommensteuer liegen muss, um das Ziel der Steuerwettbewerbsfähigkeit erreichen zu können. Auch in Deutschland findet die duale Einkommensteuer u.a. mit dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung prominente Befürworter. Sowohl das Jahresgutachten 2003/20041 als auch eine gemeinsam mit MPI und ZEW erstellte Studie2 empfehlen eine Differenzierung zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen. 77
Ein Paradigmenwechsel von der synthetischen zur dualen Einkommensteuer ist als grundlegende Belastungsentscheidung verfassungsrechtlich zulässig. Allerdings bedarf die Abkehr vom Ideal der synthetischen Einkommensteuer3 besonderer Rechtfertigung4. Diese kann entweder konsumtheoretisch (hierzu § 3 Rz. 79) oder wettbewerbspolitisch hergeleitet werden5. Wettbewerbspolitische Effizienz und Praktikabilität der dualen Einkommensteuer hängen indes zentral von ihrer konkreten Ausgestaltung, insb. vom Ausmaß der Spreizung der Steuersätze ab. Die Grundannahme der dualen Einkommensteuer, mobiler Faktor gesellschaftlichen Wohlstandes sei allein das Kapital, verkennt, dass gerade gesellschaftspolitisch besonders wertvolle hochqualifizierte Arbeitskraft ebenfalls mobil und damit in der Lage ist, einer hohen Progression auszuweichen. Die Standorte von Unternehmen, Forschungsabteilungen etc. werden auch im Interesse der Führungskräfte entschieden. Damit sind auch der Bestimmung der Progression auf das Arbeitseinkommen wettbewerbliche Grenzen gesetzt. Praktisch schwer zu lösende Probleme wirft die Abgrenzung von Arbeits- und Kapitaleinkommen bei gemischten Einkommen auf6. Fällt der Kapitaleinkommensteuersatz nicht niedrig genug aus, leidet die Wettbewerbs-
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Hey, JZ 2006, 851 (854 f.); Spengel, Gutachten G zum 66. DJT, 52 ff.; Seer, Besteuerung von Einkommen, 66. DJT (2006), 127 (142); Liekenbrock, DStZ 2007, 279 (duale ESt des Sachverständigenrats); Meyer-Sandberg, Die Duale Einkommensteuer als Modell ungleicher Besteuerung von Arbeit und Kapital, Diss., 2008; C. Wagner, Steuergleichheit unter Standortvorbehalt, Verfassungsrechtliche Grenzen einer ungleichen Einkommensbesteuerung von Kapital und Arbeit, Diss., 2010; Staringer, DStJG 37 (2014), 137 (140). Jahresgutachten 2003/2004: Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren, Rz. 570 ff. (Steuerreformoption I: Integration von Körperschaftsteuer und Einkommensteuer), Rz. 584 ff., Rz. 600 ff. (Vereinbarkeit mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip u. Steuergerechtigkeit nach dem Lebenseinkommen), 614 ff.: (Steuerreformoption II: Duale Einkommensteuer). Sachverständigenrat/Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht/Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Reform der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung durch die Duale Einkommensteuer, BMF-Schriftenreihe, Bd. 79, 2006. Insgesamt überwiegt eine eher kritische Haltung gegenüber einer Privilegierung von Kapitaleinkünften. s. Beschlüsse des 66. DJT (2006), 168 (Nr. 8: Gleichbehandlung der Einkunftsarten bei der Ausgestaltung der Bemessungsgrundlage), 169 (Nr. 15: duale ESt „widerspricht der Steuergerechtigkeit und wirft erhebliche steuertechnische Probleme auf“). So die h.M. der Steuerrechtswissenschaft, insb. Tipke, StRO II2, 2003, 668 ff.; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 218 ff.; J. Lang, StuW 2006, 22 (28 ff.) (synthetische vs. duale ESt); P. Kirchhof, BB 2006, 71; P. Kirchhof, Die staatsrechtliche Bedeutung der Steuerreform, in Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, n.F., Bd. 54 (2006), 33 (gegen „Duales System“); Mellinghoff, Besteuerung von Einkommen, 66. DJT (2006), 102 (Die ESt sei an der Idee der synthetischen ESt auszurichten), 113 (gegen duale ESt, jedoch Vereinbarkeit mit dem GG offen gelassen). Vgl. auch BVerfGE 116, 164 (181) (Tarifbegrenzung bei gewerblichen Einkünften nach § 32c EStG 1994), allerdings als singuläre Ausnahme einer grds. synthetischen Einkommensteuer. Zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der dualen ESt Sachverständigenrat u.a., BMF-Schriftenreihe Bd. 79, 2006, 17 ff.; Englisch, IFSt-Schrift Nr. 432 (2005), 93 ff., 133 ff. (konsumsteuertheoretisch), ihm folgend Hey, JZ 2006, 851; Seer, Besteuerung von Einkommen, 66. DJT (2006 in Stuttgart), 139 ff. (Steuerwettbewerb), 147 (typisierte Berücksichtigung der Inflation); Lehner, DStJG 30 (2007), 61 (81 f.) (Art. 109 II GG: gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht); C. Wagner, Steuergleichheit unter Standortvorbehalt, Diss., 2010, 113–213 (verfassungswidrig). Vgl. das Konzept der Gewinnspaltung im Bereich der Personenunternehmen in der Expertise zur dualen Einkommensteuer, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwick-
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Steuern auf das Einkommen und Vermögen
Rz. 78
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fähigkeit der dualen Einkommensteuer; bei starker Spreizung werden massive Anreize für steueroptimierende Gestaltungen gesetzt.
b) Entwicklung in Deutschland seit den 1990er Jahren Mit Beginn der 1990er Jahre setzte in Deutschland ein massiver Trend zur Absenkung sowohl des progressiven Einkommensteuertarifs als auch der Belastung unternehmerischer Gewinne durch Einkommen-/Körperschaft- und Gewerbesteuer ein. In der Steuerreform 1990 wurde zunächst der linear-progressive Tarif (s. § 8 Rz. 800) eingeführt. Nachdem verschiedene politische Anläufe zu einer weiteren Tarifreform der damaligen konservativen Regierungsparteien gescheitert waren1, zeichnete die von 1998 bis 2005 regierende Koalition aus SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 v. 24.3.1999, BGBl. I 1999, 402, mit der Absenkung des Einkommensteuerspitzensatzes auf 42 % ab 2002 für die größte Einkommensteuertarifreduktion der Nachkriegsgeschichte verantwortlich. Parallel sollte die Unternehmensteuerreform 20012 durch signifikante Absenkung des Körperschaftsteuersatzes (von 40 % auf 25 %) und pauschale Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer (§ 35 EStG) die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland verbessern. Die Reform blieb hinter den Erwartungen zurück. Verfehlt wurde das Ziel einer rechtsformneutralen Unternehmensbesteuerung, mit deren Entwicklung die zur Vorbereitung der Reform eingesetzte Brühler Kommission betraut worden war3. Auch zeigte sich sehr schnell, dass die 2001 erreichte Gesamtbelastung unternehmerischer Gewinne von knapp unter 40 % nach wie vor nicht konkurrenzfähig war. Erst mit der Unternehmensteuerreform 20084 wurde die Belastung von Kapitalgesellschaftsgewinnen auf wettbewerbstaugliche 30 % gesenkt. Das im Koalitionsvertrag der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD propagierte Ziel „weitgehender Rechtsform- und Finanzierungsneutralität“ wurde dagegen erneut verfehlt. Zwar wurde parallel zur Senkung des Körperschaftsteuersteuersatzes für Personenunternehmen in § 34a EStG eine Tarifbegünstigung für einbehaltene Gewinneinkünfte eingeführt. Die Sondertarifierung nach § 34a EStG 2008 (dazu § 8 Rz. 828 ff.; Mitunternehmer: § 10 Rz. 220 ff.) ist als Fiskalzwecknorm des Steuersubstratwettbewerbs zu qualifizieren und dem Grunde nach zu rechtfertigen (Rz. 88). Jedoch ist das Ziel tariflicher Belastungsgleichheit im Dualismus separater Besteuerung von Kapitalgesellschaftsgewinnen und transparenter Besteuerung von Personenunternehmensgewinnen schwerlich zu erreichen5. Die mit dem Nebeneinander von Transparenz- und Tren-
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lung, Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren/Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht/Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Reform der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung durch die Duale Einkommensteuer, BMF-Schriftenreihe, Bd. 79, 2006, 99 f. S. insb. den Vorschlag des wirtschaftspolitischen Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Gunnar Uldall eines Stufentarifs von 8–28 % (Uldall, Modell einer radikalen Reform der Einkommensteuer, in Baron/Handschuch, Wege aus dem Steuerchaos, 1996, 189) sowie die Petersberger Steuervorschläge (entwickelt in der Waigel-Kommission, Reform der Einkommensbesteuerung, BMF-Schriftenreihe, Heft 61, 1997) als Grundlage für die politisch gescheiterte Steuerreform 1999 mit einem Einkommensteuertarif von 15–39 % und Körperschaftsteuersätzen von 35/25 % für thesaurierte/ausgeschüttete Gewinne (Regierungsentwürfe, BT-Drucks. 13/7775 u. BT-Drucks. 13/7480 v. 22.4.1997 mit einer Neufassung des EStG); dazu Dziadkowski, FR 1996, 653; Homburg, Stbg. 1996, 529; Beichelt, StuW 1997, 176; Kaltenborn, Streit um die Einkommensteuer, Die Reformvorschläge der Parteien im Vergleich, 1999. Steuersenkungsgesetz (StSenkG) v. 23.10.2000, BGBl. I 2000, 1433; s. hierzu IFSt, Steuerreform-Konzeptionen im Vergleich – Die Konzeptionen des StSenkG und der CDU/CSU-Fraktion, Schrift Nr. 388, 2000; Schaumburg/Rödder, Unternehmenssteuerreform 2001, 2000 (mit ausf. Darstellung der Entstehungsgeschichte); Vogt, Neutralität und Leistungsfähigkeit, Eine verfassungs- und europarechtliche Untersuchung der Unternehmensbesteuerung nach dem StSenkG, Diss., 2003. Vgl. Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung, Bericht der Kommission zur Reform der Unternehmensbesteuerung (sog. Brühler Kommission), BMF-Schriftenreihe, Heft 66, 1999. UntStRefG 2008 v. 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912; Entwurf eines UntStRefG der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BT-Drucks. 16/4841 v. 27.3.2007. Lit. zur Unternehmensteuerreform 2008 s. 20. Aufl., § 8 Rz. 92 Fn. 95. Zur Berechnung der Thesaurierungs- und Gesamtsteuerbelastung s. § 8 Rz. 829.
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Rz. 79
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
nungsprinzip verknüpfte Vielfalt steuerlicher Vergleichskriterien erschwert weiterhin die Rechtsformwahl (s. § 13 Rz. 182 ff.). 79
Seit 2009 ist der Gesetzgeber mit der Einführung einer Abgeltungsteuer von 25 % für Kapitaleinkünfte bei gleichzeitiger Aufhebung der Steuerfreiheit privater Aktienveräußerungsgeschäfte endgültig in eine steuerwettbewerbsorientierte Schedulenbesteuerung eingetreten, die das deutsche Einkommensteuerrecht mit Elementen einer dualen Einkommensteuer durchsetzt, ohne sich allerdings für eine konsequente und systematische Differenzierung zwischen Arbeitsund Kapitaleinkommen zu entscheiden. Lediglich Zinseinkünfte werden dauerhaft niedrig besteuert. Die niedrige Belastung unternehmerischer Gewinne durch die niedrige Körperschaftsteuer bzw. § 34a EStG wirkt dagegen aufgrund der Nachbelastung im Ausschüttungs-/Entnahmefall nur temporär. Folge sind neben den der dualen Einkommensteuer inhärenten Abgrenzungsschwierigkeiten schwere Neutralitätseinbußen.
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Die neuerliche Senkung des Körperschaftsteuersatzes und die Einführung der Abgeltungsteuer wurden unter Inkaufnahme erheblicher Verletzungen fundamentaler Besteuerungsprinzipien finanziert. Vermeintliche Missbrauchsregeln wie die Zinsschranke (§§ 4h EStG; 8a I KStG) zur Beschränkung des Abzugs von Finanzierungsaufwand im Konzern (s. § 11 Rz. 49 ff.) und der Verlustuntergang bei Anteilseignerwechsel gemäß § 8c KStG (s. § 11 Rz. 58) erodieren das objektive Nettoprinzip. Mit der Besteuerung von Funktionsverlagerungen nach § 1 AStG 2008 wird die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. AEUV) verletzt (s. § 1 Rz. 90).
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Letztlich sind die Gegenfinanzierungsmaßnahmen der Unternehmenssteuerreform 2008 nur ein weiterer Beleg dafür, dass die seit der Jahrtausendwende vorgenommenen Tarifsenkungen durch systemzerstörende Verbreiterungen der Bemessungsgrundlage teuer erkauft1 und langfristig nicht haltbar sind. Zwar hat das BVerfG die Gegenfinanzierungsmaßnahmen der Abschaffung der Entfernungspauschale bis zum 20. Entfernungskilometer (§ 8 Rz. 261 f.) und der weiteren Einschränkung der Abzugsfähigkeit von Arbeitszimmerkosten (s. § 8 Rz. 254 f.) für verfassungswidrig erklärt. Aufgegriffen werden aber nur Einzelfälle. Das Abzugsverbot für Ausbildungskosten (§ 12 Nr. 5 EStG), die Streichung des Abzugs privater Steuerberatungskosten, die Bruttobesteuerung im Rahmen der Abgeltungsteuer (§ 20 IX 1 Hs. 2 EStG) oder die rein fiskalisch begründete Mindestbesteuerung des § 10d II EStG illustrieren, dass die Gegenfinanzierungsanstrengungen längst über die Abschaffung von Steuervergünstigungen und die Schließung von Besteuerungslücken hinausgegangen sind. Die Rechnung geht insb. dann nicht auf, wenn gleichzeitig die Steuersätze wieder angehoben werden. Nach der Einführung des besonderen Spitzensteuersatzes von 45 % (inkl. SolZ 47,5 %) für Einkommen von 250 000/500 000 Euro ab 2007, der sog. Reichensteuer, wird vor allem von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, den Urhebern der Tarifsenkung der 2000er Jahre, intensiv über eine weitere Anhebung des Einkommensteuertarifs diskutiert2. Politisch findet trotz verfassungsrechtlicher Bedenken (s. Rz. 36) auch die Verstetigung des einst zur Finanzierung der deutschen Wiedervereinigung eingeführten Solidaritätszuschlags, bei dem es sich um nichts anderes als eine zusätzliche Einkommensteuer handelt, breite Zustimmung. Die Steuersätze gehen hoch; die Bemessungsgrundlagen bleiben breit, zu breit, soweit fundamentale Steuergerechtigkeitsprinzipien wie das Nettoprinzip beschnitten werden. Bemühungen um grundlegende Systematisierung und Vereinfachung des Einkommensteuergesetzes fehlen ganz.
1 J. Lang, StuW 2011, 144 (150); zu den negativen Effekten für Unternehmen mit geringen Gewinnen/ Verlusten bzw. hoher Verschuldung Finke/Heckemeyer/Reister/Spengel, FinArch. 69 (2013), 72. 2 Zur Diskussion im Bundestagswahlkampf 2013 s. Kruhl, StBW 2013, 792; Zipfel, BB 2013, 2199; IFStSchrift Nr. 489 (2013): Steuerpolitik im Wahlkampf.
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Angesichts des heutigen Zustandes der Einkommensbesteuerung sind die seit Jahrzehnten vorgebrachten Reformforderungen1 aktueller denn je, auch wenn sich die Akzente infolge des Steuerwettbewerbs verschieben2.
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Steuern auf das Einkommen und Vermögen
c) Reformvorschläge und Reformperspektiven
Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war von regelrechter Reformeuphorie3 geprägt. Die Vielzahl der Reformvorschläge dokumentierte und dokumentiert das Bedürfnis nach einer Fundamentalreform der Besteuerung von Einkommen, selbst wenn sich momentan auch in der Wissenschaft Ernüchterung verbreitet. Hiervon zeugt etwa die Jahrestagung 2013 der DStJG zur „Erneuerung des Steuerrechts“4. Zwar wird die Reformnotwendigkeit nicht grds. in Frage gestellt5, wohl aber besteht tiefgreifende Skepsis gegenüber Reformbereitschaft und Reformfähigkeit des Steuergesetzgebers6. Die Politik hat seit der Erzberger’schen Steuerreform von 1920 (s. § 8 Rz. 7) bis heute nicht die Kraft aufgebracht, ein besseres Steuerrecht gegen die Vielfalt von Fiskal- und Gruppeninteressen durchzusetzen. Steuervereinfachung wird zwar in Gesetzestiteln versprochen (s. Steuervereinfachungsgesetz 2011 v. 1.11.2011, BGBl. 2011, 2131), indes nicht eingelöst7. Wissenschaftlich fundierte Steuerpolitikberatung8 trifft bestenfalls auf höfliches Desinteresse, scheitert jedoch allzu oft an der Realität einer allein aufkommenszentrierten Steuergesetzgebung. Fanden sich noch bis Mitte der 2000er Jahre zumindest verbale 1 S. Raupach/Tipke/Uelner, Niedergang oder Neuordnung des deutschen Einkommensteuerrechts?, 1985; J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, 1985; Loritz, Die systemgerechte Einkommensteuer – ein unerreichbares Ziel?, StuW 1986, 9; Gaddum, Einkommensteuerreform: Einfach und gerecht!, 1986; Tipke, StuW 1986, 150; J. Lang, Die einfache und gerechte Einkommensteuer, Ziele, Chancen und Aufgaben einer Fundamentalreform, 1987; 57. DJT: Empfiehlt es sich, das Einkommensteuerrecht zur Beseitigung von Ungleichbehandlungen und zur Vereinfachung neu zu ordnen?: Gutachten von P. Kirchhof, 1988; J. Lang, Steuergesetzbuch; J. Lang, FR 1993, 661; Bareis-Kommission, Thesen zur Steuerfreistellung des Existenzminimums ab 1996 und zur Reform der Einkommensteuer, BMF-Schriftenreihe, Heft 55, 1995; Baron/Handschuch, Wege aus dem Steuerchaos, 1996; Arbeitsgruppe für Steuerreform der DStJG, Beschlüsse zur Reform des Steuerrechts, StuW 1996, 203; Uldall, Modell einer radikalen Reform der Einkommensteuer, in Baron/Handschuch, Wege aus dem Steuerchaos, 1996, 189; J. Lang, Zur Lage des Steuerrechts, Plädoyer für eine Rechtsreform, Bitburger Gespräche 1997, 1999; Tipke, StuW 2000, 309; Kirchhof/Lambsdorff/Pinkwart, Perspektiven des modernen Steuerrechts, FS Solms, 2005; Kußmaul/Zabel, ZSteu 2005, 274 ff., 292 ff., 310 ff. (Aufarbeitung der Reformvorschläge); Reif, Reform der Besteuerung des Einkommens, Diss., 2005; Bareis, FS Wacker, 2006, 27; Siegel, FS Wacker, 2006, 3; P. Kirchhof, BB 2006, 71; Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuerwirrwarr!?, Rechtsreform statt Stimmenfangpolitik, 2006; 66. DJT (2006): Besteuerung von Einkommen – Aufgaben, Wirkungen und europäische Herausforderungen: Gutachten F von Seiler; Gutachten G von Spengel, sowie Sitzungsbericht Bd. II/1, Teil Q, 2006, zum 66. DJT; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011 (hierzu P. Kirchhof (Hrsg.), Das Bundesteuergesetzbuch in der Diskussion, 2013; ferner Anm. Tipke, StuW 2013, 212 [Allgem. Teil]; Pelka, StuW 2013, 26 [Einkommensteuer]; Seer, StuW 2013, 239 [Erbschaftsteuer]; Hennrichs, StuW 2013, 249 [Bilanzordnung]; Finke/Spengel, StuW 2013, 256 [ökonomische Sicht]); zuvor P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch 2003; Lang/Eilfort (Hrsg.), Strukturreform der deutschen Ertragsteuern. Bericht über die Arbeit und Entwürfe der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, 2013; Jachmann (Hrsg.), Erneuerung des Steuerrechts, DStJG 37 (2014). 2 Zu diesen Akzentverschiebungen Vanistendael, FS J. Lang, 2010, 101. 3 Drüen, DStJG 37 (2014), 9 (62) spricht von der „fachwissenschaftlichen Sehnsucht nach einem ‚Jahrhundertsteuergesetz‘ statt zahlloser Jahressteuergesetze“. 4 Tagungsband hrsg. v. Jachmann, DStJG 37 (2014). 5 S. aber F.W. Wagner, FR 2012, 653: „Großer Wurf weder möglich noch nötig“; zurückhaltend auch Schön, FR 2014, 93: „gesunde Skepsis gegenüber Fundamentalreformen“. 6 S. Tipke, Hütet das Nettoprinzip, FS Raupach, 2006, 177; Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuerwirrwarr!?, Rechtsreform statt Stimmenfangpolitik, 2006, 150 ff.; Bareis, „Steuerreform“, in Leitgedanken des Rechts, Band II, 2013, § 166; Wagschal, Steuerpolitik und Steuerreformen im internationalen Vergleich, 2005; aus rechtshistorischer Sicht Thier, StuW 2014, 77. 7 Konkret zum Steuervereinfachungsgesetz 2011 Eichfelder/Evers, StuW 2011, 224; Reimer, FR 2011, 929; allgemein J. Lang, FS Spindler, 2011, 139 („Unfähigkeit der deutschen Politik zur Steuervereinfachung“); Merz, FS J. Lang, 2010, 367 ff. 8 Programmatisch Tipke, Warum Steuerrechtswissenschaft und Steuerpolitik nicht harmonieren, StuW 2013, 97; ferner Eilfort, FS J. Lang, 2010, 375; Jochum, FS J. Lang, 2010, 391; Hey, StuW 2013, 107.
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Rz. 83
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
Bekenntnisse der Politik zu grundlegenden Steuerreformen1, so erteilt der Koalitionsvertrag der amtierenden Großen Koalition den Hoffnungen auf eine grundlegende Einkommensteuerreform eine deutliche Absage2. Die Reduzierung auf notwendige Anpassungen an wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen übersieht, dass diese Anpassungen nur gelingen können, wenn die Ausgangsbasis stimmt. Deshalb bleibt die Forderung nach einer die strukturellen Defizite des Einkommensteuerrechts beseitigenden Rechtsreform, wie sie etwa der „Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes“3 verfolgt, aktuell4. 83
Falsch ist vor allem die Fokussierung der Steuerpolitik auf Steuersätze und Steuertarife. Auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit eines Steuersystems lebt nicht nur von einer niedrigen Tarifbelastung der Unternehmen. Ebenso bedeutend ist ein wohlstrukturiertes, d.h. ein möglichst einfaches, nicht streitanfälliges Steuerrecht, das wirtschaftliche Entscheidungen möglichst wenig verzerrt, Steuerplanungssicherheit bietet und beim Vollzug der Steuergesetze eine im Wesentlichen störungsfreie Zusammenarbeit der Unternehmen mit den Finanzbehörden gewährleistet. Diese Kriterien erfüllt das deutsche Ertragsteuerrecht gegenwärtig nicht. Es ist unverständlich kompliziert und verzerrt wirtschaftliche Entscheidungen mehr als andere Steuersysteme5. Das Verhältnis zwischen Steuerzahlern und Finanzbehörden ist tiefgreifend gestört.
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In einem Steuersystem trägt hauptsächlich die Einkommensteuer die Verwirklichung des Leistungsfähigkeitsprinzips. Der progressive Einkommensteuertarif ist aber nur dann leistungsfähigkeitsgerecht, wenn die Leistungsfähigkeit richtig gemessen wird. Daher muss die Leistungsfähigkeitsgerechtigkeit der Bemessungsgrundlage Vorrang vor der Tarifgestaltung haben6. Verbreiterungen der Bemessungsgrundlage zulasten des Nettoprinzips sind abzulehnen7. Davon ausgehend sollte der Schwerpunkt einer Einkommensteuerreform bei der Bemessungsgrundlage gesetzt werden, die leistungsfähigkeitsgerechter auszugestalten und grundlegend zu vereinfachen ist. Breite Einigkeit besteht hinsichtlich der Forderung, das Einkommensteuerrecht von Sozialzwecknormen zu säubern und freizuhalten8. Die Möglichkeiten einer systemkonformen Verbreiterung der Bemessungsgrundlage dürfen freilich nicht überschätzt werden, nachdem der Einkommensteuergesetzgeber in der Vergangenheit durch Abschaffung von Sonderabschreibungstatbeständen und Vergünstigungen wie z.B. der Eigenheimzulage weit vorangeschritten ist. Ambivalent ist die Forderung nach Steuervereinfachung. Sie kann nicht allein auf den Steuervollzug und den Einsatz neuer Kommunikationstechniken beschränkt werden9, 1 Nachweise s. 21. Aufl., § 7 Rz. 84 Fn. 5. 2 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode, v. 27. 11. 2013, 63 ff. Zur Reformabstinenz in Bezug auf das Unternehmenssteuerrecht Seer, GmbHR 2014, 505. 3 Lang (Sprecher)/Herzig/Hey/Horlemann/Pelka/Pezzer/Seer/Tipke (beratend), KEStGE, 2005, ausgehend von J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, 1985, und fortgeführt von der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, Steuerpolitisches Programm, Januar 2006, 46 ff.; Lang/Eilfort (Hrsg.), Strukturreform der deutschen Ertragsteuern. Bericht über die Arbeit und Entwürfe der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, 2013. 4 Zum fortbestehenden Bedarf nach Grundlagenreform auch P. Kirchhof, FR 2012, 701. Zum aktuellen Stand der Reformdiskussion auch Kühn, FR 2012, 543; Müller-Gatermann, Ubg. 2013, 510 (511 ff.). 5 Zum Abschneiden des deutschen Unternehmensteuerrechts im internationalen Vergleich s. Endres/ Stellbrink, StuW 2012, 96 (86. Platz von 183) auf der Grundlage der PWC-Studie, Paying Taxes – the compliance burden, 2011. 6 Tipke, StRO II2, 2003, 838: „Ein gerechtes Steuerrecht muss auf einer gerechten Bemessungsgrundlage aufbauen. Da jeder Tarif durch eine Bemessungsgrundlage fundiert werden muss, zäumt der Gesetzgeber das Pferd am Schwanz auf, wenn er auf der Grundlage einer ungerechten Bemessungsgrundlage eine ‚Tarifreform‘ durchführt. Bemessungsgrundlage geht vor Tarif.“ S. auch J. Lang, StuW 2006, 22 (31 f.). 7 Dazu Drenseck, FR 2006, 1; Tipke, FS Raupach, 2006, 177; Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuerwirrwarr!?, Rechtsreform statt Stimmenfangpolitik, 2006, 150 ff. S. im Weiteren § 8 Rz. 54 f. 8 S. z.B. Drüen, DStJG 37 (2014), 9 (55 ff.). 9 So aber Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD v. 27.11.2013, 64. Besorgniserregend ist das durch die Möglichkeiten elektronischer Datenerhebung begünstigte Anschwellen der Informationspflichten, die letztlich zum Gegenteil von Steuervereinfachung führen, s. Kühn, FR 2012, 543 (547). Umgekehrt muss das materielle Recht vollzugstauglich sein, s. Drüen, DStJG 37 (2014), 9 (50 ff.).
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Steuern auf das Einkommen und Vermögen
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sondern muss sich auch auf das materielle Recht erstrecken. Allerdings wird auch ein reformiertes Einkommensteuerrecht nicht ohne unbestimmte Rechtsbegriffe etwa zur Abgrenzung zwischen Privat-und Erwerbsphäre auskommen. Die der Einkommensteuer unterliegende Lebenswirklichkeit ist zu vielgestaltig, als dass sich das hieraus entstehende Konfliktpotential durch Typisierungen signifikant reduzieren ließe1. Weitgehend einig sind sich die Reformentwürfe hinsichtlich der Bedeutung des objektiven Nettoprinzips, der Notwendigkeit, überkommene streitanfällige Einkunftsartenabgrenzungen zu beseitigen und der Unabdingbarkeit des subjektiven Nettoprinzips. Ungelöst ist dagegen das historische Problem des Nebeneinanders von Einkommen- und Körperschaftsteuer sowie der Ermittlung und Durchsetzung des Steueranspruchs auf (mobile) Kapitaleinkommen2. So unbestritten das Ideal der synthetischen Einkommensteuer ist, so schwierig ist seine Umsetzung in der heutigen Besteuerungsrealität.
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Dem synthetischen Prinzip trägt idealiter die Einheitssteuer von P. Kirchhof3 Rechnung, da sie die Besteuerung der Einkommen von „steuerjuristischen Personen“ mit einbezieht. Unternehmerische Gewinne werden rechtsformneutral abschließend auf Unternehmensebene besteuert und bei Ausschüttung/Entnahme von weiterer Besteuerung freigestellt. Diese Lösung setzt ganz allgemein einen wettbewerbsfähig niedrigen sog. „flachen Steuersatz“, also eine Flat Tax4 voraus. Ein Proportionaltarif verbessert die gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit: Die gleichmäßige Anwendung des Leistungsfähigkeitsprinzips „führt zur Proportion, nicht zur Progression“5, wobei Freibeträge zur verfassungsrechtlich gebotenen Verschonung des notwendigen Lebensbedarfs weiterhin indirekt für Progression sorgen. Der Verzicht auf einen progressiven Einkommensteuertarif vereinfacht die Anwendung der Einkommensteuer und reduziert Steuerwiderstand6. Auch gleichheitsrechtlich überzeugt die Flat Tax7. Ein niedriger, international wettbewerbsfähiger8 Proportionalsatz ist jedoch, abgesehen davon, dass eine solche Forderung keine politischen Mehrheiten finden würde, aufgrund der hiermit einhergehenden Steuerausfälle haushaltspolitisch unrealistisch9.
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Bei der Reform der Besteuerung von Einkommen ist davon auszugehen, dass die Lasten des Sozialstaats zur Beibehaltung der progressiven Einkommensteuer zwingen. Allerdings fordert der Steuerwettbewerb eine Mäßigung der Progression, die auch aus den vorgenannten rechtlichen Gründen angezeigt ist. Die Progression sollte im internationalen Vergleich so maßvoll sein, dass sie auch von den mobilen Führungskräften akzeptiert wird (s. auch BVerfGE 115, 97 [116]).
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1 Sehr zutreffend F.W. Wagner, FR 2012, 653 (657 ff.). 2 Vgl. F.W. Wagner, FS J. Lang, 2010, 345 (350): Kapitaleinkommensbesteuerung als „konzeptionell schwierigstes Problem aller Steuersysteme der Welt“. 3 Einkommensteuergesetzbuch, 2003, u. Bundessteuergesetzbuch, 2011. 4 Grundl. Hall/Rabushka, The Flat Tax2, Hoover Institution Press, 1995. Im Weiteren Elicker, StuW 2000, 3; Seer, BB 2004, 2272; Seer, 66. DJT (2006), 140 f.; Wiss. Beirat beim BMF, Flat Tax oder Duale Einkommensteuer?, BMF-Schriftenreihe, Bd. 76, 2004; Fuest/Peichl/Schäfer, StuW 2007, 22 (empirische Analyse zu Gewinnern und Verlierern); Suttmann, Die Flat Tax, Diss., 2007. Das Konzept der Flat Tax liegt auch dem „Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer“ (2004) von Elicker zugrunde, ohne sich allerdings auf einen bestimmten Steuersatz festzulegen; krit. aus der Sicht der Optimal Tax Theory Jacobs, Finanzarchiv Vol. 69 (2013), 338. 5 So grundl. Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981, 97 (s. § 3 Rz. 212, u. § 8 Rz. 802). S. im Weiteren Seer, Besteuerung von Einkommen, 66. DJT (2006), 140 f.; Birk, Gastkommentar, DB v. 2.9.2011, M 1. 6 Zu den Effekten eines Übergangs von einem Progressiv- zu einem Proportionalsteuersystem auf die Steuerehrlichkeit Heinemann/Kocher, Tax Compliance Under Tax Regime Changes, ZEW Discussion Paper No. 10–020. 7 Beschluss Nr. 14 des 66. DJT (2006), 169: „Ein einheitlicher Steuersatz (flat rate) bildet den Schlüssel zur Gleichheit und Vereinfachung des Steuerrechts …“; so auch Seiler, Gutachten F zum 66. DJT (2006) in Stuttgart, 26 ff.; Seer, Besteuerung von Einkommen, 66. DJT (2006), 140 ff. 8 Hierzu Hey, JZ 2006, 851 (853 f.); Spengel, Ubg. 2012, 256. 9 Zu den Haushaltswirkungen des Vorschlags von P. Kirchhof s. 21. Aufl., § 7 Rz. 86 Fn. 4 und Kühn, FR 2012, 543 (548).
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Den Vertretern der dualen Einkommensteuer ist insofern zuzustimmen, als auch eine Mäßigung der Progression die Steuerwettbewerbsfähigkeit noch nicht herstellt. Daraus folgt jedoch nicht zwingend der Paradigmenwechsel zu einer globalen Niedrigbesteuerung oder gar Freistellung der Kapitaleinkommen. Ohnehin haben konsumsteuertheoretische (s. § 3 Rz. 79) Radikalentwürfe1, wie sie von Elicker, Mitschke und Rose vorgelegt wurden, wenig Aussicht, von der deutschen Steuerpolitik wahrgenommen zu werden. Vielmehr genügt es, investierte Unternehmensgewinne mittels eines niedrigen Körperschaftsteuersatzes partiell nachgelagert zu besteuern (s. § 3 Rz. 77) und Kapitaleinkünfte einer Abgeltungsteuer zu unterwerfen. Auf diese Weise entsteht ein System von Fiskalzwecknormen, das die Tarifbelastung gezielt dort zurückführt, wo sie sich im internationalen Steuersubstratwettbewerb2 nicht durchzusetzen vermag. Es handelt sich um ein System, das die synthetische Einkommensteuer im Grundsatz beibehält, diese jedoch mit Schedulen der Steuerwettbewerbsfähigkeit ausstattet.
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Der ersten Schedule der Besteuerung von Unternehmen liegt die separate Besteuerung der Unternehmensgewinne nach dem Trennungsprinzip zugrunde: Der vom Körperschaftsteuersubjekt erwirtschaftete Gewinn wird zunächst proportional auf der Ebene des Unternehmens und sodann progressiv auf der Ebene des Anteilseigners besteuert (s. § 11 Rz. 1). Die Gesamtbelastung hängt davon ab, in welchem Umfange das Körperschaftsteuersystem die körperschaftsteuerliche Vorbelastung auf der Ebene progressiver Besteuerung des Anteilseigners berücksichtigt. Das Spektrum (s. § 11 Rz. 6 ff.) reicht von der Nichtberücksichtigung (klassisches System: volle Doppelbelastung) bis zur Vollanrechnung der Körperschaftsteuer (s. § 11 Rz. 9). Auf die Progression wird ganz verzichtet, wenn die Besteuerung auf Unternehmensebene abschließend ist3, d.h. Gewinnausschüttungen an Anteilseigner einkommensteuerbefreit sind. International vorherrschend sind die variantenreichen Teilentlastungssysteme mit teilweiser Befreiung (z.B. Teileinkünfteverfahren, s. § 11 Rz. 12), partieller oder pauschaler Anrechnung bzw. Ermäßigung (zu diesen sog. Shareholder-Relief-Systemen s. § 11 Rz. 7). Die stärkste Wettbewerbseffizienz genießen die klassischen Systeme wirtschaftlicher Doppelbelastung: Der Körperschaftsteuersatz wird dabei sehr niedrig angesetzt und die Steuerlast auf den progressiv besteuerten Anteilseigner verlagert. Daraus resultiert die wettbewerbsfähig niedrige Besteuerung thesaurierter Gewinne von Kapitalgesellschaften.
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Zwar nimmt die Anzahl an (wettbewerbsrelevanten) Personenunternehmen ab4, historisch bedingt gibt es in Deutschland aber immer noch einen verhältnismäßig hohen Anteil großer Personenunternehmen. Dies wirft die Grundfrage auf, wie Personenunternehmen in die niedrige Besteuerung thesaurierter Gewinne integriert werden können5. Vorschläge einer allgemeinen Unternehmensteuer, wie sie etwa von der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft6 vorgelegt wurden, laufen Gefahr, kleinen Unternehmen und Einzelunternehmern nicht gerecht zu werden, da diese mit ihrem persönlichen Einkommensteuersatz häufig
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1 Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, 2004, § 2 I, 124 ff., und Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, 2004, § 6, 47 ff. (s. dazu die empirische Analyse von Fuest, FR 2011, 9), empfehlen die Cash-Flow-Ermittlung der Einkünfte. Für die Zinsbereinigung plädieren Rose (S. 15 [19 f.]) und Feist/Krimmer/Raffelhüschen (S. 122 [125]) in Rose, Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland, 2002. 2 S. Hey, JZ 2006, 851 (853 f.); Fuest in Lüdicke, Wo steht das deutsche Internationale Steuerrecht?, 2009, 1 (6). 3 So der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren, Jahresgutachten 2003/2004, 2003, Rz. 570 ff. (Steuerreformoption I: Integration von Körperschaftsteuer und Einkommensteuer), und P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, 2003, § 1: „Natürliche Personen und steuerjuristische Personen sind einkommensteuerpflichtig.“ 4 Dazu die detaillierte Untersuchung von Kornblum, GmbHR 2014, 694; ferner nach Anteilen am Gesamtumsatz und Gesellschaftsstrukturen differenzierend Seer, FS J. Lang, 2010, 655 (657 f.). 5 Dazu Hey, FS Raupach, 2006, 479. 6 Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, Steuerpolitisches Programm, Januar 2006, 16 ff. („einheitliche Unternehmensteuer“). Dazu Herzig, FS Solms, 2005, 115; Homburg, BB 2005, 2382; Herzig/Bohn, DB 2006, 1; Hey, StuB 2006, 267; Hey, FS Raupach, 2006, 479 (488 f.); Kußmaul/Hilmer, StuB 2006, 795 (Verhältnis zum Regierungsprogramm); Wilk, BB 2006, 245; Wilk, DStZ 2006, 290 (abl.).
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noch unter dem niedrigen Unternehmensteuersatz liegen werden. Mithin sollte der Dualismus von Einkommensteuer und Körperschaftsteuer beibehalten1 und die Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung durch Integration von Personenunternehmen in die Körperschaftsteuer verbessert werden (s. § 13 Rz. 185). Die meisten Probleme lassen sich lösen, indem Personen(handels)gesellschaften – verpflichtend oder optional – in die Körperschaftsteuer einbezogen werden2. Zumindest die wirtschaftlich der GmbH entsprechende GmbH & Co. KG könnte (zwingend) der Körperschaftsteuer zugeordnet, Personenunternehmen i.Ü. eine Option zur Körperschaftsteuer eröffnet werden3. Diese wird im Zweifel nur von größeren Personenunternehmen wahrgenommen, die von einem niedrigen Körperschaftsteuersatz profitieren würden. Zwar begegnen Optionsmodelle dem Vorwurf der Besteuerung nach Wahl. Eine steuerliche Option zur Körperschaftsteuer wäre aber allemal vorzugwürdig gegenüber einem indirekten Zwang zur Umwandlung. Die Wahl der Rechtsform sollte gesellschaftsrechtlichen Überlegungen folgen und frei von den hiermit verbundenen Steuerfolgen getroffen werden. Das Sonderrecht der Niedrigbesteuerung unternehmerischer Gewinne durch § 34a EStG würde obsolet. Die Aufnahme von Personengesellschaften in die Körperschaftsteuerpflicht erweitert allerdings das der Zwei-Ebenen-Besteuerung immanente Problem der Definitivbelastung auf Unternehmensebene, der durch eine Regelung unmittelbarer Einkommensteuerbelastung begegnet werden muss. So muss u.a. die Steuerfreiheit des Existenzminimums bei Familienunternehmen mit vielen zu versorgenden Personen gewährleistet sein. Möglich wäre dies durch eine transparente Entnahme rechtsformneutral sowohl für Personengesellschaften als auch für personenbezogene Kapitalgesellschaften: Dadurch werden sämtliche offenen und verdeckten Ausschüttungen/Entnahmen unmittelbar bei den Gesellschaftern im Zeitpunkt des Zuflusses besteuert; kongruent hierzu sind die Ausschüttungen/Entnahmen aus der körperschaftsteuerlichen Bemessungsgrundlage auszuscheiden. Damit würde sich u.a. die schwierige Praxis der verdeckten Gewinnausschüttung bei der personenbezogenen GmbH weitgehend erübrigen, weil die Angemessenheit der Ausschüttung, z.B. die Angemessenheit von Geschäftsführerbezügen nicht mehr zu prüfen ist. Es kommt allein auf den Vorteilszufluss beim Gesellschafter an4.
Die zweite Schedule einer Abgeltungsteuer ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt, weil sie den Kapitalmarkt sichert, die Inflationsanfälligkeit der Kapitaleinkünfte typisiert berücksichtigt und Vollzugsdefizite reduziert5. Freilich bedürfte es grundlegender Vereinfachung und Neustrukturierung der geltenden Abgeltungsteuer. Eine Abgeltungsteuer kann anonym ohne Veranlagungsoption ausgestaltet werden, wenn das Volumen der inflationsneutralen nachgelagerten Besteuerung von Alterseinkünften so erweitert wird, dass die Stpfl. bis zu einem den Abgeltungsteuersatz überschreitenden Grenzsteuersatz nachgelagert besteuert sind (s. § 8 Rz. 582).
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Die Reform der Kommunalsteuern6, ohne die eine Reform der Unternehmensbesteuerung nicht zustande kommen kann, bildet den schwierigsten Teil einer „großen Steuerreform“. Die Sonderbelastung der gewerblichen Gewinne durch die Gewerbesteuer ist weder nach dem Leis-
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1 So auch Beschluss Nr. 18 des 66. DJT (2006), 170: „Die dualistische Struktur der Unternehmensbesteuerung – Trennungsprinzip bei juristischen Personen und Transparenzprinzip bei Personenunternehmen – hat sich bewährt. Sie entspricht – bei typisierter Betrachtung – zivilrechtlichen Rechtsformunterschieden und sollte daher beibehalten werden.“ 2 In vielen Ländern sind Personenhandelsgesellschaften, insb. die OHG KSt-pflichtig (s. die Übersicht in Erle/Sauter3, § 1 KStG Rz. 77). Zur Erweiterung der Körperschaftsteuerpflicht s. Hey, FS Raupach, 2006, 479 (492 f.); Müller-Gatermann, Stbg. 2007, 145 (155 ff.); Woerz, Körperschaftsteuer für Personenunternehmen, Diss., 2009; J. Lang, StuW 2011, 144 (156). 3 So nachdrücklich Hennrichs, FR 2010, 721 (727 ff.); kontrovers diskutiert auf dem 35. Berliner Steuergespräch am 14.6.2010, s. Dokumentation der Vorträge und Redebeiträge, FR 2010, 731–756. 4 S. den Vorschlag der Kommission Steuergesetzbuch der Stiftung Marktwirtschaft, hrsg. von J. Lang/ Eilfort, Strukturreform der deutschen Ertragsteuer, 2013. 5 Beschluss Nr. 17 des 66. DJT (2006), 170 (Abgeltungsteuer könne „die Steuererhebung vereinfachen und Besteuerungslücken schließen“). Weitere Nachw.: § 8 Rz. 504. 6 Lit. (ab 2000): Jachmann, BB 2000, 1432 (gleichheitsgerechte Ersetzung der GewSt); Homburg, Reform der Gewerbesteuer, Archiv für Kommunalwissenschaften, 2000, 42; Broer, DStZ 2001, 622 (kommunales Zuschlagsrecht zur ESt u. KSt); Conradi, Die Legitimation der Gewerbesteuer. Eine wirtschaftspolitische, rechtshistorische u. steuersystematische Analyse, Diss., 2001; Keß, FR 2000, 695 (UntStReform ohne GewStReform?); Hey, StuW 2002, 314; P. Kirchhof, NJW 2002, 1549 (Reform
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tungsfähigkeitsprinzip noch nach dem Äquivalenzprinzip (s. § 3 Rz. 44) zu rechtfertigen und verletzt daher den Gleichheitssatz1. Eine ersatzlose Kassation der Gewerbesteuer kommt nicht in Betracht. Bei der Diskussion des Surrogats stehen sich Kommunen und Wirtschaft unversöhnlich gegenüber. Die Kommunen suchen das Steueraufkommen nach dem Äquivalenzprinzip zu optimieren2. Hingegen lehnt die Wirtschaft eine ertragsunabhängige Besteuerung strikt ab und beruft sich auf das Leistungsfähigkeitsprinzip. 93
Nach zwei gescheiterten Gemeindefinanzreformkommissionen (2002 und 2010) scheint die Situation verfahrener denn je3. An Vorschlägen zur Reform mangelt es nicht4. Breite Zustimmung hat insb. das im Januar 2006 vorgestellte Vier-Säulen-Modell der Kommission „Steuergesetzbuch“5 erfahren, das aus einer Grundsteuer (1. Säule), einer Bürgersteuer (2. Säule), einer streng ertragsabhängigen Unternehmensteuer (3. Säule) und einer Beteiligung der Betriebstättengemeinden am Lohnsteueraufkommen (4. Säule) besteht. Die Bürgersteuer als kommunaler Zuschlag auf die Einkommensteuer würde ein Interessenband zwischen Gemeindeeinwohnern und Kommunalparlamenten begründen. Die vierte Säule löst den Konflikt zwischen Leistungsfähigkeitsprinzip und Äquivalenzprinzip, denn die Beteiligung am Lohnsteueraufkommen wirkt für die Gemeinde äquivalenztheoretisch: Die Kosten kommunaler Infrastruktur für Arbeitsplätze werden ohne Verletzung des Leistungsfähigkeitsprinzips berücksichtigt, weil die Beteiligungen am Lohnsteueraufkommen die Steuerlast für Arbeitnehmer und Arbeitgeber anders als bei der Lohnsummensteuer nicht erhöht. Berechnungen des Landes Niedersachsen zeigen, dass 75 % aller Kommunen von einem derartigen Modell profitieren würden6. Allerdings birgt auch eine geringe Anzahl „Verlierergemeinden“ die Gefahr unüberwindbaren Widerstan-
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der kommunalen Finanzausstattung); Schemmel, Kommunale Steuerautonomie und Gewerbesteuerabbau, 2002; Jachmann, DStJG 25 (2002), 195 (GewSt im System der Besteuerung von Einkommen); Jachmann, Gewerbesteuerreform, 2003; Fuest/Huber, Wirtschaftsdienst 2003, 555 (Gemeindefinanzreform); Tipke, StRO II2, 2003, 1139 ff., 1158 ff.; Stöhr/Stange, Reform der Gewerbesteuer, 2003; Otten, Die Grundmodelle der Alternativen zur Gewerbesteuer: Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz und Europarecht, Diss., 2005; Knirsch/Niemann, StuW 2006, 278 (Abschaffung der österreichischen Gewerbesteuer); Müller-Gatermann, FS Raupach, 2006, 81; Beiträge von Kirchhof, Oestreicher, Farenschon, Jonas u. Kuban sowie Diskussionsbericht von Richter/Welling zum 36. Berliner Steuergespräch zur Reform der kommunalen Steuerfinanzierung, FR 2010, 961 ff.; Solms, FS J. Lang, 2010, 439; Deubel, FS J. Lang, 2010, 423; Schön, DStJG 37 (2014), 217 (255 ff.). Überzeugend Niedersächs. FG EFG 1997, 1456; 1998, 1428. Hingegen bejaht BVerfGE 120, 1, 29 ff., entgegen der h.M. im Schrifttum (insb. Jachmann, DStJG 25 [2002], 195 [231 ff.]; Tipke, StRO II2, 2003, 1139 ff.) die Vereinbarkeit der GewSt mit dem Gleichheitssatz: Unterschiede in der Typik von Gewerbebetrieben einerseits und den freien Berufen, Land- und Forstwirtschaft andererseits (BVerfGE 120, 1 [32 f.]) sowie äquivalenztheoretische Rechtfertigung (BVerfGE 120, 1 [39 f.]). In der Vergangenheit konnten sie sich dabei auf von Ökonomen favorisierte Wertschöpfungskonzepte berufen, s. grundl. Wiss. Beirat beim BMF, Gutachten zur Reform der Gemeindesteuern, BMF-Schriftenreihe, Heft 31, 1982, 52 ff. (kommunale Wertschöpfungssteuer als Ersatz der Gewerbesteuer); die allerdings auch unter Finanzwissenschaftlern zunehmen Gefolgschaft verlieren, s. Feld/Fritz, DStJG 35 (2012), 61 ff. Zur Sicht der Kommunen s. Deutscher Städtetag, Die Gewerbesteuer – eine gute Gemeindesteuer, Heft 94 (2010). Zu den Gründen des Scheiterns s. Hey, FS Stern, 2012, 25 ff. Wiss. Beirat beim BMF, Gutachten zur Reform der Gemeindesteuern, BMF-Schriftenreihe, Heft 31, 1982, 52 ff. (kommunale Wertschöpfungssteuer als Ersatz der Gewerbesteuer); BDI/VCI, Verfassungskonforme Reform der Gewerbesteuer, Konzept einer kommunalen Einkommen- und Gewinnsteuer, 2001; J. Lang, Systeme und Prinzipien der Besteuerung von Einkommen, DStJG 24 (2001), 124 f.: kommunale Unternehmensteuer als Gewinnsteuer mit Freistellung des Existenzminimums; Ritter, FS Kruse, 2001, 457; Bertelsmann Stiftung, Reform der Gemeindefinanzen, 2003; DWS, Gemeindefinanzreform durch kommunale Zuschlagsteuer, 2003; Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform der Gewerbesteuer v. 13.8.2003, BT-Drucks. 15/1517 (Gemeindewirtschaftssteuer); dazu Jachmann, Wirtschaftsdienst 2003, 568; Keß, FR 2003, 959; Schulze zur Wiesche, BB 2003, 2158); FDP-Fraktion, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des GG (Gemeindefinanzreform), BT-Drucks. 15/3232 v. 26.5. 2004; FDP-Fraktion, Reform der Gewerbesteuer, BT-Drucks. 16/2295 v. 21.7.2006; Vier-Säulen-Modell der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, Steuerpolitisches Programm, 2006; mit historischen Bezügen für eine kommunale Einkommensteuer Gehm, ZRP 2011, 143. Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, Steuerpolitisches Programm, 2006, 40 ff. Dazu Jachmann, StuW 2006, 115; Hey in Lange, Reform der Gemeindesteuern, Loccumer Protokolle 59/05, 79. http://www.stiftung-marktwirtschaft.de/fileadmin/user_upload/Sonstige-Publikationen/20110125_ Bericht_Kurzfassung.pdf.
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des gegen jede Reform1. Zudem erlischt die in Wirtschaftskrisenzeiten aktivierte Reformbereitschaft der Kommunen, sobald sich die Gewerbesteuereinnahmen infolge Konjunkturbelebung erholen. Die Gewerbesteuer mag hochvolatil sein, doch sie verspricht die größten Wachstumsraten2. Dies erklärt die geringe Bereitschaft der Kommunen, die Gewerbesteuer aufzugeben, zumal in Zeiten schwacher Wirtschaftskraft und damit einbrechender Gewerbesteuereinnahmen in der Regel der Bund bzw. die Länder mit finanziellen Hilfen für die Kommunen einspringen.
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Einstweilen frei.
D. Steuern auf die Verwendung von Einkommen und Vermögen 101
1. Die Verwendung von Einkommen und Vermögen wird besteuert – durch die Umsatzsteuer als allgemeine Verbrauchsteuer (s. § 17 Rz. 10 f.), – durch spezielle Verkehrsteuern (s. § 18 Rz. 1 ff.) und – durch spezielle Verbrauch- und Aufwandsteuern (s. § 18 Rz. 105 ff.).
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2. Spezielle Verkehrsteuern sind nach der gebräuchlichen Terminologie – die Rechtsverkehrsteuern: Sie knüpfen an Vorgänge des Rechtsverkehrs an, also an vertragliche oder gesetzliche Beziehungen, aufgrund welcher Personen Lieferungen oder sonstige Leistungen oder Rechtsansprüche erhalten. Rechtsverkehrsteuern sind die Grunderwerbsteuer (s. § 18 Rz. 1 ff.), die Versicherungsteuer (s. § 18 Rz. 67 ff.), die Feuerschutzsteuer (s. § 18 Rz. 75 ff.), die Rennwett- und Lotteriesteuer (s. § 18 Rz. 80 ff.). Es handelt sich im Wesentlichen um Steuern mit Länderertragshoheit gem. Art. 106 II Nr. 3 GG; lediglich das Aufkommen der Versicherungsteuer steht gem. Art. 106 I Nr. 4 GG dem Bund zu. – die Realverkehrsteuern: Sie knüpfen an einen Akt des technischen Verkehrs an. Realverkehrsteuern sind die Kraftfahrzeugsteuer (s. § 18 Rz. 85 ff.) und die 1969 bis 1971 erhobene Straßengüterverkehrsteuer. Seit dem 1.1.2011 wird außerdem die Luftverkehrsteuer erhoben, die – entgegen der Einschätzung des Gesetzgebers – ebenfalls als Realverkehr- und nicht als Rechtsverkehrsteuer zu qualifizieren ist (s. § 18 Rz. 99). Es handelt sich jeweils um auf motorisierte Verkehrsmittel bezogene Verkehrsteuern mit Bundesertragshoheit i.S.d. Art. 106 I Nr. 3 GG; – die Spielbankabgabe (Art. 106 II Nr. 5 GG): Sie knüpft an den Spielumsatz an. Im Anschluss an Mirre3 hat man Rechtsverkehrsteuern mit der sog. Bewertungsdifferenztheorie zu rechtfertigen versucht: Der Erwerber eines Gegenstandes bewerte diesen regelmäßig höher als der Veräußerer; diese Bewertungsdifferenz könne der Staat für sich ausnutzen4. Ein solcher Legitimationsansatz stellt jedoch in einem Steuersystem, das sich von Verfassungs wegen an Erwägungen gleichmäßiger und sozialstaatlich verträglicher Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu orientieren hat, einen historisch überkommenen Fremdkörper dar. Er missachtet zudem auch ökonomische Anforderungen an ein möglichst neutrales und effizientes Steuersystem. Die Belastung mit Rechtsverkehrsteuern lässt sich gleichheitsrechtlich vielmehr nur legitimieren, soweit sie als Fiskalzwecksteuern auf eine umsatzsteuerrechtlich noch nicht (ausreichend) erfasste Indikation von Konsumleistungsfähigkeit Zugriff nehmen5, oder aber als 1 S. hierzu die Berechnungen von Broer, KStZ 2011, 221 zum sog. Prüfmodell der Bundesregierung, das der Gemeindefinanzkommission 2012 zugrunde gelegen hat. 2 Deutscher Städtetag, Die Gewerbesteuer – eine gute Gemeindesteuer. Fakten und Analysen, Heft 94 (2010). 3 Mirre, Allgemeine Steuer-Rundschau 1922, 296; Mirre in Hdb. der Finanzwissenschaft, Bd. 2, 1927, 274, 279 f., 287. 4 Krit. zur Bewertungsdifferenztheorie Tipke, StRO II2, 1014. 5 S. dazu die generalisierende Aussage des BVerfG im Urteil zur Luftverkehrsteuer, BVerfG v. 5.11.2014 – 1 BvF 3/11, HFR 2014, 1111, Rz. 43: „Die Belastung mit Finanzzwecksteuern ist an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen auszurichten.“
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Lenkungsteuern gerechtfertigt werden können. Durch den bloßen Rechts- oder Realverkehrsakt wird jedenfalls keine steuerliche Leistungsfähigkeit indiziert. 104
Die Umsatzsteuerbefreiungen des § 4 Nrn. 9, 10 UStG verstehen die Grunderwerbsteuer, die Rennwett- und Lotteriesteuer und die Versicherungsteuer als besondere Umsatzsteuern. Diese Annahme trifft aber nur insoweit zu, als ein besonderer und nach grundlegenden Wertungen des Steuersystems und der Verfassung auch belastungswürdiger Verbrauch erfasst wird. Nicht zu rechtfertigen ist daher die Belastung von unternehmerischen Investitionen und von Betriebsvermögen durch GrESt und VersSt infolge der fehlenden Einbeziehung dieser Steuern in das Mehrwertsteuersystem mit Vorsteuerabzug. Wertungswidersprüchlich ist ferner die Belastung bestimmter Versicherungsaufwendungen, die nach einkommensteuerrechtlichen und grundgesetzlichen Maßstäben als existenzieller Vorsorgeaufwand zu qualifizieren sind (s. § 18 Rz. 67). Letztlich wäre eine Integration sämtlicher der vorerwähnten speziellen Verkehrsteuern in die Umsatzsteuer geboten1, wofür es allerdings einer Änderung der EU-MwStSystRL und Anpassungen im Bund-Länder-Finanzausgleich bedürfte. Die Grunderwerbsteuer könnte bei entsprechender Ausgestaltung alternativ auch ähnlich wie eine Vorteilsabschöpfungsabgabe für wertsteigernde Gemeindeleistungen äquivalenztheoretisch gerechtfertigt werden und dann gesondert bestehen bleiben2. Zur Spielbankabgabe s. § 18 Rz. 81.
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Die Realverkehrsteuern (Kfz-Steuer und Luftverkehrsteuer) werden zusätzlich zur Umsatzsteuer erhoben. Die zusätzliche Belastung der entsprechenden Einkommens- und Vermögensverwendung lässt sich nur lenkungsteuerlich legitimieren; der Gesetzgeber versucht diese Steuern daher auch zunehmend als Ökosteuern zu rechtfertigen (s. § 18 Rz. 86 u. Rz. 99). Unter dieser Prämisse kann dann auch die Ausgestaltung als Produktionsmittelsteuer, die auch betrieblichen Aufwand für die geschäftliche Nutzung von Fahrzeugen und Flugzeugen belastet, jedenfalls ansatzweise hingenommen werden.
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3. Spezielle Verbrauchsteuern (s. § 18 Rz. 111 ff.) sind Warensteuern auf den Verbrauch von Konsumgütern. Sie sind regelmäßig als indirekte Steuern auf Überwälzung angelegt3. Es verletzt die Steuergleichheit, wenn Waren wie derzeit Kaffee willkürlich für eine Sonderbelastung ausgewählt werden4. Zwar ließen sich die meisten Verbrauchsteuern im Rahmen der europäischen Harmonisierung (s. § 4 Rz. 66 f.) ansatzweise als Sozialzwecksteuern rechtfertigen. Insb. Alkohol und Tabak sind potenziell gesundheits- und sozialschädliche (z.B. passives Rauchen, Belastung des Gesundheitswesens) Genussmittel. Ihre negativen Wirkungen zeigen sich vor allem bei übermäßigem Genuss. Daher darf der Staat ihren Konsum durch Sonderbelastung eindämmen. Die Steuer müsste allerdings dieses Lenkungsziel auch folgerichtig umsetzen (s. auch die Kritik in § 18 Rz. 128 f.): Unter diesem Aspekt ist bspw. die mangelnde Besteuerung von Wein im Verhältnis zu besteuerten Alkoholika gleichheitssatzwidrig. Im Bereich der Verbrauchsbesteuerung von Energie und Energieträgern sind die Strom- und Energiesteuer Sozialzwecksteuern zum Schutze der Umwelt (s. § 18 Rz. 116).
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4. Aufwandsteuern sind indirekte und auch direkte Steuern auf den privaten Gebrauch von Gütern und Dienstleistungen (s. bereits § 2 Rz. 48). Aufwandsteuern sind vor allem kommunale Steuern, so z.B. die Hundesteuer, die Jagdsteuer, die Vergnügungssteuer, die Spielgerätesteuer, die Fremdenverkehrsteuern und die Zweitwohnungsteuer. Diese nach Art. 105 IIa GG in die Kompetenz der Landesgesetzgebung fallenden kommunalen Aufwandsteuern sind entweder in Gemeindesatzungen nach Maßgabe von Landesgesetzen (Kommunalabgabengesetzen, spezielle Ermächtigungsgesetze) oder abschließend in Landesgesetzen (z.B. Vergnügungssteuergesetzen) normiert. Die nicht dem europäischen Harmonisierungsgebot unterworfenen örtlichen Aufwandsteuern bilden ein Konglomerat, dessen Willkür nicht zu rechtfertigen ist (s. § 18 Rz. 125 ff.). 1 S. auch P. Kirchhof, Umsatzsteuergesetzbuch, 2008, 22 ff. 2 Vgl. J. Lang, Steuergesetzbuch, 765, §§ 720 ff. (Annexsteuer zur Grundsteuer). 3 Dazu eingehend Jatzke, ZfZ 2011, 109. Zum finanzverfassungsrechtlichen Verbrauchsteuerbegriff s. § 2 Rz. 47. 4 Dazu ausf. Tipke, StRO II2, 1037 ff.
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Besondere Sozialzwecksteuern
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E. Besondere Sozialzwecksteuern 1. Zölle und Abschöpfungen Literatur (s. auch § 4 Rz. 67): Loseblattwerke: Dorsch, Kommentar Zollrecht; Koch/Lefévre, Zollrecht, Textsammlung; Müller-Eiselt, EG-Zollrecht, Zollkodex/Zollwert, Erläuterungen der neuen zollrechtlichen Bestimmungen; Schwarz/Wockenfoth/Rahn, Zollrecht, Kommentar. Gebundene Werke: Kruse (Hrsg.), Zölle, Verbrauchsteuern, europäisches Marktordnungsrecht, DStJG 11 (1988); Holler, Zollrecht und Zollabwicklung3, 2014; Witte/Wolffgang (Hrsg.), Lehrbuch des Europäischen Zollrechts7, 2012; Kock, Allgemeines Zollrecht3, 2013; Rüsken, Zollrecht – Recht des grenzüberschreitenden Warenverkehrs, 2010; Salder/Menzel, Grundzüge des Zoll- und Verbrauchsteuerrechts, SteuerStud 2013, 94 und 169; Witte, Zollkodex6, 2013; Lux, Einführung in den Zollkodex der Union (UZK), ZfZ 2014, 178, 243 und 270.
Zölle sind Steuern (§ 3 III AO). Sie sind entweder als Finanzzoll eine Fiskalzwecksteuer oder – inzwischen dominierend – als Schutz- bzw. Strafzoll eine Sozialzwecksteuer, bei der die Einnahmeerzielung Nebenzweck ist (§ 3 I 1 Hs. 2 AO)1. Als Schutzzoll dürfen sie lediglich der Warenstromregulierung dienen (vgl. § 1 Rz. 85); die Warenstromerdrosselung durch prohibitive Schutzzölle ist nach dem Verbot der Erdrosselungsteuer (§ 3 Rz. 184) an sich nicht zulässig (s. auch § 1 Rz. 85). Allerdings beurteilt sich die Vereinbarkeit der Zollerhebung mit höherrangigem Recht infolge ihrer unionsrechtlichen Verankerung grds. nicht länger anhand der Vorgaben des Grundgesetzes (s. § 4 Rz. 49).
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Charakteristikum des Zolls ist es, dass diese Steuer nach Maßgabe eines Zolltarifs anlässlich der Warenbewegung über die Zollgrenze erhoben wird2. Die deutsche Zollgrenze ist dabei grds. identisch mit den deutschen Außengrenzen der EU; infolge der Europäischen Zollunion (s. § 4 Rz. 6) sind Zölle auf den Warenverkehr zwischen den EU-Mitgliedstaaten abgeschafft. Dementsprechend werden die auf Waren aus Drittstaaten erhobenen Einfuhrzölle nach Maßgabe eines Gemeinsamen EU-Zolltarifs (s. § 4 Rz. 67) erhoben. Das allgemeine nationale Zollrecht ist durch den seit 1.1.1994 geltenden Zollkodex der EU ebenfalls weitgehend verdrängt (s. § 4 Rz. 67); dieser wiederum wird zum 1.1.2016 durch den neuen Unionszollkodex abgelöst3. Die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes für Zölle (Art. 105 I GG) ist damit zurückgedrängt durch die Ausschöpfung der supranationalen Kompetenz der EU.
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Abschöpfungen regulieren die Differenz zwischen Weltmarktpreis von landwirtschaftlichen Waren und Preis innerhalb der EU. Ist der Weltmarktpreis niedriger (was die Regel ist), so wird die Differenz bei der Einfuhr – teilweise zusätzlich zu einem Einfuhrzoll – als Abschöpfung erhoben und bei der Ausfuhr dem Exporteur erstattet. Es handelt sich um protektionistische Abgaben zum Schutz der heimischen Landwirtschaft, freilich auf Kosten der landwirtschaftlichen Produktion in den Entwicklungsländern.
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2. Umweltsteuern Literatur (Auswahl; bis 1995 s. 20. Auflage): Müller-Franken, Verfassungs- und europarechtliche Fragen der Einführung nationaler Öko-Steuern, JuS 1997, 872; FS Ritter, 1997, mit Beiträgen von Fischer, Walter, Zeitler, Di Fabio; Wiss. Beirat beim BMF, Umweltsteuern aus finanzwissenschaftlicher Sicht, BMF-Schriftenreihe, Heft 63, 1997; Hey, Rechtliche Zulässigkeit von Umweltabgaben unter dem Vorbehalt ihrer ökologischen und ökonomischen Wirksamkeit, StuW 1998, 32; Kruse, Öko-Steuern und 1 Dänzer-Vanotti, DStJG 11 (1988), 77: „Die ausschließlich wirtschaftspolitische Zielsetzung der Zollerhebung ist ein Grundsatz, der das Zollrecht prägt und ausschlaggebend für seine Konzipierung und Auslegung ist […]“. Zur geschichtlichen Entwicklung der wirtschaftspolitischen Instrumentalisierung der Zölle besonders in Gestalt von Schutzzöllen s. Knies, Steuerzweck und Steuerbegriff, 1976, 5 ff. 2 BVerfGE 8, 260 (269); BFH BStBl. II 1970, 246 (250); EuGH C-87/75, Conceria Bresciani, Rz. 8/9; ausf. Lux, DStJG 11 (1988), 162 ff. 3 VO (EU) 952/2013; s. dazu Zeilinger, ZfZ 2013, 141.
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Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
Öko-Abgaben, BB 1998, 2285; Vallender/Jacobs, Ökologische Steuerreform, Rechtliche Grundlagen, Bern 2000; Ahlheim, Ökosteuern – Idee und Wirklichkeit, in FS Rose, 2003, 242; Stahlschmidt, Umweltsteuern u. Umweltabgaben in der Republik Österreich u. in der BRD, 2003; de Hesselle, Ökologisch motivierte Normen im geltenden Steuerrecht, 2004; Jachmann, Die Rechtfertigung der ökologisch motivierten Steuer, in FS Selmer, 2004, 707; Bakker (Hrsg.), Tax and the Environment, Amsterdam 2009; Stein/Thoms, Zum Einfluss der Umwelt- und Energiepolitik auf das Wirtschafts- und Steuerrecht, BB 2009, 1451; Schmidt-Kötters/Held, Die Kompetenzen der EG zur Erhebung von Umweltabgaben und die „Emissionsüberschreitungsabgaben“ für Pkw-Hersteller, NVwZ 2009, 1390; Schomerus, Abgaben als Instrument des Klimaschutzes, ZfZ 2010, 141; Copenhagen Economics, Innovation of Energy Technologies: The Role of Taxes, 2010; Stein, Die CO2-Steuer, ZfZ 2010, 149; Gawel, Klimaschutz durch Kfz-Besteuerung, StuW 2011, 250; Moritz, Energiesteuern als Maßnahme zur Erreichung der Effizienzziele der EU, Energiewirtschaftliche Tagesfragen 2011, 80; Mirrlees u.a. (Hrsg.), The Mirrlees Review, Vol. 1: Dimensions of Tax Design, Oxford 2010, Kap. 5 (Environmental Taxes); Vol. 2: Tax by Design, Oxford 2011, Kap. 10 (Environmental Taxation) und Kap. 11 (Tax and Climate Change); Kreiser u.a. (Hrsg.), Environmental Taxation and Climate Change, Cheltenham 2011; McLure, Could VAT Techniques Be Used To Implement Border Carbon Adjustments?, BIT 2012, 436; Milne/Andersen (Hrsg.), Handbook of Research on Environmental Taxation, Cheltenham 2012; Estrada/Pistone, Global CO2 Taxes, Intertax 2013, 2; Kreiser u.a. (Hrsg.), Environmental Taxation and Green Fiscal Reform, Cheltenham 2014. Für weitere Literatur zu Spezialthemen s. auch die Fn. im Text.
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a) Überblick: Die Gefahren, die der Menschheit aus der Verschmutzung der Umwelt und dem Klimawandel erwachsen, treten immer klarer und dramatischer zutage. Das Ringen um die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen wirft auch die Frage nach einer Instrumentalisierung des Steuerrechts zum Schutze der Umwelt und zur Eindämmung des Klimawandels auf. Hierbei sind folgende Alternativen zu unterscheiden:
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aa) Primär zuständig und geeignet für den Umweltschutz ist das Ordnungsrecht, mit dessen Mitteln der Staat Umweltstandards präzise verwirklichen kann1. Die ordnungsrechtlichen Instrumente (engl. plastisch mit „command and control“ umschrieben) sind Gebote, Auflagen, Verbote, Vereinbarungen, Empfehlungen, die Haftung für Umweltschäden und aktive staatliche Maßnahmen der Planung, Aufsicht und Sicherung der Umwelt.
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bb) Diesem vielfältigen ordnungsrechtlichen Instrumentarium steht das sog. marktwirtschaftliche Instrumentarium gegenüber. Es dient dem Zweck, umweltschädliches Verhalten zu verteuern bzw. umweltfreundliches Verhalten zu prämieren und so das Verhalten des Marktteilnehmers zu beeinflussen. Auf diese Weise kann das Ausmaß des unerwünschten Verhaltens reduziert und/oder die Nachfrage in den Einsatz umweltfreundlicher Technologien umgelenkt werden, um diese wettbewerbsfähiger zu machen und ihre Innovation zu fördern. Marktwirtschaftliche Instrumente des Umweltschutzes sind: (1) handelbare Verschmutzungszertifikate2, d.h. staatliche Lizenzen für bestimmte umweltschädliche Emissionen, deren Preis von der ordnungsrechtlich zugelassenen Gesamtemissionsmenge abhängt. Die schrittweise Reduktion der Emissionsmenge bewirkt einen zunehmenden Kostendruck, der die emissionsarme Produktion rentabel macht und Anreize für ihre (Weiter-)Entwicklung setzt. Der Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten ist unionsrechtlich harmonisiert; nach Art. 1 der Zertifikate-RL3 schafft diese ein „System für den Handel mit 1 So grds. im Verhältnis zu Umweltabgaben P. Kirchhof, Verfassungsrechtliche Grenzen durch Umweltabgaben, DStJG 15 (1993), 3 ff. Im Weiteren Franke, StuW 1990, 217 (219 f.); Trzaskalik, StuW 1992, 135 ff.; Gawel/Ewringmann, StuW 1994, 295; Balmes, Verfassungsmäßigkeit und rechtliche Systematisierung von Umweltsteuern, 1997, 27 ff.; Trzaskalik, Gutachten E zum 63. DJT, 2000, 16 f. 2 Dazu Bonus in Mackscheidt/Ewringmann/Gawel, Umweltpolitik mit hoheitlichen Zwangsabgaben, 1994, 287; Enders, DÖV 1998, 184; Desens, DVBl. 2010, 228 (Finanzierung des Emissionshandels); Seiler, EuR 2010, 67 (Regelungskompetenz der EU); Helbig, Windfall Profits im europäischen Emissionshandel, 2010. 3 S. Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.10.2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates, ABl. L 275 v. 25.10.2003, 32.
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Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft …, um auf kosteneffiziente und wirtschaftlich effiziente Weise auf eine Verringerung von Treibhausgasemissionen hinzuwirken“; (2) direkte Subventionen in Gestalt von Zweckzuwendungen für umweltschützende Investitionen sowie (3) abgabenrechtliche Instrumente1, d.s. Umweltsonderabgaben, Umweltgebühren/-beiträge2 und Umweltsteuern (sog. Öko-Steuern). Im Weiteren wird das Steuerrecht auch durch ÖkoSteuervergünstigungen3 und Öko-Steuerverschärfungen instrumentalisiert4. Begünstigend wirken bspw. Sonderabschreibungen für Investitionen in umweltfreundliche Technologien. Die einkommensteuerliche Pauschalierung des Abzugs von Fahrtkosten zwischen Wohnung und Arbeit durch die sog. Entfernungspauschale begünstigt Autofahrgemeinschaften und benachteiligt alleinfahrende Autofahrer (s. § 8 Rz. 261 f.). Ein Unterschied zwischen ökologisch motivierten steuerlichen Entlastungen und Subventionen einerseits und Zusatzbelastungen andererseits als Instrumente umweltpolitischer Lenkung besteht vor allem auch in der Frage, wer für die Kosten des Umweltschutzes aufkommt: die (potenziellen) Verursacher von Umweltschäden oder aber die Allgemeinheit5. b) Ordnungsrecht versus Steuerrecht: Die äußerste verfassungsrechtliche Grenze der Umweltsteuer wird durch das Verbot der Erdrosselungssteuer (s. § 3 Rz. 184) bestimmt6: Eine Umweltsteuer, deren Zweck auf ein Null-Aufkommen ausgerichtet ist, muss als abgabenrechtlicher Formenmissbrauch gewertet werden. Wenn ein bestimmtes Verhalten nicht zu akzeptieren ist, dann ist das verfassungsrechtlich zulässige Mittel das ordnungsrechtliche Gebot bzw. Verbot. Der Lenkungszweck darf also schon von Verfassungs wegen den Fiskalzweck nicht völlig verdrängen.
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I.Ü. bedarf es einer sorgfältigen Abwägung der Vorzüge und der Nachteile von Umweltsteuern im Verhältnis zu ordnungsrechtlichen Instrumentarien. In diesem Zusammenhang haben sich vor allem die folgenden Kriterien herauskristallisiert7: Umweltsteuern gewährleisten weitaus eher, die jeweilige umweltpolitische Zielsetzung (z.B. Verringerung von Emissionen, Verringerung der Inanspruchnahme natürlicher Ressourcen, etc.) zu den geringstmöglichen volkswirtschaftlichen Kosten zu erreichen: Sie setzen bei jedem Marktteilnehmer umso weitergehende Signale zu umweltfreundlichem Verhalten (als Alternative zur Steuerzahlung), je geringere Kos-
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1 Dazu Meßerschmidt, Umweltabgaben als Rechtsproblem, 1986; Hansjürgens, Umweltabgaben im Steuersystem, 1992; Franke, StuW 1990, 217 (220 ff.); Trzaskalik, StuW 1992, 135; Köck, JZ 1993, 59; Dickertmann, DStJG 15 (1993), 33; Mackscheidt/Ewringmann/Gawel, Umweltpolitik mit hoheitlichen Zwangsabgaben, 1994, 287 (23 Beiträge); Wasmeier, Umweltabgaben und Europarecht, 1995; Jakob/Zugmaier (Hrsg.), Rechtliche Probleme von Umweltabgaben, 1996 (dazu Jachmann, StuW 1997, 278); Franke, StuW 1998, 25; Gawel, Umweltabgaben zwischen Steuer- und Gebührenlösung, 1999; Gawel, NuR 2000, 669; Hendler, NuR 2000, 661; Sacksofsky, Umweltschutz durch nicht-steuerliche Abgaben, 2000; Freytag, Europarechtliche Anforderungen an Umweltabgaben, 2001; F. Kirchhof in Rengeling (Hrsg.), Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht2, Bd. I, 2002; Keß, SteuerStud 2004, 307 (Ökologisierung von Abgaben); Koch, FS Selmer, 2004, 769; Mastellone, ET 2014, 478. 2 S. insb. Cicek, Ökologische Komponenten im Abfallgebührenrecht, 2011. 3 Dazu ausf. Rodi, StuW 1994, 204 ff. 4 Ausf. zur Verwirklichung von Umweltschutzzwecken im Steuerrecht Dickertmann in Schmidt (Hrsg.), Öffentliche Finanzen und Umweltpolitik I, 1988, 91; J. Lang, DStJG 15 (1993), 119. 5 S. Homburg, Allgemeine Steuerlehre6, 2010, S. 181 f. 6 Dazu Meßerschmidt, Umweltabgaben als Rechtsproblem, 1986, 113 ff.; Köck, JZ 1991, 695; Selmer und J. Lang in Breuer u.a., Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, 15 (32 f.) bzw. 59 (68 f.); J. Lang, DStJG 15 (1993), 119 (125); Gawel, Umweltabgaben zwischen Steuer- und Gebührenlösung, 1999, 24 ff., 39 ff.; Gawel, StuW 2001, 27. 7 S. bspw. Fullerton/Leicester/Smith, Enviromental Taxes, in Mirrlees u.a. (Hrsg.), The Mirrlees Review, Vol. 1, 423 (424, 429 ff.); Copenhagen Economics, Innovation of Energy Technologies, 2010; Faure/ Weishaar in Milne/Andersen, Handbook of Research on Environmental Taxation, S. 399 (406 ff.); Kosonen in Milne/Andersen, Handbook of Research on Environmental Taxation, S. 161 (163 ff.); Weishaar, Emissions Trading Design, Cheltenham 2014, S. 10 ff. Ausf. m.zahlr.N. Hansjürgens, Umweltabgaben im Steuersystem, 1992, 23 ff.
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ten bzw. Nutzeneinbußen ihm dies verursacht1. Ordnungsrechtlich würde eine solche Feinsteuerung regelmäßig an Informationsdefiziten und Lobbyeinflüssen scheitern2. Ferner fördern Umweltsteuern die Innovation neuer, umweltfreundlicher Technologien: Ordnungsrechtliche Gebote, Auflagen, etc. vermögen im Wesentlichen nur die Beachtung des gegenwärtig erreichten Stands der Technik zu sichern. Hingegen bieten abgabenrechtliche Instrumente einen Anreiz, den Stand der Technik zu verbessern, weil für den Stpfl. jede steuerliche Maßeinheit umweltschädlichen Verhaltens (z.B. Emissionen) mit Kosten belastet ist, die evtl. über den entsprechenden (Grenz-)Kosten neuer Technologien liegen. Andererseits ist die Lenkung durch Umweltsteuern insb. bei Produktionsmittelsteuern oftmals nur erfolgversprechend, wenn sie global oder zumindest regional (insb. innerhalb der EU) koordiniert ist. Ansonsten drohen internationale Wettbewerbsverzerrungen und Ausweichreaktionen mit der Konsequenz, dass für die Umwelt wenig gewonnen, aber für den Standort viel verloren ist3. Vor allem die unmittelbar auf den Endverbraucher abzielenden Umweltsteuern wiederum haben gemessen am Haushaltseinkommen oftmals eine regressive Wirkung, tragen also wenig oder nichts zu sozialem Ausgleich durch steuerliche Umverteilung bei4. Schließlich arbeitet das Instrument der Umweltsteuer insofern nicht zielgenau5, als bei der gesetzgeberischen Beschlussfassung über die Steuerbelastung noch nicht exakt absehbar ist, in welchem Maße umweltschädliches Verhalten aufgrund seiner steuerlichen Verteuerung tatsächlich reduziert wird. Es bedarf also womöglich einer Nachjustierung, die sich im vielfältigen Einflüssen unterliegenden parlamentarischen Willensbildungsprozess u.U. nicht ohne weiteres erreichen lässt. Möglicherweise stellen sich Angebots- oder Nachfragepreiselastizitäten auch als so gering heraus, dass die Steuererhebung kaum Einfluss auf den Verbrauch des steuerbelasteten umweltschädlichen Gutes hat; in diesem Fall muss auf ordnungsrechtliche Maßnahmen zurückgegriffen werden. I.Ü. müssen stets auch die Vollzugskosten für die Verwaltung mit berücksichtigt werden; tendenziell werden Steuern hier dann besser abschneiden, wenn flächendeckende und signifikante Verhaltensänderungen bei einer Vielzahl von Stpfl. angestrebt werden, die als ordnungsrechtliche Verhaltensstandards kaum zu kontrollieren wären. Aus ökonomischer Sicht rechtfertigt sich die steuerliche Verteuerung der Ressourcennutzung zur Korrektur eines Marktversagens, wenn und soweit bei der marktmäßigen Preisbildung negative externe Effekte (Umweltverschmutzung; Klimawandel, etc.) nicht berücksichtigt werden. In dieser Weise rechtfertigte bereits der britische Nationalökonom Arthur Cecil Pigou6 Umweltsteuern. Er plädierte dafür, dass Kosten, die der Gemeinschaft durch individuelle Güternutzung und -verbrauch entstehen und die deshalb für das Individuum externe Kosten sind, mittels Besteuerung internalisiert, d.h. zu internen Kosten des Individuums werden. Das ursprüngliche Konzept der Pigou-Steuer scheitert 1 Sog. „Least-cost abatement“-Ansatz, vgl. Bakker in Bakker (Hrsg.), Tax and the Environment, S. 3 (11). 2 S. Fullerton/Leicester/Smith in Mirrlees u.a. (Hrsg.), The Mirrlees Review, Vol. 1, 423 (430 f.).; Copenhagen Economics, Innovation of Energy Technologies, 2010, 6; C. Vidar/S. Smith, The Scandinavian Journal of Economics 2012, 358 f 3 Dazu Jacobs/Spengel/Wünsche, Veränderung der Steuer- und Abgabenbelastung auf Unternehmensebene durch eine ökologische Steuerreform, 1997; Jacobs/Spengel/Wünsche, DBW 1999, 7; Wünsche, Umweltabgaben und Unternehmensbesteuerung, Eine nationale und internationale Analyse der Belastungs- und Entscheidungswirkungen, 1999; Fullerton/Leicester/Smith in Mirrlees u.a. (Hrsg.), The Mirrlees Review, Vol. 1, 423 (434); Copenhagen Economics, Innovation of Energy Technologies, 7. 4 S. aber auch ; S. Speck/D. Gee in Kreiser u.a. (Hrsg.), Environmental Taxation and Climate Change, S. 19 (27 ff.); Kosonen in Milne/Andersen, Handbook of Research on Environmental Taxation, S. 161 (163 ff.); Vandyck/Van Regemorter, Energy Policy 2014, 190: Die Gesamtbeurteilung muss auch die Verwendung des Steueraufkommens berücksichtigen (sog. Netto-Verteilungseffekte). 5 So P. Kirchhof, DStJG 15 (1993), 7: „Das Abgabenrecht ist als Instrument der Umweltpolitik auch deshalb nur bedingt tauglich, weil die Zielgenauigkeit des Schutzes unter dem Abgabentatbestand leidet“. 6 Pigou, The Economics of Welfare, London 1920 (4. Aufl.: London 1932). Zur Pigou-Steuer Hansmeyer/Ewringmann, Das Steuer- und Abgabesystem unter der ökologischen Herausforderung, in Staatswissenschaft und Staatspraxis, 1990, 34; Dickertmann, DStJG 15 (1993), 33 (36 ff.); Hansjürgens, Umweltabgaben im Steuersystem, 1992, 27 ff.; Heine, StuW 2007, 336; Milne/Andersen in Milne/Andersen, Handbook of Research on Environmental Taxation, 15 ff..
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jedoch daran, dass sich die tatsächlichen gegenwärtigen und zukünftigen Folgekosten umweltschädlichen Verhaltens kaum quantifizieren, geschweige denn individuell zurechnen lassen1. Da i.Ü. die Pigou-Rechtfertigung auf dem Verursacherprinzip basiert, kommt sie für Steuern im Rechtssinne ohnehin nicht in Betracht. Demgegenüber verzichtet der moderne, auch für die juristische Rechtfertigung taugliche „Standard-Preis-Ansatz“ von Baumol/Oates bewusst auf eine individuelle Verantwortlichkeit für Umweltkosten2. Er stellt darauf ab, welchen Umweltstandard der Steuergesetzgeber anstrebt, und bemisst danach die Höhe der Steuer. Ob bspw. die Energiesteuer einen Benzinpreis von 1 oder 3 Euro bewirken soll, ist Frage der über den Preismechanismus angestrebten Verbrauchsminderung und nicht der vom Mineralölverbraucher verursachten externen Kosten.
Eine zwar ebenfalls ordnungsrechtlich überformte, aber zugleich marktwirtschaftlich unterlegte Alternative zur Umweltsteuer ist im Bereich der Emissionsreduzierung bzw. des Klimaschutzes die Festlegung globaler Emissionsobergrenzen in Verbindung mit der Zuteilung handelbarer Emissionszertifikate (Rz. 113). Beide Instrumente haben unter der – realistischen – Annahme unzureichender Informationen des Staates über die Kosten der Emissionsreduzierung ebenfalls gegenläufige Stärken und Schwächen. Der Emissionszertifikatehandel stellt die Erreichung einer verbindlichen Zielgröße sicher, allerdings zu ungewissen Kosten für die betroffenen Unternehmen. Umweltsteuern wiederum gewährleisten, dass die Unternehmen je „Verschmutzungseinheit“ nicht über eine bestimmte Höhe hinaus mit Kosten (= Steuer oder Kosten der Emissionsreduzierung) belastet werden; dafür mangelt es ihnen wie schon dargelegt an Zielgenauigkeit3.
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Daneben hat das abgabenrechtliche Instrumentarium dort einen Anwendungsbereich, wo das Ordnungsrecht ein bestimmtes Verhalten (ggf.: noch) nicht vorschreiben soll oder kann, weil das rechtsstaatliche Übermaßverbot (s. § 3 Rz. 180 ff.) entgegensteht. Umweltsteuern können in diesem Sinne freiheitsschonend wirken. Die dem Ordnungsrecht immanenten Schranken lassen Spielraum für die abgabenrechtliche Instrumentalisierung des Umweltschutzes, solange ein allgemeingültiges ordnungsrechtliches Verhaltensgebot oder Verbot den Normadressaten nicht zugemutet werden kann und eine ordnungsrechtliche Feinsteuerung des Verhaltens nicht administrierbar ist. Demnach kann sich die steuerinterventionistische Maßnahme im Verhältnis zum Ordnungsrecht unter Umständen auch als eine bloße Übergangslösung darstellen.
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Beispiele: Emissionen können nicht ganz verboten werden, wenn der Stand der Technik dies nicht zulässt; demgegenüber stimuliert die Emissionsabgabe die Verbesserung der Filtertechnik. Nicht zulässig wäre es, von heute auf morgen den Katalysator als Voraussetzung für die Zulassung von Kraftfahrzeugen anzuordnen. Hier vermag die Kraftfahrzeugsteuerbefreiung für Katalysatorfahrzeuge oder eine besonders hohe Kraftfahrzeugsteuer für Fahrzeuge ohne Katalysator darauf hinzuwirken, dass sich der Markt rasch auf Katalysatorfahrzeuge umstellt.
c) Rechtfertigung von Umweltsteuern: Die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen liegt im überragenden Interesse der Allgemeinheit, so dass umweltschützende Sozialzwecksteuern grds. durch Gemeinwohlerwägungen legitimiert sind (s. § 3 Rz. 131 ff.)4. Als marktinterventionistische Sozialzwecksteuern sind Umweltsteuern nicht am sozialstaatlich inspirierten Leistungsfähigkeitsprinzip auszurichten, sondern am jeweiligen Lenkungsziel5. Insofern können sie mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip, verstanden als Maßgröße solidarischer Lastentragungsfähigkeit zwecks sozialstaatlich gerechter Austeilung der Steuerlasten, nicht in Konflikt geraten6. Als problematisch erweist sich jedoch die Wahrung des Grundrechts auf Schutz eines 1 S. Milne in Kreiser u.a. (Hrsg.), Environmental Taxation and Green Fiscal Reform, S. 5 (6), m.w.N. 2 Baumol/Oates, Swedish Journal of Economics, 1971, 42. Zum „Standard-Preis-Ansatz“ insb. Hansmeyer, ZfU 1987, 251 (253 ff.); Hansjürgens, Umweltabgaben im Steuersystem, 1992, 31 ff., 137 ff.; Dickertmann, DStJG 15 (1993), 33 (38 ff.). 3 S. Fullerton/Leicester/Smith in Mirrlees u.a. (Hrsg.), The Mirrlees Review, Vol. 1, 423 (424 u. 437). 4 S. auch Schröder, Der Umweltschutz in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der EU, JöR 2010, 195. 5 Dazu Gawel, StuW 1999, 374; Jachmann, StuW 2000, 239; Söhn, FS Stern, 1997, 587 (593 ff.); Vallender/Jacobs, Ökologische Steuerreform, Bern 2000, 29 ff., 48 ff. 6 S. Selmer in Breuer u.a., Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, 15 (30); Osterloh, NVwZ 1991, 823 (826 f.); Köck, JZ 1991, 692 (697). A.A. Jachmann, StuW 2000, 239 (241 f.); Söhn, FS Stern, 1997, 587; Vallender/Jacobs, Ökologische Steuerreform, Bern 2000; anders auch die 20. Auflage.
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menschenwürdigen Existenzminimums1. Prinzipiell muss dies durch Verschonungsregeln im jeweiligen Steuergesetz selbst sichergestellt werden, entsprechend dem Grundsatz: „Steuerverschonung geht vor Sozialleistung“2. Soweit sich dies nicht praktikabel verwirklichen lässt, insb. weil Steuerbefreiungen nicht hinreichend zielgenau ausgeformt werden können und eine überschießende Entlastungswirkung den Lenkungszweck unterminieren würde, darf aber auf Transferzahlungen3 und ergänzend auf einkommensteuerliche Entlastungen (z.B. Erhöhung der „Pendlerpauschale“) als „second best“-Lösung zurückgegriffen werden. 120
Da sich die Folgen umweltschädlichen Verhaltens schwerlich bestimmten Individuen oder bestimmten Gruppen zuordnen lassen, ist eine Umweltsteuer regelmäßig leichter zu rechtfertigen als Umweltvorzugslasten (Gebühren und Beiträge)4 oder Umweltsonderabgaben. Letztere parafiskalische Abgabenart ist besonders dafür anfällig, dass der hohe Gemeinwohlwert des Umweltschutzes abgabenpolitisch missbraucht wird5. Während Vorzugslasten und Sonderabgaben andere Abgaben nicht kompensieren können, eignen sich Steuern für Umschichtungen im Abgabensystem nach dem von der EU-Kommission aufgestellten Grundsatz der „fiskalischen Neutralität“. So könnten z.B. notwendige ertragsteuerliche Entlastungen durch Umweltsteuern gegenfinanziert werden (s. § 2 Rz. 11). Gerade das Programm eines „ökologischen Umbaus“ des Abgabensystems will den Bürgern nicht Mehrbelastungen zumuten; es will Abgabenlasten umschichten.
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d) Die Steuerpolitik des letzten Jahrzehnts verlagerte die Abgabenlast von Unternehmensteuern und Sozialversicherungsbeiträgen auf die Steuerbelastung von Energie und CO2-Emissionen, um zweierlei zu erreichen: Zum einen soll die steuerliche Verteuerung von umweltschädlichem Konsum zum sparsamen und effizienten Einsatz ökologisch sensibler Ressourcen anreizen und zum anderen sollen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gestärkt und Arbeitsplätze geschaffen werden. Demnach versprechen sich die Befürworter dieser Politik Nutzen sowohl für die Umwelt als auch für Wirtschaft und Arbeitsmarkt (sog. „doppelte Dividende“)6. Davon war insb. die ökologische Steuerreform7 getragen, die in drei Schritten mit dem „Gesetz zum Einstieg in die ökologische Steuerreform“ v. 24.3.1999 (BGBl. I, 378), dem „Gesetz zur 1 Dazu grundl. und die vorherige Rspr. zusammenfassend BVerfGE 125, 175 (222). A.A. Gawel, Umweltabgaben zwischen Steuer- und Gebührenlösung, 1999, 381: Die Forderung nach Steuerfreiheit des Existenzminimums verkenne „völlig die wirtschaftlichen Zusammenhänge der Umweltgüterbesteuerung.“ 2 Vgl. BVerfGE 120, 125 (154): „Grundgedanke der Subsidiarität, wonach Eigenversorgung Vorrang vor staatlicher Fürsorge hat“; s. dazu ferner Friauf, DStJG 12 (1989), 3 (30 f.); J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, Rz. 551; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993, 344 f.; Mellinghoff in Brandt (Hrsg.), Für ein gerechteres Steuerrecht, 31 (38); Pezzer, FS Zeidler, 1987, 757 (765). 3 S. auch J. Lang, DStJG 15 (1993), 119 (159): existenzminimumschützende Steuervergütung. Die österreichische beim BMF eingerichtete Steuerreformkommission empfiehlt in ihrem Bericht v. 25.11.1998 (Beilage ÖStZ), 16, die Auszahlung eines „Ökobonus“. 4 Dazu m.w.N. J. Lang in Breuer u.a., Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, 59 ff. Der Wasserpfennig-Beschluss des BVerfG von 1995 (s. § 2 Rz. 22) erleichtert allerdings die Kreation neuer Umweltgebühren erheblich. Zu den Umweltgebühren s. Gawel, Umweltabgaben zwischen Steuer und Gebührenlösung, 1999. 5 Dazu J. Lang in Breuer u.a., Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, 59 (63 ff.) m.w.N. 6 Grundl. war das Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Ökosteuer – Sackgasse oder Königsweg?, Wirtschaftliche Auswirkungen einer ökologischen Steuerreform, 1994 (dazu Bach, StuW 1995, 264). Zum Konzept der „doppelten Dividende“ ausf. Kirchgässer in KrauseJunk (Hrsg.), Steuersysteme der Zukunft, 1998, 279; Jarass/Obermair, IStR 1998, 289; Braun, Ökologische Steuerreform, Wohlfahrt und Beschäftigung, Eine dynamische Simulationsanalyse unter besonderer Berücksichtigung unvollkommener Arbeitsmärkte, 1999. 7 S. den Entwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eines Gesetzes zum Einstieg in die ökologische Steuerreform v. 17.11.1998, BT-Drucks. 14/40. Literatur: Arndt, Rechtsfragen einer deutschen CO2-/Energiesteuer entwickelt am Beispiel des DIW-Vorschlages, 1995; Bach/Kohlhaas/ Linscheid/Seidel/Truger, Ökologische Steuerreform, Wie die Steuerpolitik Umwelt und Marktwirtschaft versöhnen kann, Umweltbundesamt, 1999; Herdegen/Schön, Ökologische Steuerreform, Verfassungsrecht und Verkehrsgewerbe, 2000; Hey, NJW 2000, 640; Löwer, Wen oder was steuert die ÖkoSteuer?, Gemeinschaftsrechtliche und verfassungsrechtliche Überlegungen zum Einstiegsgesetz in eine ökologische Steuerreform, 2000.
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Besondere Sozialzwecksteuern
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Fortführung der ökologischen Steuerreform“ v. 16.12.1999 (BGBl. I, 2432) und dem „Gesetz zur Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform“ v. 23.12.2002 (BGBl. I 2002, 4602) vollzogen worden ist. Mit dem Mehraufkommen sollte der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung gesenkt werden. Dazu ist der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung in Relation zu dem Mehraufkommen erhöht worden. BVerfGE 110, 2741, hat die Verfassungsmäßigkeit der ökologischen Steuerreform in vollem Umfang bestätigt. Kritik: Die These einer „doppelten Dividende“ ist umstritten; sie ist jedenfalls bei nationalen „Alleingängen“ stark geschmälert2: Strom- und Energiesteuer sowie sonstige Umweltabgaben belasten nicht nur den Privatkonsum, sondern in erheblichem Umfange auch Unternehmen, deren internationale Wettbewerbsfähigkeit wie oben dargelegt durch unabgestimmt hohe Energiepreise beeinträchtigt wird3. Die zur Abmilderung vorgesehenen Steuervergünstigungen berücksichtigen die Wettbewerbssituation nur bei bestimmten Unternehmen; hierdurch wird der Gleichheitssatz verletzt4. Darüber hinaus stellt der schiere Umfang der Befreiungen (dazu näher § 18 Rz. 117) die Belastungsgerechtigkeit insgesamt in Frage5. Zudem treibt die nationale Begrenzung der Steuerbelastung umweltschädliche Unternehmen dorthin, wo ihre Umweltschädlichkeit nicht beanstandet wird; dadurch wird global betrachtet auch die „grüne“ Dividende geschmälert. Produktionssteuern strapazieren den verfassungsrechtlichen Verbrauchsteuerbegriff (s. § 2 Rz. 47). Schließlich kehren die Protagonisten der ökologischen Steuerreform die Defizite sozialer Gerechtigkeit geflissentlich unter den Teppich. Die Energiesteuerbelastung trifft besonders hart Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Geringverdiener und Familien mit vielen Kindern.
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e) Gleichwohl widerlegen die Mängel der bisherigen Ökosteuerpolitik die Notwendigkeit einer ökologischen Steuerreform nicht. Vielmehr geht es im Kern darum, den Konflikt ökologischer Anforderungen an das Steuersystem mit Prinzipien des Steuerrechts so weit als möglich zu vermeiden. Grds. gibt es zwei Wege, die ökologische Umgestaltung bestehender Steuern6 und die Ergänzung des Steuersystems durch neue Steuern. Entsprechend der Canard’schen Steuerregel „Alte Steuern sind gute Steuern“7 sollten zuerst die bestehenden Steuern ökologisch angepasst werden. So könnten Steuern wie die Grundsteuer, die mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip nicht vereinbar sind, ökologisch umgewidmet werden8. Neue Steuern, die einen umweltgerechten Preis herstellen sollen, bedürfen vor allem der internationalen Harmonisierung.
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1 Dazu Bongartz, NJW 2004, 2281; Wernsmann, NVwZ 2004, 819; Haas, FS Mußgnug, 2005, 205; Selmer, GS Trzaskalik, 2005, 411. 2 Hiergegen insb. Wissenschaftlicher Beirat beim BMF, Umweltsteuern aus finanzwissenschaftlicher Sicht, BMF-Schriftenreihe, Heft 63, 1997, 35 ff.; Karl-Bräuer-Institut, Kein geeigneter Weg aus der Beschäftigungs- und Umweltmisere, 1998; Kronberger Kreis, Ökologische Steuerreform: Zu viele Illusionen, Frankfurter Institut 1999; Bareis/Elser, DVBl. 2000, 1176, und die Vertreter der Wirtschaft, z.B. Ritter, BB 1996, 1961; Zitzelsberger, DB 1996, 1791. Differenzierend Fullerton/Leicester/Smith, Enviromental Taxes, in Mirrlees u.a. (Hrsg.), The Mirrlees Review, Vol. 1, 423 (442 ff.). 3 Zur Energiebesteuerung im Ausland Arndt, StromStG, 1999, 275 ff. (8 Länder); Schweiz: Vallender/Jakobs, Ökologische Steuerreform, Bern 2000. S. auch Jenzen, Energiesteuern im nationalen und internationalen Recht, Eine verfassungs-, europa- und welthandelsrechtliche Untersuchung, 1998. 4 Dazu i.E. insb. die Monographien von Arndt, StromStG, 1999, und Herdegen/Schön, Ökologische Steuerreform, Verfassungsrecht und Verkehrsgewerbe, 2000. Zur Rechtfertigung und Kritik der energiesteuerlichen Vergünstigungen s. § 18 Rz. 117 und 131 f. 5 Lesenswert ist die Entscheidung des franz. Conseil Constitutionelle, der aus vergleichbaren Erwägungen heraus die franz. CO2-Abgabe für gleichheitssatz- und verfassungswidrig erklärt hat, s. Conseil Constitutionelle v. 29.12.2009, Nr. 2009–599 DC, ZfZ 2010, 54. Anders aber im Kontext des Erbschaftsteuerrechts BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, DStR 2015, 31, Rz. 169. 6 Dazu insb. die Bestandsaufnahme von Dickertmann, DStJG 15 (1993), 33. Ausf. zur Anpassung Schweizer Steuern Vallender/Jakobs, Ökologische Steuerreform, Bern 2000, 150 ff. 7 Canard, Principes d’économie politique, Paris 1801, 197: „Que tout vieil impót est bon, et tout novel impót est mauvais“. 8 Dazu Ewringmann, Ökologische Steuerreform: Steuern in der Flächennutzung, 1995, sowie der Reformvorschlag einer Öko-Grundsteuer von Bitzer und Lang, Ansätze für ökonomische Anreize zum sparsamen und schonenden Umgang mit Bodenflächen, 1998 (veröffentlicht vom Umweltbundesamt in Texte 21/00, 2000).
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§ 8 Einkommensteuer Rechtsgrundlagen: EStG, EStDV, LStDV u.a. einkommensteuerlich relevante Gesetze u. Verordnungen sind zusammen mit Verwaltungsvorschriften (insb. EStR, LStR) in den periodisch erscheinenden amtlichen Handbüchern zur Einkommensteuer und zur Lohnsteuer abgedruckt. Das amtliche Einkommensteuer-Handbuch (EStH) und das amtliche Lohnsteuer-Handbuch (LStH) enthalten jeweils einen Hinweisteil mit der von der Finanzverwaltung anzuwendenden höchstrichterlichen Rspr. und speziellen Verwaltungsvorschriften (insb. BMF-Schreiben). Kommentare: Loseblatt-Kommentare von Bordewin/Brandt (EStG), Blümich (EStG, KStG, GewStG), Herrmann/Heuer/Raupach (EStG, KStG, Nebengesetze), Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (EStG), Korn (EStG), Lademann (EStG) u. Littmann/Bitz/Pust (Einkommensteuerrecht). Gebundene Kommentare: P. Kirchhof, EStG13, 2014; Schmidt, EStG33, 2014. Monographien/Sammelwerke: Becker, Die Grundlagen der Einkommensteuer, 1940 (Nachdruck 1982); J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993; Tipke/Bozza, Besteuerung von Einkommen, Rechtsvergleich Italien, Deutschland und Spanien als Beitrag zur Harmonisierung des Steuerrechts in Europa, 2000; Ebling (Hrsg.), Besteuerung von Einkommen, DStJG 24 (2001); Tipke, StRO II2, 2003, 601 ff.; Hey (Hrsg.), Einkünfteermittlung, DStJG 34 (2011); J. Lang in Leitgedanken des Rechts II, 2013, § 168: Einkommensteuer. Lehr-/Lernbücher: Jakob, Einkommensteuer4, 2008; Wehrheim, Einkommensteuer und Steuerwirkungslehre3, 2009; Niemeier/Schlierenkämper/Schnitter/Wendt, Einkommensteuer23, 2009; Zenthöfer, Einkommensteuer11, 2013; Zimmermann/Reyher/Hottmann/Beckers/Janetzko, Einkommensteuer20, 2013; von Sicherer/Sandner Einkommensteuer2, 2014; Günther, Einkommensteuer/Lohnsteuer. 87 praktische Fälle16, 2014; Kreft, Einkommensteuerrecht13, 2014; Rick/Gierschmann/Gunsenheimer/ Schneider/Kremer, Lehrbuch Einkommensteuer20, 2014. Historische Literatur: Popitz, Art. „Einkommensteuer“, in Handwörterbuch der Staatswissenschaften4, Bd. III, 1926, 400 ff.; Schumpeter, Ökonomie und Soziologie der Einkommensteuer, Der deutsche Volkswirt IV, 1929, 380. Reformliteratur: s. § 7 Rz. 70 ff.
A. Allgemeine Charakterisierung Idealiter hat die Einkommensteuer von allen Steuern die höchste Gerechtigkeitsqualität1. Sie ist am besten geeignet, nicht nur die objektive, sondern auch die subjektive Leistungsfähigkeit des Stpfl. zu berücksichtigen. Der hohe Gerechtigkeitswert in Gestalt einer gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit wird allerdings nur erreicht, wenn ausnahmslos alle natürlichen Personen (Universalitätsprinzip) ihr gesamtes disponibles Einkommen versteuern müssen (Totalitätsprinzip)2 und der Staat auch (z.B. im Bereich der Besteuerung von Zinsen) für die Verwirklichung des Universalitäts- und des Totalitätsprinzips sorgt. Theoretisch ist die deutsche Einkommensteuer am Universalitäts- und am Totalitätsprinzip ausgerichtet. Es gibt keine persönlichen Steuerbefreiungen von der Einkommensteuer, wie sie Fürsten, Monarchen und Diktatoren (z.B. Hitler) gewährt worden sind. Traditionell gehört die deutsche Einkommensteuer zur Gruppe der „global income taxes“3. Diese Steuern sind dadurch gekennzeichnet, dass sie synthetisch die Gesamtheit der Einkünfte einem einheitlichen Einkommensteuertarif unterwerfen (synthetische Gesamteinkommensteuer). Im Gegensatz dazu steht die analytische Schedulensteuer. Sie besteuert Einkünfte nach der Art ihrer Einkunftsquellen (gewerbliche Einkünfte, Grundbesitz-, Arbeitseinkünfte etc.). Die Einkunftsarten werden auf 1 Schumpeter, Ökonomie und Soziologie der Einkommensteuer, Der deutsche Volkswirt IV, 1929, 380, bezeichnete sie als die reinste, technisch und juristisch schönste Gestalt des Steuergedankens, als den „Höhepunkt der Steuerkunst des liberalen Bürgertums“. 2 Zur gleichmäßigen Erfassung des Erwerbseinkommens nach dem Universalitätsprinzip u. dem Totalitätsprinzip J. Lang, Bemessungsgrundlage, 167 ff.; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (61 ff.). 3 Oldman/Bird, The Transition to a Global Income Tax: A Comparative Analysis, IFA-Bulletin 1977, 439.
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§8
Rz. 2
Einkommensteuer
gesonderten Listen (schedules) erfasst und dann jeweils einem gesonderten Schedulentarif unterworfen. Der in § 7 Rz. 71 ff. dargelegte Wettbewerb der Steuersysteme bewirkt international eine Abkehr vom synthetischen System der Besteuerung von Einkommen1. Folge dieses Wettbewerbs ist insb. die duale Einkommensteuer (s. § 7 Rz. 76); diese Steuer schont Einkünfte aus flüchtigem Geld- und Sachkapital, indem sie die sog. Kapitaleinkommen proportional niedrig besteuert, während die sog. Arbeitseinkommen, die ganz überwiegend von sozial ortsgebundenen Personen erwirtschaftet werden, weiterhin progressiv besteuert werden. Mit der seit 2009 geltenden Abgeltungsteuer auf Kapitaleinkünfte (s. Rz. 492 ff.) folgt der deutsche Gesetzgeber rudimentär dem Konzept der dualen Einkommensteuer als einer Sonderform der Schedulensteuer. Auch sonst ist der Grundsatz der synthetischen Einkommensteuer im deutschen Einkommensteuerrecht vielfach durchbrochen2, indem einzelne Einkunftsarten mit Sondervorschriften verknüpft werden (s. Rz. 402 f.). 2
Politisches Kernstück der Einkommensteuer ist der progressive Steuertarif. Die Bemessungsgrundlage „Einkommen“ ist rechtsdogmatisch bestimmbar, der Tarif hingegen hauptsächlich Ausdruck einer bestimmten Gesellschaftspolitik. Die Progression der Einkommensteuer verwirklicht sozialstaatliche Umverteilungsgerechtigkeit (s. § 3 Rz. 212).
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Die Einkommensteuer ist neben der Umsatzsteuer die ergiebigste Steuer (s. § 7 Rz. 19) mit hoher automatischer Anpassungsfähigkeit (built-in-flexibility) an die jeweilige wirtschaftliche Lage (s. § 7 Rz. 10). Ihre konjunkturstabilisierende Wirkung könnte gestützt auf Art. 106 I Nr. 6 GG durch antizyklische Zu- und Abschläge von der Einkommensteuerschuld verstärkt werden. Ergänzungsabgaben zur Einkommensteuer haben konjunkturdämpfende Wirkung. Deshalb ist es verfehlt, sie während einer Rezession zu erheben. Der seit 1991 auf der Grundlage von Art. 106 I Nr. 6 GG dauerhaft erhobene Solidaritätszuschlag (§ 7 Rz. 36) dient nicht der Konjunkturbeeinflussung, sondern der Finanzierung der Lasten der Wiedervereinigung durch den Bund.
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Die Achillesferse der Einkommensteuer ist ihre formelle Rationalität (s. § 7 Rz. 17): Als die merklichste Steuer provoziert die Einkommensteuer erheblichen Steuerwiderstand. Dadurch wird sie nicht nur zur verwaltungsaufwendigsten Steuer. Der Steuerwiderstand durch Lobbyismus und steuerminimierende Gestaltungen verschlechtert auch die Gerechtigkeitsqualität der Einkommensteuer. Der desolate Zustand des Einkommensteuerrechts veranlasst zur Reflexion über Besteuerungsformen, die zum einen weniger Steuerwiderstand auslösen und zum anderen die Gleichmäßigkeit und Totalität der Besteuerung von Einkommen erhöhen (s. § 3 Rz. 76 ff.). Die einstige „Königin“ der Steuern (s. § 7 Rz. 16) ist zu einer Dummensteuer degeneriert, die jene am stärksten trifft, die am schlechtesten informiert oder beraten sind oder die der Besteuerung, wie z.B. die Lohnsteuerzahler, am wenigsten ausweichen können.
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Zur Geschichte der Einkommensteuer3: Ihre Herkunft verdankt die Einkommensteuer nicht der Gerechtigkeit, sondern der Ergiebigkeit. An der Wiege der Einkommensteuer stand der 1 Bavila, Moving Away from Global Taxation: Dual Income Tax and other Forms of Taxation, ET 2001, 211; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (50 f., 73 f.). 2 Zur Durchbrechung des Grundsatzes der synthetischen ESt BVerfGE 116, 164 (181), zu § 32c EStG 1994 (Ungleichbehandlung durch Schedulenbesteuerung muss besonderen Rechtfertigungsanforderungen genügen); BFH BStBl. 2007, 167 (169 f., 175) (Mindestbesteuerung); Kanzler, FR 1999, 363; Thiel, FS 50 Jahre Fachanwälte, 1999, 75. 3 Zur Geschichte der deutschen Einkommensteuer Fuisting, Die geschichtliche Entwicklung des Preußischen Steuersystems und die systematische Darstellung der Einkommensteuer2, 1984; Mathiak, Zwischen Kopfsteuer und Einkommensteuer, Die preußische Klassensteuer von 1820, 1999; und Thier, Steuergesetzgebung und Verfassung in der konstitutionellen Monarchie, Staatssteuerreformen in Preußen 1871–1893, Diss., 1999; im Weiteren Dieterici, Zur Geschichte der Steuer-Reform in Preußen von 1810 bis 1820, Archiv-Studien, 1875; Teschemacher, Die Einkommensteuer und die Revolution in Preußen, 1912; Popitz, Einkommensteuer, in Handwörterbuch der Staatswissenschaften III4, 400; Strutz, Kommentar zum EStG 1925, 1927, Einl. Rz. 55 ff.; Großfeld, Die Einkommensteuer, Geschichtliche Grundlage und rechtsvergleichender Ansatz, 1981, 26 ff.; Schremmer, Steuern und
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Allgemeine Charakterisierung
Rz. 6
§8
Krieg Großbritanniens gegen Napoleon. Die erste, von William Pitt geforderte und 1799 in Kraft getretene Steuer auf das Gesamteinkommen war eine Kriegssteuer (bis 1982 hieß die Einkommensteuer der Schweiz „Wehrsteuer“). Sie wurde die Steuer, die Napoleon schlug1. Auch die Anfänge der Einkommensbesteuerung auf deutschem Boden waren von der Finanznot durch Krieg geprägt. Karl Freiherr vom Stein propagierte 1806 als Kriegssteuer eine progressive Steuer auf das Gesamteinkommen mit Selbstdeklaration; er erkannte sie als die „gleichförmigste und einträglichste Abgabe“2. Unter seinem Einfluss wurde sie 1808 in Preußen, Litauen und Königsberg eingeführt3. Steuern auf Einkommen (zunächst nur auf bestimmte Einkünfte) wurden auch in den Königreichen Sachsen (ab 1834) und Württemberg (ab 1820) sowie in Nassau (1848), Bayern (1848), Hessen (1869) und Baden (1884) eingeführt. Allerdings wurde nach dem Sieg über Napoleon 1814 die erste, unter dem Einfluss der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 (s. § 3 Rz. 40) rechtsethisch fundierte preußische Einkommensteuer wegen des großen Steuerwiderstands und der verbreiteten Unehrlichkeit bei der Selbstdeklaration wieder abgeschafft. 1820 wurde in Preußen die Klassensteuer eingeführt, welche die Stpfl. in fünf Klassen nach äußeren Wohlstandsmerkmalen einteilte4, was die verhasste Selbstdeklaration erübrigte. Ab 1851 wurde der Steuermaßstab auf das öffentlich eingeschätzte Einkommen umgestellt (klassifizierte Einkommensteuer). Den Durchbruch zur modernen Einkommensteuer leisteten das sächsische EStG v. 2.7.18785 und das preußische EStG v. 24.6.18916. Das EStG von 1891 war Teil der epochalen Steuerreform unter dem Finanzminister Johannes von Miquel7, der sein Reformprogramm einer progressiven Einkommensteuer vornehmlich mit der Steuergerechtigkeit begründete8. Mit der Miquel’schen Steuerreform war das Konzept der progressiven Gesamteinkommensteuer (die Grundsubstanz der geltenden Einkommensteuer) und das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit9 in der Steuerrechtsordnung fest installiert, allerdings mit
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Staatsfinanzen während der Industrialisierung Europas, 1994, 110 ff. (Preußen), 176 ff. (Deutsches Reich); Dziadkowski, FR 1995, 46 (Sachsen); Mathiak, StuW 1995, 352 (Ostpreußen); Hansen, Die praktischen Konsequenzen des Methodenstreits, Eine Aufarbeitung der Einkommensbesteuerung, Diss., 1996, 47 ff., 179 ff. (Preußen/Sachsen); Schremmer, Warum die württembergischen Ertragsteuern von 1821 und die sächsische ESt von 1874/78 so interessant sind, 2002; Mathiak, Das sächsische EStG von 1874/78, 2005; Mathiak, FR 2007, 544 (Preußen); Gehm, SteuerStud 2008, 188 (200 Jahre ESt in Deutschland); Steuerhistorisches Symposium der DStJG, Beiträge abgedruckt in StuW 2014, 16-87. Vgl. Großfeld, Die Einkommensteuer, Geschichtliche Grundlage und rechtsvergleichender Ansatz, 1981, 8; zur Einkommensteuerentwicklung in Großbritannien auch Piltz, StuW 2014, 39 (40-45). Vgl. Großfeld, Die Einkommensteuer, Geschichtliche Grundlage und rechtsvergleichender Ansatz, 1981, 31. Vgl. Pausch, Von der Einkommensteuer zur Deklarationsberatung, FR 1979, 441; Heuer, Karl Freiherr vom Stein als Wegbereiter des deutschen Einkommensteuerrechts, 1988. Gesetz v. 30.5.1820, Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, 1820, 140, V.: Lohnarbeiter, gemeines Gesinde und Tagelöhner; IV.: geringere Bürger und Bauernstand; III.: wohlhabende Bürger; II.: vorzüglich wohlhabende Einwohner; I.: reiche Einwohner. Der Steuersatz bewegte sich zwischen 0,5 (V) u. 48 (I) Talern. Dazu Mathiak, Die preußische Klassensteuer von 1820, 1999. Gesetz- und Verordnungsblatt für Sachsen, 1878, 129; vgl. Großfeld, Die Einkommensteuer, Geschichtliche Grundlage und rechtsvergleichender Ansatz, 1981, 43 f.; Schremmer, Einfach und gerecht?, Die erste deutsche Einkommensteuer von 1874/78 in Sachsen als Lösung eines Reformstaus in dem frühindustriellen Land, in M. Rose, Integriertes Steuer- und Sozialsystem, 2003, 191. Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, 1891, 175. Dazu Wagner, Die Reform der direkten Staatsbesteuerung in Preußen im Jahre 1891, FinArch. 2 (1891), 71; Pausch, Johannes von Miquel, 1964; Kassner, Der Steuerreformer Johannes von Miquel, Ein Beitrag zur Entwicklung des Steuerrechts, Diss., 2001. Im April 1889 stützte von Miquel im Preußischen Herrenhaus sein Reformprogramm auf die Annahme, dass die gleichmäßigere Verteilung der Steuerlasten vom ganzen Volke begrüßt werde: „Diese günstige Stimmung liegt vor allem in unserem deutschen Gerechtigkeitsgefühl. Man beschwert sich nicht so sehr über hohe Steuern, wenn man sie nur gerecht findet, wohl aber, wenn sie ungleich sind …“ (zit. nach Pausch, Johannes von Miquel, 1964, 33). Dazu Pohmer/Jurke, Zur Geschichte und Bedeutung des Leistungsfähigkeitsprinzips, FinArch. 42 (1984), 445.
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§8
Rz. 7
Einkommensteuer
einer noch sehr bescheidenen Progression von 0,67–4 %; durch unterschiedliche Kommunalzuschläge reichte die Spitzenbelastung bis zu 12 %. 7
Eine völlig neue Qualität erhielt die Einkommensteuer mit dem EStG v. 29.3.19201. Die Lasten des verlorenen Ersten Weltkriegs zwangen dazu, das Steueraufkommen um das Fünffache zu steigern. Der im preußischen EStG von 1891 an der Quellentheorie (s. Rz. 50) ausgerichtete Einkünftekatalog wurde nach der Reinvermögenszugangstheorie (s. Rz. 50) erweitert2 und der Einkommensteuertarif drastisch auf 10–60 % angehoben. Mit dem EStG v. 10.8.1925 (RGBl. I 1925, 189) wurde im Prinzip der heute geltende, sowohl auf der Quellen- als auch auf der Reinvermögenszugangstheorie beruhende Einkünftekatalog eingeführt. Schließlich begründete das EStG v. 16.10.1934 (RGBl. I 1934, 1005) die Gesetzesstruktur des geltenden EStG. Seitdem gab es keine große Rechtsreform der Einkommensteuer mehr3. Daher hat sich der rechtliche Zustand des EStG seit 1934 durch die Steueränderungsgesetzgebung kontinuierlich verschlechtert.
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Zur Entstehungsgeschichte empfiehlt es sich, auf folgende historische Kommentare und Materialien zurückzugreifen: Zum Preuß. Gesetz von 1891: Komm. von Fuisting, 1892; Fuisting/Strutz8, 1915. Zum Gesetz von 1920: Amtl. Begr. in Verfassungsgebende Deutsche Nationalversammlung 1920, Drucks. 1624; Komm. von Strutz2, 1920/22. Zum Gesetz von 1925: Amtl. Begr. in Reichstag-Drucks. III Nr. 795 (1924/25); Komm. von Blümich/ Schachian, 1925; Strutz, 1927; Pißel/Koppe, 1932; Beker, 1933. Zum Gesetz von 1934: Amtl. Begr. in RStBl. 1935, 33 ff.; Komm. von Vangerow, 1936; Blümich2, 1937.
9–19
Einstweilen frei.
B. Steuerpflicht 1. Natürliche Personen als Steuersubjekte 20
Steuersubjekt und Schuldnerin der Einkommensteuer ist nach § 1 EStG die natürliche Person. Das System gerechter Lastenausteilung bezieht sich auf den Menschen als Grundrechtsträger, auf den finanziell leistungsfähigen Staatsbürger. Das Einkommensteuerschuldverhältnis beginnt mit der Vollendung der Geburt und endet mit dem Tode4. Geschäftsfähigkeit, Staatsangehörigkeit und Wohnsitz/gewöhnlicher Aufenthalt sind für das Bestehen des Einkommensteuerschuldverhältnisses irrelevant. Wohnsitz/gewöhnlicher Aufenthalt und Staatsangehörigkeit (§ 1 II EStG) sind lediglich Kriterien für die Art der Einkommensteuerpflicht (unbeschränkte/beschränkte Einkommensteuerpflicht).
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Auch zusammenzuveranlagende Ehegatten sind jeder für sich Steuersubjekt5. § 26b EStG ist insofern irreführend formuliert6. 1 RGBl. 1920, 359. Das EStG 1920 war Teil der Reform von 1919/1920 unter dem Reichsfinanzminister Matthias Erzberger. Diese letzte große Steuerreform führte innerhalb von neun Monaten zur Verkündung von 16 Einzelsteuergesetzen, darunter die Becker’sche Reichsabgabenordnung (s. § 1 Rz. 53). Zu Erzberger u. seiner Reform Pausch, Johannes von Miquel, 1964, 32 ff.; Pausch, SteuerStud 1989, 341; Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I (Allgemeiner Teil), 1991, 9 ff. 2 Zum Einfluss der Einkommenstheorien auf die Rechtsentwicklung ausf. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 36 ff. 3 Zu Einkommensteuerreformbedingungen aus historischer Sicht Thier, StuW 2014, 77. 4 § 1 EStG knüpft insoweit an die zivilrechtliche Rechtsfähigkeit an. Nach § 1 BGB beginnt die Rechtsfähigkeit des Menschen mit der Vollendung der Geburt. Im BGB ist nicht ausdrücklich geregelt, dass die zivilrechtliche Rechtsfähigkeit mit dem Tode endet. Im Falle der Verschollenheit regelt § 49 AO den Todestag. 5 Dazu ausf. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 620 ff., 624 f. (m.w.N.). 6 Vgl. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 624 f.; Kirchhof/Seiler13, § 26b EStG Rz. 3.
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Steuerpflicht
Rz. 24
§8
Kapitalgesellschaften, Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften und sonstige Körperschaften sind Subjekte der Körperschaftsteuer (s. § 1 KStG). Das gilt auch für die Einpersonen-GmbH. Personengesellschaften (z.B. OHG, KG, BGB-Gesellschaft) oder Gemeinschaften sind weder Einkommensteuer- noch Körperschaftsteuerschuldner. Die von ihnen erzielten Gewinne werden den Gesellschaftern (Gemeinschaftern) zugerechnet und bei diesen einkommensteuerlich oder körperschaftsteuerlich erfasst (§ 15 I 1 Nr. 2 EStG; dazu § 10 Rz. 10). Technisch geschieht das im Verfahren der gesonderten und einheitlichen Gewinnfeststellung (§§ 179; 180 AO; dazu § 21 Rz. 121 ff.). Das Einkommensteuerrecht negiert die Personengesellschaft oder Gemeinschaft aber nicht. Die Bündelung von Leistungsbeziehungen in der Rechtszuständigkeit der Gesellschaft oder Gemeinschaft lässt zwar die Steuersubjekteigenschaft unberührt, hat jedoch Konsequenzen bei der Qualifikation, Zurechnung und Ermittlung von Einkünften (s. § 10 Rz. 10 ff.).
Nach dem Grundsatz der Individualbesteuerung1 sind Bemessungsgrundlage und progressiver Tarif der Einkommensteuer auf die einzelne natürliche Person zu beziehen. Der Einkommensteuertarif ist für die einzelne natürliche Person festgelegt, so dass die Zusammenrechnung der Einkommen von Ehegatten als Bemessungsgrundlage eines Einzelpersonentarifs eine überhöhte progressive Steuerbelastung bewirkt, die Eheleute verfassungswidrig diskriminiert2. Im Weiteren folgt aus dem Grundsatz der Individualbesteuerung, dass jede Person die von ihr erwirtschafteten Einkünfte zu versteuern hat. Die Übertragung von Einkünften betrifft die Einkommensverwendung und ist grds. unbeachtlich; ein Subjektwechsel setzt die Übertragung von Einkunftsquellen voraus. Dabei geht es um die persönliche Zurechnung von Einkünften. Die Verlagerung von Einkünften zwischen Angehörigen ist nach Zurechnungsregeln zu beurteilen, denen der Grundsatz der Individualbesteuerung zugrundeliegt (s. Rz. 162 ff.).
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Der Grundsatz, dass die Einkünfte von dem zu versteuern sind, der sie erwirtschaftet hat, kann nicht ausnahmslos durchgehalten werden. Vielmehr begründet die sachgerechte Verwirklichung des Leistungsfähigkeitsprinzips folgende Ausnahmen: So verlangt das Totalitätsprinzip, dass Einkünfte nach dem Tode der Person, die die Einkünfte erwirtschaftet hat, von dem Rechtsnachfolger (Erben, Witwe) zu versteuern sind (vgl. § 24 Nr. 2 EStG); dementsprechend ist entgegen BFH GrS BStBl. 2008, 608, auch ein Verlustabzug (§ 10d EStG) durch den Erben zu rechtfertigen, wenn der Erbe den übernommenen Verlust tatsächlich trägt (s. Rz. 63). Die in § 3 Rz. 66 dargelegten Schwierigkeiten bei der Bewertung ruhenden Vermögens zwingen zudem zu einer intersubjektiven Übertragung stiller Reserven und zum Aufschub der Besteuerung von stillen Reserven im Fall der unentgeltlichen Übertragung von Wirtschaftsgütern (s. § 9 Rz. 421 ff., 430 ff.).
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Mit dem Grundsatz der Individualbesteuerung ist eine intersubjektive Korrespondenz steuerabzugsfähiger Ausgaben und zu versteuernder Einnahmen grds. nicht zu vereinbaren, weil die Steuerpflicht von Einnahmen und die Abzugsfähigkeit von Ausgaben allein bei der Person zu beurteilen sind, die den Einkommensteuertatbestand verwirklicht: Wer eine Privatwohnung mietet, ein Privatdarlehen aufnimmt oder eine Haushaltshilfe beschäftigt, kann die Miete, die Zinsen oder den Arbeitslohn (vgl. § 35a EStG) nicht abziehen, obgleich der Vermieter, der Darlehensgeber und die Haushaltshilfe Einnahmen zu versteuern haben. In diesem Sinne gibt es keine Korrespondenz zwischen verschiedenen Steuersubjekten3. Es gibt aber vom Gesetz ausdrücklich angeordnete Ausnahmen, so die in den §§ 9 I 3 Nr. 1; 10 I Nrn. 1, 1a, 1b; 22 Nrn. 1, 1a EStG niedergelegten Korrespondenzen. Ein Realsplitting, das wie die §§ 10 Ia Nr. 1; 22 Nr. 1a EStG den Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit durch Unterhaltsleistungen berück-
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1 Dazu Becker, Der „Grundsatz der Individualbesteuerung“ im deutschen Einkommensteuerrecht, Diss., 1970; KSM/Lehner/Waldhoff, § 1 EStG Rz. A 89 ff., Rz. 141 f. (2000); Könemann, Der Grundsatz der Individualbesteuerung im Einkommensteuerrecht, Diss., 2001; Hey, GS Trzaskalik, 2005, 219; Schmitt-Homann, Die Vererbung einkommensteuerrechtlicher Rechtspositionen, Diss., 2005; Ratschow, DStJG 34 (2011), 35; HHR/Hey, Einf. ESt Anm. 46 (2014); dogmengeschichtlich Reimer, StuW 2014, 29 (34). 2 Zur Verfassungswidrigkeit der sog. Haushaltsbesteuerung BVerfGE 6, 55. 3 Vgl. Tipke, StuW 1980, 8; Söhn, StuW 1985, 405 f.; HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 62 (2012); Kirchhof/ Kirchhof13, § 8 EStG Rz. 11; Schmidt/Krüger33, § 8 EStG Rz. 7; u. z.B. BFH/NV 2004, 789 (keine Korrespondenz zwischen Arbeitslohn und Werbungskosten).
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§8
Rz. 25
Einkommensteuer
sichtigt, verletzt weder das Leistungsfähigkeitsprinzip noch den Grundsatz der Individualbesteuerung, weil die Minderung der Leistungsfähigkeit beim Verpflichteten mit der Erhöhung der Leistungsfähigkeit beim Berechtigten korrespondiert (s. Rz. 98, 103).
2. Internationale Abgrenzung der Steuerpflicht durch die unbeschränkte und beschränkte Steuerpflicht 25
Die Einkommensteuerpflicht wird nach dem international üblichen Wohnsitzprinzip abgegrenzt: Hat die natürliche Person ihren Wohnsitz (§ 8 AO) oder gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO) im Inland1, so ist sie unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Hat sie im Inland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt, so ist sie beschränkt einkommensteuerpflichtig2. Die Begründung eines steuerlichen Wohnsitzes setzt das „Innehaben“ einer Wohnung unter Umständen voraus, die darauf schließen lassen, dass der Stpfl. die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Entscheidend ist die tatsächliche Verfügungsmacht über zum Wohnen geeignete Räumlichkeiten. Ein Stpfl. kann über mehrere Wohnsitze verfügen mit der Folge mehrfacher unbeschränkter Steuerpflicht (sog. Doppelansässigkeit). Der in § 9 AO definierte gewöhnliche Aufenthalt ist durch ein Zeitmoment charakterisiert (vgl. gesetzliche Vermutung § 9 Satz 2 AO: sechs Monate).
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Im Falle unbeschränkter Einkommensteuerpflicht wird das sog. Welteinkommen (s. § 1 Rz. 88) besteuert, d.i. die Summe der Einkünfte (s. Rz. 40), gleichgültig, wo die Einkünfte erwirtschaftet worden sind. Die persönlichen Verhältnisse werden durch private Abzüge i.S.d. § 2 IV, V EStG (s. Rz. 70 ff.) und Steuerfreistellung des Existenzminimums (§ 32a I 2 Nr. 1 EStG) berücksichtigt. Es gilt der Normaltarif (§ 32a I EStG) und Eheleuten wird das Splitting (§§ 26; 26b; 32a V EStG) eingeräumt.
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Demgegenüber hat die beschränkte Einkommensteuerpflicht Objektsteuercharakter3: Es werden nach dem international üblichen Territorialitätsprinzip nur die inländischen Einkünfte (§§ 1 IV; 49 EStG) ohne private Abzüge (§ 50 I 3 EStG) und ohne Ehegattensplitting besteuert. Der Objektsteuercharakter wird besonders durch den Steuerabzug mit Abgeltungswirkung (§ 50 II 1 EStG) beim Arbeitslohn (§§ 38 ff. EStG), bei Kapitalerträgen (§§ 43 ff. EStG) u. bei Einkünften i.S.d. § 50a EStG (u.a. Aufsichtsratsvergütungen u. Einkünfte von Sportlern u. Künstlern) konkretisiert. Ausländische Steuern können nur sehr eingeschränkt angerechnet werden (§ 34c I, VI EStG).
28
Soweit beschränkt Stpfl. (insb. durch abgeltend wirkende Steuerabzüge) steuerlich schlechter gestellt sind als unbeschränkt Stpfl., stellt sich die Frage der Vereinbarkeit mit dem Europarecht4. Keinen Anstoß nimmt der EuGH an der Versagung von Abzügen zur Berücksichtigung des subjektiven Nettoprinzips. Insofern seien Gebietsansässige und Gebietsfremde nicht in einer vergleichbaren Situation, da das im Quellenstaat erwirtschaftete Einkommen des Gebietsfremden i.d.R. nur einen Teil seiner Gesamteinkünfte darstellt und die Beurteilung und Berücksichtigung seiner persönlichen Verhältnisse dem Wohnsitzstaat obliegt (grdl. EuGH C-279/93, 1 Zur Definition des Inlands Maciejewski/Theilen, IStR 2013, 846; Waldhoff/Engler, FR 2012, 254; klarstellende Erstreckung des erweiterten Inlandsbegriffs (Festlandsockel) auf Offshore Windparks in der ausschließlichen Wirtschaftszone durch § 1 I 2 Nr. 2 EStG i.d.F. des KroatienAnpG v. 25.7.2014, BGBl. I 2014, 1266. 2 Dazu Gassner/Lang/Lechner/Schuch/Staringer, Die beschränkte Steuerpflicht im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, 2004; Hey, IWB Fach 3 Gr. 1 S. 2003 (2004); Liebing, Beschränkte Einkommensteuerpflicht in der Europäischen Union, 2004; Lüdicke, DStR-Beihefter zu Heft 17/2008, 25; Kußmaul/Ruiner, StuW 2009, 80 (verfassungsrechtl. Grundlagen, Vergleich zu den USA); Wörsching, SteuerStud 2010, 150; Kortz, Die Rspr. des EuGH zur beschränkten Einkommensteuerpflicht – Gefahr der Inländerdiskriminierung, Diss., 2010; Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, 2011, Rz. 5.99 ff. 3 Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, 2011, Rz. 5.106 ff. 4 Hierzu Saleh, SteuerStud 2010, 121; HHR/Stapperfend, Vor §§ 1, 1a EStG Anm. 35 ff. (2011); HHR/ Ismer, Einf. ESt Anm. 491 (2014).
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Hey
Steuerpflicht
Rz. 30
§8
Schumacker, Rz. 31 f.). Auch akzeptiert der EuGH zur Sicherung des Steuervollzugs Quellenabzüge gegenüber Steuerausländern (EuGH C-290/04, FKP Scorpio, Rz. 61; C-498/10, „X“, Rz. 53). Die Verwirklichung des objektiven Nettoprinzips muss indes gewährleistet sein1. Auch dürfen besondere Quellensteuersätze nicht zu einer höheren Belastung führen, als sie sich aus der Anwendung des progressiven Tarifs ohne Grundfreibetrag ergeben würde (EuGH C-234/02, Gerritse, Rz. 53 f.). Den Beanstandungen des EuGH ist Rechnung getragen durch Herabsetzung des Quellensteuersatzes in § 50a II 1, VII EStG und die Möglichkeit der Geltendmachung von Aufwendungen im Abzugsverfahren für EU-/EWR-Angehörige (§ 50a III, IV EStG)2. Erweiterte unbeschränkte Steuerpflicht: § 1 II EStG erweitert die unbeschränkte Steuerpflicht auf deutsche Auslandsbeschäftigte mit Dienstverhältnis zu einer inländischen juristischen Person des öffentlichen Rechts sowie auf deren deutsche Haushaltsangehörige. Diese Regelung gilt insb. für Mitglieder von diplomatischen Missionen und konsularischen Vertretungen, Auslandskorrespondenten öffentlich-rechtlicher Rundfunk-/Fernsehanstalten und für Auslandslehrkräfte3. Zahlungen aus öffentlichen Kassen allein begründen keine unbeschränkte Steuerpflicht (BFH BStBl. 2007, 106, betr. Mitarbeiter des Goethe-Instituts).
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Unbeschränkte Steuerpflicht bei wesentlich inlandsbesteuerten Einkünften (§§ 1 III; 1a EStG): Wird das „Welteinkommen“ (nahezu) ausschließlich im Inland erwirtschaftet, so erwächst daraus das Bedürfnis, die persönliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Stpfl. uneingeschränkt zu berücksichtigen. Dieses Bedürfnis bestand seit jeher bei den im Inland arbeitenden, jedoch nicht im Inland wohnenden Grenzpendlern; es wurde durch bilaterale Grenzgängerregelungen befriedigt4. Nachdem jedoch der EuGH in derartigen Fällen die Verletzung von Diskriminierungsverboten gerügt hatte, die sich aus der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 45 AEUV) und der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) ergeben (s. § 4 Rz. 87), musste die Einkommensteuerpflicht grds. neu geregelt werden. Insb. nach dem Schumacker-Urteil des EuGH (C-279/93) aus dem Jahr 1995 sind EU-Angehörige mit unbeschränkt steuerpflichtigen Arbeitnehmern steuerlich gleichzustellen, d.h. ihnen ist u.a. das Ehegattensplitting zu gewähren, wenn das Einkommen ganz oder fast ausschließlich in Deutschland erwirtschaftet wird. Die in § 1 III 2 EStG normierte 90 %-Grenze blieb in der Rs. Gschwind (C-391/97) europarechtlich unbeanstandet.
30
Nach der nunmehr EuGH-festen Regelung des § 1 III EStG5 werden ausländische natürliche Personen mit inländischen Einkünften i.S.d. § 49 EStG auf Antrag als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt, wenn ihre nach deutschem Recht ermittelten (BFH BStBl. 2009, 708) Jahreseinkünfte zu mindestens 90 % der deutschen Einkommensteuer unterliegen oder wenn die Auslandseinkünfte den Grundfreibetrag (§ 32a I 2 Nr. 1 EStG) nicht überschreiten; dieser Betrag ist zu kürzen, soweit es nach den Verhältnissen im Wohnsitzstaat notwendig und angemessen ist (§ 1 III 2 EStG). Inländische Einkünfte gelten als nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegend, wenn sie nach einem DBA nur beschränkt besteuert werden dürfen 1 EuGH C-234/02, Gerritse, Rz. 27; EuGH C-345/04, Centro Equestre; EuGH C-450/09, Schröder: Abzug von Versorgungsleistungen bei Vermögensübertragung gem. § 10 Ia Nr. 2 EStG. Die vom deutschen Gesetzgeber gewählte Regelungstechnik spielt folglich keine Rolle. Entscheidend ist lediglich, ob es sich um Aufwendungen handelt, die materiell in unmittelbarem Zusammenhang mit der Einkommenserwirtschaftung stehen. 2 Dazu Köhler/Goebel/Schmidt, DStR 2010, 8; Dahle/Sureth/Stamm, StuB 2011, 138 (Analyse der Belastungswirkungen); HHR/Maßbaum, § 50a EStG Anm. 2 (2011). 3 BMF BStBl. I 1992, 726 (Diplomaten); BMF BStBl. I 1992, 730, geändert für Italien: BStBl. I 1993, 109 (Auslandskorrespondenten); BMF BStBl. I 1990, 324, u. Sonderregelung für die USA: BStBl. I 1994, 853 (Auslandslehrkräfte). Völkervertraglich sind die Bediensteten von diplomatischen u. konsularischen Vertretungen im Wohnsitzstaat steuerbefreit. S. § 3 Nr. 29 EStG; Hensel, RIW 1999, 659; HHR/Stapperfend, § 1 EStG Anm. 37 (2011). 4 Die Grenzgängerregelungen sind Doppelbesteuerungsnormen, die u.a. auch den Besteuerungsverzicht des Wohnsitzstaates regeln; hierzu Lusche, DStR 2010, 914. Sie sind durch die §§ 1 III; 1a EStG nur z.T. obsolet. 5 Dazu Große, StuW 1999, 357; Große/Kudert, IStR 1999, 737; Kudert/Glowienka, StuW 2010, 278.
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§8
Rz. 31
Einkommensteuer
(§ 1 III 3 EStG). Einkünfte, die nicht der deutschen ESt unterliegen und auch nicht im Ausland besteuert werden, bleiben bei der Ermittlung der 90 %-Grenze unberücksichtigt, soweit vergleichbare Einkünfte im Inland steuerfrei sind (§ 1 III 4 EStG). Die Höhe der nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte ist durch Bescheinigung der zuständigen ausländischen Behörde nachzuweisen (§ 1 III 5 EStG). Liegen diese allgemeinen Voraussetzungen (§ 1 III 1–5 EStG) vor, so sind folgende zwei Regelungen zu unterscheiden: 31
(1) Natürliche Personen, die im Inland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, werden auf Antrag nach § 1 III 1 EStG unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt. Ihnen steht allerdings weder ein tarifliches Ehegattensplitting (§§ 26; 32a V EStG) noch ein Realsplitting nach den §§ 10 Ia Nr. 1; 22 Nr. 1a EStG zu.
32
(2) Natürlichen Personen mit Staatsangehörigkeit eines EU-/EWR-Staates räumt § 1a EStG einen familienbezogenen Sonderstatus1 ein, der sich aus der Anwendung von Europarecht ergibt und daher gleichheitsrechtlich gerechtfertigt ist. Nach der EuGH-Rs. Ettwein (C-425/11) ist die Regelung auch Schweizer Grenzpendlern zu gewähren2. Begünstigt sind unbeschränkt Stpfl. i.S.d. § 1 I EStG und Stpfl., die nach § 1 III EStG als unbeschränkt steuerpflichtig zu behandeln sind, sowie nach § 1a II EStG Angehörige des öffentlichen Dienstes mit Dienstort im Ausland. I.E. gilt: – Das tarifliche Ehegattensplitting (§§ 26; 32a V EStG) und das Realsplitting zwischen geschiedenen oder dauernd getrennt lebenden Ehegatten (§§ 10 Ia Nr. 1; 22 Nr. 1a EStG) greifen auch dann Platz, wenn der Partner nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist (§ 1a I Nr. 1, 2 EStG). Für die Anwendung des § 26 I 1 EStG wird der Partner auf Antrag als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt (§ 1a I Nr. 2 EStG) und bei der Anwendung des § 1 III 2 EStG auf die Einkünfte beider Ehegatten abgestellt und der Grundfreibetrag (§ 32a I 2 Nr. 1 EStG) verdoppelt (§ 1a I Nr. 2 Satz 3 EStG). Die Realsplitting-Regelung verlangt, dass der Empfänger seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem EU- oder EWR-Staat hat und die Besteuerung der Unterhaltszahlungen nachgewiesen werden kann (§ 1a I Nr. 1 Satz 2 Buchst. a, b EStG). – Auf besonderen Verpflichtungsgründen beruhende Versorgungsleistungen i.S.d. § 10 Ia Nr. 2 EStG sowie Ausgleichszahlungen im Rahmen des Versorgungsausgleichs (§ 10 Ia Nr. 4 EStG) sind auch dann als Sonderausgaben abziehbar, wenn der Empfänger nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist (§ 1a I Nr. 1 EStG), jedoch in einem EU- oder EWR-Staat wohnt und die Besteuerung der Versorgungsleistungen nachweisen kann (§ 1a I Nr. 1Satz 2 Buchst. a, b).
33
Erweiterte beschränkte Steuerpflicht nach Außensteuergesetz (s. § 1 Rz. 89): Verlegt eine natürliche Person ihren Wohnsitz in ein Land mit niedriger Besteuerung (z.B. Schweiz), so erweitert § 2 AStG die beschränkte Steuerpflicht für 10 Jahre nach dem Wegzug auf alle Einkünfte i.S.d. § 2 I 1 EStG, die nicht ausländische Einkünfte i.S.d. § 34d I EStG sind (gegenüber § 49 I EStG erweiterte Inlandseinkünfte), wenn die Person in den letzten 10 Jahren vor dem Wegzug mindestens 5 Jahre als Deutscher unbeschränkt steuerpflichtig war und weiterhin wesentliche wirtschaftliche Interessen in Deutschland aufrechterhält. § 2 AStG wird ergänzt durch § 5 AStG, der die Fälle erfasst, in denen die wesentlichen wirtschaftlichen Inlandsinteressen mittelbar über zwischengeschaltete Auslandsgesellschaften (§ 7 AStG) ausgeübt werden. Nach § 5 AStG sind die erweiterten Inlandseinkünfte der zwischengeschalteten Auslandsgesellschaft dem Anteilseigner zuzurechnen; ausgenommen sind die Einkünfte aus aktiver Tätigkeit i.S.d. § 8 I AStG. § 6 AStG (sog. „lex Horten“) erfasst schließlich den Wertzuwachs einer Beteiligung i.S.d. § 17 EStG bei Wegzug einer Person, die mindestens zehn Jahre unbeschränkt einkommensteuerpflichtig war. Bei Wegzug in einen EU-/EWR-Staat wird die Steuer bis zur Realisierung der stillen Reserven zinslos gestundet (§ 6 V AStG)3. 1 Dazu Schneider, SteuerStud 2001, 294; M. Lang, RIW 2005, 336. 2 Auf der Grundlage des Freizügigkeitsabkommens zwischen der EU und der Schweiz v. 21.6.1999, ABl. EG L 114 v. 30.4.2002, 6; BGBl. II 2001, 810; dazu Cloer/Vogel, DB 2013, 1141. 3 Infolge EuGH C-9/02, Hughes de Lasteyrie du Saillant; EuGH C-470/04, „N“. Zur verbleibenden europarechtlichen Kritik an Einzelregelungen s. Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, § 6 AStG Rz. 27 ff. (2013).
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Rz. 41
§8
Wechselt die Steuerpflicht während des Kalenderjahrs (= Veranlagungszeitraum, s. § 25 I EStG) infolge Zuzugs oder Wegzugs, so wird nur eine Veranlagung durchgeführt; die während der beschränkten Einkommensteuerpflicht erzielten inländischen Einkünfte sind in eine Veranlagung zur unbeschränkten Einkommensteuerpflicht einzubeziehen (§ 2 VII 3 EStG).
34
Durch das Nebeneinander von unbeschränkter und beschränkter Steuerpflicht überschneiden sich die Steueransprüche von Wohnsitz- und Quellenstaat (s. § 1 Rz. 87 ff.). Die Kollision der Steuertatbestände wird entweder bilateral durch DBA oder unilateral durch Steueranrechnung (§ 34c I EStG; §§ 68a; 68b EStDV) beseitigt (s. § 1 Rz. 92 ff.).
35
Grundelemente des § 2 EStG
Einstweilen frei.
36–39
C. Objekt und Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer Literatur: Kommentare zu § 2 EStG; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88; Dziadkowski, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer als Zielgröße von Reformansätzen, in FS Offerhaus, 1999, 1091; Bernhardt, Einkünfte versus Income, Diss., 2000 (Rechtsvergleich USA); Tipke, StRO II2, 2003, 619 ff.; von Groll, Zur Bedeutung des § 2 EStG für die Systematik des Steuerrechts, in FS Raupach, 2006, 131; P. Kirchhof, Leistungsfähigkeit und Erwerbseinkommen, in FS J. Lang, 2010, 451; Drüen, Prinzipien und konzeptionelle Leitbilder einer Einkommensteuerreform, DStHG 37 (2014), 9; Desens, Einkommensbegriffe und Einkunftsarten. Wie kann eine Reform gelingen?, DStJG 37 (2014), 95.
1. Grundelemente des § 2 EStG 1.1 Bedeutung des § 2 EStG für den Einkommensteuertatbestand § 2 EStG ist durch das EStRG 19741 als Zentralvorschrift geschaffen worden, welche die „Elemente der Steuerbemessungsgrundlage, ihr Verhältnis zueinander und den Weg für die Ermittlung der Jahreseinkommensteuerschuld normiert“ (BT-Drucks. 7/1470, 238).
40
§ 2 EStG bestimmt zunächst das Objekt der Einkommensteuer, indem er das Besteuerungsgut, den ökonomischen Einkommensbegriff, in § 2 I-II EStG grundlegend rechtlich erfasst2. Dem ökonomischen Einkommensbegriff entspricht der Rechtsbegriff „Summe der Einkünfte“ (§ 2 III EStG). In diesem Rechtsbegriff entfalten sich die ökonomischen Einkommenstheorien (Reinvermögenszugangs-, Quellen-, Markteinkommenstheorie). Das Einkommensteuerobjekt ist deshalb auch nicht die Erwerbstätigkeit selbst3, sondern die „Summe der Einkünfte“ als das Ergebnis von Erwerbstätigkeit(en). Jedoch eignet sich als Bemessungsgrundlage nicht das Erwerbseinkommen als solches (s. § 7 Rz. 30 ff.), sondern nur das für die Steuerzahlung disponible Einkommen. Deshalb ist die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer zweistufig aufgebaut (s. bereits § 3 Rz. 72 ff.): § 2 I, II EStG erfasst zunächst im Tatbestand „Summe der Einkünfte“ (§ 2 III EStG) das Erwerbseinkommen. Die „Summe der Einkünfte“, vermindert um drei Steuervergünstigungen (§§ 13 III; 24a; 24b EStG), ergibt den „Gesamtbetrag der Einkünfte“ (§ 2 III EStG). Der „Gesamtbetrag der Einkünfte“ bildet die Ausgangsgröße für die privaten Abzüge (§ 2 IV, V EStG); diese dienen dem Zweck, die indisponible Einkommensverwendung auszuscheiden. Das Konzept zweistufiger Messung steuerlicher Leistungsfähigkeit ist allerdings nicht konsequent verwirklicht. Der Stufenaufbau des § 2 EStG ist von Sozialzwecknormen durchsetzt. Die Stufe 1 Gesetz zur Reform der Einkommensteuer, des Familienlastenausgleichs und der Sparförderung v. 5.8. 1974, BGBl. I 1974, 1545. 2 Dazu näher J. Lang, Bemessungsgrundlage, 34 ff.; zum Zusammenhang zwischen Steuerobjekt und Bemessungsgrundlage Eisgruber in Leitgedanken des Rechts II, 2013, § 169. 3 Die sog. Erwerbstätigkeitstheorie von Bayer, Steuerlehre, 1997, Rz. 503 ff., 524 ff. (dazu Oechsle, StuW 1999, 120) ist mit der eindeutigen Geltungsanordnung des Gesetzes nicht zu vereinbaren. Vgl. auch Hey, StuW 1998, 285 (287).
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§8
Rz. 42
Einkommensteuer
„Gesamtbetrag der Einkünfte“ (§ 2 III EStG) wird für drei Sozialzwecknormen verbraucht1. Die Struktur der Bemessungsgrundlage müsste verkürzt, vereinfacht und systematisch bereinigt werden, damit sie ihre Funktion, steuerliche Leistungsfähigkeit zu messen, konsequent zu erfüllen vermag2.
1.2 Disponibles Einkommen als Maßstab objektiver und subjektiver Leistungsfähigkeit 42
Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer hat die steuerliche Leistungsfähigkeit der natürlichen Person möglichst richtig zu messen und soll das für die Steuerzahlung disponible Einkommen möglichst richtig ausweisen. Das dualistische Konzept „Erwerbseinkommen ./. private Abzüge“ verwirklicht die beiden Aufgaben, die objektive und die subjektive Leistungsfähigkeit zu messen (s. bereits § 3 Rz. 72 ff.). Die „Summe der Einkünfte“ misst die objektive Leistungsfähigkeit. Sie beinhaltet im Idealfall die Gesamtheit des erwirtschafteten Einkommens. Gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit bedeutet hier, dass sich der Staat möglichst an allen erwirtschafteten Einkommen beteiligt (s. § 3 Rz. 40 ff.). Für die Steuerzahlung nicht disponibel ist der Teil der erwirtschafteten Bezüge (Erwerbsbezüge), der im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit ausgegeben werden muss. Daher mindern Erwerbsaufwendungen (Betriebsausgaben/Werbungskosten) die zu versteuernden Einkünfte. Es gilt das Prinzip der Reineinkünfte und der Berücksichtigung von Verlusten (sog. objektives Nettoprinzip, s. Rz. 54 f.). Private Abzüge berücksichtigen die subjektive, d.h. die durch die persönlichen Verhältnisse des Stpfl. begründete Leistungsfähigkeit. Für die Steuerzahlung nicht disponibel ist das, was der Stpfl. für seine eigene Existenz oder für die Existenz seiner Familie aufwenden muss. Daher müssen das Existenzminimum (s. Rz. 81 ff.) und Unterhaltsverpflichtungen (s. Rz. 88 ff.) die Bemessungsgrundlage mindern. Es gilt das Prinzip der Abziehbarkeit unvermeidbarer Privatausgaben (sog. privates oder subjektives Nettoprinzip, s. Rz. 70 ff.).
43
Die richtige Messung steuerlicher Leistungsfähigkeit ist wesentliche Voraussetzung für die Entscheidung des Gesetzgebers über die Steuerlast, die durch den Steuertarif getroffen wird. Der Steuertarif teilt dem Bürger die Steuerlast abhängig von der Höhe des zu versteuernden Einkommens zu. Diese Zuteilung wird verfälscht, wenn und soweit die Bemessungsgrundlage Faktoren steuerlicher Leistungsfähigkeit nicht oder realitätsfremd berücksichtigt oder wenn Sozialzwecknormen (z.B. Sonderabschreibungen) das Maß, das für alle Bürger gleich geeicht sein sollte, interventionistisch verändern. Normen der Bemessungsgrundlage wirken durch den progressiven Steuertarif auf die Steuerschuld unterschiedlich ein. Wenn die prozentuale Belastung infolge des progressiven Tarifs mit steigendem Einkommen zunimmt, so nimmt sie mit abnehmendem Einkommen degressiv ab. Diese sog. Degressionswirkung von Normen der Bemessungsgrundlage ist ein Reflex der progressiven Belastung bei zunehmendem Einkommen. Die Degressionswirkung ergibt sich aus dem sog. Grenzsteuersatz (prozentuale Belastung des zuletzt hinzuaddierten Euro des zu versteuernden Einkommens). Bei der Beurteilung der Degressionswirkung müssen Fiskalzwecke und Sozialzwecke streng auseinander gehalten werden. Dienen Normen der Bemessungsgrundlage dem Zweck, steuerliche Leistungsfähigkeit zu messen (Betriebsausgaben, Werbungskosten oder Unterhaltsverpflichtungen), so ergibt die Degressionswirkung den Betrag der Übermaß- oder Untermaßbelastung, wenn steuerliche Leistungsfähigkeit falsch gemessen wird. Diese Bedeutung der Degressionswirkung verkennen offenbar diejenigen, die behaupten, die Reichen hätten durch Unterhaltsabzüge, wie z.B. Kinderfreibeträge, einen größeren Steuervorteil oder eine größere Steuervergünstigung als andere, was sozial ungerecht sei. Nur bei Sozialzwecknormen kann eine solche Argumentation zutreffen. Ist eine Förderung wie z.B. die Wohneigentumsförderung an dem Bedürfnisprinzip auszurichten, so ist die Degressionswirkung, dass Stpfl. 1 Krit. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 65 ff. Vgl. auch Klein, Der Gesamtbetrag der Einkünfte, Diss., 1997. 2 Vgl. dazu pars pro toto Kölner EStGE u. P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, 2003; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, 359 ff.
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Grundelemente des § 2 EStG
Rz. 46
§8
mit geringem Einkommen weniger Steuersubventionen erhalten als Stpfl. mit hohem Einkommen, sachlich nicht zu rechtfertigen1.
1.3 Periodizität der Einkommensteuer und Jahressteuerprinzip (§ 2 VII EStG) Die Einkommensteuer erfasst nicht das Totaleinkommen einer natürlichen Person am Lebensende, sondern periodisch und sukzessiv das Jahreseinkommen. Die Einkommensteuer ist eine periodische Steuer in Gestalt einer Jahressteuer (§ 2 VII 1 EStG). Der in § 32a EStG bestimmte Tarif ist ein Jahrestarif. Das Jahressteuerprinzip (§ 2 VII 1 EStG) konkretisiert das sog. Periodizitätsprinzip2. Das Periodizitätsprinzip ist kein Wertungsprinzip, sondern ein technisches Prinzip, das die ideale Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einschränkt3, denn steuerliche Leistungsfähigkeit müsste idealiter nach dem Lebenseinkommen bemessen werden4. Indessen ist der Fiskus auf den sukzessiven Eingang von Steuern angewiesen. Da das Periodizitätsprinzip ein technisches Prinzip ist, können sich aus ihm unbillige Härten ergeben, die einen Billigkeitserlass erfordern (s. § 21 Rz. 329 ff.). Wenn die Advokaten einer abschnittsbezogenen Besteuerung meinen, die lebenszeitliche Betrachtung sei nicht mit Art. 3 I GG vereinbar, weil sie dem Stpfl. keine hinreichende Rechtssicherheit biete (z.B. Kube, DStR 2011, 1781 [1783, 1784]), verkennen sie, dass zwischen materiell-rechtlichen Belastungswirkungen und verfahrensrechtlicher Umsetzung zu unterscheiden ist. Niemand verlangt eine Steuerfestsetzung erst am Lebensende. Ebensowenig lässt sich das Abschnittsprinzip einem unbegrenzten Verlustvortrag entgegenhalten (ausf. Rz. 68); die zeitnahe gesonderte Feststellung des Verlustvortrags (§ 10d IV EStG) reduziert etwaige Unsicherheiten bezüglich des Bestehens eines Verlustvortrags.
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Entsprechend dem Jahressteuerprinzip ist das Kalenderjahr Ermittlungszeitraum für das zu versteuernde Einkommen (§ 2 VII 2 EStG). Besteht die unbeschränkte oder beschränkte Einkommensteuerpflicht wegen Geburt, Tod, Zuzug aus dem Ausland oder Wegzug in das Ausland nicht während eines ganzen Kalenderjahrs, so sind die während der beschränkten Steuerpflicht erzielten inländischen Einkünfte den während der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht erzielten Einkünften hinzuzurechnen (§ 2 VII 3 EStG).
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Von dem materiell-rechtlichen Ermittlungszeitraum ist der verfahrensrechtliche Veranlagungszeitraum zu unterscheiden. Veranlagungszeitraum ist kraft Legaldefinition in § 25 I EStG das Kalenderjahr.
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1 Dazu Wieland, FS Zeidler, 1987, 735 (Wohneigentumsförderung); Tipke, StRO I2, 343 (m. zahlr. N. in Fn. 369); Osterloh, DStJG 24 (2001), 402. 2 Dogmengeschichtlich basiert das Periodizitätsprinzip auf der Reinvermögenszugangstheorie (s. § 7 Rz. 30). Lit.: Schmidlin, Das Prinzip der Periodizität in der Gewinnbesteuerung, Diss., 1956; Gottschalk, Der Grundsatz der periodengerechten Gewinnabgrenzung im Steuerrecht, Diss., 1972; Schick, Der Verlustrücktrag, 1976, 12 ff.; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 186 ff.; Birtel, Die Zeit im Einkommensteuerrecht, 1985; P. Kirchhof, Gutachten zum 57. DJT, 1988, 75 ff.; Loritz, Einkommensteuerrecht, 1988, 48 ff.; Drüen, Periodengewinn u. Totalgewinn, Diss., 1999, 85 ff., 126 ff.; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (63 ff.); Tipke, StRO II2, 754 ff.; Dorenkamp, Nachgelagerte Besteuerung von Einkommen, Diss., 2004, 32 ff., 118 ff.; Eckhoff, DStJG 28 (2005), 11 (30 ff.); Wendt, DStJG 28 (2005), 41 (47 f., 68 f.); Kube, DStR 2011, 1781 (1783 ff.); Kirchhof/Kirchhof13, § 2 EStG Rz. 18 ff. 3 So Tipke, StuW 1971, 16; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (63 ff.); Tipke, StRO II2, 754 ff.; u. Wendt DStJG 28 (2005), 41 (47 f., 68 f.). A.A. P. Kirchhof, Gutachten zum 57. DJT, 1988, 75 ff.; P. Kirchhof, FS J. Lang, 2010, 451 (475 f.); Drüen, Periodengewinn u. Totalgewinn, Diss., 1999, 85 ff., 126 ff.; Eckhoff, DStJG 28 (2005), 11 (30 ff.); Kube, DStR 2011, 1781 (1784 f.): materielles Prinzip der Einkommensbesteuerung (zust. BFH/NV 2005, 1264); Drüen, FR 2014, 393 (400), hebt zu Recht hervor, dass die prinzipientheoretische Kontroverse zwischen Abschnitts- und Lebenseinkommensprinzip zur Lösung konkreter Rechtsfragen wenig beiträgt. Zur intertemporalen Neutralität s. § 3 Rz. 80 f. 4 Dazu insb. Hackmann, FinArch. 34 (1975), 1 ff.; Hackmann, Die Besteuerung des Lebenseinkommens, Ein Vergleich von Besteuerungsverfahren, Habil., 1979; Hackmann, StuW 1980, 318; Mitschke, StuW 1980, 122 ff.; Mitschke, StuW 1980, 252; Mitschke, StuW 1988, 111; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (63 ff.); J. Lang, FS Rose, 2003, 325 (333 ff.). A.A. D. Schneider, FS Bareis, 2005, 275 (284 ff.); s. auch § 3 Rz. 80.
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§8
Rz. 47
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Von dem Ermittlungszeitraum für das zu versteuernde Einkommen (§ 2 VII 2 EStG) sind schließlich noch die Einkünfte-Ermittlungszeiträume zu unterscheiden. § 2 VII 2 EStG regelt zwar grds. auch die Einkünfteermittlung. Jedoch kann insb. der Gewinnermittlungszeitraum vom Ermittlungszeitraum nach § 2 VII 2 EStG abweichen, so in den Fällen eines vom Kalenderjahr abweichenden Wirtschaftsjahrs (§ 4a EStG) und eines Rumpfwirtschaftsjahrs (§ 6 EStDV). In derartigen Fällen müssen die Einkünfte eines Einkünfte-Ermittlungszeitraumes entweder aufgeteilt (§ 4a II Nr. 1 EStG) oder dem Kalenderjahr, in dem das Wirtschaftsjahr endet, zugeordnet werden (§ 4a II Nr. 2 EStG). Kraft Verlustvortrags und -rücktrags (§ 10d EStG) können schließlich Verluste abgezogen werden, die vor bzw. nach dem Zeitraum i.S.d. §§ 2 VII 2; 25 I EStG ermittelt worden sind1.
Einkommensteuer
1.4 Periodischer Entstehungszeitpunkt der Einkommensteuer 48
Die Einkommensteuer entsteht jährlich mit Ablauf des Veranlagungszeitraums, sofern nichts anderes bestimmt ist (§ 36 I EStG). Vor Ablauf des Veranlagungszeitraums entstehen insb. EStVorauszahlungen (§ 37 I 2 EStG), die Lohnsteuer (§ 38 II 2 EStG) und die Kapitalertragsteuer (§ 44 I 2 EStG). Bei Ehegatten wird der Einkommensteuertatbestand materiell durch die Art der Veranlagung mitbestimmt (§§ 26 ff.; 32a V, VI EStG). Daher kann die Einkommensteuer von Ehegatten erst auf Grund des Einkommensteuerbescheids entstehen2.
2. Das Einkommensteuerobjekt: Summe der Einkünfte (§ 2 I-III EStG) 2.1 Zur rechtlichen Bestimmung des Steuerguts „Einkommen“ 2.1.1 Das Einkommen als zentraler Begriff des öffentlichen Schuldrechts 49
„Einkommen“ ist ein ursprünglich ökonomischer Begriff. Seine rechtliche Relevanz erhält er dadurch, dass mit dem Einkommen als Indikator wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit Pflichten und Rechte verknüpft werden. Einkommen ist ein zentraler Begriff des öffentlichen Schuldrechts3. Er ist relevant nicht nur für das Einkommensteuerrecht, sondern auch für das Sozialrecht4, Strafrecht5, Prozessrecht (einkommensabhängige Prozesskostenhilfe/Grenzen der Unpfändbarkeit) und für die Bemessung des Unterhalts nach § 1610 BGB. Die Einkommensbegriffe der vorgenannten Rechtsgebiete sind sehr unterschiedlich verfasst; innerhalb des Sozialrechts operieren die verschiedenen Sozialleistungsgesetze mit verschiedenen Einkommensbegriffen, knüpfen mit unterschiedlichen Modifikationen an den Einkommensbegriff des EStG an6. Die „Einheit der Rechtsordnung“ gebietet die rechtseinheitliche Bemessung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Bedürftigkeit sowohl im Verhältnis des Steuerrechts zum Sozialrecht (s. § 1 Rz. 41) als auch im Verhältnis des Steuerrechts zum Unterhaltsrecht (s. § 1 Rz. 46). Da die vorgenannten Rechtsgebiete einschließlich des Steuerrechts in die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit/Bedürftigkeit den Lebensbedarf miteinbeziehen, kommt rechtseinheitlich nur eine bedarfsorientierte Maßgröße in Betracht; der pure Rückgriff auf das Markteinkommen erfordert Modifikationen und führt zwangsläufig zur Zersplitterung der Einkommensbegriffe (s. § 1 Rz. 41; § 3 Rz. 72 ff.). 1 Dazu näher J. Lang, Bemessungsgrundlage, 342 ff. 2 Schmidt/Weber-Grellet33, § 2 EStG Rz. 69 (im Anschluss an FG Rheinl.-Pf. EFG 1985, 50). 3 Dazu Tipke, Das Einkommen als zentraler Begriff des öffentlichen Schuldrechts, JuS 1985, 345; Brandis, Einkommen als Rechtsbegriff, StuW 1987, 289; Burger, Der Einkommensbegriff im öffentlichen Schuldrecht, 1991. 4 Dazu Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993, 137 ff.; S. auch § 1 Rz. 41. 5 Dazu Brandis, Geldstrafe und Nettoeinkommen, Zugleich ein Beitrag zur Ausgestaltung eines Einkommensbegriffs im Öffentlichen Schuldrecht, Diss., 1987. 6 Dazu IFSt, Einkommensbegriffe und Einkommensermittlung in den Transfergesetzen, Brief Nr. 252 (1985); Pestke, Stbg. 1986, 276; Franz, StuW 1988, 17; Burger, VSSR 1991, 205; Wenner, DStJG 29 (2006), 73; Brandis, DStJG 29 (2006), 93.
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Das Einkommensteuerobjekt „Summe der Einkünfte“ erfasst das Einkommen im ökonomischen Sinne. Das Einkommensteuerobjekt hat sich zunächst unter den Einflüssen der Quellentheorie2 und der bereits in § 7 Rz. 30 f. behandelten Reinvermögenszugangstheorie entwickelt.
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Einkommensteuerobjekt: Summe der Einkünfte
2.1.2 Reinvermögenszugangs-, Quellen- und Markteinkommenstheorie1
Die Quellentheorie macht die Frage, ob etwas Einkommen ist, vom Vorhandensein einer ständig fließenden Einkommensquelle abhängig. Einkommen ist danach die „Gesamtheit der Sachgüter, welche in einer bestimmten Periode (Jahr) dem einzelnen als Erträge dauernder Quellen der Gütererzeugung zur Bestreitung der persönlichen Bedürfnisse für sich und für die auf den Bezug ihres Lebensunterhalts von ihm gesetzlich angewiesenen Personen (Familie) zur Verfügung stehen“3. Hingegen sollen Vermögensveränderungen „im Zustande einer Quelle, welche nicht in ihrer bestimmungsmäßigen Verwendung zur Ertragserzielung ihren Ursprung haben“, nicht zum Einkommen gehören4. Die Quellentheorie unterscheidet also im Wesentlichen zwischen den als Einkommen zu qualifizierenden laufenden Einkünften und den nicht zum Einkommen gehörenden Wertveränderungen im sog. Stammvermögen (Quellenvermögen) einschließlich der Wertrealisation durch Veräußerung. Demgegenüber erfasst die Reinvermögenszugangstheorie den gesamten periodischen Zuwachs an Gütern, die für die Befriedigung von Bedürfnissen geeignet sind (s. § 7 Rz. 30). Mit diesem weitgesteckten Anspruch hat sich die Reinvermögenszugangstheorie nicht durchgesetzt. Sie ist vielmehr auf das Markteinkommen zurückgeschnitten worden (s. § 7 Rz. 33). I.Ü. teilt der Dualismus der Gewinneinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 1 EStG) und Überschusseinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG) die Einflussphären von Reinvermögenszugangstheorie und Quellentheorie auf. Historisch sind die Gewinneinkünfte cum grano salis an der Reinvermögenszugangstheorie und die Überschusseinkünfte an der Quellentheorie ausgerichtet (s. Rz. 181 ff.). Demnach haben sich weder die Quellentheorie noch die Reinvermögenszugangstheorie als rechtsdogmatisches Konzept für alle Einkunftsarten durchsetzen können. Das Preuß. EStG v. 24.6.1891 folgte prinzipiell der Quellentheorie; ihr Hauptvertreter Fuisting hatte als Referent im Finanzministerium die Miquelsche Steuerreform maßgeblich mitgestaltet. Das Reichseinkommensteuergesetz v. 29.3.1920 lehnte sich an die von Schanzsche Reinvermögenszugangstheorie an. Von diesem Konzept wich das Reichseinkommensteuergesetz v. 10.8.1925 wieder ab; es begründete das Konzept des geltenden EStG, indem es acht Einkunftsarten abschließend aufzählte.
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Weder die Quellentheorie noch die Reinvermögenszugangstheorie liefern ein rechtsdogmatisch überzeugendes Konzept. Die Quellentheorie begründet einen zu engen Einkommensbegriff. Die Ausgrenzung der Wertveränderungen im sog. Stammvermögen ist mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip nicht zu vereinbaren. Hingegen lässt sich die Reinvermögenszugangstheorie rechtspraktisch nicht umsetzen (s. bereits § 7 Rz. 30). Das Einkommensteuerobjekt „Summe der Einkünfte“ erfasst nur das Erwerbseinkommen, d.h. die Gesamtheit der Einkünfte, die der Stpfl. durch eine mit Gewinnabsicht ausgeübte Erwerbstätigkeit erwirtschaftet hat. Erste Grundlagen zu dieser Konkretisierung des Einkommensteuerobjekts legte die RFH-/BFH-Rspr. zur Liebhaberei5. Die Dogmatik der Rspr. wurde mit Hilfe der sog. Markteinkommenstheorie6 weiterentwickelt. Diese Theorie leidet allerdings unter 1 Dazu Holmes, The Concept of Income, IBFD Publication, 2001; Tipke, StRO II2, 623 ff.; Elicker, Fortentwicklung der Theorie vom Einkommen, DStZ 2005, 564. 2 Grundl. Fuisting, Die Preußischen direkten Steuern, 4. Bd.: Grundzüge der Steuerlehre, 1902, 110, 147 ff.; s. zur Quellentheorie ferner Beiser, ÖStZ 2000, 390. 3 Fuisting, Die Preußischen direkten Steuern, 4. Bd., 1902, 110. 4 Fuisting, Die Preußischen direkten Steuern, 4. Bd., 1902, 147. 5 Dazu näher J. Lang, StuW 1981, 223; HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 375 ff. (2012). 6 Grundl. Ruppe, DStJG 1 (1978), 7; HHR/Hey, Einf. ESt Anm. 13 (2014), sowie verfassungsdogmatisch P. Kirchhof, Gutachten F zum 57. DJT, 1988, 16 f.; P. Kirchhof, DStJG 24 (2001), 9 (14 ff.) (zur Kritik s. § 7 Rz. 31). Im Weiteren J. Lang, StuW 1981, 223; J. Lang, DStJG 4 (1981), 54 f. (Rezeption des wirtschaftswissenschaftlich gebräuchlichen Begriffs „Markteinkommen“ in den juristischen Sprachgebrauch); J. Lang, Bemessungsgrundlage, 18 ff., 235 ff.; Wittmann, Das Markteinkommen, Diss., 1992; Wittmann, StuW 1993, 35; Kölner EStGE, Begr. Rz. 133 ff.
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dem Mangel, dass der Begriff „Markteinkommen“ nicht die Gesamtheit der steuerbaren Einkünfte abdeckt (s. bereits § 7 Rz. 31), da Einkünfte auch außerhalb des Marktes mit Gewinnabsicht erwirtschaftet werden können1. Richtigerweise ist statt von Markteinkommen von Erwerbseinkommen zu sprechen. Gleichwohl bestimmt die Markteinkommenstheorie die Einkünftedogmatik wie folgt: (1) Sie bestimmt zunächst die Steuerbarkeit der Einkünfte (s. Rz. 121 ff.), grenzt den Einkünftetatbestand zur Konsumsphäre, u.a. zu den Liebhabereieinkünften (s. Rz. 133) und auch zum Tatbestand der Erbschaft- und Schenkungsteuer ab, indem Erbschaften und Schenkungen ausgeschieden werden (s. Rz. 124). Im Weiteren zieht die Markteinkommenstheorie im dualen Aufbau der Bemessungsgrundlage (s. Rz. 41 f.) die Grenze zur Stufe subjektiver Leistungsfähigkeit. Unterhaltsbezüge und staatliche Transferleistungen sind nicht erwirtschaftet. Sie sollten de lege ferenda auf der Stufe subjektiver Leistungsfähigkeit in einem Familienrealsplitting (s. Rz. 103 f.) bzw. bei der Regelung des existenznotwendigen Lebensbedarfs (s. Rz. 87) angesetzt werden. (2) Nach der Markteinkommenstheorie sind die Einkünfte demjenigen persönlich zuzurechnen, der den Tatbestand der Einkünfteerzielung erfüllt, der sie erwirtschaftet hat (s. Rz. 150 ff.). (3) Bei der Ermittlung von Einkünften sind Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen zu bestimmen, indem sie kausalrechtlich einer bestimmten Erwerbstätigkeit zugeordnet werden (s. Rz. 206 ff.). (4) Schließlich sind nur die realisierten Einkünfte zu versteuern. Das Realisationsprinzip (s. § 9 Rz. 89, 400 ff.) ist markteinkommenstheoretisch fundiert (s. bereits § 7 Rz. 33).
2.1.3 Pragmatische Legaldefinition des Einkommens durch den Einkünftekatalog 53
Da den Gesetzgeber weder die Quellentheorie noch die Reinvermögenszugangstheorie überzeugten, bestimmte er das Einkommensteuerobjekt pragmatisch2. Nach § 2 I 1 EStG unterliegen der Einkommensteuer 1.
Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft,
2.
Einkünfte aus Gewerbebetrieb,
3.
Einkünfte aus selbständiger Arbeit,
4.
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit,
5.
Einkünfte aus Kapitalvermögen,
6.
Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung,
7.
sonstige Einkünfte (nur) i.S.d. § 22 EStG,
# ± ± ± ± ± ± $ ± ± ± ± ± ± ! # ± ± ± ± ± ± ± ± ± $ ± ± ± ± ± ± ± ± ± !
Gewinneinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 1 EStG)
Überschusseinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG)
die der Stpfl. erzielt (= erwirtschaftet).
2.2 Bestimmung der Einkünfte nach dem objektiven Nettoprinzip 54
Nach § 2 II EStG unterliegen der Einkommensteuer nur Reineinkünfte, nämlich 1. bei den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb und selbständiger Arbeit der Gewinn (§§ 4–7k; 13a EStG), das sind die sog. Gewinneinkünfte, und 1 Deshalb wurde in § 2 I Kölner EStGE auf markteinkommenstheoretische Merkmale verzichtet (vgl. Kölner EStGE, Begr. Rz. 145 f.). Anders P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, 2003, § 2 II (Einkünfte des Stpfl. „aus Erwerbshandeln“), III 2 („Erwerbshandeln ist die Nutzung von Arbeitskraft und von Erwerbsgrundlagen zur Erzielung von Einkünften am Markt“); P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 43 Rz. 8 („am allgemeinen Markt erwirtschaftetes Einkommen“). 2 Begr. zuletzt in BT-Drucks. 7/1470, 211: „Der vorliegende Entwurf macht sich – ebensowenig wie frühere Einkommensteuergesetze – keine der zahlreichen Lehrmeinungen zum Begriff des Einkommens zu eigen, sondern umgrenzt den Einkommensbegriff wie bisher pragmatisch allein für die Zwecke der Besteuerung als Ergebnis ganz bestimmter, mit den gegenwärtigen Einkunftsarten übereinstimmender Einkünfte“.
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2. bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung sowie sonstigen Einkünften i.S.d. § 22 EStG der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten (§§ 8–9a EStG), das sind die sog. Überschusseinkünfte. Die Definition der Einkünfte in § 2 II EStG als Rein- oder Nettoeinkünfte positiviert das objektive Nettoprinzip1. Ausdruck steuerlicher Leistungsfähigkeit sind niemals nur die erwirtschafteten Vermögenszugänge; steuerlich belastbar ist vielmehr nur das wirtschaftliche Ergebnis einer Erwerbstätigkeit. In diesem Sinne sind Einkünfte Unterschiedsbeträge zwischen Erwerbsbezügen und Erwerbsaufwendungen (s. Rz. 205 ff.). Das objektive Nettoprinzip gebietet die uneingeschränkte Berücksichtigung der Erwerbsaufwendungen, folglich auch der Verluste (s. Rz. 60 ff.). Auch zur Erreichung wirtschaftswissenschaftlich formulierter Neutralitätspostulate ist das objektive Nettoprinzip unerlässlich2. 1988 hat der Deutsche Juristentag beschlossen: „Das Nettoprinzip gehört zu den identitätskonstituierenden Merkmalen der Einkommensteuer. Als solches steht es nicht zur Disposition des Gesetzgebers“ (Sitzungsbericht N, 1988, 214). Der Deutsche Juristentag 2006 bekräfigte und verteidigte das Nettoprinzip auch gegen den internationalen Steuerwettbewerb und die Tendenz zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlagen: Steuerbar sei „nur das für die Steuerzahlung disponible Einkommen. Danach sind existenzsichernde und erwerbssichernde Aufwendungen aus der Bemessungsgrundlage auszuscheiden. Einschränkungen sind auch nicht durch Absenkungen des Steuersatzes zu rechtfertigen“ (Sitzungsbericht Q, 2006, 168).
Das BVerfG hat die Frage nach dem Verfassungsrang des objektiven Nettoprinzips bisher offen gelassen3. Es bewertet das objektive Nettoprinzip als gesetzgeberische Grundentscheidung, die nach dem gleichheitsrechtlichen Folgerichtigkeitsgebot (s. § 3 Rz. 118 ff.) zu verwirklichen ist. Ausnahmen von der folgerichtigen Umsetzung der mit dem objektiven Nettoprinzip getroffenen Belastungsentscheidung bedürfen eines besonderen, sachlich rechtfertigenden Grundes4; sie müssen folgerichtig ausgestaltet und zur Zweckerreichung geeignet, erforderlich und angemessen sein (Verhältnismäßigkeitskontrolle). Anerkannte Rechtfertigungsgründe sind neben Vereinfachungszwecken insb. außerfiskalische Förderungs- und Lenkungsziele aus Gründen des Gemeinwohls (s. § 3 Rz. 131). So kann z.B. ein Steuerabzugsverbot umweltpolitisch gerechtfertigt werden. Nicht entschieden hat das BVerfG bisher, ob der Einkommensteuergesetzgeber berechtigt wäre, im Rahmen eines Systemwechsels (s. hierzu § 3 Rz. 120) von einer Netto- zu einer Bruttoeinkommensteuer überzugehen. Diese Frage stellt sich insb. im Hinblick auf die Bruttobesteuerung durch die Abgeltungsteuer (§ 20 IX EStG, s. Rz. 494)5. Ein solcher Systemwechsel wäre m.E. nicht zulässig, weil sachgerechter Maßstab zur Messung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit nur das Nettoeinkommen sein kann. Das objektive Nettoprinzip ist nicht 1 Dazu Ruppe, DStJG 3 (1980), 103 (105 ff., 144 ff.); Söhn, DStJG 3 (1980), 13 (18); J. Lang, StuW 1985, 16; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 60 ff., 183 ff.; Arndt/Schumacher, AöR 118 (1993), 513 (520 ff.); Uelner, FS Schmidt, 1993, 21 (25); Klein, DStZ 1995, 630; Knepper, FS Haas, 1996, 201; Wolff-Diepenbrock, DStZ 1999, 717; Tipke, StRO II2, 762 ff.; Jachmann, DFGT 2 (2005), 59; Loschelder, DFGT 2 (2005), 185 ff. (steuerpolitische Vorschläge); Wendt, Prinzipien der Verlustberücksichtigung, DStJG 28 (2005), 41 (50 ff.); Bergkemper, StuW 2006, 311; Drenseck, FR 2006, 1; Tipke, FS Raupach, 2006, 177; J. Lang, StuW 2007, 3; Tipke, BB 2007, 1525; Drüen, StuW 2008, 3; Tipke, DB 2008, 263; Lehner, DStR 2009, 185; 2. Steuerwissenschaftliches Symposium im BFH, Beihefter zu DStR 2009, Heft 34 mit Beiträgen von Paetsch u.a. (Tagungsbericht), Schneider u. Englisch (verfassungsrechtliche Herleitung), Wernsmann u. Görke (Umsetzung im EStG), Hey u. Heger (Geltung in KStG/GewStG), Reimer (EU-/DBA-Recht), Jachmann (Gestaltungsgrenze der Steuerpolitik); Frye, FR 2010, 603; Schaumburg, FS J. Lang, 2010, 1099 (Nettoprinzip im Internationalen Steuerrecht); Seiler, DStJG 34 (2011), 61; Staringer, DStJG 37 (2014), 137. 2 Hierzu F.W. Wagner, Warum haben Ökonomen das objektive Nettoprinzip erfunden, aber nicht erforscht?, StuW 2010, 24. 3 Zuletzt BVerfGE 122, 210 (234); 126, 268 (280). Zur Rspr. des BVerfG zum objektiven Nettoprinzip insb. Jachmann, DFGT 2 (2005), 59 (62 ff.); J. Lang, StuW 2007, 3 (4 f.); Lehner, DStR 2009, 185; Tipke, JZ 2009, 533; Breinersdorfer, DStR 2010, 2492; Hennrichs, FS J. Lang, 2010, 237. 4 BVerfGE 99, 280 (290); 107, 27 (48); 122, 210 (235); 126, 268 (280). 5 Verfassungsmäßigkeit grds. bejahend Jachmann, DStJG 34 (2011), 251 (258 ff.).
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disponibel!1 Andernfalls würde die Einkommensteuer in die Nähe einer Umsatzsteuer gerückt (freilich ohne Vorsteuerabzug und mit progressivem Steuertarif). Nachdrücklich weist BVerfGE 122, 210 (233) die rein fiskalisch begründete Durchbrechung der gesetzgeberischen Grundentscheidung für das objektive Nettoprinzip zurück (s. auch § 3 Rz. 130): Der „rein fiskalische Zweck staatlicher Einnahmenerhöhung“ rechtfertige keine Ausnahme von der gesetzgeberischen Grundentscheidung. Dem Ziel der Einnahmenvermehrung diene „jede, auch eine willkürliche steuerliche Mehrbelastung“ (Tz. 69). Gestaltungsspielräume bestehen am ehesten dort, wo es um den Abzug privat mitveranlasster gemischter Aufwendungen geht und der Gesetzgeber sich zur Vermeidung von Einzelfallabgrenzungen der gesetzlichen Typisierung bedient. Man kann die privat mitveranlassten Aufwendungen (s. Rz. 239 ff.) als „Achillesferse“ des objektiven Nettoprinzips bezeichnen2. P. Kirchhof empfiehlt sogar, gemischt veranlasste Aufwendungen ganz vom Steuerabzug auszuschließen3. Freilich kann der Umstand privater Mitveranlassung das Nettoprinzip nicht vollständig außer Kraft setzen, sondern erlaubt Einschränkungen nur dort, wo dies zur Erreichung eines gleichheitsgerechten Gesamtvollzugs erforderlich ist (allgemein zu Zulässigkeit und Grenzen von Vereinfachungszwecknormen s. § 3 Rz. 23 f.). Auch muss der Vereinfachungszweck folgerichtig umgesetzt sein. Die bloße Behauptung von Vereinfachung zur Verschleierung fiskalischer Interessen lässt das BVerfG nicht gelten. Deshalb war sowohl die Einschränkung der Entfernungspauschale (BVerfGE 122, 210) als auch der Aufwendungen für das häusliche Arbeitszimmer (BVerfGE 126, 268) verfassungswidrig. Auch der fortgesetze Widerstand des Gesetzgebers, dem objektiven Nettoprinzip im Bereich der Bildungsaufwendungen Rechnung zu tragen (s. §§ 4 IX; 9 VI EStG; dazu Rz. 263 ff.), schielt lediglich auf die Haushaltswirkungen. Derartigen Aufwand zu verhindern, kann dagegen wohl nicht Ziel einer „Bildungsrepublik“ sein. Im Wettbewerb der Steuersysteme geht es ohnehin längst nicht mehr nur um Einschränkungen des Abzugs gemischt veranlasster Aufwendungen, sondern der Gesetzgeber beschneidet auch die Abzugsmöglichkeiten ausschließlich und eindeutig erwerbswirtschaftlich veranlasster Aufwendungen. Von rüdem Fiskalismus zeugen die Verlustverrechnungsbeschränkungen der Mindestgewinnbesteuerung des § 10d II EStG oder der Verlustuntergang bei Anteilseignerwechsel (§ 8c KStG, s. hierzu § 11 Rz. 58) sowie die Bruttobesteuerung durch Aufwendungsabzugsund Verlustverrechnungsverbote im Bereich der Abgeltungsteuer (§ 20 VI u. IV EStG). Das Ziel der Gegenfinanzierung niedriger Steuersätze durch Verbreiterung der Bemessungsgrundlagen (s. hierzu J. Lang, StuW 2007, 3 [7 f.]) ist reines Fiskalinteresse. Die Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips lässt sich auf diese Weise nicht rechtfertigen.
2.3 Ermittlung der Einkünfte nach dem Nominalwertprinzip 56
Die Ermittlung der Einkünfte ist eine Geldrechnung. Systemtragendes Prinzip der Geldordnung ist das Nominalwertprinzip (Grundsatz: 1 Euro = 1 Euro). Dieses Geldordnungsprinzip kollidiert insofern mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip, als dieses ein Realwertprinzip ist (s. § 3 Rz. 65). Es verlangt, dass die Einkünfteermittlung die wirkliche Leistungsfähigkeit erfasst, was durch die Nominalwertrechnung nur bei absoluter Geldwertstabilität gewährleistet ist. Geldentwertung verfälscht die Euro-Rechnungsgrößen und damit auch die Maßgrößen steuerlicher Leistungsfähigkeit4: Nominelle Vermögenswertsteigerungen bewirken bei der Veräußerung 1 H.M. im Schrifttum, vgl. z.B. Englisch, Beihefter zu DStR 2009, Heft 34, 92 (92 f. m.w.N.); Lehner, DStR 2009, 185 (189 ff.); Frye, FR 2010, 603; Eckhoff, FS Steiner, 2009, 118 (129); zurückhaltender Seiler, DStJG 34 (2011), 61 (66 f.). 2 S. J. Lang, 20. Aufl., § 9 Rz. 55; dazu G. Kirchhof, FS J. Lang, 2010, 451 (463 ff.). 3 P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 45 Satz 2 BStGB, Begr. 417 ff. 4 Zu diesem Thema insb. IFA-Kongress 1977: Inflation und Besteuerung, Cahiers de droit fiscal international, Vol. XIIa, 1977; F.W. Wagner, Kapitalerhaltung, Geldentwertung und Gewinnbesteuerung, 1978; Gurtner, Inflation, Nominalwertprinzip und Einkommensteuerrecht unter besonderer Berücksichtigung des Gewinnsteuerrechts, 1980; Pohmer, FS Brandt, 1983, 383; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 176 ff.; Rose, StuW 1985, 342 f. (m.w.N. der betriebswirtschaftl. Lit.); P. Kirchhof, Gutachten
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Scheingewinne, d.h. der Nominalgewinn ist nur zum Teil Realgewinn oder er verdeckt gar einen Realverlust1. Demgegenüber entstehen auf der Schuldnerseite Realgewinne, die eine Nominalwertrechnung nicht erfasst. Besonders steuergünstig ist die hohe Fremdfinanzierung von Immobilien in Inflationszeiten. Die Rückzahlung der Kredite ist mit nicht besteuerten Realgewinnen verknüpft, und die Immobilien-Wertsteigerungen werden bei Veräußerung außerhalb der Frist nach § 23 I 1 Nr. 1 EStG ebenfalls nicht besteuert. Bilanzierende Unternehmer können durch Fremdfinanzierung von Investitionen die Scheingewinne auf der Aktivseite mit nominell nicht erfassten Realgewinnen auf der Passivseite ausgleichen. Die Ermittlung der Einkünfte nach dem Nominalwertprinzip rechtfertigt BVerfGE 50, 752, hauptsächlich steuertechnisch und währungspolitisch: Die Inflationsbereinigung der Einkünfteermittlung durch Verwendung von Indexwerten sei unter Praktikabilitätsgesichtspunkten abzulehnen und habe unabsehbare Auswirkungen auf das gesamte Wirtschaftssystem. In der Tat lässt sich – dies legen die Erfahrungen in südamerikanischen Staaten nahe – nicht ausschließen, dass Indexierungen der bilanziellen Rechnungslegung die Inflation beschleunigen. Jedoch gibt es nach heutiger Erkenntnis relativ einfache Methoden der Eliminierung von Scheingewinnen wie die Aufstockung der historischen Anschaffungs-/Herstellungskosten. Jedenfalls kann bei einer umfassenden Einkommensteuerreform, die sämtliche Veräußerungseinkünfte in die Besteuerung einbezieht, von einer Inflationsbereinigung nicht abgesehen werden3.
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2.4 Zeitliche Zuordnung der Einkünfte Einkünfte müssen dem in Rz. 45 dargelegten Ermittlungszeitraum (§ 2 VII 2 EStG) zugeordnet werden. Dabei sind zwei Systeme zeitlicher Zuordnung zu unterscheiden: – Grds. gilt das in § 11 EStG verankerte System der Vereinnahmung und Verausgabung. Dieses System ist beherrscht vom Zuflussprinzip und vom Abflussprinzip. Danach kommt es grds. auf das Zufließen (Erlangen der wirtschaftlichen Verfügungsmacht über Wirtschaftsgüter) und Abfließen von Wirtschaftsgütern (Verlust der wirtschaftlichen Verfügungsmacht über Wirtschaftsgüter) an4. Hierfür werden die Begriffe „Einnahmen“ und „Ausgaben“ verwendet. Die Beschränkung der Rechnungslegung auf „Einnahmen“ und „Ausgaben“ nach dem Prinzip der Kassenrechnung ist nicht nur technisch einfach. Eine Zahlungsstrom-Rechnung (sog. Cash Flow) weist auch die Liquidität zur Steuerzahlung am besten aus. Nachteilhaft ist, dass das System der Vereinnahmung und Verausgabung Zahlungsstrom-Schwankungen nicht auffangen kann. Dadurch kann das Periodizitätsprinzip zu Härten führen. Deshalb sind die Einnahmen-/Ausgaben-Rechnungen (sog. Überschussrechnungen) des EStG keine reinen Zahlungsstrom-Rechnungen. Insb. sind Anschaffungs- und Herstellungskosten für Wirtschaftsgüter nicht im Zeitpunkt der Verausgabung abzusetzen (vgl. §§ 4 III 3, 4; 9 I 3 Nr. 6 Satz 2, Nr. 7 EStG). Weitere Ausnahmen regelt § 11 I 2 u. 3, II 2 u. 3 EStG.
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zum 57. DJT, 1988, 37 f.; Läufer u. Reiner, Inflationssteuer, DStZ 1999, 764 ff., 810 ff.; Tipke, StRO I2, 2000, 512 ff. (Leistungsfähigkeitsprinzip und Inflation); Maurer, WISU 2009, 979 ff.; Kleinmanns, Besteuerung inflationärer Scheingewinne im System des deutschen Einkommensteuerrechts und ihre verfassungsrechtliche Rechtfertigung, Diss., 2009; Weber, Inflationsberücksichtigung in der Einkommensteuer, Diss., 2012; HHR/Hey, Einf. ESt Anm. 47 (2014). Zur Gewinnermittlung nach dem Nominalwertprinzip F.W. Wagner, Kapitalerhaltung, Geldentwertung und Gewinnbesteuerung, Habil., 1978; Gurtner, Inflation, Nominalwertprinzip und Einkommensteuerrecht unter besonderer Berücksichtigung des Gewinnsteuerrechts, 1980; Esser, Ertragsbesteuerung und Geldentwertung – das Problem des „Scheingewinns“, IFSt-Schrift Nr. 374 (1999); Seicht, FS Fischer, 1999, 207; Weber, Inflationsberücksichtigung in der Einkommensteuer, Diss., 2012. Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 177 f.; Arndt/Schumacher, AöR 118 (1993), 542 ff.; Tipke, StRO I2, 2000, 459 f. (dort Fn. 173: Literatur vor 1978). Dazu Eggesiecker/Ellerbeck, Scheingewinneliminierung als notwendige Bedingung einer rationalen Einkommensteuerreform, DB 2004, 839; Weber, Inflationsberücksichtigung in der Einkommensteuer, Diss., 2012, 83–155; s. auch § 28 I Kölner EStGE. Dazu ausf. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 275 ff., 290 ff., 298 ff., 320 ff.; vgl. auch Giloy, Zum Zeitpunkt der steuerlichen Erfassung von Einnahmen u. Ausgaben als technisches u. wertendes Prinzip, GS Trzaskalik, 2005, 311.
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§8
Rz. 59
Einkommensteuer
Überschusseinkünfte werden ausnahmslos durch Überschussrechnung (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG: Einnahmen-/Werbungskosten-Überschussrechnung, s. Rz. 350 ff.), Gewinneinkünfte ausnahmsweise durch Überschussrechnung (§ 4 III EStG, s. § 9 Rz. 550 ff.) ermittelt (s. zunächst Rz. 191 ff.). 59
– Demgegenüber haben Bilanzierungspflichtige und freiwillig bilanzierende Unternehmer auch für die Besteuerung Bücher zu führen und Jahresabschlüsse (§ 242 III HGB: Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung) zu erstellen. Sie haben einen Betriebsvermögensvergleich (§§ 4 I; 5 EStG) durchzuführen (s. § 9 Rz. 12 ff.). Die im Prinzip noch für den Betriebsvermögensvergleich nach § 5 I 1 EStG maßgeblichen (s. § 9 Rz. 40 ff.) handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (s. § 9 Rz. 66 ff.) sorgen dafür, dass die Ergebnisse des Wirtschaftens periodengerecht nach ihrer wirtschaftlichen Verursachung zugeordnet werden. Das Zu- und Abflussprinzip gilt nicht (§ 252 I Nr. 5 HGB). Die einzelnen Perioden stehen nicht separat da. Durch Bilanz-, Bewertungs- und Unternehmenskontinuität ist für Anschluss gesorgt. Zahlungsstrom-Schwankungen und Härten des Periodizitätsprinzips werden ausgeglichen.
2.5 Verluste Literatur: Schulze-Osterloh, Gute Verluste – Böse Verluste, Ausschluß und Beschränkung des Verlustausgleichs und -abzugs, JbFSt. 1984/85, 267; Kröner, Verrechnungsbeschränkte Verluste im Ertragsteuerrecht, Diss., 1986; Buchheister, Ist die steuerliche Berücksichtigung von Verlusten ein notwendiger Bestandteil des Einkommensteuerrechts?, DStZ 1997, 556; Wollseiffen, Steuerplanung bei Verlusten, Diss., 1998; Herzig/Briesemeister, Systematische und grundsätzliche Anmerkungen zur Einschränkung der steuerlichen Verlustnutzung, DStR 1999, 1377; Roser/Tesch, Verlustnutzung im internationalen Vergleich, IStR 1999, 385; Haarmann, Die Einschränkung der Berücksichtigung von Verlusten im Einkommensteuerrecht, Stbg. 2001, 145; Stapperfend, Verluste im Einkommensteuerrecht, DStJG 24 (2001), 329; Reil, Leistungs- und Verlustfähigkeit, Diss., 2003; Lehner, Verluste im nationalen und internationalen Recht, 2004; von Groll (Hrsg.), Verluste im Steuerrecht, DStJG 28 (2005); Prechtl, Verlustausgleichsbeschränkungen im Einkommensteuerrecht, Wien 2005; Eisgruber, Aktuelle Fragen der Verlustnutzung im Unternehmensbereich, DStZ 2007, 630; Dorenkamp, Systemgerechte Neuordnung der Verlustverrechnung – Haushaltsverträglicher Ausstieg aus der Mindestbesteuerung, IFSt-Schrift 461 (2010); Lüdicke, Der Verlust im Steuerrecht, JbFfSt 2010/2011, 11 u. DStZ 2010, 434; Lüdicke/Kempf/Brink, Verluste im Steuerrecht, 2010; Röder, Das System der Verlustverrechnung im deutschen Steuerrecht, Diss., 2010; Kube, Die intertemporale Verlustverrechnung, DStR 2011, 1781 u. 1829; BT-Drucks 17/4653: Verlustverrechnung und Mindestbesteuerung in der Unternehmensbesteuerung; BMF, Bericht der Facharbeitsgruppe „Verlustverrechnung und Gruppenbesteuerung“, 2011 (zu Reformmöglichkeiten); Berliner Steuergespräche zu Einschränkungen der Verlustverrechnung, FR 2011, 733–759 (Beiträge von Dorenkamp, Rennings, Desens, Wassermeyer); Seewald, Der Verlust als Gegenstand der Steuerpolitik aus Sicht der steuerberatenden Berufe, in FS Spindler, 2011, 775; Wiss. Beirat Steuern Ernst & Young, Notwendige Reform der Verlustverrechnung, DB 2012, 1706; Heuermann, System- und Prinzipienfragen beim Verlustabzug, FR 2012, 435; Drüen, Verfassungsrechtliche Positionen zur Mindestbesteuerung, FR 2013, 393; Bareis, Ist die Mindestbesteuerung verfassungsgemäß?, DB 2013, 144. Ausland/Rechtsvergleichend: Lindinger in FS Ruppe, Wien 2007, 433 (österreichisch-verfassungsrechtliche Sicht); Mörtl/Oberhuber in FS Rödler, 2010, 649; Jansen, IWB 2012, 162 (Frankreich).
2.5.1 Verlustausgleich und Verlustabzug (Verlustrücktrag/-vortrag) 60
Nach dem objektiven Nettoprinzip haben Verluste die Bemessungsgrundlage zu mindern. Verluste sind Bilanzverluste, Überschüsse der Betriebsausgaben über die Betriebseinnahmen (vgl. § 4 III 1 EStG) und Überschüsse der Werbungskosten über die Einnahmen (vgl. § 2 II 1 Nr. 2 EStG). Der Verlustbegriff ist in der Terminologie des EStG unzulänglich eingebettet. Allgemein definiert sind Verluste negative Einkünfte, nämlich Überschüsse der Erwerbsaufwendungen über die Erwerbsbezüge.
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In der „Summe der Einkünfte“ (§ 2 I–III EStG) sind zunächst positive und negative Einkünfte zu saldieren. Die Saldierung der negativen mit den positiven Einkünften innerhalb der Steuer300
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Einkommensteuerobjekt: Summe der Einkünfte
Rz. 63
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periode des Kalenderjahrs (s. Rz. 44 ff.) heißt Verlustausgleich. Zu unterscheiden sind horizontaler Verlustausgleich (Verrechnung von negativen und positiven Einkünften innerhalb einer Einkunftsart) und vertikaler Verlustausgleich (Verrechnung von negativen und positiven Einkünften aus verschiedenen Einkunftsarten). Der Verlustausgleich ist keine Steuervergünstigung, sondern ein Akt richtiger Leistungfähigkeitsbemessung nach dem objektiven Nettoprinzip! Wird der Verlustausgleich eingeschränkt, so muss die Durchbrechung des Nettoprinzips überzeugend gerechtfertigt werden (s. Rz. 68). Systemimmanent und damit nicht gesondert rechtfertigungsbedürftig sind Einschränkungen des Verlustausgleichs dagegen im Rahmen einer Schedulenbesteuerung zwischen unterschiedlich tarifierten Schedulen1. Verluste aus einer niedrig besteuerten Schedule können nicht ohne weiteres mit positiven Einkünfte einer höher besteuerten Schedule verrechnet werden. Dem entspricht für die Abgeltungsteuer § 20 VI 2 EStG. Durch das Nettoprinzip geboten ist auch der Verlustabzug2, der die Verlustverrechnung überperiodisch fortführt, und zwar zunächst durch Verlustrücktrag indem negative Einkünfte, die bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte (§ 2 III EStG) nicht ausgeglichen werden können (Vorrang des Verlustausgleichs vor dem Verlustabzug!), in dem unmittelbar vorangegangenen Veranlagungszeitraum abzuziehen sind (§ 10d I 1 EStG). Soweit negative Einkünfte weder durch Verlustausgleich noch durch Verlustrücktrag verrechnet wurden, sind sie durch Verlustvortrag zeitlich unbegrenzt in den folgenden Veranlagungszeiträumen vom Gesamtbetrag der Einkünfte abzuziehen. Der Verlustabzug stellt keine Wirtschaftssubvention dar. Die Regelung überperiodischer Verlustverrechnung ist ebenso wie die des Verlustausgleichs Fiskalzwecknorm, die der Gesetzgeber nicht beliebig verändern kann: Das technische Prinzip der Periodizität (s. Rz. 44 ff.) muss durch den überperiodischen Verlustabzug eingeschränkt werden, um die Verwirklichung des objektiven Nettoprinzips nicht abzuschneiden3.
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Verlustabzugsberechtigung: Der Verlustabzug steht grds. nur demjenigen Stpfl. zu, der den Verlust erlitten und ihn wirtschaftlich getragen hat4. Daher ist der Verlustabzug rechtsgeschäftlich nicht disponsibel und übertragbar. Ein nicht ausgenutzter Verlustabzug geht nur dann auf den Rechtsnachfolger über, wenn dies ausdrücklich gesetzlich angeordnet ist5. Innerhalb des BFH war umstritten, ob der Erbe Verluste des Erblassers abziehen kann6. BFH GrS BStBl. 2008, 6087, hat den Streit gegen die Vererblichkeit des Verlustes entschieden, weil der Stpfl. nach dem Grundsatz der Individualbesteuerung (s. Rz. 22) Verluste eines Dritten nicht abzie-
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1 Wendt, DStJG 28 (2005), 41 (43). 2 Dazu von Groll, FS Haas, 1996, 149; Eckhoff, DStJG 28 (2005), 11 (27 ff.); Wendt, DStJG 28 (2005), 41 (47 f.): Intertemporaler Verlustabzug zur Sicherung der Leistungsfähigkeitsbesteuerung bei periodisierter Besteuerung, 68 f.: Beschränkung der intertemporalen Verlustberücksichtigung); Röder, System der Verlustverrechnung, 230 ff.; eher restriktiv Kube, DStR 2011, 1781; KSM/Heuermann, § 10d EStG (2012). 3 So insb. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 188 ff.; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (63 ff.); Tipke, StRO II2, 2003, 759 ff.; Wendt, DStJG 28 (2005), 41 (47 f.); KSM/Heuermann, § 10d EStG Rz. A 11 (2012), der dem Periodenprinzip gleichwohl auch materielle Bedeutung beimisst. Restriktiver wird die Notwendigkeit des Verlustvortrags regelmäßig dann gesehen, wenn der Jährlichkeit materiell-rechtliche Bedeutung beigemessen wird, vgl. Drüen, Periodengewinn und Totalgewinn, Diss., 1999, 90; P. Kirchhof, Steuergesetzbuch, 2003, § 50 Rz. 4; Eckhoff, DStJG 28 (2005), 11 (30 ff.); Kube, DStR 2011, 1781 (1785 ff.). 4 RFH RStBl. 1936, 790; 1941, 658; BFH BStBl. 1962, 386; 1972, 621; 1973, 679; 1980, 188; 1987, 308; 1987, 310; 1992, 432; 1999, 653; BMF BStBl. I 2002, 667. Ausf. zur Verlustabzugsberechtigung KSM/ Heuermann, § 10d EStG Rz. A 112, A 180 (2012); Röder, System der Verlustverrechnung, 283–313; bei Zusammenveranlagung s. Moog, DStR 2010, 1122. 5 BFH/NV 2011, 1194. 6 Vererblichkeit des Verlusts bejaht insb. BFH BStBl. 1972, 621; 2002, 487; 2004, 414; BFH/NV 2004, 331. Verneinend hingegen BFH BStBl. 2000, 622; 2004, 400, sowie Vorlagebeschluss des XI. Senats v. 28.7.2004, BStBl. 2005, 262 (dazu Rudisch, DB 2006, 976; Strnad, BB 2006, 1774). 7 Dazu BMF BStBl. I 2008, 809; Bilsdorfer, SteuerStud 2008, 355; Birnbaum, DB 2008, 778; Dötsch, DStR 2008, 641; Feick/Henn, DStR 2008, 1905; P. Fischer, NWB 2008 Fach 3, 15045; Hallerbach, StuB 2008, 353; Wälzholz, DStR 2008, 1769; Witt, BB 2008, 1199; Rauch/Haug, SteuK 2011, 382 (Schlussfolgerungen für andere Verlustverrechnungskonstellationen). Zur gegenteiligen Position des österreichischen VwGH s. Stückler, ÖStZ 2013, 487 u. 513.
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Einkommensteuer
hen könne (BStBl. 2008, 612)1. Nicht sachgerecht ist das Abschneiden des Verlustvortrags des Erblassers, soweit die verlustverursachenden Aufwendungen stille Reserven finanziert haben, die gem. § 6 III EStG auf den Erben übergehen und von diesem versteuert werden müssen. 64
Durchführung des Verlustabzuges: Die negativen Einkünfte sind nach dem Gesamtbetrag der Einkünfte und „vorrangig vor Sonderausgaben2, außergewöhnlichen Belastungen und sonstigen Abzugsbeträgen“ abzuziehen (§ 10d I 1, II 1 EStG), und zwar zuerst durch Verlustrücktrag (§ 10d I 1 EStG), sodann durch Verlustvortrag (§ 10d II 1 EStG). Bei dem Verlustrücktrag wird der Gesamtbetrag der Einkünfte des unmittelbar vorangegangenen VZ um die Begünstigungsbeträge nach § 34a III 1 EStG (s. Rz. 832) gemindert. Der Stpfl. kann auf den Verlustrücktrag ganz oder teilweise verzichten (§ 10d I 5 EStG)3. Im Antrag ist die Höhe des Verlustrücktrags anzugeben (§ 10d I 6 EStG). Das Rücktragswahlrecht kann nur bis zum Eintritt der Bestandskraft des Bescheids über die gesonderte Feststellung ausgeübt bzw. ganz oder teilweise widerrufen werden4. Ein Rücktrag in noch nicht festsetzungsverjährte VZ ist auch dann möglich, wenn für das Verlustentstehungsjahr selbst bereits Festsetzungsverjährung eingetreten war. Nach der Ausübung des Verlustrücktrages sind bereits erlassene, auch bestandskräftige Steuerbescheide zu ändern (§ 10d I 3, 4 EStG). Der nach Verlustausgleich und Verlustrücktrag Platz greifende Verlustvortrag muss frühestmöglich ausgeschöpft werden; der Verlustvortrag ist nur insoweit zulässig, als die Verluste in den vorangegangenen VZ nicht abgezogen werden konnten (§ 10d II 3 EStG). Er ist betragsmäßig durch die Regelung der Mindestgewinnbesteuerung begrenzt (s. Rz. 67). Der am Schluss eines VZ verbleibende Verlustvortrag ist nach § 10d IV EStG gesondert festzustellen5.
2.5.2 Beschränkungen des Verlustausgleichs und Verlustabzugs 65
Die Möglichkeiten des Verlustausgleichs und Verlustabzugs sind erheblich eingeschränkt. Es sind folgende Beschränkungen zu unterscheiden: (1) Spezielle Verlustverrechnungsbeschränkungen:
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– Verluste sind nicht zu berücksichtigen, wenn sie außerhalb des steuerbaren Einkünftebereichs angefallen sind, z.B. Liebhabereiverluste, Verluste aus der Veräußerung von Privatvermögen (s. Rz. 121), oder wenn sie mit steuerfreien Einnahmen in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang stehen (§ 3c I EStG). Dies betrifft insb. nach DBA-Freistellungsmethode steuerfrei zu stellende Gewinne ausländischer Betriebsstätten. Diese sog. Kehrseitentheorie bedarf jedoch einer unionsrechtlichen Einschränkung, soweit es sich um finale EU-/EWR-Auslandsverluste6 handelt, die im Quellenstaat keine Berücksichtigung finden (dazu § 4 Rz. 98). 1 Jedoch gewährte der GrS Vertrauensschutz im Wege einer richterlichen Übergangsregel, derzufolge die bisherige gegenteilige Rspr. auf alle bis zum Ablauf des 12.3.2008 (Tag der Veröffentlichung des Beschlusses auf der Internetseite des BFH) eingetretenen Erbfälle weiterhin anzuwenden ist. Zu dieser seltenen Ausnahme von Vertrauensschutz gegenüber einer Verschärfung der Rspr. s. Fischer, DStR 2008, 697. 2 Verfassungswidrigkeit des Abzugs vor Sonderausgaben s. Oberloskamp, EStB 2009, 109 u. 2010, 312 u. 2012, 347; a.A. BFH/NV 2010, 1270. 3 Einzelheiten zu diesem Wahlrecht s. R 10d III EStR 2012. 4 BFH BStBl. 2009, 639. 5 Hierzu s. BMF BStBl. I 2007, 825; Heuermann, DStR 2011, 1489. Zur Novellierung von § 10d IV EStG durch JStG 2010 infolge von BFH BStBl. 2009, 897, s. Sikorski, NWB 2011, 2191. 6 Vgl. EuGH C-414/06, Lidl Belgium. Wann ein Auslandsverlust final ist, bleibt allerdings auch nach EuGH C-15/07, Krankenheim Wannsee, EuGH C-123/11, A Oy (dazu Mitschke, IStR 2013, 209; Pezzella, European Taxation 2014, 71) und EuGH C-322/11, „K“ (dazu Lachmayer, ÖStZ 2013, 565; Blum/Huisman, SWI 2014, 433) weiterhin umstritten. Zum Stand der Rspr. sehr instruktiv M. Lang, European Taxation 2014, 530. Vgl. auch BFH BStBl. 2009, 630; 2010, 599; 2010, 1065; BFH/NV 2010, 1744; BFH/NV 2014, 963; Musil, DB 2011, 2451. Vorschlag zur Handhabung bei Rublack, Berücksichtigung finaler Auslandsverluste, IFSt-Schrift Nr. 472 (2011); BMF-Bericht 2011 (zit. vor Rz. 60), 67 ff.; zu haushalterischen Auswirkungen Fehlinger/Schmidt-Fehrenbacher, Ubg. 2012, 217; Schlussfolgerungen für die betriebliche Steuerplanung Becker/Loose, Ubg 2014, 141.
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Einkommensteuerobjekt: Summe der Einkünfte
Rz. 67
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– Sodann wird die Verlustverrechnung durch spezielle Vorschriften zu einzelnen Einkünften beschränkt, bevor diese in der „Summe der Einkünfte“ (§ 2 III EStG) saldiert werden: Abzugsverbote für Erwerbsaufwendungen (§§ 4 V; 12 Nr. 1 Satz 2 EStG), Steuerbilanznormen wie z.B. Passivierungsverbote für Rückstellungen (s. § 9 Rz. 188 ff.); Beschränkungen der Verlustverrechnung bei Auslandseinkünften (§ 2a EStG)1, gewerblicher Tierzucht u. Tierhaltung (§ 15 IV 1 EStG), Termingeschäften (§ 15 IV 3–5 EStG), Kommanditbeteiligungen (§ 15a EStG), Einkünften aus Kapitalvermögen (§ 20 VI 2 EStG), Aktiengeschäften (§ 20 VI 4 EStG), Einkünften aus sonstigen Leistungen (§ 22 Nr. 3 Satz 3 EStG, s. Rz. 545), privaten Veräußerungsgeschäften (§ 23 III 7, 8 EStG, s. Rz. 559) und bei beschränkt Stpfl. (§ 50 I 2, II EStG). – Schließlich bekämpft der Steuergesetzgeber steuerminimierende Gestaltungen mit Verlustverrechnungsverboten für Verlustzuweisungsmodelle. § 15b EStG regelt ein Verlustverrechnungsverbot im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen2: Verluste können nur noch mit zukünftigen Gewinnen aus derselben Einkunftsquelle verrechnet werden (§ 15b I 2 EStG). Voraussetzung ist gem. § 15b II, III EStG, dass dem Stpfl. auf Grund eines vorgefertigten Konzepts zumindest in der Anfangsphase verrechenbare Verluste zugewiesen werden sollen. § 15b IIIa EStG verzichtet auf diese Voraussetzungen zur Bekämpfung von Steuersparmodellen, die auf dem Handel mit Wirtschaftsgütern des Umlaufvermögens in Verbindung mit der Begründung eines Besitzkonstituts basieren (sog. „Goldfingermodelle“; s. auch § 32b I 3 EStG)3. Gegen Verlustzuweisungsgesellschaften ist auch § 15a EStG gerichtet (s. § 10 Rz. 72 f.). Dieses Verlustverrechnungsverbot für negative Kapitalkonten von Kommanditisten trifft jedoch auch die normale Kommanditgesellschaft. Es handelt sich folglich nicht um eine Missbrauchsvermeidungsnorm. § 15a EStG kann aber als Ausdruck eines durch das Leistungsfähigkeitsprinzip legitimierten allgemeinen Grundsatzes gerechtfertigt werden, wonach Verlustverrechnung Verlusttragung voraussetzt. (2) Allgemeine Verlustverrechnungsbeschränkung durch die Mindestbesteuerung: Soweit die Verlustverrechnung durch die vorgenannten Vorschriften nicht beschränkt wird, greift die Mindestbesteuerung4 (§ 10d II EStG) Platz. Den ersten Versuch zur allgemeinen Einschränkung der Verlustverrechnung unternahm StEntlG 1999/2000/2002 mit der Einführung einer Beschränkung des vertikalen Verlustausgleichs zwischen unterschiedlichen Ein1 Zur (früheren) Europarechtswidrigkeit des § 2a EStG s. EuGH C-152/03, Ritter-Coulais und EuGH C-347/04, Rewe Zentralfinanz. § 2a EStG ist durch JStG 2009 europarechtlich angepasst worden; die Vorschrift gilt nur noch für Verluste aus Staaten, die nicht der EU oder dem EWR angehören; hierzu Feltes, Verlustausgleichsbeschränkung nach § 2a EStG und Progressionsvorbehalt, Hefte zur Internationalen Besteuerung Nr. 173 (2010). 2 Eingeführt mit Gesetz v. 22.12.2005, BGBl. I 2005, 3683, und rückwirkend ab 10.11.2005 anzuwenden (s. § 52 Abs. 25 EStG). Anwendungsschreiben: BMF BStBl. I 2007, 542. Die Umsetzung der dem Grunde nach berechtigten Intention, eine rein steuerlich motivierte, missbräuchliche Vorverlagerung von Aufwand zu unterbinden, ist gesetzgeberisch allerdings missglückt; krit. z.B. Kirchhof/Reiß13, § 15b EStG Rz. 6 f. BFH BStBl. 2014, 465 (467 ff.), hält die Vorschrift, insb. auch das Tatbestandsmerkmal der „modellhaften Gestaltung“ zwar für mit dem Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar, legt sie aber zutreffend restriktiv aus, hierzu Dornheim, Ubg. 2013, 453; Lüdicke/Fischer, Ubg. 2013, 694; ausf. verfassungsrechtliche Analyse Schuska, DStR 2014, 825. Zu aktuellen Problemen Ronig, NWB 2014, 1490. 3 Krit. zum Versuch der gesetzlichen Regelung von Einzelfällen Heuermann, DStR 2014, 169; Bolik/ Hartmann, StuB 2014, 179; Oertel/Haberstock/Guth, DStR 2013, 785. 4 Dazu Werner, Die Mindestbesteuerung im deutschen und US-amerikanischen Einkommensteuerrecht, Diss., 2001; Djanani/Brähler/Lösel, Konzepte der Mindestbesteuerung, eine vergleichende Darstellung für Deutschland, Österreich u. die USA, IWB Fach 10, Gr. 2, S. 761 (2002); Kroniger, BB 2003, 1987 (Vorbild USA?); Djanani/Pummerer, StuW 2004, 158 (Risikoverteilung zwischen Stpfl. u. Fiskus); Herzig/Wagner, WPg. 2004, 53; Ewald, DStR 2005, 1556 (steuersystematische Analyse); Krawitz, FS Bareis, 2005, 153 (kritische Betrachtung); Krengel, Mindestbesteuerung u. Effizienz, Diss., 2006; Hahne, FR 2008, 897; Watrin/Wittkowski/Ullmann, StuW 2008, 238 (europäischer Vergleich); Phan, SteuerStud 2011, 65 (68 ff. zur Verfassungsmäßigkeit); Klomp, GmbHR 2012, 675 (verfassungskonforme Auslegung).
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Einkommensteuer
kunftsarten (§ 2 III 2–8 EStG a.F.)1. Die überaus komplizierte, aber nach Auffassung des BVerfG dennoch mit dem Bestimmtheitsgrundsatz zu vereinbarende (BVerfGE 127, 335; s. hierzu § 3 Rz. 247) Vorschrift wurde ab VZ 20042 durch die sog. Mindestbesteuerung (auch: Mindestgewinnbesteuerung) ersetzt. Dabei ging es dem Gesetzgeber nicht um Vereinfachung, vielmehr war § 2 III 2–8 EStG a.F. zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels untauglich. Im Zentrum der Mindestbesteuerung steht nämlich die Bekämpfung hoher Verlustvortragsvolumina von Kapitalgesellschaften, die wegen § 8 II KStG aber nur über gewerbliche Einkünfte verfügen und somit von der Restriktion des vertikalen Verlustausgleichs nicht betroffen waren. Der seit 2004 geltende § 10d I 1 EStG begrenzt den in das erste Vorjahr zulässigen Verlustrücktrag auf den Betrag von 1 Mio. Euro (Ehegatten: 2 Mio. Euro). Sodann können Verluste, die weder innerperiodisch noch durch Verlustrücktrag verrechnet werden konnten, durch Verlustvortrag im jeweils folgenden VZ bis zu einem Gesamtbetrag der Einkünfte von 1 Mio./Ehegatten: 2 Mio. Euro (sog. Mittelstandskomponente) unbeschränkt, darüber hinaus nur i.H.v. 60 % des periodischen Gesamtbetrags der Einkünfte verrechnet wurden (§ 10d II EStG). Damit werden der Besteuerung 40 % der Einkünfte unabhängig von Verlusten unterworfen. Im unternehmerischen Bereich hat die Mindestbesteuerung besonders dramatische Folgen. Sie führt bei allen betroffenen Unternehmen zu einer aktuellen, die Liquidität des Unternehmens stark beeinträchtigenden Übermaßbesteuerung. Bei Unternehmen mit zyklisch stark schwankenden Ergebnissen kann die Mindestbesteuerung existenzgefährdend wirken. Besonders betroffen sind zeitlich begrenzt bestehende Projektgesellschaften und Arbeitsgemeinschaften, Leasing-Objektgesellschaften, langfristige Fertigung, Existenzgründungen, Branchen mit hoher Kapitalintensität (Wohnungswirtschaft, Luft-, Raum-, Schiffs- und Anlagenbau) und Sanierungsfälle3. Hier besteht ein erhöhtes Risiko, dass es nicht nur zur Streckung von Verlustvorträgen kommt, sondern dass die Verrechnung in Kombination mit Vorgängen, die zum Untergang von Verlustvorträgen führen, insb. Liquidation, Verschmelzung (§ 12 III UmwStG), Anteilseignerwechsel (§ 8c KStG), Wegzug in das Ausland, Tod des Stpfl., endgültig scheitert. (3) Verfassungsrechtliche Beurteilung von Verlustverrechnungsbeschränkungen: 68
BVerfGE 99, 88 (zu § 22 Nr. 3 EStG), hat den „völligen Ausschluss der Verlustverrechnung“ als gleichheitswidrig erkannt und Einschränkungen nur für zulässig erachtet, soweit Einkünfte „typischerweise für unerwünschte Steuergestaltungen genutzt werden“4. Die Intention, Steuermehreinnahmen zu erwirtschaften bzw. Steuermindereinnahmen zu verhindern, ist dagegen zur Rechtfertigung der Durchbrechung des Nettoprinzips per se ungeeignet5. Etwas anderes gilt aus Gründen der Vorhersehbarkeit der Haushaltsführung als auch der Praktikabilität nur für die Begrenzung des Verlustrücktrags. Der Verlustvortrag muss dagegen grds. uneingeschränkt gewährt werden. Anders als die besonderen Verlustverrechnungsbeschränkungen, die sich 1 Verfassungskonform auf „unechte Verluste“ beschränkt durch BFH, BStBl. 2011, 649; BFH/NV, 2011, 1481; 2011, 1484; 2011, 1668; 2011, 1674; 2011, 1676; 2011, 1849; dazu Kohlhaas, DStR 2012, 773. FG Düsseldorf EFG 2012, 1251 (1255) überträgt diese Auslegung auf den Verlustrücktrag. 2 Eingefügt durch sog. Korb II-Gesetz (Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz) v. 22.12.2003, BGBl. I 2003, 2840. Dieser Titel verrät den gegenwärtigen Stil der Steuergesetzgebung; dazu BT-Drucks. 14/23, 127, 167 u. BT-Drucks. 15/1518, 13. 3 Dazu ausf. Lang/Englisch, StuW 2005, 3 (21 ff.); Küspert, BB 2013, 1949; vgl. auch Gilz/Kuth, DStR 2005, 184 (Situation im Insolvenzverfahren); Kretz/Heine, KStZ 2009, 141; Braun/Geist, BB 2013, 351; Farle/Schmitt, DB 2013, 1746. 4 Daraufhin ist durch Art. 1 Nr. 30b StEntlG 1999/2000/2002 § 22 Nr. 3 Satz 4 EStG angefügt worden, damit die Verlustverrechnung entsprechend BVerfG 99, 88, nicht „völlig“ ausgeschlossen ist. Es handelt sich um ein für den Steuergesetzgeber typisches Grenzverhalten gegenüber der Rspr. des BVerfG. M.E. reicht § 22 Nr. 3 Satz 4 EStG für die verfassungsrechtliche Sanierung des § 22 Nr. 3 EStG nicht aus. 5 S. auch BVerfGE 122, 210 (236 f.).
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Einkommensteuerobjekt: Summe der Einkünfte
Rz. 68
zumindest ihrer Grundidee nach als Vorschriften der Missbrauchsbekämpfung oder Kehrseite von fehlender Steuerbarkeit/Steuerfreiheit rechtfertigen lassen und damit grds. gerade auf eine systemgerechte und leistungsfähigkeitskonforme Besteuerung abzielen1, ist die Mindestbesteuerung des § 10d II EStG rein fiskalisch motiviert. Daran ändern auch die zur Begründung der Mindestbesteuerung herangezogenen Verlustvortragsberge von 500–700 Mrd. Euro nichts, zumal sie nicht mit Haushaltsrisiken gleichgesetzt werden dürfen2. Eine andere Rechtfertigung existiert nicht. Nach Überzeugung des I. Senats des BFH (Vorlagebeschluss vom 26.2.2014)3 ist die Mindestbesteuerung, und zwar auch im Rahmen der Gewerbesteuer (§ 10a Satz 2 GewStG i.V.m. § 10d I 1 EStG), gleichheitssatzwidrig, soweit es zur endgültigen Nichtberücksichtigung von Verlusten (Definitiveffekt) kommt4. Eine Korrektur im Wege von Billigkeitsentscheidungen wird zutreffend für nicht möglich erachtet. Hieran schließt sich dann aber die – aus der europarechtlichen Beurteilung grenzüberschreitender Verluste bekannte (s. Rz. 66) – schwierige Frage an, wann ein Verlust final wird5. Rechtfertigungsbedürftig ist i.Ü. nicht nur der Untergang von Verlustvorträgen, sondern auch die bloße Streckung der Verlustverrechnung6. Dass die Streckung weniger schwer wiegt als der Untergang von Verlusten, ist erst auf der Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen, hilft aber nicht darüber hinweg, dass es bereits für die Streckung an einem legitimen Regelungsinteresse fehlt. Die Annahme eines Gestaltungsspielraums, innerhalb dessen der Gesetzgeber berechtigt wäre, Abschnittsprinzip und Nettoprinzip zum Ausgleich zu bringen7, verkennt nicht nur, dass Ersteres ein lediglich technisches Prinzip ist und damit nicht die gleiche Wertigkeit hat wie das Nettoprinzip, sondern führt, solange Gewinne weiterhin im Zeitpunkt ihrer Entstehung versteuert werden, zu einer wertungsinkonsistenten Asymmetrie. Unterstellt man ein Prinzip „gegenwartsnaher Besteuerung“8, so darf dieses nicht einseitig nur für positive Erfolgsbeiträge zur Anwendung gebracht werden. Das objektive Nettoprinzip muss in jedem Veranlagungszeitraum erfüllt sein9. Dem kann auch, soweit die Mindestbesteuerung zur Erreichung dieses Ziels überhaupt geeignet ist, das Interesse an einer Verstetigung des Steueraufkommens nicht entgegengehalten werden. Es bleibt reiner Fiskalzweck10. Das Wesen der Einkommensteuer ist ihre built-in-flexibility (s. § 7 Rz. 9 f.). Die Einkommensteuer ist die falsche Steuer, um das Steueraufkommen
1 S. Dorenkamp, IFSt-Schrift Nr. 461 (2010), 14 ff. 2 Das BMF (Prüfbericht, zit. vor Rz. 60) selbst gibt den Steuerausfall bei sofortigem vollständigem Verzicht auf die Mindestbesteueurng mit maximal 3 Mrd. Euro an. Hierzu ausf. auch Dorenkamp, IFSt-Schrift Nr. 461 (2010), 35 ff. 3 BFH/NV 2014, 1674. Zuvor schon für Fälle, in denen eine Verlustverrechnung aufgrund des Zusammentreffens von § 10d II EStG mit anderen Verlustverrechnungsbeschränkungen aus rechtlichen Gründen endgültig ausgeschlossen ist, s. AdV-Verfahren BFH BStBl. 2011, 826; zur Gewährung von AdV in Fällen definitiven Verlustuntergangs BMF BStBl. I 2011, 974 (krit. Anm. Gragert, NWB 2011, 4007; Sistermann/Brinkmann, DStR 2011, 2230); zur Möglichkeit eines Billigkeitserlasses zur Vermeidung endgültigen Verlustuntergangs s. Niedersächs. FG EFG 2012, 1015; a.A. für die gewerbesteuerliche Mindestbesteuerung (§ 10a Satz 1 u. 2 GewStG) BFH BStBl. 2013, 498; 2013, 505. Vollends zur Dummensteuer degeneriert die Verlustversagung, wenn Billigkeitsmaßnahmen zur Vermeidung eines etwaigen verfassungswidrigen Besteuerungsergebnisses wegen „Eigenverschuldens“ des Stpfl. am Verlustuntergang versagt werden, so BFH BStBl. 2013, 505 (508), m. Anm. Farle/ Schmitt, DB 2013, 1746; zu Recht krit. Küspert, BB 2013, 1949 (1953). Zum Problem der Annahme der Finalität BFH BStBl. 2013, 512 (516). 4 Dies entspricht der h.M. im Schrifttum Wendt, DStJG 28 (2005), 41 (76 f.); Desens, FR 2011, 745 (747 f.); Schaumburg/Schaumburg, StuW 2013, 61 (64); Drüen, FR 2013, 393 (402); a.A. Heuermann, FR 2012, 435 (440). 5 BFH BStBl. 2013, 512 (516), macht das Streitpotential deutlich. 6 A.A. BT-Drucks. 14/23, 167; BFH BStBl. 2013, 512; BFH/NV 2014; dazu s. auch bereits BFH BStBl. 2003, 517 (523); 2007, 167 (170) zu § 2 III 2–8 EStG a.F. 7 So scheinbar BVerfG NJW 1992, 169. 8 S. P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, Leitgedanken, Rz. 28 ff. 9 A.A. BFH BStBl. 2001, 552 (554); 2013, 498 (502 f.); 2013, 512 (514 f.); 2013, 512 (513 ff.). 10 A.A. Kube, DStR 2011, 1781 (1789) mit Verweis auf Desens, FR 2011, 745 (749) (qualifizierter Fiskalzweck).
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§8
§8
Rz. 69
Einkommensteuer
vom Konjunkturverlauf abzukoppeln. § 10d II EStG verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz und die Freiheitsrechte1 und ist damit verfassungswidrig2. (4) Neuordnung der Verlustverrechnung: 69
Angesichts der mannigfaltigen Verlustverrechnungsbeschränkungen des geltenden Rechts bedarf es dringend der im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP vom 26.10.2009 zur Diskussion gestellten Neuordnung der Verlustverrechnung mit dem Ziel der Wiederherstellung des objektiven Nettoprinzips. Abzuschaffen ist, wie bereits vom Deutschen Juristentag 2006 gefordert3, die Mindestbesteuerung. Ein schrittweises Vorgehen könnte die Haushaltswirkungen abfedern (s. hierzu den Vorschlag von Dorenkamp, IFSt-Schrift Nr. 461 [2010], 47 ff.)4. Verlustverrechnungsbeschränkungen zur Missbrauchsabwehr sind dagegen zulässig, allerdings nur insoweit, als sie typisierend eine Verlustverrechnung bei fehlender wirtschaftlicher Belastung ausschließen. „Echte“, wirtschaftlich tatsächlich erlittene Verluste müssen stets voll horizontal und vertikal ausgleichsfähig5 sowie intertemporal abzugsfähig sein. Auch Verrechnungsbeschränkungen „unechter“ Verluste sind unzulässig, wenn die Verluste infolge der Inanspruchnahme von Steuervergünstigungen entstanden sind. Ein Stpfl., der dem gesetzlichen Lenkungsanreiz folgt, handelt nicht missbräuchlich. Ihm darf die zunächst gewährte Subvention nicht im Nachhinein durch ein Verlustverrechnungsverbot entzogen werden. Auslandsverluste sind jedenfalls in den Grenzen der Rspr. des EuGH (s. Rz. 66) anzuerkennen. Der in Ausführung des Koalitionsvertrages erarbeitete Prüfbericht des BMF (zit. vor Rz. 60) verweigert sich diesen Einsichten aus rein fiskalischen Gründen. In der Tat ist die Wiederherstellung des Nettoprinzips zwangsläufig mit Mindereinnahmen verbunden. Dies ändert indes nichts am verfassungsrechtlichen Reformbedarf. Entschieden entgegenzutreten ist dem Ansinnen, die Verlustverrechnung noch weiter einzuschränken als bisher und zur Beseitigung der bestehenden Verlustberge eine zeitliche Begrenzung des Verlustvortrags auf 5, 7 oder 10 Jahre vorzusehen6. Dies gilt erst recht, soweit eine derartige Maßnahme unter Aufrechterhaltung der Mindestbesteuerung bzw. auf Altverluste erstreckt würde. Das BVerfG hat die frühere Beschränkung des Verlustvortrags auf 5 Jahre in einem Nichtannahmebeschluss aus dem Jahr 1991 (HFR 1992, 423) zwar nicht beanstandet. Die Bedeutung dieser nur summarisch begründeten Aussage darf indes angesichts der zwischenzeitlichen Aufwertung des objektiven Nettoprinzips durch die Rspr. des BVerfG nicht überschätzt werden. Das Ziel eines Abbaus der „Verlustvortragsberge“ ist zur Rechtfertigung einer zeitlichen Begrenzung des Verlustvortrags schon deshalb nicht geeignet, weil diese nicht mit entsprechend hohen Haushaltsrisiken korrespondieren (s. Rz. 68)7. Der Prüfbericht des BMF hat daher zu Recht von entsprechenden Empfehlungen abgesehen. 1 Dazu Hergarten, DStR 2001, 1876; Holdorf, BB 2001, 2085; Palm, DStR 2002, 152; Kohlhaas, DStR 2003, 1142; Kohlhaas, DStR 2004, 1250; Karrenbrock, DB 2004, 559; Lang/Englisch, StuW 2005, 3. 2 Lang/Englisch, StuW 2005, 3; Wendt, DStJG 28 (2005), 41 (74 ff.) (verfassungskonforme Auslegung); Fischer, FR 2007, 281; Röder, System der Verlustverrechnung, 258 ff., 355 ff.; Röder, StuW 2012, 18 (21 ff.); Bareis, DB 2013, 144. 3 DJT, Sitzungsbericht Q, 2006, 168: „Sowohl der Verlustausgleich als auch der Verlustabzug sind als Ausprägungen des Nettoprinzips systemgerechte Folgerungen der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und keine Steuervergünstigungen. Zumindest eine zukunftsbezogene interperiodische Verlustverrechnung ist unbeschränkt zuzulassen. Die in § 10d II EStG niedergelegte ,Mindestbesteuerung’ muss vom Gesetzgeber zurückgenommen werden“. 4 S. alternativ den ebenfalls um Interessenausgleich bemühten Vorschlag von Voß, FR 2010, 878, Verlustvorträge zu kapitalisieren. 5 BFH BStBl. 2011, 649. 6 Für Neuverluste für zulässig erachtet von Dötsch, DStR 2008, 641 (643); Witt, BB 2008, 1199 (1201); Kube, DStR 2011, 1781; Klemt, DStR 2011, 1686 (1688); Kube, DStR 2011, 1829 (auch unter Einbeziehung von Altverlusten); a.A. Berg/Schmich, DStR 2002, 346 (348); Eckhoff, DStJG 28 (2005), 11 (34); Lang/Englisch, StuW 2005, 3 (6 ff.); Dorenkamp, IFSt-Schrift Nr. 461 (2010), 58 ff.; Röder, System der Verlustverrechnung, 259. 7 Dies verkennt Kube, DStR 2011, 1829 (1834), wenn er für die Einbeziehung von Altverlusten in eine entsprechende Regelung plädiert.
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Bemessungsgrundlage: das zu versteuernde Einkommen
Rz. 71
§8
3. Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer: das zu versteuernde Einkommen i.S.d. § 2 V EStG 3.1 Private Abzüge i.S.d. § 2 IV, V EStG Literatur (zur Familienbesteuerung s. § 3 vor Rz. 162): J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, 517 ff.; Uelner, Zur Konkretisierung des subjektiven Nettoprinzips im Einkommensteuerrecht, in FS Schmidt, 1993, 21; Tipke, StRO II2, 2003, 784 ff.; Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem BVerfG. Eine ökonomische, steuersystematische und grundrechtsdogmatische Kritik des subjektiven Nettoprinzips, Diss., 2011; G. Kirchhof, Drei Bereiche privaten Aufwands im Einkommensteuerrecht, DStR 2013, 1867; Mellinghoff, § 174: Privataufwendungen, in Leitgedanken des Rechts II, 2013; Englisch, Subjektives Nettoprinzip und Familienbesteuerung, DStJG 37 (2014), 159. Weitere Lit.: vor Rz. 81 (Existenzminimum), vor Rz. 88 (Unterhaltsleistungen); Reform der Familienbesteuerung und speziell zum Kindesunterhalt Rz. 91 ff., vor Rz. 742.
3.1.1 Berücksichtigung unvermeidbarer Privataufwendungen nach dem subjektiven Nettoprinzip Wie bereits in Rz. 41 u. § 3 Rz. 72 ausgeführt, ist die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer dualistisch aufgebaut: Bis zum Gesamtbetrag der Einkünfte (§ 2 I–III EStG) wird die objektive Leistungsfähigkeit berücksichtigt, ab dem Gesamtbetrag der Einkünfte die subjektive Leistungsfähigkeit durch private Abzüge (§ 2 IV, V EStG). Die Berücksichtigung persönlicher Verhältnisse durch private Abzüge wird durch folgende zwei Postulate (s. bereits § 3 Rz. 72) bestimmt:
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Allgemeines subjektives Nettoprinzip: Das systemtragende Prinzip der Abziehbarkeit von privaten Abzügen ist das subjektive Nettoprinzip; nach diesem Prinzip ist der für den notwendigen Lebensbedarf verwendete und demnach für die Steuerzahlung nicht verfügbare Teil des Erwerbseinkommens aus der Bemessungsgrundlage auszuscheiden. Diese bereits oben (§ 3 Rz. 72) angesprochene Lehre hat sich in der Steuerrechtswissenschaft allg. durchgesetzt1. Infolgedessen fasste der Deutsche Juristentag (57. DJT, Sitzungsbericht N, 214) 1988 folgenden Beschluss:
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„Der Einkommensteuer unterliegt nur der Teil des Erwerbseinkommens, der für den Steuerpflichtigen disponibel ist. Die unvermeidbaren Aufwendungen für die eigene Existenzsicherung und den Unterhalt der Familienangehörigen müssen deshalb von der Besteuerung freigestellt sein. Erst auf das sich danach ergebende zu versteuernde Einkommen ist der Tarif anzuwenden. Die Degressionswirkung bei steuermindernden Abzügen ist keine Steuervergünstigung, sondern die systemnotwendige Kehrseite der Progression bei den steuerbegründenden Zuflüssen“.
Diesen Konsens der Juristen hat der Erste Senat des BVerfG im Jahr 1990 nachdrücklich bestätigt2. Ausgangspunkt dieser Entscheidung ist der aus Art. 1 I GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip abgeleitete Grundsatz, „dass der Staat dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen muss, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird“ (BVerfGE 82, 60). Sodann stellt das BVerfG fest: „Ebenso wie der Staat nach diesen Verfassungsnormen verpflichtet ist, dem mittellosen Bürger diese Mindestvoraussetzungen erforderlichenfalls durch Sozialleistungen zu sichern …, darf er dem Bürger das selbst erzielte Einkommen bis zu diesem Betrag … nicht entziehen. Aus den genannten Verfassungsnormen, zusätzlich aber auch aus Art. 6 I GG, folgt ferner, dass bei der Besteuerung einer 1 Dazu das vor Rz. 68 zit. Schrifttum u. 57. DJT, Sitzungsbericht N, 1988, 214. Nach Tipke, StRO II2, 788 f., hängt dieser Konsens „nicht nur mit einem entsprechenden Verständnis des Leistungsfähigkeitsprinzips zusammen, sondern auch mit dem Einfluss verfassungsrechtlicher Grundwertungen (Schutz der Menschenwürde, Sozialstaatsprinzip)“. Zur Entwicklung des subjektiven Nettoprinzips in Lehre u. Rspr. des BVerfG insb. Arndt/Schumacher, AöR 118 (1993), 525 ff; Uelner, FS Schmidt, 1993, 21 (25 ff.). In Frage gestellt wird das subjektive Nettoprinzip durch Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums, Diss., 2011; Bareis, DStR 2010, 565. 2 BVerfGE 82, 60 ff. (Kindergeld); ebenso BVerfGE 82, 198 ff. (Kinderfreibetragsbeschluss).
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§8
Rz. 72
Einkommensteuer
Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muss …“ (BVerfGE 82, 60). 72
Zur Bemessung des steuerfrei zu belassenden Erwerbseinkommens rekurriert der Erste Senat auf das Sozialhilferecht1. Der Zweite Senat des BVerfG bekräftigte die Maßgeblichkeit des Sozialhilferechts für das Einkommensteuerrecht in dem Beschluss v. 25.9.1992, BVerfGE 87, 1532, zum Grundfreibetrag: Der Steuergesetzgeber müsse dem Einkommensbezieher von seinen Erwerbsbezügen zumindest das belassen, was er dem Bedürftigen zur Befriedigung seines existenznotwendigen Bedarfs aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellt (Leitsatz 2). Die Maßgröße für das einkommensteuerliche Existenzminimum sei „demnach der im Sozialhilferecht jeweils anerkannte Mindestbedarf, der allgemein durch Hilfen zum notwendigen Lebensunterhalt an jeden Bedürftigen befriedigt wird“3. Dabei sei das steuerlich zu verschonende Existenzminimum im Rahmen einer Typisierung grds. so zu bemessen, „dass es in möglichst allen Fällen den existenznotwendigen Bedarf abdeckt, kein Stpfl. also infolge einer Besteuerung seines Einkommens darauf verwiesen wird, seinen existenznotwendigen Bedarf durch Inanspruchnahme von Staatsleistungen zu decken“ (Leitsatz 3).
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In BVerfGE 107, 27 (doppelte Haushaltsführung) und BVerfGE 110, 412 (Kindergeld) wiederholt der Zweite Senat, dass für den „Bereich des subjektiven Nettoprinzips“ das „Verfassungsgebot der steuerlichen Verschonung des Existenzminimums des Steuerpflichtigen und seiner unterhaltsberechtigten Familie zu beachten“ sei (BVerfGE 107, 27 [48]; 110, 412 [433]). Das GG fordere, „dass existenznotwendiger Aufwand in angemessener, realitätsgerecht bestimmter Höhe von der Einkommensteuer freigestellt“ werde4. Nach BVerfGE 107, 27 (48) kann der Schutzanspruch über das Existenzminimum hinausgehen, auch wenn die Frage „wie weit über den Schutz des Existenzminimums hinaus auch sonstige unvermeidbare oder zwangsläufige private Aufwendungen zu berücksichtigen sind, … verfassungsgerichtlich bislang noch nicht abschließend geklärt“ sei. Dieser Satz weist deutlich auf die weitere Konkretisierungsbedürftigkeit des subjektiven Nettoprinzips hin. Aus dem Zusammenhang mit der Abzugsfähigkeit von Aufwendungen für doppelte Haushaltsführung erschließt sich freilich, dass es richtigerweise gar nicht um die Ebene des subjektiven Nettoprinzips geht. Vielmehr ist die Kategorie des sonstigen zwangsläufigen, pflichtbestimmten Aufwands im Bereich gemischter Veranlassung angesiedelt: Der Umstand einer privaten (Mit-)Veranlassung von Erwerbsaufwand kann von verfassungswegen unbeachtlich sein, so dass der Gesetzgeber sie nicht zum Anknüpfungspunkt von Abzugsverboten nehmen darf (s. auch Rz. 220).
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Verfassungsrechtliche Maßstäbe des allgemeinen subjektiven Nettoprinzips sind der Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip als Vergleichsmaßstab (s. § 3 Rz. 43), die Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 I GG, s. § 3 Rz. 160), das freiheitsrechtlich (Art. 2 I; 12 I; 14 I GG) begründete Verbot der Erdrosselungssteuer5 und das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I; 28 I 1 GG, s. § 3 Rz. 210 ff.). Die Eliminierung indisponiblen Einkommens aus der Bemessungsgrundlage ist keine Steuervergünstigung oder Steuersubvention, sondern realisierte Besteuerung nach der Leistungs1 BVerfGE 82, 60 (94 ff.). Dazu bereits § 1 Rz. 39 ff.; P. Kirchhof, VVDStRL 39 (1981), 221, 420; P. Kirchhof, JZ 1982, 305 (309 f.); J. Lang, Bemessungsgrundlage, 191 ff., 202 ff.; J. Lang, StuW 1983, 119; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993; Lingemann, Das rechtliche Konzept der Familienbesteuerung, Diss., 1994, 105 ff. 2 Zu dieser Entscheidung Felix, StRK-Anm. EStG 1975 Allg. R. 87; Lehner, DStR 1992, 1641; Sangmeister, BB 1992, 2341; Arndt, StVj 1993, 1; Bilsdorfer, INF 1993, 10; Schemmel, StuW 1993, 70; Arndt/ Schumacher, NJW 1994, 962 f.; Tipke, StRO II2, 802 ff. 3 BVerfGE 87, 171. 4 BVerfGE 110, 412, (433). 5 So grundl. BVerfGE 87, 153, zit. in § 3 Rz. 184. Zur freiheitsrechtlichen Begr. der Steuerfreiheit des Existenzminimums auch Lehner, DStR 1992, 1642 f.; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993, 337 ff., 364 ff.
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Bemessungsgrundlage: das zu versteuernde Einkommen
Rz. 76
§8
fähigkeit. Wenn aber der indisponible Teil des Erwerbseinkommens aus der Bemessungsgrundlage eliminiert ist, dann erübrigt sich ein tariflicher Grundfreibetrag. Messfunktion der Bemessungsgrundlage und Belastungsfunktion des Tarifs müssen klar gegeneinander abgegrenzt werden1: nicht disponibel
disponibel
existenznotwendiger Lebensbedarf in Höhe des Sozialhilferechts2
Die Bemessungsgrundlage legt das für die Steuerzahlung disponible Einkommen fest. Disponibel ist insb. der Teil des Einkommens, der für disponiblen Konsum (insb. Freizeit- und Luxuskonsum) zur Verfügung steht. Der Tarif legt fest, welchen Anteil des disponiblen Einkommens der Stpfl. als Steuer abführen soll (Belastungsentscheidung des Gesetzgebers).
Spezielles Familien-Nettoprinzip (s. bereits § 3 Rz. 72, 165): Hat ein Stpfl. nicht nur sich selbst, sondern auch andere zu unterhalten, für das Existenzminimum anderer zu sorgen, so vermindert sich dadurch seine steuerliche Leistungsfähigkeit, der Unterhaltsbezieher hingegen wird leistungsfähiger3. Die Verwirklichung des Familien-Nettoprinzips ist dadurch gekennzeichnet, dass der Transfer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit durch zivilrechtlich zwangsläufige Unterhaltsleistungen im Steuerrecht abgebildet werden muss4, denn die Rechtsordnung ist mit dem Makel eines massiven inneren Widerspruchs behaftet, wenn sie einerseits rechtliche Unterhaltspflichten statuiert und diesen Unterhaltspflichten andererseits die steuerrechtliche Beachtlichkeit versagt5. Was der Unterhaltspflichtige an den Unterhaltsberechtigten abführen muss, kann er nicht an den Staat abführen. Zivilrechtlich zwangsläufige Unterhaltsleistungen können auch nicht auf eine Ebene mit dem disponiblen Konsum gestellt werden6. Zwar ist die durch das Zivilrecht vorgegebene Unterhaltsverpflichtung nicht auf den existenznotwendigen Bedarf als absoluter verfassungsrechtlicher Untergrenze steuerlicher Berücksichtigung beschränkt7, deshalb verfügt der Gesetzgeber bei der Abbildung von Unterhaltspflichten über größere Spielräume, die Lehre vom disponiblen Einkommen leitet den Gesetzgeber aber als eine sachgerechte Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips gleichheitsrechtlich an.
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Im Zuge dieser Erkenntnisse8 hat das BVerfG9 das Postulat der realitätsgerechten Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtungen entwickelt, und der 57. Deutsche Juristentag fasste im Jahr 1988 einstimmig den Beschluss, dass die realitätsgerechte Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtungen keine Steuervergünstigung, sondern ein zwingendes Gebot der einkommensteu-
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1 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 212 ff.; Lingemann, Das rechtliche Konzept der Familienbesteuerung, Diss., 1994, 131 ff.; Tipke, StRO II2, 801 ff.; a.A. Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums, Diss., 2011. 2 BVerfGE 82, 60 (90 ff.); 87, 153 (171 ff.). Zur Quantifizierung des existenznotwendigen Lebensbedarfs im Steuerrecht J. Lang, StuW 1990, 344; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993, 71 ff.; Lingemann, Das rechtliche Konzept der Familienbesteuerung, Diss., 1994, 112 ff. 3 Tipke, StRO II2, 807. 4 A.A. BFH/NV 2009, 1637; 2012, 942. 5 So eindringlich der frühere Präsident des BVerfG Zeidler, Ehe und Familie, in Benda/Maihofer/Vogel, Hdb. des Verfassungsrechts der BRD2, 1995, 555 (604). 6 Dazu nachdrücklich Böckenförde, StuW 1986, 335 (336): Die Zuweisung der Erziehungs- und Unterhaltskosten für Kinder in den Bereich privater Lebenshaltung und individuellen Konsums sei höchst bedenklich. Sie stelle „die Ausgaben für Kinder auf eine Ebene mit denen für Auto, Segelboot, Surfbrett oder Yacht“. 7 Sehr klar Englisch, DStJG 37 (2014), 159 (168 ff.). 8 Dazu insb. Tipke, StuW 1971, 16 f.; Vogel, NJW 1974, 2105; Vogel, DStR 1977, 31; J. Lang, StuW 1983, 103 ff.; Tipke, ZRP 1983, 25; Vogel, StuW 1984, 197; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 558 ff., 650 ff.; Zeidler, StuW 1985, 1; Böckenförde, StuW 1986, 335 (336); P. Kirchhof, Der Schutz von Ehe und Familie, 1986, 7 ff.; Pezzer, FS Zeidler, 1987, 757 ff.; Söhn, FinArch. 46 (1988), 154; Pezzer, StuW 1989, 219. 9 BVerfGE 61, 319 (344) (dazu J. Lang, StuW 1983, 103; Tipke, StbKongrRep. 1983, 39); BVerfGE 66, 214 (223) (dazu Vogel, StuW 1984, 197); BVerfGE 67, 290 (dazu Tipke, StuW 1985, 78); BVerfGE 68, 143 (152 f.); 82, 198 ff.; BVerfGE 89, 346 (352 f.); Arndt/Schumacher, NJW 1994, 961 ff.
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§8
Rz. 77
Einkommensteuer
errechtlichen Belastungsgleichheit sei; realitätsgerechte Berücksichtigung bedeute Abzug in Höhe der gesetzlichen Unterhaltspflichten von der Bemessungsgrundlage, Unterhaltsbezüge sollten „im tatbestandlichen Rahmen der Einkunftsarten“ versteuert werden1. Damit bestätigte der Deutsche Juristentag die Notwendigkeit, den Transfer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit durch Unterhaltsleistungen steuerrechtlich zu berücksichtigen. Auch der österreichische VGH judiziert das Familien-Nettoprinzip: Die Einkommensteuer dürfe grds. nur das disponible Einkommen belasten. Unterhaltsleistungen minderten die Leistungsfähigkeit der Eltern und seien zumindest so zu berücksichtigen, dass nicht der größere Teil des Unterhaltsaufwands der Einkommensteuer unterworfen werde2. 77
Verwirklichung des subjektiven Nettoprinzips: Die Lehre vom indisponiblen Einkommen hat es nicht vermocht, in der Steuerpolitik einen grundsätzlichen Konsens über die dringend notwendige Reform der privaten Abzüge und der Familienbesteuerung hervorzubringen. De lege lata besteht ein Konglomerat privater Abzüge, in dem steuerliche Leistungsfähigkeit nach unterschiedlichen Konzepten berücksichtigt wird (s. Rz. 700), in dem Steuervergünstigungen (z.B. § 10b EStG) mit Fiskalzwecknormen vermischt sind und Fiskalzwecknormen wie z.B. der Abzug von Vorsorgeaufwendungen zu Steuerprivilegien werden, weil nur bestimmte Vorsorgeformen in den Steuerabzug fallen (s. Rz. 711 f.). Zudem kommt es zu einem unabgestimmten Zusammentreffen aus Kinderfreibeträgen und Unterhaltsabzügen beim Geber, fehlender Steuerbarkeit und eigenem Grundfreibetrag beim Empfänger.
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Die Schwierigkeiten, das subjektive Nettoprinzip mit allen seinen Konsequenzen zu erkennen und anzuerkennen, beruhen auf der bereits in § 3 Rz. 73 kritisierten Annahme, das Markteinkommen sei der „richtige“ Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit. Hingegen sollen private und familiäre Umstände für die Messung steuerlicher Leistungsfähigkeit entgegen der fundamentalen Erkenntnis von Adolph Wagner (§ 3 Rz. 72) irrelevant sein. Die Prämisse ist für die verfassungsrechtlich besonders durch Art. 6 I GG vorgegebene Bestimmung steuerlicher Leistungsfähigkeit schlichtweg falsch!
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Private Abzüge, die den für die Steuerzahlung nicht verfügbaren Teil des Einkommens von der Besteuerung ausnehmen, sind keine Sozialzwecknormen, sind nicht Bestandteil eines bevölkerungspolitisch oder sonstwie konzipierten Fördersystems, ebenso wenig wie der Betriebsausgabenabzug von Pkw-Aufwendungen die Automobilindustrie fördern soll. Niemand kommt auf die Idee, den Abzug von Werbungskosten oder Betriebsausgaben als Steuervergünstigung zu bewerten. Dabei lassen sich private Abzüge im Hinblick auf ihre verfassungsrechtliche Fundierung (s. Rz. 74) sogar noch zwingender rechtfertigen als Abzüge von Erwerbsaufwendungen.
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Private Abzüge dienen der sog. horizontalen Steuergerechtigkeit: Bei gleicher Leistungsfähigkeit müssen Stpfl. auch gleich hoch besteuert werden3. Das Maß der Einkommensteuer muss auf allen Einkommensebenen richtig geeicht sein. Auch der Einkommensmillionär hat indisponibles Einkommen, das für die Steuerzahlung nicht zur Verfügung steht. Ein Einkommensmillionär mit Kindern ist weniger leistungsfähig als ein kinderloser Einkommensmillionär. Wer ein Markteinkommen von 100 000 Euro und 50 000 Euro nicht versicherte Krankheitskosten aufzubringen hat, ist steuerlich so leistungsfähig wie der gesunde Bezieher eines Markteinkommens von 50 000 Euro. Die Bemessung steuerlicher Leistungsfähigkeit ist nur dann richtig, wenn sie frei von allen Sozialzwecknormen alle positiven und negativen Faktoren steuerlicher Leistungsfähigkeit erfasst, und zwar auf der Stufe objektiver Leistungsfähigkeit alle Erwerbseinnahmen und Erwerbsausgaben und auf der Stufe subjektiver Leistungsfähigkeit nicht nur alle unvermeidbaren oder zwangsläufigen Privatausgaben, sondern auch die entsprechenden Privateinnah1 Beschluss des 57. DJT, Sitzungsbericht N, 1988, 213. 2 Dazu Sturn, ÖStZ 1996, 497; Zorn in Thöni/Winner, Die Familie im Sozialstaat, 1996, 135; Kristen, ÖStZ 1997, 233; Quantschnigg, ÖStZ 1997, 453, u. Mack, ÖStZ 1998, 32. 3 BVerfGE 82, 60 (89) mit Hinweis auf Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, 165 (170).
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Bemessungsgrundlage: das zu versteuernde Einkommen
Rz. 81
§8
men (z.B. Sozialhilfe, Leistungen einer Krankenversicherung)1. Danach ergibt sich für das Beispiel einer vierköpfigen Einverdienerfamilie folgendes Schema: Einverdiener
Ehegatte
Kind
–c
+ c1
+ c2
– d1
– d2
– d3
– d4
jeder Ehegatte: a + b – c – (d1 + d2) 2
c1–d3
c2–d4
(a)
Markteinkommen
+a
(b)
Staatliche Zuwendungen, Wohn-/ Kindergeld u.a.
+b
(c)
Unterhaltsleistungen
(d)
Sozialhilferechtlicher Lebensbedarf
Zu versteuerndes Einkommen (Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit)
Kind
3.1.2 Berücksichtigung des existenznotwendigen Lebensbedarfs Literatur: P. Kirchhof, Steuergerechtigkeit und sozialstaatliche Geldleistungen, JZ 1982, 305; Dziadkowski, Plädoyer für einen transparenten und realitätsbezogenen („bürgernahen“) Einkommensteuertarif, BB-Beil. 9/1985; Dziadkowski, Zur Besteuerung des Existenzminimums, DStZ 1987, 131; P. Kirchhof, Gutachten F zum 57. Deutschen Juristentag, 1988, 51 ff.; Söhn, Verfassungsrechtliche Aspekte der Besteuerung nach der subjektiven Leistungsfähigkeit im Einkommensteuerrecht: Zum persönlichen Existenzminimum, FinArch. Bd. 46 (1988), 154; J. Lang, Verfassungsrechtliche Gewährleistung des Familienexistenzminimums im Steuer- und Kindergeldrecht, StuW 1990, 331; Arndt, Die Sicherung des Existenzminimums im Einkommensteuerrecht, BB 1993, 977; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993; Schemmel, Das einkommensteuerliche Existenzminimum: Berücksichtigung der Menschenwürde im Steuerrecht oder politisch gestaltbare Steuervergünstigung?, StuW 1993, 70; Arndt/Schumacher, Die Minimierung des Existenzminimums im Einkommensteuerrecht – Anmerkung zum BVerfG-Beschluß vom 14.6.1994, 1 BvR 1022/88 –, DStR 1994, 1219; Söhn, Einkommensteuer und subjektive Leistungsfähigkeit, Die Rspr. des Bundesverfassungsgerichts zu Kinderfreibetrag/Kindergeld und persönlichem Existenzminimum, FinArch. Bd. 51 (1994), 372; Einkommensteuer-Kommission2, Thesen zur Steuerfreistellung des Existenzminimums ab 1996 und zur Reform der Einkommensteuer, BMF-Schriftenreihe, Heft 55, 1995; Homburg, Zur Steuerfreiheit des Existenzminimums: Grundfreibetrag oder Abzug von der Bemessungsgrundlage?, FinArch. Bd. 52 (1995), 182; Richter, Einkommensteuerliche Freistellung unvermeidbarer Privatausgaben, in FS Schneider, 1995, 455; Seidl, Die steuerliche Berücksichtigung des Existenzminimums: tarifliche Nullzone, Freibetrag oder Steuerabsetzbetrag?, StuW 1997, 142; Tipke, StRO II2, 2003, 797 ff.; Lehner, Freiheitsrechtliche Vorgaben für die Sicherung des familiären Existenzminimums durch Erwerbs- u. Sozialeinkommen, in FS Badura, 2004, 331; Liesenfeld, Das steuerfreie Existenzminimum und der progressive Tarif als Bausteine eines freiheitsrechtlichen Verständnisses des Leistungsfähigkeitsprinzips, Diss., 2005; DStJG 29 (2006): Die Familie zwischen Privatrecht, Sozialrecht und Steuerrecht, Referate von Felix, 149, u. Axer, 175; Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem BVerfG, Diss., 2011; Schilling, Zwangsläufiger, pflichtbestimmter Aufwand in Ehe und Familie, Diss., 2013.
Tariflicher Grundfreibetrag: Die vom Gesetz als Grundfreibetrag bezeichnete Nullzone des § 32a I 2 Nr. 1 EStG soll den existenznotwendigen Grundbedarf des Stpfl., im Falle des Ehegattensplittings auch den des Ehegatten (s. Rz. 848 ff.) steuerfrei stellen. Bis 1995 war der Grundfreibetrag mit 2 871 Euro (Eheleute: 5 742 Euro) eklatant zu niedrig angesetzt. BVerfG v. 25.9. 1992, BVerfGE 87, 153, verpflichtete den Steuergesetzgeber, dem Einkommensbezieher von sei1 So §§ 2 II; 9 ff.; 35 ff. Kölner EStGE. Die offene Flanke des subjektiven Nettoprinzips, was unter unvermeidbaren oder zwangsläufigen privaten Aufwendungen zu verstehen ist (vgl. BVerfG, Rz. 73), kann eigentlich nur der Gesetzgeber selbst mit einem konsistenten Regelungssystem subjektiver Leistungsfähigkeit schließen. Ein Streit um die verfassungsrechtlichen Grenzen des subjektiven Nettoprinzips dürfte sich als endlos erweisen. 2 Mitglieder: Bareis (Vorsitzender), Offerhaus (stv. Vorsitzender), Altehoefer, Dziadkowski, Körner, Maydell, Pohmer, Reinhardt.
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81
§8
Rz. 82
Einkommensteuer
nen Erwerbsbezügen den sozialhilferechtlich bestimmten existenznotwendigen Lebensbedarf zu belassen. Mittlerweile passt der Gesetzgeber den Grundfreibetrag auf der Grundlage des Existenzminimumsberichts1 regelmäßig, allerdings nicht automatisch, an die Geldentwertung an. 82
Problematisch bleibt die bundeseinheitliche Typisierung. Der grds. zulässige bundeseinheitliche Grundfreibetrag muss nach BVerfGE 87, 153 (172) so hoch angesetzt sein, dass „in möglichst allen Fällen“ das Existenzminimum steuerfrei belassen wird. Bei regional sehr unterschiedlichen Kosten wie z.B. Wohnungsaufwendungen dürfe sich der Gesetzgeber nur an einem unteren Wert orientieren, wenn er zur ergänzenden Deckung des Grundbedarfs Sozialleistungen (wie z.B. Wohngeld) zur Verfügung stelle. Da derartige Sozialleistungen aber nur einem sehr begrenzten Personenkreis gewährt werden, besteht, soweit der steuerliche Grundfreibetrag nicht deutlich über dem durchschnittlichen sozialhilferechtlichen Existenzminimum liegt, die Gefahr, dass einer zu hohen Zahl von Stpfl., besonders den Einwohnern von München, Hamburg, Stuttgart u. anderen Hochpreisregionen die Steuerfreiheit des existenznotwendigen Grundbedarfs verwehrt wird2.
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Privatabzüge: Der existenznotwendige Lebensbedarf wird in der Bemessungsgrundlage durch verschiedene Privatabzüge berücksichtigt: – Den Grundbedarf von Kindern berücksichtigt der Kinderfreibetrag (§ 32 VI EStG), der als eine sozialhilferechtlich zu bestimmende Pauschale für das Existenzminimum zu qualifizieren ist3. Die Funktion des Kinderfreibetrages wird durch seine Verknüpfung mit dem Kindergeld und dem Freibetrag für Betreuungs-/Erziehungs-/Ausbildungsbedarf gestört (dazu Rz. 91 ff.). – Der Grundbedarf Unterhaltsberechtigter, für die weder Kinderfreibetrag noch Kindergeld gewährt wird, kann durch den allgemeinen Unterhaltsabzug (§ 33a I EStG) von dem durch den Unterhalt Verpflichteten geltend gemacht werden (s. im Weiteren Rz. 89, 90).
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– Abzüge für den regelmäßigen Mehrbedarf: Stpfl. können nach § 10 I Nr. 7 EStG ihren eigenen Ausbildungs-/Weiterbildungsmehrbedarf bis zu 6 000 Euro abziehen (s. Rz. 715). Der existenznotwendige Ausbildungsbedarf des Kindes, das am Familienleistungsausgleich teilnimmt, wird nach § 33a II EStG durch den Sonderbedarfbetrag von 924 Euro abgegolten (s. Rz. 752). Regelmäßiger Mehrbedarf entsteht auch infolge Körperbehinderung; dem tragen die Pauschbeträge für Behinderte und Pflegepersonen (§ 33b EStG) Rechnung (s. Rz. 732). Bezüglich der pauschalen Berücksichtigung des Mehrbedarfs infolge Ausbildung, Alter, Krankheit und Körperbehinderung weist das Steuerrecht Gemeinsamkeiten mit dem Sozialhilferecht auf4. BVerfGE 120, 125 (156 ff.) hat Beiträge zu privaten Kranken- u. Pflegeversicherungen dem einkommensteuerrechtlich zu verschonenden Existenzminimum zugeordnet, soweit die Kosten der Krankheit oder Pflege sozialhilferechtlich gewährleistet sind; zur Berücksichtigung durch Sonderausgabenabzug s. Rz. 711.
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– Außergewöhnliche Belastungen (§ 33 EStG) sind bei der Angleichung privater Abzüge vergleichbar mit der Sozialhilfe in besonderen Lebenslagen5. Dementsprechend deckt § 33 EStG im System der privaten Abzüge (s. Rz. 700 ff.) den existenznotwendigen Lebensbedarf ab, der infolge außergewöhnlicher Umstände über dem regelmäßig gegebenen Lebensbedarf liegt (s. Rz. 717 ff.).
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Kritik: Die Steuerfreiheit des Existenzminimums verlangt nach klaren Regeln. Das derzeitige Konglomerat von tariflichem Grundfreibetrag und Abzügen in der Bemessungsgrundlage wird diesem Anspruch nicht gerecht. Es birgt einerseits die Gefahr unzureichender Berücksichtigung, andererseits kommt es infolge der fehlenden Wechselbezüglichkeit von Privatabzügen und Privatbezügen zu ungleich wirkenden Begünstigungseffekten und Gestaltungsmöglichkeiten: Säuglinge, denen die Eltern eigene Einkünfte verschaffen, haben nicht nur das Erwachsenen-Existenzminimum; für sie wird den Eltern zusätzlich das Kinderexistenzminimum gewährt. 1 S. zuletzt 9. Existenzminimumbericht für 2014, BT-Drucks. 17/11425. 2 Zur Berechnung des existenznotwendigen Lebensbedarfs s. BVerfGE 87, 153 (173 ff.); 99, 246 (259 ff.); BT-Drucks. 13/9561; 14/1926; 14/6230, 4 ff. und aktuell BT-Drucks. 17/5550. 3 S. BVerfGE 99, 246 (259 ff.). 4 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 205 f., 549 ff.; Lehner Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993, 169 ff., 271 ff. 5 Dazu ausf. rechtsvergleichend Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993, 198 ff.
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Rz. 89
§8
In der ökonomischen Literatur ist debattiert worden, ob das Existenzminimum im Tarif oder in der Bemessungsgrundlage zu regeln ist1. Richtigerweise handelt es sich um eine Frage der Bemessungsgrundlage, weshalb mit Ausnahme des Grundfreibetrags alle subjektiven Abzüge für existenznotwendigen Bedarf in der Bemessungsgrundlage geregelt sind. Auch der heute in der Tarifnorm des § 32a angesiedelte Grundfreibetrag (ein Begriff der Bemessungsgrundlage!) gehört hierhin2. Die Auffassung von P. Kirchhof, dass der „existenzsichernde Aufwand logisch und systematisch dem erwerbssichernden Aufwand“ vorgehe3, ist nicht tatbestandstechnisch zu verstehen. Vielmehr weist P. Kirchhof dem subjektiven Nettoprinzip eine höhere verfassungsrechtliche Wertigkeit zu als dem objektiven Nettoprinzip. Kurzum: Das bestehende Konglomerat der privaten Abzüge schreit nach einer Fundamental-Reform, die das Recht ordnet und zugleich durchgreifend vereinfacht4.
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Bemessungsgrundlage: das zu versteuernde Einkommen
3.1.3 Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen Literatur: Tipke, Unterhalt u. sachgerechte Einkommensteuerbemessungsgrundlage, ZRP 1983, 25; Vogel, Zwangsläufige Aufwendungen – besonders Unterhaltsaufwendungen – müssen realitätsgerecht abziehbar sein, StuW 1984, 197; Arndt/Schumacher, Unterhaltslast und Einkommensteuerrecht, Widersprüchliche Rspr. der Senate des BVerfG?, NJW 1994, 961; J. Lang, Reform der Familienbesteuerung, in FS Klein, 1994, 437; J. Lang, Welche Maßnahmen empfehlen sich, um die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie zu verbessern?, Steuerrechtliches Referat, Verhandlungen des 60. DJT, Bd. II/1, 1994, O 61; Pechstein, Familiengerechtigkeit als Gestaltungsgebot für die staatliche Ordnung, Zur Abgrenzung von Eingriff und Leistung bei Maßnahmen des sog. Familienlastenausgleichs, Habil., 1994; Wosnitza, Die Besteuerung von Ehegatten und Familien – Zur ökonomischen Rechtfertigung eines Realsplittings, StuW 1996, 123; Klein, Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht, DStZ 1997, 105; Dziadkowski, Zur Berücksichtigung des Familienstandes bei der ESt 50 Jahre nach Verkündung des GG, DStZ 1999, 273; Bosshard, Familienbesteuerung im Umbruch, ASA 2001, 757; Kanzler, Die Zukunft der Familienbesteuerung – Familienbesteuerung der Zukunft, FR 2001, 921; Kulmsee, Die Berücksichtigung von Kindern im Einkommensteuergesetz, Diss., 2002; Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, 2003, 221 ff.; Tipke, StRO II2, 2003, 806 ff.; Pfab, Familiengerechte Besteuerung – Ein Plädoyer für ein Familiensplitting, ZRP 2006, 212; Jachmann, Reformbedarf bei der Familienbesteuerung?, BB 2008, 591; Jachmann, Berücksichtigung von Kindern im Focus der Gesetzgebung, FR 2010, 123; Sacksofsky, Familienbesteuerung in der steuerpolitischen Diskussion, FR 2010, 119; Leisner-Egensperger, § 175: Besteuerung von Ehe und Familie, in Leitgedanken des Rechts II, 2013.
Im geltenden Einkommensteuerrecht sind Unterhaltsleistungen folgenden Regeln unterworfen:
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§ 12 Nr. 2 EStG scheidet zunächst Unterhaltsaufwendungen systemgerecht aus dem Einkommensteuerobjekt „Summe der Einkünfte“, der Maßgröße objektiver Leistungsfähigkeit (s. Rz. 54) aus. § 12 Nr. 2 EStG konkretisiert und erweitert den Rechtssatz des § 12 Nr. 1 Satz 1 EStG, dass Aufwendungen für den Unterhalt der Familienangehörigen nicht als Erwerbsaufwendungen abzugsfähig sind (dazu Rz. 241). Abzugsregeln in der Maßgröße subjektiver Leistungsfähigkeit auf den Stufen des § 2 IV, V EStG (s. Rz. 70 ff.): (1) Allgemeiner Unterhaltsabzug: Nach § 33a I 1 EStG werden Aufwendungen auf Grund einer gesetzlichen Unterhaltspflicht des Stpfl. oder seines Ehegatten auf Antrag bis zu 8 354 Eu1 Vgl. hierzu Homburg, FinArch. 52 (1995), 182; Esser, DStZ 1994, 517; Hackmann, BB-Beilage 19/1994; Bareis, DStR 2010, 565 ff.; dagegen entspricht die Sicht der Finanzwissenschaft eher der steuerjuristischen, s. Richter, FS Schneider, 1995, 455 (457 f.); Prinz, FR 2010, 105 (106 mit Fn. 14). 2 Schlick, Wirtschaftsdienst 2013, 841. 3 So P. Kirchhof, Gutachten F zum 57. DJT, 1988, 52. S. auch P. Kirchhof, Stbg. 1993, 509. 4 Vgl. dazu die Regelung von Privatausgaben und Privateinnahmen in den §§ 35, 36 Kölner EStGE. Ein derartiges konsistentes Regelungssystem erscheint für die Konkretisierung des subjektiven Leistungsfähigkeitsprinzips erforderlich, um Streitigkeiten vor dem BVerfG zu vermeiden.
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89
§8
Rz. 90
Einkommensteuer
ro1 im Kalenderjahr vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen. Dieser Betrag wird nach § 33a I 5 EStG durch eigene Einkünfte oder Bezüge der unterhaltenen Person (Bezüge aus öffentlichen Mitteln u.a. Bezüge ab 624 Euro) gemindert (s. Rz. 736). 90
Der allgemeine Unterhaltsabzug dient dem Zweck, den existenznotwendigen Grundbedarf abzudecken. Daher greift er grds. nicht Platz, soweit das EStG den Grundbedarf der unterhaltenen Person an anderer Stelle berücksichtigt. So darf für die unterhaltene Person weder Anspruch auf Kindergeld noch auf den Kinderfreibetrag bestehen (§ 33a I 4 EStG). Ferner konsumieren Ehegattensplitting (§ 32a V EStG)2 und Realsplitting für geschiedene oder dauernd getrennt lebende Ehegatten (§§ 10 Ia Nr. 1; 22 Nr. 1a i.V.m. § 33 II 2 EStG) den allgemeinen Unterhaltsabzug (s. Rz. 736). Nicht zu rechtfertigen ist die Voraussetzung, dass die unterhaltene Person kein oder nur ein geringes Vermögen besitzt (§ 33a I 4 EStG), und die Verkürzung des Höchstbetrages bei eigenen Bezügen des Kindes (§ 33a I 5 EStG). Es verletzt den Grundsatz der Individualbesteuerung (s. Rz. 22), wenn die Höhe des Unterhaltsabzuges nicht ausschließlich nach der Belastung des Stpfl., sondern auch nach der Leistungsfähigkeit der unterhaltenen Person bemessen wird, wobei die Vermögensleistungsfähigkeit überhaupt aus dem System der Einkommensbesteuerung herausfällt. Bezüge und Vermögen der unterhaltenen Person sind relevant für das Bestehen des gesetzlichen Unterhaltsanspruchs; allein diese Voraussetzung in § 33a I 1 EStG mindert die steuerliche Leistungsfähigkeit des Verpflichteten, nicht die wirtschaftliche Situation des Berechtigten.
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(2) Der Unterhalt für Kinder3 wird primär durch die Abgeltung des existenznotwendigen Grundbedarfs im vom Gesetz sog. Familienleistungsausgleich4 (§ 31 EStG) berücksichtigt; daneben enthält der Einkommensteuertatbestand ein Konglomerat sog. kindbedingter Erleichterungen in den §§ 10 I Nr. 5 (Kinderbetreuungskosten, s. Rz. 713), 10 I Nr. 9 (Schulgeld, s. Rz. 716 f.), 24b (Entlastungsbetrag für Alleinerziehende, s. Rz. 751), 33 III (geringere Verkürzung der zumutbaren Belastung), 33a II (Ausbildungsfreibetrag, s. Rz. 752), 33b V (Behinderung, s. Rz. 753), 51a II, IIa EStG (Bemessungsgrundlage für Zuschlagsteuern) sowie die Kinderzulage im Rahmen der Förderung der Altersvorsorge (§ 85 EStG).
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Kinderfreibetrag und Kindergeld sind seit 1983 in einem dualen System miteinander verknüpft. BVerfGE 82, 60 (78 ff.) billigte grds. das Konzept des dualen Systems und stellte dazu fest, dass das Kindergeld in diesem System sowohl „steuerliche Entlastungsfunktion“ als auch die Funktion einer „allgemeinen Sozialleistung“ habe. Infolgedessen gestattete BVerfGE 82, 60 (92 ff.) die Umrechnung des Kindergeldes in einen fiktiven Kinderfreibetrag. Diesen Ansatz baute der Gesetzgeber im JStG 1996 zu dem Familienleistungsausgleich in § 31 EStG aus, wonach zunächst monatlich Kindergeld bezahlt wird (§ 31 Satz 3 EStG). Dieses Kindergeld ist als Steuervergütung (s. § 6 Rz. 88) zu behandeln, soweit die Steuerbelastung des für das Existenzminimum des Kindes benötigten Einkommens zurückgenommen wird. Ergibt sich nach Abzug der fiktiven Freibeträge ein zu versteuerndes Einkommen unterhalb des Eingangssatzes des Tarifs, ist der Stpfl. wirtschaftlich nicht mit Einkommensteuer belastet, das Existenzminimum des Stpfl. und seiner Kinder also von der Besteuerung ausgenommen5.
1 Der Unterhaltshöchstbetrag ist realitätsgerecht am sozialhilferechtlichen Mindestbedarf zu orientieren (so BVerfG v. 13.12.1996, FR 1997, 156 m. Anm. Kanzler). 2 BFH GrS BStBl. 1989, 164; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 565. 3 Dazu insb. Söhn, FS Klein, 1994, 421; Vogel, FS Offerhaus, 1999, 47; Birk, FS Kruse, 2001, 339; Kulmsee, Die Berücksichtigung von Kindern im EStG, Diss., 2002; Jachmann, FR 2010, 123. 4 Dazu Pechstein, Familiengerechtigkeit als Gestaltungsgebot für die staatliche Ordnung, Habil., 1994; Heuermann, FR 2000, 248; Heuermann, DStR 2000, 1546; Lange, ZRP 2000, 415; Renner, Familienlasten- oder Familienleistungsausgleich?, Diss., 2000; Goebbels, Die familiengerechte Besteuerung, dargestellt am Beispiel des einkommensteuerlichen Familienleistungsausgleichs, Diss., 2001; Kanzler, DStJG 24 (2001), 417 (444 ff.); Tünnemann, Der verfassungsrechtliche Schutz der Familie und die Förderung der Kindererziehung im Rahmen des staatlichen Kinderleistungsausgleichs, Diss., 2002. Weitere Lit. vor Rz. 742. 5 BFH BStBl. 2006, 291.
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Bemessungsgrundlage: das zu versteuernde Einkommen
Rz. 94
§8
Soweit die Jahressumme des Kindergeldes die Steuerbelastung des existenznotwendigen Einkommens überschreitet, hat das Kindergeld die Funktion einer Subvention. Reicht die Jahressumme des Kindergeldes für die Rückgewähr der verfassungswidrigen Steuerbelastung nicht aus, was bei den hohen Einkommen der Fall ist, so greifen die Freibeträge nach § 32 VI EStG Platz: Kinderfreibetrag und zusätzlich der Freibetrag für Betreuungs-/Erziehungs-/Ausbildungsbedarf. BVerfG v. 10.11.19981 quantifiziert den Kinderfreibetrag genau2 und qualifiziert zugleich den Betreuungsbedarf der Eltern als notwendigen Bestandteil des familiären Existenzminimums, „ohne dass danach unterschieden werden dürfte, in welcher Weise dieser Bedarf gedeckt wird“ (BVerfGE 99, 216 [217: 2. LS]). Die Leistungsfähigkeit von Eltern werde über den „existentiellen Sachbedarf“ (Kinderfreibetrag) und den „erwerbsbedingten Betreuungsbedarf“ (Erwerbsaufwendungen) hinaus durch einen (nicht monetären) Betreuungsbedarf gemindert. Das EStG habe „den Betreuungsbedarf eines Kindes stets zu verschonen, mögen die Eltern das Kind persönlich betreuen, mögen sie eine zeitweilige Fremdbetreuung des Kindes, z.B. im Kindergarten, pädagogisch für richtig halten oder mögen sich beide Eltern für eine Erwerbstätigkeit entscheiden und deshalb eine Fremdbetreuung in Anspruch nehmen“ (BVerfGE 99, 234). Diese Judikatur hat das Gesetz zur Familienförderung v. 22.12.19993 umgesetzt und dem Kinderfreibetrag einen Betreuungsfreibetrag hinzugefügt, den der Gesetzgeber4 ab 2002 um eine Erziehungskomponente ergänzte: § 32 VI EStG gewährt einen Kinderfreibetrag für das „sächliche Existenzminimum“ von 4 368 Euro und einen Freibetrag „für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf“ von 2 640 Euro, zusammen also ein steuerfreies Existenzminimum von 7 008 Euro.
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Kritik5: Mit diesem Betrag rückt der Kindergrundbedarf in die Nähe des Existenzminimums für Erwachsene (Grundfreibetrag: 8 354 Euro). Mangels Korrespondenz zwischen Kinderfreibetrag der Eltern und eigenem Grundfreibetrag des Kindes kommt es bei Kindern mit eigenen Einkünften sogar zur Steuerfreiheit i.H.v. 15 362 Euro (s. Rz. 86). Gegen den überhöhten Ansatz des Existenzminimums ist zunächst einzuwenden, dass die Steuerfreistellung von Einkommensteilen nur den monetären Bedarf erfassen darf6. Die Anerkennung nicht monetärer Betreuungsund Erziehungsleistungen liegt außerhalb des Einkommensteuertatbestandes und führt zu einem vollkommen neuartigen Leistungsfähigkeitsbegriff7, der gleichheitsrechtlich nicht nur
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1 BVerfGE 99, 216 (Betreuungsbedarf); 99, 246 (Grundsatzbeschluss zum Kinderfreibetrag); 99, 268 (Kinderexistenzminimum 1985); 99, 273 (Kinderexistenzminimum 1987 u. 1988). 2 Nach BVerfGE 99, 246 (259 ff.) darf das „sozialrechtlich definierte Existenzminimum“ über-, jedoch nicht unterschritten werden (LS Buchstabe a). LS Buchstabe c: „Der Wohnbedarf ist nicht nach der Pro-Kopf-Methode, sondern nach dem Mehrbedarf zu ermitteln“. Dazu Dziadkowski, BB 1999, 1409; Horlemann, DStR 1999, 397, und zu § 53 EStG: Kanzler, FR 2000, 581; Roos, DStZ 2000, 205. 3 BGBl. I 1999, 2552. Dazu grds. Schön, Die Kinderbetreuung, das BVerfG u. der Entwurf eines Gesetzes zur Familienförderung, DStR 1999, 1677; Seer/Wendt, Die Familienbesteuerung nach dem sog. „Gesetz zur Familienförderung“ v. 22.12.1999, NJW 2000, 1904. 4 Zweites Gesetz zur Familienförderung v. 16.8.2001, BGBl. I 2001, 2074. 5 Zur verfehlten Umrechnung des Kindergeldes in einen fiktiven Kinderfreibetrag insb. Pezzer, StuW 1989, 222/223; J. Lang, StuW 1990, 340; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993, 266 ff.; Söhn, FS Klein, 1994, 421 (434); Vogel, FS Offerhaus, 1999, 47 (57 f.). Zur Neuregelung des Familienleistungsausgleichs durch §§ 31; 32; 62 ff. EStG insb. Wendt, FS Tipke, 1995, 47 (60 ff.); Lieber, DStZ 1997, 207; Schön, DStR 1999, 1677; Seer/Wendt, NJW 2000, 1904; Kanzler, DStJG 24 (2001), 417 (447 ff.). 6 Gegen die einkommensteuerrechtliche Berücksichtigung des nicht monetären Aufwands wendet sich geradezu einhellig das juristische Schrifttum, so insb. Schön, DStR 1999, 1677 (1680); Seer/Wendt, NJW 2000, 1904 (1907); Tipke, StRO I2, 2000, 396; Lange, ZRP 2000, 415 (417 f.); Sacksofsky, NJW 2000, 1896 (1899, 1902); Birk/Wernsmann, JZ 2001, 218 (221 f.); Kanzler, DStJG 24 (2001), 417 (453 f.). Demgegenüber rechtfertigt P. Kirchhof, NJW 2000, 2792 (2795) den Betreuungsfreibetrag mit dem Einkommensverzicht des betreuenden Elternteils. 7 Dazu ausf. Birk/Wernsmann, JZ 2001, 218 (221): Nur finanzieller Aufwand könne die verfassungsrechtlich maßgebliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mindern (Hinweis auf BVerfGE 61, 319 [344]). Demgegenüber orientiert Jachmann, Steuerrechtfertigung aus der Gemeinwohlverantwortung, DStZ 2001, 225; KSM/Jachmann, § 32 EStG Rz. A 81a (2004), das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht nur an der Zahlungsfähigkeit, sondern zudem an der Gemeinwohlverantwortung des Bürgers. Folge-
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§8
Rz. 95
Einkommensteuer
auf Kinderbetreuung, sondern auch auf andere Betreuungsarten, z.B. pflegebedürftiger alter Familienangehöriger, erstreckt werden müsste. Das BVerfG versteht sich als Hüter der Neutralität des Staates gegenüber unterschiedlichen Familienformen. Neutralität ist aber nur dann gewährleistet, wenn das Steuerrecht Unterschieden der steuerlichen Leistungsfähigkeit Rechnung trägt. Behandelt es unterschiedliche wirtschaftliche Sachverhalte gleich, ist es gerade nicht neutral, sondern wirkt verzerrend auf bestimmte Familienentwürfe1. Mit der Berücksichtigung außersteuertatbestandlicher Betreuungs- und Erziehungskomponenten wird das Kindhaben in bestimmten Familienmodellen subventioniert und damit die Gemengelage von Fiskalzweck- und Sozialzwecknormen im Familienleistungsausgleich vertieft. Stattdessen müssen Kinderbetreuungskosten in angemessenem realitätsgerechtem Umfang dann abzugsfähig sein, wenn sie eine Erwerbstätigkeit ermöglichen2. Die unbefriedigende Lösung des § 10 I Nr. 5 EStG (dazu Rz. 713) ist auch auf das ungeklärte Zusammenspiel mit der Betreuungskomponente des § 32 VI EStG zurückzuführen. 95
Diese Vermengung von Steuer- und Sozialrecht3 bewirkt ganz erhebliche verfassungsrechtliche, rechtssystematische und auch sozialpolitische Mängel4: Das Verfassungsrecht gebietet, dass indisponibles Einkommen a priori von verfassungswidriger Belastung verschont wird5. Das Kindergeld ist eigentlich keine Steuervergütung; es erstattet vielmehr eine verfassungswidrig zu Unrecht erhobene Steuer. Soweit das Kindergeld die verfassungswidrige Belastung nicht ausgleicht, begründet die Regelung des § 31 EStG einen temporär verfassungswidrigen Zustand. Soweit jedoch die steuerliche Freistellung des Kindbedarfs die sozialhilferechtliche Marke überschreitet, schlägt der Familienleistungsausgleich in eine nicht zu rechtfertigende Begünstigung der höheren Einkommen um.
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Die m.E. verfassungswidrigen Benachteiligungs- und Begünstigungswirkungen lassen sich nur beseitigen, wenn Steuerrecht und Sozialrecht normativ getrennt werden: Das Existenzminimum des Kindes ist durch einen sozialhilferechtlich bestimmten Kinderfreibetrag steuerfrei zu stellen. Erwerbsbedingter Betreuungsbedarf begründet den Steuerabzug von Erwerbsaufwendungen (s. Rz. 754). I.Ü. ist eine Subventionierung des Kindhabens im Steuerrecht fehlplat-
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richtig möchte KSM/Jachmann auch die nicht monetären Betreuungsleistungen steuerlich berücksichtigt wissen, weil Eltern ihrer Gemeinwohlverantwortung bereits mit der Kinderbetreuung nachkommen würden. Derjenige, der wegen Kinderbetreuung sein Erwerbspotenzial nicht ausnutze (wohl im Anschluss an P. Kirchhof, NJW 2000, 2792) könne „nicht demjenigen gleichgestellt werden, der Freizeitgestaltung der wirtschaftlichen Ertragserzielung vorzieht, deshalb weniger zahlungsfähig ist und vom Staat nicht zur Besteuerung herangezogen werden kann“. Diese Argumentation läuft letztlich auf eine Besteuerung des Freizeitnutzens hinaus, die nicht nur dem Verständnis des Leistungsfähigkeitsprinzips als Zahlungsfähigkeitsprinzip entgegensteht, sondern auch den Boden einer Besteuerung von Einkommen verlässt. Englisch, DStJG 37 (2014), 159 (192 ff.). Ebenso Jachmann, FR 2010, 123 (126); aus ökonomischer Sicht Bünnagel, Wirtschaftsdienst 2013, 846; a.A. BFH BStBl. 2010, 267. Der Familienpolitik gilt der Kinderfreibetrag als frei disponible Variante in einem sog. Fördersystem des sog. Familienlastenausgleichs, vgl. pars pro toto Albers, Familienlastenausgleich in der BRD, FinArch. 49 (1991/92), 407; Willeke/Onken, Allgemeiner Familienlastenausgleich in der BRD, Eine empirische Analyse zu drei Jahrzehnten monetärer Familienpolitik, 1990; Willeke/Onken, Familienlastenausgleich mit variablem Kindergeld, StuW 1991, 3; Willeke, Profile des Familienlastenausgleichs, in Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 1993, 193; P. Kirchhof u.a., Karlsruher Entwurf zur Reform des EStG, 2001, empfiehlt die vollständige Streichung des Kinderfreibetrags zugunsten eines „angemessenen Kindergeldes“. Dazu insb. Lieber, DStZ 1997, 207; Schön, DStR 1999, 1677; Seer/Wendt, NJW 2000, 1904; Kanzler, DStJG 24 (2001), 417. 2006 hat der Deutsche Juristentag beschlossen: „Die Regelung sozialstaatlicher Leistungen im Einkommensteuerrecht missachtet den grundlegenden Unterschied zwischen einem vom Leistungsfähigkeitsprinzip geprägten Steuerrecht und dem vom Bedürfnisprinzip geprägten Sozialrecht, widerspricht dem verfassungsrechtlichen Gebot der Normenklarheit und überfordert auf Dauer den Sozialstaat“ (Sitzungsbericht Q, 2006, 167). Wendt, FS Tipke, 1995, 47 (62); Lieber, DStZ 1997, 207; Kanzler, DStJG 24 (2001), 417 (448 f. m.w.N. in Fn. 198); KSM/Jachmann, § 31 EStG Rz. A 49, A 55a (2004): Der Staat gäbe als Sozialleistung, was er via Steuer zu Unrecht genommen habe; HHR/Kanzler, § 31 EStG Anm. 10 (2010).
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Bemessungsgrundlage: das zu versteuernde Einkommen
Rz. 99
§8
ziert: Das Kindergeld sollte wieder als eine am Bedürfnisprinzip orientierte Sozialsubvention ausgestaltet werden, die Eltern mit niedrigen Einkommen zusätzlich zum Kinderfreibetrag gewährt wird. Das Kindergeldrecht gehört nicht in das EStG, sondern in das Bundeskindergeldgesetz!1 Die nicht monetäre Kinderbetreuung/-erziehung kann nach dem Verdienstprinzip (s. § 3 Rz. 135 f.) einkommensunabhängig durch ein angemessenes Erziehungsgeld subventioniert werden, wenn dies politisch gewollt ist. (3) Der Ehegattenunterhalt wird bei intakter Ehe von Personen, die nach Maßgabe der §§ 1 I, II; 1a EStG (s. Rz. 25 f., 29 ff.) unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind (s. § 26 EStG), durch ein tarifliches Splitting berücksichtigt: Nach § 32a V EStG beträgt die tarifliche Einkommensteuer das Zweifache des Steuerbetrages, der sich für die Hälfte des von den Ehegatten gemeinsam zu versteuernden Einkommens (§ 26b EStG) ergibt. Nach BVerfGE 61, 319 (345 f.) berücksichtigt das Ehegattensplitting die Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft der intakten Durchschnittsehe und ist insofern keine Steuervergünstigung (s. § 3 Rz. 163). Es bildet vielmehr die Verteilung des Einkommens in der intakten Durchschnittsehe ab. Eine derartige Regelung gehört nicht in den Tarif, sondern in die Bemessungsgrundlage.
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Für den Unterhalt geschiedener oder dauernd getrennt lebender und unbeschränkt einkommensteuerpflichtiger Ehegatten sehen §§ 10 Ia Nr. 1; 22 Nr. 1a EStG2 ein begrenztes Realsplitting vor: Der Geber kann jährlich Unterhaltsleistungen bis zu 13 805 Euro als Sonderausgaben abziehen, wenn der Empfänger zustimmt. Der Empfänger hat die Unterhaltsleistungen zu versteuern, soweit sie nach § 10 Ia Nr. 1 EStG vom Geber abgezogen werden können (§ 22 Nr. 1a EStG). Grenzüberschreitende Unterhaltszahlungen an beschränkt Stpfl. können nicht abgezogen werden3, müssen allerdings auch nach § 22 Nr. 1 EStG nicht versteuert werden, wenn der Geber im Ausland wohnt. § 22 Nr. 1a EStG ist lex specialis gegenüber § 22 Nr. 1 EStG und setzt den Steuerabzug der Unterhaltsleistungen voraus4.
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Der Gesetzgeber wollte mit diesem Realsplitting den Wegfall des Ehegattensplittings nach dem Scheitern der Ehe abfedern5. Im Prinzip wird durch das Realsplitting der Transfer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit durch zwangsläufige Unterhaltsleistungen (s. Rz. 75) sachgerecht berücksichtigt. Die Geschiedenen und Getrenntlebenden werden jedoch insofern privilegiert, als die sachgerechte Regelung des Realsplittings für alle Unterhaltsgemeinschaften geboten ist. Andererseits ist gegen § 10 Ia Nr. 1 EStG einzuwenden, dass eine Begrenzung auf 13 805 Euro nicht gerechtfertigt ist, wenn ein Rechtstitel über einen höheren Betrag vorliegt. Umgekehrt fehlt die Tatbestandsvoraussetzung der Zwangsläufigkeit: Ein Realsplitting in Höhe von 13 805 Euro ist nicht zu rechtfertigen, wenn die Verpflichtung den Betrag von 13 805 Euro unterschreitet. Gänzlich verfehlt ist es, den Abzug als Sonderausgaben von der Zustimmung des Empfängers abhängig zu machen (ebensogut könnte man den Abzug als Betriebsausgaben von der Zustimmung des Geschäftspartners abhängig machen).
(4) Der Tatbestand der wiederkehrenden Bezüge (§ 22 Nr. 1 EStG) erfasst auch Unterhaltsbezüge. § 22 Nr. 1 Satz 2 EStG schließt die Besteuerung beim Empfänger jedoch mit der wenig glücklichen Formulierung „sind dem Empfänger nicht zuzurechnen“ grds. aus, es sei denn, es handelt sich um Leistungen steuerbefreiter Körperschaften außerhalb ihrer steuerbegünstigten Zwecke. Der Verzicht auf die Erfassung beim Empfänger lässt sich mit dem fehlenden Unterhaltsabzug beim Geber (§ 12 Nr. 2 EStG) zur Vermeidung von Doppelbesteuerung rechtfertigen6. Dabei werden Doppelentlastungen in Kauf genommen, weil die Unterhaltsbezüge mangels ausdrücklicher Verknüpfung mit der steuerlichen Behandlung beim Geber dem 1 Zur (auch verfahrensrechtlichen) Unvereinbarkeit von Steuer- und Kindergeldrecht Kanzler, DStJG 24 (2001), 417 (449). Vgl. auch Heuermann, FR 2000, 248 ff. 2 Ausf. Stiller, DStZ 2011, 154, zu Wirkungen und Optimierungspotential. Höchstbetrag verfassungsrechtlich unbedenklich auch bei deutlich höherer zivilrechtlicher Unterhaltsverpflichtung BFH/NV 2012, 214. 3 Art. 18 I; 21 I AEUV sind nicht verletzt, wenn Unterhaltsleistungen an einen im EU-Ausland wohnenden geschiedenen Ehegatten nicht abzugsfähig und dort nicht zu versteuern sind. So EuGH C-403/03, Schempp; dazu Kofler, ÖStZ 2005, 538; M. Lang, SWI 2005, 411; Panayi, ET 2005, 482. 4 BFH BStBl. 2004, 1047. 5 BT-Drucks. 8/2100, 60. Dazu Uelner, StbKongrRep. 1979, 99 (115 ff.). 6 KSM/Fischer, § 22 EStG Rz. B 351 ff. (1995); HHR/Killat-Risthaus, § 22 EStG Anm. 225 ff (2012).
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§8
Rz. 100
Einkommensteuer
Empfänger auch dann nicht „zugerechnet“ werden, wenn sie als Sonderausgaben oder außergewöhnliche Belastung abzugsfähig waren. Mangels eines allgemeinen Tatbestandes der „Privatbezüge“ scheidet in diesem Fall eine anderweitige Erfassung aus.
3.2 Reform der Familienbesteuerung 100
Nach Tipke1 ist die Regelung des „Unterhalts-Steuerrechts“ konzeptionslos, unsystematisch-inkonsequent, verworren und unübersichtlich. In der Tat ist das Bedürfnis nach einer Strukturreform der Familienbesteuerung unabweisbar. Die Vielfalt der Diskriminierungen, auch Privilegierungen bestimmter Gruppen von Stpfl. in dem verworrenen Konglomerat von Unterhaltsabzügen und Splitting-Regelungen ist nur durch eine Reform zu beseitigen, die von dem überholten, mit dem verfassungsrechtlichen Wertsystem (vgl. Rz. 74) unvereinbaren Konzept Abschied nimmt, nur das Markteinkommen oder gar nur Erwerbsbezüge würden abschließend die steuerliche Leistungsfähigkeit messen (s. Rz. 78). Als Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit ist nur eine bedarfsorientierte Maßgröße des für die Steuerzahlung wirklich verfügbaren Einkommens tauglich; es gilt nichts anderes als im Sozialrecht, wo wirtschaftliche Bedürftigkeit zu messen ist (s. § 1 Rz. 41), und es gilt die Werteinheit der Rechtsordnung2 (s. § 1 Rz. 45). Die Reform hat zweierlei zu leisten:
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– Zunächst muss zur Bemessung der individuellen Leistungsfähigkeit sowohl der Verpflichteten als auch der Berechtigten der Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit durch zwangsläufige Unterhaltsleistungen in der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer abgebildet werden. Hierfür ist die sachgerechte Regelung das Realsplitting3, das zu einem Familien-Realsplitting ausgebaut werden müsste4.
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– Sodann ist bei jedem Individuum der existenznotwendige Lebensbedarf durch private Abzüge nach den Maßstäben des Sozialhilferechts zu berücksichtigen (s. Schaubild, Ebene d, in Rz. 80); dabei sind die rohe, alle Stpfl. über einen Leisten spannende tarifliche Nullzone (sog. Grundfreibetrag, § 32a I 2 Nr. 1 EStG) sowie die Vorschriften des Familienleistungsausgleichs (§§ 31 ff.; 62 ff. EStG) und der außergewöhnlichen Belastung (§§ 33 ff. EStG) durch ein mit dem Sozialhilferecht kompatibles System von Lebensbedarfabzügen zu ersetzen.
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Verfassungsrechtlich zwingend ist die Berücksichtigung des Familienexistenzminimums. Inwieweit darüber hinausgehende Unterhaltsleistungen zum Abzug zugelassen werden, hängt maßgeblich davon ab, welches Verständnis von subjektiver Leistungsfähigkeit und indisponiblem Einkommen zugrundegelegt wird5. 1 Tipke, StRO II2, 809. 2 BVerfGE 108, 351, hat zur Bemessung des an den ehemaligen Ehegatten zu leistenden Unterhalts entschieden, dass die Gerichte die steuerlichen Vorteile aus dem Splitting für die Zweitehe nicht durch eine Unterhaltsberechnung entziehen dürften, die an das Nettoeinkommen anknüpft und damit zu einem höheren Unterhaltsanspruch des ehemaligen Ehegatten führt. Diese Korrektur der Zivilrechtsprechung zeigt, dass die unterschiedliche Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen im geltenden Steuerrecht allgemeine zivilrechtliche Maßstäbe der Unterhaltsberechnung vereitelt. Eine steuerneutrale Bruttoberechnung des Unterhalts wird erst allgemein möglich, wenn das Unterhaltsrecht im Steuerrecht ausnahmslos durch ein umfassendes Realsplitting nachvollzogen wird (s. § 37 Kölner EStGE) und dementsprechend die Leistungsfähigkeit von Verpflichtetem und Berechtigtem zutreffend bestimmt ist. Die Unterhaltsberechnung kann dann daran anknüpfen, dass Unterhaltsausgaben steuerlich stets abziehbar und Unterhaltseinnahmen stets zu versteuern sind. 3 Tipke, StRO II2, 808 zu dem in Rz. 98 f. erörterten Realsplitting der §§ 10 Ia Nr. 1; 22 Nr. 1a EStG: „Warum diese Aufnahme nicht zum allgemeinen, dem Leistungsfähigkeitsprinzip entsprechenden Unterprinzip erhoben wird, ist nicht erfindlich“. 4 S. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 650 ff.; Kölner EStGE, §§ 106 (Summe der Privatbezüge und Privatabzüge), 134 (Unterhaltsabzüge), 1003/1004 (Familiensteuerbescheide); J. Lang, Verhandlungen des 60. DJT, Bd. II/1, 1994, O 61, O 79 ff. 5 Hierzu sehr instruktiv Englisch, DStJG 37 (2014), 159 (167 ff.); bezüglich des Familienexistensminimums in Anlehnung an Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, 2003, 237 f.
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Bemessungsgrundlage: das zu versteuernde Einkommen
Rz. 104
§8
Ein Familien-Realsplitting könnte den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Familienbesteuerung in vollem Umfang Rechnung tragen: Es bildet den Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit durch zwangsläufige Unterhaltsleistungen realitätsgerecht ab und bettet das Ehegattensplitting in ein für alle Unterhaltsgemeinschaften geltendes System ein1 (so das Familien-Realsplitting des Kölner EStGE, § 37, insb. § 37 III). Dabei geht es nicht primär nur um den Steuerabzug in voller Höhe des zivilrechtlichen Unterhaltsanspruchs2, sondern entscheidend ist die Kombination von Steuerabzug und Steuerpflicht der Unterhaltsbezüge. Die dadurch bewirkte steuerliche Verteilung von Einkommen auf die Mitglieder der Unterhaltsgemeinschaft liefert die Grundlage für eine streng am Grundsatz der Individualbesteuerung ausgerichtete Bestimmung steuerlicher Leistungsfähigkeit. Dabei können besonders die Existenzminima realitätsgerecht in Übereinstimmung mit dem Sozialhilferecht angesetzt und ein überhöhter bzw. mehrfacher Ansatz des Existenzminimums ausgeschlossen werden (s. das Schaubild in Rz. 80). Gerade die soziale Gleichheit gebietet das Familien-Realsplitting3; ein solches wird nämlich längst durch Übertragung von Einkunftsquellen für Familien mit Unternehmen und Vermögen hergestellt. Dabei werden die Existenzminima für Kinder überhöht (Erwachsenen-Existenzminimum für Kinder mit eigenen Einkünften) und doppelt (15 262 Euro, Grundfreibetrag + Kinderfreibetrag für das Existenzminimum des Säuglings mit eigenen Einkünften, s. Rz. 86, 94) angesetzt. Die Einwände der Praktikabilität gegen das Familien-Realsplitting haben angesichts des dynamisch weiter wuchernden Konglomerats von Unterhalts- und Existenzminimumabzügen keine Überzeugungskraft. Eine einheitliche Regelungsstruktur für alle Unterhaltsgemeinschaften und Existenzminima mit realitätsgerechten Pauschalierungen des existenznotwendigen Lebensbedarfs und der Unterhaltsabzüge/-bezüge würde das Steuerrecht durchgreifend vereinfachen.
Seit langem genießt das Familien-Realsplitting breite Zustimmung4. Der 60. Deutsche Juristentag5 hat bereits 1994 mit überwältigender Mehrheit (106:1:12) beschlossen: „Das Ehegattensplitting ist in eine Form der Familienbesteuerung umzugestalten, welche das Familienexistenzminimum in Übereinstimmung mit dem Sozialhilferecht steuerfrei stellt und die familienrechtlich vorgegebene Einkommensverteilung in Ehe und Familie nachvollzieht“. Allerdings hat auch das Familiensplitting als reines Faktorverfahren ähnlich dem Ehegattensplitting, nur mit anderen Divisoren für die Kinder, Befürworter6. Es ist indes aus gleichheits1 Dazu insb. Vogel, StuW 1999, 201 (208 f.) (zum Einbau der Ehegattenbesteuerung in ein Familien-Realsplitting); Seer, Das Ehegattensplitting als typisiertes Realsplitting, FS Kruse, 2001, 357 (366 ff.). S. auch § 3 Rz. 164. 2 Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung hierzu verneint BVerfGE 82, 60 (91); 124, 282 (296), ohne jedoch die Versteuerung von Unterhaltsbezügen anzusprechen! Ebenso Birk/Wernsmann, JZ 2001, 218 (220, dort Fn. 30). 3 Dies verkennt Sacksofsky, FR 2010, 119 (122). 4 Zust. insb. Pohmer, FinArch. 46 (1988), 135 (152); Martens, StVj 1989, 214; Moderegger, Der verfassungsrechtliche Familienschutz und das System des Einkommensteuerrechts, 1991, 164, 176 ff.; Vorwold, FR 1992, 789 ff.; Arndt/Schuhmacher, AöR 118 (1993), 576 ff.; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993, 166 f.; Lingemann, Das rechtliche Konzept der Familienbesteuerung, Diss., 1994, 156 ff.; Pechstein, Familiengerechtigkeit als Gestaltungsgebot für die staatliche Ordnung, Habil., 1994, 301 ff.; Schlee, Einkommensteuerliche Behandlung von Transferzahlungen, Diss., 1994, 200 ff.; Söhn, FS Klein, 1994, 421 (433 f.); Wosnitza, StuW 1996, 123 (ökonomische Rechtfertigung); Wendt, FS Tipke, 1995, 47 (67 f.), 1995; Treisch, Existenzminimum und Einkommensbesteuerung, Diss., 1999, 435 f.; Seer/Wendt, NJW 2000, 1904 (1907); Kanzler, DStJG 24 (2001), 417 (459 ff.); KSM/Jachmann, § 31 EStG Rz. A 55 (2004). Der von Jachmann, FR 2010, 123 (124), befürchtete verfahrensrechtliche Mehraufwand wird durch die Zusammenveranlagung der Familienangehörigen (§ 51 Kölner EStGE) vermieden. Unterhaltsberechtigte mit eigenen Einkünften werden nur dann getrennt veranlagt, wenn sie getrennte Veranlagung beantragen (§ 51 III Kölner EStGE). Dabei ist die Veranlagungsart vom materiellen Recht abgekoppelt, so dass sie die Höhe der ESt nicht wie beim geltenden Ehegattensplitting (§ 32a V i.V.m. §§ 26; 26b EStG) u. beim tariflichen Familiensplitting mitbestimmt. 5 Verhandlungen, Bd. II/1, 1994, O 201. Ein Realsplitting für Unterhaltsgemeinschaften empfahlen bereits der 57. DJT, zit. in Rz. 75, und die Familienverbände in Bad Boll, StuW 1992, 195; s. allerdings BFH/NV 2009, 1637, verfassungsrechtlich nicht geboten. 6 Für ein elternbezogenes tarifliches Familiensplitting der 66. DJT: „Die Familie ist als Gemeinschaft zu behandeln, in welche das Erwerbshandeln der Eltern eingebunden ist. Folgerichtige Konsequenz ist
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104
§8
Rz. 105
Einkommensteuer
rechtlichen Gründen abzulehnen1. Eltern und Kinder bilden anders als Ehegatten typischerweise gerade keine Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft. Das Familiendivisorensplitting (auch „Familientarifsplitting“) ist damit auch als Typisierung ungeeignet, den wirtschaftlichen Sachverhalt der Familie abzubilden. In die Diskussion um die Reform der Familienbesteuerung wird zunehmend auch wieder das Ehegattensplitting einbezogen. Ungeachtet dessen, dass das BVerfG die Ehegattenbesteuerung vom Vorhandensein von Kindern separiert (s. § 3 Rz. 163), wird aus der Ineffizienz des Ehegattensplittings im Hinblick auf die Förderung von Familien mit Kindern2 dessen Abschaffung bzw. Kappung und Einbeziehung in eine Besserstellung speziell von Familien mit Kindern gefolgert3. Am weitesten gehen Bündnis 90/Die GRÜNEN mit dem Konzept des übertragbaren Grundfreibetrags bei ansonsten strenger Einzelveranlagung4. Die SPD plädiert für einen der Höhe nach am nachehelichen Realsplitting des § 10 Ia Nr. 1 EStG orientierten fiktiven Unterhaltsabzug. Letzteres würde sich zwar in ein Familienrealsplitting einfügen und finanzielle Mittel zu dessen Finanzierung freisetzen5, ohne die Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft der Ehegatten vollkommen zu negieren. Allerdings könnten Stpfl. mit höheren Einkommen weitergehende Splittingwirkungen durch vertragliche Gestaltungen herbeiführen mit der Folge erheblichen Kontrollaufwands für die Finanzverwaltung.
4. Tatbestandstechnischer Aufbau des zu versteuernden Einkommens 105
Tatbestandstechnisch ist die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer wie folgt aufgebaut (s. R 2 EStR 2012): Summe der Einkünfte (§ 2 I, II EStG) – Altersentlastungsbetrag
§ 24a EStG: Steuervergünstigung für Alterseinkünfte (s. Rz. 149)
– Entlastungsbetrag
gem. § 24b EStG: Steuervergünstigung für Alleinerziehende (s. Rz. 751)
– Freibetrag
gem. § 13 III EStG: privilegierender Freibetrag für Land- und Forstwirte (s. Rz. 406)
+ Hinzurechnungsbetrag
Gem. § 52 II 3 EStG; § 8 V 2 AIG
Gesamtbetrag der Einkünfte (§ 2 III EStG) – Verlustabzug
§ 10d EStG: Verlustrücktrag/-vortrag mit Mindestbesteuerung (s. Rz. 67)
– Sonderausgaben
Private Abzüge nach den §§ 10; 10a; 10b; 10c EStG
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eine Familienbesteuerung mit Splittingeffekt“ (Sitzungsbericht Q, 2006, 168); Seiler, Gutachten F, 2006, 34 ff., 41; Merkt, DStR 2009, 2221; Seiler, FR 2010, 113 (118); Leisner-Egensperger, FR 2010, 865 (873); Leisner-Egensperger in Leitgedanken des Rechts II, 2013, § 175 Rz. 22 ff.; dezidiert gegen ein Familiensplitting Bareis, DStR 2010, 565 (572 ff.). Bünnagel, Otto-Wolff-Institut Discussion Paper, 2/2006, 6 ff. mit Hinweis auf den vorrangig interventionistisch familienpolitischen Zweck des Familientarifsplittings, dessen Eignung zur Steigerung der Geburtenrate allerdings nicht erwiesen ist; Jachmann, BB 2008, 591 (593); Jachmann, FR 2010, 123 (124). Zudem wird der Kindergrundbedarf mehrfach berücksichtigt (Rz. 94), weil die Einkünfte der Kinder nicht berücksichtigt sind. Offener Englisch, DStJG 37 (2014), 159 (199 ff.): vertretbare Alternative. Zu den negativen Anreizwirkungen für den Zweitverdiener SVR-Gutachten 2013/14 Rz. 640 ff.; differenziert FFP/ZEW, Evaluation zentraler ehe- und familienbezogener Leistungen in Deutschland, Gutachten für die Prognos AG v. 20.6.2013: Einerseits profitieren vom Splitting auch Kinderlose, andererseits bewirkt das Splitting den stärksten Rückgang des Armutsrisikos bei kinderreichen Ehepaaren (S. 107). Darstellung der parteipolitischen Diskussion Kruhl, StBW 2013, 413. Verfassungswidrig nach Auffassung von Vogel, StuW 1999, 201 (220 ff.); Jachmann, BB 2008, 591; J. Lang, DB 2010, Beilage Standpunkte zu Heft 5, 9. SVR-Gutachten 2013/14 Rz. 653: rd. 6 Mrd. Euro bei Begrenzung auf 13 805 Euro; BT-Drucks. 17/13044, 2: Mehrbelastungen i.H.v. 3,3 Mrd. Euro.
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Bestimmung steuerpflichtiger Einkünfte außergewöhnliche Belastungen – Steuerbegünstigungen
Rz. 120
§8
Private Abzüge nach den §§ 33–33b EStG für Wohngebäude, Denkmäler, Kulturgüter (§§ 10e-i; 52 XX1 EStG), § 7 FördG
+ Erstattungsüberhänge
§ 10 IVb 3 EStG: Rückzahlung von Versicherungsbeiträgen
+ Hinzurechnungsbeträge
gem. § 15 I AStG
Einkommen (§ 2 IV EStG) – Freibeträge für Kinder
§§ 31; 32 VI EStG (s. Rz. 746 f.)
– Härteausgleich
§§ 46 III EStG; 70 EStDV
zu versteuerndes Einkommen (§ 2 V EStG)
Hinweise zur Fallösung:
106
Die Lösung eines Einkommensteuerfalles hat von dem einzelnen Einkommensteuerschuldverhältnis auszugehen. Das zu versteuernde Einkommen i.S.d. § 2 V EStG ist einer natürlichen Person als Steuersubjekt und Schuldnerin der Einkommensteuer zuzuordnen. Bei mehreren natürlichen Personen ist die Fallösung grds. nach den Steuersubjekten zu gliedern. Bei Ehegatten ist zu Beginn der Fallösung zu prüfen, welche Veranlagungsart nach § 26 EStG gewählt worden ist: Zusammenveranlagung (§ 26b EStG) oder Einzelveranlagung (§ 26a EStG). Im Falle des § 26b EStG ist das zu versteuernde Einkommen der Ehegatten in einem Abschnitt der Fallösung zu ermitteln. Für die Fallösung besorgt man sich das Schema zur Berechnung der Einkommensteuer in den amtl. Anleitungen zum Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich und zur Einkommensteuererklärung. Nach Feststellung des Steuersubjekts ist die Art der Steuerpflicht (unbeschränkte/beschränkte Steuerpflicht) zu prüfen. Von dem Ergebnis der Prüfung hängt ab, in welchem Umfange das Einkommen der deutschen Besteuerung unterliegt. Im Falle unbeschränkter Steuerpflicht erfährt die in § 2 EStG niedergelegte Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer keine Einschränkungen, im Falle beschränkter Steuerpflicht sind die Vorschriften der §§ 49; 50 EStG anzuwenden. Nach Feststellung der Einkommensteuerpflicht ist das zu versteuernde Einkommen der unbeschränkt/beschränkt einkommensteuerpflichtigen natürlichen Person bzw. zusammenveranlagter Ehegatten zu ermitteln.
107–119
Einstweilen frei.
D. Bestimmung steuerpflichtiger Einkünfte 1. Einführung Die Ermittlung des zu versteuernden Einkommens beginnt mit der Prüfung, welche Einkünfte die natürliche Person erzielt hat. Auch bei zusammenveranlagten Ehegatten sind die Einkünfte zunächst getrennt zu qualifizieren und zu quantifizieren. Erst nachdem alle steuerpflichtigen Einkünfte der zusammenveranlagten Ehegatten festgestellt sind, werden sie nach § 26b EStG in einer „Summe der Einkünfte“ saldiert. Die „Summe der Einkünfte“ bildet die Gesamtheit der steuerpflichtigen positiven Einkünfte und der unter den Einkünftekatalog des § 2 I EStG subsumierbaren negativen Einkünfte. Bei der Feststellung von Einkünften, die in der „Summe der Einkünfte“ zu berücksichtigen sind, ist zunächst zu prüfen, ob der Stpfl., indem er mit Einkünfteerzielungsabsicht erwerbswirtschaftlich tätig geworden ist, den Tatbestand einer Einkunftsart i.S.d. § 2 I 1 Nrn. 1–7 EStG verwirklicht hat. Bejaht man dies, so liegen steuerbare Einkünfte vor. Sodann ist zu prüfen, ob Einkünfte (insb. nach §§ 3–3c EStG) sachlich steuerbefreit sind. Verneint man dies, so liegen dem Grunde nach steuerpflichtige Einkünfte vor; diese Einkünfte sind zu quantifizieren. Die sog. Ermittlung der Einkünfte geschieht nach §§ 2 II; 4 ff.; 8 ff. EStG (s. Rz. 188 ff.). Auf der Quantifikationsebene wird die Steuerpflicht einzelner Einkunftsarten partiell durch Freibeträge und Freigrenzen eingeschränkt (s. Rz. 144 ff.). Hey
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§8
Rz. 121
Einkommensteuer
2. Steuerbare Einkünfte 2.1 Objektiver Tatbestand: Erzielen von Einkünften 121
Steuerbare Einkünfte werden durch zwei Merkmalgruppen bestimmt. Die erste Merkmalgruppe gilt für alle Einkunftsarten: Einkünfte sind allgemein nur dann steuerbar, wenn sie durch eine Erwerbstätigkeit erwirtschaftet worden sind (s. Rz. 52). Die zweite Merkmalgruppe umschreibt die einzelnen Einkunftsarten (dazu Rz. 400 ff.). Beide Merkmalgruppen bestimmen auch die Ausgleichs- und Abzugsfähigkeit von Verlusten (s. Rz. 60 ff.).
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Die erste Merkmalgruppe ist in § 2 I 1 EStG verankert, und zwar in dem Begriff des Erzielens. Mit diesem Begriff positiviert das Gesetz den Kausalzusammenhang zwischen Einkünften und einer Erwerbstätigkeit1. Einkünfte beruhen auf zielgerichteten Handlungen. Durch diese Handlungen werden sie erwirtschaftet. Rechtsdogmatisch kann man davon ausgehen, dass die Erwerbstätigkeit auf vorsatzgesteuertem, zweckgerichtetem, finalem Handeln beruht. Die kausalrechtliche Maßgeblichkeit zweckgerichteten Tuns entspricht der Idee selbstbestimmten planvollen Wirtschaftens. Sie erkennt einerseits die individuellen Entscheidungen des wirtschaftenden Bürgers an2, negiert aber andererseits nicht die willensunabhängige Risikosphäre der Einkunftserzielung. Zur risikobehafteten Erwerbstätigkeit gehört auch ein ungeplanter, negativer Verlauf der Einkünfteerzielung. Dazu hat Hans Welzel3 herausgearbeitet, dass jedes zweckgerichtete, finale Handeln von Nebenfolgen begleitet ist, die vom Willen des Handelnden nicht beherrscht sind. Diese finale Handlungslehre kann dazu dienen, die Steuerbarkeit von Einkünften und die negativen Folgen einer Erwerbstätigkeit wie Verluste und Erwerbsaufwendungen (s. Rz. 231 f.) näher zu bestimmen. Die einkünfteerzielende Person ist stets tätig, so dass steuerbare Einkünfte, Erwerbseinnahmen und Erwerbsaufwendungen kausalrechtlich einer Tätigkeit, nämlich der Erwerbstätigkeit, zuzuordnen sind. Nicht nur Arbeits-, auch Kapitaleinkünfte beruhen auf einer Tätigkeit des Stpfl. Auch Sparer und Vermieter müssen tätig sein, um nach Möglichkeit die günstigsten Finanzanlagen zu erwerben bzw. Wohnungen zu vermieten. Die Überlassung von Kapital, die Vermietung und Verpachtung sind vorsatzgesteuerte Erwerbstätigkeiten.
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Objektiver Tatbestand ist damit das Erzielen von Einkünften, d.i. die Erwerbstätigkeit. Der Tatbestand des Gewerbebetriebs (§ 15 II 1 EStG) umschreibt die Erwerbstätigkeit als „Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr“ und ist damit markteinkommenstheoretisch begründet (s. § 7 Rz. 30). Tatsächlich hängt aber die Steuerbarkeit von Einkünften nicht davon ab, ob Einkünfte „am Markt“ erwirtschaftet werden (s. § 7 Rz. 31). Dies zeigen die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Tätigkeitsbestand des § 15 II 1 EStG4. Der Stpfl. kann auch dann gewerbliche Einkünfte erwirtschaften, wenn er nur gegenüber einer Person oder einem Angehörigen erwerbstätig ist5. Grds. erfasst aber die Einkommensteuer nur erwirtschaftete objektive Leistungsfähigkeit6.
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Zu den steuerbaren, durch eine Erwerbstätigkeit erzielten Einkünften gehören nicht: – Erbschaften und Schenkungen (sie werden vom ErbStG erfasst) sowie Stipendien, die nicht einer konkreten Erwerbstätigkeit zugeordnet werden können; insoweit ist in § 3 Nr. 44 1 Dazu KSM/P. Kirchhof, § 2 EStG Rz. A 363 ff.; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 229 ff.; HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 50 ff. (2012). 2 P. Kirchhof, VVDStRL 39 (1981), 231 ff.; P. Kirchhof, Gutachten F zum 57. DJT, 1988, 14 ff. 3 Um die finale Handlungslehre, 1949. Zur dogmatischen Bewältigung der Risikosphäre durch die verschiedenen Zurechnungslehren Hübner, Die Entwicklung der objektiven Zurechnung, Diss., 2004, u. zur steuerrechtlichen Verwertbarkeit der Welzel’schen Handlungslehre mit Zitaten J. Lang, Bemessungsgrundlage, 307 f. 4 Zur markteinkommenstheoretischen Funktion u. Kasuistik Schön, Zum Merkmal der „Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr“ i.S.v. § 15 Abs. 2 EStG, FS Vogel, 2000, 661 (663); Kirchhof/ Reiß13, § 15 EStG Rz. 28 ff.; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 20 f. 5 BFH BStBl. 1996, 332 (Geschäft gegenüber Dritten, der sich am Markt beteiligt); 2000, 404 (ein Kunde); 2002, 338 (Tätigkeit gegenüber Vater); 2003, 464 (ein Abnehmer). 6 So BFH BStBl. 1995, 121 (124).
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Bestimmung steuerpflichtiger Einkünfte
Rz. 125
§8
EStG eine klarstellende Steuerbefreiung normiert (s. Rz. 138). Der Stipendiat darf nicht zu einer Gegenleistung verpflichtet werden. Nach dieser Voraussetzung des § 3 Nr. 44 Satz 3 Buchst. b EStG wird das Stipendium nicht erwirtschaftet1; – Preisgelder, soweit sie nicht durch eine Erwerbstätigkeit erwirtschaftet sind (s. Rz. 135, 215); – Vermögensmehrungen durch private und staatliche Unterhaltsbezüge. § 22 Nrn. 1, 1a EStG erfassen allerdings ausnahmsweise auch nicht erwirtschaftete Bezüge. Diesen Systembruch gleicht ein umfangreicher Katalog von Steuerbefreiungen staatlicher Zuwendungen (§ 3 Nrn. 2, 4–8, 11, 19–25, 42–44, 48, 58–61 EStG) aus; – Eigenleistungen (sog. Schatteneinkommen oder imputed income), das sind die Wertvermehrungen für eigene private Zwecke ohne Beteiligung am wirtschaftlichen Verkehr, z.B. durch Arbeit der Hausfrau, Gemüseanbau für die Familie, Reparatur des eigenen Autos, Bau eines eigenen Hauses. Nicht steuerbar sind Zahlungen für die Betreuung und Pflege von Angehörigen in der familiären Lebensgemeinschaft2. Hingegen sind steuerbar Vergütungen von Tagesmüttern für die Betreuung fremder Kinder3; sie gehören zu den freiberuflichen Einkünften. Bezüge aus öffentlichen Mitteln sind allerdings nach § 3 Nrn. 9, 11 EStG steuerfrei gestellt (s. Rz. 140). Mit der Nichterfassung des sog. imputed income unterscheidet sich der Einkünfteerzielungstatbestand grundlegend von der Reinvermögenszugangstheorie (s. § 7 Rz. 30); – Entschädigungen außerhalb der Beteiligung am wirtschaftlichen Verkehr, dies stellt u.a. § 24 Nr. 1 EStG klar; zu Schadensersatzrenten s. Rz. 524; – sonst nicht erwirtschaftete Bezüge, z.B. Aussteuern, Ausstattungen und andere Bezüge im Bereich der Lebensführung.
2.2 Subjektiver Tatbestand: Einkünfteerzielungsabsicht Subjektiver Tatbestand ist die Absicht, durch die Erwerbstätigkeit einen Überschuss der Bezüge über die Aufwendungen zu erzielen (Einkünfteerzielungsabsicht)4. § 15 II 1 EStG verlangt ausdrücklich „die Absicht, Gewinn zu erzielen“; es reicht, wenn sie Nebenzweck ist (§ 15 II 3 EStG). § 15 II 1 EStG ist ebenfalls Ausdruck eines allgemeinen, alle erwirtschafteten Einkünfte beherrschenden Prinzips. Für die land- und forstwirtschaftlichen Einkünfte, die freiberuflichen Einkünfte und die Einkünfte aus anderer selbständiger Arbeit ergibt sich das schon daraus, dass sie alle Merkmale der gewerblichen Einkünfte erfüllen, weswegen § 15 II 1 EStG diese Einkünfte ausklammert. § 9 EStG unterstellt ebenfalls das Streben, Einnahmen zu erzielen, die die Werbungskosten übersteigen. Einkünfteerzielungsabsicht ist zu verneinen, wenn mit einer z.B. ehrenamtlichen Tätigkeit nur der Ersatz von Aufwendungen angestrebt wird. Für die Prüfung der Steuerbarkeit sind die steuerlichen Pauschbeträge irrelevant: Liegen die tatsächlichen und erstatteten Kosten über den 1 Ausf. zur einkommensteuerlichen Behandlung von Stipendien Ernst/Schill, DStR 2008, 1461. 2 BFH BStBl. 1999, 776. 3 Str. ist, inwieweit die Vergütung auch bei fehlendem Einzelnachweis als Kostenersatz behandelt werden kann, so FG d. Saarlandes EFG 2010, 29. Im Weiteren zur Besteuerung der Pflegepersonen BMF BStBl. I 2008, 17; 2009, 642, danach können bei Vollzeitpflege 300 Euro pro Monat u. Kind pauschal abgezogen werden. S. ferner Benzler, DStR 2009, 954; Gragert, NWB 2009, 1827; Paus, EStB 2009, 172, u. zu § 3 Nrn. 9, 11 EStG s. Rz. 140. 4 Dazu grds. BFH GrS BStBl. 1984, 751 (765 ff.); Habl, Einkünfteerzielungsabsicht versus Liebhaberei im Einkommensteuerrecht, Diss., 2006; Schell, Subjektive Besteuerungsmerkmale im Einkommensteuerrecht, Diss., 2006, 98 ff.; Dötsch, FR 2007, 589; BFH-Symposium „Subjektive Tatbestandsmerkmale im Steuerrecht“, Beihefter DStR 39/2007 mit Beiträgen von P. Kirchhof, Pezzer, Sieker, u. WeberGrellet; Falkner, Die Einkünfteerzielungsabsicht als subjektives Besteuerungsmerkmal, Diss., 2009; Urban, Die Einkünfteerzielungsabsicht in der Systematik des Einkommensteuergesetzes, Diss., 2010; Toifl, Der subjektive Tatbestand im Steuer- und Steuerstrafrecht, Wien 2010, 301–444; Urbach, Funktion und Erfordernis subjektiver Besteuerungsmerkmale im Einkommensteuerrecht, Diss., 2013. Speziell zu Vermietung u. Verpachtung s. Fn. zu Rz. 132.
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125
§8
Rz. 126
Einkommensteuer
Pauschbeträgen (Beispiel: Erstattung von Restaurantkosten, die die Pauschalen des § 4 V 1 Nr. 5 EStG überschreiten), so sind steuerbare Einkünfte zu verneinen. Umgekehrt sind steuerbare Einkünfte anzunehmen, wenn der Stpfl. lediglich Kostenersatz in Höhe der Pauschbeträge anstrebt, seine tatsächlichen Kosten dabei jedoch unter den Pauschbeträgen liegen1. Die Einkünfteerzielungsabsicht ist für jede Tätigkeit einzeln zu ermitteln. Sie muss nach dem Grundsatz der Individualbesteuerung für jeden Stpfl. einzeln bejaht werden2. Unschädlich ist ein Wechsel der Einkunftsart. Zu beurteilende Tätigkeit ist demnach bspw. die Nutzung einer (einzelnen) Immobilie. Eine isolierende Betrachtung der Zeiträume, in denen die Vermietungseinkünfte unter § 21 EStG fallen und jenen, in denen § 15 EStG eingreift, ist abzulehnen. Allerdings verneint BFH BStBl. 2011, 704, bei von Beginn an bestehender Veräußerungsabsicht die Einkünfteerzielungsabsicht im Fall der Fortsetzung der Vermietung durch eine gewerblich geprägte Personengesellschaft, an der der Stpfl. beteiligt ist. 126
(1) Bei der Beurteilung des subjektiven Tatbestandes kommt es grds. darauf an, welchen Plan der Stpfl. für die gesamte Dauer der Erwerbstätigkeit verfolgt. Maßgeblich für die Einkünfteerzielungsabsicht ist das Ergebnis der sog. Totalperiode vom Beginn bis zum Ende einer Erwerbstätigkeit3, im Falle von Gewinneinkünften die Summe aller periodisch erwirtschafteten Ergebnisse eines Betriebs von der Gründung bis zur Veräußerung, Aufgabe oder Liquidation. Die Absicht, ein positives Gesamtergebnis, den sog. Totalgewinn, zu erwirtschaften, kann bei sog. Generationenbetrieben sogar die eigene Lebensdauer überschreiten4. Bei Forstbetrieben kann die Zeit zwischen Aufforstung (Verlustperioden) und Holzernte (Gewinnperioden) mehr als 100 Jahre betragen5. Allerdings muss nach dem Grundsatz der Individualbesteuerung jeder Inhaber eines Generationenbetriebs dessen Wertschöpfung betreiben; ansonsten wirtschaftet er nicht mit der Absicht eines erst nach seinem Tode verwirklichten Totalgewinns. Nicht ausreichend ist die Unterhaltung eines Betriebs, allein um ihn an die nächste Generation zu übertragen6.
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(2) Steuerbare Überschusseinkünfte sind durch die Absicht gekennzeichnet, einen Totalüberschuss der Einnahmen über die Werbungskosten zu erwirtschaften7. Im Unterschied zu den Gewinneinkünften kann bei Überschusseinkünften nicht die gesamte Vermögensvermehrung berücksichtigt werden. Vielmehr hat der Dualismus der Einkünfteermittlung (s. Rz. 181) zur Folge, dass die Einkünfteerzielungsabsicht auf den Tatbestand von Quelleneinkünften zu begrenzen ist8. Demnach sind Stammvermögensmehrungen im tatbestandlichen Bereich nichtsteuerbarer privater Veräußerungsgeschäfte (§§ 22 Nr. 2; 23 EStG) bei der Frage, ob steuerbare Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 20 EStG) oder Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG) vorliegen, auszugrenzen.
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Maßgeblicher Zeitraum ist die Gesamtdauer der Betätigung oder der Vermögensnutzung, die u.a. von der Gesamtdauer des Nutzungsvertrages oder der Lebensdauer des genutzten Wirtschaftsguts abhängen kann. Bei Leibrentenversicherungen legt BFH BStBl. 2000, 267, die statistische Lebenserwartung zugrunde9. Jahrzehntelange Verluste aus der Vermietung fremdfinan1 Vgl. m.w.N. BFH/NV 2007, 2273. 2 Hierzu Söffing, FS Herzig, 2010, 406; Valentin, DStR 2001, 505. 3 Grds. BFH GrS BStBl. 1984, 751 (766 f.). Im Weiteren BFH BStBl. 1987, 774 (776); 1988, 778 (779); 1998, 771; 1998, 727; 2000, 267 (270); 2000, 674 (675); 2003, 282; 2003, 702. Lit.: Pferdmenges, StuW 1990, 240; Drüen, Periodengewinn und Totalgewinn, Diss., 1999; Drüen, FR 1999, 1097; HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 387 ff. (2012). 4 BFH BStBl. 2000, 674. 5 Vgl. BFH BStBl. 1985, 549. 6 BFH BStBl. 2002, 276. 7 Grds. BFH GrS BStBl. 1984, 751 (766). 8 BFH GrS BStBl. 1984, 751; BFH/NV 1999, 1323 (Kapitaleinkünfte); BFH BStBl. 2002, 791, 792: Der Dualismus der Einkunftsarten mache „es erforderlich, zunächst die Einkunftsart zu klären, bevor die Frage der Liebhaberei zu prüfen ist“. Dazu J. Lang, FR 1997, 201 (202, 205 f.); Pezzer, StuW 2000, 457. Zu den Auswirkungen der Erweiterung der Steuerpflicht nach Einführung der Abgeltungsteuer Haisch/Krampe, DStR 2011, 2178. 9 Ferner hierzu BFH BStBl. 2006, 228; 2006, 234; 2006, 248; 2007, 390; BFH/NV 2010, 1251; Schuhmann, StBp. 2007, 25.
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Bestimmung steuerpflichtiger Einkünfte
Rz. 131
§8
zierter Immobilien schließen Einkünfteerzielungsabsicht bei einer 100jährigen Lebensdauer von Immobilien nicht aus (i. E. zur Einkünfteerzielungsabsicht bei Vermietung u. Verpachtung s. Rz. 132). Bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit sind das zu erwartende Ruhegehalt u. die Hinterbliebenenversorgung in die Totalüberschussprognose einzubeziehen1. (3) Die Einkünfteerzielungsabsicht muss gem. §§ 88; 90 AO von Amts wegen ermittelt werden. Das ist häufig schwierig. Der Stpfl. neigt dazu, die für ihn steuergünstige Absicht geltend zu machen. Daher ist eine objektivierende Beurteilung unerlässlich: Die Einkünfteerzielungsabsicht ist eine innere Tatsache, die „wie alle sich in der Vorstellung von Menschen abspielenden Vorgänge nur anhand äußerlicher Vorgänge beurteilt werden kann“2. Die objektiven äußeren Merkmale müssen prognostisch beurteilt werden. Es ist bei jeder Veranlagung mit einem mehr oder weniger weiten Blick in die Zukunft zu prüfen, ob ein Totalüberschuss der Erwerbsbezüge über die Erwerbsaufwendungen zu erwarten ist3. Soweit die objektiv und gegenwärtig erwarteten Rahmenbedingungen nicht eintreten, muss die Prognosebeurteilung angepasst und Steuerbescheide früherer Veranlagungszeiträume nach § 174 IV AO geändert werden4.
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Die Rspr. hat zutr. erkannt, dass Prognosezeiträume von 50 Jahren oder gar von 100 Jahren „zu viele spekulative Elemente“ enthalten5. Daher geht die Rspr. bei Vermietung und Verpachtung von einem 30-jährigen Prognosezeitraum aus6. Eine Prognose darf auch nicht dazu führen, dass die Einkünfteerzielungsabsicht mehr oder weniger spekulativ beurteilt wird. Somit kommt es für die gegenwärtige Einkünfteerzielungsabsicht darauf an, ob nach den gegenwärtigen äußeren Umständen ein Totalüberschuss wahrscheinlich ist.
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Die Rspr. geht grds. und typisierend davon aus, dass der Stpfl. langfristig und daher auch dann mit Einkünfteerzielungsabsicht vermietet, wenn sich über längere Zeiträume Werbungskostenüberschüsse ergeben, macht jedoch von diesem Grundsatz Ausnahmen, wenn besondere Umstände gegen das Vorliegen einer Einkünfteerzielungsabsicht sprechen7. Langfristige Totalperioden nimmt die Rspr. vor allem bei Generationenbetrieben (s. Rz. 126), Leibrentenversicherungen u. Vermietungen (s. Rz. 128) an.
(4) Die Einkünfteerzielungsabsicht kann einem Beurteilungswandel unterliegen8: Erkennt der Stpfl., dass sich mit seiner Erwerbstätigkeit, die er in der Vergangenheit gewinnbringend aus1 BFH BStBl. 2009, 243. 2 BFH GrS BStBl. 1984, 751 (767), seither st. Rspr., z.B. BFH BStBl. 2000, 267 (271). Dazu Hutter, Die persönlichen Motive und deren Feststellung in der Liebhaberei-Rspr. des BFH, DStZ 1998, 344; Braun, Objektivierung der Gewinnerzielungsabsicht bei der Liebhaberei, BB 2000, 283; Heuermann, DStZ 2004, 9; Heuermann, DStZ 2005, 12 (Objektivierung bei Vermietung u. Verpachtung); Heuermann, StuW 2009, 356; Mindermann/Lukas, NWB 2012, 182 (betriebswirtschaftliche Methoden der Objektivierung). Gefordert wird deshalb z.T. eine Objektivierung dergestalt, dass das subjektive Tatbestandsmerkmal der Einkünfteerzielungsabsicht durch das objektive Tatbestandsmerkmal einer „auf positive Einkünfte ausgerichteten Tätigkeit“ ersetzt wird; so KSM/Kirchhof, § 2 EStG Rz. A 119, 122, B 125 (1992); Plücker, FS Spindler, 2011, 703; Falkner, DStR 2010, 316 (322 f.); Falkner, DStZ 2010, 788 (792 f.); Urban, Die Einkünfteerzielungsabsicht in der Systematik des EStG, Diss., 2010, 247 ff.; Schmidt/Weber-Grellet33, § 2 Rz. 23; dagegen Heuermann, DStZ 2010, 824; für eine Beibehaltung der Einkünfteerzielungsabsicht als Korrektiv bei gleichzeitiger stärkerer Objektivierung Ismer/ Riemer, FR 2011, 455 (457 ff.). 3 Zur prognostischen Beurteilung s. insb. die Rspr. zur Vermietung u. Verpachtung: BFH BStBl. 1999, 826 (827); 2002, 726; 2010, 227 (zur Einbeziehung von Sonderabschreibungen); BFH/NV 2010, 850; s. ferner BFH BStBl. II 2009, 231 (nichtselbständige Arbeit); Stuhrmann, INF 2005, 61; Gewerbebetrieb: BFH BStBl. 2003, 282; BFH/NV 2007, 1125; Pezzer, StuW 2000, 457 (459 ff.). S. ferner Pezzer, GS Trzaskalik, 2005, 239 (249 f.); Wotschofsky/Cischek, Die Prognose des Totalerfolgs im Einkommensteuerrecht, StuB 2004, 254; Leisner-Egensperger, DStZ 2010, 790; allgemein Drüen, Prognosen im Steuerrecht, AG 2006, 707. 4 So BFH BStBl. 1997, 647. Bsp.: Ein nebenberuflich tätiger Schriftsteller schreibt einen Bestseller über Tibet. Die Kosten der Tibetreise müssen nachträglich als Betriebsausgaben anerkannt und dementsprechend der Steuerbescheid für das Jahr der Tibetreise geändert werden. 5 BFH/NV 2007, 1125; ähnlich BFH BStBl. 1999, 826. 6 BFH/NV 2007, 27. 7 BFH BStBl. 2005, 754; 2005, 692; 2007, 873. 8 Dazu m.w.N. Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 37.
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§8
Rz. 132
Einkommensteuer
geübt hatte, keine Gewinne mehr erwirtschaften lassen, so verneint BFH BStBl. 2004, 455, pro futuro Gewinnerzielungsabsicht. Am Ende einer Berufstätigkeit umfasse der anzustrebende Totalgewinn nur die verbleibenden Jahre. In derartigen Fällen ist jedoch sorgfältig zu prüfen, ob der Stpfl. seine Erwerbstätigkeit aus privaten Gründen fortführt1. Die rigide Ausblendung vergangener Gewinnjahre vermag nicht zu überzeugen. Bspw. kann einem bis dato erfolgreichen Maler, der aus der Mode gekommen ist und deshalb keine positiven Einkünfte mehr erzielt, die Verlustverrechnung nicht wegen mangelnder Professionalität versagt werden2. Übt ein Arzt aus Leidenschaft seinen Beruf rein beruflich zweckgerichtet (s. Rz. 122) bis in das hohe Alter aus und erleidet er in der Endphase nurmehr Verluste, so darf m.E. nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Staat in der Vergangenheit an den Gewinnen partizipiert hat. Die Entscheidung des Stpfl., die ehemals erfolgreiche Erwerbstätigkeit weiterzuführen, ist zu respektieren, wenn seit Beginn der Erwerbstätigkeit gerechnet insgesamt ein Totalgewinn verbleibt. Dies liegt nur dann anders, wenn die Tätigkeit aus rein privaten Gründen aufrechterhalten wird, etwa um auch im Alter soziale Kontakte zu pflegen. 132
(5) Tritt bei einer Erwerbstätigkeit der Kapitaleinsatz in den Hintergrund, so lässt sich die Erwerbstätigkeit vergleichsweise einfach von einer privaten Betätigung, insb. von der Liebhaberei, abgrenzen. Bei hohem Kapitaleinsatz kann die kausalrechtliche Beurteilung dagegen sehr kompliziert werden. Die Erscheinungsform der Liebhaberei leistet keine Hilfe mehr, da Stpfl., die mit sog. Steuersparmodellen dauerhaft Verluste erwirtschaften, nach Steuern gerechnet eine Vermögensmehrung anstreben. Die Problematik zur Steuerbarkeit der sog. Vermögenseinkünfte besteht besonders bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung3: Hier ist die Einkünfteerzielung zunächst nach Quellen- und Veräußerungseinkünften zu differenzieren. Sodann ist der Tatbestand des § 21 I 1 Nr. 1 EStG für jede einzelne vermietete Immobilie gesondert zu prüfen4. Dabei wird bei einer auf Dauer angelegten Vermietung zu Wohnzwecken die Einkünfteerzielungsabsicht grds. unterstellt. Demgegenüber soll bei der Vermietung von Gewerbeimmobilien den Stpfl. die objektive Feststellungslast treffen. Diese von BFH BStBl. 2010, 1038, vorgenommene Differenzierung ist abzulehnen. Bei Mietkaufmodellen, Immobilienerwerb mit Rück- oder Verkaufsgarantie wird Einkünfteerzielungsabsicht verneint, wenn im Rahmen des § 21 EStG kein Totalüberschuss entsteht und die Vermögensmehrung erst mit einem nicht steuerbaren Veräußerungsgewinn eintritt5. Bei befristeter Vermietung ist die Einkünfteerzielungsabsicht zu verneinen, wenn innerhalb der Frist kein positives Gesamtergebnis erreicht werden kann6. Subventions- und Lenkungsnormen 1 In dem von BFH BStBl. 2004, 455, entschiedenen Fall hatte ein niedergelassener Arzt, der 1964 mit vierzig Jahren seine Praxis eröffnet hatte, ab 1991 nur noch Verluste erwirtschaftet und schließlich im Alter von 84 Jahren den Praxisbetrieb eingestellt. Großzügiger die Rspr. des öVwGH: Hohes Alter rechtfertige trotz beträchtlichen Gesamtverlustes nicht schon vorweg die Annahme von Liebhaberei (dazu Renner, ÖStZ 2006, 280). 2 Vgl. BFH BStBl. 2003, 602. 3 Zur Einkünfteerzielungsabsicht bei Vermietung und Verpachtung BFH BStBl. 1998, 771; 2001, 705; 2002, 726; 2003, 646; BFH/NV 2006, 719; 2007, 658; ferner Rechtsprechungsnachweise Rz. 129 (Fn. 3); BMF BStBl. I 2004, 933; Pezzer, StuW 2000, 457; Heuermann, StuW 2003, 101; Heuermann, DStZ 2005, 12; Heuermann, DStR 2005, 1338; Pezzer, GS Trzaskalik, 2005, 239; Spindler, FS Korn, 2005, 165; Schießl, SteuerStud 2006, 529; Kastner, INF 2007, 109; Spindler, DB 2007, 185; Renner, DStZ 2008, 601; Renner, ÖStZ 2009, 148 (Österreich); Brehm, SteuerStud 2009, 127; Leisner-Egensperger, DStZ 2010, 790 (verneint Voraussetzung der Einkünfteerzielungsabsicht de lege lata); Korn, KÖSDI 2011, 17397; Stein, DStZ 2013, 33 u. 114; Stein, Verluste oder Liebhaberei bei der Vermietung von Immobilien8, 2014. Zur Einkünfteerzielungsabsicht bei Leerständen s.Rz. 232 a.E. 4 BFH BStBl. 2009, 370; 2014, 527. 5 Zu Mietkauf- u. ähnlichen Modellen BFH BStBl. 1992, 23; 1995, 102; 1997, 42; 1997, 650; 1998, 771; 2000, 67; BFH/NV 2001, 587; Immobilienfonds: BFH BStBl. 1999, 468; 2000, 676; Spindler, DB 1995, 894 (Rück-/Verkaufsgarantien); J. Lang, FR 1997, 201 (Rück-/Verkaufsgarantien); Spindler, FS Korn, 2005, 165, (174 f.: Rück-/Verkaufsgarantien; 183 ff.: Immobilienfonds); Schmidt/Kulosa33, § 21 EStG Rz. 131 ff. 6 BFH BStBl. 2003, 695; BMF BStBl. I 2003, 427; Stein, DStZ 2003, 730 (kurzfristige Vermietung vor Selbstnutzung); Spindler, FS Korn, 2005, 165 (180 f.). Hingegen bejaht der BFH bei Dauervermietung
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sind nach BFH BStBl. 2003, 695, bei einer kurzfristig angelegten Vermietungstätigkeit in die entsprechend befristete Totalüberschussprognose einzubeziehen, wenn dies Normzweck und Art der Förderung gebieten. Bei der Vermietung von Ferienwohnungen ist Einkünfteerzielungsabsicht ohne weiteres anzunehmen, wenn die Ferienwohnung ausschließlich an Feriengäste vermietet wird. Nutzt der Stpfl. die Ferienwohnung zeitweise selbst, so obliegt ihm die Feststellungslast eines Totalüberschusses1. Bei verbilligter Vermietung verzichtet § 21 II EStG auf die konkrete Feststellung der Einkünfteerzielungsabsicht (s. Rz. 510). (6) Einkünfte, die nicht mit Einkünfteerzielungsabsicht erwirtschaftet worden sind, sind keine einkommensteuerbaren positiven oder negativen Einkünfte. Daher sind nicht einkommensteuerbar die Einkünfte aus Liebhaberei2. Liebhaberei ist eine Tätigkeit aus privater Hingabe oder Neigung (Hobby) ohne Einkünfteerzielungsabsicht. Der „Liebhaber“ ist im Ergebnis Konsument; Liebhabereiverluste sind Konsumeinkünfte3. Die Aufwendungen für eine ideelle Tätigkeit werden nur zum Teil mit Einnahmen finanziert (Beispiel: Verchartern einer Yacht, die man überwiegend selbst in der Freizeit nutzt). Maßgeblich ist der Gesamtplan und das prognostizierte Ergebnis der Totalperiode. Die Annahme von Liebhaberei kommt in erster Linie bei solchen Tätigkeiten in Betracht, die typischerweise dazu bestimmt und geeignet sind, der Befriedigung persönlicher Neigungen zu dienen4, insb. Ausgleichsbeschäftigungen zu einem Beruf wie Sport, Musizieren, Pferde züchten, Wein anbauen etc.
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Beispiele aus der Rspr.: BFH BStBl. 1985, 205 (Reitschule); 1985, 399 (Gestüt); 1991, 333 (Trabrennstall); 1991, 452 (LuF); 1993, 303 (Amateurfußball); 1999, 638, 645 f. (LuF); 2000, 227 (Pferdezucht); 2003, 804 (Weinbau); BFH/NV 1993, 8 (Märchenwald); 1999, 1081 (Motorboot); 2000, 1090 (Traberhaltung); 2000, 1458 (Galerie); 2005, 1066 (Segelyacht).
Aber auch bei beruflichen Tätigkeiten nimmt die Rspr. „Liebhaberei“ an, wenn Anlaufverluste bzw. eine länger andauernde Verlustperiode zu der Erkenntnis führen, dass die Tätigkeit bei objektiver Betrachtung zur Erzielung eines Totalgewinns/-überschusses ungeeignet ist5. Die Rspr. erkennt zunächst an, dass bei dem Beginn einer insb. risikobehafteten unternehmerischen Erwerbstätigkeit Anlaufverluste entstehen können. Reagiert jedoch der Stpfl. auf eine anhaltende Verlustperiode nicht mit Umstrukturierungsmaßnahmen, so erblickt die Rspr. darin ein gewichtiges äußeres Beweisanzeichen gegen das Vorliegen einer mit Gewinnerzielungsabsicht ausgeübten Tätigkeit6. Im Unterschied zu privattypischen Tätigkeiten müssen aber „zusätzliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Verluste aus persönlichen Gründen oder Neigungen hingenommen werden“7. Allerdings sind an die Feststellung persönlicher Gründe oder Motive
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regelmäßig Einkünfteerzielungsabsicht. S. BFH BStBl. 1998, 771; 2003, 580; BMF BStBl. I 2003, 640; Heuermann, DB 2002, 2568 (Anm. Weber-Grellet, DB 2002, 2568); Stein, DStZ 2004, 189. Die typisierende Annahme der Einkünfteerzielungsabsicht bei Dauervermietung gilt nach BFH BStBl. 2003, 479; 2008, 515, nicht für die Verpachtung von unbebautem Grundbesitz. BFH BStBl. 2002, 726; 2003, 914; 2005, 388; 2009, 138; 2013, 613; BMF BStBl. I 2003, 640; 2004, 933 (Tz. 16 f.); Stein, INF 2002, 257; Thürmer, DStZ 2002, 855; Diemel-Metz, DStR 2004, 495; Spindler, FS Korn, 2005, 165 (171 f.); Credo, DB 2005, 965; Stein, StBp. 2010, 101; Ritzrow, EStB 2010, 19 u. 64; Thürmer, FS Spindler, 2011, 833. Bayer, Die Liebhaberei im Steuerrecht, 1981; J. Lang, StuW 1981, 223; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 267 ff.; Tipke, StRO II2, 663 ff.; Escher, Steuerliche Liebhaberei und Subjektbezug der Einkünfteerzielungsabsicht, Diss., 2005; Kanzler, DStZ 2005, 766; Westerfelhaus, DStZ 2005, 585; Anzinger, Anscheinsbeweis u. tatsächliche Vermutung im Ertragsteuerrecht, Diss., 2006 (u.a. zur LiebhabereiRspr. des BFH); Kruse, FS Raupach, 2006, 143; Renner, DStZ 2008, 601 (Österreich); Ritzow, SteuerStud 2009, 66 (Abgrenzung zur selbständigen Arbeit); Birk, BB 2009, 860; Hübner, DStR 2013, 1520. Zur verfahrensrechtlichen Feststellung einer Liebhaberei Nöcker, AO-StB 2008, 249; BFH BStBl. 2009, 335. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 258, 267 ff.; Tipke, StRO II2, 665. So BFH BStBl. 2003, 87. Z.B. BFH BStBl. 2005, 336 (Möbelgeschäft); BFH/NV 1993, 8 (Märchenwald); 1998, 845 (Boutique); 1999, 23 (Blumenladen); 2007, 434 (Heilfasten-Haus eines Arztes). BFH BStBl. 2005, 336; 2007, 874 (schlüssiges Betriebskonzept); BFH/NV 2005, 2176; 2007, 27; 2007, 712. BFH BStBl. 2003, 87.
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keine hohen Anforderungen zu stellen, wenn der Stpfl. das verlustbringende Geschäftskonzept unverändert beibehält1. Diese Grundsätze praktiziert die Rspr. auch bei berufstypischen Tätigkeiten wie den in § 18 I Nr. 1 EStG aufgeführten sog. Katalogberufen (s. Rz. 427). Ist der Betrieb zur Erzielung von Gewinnen objektiv ungeeignet, so schließt der BFH auch bei berufstypischen Tätigkeiten auf Liebhaberei2. 135
(7) Schließlich gibt es Einkünfte, die mit Einkünfteerzielungsabsicht erwirtschaftet werden und dennoch nicht steuerbar sind; dazu gehören insb. Einkünfte aus Spiel, Lotterien und Wetten3. Bei derartigen Tätigkeiten soll bereits der objektive Tatbestand (s. Rz. 123) mangels Leistungsaustausch, der eine Subsumtion unter § 22 Nr. 3 EStG ermöglichen würde, nicht verwirklicht sein4. Dies ist zweifelhaft, da Spiel-/Wettverträge nach h.M.5 synallagmatischen Charakter haben. Entscheidend ist auch hier, ob eine Erwerbstätigkeit mit Einkünfteerzielungsabsicht ausgeübt wird oder allein der der privaten Konsumsphäre zuzuordnende Spieltrieb befriedigt wird. Objektivieren lässt sich dies an der Wahrscheinlichkeit des Gewinns. Die Lotto-Tippgemeinschaft mag hoch professionell daher kommen, die Gewinnchancen sind verschwindend gering, anders dagegen die Erfolgsaussichten eines professionellen Pokerspielers (FG Köln EFG 2013, 6126). Nach BFH BStBl. 2008, 469; 2012, 581 („Big Brother“), sind dagegen Preisgelder für die Teilnahme an Fernsehshows nach § 22 Nr. 3 EStG steuerbar7, dabei kommt es jedoch sehr auf die konkreten Umstände des Einzelfalls an. Private Devisentermingeschäfte beurteilte BFH BStBl. 1988, 245, zunächst als nicht steuerbare Spielgeschäfte. Seit 1999 sind Termingeschäfte jedoch steuerpflichtig (§ 20 II 1 Nr. 3 EStG; vor 2009: § 23 I 1 Nr. 4 EStG). Ihre Verlustträchtigkeit wird durch die Begrenzung der Verlustverrechnung aufgefangen (§ 20 VI EStG). Betriebliche Termingeschäfte sind unzweifelhaft steuerbar. Bei nicht notwendig betrieblich veranlassten Termingeschäften greift das Verlustausgleichsund Abzugsverbot des § 15 IV 3–5 EStG Platz (s. Rz. 418)8. Die nicht steuerbaren Konsumein-
1 BFH BStBl. 2005, 339. 2 Dazu BFH BStBl. 1985, 515 (Schriftsteller); 2002, 276 (Steuerberater); 2003, 85 (Architekt); 2005, 392 (Rechtsanwalt); BFH/NV 2001, 1024 (Dozententätigkeit); 2005, 1556 (Erfinder: Gewinnerzielungsabsicht muss bereits zu Beginn der Tätigkeit vorliegen). 3 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 258, 267 ff.; Schmidt-Liebig, StuW 1995, 162; Tipke, StRO II2, 666 ff.; Koch, Gewinnspiele im Steuerrecht, Diss., 2006; Ismer, FR 2007, 235; Binnewies, FS Streck, 2011, 31 („Spaßfaktor“ im Steuerrecht); Theisen/Raßhofer, FS Spindler, 2011, 819. 4 So bereits RFHE 21, 244 (Rennwetten); RFH RStBl. 1928, 181 (Spielgewinne). Im Weiteren BFH BStBl. 1970, 411; 1970, 865; BFH/NV 1994, 622 (dazu Schmidt-Liebig, StuW 1995, 162). 5 S. Ismer, FR 2007, 235 (236). 6 Dazu Schiefer/Quinten, DStR 2013, 686; s. auch Lühn, BB 2012, 298. 7 Zustimmend Ismer, FR 2012, 1057; Replik Gebhardt, FR 2013, 65; Duplik Ismer, FR 2013, 66; krit. Binnewies, FR 2012, 931 f.; Binnewies, DStR 2012, 1586; s. ferner M. Rust, Spielgewinne im Einkommensteuerrecht und im Umsatzsteuerrecht. Insbesondere aus Fernsehveranstaltungen, Diss., 2013. BMF BStBl. I 2008, 645, stellt Kautelen auf, die die Steuerbarkeit stark einschränken und es den Fernsehanstalten leicht machen, die Steuerbarkeit von Preisgeldern aus sog. Millionenshows zu vermeiden. Zu Praxisproblemen Jörißen, StBW 2013, 125. BMF BStBl. I 2006, 342 verneint den Zufluss von Einnahmen, wenn sich prominente Kandidaten von vornherein verpflichten, die „Spielgewinne“ gemeinnützigen Organisationen zuzuwenden. Pülzl, ÖStZ 2005, 154, bejaht Steuerbarkeit von Gewinnen aus Millionenshows gegen die öst. Verwaltungspraxis. Differenzierend Theisen/Raßhofer, FS Spindler, 2011, 819. 8 Das Verlustausgleichs- u. Abzugsverbot (§ 15 IV 3 EStG) gilt nicht für Geschäfte, die zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb von Kreditinstituten u.a. Finanzunternehmen i.S.d. Kreditwesengesetzes gehören oder die der Absicherung von Geschäften des gewöhnlichen Geschäftsbetriebs dienen (§ 15 IV 4 EStG). Es gilt im Wesentlichen für den Bereich des gewillkürten Betriebsvermögens branchenfremder Unternehmen (s. BFH BStBl. 1999, 466), wo ein überhöhtes Verlustrisiko schwerlich ausgeschlossen werden kann. Ausf. zu § 15 IV 3–5 EStG HHR/Intemann, § 15 EStG Anm. 1541 ff. (2013); Kirchhof/ Reiß13, § 15 EStG Rz. 418 ff. (verfassungsrechtliche Würdigung Rz. 423); Ebel, DB 2013, 2112.
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künfte sind zu unterscheiden von steuerbaren Einkünften aus hochriskanten Geschäften, wie z.B. die Beteiligung an betrügerischen Schneeballsystemen1. 136
Einstweilen frei.
3. Steuerfreie Einkünfte Literatur: Ruppe, Die Ausnahmebestimmungen des Einkommensteuergesetzes, Habil., 1971, 217 ff.; Koether, Die Steuerbefreiungen von Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit, Diss., 1972; Kirchner, Objektive Befreiungen von der Einkommensteuer in den EG-Ländern Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg, Diss., 1974; Traxel, Die Freibeträge des Einkommensteuergesetzes, Diss., 1986; Bergkemper, § 3 EStG: Ein Waisenkind der Steuergesetzgebung, Ein Beitrag zur juristischen Qualität des Befreiungskatalogs und zu verfassungsrechtlich zweifelhaften Befreiungsvorschriften, FR 1996, 509; Tipke, StRO II2, 2003, 844 ff.; Tipke, Rechtsschutz gegen Privilegien Dritter, FR 2006, 949; grundl. Kommentierungen des § 3 EStG von KSM/von Beckerath; HHR/Bergkemper u.a.
3.1 Objektive Befreiungen § 3 EStG erklärt einen langen Katalog von Einnahmen für steuerfrei. Die Steuerbefreiung von Einnahmen greift in Verbindung mit § 3c EStG Platz: Soweit Ausgaben mit steuerfreien Einnahmen „in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang stehen“, dürfen sie nicht als Betriebsausgaben oder Werbungskosten abgezogen werden (s. Rz. 290). Die Befreiungen in den §§ 3; 3b EStG sind nicht systematisch geordnet. Sozialzwecknormen (s. § 3 Rz. 21 f.) sind vermengt mit Fiskalzwecknormen (s. § 3 Rz. 20) und Vereinfachungszwecknormen (§ 3 Rz. 23 f.). Eine eindeutige Zuordnung zu den vorgenannten Normkategorien ist nicht immer möglich.
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(1) Fiskalzweckbefreiungen (also keine Steuervergünstigungen) sind Befreiungen, die den Einkommensteuertatbestand völkerrechtlich abgrenzen wie die in DBA geregelten Befreiungen zur Vermeidung der internationalen Doppelbesteuerung. § 3 Nr. 29 EStG beruht auf völkervertraglich festgelegten Befreiungen für Angehörige diplomatischer und konsularischer Vertretungen. Die Regelung des sog. Teileinkünfteverfahrens (s. § 11 Rz. 12) in § 3 Nr. 40 EStG mildert die Doppelbelastung durch Körperschaftsteuer und Einkommensteuer im Wege einer Teilentlastung des Anteilseigners (sog. shareholder relief, s. § 11 Rz. 7). § 3 Nr. 41 EStG vermeidet die zweifache Besteuerung von Gewinnen durch Hinzurechnungsbesteuerung nach den §§ 7 ff. AStG und eine nachfolgende Besteuerung von Gewinnausschüttungen und Veräußerungsgewinnen. Fiskalzweckbefreiungen sind auch Befreiungen zur Vermeidung einer Übermaßbesteuerung. Die ab 1998 gestrichene Steuerbefreiung von Sanierungsgewinnen (§ 3 Nr. 66 EStG 1997, BGBl. I 1997, 821) wird nachträglich durch die Notwendigkeit von Billigkeitsmaßnahmen gerechtfertigt2.
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1 Derartige Geschäfte sind aus der Sicht des Kapitalanlegers zu beurteilen (BFH BStBl. 2005, 739; 2005, 746) und führen grds. zu steuerpflichtigen Kapitaleinkünften i.S.v. § 20 EStG (BFH BStBl. 2005, 739 [746]; 2014, 147 [149]; 2014, 461), ohne dass es darauf ankommt, ob die Erträge tatsächlich erwirtschaftet wurden und ein zivilrechtlich durchsetzbarer Anspruch des Anlegers besteht (BFH BStBl. 1997, 767). Krit. Marx, FR 2009. 515; Wolff-Diepenbrock, FS Spindler, 2011, 897; Karla, FR 2013, 545; Schmittmann, StuB 2014, 381; Podewils, StBW 2014, 552. 2 S. den sog. Sanierungserlass BMF BStBl. I 2003, 240 (dazu aktuell Gragert, NWB 2013, 2141). Allerdings verneint FG München EFG 2008, 615, zu Unrecht die Rechtsgrundlage für eine Steuerbefreiung aus sachlichen Billigkeitsgründen; offengelassen in BFH/NV 2012, 113; a.A. BFH BStBl. 2010, 916; FG Köln EFG 2008, 1555; Seer, FR 2010, 306; ferner Gondert/Büttner, DStR 2008, 1676; Kroniger/ Korb, BB 2008, 2656; Braun/Geist, BB 2009, 2508 (für gesetzgeberische Klarstellung); Forst/Schaaf/ Kofmann, EStB 2009, 287; Schmittmann, StuB 2010, 711; zu den Voraussetzungen der Anwendung des Sanierungserlasses Ebbinghaus/Neu, DB 2012, 2831. Grundl. Eilers/Bühring, Sanierungssteuerrecht, 2012; Tschersich, Ertragsbesteuerung der Unternehmenssanierung, Diss., 2014, mit Reformvorschlägen, S. 239 ff.
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Zu den Fiskalzweckbefreiungen gehören auch die klarstellenden Befreiungen, die nicht steuerbare Einnahmen ausscheiden: § 3 Nrn. 1 (Versicherungsleistungen), 11 (insb. Sozialhilfe), 14 (Versicherungszuschüsse an Rentner), 23 (Häftlingshilfe, Rehabilitation), 42, 44 (Stipendien), 55a, 55b (Versorgungsausgleich), 58, 59 (Wohnen), 67 (Erziehung), 69 (Zuwendungen an HIVInfizierte/AIDS-Kranke) EStG. Teils sind diese Bezüge aber durch die Erwerbstätigkeit veranlasst wie die Beihilfe für Beamte (§ 3 Nr. 11 EStG) oder für beruflich veranlasste Stipendien (§ 3 Nr. 44 EStG), so dass ihre Befreiung mit dem Hinweis auf den Zuwendungscharakter nicht gerechtfertigt werden kann. Fiskalzwecknormen sind auch insofern gegeben, als die befreiten Bezüge die steuerliche Leistungsfähigkeit nicht erhöhen, wie z.B. Leistungen zum Ausgleich von Kosten, die durch Krankheit oder Unfall verursacht sind. § 3 Nrn. 4 Buchst. d, 5, 11 EStG können mit dem Gedanken des § 33 EStG gerechtfertigt werden. 139
(2) Vereinfachungsbefreiungen sind insb. die Befreiungen, die Auslagenersatz und Aufwandsentschädigungen betreffen: § 3 Nrn. 4 Buchst. a–c (Dienstkleidung/-verpflegung), 12 (Aufwandsentschädigungen), 13/16 (Reise-/Umzugskosten), 32 (Sammelbeförderung), 50 (durchlaufende Posten), 64 (Kaufkraftausgleich) EStG. Sie verkürzen die Überschussrechnung um den Ansatz von Einnahmen und von Werbungskosten in typisierender Weise. Diese Typisierung muss aber gleichmäßig vollzogen werden und darf nicht bestimmte Gruppen (z.B. Arbeitnehmer oder öffentlich Bedienstete) gleichheitssatzwidrig privilegieren1. Im Weiteren kann die überhöhte Abgeltung von Aufwand zur verdeckten Sozialzwecknorm werden; dies verletzt das Gebot der Normenklarheit (s. § 3 Rz. 243 ff.). Daher sind die Befreiungen von Aufwandsentschädigungen, Reise-/Umzugskostenvergütungen, Trennungsgeldern (§ 3 Nrn. 12, 13 EStG) verfassungskonform auf die Erstattung tatsächlich entstandener oder zumindest realitätsgerecht typisierter Erwerbsaufwendungen zu beschränken (s. BFH BStBl. 2007, 308; 2007, 536); das gilt auch für die steuerfreien Aufwandsentschädigungen von Abgeordneten (s. Rz. 541). Die gesetzgeberische Beschränkung auf Ausweisung als Aufwandsentschädigung in dem entsprechenden Haushaltsplan in § 3 Nr. 12 EStG erhöht zwar die öffentliche Kontrolle, ohne jedoch die aus steuersystematischen Gründen erforderliche Eingrenzung zu leisten. Die Steuerbefreiung von Vorteilen des Arbeitnehmers aus der privaten Nutzung von betrieblichen Personalcomputern und Telekommunikationsgeräten und vom Arbeitgeber überlassenen Systemund Anwendungsprogrammen (§ 3 Nr. 45 EStG) ist als Vereinfachungsbefreiung insoweit gerechtfertigt, als eine gleichmäßige Erfassung der privaten Nutzungen nur mit unverhältnismäßigem Aufwand möglich ist. Nach BFH BStBl. 2006, 715 (717) verletzt die Beschränkung des § 3 Nr. 45 EStG auf Arbeitnehmer nicht den Gleichheitssatz, weil typischerweise davon auszugehen sei, dass Arbeitnehmer betriebliche Geräte nur begrenzt nutzen würden, während Unternehmer eher geneigt seien, betriebliche Einrichtungen zu Lasten des steuerlichen Gewinns privat zu nutzen. Ähnlich begründet ist die Befreiung von Trinkgeldern durch § 3 Nr. 51 EStG2. Freilich sind Ermittlungsschwierigkeiten nicht geeignet, eine unbegrenzte Steuerbefreiung zu rechtfertigen, erst recht nicht ihre Beschränkung auf Arbeitnehmer3.
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(3) Sozialzweckbefreiungen sind nach dem Gemeinwohlprinzip (s. § 3 Rz. 133) und dem Verdienstprinzip (§ 3 Rz. 135 f.) zu rechtfertigen oder sie lassen sich überhaupt nicht rechtfertigen. Der Gleichheitssatz kann auch verletzt sein, wenn Steuervergünstigungen in nicht zu rechtfer1 So bevorzugt die Steuerbefreiung von Aufwandsentschädigungen nach § 3 Nr. 12 Satz 1 EStG gleichheitssatzwidrig Bundes- u. Landesbedienstete gegenüber anderen Arbeitnehmern (Bergkemper, FR 1999, 517). BVerfGE 99, 280, beanstandete die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift für Zulagen an Besoldungsempfänger im Beitrittsgebiet. Der Gesetzgeber hat bisher nicht die Konsequenz gezogen, § 3 Nr. 12 Satz 1 insgesamt zu streichen (so die Forderung z.B. von HHR/Bergkemper, § 3 Nr. 12 EStG Anm. 4 [2013]). 2 BT-Drucks. 14/9428, 4; BFH BStBl. 2009, 820. 3 Erhebungsschwierigkeiten bestehen auch bei Unternehmern, z.B. bei selbständigen Taxifahrern u. Friseuren (vgl. Kirchhof/von Beckerath13, § 3 EStG Rz. 132). Der Kölner EStGE empfiehlt ausdrücklich die Besteuerung von Trinkgeldern (s. § 5 II Kölner EStGE). Kölner EStGE, Begr. Rz. 328: Die Befreiungsvorschrift könne zu amerikanischen Verhältnissen führen, wo das freiwillig gezahlte Trinkgeld die eigentliche Einkunftsquelle des Dienstleisters darstelle.
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Rz. 142
§8
tigender Weise nur bestimmten Gruppen von Stpfl, z.B. Arbeitnehmern (s. Rz. 143), gewährt werden. Steuerfreiheit für die Vergütung von Tätigkeiten im Gemeinwohlinteresse1: Die Steuerfreiheit von Bezügen wg. Kinderpflege (§ 3 Nr. 9; Nr. 34a EStG), Behindertenpflege (§ 3 Nr. 9 i.d.F. des JStG 2009), Hilfsbedürftigkeit (§ 3 Nr. 11 EStG) und wg. bürgerschaftlichen Engagements (§ 3 Nrn. 26, 26a, 26b EStG) zielt darauf ab, Stpfl. zu (altruistischen) Tätigkeiten im Gemeinwohlinteresse anzuhalten. Bezüge aus öffentlichen Mitteln für die Tages- u. Vollzeitpflege von Kindern sind nach § 3 Nrn. 9, 11 EStG steuerfrei gestellt2. § 3 Nr. 9 EStG stellt die vom Jugendamt erstatteten Sozialaufwendungen (Unfall-, Kranken- u. Pflegeversicherung, Alterssicherung) steuerfrei. § 3 Nr. 11 EStG erfasst auch erwirtschaftete Einkünfte und hat daher nicht nur klarstellenden Charakter (s. Rz. 138). So werden Beihilfen, die an Beamte in Krankheitsfällen geleistet werden und Teil der Besoldung sind, nach § 3 Nr. 11 EStG steuerfrei gestellt. Diese Steuerbefreiung ließe sich als Fiskalzweckbefreiung rechtfertigen, wenn der Gedanke des § 33 EStG (s. Rz. 138 a.E.) für alle Arbeitnehmer verwirklicht wäre. Als Sozialzwecknorm lässt sich die Sonderbehandlung der Beamtenbeihilfen im Vergleich zu Beihilfen anderer Arbeitnehmer nicht rechtfertigen3. § 3 Nr. 11 Satz 4 EStG stellt die Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer nicht her. Ehrenamtliche Tätigkeiten4 sollen durch den Übungsleiterfreibetrag (§ 3 Nr. 26 EStG) i.H.v. 2 400 Euro und einen Ehrenamtsfreibetrag (§ 3 Nr. 26a EStG5) von 720 Euro angeregt werden, die europarechtskonform auch für gemeinnützige Organisationen im EU-/EWR-Raum gelten6. § 3 Nr. 26b EStG stellt Aufwandsentschädigungen ehrenamtlicher Betreuer, Vormünder und Pfleger frei. Steuerfreiheit von Versorgungs-, Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen (§ 3 Nrn. 6–8a, 18, 19, 20, 54 EStG):
141
Das Gemeinwohlprinzip rechtfertigt die Steuerfreiheit von Leistungen, die Beeinträchtigungen durch den Staat ausgleichen: Leistungen für Kriegsfolgen, Kriegsopfer, Vertriebene und Verfolgte (§ 3 Nrn. 6–8, 18, 19, 54 EStG), auch Entschädigungen nach dem Bundesseuchengesetz (§ 3 Nr. 25 EStG). Das Verdienstprinzip rechtfertigt Steuerbefreiungen für Vergütungen an besonders verdiente Personen (§ 3 Nr. 20 EStG).
Steuerfreiheit von Leistungen der Zukunftsvorsorge (§ 3 Nrn. 17, 47, 57, 62, 63, 65, 66 EStG): § 3 Nr. 3 EStG stellt Kapitalabfindungen gesetzlicher Altersversorgung u. § 3 Nr. 62 EStG stellt bestimmte Leistungen des Arbeitgebers zur Zukunftssicherung des Arbeitnehmers steuerfrei. Mit dem Altersvermögensgesetz v. 26.6.2001 (BGBl. I 2001, 1310) ist die Steuerfreiheit von Leistungen der Zukunftsvorsorge erheblich ausgeweitet worden: § 3 Nrn. 63, 66 EStG befreit bestimmte Leistungen an Pensionskassen/-fonds. Diese Befreiungen sind Teil des Einstiegs in eine nachgelagerte Besteuerung von Alterseinkünften (s. Rz. 480 f.) und insoweit keine Sozialzweck-, sondern Fiskalzweck1 J. Lang, Bemessungsgrundlage, 272, vereint bereits mangels Einkünfterzielungsabsicht die Steuerbarkeit der Einkünfte aus gemeinnütziger und ehrenamtlicher Tätigkeit; a.A. BFH BStBl. 2013, 799 (800); Tegelkamp/Krüger, FR 2013, 490; Myssen, INF 2000, 129 ff., 168 ff. 2 S. BMF BStBl. I 2011, 487 (642). Zu der kaum nachvollziehbaren steuerlichen Differenzierung zwischen den unterschiedlichen sozialrechtlichen Leistungstatbeständen (§§ 32; 33; 34 u. 35 SGB VIII) und Durchführungswegen BMF BStBl. I 2011, 487; Gragert, NWB 2011, 2120; Lippert, DStR 2011, 300. 3 A.A. BVerfGE 83, 395 (401 f.). 4 Hierzu Tegelkamp/Krüger, ZErb 2011, 125. Statt der Abschaffung des „Übungsleiterprivilegs“ (hierfür insb. Gutachten der Unabhängigen Sachverständigenkommission zur Prüfung des Gemeinnützigkeits- u. Spendenrechts, BMF-Schriftenreihe 40, 1988, 217 ff.; Wiss. Beirat beim BMF, Die abgabenrechtliche Privilegierung gemeinnütziger Zwecke auf dem Prüfstand, BMF-Schriftenreihe 80, 2006, 45 f.) weitet der Gesetzgeber die Vergünstigungen permanent aus, zuletzt durch Ehrenamtsstärkungsgesetz v. 1.3.2013, BGBl. I 2013, 556). 5 Dazu BMF BStBl. I 2008, 985. Vor 2011 geht BFH BStBl. 2013, 799, von der Steuerfreiheit gem. § 3 Nr. 12 Satz 1 EStG aus; krit. Tegelkamp/Krüger, FR 2013, 490. 6 Aufgrund von EuGH C-281/06, Jundt; dazu Hüttemann/Helios, IStR 2008, 200.
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§8
Rz. 143
Einkommensteuer
befreiungen, als die Altersbezüge nach § 22 Nr. 5 EStG besteuert werden. Soweit die Befreiungen nicht mit einer entsprechenden Besteuerung verknüpft sind, liegen gleichheitswidrige Steuerprivilegien vor, deren Abbau im Zuge eines systematischen Ausbaus der nachgelagerten Besteuerung geboten ist.
143
I.Ü. ist die Steuerfreiheit diverser erwirtschafteter Bezüge bevorzugten Gruppen, besonders Arbeitnehmern1, so willkürlich zugewiesen, dass nur die konsequente Beseitigung der Steuerbefreiungen Steuergleichheit herstellt2. Es werden folgende Bezüge steuerfrei gestellt: – Lohnersatzleistungen3: Leistungen der Arbeitsförderung (§ 3 Nrn. 2, 2a EStG); Überlassung von Dienstkleidung, Verpflegung u. Heilfürsorge für Angehörige der Bundeswehr, Polizei, Feuerwehr etc. (§ 3 Nr. 4 EStG), Bezüge von Wehr-, Zivildienstleistenden und Dienstleistenden nach dem Bundesfreiwilligengesetz (§ 3 Nr. 5 EStG); – Produktionsaufgaberente u. Ausgleichsgeld für Landwirte bis 18 407 Euro (§ 3 Nr. 27 EStG); – Aufwandsentschädigungen (§ 3 Nrn. 12, 13 EStG, s. Rz. 541), Auslandszuschläge u. Kaufkraftausgleich (§ 3 Nr. 64 EStG)4. § 3 Nrn. 13, 16, 35 EStG sind gleichheitskonform Angehörige des öffentlichen und nichtöffentlichen Dienstes gleichbehandelnde Vereinfachungsbefreiungen (s. Rz. 139); – freiwillige Arbeitgeberleistungen für Gesundheitsvorsorge bis 500 Euro pro Jahr (§ 3 Nr. 34 EStG) und Kinderbetreuung (§ 3 Nrn. 33, 34a EStG), die zusätzlich5 zum ohnehin geschuldeten Arbeitslohn erbracht werden; – Vergütungen für familiäre Pflege (§ 3 Nr. 36 EStG6); – Sachprämien zur Kundenbindung (§ 3 Nr. 38 EStG7), Nutzung von Personalcomputern u. Telekommunikationsgeräten (s. Rz. 139), Trinkgelder (§ 3 Nr. 51 EStG; s. Rz. 139), Leistungen aus öffentlichen Mitteln an Arbeitnehmer der Bergwerks- u. Schwerindustrie (§ 3 Nr. 60 EStG) u. an Entwicklungshelfer (§ 3 Nr. 61 EStG), Beamtenbeihilfen (§ 3 Nr. 11 EStG; s. Rz. 138, 140) u. Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- oder Nachtarbeit (§ 3b EStG; s. Rz. 140). – Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- oder Nachtarbeit (§ 3b EStG): Die Sozialzwecknorm des § 3b EStG verletzt den Gleichheitssatz, zum einen weil die Vorschrift auf Arbeitnehmer beschränkt ist, zum anderen weil bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern privilegiert werden8. 1 Dazu Koether, Die Steuerbefreiungen von Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit, 1972; Fischer/Hoberg, DB 2006, 1333. 2 Hierfür dezidiert u.a. Thesen der Einkommensteuer-Kommission, BMF-Schriftenreihe 55, 1995, 37 ff.; Tipke, StRO II2, 844 ff., 854 (gänzliche Abschaffung der Steuervergünstigungen u. dementsprechende Steuersenkung für alle); P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, 2003; Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, 2004; Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, 2004; Kölner EStGE (2005). 3 Diese stehen immerhin unter dem Progressionsvorbehalt des § 32b I Nr. 1 EStG (s. Rz. 810). 4 Europarechtlich ist die Beschränkung auf Zahlungen inländischer Stellen nicht zu beanstanden, s. EuGH C-240/10, Schulz-Delzers und Schulz. 5 BMF BStBl. I 2013, 728: grds. zu bejahen außer in Fällen der Gehaltsumwandlung; restriktiver BFH BStBl. 2013, 395 u. 398; dazu Thomas, DStR 2013, 233; Geserich, SteuK 2013, 269; Seifert, StuB 2013, 530; Plenker, DB 2013, 1202; Connemann, NWB 2014, 1357. 6 S. BMF BStBl. 2012, 617; HHR/Kanzler, § 3 Nr. 36 EStG (2014). 7 § 3 Nr. 38 EStG betrifft hauptsächlich Vielfliegerprogramme („Miles and More“ etc.). Der Wert der Prämien darf 1 080 Euro im Kalenderjahr nicht übersteigen. Soweit dieser Betrag überschritten wird, können die Sachprämien vom leistenden Unternehmen nach § 37a EStG (sog. lex Lufthansa) pauschal mit 2,25 % versteuert werden (s. Rz. 901). 8 Nach BVerfGE 89, 15, war § 3b EStG 1975 aber nur insoweit mit Art. 3 I GG unvereinbar, als die Steuerfreiheit auf höchstens 15 % des Grundlohns begrenzt war. M.E. verletzt aber § 3b EStG im Ganzen den Gleichheitssatz. Hieran ändert auch die restriktive Rspr. des BFH (s. z.B. BFH BStBl. 2009, 730; 2012, 288 u. 291: nur für tatsächlich geleistete Arbeit) zu der streitanfälligen Vorschrift nichts. Ausf. zu § 3b EStG Tipke, StRO II1, 1993, 714 ff. (s. auch Tipke, StRO II2, 753 f.); Tipke, FR 2006, 950 ff.; Wernsmann, ZRP 2010, 124 ff. Der Ausweitung auf andere gemeinwohlförderliche Tätigkeiten (Kampfmittelräumung) steht bereits der unklare Gesetzeszweck der Norm entgegen BFH BStBl. 2012, 144.
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Rz. 149
§8
Die Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft werden bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nur berücksichtigt, soweit sie den Betrag von 900 Euro (bei Ehegatten: 1 800 Euro, auch wenn nur einer der beiden Eheleute in der Landwirtschaft arbeitet) übersteigen. Dieser Freibetrag entfällt, wenn das Einkommen ohne Berücksichtigung des Freibetrags 30 700 Euro übersteigt (§ 13 III 2 EStG). Es handelt sich um einen Subventionsfreibetrag1. Ein Betrieb, der mit Verlust arbeitet, erhält allerdings keine Subvention. Begünstigt werden Landwirte ferner durch die Steuerbefreiung für Produktionsaufgaberente und Ausgleichsgeld bis 18 407 Euro (§ 3 Nr. 27 EStG).
144
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§§ 19; 3 Nr. 39): § 19 II EStG begünstigt Versorgungsbezüge durch einen Versorgungsfreibetrag und einen Zuschlag zum Versorgungsfreibetrag. Versorgungsfreibetrag und Zuschlag werden im Übergang zur voll nachgelagerten Besteuerung von den Beträgen 3 000/900 Euro (2005) bis zum Jahre 2040 vollständig abgeschmolzen (s. Tabelle in § 19 II 3 EStG). § 3 Nr. 39 EStG (vormals § 19a EStG) fördert die freiwillig und zusätzlich oder durch Entgeltumwandlung erbrachte unentgeltliche oder verbilligte Überlassung von Mitarbeiterkapitalbeteiligungen nach dem Vermögensbildungsgesetz mit einem Betrag von bis zu 360 Euro2. Gruppenprivilegien sind auch der Arbeitnehmer-Pauschbetrag von 1 000 Euro gem. § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG und der Personalrabatt-Freibetrag von 1 080 Euro gem. § 8 III 2 EStG.
145
Freibeträge werden auch bei Betriebsveräußerungen zugestanden (§§ 14 Satz 2; 14a; 16 IV; 18 III 2 EStG), ferner bei der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften (§ 17 III EStG).
146
Bestimmung steuerpflichtiger Einkünfte
3.2 Freibeträge/Freigrenzen
Die Freibeträge der teleologisch gleich gelagerten Vorschriften sind unterschiedlich ausgestaltet: § 16 IV EStG gewährt einmalig3 einen Freibetrag von 45 000 Euro für Stpfl., die das 55. Lebensjahr vollendet haben oder dauernd berufsunfähig sind. Demgegenüber räumt § 17 III EStG einen Freibetrag in Höhe des Teils von 9 060 Euro ein, der dem veräußerten Anteil entspricht. Die Aufzehrungsgrenze setzt in § 16 IV 3 EStG ab 136 000 Euro Veräußerungsgewinn, in § 17 III 2 EStG ab 36 100 Euro Veräußerungsgewinn ein. Diese Unterschiede sind willkürlich festgelegt.
Bei den Einkünften aus Kapitalvermögen ist anstelle von Werbungskosten gem. § 20 IX EStG der Sparer-Pauschbetrag von 801 Euro (Ehegatten: 1 602 Euro) abzuziehen, wodurch das objektive Nettoprinzip stark eingeschränkt wird (s. Rz. 494).
147
Sonstige Einkünfte (§§ 22; 23 EStG): Gewinne aus privaten Veräußerungsgeschäften (§§ 22 Nr. 2; 23 EStG) bleiben steuerfrei, wenn der aus den privaten Veräußerungsgeschäften erzielte Gesamtgewinn im Kalenderjahr weniger als 600 Euro betragen hat (Vereinfachungsfreigrenze nach § 23 III 5 EStG). Einkünfte aus sonstigen Leistungen (s. Rz. 542 ff.) sind nicht einkommensteuerpflichtig, wenn sie weniger als 256 Euro betragen haben (Vereinfachungsfreigrenze nach § 22 Nr. 3 Satz 2 EStG).
148
Stpfl. wird ab dem 65. Lebensjahr (s. § 24a Satz 3 EStG) der Altersentlastungsbetrag (§ 24a EStG) gewährt. Der Altersentlastungsbetrag wurde 1975 eingeführt und soll einen Ausgleich für solche Alterseinkünfte schaffen, die nicht durch den Versorgungsfreibetrag (s. Rz. 145) oder die Besteuerung nur des Ertragsanteils von Renten (§ 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG; s. Rz. 532, 565) begünstigt sind4. Mit der Neuordnung der Besteuerung von Alterseinkünften durch das Alterseinkünftegesetz von 2004 (s. Rz. 570) wird der Altersentlastungsbetrag bis zum Jahre 2040 abgeschmolzen5.
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1 Zur Entstehungsgeschichte des § 13 III EStG: Blümich, EStG 19342, 1937; HHR/Gmach, § 13 EStG Anm. 360 (2004) abrufbar im elektronischen HHR-Archiv unter www.ertragsteuerrecht.de/hhr_ archiv.htm; Felsmann/Pape, Die Einkommensbesteuerung der Land- und Forstwirte3, Abschn. A, Rz. 386 ff. (2006); Bericht der Einkommensteuerkommission (sog. Durchforstungskommission), Schriftenreihe des BdF 7, 173 ff. 2 Dazu BMF BStBl. I 2009, 1513, mit Anm. Wünnemann, DStR 2010, 31. 3 BFH BStBl. 2009, 963. 4 BT-Drucks. 7/1470, 279. 5 S. BT-Drucks. 15/2150, 43, u. Tabelle in § 24a Satz 5 EStG.
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§8
Rz. 150
Einkommensteuer
E. Die persönliche Zurechnung von Einkünften Literatur: Tipke, Übertragung von Einkunftsquellen, StuW 1977, 293; Tipke, Übertragung von Einkunftsquellen im Steuerrecht, DStJG 1 (1978); L. Schmidt, Subjektive Zurechnung von Einkünften, StbJb. 1980/81, 115; Stadie, Die persönliche Zurechnung von Einkünften, 1983; Schulze-Osterloh, Rechtsnachfolge im Steuerrecht, DStJG 10 (1987); Steinberg, Zur Frage der Einkunftsquelle und ihrer Zurechnung, DStZ 1988, 315; Wassermeyer, Zum Besteuerungsgegenstand der Einkünfte aus Kapitalvermögen, StuW 1988, 283; Scholtz, Zurechnung von Einnahmen aus Kapitalvermögen, insb. bei Veräußerung von Kapitalanlagen, DStZ 1990, 523; Scholtz, Vereinbarungen über die Zurechnung von Einnahmen aus Kapitalvermögen, DStZ 1990, 602; Herrmann, Die Zurechnung von Vermietungseinkünften und deren Verlagerung auf Angehörige und Gesellschafter – Möglichkeiten und Grenzen, DB 1992, 2104; Biergans, Zur personellen Zurechnung latenter Einkünfte, in FS L. Schmidt, 1993, 75; Raupach, Die Frage der Zurechnung im Steuerrecht als Problem der Tatbestandsverwirklichung, in FS Beisse, 1997, 403; Fischer, „Faktisches“, „Verdecktes“ und die subjektive Zurechnung von Einkünften, FR 1998, 813; Fischer, Zurechnung, Zugriff, Durchgriff – Aspekte einer Grundfrage des Steuerrechts, FR 2001, 1; Verhandlungen des 15. Österreichischen Juristentages: Einkünftezurechnung im Einkommen- u. Körperschaftsteuerrecht, Gutachten von Tanzer, 2003, Referate von Fischer, Gassner, Loukota u. Zorn, 2004; HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 100–340 (2012).
1. Allgemeine Zurechnungsregeln 150
Nach § 2 I 1 EStG sind die Einkünfte der Person zuzurechnen, die sie „erzielt“. Das Merkmal des Erzielens wird im Kontext mit dem Einkünftekatalog des § 2 I EStG wie folgt konkretisiert: Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung (s. § 3 Rz. 230 ff.) und die pragmatische Legaldefinition des Einkommens durch den Einkünftekatalog (s. Rz. 53) begründen die Regel, dass Einkünfte demjenigen persönlich zuzurechnen sind, der den konkreten Tatbestand der Einkunftserzielung erfüllt1. Danach wird das Merkmal des Erzielens durch die einzelnen Einkünftetatbestände konkretisiert. Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten treten Normen des Internationalen Steuerrechts hinzu2.
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Die Einkünftetatbestände der §§ 13–24 EStG erfassen prinzipiell nur das Erwerbseinkommen (s. Rz. 52). Folglich sind die Einkünfte grds. dem zuzurechnen, der sie erwirtschaftet. Erwirtschaftet werden Einkünfte von dem, der die Einkünfte auf Grund seiner Betätigung, d.h. auf Grund seiner Arbeit und (oder) seines Vermögenseinsatzes unter Beteiligung am wirtschaftlichen Verkehr (s. Rz. 122 ff.), erzielt. Die eingesetzte Arbeitskraft und das genutzte Vermögen lassen sich auch als Einkunftsquellen bezeichnen. Man kann die geleistete Arbeit als persönliche Einkunftsquelle und das zur Nutzung überlassene Vermögen als sachliche Einkunftsquelle bezeichnen.
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Der Begriff des Erwirtschaftens bezieht sich auf Tätigkeiten: Arbeitseinkünfte sind grds. dem zuzurechnen, der die entgeltliche, selbständige oder nichtselbständige Tätigkeit ausgeübt hat. Auch Vermögenseinkünfte werden durch Tätigkeiten erzielt, nämlich durch Tätigkeiten der Vermietung, Verpachtung und anderer Überlassung von Vermögen zur Nutzung (Tätigkeiten sog. privater Vermögensverwaltung). Die Einkünfte i.S.d. §§ 20; 21 EStG werden sowohl durch verwaltende Tätigkeit als auch durch Vermögenseinsatz erzielt. Der Beitrag der Arbeit zu den Vermögenseinkünften kann jedoch gering und im Extremfall überhaupt nicht vorhanden sein. In solchen Fällen lässt sich aus dem Begriff des Erwirtschaftens für das Merkmal des Erzielens keine aussagekräftige Konkretisierung mehr ableiten. Dies gilt besonders bei reinen Vermögenseinkünften wie z.B. wiederkehrenden Bezügen (§ 22 Nrn. 1, 1a EStG), bei denen das Recht auf wiederkehrende Bezüge (z.B. das Rentenstammrecht oder der Unterhaltsanspruch) die alleinige Quelle der Einkünfte ist. 1 Grundl. Tipke, StuW 1977, 293 (298) (s. Nießbrauchsurteile BFH BStBl. 1981, 295, 297 u. 299); Ruppe, DStJG 1 (1978), 7. Umfassend HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 100 ff. (2012). 2 Dazu Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, 2011, Rz. 18.4 ff.; Ziehr, Einkünftezurechnung im internationalen Einheitsunternehmen, Diss., 2008; IFA-cahiers Vol. 92b (2007), Conflicts in the attribution of income to a person.
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Rz. 156
§8
Somit entsteht bei Vermögenseinkünften das Bedürfnis nach weiteren Zurechnungsregeln, die das Merkmal des Erzielens konkretisieren. Bei Vermögenseinkünften ist die Frage, wer die einkünfterelevante Erwerbstätigkeit, die Überlassung von Vermögen zur Nutzung, ausübt, untrennbar mit der zivilrechtlichen Dispositionsbefugnis verknüpft1. Die Dispositionsbefugnis wird im Steuerrecht auch durch Kriterien wirtschaftlicher Zurechnung bestimmt (s. § 5 Rz. 140 ff.). § 39 AO regelt nicht unmittelbar die Zurechnung von Einkünften, sondern die Zurechnung von Wirtschaftsgütern. Bei den Vermögenseinkünften kann jedoch § 39 AO bei der Frage, wer Vermögen zur Nutzung überlässt, die Einkünftezurechnung mitbestimmen2. Bei reinen Vermögenseinkünften kann die Dispositionsbefugnis allein maßgeblich für die Einkünftezurechnung werden. So erzielt z.B. der Inhaber des Rentenstammrechts die Renteneinkünfte.
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Die persönliche Zurechnung von Einkünften
2. Konkretisierung der Zurechnungsregeln bei einzelnen Einkunftsarten Die dargelegten allgemeinen Zurechnungsregeln konkretisieren sich bei den einzelnen Einkunftsarten wie folgt:
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(1) Bezüge aus einem landwirtschaftlichen oder gewerblichen Betrieb sind dem zuzurechnen, der diese Bezüge als Unternehmer mit eigener Initiative und eigenem Risiko erwirtschaftet3. Nach BFH BStBl. 2005, 817 (822) ist Zurechnungssubjekt der Urheber des Handels, der Produktion oder der Dienstleistungen, mithin des Inbegriffs derjenigen Tätigkeiten, die den Betrieb bilden. Auch der Pächter oder Nießbraucher eines Betriebs kann Unternehmer sein. Beispiele: a) Gewerbetreibender G tritt eine Kaufpreisforderung an seinen studierenden Sohn ab. – b) Gewerbetreibender G beteiligt seinen Sohn als Kommanditisten an seinem Unternehmen. – c) Landwirt L verpachtet seinen Betrieb an seinen Sohn; dieser bewirtschaftet den Betrieb. Im Fall a sind die Bezüge dem G zuzurechnen. Er, nicht sein Sohn, hat sie als Unternehmer erwirtschaftet, dem Sohn fließen lediglich von G erwirtschaftete Bezüge kraft Abtretung zu. Im Fall b ist dem Sohn der angemessene Gewinnanteil als eigener Bezug zuzurechnen, wenn der Sohn Kommanditist und Mitunternehmer ist (§ 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG). Im Fall c erwirtschaftet der Sohn als Pächter eigene Bezüge aus Landwirtschaft. Dass er nicht Hofeigentümer ist, ist unerheblich. Ob L noch Bezüge aus Landwirtschaft hat, hängt davon ab, ob er den Betrieb endgültig aufgegeben hat oder nicht.
(2) Bezüge aus selbständiger und nichtselbständiger Arbeit sind dem zuzurechnen, der sie durch seine eigene Arbeit erwirtschaftet hat. Die Einkunftsquelle „Arbeit“ ist nicht übertragbar. Abtretung (auch Vorausabtretung) oder Pfändung der Bezüge ist Einkommensverwendung. § 24 Nr. 2 EStG enthält eine Ausnahme für Einkünfte aus einer ehemaligen Tätigkeit, die dem Rechtsnachfolger zufließen.
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(3) Bezüge aus Kapitalvermögen4 und aus Vermietung/Verpachtung5 sind dem zuzurechnen, der die Bezüge durch die Überlassung des Vermögens zur Nutzung erwirtschaftet.
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1 BFH GrS BStBl. 1983, 272 (274); BFH BStBl. 1982, 540 (541); 1988, 521 (524); ausf. Robertz, Die persönliche Zurechnung von Vermögenseinkünften, Auswirkungen zivilrechtlicher Sachverhaltsgestaltungen, Diss., 2004. 2 Vgl. Scholtz, FR 1977, 26; Scholtz, DStZ 1990, 523 ff., 602 ff.; HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 144 (2012). § 39 AO beeinflusst auch über die Bilanzierung von Wirtschaftsgütern (s. § 9 Rz. 139 ff.) die Einkünfteerzielung zwischen zivilrechtlichem Eigentümer (z.B. Leasing-Geber) u. wirtschaftlichem Eigentümer (z.B. Leasing-Nehmer). Zu Treuhandverhältnissen Lang/Seer, FR 1992, 637, u. zu § 39 AO als Zurechnungskriterium auch Wüst, Die persönliche Zurechnung der Einkünfte beim Nießbrauch, Diss., 1995. 3 BFH BStBl. 1980, 303; 1997, 118 (120). 4 Robertz, Die persönliche Zurechnung von Vermögenseinkünften, Auswirkungen zivilrechtlicher Sachverhaltsgestaltungen, Diss., 2004, 79 ff.; KSM/Jochum, § 20 EStG Rz. B 76 ff. (2013); HHR/Buge, § 20 EStG Anm. 19 ff. (2014); Schmidt/Weber-Grellet33, § 20 EStG Rz. 166 ff.; Kirchhof/von Beckerath13, § 20 EStG Rz. 17; I. Osterloh, DStR 2014, 393. Zurechnung von Kapitalerträgen nach Geldschenkung:
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§8
Rz. 157
Einkommensteuer
Beispiele: a) V schenkt seinem Sohn S Geld und kauft dafür Wertpapiere, die sodann V verwaltet. – b) E vermietet ein Haus an M, der mehrere Zimmer untervermietet. Im Fall a) sind dem Sohn S nur dann die Zinseinkünfte zuzurechnen, wenn der Vater das Wertpapiervermögen auf Dauer wie fremdes Vermögen verwaltet1. – Im Fall b) erwirtschaften sowohl E als auch M Mietzinsen. Beide überlassen Vermögen zur Nutzung. Dass dem M das überlassene Vermögen nicht selbst gehört, ist unerheblich. Vermögen kann anderen derjenige zur Nutzung überlassen, der daran dinglich (als Eigentümer, Nießbraucher i.S.d. §§ 1030 ff. BGB, Wohnberechtigter i.S.d. § 1093 BGB) oder schuldrechtlich (insb. als Mieter, Pächter) beteiligt ist.
Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 20 EStG) erzielt der Inhaber, nach wirtschaftlicher Betrachtungsweise auch der wirtschaftliche Inhaber. Inhaber von Kapitalgesellschaften u.a. Körperschaften und Personenvereinigungen i.S.d. § 20 I Nrn. 1, 2 EStG sind die Anteilseigner; sie erzielen die Quelleneinkünfte (s. § 20 V EStG) und auch die Veräußerungseinkünfte i.S.d. § 20 II 1 Nrn. 1, 2 EStG; diese Einkünfte erzielt auch der wirtschaftliche Inhaber einer Kapitalgesellschaft2. 157
(4) Wiederkehrende Bezüge (Renten, Unterhaltsbezüge) sind demjenigen zuzurechnen, der sie erwirtschaftet hat, d.i. der Inhaber des Rechts auf die wiederkehrenden Bezüge, besonders derjenige, der ein Rentenstammrecht erwirtschaftet hat.
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(5) Nießbrauch3 ist das unbeschränkte (dingliche) Recht auf Nutzung von Sachen (§§ 1030 ff. BGB), Rechten (§§ 1068 ff. BGB) oder an einem Vermögen (§§ 1085 ff. BGB). Unterschieden werden Zuwendungsnießbrauch, Vorbehaltsnießbrauch und Vermächtnisnießbrauch. Die Verlagerung von Einkünften durch Nießbrauchsbestellung ist ein beliebtes Steuersparmittel unter Angehörigen, zumal der Nießbrauchsbesteller das Nießbrauchsobjekt nicht verliert und es sich wirtschaftlich bloß um die dingliche Sicherung der Abtretung künftiger Forderungen handelt. Daher bereitet die Zurechnung von Einkünften in den Fällen des unentgeltlichen Nießbrauchs besondere Schwierigkeiten, auch Beweisschwierigkeiten. Das seit Jahrzehnten umfängliche Schrifttum belegt, dass die Nießbrauchsgestaltungen unter Angehörigen praktisch und rechtsdogmatisch kaum in den Griff zu bekommen sind. Sie würden weitgehend unterbleiben, wenn die zwangsläufigen Unterhaltsaufwendungen realitätsgerecht, d.h. durch Familien-Realsplitting berücksichtigt werden würden. Exemplarische Bedeutung haben folgende Nießbrauchsfälle, in denen sich stets auch die mit der Zurechnung der Einkunftsquelle eng verbundene Frage der Abziehbarkeit von Drittaufwand (dazu auch Rz. 223 ff.) stellt:
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In den Fällen des Grundstücksnießbrauchs4 hat BFH BStBl. 1981, 295, 297 u. 299, die in Rz. 150 dargelegte Tatbestandsregel in seine Rspr. übernommen. Den Tatbestand des § 21 I 1 Nr. 1 EStG verwirklicht der Nießbraucher, wenn er ein Grundstück anderen entgeltlich über-
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BFH BStBl. 1990, 539 (Sparguthaben); 1998, 190 (Investmentfonds); BFH/NV 1999, 1325 (Sparkassenbrief); BFH/NV 2011, 1512. Robertz, Die persönliche Zurechnung von Vermögenseinkünften, Auswirkungen zivilrechtlicher Sachverhaltsgestaltungen, Diss., 2004, 76 ff.; Schmidt/Kulosa33, § 21 EStG Rz. 31 ff.; Kirchhof/Mellinghoff13, § 21 EStG Rz. 26 ff. Maßgeblich ist nicht, ob der Stpfl. rechtlicher oder wirtschaftlicher Eigentümer ist; es kommt auf die dingliche oder obligatorische Dispositionsbefugnis an (s. FG Rheinl.-Pf. DStRE 2002, 1243; FG Köln EFG 2004, 1435). So BFH/NV 1999, 1325. Dazu BFH BStBl. 2005, 857. Dazu m. zahlr. Nachw. HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 201–315 (2012); Wüst, Die persönliche Zurechnung der Einkünfte beim Nießbrauch, Diss., 1995; Korn, Nießbrauchgestaltungen auf dem Prüfstand, DStR 1999, 1461 ff. (1512 ff.); Doralt, Unentgeltlicher Nießbrauch – Zurechnung der Einkunftsquelle, FS Kruse, 2001, 395; Jansen/Jansen, Der Nießbrauch im Zivil- und Steuerrecht9, 2013. Dazu Ley, Besteuerung des Nießbrauchs an Betriebsgrundstücken, Privatgrundstücken und an Wertpapieren, 1986; BMF BStBl. I 1998, 914 (Nießbrauch bei Einkünften aus Vermietung u. Verpachtung) mit Änderungen BStBl. I 2001, 171; 2006, 392. Zu diesem Nießbrauchserlass Drosdzol, FR 1998, 724; Korn, KÖSDI 1998, 1173; Meyer/Ball, Schuldzinsenabzug beim Vorbehaltsnießbrauch, INF 1998, 641; Stephan/Rindermann, DB-Beil. Nr. 13/1998; Stuhrmann, DStR 1998, 1405; Warnke, INF 1998, 481 ff., 519 ff.; Bauer, SteuerStud 2000, 164; Meyer/Hartmann, Gestaltungen zum privaten u. betrieblichen Immobiliennießbrauch, INF 2006, 789 u. 827.
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Die persönliche Zurechnung von Einkünften
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§8
lässt und dadurch Einkünfte erwirtschaftet. Im Falle des unentgeltlichen Zuwendungsnießbrauchs erwirtschaftet der Grundstückseigentümer und Nießbrauchsbesteller keine Einkünfte. Verpflichtet er sich, die dem Nießbraucher nach §§ 1041; 1045 und 1047 BGB obliegenden Kosten und Lasten zu tragen (sog. Bruttonießbrauch), so sind diese Teil der Zuwendung und Privatausgaben. Der zuwendende Eigentümer kann demnach keine Werbungskosten, insb. keine AfA (§ 9 I 3 Nr. 7 EStG), geltend machen. Der Nießbraucher kann nur die von ihm selbst getragenen Aufwendungen und nicht die des Nießbrauchsbestellers absetzen. Die AfA steht nur demjenigen zu, der die Herstellungs- bzw. Anschaffungskosten getragen hat. AfA-berechtigt ist zumeist der Nießbraucher und nicht der Eigentümer, wenn ein Grundstück unter dem Vorbehalt des Nießbrauchs übereignet wird. In dem Falle des sog. Vorbehaltsnießbrauchs1 hat der Nießbraucher und frühere Eigentümer die Herstellungs-/Anschaffungskosten des Gebäudes getragen. Der Eigentümer kann auch mit dem Nießbraucher ein Entgelt in Höhe seiner Selbstkosten (inkl. AfA) vereinbaren. In diesem Falle des sog. Nettonießbrauchs hat der Eigentümer keine Einkünfteerzielungsabsicht und der Nießbraucher in Höhe des Entgelts Werbungskosten. Im Falle des unentgeltlichen Zuwendungsnießbrauchs an Wertpapieren2 hat die Rspr. die Einkünfte ursprünglich dem Nießbrauchsbesteller und nicht dem Nießbraucher zugerechnet3. Diese Rspr. ist durch die Judikatur zum Grundstücksnießbrauch überholt. Den Tatbestand der Erzielung von Kapitaleinkünften verwirklicht im Falle des Wertpapiernießbrauchs der Nießbraucher, wenn er in die Lage versetzt wird, Marktchancen durch eine Verwaltung des Vermögens zu nutzen, die über das bloße Empfangen der Kapitalerträge hinausgeht4; § 20 V 3 EStG fingiert in diesem Fall den Nießbraucher als Anteilseigner.
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Der (zivilrechtlich mögliche5) Unternehmensnießbrauch6 begründet nur dann Einkünfte des Nießbrauchers, wenn dieser die unternehmerische Tätigkeit ausübt und die unternehmerischen Tatbestände der Einkunftserzielung verwirklicht, also Unternehmerinitiative entfalten kann und Unternehmerrisiko trägt. Der Nießbraucher hat über das Gewinnbezugsrecht hinaus die Merkmale des Mitunternehmerbegriffs zu erfüllen7. Bestellt beispielsweise ein Unternehmer seinem studierenden Sohn schenkweise einen Quoten-Nießbrauch an seinem Einzelunternehmen, der lediglich eine Gewinnbeteiligung von 1/3 enthält und den Sohn weder zur Mitarbeit im Unternehmen verpflichtet noch in die Haftung für das Unternehmen einbezieht, so sind die Einkünfte aus Gewerbebetrieb allein dem Unternehmer zuzurechnen. Der Sohn verwirklicht nicht den Tatbestand eines Mitunternehmers. Er hat Unterhaltsbezüge.
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Hat die unternehmerische Tätigkeit eine besonders typische Eigenart, so erleichtert diese die Zurechnung. Bestellt ein Bauer seinem Sohn einen unentgeltlichen Nießbrauch am Hof, so sind dem Sohn die Einkünfte aus Landwirtschaft (§ 13 I Nr. 1 EStG) nur zuzurechnen, wenn 1 Dazu Korn/Carlé, KÖSDI 2009, 16514. 2 Witte, Zur einkommensteuerlichen Behandlung des Nießbrauchs an Wertpapieren, Diss., 1985; Ley, Besteuerung des Nießbrauchs an Betriebsgrundstücken, Privatgrundstücken und an Wertpapieren, 1986; Binninger, Der Vorbehaltsfolgenießbrauch an Kapitalvermögen, DStR 1995, 1049; HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 259 ff. (2012); Schmidt/Weber-Grellet33, § 20 EStG Rz. 174 ff. 3 BFH BStBl. 1977, 115. 4 BFH/NV 2001, 1251; s. auch Schön, StbJb. 1996/97, 45 (77): Teilhabe am Rechtsverhältnis der Kapitalüberlassung als Zurechnungsgrund. 5 Zu den zivilrechtlichen Vorgaben des Nießbrauchs an Gesellschaftsanteilen Schön, StbJb. 1996/97, 45; Milatz/Sonneborn, DStR 1999, 137. 6 Dazu Schön, StbJb. 1996/97, 45; Reichert/Schlitt, FS Flick, 1997, 217 (GmbH); Janßen/Nickel, Unternehmensnießbrauch, 1998; Milatz/Sonneborn, DStR 1999, 137; Schulze zur Wiesche, FR 1999, 281 (Personengesellschaft); Suffel, FS 50 Jahre Fachanwälte, 1999, 375 (Personengesellschaft); Carlé/Bauschatz, KÖSDI 2001, 12872; Götz/Jorde, FR 2003, 998 (Personengesellschaft); Schulze zur Wiesche, BB 2004, 355 (KG-Anteil); Fricke, GmbHR 2008, 739 (GmbH-Anteil); Wälzholz, DStR 2010, 1786 u. 1930 (Personengesellschaft: Zivilrecht u. Steuerrecht); von Oertzen/Stein, Ubg. 2012, 285 (Personengesellschaft). 7 Dazu m.w.N. Suffel, FS 50 Jahre Fachanwälte, 1999, 375 (387 f.); Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 306 f.
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Einkommensteuer
er den Hof bewirtschaftet und sich der Bauer aufs Altenteil zurückzieht. Bestellt ein Rechtsanwalt seinem Sohn einen Quotennießbrauch an seiner Praxis, so sind dem Sohn nur dann Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit (§ 18 I Nr. 1 EStG) zuzurechnen, wenn er in der Anwaltspraxis auf Grund eigener Zulassung leitend und eigenverantwortlich tätig sein kann.
3. Zurechnung von Einkünften unter Familienangehörigen Literatur: Schmidt, „Väter und Söhne“ – Möglichkeiten u. Grenzen der Einkommensverlagerung zwischen Eltern u. Kindern, StbJb. 1975/76, 149; Görlich, Die steuerliche Behandlung von Vertragsgestaltungen zwischen Angehörigen, Verfassungsrechtliche, methodische und steuerrechtliche Grundlagen, 1979; Marx, Steuerliche Vorteilhaftigkeit von Verträgen mit nahen Angehörigen, SteuerStud 1998, 294; Seeger, Verträge zwischen nahestehenden Personen – Grundsätzliche Überlegungen und Voraussetzungen ihrer steuerlichen Anerkennung, DStR 1998, 1339; Kupfer, Einkünfteverlagerung auf Angehörige, KÖSDI 2001, 12777; Fuhrmann, Verträge zwischen nahen Angehörigen – Grenzfälle der Gestaltungspraxis, KÖSDI 2005, 14784; Schulze zur Wiesche, Vereinbarungen unter Familienangehörigen und ihre steuerlichen Folgen9, 2006; Gemeinhardt, Verträge unter Angehörigen – steuerliche Anerkennung, BB 2012, 739; Kulosa, Verträge zwischen nahen Angehörigen, DB 2014, 972; I. Osterloh, Darlehensverträge zwischen nahen Angehörigen, DStR 2014, 393; BMF BStBl. I 2011, 37. S. auch die vor Rz. 150 zit. Lit.
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Die Nießbrauchsfälle zeigen, dass die persönliche Zurechnung von Einkünften besonders dann zum Problem wird, wenn eine Übertragung von Einkunftsquellen zwischen Familienangehörigen bezweckt wird. Mit dieser Steuergestaltung vermag ein Teil der Stpfl. die unterhaltsrechtliche Verteilung des Einkommens innerhalb der Familie steuerrechtlich herzustellen. Im Hinblick darauf gebieten Art. 3 I; 6 I GG, dass das EStG den Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit für alle Unterhaltsgemeinschaften regelt.
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Art. 3 I; 6 I GG gebieten allerdings auch, dass Verträge zwischen Familienangehörigen steuerlich anzuerkennen sind1. Vertragsbeziehungen zwischen Familienangehörigen dürfen nicht gegenüber Vertragsbeziehungen zwischen fremden Dritten diskriminiert werden. Familiäre Vertragsbeziehungen werden aber insoweit nicht diskriminiert, als an die Gestaltung der Vertragsbeziehungen Anforderungen gestellt werden, die es ausschließen sollen, dass durch Verträge des Leistungsaustausches Unterhaltszahlungen und andere private Einkommensverwendungen verdeckt werden. Die OderKonto-Beschlüsse des BVerfG2 bestätigen grds. die BFH-Rspr., wonach Verträge zwischen Familienangehörigen ernstlich vereinbart und auch durchgeführt sein müssen. Es dürften an den Beweis dieser Anforderungen auch strenge Anforderungen gestellt werden. Allerdings müssten die Beweisanzeichen und -mittel ausgewogen gewürdigt werden. So dürfe die steuerliche Anerkennung eines Ehegattenvertrages nicht allein deshalb versagt werden, weil das Entgelt auf ein Gemeinschaftskonto der Ehegatten geflossen ist, über das jeder der Ehegatten verfügen darf (sog. Oder-Konto), also auch der Arbeitgeber- bzw. der Vermieter-Ehegatte. Die Oder-Konto-Beschlüsse haben beweisrechtliche Bedeutung: Das BVerfG hat zu Recht gerügt, dass BFH GrS BStBl. 1990, 160, die steuerliche Anerkennung der Ehegatten an einem einzigen Indizmerkmal scheitern ließ und damit auf eine Gesamtwürdigung der Beweislage auch zu Gunsten einer Anerkennung verzichtete.
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Nach diesen Vorgaben erkennt der BFH Verträge zwischen nahen Angehörigen an, wenn die Vereinbarungen zivilrechtlich wirksam, klar und eindeutig sind, ihre Gestaltung dem zwischen Fremden Üblichen entspricht und sie auch tatsächlich durchgeführt werden (BFH BStBl. 1997, 196; 1998, 349; 2004, 826 [827]; 2014, 374 [377]). Maßgebend für die Beurteilung, ob ein zwischen nahen Angehörigen abgeschlossener Vertrag trotz gewisser Abweichungen vom Fremdüblichen bzw. vertraglich Vereinbarten der Besteuerung zugrunde zu legen ist, ist die Gesamt1 BVerfGE 13, 290; 16, 241; 29, 104; Oder-Konto-Beschlüsse des BVerfG BStBl. 1996, 34 u. NJW 1996, 834; Tipke, StRO I2, 2000, 370 f. 2 Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats v. 7.11.1995, BStBl. 1996, 34, u. v. 19.12.1995, NJW 1996, 834 f. Im Weiteren Pezzer, Ausstrahlung der Rspr. des BVerfG zu Ehegattenarbeitsverhältnissen auf andere Rechtsverhältnisse, StbJb. 1996/97, 25; Fichtelmann, Konsequenzen des Oder-Kontos für das Steuerrecht, EStB 2004, 452.
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Die persönliche Zurechnung von Einkünften
Rz. 165
§8
heit der objektiven Gegebenheiten (BFH BStBl. 1997, 196; 2004, 722 [724]). Danach sind folgende Voraussetzungen zu prüfen: – Das Rechtsgeschäft sollte zivilrechtlich wirksam geschlossen werden. Die zivilrechtliche Unwirksamkeit von Verträgen zwischen Angehörigen indiziert das Fehlen eines ernsthaften Bindungswillens1. Die Anforderung zivilrechtlicher Wirksamkeit basiert auf der Überlegung, dass innerhalb eines Familienverbundes typischerweise ein Interessengegensatz fehlt und somit zivilrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten steuerrechtlich missbraucht werden können2. So kann z.B. ein unterhaltsberechtigtes Kind zivilrechtlich unwirksam an einem Unternehmen beteiligt werden, damit sich der Unternehmer nach der Beendigung der Unterhaltspflicht auf die zivilrechtliche Unwirksamkeit der Beteiligung berufen kann. Entscheidend ist u.a., ob die Beteiligten die zivilrechtliche Unwirksamkeit erkennen konnten. Bei klarer Zivilrechtslage ist ein formunwirksamer Vertrag grds. nicht anzuerkennen3. Ergibt jedoch die Gesamtwürdigung der Beweislage, dass die Familienangehörigen das wirtschaftliche Ergebnis eines unwirksamen Vertrags ernstlich eintreten und bestehen lassen, so ist der Vertrag nach § 41 I 1 AO steuerlich anzuerkennen. (s. bereits Rz. 95 ff.)4. – Das Rechtsgeschäft muss wirklich durchgeführt worden sein5. Leistung und Gegenleistung müssen tatsächlich erbracht worden sein. Werden allerdings einzelne Vertragsklauseln nicht angewendet, so kann noch nicht auf das Fehlen eines Rechtsbindungswillens geschlossen werden; entscheidend ist eine Gesamtwürdigung6. – Der Vertrag muss nach Inhalt und Ausführung dem entsprechen, was unter Fremden üblich ist. Dieser sog. Fremdvergleich7 entspricht insofern Art. 3 I; 6 I GG, als die Familienangehörigen mit fremden Dritten gleichgestellt, gegenüber diesen also weder benachteiligt noch bevorzugt werden. Der Fremdvergleich ist erforderlich für die Frage, ob ein Leistungsaustauschverhältnis wirklich gewollt ist oder ob der Vertrag auf familiären bzw. familienrechtlichen Beziehungen beruht. – Schriftform ist zwar nicht zwingend erforderlich8, jedoch dringend zu empfehlen. Insb. müssen einzelne Leistungen ausdrücklich vereinbart sein, um als betrieblich veranlasst anerkannt werden zu können9. Schon deshalb sollte der Vertragsinhalt schriftlich dokumentiert werden.
Verträge zwischen Ehegatten10 haben unterschiedliche steuerliche Auswirkungen, je nachdem, ob die Ehegatten die Zusammenveranlagung (§ 26b EStG) oder Einzelveranlagung (§ 26a EStG) 1 2 3 4
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BFH BStBl. 2011, 20. BFH BStBl. 2007, 295. BFH BStBl. 2011, 20; BFH/NV 2009, 1427. BFH BStBl. 2000, 386; 2007, 295. BFH BStBl. 2007, 295; 2011, 20 u. 24, hat den Wandel der Rspr. bekräftigt, dass der zivilrechtlichen Unwirksamkeit des Vertragsschlusses nur indizielle Bedeutung beizumessen ist; mittlerweile auch von der FinVerw. anerkannt, s. BMF BStBl. I 2011, 37 (Tz. 9). Zu den Anforderungen an die Gesamtwürdigung BFH BStBl. 2011, 24. Durch die Rspr. insb. zum Ehegatten-Arbeitsverhältnis entschieden: BFH GrS BStBl. 1990, 160; BFH BStBl. 1989, 354 (wechselseitiger Ehegattenarbeitsvertrag); 1989, 655; 1990, 636; 1990, 548; 1990, 630; BFH/NV 1997, 182 (unregelmäßige Gehaltszahlung); BFH BStBl. 2010, 823 (Nachweisanforderungen); 2012, 487 (Treuhandvertrag). BFH BStBl. 2004, 826 (828 f.), betr. Wertsicherungsklausel. Dazu BFH BStBl. 1998, 349 (Würdigung aller Umstände); 2002, 699 (unklare Vereinbarung u. tatsächliche Übung); 2003, 243; 2013, 1015 (Mehrarbeit); 2014, 374 (differenzierende Fremdvergleichsmaßstäbe für Darlehen; dazu Osterloh, DStR 2014, 393); Bilsdorfer, Der steuerliche Fremdvergleich bei Vereinbarungen unter nahestehenden Personen, Diss., 1996; Bilsdorfer, StuW 1997, 51 (Rspr. zu Ehegattenarbeitsverhältnissen); Fischer, DStZ 1997, 357 (Üblichkeit); Gosch, DStZ 1997, 1 (6 ff.: BFH u. Fremdvergleich); Wolff-Diepenbrock, FS Beisse, 1997, 581; Wassermeyer, StbJb. 1998/99, 581; Wassermeyer, FS Offerhaus, 1999, 405; Pezzer, DStZ 2002, 850 (Fremdvergleich: Sachverhaltswürdigung oder rechtliche Subsumtion?). Die Umstände müssen aber auf eine klare u. eindeutige Vereinbarung schließen lassen. So BFH BStBl. 1983, 663; 1989, 137. Im Weiteren BFH/NV 1999, 1457 (mündliche Lohnvereinbarung); 2008, 350 (fehlende Schriftform kein Kriterium des Fremdvergleichs). BFH/NV 1999, 760. Dazu Schmidt-Liebig, Eheliche Güterstände in ertragsteuerlicher Sicht, 1989; Schmidt-Liebig, StuW 1989, 110; Bilsdorfer, StuW 1997, 51 (Fremdvergleich); Oertzen/Straub, BB 2007, 1473; EhegattenArbeitsverhältnisse: Schoor, INF 1996, 267 ff., 301 ff.; Kottke, DStR 1998, 1706; Langohr-Plato, StuB 1999, 301; Stuhrmann, NWB Fach 3, 11285 (2000); Becker, NWB 2010, 3122. Nach BFH/NV 2007, 2235, sind die Grundsätze für Angehörigenverträge auch auf Beteiligte einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft anwendbar.
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§8
Rz. 166
Einkommensteuer
wählen (§ 26 EStG). Im Falle von Einzelveranlagung haben die Ehegatten Interesse daran, durch Übertragung von Einkunftsquellen ihre getrennt zu versteuernden Einkommen zu egalisieren. Im Falle der Zusammenveranlagung leistet bereits das Splitting des § 32a V EStG diese Egalisierung, indem eine paritätische Gemeinschaft des Erwerbs und Verbrauchs angenommenen bzw. typisierend unterstellt wird (s. Rz. 97). Jedoch sind auch im Falle der Zusammenveranlagung die von den Ehegatten erzielten Einkünfte getrennt zu ermitteln und erst dann nach § 26b EStG zusammenzurechnen. Steuerlich vorteilhaft im Falle der Zusammenveranlagung ist besonders der Arbeitsvertrag mit einem gewerbetreibenden Ehegatten. Die Lohnkosten einschließlich steuerfreier Anteile des Arbeitgebers mindern nicht nur die Einkommensteuer, sondern auch die Gewerbeertragsteuer. Ferner kann der Arbeitnehmer-Ehegatte den Arbeitnehmer-Pauschbetrag von 1 000 Euro (§ 9a Satz 1 Nr. 1 EStG) absetzen. Besonders vorteilhaft sind auch die Pauschalierungen nach den §§ 40; 40a; 40b EStG. 166
Bestehen zwischen Ehegatten keine besonderen Verträge, so ist die Zurechnung der Einkünfte nach den allgemeinen Zurechnungsregeln zu beurteilen. Bewirtschaftet z.B. ein Bauer den seiner Ehefrau gehörenden Hof, so sind ihm zumindest ein Teil der Einkünfte aus Landwirtschaft zuzurechnen. Die Auffassung von BFH BStBl. 1989, 504, dass die Einkünfte allein der Ehefrau als Eigentümerin zuzurechnen seien, überzeugt nicht. Die Eheleute bilden vielmehr hier eine konkrete Erwerbsgemeinschaft, bei der die Frau Kapital und der Mann Arbeitskraft einsetzt. Dementsprechend sind die Einkünfte anteilig zuzurechnen.
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Realsplittingeffekt haben insb. Verträge zwischen Eltern und Kindern1. Bei dem Abschluss von Verträgen mit minderjährigen Kindern ist darauf zu achten, dass für nicht lediglich rechtlich vorteilhafte Rechtsgeschäfte (§ 107 BGB) gem. § 1909 BGB ein Ergänzungspfleger bestellt werden muss. Bei Arbeits- oder Ausbildungsverträgen ist dies nicht erforderlich (R 4.8 III 1 EStR 2012). Ein Nießbrauch ist ohne Mitwirkung eines Ergänzungspflegers anzuerkennen, wenn das Vormundschaftsgericht die Mitwirkung für entbehrlich erachtet2. Die häufigsten Verträge zwischen Eltern und Kindern sind neben den bereits behandelten Nießbrauchbestellungen Gesellschaftsverträge3, Arbeitsverträge4, Darlehensverträge5 u.a. Verträge über Kapitalvermögen6 sowie Verträge über Immobilien7.
4. Zurechnung von Einkünften im Erbfall 168
Bezüge aus der (ehemaligen) Betätigung (Arbeit, Vermögensüberlassung) eines Verstorbenen sind dem Erben (Rechtsnachfolger) zuzurechnen, wenn sie diesem zufließen (§§ 19 I 1 Nr. 2; 24 Nr. 2 EStG)8.
1 Dazu grundl. Schmidt, StbJb. 1975/76, 149 ff.; im Weiteren Dischinger, Typisierung steuersparender Sachverhaltsgestaltungen zwischen Eltern und Kindern im Einkommensteuerrecht, Diss., 1997. 2 BMF BStBl. I 2013, 1184 Tz. 5. 3 Dazu Märkle, Angehörige als Darlehensgeber, stille Gesellschafter, Kommanditisten, BB-Beil. 2/1993. 4 BFH BStBl. 1979, 80; 1988, 632; 1989, 453; 1994, 298 (Hilfeleistungen, die üblicherweise auf familienrechtlicher Grundlage erbracht werden, eignen sich nicht als Inhalt eines mit einem Dritten zu begründenden Arbeitsverhältnisses); 1995, 394; R 4.8 EStR 2012; Schön, Mitarbeit und Mithilfe von Familienangehörigen im Steuerrecht als verfassungsrechtliches Problem, FS Klein, 1994, 467; Koller/Ludwig, SteuerStud 1997, 245. 5 BMF BStBl. I 2011, 37 (dazu Wüster, NWB 2011, 1240); BFH BStBl. 1991, 291; 1991, 391; 1991, 581; 1991, 838; 1991, 882; 1991, 911; 1992, 468; 1996, 443; 1999, 524; 2000, 393; 2001, 393; BFH/NV 2009, 12; Koller/Ludwig, SteuerStud 1997, 245; Grützner, StuB 1999, 751; Pump/Kurella, StBp. 2001, 239; Schoor, StBp. 2008, 340. 6 Dazu allgemein: Apel, StuB 2005, 1045; Schoor, DStZ 2005, 696; stille Gesellschaft: Märkle, BB-Beil. 2/1993; Blümich/Ratschow, § 20 EStG Rz. 222 ff. (2014); GmbH: Binnewies, GmbH-StB 2005, 274. 7 Zu Mietverträgen s. Schmidt/Kulosa33, § 21 EStG Rz. 45. Zur Übertragung von Immobilien Paus, NWB Fach 3, 14121 (2006); Stuttgarter Modell: Mayer/Geck, DStR 2005, 1425. 8 Grds. Schmitt-Homann, Die Vererbung einkommensteuerrechtlicher Rechtspositionen, Diss., 2005. Dazu Trzaskalik, StuW 1979, 108 ff.; Meincke, Ruppe, Heinicke, Groh, DStJG 10 (1987).
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Unterschiedliche Ermittlung der Einkünfte
Rz. 180
§8
Beispiel: Die Witwe des verstorbenen Arbeitnehmers A erhält Witwengeld. Dieses Witwengeld ist ihr als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit zuzurechnen, obwohl sie es nicht selbst erwirtschaftet hat. Das ergibt sich aus §§ 19 I 1 Nr. 2; 24 Nr. 2 EStG ist insoweit deklaratorisch. Beispiel: Bei der Witwe des Rechtsanwalts R gehen rückständige Honorare ein. – Das Honorar hat R durch seine Arbeit erwirtschaftet. Ihm kann das Honorar aber nach seinem Tode nicht mehr zugerechnet werden. Obwohl die Witwe die Honorare nicht erwirtschaftet hat, muss sie sie versteuern; denn § 24 Nr. 2 EStG (der Wortlaut ist nicht klar) rechnet die Einkünfte der Witwe in diesem Sonderfall entgegen der allgemeinen Regel (die bei Tod eines Steuersubjekts versagt) zu. Trotz der Zurechnung zur Witwe bleiben die Einkünfte solche aus freiberuflicher Tätigkeit.
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Einstweilen frei.
F. Ermittlung der Einkünfte Literatur: Tipke, Die dualistische Einkünfteermittlung nach dem Einkommensteuergesetz – Entstehung, Motivation und Berechtigung, in FS Paulick, 1973, 391 ff.; Merkenich, Die unterschiedlichen Arten der Einkünfteermittlung im deutschen Einkommensteuerrecht, Diss., 1982; Jehner, Der gesetzliche Gegensatz als systematische Grundlage der Einkommensbesteuerung in Deutschland, DStR 1988, 267; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, 273 ff.; Durchlaub, Zur Steuerpflicht der Gewinne aus der Veräußerung von Privatvermögen, Diss., 1993; Tipke, StRO II2, 2003, 619 ff.; Schneider, Der Tatbestand der privaten Vermögensverwaltung im Einkommensteuerrecht, Diss., 1995; Uhländer, Vermögensverluste im Privatvermögen. Der Einkünftedualismus als Januskopf der Einkommensteuer, Diss., 1996; Kanzler, Die steuerliche Gewinnermittlung zwischen Einheit und Vielfalt, FR 1998, 233; Tipke, Steuerliche Ungleichbelastung durch einkunfts- und vermögensartdifferente Bemessungsgrundlagenermittlung und Sachverhaltsverifizierung, in FS Kruse, 2001, 215; Daniels, Das System der Einkünfteermittlung im EStG, SteuerStud 2008, 175; Prinz, Der bilanzielle Betriebsvermögensvergleich als Grundform leistungsfähigkeitsentsprecher Gewinnermittlung, FR 2010, 917; Hey (Hrsg.), Einkünfteermittlung, DStJG 34 (2011); Bauer, Das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit als Grundlage der Gewinnermittlungsarten im Einkommensteuerrecht, Diss., 2011; Lambrecht, § 170: Ermittlung der Einkünfte, in Leitgedanken des Rechts II, 2013.
I. Unterschiedliche Ermittlung der Einkünfte 1. Einführung Wenn das (disponible) Einkommen ein geeigneter Indikator der steuerlichen Leistungsfähigkeit ist, so muss das Gesetz sicherstellen, dass bei allen Steuersubjekten das gesamte Einkommen erfasst und ermittelt wird. Die definitorische Ausklammerung eines Teils der Einkünfte aus dem Einkommensbegriff, Befreiungen, Freibeträge, Freigrenzen und unterschiedliche Vorschriften über die Einkünfteermittlung führen indessen dazu, dass das Einkommen nur partiell erfasst wird. Auch sonst sorgt ein Pluralismus der Einkünfteermittlungen dafür, dass die Steuerbelastungen der Einkünfte durch verschiedene Methoden der Einkünfteermittlung verzerrt werden1; das gilt besonders für Methoden der Einkünfteermittlung, die bestimmte Einkünfte gezielt privilegieren wie die Ermittlung land- und forstwirtschaftlicher Gewinne nach Durchschnittssätzen (§ 13a EStG) und die Tonnagebesteuerung nach § 5a EStG (s. Rz. 202). Der Einkommensteuertarif, der ein Einheitstarif für alle Einkunftsarten sein soll, wird durch den Pluralismus der Einkünfteermittlungen verfälscht; er belastet Einkünfte, je nachdem, ob sie nicht, partiell oder gänzlich erfasst sind, realiter von null Prozent bis zum vollen Steuersatz. Für Einkünfte gelten also jeweils ermittlungsbedingt besondere Realtarife2. 1 Dazu insb. F.W. Wagner, DStR 1997, 517; Kanzler, FR 1998, 233; Kanzler, FR 1999, 363; Thiel, FS 50 Jahre Fachanwälte, 1999, 75; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (50 ff.); Tipke, FS Kruse, 2001, 215 (218 ff.). 2 Dazu Tipke, StuW 1986, 152.
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Die Fülle der Differenzierungen zerklüftet das Belastungsprofil. Dadurch verschwendet der Steuergesetzgeber gewaltige Steuerberatungs-, Finanzverwaltungs- und Justizkapazität. Wie viel Steuern der Bürger zu entrichten hat, hängt von seinem Informationsstand bzw. davon ab, wie gut oder wie schlecht er beraten ist. Die Einkommensteuer, die „Königin der Steuern“, denaturiert zur Steuer der Unwissenden, zur sog. Dummensteuer. Auch der Strafanspruch des Staates bei Steuerdelikten ist tangiert: Wie soll ein vernünftig Denkender die nicht verstehbaren Belastungsunterschiede in sein Unrechtsbewusstsein aufnehmen können?
2. Der Dualismus der Einkünfteermittlung 181
Den wesentlichsten Belastungsunterschied bewirkt der Dualismus der Einkünfteermittlung. § 2 II EStG spaltet den Einkünftekatalog in folgende zwei Einkünftebegriffe auf: Gewinneinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 1 EStG): Die unternehmerischen Einkünfte (Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb und selbständiger Arbeit) werden identifiziert mit dem Gewinn (§§ 4–7k; 13a EStG). Der Gewinnbegriff (§ 4 I 1 EStG) beruht auf der Reinvermögenszugangstheorie. Nach dieser Theorie erfasst der Gewinnbegriff i.S.d. §§ 2 II 1 Nr. 1; 4 I 1 EStG das Gesamtergebnis einer unternehmerischen Betätigung einschließlich Gewinne und Verluste aus der Veräußerung von Wirtschaftsgütern des Betriebsvermögens.
182
Überschusseinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG): Die übrigen (nichtunternehmerischen) Einkünfte (Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, aus Kapitalvermögen, aus Vermietung und Verpachtung und sonstige Einkünfte i.S.d. § 22 EStG) werden identifiziert mit dem Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten (§§ 8; 9; 9a EStG). Das zugrundeliegende Konzept ist die Quellentheorie1. Nach dieser Theorie sollen nur die „Erträge ständig fließender Quellen“, nicht hingegen die Quellen selbst wirtschaftliche Leistungsfähigkeit indizieren. Das sog. Stammvermögen, das der Erzielung dauerhafter Einkünfte zu dienen hat und deshalb nicht dazu bestimmt ist, veräußert zu werden, soll nicht zur Einkommenssphäre gehören. Diese quellentheoretische Konzeption der Einkünfte hat grds. zur Folge, dass Veräußerungseinkünfte sowie Substanz- und Wertverluste des Stammvermögens, insb. Substanzverluste privat verwalteten Vermietungs- und Kapitalvermögens, ausgegrenzt werden. Folglich kann es auch keine Einlagen, Entnahmen und Teilwertabschreibungen geben.
183
Der Dualismus der Einkünfteermittlung entspricht also dem theoretischen Gegensatz zwischen Reinvermögenszugangs- und Quellentheorie. Diesen Theoriengegensatz berücksichtigt die Rspr.- und Verwaltungspraxis durchaus. Sie grenzt bspw. private Vermögensverwaltung vom Gewerbebetrieb danach ab, ob Wertsteigerungen des Stammvermögens laufend durch Veräußerungen realisiert werden. Einkünfte sind grds. nur dann Quelleneinkünfte (und damit keine Einkünfte aus Gewerbebetrieb), wenn die Ausnutzung der substantiellen Vermögenswerte durch Anschaffungs- und Veräußerungsgeschäfte gegenüber der reinen Fruchtziehung nicht in den Vordergrund tritt (Abgrenzung gewerblicher Grundstücks- bzw. Wertpapierhandel, s. Rz. 417, 516 ff.).
184
Historische Begründung2: Praktikabilitätserwägungen haben den Dualismus der Einkünfteermittlung begründet. Gegen die quellentheoretisch konzipierte Überschussrechnung, die der Hauptvertreter der Quellentheorie, Referent im preußischen Finanzministerium und Mitverfasser des pr. EStG 1891 Fuisting, auch für das „Einkommen aus Handel und Gewerbe“ (§ 14 pr. EStG 1891) durchsetzen wollte, wehrte sich die Unternehmer-Lobby; sie drängte erfolgreich (wie § 14 pr. EStG 1891 zeigt) darauf, den Gewinn mit dem Ergebnis der kaufmännischen (handelsrechtlichen) Buchführung zu identifizieren, wie dies bereits in § 21 des sächsischen EStG von 1874/78 geschehen war. Die volle Tragweite der Lobby-Forderung war allerdings damals insofern nicht zu erkennen, als der sehr bescheidene progressive Tarif (0,67–4 %) des pr. EStG 1891 dem Argument der steuerlichen Mehr1 Dazu Beiser, ÖStZ 2000, 390; KSM/Schneider, § 17 EStG Rz. A 150 ff. (2000). Zur Grundlegung von Fuisting s. bereits Rz. 50. 2 Dazu Tipke, FS Paulick, 1973; Widmann, FS Klein, 1994, 870 ff.; Schneider, Tatbestand der privaten Vermögensverwaltung, Diss., 1994, 10 ff.; Uhländer, Vermögensverluste im Privatvermögen, Diss., 1996, 72 ff.; KSM/Schneider, § 17 EStG Rz. A 150 ff. (2000).
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belastung noch keine Durchschlagskraft vermittelte. Den Dualismus hielten § 33 II EStG 1920 und §§ 7 II; 13 EStG 1925 aufrecht. Der Gesetzgeber des EStG 1925 rechtfertigte den Dualismus freilich nicht nur mit Praktikabilitätserwägungen zu Gunsten der Unternehmer; er hat auch versucht, eine adäquate Beziehung zwischen Einkunftsart und Einkünfteermittlung herzustellen: Anders als bei den unternehmerischen Einkünften handelt es sich bei den Überschusseinkunftsarten entweder um Einkünfte ohne nennenswerten Kapitaleinsatz (so bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit) oder um Einkünfte aus privater Vermögensverwaltung, wo es auf „die Veränderung der Vermögensgegenstände“ nicht ankomme, „sondern lediglich auf die Erträge, die sie abwerfen“1. Mit der Übernahme in das EStG 1934 ist der Dualismus der Einkünfteermittlung endgültig zum strukturellen Bestandteil des deutschen Einkommensteuerrechts geworden.
Das BVerfG hat 1969/1970 in drei Entscheidungen2 den Einkünftedualismus gebilligt. Dieser verletzt jedoch nicht nur den Gleichheitssatz3. Er ist Hauptursache für komplizierte Steuervermeidungsgestaltungen und zahllose Streitigkeiten zur Abgrenzung von Einkunftsarten, so dass die Überwindung des Dualismus der Einkommensbegriffe zu den wichtigsten Aufgaben einer Einkommensteuerreform gehört; dabei sind die Ziele von Steuergerechtigkeit und Steuervereinfachung gleichgerichtet (s. § 3 Rz. 146). Im Kern geht es um die vollständige Besteuerung aller Einkünfte aus der Veräußerung von Wirtschaftsgütern des Erwerbsvermögens4. Weitere Voraussetzung ist freilich, dass Veräußerungseinkünfte nicht nur vollständig, sondern auch gleich besteuert werden. Seit dem StEntlG 1999/2000/2002 hat der Gesetzgeber die Besteuerung privater Veräußerungsgewinne kontinuierlich erweitert, zuletzt durch die Besteuerung der Kapitalveräußerungseinkünfte (s. Rz. 497). Dass dies nicht zu einer strukturellen Vereinfachung geführt, sondern im Gegenteil das Besteuerungschaos noch weiter vertieft hat, liegt an der gleichzeitigen Einführung der Abgeltungsteuer, die erneut systematisch zwischen privaten und betrieblichen Veräußerungseinkünften differenziert (s. Rz. 546).
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Einstweilen frei.
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II. System der Einkünfteermittlung 1. Typen der Einkünfteermittlung Im Wesentlichen ist das System der Einkünfteermittlung durch zwei Hauptgegensätze gekennzeichnet, – erstens den Gegensatz zwischen der ermittlungstechnisch komplizierten Bilanzierung und der ermittlungstechnisch einfachen Überschussrechnung nach den Grundsätzen der Kassenrechnung, und – zweitens den Gegensatz zwischen der Totalerfassung der Einkünfte nach der Reinvermögenszugangstheorie und der Teilerfassung der Einkünfte nach der Quellentheorie. 1 Volles Zitat der amtl. Begr. bei Tipke, FS Paulick, 1973, 391 (395 f.). 2 BVerfGE 26, 302 (zu § 23 EStG); BVerfGE 27, 111 (zu § 17 EStG); BVerfGE 28, 227 (LuF). Dazu krit. Tipke, StRO II2, 718 ff. (mit Zitaten der wichtigsten Passagen). 3 Merkenich, Die unterschiedlichen Arten der Einkünfteermittlung im deutschen Einkommensteuerrecht, Diss., 1982; Tipke, StRO II2, 723 f. A.A. Durchlaub, Steuerpflicht der Gewinne, Diss., 1993, 30 ff.; KSM/Schneider, § 17 EStG Rz. A 150 ff. (2000); Uhländer, Vermögensverluste im Privatvermögen, Diss., 1996, 72 ff.; Bode in Leitgedanken des Rechts II, 2013, § 172 Rz. 9. 4 P. Kirchhof, Gutachten F zum 57. DJT, 1988, 29 f.; Beschluss des 57. DJT, Sitzungsbericht N, 1988, 198: „Gewinne und Verluste aus der Veräußerung von vermieteten und verpachteten Grundstücken sowie von Kapitalvermögen sind unter Einführung großzügiger Freigrenzen einkommensteuerlich zu berücksichtigen“; J. Lang, Steuergesetzbuch, § 109 I Nr. 2, IV, Rz. 582; Herbst, FR 2003, 1006 (krit. Bestandsaufnahme); Kanzler, FR 2003, 1 (Grundfragen); P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, § 3 II (alle Einkünfte des Stpfl. „aus Erwerbshandeln“) und P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, § 43; Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, 2004, § 2 (Entnahmen aus dem Erwerbsvermögen in das Privatvermögen), jedoch § 4 (Veräußerung „hochwertiger“ privater Wirtschaftsgüter), 117 ff. (einheitlicher Einkommensbegriff); § 7 EStGE, Begr. Rz. 243 ff.
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Dabei darf der Dualismus der Einkünfteermittlung nicht gleichgesetzt werden mit dem Dualismus der Einkommensbegriffe. Auch im Rahmen einer Überschussrechnung lässt sich die Reinvermögensmehrung erfassen, wie bereits an der betrieblichen Überschussrechnung des § 4 III EStG deutlich wird. Seit Ende der 1990er Jahre ist es zudem durch deutliche Ausweitung der Erfassung von Wertsteigerungen im Privatvermögen (§§ 17; 20 II; 22 Nr. 2; 23 EStG) zu einer Annäherung der Einkommensbegriffe bekommen. Der in § 2 II EStG angelegte Dualismus der Einkünfteermittlung bedingt dann nur noch Unterschiede in der zeitlichen Erfassung, der Frage des Wann der Besteuerung, nicht jedoch des Ob der Besteuerung. Auch diese Unterschiede sind jedoch im Hinblick auf Zins- und Liquiditätseffekte nicht trivial (zu den Belastungswirkungen unterschiedlicher Besteuerungszeitpunkte s. auch § 3 Rz. 57).
1.1 Ermittlung der Einkünfte durch Bilanzierung 188
Der Betriebsvermögensvergleich (dazu i.E. § 9 Rz. 12 ff.) ist im allgemeinen Gewinnbegriff (§ 4 I 1 EStG) normiert, der die Reinvermögenszugangstheorie verwirklicht. Der allgemeine Gewinnbegriff normiert den Vergleich zweier Schlussbilanzen (Unterschiedsbetrag zwischen dem Betriebsvermögen am Schluss des Wirtschaftsjahrs und dem Betriebsvermögen am Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahrs), ergänzt durch eine spezifisch steuerliche Wertabgrenzung des Betriebsvermögens (vermehrt um den Wert der Entnahmen und vermindert um den Wert der Einlagen). Demnach erfordert der allgemeine Gewinnbegriff die Ermittlung der Einkünfte durch Bilanzierung. Eine solche basiert auf dem Normensystem der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (GoB); s. § 9 Rz. 66 ff. Zwar rezipiert nur § 5 I 1 EStG für den speziellen Betriebsvermögensvergleich der Gewerbetreibenden die handelsrechtlichen GoB, jedoch benötigt auch der Betriebsvermögensvergleich nach § 4 I EStG die handelsrechtlichen GoB. Ohne das HGB-Normensystem der Buchführung und des Jahresabschlusses ist ein Vergleich zweier Schlussbilanzen nicht möglich. Daher beruht der allgemeine Betriebsvermögensvergleich (§ 4 I EStG) ebenso wie der spezielle Betriebsvermögensvergleich für Gewerbetreibende (§ 5 EStG) auf den „Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung“ (§ 4 II EStG); diese sind bis auf wenige Bewertungsregeln handelsrechtliche GoB.
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Grds. ist der Betriebsvermögensvergleich nach den §§ 4 I; 5 EStG für Unternehmer (Gewerbetreibende, Land- und Forstwirte, Selbständige i.S.d. § 18 EStG) vorgesehen, die entweder gesetzlich verpflichtet sind, Bücher zu führen und regelmäßig Jahresabschlüsse (§ 242 III HGB: Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung) zu machen (§§ 140; 141 AO), oder die dies freiwillig tun (§§ 5 I 1; 4 III 1 EStG). Wer weder gesetzlich buchführungspflichtig ist, noch freiwillig bilanziert und auch nicht für die vereinfachte Gewinnermittlung nach § 4 III EStG optiert hat, dessen Betriebsergebnis wird nach Maßgabe des § 4 I 1 EStG geschätzt1, weil § 4 I 1 EStG den Gewinnbegriff im Allgemeinen regelt.
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Das Wesen des Bilanzvergleichs nach den §§ 4 I; 5 EStG ist die Periodisierung der Erfolgsrechnung. Der Bilanzvergleich weist nicht die Differenz zwischen Vermögenszuflüssen (Betriebseinnahmen) und -abflüssen (Betriebsausgaben) aus, wie man bei dem Hinweis auf die Vorschriften über die Betriebsausgaben (§ 4 I 9 EStG) annehmen könnte. Die in § 11 EStG verankerten Prinzipien des Zu- und Abflusses gelten beim Bilanzvergleich nicht (§ 11 I 5, II 6 EStG). Vielmehr wird der Gewinn oder Verlust i.S.d. §§ 4 I; 5 EStG durch die Aufwendungen und die Erträge bestimmt, die dem Wirtschaftsjahr „unabhängig von den Zeitpunkten der entsprechenden Zahlungen“ (§ 252 I Nr. 5 HGB) zuzuordnen sind. Diese genaue Ermittlung des Periodenerfolgs erfordert die komplizierte Rechnungslegung nach den GoB, die eben nur solchen Stpfl. zugemutet werden kann, die ohnehin bilanzierungspflichtig sind oder freiwillig bilanzieren. Andererseits birgt die Bilanzierung eine Reihe von Vorzügen, die den Rechnungslegungsaufwand belohnen. Die periodengerechte Gegenüberstellung von Aufwand und Ertrag ist zunächst unerlässlich für die betriebswirtschaftliche Aussagefähigkeit der Rechnungslegung. Die steuerli1 So BFH BStBl. 1990, 287 (290).
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§8
che Vorteilhaftigkeit der Bilanzierung gegenüber der Überschussrechnung ergibt sich aus dem Glättungseffekt der Periodisierung bei starken Einnahmen-/Ausgabenschwankungen, die im Falle der Überschussrechnung eine überhöhte progressive Steuerbelastung bewirken.
1.2 Überschussrechnungen nach dem Zufluss- und dem Abflussprinzip (§§ 4 III; 8 ff.; 11 EStG) Eine Rechnungslegung, welche die positiven und negativen Erfolgsbeiträge periodisch genau zuzuordnen vermag, ist so schwierig, dass sie nur von Fachleuten praktiziert werden kann. Umfangreiche Literatur belegt die Verwissenschaftlichung einer Materie, die ursprünglich einmal von nicht akademisch ausgebildeten Buchhaltern relativ routinemäßig bewältigt worden ist. Daher muss das ohnehin viel zu komplizierte Einkommensteuergesetz eine Art der Einkünfteermittlung bereithalten, die auch ein buchführungsfachlich nicht vorgebildeter Stpfl. vollziehen kann.
191
Die Überschussrechnungen nach den §§ 4 III; 8 ff.; 11 EStG dienen grds. dem Zweck einer möglichst einfachen, den Stpfl. nicht übermäßig strapazierenden Einkünfteermittlung. Die Vereinfachungstechnik ist die sog. Kassenrechnung, die lediglich einen Unterschiedsbetrag der Einnahmen und Ausgaben festhält. Grundvorschrift der Kassenrechnung ist § 11 EStG. Diese Vorschrift erfasst Einnahmen und Ausgaben nach dem Zuflussprinzip und dem Abflussprinzip1: Nach § 11 I 1 EStG sind Einnahmen innerhalb des Kalenderjahrs bezogen, in dem sie dem Stpfl. zugeflossen sind, und nach § 11 II 1 EStG sind Ausgaben für das Kalenderjahr abzusetzen, in dem sie geleistet worden sind (so die Normierung des Abflussprinzips); zu Einzelheiten s. § 9 Rz. 570 ff. Einfachheit wird dadurch erreicht, dass die Kassenrechnung vorrangig eine Geldrechnung ist. Im Unterschied zur Bilanzierung bleiben Vermögensumschichtungen grds. außer Ansatz. So wird z.B. nur der Zahlungseingang und nicht schon der Zugang einer Forderung angesetzt. Verbindlichkeiten bzw. Rückstellungen stellen keine Vermögensabflüsse im Sinne einer Überschussrechnung dar. Es gibt jedoch Vermögenszu- und -abgänge, die nicht in Geld bestehen, wie insb. Sachbezüge (§ 8 II EStG). Hier muss das Prinzip der Geldrechnung zu Gunsten der Vollständigkeit der Einkünfteermittlung aufgegeben werden.
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Die Überschussrechnung nach den §§ 8–9a EStG ergibt nur den Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten im Sinne der quellentheoretisch konzipierten Überschusseinkünfte (s. Rz. 182), während die Überschussrechnung nach § 4 III EStG (s. § 9 Rz. 550 ff.) das erwirtschaftete Ergebnis einer Erwerbstätigkeit vollständig, d.h. inkl. Veräußerungsgewinne/-verluste, erfasst. Infolge der vereinfachten Kassenrechnung fallen die Periodenergebnisse gegenüber dem Betriebsvermögensvergleich unterschiedlich aus. Nach dem Grundsatz der Gesamtgewinngleichheit2 sollte jedoch der Gewinn in der Summe aller Perioden gleich sein. Der Grundsatz der Gesamtgewinngleichheit darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass unterschiedliche Besteuerungszeitpunkte unweigerlich zu unterschiedlichen Gesamtsteuerlasten führen.
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Die Überschussrechnungen nach den §§ 4 III; 8–9a EStG enthalten Einschränkungen des Zufluss-/Abflussprinzips, damit das periodisch ermittelte Ergebnis nicht allzu sehr verfälscht wird. Bereits § 11 EStG statuiert Ausnahmen: Regelmäßig wiederkehrende Einnahmen und Ausgaben sind dem Jahr, zu dem sie wirtschaftlich gehören, zuzuordnen, wenn sie kurze Zeit vor Beginn oder kurze Zeit nach Beendigung des Jahres zu-/abgeflossen sind (§ 11 I 2, II 2 EStG). Vorauszahlungen für eine Nutzungsüberlassung von mehr als fünf Jahren sind ab 2004 gleichmäßig auf den Nutzungszeitraum zu verteilen (§ 11 II 3 EStG)3. Entsprechende Einnah-
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1 Dazu Trzaskalik, StuW 1985, 222; Schürmann, SteuerStud 1992, 83; Beater, StuW 1996, 12; Dusowski, Zu- und Abfluß bei einkommensteuerlichen Einmaltatbeständen, Diss., 2004; Dusowski, DStZ 2004, 716; Offerhaus, StuW 2006, 317; Fritz, SteuerStud 2008, 324; zur Rechtslage in Österreich Brugger, Einnahmenrealisation im außerbetrieblichen Bereich, Diss., Wien 2011. 2 BFH BStBl. 2003, 702; 2003, 837; 2004, 985 (987). 3 Eingefügt mit unbegrenzter Rückwirkung (s. dazu Vorlage an das BVerfG BFH BStBl. 2011, 346) als Nichtanwendungsgesetz zu BFH BStBl. 2005, 159 (Abziehbarkeit der Vorauszahlung von Erbbauzinsen).
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men können periodisch gleichmäßig verteilt werden (§ 11 I 3 EStG). Sie können auch sofort bei Zufluss versteuert werden. Schließlich gelten Abschreibungsvorschriften auch für Überschussrechnungen (§§ 4 III 3; 9 I 3 Nr. 7 EStG), da das Periodenergebnis untragbar mit der Folge falscher Tarifbelastung verzerrt werden würde, wenn Anschaffungs- und Herstellungskosten im Zeitpunkt des Abflusses abzusetzen wären. 195
Reformüberlegungen: Gelegentlich wird gefordert, die Cash-Flow-Rechnung mit uneingeschränkter Verwirklichung des Zufluss- und Abflussprinzips zur allgemeinen Gewinnermittlungsmethode zu machen1, d.h. auch Investitionen zum sofortigen Abzug zuzulassen. Dies entspräche einer konsumorientierten, nachgelagerten Besteuerung2 (s. § 3 Rz. 76 f.), wie sie im geltenden Einkommensteuerrecht nur für die nachgelagert besteuerten Alterseinkünfte gilt. Angesichts der durch einen Sofortabzug von Investitionen bewirkten periodischen Schwankungen käme als allgemeine Art der Einkünfteermittlung jedoch nur eine Überschussrechnung mit Anlageverzeichnis (s. § 9 I Kölner EStGE, Begr. Rz. 300) in Betracht. Diese nach dem Vorbild des § 4 III EStG ausgestaltete Überschussrechnung schränkt das Zufluss- und Abflussprinzip dort ein, wo es erforderlich ist.
1.3 Ergänzende Ermittlung von Veräußerungseinkünften (§§ 16; 17; 23 EStG) 196
Die Vorschriften der bilanziellen Gewinnermittlung und der Überschussrechnungen nach dem Zufluss- und dem Abflussprinzip werden ergänzt durch spezielle Vorschriften über die Ermittlung bestimmter Veräußerungseinkünfte. a) Im Bereich der Gewinneinkünfte sichert der Gewinnbegriff des § 4 I 1 EStG die vollständige Erfassung aller Veräußerungseinkünfte sowie die Wertabgrenzung des Betriebsvermögens durch Einlagen und Entnahmen. Somit wären die Gewinne oder Verluste aus der Veräußerung von ganzen Betrieben, Teilbetrieben, Mitunternehmeranteilen sowie die sog. Totalentnahme der Betriebsaufgabe auch ohne die Regelungen der §§ 14; 16; 18 III EStG zu versteuern3. Die konstitutive Bedeutung dieser Vorschriften besteht darin, den Gewinn aus der Abrechnung stiller Reserven am Ende eines (mit)unternehmerischen Engagements partiell freizustellen (§ 16 IV EStG) und sodann nur mit einem ermäßigten Steuersatz nach § 34 EStG zu belasten. Damit verfolgen die §§ 14; 16; 18 III EStG zwei Normzwecke, zum einen den Fiskalzweck, einer übermäßigen Steuerprogression entgegenzuwirken, die durch die Aufdeckung von mitunter langfristig entstandenen stillen Reserven ausgelöst werden kann, zum anderen den Sozialzweck, kleinere Veräußerungsgewinne steuerlich zu verschonen4. § 14a EStG dient zudem dem Sozialzweck, kleinere bäuerliche Familienbetriebe zu fördern. Die erwähnten Normzwecke der §§ 14; 14a; 16; 18 III EStG gebieten eine exakte Abgrenzung des laufenden Gewinns bis zum Zeitpunkt der Betriebs-, Teilbetriebs-, Anteilsveräußerung oder der Betriebsaufgabe von dem Veräußerungsgewinn, der an eine Steuerbilanz zum Veräußerungs- bzw. Aufgabezeitpunkt anknüpft.
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b) Im Bereich der Überschusseinkünfte durchbrechen die Tatbestände, die Veräußerungseinkünfte erfassen, die quellentheoretische Ausgestaltung des Einkünftekatalogs. Daher konstituieren die §§ 17; 20 II; 22 Nr. 2 i.V.m. § 23 EStG die Steuerbarkeit der Veräußerungseinkünfte (s. Rz. 546 ff.). Die Gewinne und Verluste aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften rechnet § 17 I 1 EStG zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb. Tatsächlich hat aber die Beteiligung i.S.d. § 17 EStG keine Betriebsvermögensqualität. Sie gehört vielmehr zum pri1 S. die Cash-Flow-Steuer-Modelle von Elicker, Proportionale Netto-Einkommensteuer, 2004, § 2 I, Begr. 200 ff.; Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, 2004, § 6, Begr. 47 f.; Eisele/Knobloch, FS Bareis, 2005, 51; ferner Ehrhardt-Rauch, Die Einnahmen-Überschuß-Rechnung als einheitliche Gewinnermittlungsart?, DStZ 2001, 423. 2 Zu Unterschieden zwischen der § 4 III-Rechnung und einer Cash-Flow-Steuer s. von Campenhausen, SteuerStud 2004, 641. 3 BFH 1993, 710 (714); Lademann/Sieker, § 16 EStG Rz. 28 (2012/2008); Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz. 3 (2012); Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 6.; a.A. KSM/Reiß, § 16 EStG Rz. A 31 f. (1991); Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993, 777 ff.; Kirchhof/Reiß13, § 16 EStG Rz. 6. 4 BT-Drucks. VI/1901, 12.
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vaten Stammvermögen. Demzufolge gehören die §§ 17; 20 II; 23 EStG systematisch zusammen1. Überhaupt bedarf die Ermittlung von Veräußerungseinkünften eigenständiger Normen, um die ermittlungstechnischen Besonderheiten (z.B. einer Inflationsbereinigung) sachgerecht regeln zu können. Eine einheitliche Regelung ist nach Einführung der vollen Steuerpflicht sämtlicher Wertsteigerungen des Kapitalvermögens (§ 20 II EStG) im Zuge der Abgeltungsteuer dringlicher denn je2. Der Gewinn oder Verlust i.S.d. §§ 17 II 1; 20 II; 23 III 1 EStG ist wie folgt zu ermitteln: Veräußerungspreis ./. Veräußerungskosten (§§ 17 II 1; 20 IV 1 EStG) oder ./. Werbungskosten (§ 23 III 1 EStG) Nettoerlös ./. Anschaffungs-/Herstellungskosten Veräußerungsgewinn oder -verlust
Veräußerungspreis ist der Wert der Gegenleistung, die der Veräußerer durch den Abschluss des Veräußerungsgeschäfts am maßgebenden Stichtag erlangt3. Nachträgliche Veränderungen des Kaufpreises sind rückwirkend gem. § 175 I 1 Nr. 2 AO zu berücksichtigen, und zwar auch dann, wenn das Ereignis nicht seine Ursache im Veräußerungsgeschäft hatte, z.B. ein gestundeter Kaufpreis nicht bezahlt wird4. In bestimmten Fällen wird der Veräußerungspreis durch den gemeinen Wert (§§ 17 II 2; 20 IV 2; 23 III 2 EStG) u.a. Werte (§§ 20 IV 3; 23 III 2, 3 EStG) ersetzt.
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Der Begriff der Werbungskosten in § 23 III 1 EStG reicht insofern weiter als der Begriff der Veräußerungskosten in § 17 II 1 EStG, als § 23 III 1 EStG nicht nur Aufwendungen erfasst, die im Zusammenhang mit der Veräußerung angefallen sind (z.B. Makler-, Notar- und Grundbuchgebühren), sondern alle durch ein Veräußerungsgeschäft i.S.d. § 23 EStG veranlassten Aufwendungen, die nicht zu den Anschaffungs- oder Herstellungskosten gehören5. Die Umschreibung des in § 17 II 1 EStG verwendeten Begriffs der Veräußerungskosten als „Aufwendungen in unmittelbarem sachlichem Zusammenhang mit dem Veräußerungsgeschäft“ in § 20 IV 1 EStG begründet keine inhaltliche Differenzierung. Die Veräußerungskosten i.S.d. § 17 II 1 EStG bzw. die Werbungskosten i.S.d. § 23 III 1 EStG sind abzugrenzen von den Werbungskosten der Quelleneinkünfte i.S.d. §§ 20; 21 EStG, das sind insb. die Absetzungen i.S.d. § 9 I 3 Nr. 7 EStG, welche die gem. § 23 III 1 EStG anzusetzenden Anschaffungs- oder Herstellungskosten mindern. Der Einkünftedualismus verhindert ein geschlossenes System der Abzugsfähigkeit: Kosten einer gescheiterten Veräußerung i.S.d. § 17 EStG sind weder nach § 17 II 1 EStG noch nach §§ 9 I 1, 2; 20 IX EStG abziehbar6. Sie sind tatbestandsmäßig nicht erfasste Stammvermögensaufwendungen. Weber-Grellet fordert, derartige Aufwendungen als Beteiligungskosten im Rahmen von § 17 II EStG zum Abzug zuzulassen7. Der BFH (BStBl. 1984, 29; 1992, 234) hilft stattdessen z.T. mit einem weiten Verständnis (nachträglicher) Anschaffungskosten. Der Schuldzinsenabzug verdeutlicht exemplarisch die Zuordnungsproblematik zwischen Veräußerungs- und Quelleneinkünften. Nach § 9 I 3 Nr. 1 EStG kommt es auf den „wirtschaftlichen Zusammenhang“ mit einer Einkunftsart an. Die Rspr. des BFH8 stellt auf den Zweck der Erwerbstätigkeit 1 Dies bringen die §§ 30, 31 öEStG im Gesetzesaufbau zum Ausdruck. S. ferner den Reformvorschlag der §§ 27–29 Kölner EStGE. 2 Hey, DStJG 34 (2011), 379 (395). 3 So zu § 17 EStG RFH RStBl. 1933, 1010; BFH BStBl. 1962, 85; 1966, 110; 1975, 58 (60): Zinsen für die Stundung des Kaufpreises gehören zu den Einnahmen aus Kapitalvermögen. 4 BFH GrS BStBl. 1993, 897; BFH BStBl. 1994, 648. 5 So grds. BFH BStBl. 1997, 603, zu Baugenehmigungsgebühren u. Architektenhonoraren, wenn ein Grundstück unbebaut weiterveräußert wird, unter Hinweis auf BFH BStBl. 1991, 916; 1991, 300 (304); 1992, 1017 (1018). 6 BFH BStBl. 1998, 102. 7 Weber-Grellet, DStR 1998, 1617 (1620); Schmidt/Weber-Grellet33, § 17 EStG Rz. 132: „gesetzesergänzende Lückenfüllung“; grds. zust. Musil, DStJG 34 (2011), 237 (245 f.). 8 BFH BStBl. 1982, 36; 1982, 37; 1982, 40; 1982, 463; 1985, 517 (519); 1986, 596.
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199
§8
Rz. 200
Einkommensteuer
ab. Kann „auf Dauer gesehen ein Überschuss der Einnahmen über die Ausgaben erwartet werden“1, so lässt der BFH den Abzug bei den Einkünften i.S.d. §§ 20; 21 EStG zu. Die Erwerbstätigkeit ist auf die Erzielung von Quelleneinkünften gerichtet. Sind hingegen positive Quelleneinkünfte nicht zu erwarten, so ist nach dem BFH davon auszugehen, dass der fremdfinanzierte Erwerb der Realisierung von Wertsteigerungen dient. Die Schuldzinsen sind den Veräußerungseinkünften zuzuordnen und daher nur im Rahmen des § 23 III 1 EStG zu berücksichtigen. BFH BStBl. 1984, 29; 2004, 551 (553) m.w.N., ließ bisher Zinsen, die ein Stpfl. zum Erwerb einer wesentlichen Beteiligung i.S.d. § 17 EStG aufwendet, nur bis zur Veräußerung der Beteiligung bzw. bis zur Liquidation der Gesellschaft zum Abzug zu. Nachträgliche Schuldzinsen wurden als steuerlich irrelevante Stammvermögensaufwendungen vom Abzug ausgeschlossen (BFH BStBl. 2001, 668; 2004, 553). BFH BStBl. 2010, 787; BFH/NV 2011, 223, gewährt nunmehr im Hinblick auf die Ausweitung der Steuerpflicht von Wertveränderungen im privaten Kapitalstammvermögen zutr. den Abzug im Rahmen von § 20 EStG. Die längst überfällige Rechtsprechungsänderung2 wird sich allerdings aufgrund des für abgeltungsbesteuerte Kapitaleinkünfte geltenden Werbungskostenabzugsverbots (§ 20 IX EStG) kaum auswirken (evtl. im Rahmen von § 32d II Nr. 3 EStG3 und soweit sie in Zusammenhang mit vor dem 1. 1. 2009 zugeflossenen Einnahmen stehen4). Mittlerweile lässt der BFH den Abzug von Schuldzinsen auch nach Veräußerungen von im Privatvermögen gehaltenen Immobilien zu, ohne dass es darauf ankommt, ob die Veräußerung gem. § 23 I 1 Nr. 1 EStG steuerbar (BFH BStBl. 2013, 275) oder nicht steuerbar (BFH/NV 2014, 1151) ist. Der Abzug wird nicht durch einen Veranlassungszusammenhang mit dem Veräußerungsgeschäft, sondern mit der vorherigen Vermietungstätigkeit begründet5.
200
Unentgeltliche und teilentgeltliche Übertragungen (Schenkungen/Erbschaften) erfordern Sonderregelungen, da die Komponente des Veräußerungspreises bzw. der Anschaffungskosten fehlt. Nach §§ 17 II 5; 20 IV 6 EStG sind die Anschaffungskosten des letzten entgeltlichen Anteilserwerbs maßgebend für die Ermittlung des Gewinns/Verlusts aus der nächsten entgeltlichen Veräußerung. Gemischte Schenkungen sind in voll entgeltliche und in voll unentgeltliche Anteils-Übertragungen aufzuspalten. Bei privaten Veräußerungsgeschäften ist der unentgeltliche Erwerb keine Anschaffung i.S.d. § 23 I EStG; maßgeblich ist die Frist zwischen Anschaffung durch den Erblasser (Schenker) und Verkauf durch den Erben/Beschenkten. Bei gemischter Schenkung sind Veräußerungseinkünfte nach § 23 III 1 EStG nur bezüglich des entgeltlich erworbenen Teils zu ermitteln6.
1.4 Privilegierende Einkünfteermittlungen 201
Das System der Einkünfteermittlung wird durchbrochen durch Methoden der Einkünfteermittlung, die bestimmte Einkünfte gezielt privilegieren. Dazu gehört die land- und forstwirtschaftliche Gewinnermittlung nach Durchschnittssätzen (§ 13a EStG), die unter dem Vorwand der Steuervereinfachung den Realgewinn nur partiell erfasst (s. Rz. 409 ff.).
202
Unter dem Deckmantel der Schiffssicherheit führte der Gesetzgeber ab 1999 die nach der Tonnage von Schiffen bemessene Gewinnermittlung nach § 5a EStG für Handelsschiffe im internationalen Verkehr ein7. Da Schifffahrtsunternehmen besonders mobil sind und andere Staaten mit ähnlichen Vergünstigungen locken, nötigte der unfaire Wettbewerb der Steuersysteme den Gesetzgeber, mit Einführung der sog. Tonnagesteuer auf die Erfassung des wirklichen Gewinns von Betrieben der Handelsschifffahrt weitgehend zu verzichten8. Richtigerweise 1 BStBl. 1982, 37 (40); 1986, 597. 2 Zust. z.B. Fuhrmann, NWB 2010, 2942; Dornheim, DStZ 2011, 763, der allerdings für eine Zuordnung zu § 17 EStG plädiert; Ott, StuB 2013, 454; Dornheim, DStZ 2012, 554. 3 FG Düsseldorf EFG 2013, 122; hierzu Moritz/Strohm, BB 2012, 3107. 4 Zureffend FG Düsseldorf EFG 2013, 926 nrkr. 5 Dazu Schmidt/Loschelder33, § 9 EStG Rz. 40; Dornheim, DStZ 2012, 553; Schallmoser, SteuK 2013, 115; Lipp, SteuerStud 2014, 138; Meyer/Ball, DStR 2012, 2260; Jochum, DStZ 2012, 728; Schmitz-Herscheidt, FR 2014, 625; Hilbertz, NWB 2014, 1934; Paus, DStZ 2014, 580. 6 Zu unentgeltlichen und gemischten Erwerben s. Schmidt/Weber-Grellet33, § 23 EStG Rz. 40 ff. 7 Art. 6 Nr. 1 Seeschifffahrtsanpassungsgesetz v. 9.9.1998, BGBl. I 1998, 2860. Dazu BMF v. 12.6.2002, BStBl. I 2002, 614; 2008, 956; KSM/Hennrichs/Kuntschik, § 5a EStG (2007); Dißars, NWB 2014, 1793 Zur steuerlichen Vorteilhaftigkeit von Schiffsfonds im Vergleich zu abgeltend besteuerten Kapitalanlagen Taetzner/Lange, BB 2008, 2771; Blum/Götzenberger, BB 2009, 1111. In Zeiten der Gewinnlosigkeit kann sich die Tonnagebesteuerung jedoch als Falle darstellen, Dißars/Hinsch, DStR 2013, 2092. 8 Vgl. BT-Drucks. 13/10271, 8.
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Typen der Einkünfteermittlung
Rz. 203
§8
gehörte diese Art der Sonderbesteuerung von Schifffahrtsbetrieben nicht in das Einkommensteuergesetz, weil sie an eine vom Ertrag völlig unabhängige Größe anknüpft. Innerhalb der Einkommensteuer verletzt sie den Gleichheitssatz. Als von der Einkommensteuer abgeschichtete Sonderunternehmensteuer mag sie zu rechtfertigen sein, weil Gewinne, die außerhalb des nationalen Zugriffsbereichs erwirtschaftet werden, nicht voll besteuert werden können und nach dem Quellenprinzip auch nicht besteuert werden sollen. Übersicht über die Typen der Einkünfteermittlung Typenart
Gewinneinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 1 EStG)
Überschusseinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG)
Bilanzvergleich
Betriebsvermögensvergleich nach §§ 4 I; 5 EStG (periodengerechte Erfolgsrechnung nach der Reinvermögenszugangstheorie)
Kassenrechnung
Betriebseinnahmen/-ausgabenÜberschussrechnung nach § 4 III EStG (Vereinfachte Erfolgsrechnung nach der Reinvermögenszugangstheorie)
Einnahmen/Werbungskosten-Überschussrechnung nach §§ 8 ff. EStG (Vereinfachte Erfolgsrechnung nach der Quellentheorie)
Ergänzende Erfolgsrechnungen
Ermittlung der Einkünfte aus Betriebsveräußerung und -aufgabe nach §§ 14; 16; 18 III EStG (Ergänzende Erfolgsrechnung zum Zwecke der Steuerermäßigung)
– Ermittlung der Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften nach §§ 20 IV; 23 EStG – Ermittlung der Einkünfte aus der Veräußerung wesentlicher Beteiligungen nach § 17 EStG (Ergänzende Erfolgsrechnungen nach der Reinvermögenszugangstheorie)
Systemwidrige Ein- – Privilegierende Ermittlung des künfteermittlungen land- und forstwirtschaftlichen Gewinns nach Durchschnittssätzen (§ 13a EStG) – Privilegierende Gewinnermittlung nach der Tonnage von Schiffen (§ 5a EStG)
Letztmals 1986: Pauschalierung des Nutzungswerts der selbstgenutzten Wohnung im eigenen Haus nach § 21a EStG (systemwidrige Sollertragsrechnung für eine systemwidrige Einkunftsart)
1.5 Personelle Zuordnung der Gewinnermittlungsarten Während im Bereich der Überschusseinkünfte (§ 2 I 1 Nrn. 4–7, II 1 Nr. 2 EStG) für einen Einkünftetatbestand jeweils nur eine Ermittlungsart angeordnet ist, kommen im Bereich der Gewinneinkünfte (§ 2 I 1 Nrn. 1–3, II 1 Nr. 1 EStG) für jede Einkunftsart mehrere Gewinnermittlungsarten in Betracht. Deshalb bestimmt sich die anzuwendende Gewinnermittlungsart nicht nur nach der Zuordnung der Einkünfte zu einer Gewinneinkunftsart, sondern im Weiteren auch danach, ob der Stpfl. gesetzlich buchführungspflichtig ist oder freiwillig Bücher führt. Daraus ergibt sich folgende personelle Zuordnung der Gewinnermittlungsarten: Personenkreis
Gewinnermittlungsart
– Land- und Forstwirte, gesetzlich buchführungspflichtig (insb. nach § 141 AO) oder freiwillig buchführend – Freiberufler, freiwillig buchführend
Allgemeiner Betriebsvermögensvergleich (§ 4 I EStG)
Gewerbetreibende, gesetzlich buchführungspflichtig Betriebsvermögensvergleich für Gewerbetrei(insb. Vollkaufleute/Handelsgesellschaften/Buchbende (§ 5 EStG) führungspflichtige nach § 141 AO) oder freiwillig buchführend
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203
§8
Rz. 204
Einkommensteuer
Personenkreis
Gewinnermittlungsart
– Freiberufler, nicht buchführend – Gewerbetreibende, weder gesetzlich buchführungspflichtig (insb. Kleingewerbetreibende, vgl. § 241a HGB) noch freiwillig buchführend
Betriebseinnahmen/-ausgaben Überschussrechnung nach § 4 III EStG
Land- und Forstwirte, weder gesetzlich buchführungspflichtig noch freiwillig buchführend und die Überschussrechnung nach § 13a II EStG beantragend
Betriebseinnahmen/-ausgaben Überschussrechnung nach § 4 III EStG
Land- und Forstwirte, welche die Voraussetzungen des § 13a I EStG erfüllen und nach § 13a II EStG keine andere Gewinnermittlungsart wählen
Gewinnermittlung nach Durchschnittssätzen (§ 13a EStG)
1.6 Schätzung 204
Soweit die Besteuerungsgrundlagen – zumal deshalb, weil der Stpfl. keine Bücher oder Aufzeichnungen geführt hat – nicht ermittelt oder berechnet werden können, sind sie zu schätzen (§ 162 AO). § 162 AO begründet keinen eigenständigen Typus der Einkünfteermittlung. Der Schätzung sind vielmehr die Vorschriften der jeweils einschlägigen Ermittlungsart zugrunde zu legen. Diese ist bei den Gewinneinkünften der Betriebsvermögensvergleich nach § 4 I EStG, weil in dieser Vorschrift der allgemeine Gewinnbegriff niedergelegt ist, der auch dann anzuwenden ist, wenn sich der Stpfl. nicht für die vereinfachte Gewinnermittlung entschieden hat1.
2. Grundbegriffe der Einkünfteermittlung 2.1 Das terminologische System der Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen Literatur: Tipke, Zur Abgrenzung der Betriebs- oder Berufssphäre von der Privatsphäre, StuW 1979, 193; Söhn, Die Abgrenzung der Betriebs- oder Berufssphäre von der Privatsphäre im Einkommensteuerrecht, DStJG 3 (1980); Tipke, Bezüge und Abzüge im Einkommensteuerrecht. Ein kritischer Beitrag zum Aufbau und zur Terminologie des Einkommensteuergesetzes, StuW 1980, 1; Wassermeyer, Das Erfordernis objektiver und subjektiver Tatbestandsmerkmale in der ertragsteuerlichen Rspr. des BFH, StuW 1982, 352; KSM/P. Kirchhof, § 2 EStG Rz. A 30 ff., A 51ff; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, 299 ff., 318 ff.; Jüptner, Leistungsfähigkeit und Veranlassung, Diss., 1989; Hundsdoerfer, Die einkommensteuerliche Abgrenzung von Einkommenserzielung und Konsum, Habil., 2002.
205
Die zu ermittelnden Einkünfte bestehen aus positiven und negativen Faktoren. Die Einkünfte sind Salden aus solchen positiven und negativen Faktoren. Die positiven Faktoren der Einkünfte (Erträge, Betriebseinnahmen, Einnahmen) lassen sich terminologisch zusammenfassen zum Begriff Erwerbsbezüge; die negativen Faktoren (Aufwendungen, Betriebsausgaben, Werbungskosten) lassen sich zusammenfassen zum Begriff Erwerbsaufwendungen. Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen sind als Bestandteile einkommensteuerbarer Einkünfte durch eine konkrete Erwerbstätigkeit veranlasst. Im Mittelpunkt steht also das Veranlassungsprinzip, nach dem die Begriffe der Betriebsausgaben und der Werbungskosten inhaltsgleich zu interpretieren sind (s. Rz. 230 ff.). Dem Veranlassungsprinzip liegt die steuerrechtliche Kausallehre zugrunde, so dass das Veranlassungsprinzip nicht nur für die Bestimmung von Erwerbsaufwendungen, sondern allgemein für die Abgrenzung der Erwerbssphäre zur Privatsphäre maßgeblich ist.
1 BFH BStBl. 1981, 301; 1990, 287 (289); BFH/NV 2001, 3. Zur Schätzung nach § 162 AO im Weiteren § 21 Rz. 207 ff.
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Rz. 208
§8
Die Qualifikation von Erwerbsbezügen und Erwerbsaufwendungen nach dem Veranlassungsprinzip geht von der Erkenntnis aus, dass die Erwerbstätigkeit auf finalem Handeln beruht, das auf die Erzielung eines Überschusses der Erwerbsbezüge über die Erwerbsaufwendungen gerichtet ist1. Dieses finale Erwerbshandeln ist von dem finalen Handeln privater Lebensführung zu unterscheiden. Somit dient das finale Handeln entweder Erwerbszwecken oder Privatzwecken oder beidem in den Fällen gemischter Veranlassung (s. Rz. 220). Die Problematik der Zuordnung von Bezügen und Aufwendungen ist kausalrechtlicher Art: Das Handeln zu Erwerbszwecken (erwirtschaftendes Handeln mit Einkünfteerzielungsabsicht) verursacht Erwerbsbezüge/-aufwendungen und das Handeln zu Privatzwecken verursacht private Bezüge/ Aufwendungen. Ziel der Rechtsdogmatik muss es sein, einheitliche Kausalitätskriterien für die Abgrenzung von Vermögensvorgängen der Erwerbs- und Privatsphäre zu entwickeln und diese der Interpretation steuergesetzlicher Kausalitätsformulierungen zugrundezulegen.
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Kausalitätsformulierungen: § 8 I EStG: „Einnahmen sind alle Güter, die … im Rahmen einer der Einkunftsarten … zufließen“; § 4 IV EStG: „Betriebsausgaben sind die Aufwendungen, die durch den Betrieb veranlasst sind“; § 9 I 1 EStG: „Werbungskosten sind Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen“; § 3c I EStG: „Ausgaben dürfen, soweit sie mit steuerfreien Einnahmen in unmittelbarem wirtschaftlichem Zusammenhang stehen, nicht als Betriebsausgaben oder Werbungskosten abgezogen werden“; § 9 I 3 Nr. 1 Satz 1 EStG: „Schuldzinsen …, soweit sie mit einer Einkunftsart in wirtschaftlichem Zusammenhang stehen“.
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Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen
2.1.1 Die Abgrenzung der Erwerbssphäre zur Privatsphäre 2.1.1.1 Finalität und Kausalität des Handelns
2.1.1.2 Risikosphäre des Handelns und Verschulden Jedes zweckgerichtete, finale Handeln ist von Nebenfolgen begleitet, die vom Willen des Handelnden nicht beherrscht sind. In diesem Sinne handelt der Erwerbstätige grds. mit Risiko und nimmt dieses Risiko in sein Kalkül auf. Die Nebenfolgen des risikobehafteten Handelns sind bei der Ermittlung von Einkünften mit zu berücksichtigen. Das gilt für willensunabhängige Bezüge (sog. windfall profits) wie für willensunabhängige, unfreiwillige, planwidrige Aufwendungen. Derartige Aufwendungen können dem Stpfl. durch Blitzschlag u.a. Naturereignisse, durch Schädigungen Dritter, durch Unfälle, verlorene Prozesse etc. entstehen, wie überhaupt Verluste gegen den Plan der Gewinnerzielung zu entstehen pflegen. 1 Zu dieser Erkenntnis u. zur finalen Handlungslehre von Welzel s. bereits Rz. 122 sowie umfassend Hübner, Die Entwicklung der objektiven Zurechnung, Diss., 2004. Vgl. auch Röckrath, Kausalität, Wahrscheinlichkeit u. Haftung, Diss., 2004.
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208
§8
Rz. 209
209
Im Strafrecht bereitet die finale Handlungslehre Schwierigkeiten, weil die für eine Handlung notwendige finale Zweckbeziehung bei Fahrlässigkeiten nicht angenommen werden kann. Daher wird die Verantwortlichkeit für fahrlässiges Handeln nicht auf die Willensentscheidung, sondern auf die Verletzung einer Sorgfaltsnorm gegründet. Der Täter handelt gefährlich mit einem Risiko, das strafrechtlich missbilligt wird. Im Steuerrecht muss ein missbilligtes Risiko nicht ausgegrenzt werden1. Mithin können die finalen Handlungslehren2 für die steuerrechtliche Zurechnung von Risikofolgen uneingeschränkt eingesetzt werden3.
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Risikofolgen sind steuerrechtlich zunächst frei von Vorwerfbarkeitskriterien zuzurechnen4. Auf ein vorwerfbares Verschulden kommt es grds. nicht an. Das Leistungsfähigkeitsprinzip gebietet, Einkünfte auch aus einer illegalen, sittenwidrigen oder sonst vorwerfbaren Betätigung zu besteuern (§ 40 AO). Daher sind die Folgen strafwürdigen oder verbotenen Verhaltens nicht ohne weiteres der privaten Sphäre zuzuordnen5. Wenn ein Gewerbetreibender seine alte Werkstatt in Brand steckt, um mit Hilfe der Versicherungssumme eine moderne Werkstatt zu bauen, hat er die Versicherungssumme zu versteuern. Die Werkstatt bleibt Betriebsgebäude. Die Vergütung eines Berufskillers für die Beseitigung eines Konkurrenten ist Erwerbsausgabe des Auftraggebers und Erwerbseinnahme des Berufskillers. Wer mit weit überhöhter Geschwindigkeit fährt, das Rotlicht von Verkehrsampeln missachtet, um einen beruflichen Termin nicht zu versäumen, handelt erwerbstätig. Unfallkosten sind der Erwerbstätigkeit zuzuordnen und damit Erwerbsaufwendungen. Allerdings kann Alkoholgenuss als Privathandlung der Annahme von Erwerbsaufwendungen entgegenstehen. Es liegt ein Fall gemischter Veranlassung vor (s. Rz. 220).
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Schwierigkeiten bereitet die Zurechnung von Risikofolgen beim Verlust von Wirtschaftsgütern: Bei privaten Wirtschaftsgütern wie Schmuck und Kleidung wird häufig schon aus der Zugehörigkeit des Wirtschaftsguts zum Privatvermögen gefolgert, die Aufwendungen seien der privaten Risikosphäre zuzuordnen6. Dem kann nicht zugestimmt werden, soweit sich ein berufstypisches Risiko verwirklicht. Rächt sich ein Krimineller an einem Polizisten, indem er dessen privaten Pkw in Brand setzt, so sind Werbungskosten anzunehmen7, weil das Schadensereignis in der Risikosphäre des Polizistenberufs angesiedelt ist. Ein Umzug oder eine Dienstreise erhöhen das Risiko, etwas zu verlieren oder bestohlen zu werden. Geht Hausrat bei einem beruflich veranlassten Umzug verloren oder wird einem Reporter in Bagdad alles weggenommen, was er am Leibe trägt, so ist der Verlust „privater“ Wirtschaftsgüter berufliche Risikofolge.
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Umgekehrt führt allein die Zugehörigkeit von Wirtschaftsgütern zum Erwerbsvermögen noch nicht zu Erwerbsaufwendungen. Die Zerstörung eines betrieblichen Pkw während einer pri-
Einkommensteuer
1 Hübner, Die Entwicklung der objektiven Zurechnung, Diss., 2004, 177 ff. 2 Dazu ausf. Hübner, Die Entwicklung der objektiven Zurechnung, Diss., 2004, 29 ff. (philosophische Grundlagen von Pufendorf, Kant u. Hegel), 47 ff. (voluntative Zurechnungslehren, insb. von Larenz), 73 ff. (finale Handlungslehren), 125 ff. (normative Zurechnung von Risikofolgen). 3 Dazu ausf. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 306 ff. (insb. Auswertung der Lehren von Welzel u. Kaufmann). 4 Grundl. BFH GrS BStBl. 1978, 105 (109): „Auf das Verschulden, die Strafbarkeit oder das moralische Verhalten des Stpfl. abzielende Wertungen“ seien für die steuerrechtliche Qualifikation von Unfallkosten „ungeeignet“. Unfallkosten seien nicht deshalb keine Erwerbsaufwendungen, „weil der Unfall darauf beruht, daß der Stpfl. bewußt und leichtfertig gegen Verkehrsvorschriften verstoßen hat“. Im Weiteren J. Lange, BB 1971, 405; Barwitz, Verschulden im Steuerrecht. Eine Untersuchung zu Vorsatz u. Fahrlässigkeit im formellen u. materiellen Steuerrecht, exemplarisch vertieft anhand des EStG, Diss., 1987. Grds. a.A. Schweizerisches Bundesgericht v. 25.1.2002, AJP/PJA 2003, 1232 (dort mit Anm. Koller), das die steuerliche Abzugsfähigkeit von Schadensersatzleistungen von der Schwere des Verschuldens abhängig macht. 5 So BFH BStBl. 1984, 434 (435). 6 So z.B. Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 520 (Verlust): Verluste privater WG führten „nach wohl zutr. h.M. grds. nicht zu betriebl. Aufwand, selbst wenn die auslösende Verwendung bei fortbestehender privater Mitveranlassung auch im betriebl. Interesse erfolgte“, mit Hinweis auf BFH BStBl. 1968, 342 (Verlust von Schmuck auf einer Geschäftsreise); 1986, 771 (Verlust einer Geldbörse auf Vortragsreise). Hingegen Verlust eines privaten Pkw als Werbungskosten: BFH BStBl. 1982, 442 (Racheakt); 1993, 44 (Dienstreise). 7 BFH BStBl. 1982, 442.
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Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen
Rz. 215
§8
vaten Urlaubsfahrt fällt in die private Risikosphäre. Auch der Verlust von Arbeitsmitteln kann in der privaten Risikosphäre geschehen. BFH BStBl. 2004, 491, hat den Diebstahl einer Violine durch den Ehemann als beruflich veranlassten Verlust und damit Erwerbsaufwendungen anerkannt. Der Diebstahl kann indes auch als Risikofolge einer gescheiterten Ehe und damit als Privatverlust angesehen werden1.
2.1.1.3 Bestimmung der Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen durch das Veranlassungsprinzip Der Begriff der Veranlassung kennzeichnet die Kausalbeziehung zwischen einer finalen Handlung und dem Erfolg von Bezügen und Aufwendungen. Das daraus resultierende sog. Veranlassungsprinzip2 wird dem Betriebsausgabentatbestand entnommen: Nach § 4 IV EStG sind Betriebsausgaben Aufwendungen, die durch den Betrieb veranlasst sind. Dabei ist Betrieb nach § 15 II 1 EStG eine selbständige, nachhaltige, mit Gewinnerzielungsabsicht ausgeübte Betätigung. Nach dem Veranlassungsprinzip sind Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen als das zweckgerichtet mit Einkunftserzielungsabsicht erwirtschaftete Ergebnis einer Erwerbstätigkeit zu bestimmen. Das Veranlassungsprinzip prägt das System und die Grundbegriffe der Einkünfteermittlung; es verwirklicht jene kausalrechtliche Symmetrie, die für eine Gleichbehandlung von Einkunftsarten in einem synthetischen Einkommensteuersystem (s. Rz. 1) benötigt wird.
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Die aus dem Betriebsausgabenbegriff in § 4 IV EStG abgeleitete Basisdefinition lautet: Erwerbsaufwendungen sind Aufwendungen, die durch eine Erwerbstätigkeit mit Einkünfteerzielungsabsicht veranlasst sind. Dementsprechend interpretiert die Rspr. den Werbungskostenbegriff (s. Rz. 230 ff.). Auf der Grundlage eines einheitlich entfalteten Veranlassungsprinzips sind Erwerbsbezüge Bezüge, die durch eine Erwerbstätigkeit mit Einkünfteerzielungsabsicht erwirtschaftet worden sind. Nach st. Rspr. des BFH (s. m.w.N. BFH BStBl. 1998, 618; 1998, 619 [620 f.]; 1998, 621) sind Betriebseinnahmen in Anlehnung an § 4 IV EStG alle durch den Betrieb veranlassten Einnahmen und Einnahmen i.S.d. § 8 I EStG sind alle Einnahmen, die durch eine Erwerbshandlung i.S.v. Überschusseinkünften veranlasst sind (s. Rz. 474 zur unverständlichen Ausnahme bei Arbeitnehmern).
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Beispiele für Erwerbsbezüge: erwirtschaftete Preisgelder3, betrieblich veranlasste Zuwendungen4, Lose5 und Schadensersatzleistungen6. Provisionen, die für den Abschluss eigener privater Versicherungen an Versicherungsvertreter gezahlt werden, behandelt der BFH als Erwerbsbezüge, die durch
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1 S. Thomas, DStR 2004, 1273. 2 Dazu Kröger, StuW 1978, 289; Wassermeyer, StuW 1982, 352; Jüptner, Leistungsfähigkeit und Veranlassung, Diss., 1989; Langohr, Das Veranlassungsprinzip im Einkommensteuerrecht, Diss., 1990; Hundsdoerfer, Abgrenzung von Einkommenserzielung und Konsum, Habil., 2002, 181 ff.; Weber, StuW 2009, 184; HHR/Stapperfend, § 4 EStG Anm. 790 ff. (2013); Schilling, Zwangsläufiger, pflichtbestimmter Aufwand in Ehe und Familie. Ein Beitrag zur einkommensteuerrechtlichen Veranlassungstheorie, Diss., 2013, 117-147. 3 BFH BStBl. 1964, 629 (Ausstellungspreis an Kunsthandwerker); 1975, 558 (Architekturpreis); 1989, 650 (Preis für Meisterprüfung); 2009, 668 (Nachwuchsförderpreis für Arbeitnehmer). Als privat veranlasst beurteilt der BFH Preise für das Lebenswerk, Gesamtschaffen und die Persönlichkeit des Preisträgers (BFH BStBl. 1964, 629; 1985, 427). S. auch BMF BStBl. I 1996, 1150; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 264 f.; Wübbelsmann, DStR 2009, 1744; grundl. aus markteinkommenstheoretischer Sicht Marx, DStZ 2014, 282. Zu Wissenschaftspreisen: Grotherr/Hardeck, StuW 2014, 3; aus österreichischer Sicht Kerschner, ÖStZ 2014, 166; Daxkobler/Kerschner, ÖStZ 2014, 166. 4 Dazu § 6 IV EStG; Geschenke: RFH RStBl. 1936, 139; BFH BStBl. 1990, 1028; Zuwendung von Reisen: BFH BStBl. 1988, 995; 1989, 641; 1996, 273; Altgold (Zahnarzt): BFH BStBl. 1986, 607; Sozialleistungen: BFH BStBl. 1978, 137; 1994, 179; BFH/NV 1991, 453; Zuschüsse zur Förderung von Existenzhilfen: BFH BStBl. 1997, 125; 2002, 697; Freiexemplare für Autoren u. Richter: Grootens, StWa 2007, 181. 5 BFH BStBl. 2010, 550 (Zuteilung von Losen als Erfolgsprämie); Betriebseinnahmen verneint bei Bezahlung von Losen aus Provisionsansprüchen BFH BStBl. 2010, 548 (Einkommensverwendung). Zur Rspr. betr. betrieblicher Verlosungen Förster, DStR 2009, 249. 6 Z.B. eines Haftpflichtversicherers wegen fehlerhafter Steuerberatung BFH BStBl. 1972, 292; 1977, 220; 1992, 686 (betrieblich veranlasste Steuerberatung). BFH BStBl. 1998, 621: keine Betriebseinnahme im
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§8
Rz. 216
Einkommensteuer
die gewerbliche (BStBl. 1998, 618) oder i.S.d. § 22 Nr. 3 EStG gelegentliche (BStBl. 1998, 619) Erwerbstätigkeit veranlasst sind. Zahlungen einer Praxisausfallversicherung, die das persönliche Krankheitsrisiko absichert, sind dagegen nicht steuerbar, ebenso wie die Beiträge keine Erwerbsaufwendungen darstellen1.
2.1.1.4 Subjektiv-finale und objektive Ursachen 216
Die juristisch relevante Kausalität baut zwar auf dem Kausalitätsbegriff der philosophischen Logik und der Naturwissenschaften auf (conditio sine qua non), ist jedoch sodann nur durch wertende, teleologische Auswahl näher zu bestimmen. Hier geht es darum, das leistungsfähigkeitsindizierende Ergebnis einer Erwerbstätigkeit möglichst exakt zu erfassen. Dazu sind folgende Ursachen relevant bzw. nicht relevant:
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Subjektiv-finale Ursachen (Motive und Zwecke): Die besondere Qualität der Veranlassung wird in der finalen (zweckbestimmten) Verursachung gesehen, denn nur der Mensch kann etwas „veranlassen“. Wie bereits in Rz. 122 festgestellt, entstehen Einkünfte durch planmäßiges Wirtschaften. Daher lassen sich Vermögenszugänge und -abgänge in aller Regel auf ein konkretes Erwerbs- oder Privatmotiv bzw. einen konkreten Erwerbs- oder Privatzweck zurückführen. Mithin erscheint es sachgerecht, das Ergebnis einer wirtschaftlichen Betätigung in erster Linie subjektiv-final zu bestimmen2. Daraus, dass es ursächlich auf die Motivation des Stpfl., auf den von ihm verfolgten Zweck, ankommt, ergibt sich, dass Erwerbshandlungen nicht nur solche sind, die objektiv der Erwerbstätigkeit dienen, sondern auch solche, die ihr vom Standpunkt des Handelnden aus dienen. So hat der Handelnde insb. bei Aufwendungen grds. Beurteilungsspielraum. Auf die betriebliche/berufliche Notwendigkeit, Üblichkeit oder Zweckmäßigkeit der Handlung kommt es grds. nicht an.
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Objektive Ursachen: Indessen verlangt die Rspr. auch einen objektiven Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit. Allerdings folgt die Rspr. nicht der streng objektiven Theorie von Söhn3, wonach Aufwendungen nur dann Erwerbsaufwendungen sind, wenn sie „in einem objektiven (wirtschaftlichen) Zusammenhang mit der beruflichen (betrieblichen) Tätigkeit stehen“. Vielmehr bestimmt die Rspr. den Begriff der Erwerbsaufwendungen subjektiv und objektiv: Danach sind Aufwendungen Betriebsausgaben, d.h. „durch den Betrieb veranlasst“ (§ 4 IV EStG), wenn sie objektiv mit dem Betrieb zusammenhängen und subjektiv dem Betrieb zu dienen bestimmt sind4. Diesen Inhalt des Veranlassungsbegriffs hat der BFH auf den Werbungskostenbegriff übertragen: Danach liegen Werbungskosten vor, wenn ein objektiver Zusammenhang mit dem Beruf besteht und wenn die Aufwendungen subjektiv zur Förderung des Berufs getätigt werden5. Jedoch entfällt das subjektive Element bei den willensunabhängigen Bezügen und Aufwendungen. Hier kommt allein der objektive Veranlassungszusammenhang zum Tragen, wenn z.B. der Stpfl. durch Naturereignisse oder durch kriminelles Verhalten geschädigt wird.
2.1.1.5 Zusammentreffen mehrerer Ursachen 219
Ausgangspunkt für die Beurteilung der juristischen Kausalität ist die sog. Bedingungslehre (Äquivalenztheorie): Ursache ist jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non)6. Dieser logisch-naturwissenschaftliche Ausgangspunkt juristischer Ursachenlehre erfasst eine unendliche Zahl von Ursachen in Ursachenketten (z.B. ist die Geburt des Stpfl. ursächlich für seine Erwerbsaufwendungen), so dass eine
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Falle der Einkommensteuerberatung. Übersichtsdarstellung Klein, Die steuerliche Behandlung des Schadensersatzes, SteuerStud 2010, 209; Grube, FR 2013, 433. BFH BStBl. 2010, 168; BFH/NV 2010, 192; ebenso BFH BStBl. 2013, 616 für eine Risikolebensversicherung, auch wenn die Versicherungsleistung betrieblich verwendet werden soll. So insb. Tipke, StuW 1979, 199 ff.; Wassermeyer, StuW 1982, 352 ff. StuW 1983, 193 ff. (196, Zitat), und umfassend KSM/Söhn, § 4 EStG Rz. E 60 ff (2012). BFH GrS BStBl. 1984, 163; HHR/Stapperfend, § 4 EStG Anm. 793 (2013). St. Rspr., z.B. BFH BStBl. 1986, 866 (867); 1993, 108; 2003, 407 (410); 2004, 958 (959); 2004, 1071, (1072). Zu diesem Ausgangspunkt m.w.N. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 301 f.
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Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen
Rz. 222
§8
auf die Teleologie des jeweiligen Rechtsgebiets zugeschnittene juristisch-normative Ursachenauslese unerlässlich ist1. Hier geht es darum, Bezüge und Aufwendungen auf Privat- und Erwerbsursachen zurückzuführen. Die steuerrechtliche Qualifikation von Bezügen und Aufwendungen ist relativ einfach, wenn die juristisch-normativ bestimmten Ursachen ausschließlich Privat- oder Erwerbsursachen sind, wie z.B. die Aufwendungen für ein ausschließlich betrieblich genutztes Wirtschaftsgut. Die Qualifikation von Bezügen und Aufwendungen wird kompliziert, wenn im juristisch-normativ bestimmten Ursachenkreis Privat- und Erwerbsursachen zusammentreffen, also Fälle gemischter Veranlassung zu beurteilen sind. Hier ist danach zu fragen, welche Art von Handlung welche Ursachen gesetzt hat und ob diese Ursachen für die Qualifikation der Erwerbsbezüge oder Erwerbsaufwendungen juristisch-normativ wesentlich sind. BFH GrS BStBl. 1978, 108 (109) knüpfte an die im Unfallversicherungsrecht entwickelte Theorie der wesentlichen Bedingung an2. Diese Theorie hat Söhn3 überzeugend für das Steuerrecht fundiert. Danach sind zunächst unwesentliche Ursachen auszuscheiden. Sind aber Bezüge oder Aufwendungen sowohl durch Erwerbsals auch durch Privathandlungen wesentlich mitveranlasst, so verlangt die exakte Messung steuerlicher Leistungsfähigkeit die quantitative Aufteilung von Bezügen und Aufwendungen.
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Die Theorie der wesentlichen Bedingung hat BFH GrS BStBl. 1978, 108, zur steuerrechtlichen Qualifikation von Unfallkosten4 herangezogen, wo die Kausalitätsproblematik dem Unfallversicherungsrecht besonders nahe ist. Wie bereits in Rz. 210 dargelegt, sind im Steuerrecht die Vorwerfbarkeitskriterien auszuscheiden (s. BFH GrS BStBl. 1978, 105 [109]). Setzt sich aber der Stpfl. nach dem Genuss von Alkohol an das Steuer, um einen Kunden zu besuchen, so ist der Unfall wegen des Trinkens von Alkohol durch eine Privathandlung wesentlich mitveranlasst. Während im Falle des zu schnellen Fahrens zum Berufstermin nur eine Handlung, die Erwerbshandlung des Fahrens, vorliegt, lässt sich das Trinken als Privathandlung vom Autofahren separieren. Es überschneiden sich zwei Risikosphären, die private des Trinkens und die berufliche der Kundenfahrt. Privat- und Erwerbshandlung haben beide den Unfall wesentlich mitveranlasst, so dass an sich die Aufteilung der Unfallkosten begründet wäre.
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Gleichwohl kann der Steuerabzug der Unfallkosten ganz versagt werden5, weil die Kundenfahrt nur im nüchternen Zustand beruflich angezeigt ist; somit ist das Trinken als allein wesentlich zu bewerten. Dementsprechend hat ein Arbeitnehmer Arbeitslohn zu versteuern, wenn der Arbeitgeber auf Ersatz des durch Trunkenheit verursachten Schadens am Firmenfahrzeug verzichtet6. Die Unfallkosten sind dagegen beruflich veranlasst, wenn ein dienstfreier Arzt von einer Stammtischrunde zu einem Notfall gerufen wird. Die lebensnotwendige Versorgung eines Patienten während der vorgeplanten Freizeit rechtfertigt es, die Unfallkosten als allein beruflich veranlasst zu bewerten und damit den Steuerabzug der Unfallkosten voll anzuerkennen. Raucht der Stpfl. während der Berufsfahrt und verursacht er einen Unfall, weil ihm die Zigarette herunterfällt, so ist der Unfall durch das Rauchen als Privathand-
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1 Dazu aus strafrechtsdogmatischer Sicht Safos, Mehrfachkausalität beim Tun und Unterlassen, Diss., 1999; für das Steuerrecht Schilling, Zwangsläufiger, pflichtbestimmter Aufwand in Ehe und Familie, Diss., 2013, 124 ff., der durch die Unterscheidung zwischen symmetrischen und asymmetrischen Veranlassungskonkurrenzen, einer unterschiedlichen (verfassungsrechtlichen) Wertigkeit von Ursachen Rechnung tragen will. 2 Die Theorie der wesentlichen Bedingung (rechtlich relevante Ursachen sind nur diejenigen Bedingungen, die zu dem Erfolg wesentlich beigetragen haben) wurde vom Reichsversicherungsamt für das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung entwickelt u. liegt der st. Rspr. des BSG zugrunde. Vgl. hierzu Haueisen, JZ 1961, 9; Barta, Kausalität im Sozialrecht – Entstehung und Funktion der sog. Theorie der wesentlichen Bedingung, 1983; Krasney, Vierteljahresschrift für Sozialrecht 1993, 81; Köhler, Kausalität, Finalität und Beweis, 2001; Kater/Leube, Gesetzliche Unfallversicherung, Kommentar, 1997, Vor §§ 7–13 SBG VII Rz. 11 ff., 30 ff.; Schmitt4, 2009, § 8 SGB VII Rz. 106; Becker/Franke/Molkentin/Eberhard/Ziegler4, 2014, § 8 SGB VII Rz. 155. 3 Betriebsausgaben, Privatausgaben, gemischte Aufwendungen, DStJG 3 (1980), 13 (69 ff.). Im Weiteren Tiedtke, FR 1978, 495; Tipke, StuW 1979, 198; Ruppe, DStJG 3 (1980), 136 ff.; Schilling, Zwangsläufiger, pflichtbestimmter Aufwand in Ehe und Familie, Diss., 2013, 117 ff. 4 Dazu Offerhaus, BB 1979, 670 ff.; Tiedtke, FR 1978, 493; Tipke, StuW 1979, 200 ff.; Söhn, DStJG 3 (1980), 13 (78 ff.); KSM/von Bornhaupt, § 9 EStG Rz. B 441 ff. (1999). 5 So BFH BStBl. 1984, 434 (435 f.). 6 BFH BStBl. 2007, 766.
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§8
Rz. 223
Einkommensteuer
lung privat mitveranlasst. BFH GrS BStBl. 1978, 105 (108), bewertet die Ursache privater Bedürfnisbefriedigung jedoch als unwesentlich und erkennt den Steuerabzug der Unfallkosten an. Die ungleiche Bewertung des Trinkens und Rauchens zeigt, dass die Theorie der wesentlichen Bedingung die normative Ursachenauswahl in den Fällen gemischter Veranlassung wohl zu konkretisieren vermag, jedoch dem Richter einen nicht unbeachtlichen Bewertungsspielraum belässt, in dem letztlich subjektive Überzeugungen ausschlaggebend werden.
2.1.2 Die persönliche Zurechnung von Erwerbsbezügen, Erwerbsaufwendungen und von sog. Drittaufwand 223
Aus dem Veranlassungszusammenhang zwischen Erwerbstätigkeit und Einkünften ergibt sich auch für die einzelnen Einkünfte-Faktoren die Zurechnungsregel, dass nur derjenige Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen hat, der den Tatbestand der Einkunftserzielung verwirklicht (s. Rz. 150 ff.). Dabei kann der Einkünfteerzieler nur eigene Aufwendungen absetzen, d.h. er muss den Aufwendungstatbestand verwirklichen. Die eigenen Aufwendungen sind vom sog. Drittaufwand1 abzugrenzen. Maßstab hierfür ist das sog. Kostentragungsprinzip2: Der Einkünfteerzieler hat nur dann eigene und von ihm absetzbare Aufwendungen, wenn und soweit er sie wirtschaftlich getragen hat. Das mittlerweile gefestigte Bekenntnis des BFH zum Kostentragungsprinzip stützt sich folgerichtig auf das Leistungsfähigkeitsprinzip, konkretisiert durch das Nettoprinzip (BFH GrS BStBl. 1999, 782 [785]). In der Tat kann nur derjenige den Aufwendungstatbestand verwirklichen, dessen wirtschaftliche Leistungsfähigkeit durch die Aufwendung gemindert ist.
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Wenngleich die Beschlüsse des BFH GrS v. 1995 und 19993 die rechtsdogmatischen Grundlagen für die Ausgrenzung des sog. Drittaufwands aus dem Aufwendungstatbestand geklärt zu haben scheinen, ist das sog. Kostentragungsprinzip weiterhin in den Fällen schwierig zu handhaben, in denen der Einkünfteerzieler zugewendete Mittel verwendet. Grds. ist die Herkunft der Mittel gleichgültig. Unerheblich ist, ob die Aufwendungen aus Eigen- oder Fremdmitteln bestritten werden. Wer Arbeitslöhne mit einem Bankdarlehen finanziert, verwirklicht den Aufwendungstatbestand im Zeitpunkt der Lohnzahlung. Ebenso liegt in vollem Umfange Lohnaufwand vor, wenn der Arbeitgeber von einem Verwandten ein Darlehen aufnimmt oder der Vater dem Sohn Geld schenkt, damit dieser seine Mitarbeiter bezahlen kann. Wer also mit geschenktem Geld oder sonst mit zugewendeten Mitteln Erwerbsaufwendungen bestreitet, verwirklicht den Aufwendungstatbestand.
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Allerdings hat sich dieser sog. Zuwendungsgedanke4, nach dem das wirtschaftliche Tragen der Aufwendungen von der Mittelherkunft zu unterscheiden ist, in der Rspr. des BFH nur begrenzt durchsetzen können: Nach BFH GrS BStBl. 1999, 782 (785), vermag der Einkünfteerzieler den Aufwendungstatbestand in den Fällen einer sog. Abkürzung des Zahlungswegs zu verwirklichen: Bezahlt der Vater Mitarbeiter des Sohnes und tilgt er damit die Arbeitslohnschulden des Sohnes, statt ihm Geld zu schenken, so bleibt der Sohn nicht nur arbeits-, sondern auch steuerrechtlich Arbeitgeber: Der Sohn hat die Lohnsteuer nach § 38 III 1 EStG einzubehalten und er verwirklicht den Tatbestand des Lohnaufwandes. Besondere Schwierigkeiten bereiten 1 Lit.: Biergans, FR 1984, 297; Ruppe, DStJG 10 (1987), 71 f.; Brandis, StuW 1990, 57; Trzaskalik, FS Schmidt, 1993, 51; Fischer, StbJb. 1999/2000, 35; Küffner/Haberstock, DStR 2000, 1672; Gröpl, DStZ 2001, 65; Ritzow, StWa 2003, 222 (BFH-Rspr.); Schnorr, StuW 2003, 222; Haenicke, DStZ 2006, 793; Seitz, FR 2006, 201; Schießl, StuB 2007, 182; Paus, EStB 2012, 378. 2 Dazu insb. Biergans, FR 1984, 297 (298); Ruppe, DStJG 10 (1987), 71; Brandis, StuW 1990, 57 (59 f.). 3 BFH GrS v. 30.1.1995, BStBl. 1995, 281, sowie vier Beschlüsse v. 23.8.1999, BStBl. 1999, 774; 1999, 778; 1999, 782; 1999, 787. Zu diesen Beschlüssen Drenseck, DStR 1995, 509; Fischer, NWB Fach 3, 9331 (1995); Weber-Grellet, DB 1995, 2550; Fischer, NWB Fach 3, 10925 (1999); Wassermeyer, DB 1999, 2486; Wolff-Diepenbrock, DStR 1999, 1642; Hamacher/Balmes, FR 2000, 600; Söffing, BB 2000, 381; Weber-Grellet, BB 2000, 1024; Heubeck, SteuerStud 2001, 401. 4 Dazu insb. BFH BStBl. 1992, 948 (950 f. m.w.N.); 1999, 786; Biergans, FR 1984, 297 (298 f.); Ruppe, DStJG 10 (1987), 71 (71: Es käme nicht „darauf an, wer die Aufwendung finanziert hat“; 72: Die Zurechnung nach dem Kostentragungsprinzip sei „sicherlich zu eng“); Brandis, StuW 1990, 57 (60 ff.); Fischer, StbJb. 1999/2000, 35 (51: Der Zuwendungsgedanke sei „rechtlich nicht tragfähig“).
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Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen
Rz. 227
§8
die von BFH GrS offen gelassenen Fälle eines sog. abgekürzten Vertragswegs1. Der BFH hat den Zuwendungsgedanken gestärkt, indem er den Abzug von Werbungskosten auch dann zuließ, wenn der Dritte im eigenen Namen für den Stpfl. einen Vertrag abschließt und auch selbst die geschuldete Zahlung leistet2. Auch in diesem Fall wende der Dritte dem Stpfl. Geld zu und bewirke dadurch zugleich seine Entreicherung. Damit würde die Direktzahlung des Dritten dem Zahlungsumweg im Rahmen zweiseitiger Rechtsbeziehungen, d.h. dem abgekürzten Zahlungsweg, gleichgestellt. Bei einer gleichmäßigen Verwirklichung des Nettoprinzips dürfte es eigentlich keinen Unterschied machen, ob der Vater dem Sohn Geld schenkt, ob er Vertragsschulden des Sohnes begleicht (abgekürzter Zahlungsweg) oder ob er einen Vertrag zu Gunsten des Sohnes schließt (abgekürzter Vertragsweg). Indessen würde die strikte Gleichbehandlung aller Zuwendungsformen zu Unverträglichkeiten im Zusammenhang der Steuerabzugstatbestände mit anderen Steuernormen führen: So müsste z.B. bei der unentgeltlichen Überlassung von Wirtschaftsgütern die vom BFH vehement abgelehnte Einlagefähigkeit von Nutzungen bejaht werden3, und bei der unentgeltlichen Überlassung von Dienstleistungen ergäben sich nicht nur bilanzsteuerrechtliche, sondern auch lohnsteuerrechtliche Friktionen. So wäre z.B. der Vater Arbeitgeber und zum Lohnsteuerabzug verpflichtet, während der Sohn den Lohnaufwand geltend machen könnte. Insofern ist es verständlich, wenn die Rspr. dem Zuwendungsgedanken mit dem Blick auf Normzusammenhänge zurückhaltend Rechnung trägt. Indessen ist das Nettoprinzip überall dort zu verwirklichen, wo sich Zuwendungen durch abgekürzten Zahlungsweg/Vertragsweg wirtschaftlich nicht von der Direktschenkung eines Wirtschaftsgutes unterscheiden lassen, wo die Steuerabzugsfähigkeit von Aufwendungen zum Thema geschickter Rechtsgestaltung wird. Danach stellt sich die Drittaufwandskasuistik wie folgt dar:
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– Dem Einkünfteerzieler steht der Steuerabzug zu, wenn er aufwendungswirksame Verträge selbst schließt und diese mit geschenktem Geld erfüllt. Erzielt er mit geschenkten Wirtschaftsgütern Einkünfte, so kann er die daraus entstehenden Kosten (z.B. die AfA nach § 11d I EStDV) absetzen. Hingegen vermittelt die unentgeltliche Überlassung von Wirtschaftsgütern zur Nutzung grds. keine Abziehbarkeit von Erwerbsaufwendungen (s. Rz. 227). – Tilgt der Dritte Schulden, die durch Verträge des Einkünfteerzielers begründet worden sind, so wendet der Dritte den Schuldbetrag dem Einkünfteerzieler zu; es handelt sich um eine Schenkung durch abgekürzten Zahlungsweg (Beispiel: Der Vater bezahlt die Prämie der betrieblichen Haftpflichtversicherung des Sohnes). Der Einkünfteerzieler kann den geschenkten Geldbetrag als Erwerbsaufwendung abziehen. – Schließt der Dritte den aufwendungswirksamen Vertrag für die Erwerbstätigkeit des Einkünfteerzielers (abgekürzter Vertragsweg) und leistet er auch die vereinbarte Vergütung, so kann der Einkünfteerzieler nach BFH BStBl. 2006, 623, den Vergütungsbetrag als eigene Erwerbsaufwendung abziehen, wenn der Dritte den Vergütungsbetrag dem Einkünfteerzieler zugewendet hat (Vater lässt an dem Mietgebäude des Sohnes Erhaltungsarbeiten durchführen und bezahlt die Handwerkerrechnungen).
Überlassung von Wirtschaftsgütern: In den bereits (Rz. 159) erörterten Fällen des Grundstücksnießbrauchs gilt uneingeschränkt das Kostentragungsprinzip4. Überlässt der Vater dem Sohn unentgeltlich eine Wohnung und trägt er die Kosten u. Lasten (sog. Bruttonießbrauch), so liegen nicht abziehbare Privatausgaben des Vaters vor, die der Sohn bei der Vermietung der Wohnung nicht als Werbungskosten geltend machen kann. Daher ist zu empfehlen, einen entgeltlichen Nießbrauch in Höhe der Kosten und Lasten zu vereinbaren (s. Rz. 159). Gleiches 1 Dazu BMF BStBl. I 2008, 717; Haenicke, DStZ 2006, 793 (798 ff.); Seitz, FR 2006, 201; Schießl, StuB 2007, 182; Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 504; Kirchhof/Bode13, § 4 EStG Rz. 178; Schmidt/Loschelder33, § 9 EStG Rz. 71. Weitere Rspr.: BFH/NV 2008, 2093; 2009, 901; 2011, 271. 2 Grdl. BFH BStBl. 2006, 623; ferner BFH BStBl. 2008, 572; 2011, 271. 3 Dazu Frye, Nutzungseinlage u. Drittaufwand, FR 1998, 973; BFH BStBl. 2000, 314 (315): Nutzungsrecht, das nicht wie ein Wirtschaftsgut aktiviert und abgeschrieben werden kann. 4 BFH BStBl. 1992, 948; 1996, 440; 1998, 431.
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§8
Rz. 228
Einkommensteuer
gilt bei der unentgeltlichen Überlassung einer vom Vater gemieteten Wohnung. Man schließe einen kostenerstattenden Untermietvertrag! Nur demjenigen steht die AfA zu, der die Anschaffungs- und Herstellungskosten getragen hat1. So kann auch ein Nicht-Eigentümer AfA-berechtigt sein, z.B. der Vorbehaltsnießbraucher (s. Rz. 159). Derjenige, der Anschaffungs- oder Herstellungskosten für ein von ihm betrieblich genutztes Gebäude auf einem fremden Grundstück trägt2, hat ein abzuschreibendes Wirtschaftsgut zu aktivieren. Bei Ehegatten3 geht BFH BStBl. 1999, 778 (780 f.), auf Grund des Eherechts zunächst von einem gemeinsamen Ziel der ehelichen Gemeinschaft (§ 1353 I BGB) aus, das u.a. durch die jeweilige berufliche Tätigkeit der Ehegatten verwirklicht wird, und gelangt dadurch zu einer günstigen Anwendung des Kostentragungsprinzips. Er lässt die auf das beruflich genutzte Arbeitszimmer entfallende AfA im Umfange der Kostenbeteiligung des berufstätigen Ehegatten zu, auch wenn das Gebäude dem nicht berufstätigen Ehegatten gehört. Somit steht dem berufstätigen Ehegatten die volle anteilige AfA zu, wenn seine Beteiligung an den Anschaffungs-/Herstellungskosten dem Gebäudenutzungsanteil des Arbeitszimmers entspricht. Ehegatten, die gemeinsam die Herstellungskosten für ein Gebäude getragen haben, können jeweils die auf die von ihnen betrieblich bzw. beruflich genutzten Räume entfallenden Herstellungskosten als AfA geltend machen (BFH GrS BStBl. 1999, 774; BFH BStBl. 2010, 337 [339]). BFH GrS BStBl. 1999, 784, geht davon aus, dass jeder Ehegatte die Herstellungskosten entspr. seinem Miteigentumsanteil getragen hat. Soweit nach diesen eherechtlich fundierten Grundsätzen eine Kostenbeteiligung zu verneinen ist, entfällt die AfA (BFH GrS 1999, 782; 1999, 787). Dementsprechend ist ein Schuldzinsenabzug nur im Umfange der Kostentragung eines Ehegatten möglich (BFH BStBl. 2000, 310; 2000, 312). Ein im eigenen Namen aufgenommenes Darlehen für die Finanzierung einer dem anderen Ehegatten allein gehörenden Immobilie führt zu nichtabziehbarem Drittaufwand, es sei denn, die Mieteinnahmen aus der Immobilie werden zur Finanzierung der vom Nichteigentümer-Ehegatten geschuldeten Zins- und Tilgungsverpflichtungen verwendet (BFH BStBl. 2001, 785; BFH/NV 2011, 40). Bei einem gemeinsamen Darlehen der Eheleute zur Finanzierung eines vermieteten Gebäudes, das einem Ehegatten allein gehört, rechnet BFH BStBl. 2009, 299, die vom Nichteigentümer geleisteten Zins- und Tilgungsleistungen mit der Folge zu, dass ihm auch der Wert dieser Leistungen zufließt. Nimmt ein Ehegatte ein Bankdarlehen auf, um dem anderen Ehegatten die Mittel zum Erwerb einer Rentenversicherung gegen Einmalzahlung zuzuwenden, so bejaht BFH/NV 2008, 2093, eigenen Aufwand des anderen Ehegatten, wenn dieser den Kreditnehmer im Innenverhältnis von der Verpflichtung zur Zins- und Tilgungszahlung freistellt.
2.1.3 Die zeitliche Zuordnung von Erwerbsbezügen und Erwerbsaufwendungen 228
Die zeitliche Zuordnung von Erwerbsbezügen und Erwerbsaufwendungen zum Ermittlungszeitraum i.S.d. § 2 VII EStG hängt davon ab, ob der Stpfl. bilanziert oder einen Unterschiedsbetrag von Einnahmen und Ausgaben nach dem Zufluss- und dem Abflussprinzip ermittelt. Im Falle der Bilanzierung wird das Jahresergebnis durch den in der Gewinn- und Verlustrechnung (vgl. § 275 HGB) ausgewiesenen Unterschiedsbetrag der Erträge und Aufwendungen nach Maßgabe der „Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung“ (GoB) bestimmt. Aus dem Normensystem der GoB, namentlich den Erfolgsausweisgrundsätzen, modifiziert durch steuergesetzliche Vorschriften (vgl. § 5 VI EStG), ergibt sich die zeitliche Zuordnung von Vermögensveränderungen in Gestalt von Aufwendungen und Erträgen, die „unabhängig von den Zeitpunkten der entsprechenden Zahlungen im Jahresabschluss zu berücksichtigen“ (§ 252 I Nr. 5 HGB) sind. Demgegenüber knüpfen die Einnahmen/Ausgaben-Überschussrechnungen nach § 11 EStG an den Zufluss und den Abfluss von Zahlungen an.
1 BFH GrS BStBl. 1995, 281; 1999, 774, 778, 782, 787. 2 Zu Drittaufwand bei Bauten auf fremden Grundstücken BFH BStBl. 2013, 387 [390]; Obermeier/ Weinberger, DStR 1998, 913 (insb. Ehegatteneigentum); Heißenberg, StuB 1999, 1241 (EhegattenGrundstücke); Paus, INF 1999, 705 (Baukostenzuschüsse und Miteigentum); Schoor, INF 1999, 556 (Ehegatten-Grundstücke); Strahl, KÖSDI 2000, 12300. 3 Dazu Heubeck, SteuerStud 2001, 401; Franckenstein, Der Einfluß der Ehegattenbesteuerung auf den Drittaufwand zwischen Ehegatten, Diss., 2004; Paus, EStB 2013, 149.
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Rz. 229
§8
Nach alledem ist festzustellen, dass Erwerbsbezüge (Erträge/Einnahmen) und Erwerbsaufwendungen (Aufwand/Ausgaben) allgemein durch den Veranlassungszusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit, die mit Einkünfteerzielungsabsicht ausgeübt wird, determiniert werden. Somit sind Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen Vermögensveränderungen, die durch Erwerbstätigkeit mit Einkünfteerzielungsabsicht veranlasst sind. Der Terminus der betrieblichen Veranlassung meint die Veranlassung durch eine selbständige, nachhaltige Erwerbstätigkeit (vgl. § 15 II 1 EStG), das ist eine Erwerbstätigkeit i.S.d. Gewinneinkunftsarten (§ 2 II 1 Nr. 1 EStG).
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Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen
2.1.4 Zusammenfassung
Die verschiedene zeitliche Zuordnung von Vermögensveränderungen kennzeichnet die Wesensverschiedenheit der Begriffspaare Erträge/Aufwendungen und Einnahmen/Ausgaben. Die zeitliche Zuordnung von Vermögensänderungen in Gestalt von Erträgen und Aufwendungen geschieht durch eine Vielheit bilanzrechtlicher und bilanzsteuerrechtlicher Normen. Hingegen schafft § 11 EStG im Vergleich zur Gewinn- und Verlustrechnung (§ 275 HGB) eine einfache Rechtslage: Geht man von der steuerlich definierten kleinsten Vermögenseinheit, dem Wirtschaftsgut, aus, so sind nach dem Zuflussprinzip Erwerbseinnahmen (Betriebseinnahmen/Einnahmen i.S.d. § 8 EStG) Zuflüsse von Wirtschaftsgütern, die durch Erwerbstätigkeit mit Einkünfteerzielungsabsicht veranlasst sind. Nach dem Abflussprinzip sind Erwerbsausgaben (Betriebsausgaben/Werbungskosten) Abflüsse von Wirtschaftsgütern (Ausnahme: Abschreibungen nach §§ 4 III 3; 9 I 3 Nr. 7 EStG), die durch Erwerbstätigkeit mit Einkünfteerzielungsabsicht veranlasst sind. Der Begriff „Aufwendung“ ist in einem engeren und einem weiteren Sinne zu verstehen, in einem engeren bilanzrechtlichen Sinne als Aufwand (vgl. § 252 I Nr. 5 HGB) und in einem weiteren steuerrechtlichen Sinne als Oberbegriff für Aufwand (kraft steuerrechtlicher Geltung des GoB-Normensystems) und Ausgaben (vgl. §§ 4 IV; 9 I 1; 12 Nr. 1 Satz 2 EStG). Den Begriff „Kosten“ (Anschaffungs-/Herstellungs-/Werbungskosten) verwendet das EStG als Synonym für „Ausgaben“. Übersicht über die Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen Art der Einkünfteermittlung
Erwerbsbezüge
Erwerbsaufwendungen
Betriebsvermögensvergleich (§§ 4 I; 5 EStG)
Erträge = Erhöhungen des Jahresüberschusses/Minderungen des Jahresfehlbetrages nach Maßgabe der GoB und unabhängig von den Zeitpunkten der entsprechenden Zahlungen (§ 252 I Nr. 5 HGB) Das Zuflussprinzip gilt also nicht (s. § 11 I 5 EStG) Steuerlich zu erfassen sind betrieblich veranlasste Erträge, ausgenommen steuerfreie Betriebserträge
Aufwendungen = Minderungen des Jahresüberschusses/Erhöhungen des Jahresfehlbetrages nach Maßgabe der GoB und unabhängig von den Zeitpunkten der entsprechenden Zahlungen (§ 252 I Nr. 5 HGB) Das Abflussprinzip gilt also nicht (s. § 11 II 6 EStG) Steuerlich zu erfassen sind betrieblich veranlasste Aufwendungen, ausgenommen nicht abziehbare Betriebsaufwendungen (vgl. z.B. § 4 V EStG)
Betriebseinnahmen-/-aus- Betriebseinnahmen = gaben-Überschussrechbetrieblich veranlasste Zuflüsse nung von Wirtschaftsgütern (§§ 4 IV; 8 I EStG analog; § 11 I 1 EStG)
Betriebsausgaben = betrieblich veranlasste Abflüsse von Wirtschaftsgütern (§§ 4 IV; 11 II 1 EStG)
Einnahmen-/Werbungskosten-Überschussrechnung nach §§ 8 ff. EStG
Werbungskosten = durch Erwerbstätigkeit i.S.d. Überschusseinkunftsarten (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG) veranlasste Abflüsse von Wirtschaftsgütern (§§ 9 I 1, 2; 11 II 1 EStG)
Einnahmen = durch Erwerbstätigkeit i.S.d. Überschusseinkunftsarten (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG) veranlasste Zuflüsse von Wirtschaftsgütern (§§ 8 I; 11 I 1 EStG)
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§8
Rz. 230
Einkommensteuer
2.2 Abgrenzung der Betriebsausgaben/Werbungskosten zu den Privatausgaben Literatur: Bauer, Der Dualismus Betriebsausgaben – Werbungskosten, Diss., 1974; Tanzer, Die Kausalität im Betriebsausgabenbegriff, ÖStZ 1975, 50; Görlich, Zur Systematik der Begriffe Betriebsausgaben, Werbungskosten und Aufwendungen für die Lebensführung, DB 1979, 711; Kröger, Zur steuerrechtlichen Abgrenzung zwischen betrieblich (beruflich) veranlaßten und durch die Lebensführung veranlaßten Aufwendungen, BB 1979, 1284; Offerhaus, Zur steuerrechtlichen Abgrenzung zwischen betrieblich (beruflich) veranlaßten und durch die Lebensführung veranlaßten Aufwendungen, BB 1979, 617 f., 667 ff.; von Bornhaupt, Der Begriff der Werbungskosten unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zum Betriebsausgabenbegriff, DStJG 3 (1980), 149; Ruppe, Die Abgrenzung der Betriebsausgaben/Werbungskosten von den Privatausgaben, DStJG 3 (1980), 103; Söhn, Betriebsausgaben, Privatausgaben, gemischte Aufwendungen, DStJG 3 (1980), 13; Söhn, Bürgerliche Kleidung, typische Berufskleidung und Werbungskosten, FR 1980, 301; Kruse, Über Werbungskosten, FR 1981, 473; Wassermeyer, Rechtssystematische Überlegungen zum Werbungskostenbegriff, StuW 1981, 245; von Bornhaupt, Zur Problematik des Werbungskostenbegriffs, FR 1982, 313; von Bornhaupt, Ermittlung des Werbungskostenbegriffs nach dem Veranlassungsprinzip im Wege der Rechtsfortbildung, DStR 1983, 11; Söhn, Werbungskosten wegen doppelter Haushaltsführung (§ 9 Abs. 1 Nr. 5 EStG) und allgemeiner Werbungskostenbegriff (§ 9 Abs. 1 Satz 1 EStG), StuW 1983, 193; Drenseck, Die Abgrenzung der Betriebsausgaben und Werbungskosten von den Lebenshaltungskosten, DB 1987, 2483; Kammergruber, Die teleologische Struktur des Betriebsausgabenabzugs, Diss., 1988; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, 299 ff., 318 ff.; Jüptner, Leistungsfähigkeit und Veranlassung, Diss., 1989; Prinz, Grundfragen und Anwendungsbereiche des Veranlassungsprinzips im Ertragsteuerrecht, StuW 1996, 267; Stapperfend, Über Betriebsausgaben und Werbungskosten, in FS Kruse, 2001, 553; Fuhrmann, KÖSDI 2002, 13213 (Werbungskosten); Wolf/Schäfer, Abgrenzung der beruflichen von der privaten Sphäre im Wandel, DB 2004, 775; G. Kirchhof, Nettoprinzip und gemischte Aufwendungen, in FS J. Lang, 2010, 563; Raupach, § 173: Erwerbsaufwand und Privataufwand, in Leitgedanken des Rechts II, 2013; Schilling, Zwangsläufiger, pflichtbestimmter Aufwand in Ehe und Familie, Diss., 2013. S. auch die vor Rz. 205 angegebene Lit.1.
2.2.1 Inhaltsgleiche Interpretation des Betriebsausgaben- und des Werbungskostenbegriffs nach dem Veranlassungsprinzip 230
Rspr. und h.M. im Schrifttum interpretieren den Betriebsausgaben- und den Werbungskostenbegriff trotz unterschiedlichen Gesetzeswortlauts (§§ 4 IV; 9 I 1 EStG) inhaltsgleich nach dem Veranlassungsprinzip2. Mit dem Gleichheitssatz ist es nicht zu vereinbaren, dass der Grundbegriff der Erwerbsaufwendung unterschiedlich definiert ist, je nachdem, ob Gewinn- oder Überschusseinkünfte vorliegen3. Daher hat die Rspr. zunächst die Legaldefinition des Betriebsausgabenbegriffs (§ 4 IV EStG) auf den Werbungskostenbegriff gleichheitskonform übertragen; im Anschluss daran vereinheitlicht sie den Betriebsausgaben- und Werbungskostenbegriff subjektiv und objektiv (s. bereits Rz. 216 ff.).
1 Zur Rechtsvergleichung s. Gerhards, Der Begriff der Betriebsausgaben nach deutschem und schweizerischem Einkommensteuerrecht, Diss., 1964; Böckli, Mennel, Cagianut, Walter, Vogel, DStJG 3 (1980), 339–392; Michielse, StuW 1987, 216 (Niederlande); von Bornhaupt, StVj 1989, 311 (Österreich); Funk, Der Begriff der Gewinnungskosten nach schweizerischem Einkommensteuerrecht, 1989; Alarcón Garcia, StuW 1997, 333 (Spanien); Hohaus, Notwendige Erwerbsaufwendungen im britischen, US-amerikanischen und deutschen Steuerrecht, Diss., 1998; Doralt/Ruppe, Grundriss des österreichischen Steuerrechts, Bd. I11, 2013, Rz. 261 ff. (m.w.N. der österr. Lit.). 2 Wegweisend für die Rspr. insb. von Bornhaupt, DStJG 3 (1980), 149; Offerhaus, BB 1979, 621. Ausf. m.w.N. KSM/von Bornhaupt, § 9 EStG Rz. B 165 ff. (2003); Söffing, DB 1990, 2086; Schmidt/Loschelder33, § 9 EStG Rz. 7 ff. Krit. auch Stapperfend, FS Kruse, 2001, 534 ff. 3 Vgl. hierzu die einkunftsartunabhängigen Terminologien von P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, 2003, § 3 II 2 (Vermögensminderungen, die der Stpfl. durch sein Erwerbshandeln veranlasst); Elicker, Entwurf einer porportionalen Netto-Einkommensteuer, 2004, § 2 I (Cash-Flow von Einlagen in das Erwerbsvermögen u. Entnahmen aus dem Erwerbsvermögen); Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, 2004, § 8 (Erwerbsabzüge); § 10 I 2 Kölner EStGE (Wirtschaftsgüter, die durch eine Erwerbstätigkeit veranlasst abfließen).
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Abgrenzung Betriebsausgaben/Werbungskosten – Privatausgaben
Rz. 232
§8
Ein Unterschied zwischen der Interpretation von Betriebsausgaben und Werbungskosten ergibt sich entgegen früherer Rspr.1 auch nicht danach, ob Aufwendungen die Höhe der Einnahmen beeinflussen können. Versagte die Rspr. früher bei Geschenken leitender Angestellter oder Beamter an Mitarbeiter den Werbungskostenabzug mit der Begründung, dass solche Geschenke die Höhe der Einkünfte nicht beeinflussen würden, wurde zu Unrecht auf die Kausalbeziehung zwischen Aufwendungen und Einnahmen (nicht zwischen Aufwendungen und Tätigkeit) abgestellt2. Inzwischen werden Aufwendungen für die beruflich veranlasste Bewirtung von Mitarbeitern auch im Rahmen der Einkünfte gem. § 19 EStG anerkannt, auch wenn sie die Höhe der Einnahmen nicht beeinflussen3.
Im Wesentlichen stimmt das Konzept des BFH, die Veranlassung subjektiv und objektiv zu determinieren, mit der hier vertretenen finalen Handlungslehre, die auch objektive Umstände verwertet, überein. I.E. gilt Folgendes:
231
Selbstbestimmung der Aufwendungen: Der Stpfl. kann grds. frei entscheiden, welche Aufwendungen er für Erwerbszwecke leisten will. Die Höhe der Aufwendungen, ihre Notwendigkeit, ihre Üblichkeit und ihre Zweckmäßigkeit sind für die Anerkennung von Erwerbsausgaben grds. ohne Bedeutung4. Fehlende Notwendigkeit, Unüblichkeit, Unzweckmäßigkeit können aber darauf hinweisen, dass Aufwendungen privat mitveranlasst sind. Daher ordnet der Gesetzgeber in Grenzbereichen zur Privatsphäre die Notwendigkeit von Aufwendungen, z.B. im Falle doppelter Haushaltsführung (§ 9 I 3 Nr. 5 EStG), ausdrücklich an5. In § 4 V 1 Nr. 7 EStG ist klargestellt, dass Aufwendungen, die die Lebensführung berühren, den Gewinn nicht mindern dürfen, soweit sie nach allgemeiner Verkehrsauffassung als unangemessen anzusehen sind. Außerhalb dieser gesetzlichen Regelungen spricht eine Vermutung für einen einkünftebezogenen Veranlassungszusammenhang. Ein non liquet privater Gründe geht zulasten der Finanzverwaltung6. Vergeblichkeit der Aufwendungen: Misserfolg macht die Erwerbshandlung nicht zu einer Privathandlung. Vielmehr ist das Erwerbshandeln risikobehaftet, so dass vergebliche Aufwendungen als Erwerbsaufwendungen zu qualifizieren sind, wenn sie in der Risikosphäre der Erwerbstätigkeit (dazu Rz. 208 f.) anfallen. Das gilt auch für eine Erwerbstätigkeit, die nicht in ein Ertragsstadium gelangt ist („Außer Spesen nichts gewesen“). Hier kommt es darauf an, ob der Stpfl. subjektiv Gewinn erwirtschaften wollte (Einkünfteerzielungsabsicht, s. Rz. 125 ff.), obwohl ihm dies objektiv nicht geglückt ist. Im Falle von Werbungskosten ist zu prüfen, ob die vergeblichen Aufwendungen der nicht steuerbaren Sphäre des Stammvermögens zuzuordnen sind. Beispiele: Zwei Bauunternehmer schließen sich zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammen, um einen öffentlichen Großauftrag zu erhalten. Den Auftrag erhält die Konkurrenz. Sämtliche Kosten der 1 BStBl. 1985, 286. Dazu krit. Söffing, FR 1985, 275; J. Lang, DStJG 9 (1986), 75 f. Zu Unterschieden, die aus dem Einkünftedualismus resultieren, s. HHR/Kreft, § 9 EStG Anm. 23 (2013). Die zum Teil engeren Anforderungen in BFH BStBl. 1984, 307 (308 m.w.N.); BFH GrS BStBl. 1990, 830 (836: Aufwendungen, „um Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung zu erzielen“); BFH BStBl. 1993, 751 (752: Rückgriff auf den Wortlaut des § 9 I 1 EStG), spielen heute dagegen keine Rolle mehr. 2 Krit. J. Lang, DStJG 9 (1986), 75 f. 3 BFH/NV 2008, 1997 (Weihnachtsfeier); 2009, 11 (Bewirtung von Arbeitskollegen, wo allerdings zu Unrecht darauf abgestellt wird, dass der Arbeitnehmer in erheblichem Umfang variable Bezüge erhält); Titgemeyer, BB 2009, 1898; Schmidt/Krüger33 § 19 EStG Rz. 110 „Bewirtung“ m.w.N. der Rspr. Zu Unrecht geht BFH/NV 2014, 500 (25jähriges Priesterjubiläum) davon aus, Feiern eines Dienstjubiläums eines Arbeitnehmers seien als herausgehobenes persönliches Ereignis regelmäßig privat veranlasst; anders und richtigerweise auf den jeweiligen Einzelfall abstellend BFH BStBl. 2007, 317; 2007, 459. 4 So st. Rspr., z.B. BStBl. 1992, 647 (648); BFH/NV 2000, 1188. Zu Aufwendungen, die zwar subjektiv durch die Erwerbstätigkeit veranlasst sind, aber objektiv keinen feststellbaren Effekt haben, abl. FG Münster EFG 2014, 630 nrkr. (Gebetskosten). Ausf. und rechtsvergleichend hierzu Hohaus, Notwendige Erwerbsaufwendungen im britischen, US-amerikanischen und deutschen Steuerrecht, Diss., 1998, 251 ff., 266 ff. 5 S. Hohaus, Notwendige Erwerbsaufwendungen im britischen, US-amerikanischen und deutschen Steuerrecht, Diss., 1998, 225 ff. 6 BFH BStBl. 2012, 829, m. Anm. Kanzler, FR 2012, 1162.
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§8
Rz. 233
Einkommensteuer
Arbeitsgemeinschaft sind Betriebsausgaben. – Ein Stpfl. schließt einen Vorvertrag über den Erwerb einer Wäscherei und verpflichtet sich zu einer Vertragsstrafe von 10 000 Euro, wenn er die Gewerbelizenz für die Wäscherei nicht erwirbt. Nach Abschluss des Vorvertrages erkennt der Stpfl. die Unwirtschaftlichkeit des Objekts und zieht die Vertragsstrafe der endgültigen Übernahme der Wäscherei vor. Es handelt sich m.E. um Betriebsausgaben, denn der Abschluss des Vorvertrages ist Erwerbshandlung mit der Absicht, gewerbliche Gewinne zu erwirtschaften. – Vertragsstrafen im Zusammenhang mit dem Nichterwerb eines Immobilienobjekts i.S.d. § 21 EStG sollen hingegen nach BFH BStBl. 1984, 307 (309) keine Werbungskosten sein, weil die Vertragsstrafe durch eine Handlung ausgelöst worden sei, welche die Aufnahme einer auf Erzielung von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung gerichteten Tätigkeit verhindern sollte. Richtigerweise ist die Vertragsstrafe einer gescheiterten Erwerbshandlung mit Einkünfteerzielungsabsicht i.S.d. § 21 EStG zuzuordnen und der Werbungskostenabzug zu bejahen. Es erscheint nicht sachgerecht, das Risiko des Scheiterns hier nicht anzuerkennen. Zutr. BFH BStBl. 1981, 470; 1984, 307: Reisekosten zur Besichtigung eines Hauses, das man nicht erwirbt, sind Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung. – Reisekosten eines Arbeitnehmers im Rahmen einer erfolglosen Bewerbung sind unzweifelhaft Werbungskosten. – Aufwendungen zur Veräußerung einer Immobilie innerhalb der Veräußerungsfrist des § 23 I 1 Nr. 1 EStG sind entgegen BFH BStBl. 2012, 781, Werbungskosten im Rahmen von § 23 EStG, auch wenn es nicht zur Veräußerung innerhalb der Frist kommt. – Aufwendungen für eine leer stehende Wohnung sind abziehbar, solange sich der Stpfl. ernsthaft um die Vermietung bemüht und damit zum Ausdruck bringt, dass er die Erzielung von Einkünften noch nicht aufgegeben hat1. Vergebliche Anschaffungs-/Herstellungskosten sind nur als verlorene Aufwendungen sofort abziehbar, wenn davon auszugehen ist, dass die Gegenleistung ausbleibt u. eine Rückzahlung nicht zu erlangen sein wird2. Zu beachten ist der Dualismus der Einkünfteermittlung: Nach dem Konzept der Überschusseinkünfte (s. Rz. 182) sind die Kosten der fehlgeschlagenen Gründung einer Kapitalgesellschaft nicht abziehbar3. Nachdem Veräußerungsgewinne steuerlich voll erfasst werden (§§ 17; 20 II EStG), ist die Einschränkung m.E. nicht mehr haltbar4.
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Bei vorab entstandenen und nachträglichen Erwerbsaufwendungen5 ist der Veranlassungszusammenhang zwischen Aufwendung und Erwerbstätigkeit zu prüfen: (1) Vorab entstandene Erwerbsaufwendungen6 sind anzunehmen, wenn die Aufwendung in einem hinreichend konkreten, objektiv feststellbaren Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit steht, die mit dem Aufwenden beginnt. Der Erwerbstätige muss häufig etwas „vorab“ aufwenden, bevor er die Früchte seiner Tätigkeit und seiner Investitionen ernten kann. Der Wortlaut des § 9 I 1 EStG bestätigt dies. Vorweggenommene Erwerbsaufwendungen sind nach st. BFH-Rspr. insb. Bildungsaufwendungen7, wenn sie in einem hinreichend konkreten, objektiv feststellbaren Zusammenhang mit späteren Einnahmen stehen (s. hierzu Rz. 263 ff.). Damit rekurriert der BFH auf den Wortlaut des § 9 I 1 EStG und knüpft zugleich an den Veranlassungszusammenhang mit dem Beruf an8. Die vorgenannte Rspr. verlangt die Teilnahme an einer berufsbezogenen Bildungsmaßnahme. Mit dieser Teilnahme beginnt der Stpfl. bereits seine Erwerbstätigkeit, der die Aufwendung zuzu1 Zur notwendigen Ernsthaftigkeit von Vermietungsbemühungen bei Leerständen BFH BStBl. 2013, 279; 2013, 367; 2013, 376; 2013, 693; 2013, 1013; BFH/NV 2013, 1778; Systematisierung der Rspr. bei Schallmoser, SteuK 2013, 353. 2 BFH GrS BStBl. 1990, 830; BFH BStBl. 2002, 758. 3 BFH BStBl. 2004, 597; 2009, 1265. 4 Krit. auch Schmidt/Weber-Grellet33, § 17 EStG Rz. 157. S. insofern auch die geänderte Rspr. bzgl. nachträglicher Schuldzinsen in Rz. 199. 5 Dazu KSM/von Bornhaupt, § 9 EStG Rz. B 124 ff. (2003); LBP/Stark, § 9 EStG Rz. 91, 99 ff. (2003); HHR/Kreft, § 9 EStG Anm. 170 ff. (2010); Blümich/Thürmer, § 9 EStG Rz. 160 ff. (2013); Schmidt/ Loschelder33, § 9 EStG Rz. 35 ff. 6 Kreft, Vorab veranlaßte Erwerbsaufwendungen im Einkommensteuerrecht, Diss., 2000; Stapperfend, FS Kruse, 2001, 533 (544 ff.); Kreft, FR 2002, 657 (zu Studienkosten). 7 Abzug von Aufwendungen auch für die erste Berufsausbildung/Erststudium, s. BFH BStBl. 2004, 884; bestätigt in BFH/NV 2011, 1782, entgegen der Nichtanwendungsgesetzgebung in § 12 Nr. 5 EStG a.F.; ausf., auch zu §§ 9 VI; 4 IX EStG, s. Rz. 263. 8 Z.B. BFH BStBl. 2003, 410.
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Abgrenzung Betriebsausgaben/Werbungskosten – Privatausgaben
Rz. 236
§8
ordnen ist. Aufwendungen für den künftigen Beruf sind unabhängig von den Aufwendungen für einen gegenwärtig ausgeübten Beruf zu ermitteln1; s. i.E. hierzu Rz. 263 ff. Unter den Wortlaut des § 9 I 1 EStG fallen Ausgleichszahlungen eines Beamten an den geschiedenen Ehegatten „zur Erhaltung“ seiner späteren Pension2. Sie sind aber auch Werbungskosten, weil sie durch die Erwerbstätigkeit des Beamten veranlasst sind. Der Wortlaut des § 9 I 1 EStG versagt, wenn keine Einnahmen erzielt werden, z.B. beim Scheitern eines Immobilienprojekts. Gleichwohl erkennt die Rspr. zutr. vorab entstandene, vergebliche Werbungskosten an3. (2) Nachträgliche Erwerbsaufwendungen4 sind die Folgekosten einer beendeten Erwerbstätigkeit. Setzt aber ein pensionierter Beamter, Richter, Emeritus seine Berufstätigkeit fort, so hat er weiterhin Werbungskosten im Rahmen laufender Einkünfte5. Bei nachträglichen Betriebsausgaben ist der Tatbestand des Veräußerungs- bzw. Aufgabegewinns (§ 16 EStG) zu beachten. Die Aufwendungen können Veräußerungs- bzw. Aufgabekosten sein. Nach der Betriebsveräußerung/-aufgabe kann die betriebliche Veranlassung abgeschnitten sein. In derartigen Fällen erkennt die Rspr. Schuldzinsen nur dann als nachträgliche Betriebsausgaben an, wenn die Verbindlichkeiten bereits während des Bestehens des Betriebs begründet wurden und nicht durch den Veräußerungserlös oder durch eine Verwertung von Aktivvermögen getilgt werden konnten6. Nach Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung anfallende Zinsen können seit BFH BStBl. 2010, 787, bei den Einkünften aus Kapitalvermögen abgezogen werden (i.E. Rz. 199). Damit müssen m.E. auch Schuldzinsen nach stpfl. Veräußerung einer Immobilie (§§ 22 Nr. 2; 23 1 Nr. 1 EStG) abzugsfähig sein7.
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Willensunabhängige Aufwendungen8 sind ebenso wie vergebliche Aufwendungen Nebenfolgen risikobehafteter Tätigkeit (dazu Rz. 208 f.). In der Risikosphäre der Erwerbstätigkeit können folgende Erwerbsaufwendungen anfallen: Verlust von Wirtschaftsgütern (s. Rz. 211), Unfallkosten (s. Rz. 221), Prozesskosten, Vertragsstrafen wegen unpünktlicher Warenlieferung.
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Aufwendungen des nicht steuerbaren Privatvermögens: Die kausalrechtliche Grundfigur des Veranlassungszusammenhangs zwischen einer bestimmten Erwerbstätigkeit und Aufwendungen bedarf der quellentheoretischen Ergänzung bei der Abgrenzung der Werbungskosten zu den Aufwendungen des nicht steuerbaren Privatvermögens. Derartige Aufwendungen sind zwar durch eine Erwerbstätigkeit im Rahmen privater Vermögensverwaltung veranlasst. Sie sind aber nach der quellentheoretischen Konzeption der Überschusseinkünfte auszuscheiden, da Überschusseinkünfte Mehrungen und Minderungen des sog. Stammvermögens nicht erfassen (s. Rz. 182). Die ursprünglich steuersystematisch richtige Unbeachtlichkeit von Aufwendungen
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1 BFH BStBl. 2003, 749. 2 S. BFH BStBl. 2006, 446 (447); 2006, 448. 3 BFH BStBl. 1997, 610: Scheitern einer Bauherrengemeinschaft; BFH BStBl. 2002, 144 (Mittellosigkeit des Bauträgers); 2002, 758 (verlorene Vorauszahlungen auf den Kaufpreis); 2006, 258 (Vergleichszahlung u. Prozesskosten); BFH/NV 2014, 834; Grube, SteuerConsultant 2007, 28 (Rücktritt vom Immobilienkauf). 4 Lamminger/Traxel, DStZ 1995, 429; Rauch, Nachträgliche Werbungskosten – Zu späte Aufwendungen?, Diss., 1996; Kiethe, DStR 1997, 597 (Vermietung u. Verpachtung). 5 BFH BStBl. 1994, 238 (dazu Vogel, StuW 1994, 176) versagt einer emeritierten Professorin den Werbungskostenabzug, weil sie Einkünfte aus früheren Dienstleistungen beziehe. Dieses Urteil ist rechtsdogmatisch überholt, weil es nicht auf den Veranlassungszusammenhang zwischen dem weiterhin ausgeübten Beruf des Hochschullehrers und seinen Aufwendungen für Forschung und Lehre abstellt. 6 BFH BStBl. 1999, 209; 1999, 353; 2001, 573; 2007, 642; Bartone, Zur Abgrenzung von laufenden Betriebsausgaben, Kosten der Betriebsaufgabe u. nachträglichen Betriebsausgaben, INF 2002, 105. 7 Ebenfalls für eine Übertragung des in BFH BStBl. 2010, 787, für Kapitalbeteiligungen vollzogenen Rechtsprechungswechsels Jachmann/Schallmoser, DStR 2011, 1245; Schallmoser, FS Spindler, 2011, 739 (746 ff.: auch bei Veräußerung außerhalb der Frist des § 23 I 1 Nr. 1 Satz 1 EStG); Schmidt/Loschelder33, § 9 EStG Rz. 40; a.A. FG Baden-Württemberg EFG 2011, 1052; FG Köln EFG 2011, 1785; OFD Frankfurt/M. DStR 2012, 522. 8 Grds. dazu Tipke, StuW 1979, 201 f.; Söhn, DStJG 3 (1980), 13 (28); Wassermeyer, StuW 1981, 252; Wassermeyer, StuW 1982, 360; Söhn, StuW 1983, 196; Kröner, StuW 1985, 121 ff. (m.w.N.).
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§8
Rz. 237
Einkommensteuer
im Bereich des privaten Stammvermögens ist allerdings in dem Maße zurückzunehmen, wie der Gesetzgeber die Steuerpflicht von Wertsteigerungen desselben auch innerhalb der Quelleneinkünfte ausdehnt. 237–238
Einstweilen frei.
2.2.2 Gemischt veranlasste Aufwendungen 239
Die gemischt veranlassten Aufwendungen liefern die „Nagelprobe“1 der steuerrechtlichen Kausalitätstheorie. Dabei ist der Rechtsanwender in der Bewertung der Kausalverhältnisse relativ frei, soweit er die Generalklauseln des Betriebsausgaben- und des Werbungskostenbegriffs (§§ 4 IV; 9 I 1 EStG) anwendet. Den Bereich gemischter Kausalität regeln jedoch zahlreiche spezielle Abzugsverbote (insb. § 4 V EStG, s. Rz. 286 ff.). Sie sollen der Vereinfachung dienen, erzeugen allerdings vielfach nur zusätzlichen dogmatischen Klärungsbedarf oder sind extrem streitanfällig. Bei Kinderbetreuungskosten will der Gesetzgeber die Veranlassung durch die Erwerbstätigkeit erst gar nicht anerkennen (s. Rz. 754 f.). Nachdem er sie zunächst „wie“ Betriebsausgaben/Werbungskosten (§ 9c EStG a.F.) behandelt hat, sind sie ab 2012 in § 10 I Nr. 5 EStG der Privatsphäre zugeordnet. M.E. handelt es sich bei Erwerbstätigkeit beider Elternteile um beruflichen Mehraufwand, der ausschließlich beruflich veranlasst ist und daher voll abziehbar sein sollte (s. Rz. 755). Beharrlich widersetzt er sich auch der Einsicht der Qualifikation von Bildungsaufwendungen als vorweggenommene Erwerbsaufwendungen (Abzugsverbot in §§ 4 IX; 9 VI EStG, s. Rz. 263 ff.).
2.2.2.1 Bedeutung des § 12 EStG 240
Aufwendungen, die nicht wesentlich durch eine konkrete Erwerbshandlung i.S. einer Einkunftsart des § 2 I EStG veranlasst sind, können weder Betriebsausgaben noch Werbungskosten sein. Kann eine Aufwendung auch nicht unter einen Abzugstatbestand i.S.d. § 2 IV, V EStG subsumiert werden, so ist sie in der Einkommensteuerbemessungsgrundlage (§ 2 I–V EStG) überhaupt nicht abziehbar.
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Vor diesem Hintergrund der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung (§ 38 AO) muss die Bedeutung des § 12 EStG erkannt werden: Diese Grundvorschrift liefert zunächst eine wichtige Interpretationshilfe zur näheren Bestimmung des objektiven Nettoprinzips2, indem sie der positiven Umschreibung der Erwerbsaufwendungen in den §§ 4 IV; 9 I 1 EStG die negative Umschreibung „Aufwendungen für die Lebensführung“ (§ 12 Nr. 1 Satz 2 EStG) gegenüberstellt. § 12 EStG hat in zwei Richtungen klarstellende Bedeutung: § 12 EStG stellt erstens klar, dass Aufwendungen für die Lebensführung (die Lebensführung bildet die Gesamtheit der Privathandlungen) grds. aus der Maßgröße objektiver Leistungsfähigkeit (der Summe der Einkünfte, s. Rz. 42) auszuscheiden sind, und § 12 EStG stellt zweitens klar, dass die Aufwendungen für die Lebensführung nur dann abziehbar sind, wenn sie ein besonderer Abzugstatbestand in der Maßgröße subjektiver Leistungsfähigkeit erfasst. § 12 Hs. 1 EStG erwähnt §§ 10 I Nrn. 1, 2–5, 7, 9; 10a; 10b; 33–33b EStG. § 12 EStG fixiert damit auch die Grenze zwischen dem Erwirtschaften (§ 2 I 1 EStG: Erzielen) und dem Verwenden der Einkünfte. Diese klarstellenden Bedeutungen des § 12 EStG erstrecken sich expressis verbis auf folgende Privataufwendungen: Aufwendungen für den Haushalt (§ 12 Nr. 1 Satz 1 EStG), Zuwendungen (§ 12 Nr. 2 EStG)3, insb. Unterhaltsleistungen (§ 12 Nr. 1 Satz 1, Nr. 2 EStG, s. Rz. 88). Ferner 1 Söhn, DStJG 3 (1980), 13 (32). Grds. zur gemischten Veranlassung Weber, StuW 2009, 184 (191 ff.); G. Kirchhof, FS J. Lang, 2010, 563. 2 So Ruppe, DStJG 3 (1980), 103 (121). 3 Vgl. dazu Heister, Die nicht abzugsfähigen Ausgaben der Vorschrift des § 12 Nr. 2 EStG, Diss., 1970; Weber-Grellet, DStR 1993, 1010; BFH BStBl. 1984, 100: „Zuwendungen i.S.d. § 12 Nr. 2 EStG sind Leistungen, denen keine oder nur eine geringfügige Gegenleistung gegenübersteht …“. Dies bedeutet nach der Wesentlichkeitstheorie: Eine unwesentliche Gegenleistung macht die Zuwendungshandlung nicht zur relevanten Erwerbshandlung.
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Abgrenzung Betriebsausgaben/Werbungskosten – Privatausgaben
Rz. 242
§8
stellt § 12 Nr. 3 EStG klar, dass Personensteuern (insb. Einkommen-, Kirchen-, Erbschaftund Schenkungsteuer1) sowie die privat veranlasste Umsatzsteuer2 einschließlich der Nebenleistungen i.S.d. § 3 IV AO das disponible Einkommen belasten und deshalb nicht abziehbar sein sollen3. Systemwidrig ist dagegen das in § 4 Vb EStG angeordnete Abzugsverbot für die Gewerbesteuer (s. i.E. Rz. 288). Schließlich weist § 12 Nr. 4 EStG Geldstrafen u.a. Kriminalsanktionen klarstellend der privaten Opfersphäre zu (s. Rz. 294).
2.2.2.2 Aufteilungsgebot bei gemischter Veranlassung Streitig war in der Vergangenheit die Bedeutung von § 12 EStG in Fällen gemischter Veranlassung von Aufwendungen. Hier ist zunächst nach der Wesentlichkeitstheorie (dazu Rz. 220 f.) zu entscheiden, ob die private bzw. beruflich/betriebliche Veranlassung unwesentlich ist, so dass es entweder zum vollständigen Abzug oder zum Ausschluss des Abzugs kommt4. So sollten im Falle des zu einem Notfall gerufenen Arztes (Rz. 222) die unteilbaren Unfallkosten in vollem Umfange als Erwerbsaufwendungen anerkannt werden. Der physische Zustand des Stpfl. stellt eine unwesentliche, und zudem nicht quantifizierbare, private Ursache dar. Übermüdung5 und Schwächeanfälle6 sollten dem vollen Steuerabzug der Unfallkosten nicht entgegenstehen, besonders dort, wo die berufliche Belastung dazu zwingt, auf körperliches Befinden keine Rücksicht zu nehmen.
Ist dies nicht der Fall, ging der BFH7 entgegen der überwiegenden Auffassung im Schrifttum8 bisher davon aus, § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG normiere ein Aufteilungs- und Abzugsverbot; gemischt veranlasste Aufwendungen waren grds. vom Abzug ausgeschlossen. BFH GrS BStBl. 2010, 672 (dazu BMF BStBl. I 2010, 614), hat diese Rspr.9 nun aufgegeben und richtig erkannt, dass § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG lediglich klarstellende Funktion hat und sich ausschließlich auf sog. Repräsentationsaufwendungen10 bezieht. Diesen wird im Einklang mit der Wesentlichkeitstheorie (s. Rz. 220) der Abzug versagt: Sie sind trotz betrieblicher bzw. beruflicher Mitveranlassung wesentlich privat veranlasst. I.Ü. interpretiert BFH GrS BStBl. 2010, 672 (680 ff.) § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG nun zutr. als Aufteilungsgebot für gemischt veranlasste Aufwendungen11. Damit hat die bisherige Kasuistik12, innerhalb derer Rspr. und FinVerw. mehr oder weniger willkürlich Ausnahmen vom Aufteilungs- und Abzugsverbot festlegten, ein Ende. Aufwendungen, die wesentlich durch eine Erwerbshandlung und zugleich wesentlich durch die Lebensführung veranlasst sind, dürfen bei konsequentem Vollzug des objektiven Nettoprinzips weder in vollem Umfange der Erwerbssphäre noch in vollem Umfange der Privatsphäre zugeordnet werden. 1 So BFH BStBl. 1984, 27 (28). 2 USt auf Entnahmen sowie die Vorsteuerbeträge auf Aufwendungen i.S.d. § 4 V 1 Nrn. 1–5, 7, VII EStG. 3 § 12 Nr. 3 EStG verfassungsrechtlich unbedenklich (BFH BStBl. 2010, 25 [27 f.]). Zu den Schlussfolgerungen für die Steuerbarkeit von Erstattungszinsen s. Rz. 496. 4 St. Rspr. im Anschluss an BFH GrS BStBl. 1978, 108. 5 Vgl. Tiedtke, FR 1978, 496; Offerhaus, BB 1979, 670; KSM/von Bornhaupt, § 9 EStG Rz. B 471 (2000). 6 Vgl. BFH BStBl. 1978, 381; Offerhaus, BB 1979, 671. 7 Früher st. Rspr., insb. BFH GrS BStBl. 1971, 17; BFH GrS BStBl. 1979, 213. 8 Insb. Tipke, StuW 1979, 203 f.; Ruppe, DStJG 3 (1980), 103 (124); Söhn, DStJG 3 (1980), 13 (49 ff.); Kottke, Zur Irrlehre vom Aufteilungs- und Abzugsverbot im Einkommensteuerrecht, DStR 1992, 129, u. aus praktischer Sicht Wiss. Beirat Ernst & Young, BB 2004, 1024. 9 Grundl. BFH GrS BStBl. 1971, 17 u. 21; 1979, 213. Nachweis der Kritik s. 20. Aufl., § 9 Rz. 242 Fn. 75. 10 So die amtl. Begr. in RStBl. 1935, 41 (Zitat in StuW 1979, 204). 11 Ebenso BFH BStBl. 2010, 685; 2010, 687. Die Rspr.-Änderung stößt auf breite Zustimmung, vgl. ausf. Fischer, NWB 2010, 412; Albert, FR 2010, 220; G. Kirchhof, FS J. Lang, 2010, 563 (567); Leisner-Egensperger, DStZ 2010, 185; Pezzer, DStR 2010, 93; Spindler, FS J. Lang, 2010, 589 ff.; Söhn, FS Spindler, 2011, 795 ff.; zu Praxisfolgen (insb. Anwendung auf andere Fälle gemischter Veranlassung) und der Umsetzung durch BMF BStBl. I 2010, 614, vgl. Jochum, DStZ 2010, 665; Neufang, BB 2010, 2409; Streck, FR 2010, 896; Steck, DStZ 2010, 191; von Glasenapp, BB 2011, 160; Korn, KÖSDI 2011, 17566; Schwenke, FR 2011, 1051. 12 J. Lang, Bemessungsgrundlage, 328 ff.
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242
§8
Rz. 243
Einkommensteuer
Sie sind, wie der GrS jetzt richtig erkennt, aufzuteilen. In dem vom GrS entschiedenen Fall gemischt veranlasster Reisekosten bietet sich eine zeitanteilige Aufteilung an (nach Tagen, gegebenenfalls Stunden). Weitere bereits aus der bisherigen Rspr. bekannte Aufteilungskriterien sind Fläche oder Personenanzahl (BFH BStBl. 2010, 122). Welche Konsequenzen sich für die Beurteilung eines häuslichen Arbeitszimmers ergeben, wird der GrS auf Vorlage BFH BStBl. 2014, 312, noch zu entscheiden haben (s. auch Rz. 255). Auch wesentlich erwerbstätiger Mehraufwand ist, wenn er sich quantitativ abschichten lässt, als Erwerbsaufwand anzuerkennen. Abzulehnen ist die Festlegung einer Untergrenze von 10 % betrieblicher/beruflicher Veranlassung, unterhalb derer der Abzug ausgeschlossen wird1. Derartige Bagatellgrenzen haben keine Vereinfachungswirkung, da sie die genaue Ermittlung der Veranlassungsanteile nicht erübrigen. 243
Aufteilung und Abzug scheiden nur dann aus, wenn eine Trennung tatsächlich nicht möglich ist, weil es an objektiv nachprüfbaren Kriterien der Aufteilung fehlt und diese damit schlichtweg willkürlich wäre2. In diesem Fall verfügt der Richter über einen Bewertungsspielraum, die quantitativ unteilbare Aufwendung ganz der Erwerbs- oder ganz der Privatsphäre zuzuordnen. Damit werden z.B. die Aufwendungen für eine regionale Tageszeitung oder ein allgemeinbildendes Lexikon ebenso weiterhin vom Abzug ausgeschlossen bleiben (s. Rz. 252) wie Aufwendungen für die allgemeine Schulbildung (zu Bildungsaufwendungen auch Rz. 263 ff.).
Für die private Lebensführung unverzichtbare Aufwendungen bleiben ebenfalls grds. vom Abzug ausgeschlossen. Diese Aufwendungen werden i.d.R. bereits durch die Regelungen zur Freistellung des Existenzminimums (Grundfreibetrag, Sonderausgaben, außergewöhnliche Belastungen) erfasst3. Dies gilt z.B. für beruflich genutzte bürgerliche Kleidung. Daher beschränkt § 9 I 3 Nr. 6 Satz 1 EStG den Werbungskostenabzug zutreffend auf die typische Berufskleidung (s. Rz. 270). Allerdings können die Aufwendungen betrieblich/beruflich veranlasst höher ausfallen. Hier verfügt der Gesetzgeber über einen gewissen Gestaltungsspielraum, innerhalb dessen er den Abzug zulassen kann, z.B. pauschalierte Berücksichtigung von Verpflegungsmehraufwendungen (§ 4 V 1 Nr. 5 i.V.m. § 9 IVa EStG). Damit ergibt sich im Fall nicht ausschließlich privat oder betrieblich/beruflich veranlasster Aufwendungen folgendes Prüfungsschema: 1. Ist die betriebliche/berufliche bzw. private Veranlassung unwesentlich, dann sind die Aufwendungen voll bzw. nicht abziehbar4. 2. Sind beide Anteile wesentlich, müssen die Kosten grds. aufgeteilt werden und der betrieblich/ beruflich veranlasste Anteil zum Abzug zugelassen werden. 3. Eine Aufteilung unterbleibt, wenn eine Trennung mangels objektivierbarer Aufteilungskriterien nicht möglich ist5. 4. Ein Abzug scheidet ferner dann aus, wenn es sich um unverzichtbare Aufwendungen der Lebensführung handelt6. Abziehbar ist aber ein betrieblich/beruflich veranlasster Mehraufwand, soweit er sich quantitativ abschichten lässt. 244
Die Höhe des Abzugs gemischt veranlasster Aufwendungen richtet sich nach ihrer Angemessenheit. Grundsätzlich kommt es auf die betriebliche/berufliche Notwendigkeit, Üblichkeit 1 So aber BMF BStBl. I 2010, 614, unter Berufung auf BFH GrS 1/06 BStBl. 2010, 672 (680), wonach ein Abzug beruflich veranlasster Kosten von „untergeordneter Bedeutung“ ausscheiden soll. 2 Söhn, FS Spindler, 2011, 795 (801); Schmidt/Loschelder33, § 12 EStG Rz. 2. Zu den Anforderungen an die Nachweisobliegenheit des Stpfl. BFH/NV 2011, 1346. 3 S. BFH GrS 1/06, BStBl. 2010, 672 (684); dazu Steck, DStZ 2011, 191 (194 ff.) u. 320. 4 Überlagerung der privaten Veranlassung bei Auswärtstätigkeiten s. BFH BStBl. 2012, 926; 2013, 282; 2013, 284; dazu Schmitt/Meyen, DB 2013, 1578. 5 Beispiele: BFH BStBl. 2014, 372 (keine anteilige Gebäude-Afa bei gewerblich genutzter Photovoltaikanlage auf Dach eines privat genutzten Gebäudes); BFH BStBl. 2013, 808 (Reise an ausländischen Ferienort zur Anfertigung eines Lehrbuchs). 6 Beispiele: Miete für eigenes Wohnen keine Werbungskosten im Rahmen der Einkünfte aus Fremdvermietung des Eigenheims Schleswig-Holsteinisches FG EFG 2013, 1393 mit Anm. Trossen.
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Besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen
Rz. 252
§8
oder Zweckmäßigkeit des Handelns nicht an1. Wirtschaftlich unangemessene Aufwendungen sind in vollem Umfange Betriebsausgaben/Werbungskosten. Wirtschaftlich unangemessene Aufwendungen sind jedoch nur dann uneingeschränkt abziehbar, wenn die Lebensführung nicht berührt ist. Ist eine wirtschaftlich unangemessene Aufwendung auch privat mitveranlasst, so ist sie nur in wirtschaftlich angemessener Höhe Erwerbsaufwendung, i.Ü. Privataufwendung. § 4 V 1 Nr. 7 EStG, der sinngemäß auch bei Werbungskosten gilt (§ 9 V EStG), ist Ausdruck eines allgemeinen Aufteilungsgrundsatzes (s. Rz. 287). Einstweilen frei.
245–249
2.3 Praktisch besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen 2.3.1 Gesetzgeberische Typisierungen Die rechtsdogmatisch einheitliche Abgrenzung der Erwerbsaufwendungen (Betriebsausgaben/ Werbungskosten) wird gestört durch Sondervorschriften über die Abziehbarkeit bzw. Nichtabziehbarkeit von Aufwendungen. Sie gehen den allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsregeln vor. Mit den historisch gewachsenen Katalogen der §§ 4 V, VI; 9 I 3 EStG versucht der Gesetzgeber, den Rechtsanwender von schwierigen Handhabungen der allgemeinen Regeln zu entlasten. Teils dienen die speziellen Abzugsregeln der Klarstellunng wie der in § 4 V 1 Nr. 7 EStG normierte Grundsatz angemessener Aufteilung (s. Rz. 287) oder die Konkretisierungen des allgemeinen Werbungskostenbegriffs (§ 9 I 1 EStG) durch § 9 I 3 Nrn. 1–3, 6 EStG. Die Neufassung des § 9 V EStG durch das StÄndG 1992 hat den Streit erledigt, ob die Abzugsverbote für Betriebsausgaben in § 4 V EStG auch für Werbungskosten sinngemäß gelten. Teils typisiert der Gesetzgeber verdeckte private (Mit-)Veranlassungen durch nichtabziehbare Betriebsausgaben (s. Rz. 287). Durch das punktuelle, typisierende Vorgehen des Gesetzgebers wird aber die Rechtsanwendung nicht stets vereinfacht. Vielmehr entwickeln sich auf Grund der Sondervorschriften umfängliche Spezialmaterien wie etwa das kaum mehr durchschaubare Recht der doppelten Haushaltsführung (§ 9 I 3 Nr. 5 EStG) oder der Abzugsfähigkeit der Kosten häuslicher Arbeitszimmer, so dass hier die Rückkehr zu den allgemeinen Regeln durch Streichen der Sondervorschrift wohl vereinfachend wirken würde. Teils weicht der Gesetzgeber aber auch gezielt von den allgemeinen Regeln ab, indem er besondere Abzugsverbote zum Schutze der Gesamtrechtsordnung konstituiert (s. Rz. 294 ff.) oder den Abzug von Kfz-Aufwendungen aus verkehrs- und umweltpolitischen Gründen begrenzt (s. Rz. 271 ff.).
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Praktisch besonders bedeutsam sind folgende Erwerbsaufwendungen:
2.3.2 Arbeitsmittel2 § 9 I 3 Nr. 6 EStG regelt eine spezielle Gruppe von Aufwendungen für beruflich genutzte Wirtschaftsgüter, die Arbeitsmittel, z.B. Werkzeuge und typische Berufskleidung (s. Kleidung, Rz. 270). Ob ein Arbeitsmittel in der Privatwohnung beruflich genutzt wird, ist oft schwer zu beurteilen. Daher pflegt die Rspr. die Art der Nutzung typisierend festzustellen3. Auch nach Aufgabe der Rspr. zum Aufteilungsverbot (s. Rz. 242) dürfte es vielfach an objektivierbaren Aufteilungskriterien fehlen, so dass es beim Abzugsverbot bleibt.
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Das Nettoprinzip ist nur beachtet, wenn die wesentliche erwerbstätige Nutzung stets berücksichtigt wird. In diesem Sinne hatte bereits BFH BStBl. 2004, 958, die Anwendung des § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG bei der gemischten Nutzung häuslicher Computer aufgegeben und die Aufteilung der Kosten zugelassen;
252
1 Tipke, StRO II2, 620; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 328. Zu dieser Selbstbestimmung der Aufwendungen bereits Rz. 231. 2 Dazu Geserich, NWB 2011, 1247; Schmidt/Loschelder33, § 9 EStG Rz. 170 ff. 3 Vgl. z.B. BFH BStBl. 1957, 328 (329): „Die Bfin. (Beschwerdeführerin) mag das Nachschlagewerk tatsächlich für ihren Beruf benutzen. Ihr Anerbieten, notfalls darüber Buch zu führen, zeigt aber, wohin es käme, wollte man für die Beurteilung auf die Verhältnisse des jeweiligen Falles und nicht auf das Typische abstellen …“. Dazu m.w.N. Birkenfeld, DStJG 9 (1986), 245 ff.; J. Lang, DStJG 9 (1986), 15 (80 ff.); J. Lang, Bemessungsgrundlage, 148 f.
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§8
Rz. 253
Einkommensteuer
eine private Nutzung sei unschädlich, wenn sie einen Nutzungsanteil von 10 % nicht übersteige (Wesentlichkeitsgrenze). Ebenso muss die wesentlich erwerbstätige Nutzung bei anderen Arbeitsmitteln berücksichtigt werden. Aufwendungen für Tageszeitungen, Wochenzeitschriften, Nachschlagewerke und Allgemeinliteratur ordnet der BFH dagegen grds. der Privatsphäre zu1. Hieran ändert auch die neue Rspr. zum Aufteilungsgebot (s. Rz. 242) nichts2. Musikinstrumente3 erkennt die Rspr. als Arbeitsmittel an, wenn die Beherrschung des Instruments die Grundlage der wirtschaftlichen Existenz darstellt4, wie z.B. bei Konzertpianisten, Orchestermusikern5 und Dozenten an Musikhochschulen6.
253
Für die einkunftsartneutrale Behandlung der Nutzung von Wirtschaftsgütern ist im Bereich der Überschusseinkünfte ein sog. Einkunftserzielungsvermögen anzunehmen7. Bei Umwidmung eines Wirtschaftsguts von der privaten zur beruflichen Nutzung (Beispiel: Umstellen eines Bücherschrankes vom Wohnzimmer in das Arbeitszimmer) sind nach der Rspr. des BFH8 die Anschaffungs-/Herstellungskosten linear nach § 7 I i.V.m. § 9 I 3 Nr. 7 Satz 1 EStG auf die gesamte Nutzungsdauer zu verteilen. Diese Lösung ist wohl praktikabel, weil sie die Bewertung des Wirtschaftsguts zu Beginn der beruflichen Nutzung entbehrlich macht. Eine Gleichstellung mit der betrieblichen AfA wird indessen nur erreicht, wenn das Wirtschaftsgut zu Beginn der beruflichen Nutzung bewertet wird und dann nicht nur linear, sondern auch degressiv nach § 7 II i.V.m. § 9 I 3 Nr. 7 Satz 1 EStG abgeschrieben werden kann9. Hat das Arbeitsmittel nicht mehr als 410 Euro gekostet, so können die Aufwendungen in voller Höhe im Beschaffungsjahr abgesetzt werden (§ 9 I 3 Nr. 7 Satz 2 i.V.m. § 6 II EStG). Bei geschenkten Arbeitsmitteln gilt nach BFH BStBl. 1990, 883, der auf den Zeitraum vor der Schenkung entfallende Teil der Anschaffungs-/Herstellungskosten als abgesetzt, dabei kann der volle Restwert abgesetzt werden, wenn er 410 Euro nicht übersteigt. Ist für ein Arbeitsmittel nichts aufgewendet worden, so kann auch nichts abgeschrieben werden10.
2.3.3 Arbeitszimmer 254
§ 4 V 1 Nr. 6b EStG regelt den Abzug von Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer11. Nachdem der Gesetzgeber den Abzug erstmals 1996 in § 4 V 1 Nr. 6b EStG beschränkt hatte12, 1 Dazu Ritzow, StWa 1998, 163. Erwerbsaufwendungen: BFH BStBl. 1982, 67 („Encyclopaedia Britannica“ bei Englischlehrer); Handelsblatt: BFH DB 1983, 372 (Fachzeitschrift ähnlich); BFH/NV 1996, 402 (nahezu ausschließliche berufliche Nutzung erforderlich); BFH BStBl. 2011, 723: Würdigung für jeden einzelnen Gegenstand (Bücher eines Lehrers). 2 FG Münster EFG 2011, 228. 3 Dazu Wolf, FR 1999, 841. 4 BFH/NV 1993, 722. 5 BFH BStBl. 2001, 194. 6 BFH BStBl. 1989, 356. Entgegen BFH BStBl. 1978, 459; BFH/NV 1993, 722; EFG 1998, 643 (m.w.N.), ist auch bei Musiklehrern an allgemein bildenden Schulen wesentlich erwerbstätige Nutzung anzunehmen, so dass zumindest ein angemessener Kostenanteil als Erwerbsaufwendungen anzuerkennen ist (so jetzt auch FG München EFG 2009, 1447). 7 J. Lang, DStJG 9 (1986), 15 (53 ff.); Alt, Das Überschußvermögen im Einkommensteuerrecht, Diss., 1994; Rademacher-Gottwald, FR 2003, 336; Schmidt/Loschelder33, § 9 EStG Rz. 178 f. 8 BFH BStBl. 1990, 684, im Anschluss an BFH BStBl. 1989, 922. Zum sofortigen Werbungskostenabzug bei Umwidmung bisher privat genutzter Wirtschaftsgüter Kottke, DB 1998, 1255. 9 M.E. führt die analoge Anwendung des § 7 EStG durch § 9 I 3 Nr. 7 Satz 1 EStG zum Ansatz fiktiver AfA in Gestalt des gemeinen Werts (§ 9 BewG), da ein anderer Wert i.S.d. § 1 II BewG nicht eingreift. Insb. verneint BFH BStBl. 1989, 924, zu Recht analoge Anwendung des § 6 I Nr. 5 Satz 1 EStG u. Ansatz des Teilwerts, der per definitionem betrieblich genutzten Wirtschaftsgütern vorbehalten ist. Demnach kann bei anfänglich privat genutzten Wirtschaftsgütern nur der gemeine Wert Bemessungsgrundlage der AfA i.S.d. § 9 I 3 Nr. 7 Satz 1 EStG sein. 10 Zutr. FG München EFG 2004, 1354: keine fiktive Abschreibung eines in Verlosung gewonnenen Fertighauses, zumal schon die verlosende Fertighausfirma den Aufwand für das verloste Fertighaus steuerlich geltend gemacht hat, so dass § 11d EStDV keine Abschreibung zu begründen vermag. 11 Einzelheiten s. BMF BStBl. I 2011, 195 (dazu ausf. Nolte, NWB 2011, 2039; Marcinek/Hönnes, SteuerStud 2011, 380; Neufang, StB 2011, 231); aktuelle Kommentierungen HHR/Paul, § 4 EStG Anm. 1490 ff. (2011); Schoor, StBp. 2011, 140 u. 172; Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 590 ff. 12 Abziehbarkeit von Aufwendungen nur, wenn das Arbeitszimmer zu mehr als 50 % betrieblich/beruflich genutzt wurde oder wenn für die betriebliche/berufliche Tätigkeit kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung stand (§ 4 V 1 Nr. 6b Satz 2 EStG). Der Steuerabzug war auf den Betrag von 1 250 Euro begrenzt (§ 4 V 1 Nr. 6b Satz 3 EStG), soweit das Arbeitszimmer nicht den Mittelpunkt der gesamten betrieblichen und beruflichen Tätigkeit bildete.
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Besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen
Rz. 255
§8
war das Arbeitszimmer bereits zweimal Gegenstand verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. BVerfGE 101, 297, hatte die beschränkte Abziehbarkeit von Arbeitszimmerkosten nach § 4 V 1 Nr. 6b EStG 1996 gleichheitsrechtlich nicht beanstandet, weil die Nachprüfung der Arbeitszimmernutzung wegen des dazu erforderlichen Eindringens in die Privatsphäre und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) „wesentlich eingeschränkt oder gar unmöglich“ sei (BVerfGE 101, 297, [311]). Vor allem haushalterische Gründe veranlassten den Gesetzgeber dazu, den Abzug durch das StÄndG 2007 v. 19.7.2006, BGBl. I 2006, 1652, noch weiter einzuschränken. Abzugsfähig waren die Aufwendungen nur noch, wenn das Arbeitszimmer den Mittelpunkt der gesamten betrieblichen und beruflichen Betätigung darstellte1. I.Ü. war der Abzug auch dann ausgeschlossen, wenn dem Stpfl. kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung stand. BVerfGE 126, 268, zwang den Gesetzgeber zu einer partiellen Wiederherstellung der bisherigen Rechtslage. Ein ausschließlich beruflich genutztes Arbeitszimmer führt jedenfalls dem Grunde nach zu beruflich veranlasstem Aufwand, der als „typischer“ Erwerbsaufwand nach dem objektiven Nettoprinzip abziehbar sein müsse (BVerfGE 126, 268 [280]). Auch die Typisierungskompetenz des Gesetzgebers und das Ziel der Missbrauchsvermeidung rechtfertigten es in den Fällen, in denen kein anderer Arbeitsplatz existiert, nicht, den Abzug ganz auszuschließen, weil hier die ausschließlich betrieblich/berufliche Veranlassung objektiv nachprüfbar ist. Die Höhe des Abzugs liege dagegen weitgehend in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers und könne auch die Möglichkeit privater Mitbenutzung des Arbeitszimmers reflektieren. Dementsprechend lässt JStG 2010 v. 8.12.2010, BGBl. I 2010, 1768, den Abzug der Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer sowie die Kosten der Ausstattung2 wieder zu, wenn für die betriebliche oder berufliche Tätigkeit kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung steht3. Der Abzug ist der Höhe nach begrenzt auf 1 250 Euro, es sei denn, das Arbeitszimmer bildet den Mittelpunkt der gesamten betrieblichen oder beruflichen Betätigung4. Auch wenn damit nun wieder ein verfassungskonformer Zustand erreicht ist (BFH BStBl. 2013, 642), bleibt die Vereinfachungswirkung von § 4 V 1 Nr. 6b EStG zweifelhaft. Das Tatbestandsmerkmal des häuslichen Arbeitszimmers ist extrem streitanfällig und hat eine überbordende Kasuistik hervorgerufen, da die Frage, ob ein Raum dem Typus nach Arbeitszimmer ist5 und ob das Arbeitszimmer in die häusliche Wohnsphäre eingebunden ist (Abgrenzung häusliches/außerhäusliches Arbeitszimmer)6, nur durch Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls möglich ist. Ebenso streitanfällig ist die Voraussetzung „Mittelpunkt der gesamten betrieblichen und beruflichen Betätigung“7, nach der sich 1 Krit. Drenseck, FR 2006, 1; J. Lang, StuW 2007, 3 (13 f.); Leisner-Egensperger, FR 2006, 1018 (1023 ff.); Schmidt/Krüger31, § 19 EStG Rz. 50 (Arbeitszimmer). 2 Nach BFH BStBl. 1998, 351, ist § 9 I 3 Nr. 6 EStG (Arbeitsmittel) lex specialis gegenüber § 4 V 1 Nr. 6b EStG (Ausstattungskosten), so dass Arbeitsmittel i.S.d. § 9 I Nr. 6 EStG nicht unter das Abzugsverbot fallen (vgl. BMF BStBl. I 1998, 863 Tz. 20). Dazu Flies, DStZ 1998, 474; Söhn, FR 1998, 637. 3 Zur Frage des anderen Arbeitsplatzes bei Pool- und Telearbeitsplätzen BFH BStBl. 2014, 568; 2014, 570; Anm. Schneider, NWB 2014, 1860; Geserich, DStR 2014, 1316; Kanzler, FR 2014, 656. 4 Nicht wieder eingeführt wurde die Abzugsmöglichkeit, wenn das Arbeitszimmer zu mehr als 50 % betrieblich/beruflich genutzt wird. 5 Raum muss typischerweise büromäßigen Tätigkeiten dienen, verneint für häusliches Tonstudio (BFH BStBl. 2003, 463); bejaht für Übungszimmer einer Musikerin (BFH/NV 2013, 359). 6 Nach BFH BStBl. 2003, 139; 2003, 185, ist ein häusliches Arbeitszimmer i.S.d. § 4 V 1 Nr. 6b EStG ein Raum, der seiner Lage nach in die häusliche Sphäre des Stpfl. eingebunden ist u. nach Ausstattung u. Funktion der Erledigung erwerbstätiger Büroarbeiten dient. Die Frage, ob ein Arbeitszimmer in die häusliche Sphäre eingebunden ist, lässt sich nur auf Grund einer Gesamtwürdigung der Einzelfallumstände entscheiden (BFH/NV 2007, 1650). Mehrere in die häusliche Sphäre eingebundene Räume können als ein häusliches Arbeitszimmer anzusehen sein (BFH BStBl. 2009, 598), wenn die Räume eine funktionale Einheit bilden. 7 Der Mittelpunkt i.S.d. § 4 V 1 Nr. 6b Satz 2 EStG bestimmt sich nach dem qualitativen Schwerpunkt der Erwerbstätigkeit (BFH BStBl. 2006, 18 [19]; BFH/NV 2007, 1133 [1134]). Wo er liegt, kann nur im Wege einer umfassenden Wertung der Gesamttätigkeit festgestellt werden (BFH BStBl. 2005, 212 [214]; BFH/NV 2007, 1133 [1134]). Qualitativ liegt der Schwerpunkt einer Betätigung dort, wo der Stpfl. die Handlungen vornimmt u. Leistungen erbringt, die für den konkret ausgeübten Beruf wesentlich u. prägend sind. Der zeitliche Umfang der Arbeitszimmernutzung hat nur indizielle Bedeutung.
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§8
Rz. 256
Einkommensteuer
bei Bejahung der Arbeitszimmereigenschaft die Höhe des Abzugs richtet. Zur Abzugsfähigkeit von Arbeitszimmer-Drittaufwand s. Rz. 227. Umstritten ist nach der Entscheidung des GrS zur Aufteilung gemischt veranlasster Aufwendungen (s. Rz. 242 f.) die Abzugsfähigkeit für gemischt genutzte bzw. nur zeitweise genutzte Räume als häusliche Arbeitszimmer1. Bisher wird für die Annahme eines häuslichen Arbeitszimmers eine ausschließliche oder nahezu ausschließliche erwerbsbedingte Nutzung gefordert, ohne dass dies nach Wortlaut oder Systematik der Abzugsbeschränkung geboten wäre (Kanzler, FR 2014, 375 [376]).
2.3.4 Berufsverbände 256
Beiträge an Berufsverbände sind als Betriebsausgaben/Werbungskosten abziehbar, wenn der Berufsverband nach seiner Satzung Ziele verfolgt, welche die Erhaltung und Fortentwicklung des Betriebes/der Erwerbstätigkeit betreffen und die tatsächliche Geschäftsführung des Verbandes mit den satzungsmäßigen Zielen übereinstimmt2. Die wesentliche Veranlassung der Beiträge durch die Berufstätigkeit des Stpfl. ist notwendiger Inhalt der Begriffe „Berufsstände“ und „Berufsverbände“ in § 9 I 3 Nr. 3 EStG, so dass diese Vorschrift keine unterschiedliche Rechtslage bei Überschuss- und Gewinneinkünften schafft. Berufsverbände (oder allg. ausgedrückt: Erwerbsverbände) sind z.B. Handwerks-, Steuerberater-, Rechtsanwaltskammern, Beamtenbund, Hochschulverband, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Gewerkschaften, Haus- und Grundbesitzerverein. Beiträge an parteinahe Berufsverbände sind nur dann als Erwerbsaufwendungen abziehbar, wenn der Verband spezifisch berufliche Interessen nicht nur nach seiner Satzung vertritt, sondern wenn der Verband die beruflichen Interessen der Beitragszahler auch tatsächlich wahrnimmt3. Werden hingegen im Wesentlichen tatsächlich allgemein-politische Ziele verfolgt, so sind die Beiträge als Aufwendungen zur Förderung staatspolitischer Zwecke zu qualifizieren, die nach den §§ 4 VI; 9 V EStG weder Betriebsausgaben noch Werbungskosten sind4.
2.3.5 Bewirtung 257
Die §§ 4 V 1 Nr. 2; 9 V EStG begrenzen den Betriebsausgaben-/Werbungskostenabzug von Aufwendungen für die Bewirtung von Personen aus geschäftlichem Anlass auf einen angemessenen Betrag und schließen davon 30 % vom Steuerabzug aus5. Die Bewirtung von Arbeitnehmern ist nicht geschäftlich, sondern allgemein betrieblich veranlasst (R 4.10 VII EStR 2012). In diesem Fall unterliegen die Bewirtungskosten nicht der Abzugsbeschränkung des § 4 V 1 Nr. 2 i.V.m. § 9 V EStG. Der Steuerabzug von Bewirtungskosten kann auch nicht variabel erfolgs-
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Daher kann das Arbeitszimmer selbst dann noch Mittelpunkt sein, wenn die außerhäusliche Tätigkeit überwiegt (BFH BStBl. 2006, 18 [19] m.w.N.). Übt der Stpfl. mehrere Tätigkeiten aus, so muss die Gesamtheit aller Tätigkeiten ihren qualitativen Schwerpunkt im häuslichen Arbeitszimmer haben (BFH BStBl. 2004, 771; 2004, 861); Noch enger fasst der BFH in Fall eines Richters (BFH BStBl. 2012, 236) oder eines Hochschullehrers (BFH BStBl. 2012, 234), dass es darauf ankommt, wo die das Berufsbild prägende Tätigkeit ausgeübt wird. Beim Hochschullehrer sei dies die Lehre, die in der Hochschule stattfinde, beim Richter das Gericht. Vgl. Vorlage des 9. Senats des BFH BStBl. 2014, 312, an den GrS (Az. GrS 1/14); dazu Kanzler, FR 2014, 375; Meurer, BB 2014, 1184; Spilker, DB 2014, 2850. Aufteilbarkeit bei gemischter Nutzung bejahend FG Köln EFG 2011, 1410 (Wohnzimmer mit Arbeitsecke); ebenso Niedersächs. FG EFG 2012, 2100; FG Köln EFG 2013, 1585; a.A. FG Baden-Württemberg EFG 2011, 1055 (Durchgangszimmer); FG Hamburg EFG 2011, 2131 (PC im Esszimmer); FG Düsseldorf EFG 2012, 1830; s. auch Leidel/Wobst, DStR 2012, 2366; Eismann, DStR 2013, 117. BFH BStBl. 1985, 92; 1989, 97. So BFH BStBl. 1994, 33 (Wirtschaftsrat der CDU), im Anschluss an BFH BStBl. 1989, 97; BFH/NV 1990, 360. Dabei mag dahinstehen, ob sie der Erwerbssphäre zuzurechnen sind (dies verneint BFH BStBl. 1994, 35). Dazu R 4.10 V–IX EStR 2012; Leisner-Egensperger, FR 2006, 705; Leisner-Egensperger, FR 2010, 673 (Folgerungen aus der Aufgabe des Aufteilungsverbots); HHR/Stapperfend, § 4 EStG Anm. 1201 ff. (2011).
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Besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen
Rz. 260
§8
abhängig entlohnten (leitenden) Arbeitnehmern zustehen, wenn diese Mitarbeiter bewirten1. Der BFH erkennt mittlerweile richtig, dass es ausreicht, wenn die Aufwendungen durch die Tätigkeit veranlasst sind, ohne dass sie erfolgswirksam werden müssen (s. auch Rz. 232).
2.3.6 Doppelte Haushaltsführung2: Abziehbar sind notwendige Mehraufwendungen, die einem Arbeitnehmer wegen einer aus beruflichem Anlass begründeten doppelten Haushaltsführung entstehen, und zwar unabhängig davon, aus welchen Gründen die doppelte Haushaltsführung beibehalten wird3 (§ 9 I 3 Nr. 5 Satz 1 EStG). Eine privat veranlasste Wegverlegung des Wohnsitzes vom Beschäftigungsort steht der beruflichen Veranlassung der doppelten Haushaltsführung nicht entgegen4. § 9 I 3 Nr. 5 EStG ist nicht nur bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, sondern auch bei den übrigen Überschusseinkünften (§ 9 III EStG) sowie gem. § 4 V 1 Nr. 6a EStG bei den Gewinneinkünften anwendbar.
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Die Erstattung von Mehraufwendungen wegen doppelter Haushaltsführung ist nach § 3 Nrn. 13, 16 EStG nur im Rahmen des § 9 I 3 Nr. 5 EStG steuerfrei. Die auf Arbeitnehmer bezogenen Steuerbefreiungen des § 3 Nrn. 13, 16 EStG lassen die Erstattungen außerhalb der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit ungeregelt.
Eine doppelte Haushaltsführung i.S.d. § 9 I 3 Nr. 5 Satz 2 EStG liegt vor, wenn der Stpfl. außerhalb des Ortes seiner ersten Tätigkeitsstätte (§ 9 IV EStG) einen eigenen Hausstand unterhält und am Ort der ersten Tätigkeitsstätte eine Zweitwohnung innehat. Voraussetzung eines eigenen Hausstandes ist ab dem VZ 2014 sowohl das Innehaben der Wohnung als auch die finanzielle Beteiligung an den Kosten der Lebensführung. Einen „eigenen Hausstand“ i.S.d. § 9 I 3 Nr. 5 Satz 2 EStG können entgegen früherer Rspr.5 auch Unverheiratete begründen, wenn sie einen Haushalt gemeinsam führen6. Kinder können mit ihren Eltern einen gemeinsamen eigenen Hausstand begründen (BFH BStBl. 2013, 627; 2013, 208 [Mehrgenerationenhaushalt]), soweit sie nachweislich mehr als 10 % (BMF BStBl. I 2013, Rz. 94) zu den laufenden Kosten der Haushaltsführung beitragen. Bei verheirateten Arbeitnehmern bejaht BFH BStBl. 1995, 184, für jeden Ehegatten doppelte Haushaltsführung, wenn beide Ehegatten auswärts beschäftigt sind.
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I.E. abziehbar sind Verpflegungsmehraufwendungen für die ersten drei Monate (§ 4 V Satz 1 Nr. 5 Satz 2 i.V.m. § 9 IVa Sätze 6, 7 EStG; Begrenzung verfassungsgemäß BFH BStBl. 2011, 32 u. 47, m. Anm. Paus, FR 2011, 519), Fahrtkosten wegen Wohnungswechsels zu Beginn und am Ende der doppelten Haushaltsführung (R 9.11 VI Nr. 1 LStR 2011/2013), Umzugskosten (R 9.9 LStR 2011/2013), Telefonkosten (vgl. BFH BStBl. 1988, 98). Der Abzug der nachgewiesenen tatsächlichen Kosten der Unterkunft ist ab 2014 auf 1 000 Euro pro Monat begrenzt. Eingeschlossen sind Nebenkosten der Unterkunft wie Reinigung, Garage, Zweitwohnungsteuer etc.; eine Angemessenheitsprüfung findet
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1 Grds. BFH BStBl. 2007, 317 (Kommandoübergabe/Verabschiedung in den Ruhestand); 2007, 721 (Außendienstmitarbeiter). Im Weiteren: BFH BStBl. 2007, 459 (Gartenfest eines angestellten Geschäftsführers; ausf. zur Anwendung des § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG); BFH/NV 2007, 1643; BFH BStBl. 2009, 11 (Forschungsleiter mit variablen Bezügen). 2 Dazu grds. Söhn, StuW 1983, 193; Söhn, FR 1984, 25 (Wegverlegung des Familienwohnsitzes). Einzelheiten: HHR/Bergkemper, § 9 EStG Anm. 475 ff. (2010); Gunsenheimer, SteuerStud 2010, 12; Blümich/Thürmer, § 9 EStG Rz. 325 ff. (2013); Schmidt/Loschelder33, § 9 EStG Rz. 135 ff.; Kirchhof/von Beckerath13, § 9 EStG Rz. 98 ff. 3 Nachdem BVerfG v. 4.12.2002, BVerfGE 107, 27 (51 f.: Kettenabordnung; 53 f.: Doppelverdienerehe), die Befristung des Steuerabzugs auf zwei Jahre als unvereinbar mit Art. 3 I; 6 I GG erkannte, hat der Gesetzgeber durch StÄndG 2003 die mit JStG 1996 eingeführte Zweijahresfrist gestrichen und den bis 1995 geltenden Rechtszustand wieder hergestellt. 4 So zunächst BFH BStBl. 2009, 153 (beiderseits berufstätige Ehegatten) u. sodann grds. BFH BStBl. 2009, 1012 u. 1016 (dazu krit. Paus DStZ 2009, 472) entgegen der bisherigen st. Rspr. (BFH BStBl. 1975, 607; 1982, 297). 5 BFH BStBl. 1992, 237. 6 Dazu BFH BStBl. 1995, 180; 2007, 533; 2007, 820. Allerdings gelten strengere Maßstäbe für die Annahme eines eigenen Hausstandes in der Wohnung des nichtehelichen Partners.
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§8
Rz. 261
Einkommensteuer
innerhalb des Höchstbetrages nicht mehr statt. Aufwendungen für eine Familienheimfahrt wöchentlich können nach § 9 I 3 Nr. 5 Sätze 5–8 EStG (s. Rz. 262) abgezogen werden; nicht dagegen für die Fahrt des anderen Ehegatten zum Beschäftigungsort (BFH BStBl. 2011, 456).
2.3.7 Fahrten zwischen Wohnung und Erwerbsstätte 261
Fahrten zwischen Wohnung und Tätigkeitsstätte werden nach deutschem Rechtsverständnis der Erwerbssphäre zugeordnet1. Zwar räumt BVerfGE 122, 210, dem Gesetzgeber im Hinblick auf die gemischte Veranlassung dieser Aufwendungen Gestaltungsspielraum ein. Solange der Gesetzgeber die Fahrtkosten zum Abzug zulässt, muss die Regelung jedoch folgerichtig ausgestaltet sein. Nicht sachlich begründete Einschränkungen, wie sie durch StÄndG 2007 in Form des Ausschlusses der Kosten für die ersten 20 Entfernungskilometer angeordnet wurden, sind mit dem allgemeinen Gleichheitssatz unvereinbar und können auch nicht durch Einführung eines „Werkstorprinzips“ gerechtfertigt werden2. Daraufhin hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Fortführung der Gesetzeslage 2006 bei der Entfernungspauschale v. 20.4.2009 die vor dem StÄndG 2007 geltende Rechtslage restituiert3, so dass Aufwendungen wieder ab dem 1. Entfernungskilometer geltend gemacht werden können.
262
Hieran hält auch die zum VZ 2014 in Kraft getretene Reform des steuerlichen Reisekostenrechts4 fest. Die Reform soll in erster Linie Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen begrenzt abzugsfähigen Pendleraufwendungen und voll abzugsfähigen Reisekosten beseitigen, die sich in der Vergangenheit am Tatbestandsmerkmal der regelmäßigen Arbeitsstätte entzündeten. Hierzu hat der Gesetzgeber das Tatbestandsmerkmal der „ersten Tätigkeitsstätte“5 eingeführt, um die Rechtsanwendung bei mehreren bzw. wechselnden Einsatzorten und der Abordnung von Arbeitnehmern zu vereinfachen, freilich ohne die steuerliche Berücksichtigung von Mobilitätsaufwendungen insgesamt einer systematischen Neuordnung zu unterziehen6. Unterschieden wird ab VZ 2014 zwischen erster Tätigkeitsstätte und weiteren Tätigkeitsstätten. § 9 IV EStG definiert die erste Tätigkeitsstätte als ortsfeste betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers oder eines Dritten, welcher der Arbeitnehmer dauerhaft (unbefristet oder über einen Zeitraum von 48 Monaten hinaus) zugeordnet ist. Mit der Entfernungspauschale abgegolten sind nur Aufwendungen für die Wege zur ersten Tätigkeitsstätte (s. § 9 I 3 Nr. 4 Satz 1, Nr. 4a i.V.m. § 9 IV EStG). Bei mehreren Tätigkeitsstätten (z.B. tageweiser Einsatz in verschiedenen Filialen) bestimmt der Arbeitgeber frei, welche betriebliche Einrichtung erste Tätigkeitsstätte ist bzw. es gilt der der Wohnung nächstgelegene Einsatzort als erste Tätigkeitsstätte (§ 9 IV 6, 7 EStG). Entgegen BFH BStBl. 2013, 234, fingiert § 9 IV 8 EStG mit der Folge nur beschränkten Aufwendungsabzugs als erste Tätigkeitsstätte auch Bildungseinrichtungen, die für ein Vollzeitstudium aufgesucht werden. § 9 I 3 Nr. 4 EStG räumt pro Arbeitstag, an dem die erste Tätigkeitsstätte aufgesucht wird, den Steuerabzug einer Entfernungspauschale von 0,30 Euro für jeden vollen Kilometer ein. Maßgeblich ist die kürzeste Straßenverbindung; eine längere Straßenverbindung kann zugrundegelegt 1 Dazu Hans, ZRP 2003, 385; Hennrichs, BB 2004, 584; Wesselbaum-Neugebauer, FR 2004, 385; Tipke, BB 2007, 1525; Wesselbaum-Neugebauer, FR 2009, 746 (Typisierungsmöglichkeiten); dagegen aus österreichischer Sicht Molterer, ÖStZ 2014, 478. Zur Rechtslage in den USA Beck, StuW 2007, 78. 2 Dazu 21. Aufl. Rz. 261 f.; ferner Lehner, DStR 2009, 185; Odenthal/Seifert, DStR 2009, 201; Tipke, JZ 2009, 533; Weber-Grellet, DStR 2009, 349; Morgenthaler/Fritzen, JZ 2010, 287. 3 Dazu BMF BStBl. I 2013, 1376 (1376 ff.). 4 Gesetz zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts v. 20.2.2013, BGBl. I 2013, 285 (dazu Niermann, DB 2013, 1015) mit Anwendungsschreiben BMF BStBl. I 2013, 1279 (dazu Niermann DB 2013, 2357; Bergkemper, FR 2013, 1017; Seifert, DStZ 2014, 13; Rolfes, StuB 2014, 103; Wirfler, DStR 2013, 2660) und BMF BStBl. I 2014, 1412 (dazu Niermann, DB 2014, 2793). Speziell zu den Auswirkungen im Rahmen der Entfernungspauschale Rolfes, StuB 2014, 103; sehr krit. Thomas, DStR 2014, 497. 5 Hierzu Schramm/Harder-Buschner, NWB 2014, 26. 6 Angesichts des umfangreichen Anwendungsschreibens BMF BStBl. I 2013, 1279, bleibt daher auch der Vereinfachungseffekt abzuwarten.
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Besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen
Rz. 263
§8
werden, wenn sie offensichtlich verkehrsgünstiger ist (§ 9 I 3 Nr. 4 Satz 4 EStG). Die Entfernungspauschale wird verkehrsmittelunabhängig, also nicht nur Kfz-Nutzern, sondern auch Nutzern öffentlicher Verkehrsmittel gewährt. § 9 I 3 Nr. 4 Satz 2 EStG begrenzt den pauschalen Steuerabzug auf einen Höchstbetrag von 4 500 Euro pro Kalenderjahr; dieser gilt nicht für Kfz-Nutzer (§ 9 I 3 Nr. 4 Satz 2 Hs. 2 EStG). Die Entfernungspauschale gilt nicht für Flugstrecken (BFH BStBl. 2009, 724: verfassungskonform) und Strecken mit steuerfreier Sammelbeförderung nach § 3 Nr. 32 EStG; in diesen Fällen sind die tatsächlichen Kosten anzusetzen (§ 9 I 3 Nr. 4 Satz 3 EStG). Ebenso können Schwerbehinderte die tatsächlichen Kosten absetzen (§ 9 II 3 EStG). Durch die Entfernungspauschale sind sämtliche Aufwendungen abgegolten (§ 9 II 1 EStG). Abzulehnen ist allerdings eine Auslegung, nach der auch außergewöhnliche Kosten (Unfallkosten, Motorschaden infolge einer Falschbetankung) von der Abgeltungswirkung erfasst sind. Da es sich hierbei gerade nicht um Massenerscheinungen handelt, ist eine Abgeltung durch den Vereinfachungszweck nicht geboten1. Für Gewinneinkünfte ist § 9 I 3 Nr. 4 EStG entsprechend anzuwenden (§ 4 V 1 Nr. 6 EStG).
2.3.8 Fort- und Ausbildung2 Während Fortbildungskosten grds. voll abzugsfähig sind, können notwendige Ausbildungskosten gem. §§ 10 I Nr. 7; 12 Nr. 5; 4 IX; 9 VI EStG nur eingeschränkt geltend gemacht werden. Allen politischen Bekenntnissen zur Bildungsrepublik zum Trotz weigert sich der Steuergesetzgeber beharrlich, Bildungsaufwendungen als vorab entstandene Erwerbsaufwendungen anzuerkennen. Dabei hat sich das Thema mittlerweile zu einem Zankapfel par excellence zwischen Rspr. und Gesetzgebung entwickelt. Eine Entscheidung durch das BVerfG ist unausweichlich. Nachdem RFH und BFH die Aufwendungen der Berufsausbildung zunächst im Rahmen der sog. Lebenskampfthese der Privatsphäre zugeordnet hatten3, machte der BFH 2003 inspiriert von Drenseck4 eine Kehrtwende5. Seither geht der BFH von vorab entstandenen Erwerbsaufwendungen aus, wenn Bildungsaufwendungen in einem hinreichend konkreten, objektiv feststellbaren Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit stehen (s. Rz. 233). Damit können auch Kosten einer ersten Berufsausbildung/eines Erststudiums abzugsfähig sein. Der Gesetzgeber reagierte prompt mit einem Nichtanwendungsgesetz, indem er ab 2004 Aufwendungen des Stpfl. für seine erstmalige Berufsausbildung und für ein Erststudium in § 12 Nr. 5 EStG a.F. den nichtabziehbaren Privataufwendungen zuordnete, so dass derartige Aufwendungen nur noch als Sonderausgaben für die eigene Berufsausbildung nach § 10 I Nr. 7 EStG (s. Rz. 715) abgezogen werden konnten. Liegen im Ausbildungsjahr keine eigenen stpfl. Einkünfte vor, läuft der Abzug leer. 1 Wie hier Schmidt/Loschelder33, § 9 EStG Rz. 126; a.A. BFH/NV 2014, 1284 (m. Anm. Schneider, NWB 2014, 2078). 2 Lit.: Söhn, StuW 2002, 97 (Berufsausbildungs-/Fortbildungskosten); Müller, Aufwendungen für Ausu. Fortbildung, Diss., 2003; Drenseck, DStR 2004, 1766; Sandner/Sperling, SteuerStud 2005, 534 (Bildungskosten); Jochum, DStZ 2005, 260; Prinz, FR 2005, 229; Wesselbaum-Neugebauer, FR 2005, 385 (Studiengebühren); Ismer, Bildungsaufwand im Steuerrecht, Diss., 2006; Ortmann, Die Steuerabzugsfähigkeit von Ausbildungsaufwendungen, Diss., 2006; Fehr, DStR 2007, 882 (Aufwendungen für ein Studium); Müller-Franken, DStZ 2007, 59 (Bildungsaufwand); Seitz, FR 2007, 688 (postgraduales Studium); Steck, DStZ 2008, 384 (Dienstverhältnis); Johenning, Bildungsaufwendungen im Einkommensteuerrecht, Diss., 2009; Weitemeyer/Süß, NJW 2011, 2844 (Studiengebühren); Lampert/Betzinger/ Kepper, SteuerStud 2012, 707; Broemel, DStR 2012, 2461; Herrler, SteuerStud 2014, 21; Kreft, SteuerStud 2014, 599. 3 Z.B. BFH BStBl. 1952, 280. 4 Drenseck, StuW 1999, 3 (grundl. zu Bildungsaufwendungen im Einkommensteuerrecht). 5 BFH BStBl. 2003, 403; 2003, 407; 2003, 698; 2003, 749; 2004, 884; 2004, 886; 2004, 888; 2004, 889; 2004, 890; 2004, 891, 891; 2005, 202 (Verkehrsflugzeugführerschein); 2006, 764 (Studium nach Abitur); Seminare zur Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit (2009, 106) u. zur Persönlichkeitsentfaltung (2009, 108); 2009, 111 (Verkehrsflugzeugführerschein). BFH stellt auf einen „hinreichend konkreten, objektiv feststellbaren Zusammenhang mit künftigen steuerbaren Einnahmen aus einer beruflichen Tätigkeit“ ab (BStBl. 2003, 403; 2004, 884; 2006, 764) u. knüpft damit an den Wortlaut des § 9 I 1 EStG an. Indessen fordert die inhaltgleiche Interpretation des Betriebsausgaben- u. Werbungskostenbegriffs den Veranlassungszusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit (s. Rz. 233).
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263
§8
Rz. 264
Einkommensteuer
Der BFH beugte sich nicht und interpretierte § 12 Nr. 5 a.F. EStG dahingehend, dass die Vorschrift bei Einordnung der Aufwendungen als Erwerbsaufwendungen nicht eingreife, da der Einleitungssatz zu § 12 EStG dessen Subsidiarität anordne1. § 12 Nr. 5 EStG a.F. enthalte kein Abzugsverbot für Erwerbsaufwendungen. § 12 Nr. 5 EStG komme nur dann Bedeutung zu, wenn Bildungsaufwendungen nicht in hinreichend konkretem Veranlassungszusammenhang mit einer gegenwärtigen oder zukünftigen Erwerbstätigkeit stehen. Ein entgegenstehender Wille des Gesetzgebers bilde sich nicht hinreichend im Gesetzestext ab. Um dieser dem Nettoprinzip verpflichteten Interpretation den Boden zu entziehen, ordnete der Gesetzgeber im Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2592, wortgleich mit § 12 Nr. 5 EStG a.F. in §§ 4 IX; 9 VI EStG ausdrückliche Abzugsverbote für die Aufwendungen für eine erste Berufsausbildung/Erststudium an, soweit diese nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses getätigt werden; der nunmehr funktionslose § 12 Nr. 5 EStG wurde durch Zollkodexgesetz v. 22.12.2014 zum VZ 2015 aufgehoben. Gefolgt ist der Gesetzgeber dem BFH2 insofern als Aufwendungen für ein Erststudium oder eine weitere Berufsausbildung nach einer abgeschlossenen nichtakademischen Berufsausbildung abzugsfähig sind, ohne, dass es darauf ankommt, ob das Studium der Weiterqualifikation in dem erlernten Beruf dient (so auch schon BMF BStBl. I 2010, 721). Zunichte gemacht hat der Gesetzgeber die Versuche der Rspr. (BFH BStBl. 2012, 825; BFH/NV 2013, 1167), durch extensive Interpretation des Begriffs der Erstausbildung den Anwendungsbereich des Abzugsverbots einzuschränken, indem er ab VZ 2015 zur Voraussetzung einer Erstausbildung eine geordnete Ausbildung mit einer Mindestdauer von 12 Monaten macht (§ 9 VI 2-5 EStG). Die Anhebung des Sonderausgabenabzugs in § 10 I Nr. 7 EStG für VZ ab 2012 von 4 000 auf 6 000 Euro stellt keine Kompensation dar, da sie sich nur bei eigenem steuerpflichtigem Einkommen auswirkt und ein Vortrag in Folgejahre nicht möglich ist3.
264
Es stellt sich die Frage nach der Verfassungskonformität der nunmehr in §§ 4 IX; 9 VI EStG angeordneten expliziten Abzugsverbote. Der BFH ist uneins in dieser Frage. Nach Auffassung des VIII. Senats (BFH BStBl. 2014, 165) handelt es sich um eine realitätsgerechte Typisierung, deren rückwirkende Anwendung mit dem Vertrauensschutzprinzip vereinbar ist. Der VI. Senat hat dagegen zu Recht erhebliche gleichheitsrechtliche Bedenken und hat das BVerfG angerufen (BFH/NV 2014, 1954)4. Ein inhaltlicher Grund für die erneute Nichtanwendungsgesetzgebung wird nicht gegeben5. Es ging dem Gesetzgeber lediglich darum, das bereits 2004 mit Einführung von § 12 Nr. 5 EStG a.F. bezweckte Abzugsverbot gegen den BFH durchzusetzen. Auf ein legitimes Klarstellungsinteresse kann sich der Gesetzgeber aber nur dann berufen, wenn die Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips gerechtfertigt wäre. Die kategorische Zuordnung von Bildungsaufwendungen zur Privatsphäre ist willkürlich6. Insbesondere der vom BFH entschiedene Erwerb berufsspezifischer, im Alltag nicht einsetzbarer Fertigkeiten (Ausbildung zum Verkehrspiloten, Medizinstudium) lässt sich nicht als „Privatvergnügen“ abstempeln. Der Veranlassungszusammenhang zwischen Bildungsaufwendung und zukünftiger Erwerbstätigkeit ist hinreichend konkret; es handelt sich hierbei auch nicht um im Rahmen einer Typisierung zu vernachlässigende Einzelfälle. Vereinfachungsinteressen, die letztlich dem Abzug jedweder Erwerbsaufwendungen entgegen gehalten werden könnten, rechtfertigen das Abzugsverbot nicht. Die Abgrenzung zwischen betrieblich/beruflicher und privater Veranlassung ist nicht schwieriger als in vielen anderen Fällen. Ebenso wenig ist die Privilegierung im 1 BFH/NV 2011, 1745; 2011, 1875; 2011, 2038; 2012, 19; 2012, 26; 2012, 27; BFH BStBl. 2012, 553; 2012, 561; 2012, 557. 2 BFH BStBl. 2010, 816 (Buchhändlerin studiert Lehramt); BFH/NV 2009, 1796 (Hotelfachfrau studiert Tourismus); 2009, 1799 (Koch studiert Hotelmanagement); dazu Paus, EStB 2009, 434; Steck, DStZ 2010, 194. 3 Abzugsfähigkeit nachlaufender gestundeter Studiengebühren R 10.9. II EStR 2012. 4 Anm. Bergkemper, DB 2014, 2626. S. ferner Anzinger, DB 2011, Heft Nr. 35 M 10; Geserich, SteuK 2011, 513 (516 ff.); Braun, Stbg. 2012, 65; Wenzel, StB 2012, 278; Fuchsen, Stbg. 2013, 481; Herrler, SteuerStud 2014, 21; s. ausf. auch Johenning, Bildungsaufwendungen im Einkommensteuerrecht, Diss., 2009, 201–258; Holthaus, Die Berücksichtigung von Bildungskosten im Einkommensteuerrecht, Diss., 2011, 99–205; zu BFH BStBl. 2014, 165, abl. Geserich, NWB 2014, 681; zustimmend dagegen D. Klein, DStR 2014, 776. 5 BT-Drucks. 17/7524. 6 Ähnlich Geserich, SteuK 2011, 513 (516); a.A. Förster, DStR 2012, 486 (490 f.).
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Besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen
Rz. 268
§8
Rahmen eines Dienstverhältnisses getätigter Bildungsaufwendungen, z.B. verwaltungsinterner Studiengänge (§ 9 VI EStG), gerechtfertigt. Die gesetzgeberische Bekräftigung des Abzugsverbots ist nicht nur steuersystematisch nicht zu rechtfertigen, sondern auch bildungspolitisch verfehlt. Den Bedürfnissen einer Wissensgesellschaft wird die Zuordnung zur Privatsphäre nicht gerecht. Wenn der Staat nicht für eine auskömmliche Bildungsfinanzierung Sorge trägt, und damit zunehmend (private) kostenpflichtige Bildungsangebote in Anspruch genommen werden müssen1, muss zumindest eine steuerliche Entlastung gewährt werden. BFH/NV 2011, 1779 (1782) sieht daher zutr. den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bzgl. der Zuordnung dadurch begrenzt, dass es sich bei den Aufwendungen für den ersten Beruf/das Erststudium um zwangsläufigen Aufwand i.S.v. BVerfGE 122, 210 (234) handelt, dem sich der Stpfl. nicht entziehen kann2.
265
Jenseits der vom Gesetzgeber willkürlich aus der Dogmatik vorweggenommener Erwerbsaufwendungen herausgeschnittenen Fälle erstmaliger Berufsausbildung und Erststudium gilt weiterhin die seit 2003 begründete Rspr. Danach sind Promotionskosten3 ebenso wie bisher Habilitationskosten4 regelmäßig als Erwerbsaufwendungen anzuerkennen. Auch Unterbringungskosten können als vorweggenommene Werbungskosten geltend gemacht werden, wenn der Studienort nicht der Lebensmittelpunkt ist5. Der BFH erkennt auch den Werbungskostenabzug von Kursen zur Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit6 und Seminaren zur Persönlichkeitsentfaltung7 im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalles an.
266
Im Grenzbereich zur Lebensführung bewegen sich Sprachkurse8 und der von Tipke9 dargelegte Bildungstourismus in Gestalt von Fachkongressen und Fortbildungsreisen10. Bei Sprachkursen im Ausland11 differenziert der BFH zwischen den Kursgebühren, die auch bei Erwerb lediglich allgemeinsprachlicher Kenntnisse bei entsprechender betrieblicher/beruflicher Veranlassung voll abzugsfähig sein können (BFH BStBl. 2011, 796) und den aufzuteilenden Reisekosten. I.Ü. ist im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls zu bestimmen, ob die Reise wesentlich durch die Erwerbstätigkeit veranlasst ist (z.B. BFH BStBl. 2007, 447). Ist dies z.B. bei einem Fachkongress grds. zu bejahen, so ist nach BFH GrS 1/06 (s. Rz. 243) eine Aufteilung vorzunehmen, falls der Stpfl. zugleich auch touristische Zwecke verfolgt.
267
Einstweilen frei.
268
1 Zu unterschiedlichen Studienfinanzierungsmodellen (insb. nachgelagerte Studiengebühren) und ihren steuerlichen Auswirkungen Weitemeyer/Süß, NJW 2011, 2844. 2 Schneider, NWB 2011, 2841. 3 BFH BStBl. 2003, 403; 2003, 407; 2004, 891; 2004, 884; 2004, 889; 2004, 891; Theisen/Zeller, DB 2003, 1753; Bur, INF 2004, 816; Lohwasser/Vater, StuB 2004, 305; Schießl, DStZ 2004, 119; Wulff, DStR 2004, 799. 4 BFH BStBl. 1967, 778. 5 BFH BStBl. 2013, 284 (285). 6 BStBl. 2009, 106. 7 BStBl. 2009, 108. 8 Dazu BFH BStBl. 2002, 579: Ob zwischen dem Erwerb von Fremdsprachenkenntnissen und der beruflichen Tätigkeit ein konkreter Zusammenhang besteht, ist auf Grund einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls festzustellen. Zu unteilbaren Aufwendungen der Lebensführung BFH BStBl. 2007, 814 (Deutschkurs einer mit einem deutschen Ehemann verheirateten Thailänderin; s. Beiser, DB 2007, 1720); BFH BStBl. 2001, 132 (Kosten eines in Deutschland arbeitenden Amerikaners für die englischsprachige Schule der Kinder). 9 StRO II2, 774 f. 10 Zu Fachkongressen in St. Anton (Arlberg) u. Mayrhofen (Zillertal) BFH BStBl. 2007, 457 (dazu Macher, DStZ 2007, 253); BFH/NV 2007, 681 (Studienreise nach Israel); 2008, 1837 (Werbungskosten bejaht für Kongress in Meran). 11 Hierzu BFH/NV 2006, 730; 2006, 934; 2006, 1075; BFH BStBl. 2011, 796. Bei Aufwendungen für Sprachkurse im EU-Ausland (EuGH C-55/98, Vestergaard) bzw. den Besuch einer Universität im EU-Ausland (EuGH C-56/09, Commissione tributaria provinciale die Roma) ist die Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EGV) zu beachten.
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§8
Rz. 269
Einkommensteuer
2.3.9 Geschenke 269
Geschenke1 sind nur im Rahmen der §§ 4 V 1 Nr. 1; 9 V EStG abziehbar. Danach sind Geschenke an Personen, die keine Arbeitnehmer des Stpfl. sind, nicht abziehbar, wenn die Anschaffungs-/Herstellungskosten aller Geschenke, die ein Empfänger im Wirtschaftsjahr erhalten hat, den Betrag von 35 Euro übersteigen (Abzugsgrenze; Einzelheiten: R 4.10 II–IV EStR 2012). Voraussetzung des Abzugs von Geschenken bis zu 35 Euro ist die gesonderte Aufzeichnung nach § 4 VII EStG, s. Rz. 293. Die sinngemäße Anwendung des § 4 V 1 Nr. 1 EStG auf Werbungskosten nach § 9 V EStG stellt den leitenden Arbeitnehmer und den Unternehmer gleich, so dass Geschenke angestellter Chefärzte, Direktoren etc. an Mitarbeiter als Werbungskosten anzuerkennen sind, soweit sie zumindest teilweise beruflich veranlasst sind. Die Kosten von Incentive-Reisen für Geschäftspartner sind nach § 4 V 1 Nr. 1 EStG nicht abziehbar2. Aufwendungen des sog. Sponsoring sind regelmäßig keine Geschenke i.S.d. § 4 V 1 Nr. 1 EStG, da eine Gegenleistung vereinbart ist3. Schmiergelder: Rz. 299. Von der Abzugsfähigkeit beim Zuwendenden zu unterscheiden ist die nach allgemeinen Grundsätzen der Veranlassung zu beurteilende Frage, ob das Geschenk beim Empfänger zu steuerbaren Einnahmen führt. In diesem Fall kann der Zuwendende gem. § 37b I 1 Nr. 2 EStG die Versteuerung durch den Empfänger mit diesen befreiender Wirkung (§ 37b III 1 EStG) pauschal übernehmen, s. auch Rz. 901.
2.3.10 Kleidung 270
Kleidung gehört zum existentiell unvermeidbaren Privatbedarf4. Daher sind Erwerbsaufwendungen grds. nur Aufwendungen für typische Berufskleidung (vgl. § 9 I 3 Nr. 6 Satz 1 EStG), wie z.B. Aufwendungen für eine Uniform, eine Amtstracht, einen Schutzhelm5. Ausnahmsweise können jedoch auch die Mehraufwendungen für bürgerliche Kleidung als Betriebsausgaben/ Werbungskosten berücksichtigt werden, wenn der Mehraufwand (insb. besonders hoher Verschleiß) nach objektiven Maßstäben zutreffend und in leicht nachprüfbarer Weise abgegrenzt werden kann6.
2.3.11 Kraftfahrzeugkosten 271
Kraftfahrzeugkosten sind bei gemischter Nutzung aufzuteilen, wobei unangemessene Kfz-Aufwendungen nach Maßgabe der §§ 4 V 1 Nr. 7; 9 V EStG auszuscheiden sind (s. Rz. 287 f.). Die gemischte Nutzung von Betriebs-/Dienstfahrzeugen ist in § 6 I Nr. 4 Sätze 2 und 3 EStG in Gestalt einer Pauschalierung der Privatnutzung geregelt7: Im Fall der privaten Nutzung von Betriebsfahrzeugen ist die Entnahme mit monatlich 1 % des inländischen Listenpreises im Zeit1 2 3 4 5
Abzugrenzen von Zugaben BFH/NV 2011, 650. BFH BStBl. 1993, 806; BMF BStBl. I 1996, 1192. Dazu BMF BStBl. I 1998, 212; Thiel, DB 1998, 842 (844); s. ferner § 20 Rz. 9, 16. Dazu grds. Tipke, StuW 1979, 202; Söhn, FR 1980, 301. BFH BStBl. 1959, 328 (Amtstracht); 1972, 379 (Uniform); 1979, 519 (schwarzer Anzug des Oberkellners); BFH/NV 1990, 288 (schwarzer Anzug eines Geistlichen). Keine typische Berufskleidung: BFH BStBl. 1991, 348; BFH/NV 1991, 377 (Arztkleidung nur dann Berufskleidung, wenn außerberufliche Verwendung wegen funktionalen Charakters ausgeschlossen); BFH BStBl. 1991, 751 (Konzertkleid); 1993, 192 (klimabedingte Kleidung wegen Umzug in das Ausland); 1993, 193 (Brille für Bildschirmtätigkeit); 1996, 202 (Lodenmantel); FG Hamburg EFG 2014, 1377 (Business-Kleidung eines Rechtsanwalts), rkr. S. auch R 3.31 LStR 2011/2013. Zum Werbungskostenabzug für Reinigung der Berufskleidung Rößler, FR 1995, 178; abl. Niedersächs. FG EFG 2010, 707, rkr. 6 Dazu insb. BFH BStBl. 1990, 49; a.A. für Kosten der Wäsche der Dienstkleidung Niedersächs. FG EFG 2010, 707; s. ferner Söhn, FR 1980, 301; KSM/Arndt, § 12 EStG Rz. B 150 (2002) (Kleidung); LBP/Kurzeja, § 12 EStG Rz. 42 ff. (2010); Schmidt/Loschelder33, § 9 EStG Rz. 173. 7 Dazu BMF BStBl. I 2011, 301; Kracht, SteuerConsultant 2009, 24; Balmes, BB 2011, 2263; Becker, StBp. 2011, 218 ff., 254 ff., 285 ff.; Moorkamp, SteuerStud 2011, 580; Thomas, DStR 2011, 1341; Urban, NJW 2011, 2465; Balmes, BB 2013, 2459. Die Nutzung eines betrieblichen Kfz ist durch die 1 %-Regelung nicht abgegolten, wenn das Kfz zur Erzielung von Überschusseinkünften genutzt wird (BFH BStBl. 2007, 445; dazu Stahlschmidt, FR 2007, 457).
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Besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen
Rz. 272
§8
punkt der Erstzulassung zuzüglich der Kosten für Sonderausstattungen inkl. der nach umsatzsteuerrechtlichen Maßstäben ermittelten USt (BFH BStBl. 2011, 451) anzusetzen, wenn das Kfz zu mehr als 50 % betrieblich genutzt wird (§ 6 I Nr. 4 Satz 2 EStG). Zur Förderung der Elektromobilität wird der Listenpreis von Elektro- und Hybridfahrzeugen um die Kosten des Batteriesystems gemindert angesetzt (§ 6 I Nr. 4 Satz 2 Hs. 2 EStG)1. Die 1 %-Regelung gilt auch für Dienstfahrzeuge, die Arbeitnehmer privat nutzen dürfen (§ 8 II 2 EStG)2. Dabei regeln die Sätze 2–5 von § 8 II EStG lediglich die Bewertung, nicht dagegen die nach allgemeinen Grundsätzen vorzunehmende Abgrenzung zwischen privatem und erwerbswirtschaftlichem Aufwand3. Die 1 %-Regelung wird nicht um die vom Arbeitnehmer selbst getragenen Treibstoffkosten gemindert4. Sie wird aufgestockt pro Entfernungskilometer bei Fahrten zwischen Wohnung und Erwerbsstätte um monatlich 0,03 % und bei Familienheimfahrten um 0,002 % des Listenpreises (§§ 4 V Nr. 6 Satz 3; 8 II 3 u. 5 EStG). Der Zuschlag von 0,03 % hängt von der tatsächlichen Nutzung des Dienstwagens für Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte ab5 und ist mit 0,002 % des Listenpreises pro Fahrt zu ermitteln6. Zudem beschränkt sich der Zuschlag nach BFH BStBl. 2008, 890, auf eine Teilstrecke, wenn der Dienstwagen nur auf einem Teil des Weges zwischen Wohnung u. erster Tätigkeitsstätte eingesetzt wird. Der Pauschalierung kann durch die sog. Escape-Klausel eines Fahrtenbuch-Nachweises entgangen werden (§§ 6 I Nr. 4 Satz 4; 8 II 4; 4 Va 3 EStG). Die Aufzeichnungen im Fahrtenbuch müssen eine hinreichende Gewähr für ihre Vollständigkeit u. Richtigkeit bieten. Kleinere Mängel sind unschädlich, wenn die Angaben insgesamt plausibel sind7. Die Rspr. bejaht eine verfassungsrechtlich zulässige Typisierung8 selbst für voll abgeschriebene Gebrauchtfahrzeuge. Die Regelung gilt nicht nur für eigene Neu- u. Gebrauchtfahrzeuge, sondern auch für gemietete (geleaste) Kfz, jedoch nicht für Kfz, die typischerweise nicht privat genutzt werden wie z.B. Zugmaschinen/LKW9. Wird das Kfz von mehreren Stpfl. genutzt, so ist die 1 %-Nutzung aufzuteilen (BFH BStBl. 2003, 311). Werden in einem Betrieb mehrere Kfz privat genutzt, so unterliegen grds. sämtliche Fahrzeuge der 1 %-Regelung10. Nach BMF BStBl. I 2009, 1326 (Tz. 18), ist der Nutzungswert höchstens mit den Kfz-Gesamtaufwendungen anzusetzen (sog. Kostendeckelung). Diese Deckelungsregelung ist als Billigkeitsmaßnahme zu beurteilen, auf die der Stpfl. kraft Selbstbindung der Verwaltung (s. § 5 Rz. 36) Anspruch hat (BFH/NV 2007, 1838). In BMF BStBl. I 2009, 1326 (Tz. 24 ff.), ist niedergelegt, wie das Fahrtenbuch zu führen ist, dabei wird ein elektronisches Fahrtenbuch zugelassen. Arbeitnehmer, die ihr privates Kraftfahrzeug für Dienstfahrten benutzen, können zunächst die tatsächlichen anteiligen Gesamtkosten (AfA sowie Aufwendungen für Benzin, Wartung, Reparatur, 1 BT-Drucks. 17/12375, S. 36 zum Gesetz v. 26.6.2013 BGBl. I 2013, 1809; hierzu Balmes, BB 2013, 215; krit. Schmidt/Kulosa33, § 6 Rz. 520. 2 Die 1 %-Regelung ist nicht anzuwenden, wenn der Firmenwagen nicht privat genutzt wird (BFH BStBl. 2007, 116; 2013, 365) bzw. die Privatnutzung unbefugt geschieht (BFH BStBl. 2012, 362; 2013, 918; 2013, 920; 2013, 1044; Seifert, StuB 2012, 934: Beachtlichkeit von Privatnutzungsverboten). Steht fest, dass der Arbeitnehmer ausdrücklich oder konkludent zur Nutzung befugt ist, lässt BFH BStBl. 2013, 700, 2014, 641, entgegen früherer Rspr. den Nachweis eines atypischen, eine tatsächliche Privatnutzung ausschließenden Falles nicht mehr zu (dazu Eismann, DStR 2013, 2740; Strohner, DB 2013, 1986; Geserich, NWB 2013, 2376; Schmitz-Herscheidt, NWB 2014, 907). Die Überlassung für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte (ab VZ 2014 erster Tätigkeitsstätte) ist keine Überlassung zur privaten Nutzung, s. BFH BStBl. 2012, 362. 3 Zutr. Thomas, DStR 2011, 1341 (1342); a.A. Urban, NJW 2011, 2465. 4 BFH BStBl. 2008, 198. 5 Vgl. BFH BStBl. 2008, 887 u. 890; 2009, 280; 2011, 358; 2011, 359; BMF BStBl. I 2011, 301. 6 BMF BStBl. I 2011, 301 (Tz. 2). 7 BFH BStBl. 2008, 768. Zum Fahrtenbuch Bilsdorfer, DStR 2012, 1477; Bingel/Göttsching, DStR 2013, 690 (krit. gegenüber den insgesamt [zu] hohen Anforderungen an das Fahrtenbuch). 8 BVerfG HFR 2003, 178; BFH BStBl. 2000, 273; 2001, 403; 2013, 385; zustimmend Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 527. 9 BMF BStBl. I 2009, 1326 Rz. 1; BFH BStBl. 2003, 471 (Geländewagen unterfallen der 1 %-Regelung). Wird ein typischerweise nur betrieblich nutzbares Fahrzeug auch privat genutzt, so obliegt die Feststellungslast dem FA (BFH BStBl. 2009, 381, betr. Kastenwagen). 10 BFH BStBl. 2010, 903; 2014, 340; BMF BStBl. I 2009, 1326; Ausnahmen BMF BStBl. I 2012, 1099.
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272
§8
Rz. 273
Einkommensteuer
Garage, Versicherungen, Kfz-Steuer) ansetzen (s. R 9.5 I LStR 2011/2013; H 9.5 LStH 2014). Nach H 9.5 LStH 2014 (unter „Einzelnachweis“) ist der AfA für Pkw und Kombifahrzeuge (ab 2001) regelmäßig eine 6-jährige Nutzungsdauer zugrunde zu legen1. Ohne Einzelnachweis der tatsächlichen Gesamtkosten können folgende Pauschalen pro Fahrtkilometer angesetzt werden: 0,30 Euro Pkw; 0,20 Euro für jedes andere motorbetriebene Fahrzeug (z.B. Motorrad)2.
273
Außergewöhnliche Kosten3 fallen nicht in die Pauschalierung und sind auch nicht durch die 1 %-Regelung abgedeckt. Ist somit ein Unfall privat veranlasst, so sind die Unfallkosten kausalrechtlich direkt zuzuordnen und nicht abgegolten (BFH BStBl. 2007, 766). Im Falle eines Totalschadens liegt Substanzentnahme des Betriebsfahrzeugs vor (s. Rz. 279).
2.3.12 Reisekosten4 274
Reisekosten sind voll abzugsfähige Betriebsausgaben/Werbungskosten, wenn die Reise ausschließlich betrieblich/beruflich veranlasst ist (Beispiele: Geschäftsreisen, Dienstreisen, Dienstantrittsreisen, Bewerbungsreisen, Umzugsreisen). Der im Zuge der Reform des steuerlichen Reisekostenrechts eingefügte § 9 I 3 Nr. 4a EStG stellt klar, dass Fahrten, die weder zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte stattfinden, noch Familienheimfahrten sind, nicht den Beschränkungen der Entfernungspauschale unterliegen, sondern voll abzugsfähige Reisekosten sind. Bei gemischt veranlassten Reisen hat BFH GrS BStBl. 2010, 672, das bisherige Verständnis von § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG als Aufteilungs- und Abzugsverbot aufgegeben und lässt nunmehr einen Abzug zu, wenn die Aufwendungen quantitativ aufteilbar sind (s. auch Rz. 243). Die privat veranlassten Reisekosten, z.B. bei einem touristischen Zusatzprogramm, müssen dann entsprechend herausgerechnet werden (s. bereits Rz. 267). Sachgerechter Aufteilungsmaßstab ist das Verhältnis der beruflichen und privaten Zeitanteile5. Sind die Aufwendungen quantitativ unteilbar und ist die Reise wesentlich privat mitveranlasst, werden die Aufwendungen dagegen weiterhin vollständig der Lebensführung zugeordnet.
2.3.13 Telefonkosten 275
Telefonkosten sind im Falle gemischter Veranlassung grds. schätzweise wie Pkw-Kosten aufteilbar. Dies gilt nicht nur bei Betriebstelefonen, sondern auch bei privaten Telefonanschlüssen in der Wohnung eines Arbeitnehmers6. Die schätzweise Aufteilung der Grund- und Gesprächsgebühren ist selbst dann zulässig, wenn keine Aufzeichnungen über die dienstlichen und privaten Gespräche geführt werden7. Die private Nutzung betrieblicher Telekommunikationseinrichtungen durch Arbeitnehmer ist nach § 3 Nr. 45 EStG steuerfrei gestellt. Hierdurch werden Unternehmer gleichheitswidrig diskriminiert. Während einer beruflichen Auswärtstätigkeit können auch die Kosten privater Telefonate voll abzugsfähig sein8. 1 BFH BStBl. 1992, 1000: 8-jährige Nutzungsdauer. 2 BMF BStBl. I 2013, 1279 Rz. 36. 3 Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 525; Blümich/Ehmcke, § 6 EStG Rz. 1013i (2011); Urban, FR 2005, 1134. Zutr. BFH BStBl. 2006, 72: Vignetten, Mautgebühren, ADAC-Schutzbrief von der Abgeltungswirkung der 1 %-Regelung nicht erfasst. 4 Dazu i. E. insb. die R 9.4 LStR 2011/2013. Zu Auslandsreisen s. BMF BStBl. I 2013, 1467; zur Ermittlung der Veranlassung BFH BStBl. 2010, 687 (Anwendung der bisherigen Grundsätze zur Klärung der Veranlassungsbeiträge); 2011, 522 (dienstlich angeordnete Gruppenreise eines Geistlichen); 2012, 416 (Bildungsreise); BFH/NV 2010, 1330 (Begleitung eines Politikers auf Auslandsreise). Lit. zu BFH GrS 1/06, BStBl. 2010, 672; BFH BStBl. 2010, 685 (Auslandsreisen); Grützner, StuB 2010, 616; Neufang/Schmid, StB 2010, 15; Seifert, StuB 2010, 227; Geserich, NWB 2011, 2452 (Auslandsdienst- u -fortbildungsreisen). Zur Judikatur des österr. VwGH, der inzwischen ebenfalls vom Aufteilungsverbot abrückt, s. Renner, ÖStZ 2010, 123; Daxkobler/Kerschner, ÖStZ 2011, 413; Kühbacher, ÖStZ 2011, 441; Lachmayer, ÖStZ 2011, 181; Zorn, ÖStZ 2011, 123. 5 BFH BStBl. 2010, 687. 6 BFH BStBl. 1981, 131; 1986, 200 (206). 7 S. BFH BStBl. 1981, 131; 1986, 200 (206). 8 BFH BStBl. 2013, 282 (284): Bei Überlagerung der privaten durch die berufliche Veranlassung.
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Rz. 278
§8
Umzugskosten sind Erwerbsaufwendungen, wenn der Umzug betrieblich oder beruflich veranlasst ist (s. R 9.9 LStR 2011/2013). Nach Aufgabe des Aufteilungsverbots (s. Rz. 242) müssen auch bei einem privat veranlassten Umzug die anteiligen Kosten für Arbeitszimmereinrichtung, Fachbibliothek zum Abzug zugelassen werden. Nicht abzugsfähig sind dagegen bei einem beruflich veranlassten Umzug die Kosten der Renovierung privat genutzter Räume in der neuen Wohnung1. R 9.9 II LStR 2011/2013 erkennt die nach Bundesumzugskostenrecht erstattungsfähigen Kosten2 als Werbungskosten an; bei tatsächlich nachgewiesenen höheren Kosten erfolgt eine Einzelfallprüfung. Richtigerweise muss zwischen öffentlichem Umzugskostenrecht und der steuerrechtlichen Abzugsfähigkeit deutlich unterschieden werden3. Aufwendungen, die den Betriebsausgaben- oder Werbungskostenbegriff erfüllen, können auch dann abgezogen werden, wenn sie beamtenrechtlich nicht erstattungsfähig sind bzw. wären; sie sind unbeschränkt abzugsfähig4. Umgekehrt muss die Steuerbefreiung für aus öffentlichen Kassen gezahlte Reisekostenvergütungen als Vereinfachungszwecknorm auf solche Vergütungen begrenzt werden, die als Werbungskosten abgezogen werden können; die Begrenzung des § 3 Nr. 13 EStG auf den Werbungskostenabzug gebietet der Gleichheitssatz5.
276
Besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen
2.3.14 Umzugskosten
2.3.15 Verlust von Wirtschaftsgütern Verluste von Wirtschaftsgütern6 durch höhere Gewalt, Diebstahl, Unfall und dergl. gehören grds. zu den Nebenfolgen risikobehafteten ökonomischen Handelns (s. bereits Rz. 211 f.). Nach dem objektiven Nettoprinzip ist die Risikosphäre der Erwerbstätigkeit vollständig zu berücksichtigen (s. Rz. 208 ff.).
277
Bei den Gewinneinkünften gilt Folgendes: Wird ein zum Betriebsvermögen gehörendes Wirtschaftsgut durch ein betriebliches oder neutrales Ereignis zerstört (Unfall während der Betriebsfahrt, neutral: Zerstörung von Pkw in der Betriebsgarage durch Brand, Blitzschlag etc.), so ist der Buchwert Aufwand und eine Versicherungsleistung Ertrag. Nach h.M. soll dies auch für gemischt genutzte Wirtschaftsgüter gelten7. Umstritten ist die Rechtslage, wenn der Verlust eines zum Betriebsvermögen gehörenden Wirtschaftsguts privat veranlasst ist, z.B. ein Betriebs-Pkw während einer Urlaubsfahrt total zerstört oder gestohlen wird8: Der I. BFH-Senat (BStBl. 1990, 8) bejahte Nutzungsentnahme, die einerseits lediglich mit dem Buchwertverlust zu bewerten sei; andererseits sei die Versicherungsleistung auch als Betriebseinnahme zu erfassen. Demgegenüber bewertete der VIII. Senat (BFH BStBl. 2001, 395; 2004, 725) die Entnahme mit dem Teilwert (Differenz zwischen den tatsächlichen Werten vor und nach dem Unfall) und behandelte die Versicherungsleistung als privat veranlasst9. Der XI. Senat (BStBl. 2007, 762) rechnete den Diebstahl eines betrieblichen Pkw während einer privaten Umwegfahrt der Privatsphäre zu, ohne sich zu der Divergenz zwischen I. und VIII. Senat zu äußern10.
278
1 2 3 4 5 6 7 8 9
10
BFH/NV 2012, 1956 (1957). Für Auslandsumzüge s. Auslandsumzugskostenverordnung, BGBl. I 2012, 2349. KSM/von Bornhaupt, § 9 EStG Rz. B 613 f. (2000); HHR/Bergkemper, § 9 EStG Anm. 315 (2010). BFH BStBl. 1994, 323; 2012, 104. BFH BStBl. 2007, 536; ebenso Völlmeke, DB 1993, 1590. Dazu Tipke, StuW 1979, 201 f.; Söhn, DStJG 3 (1980), 13 (32 f.); Wassermeyer, DStJG 3 (1980), 315 (324 f.); KSM/Söhn, § 4 EStG Rz. E 755 ff. (2012); Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 520 (Verluste). Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 940 (2013) (Kfz); Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 520 (Verluste) u. auch KSM/Söhn, § 4 EStG Rz. E 658, E 762 (2012), wenngleich eine Aufteilung des Verlustes entspr. den Nutzungsanteilen „systematisch folgerichtig und sachgerechter“ wäre. Dazu Paus, FR 2001, 1045; Meurer, BB 2002, 503; Jüptner, DStZ 2001, 811; Kontroverse: Beiser, DB 2005, 15 ff., 2200 ff., u. Ismer, DB 2003, 2197; Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 520 (Verlust). Vgl. auch BFH BStBl. 2006, 7, zur Behandlung einer Versicherungsleistung nach Diebstahl eines Pkw. Der IV. Senat neigte wohl der Auffassung des I. Senats zu, qualifizierte jedoch schließlich das Parken vor dem Privathaus nicht als private Nutzung, so dass die Divergenz zwischen I. und VIII. Senat nicht entschieden werden musste. Dazu gab es keinen entscheidungserheblichen Anlass, weil der Kläger lediglich den Buchwertverlust gewinnmindernd geltend machte und die Kaskoversicherung den Schaden wegen Verletzung einer Obliegenheitspflicht nicht regulieren musste.
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§8
Rz. 279
279
M.E. liegt bei völliger Zerstörung Substanzentnahme vor, weil das Wirtschaftsgut infolge eines privaten Ereignisses aus dem Betriebsvermögen endgültig ausscheidet. Mit dem Ansatz des Teilwerts im Zeitpunkt der Zerstörung werden die stillen Reserven voll abgerechnet. Die Versicherungsleistungen sind nicht als Ertrag zu behandeln, sondern der Privatsphäre zuzuordnen. Ebenso gehört der Erlös aus der Veräußerung eines betrieblich nicht mehr nutzbaren Wirtschaftsguts zu den Privatbezügen. Wird hingegen das Fahrzeug nach der Urlaubsfahrt repariert, so kann eine Substanzentnahme nicht angenommen werden, weil das Fahrzeug betrieblich nutzbar bleibt. Reparaturkosten und Minderung des Buchwerts sind privater, durch die Urlaubsfahrt veranlasster Aufwand.
280
Bei dem betrieblichen Verlust privater Wirtschaftsgüter ist die vorangegangene Wertminderung durch Privatnutzung zu beachten. Wird z.B. ein Privat-Pkw während einer Betriebsfahrt beschädigt und nicht repariert, so kann die AfaA (§ 7 I 7 EStG) abzüglich einer bis zur Beschädigung fiktiv anzusetzenden Normal-AfA angesetzt werden1.
281
Bei den Überschusseinkünften ist zunächst im Interesse einer einheitlichen kausalrechtlichen Beurteilung von einem sog. Einkunftserzielungsvermögen auszugehen (s. bereits Rz. 253), jedoch die Entscheidung des Gesetzgebers für den Einkünftedualismus (s. Rz. 181 ff.) zu respektieren und die Risikosphäre quellentheoretisch zu begrenzen. Daher reicht im Gegensatz zu den Gewinneinkünften die schlichte Nutzung des Wirtschaftsguts nicht aus, um bei seinem Verlust einen Werbungskostenabzug zu begründen. So liegt z.B. ein einkommensteuerrechtlich irrelevanter Stammvermögensverlust vor, wenn ein Mietshaus durch Brand zerstört wird. Wird jedoch das Wirtschaftsgut einem spezifischen Risiko der Erwerbshandlung ausgesetzt und tritt infolgedessen sein Verlust ein, so muss dieser Verlust als negativer Erfolgsbeitrag der Einkünfteerzielung bewertet (s. bereits Rz. 211) und Werbungskostenabzug in Höhe des gemeinen Werts des untergegangenen Wirtschaftsguts bejaht werden. In dieser Weise sind als Werbungskosten zu berücksichtigen die bereits oben (Rz. 211) aufgeführten Verluste privater Wirtschaftsgüter infolge einer Erwerbstätigkeit, etwa die (Total-)Beschädigung des privaten Pkw während einer Dienstreise des Arbeitnehmers2. Während BFH BStBl. 1993, 663, den Werbungskostenabzug von Verlusten eines arbeitsplatzsichernden Darlehens zu Recht anerkennt3, fiel der Darlehensverlust bei Vermögenseinkünften bisher grds. in die Stammvermögenssphäre, wo Verluste von Wirtschaftsgütern keine Werbungskosten sind4. Nach Einführung der vollen Steuerpflicht in § 20 II EStG kann indes an der Unbeachtlichkeit von Verlusten von Wirtschaftsgütern zur Erzielung von Kapitaleinkünften (Aktien, GmbH-Anteile, Darlehensforderungen) nicht mehr festgehalten werden; sie sind in den Grenzen von § 20 VI EStG abzusetzen.
Einkommensteuer
2.3.16 Verpflegungsmehraufwendungen 282
Durch die Reform des steuerlichen Reisekostenrechts (Gesetz v. 20.2.2013, BGBl. I 2013, 285) ist auch der Abzug für Verpflegungsmehraufwendungen neu gestaltet worden5. Abzugsfähig sind gem. § 9 IVa EStG folgende Pauschalen: 24 Euro bei 24-stündiger Abwesenheit, 12 Euro bei mehr als 8-stündiger Abwesenheit sowie bei mehrtägiger Abwesenheit für An- und Abreisetag (zur Vereinbarkeit mit dem Nettoprinzip s. Rz. 243, 303). Bei höheren Erstattungen des Arbeitgebers können diese mit 25 % pauschalversteuert werden, soweit die Pauschbeträge des § 9 IVa 3-6 EStG um nicht mehr als 100 % überschritten werden (§ 40 II 1 Nr. 4 EStG). Bei Auslandsreisen gelten spezielle Pauschbeträge, die das BMF regelmäßig nach Maßgabe des Bundesreisekostengesetzes festsetzt6. 1 BFH BStBl. 1995, 318. 2 Schmidt/Krüger33, § 19 EStG Rz. 110 (Unfallkosten). Lässt der Arbeitnehmer das Fahrzeug nicht reparieren, so kann er die AfA (§ 7 I 5 i.V.m. § 9 I 3 Nr. 7 EStG) absetzen. Soweit die unfallbedingte Wertminderung durch Reparatur behoben worden ist, sind nur die tatsächlichen Reparaturkosten zu berücksichtigen (BFH BStBl. 1994, 235, dazu Kramer, FR 1994, 485). Der merkantile Minderwert ist nicht abzugsfähig (BFH BStBl. 1992, 401). 3 Vgl. auch BFH/NV 1997, 400; BFH BStBl. 2012, 24; J. Lang, DStJG 9 (1986), 15; Grube, FS Klein, 1994, 913 (916 f.); dagegen BFH BStBl. 2010, 198 (Veräußerungsverlust aus einer Beteiligung am Arbeitgeber keine negativen Werbungskosten). 4 BFH BStBl. 1994, 289; 2011, 491 (Fremdwährungsdarlehen); 1997, 755 (761: Ambros-Forderungsausfall); 1998, 102 (Veräußerungskosten); BFH/NV 2000, 1342 (Darlehensvermittlungsgebühren); Grube, FS Klein, 1994, 913; Wellmann, DStZ 2001, 318 (Fremdwährungskredite). 5 Seifert, DStZ 2013, 903; Harder-Buschner/Schramm, NWB 2014, 175. 6 Ab 1.1 2014 gelten folgende Pauschbeträge BMF BStBl. I 2013, 1467.
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Rz. 284
§8
Zinsen gehören zu den unerschöpflichen Themen des Steuerrechts. Der permanente Strom von Rspr. und Literatur ist enorm1. Die Komplexität des Themas ergibt sich aus den Schwierigkeiten kausalrechtlicher Abgrenzungen sowie aus Steuerabzugsstrategien, die der Gesetzgeber mit Sondervorschriften zu bewältigen versucht, so mit § 4 IVa EStG (s. Rz. 284) und mit der Beschränkung des Abzugs von Finanzierungsaufwand im Konzern, u.a. mit der Zinsschranke des § 4h EStG (s. § 11 Rz. 49 ff.).
283
Besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen
2.3.17 Zinsen
Überblick: Bei den Gewinneinkünften korrigiert der Gesetzgeber die Zuordnungsentscheidung des Stpfl., dem es grds. freisteht, betriebliche Aufwendungen durch Fremd- oder Eigenkapital zu finanzieren, durch die in § 4 IVa EStG geregelte Figur der Überentnahme. Bei den Überschusseinkünften sind die Quelleneinkünfte von den Veräußerungseinkünften i.S.d. §§ 17; 23 EStG zu unterscheiden (s. Rz. 199). Im Weiteren sind Zinsen der Vermietung oder Selbstnutzung zuzuordnen (s. Rz. 285) oder zwischen Ehegatten aufzuteilen (s. BFH BStBl. 2001, 785). Zinsen auf Steuern i.S.d. § 12 Nr. 3 EStG sind nach dem Aschenputtelprinzip (Eggesiecker/Ellerbeck, BB 2004, 745) geregelt: Nicht abziehbar sind bei Personensteuern Nachforderungszinsen (Nebenleistungen i.S.d. § 3 IV AO; § 12 Nr. 3 letzter Hs. EStG) u. Zinsen für Steuerzahlungskredite (ESt: BFH BStBl. 1991, 514; ErbSt: Niedersächs. FG EFG 2003, 297), bei Betriebsteuern Zinsen auf hinterzogene Steuern (§ 4 V 1 Nr. 8a EStG, s. Rz. 298). Hingegen sind Erstattungszinsen als Erträge zu versteuern. Dies hat der Gesetzgeber durch JStG 2010 v. 8.12.2010, BGBl. I 2010, 1768, in § 20 I 1 Nr. 7 Satz 3 EStG gegen BFH BStBl. 2011, 503, angeordnet (s. auch Rz. 496). Gewinneinkünfte: Zinsen sind Betriebsausgaben, wenn das Darlehen für betriebliche Zwecke verwendet wird. Die betriebliche Veranlassung von Schuldzinsen suchte der Stpfl. mit sog. Mehrkontenmodellen zu optimieren, indem er kontentechnisch getrennt betriebliche Aufwendungen fremdfinanzierte und die betrieblichen Erträge für Privatinvestitionen entnahm. Diese Steuergestaltung erkannte der BFH2 mit dem Blick auf die Finanzierungsfreiheit an. Der Gesetzgeber reagierte mit einem Nichtanwendungsgesetz: Nach § 4 IVa EStG3 sind Schuldzinsen nicht abziehbar, wenn Überentnahmen getätigt worden sind. § 4 IVa 2 EStG definiert die Überentnahme als den Betrag, um den die Entnahmen die Summe des Gewinns und der Einlagen des Wirtschaftsjahrs übersteigen. Die Ermittlung erfolgt betriebsbezogen4. Die nichtabziehbaren Schuldzinsen sind mit 6 % typisiert anzusetzen (§ 4 IVa 3 EStG). Der sich dabei ergebende Betrag, höchstens jedoch der um 2 050 Euro verminderte Betrag der im Wirtschaftsjahr angefallenen Schuldzinsen, ist dem Gewinn hinzuzurechnen (§ 4 IVa 4 EStG). Bei Mitunternehmerschaften sind die Schuldzinsen zwar gesellschafterbezogen hinzuzurechnen. Gleichwohl steht der Mindestabzug nach § 4 IVa 4 EStG nicht jedem Mitunternehmer in voller Höhe zu; er ist vielmehr entsprechend den Schuldzinsenanteilen der einzelnen Mitunternehmer aufzuteilen5. § 4 IVa EStG findet keine Anwendung für Gesellschafterdarlehen, weil diese als Sondervergütungen den Gewinn der Personengesellschaft nicht mindern (BFH BStBl. 2014, 621). Unberührt bleiben Schuldzinsen für die Finanzierung von Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens (§ 4 IVa 5 1 Dazu Schmidt, DStR 1990, 115 (Streichung des Sonderausgabenabzugs für Schuldzinsen sichert Vollbeschäftigung der Finanzgerichtsbarkeit); Drenseck, DStR 1998, 1326 (kaum eine andere gesetzgeberische Maßnahme hat eine ähnliche Prozessflut ausgelöst); Meyer/Ball, DStR 1999, 781; Söffing, Schuldzinsenabzug – Ein Beispiel für die permanente Verkomplizierung unseres Steuerrechts, FS Offerhaus, 1999, 581; Prinz, Steuerlicher Schuldzinsenabzug – Labyrinth oder Steuerfalle, StbJb. 1999/2000, 293; Eggesiecker/Ellerbeck, Zinsen auf Steuern – Guthabenzinsen versteuern, Schuldzinsen nicht absetzen?, BB 2004, 745; Prinz, Finanzierungsfreiheit im Steuerrecht – Plädoyer für einen wichtigen Systemgrundsatz, FR 2009, 593; Goebel/Eilinghoff/Busenius, DStZ 2010, 742; Prinz, FS Herzig, 2010, 147 ff.; Paus, Gibt es einen zweiten, in sich schlüssigen Begriff der betrieblichen bzw. privaten Veranlassung von Schuldzinsen?, DStZ 2011, 688. 2 BFH GrS BStBl. 1990, 817 u. BStBl. 1998, 193. Im Weiteren BFH BStBl. 1998, 193; 1998, 513; BFH/NV 1998, 1090; 1999, 770; 1999, 774; Bader, FR 1998, 449; Bilsdorfer, NJW 1998, 1686; Drenseck, DStZ 1998, 182; Olbertz, BB 1998, 2186. Gegen das Mehrkontenmodell im Wege einer saldierenden Betrachtungsweise österr. VGH v. 27.1.1998, FR 1998, 467 (m. Anm. Fischer). Dazu Beiser, ÖStZ 1998, 370; Pircher/Pülzl, ÖStZ 1998, 570; Wacker, DStR 1999, 1001; Buschmann/Mayerhofer, ÖStZ 2000, 675. 3 Zur Rechtsentwicklung der durch StEntlG 1999/2000/2002 eingeführten Vorschrift und zu Rückwirkungsproblemen s. 20. Aufl., § 9 Rz. 284 Fn. 154. Überblick s. Stoewer, SteuerStud 2011, 118; aktuelle Rechtsanwendung Weber-Grellet, DB 2012, 1889. 4 BFH BStBl. 2012, 10. 5 BFH BStBl. 2008, 420; dazu BMF BStBl. I 2008, 588; 2008, 957.
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284
§8
Rz. 285
Einkommensteuer
EStG). § 41 IVa 1–5 EStG ist auch bei einer Gewinnermittlung nach § 4 III EStG anzuwenden (§ 4 IVa 6 EStG).
285
Überschusseinkünfte: Die frühere kausalrechtliche Zuordung von Zinsen als Werbungskosten bei den Quelleneinkünften aus Kapitalvermögen zwischen der Finanzierung steuerbarer laufender Einkünfte und nichtsteuerbarer Stammvermögensmehrungen1 ist mit Einführung der vollen Steuerpflicht gem. § 20 II EStG ab 2009 obsolet. Grds. müssten Zinsen voll abzugsfähig sein, indes gilt die Begrenzung auf den Sparer-Pauschbetrag von 801 Euro (§ 20 IX 1 EStG). Bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung geht es hauptsächlich darum, Zinsen u.a. Kreditkosten, z.B. Notargebühren (BFH BStBl. 2003, 399), Gebühren für den Abschluss eines Bauvertrages (BFH BStBl. 2003, 398), Kosten einer Kapitallebensversicherung für die Rückzahlung eines Immobilienkredits (BFH BStBl. 2009, 459; BFH/NV 2012, 564), der Vermietung oder Selbstnutzung von Immobilien zuzuordnen2. Den Ausgangspunkt bildet die Aufspaltung eines teils vermieteten und teils selbstgenutzten Gebäudes in zwei selbständige Wirtschaftsgüter. Diesen Wirtschaftsgütern sind sodann die Anschaffungs-/Herstellungskosten sowie die Zinsen zuzuordnen. Im Anschluss an die von BFH GrS (BStBl. 1990, 817 u. 1998, 193) entwickelten Grundsätze der Finanzierungsfreiheit überlässt BFH BStBl. 2003, 389; 2004, 348, dem Stpfl. die Zuordnungsentscheidung, soweit die Aufteilung der Zinsen nicht zu einer unangemessenen wertmäßigen Berücksichtigung der einzelnen Grundstücksteile führt. Trifft der Stpfl. keine nach außen hin erkennbare Zuordnungsentscheidung, sind die Anschaffungs-/Herstellungskosten nach den Wohn-/Nutzflächen des Gebäudes aufzuteilen (BFH BStBl. 1999, 676; 2009, 663). BFH 1999, 353, erkennt den Werbungskostenabzug an, wenn ein betrieblicher Kredit in einen Vermietungskredit umgewidmet oder wenn (s. BFH BStBl. 2001, 573) ein betrieblicher Kredit abgelöst wird. Auch sind Schuldzinsen nach Aufgabe der Vermietungstätigkeit abziehbar, wenn mit dem Kredit Kosten während der Vermietung finanziert wurden; s. auch Rz. 1993. Möchte der Stpfl. ein Mietobjekt lastenfrei übertragen und leistet er deswegen eine Vorfälligkeitsentschädigung, so ordnet BFH BStBl. 2004, 57; BFH/NV 2014, 1254, diese zutr. der Stammvermögenssphäre zu; grds. zu kreditfinanzierten Rentenversicherungen BFH BStBl. 2006, 223; s. auch Rz. 359.
2.4 Nichtabziehbare Erwerbsaufwendungen 2.4.1 Allgemeine Regeln 286
Unter nichtabziehbaren Betriebsausgaben und Werbungskosten versteht man Aufwendungen, die zwar durch die Erwerbstätigkeit veranlasst sind, die jedoch kraft eines gesetzlichen Abzugsverbots nicht abziehbar sind. Derartige Aufwendungen können auch nicht in Privatabzügen berücksichtigt werden, weil diese grds. Betriebsausgaben oder Werbungskosten nicht erfassen (§§ 10 Einleitungssatz; 33 II 2 EStG). Indessen regeln gesetzliche Abzugsverbote häufig Aufwendungen, die nicht ausschließlich durch die Erwerbstätigkeit, sondern auch (offensichtlich oder versteckt) privat mitveranlasst sind.
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(1) Nach § 4 V 1 Nr. 7 EStG dürfen Aufwendungen, die die Lebensführung des Stpfl. oder anderer Personen berühren, den Gewinn nicht mindern, soweit sie nach allgemeiner Verkehrsauffassung als unangemessen anzusehen sind4. Diese Vorschrift formuliert ein allgemeines Angemessenheitsprinzip. Damit ist § 4 V 1 Nr. 7 EStG eine Grundvorschrift, die den unangemessenen Teil der Aufwendungen vom Steuerabzug ausschließt, weil dieser Teil verdeckt privat veranlasst ist5. 1 BFH BStBl. 1982, 463; 2003, 937. 2 BFH BStBl. 1999, 676; 1999, 678; 1999, 680; 2003, 389; 2004, 348; Kohlrust-Schulz/Hausen, INF 1999, 678; Spindler, DStZ 1999, 706; Pezzer, FR 2000, 650; Risthaus, DB 2000, 293; Schoor, INF 2003, 26; Söffing, Stbg. 2005, 112; Schießl, SteuerStud 2008, 422; Heuermann, DB 2009, 1558; Hilbertz, NWB 2009, 2884. Grds. zur Zuordnung von Zinsen s. auch BFH BStBl. 2012, 254. 3 BFH BStBl. 2001, 528. Im Fall der Vorfälligkeitsentschädigung versagt BFH BStBl. 2004, 57 (58) den Werbungskostenabzug, weil die Entschädigung „der nicht einkommensteuerbaren Veräußerung zuzurechnen“ sei. Dazu Schell, FR 2004, 506. 4 Dazu Helkenberg, Die Unangemessenheit von Betriebsausgaben nach § 4 Abs. 5 Nr. 7 EStG, Diss., 1994. 5 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 328 f.; Tipke, StRO II2, 772 f. (rechtsvergleichend). Vgl. § 15 I Kölner EStGE (Begr. Rz. 333: Übernahme des in § 4 V 1 Nr. 7 EStG normierten Rechtsgedankens in die Grundvorschrift zur Abgrenzung der Erwerbsaufwendungen zu den Kosten der Lebensführung).
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Nichtabziehbare Erwerbsaufwendungen
Rz. 290
§8
§ 4 V 1 Nr. 7 EStG ist insofern fehlplaziert, als er eigentlich den § 4 V 1 EStG einleiten müsste, weil er einen allgemeinen Grundsatz postuliert, der durch die speziellen Abzugsverbote in § 4 V EStG konkretisiert wird. Dies zeigt exemplarisch die Bewirtung von Geschäftsfreunden in Nachtlokalen, deren Kosten BFH BStBl. 1990, 575, als nach § 4 V 1 Nr. 7 EStG nicht abziehbar beurteilt hat. In derartigen Fällen tritt der betriebliche Anlass gegenüber dem Privatvergnügen in den Hintergrund. § 4 V 1 Nr. 7 EStG begrenzt den Abzug folglich nicht nur der Höhe, sondern auch dem Grunde nach. Gem. § 9 V EStG gilt die Grundvorschrift des § 4 V 1 Nr. 7 EStG auch für Werbungskosten. Abzugrenzen ist der Anwendungsbereich von § 4 V 1 Nr. 7 EStG gegenüber der Aufteilung gemischt veranlasster Aufwendungen gem. § 12 Nr. 1 EStG. § 4 V 1 Nr. 7 EStG regelt einen Fall ausschließlich betrieblicher Veranlassung; Art und Umfang der Aufwendungen berühren aber die privaten Neigungen und Bedürfnisse. Betriebsausgaben, die keinen Bezug zur Lebensführung aufweisen, sind dagegen ohne Angemessenheitskontrolle stets in vollem Umfang abziehbar. Der Umfang des nichtabziehbaren (verdeckt privat veranlassten) Teils der Aufwendungen ergibt sich aus der allgemeinen Verkehrsauffassung (§ 4 V 1 Nr. 7 a.E. EStG). Bei der Feststellung der Unangemessenheit stellt der BFH1 auf die Umstände des Einzelfalles ab. So werden z.B. Kfz-Anschaffungskosten nicht bereits dann als unangemessen beurteilt, wenn bestimmte Betragsgrenzen überschritten werden. Vielmehr kommt es nach Auffassung des BFH auf die gegebenen betrieblichen (Größe des Unternehmens, Bedeutung des Aufwands für den Geschäftserfolg) und privaten Umstände (Umfang und Häufigkeit der privaten Nutzung, Dominanz der privaten Motivation, z.B. bei motorsporttauglichen Fahrzeugen) an (s. BFH BStBl. 1987, 853). Es geht nicht darum, „den Mercedes vom Volkswagen abzugrenzen, sondern ein übliches Betriebsfahrzeug von einem Sportwagen, Rennwagen oder Sportflugzeug“2. Diese Abwägung trägt sachgerecht dem Zweck des § 4 V 1 Nr. 7 EStG Rechnung, gemischt veranlasste Aufwendungen aufzuteilen.
288
(2) § 4 Vb EStG schließt kraft Fiktion („sind keine Betriebsausgaben“) den Betriebsausgabenabzug der Gewerbesteuer und der darauf entfallenden Nebenleistungen aus. Die Regelung mag zur Transparenz der Berechnung der Gewerbesteuer beitragen3 (§ 12 Rz. 20). Systematisch ist sie verfehlt, aber nach BFH BStBl. 2014, 531, noch verfassungskonform. Solange die Gewerbesteuer als Objektsteuer qualifiziert wird, ist sie Betriebausgabe. Sollte der Gesetzgeber eine Annäherung an die Personensteuern intendieren, hätte die Gewerbesteuer in § 12 Nr. 3 EStG aufgenommen werden müssen (s. hierzu auch Rz. 241). (3) Nach § 160 AO sind Betriebsausgaben und Werbungskosten regelmäßig nicht zu berücksichtigen, wenn der Stpfl. den Empfänger nicht benennt (dazu § 21 Rz. 201 ff.).
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(4) Nach § 3c I EStG dürfen Ausgaben, die mit steuerfreien Einnahmen in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang stehen, nicht als Betriebsausgaben oder Werbungskosten abgezogen werden. Auf einen zeitlichen Zusammenhang von Aufwendung und Einnahme innerhalb eines Veranlagungszeitraums kommt es nicht an, wohl aber muss bereits im Veranlagungszeitraum des Abzugs die Steuerfreiheit korrespondierender Einnahmen bestehen (BFH BStBl. 2013, 203 [206]). Nach st. Rspr. (BFH BStBl. 1977, 507; 1986, 401; 1989, 351) enthält § 3c I EStG einen allgemeinen Rechtsgrundsatz. Daher ist § 3c EStG analog auf Ausgaben anzuwenden, die mit nicht steuerbaren Einnahmen zusammenhängen. Die Formulierung des § 3c I EStG stimmt indessen mit der Veranlassungstheorie ebenso wenig überein wie § 9 I 1 EStG. Bei der Abgrenzung von Nettoeinkünften (als Unterschiedsbeträge von Erwerbsbezügen und -aufwendungen) kommt es auf den Kausalzusammenhang zwischen Tätigkeit und Bezügen/ Aufwendungen, nicht zwischen Bezügen und Aufwendungen an. Zu § 3c II EStG vgl. § 11 Rz. 15.
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1 BFH BStBl. 1986, 904; 1987, 108; 1987, 853; 1988, 629; 1990, 575; 2014, 679. 2 Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 602. 3 BT-Drucks. 16/4841, 47.
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§8
Rz. 291
Einkommensteuer
2.4.2 Besondere Regeln für privat mitveranlasste Erwerbsaufwendungen 291
Die Vorschriften in §§ 4 V 1 Nrn. 1–6b; 9 V EStG regeln privat mitveranlasste Erwerbsaufwendungen1. Der Gesetzgeber behandelt sie als nichtabziehbare Erwerbsaufwendungen, um den Streit um die private Veranlassung typisierend zu erledigen2. Im Einzelfall kann also die Erwerbsaufwendung in vollem Umfang durch die Erwerbstätigkeit veranlasst sein; gleichwohl versagt der Gesetzgeber den Steuerabzug, weil der Aufwendungstypus die Lebensführung berührt. § 4 V 1 Nrn. 1–6b EStG sind spezielle Regeln zur Grundvorschrift des § 4 V 1 Nr. 7 EStG (s. Rz. 287 f.).
292
Der Gesetzgeber kann jedoch das Nettoprinzip nicht beliebig einschränken. Der Typisierungsspielraum ist dann verfassungswidrig überschritten, wenn und soweit eine private Mitveranlassung nicht typisierend angenommen werden kann. Danach sind die Vorschriften in § 4 V 1 Nrn. 1–6b EStG wie folgt zu beurteilen: § 4 V 1 Nr. 1 EStG: Zulässig ist die Begrenzung des Abzugs für Geschenke der Höhe nach (s. Rz. 269). Ein Geschenk berührt typischerweise die Lebensführung. Allerdings bedarf es der Abgrenzung zu Maßnahmen der Unternehmens- oder Produktwerbung. Eine Ausnahme muss daher z.B. für Streuwerbung und ausschließlich betrieblich nutzbare Gegenstände gemacht werden. Schmiergelder: Rz. 299. § 4 V 1 Nr. 2 EStG: Die Begrenzung des Steuerabzuges auf 70 % der angemessenen und nachgewiesenen Aufwendungen (s. Rz. 257) trägt typisierend dem Umstand Rechnung, dass durch die Bewirtung die Lebensführung der daran teilnehmenden Personen berührt ist3. § 4 V 1 Nrn. 3, 4 EStG: Aufwendungen für Gästehäuser, Jagd, Fischerei, Segel-/Motoryachten dienen hauptsächlich der Freizeitgestaltung. Das Abzugsverbot greift auch dann Platz, wenn die Wirtschaftsgüter nicht der Unterhaltung von Geschäftsfreunden dienen4. § 4 V 1 Nr. 5 EStG: Die Pauschalierung des Steuerabzugs für Verpflegungsmehraufwendungen betrifft betrieblich/beruflich veranlasste, nämlich zusätzlich zum privaten Ernährungsaufwand entstandene Aufwendungen5. Sind die Pauschbeträge nicht angemessen, werden Außendienstler (Vertreter, Monteure etc.) gleichheitssatzwidrig diskrimniert. § 4 V 1 Nr. 6b EStG beschränkt den Steuerabzug von Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer. Dies ist zur Eindämmung eines schwer kontrollierbaren Missbrauchs zu rechtfertigen6. Soweit jedoch für die betriebliche oder berufliche Tätigkeit kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung steht, entbehrt das Abzugsverbot der Rechtfertigung; es verletzt den Gleichheitssatz (s. Rz. 254). §§ 4 IX; 9 VI EStG schließen den Abzug von Aufwendungen für eine erstmalige Berufsausbildung/ ein Erststudium aus (s. Rz. 263 ff.).
293
Aufwendungen i.S.d. § 4 V 1 Nrn. 1–4, 6b, 7 EStG sind einzeln und getrennt von den sonstigen Betriebsausgaben aufzuzeichnen (§ 4 VII EStG – nicht in § 9 V EStG erfasst!). Die Abzugsverbote berühren nicht die Zugehörigkeit eines Wirtschaftsguts zum Betriebsvermögen7. Gästehäuser, Yachten und insb. die häuslichen Arbeitszimmer von Unternehmern gehören zum Betriebsvermögen. 1 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 335 ff.; Tipke, StuW 1988, 274 ff.; Tipke, StRO II2, 772 ff.; BareisKommission, BMF-Schriftenreihe 55, 1995; Klein, Zur Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Einschränkungen des objektiven Nettoprinzips, dargestellt an § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 EStG, DStZ 1995, 630. 2 Beschluss des 57. DJT, Sitzungsbericht N, 1988, 214: „Belastende Typisierungen bei einzelnen Arten der Erwerbsaufwendungen sind nur in engen Grenzen rechtfertigungsfähig; sinnvoll ist Typisierung im Grenzgebiet zur privaten Lebensführung“. 3 BT-Drucks. 11/2157, 139 (amtl. Begr.); BT-Drucks. 11/2536, 14 (Anhörung); Tipke, StuW 1988, 274 f. 4 BFH/NV 2007, 1230; dazu Hoffmann, GmbHR 2007, 660; Pezzer, FR 2007, 888. 5 BFH BStBl. 1989, 276 (277). 6 S. BVerfGE 101, 297 (310 f.). 7 Grds.: BFH BStBl. 1974, 207.
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Rz. 297
§8
(1) Geldstrafen/Geldbußen1: Die §§ 4 V 1 Nr. 8; 12 Nr. 4 EStG regeln zum Schutze der Gesamtrechtsordnung folgende Sanktionsabzugsverbote:
294
Nichtabziehbare Erwerbsaufwendungen
2.4.3 Besondere Regeln zum Schutz der Gesamtrechtsordnung
Nach § 12 Nr. 4 EStG dürfen in einem Strafverfahren festgesetzte Geldstrafen, sonstige Rechtsfolgen vermögensrechtlicher Art, bei denen der Strafcharakter überwiegt, und Leistungen zur Erfüllung von Auflagen und/oder Weisungen (z.B. solche nach § 153a StPO) nicht abgezogen werden; Ausgleichszahlungen zur Wiedergutmachung werden dagegen nicht erfasst2. § 12 Nr. 4 EStG regelt klarstellend Aufwendungen der privaten Opfersphäre. Nach § 4 V 1 Nr. 8 EStG dürfen von einem Gericht, einer Behörde oder von EG-Organen festgesetzte Geldbußen, Ordnungsgelder, berufsrechtliche Leistungen zur Erfüllung von Auflagen und/oder Weisungen nicht als Betriebsausgaben (§ 9 V EStG: Werbungskosten) abgezogen werden. Mit § 4 V 1 Nr. 8 EStG reagierte der Gesetzgeber auf BFH GrS BStBl. 1984, 160 (166), der abweichend von einer jahrzehntelangen Praxis Geldbußen zum Abzug als Betriebsausgaben zuließ. Die Abzugsverbote tragen dem Postulat „Einheit der Rechtsordnung“ Rechnung (s. § 1 Rz. 46); deshalb greift das Abzugsverbot des § 12 Nr. 4 EStG nicht Platz, wenn die von einem ausländischen Gericht festgesetzte Geldstrafe dem sog. ordre public, d.h. wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung, widerspricht3. Übernimmt der Arbeitgeber die Zahlung einer Geldbuße, so liegt Arbeitslohn vor, es sei denn, die Übernahme der Geldbuße liegt im ganz überwiegenden eigenbetrieblichen Interesse. Nach geänderter Rspr. (BFH BStBl. 2014, 278 [279]; anders noch BFH BStBl. 2005, 367) durchbricht die Rechtswidrigkeit des Tuns die betriebsfunktionale Zielsetzung, so dass das ganz überwiegend eigenbetriebliche Interesse des Arbeitgebers grds. zu verneinen und Arbeitslohn anzunehmen ist; dazu Schneider, NWB 2014, 441.
295
Das Abzugsverbot erstreckt sich nach § 4 V 1 Nr. 8 Satz 4 EStG nicht auf die Abschöpfung des wirtschaftlichen Vorteils vor Steuern4. Hat das Gericht oder die Behörde bei der Bemessung der Geldbuße deren Nichtabziehbarkeit nicht berücksichtigt und zusätzlich zur Sanktion den wirtschaftlichen Vorteil abgeschöpft, so ist die Geldbuße in einen Sanktions- und Abschöpfungsteil aufzuteilen. Besonders bei Kartellbußen ist problematisch, ob und ggf. in welcher Höhe wirtschaftliche Vorteile abgeschöpft worden sind5.
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Strafverteidigungskosten sind Erwerbsaufwendungen, wenn der strafrechtliche Vorwurf auf beruflichem Verhalten beruht6. Disziplinarrechtliche Folgen einer außerdienstlich begangenen Straftat begründen keine Werbungskosten eines Beamten7. Die betriebliche Veranlassung der Strafverteidigungskosten verneinte BFH/NV 2002, 1441, im Falle einer Altenpflegerin, die Patienten aus Habgier ermordet hat. Der Steuerabzug der Strafverteidigungskosten wurde zu Recht versagt, weil das kriminelle Verhalten privat zu verantworten ist. Hat jedoch der Stpfl. keine Straftat begangen, so kann erwerbstätiger Veranlassungszusammenhang angenommen
297
1 Dazu grdl. Tanzer, DStJG 3 (1980), 227; Tanzer, Die gewinnmindernde Abzugsfähigkeit von Geldstrafen im Abgabenrecht. Eine rechtsvergleichende Untersuchung über die Methoden und Grenzen der steuerlichen Rechtsfindung, 1983; ferner Bruschke, DStZ 2009, 489; Roth, DStR 2011, 1410 (Anwendung auf Strafzuschlag nach § 398a Nr. 2 AO); Drüen, DB 2013, 1138. 2 BFH BStBl. 2010, 111. 3 BFH BStBl. 1992, 85. 4 Dazu R 4.13 III EStR 2012; Meurer, Die Abschöpfung des wirtschaftlichen Vorteils durch eine Geldbuße, BB 1998, 1236; HHR/Kruschke, § 4 EStG Anm. 1729 (2011). 5 BFH BStBl. 1999, 656; 1999, 658; Achenbach, BB 2000, 1116; EU-Kartellbußen: BFH BStBl. 2014, 306; dazu Anm. Grützner, StuB 2014, 285; Schönfeld/Bergmann, DStR 2014, 2323; Haus, DB 2014, 2066; ferner Klein/Kuhn, FR 2004, 206; Eilers/Schneider, DStR 2007, 1507; Eilers/Esser-Wellié/Ortmann/Schubert, Ubg. 2008, 661; Schall, DStR 2008, 1517. 6 BFH BStBl. 2008, 223; Bode, NWB 2008, Fach 6, 4885; Olgemüller, Steuer-Journal 2008, 495; Thiele, ÖStZ 2008, 364; Mack, Steuer-Journal 2009, 365 (Werbungskosten u. Kostenübernahme durch Arbeitgeber). 7 BFH/NV 2004, 42.
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§8
Rz. 298
Einkommensteuer
werden. Die nicht infolge eines Freispruchs erstatteten Strafverteidigungskosten sind als Betriebsausgaben/Werbungskosten anzuerkennen. 298
(2) Zinsen auf hinterzogene Betriebsteuern sind nach § 4 V 1 Nr. 8a EStG nicht abziehbar; wie durch § 4 V 1 Nr. 8 EStG soll Unrechtsverhalten sanktioniert werden1.
299
(3) Schmier- und Bestechungsgelder sind nach den §§ 4 V 1 Nr. 10; 9 V EStG nicht abziehbar2. § 4 V 1 Nr. 10 EStG greift Platz, wenn die Zuwendung der Vorteile eine rechtswidrige Handlung darstellt, die den objektiven Straf- oder Geldbußentatbestand verwirklicht. Schuldhaftes Verhalten ist nicht erforderlich; auch kommt es nicht auf die Verfolgbarkeit der Tat an3. Die Rspr. legt das Abzugsverbot weit aus und erstreckt es auch auf Kosten der Strafverteidigung und den Verfall4. Der Schutz der Rechtsordnung rechtfertigt grds. die Durchbrechung des Nettoprinzips. § 4 V 1 Nr. 10 EStG dient dem Schutz der deutschen Rechtsordnung. Daher muss sich die Rechtswidrigkeit der Handlung aus dem deutschen Recht ergeben. Das gilt besonders bei Bestechungen mit Auslandsbezug5. § 4 V 1 Nr. 10 Sätze 2–4 EStG verpflichten zum Informationsaustausch zwischen den Strafgerichten, Staatsanwaltschaften, Verwaltungsbehörden und den Finanzbehörden6.
300
(4) Aufwendungen zur Förderung staatspolitischer Zwecke (Mitgliedsbeiträge und Spenden i.S.d. § 10b II EStG) sind keine Erwerbsaufwendungen7. Dies stellt der auch für Werbungskosten (§ 9 V EStG) geltende § 4 VI EStG aus Anlass der Parteienfinanzierung mittels vorgetäuschter Erwerbsaufwendungen klar und schützt damit die Chancengleichheit der Parteien.
301
Resümee: Wie die §§ 4 V 1 Nrn. 8, 8a, VI; 9 V EStG zeigen, ist der aus § 40 AO abgeleitete Satz von der Wertneutralität des Steuerrechts nicht durchgängig richtig. Vielmehr darf das Steuerrecht Grundwertungen des Verfassungsrechts (z.B. Chancengleichheit der Parteien), des Strafrechts und anderer Teile der Rechtsordnung nicht durchkreuzen.
2.5 Pauschalierung von Erwerbsaufwendungen 302
Gesetz und Verwaltungsvorschriften erzeugen erhebliche Ungleichheit, indem sie für bestimmte Arten von Erwerbsaufwendungen Pauschalierungen vorsehen8. Die wichtigsten Pauschalierungen, insb. Jahrespauschbeträge, sind folgende: a) Gesetzliche Pauschalierungen: – § 9 I 3 Nr. 4, II EStG: Entfernungspauschale (s. Rz. 262). – § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG: Arbeitnehmer-Pauschbetrag von 1 000 Euro. Der Nachweis höherer Aufwendungen ist zugelassen. BVerfGE 96, 1 (9 f.) hat eine Verletzung des Gleichheitssatzes wegen zulässiger Typisierung verneint. Die Anhebung von 920 auf 1 BT-Drucks. 11/2536, 77. 2 BMF BStBl. I 2002, 1031 (dazu Burchert, INF 2003, 260; Stahl, KÖSDI 2003, 13874). Lit.: J. Lang, FS Geppaart, 1996, 117; Offerhaus, FS Haas, 1996, 237; Müller-Franken, StuW 1997, 3; Günzler, Steuerrecht u. Korruption, Diss., 1999; Dörn, DStZ 2001, 736; Bürger, DStR 2003, 1421; Bernhard, Steuerliche Maßnahmen gegen Korruption u. andere illegale Verhaltensweisen im internationalen Vergleich, Diss., 2004; Gotzens, DStR 2005, 673; Preissing/Kiesel, DStR 2006, 118; Spatscheck, NJW 2006, 641; Gröhs, Steuerliche Aspekte der Korruption im Vertrieb, in Gröhs/Kotschnigg, Wirtschafts- und Finanzstrafrecht in der Praxis, Wien 2009, 95 (Österreich); Rieble, BB 2009, 1612 (Anwendbarkeit auf Betriebsratsbegünstigung); Schauf/Idler, Ubg. 2010, 111; Pelz, DStR 2014, 449. 3 S. BMF BStBl. I 2002, 1031 (Tz. 1, 9, 12 f.). 4 BFH BStBl. 2014, 684; dazu Hermenns/Sendke, FR 2014, 550; Schneider/Perrar, DB 2014, 2428. 5 S. BMF BStBl. I 2002, 1031 ( Tz. 17 ff.). 6 Zur Mitteilungspflicht der Finanzbehörde gegenüber der Staatsanwaltschaft BFH BStBl. 2008, 850; Bilsdorfer, SteuerStud 2008, 590; Schmidt/Leyh, NWB Fach 13, 1199 (2008) (zwingender Informationsaustausch zwischen FA und Strafverfolgungsbehörden). 7 Dazu BFH BStBl. 1988, 220. 8 Auflistung der verschiedenen Freibeträge/Pauschalen und Kritik bei Reimer, FR 2011, 929 (930 f.). Zu Lohnsteuerpauschalierungen durch die LStR Plenker, DB 2014, 1103.
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Nichtabziehbare Erwerbsaufwendungen
Rz. 349
§8
1 000 Euro durch das Steuervereinfachungsgesetz 2011 v. 1.11.2011, BGBl. I 2011, 2131, bringt keine nennenswerte Vereinfachung. – § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG: Pensionären wird nur noch ein Pauschbetrag von 102 Euro zugestanden, der die steuerpflichtigen Einnahmen nicht überschreiten darf (s. § 9a Satz 2 EStG). – § 9a Satz 1 Nr. 3 EStG: Werbungskosten-Pauschbetrag von 102 Euro bei den sonstigen Einkünften i.S.d. § 22 Nrn. 1, 1a, 1b, 1c u. 5 EStG. – § 20 IX EStG: Sparer-Pauschbetrag von 801 Euro, der bei den Einkünften aus Kapitalvermögen einen weiteren Werbungskostenabzug ausschließt (s. Rz. 494). – § 51 I Nr. 1 Buchst. c EStG (eingeführt durch JStG 1996) ermächtigt den Verordnungsgeber zur (widerlegbaren) Pauschalierung von Betriebsausgaben für Gruppen von Betrieben i.S.d. §§ 15; 18 EStG, bei denen annähernd gleiche Verhältnisse vorliegen und deren Gewinn durch Überschussrechnung nach § 4 III EStG (s. Rz. 192 ff.) ermittelt wird. Dass der Verordnungsgeber bisher keinen Gebrauch gemacht hat von dieser Möglichkeit einer nach Wirtschaftszweigen klassifizierten Richtsatzregelung, dürfte auf die Schwierigkeiten einer auch nur einigermaßen realitätsgerechten Typisierung zurückzuführen sein. – § 51 EStDV: Betriebsausgaben-Pauschsätze von 65 % bzw. 40 % der Einnahmen aus Holznutzungen für forstwirtschaftliche Betriebe, die ihre Einkünfte nicht nach § 4 I EStG ermitteln bzw. zu ermitteln haben. b) Pauschalierung durch Verwaltungsvorschriften: Die Pauschalierung von Erwerbsaufwendungen ist grds. Sache des Gesetzgebers, wie das Beispiel der Verpflegungsmehraufwendungen (s. Rz. 282) zeigt. Indessen erlaubt das Prinzip des „maßvollen“ Gesetzesvollzugs (s. § 21 Rz. 5 ff.) die Pauschalierung durch Verwaltungsvorschriften, wenn dadurch unzumutbarer Belegaufwand vermieden wird und der Pauschbetrag realitätsgerecht bemessen ist. Die Pauschalierung von Erwerbsaufwendungen für bestimmte Berufsgruppen ist grds. nicht zu rechtfertigen, so dass die Pauschsätze für angestellte Artisten, Künstler u. Journalisten nach R 47 LStR a.F. zu Recht abgeschafft worden sind. Im freiberuflichen Bereich bestehen noch vereinzelt gleichheitswidrige Pauschalierungen1.
303
Die exakte Erfassung von Erwerbsbezügen und Erwerbsaufwendungen gehört grds. zu den unverzichtbaren Bedingungen einer gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, denn nur die exakte Einkünfteermittlung gewährleistet die Vergleichbarkeit der Einkommen als Voraussetzung einer gerechten Belastung durch den Tarif. Pauschalierungen haben Begünstigungs- und Sonderbelastungseffekte, wenn sie im Einzelfall zu hoch oder zu niedrig angesetzt sind. Indessen lassen sich Pauschalierungen als Vereinfachungszwecknormen rechtfertigen: Die Überkompliziertheit und Undurchführbarkeit des Gesetzes gilt es dort zu vermeiden, wo ein bestimmter durchschnittlicher Aufwand angenommen werden kann und es dem Stpfl. nicht zuzumuten ist, ihn i.E. zu belegen (Beispiel Rz. 282: Verpflegungsmehraufwendungen). Freilich wird Vereinfachungswirkung nur dann erzielt, wenn die Pauschalen hinreichend übersichtlich geregelt sind. Eine generelle Typisierung von Erwerbsaufwendungen hat der Deutsche Juristentag 1988 zu Recht abgelehnt2.
304
Einstweilen frei.
305–349
1 Bsp. BStBl. I 1994, 112: 30 % der Betriebseinnahmen, höchstens 2.455 E p. a. für hauptberuflich selbständige schriftstellerische oder journalistische Tätigkeit und 25 % der Betriebseinnahmen, höchstens 614 Euro bei wissenschaftlicher, künstlerischer oder schriftstellerischer Nebentätigkeit; BStBl. I 2008, 17, u. BStBl. I 2009, 15: pauschaler Abzug von 300 Euro je Kind/Monat bei Einkünften aus Kindertagespflege. 2 57. DJT, Sitzungsbericht N, 1988, 214.
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§8
Rz. 350
Einkommensteuer
III. Ermittlung der Überschusseinkünfte (§§ 8–9a EStG) 1. Allgemeine Regeln 350
Überschusseinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG) sind die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, aus Kapitalvermögen, aus Vermietung und Verpachtung sowie die sonstigen Einkünfte i.S.d. § 22 EStG (§ 2 I 1 Nrn. 4–7 EStG). Bei diesen Einkunftsarten wird nach § 2 II 1 Nr. 2 EStG der Unterschiedsbetrag der Einnahmen i.S.d. § 8 EStG und der Werbungskosten i.S.d. § 9 EStG ermittelt.
351
Die Ermittlung der Überschusseinkünfte ist ebenso wie die Überschussrechnung nach § 4 III EStG ausgerichtet an den Prinzipien des Zuflusses und Abflusses (§ 11 EStG); sie ist eine Kassenrechnung, die vorrangig eine Geldrechnung ist (s. Rz. 191 ff.). Auch die Einnahmen-/Werbungskosten-Überschussrechnung verwirklicht das Zufluss- und das Abflussprinzip (dazu Rz. 192 ff., 195) nicht puristisch, denn es gelten i.V.m. § 9 I 3 Nr. 7 EStG1 die Abschreibungsvorschriften sowie die in Rz. 194 dargelegten Einschränkungen des Zufluss-/Abflussprinzips in § 11 EStG. Insoweit stimmen die Überschussrechnungen nach § 4 III EStG (s. § 9 Rz. 550 ff.) und nach §§ 8 ff. EStG überein.
352
Im Unterschied zu § 4 III i.V.m. I EStG erfasst jedoch die Überschussrechnung nach den §§ 8 ff. EStG historisch nicht den erwirtschafteten Reinvermögenszugang, sondern nur die Quelleneinkünfte. Mit Ausnahme der Einkünfte i.S.d. §§ 17; 20 II; 22 Nr. 2; 23 EStG (s. Rz. 197 ff.) werden Veräußerungseinkünfte, Substanz- und Wertverluste im Bereich des sog. Stammvermögens (s. Rz. 182) in die Überschussrechnung nach den §§ 8 ff. EStG nicht miteinbezogen2.
2. Einnahmen 353
Einnahmen i.S.d. § 8 EStG: Einnahmen sind nach § 8 I EStG alle Güter, die in Geld oder Geldeswert (= Wirtschaftsgüter) bestehen und dem Stpfl. im Rahmen einer der Einkunftsarten zufließen. Diese Kausalitätsformulierung wird nach dem Veranlassungsprinzip interpretiert (s. Rz. 213 ff.). Demnach liegen Einnahmen i.S.d. § 8 I EStG vor, wenn sie durch das Dienstverhältnis (s. Rz. 474), durch die Überlassung von Kapitalvermögen, durch Vermietung und Verpachtung oder eine andere vermögensverwaltende Tätigkeit veranlasst sind.
354
Einnahmen i.S.d. § 8 EStG sind zugeflossen, sobald der Stpfl. über sie wirtschaftlich verfügen kann3, d.i. bei Überweisungen der Zeitpunkt der Gutschrift auf dem Bankkonto4. Bei der Zahlung durch Scheck bejaht BFH BStBl. 2001, 482, Zufluss mit Übergabe des Schecks auch dann, wenn auf die Zahlung kein zivilrechtlicher Anspruch besteht, so im entschiedenen Falle der Bestechung durch Übergabe eines Schecks. M.E. hat FG Baden-Württemberg EFG 1997, 875, Zufluss zutr. erst bei Scheckeinlösung angenommen, weil vorher die Verfügbarkeit des Bestechungsgeldes ungewiss ist. Ausschüttungen einer GmbH an den beherrschenden Gesellschafter sind im Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Gewinn zugeflossen5. Gewährt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer eine Aktienoption, so fließt der geldwerte Vorteil erst zu, wenn der Anspruch auf Verschaffung der wirtschaftlichen Verfügungsmacht über die Aktien erfüllt wird oder wenn die Option mit dem Wert über dem Übernahmepreis ausgeübt wird6; vorher besteht lediglich die Chance eines Vorteils7. Das gilt auch für „stock 1 Dazu Hirsch, Die Einordnung des § 9 I 3 Nr. 7 EStG in das System der Überschussrechnung, DStR 1988, 197 (m.w.N.). 2 Dazu ausf. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 493 ff. 3 BFH BStBl. 1984, 480. 4 BFH BStBl. 1971, 97; 1982, 469; 1984, 480; 1993, 301; 1993, 499. Zum Zufluss beim beherrschenden Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft BFH GrS BStBl. 1998, 307 (311) (Fälligkeit der Vergütung bzw. Gutschrift in den Büchern der Gesellschaft). 5 BFH BStBl. 1999, 223; 2014, 493; dazu rechtsvergleichend Deutschland – Österreich Raab/Renner, DStZ 2013, 275. 6 BFH BStBl. 2009, 282; 2013, 289 (Übertragung der Option auf einen Dritten als anderweitige Verwertung). 7 Dazu m.w.N. BFH BStBl. 2009, 382 (384).
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Ermittlung der Überschusseinkünfte
Rz. 357
§8
options“ (Lit. zu Mitarbeiterbeteiligungen: Rz. 478). Wird einem Arbeitnehmer durch Übertragung einer nicht handelbaren Wandelschuldverschreibung ein Anspruch auf die Verschaffung von Aktien eingeräumt, so fließt der Arbeitslohn zu, wenn dem Arbeitnehmer das wirtschaftliche Eigentum an den Aktien verschafft wird1; zu sonstigen verfügungsbeschränkten Aktien („restricted shares“) s. BFH BStBl. 2011, 923. Der Arbeitgeber hat die Ansprüche aus Aktienoptionsprogrammen2 zu erfüllen, damit der Arbeitnehmer verfügen kann. Besondere Abweichungen vom Zuflussprinzip erfordert der Lohnsteuerabzug: Laufender Arbeitslohn gilt in dem Kalenderjahr als bezogen, in dem der Lohnzahlungs- bzw. Lohnabrechnungszeitraum endet (§§ 11 I 4; 38a I 2; 40 III 2 EStG). Dabei wird der Zufluss von Arbeitslohn nicht bereits durch die Einräumung des Anspruchs, sondern erst durch seine Erfüllung begründet3. Lohnnachzahlungen, die ein Arbeitnehmer für frühere Jahre erhält (z.B. nach Arbeitsgerichtsprozess), sind als sonstiger Bezug im Zuflussjahr zu erfassen4. Eine Lohnrückzahlung ist kein rückwirkendes Ereignis, das zur Änderung des Einkommensteuerbescheids nach § 175 I 1 Nr. 2 AO berechtigt5. Es ist im Abflussjahr eine negative Einnahme anzusetzen6. Einnahmen, die nicht in Geld bestehen, bezeichnet das Gesetz als Sachbezüge (§ 8 II EStG)7. Sachbezüge des Arbeitnehmers sind alle vermögenswerten Vorteile, die durch das Dienstverhältnis veranlasst sind, also nur den Arbeitnehmern des Gebers (der sich dabei Institutionen wie Einkaufsringe, Wohnungsgesellschaften etc. bedienen kann) gewährt werden. Sachbezüge sind dabei insb. der freie oder verbilligte Bezug von Kleidung, Wohnung, Heizung, Beleuchtung, Kost, Deputaten, und die in § 8 III EStG geregelten Personalrabatte. Bei Sachzuwendungen i.S.d. §§ 37a, 37b EStG kann der Leistende die ESt pauschaliert übernehmen (s. Rz. 901 f.). Die Rspr.8 ordnet auch Tankkarten und Geschenkgutscheine als Sachbezüge ein (zuvor R 31 Abs. 1 Satz 7 LStR 2004: zweckgebundene Geldzuwendung).
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Sachbezüge sind mit den um übliche Preisnachlässe geminderten üblichen Endpreisen am Abgabeort („günstigster Preis am Markt“) anzusetzen (§ 8 II 1 EStG). Damit soll deutlich werden, „dass nicht etwa ein Durchschnittsbetrag ermittelt werden muss, sondern der tatsächliche Preis, der üblicherweise im Allgemeinen Geschäftsverkehr vom Letztverbraucher gefordert wird“9. Maßgebend ist nicht der Verbrauchsort, sondern der Abgabeort. Damit ist sichergestellt, dass Sachbezüge aus einem Dienstverhältnis einheitlich nach den Verhältnissen an dem Ort bewertet werden können, an dem der Arbeitgeber diese Sachbezüge seinen Arbeitnehmern verschafft. § 8 II 2–5 EStG sehen für die private Nutzung von Dienstfahrzeugen eine am Listenpreis orientierte Sachbezugspauschalierung vor (s. Rz. 271). § 8 II 11 EStG gewährt eine monatliche Freigrenze von 44 Euro, die nicht auf einen Jahresbetrag hochgerechnet werden darf (R 8.1 III LStR 2011/2013).
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Belegschaftsrabatte für Waren oder Dienstleistungen des Arbeitgebers10 werden nach § 8 III EStG besteuert. Die Vorschrift normiert keinen eigenständigen Einkünftetatbestand und darf nicht zu einer Erweiterung des Lohnbegriffs führen (BFH BStBl. 2013, 402), sondern enthält eine besondere Bewertungsvorschrift mit Begünstigungscharakter (Bewertungsabschlag, Freibetrag). § 8 III EStG ist
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BFH BStBl. 2005, 766; 2005, 770. BFH BStBl. 2007, 647 (648). Zu Aktienankaufs-/Vorkaufsrechten BFH BStBl. 2008, 82. BFH BStBl. 1999, 684. BFH/NV 1998, 1477. BFH BStBl. 2006, 911. BFH BStBl. 2010, 299. Dazu Kuhlmann, Die Besteuerung der geldwerten Güter im Rahmen der Überschußeinkünfte, Diss., 1993; J. Lang, FS Offerhaus, 1999, 433; J. Lang, StuW 2004, 227 (Belegschaftsrabatt von Versicherungen); Kimpel, Sachbezüge im Lohnsteuerrecht, Diss., 2009; HHR/Kister, § 8 EStG Anm. 55–147 (2012); Schmidt/Krüger33, § 8 EStG Rz. 15–69. 8 BFH BStBl. 2011, 358; 2011, 383; 2011, 386; 2011, 389; zust. Koller/Renn, DStR 2011, 555. 9 BT-Drucks. 11/2157, 141. 10 So BFH BStBl. 1993, 356; 1997, 330, mit dem Ergebnis, dass Leistungen von dritter Seite i.S.d. § 38 I 3 EStG, insb. Leistungen von Konzernmüttern der Arbeitgeberin (dazu von Bornhaupt, BB 1993, 912) oder von Schwesterunternehmen (BFH BStBl. 1997, 330; dazu Gast-de Haan, DStR 1997, 1114) ohne Anwendung des Rabattfreibetrags zu versteuern sind, weil nicht der Arbeitgeber geleistet habe; gelockert durch BFH BStBl. 2010, 204, soweit dem Arbeitgeber der Herstellungsprozess zugerechnet werden kann (dazu Birk/Specker, DB 2009, 2742). Zur steuerlichen Behandlung solcher Dritt-Rabatte auch BMF BStBl. I 1993, 814; Kuhsel, DB 1994, 2265 (Konzernrabatte in der Versicherungswirtschaft); Nägele, INF 1994, 356 ff., 390 ff.; von Bornhaupt, BB 1999, 1532; Forchhammer, DStZ 1999; Schmidt, BB 1999, 506; 153; Kessler/Strnad, StuB 2000, 883 (Stock Options im Konzern).
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389
§8
Rz. 358
Einkommensteuer
anzuwenden, wenn die Personalrabatte nicht pauschal nach § 40 EStG versteuert werden. Abweichend von § 8 II EStG werden die Personalrabatte mit den um 4 % geminderten Endpreisen bewertet, zu denen der Arbeitgeber oder der nächstansässige Abnehmer die Waren oder Dienstleistungen fremden Letztverbrauchern im allgemeinen Geschäftsverkehr am Ende von Verkaufsverhandlungen anbietet (§ 8 III 1 EStG1); dabei wird ein Personalrabatt-Freibetrag von 1 080 Euro pro Jahr gewährt (§ 8 III 2 EStG). Neben diesem Freibetrag sieht § 3 Nr. 38 EStG einen weiteren Freibetrag von 1 080 Euro für Prämien aus Kundenbindungsprogrammen vor (s. Rz. 143). Zwischen § 8 II EStG und § 8 III EStG besteht ein Wahlrecht2.
3. Werbungskosten 358
Werbungskosten i.S.d. § 9 EStG: Werbungskosten sind nach dem in Rz. 230 ff. dargelegten Veranlassungsprinzip Aufwendungen, die durch Einkünfte i.S.d. § 2 I 1 Nrn. 4–7 EStG erwirtschaftende Tätigkeiten (nichtselbständige Arbeit, Vermietung, Verpachtung u.a. vermögensverwaltende Tätigkeiten) veranlasst sind. Es kommt also grds. nicht darauf an, ob die Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung von Einnahmen (§ 9 I 1 EStG) geleistet wurden. Entgegen dem Wortlaut des § 9 I 1 EStG können Aufwendungen trotz gesicherter Einnahmen Werbungskosten sein.
359
Wie bereits ausgeführt (Rz. 182) ist bei der Ermittlung der Überschusseinkünfte deren quellentheoretischer Charakter zu beachten. Vermögensstammaufwendungen begründen grds. keinen Werbungskostenabzug3. Mithin ist bei der Anwendung des § 9 I 2 EStG zu prüfen, ob Aufwendungen nach dem Veranlassungsprinzip dem Stammvermögen und seiner Risikosphäre zuzuordnen sind. Die Ausweitung der Steuerpflicht von Wertsteigerungen durch die Verlängerung der Veräußerungsfrist in § 23 I 1 Nr. 1 EStG, die Absenkung der Beteiligungsgrenze in § 17 I 1 EStG und schließlich die volle Steuerpflicht privater Kapitalanlagen nach § 20 II EStG erfordert allerdings ein Umdenken. Laufende Kosten der Vermögensverwaltung werden wie bisher i.d.R. als Werbungskosten bei den Quelleneinkünften berücksichtigt, sofern die Zuordnung zur Stammvermögenssphäre nicht auf der Hand liegt4. Bis zur Einführung der Vollversteuerung von Aktiengewinnen (ab 1.1.2009) waren auf den Erhalt bzw. die Wertsteigerung des verwalteten Kapitalvermögens gerichtete Aufwendungen nicht zu berücksichtigen5. Kosten im Zusammenhang mit der Veräußerung von Stammvermögen waren mit Ausnahme der §§ 23 III 1; 17 II 1 EStG keine Werbungskosten; sie wurden dem nicht steuerbaren Stammver1 Dabei sind in vollem Umfang auch übliche Rabatte zu berücksichtigen (BFH BStBl. 2010, 67; 2013, 400; 2013, 402; BMF BStBl. I 2013, 729), so dass der Endpreis bei im allgemeinen Geschäftsverkehr üblichen Preisnachlässen (Kfz-Handel) unterhalb der unverbindlichen Preisempfehlung des Herstellers liegen kann. Zur Bewertung von Belegschaftsrabatten von Luftfahrtunternehmen BMF BStBl. I 2012, 940. 2 BFH BStBl. 2007, 309; 2013, 402. § 8 II EStG kann günstiger sein, wenn Rabatte nicht beim Arbeitgeber, aber am allgemeinen Markt ausgehandelt werden können, s. Schmidt/Krüger33, § 8 EStG Rz. 70. 3 Dazu Jonas, Fehlgeschlagene Aufwendungen als Werbungskosten (Die Vermögenssphäre bei den Überschußeinkünften), Diss., 1993; Alt, Das Überschußvermögen im Einkommensteuerrecht. Eine Untersuchung zur Rolle des Vermögens bei den Überschußeinkünften, Diss., 1994; Alt, StuW 1994, 138; Flies, Vermögensverluste bei den Überschußeinkünften, Diss., 1995; Uhländer, Vermögensverluste im Privatvermögen, Diss., 1996; Uhländer, FR 1996, 301. 4 BFH BStBl. 1989, 16: Erfolgsunabhängiges Verwalterentgelt, das auf Wertsteigerung des verwalteten Vermögens entfällt, gehört nicht zu den Werbungskosten (dazu Pöllath/Wenzel, DB 1989, 2448). Zum Werbungskostenabzug von Verwaltungskosten eines Kapitalvermögens Kessler, FR 1991, 342; Delp, BB 2004, 2553; Wengenroth/Maier, EStB 2004, 468; Lohr, DStR 2005, 321. 5 Kapitalverluste durch Insolvenz und Absinken des Marktpreises sind keine Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen, vgl. BFH BStBl. 1992, 234 (Konkurs); 1992, 902 (Darlehensverlust); 1994, 289 (Kursverluste), m. Anm. Heuermann, DStZ 1994, 229, u. allgemein: BFH BStBl. 1993, 602 (Wertveränderungen der Kapitalanlage werden nicht berücksichtigt); Grube, FS Klein, 1994, 913; Feldhofer, Die einkommensteuerliche Behandlung von Forderungsverlusten im Haushaltseinkünftebereich, Diss., 1995. In diesem schwierigen Abgrenzungsbereich judizierte der BFH nicht widerspruchsfrei: Er ließ in Grenzfällen auch Stammvermögensaufwendungen zum Steuerabzug zu, so in vollem Umfange Kosten eines Wertpapierdepots, obgleich neben den steuerpflichtigen Einnahmen auch steuerfreie Vermögensvorteile erzielt werden (BFH BStBl. 1993, 832) und nach Auffassung des BFH kausalrechtlich auf das einzelne Wertpapier abzustellen ist.
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Ermittlung der Überschusseinkünfte
Rz. 363
§8
mögensbereich zugeordnet1. Ab 2009 müssen Stammvermögensverluste dagegen innerhalb der Grenzen von § 20 VI EStG berücksichtigt werden. Freilich wirken sich Aufwendungen auf das Stammvermögen (z.B. auf Kurssteigerungen gerichtete Beratungsgebühren) wegen § 20 IX EStG grds. nicht aus. Erweiterungen des Werbungskostenbegriffs hat die Rspr. schon in der Vergangenheit bei Verlusten stiller Gesellschafter zugelassen. Die laufenden Verlustbeteiligungen des stillen Gesellschafters bis zur Höhe der Einlage (§ 232 II 1 HGB) sind den Quelleneinkünften zuzuordnen; die Aufwendungen des stillen Gesellschafters sind Werbungskosten i.S.d. § 9 I 2 i.V.m. § 20 I Nr. 4 EStG2. Geht die Einlage des stillen Gesellschafters infolge Konkurs oder Liquidation verloren, so liegt ein an sich einkommensteuerlich irrelevanter Vermögensverlust vor. Da jedoch § 20 I Nr. 4 Satz 2 EStG ein negatives Kapitalkonto zulässt, hat der Gesetzgeber das Quellenprinzip bei der stillen Beteiligung durchbrochen. Diese Prinzipdurchbrechung erweitert den Werbungskostenbegriff auf Einlageverluste und Nachschüsse des stillen Gesellschafters. Außerhalb des privaten Kapitalvermögens verbleibt es bei den quellentheoretisch begründeten Abgrenzungsschwierigkeiten. So versagt der BFH den Werbungskostenabzug widersprüchlich: Während die Rspr. den Schuldzinsenabzug bei Erbfall- und Zugewinnausgleichsschulden verneint (BFH BStBl. 1995, 413), bejaht BFH BStBl. 1993, 867, den Steuerabzug von Zinsen eines Kredits zur Finanzierung eines scheidungsbedingten Versorgungsausgleichs bei den Einkünften i.S.d. § 22 Nr. 1a EStG. Abgesehen davon, dass der Einkünftedualismus dogmatisch überhaupt schwerlich in den Griff zu bekommen ist, hängt die dogmatische Unsicherheit der Rspr. auch damit zusammen, dass die Kriterien für Werbungskosten im Bereich des sog. Einkunftserzielungsvermögens3 ungeklärt sind.
360
§ 9 EStG stellt der allgemeinen Definition des § 9 I 1 EStG durch § 9 I 3 Nrn. 1–7, II EStG besondere Tatbestände an die Seite („Werbungskosten sind auch“). Das „auch“ lässt offen, ob die Tatbestände des § 9 I 3 Nrn. 1–7 EStG als (illustrative) Unterfälle des allgemeinen Werbungskostenbegriffs (§ 9 I 1 EStG) aufgefasst werden sollen oder ob selbständige Tatbestände anzunehmen sind. Legt man § 9 EStG verfassungskonform (dem Gleichheitssatz entsprechend) in der Weise aus, dass er dem § 4 IV EStG entspricht, so müssen die Tatbestände des § 9 I 3 Nrn. 1–7 EStG so interpretiert werden, dass sie dem allgemeinen Werbungskostenbegriff entsprechen. Da § 4 IV EStG nämlich keine dem § 9 I 3 Nrn. 1–7 EStG entsprechenden Tatbestände aufführt, müssen diese Tatbestände gleichheitssatzkonform auch aus dem § 4 IV EStG herausinterpretiert werden können. Im Falle des § 9 EStG kann dann nicht anders verfahren werden, d.h. die Einzeltatbestände des § 9 I 3 Nrn. 1–7 EStG müssen möglichst aus § 9 I 1 EStG herausinterpretiert werden können.
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Die einzelnen Tatbestände in § 9 I 3 EStG:
362
(1) Schuldzinsen, Renten und dauernde Lasten, soweit sie durch eine Einkunftsart-Tätigkeit veranlasst sind (§ 9 I 3 Nr. 1 EStG). Die Einordnung von Zinsen wirft in mehrfacher Hinsicht Qualifikationsprobleme auf. Es sind Quelleneinkünfte von den Veräußerungseinkünften abzugrenzen und Zinsen zur Finanzierung von nicht steuerbarem Vermögen (Stammvermögen, privates Konsumvermögen, insb. selbstgenutzte Immobilien) auszugrenzen bzw. anteilig zuzuordnen (s. Rz. 285). (2) Abgaben vom Grundbesitz, soweit der Grundbesitz der Erwerbstätigkeit dient.
363
(3) Beiträge zu Berufsständen und sonstigen Berufsverbänden (s. Rz. 256). (4) Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte (s. Rz. 261 f.). (5) Notwendige Mehraufwendungen wegen einer aus beruflichem Anlass begründeten doppelten Haushaltsführung (s. Rz. 258 ff.). (6) Aufwendungen für Arbeitsmittel (s. Rz. 251). 1 Zur Veräußerung von vermieteten Grundstücken BFH BStBl. 1990, 464; 1990, 465; 1990, 775; 1996, 198; 1996, 595 (Grenzfall der Vorfälligkeitsentschädigung, dazu Grube, INF 1997, 294; Velm, BB 1997, 972); Eigenheim: BFH BStBl. 2000, 474; 2000, 476; Kapitalvermögen: BFH BStBl. 1989, 934; 1997, 454; 1997, 682. Zur Aufteilung von Verwaltungskosten bei Kapitalvermögen und privaten Veräußerungsgeschäften Rieck, DStR 2003, 1958; Lohr, DStR 2005, 321. 2 BFH BStBl. 1988, 186. 3 S. Krüger, FR 1995, 633.
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§8
Rz. 364
364
(7) Absetzungen für Abnutzung und für Substanzverringerung (§ 9 I 3 Nr. 7 Satz 1 EStG) und Abschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter (Anschaffungs-/Herstellungskosten bis 410 Euro) im Jahr der Anschaffung/Herstellung bzw. des Nutzungsbeginns (§ 9 I 3 Nr. 7 Satz 2 i.V.m. § 6 II 1–3 EStG).
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Nach st. Rspr. des BFH1 enthält § 9 I 3 Nr. 7 EStG eine rechtsbegründende Ausnahme von der quellentheoretischen Ausgrenzung des Stammvermögens. Demgegenüber wird im Schrifttum2 überwiegend die Auffassung vertreten, die Anschaffungs-/Herstellungskosten seien ohne § 9 I 3 Nr. 7 EStG in vollem Umfange im Zeitpunkt der Verausgabung abziehbar. In der Tat verwirklicht diese Ansicht konsequent das Ideal der Überschussrechnung und wäre dann richtig, wenn das Stammvermögen nicht auszugrenzen wäre, sondern wenn entsprechend dem Werbungskostenabzug der Anschaffungs-/Herstellungskosten alle Veräußerungsentgelte in der Überschussrechnung anzusetzen wären3. Da eine derart umfassende Überschussrechnung aber im quellentheoretischen Konzept der Überschusseinkünfte nicht vorgesehen ist, bedarf es der Regelung in § 9 I 3 Nr. 7 EStG; sie begründet mit der Modifikation der Quelleneinkünfte insofern ein Steuerprivileg, als dem Werbungskostenabzug keine Versteuerung von Veräußerungsentgelten gegenübersteht. Das bedeutet, dass Abschreibungen bei den Überschusseinkünften im Unterschied zu den Gewinneinkünften, soweit die Veräußerung außerhalb der Fristen des § 23 EStG erfolgt, nicht durch spätere Versteuerung der stillen Reserven rückgängig gemacht werden.
366
Die Begriffe Anschaffungs-/Herstellungskosten sind einheitlich für alle Einkunftsarten, insb. inhaltsgleich für Gewinn- wie für Überschusseinkünfte zu interpretieren. Das gilt vor allem für die Abgrenzung des Anschaffungs-/Herstellungsaufwandes (besonders des anschaffungsnahen Herstellungsaufwandes, vgl. § 6 I Nr. 1a EStG) zu den nicht substanzwirksamen Aufwendungen, die sofort als Werbungskosten abgezogen werden können. Nach st. Rspr.4 gilt § 255 HGB auch für Überschusseinkünfte, insb. für Einkünfte aus Vermietung, so dass die steuerbilanziellen Abgrenzungskriterien (s. § 9 Rz. 230 ff., 250 ff.) auch bei den Überschusseinkünften gelten, zumal § 9 I 3 Nr. 7 EStG auf das Steuerbilanzrecht verweist; im Zusammenhang mit den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung s. insb. § 6 I Nr. 1a EStG (hierzu § 9 Rz. 256).
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Zur Gleichstellung mit der betrieblichen AfA im Falle der Umwidmung eines Wirtschaftsguts von der privaten zur beruflichen Nutzung s. Rz. 253.
Einkommensteuer
Einstweilen frei.
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G. Die einzelnen Einkunftsarten Literatur: (bis 1980 s. 14. Aufl., § 9 Rz. 477 Fn. 1) Merkenich, Die unterschiedlichen Arten der Einkünfteermittlung im deutschen Einkommensteuerrecht, Diss., 1982; Koller, Abgrenzung von Einkunftstatbeständen im Einkommensteuerrecht, Diss., 1993; Trzaskalik, Vom Einkommen bis zu den Einkunftsarten, Marginalien zum steuertheoretischen Grundansatz von Tipke, in FS Tipke, 1995, 321; Nickel, Abgrenzung und Konkurrenz von Einkünftetatbeständen im Einkommensteuerrecht. Methodische Grundlagen, Fallgruppen, Auslegungsfragen, Diss., 1998; Zugmaier, Einkünftequalifikation im Einkommensteuerrecht, Diss., 1998; Zugmaier, Einkünftequalifikation im Einkommensteuerrecht bei Einzelpersonen, StuW 1998, 334; Kanzler, Steuerreform: Von der synthetischen Einkommensteuer zur Schedulenbesteuerung?, FR 1999, 363; Tipke, Steuerliche Ungleichbehandlung durch einkunfts- und vermögensartdifferente Bemessungsgrundlagenermittlung und Sachverhaltsverifizierung, in FS Kruse, 2001, 215; v. Beckerath, § 171: Einkunftsarten, in Leitgedanken des Rechts II, 2013. 1 BFH GrS BStBl. 1978, 620; BFH BStBl. 1978, 455; 1979, 38; 1979, 551; 1983, 410; KSM/von Bornhaupt, § 9 EStG Rz. B 97 ff. (2003). 2 HHR/Bergkemper, § 9 EStG Anm. 588 ff. (2010); Schmidt/Loschelder33, § 9 EStG Rz. 176 f. 3 So das Konzept der nachgelagerten Besteuerung oder der Cash-Flow-Steuern (s. § 3 Rz. 76 f.). 4 BFH BStBl. 1990, 830.
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Rz. 402
§8
Zu welcher Einkunftsart die Einkünfte im einzelnen Fall gehören bestimmt sich nach den §§ 13–24 EStG (§ 2 I 2 EStG). Betrachtet man das in den §§ 13–24 EStG näher umschriebene Spektrum der Einkunftsarten, so hat man, jedenfalls prima facie, den Eindruck, es mit einem empirischen, lebensnahen, der sozialen und wirtschaftlichen Realität entnommenen EinkünfteKatalog zu tun zu haben, der dazu gedacht ist, den Einkommensbegriff praktikabel zu illustrieren. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn diese illustrierende Typologie der sieben Einkunftsarten die gleichmäßige und vollständige Erfassung der Einkünfte sowie deren gleichmäßige steuerliche Belastung nicht beeinträchtigte. Realiter haben wir es jedoch mit einem zerklüfteten Einkunftsartenrecht zu tun, das die einzelnen Einkünfte unvollständig erfasst, unterschiedlich quantifiziert und unterschiedlich steuerlich belastet1.
400
Die Zuordnung von Einkünften zu einer Einkunftsart ist von höchster Relevanz, und zwar
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Die einzelnen Einkunftsarten
I. Einführung in das Einkunftsartenrecht
a) wegen unterschiedlicher Einkünfteermittlungsarten (Einkünftedualismus gem. § 2 II EStG, Sonderformen gem. §§ 5a; 13a EStG) und Steuererhebungsarten (§§ 37; 38 ff.; 43 ff.; 50a EStG), und ab 2009 wegen der Abgeltungsteuer für Kapitaleinkünfte (s. Rz. 492 ff.); b) wegen einkünftespezifischer Beschränkungen des Verlustausgleichs und Verlustabzugs (s. Rz. 66); c) wegen einkünftespezifischer Befreiungen (§§ 3; 3b EStG), Freibeträge und Freigrenzen (§§ 13 III; 14a; 16 IV; 17 III; 18 III 2; 19 II; 20 IX; 22 Nr. 3 Satz 2; 23 III 5; 24a EStG) und unterschiedlicher Behandlung von Veräußerungseinkünften (s. Rz. 560 ff.) und von Alterseinkünften (s. Rz. 564 ff.); d) wegen der Pauschalierung bestimmter Erwerbsaufwendungen (s. Rz. 302 ff.); e) wegen einkünftespezifischer Steuerermäßigungen (§§ 34; 34b; 34c; 34e; 35 EStG); f) wegen Zusatzbelastung durch andere Steuern, insb. durch die Gewerbesteuer. Die Zusatzbelastung der gewerblichen Einkünfte wird durch die typisierte Anrechnung der Gewerbesteuer nach § 35 EStG rückgängig gemacht; dadurch entstehen neue Ungleichheiten (s. Rz. 840 ff.); g) wegen der Notwendigkeit, die beschränkt steuerpflichtigen Einkünfte richtig zuzuordnen (s. § 49 EStG). Die Frage, ob Einkünfte Inlandseinkünfte sind, hängt von der Einkunftsart ab.
Die Differenzierungen sind zum Teil verdächtig, dem Gleichheitssatz zu widersprechen2. Die Kompliziertheit des deutschen Einkommensteuerrechts erwächst wesentlich daraus, dass an die einzelnen Einkunftsarten je besondere Vergünstigungen oder Belastungen angehängt werden, Einkommen also nicht gleich Einkommen ist, Einkommen nicht als qualitativ gleichwertig behandelt wird. Die einkunftsartabhängigen Steuerfolgen produzieren eine Flut von Aufsätzen, Monographien, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsvorschriften zur Abgrenzung der Einkunftsarten. Den historischen Fortschritt von der Schedulensteuer zur Gesamteinkommensteuer (s. Rz. 1) macht das zersplitterte Einkunftsartenrecht rückgängig. Das schert die Politiker offensichtlich nicht, denn nach ihrer Auffassung ist der Grundsatz der synthetischen Einkommensteuer „kein Wert an sich“3. Es wird nach Berufsbildern schematisiert (Unternehmer, Arbeitnehmer, Rentner, Nichtrentner). So bekommt ein Arbeitnehmer eine Werbungskostenpauschale von 1 000 Euro (§ 9a Satz 1 Nr. 1 EStG) und einen Personalrabatt-Freibetrag von 1 080 Euro (§ 8 III 2 EStG). Der Unternehmer, z.B. ein Kioskbetreiber, muss die Erträge penibel aufzeichnen und sämtlich versteuern. Der Fortschritt, der darin liegt, dass man die Leistungsfähigkeit am Einkommen misst, wird durch lobbyistisch geförderte Sozialklassifikationen zurückgenommen. Das synthetische Konzept der Einkommensteuer wird preisgegeben zugunsten sozialideologischer Klischees. Neuerdings gefährdet der Wettbewerb der Steuersysteme das synthetische Einkommensteuersystem. Wie bereits in Rz. 1 dargelegt, werden Einkünfte aus flüchtigem Geld- und Sachkapital (die sog. Kapitaleinkommen) einem zunehmend niedrigeren Proportionalsteuersatz unterworfen, während die sog. Arbeitseinkommen weiterhin progressiv besteuert werden. Die Abgeltungsteuer auf Kapitaleinkünfte schreitet in die Richtung einer dualen Einkommensteuer (s. § 7 Rz. 76). Aus der unterschiedlichen Besteuerung von Einkunftsarten erge1 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 218 ff.; Jehner, DStR 1990, 6; Richter/Richter, BB 1994, 621; Tipke, StRO II2, 668 ff.; Kanzler, FR 1999, 363. 2 Dazu umfassend Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981, 65 ff.; Tipke, FS Kruse, 2001, 215; Tipke, StRO II2, 668 ff. 3 So BT-Drucks. 12/5016, 79, zur Tarifbegrenzung bei gewerblichen Einkünften.
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402
§8
Rz. 403
Einkommensteuer
ben sich zahlreiche Zweifelsfragen bei gemischter Tätigkeit1, namentlich bei der dualen Einkommensteuer, wenn unternehmerische Tätigkeit mit Kapitaleinsatz verbunden ist (s. § 7 Rz. 77).
403
Einen einheitlichen, am Erwerbseinkommen (s. § 7 Rz. 30) ausgerichteten Einkünftetatbestand fordern nicht nur Wissenschaftler2, sondern auch Entwürfe politischer Parteien3, die sich allerdings bisher nicht haben durchsetzen können. Nach dem Prinzip des Erwerbseinkommens ist es irrelevant, ob der Stpfl. seine Einkünfte unter mehr oder weniger Aktivität, Anstrengung, Begabung, Intelligenz, Vitalität, Willenskraft, Gestaltungskraft, Phantasie oder Risikobereitschaft erzielt. Der für die Einkommenserzielung benötigte Zeitaufwand und die Zeit, zu der die Arbeit geleistet wird, dürfen grds. nicht berücksichtigt werden. § 3b EStG durchbricht diesen Grundsatz mit der Privilegierung von Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit systemwidrig. Nur innerhalb einer derartigen einheitlichen Einkommensteuer ist auch ein voller Ausgleich von Verlusten und Gewinnen aus den verschiedenen Einkunftsarten möglich (s. aber Rz. 65 ff.).
II. Gewinneinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 1 EStG) 1. Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft (§§ 13–14a EStG) Literatur: Jachmann, Die Einkommensbesteuerung der Land- und Forstwirtschaft und ihre Zukunft, Agrarrecht 1999, 1; Parsche/Haug/Marcelo/Nam/Reichl, Internationaler Vergleich zur Besteuerung der Systeme der Land- und Forstwirtschaft, 2001; Weitl, Die Rechtsformwahl in der Land- u. Forstwirtschaft unter steuerlichen Gesichtspunkten, Diss., 2003; Altehoefer/Bauer/Eisele/Fichtelmann/ Walter, Besteuerung der Land- und Forstwirtschaft6, 2010; Felsmann/Pape/Giere, Einkommensbesteuerung der Land- und Forstwirte, 3 Bde. (Stand 2011); Wiegand, Das Steuervereinfachungsgesetz aus der Sicht der Land- und Forstwirtschaft, NWB 2011, 3606; Wiegand, Abgrenzung der Land- und Forstwirtschaft vom Gewerbe, NWB 2012, 460; Hiller, Die erhöhte Privilegierung der Forstwirtschaft, StWa. 2012, 107; Märkle/Hiller, Die Einkommensteuer bei Land- und Forstwirten11, 2014; Leingärtner, Die Besteuerung der Landwirte (Stand 2014).
1.1 Bestimmung und Privilegierung der Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft 404
Die Land- und Forstwirtschaft erfüllt zunächst die Merkmale eines Gewerbebetriebs (§ 15 II EStG). Was die Land- und Forstwirtschaft von der gewerblichen Bodenbewirtschaftung abhebt, ist die sog. Urproduktion, die natürliche (nicht bauliche, industrielle, spekulative) Bewirtschaftung des Bodens und die Verwertung der dadurch gewonnenen Erzeugnisse pflanzlicher oder tierischer Art4. Können die Einkünfte nicht mehr wesentlich auf die Bodenbewirtschaftung zurückgeführt werden, so sind gewerbliche Einkünfte (z.B. Ferien- und Sporthotelbetrieb, Fuhrbetrieb, gewerbliche Tierhaltung und Tierzucht) oder Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung (z.B. Vermietung von Ferienwohnungen im Bauernhaus, Verpachtung eines Bauernhofs durch einen Erwerber, der den Hof nicht bewirtschaftet hat) anzunehmen5. § 13 I Nr. 1 1 Dazu Rose, DB 1980, 2464; Zugmaier, Einkünftequalifikation im Einkommensteuerrecht, Diss., 1998, 56 ff.; Zugmaier, StuW 1998, 334, 335 ff.; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 88, 97, 100, 107 u. § 18 EStG Rz. 50. 2 Einen am Erwerbseinkommen ausgerichteten Einkünftetatbestand empfehlen insb. Rose, Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland, 2002, 150 (§ 2 I); P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, 1 (§ 2 III); Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, 2004, 7 (§ 2 II); § 2 I Kölner EStGE. 3 So insb. Fraktion der FDP, Gesetzentwurf zur Einführung einer neuen Einkommensteuer u. zur Abschaffung der Gewerbesteuer, BT-Drucks. 15/2349, § 7; Fraktion der CDU/CSU, Ein modernes Steuerrecht für Deutschland – Konzept 21, BT-Drucks. 15/2349, 4 (Ausrichtung am Markteinkommen). 4 Zum Begriff der Land- und Forstwirtschaft s. BFH BStBl. 1979, 246 (247); 1992, 651 (652); 2002, 221; 2009, 40 (Spargelschälen keine typische land- u. forstwirtschaftliche Arbeit); Blümich/Nacke, § 13 EStG Rz. 64 ff. (2012); Kirchhof/Kube13, § 13 EStG Rz. 2 ff. 5 Zur Abgrenzung der Land- und Forstwirtschaft zum Gewerbebetrieb BFH BStBl. 2002, 221; 2006, 166 (Parzellierung u. Veräußerung land- u. forstwirtschaftlich genutzter Grundstücke ist kein gewerblicher Grundstückshandel, sondern LuF-Hilfsgeschäft); 2008, 356 (Klärschlammtransporte); 2008, 232,
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Gewinneinkünfte
Rz. 405
§8
Sätze 4, 5 EStG grenzt i.V.m. §§ 51 II-V; 51a BewG die im Verhältnis zur landwirtschaftlichen Nutzfläche übermäßige Tierzucht und Tierhaltung aus der Landwirtschaft aus (Einzelheiten: R 13.2 EStR 2012). Das Verlustausgleichs- und -abzugsverbot für die gewerbliche Tierhaltung (§ 15 IV 1–2 EStG) soll die traditionelle, mit der Bodenwirtschaft verbundene Tierhaltung schützen1. Forstwirtschaft ist Bodenbewirtschaftung zur Gewinnung von Walderzeugnissen, vor allem Holz, soweit sie nicht einem landwirtschaftlichen oder gewerblichen Betrieb angehört2. Land- und Forstwirtschaft lieferten der Rspr. seit jeher die klassischen Beispiele für Liebhaberei3. Die Land- und Forstwirtschaft kann auch in der Form der Mitunternehmerschaft (§ 13 VII i.V.m. § 15 I 1 Nr. 2 EStG) betrieben werden. Ehegatten können auch ohne ausdrücklichen Gesellschaftsvertrag eine Mitunternehmerschaft bilden, wenn jeder der Ehegatten einen erheblichen (mehr als 10 %) Teil der selbstbewirtschafteten land- und forstwirtschaftlichen Grundstücke zur Verfügung stellt4. Zu den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft gehören auch Gewinne, die bei der Veräußerung oder Aufgabe5 eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebs oder Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils erzielt werden (§ 14 i.V.m. § 16 EStG). Wegen des Zusammenhangs mit der Landwirtschaft sind auch Einkünfte aus einem landwirtschaftlichen Nebenbetrieb landwirtschaftliche Einkünfte (§ 13 II Nr. 1 Satz 1 EStG). Als Nebenbetrieb gilt ein Betrieb, der dem land- und forstwirtschaftlichen Hauptbetrieb zu dienen bestimmt ist (§ 13 II Nr. 1 Satz 2 EStG). Dies trifft in folgenden beiden Fällen zu (s. R 15.5 III EStR 2012): 1. Vermarktungsbetriebe6: Der Betrieb be- oder verarbeitet Rohstoffe, die überwiegend im eigenen Hauptbetrieb erzeugt worden sind, und verkauft die dabei gewonnenen Erzeugnisse. Bsp.: Substanzbetriebe (Sand-/Kiesgruben, Steinbrüche, Torfstiche), Molkereien, Käsereien, Herstellung u. Vertrieb von Sekt (Grenzfall, s. BMF BStBl. I 1996, 1434). Nach Auffassung der Verwaltung muss es sich um eine erste Stufe der Be- oder Verarbeitung handeln, die noch dem land- und forstwirtschaftlichen Bereich zuzuordnen ist (R 15.5 III EStR 2012). Diese „Stufentheorie“ lehnt BFH BStBl. 1997, 427, ab. Der BFH stellt zu Recht darauf ab, ob der Betrieb einem üblichen Handwerks- und Gewerbebetrieb so sehr ähnelt, dass er aus Wettbewerbsgründen als selbständiger gewerblicher Betrieb zu besteuern ist. Demnach sind keine land- oder forstwirtschaftlichen Nebenbetriebe: Metzgereien, Gastwirtschaften, Brauereien, Bäckereien. Die Praxis hält aus Gründen der Rechtssicherheit an den starreren Grenzen der Verwaltung fest7. I.Ü. stellen BFH und BMF für die Annahme eines eigenständigen Handelsgeschäftes darauf ab, ob es sich um einen Hofladen oder eine separate Verkaufstelle handelt. Zudem zieht er das Verhältnis des Nettoumsatzes aus zugekauften zu selbstproduzierten Produkten heran (BFH BStBl. 2010, 113; dazu Wiegand, NWB 2012, 460). Von einem Gewerbebetrieb ist danach auszugehen, wenn der Nettoumsatz aus zugekauften Produkten ein Drittel des Gesamtumsatzes oder 51 500 Euro im Wirtschaftsjahr nachhaltig übersteigt.
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u. 2008, 359 (kein LuF-Hilfsgeschäft, wenn der zu veräußernde Grundbesitz zu einem Objekt „anderer Marktgängigkeit“ gemacht wird); 2009, 453 (Zu- u. Weiterverkauf von Reitpferden); 2009, 654 (Strukturwandel); Märkle, Brennpunkte der Abgrenzung zwischen land- und forstwirtschaftlicher und gewerblicher Tätigkeit, DStR 1998, 1369; Lüschen/Willenborg, INF 1999, 577 (Pferdezucht/-haltung); Blümich/Nacke, § 13 EStG Rz. 146 ff. (2012); Kirchhof/Kube13, § 13 EStG Rz. 4 ff. Abgrenzung zum gewerblichen Grundstückshandel v. Schönberg, DStZ 2005, 61; Kanzler, DStZ 2013, 822. BT-Drucks. VI/1934; VI/2315; BFH BStBl. 1990, 152. Dazu BFH BStBl. 1999, 379; BFH/NV 2007, 269 (zur forstwirtschaftlichen Urproduktion bei Be- und Verarbeitung von Holz); Blümich/Nacke, § 13 EStG Rz. 65 ff. (2012); Kirchhof/Kube13, § 13 EStG Rz. 12. Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 267 f.; Bolin/Butke, INF 2000, 70; Blümich/Nacke, § 13 EStG Rz. 137 ff. (2012); Ritzrow, SteuerStud 2011, 364; Kirchhof/Kube13, § 13 EStG Rz. 8 f.; Schmidt/Kulosa33, § 13 EStG Rz. 61 ff.; zum forstwirtschaftlichen Generationsbetrieb s. Rz. 126. Die Annahme eines forstwirtschaftlichen Betriebs i.S.d. § 13 I Nr. 1 Satz 1 EStG setzt für die Erzielung eines Totalgewinns eine gewisse Größe voraus (s. BFH/NV 2005, 1511: 90 Hektar Forstbetrieb als Liebhaberei). Zur Liebhaberei bei Gewinnermittlung nach Durchschnittssätzen BFH BStBl. 2003, 702. BFH BStBl. 2009, 989. BFH BStBl. 2010, 431. Dazu Zugmaier, INF 1997, 579. Schmidt/Kulosa33, § 13 EStG Rz. 42.
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405
§8
Rz. 406
Einkommensteuer
2. Verwertungsbetriebe: Der Betrieb übernimmt Rohstoffe, be- oder verarbeitet diese und verwertet die dabei gewonnenen Erzeugnisse nahezu ausschließlich im eigenen Betrieb der Land- und Forstwirtschaft. Beispiel: Verwertung organischer Abfälle, z.B. Klärschlamm (s. R 15.5 IV EStR 2012).
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Die traditionelle Privilegierung der Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft gegenüber den anderen unternehmerischen Einkunftsarten i.S.d. §§ 15; 18 EStG ist kontinuierlich zurückgeführt worden. Die Gewinnermittlung nach Durchschnittssätzen (§ 13a EStG) wurde zielgenauer auf kleinere Betriebe zugeschnitten (s. Rz. 408 ff.) und die Steuerermäßigung nach § 34e EStG gegen das sprunghafte Ansteigen der Steuerbelastung beim Ausscheiden aus der Gewinnermittlung nach § 13a EStG ab 2001 gestrichen. Schließlich kassierte der Gesetzgeber die Steuervergünstigungen gem. § 14a EStG für Veräußerungen bäuerlicher Familienbetriebe.
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Nach wie vor sieht § 13 III EStG aber einen zuletzt durch Zollkodexgesetz v. 22.12.2014 wieder leicht angehobenen Freibetrag i.H.v. 900 Euro/1 800 Euro vor. Dieser Freibetrag ist bis zu einer Summe der Einkünfte von 30 700 Euro anwendbar (§ 13 III 2 EStG). Weiterhin bestehen folgende Steuervergünstigungen: § 13 IV, V EStG stellen Entnahmegewinne für Wohnungen/ Grund und Boden steuerfrei, die bisher in die Nutzungswertbesteuerung nach § 13 II Nr. 2 EStG fielen. Die Nutzungswertbesteuerung ist ab 1999 grds. weggefallen und gilt nur noch für Baudenkmäler fort (§ 13 II Nr. 2 Hs. 2 EStG). Werden einzelne Wirtschaftsgüter des land- und forstwirtschaftlichen Betriebsvermögens gegen Gewährung von Mitgliedsrechten auf einen Betrieb der Tierhaltungskooperation in der Rechtsform einer Erwerbs-/Wirtschaftsgenossenschaft oder eines Vereins übertragen, so kann die ESt auf den Realisationsgewinn nach § 13 VI EStG auf bis zu 5 Jahre verteilt entrichtet werden. § 3 Nr. 17 EStG stellt Zuschüsse zum Beitrag nach § 32 des Gesetzes über die Alterssicherung der Landwirte und § 3 Nr. 27 EStG stellt den Grundbetrag der nach § 13 II Nr. 3 EStG zu versteuernden Produktionsaufgaberente und das Ausgleichsgeld nach dem Gesetz zur Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit bis 18 407 Euro steuerfrei. § 34b EStG gewährt Steuerermäßigungen für außerordentliche Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft (s. Rz. 812 f.).
1.2 Gewinnermittlung nach Durchschnittssätzen (§ 13a EStG) 408
Land- und Forstwirte, die insb. nach § 141 I AO nicht buchführungspflichtig sind (§ 13a I 1 Nr. 1 EStG) und i.Ü. die in § 13a I 1 Nrn. 2–5 EStG niedergelegten Voraussetzungen für Kleinbetriebe erfüllen, haben nach § 13a II EStG die Wahl1 zwischen Betriebsvermögensvergleich (§ 4 I EStG) auf Grund freiwilliger Buchführung, Überschussrechnung nach § 4 III EStG und der Gewinnermittlung nach Durchschnittssätzen (§ 13a III–VII EStG). Hierzu ist ein schriftlicher, nach § 13a II 3 EStG fristgebundener Antrag erforderlich, der den Stpfl. vier Wirtschaftsjahre bindet (§ 13a II 1 EStG).
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Seit langem wird gegen die Gewinnermittlung nach § 13a EStG eingewendet, dass sie gleichheitswidrig nur einen Teil des wirklichen Gewinns erfasse2. Zuletzt hat der Bundesrechungshof 2012 die mangelnde Zielgenauigkeit kritisiert (BT-Drucks. 17/8428). Gleichwohl hält der Gesetzgeber an § 13a EStG fest. Nachdem er den Anwendungsbereich bereits durch das StEntlG 1999/2000/2002 deutlich zurückgeschnitten hatte, soll die Neufassung durch das Zollkodexgesetz vom 22.12.2014 vor allem zu einer umfassenderen Berücksichtigung von Sondernutzungen und Sondergewinnen führen (BT-Drucks. 14/23, 176). Die Neufassung des § 13a EStG reduziert die Verletzung des Gleichheitssatzes weiter, beseitigt sie jedoch nicht. Insb. kann § 13a EStG schon im Hinblick auf die Kompliziertheit der Regelung in § 13a III–VII EStG nicht als Vereinfachungsnorm gerechtfertigt werden3. Der Mythos von der steuerlichen Unerfahrenheit des Landwirts4 wird auch durch das Wahlrecht in § 13a II EStG widerlegt, des1 Dazu M. Ritzow, StBp. 2008, 348. 2 EFG 1979, 28; 1981, 136; 1981, 571; BFH BStBl. 1984, 198 (200); Bundesrechnungshof, BT-Drucks. 13/2600, 106; Kanzler, FR 1998, 233 (237); Kanzler, FR 1999, 423 f.; Kanzler, DStZ 1999, 682; Tipke, StRO II2, 682 f. 3 Kanzler, FR 1998, 233 (247). 4 Kanzler, FR 1998, 233 (240).
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Gewinneinkünfte
Rz. 414
§8
sen Ausübung steuerminimierende Vergleichsrechnungen zwischen mehreren Gewinnermittlungsarten erfordert. Nach § 13a III EStG besteht der Durchschnittssatzgewinn aus der Summe des Gewinns aus land- und forstwirtschaftlicher Nutzung, Zuschlägen für Sondernutzungen, Sondergewinnen, vereinnahmten Miet- und Pachtzinsen sowie den zu § 13 EStG gehörenden Kapitaleinkünften. Der Gewinn aus der landwirtschaftlichen Nutzung wird nach den Grundsätzen von § 4 I EStG als Summe aus dem Grundbetrag (Hektarwerte, die nach den Vorschriften des BewG zu bestimmen sind, vgl. §§ 13a IV 2 EStG; 160 II 1 Nr.1a BewG) und Zuschlägen für Tierzucht und Tierhaltung ermittelt. Sondernutzungen sind in § 13a VI EStG definiert. Sondergewinne sind die in § 13a VII EStG näher bestimmten Gewinne aus Veräußerung/Entnahme, Dienstleistungen/vergleichbaren Tätigkeiten, Auflösung von Rücklagen. Einstweilen frei.
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2. Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§§ 15; 16 EStG) 2.1 Allgemeine Begriffsbestimmung1 Die Legaldefinition des Gewerbebetriebs in § 15 II EStG geht auf § 1 I 1 GewStDV 1983 zurück; den dort niedergelegten gewerbesteuerlichen Begriff des Gewerbebetriebs entwickelte bereits die Rspr. des preußischen OVG und des RFH2. § 15 II EStG bestimmt den Begriff „Gewerbebetrieb“ durch folgende Merkmale:
413
a) eine Betätigung (Tätigkeit), die ursächlich ist für den wirtschaftlichen Erfolg; b) Selbständigkeit der Tätigkeit (Handeln auf eigene Rechnung und Gefahr); der Begriff stimmt mit dem des Umsatzsteuerrechts überein (s. § 17 Rz. 37 ff.); Gegensatz: Unselbständigkeit der Tätigkeit (s. Rz. 472); c) Nachhaltigkeit der Tätigkeit (berufsmäßige oder länger dauernde, also fortgesetzte Tätigkeit oder Tätigkeit mindestens mit Wiederholungsabsicht); der Begriff der Nachhaltigkeit stammt aus dem Umsatzsteuerrecht (§ 2 I 3 UStG; s. § 17 Rz. 41 ff.); Gegensatz: gelegentlich (s. § 22 Nr. 3 EStG); d) Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr; dieses Merkmal kennzeichnet den objektiven Tatbestand gewerblicher Einkünfte (s. Rz. 123); e) Gewinnerzielungsabsicht; dieses Merkmal des subjektiven Tatbestandes grenzt insb. die gewerblichen Einkünfte von nicht steuerbaren Einkünften aus Liebhaberei, und auf Aufwendungsersatz beschränkten Einnahmen aus gemeinnütziger und ehrenamtlicher Tätigkeit ab; Die Gewinnerzielungsabsicht kann Nebenzweck sein (§ 15 II 3 EStG); die Absicht muss sich auf die Erzielung einer Vermögensmehrung durch gewerbliche Betätigung beziehen; eine Minderung der Einkommensteuer ist keine solche Vermögensmehrung (§ 15 II 2 EStG), da sie nicht wesentlich auf der gewerblichen Betätigung beruht.
f) negativ: keine Land- und Forstwirtschaft (§ 13 EStG) oder selbständige Arbeit (§ 18 EStG). I.Ü. wird die sog. private Vermögensverwaltung ohne positive Grundlage in § 15 II 1 EStG (s. aber § 14 AO) von dem Gewerbebetrieb unterschieden3. 1 Dazu Schmidt-Liebig, BB-Beil. 14/1984; Steisslinger, Der Gewerbebetrieb im Handels- und Steuerrecht, 1989; Fischer, FR 2002, 597; Ritzow, StWA 2006, 143. 2 PrOVG 6, 385; 7, 418, 421; 9, 128, 131; 10, 382 ff.; RFHE 14, 19; 15, 347, 351; 28, 21, 26. Das StEntlG 1984 v. 22.12.1983, BGBl. I 1983, 1583, übernahm den damals geltenden § 7 I 1 GewStDV in den § 15 II EStG. Zur Rechtsentwicklung s. Schmidt-Liebig, „Gewerbe“ im Steuerrecht, Diss., 1977, 4 ff.; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 235 ff. (m.w.N.). 3 Dazu J. Lang, StbKongrRep. 1988, 49; Führer, Die Abgrenzung der privaten Vermögensverwaltung vom Gewerbebetrieb bei natürlichen Personen und Personengesellschaften, Diss., 1996; Bloehs, Die Abgrenzung privater Vermögensverwaltung von gewerblichen Grundstücks- und Wertpapiergeschäften, Diss., 2001; Elicker, DStJG 30 (2007), 97; Hartrott, FR 2008, 1095; Fischer, DStR 2009, 398. Zur Abgrenzung des Grundstückshandels zur Vermietung und Verpachtung s. Rz. 516 f.; Wertpapierverwaltung: Rz. 417.
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§8
Rz. 415
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§ 15 II EStG enthält einen Merkmalkatalog, der den Begriff des Gewerbebetriebs klassifikatorisch festzulegen scheint. Gleichwohl wird der Begriff des Gewerbebetriebs zutreffend als Typusbegriff interpretiert1. Die Abgrenzung der Einkunftsarten determinieren nämlich hauptsächlich historisch vorfixierte Tätigkeitsbilder; dies zwingt zu einer typologischen Interpretation des § 15 II EStG. Demnach kann die Rechtsfolge nicht allein durch formallogische Subsumtion unter die Begriffsmerkmale des § 15 II EStG gewonnen werden. Die typologisch operierende Rspr. stellt auf das „Gesamtbild der Betätigung“ und die „Verkehrsauffassung“ ab2.
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Gewerbliche Einkünfte können von anderen Gewinneinkünften hauptsächlich nur nach Berufsbildern des Einkünftehistorismus (Land-, Forstwirt, Händler, Kaufmann, Arzt, Rechtsanwalt u.a. sog. Katalogberufe i.S.d. § 18 I Nr. 1 Satz 2 EStG, s. Rz. 426 ff.) unterschieden werden3. Bei der Abgrenzung der gewerblichen Einkünfte zu den Überschusseinkünften dominiert der Typus des Unternehmers: Unternehmer ist nach der st. Rspr., wer Unternehmerrisiko trägt und Unternehmerinitiative entfalten kann4. Mit diesem Typus färbt die Rspr. die Legaldefinition des § 15 II 1 EStG, die mit dem Merkmal „Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr“ markteinkommenstheoretisch begründet ist (s. § 7 Rz. 30). Erwirtschaftet der Stpfl. Einkünfte nur gegenüber einem Kunden oder gegenüber einem Angehörigen (s. Rz. 123), so stellt BFH BStBl. 2000, 404 (405) auf das „Bild einer unternehmerischen Marktteilnahme“ ab.
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Zur Ausgrenzung der sog. privaten Vermögensverwaltung stellt die Rspr. zutr. auf die quellentheoretische Konzeption der Überschusseinkünfte (s. Rz. 182) ab: Vermögensverwaltung nimmt die Rspr. an, wenn das Vermögen zu einer regelmäßig längerfristigen Erhaltung und Fruchtziehung angelegt wird. Tritt hingegen die Umschichtung von Vermögen, z.B. durch Grundstücks- und Wertpapierhandel in den Vordergrund, so bejaht die Rspr. Gewerbebetrieb. Dabei praktiziert die Rspr. im Verhältnis zur Vermietung und Verpachtung die „Drei-Objekt-Grenze“ (s. Rz. 517). Während danach die Rspr. den Begriff des Gewerbebetriebs mittels Annahme eines Grundstückshandels extensiv interpretiert, erkennt sie die permanente Umschichtung von Wertpapierbeständen als Pflege des Stammvermögens an, so dass selbst bei einem häufigen Umschlag von Wertpapieren der Bereich privater Wertpapierverwaltung noch nicht verlassen wird. Wertpapierhandel und Gewerbebetrieb liegen nach st. Rspr. erst vor, wenn sich der Stpfl. „wie ein Händler“ verhält. Das „Bild des Wertpapierhandels“ wird geprägt durch den Geschäftsumfang, das Unterhalten eines Büros und die professionelle Marktteilnahme wie das öffentliche Anbieten von Wertpapiergeschäften auf Grund beruflicher Erfahrung und Eignung5. Vor dem Hintergrund der Werbungskostenabzugs- und Verlustverrechnungsbeschränkungen im Rahmen der Abgeltungsteuer (§ 20 VI, IX EStG) wird der Zuordnung weiterhin erhebliche Bedeutung zukommen.
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§ 15 IV EStG enthält ein Ausgleichs- und Abzugsverbot für Verluste aus gewerblicher Tierzucht oder Tierhaltung6, aus Termingeschäften (§ 15 IV 3–5 EStG), stillen Gesellschaften und
Einkommensteuer
1 S. insb. BFH GrS BStBl. 1984, 751 (754); Strahl, Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht, 1996, 25 ff.; Drüen, StuW 1997, 261; Brockmeyer, FS Offerhaus, 1999, 13 (27 f.); Zugmaier, Einkünftequalifikation im Einkommensteuerrecht, Diss., 1998, 114 ff.; Zugmaier, FR 1999, 997; Altfelder, FR 2000, 349 (354 f.); Fischer, DStZ 2000, 885; Mössner, FS Kruse, 2001, 161 (172 ff.); Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 8. Dezidiert gegen die typisierende Judikatur Weber-Grellet, FS Beisse, 1997, 551. 2 BFH GrS BStBl. 1984, 751 (763); BFH BStBl. 1988, 65 (66); 1998, 332 (336 ff.); 1998, 346; 1999, 448; 1999, 535; 2000, 404; 2002, 291; 2003, 520. 3 Dazu Schmidt-Liebig, StuW 1977, 302, 304 ff.; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 222 ff. (m.w.N.). 4 Schön, Unternehmerrisiko und Unternehmerinitiative im Lichte der Einkommenstheorien, FS Offerhaus, 1999, 385; ferner insb. die Rspr. zur Mitunternehmerschaft, s. BFH GrS BStBl. 1984, 751 (768 f.), im Weiteren § 10 Rz. 35 ff. Abgrenzung zur nichtselbständigen Arbeit s. BFH BStBl. 1979, 188; 1979, 414; 1988, 273; 1988, 497; 1990, 64; 1993, 155; 1997, 188; 1999, 534 (536); 2008, 933; 2009, 931; 2012, 511. 5 Zur Abgrenzung der Wertpapierverwaltung zum Gewerbebetrieb BFH BStBl. 1999, 448; 2001, 706 (Optionskontrakte); 2001, 809 (Handel mit GmbH-Anteilen); 2003, 394; 2003, 464; 2004, 408; 2005, 26; 2013, 538 („gebrauchte“ Lebensversicherungen, m. Anm. Egner/Kohl, NWB 2013, 2546); BFH/NV 2000, 185 (Devisengeschäfte); 2007, 1461 („Bild des Wertpapierhändlers“); 2008, 774 (Optionsgeschäfte einer angestellten Börsenmaklerin); 2008, 2012; 2008, 2024 (Gesamtheit der Verhältnisse u. Verkehrsanschauung). Lit. ab 2004: Ritzow, SteuerStud 2006, 81; Schuhmann, StBp. 2008, 141; zur Rspr. des BFH: Förster, SteuerStud 2009, 348; Wagner, StuB 2009, 875; zu Venture Capital u. Private Equity Fonds: BFH/NV 2011, 2165 (dazu Süß/Mayer, DStR 2011, 2276); ferner BMF BStBl. I 2004, 40. 6 Dazu BT-Drucks. VI/1934; VI/2315; HHR/Intemann, § 15 EStG Anm. 1504 f. (2013); Kirchhof/ Reiß13, § 15 EStG Rz. 409 ff.; nach Niedersächs. FG EFG 2011, 1612, verfassungskonform.
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Gewinneinkünfte
Rz. 420
§8
Unterbeteiligungen (§ 15 IV 6–8 EStG)1; letzteres diente „zur Absicherung der Abschaffung der sog. Mehrmütterorganschaft“ (BT-Drucks. 15/119, 38)2. Die Regelung für Termingeschäfte soll verhindern, dass Termingeschäfte aus dem privaten Bereich in den gewerblichen Bereich verlagert werden, um Verluste besser verrechnen zu können (BT-Drucks. 14/443, 27). Mit dem objektiven Nettoprinzip ist § 15 IV 3–5 EStG unvereinbar und verletzt Art. 3 I GG. Eine Rechtfertigung zur Missbrauchsvermeidung scheidet aus3.
2.2 Überblick über die Arten der gewerblichen Einkünfte 419
§ 15 I EStG differenziert die Einkünfte aus Gewerbebetrieb in a) Einkünfte aus gewerblichen Einzelunternehmen (§ 15 I 1 Nr. 1 EStG); b) Einkünfte aus Mitunternehmerschaften (dazu § 10 Rz. 10 ff.), das sind Gewinnanteile und Sondervergütungen (s. § 15 I 1 Nr. 2 EStG) der Gesellschafter einer OHG, KG (inkl. GmbH & Co. KG) oder einer anderen Gesellschaft, bei der der Gesellschafter als Mitunternehmer anzusehen ist. Der Wortlaut des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG ist unvollständig: Mitunternehmer sind nicht nur Gesellschafter, sondern auch Beteiligte anderer Erwerbsgemeinschaften, z.B. an Gesamthandsgemeinschaften in Form von Erben-, Güter- und Bruchteilsgemeinschaften4; c) Einkünfte der persönlich haftenden Gesellschafter einer KG auf Aktien (§ 15 I 1 Nr. 3 EStG); d) nachträgliche Einkünfte von Mitunternehmern i.S.d. § 15 I 1 Nrn. 2, 3 EStG (§ 15 I 2 EStG). § 16 EStG regelt die Beendigung der gewerblichen Tätigkeit durch Betriebsveräußerung oder -aufgabe und erfasst i.E. – Einkünfte aus der Veräußerung eines ganzen Gewerbebetriebs oder eines Teilbetriebs (§ 16 I 1 Nr. 1 Satz 1 EStG). Teilbetrieb ist ein organisatorisch geschlossener, mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestatteter, selbständig lebensfähiger Teil eines Gesamtbetriebs5. Als Teilbetrieb gilt auch die das gesamte Nennkapital umfassende Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft (§ 16 I 1 Nr. 1 Satz 2 EStG); – Einkünfte aus der Veräußerung des gesamten Mitunternehmeranteils (§ 16 I 1 Nr. 2 EStG) und des gesamten Komplementäranteils an einer KGaA (§ 16 I 1 Nr. 3 EStG); – Einkünfte aus der Aufgabe des Gewerbebetriebs oder eines Anteils i.S.d. § 16 I 1 Nrn. 2, 3 EStG. Die Realteilung einer Mitunternehmerschaft (s. § 10 Rz. 201 f.) gilt als Anteilsaufgabe (§ 16 III 2 EStG). Die Aufgabe eines Teilbetriebs fällt nach st. Rspr.6 auch unter § 16 III 1 EStG, obgleich dort der Teilbetrieb nicht aufgeführt ist (teleologische Extension des § 16 III 1 EStG!). Unverständlich ist, warum diese Lücke bei der Neufassung des § 16 III EStG durch das StEntlG 1999/2000/2002 nicht geschlossen worden ist. § 16 IIIa EStG stellt parallel zu § 4 I 3 EStG den Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts in Deutschland hinsichtlich der Veräußerung sämtlicher Wirtschaftsgüter der Betriebsaufgabe gleich. § 16 IIIb EStG regelt, wann in den Fällen der Betriebsunterbrechung und Betriebsverpachtung von Betriebsaufgabe auszugehen ist (s. auch § 9 Rz. 465). 1 Dazu Glaser, SteuerStud 2001, 576; Tibo, DB 2001, 2369; Wagner, DStZ 2003, 798. 2 Verfassungsrechtliche Bedenken HHR/Intemann, § 15 EStG Anm. 1507 (2013). Zu den Verlustabzugsbeschränkungen für atypisch stille Gesellschaften BMF BStBl. I 2008, 970. 3 Detailliert HHR/Intemann, § 15 EStG Anm. 1506 (2013). 4 S. BFH GrS BStBl. 1984, 751 (768). 5 Dazu ausf. Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 140 ff.; grdl. Greil, StuW 2011, 84; Feldgen, Ubg. 2012, 459. 6 Z.B. BFH BStBl. 1995, 705; BFH/NV 1998, 452.
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§8
Rz. 421
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Durch § 16 EStG wird die Steuerbarkeit gewerblicher Einkünfte nicht erweitert1. Sie ergibt sich bereits aus dem an der Reinvermögenszugangstheorie orientierten Tatbestand der §§ 2 II 1 Nr. 1; 15 EStG, den die §§ 4 ff. EStG zu quantifizieren haben; dementsprechend ist auch die Legaldefinition des allgemeinen Gewinnbegriffs in § 4 I EStG zu interpretieren. Ohne § 16 EStG würde der Gewinn des letzten Wirtschaftsjahrs den Veräußerungsgewinn einschließen. Die konstitutive Bedeutung des § 16 EStG besteht darin, zusammengeballte stille Reserven gem. §§ 16 IV; 34 EStG ermäßigt zu besteuern, um einer überhöhten progressiven Belastung des Veräußerungs- bzw. Aufgabengewinns entgegenzuwirken.
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Die ermäßigte Besteuerung der Veräußerungsgewinne i.S.d. § 16 EStG bestand bis 1996 allgemein in zwei Komponenten, einem Freibetrag (§ 16 IV EStG) und einer Halbierung des Steuersatzes nach § 34 EStG. Diese beiden Komponenten reduzierte der Gesetzgeber für Veräußerungen nach 1995: Zunächst schränkte das JStG 1996 § 16 IV EStG subjektiv ein, indem der Freibetrag nur noch Personen gewährt wird, die das 55. Lebensjahr vollendet haben oder im sozialversicherungsrechtlichen Sinne dauernd berufsunfähig geworden sind. Sodann ersetzte das StEntlG 1999/2000/2002 die Halbierung des Steuersatzes durch die rechnerische Gewinnverteilung auf fünf Jahre (§ 34 I i.V.m. II Nr. 1 EStG). Nach heftigem Parteienstreit um eine „mittelstandsfreundliche“ Steuerpolitik wurde die Halbierung des Steuersatzes für den durch § 16 IV EStG begünstigten Personenkreis mit dem StSenkG wieder eingeführt. Mithin genießen nurmehr die älteren oder berufsunfähigen Personen einen Freibetrag von 45 000 Euro, der durch Veräußerungsgewinne ab 136 000 Euro reduziert wird (§ 16 IV EStG), sowie den ermäßigten Steuersatz von 56 % des durchschnittlichen Steuersatzes, mindestens jedoch 14 % nach § 34 III EStG (s. Rz. 825).
Einkommensteuer
3. Einkünfte aus selbständiger Arbeit (§ 18 EStG) Literatur: Schick, Die freien Berufe im Steuerrecht, 1973; Wolff-Diepenbrock, Zur Begriffsbestimmung der ,Katalogberufe’ und der ihnen ähnlichen Berufe in § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG, DStZA 1981, 333; Korn, Allgemeine Besteuerungsprobleme im Freien Beruf, berufsspezifische Besteuerungsprobleme in den Freien Berufen, StKongrRep. 1995, 143; Freier, Der Tatbestand der freien Berufe als Anknüpfungspunkt für Steuerrechtsdifferenzierungen, Diss., 1996; Caspers, Die Besteuerung freiberuflicher Einkünfte. Steuerrecht als Folge der Berufs- und Standesordnungen, Diss., 1999; Möckershoff, Hdb. Freie Berufe im Steuerrecht, 1999; Pezzer, Die Besteuerung der freien Berufe gem. § 18 EStG – eine der abenteuerlichsten Kletterwände des Einkommensteuerrechts, in FS J. Lang, 2010, 491; Zaumseil, Abgrenzungsmerkmale der den Katalogberufen ähnlichen freien Berufe nach jüngster Rechtsprechung, FR 2010, 353; Schmittmann, Aktuelle Entwicklungen bei der Abgrenzung von gewerblicher und freiberuflicher Tätigkeit, StuB 2010, 153; Hallerbach, Aktuelle Probleme bei der Besteueurng von Freiberuflern, StuB 2011, 250; Korn, Steuerbrennpunkte bei Freiberufler-Kooperationen, in FS Streck, 2011, 71; Gragert, Einkünfte aus selbständiger Arbeit, NWB 2011, 2534; Korn, Erweiterung des Anwendungsbereichs von § 18 EStG durch die Rechtsprechung, KÖSDI 2012, 17755; Jahn, Steuerliche Abgrenzung gewerblicher Tätigkeit von freiberuflicher und sonstiger Tätigkeit, DB 2012, 1947; Korn, Neues zur Ertragsbesteuerung von Freiberuflern, KÖSDI 2014, 18695.
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Die Zuordnung zu § 18 EStG bedeutet zugleich: Gewinnermittlung nach § 4 III (oder § 4 I) EStG; keine Gewerbesteuerpflicht; s. auch § 96 BewG. § 18 EStG unterscheidet vier Gruppen von selbständiger Arbeit (s. Rz. 431). Davon ist die freiberufliche Tätigkeit die wichtigste.
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Die freiberufliche Tätigkeit (§ 18 I Nr. 1 EStG) erfüllt alle Merkmale der gewerblichen Tätigkeit, wird aber durch § 15 II EStG ausdrücklich aus der gewerblichen Tätigkeit ausgeklammert. Die vorübergehende Tätigkeit i.S.d. § 18 II EStG ist auch nachhaltige Tätigkeit. Gelegentliche Tätigkeit fällt unter § 22 Nr. 3 EStG. 1 So die h.M., z.B. Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz. 3 (2012); Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 6. A.A. KSM/Reiß, § 16 EStG Rz. A 31 f. (1991); Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993, 777; HHR/Geissler, § 16 EStG Anm. 3 (2013); Kirchhof/Reiß13, § 16 EStG Rz. 5.
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Rz. 427
§8
Die Abgrenzung der freiberuflichen zur gewerblichen Tätigkeit1 wird dadurch erschwert, dass der Gesetzgeber dem Typusbegriff des Gewerbebetriebs (s. Rz. 415) keinen allgemeinen Typusbegriff des freien Berufs gegenüberstellt, sondern die freiberufliche Tätigkeit in drei Kategorien aufsplittert, zunächst in die Kategorie bestimmter intellektueller (wissenschaftliche, künstlerische, schriftstellerische, pädagogische) Tätigkeiten, sodann in die Kategorien der Katalogberufe und der den Katalogberufen ähnlichen Berufe.
425
Dem Gesetz lässt sich kein Kriterium entnehmen, das es rechtfertigen würde, Freiberufler anders zu besteuern als Gewerbetreibende, besonders im Hinblick auf die Gewerbesteuer. Es kann weder auf ein historisches Verständnis von „artes liberales“2, das für eine Differenzierung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip oder kommunalsteuerlich nach dem Äquivalenzprinzip ohnehin völlig untauglich wäre, noch auf berufsrechtliche Rahmenbedingungen zurückgegriffen werden. So spielt zwar das Berufsrecht eine Rolle, um Katalogberufe wie den des Arztes, Rechtsanwalts, Notars, Architekten und Steuerberaters zu fixieren. Gleichwohl schützt das Berufsrecht nicht vor Gewerblichkeit. So kann z.B. die insolvenzverwaltende Tätigkeit eines Rechtsanwalts als gewerblich zu qualifizieren sein3. Besonders willkürlich fällt die Anwendung von Berufsrecht in der Kategorie ähnlicher Berufe aus. Soll die Freiberuflichkeit eines Heilhilfsberufs von seiner staatlichen Genehmigung abhängen, wenn der Heilhilfsberuf nur in einigen Bundesländern einer staatlichen Genehmigung bedarf4?
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Hierzu stellt sich zunächst die Frage, wie lange es noch der Rspr. zugemutet werden soll, sich mit steuerrechtsfremden Themen zu befassen, weil das Gesetz gewerbliche und freiberufliche Unternehmer ungleich behandelt und dabei den Gleichheitssatz evident verletzt. Allerdings will sich das BVerfG mit dem heiklen Thema nicht befassen5. Letztlich lässt sich der gleichheitswidrige Zustand nur de lege ferenda beseitigen, indem alle unternehmerischen Einkünfte in einer Einkunftsart zusammengezogen werden (so § 4 I Nr. 1, II Kölner EStGE). Allerdings tendiert der BFH zunehmend zu einem weiten Verständnis von § 18 EStG. Nach den drei Tätigkeitskategorien des § 18 I Nr. 1 EStG sind als freiberuflich zu qualifizieren:
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Gewinneinkünfte
1 Dazu Hummes, Die rechtliche Sonderstellung der freien Berufe im Vergleich zum Gewerbe, Diss., 1979; Kellersmann, Die Abgrenzung der Einkünfte aus selbständiger Arbeit von den Einkünften aus Gewerbebetrieb, Diss., 1994; Caspers, Die Besteuerung freiberuflicher Einkünfte, Diss., 1999, 8 ff.; Kempermann, Abgrenzung zwischen freiberuflicher u. gewerblicher Tätigkeit unter besonderer Berücksichtigung von Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern, StbJb. 2003/2004, 379 (380); Jahn, DB 2007, 2613 (Abgrenzung zur freiberuflichen u. sonstigen Tätigkeit); Gragert/Wichert, NWB 2008, Fach 3, 15083 (Rspr. u. Verw.). Österreich: Jolik-Fürst/Tröszter, ÖStZ 2005, 315 ff., 377 ff. 2 Dazu Hermann, Die freien Berufe, Diss., 1973, 36 ff.; Hummes, Die rechtliche Sonderstellung der freien Berufe im Vergleich zum Gewerbe, Diss., 1979, 31 ff.; Caspers, Besteuerung freiberuflicher Einkünfte, 14 f., 49 f. (Kulturgüterproduktion), 53 f. (geistiges Vermögen); zweifelhafter Ansatz von Zaumseil, FR 2010, 353 ff., mittels des Leistungsfähigkeits- und Äquivalenzprinzips zu einer trennscharfen Abgrenzung zu gelangen. 3 BFH BStBl. 2002, 202 (basierend auf Vervielfältigungstheorie). Bei Einsatz qualifzierter Mitarbeiter grds. aber § 18 I Nr. 3 EStG, vgl. BFH BStBl. 2011, 498; 2011, 506. 4 Vgl. m.w.N. BFH BStBl. 2003, 480 (Anfrage des IV. Senats an den XI. Senat); 2004, 954 (Änderung der Rspr.: berufsständische Erlaubnis genügt); BMF BStBl. I 2004, 1030; Kempermann, StbJb. 2003/2004, 379 (381). Nach BFH BStBl. 2002, 149, war ein nach niedersächsischem Landesrecht ausgebildeter und anerkannter medizinischer Fußpfleger in Nordrhein-Westfalen gewerblich tätig, weil dort der Beruf des Podologen mit gesundheitsamtlicher Überwachung noch nicht gesetzlich geregelt war (zur bundeseinheitlichen Regelung ab 2002 s. BMF BStBl. I 2002, 962). Nach BFH BStBl. 2003, 21, ist ein Fußreflexzonenmasseur mangels gesetzlicher Berufsregelungen nicht freiberuflich, sondern gewerblich tätig. Ebenso BFH BStBl. 2003, 721, für Sprachheilpädagogin, die jedoch unterrichtend oder erzieherisch tätig sein kann. 5 BVerfG hat die Verfassungsbeschwerden gegen BFH BStBl. 2002, 202 (Insolvenzanwalt) mit Kammerbeschluss 1 BvR 437/02 v. 5.3.2003 und gegen BFH BStBl. 2003, 21 (Fußreflexzonenmasseur) mit Kammerbeschluss 1 BvR 2317/02 v. 9.7.2003 nicht zur Entscheidung angenommen.
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§8
Rz. 428
Einkommensteuer
– wissenschaftliche, künstlerische, schriftstellerische, unterrichtende und erzieherische Tätigkeiten1. Der BFH hat sich steuerrechtlich unsinnig mit den Begriffen der Wissenschaft2, Kunst3, Schriftstellerei4 und Pädogogik5 zu befassen; – Katalogberufe: Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Heilpraktiker, Dentisten, Krankengymnasten; rechts- und wirtschaftsberatende Berufe, nämlich Rechtsanwälte, Notare, Patentanwälte, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, beratende Volks- und Betriebswirte, vereidigte Buchprüfer und Bücherrevisoren, Steuerbevollmächtigte; naturwissenschaftlich-technisch orientierte Berufe, nämlich Vermessungsingenieure, Ingenieure, Handelschemiker, Architekten; Journalisten und Bildberichterstatter; Dolmetscher und Übersetzer; Lotsen (Abgrenzung von Berufsgruppen nach Berufsinhalten); – den Katalogberufen ähnliche Berufe. In Betracht kommt die Ähnlichkeit mit einem einzeln aufgeführten Beruf oder mit mehreren aufgeführten Berufen. Gruppenähnlichkeit, also die Ähnlichkeit zum „Freiberufler an sich“, reicht nicht aus6. Ähnlichkeit liegt vor, wenn der Beruf in wesentlichen Punkten einem Katalogberuf in Bezug auf Ausbildung und berufliche Tätigkeit vergleichbar ist7. Die Fertigkeiten kann sich der Stpfl. auch autodidaktisch aneignen8. 428
Dementsprechend geht es bei der Abgrenzung der freiberuflichen Tätigkeit i.S.d. § 18 I Nr. 1 EStG zur gewerblichen Tätigkeit um die Zuordnung zu einem bestimmten Tätigkeitsinhalt oder zu einem Katalogberuf oder zu dem einem Katalogberuf ähnlichen Beruf. Danach üben ein Gewerbe aus z.B. Berufssportler9, Makler, Werbefachleute, Gebrauchsgraphiker, Fotografen, die nicht künstlerisch tätig (z.B. Mode- und Werbefotografen) und auch keine Journalisten10 oder Bildberichterstatter11 sind, Fotomodelle, Detektive und Versicherungsberater12. 1 Zu diesen Tätigkeiten Caspers, Besteuerung freiberuflicher Einkünfte, 108 ff.; HHR/Brandt, § 18 EStG Anm. 91 ff. (2010); Kirchhof/Lambrecht13, § 18 EStG Rz. 41 ff.; Schmidt/Wacker33, § 18 EStG Rz. 62 ff. 2 Dazu z.B. BFH BStBl. 2001, 241 (243): hoch qualifizierte, methodische Arbeit zur Lösung schwieriger Probleme. Dabei sei der Begriff der Wissenschaftlichkeit in besonderem Maße mit den an Hochschulen gelehrten Disziplinen verbunden. Nach BFH BStBl. 2009, 238, ist ein Promotionsberater nicht wissenschaftlich i.S.d. § 18 I Nr. 1 Satz 2 EStG tätig. 3 Nach st. Rspr. (BFH BStBl. 1972, 335; 1977, 474; 1981, 170; 1990, 643; 1992, 353; 1991, 889; 1992, 413; 1994, 864) übt ein Stpfl. eine künstlerische Tätigkeit aus, wenn er eine eigenschöpferische Leistung vollbringt, in der seine individuelle Anschauungsweise und Gestaltungskraft zum Ausdruck kommt, und die über eine hinreichende Beherrschung der Technik hinaus grds. eine gewisse künstlerische Gestaltungshöhe erreicht. Dieser Kunstbegriff berücksichtigt nach BFH/NV 1999, 460, die Rspr. des BVerfG zu Art. 5 III GG (BVerfGE 30, 173 [188 f.]; 67, 213 [226]; 75, 369 [377]; 83, 130 [139]). 4 Schriftstellerisch ist tätig, wer eigene Gedanken mit den Mitteln der Sprache schriftlich für die Öffentlichkeit niederlegt (BFH BStBl. 1976, 192). BFH BStBl. 1976, 192; 2002, 475, stellt an die Qualität der Gedankenäußerung keine besonderen Anforderungen. Das Schriftliche steht im Gegensatz zum Mündlichen, zum Vortrag bzw. zur Rede. Die Gedanken müssen nicht zu Papier gebracht werden. BFH BStBl. 1999, 215 (216) lässt jedes körperliche Medium, also auch elektronische Medien (Abspeichern u. Download) zu. Dazu Wendt, FR 1999, 128; Trachte/Helios, BB 2001, 909. 5 Unterrichtende Tätigkeit ist die Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten u. Einstellungen durch Lehrer an Schüler in organisierter u. institutionalisierter Form (BFH BStBl. 1994, 362; BFH/NV 2000, 839). Erziehung ist die planmäßige Tätigkeit zur körperlichen, geistigen u. charakterlichen Formung junger Menschen (BFH BStBl. 1966, 182; 1975, 389; 1990, 1018; 1997, 652 [653]). Die Erziehung muss der Betreuungsleistung das Gepräge geben (BFH BStBl. 2004, 129 [130]). 6 BFH BStBl. 1993, 235; BFH/NV 2013, 920. 7 BFH BStBl. 1990, 64; 1990, 73; 1993, 100; 2000, 625; 2002, 565; 2003, 21; 2003, 721; zur aktuellen Rspr. Zaumseil, FR 2010, 353 ff. 8 Autodidakten: BFH BStBl. 2003, 919; BFH/NV 2000, 188; 2000, 459; 2010, 404. 9 Zur Abgrenzung gegenüber § 19er Einkünften BFH BStBl. 2012, 511; Anm. Becker/Figura, BB 2012, 3046. 10 BFH BStBl. 1998, 441. 11 BFH/NV 1999, 456. 12 BFH BStBl. 1998, 139.
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Gewinneinkünfte
Rz. 430
§8
Katalogberufler können gewerblich tätig sein1. Dauerproblematisch ist die Gewerblichkeit von Heilberufen2 sowie die Tätigkeiten der Ingenieure und Architekten3 und der beratenden Volksund Betriebswirte4. Besondere Schwierigkeiten bereiten neue Berufsfelder5, wie sie im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung entstanden sind6. Probleme ergeben sich auch bei gemischter Tätigkeit7. Der enorme Rspr.-Aufwand dient nicht der Steuergerechtigkeit; das Gesetz zwingt vielmehr den Richter dazu, seine intellektuelle Kapazität für Steuerungleichheit zu verschwenden. An der freien Berufstätigkeit ändert sich nichts durch die Mithilfe fachlich vorgebildeter Arbeitskräfte; Voraussetzung ist allerdings, dass der Freiberufler gegenüber den Mithelfenden auf Grund eigener Fachkenntnisse leitend und eigenverantwortlich tätig wird; eine Vertretung im Falle vorübergehender Verhinderung steht dem nicht entgegen (§ 18 I Nr. 1 Sätze 3 u. 4 EStG).
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Die selbständige, insb. freiberufliche Tätigkeit kann auch von Mitunternehmern ausgeübt werden, die sich in einer GbR, OHG, KG oder in einer Partnerschaftsgesellschaft nach dem PartGG8 zusammengeschlossen haben (§ 18 IV 2 i.V.m. § 15 I 1 Nr. 2 EStG)9. Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass die Beteiligung von Personen, welche die Merkmale des § 18 I EStG nicht erfüllen, eine gewerbliche Mitunternehmerschaft begründet (hierzu § 10 Rz. 62); etwa auch im Fall der Freiberufler-GmbH & Co. KG10. Der freiberufliche Charakter der Mitunter-
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1 Kempermann, Katalogberufler als Gewerbetreibende, Zur leitenden und eigenverantwortlichen Tätigkeit, FR 1996, 514. Einzelfälle der Gewerblichkeit: Betreuung von Bauherrenmodellen/-gemeinschaften durch Rechtsanwälte/Steuerberater (BFH BStBl. 1984, 129; 1989, 797; 1990, 534; 1994, 650); Insolvenzverwaltertätigkeit (BFH BStBl. 1994, 936; 2002, 202; Frystatzki, EStB 2005, 308; Siemon, ZInsO 2009, 305); Subunternehmer (BFH BStBl. 2005, 611; Gewerblichkeit von freien Mitarbeitern: Gebhardt, EStB 2006, 222); Treuhänder von Immobilienfonds (BFH BStBl. 2007, 266); Sterzinger, Der angestellte Rechtsanwalt als Gewerbesteuerfalle?, NJW 2008, 20. 2 Gewerbliche Heilberufe: Zahnersatzhersteller; Krankenhauspfleger: BFH BStBl. 1997, 681; Apotheker: BFH/NV 1998, 706; Krankenhausberater: BFH/NV 2000, 424; Hypnosetherapeut: BFH/NV 2000, 839; Laborarztpraxen (besonders schwierige Grenzfälle): BFH BStBl. 1990, 507; 1995, 732; 2002, 581; BMF BStBl. I 2009, 398. Zu gewerblichen u. freiberuflichen Einkünften eines Arztes als Betreiber einer Privatklinik BFH BStBl. 2004, 363. Zur Trennung verschiedener Tätigkeiten als Allgemeinmediziner und Arbeitsmediziner BFH BStBl. 2005, 208. Tätigkeit eines Fachkrankenpflegers als eine dem Krankengymnasten ähnliche Tätigkeit: BFH BStBl. 2007, 177. 3 BFH BStBl. 1989, 198 (Kfz-Sachverständiger); 2000, 31 (architektenähnliche Tätigkeit); 2002, 565 (Verkehrsflugzeugführer übt gewerbliche Tätigkeit aus). BFH BStBl. 2003, 761: Datenschutzbeauftragter übt weder den Beruf eines Ingenieurs noch eines beratenden Betriebswirts aus. BFH/NV 2005, 1284; 2006, 1270; 2007, 1854; nicht ingenieurähnlich: BFH/NV 2005, 1544 (Arbeitsmediziner); 2007, 1652 (Blitzschutzsachverständiger); BFH BStBl. 2007, 54: Baubetreuung eines Architekten als gewerbliche Tätigkeit. 4 BFH BStBl. 1999, 167 (Berufsfußballberater); 2000, 616 (fehlende Diplomprüfung); 2002, 768 (Unternehmensberater); 2003, 25 (Personalberater gewerblich); 2003, 27 (Marketingberatung freiberuflich); 2003, 761 (Datenschutzbeauftragter); 2003, 919 (Wirtschaftsingenieur); beratendem Betriebswirt ähnlich: BFH/NV 2006, 505; 2007, 1495; BFH BStBl. 2011, 498 (Betriebswirt als Insolvenzverwalter: § 18 I Nr. 3 EStG). 5 Dazu Demuth, EStB 2010, 187. 6 BFH BStBl. 1986, 15 (EDV-Entwickler ingenieurähnlich); BFH BStBl. 2004, 989 (Diplominformatiker ingenieurähnlich); dagegen BFH BStBl. 1990, 337 (Entwicklung von Anwendungssoftware: gewerblich). Beratende Tätigkeit hat BFH BStBl. 1995, 888; 2007, 781 zunächst als gewerblich eingeordnet, jetzt freiberuflich (BFH BStBl. 2010, 404; 2010, 466; 2010, 467); dazu Pezzer, FS J. Lang, 2010, 491 (505 ff.); Steinhauff, NWB 2010, 819; Pfirrmann, FR 2014, 162. 7 Dazu Schoor, Gestaltungsmöglichkeiten zur Vermeidung der Gewerblichkeit bei gemischten Tätigkeiten von Freiberuflern, INF 1997, 269. 8 BGBl. I 1994, 1744. 9 Dazu Demuth, Der einkommensteuerliche Mitunternehmerbegriff bei den freiberuflichen Einkünften, Diss., 2004; Demuth, DStZ 2005, 112; Kempermann, FR 2007, 577 (Freiberufler-Personengesellschaft i. d. Rspr.); Partnerschaftsgesellschaft: Kommentare von Henssler u. Ulmer; Schnittker, Gesellschafts- und steuerrechtliche Behandlung einer englischen Limited Liability Partnership, Diss., 2007. Zu dieser Gesellschaft auch Henssler/Mansel, NJW 2007, 1393; HHR/Brandt, § 18 EStG Anm. 412 ff. (2010). 10 Zweifelhaft FG Düsseldorf DStRE 2011, 99.
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§8
Rz. 431
Einkommensteuer
nehmerschaft wird nicht beeinträchtigt, wenn eine Personengesellschaft aus Angehörigen unterschiedlicher freier Berufe besteht1. 431
§ 18 EStG erfasst neben der freiberuflichen Tätigkeit (§ 18 I Nr. 1 EStG) die Einkünfte der Einnehmer einer staatlichen Lotterie, wenn sie nicht Einkünfte aus Gewerbebetrieb sind (§ 18 I Nr. 2 EStG), Leistungsvergütungen bei Wagniskapitalgesellschaften, sog. „carried interest“ (§ 18 I Nr. 4 EStG)2 und Einkünfte aus sonstiger selbständiger Arbeit, z.B. Vergütungen für die Vollstreckung von Testamenten, für Vermögensverwaltung, für die Tätigkeit als Aufsichtsratmitglied (§ 18 I Nr. 3 EStG) oder für die Tätigkeit als Berufsbetreuer gem. §§ 1896 ff. BGB3. Nach BFH BStBl. 2004, 112, sind auch Tätigkeiten, die den Beispielen des § 18 I Nr. 1 EStG ähnlich sind, als sonstige selbständige Arbeit zu qualifizieren. Die Beteiligung qualifizierter Mitarbeiter ist auch im Rahmen von § 18 I Nr. 3 EStG unschädlich, solange der Berufsträger leitend und eigenverantwortlich tätig ist4.
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Zu den Einkünften aus selbständiger Arbeit gehört auch der Gewinn, der bei der Veräußerung des Vermögens oder eines Teils des Vermögens oder eines Anteils am Vermögen erzielt wird, das der Arbeit dient; der Veräußerung steht die Aufgabe gleich (§ 18 III EStG).
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Die Rspr. verlangt im Hinblick auf die analoge Anwendung des § 16 EStG (§ 18 III 2 EStG), dass der Stpfl. alle wesentlichen vermögensmäßigen Grundlagen (inkl. Patienten-/Mandantenstamm) überträgt und seine Tätigkeit nicht nur vorübergehend beendet (BFH BStBl. 1994, 925; 1997, 498; BFH/NV 1999, 1594; 2000, 317). BFH GrS BStBl. 2000, 123, interpretiert „selbständiger Teil des Vermögens“ als Teilbetrieb, so dass er die entgeltliche Aufnahme eines Partners in eine Einzelpraxis nicht als steuerbegünstigte Veräußerung i.S.d. §§ 18 III; 34 II Nr. 1 EStG beurteilt.
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Einstweilen frei.
III. Überschusseinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG) 1. Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 EStG) Literatur: Allgemein zum Lohnsteuerrecht: Loseblattwerke von Hartz/Meeßen/Wolf (ABC-Führer Lohnsteuer); Heuermann/Wagner (Handbuch); Horowski/Altehoefer (Kommentar). Gebundene Werke: Stolterfoht, Grundfragen des Lohnsteuerrechts, DStJG 9 (1986); Meyer/Schmidt, Lohnsteuer, 2009; Kirschbaum/Beckers, Lohnsteuer15, 2011; Seifert, Aktuelle lohnsteuerrechtliche Entwicklungen im Jahr 2014, DStZ 2014, 837. Besondere: J. Lang, Die Einkünfte des Arbeitnehmers – Steuerrechtssystematische Grundlegung, DStJG 9 (1986), 15; Offerhaus, Gesetzlose Steuerbefreiungen im Lohnsteuerrecht?, DStJG 9 (1986), 117; Weiss, Die Besteuerung der Arbeitnehmer, in FS FHF Baden-Württemberg, 1989, 63; Ehret, Besteuerung von Einkünften aus nichtselbständiger Tätigkeit, Ein Vergleich Deutschland-Schweiz, Diss., 1999; J. Lang, Arbeitsrecht und Steuerrecht, RdA 1999, 64; Seer, Bochumer Lohnsteuertag, 2006; Festheft Drenseck, Entwicklung der Lohnsteuerrechtsprechung im vergangenen Jahrzehnt, DBBeilage Nr. 6/2006; Gunsenheimer, Umfang u. Besteuerung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, SteuerStud 2008, 228; Drenseck, Ist Werbungskostenersatz Arbeitslohn?, in FS J. Lang, 2010, 477; Plenker, Arbeitslohn, steuerfreier Arbeitslohn und Sachbezugsbewertung: Beabsichtigte Änderungen durch die LStR 2015, DB 2014, 1037. 1 BFH BStBl. 2001, 241. 2 § 18 I Nr. 4 EStG ist mit Gesetz zur Förderung von Wagniskapital v. 30.7.2004, BGBl. I 2004, 2013, eingeführt worden und klärt die Rechtslage zu den Einkünften der Initiatoren von Wagniskapitalgesellschaften (s. BMF BStBl. I 2004, 40 [Tz. 3, 24]), indem die erhöhten Gewinnanteile der Initiatoren den Einkünften aus selbständiger Arbeit zugeordnet und dem Halbeinkünfteverfahren (§ 3 Nr. 40a EStG) unterworfen werden. Umfassend zu § 18 I Nr. 4 EStG HHR/Brandt, § 18 EStG Anm. 276 ff. (2010); steuersystematische Analyse: Desens/Kathstede, FR 2005, 863; Rechtsvergleich Deutschland, Großbritannien, USA: Anzinger/Jekerle, IStR 2008, 821. 3 BFH BStBl. 2010, 906; 2010, 909; 2013, 799; a.A. noch BFH BStBl. 2005, 288. 4 BFH BStBl. 2011, 506. Partielle Aufgabe der sog. Vervielfältigungstheorie; dazu und allgemein zu § 18 I Nr. 3 EStG Ritzrow, EStB 2011, 227.
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Rz. 474
§8
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit erzielen Arbeitnehmer. Nach § 1 I 1 LStDV sind Arbeitnehmer Personen, die in öffentlichem oder privatem Dienst angestellt oder beschäftigt sind oder waren und die aus diesem Dienstverhältnis oder einem früheren Dienstverhältnis Arbeitslohn beziehen. Zu den Arbeitnehmern gehören also auch die Pensionäre, insb. beamtete Pensionäre mit Versorgungsbezügen i.S.d. § 19 I 1 Nr. 2, II EStG, ferner nach § 1 I 2 LStDV die Rechtsnachfolger von Arbeitnehmern, insb. die Witwen.
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Nach fiskalischer Bedeutung und der Vielzahl der Arbeitnehmer sind die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit die praktisch wichtigste Einkunftsart. Die Einkommensteuer wird durch Quellenabzug vom Arbeitslohn erhoben (§§ 38 ff. EStG). Diese Quellensteuer heißt Lohnsteuer (§ 38 I EStG). Von dem Einkommensteueraufkommen 2013 i.H.v. 225,3 Mrd. Euro entfallen auf das Lohnsteueraufkommen 157,8 Mrd. Euro (s. § 7 Rz. 19). Mehr als 90 % der Einkommensteuerpflichtigen beziehen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit.
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Der Begriff des Arbeitnehmers1 ist vom Begriff des Unternehmers abzugrenzen; beide Begriffe sind Typusbegriffe2, in deren Zentrum der Gegensatz von Selbständigkeit und Nichtselbständigkeit steht. Der steuerrechtliche Begriff des Arbeitnehmers deckt sich nicht mit dem Arbeitsund Sozialrecht, so dass die frühere sozialrechtliche Regelung der sog. Scheinselbständigkeit (§ 7 IV SGB IV) für das Steuerrecht nicht maßgeblich ist3. Arbeitnehmer im steuerrechtlichen Sinne ist die natürliche Person, die in einem Dienstverhältnis weisungsgebunden ist (§ 1 II 2 LStDV: Person steht in der Betätigung ihres geschäftlichen Willens unter der Leitung des Arbeitgebers) und/oder organisatorisch eingegliedert ihre Arbeitskraft schuldet und dabei ganz im Unterschied zum Unternehmer vom Vermögensrisiko der Erwerbstätigkeit grds. freigestellt ist. Vorstände und Geschäftsführer von Kapitalgesellschaften sind arbeitsrechtlich Unternehmer, hingegen steuerrechtlich i.d.R. Arbeitnehmer, weil sie organisatorisch in ein fremdes Unternehmen eingegliedert sind und kein Vermögensrisiko tragen4.
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Im Unterschied zum Arbeitsrecht begründen steuerrechtlich nach § 40 AO (s. § 5 Rz. 106 ff.) auch gesetz- u. sittenwidrige Abhängigkeitsverhältnisse die Arbeitnehmer-Eigenschaft, wenn die Voraussetzungen der § 19 I EStG; § 1 LStDV vorliegen5.
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Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit
1.1 Der Begriff des Arbeitnehmers
1.2 Arbeitslohn 1.2.1 Durch die nichtselbständige Beschäftigung veranlasste Einnahmen Arbeitslohn6 sind Bezüge, die aus einem Dienstverhältnis zufließen (§ 2 I 1 LStDV): laufende oder einmalige Bezüge, Barbezüge oder Sachbezüge. Abzugrenzen ist von Zuwendung wegen 1 Grundl. zum Arbeitnehmerbegriff BFH BStBl. 1999, 534 (Rundfunkermittler). Lit.: Brenne, Der Begriff „Arbeitnehmer“ im Steuerrecht – insbesondere sein Verhältnis zu dem Begriff „Arbeitnehmer“ im Arbeitsrecht, Diss., 1969; Prange, Zur Identität der Grundtatbestände des Arbeits-, Beschäftigungs- und Dienstverhältnisses im Arbeits-, Sozialversicherungs- und Lohnsteuerrecht, Diss., 1975; J. Lang, DStJG 9 (1986), 22 ff.; List, NWB Fach 6, S. 3919 (1998); J. Lang, KSzW 2012, 77; Müller, SteuK 2013, 140. 2 Dazu BFH BStBl. 2008, 933 (934: offener Typusbegriff, der nur durch eine größere und unbestimmte Zahl von Merkmalen beschrieben werden kann); 2008, 981 (AStA-Mitglieder als Arbeitnehmer); 2009, 374 (375); J. Lang, DStJG 9 (1986), 15 (22 ff.); Kirchhof/Eisgruber13, § 19 EStG Rz. 40; Schmidt/Krüger33, § 19 EStG Rz. 21. Zum Typusbegriff des Unternehmers s. Rz. 415. 3 BFH BStBl. 1999, 534 (537 ff.); 2012, 262 (264). 4 BFH BStBl. 1997, 255; 2004, 620; 2012, 262; dazu Schmidt/Krüger33, § 19 EStG Rz. 35 (gesetzlicher Vertreter einer Kapitalgesellschaft); zu Recht krit. Seer, FS J. Lang, 2010, 655 (674 ff.); Seer, GmbHR 2011, 225. Frühere Rspr. gelockert durch BFH BStBl. 2003, 36; BFH/NV 2006, 544; 2011, 585 (selbständige Geschäftsführungs- u.Vertretungsleistungen eines Gesellschafters). 5 Dazu HHSp/Fischer, § 40 AO Rz. 53 (2012); Tipke/Kruse/Drüen, § 40 AO Rz. 24 (2014) (Prostituierte); Lang/Bozza, Lohnsteuer und Roulette, JuS 2000, 161; FG Köln EFG 1985, 524 (Bardamen); FG Baden-Württemberg EFG 1998, 821: Peep-Show-Modelle. 6 Dazu Boeck, Der Arbeitslohn im Lohnsteuerrecht, Diss., 1968; Haberkorn, Der Arbeitsentgeltbegriff nach Sozialversicherungs- und Lohnsteuerrecht, 1971; Zach, Die Besteuerung des Arbeitslohns, Diss., 1975; Temminghoff, Lohnsteuerpflichtige Zuwendungen an Arbeitnehmer, Diss., 1989; Benner/Bals, BB-Beil. 2/2000 (Sozialversicherung/Lohnsteuerrecht); Kloubert, Was ist Arbeitslohn?, FR 2000, 46;
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§8
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Einkommensteuer
anderer Rechtsbeziehungen oder wegen sonstiger, nicht auf dem Dienstverhältnis beruhender Beziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber1. Dogmatisch ungeklärt ist, ob und inwieweit Drittleistungen2 wie z.B. Trinkgelder, Streikgelder, Schmier- und Bestechungsgelder Bezüge i.S.d. § 19 EStG sind. Die Lohnsteuerpflicht ist beschränkt auf Drittleistungen, bei denen der Arbeitgeber weiß oder erkennen kann, dass sie erbracht werden. Dies ist nach § 38 I 3 letzter Hs. EStG insb. bei Drittleistungen verbundener Unternehmen anzunehmen (§ 38 I 3, IIIa, IV 3 EStG). Die st. Rspr. und Verwaltungspraxis (R 19.3 LStR 2011/2013) hält daran fest, dass ausschließlich Arbeitslohn den Tatbestand des § 19 I 1 Nr. 1 EStG verwirklicht und Drittleistungen nur als Arbeitslohn steuerbar sind, d.h. die Drittzuwendung muss sich für den Arbeitnehmer als Vergütung der seinem Arbeitgeber erbrachten Leistung darstellen3. Die Bezüge müssen durch das individuelle Dienstverhältnis veranlasst sein und nicht im eigenwirtschaftlichen Interesse des Dritten, sondern im Interesse des Arbeitgebers gewährt werden. Damit wird § 19 I 1 Nr. 1 EStG mit dem Lohnsteuerabzugsverfahren (§§ 38 ff. EStG) in Übereinstimmung gebracht, jedoch eine positivrechtlich nicht zwingende Besteuerungslücke in den Tatbestand des § 19 I 1 Nr. 1 EStG geschlagen: „Bezüge und Vorteile für eine Beschäftigung im … Dienst“ kann auch an dem für die Einkünfteermittlung grundlegenden Veranlassungsprinzip ausgerichtet werden4. Die Verknüpfung des § 19 I 1 Nr. 1 EStG mit dem Lohnsteuerabzug vermengt die verfahrensrechtliche Verpflichtung des Arbeitgebers, die sich nur auf das erstrecken kann, was der Arbeitgeber weiß oder erkennen kann (§ 38 I 3 EStG), von dem materiellrechtlichen Tatbestand des § 19 I 1 Nr. 1 EStG, der gleichheitskonform auszulegen ist: Danach sind Bezüge und Vorteile i.S.d. § 19 I 1 Nr. 1 EStG alle durch die nichtselbständige Beschäftigung veranlassten Einnahmen. 475
Die Beschränkung des § 19 I 1 Nr. 1 EStG auf den Arbeitslohn produziert dogmatische Unklarheit und Ungleichheit: Trinkgelder5, die „anlässlich einer Arbeitsleistung“ (Veranlassungstheorie!) freiwillig vom Gast bezahlt werden, sind als Arbeitslohn zu qualifzieren. Die auf Arbeitnehmer beschränkte Steuerbefreiung des § 3 Nr. 51 EStG wird wenig überzeugend mit der Schwierigkeit des Arbeitgebers, diese Beträge der Lohnsteuer zu unterwerfen, gerechtfertigt. Die Steuerfreiheit der Streikgelder6 zeigt exemplarisch die Ungleichheit: Der Streikende ist besser gestellt als der Arbeitende und der Arbeit-
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W. Lang, DB-Beil. Nr. 6/2006 (neuere BFH-Rspr. zum Arbeitslohn); Fuhrmann, KÖSDI 2007, 15550; BB-Special 2.2008: Lohnsteuer u. Sozialversicherung – Arbeitslohn u. Arbeitsentgelt. Einzelfragen: ohne Rechtsgrund gezahlter Arbeitslohn: BFH BStBl. 2006, 830; 2006, 832; Bergkemper, NWB Fach 6, 4707; Arbeitgeberdarlehen: BFH BStBl. 2006, 781; BMF BStBl. I 2008, 892; Übernahme von Berufshaftpflicht- u. Kammerbeiträgen: BFH BStBl. 2008, 378 (dazu Werner, NWB Fach 6, 4903); Übernahme von Geldbußen u. Geldauflagen als Arbeitslohn: Rechtsprechungswechsel BFH BStBl. 2014, 278 (dazu Schneider, NWB 2014, 441); zuvor BFH BStBl. 2005, 367; 2009, 151; durch den Arbeitnehmer veruntreute Beträge: BFH BStBl. 2013, 929. Zur BFH-Rspr. betr. betriebliche Verlosungen Förster, DStR 2009, 249. Zur Abgrenzung zu Zuwendungen auf Grund anderer Rechtsbeziehungen vgl. z.B. BFH BStBl. 1985, 529; 2010, 69 (71); 2010, 1069 (1071); 2010, 1074 (1075). Dazu Crezelius, DStJG 9 (1986), 85; Brick, Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit außerhalb des Dienstverhältnisses?, Diss., 1992; Albert/Hahn, FR 1995, 334; von Bornhaupt, BB 1999, 1532; Braune, Arbeitslohn durch Dritte, Diss., 1999; Albert, FR 2009, 857; Hilbert, NWB 2010, 3031; Warnke, EStB 2013, 67; Geserich, NWB 2012, 4140. Rabatte Dritter für Arbeitnehmer: BMF BStBl. I 1993, 814; BFH/NV 2013, 131, m. Anm. Kanzler, FR 2013, 382; Rodewald/Pohl, BB 2008, 1431. Zu den Anforderungen aktuell BFH BStBl. 2013, 644. So insb. J. Lang, DStJG 9 (1986), 15 (50 ff.); Brick, Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit außerhalb des Dienstverhältnisses?, Diss., 1992, 22 ff., 67 ff. Zust. Tipke, StRO II2, 2003, 698 (kausalrechtlich konsequent); Drenseck, FS J. Lang, 2010, 477 (479). De lege ferenda ebenso § 5 II Kölner EStGE: „… alle durch die nichtselbständige Tätigkeit veranlasste, auch von dritter Seite gewährte Einnahmen wie z.B. Streikgelder, Trinkgelder und Bestechungsgelder“. Trinkgelder sind Arbeitslohn (BFH BStBl. 1993, 117), unterliegen jedoch nur im Umfange der Kenntnis des Arbeitgebers dem Lohnsteuerabzug (BFH BStBl. 1999, 323). Dies entspricht der Neuregelung in § 38 I 3 EStG. Vollzugsdefizite verletzen nicht den Gleichheitssatz (BFH BStBl. 1999, 361). Ab 2002 sind Trinkgelder, die einem Arbeitnehmer freiwillig u. zusätzlich gegeben werden, ohne betragsmäßige Begrenzung nach § 3 Nr. 51 EStG befreit (s. Rz. 143). BFH BStBl. 1971, 138; 1982, 552, bejahte die Steuerbarkeit, BFH BStBl. 1991, 337, verneinte sie. Dazu krit. Knobbe-Keuk, DB-Beil. 6/1992.
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Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit
Rz. 477
§8
geber hat seine Bezüge aus Streikabwehrfonds zu versteuern (FG Köln EFG 2001, 1230). Bestechungsgelder1 an einen Arbeitnehmer werden statt § 19 I 1 Nr. 1 EStG den sonstigen Einkünften nach § 22 Nr. 3 EStG zugeordnet.
Sachbezüge sind nach § 8 II EStG alle Einnahmen, die nicht in Geld bestehen; sie sind mit den üblichen Endpreisen am Abgabeort anzusetzen (s. Rz. 356). Für Arbeitnehmer gelten amtliche Sachbezugswerte (§ 8 II 6–10 EStG; R 8.1 IV LStR 2011/2013) für Verpflegung, Unterkunft und Wohnung (§ 2 Sozialversicherungsentgeltverordnung; s. BMF BStBl. I 2009, 1520); Gestellung von Kfz: R 8.1 IX LStR 2011/2013; Waren u. Dienstleistungen: R 8.2 LStR 2011/2013. Für Personalrabatte gilt § 8 III EStG mit einem Freibetrag von 1 080 Euro (Lit. hierzu Rz. 357).
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Grds. qualifiziert die Rspr. jeden durch das individuelle Dienstverhältnis veranlassten geldwerten Vorteil als Arbeitslohn2. Wird jedoch der Vorteil im ganz überwiegenden eigenbetrieblichen Interesse des Arbeitgebers gewährt oder gar (wie z.B. bei Vorsorgeuntersuchungen) als unerwünschter Vorteil aufgedrängt, so verneint die Rspr. Arbeitslohn3. Arbeitslohn liegt auch dann nicht vor, wenn sich ein Vorteil lediglich als notwendige Begleiterscheinung betriebsfunktionaler Zielsetzungen darstellt. Im Bereich der das eigenbetriebliche Interesse berührenden Sachbezüge (sog. betriebsnahe Sachbezüge) hat sich eine Kasuistik4 entwickelt, die praktisch schwer in den Griff zu bekommen ist. Mitunter kapituliert der Gesetzgeber, indem er angesichts der Vollzugsschwierigkeiten die Besteuerung (partiell) zurücknimmt. Den Einzelfall der Zuwendung im Rahmen einer Betriebsveranstaltung regelt ab 2015 § 19 I 1 Nr. 1a EStG i.d.F. des Zollkodexgesetzes. Danach führen Zuwendungen anlässlich von Betriebsveranstaltungen grds. zu Arbeitslohn. Ausgenommen sind zwei Betriebsveranstaltungen pro Jahr, wenn die Teilnahme allen Betriebsangehörigen offensteht und soweit die Aufwendungen des Arbeitgebers je Arbeitnehmer 110 Euro (Ermittlung unter Einbeziehung der Gemeinkosten der Betriebsveranstaltung!) nicht übersteigen. Die Arbeitslohnfiktion überlastet das Gesetz mit Detailregelungen im Stil einer Verwaltungsvorschrift, ohne dass ein nennenswerter Vereinfachungseffekt zu erwarten ist.
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1 BFH BStBl. 2000, 396. 2 Grundl. BFH BStBl. 1983, 39 (41); im Weiteren BFH BStBl. 1985, 164 (Essensfreibetrag); 1985, 529; 1985, 532 (Betriebsveranstaltungen); 1985, 641 (Gelegenheitsgeschenke); 1992, 655 (Betriebsveranstaltungen); 1993, 840 (Übernahme von Rotary-/Tennis-Club-Beiträgen); 1994, 254 (Verlosung); 1994, 256 (Ersatz von Schäden während einer Dienstreise); zu Gruppenunfall-/-krankenversicherungen BFH BStBl. 2009, 385; 2011, 767; BFH/NV 2009, 905; 2009, 907 (zu dieser Rspr. Breinersdorfer, DB 2009, 1264; Thomas, DStR 2009, 2349; Hilbert/Sperandio, NWB 2011, 3032). Lit.: J. Lang, DStJG 9 (1986), 15 (61 f.); Offerhaus, DStJG 9 (1986), 117; J. Lang, FS Offerhaus, 1999, 433; Albert, FR 2002, 712 (Incentivereisen); Tipke, StRO II2, 2000, 699 ff.; Hermann, Die einkommensteuerliche Relevanz von Sachzuwendungen an Arbeitnehmer, Diss., 2004; J. Lang, StuW 2004, 227 (Belegschaftsgeschäft von Versicherungen); Fahr, Die steuerliche Behandlung des Belegschaftsgeschäfts von Versicherungen, Diss., 2008; Albert, FR 2010, 267 (Mahlzeiten). 3 BFH BStBl. 2009, 151, zur Übernahme von Geldbußen (s. Rz. 295); BFH BStBl. 2009, 462 (463) (Beiträge an den Deutschen Anwaltsverein; zur Erstattung von Berufshaftpflicht- u. Kammerbeiträgen Werner, NWB Fach 6, 4903). Aufteilung bei gemischt veranlassten Aufwendungen: BFH BStBl. 2006, 30; kein überwiegend eigenbetriebliches Interesse bei Überlassung hochwertiger Bekleidung an Mitglieder der Geschäftsleitung: BFH BStBl. 2006, 691. Übernahme von Steuerberatungskosten des Arbeitnehmers bei Nettolohnvereinbarung: BFH BStBl. 2010, 639. Abtretung von Rückdeckungsversicherungsansprüchen BFH BStBl. 2013, 190; Zuschüsse zu einem Versorgungswerk zur Absicherung der Versorgungslasten des Arbeitgebers als steuerpflichtiger Arbeitslohn s. BFH BStBl. 2014, 124; anders BFH BStBl. 2007, 181. Lit.: J. Lang, DStJG 9 (1986), 15 (62 f.); J. Lang, FS Offerhaus, 1993, 433 (443 f.); Gersch, FS Klein, 1994, 889; Heger, DB 2014, 1277 (Fallgruppen). 4 Dazu Temminghoff, Lohnsteuerpflichtige Zuwendungen an Arbeitnehmer, Diss., 1989, 55 ff.; von Bornhaupt, BB 1996, 1909 (Mahlzeiten); Wittenbrink, Der Einfluß der Besteuerung freiwilliger betrieblicher Sozialleistungen auf Arbeitsvertragsgestaltungen, Diss., 1996; Flies, FR 1997, 630 (Zuwendungen); Grube, DStR 1997, 1956 (Gestaltungsmöglichkeiten); Schmidt, BB 1997, 610 (Kreditkartengebühren); Leichtle, DB 1998, 277 (Arbeitnehmerverpflegung); Starke, FR 1998, 874 (Handy-Kosten); Albert, FR 2001, 516 (Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen); Kettler, DStZ 2001, 667 (Firmenparkplätze); Albert, FR 2003, 1153 (Teambildungsmaßnahmen).
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(1) Beispiele für steuerbare betriebsnahe Sachbezüge: Incentives wie Mitarbeiterbeteiligungen (z.B. stock options, insb. Aktienoptionen)1, Reisen2, Tagungen an Urlaubsorten (BFH BStBl. 1997, 97); Dienstwagen mit Fahrer zur Nutzung für Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte (BFH BStBl. 2014, 589 [571]; R 8.1 X LStR 2011/2013); Sporteinrichtungen (BFH BStBl. 1997, 146); Beitragsermäßigung für AOK-Angestellte (BFH BStBl. 1996, 239); Ferienhäuser (BFH BStBl. 1997, 539); Kurkosten (BFH BStBl. 2010, 763).
Einkommensteuer
(2) Beispiele für steuerbare, aber (partiell) steuerbefreite Sachbezüge: Sachprämien aus sog. Kundenbindungsprogrammen sind nach § 3 Nr. 38 EStG bis zu 1 080 Euro sachlich steuerbefreit (s. Rz. 143). § 37a EStG gestattet dem prämiengewährenden Unternehmen, die Sachprämien mit 2,25 % des Prämienwerts pauschal zu versteuern. Gänzlich steuerbefreit (§ 3 Nr. 45 EStG) sind die Vorteile des Arbeitnehmers aus der privaten Nutzung von betrieblichen Personalcomputern und Telekommunikationsgeräten (s. Rz. 143).
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(3) Beispiele für nicht steuerbare Vorteile: Zuwendungen bei Betriebsveranstaltungen (Zuwendungsfreibetrag 110 Euro; zwei Veranstaltungen pro Jahr; § 19 I 1 Nr. 1a Satz 3 EStG i.d.F. des Zollkodexgesetzes v. 22.12.2014)3; Aufmerksamkeiten, das sind Sachzuwendungen bis 60 Euro (ab 2015, s. LStÄR 2015, BStBl. I 2014, 1344), berufliche Fort- oder Weiterbildungsleistungen des Arbeitgebers (R 19.7 LStR 2011/2013), Leistungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen, z.B. die Bereitstellung von Aufenthalts- und Erholungsräumen sowie von betriebseigenen Duschund Badeanlagen (H 19.3 LStH 2011/2013), Vorsorgeuntersuchungen (BFH BStBl. 1983, 39), Massagen zur Vorbeugung berufsbedingter Gesundheitsschäden (BFH BStBl. 2001, 671), Mahlzeiten im Rahmen einer Aufmerksamkeit (R 19.6 II LStR 2011/2013) oder herkömmlicher Betriebsveranstaltungen (R 19.5 IV Nr. 1 LStR 2011/2013), Arbeitsessen (R 19.6 II LStR 2011/2013), Teilnahme an Bewirtungen (R 8.1 VII, VIII LStR 2011/2013). Fahrten zwischen Wohnung und dem Ort des Arbeitseinsatzes mit einem Firmenfahrzeug können ausnahmsweise als „notwendige Begleiterscheinung betriebsfunktionaler Zielsetzungen“ (BFH BStBl. 1993, 689; 2000, 691; 2001, 672) steuerfrei sein (BFH BStBl. 2000, 690); Überlassung einer Garage für das Firmenfahrzeug (BFH BStBl. 2002, 829); Führerscheinkosten (BFH BStBl. 2003, 886).
1.2.2 Versorgungsbezüge 480
Zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit gehören auch die Versorgungsbezüge aus früheren Dienstverhältnissen (§ 19 I 1 Nr. 2, II EStG; § 2 II Nr. 2 LStDV), z.B. Pensionen (Ruhegelder), Witwengelder und „gleichartige“ Bezüge4. Versorgungsausgleichszahlungen, um die Kürzung von Versorgungsbezügen zu vermeiden, sind Werbungskosten5. Durch JStG 2007 ist der Arbeitslohnbegriff gegen die Rspr. (Nichtanwendungsgesetz!) erheblich erweitert worden6: Nach § 19 I 1 Nr. 3 EStG gehören zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit laufende Beiträge/Zuwendungen des Arbeitgebers aus einem bestehenden Dienstverhältnis an einen Pensionsfonds, eine Pensionskasse oder an eine Direktversicherung für eine betriebliche Altersversorgung (zu Sonderzahlungen s. Rz. 483). 1 Lit.: bis 2001 s. 18. Aufl. Rz. 467, dort Fn. 147; Rz. 554, dort Fn. 113; ab 2002: Knoll, IStR 2002, 325; Portner, DB 2002, 235; Hartmann, INF 2003, 625; Haunhorst, DB 2003, 1864 (Lohnzufluss bei handelbaren Aktienoptionen); Portner, Besteuerung von Stock Options, Diss., 2003; Jacobs/Portner, FR 2003, 757; Zitzewitz, Stock Options, Diss., 2003; Harrer, Mitarbeiterbeteiligungen u. Stock-OptionPläne2, 2004; Lochmann, Besteuerung aktienkursorientierter Vergütungsinstrumente, Diss., 2004; Lüke, Stock Options, Diss., 2004; Vater, Stock Options: Bewertung, steuerrechtliche Aspekte u. Rechnungslegung sowie Alternativen, Diss., 2004; Bogumil, Mitarbeiteraktienoptionen (stock options) im Einkommensteuerrecht, Diss., 2005; Knoll, IStR 2005, 325; Lochmann, StuW 2005, 71; Spieker, StWA 2008, 22; Portner, DStR 2010, 1316; Portner, BB 2014, 2523. Zum Zuflusszeitpunkt: BFH BStBl. 2013, 289 (Ausübung bzw. Übertragung); Marquart, FR 2013, 980. 2 BFH BStBl. 1988, 995; 1989, 995; 1990, 712; 1993, 639; 1993, 640; 1993, 674; 1996, 545; 2007, 312; Lück, DStZ 1989, 216; Thomas, DStR 1996, 1678; Hartmann, DStR 1997, 1061; gemischte Reisen: BFH BStBl. 2006, 30; Albert, FR 2010, 1032. 3 BT-Drucks. 18/3017, 47: Die Regelung soll die neuere BFH-Rspr. (BFH/NV 2013, 637; 2013, 1846) außer Kraft setzen und die bisherige Verwaltungspraxis (R 19.5 LStR 2011/2013), die bezüglich der Regelung der Einzelheiten weitergelten soll, gesetzlich festschreiben. 4 BFH BStBl. 2013, 611. 5 BFH BStBl. 2006, 446; 2006, 448. 6 Dazu ausf. u. verfassungskritisch Birk/Specker, DB 2008, 488.
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Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit
Rz. 483
§8
§ 19 I 1 Nr. 2, II EStG verwirklicht bei Beamten und Arbeitnehmern mit Versorgungszusage des Arbeitgebers das Prinzip nachgelagerter Besteuerung (s. § 3 Rz. 76): Die Zukunftssicherung während der Erwerbstätigkeit bewirkt keinen gegenwärtigen Arbeitslohn. Durch das Alterseinkünftegesetz v. 5.7.2004, BGBl. I 2004, 1427, hat der Gesetzgeber einen Systemwechsel hin zur nachgelagerten Besteuerung vollzogen (s. Rz. 570 ff.). Dem entspricht es, dass der Versorgungsfreibetrag (§ 19 II EStG) schrittweise bis 2040 abgebaut wird (s. Tabelle in § 19 II 3 EStG). Der Anwendungsbereich des § 19 I 1 Nr. 2, II EStG erstreckt sich auf die staatliche (Beamtenpensionen u.a. Versorgungsbezüge des öffentlichen Dienstes) und die arbeitsrechtliche betriebliche Altersversorgung1. Bei dieser sind Ausgaben des Arbeitgebers für die Zukunftssicherung des Arbeitnehmers grds. als Arbeitslohn anzusetzen, wenn der Arbeitnehmer zustimmt und einen Versorgungsanspruch erwirbt (§ 2 II Nr. 3 LStDV)2. Dies soll unabhängig davon gelten, ob der Versicherungsfall eintritt und sich der Versorgungsanspruch später realisieren lässt3. Trotz der generellen Gleichstellung wird die betriebliche Altersversorgung entgegen BFH BStBl. 2013, 576, zu Unrecht gegenüber der Beamtenversorgung benachteiligt, indem der Versorgungsfreibetrag erst ab dem 63. Lebensjahr gewährt wird. Es sind folgende Durchführungswege zu unterscheiden: – Bei einer Direktzusage (§ 1b I BetrAVG) fließt kein Arbeitslohn beim Entstehen der Anwartschaft auf Versorgungsleistungen zu, wenn der Arbeitgeber die Versorgungsleistung betriebsintern zusagt und hierfür eine Pensionsrückstellung (§ 6a EStG) bildet. Arbeitslohn fließt nach § 2 II Nr. 3 Satz 4 LStDV auch dann nicht zu, wenn der Arbeitgeber für seine Versorgungsverpflichtung eine Rückdeckungsversicherung abschließt.
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– Bei einer Direktversicherungszusage (§ 1b II BetrAVG) sind Beiträge des Arbeitgebers für eine Direktversicherung zum Aufbau einer kapitalgedeckten betrieblichen Altersversorgung nach § 3 Nr. 63 EStG steuerfrei, soweit die Beiträge 4 % der rentenversicherungsrechtlichen Beitragsbemessungsgrenze nicht übersteigen4.
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– § 3 Nr. 63 EStG greift auch Platz, wenn der Arbeitgeber nach § 1b III BetrAVG Beiträge an einen Pensionsfonds5 oder an eine Pensionskasse leistet. Bei den nicht steuerbefreiten Beiträgen des Arbeitgebers an die Pensionskasse zum Aufbau einer nicht kapitalgedeckten, sondern im Umlageverfahren finanzierten Altersversorgung kann der Arbeitgeber die Lohnsteuer nach § 40b I, II EStG bis zu einem Zuwendungsbetrag von 1 752 Euro pro Arbeitnehmer mit einem Pauschsteuersatz von 20 % erheben. Entgegen der Rspr. des BFH gehören Sonderzahlungen des Arbeitgebers an einen Pensionsfonds oder an eine Pensionskasse nach § 19 I 1 Nr. 3 Satz 2 EStG (s. Rz. 480) zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit6.
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1 Nach der Legaldefinition in § 1 I 1 Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (Betriebsrentengesetz – BetrAVG) v. 19.12.1974 liegt eine betriebliche Altersversorgung vor, wenn dem Arbeitnehmer aus Anlass seines Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber Leistungen zur Absicherung mindestens eines biometrischen Risikos (Alter, Tod, Invalidität) zugesagt werden u. Ansprüche auf diese Leistungen erst mit Eintritt des biologischen Ereignisses fällig werden. Verwaltungsanweisung zur privaten Altersvorsorge u. betrieblichen Altersversorgung BMF BStBl. I 2013, 1022; dazu Killat, DB 2013, 1925; Killat, DStZ 2013, 616; Ulbrich/Schwebe, BB 29013, 2973; instruktiver Überblick Dürr, SteuerStud 2014, 512. 2 BFH BStBl. 2000, 406. 3 Keine Rückzahlung von Arbeitslohn BFH BStBl. 2010, 133; 2010, 135; 2010; 194; vgl. ferner BFH BStBl. 2010, 130 (Auszahlung eines Versorgungsguthabens als Arbeitslohn); hierzu zu Recht krit. Schmidt/Krüger33, § 19 EStG Rz. 60. 4 Zusätzlich zu diesem Höchstbetrag können Beiträge auf Grund einer nach dem 31.12.2004 erteilten Versorgungszusage bis zu 1 800 Euro steuerfrei bleiben (§ 3 Nr. 63 Satz 3 EStG). Soweit die Beiträge die Höchstbeträge übersteigen, sind sie individuell zu besteuern. Dabei kann zusätzlich zu § 3 Nr. 63 EStG die Förderung nach den §§ 10a; 79 ff. EStG in Anspruch genommen werden. S. auch § 3 Nr. 65 (Insolvenzsicherung), Nr. 66 (Übernahme von Versorgungsverpflichtungen/-anwartschaften) EStG. Einzelheiten zu § 3 Nrn. 63, 65, 66 EStG: BMF BStBl. I 2013, 1022 ab Rz. 301. 5 Zur Auslagerung von Versorgungsleistungen auf Pensionsfonds Friedrich/Weigel, DB 2004, 2282; Meier/Bätzel, DB 2004, 1437; Briese, BB 2009, 2733. 6 § 19 I 1 Nr. 3 Satz 2 EStG nimmt Zahlungen zur Bildung der versicherungsaufsichtsgesetzlichen Solvabilitätsspanne aus; diese Zahlungen lassen sich ohnehin nicht individuell zuordnen (s. BFH BStBl. 2002, 22). Krit. zum Nichtanwendungsgesetz des § 19 I 1 Nr. 3 Satz 2 EStG Glaser, BB 2006, 2217
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§8
Rz. 484
Einkommensteuer
Diese Sonderzahlungen werden nach § 40b IV EStG pauschal mit 15 % besteuert. Es widerspricht dem Leistungsfähigkeitsprinzip, wenn diese Zahlungen als aktueller steuerpflichtiger Arbeitslohn behandelt werden. 484
– Wird die betriebliche Altersversorgung von einer Unterstützungskasse durchgeführt, die dem Arbeitnehmer keinen Versorgungsanspruch einräumt (§ 1b IV BetrAVG), so fließt Arbeitslohn erst mit den Leistungen der Unterstützungskasse zu.
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– Wird die betriebliche Altersversorgung durch Entgeltumwandlung1 (sog. deferred compensation: aufgeschobene Vergütung) finanziert (§§ 1a; 1b V BetrAVG), so richtet sich der Zufluss von Arbeitslohn nach dem Durchführungsweg. Z.B. fließt der Arbeitslohn im Falle einer arbeitnehmerfinanzierten Direktzusage erst im Ruhestand zu.
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Bei einer Übertragung der Altersversorgung nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses vom ehemaligen auf den neuen Arbeitgeber nach § 4 BetrAVG stellt § 3 Nr. 55 EStG den Übertragungswert steuerfrei2. Die Leistungen des Arbeitgebers zur betrieblichen Altersversorgung sind von seinen Leistungen zu gesetzlichen Pflichtversicherungen zu unterscheiden. Bei diesen Leistungen verneint der BFH Arbeitslohn, weil die Leistungspflicht des Arbeitgebers nicht arbeitsrechtlich, sondern sozialgesetzlich begründet sei3. Insofern habe § 3 Nr. 62 EStG deklaratorische Bedeutung4.
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Durch das Alterseinkünftegesetz sind die Unterschiede vor- und nachgelagerter Besteuerung von Einkünften aus betrieblicher Altersversorgung und gesetzlichen Pflichtversicherungen wesentlich verringert worden. Gleichwohl bleibt die Besteuerung der Alterseinkünfte noch weit entfernt von einem konsequent am Prinzip nachgelagerter Besteuerung ausgerichteten System der Besteuerung von Alterseinkünften (zum Reformbedarf Rz. 580).
1.2.3 Lohnsteuerpauschalierungen, insb. geringfügige Beschäftigung 488
Die Lohnsteuerpauschalierungen der §§ 40; 40a; 40b EStG außerhalb der individuell veranlagten Einkommensteuer haben erhebliche materielle Bedeutung. § 40 II EStG sieht Pauschalierungsmöglichkeiten für bestimmte, besonders häufig vorkommende Sachbezüge vor. Von großer praktischer Bedeutung sind ferner die Pauschalierungsvorschriften des § 40a EStG, die dem arbeitsmarktpolitisch gerechtfertigten Zweck dienen, für kurzfristig (§ 40a I EStG), geringfügig (§ 40a II EStG) Beschäftigte und Aushilfskräfte in der Land- und Forstwirtschaft (§ 40a III EStG) nicht nur das Verfahren zu vereinfachen, sondern auch die Belastung des Arbeitsentgelts durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zu reduzieren. Zu diesem Zweck hat der Gesetzgeber die Vorschriften des Steuerrechts und des Sozialversicherungsrechts miteinander verknüpft.
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Die arbeitsmarktpolitisch bedeutsamen sog. Minijobs hat das Zweite Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt v. 23.12.2002, BGBl. I 2002, 4621, mit Wirkung ab 2003 neu geregelt. Nach Anhebung der Beträge ab 2013 zahlt der Arbeitgeber bei geringfügig Beschäftigten, das sind Beschäftigte, deren monatliches Arbeitsentgelt regelmäßig 450 Euro nicht übersteigt (sog. 450-Euro-Jobs)5, eine monatliche Pauschalabgabe von 30 % des Arbeits-
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(Verfassungsfragen der Behandlung von Sonderzahlungen); Hölzer, FR 2010, 501; Schmidt/Krüger33, § 19 EStG Rz. 86. Dazu BMF BStBl. I 2013, 1022 (Rz. 292 ff.); Hanau/Arteaga, Gehaltsumwandlung zur betrieblichen Altersversorgung, 1999; Bode/Grabner, Pensionsfonds und Entgeltumwandlung, 2002; Clemens, Entgeltumwandlung zur betrieblichen Altersversorgung, Diss., 2005; Otto, DStJG 29 (2006), 301. S. BMF BStBl. I 2013, 1022 (Rz. 323 ff.). BFH BStBl. 2001, 815 (Bundeszuschuss an Bahnversicherungsanstalt); 2003, 34 (Arbeitgeberanteile zur gesetzlichen Sozialversicherung); 2010, 703 (Entscheidungen des Sozialversicherungsträgers bzgl. Beitragspflicht insofern bindend). BFH BStBl. 2003, 34. Legaldefinition in § 8 I Nr. 1 SGB IV i.V.m. § 40a II EStG. Zur steuerlichen Behandlung der geringfügigen Beschäftigungen Günther, EStB 2003, 99; Hardner-Buschner, INF 2003, 218; Merker, SteuerStud 2003, 248; Niermann/Plenker, DB 2003, 304.
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Einkünfte aus Kapitalvermögen mit Abgeltungsteuer
Rz. 493
§8
entgelts1. Einzugsstelle für die Pauschalabgabe ist die Verwaltungsstelle Cottbus der Bundesknappschaft, umbenannt in den vereinfachungszweckwidrig sperrigen Namen „Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See“ (s. § 40a VI EStG). Das Gesetz verbietet es nicht ausdrücklich, dass die Beschäftigung bei einem Arbeitgeber in eine Hauptbeschäftigung und eine geringfügige Nebenbeschäftigung oder in mehrere geringfügige Nebenbeschäftigungen aufgespalten werden kann2. Mehrere geringfügige Beschäftigungen werden nach § 8 II 1 SGB IV zunächst nur mit sozialversicherungsrechtlichen Konsequenzen zusammengerechnet3. Hat jedoch der Arbeitgeber infolge der Zusammenrechnung die vollen Sozialabgaben zu entrichten, so kann er nur noch die Pauschalbesteuerung nach § 40a IIa EStG (20 % Lohnsteuer, SolZ, KiSt) wählen. Liegt eine geringfügige Beschäftigung i.S.d. § 8 I Nr. 1 SGB IV nicht mehr vor, so unterliegt das Arbeitsentgelt dem normalen Lohnsteuerabzug.
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Eine geringfügige Beschäftigung liegt auch bei ausschließlicher Beschäftigung in Privathaushalten 4. In diesem Fall beträgt die Pauschalabgabe 12 %5. Die Beschäftigung in Privathaushalten wird zusätzlich durch die Steuerermäßigungen nach § 35a EStG gefördert (dazu Rz. 818). Auf Antrag ermäßigt sich die Einkommensteuer des Arbeitgebers nach § 35a I 1 EStG bei geringfügiger Beschäftigung um 20 %, höchstens 510 Euro, und bei anderen haushaltsnahen Beschäftigungen, für die Sozialversicherungsbeiträge entrichtet werden, um 20 %, höchstens 4 000 Euro der Aufwendungen (§ 35a II EStG), die keine Erwerbsaufwendungen darstellen und soweit sie nicht als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt worden sind.
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2. Einkünfte aus Kapitalvermögen mit Abgeltungsteuer (§§ 20; 32d; 43 V 1 EStG) 2.1 Überblick Über Jahrzehnte hat die Kreditwirtschaft die Einführung einer Abgeltungsteuer gefordert, um die Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes Deutschland zu stärken und die Administration privater Kapitalanlagen grundl. zu vereinfachen. Zum 1.1.2009 ist der Gesetzgeber dieser Forderung im Zuge des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 v. 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912, nachgekommen.
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Mit Einführung der Abgeltungsteuer6 sind die Kapitaleinkünfte ab 20097 schedulenhaft nach folgendem Konzept neu gestaltet worden:
493
1 Neben 2 % Pauschalsteuer, in der ESt, SolZ und KiSt zusammengefasst sind (§ 40a II EStG), 15 % Rentenversicherung u. 13 % Krankenversicherung. Zur Sozialversicherungspflicht s. §§ 168; 172 SGB VI; Brenner/Bals, BB-Beil. 2/2005. 2 In § 40a IV Nr. 2 EStG ist der Grundsatz niedergelegt, dass das Beschäftigungsverhältnis mit einem Arbeitgeber nicht in ein Pauschalierungsverhältnis und ein Beschäftigungsverhältnis mit normalem Lohnsteuerabzug aufgespalten werden kann (BFH BStBl. 1990, 931). § 40a IV EStG gilt jedoch ausdrücklich nicht für geringfügige Beschäftigungen (dazu ausf. HHR/K.J. Wagner, § 40a EStG Anm. 6 [2010]). 3 Im Falle einer Zusammenrechnung werden die Sozialversicherungsbeiträge nach den §§ 20 II SGB IV; 163 X SGB VI in einer sog. Gleitzone (450 bis 850 Euro Arbeitsentgelt) nach der in § 163 X SGB VI niedergelegten Formel auf die volle Höhe angehoben. Dazu mit Bsp. Merker, SteuerStud 2003, 248 f. 4 § 8a Satz 1 SGB IV i.V.m. § 8 SGB IV; § 40a II EStG. Legaldefinition in § 8a Satz 2 SGB IV: „Eine geringfügige Beschäftigung im Privathaushalt liegt vor, wenn diese durch einen privaten Haushalt begründet ist und die Tätigkeit sonst gewöhnlich durch Mitglieder des privaten Haushalts erledigt wird.“ 5 Neben 2 % Pauschalsteuer, 5 % Rentenversicherung u. 5 % Krankenversicherung. S. §§ 168 I Nr. 1c; 172 SGB VI; Brenner/Bals, BB-Beil. 2/2005. 6 Grds. zu den verfassungsrechtlichen und systematischen Aspekten Eckhoff, FR 2007, 989; Englisch, StuW 2007, 221; Jachmann, DStJG 34 (2011), 251 (258–265); Recnik, Die Besteuerung privater Kapitaleinkünfte durch die Abgeltungsteuer. Verfassungsrechtliche Aspekte des Systemwechsels, Diss., 2011; Worgulla, Die Bruttobesteuerung in der Schedule der Einkünfte aus Kapitalvermögen, Diss., 2013; zum österr. Vorbild Korn, ÖStZ 2007, 222. Überblicksaufsätze: Ferdinand/Hallebach, SteuerStud 2010, 115; Schalburg, StWa 2010, 117 u. 139. Anwendungsschreiben (105 Seiten!) BMF BStBl. I 2010, 94, ergänzend BMF BStBl. I 2012, 953; u. zu Anwendungsfragen Elser/Bindl, FR 2010, 360; Haisch/Kampe, FR 2010, 311; Paukstadt/Kerpf, DStR 2010, 678; Reislhuber/Bacmeister, DStR 2010, 684; Ronig, DB 2010, 128; Delp, DB 2011, 96; Spieker, DB 2012, 2836; Schäfer/Scholz, DStR 2012, 1885 (offene Fragen und Gestaltungsmöglichkeiten); Weitere Literatur zu Einzelfragen der Abgeltungsteuer s. 20. Aufl., Rz. 493 Fn. 73; zum Reformbedarf s. Literaturnachweise in Rz. 504 ff.
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§8
Rz. 494
Einkommensteuer
– Der Gesetzgeber hat die Trennung von Quellen- und Veräußerungseinkünften aufgegeben. § 20 II EStG weist die Kapitalveräußerungseinkünfte (s. Rz. 497) den Einkünften aus Kapitalvermögen und damit dem Anwendungsbereich der Abgeltungsteuer zu. Die Verbindung von Quelleneinkünften und Veräußerungseinkünften bewirkt eine grundlegende Vereinfachung: Es muss nicht mehr differenziert werden, ob steuerpflichtige Quellenerträge (§ 20 EStG), nach § 23 I EStG steuerbare oder nicht steuerbare Stammvermögenserträge vorliegen. Der Anreiz für die Entwicklung steueroptimierender Finanzinnovationen, denen der Gesetzgeber zuvor versuchte, durch Sonderregeln zu begegnen, ist beseitigt. Auch muss nicht mehr verwaltungsaufwendig nachgehalten werden, bei welchen Wertpapieren eines Depots die Jahresfrist des § 23 I 1 Nr. 2 EStG abgelaufen ist. Es macht ferner keinen Unterschied mehr, ob Erträge ausgeschüttet werden oder nicht. Dies verbessert die Steuerneutralität von Kapitalanlageprodukten ganz erheblich. 494
– Der Werbungskostenabzug und das objektive Nettoprinzip werden stark eingeschränkt. An die Stelle des uneingeschränkten Werbungskostenabzugs (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG) tritt nach § 2 II 2 EStG der Sparer-Pauschbetrag von 801 Euro/Ehegatten: 1 602 Euro (§ 20 IX EStG). Darüber hinaus ist ein Steuerabzug der tatsächlichen Werbungskosten ausgeschlossen. – Die nach den §§ 32d I; 43 V 1 EStG abgeltende Besteuerung der Kapitaleinkünfte bewirkt eine sondertarifierte Schedule. Der Steuersatz beträgt 25 % (§ 32d I 1 EStG 2008). Die daraus sich ergebende Steuer vermindert sich um die anrechenbaren ausländischen Steuern (§ 32d I 2, V). Im Falle der Kirchensteuerpflicht ermäßigt sich die Abgeltungsteuer nach Maßgabe des § 32d I 3–5 EStG. Damit sind die Kapitaleinkünfte mit 25 % zzgl. 1,375 % SolZ zzgl. 2,2 % KiSt (s. auch Rz. 966), also mit insgesamt 28,575 % abgeltend besteuert. Die Sondertarifierung ist Teil eines Systems von Fiskalzwecknormen, das die Progression gezielt dort kappt, wo sie sich im internationalen Steuersubstratwettbewerb nicht durchzusetzen vermag (s. § 7 Rz. 88).
2.2. Arten der Kapitaleinkünfte 495
Quelleneinkünfte aus Kapitalvermögen erzielt, wer Kapitalvermögen gegen Entgelt zur Nutzung überlässt1. Der Katalog des § 20 I EStG bestimmt folgende Einnahmen aus Kapitalvermögen: – § 20 I Nrn. 1 u. 2 EStG: Bezüge aus Kapitalgesellschaften u.a. Körperschaften2, d.s. insb. Gewinnanteile (Dividenden), offene und verdeckte Gewinnausschüttungen (§ 20 I Nr. 1 Satz 2 EStG), Genussrechte, ausschüttungsgleiche Erträge und ab 2005 der Zwischengewinn i.S.v. § 2 Investmentsteuergesetz, besondere Entgelte und Vorteile i.S.v. § 20 III EStG, Bezüge auf Grund von Kapitalherabsetzung und Liquidationen (§ 20 I Nr. 2 EStG). Durch JStG 2009 ist insb. die Besteuerung von Anteilen an Investmentvermögen (sog. Investmentfonds)3 novelliert worden: Zu den Einkünften aus Kapitalvermögen gehören nicht nur die aus7 S. i.E. die komplexe Übergangsregelung in § 52a EStG 2008. Grds. werden mit abgeltender Wirkung Kapitalerträge besteuert, die dem Gläubiger nach dem 31.12.2008 zufließen (§ 52a I EStG 2008). Die abgeltende Besteuerung von Veräußerungsgewinnen gilt grds. erst für Erwerbe nach dem 31.12.2008 (s. § 52a X EStG 2008). Für Erwerbe davor gilt grds. die bisherige Regelung des § 23 EStG. 1 BFH BStBl. 1990, 532; 1992, 174, 175; 1993, 602, 603. Grundl. Wassermeyer, StuW 1988, 283; Schön (Hrsg.), Einkommen aus Kapital, DStJG 30 (2007). 2 AG, KGaA, GmbH, Genossenschaft, Verein u.a. Körperschaftsteuersubjekte i.S.d. § 1 KStG, auch wenn diese nach § 5 KStG befreit sind. S. Schmidt/Weber-Grellet31, § 20 EStG Rz. 31; Beck, Die Besteuerung von Beteiligungen an körperschaftsteuerpflichtigen Steuersubjekten im Einkommenund Körperschaftsteuerrecht, Diss., 2004. 3 Gesamtdarstellungen des ab 2004 geltenden Investmentsteuerrechts: Teichert, Die Besteuerung in- und ausländischer Investmentfonds nach dem InvStG, Diss., 2009; Berger/Steck/Lübbehüsen, Investmentgesetz, Investmentsteuergesetz, 2010; Haase, Investmentsteuergesetz2, 2014. Anwendungsschreiben BMF BStBl. I 2009, 931; 2013, 726. Zu den Änderungen durch JStG 2010 Haase, DStR 2010, 1608; Möhrle/Gerber, DB 2010, 32; Höring, DStZ 2011, 472, sowie durch das AIFM-Steuer-Anpassungsgesetz v. 18.12.2013, BGBl. I 2013, 4318, Jesch/Haug, DStZ 2013, 771.
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Einkünfte aus Kapitalvermögen mit Abgeltungsteuer
Rz. 496
§8
geschütteten Erträge aus Investmentanteilen, sondern auch nicht ausgeschüttete Erträge, nämlich die ausschüttungsgleichen Erträge (§ 1 III 2 InvStG) sowie die Zwischengewinne (§ 1 IV InvStG). Danach sind vom Anleger grds. die thesaurierten Gewinne aus Veräußerungsgeschäften zu versteuern. Ausnahmen: Stillhalterprämien (§ 20 I Nr. 11 EStG), Veräußerung von Anteilen (§ 20 II 1 Nr. 1 EStG) und Gewinne aus Termingeschäften (§ 20 II 1 Nr. 3 EStG). Gewinne aus der Veräußerung von sonstigen Kapitalforderungen sind nur im Umfange der Ertragskomponenten (z.B. Stückzinsen) zu versteuern. Ausländische Steuern werden bereits bei der vom Investmentvermögen einzubehaltenden Abgeltungsteuer angerechnet (§§ 4 II 8; 7 I 3 InvStG). Mit der Rechtsfigur der ausschüttungsgleichen Erträge verletzt der Gesetzgeber das Zuflussprinzip und besteuert eine noch nicht entstandene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit1. Dies verstärkt den Impetus zu abgeltungsteuerfreien Lösungen (z.B. Dachfonds). Sachgerecht wäre die strenge Orientierung am Zuflussprinzip mit dem Effekt einer nachgelagerten Besteuerung als die für kapitalgedeckte Vorsorgeformen adäquate Besteuerungsform (s. Rz. 580 ff.). Einkünfte i.S.d. § 20 I Nrn. 1 u. 2 EStG sind dem Anteilseigner zuzurechnen (§ 20 V EStG). Zahlt der Verkäufer dafür, dass Aktien ohne den zwischenzeitlich entstandenen Dividendenanspruch geliefert werden, so hat der Erwerber nach § 20 I Nr. 1 Satz 4 EStG2 sonstige Bezüge zu versteuern. § 20 I Nr. 1 EStG ist nach dem Veranlassungsprinzip extensiv auszulegen. Auch Vorteile von dritter Seite, z.B. die Zuteilung von Telekom-Bonusaktien als Entgelt des Bundes für die Dauerhaftigkeit der Kapitalüberlassung unterfallen dem § 20 II 1 Nr. 1 EStG3. Seit 2007 können Einkünfte aus Immobilien steuergünstig als Kapitaleinkünfte i.S.d. § 20 I Nrn. 1 u. 2 EStG gestaltet werden, indem sich der Stpfl. an einem sog. REIT (Real Estate Investment Trust) beteiligt. REITs sind börsennotierte Aktiengesellschaften nach dem sog. REIT-Gesetz4. Mit dem REIT-Gesetz folgte der Gesetzgeber einer internationalen Entwicklung. REITs gibt es in über 20 Ländern, vor allem im amerikanischen und asiatischen Raum. Der deutsche Immobilienmarkt ist der größte in Europa, so dass das Bedürfnis nach deutschen REITs unabweisbar ist, insb. als Alternative zu den steuerlich problematischen (s. BMF BStBl. I 2003, 546) Immobilienfonds mit Einkünften aus Vermietung und Verpachtung oder gewerblichen Einkünften der Anleger. Die Anteile an einem REIT müssen sich im Zeitpunkt der Börsenzulassung zu mindestens 25 % im Streubesitz befinden (§ 11 I REIT-G). Die REIT-AG ist von der Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer befreit (§ 16 I REIT-G). Die Steuerbefreiung der REIT-AG wird damit gerechtfertigt, dass der überwiegende Teil der Gewinne ausgeschüttet und dort besteuert wird. Daher schreibt § 13 I REIT-Gesetz eine Mindestausschüttung von 90 %. vor. Das Teileinkünfteverfahren ist nicht anzuwenden (§ 19 III REIT-G). Steuerlich attraktiv ist der REIT vor allem wegen der Abgeltungsteuer: Steuerbelastung inkl. SolZ 26,37 % statt 48,33 %5.
– § 20 I Nr. 4 EStG6: Einnahmen aus der Beteiligung an einem Handelsgewerbe als typischer stiller Gesellschafter und aus partiarischen Darlehen. Der atypisch stille Gesellschafter (s. § 10 Rz. 70) ist Mitunternehmer (§ 15 I 1 Nr. 2 EStG). – § 20 I Nr. 5 EStG: Zinsen aus Hypotheken/Grundschulden und Renten aus Rentenschulden. 1 Zur Verfassungsmäßigkeit (aus österreichischer Sicht) s. auch Kirchmayr, FS Ruppe, 2007, 259. 2 Diese Vorschrift wurde durch JStG 2007 eingeführt. Sie soll die Besteuerung um den Ausschüttungstermin regeln und die mehrfache Anrechnung von Kapitalertragsteuer verhindern. Dazu Hahne, DStR 2007, 605; S. Wagner, Der Konzern 2007, 127; Bruns, DStR 2010, 2061; Englisch, FR 2010, 1023; Podewils, FR 2011, 69; Rau, FR 2011, 366; Desens, FR 2012, 142. 3 BFH BStBl. 2005, 468. 4 Gesetz zur Schaffung deutscher Immobilien-Aktiengesellschaften mit börsennotierten Anteilen v. 28.5.2007, BGBl. I 2007, 914. Lit, zu Einzelfragen s. 20. Aufl. § 9 Rz. 496, Fn. 79. Kommentare und Monographien: Kerner, Die Besteuerung der Immobilien-AG, Diss., 2006; Seibt/Conradi, Hdb. REITAktiengesellschaft, 2008; Helios/Wewel/Wiesenbrock, REIT-Gesetz, 2008; Böhmer, Börsennotierte Immobilienaktiengesellschaften (REITs) in Deutschland: Einführung und Umsetzung nach dem REIT-Gesetz, Diss., 2010; G. Wagner, Die Besteuerung des deutschen REIT, Diss., 2010 (rechtsvergleichend, abkommens- u europarechtlich); Zumwinkel, Das deutsche REIT-Gesetz: Steuerrechtsgesetzgebung im Spannungsfeld von Europa- und Verfassungsrecht, Diss., 2011. 5 S. Wimmer, StuB 2007, 494 (499). 6 Zu den Auswirkungen der Abgeltungsteuer Czisz/Krane, DStR 2010, 226.
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§8
Rz. 496
Einkommensteuer
– § 20 I Nr. 6 EStG1: Erträge aus Lebensversicherungen. Steuerpflichtig ist der Unterschiedsbetrag zwischen dem Gesamtbetrag der Versicherungsleistungen und der Summe der auf Grund des Versicherungsvertrages erbrachten Geldleistungen (Beiträge, Gebühren, Versicherungsteuer, Provisionen)2. § 20 I Nr. 6 EStG gilt nur, wenn das Kapitalwahlrecht ausgeübt wird. Wird die Rentenzahlung gewählt, so ist die Rente mit dem Ertragsanteil nach § 22 Nr. 1 Satz 3 a bb EStG zu versteuern. Kapitalleistungen im Todesfall sind nicht zu besteuern. Wird die Versicherungsleistung nach dem 60. Lebensjahr des Stpfl. und nach 12 Jahren seit Vertragsabschluss ausgezahlt, so ist die Hälfte des Unterschiedsbetrages anzusetzen (§ 20 I Nr. 6 Satz 2 EStG). Durch JStG 2009 sind folgende Missbrauchsklauseln gegen die Umgehung von Abgeltungsteuer eingeführt worden: § 20 I Nr. 6 Satz 5 EStG nimmt vermögensverwaltende Versicherungsverträge von der privilegierten Besteuerung von Lebensversicherungen aus, rechnet die Erträge unmittelbar dem Versicherungsnehmer zu und unterwirft sie der Abgeltungsteuer. § 20 I Nr. 6 Satz 6 EStG schließt Kapitallebensversicherungen von der Begünstigung nach § 20 I Nr. 6 Satz 2 EStG aus, wenn sie nicht bestimmte Mindeststandards erfüllen. § 20 I Nr. 6 Satz 7 EStG schließt die Steuerbefreiung von Kapitalleistungen bei entgeltlichem Versicherungserwerb aus, um dem Handel mit „gebrauchten“ Lebensversicherungen vorzubeugen. – § 20 I Nr. 7 EStG: Erträge aus sonstigen Kapitalforderungen3 jeder Art. § 20 I Nr. 7 EStG erfasst Kapitalnutzungsforderungen wie insb. Zinsen4 und alle laufenden Erträge aus reinen Spekulationsanlagen (sog. Vollrisikozertifikate)5 und setzt demnach voraus, dass die Rückzahlung des Kapitalvermögens oder ein Entgelt für die Überlassung des Kapitalvermögens zugesagt oder geleistet worden ist. Es ist unerheblich, ob die Höhe der Rückzahlung oder des Entgelts von einem ungewissen Ereignis abhängt. In § 20 I Nr. 7 Satz 3 EStG hat der Gesetzgeber gegen BFH BStBl. 2011, 503, rückwirkend (§ 52a VIII 2 EStG 2008) die Steuerpflicht von Erstattungszinsen i.S.v. § 233a AO angeordnet6. Der BFH hatte systemkonform aus der Nichtabziehbarkeit von Nachzahlungszinsen (§ 12 Nr. 3 EStG) auf die Nichtsteuerbarkeit von Erstattungszinsen geschlossen. JStG 2010 bezeichnet die systemwidrige Nichtanwendungsgesetzgebung als Wiederherstellung der bisherigen Rechtslage und „Klarstellung“ (BT-Drucks. 17/3549, 17 f.). § 20 I Nr. 7 Satz 3 EStG verstößt gegen das Gebot folgerichtiger Umsetzung der von § 12 Nr. 3 EStG getroffenen Entscheidung der Zuordnung von Einkommen-/Personensteuern und der hierauf entfallenden Nebenleistungen zur steuerlich unbeachtlichen Einkommensverwendung und verletzt mit der rückwirkenden Anwendung auf alle noch offenen Fälle zudem das rechtsstaatliche Vertrauensschutzprinzip7. – § 20 I Nr. 8 EStG: Diskontbeträge von Wechseln und Anweisungen einschließlich der Schatzwechsel. 1 Neuregelung des § 20 I Nr. 6 EStG durch das Alterseinkünftegesetz v. 5.7.2004, BGBl. I 2004, 1427 (s. Rz. 570). Ausf. BMF BStBl. I 2006, 92 (dazu Goverts/Knoll, DStR 2006, 589; Risthaus, DB 2006, 232); geändert durch BMF BStBl. I 2009, 1172 (dazu Jörißen, SteuerStud 2010, 75; Goverts, DB 2009, 2455). 2 Zur Berechnung des Unterschiedsbetrages BMF BStBl. I 2006, 92 (Rz. 54 ff.). Bei entgeltlichem Erwerb der Versicherung treten die Anschaffungskosten an die Stelle der vor dem Erwerb entrichteten Beiträge (§ 20 I Nr. 6 Satz 3 EStG). 3 Zum Begriff der sonstigen Kapitalforderung Weißbrodt/Michalke, DStR 2012, 1533. 4 Neben der Verzinsung von Bankguthaben z.B. Prozess- und Verzugszinsen (BFH BStBl. 1995, 121; 2012, 254). § 20 I Nr. 7 EStG soll ferner wie bisher § 20 II 1 Nr. 3 EStG auch gezahlte Stückzinsen aus Alt-Anleihen erfassen; klargestellt durch § 52a X 7 EStG 2008 (hierzu Hechtner/Sielaff, NWB 2011, 519). 5 Dazu hat der Gesetzgeber in § 20 I Nr. 7 Satz 1 EStG 2008 das Wort „gewährt“ durch das Wort „geleistet“ ersetzt (s. BT-Drucks. 16/4841, 54). Zur Besteuerung von Zertifikaten s. Haisch/Danz, DStR 2005, 2108. 6 Dazu Rublack, FR 2011, 173; Panzer/Gebert, DStR 2011, 741 (Gesetzesänderung zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels untauglich). 7 Keine Zweifel an Wirksamkeit und Verfassungskonformität der Steuerpflicht BFH BStBl. 2014, 168; BFH/NV 2014, 830; ebenso Thiemann, FR 2012, 673.
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Einkünfte aus Kapitalvermögen mit Abgeltungsteuer
Rz. 497
§8
– § 20 I Nr. 9 EStG: Quasi-Gewinnausschüttungen von nicht befreiten KSt-Subjekten i.S.d. § 1 I Nrn. 3–5 KStG (u.a. Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, Vereine, Stiftungen). Z.B. unterliegen § 20 I Nr. 9 EStG Leistungen, die aus den Erträgen einer Stiftung an den Stifter, seine Angehörigen oder deren Abkömmlinge ausgekehrt werden1. Auf diese Weise wird eine Nachbesteuerung hergestellt und Wettbewerbsvorteile vermieden, die sich andernfalls durch den niedrigen Körperschaftsteuersatz ergeben würden2. – § 20 I Nr. 10 EStG: Leistungen, Gewinn, verdeckte Gewinnausschüttungen von Betrieben gewerblicher Art und wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben. – § 20 I Nr. 11 EStG3: Stillhalterprämien, die für die Einräumung von Optionen vereinnahmt werden. Bei Glattstellungsgeschäften vermindern sich die steuerpflichtigen Einnahmen um die im Glattstellungsgeschäft gezahlten Prämien. Dagegen lässt BFH BStBl. 2008, 522; BFH/NV 2010, 1627, bei Zahlung eines Barausgleichs nach der sog. Trennungstheorie mit der Folge verfassungswidriger Übermaßbesteuerung bisher keine Saldierung zwischen Stillhalterprämie und Ausgleichszahlung zu4. BVerfG HFR 2011, 895, hat die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung (BFH/NV 2010, 1627) wegen Verletzung von Art. 19 IV GG aufgehoben, weil der BFH das Vorliegen einer unbilligen Härte nicht geprüft hat. Mittlerweile scheint der BFH seine Rspr. zur Trennung von Options- und Basisgeschäft zu überdenken6. Kapitalveräußerungseinkünfte: § 20 II 1 Nrn. 2–4 EStG a.F. besteuerte bisher schon die Veräußerung von Erträgen (sog. Einnahmesurrogate) aus den sog. Finanzinnovationen7, die im Grenzbereich des quellentheoretischen Stammvermögens (s. Rz. 50) liegen. Mit den Finanzinnovationen wurde die Steuerstrategie verfolgt, Kapitalerträge in die nicht steuerbare Sphäre des Stammvermögens zu verlagern. Mit Einführung der Abgeltungsteuer erweiterte der Gesetzgeber § 20 II EStG auf alle Einkünfte aus der Veräußerung von Kapitalanlagen, mit denen laufende Erträge i.S.d. § 20 I EStG erwirtschaftet werden oder die sonst mit Kapitaleinkünften i.S.d. § 20 I EStG zusammenhängen. Das neue Recht erweitert die Besteuerung von Kapitalveräußerungseinkünften auch insoweit, als die Steuerbarkeit von Kapitalveräußerungseinkünften nicht mehr von einer Jahresfrist (§ 23 I 1 Nr. 2 EStG) abhängt. An die Stelle von „Einnahmen“ (§ 20 II 1 Nrn. 2 u. 3 EStG) tritt der „Gewinn“ (§ 20 II 1 Nrn. 1–8 EStG). Als Veräußerungen gelten nach § 20 II 2 EStG auch die Einlösung, Rückzahlung, Abtretung von Forderungen oder die verdeckte Einlage in eine Kapitalgesellschaft. § 43 I 4–6 EStG stellt ferner für Zwecke des Kapitalertragsteuerabzugs die Depotübertragung der Veräußerung gleich, wenn der Stpfl. nicht mitteilt, dass es sich um eine unentgeltliche Übertragung handelt. Die Anschaffung oder Ver1 Zur Abgrenzung zu § 22 EStG vgl. BFH BStBl. 2011, 417 (dazu Kessler/Müller, DStR 2011, 614). BMF BStBl. I 2006, 417 (Wassermeyer, DStR 2006, 1733). Zu § 20 I Nr. 10b EStG BMF BStBl. I 2002, 935; 2005, 831; 2005, 1029. 2 HHR/Intemann, § 20 EStG Anm. 340 (2014). 3 Eingeführt durch UntStRefG 2008. Die Stillhalterprämie entschädigt den Stillhalter für die Bindung und Risiken, die er durch die Begebung des Optionsrechts eingeht (zu Stillhaltergeschäften Philipowski, DStR 2009, 353). Die Prämie wird unabhängig vom Zustandekommen des Wertpapiergeschäfts gezahlt (s. BT-Drucks. 16/4841, 54). 4 Dagegen Philipowski, DStR 2010, 2283 (2285 ff.); zur Beurteilung nach Überführung von Stillhaltergeschäften in die Abgeltungsteuer Zanziger, DStR 2010, 149 (151). 5 Dazu Haisch/Helios, FR 2011, 88. 6 BFH BStBl. 2013, 231; dazu Knoblauch, DStR 2013, 798 (801). 7 Dazu grundl. Jachmann, DStJG 30 (2007), 153; zur Dogmatik der Rspr.: Jachmann, BB 2007, 1137 ff., 1198 ff.; Jachmann, DStR 2007, 877; Haisch/Danz/Jetter, DStZ 2007, 450 (BFH-Konzept). Rspr.: BFH BStBl. 2007, 553; 2007, 555; 2007, 560; 2007, 571; 2007, 568 (Argentinienanleihen: Quelleneinkünfte/ Stammvermögen/nichtsteuerbare Veräußerungsverluste); BFH BStBl. 2008, 563; BMF BStBl. I 2007, 548; 2008, 715 (dazu Haisch/Danz, DStR 2008, 1525); zur BFH-Rspr.: Geurts, DStZ 2008, 177; Haisch/Oberhofer, DStR 2008, 1178; Schmitt/Krause, DStR 2008, 82; Jörißen/Jörißen, SteuerStud 2009, 25. Übergangsregelung: § 52a X 7 EStG i.d.F. des JStG 2009 (Reaktion auf BFH-Rspr.): Bei Finanzinnovationen greift die Abgeltungsteuer grds. auch dann ein, wenn die Papiere vor 2009 erworben wurden. Deshalb wird die Einordnung nicht obsolet. Zur Bedeutung nach Einführung der Abgeltungsteuer Elicker, Stbg. 2011, 438.
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§8
Rz. 498
Einkommensteuer
äußerung von Beteiligungen gilt als Anschaffung oder Veräußerung der anteiligen Wirtschaftsgüter (§ 20 II 3 EStG); dies entspricht dem Transparenzprinzip. I.E. regelt § 20 II EStG folgende Veräußerungstatbestände: – § 20 II 1 Nr. 1 EStG: Gewinn aus der Veräußerung von Anteilen an einer Körperschaft i.S.d. § 20 II 1 Nr. 1 EStG (zur restriktiven Berücksichtigung von Verlusten vgl. Rz. 500). – § 20 II 1 Nr. 2 a u. b EStG: Gewinn aus der Veräußerung von Dividendenscheinen und sonstigen Ansprüchen ohne Mitveräußerung der dazugehörigen Aktien oder sonstigen Anteile (Buchst. a) sowie Gewinn aus der Veräußerung von Zinsscheinen/-forderungen ohne Mitveräußerung der dazugehörigen Schuldverschreibungen (Buchst. b). – § 20 II 1 Nr. 3 a u. b EStG1: Veräußerungsgewinn bei Termingeschäften (Buchst. a) und Gewinn aus der der Veräußerung eines als Termingeschäft ausgestalteten Finanzinstruments2 (Buchst. b). Der Begriff des Termingeschäfts umfasst sämtliche als Options- oder Festgeschäft ausgestalteten Finanzinstrumente sowie Kombinationen zwischen Optionsund Festgeschäften (BT-Drucks. 16/4841, 55). – § 20 II 1 Nr. 4 EStG: Gewinne aus der Veräußerung und Auflösung von stillen Beteiligungen sowie Verwertungserträge aus partiarischen Darlehen durch Abtretung von Forderungen oder bei Beendigung der Laufzeit (BT-Drucks. 16/4841, 55). – § 20 II 1 Nr. 5 EStG: Gewinne aus der Übertragung von Hypotheken, Grundschulden und Rentenschulden. – § 20 II 1 Nr. 6 EStG: Gewinne aus der Abtretung von Ansprüchen auf eine Versicherungsleistung i.S.d. § 20 I Nr. 6 EStG. – § 20 II 1 Nr. 7 EStG3: Gewinne aus der Abtretung von Kapitalforderungen i.S.d. § 20 I Nr. 7 EStG. – § 20 II 1 Nr. 8 EStG: Gewinne aus der Übertragung oder Aufgabe einer Rechtsposition, die Einnahmen aus einem Körperschaftsteuersubjekt i.S.d. § 20 I Nr. 9 EStG (s. Rz. 496) vermittelt. 498
§ 20 IVa EStG bezweckt die Vereinfachung des Steuerabzuges bei sog. Kapitalmaßnahmen, bei denen die Erträge nicht als Geldzahlungen, sondern insb. in Form von Anteilen an Kapitalgesellschaften zufließen4. § 20 IVa EStG regelt den Anteilstausch (Sätze 1 u. 2), den Erwerb von Wertpapieren anstelle der Rückzahlung von Kapitalforderungen (Satz 3), Bezugsrechte (Satz 4), Bonusaktien u. Freianteile (Satz 5) sowie die Abspaltung (Satz 7). In diesen Fällen tritt das erworbene Kapital an die Stelle des hingegebenen Kapitals, indem die Anschaffungskosten erfolgsneutral fortgeführt und stille Reserven steuerverstrickt bleiben. Die Veräußerungseinkünfte werden erst bei einer Veräußerung gegen Geldzahlung besteuert. 1 Diese Vorschrift ersetzt § 23 I 1 Nr. 4 EStG a.F. und regelt die Besteuerung der Termingeschäftsgewinne neben § 20 I Nr. 11 EStG 2008; dazu BMF BStBl. I 2010, 94 (Rz. 9 ff.); Dahm/Hamacher, DStR 2008, 1910 (Termingeschäfte); Optionsgeschäfte: Kobarg, SteuerStud 2008, 124; Helios/Philipp, BB 2010, 95; Schalburg, StWa 2013, 169 u. 183. Grundsatzkritik („Besteuerungsruine“) Dahm/Hamacher, DStR 2014, 455. Zur Berücksichtigung vergeblicher Aufwendungen/Verluste BFH BStBl. 2013, 231; Meinert/Helios, DStR 2013, 508; Knoblauch, DStR 2013, 798; Heuermann, DB 2013, 718 (719 f.: Übertragung auf die Abgeltungsteuer). 2 Zu Begrifflichkeit, Arten und Besteuerung von Finanzinstrumenten Haisch/Helios, Rechtshdb. Finanzinstrumente, 2011. 3 Diese Vorschrift ersetzt nicht nur § 20 II 1 Nr. 4 EStG a.F.; sie erfasst zudem Wertzuwächse auf der Vermögensebene (BT-Drucks. 16/4841, 56). Lit. hierzu: Pross, Swap, Zins und Derivat, Finanzinnovationen im nationalen und internationalen Steuerrecht unter besonderer Berücksichtigung des Zinsbegriffs, Diss., 1998; Sturm, Innovative Zinspapiere und zinsähnliche Anlageprodukte, Diss., 1999; Jachmann, BB 2007, 1137 ff., 1198 ff.; Twardosz, Besteuerung von Zinseinkünften, Abgrenzung von Substanz und Ertrag bei Kapitalanlageprodukten, Diss., 2007. 4 BT-Drucks. 16/10189, 66. Dazu Bron/Seidel, BB 2010, 2599; Haritz, FR 2010, 589; zur Neufassung durch AmtshilfeRLUmsG Bron, DStR 2014, 353.
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Einkünfte aus Kapitalvermögen mit Abgeltungsteuer
Rz. 500
§8
§ 43a III 7 EStG erleichtert i.V.m. § 20 IIIa EStG das Kapitalertragsteuerverfahren dadurch, dass die auszahlende Stelle materielle Fehler des Kapitalertragsteuerabzugs erst im Zeitpunkt der Kenntniserlangung korrigieren muss und die Änderung der Kapitalerträge erst im Jahr der Korrektur erfasst wird. Nach § 20 VIII EStG (bisher § 20 III EStG a.F.) sind Kapitaleinkünfte vorrangig den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft (§§ 13–14a EStG), Gewerbebetrieb1 (§§ 15–17 EStG, also insb. Gewinne aus der Veräußerung von Kapitalgesellschaftsanteilen i.S.d. § 17!), selbständiger Arbeit (§ 18 EStG) und aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG) zuzuordnen. Damit bestimmt § 20 VIII EStG auch den Anwendungsbereich der Abgeltungsteuer. Das Verhältnis des § 20 EStG zu § 19 EStG regelt § 20 VIII EStG nicht, so dass die kausalrechtliche Zuordnung im Einzelfall zu prüfen ist2.
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2.3 Ermittlung der Einkünfte Die Einkünfte aus Kapitalvermögen werden schedulenhaft ermittelt. Der Werbungskostenabzug wird durch den Sparer-Pauschbetrag (s. bereits Rz. 494) ersetzt (§§ 2 II 2; 20 IX EStG)3. § 2 Vb EStG eliminiert die abgeltend besteuerten Kapitalerträge (§§ 32d; 43 V EStG) weitgehend aus der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer und führt sie der Sonderbesteuerung nach den §§ 20; 32d EStG zu. Kapitalveräußerungseinkünfte sind nach den Vorschriften des § 20 IV EStG zu ermitteln: Gewinn ist der Unterschiedsbetrag zwischen den Veräußerungseinnahmen abzüglich der Veräußerungsaufwendungen und den Anschaffungskosten (§ 20 IV 1 EStG)4. Verluste aus Kapitalvermögen dürfen grds. nur innerhalb der Kapitaleinkünfteschedule verrechnet werden (§ 20 VI 2 EStG)5, Verluste aus der Veräußerung von Aktien nur innerhalb der Aktienschedule. Diese zusätzliche Beschränkung der Verlustverrechnung verfolgt eine rein fiskalische Zielsetzung6 und lässt sich verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen7. Nur übergangsweise durften positive Einkünfte aus Kapitalvermögen zwischen 2009 und 2013 mit Verlusten aus privaten Veräußerungsgeschäften, die bis zum 31.12.2008 entstanden sind, verrechnet werden (§§ 20 VI 2; 23 III 9 u. 10 EStG i.V.m. § 52a XI 11 EStG 2008). Dieser Übergangsregelung bedurfte es infolge des Wechsels der Veräußerungseinkünfte aus der Einkunftsart sonstige Einkünfte in die Einkunftsart Kapitalvermögen. Das Abschneiden der Altverluste ab 2013 lässt sich indes weder durch die Systemumstellung noch unter Vereinfachungsgesichtspunkten legitimieren8. Verluste werden nach § 20 VI EStG auf folgenden Stufen verrechnet: 1 Zu den Voraussetzungen für die Annahme eines gewerblichen Wertpapierhandels s. Rz. 417. 2 Dazu grds. BFH BStBl. 1990, 532 (s. Rz. 590); s. Schmidt/Krüger33, § 19 EStG Rz. 100 (Zinsen). Darlehenszinsen, die der Arbeitgeber an den Arbeitnehmer zahlt, sind Einnahmen aus Kapitalvermögen (zum Sonderfall von Zinsausgleichszahlungen als Arbeitslohn s. BFH BStBl. 2006, 914). Eine Abgeltungsteuer kommt nicht in Betracht, da die Voraussetzungen des § 43 I 1 Nr. 7 EStG nicht erfüllt sind. 3 Auswirkungen auf die Berücksichtigung von Verlusten aus typisch stiller Gesellschaft Rockoff/Weber, DStR 2010, 363; Kämmerer, DStR 2010, 27 (fremdfinanzierte Lebensversicherungen). 4 Der Gewinnbegriff ist den §§ 17 II; 23 III EStG nachgebildet. Ansonsten enthält § 20 IV EStG spezifische Vorschriften für verdeckte Einlagen (Satz 2; vgl. § 17 II 2 EStG), Entnahmen (Satz 3; §§ 6 I Nr. 4; 16 III EStG), Versicherungen (Satz 4), Termingeschäfte (Satz 5), unentgeltliche Erwerbe (Satz 6: die Aufwendungen des Rechtsvorgängers sind anzusetzen) und für Wertpapiersammelverwahrung first-in-first out (Satz 7). 5 FG Rheinl.-Pfalz EFG 2014, 1195 (nrkr.); s. ferner Kleinmanns, DStR 2009, 2359. Die Schedule eingeschränkter Verlustnutzung aktiviert die Gestaltungsberatung, vgl. Gratz, BB 2008, 1105; Lothmann, DStR 2008, 945; Paus, NWB Fach 3, 14957 (2008); Spengel/Ernst, DStR 2008, 835; Kleinmanns, DStR 2009, 2359; Korn, DStR 2009, 2509; Lappas, Stbg. 2009, 446; zur Berücksichtigung von Kapitalvermögenseinbußen außerhalb von Veräußerungsgeschäften Kellersmann, FR 2012, 57. Zur Rechtslage im Rahmen der österreichischen Abgeltungsteuer Brauneis/Schuschnig, ÖStZ 2012, 426. 6 BT-Drucks. 16/5491, 19. 7 Englisch, StuW 2007, 221 (237 f.); Jochum, DStZ 2010, 309 (311 ff.); Loos, DStZ 2010, 78; Jachmann, DStJG 34 (2011), 251 (264 f.); HHR/Buge, § 20 EStG Anm. 620 (2014) m.w.N.; a.A. FG Saarland, EFG 2014, 1592 (nrkr.). 8 Ausf. Hey, FR 2014, 349; ferner Pelka, DStJG 34 (2011), 286; zweifelnd auch Jachmann, DStJG 34 (2011), 289. Die Beschränkung bis 2013 erzeugt Strategien zur Nutzung von Altverlusten s. Lappas,
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500
§8
Rz. 501
Einkommensteuer
– Es ist zunächst der innerperiodische Verlustausgleich (s. Rz. 61) innerhalb der Kapitaleinkünfteschedule (§ 2 II 2, Vb EStG) durchzuführen. – Sodann sind verbleibende positive Einkünfte aus Kapitalvermögen auf Kapitalertragsteuerebene innerhalb des allgemeinen Verlustverrechnungstopfes und des speziellen Verlustverrechnungstopfes für Aktien (§ 43a III 2 EStG) zu verrechnen. – Schließlich sind die noch verbleibenden Verluste nach den §§ 20 VI 3 u. 4; 10d IV EStG vorzutragen (kein Verlustrücktrag!).
2.4 Reichweite der Abgeltungsteuer 501
Die Abgeltungsteuer setzt den Kapitalertragsteuerabzug1 voraus. Die abgeltende Wirkung des Kapitalertragsteuerabzuges ordnet § 43 V 1 EStG an. § 43 i.V.m. § 32d II EStG bestimmen den vielfach durchbrochenen Anwendungsbereich der Abgeltungsteuer. Nach § 43 V 2 EStG greift die Abgeltungsteuer nicht Platz bei Kapitalerträgen – aus Gewinneinkünften und Einkünften aus Vermietung und Verpachtung (§§ 20 VIII; 43 V 2 EStG; s. auch Rz. 499); – aus stillen Beteiligungen und Darlehen, die nach § 32d II Nr. 1 EStG von der Abgeltungsteuer ausgeschlossen sind (§ 43 V 2 EStG). Ausschlussgründe: Gläubiger und Schuldner sind einander nahestehende Personen, soweit die den Kapitalerträgen gegenüberstehenden Aufwendungen die (inländische) Bemessungsgrundlage gemindert haben (§ 32d II Nr. 1 a EStG); Zahlungen einer Kapitalgesellschaft/Genossenschaft an Anteilseigner mit Beteiligung von mindestens 10 % oder an eine dem Anteilseigner nahestehende Person (§ 32d II Nr. 1 b EStG); Back-to-back-Finanzierungen (§ 32d II Nr. 1 c EStG)2. Der BFH hält die Einschränkungen aus Gründen typisierender Missbrauchsvermeidung und der Vermeidung von Verzerrungen durch die Abgeltungsteuer für gerechtfertigt, legt den Begriff der nahestehenden Person in § 32d II Nr. 1a EStG aber abweichend von § 15 AO so aus, dass die Vorschrift auf Fälle steuerlicher Gestaltung beschränkt werden kann3; – aus 12-Jahres-Lebensversicherungen (§§ 32d II Nr. 2; 43 V 2 EStG). Diese Leistungen sind von der Abgeltungsteuer ausgeschlossen worden, da der nach § 20 I Nr. 6 Satz 2 EStG nur zur Hälfte anzusetzende Wertzuwachs eine abgeltende Besteuerung der Leistungen nur von 12,5 % ergeben würde4; – aus Beteiligungen an Kapitalgesellschaften, wenn der Stpfl. dies beantragt. Der Stpfl. muss zu mindestens 25 % beteiligt sein oder zu mindestens 1 % beteiligt sein und beruflich für die Kapitalgesellschaft tätig sein (§ 32d II Nr. 3 EStG)5. Infolge der Option gilt der persönliche Einkommensteuersatz inkl. Teileinkünfteverfahren (s. § 11 Rz. 12). Auf diese Weise besteht die Möglichkeit, Aufwendungen im Rahmen von § 3c II EStG über den SparerPauschbetrag des § 20 IX 1 EStG geltend zu machen; – bei verdeckten Gewinnausschüttungen, soweit diese das Einkommen der Körperschaft gemindert haben (Übertragung der sog. materiellen Korrespondenz [§ 3 Nr. 40 Buchst. d], s. § 11 Rz. 90, auf die Abgeltungsteuer);
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Stbg. 2009, 446; Strauch, DStR 2010, 254; Jäck/Modler, DStZ 2011, 106; Königer/Ziegler, DStR 2012, 2582. Zur Verrechnungsreihenfolge FG Baden-Württemberg EFG 2013, 35; zu Praxisproblemen der Verrechnung Philipowski, DStR 2014, 2051. Zur Funktion der Kapitalertragsteuer im System der Abgeltungsteuer Weber-Grellet, DStR 2013, 1357 u. 1412. Zielgenauer gefasst durch JStG 2008; dazu überzeugend Breinersdorfer, StuW 2008, 216. S. BFH/NV 2014, 1617 u. 1624; zu § 32d II Nr. 1b EStG BFH BStBl. 2014, 884; dazu Moritz/Strohm, DB 2014, 2306; Werth, DStZ 2014, 670. Für eine am Gesetzeszweck orientierte Auslegung auch Begründung Stollenwerk, Geschäfte zwischen nahestehenden Personen, Diss., 2014, 170–196. S. BT-Drucks. 16/4841, 61. Thüringer FG EFG 2014, 277, nrkr., verneint zutreffend besondere Anforderungen an die berufliche Tätigkeit.
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Einkünfte aus Kapitalvermögen mit Abgeltungsteuer
Rz. 503
§8
– § 43 V 1 EStG schließt die Abgeltungsteuer ferner insoweit aus, als der Gläubiger nach § 44 I 8–9, V EStG (keine ausreichende Gelddeckung bei Sachbezügen; Pflichtverletzungen) in Anspruch genommen werden kann; der Gläubiger kann die Anwendung des § 32d EStG beantragen (§ 43 V 3 EStG). Im Weiteren ist der Anwendungsbereich der Abgeltungsteuer wie folgt eingeschränkt:
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– Die Kapitalertragsteuer wird nicht erhoben, wenn das Depot bei einem ausländischen Finanzdienstleister eingerichtet ist. Nach § 44 I EStG sind nur inländische Institute kapitalertragsteuerpflichtig. – Die Kapitalertragsteuer wird nicht erhoben, wenn der Gläubiger ein inländisches Kredit-/ Finanzdienstleistungsinstitut ist (sog. Bankenprivileg, § 43 II 2 EStG). – Vom Steuerabzug wird nach § 44a IV, VI, VII EStG Abstand genommen, weil der Gläubiger eine von der Körperschaftsteuer befreite Körperschaft oder eine inländische juristische Person des öffentlichen Rechts ist. – Vom Steuerabzug wird nach § 44a I 1 Nr. 1, II 1 Nr. 1 EStG Abstand genommen, soweit die Kapitalerträge den Sparer-Pauschbetrag (s. Rz. 494) nicht überschreiten und ein Freistellungsauftrag des Gläubigers vorliegt. – Vom Steuerabzug wird nach § 44a I 1 Nr. 2, II 1 Nr. 2 EStG Abstand genommen, wenn eine Einkommensteuerveranlagung nicht in Betracht kommt und eine Nichtveranlagungs-Bescheinigung des Wohnsitzfinanzamts vorliegt. Bei den Kapitalerträgen sind vier Arten von Veranlagungen zu unterscheiden:
503
– Kapitalerträge werden in die verpflichtende Veranlagung zum individuellen Steuersatz einbezogen, soweit die Abgeltungsteuer nach § 43 V 2 EStG nicht Platz greift (s. Rz. 501), das sind Kapitalerträge, die nach § 20 VIII EStG 2008 nicht den Einkünften aus Kapitalvermögen zuzuordnen sind (s. Rz. 499) und Kapitalerträge, die nach § 32d II EStG von der Abgeltungsteuer ausgeschlossen sind (s. Rz. 501). § 32d II EStG dient der Bekämpfung von Steuergestaltungen zur Ausnutzung des Abgeltungsteuersatzes. – Die verpflichtende Veranlagung zum Abgeltungsteuersatz nach § 32d III EStG ist durchzuführen, soweit Kapitalerträge i.S.d. § 20 EStG nicht der Kapitalertragsteuer unterlegen haben. Für diese nach § 32d III 1 EStG zu deklarierenden Kapitalerträge erhöht sich die tarifliche Einkommensteuer um den Abgeltungsteuersatz (§ 32d I, III 2 EStG). Die Veranlagung nach § 32d III EStG betrifft z.B. Gewinne aus der Veräußerung von GmbH-Anteilen bei nicht wesentlicher Beteiligung (s. Rz. 499), aus der Veräußerung von Lebensversicherungen (§§ 32d II Nr. 2; 43 V 2 EStG; s. Rz. 501), Zinsen auf Grund eines Privatdarlehens und Kapitalerträge, die von einem ausländischen Institut ausgezahlt werden. Ausländische Quellensteuer wird nach Maßgabe des § 32d V EStG berücksichtigt: keine per-country-limitation u. keine Erstattung ausländischer Quellensteuer. § 32d V EStG ist lex specialis gegenüber § 34c EStG (§ 34c I 1 u. 3, VI 2 EStG)1. – Die optionale Veranlagung zum Abgeltungsteuersatz nach § 32d IV EStG auf Antrag des Stpfl. dient dem Zweck, steuermindernde Tatbestände der Kapitaleinkünfteschedule, soweit sie beim Kapitalertragsteuerabzug nicht berücksichtigt wurden, geltend zu machen2, z.B. wenn der Sparer-Pauschbetrag (s. Rz. 494) nicht vollständig ausgeschöpft worden ist, Anschaffungsdaten anstelle der Ersatzbemessungsgrundlage nach § 43a II 2 EStG, Verluste und die Kirchensteuer zu berücksichtigen sind. Auf der Grundlage der nacherklärten Tatbestände erhöht sich die tarifliche Einkommensteuer um den Abgeltungsteuersatz (§ 32d III 2, IV EStG). Ausländische Quellensteuer wird nach Maßgabe des § 32d V EStG berücksichtigt (s. oben). 1 Dazu Hechtner, BB 2009, 76; Micker, IWB 2010, 480. 2 S. BT-Drucks. 16/4841, 61.
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§8
Rz. 504
Einkommensteuer
– Die optionale Veranlagung zum individuellen Steuersatz nach § 32d VI EStG ist angezeigt, wenn der persönliche Durchschnittssteuersatz (Gesamtsteuerschuld einschließlich Zuschlagssteuern) niedriger ist als der Abgeltungsteuersatz. Auf Antrag des Stpfl. wird § 32d I–V EStG nicht angewendet; stattdessen wird die nach § 20 EStG ermittelte Einkünfteschedule den übrigen Einkünften hinzugerechnet und der tariflichen Einkommensteuer unterworfen, wenn diese Alternative nach einer amtlichen Günstigerprüfung1 zur Festsetzung einer niedrigeren Einkommensteuer führt. Der Antrag kann pro Veranlagungszeitraum nur einheitlich für sämtliche Kapitalerträge, bei zusammenveranlagten Ehegatten nur für sämtliche Kapitalerträge beider Ehegatten gestellt werden (§ 32d VI 3 u. 4 EStG). Ausländische Quellensteuer wird gem. § 32d V EStG (s. oben) i.V.m. § 32d VI 2 EStG berücksichtigt.
2.5 Kritik und Reformbedarf 504
Das Abgeltungsteuerrecht ist seit seiner Einführung Gegenstand permanenter Korrekturen2. Es wird reformbedürftig bleiben, solange der Gesetzgeber seine überflüssige Komplexität nicht abbaut und die gegenwärtigen Unterschiede der Besteuerung von Kapitalanlagen beibehält3. Die Vereinigung von Quellen- und Veräußerungseinkünften und die Beseitigung inländischer Vollzugsdefizite bilden die wesentlichen Verbesserungen gegenüber dem bisherigen Recht der Besteuerung von Kapitaleinkünften. Bereits mit dem 2005 eingeführten Kontenabruf nach § 93 VII AO (s. § 21 Rz. 198) sind die verfassungswidrigen Vollzugsdefizite beseitigt worden, die das Zinssteuerurteil von 1991 gerügt hat4. Durch die abgeltende Besteuerung von Kapitalerträgen werden Vollzugs- und Deklarationsdefizite weiter reduziert, indem sich das materielle Recht der Einsicht beugt, dass Kapitalerträge deklarationsresistent sind. Das gilt besonders für die Besteuerung von Zinsen, die wegen des durch die Inflation verstärkten Anstiegs der sog. finalen Steuerlast (s. § 3 Rz. 80) keine Akzeptanz genießt. Ob der Abgeltungssatz von 25 % tatsächlich dazu beitragen kann, die Kapitalflucht in das Ausland wirksam einzudämmen oder gar zu einer Rückverlagerung führt, bleibt noch abzuwarten. Letztlich hängt dies vor allem davon ab, welches Entdeckungsrisiko der Stpfl., der Kapitaleinkünfte auf Auslandskonten hinterzieht, 1 BT-Drucks. 16/4841, 62. 2 Es erwies sich schon vor seinem Inkrafttreten als reformbedürftig, wie die Änderungen des JStG 2008 (zu § 32d II Nrn. 1 u. 3 EStG s. Rz. 501) und des JStG 2009 zeigen. Dabei wandte sich der Gesetzgeber gegen Gestaltungen zur Umgehung der Abgeltungsteuer (zu § 20 I Nr. 6 Sätze 5 u. 6 EStG s. Rz. 496). Er vereinfachte mit § 20 IVa EStG i.d.F. des JStG 2009 den Steuerabzug bei sog. Kapitalmaßnahmen (s. Rz. 498) und mit § 20 IIIa i.d.F. des JStG 2010 die Vornahme von Korrekturen eines fehlerhaften Kapitalertragsteuerabzugs. Umfassend zu den Korrekturen durch JStG 2010 Haisch/Esner/Krampe, DStZ 2010, 394. Die Neufassung des § 20 IVa EStG i.d.F. des AmtshilfeRLUmsG v. 26.6.2013, BGBl. I 2013, 1809, soll die Anwendung der Abgeltungsteuer bei Kapitalmaßnahmen erleichtern. Damit setzt der Gesetzgeber die Nachjustierungen auch nach Inkrafttreten der Abgeltungsteuer fort. 3 Grundl. Reformbedarf: Arbeitskreis Quantitative Steuerlehre, DB 2008, 957. Zur verzerrenden Wirkung der Abgeltungsteuer und notwendigen Verbesserung der Neutralitätswirkungen Rumpf, StuW 2009, 333; Rose/Scholz/Zöller, StuW 2009, 232; F. Wagner, FS J. Lang, 2010, 345 (349 ff.); Scheffler/ Krebs, IStR 2010, 859 (rechtsvergleichend); Conrad, Wirtschaftsdienst 2012, 399; Zu weiterem Korrekturbedarf vgl. Haarmann, FS Herzig, 2010, 423; Graf/Paukstadt, FR 2011, 249; Dahm/Hamacher, Export der Abgeltungsteuer? Zur Vereinfachung und grenzüberschreitenden Anwendung der Abgeltungsteuer, IFSt-Schrift Nr. 478 (2012); Delp, StBW 2012, 411; Hänsch, SteuerStud 2012, 275; Hirte/ Mertz, DStR 2013, 331, machen einen Vorschlag zur Vermeidung individueller Veranlagungen im Fall von Musterprozessen zu ungeklärten Rechtsfragen der Abgeltungsteuer. 4 BVerfGE 84, 239 (dazu § 3 Rz. 113). Grundl. Tipke, Die rechtliche Misere der Zinsbesteuerung, BB 1989, 157; Verfassungswidrigkeit der Zinsbesteuerung seit 1993 verneinen BFH BStBl. 2006, 61; BFH/NV 2007, 1079. Den gegen die Möglichkeit strafbefreiender Nacherklärung nach dem Strafbefreiungserklärungsgesetz v. 23.12.2003 gerichteten Vorlagebeschluss des FG Köln EFG 2005, 1878, hat BVerfG HFR 2008, 756, als unzulässig zurückgewiesen. Hierzu Klein, DStR 2005, 1833; Ratschow, DStR 2005, 2006; Levedag, FR 2006, 491; Mack, DStR 2006, 394; Musil, DÖV 2006, 505. S. auch Hoppe, Das Erhebungsdefizit im Bereich der Besteuerung von Zinseinkünften, Diss., 1998.
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Einkünfte aus Kapitalvermögen mit Abgeltungsteuer
Rz. 506
§8
zu gewärtigen hat. International wird die Zusammenarbeit zur Bekämpfung von Kapitalflucht und Steuerhinterziehung permanent intensiviert1. Die schedulenhafte Niedrigbesteuerung mobiler Einkommen, deren Steuerbelastung im internationalen Steuerwettbewerb optimiert werden kann, liegt im internationalen Trend. So sind Steuerstaaten zunehmend unter Druck geraten, sich dem internationalen Trend nicht zu verweigern und Kapitaleinkommen wettbewerbsfähig niedrig zu besteuern (s. § 7 Rz. 85). Dieser Wettbewerbslage hat sich BVerfGE 116, 164 (191) (zur früheren Tarifbegrenzung des § 32c EStG 1994) vorsichtig geöffnet: Es erkennt die Sicherung des deutschen Standorts in dem Beschluss von 2006 als Rechtfertigungsgrund an, lässt es jedoch offen, ob die Sicherung des deutschen Standorts als einziger Rechtfertigungsgrund allein ausreicht2. Das Prinzip der Gleichbehandlung aller Einkunftsarten hat das BVerfG nicht aufgegeben. Würde der Gesetzgeber für verschiedene Arten von Einkünften unterschiedliche Tarife bestimmen, obwohl die Einkünfte gleiche Leistungsfähigkeit repräsentieren, so müsse „diese Ungleichbehandlung besonderen Rechtfertigungsanforderungen genügen“3. Im Hinblick auf das Verhalten der im Wettbewerb stehenden Steuerstaaten ist das Konzept der abgeltenden Niedrigbesteuerung von Kapitaleinkünften gleichheitsrechtlich zu akzeptieren4. Mit der stetigen Ausweitung des grenzüberschreitenden Informationsaustausches5 sinken indes die Möglichkeiten gefahrloser Kapitalverlagerung deutlich, weshalb auch die auf der Kapitalflucht basierende Legitimation der Abgeltungsteuer in Frage gestellt ist. Nicht mit dem Gleichheitssatz vereinbar ist überdies die konkrete Ausgestaltung der Abgeltungsteuer. Sie ist nicht nur abschreckend kompliziert geregelt, sondern verletzt das objektive Nettoprinzip in stärkerem Maße als dies durch die Systematik eines abgeltenden Quellenabzugs geboten ist. An den Übergängen zwischen Abgeltungs- und Normalbesteuerung entstehen aufgrund verzerrender Regelungen erhebliche Gestaltungsanreize6.
505
Zu beanstanden ist zunächst, dass die langfristigen Kapitalveräußerungsgewinne ohne Maßnahmen der Inflationsbereinigung in die Besteuerung einbezogen worden sind (s. Rz. 498). Ein niedriger Sondertarif für Kapitaleinkünfte mag im Hinblick auf die Komplexität inflationsbereinigter Besteuerung von Veräußerungsgewinnen (s. Rz. 57) als typisierte Inflationsbereinigung hinzunehmen sein7. Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass auch eine 25 %-Besteuerung geeignet ist, Realgewinne ganz abzuschöpfen und in die Substanz des Kapitalvermögens zu greifen8.
506
1 Rehm, FR 2012, 899. Zwar ist das Abkommen mit der Schweiz zur Anwendung der Abgeltungsteuer auf Kapitaleinkünfte deutscher Anleger gescheitert (dazu Dahm/Hamacher, IFSt-Schrift Nr. 478 [2012], 12 ff.), die gestiegene Entdeckungsgefahr führt aber zu einem drastischen Anstieg von Selbstanzeigen und der Aufdeckung von im Ausland verstecktem Kapitalvermögen. 2 Lenkungsteuerliche Rechtfertigung verneint Englisch, StuW 2007, 221 (224 f.). 3 BVerfGE 116, 181, ausdrücklich zur „sog. Schedulenbesteuerung“. 4 Tipke, StuW 2007, 201 (209): „Der Gesetzgeber wird sich sehr anstrengen müssen, diesen Bruch mit der Folgerichtigkeit der Gleichbelastung der Einkunftsarten überzeugend zu rechtfertigen. Eine Teilrechtfertigung ist die zu berücksichtigende Inflation. Aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip folgt kein Nominalwertprinzip, sondern das Realwertprinzip.“ Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Abgeltungsteuer bejaht FG Nürnberg EFG 2012, 1054, m. Anm. Trossen; Mellinghoff, Referat 66. DJT, 2006, Teil Q, 85 (115: Für die Abgeltungsteuer sprechen „die erhebliche Vereinfachung und die außerordentlich hohe Mobilität des Finanzkapitals“). Für die Abgeltungsteuer auch das Referat von Seer auf dem 66. DJT, Teil Q, 127 (147 f.); Beschluss Nr. 17 des 66. DJT, Teil Q, 170; Hey, JZ 2006, 851 (858: Vereinfachungseffekt und Steigerung der Vollzugseffizienz müssen den Systembruch wettmachen). Insgesamt gegen die Schedulenbesteuerung Englisch, Die Duale Einkommensteuer – Reformmodell für Deutschland, IFSt-Schrift Nr. 432 (2005), 99 ff.; Englisch, StuW 2007, 221: Der Abgeltungsteuer fehle eine tragfähige Rechtfertigung für den Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Einkunftsarten. Krit. auch Eckhoff, FR 2007, 898 ff.; Eckhoff, FS Steiner, 2009, 118 (130). 5 Grenzüberschreitender Informationsaustausch, vgl. bspw. die EU-Zinsrichtlinie, in Deutschland umgesetzt durch die Zinsinformationsverordnung (ZIV). Am 6.5.2014 trat die Schweiz der Erklärung der OECD über den automatischen Informationsaustausch bei. 6 Rose/Scholz/Zöller, StuW 2009, 232 (233 ff.). 7 S. Tipke, StuW 2007, 201 (209); a.A. Englisch, StuW 2007, 221 (239 f.). 8 Empirischer Befund der realen Steuerlast auf private Kapitaleinkünfte Djanani/Krenzin/Großmann, StuW 2014, 145; Sparerpauschbetrag als unzureichendes Instrument der Inflationsbereinigung Haas,
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§8
Rz. 507
Einkommensteuer
Ein weiteres Grundproblem der Abgeltungsteuer liegt in der Einbeziehung von mit Körperschaftsteuer vorbelasteten Dividenden einerseits, bei gleichzeitigem Nebeneinander von Abgeltungsteuer und Teileinkünfteverfahren andererseits in Abhängigkeit davon, ob die Anteile im Privat- oder Betriebsvermögen gehalten werden1. Die Abgeltungsteuer verzerrt die Finanzierungsentscheidung. Die Bevorzugung von Fremd- gegenüber Eigenkapital zieht komplexe Missbrauchsvorschriften in § 32d II Nr. 1 EStG nach sich. Zudem entstehen Anreize, die Zuordnung der Kapitaleinkünfte zu beeinflussen, insb. um die Berücksichtigung von Aufwendungen im Rahmen von § 3c II EStG zu erreichen. Nicht hinnehmbar sind die vermeidbaren Verletzungen des Prinzips der synthetischen Einkommensteuer und des objektiven Nettoprinzips2: Die Abgeltungsteuer ist gleichheitsrechtlich nur im Bereich abgeltender Besteuerung der Kapitaleinkünfte gerechtfertigt3. Werden jedoch Kapitaleinkünfte in eine Veranlagung einbezogen, so sind diese Kapitaleinkünfte ebenso wie andere Einkünfte zu besteuern. Für die Sicherung des deutschen Finanzplatzes ist eine anonyme Abgeltungsteuer geeignet und ausreichend. Jenseits dieser Besteuerung vermag die Standortsicherung die Durchbrechung einkommensteuerrechtlicher Prinzipien, die das Gebot einer gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verwirklichen, nicht mehr zu rechtfertigen. Dies hat zur Folge, dass die abgeltende Berücksichtigung von Werbungskosten durch den Sparer-Pauschbetrag (Rz. 494), eine Verrechnung von Verlusten nur innerhalb der Kapitaleinkünfteschedule und die Typisierung der Kirchensteuerlast ohne Sonderausgabenabzug (§§ 32d I 3–5; 10 I Nr. 4 Hs. 2 EStG) verfassungsrechtlich nur im Rahmen abgeltender Besteuerung zulässig sind4. In den Fällen verpflichtender und auch optionaler Veranlagungen (s. Rz. 503) sind ein Werbungskostenabzug zusätzlich zum Sparer-Pauschbetrag, eine vertikale Verlustverrechnung (s. Rz. 61) und ein Sonderausgabenabzug gezahlter Kirchensteuer gleichheitsrechtlich geboten. Die Einrichtung eines Verlustverrechnungstopfes (§ 43a III EStG) trägt dem objektiven Nettoprinzip im Kapitalertragsteuerverfahren ausreichend Rechnung. Die rein fiskalisch begründete Aktienschedule (s. Rz. 500) ist dagegen nicht ausreichend gerechtfertigt und verletzt daher den Gleichheitssatz. Bei Kapitalerträgen, die der Kapitalertragsteuer unterlegen haben, sollte eine einzige Art der Antragsveranlagung mit amtlicher Günstigerprüfung dem Niedrigverdiener das Tor zur synthetischen Einkommensteuer öffnen. Bei dieser Veranlagung sind von Verfassungs wegen sämtliche Kapitaleinkünfte bezüglich des Werbungskostenabzugs, des Teileinkünfteverfahrens (s. § 11 Rz. 19 f.) und der Verlustverrechnung wie andere Einkunftsarten zu behandeln. Dabei sind die kapitalertragsteuerlich nach § 43a III EStG berücksichtigten Verluste einzubeziehen. 507
Die Kompliziertheit des neuen Abgeltungsteuerrechts mindert den Vereinfachungseffekt und die Vollzugseffizienz so erheblich, dass die Abgeltungsteuer in ihrer derzeitigen Ausgestaltung insgesamt den Gleichheitssatz verletzt, weil die Rechtfertigungsgründe der Einfachheit und
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DStR 2014, 567. Die Begünstigungswirkung entsteht zudem unabhängig vom Tarifverlauf und ist damit per se auch als Intrument eines typisierenden Inflationsausgleichs ungeeignet, s. Englisch, StuW 2007, 221 (228 f.); Weber, Inflationsberücksichtigung in der Einkommensteuer, Diss., 2012, 153 ff. Nach Jachmann, DStJG 34 (2011), 251 (261) verfassungswidrig; s. hierzu i.E. § 11 Rz. 20 f. Hey, JZ 2006, 851 (858 f.); Englisch, StuW 2007, 221 (234 ff., 238 f.); Hey, BB 2007, 1303 (1307: Verletzung fundamentaler Besteuerungsprinzipien); Kämmerer, DStR 2010, 27; Worgulla, FR 2013, 921; Worgulla, Die Bruttobesteuerung in der Schedule der Einkünfte aus Kapitalvermögen, Diss., 2013; Mertens/Karrenbrock, DStR 2013, 950; a.A. Musil, FR 2010, 149 (152 ff.): noch hinnehmbar; WeberGrellet, DStR 2013, 1357 (1359 f.). Zutreffend lässt Niedersächs. FG EFG 2014, 1479 (nrkr.) den unbeschränkten Abzug von Werbungskosten zu, die in Zusammenhang mit vor Einführung der Abgeltungsteuer bezogenen Kapitaleinkünften stehen. Im Wege verfassungskonformer Auslegung FG Baden-Württemberg EFG 2013, 1041; ebenso für die vergleichbare Situation der Immobilienbesteuerung in Österreich Papst, ÖStZ 2013, 387; zu Recht schränkt FG Köln EFG 2013, 1328, nrkr., zudem die Anwendung von § 20 IX EStG ein, für Aufwendungen, die zwar erst in 2009 abgeflossen sind, aber in Zusammenhang mit vor 2009 zugeflossenen Kapitalerträgen stehen.
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Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung
Rz. 510
§8
Vollzugseffizienz nicht mehr durchgreifen1. Zudem ist das neue Abgeltungsteuerrecht infolge seiner Gleichheitswidrigkeit so kompliziert geraten. Das belegt augenfällig die EDV-technisch kaum administrierbare Einrichtung von zwei Verlustverrechnungstöpfen, von denen die Aktienschedule – wie dargelegt – gleichheitswidrig das objektive Nettoprinzip verletzt. I.Ü. beeinträchtigen sowohl die Kompliziertheit des Abgeltungsteuerrechts als auch die Verletzungen des objektiven Nettoprinzips die Steuerwettbewerbsfähigkeit2. Hingegen wäre ein gleichheitsgerechtes Abgeltungsteuerrecht sehr viel einfacher gestaltet, nämlich ohne die Regelungen der §§ 2 II 2, Vb; 32d EStG. Es genügt, wenn die abgeltende Wirkung der Kapitalertragsteuer in § 43 V EStG, ein einziger Verlustverrechnungstopf in § 43a III EStG und die optionale Veranlagung abgeltend besteuerter Kapitalerträge durch Ergänzung des § 25 EStG geregelt werden.
3. Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG) Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung i.S.d. § 21 EStG sind Quelleneinkünfte aus der zeitlich begrenzten (so ausdrücklich § 21 I 1 Nr. 3 EStG), entgeltlichen Überlassung von Sach- und Realvermögen i.S.d. § 21 I 1 EStG (unbewegliches Vermögen, Sachinbegriffe, Rechte) zur Nutzung3. Auch Substanzausbeuteverträge können zeitlich begrenzte Nutzungsüberlassungen i.S.v. § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG beinhalten4. Soweit der Katalog des § 21 I 1 EStG Nutzungsüberlassungen nicht erfasst, können Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 20 EStG) oder Einkünfte aus sonstigen Leistungen (§ 22 Nr. 3 EStG) vorliegen. So unterfällt die Überlassung einzelner beweglicher Sachen § 22 Nr. 3 EStG.
508
Der Gesamttatbestand „Vermietung und Verpachtung“ (§ 21 I EStG) erfasst auch die entgeltliche Einräumung eines Nießbrauchs oder dinglichen Wohnrechts5 sowie die Einkünfte aus der Veräußerung von Miet- und Pachtzinsforderungen. Zu den Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung gehören nicht nur die Miete und die Pacht, sondern alle durch die Vermietungs-/Verpachtungstätigkeit veranlassten Einnahmen wie z.B. verlorene Zuschüsse, der Ersatz von Aufwendungen, Umlagen/Neben-/Betriebskostenentgelte6 und öffentliche Fördermittel, soweit sie Gegenleistung für die Gebrauchsüberlassung oder Nutzung sind7. Wird ein Grundstück durch nachbarliche Bebauung beeinträchtigt und erhält der Eigentümer hierfür eine Entschädigung, so unterfällt diese nach BFH BStBl. 2004, 507, dem Tatbestand des § 21 I EStG. Hierbei handelt es sich um einen Grenzfall, da die Entschädigung nicht steuerbar ist, wenn mit ihr eine Wertminderung des Grundstücks ausgeglichen wird und sie damit der Stammvermögenssphäre (s. Rz. 182) zuzuordnen ist8.
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§ 21 II EStG enthält eine Regelung zur Abziehbarkeit von Werbungskosten in den Fällen nicht ortsüblicher Miete. Nach § 21 II 1 EStG ist eine Wohnungsmiete in einen entgeltlichen und einen unentgeltlichen Teil aufzuteilen, wenn sie weniger als 66 % der ortsüblichen Marktmiete
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1 S. Mellinghoff, Referat 66. DJT, 2006, Teil Q, 85; Hey, JZ 2006, 851. Zu den Vereinfachungs- und Vollzugsargumenten insb. auch Seer, 66. DJT, Teil Q, 127. 2 Mellinghoff, Referat 66. DJT, 2006, Teil Q, 85 (114), weist zutr. darauf hin, dass die Komplexität des deutschen Steuerrechts für die Wahl eines deutschen Standorts abträglich ist (dazu § 7 Rz. 83). 3 Dazu Trzaskalik, FS Tipke, 1995, 321 (334 ff.); Schimmele, Nutzungsüberlassung versus Vermögensveräußerung, Diss., 1997; KSM/Drüen, § 21 EStG Rz. B 46 ff. (2012) (Typen der Nutzungsüberlassung), Rz. B 47 (2012) (jede ökonomisch sinnvolle Verwertung, die nicht in ein Übertragungsgeschäft einmündet, sollte unter § 21 I 1 Nr. 1 EStG subsumiert werden). Zur Grenzlinie zwischen steuerbaren und nicht steuerbaren Einkünften im Anwendungsbereich des § 21 I 1 Nr. 1 EStG, Diss., 1997; Rasenack, Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung2, 2002, 17 ff. 4 Zur Abgrenzung zu unter §§ 22 Nr. 2; 23 I 1 Nr. 1 EStG fallenden Veräußerungsvorgängen BFH BStBl. 2014, 566. 5 Dazu BMF BStBl. I 2013, 1184; Brandenberg, FS 50 Jahre Fachanwälte, 1999, 277 (Nutzungsrechte an Privat- und Betriebsgrundstücken); Kirchhof/Mellinghoff13, § 21 EStG Rz. 33 ff.; Schmidt/Kulosa33, § 21 EStG Rz. 38 ff. 6 BFH BStBl. 2000, 197. 7 BFH BStBl. 2004, 14: Mietzuschüsse; nicht dagegen städtebauliche Fördermittel (BFH BStBl. 2012, 310). 8 Vgl. Fischer, FR 2004, 714.
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§8
Rz. 511
Einkommensteuer
beträgt. BFH BStBl. 2003, 646, schränkte die Abziehbarkeit von Aufwendungen in der Vergangenheit zusätzlich ein, wenn bei einem Mietzins unterhalb von 75 % der ortsüblichen Miete keine positive Überschussprognose nachweisbar war1. Seit 2012 fingiert § 21 II 2 EStG bei auf Dauer angelegter Wohnraumvermietung die Entgeltlichkeit, wenn der Mietzins mindestens 66 % der ortsüblichen Miete beträgt. In diesem Fall sollen Werbungskosten ohne weitere Prüfung der Totalüberschussprognose voll abziehbar sein2. 511
Auf den ersten Blick enthält § 21 II EStG ein systemfremdes Element einer Sollbesteuerung. Die Regelung lässt sich indes jedenfalls partiell als Vereinfachungszwecknorm rechtfertigen3; vermieden werden sollen Steuergestaltungen mittels nicht marktgerechter Mietverhältnisse (insb. unter Angehörigen). Dabei entfaltet § 21 II 1 EStG insofern eine Begünstigungswirkung, als es beim vollen Werbungskostenabzug bleibt, wenn die 66 %-Grenze eingehalten wird. Andererseits werden auch Mietverhältnisse unter fremden Dritten getroffen, bei denen das Unterschreiten der ortsüblichen Miete kein Steuerminderungsziel verfolgt. In § 21 I 1 Nrn. 1–3 EStG sind folgende Einzeltatbestände normiert:
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– Vermietung/Verpachtung von unbeweglichem Vermögen = zeitlich begrenzte Überlassung von unbeweglichem Vermögen zur Nutzung (s. § 21 I 1 Nr. 1 EStG), insb. von Grundstücken, Gebäuden, Gebäudeteilen, registrierten Schiffen und Flugzeugen (BFH BStBl. 2000, 467), Rechten, die den Vorschriften des Bürgerlichen Rechts über Grundstücke unterliegen (z.B. Erbbaurecht, vgl. BFH BStBl. 2007, 112, Erbpachtrecht, Mineralgewinnungsrecht). Der Tatbestand des § 21 I 1 Nr. 1 EStG ist objektbezogen für jede einzelne vermietete Immobilie zu ermitteln4.
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– Vermietung/Verpachtung von Sachinbegriffen, insb. von beweglichem Betriebsvermögen (§ 21 I 1 Nr. 2 EStG). Sachinbegriff ist eine Vielheit beweglicher Sachen, die nach ihrer wirtschaftlichen oder technischen Zweckbestimmung zusammengehören (s. auch § 260 BGB). Beispiele: Landwirtschaftliches Inventar, Büroeinrichtung des Freiberuflers, Instrumentarium eines Arztes, Wohnungseinrichtung, Bibliothek, Mobiliar eines Zimmers. Die Erwähnung des Betriebsvermögens ist irreführend; gemeint ist wohl die Vermietung/Verpachtung von Sachgesamtheiten (des früheren Betriebsvermögens) nach Aufgabe des Betriebs.
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– Zeitlich begrenzte Überlassung von Rechten (§ 21 I 1 Nr. 3 EStG). Die zeitlich unbegrenzte Überlassung ist wirtschaftlich Übertragung (Abtretung) des Rechts; sie wird nicht erfasst. Erfasst werden sollen insb. Einkünfte aus der Verwertung des durch Rechtsgeschäft oder im Erbgang erworbenen (kulturellen) Urheberrechts, aus der Lizenz gewerblicher Schutzrechte (Patente, Gebrauchs-, Geschmacksmuster, Warenzeichen), aus der Überlassung von nicht geschütztem technischen Erfahrungswissen (Know-how)5. Die Einkünfte aus der Verwertung des Urheber- oder Schutzrechts durch den Urheber oder Erfinder selbst sind freiberufliche Einkünfte. Soweit gewerbliche Schutzrechte und Know-how Wirtschaftsgüter eines Betriebsvermögens sind (dies ist regelmäßig der Fall), sind die Einkünfte aus der Nutzungsüberlassung Einkünfte aus Gewerbebetrieb (s. § 21 III EStG)6.
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Der Tatbestand der Vermietung/Verpachtung kann auch von mehreren Personen gemeinsam erfüllt werden7. Auch Personengesellschaften, die sich auf Vermietung/Verpachtung beschränken, haben Miet-/Pachteinkünfte, nicht gewerbliche Einkünfte, es sei denn, es läge ein Sonderfall des § 15 III EStG vor. 1 Hierzu ausf. Stein, DStZ 2011, 80. 2 Im Hinblick auf den Vereinfachungseffekt zust. Heuermann, DStR 2011, 2082 (2083 ff.); zu den Konsequenzen für die Rechtsanwendung ausf. Hilbertz, NWB 2011, 4002; Stein, DStZ 2012, 19. 3 S. hierzu insb. Müller, Einnahmeverzicht im Einkommensteuerrecht – insbesondere durch verbilligte Wohnungsüberlassung an nahe Angehörige, Diss., 2009. Zur Verfassungsmäßigkeit (im Hinblick auf die Begünstigungswirkung von § 21 II EStG) HHR/Pfirrmann, § 21 EStG Anm. 202 (2013). 4 BFH/NV 2009, 1627. 5 Dazu Gerlach, Besteuerung des Know-how, Diss., 1966; Böhme, Die Besteuerung des Know-how, 1967; Knoppe, Die Besteuerung der Lizenz- und Know-how-Verträge2, 1972. 6 Mohr, Die Besteuerung der Erfinder und Erfindungen, 1985; zur Abgrenzung zu nichtsteuerbaren Zufallserfindungen s. BFH BStBl. 2004, 218; FG Münster EFG 2011, 1877. 7 Verwirklichung des Vermietungstatbestands bei Miteigentümern: Schoor, StBp. 2010, 143.
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Rz. 517
§8
Abgrenzung zum Gewerbebetrieb: Die Abgrenzung der Vermietung/Verpachtung zum Gewerbebetrieb ist schwierig, weil auch die Vermietungs-/Verpachtungstätigkeit eine selbständige und nachhaltige Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr darstellt, mithin die Merkmale des § 15 II 1 EStG erfüllt. Maßgeblich ist zunächst, ob der Vermietungsgegenstand zu einem Betriebsvermögen gehört. Ist dies nicht der Fall, so ist § 21 EStG grds. unabhängig vom Umfang des vermieteten Immobilienvermögens anzunehmen. Gewerblichkeit kann aber durch auf kurzfristigen Mieterwechsel angelegte Vermietungstätigkeit oder das Angebot umfangreicher Zusatzleistungen begründet werden1.
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Gewerblichkeit der Vermietungseinkünfte kann ferner auch bei langfristiger Vermietung im Rahmen eines gewerblichen Grundstückshandels2 eingreifen. Wesentlich für die Abgrenzung ist die quellentheoretische Natur der Überschusseinkünfte: Nach st. Rspr. des BFH3 ist private Vermögensverwaltung anzunehmen, solange sich die Tätigkeit noch als Nutzung von Grundbesitz durch Fruchtziehung aus zu erhaltender Substanz darstellt; hingegen liegt ein Gewerbebetrieb vor, wenn nach dem Gesamtbild der Betätigung die Umschichtung von Vermögenswerten und deren Verwertung als Vermögenssubstanz in den Vordergrund tritt. Hierzu bedient sich der BFH einer Drei-Objekt-Grenze4. Danach verneint der BFH gewerblichen Grundstückshandel, wenn weniger als vier Objekte5 veräußert werden. Werden hingegen innerhalb eines engen zeitlichen Zusammenhangs (i.d.R. fünf Jahre) mindestens vier Objekte angeschafft/hergestellt und veräußert, so bejaht der BFH gewerblichen Grundstückshandel, weil die äußeren Umstände den Schluss zuließen, dass es dem Stpfl. auf die „Ausnutzung substantieller Vermögenswerte durch Umschichtung ankommt“ (BFH GrS BStBl. 2002, 293). Die Drei-ObjektGrenze hat jedoch für den BFH lediglich die indizielle Bedeutung eines Anscheinsbeweises
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Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung
1 HHR/Pfirrmann, § 21 EStG Anm. 253 (2013); z.B. BFH/NV 2009, 1114 (Ferienwohnung). 2 Dazu BMF BStBl. I 2004, 434 (dazu Engelsing/Wassermeyer, StuB 2004, 433; Lüdicke/Naujok, DB 2004, 1796; Söffing, DStR 2004, 793; Vogelgesang, Stbg. 2005, 116). Lit. bis 2000 s. 18. Aufl., Rz. 571; bis 2008 s. 20. Aufl., Rz. 516 Fn. 109. Fischer, DStR 2009, 398; Rechtsprechungstendenzen: Carlé, DStZ 2009, 278; Hartrott, BB 2010, 2271; Kempermann, DStR 2009, 1725; Sommer, DStR 2010, 1405; Ritzrow, StBp. 2012, 284 u. 322. Abgrenzung zum land- u. forstwirtschaftlichen Betrieb s. Rz. 404. Zum Umfang des gewerblichen Grundstückshandels BFH/NV 2009, 1244. 3 Insb. m.w.N. BFH GrS BStBl. 1995, 617; 2002, 291; BFH BStBl. 2003, 510. Zum Erwerb, der Vermietung und Veräußerung von Flugzeugen BFH BStBl. 2009, 289 (dazu BMF BStBl. I 2009, 515). 4 BFH GrS BStBl. 1995, 617; 2002, 291; 2003, 238; 2003, 250; 2005, 35; 2007, 375 (Zählobjekte); 2003, 291 (Fristbeginn); 2007, 885 (Zählobjekt); BFH/NV 2005, 1033; 2005, 1274; 2005, 1535; 2006, 1465; 2007, 30; 2007, 232 (Veräußerungsabsicht); 2007, 234 (Anforderungen an Indizwirkung); 2007, 714; 2011, 645 (Aufteilung im Kaufvertrag); 2011, 787 (Orientierung am zivilrechtlichen Grundstücksbegriff). Lit.: Engelsing, StuB 2002, 494; Paus, DStZ 2002, 715; Söffing, DB 2002, 964; Lammersen, DStZ 2004, 549 ff., 595 ff.; Vogelgesang, BB 2004, 183; Obermeier, NWB 2007, Fach 3, 14379; Söffing/ Seitz, DStR 2007, 1841 (verfassungskonforme Auslegung). 5 Objekt i.S.d. Drei-Objekt-Grenze sind Grundstücke jeglicher Art. Auf die Größe, den Wert oder die Nutzungsart des einzelnen Objekts kommt es nicht an (BFH BStBl. 2000, 28; 2001, 530; zur Objektdefinition BMF BStBl. I 2004, 434). Objekt ist auch der nur im Teileigentum stehende Garagenabstellplatz und jedes zivilrechtliche Wohnungseigentum (BFH BStBl. 2002, 571). Nach BFH BStBl. 2004, 950 wird der Gleichheitssatz gegenüber der Veräußerung ungeteilter Mehrfamilienhäuser nicht verletzt. Einzubeziehen sind zugewendete Grundstücke, bei denen auf die Anschaffung/Herstellung durch den Rechtsvorgänger abzustellen ist (BMF BStBl. I 2004, 435 f. [Tz. 9]), nicht jedoch selbstbewohnte Objekte, die zum notwendigen Privatvermögen gehören (BMF BStBl. I 2004, 435 f. [Tz. 10]). Bei der Veräußerung von Anteilen an vermögensverwaltenden Personengesellschaften werden die Objekte der Gesellschaft gezählt (BFH BStBl. 2003, 250; dazu Götz, FR 2005, 137). Ein gewerblicher Grundstückshandel kann allein durch Zurechnung der Grundstücksverkäufe von Personengesellschaften begründet werden, ohne dass der Stpfl. in eigener Person Grundstücke veräußern muss, s. BFH BStBl. 2012, 865; zust. Hartrott, FR 2013, 126 f.; zu Gestaltungsmöglichkeiten Figgener/ von der Tann, DStR 2012, 2579. Die Einbringung eines Grundstücks in eine Kapitalgesellschaft wird als Grundstücksveräußerung angesehen (BFH BStBl. 2003, 394; 2010, 171). Mehrere Häuser einer Häuserzeile bleiben mehrere Objekte, auch wenn sie zivilrechtlich vereinigt werden können (BFH BStBl. 2005, 35). Kein Objekt i.S.d. Drei-Objekt-Grenze ist die Bestellung eines Erbbaurechts (BFH BStBl. 2007, 885). Zwischenschaltung einer nicht funktionslosen GmbH grds. nicht rechtsmissbräuchlich (BFH BStBl. 2010, 622).
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§8
Rz. 518
Einkommensteuer
(BFH GrS BStBl. 1995, 617; 2002, 291 [294]), der den Schluss auf das Vorliegen einer bedingten Veräußerungsabsicht beim Erwerb des Grundstücks zulässt. Wird die Grenze unterschritten, so gestattet ein enger zeitlicher Zusammenhang für sich genommen nicht den Schluss auf eine Veräußerungsabsicht1. Ist aber eine von Anfang an bestehende Veräußerungsabsicht indiziert, so ist gewerbliche Betätigung auch bei der Veräußerung von weniger als vier Objekten anzunehmen2. Gewerblicher Grundstückshandel liegt auch bei der Veräußerung nur eines Objekts vor, wenn das Geschäft einem Gewerbebetrieb zuzuordnen ist3. 518
Umgekehrt begründet das Überschreiten der Drei-Objekt-Grenze keinen Gewerbebetrieb, wenn eindeutige Anhaltspunkte „gegen eine von Anfang an bestehende Veräußerungsabsicht sprechen“4. Dies wird besonders dann angenommen, wenn der Stpfl. das Objekt vor der Veräußerung länger als fünf Jahre vermietet hat, so dass kein zeitlicher Zusammenhang mehr zwischen Anschaffung/Herstellung des Objekts und seiner Veräußerung besteht5. Entgegen Rspr./Verw.6 sind jedoch auch Verkaufsanlässe wie unvorhergesehene Notlagen, schlechte Vermietbarkeit, Finanzierungsschwierigkeiten, Scheidung etc. geeignet, eine anfängliche Veräußerungsabsicht zu widerlegen.
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Fazit: Die Kasuistik rund um die Drei-Objekt-Grenze zeigt, dass diese nur sehr eingeschränkt geeignet ist, die Streitanfälligkeit der Abgrenzung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung zu den gewerblichen Einkünften zu verringern. Derartige Abgrenzungen haben mit unterschiedlicher steuerlicher Leistungsfähigkeit nichts zu tun; sie provozieren Aufsatzflut und Hunderte von Gerichtsentscheidungen, ohne dass damit die juristische Qualität des Steuerrechts verbessert würde. Es wird höchste Zeit, dieser Verschwendung juristischer Kapazität mit einem neuen EStG Einhalt zu gebieten7. Zudem ist bereits de lege lata nach der Ausweitung der Steuerpflicht privater Grundstücksveräußerungen durch § 23 I 1 Nr. 1 EStG die Berechtigung des ursprünglich durch Lückenfüllung legitimierten richterrechtlichen Rechtsinstituts in Frage gestellt8.
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Mietwertbesteuerung: Zu den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung gehörte bis 1987 der Nutzungswert der selbstgenutzten Wohnung9. Diese Art von imputed income (s. § 7 Rz. 30) greift das Altersvermögensgesetz auf, indem es im Rahmen der nachgelagerten Besteue1 BFH BStBl. 2009, 278. 2 BFH GrS 2002, 291 (294) widerspricht ausdrücklich der Auffassung, dass die Drei-Objektgrenze „wie eine Freigrenze“ wirke. Der GrS erwähnt zwei Fälle: Verkauf vor der Bebauung u. Bebauung nach den Wünschen des Erwerbers. Im Weiteren: BFH BStBl. 2002, 811; 2003, 238; 2003, 286; 2003, 294; 2006, 259; 2009, 533; 2009, 791 (Nachhaltigkeit auf der Beschaffungsseite). Kempermann, DStR 2006, 265 (Nachhaltigkeit in „Ein-Objekt-Fällen“); Lüdicke/Rode, BB 2008, 2552 (Ein-Objekt-LeasingfondsGesellschaft); Indizien für Veräußerungsabsicht: Kempermann, DStR 2009, 1725; Sommer, DStR 2010, 1405. 3 BFH BStBl. 2008, 711: Errichtung u. Veräußerung eines Einkaufsmarkts durch einen Immobilienmakler. 4 So BFH GrS BStBl. 2002, 291 (294). 5 Dazu BMF BStBl. I 2004, 434 (439, Tz. 30); Jacobsen/Tietjen, FR 2003, 907 (langfristige Mietverträge). Zum engen zeitlichen Zusammenhang BFH BStBl. 2009, 278. Entscheidend sind die objektiven Umstände BFH BStBl. 2009, 965. 6 BMF BStBl. I 2004, 434 (Tz. 30); BFH/NV 1989, 665 (Notsituation); 1997, 170 (Krankheit u. Eheprobleme); 1999, 766 (Krankheit); 1999, 1320 (schlechte Vermietbarkeit); BFH BStBl. 1992, 135; 2003, 133 (135); 2003, 510; 2010, 541; 2013, 433: Die konkreten Anlässe u. Beweggründe seien „im Regelfall nicht geeignet“, eine anfängliche Veräußerungsabsicht auszuschließen. Immerhin bezieht BFH BStBl. 2003, 133, ein selbst bewohntes Immobilienobjekt nicht in einen gewerblichen Grundstückshandel ein, wenn dieses innerhalb von fünf Jahren wegen finanzieller Notlage veräußert worden ist. 7 Dazu empfiehlt § 4 I Nr. 1, II Kölner EStGE, alle Einkünfte aus selbständigen und nachhaltigen Erwerbstätigkeiten in einem Einkünftetatbestand zusammenzufassen. 8 Zutreffend Weckerle, StuW 2012, 281 (289). 9 Materialien: BT-Drucks. 10/3633; 10/5208. Lit.: Graf, Einkommensteuer und Wohneigentum, Diss., 1984; Nieskens, Die Konsumgutlösung im Bereich der Immobilienbesteuerung, Diss., 1989; Hackmann, FS Oberhauser, 2000, 387; Gurtner/Locher, ASA 2001, 597; Peffekoven, GS Trzaskalik, 2005, 255.
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Wiederkehrende Bezüge
Rz. 524
§8
rung die Verwendung von begünstigtem Kapital für die Anschaffung oder Herstellung eines Eigenheims zulässt (§§ 92a; 92b EStG; s. Rz. 575); diese Kapitalverwendung rechtfertigt im System der nachgelagerten Besteuerung eine entsprechende Besteuerung des Nutzungswerts. 521–522
Einstweilen frei.
4. Wiederkehrende Bezüge (§ 22 Nrn. 1–1c EStG) Literatur: Fischer, Über Renten und Rentenbesteuerung, StuW 1988, 335; Niepoth, Renten und rentenähnliche Leistungen im Einkommensteuerrecht, Diss., 1992; Fischer, Wiederkehrende Bezüge und Leistungen. Kommentierte Fallsammlung zur Besteuerung von Renten und dauernden Lasten, 1994; Stoll, Rentenbesteuerung4, 1997; Wendt, Renten, Raten, dauernde Lasten, Harzburger Steuerprotokoll 1996, 1997, 205; Hils-Seewöster, Besteuerung des Einkommens aus wiederkehrenden Vermögensleistungen, Diss., 1998; Stephan, Renten, Raten und dauernde Lasten im Ertragsteuerrecht, StbKongrRep., 1998, 155; Schmitz, Besteuerung wiederkehrender Bezüge, Diss., 1999; Meyering, Die Rente als Variante der wiederkehrenden Zahlungen, StuB 2008, 675; Meyering, Systematisierung wiederkehrender Zahlungen nach dem wirtschaftlichen Zusammenhang u. nach dem Rechtsgrund, StuB 2009, 26; Neufang, Übertragung von Vermögen gegen wiederkehrende Leistungen, StB 2010, 234 u. 275; Schuster, Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen, in FS Spindler, 2011, 749; Krumm, Die Übertragung von unternehmerischen Einheiten gegen Versorgungsleistungen: Überschreitung gleichheitsrechtlicher Gestaltungsspielräume anlässlich einer legitimen gesetzlichen Neukonzeption, StuW 2011, 159; Myßen/Killat, Renten, Raten, Dauernde Lasten15, 2014.
Wiederkehrende Bezüge sind Einnahmen in Geld oder Geldeswert inkl. Zuschüsse und Vorteile i.S.d. § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. b EStG, die einer Person auf Grund eines bestimmten Verpflichtungsgrundes (Gesetz, Vertrag, Testament) oder wenigstens auf Grund eines einheitlichen Entschlusses mit einer gewissen Regelmäßigkeit, wenn auch nicht immer in gleicher Höhe zufließen1. Kaufpreisraten u.a. Kapitalzahlungen bzw. Kapitalrückzahlungen im Vermögensbereich, die in wiederkehrende Leistungen zerlegt werden, sind keine wiederkehrenden Bezüge2. Der Tatbestand der wiederkehrenden Bezüge ist dogmatisch schwer in den Griff zu bekommen, weil sein historischer, quellentheoretisch fundierter Inhalt3 die fundamentale Abgrenzung zwischen Erwerbs- und Konsumsphäre und damit die Zweistufigkeit der Bemessungsgrundlage (s. Rz. 42) durchbricht. Er verwischt auch die Grenze zwischen Einkommensteuer- und Erbschaft-/Schenkungsteuerobjekt, indem erbschaft- und schenkungsteuerpflichtige Zuwendungen in die Einkommensteuerpflicht gezogen werden. BFH BStBl. 1995, 121, leistete den wegweisenden Beitrag, den Tatbestand der wiederkehrenden Bezüge auf erwirtschaftete Bezüge zu begrenzen4.
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Danach erfasst der Tatbestand des § 22 Nr. 1 EStG keine nicht erwirtschafteten Bezüge wie freiwillig gewährte Bezüge oder Unterhaltsbezüge i.S.d. § 22 Nr. 1 Satz 2 EStG. So sind nach BFH BStBl. 1995, 121, Schadensersatzrenten für die Verletzung privater Rechtsgüter außerhalb der Erwerbssphäre nicht steuerbar5. Nicht steuerbar sind nach BFH BStBl. 2000, 82, wie-
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1 BFH BStBl. 1972, 170 (171); 1979, 133 (134); 1988, 344 (346); 1992, 809; 1995, 121 (123). Zur Terminologie der wiederkehrenden Bezüge insb. HHR/Killat-Risthaus, § 22 EStG Anm. 100 ff. (2012); KSM/ Fischer, § 22 EStG Rz. B 21 ff. (1994); Schmitz, Besteuerung wiederkehrender Bezüge, Diss., 1999, 50 ff. 2 Dazu HHR/Killat-Risthaus, § 22 EStG Anm. 100 (2012); Schmidt/Weber-Grellet33, § 22 EStG Rz. 14, u. krit. Schmitz, Besteuerung wiederkehrender Bezüge, Diss., 1999, 77 ff. 3 Dazu ausf. KSM/Fischer, § 22 EStG Rz. A 71 ff. (1994). Die Systemwidrigkeit des historischen Tatbestands gipfelt in dem von Fischer, Rz. B 42 (1994) erkannten „Paradoxon eines unentgeltlichen Vorganges mit Gegenleistung“. 4 Ebenso BFH BStBl. 1995, 410; 2000, 82 (84). S. bereits m.w.N. Rz. 99. 5 BFH BStBl. 1995, 121; 2009, 651; BMF BStBl. I 2009, 836. Grdl. BFH BStBl. 1995, 121 (124: Mehrbedarfsrente; hierzu klarstellend BFH/NV 2011, 1136): „Die Einkommensteuer erfasst grundsätzlich nur die erwirtschaftete objektive Leistungsfähigkeit … Nicht ersichtlich ist, wodurch allein die Wiederkehr von Leistungen eine erhöhte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit indizieren soll …“, im Anschluss an KSM/Fischer, § 22 EStG Rz. B 29 (1994); J. Lang, Bemessungsgrundlage, 49 f.; J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, 1985, 41; HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 80 (2012) (Schadensersatz). Grds. a.A. Söhn, FS Tipke, 1995, 352 ff.; Söhn, FR 1996, 81.
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§8
Rz. 525
Einkommensteuer
derkehrende Bezüge eines Erben, die diesem für den Erbverzicht an Stelle eines Einmalbetrages gezahlt werden, da „einkommensteuerlich nur erwirtschaftetes Einkommen erfasst“ werde (BFH BStBl. 2000, 84; 2014, 56). 525
Zu unterscheiden sind Renten, Bezüge auf Grund dauernder Lasten und sonstige wiederkehrende Bezüge. Der Tatbestand des § 22 Nr. 1 EStG ist subsidiär gegenüber den Einkünftetatbeständen des § 2 I 1 Nrn. 1–6 EStG (§ 22 Nr. 1 Satz 1 EStG), so dass § 22 Nr. 1 EStG grds. nur private wiederkehrende Bezüge erfasst, die weder als betriebliche Erträge, noch als Arbeitslohn, noch als Bezüge i.S.d. §§ 20; 21 EStG zu qualifizieren sind. Dauernde Lasten sind wiederkehrende Geld- oder Sachleistungen, die ein Stpfl. auf Grund einer rechtlichen Verpflichtung für längere Zeit einem anderen gegenüber zu erbringen hat1. Von dauernden Lasten unterscheiden sich Renten dadurch, dass sie gleichbleibend hoch und in gleichmäßigen Zeitabständen fällig sind2.
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Daher liegen keine Renten vor, wenn Höhe und Dauer der Bezüge von der Bedürftigkeit des Empfängers oder Leistungsfähigkeit des Gebers, von variablen Größen wie Gewinn oder Umsatz (BFH BStBl. 1980, 575), Pacht- oder Mieteinnahmen (BFH BStBl. 1980, 575) abhängen. Die Abänderbarkeit wiederkehrender Leistungen kann sich aus einer Änderungsklausel, die eine Abänderungsklage nach § 323 ZPO begründet, ergeben. Danach sind folgende Arten wiederkehrender Bezüge zu unterscheiden:
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– Gegenleistungsrenten/Versorgungsleistungen: Nachdem der BFH in st. Rspr.3 das Sonderrecht der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen entwickelt hat, sind Renten im Austausch mit einer Gegenleistung (Gegenleistungsrenten) von den privaten Versorgungsleistungen zu unterscheiden. Während Gegenleistungsrenten über die Laufzeit hinweg in einen Ertragsanteil und einen Anteil der Kapitalrückzahlung zu zerlegen sind, behandelt der BFH die Versorgungsleistung als unentgeltlichen Vorgang4, den das BVerfG als „Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit“ charakterisiert hat5. Von der Rente unterscheidet sich die Versorgungsleistung durch eine Abänderbarkeit, die sich aus der Rechtsnatur des Versorgungsvertrags ergibt6. Werden Leistungen unregelmäßig und willkürlich zeitweise nicht erbracht, kann dies jedoch gegen einen auf Versorgungsleistungen gerichteten Rechtsbindungswillen sprechen7. Diese st. Rspr. ist durch JStG 2008 in den §§ 10 I Nrn. 1a u. 1b; 22 Nrn. 1b u. 1c EStG gesetzlich geregelt worden (s. Rz. 531 ff.).
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– Leibrenten werden auf Lebensdauer eines Berechtigten, Verpflichteten oder eines Dritten gewährt. Abgekürzte Leibrenten (§ 55 II EStDV) sind Renten auf Lebenszeit, die jedoch höchstens eine bestimmte Zahl von Jahren gezahlt werden8. Bei Rentenlaufzeiten von weniger als zehn Jahren9 ist im Einzelfall zu prüfen, ob Kaufpreisraten u. andere Kapitalzahlungen im Vermögensbereich vorliegen. Zeitrenten (Renten für eine bestimmte längere Zeit) 1 2 3 4
5 6 7 8 9
BFH BStBl. 1989, 779 (780). BFH GrS BStBl. 1992, 78 (81 ff.); BFH BStBl. 2007, 749. Grdl. BFH GrS BStBl. 1990, 847; 1992, 78 (84: Typus des Übergabevertrags); 2004, 95; 2004, 100. BFH GrS BStBl. 1990, 847 (853): „Aus steuerrechtlicher Sicht erwirbt der Übernehmer unentgeltlich, wenn er Teile des übertragenen Vermögens Angehörigen zu überlassen hat. Diese Verpflichtung ist keine Gegenleistung des Übernehmers für die Übertragung des Vermögens; sie mindert vielmehr von vornherein das übertragene Vermögen.“ Zur Kritik dieses Ansatzes m.w.N. 17. Aufl., Rz. 586. BVerfG v. 17.12.1992, FR 1993, 157 (159). Das BVerfG hat das Sonderrecht der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen gleichheitsrechtlich nicht beanstandet. BFH GrS BStBl. 1992, 78 (83); BFH BStBl. 1992, 499. BFH BStBl. 2011, 641. Z.B. Erwerbsunfähigkeitsrenten (BFH BStBl. 1991, 89; 1991, 686; 1991, 688); Witwenrente, die nur für eine bestimmte Anzahl von Jahren gezahlt wird (BFH BStBl. 2000, 672); übergeleitete DDR-Invalidenrente (BFH BStBl. 2002, 6, m.w.N. zum Begriff der abgekürzten Leibrente). Überholt ist die Rspr. (BFH BStBl. 1959, 463; 1963, 563), wonach Renten und dauernde Lasten eine Mindestlaufzeit von zehn Jahren haben müssen. So bejaht BFH BStBl. 1991, 686; 1991, 688, Erwerbsunfähigkeitsrenten auch bei einer Laufzeit von weniger als zehn Jahren. BFH BStBl. 1994, 633 (635), stellt auf den Einzelfall ab. Gegen eine Mindestlaufzeit Schmitz, Besteuerung wiederkehrender Bezüge, Diss., 1999, 184 f. (m.w.N.); KSM/Söhn, § 10 EStG Rz. D 46, 90 (2008).
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Wiederkehrende Bezüge
Rz. 531
§8
behandelt BFH BStBl. 1996, 676 (679) bei einem privaten Veräußerungsgeschäft nicht als wiederkehrende Bezüge, sondern als Kaufpreisraten. Nach Neufassung durch das AltEinkG erfasst § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG unter dem Tatbestandsmerkmal Leibrenten und andere Leistungen auch Einmalzahlungen (z.B. Kapitalabfindungen), die nicht die Merkmale wiederkehrender Bezüge aufweisen. Der Begriff der anderen Leistung ist autonom auszulegen (BFH BStBl. 2014, 58 [60 f.]; BFH/NV 2014, 328 [329]). Die hiermit einhergehende Erweiterung der Steuerbarkeit von Einmalzahlungen soll mit dem Vertrauensschutzgrundsatz vereinbar sein (BFH BStBl. 2014, 103 [104 ff.]). Die Einkünfte aus Unterhaltsleistungen (§ 22 Nr. 1a EStG) sind i.V.m. § 10 Ia Nr. 1 EStG Teil des Realsplittings für geschiedene/dauernd getrennt lebende Ehegatten (s. Rz. 98). Dieses Realsplitting verdeutlicht die Durchbrechung des Prinzips, dass das Einkommensteuerobjekt nur erwirtschaftete Einkünfte erfasst. Der „Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit“ durch Unterhalts- und Versorgungsleistungen gehört auf die Stufe subjektiver Leistungsfähigkeit1.
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Die Steuerfolgen sind höchst unterschiedlich. So wird zunächst die allgemeine, aus dem Grundsatz der Individualbesteuerung (s. Rz. 22, 24) abgeleitete Regel, dass wiederkehrende Bezüge unabhängig von dem Steuerabzug beim Empfänger zu versteuern sind, durch Sonderregeln zurückgedrängt, die eine Korrespondenz zwischen Versteuerung und Steuerabzug herstellen2:
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JStG 2008 hat das bisherige Richterrecht der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen in Form einer Korrespondenz der §§ 10 I Nrn. 1a u. 1b; 22 Nrn. 1b u. 1c EStG gesetzlich geregelt3. Dabei hat der Gesetzgeber dieses Rechtsinstitut auf seinen „Kernbereich“ reduziert4, indem der Sonderausgabenabzug nur noch bei Übertragung unternehmerischen Vermögens in Betracht kommt. Hierdurch soll die Regelung zielgenauer als die bisherige wirken und Mitnahmeeffekte sowie missbräuchliche Gestaltungen verhindern5. Zudem wollte der Gesetzgeber mit der Neuregelung die Erhaltung und Sicherung von Arbeitsplätzen fördern; demzufolge hat er die Übergabe von Privatvermögen6 ausgeschieden. Es sind als Sonderausgaben abzugsfähig7 und korrespondierend als wiederkehrende Bezüge zu versteuern:
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1 S. Rz. 42, 98, 101 ff. Dies ist allerdings nur de lege ferenda möglich, weil die geltende Bemessungsgrundlage nur private Abzüge (§ 2 IV-V EStG), nicht auch private Bezüge regelt. Diese Regelungslücke füllen die §§ 2 II; 35–37 Kölner EStGE mit dem Ansatz von Privatausgaben und Privateinnahmen. Grds. zu § 22 Nr. 1a EStG Söhn, StuW 2005, 109 (116): „Unterhaltsleistungen werden zwar nicht am Markt erwirtschaftet, gehören aber in einer an der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit orientierten Einkommensteuer zu den steuerbaren Einkünften.“ 2 Nach BFH BStBl. 1989, 779 (780 f. m.w.N.) stellt diese Normverknüpfung eine Ausnahmeregelung dar, auf die sich kein allgemeines Korrespondenzprinzip stützen lässt (s. Rz. 24). 3 Durch JStG 2008 v. 20.12.2007, BGBl. I 2007, 3150; dazu Streck/Horst, DStR 2010, 959; Krumm, StuW 2011, 159; Reddig, FS Streck, 2011, 157. IV. Rentenerlass, BMF BStBl. I 2010, 227 (Anm. Korn, KÖSDI 2010, 16920; Neufang, StB 2010, 234 u. 275; Reddig, DStZ 2010, 445; Risthaus, DB 2010, 744 u. 803; Schoor, StBp. 2010, 76 u. 111; Seitz, DStR 2010, 629; Weilbach, Ubg. 2010, 245; Wißborn, FR 2010, 322; Moorkamp/Grever, SteuerStud 2012, 203). Ausweich- und Gestaltungsempfehlungen: Kratzsch, NWB 2010, 1964; von Oertzen/Stein, BB 2009, 2227 (Vorbehaltsnießbrauch); Spiegelberger, DStR 2010, 1822 u. 1880; Wälzholz, DStR 2010, 850; Djanani/Krenzin/Zehetmair, DStZ 2012, 389; Baumann/Seer/Krumm, Fachberater für Unternehmensnachfolge, 2011, Rz. 2019 ff.; 2117 ff.; Hecht, Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen, Diss., 2012; zu den europarechtlichen Implikationen des Korrespondenzprinzips und dem diesbezüglichen Vorabentscheidungsersuchen (BFH BStBl. 2014, 22) Krumm, IWB 2014, 13. Zur Weitergeltung der bisherigen Rechtsprechungsgrundsätze Schuster, FS Spindler, 2011, 749 (771 f.). 4 Der Gesetzentwurf der Bundesregierung v. 4.9.2007, BT-Drucks. 16/6290, 7553, versteht unter Kernbereich die Übertragung von Betrieben. 5 BT-Drucks. 16/6290, 53. 6 Hierzu Paus, NWB 2014, 992. 7 Ausreichend ist seit JStG 2010, dass die Voraussetzungen des Sonderausgabenabzugs vorliegen. Auf den tatsächlichen Sonderausgabenabzug kommt es nicht an. Zu den Auswirkungen auf ausländische Leistungserbringer Stein, DStR 2011, 1165.
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§8
Rz. 532
532
– auf besonderen Verpflichtungsgründen beruhende, lebenslange und wiederkehrende Versorgungsleistungen gegen die Übertragung von Betrieben/Teilbetrieben i.S.d. §§ 13; 15; 18 EStG als Einzelunternehmen oder Mitunternehmerschaften und von GmbH-Anteilen, wenn eine Beteiligung von mindestens 50 %1 übertragen wird, der Übergeber als Geschäftsführer tätig war und der Übernehmer diese Tätigkeit nach der Übertragung übernimmt (§§ 10 Ia Nr. 2; 22 Nr. 1a EStG), sowie
533
– Leistungen auf Grund eines schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs2, soweit die ihnen zugrundeliegenden Einnahmen bei Ausgleichsverpflichteten der Besteuerung unterliegen (§§ 10 Ia Nr. 4; 22 Nr. 1a EStG).
534
Dauernde Lasten, die keine Renten sind, hat der Empfänger nach § 22 Nr. 1 EStG zu versteuern, wenn keine andere Einkunftsart Platz greift. Nachdem die bisherige, für dauernde Lasten geltende Regelung des § 10 I Nr. 1a EStG durch die Neuregelung des JStG 2008 ersetzt worden ist, kann der Geber dauernde Lasten nurmehr als Betriebsausgaben oder Werbungskosten (§ 9 I 3 Nr. 1 Satz 1 EStG) abziehen, wenn die dauernden Lasten durch eine Erwerbstätigkeit veranlasst sind und nicht im Austausch mit Vermögenswerten erbracht werden (Beispiel: dauernde Last als Vergütung für eine Dienstleistung, die durch den Beruf des Gebers veranlasst ist). Werden dauernde Lasten im Austausch mit Vermögenswerten erbracht (Regelfall: Erwerb eines Wirtschaftsguts gegen dauernde Last), so liegt in Höhe des versicherungsmathematisch ermittelten Barwerts eine Vermögensumschichtung vor, die Anschaffungskosten begründet; sofort abziehbar ist nur der Zinsanteil, den der Empfänger nach § 20 I Nr. 7 EStG zu versteuern hat3.
535
Ebenso sind Gegenleistungsrenten in einen Ertragsanteil und in eine Vermögensumschichtung (Tilgungsanteil, Kapitalrückzahlung) zu zerlegen4. Bei Zeitrenten versagt der BFH den Sonderausgabenabzug, weil er Zeitrenten als Kaufpreisraten qualifiziert (s. Rz. 528). In der Erwerbssphäre ist der Zinsanteil abziehbar. I.Ü. hat der Geber Anschaffungskosten (s. R 6.2 EStR 2012). Der Empfänger hat den Zinsanteil nach § 20 I Nr. 7 EStG zu versteuern und genießt dabei den Sparer-Pauschbetrag (§ 20 IX EStG), der dem nach § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a, bb EStG ertragsanteilbesteuerten Stpfl. gleichheitswidrig vorenthalten wird5. Bei den privaten Leibrenten i.S.d. § 22 Nr. 1a, bb EStG ist der in der Tabelle typisiert festgelegte Ertragsanteil vom Empfänger zu versteuern und korrespondierend vom Geber als Sonderausgabe (§ 10 Ia Nr. 2 EStG) oder Erwerbsaufwendung abzuziehen. Bei privaten abgekürzten Leibrenten ergibt sich der Ertragsanteil aus der Tabelle in § 55 II EStDV i.V.m. § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a, bb Satz 5 EStG.
536
Gesetzliche u. andere nachgelagert besteuerte Renteneinkünfte werden nach § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a, aa EStG mit einem aufsteigenden Besteuerungsanteil besteuert; dieser richtet sich nach dem Jahr des Rentenbeginns. Er beträgt 50 % der Bezüge, wenn die Rente in 2005 beginnt, und steigt kontinuierlich bis 100 % bei Rentenbeginn in 2040. Somit wird die voll nachgelagerte Besteuerung in einem 35-jährigen Übergangszeitraum verwirklicht.
Einkommensteuer
Einstweilen frei.
537–538
1 Berechtigte Kritik an dieser rechtsformspezifischen Differenzierung Krumm, StuW 2011, 159 (162 ff., 168 ff.). 2 Hierzu BFH BStBl. 2014, 109 (schuldrechtliche Rententeilung). Zur steuerlichen Behandlung des Versorgungsausgleichs nach dessen zivilrechtlicher Neuregelung (dazu Wälzholz, DStR 2010, 383) ausf. Risthaus, DStZ 2010, 269; Wälzholz, DStR 2010, 465. 3 S. BFH BStBl. 1995, 47; BMF BStBl. I 2010, 227 (Rz. 77 f.). 4 Kirchhof/Fischer13, § 22 EStG Rz. 4. Die gesetzliche Typisierung des Ertragsanteils in § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a, bb EStG ist verfassungsrechtlich unbedenklich (BFH BStBl. 1998, 339). 5 BVerfGE 124, 251, hat allerdings 2009 nach knapp 10 Jahren (!) den diesbezüglichen Vorlagebeschluss BFH BStBl. 2002, 183, als unzulässig (fehlende Entscheidungserheblichkeit) zurückgewiesen; vgl. auch Schmitz, Besteuerung wiederkehrender Bezüge, Diss., 1999, 165 ff.
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Rz. 541
§8
Die Tätigkeit von Abgeordneten lässt sich in den Einkünftekatalog bestimmter Berufsbilder schwerlich einordnen. Abgeordnete sind mit ihrem verfassungsrechtlichen Status1 als freie, weisungsungebundene Mandatsträger (Art. 38 I 2 GG) weder Unternehmer noch Arbeitnehmer. Sie haben nach Art. 48 III 1 GG Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung, was die Auffassung begründete, Abgeordnete seien nicht entgeltlich tätig und erwirtschafteten daher kein Einkommen. Die daraus resultierende Steuerfreiheit der Abgeordnetenbezüge hat das Diäten-Urteil des BVerfG v. 5.11.1975 (BVerfGE 40, 296) für verfassungswidrig erklärt. § 22 Nr. 4 EStG wurde dem Einkünftekatalog durch das Abgeordnetengesetz v. 18.2.1977, BGBl. I 1977, 297, angefügt und die in § 22 Nr. 4 EStG festgelegten Bezüge wurden besteuert.
539
§ 22 Nr. 4 EStG umfasst nur solche Leistungen, die auf Grund von Abgeordnetengesetzen (§ 22 Nr. 4 Satz 1 EStG) inkl. Abgeordnetengesetz der DDR-Volkskammer (§ 57 V EStG) gewährt werden. Für Leistungen außerhalb dieser Gesetze gilt das übrige Einkunftsartenrecht (R 22.9 EStR 2012). Bezüge der Abgeordneten für politische Ämter (z.B. parlamentarischer Geschäftsführer, Fraktionsvorsitzender) können den §§ 18 I Nr. 3; 19; 22 Nrn. 1, 3 EStG unterfallen. I.Ü. besteht Steuerfreiheit nach § 3 Nrn. 11, 12, 13 EStG. § 3 Nr. 62 EStG gilt entsprechend für Nachversicherungsbeiträge auf Grund des Abgeordnetengesetzes und für Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge (§ 22 Nr. 4 Satz 4 Buchst. a EStG). Der Versorgungsfreibetrag (§ 19 II EStG) wird ohne Zuschlag und beim Zusammentreffen mehrerer Altersbezüge nur einmal gewährt (§ 22 Nr. 4 Satz 4 Buchst. b EStG). § 34 I EStG gilt entsprechend für das in einer Summe gezahlte Übergangsgeld und für die Versorgungsabfindung (§ 22 Nr. 4 Satz 4 Buchst. c EStG).
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Echte Aufwandsentschädigungen werden nach wie vor steuerfrei ausgezahlt und dürfen daher nicht als Werbungskosten abgezogen werden (§ 22 Nr. 4 Satz 2 EStG). Wahlkampfkosten dürfen ebenfalls nicht als Werbungskosten abgezogen werden (§ 22 Nr. 4 Satz 3 EStG), weil ein Anspruch auf steuerfreie Erstattung der Wahlkampfkosten besteht2. Gegen die Steuerbefreiung der Aufwandsentschädigungen im Umfange der Kostenpauschale für Abgeordnete (§ 12 II Abgeordnetengesetz) nach § 3 Nr. 12 EStG sind durchgreifende gleichheitsrechtliche Einwände erhoben worden3. Die gleichheitssatzwidrigen Steuerprivilegien der Abgeordneten blieben auf die nicht zur Entscheidung angenommene Verfassungsbeschwerde eines Finanzrichters hin unbeanstandet4. Das BVerfG sah eine ausreichende Rechtfertigung in der besonderen Stellung parlamentarischer Mandatsträger. M.E. lässt sich das Problem de lege lata lösen, indem § 12 II AbgG aus dem Anwendungsbereich des § 3 Nr. 12 EStG durch verfassungskonforme teleologische Reduktion ausgeschieden wird, weil die Kostenpauschale die tatsächlichen Kosten des Abgeordneten nicht in verfassungsrechtlich zulässiger Weise typisiert5. Dementsprechend ist das Abzugsverbot für Werbungskosten (§ 22 Nr. 4 Satz 2 EStG) zu beschränken. Soweit danach die Kostenpauschale die tatsächlichen Werbungskosten überschreitet, ist sie als Einnahme zu versteuern, und Werbungskosten, die höher sind als die Kostenpauschale, können abgezogen werden.
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Abgeordnetenbezüge
5. Abgeordnetenbezüge (§ 22 Nr. 4 EStG)
1 Dazu Linck, Verfestigung des Leitbilds von Berufsabgeordneten durch das BVerfG, NJW 2008, 24; von Arnim, Nebeneinkünfte von Bundestagsabgeordneten, DÖV 2007, 897. 2 Vgl. BVerfGE 41, 399. 3 Insb. Stalbold, Die steuerfreie Kostenpauschale der Abgeordneten, Diss., 2004; Tipke, FR 2006, 949 (953 f., 954: mandatsbezogene Aufwendungen nicht typisierbar); Drysch, DStR 2008, 1217 (verfassungswidriges Privileg). BFH BStBl. 2008, 928 (dazu krit. Neufang, SteuerConsultant 2008, 30; Desens, Steuerprivilegien für Abgeordnete verfassungsrechtlich nicht angreifbar?, DStR 2009, 727; Englisch, NJW 2009, 894) hat dem BVerfG die Regelung mangels Entscheidungserheblichkeit nicht vorgelegt. Das Plädoyer für die Verfassungsmäßigkeit der steuerfreien Kostenpauschale von Waldhoff, FR 2007, 225, kann nicht überzeugen. 4 BVerfG, BFH/NV 2010, 1983, m. Anm. Bode, FR 2010, 994. Fortsetzung des Verfahrens vor dem EGMR; dazu Nebe, Stbg. 2011, 385. 5 A.A. wohl BFH BStBl. 2008, 928 (930 f.).
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§8
Rz. 542
Einkommensteuer
6. Einkünfte aus sonstigen Leistungen (§ 22 Nr. 3 EStG)1 542
§ 22 Nr. 3 Satz 1 EStG erfasst Einkünfte aus Leistungen, soweit sie keiner anderen Einkunftsart unterfallen. § 22 Nr. 3 EStG enthält einen allen anderen Einkunftsarten nachrangigen subsidiären Einkünftetatbestand. Er bildet aber keinen Auffangtatbestand in dem Sinne, dass er alle erwirtschafteten Einkünfte erfasst, die sonst keinem Einkünftetatbestand zugeordnet werden können. Hieran zeigen sich die Grundentscheidungen des Gesetzgebers für die pragmatische Legaldefinition des Einkommens durch lückenträchtige Einkünfteenumeration (s. Rz. 53). Als letzter Einkünftetatbestand setzt § 22 Nr. 3 EStG negativ voraus, dass kein anderer Einkünftetatbestand verwirklicht ist, und verlangt positiv Einkünfte aus einem bestimmten Leistungsaustausch. Nach st. Rspr. des BFH2 ist Leistung i.S.d. § 22 Nr. 3 EStG jedes Tun, Dulden oder Unterlassen3, das Gegenstand eines entgeltlichen Vertrages sein kann und das eine Gegenleistung auslöst. BFH BStBl. 2005, 44 (45) verwirft das Merkmal der Steuerbarkeit, dass die Leistung um des Entgelts willen erbracht sein muss4. Es komme entscheidend darauf an, ob die Gegenleistung durch das Verhalten des Stpfl. veranlasst ist5. Mit dieser Verwendung des Veranlassungsprinzips wird die Steuerbarkeitslücke im Verhältnis zu den betrieblichen Einkunftsarten fast, jedoch nicht ganz geschlossen: Zuwendungen an Geschäftsfreunde und Bestechungsgelder, die wie im in Rz. 475 erwähnten Müllskandal auch ohne ein bestimmtes Verhalten des Stpfl. gezahlt wurden, sind keine Einnahmen i.S.d. § 22 Nr. 3 EStG, jedoch Betriebseinnahmen (s. Rz. 214).
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Beispiele: § 22 Nr. 3 EStG erwähnt gelegentliche, d.h. nicht i.S.v. § 15 II 1 EStG nachhaltige Vermittlungen6 und die Vermietung beweglicher Gegenstände7. Im Weiteren erfasst der Tatbestand des § 22 Nr. 3 EStG Schmier-/Bestechungsgelder8, Mitfahrervergütungen9, Optionsprämien10, Preisgelder für die Teilnahme an Fernsehshows (s. Rz. 135), die Erfolgsbeteiligung an einem Schadensersatzprozess11 und Entgelte für Gefälligkeiten und Freundschaftsdienste. Selbständig ausgeübte Prostitution ist entgegen früherer Auffassung (BFH GrS 1/64, BStBl. III 1964, 500) nicht unter § 22 Nr. 3 EStG, sondern unter § 15 EStG zu subsumieren (BFH GrS 1/12, BStBl. 2013, 441).
1 Dazu Becker, StuW 1936, Sp. 1669 ff.; Knobbe-Keuk, DB 1972, 1130; Waterkamp-Faupel, FR 1995, 41; Spaniol, StWa 2002, 190; Binnewies, FS Streck, 2011, 31; Krey, Besteuerung sonstiger Leistungen: Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Einkommensteuerpflicht von privaten Spielgewinnen, Diss., 2011. 2 BFH BStBl. 1998, 133 (134 m.w.N.); 1998, 619 (620); 2000, 396 (397); 2004, 506; 2004, 874; 2005, 44 (45); 2008, 868 (870). 3 Dazu umfassend Reimer, Der Ort des Unterlassens, Diss., 2004, 49 f., 164 ff., 181 ff., 186 ff. 4 So noch z.B. BFH BStBl. 2004, 506. 5 BFH BStBl. 2005, 45 (Provision für Freundschaftsdienst), erachtet das auf ein synallagmatisches Verständnis des Leistungsbegriffs hindeutende Merkmal „um des Entgelts willen erbracht“ als „zumindest missverständlich und mithin verzichtbar“. Diese Änderung der Rspr. lässt bereits BFH BStBl. 2004, 1072 (Betreuungshonorar „in reiner Spielerlaune“) erkennen. 6 Z.B. für die Vermittlung von Lebensversicherungen. Dazu BFH BStBl. 1998, 619 (Eigenprovisionen); 2009, 532; BFH/NV 2007, 657; 2007, 2263. Eigenprovision als Teil der gewerblichen Einkünfte eines selbständigen Vermittlers BFH BStBl. 2012, 498. Hingegen verneint BFH BStBl. 2004, 506, steuerbare Einnahmen des Versicherungsnehmers, wenn der Versicherungsvertreter einen Teil seiner Provision an den Versicherungsnehmer weiterleitet. 7 Z.B. die Vermietung einer Segelyacht, die kein Registerschiff (§ 21 I 1 Nr. 1 EStG) ist (BFH/NV 1999, 917), oder eines Wohnmobils (BFH BStBl. 1998, 774), das kein Sachinbegriff ist (§ 21 I 1 Nr. 2 EStG). 8 BFH/NV 2007, 1887. 9 BFH BStBl. 1994, 516. 10 Dazu BFH BStBl. 2007, 608 (kein Termingeschäft); 2008, 26: Verwendung von Mieteinnahmen für Optionsgeschäfte unterfällt § 22 Nr. 3 EStG mit beschränkter Verlustverrechnung, ebenso die im Gegengeschäft gezahlten Prämien (BFH BStBl. 2007, 606); BFH/NV 2014, 1020; 2014, 1025; Harenberg, NWB 2007, Fach 3, 14529; S. Wagner, NWB 2007, Fach 3, 14041; S. Wagner, DStZ 2007, 748 (Lösung durch die Abgeltungsteuer?). 11 BFH/NV 2008, 2001.
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Rz. 546
§8
§ 22 Nr. 3 EStG erfasst nur den Nutzungsbereich und nicht den Bereich privater Veräußerungsgeschäfte1, die durch die in Rz. 546 aufgeführten Tatbestände erfasst werden. Bei der Veräußerung vermieteter beweglicher Wirtschaftsgüter stellt sich analog zum gewerblichen Grundstückshandel (s. Rz. 517) die Frage, ob ein Gewerbebetrieb vorliegt. Wird hier der Bereich privater Vermögensverwaltung nicht verlassen, so liegen lediglich Einkünfte aus der Vermietung beweglicher Wirtschaftsgüter (§ 22 Nr. 3 Satz 1 EStG) vor2. Maßgeblich für die Abgrenzung der Nutzung zur Veräußerung ist die endgültige Aufgabe eines Vermögenswerts in seiner Substanz, so z.B. der entgeltliche Verzicht auf ein Wohnrecht3, auf Nachbarrechte4 oder das Reuegeld für den Rücktritt vom Kaufvertrag5. So behandelt die Rspr. die Abfindung des Mieters für die vorzeitige Räumung der Wohnung als nicht steuerbares Entgelt für Vermögensverzicht6, hingegen das Entgelt für die Duldung eines Spielsalonbetriebs als steuerbar, weil kein Vermögensverzicht geleistet werde7. Die Willkür des Einkünftedualismus wird auch hier mit hohem Rechtsprechungsaufwand gepflegt.
544
In § 22 Nr. 3 Satz 2 EStG ist eine Vereinfachungsfreigrenze von 256 Euro normiert. § 22 Nr. 3 Satz 3 EStG verbietet die Verlustverrechnung mit anderen Einkünften. Dieser „völlige Ausschluss“ der Verlustverrechnung verletzt nach BVerfGE 99, 88, den Gleichheitssatz. § 22 Nr. 3 Satz 4 EStG sieht mittlerweile zwar die Möglichkeit des Verlustabzug innerhalb der Einkünfte aus sonstigen Leistungen vor. Der Verfassungsverstoß wird hierdurch m.E. jedoch nicht geheilt. Es fehlt an einem rechtfertigenden Grund für die Beschränkung der Verlustverechnung auf die (Teil-)Einkunftsart § 22 Nr. 3 EStG8.
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Einkünfte aus der Veräußerung von Privatvermögen
7. Einkünfte aus der Veräußerung von Privatvermögen 7.1 Ungleiche Erfassung von Veräußerungseinkünften Seit dem StEntlG 1999/2000/2002 ist die Nichtsteuerbarkeit privater Veräußerungseinkünfte erheblich eingeschränkt und damit der gleichheitswidrige Einkünftedualismus (s. Rz. 185) ein gutes Stück abgebaut worden. Gleichwohl hat der Gesetzgeber die Steuerungleichheit vertieft, indem er ein Chaos der Besteuerung von Veräußerungseinkünften geschaffen hat, deren Differenzierungen gleichheitsrechtlich nicht zu rechtfertigen sind. Veräußerungseinkünfte werden – voll und unprivilegiert im Rahmen laufender Gewinneinkünfte besteuert; – ermäßigt nach § 34 EStG als Einkünfte aus Betriebsveräußerung/-aufgabe (§ 16 EStG) besteuert. Die älteren (ab 55 Jahre) und berufsunfähigen Stpfl. genießen bis 5 Mio. Euro den ermäßigten Steuersatz i.H.v. 56 % des durchschnittlichen Steuersatzes (§ 34 III EStG) und den Freibetrag von 45 000 Euro (§ 16 IV EStG), ansonsten werden die Veräußerungsgewinne rechnerisch auf 5 Jahre verteilt (§ 34 I EStG); – zu 60 % nach § 3 Nr. 40 Satz 1 Buchst. c–h EStG i.V.m. §§ 17; 20 EStG als Einkünfte aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften u. anderen KSt-Subjekten besteuert, soweit die Beteiligung im Betriebsvermögen gehalten wird oder als Beteiligung im Privatvermögen 1 % und mehr beträgt. § 17 III EStG gewährt einen Freibetrag von 9 060 Euro (s. Rz. 146); – abgeltend als Kapitalveräußerungseinkünfte von Beteiligungen im Privatvermögen (§ 20 II EStG; s. Rz. 497 ff.) besteuert; – steuerfrei gestellt als private Veräußerungsgeschäfte i.S.d. subsidiären (s. § 23 II EStG) § 23 EStG, wenn bei Immobilien die Besitzzeit von 10 Jahren (§ 23 I 1 Nr. 1 EStG) oder bei Mobilien die Besitzzeit von 1 Jahr (§ 23 I 1 Nr. 2 EStG) überschritten wird. 1 So die st. Rspr., z.B. BFH BStBl. 1998, 133 (134 m.w.N.); 1999, 776; 2000, 82; 2004, 218; 2004, 874; 2007, 44 (45); 2013, 578 (579); BFH/NV 2013, 1085: Nicht erfasst werden „Veräußerungsvorgänge oder veräußerungsähnliche Vorgänge im privaten Bereich, durch die ein Vermögenswert in seiner Substanz endgültig aufgegeben wird“. 2 Dazu BFH BStBl. 2007, 768. 3 BFH BStBl. 1990, 1026. 4 BFH BStBl. 2001, 391; 2004, 874. 5 BFH BStBl. 2007, 44. 6 BFH/NV 2000, 423. 7 BFH BStBl. 1998, 133. 8 A.A. BFH BStBl. 2008, 26 (27 f.); BFH/NV 2014, 1025 (1028).
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546
§8
Rz. 547
Einkommensteuer
7.2 Einkünfte aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften (§ 17 EStG) 547
§ 17 EStG erfasst ebenso wie §§ 22 Nr. 2; 23 EStG Einkünfte aus der Veräußerung von privatem Stammvermögen, und zwar Gewinne/Verluste aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, das sind Aktien, GmbH-Anteile, Genussscheine oder ähnliche Beteiligungen und Anwartschaften (§ 17 I 3 EStG) sowie Anteile einer Genossenschaft inkl. der Europäischen Genossenschaft (§ 17 VII EStG). Gehört die Beteiligung zu einem Betriebsvermögen, fällt sie nicht unter § 17 EStG. Die Zuordnung des § 17 EStG zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb ist verfehlt; sie ist darauf zurückzuführen, dass § 17 EStG bis 1998 nur wesentliche Beteiligungen, d.h. Beteiligungen von mehr als einem Viertel (§ 17 I 4 EStG 1997) erfasste1. Eine derart wesentliche Beteiligung wertete der Gesetzgeber des EStG 1925 als mitunternehmerähnlich und bezweckte somit die Gleichstellung mit den Einkünften aus der Veräußerung von Mitunternehmer-Anteilen i.S.d. § 16 I 1 Nr. 2 EStG. Mit der Absenkung der Beteiligungsgrenze auf 1 % (§ 17 I 1 EStG) ab 2002 tritt die Fehlplatzierung des § 17 EStG offen zutage. Noch gravierender ist, dass der Gesetzgeber es versäumt hat, § 17 im Zuge der Einführung der vollen Steuerpflicht von Beteiligungsveräußerungen im Rahmen der Abgeltungsteuer (§ 20 II EStG) zu streichen. Die Vorschrift hat jeden eigenständigen Zweck verloren. Seer, DStJG 34 (2011), 278, spricht plakativ vom „Appendix des Einkommensteuerrechts“.
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Seit dem EStG 1997 wurde § 17 EStG grundlegend umgestaltet: Zunächst schleuste das StEntlG 1999/2000/2002 die 25 %-Grenze mit Geltung ab 1999 auf 10 % herab; sodann reduzierte das StSenkG die 10 %-Grenze ab 2002 auf 1 %2. Nach der ab 2002 geltenden Fassung des § 17 EStG gehört zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb der Gewinn aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, wenn der Veräußerer innerhalb der letzten 5 Jahre am Kapital der Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar zu mindestens 1 % beteiligt war (§ 17 I 1 EStG)3. Die verdeckte Einlage von Anteilen steht der Veräußerung gleich (§ 17 I 2 EStG). Maßgeblich ist grds. der nominelle Anteil am Grund- oder Stammkapital4. Bei unentgeltlich erworbenen Anteilen erstreckt sich die Fünfjahresfrist auf den oder im Falle der Kettenschenkung auf die Rechtsvorgänger (§ 17 I 4 EStG). Der Veräußerung gleichgestellt sind die Auflösung einer Kapitalgesellschaft sowie die Herabsetzung und Rückzahlung von Kapital (§ 17 IV EStG).
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Der Gesetzgeber hatte die Beteiligungsgrenze von 25 % ohne Übergangsregelung auf zunächst 10 % und sodann auf 1 % abgesenkt. BVerfGE 127, 61, sah hierin eine unzulässige unechte Rückwirkung (s. § 3 Rz. 266 ff.), soweit Wertzuwächse erfasst werden, die bis zum Zeitpunkt der Verkündung des StEntlG 1999/2000/2002 am 31.3.1999 entstanden sind und die ohne die Gesetzesänderung hätten steuerfrei realisiert werden können5. BMF BStBl. I 2011, 16, ordnet zur Umsetzung für Beteiligungen i.H.v. mind. 10 %, aber höchstens 25 % an, dass bis zum 31.3.1999 realisierte Gewinne steuerfrei bleiben. Bei Veräußerung nach dem 1.4.1999 ist der Gewinn entsprechend der Besitzzeiten aufzuteilen und, soweit er auf den Wertzuwachs bis 31.3.1999 entfällt, als nicht steuerbar zu behandeln (zur Feststellungslast für die Entstehung des Wertzuwachses BFH BStBl. 2011, 744). Die Übergangsregelung ist in entsprechender 1 Zur Entstehungsgeschichte und Systematik des § 17 EStG Strutz, EStG 1925, 1929, § 30 Anm. 1 ff.; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 218 ff.; Heinemann, Die Besteuerung von Gewinnen aus der Veräußerung privater Beteiligungen an Kapitalgesellschaften nach § 17 EStG i.d.F. des StSenkG, Diss., 2002; Weirich, Ähnliche Beteiligungen i.S.v. § 17 I 3 EStG, 2004; Micker, Gesamthandsgemeinschaften und Treuhandverhältnisse bei privaten Anteilsveräußerungen, 2006; HHR/Eilers/Schmidt, § 17 EStG Anm. 1 ff. (2010). 2 Nach BFH BStBl. 2013, 164, 1 %-Grenze verfassungsrechtlich zulässig im Rahmen der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit; krit. Intemann, NWB 2013, 828. 3 Veranlagungszeitraumbezogene Bestimmung nach der jeweils gültigen Wesentlichkeitsgrenze BFH BStBl. 2013, 372; dagegen Dornheim, FR 2013, 599. 4 BFH BStBl. 1998, 257. 5 Dazu und zur Umsetzung der Entscheidung BFH BStBl. 2012, 335; FG Baden-Württemberg EFG 2012, 693; Intemann, NWB 2010, 3529; Milatz/Herbst, GmbHR 2010, 574; Förster, DB 2011, 259; Gelsheimer/Meyen, DStR 2011, 193 (195 ff.); Gragert, StuB 2011, 43; Musil/Lammers, BB 2011, 155; Schmidt/Renger, DStR 2011, 693; R. Wagner, NWB 2011, 881.
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Einkünfte aus der Veräußerung von Privatvermögen
Rz. 552
§8
Weise auf die Absenkung der Beteiligungsgrenze von 10 auf 1 % durch StSenkG v. 23.10.2000 anzuwenden1. Veräußerungsgewinn ist der Betrag, um den der Veräußerungspreis (s. bereits Rz. 198) nach Abzug der Veräußerungskosten die Anschaffungskosten übersteigt (§ 17 II 1 EStG). Der gemeine Wert tritt an die Stelle des Veräußerungspreises in den Fällen der verdeckten Einlage (§ 17 I 2 EStG), der Gesellschaftsauflösung, Kapitalherabsetzung und -rückzahlung sowie des Anteilstausches2. Bei unentgeltlichem Erwerb sind die Anschaffungskosten des Rechtsvorgängers maßgeblich (§ 17 II 5 EStG). Der Gewinn entsteht grds. im Zeitpunkt der Veräußerung, d.h. mit Übergang des rechtlichen oder wirtschaftlichen Eigentums3, allerdings mit Wahlrecht für Zuflussbesteuerung bei Vereinbarung einer Versorgungsrente4.
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Veräußerungsverluste sind grds. unbeschränkt ausgleichs- und abzugsfähig. § 17 II 6 EStG enthält jedoch eine Missbrauchsregelung, welche die Verlustverrechnung nach Hinzuschenken oder kurzfristigem Hinzuerwerb von Anteilen einschränkt5: Ein Verlust ist nicht abziehbar, soweit er auf Anteile entfällt, die innerhalb der letzten 5 Jahre vor Veräußerung unentgeltlich erworben worden sind, es sei denn, die Verlustverrechnung ist auch beim Rechtsvorgänger möglich (§ 17 II 6 Buchst. a EStG). Bei entgeltlichem Erwerb ist eine Verlustverrechnung nur zulässig, wenn die veräußerten Anteile fünf Jahre lang Teil einer relevanten Beteiligung waren (§ 17 II 6 Buchst. b EStG)6.
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Problematisch ist die Behandlung der Fremdfinanzierung7: Allgemein sind Darlehen u. andere Maßnahmen der Fremdfinanzierung auf Grund des Trennungsprinzips (s. § 11 Rz. 1 u. 45) als gesonderte Kapitalüberlassungen i.S.d. § 20 EStG zu behandeln, die den Tatbestand des § 17 EStG nicht berühren. Ist die Fremdfinanzierung durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst, so können die Leistungen des Gesellschafters (insb. Darlehen und Bürgschaft) als nachträgliche Anschaffungskosten und Verlustfaktoren i.S.v. § 17 II EStG zu behandeln sein8. So sind eigenkapitalersetzende Darlehen9 nachträgliche Anschaffungskosten; ihr Verlust mindert das nach § 17 II EStG ermittelte Ergebnis. Auch die Bürgschaft kann eigenkapitalersetzend sein10. BFH verneint nachträgliche Anschaffungskosten bei mittelbarer Beteiligung (BStBl. 2008, 575) und bei Übernahme einer Bürgschaft durch einen Aktionär, der an der Gesellschaft nicht unternehmerisch beteiligt ist (BStBl. 2008, 708; 2010, 220). Nach st. Rspr. sind auch Krisendarlehen (BFH BStBl. 1999, 348) u. andere einem Darlehen wirtschaftlich vergleichbare Rechtshandlungen (BFH BStBl. 2008, 577) sowie Finanzplandarlehen (BFH BStBl. 1999, 559) zu berücksichtigen. Die Fremdfinanzierung durch den nahen Angehörigen eines Gesellschafters ist als Drittaufwand grds. nicht berücksichtigungsfähig11. Hat jedoch der Angehörige einen Regress-
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1 Zu kurz greift diesbezüglich BFH BStBl. 2013, 164, für Wertsteigerungen zwischen Verkündung und erstmaliger Anwendung der Neuregelung, s. Thomer/Schulz, BB 2013, 604; Strüber, DStR 2013, 626. 2 BFH BStBl. 2009, 45. 3 BFH BStBl. 1995, 693; 2010, 969; 2012, 318; 2012, 487; Heuermann, DB 2013, 718 (722 ff.). 4 BFH BStBl. 2010, 969 (970). 5 S. BT-Drucks. 14/23. Verfassungsmäßigkeit bejaht FG Sachsen EFG 2004, 1695. Krit. zur Berechtigung auch nach vollständiger Erfassung von Wertsteigerungen von Wertpapieren im Privatvermögen s. Ott, BB 2012, 2666. 6 Systemkonform eingeschränkt durch BFH BStBl. 2009, 810, für denn Fall, dass der Stpfl. von vornherein eine Beteiligung i.S.v. § 17 EStG erwirbt, und die Beteiligung später unter die relevante Beteiligungsgrenze absinkt; ebenso BFH/NV 2013, 11. 7 Dazu Gschwendtner, DStR-Beihefter 32/1999; Grützner, StuB 2008, 717 (Bürgschaftsleistungen); Heuermann, DStR 2008, 2089 (ausgefallene Finanzierungshilfen); Schieß, StWa 2008, 111 (Problemfelder); Geeb, DStR 2009, 25 (Eigenkapitalersatzrecht in der jüngeren Rspr.); HHR/Eilers/Schmidt, § 17 EStG Anm. 201 (2010); Schwenker/Fischer, FR 2010, 643; Fuhrmann, KÖSDI 2011, 17316; Kirchhof/Gosch13, § 17 EStG Rz. 94 ff.; Schmidt/Weber-Grellet33, § 17 EStG Rz. 170 ff. 8 St. Rspr., z.B. BFH BStBl. 1993, 340; 1999, 348; 1999, 559; 2008, 575; 2008, 577; 2009, 5; 2009, 227. 9 Zu den Merkmalen BFH BStBl. 1999, 724. Zu den steuerlichen Folgen der Abschaffung des Eigenkapitalersatzrechts durch MoMiG v. 1.11.2008, BGBl. I 2008, 2026, BMF BStBl. I 2010, 832 (dazu Fuhrmann/Strahl, GmbHR 2011, 520; Wagner, StB 2011, 234); Bode, DStR 2009, 1781; Ott, DStZ 2010, 623 (631 ff.); Schwenker/Fischer, FR 2010, 643; Wiese/Möller, GmbHR 2010, 462; Ott, StuB 2011, 243. Auswirkungen von Abgeltungsteuer und MoMiG: Bayer, DStR 2009, 2397 (2399 ff.); Heuermann, DB 2009, 2173; Niemann/Stock, DStR 2011, 445. Fortbestand dieser Rspr. nach Reform des Eigenkapitalersatzrechts durch das MoMiG Kirchhof/Gosch13, § 17 Rz. 95; ausf. Graw, Ubg 2014, 251 (255 ff.); Moritz, DStR 2014, 1636 u. 1703; Maciejewski, GmbHR 2012, 1335. 10 BFH BStBl. 1998, 660; 1999, 817; 2008, 577; 2013, 378. 11 BFH BStBl. 2001, 286.
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§8
Rz. 553
Einkommensteuer
anspruch, so begründet die Inanspruchnahme des Gesellschafters Eigenaufwand des Gesellschafters1. Zu nachträglichen Schuldzinsen für die Anschaffung der Beteiligung s. Rz. 199.
7.3 Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften (§§ 22 Nr. 2; 23 EStG) 553
§§ 22 Nr. 2; 23 EStG2 bilden ebenso wie § 17 EStG eine Ausnahme von der quellentheoretischen Ausgrenzung privaten Stammvermögens, indem Einkünfte aus der Veräußerung von Wirtschaftsgütern besteuert werden, die vor der Veräußerung innerhalb einer bestimmten Frist angeschafft worden sind. Bis 1999 betrugen die Fristen zwischen Anschaffung und Veräußerung zwei Jahre für Immobilien (§ 23 I 1 Nr. 1a EStG a.F.) und sechs Monate für Mobilien (§ 23 I 1 Nr. 1b EStG a.F.). Diese Fristen waren so kurz, dass der Gesetzgeber den Begriff „Spekulationsgeschäft“ verwendete. Mit dem StEntlG 1999/2000/2002 wurden §§ 22 Nr. 2; 23 EStG neugefasst3: In der Perspektive einer vollständigen Besteuerung der privaten Veräußerungseinkünfte ersetzte der Gesetzgeber den Begriff „Spekulationsgeschäft“ durch den Terminus „privates Veräußerungsgeschäft“ und verlängerte die Fristen auf zehn Jahre für Immobilien4 (§ 23 I 1 Nr. 1 EStG) und auf ein Jahr für Mobilien (§ 23 I 1 Nr. 2 EStG). Nicht steuerbar sind selbstgenutzte Immobilien5 (§ 23 I 1 Nr. 1 Satz 3 EStG). Den Streit, ob Wirtschaftsgüter des täglichen Gebrauchs steuerbar sind6, hat JStG 2010 v. 8.12.2010, BGBl. I 2010, 1768, in § 23 I 1 Nr. 2 Satz 2 EStG durch explizite Ausnahme derartiger Konsumgüter entschieden, um die Berücksichtigung von Veräußerungsverlusten in diesem Bereich zu verhindern. Der Änderung ist zuzustimmen, auch wenn der Begriff der Wirtschaftsgüter des täglichen Gebrauchs Abgrenzungsschwierigkeiten mit sich bringt. Es ist jedoch nicht einzusehen, warum ein selbst genutztes Haus anders behandelt werden soll, als die darin untergebrachten Einrichtungsgegenstände inkl. Kunst und Antiquitäten7. Die Erfahrungen mit der an der Reinvermögenszugangstheorie ausgerichteten Besteuerung von „capital gains“ (s. Rz. 51) belegen enorme Vollzugsdefizite bei der Erfassung privater Konsumgüter. Zudem wird das private Konsumgut häufig seiner Bestimmung entsprechend verbraucht; es birgt daher nur in Ausnahmefällen Wertsteigerungspotenzial8. Jedenfalls lässt sich der Privatkonsum vom „Reinvermögenszugang“ schwerlich abgrenzen.
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Nach § 23 II EStG ist § 23 I EStG subsidiär gegenüber anderen Einkunftsarten, so gegenüber den betrieblichen Veräußerungseinkünften, den Einkünften i.S.d. §§ 16; 17 EStG sowie ab 2009 gegenüber den Kapitalveräußerungseinkünften (§ 20 II EStG); dazu gehören die bisher durch § 23 I 1 Nr. 4 EStG a.F. erfassten privaten Termingeschäfte9 (s. Rz. 559).
555
Abw. vom Zivilrecht sind für die Begriffe „Anschaffung“ und „Veräußerung“ maßgeblich die wirtschaftlich den Anschaffungs-/Veräußerungsakt konstituierenden Verpflichtungsgeschäfte und nicht die dinglichen Erfüllungsgeschäfte10, also z.B. bei einem Grundstückskauf der Kaufvertrag, nicht die 1 BFH BStBl. 2001, 385; BFH/NV 2001, 761. 2 Allgemein zu § 23 EStG Neeb, StuW 1991, 52; Kanzler, FR 2000, 1245 (1252 f.); Prinz/Ommerborn, FR 2001, 977 (§§ 17; 23 EStG bei privater Vermögensverwaltung); von Bornhaupt, BB 2003, 125 (System u. Verfassungsverstöße); Carlé, KÖSDI 2003, 13983; Eggert/Genser/Schindler, FS Rose, 2003, 465; Kusterer, EStB 2003, 439 (§§ 17; 23 EStG im Vergleich); Höhmann, NWB 2004, Fach 3, 12925. 3 Dazu BT-Drucks. 14/23, 179 f.; Herzig/Lutterbach, DStR 1999, 521; Urban, INF 1999, 319; Wendt, FR 1999, 333 (349 ff.); Strahl, StbJb. 1999/2000, 327; Demuth/Strunk, DStR 2001, 57. Der Plan der Bundesregierung (BT-Drucks. 15/119, 4 f., Begr.: 38 f.), mit dem StVergAbG die Fristen zu streichen (dazu von Bornhaupt, BB 2003, 125; Korezkij, SteuerStud 2003, 119; Watrin/Lühn, DB 2003, 168), ist gescheitert. 4 Dazu BMF BStBl. I 2000, 1383; 2007, 262; Meyer/Ball, FR 1999, 925 (Neubauten); Korn, KÖSDI 2000, 12479; Kupfer, KÖSDI 2000, 12271; Risthaus, DB-Beil. 13/2000; Seitz, DStR 2001, 277. 5 Dazu HHR/Musil, § 23 EStG Anm. 128 ff. (2011); Schmidt/Weber-Grellet33, § 23 EStG Rz. 18. 6 Bejaht von BFH BStBl. 2009, 296, gegen die Auffassung der Finanzverwaltung. 7 S. Döring, DB 2003, 576. 8 So entschied FG Schlesw.-Holst. EFG 2004, 265 (266 f.), der privat genutzte Pkw sei kein Wirtschaftsgut i.S.d. § 23 I 1 Nr. 2 EStG, weil für Gebrauchsgegenstände eine Wertsteigerung nicht typisch sei. 9 Zu § 23 I 1 Nr. 4 EStG a.F. BMF BStBl. I 2001, 986. 10 BFH BStBl. 1976, 64.
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Einkünfte aus der Veräußerung von Privatvermögen
Rz. 559
§8
Auflassung (§ 925 BGB) und die Eintragung im Grundbuch (§ 873 I BGB). Gem. § 41 I AO ist für die Fristenberechnung maßgeblich auch der Zeitpunkt eines unwirksamen, jedoch durchgeführten Kaufvertrags1. Wird allerdings der von einem vollmachtslosen Vertreter geschlossene Kaufvertrag außerhalb der Frist genehmigt, so ist die zivilrechtliche Rückwirkung nach BFH BStBl. 2002, 10, unbeachtlich, weil der Vertretene erst im Zeitpunkt der Genehmigung disponiert. Der Anschaffung gleichgestellt ist die Überführung eines Wirtschaftsguts vom Betriebsvermögen in das Privatvermögen (§ 23 I 2 EStG). Bei unentgeltlichem Erwerb kommt es auf die Anschaffung durch den Rechtsvorgänger an (§ 23 I 3 EStG). Die Anschaffung oder Veräußerung der Beteiligung an einer Personengesellschaft ist der Anschaffung oder Veräußerung der anteiligen Wirtschaftsgüter gleichgestellt (§ 23 I 4 EStG). Als Veräußerung gilt auch die Einlage, wenn das Wirtschaftsgut aus dem Betriebsvermögen innerhalb von zehn Jahren nach seiner Anschaffung veräußert wird, und die verdeckte Einlage in eine Kapitalgesellschaft (§ 23 I 5 EStG)2.
556
Mit der Verlängerung der „Spekulationsfristen“ von zwei Jahren bzw. sechs Monaten auf zehn Jahre bzw. ein Jahr hat der Gesetzgeber rückwirkend Wirtschaftsgüter des nicht steuerbaren Stammvermögens ohne eine Übergangsregelung mit Wertaufstockung steuerverstrickt; dies verletzt ebenso wie die rückwirkende Steuerverhaftung von Beteiligungen i.S.d. § 17 EStG (s. Rz. 549) das dispositionsschützende Rückwirkungsverbot3. Entsprechend der Regelung zu § 17 EStG hat BMF BStBl. I 2011, 14, eine Übergangsregelung für die Wertzuwächse erlassen, die bis zum Zeitpunkt der Verkündung der Gesetzesänderung am 31.3.1999 eingetreten waren und nach bisheriger Rechtslage hätten steuerfrei realisiert werden können, d.h. bei bereits abgelaufener Spekulationsfrist. Die Aufteilung des Wertzuwachses wird im Verhältnis der Besitzzeit bis zum 31.3.1999 zur Gesamtbesitzzeit vorgenommen. Der mit dieser Regelung bezweckte Vereinfachungseffekt ist mit dem von BVerfGE 127, 1, geforderten Vertrauensschutz nicht vereinbar4.
557
Die von BVerfGE 110, 94 (s. § 3 Rz. 113) beanstandeten verfassungswidrigen Vollzugsdefizite bei der Erfassung von Einkünften aus Wertpapierveräußerungsgeschäften waren bereits vor Einführung der Abgeltungsteuer beseitigt. BVerfG v. 10.1.2008, DStR 2008, 197, bejahte wie BFH BStBl. 2006, 178, die Verfassungsmäßigkeit des § 23 EStG ab 1999. Seit 2009 wird der Vollzug durch Einbeziehung in die abgeltungsteuerpflichtigen Kapitaleinkünfte (§ 20 II EStG) sichergestellt.
§ 23 III 1 EStG definiert den Gewinn oder den Verlust (s. bereits Rz. 197 f.) aus dem privaten Veräußerungsgeschäft als den Unterschied von Veräußerungspreis einerseits und den um die Abschreibungen (s. § 23 III 4 EStG) verminderten Anschaffungs- oder Herstellungskosten sowie den im Weiteren durch das Veräußerungsgeschäft veranlassten Werbungskosten5 andererseits. In den Fällen der Einlagen i.S.d. § 23 I 5 EStG ist an Stelle des Veräußerungspreises der Einlagewert bzw. gemeine Wert anzusetzen (§ 23 III 2 EStG). Bei der Überführung eines Wirtschaftsguts in das Privatvermögen (§ 23 I 2 EStG) tritt an die Stelle der Anschaffungs-/Herstellungskosten der Entnahmewert (§ 23 III 3 EStG). § 23 III 5 EStG gewährt eine Freigrenze von 600 Euro.
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Ab 2009 sind Termingeschäfte bei den abgeltend besteuerten Kapitalveräußerungseinkünften erfasst (§ 20 II 1 Nr. 3 EStG; s. Rz. 497). Die Beschränkung der Verlustverrechnung auf Einkünfte i.S.d. § 23 EStG (§ 23 III 7 EStG) ist gleichheitsrechtlich ebensowenig gerechtfertigt wie die Limitierung der Verlustverrechnung durch § 22 Nr. 3 Satz 3 EStG (s. Rz. 545)6.
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1 BFH BStBl. 1994, 687. 2 Zur Kapitalerhöhung gegen Einlage BMF BStBl. I 2006, 8; Patek, BB 2006, 1142. Die Ausübung von Bezugsrechten ist als Veräußerung der Bezugsrechte anzusehen (BFH BStBl. 2006, 12). 3 BVerfGE 127, 1. 4 BFH/NV 2012, 1130; 2012, 1782; BFH/NV 2014, 1522; 2014, 1529. Dies gilt insb. auch für die Zuordnung von Aufwendungen; hierzu Wernsmann/Neudenberger, FR 2014, 253. 5 Grds. BFH BStBl. 1997, 603. 6 Wie hier Strahl/Fuhrmann, FR 2003, 387; a.A. BFH BStBl. 2007, 259; BFH/NV 2007, 1473; S. Wagner, Stbg. 2007, 184; Balliet, SteuerStud 2007, 438. Kein Gestaltungsmissbrauch bei Verlustrealisierung und anschließendem Wiederkauf BFH BStBl. 2009, 999; BFH/NV 2010, 387; dazu L. Fischer, FS Spindler, 2011, 619.
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§8
Rz. 560
Einkommensteuer
7.4 Zur gleichmäßigen Besteuerung von Veräußerungseinkünften Literatur (bis 1992 s. 16. Aufl.; bis 2000 s. 20. Aufl.): Reimer, Die steuerliche Erfassung privater Veräußerungsgewinne, Diss., 2001; Herbst, Ist die Besteuerung von Veräußerungsgewinnen noch zeitgemäß?, FR 2003, 1006; Kanzler, Grundfragen der Besteuerung betrieblicher Veräußerungsgewinne, FR 2003, 1; Reutershan, Die Besteuerung der Gewinne aus privaten Beteiligungsveräußerungen, Diss., 2004; Bäuml, System u. Reform der Besteuerung privater Veräußerungsgeschäfte, 2005; Müller-Franken, in GS Trzaskalik, 2005, 195; Dechant, Die Besteuerung privater Veräußerungsgeschäfte in systematischer u. verfassungsrechtlicher Hinsicht, Diss., 2006.
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Wie bereits in Rz. 185 ausgeführt, hat das BVerfG 1969/1970 das duale System prinzipieller Erfassung betrieblicher Veräußerungseinkünfte und prinzipieller Nichterfassung privater Veräußerungseinkünfte bisher nicht beanstandet. Nichtsdestotrotz ist die gleichmäßige Besteuerung aller Veräußerungseinkünfte für die Verwirklichung der Steuergleichheit unabdingbar. Der 57. Deutsche Juristentag hat mit beachtlicher Mehrheit folgenden Beschluss gefasst: „Gewinne und Verluste aus der Veräußerung von vermieteten und verpachteten Grundstücken sowie von Kapitalvermögen sind unter Einführung großzügiger Freigrenzen einkommensteuerlich zu berücksichtigen. Die Regelung über Spekulationsgewinne entfällt. Persönlich genutzte Wirtschaftsgüter bleiben von der Besteuerung ausgenommen“ (Sitzungsbericht N, 1988, 212).
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Die gleichmäßige Besteuerung der Veräußerungseinkünfte lässt sich nicht durch das Streichen der Fristen in § 23 EStG bei Herausnahme der selbstgenutzten Immobilien (§ 23 I 1 Nr. 1 Satz 3 EStG) und der „Gegenstände des täglichen Gebrauchs“ erledigen. Das Chaos der Veräußerungsgewinnbesteuerung bei seit 1999 stark ausgeweiteter Erfassung von Wertsteigerungen im Privatvermögen belegt dies überdeutlich (s. Rz. 556). Vielmehr bedarf eine einheitliche Besteuerung von Veräußerungseinkünften einer grundlegenden Reform. So bedürfen die Veräußerungseinkünfte zunächst aus ermittlungstechnischen Gründen einer eigenen Einkunftsart1; diese Einkunftsart ist in das Konzept des deutschen EStG, nur das Erwerbseinkommen zu erfassen, einzubetten2. Demnach ist allgemein die Veräußerung von Wirtschaftsgütern des Erwerbsvermögens (vgl. § 7 II Kölner EStGE) vom nicht steuerbaren Bereich des privaten Konsumvermögens abzugrenzen.
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Im Weiteren sind in einem System der Besteuerung von Veräußerungseinkünften die Veräußerungsersatztatbestände3 zu regeln, die allerdings europarechtlich durch das Verbot der Wegzugsbesteuerung eingeschränkt werden (s. § 4 Rz. 97; § 13 Rz. 156).
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Ein am Leistungsfähigkeitsprinzip orientiertes System gebietet zudem die Vermeidung wirtschaftlicher Doppelbelastungen4 und die Ausgrenzung von Scheingewinnen5. 1 So § 7 Kölner EStGE (Einkünfte aus der Veräußerung von Wirtschaftsgütern, Unternehmen, Unternehmensteilen u. Anteilen an Erwerbsgemeinschaften); Ermittlungsvorschriften: §§ 27–29 Kölner EStGE. Vgl. auch den Lösungsansatz von Herbst, FR 2003, 1006 (1012: selbständige Einkunftsart), sowie die Überlegungen von Kraft/Bäuml, FR 2004, 443 (Auswirkungen der Rspr. des BVerfG u. des BFH auf das System kapitalorientierter Einkommensteuer). 2 So bereits J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des EStG, 1985, § 13 II (Betriebsvermögen); § 26 (Einkünfte aus der Veräußerung von Wirtschaftsgütern des privaten Erwerbsvermögens); P. Kirchhof, Gutachten F zum 57. DJT, 1988, 31 (Einkünfte aus der Veräußerung von Erwerbsvermögen); P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, 2003, 1, 57 ff.: Die Veräußerungseinkünfte sind in der Generalklausel des § 2 II (Einkünfte aus Erwerbshandeln), § 2 III (Erwerbserlöse abzüglich Erwerbskosten) erfasst. Für die Veräußerung von Anteilen an „steuerjuristischen Personen“ gilt § 13. Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, 2004, unterscheidet Cash-Flow-besteuerte Einkünfte aus Erwerbsvermögen (§ 2) und Veräußerungseinkommen aus Privatvermögen (§ 4). 3 Vgl. § 7 III Kölner EStGE (Überführung von Wirtschaftsgütern aus dem Erwerbsvermögen in ein nicht steuerverstricktes Vermögen, unentgeltliche Übertragungen, Aufgabe von Unternehmen u. Realteilung). 4 Wirtschaftliche Doppelbelastung entsteht bei der Veräußerung von Vermögen, in dem versteuerte Erträge gespeichert sind. Dazu Rose, BB 2000, 1062; Wenger, StuW 2000, 177, sowie die Begr. zu § 8b II KStG (s. § 11 Rz. 40). 5 Dazu Watrin/Lühn, DB 2003, 168; Eggesiecker/Ellerbeck, DB 2004, 839. Der Kölner EStGE empfiehlt zum einen die Aufstockung der historischen Anschaffungs-/Herstellungskosten (§ 28 II) und zum anderen den Ausbau der nachgelagerten Besteuerung (s. Kölner EStGE, Begr. Rz. 243 ff.).
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Alterseinkünfte
Rz. 565
§8
8. Alterseinkünfte Literatur: P. Kirchhof, Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Besteuerung der Alterssicherung, 2002; Abschlussbericht der Sachverständigenkommission (sog. Rürup-Kommission) zur Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen, BMF-Schriftenreihe, Bd. 74, 2003; Fuest/Brügelmann, Rentenbesteuerung: Einstieg in ein konsumbasiertes System, StuW 2003, 338; Lautenschläger, Optimale Planung der betrieblichen und privaten Altersvorsorge, in FS Rose, 2003, 543; Schröder, Vergangenheit und Zukunft der Renten- und Pensionsbesteuerung, DStZ 2003, 610; Tipke, StRO II2, 2003, 743 ff.; Tremel, Generationengerechtigkeit und Rentenbesteuerung, in Rose, Integriertes Steuer- u. Sozialsystem, 2003, 421; Winkler, Besteuerung der Altersvorsorge in Deutschland – Kritik u. Zukunftsperspektiven, StWa 2003, 123; Dorenkamp, Nachgelagerte Besteuerung von Einkommen, Besteuerungsaufschub für investierte Reinvermögensmehrungen, Diss., 2004; Jachmann, Generationengerechtigkeit und Steuersystem, DVR-Schriften, Bd. 51, 2004, 125; Mittelsten Scheid, Reform der Altersbesteuerung, Verfassungsrechtliche Vorgaben und Grenzen, Diss., 2004; Ruland, Zur Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen, in FS Selmer, 2004, 889; Bareis, Neuregelung der Rentenbesteuerung, StbJb. 2004/2005, 25; BMF, Steuerliche Förderung der privaten Altersvorsorge und betrieblichen Altersversorgung, BStBl. I 2009, 273 (dazu Fischer, DStR 2009, 722); Geringhoff, Die nachgelagerte Besteuerung der Zukunftssicherung in den USA und in Deutschland, Diss., 2009; Hopf, Das Verbot der doppelten Besteuerung bei Alterseinkünften, Diss., 2009; Glaser, Besteuerungszeitpunkte in der Zusatzversorgung, Diss., 2009; Richter, Die Besteuerung grenzüberschreitender Altersversorgung in der EU, Diss., 2010; Seckelmann, Ist das Alterseinkünftegesetz mit dem Grundgesetz vereinbar?, DStR 2013, 69; Scholtz, Werden die Renten der gesetzlichen Rentenversicherung sachgerecht besteuert?, DStR 2013, 75; Musil, Die Besteuerung der Renten mobiler Arbeitnehmer, FR 2014, 45; Jörißen, Besteuerung der Alterseinkünfte, StBW 2014, 586 u. 947.
8.1. Überblick In Deutschland ruht die Alterssicherung auf drei Säulen: Der staatlichen Altersversorgung (gesetzliche Rentenversicherung, Beamtenpensionen, Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst), der betrieblichen Altersversorgung (s. Rz. 480 ff.) und der privaten Zukunftsvorsorge. Diese Vorsorgeformen wurden einst höchst unterschiedlich belastet. Mittlerweile werden die Systeme der Alterssicherung zunehmend der nachgelagerten Besteuerung unterworfen und damit einheitlicher besteuert. Seit 1980 hat das BVerfG den Gesetzgeber mehrfach aufgefordert, Steuergleichheit herzustellen1, allerdings erst mit Urteil v. 6.3.2002, BVerfGE 105, 73, definitiv entschieden, dass die unterschiedliche Besteuerung der Sozialversicherungsrenten und der Beamtenpensionen mit dem Gleichheitssatz unvereinbar ist. Es gab dem Gesetzgeber auf, bis zum 1.1.2005 eine Neuregelung zu treffen; dabei sei eine doppelte Besteuerung zu vermeiden2.
564
Die Besteuerung der Beamten hat das BVerfG nur marginal beanstandet, sich allerdings nicht zur Methode nachgelagerter Besteuerung (s. § 3 Rz. 76) geäußert. Hauptsächlich erkannte das BVerfG die Verletzung des Gleichheitssatzes darin, dass die Ertragsanteilsbesteuerung von Sozialversicherungsrenten nicht dem ihr zu Grunde liegenden Leitbild entspräche (BVerfGE 105, 73 [124]), weil das „Rentenstammrecht“ überwiegend aus unversteuertem Einkommen gebildet werde. BVerfGE 105, 73 (94 ff.) verweist nicht nur auf die Steuerfreiheit der Arbeitgeberbeiträge zur Rentenversicherung (§ 3 Nr. 62 EStG) und den Sonderausgabenabzug (§ 10 I Nr. 2 Buchst. a EStG), sondern auch auf den Bundeszuschuss, der grds. „einkommensteuerbares Einkommen“ darstelle (BVerfGE 105, 73 [131]).
565
1 BVerfGE 54, 11, sodann BVerfGE 86, 369: Die dem Gesetzgeber für die Reform zur Verfügung stehende Zeit sei wegen der Kompliziertheit der Materie und besonders wegen der eminenten Auswirkungen durch die deutsche Einheit (BVerfGE 86, 369 [380 f.]) noch nicht abgelaufen. 2 Zu BVerfGE 105, 73: Höreth/Schiegl/Zipfel, BB 2002, 1565; Liesenfeld, DStR 2002, 1833; Schneider/ Hofmann, INF 2002, 289; Becker, NJW 2003, 3103; Heger, BB 2003, 130; Briese, DStZ 2004, 833 (Divergenzen in der Rspr. des BVerfG, des BFH u. des BSG); Broer, BB 2004, 527.
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439
§8
Rz. 566
Einkommensteuer
8.2 Rürup-Kommission und geltende Rechtslage nach dem Alterseinkünftegesetz 566
Die vom Bundesminister der Finanzen eingesetzte Sachverständigenkommission (sog. RürupKommission)1 hatte einen Lösungsvorschlag auszuarbeiten, der den Anforderungen des BVerfG an die Reform der Alterseinkünfte genügt. Hierzu entwickelte die Rürup-Kommission folgendes „Drei-Schichten-Modell“:
567
– Die erste Schicht besteht aus der Basisversorgung, das sind die weder beleihbaren noch vererblichen, veräußerbaren, übertragbaren, kapitalisierbaren Anwartschaften aus gesetzlichen Rentenversicherungen, berufsständischen Versorgungen, Alterssicherung der Landwirte und aus neu einzuführenden privaten kapitalgedeckten Leibrentenversicherungen. Die Einkünfte aus der Basisversorgung sollten nach einer Übergangszeit voll nachgelagert besteuert werden (Abschlussbericht, BMF-Schriftenreihe 74 [2003], 18 f., 21 f., 35 ff.);
568
– Die zweite Schicht umfasst die Zusatzversorgung im Alter, die Förderung der privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge nach den §§ 10a; 79 ff. EStG (sog. Riester-Rente)2 und die betriebliche Altersversorgung (s. Rz. 480 ff.). Für den Bereich der zweiten Schicht empfiehlt die Rürup-Kommission eine limitiert nachgelagerte Besteuerung (Abschlussbericht, BMFSchriftenreihe 74 [2003], 26 ff.);
569
– Der dritten Schicht ordnet die Rürup-Kommission Kapitalanlageprodukte zu, die nicht notwendig der Altersvorsorge dienen; sie sollen nach Ansicht der Kommission vorgelagert besteuert werden (Abschlussbericht, BMF-Schriftenreihe 74 [2003], 15 f.).
570
Der Gesetzgeber ist mit dem Alterseinkünftegesetz v. 5.7.20043 im Wesentlichen den Empfehlungen der Rürup-Kommission gefolgt. Die Rspr. hat die Verfassungsmäßigkeit des Alterseinkünftegesetzes sowie der diesbezüglichen Übergangsregelungen bestätigt4, sofern das Verbot der Doppelbesteuerung5 beachtet wird. Das Problem der Doppelbesteuerung, das durch die Vollversteuerung der Renten ab 2040 bei Erreichen des Vollabzugs erst 2025 entsteht, stelle sich erst in der Auszahlungsphase (BFH BStBl. 2010, 282 [291]). Obwohl BFH BStBl. 2010, 414 (416) die Beitragszahlungen den vorweggenommenen Werbungskosten zuordnet, soll hieraus kein unbegrenzter Abzug folgen. Die gesetzgeberische Zuordnung zu den nur begrenzt abziehbaren Sonderausgaben6 sei zwar rechtssystematisch zweifelhaft, liege indes als integraler Bestandteil des Übergangs zur nachgelagerten Besteuerung in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, soweit dem objektiven Nettoprinzip dennoch Rechnung getragen werde (BFH BStBl. 2006, 420 [422 ff.]). Es ergibt sich folgendes Bild der Besteuerung von Alterseinkünften7:
571
– Die staatliche Altersversorgung wird in einem Übergangszeitraum von 2005 bis 2040 in eine voll nachgelagerte Besteuerung überführt. Dabei muss bei den bereits voll nachgelagert besteuerten Beamten nur der Versorgungsfreibetrag und der Zuschlag zum Versorgungsfrei1 Abschlussbericht der Rürup-Kommission, BMF-Schriftenreihe 74, 2003. Dazu Fleischmann, DB 2003, 1195; Fischer, BB 2003, 873 (mehr Schatten als Licht; Replik v. Söhn, StuW 2003, 332); Hermann, SteuerStud 2008, 290; Salzer, StWa 2009, 79; Parkstein/Risthaus, DB 2009, 812. 2 Eingeführt durch Altersvermögensgesetz v. 26.6.2001, BGBl. I 2001, 1310. Dazu grds. Dorenkamp, StuW 2001, 253; krit. Wellisch/Näth, BB 2003, 333; Gunsenheimer, SteuerStud 2008, 470. S. auch Gruber/Rünger/Schönemann, SWI 2010, 383 (Rechtsvergleich Österreich). 3 BGBl. I 2004, 1427. Materialien: BT-Drucks. 15/2150 (Entwurf); 15/3004 (Bericht des Finanzausschusses). Lit. zum Alterseinkünftegesetz s. auch 20. Aufl., § 9 Rz. 570 Fn. 175. 4 BFH BStBl. 2009, 710; 2010, 282; 2010, 348; 2010, 414; 2011, 567; 2011, 579; BFH/NV 2010, 412; 2010, 421; zust. Förster, DStR 2009, 141; Manz, NWB 2010, 492; Risthaus, DB 2010, 139; krit. Paus, EStB 2010, 74 (76 ff.); Stützel, DStR 2010, 1545. 5 Hierzu grundl. Hopf, Das Verbot der doppelten Besteuerung bei Alterseinkünften, Diss., 2009; Seckelmann, DStR 2013, 69: Anforderungen von BVerfGE 105, 73, nicht erfüllt. 6 BFH BStBl. 2009, 1000, hält die Beschränkung zutr. auch europarechtlich für unbedenklich, und zwar auch dann, wenn der Wohnsitzstaat die Auszahlungen voll besteuert. 7 BMF BStBl. I 2013, 1022, zur steuerlichen Förderung der privaten u. betrieblichen Altersvorsorge; BMF BStBl. I 2013, 1087, zur Behandlung von Vorsorgeaufwendungen und Altersbezügen (dazu Wolter, DB 2013, 2646; Spieker, DB 2014, 683); Überblick zu beiden Schreiben Roth, SteuK 2014, 115.
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Alterseinkünfte
Rz. 575
§8
betrag abgeschmolzen werden (s. § 19 II EStG)1. Bei den Bezügen aus gesetzlichen Rentenversicherungen u. anderen Pflichtversicherungen2 wird der Besteuerungsanteil von 50 % bei Rentenbeginn bis 2005 auf 100 % bei Rentenbeginn ab 2040 erhöht (§ 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a, aa EStG). – Alle fünf Durchführungswege der betrieblichen Altersversorgung (s. Rz. 481 ff.) sind nunmehr einheitlich am Prinzip der nachgelagerten Besteuerung ausgerichtet. Gleichwohl wird dieses Prinzip durch Limitierungen und Lohnzuflussfiktionen3 so häufig durchbrochen, dass die Besteuerung der betrieblichen Alterseinkünfte noch weit von einem System nachgelagerter Besteuerung entfernt ist (s. Rz. 487).
572
– Besonders verzerrend wirkt das Steuerrecht im Bereich der privaten Zukunftsvorsorge4 auf die Wahl der Zukunftssicherung ein.
573
Die bereits erwähnte (s. Rz. 568) Riester-Rente wurde durch das Altersvermögensgesetz von 2001 eingeführt. Es handelt sich um eine kapitalgedeckte private Zusatzversorgung, die durch Sonderausgabenabzug nach § 10a EStG und Versteuerung der Bezüge nach § 22 Nr. 5 EStG nachgelagert besteuert wird. Alternativ zu dem Sonderausgabenabzug wird eine Altersvorsorgezulage nach den §§ 79 ff. EStG gewährt. Danach wird der Sonderausgabenabzug nur gewährt, wenn er günstiger ist als die Zulage, was von Amts wegen zu prüfen ist (sog. Günstigerprüfung nach § 10a II EStG).
574
Der Sonderausgabenabzug nach § 10a EStG erfasst Altersvorsorgebeiträge, die auf der Grundlage eines zertifizierten Altersvorsorgevertrages (§ 82 I EStG) geleistet oder in Pensionsfonds, Pensionskassen, Direktversicherungen mit Garantie lebenslanger Versorgung (§ 82 II EStG) eingezahlt werden. Begünstigt sind Pflichtversicherte, Besoldungsempfänger und gleichgestellte Personen (s. § 10a I EStG)5. Abziehbar sind seit 2008 2 100 Euro. Die Altersvorsorgezulage besteht aus einer jährlichen Grundzulage (§ 84 EStG: 154 Euro ab 2008) und einer jährlichen Kinderzulage (§ 85 I EStG: 185 Euro bzw. für ab 2008 geborene Kinder 300 Euro). Die Altersvorsorgezulage muss EU-/EWRAusländern grds. unter gleichen Bedingungen gewährt werden wie Inländern; der Wegzug ins EU-/ EWR-Ausland darf nicht durch die Rückzahlung der Zulage sanktioniert werden, vgl. §§ 79 Satz 2; 85 II 1; 95 I Nr. 1 EStG i.d.F. des EU-UmsG v. 8.4.2010, BGBl. I 2010, 386, als Reaktion auf EuGH C-269/07, Kommission ./. Deutschland; dazu Myßen/Fischer, FR 2010, 462.
575
Mit dem Eigenheimrentengesetz6 ist das System der Riester-Rente um den sog. Wohn-Riester (§§ 92a; 92b EStG) erweitert worden: Der Zulageberechtigte kann das in einem zertifizierten Altersvorsorgevertrag gebildete Kapital als Altersvorsorge-Eigenheimbetrag für die Anschaffung, Herstellung oder Entschuldung einer Wohnung, für den Erwerb von Genossenschafts1 Verfassungsmäßigkeit im Vergleich zur Besteuerung gesetzlicher Renten bejaht FG Nürnberg EFG 2013, 214 und bestätigt durch BFH/NV 2014, 37 unter Verweis auf BFH BStBl. 2013, 573. 2 Zur Abgrenzung der Pflichtversicherten zum nicht begünstigten Personenkreis s. BMF BStBl. I 2013, 1022 (1082 f.; Anlage 1). 3 Kern des Übels ist § 2 II Nr. 3 LStDV, der Ausgaben des Arbeitgebers für die Zukunftssicherung als Zufluss von Arbeitslohn fingiert. Tatsächlich fließt dem Arbeitnehmer ein Arbeitslohn erst mit den Altersbezügen zu (zutr. Birk, BB 2004, 974). Eine den Anforderungen des Art. 80 I GG genügende Ermächtigung fehlt. § 2 II Nr. 3 LStDV kann insb. nicht auf § 51 I Nr. 1 EStG gestützt werden, da die Fiktion keine „unwesentliche“ Einzelheit ist (s. Kirchhof/Kirchhof13, § 51 EStG Rz. 20). Sodann führen die Limitierungen des § 3 Nr. 63 EStG zu einer vorgelagerten Besteuerung des noch nicht zugeflossenen Arbeitslohns, die durch § 40b I, II EStG abgemildert wird (s. Rz. 483). Die vorgelagerte Besteuerung der Einkünfte aus der Zusatzversorgung des öffentlichen und kirchlichen Dienstes verletzt den Gleichheitssatz (s. Birk, DStZ 2004, 777). 4 Dazu BMF BStBl. I 2013, 1022; // Killat, DStZ 2013, 616. 5 Zur Verfassungsmäßigkeit des Ausschlusses von Rechtsanwälten s. BVerfG HFR 2003, 409. 6 Gesetz zur verbesserten Einbeziehung der selbstgenutzen Wohnimmobilie in die geförderte Altersvorsorge v. 29.7.2008, BGBl. 2008, 1509. Zu Einzelheiten des Wohn-Riesters BMF BStBl. I 2013, 1022 (1047, Rz. 161 ff.: Wohnförderkonto u.a.; 1056, Rz. 232 ff.: Altersvorsorge-Eigenheimbetrag u. Tilgungsforderung für eine wohnungswirtschaftliche Verwendung); Hegemann, Stbg. 2008, 373; Myßen/ Fischer, NWB 2011, 4304. Das Eigenheimrentenmodell beurteilen ökonomisch positiv Schönemann/ Dietrich/Kiesewetter, StuW 2009, 107; Dommermuth, DStR 2010, 1816; Weißflog, SteuerStud 2010, 628.
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§8
Rz. 576
Einkommensteuer
anteilen zur Selbstnutzung einer Genossenschaftswohnung verwenden (§ 92a I EStG)1. Der Anbieter, bei dem der Zulageberechtige den Altersvorsorgevertrag abgeschlossen hat, hat den Altersvorsorge-Eigenheimbetrag, die Tilgungsleistungen für ein zu wohnungswirtschaftlichen Verwendung aufgenommenes Darlehen sowie die hierfür gewährten Zulagen auf einem Wohnförderkonto gesondert zu erfassen (§ 92a II EStG). 576
Die sog. Rürup-Rente wurde durch das Alterseinkünftegesetz von 2004 (s. Rz. 570) eingeführt; sie betrifft kapitalgedeckte Altersvorsorgeprodukte der Basisversorgung, deren Ansprüche weder vererblich noch übertragbar, beleihbar, veräußerbar und kapitalisierbar sein dürfen (s. Rz. 567). Die Einkünfte aus dieser Kategorie werden nach den §§ 10 I Nr. 2 Buchst. b, III; 22 Nr. 1 Satz 3 a, aa EStG limitiert2 nachgelagert besteuert.
577
Altersvorsorgeverträge i.S.d. § 10 I Nr. 2 Buchst. b EStG müssen wie Riester-Renten zertifiziert werden (dazu Wißborn, NWB 2010, 2531). Der Vertragsinhalt ist zudem stark eingeschränkt: § 10 I Nr. 2 Buchst. b EStG setzt eine auf das Leben des Stpfl. bezogene monatliche Leibrente voraus, die nicht vor Vollendung des 62. Lebensjahrs gezahlt werden darf. Ergänzende Absicherungen (Berufsunfähigkeits-/Erwerbsminderungs-/Hinterbliebenenrente) sind zulässig.
578
Das Sonderrecht der Lebensversicherungen ist für nach dem 31.12.2004 geschlossene Neuverträge abgeschafft worden3. An die Stelle des Sonderausgabenabzugs für Lebensversicherung ist der Sonderausgabenabzug für die Rürup-Rente (s. Rz. 576) getreten. Im Weiteren hat der Gesetzgeber die Steuerfreiheit der außerrechnungsmäßigen und rechnungsmäßigen Zinsen (§ 20 I Nr. 6 EStG 2004) beseitigt.
579
Zu dem gesetzlichen Sonderrecht der Riester-Rente und der Rürup-Rente tritt das nunmehr gesetzlich geregelte (s. Rz. 527) Sonderrecht der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen hinzu (s. Rz. 531 ff.). Sachgerecht wäre hier die Ertragsanteilbesteuerung, die dem Leitbild des Leibrentenkaufs aus versteuertem Einkommen entspricht4. Bei Veräußerungsleibrenten bleibt die versicherungsmathematisch exakt ermittelte Ertragsanteilsbesteuerung die zutreffende Alternative zur nachgelagerten Besteuerung; das gilt i.Ü. für alle eigenfinanzierten Renten, wenn der versteuerte Kapitalanteil genau bestimmt ist5.
8.3. Kritik und Reformüberlegungen 580
Der Umbau der Zukunftssicherung vom demographisch gefährdeten Umlageverfahren in kapitalgedeckte Vorsorgeformen war seit längerem überfällig, so dass die Maßnahmen des Altersvermögensgesetzes von 2001 (BGBl. I 2001, 1310) und des Alterseinkünftegesetzes von 2004 (s. Rz. 570) schon verspätet erscheinen. Beide Gesetze weisen in die richtige Richtung. Jedoch sind die Instrumente der Riester-Rente und auch der Rürup-Rente so abschreckend kompliziert geregelt, dass sich selbst Fachleute nicht mehr zurecht finden6. Eine grundlegende Bereinigung des Normenchaos ist unbedingt erforderlich, um dem Bürger das Prinzip der nachgelagerten Besteuerung transparenter zu vermitteln. Dies kann am Besten durch die Regelung einer eige1 Für EU-/EWR-Grenzarbeitnehmer unabhängig davon, ob die Wohnung in Deutschland belegen ist, Erweiterung von § 92a I 2 EStG durch EU-UmsG v. 8.4.2010, BGBl. I 2010, 386, als Reaktion auf EuGH C-269/07, Kommission ./. Deutschland. 2 Die Limitierung ergibt sich aus den Höchstbeträgen für Vorsorgeaufwendungen i.S.d. § 10 I Nr. 2 EStG nach § 10 III EStG. Die dort niedergelegten Höchstbeträge von 20 000 Euro/Ehegatten: 40 000 Euro (ab 2015 24 000/48 000) werden 2005 nur zu 60 % angesetzt. Der Prozentsatz wird jährlich um 2 % erhöht, so dass der volle Betrag im Jahr 2025 abziehbar ist. Zur Ermittlung des Abzugsbetrags BMF BStBl. I 2013, 1087 (1094, Rz. 46 ff.); Risthaus, DB 2004, 1329 (1331 f.). 3 Zum Übergang s. BMF BStBl. I 2002, 827; 2004, 1096. 4 Zu diesem Leitbild Fischer, Altersvorsorge und Altersbezüge, DStJG 24 (2001), 463 (469). Vgl. dazu BVerfGE 105, 73 (123). 5 Vgl. dazu Kiesewetter/Niemann, StuW 2002, 48; Kiesewetter/Niemann, BB 2002, 857. 6 Vgl. hierzu die Kontroverse zwischen Dommerhuth/Hauer, Ist die neue „Rürup“-Versicherung steuerlich u. wirtschaftlich wirklich sinnvoll?, FR 2005, 57, und Risthaus, Besteuerung der „Rürup-Rente“ – auch für Experten nur schwer durchschaubar?, FR 2005, 295 (hiergegen Dommerhuth/Hauer, FR 2005, 297); ferner Suttner/Wiegard, StuW 2012, 3.
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Gemeinsame Vorschriften zu allen Einkunftsarten
Rz. 587
§8
nen Einkunftsart geleistet werden, die den Besonderheiten der nachgelagerten Besteuerung Rechnung trägt (s. §§ 8; 30; 31 Kölner EStGE). Der Bürger sollte selbst entscheiden können, welche Form der Zukunftssicherung für ihn die richtige ist. Daher ist die stark regulierende Unterscheidung von Produkten der Basisversorgung und Kapitalanlageprodukten (s. Rz. 567/569) mit den Folgen nach- und vorgelagerter Besteuerung verfehlt. Jedoch ist eine unlimitiert nachgelagerte Besteuerung für alle Alterseinkünfte fiskalisch nicht zu verkraften. Somit stellt sich die Frage, ob die Investitionen in die private Zukunftsvorsorge einheitlich am Prinzip der Ertragsanteilbesteuerung ausgerichtet, also der Abzug von Vorsorgeaufwendungen im Bereich der privaten Zukunftsvorsorge zusammen mit der Altersvorsorgezulage (§§ 79 ff. EStG) abgeschafft werden sollte. Dadurch würde es fiskalisch möglich, alle Erträge erst bei konsumtiver Verwendung zu versteuern. Diese Lösung verbindet ein Prinzip vorgelagerter Besteuerung mit dem lebenszeitlichen Prinzip nachgelagerter Besteuerung, die Erträge erst im Zeitpunkt des Alterskonsums zu versteuern.
581
Für die exakte, nicht wie § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a, bb EStG typisierte Ertragsanteilbesteuerung sowie die Erfassung der thesaurierten und reinvestierten Erträge bietet der Kölner EStGE das administrative Konzept: Nach § 31 II Kölner EStGE werden die Beiträge aus versteuertem Einkommen und die noch nicht versteuerten Erträge kontenmäßig unter der Steuernummer des Stpfl. getrennt. Die dazu benötigten Daten übermitteln die Banken, Versicherungen etc. auf elektronischem Wege der Finanzbehörde. Diese Daten gehen in den elektronischen Steuererklärungsentwurf (§ 50 VI Kölner EStGE) ein, so dass der Bürger insoweit von seiner gerade bei Kapitaleinkünften schwierigen Steuererklärungsarbeit entlastet wird. Der elektronische Datenaustausch geschieht im Einvernehmen mit dem Stpfl., dessen Einkünfte aus Finanzkapital (§ 6 I Kölner EStGE) außerhalb des Systems nachgelagerter Besteuerung periodisch besteuert werden. Diese durchgreifende Vereinfachung lässt sich technisch besonders mittels der Identifikationsnummer (§ 139b AO) in ähnlicher Weise wie das elektronische Verfahren beim Lohnsteuerabzug (s. Rz. 904) verwirklichen. Die fiskalisch notwendige Limitierung der nachgelagerten Besteuerung kann mit dem Abgeltungsteuersatz (s. Rz. 494) so abgestimmt werden, dass die Stpfl. bis zu einem den Abgeltungsteuersatz überschreitenden Grenzsteuersatz nachgelagert besteuert werden.
582
583–584
Einstweilen frei.
IV. Gemeinsame Vorschriften zu allen Einkunftsarten Gemeinsame Vorschriften zu allen Einkunftsarten enthält § 24 EStG. Er ergänzt die §§ 13–23 EStG.
585
§ 24 Nr. 1 EStG erfasst Entschädigungen, die als Ersatz für entgangene oder entgehende Einnahmen1 (Buchst. a), für die Aufgabe oder Nichtausübung einer Tätigkeit, für die Aufgabe einer Gewinnbeteiligung2 oder einer Anwartschaft (Buchst. b) gewährt worden sind sowie Ausgleichszahlungen an Handelsvertreter nach § 89b HGB (Buchst. c). § 24 Nr. 2 EStG erfasst Einkünfte aus einer ehemaligen steuerbaren Einkunftsquelle; auch solche, die dem Rechtsnachfolger zufließen.
586
Die Vorschrift hat (soweit sie nicht den Rechtsnachfolger betrifft) nur klarstellende Bedeutung. Hinsichtlich des Rechtsnachfolgers wirkt sie wie eine konstitutive Zurechnungsvorschrift. Die vom Rechtsvorgänger erwirtschafteten Einkünfte werden dem Rechtsnachfolger zugerechnet.
§ 24 Nr. 3 EStG erfasst Nutzungsvergütungen für die erzwungene Inanspruchnahme von Grundstücken für öffentliche Zwecke und einschlägige Entschädigungen; er ergänzt § 21 EStG, der nur die vertragliche Überlassung von Grundstücken erfasst. 1 Ein Surrogat i.S.d. § 24 Nr. 1 Buchst. a EStG liegt nur vor, wenn die Entschädigung auf einer neuen Rechtsgrundlage oder Billigkeitsgrundlage beruht. Dazu BFH BStBl. 2004, 442; 2004, 444; 2004, 446; 2004, 447; 2004, 449; 2004, 451; BFH/NV 2008, 361; 2008, 1666; 2009, 130; BFH BStBl. 2012, 286; BMF BStBl. I 2013, 1326. 2 S. BFH BStBl. 2002, 347 (348).
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443
587
§8
Rz. 588
Einkommensteuer
Die Vergütungen und Entschädigungen i.S.d. § 24 Nr. 3 EStG sind tarifbegünstigt nach § 34 I, II Nr. 3 EStG, soweit sie für einen Zeitraum von mehr als drei Jahren nachgezahlt werden.
V. Konkurrenzen mehrerer Einkunftsarten 588
Der Begriff „Gewerbebetrieb“ (§ 15 II EStG) ist so weit gefasst, dass die Land- und Forstwirtschaft (§ 13 EStG) und die selbständige Tätigkeit (§ 18 EStG) wieder ausgegrenzt werden mussten. Daraus ergibt sich: §§ 13; 18 EStG gehen § 15 EStG vor. Ein Gewerbebetrieb liegt auch nicht vor, wenn lediglich Vermögen zum Zwecke der Nutzung verwaltet wird. Betätigt sich eine Personengesellschaft nicht nur, aber auch gewerblich, so wird ihre Tätigkeit insgesamt als gewerbliche behandelt (s. § 15 III Nr. 1 EStG).
589
§§ 20 VIII; 21 III; 22 Nr. 1 Satz 1, Nr. 3 Satz 1; 23 II EStG bezwecken, dass die Einkunftsarten des § 2 I 1 Nrn. 1–3 EStG den übrigen Einkunftsarten in gewisser Hinsicht vorgehen. Erfasst werden sollen insb. die Fälle, in denen zum Betriebsvermögen gehörige Wirtschaftsgüter Dritten zur Nutzung überlassen werden. Die Verwertung von Betriebsvermögen durch Nutzungsüberlassung führt also zu Einkünften nach § 2 I 1 Nrn. 1–3 EStG. I.E. ergibt sich aus §§ 20 VIII; 21 III; 22 Nr. 1 Satz 1, Nr. 3 Satz 1; 23 II EStG Folgendes:
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(1) Einkünfte sind nicht als solche aus Kapitalvermögen zu qualifizieren, wenn sie bereits den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft, aus Gewerbebetrieb, aus selbständiger Arbeit oder aus Vermietung und Verpachtung zugehören (§ 20 VIII EStG). Beispiele: Landwirt L erhält Zinsen aus betrieblichem Bankguthaben: Die Zinsen sind Einnahmen aus Landwirtschaft, nicht aus Kapitalvermögen. Zugleich hat L ein privates Sparguthaben: Die Zinsen daraus sind Einnahmen aus Kapitalvermögen. – Gewerbetreibender G hält im Betriebsvermögen Aktien: Die Dividenden daraus sind Einnahmen aus Gewerbebetrieb, nicht aus Kapitalvermögen. § 20 VIII EStG regelt nicht ausdrücklich das Verhältnis der Einkünfte aus Kapitalvermögen zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit. Nach BFH BStBl. 1990, 532, gibt es keine Subsidiarität der Kapitaleinkünfte gegenüber den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit. Vielmehr sei maßgebend, welche Einkunftsart im Einzelfall im Vordergrund stehe.
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(2) Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sind anderen Einkunftsarten zuzurechnen, soweit sie zu diesen gehören (§ 21 III EStG). Beispiele: Ein Gewerbetreibender vermietet ein zum Betriebsvermögen gehörendes Gebäude oder eine Sachgesamtheit des Betriebsvermögens: Der Mietzins gehört zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb (§§ 5 I; 15 I; 21 III EStG). § 21 I 1 Nr. 2 EStG mit seinem Hinweis auf das Betriebsvermögen ist irreführend. Wird einer Haushälterin dienstvertraglich eine Wohnung neben dem Barlohn überlassen, so liegt nach BFH BStBl. 1999, 213, eine Vermietung i.S.d. § 21 I 1 Nr. 1 EStG vor. Die Einnahme besteht in dem geldwerten Vorteil der anteiligen Dienstleistung.
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(3) Einkünfte aus wiederkehrenden Bezügen und aus Leistungen sind den anderen Einkunftsarten zuzurechnen, soweit sie zu diesen gehören (§ 22 Nr. 1 Satz 1, Nr. 3 Satz 1 EStG). Beispiele: Ein Kaufmann veräußert ein Betriebsgrundstück gegen eine Leibrente: Einkünfte aus Gewerbebetrieb, kein Fall des § 22 Nr. 1 EStG (s. § 22 Nr. 1 Satz 1: „soweit“). Dazu auch Rz. 579. Das Kapitalkonto des Gesellschafters einer OHG ist bei dessen Ausscheiden aus Altersgründen 0, so dass er keinen Abfindungsanspruch hat. Die verbleibenden Gesellschafter gewähren ihm jedoch, um das Ansehen des Betriebs (betriebliche Veranlassung) nicht zu gefährden, eine lebenslange Versorgungsrente. Es handelt sich um nachträgliche gewerbliche Betriebseinnahmen (§ 15 I 2 EStG). Ein Rechtsanwalt gestattet, dass eine Schreibmaschine seines Büros von einem benachbarten Büro entgeltlich mitbenutzt wird: Einnahmen aus selbständiger Arbeit, kein Fall des § 22 Nr. 3 EStG.
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Private Abzüge
Rz. 702
§8
Ein Pensionär schreibt nachhaltig (nicht bloß gelegentlich) gegen Honorar Zeitungsartikel: Einnahmen aus freier Berufstätigkeit (§ 18 I Nr. 1 EStG), kein Fall des § 22 Nr. 3 EStG (kein Konkurrenzfall).
(4) Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften (§§ 22 Nr. 2; 23 EStG) sind nach § 23 II EStG subsidiär gegenüber anderen Einkunftsarten.
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594–699
Einstweilen frei.
H. Private Abzüge 1. Allgemeines zu den privaten Abzügen Zweck der privaten Abzüge: Private Abzüge mindern die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer auf den Stufen des § 2 IV, V EStG und dienen grds. dem Zweck, den indisponiblen Teil des Markteinkommens aus der Besteuerungsgrundlage zu eliminieren (dazu bereits Rz. 41, 42, 70 ff.; § 3 Rz. 72). Diesen Zweck verwirklicht das geltende Einkommensteuergesetz nicht systematisch, sondern durch ein Konglomerat privater Abzüge. Außerdem ist auch die Maßgröße subjektiver Leistungsfähigkeit von Sozialzwecknormen durchsetzt. Das gilt insb. für den Bereich der Sonderausgaben (§§ 10–10d EStG). Grds. sind Sonderausgaben unvermeidbare Privatausgaben und daher die diesen Abzug zulassenden Vorschriften Fiskalzwecknormen zur Eliminierung des indisponiblen Einkommens1. § 10 EStG verfolgt unterschiedlichste Zwecke und regelt insb. die richtigerweise als vorweggenommene Werbungskosten (s. Rz. 233) einzuordnenden Altersvorsorgeabzüge (§ 10 I Nr. 2 EStG). § 10b EStG regelt das Spendenrecht (s. § 20 Rz. 15 ff.), enthält also durchweg Sozialzwecknormen. § 10d EStG gehört in die Maßgröße objektiver Leistungsfähigkeit.
700
Auf den Stufen des § 2 IV, V EStG dürfen keine Erwerbsaufwendungen abgezogen werden. Die Frage der Abzugsfähigkeit von Erwerbsaufwendungen entscheidet das Gesetz grds. bei der Ermittlung von Einkünften. §§ 10 I Einleitungssatz; 33 II 2 EStG stellen klar, dass Aufwendungen, die begrifflich zu den Betriebsausgaben oder Werbungskosten gehören, weder als Sonderausgaben noch als außergewöhnliche Belastungen abgezogen werden können.
701
Das Abzugsverbot des § 12 EStG gilt grds. nur für die Maßgröße objektiver Leistungsfähigkeit2. Dies ergibt sich aus dem Einleitungssatz des § 12 EStG. Bei gemischter Veranlassung sind die Aufwendungen aufteilbar. Beispiel: Wird ein häusliches Arbeitszimmer teils beruflich, teils zu Ausbildungszwecken i.S.d. § 10 I Nr. 7 EStG genutzt, können die Aufwendungen entsprechend aufgeteilt abgezogen werden3. Jedoch sind nach BFH/NV 1996, 740, die Promotionskosten einer wissenschaftlichen Assistentin in voller Höhe als Werbungskosten abziehbar, weil sich Werbungskosten und Ausbildungsaufwendungen i.S.d. § 10 I Nr. 7 EStG nicht unterscheiden lassen, so dass der Vorrang des Werbungskostenabzugs (§ 10 I Einleitungssatz EStG) gilt.
Der Zeitpunkt des Abzugs richtet sich nach der Zahlung. Es gilt § 11 II EStG4. Indessen bestand bisher im Bereich der persönlichen Abzüge insofern eine Lücke, als die Erstattung und Rückzahlung von Aufwendungen nicht geregelt ist5: Negative Sonderausgaben und negative außergewöhnliche Belastungen kennt das Gesetz nicht. § 11 I EStG ist auf die Erstattung 1 2 3 4
Dazu grds. KSM/Söhn, § 10 EStG Rz. A 17 (2008). J. Lang, Bemessungsgrundlage, 77 ff.; KSM/Söhn, § 10 EStG Rz. A 18 (2008). BFH BStBl. 1990, 901. BFH BStBl. 1986, 284; 1992, 550 (551) für Sonderausgaben; BFH BStBl. 1982, 744; 1988, 814 (816) für außergewöhnliche Belastungen. 5 Dazu Wüllenkemper, Rückfluß von Aufwendungen im Einkommensteuerrecht, Diss., 1987, 113 ff. Der Kölner EStGE schließt die Lücke durch den Ansatz von „Privateinnahmen“. Die nach § 2 II Kölner EStGE zu versteuernden Privateinnahmen sind u.a. die „Erstattung oder Rückzahlung abgezogener Privatausgaben“ (§ 35 III Nr. 3 Kölner EStGE).
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§8
Rz. 703
Einkommensteuer
und Rückzahlung von Aufwendungen, die nach den §§ 10; 33 ff. EStG abgezogen worden sind, nicht anwendbar. § 10 IVb EStG schafft ab 2012 lediglich partiell eine Regelung für den Rückfluss bestimmter Sonderausgaben (s. i.E. Rz. 705). 703
Grds. lässt sich das Erstattungs- und Rückzahlungsproblem de lege lata nur über den Aufwendungsbegriff lösen: Aufwendungen i.S.d. §§ 10; 33 ff. EStG liegen nur vor, wenn der Stpfl. wirtschaftlich belastet ist, d.h. der Aufwendung keine Gegenleistung bzw. kein Gegenwert gegenübersteht; es gilt abweichend von § 11 EStG das Belastungsprinzip1. Allerdings wird der Aufwendungsbegriff unterschiedlich praktiziert: Bei den außergewöhnlichen Belastungen werden die Erstattung und Rückzahlung im Abflussjahr der Aufwendung aufwendungsmindernd berücksichtigt; das Belastungsprinzip bestimmt lediglich die Höhe des Abzugsbetrags, nicht hingegen den Abzugszeitpunkt, der nach § 11 II EStG anzusetzen ist2. Erstattungen und Rückzahlungen sind rückwirkende Ereignisse i.S.d. § 175 I 1 Nr. 2 AO, so dass eine Korrektur bestandskräftiger Steuerbescheide möglich ist, wenn die Aufwendung i.S.d. § 33 EStG sehr viel später erstattet/zurückgezahlt wird.
704
Nach bisheriger Verwaltungspraxis (BMF BStBl. I 2002, 667) sollen auch Sonderausgaben nur abgezogen werden können, wenn der „Stpfl. tatsächlich und endgültig wirtschaftlich belastet ist“. Bei Rückzahlungen und Erstattungen wurde bisher nach der Qualität der Sonderausgaben differenzert und eine Verrechnung in späteren Veranlagungszeiträumen nur mit gleichartigen3 Sonderausgaben zugelassen. War eine Verrechnung mit gleichartigen Sonderausgaben im Erstattungsjahr nicht oder nicht in voller Höhe möglich, wurde der Sonderausgabenabzug rückwirkend gem. § 175 I 1 Nr. 2 AO gemindert.
705
§ 10 IVb EStG i.d.F. des Steuervereinfachungsgesetzes 2011 EStG regelt nunmehr Zuschüsse und Erstattungen von Sonderausgaben dergestalt, dass zunächst eine Verrechnung innerhalb der Nrn. 2 bis 3a des § 10 I EStG vorzunehmen ist. Für die Nr. 3 (Kranken- und Pflegeversicherung) und 4 (Kirchensteuer) ist vorgesehen, dass ein übersteigender Betrag dem Gesamtbetrag der Einkünfte zugerechnet und somit im Erstattungsjahr zu berücksichtigen ist. Im Umkehrschluss sind dann in allen übrigen Fällen Rückzahlungen und Erstattungen als rückwirkende Ereignisse durch Reduktion des Sonderausgabenabzugs im Jahr der Verausgabung zu berücksichtigen. § 10 IVb EStG beseitigt zwar die bisherige Rechtsunsicherheit, wann Sonderausgaben als gleichartig anzusehen sind, enthält jedoch lediglich eine (unnötig komplizierte) punktuelle Regelung für einzelne Kategorien von Sonderausgaben, anstatt einen allgemeinen Tatbestand vorzusehen, der den Ansatz von Privateinnahmen ermöglicht (s. § 35 III Kölner EStGE).
706
Die persönliche Abzugsberechtigung ergibt sich aus dem Aufwendungsbegriff: Abzugsberechtigt ist derjenige, der durch die Aufwendung wirtschaftlich belastet ist, also den Aufwendungstatbestand subjektiv verwirklicht. Bei Zahlungen Dritter verhält es sich wie bei Erwerbsaufwendungen (s. Rz. 223 ff.). Es müssen die Fragen, wer den Aufwendungstatbestand verwirklicht und wer Mittel zuwendet für Aufwendungen eines Zuwendungsempfängers, geklärt werden. So ist im Falle von Haftpflichtversicherungen i.S.d. § 10 I Nr. 2 Buchst. a EStG danach zu fragen, wer gegenüber der Versicherungsgesellschaft zur Beitragszahlung verpflichtet ist. Dies ist regelmäßig der Versicherungsnehmer (s. Rz. 225 f.), so dass dieser wirtschaftlich belastet ist und demzufolge den Aufwendungstatbestand verwirklicht. Deshalb ist nach BFH BStBl. 1989, 682; 1995, 637, allein der die Beiträge schuldende Versicherungsnehmer abzugsberechtigt. 1 Dazu m.w.N. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 518 ff.; Wüllenkemper, Rückfluß von Aufwendungen im Einkommensteuerrecht, Diss., 1987, 115 ff.; Kirchhof/Mellinghoff13, § 33 EStG Rz. 9. 2 BFH BStBl. 1982, 744; 1988, 814 (816). 3 So zur Kirchensteuer BFH BStBl. 2004, 1058; 2009, 229; zu § 11 EStG: BFH/NV 2009, 568. Zur Gleichartigkeit bei Versicherungsbeiträgen BFH BStBl. 2010, 38. Lit.: Demuth, NWB Fach 2, 9271 (2007): Wahlmöglichkeiten; Eggesiecker/Ellerbeck, FR 2008, 1087 (Kirchensteuer); Tiedtke/Szczesny, FR 2008, 996 (in späteren Veranlagungszeiträumen erstattete Aufwendungen); Thouet, DStR 2008, 29 (Kirchensteuer-Erstattungsüberhänge).
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Rz. 711
§8
Die nach § 2 IV EStG vom Gesamtbetrag der Einkünfte abzuziehenden Sonderausgaben (s. Rz. 105) sind Privatausgaben. Gleichwohl regelt der Abschnitt „Sonderausgaben“ (§§ 10–10i EStG) auch Abzüge, die steuersystematisch dem Einkünftebereich zuzuordnen sind, wie insb. der Verlustabzug1. Im Weiteren korrespondieren Sonderausgaben mit Einkünften (§§ 10 I Nrn. 1, 1a, 2; 10a; 9 I 3 Nr. 1; 22 Nrn. 1, 1a EStG).
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Nur wenige Sonderausgaben können der indisponiblen Einkommensverwendung (s. Rz. 41 f.) zugeordnet werden2. Sozialzwecknormen sind der Spendenabzug nach § 10b EStG (s. § 3 Rz. 21; § 20 Rz. 15) sowie die Abzüge nach den §§ 10e-10i EStG zur Eigenheim-, Baudenkmalund Kulturgutförderung. Demnach kann das Konglomerat der „Sonderausgaben“ in einer systematisch bereinigten Neufassung des Einkommensteuergesetzes ohne Steuervergünstigungen keinen Platz mehr haben.
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Private Abzüge
2. Abzugsfähigkeit sog. Sonderausgaben
Die Grundvorschrift des § 10 EStG regelt folgende Sonderausgaben: (1) Der Abzug von Unterhaltsleistungen an den geschiedenen oder getrennt lebenden Ehegatten ist Teil des in den §§ 10 Ia Nr. 1; 22 Nr. 1a EStG normierten Realsplittings (s. Rz. 98, 529); es handelt sich um indisponible Einkommensverwendung auf der Stufe subjektiver Leistungsfähigkeit (s. Rz. 529).
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(2) Der Abzug von Versorgungsleistungen gegen die Übertragung von Betrieben/Teilbetrieben und von GmbH-Anteilen (§ 10 Ia Nr. 2 EStG) und der Abzug von Leistungen aufgrund eines schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs (§ 10 Ia Nr. 4 EStG) korrespondieren mit der Versteuerung der Leistungen nach § 22 Nrn. 1b u. 1c EStG. Die Neuregelung des JStG 2008 setzt das bisherige Richterrecht um und schränkt dessen Anwendungsbereich zugleich stark ein (s. Rz. 531 ff.).
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(3) Der Abzug von Vorsorgeaufwendungen3 nach § 10 I Nrn. 2, 3, II, III EStG ist weitgehend Teil der bereits dargelegten nachgelagerten Besteuerung (s. Rz. 570 ff.). Steuersystematisch liegen Erwerbsaufwendungen bei nachgelagert besteuerten Alterseinkünften vor (dazu §§ 8, 30, 31 Kölner EStGE). Hingegen sind die nach § 10 I Nr. 3 Buchst. a, b und Nr. 3a EStG abziehbaren Beiträge zu Kranken- und Pflegeversicherungen sowie zu Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit, Erwerbs- und Berufsunfähigkeit, Unfall-, Haftpflicht- und Todesfallversicherungen der indisponiblen Einkommensverwendung zuzuordnen, weil sie der Existenzsicherung dienen4. BVerfGE 120, 125, hat hieraus gefolgert, dass Beiträge zu Kranken- und Pflegeversicherung, soweit diese auf ein sozialhilferechtliches Versorgungsniveau beschränkt sind, der Garantie der Steuerfreiheit existenznotwendiger Aufwendungen unterfallen. In § 10 IV 4 EStG wurde daraufhin durch Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung v. 16.7.2009, BGBl. I 2009, 1959, die Höchstbetragsregelung für Beiträge zu Kranken- und Pflegeversicherung (§ 10 I Nr. 3 EStG) außer Kraft gesetzt5. Abziehbar sind nunmehr unter Abzug steuerfreier Arbeit-
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1 Zu § 10d EStG s.Rz. 67 ff. Aus dem „vorrangig vor Sonderausgaben“ (§ 10 I 1, II 1 EStG) abzuziehenden Verlustabzug ergibt sich, dass die Regelung im Abschnitt „Sonderausgaben“ fehlplatziert ist; hierzu Rz. 64 mit Fn. 2. Der Verlustabzug gehört zum Maßstab objektiver Leistungsfähigkeit (§ 2 II Kölner EStGE: Summe der Einkünfte, vermindert um den Verlustabzug), für den das objektive Nettoprinzip gilt (s. Rz. 42). 2 Systematisierung aus ökonomischer Sicht Scheffler/Kandel, StuW 2011, 236. 3 I.E. BMF BStBl. I 2013, 1087. Grds. Englisch, NJW 2006, 1025; Horlemann, FR 2006, 1075 (dogmatische Einordnung nachgelagerter Besteuerung); Söhn, FR 2006, 905 (Werbungskosten oder Sonderausgaben?); Fischer, FR 2007, 76; Wesselbaum-Neugebauer, FR 2007, 683 (Altersvorsorgeaufwendungen); Wesselbaum-Neugebauer, FR 2007, 911 (Sozialversicherungsbeiträge); F. Fischer, SteuerStud 2009, 354. BVerfGE 120, 169, hat Verfassungsbeschwerden wg. zu niedriger Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen, insb. von Beiträgen zu berufsständischen Versorgungseinrichtungen, nicht zur Entscheidung angenommen. 4 BVerfG 120, 125 (154 f.). 5 Dazu Fischer/Merker, SteuerStud 2010, 201; Söhn, FS J. Lang, 2010, 549 (verfassungs- und steuersystematische Aspekte); Risthaus, DStZ 2009, 669; Dommermuth/Hauer, DB 2009, 2512; Myßen/Wolter, NWB 2009, 2313; Grün, NWB 2013, 2914.
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§8
Rz. 712
Einkommensteuer
geberzuschüsse zur Kranken- und Pflegeversicherung in voller Höhe die Beiträge, die für ein sozialhilfegleiches Versorgungsniveau erforderlich sind. 712
(4) Gezahlte Kirchensteuer (§ 10 I Nr. 4 EStG)1: Nach BFH BStBl. 1975, 708 (710) sind nur Kirchensteuern i.S.v. Art. 140 GG i.V.m. Art 137 VI WRV abziehbar, so dass ausländische Kirchensteuern nicht abgezogen werden können. Die damit verbundene Diskriminierung von EUAngehörigen ist europarechtswidrig. Zudem ist die Beschränkung des Steuerabzuges auf Kirchensteuern und Kirchenbeiträge (R 10.7 EStR 2012), die von Körperschaften des öffentlichen Rechts erhoben werden, gleichheitsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Es kommt nicht auf den Status der Religionsgemeinschaft an, sondern darauf, ob die Aufwendung in das sozial-kulturelle Existenzminimum fällt. Dies ist bei allen Pflichtabgaben an Religionsgemeinschaften zu bejahen, da sie die Religionsausübung ermöglichen. Der Sonderausgabenabzug der Kirchensteuer ist im Rahmen der Abgeltungsteuer ausgeschlossen (s. Rz. 965).
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(5) Kinderbetreuungskosten (§ 10 I Nr. 5 EStG): Kinderbetreuungskosten sind in Höhe von 2/3 der tatsächlichen Kosten (maximal 4 000 Euro) als Sonderausgaben abziehbar. Sie sind abzugrenzen von nicht begünstigten Unterrichtsleistungen (BFH BStBl. 2012, 862). Ab 2012 wird der Abzug unabhängig von der Situation der Eltern (Erwerbstätigkeit/Berufsausbildung/Krankheit) von Geburt bis zum 13. Lebensjahr des Kindes gewährt (s. hierzu auch Rz. 239, 755), so dass in § 10 I Nr. 5 EStG familienpolitische Förderung und Erwerbsausgabenabzug systemwidrig vermengt werden2.
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(6) Der Sonderausgabenabzug für Steuerberatungskosten (§ 10 I Nr. 6 EStG) ist durch Gesetz v. 22.12.2005, BGBl. I 2005, 3682, aus rein fiskalischen Gründen mit Wirkung ab 2006 abgeschafft worden3. Dies ist in Anbetracht der anhaltenden weiteren Verkomplizierung des Steuerrechts vollkommen unverständlich und kann auch nicht im Interesse des Steuerstaates liegen, da die Fehlerhaftigkeit von Steuererklärungen zunimmt, wenn der Stpfl. professionellen Rat nicht mehr in Anspruch nimmt.
715
(7) Bildungsaufwendungen i.S.d. § 10 I Nr. 7 EStG sind eigentlich vorweggenommene Erwerbsaufwendungen (s. bereits Rz. 233, 263 ff.), werden aber durch §§ 4 IX; 9 VI EStG vom Erwerbsausgabenabzug ausgeschlossen. Stattdessen sind Aufwendungen für die eigene Berufsausbildung nach § 10 I Nr. 7 EStG bis zu 6 000 Euro pro Jahr und bei zusammenveranlagten Ehegatten pro Ehegatte abzugsfähig. Der Sonderausgabenabzug des § 10 I Nr. 7 EStG ist im Zuge der Anordnung des Abzugsverbots für erstmalige Berufsausbildung und Erststudium (s. Rz. 264) ab 2012 von 4 000 auf 6 000 Euro erhöht worden. Abziehbar sind gem. § 10 I Nr. 7 Sätze 3, 4 EStG auch Aufwendungen für eine auswärtige Unterbringung, Mehraufwendungen für Verpflegung (§ 9 IVa EStG), Arbeitszimmeraufwendungen (§ 4 V 1 Nr. 6b EStG), Aufwendungen für doppelte Haushaltsführung (§ 9 I 3 Nr. 5 EStG) und für Fahrten zwischen Wohnung und Ausbildungsstätte (s. Rz. 261 f.).
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(8) Nach § 10 I Nr. 9 EStG können kinderfreibetrags-/kindergeldberechtigte Stpfl. 30 % des Schulgelds4, höchstens 5 000 Euro für den Besuch einer Schule in freier Trägerschaft oder überwiegend privat finanzierten, jedoch staatlich anerkannten Schule abziehen. Entgelte für Beher-
1 Schön, DStZ 1997, 385 (verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen); Tipke, StRO II2, 2003, 828 f. 2 Zu den Rückwirkungen auf die Festsetzung der Elternbeiträge für kommunale Kinderbetreuungseinrichtungen Jörißen, StBW 2014, 192. 3 Zur Zuordnung der Steuerberatungskosten BMF BStBl. I 2008, 256 (dazu Schmidt, NWB Fach 3, 14969); Querbach/Hegemann, Stbg. 2006, 173 (zeitliche Zuordnung); Heinrich, SteuerStud 2008, 284 (Betriebsausgaben, Werbungskosten oder Kosten der Lebensführung). Kritik: Tipke, Steuerberatung tut not – auch verfassungsrechtlich, BB 2009, 636; Schroen, NWB 2010, 1706; Schoor, StBp. 2012, 212; ferner Kanzler, FS J. Lang, 2010, 601, u. Weber-Grellet, NWB 2010, 1670, die allerdings keine verfassungsrechtliche Abzugsnotwendigkeit sehen; ebenso BFH BStBl. 2010, 617 (619 f.); BFH/NV 2011, 977. 4 Ebner, DStZ 2009, 645 (aus steuersystematischer, verfassungs- und europarechtlicher Sicht).
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Private Abzüge
Rz. 719
§8
bergung, Betreuung und Verpflegung können nicht abgezogen werden. Nachdem der EuGH1 die Europarechtswidrigkeit der Beschränkung auf inländische Schulen bzw. deutsche Schulen im Ausland erkannt hat, ist der Sonderausgabenabzug auf Privatschulen im EU-/EWR-Ausland durch JStG 2009 erweitert worden2. § 10c Satz 1 EStG sieht für Sonderausgaben i.S.d. §§ 10 I Nrn. 1, 1a, 1b, 4, 5, 7, 9; 10b EStG einen bescheidenen Sonderausgaben-Pauschbetrag i.H.v. 36 Euro (72 Euro für Ehegatten, § 10c Satz 2) vor. Die zuvor kompliziert in § 10c II, III EStG geregelte Vorsorgepauschale ist ab VZ 2010 entfallen.
3. Außergewöhnliche Belastungen (§§ 33; 33a; 33b EStG) Literatur: Jakob/Jüptner, Zur Zwangsläufigkeit außergewöhnlicher Belastungen, StuW 1983, 206; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, 579 ff.; Wolf, Der Aufwendungsbegriff in § 33 EStG, Diss., 1990; Kanzler, Grundfragen zum Abzug außergewöhnlicher Belastungen, FR 1993, 691; Pülzl, Wann ist eine Belastung außergewöhnlich?, ÖStZ 2001, 223; Tipke, StRO II2, 2003, 830 ff.; Schild, Die Zwangsläufigkeit von außergewöhnlichen Belastungen i.S. des § 33 II EStG, SteuerStud 2010, 104; Gunsenheimer, Außergewöhnliche Belastungen, SteuerStud 2011, 692; Haupt, Die außergewöhnliche Belastung in der Krise, DStR 2010, 960; Geserich, Privataufwendungen im Einkommensteuerrecht am Beispiel der außergewöhnlichen Belastung, DStR 2013, 1861. Zur aktuellen Rspr. des BFH: Haupt, DStR 2011, 204 (alternative Heilmethoden); Loschelder, EStB 2010, 255 (Gegenwertlehre).
Nach § 33 EStG können auf Antrag zwangsläufige außergewöhnliche Aufwendungen vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen werden, soweit sie die in § 33 III EStG bestimmte zumutbare Belastung übersteigen.
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§ 33 EStG ist keine Tarifvorschrift; sie gehört vielmehr in das System der privaten Abzüge und ist daher tatbestandstechnisch richtig auf einer Stufe mit den Sonderausgaben geregelt (§ 2 IV EStG, s. Rz. 105). Im System der privaten Abzüge deckt sie den existenznotwendigen außergewöhnlichen Lebensbedarf ab3. § 33 EStG ist auch keine Billigkeitsvorschrift4. Der historische Zweck des § 33 EStG ist insofern überholt, als § 33 EStG nach heutigem Verständnis keine atypischen Einzelfälle regelt, die das EStG abstrakt nicht berücksichtigt (s. § 21 Rz. 329 f.). § 33 EStG ist vielmehr Teil des gesetzlich abstrakt normierten Einkommensteuersystems, nämlich Grundvorschrift zur Berücksichtigung subjektiver Leistungfähigkeit. So ist es nach BFH BStBl. 2004, 867, Ziel des § 33 EStG, „zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Entlastungsbeträgen entziehen“.
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Aus dem Konnex zwischen Steuerrecht und Sozialhilferecht (s. § 1 Rz. 39 ff.) folgt die dogmatische Unterscheidung eines regelmäßigen Grundbedarfs, der durch den Grundfreibetrag (§ 32a I 2 Nr. 1 EStG) abgegolten wird, eines regelmäßigen Mehrbedarfs, der durch zusätzliche Mehrbedarfpauschalen (z.B. für Behinderte nach § 33b EStG) berücksichtigt wird, und eines Sonderbedarfs „in besonderen Lebenslagen“, der durch § 33 EStG abgedeckt wird. Dementsprechend empfiehlt der Kölner EStGE neben dem Grundfreibetrag (§ 36 I Nr. 1 Kölner EStGE) und Mehrbedarfpauschalen (§ 36 III 1 Kölner EStGE) den Steuerabzug von Sonderbedarfausgaben (§ 36 IV Kölner EStGE), das sind
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1 EuGH C-76/05, Schwarz u. Gootjes-Schwarz, u. EuGH C-318/05, Kommission ./. BRD. Dazu Gosch, DStR 2007, 1895; Meilicke, DStR 2007, 1892; Thömmes, IWB Fach 11A (2007), 31155; Biehle, DStZ 2008, 495. Zur europarechtskonformen Neuregelung des § 10 I Nr. 9 EStG BMF BStBl. I 2009, 487; Schaffhausen/Plenker, DStR 2009, 1123. 2 S. BMF BStBl. I 2009, 487. Nicht anwendbar auf schweizerische Privatschulen, BFH BStBl. 2012, 585. 3 J. Lang, Bemessungsgrundlage, 579 ff. 4 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 581 ff.; Tipke, StRO II2, 2003, 830; Karrenbrock/Petrak, DStR 2011, 552 (553 ff.); Kirchhof/Mellinghoff13, § 33 EStG Rz. 1 (Norm soll nicht Unbilligkeiten, sondern Ungleichheiten vermeiden); Schmidt/Loschelder33, § 33 EStG Rz. 1; HHR/Kanzler, § 33 EStG Anm. 8 (2014).
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§8
Rz. 720
Einkommensteuer
in Anlehnung an das Sozialhilferecht größere Aufwendungen, die in einer besonderen Lebenslage anfallen.
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Mit dem Normzweck, existenznotwendigen Sonderbedarf zu berücksichtigen, ist die historisch dem Billigkeitsgedanken folgende Kürzung des abziehbaren Betrags um eine zumutbare Belastung (§ 33 III EStG) ebenso wenig gerechtfertigt wie bei anderen privaten Abzügen1. Auch hat die Definition außergewöhnlicher Aufwendungen (= größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Stpfl. gleicher Einkommens- und Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands erwachsen) ihren Ursprung im verfehlten Billigkeitsgedanken. Sie ist nicht praktikabel und wird von der Rspr. auch nicht exakt praktiziert. Die Bedeutung dieses Tatbestandsmerkmals ist allein darin zu sehen, dass es sich um Aufwendungen handeln muss, die nicht durch den Grundfreibetrag abgegolten sind; weitergehende Einschränkungen können aus dem Gruppenvergleich nicht gewonnen werden.
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Nach § 33 II 1 EStG erwachsen dem Stpfl. die Aufwendungen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann. Zudem verlangt § 33 II 1 EStG, dass die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen. Ob Aufwendungen zwangsläufig sind, hängt nach st. Rspr.2 davon ab, ob die in § 33 II 1 EStG genannten Gründe auf die Entschließung des Stpfl. so einwirken, dass er ihnen nach einem objektiven Maßstab nicht ausweichen kann.
722
Der Maßstab des sozial-kulturellen Existenzminimums gebietet sozial adäquates Verhalten, so dass § 40 AO unanwendbar ist (vgl. § 5 Rz. 108 ff.). BFH BStBl. 2004, 867, hat die Zwangsläufigkeit im Falle von Erpressungsgeldern verneint, die der Kläger gezahlt hatte, damit die herzkranke Ehefrau von einem außerehelichen Verhältnis nichts erfährt. Der BFH hat zutr. auf die Sozialwidrigkeit des Verhaltens abgestellt. Dies sei der „ohne Zwang geschaffene Erpressungsgrund“3, welcher der Zahlung der Erpressungsgelder die Zwangsläufigkeit i.S.d. § 33 II 1 EStG nehme.
723
Auf sozial erwartetes Verhalten kommt es besonders bei der Bestimmung einer sittlichen Verpflichtung i.S.d. § 33 II 1 EStG an. Zwangsläufigkeit aus sittlichen Gründen ist nach st. Rspr. nur anzunehmen, wenn sich der Stpfl. nach dem mehrheitlichen Urteil „billig und gerecht denkender Bürger“ zum Handeln verpflichtet sehen kann, das Unterlassen „als moralisch anstößig empfunden wird“4. BFH BStBl. 2004, 267, verneint die sittliche Verpflichtung von Eltern, die Strafverteidigung ihres volljährigen Kindes zu übernehmen, wenn dieses eine unabhängige Lebensstellung erreicht hat (anders bei innerlich nicht gefestigten Kindern: BFH BStBl. 1990, 895; 2004, 267 [269]). BFH BStBl. 2010, 794, verneint bzgl. der Heimkosten des gesunden Ehegatten eine sittliche Verpflichtung, mit dem pflegebedürftigen Ehepartner in ein Pflegeheim zu ziehen.
724
Entsprechend dem Zweck des § 33 EStG erkennt der BFH für Zahlungen außerhalb des existenznotwendigen Lebensbedarf keine sittliche Verpflichtung an, so z.B. für Rentennachzahlungen zur elterlichen Rentenversicherung (BFH BStBl. 2002, 473). BFH BStBl. 2003, 299, erkennt keine sittliche Verpflichtung zur Übernahme von Kosten naturheilkundlicher Behandlung des krebskranken Vaters, wenn diese von der Krankenversicherung nicht abgedeckt sind. Eine sittliche Verpflichtung für Kosten schulmedizinischer Behandlung ist aber zu bejahen, wenn der Angehörige nicht krankenversichert ist. Der fehlende Versicherungsschutz kann dem Stpfl. nur vorgehalten werden, wenn er für die Versicherung des Angehörigen rechtlich oder sittlich verantwortlich war.
725
Es muss eine Belastung eingetreten sein. Nach dem Belastungsprinzip (s. Rz. 703) ist außergewöhnliche Belastung grds. zu verneinen, wenn durch die Aufwendungen ein Gegenwert oder nicht nur vorübergehende Vorteile erlangt werden5. Den Belastungstatbestand können auch 1 So J. Lang, Bemessungsgrundlage, 617 f.; Tipke, StRO II2, 2003, 831. Von Verfassungswidrigkeit gehen aus Kosfeld, FR 2009, 366; ders., FR 2012, 969; ders., FR 2013, 359; Karrenbrock/Petrak, DStR 2011, 552, und auch BVerfGE 112, 268, zu der bis 1999 geltenden Fassung des § 33c EStG, nach der § 33 III EStG bei dem Steuerabzug von Kinderbetreuungskosten anwendbar war; a.A. FG Niedersachsen EFG 2012, 1671. 2 BFH BStBl. 1996, 596; 2004, 867 (868). 3 BFH BStBl. 2004, 867 (868). 4 BFH BStBl. 1997, 558; 2002, 473 (475); 2004, 267 (269). 5 Zu dieser sog. Gegenwerttheorie, HHR/Kanzler, § 33 EStG Anm. 37 ff. (2012); Brockmeyer, DStZ 1998, 215; Pülzl, ÖStZ 2003, 519; Loschelder, EStB 2010, 255; Kirchhof/Mellinghoff13, § 33 EStG Rz. 15 ff.; Schmidt/Loschelder33, § 33 EStG Rz. 9 ff.
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Private Abzüge
Rz. 726
§8
Vermögensschäden verwirklichen1. Es ist zu prüfen, ob „verlorener Aufwand“ vorliegt2. In diesem Fall bleibt der Abzug möglich. Die Gegenwertlehre ist vielfach durchbrochen und zu Recht mittlerweile kaum noch entscheidungsrelevant3. Beispiele: Wasserschaden am selbstbewohnten Einfamilienhaus4; Mietzahlungen für Ersatzwohnung bei unbewohnbarem Eigenheim5; Anschaffung medizinischer Hilfsmittel (z.B. Brillen, Hörapparate, Rollstühle), weil der „Gegenwert“ durch den existenznotwendigen Lebensbedarf verbraucht wird. Das muss, wie jetzt auch die Rspr. erkennt, grds. auch bei behindertengerechter Ausstattung eines Einfamilienhauses gelten6. Entgegen seiner bisherigen Rspr. (BFH BStBl. 1997, 491; 1997, 607) fragt der BFH nicht mehr nach etwaigen Wertsteigerungen7, da die Zwangsläufigkeit infolge der Behinderung die Erlangung eines Vorteils in den Hintergrund treten lässt. BFH bejaht außergewöhnliche Belastung bei Aufwendungen zur Beseitigung konkreter Gesundheitsgefährdungen8. Vermögensauseinandersetzungen stellen i.d.R. keine außergewöhnlichen Belastungen dar, so in Verbindung mit Ehescheidungen9; Erbausgleich10; Beerdigungskosten, soweit sie aus dem Nachlass oder aus einer Versicherung bestritten werden können11; Aufwendungen für die Unterbringung u. Pflege eines Angehörigen nach Vermögensübertragung12; Bestellung eines Vormunds für die Vermögenssorge13. Grds. zur Vorteilsanrechnung BFH BStBl. 1999, 766 (Hausratsversicherung); BFH BStBl. 2010, 794 (Haushaltsersparnis bei Heimunterbringung).
Hauptanwendungsfälle des § 33 EStG: Der außergewöhnliche Lebensbedarf ist i.E. schwierig abzugrenzen, so dass sich eine umfangreiche Kasuistik entwickelt hat14. Zum außergewöhnlichen Lebensbedarf gehören vor allem die Krankheitskosten, das sind die Aufwendungen einer Heilbehandlung15. Erfasst wird nicht nur eine medizinisch notwendige Mindestversorgung, sondern, unabhängig von wissenschaftlicher Anerkennung16, jedwede Behandlung, deren Anwendung hinreichend gerechtfertigt ist. Die Folgekosten von Krankheiten und körperlichen Defekten werden wertend mit Einzelfalljudiz entschieden: Die Kosten künstlicher Befruchtung werden mittlerweile unabhängig von Ursache und Familienstand allgemein anerkannt17. Streitig 1 2 3 4 5 6 7 8
9 10 11 12 13 14 15
16 17
Grundl. BFH BStBl. 1995, 104, s. Sunder-Plassmann, DStZ 1995, 193. BFH BStBl. 1997, 491. Geserich, DStR 2013, 1861 (1866); HHR/Kanzler, § 33 EStG Anm. 39 (2012). BFH BStBl. 1995, 104. BFH BStBl. 2010, 965. Dabei keine analoge Anwendung von § 64 EStDV, s. BFH BStBl. 2014, 458. Zu den Nachweisanforderungen Geserich, NWB 2014, 2004. BFH BStBl. 2010, 280; 2011, 1012; BFH/NV 2011, 1691; dazu Geserich, NWB 2011, 1526; Ritzrow, SteuerStud 2012, 209. Z.B. Asbestsanierung: BFH BStBl. 2002, 240; BFH/NV 2007, 1108; Formaldehydemission: BFH BStBl. 2002, 592; verneinend BFH/NV 2007, 893, zu Schutzmaßnahmen gegen Mobilfunkwellen; BFH BStBl. 2012, 574: vorher erstelltes technisches Gutachten nicht erforderlich; keine analoge Anwendung von § 64 EStDV. Zum Ganzen Ritzrow, SteuerStud 2012, 581; Geserich, SteuK 2012, 283. BFH BStBl. 2006, 491; 2006, 492; BFH/NV 2007, 1304. BFH BStBl. 1989, 282; 1994, 240. BFH BStBl. 1991, 140; 1994, 754; 1996, 414. BFH BStBl. 1997, 387; dazu Dürr, INF 1997, 353; BFH/NV 2010, 637. BFH BStBl. 2000, 69. Dazu die aktuellen ABC-Kommentierungen von Kirchhof/Mellinghoff13, § 33 EStG Rz. 54; Schmidt/Loschelder33, § 33 EStG Rz. 35. Dazu exemplarisch BFH BStBl. 2007, 880 (keine Berücksichtigung von Diätkosten, auch nicht bei krankheitsbedingter Notwendigkeit); dagegen Anerkennung einer alternativen Therapie bei unheilbarer Krebserkrankung (BFH BStBl. 2011, 119; dazu Haupt, DStR 2010, 960). Zu den Krankheitskosten gehören nicht: Trinkgelder (BFH BStBl. 2004, 270, abw. von BFH BStBl. 1997, 346); Diätverpflegung (§ 33 II 3 EStG); medizinische Fachliteratur: BFH BStBl. 1996, 88; Sportstudio: BFH BStBl. 1997, 732. Zur Rspr. s. Bilsdorfer, SteuerStud 2011, 269; Geserich, FR 2011, 1067; Paus, EStB 2011, 446. Zum Begriff der wissenschaftlich nicht anerkannter Behandlungsmethoden BFH/NV 2014, 1936. Eheleute: BFH BStBl. 1997, 805; anonyme Samenspende zur Überwindung der Zeugungsunfähigkeit des Mannes: BFH BStBl. 2011, 414; a.A. noch BFH BStBl. 1999, 761; nichteheliche Lebensgemeinschaft: BFH BStBl. 2007, 871; abl. zunächst BFH BStBl. 2006, 495; zur Rechtslage in Österreich Lattner, ÖStZ 2013, 317.
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§8
Rz. 727
Einkommensteuer
sind die sich hieraus ergebenden Schlussfolgerungen für die Kosten einer Adoption als außergewöhnliche Belastung (Vorlage an GrS BFH BStBl. 2013, 868). Wie „Krankheitskosten“ werden Entbindungskosten (Arzt, Krankenhaus, Medikamente etc.) behandelt, und zwar ohne die Erstlingsausstattung des Kindes1. Die Kosten einer krankheitsbedingten Unterbringung in einem (Pflege-)Heim kann eine außerordentliche Belastung darstellen2, ebenso Internatskosten bei Hochbegabung oder Legasthenie3. Voraussetzung der Geltendmachung ist gem. § 33 IV EStG i.V.m. § 64 EStDV i.d.F. des Steuervereinfachungsgesetzes 2011, dass der Stpfl. eine im vorhinein erteilte ärztliche Verordnung bzw. ein vor Beginn der Maßnahme eingeholtes amtsärztliches Attest vorlegt4. Der Gesetzgeber wendet sich damit rückwirkend für alle noch nicht bestandskräftigen Steuerfestsetzungen gegen den BFH, der von der Anwendung der allgemeinen Beweisregeln ausgegangen war5. 727
Im Weiteren erfasst § 33 I EStG Aufwendungen für die Wiederbeschaffung bzw. Instandsetzung existenznotwendiger Güter nach unabwendbaren Ereignissen wie Brand, Hochwasser, Kriegseinwirkung, Schadstoffeinwirkung etc. (s. R 33.2 EStR 2012). Ansonsten sind die Beschaffung von Kleidung, Hausrat u.a. Vermögensgegenständen nach der Gegenwertlehre keine außergewöhnliche Belastungen. Im Falle des Verlustes existenznotwendiger Güter durch unabwendbare Ereignisse versagt BFH BStBl. 2004, 47, den Steuerabzug, wenn der Geschädigte es unterlassen hat, eine „allgemein übliche und zumutbare Versicherung“ abzuschließen. Diese Auffassung lässt sich m.E. nur vertreten, soweit die Versicherungsbeiträge als Sonderausgaben abgezogen werden können (s. Rz. 711).
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Prozesskosten6 exemplifizieren besonders deutlich die Schwierigkeiten, den existenznotwendigen Bereich abzugrenzen. Abziehbar sind Kosten eines Strafverfahrens, wenn der Stpfl. freigesprochen wird oder vor dem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens stirbt7. Hingegen verneint BFH BStBl. 1996, 197, außergewöhnliche Belastung bei Einstellung des Strafverfahrens nach § 153a II StPO. Bei Zivilprozessen ging die Rspr. bisher von einer Vermutung gegen die Zwangsläufigkeit aus, es sei denn, der Rechtsstreit berührte einen existentiell wichtigen Bereich (BFH BStBl. 1996, 596; 2002, 382: Familienrechtsstreit wg. Umgangsrecht). BFH BStBl. 2011, 1015, hatte die Abzugsfähigkeit demgegenüber deutlich erweitert, weil der Stpfl. unabhängig vom Gegenstand der Klage, im Rechtstaat gezwungen sei, sich zur Durchsetzung seiner Ansprüche der Gerichte zu bedienen. Klagt er nicht mutwillig und leichtfertig, so sollen Prozesskosten in angemessenem Umfang als außergewöhnliche Belastung anzuerkennen sein8 (Nichtanwendungserlass BMF BStBl. I 2011, 1286). Zu Recht hat der Gesetzgeber nun in § 33 II 4 EStG mit Wirkung ab dem VZ 2013 die Abzugsfähigkeit von Prozesskosten auf die zur Existenzsicherung notwendige Rechtsverfolgung zurückgeschnitten (Aufwendungen, ohne die 1 BFH BStBl. 1970, 242. 2 BFH BStBl. 2011, 1010; 2011, 1011; 2012, 876; 2014, 456. 3 BFH BStBl. 2001, 94 (Legasthenie); BFH BStBl. 2013, 783 (Verhaltensauffälligkeit bei Hochbegabung). 4 Verkomplizierung zulasten des Stpfl. Haupt, DStR 2011, 2443. Zulässigkeit der rückwirkenden Anwendung bejahend FG Münster EFG 2012, 702, m. Anm. Rosenke. 5 BFH/NV 2011, 892. BFH BStBl. 2012, 577, akzeptiert die neue Rechtslage, auch ihre echt rückwirkende Anwendung (§ 84 IIIf EStDV); bekräftigend Geserich, DStR 2012, 1490 ff.; dagegen zu Recht krit. Bergkemper, FR 2012, 1172; Bilsdorfer, SteuerStud 2012, 608; Haupt, DStR 2012, 1541; SchmitzHerscheidt, NWB 2012, 2917. 6 Nach st. Rspr. (s. zuletzt BFH/NV 2006, 938; 2006, 2251; 2006, 2252) sind Kosten eines Zivilprozesses nur in Ausnahmefällen als außergewöhnliche Belastung abziehbar, wenn das Ereignis, durch das der Rechtsstreit veranlasst worden war, für den Stpfl. zwangsläufig war und er deshalb dem Prozess nicht ausweichen konnte. 7 BFH BStBl. 1989, 831 m.w.N.; nicht dagegen bei vorsätzlich begangener Tat BFH BStBl. 2013, 806. 8 Zust. Kanzler, FR 2011, 822 ff., und (auch zu weitergehenden Konsequenzen) Stöber, FR 2011, 790; Bron/Ruzik, DStR 2011, 2069; Knobbe, EStB 2012, 111 (Verfassungswidrigkeit des diesbezgl. Nichtanwendungserlasses). Da die Neuregelung erst ab VZ 2013 gilt, wird der BFH hierzu noch einmal Stellung nehmen müssen. Die FG folgen zwar überwiegend (FG Münster EFG 2014, 357; 2014, 1685; FG Rheinland-Pfalz EFG 2014, 549; FG Düsseldorf EFG 2014, 640; FG Baden-Württemberg EFG 2014, 1686; FG Düsseldorf EFG 2014, 1963), aber nicht ausnahmslos (FG Düsseldorf EFG 2014, 850).
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Private Abzüge
Rz. 733
§8
der Stpfl. Gefahr liefe, „seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können“)1. Ungeachtet dessen, dass die Verwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe wenig zur Rechtsvereinfachung beitragen wird, führt der Gesetzgeber die außergewöhnliche Belastung hier auf den verfassungsfesten und notwendigen Kern der Existenzsicherung zurück. Besser wäre es freilich gewesen, den Tatbestand des § 33 EStG insgesamt neu zu fassen, als nur einen Spezialfall zu regeln, dem allerdings anleitende Funktion auch für andere Fallgruppen beigemessen werden muss. Jedoch kann dies nicht dazu führen, dass vor dem Rechtsprechungswechsel unzweifelhaft als außergewöhnliche Belastung abziehbare Kosten, wie z.B. Kosten einer Ehescheidung2, nicht mehr abzugsfähig sind. Die §§ 33a–33b EStG sind tatbestandstechnisch außergewöhnliche Belastungen. Sie berücksichtigen indessen keinen außergewöhnlichen Lebensbedarf, sondern regelmäßig Aufwendungen des Grund- und Mehrbedarfs. Bezüglich der pauschalen Berücksichtigung des Mehrbedarfs infolge Ausbildung, Alter und Körperbehinderung weist das Steuerrecht Gemeinsamkeiten mit dem Sozialhilferecht auf3. Systematisch sind folgende Tatbestände zu unterscheiden:
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(1) § 33a I EStG regelt den allgemeinen Unterhaltsabzug, der dann Platz greift, wenn für die unterhaltene Person kein Anspruch auf Kinderfreibetrag besteht (s. Rz. 736). § 33a I EStG hängt rechtssystematisch nicht nur mit der Kinder-Grundbedarfvorschrift des § 32 VI EStG (s. Rz. 93), sondern auch mit dem Grundfreibetrag (§ 32a I 2 Nr. 1 EStG) zusammen, der den existenznotwendigen Grundbedarf im Allgemeinen berücksichtigt (s. Rz. 81 f.). Der Zweck des § 33a I EStG, den regelmäßigen Grundbedarf (BFH: die üblichen Aufwendungen für den laufenden Unterhalt) abzudecken, gestattet es, daneben außergewöhnlichen Unterhaltsbedarf geltend zu machen4.
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(2) § 33a II EStG gewährt einen den Kinderfreibetrag aufstockenden Ausbildungsfreibetrag und berücksichtigt dadurch regelmäßigen Ausbildungsmehrbedarf für die auswärtige Unterbringung des Kindes. Sonstiger Ausbildungsbedarf ist im Rahmen des Familienleistungsausgleichs (§ 32 VI EStG) berücksichtigt, und rechtfertigt daher keinen Abzug nach § 33 EStG5.
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(3) § 33b I–III EStG gewährt Körperbehinderten einen nach dem Grade der Behinderung ansteigenden Pauschbetrag (310–3 700 Euro)6. Auch hier handelt es sich um einen Steuerabzug für laufenden und typischen Mehrbedarf, so dass neben dem Pauschbetrag Kosten des außergewöhnlichen Lebensbedarfs abgezogen werden können, so z.B. Krankheitskosten, Aufwendungen für die behinderungsbedingte Unterbringung in einer Wohngemeinschaft7, für eine notwendige Urlaubsbegleitung8, Kfz-Kosten in Höhe der Werbungskostenpauschbeträge9. Allerdings entfällt der Behinderten-Pauschbetrag von 3 700 Euro (§ 33b III 3 EStG), wenn die Aufwendungen für die Unterbringung in einem Altenwohnheim als außergewöhnliche Belastung nach § 33 EStG berücksichtigt werden10.
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(4) Der Hinterbliebenen-Pauschbetrag (§ 33b IV EStG) deckt keinen Mehrbedarf ab. Er ist als Sozialzwecknorm zu beurteilen. Mit der Übertragung des Behinderten-Pauschbetrages und des Hinter-
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1 Zustimmend Blümich/Heger, § 33 EStG Rz. 223 (2013); G. Kirchhof, DStR 2013, 1867 (1870 ff.); krit. Kanzler, FR 2014, 209 (217 f.). 2 BFH BStBl. 1982, 116; 1992, 796; anders für Teilungsversteigerung BFH BStBl. 2013, 536. Zur fortbestehenden Abzugsfähigkeit nach neuer Rechtslage s. Bleschick, FR 2013, 932 (936); Heim, DStZ 2014, 165 (168 ff.); Gerauer, NWB 2014, 2621. 3 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 205 f., 549 ff.; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993, 169 ff., 271 ff. 4 Grds. BFH BStBl. 1991, 62 (Krankheit); Behinderung: BFH/NV 2009, 728; Heimunterbringung: BFH BStBl. 2005, 602; BFH/NV 2006, 281; BMF BStBl. I 2002, 1389; Lese-/Schreibschwäche: BFH/NV 2005, 1286. 5 BFH BStBl. 2010, 341. Auch bei der Beurteilung der verfassungsrechtlichen Angemessenheit des Ausbildungsfreibetrags wird § 32 VI EStG mit herangezogen (BFH BStBl. 2011, 281); dazu Hölscheidt, NWB 2011, 1782. 6 Dziadkowski, FR 2011, 224: keine verfassungskonforme Vereinfachungsregelung. 7 BFH BStBl. 2002, 567. 8 BFH BStBl. 2002, 765. 9 BFH BStBl. 2005, 23; BFH/NV 2011, 253. 10 BFH BStBl. 2005, 271.
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§8
Rz. 734
Einkommensteuer
bliebenen-Pauschbetrages von Kindern auf Eltern (§ 33b V EStG) und mit dem Pflege-Pauschbetrag (§ 33b VI EStG) werden Unterhaltsaufwendungen berücksichtigt.
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Konkurrenzen Sonderausgaben/außergewöhnliche Belastungen: § 33 II 2 EStG schließt Sonderausgaben auch dann von Abzügen nach den §§ 33–33b EStG aus, wenn sie sich steuerlich nicht ausgewirkt haben1. Eine Ausnahme gilt nach Hs. 2 des § 33 II 2 EStG für Sonderausgaben i.S.d. § 10 I Nrn. 7, 9 EStG (Berufsausbildung; Schulgeld). In diesen Fällen greift zuerst der Sonderausgabenabzug Platz. Soweit die Aufwendungen wegen der Grenzen in § 10 I Nrn. 7, 9 EStG nicht als Sonderausgaben abziehbar sind, können sie nach den §§ 33–33b EStG abgezogen werden.
4. Unterhaltsabzüge 735
Das geltende Steuerrecht berücksichtigt Unterhaltsleistungen zwischen Ehegatten durch Splitting, i.Ü. durch Unterhaltsabzüge, durch den allgemeinen Unterhaltsabzug (s. Rz. 736 ff.) und besondere Abzüge für den Kindesunterhalt (s. Rz. 742 f.).
4.1 Allgemeiner Unterhaltsabzug (§ 33a I EStG)2 736
Dem bereits erwähnten (Rz. 730) Zweck des § 33a I EStG, nur den regelmäßigen Grundbedarf abzudecken, entspricht es, dass nach dieser Vorschrift nur Aufwendungen für den typischen3 Unterhaltsbedarf (insb. Ernährung, Kleidung, Wohnung, Hausrat, Versicherungen) abgezogen werden können, während § 33 EStG bei Unterhaltsleistungen, mit denen ein besonderer und außergewöhnlicher Bedarf (z.B. Krankheits- oder Pflegekosten) abgedeckt wird, Platz greift4. Nach § 33a I 1 EStG sind abzugsfähig nur Leistungen an eine gegenüber dem Stpfl. oder seinem Ehegatten gesetzlich unterhaltsberechtigte Person. Nach BFH BStBl. 2011, 116, ist das Vorliegen der zivilrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen konkret zu prüfen. Damit ist Voraussetzung insb. auch, dass der Unterhaltsberechtigte seiner – allerdings nicht für Ehegatten geltenden (BFH BStBl. 2011, 115) – Erwerbsobliegenheit nachkommt5. Dem gesetzlich Unterhaltsberechtigten gleichgestellt sind Personen, denen inländische öffentliche Mittel (z.B. Sozialhilfe) mit Rücksicht auf Unterhaltsleistungen des Stpfl. gekürzt werden (§ 33a I 3 EStG). § 33a I EStG greift grds. nicht Platz, soweit das EStG an anderer Stelle den existenznotwendigen Grundbedarf des Berechtigten berücksichtigt. So setzt § 33a I EStG voraus, dass für den Berechtigten kein Anspruch auf einen Kinderfreibetrag oder Kindergeld besteht (§ 33a I 4 EStG). Ferner konsumiert das Ehegattensplitting in § 32a V EStG den allgemeinen Unterhaltsabzug6. Liegen die Voraussetzungen der §§ 26–26b; 32a V EStG nicht vor, so ist der allgemeine Unterhaltsabzug nach § 33a I EStG nicht ausgeschlossen. Daher können z.B. Unterhaltsleistungen an einen im Ausland lebenden Ehegatten nach § 33a I EStG abgezogen werden7. Unterhaltsleistungen an den geschiedenen oder dauernd getrennt lebenden Ehegatten können nach § 33a I EStG berücksichtigt werden, wenn sich die Ehegatten auf das Realsplitting nach den §§ 10 Ia Nr. 1; 22 Nr. 1a EStG nicht einigen können8. Liegen die Voraussetzungen des § 10 Ia Nr. 1 EStG vor, so entfällt § 33a I EStG gem. § 33 II 2 EStG. 1 So die h.M. (dazu m.w.N. HHR/Kanzler, § 33 EStG Anm. 202 ff. [2014]). 2 Dazu Kluth, SteuerStud 2010, 433; Geserich, DStR 2011, 294; Loschelder, EStB 2011, 151. 3 Nach BFH BStBl. 2009, 365, richtet sich Abgrenzung der typischen von den atypischen Unterhaltsaufwendungen nach deren Anlass u. Zweckbestimmung, nicht nach deren Zahlungsweise. So fällt die Abfindung von Unterhaltsansprüchen auch dann unter § 33a I EStG, wenn der Stpfl. dazu verpflichtet ist. Im entschiedenen Fall war der Kläger verpflichtet, an seine geschiedene Frau 1,458 Mio. DM zu zahlen. 4 So BFH BStBl. 2009, 365. 5 BFH BStBl. 2011, 115. 6 BFH GrS BStBl. 1989, 164. 7 BFH GrS BStBl. 1989, 164. 8 Für ein solches „Wahlrecht“ Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucks. 8/2201, 23.
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Rz. 742
§8
Gesetzlich unterhaltspflichtig sind neben den Ehegatten (§§ 1360 ff. BGB) Verwandte in gerader Linie (§ 1601 BGB i.V.m. § 1589 I 1 BGB: Kinder, Eltern, Großeltern, Urgroßeltern) und Lebenspartner nach § 5 LPartG. Der Steuerabzug von Aufwendungen für Personen, die gesetzlich Unterhaltsberechtigten nach § 33a I 3 EStG gleichgestellt sind1, kommt vor allem bei eheähnlichen Gemeinschaften in Betracht, bei denen die Sozialhilfe nach § 20 SGB XII gekürzt wird. Entfällt die Sozialhilfe, weil eine nicht gesetzlich verpflichtete Person Unterhalt leistet, so versagt BFH BStBl. 2003, 187, den Steuerabzug der Unterhaltsleistungen; dies zeigt die Unabgestimmtheit des § 33a I EStG.
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§ 33a I 6 EStG beschränkt den Abzug des an im Ausland lebende Unterhaltsempfänger gezahlten Unterhalts der Höhe nach auf das nach den Verhältnissen des Wohnsitzstaates Notwendige und Angemessene2. Die gesetzliche Unterhaltspflicht ist nach inländischen Maßstäben zu beurteilen (§ 33a I 6 letzter Hs. EStG). Demzufolge verneint BFH BStBl. 2002, 7603, den Steuerabzug von Unterhaltsleistungen an Verwandte der Seitenlinie (vgl. § 1589 I 2 BGB; z.B. Schwester), die nach türkischem und internationalem Privatrecht gesetzlich unterhaltberechtigt sind. Indes ist § 33a I 6 letzter Hs. EStG verfassungskonform zu interpretieren. Die Rspr. des BVerfG zu § 33a I EStG ist nur beachtet, wenn alle „zwingenden Unterhaltsverpflichtungen“4 berücksichtigt werden. Dies ist gleichheitsrechtlich geboten, so dass dahinstehen kann, ob sich der Schutzbereich des Art. 6 I GG auf alle Unterhaltsberechtigten erstreckt5. Daher unterfallen nach BVerfGE 66, 214 (223) auch solche Unterhaltsverpflichtungen dem § 33a I EStG, die vor deutschen Gerichten nach Internationalem Privatrecht eingeklagt werden können.
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Die unterhaltene Person darf nach § 33a I 4 EStG kein oder nur geringes Vermögen haben6. Hierzu setzt R 33a.1 II EStR 2012 eine seit 1975 unverändert geltende Wertgrenze von 15 500 Euro an (jedenfalls für VZ bis 2005 bestätigt durch BFH BStBl. 2011, 267). Dabei bleiben gem. R 33a.1 II 4 EStR 2012 außer Ansatz unverkäufliche und persönlich gebundene Vermögensgegenstände, z.B. ein selbstbewohntes angemessenes Einfamilienhaus i.S.d. § 90 II Nr. 8 SGB XII. Die vollständige Orientierung am Sozialhilferecht (§ 90 SGB XII) erscheint geboten. Auch kann der unterhaltsrechtliche Selbstbehalt (§ 1603 I BGB) nicht durch eine steuerliche Opfergrenze7 ersetzt werden. Unterhaltsleistungen an eine mit dem Stpfl. in Haushaltsgemeinschaft lebende, mittellose Lebenspartnerin sind ohne Berücksichtigung der sog. Opfergrenze nach § 33a I 2 EStG abziehbar (so BFH BStBl. 2009, 363; 2010, 343, gegen BMF BStBl. I 2003, 243).
739
Der allgemeine Unterhaltsabzug ist auf einen Höchstbetrag von 8 354 Euro begrenzt (§ 33a I 1 EStG). Hat die unterhaltene Person eigene Einkünfte oder Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts bestimmt oder geeignet sind, so vermindert sich der Betrag von 8 354 Euro um den Betrag, um den diese Einkünfte oder Bezüge den Betrag von 624 Euro übersteigen; zudem verkürzen öffentliche Ausbildungshilfen (ohne Freigrenze) den Unterhaltsabzug (§ 33a I 5 EStG).
740
Private Abzüge
Einstweilen frei.
741–742
4.2 Unterhalt für Kinder Literatur: (Allgemeine) Schneider, Kinder in der Einkommensteuer, SteuerStud-Beil. 1/1998; Kanzler, Die Zukunft der Familienbesteuerung – Familienbesteuerung der Zukunft, FR 2001, 921; Kulmsee, 1 S. BMF BStBl. I 2010, 582. 2 Ermittlung anhand des Pro-Kopf-Einkommens im Ausland, BMF BStBl. I 2013, 1462; s. BFH BStBl. 2011, 283. 3 Zustimmend HHR/Kanzler, § 33a EStG Anm. 109 (2012); a. A. (verfassungswidrig) Paus, DStZ 2003, 306; Gebauer/Hufeld, Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts, 2004, 329. 4 BVerfGE 66, 214 (223). 5 Vgl. BFH BStBl. 2002, 762 f. 6 M.E. ist das Zivilrecht für das Vorliegen und den Umfang der gesetzlichen Unterhaltspflicht maßgeblich. Für die weitere Tatbestandsvoraussetzung des steuerlich nicht zu berücksichtigenden Vermögens ist das Sozialhilferecht, insb. § 90 SGB XII, heranzuziehen. Daran sollte das Steuerrecht nicht nur punktuell (vgl. zum Hausgrundstück R 33a.1 II 4 Nr. 2 EStR 2012), sondern vollständig ausgerichtet werden. 7 BFH BStBl. 1998, 292; R 33a.1 IV EStR 2012.
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§8
Rz. 743
Einkommensteuer
Die Berücksichtigung von Kindern im Einkommensteuergesetz, Diss., 2002. – S. auch die vor § 3 Rz. 162 und § 8 Rz. 88 zit. Lit. Familienleistungsausgleich/-politik: BMF BStBl. I 2012, 734; dazu Wendl, SteuK 2013, 441. Lit. bis 2005 s. 20. Aufl., vor Rz. 742. Jochum, Das auszubildende Kind im Familienleistungsausgleich, FR 2006, 677; Seer/Wendt, Kindergeld/Kinderfreibetrag u. wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Kindes, NJW 2006, 1; Hechtner/Hundsdoerfer, Belastungsverschiebungen durch das Familienleistungsgesetz, FR 2009, 55; Jachmann/Liebl, Wesentliche Aspekte zur Familienbesteuerung, DStR 2010, 2009; Jachmann, Berücksichtigung von Kindern im Focus der Gesetzgebung, FR 2010, 123; Dornbusch, Zur Struktur familienpolitischer Maßnahmen in Deutschland, IFSt-Schrift Nr. 460 (2010); Schmitt, Ein „Update“ zum Kindergeld und Kinderfreibetrag, NWB 2011, 2472; Bilsdorfer, Permanente und aktuelle Baustellen im Kindergeldrecht, NJW 2011, 2913; Merker, Steuerliche Berücksichtigung von Kindern ab 2012, StWa 2012, 154 u. 167; Bering/Friedenberger, Aktuelle Entwicklungen beim Kindergeld und bei der steuerlichen Berücksichtigung von Kindern, NWB 2013, 1560.
743
Der Unterhalt für Kinder wird durch den bereits in Rz. 91 ff. behandelten Familienleistungsausgleich sowie durch ein Konglomerat sog. kindbedingter Erleichterungen (s. Rz. 91), insb. durch die Unterhaltsabzüge nach den §§ 24b; 33a II; 33a III; 33b V, VI EStG berücksichtigt (s. Rz. 736).
4.2.1 Allgemeine Voraussetzungen (§ 32 I-V EStG) 744
§ 32 I–V EStG regelt allgemein die Berücksichtigung von Kindern beim Familienleistungsausgleich (s. Rz. 746 ff.) und bei zusätzlichen Abzügen für den Kindesunterhalt (s. Rz. 751 ff.). Berücksichtigungsfähig sind nach § 32 I Nr. 1 EStG leibliche Kinder und Adoptivkinder, nicht jedoch Stiefkinder, und nach § 32 I Nr. 2 EStG die dort definierten Pflegekinder. Im Falle der Konkurrenz von Kindschaftsverhältnissen ordnet § 32 II die Rangfolge Pflege-, Adoptiv- und leibliches Kind an. Ein Kind wird grds. von der Geburt bis zum Eintritt der Volljährigkeit berücksichtigt (§ 32 III EStG).
745
Volljährige Kinder werden nach den komplizierten und streitanfälligen Vorschriften in § 32 IV, V EStG nur noch eingeschränkt wie folgt berücksichtigt: (1) Kinder bis 21 Jahre, die arbeitslos sind (§ 32 IV 1 Nr. 1 EStG), und Kinder bis 25 Jahre1, die ausgebildet werden2, die vor einem weiteren Ausbildungsabschnitt stehen, auf einen Ausbildungsplatz warten oder ein freiwilliges soziales Jahr/ökologisches Jahr/EU-Freiwilligendienst/internationalen Freiwilligendienst oder Bundesfreiwilligendienst (§ 32 IV 1 Nr. 2 EStG) bzw. Zivildienst/Wehrdienst (§ 32 V EStG) leisten. Diese Kinder durften bisher nach Maßgabe des § 32 IV 2–10 EStG jährliche Einkünfte und Bezüge von nicht mehr als 8 004 Euro haben3. Steuervereinfachungsgesetz 2011 v. 1.11.2011, BGBl. I 2011, 2131, hat die Erwerbsgrenze aufgehoben4. Bis zum Abschluss einer Erstausbildung5 (erstmalige Berufsausbildung/Erststudium) werden Kinder unabhängig davon berücksichtigt, ob sie eigene Einkünfte oder Bezüge haben. Nach dessen Abschluss bleiben sie berücksichtigungs1 Die Altersgrenze ist durch StÄndG 2007 von dem 27. auf das 25. Lebensjahr herabgesetzt worden. Nach BFH BStBl. 2011, 176; BFH/NV 2014, 839, verfassungskonform (Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers; kein Vertrauensschutz); a.A. Horlemann, FR 2010, 597; Horlemann, DStR 2011, 503 (verfassungswidrige unechte Rückwirkung); Greite, FR 2011, 138 (Verstoß gegen Folgerichtigkeitsgebot). 2 BFH bejaht Berufsausbildung (s. auch BMF BStBl. I 1999, 958) bei studentischem Anwaltspraktikum (BFH BStBl. 1999, 713), Sprachaufenthalten im Ausland (BFH BStBl. 1999, 701; 2012, 743), Au-pairStelle (BFH BStBl. 1999, 710), USA-College (BFH BStBl. 1999, 705), Volontärtätigkeit (BFH BStBl. 1999, 707), Vorbereitung auf die Promotion (BFH BStBl. 1999, 709), Auslandspraktikum (BFH BStBl. 2000, 199) u. Referendariat (BFH BStBl. 2000, 398), Vorbereitung auf Wiederholungsprüfung (BFH BStBl. 2010, 298), Vorbereitung auf Abitur für Nichtschüler (BFH BStBl. 2010, 296), Teilnahme am Schulunterreicht zur Erfüllung der Schulpflicht (BFH BStBl. 2010, 1060). Die Berufsausbildung endet spätestens mit der Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses bzw. Aufnahme der Vollzeiterwerbstätigkeit (BFH BStBl. 2000, 473). 3 Verfassungskonformität der Ausgestaltung als Freigrenze mit der Konsequenz, dass auch gerinfügige Überschreitungen zum vollständigen Wegfall des Kinderfreibetrages führen, bejaht durch BVerfG HFR 2010, 1109. 4 Dazu BMF BStBl. I 2012, 40; Bering/Friedenberger, NWB 2012, 278. 5 Hierzu Wendl, FR 2014, 167.
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Private Abzüge
Rz. 748
§8
fähig, wenn sie keiner eigenen Erwerbstätigkeit nachgehen, wobei Teilzeitbeschäftigungen (bis 20 Stunden pro Woche), Ausbildungsdienstverhältnisse und geringfügige Beschäftigungen i.S.v. §§ 8; 8a SGB IV unschädlich sind. Auf die Höhe des Verdienstes kommt es nicht mehr an. Damit scheidet auch der frühere Ausschluss verheirateter Kinder aus.1 Mit dem Verzicht des Gesetzgebers auf die Schädlichkeit eigener Einkünfte ergibt sich für vermögende Eltern die Möglichkeit, durch den Transfer von Einkunftsquellen ein Familienrealsplitting zu erreichen2. Die Kumulierung von Freibeträgen ist mit dem Prinzip gleichmäßiger Erfassung der Familienleistungsfähigkeit nicht vereinbar und begünstigt einkommens- und vermögensstarke Familien. Ein nennenswerter Vereinfachungseffekt gegenüber der bisherigen Rechtslage ist nicht erkennbar3. Die Reformbedürftigkeit der Familienbesteuerung wird umso augenfälliger. (2) Körperlich, geistig oder seelisch behinderte Kinder, die deswegen außer Stande sind, sich selbst zu unterhalten4, wenn die Behinderung vor dem 25. Lebensjahr eingetreten ist (§ 32 IV 1 Nr. 3 EStG).
4.2.2 Familienleistungsausgleich (§§ 31; 32 VI EStG) Der existenznotwendige Grundbedarf des Kindes inkl. Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsbedarf wird zunächst durch die monatliche Auszahlung von Kindergeld als Steuervergütung (s. § 6 Rz. 88) gesichert (§ 31 Satz 3 EStG). Das monatliche Kindergeld beträgt für erste und zweite Kinder jeweils 184 Euro, für dritte Kinder 190 Euro und für das vierte und jedes weitere Kind jeweils 215 Euro (§ 66 I EStG i.d.F. des FamLeistG). Der Kinderfreibetrag beläuft sich seit VZ 2010 für das sächliche Existenzminimum auf 2 184 Euro für jeden Elternteil (Elternpaar: 4 368 Euro); der zusätzliche Freibetrag für den Betreuungs-, Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf auf 1 320 Euro (Elternpaar: 2 640 Euro). Somit berücksichtigt § 32 VI 1 u. 2 EStG das Kinderexistenzminimum in Höhe von insgesamt 7 008 Euro pro Elternpaar. Ist die steuerliche Auswirkung von Kinder- und Betreuungsfreibetrag (§ 32 VI EStG) günstiger als das Kindergeld, so sind die Freibeträge anzusetzen und die tarifliche Einkommensteuer um den Anspruch auf Kindergeld zu erhöhen (§ 31 Satz 4 EStG).
746
Ausländisches Kindergeld und vergleichbare Leistungen (§ 65 EStG) erhöhen die tarifliche Einkommensteuer ebenfalls bis zur Höhe des deutschen Kindergeldes (§ 31 Satz 5, 6 EStG). Für Auslandskinder5 können nur die nach den Verhältnissen des Wohnsitzstaates notwendigen und angemessenen Beträge abgezogen werden (§ 32 VI 4 EStG).
747
Kinderfreibetrag und Betreuungsfreibetrag sind separat übertragbar (§ 32 VI 6-11 EStG)6, und zwar ab 2012 auch auf einen zur Leistung von Unterhalt nicht verpflichteten Elternteil, wenn dieser tatsächlich für den Unterhalt aufkommt. Die Freibeträge können auch auf einen Stiefeltern- oder Großelternteil übertragen werden, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 32 VI 10 EStG). Kindergeldanspruch und -verfahren7 sind für unbeschränkt Stpfl. in den §§ 62–78 EStG geregelt (dazu BZSt BStBl. I 2013, 199). Das Bundeskindergeldgesetz i.d.F. v. 28.1.2009, BGBl. I 2009, 142, regelt die Kindergeldansprüche der nicht unbeschränkt Stpfl. (s. § 1 I BKGG), sowie der Personen, die wie z.B. Vollwaisen Kindergeld für sich selbst erhalten. 1 BFH BStBl. 2014, 257; zuvor unter Aufgabe der sog. „Mangelfallrechtsprechung“ schon BFH BStBl. 2010, 982. 2 Königer/Ziegler, FR 2011, 937 (unter Berücksichtigung von ErbStG-Konsequenzen); zu Recht krit. aus steuersytematischer und verfassungsrechtlicher Sicht Reiß, FR 2011, 462; a.A. Wendl, FR 2014, 167 (173): weitgehend sachgerechte Typisierung der elterlichen Unterhaltspflichten. 3 Ebenfalls sehr krit. Reimer, FR 2011, 932. 4 Grds. hierzu BFH BStBl. 2000, 72; 2000, 75; 2000, 79; 2012, 141; 2012, 892. Bei Zusammentreffen von Behinderung und Kindergeld ausschließender strafrechtlicher Verurteilung mit Unterbringung bzw. Inhaftierung besteht kein Anspruch auf Kindergeld (BFH/NV 2014, 1289; BFH/NV 2009, 929). 5 Umfassend zur einkommensteuerlichen Berücksichtigung von Auslandskindern und zur Unionsrechtskonformität Reimer/Weimar, ISR 2012, 37; M. Vogel, EWS 2012, 226 (rechtsvergleichend). 6 Übertragung des Betreuungsfreibetrags auf den Elternteil, bei dem das Kind gemeldet ist, ist verfassungskonform (BFH BStBl. 2013, 194 [195]). 7 Zur aktuellen Rechtslage Günther, EStB 2012, 262; Bering/Friedenberger, NWB 2013, 1560.
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748
§8
Rz. 749
749
Die Anspruchsvoraussetzungen für unbeschränkt Stpfl. sind in den §§ 62–65 EStG normiert. Persönlich anspruchsberechtigt nach § 62 EStG sind in erster Linie deutsche Staatsangehörige. Allerdings sind hier die europarechtlichen Vorgaben zu beachten. So wird die Anspruchsberechtigung nur für die nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländer eingeschränkt1; sie erhalten Kindergeld nach § 62 II EStG nur mit Niederlassungs-/Aufenthaltserlaubnis. EU-/EWR-Staatsangehörige und nach dem Freizügigkeitsabkommen v. 21.6.1999, ABl. EG Nr. L 114 v. 30.4. 2002, auch Schweizer haben grds. unter denselben Voraussetzungen wie deutsche Staatsangehörige Anspruch auf Kindergeld2. Wohnen sie in Deutschland und arbeiten sie in einem EU-/EWRMitgliedstaat oder in der Schweiz, so haben sie Anspruch auf Kindergeld, wenn das Recht des Beschäftigungsstaates weder Kindergeld noch eine vergleichbare Leistung vorsieht3.
Einkommensteuer
§ 63 I EStG bestimmt, für welche Kinder Anspruch auf Kindergeld besteht. Daraus ergibt sich die Kindergeldberechtigung für Eltern, Adoptiv-, Pflege-, Großeltern, Ehegattenkinder und Kinder eingetragener Lebenspartner (BFH BStBl. 2014, 36). Jedoch entfällt der Anspruch auf Kindergeld und Kinderfreibetrag, wenn das Kind heiratet (s. Rz. 745) oder wenn eine unverheiratete Mutter nach § 1615l BGB einen vorrangigen Unterhaltsanspruch gegenüber dem Kindsvater erwirbt4. 750
Die nach § 63 I EStG bestimmten, bei der Bemessung des Kindergeldes (§ 66 EStG) berücksichtigten sog. Zählkinder werden zu sog. Zahlkindern, wenn das Kindergeld nach § 64 EStG einem bestimmten Berechtigten zugewiesen wird. Das Kindergeld steht nach dem sog. Obhutsprinzip5 demjenigen zu, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 II 1 EStG). Lebt das Kind nicht im Haushalt eines Berechtigten i.S.d. §§ 62; 63 I EStG, so erhält das Kindergeld derjenige, der dem Kind eine Unterhaltsrente zahlt (§ 64 III 1 EStG). BVerfGE 106, 166, verlangt die Gleichbehandlung der verschiedenen Familienformen. § 65 EStG schließt das Kindergeld aus, wenn für das Kind vergleichbare andere Leistungen gezahlt werden. Im Ausland gewährte Leistungen dürfen nicht zu einem vollständigen Ausschluss, sondern nur zu einer entsprechenden Kürzung des Anspruchs führen6.
4.2.3 Zusätzliche Abzüge für den Kindesunterhalt 751
Nachdem BVerfG 99, 216 (238 f.) den Haushaltsfreibetrag (2002: 2 340 Euro) als „dritten Grundfreibetrag“ für getrennt lebende Eltern wegen der Diskriminierung der ehelichen Erziehungsgemeinschaft beanstandet hatte, sollte er stufenweise abgeschmolzen werden7. Stattdessen wurde er vorzeitig durch das Haushaltsbegleitgesetz v. 29.12.2003, BGBl. I 2003, 3076, ab 2004 ganz abgeschafft und durch einen Entlastungsbetrag für Alleinerziehende in Höhe von 1 308 Euro (§ 24b EStG) ersetzt, der anders als der Grundfreibetrag von der Summe der Einkünfte abzuziehen ist. § 24b EStG will typisierend den Mehraufwand der Alleinerziehenden berücksichtigen8 und begegnet daher keinen verfassungsrechtlichen Bedenken9. 1 BFH BStBl. 2009, 905 (geduldeter Ausländer); 2009, 913; 2010, 980. 2 BFH BStBl. 2013, 1040. 3 BZSt BStBl. I 2009, 1030; EuGH C-352/06, Bosmann; zur Klärung der Anspruchsvoraussetzungen im Hinblick auf die EU-rechtlichen Kollisionsregeln für die sozialen Sicherungssysteme s. EuGH-Verfahren C-611/10 u. 612/10, Hudzinski und Wawrzyniak; dazu Wendl, DStR 2012, 1894. Umgesetzt in BFH/NV 2014, 1205; BFH BStBl. 2013, 1040. 4 BFH BStBl. 2004, 943; BZSt BStBl. I 2009, 1030. 5 BT-Drucks. 13/1558, 165. 6 EuGH Rs. C-611/10 u 612/10, Hudzinski und Wawrzyniak, Rz. 75 ff.; BFH/NV 2014, 674. Zu im Ausland gewährten Leistungen s. BZSt BStBl. I 2013, 882. Zur Konkurrenz der Kindergeldansprüche verschiedener Mitgliedstaaten s. Vorlage an den EuGH BFH BStBl. 2014, 470. 7 BVerfGE 99, 216, hatte über einen Haushaltsfreibetrag von 5 616 DM (= 2 871 Euro) zu entscheiden. Nach dem Zweiten Gesetz zur Familienförderung v. 16.8.2001, BGBl. I 2001, 2074, sollte der Haushaltsfreibetrag sozialverträglich (BT-Drucks. 14/6160, 13) in drei Stufen (2003: 2 340 Euro); 2003/2004: 1 188 Euro; ab 2005: 0 Euro) abgeschmolzen werden (zu dieser Rechtslage ausf. Hillmoth, INF 2002, 225). 8 BT-Drucks. 15/3339, 21. 9 BVerfG, HFR 2009, 1027; krit. dagegen Kirchhof/Seiler13, § 24b EStG Rz. 1: Sozialzwecknorm, die progressionsabhängig Besserverdienende stärker fördert als Geringverdiener und Einkommenslose.
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Rz. 799
§8
Der Ausbildungsfreibetrag (§ 33a II EStG) ist wegen der Berücksichtigung von Ausbildungsbedarf in § 32 VI EStG auf die Abgeltung von Sonderbedarf eines auswärtig untergebrachten, volljährigen Kindes beschränkt. Er beträgt 924 Euro, die der Stpfl. vom Gesamtbetrag der Einkünfte abziehen kann1.
752
Regelmäßiger Mehrbedarf entsteht auch infolge Krankheit und Körperbehinderung des Kindes. Diesen Mehrbedarf berücksichtigt § 33b V, VI EStG (s. Rz. 732).
753
Kinderbetreuungskosten sind nach § 10 I Nr. 5 EStG abziehbar2. Nachdem der Gesetzgeber zunächst (§§ 4f; 9c EStG a.F.) vorrangig erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten „wie“ Betriebsausgaben/Werbungskosten zum Abzug zugelassen hatte3, ordnet das Steuervereinfachungsgesetz 2011 den Abzug einheitlich den Sonderausgaben zu. Abziehbar sind zwei Drittel der Aufwendungen, jedoch höchstens 4 000 Euro pro Kind.
754
Kritik: Zu begrüßen ist zwar, dass damit die komplizierte Differenzierung nach Kindesalter und Erwerbssituation der Eltern entfällt. In seiner jetzigen Ausgestaltung vermischt § 10 I Nr. 5 EStG jedoch Aspekte des subjektiven Nettoprinzips (zwangsläufiger Betreuungsaufwand aufgrund Krankheit/Behinderung der Eltern) mit familienpolitischen Förderzwecken (Abzugsmöglichkeit unabhängig von einem durch die Erwerbstätigkeit veranlassten Förderbedarf). Ist der Betreuungsaufwand durch die Erwerbstätigkeit beider Elternteile veranlasst, handelt es sich um eine Fehlplatzierung von Erwerbsaufwand in den Sonderausgaben. Kinderbetreuungskosten sind zunächst gemischt veranlasste Aufwendungen, die zum einen durch das Kindhaben und zum anderen durch die Erwerbstätigkeit verursacht sind. Fallen jedoch die Aufwendungen „wegen einer Erwerbstätigkeit“ an, so liegt beruflicher Mehraufwand vor, der als Mehraufwand ausschließlich beruflich veranlasst ist4. In diesem Sinne hat das FG Köln5 zutr. die volle Abziehbarkeit von Kosten einer Kindertagesstätte als Werbungskosten bejaht. Nur die volle Abziehbarkeit des beruflichen Mehraufwandes wird dem Ziel der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie gerecht, was 1994 auf dem 60. DJT ausführlich diskutiert und beschlossen worden ist6.
755
Private Abzüge
756–799
Einstweilen frei.
1 Im Hinblick auf die bei der Beurteilung einzubeziehenden Freibeträge des § 32 VI EStG der Höhe nach verfassungskonform BFH BStBl. 2010, 341; 2011, 281; 2012, 567; 2012, 816; Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen; a.A. Hölscheidt, NWB 2011, 1782; Greite, FR 2012, 973. 2 Dazu BMF BStBl. 2012, 307; Nolte, NWB 2012, 1508; Merker, SteuerStud 2013, 9; ferner grds. zum Abzug von Kinderbetreuungskosten Hey, NJW 2006, 2001; Hillmoth, INF 2006, 377; Brosius-Gersdorf, JZ 2007, 326; Gunsenheimer, SteuerStud 2007, 476; Seiler, DStR 2007, 1631. BFH BStBl. 2012, 862 zur Abgrenzung zwischen abzugsfähigen Betreuungs- und nicht abzugsfähigen Unterrichtsaufwendungen. 3 Das Hin und Her des Gesetzgebers ist beispiellos. Seit Einführung der Abzugsmöglichkeit für VZ 2006 wurde die Regelung drei Mal umplatziert (zunächst § 4f EStG [VZ 2006–2008], dann § 9c EStG [VZ 2009–2011], ab 2012 § 10 I Nr. 5 EStG). 4 Dazu Hey, NJW 2006, 2001 (2002 f.), sowie bereits J. Lang, StuW 1983, 108; J. Lang, Rechtsgutachten, ifo-Studie von Persche-Steinherr, Vermeidung von Schlechterstellung der Ehe gegenüber nichtehelichen Lebensgemeinschaften im Einkommensteuerrecht, 1999; J. Lang, 60. DJT, Sitzungsbericht, Teil O, O 61 ff. (O 82 f.); Degenhard, DStZ 1995, 611; Schön, DStR 1999, 1677 (1680); Tiedchen, BB 1999, 1681; Locher, ASA 68 (1999/2000), 375; Seer/Wendt, NJW 2000, 1904 (1907 f.); Gröpl, StuW 2001, 150 (161); Jachmann/Liebl, DStR 2010, 2009 (2011); BVerfGE 99, 216 (233) unterscheidet von dem durch § 32 VI EStG abgegoltenen generellen Betreuungsbedarf den „erwerbsbedingten Betreuungsbedarf“, ohne daraus Konsequenzen für §§ 4 IV; 9 I EStG zu ziehen (s. Seer/Wendt, NJW 2000, 1904 [1907]). Im Weiteren Kanzler, DStJG 24 (2001), 453; Ahmann, NJW 2002, 633; Kanzler, DStRBeihefter 11/2002; Hölzer, NJW 2008, 2145. Nach § 15 II Nr. 1 Kölner EStGE sind als Erwerbsausgaben abziehbar „Ausgaben für die Unterbringung und Betreuung von Personen, die minderjährig oder infolge Krankheit oder Behinderung betreuungsbedürftig sind, soweit die Unterbringung oder Betreuung die Erwerbstätigkeit ermöglicht.“ 5 EFG 2006, 1900; offen gelassen BFH BStBl. 2012, 567 (569). 6 60. DJT, Sitzungsbericht, Teil O (Welche Maßnahmen empfehlen sich, um die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie zu verbessern?), O 61 ff. (Referat von J. Lang), O 92 (Beschluss: erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten müssten „steuerrechtlich uneingeschänkt geltend gemacht werden können“).
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§8
Rz. 800
Einkommensteuer
J. Einkommensteuertarif Literatur: von Wiese, Das Prinzip der Progression in der Einkommensteuer, in Festgabe von Schanz II, 1928, 261; Kipke, Beiträge zur Lehre vom Steuertarif, Diss., 1931; Föhl, Kritik der progressiven Einkommensbesteuerung, FinArch. Bd. 14 (1953/54), 88; Krelle, Zur Wirkung der progressiven Einkommensbesteuerung, FinArch. Bd. 16 (1955/56), 22; K. Schmidt, Die Steuerprogression, Habil., 1960; Pollak, Steuertarife, in Hdb. der Finanzwissenschaft3, Bd. II, 1980, 239; Hinterberger/Müller/ Petersen, „Gerechte“ Tariftypen bei alternativen Opfertheorien und Nutzenfunktionen, FinArch. Bd. 45 (1987), 45; Lieb, Direkte Steuerprogression, Geschichtliche Entwicklung und kritische Würdigung ihrer Begründungen, Diss., 1992; Becker, Steuerprogression und Steuergerechtigkeit, in FS Klein, 1994, 379; Klett, Progressive Einkommenssteuer und Leistungsfähigkeitsgrundsatz in der Schweiz, in FS Tipke, 1995, 599; Wiss. Beirat beim BMF, Zur Reform des Einkommensteuertarifs, Heft 60, 1996; Elicker, Kritik der direkt progressiven Einkommensbesteuerung, Plädoyer für die „flache Steuer“, StuW 2000, 3; Elicker, Die Ungerechtigkeit der direkten Steuerprogression, ÖStZ 2001, 166; Knaupp, Der Einkommensteuertarif als Ausdruck der Steuergerechtigkeit, Diss., 2004; Liesenfeld, Das steuerfreie Existenzminimum und der progressive Tarif als Bausteine eines freiheitlichen Verständnisses des Leistungsfähigkeitsprinzips, Diss., 2005; Reich, Verfassungsrechtliche Beurteilung der partiellen Steuerdegression, ASA 2006, 689; Berger, Steuerprogression als verfassungsrechtliches Gebot?, ASA 2008/2009, 577; Bareis, Zur Problematik steuerjuristischer Vorgaben für die Einkommensteuer-Tarifstruktur und Familiensplitting als Musterbeispiele, DStR 2010, 565; Houben/Baumgarten, Haushaltsund Verteilungswirkungen einer Tarifreform, IFSt-Schrift Nr. 476 (2011); Müller/Maiterth, Aufkommens- und Verteilungswirkungen des Einkommensteuertarifs in Deutschland von 1988 bis 2008, StuW 2011, 28; Houben/Baumgarten, Krankt das deutsche Steuerrecht am Mittelstandsbach und der kalten Progression?, StuW 2011, 341; M. Rose, Vorschlag für eine Reform des Einkommensteuertarifs, Wirtschaftsdienst 2011, 323; Broer, Optionen zur Umsetzung des Kabinettsbeschlusses zur Steuerentlastung „kleiner und mittlerer Einkommen“, DStZ 2011, 641; Bareis, Einkommensteuertarif und Sozialsteuerprinzip – Ein Konzeptvergleich, DB 2012, 994; Broer, Kalte Progression wegen fehlender Inflationsanpassung steuerlicher Abzugsbeträge, DStZ 2012; Haase/Leisner, Kalte Progression und Mittelstandsbauch und ihr Einfluss auf die Leistungsfähigkeit des Handwerks, 2013; Hechtner, Das Gesetz zum Abbau der kalten Progression: Baut die Anhebung des Grundfreibetrags die kalte Progression vollständig ab?, StuW 2014, 132; Kruhl, Debatte um Milderung der kalten Progression gewinnt an Fahrt, StBW 2014, 835.
1. Der linear-progressive Tarif 800
Das zu versteuernde Einkommen bildet die Bemessungsgrundlage (§ 2 V 1 Hs. 2 EStG) für den in § 32a I EStG geregelten progressiven (s. § 6 Rz. 47) Einkommensteuertarif. Hierzu lassen sich unterschiedliche Tarifformen1 unterscheiden: Bei Stufentarifen wird die Bemessungsgrundlage in Teilmengen zerlegt und diese Teilmengen ansteigenden Tarifprozentsätzen zugeordnet. Stufentarife werden auch als Teilmengentarife bezeichnet; ihnen wird u.a. der Vorzug der Belastungstransparenz zugeschrieben2. Bei wenigen Stufen ergeben sich allerdings Belastungssprünge, die Formeltarife vermeiden. Durch das Steuerreformgesetz 1990 v. 25.7.1988, BGBl. I 1988, 1093, ist ein linear-progressiver Formeltarif mit linear verlaufender Grenzbelastung (s. Schaubild Rz. 805) eingeführt worden. Weiter unterschieden werden kann zwischen direkter und indirekter Progression. Letztere entsteht durch die Freistellung des Existenzminimums. Auch Tarife mit einheitlichem Steuersatz (sog. Flat Taxes) wirken durch den existenznotwendigen Bedarf berücksichtigende Abzüge in der Bemessungsgrundlage indirekt-progressiv3.
1 Dazu Pollak, Steuertarife, Hdb. der Finanzwissenschaft II3, 239; Wiss. Beirat beim BMF, Zur Reform des Einkommensteuertarifs, Heft 60, 1996; Bohley, Die Öffentliche Finanzierung, 2003, 86 ff.; HHR/ Siegel, § 32a EStG Anm. 4 f. (2011); Houben/Baumgarten, IFSt-Schrift Nr. 476 (2011), 16 ff. 2 M. Rose, Wirtschaftsdienst 2011, 323; skeptisch gegenüber den Transparenzgewinnen eines Stufentarifs im Hinblick auf die notwendige Inflationsanpassung der einzelnen Stufen Houben/Baumgarten, IFSt-Schrift Nr. 476 (2011), 67. 3 S. P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, 14 f.; Suttmann, Die Flat Tax, Diss., 2007, 58 f.
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Rz. 804
§8
Es lässt sich weder wirtschaftswissenschaftlich noch rechtswissenschaftlich beweisen, welcher Tarif „richtig“ ist. Der progressive Tarif ist bereits 1891 in Preußen eingeführt worden (0,67 bis 4 %). Die Überzeugung, dass die Besteuerung progressiv zu sein habe, reicht in das 18. Jahrhundert zurück und hat vor allem durch die sozialen Konflikte des 19. Jahrhunderts im Wandel von der feudalistischen Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft Auftrieb erfahren. Grundlage der Rechtfertigung war die sog. Opfertheorie, die Jean Jacques Rousseau 1755 wegweisend in seinem „Discours sur l’économie politique“ entworfen hat. Er legte dar, dass die Steuer nach der Größe des Vermögens abgestuft werden müsste. Je größer das Vermögen sei, desto entbehrlicher werde es für die Befriedigung der Lebensbedürfnisse. Das Lebensnotwendige müsste steuerfrei bleiben, der Luxus könnte hoch und das Überflüssige könnte ganz weggesteuert werden.
801
Das BVerfG hat im Parteispendenurteil v. 24.6.1958 noch gemeint, die „formale Gleichbehandlung von Reich und Arm durch Anwendung desselben Steuersatzes“ würde dem Gleichheitssatz widersprechen. Die Gerechtigkeit verlange, „dass im Sinne der verhältnismäßigen Gleichheit der wirtschaftlich Leistungsfähigere einen höheren Prozentsatz seines Einkommens zu zahlen“ habe als der „wirtschaftlich Schwächere“1. Mittlerweile hat ein steuerwissenschaftliches Umdenken eingesetzt: Die Steuergleichheit gebietet den proportionalen Fiskalzwecksteuersatz. Der progressive Tarif ist ein Instrument sozialstaatlicher Umverteilung (s. bereits § 3 Rz. 212) und Erfahrungen mit dem durch hohe Spitzensätze verursachten Ausweichverhalten haben sogar die soziale Gerechtigkeit der Steuerprogression erschüttert.
802
Die Steuerprogression wirkt nämlich leistungshemmend (Verzerrung der Entscheidung zwischen Freizeit und Arbeit), verfälscht die Lohn- und Preisgerechtigkeit, verlockt zu unwirtschaftlichen Investitionen, verkompliziert das Einkommensteuerrecht infolge Steuerwiderstands, den die gut beratenen und international agierenden Stpfl. am besten ausüben können (sog. Dummensteuereffekt, s. § 7 Rz. 14), und birgt die Gefahr einer Kompensation durch Durchlöcherung der Bemessungsgrundlage. Die Steuerprogression führt zwangsläufig dazu, dass durch Erhöhung persönlicher Freibeträge (Grundfreibeträge/Kinderfreibeträge) Spitzenverdiener stärker entlastet werden als Geringverdiener; dies ergibt sich folgerichtig aus der Systematik der Progression2, führt aber zu politischen Diskussionen3. Die Steuerprogression trifft die unkundigen, ortsgebundenen Besserverdiener, vor allem Arbeitnehmer am härtesten und wird von denen am wenigsten getragen, die sie eigentlich treffen soll.
803
Nach der BMF-Datensammlung zur Steuerpolitik 2013, 24, tragen die obersten 5 % der Stpfl. mit Einkünften ab 98 403 Euro 41,2 % des Einkommensteueraufkommens und die untere Hälfte der Stpfl. nur 5,1 %. Hingegen suggeriert die Debatte um die sog. Reichensteuer (s. Rz. 805), dass die „Reichen“ zu wenig Steuern zahlen. Der sog. Wettbewerb der Steuersysteme (s. § 7 Rz. 70 ff.) übt erheblichen Druck auf die Ertragsteuerbelastungen aus. Demzufolge wurde der Spitzensatz der deutschen Einkommensteuer seit Beginn der 1990er Jahre4 von 56 % auf 42 % abgesenkt (s. Rz. 805). Freilich zeichnet sich derzeit ab, dass dieses verhältnismäßig niedrige Niveau des Spitzensteuersatzes bei ungebrochener Ausgabefreudigkeit des Staates langfristig nicht haltbar ist.
804
Einkommensteuertarif
In der Schweiz wurde gar ein degressiver Steuertarif eingeführt, mit dem der Tarif wettbewerbspolitisch optimiert wurde5. Das Bundesgericht der Schweiz hat allerdings am 1.6.20076 entschieden, dass die ab einer bestimmten Höhe des steuerbaren Einkommens bzw. Vermögens eintretende Degressivität des Tarifs gegen das allgemeine Rechtsgleichheitsgebot (Art. 8 I BV) und gegen das ausdrücklich in Art. 127 II BV verankerte Leistungsfähigkeitsprinzip verstoße (dazu ausf. Berger, ASA 2008/2009, 577). Eine Absenkung des Einkommensteuertarifs in die Richtung einer „flat tax“ mit niedrigem Einheitssteuersatz (s. § 7 Rz. 86) ist für Sozialstaaten fiskalisch nicht verkraftbar, da die Spitzenverdiener die Hauptlast der Einkommensteuer tragen. Eine Verlagerung der Steuerkraft auf indirekte Steuern ist sozialstaatlich inadäquat. Die meisten Steuerstaaten bedienen sich einer Schedularisierungsstrategie (s. Rz. 1): Die Tarifbelastungen werden gezielt dort abgesenkt, wo der Steuerwettbewerb den stärksten Druck ausübt (s. § 7 Rz. 88). Auf diese Weise entstehen starke Spreizungen von Körperschaftsteuersatz
1 2 3 4 5 6
BVerfGE 8, 51 (68 f.). A.A. Bareis, DStR 2010, 565 (567). Birk, DB 2011, Gastkommentar zu Heft 35. Beginnend mit Steuerreformgesetz 1990 v. 25.7.1988, BGBl. I 1988, 1093. S. Reich, ASA 2006, 689. BGE 133 I 206.
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§8
Rz. 805
Einkommensteuer
und Spitzensatz der Einkommensteuer als Erscheinungsform einer partiell nachgelagerten Besteuerung von Unternehmensgewinnen1. Die Abgeltungsteuer (s. Rz. 492 ff.) ist eine flat tax auf Kapitaleinkünfte.
805
Mit Einführung des linear-progressiven Tarifs ab 1990 wurde der Spitzensatz von 56 % auf 53 % gesenkt. Dieser Spitzensatz wurde ab 2000 unter dem Druck des Steuerwettbewerbs (s. Rz. 804) in vier Stufen auf 42 % herabgeführt, und zwar 2000 auf 51 %, sodann 2001 auf 48,5 %, 2003 auf 47 % und ab 2005 auf 42 %2. Ab 2007 wurde der Spitzensatz von 42 % für zu versteuernde Einkommen ab 250 000 Euro auf 45 % angehoben (sog. Reichensteuer). Nicht außer Betracht gelassen werden darf, dass zur Einkommensteuerbelastung der Solidaritätszuschlag hinzutritt, so dass der Einkommensteuerspitzensatz real bei 44,3 % bzw. 47,5 % liegt. Es ergibt sich ab 2015 folgender Einkommensteuertarif (Ehegattensplitting s. Rz. 825 ff.): – Grundfreibetrag (§ 32a I 2 Nr. 1 EStG): Nullzone bis 8 354 Euro; der im Gesetz sog. Grundfreibetrag gehört in die Bemessungsgrundlage (s. Rz. 87); – Übergangszone bis zur linear-progressiven Zone (§ 32a I 2 Nr. 2 EStG): 8 355 Euro bis 13 469 Euro; – linear-progressive Zone (§ 32a I 2 Nr. 3 EStG): 13 470 bis 52 881 Euro; – obere Proportionalzone (§ 32a I 2 Nr. 4 EStG): 52 882 bis 250 730 Euro: 42 %; – Reichensteuer (§ 32a I 2 Nr. 5 EStG): ab 250 731 Euro Spitzensatz von 45 %.
Grenz- und Durchschnittsbelastung bis 65 000 Euro 60
Einkommensbelastung in %
50 40
Grenzbelastung
30 Durchschnittsbelastung
20 10 0
0
10
20
30
40
50
60
Zu versteuerndes Einkommen in Tausend Euro
806
Die Graphiklinien der Durchschnittsbelastung zeigen die prozentuale Belastung des gesamten zu versteuernden Einkommens i.S.d. § 32a I 1 EStG und die der Grenzbelastung zeigen die prozentuale Belastung des Mehrbetrags. Die steuerliche Auswirkung eines Geschäftsvorfalls wird nach der Grenz1 Dazu Dorenkamp, Spreizung zwischen Körperschaftsteuer- und Spitzensatz der Einkommensteuer, in Pelka, Unternehmenssteuerreform 2001, 61. S. auch § 3 Rz. 77. Der Körperschaftsteuersatz ist unter dem Druck des Steuerwettbewerbs von 56 % (1977) auf 15 % (ab 2008) abgesenkt worden (s. § 11 Rz. 110). Somit beträgt die Spreizung gegenwärtig 30 Prozentpunkte. 2 Dazu die Vergleiche der Tarife 2002–2005 von Laux, BB 2002, 1995; Maiterth/Müller, BB 2003, 2373 (Aufkommens- und Verteilungswirkungen des Übergangs vom Tarif 2003 zum Tarif 2005); Broer, DStZ 2004, 257 (Verschiebung der Tarifsenkung wegen Flutopfer); Keß, SteuerStud 2004, 639 (Erläuterung des § 32a I EStG); Laux, BB 2004, 1031.
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Einkommensteuertarif
Rz. 808
§8
belastung, dem sog. Grenzsteuersatz oder Marginalsteuersatz (margo = Rand) gerechnet. § 32a IV, V 2 EStG ist durch das StSenkG gestrichen worden, so dass die EStG-Anlagen 1 (Grundtabelle) und 2 (Splittingtabelle) weggefallen sind. Eine Besonderheit des Tarifverlaufs liegt in dem steileren Anstieg des Grenzsteuersatzes in der ersten Tarifzone (aktuell 8 005 bis 13 469 Euro), dem sog. „Mittelstandsbauch“, dessen Beseitigung politisch gefordert wird, allerdings mit erheblichen Aufkommensausfällen verbunden wäre1.
Soweit der Tarif der Geldentwertung nicht angepasst wird, findet eine „kalte Progression“ eine „heimliche Steuererhöhung“ statt, d.h. es wachsen infolge der zum Ausgleich der Geldentwertung vorgenommenen Einkommens- und Lohnerhöhungen immer mehr Stpfl. in den höheren Tarif hinein, ohne dass der Gesetzgeber eine entsprechende Entscheidung trifft2.
807
Theoretisch kann der Tarif der inflationären Entwicklung auf verschiedene Weise angepasst werden: – durch eine gesetzliche Indexierung, d.h. durch eine gesetzlich angeordnete, automatische Anpassung des Tarifs und der persönlichen Freibeträge (Grundfreibetrag, familiäre Freibeträge) bei bestimmten Mindesterhöhungen des Lebenshaltungskostenindexes (so verfahren z.B. Schweden, Kanada und die USA); – durch eine Verpflichtung der Regierung, ab bestimmten Mindesterhöhungen des Lebenshaltungskostenindex der „kalten Progression“ durch Anpassung des Tarifs und der persönlichen Freibeträge Rechnung zu tragen; – durch eine Überprüfung des Tarifs und der persönlichen Freibeträge entweder jährlich oder in Mehrjahreszeiträumen, ohne dass bindende Regeln aufgestellt werden (Beispiel Großbritannien). Nachdem man sich 2013 nicht auf eine Tarifkorrektur zum Abbau der kalten Progression (s. Regierungsentwurf, BT-Drucks. 17/8683) einigen konnte, wurde allein der Grundfreibetrag in zwei Stufen auf 8 130 Euro (2013) und ab 2014 auf 8 354 Euro angehoben3. Hierin lag in erster Linie eine Anpassung an die Vorgaben des Existenzminimumberichts für 2014 und der Pflicht, die verfassungsrechtlich garantierte Steuerfreiheit des Existenzminimums sicherzustellen.
Progressionsvorbehalt (§ 32b EStG)4: Wenn bestimmte Einkünfte aus der Bemessungsgrundlage herausgenommen sind, dann bewirkt das nicht nur den Steuerausfall für diese Einkünfte, sondern darüber hinaus die Anwendung eines niedrigeren Steuersatzes bei den übrigen Einkünften. Diesem letzteren Effekt wirkt die Regelung des Progressionsvorbehalts entgegen: Sie lässt die Steuerfreiheit der ausgenommenen Einkünfte unangetastet, bezieht jedoch diese Einkünfte bei der Ermittlung des Steuersatzes in die Bemessungsgrundlage ein, indem das nach § 32a I EStG zu versteuernde Einkommen vermehrt (positiver Progressionsvorbehalt bei positiven Einkünften) oder vermindert (negativer Progressionsvorbehalt bei negativen Einkünften) wird (§ 32b II EStG). 1 Ca. 28 Mrd. Euro, vgl. BT-Drucks. 17/6541, 32 f. Dazu Houben/Baumgarten, StuW 2011, 341 (347 ff.). 2 Die laufende Anpassung des Tarifs an die Geldentwertung fordert insb. der Bund der Steuerzahler. S. Stern, Der Tarif muss auf die Räder, Heimliche Steuererhöhungen vermeiden, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, 2002; Stern, DStZ 2003, 294. Der Kölner EStGE empfiehlt die jährliche Anpassung des Tarifs sowie der privaten Abzüge durch eine Lebensbedarfsverordnung (§§ 3 II 2; 36 III 2). SVR-Gutachten 2013/14 Rz. 672, belegt, dass eine Tarifanpassung überfällig ist; zu den Auswirkungen einer Reform/Abschaffung des Solidaritätszuschlags auf die kalte Progression Bechara/Beimann/Kasten, Wirtschaftsdienst 2012, 326; ferner Wiss. Beirat Steuern Ernst & Young, DStR 2014, 1309; zur Finanzierbarkeit Gebhardt, Wirtschaftsdienst 2012, 6. Zur Diskussion in Österreich Loser, ÖStZ 2014, 295; Rainer, ÖStZ 2014, 297. 3 Zu den Entlastunsgeffekten Kruhl, StBW 2013, 272; Eichfelder/Hechtner, DStZ 2013, 227; nicht ausreichend zum Abbau der kalten Progression s. Hechtner, StuW 2014, 132. Zu einer umfassenderen Inflationsanpassung Broer, DStZ 2012, 792; Gebhardt, Wirtschaftsdienst 2011, 843 (848); Haase/Leisner, Kalte Progression und Mittelstandsbauch und ihr Einfluss auf die Leistungsfähigkeit des Handwerks, 2013. 4 Dazu Wotschofsky, Der Progressionsvorbehalt, 1998; Wotschofsky/Pasch, StuB 2000, 932 (Systemwidrigkeit); Wassermeyer, IStR 2002, 289 (BFH-Rspr.); Kudert/Husmann, StuW 2006, 165; Holthaus, DStZ 2009, 188; Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, 2011, § 16 Rz. 534 ff.
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808
§8
Rz. 809
809
Der Progressionsvorbehalt ist in erster Linie eine Institution des Internationalen Steuerrechts (s. § 32b I 1 Nrn. 2–5, Ia EStG)1. Nach § 32b I 1 Nr. 3 EStG unterliegen ausländische Einkünfte dem Progressionsvorbehalt, wenn sie nach einem DBA im Quellenstaat besteuert werden und im Inland steuerfrei gestellt sind. Nach BFH BStBl. 2003, 302 (304) braucht das DBA ein Besteuerungsrecht mit Progressionsvorbehalt nicht ausdrücklich einzuräumen. In der Tat wird durch die Zuweisung von Einkünften dem Quellenstaat das Recht des Wohnsitzstaats, wie er die verbleibenden steuerpflichtigen Einkünfte besteuert, nicht berührt, es sei denn, das DBA verbietet ausdrücklich den Progressionsvorbehalt. Ein „treaty overriding“ lässt sich dem § 32b I 1 Nr. 3 EStG ebenso wenig entnehmen wie ein Verstoß gegen Unionsrecht2.
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§ 32b I 1 Nr. 1 EStG erweitert den klassischen Bereich des Progressionsvorbehalts um einen umfänglichen Katalog steuerfreier Lohnersatzleistungen und Sozialleistungen. Dazu gehören u.a. Ersatzleistungen gesetzlicher Krankenkassen, die einem freiwillig Versicherten gewährt werden (§ 32b I 1 Nr. 1 Buchst. b EStG; R 32b I EStR 2012). Diese Ausweitung des Progressionsvorbehalts ist eine fiskalische Fehlentwicklung, die sogar nicht erwirtschaftete Bezüge wie das als Sozialtransferleistung gewährte Elterngeld erfasst (§ 32b I 1 Nr. 1 Buchst. j EStG). Die Extension auf Bezüge außerhalb des Einkommensteuerobjekts (s. Rz. 52) begegnet verfassungsund völkerrechtlichen Bedenken3. Das Zusammentreffen des Progressionsvorbehalts mit Steuerermäßigungen4 bereitet besondere Schwierigkeiten der Tarifberechnung (§ 32b II EStG).
Einkommensteuer
2. Steuerermäßigungen 2.1 Überblick 811
Steuerermäßigungen (s. § 6 Rz. 48) sind entweder Milderungen des Steuersatzes (Tarifermäßigungen) oder Abzüge von der Steuerschuld (Steuerbetragsermäßigungen). Bei näherer Betrachtung sind viele Einkommensteuerermäßigungen Fiskalzwecknormen, die den Steuertatbestand auf die Steuerwürdigkeitsentscheidung zuschneiden (s. § 3 Rz. 20):
2.1.1 Fiskalzweckermäßigungen 812
(1) §§ 34; 34b EStG sehen für außerordentliche Einkünfte Steuerermäßigungen vor, die der erhöhten Progressivbelastung bei der Zusammenballung von Einkünften entgegenwirken sollen5. Daher sind in den §§ 34; 34b EStG Fiskalzweckermäßigungen zur Vermeidung einer Übermaßbesteuerung (s. § 3 Rz. 20) geregelt. Der Gesetzgeber bedient sich dabei zweier Techniken: Zum einen verteilt er die außerordentlichen Einkünfte rechnerisch auf fünf Jahre (s. Rz. 823). Damit wird die tarifliche Entlastung nur sehr bedingt erreicht und der Gesetzeszweck häufig verfehlt. Es können sogar verfassungswidrige Übermaßbesteuerungen entstehen (s. Rz. 826). Die Ermäßigung des Steuersatzes wird nur noch sehr eingeschränkt gewährt (§ 34 III EStG, s. Rz. 825).
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(2) Die Begünstigung nicht entnommener Gewinne nach § 34a EStG (s. Rz. 828 ff.) ist Teil der UntStRef 2008 und gehört zu dem oben (§ 7 Rz. 88) dargelegten System von Fiskalzweck1 Europarechtliche Notwendigkeit der Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse EuGH C-168/11, Beker & Beker; dazu Ismer, IStR 2013, 297. 2 BFH/NV 2011, 17. 3 Dazu Mössner, IStR 1997, 225; Apel/Oltmanns, DB 1998, 2560; Lüdicke, IStR 1999, 470; Achter, IStR 2002, 73; Winhard, Verfassungswidrige Einbeziehung des als Sozialtransferleistung gewährten Elterngeldes in den Progressionsvorbehalt, DStR 2008, 2144. BVerfG BStBl. 1995, 758; BFH BStBl. 2001, 778 (779 f.); 2003, 302 (305 f.); 2009, 376 (379 f.: Krankengeld); 2011, 382 (Elterngeld) teilt die Bedenken des Schrifttums nicht. 4 Zur Berücksichtigung des § 34 EStG s. BFH BStBl. 2008, 375 (Steuerbelastung ist nach dem Günstigkeitsprinzip zu berechnen); Eggesiecker/Ellerbeck, DStR 2007, 1281; Brückner, StWa 2008, 98; Heidenreich, NWB Fach 6, 4967 (2008); Siegel/Diller, DStR 2008, 178; Siegel, FR 2008, 389. 5 BFH BStBl. 1998, 787; 2000, 123 (126 f.); 2005, 289 (290); 2007, 180 (181); BFH/NV 2007, 408; BFH BStBl. 2011, 27; 2011, 28; 2012, 659; Blümich/Nacke, § 34b EStG Rz. 2 (2012); Blümich/Lindberg, § 34 EStG Rz. 5 (2012); Kirchhof/Mellinghoff13, § 34 EStG Rz. 8.
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Einkommensteuertarif
Rz. 817
§8
normen, das die Tarifbelastung gezielt dort zurückführt, wo sie sich im internationalen Steuerwettbewerb nicht durchzusetzen vermag. § 34a EStG soll die tariflichen Belastungen der Gewinne von Kapitalgesellschaften und Personenunternehmen annähern (s. § 7 Rz. 88 ff.). Dabei ist die pauschale Anrechnung der Gewerbesteuer nach § 35 EStG (s. Rz. 840 f.) in das System einer angenäherten Ertragsteuerbelastung von Kapitalgesellschaften und Personenunternehmen integriert. Die Nichtabzugsfähigkeit der Gewerbesteuer (§ 4 Vb EStG; Rz. 288) ab 2008 wird durch die Erhöhung des Anrechnungsfaktors (§ 35 I EStG) von 1,8 auf 3,8 ausgeglichen. § 35 EStG ist als Ausgleich zur Senkung des Körperschaftsteuersatzes durch die UntStRef 2000 (s. § 7 Rz. 37) eingeführt worden. Er folgt aus der Unfähigkeit des Gesetzgebers zur Gewerbesteuerreform (s. § 7 Rz. 92 f.). Die gewählte Technik führt ferner zu einer gleichheitssatzwidrigen Begünstigung der Gewerbetreibenden, weil sich die Bemessungsgrundlage für den Solidaritätszuschlag reduziert1. (3) Die gegenüber den Doppelbesteuerungsabkommen subsidiäre (§ 34c VI EStG) Anrechnung der ausländischen ESt nach § 34c I EStG (s. Rz. 839 f.) dient dem Zweck, internationale Doppelbesteuerung zu beseitigen. Nur die Technik einer Steuerbetragsermäßigung gewährleistet die exakte Beseitigung der Mehrfachbelastung. Der Normzweck wird verfehlt, wenn die ausländische Steuer bei der Ermittlung der Einkünfte abgezogen wird (§ 34c II, III EStG).
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(4) Durch das Erbschaftsteuerreformgesetz v. 24.12.2008, BGBl. I 2008, 3018, ist die Steuerermäßigung bei Belastung mit Erbschaftsteuer (§ 35b EStG) nach zehn Jahren wieder eingeführt worden2. Die Vorschrift soll Doppelbelastungen stiller Reserven mit Erbschaft- und Einkommensteuer abmildern, indem sie die erbsteuerliche Nichtabziehbarkeit latenter Einkommensteuerlasten substituiert. Die zu beantragende Steuerermäßigung greift Platz bei erbschaftsteuerbelasteten Einkünften des laufenden VZ oder der vorangegangenen vier VZ (§ 35b Satz 1 EStG). Die Steuerermäßigung bestimmt sich nach dem Verhältnis, in dem die festgesetzte ErbSt zu dem Betrag steht, der sich ergibt, wenn dem steuerpflichtigen Erwerb i.S.d. § 10 I ErbStG die steuerfreien Beträge der §§ 5; 16; 17 ErbStG hinzugerechnet werden (§ 35b Satz 2 EStG).
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(5) Die Tarifbegrenzung nach § 32c EStG ermäßigte von 1994 bis 20003 den Spitzensteuersatz für gewerbliche Einkünfte und verhinderte im VZ 2007 die Anwendung der sog. Reichensteuer auf die Gewinneinkunftsarten (§§ 13; 15 u. 18 EStG). Die Verfolgung „wirtschaftspolitischer Förderungs- und Lenkungszwecke“ sowie der Kompensation der Gewerbesteuer für gewerbliche Einkünfte durch § 32c EStG 1994 wurde von BVerfGE 116, 164 (184, 191 f.)4, gebilligt. Für die Fassung des VZ 2007, durch die sämtliche Gewinneinkunftsarten privilegiert wurden, kann diese Rechtfertigung allerdings nicht herangezogen werden, s. Vorlage des FG Düsseldorf an BVerfG, EFG 2013, 692. Mit Einführung von § 35 EStG und ab VZ 2008 § 34a EStG wurde die Vorschrift obsolet.
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2.1.2 Sozialzweckermäßigungen (1) Gem. § 34g EStG ermäßigt sich die Einkommensteuer bei Zuwendungen an politische Parteien und Wählervereinigungen um 50 % der Ausgaben (maxinal 825 Euro). Für die Förderung politischer Parteien und Wählervereinigungen ist eine Steuerbetragsermäßigung sachgerecht. Der Betrag der Steuersubvention soll nämlich nicht von der Höhe des Einkommens abhängen, wie dies bei einem Spendenabzug nach § 10b EStG der Fall ist (s. m.w.N. § 20 Rz. 15). Besonders 1 A.A. BFH/NV 2011, 1685; Verfassungsbeschwerde Az: 2 BvR 1942/11. 2 Ursprünglich § 35 EStG 1975, abgeschafft durch StEntlG 1999/2000/2002 v. 24.3.1999, BGBl. I 1999, 402 (zur Systematik J. Lang, Bemessungsgrundlage, 160 f.). Lit. zu § 35b EStG: Hechtner, BB 2009, 486 (ökonomische Belastungsanalyse); Thonemann, DB 2008, 2616; Herzig/Joisten/Vossel, DB 2009, 584; KSM/Keß, § 35b EStG Rz. A 38 ff. (2011); Schmidt/Kulosa33, § 35b EStG. 3 Eingeführt durch StandOG v. 13.9.1993, BGBl. I 1993, 1569; abgeschafft im Zuge der Unternehmensteuerreform 2000 durch Steuersenkungsgesetz (StSenkG) v. 23.10.2000, BGBl. I 2000, 1433. 4 Dazu Kanzler, NWB Fach 3 (2006), 14189 (BVerfG macht Weg für Schedulenbesteuerung frei); Wendt, FR 2008, 775. Das BVerfG ist der Vorlage des BFH BStBl. 1999, 450, und der dort zit. h.M. (455 f.) nicht gefolgt.
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§8
Rz. 818
Einkommensteuer
gebietet das demokratische Prinzip egalitärer Teilhabe an der politischen Willensbildung eine einkommensunabhängige Förderung von politischen Parteien und Wählervereinigungen; dies beachtet nur die Kleinspendenregelung des § 34g EStG, nicht der Parteispendenabzug nach § 10b II EStG (s. § 20 Rz. 21 f.). 818
(2) Seit dem VZ 2003 werden haushaltsnahe Dienstleistungen durch die arbeitsmarktpolitisch motivierte1 Steuerbetragsermäßigung des § 35a EStG2 gefördert: nach § 35a I EStG die geringfügige Beschäftigung i.S.d. § 8a SGB IV (s. Rz. 491), nach § 35a II EStG andere haushaltsnahe Dienstleistungen und nach § 35a III EStG die Inanspruchnahme von Handwerkerleistungen für Renovierungs-, Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen mit Ausnahme der durch das CO2-Gebäudesanierungsprogramm der KfW Förderbank geförderten Maßnahmen. § 35a V 3 EStG verlangt, dass der Stpfl. eine Rechnung erhalten hat und die Zahlung auf das Konto des Erbringers der Leistung erfolgt ist3. Auf diese Weise soll Schwarzarbeit bekämpft werden. Auf Antrag ermäßigt sich die um andere Steuerermäßigungen verminderte tarifliche ESt um 20 % der Aufwendungen, limitiert durch unterschiedliche Höchstbeträge: 510 Euro (§ 35a I EStG), 4 000 Euro (§ 35a II EStG) und 1 200 Euro (§ 35a III EStG). Die Steuerermäßigung erstreckt sich nicht nur auf inländische Haushalte, sondern auch auf Haushalte im EU-/EWR-Ausland (§ 35a IV EStG). Die Steuerermäßigungen nach § 35a EStG können nicht für Erwerbsaufwendungen, Kinderbetreuungskosten i.S.d. § 10 I Nr. 5 EStG und als außergewöhnliche Belastung berücksichtigte Aufwendungen in Anspruch genommen werden (§ 35a V EStG). § 35a EStG ist klassisches Beispiel für den wahlstimmenpolitischen Impetus der Lenkung durch Steuern. Die kontinuierliche Extension der Vorschrift4 widerlegt das politische Lippenbekenntnis zum Abbau von Steuervergünstigungen.
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(3) In den letzten Jahren hat der Gesetzgeber allerdings auch einige Sozialzweckermäßigungen abgebaut: So war die Steuerermäßigung des § 34e EStG für Land- und Forstwirte letztmals 2000 anzuwenden. Das sog. Baukindergeld (§ 34f EStG) wird i.V.m. Steuervergünstigungen (§ 10e EStG; §§ 15; 15b BerlinFG) gewährt, die nur noch für Altobjekte in Anspruch genommen werden können.
2.2 Steuerermäßigungen für außerordentliche Einkünfte (§§ 34; 34b EStG) 820
(1) Außerordentliche Einkünfte sind Veräußerungsgewinne, einschließlich Aufgabegewinne5 i.S.d. §§ 14; 14a; 16; 18 III EStG ohne die im Halbeinkünfteverfahren (s. § 11 Rz. 10 ff.) besteuerten Gewinnteile (§ 34 II Nr. 1 EStG), Entschädigungen (§§ 24 Nr. 1; 34 II Nr. 2 EStG), Nutzungsvergütungen/Zinsen (§ 24 Nr. 3 EStG), soweit sie für einen Zeitraum von mehr als drei Jahren nachgezahlt werden (§ 34 II Nr. 3 EStG), Vergütungen für mehrjährige Tätigkeiten (§ 34 II Nr. 4 EStG), bei denen es zu einer atypischen Zusammenballung von Einkünften kommt6. § 34b EStG (neugefasst durch Steuervereinfachungsgesetz 2011) enthält eine Sondervorschrift für Einkünfte aus außerordentlichen Holznutzungen aus volks- und staatswirtschaftlichen Gründen (§ 34b I Nr. 1 EStG) oder infolge höherer Gewalt (sog. Kalamitätsnutzungen, § 34b I Nr. 2 EStG).
821
(2) Während in den §§ 34; 34b EStG vor dem StEntlG 1999/2000/2002 allgemein die Steuerermäßigung angeordnet war, ist nun die rechnerische Verteilung der Einkünfte auf fünf Jahre (§ 34 I EStG) die Generalnorm7. Die Hälfte des durchschnittlichen Steuersatzes ist nur 1 S. BT-Drucks. 15/77, 5. 2 Zu den zahlreichen Anwendungsfragen BMF BStBl. I 2014, 70; dazu Nolte, NWB 2014, 508; Czisz/ Krane, DStR 2014, 873; zur aktuellen Rspr. Geserich, NW 2014, 1930. 3 Grds. zur bankmäßigen Dokumentation BFH BStBl. 2009, 307. 4 S. HHR/Apitz, § 35a EStG Anm. 2 (2011). 5 Da § 34 EStG nur die zusammengeballte Realisation stiller Reserven begünstigen soll, ist stets zur laufenden Geschäftstätigkeit abzugrenzen, z.B. BFH BStBl. 2013, 910. 6 BFH/NV 2013, 829; Nr. 4 ist auch bei durch Betriebsvermögensvergleich ermittelten Gewinneinkünften anwendbar s. BFH BStBl. 2014, 668; zust. Wendt, FR 2014, 798. 7 § 34 I EStG geht auf einen Vorschlag der Bareis-Kommission, BMF-Schriftenreihe 55, 1995, 45, zurück. Zur Begr. s. BT-Drucks. 14/23; Zweifelsfragen: BMF BStBl. I 2001, 172.
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Einkommensteuertarif
Rz. 827
§8
noch ausnahmsweise vorgesehen für Stpfl. ab 55 Jahre, berufsunfähige Stpfl. (s. Rz. 825) und für Kalamitätsnutzungen (§ 34b III EStG), das sind Holznutzungen infolge von Naturereignissen wie z.B. Windbruch, Insektenfraß, Brand (§ 34b I Nr. 2 EStG). Die Anwendung der §§ 6b; 6c; 3 Nr. 40 Buchst. b EStG schließt die Steuerermäßigung nach § 34 EStG aus (s. § 34 I 4, II Nr. 1 EStG). Die ESt nach § 34 I EStG ist nach folgendem Grundschema in vier Schritten zu berechnen1. Schritt 1: Das zu versteuernde Einkommen wird mit den dem Progressionsvorbehalt (§ 32b EStG) unterliegenden Einkünften, jedoch ohne die außerordentlichen Einkünfte ermittelt. Schritt 2: Die Bemessungsgrundlage des ersten Schritts wird um ein Fünftel der außerordentlichen Einkünfte erhöht. Schritt 3: Die Differenz der ESt auf die Bemessungsgrundlagen der Schritte 1 und 2 wird mit fünf multipliziert und ergibt die ESt auf die außerordentlichen Einkünfte. Schritt 4: Die ESt auf die Schritt1-Bemessungsgrundlage und die Schritt-3-ESt ergeben die gesamte ESt.
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§ 34 I EStG verteilt nicht einfach die außerordentlichen Einkünfte auf fünf Jahre; vielmehr simuliert die Regelung mit verzerrenden Wirkungen2 die rechnerische Verteilung. § 34 I 3 EStG verhindert, dass bei negativem verbleibendem zu versteuerndem Einkommen eine Besteuerung des positiven zu versteuernden Einkommens unterbleibt. Dies wurde so ausgedacht, weil die „Begünstigung“ von Spitzenverdienern abgebaut werden sollte und das Bisherige als zu kompliziert empfunden worden ist3. Indes ist die Regelung abgesehen von den Steuerlastverfälschungen weder einfach noch praktikabel.
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Die Reform hätte durchaus anders ansetzen können: Schritt 1: Die auf die außerordentlichen positiven Einkünfte entfallende Grenzbelastung ist zu ermitteln; Schritt 2: Reduktion des Grenzbelastungsbetrages. Der Umfang der Reduktion muss politisch entschieden werden. Bei außerordentlichen negativen Einkünften fällt ein zu reduzierender Betrag nicht an. Die Verluste können entsprechend dem Nettoprinzip nach den allgemeinen Regeln verrechnet werden.
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(3) Die Steuersatzermäßigung für Stpfl. ab 55 Jahre und für sozialversicherungsrechtlich dauernd berufsunfähige Stpfl. (§ 34 III EStG) ist als sog. Mittelstandskomponente mit dem StSenkErgG v. 19.12.2000, BGBl. I 2000, 1812, wieder eingeführt worden4. Die Steuersatzermäßigung kann für Veräußerungsgewinne i.S.d. § 34 II Nr. 1 EStG bis 5 Mio. Euro an Stelle der Anwendung des § 34 I EStG beantragt werden. Der ermäßigte Steuersatz beträgt 56 % des durchschnittlichen Steuersatzes, der sich ergäbe, wenn die ESt nach dem zu versteuernden Einkommen zuzüglich der dem Progressionsvorbehalt unterliegenden Einkünfte zu bemessen wäre, mindestens jedoch 14 % (sog. Mindeststeuer).
825
(4) § 34 EStG begegnet in seiner konkreten Ausgestaltung verschiedenen verfassungsrechtlichen Bedenken5; sie richten sich hauptsächlich gegen die Fünftelregelung, die verfassungswidrige Übermaßbesteuerungen bewirken kann6. Der am Leistungsfähigkeitsprinzip ausgerichtete Fiskalzweck gebietet eine tarifliche Entlastung besonders bei Veräußerungsgewinnen, in denen langfristig gebildete stille Reserven zusammengeballt sind. Die Rspr. hat bisher die Verfehlung dieses Fiskalzwecks durch die Fünftelregelung nicht beanstandet7.
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Einstweilen frei.
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1 Dazu Stahl, KÖSDI 2000, 12338; Korn/Schiffers, § 34 EStG Rz. 24 f. (2010). 2 Dazu Henning/Hundsdoerfer/Schult, DStR 1999, 131 (Steuersätze bis zu 265 v.H.); hieraus leiten Jahndorf/Lorscheider, FR 2000, 433, u. Siegel, DStR 2007, 987 (mit Alternativvorschlag), die Verfassungswidrigkeit von § 34 I EStG ab. Zum Zusammentreffen von § 34 u. § 32b EStG BFH BStBl. 2011, 21; hierzu Hechtner/Siegel, DStR 2010, 1593; Siegel, FR 2010, 445 (verfassungswidrige Verzerrungen). 3 BT-Drucks. 14/23, 183. 4 Keine Pflicht zur rückwirkenden Wiedereinführung für die VZ 1999/2000, BFH/NV 2011, 231; Ausnahme von Veräußerungsgewinnen nach § 17 EStG verfassungskonform, obwohl im VZ 2001 das Halbeinkünfteverfahren für Einkünfte nach § 17 EStG noch nicht galt, BFH BStBl. 2011, 409. 5 Dazu Kirchhof/Mellinghoff13, § 34 EStG Rz. 4; Korezkij, DStR 2006, 452 (Überblick über Rspr.); a.A. KSM/Sieker, § 34 EStG Rz. A 102, A 105 (2011); HHR/Horn, § 34 EStG Anm. 4 (2012). 6 Dazu Jahndorf/Lorscheider, FR 2000, 433; Siegel, DStR 2007, 987. 7 S. BFH BStBl. 2003, 341; BFH/NV 2003, 624; 2003, 777 (Billigkeitsmaßnahme im Ausnahmefall).
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§8
Rz. 828
Einkommensteuer
2.3 Begünstigung nicht entnommener Gewinne (§ 34a EStG)1 828
Der nicht entnommene Gewinn aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb oder selbständiger Arbeit (§ 2 I 1 Nrn. 1–3 EStG) ist auf Antrag des Stpfl. mit einem Steuersatz von 28,25 % zu versteuern (§ 34a I 1 EStG). Dieser Steuersatz hat im Hinblick auf die konstante Nachversteuerung von Entnahmen i. H. von 25 % nur für eine kleine Minderheit von Unternehmen eine ermäßigende Wirkung2, so dass § 34a EStG nur die Elite der besonders ertragstarken Personenunternehmen begünstigt.
829
Bemessungsgrundlage der Sondertarifierung ist der nach § 4 I 1 bzw. § 5 EStG ermittelte Gewinn, vermindert um den positiven Saldo der Entnahmen und Einlagen (§ 34a II EStG). Maßgeblich für die Ermittlung des Saldos ist das Steuerbilanzrecht, nicht das Handelsbilanzrecht. Nichtabzugsfähige Betriebsausgaben sind nicht begünstigungsfähig3. Sind Entnahmen und Einlagen gleich hoch oder übersteigen die Einlagen die Entnahmen, so kann die Sondertarifierung für den vollen Gewinn beansprucht werden. Steuerzahlungen sind Entnahmen. Mithin ergibt sich für den Fall, dass der Saldo der Entnahmen und Einlagen nur in Höhe der Steuerzahlungen positiv ist, folgende Belastung4: Gewinn GewSt (Hebesatz 400) ESt-Spitzensatz 45 % § 34a EStG: 28,25 % GewSt-Anrechnung SolZ Gewinn nach Steuern entnommene Steuerbelastung
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100,00 –14,00 –16,27 –18,03 +13,30 – 1,16 63,84 36,16
nachzuversteuernde Entnahme darauf gezahlte ESt darauf gezahlter SolZ Nachversteuerungsbetrag ESt auf Nachversteuerungsbetrag SolZ auf Nachversteuerungsbetrag Steuerbelastung Entnahme Gesamtsteuerbelastung
63,84 –18,03 – 0,99 44,82 –11,21 – 0,62 11,83 47,99
Die Thesaurierungsbegünstigung ist für jeden Betrieb eines Einzelunternehmers und für jeden Mitunternehmeranteil (s. § 9 Rz. 220 ff.) zu beantragen. Der Stpfl. hat das Wahlrecht, in welchem Umfange der nicht entnommene Gewinn dem Steuersatz von 28,25 % unterworfen sein soll. Er kann die Sondertarifierung nur für einen Teil des nicht entnommenen Gewinns beantragen, wenn sein individueller Grenzsteuersatz die Limitierung nahelegt. Der Antrag ist für jeden Veranlagungszeitraum zu stellen und kann vom Stpfl. bis zur Unanfechtbarkeit des Einkommensteuerbescheids für den nächsten Veranlagungszeitraum ganz oder teilweise zurückgenommen werden (§ 34a I 4 EStG). Dies ist vor allem angezeigt, wenn im Folgejahr unvorhergesehene Verluste erwirtschaftet werden5. Verluste dürfen nämlich nicht mit den ermäßigt besteuerten Gewinnen ausgeglichen oder nach § 10d EStG abgezogen werden (§ 34a VIII EStG). 1 Anwendungsschreiben BMF BStBl. I 2008, 838 (dazu Schiffers, DStR 2008, 1805). Durch JStG 2009 wurde § 34a EStG verfahrenstechnisch ergänzt (s. § 34a I 4 u. 5, X, XI EStG). Grundsatzkritik: Hey, DStR 2007, 925. Rechtsformwahl/Vergleich Personenunternehmen mit Kapitalgesellschaften: Cordes, WPg. 2007, 526; Lühn/Lühn, StuB 2007, 253; Schiffers, GmbHR 2007, 505 ff., 841 ff.; Schultes-Schnitzlein/Keese, NWB Fach 3 (2007), 14683; Schulze zur Wiesche, DB 2007, 1610; Thiel/Sterner, DB 2007, 1099; Wilk, DStZ 2007, 216; Bareis, FR 2008, 537. Belastungswirkungen: Houben/Maiterth, StuW 2008, 228; Schiemann, Stbg. 2008, 141 (Teilsteuerrechnung); Klipstein, DStZ 2009, 805; Bodden, FR 2011, 829 (verfahrensrechtliche Umsetzung); Bodden, FR 2012, 68 (§ 34a EStG im Gesamtkontext des EStG); und umfangreicher Literaturnachweis bei HHR/Stein, § 34a EStG Vor Anm. 1 (2010). Zur Anwendung in der Verwaltungspraxis s. BT-Drucks. 17/10355. Zu aktuellen Anwendungsfragen Bodden, FR 2014, 920. 2 Nach der BMF-Statistik (s. Anlage zu den Eckpunkten der Unternehmensteuerreform v. 12.7.2006) liegen 96,6 % der Einzelunternehmen u. 92,3 % der Personengesellschaften unterhalb einer steuerlichen Belastung des Gewinns von 30 %. 3 Trotz der hieraus resultierenden Ungleichbehandlung mit Kapitalgesellschaften bestätigt von FG Münster EFG 2014, 1201 nrkr. 4 Vgl. HHR/Stein, § 34a EStG Anm. 8 (2010); Berechnungen ferner Herzig/Lochmann, DB 2007, 1039; Homburg/Houben/Maiterth, WPg. 2007, 377; zur Berücksichtigung der GewSt bei der Ermittlung des Begünstigungsbetrags Bareis, FR 2014, 581. 5 S. BT-Drucks. 16/4841, 63.
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Rz. 836
§8
Ausgenommen von der Thesaurierungsbegünstigung sind die durch Überschussrechnung (§ 4 III EStG) oder pauschaliert (§§ 5a; 13a EStG) ermittelten Gewinne. Steuerfreie Gewinnanteile (z.B. Auslandsgewinnanteile1, steuerfreie Teileinkünfte) sind nicht Gegenstand der Thesaurierungsbegünstigung2. Sie sind jedoch in dem nicht entnommenen Gewinn enthalten und erhöhen mittelbar das Begünstigungsvolumen, weil Entnahmen vorrangig von den steuerfreien Gewinnanteilen abgezogen werden3. § 34a I 1 Hs. 2 EStG schließt Gewinne aus Wagniskapitalgesellschaften (§ 18 I Nr. 4 EStG; s. Rz. 431) und Gewinne, für die der Freibetrag nach § 16 IV EStG oder die Steuerermäßigung nach § 34 III EStG in Anspruch genommen wird, ausdrücklich aus.
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Wird der begünstigt thesaurierte Gewinn (§ 34a III 1 EStG: Begünstigungsbetrag) in späteren Wirtschaftsjahren entnommen, so ist er nach § 34a IV EStG mit einem Steuersatz von 25 % nachzuversteuern. Die Nachversteuerung knüpft zunächst an einen Nachversteuerungsbetrag an; ein solcher ergibt sich, wenn und soweit der positive Saldo der Entnahmen und Einlagen den Gewinn des Wirtschaftsjahrs übersteigt (§ 34a IV 1 EStG). Die Nachversteuerung wird sodann auf den zum Ende des vorangegangenen VZ festgestellten nachversteuerungspflichtigen Betrag begrenzt. Der nachversteuerungspflichtige Betrag wird nach § 34a III EStG jährlich für jeden Betrieb oder Mitunternehmeranteil wie folgt ermittelt und gesondert festgestellt:
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– von dem Begünstigungsbetrag des VZ wird zunächst die Steuerbelastung (ESt, SolZ) abgezogen (§ 34a III 2 EStG);
833
Einkommensteuertarif
– sodann werden der nachversteuerungspflichtige Betrag des Vorjahres sowie der sich aus dem Zugang von Wirtschaftsgütern nach § 34a V EStG (Rz. 835) ergebende nachversteuerungspflichtige Betrag hinzugerechnet, und – der zu versteuernde Nachversteuerungsbetrag sowie der durch den Abgang von Wirtschaftsgütern nach § 34a V EStG übertragene nachversteuerungspflichtige Betrag abgezogen; – schließlich wird der Saldo als nachversteuerungspflichtiger Betrag zum Ende des VZ gesondert durch Feststellungsbescheid (§ 34a III 3, IX EStG) festgestellt. Auf diese Weise wird das begünstigte Thesaurierungsvolumen bis zu dem Wirtschaftsjahr fortgeschrieben, in dem die Entnahmen nicht aus den laufenden, auch steuerfreien Gewinnen gespeist werden. Der Stpfl. kann jedoch jederzeit die Besteuerung des gesondert festgestellten nachversteuerungspflichtigen Betrages beantragen (§ 34a VI 1 Nr. 4 EStG). Übersteigt der positive Saldo der Entnahmen und Einlagen den laufenden Gewinn und ist zum Ende des Vorjahres kein nachversteuerungspflichtiger Betrag festgestellt worden, so hat der Stpfl. die Begünstigung des § 34a EStG bisher nicht in Anspruch genommen. Eine Nachversteuerung nach § 34a IV EStG greift nicht Platz.
834
Besondere Nachversteuerungsfälle: § 34a V 1 EStG ordnet die Nachversteuerung an, wenn Wirtschaftsgüter nach § 6 V EStG in ein anderes Betrtiebsvermögen desselben Stpfl.4 zu Buchwerten transferiert werden. Die Nachversteuerung kann jedoch auf Antrag des Stpfl. aufgeschoben werden, indem der nachversteuerungspflichtige Betrag in Höhe des Buchwerts, höchstens jedoch in Höhe des Nachversteuerungsbetrages, den der Wirtschaftsguttransfer ausgelöst hätte, auf den anderen Betrieb/Mitunternehmeranteil übertragen wird (§ 34a V 2 EStG).
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Eine Nachversteuerung ist auch durchzuführen in den Fällen der Betriebsveräußerung/-aufgabe (§ 34a VI 1 Nr. 1 EStG), der Einbringung eines Betriebs/Mitunternehmeranteils in eine Kapitalgesellschaft/Genossenschaft oder des Formwechsels einer Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft/Genossenschaft (§ 34a VI 1 Nr. 2 EStG). Schließlich ist eine Nachversteue-
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1 Dazu Fischer in Schaumburg/Piltz, Grenzüberschreitende Gesellschaftsstrukturen im Internationalen Steuerrecht, 2010, 55. 2 S. BT-Drucks. 16/4841, 63. 3 S. BT-Drucks. 16/4841, 63. 4 Zur Rechtslage bei Mitunternehmern s. § 10 Rz. 222.
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§8
Rz. 837
Einkommensteuer
rung auch durchzuführen, wenn der Gewinn nicht mehr bilanziell nach den §§ 4 I 1; 5 EStG ermittelt wird (§ 34a VI 1 Nr. 3 EStG). 837
In den Fällen der unentgeltlichen Übertragung eines Betriebs/Mitunternehmeranteils nach § 6 III EStG hat der Rechtsnachfolger den nachversteuerungspflichtigen Betrag fortzuführen (§ 34a VII 1 EStG). Der nachversteuerungspflichtige Betrag geht über, wenn ein Betrieb/Mitunternehmeranteil zu Buchwerten nach § 24 UmwStG eingebracht wird (§ 34a VII 2 EStG).
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Kritik: Der Zweck des § 34a EStG, die tarifliche Belastung von Kapitalgesellschaften und Personenunternehmen anzunähern, ist mit einer hochkomplexen Regelung erreicht worden, die den Personenunternehmen viel Gestaltungsspielraum lässt, dementsprechend beratungsintensiv angelegt ist und nur in geringem Ausmaß in Anspruch genommen wird1. Die begünstigte Elite der ertragstarken Personenunternehmen dürfte das kaum stören, denn die steuerlichen Auswirkungen lohnen den Beratungsaufwand. Hingegen sind die Ziele „weitgehender Rechtsformund Finanzierungsneutralität“ des Koalitionsvertrages (s. § 7 Rz. 78; § 13 Rz. 177 ff.) oder gar die Ziele einer möglichst einfachen, transparenten, wahlrechtsfeindlichen Besteuerungsgleichheit für eine bessere Positionierung im Steuerwettbewerb bewusst aufgegeben worden2. Die Sondertarifierung3 in der Einkommensteuer schreibt den status quo des Dualismus der Unternehmensbesteuerung nicht nur fort, sondern fügt noch ein weiteres Element rechtsformspezifischer Belastungsunterschiede hinzu (zu Alternativen, § 13 Rz. 177 ff.).
2.4 Steuerermäßigung bei Auslandseinkünften (§§ 34c; 34d EStG) 839
Unbeschränkt Stpfl. genießen nach § 34c EStG die Anrechnung der Steuer auf die ausländischen Einkünfte i.S.d. § 34d EStG4. Die ausländische Steuer muss der deutschen ESt entsprechen. Anrechenbar sind nur die ausländischen Steuern auf die im Veranlagungszeitraum bezogenen Einkünfte im Umfange der auf diese Einkünfte entfallenden deutschen ESt (sog. Anrechnungshöchstbetrag), so dass die Einkünfte mit einer höheren ausländischen Steuer belastet bleiben. Nach EuGH C-168/11, Beker & Beker, sind bei der Berechnung des Anrechnungshöchstbetrags Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen5. Das Gesetz sieht allerdings nur für VZ bis einschließlich 2014 vor, bei der den ausländischen Einkünften gegenüberzustellenden Summe der Einkünfte personenbezogene Abzugstatbestände zu berücksichtigen. Ab 2015 wird für die Berechnung des Anrechnungshöchstbetrags nicht mehr auf das Verhältnis zwischen der Summe der Einkünfte und den ausländischen Einkünften abgestellt, sondern die Anrechnung wird durch Anwendung des sich nach deutschem EStG ergebenden Durchschnittssteuersatzes auf die ausländischen Einkünfte begrenzt. 1 Brähler/Guttzeit/Scholz, StuW 2012, 128. 2 Hierzu grundl. die Kritik von Hey, DStR 2007, 925 (Konzept der Sondertarifierung des § 34a EStG). Die Abschaffung des § 34a EStG fordern Knirsch/Maiterth/Hundsdoerfer, DB 2008, 1405 (Replik von Fechner/Bäuml, DB 2008, 1652). Vorschläge zur Verbesserung des § 34a EStG: Fechner/Bäuml, DB 2008, 1652 und Dörfler/Fellinger/Reichl, Beihefter zu DStR Heft 29/2009, 69 (moderate Modifikation); Bindl, DB 2008, 949 (Umwandlungen); Kavcic, FR 2008, 404; Siegel, FR 2008, 557; Schneider/ Wesselbaum-Neugebauer, FR 2011, 166 (Weiterentwicklung zu einem „virtuellen Trennungsprinzip“). 3 Das Modell einer Sondertarifierung nicht entnommener Gewinne hat die Brühler Kommission (s. § 7 Rz. 78) grundl. 1999 erarbeitet (s. BMF-Schriftenreihe 66, 1999, 82 ff., sowie Modellvergleich im Planspiel: BMF-Schriftenreihe 67, 1999). Es ist von dem wiss. Beirat des Fachbereichs Steuern bei Ernst & Young weiterentwickelt worden (sog. T-Modell, BB 2005, 1653). Die Kommission „Steuergesetzbuch“ (s. § 7 Rz. 82) hat das Modell nach einer Expertentagung am 15.6.2005 (Stiftung Marktwirtschaft, Tagungsbericht, 2005) verworfen. Die Vertreter ertragstarker Personenunternehmen (Fechtner/Lethaus, Die Tarifrücklage, IFSt-Schrift Nr. 437, 2006) haben sich beim Gesetzgeber durchgesetzt. Vorschläge zur Fortentwicklung des § 34a EStG von Dörfler/Fellinger/Reichl, DStR-Beihefter 29/2009, 69. Zu den einkommensteuerlichen Integrationsmodellen s. § 13 Rz. 182 ff. 4 Dazu m.w.N. Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, 2011, Rz. 16.552 ff.; zu aktuellen Fragen Kessler/Dietrich, IWB 2012, 544. 5 Dazu Ismer, IStR 2013, 297; Thömmes, IWB 2013, 293. Umsetzung BFH/NV 2014, 759. Rechtsanwendung bis zur gesetzlichen Neuregelung s. BMF BStBl. I 2013, 1612.
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Einkommensteuertarif
Rz. 842
§8
Der Anrechnungshöchstbetrag wird gem. § 34c I 2 EStG ermittelt, indem die unter Einbezug der ausländischen Einkünfte ermittelte deutsche ESt im Verhältnis der ausländischen Einkünfte zur Summe der Einkünfte aufgeteilt wird. Die Maßnahmen zur Beseitigung steuerlicher Mehrfachbelastungen in Doppelbesteuerungsabkommen verdrängen grds. die Steuerermäßigungen nach § 34c EStG (s. § 34c VI EStG). Die Fiskalzweckermäßigung des § 34c I EStG flankieren Normen mit Subventions-, auch Vereinfachungszweck: Die deutsche ESt auf ausländische Einkünfte kann bei unbeschränkt Stpfl. nach § 34c V EStG ganz oder zum Teil erlassen oder in einem Pauschbetrag festgesetzt werden, wenn es aus volkswirtschaftlichen Gründen zweckmäßig oder die Anwendung des § 34c I EStG besonders schwierig ist. Eine entsprechende Regelung enthält § 50 IV EStG für beschränkt Stpfl.
2.5 Pauschale Anrechnung der Gewerbesteuer (§ 35 EStG) Die pauschale Anrechnung der Gewerbesteuer in Gestalt einer Steuerbetragsermäßigung (§ 35 EStG)1 ist durch die UntStRef 2000 ab dem VZ 2001 eingeführt worden und ist nunmehr integraler Bestandteil einer angenäherten Ertragsteuerbelastung von Personenunternehmen und Kapitalgesellschaften (s. Rz. 813).
840
§ 35 EStG begünstigt Einzelunternehmer und Mitunternehmer inkl. persönlich haftende Gesellschafter einer KGaA (§ 15 I 1 Nr. 3 EStG). § 35 I EStG ermäßigt die um die anderen Steuerermäßigungen mit Ausnahme der §§ 34f; 34g; 34a EStG verminderte tarifliche ESt, soweit sie anteilig auf im zu versteuernden Einkommen enthaltenen gewerblichen Einkünfte entfällt (sog. Ermäßigungshöchstbetrag2), ab 2008 (s. Rz. 815) um das 3,8fache des GewerbesteuerMessbetrags; dies entspricht der typisierten Belastung durch die ab 2008 nicht mehr abziehbare GewSt bei einem Hebesatz von 400. Der Abzug des Ermäßigungsbetrages ist auf die tatsächlich zu zahlende GewSt beschränkt (§ 35 I 5 EStG).
841
Bei Mitunternehmern ist der anteilige Gewerbesteuer-Messbetrag zugrunde zu legen (§ 35 I 1 Nr. 2 EStG). Maßgeblich ist der Gewinnverteilungsschlüssel; Vorabgewinnanteile sind nicht zu berücksichtigen (§ 35 II 2 EStG). Unterliegen Mitunternehmer nach einem DBA nicht der deutschen GewSt, so sind deren Anteile in voller Höhe auf die gewerbesteuerpflichtigen Mitunternehmer entsprechend ihrem Anteil am Gewerbeertrag aufzuteilen (§ 35 II 3 EStG). Zum Problem von Anrechnungsüberhängen, die insb. durch die Zahlung von Sondervergütungen entstehen können.
842
Zwar bestehen gegen die Privilegierung der gewerblichen Einkünfte durch die Tarifermäßigung des § 35 EStG keine grds. verfassungsrechtlichen Bedenken3. Schließlich kompensiert § 35 EStG die Zusatzbelastung der gewerblichen Einkünfte durch die GewSt sehr viel präziser als der von BVerfGE 116, 164, akzeptierte § 32c EStG 1994 (s. Rz. 816). Gleichwohl ist § 35 EStG ungeeignet, die Steuerstrukturprobleme der Gewerbesteuer zu lösen. Die Zusatzbelastung mit Gewerbesteuer wird nicht zuverlässig kompensiert. Dies liegt nicht nur an der Begrenzung des Anrechnungsfaktors auf einen unterdurchschnittlichen Gewerbesteuerhebesatz, sondern insb. an Anrechnungsüberhängen, die dadurch entstehen, dass der Gewerbesteuer keine tarifliche Einkommensteuer gegenübersteht. Hauptursache sind die divergierenden Besteuerungsgegenstände der Einkommensteuer als Personensteuer und der Gewerbesteuer als Objektsteuer4. Nach BFH BStBl. 2009, 7 1 Materialien zu § 35 EStG: UnStRef 2000: BT-Drucks. 14/2683, 97 (allgemeine Begr.); BT-Drucks. 14/3366 (endgültige Gesetzesfassung); BT-Drucks. 14/3074; 14/3760; UnStRef 2008: BT-Drucks. 16/4841, 65. Zu Entstehungsgeschichte und Konzeption des § 35 EStG insb. Thiel, StuW 2000, 413; Hey, FR 2001, 870 (Verlegenheitslösung zur Reform der GewSt); Korezkij, Steuerermäßigung für gewerbliche Einkünfte nach § 35 EStG, Diss., 2003; Zuschlag, Die pauschalierte Gewerbesteueranrechnung nach § 35 EStG, Diss., 2008. Anwendungsschreiben des BMF: BStBl. I 2009, 440; 2010, 43; 2010, 1312. 2 Zur Ermittlung des Ermäßigungshöchstbetrags BMF BStBl. I 2009, 440; Hechtner, BB 2009, 1556. Entgegen BFH BStBl. 2013, 201, zu § 35 EStG a.F. keine Saldierung positiver und negativer Einkünfte aus Gewerbebetrieb bei Ehegatten s. BMF BStBl. I 2009, 440 Rz. 18. 3 Hierzu ausf. auch aus finanzverfassungsrechtlicher Sicht HHR/Levedag, § 35 EStG Anm. 8 (2008). 4 Berechtigte Kritik Cordes, DStR 2010, 1416; a.A. Michel, DStR 2011, 611.
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§8
Rz. 843
Einkommensteuer
(11); 2010, 116 (120) sind Anrechnungsüberhänge indes nicht zu beanstanden, da § 35 EStG nicht dem Ziel der Kompensation der Gewerbesteuer, sondern der Vermeidung einer Doppelbelastung mit Einkommen- und Gewerbesteuer diene. Es verbleiben jedoch, selbst wenn man den Gesetzeszweck allein in der Vermeidung von Doppelbelastungen sieht, jedenfalls bei Mitunternehmern durch die Anknüpfung des Ermäßigungsbetrags an den allgemeinen gesetzlichen Gewinnverteilungsschlüssel im Fall von Vorabgewinnen und Sondervergütungen, nicht zu rechtfertigende Doppelbelastungen1.
3. Veranlagung von Ehegatten 843
Ehegatten, die beide unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind und nicht dauernd getrennt leben und bei denen diese Voraussetzungen zu Beginn des Veranlagungszeitraumes vorgelegen haben oder im Laufe des Veranlagungszeitraumes eingetreten sind, räumt § 26 I 1 EStG ein Wahlrecht zwischen Zusammenveranlagung (§ 26b EStG) und Einzelveranlagung (§ 26a EStG) ein. Durch Steuervereinfachungsgesetz 2011 v. 1.1.2011, BGBl. I 2011, 2131, wurden die §§ 26; 26a EStG mit Wirkung ab VZ 2013 neu gefasst2. Die frühere getrennte Veranlagung des § 26a EStG entfällt. Statt dessen ist nur noch eine „Einzelveranlagung“ vorgesehen. Gestrichen wurde die besondere Veranlagung für den VZ der Eheschließung (§ 26c EStG a.F.). Die Anzahl der Veranlagungsarten wurde damit auf vier reduziert: (1.) Einzelveranlagung mit Grundtarif gem. § 26a EStG, (2.) Verwitwetensplitting gem. § 32a VI 1 Nr. 1 EStG, (3.) Splitting im Trennungsjahr gem. § 32a VI 2 Nr. 2 EStG und (4.) Zusammenveranlagung mit Splittingtarif gem. §§ 26b; 32a V EStG. In § 26 II EStG wurden die Möglichkeiten des Wechsels zwischen den Veranlagungsarten beschränkt. Während die Ehegatten das Wahlrecht bisher bis zur Bestandskraft des EStbescheids ausüben konnten3, kann die Veranlagungsart nach Eintritt der Unanfechtbarkeit nur noch im Rahmen der Aufhebung, Änderung oder Berichtigung des Bescheides geändert werden, wenn sich dadurch für beide Ehegatten zusammen betrachtet, die Einkommensteuerfestsetzung reduziert (§ 26 II 4 EStG). Geben die Ehegatten keine Erklärung ab, so wird unterstellt, dass sie Zusammenveranlagung wählen (§ 26 III EStG). Entfallen ist das besondere Wahlrecht bei Auflösung der Ehe durch Tod eines Ehegatten und Wiederheirat im selben Veranlagungszeitraum (§ 26 I 3 EStG a.F.).
844
Die Zustimmung zur Zusammenveranlagung kann nur zivilrechtlich4, nicht steuerrechtlich durchgesetzt werden, da steuerrechtlich keine Verpflichtung zur Veranlagung besteht5. Wird ein Ehegatte antragsgemäß einzeln veranlagt, so ist der andere Ehegatte zwingend einzeln zu veranlagen. Die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) verbietet es, die Zusammenveranlagung von Ehegatten zu versagen, die nicht dauernd getrennt leben, jedoch ihre Wohnsitze in verschiedenen EG-Staaten haben (EuGH C-329/05, Meindl).
845
Zusammenveranlagung6: Nach § 26b EStG werden die zusammenveranlagten Ehegatten „gemeinsam als Stpfl.“ behandelt. Diese Formulierung des Gesetzes ist insofern verunglückt, als 1 Dagegen BFH BStBl. 2010, 116; gegen die ursprünglich a.A. der FinVerw. (BStBl. I 2007, 701) jetzt BMF BStBl. I 2010, 43; dazu Grützner, StuB 2010, 311; zu dem hierdurch begründeten Steuergestaltungsbedarf Schröder/Patek, DStZ 2009, 922. 2 Dazu Egner/Quinten/Kohl, NWB 2013, 273. 3 BFH/NV 2005, 1083. 4 Eine zivilrechtliche Verpflichtung ergibt sich aus der ehelichen Verpflichtung, die finanziellen Lasten des Anderen möglichst zu vermindern (st. Rspr., z.B. BGH FamRZ 1977, 38 [40]; NJW 1988, 2032; FamRZ 2002, 1024 [1025]; HFR 2003, 83; NJW 2005, 1196). Eine Abrede getrennter Veranlagung ist zulässig und wirkt erst recht nach dem Scheitern der Ehe (BGH DStR 2007, 1408). Im Falle der Insolvenz eines Ehegatten wird das Ehegattenwahlrecht durch den Insolvenzverwalter ausgeübt (BGH DStR 2007, 1411). Zur insolvenzbehafteten Zusammenveranlagung Farr, BB 2006, 1302. ESt ist auch bei Insolvenz eines Ehegatten hälftig zu erstatten (BFH BStBl. 2009, 38). 5 BFH/NV 2005, 1083. 6 Monographien zu Verfahrensfragen: Vogt, Verfahrensrechtliche Probleme bei zusammenveranlagten Ehegatten, Diss., 2004; Dyckmann, Ehegattenveranlagung in Krisenzeiten, Diss., 2009.
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Einkommensteuertarif
Rz. 899
§8
die Steuersubjekteigenschaft nicht partiell aufgehoben werden kann. Entweder ist der Ehegatte Einkommensteuersubjekt oder er ist es nicht. Der einzelne Ehegatte ist und bleibt auch im Falle der Zusammenveranlagung Einkommensteuersubjekt und -schuldner, denn es werden die Einkünfte eines jeden Ehegatten auch bei der Zusammenveranlagung getrennt ermittelt und zugerechnet (s. Rz. 165). Nach § 44 I AO ist jeder einzelne Ehegatte Gesamtschuldner der Einkommensteuer, zu der die Ehegatten zusammenveranlagt werden. Die Gesamtschuld kann nach §§ 268 ff. AO aufgeteilt werden. Jeder zusammenveranlagte Ehegatte kann gegen den Einkommensteuerbescheid Einspruch einlegen und klagen; der andere Ehegatte ist nach h.M. notwendig beizuladen (§ 60 III FGO). Nach § 32a V EStG beträgt die tarifliche Einkommensteuer das Zweifache des Steuerbetrags, der sich für die Hälfte ihres gemeinsam zu versteuernden Einkommens ergibt (sog. Splitting)1.
846
Bis 1957 wurden die Einkünfte der Ehegatten so zusammengerechnet, als handle es sich um die Einkünfte einer Person. Auf diese Weise wurden Eheleute durch den progressiven Tarif gegenüber (zwei) Alleinstehenden benachteiligt2. Diese die Eheleute diskriminierende Art der Zusammenveranlagung hatte BVerfGE 6, 55, wegen Verstoßes gegen Art. 6 GG für verfassungswidrig erklärt (s. § 3 Rz. 163 f.).
Das Ehegattensplitting berücksichtigt die Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft der intakten Durchschnittsehe und ist daher keine Steuervergünstigung3. Allerdings typisiert der Steuergesetzgeber die eheliche Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft relativ großzügig, da auf die einzelnen Güterstände keine Rücksicht genommen wird.
847
Das Splittingverfahren nach § 32a V EStG verdoppelt den Grundfreibetrag (§ 32a I 2 Nr. 1 EStG). Die Verdoppelung ist wegen der Haushaltsersparnis nicht zu rechtfertigen4. Die Kosten zusammenlebender Personen sind pro Person gerechnet geringer als die Alleinstehender. Die Haushaltsersparnis wird im Sozialhilferecht durch einen niedrigeren Regelsatz für die Haushaltsangehörigen berücksichtigt. Dementsprechend müsste auch der zweite Grundfreibetrag niedriger angesetzt werden.
848
Unsystematisch ist auch das sog. Gnadensplitting, das bei Verwitweten über das Bestehen der Ehe hinaus noch eine Zeit lang weitergewährt wird (§ 32a VI 1 Nr. 1 EStG), ohne dass mehrere Personen am Einkommen partizipieren.
849
Einzelveranlagung: Im Falle der Einzelveranlagung (früher: getrennte Veranlagung) unterliegt das Einkommen eines jeden Ehegatten dem Grundtarif (§ 32a I EStG). Jeder Ehegatte hat die von ihm erwirtschafteten Einkünfte selbst zu versteuern (§ 26a I EStG). Sonderausgaben, außergewöhnliche Belastungen und die Steuerermäßigung gem. § 35a EStG werden bei dem Ehegatten abgezogen, der sie wirtschaftlich getragen hat (§ 26a II 1 EStG); bei der Ermittlung der Zumutbarkeit der Belastung werden die Einkünfte beider Ehegatten zusammengerechnet5. Die Ehegatten können eine andere Aufteilung beantragen.
850
Einstweilen frei.
851–899
1 Zu den Wirkungen der Splittingbesteuerung Brüninghaus/Kühn, DStR 1995, 967; Krause-Junk/von Oehsen, DStR 1995, 1739 (Erwiderung: Brüninghaus/Kühn, DStR 1995, 1741). Zur Berücksichtigung des Ehegattensplittings bei der Bemessung des an den ehemaligen Ehegatten zu leistenden Unterhalts BVerfGE 108, 351. 2 Ausf. zur Entwicklung der Haushaltsbesteuerung in Deutschland Becker, Der „Grundsatz der Individualbesteuerung“ im deutschen Einkommensteuerrecht, Diss., 1970. 3 So BVerfGE 61, 347. 4 Dazu Böckli, StRev 1978, 98; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, 631 ff. (m.w.N.); Buob, DStZ 1992, 422; Broer, BB 2013, 2208, mit einem hieran anknüpfenden Reformvorschlag. 5 BFH BStBl. 2009, 808, m. Anm. Kanzler, FR 2009, 920.
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§8
Rz. 900
Einkommensteuer
K. Zum Verfahren 900
Die Einkommensteuer ist eine Veranlagungssteuer, d.h. die Steuer wird durch schriftlichen Bescheid festgesetzt (§ 25 EStG; §§ 155 ff. AO). Das Ermittlungsverfahren ist in §§ 78 ff.; 134 ff.; 140 ff. AO geregelt. Die Veranlagung geschieht nach Ablauf des Veranlagungszeitraums, d.h. des Kalenderjahrs (s. § 25 EStG). Die Stpfl. haben vierteljährlich (10.3.; 10.6.; 10.9.; 10.12.) Vorauszahlungen zu leisten, die prinzipiell nach den Verhältnissen der Vergangenheit bemessen werden (§ 37 EStG).
901
§§ 37a; 37b EStG regeln ähnlich gelagerte Fälle von Sachzuwendungen, die pauschal mit Abgeltungswirkung (§ 37a II 1 i.V.m. §§ 40 III 3; 37b III 1 EStG) besteuert werden können. Dabei übernimmt der Leistende die Steuer; davon hat er den Leistungsempfänger zu unterrichten (§§ 37a II 2; 37b III 3 EStG). Die Pauschalsteuer gilt als Lohnsteuer. Dementsprechend ist sie anzumelden und abzuführen (§§ 37a IV; 37b IV EStG). § 37a EStG ist durch JStG 1997 ab 1997 als sog. lex Lufthansa eingeführt worden: Das Finanzamt kann auf Antrag zulassen, dass Unternehmen, die Sachprämien zum Zwecke der Kundenbindung (§ 3 Nr. 38 EStG) gewähren, den Prämienwert mit 2,25 % pauschal versteuern.
902
Durch JStG 2007 folgte die lex Fußballweltmeisterschaft: Die Reaktionen auf BMF-Schreiben1 zur steuerlichen Behandlung von Zuwendungen anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2006 (Hospitality, VIP-Logen etc.) veranlassten den Gesetzgeber zur Regelung des § 37b EStG, nach der die Leistenden betrieblich veranlasste Sachzuwendungen, die zusätzlich zu einer Leistung/Gegenleistung erbracht werden, und Geschenke i.S.d. § 4 V Satz 1 Nr. 1 EStG, nach BFH/NV 2014, 397, einschließlich der Geschenke unter 35 E, pauschal mit 30 % der Aufwendungen inkl. USt bis zu einem Zuwendungswert von 10 000 Euro versteuern können (§ 37b I EStG)2. Es handelt sich bei § 37b EStG nicht um die Normierung einer eigenen Einkunftsart, sondern lediglich um eine besondere pauschalierende Erhebungsform, welche richtigerweise die Steuerpflicht beim Empfänger voraussetzt3, so dass Zuwendungen an in Deutschland nicht steuerpflichtige Arbeitnehmer und Geschäftspartner ausgenommen sind, ebenso wie Geschenke z.B. Streuwerbung, die beim Empfänger nicht in die Erwerbsphäre fällt. Allerdings stellt die hieraus folgende Notwendigkeit der Differenzierung aus Sicht der zuwendenden Unternehmer den Vereinfachungszweck der Regelung deutlich in Frage.
903
In folgenden Fällen wird ein Quellenabzug durchgeführt:
904
(1) Bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit wird die ESt nach den §§ 38 ff. EStG durch Abzug vom Arbeitslohn erhoben (Lohnsteuer)4, soweit der Arbeitslohn von einem inländischen Arbeitgeber5 (§ 38 I 1 Nr. 1 EStG) oder von einem ausländischen Verleiher, der dem Entleiher gewerbsmäßig Arbeitnehmer zur Arbeitsleistung im Inland überlässt (§ 38 I 1 Nr. 2 EStG), 1 BStBl. I 2006, 307; 2006, 447. 2 Überblick Meyer, SteuerStud 2010, 157; Neufang/Hagenlocher, StBp. 2011, 318 u. 348. 3 BFH/NV 2014, 399; ebenso BFH/NV 2014, 397; 2014, 401; 2014, 611. Dazu Geserich, DStR 2014, 561; Kanzler, FR 2014, 343; Schneider, NWB 2014, 340; Strohner, DB 2014, 387; Hilbert/Straub/Sperandino, BB 2014, 919; Niermann, NWB 2014, 352; Seifert, StuB 2014, 134; zur Abzugsfähigkeit der Pauschalbesteuerung als Betriebsausgabe des leistenden Unternehmers Niedersächs. FG EFG 2014, 894; Kohlhaas, FR 2014, 545; Kohlhaas/Neumann, Stbg 2014, 395. 4 Zur Systematik der Lohnsteuer grundl. BFH/NV 2014, 418 (Vorlagebeschluss zur pauschalen Lohnsteuer auf Gegenwertzahlungen gem. §§ 19 I Satz 1 Nr. 3 Satz 2; 40b IV, V EStG); Heuermann, Systematik und Struktur der Leistungspflichten im Lohnsteuerabzugsverfahren, Diss., 1998; Heuermann, StuW 1998, 219; Heuermann, StuW 1999, 349; Ramb, Überblick über die Grundzüge des Lohnsteuerrechts, SteuerStud 2002, 72; Heuermann in Leitgedanken des Rechts II, 2013, § 179: Lohnsteuer. Zur Indienstnahme des Arbeitgebers für Zwecke des Steuervollzugs Wiss. Beirat Ernst & Young, DB 2013, 139. 5 Zur Inanspruchnahme des Arbeitgebers Geißler, Der Unternehmer im Dienste des Steuerstaats, Diss., 2001 (dazu Hey, StuW 2002, 91); Drüen, FR 2004, 1134 (verfassungsrechtliche Bestandsaufnahme); G. Kirchhof, Die Erfüllungspflichten des Arbeitgebers im Lohnsteuerverfahren, Diss., 2005; Ellers, Die gesetzliche Verpflichtung privater Arbeitgeber zum Lohnsteuereinbehalt, Diss., 2010.
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Zum Verfahren
Rz. 908
§8
gezahlt wird. Unter den Voraussetzungen des § 38 I 3, IIIa EStG unterliegen auch Zahlungen durch Dritte der Lohnsteuer1. Schuldner der Lohnsteuer ist der Arbeitnehmer (§ 38 II 1 EStG). Demnach hat der Arbeitgeber die Lohnsteuer für Rechnung des Arbeitnehmers bei jeder Lohnzahlung einzubehalten (§ 38 III 1 EStG) und sodann nach § 41a EStG spätestens am 10. Tag nach Ablauf des Lohnsteuer-Anmeldungszeitraums (§ 41a II EStG: grds. der Monat) anzumelden und an das Betriebsstättenfinanzamt abzuführen. Der Lohnsteuerabzug wird auf der Grundlage von Lohnsteuerklassen (§ 38b EStG) durchgeführt. Davon abweichend sehen die §§ 40–40b Pauschalierungen vor, insb. für Teilzeitbeschäftigte, geringfügig Beschäftigte (§ 40a) und für Zukunftssicherungsleistungen (§ 40b EStG). Seit 2010 können Ehegatten zum Zwecke eines genaueren Steuerabzugs anstelle der Steuerklassenkombination III/V das Faktorverfahren nach § 39f EStG beantragen. Bei jedem Ehegatten wird die Steuerklasse IV i.V.m. einem vom Finanzamt nach § 39f I EStG berechneten Faktor eingetragen. Seit 2013 werden alle für den Lohnsteuerabzug relevanten Besteuerungsmerkmale elektronisch vom Bundeszentralamt für Steuern verwaltetet, sog. ELStAM-Verfahren), s. § 39e EStG2. Das Lohnsteuerabzugsverfahren wird mit dem Lohnsteuer-Jahresausgleich durch den Arbeitgeber (§ 42b EStG) abgeschlossen. Hierzu ist der Arbeitgeber verpflichtet, wenn er zum Ende des Ausgleichsjahres mindestens 10 Arbeitnehmer beschäftigt. Der Arbeitgeber haftet für die Lohnsteuer nach § 42d EStG. Das Betriebsstättenfinanzamt gibt nach § 42e EStG auf Anfrage Auskunft über die Rechtslage (Lohnsteuer-Anrufungsauskunft, s. § 21 Rz. 15) und führt nach § 42f EStG Lohnsteuer-Außenprüfungen durch. § 42g EStG ermöglicht zur zeitnahen Aufklärung eine Lohnsteuernachschau. Unter den Voraussetzungen des § 46 II EStG sind Arbeitnehmer zu veranlagen3; ansonsten hat der Lohnsteuerabzug abgeltende Wirkung.
905
§ 41a IV EStG regelt eine systemwidrig über die Lohnsteuer abgewickelte Steuersubvention für die Seeschifffahrt. Arbeitgeber, die eigene oder gecharterte Handelsschiffe betreiben, dürfen vom Gesamtbetrag der anzumeldenden und abzuführenden Lohnsteuer 40 % der Lohnsteuer der mehr als 183 Tage tätigen Besatzungsmitglieder abziehen4. § 41a IV EStG ist zusammen mit § 5a EStG (s. Rz. 202) eingeführt worden. Die den Arbeitgebern zugute kommende Regelung verletzt den Gleichheitssatz. Verfassungsrechtlich zulässig wäre nur eine Steuerermäßigung für nicht im Inland erwirtschaftete Einkünfte, die nach dem Quellenprinzip und auch auf Grund der besonderen Besteuerungssituation nicht voll besteuert werden können (s. auch Rz. 202).
906
(2) Bei Kapitalerträgen wird die ESt nach den §§ 43 ff. EStG durch Abzug vom Kapitalertrag erhoben (Kapitalertragsteuer)5. § 43 I 1 Nrn. 1–12 EStG unterwirft i.V.m. § 20 I, II EStG (s. Rz. 495 f., 497 ff.) der KapESt:
907
– Nr. 1: Bezüge i.S.d. § 20 I Nr. 1, 2 EStG, insb. Dividenden; entspr. Veräußerungserträge (§ 20 II 1 Nr. 2a Satz 2 EStG);
908
– Nr. 1a: Bezüge i.S.d. § 20 I Nr. 1 EStG aus bei sammel- und streifbandverwahrten Aktien u. Genussscheinen; – Nr. 2: Zinsen aus bestimmten Teilschuldverschreibungen; – Nr. 3: Einnahmen aus stillen Beteiligungen und aus partiarischen Darlehen (§ 20 I Nr. 4 EStG); – Nr. 4: Erträge aus Lebensversicherungen (§ 20 I Nr. 6 EStG); – Nr. 6: ausnahmsweise Erfassung ausländischer Kapitalerträge bei inländischer Zahlstelle; – Nr. 7: bestimmte Erträge aus Kapitalforderungen jeder Art (§ 20 I Nr. 7 EStG); 1 Ab 2004 ist mit § 38 I 3, IIIa EStG der sog. wirtschaftliche Arbeitgeberbegriff eingeführt worden (s. Rz. 474). 2 Zu praktischen Auswirkungen Foerster, GmbH-Steuerpraxis 2013, 69. 3 Die frühere Zweijahresfrist für den Antrag auf Veranlagung wurde durch JStG 2008 rückwirkend ab 2005 gestrichen (§§ 46 II Nr. 8 Satz 2; 52 Abs. 55j Satz 3 EStG). Die frühere gleichheitssatzwidrige Benachteiligung von Arbeitnehmern ist damit weitgehend beseitigt. Zur Auslegung der Übergangsregel BFH BStBl. 2010, 406; zu Übergangsproblemen und fortbestehenden Unterschieden Schmidt/ Kulosa33, § 46 EStG Rz. 34. 4 Zu § 41a IV EStG s. Voß/Unbescheid, DB 1998, 2341. 5 Dazu BMF BStBl. I 2010, 94 (Rz. 152–183); ergänzt durch BMF BStBl. I 2010, 1305.
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475
§8
Rz. 909
Einkommensteuer
– Nr. 7a: Erträge aus KSt-Subjekten i.S.d. § 1 I Nrn. 3–5 KStG (u.a. Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, Vereine, Stiftungen); – Nrn. 7b, 7c: Erträge aus Betrieben gewerblicher Art/wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben; – Nr. 8 (Stillhalterprämien); Nrn. 9–12 (Veräußerungserträge i.S.d. § 20 II 1 Nr. 1 Satz 1, 2, Nrn. 2b, 3, 7, 8).
909
Der KapESt unterliegen grds. nur Kapitalerträge, wenn der Schuldner Wohnsitz, Geschäftsleitung oder Sitz im Inland hat (§ 43 I 1, III 1 EStG). Ausnahmsweise unterliegen der KapESt auch ausländische Kapitalerträge, soweit es einen inländischen Anknüpfungspunkt gibt (§ 43 III EStG): Dividenden etc. (§ 43 I 1 Nrn. 1, 6), Zinsen aus besonders registrierten Anleihen und Forderungen (Nr. 7a), Stillhalterprämien/Veräußerungserträge (Nrn. 8–12).
910
§§ 43 I Nr, 1a; 44 I Nr. 3; 44 Ia EStG sehen in den Fällen des Leerverkaufs von Aktien vor, dass die ausländische Depotbank die Kapitalerträge einschließlich Kapitalertragsteuer an die inländische Wertpapiersammelbank weiterleitet, die dann die Kapitalertragsteuer abführt. Auf diese Weise soll der zuvor unzureichend durch § 20 I Nr. 1 Satz 4 EStG bekämpften Gefahr mehrfacher Anrechnung der nur einmal abgeführten Kapitalertragsteuer im Zuge sog. cum ex-Geschäfte begegnet werden1. Mit Einführung der Abgeltungsteuer (s. Rz. 492 ff.) sind die bisherigen Steuersätze von 20, 25 und 30 % durch einen einheitlichen Steuersatz von 25 % (§ 43a I 1 Nr. 1 EStG) ersetzt worden. Nur bei Erträgen aus Betrieben gewerblicher Art (§ 43 I 1 Nrn. 7b, 7c EStG) gilt ein Steuersatz von 15 %. Im Fall einer Kirchensteuerpflicht ermäßigt sich die KapESt um 25 % der auf die Kapitalerträge entfallenden Kirchensteuer (§ 43a I 2, s. Rz. 973).
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Lohnsteuer und Kapitalertragsteuer sind Arten der Einkommensteuer, keine eigenen Steuerarten2. Ob über den Quellenabzug hinaus eine Veranlagung durchzuführen ist oder auf Antrag durchgeführt werden kann, ergibt sich aus § 46 EStG. Bei einer Veranlagung werden die einbehaltenen Abzugsbeträge angerechnet (§ 36 II Nr. 2 EStG). Im Allgemeinen kontrolliert das Finanzamt den Quellenabzug durch Außenprüfungen an Ort und Stelle (§ 42f EStG; §§ 193 ff. AO).
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(3) Zum Steuerabzug bei beschränkt Einkommensteuerpflichtigen s. §§ 50a; 50d EStG3.
913
(4) Mit dem Gesetz zur Eindämmung illegaler Betätigung im Baugewerbe v. 30.8.2001, BGBl. I 2001, 2267, wurde der Steuerabzug bei Bauleistungen (§§ 48–48d EStG) eingeführt4. Der Empfänger von Bauleistungen hat einen Steuerabzug von 15 % der Gegenleistung für Rechnung des Leistenden vorzunehmen, wenn er Unternehmer i.S.d. § 2 UStG oder eine juristische Person des öffentlichen Rechts ist (§ 48 I EStG). Der Steuerabzug muss nicht vorgenommen werden, wenn der Leistende eine Freistellungsbescheinigung vorlegt oder wenn die Gegenleistung die Bagatellgrenze von 5 000 Euro nicht überschreitet; diese Bagatellgrenze erhöht sich auf 15 000 Euro, wenn der Leistungsempfänger ausschließlich umsatzsteuerfreie Umsätze i.S.d. § 4 Nr. 12 Satz 1 UStG ausführt (§ 48 II EStG). Die Freistellungsbescheinigung wird erteilt, wenn der zu sichernde Steueranspruch nicht gefährdet erscheint und ein inländischer Empfangsbevollmächtigter bestellt ist (s. § 48b EStG). Einstweilen frei.
914–949
1 BFH/NV 2004, 1813 zu cum ex; Anm. Podewils, FR 2014, 1064; s. hierzu ferner Rau, FR 2011, 366; Desens, DStZ 2012, 142; Replik Rau, DStZ 2012, 241; Duplik Desens, DStZ 2012, 246; Desens, DStZ 2014, 154; Desens, FR 2014, 265 u. 305; Demuth, DStR 2013, 1116; Klein, BB 2013, 1054; gute Darstellung der zugrunde liegenden Gestaltungen bei Seer/Krumm, DStR 2013, 1757. 2 Scheinbar a.A. Weber-Grellet, DStR 2013, 1357 (1360), für die Kapitalertagsteuer als Teil der Abgeltungsteuer („Steuer eigener Art“). 3 Dazu Lang/Schuch/Staringer, Quellensteuern. Der Steuerabzug bei Zahlungen an ausländische Empfänger, 2010; zur EU-Rechtskonformität der aktuellen Regelung Holthaus, IStR 2014, 628. 4 Dazu BMF BStBl. I 2002, 1399; 2003, 431; Apitz, FR 2002, 10; Diebold, DStZ 2002, 252.
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Hey
Kirchensteuer
Rz. 952
§8
L. Annexsteuer: Kirchensteuer Literatur: Giese, Deutsches Kirchensteuerrecht, Habil., 1910; Marré, Das kirchliche Besteuerungsrecht, in Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland2, Bd. 1, 1994, 1101; Fahr (Hrsg.), Kirchensteuer – Notwendigkeit und Problematik, 1996; Hollerbach, Kirchensteuer und Kirchenbeitrag, in Listl/Schmitz (Hrsg.), Hdb. des katholischen Kirchenrechts2, 1999, 1078; Suhrbier-Hahn, Das Kirchensteuerrecht, 1999; Martin (Hrsg.), Abschied von der Kirchensteuer – Plädoyer für ein demokratisches Zukunftsmodell, 2002; Motschmann (Hrsg.), Macht und Mißbrauch der Kirchensteuer, 2002; Hammer, Rechtsfragen der Kirchensteuer, Habil., 2002; Rüfner, Bundes- und Landeskompetenzen im Bereich der Kirchensteuern, in FS Link, 2003, 432; Axer, Die Kirchensteuer als gemeinsame Angelegenheit von Staat und Kirche, in FS Rüfner, 2003, 13; Seer/Kämper (Hrsg.), Bochumer Kirchensteuertag, 2004; R. Meier, Rechtsfragen der Kirchensteuer im Wandel der Gesellschaft seit der Wiedervereinigung Deutschlands, Diss., 2005; Marré/Jurina, Die Kirchenfinanzierung in Kirche und Staat der Gegenwart4, 2006; von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht4, 2006, 226; Müller-Franken, Kirchenfinanzierung im freiheitlichen Staat des Grundgesetzes, BayVBl. 2007, 33; Schoppe, Die Kirchensteuer versus Trennung von Staat und Kirche, Diss., 2008; Hammer, Aspekte der Sachgerechtigkeit der Kirchensteuer, DÖV 2008, 975; Hammer, Zur Kirchlichkeit der Kirchensteuer, StuW 2009, 120; C. Arndt, Analyse und Prognose des Kirchensteueraufkommens der EKD in Deutschland, Diss., 2009; Petersen, Kirchensteuer kompakt, 2010; Hammer, Neue Gerichtsentscheidungen zu Verfassungsfragen des Kirchensteuerrechts, KuR 2011, 108; Korioth, Kirchensteuern als verfassungsrechtliches Problem, in Will (Hrsg.), Die Privilegien der Kirchen und das Grundgesetz, 2011, 13; Wasmuth, Zur Problematik des Kirchenlohnsteuerabzugsverfahrens, in Will (Hrsg.), Die Privilegien der Kirchen und das Grundgesetz, 2011, 33; Birk/Ehlers (Hrsg.), Aktuelle Rechtsfragen der Kirchensteuer, 2012; F. Kirchhof, Grundlagen und Legitimation der deutschen Kirchenfinanzierung, in Kämper/Thönnes (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 47, 2013, 7; Kämper, Kirchensteuer, in FS P. Kirchhof, 2013, Bd, II, § 192.
1. Arten der Kirchenfinanzierung Im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirche bildeten sich in den einzelnen Ländern Europas sowie in den USA unterschiedliche Ausgestaltungen der Kirchenfinanzierung1. Man kann zwei Grundformen unterscheiden, zum einen die mehr oder weniger vollständige Finanzierung der Kirche durch den Staat, wie das in Belgien, Luxemburg und Griechenland der Fall ist, und zum anderen die Finanzierung der Kirche durch ihre Mitglieder.
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Es gibt vier Arten der Mitgliederfinanzierung:
951
1. das Spenden- und Kollektensystem (USA, Frankreich2, Portugal, Großbritannien, Irland, Niederlande), 2. das privatrechtliche Kirchenbeitragssystem (Österreich), 3. das Kirchensteuersystem (Deutschland, fast alle Kantone der Schweiz, Skandinavien), und 4. das optionale Steuersystem, nach dem jeder Einkommensteuerpflichtige einen bestimmten Prozentsatz seiner Einkommensteuer entweder der Kirche oder dem Staat für bestimmte Zwecke zuweisen kann (Spanien 0,7 %, Italien 0,8 %, Ungarn 1 %, Slowakei 2 %). Das Kirchensteuerrecht der als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfassten Religionsgemeinschaften ist durch Art. 140 GG i.V.m. Art 137 VI WRV verfassungsrechtlich verbürgt (s. Rz. 953 ff.)3. Nach Art. 17 I AEUV hat die EU den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, zu respektieren. 1 Dazu Marré in Seer/Kämper, 43; Marré/Jurina, 13 ff.; Böttcher, ZevKR 52 (2007), 415 f.; Hammer in Birk/Ehlers, 65 (68 ff.). 2 Zu den Wirkungen des Art. 9 EMRK auf die Besteuerung sog. Opfergaben an die Zeugen Jehovas durch den französischen Fiskus s. EGMR NVwZ 2012, 1609. 3 Zur Kritik an der Kirchensteuer s. etwa Martin, Abschied von der Kirchensteuer, Reformvorschlag des Dietrich-Bonhoeffer-Vereins, 2002; Wasmuth in Will, 33 ff.
Hey/Seer
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§8
Rz. 953
Einkommensteuer
Dadurch ist die Kirchensteuer gegenüber dem Unionsrecht institutionell immunisiert1. Verstoßen allerdings einzelne Vorschriften der Einkommensteuer als Maßstabsteuer (s. Rz. 962) gegen das Europarecht (s. § 4 Rz. 26), schlägt dies auch auf die Kirchensteuer als Annexsteuer (Rz. 962) durch2.
2. Das Besteuerungsrecht der Religionsgemeinschaften nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 VI WRV 953
Das Besteuerungsrecht der Religionsgemeinschaften3 ist in Art. 137 VI WRV i.V.m. Art. 140 GG verankert. Gemäß Art. 137 VI WRV sind die „Religionsgemeinschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechts sind“, berechtigt, „auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben.“ Nach Art. 137 VI WRV haben nur Körperschaften des öffentlichen Rechts4 das Besteuerungsrecht. Diesen Status besitzen die Evangelischen Landeskirchen, die Diözesen der Katholischen Kirche sowie die jüdische Religionsgemeinschaft als sog. altkorporierte Religionsgemeinschaften (Art. 137 V 1 WRV), die bereits bei Inkrafttreten der WRV am 11.8.1919 bestanden. Anderen (neukorporierten) Religionsgemeinschaften5 ist der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts vom Staat (dem Land) zu verleihen, wenn „sie durch ihre Verfassung und die Zahl der Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten“ (Art. 137 V 2 WRV)6.
954
Zudem muss die Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts rechtstreu sein7: Nach BVerfGE 102, 370, muss die Religionsgemeinschaft die „Gewähr dafür bieten, dass sie das geltende Recht beachten, insbesondere die ihr übertragene Hoheitsgewalt nur im Einklang mit den verfassungsrechtlichen und sonstigen gesetzlichen Bindungen ausüben wird“ (Leitsatz 1 Buchst. a). Außerdem müsse die Religionsgemeinschaft die Gewähr dafür bieten, dass ihr künftiges Verhalten die in Art. 79 III GG umschriebenen „fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts“ nicht gefährdet (Leitsatz 1 Buchst. b).
955
Eine darüber hinausgehende Loyalität zum Staat ist nicht zu fordern8. Vor allem kann es nicht auf die gesellschaftliche Bedeutung der jeweiligen Religionsgemeinschaft ankommen. Für die Differenzierung zwischen einer privilegierten Gruppe von kirchensteuerberechtigten „Verfassungsreligionsgemeinschaften“ einerseits und sonstigen (nicht kirchensteuerberechtigten) Religionsgemeinschaften gibt weder Art. 137 WRV noch das GG etwas her. Zur Rechtfertigung des besonderen Status öffentlichrechtlicher Religionsgemeinschaften taugt nur die Grundrechtsthese, wonach der Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Religionsgemeinschaften 1 Droege in Birk/Ehlers, 23 (44). Zum Verhältnis Staat-Kirche aus dem Blickwinkel des Europarechts s. Kämper/Schlagbeck (Hrsg.), Zwischen nationaler Identität und europäischer Harmonisierung, 2002; Hammer, DÖV 2006, 542. 2 S. Marré/Jurina, 77. 3 Dazu insb. von Campenhausen/Unruh in von Mangoldt/Klein/Starck, Bd. III6, Art. 140 GG/137 WRV, Rz. 242 ff.; P. Kirchhof in Seer/Kämper, 11; Korioth in Will, 2011, 13 (18 ff.); F. Kirchhof, Essener Gespräche, Bd. 47, 2013, 7 (23 ff.). Zur Geschichte des Kirchensteuerrechts s. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung LXXXV (1999): Marré, Die Kirchenfinanzierung in Deutschland vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, 448; Schlief, Die Entwicklung der Kirchensteuer seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, 465; s. auch Gutmann, Entstehung und Entwicklung der Kirchensteuer in der Diözese Rottenburg, 2007. 4 Dazu Tillmanns, DÖV 1999, 441; Muckel, Der Staat 38 (1999), 569; Thüsing, GS H. Krüger, 2001, 351; Wilms, NJW 2003, 1083; Magen, Körperschaftsstatus und Religionsfreiheit, 2004. 5 Dazu die Übersicht bei Suhrbier-Hahn, 27 ff., 45 ff.; s. auch Jurina, FS Rüfner, 2003, 381 (383 ff.). Derzeit genießen etwa 3 Dutzend Religionsgemeinschaften den Status einer öffentlich-rechtlichen Religionskörperschaft, s. Quaas, NVwZ 2009, 1400. 6 Nach BVerwG NVwZ 2013, 943 ff. (Bahá’í) m. zust. Anm. Löhnig/Preisner, ist dabei nicht bloß auf die Relation der Mitgliederzahl der Religionsgemeinschaft zur Gesamtbevölkerung (z.B. mindestens ein Promille der Bevölkerung eines Bundeslandes) abzustellen. 7 So BVerfGE 102, 370 (Zeugen Jehovas), s. auch Hammer, Rechtsfragen der Kirchensteuer, 259 f.; zu den Zeugen Jehovas außerdem BVerwG NVwZ 2006, 3156; OVG Berlin NVwZ 2005, 1450. 8 BVerfGE 102, 370 (Leitsatz 2, 395 ff.), krit. aber J. Lang u. Tillmanns, FS Rüfner, 2003, 497 u. 919.
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Seer
Kirchensteuer
Rz. 958
§8
zum Zwecke der Ausübung der Religionsfreiheit (Art. 4 II GG) gewährleisten und stärken soll1. Dies erfordert gem. Art. 137 V 2 WRV eine Öffnung des öffentlich-rechtlichen Status auch für andere Religionsgemeinschaften, die ihren Platz in einer nicht geschlossenen, pluralistischen Gesellschaft finden wollen. Daher können auch muslimische Religionsgemeinschaften den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhalten2. Soweit allerdings Religionsgemeinschaften den Gottesstaat fordern und sich dem demokratischen Rechtsstaat verweigern, fehlt es am Merkmal der Rechtstreue. Ihnen kann der Staat das Privileg einer Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht verleihen. Das gilt besonders für Sekten, die wie der sog. Kalifatstaat nach Abschaffung des vereinsrechtlichen Religionsprivilegs verboten worden sind3.
Im Weiteren ergibt sich aus Art. 137 VI WRV, dass die Länder in Ergänzung zu Art. 105 GG (s. § 2 Rz. 46) die Gesetzgebungshoheit für die Kirchensteuer haben. Demnach ist das staatliche Kirchensteuerrecht im Landesverfassungsrecht und in den Kirchensteuergesetzen der Länder niedergelegt. Gemeinsame staatlich-kirchliche Rechtsquellen finden sich in Staatskirchenverträgen auf Bundes- und Landesebene. Kirchliche Rechtsquellen sind vor allem die den Rahmen der Kirchensteuergesetze ausfüllenden Kirchensteuerordnungen und Kirchensteuer-Hebesatzbeschlüsse der steuerberechtigten Religionsgemeinschaften. Die die Höhe der Kirchensteuer fixierenden Hebesatzbeschlüsse werden von den nach den Kirchensteuerordnungen zuständigen (und überwiegend gewählten) Beschlussgremien gefasst. Kirchensteuerordnungen und Kirchensteuer-Hebesatzbeschlüsse erwerben durch die staatliche Anerkennung bzw. Genehmigung und ihre Bekanntmachung in den kirchlichen Amtsblättern die Qualität von auch für den staatlichen Bereich verbindlichen Sätzen öffentlichen Rechts4.
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Im Rahmen der Kirchensteuergesetze bleibt es den Religionsgemeinschaften überlassen, durch ihre eigenen Kirchensteuerordnungen zu bestimmen, welche kirchlichen Körperschaften in concreto Kirchensteuergläubiger sein sollen. Im Regelfall haben die Kirchen die Wahl, ob die Kirchengemeinde (Ortskirchensteuersystem) oder die katholischen Diözesen bzw. evangelischen Landeskirchen (Diözesan- bzw. Landeskirchensteuersystem) oder die Kirchengemeinden und die Diözesen bzw. Landeskirchen nebeneinander Gläubiger der Kirchensteuer sein sollen. Während bis in die Zeit nach 1945 (wie heute noch in fast allen Kantonen der Schweiz) das dezentralisierende Ortskirchensteuersystem weithin vorherrschte, ist es heute das zentralisierende Diözesan- bzw. Landeskirchensteuersystem.
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3. Die Kirchensteuerpflicht Die Kirchensteuer ist nach h.M. eine Mitgliedsteuer5. Sie lässt sich nach § 3 I 1 AO unter den Steuerbegriff subsumieren (s. § 2 Rz. 9 ff.), da die jeweilige Religionsgemeinschaft aufgrund ihres Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts (s. Rz. 953) auch als „öffentlich-rechtliches Gemeinwesen“ begriffen werden kann. Sie ist zugleich eine Verbandslast (s. § 2 Rz. 24)6. Voraussetzung für die Entstehung der Kirchensteuerpflicht ist die mitgliedschaftliche Zugehö1 BVerfGE 102, 370 (387); von Campenhausen/Unruh in von Mangoldt/Klein/Starck, Bd. III6, Art. 137 WRV Rz. 202. 2 Muckel, Der Staat 38 (1999), 569 (587); von Campenhausen/Unruh in von Mangoldt/Klein/Starck, Bd. III6, Art. 137 WRV Rz. 214; a.A. Hillgruber, JZ 1999, 538 (546 f.). Die Zahl der in Deutschland lebenden Muslime wird für 2014 auf ca. 4 Millionen geschätzt, s. Aufstellung bei de.statista.com. 3 S. dazu BVerwG NVwZ 2003, 986 (dazu Sachs, JuS 2004, 12). 4 Dazu Marré in Hdb. des Staatskirchenrechts, 1101 (1115 ff.); Jurina in Seer/Kämper, 27 (34 ff.). 5 BVerfG NVwZ 2002, 1496 (1497); Marré in Hdb. des Staatskirchenrechts, 1101 (1108); Hammer, Rechtsfragen der Kirchensteuer, 2002, 143, 146 f.; Muckel in Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG, Art. 140 Rz. 105; Kämper, FS Kirchhof, Bd. II, 2013, § 192 Rz. 3; s. auch BVerfGE 19, 206 (217); 73, 388 (398 ff.). 6 F. Kirchhof, Essener Gespräche, Bd. 47 (2013), 7 (23 ff.), ordnet die Kirchensteuer dagegen nur als Verbandslast (im Sinne eine öffentlich-rechtlichen Mitgliedsbeitrages) ein (ihm folgt nun auch P. Kirchhof13, § 51a EStG Rz. 4). Er vertritt damit eine gegenseitige Ausschließlichkeit zwischen Steuer und Verbandslast, die u.E. aber so nicht existiert. Es ist vorstellbar, dass sich ein körperschaftlich strukturiertes öffentlich-rechtliches Gemeinwesen (bei unterstelltem Besteuerungsrecht, s. Rz. 953) durch eine seinen Mitgliedern auferlegte Steuer finanziert.
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§8
Rz. 959
Einkommensteuer
rigkeit zu einer steuererhebenden Kirche oder sonstigen Religionsgemeinschaft. Diese wird nach dem Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität nicht vom Staat, sondern von der Religionsgemeinschaft selbständig nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 III WRV als eigene Angelegenheit geordnet. Der Staat erkennt diese kirchenrechtlichen Mitgliedschaftsregelungen innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze auch für den staatlichen Rechtsbereich als verbindlich an1. Juristische Personen sind mangels Mitgliedschaft keine tauglichen Kirchensteuersubjekte2. Dies gilt für Kapitalgesellschaften selbst dann, wenn alle Gesellschafter Mitglieder einer Kirche sind. 959
Die Kirchensteuerpflicht beginnt mit dem ersten Tag des Monats, der auf die Aufnahme in die Kirche (zur Taufe eines Erwachsenen s. FG Hamburg, EFG 2009, 285) und auf die Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts im Gebiet des Kirchensteuergläubigers folgt. Sie endet durch Tod, durch Aufhebung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts und bei einem nach Maßgabe der geltenden staatlichen Vorschriften erklärten Kirchenaustritt3 mit dem Beginn oder erst mit dem Ablauf des Kalendermonats, der auf die Erklärung des Kirchenaustritts folgt. Ein modifizierter Kirchenaustritt des Inhalts, nur gegenüber dem Staat aus der Kirche auszutreten, im Übrigen aber in der Kirche „als Glaubensgemeinschaft“ zu verbleiben, führt nicht zur Beendigung der Kirchensteuerpflicht4. Art. 4 I GG verbietet, als Grundlage für die Kirchensteuerpflicht eine kirchliche Mitgliedschaftsregelung heranzuziehen, die eine Person einseitig und ohne Rücksicht auf ihren Willen der Kirchengewalt unterwirft5. Allerdings ist beim Glaubensübertritt (Konversion) zu beachten, dass die kirchliche Mitgliedschaft durch Kirchenrecht begründet wird. Daher wird die Kirchensteuerpflicht nicht allein durch das Bekenntnis des Stpfl., sondern erst durch die kirchenrechtlich gültige Aufnahme des Stpfl. in die neue Religionsgemeinschaft begründet6.
960
Weil nur Kirchenmitglieder durch staatliches Gesetz zur Kirchensteuerzahlung verpflichtet werden dürfen, beruht die gesetzliche Regelung der Kirchensteuererhebung in sog. glaubensverschiedenen Ehen auf dem Prinzip der uneingeschränkten Individualbesteuerung: der nichtkirchenangehörige Ehegatte ist von jeder Kirchensteuerpflicht freigestellt; der kirchenangehörige Ehegatte wird nur nach der in seiner Person gegebenen Steuerbemessungsgrundlage zur Kirchensteuer herangezogen7. Einwendungen gegen die verhältnismäßige Aufteilung der Einkommensteuerbeträge sind im Rechtsbehelfsverfahren gegenüber der Kirchenbehörde (nicht gegenüber dem Finanzamt) geltend zu machen8.
961
Bei sog. konfessionsverschiedenen Ehen (die Eheleute gehören verschiedenen kirchensteuerberechtigten Religionsgemeinschaften an) wird die Kirchensteuer mit Ausnahme Bayerns im Zweifel nach dem sog. Halbteilungs- und dem sog. Haftungsgrundsatz erhoben (ausdrücklich 1 BVerfGE 30, 415. 2 BVerfGE 19, 206 (221 ff.); die Einbeziehung juristischer Personen in die Kirchensteuerpflicht erwägt P. Kirchhof in Seer/Kämper, 2004, 11 (22); P. Kirchhof13, § 51a EStG Rz. 4 m. Hinw. auf Schweizer und Finnische Vorbilder. 3 Dazu Kühne, FS Rüping, 2008, 173; Muckel, JZ 2009, 174; Stuhlfauth, DÖV 2009, 225. Ein Steuerberater ist nicht verpflichtet, dem Mandanten den Austritt aus der Kirche zu empfehlen (BGH MDR 2007, 154). Die Gebührenpflicht des staatlichen Kirchenaustrittsverfahrens ist mit Art. 4 I GG zu vereinbaren (BVerfG NJW 2008, 2978; BayVerfGH NJW 2008, 1347). 4 BVerwGE 144, 171 (176 ff.): keine Mitgliedschaft ohne Steuerpflicht und kein bloßer „Körperschaftsaustritt“ als „Kirchenaustritt“; Muckel, JZ 2009, 174; Muckel, KuR 2010, 188; Hammer, KuR 2011, 108 (111 f.); Muckel, JA 2013, 314; Gehm, StBW 2013, 82; a.A. Zapp, KuR 2007, 66 (77 ff.); kontrovers Muckel u. Zapp in Birk/Ehlers, 229 u. 237. 5 BFH BStBl. 1999, 499; zur Beendigung der Kirchensteuerpflicht bedarf es aber einer förmlichen Austrittserklärung, s. VerfGH Berlin DVBl. 2011, 782: daran ändert auch eine unbewusste Kirchenmitgliedschaft (nach frühkindlicher Taufe und DDR-Zeit) nichts. 6 BFH BStBl. 2006, 139 (140 f.); zur Bedeutung der Taufe für die evangelische Kirchensteuerpflicht s. BFH v. 9.5.2012, BFH/NV 2012, 1334; zur Mitgliedschaft in einer jüdischen Religionsgemeinschaft s. BVerwG NVwZ-RR 2011, 90; zur kirchensteuerpflichtigen Mitgliedschaft in der katholischen Kirche s. Löhnig/Preisner, NVwZ 2013, 39. 7 BVerfGE 19, 226 (237 ff.); 19, 268 (273 ff.); 19, 282 (287). 8 BFH v. 28.11.2007, BFH/NV 2008, 986.
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Seer
Kirchensteuer
Rz. 963
§8
gebilligt von BVerfGE 20, 40). Nach dem Halbteilungsgrundsatz wird jedem Ehegatten die Hälfte des ehelichen Gesamteinkommens zugerechnet, was auch bei glaubensverschiedenen Ehen für richtig erachtet wird, da auch diese Ehen von der durch Art. 6 GG geschützten Einkommens-, Aufwands- und Leistungsfähigkeitsgemeinschaft geprägt seien, die eine hälftige Zurechnung des Eheeinkommens rechtfertige und fordere1.
4. Ausgestaltung der Kirchensteuer a) Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 VI WRV2 ermöglicht es den Religionsgemeinschaften, die Kirchensteuer als Zuschlagsteuer zu bestimmten staatlichen oder kommunalen Maßstabsteuern – der Einkommensteuer, der Vermögensteuer und den Grundsteuermessbeträgen – zu erheben. Die beiden großen Kirchen haben sich für die – in Höhe von 8 % bzw. 9 % der Einkommensteuerschuld (s. Rz. 964) erhobene – Kircheneinkommensteuer als ergiebige Haupteinnahmequelle (Aufkommen ca. 10 Mrd. Euro3) entschieden. Maßgebend dafür war außerdem das Bemühen um möglichst weit gehende Herstellung von (Steuer-)Gerechtigkeit. Durch die Wahl der staatlichen Einkommensteuer als Maßstab für die Kirchensteuer gilt für beide Steuern das rechtsethische Prinzip der Besteuerung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit4, das auf gemeinsamen Grundsatzwertungen moderner Steuerlehre und christlicher Sozialethik beruht. Dieser ethischen Verklammerung von Einkommensteuer (Maßstabsteuer) und Kirchensteuer (Annexsteuer) entspricht die Ausrichtung des Kirchensteuermaßstabs an der wirklichen Leistungsfähigkeit5. Dies ist allerdings nicht der Fall, soweit die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer durch Sozialzwecknormen verfälscht oder sonst Leistungsfähigkeit (z.B. durch Befreiungen des § 3 EStG) nicht vollständig erfasst wird. Aus dem Gebot der Rechtstreue für Körperschaften des öffentlichen Rechts (s. Rz. 954) ergibt sich die Bindung der Religionsgemeinschaft an die verfassungsmäßige Ordnung, insb. an die Grundrechte6. Danach ist das steuerrechtliche Legalitätsprinzip (s. § 3 Rz. 230 ff.) zu beachten7; ebenso gebietet der Gleichheitssatz die erwähnte gleichmäßige Bemessung der Kirchensteuer nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip. Somit besteht auch aus kirchensteuerlicher Sicht ein starkes Interesse an einer von Ausnahmen möglichst freien einkommensteuerrechtlichen Indikation steuerlicher Leistungsfähigkeit (zu Reformvorschlägen bei der Einkommensteuer s. § 7 Rz. 70 ff.).
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b) Bemessungsgrundlage der Kirchensteuer ist nach § 51a II EStG die Einkommensteuer. Sie wird allerdings nach § 51a II EStG abweichend berechnet (sog. fiktive Einkommensteuer)8. Zur Verwirklichung des subjektiven Nettoprinzips werden die Kinderfreibeträge i.S.d. § 32 VI EStG nach § 51a II 1 EStG auch dann abgezogen, wenn stattdessen nach der Günstigerprüfung Kindergeld gezahlt worden ist (dazu Rz. 92 ff.). Um die Einkünfte für die Kirchensteuer voll zu
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1 Gebilligt zuletzt durch BVerfG NJW 2011, 365; ausf. zur Kirchensteuererhebung bei konfessions- und glaubensverschiedenen Ehen Hammer, Rechtsfragen der Kirchensteuer, 2002, 322 ff. 2 Die in Art. 137 VI WRV erwähnten Steuerlisten werden schon lange nicht mehr geführt; die Kirchen erhalten die zur Besteuerung erforderlichen Informationen vom Staat bis zum 30.4.2015 auf der Grundlage von § 19 MRRG; ab dem 1.5.2015 auf der Grundlage von § 42 des Bundesmeldegesetzes (BMG), BGBl. I 2013, 1084 (1096 f.). 3 Im Jahr 2013 nahmen die evangelische Kirche ca. 4,8 Mrd. Euro und die katholische Kirche ca. 5,4 Mrd. Euro an Kirchensteuern ein, s. Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 2014, 64, www.destatis.de. 4 Aufgrund des Verbandslast-Charakters der Kirchensteuer (s. Rz. 958) will F. Kirchhof, Essener Gespräche, Bd. 47 (2013), 7 (25 f.), diesen Bezug einschränken. 5 Dazu Marré in Hdb. des Staatskirchenrechts I2, 1131; P. Kirchhof, FS Rüfner, 2003, 443 (448 ff.). 6 BVerfGE 30, 415 (422); 102, 370 (392 f.); BVerfG NVwZ 2002, 1496 (Kammerbeschluss, dazu Gehm, NVwZ 2002, 1475; de Wall, FS Rüfner, 2003, 945). 7 S. BVerfG NVwZ 2002, 1496 (1497 f.), zu räumlich unterschiedlichen KiSt-Sätzen innerhalb eines Kirchenverbands. 8 Zu § 51a EStG: Schlief, FS Listl, 1999, 679; Petersen in Seer/Kämper, 101. Einwendungen gegen die Ermittlung der Bemessungsgrundlage nach § 51a II EStG sind wie im Falle der Aufteilung von Einkommensteuerbeträgen (s. Rz. 960) gegenüber der Kirchenbehörde geltend zu machen (BFH BStBl. 2011, 40 [42]; zur Abgrenzung s. BFH/NV 2012, 23 [24 f.]; zum Grundlagen-Folgebescheid-Verhältnis s. § 21 Rz. 83 ff.).
Seer
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§8
Rz. 964
Einkommensteuer
erfassen, negiert § 51a II 2 EStG das Teileinkünfteverfahren i.S.d. §§ 3 Nr. 40; 3c II EStG (dazu Rz. 138)1 und belastet nach § 51a IIb–IIe EStG2 auch die sondertarifierende Abgeltungsteuer auf Einkünfte aus Kapitalvermögen (s. Rz. 492 ff.). Schließlich bleibt die Steuerermäßigung des § 35 EStG, welche der Gewerbesteuervorbelastung der Einkünfte aus Gewerbebetrieb Rechnung tragen soll (s. Rz. 840 ff.), für den kirchensteuerlichen Maßstab unberücksichtigt (s. § 51a II 3 EStG). 964
c) Der Kirchensteuerhebesatz (Zuschlag zur Einkommen-, Lohn- und Kapitalertragsteuer) beträgt nach Beschlüssen der Landeskirchen in Baden-Württemberg und Bayern 8 %, in den übrigen Bundesländern 9 % der Steuerschuld. Bis auf die Religionsgemeinschaften in Bayern sehen dabei alle Kirchen eine teils von Amts wegen, teils auf Antrag vorzunehmende Kappung der Progression der Annexsteuer auf max. 2,75 % bis 4 % des zu versteuernden Einkommens vor3. Die effektive Steuerbelastung der Kirchensteuer mindert sich darüber hinaus, indem sie im Jahr ihres Abflusses bei der maßstabbildenden Einkommensteuer als Sonderausgaben gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 4 EStG abzugsfähig ist (s. Rz. 712).
965
d) Die Kirchensteuer wird nach § 51a IIb EStG auch auf die zum 1.1.2009 eingeführte Abgeltungsteuer für Kapitaleinkünfte (§ 32d I 1 EStG; s. Rz. 492 ff.) erhoben4. Die Einbeziehung der Kirchensteuer verkompliziert das auf Anonymität angelegte Abgeltungsteuersystem nicht unerheblich (zur Kritik s. auch Rz. 506 f.). Im Fall einer Kirchensteuerpflicht ermäßigt sich die um die anrechenbaren ausländischen Steuern verminderte Abgeltungsteuer zudem um 25 % der auf die Kapitalerträge entfallenden Kirchensteuer (§ 32d I 3 EStG). Dadurch wird der die Einkommensteuer als Maßstab reduzierende Sonderausgabenabzug (s. § 10 I Nr. 4 Hs. 2 EStG) in die Bemessung der Kirchensteuer pauschal integriert5.
966
Die Regelung des § 32d I 3 EStG wird durch folgende Formel (§ 32d I 4 u. 5 EStG) konkretisiert: e – 4q/4 + k (e = Kapitaleinkünfte; q = anrechenbare ausländische Steuer; k = Kirchensteuersatz). Danach beträgt die Abgeltungsteuer bei 100 Euro Kapitaleinkünften und 9 % KiSt: 100 Euro/(4 + 0,09) = 24,45 Euro, davon 9 % KiSt = 2,20 Euro, Belastung also insg. 26,65 Euro; bei Anrechnung von 10 Euro ausländischer Steuer: 60 : 4,09 = 14,67, davon 9 % KiSt = 1,32 Euro.
967
e) Eine weitere Kirchensteuerart ist das in den Kirchensteuergesetzen und konkretisierend in Kirchensteuer-/Kirchgeldordnungen (mit festen oder gestaffelten Beträgen) vorgesehene (allgemeine) Kirchgeld. Es ist an keine Maßstabsteuern gebunden und wird von bestimmten Kirchengemeinden ergänzend auch von denen erhoben, die keine Einkommensteuer und damit auch keine Kircheneinkommensteuer zahlen. Es beträgt je nach Religionsgemeinschaft aber nur zwischen 1,50 Euro und 150 Euro pro Jahr6.
968
f) Hat der kirchenangehörige Ehegatte, der in glaubensverschiedener Ehe lebt, kein eigenes steuerpflichtiges Einkommen, besteht die Möglichkeit, ihn nach einer eigenen Kirchgeldtabelle 1 Zu § 51a II 2 EStG s. Homburg, FR 2008, 153 u. DStR 2009, 2179; Weber in Birk/Ehlers, 149 (154 ff.). Nach BFH BStBl. 2010, 1061 (1063 f.); BVerwG HFR 2009, 193, ist es mit Art. 3 I GG noch vereinbar, dass bei der Hinzurechnung des nach dem Teileinkünfteverfahren einkommensteuerfreien Teils der Einkünfte (§ 51a II 2 EStG) für kirchensteuerliche Zwecke keine Verlustverrechnungsmöglichkeit vorgesehen ist. 2 § 51a IIb bis IIe EStG regeln ausschließlich Fragen der Kirchensteuer, obwohl der Bund insoweit keine Gesetzgebungskompetenz hat (s. § 2 Rz. 46). Immerhin lässt § 51a VI EStG erkennen, dass der Bund letztlich den Ländern im Bereich der Kirchensteuer keine Vorgaben machen kann und will. In Anbetracht der engen Verzahnung mit der Abgeltungsteuer (Bundeskompetenz) und dem Sachzusammenhang ist die Regelung daher kompetenziell noch tolerabel, s. Blümich/Treiber, § 51a EStG Rz. 22 f., 37 u. 115 f. 3 S. die tabellarische Übersicht aller KiSt-Sätze und Kappungsgrenzen in den einzelnen Bundesländern in der NWB-Datenbank, Stand Sept. 2014 (http://datenbank.nwb.de); s. auch Rausch in Birk/Ehlers, 179 (183 ff.). 4 Dazu Kußmaul/Meyering, DStR 2008, 2298; Hechtner/Hundsdörfer, StuW 2009, 23, 36 f. (Günstigerprüfung u. Kirchensteuer). 5 BT-Drucks. 16/4841, 60. 6 S. Petersen, Kirchensteuer kompakt, § 5 Rz. 139 ff. (dort mit einer tabellarischen Übersicht in Rz. 145).
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Kirchensteuer
Rz. 971
§8
zum sog. besonderen Kirchgeld heranzuziehen. Zwar darf das Einkommen seines der jeweiligen Kirche nicht angehörenden Ehegatten aufgrund der mitgliedschaftlichen Bindung der Kirchensteuer (s. Rz. 958) nicht besteuert werden. Davon unterscheidet die Rechtsprechung aber als Ausdruck wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit den sog. Lebensführungsaufwand, den der einkommensschwächere Ehegatte aus seinem Unterhaltsanspruch bestreiten kann1. Die rechtliche Grundlage hierfür ist in den Kirchensteuergesetzen mittlerweile vorhanden2. Alle evangelischen Kirchen und viele katholische Diözesen haben sich für die Erhebung des besonderen Kirchgelds entschieden. Ihre aufeinander abgestimmten Kirchensteuerbeschlüsse sehen einen 13stufigen Tarif vor, der bei einem gemeinsam zu versteuernden Einkommen von 30 000 Euro beginnt und bis 300 000 Euro mit einer progressiven Steuer von 96 Euro bis zu 3 600 Euro jährlich steigt (dies entspricht einer Steuerbelastung von 0,32 % bis 1,2 % des zu versteuernden Einkommens)3.
5. Verwaltung der Kirchensteuer, Verfahren a) Die Kirchensteuer wird auf Antrag der Kirchen durch die Finanzämter verwaltet. In Bayern verwalten die Kirchen die Kircheneinkommensteuer selbst mit Ausnahme der Kirchenlohnsteuer, die von den Arbeitgebern einbehalten und an das Finanzamt abgeführt wird. Die Kirchensteuergesetze behalten den Kirchen allerdings regelmäßig die Zuständigkeit für Billigkeitsmaßnahmen (Stundung und Erlass, s. § 21 Rz. 329 ff.) vor4.
969
b) Nach den Kirchensteuergesetzen wird die Kirchensteuer auch auf die Lohnsteuer als Quellensteuer erhoben, zusammen mit dieser einbehalten und abgeführt (Kirchenlohnsteuer). Obwohl damit auch nicht konfessionszugehörige Arbeitgeber für die Einbehaltung der Kirchensteuer in den Dienst genommen werden, ist diese Indienstnahme einschließlich der damit verbundenen Arbeitgeberhaftung (entsprechend § 42d EStG) verfassungsrechtlich zulässig5. Der Arbeitgeber wird nicht auf kirchliche, sondern auf staatliche Anordnung hin tätig. Er leistet seine Dienste nicht den Kirchen, sondern dem Staat, der damit seinerseits seiner Verfassungspflicht nachkommt, den Kirchen die Steuererhebung „auf Grund bürgerlicher Steuerlisten“ zu ermöglichen. Wie beim Lohnsteuerabzug handelt der Arbeitgeber bei der Einbehaltung und Abführung der Kirchenlohnsteuer seiner kirchenangehörigen Arbeitnehmer als „Beauftragter des Steuerfiskus“ und als „Hilfsorgan der staatlichen Finanzverwaltung“. Diese vom Arbeitgeber dem Staat geleisteten Dienste sind insofern neutral, als die Kirchensteuern nicht speziell einer bestimmten Religionsgemeinschaft, sondern mehreren, ja virtuell allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zufließen, soweit bei ihnen die Voraussetzungen für das Besteuerungsrecht vorliegen.
970
Zur Durchführung des Kirchenlohnsteuerabzugs bedarf der Arbeitgeber Kenntnis über die Konfessionszugehörigkeit des Arbeitnehmers. Dies geschah früher durch Eintragung des Konfessionsmerkmals auf der Lohnsteuerkarte und wird heute im elektronischen Lohnsteuerabzugsverfahren nach § 39e II Nr. 1 EStG durch Datenübermittlung des BZSt ersetzt6. Der darin liegende Eingriff in die positive oder negative Bekenntnisfreiheit i.S.d. Art. 4 I GG und
971
1 So BVerfGE 19, 268 (282); 73, 388 (399); BVerfG NJW 2011, 365; BFH BStBl. 2006, 274; dazu Petersen, ZevKR 56 (2011), 188. Allerdings soll die Besteuerung des Lebensführungsaufwandes auf die Fälle der Zusammenveranlagung beschränkt sein, dazu mit Recht krit. J. Lang in Birk/Ehlers, 169. 2 So wurde etwa in NRW die Erhebung eines Kirchgelds bei glaubensverschiedener Ehe nach § 4 I Nr. 5 KiStG durch Gesetz v. 6.3.2001, GVNW 2001, 103, ab 2001 zugelassen. 3 Ausf. zum besonderen Kirchgeld Schoppe, 73 ff.; s. auch im Überblick Petersen, Kirchensteuer kompakt, § 9 Rz. 20 ff. 4 Dazu mit Angabe der einschlägigen landesgesetzlichen Vorschriften HHSp/von Groll, § 227 AO Rz. 100 f.; BFH BStBl. 2011, 379 (380 ff.): kein Erlass der auf Veräußerungs- u. Übergangsgewinne entfallenden KiSt; s. dazu auch Petersen, Kirchensteuer kompakt, § 16 Rz. 7 ff. 5 BVerfGE 44, 103; ausf. Hammer, Rechtsfragen der Kirchensteuer, 309 ff.; krit. Wasmuth in Will, 2011, 33 ff., insb. 40 ff.; mit erheblichen Bedenken auch Korioth, ebenda, 13 (24 ff.). 6 Das elektronische Lohnsteuerabzugsverfahren ist durch das BeitrRLUmsG v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2592 (2601 ff.) neu geregelt worden (s. Rz. 904).
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§8
Rz. 972
Einkommensteuer
Art. 9 I EMRK ist verhältnismäßig und in Abwägung mit den verfassungsrechtlich geschützten Rechten der Religionsgemeinschaften gerechtfertigt1. 972
c) Wird die Lohnsteuer nach den §§ 40 ff. EStG pauschaliert, so ist auch die Kirchensteuer nach einem Pauschsteuersatz zu erheben. Im Verfahren der Pauschalierung ist der Nachweis der Religionszugehörigkeit schwierig. Da die Lohnsteuerpauschalierung die persönliche Kirchensteuerpflicht von Arbeitnehmern nicht erweitert, muss dem Arbeitgeber die Möglichkeit des Nachweises, dass bestimmte Arbeitnehmer nicht Mitglieder der Kirche sind, eingeräumt sein2. Die Verwaltung (gleichlautende Länder-Erlasse BStBl. I 2012, 1083; Erlasse zu § 37b EStG: BStBl. I 2007, 79; 2009, 332) lässt dem Arbeitgeber die Wahl zwischen einem typisierten Verfahren mit einem länderspezifischen Schlüssel der prozentualen Aufteilung der pauschalierten Lohnsteuer auf die evangelische und die katholische Kirche und einem Nachweisverfahren. Entscheidet sich der Arbeitgeber für das typisierte Verfahren, so ist ein ermäßigter Steuersatz anzuwenden, der in pauschaler Weise dem Umstand Rechnung trägt, dass nicht alle Arbeitnehmer einer steuerberechtigten Religionsgemeinschaft angehören. Dieser Steuersatz liegt landesverschieden zwischen 4 % und 7 % der Lohnsteuer3.
973
d) Die auf die Abgeltungsteuer auf Kapitalvermögen zu erhebende Kirchensteuer (s. Rz. 965 f.) wird bis zum 31.12.2014 nur auf Antrag des Stpfl. in das Quellenabzugsverfahren (s. Rz. 907) einbezogen (§ 51a IIc EStG). Wird kein derartiger Antrag gestellt, so ist die Kirchensteuer im Rahmen der Veranlagung zum Abgeltungsteuersatz zu berücksichtigen (s. § 51a IId i.V.m. § 32d IV EStG; s. Rz. 503). Stellt der Stpfl. weder einen Antrag auf Kirchensteuereinbehalt noch einen Antrag auf Veranlagung, verkürzt er zwar rechtswidrig die Kirchensteuer. Eine Strafbarkeit nach § 370 AO besteht aber regelmäßig nicht (s. § 23 Rz. 28). Ab dem 1.1.2015 wird ein elektronisches Datenübermittlungsverfahren diesen unbefriedigenden Zustand ablösen4. Nach § 51a IIc Nr. 1 EStG n.F. speichert das BZSt neben der Religionszugehörigkeit des Stpfl. (s. bereits Rz. 971) auch den jeweiligen Kirchensteuersatz der steuererhebenden Religionsgemeinschaft sowie die zum Steuerabzug erforderlichen ortsbezogenen Daten. Nach § 51a IIc Nr. 3 EStG n.F. hat der Kirchensteuerabzugsverpflichtete unter Angabe der Steuer-Identifikationsnummer (s. § 21 Rz. 183) und des Geburtsdatums des Kirchensteuerpflichtigen einmal jährlich beim BZSt die persönliche Kirchensteuerpflicht abzufragen. Auf dieser Basis haben die Kirchensteuerabzugsverpflichteten die Kirchensteuern im Zuflusszeitpunkt einzubehalten und in entsprechender Anwendung des § 45a EStG, s. § 21 Rz. 187) anzumelden und abzuführen (s. § 51a IIc Nr. 4 EStG n.F.). Missbilligt der Stpfl. die Übermittlung dieser konfessionellen Daten an das einbehaltungspflichtige Kreditinstitut, kann er die Weitergabe durch einen beim BZSt einmalig nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck schriftlich zu stellenden Antrag unterbinden (§ 51a IIe EStG: Erteilung eines sog. Sperrvermerks)5. Der Stpfl. ist dann aber für jeden Veranlagungszeitraum, in dem Kapitalertragsteuer einbehalten worden ist, zur Abgabe einer Steuererklärung zwecks Veranlagung verpflichtet; das Wohnsitz-FA wird hierüber vom BZSt informiert (vgl. § 51a IIe Satz 3–5 EStG n.F.).
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e) Für Kirchensteuerprozesse sind grds. die Verwaltungsgerichte zuständig (§ 40 I VwGO), es sei denn, der Landesgesetzgeber hat die Kirchensteuersachen nach § 33 I Nr. 4 FGO den Finanzgerichten zugewiesen (s. § 22 Rz. 99; i.E. Tipke/Kruse/Seer, § 33 FGO Rz. 87 ff.). 1 BVerfGE 49, 375; EGMR v. 17.2.2011 – 12884/03, NVwZ 2011, 1503 (1504 f.); BFH BStBl. 2012, 168 (181 f.); Hammer, KuR 2011, 108; Heinig in Birk/Ehlers, 113 (116 ff.); a.A. Wasmuth, ebenda, 91 ff. 2 BFH BStBl. 1995, 507; Birk/Jahndorf, BB 1995, 1443; a.A. Lang/Lemaire, StuW 1994, 257; Lang in Birk/Ehlers, 169 (176 ff.). 3 S. Petersen, Kirchensteuer kompakt, § 13 Rz. 1 ff. (mit einer tabellarischen Übersicht; s. auch NWBDatenbank http://datenbank.nwb.de). 4 Eingeführt durch BeitrRLUmsG v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2592 (2609 f.) u. AmtshilfeRLUmsG v. 26.06.2013, BGBl. I 2013, 1809 (1820 ff.); dazu Meyering/Serocka, DStR 2013, 1378; Schmidt, NWB 2014, 922. 5 Daher sieht BFH BStBl. 2012, 168 (181 f.) in der Datenspeicherung und -abfrage auch keinen Grundrechtsverstoß.
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§ 9 Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht) A. Überblick über das System betrieblicher Gewinnermittlung I. Gewinnermittlungsarten Im Zentrum der Ermittlung des steuerrechtlichen Ergebnisses für Zwecke der Gewinneinkunftsarten des EStG (§ 2 I Nrn. 1–3, II Nr. 1 EStG) steht der Betriebsvermögensvergleich nach §§ 4; 5 EStG mit seinen komplexen Beziehungen zwischen handelsrechtlicher Rechnungslegung und steuerrechtlichen Spezialvorschriften in §§ 4–7k EStG. Das Gesetz unterscheidet zwischen dem Betriebsvermögensvergleich nach § 4 I EStG und dem nach § 5 I EStG. § 5 I 1 EStG ordnet für Gewerbetreibende, die auf Grund gesetzlicher Verpflichtung (§§ 238 ff. HGB; §§ 140; 141 AO) oder freiwillig Bücher führen und regelmäßig Abschlüsse machen, die Befolgung der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) an (§ 5 I 1 EStG). § 4 I 1 EStG enthält für die übrigen Gewinneinkunftsarten keinen ausdrücklichen Hinweis auf ein spezielles Rechnungslegungssystem, gleichwohl werden die handelsrechtlichen GoB auch dem allgemeinen Betriebsvermögensvergleich zugrunde gelegt1.
1
Alternativ zum Betriebsvermögensvergleich nach § 4 I EStG sieht § 4 III EStG für Stpfl., die weder auf Grund gesetzlicher Verpflichtung noch freiwillig Bücher führen, die Ermittlung des Gewinns durch Überschussrechnung (Überschuss der Betriebseinnahmen/-ausgaben über die Betriebsausgaben/-einnahmen) vor (Rz. 400 ff.). Es handelt sich um eine vereinfachte Gewinnermittlung nach Art der in §§ 8 ff. EStG normierten Kassenrechnung, deren Leitbild aber der Betriebsvermögensvergleich ist (Grundsatz der Gesamtgewinngleichheit, Rz. 402).
2
Privilegierend wirken die pauschalierende Gewinnermittlung für Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft gem. § 13a EStG (§ 8 Rz. 201, 409 ff.) und die sog. Tonnagebesteuerung für Betriebe der Handelsschifffahrt gem. § 5a EStG (§ 8 Rz. 202).
3
Die Gewinnermittlung nach dem EStG gilt mit Modifikationen auch für die Körperschaftsteuer (§ 8 I 1 KStG, Rz. 360 ff.) und die Gewerbesteuer (§ 7 Satz 1 GewStG).
4
Gem. § 5b EStG ist in den Fällen der Gewinnermittlung nach §§ 4 I; 5 oder 5a EStG der Inhalt der Bilanz und der GuV nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz durch Datenfernübertragung zu übermitteln (sog. E-Bilanz)2. Nach § 51IV Nr. 1b EStG ist das BMF ermächtigt, den Mindestumfang dieser E-Bilanz zu bestimmen. Die Finanzverwaltung gibt hierbei Taxonomien (Datenschemata für Jahresabschlussdaten) vor3.
5
Die Verpflichtung zur Abgabe einer sog. E-Bilanz nach amtlicher Taxonomie gilt grds. für alle Unternehmen, die ihren Gewinn nach §§ 4 I, 5 oder 5a EStG ermitteln, unabhängig von der Rechtsform und der Größe4. Auch etwaige Sonderbilanzen (anlässlich einer Betriebsveräußerung, Betriebsaufgabe oder in Umwandlungsfällen; Zwischenbilanzen anlässlich eines Gesellschafterwechsels; Liquidationsbilanzen nach § 11 KStG) sind elektronisch zu übermitteln5.
5a
1 BFH BStBl. 1980, 146; 1981, 398. 2 Dazu BMF BStBl. I 2011, 855; 2010, 47; OFD Frankfurt a.M., S 2133b A-2-St 210; Herzig/Briesemeister/Schäperclaus, DB 2011, 2509; Herzig/Briesemeister/Schäperclaus, DB 2011, 1651; Herzig/Briesemeister/Schäperclaus, DB 2011, 1; Meurer, DB 2010, Beil. Standpunkte zu Heft 36, 63; Birk/Mühleis, StuW 2011, 988; Arnold/Schumann, DStZ 2011, 812; Arnold/Schumann, DStZ 2011, 740; Hüttemann, DStZ 2011, 507; Ley, StbJb. 2011/12, 261; Hülshoff, StbJb. 2011/12, 283; Zwirner/Schmid/König, E-Bilanz konkret, 2012; KPMG, E-Bilanz, Erläuterung von Taxonomiepositionen, Umsetzung und Handlungsspielräume, Beispiele zum Mapping, 2012; Ebner/Stolz/Mönning/Bachem, E-Bilanz, 2013; Beste/ Herrmann, NWB 2013, 1836; Zwirner, BB 2014, 242. 3 Abrufbar unter www.esteuer.de. Derzeit aktuell ist die Taxonomie 5.3 v. 2.4.2014. 4 Blümich/Hofmeister, § 5b EStG Rz. 11. 5 Vgl. OFD Frankfurt a.M. v. 7.1.2014, S 2133b A-2-St 210, Tz. 1; a.A. Blümich/Hofmeister, § 5b EStG Rz. 27 m.w.N. zum Streitstand.
Hennrichs
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§9
Rz. 5b
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Der sachliche Anwendungsbereich der neuen Vorschrift erfasst darüber hinaus auch inländische Betriebsstätten ausländischer Unternehmen (in diesen Fällen beschränkt sich die Verpflichtung auf die inländische Betriebsstätte) und BgA von juristischen Personen des öffentlichen Rechts1. Grds. keine Anwendung findet § 5b EStG auf steuerbefreite Körperschaften. Unterhält eine Körperschaft dagegen einen steuerpflichtigen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb (wGB) und überschreiten die Einnahmen oder Gewinne die Grenzen des § 141 AO, so sind die Daten für den wGB wiederum elektronisch zu übertragen2. Dasselbe gilt, wenn zwar die Grenzen des § 141 AO nicht überschritten werden, aber die Einnahmen aus dem steuerpflichtigen wGB über 35000 EUR betragen und die steuerbegünstigte Körperschaft entweder als Formkaufmann (Körperschaften i.S. des § 1 I Nrn. 1-3 KStG) oder nach außersteuerrechtlichen Vorschriften buchführungspflichtig ist oder freiwillig nach handelsrechtlichen Grundsätzen bilanziert3. 5b
Die Vorschriften sind erstmals anzuwenden für Wirtschaftsjahre, die nach dem 31.12.2011 beginnen (vgl. § 52 XVa i.V.m. § 51 IV Nr. 1c EStG; § 1 AnwZpvV). Allerdings wurde der verpflichtende Startzeitpunkt durch eine allgemeine Nichtbeanstandungsregelung seitens der Finanzverwaltung (Billigkeitsregelung) im Ergebnis um ein Jahr verschoben4. Für 2012 bestand damit faktisch noch ein Wahlrecht zur E- oder Papier-Bilanz5. Für Bilanzen aller Wirtschaftsjahre, die nach dem 31.12.2012 beginnen, ist die sog. E-Bilanz nunmehr grds. verpflichtend6. Die Finanzverwaltung zeigt sich für bestimmte Anwendungsfälle, nämlich für Betriebsstätten, steuerbegünstigte Körperschaften und BgA von juristischen Personen des öffentlichen Rechts sowie für Sonder- und Ergänzungsbilanzen und die Kapitalkontenentwicklung bei Personengesellschaften, aber weiterhin großzügig; in diesem Fällen wird es zur Vermeidung unbilliger Härten weiterhin nicht beanstandet, wenn die E-Bilanz erstmals für Wirtschaftsjahre abgegeben wird, die nach dem 31. Dezember 2014 beginnen7.
6
§ 5b EStG ist zwar gesetzessystematisch bei den Gewinnermittlungsvorschriften eingeordnet, der Sache nach handelt es sich jedoch um eine reine Verfahrensvorschrift ohne materiellrechtliche Wirkungen, die § 25 EStG und § 31 Ia KStG ergänzt8. Vordergründig und erklärtes Ziel der Vorschrift ist Bürokratieabbau und Einsatz moderner technischer Mittel9. Die auf den ersten Blick unscheinbare und harmlos wirkende Vorschrift könnte freilich die Ablösung der steuerlichen Gewinnermittlung von der Handelsbilanz beschleunigen10. Die zugrunde gelegten Taxonomien sind naturgemäß steuerlich geprägt. Es könnte auch eine neue „umgekehrte formelle Maßgeblichkeit“ entstehen, also ein Rückschlag der Steuertaxonomien in die Handelsbilanz, denn durch die Definition des Mindestumfangs wirken die Taxonomien auf die inhaltliche, prozessuale und technische Ausgestaltung des Rechnungswesens zurück11. Zudem geht der Mindestumfang der Taxonomien deutlich über die Gliederungsschemata der §§ 266; 275 HGB hinaus. Manche kritisieren die Vorschrift deshalb als „Bürokratiemonster“12. Jedenfalls 1 OFD Frankfurt a.M. v. 7.1.2014, S 2133b A-2-St 210, Tz. 4, 6; Blümich/Hofmeister, § 5b EStG Rz. 10. 2 S. BMF-Schreiben v. 19.12.2013, IV C 6-S 2133-b/11/10009 :004 (mit tabellarischer Übersicht in der Anlage); OFD Frankfurt a.M. v. 7.1.2014, S 2133b A-2-St 210, Tz. 5; Zwirner, BB 2014, 242. 3 S. die tabellarische Übersicht des BMF, Pflicht zur Übermittlung einer E-Bilanz bei steuerbegünstigten Körperschaften, als Anlage zum BMF-Schreiben v. 19.12.2013 (s. Vornote), abrufbar unter http://www.bundesfinanzministerium.de/. 4 BMF BStBl. I 2011, 855, Tz. 27. Dadurch wurden alle Übermittlungspflichtigen pauschal zum Härtefall i.S. des § 5b II EStG erklärt. 5 Herzig, DB 2012, 1 (8). 6 Vgl. BMF BStBl. I 2012, 598; Beste/Herrmann, NWB 2013, 1836 ff. 7 OFD Frankfurt a.M. v. 7.1.2014, S 2133b A-2-St 210, Tz. 7, 20, 22, 26. 8 Herzig/Briesemeister/Schäperclaus, DB 2011, 1 (4). 9 Vgl. BT-Drucks. 16/10188, 13. 10 Schmidt/Weber-Grellet33, § 5b EStG Rz. 1; Herzig/Briesemeister/Schäperclaus, DB 2011, 1 (8): „faktische Zwang, eine standardisierte und differenzierte Steuerbilanz zu erstellen“. 11 Herzig, DB 2012, 1 (8). 12 Arens, BRAK Magazin 2012, 11.
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Hennrichs
Überblick über das System betrieblicher Gewinnermittlung
Rz. 8
§9
erhält die Finanzverwaltung einen umfassenden Datenpool, der weitreichend ausgewertet werden kann (Abgleich und Plausibilisierung)1. Ob § 5b I 1 EStG und § 51 IV Nr. 1b EStG als gesetzliche Grundlagen für die Festlegung des Inhalts der E-Bilanz ausreichen, ist zu bezweifeln2. Letztlich dürfte der Weg hin zu einer E-Bilanz aber nicht aufzuhalten sein.
II. Subjektiver Anwendungsbereich der Gewinnermittlungsarten Der Anwendungsbereich der einzelnen Gewinnermittlungsarten ist mit der Buchführungspflicht verknüpft. § 4 III 1 EStG eröffnet Stpfl., die weder auf Grund gesetzlicher Vorschriften zur Führung von Büchern und regelmäßigen Abschlüssen verpflichtet sind noch freiwillig Bücher führen, ein Wahlrecht zwischen betrieblicher Überschussrechnung und Bestandsvergleich. Wer buchführungspflichtig ist, regeln §§ 140; 141 AO (dazu § 21 Rz. 178 ff.). § 140 AO verweist insb. auf die Buchführungspflicht nach dem HGB. § 238 I 1 HGB verpflichtet Kaufleute (§§ 1–6 HGB) zur Buchführung. Personenhandelsgesellschaften und Kapitalgesellschaften sind als Handelsgesellschaften gem. §§ 6; 238 HGB stets handelsrechtlich zur Buchführung verpflichtet (zu Besonderheiten der Kapitalgesellschaft s. Rz. 500 ff.). Bei Mitunternehmerschaften ist diese als solche Subjekt der Einkünfteerzielung und Gewinnermittlung (§ 10 Rz. 12, 14, 82 ff.). Bilanziert die Gesellschaft, kommt eine isolierte 4-III-Rechnung allein auf Gesellschafterebene daher nicht in Betracht; die Gewinnermittlung erfolgt vielmehr einheitlich nach der von der Gesellschaft angewendeten Gewinnermittlungsmethode (§ 10 Rz. 115)3. Ob insoweit allerdings auch eine nach ausländischem Recht bestehende Buchführungspflicht oder eine tatsächliche Abschlusserstellung nach Maßgabe ausländischen Bilanzrechts das Wahlrecht zur 4-III-Rechnung versagt4, erscheint zweifelhaft.5
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Einzelkaufleute, deren Umsatzerlöse 500 000 Euro bzw. Jahresüberschuss 50 000 Euro an den Abschlussstichtagen von zwei aufeinander folgenden Geschäftsjahren nicht überschreitet, sind nach §§ 241a; 242 IV HGB von der Pflicht zur Buchführung und Aufstellung eines Inventars befreit; bei Neugründung wird auf den ersten Abschlussstichtag abgestellt (§ 241a Satz 2 HGB). Eine Ausdehnung dieser durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz v. 25.5.2009, BGBl. I, 1102, eingeführten Erleichterung auf Personengesellschaften ist vorerst wegen der ungeklärten Auswirkungen auf die gesellschaftsrechtliche Gewinnverteilung unterblieben6. § 141 AO ordnet daneben umsatz- bzw. gewinnabhängig für gewerbliche Unternehmer und Land- und Forstwirte originär steuerrechtliche Buchführungspflichten an. Bisher hatte § 141 AO vor allem für Land- und Forstwirte sowie Kleingewerbetreibende, deren Unternehmen keinen nach Art oder Umfang in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb erfordert (§ 1 II HGB), Bedeutung, weil Kaufleute gem. § 140 AO i.V.m. §§ 1 ff.; 238 I 1 HGB grds. unabhängig von Umsatz- oder Gewinngrenzen buchführungspflichtig waren. Aufgrund des durch das BilMoG eingefügten §§ 241a; 242 IV HGB kommt es jetzt aber für Einzelkaufleute zu einem weitgehenden Gleichlauf mit § 141 AO. Nach § 141 I 1 Nrn. 1, 4 AO wie nach § 241a HGB sind gewerbliche Unternehmer nur dann buchführungspflichtig, wenn der einzelne Betrieb einen Umsatz von 500 000 Euro bzw. einen Gewinn von 50 000 Euro im Kalenderjahr überschreitet. Nachdem die Gewinn- und Umsatzgrenzen für die Buchführungspflicht zunächst einseitig nur in der Abgabenordnung angehoben worden waren (s. dazu 19. Aufl., § 17 Rz. 6), kommt es jetzt durch Übernahme der Grenzen in das HGB zu einer durchgreifenden Vereinfachung für Kleingewerbetrei1 Vgl. auch Herzig/Briesemeister/Schäperclaus, DB 2011, 1 (4), die zu Recht kritisieren, dass der Schluss naheliege, dass die vorgebliche „Nebenbedingung“ des effizienten Steuervollzugs das eigentliche Hauptziel der Regelung sei; s. auch U. Prinz, DStJG 34 (2011), 135 (148 f.). 2 Zutr. Hüttemann, DStZ 2011, 507; Goldshteyn/Purer, StBp. 2011, 185; Ley, StbJb. 2011/12, 261 (277). 3 BFH v. 25.6.2014 – I R 24/13, BFHE 246, 404. 4 So ohne weiteres BFH v. 25.6.2014 – I R 24/13, BFHE 246, 404; ferner Gosch, BFH/PR 2015, 1 (2). 5 Verneinend für § 5 I EStG BFH v. 13.9.1989 – I R 117/87, BStBl. 1990, 57; FG Hessen DStRE 2011, 267 (268); Blümich/Krumm124, § 5 EStG Rz. 138, 147; s. auch Drüen, ISR 2014, 265 ff. m.w.N. 6 Kersting, BB 2008, 790.
Hennrichs
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§9
Rz. 9
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
bende gem. § 15 I 1 Nr. 1 EStG, die zukünftig auch dann das Wahlrecht nach § 4 III EStG für die vereinfachte Gewinnermittlung nutzen können, wenn sie einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb unterhalten. Allerdings stimmen § 241a HGB und § 141 AO nur hinsichtlich der Schwellenwerte überein. Die Ermittlung der Bezugsgrößen Gewinn/Umsatz sowie die relevanten Zeiträume differieren ohne Grund1. Sie wären sinnvollerweise anzugleichen.
9
Selbständige i.S.d. § 18 EStG sind weder nach § 140 AO noch nach § 141 AO buchführungspflichtig. Sie haben folglich ein freies Wahlrecht zwischen Bestandsvergleich nach § 4 I EStG und Überschussrechnung nach § 4 III EStG.
10
Damit ergibt sich folgende personelle Zuordnung betrieblicher Gewinnermittlung: Betriebsvermögensvergleich nach handelsrechtlichen GoB § 5 I EStG
Gewerbetreibende
gesetzlich buchführungspflichtig oder freiwillig buchführend
allgemeiner Betriebsvermögensvergleich gem. § 4 I EStG
Land- und Forstwirte
gesetzlich buchführungspflichtig gem. § 141 AO oder freiwillig buchführend
Selbständige
freiwillig buchführend
(Klein-)Gewerbetreibende
weder gesetzlich (§§ 238; 241a HGB; § 141 AO) buchführungspflichtig noch freiwillig buchführend
Land- und Forstwirte
weder gesetzlich buchführungspflichtig gem. § 141 AO noch freiwillig buchführend
Selbständige
wenn sie nicht freiwillig Bücher führen
wahlweise Überschussrechnung gem. § 4 III EStG
11
Einstweilen frei.
B. Betriebsvermögensvergleich nach §§ 4 I; 5 I EStG Literatur: Doralt (Hrsg.), Probleme des Steuerbilanzrechts, DStJG 14 (1991); Adler/Düring/ Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, Loseblatt; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993; Moxter, Grundsätze ordnungsgemäßer Rechnungslegung, 2003; Moxter, Bilanzrechtsprechung6, 2007; Jakob, Einkommensteuer4, 2008, § 4 B; Schulze-Osterloh/ Hennrichs/Wüstemann (Hrsg.), Hdb. des Jahresabschlusses, Loseblatt; U. Prinz, Arten der Einkünfteermittlung – Bestandsaufnahme – Betriebsvermögensvergleich, DStJG 34 (2011), 135; MünchKomm.BilanzR, 2013; Beck’scher Bilanz-Komm.9, 2014; Prinz/Kanzler (Hrsg.), NWB Praxishdb. Bilanzsteuerrecht2, 2014; Coenenberg/Haller/Schultze, Jahresabschluss und Jahresabschlussanalyse23, 2014; Graf Kanitz, Bilanzkunde für Juristen3, 2014; Weber-Grellet, Bilanzsteuerrecht12, 2014;
I. Grundlagen 1. Gewinn i.S.d. § 4 I 1 EStG 12
§ 4 I 1 EStG, der durch Verweisung auch für die Gewinnermittlung nach § 5 I EStG gilt, bestimmt: „Gewinn ist der Unterschiedsbetrag zwischen dem Betriebsvermögen am Schluss des Wirtschaftsjahres und dem Betriebsvermögen am Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahres, vermehrt um den Wert der Entnahmen und vermindert um den Wert der Einlagen.“ 1 Krit. Müller/Reinke, Stbg. 2008, 336 (339); Kußmaul/Meyering, DB 2008, 1445.
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Hennrichs
Rz. 15
§9
Betriebsvermögen meint Betriebsreinvermögen (= Eigenkapital). Das ist die nach Abzug der Passiva (Schulden) von den Aktiva (Vermögen) verbleibende Größe. Übersteigen die Passiva die Aktiva, ergibt sich kein Betriebsreinvermögen, sondern ein am Ende der Bilanz auf der Aktivseite auszuweisender nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag (§ 268 III HGB; s. auch Rz. 509) oder negatives Kapital. Man spricht auch von „buchmäßiger Überschuldung“.
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Betriebsvermögensvergleich nach §§ 4 I; 5 I EStG
Von der buchmäßigen (rein bilanziellen) Überschuldung abzugrenzen ist eine Überschuldung im insolvenzrechtlichen Sinne (§ 19 II 1 InsO). Bei der Prüfung der insolvenzrechtlichen Überschuldung werden die Vermögenswerte und Schulden zu Zeitwerten bewertet (Verkehrs- oder Liquidationswerte), also unter Berücksichtigung sog. stiller Reserven und etwaiger stiller Lasten. Der handelsrechtliche Jahresabschluss hat wegen des Anschaffungswert- und Realisationsprinzips (§ 253 I 1; § 252 I Nr. 4 HGB) insoweit nur (aber immerhin) indizielle Bedeutung1. Ergibt sich aus der Handelsbilanz ein nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag, kann eine insolvenzrechtliche Überschuldung dennoch zu verneinen sein, wenn in ausreichendem Umfang stille Reserven (z.B. im Grundvermögen oder bei den Finanzanlagen) oder sonstige aus der Bilanz nicht ersichtliche Vermögenswerte vorhanden sind, soweit sie im Liquidationsfalle realisierbar sind2. In der Praxis wird meist ein besonderer sog. Überschuldungsstatus (Überschuldungsbilanz; Sonderbilanz) erstellt. Eine positive sog. Fortführungsprognose schließt die insolvenzrechtliche Überschuldung aus (sog. zweistufiger Überschuldungsbegriff, arg. § 19 II 1 Hs. 2 InsO: „es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich“)3. Von der bilanziellen (und insolvenzrechtlichen) Überschuldung ebenfalls abzugrenzen ist der Begriff der Unterbilanz. Darunter versteht man die Unterdeckung des gezeichneten Kapitals bei Kapitalgesellschaften. Eine Unterbilanz ist schon gegeben, wenn das Vermögen zwar noch die Schulden, aber nicht mehr das gezeichnete Kapital deckt. Dies kann gesellschaftsrechtliche Sanktionen auslösen (s. § 92 I AktG; §§ 30 I 1, 31, 49 III GmbHG).
§ 4 I 1 EStG verlangt den Vergleich zweier Eigenkapitalgrößen, deren Differenz um die Einlagen und Entnahmen (s. Rz. 360 ff.) korrigiert werden muss, weil die Vermögensmehrung durch Einlagen keine durch den Betrieb verursachte (erwirtschaftete) Vermögensmehrung und die Vermögensminderung durch Entnahmen keine durch den Betrieb verursachte Vermögensminderung ist. Bilanz zum 31.12.01 Aktiva = Vermögen 1 000 000
Betriebsreinvermögen = Eigenkapital 400 000 Passiva = Schulden 600 000
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Bilanz zum 13.12.02 Aktiva = Vermögen 1 000 000
Betriebsreinvermögen = Eigenkapital 600 000 Passiva = Schulden 400 000
In dem skizzierten Beispiel ergibt der Vergleich: Das Betriebsreinvermögen hat sich im Laufe des Jahres 01 von 400 000 Euro auf 600 000 Euro vermehrt. Der Gewinn beträgt also 200 000 Euro. Dabei wird unterstellt, dass es keine Entnahmen und keine Einlagen gegeben hat.
§ 4 I 1 EStG spricht nur von „Gewinn“4. Stellt sich beim Betriebsvermögensvergleich zweier Stichtage heraus, dass das Betriebsreinvermögen (der Kapitalüberschuss) sich vermindert oder dass der Kapitalfehlbetrag sich erhöht hat, so handelt es sich um einen Verlust. Hat sich dagegen der Kapitalfehlbetrag von einem auf das andere Jahr vermindert, so ist ein Gewinn erwirtschaftet worden. 1 Vgl. BGH v. 19.11.2013 – I I ZR 229/11, DStR 2014, 219; BGH v. 24.9.2013 – II ZR 39/12, NZG 2013, 1385 (Tz. 28); BGH v. 8.3.2012 – IX ZR 102/11, WM 2012, 665; BGH v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, BGHZ 146, 264 (267 f.). 2 Vgl. Roth/Altmeppen7, Vor § 64 GmbHG Rz. 24 ff., 33 ff., 36. 3 Gem. Art. 18 des Gesetzes v. 5.12.2012 (BGBl. I 2012, 2418) wird Art. 6 Abs. 3 des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes v. 17.10.2008 (BGBl. I 2008, 1982) aufgehoben. Damit gilt der sog. zweistufige Überschuldungsbegriff nunmehr „entfristet“ über den 1.1.2014 hinaus. Zur wechselvollen Geschichte des konkurs- und insolvenzrechtlichen Überschuldungsbegriffs s. K. Schmidt, ZIP 2013, 485 ff. 4 Dagegen spricht § 268 I 1 HGB neutral von Jahresergebnis (= Jahreserfolg) und unterscheidet Jahresüberschuss (= Gewinn) und Jahresfehlbetrag (= Verlust).
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§9
Rz. 16
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
2. Bestandteile des Betriebsvermögensvergleichs 2.1. Bilanz 16
Der Betriebsvermögensvergleich nach §§ 4 I; 5 I EStG – Vergleich zweier Betriebsreinvermögen – setzt voraus, dass das Betriebsreinvermögen am Anfang und am Schluss des Gewinnermittlungszeitraums festgestellt wird. Die Ermittlung des Betriebsreinvermögens oder Eigenkapitals geschieht durch die Bilanz.
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Regulär ist die Bilanz eine Jahresbilanz. Neben den Jahresbilanzen gibt es besondere Bilanzen: die Eröffnungsbilanz am Beginn eines Handelsgewerbes (§ 242 I 1 HGB), Bilanzen für Rumpfwirtschaftsjahre, wenn ein Betrieb eröffnet, erworben, aufgegeben, veräußert oder wenn das Wirtschaftsjahr umgestellt wird (§ 8b EStDV), ferner Bilanzen für besondere Vorgänge1: Umwandlungs-, Verschmelzungs-, Spaltungs-, Auseinandersetzungs-, Liquidations-2, Sanierungs-, Insolvenzund Vergleichsbilanzen.
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Die Bilanz ist eine Vermögensübersicht (s. § 4 II 2 EStG; § 242 I 1 HGB: Übersicht über Vermögen und Schulden). Nach § 246 I 1 HGB muss die Bilanz sämtliche Vermögensgegenstände, Schulden und Rechnungsabgrenzungsposten enthalten (Vollständigkeitsgebot). Für Kapitalgesellschaften sieht § 266 HGB in Abhängigkeit von ihrer Größe (§ 267 HGB) ein verbindliches Gliederungsschema vor. Personenunternehmen sind in der Gliederung grds. frei (s. aber §§ 264a; 264c HGB); die Praxis orientiert sich aber am Schema des § 266 HGB. Demnach weist die Handelsbilanz auf der Aktivseite Vermögensgegenstände, aktive Rechnungsabgrenzungsposten, aktive latente Steuern (s. § 274 HGB) sowie ggf. einen aktiven Unterschiedsbetrag aus der Vermögensverrechnung (§ 246 II 2, 3; § 253 I 4 HGB) und auf der Passivseite neben dem Eigenkapital Rückstellungen, Verbindlichkeiten, passive Rechnungsabgrenzungsposten sowie passive latente Steuern aus (vgl. § 266 II, III HGB). Beispiel einer Bilanzgliederung Aktiva
Passiva
A. Anlagevermögen I.
Immaterielle Vermögensgegenstände
II.
Sachanlagen
A. Eigenkapital
III. Finanzanlagen B. Umlaufvermögen I.
Vorräte
II.
Forderungen und sonstige Vermögensgegenstände
B. Rückstellungen C. Verbindlichkeiten
III. Wertpapiere IV. Kassenbestand C. Rechnungsabgrenzungsposten
D. Rechnungsabgrenzungsposten
Bilanzsumme
Aus der linken Bilanzseite (Aktivseite) lässt sich die Mittelverwendung im Betrieb ablesen. Die rechte Bilanzseite (Passivseite) gibt Aufschluss über die Mittelherkunft. Sie zeigt an, wie die Aktiva finanziert worden sind, ob durch Eigenmittel (Eigenkapital) oder durch Fremdkapital (Schulden). Die Summe beider Seiten der Bilanz muss sich rechnerisch stets entsprechen (Prinzip der Ausgeglichenheit der Bilanz).
1 Dazu Kresse/Leuz (Hrsg.), Sonderbilanzen, 2003; Budde/Förschle/Winkeljohann, Sonderbilanzen. Von der Gründungsbilanz bis zur Liquidationsbilanz4, 2008. 2 Förster/Döring, Liquidationsbilanz4, 2005.
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Hennrichs
Rz. 23
§9
Die Veränderung des Betriebsvermögens (Gewinn oder Verlust) hängt von dem jeweiligen Wertansatz der einzelnen Bilanzposten ab. Dabei sind zwei Ebenen auseinander zu halten. Zunächst stellt sich die Frage, was als Vermögensgegenstand (Wirtschaftsgut, WG) in der Bilanz zu aktivieren oder zu passivieren ist (Ob der Bilanzierung; Ansatz). Sodann ist zu klären, wie ein zu bilanzierender Vermögensgegenstand (WG) zu bewerten ist (Wie der Bilanzierung; Bewertung).
19
Bestandteile des Betriebsvermögensvergleichs
I.E. sind folgende Fragen zu beantworten: (1) Was ist von wem als Vermögensgegenstand (WG) des Betriebsvermögens in der Bilanz anzusetzen? (2) Wie sind die Vermögensgegenstände (WG) zu bewerten?
2.2 Gewinn- und Verlustrechnung § 242 HGB schreibt vor, dass der Kaufmann für den Schluss eines jeden Geschäftsjahres neben der Bilanz (§ 242 I HGB) eine Gewinn- und Verlustrechnung, d.h. eine Gegenüberstellung der Erträge und Aufwendungen (§ 242 II HGB) aufzustellen hat, soweit er die Umsatz-/Gewinngrenze des § 241a HGB überschreitet (§ 242 IV HGB).
20
Da Erträge die betrieblich veranlassten Betriebsvermögensmehrungen sind, Aufwendungen die betrieblich veranlassten Betriebsvermögensminderungen (Rz. 24), muss der Vergleich von Erträgen und Aufwendungen in der Gewinn- und Verlustrechnung zu dem gleichen Ergebnis führen wie der bilanzielle Betriebsvermögensvergleich. Ist die Summe aller Ertragsposten des Jahres höher als die Summe aller Aufwandsposten, so ergibt sich ein Gewinn. Ist die Summe aller Aufwandsposten des Jahres höher als die Summe aller Ertragsposten, so ergibt sich ein Verlust. Die Gewinn- und Verlustrechnung zeigt die Ursachen des Ergebnisses.
3. Technik der Bilanzierung und doppelten Buchführung1 a) Inventar: Die Bilanz ist aus dem Inventar zu entwickeln. Zu Beginn seines Handelsgewerbes und für den Schluss eines jeden Geschäftsjahres hat der Kaufmann ein Inventar (§ 240 I, II HGB) sowie eine Bilanz (§ 242 I HGB) aufzustellen. Das Inventar enthält alle zum Betrieb gehörenden Vermögensgegenstände (Wirtschaftsgüter) mit genauer Bezeichnung und Wertangabe. Es wird durch Bestandsaufnahme der körperlichen und unkörperlichen Vermögensgegenstände und Schulden (Inventur) ermittelt („zählen, wiegen, messen“). Das Inventar ist Grundlage für die Erstellung der Eröffnungsbilanz bei Beginn des Handelsgewerbes.
21
b) Veränderung der Bilanz durch Geschäftsvorfälle: Die Bilanz ist im Prinzip statisch angelegt. Sie ist eine Momentaufnahme des am Bilanzstichtag vorhandenen Vermögens. Zwischen den Bilanzstichtagen verändern sich die einzelnen Bilanzposten jedoch auf Grund einzelner Geschäftsvorfälle. Sie werden in der laufenden Buchführung festgehalten. Zu unterscheiden sind vermögenswirksame Geschäftsvorfälle, die das Betriebsvermögen verändern, und vermögensneutrale Geschäftsvorfälle.
22
Vermögensneutrale Geschäftsvorfälle führen lediglich zu einer Umschichtung des Betriebsvermögens und wirken sich nicht auf die (Residual-)Größe Eigenkapital aus.
23
Je nachdem, welche Seiten der Bilanz angesprochen werden, unterscheidet man: – Aktivtausch: Zu- und Abnahme auf der Aktivseite (z.B. Kaufmann schafft mit Eigenmitteln ein Grundstück an; „Grundstück an Kasse“); – Passivtausch: Zu- und Abnahme auf der Passivseite (z.B. Kaufmann schuldet um und löst ein Darlehen durch ein anderes ab); 1 Zur Technik der doppelten Buchführung s. z.B. Horschitz/Groß/Fanck/Kirschbaum, Bilanzsteuerrecht und Buchführung13, Teil B; Weber-Grellet, Bilanzsteuerrecht12, Rz. 94 ff.; Wuttke/Weidner/Fanck, Buchführungstechnik und Bilanzsteuerrecht16; ferner anschauliches Bsp. eines Buchungskreislaufs bei Jakob, Einkommensteuerrecht4, Rz. 644 ff.
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§9
Rz. 24
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
– Aktiv-/Passivtausch: Aktiv- und Passivposten erhöhen bzw. vermindern sich in gleichem Umfang (z.B. Kaufmann schafft ein Grundstück auf Kredit an; bezahlt eine Verbindlichkeit aus der Kasse). Der Aktiv-/Passivtausch führt zwar zu einer Veränderung der Bilanzsumme (Wert aller Aktiva), hat aber keine Auswirkungen auf das Eigenkapital. In allen drei Fällen entsprechen sich Zu- und Abnahme wertmäßig.
24
Vermögenswirksame Geschäftsvorfälle verändern das Eigenkapital. Sie sind weiter zu unterscheiden in ergebniswirksame und ergebnisneutrale Vorfälle. aa) Ergebnisneutral sind Einlagen und Entnahmen (Rz. 360 ff.). Sie erhöhen bzw. mindern das Eigenkapital, sind jedoch privat veranlasst und dürfen deshalb das wirtschaftliche Ergebnis einer Periode (Gewinn/Verlust) nicht beeinflussen. Daher ordnet § 4 I 1 EStG für die Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich die Hinzurechnung von Entnahmen und den Abzug von Einlagen an. bb) Ergebniswirksame Wertzugänge einer Periode, die nicht Einlagen sind, bezeichnet man als Erträge; Wertabgänge, die nicht Entnahmen sind, bezeichnet man als Aufwendungen. Gewinn lässt sich danach auch definieren als der Unterschied zwischen Erträgen und Aufwendungen einer Periode (eines Wirtschaftsjahres). Beispiel: Der Kaufmann zahlt Löhne; erhält Lizenzgebühren für die Einräumung der Nutzungsbefugnis an einem Patent.
25
c) Doppelte Buchführung: Aus Gründen der Praktikabilität werden die einzelnen Geschäftsvorfälle während des Geschäftsjahres nicht in der Bilanz verbucht, sondern im Wege der Kontentechnik (Buchführung) erfasst. Dazu wird die Eröffnungs-/Anfangsbilanz in aktive und passive Bestandskonten aufgelöst und für jeden Bilanzposten ein eigenes Konto in T-Form (sog. T-Konto) eingerichtet. Der jeweilige Wertansatz des Bilanzpostens geht dabei als Anfangsbestand auf dieselbe Seite des Kontos ein, auf dem der Wert in der Bilanz steht, d.h. die Aktivseite der Bilanz geht in die (linke) Sollseite der aktiven Bestandskonten ein, die Passivseite der Bilanz in die (rechte) Habenseite der passiven Bestandskonten. Neben den Bestandskonten werden Erfolgskonten geführt, auf denen Ertrag und Aufwand gebucht werden. Erst beim Jahresabschluss werden die einzelnen Konten über das Schlussbilanzkonto wieder zur Bilanz zusammengeführt. Beispiel: Aktiva
Anfangsbilanz
Passiva
Grundstücke Waren Kasse
100 000 Eigenkapital 30 000 Verbindlichkeiten 50 000
Bilanzsumme
180 000
S
Grundstücke
H
S
50 000 130 000 180 000 Eigenkapital
100 000 S
H 50 000
Waren
H
30 000
S
Verbindlichkeiten
H 130 000
S
Kasse
H
50 000
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Das (Eigen-)Kapitalkonto ist kein Bestandskonto, sondern ein Erfolgskonto, da es bei den erfolgswirksamen Geschäftsvorfällen die Gegenbuchung aufnimmt. Auf Grund der Vielzahl erfolgswirksamer Geschäftsvorfälle, wird das Eigenkapitalkonto weiter unterteilt in Aufwands492
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Hennrichs
Bestandteile des Betriebsvermögensvergleichs
Rz. 30
§9
konten (z.B. Gehälter, Fertigungskosten, Mietaufwendungen) und Ertragskonten (z.B. Verkaufserlöse, Mieterträge). Während des Jahres wird nur auf diesen Unterkonten gebucht. Das Kapitalkonto ruht und wird erst wieder beim Jahresabschluss angesprochen, indem es über ein Gewinn- und Verlustkonto abgeschlossen wird. Weitere Unterkonten des Eigenkapitalkontos sind die sog. Privatkonten, auf denen Entnahmen und Einlagen verbucht werden, die sich ebenfalls auf die Höhe des Eigenkapitals auswirken, nicht aber auf den Erfolg (Rz. 24). Neben reinen Bestands- und reinen Erfolgskonten gibt es sog. gemischte Konten. Sie dienen der Vereinfachung, indem sie unterjährig als Bestandskonten geführt werden, d.h. ohne Berücksichtigung einer Gewinnauswirkung. So werden auf dem Warenkonto Zugänge mit Einkaufspreisen, Abgänge mit Verkaufspreisen gebucht. Die Gewinnauswirkung aus der Differenz zwischen Verkaufs- und Einkaufspreis wird erst beim Jahresabschluss ermittelt, indem der Bestand zum Jahresende durch Inventur festgestellt und ein entsprechender Ertrag/Aufwand gebucht wird.
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Jeder Geschäftsvorfall wird doppelt verbucht, berührt also mindestens zwei Konten („keine Buchung ohne Gegenbuchung“). Auf diese Weise wird die Ausgeglichenheit der Bilanz sichergestellt. Hierzu wird ein Buchungssatz gebildet, der stets ein Konto auf der Sollseite und ein Konto auf der Habenseite ansprechen muss. Begonnen wird mit dem Konto, dessen Sollseite angesprochen wird. Auf Aktivkonten werden Zugänge im Soll, Abgänge im Haben, auf Passivkonten Zugänge im Haben, Abgänge im Soll gebucht.
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Beispiel für Buchungen auf Bestandskonten: Der Kaufmann schafft ein Grundstück zum Kaufpreis von 100 000 Euro (1.) mit Eigenmitteln, (2.) durch Aufnahme eines Bankdarlehens an: (1.) per Grundstück (Zugang) an Bankkonto (Abgang)
100 000
(2.) per Grundstück (Zugang) an Verbindlichkeiten (Zugang)
100 000
Der Kaufmann tilgt eine Lieferantenverbindlichkeit in Höhe von 500 Euro (1.) mit Barmitteln, (2.) durch Aufnahme eines Kredits: (1.) per Lieferantenverbindlichkeiten (Abgang) an Kasse (Abgang)
500
(2.) per Lieferantenverbindlichkeiten (Abgang) an Bankdarlehen (Zugang)
500
Ein Geschäftsvorfall kann mehrere Konten berühren. Die Summe der Soll- und Haben-Buchungen muss sich wiederum entsprechen. Beispiel: Der Kaufmann entnimmt einen Pkw (Buchwert: 10 000; Teilwert: 15 000 Euro): per Privatentnahme 15 000
an Ertrag
5 000
an Fuhrpark
10 000
d) Beim Jahresabschluss werden zunächst die Endbestände der einzelnen Bestands- und Erfolgskonten ermittelt. Die Bestandskonten werden unmittelbar in das Schlussbilanzkonto, die Erfolgskonten (Ertrags- und Aufwandskonten) zunächst in das Gewinn- und Verlustkonto und sodann in das Schlussbilanzkonto gebucht. Das Schlussbilanzkonto entspricht der Schlussbilanz.
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Bevor die Konten endgültig abgeschlossen werden können, müssen eine Reihe vorbereitender Buchungen vorgenommen werden. Auf diese Weise werden Veränderungen des Betriebsvermögens erfasst, denen keine Geschäftsvorfälle zugrunde liegen. Hier werden u.a. Abschreibungen (per Aufwand an Anlagevermögen), Rückstellungen (per Aufwand an Rückstellung) und Rechnungsabgrenzungen (per aktive Rechnungsabgrenzungsposten an Aufwand bzw. per Ertrag an passive Rechnungsabgrenzungsposten) gebucht. Zudem werden gemischte Konten und Bestandskonten den durch Inventur ermittelten tatsächlichen Endbeständen angepasst und in Höhe der Differenz als Aufwand bzw. Ertrag gebucht.
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Hennrichs
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§9
Rz. 31
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Der Jahresabschluss besteht aus Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung (§ 242 III HGB). Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung sind der Steuererklärung beizufügen (§ 60 EStDV). Zur elektronischen Übermittlung (sog. E-Bilanz) Rz. 5 f.
II. Bilanzberichtigung und Bilanzänderung; steuerbilanzieller Fehlerbegriff Literatur: R 4.4 EStR; von Beckerath, DStJG 14 (1991), 65; Simon/Göhring, Bilanzberichtigungen7, 2001; U. Prinz, StbJb. 2007/2008, 203; U. Prinz, DB 2010, 2634; U. Prinz, DB 2011, 2162; Stapperfend, Bilanzberichtigung und Bindung der Finanzverwaltung an die eingereichte Bilanz – Subjektiver Fehlerbegriff auf dem Prüfstand, 2010; Stapperfend, DStR 2010, 2161; NWB Praxishdb. BilStR/Kanzler2, Rz. 1118 ff.
31
§ 4 II 1 Hs. 1 EStG erlaubt (Wahlrecht) dem Stpfl. auch noch nach Einreichung beim Finanzamt eine Bilanzberichtigung, wenn die Bilanz den GoB oder den steuerbilanziellen Vorschriften nicht entspricht (fehlerhafte Bilanz). Demgegenüber wird bei der Bilanzänderung i.S.v. § 4 II 2 EStG ein zulässiger, richtiger Bilanzansatz durch einen anderen ebenfalls zulässigen Bilanzansatz ersetzt.
32
Wann ein Bilanzansatz „falsch“ ist, also die Bilanz einen „Fehler“ aufweist, ist i.E. unsicher und umstritten. Bei der Bilanzierung sind vielfach auf der Tatbestandsebene Einschätzungen und Prognosen erforderlich (z.B. für den Ansatz und die Bewertung von Rückstellungen, bei der Bemessung der Nutzungsdauer für die Vornahme der AfA, bei der Beurteilung von Teilwertabschreibungen usw.). In solchen Fällen gibt es in aller Regel keine einzig „richtige“ Einschätzung oder Prognose, sondern nur eine Bandbreite von vertretbaren Annahmen. Darüber hinaus ist das anzuwendende (Steuer-)Bilanzrecht oft unklar und auslegungsbedürftig. Soll in solchen Fällen eine (Steuer-)Bilanz als „falsch“ beurteilt werden, wenn der Stpfl. zwar einen vertretbaren Rechtsstandpunkt eingenommen, ja sich vielleicht an einer bisher „h.M.“ oder „st. Rspr.“ orientiert hat, ein Finanzgericht später aber zu „besserer Rechtserkenntnis“ gelangt?
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Im Handels- und Gesellschaftsrecht entspricht es der herrschenden Auffassung, dass eine Bilanz nur dann als „fehlerhaft“ zu beurteilen ist, wenn der Bilanzansatz objektiv gegen Bilanzierungsvorschriften verstößt und der Kaufmann dies nach den im Zeitpunkt der Bilanzfeststellung bestehenden Erkenntnismöglichkeiten bei pflichtgemäßer und gewissenhafter Prüfung auch hätte erkennen können (sog. normativ-subjektiver Fehlerbegriff)1. Danach ist eine Bilanz nicht fehlerhaft, wenn sie zwar objektiv und aus der Rückschau betrachtet nicht den bestehenden Verhältnissen oder Rechtsvorschriften entspricht, aber ein pflichtgemäß und gewissenhaft handelnder Kaufmann im Zeitpunkt der Feststellung der Bilanz nach den ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten von der Richtigkeit des Bilanzansatzes ausgehen durfte, also die Fehleinschätzung oder den Gesetzesverstoß auch bei pflichtgemäßer und gewissenhafter Prüfung nicht erkennen konnte. Hinter dieser handelsrechtlichen Auffassung steht die prinzipiell überzeugende Überlegung, dass mehr als eine abgewogene Berücksichtigung aller im Zeitpunkt der Bilanzerstellung bei pflichtgemäßer und gewissenhafter Prüfung erkennbaren Tatumstände und rechtlichen Gesichtspunkte von dem Kaufmann redlicherweise nicht verlangt werden kann. Der sorgfältig handelnde Kaufmann soll vor Sanktionen wegen „Falschbilanzie-
1 Vgl. IDW RS HFA 6, Tz. 14; IDW-FN 2013, 356 (359); Adler/Düring/Schmaltz6, § 172 AktG Rz. 43; Balthasar, Die Bestandskraft handelsrechtlicher Jahresabschlüsse, 1999, 129 ff.; Bezzenberger in Großkomm. AktG4, § 256 AktG Rz. 42 ff.; Beck’scher Bilanz-Komm./W. Schubert9, § 253 HGB Rz. 805; Baumbach/Hueck/Haas20, § 42a GmbHG Rz. 22; Hennrichs, NZG 2013, 681; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm. AktG3, § 172 AktG Rz. 76 ff.; Kaiser, Berichtigung und Änderung des handelsrechtlichen Jahresabschlusses, 2000, 71 ff.; W. Müller, FS Quack, 1991, 359 (366 f.); U. Prinz, FS W. Müller, 2001, 687 (690, 693); U. Prinz, StbJb. 2007/2008, 203 (207); Schön in Canaris u.a. (Hrsg.), 50 Jahre BGH II, 2000, 153 (155 f.); a.A. Schulze-Osterloh, BB 2013, 1131 (1132).
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rung“ geschützt werden, wenn die „Falschbilanzierung“ sich erst aus späterer besserer Tatsachen- oder Rechtserkenntnis ergibt1. Der normativ-subjektive Fehlerbegriff bezieht sich handelsrechtlich (und nach der früheren Rspr. des BFH auch steuerbilanzrechtlich, dazu aber sogleich Rz. 35 f.) nicht nur auf tatsächliche Umstände, sondern auch auf bilanzielle Rechtsfragen2. Auch spätere bessere Rechtserkenntnis, etwa eine Änderung der bisherigen Rspr.3 oder eine erstmalige höchstrichterliche Entscheidung einer bisher nicht geklärten Rechtsfrage4, macht die frühere Bilanz daher handelsund gesellschaftsrechtlich nicht „im Rechtssinne fehlerhaft“, wenn die Rechtsansicht des Kaufmanns zu der Bilanzierungsfrage vertretbar war. Eine zeit- und kostenaufwändige rückwärtige Korrektur des alten Abschlusses kann folglich unterbleiben. Es genügt, die objektive Rechtslage in laufender Rechnung zu berücksichtigen (soweit sich der Fehler überhaupt noch im offenen Abschluss auswirkt)5. Aufgrund des formellen Bilanzzusammenhangs ergibt sich automatisch ein Ausgleich und damit bezogen auf die Gesamtperiode das richtige Gesamtergebnis. Dieser normativ-subjektive Fehlerbegriff war lange auch für die Steuerbilanz anerkannt, er wurde sogar maßgeblich durch die Rspr. des BFH entwickelt6. In der Tat sollte man eigentlich meinen, dass der bilanzielle Fehlerbegriff aufgrund des Maßgeblichkeitsgrundsatzes (§ 5 I 1 EStG) für die Handels- und Steuerbilanz identisch sein müsste7 (s. aber sogleich Rz. 35 ff.). Konsequent zu Ende gedacht führte der normativ-subjektive Fehlerbegriff freilich dazu, dass auch die Finanzbehörden im Rahmen der Steuerfestsetzung an die vom Stpfl. zulässigerweise gebildeten, nicht fehlerhaften Bilanzansätze gebunden wären, d.h. eine subjektiv-richtige Bilanz wäre auch im Verhältnis zur Finanzverwaltung „änderungsfest“ („Änderungssperre“)8. Insb. die zuletzt beschriebene Konsequenz war freilich stets umstritten9. Auf Vorlage des I. Senats des BFH10 hat der Große Senat des BFH (GrS 1/1011) nun die Reichweite des normativ1 Vgl. Schön in Canaris u.a. (Hrsg.), 50 Jahre BGH II, 2000, 153 (157). – Dieser weit gefasste normativsubjektive Fehlerbegriff wird auch bei der Abschlussprüfung und Bilanzkontrolle angewendet. So entspricht es der Praxis der Abschlussprüfung, bei offenen/umstrittenen Auslegungsfragen lediglich eine Vertretbarkeitskontrolle vorzunehmen. Gelangt der Abschlussprüfer zu der Überzeugung, dass die Rechtsauffassung des Unternehmens zumindest vertretbar ist, werden keine Einwendungen gegen die Rechnungslegung erhoben (z.B. WP-Hdb. I, 2012, Q 476; Adler/Düring/Schmaltz6, § 322 HGB Rz. 225). Ebenso verfährt zu Recht die Praxis der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung bei der Bilanzkontrolle nach den §§ 342b ff. HGB (Berger, FS Knorr, 2008, 489 [506 f.]); Hennrichs, DStR 2009, 1446 [1448]; Mayer-Wegelin, BB-Special 4/2006, 8 [11 f.]; Scheffler, BB-Special 4/2006, 2 [3]). 2 So explizit namentlich Schön in Canaris u.a. (Hrsg.), 50 Jahre BGH II, 2000, 153 (155 f.); vgl. auch Hennrichs, DStR 2009, 1446 (1448); für die Steuerbilanz ebenso Rödder/Hageböke, Ubg. 2008, 401 (404). 3 Dazu BFH BStBl. 1993, 392. 4 Dazu BFH BStBl. 2006, 688; 2007, 818. 5 Vgl. BFH BStBl. 1993, 392. 6 BFH BStBl. 2006, 688; 2007, 818; aus der steuerbilanzrechtlichen Literatur z.B. Schoor, DStZ 2007, 274; Rätke, StuB 2008, 760; Kohlhaas, GmbHR 2008, 1084; M. Prinz, FR 2009, 377; U. Prinz/Schulz, DStR 2007, 776; Herzig/Nitzschke, DB 2007, 304; Schulze-Osterloh, BB 2007, 2335; Werra/Rieß, DB 2007, 2502; HHR/Stapperfend, § 4 EStG Anm. 411; U. Prinz, StbJb. 2011/12, 241 ff. 7 So Schulze-Osterloh, BB 2007, 2335 (2336). S. auch U. Prinz, StbJb. 2007/2008, 203 (207). 8 BFH v. 5.6.2007 –I R 47/06, BStBl. 2007, 818; insoweit bestätigt durch BFH v. 7.4.2010 – I R 77/08, BStBl. 2010, 739 (Tz. 43, juris); Rödder/Hageböke, Ubg. 2008, 401 (404); dies., Ubg. 2014, 13; Langer, DStR 2008, 2230. 9 Krit. namentlich Hey in 20. Aufl., § 17 Rz. 37; Herzig/Nitzschke, DB 2007, 304 (307); Stapperfend, DStR 2010, 2161; U. Prinz, StbJb. 2011/12, 241 (256). 10 BFH v. 7.4.2010 – I R 77/08, BStBl. 2010, 739. Dazu U. Prinz, DB 2010, 2634; U. Prinz, DB 2011, 2162; U. Prinz, StbJb. 2011/12, 241 (251 ff.); M. Prinz, FR 2010, 803; Günkel, StbJb. 2010/11, 263; von Beckerath, FR 2011, 349; W.-D. Hoffmann, DStR 2011, 88; Gosch, BFH/PR 2010, 282; Stapperfend, DStR 2010, 2161. 11 BFH v. 31.1.2013 – GrS 1/10, BFHE 240, 162 = BStBl. 2013, 317. Schlussentscheidung des I. Senats daraufhin: BFH v. 15.5.2013 – I R 77/08, BStBl. 2013, 730; zust. Blümich/Wied123, § 4 EStG Rz. 984 f.; Blümich/Krumm123, § 5 EStG Rz. 219; Schulze-Osterloh, BB 2013, 1131. – Zur Entscheidung des Großen Senats außerdem namentlich: Oser, DB 2013, 2466; Weber-Grellet, DStR 2013, 729; ders., KSzW 2013, 311; Drüen, GmbHR 2013, 505; Hennrichs, NZG 2013, 681; U. Prinz,
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subjektiven Fehlerbegriffs für die Steuerbilanz1 deutlich eingeschränkt: Jedenfalls für bilanzrechtliche Rechtsfragen soll ausschließlich die objektive Rechtslage, wie sie von den Gerichten erkannt wird, maßgeblich sein. Namentlich sei das Finanzamt im Rahmen der steuerrechtlichen Gewinnermittlung nicht an die rechtliche Beurteilung des Stpfl. gebunden, und zwar selbst dann nicht, wenn diese Beurteilung aus der Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung vertretbar war oder er sich sogar an einer in diesem Zeitpunkt von Verwaltung und Rspr. praktizierten Rechtsauffassung orientiert hat, diese aber später geändert wird. Aus dem GG (nämlich aus dem Gleichheitssatz des Art. 3 I GG, dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III, 28 I 1 GG und für Gerichte ergänzend aus Art. 97 I GG) ergebe sich, dass Verwaltung und Gerichte verpflichtet seien, ihrer Entscheidung die objektiv richtige Rechtslage zugrunde zu legen. Für die Besteuerung sei generell die objektive Rechtslage maßgebend. Das gelte für alle bilanziellen Rechtsfragen. Das Finanzamt sei verpflichtet, die Gewinnermittlung ausschließlich auf der Grundlage des für den Bilanzstichtag objektiv geltenden Rechts ohne Rücksicht auf Rechtsansichten des Stpfl. zu prüfen und ggf. zu korrigieren. Entsprechen Bilanzansätze objektiv nicht den jeweils maßgebenden speziellen steuerbilanzrechtlichen Vorschriften oder den handelsrechtlichen GoB, sei das Finanzamt zu einer eigenständigen Gewinnermittlung berechtigt und verpflichtet, und zwar unabhängig von einem Recht oder einer Pflicht des Stpfl. zur Berichtigung der Bilanz gem. § 4 II 1 EStG. Ob die subjektive Komponente des Fehlerbegriffs künftig zumindest noch bezogen auf Tatumstände (z.B. Schätzung der Nutzungsdauer bei Abschreibungen, Einschätzung der Rückstellungswahrscheinlichkeit usw.) anzuwenden sei, ließ der Große Senat ausdrücklich offen (dazu Rz. 36b). 36
Für die Praxis hat dies weitreichende Konsequenzen. Die eingereichte Steuerbilanz ist hiernach ein bloßer Zahlen- und Wortbericht ohne rechtliche Bindungswirkung gegenüber dem Finanzamt2. Die Steuerbilanz hat verfahrensrechtlich reine Erklärungsfunktion, sie erläutert den Gewinn, den der Stpfl. im Rahmen der Steuererklärung angegeben hat3. Sie ist für die Veranlagung nur ein Hilfsmittel zur Feststellung der Bemessungsrundlage. Die „richtige“ Steuerfestsetzung ist von dem „richtigen“ Bilanzansatz entkoppelt4. Die Finanzverwaltung ist hinsichtlich bilanzieller Rechtsfragen, die der vom Stpfl. eingereichten Bilanz und deren einzelnen Ansätzen zugrunde liegen, in keiner Weise gebunden, sondern zu einer eigenständigen Richtigkeitsbeurteilung berechtigt und verpflichtet und kann ihre Auffassung von der „objektiv richtigen“ Gesetzesauslegung streitig stellen. Die Steuerbilanz ist danach selbst dann fehlerhaft und die steuerliche Gewinnermittlung wird bei der Veranlagung vom Finanzamt entsprechend korrigiert, wenn der Stpfl. sich bei ihrer Erstellung an der bisherigen st. Rspr. orientiert hat, diese aber später geändert wird. Die Finanzverwaltung kann in allen verfahrensrechtlich noch offenen Fällen, wenn also die entsprechenden Steuerbescheide verfahrensrechtlich noch zu ändern sind5, eine spätere „bessere Rechtserkenntnis“ aufgreifen. Der Schutz des Stpfl. vor einer nachteiligen Rechtsprechungsänderung ist nicht mehr bilanzrechtlich über den subjektiven Fehlerbegriff, sondern nur noch verfahrensrechtlich über § 176 AO zu verwirklichen6. Andererseits kann auch der Stpfl. eine für ihn günstige Änderung der Rspr. ebenfalls nachträglich durch ent-
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WPg. 2013, 650; Rogall/Curdt, Ubg 2013, 345; Schlotter, FR 2013, 835; ders., Ubg. 2014, 22; Rödder/ Hageböke, Ubg. 2014, 13. Ob die Grundsätze der Entscheidung des Großen Senats des BFH auch Bedeutung für das Handelsrecht haben, ist umstr. (befürwortend Schulze-Osterloh, BB 2013, 1131 [1132 f.]), richtigerweise aber zu verneinen (so zu Recht der HFA des IDW auf seiner 232. Sitzung, s. IDW-FN 2013, 356 [359]; ferner Hennrichs, NZG 2013, 681 [686 f.]; ders., NZG 2014, 1001 [1004]; U. Prinz, WPg. 2013, 650 [655 f.]). Hennrichs, NZG 2013, 681 (684); Schlotter, FR 2013, 835 (837 f.); ders., Ubg. 2014, 22 (23). Schlotter, FR 2013, 835 (837 f.). Schlotter, FR 2013, 835 (839). Rogall/Curdt, Ubg. 2013, 345 (350 ff.). Rogall/Curdt, Ubg. 2013, 345 (351 ff.); Schlotter, FR 2013, 835 (839 f.). – Interessanterweise ist die Entscheidung des Großen Senats gegenüber der bisherigen Rspr. des I. Senats (bei Rz. 34) selbst eine Änderung der Rechtsprechung i.S. des § 176 I 1 Nr. 3 AO. Darauf gestützt wollen Rödder/Hageböke, Ubg. 2014, 13 ff., für BP-Altfälle (vor Veröffentlichung des Beschlusses des Großen Senats des BFH) einen Vertrauensschutz durch Fortgeltung der bisherigen Rechtsprechungsgrundsätze des
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sprechende Änderung seiner Erklärung aufgreifen1. Die zeitlichen Grenzen ergeben sich hierbei wiederum aus dem Verfahrensrecht. Namentlich kann der Stpfl. auch noch im Einspruchs- oder Finanzgerichtsverfahren eine spätere „bessere Rechtserkenntnis“ nachschieben2. Die Entscheidung des Großen Senats des BFH (GrS 1/10) hat überwiegend Zustimmung3, teilweise aber auch Kritik erfahren4. Vor allem die genannte Konsequenz, wonach die Steuerbilanz selbst dann fehlerhaft sein soll, wenn der Stpfl. sich an einer früher st. Rspr. orientiert hat, die nachträglich geändert wird, ist aus Gründen des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes wenig sachgerecht. Von dem Stpfl. kann doch vernünftigerweise keinesfalls eine bessere Rechtseinsicht erwartet und verlangt werden als von einem mit mehreren Rechtskundigen besetzten Kollegialgericht. Die vernünftige Überlegung, dass dem Bilanzierenden kein Vorwurf gemacht werden kann, wenn er alles ihm Mögliche gewissenhaft und sorgfältig getan hat, trifft gleichermaßen auf die Einschätzung von Tatumständen wie auf die Beurteilung von Rechtsfragen zu5. Ob die verfahrensrechtlichen Vorschriften ausreichen, einen angemessenen Vertrauensschutz zu gewährleisten (s. § 176 I 1 Nr. 3 AO; ferner die Billigkeitsmaßnahmen gem. §§ 163, 227 AO)6, mag man bezweifeln. Zudem gleicht ein „Fehler“, der zwar nicht rückwirkend, aber in laufender Rechnung berücksichtigt wird, sich aufgrund der Zweischneidigkeit der Bilanz in den Folgejahren automatisch aus (s. auch Rz. 38 f.). Damit ist gewährleistet, dass das steuerbilanzielle Ergebnis über die Totalperiode betrachtet richtig ist. Wenn der Große Senat dem entgegenhält, entscheidend sei die richtige Steuerfestsetzung im jeweiligen Veranlagungszeitraum, nicht über die Totalperiode, so liegt darin ein bemerkenswerter Widerspruch zur genau entgegengesetzten Argumentation des BVerfG in der umstr. Entscheidung zu den Jubiläumsrückstellungen7.
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Vom Großen Senat ausdrücklich offengelassen wurde die Frage, ob für die Beurteilung von 36b Sachverhaltsfragen ebenfalls allein eine objektive Betrachtung maßgebend sein soll. Dies wird in der Literatur in der Tat befürwortet8. Die Feststellung des der Besteuerung zugrunde zu legenden Sachverhalts sei Sache der Finanzbehörden (§ 88 AO) und nicht der subjektiven Einschätzung des Stpfl. Richtigerweise ist insoweit aber weiterhin eine normativ-subjektive Betrachtung berechtigt9. Bei Prognosen und tatsächlichen Einschätzungen gibt es kein einzig und allein „richtig“ oder „falsch“. In diesen Fällen liegt vielmehr ein Beurteilungsspielraum in der Natur der Sache. Die Frage kann daher nur sein, wer von Gesetzes wegen berufen ist, diesen Beurteilungsspielraum auszuüben. Das ist nach der auch für die Steuerbilanz maßgeblichen Konzeption des § 252 I Nr. 4 HGB (i.V.m. § 5 I 1 EStG) der Stpfl.10 Das ist vernünftig, weil der Stpfl. am nächsten dran ist am wirtschaftlichen Geschehen. Dem Stpfl. bei tatsächlichen Einschätzungen und Prognosen einen Beurteilungsspielraum einzuräumen bedeutet auch kei-
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I. Senats gewähren und für solche Altfälle weiterhin eine „Änderungssperre“ der Finanzverwaltung annehmen, wenn die Steuerbilanz zumindest „subjektiv richtig“ war (zust. Schlotter, Ubg. 2014, 22 Fn. 5). Zutr. Rogall/Curdt, Ubg. 2013, 345 (350, 353); Schlotter, FR 2013, 835 (842). Schlotter, FR 2013, 835 (842). Hoffmann, StB 2013, 277; ders., DB 2013, 733; Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 219; U. Prinz, WPg. 2013, 650; Schlotter, FR 2013, 835 (836 f.); Schulze-Osterloh, BB 2013, 1131; Weber-Grellet, DStR 2013, 729; ders., KSzW 2013, 311; Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 984 f.; Schulze-Osterloh, BB 2013, 1131. Drüen, GmbHR 2013, 505; Hennrichs, NZG 2013, 681. Ebenso Schön in Canaris u.a. (Hrsg.), 50 Jahre BGH II, 2000, 153 (156); a.A. U. Prinz, DB 2011, 2162; U. Prinz, StbJb. 2011/12, 241 (256). Dazu weiterführend Schlotter, FR 2013, 835 (836 ff.); ferner Rogall/Curdt, Ubg. 2013, 345 (350 ff.). BVerfGE 123. 111. Dazu Rz. 50,104 und 189. Weber-Grellet, DStR 2013, 729 (732 f.); ihm folgend Herrfurth, StuB 2014, 123 (126); wohl ebenfalls Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 985; a.A. OFD Niedersachsen v. 29.7.2014, BeckVerw 288438, DStR 2014, 2294. Hennrichs, NZG 2013, 681 (685); ebenso Drüen, GmbHR 2013, 505 (512); Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 219; U. Prinz, WPg. 2013, 650 (654); Rogall/Curdt, Ubg. 2013, 345 (349 f.); Schlotter, FR 2013, 835 (837); ders., Ubg. 2014, 22 (25); Schulze-Osterloh, BB 2013, 1131 (1132 f.). Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 219; Rogall/Curdt, Ubg. 2013, 345 (349 f.); Schlotter, FR 2013, 835 (837); Schulze-Osterloh, BB 2013, 1131 (1132 f.).
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neswegs, dass die Finanzbehörde den Sachverhalt nicht mehr von Amts wegen ermitteln würde (§ 88 AO). Dem Untersuchungsgrundsatz entspricht es, dass die Finanzbehörde die Einschätzung des Stpfl. auf ihre Plausibilität und Vertretbarkeit hin überprüft, also hinterfragt, ob die Beurteilung des Stpfl. innerhalb oder außerhalb des ihm eingeräumten Beurteilungsspielraums liegt. Der Beurteilungsspielraum des Stpfl. selbst gehört aber zum „Sachverhalt“, auf den der Untersuchungsgrundsatz sich bezieht. Eine steuerbilanzielle Gewinnermittlung, die § 252 I Nr. 4 HGB entspricht, erfüllt die gesetzlichen Anforderungen gem. § 5 I 1 EStG auch in steuerrechtlicher Hinsicht. Mit Schulze-Osterloh formuliert: „Verfahrensrecht kann diesen so formulierten Steuertatbestand nicht verändern“1 (s. auch Rz. 98 f.). 36c
Unklar ist ferner, ob die Maßgeblichkeit der objektiven Rechtslage nicht nur für die Auslegung der jeweils einschlägigen Bilanzrechtsvorschrift selbst, sondern allgemein für alle Rechtsfragen, die bei der Bilanzierung vorgreiflich werden, gelten soll. Dies wird in der Tat teilweise befürwortet2, ist richtigerweise aber zu verneinen3 (s. auch Rz. 98 f.). Die Beurteilung von Rechtsfragen, die im Rahmen des Tatbestands der jeweils einschlägigen Bilanzierungsnorm vorgreiflich werden, gehört zur Feststellung des der Bilanzierung zugrunde zu legenden Sachverhalts. Hierfür gibt § 252 I Nr. 4 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG den rechtlichen Beurteilungsmaßstab vor. Maßgebend ist danach die vernünftige kaufmännische Beurteilung der am Stichtag gegebenen Umstände aus Sicht bei Bilanzaufstellung (Stichtags- und Wertaufhellungsprinzip). Spätere „bessere“ Erkenntnis (hier: nachträgliche bessere Rechtserkenntnis zu den vorgreiflich werdenden Tatbestandsmerkmalen) wirkt nicht zurück, sondern ist ex nunc zu berücksichtigen. Beispielsweise sind bestrittene Forderungen gem. § 252 I Nr. 4 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG nach zutr. h.M. nicht anzusetzen (Rz. 141). Daran ändert sich nichts, wenn die bestrittene Forderung nach einem Rechtsstreit in einem späteren Wirtschaftsjahr rechtskräftig zuerkannt wird4. In diesem Fall ist die alte Bilanz, in der die Forderung richtigerweise nicht aktiviert war und wegen § 252 I Nr. 4 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG auch nicht aktiviert werden durfte, keineswegs unrichtig, sondern sie bleibt richtig. Die nunmehr rechtskräftig anerkannte Forderung ist im ersten offenen Abschluss anzusetzen, in dem die rechtliche Unsicherheit beseitigt ist und deshalb § 252 I Nr. 4 HGB der Aktivierung nicht mehr entgegensteht. Ebenso wird etwa eine Rückstellung für ein Produkthaftungsrisiko (§ 249 I 1 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG) nicht dadurch rückwirkend falsch, dass der Stpfl. den Haftungsprozess am Ende gewinnt. Die Ungewissheit über die Verbindlichkeit gehört zum Tatbestand des § 249 I 1 HGB (i.V.m. § 5 I 1 EStG) und darf nicht durch eine rückwirkende Betrachtung nach Maßgabe der später erkannten objektiven Rechtslage obsolet gemacht werden. Anderenfalls könnte es kaum noch Rückstellungen für rechtlich ungewisse Verbindlichkeiten geben, weil die rechtliche Ungewissheit nach einem Rechtsstreit stets in die eine oder andere Richtung geklärt ist. Zudem zeigt § 249 II 2 HGB (i.V.m. § 5 I 1 EStG), dass Rückstellungen nach der Vorstellung des Gesetzes nur und erst aufgelöst werden dürfen, wenn und soweit der Grund hierfür entfallen ist. Nach zutr. st. Rspr. sind deshalb Rückstellungen bei schwebenden Rechtsstreitigkeiten auch erst nach rechtskräftiger Klageabweisung aufzulösen5 (s. auch Rz. 99, 197). Dabei erfolgt die Auflösung nach bislang unbestrittener Auffassung und allgemeiner Praxis nicht etwa rückwirkend in dem Abschluss, in dem die Rückstellung erstmals gebildet worden ist, sondern im nächsten offenen Abschluss nach rechtskräftiger Klageabweisung.
1 Schulze-Osterloh, BB 2013, 1131 (1132); gerade umgekehrt – der GoB gem. § 252 I Nr. 4 HGB könne das steuerrechtliche Verfahrensrecht „nicht aus den Angeln heben“ – Weber-Grellet, DStR 2013, 729 (733). 2 Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 985. 3 Ebenso BFH v. 26.10.2010 – I B 21-25/10, BFH/NV 2011, 833, Rz. 22 f. (juris); Schlotter, Ubg. 2014, 22 (Fn. 4). 4 Zutr. BFH v. 26.2.2014 – I R 12/14, BFH/NV 2014, 1544; BFH I R 96/10, BFH/NV 2012, 991. 5 BFH v. 27.11.1997 – IV R 95/96, BStBl. 1998, 375 (376); BFH v. 30.1.2002 – I R 68/00, BStBl. 2002, 688 (689); MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 139; Schulze-Osterloh, BB 2013, 1131 (1133); je m.w.N.
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Rz. 38
§9
Als weitere Konsequenz der Entscheidung des Großen Senats des BFH (GrS 1/10) ergibt sich, 36d dass dem Stpfl. nunmehr eine Berichtigung der Bilanz gem. § 4 II 1 EStG wegen späterer „besserer Rechtserkenntnis“ nicht mehr mit dem Argument versagt werden kann, seine Bilanz sei „subjektiv richtig“ gewesen1. Die Maßgeblichkeit des objektiven Fehlerbegriffs bezogen auf bilanzielle Rechtsfragen gilt auch im Rahmen des § 4 II 1 EStG. Fraglich ist nur, ob der Stpfl. zu einer solchen rückwirkenden Korrektur sogar verpflichtet ist, oder ob es für die Bilanzberichtigung bei dem Wahlrecht bleibt, das § 4 II 1 EStG dem Wortlaut nach gewährt. Richtigerweise besteht wegen nachträglich „besserer Rechtserkenntnis“ keine rückwirkende Berichtigungspflicht des Stpfl.2 Eine solche Pflicht zur Korrektur folgt weder aus § 4 II 1 EStG noch aus § 153 AO3. Bei einer Rechtsprechungsänderung zugunsten des Stpfl. genügt es danach, wenn sich der Stpfl. im Verlaufe des Verfahrens auf die ihm günstige neue Judikatur schlicht beruft und deren Berücksichtigung im Rahmen der Besteuerung verlangt, ohne dass er die eingereichte Bilanz förmlich berichtigen müsste4. Auf eine Rspr. zuungunsten des Stpfl. muss er nicht von sich aus hinweisen, sondern dies zu erkennen ist Sache der Finanzbehörde. Es ist eben zu unterscheiden zwischen der Bilanzberichtigung nach § 4 II 1 EStG und der Durchführung der Veranlagung (Rz. 36). Die eingereichte Bilanz ist Teil der steuerlichen Erklärung des Stpfl. Sie erläutert den Gewinn, den er im Rahmen der Steuererklärung angegeben hat. Dies ist aber in Konsequenz der Entscheidung des Großen Senats nur eine unselbständige Besteuerungsgrundlage ohne gesonderte Bestandskraft oder Bindungswirkung gegenüber der Finanzverwaltung (Rz. 36). Das Finanzamt hat bei der Veranlagung in jedem Fall allein die „objektiv richtige Rechtslage“ zu prüfen und zu beachten, und zwar unabhängig davon, ob sich die der eingereichten Bilanz zugrunde gelegte unzutreffende Rechtsansicht zugunsten oder zulasten des Stpfl. ausgewirkt hat. Eine Bilanzänderung gem. § 4 II 2 EStG kommt in Betracht, wenn ein zulässiger Bilanzansatz durch einen anderen zulässigen ersetzt werden soll (z.B. infolge der Ausübung eines Wahlrechts, dazu Rz. 105 ff., 109 ff.). Die Bilanzänderung ist nach § 4 II 2 EStG nur zulässig, wenn sie in einem engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit einer Bilanzberichtigung steht und soweit die Auswirkung der Bilanzberichtigung auf den Gewinn reicht. Ausreichend ist der Zusammenhang mit der Berichtigung des Ansatzes von Entnahmen und Einlagen5; nicht aber mit (sonstigen) außerbilanziellen Gewinnerhöhungen6. Der vom Gesetz geforderte Zusammenhang setzt voraus, dass sich Bilanzberichtigung und Bilanzänderung auf dieselbe Bilanz beziehen. Der Antrag auf Änderung der Bilanz kann noch im finanzgerichtlichen Verfahren gestellt werden7.
37
Eine Berichtigung oder Änderung von Bilanzen ist nicht mehr zulässig, wenn sich der Bilanzansatz auf Steueransprüche ausgewirkt hat, die bestandskräftig festgesetzt worden oder verjährt sind. In diesen Fällen ist nach dem von der Rspr. entwickelten und in der Lit. heftig umstr. formellen Bilanzenzusammenhang auch ein unrichtiger Bilanzansatz in die Folgebilanzen zu übernehmen und in der ersten Schlussbilanz richtig zu stellen, bei der eine Änderung des Gewinnfeststellungs- oder Steuerbescheids noch zulässig ist8.
38
Beispiel In 01 wird eine Forderung von 50 000 Euro versehentlich nicht aktiviert. Die Änderung des Bescheids 01 ist wegen Verjährung nicht mehr zulässig; die Änderung des Bescheids 02 ist 1 Zutr. Schulze-Osterloh, BB 2013, 1131 (1134); ebenso Rogall/Curdt, Ubg. 2013, 345 (349). 2 Zutr. Schlotter, FR 2013, 835 (837 f., 842); ders., Ubg. 2014, 22; U. Prinz, WPg. 2013, 650 (654). 3 Dazu ausf. Schlotter, Ubg. 2014, 22 ff. m.w.N. zum Meinungsstand; s. auch Drüen, GmbHR 2013, 505 (510 ff.). 4 Zutr. Schlotter, FR 2013, 835 (837 f., 842). 5 BFH BStBl. 2008, 665, m. Anm. Wendt, FR 2008, 85; BMF BStBl. I 2008, 845. 6 BFH BStBl. 2008, 669, m. Anm. Rätke, StuB 2008, 760. 7 BFH BStBl. 1996, 568. 8 BFH GrS BStBl. 1966, 142; 1998, 83; BFH BStBl. 1989, 407; 1990, 1044; 1998, 443; 1998, 492 (503); 2006, 928; BFH, I R 94/10, DB 2012, 205. Dazu ausf. u. zust. Groh, DB 1998, 1931; Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 703; W.-D. Hoffmann, FS Korn, 2005, 63; NWB Praxishdb. BilStR/Kanzler2, Rz. 1156; krit. KSM/Weber-Grellet, § 4 EStG Rz. C 33 ff. (1991); von Groll, FS Kruse, 2001, 445; Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 788 ff.; Stapperfend, FR 2008, 937.
Hennrichs
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499
§9
Rz. 39
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
noch zulässig. In 06 wird der Fehler vom Außenprüfer aufgedeckt. Die Bilanzen 01, 02 bis 06 sind unrichtig. Die Forderung ist in der Schlussbilanz 02 zu aktivieren.
39
Das Postulat des formellen Bilanzzusammenhangs durchbricht die Regelungen der Bestandskraft und Verjährung. Der Fehler wird in ein Jahr transportiert, für das der Bescheid noch korrigiert werden kann oder dessen Anspruch noch nicht verjährt ist. Damit verschiebt die Rspr. den gesetzlich durch Korrektur- und Verjährungsvorschriften austarierten Ausgleich zwischen Rechtsrichtigkeit und Rechtssicherheit zu Lasten der Rechtssicherheit. Allerdings ist dieser Fehlerausgleichsmechanismus aufgrund des formellen Bilanzzusammenhangs der Gewinnermittlung durch Bilanzierung immanent (s. auch Rz. 36). Eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung von bilanzierenden und nicht bilanzierenden Stpfl. wird man darin nicht sehen können1, weil es sich eben um ganz unterschiedliche (Sub-)Systeme der Einkünfteermittlung handelt. I.Ü. kann sich der formelle Bilanzzusammenhang auch zugunsten des Stpfl. auswirken.
III. Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (§ 5 I 1 EStG) 1. Prinzipielle Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen GoB für die Steuerbilanz Literatur (bis 2010 s. Voraufl.): Bauer, Das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit als Grundlage der Gewinnermittlungsarten, Diss., Hannover, 2011; Ballwieser, Möglichkeiten und Grenzen der Erstellung einer Einheitsbilanz – Zur Rolle und Entwicklung des Maßgeblichkeitsprinzips, in FS Spindler 2011, 577; Hennrichs, GoB im Spannungsfeld von BilMoG und IFRS, WPg. 2011, 861 (863); Scheffler, Das Maßgeblichkeitsprinzip nach dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, 2011; Schmiel, Entspricht eine steuerliche Gewinnermittlung nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Bilanzierung dem Leistungsfähigkeitsprinzip?, ZSteu 2011, 119; Schulze-Osterloh, Handelsrechtliche GoB und steuerliche Gewinnermittlung – Das Beispiel der Teilwertabschreibung, DStR 2011, 534; Endriss, Plädoyer für die Stärkung der Maßgeblichkeit, BBK 2011, 19; Mayr, Zukunftskonzepte der Einkünfteermittlung: BilMoG, Maßgeblichkeitsgrundsatz und CCCTB, DStJG 34 (2011), 327; Kahle/ Schulz/Vogel, Auswirkungen des BilMoG auf die Besteuerung der Unternehmen, Ubg. 2011, 178; Herzig, Erfahrungen mit dem BilMoG aus steuerlicher Sicht, DB 2012, 1343; Hüttemann, Die Zukunft der Steuerbilanz, DStZ 2011, 507; Hüttemann, Das Passivierungsverbot für Jubiläumsrückstellungen zwischen Folgerichtigkeitsgrundsatz und Willkürverbot, in FS Spindler, 2011, 627; SchulzeOsterloh, Handelsrechtliche GoB und steuerliche Gewinnermittlung – Das Beispiel der Teilwertabschreibung, DStR 2011, 534; Buchholz, Die Reichweite der Maßgeblichkeit handelsrechtlicher Bilanzwerte bei Bewertung von Rückstellungen in der Steuerbilanz, Ubg. 2012, 777; Kahle/Günter, Fortentwicklung des Handels- und Steuerbilanzrechts nach dem BilMoG, StuW 2012, 43; Marx, Aktuelle Entwicklungen in der steuerrechtlichen Gewinnermittlung, StuB 2012, 291; Velte, Entwicklung der Zeitwertbilanzierung im Handels- und Steuerrecht, StuW 2012, 56; Oser/Kropp, Eigene Anteile im Gesellschafts-, Bilanz- und Steuerrecht, DK 2012, 185; M. Wendt, Entwicklungstendenzen auf dem Gebiet des Bilanzsteuerrechts in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, ÖStZ 2012, 297; Wüstemann/Wüstemann, Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Zurechnung für die Steuerbilanz, BB 2012, 3127; Breuninger, Gilt im Steuerrecht die Maßgeblichkeit bei der Bilanzierung von Genussrechten?, JbFSt. 2012/2013, 308; Scheffler/Binder, Der Einfluss des Maßgeblichkeitsprinzips auf den Stetigkeitsgrundsatz in der Handelsbilanz, StuB 2012, 771; Titz, Das Bilanzsteuerrecht in Gegenwart und Zukunft, Diss., Wien, 2013; Adrian, Maßgeblichkeitsprinzip bei Rückstellungen für Aufbewahrungspflichten, WPg. 2013, 463; Marx, Fehlabbildungen in der steuerrechtlichen Gewinnermittlung, Ubg. 2013, 354; Amort, Die Einzelbewertung im Lichte des europäischen Bilanzrechts – ein Plädoyer für eine europarechtsfördernde Auslegung, WM 2013, 1250; Künkele/Zwirner, Maßgeblichkeit im Fokus der Finanzverwaltung, StuB 2013, 3; Drüen, Der Große Senat des BFH und die objektiv richtige Bilanz, GmbHR 2013, 505; Hennrichs, Zum Fehlerbegriff im Bilanzrecht, NZG 2013, 681; Hennrichs, Bilanzordnung (Besprechung des Teils „Bilanzordnung“ des sog. BStGB von P. Kirchhof), StuW 2013, 249; Eckert, Bewertungsobergrenzen der Rückstellungsbildung für zukünftige Bp bei Großbetrieben, DB 2013, 901; M. Wendt, Bilanzrecht, in FS Kirchhof, 2013, 1961; Schumann, 1 A.A. Hey in 20. Aufl., § 17 Rz. 39 a.E.
500
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Hennrichs
Maßgeblichkeitsgrundsatz
Rz. 44
§9
79 Jahre steuerliche Herstellungskosten, DStZ 2013, 474; Krengel, Der Maßgeblichkeitsgrundsatz nach dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, Diss., 2014; Prinz in Prinz/Kanzler, NWB Praxishdb. Bilanzsteuerrecht2, 2014, Rz. 331 ff.; Höng, Der Debt-Mezzanine-Swap in Handels- und Steuerbilanz, Ubg. 2014, 27; Moxter/Engel-Ciric, Erosion des bilanzrechtlichen Vorsichtsprinzips?, BB 2014, 489; Rätke, Beschränkung von Rückstellungen durch die EStR 2012, BBK 2014, 20; Kahle, Entwicklung der Steuerbilanz, DB 2014, Beil. 4.
1.1 Überblick über den Inhalt des Maßgeblichkeitsprinzips a) Gem. § 5 I 1 EStG ist das Betriebsvermögen anzusetzen, das nach den „handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung“ auszuweisen ist. Obgleich § 5 I 1 EStG nicht an die Handelsbilanz schlechthin anknüpft, pflegt man ungenau von der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz zu sprechen. Das in § 5 I 1 EStG verankerte Maßgeblichkeitsprinzip bezieht sich jedoch nicht auf die konkrete Handelsbilanz (eine formelle oder konkrete Maßgeblichkeit der Handels- für die Steuerbilanz gibt es nicht1) und nicht auf jedwede Ansätze der Handelsbilanz, sondern auf die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (s. Rz. 66 ff.)2. Namentlich werden den GoB widersprechende Ansätze der konkreten Handelsbilanz nicht maßgeblich für die steuerliche Gewinnermittlung3.
40
b) Die Maßgeblichkeit handelsrechtlicher GoB (s. Rz. 66 ff.) wird allerdings von zahlreichen steuergesetzlichen Sondervorschriften durchbrochen (sog. Steuervorbehalte, Rz. 100 ff.): So können steuerliche Wahlrechte nach Maßgabe des § 5 I 1 Hs. 2 EStG i.d.F. durch das BilMoG nunmehr eigenständig, dh. unabhängig von der Handelsbilanz ausgeübt werden (dazu näher Rz. 105 ff.); ferner bestehen für den Ansatz zahlreiche Sondervorschriften (z.B. § 5 Ia 1, II–V EStG); die Bewertung unterliegt dem sog. Bewertungsvorbehalt (§ 5 VI EStG) und ist in steuerrechtlichen Bewertungsvorschriften weitgehend eigenständig geregelt (insb. §§ 6 I Nrn. 1–3a; 6a; 7 I 3, V; 7a ff. EStG; zur umstr. Bedeutung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes bei der Rückstellungsbewertung s. Rz. 288 ff.). Auch andere Steuergesetze können Sondervorschriften zur steuerlichen Gewinnermittlung normieren (s. für Genussrechte § 8 III 2 KStG; Rz. 168). Diese speziellen Steuervorschriften drängen die allgemeine Fiskalzwecknorm des § 5 I 1 EStG zurück (lex specialis derogat legi generali). Damit zeichnet sich immer deutlicher ein Paradigmenwechsel zu einem von den handelsrechtlichen GoB zunehmend emanzipierten, eigenständigen Steuerbilanzrecht (Rz. 58 ff.) ab4.
41
c) Zur früheren sog. umgekehrten Maßgeblichkeit, die mit dem BilMoG zu Recht5 abgeschafft worden ist, s. 20. Aufl.
42 43–44
Einstweilen frei.
1 Zutr. Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 26; ebenso Korn/Schiffers, § 5 EStG Rz. 2.2, 78, 113; Blümich/Buciek, § 5 EStG Rz. 183. 2 BFH v. 13.2.2008 – I R 44/07, BStBl. 2008, 673. 3 Zutr. Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 26; ebenso KSM/Waldhoff, § 7 EStG Rz. A 187. 4 S. insb. Versin, Derogation, 2002; Crezelius, Maßgeblichkeit in Liquidation?, DB 1994, 689; Thiel, Objektivierung der Gewinnermittlung, StbJb. 1997/98, 309. Diese Entwicklung wurde durch das BilMoG und zuvor schon durch das StEntlG 1999/2000/2002 v. 24.3.1999 (BGBl. I 1999, 402) massiv beschleunigt; vgl. dazu insb. Stobbe/Loose, FR 1999, 405; Herzig, Neuorientierung im Bilanzsteuerrecht, Harzburger Steuerprotokoll 1999, 2000, 127. 5 Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, DStR 2008, 1057; Dziadkowski, DB 1989, 437; DStJG, BB 1988, 1089 (1090 f.); Kirsch, Stbg. 2008, 185; zurückhaltender Stobbe, DStR 2008, 2432 (2434 f.).
Hennrichs
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501
§9
Rz. 45
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
1.2 Rechtfertigung des Maßgeblichkeitsprinzips 45
Historisch ist die Anknüpfung der steuerlichen Gewinnermittlung von Kaufleuten an die Handelsbilanz durch Praktikabilitäts- und Vereinfachungserwägungen begründet1. Dem Kaufmann sollte erspart werden, den Gewinn zweifach ermitteln zu müssen. Dieser Vereinfachungszweck ist im Kern nach wie vor berechtigt und überzeugend (Rz. 48, 51)2, tritt auf Grund der zahlreichen steuergesetzlichen Durchbrechungen des Maßgeblichkeitsgrundsatzes (s. Rz. 41 f., 100 ff.) und der dadurch erzwungenen Abkehr von der Einheitsbilanz rechtspraktisch aber zunehmend in den Hintergrund.
46
Bis heute umstr. ist, ob die Anknüpfung an den handelsrechtlichen Gewinn geeignet ist, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sachgerecht abzubilden. Die Tauglichkeit der in Bezug genommenen handelsrechtlichen Vorschriften für die Steuerbilanz hängt von der Ausgestaltung der jeweiligen Ansatz- und Bewertungsregeln ab, wofür wiederum das Verständnis der maßgeblichen Bilanzzwecke vorgreiflich wird. Dazu stehen sich im Wesentlichen zwei Grundpositionen gegenüber:
47
Die eine Grundposition geht von einer grundsätzlichen Übereinstimmung der Bilanzzwecke von Handels- und Steuerbilanz aus und tritt folglich für die Beibehaltung von § 5 I 1 EStG ein3. Die Gewinnermittlung nach dem HGB ziele darauf ab, den dem Unternehmen „entziehbaren“ Gewinn zu ermitteln. Gleiches habe auch für die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu gelten: Der Steuerstaat nimmt am Gewinn des Unternehmens teil und soll daher nicht besser gestellt werden als der Inhaber oder Anteilseigner des Unternehmens („Steuerstaat als stiller Teilhaber“, Teilhaberthese)4. Zudem erhofft man sich von der Anknüpfung an den handelsrechtlichen Gewinn Schutz vor fiskalischen Übergriffen. Nach der anderen Grundposition sind die Zwecke von Handels- und Steuerbilanz dagegen grundl. verschieden. Namentlich hätten der Gesichtspunkt des Gläubigerschutzes (durch kapitalschützende, vorsichtige Gewinnermittlung) und damit auch das handelsrechtliche Vorsichtsprinzip im Steuerrecht keine Berechtigung. Das Maßgeblichkeitsprinzip sei nur geeignet, steuerliche Leistungsfähigkeit richtig zu messen, wenn die Zwecke der Steuerbilanz und der Handelsbilanz nicht divergierten, sondern gleichgerichtet das gleiche Ziel verfolgten5. Wo dies nicht der Fall sei, müsse das Steuerrecht eigene Regeln aufstellen. Gegen den Maßgeblichkeitsgrundsatz wird außerdem eingewendet, die Orientierung an den handelsrechtlichen GoB mache die steuerrechtliche Gewinnermittlung von den jeweils durch das Handelsbilanzrecht verfolgten Zwecken und deren Wandel, insb. im Zuge der Internationalisierung der Rechnungslegung (s. Rz. 56 ff.), abhängig6. Die steuerrechtliche Zwecksetzung unterliege aber keinem entsprechenden Wandel. Ein im Umbruch befindliches Rechtsgebiet wie das Handelsbilanzrecht könne keinen rechtssicheren Maßstab für die Besteuerung bieten. 1 Tipke, StRO II2, 688. Zur Entwicklung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes s. insb. KSM/Mathiak, § 5 EStG Rz. A 85 ff.; HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 2 ff., 150 ff.; Pfahl, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz, ein dem Steuerbilanzrecht vorgegebenes Grundprinzip?, 1999, 35–102; Broer, Maßgeblichkeitsprinzip, 2001, 35 ff.; Schütz, Der Maßgeblichkeitsgrundsatz des § 5 I EStG – Ein Fossil?, Diss., 2002, 24 ff.; S. Mayer in Schön, Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, § 2; zum Verhältnis zwischen Handels- und Steuerbilanz im Ausland Schön, Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005; Woltering/Pott, IWB 2007, Fach 11, Gr. 2, 819 u. Burkhalter, Maßgeblichkeitsgrundsatz (Schweiz); Broer, Maßgeblichkeitsprinzip, 2001, 127 ff. (Frankreich), 135 ff. (Schweiz), 142 ff. (Großbritannien), 148 ff. (Niederlande), 151 ff. (USA); Maier-Frischmuth, StuB 2003, 7 (EU mit Kurzvergleich Gewinnermittlungsvorschriften); Essers, StuW 2005, 331 (Niederlande); Novacek, ÖStZ 2007, 250 (neue Entwicklungen in Österreich). 2 HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 172 f. m.w.N. 3 Döllerer, BB 1971, 1333 (1334); Schön, StuW 1995, 366 (377); Schön, Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, 1 ff.; Moxter, FS Clemm, 1996, 231; Moxter, BB 1997, 195; Kessler, DB 1997, 1; Kraus-Grünewald, FS Beisse, 1997, 285; Gassner/Lang, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, Wien 2000, 84 ff.; Schulze-Osterloh, DStJG 23 (2000), 74 f.; Hüttemann, StbJb. 2002/03, 37 (45). 4 Insb. Schön, StuW 1995, 366 (374, 377); Schön, Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, 51 f.; gegen die Teilhaberthese dezidiert Wagner, BB 2002, 1885. 5 Hey in 20. Aufl., § 17 Rz. 44. 6 S. Hey in 20. Aufl., § 17 Rz. 46.
502
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Hennrichs
Rz. 50
§9
Sicher sind die Zwecke von Handels- und Steuerbilanz nicht völlig deckungsgleich. Namentlich spielt der Gesichtspunkt des Gläubigerschutzes, der für die Handelsbilanz nach wie vor wesentlich ist1, für die steuerliche Gewinnermittlung naturgemäß keine Rolle. Daraus folgt aber nicht, dass die handelsrechtlichen GoB deshalb als Anknüpfungspunkt für die steuerliche Gewinnermittlung schlechthin ungeeignet wären. Entscheidend ist nicht die Divergenz oder Übereinstimmung der grundsätzlichen Zwecke (Metaebene), sondern die Tauglichkeit des jeweiligen einzelnen GoB (Objektebene) für die jeweilige Bilanzierung. Derselbe GoB kann durchaus in verschiedenen normativen Zusammenhängen sachgerecht sein. Bspw. und insb. haben das Realisations- und das Vorsichtsprinzip (Rz. 88 ff.) sowohl handels- als auch steuerrechtlich seine Berechtigung. Zwar ist der handelsrechtliche Erklärungsansatz, eine vorsichtige Bewertung sei aus Gründen des Gläubigerschutzes notwendig, steuerrechtlich nicht tragfähig, weil es steuerrechtlich eben nicht um Gläubigerschutz geht. Gleichwohl ist der Grundsatz der vorsichtigen Bewertung und das Abstellen auf realisierte Gewinne auch steuerrechtlich begründet, nämlich durch den Gesichtspunkt der auf Objektivierung (Verlässlichkeit) angelegten gleichmäßigen Besteuerung (Art. 3 I GG), als Ausprägung des Übermaßverbots (Art. 20 III GG) und des Grundsatzes der Unternehmensschonung (Art. 14 GG)2. Das Realisations- und das Vorsichtsprinzip stehen steuerrechtlich im Dienste der Objektivierung und des Übermaßverbots, indem sie dafür sorgen, dass nicht ein ungewisser Gewinn als tatsächlicher Gewinn angesetzt und der Besteuerung unterworfen wird3. Unterschiedliche Zwecke können mithin durchaus zum gleichen GoB führen.
48
Für den Gesetzgeber (zum Richter sogleich Rz. 52) stellt sich damit das Problem, für jede Norm des Handelsbilanzrechts zu prüfen, ob sie in das System einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit eingebettet werden kann4. Jeder einzelne handelsrechtliche GoB ist vom Gesetzgeber auf seine steuerrechtliche Tauglichkeit hin zu überprüfen und ggf. steuerspezifisch weiterzuentwickeln. Steuergesetzliche Durchbrechungen der Maßgeblichkeit sind nicht per se zu verurteilen. § 5 I 1 EStG ist keine Maßstabsnorm zur Identifikation von Verstößen gegen das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Es gibt namentlich kein verfassungsrechtliches Gebot für eine Anknüpfung der steuerlichen Gewinnermittlung an die handelsrechtlichen GoB5. Die gesetzgeberische Grundentscheidung der Anknüpfung an den handelsrechtlichen Gewinn begründet bei sachlich gerechtfertigten Abweichungen vom handelsrechtlichen Ansatz auch keinen Verstoß gegen das Folgerichtigkeitsgebot (§ 3 Rz. 9, 118 ff.), wenn die Durchbrechung der Herstellung steuerlicher Systemgerechtigkeit dient6.
49
Zu weitgehend relativiert indes BVerfG 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111, die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Gesetzgeber im Bereich des Steuerbilanzrechts7. Zwar ist der Verweis auf die handelsrechtlichen GoB selbst keine Belastungsentscheidung des Gesetzgebers i.S. der Rspr. zum sog. Folgerichtigkeitsgebot (Rz. 49). Eine folgerichtig umzusetzende Belastungsentscheidung ist aber die Entscheidung des Gesetzgebers für eine steuerliche Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich8. In einem Betriebsvermögensvergleich sind Schulden sys-
50
Maßgeblichkeitsgrundsatz
1 S. Baetge/Kirsch/Solmecke, WPg. 2009, 1211 ff.; Hennrichs, WPg. 2011, 861. 2 HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 50 ff.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (308 ff., 313 f., 324 ff.); insoweit auch Wendt, FS Kirchhof, Bd. II, 2013, § 180 Rz. 19. 3 HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 54 f.; Jachmann, DStJG 23 (2000), 9 (56). 4 Insb. Pezzer, DStJG 14 (1991), 3 (17 ff.); Clemm, FS F. Klein, 1994, 715 (734 f.); Weber-Grellet, DB 1994, 288; Weber-Grellet, DStR 1998, 1343; Weber-Grellet, BB 1999, 2660 f.; Weber-Grellet, StuW 1999, 315; Broer, Maßgeblichkeitsprinzip, 2001, 314 ff.; Versin, Derogation, 2002, 182 ff.; Schlotter, FR 2007, 951 (insb. auch zur Bedeutung des verfassungsrechtlichen Folgerichtigkeitsgebots für die Gewinnermittlung). 5 Zutr. Wendt, FS Kirchhof, Bd. II, 2013, § 180 Rz. 5. 6 Ausf. Schlotter, FR 2007, 951. 7 Krit. u.a. Hennrichs, FS J. Lang, 2010, 237; Hey, DStR 2009, 2561; Hüttemann, FS Spindler, 2011, 627; Hüttemann, DStZ 2011, 507; Schulze-Osterloh, FS J. Lang, 2010, 255; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 249 HGB Rz. 15 f. 8 Ebenso HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 54; Wendt, FS Kirchhof, Bd. II, 2013, § 180 Rz. 21.
Hennrichs
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503
§9
Rz. 51
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
temimmanent1. Punktuelle Einschränkungen der in einem Betriebsvermögensvergleich gebotenen Bildung einzelner Rückstellungen lassen sich nicht mit Hinweis auf das in der Überschussrechnung geltende Zu- und Abflussprinzip rechtfertigen. Zwar ist es dem Gesetzgeber unbenommen, beide Systeme der Einkünfteermittlung einander anzunähern, er kann aber nicht unter Aufrechterhaltung des Dualismus zum Nachteil der Stpfl. beliebig auf systemfremde Prinzipien zurückgreifen2. Solange er Verbindlichkeitsrückstellungen grds. weiterhin zulässt, bedarf der Ausschluss einzelner Rückstellungen (wie im Fall des BVerfG der Jubiläumsrückstellung) einer besonderen Rechtfertigung3. 51
Einzelne steuerrechtliche Sondervorschriften, die aus Gründen der besonderen steuerrechtlichen Teleologie von den handelsrechtlichen GoB abweichen, ändern aber nichts daran, dass der Maßgeblichkeitsgrundsatz im Ausgangspunkt gerechtfertigt bleibt4. Der hinter dem Maßgeblichkeitsprinzip stehende Vereinfachungsgedanke ist im Kern nach wie vor überzeugend (Rz. 45, 48). Nachdem durch das BilMoG die Mehrzahl der (in der Tat kritikwürdigen) handelsbilanziellen Wahlrechte abgeschafft worden ist, entfällt ein Grund für steuerrechtliche Sonderwege und könnten sich Handels- und Steuerbilanz nun wieder näher aufeinander zubewegen. Nach BilMoG liegt die Ursache für Durchbrechungen des Maßgeblichkeitsgrundsatzes weniger im Handelsbilanzrecht, sondern im Steuerrecht. Viele steuerrechtliche Sondervorschriften sind schlicht fiskalisch motiviert, aber steuerbilanzsystematisch nicht gerechtfertigt. Hier zu nennen ist insb. § 6a EStG, der die wirtschaftliche Belastungslage des Kaufmanns nicht sachgerecht abbildet und zu einer systematischen Unterbewertung der Pensionsrückstellungen in der Steuerbilanz führt5. Steuersystematisch ist dies nicht begründbar. Wenn man den Unternehmen Aufwand ersparen und der Idee der Einheitsbilanz wieder näher treten will, dann ist bei der Steuerbilanz anzusetzen. Es gilt, die überbordenden und systematisch angreifbaren steuerlichen Sondervorschriften wieder auf ein Mindestmaß zurückzuschneiden. Das Bilanzsteuerrecht sollte wieder näher an das (modernisierte) Handelsbilanzrecht rücken6.
52
Umstr. ist, ob auch der Richter befugt ist, den Maßgeblichkeitsgrundsatz im Wege der teleologischen Auslegung oder Rechtsfortbildung (teleologische Reduktion) zu beschneiden und einzelne handelsrechtliche Vorschriften steuerrechtlich für unmaßgeblich zu beurteilen. Die Rspr. des BFH hat dies seit BFH GrS BStBl. 1969, 291, bejaht, m.E. zu Recht7 (s. auch Rz. 111). Die in der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre entwickelten Methoden der teleologisch begründeten restriktiven Auslegung sowie der teleologischen Reduktion gelten auch für die Rechtsanwendung des § 5 I EStG. Wegweisend postulierte BFH GrS BStBl. 1969, 291 (293), zu den Ansatzwahlrechten: „Da es dem Sinn und Zweck der steuerrechtlichen Gewinnermittlung entspricht, den vollen Gewinn zu erfassen, kann es nicht im Belieben des Kaufmanns stehen, sich … ärmer zu machen als er ist.“ Daher werden handelsrechtliche Bilanzierungswahlrechte bei der steuerrechtlichen Gewinnermittlung grds. nicht maßgeblich, sondern auf der Aktivseite zu Ansatzpflichten und auf der Passivseite zu Ansatzverboten transformiert (s. Rz. 111). Begründet wird dies teleologisch mit dem Gebot der gleichmäßigen Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, die nicht davon abhänge, wie der Kaufmann bilanzielle Wahlrechte ausübe.
1 Zur Legitimation von Rückstellungen auch in der Steuerbilanz s. HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 54 f.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (310 ff.); Schlotter, BB 2009, 1408 (1411). 2 Insoweit wie hier Wendt, FS Kirchhof, Bd. II, 2013, § 180 Rz. 21. 3 HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 51. 4 Vgl. auch Mayr, DStJG 34 (2011), 327 (333 ff.). 5 Kahle, DB 2014, Beil. 4 S. 20. 6 Hennrichs, FS K. Schmidt, 2009, 581 (592); Kahle/Günter, StuW 2012, 43 (54); Kahle, DB 2014, Beil. 4, S. 19 f.; HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 192. 7 S. auch Wendt, FS Kirchhof, Bd. II, 2013, § 180 Rz. 22; Hennrichs, StuW 1999, 138 (143 ff.). Krit. Hey in 20. Aufl., § 17 Rz. 81; je m.w.N.
504
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Hennrichs
Maßgeblichkeitsgrundsatz
Rz. 56
§9
1.3 Zur Zukunft des Maßgeblichkeitsprinzips und Überlegungen de lege ferenda (einschließlich GKKB) Die Zukunft des Maßgeblichkeitsprinzips ist mehr denn je offen1. Zum einen dürfte die sog. E-Bilanz gem. § 5b EStG den Weg zur selbständigen Steuerbilanz beschleunigen (Rz. 5 f.)2. Zum anderen hat das BilMoG zahlreiche neue Durchbrechungen des Maßgeblichkeitsgrundsatzes gebracht (Rz. 54 f.). De lege ferenda werden ein eigenständiges Steuerbilanzrecht sowie die Einführung einer Gemeinsamen (konsolidierten) KSt-Bemessungsgrundlage (GKKB) diskutiert (Rz. 57 ff.).
53
Mit dem BilMoG hat der Gesetzgeber einstweilen am Maßgeblichkeitsgrundsatz festgehalten und für die nähere Zukunft eine Anwendung der IFRS im Jahresabschluss abgelehnt3. Der Gesetzgeber versucht durch „maßvolle Annäherung der handelsrechtlichen Rechnungslegungsvorschriften an die IFRS“ (BR-Drucks. 344/08, 69) gleichsam einen dritten Weg zwischen der traditionell dem Vorsichtsprinzip verpflichteten HGB-Bilanz und den IFRS4, um insb. kleinen und mittelständischen Unternehmen eine kostengünstige Alternative zur Bilanzierung nach IFRS zu bieten5. Für den Jahresabschluss bleiben allein die handelsrechtlichen GoB verpflichtend, und nur diese werden weiterhin für die Steuerbilanz maßgeblich (§ 5 I 1 EStG). Die Internationalisierung der Konzernrechnungslegung (vgl. § 315a HGB i.V.m. der IAS-VO) hat mangels Konzernsteuerbilanz6 (§ 14 Rz. 1 ff., 9; § 11 Rz. 25) keine unmittelbaren steuerlichen Konsequenzen.
54
Die Reform des Handelsbilanzrechts stand allerdings unter dem Diktat steuerlicher Aufkommensneutralität7. Um Mindereinnahmen zu verhindern, ordnete der Gesetzgeber weitere Durchbrechungen des Maßgeblichkeitsgrundsatzes an (§§ 5 Ia 1; 6 I Nr. 2b, Nr. 3a Buchst. f EStG); in jüngster Zeit sind zusätzliche Abweichungen vom Handelsrecht hinzugefügt worden (§§ 4f, 5 VII EStG, dazu unten Rz. 190 ff.). Damit besiegelt der Gesetzgeber den Abschied von der Einheitsbilanz. Jedenfalls auf der Passivseite der Bilanz bleibt von der Maßgeblichkeit nicht mehr viel übrig8. Den aufgrund dieser Rechtsentwicklung eigentlich konsequenten Schritt zu einem eigenständigen Steuerbilanzrecht hat der Gesetzgeber einstweilen zwar noch nicht vollzogen. Allerdings liegen Vorschläge zu einem eigenständigen steuerlichen Gewinnermittlungsrecht vor9 (s. auch Rz. 58 ff.).
55
Die weitere Entwicklung dürfte ferner von der Frage abhängen, ob die zunehmende Internationalisierung der handelsrechtlichen Rechnungslegung in die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung einstrahlen wird oder ob die GoB gegenüber den IFRS selbständig bleiben können, wie es der Gesetzgeber beabsichtigt10. Sollte der deutsche Gesetzgeber trotz seiner Bemühungen, die HGB-Bilanzierung in modernisierter Form zu erhalten, langfristig auch für den Jahresabschluss die IFRS alternativ zum Abschluss nach HGB vorsehen oder sollten die IFRS im Wege der Interpretation zunehmend in
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1 Hennrichs, Ubg. 2009, 533 (542); U. Prinz, DStJG 34 (2011), 135 (160 ff.); Mayr, DStJG 34 (2011), 327; Kahle, DB 2014, Beil. 4, S. 3 f. 2 Ebenso die Einschätzung von Kahle, DB 2014, Sonderbeil. 4, S. 3. 3 S. die diesbezüglichen Vorschläge der Schmalenbach-Gesellschaft, DB 2003, 1585 ff.; krit. Hennrichs in Henze/Hoffmann-Becking (Hrsg.), RWS-Forum 25, Gesellschaftsrecht 2003, 101 ff.; Hennrichs, GmbHR 2011, 1065. 4 Hennrichs, FS K. Schmidt, 2009, 581 (583 ff., 586). 5 Positiv Claussen, AG 2008, 577 (582); Hennrichs, Der Konzern 2008, 478; Hennrichs, FS K. Schmidt, 2009, 581 (583 ff.); S. Mayer, DStR 2009, 129; Vergleich BilMoG mit IFRS Lüdenbach/Hoffmann, Beihefter zu DStR 2007, Heft 50; Niehus, DStR 2008, 1451. 6 Zur Abbildung steuerlicher Sachverhalte in der Konzernbilanz nach IFRS bzw. US-GAAP Lühn, StuW 2007, 161. 7 BR-Drucks. 344/08, 87. – Zu den Auswirkungen auf die Steuerbilanz Strahl, KÖSDI 2008, 16290; Rammert/Thies, WPg. 2009, 34 (39–46); Kirsch, DStZ 2008, 28; Herzig, DB 2008, 1339; IDW, Ubg. 2008, 305; Günkel, Ubg. 2008, 126; Dettmeier, NWB 2008, 3159; Müller/Reinke, Stbg. 2008, 336; Scheffler, StuB 2009, 45; Herzig/Briesemeister, Ubg. 2009, 157. 8 Weber-Grellet, ZRP 2008, 146 (147): „Restmaßgeblichkeit“; Theile/Hartmann, DStR 2008, 2031; Thiel, FS Meilicke, 2010, 733 (736); U. Prinz, DStJG 34 (2011), 135 (160); Kirsch, DStZ 2008, 561; Herzig/Briesemeister, DB 2009, 1; a.A. Meurer, FR 2009, 117 (119); zur praktischen Umsetzung bei der Bilanzaufstellung Dahlke/Seitz, BB 2008, 1890. 9 Vgl. den unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft entwickelten Entwurf eines Gesetzes zur Steuerlichen Gewinnermittlung (StGEG); ferner Herzig, IAS/IFRS und steuerliche Gewinnermittlung, Eigenständige Steuerbilanz und modifizierte Überschussrechnung – Gutachten für das BMF, 2004; Herzig, WPg. 2005, 211 ff.; Spengel, FR 2009, 101 ff.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (307 ff.). 10 Vgl. BR-Drucks. 344/08, 70.
Hennrichs
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505
§9
Rz. 57
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
die GoB einstrahlen, würde es einer eigenständigen steuergesetzlichen Kodifikation bedürfen1. Der Steuergesetzgeber wird die tatsächliche Entwicklung sorgfältig im Auge behalten müssen.
57
Einstweilen frei.
58
De lege ferenda wird verschiedentlich ein eigenständiges und steuergesetzlich geschlossen normiertes Steuerbilanzrecht gefordert2, das unabhängig von den diversen Bilanzzwecken des nationalen und internationalen Handelsbilanzrechts ein Normensystem formuliert, das nicht nur steuerverschärfend, sondern auch zum Schutz gegen überhöhte Shareholder-ValueWerte steuerliche Leistungsfähigkeit möglichst objektiv richtig bestimmt. In der Tat würde das mit den vielen Streitfragen, die sich um das Maßgeblichkeitsprinzip ranken, aufräumen und damit insoweit größere Rechtssicherheit gewährleisten. Denn die Unsicherheiten haben ihren Grund in der geltenden Verweisung des § 5 I EStG auf die handelsrechtlichen GoB. Wären Handels- und Steuerbilanz formell voneinander abgekoppelt, stellte sich das Problem so nicht3. Wichtiger als die rechtstechnische Frage einer förmlichen Loslösung des Steuerbilanzrechts von den handelsrechtlichen GoB ist freilich die inhaltliche Ausgestaltung der steuerrechtlichen Gewinnermittlungsregeln. Hierbei sollte der Gesetzgeber namentlich am Realisationsprinzip, aber auch am Vorsichtsprinzip auch für die Steuerbilanz weiterhin festhalten4. Die alleinige Berufung auf das Leistungsfähigkeitsprinzip und die Besteuerung des „vollen Gewinns“ bietet keinen hinreichend verlässlichen Maßstab.
59
Der Weg hin zu einem eigenständigen, von den handelsrechtlichen GoB förmlich entkoppelten Steuerbilanzrecht scheint auch im Hinblick auf die Pläne der EU-Kommission zur Einführung einer gemeinsamen (konsolidierten) Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage (G[K]KB = C[C]CTB für Common [Consolidated] Corporate Tax Base) auf EU-Ebene vorgezeichnet. Dazu liegt mittlerweile ein länger erwarteter Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission vor (KOM(2011) 121/4 v. 16.3.20115). Der ehrgeizige Vorschlag sieht ein dreistufiges Kon1 Zur Untauglichkeit der IFRS als Grundlage für die steuerliche Gewinnermittlung Arbeitskreis Bilanzrecht Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2002, 2373 (2378 ff.); Arnold, StuW 2005, 148 (150); Hennrichs, StuW 2005, 256 (262 f.); Herzig, IStR 2006, 557; Herzig, StuW 2006, 156; Hüttemann, BB 2004, 203 (205 f.); Kirchhof, ZGR 2000, 681 ff.; Kuntschik, Steuerliche Gewinnermittlung und IAS/ IFRS am Beispiel immaterieller Vermögenswerte, Diss., 2004; s. auch Wojcik, Die internationalen Rechnungslegungsstandards IAS/IFRS als europäisches Recht, Diss., 2008; Hohl, Private Standardsetzung im Gesellschafts- und Bilanzrecht – Verfassungsrechtliche Grenzen kooperativer Standardsetzung im europäischen Mehrebenensystem an den Beispielen des Deutschen Corporate Governance Kodexes und der International Financial Reporting Standards, Diss., 2007. S. auch Wendt, FS Kirchhof, Bd. II, 2013, § 180 Rz. 25. 2 Vgl. Stiftung Marktwirtschaft, Entwurf eines Gesetzes zur Steuerlichen Gewinnermittlung, 2006; ferner bereits ausf. Gutachten der Steuerreformkommission 1971, BMF-Schriftenreihe 17, 1971, 428 ff.; ferner J. Lang in Brühler Empfehlungen, BMF-Schriftenreihe 66, 1999, Anh. Nr. 1, 67 ff.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 ff. (verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen); Herzig/Bär, DB 2003, 1; Herzig/Hausen, DB 2004, 1; Herzig, IAS/IFRS und steuerliche Gewinnermittlung, 2004 (dazu Bohl, DB 2004, 2381); Kölner EStGE, Rz. 400 ff.; Hennrichs, StuW 2005, 256 (264); U. Prinz, FS Raupach, 2006, 279 (295 ff.); U. Prinz, DStJG 34 (2011), 135 (164 ff.). Vor dem Hintergrund des BilMoG: Weber-Grellet, DB 2008, 2451; Thiel, FS Meilicke, 2010, 733 (736 f.). Für ein System europäischer Grundsätze Kuhr, Grundsätze Europäischer Unternehmensbesteuerung, Diss., Köln 2013. 3 Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (306) m.w.N. 4 Grundl. Hennrichs DStJG 24 (2001), 301 (314 ff.) u. Schön, Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, 4 ff.; s. auch Mayr, DStJG 34 (2011), 327, 334 ff. (341 f.); Kahle, DB 2014, Beil. 4 S. 19 f.; HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 50 ff., 54 f. 5 Dazu eingehend Kuhr, Grundsätze Europäischer Unternehmensbesteuerung, Diss., Köln 2013, S. 59 ff; Scheffler/Krebs, DStR-Beih. 2011, 13 ff.; Herzig, DB 2012, 1; Herzig, FS J. Lang, 2010, 1057; Herzig/Kuhr, StuW 2011, 305; dies., DB 2011, 2053; Hüttemann, DStZ 2011, 507; U. Prinz, StuB 2011, 461; Kahle/Dalke/Schulz, Ubg. 2011, 491; Kahle/Günter, StuW 2012, 43 (53); Marx, DStZ 2011, 547; Mayr, DStJG 34 (2011), 327 (343 ff.); Herzig, DB 2012, 1; Scheffler/Köstler, DStR 2013, 2190; 2235; s. außerdem Kußmaul/Niehren/Pfeifer, StuW 2010, 177; Spengel/Oestreicher, DStR 2009, 773; HHR/ Anzinger, § 5 EStG Anm. 181 ff. – Zu Änderungs- bzw. Kompromissvorschlägen seitens des Europäischen Parlaments und der dänischen und irischen Ratspräsidentschaft s. DB0470946 und DB0474452 sowie eingehend Scheffler/Köstler, DStR 2013, 2190, 2235.
506
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Hennrichs
Maßgeblichkeitsgrundsatz
Rz. 62
§9
zept vor: (1.) harmonisierte, eigenständige steuerliche Gewinnermittlungsregeln; (2.) EU-weite Konsolidierung zur Ermittlung eines EU-Konzernergebnisses (dieser Teil des Vorschlags ist allerdings derzeit wieder rechtspolitisch besonders umstr., s. Rz. 63); (3.) formelhafte Aufteilung des Konzernergebnisses auf die betroffenen Mitgliedstaaten. Zum Körperschaftsteuersatz enthält der Vorschlag keine Vorgaben. Die steuerliche Gewinnermittlung soll nach dem Entwurf eigenständig geregelt werden. Weder gibt es eine Maßgeblichkeit des Handelsbilanzrechts der EU oder der Mitgliedstaaten noch eine Indienstnahme der IFRS. Auch die früher diskutierte Bezugnahme auf die „IFRS/IAS als starting point“, die ohnehin immer mehr ein politisches Argument zur besseren „Verkäuflichkeit“ des Projekts war und weniger eine inhaltliche Präjudizierung sein wollte, findet sich im aktuellen Richtlinienentwurf nicht mehr. Das ist grds. zu begrüßen. Allerdings ist in konzeptioneller Hinsicht zu kritisieren, dass der Richtlinie der systematisch-dogmatische Unterbau fehlt. Es dominieren, wie Herzig anschaulich formuliert hat, „Best Practice-Lösungen“1, d.h. die vorgeschlagenen Gewinnermittlungsregeln bauen nicht auf anfänglich definierten Prinzipien auf, sondern man hat sich in vielen Fällen schlicht daran orientiert, was in den einzelnen Mitgliedstaaten gilt. Hier wäre eine stärkere Prinzipienorientierung wünschenswert, um die Deduktionsbasis für eine konsistente Anwendung und Fortentwicklung der Gewinnermittlungsregeln zu gewährleisten2.
60
Die Definition der Steuerbemessungsgrundlage in Art. 10 des RL-Entwurf stellt auf den Unterschiedsbetrag zwischen steuerpflichtigen Erträgen und abziehbaren Aufwendungen ab. Das ist ein GuV-orientierter Ansatz. Dadurch wird freilich eine Bilanz nicht überflüssig, denn die erforderlichen Bestandsveränderungen müssen nach wie vor festgehalten werden (Schattenbilanz)3. Die vorgeschlagenen Vorschriften betreffen außerdem nicht allein die erste, bilanzielle Stufe der Gewinnermittlung, sondern (in der deutschen Terminologie) auch die außerbilanziellen Korrekturen (also die zweite Stufe der Gewinnermittlung)4. Namentlich soll bspw. die Problematik der verdeckten Gewinnausschüttung miterfasst werden. Ob die dazu vorgesehene schlanke Regelung (Art. 15 des RL-Entwurf) der Problematik gerecht wird, mag angesichts der „höchst nuancenreichen vGA-Dogmatik in Deutschland“ bezweifelt werden5. Auch sonst sieht der Vorschlag weitreichende Vorschriften zu zentralen Themen der Bemessungsgrundlage vor (z.B. zur Behandlung von Umstrukturierungen, zur Beschränkung des Zinsabzugs, Regeln zum Verlustabzug u.a.m.), die, wenn sie umgesetzt werden würden, den steuerpolitischen Gestaltungsspielraum der einzelnen Mitgliedstaaten massiv einschränken würden6 (zu den politischen Umsetzungschancen des Richtlinienentwurfs sogleich Rz. 63).
61
Inhaltlich ist das grundsätzliche Bekenntnis zum Anschaffungswert- und Realisationsprinzip zu begrüßen (Art. 9 Nr. 1, 17–19 RL-Entwurf). Eine erfolgswirksame Fair Value Bewertung ist allerdings gem. Art. 23 RL-Entwurf für zu Handelszwecken gehaltene Finanzanlagen und finanzielle Verbindlichkeiten vorgesehen. Das geht weiter als der derzeitige § 6 I Nr. 2b EStG7. Die vorgesehene anteilige Gewinnrealisierung nach Fertigungsfortschritt bei langfristiger Fertigung (Art. 24 RL-Entwurf) würde in Deutschland ebenfalls ein Umdenken erfordern. Ferner weichen die Abschreibungsregeln (Art. 13; 20; 27; 32 ff. RL-Entwurf8) ganz von der handelsrechtlichen Rechnungslegung und den bisherigen steuerbilanzrechtlichen Vorschriften ab, was ebenfalls krit. gesehen werden kann. Die Vorschriften zu den Rückstellungen (Art. 25 f. RL-Entwurf) erscheinen prinzipiell sachgerecht. Ob die derzeitigen steuerrechtlichen Sondervorschriften zu Rückstellungen gem. § 5 IIa–IVb; § 6a EStG bei Umsetzung der Richtlinie beibehalten werden könnten, erscheint allerdings unklar und dürfte zumindest teilweise zu verneinen sein9. Auch sonst lässt der Entwurf manche wichtige Frage offen. Bspw. wird der zentrale Begriff des Wirtschaftsguts nicht näher definiert. Hier ist nicht gesichert, dass das bisherige Verständnis nach Umsetzung der Richtlinie fortgeführt werden könnte10. Auch zum Geschäfts- oder Firmenwert enthält der Vorschlag keine explizite Regelung. Die Vorschriften zur Zurechnung beim sog. wirtschaftlichen Eigentümer (Art. 4 Nr. 20; Art. 34 Nrn. 1, 3 RL-Ent-
62
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Herzig, DB 2012, 1 (2). Herzig, DB 2012, 1 (2); Scheffler/Krebs, DStR-Beih. 2011, 13 (16). Herzig, DB 2012, 1 (2); U. Prinz, StuB 2011, 461 (462 f.). Herzig, DB 2012, 1. U. Prinz, StuB 2011, 461 (463). Herzig, DB 2012, 1 (2). Scheffler/Krebs, DStR-Beih. 2011, 13 (16). Dazu z.B. Scheffler/Krebs, DStR-Beih. 2011, 13 (18 ff.). Scheffler/Krebs, DStR-Beih. 2011, 13 (22). Scheffler/Krebs, DStR-Beih. 2011, 13 (17).
Hennrichs
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507
§9
Rz. 63
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
wurf) bleiben vor dem Hintergrund der wirtschaftlich großen Bedeutung etwa des Leasings ebenfalls eher rudimentär.
63
Die politischen Umsetzungschancen des Richtlinienentwurfs sind einstweilen skeptisch einzuschätzen. Insb. die Verteilung des Steueraufkommens ist problematisch. Grundlage einer europaweiten Konzernbesteuerung kann die GKKB nämlich nur dann sein, wenn ein Verteilungsschlüssel konsensfähig ist, nach dem die einheitlich ermittelte und konsolidierte Bemessungsgrundlage zwischen den beteiligten Staaten aufgeteilt wird (dazu Art. 86 ff. des Vorschlags). Möglicherweise werden die rechtspolitisch besonders schwierigen Konsolidierungsund Aufteilungsaspekte einstweilen zurückgestellt und damit das Projekt CCCTB zu einem Projekt CCTB (Common Corporate Tax Base)1, doch auch das erscheint nicht gesichert. Angesichts des für den Bereich der direkten Steuern geltenden Einstimmigkeitsprinzips, der Sorge der Mitgliedstaaten um Steuersubstratverluste und der sich deswegen abzeichnenden Widerstände aus den Mitgliedstaaten (u.a. hat sich auch die deutsche Bundesregierung kritisch bis ablehnend geäußert2), sowie angesichts zu befürchtender neuer Umstellungskosten für die Unternehmen3 dürfte eher mit langwierigen Verhandlungen und jedenfalls kurz- bis mittelfristig nicht mit einer Umsetzung der Richtlinie zu rechnen sein. Aus Sicht der Stpfl. sind die Pläne zu einer G(K)KB ohnehin skeptisch zu betrachten4. Zum einen steht zu befürchten, dass sich auf europäischer Ebene noch mehr als ohnehin schon in Berlin letztlich die Kämmerer durchsetzen werden und Auswirkungen auf die notorisch angespannten Haushalte schwerer wiegen als systematische Stimmigkeit und Folgerichtigkeit; die letzten „Kompromissvorschläge“ der dänischen und irischen Ratspräsidentschaften zur G(K)KB verheißen insoweit nichts Gutes5. Zum anderen kämen auf die Stpfl. wohl beträchtliche Umstellungsanforderungen zu. Last but not least würde bei einer EU-weiten G(K)KB die Rechtskontrolle im Steuerbilanzrecht weitgehend vom BFH weg auf den EuGH verlagert. Das würde die Verfahrensdauer weiter verlängern. Auch Sachkompetenz dürfte bei einer solchen Zuständigkeitsverlagerung verloren gehen.
64
Alternativ wird die völlige Abkehr vom bilanziellen Betriebsvermögensvergleich diskutiert. Eine unternehmerische Überschussrechnung würde den Prinzipien der von F.W. Wagner präferierten Cash-Flow-Steuer (hierzu § 3 Rz. 77) entsprechen. Eine wachsende Zahl von Autoren sieht im Übergang vom Betriebsvermögensvergleich zu einer unternehmerischen Überschussrechnung einen Beitrag zur Vereinfachung und einer zutr. Erfassung steuerlicher Leistungsfähigkeit6. Eine völlige Abkehr vom Bestandsvergleich erscheint jedoch einstweilen kaum realistisch, da viele Unternehmen auf eine bilanzielle Risikovorsorge (insb. in Gestalt von Rückstellungen) bestehen. Sinnvoll wäre es aber, die Überschussrechnung unabhängig von den Grenzen des § 141 AO wahlweise auch für handelsrechtlich buchführungspflichtige Kaufleute zu öffnen7.
65
Einstweilen frei.
1 Vgl. Spengel/Ortmann-Babel/Zinn/Matenaer, DB 2013, Beil. 2/2013, S. 1 (2) m.w.N. 2 Vgl. BT-Drucks. 17/5748; U. Prinz, StuB 2011, 461 (462). 3 U.a. müsste bei einer Umsetzung der RL der bisherige Maßgeblichkeitsgrundsatz endgültig aufgegeben und die gerade erst eingeführte E-Bilanz nach § 5b EStG (Rz. 5 f.) vollständig neu konzipiert werden (zutr. Scheffler/Krebs, DStR-Beih. 2011, 13 [15]). 4 So auch Scheffler/Köstler, DStR 2013, 2235 (2239 f.). 5 Eingehend Scheffler/Köstler, DStR 2013, 2190 ff.; 2235 ff. 6 Insb. Weber-Grellet, BB 1999, 2666; ferner Hennrichs, StuW 1999, 138 (152 f.); Kanzler, FR 1998, 247; Dziadkowski, BB 2000, 399; Elicker, StuW 2002, 217; Schreiber, StuW 2002, 105; Dicken, Gewinnermittlungsrecht. Steuerrechtliches Plädoyer für eine Einnahmen-Ausgaben-Rechnung, 2003; Tipke, StRO II2, 861 ff.; Fritz-Schmied, Die steuerbilanzielle Gewinnermittlung, 2005, 282 ff.; Knirsch, StuB 2006, 465 (zu den Zinseffekten); abl. Ehrhardt-Rauch, DStZ 2001, 423; D. Schneider, StuW 2004, 293. 7 Kölner EStGE, Rz. 301, 400; s. auch den Vorschlag von Herzig IAS/IFRS und steuerliche Gewinnermittlung, 2004, 370 ff.; Herzig/Hausen, DB 2004, 1, für eine modifizierte Überschussrechnung; vgl. auch Kahle/Schulz, BFuP 2011, 455; Kahle/Günter, StuW 2012, 43 (52) (Konzept einer vereinfachten Vermögensrechnung).
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Hennrichs
Rz. 67
§9
Anknüpfungspunkt des Maßgeblichkeitsprinzips sind die „handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung“ als Zentralbegriff der Buchführung und Bilanzierung. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff2 hat auch nach Kodifizierung zahlreicher GoB in §§ 238–263 HGB durch das BiRiLiG 1985 seine Bedeutung nicht ganz verloren. Denn zum einen nehmen die §§ 238 ff. HGB selbst vielfach auf die GoB Bezug (§§ 238 I 1; 239 IV 1; 241; 243 I; 256; 257 III HGB), zum anderen kodifiziert das HGB das Recht der Buchführung und Bilanzierung (Buchführung i.w.S.) nicht abschließend, sondern lässt Raum für ungeschriebene GoB (z.B. Wesentlichkeit, s. Rz. 92). Wo allerdings das Gesetz (HGB) die GoB kodifiziert hat (s. insb. §§ 240 f., 246 – 256a HGB), ist die Bestimmung des maßgebenden Norminhalts hier wie sonst ein Rechtsproblem3 und eine Frage der Auslegung der einschlägigen Vorschriften nach Maßgabe der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre4. Der Rechtsanwender, insb. der Richter, wendet gesetzliche Vorschriften an und legt diese nach den anerkannten juristischen Methoden zur Gesetzesauslegung aus. Dies schließt die wertende Konkretisierung von Prinzipien ein (deduktive Methode). Dieser Aufgabe nimmt sich primär der BFH an, da Bilanzierungsfragen im rein handelsrechtlichen Kontext selten str. sind. Das Recht der Buchführung/Bilanzierung ist somit insgesamt ein offenes System, das es ermöglicht, das Recht an die Vielgestaltigkeit und Veränderlichkeit des Wirtschaftslebens anzupassen.
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Die von Handelsrechtlern früher begründete Lehre, der Handelsbrauch ordentlicher, ehrenwerter Kaufleute bestimme verbindlich, was der Inhalt der GoB sei, der Richter habe diesen Inhalt lediglich induktiv aufzuklären, ist durch die Lehre abgelöst worden, wonach die GoB richterrechtlich-deduktiv abzuleiten sind5. Der Streit um die induktive oder deduktive Ermittlung der GoB hat freilich insoweit an Bedeutung verloren, als die GoB in den §§ 238–263 HGB kodifiziert worden sind. Diese Vorschriften sind als Gesetzesrecht nach den allgemeinen Regeln der juristischen Methodenlehre auszulegen und anzuwenden (Rz. 66). Verlautbarungen privater Rechnungslegungsgremien (IDW; Deutsches Rechnungslegungs Standards Committee, DRSC, dazu s. §§ 342; 342a HGB) haben keinen Rechtsnormcharakter, sondern sind sachverständige Meinungsäußerungen zu Bilanzierungsfragen6. An sie ist die Rspr. ebenso wenig gebunden wie an Erlasse der Finanzverwaltung. Der Gegensatz zwischen induktiver und deduktiver Methode darf aber ohnehin nicht überschätzt werden. Tatsächlich fließen empirische Kenntnisse zur Praxis der Kaufleute (bspw. zur Bildung von sog. Bewertungseinheiten, § 254 HGB; § 5 Ia 2 EStG) sowie theoretische Erkenntnisse der Betriebswirtschaftslehre in die Rechtsfindung mit ein7.
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Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung
2. Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung und Bilanzierung 2.1 Rechtsnatur und Ermittlung1.
1 Kölner EStGE, Rz. 301, 400; s. auch den Vorschlag von Herzig, IAS/IFRS und steuerliche Gewinnermittlung, 2004, 370 ff.; Herzig/Hausen, DB 2004, 1, für eine modifizierte Überschussrechnung; vgl. auch Kahle/Schulz, BFuP 2011, 455; Kahle/Günter, StuW 2012, 43 (52) (Konzept einer vereinfachten Vermögensrechnung). 2 Pöschke in Großkomm. HGB5, § 238 HGB Rz. 42. 3 Zutr. Pöschke in Großkomm. HGB5, § 238 HGB Rz. 37; ferner Kirchhof/Crezelius13, § 5 EStG Rz. 36. 4 Pöschke in Großkomm. HGB5, § 238 HGB Rz. 42; Schulze-Osterloh in HdJ, Abt. I/1 (2010), Rz. 53, 55; Hennrichs, WPg. 2011, 861 (863); Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 209; je m.w.N. 5 Dazu grundl. Döllerer, BB 1959, 1217; Leffson, Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung7, 1989, 28 ff.; Moxter, Grundsätze ordnungsgemäßer Rechnungslegung, 2003. S. auch J. Lang, Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung I, Begriff, Bedeutung, Rechtsnatur, in Leffson/Rückle/Großfeld, Handwörterbuch unbestimmter Rechtsbegriffe im Bilanzrecht des HGB, 1986, 234 ff.; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 41 ff.; Beisse, GS Knobbe-Keuk, 1997, 385 (393 ff.); Hennrichs/Pöschke in Fink/Schultze/Winkeljohann, Bilanzpolitik und Bilanzanalyse nach neuem Handelsrecht, 2010, 47 (50). Zu Auswirkungen des BilMoG auf die Gewinnung von GoB s. Baetge/Kirsch/ Solmecke, WPg. 2009, 1211; Hennrichs, WPg. 2011, 861; Wüstemann/Wüstemann, FS Krawitz, 2010, 751; umfassend Solmecke, Auswirkungen des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes (BilMoG) auf die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, 2009. 6 Pöschke in Großkomm. HGB5, § 238 HGB Rz. 45; Schulze-Osterloh in HdJ, Abt. I/1 (2010), Rz. 22, 24. 7 Vgl. auch BFH I R 208/63, BFHE 89, 191 (194); Pöschke in Großkomm. HGB5, § 238 HGB Rz. 36 f., 41 ff., 44; Hennrichs/Pöschke in Fink/Schultze/Winkeljohann, Bilanzpolitik und Bilanzanalyse nach neuem Handelsrecht, 2010, 47 (50 f.).
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Soweit die handelsrechtlichen GoB gem. § 5 I 1 EStG für die steuerliche Gewinnermittlung maßgeblich werden, werden sie dies so, wie sie handelsrechtlich normiert und zu interpretieren sind1. Im Umfang der Verweisung gem. § 5 I 1 EStG wird Handelsrecht für das Steuerrecht vorgreiflich. Diese handelsrechtlichen GoB werden entgegen einer in der Literatur vertretenen Auffassung2 nicht in „steuerrechtliche GoB“ transformiert und sind deshalb auch nicht allein durch eine „steuerrechtliche Brille“ auszulegen, sondern sie bleiben ihrer Rechtsnatur nach Handelsrecht und sind ebenso auszulegen.3 Eine eigenständige Interpretation des Steuerbilanzrechts nach spezifisch steuerrechtlichen Gesichtspunkten und Zusammenhängen ist nur (aber immerhin) dort geboten, wo das Steuerrecht selbst die Vorschriften normiert4.
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Die handelsrechtlichen GoB sind auch nach der Modernisierung des HGB-Bilanzrechts durch das BilMoG gemäß den Methoden der Rechtswissenschaft für die Auslegung von Gesetzen autonom auszulegen und nicht etwa „im Lichte“ der IFRS neu zu justieren. Eine unidifferenzierte interpretatorische Einstrahlung der IFRS in die handelsrechtlichen GoB ist vom Gesetz nicht gewollt5. Vielmehr versucht das BilMoG gerade einen eigenen, dritten Weg (Rz. 54). Daher betonen die Materialien zum BilMoG ausdrücklich, dass die nationalen Bilanzierungsvorschriften weiterhin eigenständig interpretiert und fortentwickelt werden sollen6. Die IFRS sind für die Bilanzierung im Jahresabschluss nach geltendem deutschen Recht keine Rechtsquelle und setzen auch keine verbindlichen Interpretationsleitlinien. Zwar ist es damit nicht ausgeschlossen, die IFRS im Sinne einer Erkenntnisquelle des Rechtsvergleichs bei der Anwendung des HGB-Bilanzrechts mit zu berücksichtigen. Denn die Bilanzrechtsfragen sind ja hier wie dort dieselben. Daher ist es rechtsvergleichend interessant zu analysieren, welche Antworten die IFRS auf die jeweilige Frage geben. Aber es ist doch stets sorgfältig zu erörtern, ob die jeweilige Auslegungsalternative im Kontext des GoB-Systems und der steuerrechtlichen Prinzipien passt und überzeugend ist. Ein interpretatorischer Rückgriff auf die IFRS scheidet dort ganz aus, wo das HGB und das EStG bewusst eigenständige Wege gehen und sich von den IFRS gerade abgrenzen wollen (bspw. bei der Definition des Begriffs „Vermögensgegenstand“/„Wirtschaftsgut“)7.
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Zu einer anderen Beurteilung gibt auch die oft missverstandene Entscheidung des EuGH8 in der Rs. BIAO keinen Anlass9. Dort meinte der EuGH zwar beiläufig, konkrete Bilanzierungsfragen seien in Ermangelung von Detailregelungen der Bilanzrichtlinie nach dem nationalen Recht, „gegebenenfalls unter Berücksichtigung internationaler Rechnungslegungsstandards (IAS)“, zu beurteilen, wobei stets die in der Bilanzrichtlinie aufgestellten allgemeinen Grundsätze uneingeschränkt zu beachten seien. Das bedeutet aber, anders als das FG Hamburg gemeint hat, nicht etwa, dass die IFRS bei der Auslegung der Bilanzrichtlinie heranzuziehen wären und von dort
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
1 Groh, DStR 1996, 1206 (1209); Hennrichs, StuW 1999, 138 (143 f.); Schön, FS Flick, 1997, 573 (580); Schulze-Osterloh, DStZ 1997, 281 (286). 2 Weber-Grellet, StuW 1995, 336 (349); ders., DStR 2013, 729 (730f.); ferner Pezzer, DStJG 14 (1991), 3 (19, 26). 3 Zutr. z.B. HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 250; Crezelius, DB 1994, 689 (691); Drüen/Mundfortz, DB 2014, 2245 (2246); Kahle, DB Beil. 4/2014, 8. 4 Vgl. dazu zuletzt nochmals BFH v. 31.1.2013 – GrS 1/10, BStBl. 2013, 317 (Tz. 74), m.w.N. 5 HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 46; Hennrichs, FS K. Schmidt, 2009, 581 (595 ff.); Hennrichs, WPg. 2011, 861 (867 ff.); Hennrichs/Pöschke, Der Konzern 2009, 532 (536 ff.); Hennrichs/Pöschke in Fink/ Schultze/Winkeljohann, Bilanzpolitik und Bilanzanalyse nach neuem Handelsrecht, 2010, 47 (55 ff.); Moxter, WPg. 2009, 7; Schulze-Osterloh in HdJ, Abt. I/1 (2010) Rz. 17; Stibi/Fuchs, DB 2009, Beil. 5, 11 f.; je m.w.N. 6 So deutlich BT-Drucks. 16/10067, 35: „die Auslegung der handelsrechtlichen Vorschriften [hat] weiterhin im Lichte der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung zu erfolgen, letztlich also aus den eigenen handelsrechtlichen Wertungen heraus“. 7 Zu einer Fallgruppenbildung für die Bedeutung der IFRS bei der Auslegung des modernisierten Handelsbilanzrechts s. Hennrichs/Pöschke, Der Konzern 2009, 532 (537 ff.). 8 EuGH C-306/99, BIAO, EuGHE 2003, I-1 ff., Rz. 118. Missverstanden und unrichtig insb. FG Hamburg EFG 2004, 746 (749 ff.); dagegen zu Recht BFH/NV 2005, 421; dazu Anm. Schulze-Osterloh, BB 2005, 488. 9 Näher Moxter, WPg. 2009, 7; Hennrichs, NZG 2005, 783 (784 ff.).
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dann zwangsläufig in das nationale Recht einstrahlen würden. Vielmehr deutet der EuGH lediglich eine Berücksichtigung der IFRS bei der Auslegung des nationalen Rechts an, und auch das nur „gegebenenfalls“, was wohl heißen soll, dass die IFRS zu berücksichtigen sind, wenn und soweit das nationale Recht auf sie Bezug nimmt. Das ist aber in Deutschland gerade nicht der Fall. Das modernisierte Handelsbilanzrecht will keine unmittelbare Einstrahlung der IFRS in die Auslegung und zur Lückenfüllung, sondern die GoB sollen, wie dargelegt, weiterhin eigenständig verstanden und fortentwickelt werden1. Erst recht ist keine direkte interpretatorische Einwirkung in das EStG gewollt. Freilich verliert die Kontroverse für die Steuerbilanz mit der Normierung eigener Bilanzierungsregeln im EStG ohnehin an Bedeutung.
2.2 Reichweite der Verweisung gem. § 5 I 1 EStG Der Verweis in § 5 I 1 EStG erfasst geschriebene und ungeschriebene GoB, d.h. im Grundsatz sämtliche Gewinnermittlungsregeln des HGB2. Die gesetzlichen Normen (die normhierarchisch über dem Richterrecht stehen) sind im unbestimmten Rechtsbegriff der handelsrechtlichen GoB i.S.d. § 5 I EStG enthalten, weil eine dem Gesetz entsprechende Rechnungslegung ohne weiteres als ordnungsmäßig anzuerkennen ist3. Der Begriff „Grundsätze“ meint nicht nur Prinzipien i.S. einer „oberen Normschicht“4, sondern umfasst alle, auch begrifflich konkretisierende (z.B. § 255 HGB: Anschaffungs- und Herstellungskosten, s. Rz. 232 ff.) und technisch-vollziehende Normen ordnungsmäßiger Rechnungslegung. Soweit nicht Wahlrechte zugelassen sind, enthalten die GoB als öffentliches Recht5 zwingende Regeln6. Widerspricht eine Vorschrift Zwecken der steuerlichen Gewinnermittlung, so kann dieser Widerspruch nur (aber immerhin) durch teleologische Reduktion des § 5 I EStG aufgelöst werden7 (s. Rz. 109 ff. zur Unmaßgeblichkeit von handelsrechtlichen Bilanzierungs- und Bewertungswahlrechten).
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Nach wohl h.M. umfasst die Verweisung gem. § 5 I 1 EStG grds. auch rechtsform- und branchenspezifische Vorschriften (§§ 264 ff. HGB)8. Hierfür wird angeführt, eine Bilanzierung, die den einschlägigen gesetzlichen Vorschriften entspreche, entspreche stets auch den GoB, wenn es um ein Rechtssubjekt und eine Fallgestaltung gehe, auf die sich die gesetzlichen Regelungen beziehen9. Richtigerweise sollte aber jedenfalls das „True and Fair View-Prinzip“ gem. § 264 II 1 HGB nicht maßgeblich werden (Rz. 74 und Rz. 93 ff.). Auch die nach § 315a HGB für den Konzernabschluss anzuwendenden IFRS sind keine GoB i.S. des § 5 I EStG (s. auch Rz. 54, 68 f.)10.
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1 BT-Drucks. 16/10067, 35. 2 Kirchhof/Crezelius13, § 5 Rz. 28; Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 204 ff.; Mathiak, FS Beisse, 1997, 323 (325 ff.); Hennrichs, StuW 1999, 138 (139 ff.); je m.w.N.; a.A. (der Verweis beziehe sich nicht auf die einzelnen Vorschriften des Dritten Buches des HGB, sondern nur auf solche, die Ausdruck der GoB seien) Schulze-Osterloh, DStR 2011, 534 (535); Schulze-Osterloh, ZHR 179 (2015), 9 (19). 3 Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 207; Hennrichs, StuW 1999, 138 (141); Hennrichs/Pöschke in Fink/ Schultze/Winkeljohann, Bilanzpolitik und Bilanzanalyse nach neuem Handelsrecht, 2010, 47 (51); a.A. insb. Schulze-Osterloh, DStJG 14 (1991), 127 ff.; Schulze-Osterloh in HdJ, Abt. I/1 Rz. 18; Schulze-Osterloh, DStR 2011, 534 (535); Weber-Grellet, Steuerbilanzrecht, 1996, § 6 Rz. 3. 4 So aber Weber-Grellet, DB 1994, 2405 f.; Weber-Grellet, DB 1997, 385 f. 5 Schulze-Osterloh in HdJ, Abt. I/1 Rz. 28; eingehend Icking, Die Rechtsnatur des Handelsbilanzrechts. Zugleich ein Beitrag zur Abgrenzung von öffentlichem und privatem Recht, Diss., 2000. 6 Dazu W. Müller, FS Moxter, 1994, 75; Claussen, FS Ulmer, 2003, 801 (809 ff.); Crezelius, ZIP 2003, 461. 7 Vgl. Hennrichs, StuW 1999, 138 (143 ff.) m.w.N. 8 Befürwortend BFH I R 69/11, BFHE 240, 34 = BFH/NV 2013, 840 (Tz. 22); H 5.2 EStR 2012; HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 251; Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 207; a.A. Beisse, FS Döllerer, 1988, 25 ff.; ders., DStZ 1998, 310 (314); Ballwieser, FS Budde, 1995, 43 (48 f.); Schulze-Osterloh, DStJG 14 (1991), 123 (129); Hennrichs, StuW 1999, 138 (150); W. Müller, DStR 2001, 1858 (1861); Voraufl. Rz. 71. 9 Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 207. 10 Tipke/Kruse/Drüen, § 145 AO Rz. 10 (2010); Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 208.
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§9
Rz. 72
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
2.3 Insb.: GoB und Europäische Bilanzrichtlinien, Unzuständigkeit des EuGH in Steuerstreitigkeiten 72
Umstritten ist die Bedeutung der europarechtlichen Bilanzrichtlinie für das Steuerbilanzrecht. Fraglich ist insb., ob das in Art. 4 III der Richtlinie 2013/34/EU1 verankerte True and Fair View-Prinzip aufgrund des GoB-Verweises gem. § 5 I 1 EStG auch für das Steuerbilanzrecht gilt2 und dieses damit gleichsam „durch die Hintertür“ europäisiert ist. Verfahrensrechtlich ist str., ob der EuGH zuständig ist, über Fragen des Steuerbilanzrechts zu entscheiden.
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Der BFH lehnt es (zu Recht, s. Rz. 74 f.) grds. ab, den EuGH in steuerbilanzrechtlichen Fragen anzurufen und zur Bilanzrichtlinie ergangene Entscheidungen auf den Steuerbilanzansatz zu übertragen3. Anders beurteilen einige FG das Vorlageerfordernis4. Ungeachtet dieses Streits hat der EuGH die ihm seitens der FG vorgelegten Fragen des Bilanzsteuerrechts stets entschieden5, zieht sich dabei allerdings darauf zurück, dass es bis zur Grenze einer missbräuchlichen Anrufung Sache des vorlegenden Gerichts sei, das Vorlageerfordernis zu beurteilen. Damit ist die umstr. Frage, ob der Verweis in § 5 I 1 EStG eine Vorlagepflicht in Steuerbilanzfragen begründet, nach wie vor nicht eindeutig beantwortet.
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Richtigerweise besteht in Steuerbilanzstreitigkeiten kein Gebot zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts im Lichte der gesellschaftsrechtlichen Bilanzrichtlinie und mithin auch keine Vorlagepflicht6. Unionsrechtlich ist eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Steuerbilanzrechts sicher nicht gefordert. Denn die Bilanzrichtlinie ist eine gesellschaftsrechtliche, keine steuerrechtliche Richtlinie. Aber auch aus nationalem Recht ergibt sich keine Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung des Steuerbilanzrechts. Eine zwingende interpretatorische Verknüpfung von Steuerbilanz- und Handelsbilanzrecht ist ungeachtet des geltenden Maßgeblichkeitsgrundsatzes nämlich nicht gewollt. Im Gegenteil wurde die Generalnorm des Art. 4 III der Bilanzrichtlinie (ex. Art. 2 III der 4. EG-RL), das sog. True and Fair View-Gebot, ganz bewusst nicht, wie in den ersten Entwürfen vorgesehen, als Generalnorm für alle Kaufleute vor die Klammer gezogen, sondern mit Blick auf die gewollte Steuerneutralität erst in dem Abschnitt „Ergänzende Vorschriften für Kapitalgesellschaften“ umgesetzt7. Der Gesetzgeber misstraute der Dynamik des True and Fair View-Gebots und 1 Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der RL 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates, s. Abl. EU v. 29.6. 2013, L 182, S. 19 ff. Dazu Blöink, KSzW 2013, 318; Velte, GmbHR 2013, 1125. 2 Befürwortend Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 89: das True and Fair View-Prinzip sei zwar kein GoB i.S. des § 5 I EStG, sei aber „zur Klärung von Auslegungsfragen – auch im Zusammenhang mit GoB – und zur Schließung von Gesetzeslücken“ heranzuziehen; s. auch Kirchhof/Crezelius13, § 5 EStG Rz. 38 f.; de Weerth, RIW 2003, 460 (462); Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 59, 83; zu Recht abl. dagegen KSM/Kempermann, § 5 EStG Rz. B61; Beisse, FS Döllerer, 1988, 25 ff.; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 43. 3 BFH GrS BStBl. 2000, 632 (637), kam entgegen der auf Vorlage des BGH ergangenen Tomberger-Entscheidung (EuGH v. 27.6.1996 – C-234/94, EuGHE 1996, I-3133) zur phasengleichen Aktivierung „allein unter steuerrechtlichen Gesichtspunkten zu einem anderen Ergebnis“; ebenso BFH BStBl. 1999, 129; 1999, 547 (551); 1999, 551 (557/558); 2002, 227; 2008, 340; vgl. aber auch BFH BStBl. 2001, 570 (572); 2003, 400 (402/403) (keine Vorlagebedürftigkeit mangels Divergenz von nationalem Handelsund Steuerbilanzrecht und 4. EG-Bilanzrichtlinie). 4 FG Köln EFG 1997, 1166; FG Hamburg EFG 1999, 1022; zust. Kirchhof/Crezelius13, § 5 EStG Rz. 8 ff. 5 EuGH v. 14.9.1999 – C-275/97, DE + ES Bauunternehmung, EuGHE 1999, I-5331, auf Vorlage des FG Köln; EuGH v. 7.1.2003 – C-306/99, BIAO, EuGHE 2003, I-1 (insb. Tz. 70) = BStBl. 2004, 144, auf Vorlage des FG Hamburg; zuletzt wieder EuGH v. 3.10.2013 – C-322/12, GIMLE (insb. Tz. 28); aus der Lit. Dziadkowski, IStR 2004, 323; de Weerth, RIW 2003, 460; Hennrichs, NZG 2005, 783 u. ausf. Bärenz, Zum Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das Steuerbilanzrecht, Diss., 2004. 6 Schlussanträge des GA Jacobs v. 15.11.2001 – C-366/99 (BIAO), EuGHE 2003, I-5 ff. (Rz. 40 ff.); Bärenz, DStR 2003, 492; Christiansen, DStR 2007, 1178; Hennrichs, StuW 1999, 138 (149 ff.); S. Wagner, INF 2003, 301; je m.w.N. 7 Vgl. Biener/Berneke, Bilanzrichtlinien-Gesetz, 1986, 7 (10).
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Hennrichs
Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung
Rz. 83
§9
wollte dieses für die Steuerbilanz gerade nicht übernehmen. Diese gesetzgeberische Grundentscheidung darf nicht dadurch unterlaufen werden, dass die Gerichte in Steuerbilanzrechtsstreitigkeiten undifferenziert auf die Bilanzrichtlinie zurückgreifen. Denn für deren Interpretation markiert das True and Fair View-Gebot nach der Rspr. des EuGH die „Hauptzielsetzung“ (Rz. 94). Bei einer interpretatorischen Verknüpfung von Steuerbilanzrecht und Bilanzrichtlinie würde also letztlich das True and Fair View-Prinzip in die Steuerbilanz durchschlagen. Eben das ist nicht gewollt. Besteht mithin in Steuerbilanzrechtsstreitigkeiten materiell-rechtlich kein Gebot zur richtlinienkonformen Auslegung, so hat dies verfahrensrechtlich zur Konsequenz, dass dann auch keine Zuständigkeit des EuGH für das Steuerbilanzrecht besteht1. Die zurückhaltende Vorlagepraxis des BFH ist daher zu begrüßen. Einstweilen frei.
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2.4 Formelle Grundsätze Die folgenden anerkannten Einzelgrundsätze sind über § 5 I 1 EStG und § 141 I 2 AO auch im Steuerrecht zu beachten, soweit nicht Spezialvorschriften des Steuerrechts entgegenstehen. Dabei kann zwischen formellen und materiellen Grundsätzen unterschieden werden:
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Formelle GoB beinhalten Ordnungsvorschriften der äußeren Form der Buchführung. Aus ihnen leitet sich die Darstellung, nicht der Inhalt der Buchführung ab. a) Den Kernsatz enthält § 238 I 2, 3 HGB, entsprechend § 145 I AO2:
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„Die Buchführung muss so beschaffen sein, dass sie einem sachverständigen Dritten innerhalb angemessener Zeit einen Überblick über die Geschäftsvorfälle und über die Lage des Unternehmens vermitteln kann. Die Geschäftsvorfälle müssen sich in ihrer Entstehung und Abwicklung verfolgen lassen.“
Die Buchungen sind vollständig, richtig, zeitgerecht und geordnet vorzunehmen (§§ 239 II; 243 III HGB; § 146 I 1 AO). Jeder zu verbuchende Geschäftsvorfall verlangt einen Beleg; keine Buchung ohne Beleg, sog. Belegprinzip (s. § 257 I Nr. 4 HGB). Elektronische Buchführung und Aufbewahrung in geeigneter Form ist zulässig (§ 257 III HGB; § 146 V AO; i.E. hierzu § 21 Rz. 178 ff.), entpflichtet aber nicht von der Einhaltung der GoB3. Zu bilanzieren ist in Euro (§ 244 HGB); Fremdwährungsverbindlichkeiten sind zum Devisenkassamittelkurs umzurechnen (§ 256a HGB). b) Der Jahresabschluss (die Bilanz) ist klar und übersichtlich aufzustellen (§ 243 II HGB; Art. 4 II RL 2013/34/EU). Die Form der Darstellung, insb. die Gliederung der aufeinander folgenden Bilanzen und Gewinn- und Verlustrechnungen, ist nach dem Grundsatz formeller Bilanzkontinuität prinzipiell beizubehalten (§ 265 I HGB betr. Kapitalgesellschaften; allgemeiner GoB i.S.d. § 243 I HGB; ferner § 252 I Nr. 1 HGB). Verschiedene Posten der Bilanz sowie Aufwendungen und Erträge der Gewinn- und Verlustrechnung dürfen nicht miteinander verrechnet werden (§ 246 II 1 HGB), sog. Bruttoprinzip. Die Vermögensgegenstände und Schulden sind grds. einzeln, nicht saldiert zu bewerten (§ 252 I Nr. 3 HGB); Ausnahme in § 246 II 2 HGB für Pensionssicherungsgeschäfte.
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Formell ordnungsmäßige Bücher und Bilanzen begründen eine widerlegbare Vermutung der Richtigkeit der Buchführung als Gesamtwerk (s. § 158 AO). Das Ergebnis einer formell ordnungsmäßigen Buchführung kann aber ganz oder teilweise verworfen werden, soweit die Buchführung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit materiell unrichtig ist (BFH BStBl. 1992, 55).
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1 Schlussanträge des GA Jacobs v. 15.11.2001 – C-366/99 (BIAO), EuGHE 2003, I-5 ff. (Rz. 40 ff.); Hennrichs, StuW 1999, 138 (150 f.); a.A. Kirchhof/Crezelius13, § 5 EStG Rz. 10. 2 Die Vorschriften der AO gelten für Stpfl., die nicht nach Handelsrecht zur Buchführung und Bilanzierung verpflichtet sind. I.Ü. ergänzen sie die handelsrechtlichen Vorschriften. 3 Dazu Tipke/Kruse/Drüen, § 145 AO Rz. 26–47 (2010).
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§9
Rz. 84
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Einstweilen frei.
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
2.5 Materielle Grundsätze1 2.5.1 Prinzipien der Richtigkeit und Vollständigkeit; GoB der Nichtbilanzierung schwebender Geschäfte 85
Die Buchungen müssen sachlich richtig sein (§ 239 II HGB; § 146 I 1 AO). Das wird mitunter als Prinzip der Wahrheit bezeichnet. Bilanzwahrheit ist aber ein zu viel versprechender Begriff. Gemeint ist lediglich sachliche Übereinstimmung mit dem Normensystem des Handelsbilanzrechts (deshalb hier Prinzip der Richtigkeit genannt)2. Die Buchungen müssen vollständig sein (§ 239 II HGB; § 146 I 1 AO). In die Bilanz sind die bilanzierungsfähigen Vermögensgegenstände, Schulden und Rückstellungen sowie die Rechnungsabgrenzungsposten grds. vollständig aufzunehmen (§ 246 I HGB); sie dürfen einerseits nicht weggelassen, andererseits aber auch nicht fingiert werden (Art. 4 III 1 RL 2013/34/EU). Bei vollständiger Abschreibung ist ein Erinnerungswert anzusetzen. Grds. dürfen Posten auch nicht saldiert werden (Verrechnungsoder Saldierungsverbot, § 5 Ia 1 EStG; § 246 II HGB; Art. 6 I lit. g, II RL 2013/34/EU). Die handelsbilanzrechtlich erlaubte Saldierung von sog. Planvermögen zur Deckung von Altersversorgungsverpflichtungen (§ 246 II 2 HGB) ist steuerbilanzrechtlich in Durchbrechung der Maßgeblichkeit untersagt (§ 5 Ia 1 EStG).
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Das Vollständigkeitsprinzip gilt gem. § 246 I 1 HGB nur, „soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist“. Eine solche Ausnahme vom Vollständigkeitsgebot ist der GoB der Nichtbilanzierung schwebender Geschäfte3, der auch in § 252 I Nr. 4 und in § 249 I 1 2. Alt. HGB angedeutet ist. Danach sind Forderungen und Verbindlichkeiten aus schwebenden Geschäften zunächst nicht zu bilanzieren4. Solche Forderungen und Verbindlichkeiten aus gegenseitigen Verträgen sind zwar an sich ohne Weiteres Wirtschaftsgüter (s. Rz. 120 ff., 140) und damit abstrakt aktivierungs- und passivierungsfähig. Solange ein Geschäft aber noch in dem Sinne schwebt, dass der zur Sach- oder Dienstleistung Verpflichtete seine den Vertrag kennzeichnende Hauptleistung noch nicht erbracht hat (z.B. der Verkäufer die Sache noch nicht geliefert hat), werden die vertraglichen Forderungen und Verbindlichkeiten dennoch nicht bilanziert. Denn gemäß dem Realisationsprinzip (§ 252 I Nr. 4 HGB) dürfte der Verkäufer seine Forderung zunächst ohnehin nicht höher ansetzen als seine Verbindlichkeit. Da sich infolgedessen Aktivund Passivposten aufheben würden und der Ansatz lediglich eine Bilanzverlängerung zur Folge hätte, verzichtet man auf die Erfassung des schwebenden Geschäfts in der Bilanz. Geleistete bzw. erhaltene Anzahlungen sind entsprechend erfolgsneutral zu verbuchen (§ 266 II Buchst. B Nr. I.4, III Buchst. C. Nr. 3 HGB; Rz. 156, 413)5. Die Rechte und Pflichten aus dem schwebenden Vertrag werden erst bilanzwirksam, wenn und soweit das Gleichgewicht der beiderseitigen Leistungsverpflichtungen gestört ist (z.B. durch einen Erfüllungsrückstand oder einen Verpflichtungsüberschuss; im letzteren Fall ist handelsrechtlich eine Drohverlustrückstellung gem. § 249 I 1 2. Alt. HGB zu bilden, die steuerrechtlich gem. § 5 IVa 1 EStG verboten ist; dazu Rz. 190). Sobald die Sach- oder Dienstleistung erbracht ist, z.B. die gekaufte 1 Kölner EStGE, Rz. 301, 400; s. auch den Vorschlag von Herzig IAS/IFRS und steuerliche Gewinnermittlung, 2004, 370 ff.; Herzig/Hausen, DB 2004, 1, für eine modifizierte Überschussrechnung; vgl. auch Kahle/Schulz, BFuP 2011, 455; Kahle/Günter, StuW 2012, 43 (52) (Konzept einer vereinfachten Vermögensrechnung). 2 Zutr. KSM/Kempermann, § 5 EStG Rz. B60 ff. (B62); s. ferner Kirchhof/Crezelius13, § 5 EStG Rz. 39. 3 Friederich, Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung für schwebende Geschäfte2, 1976; Bieg, Schwebende Geschäfte in Handels- und Steuerbilanz, Diss., 1977; Crezelius, FS Döllerer, 1988, 81; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 133 ff.; Nieskens, FR 1989, 537; Woerner in Mellwig/ Moxter/Ordelheide (Hrsg.), Handelsbilanz und Steuerbilanz, 1989, 33. 4 HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 540; s. auch BFH v. 9.1.2013 – I R 33/11, BFHE 240, 226 (Tz. 44): keine Passivierung der Verpflichtung, bei Rückgabe von sog. Einheitsleergut (s. Rz. 159) die erhaltenen Pfandgelder an die Kunden zurückzuzahlen (anders bei Individual- und Brunneneinheitsleergut, ebda., Tz. 45 ff.). 5 HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 572 f.
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Hennrichs
Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung
Rz. 89
§9
Sache vom Verkäufer an den Käufer geliefert worden ist, schwebt das Geschäft nicht mehr1. Dann hat der Verkäufer die gelieferte Sache aus- und stattdessen die Kaufpreisforderung einzubuchen. Erst dadurch kommt es zur Gewinnrealisierung (s. auch Rz. 88 f. und Rz. 413).
2.5.2 Prinzip der Bilanzidentität und Stetigkeit Das Prinzip der Bilanzidentität (formelle Bilanzkontinuität2) verlangt die Übereinstimmung der Wertansätze in der Eröffnungsbilanz des Geschäftsjahres mit denen in der Schlussbilanz des vorhergehenden Geschäftsjahres (§ 252 I Nr. 1 HGB; Art. 6 I lit. e RL 2013/34/EU). Nach dem Prinzip der Stetigkeit (oder materielle Bilanzkontinuität) sind die auf den vorhergehenden Jahresabschluss angewandten Ansatz- und Bewertungsmethoden beizubehalten (§§ 246 III; 252 I Nr. 6 HGB; Art. 6 I lit. b RL 2013/34/EU)3. Mit der Normierung eines Gebots der Ansatzstetigkeit in § 246 III HGB hat das BilMoG die Bilanzkontinuität noch verstärkt4. Aus beiden miteinander verwandten GoB ergibt sich die sog. Zweischneidigkeit der Bilanz mit der Folge, dass sich eine zu niedrige oder zu hohe Bewertung in den Folgejahren ausgleicht. Von diesen materiellen GoB ist der von der Rspr. des BFH zur Korrektur fehlerhafter Bilanzansätze entwickelte formelle Bilanzenzusammenhang (dazu Rz. 38) zu unterscheiden.
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2.5.3 Realisations- und Vorsichtsprinzip Nach der allgemeinen Bewertungsvorschrift des § 252 I Nr. 4 HGB (Art. 6 I lit. c RL 2013/34/EU) ist vorsichtig zu bewerten, namentlich sind alle vorhersehbaren Risiken und Verluste, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, zu berücksichtigen, selbst wenn diese erst zwischen dem Abschlussstichtag und dem Tag der Aufstellung des Jahresabschlusses bekannt geworden sind; Gewinne sind grds. erst und nur zu berücksichtigen, wenn sie am Abschlussstichtag realisiert sind (Rz. 400 ff.). Das BilMoG hat dieses zentrale Bekenntnis des deutschen Bilanzrechts zum Realisations- und Vorsichtsprinzip nicht grds. angetastet und folglich keinen Paradigmenwechsel zur international vorherrschenden Konzeption einer „fair presentation“ vollzogen (s. Rz. 54), auch wenn die Möglichkeit von Unterbewertungen im Interesse verbesserter Informationsfunktion der Handelsbilanz eingeschränkt wurde. Das Vorsichtsprinzip gilt insb. für die Bewertung (etwa bei der Vornahme von Schätzungen5; s. ferner § 253 V 2 HGB: Beibehaltung des niedrigeren Wertansatzes eines entgeltlich erworbenen Geschäfts- und Firmenwertes). Aber auch Ansatzvorschriften sind vom Gedanken der vorsichtigen Bilanzierung getragen (z.B. das Aktivierungsverbot gem. § 5 II EStG; zum Begriff des Wirtschaftsguts Rz. 120 ff.). Das Vorsichtsprinzip dient dem Zweck, die Haftungssubstanz zu erhalten und überhöhte Gewinnausschüttungen (eben auch an das FA) zu vermeiden (s. bereits Rz. 48). Ausfluss des Vorsichtsgedankens sind das Anschaffungswert- und Realisationsprinzip sowie das Imparitätsprinzip.
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a) Nach dem Realisationsprinzip (§ 252 I Nr. 4 letzter Hs. HGB; Art. 6 I lit. c, i) RL 2013/34/EU)6 darf ein Gewinn grds. erst ausgewiesen werden, wenn er durch Umsatz (Veräußerung oder sonstigen Leistungsaustausch) verwirklicht ist; Vermögensmehrungen dürfen
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1 BFH BStBl. 2003, 279 (280). 2 Kleindiek in Großkomm. HGB5, § 252 HGB Rz. 8. 3 Dazu Kleindiek in Großkomm. HGB5, § 252 HGB Rz. 46 ff.; ausf. Hennrichs, Wahlrechte im Bilanzrecht der Kapitalgesellschaften, Habil., 1999, 251 ff.; Kalabuch, Der Stetigkeitsgrundsatz in der Einzelbilanz nach Handels- und Ertragsteuerrecht, 1994; J. Müller, Das Stetigkeitsprinzip im neuen Bilanzrecht, 1989; Rümele, Die Bedeutung der Bewertungsstetigkeit für die Bilanzierung, 1991. 4 S. Küting/Tesche/Tesche, StuB 2008, 655. 5 Vgl. Hennrichs, Ubg. 2011, 788 (792 ff.), m.w.N. 6 Eingehend Dauber, Das Realisationsprinzip als Grundprinzip der steuerrechtlichen Gewinnermittlung, Diss., 2003; Euler, Grundsätze ordnungsgemäßer Gewinnrealisierung, 1989; Gelhausen, Das Realisationsprinzip im Handels- und Steuerbilanzrecht, Diss., 1985; Sessar, Grundsätze ordnungsmäßiger Gewinnrealisierung im deutschen Bilanzrecht, 2007; ferner Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (315 ff.); je m.w.N.
Hennrichs
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§9
Rz. 90
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
nur erfasst werden, wenn sie disponibel sind (BFH BStBl. 2012, 190). D.h.: Die bloße Wertsteigerung ruhender Wirtschaftsgüter wird (noch) nicht im bilanziellen Gewinn erfasst. Zweck des Realisationsprinzips ist es zu verhindern, dass bereits vage Gewinnchancen und bloße Gewinnhoffnungen zu einer Gewinnerhöhung führen1. Realisation setzt grds. eine Markttransaktion voraus (dazu Rz. 412). Gewinnrealisierung tritt (erst) dann ein, wenn der Leistungsverpflichtete die von ihm geschuldeten Erfüllungshandlungen in der Weise erbracht hat, dass ihm die Forderung auf die Gegenleistung (z.B. die Zahlung) – von den mit jeder Forderung verbundenen Risiken abgesehen – so gut wie sicher ist (Topos der „Quasi-Sicherheit“, s. auch Rz. 412). Zur Bilanzierung schwebender Geschäfte bereits Rz. 86 u. Rz. 413. 90
b) Imparitätsprinzip2: Wertminderungen, insb. Zeitwertminderungen unter die historischen Anschaffungs- oder Herstellungskosten, werden dagegen bereits vor Realisierung erfasst (s. die Teilwertabschreibung gem. § 6 I Nr. 1 Satz 2, Nr. 2 Satz 2 EStG; dazu näher Rz. 320 ff.). Vorhersehbare, bis zum Abschlussstichtag entstandene und spätestens bis zum Tag der Bilanzerstellung bekannt gewordene Risiken und Verluste sind auch dann zu berücksichtigen, wenn sie noch nicht realisiert worden sind (§ 252 I Nr. 4 HGB; Art. 6 I lit. c, ii) RL 2013/34/EU); daher: Imparität zur Gewinnrealisierung. Nach diesem Imparitätsprinzip sind handelsrechtlich auch Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften zu bilden (§ 249 I 1 HGB). In Durchbrechung des Imparitätsprinzips gilt für solche Verlustrückstellungen steuerrechtlich allerdings ein Ansatzverbot, § 5 IVa 1 EStG (Rz. 190). Die steuerrechtliche Legitimation des Imparitätsprinzips ist umstritten3; es wird vom Steuergesetzgeber zunehmend eingeschränkt (Rz. 100 ff., 104).
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c) Dem Realisationsprinzip zugeordnet ist ferner das Anschaffungswertprinzip (Art. 6 I lit. i RL 2013/34/EU). Vermögensgegenstände sind höchstens mit ihren Anschaffungs- oder Herstellungskosten anzusetzen (§ 6 I Nr. 1 Satz 1, Nr. 2 Satz 1 EStG; Obergrenze der Bewertung), ohne Rücksicht auf Wertsteigerungen vor ihrem Ausscheiden (§§ 252 I Nr. 4; 253 I; 255 I HGB). Maßgebend sind die tatsächlichen Anschaffungskosten (Prinzip der Maßgeblichkeit der Gegenleistung4), selbst wenn diese deutlich unter5 oder über6 dem Zeitwert des WG liegen. Eine singuläre Ausnahme7 zum Anschaffungswertprinzip in der Steuerbilanz ordnet § 6 I Nr. 2b EStG; § 340e III HGB i.d.F. des BilMoG für bestimmte Finanzanlagen von Kreditinstituten und Finanzdienstleistern an; sie sind mit dem beizulegenden Zeitwert (§ 255 IV HGB) abzüglich eines Risikoabschlags (§ 340e III HGB) anzusetzen, § 6 I Nr. 2b EStG.
2.5.4 Wirtschaftliche Betrachtungsweise 92
Der Grundsatz der wirtschaftlichen Betrachtungsweise ist u.a. in § 246 I 2 HGB (Art. 6 I lit. h RL 2013/34/EU; s. auch § 39 AO) ausgedrückt. Im Übrigen hat die Auslegung des (Steu1 Vgl. Gelhausen, Das Realisationsprinzip im Handels- und Steuerbilanzrecht, Diss., 1985, 64 ff.; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, § 6 I 1. 2 Vgl. dazu z.B. Schulze-Osterloh, FS Forster, 1992, 653; Kessler, DStR 1994, 1289; U. Müller, DB 1996, 689; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (317 ff.). 3 Befürwortend HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 55; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (317 ff.); J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 367 ff.; abl. (gleichheitsrechtlich gebe es für ein Imparitätsprinzip bei der steuerlichen Gewinnermittlung keinen Grund) Wendt, FS Kirchhof, Bd. II, 2013, § 180 Rz. 20; je m.w.N. 4 Kahle/Hiller, DStZ 2013, 462 (464); dies., WPg. 2013, 403 (404); MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 255 HGB Rz. 13. 5 S. EuGH v. 3.10.2013 – C-322/12, GIMLE (dazu auch Rz. 96a); a.A. Schulze-Osterloh, NZG 2014, 1 ff.; wohl auch MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 255 HGB Rz. 45. 6 Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 41; MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 255 HGB Rz. 16. 7 Nur handelsbilanzrechtlich gibt es eine weitere Durchbrechung des Anschaffungswertprinzips bei der Zeitwertbewertung von sog. Planvermögen (§ 246 II 2 i.V.m. § 253 I 4 HGB i.d.F. durch das BilMoG). Steuerbilanziell bleibt es insoweit bei dem strikten Anschaffungswertprinzip (s. auch § 5 Ia 1 EStG, wonach die Saldierungsmöglichkeit des § 246 II HGB für sog. Planvermögen steuerbilanziell nicht eröffnet ist).
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Hennrichs
Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung
Rz. 93
§9
er-)Bilanzrechts stets nach dem Sinn und Zweck der Norm zu erfolgen (teleologische Auslegung, § 5 Rz. 70 f.). Da es der grundlegende Sinn und Zweck des (Steuer-)Bilanzrechts ist, die wirtschaftliche Lage des Kaufmanns sachgerecht zu erfassen, gehört eine wirtschaftliche Betrachtungsweise nach deutschem Rechtsverständnis zum methodischen Grundinstrumentarium1. Freilich bedeutet wirtschaftliche Betrachtungsweise bei der Auslegung und Anwendung des (Steuer-)Bilanzrechts nicht, die rechtlichen Grundlagen des jeweiligen Geschäftsvorfalles zu vernachlässigen oder allgemein den (vermeintlichen) wirtschaftlichen Gehalt über die rechtliche Form zu stellen (§ 5 Rz. 71)2. Geboten ist vielmehr eine wirtschaftliche Betrachtungsweise auf der Grundlage der rechtlichen Strukturen3. Deshalb ist bspw. der Fall des Verkaufs mit Rückkauf nach deutschem (Steuer-)Bilanzrecht nicht als bloße Nutzungsüberlassung zu bilanzieren4.
2.5.5 Wesentlichkeit Der Grundsatz der Wesentlichkeit (Art. 6 I lit. j, IV RL 2013/34/EU) ist ebenfalls teilweise in besonderen Einzelvorschriften ausgedrückt. Mit dem Gedanken der Wesentlichkeit wird z.B. die Sofortabschreibung für geringwertige Wirtschaftsgüter legitimiert5 (s. § 6 II, IIa EStG, Rz. 314 f.; s. außerdem z.B. § 6 I Nr. 2a EStG i.V.m. § 256 HGB [Rz. 283 f.], §§ 240 III, IV HGB [Rz. 270], § 296 II HGB). Demgegenüber kommt dem Gesichtspunkt der (Un-)Wesentlichkeit auf der Passivseite der Bilanz keine ansatzbegrenzende Wirkung zu. Auch unwesentliche Verbindlichkeiten und Rückstellungen sind zwingend anzusetzen (Rz. 187)6.
92a
2.5.6 True and Fair View Umstr. ist, ob das in § 264 II 1 HGB (in Umsetzung des Art. 4 III Bilanzrichtlinie7, ex Art. 2 III der 4. EG-Bilanzrichtlinie) normierte Gebot, wonach der Jahresabschluss einer Kapitalgesellschaft ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanzund Ertragslage der Gesellschaft zu vermitteln hat („True and Fair View“-Prinzip), als GoB gem. § 5 I 1 EStG maßgeblich wird (s. bereits Rz. 72 ff.)8. Richtigerweise ist das zu verneinen: 1 Arbeitskreis Bilanzrecht Hochschullehrer Rechtswissenschaft, NZG 2014, 892 (894); dies. BB 2008, 152 (155 f.); grundl. bereits Döllerer, JbFSt. 1979/80, 195 (201 ff.); aus jüngerer Zeit z.B. Breidert/Moxter, WPg. 2007, 912 (913 ff.); Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 209; je m.w.N. 2 S. auch Kirchhof/Crezelius13, § 5 EStG Rz. 36; Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 209 („wirtschaftliche – nicht: betriebswirtschaftliche – Betrachtungsweise“); Hoffmann, StuB 2013, 557: „substance over form“ bedeutet nicht „substance without form“. 3 Arbeitskreis Bilanzrecht Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2008, 152 (155 f.); Kirchhof/Crezelius13, § 5 EStG Rz. 36. Streng an der formalen Einkleidung orientiert ist dagegen die Würdigung des Sachverhalts durch EuGH v. 3.10.2012 – C-322/12, GIMLE; dazu Rz. 96a f. m.w.N. 4 S. z.B. BFHE 190, 446 = BStBl. 2000, 527; BFH BStBl. 2013, 287; BFH BStBl. 2009, 705; a.A. Lüdenbach/Freiberg, BB 2014, 2219 (2225); Hoffmann, GmbHR 2011, 363. 5 Zum Handelsrecht s. MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 139; Kleindiek in Großkomm. HGB5, § 252 HGB Rz. 59; je m.w.N. 6 BFHE 234, 239; BFH/NV 2012, 217; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 23; Wendt, FS Herzig, 2010, 517 ff.; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 690. 7 Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates, s. Abl. EU v. 29.6.2013, L 182, S. 19 ff. Dazu Blöink, KSzW 2013, 318; Velte, GmbHR 2013, 1125. 8 Bejahend de Weerth, RIW 2003, 460 (462); Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 59, 83; Blümich/ Krumm, § 5 EStG Rz. 89. Verneinend Hennrichs, StuW 1999, 138 (149 f.); KSM/Kempermann, § 5 EStG Rz. B61 i.Erg. ebenso Moxter, DStZ 2002, 243 (244) (allerdings mit der angreifbaren These, dass § 264 II 1 HGB lediglich ein „Informations-GoB“ sei). Offenlassend BFH v. 7.8.2000 – GrS 2/99, BStBl. 2000, 632 (Tz. 51, juris).
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Rz. 94
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Der EuGH hat zwar verschiedentlich die übergeordnete Bedeutung von „True and Fair View“ als „Hauptzielsetzung“ der Richtlinie herausgestellt1. Folgt man dem, so fließt der Grundsatz des „True and Fair View“ als Argumentationstopos in die Auslegung der Einzelvorschriften der Bilanzrichtlinie (sog. interpretative Funktion2) und in die Schließung von Regelungslücken ein3. Dies ist sodann im Wege der richtlinienkonformen Auslegung auch bei der Interpretation des angeglichenen nationalen Handelsbilanzrechts zu berücksichtigen. Das gilt uneingeschränkt aber eben nur für die Rechtsformen, die der Bilanzrichtlinie unterliegen, also für Kapitalgesellschaften und gem. § 264a HGB gleichgestellte Personenhandelsgesellschaften ohne natürliche Person als Vollhafter (z.B. GmbH & Co. KG)4. Für andere Rechtsformen normiert die Bilanzrichtlinie demgegenüber keine Vorgaben und gibt es daher unionsrechtlich auch kein Gebot zur richtlinienkonformen Auslegung (s. bereits Rz. 72 ff.).
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Ausweislich der Materialien zum BilRiG soll der Grundsatz des True and Fair View in das Steuerbilanzrecht nicht einwirken5. Es war ein besonderes Anliegen des Gesetzgebers, die Richtlinie steuerneutral umzusetzen6. Der Gesetzgeber misstraute der Dynamik des True and Fair View-Prinzips und wollte im Allgemeinen Teil, der für alle Kaufleute gilt, allein die tradierten GoB normieren (Rz. 74). Durch die systematische Verortung des Einblicksgebots in § 264 II 1 HGB, also in der Eingangsvorschrift des Besonderen Teils, der nur für Kapitalgesellschaften (und gleichgestellte Personenhandelsgesellschaften) gilt, hat der deutsche Gesetzgeber deutlich gemacht, dass das unionsrechtliche Prinzip des True and Fair View für Nicht-Kapitalgesellschaften und für die steuerliche Gewinnermittlung nicht gelten soll.
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Auch im BilMoG hat der Gesetzgeber zu Recht davon abgesehen, das True and Fair View-Prinzip systematisch umzustellen oder einen allgemeinen Grundsatz der Fair Presentation zu normieren. Die Normierung der zentralen GoB des § 252 HGB ist nahezu unverändert geblieben. Namentlich sind das Vollständigkeits-, das Anschaffungswert- und Realisationsprinzip, die der Gesetzgeber zutreffend als „Eckpfeiler“ des bisherigen GoB-Systems bezeichnet, unverändert geblieben7. Stattdessen gibt es einzelne Objektivierungen, z.B. durch Einschränkung von Wahlrechten (§ 249 II 1 HGB) und Einführung von Wertaufholungsgeboten (§ 253 V 1 HGB). Eine Fair Value-Bewertung nach beizulegenden Zeitwerten (= Marktpreisen, § 255 IV 1 HGB) wird nicht flächendeckend, sondern nur bezogen auf einzelne, besondere Vermögensgegenstände (insb. Finanzinstrumente des Handelsbestands von Kreditinstituten, § 340e III HGB) angeordnet8 (s. auch Rz. 266). Hieraus lässt sich schließen, dass der Gesetzgeber trotz deutlicher Stärkung der Informationsfunktion der Handelsbilanz auch mit dem BilMoG True and Fair View nicht zum allgemein gültigen GoB erheben wollte. Gläubigerschutz und Informationsfunktion werden auf gleiche Ebene gestellt (BR-Drucks. 344/08, 128). Die Deduktionsbasis für die Auslegung der handelsrechtlichen Bilanzierungsvorschriften und für die Fortentwicklung der GoB hat sich durch das BilMoG daher nicht grundl. verändert9.
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
1 Grundl. EuGH v. 27.6.1996 – C-234/94, Tomberger, EuGHE 1996, I-3133 Rz. 17; ferner zum Steuerbilanzrecht: EuGH v. 14.9.1999 – C-275/97, DE + ES Bauunternehmung, EuGHE 1999, I-5331 Rz. 26; EuGH v. 7.1.2003 – C-306/99, BIAO, EuGHE 2003, I-1 Rz. 70 ff. = BStBl. 2004, 144; zuletzt EuGH v. 3.10.2013 – C-322/12, GIMLE (Rz. 30); zur GIMLE-Entscheidung krit. Schulze-Osterloh, NZG 2014, 1; Dziadkowski, IStR 2014, 461; Hoffmann, StuB 2014, 277. 2 van Hulle, FS Budde, 1995, 313 (321 f.). 3 Hennrichs, Wahlrechte im Bilanzrecht der Kapitalgesellschaften, 1999, 133 ff. 4 Hennrichs, ZGR 1997, 66. 5 Hennrichs, StuW 1999, 138 (149 f.); i.Erg. wie hier Moxter, DStZ 2002, 243 (244); wohl auch HHR/ Anzinger, § 5 EStG Anm. 45 (der „in § 264 II HGB übernommene Grundsatz des True and Fair View gehört nicht zu d[ies]em Kernbestand der […] GoB“). 6 Biener/Berneke, Bilanzrichtlinien-Gesetz, 1986, S. 4 f., 7, 17, 19, 22 und passim. 7 Vgl. Hennrichs, FS K. Schmidt, 2009, 581 (583 ff., 593 f.); Hennrichs, WPg. 2011, 861 ff. 8 Krit. Arbeitskreis „Steuern und Revision“ im BWA, DStR 2008, 2509; Schildbach, DStR 2008, 2381 (Finanzmarktkrise); Gemeinhardt/Bode, StuB 2008, 170 u. 460; Scharpf/Schaber, DB 2008, 2552. 9 Zutr. Baetge/Kirsch/Solmecke, WPg. 2009, 1211; Hennrichs, WPg. 2011, 861; Kirsch, StuB 2008, 453; Wüstemann/Wüstemann, FS Krawitz, 2010, 751; umfassend Solmecke, Auswirkungen des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes (BilMoG) auf die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, 2009, 123 ff.
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Hennrichs
Rz. 96b
§9
Freilich sind die interpretative Funktion (Rz. 94) und die Abweichungsfunktion (Art. 4 IV RL 2013/34/EU) des True and Fair View-Prinzips nach der neueren Rspr. des EuGH in der Rs. GIMLE1 ohnehin zu relativieren (womit die praktische Bedeutung des Streits, ob § 264 II 1 HGB einen GoB darstellt und für die steuerliche Gewinnermittlung maßgeblich wird oder nicht, sich ebenfalls relativiert). Der EuGH betont, dass sich die Anwendung des Grundsatzes der sog. Bilanzwahrheit „möglichst weitgehend an den in Art. 31 der Vierten Richtlinie (jetzt Art. 6 RL 2013/34/EU) enthaltenen allgemeinen Grundsätzen zu orientieren hat, wobei dem in Art. 31 I Buchst. c dieser Richtlinie (jetzt Art. 6 I Buchst. c RL 2013/34/EU) vorgesehenen Grundsatz der Vorsicht besondere Bedeutung zukommt“.2 Außerdem sei der Grundsatz der Bilanzwahrheit „auch im Licht des Art. 32 der Vierten Richtlinie (jetzt Art. 6 I Buchst. i RL 2013/34/EU) genannten Grundsatzes zu verstehen, wonach der Bewertung der Posten im Jahresabschluss die Anschaffungs- und Herstellungskosten der Vermögensgegenstände zugrunde gelegt werden“3. Danach „stützt sich das den tatsächlichen Verhältnissen entsprechende Bild, das der Jahresabschluss einer Gesellschaft vermitteln muss, auf eine Bewertung der Vermögensgegenstände nicht aufgrund ihres tatsächlichen Werts, sondern aufgrund ihrer ursprünglichen Kosten“.4 Im Fall einer Anschaffung von Vermögensgegenständen unter ihrem Verkehrswert sollen deshalb die vereinbarten Anschaffungskosten maßgeblich sein. Selbst in einem Fall, in dem der Anschaffungspreis eines Vermögensgegenstands den Verkehrswert um den Faktor 3400 (!) unterschreitet (und damit ganz erhebliche stille Reserven in die Gesellschaft „eingelegt“ werden), erfordert das True and Fair View-Prinzip nach der Lesart des EuGH keine Durchbrechung des Anschaffungspreisprinzips5. Vielmehr stellt der EuGH (übrigens mit der deutschen Regierung!) fest, „dass die Unterbewertung von Vermögensgegenständen in den Büchern der Gesellschaften an sich keinen ‚Ausnahmefall‘ i.S.d. Art. 2 V der Vierten Richtlinie (jetzt Art. 4 IV RL 2013/34/EU) darstellt“ und „nur die notwendige Folge der Entscheidung des Unionsgesetzgebers in Art. 32 der Vierten Richtlinie (jetzt Art. 6 I Buchst. i RL 2013/34/EU) für eine Bewertungsmethode [ist], die sich nicht auf den tatsächlichen Wert der Vermögensgegenstände, sondern auf deren ursprüngliche Kosten stützt“.6 So verstanden entfaltet das True and Fair View-Prinzip der RL wohl kaum eine nennenswerte Abweichungsfunktion oder eine (vom deutschen Gesetzgeber nicht gewollte) „Dynamisierungen“ der GoB. Vielmehr gehen nach der Entscheidung des EuGH in der Rs. GIMLE das Anschaffungswert- und Realisationsprinzip dem Grundsatz der sog. Bilanzwahrheit vor7.
96a
Bemerkenswert ist im Übrigen, dass der EuGH den Sachverhalt in der Entscheidung GIMLE streng formal bewertet und auf den wirtschaftlichen Gehalt des Geschäftsvorfalls nicht entscheidend abhebt. Im Streitfall ging es nicht etwa um ein Anschaffungsgeschäft unter fremden Dritten (bei dem ein Missverhältnis zwischen Preis und Wert auf Informationsasymmetrien oder besonderem Verhandlungsgeschick beruhen kann), sondern um einen Unterwert-Erwerb vom Gesellschafter. Bei wirtschaftlicher Betrachtung hätte es daher nahe gelegen, den Sachverhalt als verdeckte Einlage zu werten, weil der „Mehrwert“ der „verkauften“ Vermögensgegenstände offenbar aus gesellschaftsrechtlicher Veranlassung in das Gesellschaftsvermögen zugewendet wurde.8 Der EuGH geht dagegen der formalrechtlichen Einkleidung folgend von einem reinen Kaufvertrag aus, den er bilanziell sodann streng nach dem Anschaffungswertprinzip beurteilt. Ob der EuGH in ähnlichen Fällen auch künftig bei einer formal-rechtlichen Würdigung des Sachverhalts bleiben wird, ist freilich abzuwarten. Denn die neue EU-Bilanzrichtlinie regelt in Art. 6 I Buchst. h RL 2013/34/EU nunmehr ausdrücklich den Grundsatz der wirtschaftlichen Betrachtungsweise. Sachlich ist das an sich keine grundlegende Neuerung, denn schon bisher sind Geschäftsvorfälle für die Bilanzierung auf der Grundlage ihrer
96b
Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung
1 EuGH v. 3.10.2013 – C-322/12, GIMLE; dazu abl. Schulze-Osterloh, NZG 2014, 1; Hoffmann, StuB 2014, 277; Schön, ZHR 178 (2014), 373; krit. auch Dziadkowski, IStR 2014, 461. 2 EuGH v. 3.10.2013 – C-322/12, GIMLE (Tz. 32). 3 EuGH v. 3.10.2013 – C-322/12, GIMLE (Tz. 34). 4 EuGH v. 3.10.2013 – C-322/12, GIMLE (Tz. 35). 5 Dasselbe gilt nach EuGH v. 6.3.2014 – C-510/12, Bloomsbury, bei einem unentgeltlichen Erwerb (im Streitfall: vom Gesellschafter), in diesem Fall seien die Anschaffungskosten von 0 EUR maßgeblich; dagegen wiederum zu Recht Schön, ZHR 178 (2014), 373 (375 f.). 6 EuGH v. 3.10.2013 – C-322/12, GIMLE (Tz. 38 f.). 7 So auch die Interpretation von Schön, ZHR 178 (2014), 373 (375). 8 Zutr. Schön, ZHR 178 (2014), 373 (375 ff.) und Schulze-Osterloh, NZG 2014, 1 (2 ff.), die deshalb (zu Recht) dafür plädieren, den Differenzbetrag zwischen dem Zeitwert und dem Anschaffungspreis in die Kapitalrücklage einzustellen; s. auch Hoffmann, StuB 2014, 277 f.; Dziadkowski, IStR 2014, 461 (464). – Schön, ZHR 178 (2014), 373 (375, 385) weist i.Ü. zutreffend darauf hin, dass bereits bei der Formulierung der Vorlagefrage die falsche Weichenstellung erfolgte. „Dem Gerichtshof haben zwei belgische Gerichte jeweils eine falsche Vorlagefrage gestellt“ (a.a.O., 385).
Hennrichs
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519
§9
Rz. 97
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
rechtlichen Strukturen gemäß ihrem wirtschaftlichen Gehalt zu würdigen (Rz. 92). Geschäfte zwischen Gesellschaft und Gesellschafter sind deshalb schon nach altem (europäischen und nationalen) Bilanzrecht richtigerweise daraufhin zu untersuchen, ob der Zuwendung ein normales Drittgeschäft zugrunde liegt oder sie (ganz oder teilweise) causa societatis erfolgt1. Die ausdrückliche Normierung des Grundsatzes der wirtschaftlichen Betrachtungsweise in der neuen Bilanz-Richtlinie mag dem EuGH aber künftig Anlass geben, stärker als bisher in ähnlich gelagerten Fällen die wirtschaftliche Substanz des Geschäftsvorfalles zu berücksichtigen.
2.5.7 Nominalwertprinzip 97
Handelsbilanz und Steuerbilanz beruhen auf einer am Nennwert orientierten Geldrechnung. Es gilt das Nominalwertprinzip (dazu § 8 Rz. 56 ff.). Das Nominalwertprinzip ist eine der Ursachen für die Entstehung stiller Reserven (Differenz zwischen Buchwert und Verkehrs- oder Teilwert). Sie bestehen jedenfalls z.T. aus inflationären Wertsteigerungen. Werden verbrauchte Güter nur in Höhe ihrer tatsächlichen AK zu Aufwand, obwohl die Wiederbeschaffungskosten infolge Preissteigerungen gestiegen sind, so entstehen in Höhe der Differenz (Wiederbeschaffungspreise ./. Anschaffungspreise der verbrauchten Güter) Scheingewinne2. Eine Besteuerung solcher Scheingewinne führt zum Substanzverzehr, wenn die Erträge nach Abzug der Steuern auf den Gewinn nicht mehr ausreichen, die Ersatzbeschaffung zu finanzieren. Gemildert wird die Scheingewinnbesteuerung durch das Lifo-Verfahren bei der Bewertung des Umlaufvermögens (s. Rz. 283) und § 6b EStG für das Anlagevermögen (s. Rz. 426 ff.).
2.5.8 Stichtagsprinzip 98
Nach dem Stichtagsprinzip3 kommt es für die Bilanzierung auf die Verhältnisse am Abschlussstichtag an (§ 252 I Nr. 3 HGB), wie sie für den ordentlichen und gewissenhaften Kaufmann aus der Sicht bei der Aufstellung des Abschlusses erkennbar sind (§ 252 I Nr. 4 HGB). Bis zum Abschlussstichtag entstandene Risiken und Verluste sind auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erst zwischen Abschlussstichtag und dem Tag der Bilanzaufstellung bekannt geworden sind (§ 252 I Nr. 4 HGB: sog. Wertaufhellung4). Zu berücksichtigen sind nur solche Umstände, die am Bilanzstichtag bereits objektiv eingetreten waren und nur erst später bekannt geworden sind (sog. wertaufhellende Ereignisse)5. Später eintretende, sog. wertbegründende (oder wertändernde) Ereignisse sind erst in der Bilanz des Folgejahres zu berücksichtigen. Beispiele: Eine Rückstellung wegen eines im Klagewege gegen den Kaufmann geltend gemachten Anspruchs ist erst zum Schluss des Wirtschaftsjahres aufzulösen, in dem über den Anspruch endgültig und rechtskräftig entschieden ist6. Die gerichtliche Entscheidung ist kein bloß wertaufhellender Umstand und wirkt nicht zurück, sondern wertbegründend7. Das Gleiche gilt für gerichtliche Entscheidungen, die dem Gläubiger eine bis dahin bestrittene Forderung zusprechen. Auch sie können auf deren Aktivierung nach den Grundsätzen des Vorsichtsprinzips nicht werterhellend, sondern nur wertbegründend einwirken8. Auch ein nach dem Bilanzstichtag, aber vor dem Tage der Bilanzerstellung erfolgter Verzicht des Prozessgegners auf ein Rechtsmittel „erhellt“ nicht 1 Zutr. Schön, ZHR 178 (2014), 373 (385). 2 Zur Besteuerung von Scheingewinnen allgemein § 8 Rz. 56. Speziell zur Bilanzierung: Rützel, Handels- und Steuerbilanz in Zeiten schleichender Inflation, dargestellt am Beispiel von Deutschland, den Niederlanden und der Europäischen Gemeinschaft, Diss., 1995; Schildbach, FS D. Schneider, 1995, 585; Siepe, FS Budde, 1995, 615; Seicht, Geldentwertung, FS L. Fischer, 1999, 207. 3 Dazu Kammann, Stichtagsprinzip und zukunftsorientierte Bilanzierung, 1988; Rose, DB 1994, 851; Strahl, FR 2005, 361. 4 Dazu W.-D. Hoffmann, BB 1996, 1157; Korn/Strahl, KÖSDI 2003, 13678; Moxter, BB 2003, 2559; Drüen/Stiewe, StuB 2004, 489; Assmann, StBp. 2005, 1; Moxter, DStR 2008, 469; Weber-Grellet, FS Reiß, 2008, 483; Herzig, FS Meilicke, 2010, 179. 5 BFH BStBl. 2002, 688; 2006, 371. 6 BFH v. 27.11.1997 – IV R 95/96, BStBl. 1998, 375; zum Stichtagsprinzip bei der Bewertung von sog. Ansammlungsrückstellungen s. BFH v. 2.7.2014 – I R 46/12, DStR 2014, 1961 und Rz. 289. 7 BFH v. 26.4.1989 – I R 147/84, BStBl. 1991, 213; Bertram im Haufe, HGB Bilanz-Komm., § 249 HGB Rz. 338; Tiedchen in MünchKomm. BilanzR, § 252 HGB Rz. 43. 8 BFH v. 26.2.2014 – I R 12/14, BFH/NV 2014, 1544.
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Hennrichs
Grenzen der Maßgeblichkeit handelsrechtlicher Bilanzierungsregeln
Rz. 102
§9
rückwirkend die Verhältnisse zum Bilanzstichtag1. Ebenfalls keine Wertaufhellung bei Abschluss eines Vergleichs nach dem Bilanzstichtag, weil ein Vergleich konstitutiv eine vorher gegebene Unsicherheit beendet2. Demgegenüber soll die Rückzahlung einer auf Grund des Länderrisikos als unsicher eingestuften Kreditforderung nach dem Bilanzstichtag bei der Beurteilung der Risikolage für § 249 I 1 2. Alt. HGB wertaufhellend zu berücksichtigen sein3.
Gem. § 252 I Nr. 4 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG ist für die Beurteilung der Verhältnisse, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, auf die Erkenntnismöglichkeiten des Stpfl. bei der „Aufstellung“ der Bilanz abzustellen. Der Wertaufhellungszeitraum wird durch die gesetzlichen Fristen für die Aufstellung des Abschlusses begrenzt und endet an dem Tag, an dem der Bilanzierende spätestens eine Bilanz hätte erstellen müssen4. Der Jahresabschluss ist nach § 243 III HGB innerhalb der einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang entspr. Zeit (spätestens 1 Jahr nach dem Abschlussstichtag5) aufzustellen; für Kapitalgesellschaften ist nach § 264 I 3 HGB der 31. März des jeweiligen (Folge-)Jahres der Stichtag6.
99
3. Grenzen der Maßgeblichkeit handelsrechtlicher Bilanzierungsregeln für das Steuerrecht 3.1 Vorrang expliziter steuerrechtlicher Ansatz- und Bewertungsvorschriften (§ 4 I 9; § 5 VI EStG) Das EStG normiert zahlreiche steuerrechtliche Sondervorschriften zur Bilanzierung, die dem Grundsatz der Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen GoB vorgehen (vgl. §§ 4 I 9; 5 VI EStG vgl. bereits Rz. 41). Die Regel des § 5 I 1 Hs. 1 EStG wird vielfach durchbrochen. Unvermeidbar ist die Abkehr von der Einheitsbilanz dort, wo steuergesetzliche Sondervorschriften einen von zwingenden handelsrechtlichen Vorschriften abw. Ansatz verbindlich vorschreiben. Dagegen hat der Stpfl. im Fall steuergesetzlicher Wahlrechte durch GoB-konforme Ausübung die Möglichkeit, das Auseinanderfallen der Bilanzen zu verhindern; steuerbilanzielle Wahlrechte können gem. § 5 I 1 Hs. 2 EStG eigenständig ausgeübt werden (dazu sogleich Rz. 105 f.), zwingend ist das aber nicht. Handelsbilanziell begründen Differenzen zwischen steuer- und handelsbilanziellem Ansatz die Notwendigkeit des Ausweises latenter Steuern (§ 274 HGB)7.
100
Dabei kann zwischen den beiden Ebenen der Bilanzierung unterschieden werden: Das Ob der Bilanzierung (Bilanzansatz), d.h. die Frage, was als Wirtschaftsgut in der Bilanz aufzunehmen ist, richtet sich grds. nach Handelsrecht. Ausnahmsweise modifizieren steuerrechtliche Vorschriften den Ansatz entgeltlich erworbener immaterieller Anlagegüter (§ 5 II EStG abw. von § 248 II HGB), den Ansatz von Verbindlichkeiten und Rückstellungen (§ 5 IIa–IVb; § 6a EStG; dazu Rz. 170 ff., 188 ff.) sowie Rechnungsabgrenzungsposten (§ 5 V EStG, s. Rz. 200 ff.).
101
Demgegenüber wird das Wie der Bilanzierung, d.h. die Bewertung der Bilanzpositionen, relativ detailliert durch die steuerrechtlichen Bewertungsvorschriften in den §§ 6; 6a III–V; 7; 7a–7g EStG festgelegt. Diese steuergesetzlichen Bewertungsvorschriften sind vorrangig anzuwenden
102
1 BFH v. 30.1.2002, I R 68/00, BStBl. 2002, 688. 2 Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 81. Zu weitgehend FG Münster BB 2011, 303 (m. krit. Anm. Schmid). 3 BFH v. 15.9.2004 – I R 5/04, BStBl. 2009, 100 = BFH/NV 2005, 421, m. Anm. Weber-Grellet, StuB 2005, 306; a.A. EuGH v. 7.1.2003 – C-306/99, BIAO, EuGHE 2003, I-1. 4 BFH v. 12.12.2012 – I B 27/12, BFH/NV 2013, 545; a.A. Weber-Grellet, FS Reiß, 2008, 483 (492); ders., KSzW 2013, 311 (315); Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 81, der handels- und steuerrechtlich differenzieren und steuerbilanzrechtlich auf den Zeitpunkt der Veranlagung abstellen will. Ebenso wohl Herrfurth, StuB 2014, 123 (126). 5 Vgl. BFH BStBl. 1984, 227. 6 Für kleine Kapitalgesellschaften (§ 267 I HGB) gilt eine sechs monatige Aufstellungsfrist, § 264 I 4 HGB. Für große Einzelkaufleute u. Personenhandelsgesellschaften gilt die 3-Monats-Frist gem. § 5 I PublG. 7 Zur diesbezüglichen Konzeption des BilMoG Loitz, DB 2008, 249 u. 1389; Loitz, Ubg. 2008, 462; Karrenbrock, WPg. 2008, 328; Loitz, DB 2009, 913.
Hennrichs
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§9
Rz. 103
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
(§ 5 VI EStG), so dass für die handelsrechtlichen Bewertungsregeln im Steuerrecht wenig Raum bleibt. 103
Die vom Handelsrecht abweichenden Steuerbilanzvorschriften und infolge dessen Durchbrechungen des Maßgeblichkeitsprinzips sind insb. Resultat der sukzessiven Einschränkung des Vorsichts- und Imparitätsprinzips durch den Steuergesetzgeber. So ist bereits seit 1997 die Bildung von Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften in der Steuerbilanz durch § 5 IVa EStG verboten, obwohl handelsrechtlich ein Passivierungsgebot (§ 249 I 1 2. Alt. HGB) besteht (dazu krit. Rz. 190). Noch weiter eingeschränkt wurde das Imparitätsprinzip ab 1999 durch das StEntlG 1999/2000/2002, z.B. steuerrechtliches Verbot von Teilwertabschreibungen bei nur vorübergehender Wertminderung im Umlaufvermögen (§ 6 I Nr. 2 Satz 2 u. 3 EStG, dazu Rz. 321) entgegen strengem handelsrechtlichem Niederstwertprinzip (§ 253 IV 1 HGB; seit BilMoG allerdings mit Wertaufholungspflicht gem. § 253 V 1 HGB) sowie weitere Einschränkungen bei der Bildung von Rückstellungen (Rz. 188 ff.).
104
Der Gesetzgeber begründet die Steuervorbehalte damit, das Imparitätsprinzip sei mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip unvereinbar (BT-Drucks. 14/23, 171)1. Das BVerfG (2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111) geht davon aus, dass die Durchbrechungen des Vorsichtsprinzips weder gegen das objektive Nettoprinzip verstoßen, noch am Maßstab der Folgerichtigkeit zu messen sind2. Dies ist jedoch so pauschal nicht richtig, zumal die punktuellen Durchbrechungen des Imparitätsprinzips durch den Steuergesetzgeber als Gegenfinanzierungsmaßnahmen vorwiegend fiskalisch motiviert sind. Die Berücksichtigung von Wertminderungen vor ihrer Realisierung ist, vor allem angesichts des nach § 10d I 1 EStG nur eingeschränkt zulässigen Verlustrücktrags, mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip vereinbar und im Hinblick auf das Übermaßverbot auch geboten, wenn die Wertminderung hinreichend wahrscheinlich ist3. Einschränkungen des Imparitätsprinzips sollten am Wahrscheinlichkeitsmaßstab ansetzen, anstatt punktuell einzelne Rückstellungen ganz zu verbieten. Dies würde auch internationalen Rechnungslegungsstandards (s. Rz. 56) entsprechen. So sehen IAS durchaus Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften vor (IAS 37.66). Die vorgebliche Anpassung an internationale Standards (BT-Drucks. 14/23, 126) ist eine schlichte Behauptung. Dementsprechend hält auch das BilMoG zu Recht an § 249 I 1 HGB unverändert fest.
3.2 Insb.: Steuerrechtliche Wahlrechte (§ 5 I 1 Hs. 2 EStG) 105
Für steuerrechtliche Wahlrechte bei der Gewinnermittlung bestimmt der neue § 5 I 1 Hs. 2 EStG, dass diese künftig unabhängig von der Handelsbilanz ausgeübt werden können, sofern die WG, die nicht mit dem handelsrechtlich maßgeblichen Wert in der steuerlichen Gewinnermittlung ausgewiesen werden, in einem gesonderten Verzeichnis fortlaufend geführt werden. Die ordnungsgemäße Verzeichnisführung ist Tatbestandsvoraussetzung der Wahlrechtsausübung (§ 5 I 2, 3 EStG). Die sog. umgekehrte Maßgeblichkeit, die früher eine übereinstim1 Ebenso Wendt, FS Kirchhof, Bd. II, 2013, § 180 Rz. 20, der meint, gleichheitsrechtlich gebe es für ein Imparitätsprinzip bei der steuerlichen Gewinnermittlung keinen Grund. 2 Krit. u.a. HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 54; Hennrichs, FS J. Lang, 2010, 237; Hey, DStR 2009, 2561; Hüttemann, FS Spindler, 2011, 627; Hüttemann, DStZ 2011, 507; MünchKomm. BilanzR/ Schlotter, Anh. zu § 249 HGB Rz. 15 ff.; Schulze-Osterloh, FS J. Lang, 2010, 255. 3 Vgl. zur Vereinbarkeit des Imparitätsprinzips mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 54 f.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (317 ff.) m.w.N.; ferner Kessler, DB 1997, 1; KrausGrünewald, FS Beisse, 1997, 285; Groh, DB 1999, 978; Weilbach, BB 1999, 564 (Erwiderung von Thiel, BB 1999, 828); Küting/Kessler, StuB 2000, 21 (gegen Siegel, StuB 1999, 195 [196 ff.], der für die Aufgabe des Imparitätsprinzips bei Ausweitung des Verlustabzugs eintritt), und Erwiderung von Siegel, StuB 2000, 29; Hüttemann, StbJb. 2002/03, 37 (42 ff.); F.W. Wagner, BB 2002, 1885 (1887 ff.) (aus ökonomischer Sicht). Vgl. auch Kahle/Günter, StuW 2012, 43 (54), sowie Kahle, DB 2014, Beil. 4, S. 18 ff., die zutr. darauf hinweisen, dass Voraussetzung für ein Abweichen vom Imparitätsprinzip in der Steuerbilanz ein uneingeschränkter Verlustausgleich wäre. Solange das nicht gewährleistet ist, haben Rückstellungen und Teilwertabschreibungen auch in der Steuerbilanz ihre Berechtigung.
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Hennrichs
Grenzen der Maßgeblichkeit handelsrechtlicher Bilanzierungsregeln
Rz. 107
§9
mende Wahlrechtsausübung in Handels- und Steuerbilanz verlangte, ist durch das BilMoG abgeschafft worden (s. Voraufl.). Die genaue Reichweite des Wahlrechtsvorbehalts gem. § 5 I 1 Hs. 2 EStG ist umstritten. Unstreitig erlaubt das Gesetz weiterhin die freie steuerbilanzielle Ausübung der von der früheren umgekehrten Maßgeblichkeit erfassten Steuerbegünstigungswahlrechte, so bspw. §§ 6b; 7g EStG. Der Wortlaut des neuen § 5 I 1 Hs. 2 EStG geht allerdings noch weiter. Er beschränkt sich nicht auf GoB-inkonforme steuerliche Wahlrechte, sondern erlaubt eine von der Handelsbilanz abweichende Wahlrechtsausübung für alle steuerlichen Wahlrechte, also auch dort, wo sowohl die GoB als auch das Steuerrecht ein Wahlrecht enthalten (z.B. Wahl zwischen degressiver und linearer AfA1) oder wo ein steuerliches Wahlrecht GoB-konform ausgeübt werden könnte oder nach den handelsrechtlichen GoB ein bestimmter, steuerlich erlaubter Wertansatz zwingend ist (insb. § 6 I Nr. 1 Satz 2 u. Nr. 2 Satz 2 EStG; § 253 III 3, IV HGB; s. Rz. 320). Ausweislich der Materialien zum BilMoG wollte der Gesetzgeber die materielle Maßgeblichkeit so weitgehend nicht preisgeben2. Die h.M.3 meint dagegen, der Wortlaut des § 5 I 1 Hs. 2 EStG sei eindeutig und gestattet den Stpfl. demzufolge in weitem Umfang eine von der Handelsbilanz losgelöste, eigenständige Steuerbilanzpolitik. Das überzeugt nicht4. Ein vermeintlich eindeutiger Wortlaut steht einer teleologisch begründeten Restriktion nicht im Wege5. Im Gegenteil beginnt die teleologische Reduktion (wie ihr Gegenstück, die Analogie) gerade dort, wo der Wortlaut aufhört. Teleologisch wäre eine weitreichende, eigenständige Steuerbilanzpolitik mit dem Gedanken der gleichmäßigen Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit m.E. aber kaum vereinbar. Daher sollte der Wahlrechtsvorbehalt des § 5 I 1 Hs. 2 EStG eng angewendet und auf Steuerbegünstigungswahlrechte beschränkt werden. Jedenfalls gehören die steuerlichen Wahlrechte rechtspolitisch auf den Prüfstand6.
106
Keine Wahlrechte i.S.d. § 5 I 1 Hs. 2 EStG sind Schätzungsspielräume, die bei der Bilanzierung eröffnet sind, beispielsweise die Schätzung der Nutzungsdauer von Wirtschaftsgütern und die tatsächlichen Beurteilungen bei Ansatz und Bewertung von Rückstellungen. Insoweit gilt streng genommen keine Maßgeblichkeit7, denn diese bezieht sich nur auf die handelsrechtlichen GoB. Die Nutzungsdauerschätzung als solche ist aber kein GoB, sondern eine Tatfrage. Auch eine formelle oder konkrete Maßgeblichkeit i.S. einer Bindung der Steuerbilanz an den konkreten Ansatz in der vom Kaufmann aufgestellten Handelsbilanz gibt es jedenfalls seit Abschaffung der umgekehrten Maßgeblichkeit durch das BilMoG nicht mehr8. Allerdings muss der Stpfl. eine in der Handelsbilanz zugrunde gelegte Schätzung grds. auch steuerlich
107
1 So Herzig/Briesemeister, DB 2009, 926 (929 f.); a.A. Förster/Schmidtmann, BB 2009, 1342 (1343). 2 Vgl. die Gegenäußerung der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/10067, 124; Freidank/Velte, StuW 2010, 185 (189 f.); Hennrichs, Ubg. 2009, 533 (538); Hennrichs, StbJb. 2009/2010, 261 (269); Schulze-Osterloh, DStR 2011, 534 (535); Wehrheim/Fross, StuW 2010, 195 (202). 3 S. BMF BStBl. I 2010, 239; Günkel, FS Herzig, 2010, 509 (513 f.); Günkel, StbJb. 2009/2010, 331 (336 f.); Herzig/Briesemeister, DB 2009, 926 (929 f.); Herzig/Briesemeister, DB 2009, 976 (978); Herzig/Briesemeister, WPg. 2010, 63 (71 f.); Herzig/Briesemeister, DB 2010, 917 (918 f.); Hey in 20. Aufl., § 17 Rz. 42; U. Prinz, DB 2010, 2069 (2071); U. Prinz, DStJG 34 (2011), 135, 155; Thiel, FS Meilicke, 2010, 733 (741 ff.). 4 Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, DB 2009, 2570 (2571 f.); Anzinger/ Schleiter, DStR 2010, 395 (396 ff.); Freidank/Velte, StuW 2010, 185 (189 f.); Hennrichs, Ubg. 2009, 533 (540 f.); Hennrichs, StbJb. 2009/2010, 261 (267 ff.); W.-D. Hoffmann, StuB 2009, 515 f., 787 f.; Hüttemann, DStZ 2011, 507 (509); Kahle, DB 2014, Beil. 4 S. 8; Schenke/Risse, DB 2009, 1957 (1958 f.); Schulze-Osterloh, DStR 2011, 534 (536 ff.); Mayr, DStJG 34 (2011), 327 (331 f.); HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 273, 280; Kirchhof/Crezelius13, § 5 EStG Rz. 54. 5 Ebenso namentlich Schulze-Osterloh, DStR 2011, 534 (536), m.w.N. 6 Ebenso Thiel, FS Meilicke, 2010, 733 (737 f.). 7 Möglicherweise anders BFH/NV 2006, 616, wonach „zumindest in entsprechender Heranziehung des Grundsatzes der Maßgeblichkeit … in der Steuerbilanz einer handelsrechtlich zulässigen Ermessensausübung zu folgen“ sei. 8 Zutr. Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 26; ebenso Korn/Schiffers, § 5 EStG Rz. 2.2, 78, 113 (2010); Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 183: mit der Aufgabe der umgekehrten Maßgeblichkeit ist „der Gedanke der ,formellen Maßgeblichkeit’ in seiner ursprünglichen Form … ebenfalls überholt“.
Hennrichs
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523
§9
Rz. 108
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
gegen sich gelten lassen1. Denn da HGB und EStG auf denselben konzeptionellen Grundlagen beruhen und namentlich das allgemeine Vorsichtsprinzip nach wie vor gleichermaßen für Handels- wie Steuerbilanz gilt, wären Unterschiede zwischen Handels- und Steuerbilanz insoweit nicht plausibel. Bei gleicher konzeptioneller Basis kann eine Schätzung nur einheitlich ausfallen. Insoweit wirkt sich in die Tat die nach wie vor bestehende Maßgeblichkeit gem. § 5 I 1 EStG aus, weil sie zur Folge hat, dass die bei der Schätzung zu berücksichtigenden Rechtsgrundsätze dieselben sind. 108
Freilich kann im Einzelfall eine in der Handelsbilanz zugrunde gelegte Schätzung tatsächlich nicht den GoB entsprechen und ist dann deshalb steuerlich nicht maßgeblich2. Namentlich entspricht eine im IFRS-Konzernabschluss vorgenommene Nutzungsdauerschätzung nicht ohne weiteres den GoB, weil sie auf einer anderen Gewichtung des Vorsichtsprinzips beruhen kann3. Legen IFRS-Bilanzierer eine längere IFRS-Nutzungsdauerschätzung zur Vermeidung von handelsrechtlichen Überleitungen gleichwohl auch im Jahresabschluss zugrunde, so kann bereits die Schätzung im Jahresabschluss objektiv fehlerhaft und deshalb steuerlich unmaßgeblich sein. Bewegt sich die Schätzung dagegen in der Bandbreite des vertretbaren Rahmens, setzt sich der Stpfl. dem Risiko aus, dass die Steuerbehörden ihn an der längeren Nutzungsdauerschätzung auch für die Steuerbilanz festhalten.
3.3 Handelsrechtliche Wahlrechte 109
Nach dem Grundsatz der Maßgeblichkeit gem. § 5 I 1 EStG gilt zunächst unstreitig eine Bindung der steuerlichen Gewinnermittlung an handelsrechtliche Bilanzierungsgebote und Bilanzierungsverbote, wenn keine abweichenden steuerrechtlichen Vorschriften bestehen. Wo das Handelsrecht das Ob und/oder das Wie der Bilanzierung zwingend vorschreibt und eine steuerrechtliche Vorschrift nicht entgegensteht, gilt die handelsrechtliche Bilanzierung für die Steuerbilanz. Fraglich und umstritten ist, ob der Maßgeblichkeitsgrundsatz auch dort gilt, wo das Handelsrecht ein Wahlrecht4 gewährt.
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Nach einer Ansicht gebietet der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, dass die Maßgeblichkeit handelsrechtlicher GoB gem. § 5 I 1 EStG immer dort Platz greift, d.h. nicht begrenzt wird, wo das Steuergesetz das Handelsrecht nicht ausdrücklich außer Kraft setzt5. Daher werde auch ein in der Handelsbilanz ausgeübtes Wahlrecht für die Steuerbilanz maßgeblich, sofern steuerrechtliche Vorschriften nicht entgegenstehen bzw. der Stpfl. nicht ein steuerliches Wahlrecht abweichend ausübt (§ 5 I 1 Hs. 2 EStG).
1 Hennrichs, Ubg. 2011, 788; ebenso HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 284; HHR/Nolde, § 7 EStG Anm. 21; ferner Blümich/Brandis, § 7 EStG Rz. 327, nach dem „Beurteilungsspielräume des Stpfl in tatsächlicher Hinsicht … in beiden Bilanzen entsprechend auszufüllen“ sind und „die für den Abschreibungsplan … notwendige Fixierung des Nutzungszeitraums grds. auch für die Schätzung der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer verbindlich“ ist. Ebenso Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 192; KSM/Kempermann, § 5 EStG Rz. B 138 (1996); KSM/Waldhoff, § 7 EStG Rz. A 186 (2009); Frotscher/Schnitter, § 7 EStG Rz. 51 ff.; Thiel, FS Meilicke, 2010, 733 (749). 2 Vgl. Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 26, der zutr. hervorhebt, dass GoB-widrige Ansätze selbstverständlich nicht maßgeblich werden. Ebenso KSM/Waldhoff, § 7 EStG Rz. A 187 (2009). 3 Hennrichs, Ubg. 2011, 788 ff. m.w.N. auch zur Gegenansicht. 4 Dazu Weber-Grellet, DB 1994, 2405; Weber-Grellet, StbJb. 1994/95, 97; Hennrichs, StuW 1999, 143 ff.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 304. Eingehend zu handelsrechtlichen Wahlrechten bei der Bilanzierung Hennrichs, Wahlrechte im Bilanzrecht der Kapitalgesellschaften, 1999. Die Zahl der handelsrechtlichen Wahlrechte wurde durch das BilMoG aber deutlich reduziert (Hennrichs in Winkeljohann/Reuter, Bilanzrecht in Familienunternehmen, 2009, 99 [102 ff.]; Schulze-Osterloh, DStR 2008, 63 ff.). Damit hat sich die im Text dargestellte Problematik entschärft. 5 So namentlich Hey in 20. Aufl., § 17 Rz. 79; ferner Kirchhof/Crezelius13, § 5 EStG Rz. 30; Crezelius, DB 1994, 689; H.W. Kruse, StbJb. 1976/77, 113; Kammann, StuW 1978, 108; HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 258.
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Hennrichs
Rz. 114
§9
Dieser Auffassung widersprach in Bezug auf Ansatzwahlrechte bereits der Beschluss des GrS v. 3.2.1969 (BStBl. 1969, 291; seitdem st. Rspr.1) und in Bezug auf Bewertungswahlrechte BFH BStBl. 1994, 176 (s. Rz. 252). Danach gilt, dass
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Grenzen der Maßgeblichkeit handelsrechtlicher Bilanzierungsregeln
(1) einem handelsrechtlichen Aktivierungswahlrecht ein steuerrechtliches Aktivierungsgebot entspricht, soweit keine steuerrechtlichen Sondervorschriften gelten (z.B. § 5 II EStG vs. § 248 II HGB n.F.). Daher muss bspw. in der Steuerbilanz das Disagio einer Verbindlichkeit (handelsrechtlich Aktivierungswahlrecht nach § 250 III HGB) aktiviert werden (s. auch § 5 V EStG). (2) ein handelsrechtliches Passivierungswahlrecht zu einem steuerrechtlichen Passivierungsverbot führt, soweit nicht auch das Steuerrecht ein Wahlrecht zulässt. Nach Streichung der handelsbilanziellen Rückstellungswahlrechte gem. § 249 I 3 HGB a.F. (Instandhaltungsrückstellung) und § 249 II HGB a.F. (Aufwandsrückstellung) durch das BilMoG ist der Hauptanwendungsfall eines handelsrechtlichen Passivierungswahlrechts allerdings entfallen. Relevant bleibt die Rspr. aber insb. für das handelsrechtliche Passivierungswahlrecht gem. Art. 28 EGHGB für mittelbare Pensionsverpflichtungen, für die steuerlich ein Passivierungsverbot bestehen soll2. Das handelsrechtliche Aktivierungswahlrecht für Aufwendungen zur Ingangsetzung eines Geschäftsbetriebs (§ 269 HGB) wurde durch das BilMoG aufgehoben, so dass sich für den Hauptanwendungsfall einer Bilanzierungshilfe3 die nach h.M.4 aufgrund der fehlenden Wirtschaftsguteigenschaft (s. Rz. 120 ff.) zu verneinende Frage nach Aktivierung in der Steuerbilanz nicht mehr stellt.
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Diese Rspr. ist im methodischen Ausgangspunkt zu billigen5. Die in der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre entwickelten Methoden der teleologisch begründeten restriktiven Auslegung sowie der teleologischen Reduktion gelten auch für die Rechtsanwendung des § 5 I EStG. Nach Sinn und Zweck der Norm, nämlich gleichmäßig und möglichst willkürfrei die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Kaufmanns zu erfassen, bezieht sich der Verweis auf die handelsrechtlichen GoB grds. nicht auf handelsrechtliche Vorschriften, die dem Kaufmann Wahlrechte bei der Bilanzierung gewähren (zu Vereinfachungswahlrechten s. Rz. 114). Das Problem hat sich freilich nach dem BilMoG reduziert, weil damit die Zahl der handelsrechtlichen Wahlrechte deutlich reduziert worden ist6.
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Ob die (verbliebenen) handelsrechtlichen Wahlrechte auch bei der steuerlichen Gewinnermittlung akzeptabel sind, hängt mithin von ihrer Vereinbarkeit mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip ab. Grds. stehen handelsrechtliche Wahlrechte in einem Spannungsverhältnis mit dem Gebot gleichmäßiger Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit7, denn die Besteuerung kann nicht davon abhängig gemacht werden, wie der Stpfl. einen Sachverhalt bilanziell abgebildet hat. Zwar führt die Ausübung von Wahlrechten lediglich zu einer Periodenverschiebung und somit nicht zu einer Verfälschung des Totalgewinns, doch ist der Zeitpunkt der Besteuerung auf Grund des hiermit einhergehenden Steuerstundungseffekts von entscheidender Bedeutung für die Belastungsintensität des Steuereingriffs. Deshalb geht die Annahme „ökonomisch gebotener Ermessensspielräume“ (Ermessenswahlrechte) für die Steuerbilanz zu weit8. Sie
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1 BFH BStBl. 1971, 601 (603); 1980, 741 (742); 1983, 375; 2003, 400 (401). 2 Vgl. Schmidt/Weber-Grellet33, § 6a EStG Rz. 5. 3 Dazu Dziadkowski, BB 1980, 1515; Dziadkowski, BB 1982, 1336; Kudert, Bilanzierungshilfen und sonstige Bilanzhilfsposten im Handelsrecht, Diss., 1989; Richter, StuW 1988, 149. 4 BFH BStBl. 1954, 109; 1955, 221; BFH GrS BStBl. 2000, 632 (637). 5 Hennrichs, StuW 1999, 138 (143 ff.), m.w.N.; a.A. Hey in 20. Aufl., § 17 Rz. 81, die meint, die derzeitige Rspr.-Praxis verstoße gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und die ein Tätigwerden des Gesetzgebers anmahnt, um handelsrechtliche Wahlrechte aus der Steuerbilanz zu eliminieren. 6 HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 501. 7 Dazu J. Lang, DStJG 4 (1981), 83 ff.; Weber-Grellet, DB 1994, 2405; Weber-Grellet, StbJb. 1994/95, 97. Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Wahlrechten allgemein s. § 3 Rz. 236. 8 KSM/Kempermann, § 5 EStG Rz. B 115 (1996), hält Wahlrechte grds. für mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip unvereinbar; a.A. J. Lang, DStJG 4 (1981), 45 (83 ff.); für eine steuerrechtliche Interpretation der unbestimmten Rechtsbegriffe des Handelsrechts Pezzer, DStJG 14 (1991), 3 (19 ff.).
Hennrichs
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§9
Rz. 115
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
sind bereits handelsrechtlich nicht zu rechtfertigen1, erst recht legitimieren sie keine unterschiedliche Besteuerung des zugrunde liegenden wirtschaftlichen Sachverhalts. Der unbestimmte Rechtsbegriff der vernünftigen kaufmännischen Beurteilung (s. nach wie vor §§ 253 I 2; 286 II, III Nr. 2; 340f I HGB) bietet keinen hinreichend rechtssicheren Maßstab, handelsrechtliche Wahlrechte in Einklang mit dem Gebot der Besteuerungsgleichheit zu interpretieren. Dagegen sind handelsrechtliche Wahlrechte, die der Vereinfachung dienen (namentlich § 255 II 3 HGB, Rz. 253), durchaus mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip vereinbar. Vereinfachung ist ein auch steuerrechtlich legitimer Zweck von Wahlrechten2. 115–119
Einstweilen frei.
IV. Ansatz von Wirtschaftsgütern des Betriebsvermögens und sonstigen Bilanzposten (Bilanzierung dem Grunde nach) 1. Der steuerrechtliche Begriff des Wirtschaftsguts 1.1 Vermögensgegenstand – Wirtschaftsgut 120
Bilanzsteuerrechtliche Grundeinheit ist das Wirtschaftsgut. Von der Reichweite des Wirtschaftsgutbegriffs hängt ab, ob Aufwendungen sofort abziehbar sind oder ob sie zu AK/HK eines zu aktivierenden Wirtschaftsguts führen, so dass sie erst in den Folgejahren im Wege der Absetzung für Abnutzung Berücksichtigung finden, also nicht sofort in voller Höhe ergebniswirksam werden. Mit der Aktivierung von Wirtschaftsgütern (und entsprechend mit der Passivierung von Schulden) wird zugleich die Gewinnrealisierung gesteuert. Die Aktivierung führt zu einem Zugang an Vermögen (die Passivierung entsprechend zu einem Zugang an Schulden). Wenn der Geschäftsvorfall keine anderen Bestandspositionen anspricht, ist er erfolgswirksam über die GuV zu erfassen. Die Kriterien der Aktivierung sind insoweit – neben anderen, insb. neben den Bewertungsregeln – zugleich Kriterien der Gewinnrealisierung3.
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Die (bisher) h.M. geht davon aus, dass aufgrund des Maßgeblichkeitsgrundsatzes der steuerrechtliche Begriff des (aktiven) „Wirtschaftsguts“ und der handelsrechtliche Begriff des „Vermögensgegenstands“ inhaltlich übereinstimmen4. Die Frage, was als Wirtschaftsgut in der Bilanz zu aktivieren ist („Ob“ der Bilanzierung, s. Rz. 19), ist so verstanden zunächst nach Handelsrecht (§§ 238 ff. HGB i.V.m. § 5 I EStG; § 141 I 2 AO) zu bestimmen. Im Unterschied zum Begriff des Vermögensgegenstandes erstreckt sich der steuerrechtliche Begriff des Wirtschaftsguts in Gestalt des sog. negativen Wirtschaftsguts oder der sog. Wirtschaftslast freilich auch auf die Passivseite der Steuerbilanz5.
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Ob an der tradierten Auffassung, dass die Begriffe „Wirtschaftsgut“ und „Vermögensgegenstand“ gleichbedeutend seien, nach dem BilMoG noch festgehalten werden kann, erscheint allerdings fraglich. Der handelsrechtliche Begriff des Vermögensgegenstandes setzt nämlich die 1 Wahlrechte sind auch aus Sicht des Handelsbilanzrechts nicht unumstritten; für eine Einschränkung handelsbilanzieller Wahlrechte Hennrichs, Wahlrechte im Bilanzrecht der Kapitalgesellschaften, 1999; Schulze-Osterloh, ZIP 2004, 1128; zu Wahlrechten in Internationalen Rechnungslegungsstandards Kirsch, BB 2003, 1111 („verdeckte“ Wahlrechte in IAS/IFRS); Tanski, DStR 2004, 1843; ferner Storck, Bilanzpolitische Handlungsspielräume im deutschen und amerikanischen Handelsbilanzrecht, Diss., 2004. 2 HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 262. 3 Zutr. Wassermeyer DB 2001, 1053 (1054). 4 Vgl. BFH GrS BStBl. 2000, 632; BFH BStBl. 1970, 382; II 1976, 13 (14); st. Rspr.; aus der Lit. z.B. HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 555; krit. aber z.B. Großkomm. HGB/Kleindiek5, § 246 HGB Rz. 10. Eingehend Roland, Der Begriff des Vermögensgegenstandes i.S.d. handels- und aktienrechtlichen Rechnungslegungsvorschriften, Diss., 1980; Ley, Der Begriff „Wirtschaftsgut“ und seine Bedeutung für die Aktivierung2, 1987. 5 So regelt § 6 EStG die Bewertung von Wirtschaftsgütern, darunter auch die von Verbindlichkeiten (§ 6 I Nr. 3 EStG). Zum Begriff des negativen Wirtschaftsguts (Wirtschaftslast) J. Lang, Bemessungsgrundlage, 274 ff. (298/299).
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Hennrichs
Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 125
§9
selbständige Verwertbarkeit voraus1. Das Gut muss bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise und „nach der Verkehrsauffassung einzeln verwertbar“ sein, „sei es durch Veräußerung oder anderweitig, beispielsweise durch Verarbeitung, Verbrauch oder Nutzungsüberlassung“2. Damit ist die Einzelverwertbarkeit des mit dem Gut verbundenen wirtschaftlichen Potentials das zentrale Merkmal des Vermögensgegenstands3. Diese Interpretation lässt sich zum einen auf die Materialien zum BilMoG stützen, wo dieses enge Begriffsverständnis explizit ausgedrückt ist4. Sie folgt zum anderen aus der neuen Vorschrift des § 246 I 4 HGB, wonach ein derivativ erworbener Geschäfts- oder Firmenwert kein Vermögensgegenstand i.S.d. HGB ist, sondern als solcher lediglich fingiert wird („gilt als … Vermögensgegenstand“). Diese Formulierung ist mit Bedacht gewählt, weil es nach der Begründung zum BilMoG, wie ausgeführt, entscheidend auf das Kriterium der Einzelverwertbarkeit ankommen soll und der Geschäfts- oder Firmenwert als solcher losgelöst vom Unternehmen nicht verwertbar ist. Durch dieses enge Begriffsverständnis will sich das HGB bewusst von der weiter reichenden asset-Konzeption der IFRS abheben5. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Verwertbarkeit eines Guts lediglich zusammen mit dem Betrieb als Ganzes nicht ausreichen, um einen Vermögensgegenstand anzunehmen. Demgegenüber ist der Begriff des Wirtschaftsguts nach der bisherigen st. Rspr. des BFH weit zu verstehen und soll es entscheidend auf die selbständige Bewertungsfähigkeit ankommen; hinsichtlich der Verwertbarkeit genüge die Verwertbarkeit zusammen mit dem Betrieb als Ganzes (näher und Nachweise sogleich Rz. 125). Danach ist der derivative Geschäfts- oder Firmenwert steuerrechtlich ein Wirtschaftsgut (s. auch § 7 I 3 EStG)6. Da für das Handelsrecht nach BilMoG ein anderes Begriffsverständnis gilt, wird entweder der BFH seine Rspr. überdenken müssen (in einigen neueren Judikate wird das Kriterium, es genüge die Verwertbarkeit mit dem Betrieb als Ganzes, entweder nicht explizit erwähnt7 oder es wird sogar ausdrücklich auch die Einzelverwertbarkeit bejaht8; andere Entscheidungen wiederholen allerdings lediglich die „alte“ Formel9) oder die Gleichsetzung von „Vermögensgegenstand gleich Wirtschaftsgut“ muss aufgegeben werden.
123
Bei teleologischer Interpretation des Steuerrechts sind Abweichungen vom Begriff des Vermögensgegenstandes überall dort angezeigt, wo dies geboten ist, um steuerspezifische Bilanzzwecke zur Geltung zu bringen10; dabei ist zu berücksichtigen, dass der steuerrechtliche Begriff des Wirtschaftsguts nicht nur im Betriebsvermögensvergleich nach §§ 5 I; 4 I EStG eine Rolle spielt, sondern als Grundbegriff der Einkünfteermittlung und des Bewertungsrechts eine weit über das Steuerbilanzrecht hinausreichende Bedeutung hat.
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Nach (bisheriger) st. Rspr. des BFH11 sind Wirtschaftsgüter alle am Bilanzstichtag als Vermögenswerte realisierbaren Gegenstände i.S.d. Zivilrechts (d.h. Sachen und Rechte) sowie alle anderen vermögenswerten Vorteile einschließlich tatsächlicher Zustände und konkreter Möglichkeiten. Im Weiteren müssen die so definierten Gegenstände/Vorteile folgende drei Voraussetzungen erfüllen:
125
1 Großkomm. HGB/Kleindiek5, § 246 HGB Rz. 8; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 21 ff. 2 Vgl. BT-Drucks. 16/10067, 50 u. 60; s. außerdem Hennrichs, DB 2008, 537 (539). 3 Hennrichs, DB 2008, 537 (539). 4 Vgl. BT-Drucks. 16/10067, 50 u. 60; s. außerdem Hennrichs, DB 2008, 537 (539). 5 Vgl. IAS 38, dessen Übernahme in das HGB im BilMoG erörtert, aber bewusst nicht beschlossen wurde, hierzu Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2008, 157. 6 So explizit wieder BFH VIII R 13/08, BStBl. 2011, 875. 7 Vgl. BFH IV R 46/09, BStBl. 2011, 696 (Windkraftanlage); dazu auch BFH I R 57/10. 8 BFH I R 108/10, DStR 2012, 229 (Spielerlaubnis im Profifußball). 9 So BFH VIII R 13/08, BStBl. 2011, 875; BFH I R 94/10, DStR 2012, 173 (unter II. 2a). 10 Costede, StuW 1995, 115 (116); KSM/Plückebaum, § 4 EStG Rz. B 50 (1987); Weber-Grellet, Steuerbilanzrecht, 1996, § 8 Rz. 3; Kirchhof/Crezelius13, § 4 EStG Rz. 66. 11 Grds. BFH GrS BStBl. 2000, 632 (635) m.w.N. (dazu Wassermeyer, DB 2001, 1053).
Hennrichs
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§9
Rz. 126
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
(1) Die Gegenstände/Vorteile müssen einen greifbaren Vorteil bilden: Der Unternehmer muss sich die Erlangung der Gegenstände/Vorteile etwas kosten lassen und die Aufwendungen müssen zu einem sich über mehrere Jahre erstreckenden greifbaren Nutzen führen1; ansonsten sind die Aufwendungen nicht zu aktivieren, sondern als Aufwand einer Periode zu behandeln. (2) Die greifbaren Vorteile müssen nach der Verkehrsauffassung im Rahmen eines einheitlichen Nutzungs- und Funktionszusammenhangs einer selbständigen Bewertung zugänglich sein2. Dagegen ist die selbständige Nutzbarkeit des Vorteils nicht erforderlich (BFH BStBl. 1996, 166; 1997, 360). (3) Die Vorteile müssen zumindest zusammen mit dem Betrieb übertragbar sein; Einzelveräußerbarkeit ist nicht erforderlich (BFH BStBl. 1990, 16; 1992, 384; BFH/NV 2004, 1393; BFH I R 94/10). Deshalb ist nach Auffassung des BFH auch der Geschäfts- und Firmenwert ein WG3.
126
Passive Wirtschaftsgüter sind Verbindlichkeiten und Rückstellungen (§ 249 HGB; §§ 5 III, IV, IVa, IVb; 6 I Nrn. 3, 3a EStG). Demgegenüber keine Wirtschaftsgüter, sondern Posten eigener Art sind die Rechnungsabgrenzungsposten (§ 5 V EStG) und sog. Bilanzierungshilfen (früher § 269 HGB a.F.).
127
Wirtschaftsgüter sind insoweit nicht bilanzierungsfähig (aktivierungs-, passivierungsfähig), als ein Bilanzierungsverbot (Aktivierungs-, Passivierungsverbot) besteht (z.B. § 5 II, IVa 1 EStG). Bilanzierungsverbote können originär steuerrechtlich angeordnet sein (§ 5 II–V EStG) oder sich mit Wirkung für die Steuerbilanz über § 5 I 1 EStG auch aus dem Handelsrecht ergeben (insb. §§ 248 II 2; 249 II 1 HGB). Die Definition des Begriffs „Wirtschaftsgut“ grenzt die sog. abstrakte Bilanzierungsfähigkeit ab. Davon zu unterscheiden ist die konkrete Bilanzierungsfähigkeit, bei der Fragen der Zurechnung (s. § 39 AO; § 246 I 2, 3 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG) und mögliche Ansatzverbote oder Wahlrechte zu berücksichtigen sind.
1.2 Besonderheiten einzelner Wirtschaftsgüter 1.2.1 Immaterielle Wirtschaftsgüter4 128
Das wichtigste Aktivierungsverbot betrifft immaterielle Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens, die nicht entgeltlich erworben (= angeschafft) wurden (§ 5 II EStG). Hierbei handelt es sich um einen Ausdruck des Vorsichtsgedankens. Rationales Verhalten der Kaufleute unterstellt, sollten Investitionen in immaterielle Wirtschaftsgüter zwar theoretisch ebenso mindestens die Anschaffungs- oder Herstellungskosten wert sein wie Investitionen in Sachanlagen. Praktisch ist der Wert beispielsweise einer eigenen Erfindung aber häufig sehr schwer zu bestimmen. Bereits die Zuordnung der Herstellungskosten gelingt vielfach nicht eindeutig. Überdies ist der innere Wert von selbst geschaffenen immateriellen Anlagegütern besonders unsicher, weil es für solche Wertträger meistens keine aktiven Märkte gibt und der Kaufmann vielleicht auch dazu neigt, den Wert etwa der eigenen Erfindung zu überschätzen. Solange selbst geschaffene immaterielle Wertträger keinen „Markttest“ bestanden haben, ist ihre objektive Werthaltigkeit ungewiss. Eben deshalb flankiert das Handelsrecht die Aktivierungsmöglichkeit gem. § 248 II HGB durch eine Ausschüttungssperre (§ 268 VIII HGB)5.
129
Das Gesetz enthält keine abstrakte Definition des immateriellen Wirtschaftsguts. § 266 II A I HGB listet die „immateriellen Vermögensgegenstände“ lediglich auf und nennt beispielhaft insb. (1.) gewerbliche Schutzrechte und ähnliche Rechte und Werte sowie Lizenzen an solchen Rechten und Werten sowie (2.) Konzessionen6. Der ebenfalls in der Bilanzposition „Anlagever1 So bisher BFH GrS BStBl. 2000, 632 (635); BFH BStBl. 1990, 794; 2003, 400 (402); s. aber jüngst BFH v. 26.11.2004 – X R 20/12, DStR 2015, 340 – Rz. 32. 2 BFH BStBl. 1990, 47; 1990, 794; 1991, 361; 1992, 893; 1994, 873; 1996, 166; 1997, 360. 3 BFH BStBl. 1981, 189; explizit ebenso wieder BFH VIII R 13/08, BStBl. 2011, 875; a.A. Söffing, FS Döllerer, 1988, 493; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 95 ff. (Charakter einer Bilanzierungshilfe). 4 Vgl. BT-Drucks. 16/10067, 49 f., 60 f., 64. 5 Vgl. BT-Drucks. 16/10067, 49 f., 60 f., 64. 6 Ausf. HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 1680 ff.
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Hennrichs
Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 132
§9
mögen“ geführte Geschäfts- oder Firmenwert ist handelsrechtlich, wie § 246 I 4 HGB klarstellt, kein Vermögensgegenstand, sondern wird als solcher nur fingiert („gilt als“). Die in Rz. 121 ff. genannten Kriterien für ein Wirtschaftsgut müssen erfüllt sein. An dieser Stelle, also bei den immateriellen Wirtschaftsgütern, entfalten dieser Kriterien auch ihre eigentliche (Abgrenzungs-) Bedeutung (denn Gegenstände i.S. des bürgerlichen Rechts [Sachen und Rechte] sind unproblematisch Wirtschaftsgüter). Nach der (allerdings umstrittenen) Rspr. können insb. folgende Werte als Wirtschaftsgüter zu erfassen sein: Patente, Marken u. Warenzeichen (richtigerweise aber nur im Fall des derivativen Erwerbs und nur, wenn sie selbständig bewertbar und auch selbständig verwertbar sind; für selbst geschaffene Marken gilt das Ansatzverbot nach § 248 II 2 HGB aufgrund des Maßgeblichkeitsgrundsatzes auch steuerlich, § 5 I 1 EStG), Urheber- und Verlagsrechte, ungeschützte Erfindungen, Gebrauchsmuster, Fabrikationsverfahren und sonstiges Know-how, Belieferungsrechte (BFH/NV 2003, 154), Auftragsbestände1 (aber str. und richtigerweise zu verneinen, weil bloße Gewinnchancen aus schwebenden Geschäften2), Kundenstamm (BFH BStBl. 2010, 609; aber str. und richtigerweise nicht gesondert aktivierungsfähig, da die Kundenloyalität nicht genügend sicher ist3), Mineralgewinnungsrechte, Güterfernverkehrsgenehmigungen (BFH BStBl. 1990, 15), Emissionsberechtigungen (BMF BStBl. I 2005, 1047)4, Software5 (BFH X R 26/09, BStBl. 2011, 865; zu sog. Trivialprogrammen, R 5.5 Abs. 1 EStR 2008; sog. Firmware ist demgegenüber integraler Bestandteil der jeweiligen Hardware und damit unselbständiger Teil eines materiellen Wirtschaftsguts), Internet-Domains6 (BFH BStBl. 2007, 301; aber str. und richtigerweise zu verneinen, wenn die Domain, wie regelmäßig, wirtschaftlich vom Unternehmen nicht getrennt werden kann7), Filme (BFH BStBl. 1997, 320) und Spielerlaubnisse des Lizenzfußballs (BFH BStBl. 1992, 977; bestätigt von BFH BStBl. 2012, 238)8; Beteiligung eines Wohnungseigentümers an einer Instandhaltungsrückstellung (BFH I R 94/10, BStBl. 2012, 244); Rezeptur eines Pflanzenschutzmittels (BFH IV R 5/09, BStBl. 2012, 122).
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Keine (selbständigen) Wirtschaftsgüter (sondern unselbständiger Teil des Geschäfts- oder Firmenwerts) sind demgegenüber: Aufwendungen für einen Reklamefeldzug; Faktoren wie ein günstiger Standort, Mitarbeiterfähigkeiten, Aus- und Weiterbildungskosten, günstige Miet- oder Leasingverträge, bloße Nutzungsvorteile (BFH GrS BStBl. 1988, 348), die Vertragsarztzulassung beim Erwerb einer Arztpraxis (unselbständiger Teil des Praxiswerts, BFH VIII R 13/08, BStBl. 2011, 875).
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Dingliche Nutzungsrechte (z.B. Nießbrauch, §§ 1030 ff. BGB) und obligatorische Forderungen auf Nutzungsüberlassung (etwa aus Miete oder Pacht) sind als solche zwar Gegenstände im Sinne des bürgerlichen Rechts (denn dieser Begriff umfasst auch Rechte und Forderungen) und damit an sich abstrakt aktivierbar9. Soweit sie Teil eines noch schwebenden Geschäfts sind, werden sie nach dem GoB der Nichtbilanzierung schwebender Geschäfte gleichwohl nicht bilanziert10. Ein auf die Nutzung entfallendes Entgelt (laufende Mietzahlungen) kann daher nicht als AK eines immateriellen
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1 BFH BStBl. 1970, 804 (805); eingehend Klostermann, Der Auftragsbestand als Wirtschaftsgut, Diss., 2000; zust. HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 1700. 2 Zutr. Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh18, § 42 GmbHG Rz. 73, 78; Siegel, DB 1997, 941 (943). 3 Zutr. Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh18, § 42 GmbHG Rz. 78. 4 Röster, Bilanzierung und Besteuerung von Emissionszertifikaten, Wien 2006; Völker-Lehmkuhl, Praxis der Bilanzierung und Besteuerung von CO2-Emissionsrechten, 2006; Herzig/Jensen-Nissen/Koch, FR 2006, 109; Redeker/Scholze/Wielenberg, StuW 2007, 251; Altenschmidt/Lohmann, IStR 2007, 574. 5 Dazu ausf. Stapperfend, Die steuer- und bilanzrechtliche Behandlung von Software, Diss., 1991; ferner Küting/Pilshofer/Kirchhof, WPg. 2002, 73 (US-GAAP u. IAS); zu ERP-Software BMF BStBl. 2005, 1025; Groß/Georgius/Matheis, DStR 2006, 339. 6 Vgl. Kessler, DB 1998, 1341; Schick/Nolte, DB 2002, 541; Thiele, ÖStZ 2005, 473 u. 2006, 334; Wübbelsmann, DStR 2005, 1659; Schmittmann, StuB 2007, 217. 7 Zutr. Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh18, § 42 GmbHG Rz. 78. 8 Dazu krit. Hüttemann, DStR 1994, 490; Jansen, FS Raupach, 2006, 247; Jansen, FR 2007, 837. 9 Kußmaul/Ollinger, StuW 2011, 282 (286 f.); eingehend S. Koch, Bilanzierung von Nutzungsrechten nach GoB und IFRS, Diss., 2011, 104 ff. 10 Vgl. D. Meyer, Einkommensteuerliche Behandlung des Nießbrauchs und anderer Nutzungsüberlassungen, 1984; Fabri, Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung entgeltlicher Nutzungsverhältnisse, Diss., 1987; Kußmaul, Nutzungsrechte an Grundstücken in Handels- und Steuerbilanz, 1987; Kußmaul/Ollinger, StuW 2011, 282; Mathiak, FS Döllerer, 1988, 397; krit. HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 1687; Bieg, Schwebende Geschäfte in Handels- und Steuerbilanz, 1977, S. 346 ff.
Hennrichs
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§9
Rz. 133
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
WG „Nutzungsrecht“ aktiviert werden1. Mangels Anschaffungskosten sind folgerichtig auch keine Anschaffungsnebenkosten gegeben, so dass namentlich Maklerprovisionen, die im Zusammenhang mit dem Abschluss eines Miet- oder Pachtvertrags gezahlt werden, nicht aktivierbar sind2. Vorauszahlungen auf das laufende Nutzungsentgelt (Mietzinsvorauszahlungen) sind allerdings abzugrenzen (§ 5 V EStG). Zu Abstandszahlungen zur Ablösung von Nutzungsrechten s. BFH GrS BStBl. 1970, 382; BFH BStBl. 1993, 486.
133
Die Abgrenzung immaterieller Wirtschaftsgüter gegenüber laufendem Aufwand stellt eine streitträchtige Herausforderung an den Wirtschaftsgutsbegriff dar, denn nicht jeder betriebliche Vorteil ist ein gegenüber dem Geschäfts- und Firmenwert selbständiges immaterielles Wirtschaftsgut. Stets ist zu prüfen, ob der Vorteil die oben aufgeführten (Rz. 121 ff., 125) allgemeinen Merkmale eines Wirtschaftsguts erfüllt. Bei Übertragung von Betrieben ist zu prüfen, ob neben dem Geschäftswert eigenständige immaterielle Wirtschaftsgüter übertragen werden3.
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Seit dem BilMoG weicht die Behandlung immaterieller Wirtschaftsgüter in EStG und HGB voneinander ab, wobei der Stpfl. es in der Hand hat, durch entsprechende Ausübung der ihm handelsbilanziell eingeräumten Wahlrechte ein Auseinanderfallen von Handels- und Steuerbilanz zu vermeiden. Nach § 5 II EStG ist ein Aktivposten des Anlagevermögens nur anzusetzen, wenn es sich um ein entgeltlich erworbenes immaterielles Wirtschaftsgut handelt. Daraus ergibt sich ein Aktivierungsverbot für selbst geschaffene immaterielle Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens. Die neue Vorschrift des § 248 II 1 HGB gewährt handelsbilanziell demgegenüber insoweit grds. ein Wahlrecht (gem. § 248 II 2 HGB besteht für bestimmte immaterielle Wertträger allerdings auch handelsbilanziell ein Aktivierungsverbot, nämlich für selbst geschaffene Marken, Drucktitel, Verlagsrechte, Kundenlisten und vergleichbare immaterielle Vermögensgegenstände des Anlagevermögens). Von dem ursprünglich in Anlehnung an IFRS4 geplanten Ansatzgebot für selbst geschaffene immaterielle Vermögensgegenstände des Anlagevermögens hat der BilMoG-Gesetzgeber zu Recht abgesehen5. Ferner scheidet die nach § 248 II 1 HGB in der Handelsbilanz zulässige Aktivierung aus, soweit sich hinsichtlich der Herstellungskosten nicht eindeutig zwischen Entwicklungs- und Forschungskosten unterscheiden lässt (§ 255 IIa 4 HGB).
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Die Ansatzrestriktion gem. § 5 II EStG ist im steuerrechtlichen Vorsichtsprinzip und im Realisationsgedanken begründet: Bei immateriellen Wertträgern wird ihr Vermögenswert nach der gesetzlichen Konzeption erst realisiert und ihr Vorteil erst „greifbar“ i.S.d. allgemeinen Wirtschaftsgutbegriffs (s. Rz. 121 ff.), wenn diese Gegenstand eines entgeltlichen Leistungsaustauschs geworden sind (Gedanke des Markttests)6. Erst das vereinbarte Entgelt erlaubt eine hinreichend sichere Bewertung und damit Greifbarkeit. Dabei muss gerade der immaterielle Wert als solcher Gegenstand des Erwerbsvorgangs sein7. Bloße Dienstleistungen Dritter oder Zulieferungen, die lediglich zur Selbstherstellung durch den Kaufmann beitragen, genügen nicht8. Ebenfalls kein Erwerbsentgelt sind Gebühren bei der Anmeldung von Immaterialgüterrechten (z.B. Patentgebühren oder Kosten des Patentanwalts). Werden immaterielle Anlage1 A.A. HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 1687 a.E. für durch einmalige Zahlungen erworbene zeitlich bestimmte Nutzungsrechte. 2 BFH BStBl. 1997, 808. 3 Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 118 f. 4 Vergleich der Bilanzierung immaterieller Vermögensgegenstände nach HGB, IAS/IFRS u. US-GAAP: von Keitz, Immaterielle Güter in der internationalen Rechnungslegung, Diss., 1997; Dawo, Immaterielle Güter in der Rechnungslegung nach HGB, IAS/IFRS und US-GAAP, 2003; Kuntschik, Steuerliche Gewinnermittlung und IAS/IFRS am Beispiel immaterieller Vermögenswerte, Diss., 2004. 5 Dazu Hennrichs, DB 2008, 537; Moxter, DB 2008, 1514; Arbeitskreis „Immaterielle Werte im Rechnungswesen“ der Schmalenbach-Gesellschaft für BWL, DB 2008, 1813; Hüttche, StuB 2008, 163; Theile, WPg. 2008, 1064; Mindermann, WPg. 2008, 273. 6 J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, 293 ff. m.w.N. Krit. und de lege ferenda für eine Ansatzpflicht in Handels- und Steuerbilanz Mayr, DStJG 34 (2011), 327 (336 ff.), m.w.N. 7 MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 248 HGB Rz. 43 ff., m.w.N. 8 HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 1733.
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Hennrichs
Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 140
§9
werte zusammen mit anderen Gegenständen oder im Rahmen eines Unternehmenserwerbs angeschafft, sind sie entgeltlich erworben und damit gesondert anzusetzen. Für die Zuordnung der Anschaffungskosten gelten die allgemeinen Grundsätze. Das Entgelt braucht i.Ü. nicht in Geld zu bestehen, der Erwerb kann auch auf einem Tauschvorgang beruhen. Gehört das selbst geschaffene Wirtschaftsgut dem Umlaufvermögen an, ist es dagegen mit den Herstellungskosten zu aktivieren1. Insoweit bleibt es bei dem Vollständigkeitsgebot gem. § 246 I 1 HGB; § 5 I 1 EStG.
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Das Vorsichtsprinzip tritt zurück, wenn ein selbst geschaffenes immaterielles Wirtschaftsgut unentgeltlich aus einem Privat- in ein Betriebsvermögen eingelegt wird. §§ 4 I 8; 6 I Nr. 5 EStG haben gegenüber § 5 II EStG Vorrang2. Zwar fehlt es an einem wertkonkretisierenden Transaktionsakt am Markt, doch ist der Ansatz hier erforderlich, um die Abgrenzung zwischen betrieblicher und außerbetrieblicher Sphäre zu gewährleisten (hierzu Rz. 360).
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1.2.2 Selbständige Vermögensgegenstände und unselbständige Teile, insb.: Grundstücke und Gebäude, selbständige Gebäudeteile und selbständige bewegliche Wirtschaftsgüter Bei bebauten Grundstücken stellen Grund und Boden einerseits, Gebäude andererseits stets eigenständige Wirtschaftsgüter dar. Auch innerhalb eines Gebäudes können bilanzrechtlich selbständige Gebäudeteile anzunehmen sein (§ 7 Va EStG). Verschiedene steuerrechtlich relevante Nutzungs- und Funktionszusammenhänge von Gebäudeteilen begründen abweichend vom Sachenrecht jeweils ein eigenständiges Wirtschaftsgut3. Wird ein Gebäude teils eigenbetrieblich (1), teils fremdbetrieblich genutzt (2), teils vermietet (3) und teils selbst bewohnt (4), so werden vier Wirtschaftsgüter angenommen. Eine Aufteilung in mehr als vier Wirtschaftsgüter (z.B. bei mehreren Betrieben) verneint BFH BStBl. 1995, 74; 1999, 677. Bestandteile, die mit dem Gebäude in einem einheitlichen Nutzungs- und Funktionszusammenhang stehen (z.B. Heizungsanlage, sanitäre Anlagen), sind dagegen unselbständige Gebäudebestandteile und einheitlich mit dem Gebäude zu bilanzieren und abzuschreiben.
138
Selbständige bewegliche Wirtschaftsgüter sind Zubehör (z.B. Mülltonnen), Scheinbestandteile i.S.d. § 95 BGB sowie ferner Betriebsvorrichtungen i.S.d. § 68 II 1 Nr. 2 BewG, selbst wenn es sich zivilrechtlich um wesentliche Bestandteile eines Gebäudes i.S.d. §§ 93; 94 II BGB handelt (z.B. Lastenaufzüge, Hochregallager, Fertigungsstraßen, Kühlanlagen4). Ebenfalls selbständige Wirtschaftsgüter, aber unbewegliche, sind Ladeneinbauten (z.B. Schaufensteranlagen und Gaststätteneinbauten, s. R 4.2 EStR) sowie Bodenschätze (z.B. Kies- und Sandvorkommen) nach Aufschließung (BFH GrS BStBl. 2007, 508 [514]; s. auch BFH IV R 36/06). Die Abgrenzung erfolgt teils sehr kasuistisch. Zur Aufteilung eines Windparks in mehrere Wirtschaftsgüter s. BFH v. 14.4.2011 – IV R 46/09, BStBl. 2011, 696; BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10, BStBl. 2012, 407.
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1.2.3 Forderungen Forderungen sind ohne weiteres Wirtschaftsgüter i.S. der o.g. Definition (nämlich Gegenstände i.S.d. Bürgerlichen Rechts) und damit abstrakt aktivierbar5. Problematisch kann bei Forderungen aber die konkrete Aktivierbarkeit sein, namentlich der Zeitpunkt der Aktivierung. Forderungen aus schwebenden Umsatzgeschäften werden nach dem GoB der Nichtbilanzierung 1 Zur besonders umstrittenen Abgrenzung bei Medienfonds s. BFH BStBl. 1997, 320; ferner sog. Medienerlass, BMF BStBl. I 2001, 175 u. 2003, 406; Wassermeyer, DB 2010, 354. 2 HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 1672. 3 BFH GrS BStBl. 1974, 132; 1995, 281; BFH BStBl. 1998, 625; 1999, 676 (677); 2006, 169; Kahle/Heinstein, DStZ 2006, 825. 4 Abgrenzung zum Grundvermögen BFH BStBl. 2005, 688; BMF BStBl. I 2006, 314. 5 Zur Bilanzierung von Forderungen s. ausf. U. Scholz, Die Aktivierung einseitiger Forderungen in Handels- und Steuerbilanz, Diss., 2003; ferner Ehmcke, DStZ 1995, 691; Weber-Grellet, StuB 2004, 217.
Hennrichs
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140
§9
Rz. 141
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
schwebender Geschäfte (Rz. 86) zunächst nicht bilanziert. Die Aktivierung etwa einer Kaufpreisforderung setzt gemäß dem Realisationsprinzip (Rz. 88) das Bewirken der Leistung durch den Verkäufer (grds. durch Lieferung) voraus (näher Rz. 413). Eine spätere Anfechtung des der Aktivierung zugrunde liegenden Rechtsgeschäfts schließt die Aktivierung nicht aus1. 141
Für bestrittene Forderungen, die nicht auf gegenseitigen Verträgen beruhen, darf wegen des Vorsichts- und Realisationsprinzips (Rz. 88) ein Aktivposten erst angesetzt werden, wenn die Forderung entweder anerkannt oder durch rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zuerkannt ist2 (s. auch Rz. 36c und Rz. 98). Das gilt auch für die Aktivierung streitiger Steuerforderungen3. Bestritten sind bspw. Umsatzsteuer-Erstattungsansprüche aber dann nicht mehr, wenn sie vorbehaltlos im BStBl. veröffentlicht sind (BFH BStBl. 2012, 190). Betagte (d.h. gestundete) Forderungen sind anzusetzen. Allerdings kann der Umstand, dass die Leistung nicht sofort fällig ist, bei der Bewertung zu berücksichtigen sein. Ist das Zeitmoment wesentlich, kommt nach Maßgabe des § 6 I Nr. 2 Satz 2 EStG eine Abzinsung der Forderung auf den Teilwert in Betracht4 (s. auch Rz. 282).
142
Für die Aktivierung von Dividendenforderungen hat der Große Senat des BFH sich nach einigem Hin und Her5 schließlich richtigerweise für einen Grundsatz der phasenverschobenen Aktivierung entschieden (BFH GrS 2/99 BStBl. 2000, 6326), d.h. die Forderung des Anteilseigners auf den Gewinn betreffend das Wirtschaftsjahr 01 ist in der (Steuer-)Bilanz7 des Anteilseigners nicht bereits per 31.12.01, sondern erst im Folgejahr 02 zu aktivieren, wenn der Gewinnverwendungsbeschluss gefasst wird. Vor Fassung des Gewinnverwendungsbeschlusses ist die Forderung noch nicht von der ihr zugrunde liegenden Beteiligung abgespalten und daher noch nicht als selbständiges Wirtschaftsgut aktivierbar. Der Gewinnverwendungsbeschluss hellt auch die am Bilanzstichtag gegebene Situation nicht lediglich auf, sondern wirkt konstitutiv (wertbegründend). Die abweichende handelsrechtliche Praxis hat faktisch eine wahlrechtsähnliche Situation zur Folge (weil es auf die zeitliche Reihenfolge der Jahresabschlüsse bei Mutter- und Tochterunternehmen ankommen soll), was mit vorrangigen steuerrechtlichen Prinzipien (Gleichheit der Besteuerung) unvereinbar ist8. Steuerliche Vorschriften, die eine anteilige (z.B. § 3 Nr. 40 EStG) oder 95%ige Steuerfreiheit (z.B. § 8b KStG) der Dividende gewähren, sind auf der zweiten Einkünfteermittlungsstufe durch Korrekturen außerhalb der Steuerbilanz zu berücksichtigen9.
143–144
Einstweilen frei.
1.3 Subjektive Zurechnung von Wirtschaftsgütern 145
Bilanzieren muss das Wirtschaftsgut derjenige, dem es zuzurechnen ist. Nach wohl h.M.10 ergeben sich die Zurechnungsregeln aus den handelsrechtlichen GoB, weil § 5 I 1 EStG als lex specialis den allgemeinen Zurechnungsvorschriften des § 39 AO (dazu § 5 Rz. 140 ff.) vorgehe. 1 BFH BStBl. 1978, 191. 2 BFH BStBl. 1991, 213; 1994, 564 (565 f.); 2006, 650; 2011, 55; 2012, 190; BFH I R 96/10, BFH/NV 2012, 991; BFH v. 26.2.2014, I R 12/14, BFH/NV 2014, 1544; Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 270 „Forderungen“; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 52; Großkomm. HGB/ Kleindiek5, § 246 HGB Rz. 20; Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh18, § 42 GmbHG Rz. 82. 3 BFH I R 96/10, BFH/NV 2012, 991. 4 BFH BStBl. 1990, 639; Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 296 m.w.N. 5 Früher BFH BStBl. 1989, 714 in Reaktion auf BGHZ 65, 230. 6 Zust. z.B. Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 492c; Wassermeyer, DB 2001, 1053 (1054); MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 42 ff., 45 ff. 7 Anders soll es nach h.M. in der Handelsbilanz sein, wo grds. phasengleich zu aktivieren sein soll, s. BGH 137, 378 und EuGH EuGHE 1996, I-3133 = DB 1996, 1400 (Tomberger); dagegen aber z.B. MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 42 ff., 45 ff. m.w.N. 8 Zutr. BFH BStBl. 1999, 551 (554 f.); BFH GrS 2/99 BStBl. 2000, 632. 9 Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 491. 10 HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 516; Ruppe, DStJG 1 (1978), 14; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 75 ff.; HHSp/P. Fischer, § 39 AO Rz. 17 (2002); Tipke/Kruse, § 39 AO Rz. 11 (2006).
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Hennrichs
Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 149
§9
Nach § 246 I 2 Hs. 1 HGB sind Vermögensgegenstände grds. in der Bilanz des Eigentümers aufzunehmen (Regelzurechnung beim rechtlichen Eigentümer/Inhaber); gem. § 246 I 2 Hs. 2 HGB kann der Vermögensgegenstand ausnahmsweise aber auch einem anderen als dem Eigentümer wirtschaftlich zuzurechnen sein (Art. 6 I lit. h RL 2013/34/EU). Die genauen Voraussetzungen einer von der rechtlichen Zuordnung abweichenden wirtschaftlichen Zurechnung sind nicht geregelt. Indessen ist davon auszugehen, dass sich die durch das BilMoG in § 246 I 2 HGB positivierten GoB mit den Regeln des § 39 AO decken1. Nach § 246 I 2 HGB; § 39 II Nr. 1 Satz 1 AO kommt die Bilanzierung von Wirtschaftsgütern, die zivilrechtlich einem anderen Rechtssubjekt gehören, unter dem Gesichtspunkt sog. wirtschaftlichen Eigentums ausnahmsweise in Betracht, wenn der bilanzierende Stpfl. gegenüber dem bürgerlich-rechtlichen Eigentümer eine rechtlich abgesicherte Position hat, die es ihm ermöglicht, diesen dauerhaft dergestalt von der Einwirkung auf die betreffenden Vermögensgegenstände auszuschließen, dass seinem Herausgabeanspruch bei typischem Verlauf zumindest tatsächlich keine nennenswerte praktische Bedeutung zukommt (vgl. auch BGH NJW 1996, 458). Kriterien für die vorzunehmende Gesamtwürdigung (vgl. BFH BStBl. 2012, 318; 407) sind, wem auf Dauer, d.h. für die wirtschaftliche Nutzungsdauer des Gegenstands, die Nutzungsmöglichkeit zusteht, wem Substanz und Ertrag zugewiesen sind, d.h. wer sich den Wert der Sache (das mit dem Gut verbundene wirtschaftliche Potential) dienstbar machen kann, bei wem der Besitz (in Erwartung des Eigentumserwerbs2), Gefahr, Nutzungen und Lasten (insb. Versicherungsbeiträge) liegen (s. auch sogleich Rz. 155 ff.)3, wer die Chancen und Risiken des Wirtschaftsguts (die Chancen und Risiken, die aus dem zu bilanzierenden Wirtschaftsgut erwachsen) trägt4 und für wessen Rechnung eine Verwertung geschieht.
146
Für Schulden bestimmt § 246 I 3 HGB eine rechtliche Zurechnung, d.h. (bilanz-)rechtlich begründete Schulden sind stets in der Bilanz des Schuldners aufzunehmen.
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Leasing5 begründet je nach Gestaltung einen der Hauptfälle einer vom Zivilrecht abweichenden Zuordnung und ist in der Praxis von eminenter wirtschaftlicher Bedeutung. Zivilrechtlicher Eigentümer ist meist der Leasinggeber (kann aber auch bspw. eine Bank sein, wenn der Leasinggegenstand ihr zur Sicherheit übereignet ist). Ist das Leasinggut (ausnahmsweise) wirtschaftlich dem Leasingnehmer zuzurechnen, muss er es in seiner Bilanz aktivieren und in der Folgezeit abschreiben. Dabei ist das Wirtschaftsgut mit den Anschaffungskosten des Leasingnehmers anzusetzen. Diese entsprechen dem über die Gesamtlaufzeit zu entrichtenden Entgelt für die Nutzungsüberlassung. Nicht zu den Anschaffungskosten gehört der in den Leasingraten enthaltene Zinsanteil. Zur Ermittlung der Anschaffungskosten sind die Leasingraten deshalb auf den Barwert abzuzinsen. Korrespondierend hat der Leasingnehmer (bei Zurechnung des Wirtschaftsguts zu ihm) auf der Passivseite eine Verbindlichkeit auszuweisen. Die Leasingraten sind sodann aufzuteilen in einen erfolgsneutralen Tilgungsanteil und einen als Betriebsausgabe abziehbaren Zins- und Kostenanteil. Ist das Wirtschaftsgut dagegen (wie regelmäßig) dem Leasinggeber zuzurechnen und von ihm zu aktivieren, kann der Leasingnehmer die Leasingraten mit sofortiger steuerlicher Wirkung in voller Höhe als Aufwand geltend machen.
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Für die Frage, unter welchen Voraussetzungen das Leasinggut ausnahmsweise dem Leasingnehmer wirtschaftlich zuzurechnen ist, unterscheidet die Praxis u.a. das Operating- und das in der Praxis besonders bedeutsame Finanzierungsleasing sowie Mobilien- und Immobilienleasing. Die Finanzverwaltung hat in den sog. Leasing-Erlassen die aus ihrer Sicht maßgeblichen Zurechnungskriterien typisiert6. Dabei handelt es sich um sog. norminterpretierende Verwaltungsvorschriften, denen keine
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1 Vgl. auch BFH I R 57/10, wo der BFH die Frage, ob die Zurechnungsvoraussetzungen sich aus § 39 AO oder den handelsrechtlichen GoB ergeben, offen lässt. S. auch S. Mayer, WPg. 2003, 925; Schmidt/ Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 151 ff.; NWB Praxishdb. BilStR/Briesemeister2, Rz. 664. 2 HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 515. 3 BFH BStBl. 1977, 553; 1988, 1009; 1992, 398; BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10 (Tz. 20); HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 515. 4 Vgl. zu diesem Kriterium BFH I R 57/10, BStBl. 2012, 407 (Tz. 20 ff.); BT-Drucks. 16/10067, 47 (zu § 246 I 2 HGB n.F.). 5 Dazu Beckmann, DStR 2000, 1185; Engel, DStR 2000, 1478; Bordewin/Tonner, Leasing im Steuerrecht5, 2008; Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 721 ff.; NWB Praxishdb. BilStR/Briesemeister2, Rz. 684 ff. 6 BMF BStBl. 1971, 264; 1972, 188; 1992, 13; 1996, 9; zurückgehend auf BFH BStBl. 1970, 264.
Hennrichs
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§9
Rz. 150
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Rechtsnormqualität zukommt und die für die Gerichte nicht bindend sind1. Die Vereinbarkeit der dort aufgestellten Abgrenzungskriterien mit den handelsrechtlichen GoB wird teilweise bezweifelt2. Das Nutzungsrecht genügt für eine Zurechnung des Gegenstands beim Nutzenden für sich genommen nicht. Richtigerweise kommt eine Zurechnung des Leasingguts zum Leasingnehmer nur in Betracht, wenn der Leasingvertrag auf Grund der getroffenen Abreden wirtschaftlich im Wesentlichen einem Ratenkauf entspricht3. Das sollte nur angenommen werden, wenn eine der folgenden Gestaltungen vorliegt4: – Der Leasingnehmer kann den Gegenstand über die gesamte betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer nutzen (Nutzung bis zur Wertlosigkeit des Gegenstands; dann hat der Leasingnehmer den Substanz- und Ertragswert des Wirtschaftsguts „ausgezehrt“). – Die Leasingdauer ist zwar kürzer bemessen als die gesamte Nutzungsdauer, aber dem Leasingnehmer steht bei Ablauf der Grundmietzeit eine „Verlängerungsoption“ zu, die er wahrscheinlich für die gesamte restliche Nutzungsdauer des Gegenstands ausüben wird. Der erforderliche Grad an Wahrscheinlichkeit ist gegeben, wenn die Verlängerungsmiete unter dem Restnutzungswert des Gegenstandes liegt. – Die Leasingdauer ist zwar kürzer bemessen als die gesamte Nutzungsdauer, aber dem Leasingnehmer ist zum Ablauf der Grundmietzeit unter Anrechnung der bis dahin gezahlten Raten eine Kaufoption auf Übernahme des Leasinggegenstands eingeräumt und es ist wahrscheinlich, dass der Leasingnehmer die Option ausüben wird (Mietkauf). Die Möglichkeit der Ausübung der Kaufoption allein begründet aber noch keine Zurechnung zum Leasingnehmer; hinzukommen muss vielmehr, dass mit der Ausübung der Option wahrscheinlich zu rechnen ist5. Die Wahrscheinlichkeit der Ausübung der Option ist namentlich anzunehmen, wenn der Übernahmepreis unter dem Zeitwert des Gegenstands liegt. – Der Leasinggegenstand ist nach Ablauf der Leasing-Zeit überwiegend (zu mehr als 50 %6) für Rechnung des Leasingnehmers zu verwerten oder der Leasingnehmer erhält bei Rückgabe des Gegenstands dessen Zeitwert ersetzt (denn dann steht ihm letztlich der Wert des Gegenstands dauerhaft zur Verfügung). – Der Leasinggegenstand ist ausschließlich für Zwecke des Leasingnehmers geeignet (Spezial-Leasing).
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Bauten auf fremden Grundstücken7 können, wie u.a. § 266 II A II Nr. 1 HGB zeigt, abweichend vom Zivilrecht eigenständige Vermögensgegenstände (Wirtschaftsgüter) des Sachanlagevermögens sein. Gehört das Gebäude zivilrechtlich gem. §§ 93; 94; 946 BGB dem Grundstückseigentümer, kann eine Zurechnung zum Bauenden unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Betrachtungsweise § 246 I 2 HGB (§ 39 II Nr. 1 Satz 1 AO) gerechtfertigt sein. Das ist zu bejahen, wenn das Nutzungsrecht vertraglich abgesichert8 für die gesamte voraussichtliche Nutzungsdauer der Baulichkeit eingeräumt ist; oder ein Herausgabeanspruch des zivilrechtlichen Eigentümers nicht besteht, weil z.B. der Nutzende berechtigt oder verpflichtet ist, das Gebäude nach Ablauf der Nutzungszeit zu beseitigen9; oder der Bauende bei Beendigung der Nutzung an dem bis dahin noch nicht verbrauchten Restwert (Substanz) in Form eines Wertersatzanspruchs teilhat10; oder ihm eine Kaufoption zu so günstigen Konditionen eingeräumt ist, dass er bei typischem Geschehensablauf davon Gebrauch machen wird. 1 BFH BStBl. 1995, 754, unter II.3. der Gründe. 2 Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh18, § 42 GmbH Rz. 94 m.w.N. 3 Vgl. BFH BStBl. 1992, 182; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 78; Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 724. 4 Vgl. BFH BStBl. 2001, 311 (unter II.1b der Gründe); MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 210; je m.w.N. 5 BFH BStBl. 2001, 311 (unter II.1b der Gründe). 6 Zutr. Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh18, § 42 GmbH Rz 95. 7 BFH GrS BStBl. 1995, 281 (284); 1999, 774 (776); 1999, 778 (780); 1999, 782 (784, 785 ff.); BFH BStBl. 1999, 523 (524); Lit. ab 1996: Groh, BB 1996, 1487; Eisgruber, DStR 1997, 522; Schilling, Bauten auf fremden Grundstücken im Einkommensteuerrecht, 1997; P. Fischer, DStR 2001, 2014; Schuster, DStZ 2003, 369; Strahl, FR 2003, 447; Hengens, NJW 2004, 264; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 519; s. auch § 8 Rz. 224. 8 BGH NJW 1996, 458. 9 Blümich/Wied, § 4 EStG Rz 323. 10 Beck’scher Bilanz-Komm./Schubert/F. Huber9, § 247 HGB Rz. 451, 459.
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Hennrichs
Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 153
§9
Ist das Gebäude oder der Gebäudeteil dem Bauherrn nach den vorgenannten Grundsätzen weder zivilrechtlich noch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zuzurechnen (insb. dann, wenn das Gebäude nach den Vereinbarungen bei Vertragsende ohne Wertersatz beim Grundstückseigentümer verbleibt), hat der Stpfl., der die Herstellungskosten getragen hat, nach der Rspr. des BFH und hL gleichwohl das Gebäude (oder den Gebäudeteil) „wie ein materielles Wirtschaftsgut“ anzusetzen und nach den für Gebäude geltenden AfA-Regeln abzuschreiben1 (s. auch § 5 Rz. 143 und § 8 Rz. 223). Dergestalt erlangt der Stpfl., der die Kosten getragen hat, die AfA-Berechtigung und kann damit seine Erwerbsaufwendungen auch dann steuerlich abziehen, wenn sie auf fremdes Eigentum erbracht wurden (s. auch Rz. 340). Trägt z.B. der Ehegatte des Grundstückseigentümers die Herstellungskosten des Gebäudes, so hat er zu aktivieren und dieses wie ein Gebäude abzuschreiben (BFH BStBl. 1995, 281); einer ausdrücklichen Vereinbarung zwischen den Ehegatten bedarf es nicht (BFH BStBl. 1997, 718; 2002, 741; 2004, 403). Wird das Grundstück vor Ablauf der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer veräußert, so ist der Restwert auszubuchen und der Ausgleichsanspruch nach § 951 I BGB anzusetzen (BFH BStBl. 1997, 718). Die gleichen Grundsätze gelten für Mietereinbauten/-umbauten2. Sie sind als materielle, bewegliche Wirtschaftsgüter in der Bilanz des Mieters zu aktivieren, wenn der Mieter sachenrechtlich Eigentümer ist, also Scheinbestandteile nach § 95 BGB (= nur zu einem vorübergehenden Zweck in das Gebäude eingefügte Sachen) anzunehmen sind, oder wenn die Ein-/Umbauten als Betriebsvorrichtungen i.S.d. § 68 II Nr. 2 BewG zu behandeln sind. Darüber hinaus können Mietereinbauten/-umbauten als unbewegliche Wirtschaftsgüter aktiviert und abgeschrieben werden, wenn die durch die Ein-/Umbauten geschaffenen Gebäudebestandteile in einem von der eigentlichen Gebäudenutzung verschiedenen Nutzungs- und Funktionszusammenhang stehen3. Auch hier begründet der Entschädigungsanspruch wirtschaftliches Eigentum des Mieters (BFH BStBl. 1994, 164 [166]). Die Nutzungsdauer richtet sich dabei nicht nach der Dauer des Mietvertrages, sondern nach der Gebäude-AfA (BFH BStBl. 1997, 533; BFH/NV 2004, 1397; krit. Niehues, DB 2006, 1234).
151
Das wirtschaftliche Eigentum an einem gekauften Grundstück geht mit Übergang von Besitz, Nutzungen und Lasten (z.B. Hypothekenzinsen und Grundsteuer) auf den Erwerber über (BFH BStBl. 1992, 398)4. Der Abschluss des Kaufvertrags oder die Auflassung (§ 925 BGB) genügen nicht. Auch die Kaufpreiszahlung vor Übergang von Besitz, Nutzungen und Lasten bewirkt noch keinen Übergang des wirtschaftlichen Eigentums. Vielmehr liegt eine Vorauszahlung vor, die beim Erwerber zu aktivieren und beim Veräußerer zu passivieren ist (§ 266 II A. II 4, III C. 3. HGB).
152
Gekaufte Waren gehören wirtschaftlich grds. bereits, aber auch erst mit Erlangung der Verfügungsmacht darüber zum Vermögen des Kaufmanns5. Verfügungsmacht über Sachen bedeutet grds. unmittelbaren oder mittelbaren Besitz an ihnen6. Beim Versendungskauf genügt allein der Gefahrübergang gem. § 447 BGB oder Incoterms noch nicht (str.). Zwar ist damit das Schweben des Verkaufsgeschäfts für den Verkäufer beendet und der Gewinn i.S.d. § 252 I Nr. 4 HGB bei ihm realisiert (Rz. 89, 412 f.), so dass der Verkäufer die Kaufpreisforderung gewinnerhöhend ansetzen kann. Daraus allein folgt aber noch nicht die Zugehörigkeit der Kaufsache zum Vermögen des Käufers (BFH BStBl. 1989, 21). Die subjektive Zurechnung der Wirtschaftsgüter beim Käufer und die Realisation des Veräußerungsgewinns beim Verkäufer sind systematisch zu trennen7. Allerdings kann sich die Verfügungsmacht des Käufers im Einzelfall auch anders ausdrücken als in der Besitzerlangung. Entscheidend ist, ob und wann der Erwerber nach dem Willen beider Vertragsparteien über das Wirtschaftsgut wirtschaftlich verfügen kann8. Werden beispielsweise Bestände an untrennbar vermischten nämlichen Waren (wie Metallbestände) verkauft und bezahlt, so ist mangels sachenrechtlicher Bestimmtheit vor Aussonderung konkreter Sachen noch kein (mittelbarer) Besitz des Käufers möglich9. Auf konkrete Ein-
153
1 Vgl. BFH BStBl. 1999, 778; 1999, 774; zust. Fischer, DStR 2001, 2014; Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 740 „Bauten auf fremdem Grund und Boden/AfA-Berechtigung“. 2 Dazu HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 521; Gschwendtner, FS Beisse, 1997, 215; Rometsch, FS Flick, 1997, 555; krit. Niehues, DB 2006, 1234. 3 BFH GrS BStBl. 1974, 132; BFH BStBl. 1975, 443; 1994, 164; 1997, 533; 1997, 775, 776; BFH/NV 2007, 1239. 4 Ferner BFHE 228, 559; BFH v. 20.10.2011 – IV R 35/08, BFH/NV 2012, 377. 5 Vgl. auch Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 35. 6 BFH BStBl. 1989, 21. 7 NWB Praxishdb. BilStR/Briesemeister2, Rz. 666. 8 Beck’scher Bilanz-Komm./Schubert/Gadek9, § 255 HGB Rz. 31. 9 Vgl. RGZ 103, 151 (154); BGHZ 21, 52 (55); Soergel/Stadler13, Vor § 854 BGB Rz. 7, § 868 BGB Rz. 6.
Hennrichs
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§9
Rz. 154
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
zelsachen kommt es bei nämlicher Ware aber nicht an. Ist hier dem Käufer vertraglich das uneingeschränkte und jederzeitige Dispositionsrecht eingeräumt (beispielsweise die gekauften und bezahlten Bestände jederzeit abholen zu können oder an einen Abnehmer liefern zu lassen), so sollte die sich darin ausdrückende Verfügungsmacht genügen, um die Bestände bereits dem Käufer zuzurechnen, auch wenn sie körperlich noch nicht in seiner Betriebsstätte vorhanden sind. Die Art der Lagerhaltung (Eigen- oder Fremdlagerung, getrennte oder vermischte Lagerung) sollte bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise für die subjektive Zurechnung keine Rolle spielen1. Entscheidend ist die wirtschaftliche Verfügungsmacht. Diese kann sich im (unmittelbaren oder mittelbaren) Besitz ausdrücken, kann aber im Einzelfall auch aus anderen Gründen zu bejahen sein.
154
Bei technischen Anlagen (z.B. einer Maschine oder einer Windkraftanlage), die erst nach erfolgreichem Abschluss eines Probebetriebs abgenommen werden sollen, setzt die Erlangung des wirtschaftlichen Eigentums durch den Erwerber zusätzlich zur Besitzerlangung den Übergang der Gefahr des zufälligen Untergangs voraus. Ist beispielsweise vereinbart, dass die Gefahr erst bei Beendigung des Probebetriebs und der Hauptinspektion auf den Erwerber übergehen soll, erlangt der Käufer vorher selbst dann kein wirtschaftliches Eigentum, wenn er bereits Kaufpreiszahlungen geleistet hat2. Kaufpreisvorauszahlungen berechtigen für sich genommen nicht zur Annahme einer vorzeitigen Erlangung der wirtschaftlichen Verfügungsmacht über das Wirtschaftsgut (s. bereits Rz. 154); vielmehr ist die geleistete Anzahlung beim Käufer zu aktivieren und beim Verkäufer zu passivieren (§ 266 II A. II 4, III C. 3. HGB; BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10 [Tz. 21], BStBl. 2012, 407, u. BFH BStBl. 1992, 398).
155
Bezogen auf Aktien und GmbH-Anteile hat die Rspr. die skizzierten allgemeinen Grundsätze dahin konkretisiert, dass es für die wirtschaftliche Zurechnung darauf ankomme, wer nach dem Gesamtbild der rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im konkreten Einzelfall die mit den Anteilen verbundenen wesentlichen Rechte, nämlich Stimm- und Dividendenrechte hat3 und wer das Risiko einer Wertminderung trägt sowie die Chance einer Wertsteigerung hat4. Bei sog. cum/ex-Geschäften (Erwerb von dividendenberechtigten Aktien [cum Dividende] mit anschließendem Rückverkauf [ex]) scheidet eine Zurechnung der Aktien zum Erwerber aus, wenn der Erwerb der Aktien nach einem Gesamtvertragskonzept so ausgestaltet ist, dass der Erwerber im wirtschftlichen Ergebnis die mit den Aktien verbundenen Rechte nicht in nennenswertem Umfang in Anspruch nimmt und die Chancen und Risiken der Papiere letztlich nicht trägt (weil z.B. die Kursrisiken und Kurschancen von der finanzierenden Bank getragen werden und diese auch den wesentlichen Teil der Dividende erhält).5 Es liegt dann ein bloßer Durchgangserwerb vor.
156
Ein steuerlich anzuerkennendes Treuhandverhältnis (mit Zurechnung des Treuguts zum Treugeber, § 5 Rz. 144) liegt nur dann vor, wenn die mit der rechtlichen Eigentümer- bzw. Inhaberstellung verbundene Verfügungsmacht des Treuhänders in solchem Umfang zugunsten des Treugebers eingeschränkt ist, dass das rechtliche Eigentum bzw. die rechtliche Inhaberschaft als „leere Hülle“ erscheint6 Der Treugeber muss das Treuhandverhältnis beherrschen, und zwar nicht nur nach den mit dem Treuhänder getroffenen Absprachen, sondern auch bei deren tatsächlichem Vollzug. Der Treuhänder muss ausschließlich für Rechnung des Treugebers handeln. Wesentliche Merkmale sind die Weisungsbefugnis des Treugebers (korrespondierend: die Weisungsgebundenheit des Treuhänders) in Bezug auf die Behandlung des Treuguts sowie das Recht des Treugebers, jederzeit die Rückgabe des Treuguts zu verlangen, wobei die Vereinbarung einer angemessenen Kündigungsfrist unschädlich ist.
157
Bei Pfandgut ist zu unterscheiden:7 Individualleergut, das eindeutig einem bestimmten Hersteller zuzuordnen ist, bleibt rechtlich und wirtschaftlich im Eigentum des jeweiligen Herstellers. Einheitsleergut, das keine besonderen Merkmale aufweist und von einer unbestimmten Anzahl von Herstel1 So i.Erg. auch KSM/Werndl, § 6 EStG Rz. B 30, und Beck’scher Bilanz-Komm./Schubert/Gadek9, § 255 HGB Rz. 31 (die allerdings systematisch angreifbar stets auf den Übergang des Preisrisikos abstellen wollen). 2 BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10 (Tz. 21), BStBl. 2012, 407. 3 Vgl. BFH v. 15.12.1999 – I R 29/97, BStBl. 2000, 527; BFH v. 20.11.2007 – I R 85/05, BStBl. 2013, 287; s. auch BMF BStBl. I 2000, 1392; IDW ERS HFA 13 Tz. 8. 4 Vgl. BFH BStBl. 2007, 296; 2007, 937; 2009, 124; 2012, 318; Tipke/Kruse, § 39 AO Rz. 24a.; eingehend St. Mayer, Wirtschaftliches Eigentum an Kapitalgesellschaftsanteilen, Diss., 2003; Kolbinger, Das wirtschaftliche Eigentum an Aktien, 2008; Anzinger, Recht der Finanzinstrumente, 2012 (insb. S. 394, 400 ff.). 5 BFH v. 16.4.2014 – I R 2/12, DStR 2014, 2012 (unter B. IV. der Gründe). 6 BFH I R 12/09, BStBl. 2010, 590; BFH I R 12/14, BFH/NV 2014, 1544. 7 HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 523, m.w.N.
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Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 159
§9
lern verwendet wird, wird im Wirtschaftskreislauf übereignet (vom Hersteller an den Händler und von diesem an den Endabnehmer). Die bilanzielle Zurechnung folgt der rechtlichen Eigentumsübertragung. Demgegenüber entsteht bei sog. Brunneneinheitsleergut (Leergut, das einer bestimmten Gruppe von Herstellern zugeordnet ist), für die Mitglieder des Pools Miteigentum gem. §§ 948 I, 947 I 1 BGB, das durch die Übergabe auf den einzelnen Handelsstufen nicht wechselt. Auch das für sog. Mehrrücknahmen gezahlte Pfand führt nicht zu Anschaffungskosten oder zu Forderungen gegen die Kunden, weil die Händler die angenommenen Flaschen/Kästen wieder in den Mehrwegkreislauf einbringen müssen1. Möglich sein soll allerding die Aktivierung von Nutzungsrechten (deren Anschaffungskosten das gezahlte Pfand sei)2. Wirtschaftsgüter, die mehreren zur gesamten Hand zustehen, werden den Beteiligten nach § 39 II Nr. 2 AO anteilig zugerechnet (§ 5 Rz. 145)3. Der Gesellschaftsanteil an einer Personengesellschaft ist kein (eigenständiges) Wirtschaftsgut (§ 10 Rz. 181). Die Beteiligung verkörpert vielmehr nach § 39 II Nr. 2 AO die quotale Berechtigung des Gesellschafters an den zum Gesamthandsvermögen gehörenden Wirtschaftsgütern4.
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Einstweilen frei.
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2. Passivierung von Verbindlichkeiten und Rückstellungen Literatur: Hüttemann, Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung für Verbindlichkeiten2, 1976; Baethge (Hrsg.), Rückstellungen in der Handels- und Steuerbilanz, 1991; Ehmcke, Bilanzierung von Forderungen und Verbindlichkeiten in Handels- und Steuerbilanz, DStZ 1995, 691; Herzig, Rückstellungen als Instrument der Risikovorsorge in der Steuerbilanz, in DStJG 14 (1991), 199; Thies, Rückstellungen als Problem der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, Diss., 1996; Doralt, Sind Rückstellungen steuerpolitisch gerechtfertigt?, DB 1998, 1357; Happe, Rückstellungen im internationalen Vergleich: HGB – US-GAAP – IAS, DStZ 2002, 360; G. Mayr, Rückstellungen in Handels- und Steuerbilanz, Habil., Wien 2004; Rüdinger, Regelungsschärfe bei Rückstellungen. Normkonkretisierung und Anwendungsermessen nach GoB, IAS/IFRS und US-GAAP, Diss., 2004; Moxter, Neue Ansatzkriterien für Verbindlichkeitsrückstellungen? (Teil I u. II), DStR 2004, 1057 u. 1098; Rothoeft, Rückstellungen nach § 249 HGB und ihre Entsprechungen in den US-GAAP und IAS, Diss., 2004; Euler/Engel-Ciric, Rückstellungskriterien im Vergleich – HGB versus IFRS, WPg.-Sonderheft 2004, 139; Ullrich, Rückstellungen in der Handels- und Steuerbilanz nach neuem Recht, 2005; Heger, Wohin geht die Rspr. zur Verbindlichkeitsrückstellung?, StbJb. 2005/06, 233; Hommel/Wich, Neues zur Entwicklung der Rückstellungsbildung nach IFRS, WPg. 2007, 509; Herzig/Gellrich, Harmonisierung der steuerlichen Gewinnermittlung in der EU – Überlegungen zur Konzeption von Rückstellungen in einer gemeinsamen konsolidierten Bemessungsgrundlage, IStR 2006, 757; D. Schubert, Der Ansatz von gewissen und ungewissen Verbindlichkeiten in der HGB-Bilanz – Insbesondere zur wirtschaftlichen Belastung und zu faktischen Verpflichtungen, Diss., 2007; D. Müller, Verbindlichkeitsrückstellungen, Diss., 2008; Sieglaff, Das Objektivierungserfordernis bei der Bildung von Rückstellungen, DStR 2008, 369; zum BilMoG: Küting/Cassel/Metz, Die Bewertung von Rückstellungen nach neuem Recht, DB 2008, 2317; Theile/Stahnke, Bilanzierung sonstiger Rückstellungen nach dem BilMoG-Regierungsentwurf, DB 2008, 1757; Petersen/Zwirner/Künkele, Rückstellungen nach BilMoG, StuB 2008, 693; Christiansen, „Weißer Rauch“ für die Passivierung rechtlich bestehender Verbindlichkeiten?, DStR 2011, 2483; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 249 HGB; Dziadkowski, Zur Nicht-Passivierung rechtlich entstandener ungewisser Verbindlichkeiten in der Steuerbilanz, WPg. 2012, 500; Bareis, „Angeschaffte“ Drohverlustrückstellungen – Eine contradictio in adiecto, FR 2012, 385; Siegel, „Angeschaffte“ Drohverluste als neuer Steuersparmarkt?, FR 2012, 388; Buchholz, Die Reichweite der Maßgeblichkeit handelsrechtlicher Bilanzwerte bei Bewertung von Rückstellungen in der Steuerbilanz, Ubg. 2012, 777; Kroener/Momen, Debt-Mezzanine-Swap – OFD Rheinland auf dem Irrweg?, DB 2012, 829; Beyer, Die handels- und steuerrechtliche Behandlung eines Debt-EquitySwap mit Genussrechten bei Kapitalgesellschaften, DStR 2012, 2199; Zwirner/Endert/Sepetanz, Zur Maßgeblichkeit bei der steuerlichen Rückstellungsberechnung, DStR 2012, 2094; Schrecker, Mezzani1 BFH v. 9.1.2013 – I R 33/11, BFH/NV 2013, 1009. Dort (Tz. 43 ff.) auch ausf. zur Frage der Passivierung der Verpflichtung, bei Rückgabe des Leerguts die erhaltenen Pfandgelder an die Kunden zurückzuzahlen (dazu s. auch Rz. 163, 286a). 2 BFH v. 9.1.2013 – I R 33/11, BFH/NV 2013, 1009 (Tz. 36 ff.); zweifelnd Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 270 „Leergut“. 3 BFH v. 26.4.2012 – IV R 44/09, BStBl. 2013, 142 (Tz. 17). 4 BFH v. 26.4.2012 – IV R 44/09, BStBl. 2013, 142 (Tz. 18), m.w.N.
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§9
Rz. 160
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
ne-Kapital in Handels- und Steuerrecht, 2012; Günkel, Aktuelle Fragen des Bilanzsteuerrechts, StbJb. 2012/13, 385; M. Prinz, Lex generalis derogat legii specialii – ein neues steuerbilanzielles Auslegungsprinzip?, FR 2013, 506; Rätke, Beschränkung von Rückstellungen durch die EStR 2012, BBK 2014, 20; Höng, Debt-Mezzanine-Swap in Handels- und Steuerbilanz, Ubg. 2014, 27; Rogall/Dreßler, Zur Entstehung der rechtlichen Verpflichtung bei Verbindlichkeitsrückstellungen, Ubg. 2014, 759.
2.1 Voraussetzungen der Passivierung 160
Spiegelbildlich zu der Aktivierung von Wirtschaftsgütern ist auch auf der Passivseite der Bilanz zunächst die Frage nach dem Ob der Bilanzierung aufgeworfen. Ansatzfähige Passiva sind Schulden (Verbindlichkeiten und Rückstellungen, § 266 III B, C HGB), ferner passive Rechnungsabgrenzungsposten (Rz. 202) und erhaltene Anzahlungen (s. § 266 III Buchst. C Nr. 3 HGB; Rz. 86, 156, 413). Das ebenfalls auf der Passivseite ausgewiesene Eigenkapital (s. Rz. 13, 18) stellt als Differenz zwischen Aktiva und Passiva eine (rechnerische) Residualgröße dar (zu mezzaninen Finanzierungsinstrumenten Rz. 168).
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Die steuerliche Berücksichtigung von Schulden setzt voraus: (1.) dass die Schuld betrieblich veranlasst ist (§ 4 IV EStG); sie darf (2.) nicht unter ein explizites Ansatzverbot (z.B. § 5 IVa EStG; Rz. 190) oder ein Abzugsverbot für Betriebsausgaben (§ 4 V EStG; ausf. § 8 Rz. 286 ff.) fallen; steht dem Abzug von Betriebsausgaben ein Verbot gem. § 4 V EStG entgegen, wird der steuerbilanzielle Passivposten durch außerbilanzielle Hinzurechnung neutralisiert1; und sie muss (3.) zum Bilanzstichtag entweder rechtlich entstanden oder zumindest wirtschaftlich verursacht sein (dazu näher Rz. 178).
162
Grds. richtet sich auch die Bildung von Passiva nach handelsrechtlichen GoB (§ 5 I 1 EStG). Maßgeblich werden insb. § 249 I 1 1. Alt. HGB sowie § 249 I 2, II HGB. Indes hat der Gesetzgeber auf der Passivseite den Konnex zwischen Handels- und Steuerbilanz (s. Rz. 40 ff.) durch steuerrechtliche Sonderregeln zum Ansatz (§ 5 IIa–IVb, VII EStG) und zur Bewertung (§§ 4f, 5 VII; § 6 I Nr. 3, Nr. 3a; § 6a EStG) weit stärker zerstört als auf der Aktivseite2. Daher bleibt von der Idee der Einheitsbilanz auf der Passivseite kaum noch etwas übrig. Auch körperschaftsteuerliche Sondervorschriften sind vorrangig zu beachten und können eine eigenständige steuerliche Abgrenzung rechtfertigen (s. für Genussrechte § 8 III 2 KStG; Rz. 168).
2.2 Verbindlichkeiten 163
Bei den Verbindlichkeiten (§ 266 III C. HGB) sind Schulden anzusetzen, die am Bilanzstichtag dem Grunde und der Höhe nach gewiss und quantifizierbar sind3. Durch die Gewissheit dem Grunde und der Höhe nach unterscheiden sich die Verbindlichkeiten (i.e.S.) von den Rückstellungen (§ 249 HGB), die (unter bestimmten Voraussetzungen, s. sogleich Rz. 170 ff.) für nach Grund und/oder Höhe ungewisse Verbindlichkeiten gebildet werden müssen. Nicht passiviert werden Verbindlichkeiten aus schwebenden Geschäften (Rz. 86). Daher ist für die Verpflichtung, bei Rückgabe von sog. Einheitsleergut (Rz. 159) die erhaltenen Pfandgelder an die Kunden zurückzuzahlen, keine Verbindlichkeit zu passivieren, denn diese Verbindlichkeit beruht auf dem schwebenden Geschäft (Rückkauf des Einheitsleerguts)4. 1 BFH BStBl. 1999, 656; BFH v. 7.11.2013 – IV R 4/12, BStBl. 2014, 306; BFH v. 14.5.2014 – X R 23/12, BStBl. 2014, 684 (Tz. 31, 62); R 5.7 I 2 EStÄR 2012 (für § 4 Vb EStG). S. auch Rz. 171. 2 Speziell zu Rückstellungen und Leistungsfähigkeitsprinzip: Kontroverse zwischen Siegel, StuB 1999, 195; 2000, 29, und Küting/Kessler, StuB 2000, 21, sowie Versin, StuB 2000, 1207 (punktuelle Einschränkungen implizieren ungleich- und übermäßige Besteuerung); Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (319); Hennrichs, FS J. Lang, 2010, 237; Hüttemann, FS Spindler, 2011, 627; Schulze-Osterloh, DStJG 23 (2000), 67; Schulze-Osterloh, FS J. Lang, 2010, 255. 3 BFH I R 83/09, BStBl. 2011, 812 (Passivierung einer Verpflichtung aus einer Rückverkaufsoption losgelöst von dem nachfolgenden Rückübertragungsgeschäft; insoweit gegen BMF BStBl. I 2009, 890). 4 BFH v. 9.1.2013 – I R 33/11, BFHE 240, 226 (Tz. 44); anders aber bei Individual- und Brunneneinheitsleergut, ebda., Tz. 45 ff.
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Hennrichs
Rz. 166
§9
Für Verbindlichkeiten, die nur zu erfüllen sind, soweit künftig Einnahmen oder Gewinne anfallen, besteht nach § 5 IIa EStG ein Passivierungsverbot bis zum Anfall der Einnahmen oder Gewinne1. Solche von zukünftigen Einnahmen oder Gewinnen abhängigen Verbindlichkeiten müssen nicht aus dem zum Stichtag vorhandenen Vermögen bedient werden und belasten nach der Vorstellung des Gesetzgebers deshalb das Vermögen des Kaufmanns zum Bilanzstichtag noch nicht. Sie sollen daher bei dem stichtagsbezogenen Betriebsvermögensvergleich einstweilen unberücksichtigt bleiben. Sie werden erst passiviert, wenn die Einnahmen oder Gewinne, aus denen sie zu bedienen sind, erzielt werden. Dies erfasst auch qualifizierte Rangrücktrittsvereinbarungen oder Besserungsabreden, nach denen die Verbindlichkeit nur aus künftigen Jahresüberschüssen zu bedienen sind (dazu und zum einfachen Rangrücktritt Rz. 167)2. Andererseits steht § 5 IIa EStG der Passivierung einer Rückstellung für Kostenüberdeckung (dazu auch Rz. 181) nicht entgegen, wenn die Kostenüberdeckung nach Maßgabe öffentlich-rechtlicher Vorschriften in der folgenden Kalkulationsperiode durch entsprechende Preiskalkulation auszugleichen ist. Zwar ist in diesem Fall die Modalität der Erfüllung der unbedingt bestehenden Schuld zukunftsbezogen. Dennoch bestehen an einer aktuellen wirtschaftlichen Belastung des Vermögens des Schuldners, die auch ein gedachter Erwerber bei einer Kaufpreisbemessung berücksichtigen würde, jedenfalls dann keine begründeten Zweifel, wenn der Betrieb, der die künftigen Einnahmen/Gewinne erwirtschaftet (z.B. Betrieb der Wasser- oder Energieversorgung), mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für die Dauer der Ausgleichsperiode aufrechterhalten wird3.
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Eventualverpflichtungen aus Haftungsverhältnissen (bspw. aus Bürgschaften, Patronatserklärungen) sind nur dann zu passivieren, wenn die Gefahr der Inanspruchnahme ernsthaft droht (BFH BStBl. 2007, 384), ansonsten genügt ein Unterstrichvermerk (§ 251 HGB).
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Die Zahlungs(un)fähigkeit des Schuldners berührt die Passivierungspflicht der gegen ihn gerichteten Verbindlichkeiten als solche dagegen nicht4. Eine rechtlich bestehende Verbindlichkeit ist also nicht etwa deshalb ergebniswirksam auszubuchen, weil sie aus der Perspektive des Schuldners gesehen wahrscheinlich nicht mehr beglichen werden kann, solange der Gläubiger nach wie vor an seiner Forderung festhält5. Auch die Fälligkeit der Verpflichtung spielt keine Rolle6. Verbindlichkeiten sind vielmehr grds. erst auszubuchen, wenn sie erloschen sind (bspw. durch Erfüllung, § 362 BGB, oder bei Erlass/Forderungsverzicht, § 397 BGB; grds. auch bei Forderungsverzicht gegen Besserungsschein7). Bestehende Verbindlichkeiten dürfen unter dem Gesichtspunkt der fehlenden wirtschaftlichen Belastung nur ganz ausnahmsweise ausgebucht werden, nämlich nur, wenn nach den Umständen des Einzelfalles ausnahmsweise mit einer
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Ansatz von Wirtschaftsgütern
1 Dieses durch StBereinG v. 22.12.1999 (BGBl. I 1999, 2601) als Reaktion auf BFH BStBl. 2000, 116 (118 ff.); 2000, 139 (141 ff.) eingeführte Passivierungsverbot entspricht den handelsrechtlichen GoB, soweit es Verpflichtungen betrifft, die von künftigen Gewinnen abhängig sind. Soweit § 5 IIa EStG dies allerdings auch auf solche Verbindlichkeiten ausdehnt, die von künftigen Einnahmen abhängig sind (einnahmeabhängige Verpflichtungen), ist die GoB-Konformität streitig. Zum Ganzen s. BFH v. 30.11.2011 – I R 100/10, BStBl. 2012, 332; BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. 2013, 954 (Tz. 23 ff.); MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 69 f.; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 249 HGB Rz. 26 ff.; Wendt, StbJb. 2003/04, 247. 2 Insoweit zutr. BFH v. 30.11.2011 – I R 100/10, BStBl. 2012, 332 (Tz. 17, 20); s. auch Schulze-Osterloh, WPg. 1996, 97 ff. 3 Zutr. BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. 2013, 954 (Tz. 26). 4 BFH BStBl. 1993, 747; ebenso BFH v. 6.11.2007 – I B 50/07; FG Köln v. 6.3.2012 – 13 K 3006/11, EFG 2012, 1421 (Tz. 74 f., 77); OFD Münster, BB 2006, 153; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 670; Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 758, 956; Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh18, § 42 GmbHG Rz. 279; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 105; Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 311; Kahlert, DStR 2014, 1906 (1908 f.). 5 Zutr. FG Köln v. 6.3.2012 – 13 K 3006/11, EFG 2012, 1421 (Tz. 74 f., 77); ebenso Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 758, 956; offen gelassen jetzt aber von BFH v. 5.2.2014 – I R 34/12, BFH/NV 2014, 1014 (Tz. 22) für § 12 I BewG; dagegen zu Recht krit. Kahlert, DStR 2014, 1906. 6 Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 758. 7 BFH v. 30.11.2011 – I R 100/10, BStBl. 2012, 332 (Tz. 19); Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 957, m.w.N.
Hennrichs
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§9
Rz. 167
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Inanspruchnahme durch den Gläubiger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (99 %) nicht mehr zu rechnen ist1. 167
Dementsprechend führt ein einfacher Rangrücktritt nicht zur Ausbuchung der Verbindlichkeit in der Handels- und Steuerbilanz2. Eine Rangrücktrittsvereinbarung führt zwar im sog. Überschuldungsstatus zur Nichtberücksichtigung, so dass die Verbindlichkeit bei der Überschuldungsprüfung (§ 92 Abs. 2 AktG; § 19 InsO) auszuklammern ist. In der Handels- und Steuerbilanz bleibt die fragliche Verbindlichkeit aber grds. passiviert. Denn ein Rangrücktritt führt nicht zum Erlöschen der Schuld, sondern lediglich zu einer veränderten Rangordnung. Etwas anderes gilt ausnahmsweise, wenn die Rangrücktrittsvereinbarung so ausgestaltet wird, dass die Forderung des Gläubigers hinter die Forderungen aller übrigen Gläubiger zurücktritt und nur aus künftigen Jahresüberschüssen3 zu erfüllen ist. In diesen Fällen gilt § 5 IIa EStG und ist die Verbindlichkeit auszubuchen4. Bei Gesellschafterdarlehen führt dies richtigerweise zu einer verdeckten Einlage.5 BFH v. 30.11.2011 – I R 100/106 dehnt das Passivierungsverbot wegen (angeblich) fehlender gegenwärtiger wirtschaftlicher Belastung auch auf solche Darlehen aus, die nur aus einem eventuellen Liquidationsüberschuss zu bedienen sind. Gemäß dem Grundsatz der Unternehmensfortführung (§ 252 I Nr. 2 HGB) brauche der Liquidationsfall noch nicht berücksichtigt zu werden, weshalb solche Darlehen das gegenwärtige Vermögen noch nicht belasteten.7 Diese Ansicht ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Es erscheint methodisch mindestens fragwürdig, über § 5 IIa EStG hinaus weitere Passivierungsverbote unter dem Aspekt der angeblich fehlenden wirtschaftlichen Belastung zu kreieren. Rechtliche bestehende Verbindlichkeiten begründen grds. eine wirtschaftliche Belastung8. Der Gesichtspunkt der fehlenden wirtschaftlichen Belastung ist im Gesetz in § 5 IIa EStG besonders geregelt. Der Fall der liquidationsüberschussabhängigen Verpflichtung ist dort nicht erfasst9. Da insoweit also kein besonderer Steuervorbehalt gilt, bleibt es bei dem Vollständigkeitsgebot (Rz. 85) und demgemäß beim Ausweis der rechtlich begründeten Verbindlichkeit.
1 BFH BStBl. 1989, 359 (Gutmünzen); 1996, 470 (unbewegte Sparkonten). Krit. D. Schubert, Der Ansatz von gewissen und ungewissen Verbindlichkeiten in der HGB-Bilanz: Insbesondere zur wirtschaftlichen Belastung und zu faktischen Verpflichtungen, 2007, 125 ff. – Zu den unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsschwellen bei Schulden s. auch Moxter, BB 1998, 2464; MünchKomm. BilanzR/ Hennrichs, § 246 HGB Rz. 81 f. 2 BFH BStBl. 1993, 502; 543; 2005, 581; 2005, 581; 2006, 618; BMF BStBl. I 2006, 497; hierzu K. Schmidt, DB 2006, 2503; K. Schmidt, FS Raupach, 2006, 405; Groh, DB 2006, 1286; D. Schubert, Der Ansatz von gewissen und ungewissen Verbindlichkeiten in der HGB-Bilanz, 2007, 224 ff. (227 f.); HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 675 „Rangrücktritt“; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 106; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 249 HGB Rz. 34 ff. 3 Nach FG Niedersachsen v. 12.6.2014 – 6 K 324/12, DB 2014, 1841 ist § 5 IIa EStG nicht anwendbar, wenn die Rangrücktrittsvereinbarung an den Begriff künftiger „Bilanzgewinn“ anknüpft (statt allgemein an „Gewinne“ oder „Jahresüberschüsse“). Das ist zutreffend, weil der künftige Bilanzgewinn auch aus vorhandenen Gewinnrücklagen gespeist werden kann (s. § 158 I AktG) und damit das zum Stichtag vorhandene Vermögen durchaus belastet ist. Revision beim BFH unter I R 44/14; s. auch Hahne, BB 2014, 1904. 4 Str.; insoweit zutr. und wie hier BFH v. 30.11.2011 – I R 100/10, BStBl. 2012, 332 (Tz. 17) m.w.N. zum Streitstand; s. auch Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 762c, 957a ff.; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 485 „Besserungsvereinbarung“. 5 Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 957c u. 957e; Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 315; a.A. BFH v. 30.11.2011 – I R 100/10, BStBl. 2012, 332 (Tz. 23). 6 BFH BStBl. 2012, 332 (Tz. 18 ff.) m.w.N. 7 So BFH v. 30.11.2011 – I R 100/10, BStBl. 2012, 332 (Tz. 19) unter Hinweis auf Adler/Düring/ Schmaltz6, § 246 HGB Rz. 150; Schulze-Osterloh, WPg. 1996, 97. 8 Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 755. 9 Zutr. Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 315; s. auch Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 957e; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 249 HGB Rz. 37.
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Hennrichs
Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 170
§9
Sind die Rückzahlungsmodalitäten nicht klar geregelt, ist im Zweifel von einer Erfüllungspflicht auch aus dem sonstigen Vermögen auszugehen und daher Passivierung geboten1. Das gilt auch dann, wenn sonstiges Vermögen derzeit nicht vorhanden ist, weil es nicht auf das Leistungsvermögen des Schuldners ankommt (Rz. 166)2. Bei mezzaninen Finanzierungsinstrumenten (insb. Genussrechten, aber auch bei stillen Beteiligungen3; ferner bei sog. Gemeinkosten- oder Programmpauschalen im Bereich der Wissenschaftsförderung) kann die EK-FK-Abgrenzung im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten. Das Eigenkapital ist an sich nur eine Residualgröße (Rz. 160). Die Abgrenzung bestimmt sich demzufolge grds. nach den allgemeinen bilanzsteuerrechtlichen Passivierungskriterien, d.h. entscheidend ist, ob die Voraussetzungen für die Passivierung als Schuld (Verbindlichkeiten i.e.S. und Rückstellungen), als pRAP (Rz. 200 ff.) oder als erhaltene Anzahlungen (s. § 266 III Buchst. C Nr. 3 HGB; Rz. 86, 156, 413) erfüllt sind (dann FK) oder nicht (dann EK). Allerdings sind vorrangig steuerrechtliche Sondervorschriften zu beachten (Rz. 41, 100, 162). Genussrechte, mit denen das Recht auf Beteiligung am Gewinn und am Liquidationserlös der Kapitalgesellschaft verbunden ist (beteiligungsähnliche oder qualifizierte Genussrechte), zählen gemäß dem in § 8 III 2 KStG zum Ausdruck gekommenen Regelungsanliegen des Gesetzgebers in der Steuerbilanz der Körperschaften zum Eigenkapital4. Umgekehrt sind Verpflichtungen zur Rückzahlung von Genussrechtskapital, das keine Beteiligung am Gewinn und Liquidationserlös vermittelt („einfache“ Genussrechte), in der Steuerbilanz als Verbindlichkeiten zu passivieren. Die möglicherweise anders vorgenommene handelsrechtliche Abgrenzung5 ist insoweit nicht maßgeblich6. Wird eine Verbindlichkeit (z.B. aus einem Gesellschafterdarlehen) in ein „einfaches“ Genussrecht umgewandelt (Debt-Equity- bzw. richtiger Debt-Mezzanine-Swap), findet steuerlich deshalb nur ein erfolgsneutraler Passivtausch innerhalb des steuerlichen Fremdkapitals statt7.
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Bei Einräumung einer Option sind die Verpflichtung aus der Option und das nachfolgende, aus der Ausübung der Option resultierende Geschäft zu unterscheiden. Für die Verpflichtung aus dem Optionsrecht (z.B. Verpflichtung eines Kfz-Händlers, verkaufte Kraftfahrzeuge auf Verlangen des Käufers zurückzukaufen) ist eine Verbindlichkeit in Höhe des dafür vereinnahmten (ggf. zu schätzenden) Entgelts auszuweisen8. Davon zu trennen ist die Ausübung des Optionsrechts. Droht daraus ein Verlust, gilt insoweit steuerbilanziell § 5 IVa EStG.
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2.3 Rückstellungen 2.3.1 Allgemeine Kennzeichnung und Überblick über die Rückstellungsvoraussetzungen Rückstellungen sind in der Steuerbilanz nach Maßgabe des § 5 I 1, IIa-IVb EStG i.V.m. § 249 HGB anzusetzen (Rz. 162). Hiernach ist grds. nur der Ausweis von sog. Verbindlichkeitsrück1 BFH v. 10.11.2005 – IV R 13/04, BStBl. 2006, 618 (621); Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 957d; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 249 HGB Rz. 38. 2 Zutr. Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 957d; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 249 HGB Rz. 33. 3 Dazu § 10 Rz. 36, 70. 4 Zutr. Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 920 „Genussrechte“; Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 550 „Genussrechte“; Briesemeister, Hybride Finanzierung im Ertragsteuerrecht, 2006, S. 112; Schrecker, Mezzanine-Kapital in Handels- und Steuerrecht, 2012, S. 111 ff.; Breuninger/Ernst, GmbHR 2012, 494 (496 f.); Breuninger/Prinz, DStR 2006, 1345 (1347); Breuninger, JbFfSt. 2012/2013, 308; Höng, Ubg. 2014, 27 (29). Zur Vorgängervorschrift des § 7 Satz 2 KStG 1934 auch RFH v. 17.4. 1934 – I A 316/32, RStBl. 1934, 773. 5 Vgl. dazu IDW HFA 1/1994; ferner MünchKomm. BilanzR/Kropff, § 272 HGB Rz. 252 ff.; Singhof in HdJ, Abt. III/2, 2008, Rz. 174 ff. 6 Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 920 „Genussrechte“ und Rz. 957 f.; Blümich/Rengers, § 8 KStG Rz. 194, 200 ff.; a.A. (für die Abgrenzung gelte der Maßgeblichkeitsgrundsatz) OFD Rheinland v. 14.12.2011, DStR 2012, 189; tendenziell auch Gosch, JbFfSt. 2012/2013, 319. 7 Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 957 f.; Blümich/Rengers, § 8 KStG Rz. 216. 8 BFH I R 83/09, BStBl. 2011, 812; BFH BStBl. 2009, 705. S. auch BMF v. 12.10.2011 – IV C 6 S 2137/09/10003, DStR 2011, 2000; LfSt Bayern, Vfg. v. 13.8.2014 – S 2137.1.14/5 St32, DStR 2014, 2077; E. Klein, DStR 2011, 1981.
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§9
Rz. 171
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
stellungen (§ 249 I 1 1. Fall HGB) zulässig. Sie werden für Außenverpflichtungen gebildet, die dem Grunde und/oder der Höhe nach zwar ungewiss, aber wahrscheinlich sind und bei denen eine Inanspruchnahme ernstlich droht. Wegen der wahrscheinlichen Gefahr einer Inanspruchnahme durch einen externen Gläubiger stehen diese Lasten für die Beurteilung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit den (gewissen) Verbindlichkeiten gleich1. Für angeschaffte Rückstellungen hat der Gesetzgeber mittlerweile in Reaktion auf unliebsame BFH-Entscheidungen steuerliche Sondervorschriften geschaffen, s. §§ 4f, 5 VII EStG und dazu Rz. 190 ff. Steuerlich nicht erlaubt sind Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften (sog. Drohverlustrückstellungen, § 5 IVa EStG; § 249 I 1 2. Fall HGB), obwohl diese systematisch nur ein Unterfall der allgemeinen Verbindlichkeitsrückstellungen sind (Kritik dazu Rz. 188). Für Innenobliegenheiten („Verpflichtungen“ des Stpfl. gegenüber sich selbst) dürfen nur im singulären Fall des § 249 I 2 Nr. 1 HGB sog. Aufwandsrückstellungen gebildet werden. Dies betrifft (nur) im Geschäftsjahr unterlassene Aufwendungen für Instandhaltung, die im folgenden Geschäftsjahr innerhalb von drei Monaten, oder für Abraumbeseitigung, die im folgenden Geschäftsjahr nachgeholt werden2. Für andere Innenobliegenheiten dürfen in Handels- und Steuerbilanz keine Rückstellungen (mehr) gebildet werden. Die weitergehenden Passivierungsmöglichkeiten gem. § 249 I 3, II HGB a.F. für bestimmte sonstige Instandhaltungsaufwendungen sowie allgemein für Aufwandsrückstellungen sind durch das BilMoG zu Recht abgeschafft worden. 171
Die Voraussetzungen für die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten (§ 266 III B. HGB) sind im Überblick3: (1.) es muss eine Außenverbindlichkeit gegeben sein. Diese muss (2.) ungewiss sein (sonst Ansatz als Verbindlichkeit, § 266 III C. HGB). Die Ungewissheit kann (2a.) entweder nur die Höhe betreffen (Beispiel: dem Grunde nach unstreitige Schadenersatzverpflichtung, bei der über die Höhe des Schadens gestritten wird), oder (2b.) auch den Grund (und ggf. zusätzlich die Höhe; Beispiel: die Schadenersatzverpflichtung ist nicht nur der Höhe, sondern auch dem Grunde nach streitig; mit oder ohne anhängigen Rechtsstreit)4. Schließlich (2c.) kommen sogar für rechtlich erst künftig entstehende ungewisse Verbindlichkeiten Rückstellungen in Betracht, wenn die künftige (ungewisse) Verbindlichkeit am Bilanzstichtag wirtschaftlich verursacht ist (vgl. dazu ausf. Rz. 177 ff., 183). (3.) Sodann muss ernsthaft mit einer Inanspruchnahme zu rechnen sein. (4.) Schließlich dürfen Rückstellungen nur für Verbindlichkeiten gebildet werden, die bei Erfüllung zu sofort abziehbaren BA führen. Für künftige Anschaffungs- oder Herstellungskosten eines Wirtschaftsguts, die also nicht zu sofort abzugsfähigen Aufwendungen führen, dürfen deshalb keine Rückstellungen gebildet werden (§ 5 IVb 1 EStG)5. Unterliegen BA steuerrechtlichen Abzugsverboten (s. § 4 V; ausf. § 8 Rz. 286 ff.; insb. GewSt-Rückstellung gem. § 4 Vb EStG), ist ein etwaiger handelsrechtlicher Passivposten bei der steuerlichen Gewinnermittlung durch außerbilanzielle Hinzurechnung zu neutralisieren6. 1 Zur Legitimation von Rückstellungen auch in der Steuerbilanz s. HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 54 f.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (310 ff.); Schlotter, BB 2009, 1408 (1411). 2 Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 899; Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 463. 3 Vgl. BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, BStBl. 2014, 302; BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. 2013, 954; BFH v. 8.9.2011 – IV R 5/09, BStBl. 2012, 122; BFH v. 27.1.2010 – I R 103/08, BStBl. 2010, 614 (Tz. 23); BFH v. 20.8.2008 – I R 19/07, BFH BStBl. 2011, 60; auch Blümich/Buciek, § 5 EStG Rz. 791; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 21 f.; Beck’scher Bilanz-Komm./W. Schubert9, § 249 HGB Rz. 24; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 490, 502 (Dez. 2010). Ferner z.B. R 5.7 (2) EStR 2008. 4 Zu dieser Kategorie von Rückstellungen, bei der es richtigerweise nicht auf das Kriterium der wirtschaftlichen Verursachung (dazu auch Rz. 178 ff.) ankommt, Osterloh-Konrad, DStR 2003, 1675; Schulze-Osterloh, FS Siegel, 2005, 185 (189). 5 Vgl. BFH BStBl. 2003, 121. – § 5 IVb 1 EStG entspricht den handelsrechtlichen GoB (vgl. MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 67) und der st. Rspr. des BFH (s. m.w.N. BStBl. 1999, 18 [19]). 6 Vgl. BFH v. 7.11.2013 – IV R 4/12, BStBl. 2014, 306 (Tz. 23); BFH v. 14.5.2014 – X R 23/12, BStBl. 2014, 684 (Tz. 31, 62); R 5.7 I 2 EStÄR 2012 (für eine GewSt-Rückstellung und § 4 Vb EStG).
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Hennrichs
Rz. 175
§9
Das Ansatzverbot gem. § 5 IVb 1 EStG gilt allerdings nicht bei bereits angeschafften Wirtschaftsgütern, wenn ausnahmsweise die Höhe der Zahlungsverpflichtung noch ungewiss ist (bspw. bei abgenommenen Bauwerken, wenn dem Werkvertrag lediglich ein Kostenvoranschlag zugrunde lag und eine Rechnung noch nicht erstellt ist). In diesem Fall ist eine Rückstellung geboten1. Die Vorschrift des § 5 IVb 1 EStG setzt außerdem voraus, dass die Aufwendungen als Anschaffungs- oder Herstellungskosten aktivierungsfähig sind. Bei Aufwendungen für die Herstellung eines selbst geschaffenen immateriellen Wirtschaftsguts des Anlagevermögens (z.B. Zulassungskosten eines Pflanzenschutzmittels, die Bestandteil der Herstellungskosten für die Rezeptur des Pflanzenschutzmittels sind) ist das wegen § 5 II EStG nicht der Fall. Für solche Aufwendungen kann bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen eine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten gebildet werden2.
172
Ansatz von Wirtschaftsgütern
2.3.2 Außenverpflichtung Die Bildung von Rückstellungen setzt eine Außenverpflichtung voraus (BFH BStBl. 2001, 570). Der Verbindlichkeit muss ein Anspruch eines Dritten i.S.d. § 194 I BGB korrespondieren, d.h. ein Dritter muss von der Gesellschaft ein bestimmtes Tun oder Unterlassen verlangen können (subjektives Gläubigerrecht eines Dritten). Davon abzugrenzen sind „Verpflichtungen“ des Stpfl. gegenüber sich selbst. Für solche Innenobliegenheiten dürfen nur im singulären Fall des § 249 I 2 Nr. 1 HGB sog. Aufwandsrückstellungen gebildet werden (Rz. 170).
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Schuldgrund kann ein privat- oder öffentlich-rechtlicher Vertrag oder ein gesetzliches privates oder öffentlich-rechtliches einseitiges Schuldverhältnis (vgl. § 241 BGB) sein. Neben gesetzlichen oder vertraglichen Verpflichtungsgründen soll die Bildung einer Rückstellung nach h.M. auch für sog. faktische Verbindlichkeiten in Betracht kommen, denen sich der Kaufmann aus sittlichen, tatsächlichen oder wirtschaftlichen Gründen nicht entziehen könne3. Zur Begründung wird auf § 249 I 2 Nr. 2 HGB verwiesen. Dagegen spricht aber, dass die Anerkennung von sog. „faktischen Lasten“ die Unterscheidung zwischen Verbindlichkeits- und Aufwandsrückstellungen (Rz. 170, 173) verwischt sowie gegen § 249 II 1 HGB verstößt. I.Ü. spricht der Umstand, dass § 249 I 2 Nr. 2 HGB die Gewährleistungen „ohne rechtliche Verpflichtung“ besonders erwähnt, eher für einen (Umkehr-)Schluss dahingehend, dass andere rein faktische Lasten nicht schon nach § 249 I 1 HGB rückstellungsfähig sein sollen4.
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Bei Verbindlichkeiten auf öffentlich-rechtlicher Grundlage, insb. Umweltschutzverpflichtungen5, lässt der BFH Rückstellungen nur zu, wenn die Verpflichtung „hinreichend konkretisiert ist“6. Diese Voraussetzung liegt im Regelfall vor bei Erlass einer behördlichen Verfügung oder bei Abschluss eines entsprechenden verwaltungsrechtlichen Vertrags. Gründet die öffentlich-
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1 Vgl. OFD München v. 19.7.2000, DStR 2000, 1348 f.; i.E. auch Beck’scher Bilanz-Komm./W. Schubert9, § 249 HGB Rz. 2, 100 „Anschaffungs- und Herstellungskosten“. 2 BFH IV R 5/09, BStBl. 2012, 122. 3 BFH/NV 2007, 1102. 4 I.E. MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 33 f. Eingehend D. Schubert, Der Ansatz von gewissen und ungewissen Verbindlichkeiten in der HGB-Bilanz, 2007, 236 ff., die zugleich aufzeigt, dass die im Schrifttum aufgeführten Fallgruppen für angebliche faktische Leistungspflichten (u.a. verjährte Verbindlichkeiten, nichtige Verträge, Verpflichtungen aus fehlerhafter Gesellschaft, Kaufmannsübung u.ä.) sich bei Lichte besehen alle sachgerecht auch auf dem Boden einer rechtlichen Betrachtungsweise lösen lassen. 5 Vgl. BFH BStBl. 2006, 644 u. 647; 2010, 482. Zum Ganzen Crezelius, Rückstellungen bei Umweltmaßnahmen, 1993; Eilers, Rückstellungen für Altlasten und Umweltschutzverpflichtungen, 1993; Loose, Rückstellungen für Umweltverbindlichkeiten, 1993; Herzig (Hrsg.), Bilanzierung von Umweltlasten und Umweltschutzverpflichtungen, 1994; Herzig/Köster, BB-Beil. 23/1994; Gotthardt, Rückstellungen und Umweltschutz, Diss., 1995; R. Möller, Das kontaminierte Betriebsgrundstück. Rückstellungen wegen Altlastenhaftung und ihre Konsequenzen bei der handelsrechtlichen und steuerrechtlichen Gewinnermittlung, Diss., 1997; G. Söffing, FS Ritter, 1997, 257; Tiedchen, NZG, 2005, 801; Christiansen, DStR 2008, 735. Zu Auswirkungen des UmweltHG auf die Rückstellungsbilanzierung s. Schubert, WPg. 2008, 505 m.w.N. 6 Vgl. BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, DStR 2013, 2745; BFH v. 6.2.2013 – I R 8/12, BStBl. 2013, 686; BFH BStBl. 1992, 600; 1992, 1010; 1993, 891; 2001, 570; 2003, 121; zum Merkmal der hinreichenden Konkretisierung s. Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 793b ff.
Hennrichs
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§9
Rz. 176
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
rechtliche Verpflichtung dagegen allein auf gesetzlichen Bestimmungen, kann eine Rückstellung nur gebildet werden, wenn der Gesetzesbefehl hinsichtlich des Inhalts der Pflicht entsprechend konkret ist und an die Verletzung der Pflicht Sanktionen geknüpft sind, so dass der Kaufmann sich der Verpflichtung i.Erg. nicht entziehen kann1. 176
Fraglich ist, ob in Fällen eine Rückstellung gebildet werden darf, in denen die Erfüllung einer (öffentlich-rechtlichen oder zivilrechtlichen) Rechtspflicht zugleich im eigenbetrieblichen Interesse des Kaufmanns liegt. Der I. Senat des BFH hat unter Hinweis auf die Argumentationsfigur des sog. eigenbetrieblichen Aufwands für die Verpflichtung zur Entsorgung eigenen Abfalls nach dem AbfG keine Rückstellung zugelassen2, weil sich das Erfordernis der Abfallentsorgung selbst bereits aus betrieblichen Notwendigkeiten ergebe und damit gleichsam eine „Verpflichtung gegen sich selbst“ vorliege. Mit ähnlicher Begründung hat der IV. Senat des BFH eine Rückstellung für die Verpflichtung zur Prüfung des Jahresabschlusses einer Personenhandelsgesellschaft verneint, wenn die Prüfungspflicht ausschließlich durch den Gesellschaftsvertrag begründet ist3. Eine solche ausschließlich gesellschaftsvertraglich begründete Pflicht zur Prüfung sei keine Außenverbindlichkeit, sondern lediglich eine im Innenverhältnis der Gesellschaft begründete Pflicht. Richtigerweise kommt dem Topos des eigenbetrieblichen Aufwands dagegen keine rückstellungsbegrenzende Wirkung zu4. Die Rückstellungspflicht gründet auf der Außenverbindlichkeit. Der Umstand, dass die Erfüllung einer Außenverbindlichkeit zugleich im wohlverstandenen eigenbetrieblichen Interesse des Kaufmanns liegt, kann die Rückstellung nicht ausschließen. Anderenfalls wären kaum je mehr Rückstellungen geboten, weil naturgemäß die Erfüllung jeder Verbindlichkeiten im betrieblichen Eigeninteresse des Kaufmanns liegt (weil er sonst eine Kreditschädigung riskiert). Entsprechend wurde denn auch in jüngerer Zeit beispielsweise eine Rückstellung für die Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen (die ebenfalls im eigenbetrieblichen Interesse liegt) wiederholt anerkannt5. Entgegen BFH IV R 26/11 stellt auch eine gesellschaftsvertraglich begründete Pflicht zur Prüfung des Jahresabschlusses eine Außenverbindlichkeit dar6. Der Schuldgrund einer Verbindlichkeit ist nicht ausschlaggebend (Rz. 174). Das Gesellschaftsvermögen ist durch eine gesellschaftsvertraglich begründete Prüfungspflicht ebenso wirtschaftlich belastet wie durch eine gesetzlich oder in einem Kreditvertrag begründete Prüfungspflicht.
2.3.3 Rechtliche Entstehung und wirtschaftliche Verursachung 177
Für die Beurteilung der weiteren Voraussetzungen für eine Rückstellungspassivierung ist sodann danach zu unterscheiden, ob – Fall 1 – die ungewisse Verbindlichkeit am Bilanzstichtag rechtlich schon entstanden ist (oder zumindest wahrscheinlich am Bilanzstichtag besteht; Beispiel: unsichere Produkthaftung; Kosten eines am Bilanzstichtag schwebenden Prozesses7); 1 BFH BStBl. 1989, 893 (894); 1992, 1010 (1011); 1993, 891; 2001, 570; 2010, 482 (hierzu BMF BStBl. I 2010, 495); HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 506; R 5.7 (4) EStR 2008. 2 BFH BStBl. 2001, 570 = DStR 2001, 290 (291 f.). 3 BFH v. 5.6.2014 – IV R 26/11, BStBl. 2014, 886; dagegen sogleich im Text. 4 Zutr. Tiedchen, NZG 2005, 801 ff.; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 31 f.; krit. auch Moxter, BB 2001, 569. I.Erg. auch BFH (IV. Senat) BStBl. 2006, 644; und BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, DStR 2013, 2745 (Tz. 27): jedenfalls wenn das öffentliche Interesse an der Durchführung der Maßnahme, die der Verpflichtung zugrunde liegt, ein eigenbetriebliches Interesse überwiegt, steht das „mitlaufende“ eigenbetriebliche Interesse der Rückstellung nicht entgegen. 5 BFH v. 19.8.2002 – VIII R 30/01, BStBl. 2003, 131; BFH v. 18.1.2011 – X R 14/09, BStBl. 2011, 496; BFH v. 11.10.2012 – I R 66/11, BStBl. 2013, 676. 6 IDW RH HFA 1.009, Tz. 6; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 72 „Jahresabschlusskosten“; Hoffmann/Lüdenbach, NWB Komm. Bilanzierung5, § 249 HGB Rz. 118; Beck’scher BilanzKomm./Schubert9, § 249 HGB Rz. 100 „Jahresabschluss“; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 704 „Jahresabschluss, Buchführung“; U. Prinz, DB 2014, 2188. 7 Zur Auflösung der Rückstellung erst bei Rechtskraft des klageabweisenden Urteils BFH BStBl. 2002, 688; umfassend Osterloh-Konrad, Rückstellungen für Prozessrisiken in Handels- und Steuerbilanz (Teil I u. II), DStR 2003, 1631 u. 1675.
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oder ob – Fall 2 – die ungewisse Verbindlichkeit rechtlich erst künftig entsteht, ihr Entstehen aber wahrscheinlich ist und sie am Bilanzstichtag wirtschaftlich verursacht ist. Das Kriterium der wirtschaftlichen Verursachung erlangt nach zwar umstrittener, aber zutr. Auffassung nur im letztgenannten Fall 2 eigenständige Bedeutung (Rz. 183)1. (Nur) Bezogen auf künftige Verbindlichkeiten setzt die Passivierung zusätzlich voraus, dass (a) das künftige Entstehen der Verbindlichkeit wahrscheinlich ist und (b) die künftige Verbindlichkeit in der Vergangenheit wirtschaftlich verursacht ist. Das Kriterium der wirtschaftlichen Verursachung dient dabei dem Stichtagsprinzip und der zutreffenden Abschnittsbesteuerung. Nicht sämtliche künftigen, irgendwann wahrscheinlich entstehenden Verbindlichkeiten sind rückstellungsfähig, sondern nur solche, die am Bilanzstichtag bereits im Sinne einer aktuellen Wirtschaftslast begründet sind. Die danach relevante Grenze zwischen den am Bilanzstichtag rechtlich schon entstandenen 177a (der Höhe nach ungewissen) Verbindlichkeiten und solchen Schulden, die erst künftig (wahrscheinlich) entstehen, ist nicht immer einfach zu ziehen. Nach allgemeinen Grundsätzen entstehen Ansprüche und Verbindlichkeiten zu dem Zeitpunkt, zu dem die sie begründenden Tatbestandselemente erfüllt sind2. Die relevante Tatbestandsverwirklichung kann sich daraus ergeben, dass der Stpfl. die Merkmale eines gesetzlichen Tatbestands verwirklicht. Bei öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen, die auf einem Verwaltungsakt beruhen, ist nach der neueren Rspr. auf die sog. innere Wirksamkeit des Verwaltungsaktes abzustellen, d.h. darauf, zu welchem Zeitpunkt die in dem Verwaltungsakt enthaltenen materiellen Rechtsfolgen ausgelöst werden (vgl. § 43 Abs. 1 Satz 2 VwVfG); auf den Umstand, dass der Stpfl. aufgrund der Bestandskraft des Verwaltungsakts zur Erfüllung verpflichtet ist (äußere Wirksamkeit), soll es nicht ankommen. Enthält der Verwaltungsakt eine aufschiebende Bedingung oder Befristung, entsteht die Verpflichtung rechtlich erst im Zeitpunkt des Bedingungseintritts oder Fristablaufs3. Die gesetzliche Verpflichtung, dass eine technische Altanlage (erst) ab einem bestimmten Zeitpunkt festgelegten Emissionswerten genüge müsse, berechtige deshalb vor Ablauf dieses Zeitpunkts trotz Konkretisierung in einem behördlichen Verwaltungsakt noch nicht zur Rückstellungsbildung4. Auch für luftverkehrstechnische Verpflichtungen, für deren Durchführung die Umsetzungsfristen zum Bilanzstichtag noch nicht abgelaufen sind, dürfen keine Rückstellungen gebildet werden5. Für rechtlich erst künftig (wahrscheinlich) entstehende ungewisse Verbindlichkeiten kommt es zusätzlich auf das Merkmal der wirtschaftlichen Verursachung an (Rz. 177, 183). Die (nicht immer einheitliche) Rspr. des BFH bejaht eine wirtschaftliche Verursachung6 dann, wenn „die ungewisse Verbindlichkeit so eng mit dem betrieblichen Geschehen des abgelaufenen Geschäftsjahres verknüpft ist, dass es gerechtfertigt erscheint, sie wirtschaftlich als eine bereits am Bilanzstichtag bestehende Verbindlichkeit anzusehen“; das sei dann der Fall, wenn „die wirtschaftlich wesentlichen Tatbestandsmerkmale der Verpflichtung erfüllt sind“ und das Entstehen der Verbindlichkeit – ungeachtet der rechtlichen Gleichwertigkeit aller Tatbestands1 Vgl. BFH BStBl. 2003, 121; BFH v. 6.2.2013 – I R 8/12, BStBl. 2013, 686 (Tz. 11); BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. 2013, 954 (Tz. 11); i.Erg. ebenso BFH BStBl. 2012, 122; nun auch BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, BStBl. 2014, 302 (Tz. 24 f.); aus der Lit. namentlich Osterloh-Konrad, DStR 2003, 1675; Schulze-Osterloh, FS Siegel, 2005, 185 (189); MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 21, 35, 39, 52 ff.; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 693, 702; je m.w.N. 2 BFH v. 6.2.2013 – I R 8/12, BStBl. 2013, 686 (Tz. 13); BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, BStBl. 2014, 302 (Tz. 20). 3 BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, BStBl. 2014, 302 (Tz. 20); BFH v. 6.2.2013 – I R 8/12, BStBl. 2013, 686 (Tz. 13, 18); BFH v. 13.12.2007 – IV R 85/05, BStBl. 2008, 516; a.A. HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 702. 4 BFH v. 6.2.2013 – I R 8/12, BStBl. 2013, 686 (Tz. 13, 18; „TA Luft II“) im Anschluss an BFH v. 13.12. 2007 – IV R 85/05, BStBl. 2008, 516 und insoweit in Abweichung von BFH v. 27.6.2001 – I R 45/97, BStBl. 2003, 121 („TA Luft I“). Dazu U. Prinz, DB 2013, 1815; M. Prinz, FR 2013, 802; Christiansen, DStR 2013, 1347. 5 BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, BStBl. 2014, 302 (Tz. 40 ff.). 6 Dazu auch Engel-Ciric/Moxter, BB 2012, 1143 ff.
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merkmale – nur noch von wirtschaftlich unwesentlichen Merkmalen abhänge1. Formuliert wird auch, die Verpflichtung dürfe nicht nur an Vergangenes anknüpfen, sondern müsse auch Vergangenes abgelten2. Im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung3 sei zu beurteilen, ob die in Frage stehende Verbindlichkeit sich am Bilanzstichtag schon so weit konkretisiert habe, dass eine Belastung vergleichbar einer entstandenen Verbindlichkeit gegeben sei4. „Wirtschaftlich verursacht“ wird hier verstanden i.S.v. „wirtschaftlich entstanden“5. 179
Nach BFH v. 8.9.2011 – IV R 5/096 ist eine Verbindlichkeit jedenfalls dann im Wesentlichen vergangenheitsorientiert, wenn die Pflicht unabhängig davon zu erfüllen ist, ob der Unternehmer seine Tätigkeit in Zukunft fortführt oder den Betrieb zum jeweiligen Bilanzstichtag beendet. Handelt es sich dagegen um eine Verpflichtung, die erst bei Fortführung des Betriebs über den Bilanzstichtag hinaus zum Tragen kommt, liege keine wirtschaftliche Verursachung in der Vergangenheit vor. Daher kann der Vergangenheitsbezug der Verpflichtung zur Zahlung von Zulassungskosten für ein Pflanzenschutzmittel nicht allein deshalb verneint werden, weil mit den Aufwendungen erst in der Zukunft Erträge erzielt werden. Entscheidend ist, dass die Verbindlichkeit auch zu erfüllen wäre, wenn der Betrieb am Bilanzstichtag eingestellt würde. In der Tat dürfte in dieser Unentziehbarkeit der Verpflichtung auch bei Insolvenz ein wesentlicher Grund für die Passivierung liegen7. Für die Konkretisierung kann außerdem ein gedanklicher Teilwerttest hilfreich sein, also die Frage, ob ein gedachter Erwerber des ganzen Unternehmens die fragliche Belastung bereits als aktuelle Vermögensminderung ansehen würde8.
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Die wirtschaftliche Verursachung in der Vergangenheit wurde beispielsweise bejaht in folgenden Fällen: Abbruchkosten auf Grund vertraglicher oder gesetzlicher Verpflichtung zur Beseitigung von Gebäuden auf fremdem Grund und Boden9; Deponie-Rekultivierung (Ansammelrückstellung)10; Kosten der Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen gem. §§ 257 HGB; 147 AO11; Gewährleistungspflichten wegen Mängeln der erbrachten Leistung und Garantiearbeiten wegen Material- und Funktionsfehlern der verkauften Waren12; Rückstellung wegen der öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen zur Durchführung von luftverkehrstechnischen Maßnahmen, für deren Durchführung die Umsetzungsfristen am Bilanzstichtag bereits abgelaufen waren13; Verpflichtungen aus Produkthaftung14 oder wegen anderer unerlaubter Handlungen (z.B. wegen Verletzung von Patent- oder ähnlichen Rechten)15; Prozesskosten für einen am Bilanzstichtag anhängigen Rechtsstreit (nicht aber für künftigen Rechtsstreit oder noch nicht eingelegte Rechtsmittel)16; für die Nachbetreuungsver-
1 Vgl. z.B. BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, BStBl. 2014, 302 (Tz. 23); BFH v. 6.2.2013 – I R 8/12, BStBl. 2013, 686 (Tz. 21); BFH BStBl. 1985, 44; 1987, 848 (849); 1989, 893 (895); 1994, 158; 2001, 536 und öfter; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 701. 2 Vgl. BFH BStBl. 1987, 848; 1989, 893; 1992, 600 (602) und öfter; R 5.7 V EStR. 3 BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, BStBl. 2014, 302 (Tz. 23); BFH v. 6.2.2013 – I R 8/12, BStBl. 2013, 686 (Tz. 21); BFH BStBl. 1987, 848. 4 Vgl. KSM/Lambrecht, § 5 EStG Rz. D 81 f.; ferner Kirchhof/Crezelius11, § 5 EStG Rz 129; Woerner, FS Moxter, 1994, 483 (489, 496). 5 So Schön Beil 9/1994, 4; Woerner, FS Moxter, 1994, 483 (496, 504 f.). 6 BFH v. 8.9.2011 – IV R 5/98, BStBl. 2012, 122: Rückstellungen für Zulassungskosten eines Pflanzenschutzmittels. Dazu auch Christiansen, DStR 2011, 2483; M. Prinz, FR 2012, 136; Engel-Ciric/Moxter, BB 2012, 1143 (1144 ff.); krit. HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 701. 7 Ebenso in Blümich/Buciek, § 5 EStG Rz. 800a. 8 Engel-Ciric/Moxter, BB 2012, 1143 (1145); a.A. HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 701 („wenig praktikabel und justiziabel“). 9 BFH BStBl. 1975, 480; 2000, 612. 10 BFH IV R 32/07, BStBl. 2012, 98. 11 BFH BStBl. 2003, 131; BFH X R 14/09, BStBl. 2011, 496. 12 BFH BStBl. 1983, 104; 1984, 263; 1993, 437; 2005, 736 (Hörgerätenachbetreuung). 13 BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, BStBl. 2014, 302 (Tz. 19 ff.). Demgegenüber keine Rückstellung für diejenigen luftverkehrstechnischen Verpflichtungen, für deren Durchführung die Umsetzungsfristen zum Bilanzstichtag noch nicht abgelaufen sind (ebda., Tz. 40 ff.). 14 Vgl. BFH BStBl. 1985, 44, 46; BFH BStBl. 1993, 153. 15 BFH BStBl. 1993, 153. 16 BFH BStBl. 1996, 406.
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pflichtung eines Versicherungsvertreters für bereits abgeschlossene Versicherungsverträge1; für Zulassungskosten eines Pflanzenschutzmittels (weil unabhängig von der Unternehmensfortführung oder Betriebseinstellung geschuldet und damit unentziehbar; insoweit steht auch § 5 IVb 1 EStG nicht entgegen, weil die Kosten für die Zulassung des Pflanzenschutzmittels wegen § 5 II EStG nicht aktivierungsfähig sind)2; für zukünftige Betriebsprüfung bei Großbetrieben (§ 200 AO), soweit diese die am jeweiligen Bilanzstichtag bereits abgelaufenen Wirtschaftsjahre (Prüfungsjahre) betreffen3. Richtigerweise zu bejahen sind außerdem Rückstellungen für die Verpflichtung zur Prüfung des Jahresabschlusses, und zwar auch bei gesellschaftsvertraglich begründeter Prüfungspflicht4. Ebenfalls zu bejahen sind Rückstellungen für Ausgleichspflichten bei sog. Kostenüberdeckung nach Maßgabe öffentlich-rechtlicher Vorschriften (kommunaler Zweckverband)5 sowie für Mehrerlösabschöpfungen bei Energieunternehmen6. Die Verpflichtung des kommunalen Zweckverbands oder der Energieunternehmen, in früheren Geschäftsjahren zu viel erhobene Entgelte durch Verrechnung mit künftigen Entgelten periodenübergreifend auszugleichen7, ist mit der Vereinnahmung der Mehrerlöse rechtlich entstanden (dazu sogleich Rz. 183) und außerdem jedenfalls in der Vergangenheit wirtschaftlich verursacht. Denn die überhöht angesetzten Entgelte (auszugleichenden Mehrerlöse) wurden in der Vergangenheit für damals erbrachte Leistungen vereinnahmt; der Mehrerlös hat seine Grundlage in der vergangenen Kalkulationsperiode, für die er vereinnahmt wurde8. Damit knüpft die Verpflichtung zur Mehrerlösabschöpfung an Vergangenes an und gilt Vergangenes ab (zu viel vereinnahmte Entgelte). Die Verpflichtung ist außerdem unentziehbar9. Entgegen der Ansicht der Finanzverwaltung ist die Verpflichtung zur Mehrerlösabschöpfung auch nicht etwa Bestandteil des schwebenden Geschäfts, sondern sie tritt als zusätzliche Verpflichtung neben den Vertrag10. Die periodenübergreifende Abrechnung ist lediglich eine aus Gründen der Verfahrensökonomie erlaubte Technik zum Ausgleich des rechtsgrundlos erhaltenen Mehrerlöses, den der Netzbetreiber nicht behalten darf (Erfüllungsmodalität11), ändert aber an dem Charakter einer selbständigen, neben dem schwebenden Vertrag stehenden Verpflichtung nichts. Für die Rückstellungsfähigkeit kann es keinen Unterschied machen, ob die spätere Erfüllung einer bestehenden Verbindlichkeit zu einer Erhöhung des Aufwands oder zu einer Verminderung der Einnahmen führt12. Es liegt hier nicht anders als in sonstigen Fällen des Bereicherungsausgleichs von rechtsgrundlos zu viel vereinnahmten Entgelten. Die Gegenauffassung der Finanzverwaltung führt zudem zu einer nicht leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung. Würde nämlich die Rückstellung für die Verpflichtung zur Mehrerlösabschöpfung nicht angesetzt, so müssten die Netzbetreiber die Mehrerlöse kompensationslos als Ertrag erfassen, obwohl feststeht, dass ihnen die Mehrerlöse rechtlich nicht zustehen und sie die Beträge nicht behalten dürfen, sondern abrechnen müssen. Damit würde eine Vermögensmehrung ausgewiesen, die rechtlich und wirtschaftlich betrachtet gar keine ist.
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Verneint wurde eine Rückstellung mangels wirtschaftlicher Verursachung aber z.B. für: zukünftige Abfindungen nach dem KSchG13 und für künftige Verpflichtungen zur Lohnfortzahlung im
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1 BFH BStBl. 2006, 866; BFH X R 26/10, BStBl. 2012, 856; BFH III R 14/11, DStR 2014, 1593; BMF BStBl. I 2012, 1100; s. auch Tiedchen, FR 2012, 22, die statt einer Rückstellung einen passiven Rechnungsabgrenzungsposten befürwortet. 2 BFH v. 8.9.2011 – IV R 5/09, BStBl. 2012, 122; Christiansen, DStR 2011, 2483; krit. HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 701. 3 BFH I R 99/10, BStBl. 2013, 196. 4 IDW RH HFA 1.009, Tz. 6; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 72 „Jahresabschlusskosten“; Hoffmann/Lüdenbach, NWB Komm. Bilanzierung5, § 249 HGB Rz. 118; Beck’scher Bilanz-Komm./Schubert9, § 249 HGB Rz. 100 „Jahresabschluss“; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 704 „Jahresabschluss, Buchführung“; U. Prinz, DB 2014, 2188; a.A. BFH v. 5.6.2014 – IV R 26/11, DB 2014, 2020. S. auch Rz. 176. 5 BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. 2013, 954; dazu Hageböke, DK 2013, 384; Oser, BB 2013, 1522; Welter/P. Ballwieser, DStR 2013, 1492. 6 Zutr. Hageböke, DB 2011, 1480 ff. (Teil 1); 1543 ff. (Teil 2); Hruby, DStR 2010, 128; Schmidt/WeberGrellet33, § 5 EStG Rz. 381, 550 „Mehrerlösabschöpfung“; je m.w.N. 7 BGH v. 14.8.2008 – KVR 39/07, RdE 2008, 323; und BGH v. 14.8.2008 – KVR 27/07, RdE 2008, 334. 8 Vgl. BGH v. 14.8.2008 – KVR 27/07, RdE 2008, 334 u. v. 14.8.2008 – KVR 39/07, RdE 2008, 323, insb. KVR 39/07, Tz. 30 (juris). 9 BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. 2013, 954 (Tz. 20, 26). 10 BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. 2013, 954 (Tz. 22). 11 BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. 2013, 954 (Tz. 26). 12 BFH BStBl. 2002, 655; BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. 2013, 954 (Tz. 21); Hageböke, DB 2011, 1543 (1547). 13 BFH/NV 1995, 970.
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Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Krankheitsfall1; Kosten für die Durchführung künftiger Hauptversammlungen, weil die Hauptversammlung im Wesentlichen Aufgaben wahrzunehmen hat, die wirtschaftlich erst dem Jahr ihres Zusammentritts und der Beschlussfassung zuzuordnen sind (vgl. § 119 AktG)2; wegen der Ausgabe von Frisör-Gutscheinen, die einen Anspruch auf Preisermäßigung von Frisör-Dienstleistungen im Folgejahr gewähren (weil der Anspruch auf Preisermäßigung wirtschaftlich nicht früher verursacht sein könne als das Geschäft, auf das er sich bezieht)3; künftige Instandhaltungsaufwendungen eines Vermieters, weil die Verpflichtung zur Erhaltung der vermieteten Sache nach § 536 BGB Ausfluss eines regelmäßig in Leistung und Gegenleistung ausgeglichenen Vertragsverhältnisses ist, das grds. nicht bilanziert wird; Passivierung erst bei Erfüllungsrückstand4; für umweltschutzbezogene öffentlich-rechtliche Anpassungsverpflichtungen nach der TA Luft trotz behördlicher Anweisung, nach der Altanlagen einen festgelegten Emissionswert ab einem bestimmten Zeitpunkt einhalten sollen, vor Ablauf dieses Zeitpunktes5 (s. auch Rz. 177a); keine Rückstellung für luftverkehrstechnische Verpflichtungen, für deren Durchführung die Umsetzungsfristen zum Bilanzstichtag noch nicht abgelaufen sind6 (für Verpflichtungen, für deren Durchführung die Umsetzungsfristen am Bilanzstichtag bereits abgelaufen waren, s. Rz. 180); künftige Nachbetreuungsleistungen an Hör- und Sehhilfen, die ihren Grund nicht in Mängeln der erbrachten Leistung haben, sondern spätere Schäden betreffen, die sich aus der Benutzung der Geräte durch den Kunden ergeben7; für die Ausgleichsansprüche eines Handelsvertreters nach § 89b HGB (weil der Ausgleichsanspruch „zivilrechtlich nicht nur an die Beendigung des Vertragsverhältnisses, sondern auch daran geknüpft [sei], dass der Unternehmer aus der Geschäftsverbindung mit den vom Handelsvertreter geworbenen Kunden nach Beendigung des Vertragsverhältnisses erhebliche Vorteile hat“)8.
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Das skizzierte Kriterium der wirtschaftlichen Verursachung erlangt nur eigenständige Bedeutung bei ungewissen künftigen Verbindlichkeiten, die also am Bilanzstichtag dem Grunde nach noch nicht bestehen, aber wahrscheinlich entstehen werden. Am Bilanzstichtag rechtlich entstandene, nur der Höhe nach ungewisse Verbindlichkeiten sind demgegenüber nach zwar umstr., aber zutr. Auffassung des I. Senats des BFH9, der sich mittlerweile der IV. Senat des BFH angeschlossen hat10, unabhängig vom Zeitpunkt der wirtschaftlichen Verursachung stets zu passivieren (Rz. 177)11. Die rechtliche Entstehung allein begründet die wirtschaftliche Belastung12. Zur Grenzziehung s. Rz. 177a. Bei Auseinanderfallen von rechtlicher Entstehung und wirtschaftlicher Verursachung ist folglich stets der frühere Zeitpunkt maßgeblich. Damit setzen 1 2 3 4 5 6 7 8 9
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BFH BStBl. 1988, 886; vgl. auch BFH BStBl. 2001, 758. BFH BStBl. 1981, 62 (63). BFH v. 19.9.2012 – IV R 45/09, BStBl. 2013, 123. BFH BStBl. 1976, 622. BFH v. 6.2.2013 – I R 8/12, BStBl. 2013, 686 (Tz. 13, 18; „TA Luft II“) im Anschluss an BFH v. 13.12.2007 – IV R 85/05, BStBl. 2008, 516 und insoweit in Abweichung von BFH v. 27.6.2001 – I R 45/97, BStBl. 2003, 121 („TA Luft I“). Dazu U. Prinz, DB 2013, 1815; M. Prinz, FR 2013, 802. BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, BStBl. 2014, 302 (Tz. 40 ff.). BFH BStBl. 1994, 158 (str.). BFH BStBl. 1969, 581; 1981, 266; 1983, 375 (376); a.A. insoweit aber BGH DB 1966, 1267. BFHE 196, 216 = BStBl. 2003, 121. Dagegen zwar Nichtanwendungserlass BMF BStBl. I 2003, 125; danach aber wieder BFH IV R 85/05, BStBl. 2008, 516; BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. 2013, 954 (Tz. 11); nunmehr auch BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, DStR 2013, 2745; offen gelassen von BFH I R 45/97, BStBl. 2012, 122. BFH v. 17.10.2013 –IV R 7/11, DStR 2013, 2745 = BB 2014, 175, m. Anm. Behrens. Dazu Gosch, DStR 2002, 977 (979 ff.); Christiansen, DStR 2007, 127; zust. Kirchhof/Crezelius13, § 5 EStG Rz. 109, 124; Dziadkowski, WPg. 2012, 500 (505); Günkel, StbJb. 2001/92, 343 (351 ff.); MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 39; Kessler, DStR 2001, 1903 (1906); Mayer-Wegelin, DB 1995, 1241 (1243 f.); Schön, BB Beil. 9/1994, 4; Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh18, § 42 GmbHG Rz. 237; Schulze-Osterloh, DStJG 23 (2000), 67 (83); Siegel BB 1993, 326 (335); HHR/ Tiedchen, § 5 EStG Anm. 693, 702. A.A. Euler, DB 2002, 707 m. Replik Koths; Weber-Grellet, DB 2002, 2180; Moxter, DStR 2003, 1586 (1589); Moxter, DStR 2004, 1098 ff.; G. Mayr, Rückstellungen, Wien 2004, 41–69 (mit ausf. zwischen Handels- u. Steuerbilanz differenzierender Begr.); U. Prinz, DStJG 34 (2011), 135 (175); a.A. auch Hey in 20. Aufl., § 17 Rz. 109. Vgl. auch BFH I R 45/97, BStBl. 2012, 122: Eine im Gewinnermittlungszeitraum dem Grunde nach rechtlich entstandene Verbindlichkeit ist auch wirtschaftlich vor dem Bilanzstichtag verursacht, wenn sie unabhängig davon zu erfüllen ist, ob der Unternehmer seine Tätigkeit in Zukunft fortführt oder den Betrieb zum jeweiligen Bilanzstichtag beendet; dazu auch M. Prinz, FR 2012, 136.
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Hennrichs
Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 186
§9
sich der I. und der IV. Senat des BFH zutr. von der sog. Alimentationsthese ab1. Insb. kommt dem sog. Realisationsprinzip (§ 252 I Nr. 4 Hs. 2 HGB) keine „rückstellungsbegrenzende Wirkung“ zu. Das Prinzip, Gewinne erst zu berücksichtigen, wenn sie realisiert sind, betrifft allein die Aktivseite. Auf der Passivseite gilt demgegenüber das Imparitätsprinzip (§ 252 I Nr. 4 Hs. 1 HGB; Rz. 90). Dieses und – insoweit mit gleicher Zielrichtung – das Gebot des vollständigen und richtigen Vermögensausweises (§ 242 I i.V.m. § 246 I HGB)2 verlangen, eine rechtlich entstandene Schuld zu passivieren. Rechtlich begründete Verbindlichkeiten sind Wirtschaftslasten, die ein gedachter Erwerber berücksichtigen würde und die Leistungsfähigkeit bereits aktuell mindern. Denn das für die Erfüllung der Verpflichtung erforderliche Vermögen ist nicht frei disponibel. Das Gesagte (Passivierung unabhängig von der wirtschaftlichen Verursachung) gilt nicht nur dann, wenn die Verbindlichkeit dem Grunde nach unstreitig ist und die Ungewissheit allein die Höhe betrifft, sondern richtigerweise auch in Fällen gegenwärtiger Verbindlichkeiten, die dem Grunde nach zwar umstritten sind, die aber, wenn sie bestehen, bereits am Bilanzstichtag begründet sind3 (beispielsweise streitige Produkthaftung, über die ein Rechtsstreit anhängig ist, vgl. auch bereits Rz. 171, 177). Das Kriterium der wirtschaftlichen Verursachung wird nur für künftige, erst nach dem Bilanzstichtag (wahrscheinlich) entstehende ungewisse Verbindlichkeiten relevant.
184
Nach dem Grundsatz der Nichtbilanzierung schwebender Geschäfte (s. Rz. 86, 413) ist eine Verbindlichkeitsrückstellung im Rahmen eines zweiseitigen Rechtsgeschäfts steuerbilanziell nur zulässig, wenn der Stpfl. sich im Erfüllungsrückstand befindet4, d.h. wenn der Verpflichtete sich mit seinen Leistungen gegenüber dem Vertragspartner im Rückstand befindet, also weniger geleistet hat, als er nach dem Vertrag für die bis dahin vom Vertragspartner erbrachte Leistung insgesamt zu leisten hatte (Beispiel: rückständiger Lohn). Eine Rückstellung für drohende Verluste (§ 249 I 1 2. Alt. HGB, sog. Verpflichtungsüberhang) scheidet dagegen seit Einfügung des (rechtspolitisch verfehlten und auch verfassungsrechtlich zweifelhaften) Rückstellungsverbots gem. § 5 IVa EStG in der Steuerbilanz aus; dazu näher Rz. 190 ff.
185
2.3.4 Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme Rückstellungen dürfen schließlich nur gebildet werden, wenn die Inanspruchnahme hinreichend wahrscheinlich ist. Für das Bestehen der Verbindlichkeit und die Inanspruchnahme müssen i.S. einer „51 %-Wahrscheinlichkeit“ mehr Gründe sprechen als dagegen. Gefordert ist hierbei kein Abzählen, sondern eine Gewichtung der in Betracht kommenden Umstände5. Rückstellung für Schadenersatz wegen unerlaubter Handlung oder für Geldbußen wegen Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten (beachte insoweit aber § 4 V 1 Nr. 8 Satz 1 EStG6) sind hiernach regelmäßig erst dann zu bilden, wenn das rechtswidrige Verhalten entdeckt ist7. 1 Moxter, FS Döllerer, 1988, 447 ff.; Moxter, ZfbF 1995, 311 ff.; Herzig, DB 1990, 1341 (1344). 2 Zutr. Woerner, FS Moxter, 1994, 483 (490): „Tragende Prinzipien für die Ermittlung des Passivierungszeitpunktes von Verbindlichkeiten sind das Vollständigkeitsgebot und das Vorsichtsprinzip“. 3 Zutr. Schulze-Osterloh, FS Siegel, 2005, 185 (189); ferner Adler/Düring/Schmaltz6, § 249 HGB Rz. 72; Osterloh-Konrad, DStR 2003, 1675. 4 BFH BStBl. 2001, 758 (759); 2003, 279; 2004, 41; 2006, 593 (dazu Wüstemann, BB 2006, 1625; Rätke, StuB 2006, 789; Hoffmann, DStR 2006, 1125); BFH I R 50/10, BStBl. 2012, 197 (Rückstellung für Mietrückzahlungen aus der Vermietung von Kfz); BFH BStBl. 2006, 866 (Nachbetreuungsverpflichtung eines Versicherungsvertreters für bereits abgeschlossene Lebensversicherungen); BFH X R 26/10, BStBl. 2012, 856 (dazu Tiedchen, FR 2012, 22, die statt einer Rückstellung einen passiven Rechnungsabgrenzungspostens befürwortet); BFH III R 14/11, BStBl. 2014, 675 (Nachbetreuung von Versicherungsverträgen). 5 HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 694, m.w.N. 6 Dazu BFH IV R 4/12, BStBl. 2014, 306. S. auch Rz. 171. 7 Vgl. BFH/NV 2004, 959: Rückstellung für eine befürchtete Geldbuße der EU-Kommission wegen wettbewerbswidrigen Verhaltens; BFH BStBl. 2001, 536: Rückstellung für Verfall des Gewinns aus einer Straftat; BFH X R 23/10, BStBl. 2013, 76: Rückstellung für hinterzogene Mehrsteuern erst zu dem Bilanzstichtag, zu dem der Stpfl. mit der Aufdeckung der Steuerhinterziehung rechnen musste. Vgl. auch Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 379, Rz. 550 „Geldbuße“ und „Schadenersatz“;
Hennrichs
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186
§9
Rz. 187
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Rückstellungen für Pensionsverpflichtungen sind nicht mehr zu bilden (sondern aufzulösen), wenn eine Inanspruchnahme am maßgeblichen Stichtag infolge eines Schuldbeitritts nicht (mehr) wahrscheinlich ist1. Andererseits ist, wenn gegen den Stpfl. eine Klage erhoben ist, die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme gegeben2. Freilich ist bei Passivprozessen nicht stets eine Rückstellung in Höhe des eingeklagten Betrages veranlasst3. Besteht Streit über das Bestehen der Verantwortlichkeit, sind die Erfolgsaussichten der Klage zu würdigen und ist eine Rückstellung nur geboten, wenn eine Verurteilung wahrscheinlich ist4.
2.3.5 Wesentlichkeit kein Kriterium 187
In der Steuerbilanz zurückzustellen sind auch betragsmäßig unwesentliche ungewisse Verbindlichkeiten. Der Gesichtspunkt der angeblichen Unwesentlichkeit rechtfertigt entgegen BMF (R 5.7 III 2, 3 EStR, BStBl. I 2006, 765) keine Nicht-Passivierung (Rz. 92). Den GoB und den Regelungen des EStG lässt sich keine Beschränkung der Pflicht zur Bildung von Rückstellungen auf wesentliche Verpflichtungen entnehmen5. Bei der steuerlichen Gewinnermittlung geht es um die möglichst gleichheitsgerechte und zutreffende Erfassung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Dabei sind sämtliche Rückstellungen anzusetzen.
188
Für folgende Verbindlichkeitsrückstellungen gelten gem. § 5 III–IVb steuerrechtliche Sondervorschriften6:
2.3.6 Steuerrechtliche Sondervorschriften: § 5 III-IVb, § 6a EStG
– § 5 III EStG konkretisiert die Voraussetzungen für die Bildung von Rückstellungen für Verletzungen fremder Patent-, Urheber- oder ähnlicher Schutzrechte7: Rückstellungen dürfen erst gebildet werden, wenn der Rechtsinhaber Ansprüche wegen der Rechtsverletzung geltend gemacht hat oder mit einer Inanspruchnahme wegen der Rechtsverletzung ernsthaft zu rechnen ist. In der einschränkenden Auslegung durch BFH BStBl. 2006, 517 (Kenntnis des Rechtsinhabers von der Schutzrechtsverletzung nicht erforderlich), enthält die Vorschrift eine zulässige Typisierung der Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme. – § 5 IV EStG stellt die Bildung von Rückstellungen für Zuwendungen anlässlich eines Dienstjubiläums8 unter die Voraussetzung, dass das Dienstverhältnis mind. 10 Jahre bestanden hat, das Dienstjubiläum ein Dienstverhältnis von mind. 15 Jahren voraussetzt und die Zuwendungen schriftlich zugesagt wurden. Das rein fiskalisch motivierte Nichtanwendungsgesetz (s. § 5 Rz. 40) verletzt entgegen der Rspr. des BVerfG9 gleichheitswidrig das Nettoprinzip10. BFH BStBl. 2008, 956, legt § 5 IV EStG als Ausnahmevorschrift zu Recht restriktiv aus.
1 2 3 4 5 6
7 8 9 10
550
krit. HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 694 (drohende Aufdeckung genüge). Ferner BFH BStBl. 2010, 482 (Rückstellung für Sanierungsverpflichtung nach Kenntniserlangung der zuständigen Behörde von der Schadstoffbelastung; dazu auch BMF BStBl. I 2010, 495). Zu Auswirkungen des UmweltHG auf die Rückstellungsbilanzierung s. D. Schubert, WPg. 2008, 505 m.w.N. BFH v. 26.4.2012 – IV R 43/09, DStR 2012, 1128. HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 694. So aber FG Schleswig-Holstein v. 25.9.2012 – 3 K 77/11, BB 2013, 302. MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 36, 50. BFH X R 26/10, BStBl. 2012, 856; BFH X B 221/10, BFH/NV 2012, 217; BFH I R 99/10, BStBl. 2013, 196 (Tz. 34); BFH III R 14/11, BStBl. 2014, 675; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 690. Zu den Einschränkungen der Rückstellungsbildung durch das StEntlG 1999/2000/2002: Küting/Kessler, DStR 1998, 1937; Glade, DB 1999, 400; Koths, StbJb. 1999/2000, 249; Niemann, Inst. FuSt Nr. 380, 2000; ausf. zu § 5 III–IVb EStG auch MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 249 HGB Rz. 43 ff. Schulze-Osterloh, FS Friauf, 1996, 833 (§ 5 III, IV EStG); Schulze-Osterloh, FS J. Lang, 2010, 255; Grützner, StuB 2006, 469; ausf. HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 1800 ff. Hierzu BMF BStBl. 2008, 1013, m. Anm. Veit, StuB 2009, 102; ausf. Niemann, Zur steuerrechtlichen Anerkennung von Rückstellungen für Dienstjubiläen, IFSt-Schrift Nr. 442, 2007. BVerfG 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111. Überzeugend m.w.N. Vorlagebeschl. BFH BStBl. 2000, 131; s. auch HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 51, 1833; Drüen, JZ 2010, 91; Hennrichs, FS J. Lang, 2010, 238; Hey, BB 2000, 1453; Hüttemann, FS Spindler, 2011, 627; Schulze-Osterloh, FS J. Lang, 2010, 255. – § 5 IV EStG wurde durch StRG 1990 aus fiskalischen Gründen eingeführt (s. BFH BStBl. 2000, 131 [134 ff.]).
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Hennrichs
Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 189
§9
– § 5 IVa EStG durchbricht mit dem Verbot der Bildung von Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften das Maßgeblichkeitsprinzip an zentraler Stelle und verletzt das Imparitätsprinzip (dazu Rz. 90)1. Die Vorschrift ist rechtspolitisch verfehlt und verfassungsrechtlich zweifelhaft2, weil Drohverlustrückstellungen richtig verstanden nur ein Unterfall der Verbindlichkeitsrückstellungen sind3. Passiviert wird die Verbindlichkeit aus dem schwebenden Geschäft, wenn und soweit ihr Wert den Wert des eigenen Anspruchs übersteigt. Die Verlustrückstellung drückt den Verpflichtungsüberschuss aus4 und in Gestalt der Verbindlichkeit aus dem Vertrag liegt eine bilanzielle Schuld vor. Warum die Verlustrückstellungen steuerrechtlich anders behandelt werden als andere Verbindlichkeitsrückstellungen ist nicht einzusehen. Für die Praxis stellt sich die schwierige Frage der Abgrenzung zur weiterhin zulässigen Verbindlichkeitsrückstellung5 und zur Teilwertabschreibung. Rspr.6 und Verwaltung7 gehen systematisch überzeugend vom Vorrang der Teilwertabschreibung aus (sog. Vorrang der verlustfreien Bewertung). Hat sich der drohende Verlust bereits in der Wertminderung eines Aktivpostens niedergeschlagen, kommt die Bildung einer Rückstellung nicht mehr in Betracht. § 5 IVa EStG begrenzt eine mögliche Teilwertabschreibung nicht8. S. auch Rz. 322. § 5 IVa 1 EStG gilt gem. § 5 IVa 2 EStG nicht in den Fällen einer Bewertungseinheit nach § 5 Ia 2 EStG. Ein nach der Bildung von Bewertungseinheiten verbleibendes negatives Ergebnis ist deshalb gem. § 5 Ia 2 EStG auch dann bei der steuerlichen Gewinnermittlung zu übernehmen, wenn es sich in der Handelsbilanz als Verlustrückstellung darstellt9. Schließt also z.B. der Stpfl. zur Absicherung einer Fremdwährungsforderung ein Devisentermingeschäft ab und droht später aus diesem schwebenden Absicherungsgeschäft ein Verlust, so ist dieser rechtssystematisch ein Drohverlust, der aber im Rahmen einer Bewertungseinheit berücksichtig werden muss, um den gegenläufigen nicht realisierten Gewinn zu kompensieren. – § 5 IVb 1 EStG normiert mit dem Verbot der Rückstellungsbildung für künftige Anschaffungsoder Herstellungskosten einen GoB (s. Rz. 171 f.). – Nach § 5 IVb 2 EStG dürfen Rückstellungen für Aufwendungen im Zusammenhang mit der Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen nicht gebildet werden. Aus der Stellung hinter § 5 IVb 1 EStG ergibt sich, dass der Gesetzgeber die nach § 5 IVb 2 EStG nicht rückstellungsfähigen Aufwendungen den AK/HK zurechnet10. Soweit danach die AK/HK den Marktwert der Brennelemente überschreiten, besteht die Möglichkeit der Teilwertabschreibung nach § 6 I Nr. 1 Satz 2 EStG (s. Rz. 322).
Eine weitere steuerrechtliche Sondervorschrift gilt für Pensionsrückstellungen, § 6a EStG11: Handelsrechtlich muss für Pensionszusagen als ungewisse Verbindlichkeiten eine Rückstellung 1 Speziell zur Rechtfertigung von Verlustrückstellungen unter Leistungsfähigkeitsaspekten: J. Lang, Bemessungsgrundlage, 367 ff.; Pezzer, DStJG 14 (1991), 24 ff.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 321; G. Mayr, Rückstellungen, Wien 2004, 219 ff., sowie die Kontroverse zwischen Kessler, StuB 2000, 1091; Hoffmann, StuB 2000, 248 u. 568; Ott, StuB 2000, 569, und Siegel, StuB 2000, 564 u. 1096. Im Weiteren Wiesbrock, Die Verlustrückstellung im Steuer- und Verfassungsrecht, Diss., 1999; Arndt/ Wiesbrock, DStR 2000, 718; Krüger, FR 2008, 625 (Verfassungskonformität). 2 Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (319 f., 415 f.); s. auch Kahle/Günter, StuW 2012, 43 (54); Kahle, DB 2014, Beil. 4 S. 19; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 249 HGB Rz. 70 ff. 3 BFH BStBl. 1984, 56; 1989, 893; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 87 f. m.w.N. 4 BFH GrS BStBl. 1997, 735. 5 Hierzu Piltz, StbJb. 1999/2000, 221; Hofer, DB 2003, 1069; Hahne/Sievert, DStR 2003, 1992; Wulf/ Petzold, DStR 2004, 2116 (am Bsp. Leasing-Rücknahmeverpflichtung). 6 BFH BStBl. 2006, 298. Zust. Herzig/Teschke, DB 2006, 576; Hoffmann, DStR 2005, 1981; Hüttemann, BB 2005, 2808; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 253 HGB Rz. 6; HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 1857. 7 H 5.7 (1) EStR. 8 Vgl. auch BFH X R 27/05, BFH/NV 2010, 1090. 9 Vgl. Blümich/Buciek, § 5 EStG Rz. 884 f. m.w.N. 10 Vgl. BT-Drucks. 14/23, 170; dazu Heintzen, StuW 2001, 71; Führich, WPg. 2006, 1271 u. 1349; Kirchhof/Crezelius13, § 5 EStG Rz. 148; zur Behandlung überhöhter Versorgungsanwartschaften s. BFH BStBl. 2004, 938 u. 940; dazu BMF BStBl. I 2004, 1045. 11 Dazu BMF BStBl. I 1999, 436; 2005, 1054; 2007, 290; 2008, 569; BFH DStR 2009, 791 (Nachholverbot); s. ferner Sprick, StuB 2006, 707 (systematische Darstellung); Bertram, DB 2006, 350 (Auswirkungen des Maßgeblichkeitsprinzips); Baetge/Haenelt, DB 2006, 2413 (IFRS); Schmidbauer, DStR 2003, 795 (HGB/EStG/IAS); Feld, WPg. 2003, 573 u. 638 (HGB/IAS); Heger, DStR 2008, 585.
Hennrichs
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§9
Rz. 190
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
nach § 249 I 1 HGB gebildet werden. Über den Maßgeblichkeitsgrundsatz besteht steuerrechtlich ebenfalls Passivierungspflicht1. Hieran ändert auch die Neufassung von § 5 I 1 EStG nichts. Das „Darf“ in § 6a I 1 EStG begründet kein steuerliches Wahlrecht, sondern eine Einschränkung („darf … nur“). § 6a EStG enthält einschränkende Voraussetzungen sowohl dem Grunde (§ 6a I-II EStG) als auch der Höhe (§ 6a III-IV EStG; abw. von § 253 II 2 HGB2) nach und ist damit zugleich Ansatz- und Bewertungsvorschrift. Fiskalisch motiviert ist der Ansatz eines überhöhten Rechnungszinsfußes von 6 % für die Barwertermittlung, § 6a III 3 EStG (s. Rz. 51). Die Bildung von Pensionsrückstellungen für die innerbetriebliche Altersversorgung hat die Wirkung nachgelagerter Besteuerung (Besteuerungsaufschub bis zur Zahlung der Pension). Sie müsste mit den anderen Formen nachgelagerter Besteuerung von Alterseinkünften abgestimmt sein (vgl. § 8 Rz. 564 ff.)3. Zu Pensionsrückstellungen zugunsten eines Mitunternehmers s. § 10 Rz. 108, 145; zugunsten eines Gesellschafter-Geschäftsführers einer Kapitalgesellschaft s. § 11 Rz. 83.
2.3.7 Insb.: sog. angeschaffte Rückstellungen; §§ 4f; 5 VII EStG 190
Die steuerlichen Sondervorschriften für Rückstellungen, namentlich § 5 IVa 1 und § 6a EStG, können zur Folge haben, dass die wirtschaftlichen Belastungen des Stpfl. durch (ungewisse) Verbindlichkeiten in der Steuerbilanz nicht realitätsgerecht abgebildet werden (stille Lasten). Nach der zutr. Rspr. des BFH galten die Ansatzverbote des § 5 IV, IVa sowie die steuerliche Sondervorschrift zur Bewertung von Pensionsrückstellungen gem. § 6a EStG allerdings nicht, wenn die fragliche Verbindlichkeit einzeln oder im Rahmen eines Betriebserwerbs angeschafft worden ist4. Wird bspw. die Zahlungsverbindlichkeit aus einem Mietvertrag für Geschäftsräume, die der Stpfl. nicht mehr nutzt (Fehlmaßnahme), von einem neuen Schuldner gegen Gewährung von Deckungsvermögen als Gegenleistung für die Schuldübernahme übernommen (§§ 414, 415 BGB), so blieb dieser Geschäftsvorfall nach der Rspr. des BFH auf Seiten des Erwerbers aus Gründen des Realisationsprinzips (§ 252 I Nr. 4 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG) erfolgsneutral. Denn aus Sicht des Erwerbers liegt ein Anschaffungsvorgang vor (Erwerb des Deckungsvermögens gegen Schuldübernahme), für den der Grundsatz der erfolgsneutralen Behandlung von Anschaffungsvorgängen gilt. Auch die Restriktionen des § 6a EStG waren nach der bisherigen Rspr. des BFH in den Fällen angeschaffter Pensionsverbindlichkeiten nicht anwendbar. Vielmehr führten beispielsweise die Schuldübernahme und die Erfüllungsübernahme mit Schuldfreistellung nach Ansicht des BFH beim bisherigen Verpflichteten zur steuerwirksamen Realisation der stillen Last5, während die (wirtschaftliche) Übernahme der Schuld gegen Deckungsvermögen beim Erwerber als Anschaffungsgeschäft erfolgsneutral zu behandeln war. Die Auffassung der Finanzverwaltung, wonach im Fall der Schuldübernahme zwar der Anschaffungsvorgang erfolgsneutral zu behandeln sei, in der ersten steuerlichen Schlussbilanz des Erwerbers sodann aber wieder § 6a EStG anzuwenden sei (so dass es beim Erwerber durch Abwertung der übernommenen Verbindlichkeit vom Übernahmewert auf den § 6a-Wert zum 1 Hennrichs, Ubg. 2009, 533 (541 f.); Schmidt/Weber-Grellet33, § 6a EStG Rz. 2; Weber-Grellet, DB 2009, 2402; a.A. (steuerliches Passivierungswahlrecht) NWB Praxishdb. BilStR/Günkel/Bongaerts2, Rz. 5669 (unter Hinweis auf sich dadurch eröffnende „Gestaltungschancen“); ebenso Herzig/Briesemeister, DB 2009, 976 (977); Thiel, FS Meilicke, 2010, 733 (746). 2 Zur Bewertung von Pensionsrückstellungen durch BilMoG Rhiel/Veit, DB 2008, 193 u. 1509; Küting/ Kessler/Keßler, WPg. 2008, 494; Heger/Weppler, BB 2008, 1283; Heger/Weppler, DStR 2009, 239. 3 S. in diesem Zusammenhang auch die Tendenz zur Einschränkung der Rückstellungsbildung bei Überversorgung: BFH BStBl. 2004, 940; 2005, 176; BMF BStBl. I 2004, 1045. 4 Vgl. BFH v. 16.12.2009 – I R 102/08, BStBl. 2011, 566; BFH v. 14.12.2011 – I R 72/10, BFHE 236, 101 = DStR 2012, 452; BFH v. 12.12.2012 – I R 69/11, BFHE 240, 34 = DStR 2013, 570; und BFH v. 12.12. 2012 – I R 28/11, BFHE 240, 22 = DStR 2013, 575; eingehend zum Ganzen MünchKomm. BilanzR/ Schlotter, Anh. zu § 249 HGB Rz. 18 ff. Ferner Buciek, FR 2010, 426; Hötzel, FS Schaumburg, 2009, 387; Ley, DStR 2007, 589; Oser, BB 2011, 2802; M. Prinz, FR 2010, 426; M. Prinz, FR 2011, 445 (551); U. Prinz, FR 2011, 1015; U. Prinz/Adrian, BB 2011, 1646; U. Prinz, DStJG 34 (2011), 135 (170); Schlotter/Pinkernell, FR 2011, 689; Schlotter, Ubg. 2010, 635; Siegel, FR 2011, 781; Weber-Grellet, DB 2011, 2875; Bareis, FR 2012, 385; Siegel, FR 2012, 388; Wacker, BAV 2013, 63. 5 Zuletzt BFH v. 26.4.2012 – IV R 43/09, BFHE 237, 215 = DStR 2012, 1128.
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Hennrichs
Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 194
§9
Ausweis eines „Erwerbsgewinns“ käme), wurde vom BFH explizit verworfen. Der eigentliche Anschaffungsvorgang könne nicht von der nachfolgenden Bilanzierung auf den Bilanzstichtag getrennt werden1. Von diesem erfolgsneutral erworbenen Teil war allerdings bereits nach bisheriger Rechtslage der Teil der Verpflichtung zu unterscheiden, der beim Erwerber erst neu entsteht. Auf diesen fanden die steuerbilanziellen Passivierungsbeschränkungen auch nach der bisherigen Rspr. Anwendung.2
Durch das AIFM-StAnpG v. 18.12.20133 hat der Gesetzgeber diese Rspr. (rückwirkend, dazu Rz. 194) korrigiert, weil Steuerausfälle befürchtet wurden. Nach § 5 VII 1 EStG sind übernommene Verpflichtungen, die beim ursprünglich Verpflichteten Ansatzverboten, -beschränkungen oder Bewertungsvorbehalten unterlegen haben, beim Übernehmer zu den auf die Übernahme folgenden Abschlussstichtagen so zu bilanzieren, wie sie beim ursprünglich Verpflichteten ohne Übernahme zu bilanzieren wären. Dadurch werden die fiskalisch motivierten steuerlichen Ansatz- oder Bewertungsvorbehalte (namentlich § 5 IVa; § 6a EStG) perpetuiert, sie gelten ungeachtet des Anschaffungsvorgangs und ungeachtet zivilrechtlicher Strukturen beim Übernehmer weiter. In der ersten Schlussbilanz, die auf die Übernahme folgt, entsteht beim Erwerber dadurch ein (Erwerbs-) Gewinn.
191
Beispiel: Der Stpfl. V hat Geschäftsräume angemietet, die er nicht mehr nutzen kann. Der Mietvertrag läuft noch zwei Jahre. E übernimmt von V die Zahlungsverpflichtung gegen Gewährung eines Entgelts in Höhe des Zeitwerts der übernommenen Verbindlichkeit (100 GE). – Bei E sind die erworbenen Zahlungsmittel (100 GE) einzubuchen. Dem korrespondiert zunächst, d.h. bei der buchmäßigen Verarbeitung des Geschäftsvorfalls, die übernommene Verbindlichkeit. In der ersten Schlussbilanz, die auf die Übernahme folgt, gilt beim Erwerber aber wiederum § 5 IVa 1 EStG, weil diese Vorschrift bislang beim Veräußerer anwendbar war. Danach ist die übernommene Verbindlichkeit bei E in der ersten steuerlichen Schlussbilanz nach Übernahme erfolgswirksam auszubuchen. Es entsteht ein Erwerbsgewinn.
Für den Gewinn, der sich aus der Anwendung des § 5 VII 1 EStG ergibt, kann gem. § 5 VII 5 EStG in Höhe von 14/15 in eine gewinnmindernde Rücklage gebildet werden (1. Wahlrecht: Verteilungswahlrecht), die in den folgenden 14 Wirtschaftsjahren jeweils mit mindestens (2. Wahlrecht: Auflösungswahlrecht) 1/14 gewinnerhöhend aufzulösen ist4. Dadurch kann der Erwerbsgewinn über maximal 15 Jahre verteilt werden.5
192
Zu beachten ist, dass § 5 VII EStG keine Konzernklausel o.ä. enthält. Auch die Ausnahmefälle des § 4f I 3 EStG (dazu Rz. 196) haben in § 5 VII EStG keine Entsprechung6. Die Neuregelung zu den steuerlichen Auswirkungen einer Verpflichtungsübernahme bei der steuerlichen Gewinnermittlung des Erwerbers gilt daher nicht etwa nur für Gestaltungen in Konzernen, sondern auch für fremdübliche Drittgeschäfte.7
193
Die Neuregelung gilt für die Fälle des Schuldbeitritts oder der Erfüllungsübernahme mit Schuldfreistellung sinngemäß (§ 5 VII 2 EStG). Damit sollen alle Fälle, die rechtlich oder wirtschaftlich
194
1 BFH v. 14.12.2001 – I R 72/10, BFHE 236, 101 = DStR 2012, 452. 2 BFH v. 12.12.2012 – I R 69/11, BFHE 240, 34 = DStR 2013, 570; und BFH v. 12.12.2012 – I R 28/11, BFHE 240, 22 = DStR 2013, 575 3 BGBl. I 2013, 4318. Zu §§ 4f; 5 VII EStG n.F. s. Benz/Placke, DStR 2013, 2653; Förster/Staaden, Ubg. 2014, 1; Fuhrmann, DB 2014, 9; Riedel, FR 2014, 6; Riedel, Ubg. 2014, 421; Adrian/Fey, StuB 2014, 53; Schultz/Debnar, BB 2014, 107; Veit/Heinz, BB 2014, 1323; Hörhammer/Pitzke, NWB 2014, 426; Schindler, GmbHR 2014, 561; 768; Dannecker/Rudolf, BB 2014, 2539; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 2500 ff.; Kirchhof/Crezelius13, § 5 EStG Rz. 158 ff. 4 Vgl. Adrian/Fey, StuB 2014, 53 (59); Lüdenbach/Hoffmann, GmbHR 2014, 123 (128); Benz/Placke, DStR 2013, 2653 (2658); Schindler, GmbHR 2014, 786 (789). 5 Zur Frage, wie sich § 5 VII EStG n.F. auf die steuerbilanzielle Behandlung eines erworbenen negativen Geschäfts- oder Firmenwerts auswirkt, s. Dannecker/Rudolf, BB 2014, 2539 (2542). 6 Adrian/Fey, StuB 2014, 53 (58); Riedel, FR 2014, 6 (9). 7 Die gesetzliche Ausgestaltung ist verwunderlich, da in der Gesetzesbegründung ausdrücklich als Ziel des Gesetzes formuliert ist, die Verschiebung stiller Lasten zwischen verbundenen Unternehmen zu verhindern (BR-Drucks. 740/23, S. 115); vgl. Riedel, FR 2014, 6 (9); dies. DStR 2013, 1047 (1051); Gebert/Höhn, DB 2013, 1192 (1194).
Hennrichs
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§9
Rz. 195
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
betrachtet zu einer Schuldübernahme führen, steuerbilanziell gleichgestellt werden. Das geht i.Erg. sogar über die frühere Auffassung der FinVerw. hinaus: Bei einer Erfüllungsübernahme mit Schuldfreistellung geht der Erwerber eine Freistellungsverpflichtung ein, für die § 5 IVa 1 EStG dem Wortlaut nach gar nicht gelten würde; ebenso stellt eine Freistellungsverpflichtung bezogen auf eine Pensionszusage selbst keine Pensionsverpflichtung i.S. des § 6a EStG dar. Deshalb ging das BMF früher davon aus, dass § 5 IVa 1; § 6a EStG in diesen Fällen beim Erwerber nicht anwendbar seien1. Nach der Neuregelung des § 5 VII 1, 2 EStG gelten nunmehr die einschlägigen Steuervorbehalte aber ungeachtet der unterschiedlichen zivilrechtlichen Strukturen in allen Fällen der Schuldübernahme, des Schuldbeitritts und der Erfüllungsübernahme weiter. Die Neuregelung ist gem. § 52 XIV 1 EStG erstmals für Wirtschaftsjahre anzuwenden, die nach dem 28.11.2013 enden. Die Übergangsvorschrift ist wirtschaftsjahrbezogen (statt vertragsbezogen) formuliert, d.h. es ist unerheblich, wann die Transaktion stattgefunden hat. Auch ältere Übertragungen werden rückwirkend erfasst. Für Übertragungen, die vor dem 14.12.2011 vereinbart wurden, gilt gem. § 52 XIVa 3 EStG statt des 15jährigen Verteilungszeitraums ein 20jähriger Zeitraum für die Bildung und Auflösung der gewinnmindernden Rücklage.
195
Das AIFM-StAnpG hat für den Fall der Verpflichtungsübernahme außerdem die Steuerfolgen beim ursprünglich Verpflichteten (Veräußerer) neu justiert2. Hierfür schreibt die neue Vorschrift des § 4f I 1 EStG nunmehr eine grundsätzliche Aufwandsverteilung vor: die realisierte stille Last ist beim ursprünglich Verpflichteten grds. nicht mehr sofort als BA abziehbar, sondern nur noch zeitlich verteilt über 15 Jahre. Der bei der steuerbilanziellen Gewinnermittlung entstehende Aufwand ist außerbilanziell zu korrigieren3. Das gilt wiederum für die Fälle der rechtlichen Schuldübernahme (§ 4f I 1, 2 EStG) und der wirtschaftlichen Übernahme durch Schuldbeitritt oder Erfüllungsübernahme mit Freistellung gleichermaßen (§ 4f II EStG). Die Neuregelung gilt gem. § 52 XIIc EStG erstmals für Wirtschaftsjahre, die nach dem 28.11.2013 enden. Wiederum ist das wirtschaftsjahrbezogen und nicht transaktionsbezogen formuliert.
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Immerhin sieht das Gesetz für die Seite des ursprünglich Verpflichteten recht großzügig bemessene Ausnahmen vor: Gem. § 4f I 3 EStG unterbleibt eine Verteilung und können daher die BA aus der Realisation der stillen Last wie bisher sofort abgezogen werden: bei kleinen Betrieben i.S. der Größenmerkmale des § 7g EStG; bei Betriebsveräußerung und -aufgabe; sowie in den Fällen eines Arbeitgeberwechsels unter Mitnahme der Pensionszusage. Auf Veräußererseite sind daher (anders als auf Erwerberseite, für die § 5 VII EStG keine entsprechenden Ausnahmen enthält, Rz. 193) mittelständische M&A-Transaktionen i.Erg. nicht betroffen. Richtigerweise gelten die Ausnahmen auch bei Schuldbeitritt und Erfüllungsübernahme mit Freistellung4. Dass § 4f II EStG nicht auf § 4f I 3 EStG verweist, ist ein Redaktionsversehen. Ein rechtfertigender Grund dafür, warum beispielsweise kleine Betriebe i.S. des § 7g EStG bei einem Schuldbeitritt (anders als bei einer rechtlichen Schuldübernahme) nicht von der Ausnahmeregelung profitieren sollten (und bei einem Schuldbeitritt also stets eine Verteilung des Aufwands verpflichtend wäre), ist nicht erkennbar. Ein noch nicht voll verrechneter Betriebsausgabenabzugsbetrag i.S. d. § 4f I 1 EStG geht gem. § 4f I 7 EStG auf den Rechtsnachfolger über. Die Vorschriften des UmwStG wird man im Grundsatz als lex specialis gegenüber § 4f EStG ansehen müssen. Allerdings sollten die Ausnahmen für Betriebs- und Teilbetriebsveräußerungen gem. § 4f I 3–6 EStG auch bei Umwandlungen gelten. Soweit also bei Umwandlungen stille Lasten realisiert werden, sollte es auf der Seite des übertragenden Rechtsträgers beim Sofortabzug (statt Verteilungspflicht gem. § 4f I 1 EStG) oder einer ggf. anteiligen Aufwandsverteilung (§ 4f I 4 EStG) bleiben, weil Umwandlungsvorgänge der Sache nach Betriebs-oder Teilbetriebsveräußerungen sind (Tz. 00.02 UmwStE). 1 BMF BStBl. I 2005, 1052 (Tz. 6) und BMF BStBl. I 2011, 627 (Tz. 6). 2 Zur früheren Rechtslage s. BFH v. 17.10.2007 – I R 61/06, BStBl. 2008, 555; BFH v. 26.4.2012 – IV R 43/09, BFHE 237, 215 = DStR 2012, 1128; ferner BMF BStBl. I 2005, 1052. 3 BR-Drucks. 740/13, 75; für einen innerbilanziellen Ausgleichsposten Schultz/Debnar, BB 2014, 107 (108); HHR/Schober, § 4f EStG Anm. J 13-13. 4 Ebenso Hörhammer, StbJb. 2013/14, S. 308; ebenso wohl Fuhrmann, DB 2014, 9 (13); a.A. OFD Magdeburg DStR 2014, 1546; Förster/Staaden, Ubg. 2014, 1 (7 f.); Adrian/Fey, StuB 2014, 53 (56). Nach Blümich/Krumm,§ 4f EStG Rz. 36, lassen sich die Ausnahmetatbestände in § 4f I 3–6 EStG auch unter II subsumieren, da in II nur Regelbeispiele des I normiert seien.
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Hennrichs
Rz. 198
§9
Zusammenfassend gilt damit nunmehr in den Fällen der Verpflichtungsübernahme, des gleichgestellten Schuldbeitritts oder der Erfüllungsübernahme mit Freistellung Folgendes: Beim Veräußerer ist die realisierte stille Last, also die Differenz zwischen dem Buchwert der (auszubuchenden) Rückstellung und dem Wert des als Gegenleistung für die Schuldübernahme gewährten (und ebenfalls auszubuchenden) Deckungsvermögens, grds. nur auf 15 Jahre verteilt abzugsfähig (§ 4f I 2, II EStG). Kleine Betriebe i.S. des § 7g EStG sowie Betriebsveräußerung oder Betriebsaufgabe und Arbeitgeberwechsel sind von der Verteilungspflicht ausgenommen, insoweit bleibt es beim Sofortabzug der realisierten stillen Last (§ 4f I 3 EStG). Auf Erwerberseite ist die rechtlich oder wirtschaftlich übernommene Verpflichtung in der ersten steuerlichen Schlussbilanz nach der Übernahme gem. § 5 VII 1, 2 EStG wieder nach den einschlägigen steuerlichen Sondervorschriften (insb.: § 5 IV; IVa 1; § 6a EStG) zu bewerten, und zwar selbst dann, wenn es sich zivilrechtlich um eine Freistellungsverpflichtung handelt, die eigentlich nicht unter § 5 IVa („schwebendes Geschäft“) oder § 6a EStG (Pensionsverpflichtung) subsumiert werden kann. Die beim Veräußerer aufgedeckte stille Last wird hierdurch beim Erwerber als Erwerbsgewinn fingiert. Dieser Gewinn kann gem. § 5 VII 5 EStG zu 14/15 in eine gewinnmindernde Rücklage eingestellt und i.Erg. über 15 verteilt werden (für Altfälle, d.h. Vereinbarung der Übertragung vor dem 14.12.2011: Verteilung über 20 Jahre, § 52 XIV 3 EStG) .
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Die Neuregelungen der §§ 4f; 5 VII EStG sind systemwidrig und rechtspolitisch verfehlt1. § 4f EStG schafft eine neue Asymmetrie, indem realisierte stille Lasten steuerlich verteilt werden müssen, während realisierte stille Reserven grds. sofort besteuert werden2. Die Rechtsnachfolgeregelung des § 4f I 7 EStG widerspricht zudem dem Grundsatz der Individualbesteuerung.3 Besonders problematisch ist § 5 VII EStG. Diese Vorschrift durchbricht einmal mehr aus rein fiskalischen Erwägungen grundlegende Prinzipien der Steuerbilanz, nämlich das Realisationsprinzip4. Der Gewinn, der sich aus der Anwendung des § 5 VII EStG ergibt, ist ein „rein normkreierter Gewinn ohne Realisationsakt“5. Die neuen Sondervorschriften sind ein „Fluch der bösen Tat“6, nämlich eine Frucht der ihrerseits rechtspolitisch verfehlten Sondervorschriften des § 5 IVa und § 6a EStG, die dazu führen, dass in den Steuerbilanzen der Stpfl. stille Lasten gelegt werden. Zwar mag man es als zulässig ansehen, die Geltung von Ansatz- und Bewertungsvorbehalten gegen Transaktionen zwischen Konzernunternehmen absichern zu wollen, wenn man annimmt, dass solche Gestaltungen „jedenfalls strukturell nicht als marktoffen angesehen werden müssen“7. Aber § 5 VII EStG ist, wie gezeigt, nicht auf Konzerngestaltungen begrenzt, sondern gilt auch für normale, fremdübliche Drittgeschäfte (Rz. 193). Jedenfalls bei fremdüblichen Drittgeschäften gerät die Fiktion eines Erwerbsgewinns in Konflikt mit dem Leistungsfähigkeitsprinzips8. Schließlich ist auch die rückwirkende Anwendung des § 5 VII
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Ansatz von Wirtschaftsgütern
1 Ebenso U. Prinz, DB 2013, Heft 45 S. I: „systematische Verunstaltung“ und „Zersetzung“ des Steuerbilanzrechts „wider alle Leistungsfähigkeitsprinzipien“; Förster/Staaden, Ubg. 2014, 1 (12): „fiskalisch motivierte Durchbrechung zentraler Bilanzierungsgrundsätze“; Adrian/Fey, StuB 2014, 53 (56): „Verstoß gegen das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit“; krit. auch Fuhrmann, DB 2014, 9 (15 f.). Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung der Neuregelung s. einerseits Kirchhof/Gosch, § 4f EStG Rz. 3; Riedel, Ubg. 2014, 421 (423); Hörhammer, StbJb. 2013/14, 311; andererseits Blümich/ Krumm, § 4f EStG Rz. 2; Schindler, GmbHR 2014, 561 (567); Lüdenbach/Hoffmann, GmbHR 2014, 123 (125). Vom BVerfG ist freilich insoweit einstweilen keine Verwerfung zu erwarten, da die Regelung grds. nur eine temporäre Verschiebung der Verlustverrechnung bewirkt (s. BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BVL 1/00, BVerfGE 123, 111 = BStBl. 2009, 685 [krit. dazu Rz. 50, 104]; s. ferner BFH v. 1.7. 2009 – I R 76/08, BStBl. 2010, 1061; v. 26.8.2010 – I B 49/10, BStBl. 2011, 826; v. 22.8.2012 – I R 9/11, BStBl. 2013; v. 26.2.2014 – I R 59/12, BStBl. 2014, 1016). 2 Schlotter, StbJb. 2013/14, 305; Riedel, FR 2014, 6 (10); Schindler, GmbHR 2014, 561 (568). 3 Riedel, FR 2014, 6, (10); Riedel, Ubg. 2014, 421 (423); Schlotter, StbJb. 2013/14, 307. 4 Fuhrmann, DB 2014, 9 (15). 5 Schlotter, StbJb. 2013/14, 319. 6 Fr. Schiller, Wallenstein, Die Piccolomini, V/1, spricht Octavio: „Das eben ist der Fluch der bösen Tat, // daß sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären“. 7 Wacker, BAV 2013, 63 (69 f., 74). 8 So auch Wacker, BAV 2013, 63 (69 f., 74).
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§9
Rz. 199
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
EStG gem. § 52 XIV EStG problematisch. Damit greift der Gesetzgeber in ggf. schon länger zurückliegende, abgeschlossene Transaktionen ein.
2.3.8 Auflösung von Rückstellungen 199
Die Auflösung von Rückstellungen bestimmt sich nach § 5 I 1 EStG i.V.m. § 249 II 2 HGB. Entgegen dem missverständlichen Wortlaut („dürfen“) besteht handels- und steuerrechtlich ein Auflösungsgebot, wenn der Grund für ihre Bildung entfallen ist1. Maßgeblich ist nach dem Stichtagsprinzip (s. Rz. 98 f.) das am Bilanzstichtag bestehende Risiko der Inanspruchnahme2 (vgl. Rz. 186). Wertaufhellende Tatsachen, die eine andere Risikoprognose erfordern, sind bei der Bilanzaufstellung nur heranzuziehen, wenn sie bereits am Bilanzstichtag objektiv vorlagen3. Eine Rückstellung wegen eines im Klagewege gegen den Kaufmann geltend gemachten Anspruchs ist erst zum Schluss des Wirtschaftsjahres aufzulösen, in dem über den Anspruch endgültig und rechtskräftig entschieden ist4; die gerichtliche Entscheidung wirkt nicht bloß wertaufhellend und damit nicht zurück5. S. auch bereits Rz. 36b ff.
3. Rechnungsabgrenzungsposten 200
Rechnungsabgrenzungsposten (§ 5 V EStG)6 dienen der periodischen Gewinnabgrenzung. Als aktive- und passive Bilanzposten bewirken sie, dass Ausgaben in die Periode ihrer wirtschaftlichen Zugehörigkeit transferiert werden (transitorische Rechnungsabgrenzung) und damit jeder Periode nur die in ihr verursachten Aufwendungen und Erträge zugeordnet werden. Sie neutralisieren in der Bilanz die jeweiligen Ausgaben, die ohne Abgrenzung aufwands- oder ertragswirksam würden.
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§ 5 V EStG schränkt die Zulässigkeit von Rechnungsabgrenzungsposten dahingehend ein, dass nur angesetzt werden dürfen und müssen: (1.) auf der Aktivseite: Ausgaben vor dem Abschlussstichtag, soweit sie Aufwand für eine bestimmte Zeit7 nach diesem Tag darstellen (transitorische Aktiva; „Ausgabe heute, Aufwand morgen“); es wird im Voraus ausgegeben, was wirtschaftlich in das nächste Jahr gehört, weil dann erst die Gegenleistung empfangen wird (transitorisch = hinübergehend = die Auswirkung der Ausgabe wird in das nächste Jahr transferiert), z.B. Mietzahlung des Mieters im Dezember für Januar des Folgejahres; vorausbezahlte Kfz-Steuern (BFH I R 65/09, BStBl. 2010, 9678).
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(2.) auf der Passivseite: Einnahmen vor dem Abschlussstichtag, soweit sie Ertrag für eine bestimmte Zeit nach diesem Tag darstellen (transitorische Passiva; „Einnahme heute, Ertrag morgen“); es wird im Voraus vereinnahmt, was wirtschaftlich in das nächste Jahr gehört, weil erst dann die Gegenleistung erbracht wird (Beispiel: Mieteinnahme auf Seiten des Vermieters im Dezember für Januar des Folgejahres). 1 2 3 4 5
BFH BStBl. 1998, 375. BFH v. 26.4.2012 – IV R 43/09, BFHE 237, 215 = BFH/NV 2012, 1248. BFH BStBl. 2002, 688 (689). BFH v. 27.11.1997 – IV R 95/96, BStBl. 1998, 375; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 703. BFH v. 26.4.1989 – I R 147/84, BStBl. 1991, 213; Bertram im Haufe, HGB Bilanz-Komm., § 249 HGB Rz. 338; Tiedchen in MünchKomm. BilanzR, § 252 HGB Rz. 43. 6 Dazu Tiedchen in HdJ II/9; Hartung, FS Moxter, 1994, 213; Beisse, FS Budde, 1995, 67; Stobbe, FR 1995, 399; Bertl/Egger/Gassner/Lang (Hrsg.), Erfolgsabgrenzungen in Handels- und Steuerbilanz, Wien 2001; Köhle, Rechnungsabgrenzung in Bilanztheorie und Bilanzrecht, Diss., 2003. 7 Dazu BFH BStBl. 1984, 552 (554); 1995, 202 (204 ff.) (Bestimmbarkeit reicht aus; kalendarische Festlegung nicht erforderlich); Herzig/Söffing, BB 1993, 465; Blümich/Buciek, § 5 EStG Rz. 675; Kirchhof/Crezelius11, § 5 EStG Rz. 90, 93; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 250 HGB Rz. 3 f., 9 f., 33; Tiedchen in HdJ II/9 Rz. 3, 6, 78 ff. (August 2013); je m.w.N. 8 Zur Rechnungsabgrenzung bei einem vom Darlehensnehmer zu zahlenden „Bearbeitungsentgelt“, BFH I R 7/10, BStBl. 2011, 870; dazu Hageböke, Ubg. 2012, 34; bei Darlehen mit fallenden Zinssätzen BFH I R 77/10, BStBl. 2012, 284 = FR 2011, 1162 m. Anm. U. Prinz.
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Hennrichs
Rz. 205
§9
Ferner sind nach § 5 V 2 EStG auf der Aktivseite – wie Rechnungsabgrenzungsposten – anzusetzen: als Aufwand berücksichtigte Zölle und Verbrauchsteuern, soweit sie auf am Abschlussstichtag auszuweisende Wirtschaftsgüter (Vermögensgegenstände) des Vorratsvermögens entfallen, sowie als Aufwand berücksichtigte Umsatzsteuer auf am Abschlussstichtag auszuweisende Anzahlungen. Nach Streichung des (ohnehin gegen die Bilanzrichtlinie verstoßenden1) § 250 I 2 HGB a.F. durch das BilMoG gilt in der Handelsbilanz insoweit dagegen ein Aktivierungsverbot.
203
Den transitorischen Rechnungsabgrenzungsposten liegen Geschäftsvorfälle zugrunde, die in dem abgelaufenen Wirtschaftsjahr einen Finanzvorgang (Ausgabe/Einnahme) ausgelöst haben, der als Aufwand/Ertrag künftigen Perioden zuzurechnen ist. Die Ausgabe oder Einnahme muss also dem Wirtschaftsjahr, in dem der Aufwand/Ertrag entsteht, vorausgehen2. Rechnungsabgrenzungsposten dienen also der Abgrenzung von Vorausleistungen des zur Gegenleistung Verpflichteten im Hinblick auf die den Vertrag kennzeichnende Hauptleistung, sie betreffen Fälle vorausbezahlten Entgelts (Abgrenzung einer Vorabentgeltentrichtung)3. Davon zu unterscheiden sind antizipative Posten. Im Gegensatz zu den transitorischen Rechnungsabgrenzungsposten betreffen die antizipativen Posten Geschäftsvorfälle, die erst in den kommenden Geschäftsjahren zu einer Einnahme oder Ausgabe führen, bei denen der Ertrag oder der Aufwand aber dem laufenden Wirtschaftsjahr zuzurechnen ist. Aufwand und Ertrag werden in das laufende Jahr vorweggenommen (antizipiert)4. Bei ihnen lautet die Formel also „Ertrag heute, Einnahme morgen“ (bzw. „Aufwand heute, Ausgabe morgen“). Antizipative Posten sind nicht als Rechnungsabgrenzungsposten zulässig (R 5.6 Abs. 1 u. 3 EStR5); stattdessen sind Forderungen oder Verbindlichkeiten anzusetzen6.
204
Entgegen der Rspr. des I. Senats des BFH7 und der Ansicht des BMF8 ist deshalb für sog. Handysubventionen der Mobilfunkunternehmen kein aktiver Rechnungsabgrenzungsposten zu bilden9. Es geht im Fall einer Handysubvention durch ein Mobilfunkunternehmen nämlich nicht um eine Vorleistung des zur Geldzahlung verpflichteten Teils. Vielmehr liegt es genau umgekehrt: Auf Seiten des Mobilfunkunternehmens ist eine aus mehreren rechtlich selbständigen Verträgen (Komponenten) bestehende gemischte Leistungspflicht gegeben (subventionierter Handyverkauf einerseits und Mobilfunkdienstleistung andererseits, jeweils gegen Entgelt), von denen ein Teil, nämlich der Handyverkauf, bereits voll erfüllt ist und die andere Komponente, die Mobilfunkdienstleistung, abschnittsweise noch zu erbringen ist. Die Vorleistung liegt also auf Seiten des Teils, der zu der die (kombinierten) Verträge kennzeichnenden Sach- und Dienstleistung verpflichtet ist. Das ist kein Fall der transitorischen Rechnungsabgrenzungsposten10, sondern die Frage ist, ob und in welcher Höhe das Mobilfunkunternehmen im Hinblick auf seine Teilerfüllung (Handylieferung) das vom Kunden noch nicht geleistete (künftige) Entgelt für die Mobilfunkdienstleistung bereits am Bilanzstichtag teilweise als realisiert beurteilen muss11. Das ist nicht an § 5 Abs. 5 EStG, sondern am Realisationsprinzip zu messen, und danach scheidet eine vorgezogene, anteilige Realisation noch nicht vereinnahmter Mobilfunkentgelte aus12, weil das Mobilfunkunternehmen seine Dienstleistung insoweit noch nicht
205
Ansatz von Wirtschaftsgütern
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Hennrichs, Wahlrechte im Bilanzrecht der Kapitalgesellschaften, Habil., 1999, 215 ff. KSM/Bauer, § 5 EStG Rz. F 30. Weitergehend BFH v. 15.5.2013 – I R 77/08, BStBl. 2013, 730 (Tz. 16). Vgl. KSM/Bauer, § 5 EStG Rz. F 40. KSM/Bauer, § 5 EStG Rz. F 43; Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 244. Vgl. BFH X R 49/89, BStBl. 1992, 904. BFH v. 7.4.2010 – I R 77/08, BStBl. 2010, 739; bestätigt durch BFH v. 15.5.2013 – I R 77/08, BStBl. 2013, 730, m. Anm. Weber-Grellet, FR 2013, 853; Schulze-Osterloh, BB 2013, 2099. BMF BStBl. I 2005, 801 (Tz. 6). Wie hier HdJ/Tiedchen, II/9 Rz. 77 (57. Lfg. August 2013); Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 241, 255; Marten/Köhler/Schlereth, DB 2003, 2713 (2715). Eingehend dazu auch Coenenberg, Die bilanzielle Behandlung von Handy-Subventionen bei Mobilfunkunternehmen, 2007. A.A. BFH v. 15.5.2013 – I R 77/08, BStBl. 2013, 730 (Tz. 16). Ebenso HdJ/Tiedchen, II/9 Rz. 77. Insoweit wie hier BFH v. 15.5.2013 – I R 77/08, BStBl. 2013, 730 (Tz. 17); a.A. Schulze-Osterloh, BB 2013, 2099.
Hennrichs
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557
§9
Rz. 206
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
erbracht hat. Namentlich ist mit Lieferung des Mobiltelefons noch in keiner Weise die Preisgefahr in Bezug auf die Mobilfunkdienstleistung übergegangen. Einstweilen frei.
206–209
4. Zugehörigkeit zum Betriebsvermögen Literatur: Uelner, Notwendiges und gewillkürtes Betriebsvermögen, StKongrRep. 1973, 101; Woerner, Steuerliche Fragen der Abgrenzung des Betriebsvermögens bei der Einkommensteuer, StbJb. 1974/75, 321; Merten, Die einkommensteuerliche Abgrenzung des Betriebsvermögens vom Privatvermögen beim Einzelunternehmer, FR 1979, 365; Wassermeyer, Die Abgrenzung der Betriebs- oder Berufssphäre von der Privatsphäre, in DStJG 3 (1980), 315; G. Söffing, Gewillkürtes Betriebsvermögen, StbJb. 1980/81, 451; Kanzler, Die Abgrenzung zwischen Betriebs- und Privatvermögen bei Land- und Forstwirten, INF 1981, 361; Uelner, Betriebsvermögen – Privatvermögen, StbKongrRep. 1981, 47; Woerner, Notwendiges und gewillkürtes Betriebsvermögen – eine überholte Unterscheidung?, StbJb. 1989/90, 207; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993, 63 ff.; Flies, Gewillkürtes Betriebsvermögen, StBp. 1998, 17; Schoor, Abgrenzung des notwendigen und gewillkürten Betriebsvermögens vom Privatvermögen, StBp. 2005, 102; Arnold, Geschäfts- und Privatvermögen im schweizerischen Einkommensteuerrecht, ASA 2006, 265.
210
Da der Betriebsvermögensvergleich nur im Betrieb erwirtschaftete Vermögensmehrungen/Vermögensminderungen erfassen soll, dürfen in der Bilanz nur Wirtschaftsgüter des Betriebsvermögens angesetzt werden (s. auch § 6 I 1 EStG). Die st. Rspr. des BFH unterscheidet bei Personenunternehmen (zu Mitunternehmerschaften Rz. 220, zu Kapitalgesellschaften Rz. 221) notwendiges und gewillkürtes Betriebsvermögen einerseits und notwendiges Privatvermögen andererseits (vgl. auch R. 4.2 EStR). Danach werden Wirtschaftsgüter wie folgt zugeordnet:
211
Zum notwendigen Betriebsvermögen gehören Wirtschaftsgüter, wenn und soweit sie unmittelbar für eigene betriebliche Zwecke genutzt werden. Sie müssen dem Betrieb in dem Sinne dienen, dass sie objektiv erkennbar zum unmittelbaren Einsatz im Betrieb selbst bestimmt sind1; dabei ist auf die tatsächliche konkrete Funktion im Betrieb abzustellen, die der Unternehmer dem Wirtschaftsgut zugewiesen hat (BFH BStBl. 1991, 829 [830] m.w.N.). Auch die Zuordnung zum notwendigen Betriebsvermögen setzt nach neuerer Rspr. neben der objektiven Eignung einen nach außen erkennbaren Nutzungswillen des Stpfl. (subjektives Element) voraus (BFH BStBl. 1998, 461; 2002, 690). Eine lediglich potentielle, geplante Funktionszuweisung genügt nicht; dem Wirtschaftsgut muss definitiv eine betriebliche Funktion zugewiesen sein (sog. endgültige Funktionszuweisung, s. BFH BStBl. 1991, 829). Dabei verlangt die Rspr. nicht, dass das Wirtschaftsgut für den Betrieb „erforderlich“ ist (BFH BStBl. 1998, 302). Wirtschaftsgüter, die im Betrieb angeschafft oder hergestellt worden sind, gehören zum Betriebsvermögen (BFH BStBl. 1990, 128 [129]). Sind sie für private Zwecke angeschafft oder hergestellt worden, ist eine Entnahme zu buchen.
212
Zum notwendigen Privatvermögen gehören Wirtschaftsgüter, deren tatsächliche konkrete Funktion nur eine Zuordnung zum Privatvermögen zulässt (Beispiele: selbstbewohnte Wohnung, Wohnungseinrichtung, Schmuck, Kleidung, soweit nicht typische Berufskleidung). Tatsächlich geht es bei der Anwendung des § 4 I EStG nicht um die Abgrenzung von Betriebsvermögen zu Privatvermögen, sondern um die Unterscheidung des Betriebsvermögens vom NichtBetriebsvermögen. Der Begriff des Privatvermögens ist kein gesetzlicher.
213
Zum gewillkürten Betriebsvermögen rechnet die Rspr. des BFH Wirtschaftsgüter, die weder dem notwendigen Betriebsvermögen (Rz. 211) noch dem notwendigen Privatvermögen (Rz. 212) angehören. Wirtschaftsgüter des gewillkürten Betriebsvermögens dienen dem Betrieb im Unterschied zu Wirtschaftsgütern des notwendigen Betriebsvermögens nicht unmittelbar, müssen jedoch objektiv geeignet und erkennbar dazu bestimmt sein, den Betrieb zu fördern (BFH BStBl. 1997, 402). Das Wirtschaftsgut wird durch Widmungsakt gewillkürtes Betriebs1 St. Rspr., z.B. BFH BStBl. 1997, 399 (402); 1999, 56; BFH/NV 2007, 21.
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Hennrichs
Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 218
§9
vermögen; dabei muss der Unternehmer die Zuordnungsentscheidung unmissverständlich bekunden1. Die Kategorie des gewillkürten Betriebsvermögens spielt vor allem bei sog. „neutralem Vermögen“, dem eine betriebliche Bestimmung nicht von vornherein immanent ist, eine Rolle. Auf diese Weise können dem Betriebsvermögen insb. Mietgrundstücke, Bankguthaben, Bargeld, Beteiligungen und Wertpapiere durch Widmungsakt (insb. Aktivierung in der Bilanz) zugeordnet werden. Zur Bildung von gewillkürtem Betriebsvermögen bei Überschussrechnung nach § 4 III EStG s. Rz. 553. Gemischt genutzte bewegliche Wirtschaftsgüter sind entweder Betriebsvermögen oder Privatvermögen2. Sie werden dem Betriebsvermögen zugeordnet, wenn sie zu mehr als 50 % betrieblich genutzt werden; dem Privatvermögen werden sie zugeordnet, wenn sie zu mehr als 90 % privat (und damit zu weniger als 10 % betrieblich) genutzt werden (BFH BStBl. 2004, 985 [986]); bei einem betrieblichen Nutzungsanteil von 10–50 % wird dem Stpfl. ein Wahlrecht zugebilligt (s. R 4.2 I 4–6 EStR 2008). Hingegen werden gemischt genutzte Immobilien entspr. ihren verschiedenen Nutzungs- und Funktionszusammenhängen in mehrere Wirtschaftsgüter aufgeteilt (s. Rz. 138; R 4.2 III–X EStR I 2008). Ein Einheitlichkeitsgrundsatz besteht nicht. Fremdvermietete Teile eines Gebäudes können teils dem Betriebsvermögen, teils dem Privatvermögen zugeordnet werden (BFH BStBl. II 2005, 334; 2005, 604).
214
Ob ein Wirtschaftsgut zum Betriebsvermögen gehört, kann nur unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse beurteilt werden. Jedes Wirtschaftsgut kann nämlich je nach Situation zum Betriebs- oder zum Privatvermögen gehören. So kann z.B. ein Unternehmer mit Wirtschaftsgütern handeln, die typischerweise zum Privatvermögen gehören, etwa mit Schmuck. In der Frage, ob ein Wirtschaftsgut eine betriebliche Funktion haben kann, hat der Unternehmer zwar einen Beurteilungsspielraum, er darf aber nicht willkürlich entscheiden.
215
Allein die Aufnahme des Wirtschaftsguts in die Buchführung und Bilanz, der buchmäßige Widmungsakt also, begründet allerdings kein gewillkürtes Betriebsvermögen. Buchführung und Bilanz müssen die betrieblich veranlassten Geschäftsvorfälle erfassen; umgekehrt geht es nicht. Sieht man von §§ 17; 20 II; 23 EStG ab, so werden Vermögenswertänderungen (insb. infolge Veräußerungen, Wertschmälerungen) nur bei Wirtschaftsgütern des Betriebsvermögens erfasst. Die unterschiedlichen Rechtsfolgen kann der Stpfl. nicht durch bloßen Buchführungsakt nach Art eines freien Wahlrechts – etwa: schlechte Aktien ins Betriebsvermögen, gute Aktien ins Privatvermögen – auslösen. Vielmehr muss für die Annahme gewillkürten Betriebsvermögens eine betriebliche Veranlassung gegeben sein, die Wirtschaftsgüter müssen objektiv betriebsdienlich sein (BFH BStBl. 2000, 297).
216
Die Zuordnungskriterien können letztlich keine anderen sein als die für die Abgrenzung der Erwerbsaufwendungen von den Privataufwendungen (dazu § 8 Rz. 206 ff.)3. Danach ist maßgeblich, ob das Vermögen (das Wirtschaftsgut) im konkreten Fall betrieblichen (s. auch § 247 II HGB) oder privaten Zwecken zu dienen bestimmt ist. Es dient betrieblichen Zwecken, wenn es für den Betrieb angeschafft/hergestellt oder dem Betrieb durch Einlage (§ 4 I 8 EStG) zugeführt und für den Betrieb verwendet oder genutzt wird, d.h. wenn mit ihm im Betrieb – in Gewinnerzielungsabsicht – gewirtschaftet wird4.
217
Die betriebliche Verwendung ist allerdings weit zu verstehen. Betrieblichen Zwecken dienen können Wirtschaftsgüter zum einen dadurch, dass sie unmittelbar bei der Produktion, im Handel oder im Dienstleistungsbetrieb u.s.w. eingesetzt werden, zum anderen aber auch dadurch,
218
1 BFH BStBl.BStBl. 1994, 172 (173); 1999, 279 (280); 1999, 466; BFH/NV 1994, 472; 1998, 1477; 2000, 317; 2000, 1086. 2 BFH III B 152/13, BFH/NV 2014, 1364. 3 Dazu Merten, FR 1979, 367; Wassermeyer, DStJG 3 (1980), 315; Leingärtner, FR 1983, 214; Wacker, FS Scherpf, 1983, 88; Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 108; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 63 ff. 4 Zum objektiven betrieblichen Zusammenhang bei gewillkürtem Betriebsvermögen s. Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 150 ff. m.w.N. Die Rspr. unterwirft zunehmend auch den Begriff des gewillkürten Betriebsvermögens den allgemeinen Kausalitätskriterien.
Hennrichs
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559
§9
Rz. 219
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
dass ihre Nutzung (insb. durch Kapitalanlage, Vermietung) dem Betriebserfolg dient. Wirtschaftsgüter können einem Betrieb auch als Reservevermögen oder zur Sicherheit dienen. Auch §§ 20 VIII; 21 III EStG gehen davon aus, dass Vermögen durch seine Anlage oder Vermietung zu Betriebsvermögen werden kann, wenn die Nutzung betrieblichen Zwecken dient. Wirtschaftsgüter gehören allerdings nicht zum Betriebsvermögen, wenn lediglich deren Wertminderung im Betriebsvermögen berücksichtigt werden soll. Deshalb ist bei Risikogeschäften1 der betriebliche Förderzusammenhang bes. sorgfältig zu prüfen (BFH/NV 1997, 114; BFH BStBl. 1999, 466). Die Einlage von Wirtschaftsgütern als gewillkürtes Betriebsvermögen ist nicht zulässig, wenn erkennbar ist, dass die betreffenden Wirtschaftsgüter dem Betrieb keinen Nutzen, sondern nur Verluste bringen werden (BFH BStBl. 1997, 399). 219
Wird ein Wirtschaftsgut nicht mehr betrieblich verwendet oder genutzt, so ist es damit dem Betrieb entnommen (Entnahmehandlung durch Unterlassen der Verwendung oder Nutzung für den Betrieb). Wird ein Wirtschaftsgut, das bisher dem Privatvermögen zugehörte, für den Betrieb verwendet oder genutzt, so ist es damit eingelegt (dazu Rz. 360 ff.). Die Einlagehandlung stellt einen tatsächlichen Vorgang dar; sie erfordert kein Rechtsfolgebewusstsein und kann darin bestehen, dass der Stpfl. dem Wirtschaftsgut durch eine Nutzungsänderung eine betriebliche Funktion zuweist2.
220
Dieselben Kategorien (notwendiges und gewillkürtes Betriebsvermögen sowie notwendiges Privatvermögen) gelten nach h.M. bei Mitunternehmerschaften (vgl. auch R 4.2 II, XI, XII EStR 2008). Insb. sollen Gebäude(teile), die von einem oder mehreren Mitunternehmern oder deren Familie zu privaten Wohnzwecken genutzt werden, steuerrechtlich selbst dann zum notwendigen Privatvermögen der Gesellschafter zählen, wenn sie zivilrechtlich zum Gesellschaftsvermögen (§ 124 HGB) gehören (BFH BStBl. 1983, 459; R 4.2 XI EStR 2008; s. auch § 10 Rz. 122). Zum sog. Sonderbetriebsvermögen bei Mitunternehmerschaften näher § 10 Rz. 131 ff.
221
Demgegenüber haben Kapitalgesellschaften nach der Rspr. des BFH auch steuerrechtlich keine außerbetriebliche Sphäre3. Daher gehören alle Wirtschaftsgüter und Schulden, die der Kapitalgesellschaft subjektiv zuzurechnen sind, auch zu ihrem Betriebsvermögen, das in der Bilanz abgebildet werden muss. Einstweilen frei.
222–229
V. Bewertung von Wirtschaftsgütern und sonstigen Bilanzposten (Bilanzierung der Höhe nach) 230
Das Ergebnis des Betriebsvermögensvergleichs i.S.d. §§ 4 I; 5 I EStG hängt nicht nur davon ab, was als Bilanzposten aktiviert oder passiviert wird. Ebenso entscheidend ist, wie die Bilanzposten bewertet werden (Bilanzierung der Höhe nach). Auch für die Bewertung werden die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung prinzipiell maßgeblich (§ 5 I 1 EStG). Im Bereich der Bewertung gelten aber weitgehend detaillierte besondere Vorschriften des EStG, die vorrangig zu beachten sind (s. § 5 VI EStG i.V.m. §§ 6; 7 EStG; § 4 I 9 EStG). Soweit weder das EStG noch die handelsrechtlichen GoB Bewertungsvorschriften enthalten, ist hilfsweise auf die Vorschriften des Bewertungsgesetzes zurückzugreifen (s. § 1 BewG).
1 Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 151, 157 f.; Kuhsel, Stbg. 2002, 273. 2 BFH III B 152/13, BFH/NV 2014, 1364. 3 BFH I R 54/95, BFHE 182, 123; BFH I R 56/03, BFHE 208, 519; BFH I R 32/06, BStBl. 2007, 961; BFH I B 97/11, BStBl. 2012, 697; krit. § 11 Rz. 37; Hüttemann, DStJG 34 (2011), 291 (312 f.).
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Hennrichs
Rz. 234
§9
§ 6 EStG operiert mit den Wertbegriffen Anschaffungs- und Herstellungskosten (Rz. 232 ff., 250 ff.), Teilwert (Rz. 260 ff.), gemeiner Wert (Rz. 265), beizulegender Zeitwert (Rz. 266) und Buchwert (Rz. 267).
231
Bewertung von Wirtschaftsgütern
1. Wertbegriffe des § 6 EStG
1.1 Anschaffungskosten (§ 6 I Nr. 1 Satz 1, Nr. 2 Satz 1 EStG) § 6 EStG enthält keine eigenständige Definition der Anschaffungskosten1. Deshalb ist auf § 255 I HGB zurückzugreifen2, der über § 5 I 1 EStG auch für die Steuerbilanz gilt (s. Rz. 40 ff., 70). Danach sind Anschaffungskosten die Aufwendungen, die geleistet werden, um einen Vermögensgegenstand zu erwerben und ihn in einen betriebsbereiten Zustand zu versetzen, soweit sie dem Vermögensgegenstand einzeln zugeordnet werden können (also unter Ausschluss der Gemeinkosten)3. Zu den Anschaffungskosten gehören auch die Nebenkosten sowie die nachträglichen Anschaffungskosten. Anschaffungspreisminderungen sind abzusetzen. Maßgebend sind die tatsächlichen Anschaffungskosten (Prinzip der Maßgeblichkeit der Gegenleistung4), selbst wenn diese deutlich unter5 oder über6 dem Zeitwert des WG liegen.
232
Bei der Bestimmung des Umfangs der Anschaffungskosten ist ein weites Verständnis zugrunde zu legen. Erfasst sind alle mit dem Anschaffungsvorgang verbundenen Kosten, somit neben der Entrichtung des Kaufpreises alle sonstigen Aufwendungen des Erwerbers, die in einem unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhang mit der Anschaffung stehen, insb. zwangsläufig im Gefolge der Anschaffung anfallen. Zu Anschaffungskosten führt auch die Übernahme einer Verbindlichkeit, die der Erwerber als Gegenleistung von dem Veräußerer übernimmt7. Nicht entscheidend ist, ob die Kosten bereits im Zeitpunkt des Erwerbs oder erst im Anschluss hieran als Folgekosten des Erwerbsvorgangs entstehen. Allerdings können Anschaffungskosten eines Wirtschaftsguts nur solche Kosten sein, die nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten dessen Beschaffung tatsächlich zuzuordnen sind. Die bloße Ursächlichkeit des Erwerbs für die Entstehung der Aufwendungen reicht zur Charakterisierung als Anschaffungs(neben)kosten nicht aus. Zusätzlich ist ein innerer, finaler Zweckzusammenhang zwischen Anschaffungsvorgang und Aufwendung erforderlich. Daher sind die infolge einer Sacheinlage von Gesellschaftsanteilen aufgrund Anteilsvereinigung ausgelösten Grunderwerbsteuern von der aufnehmenden Gesellschaft nicht als Anschaffungs(neben)kosten der eingebrachten Anteile zu aktivieren8.
233
Ein Anschaffungsvorgang liegt vor, wenn der Gegenstand von der fremden in die eigene wirtschaftliche Verfügungsmacht überführt wird. Erfasst ist beispielsweise auch die Einbringung eines Grundstücks gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten in eine vermögensverwaltende Personengesellschaft9.
234
1 Dazu BFH BStBl. 1999, 638 (640); 2001, 190; 2008, 296; Mathiak, Anschaffungs- und Herstellungskosten, DStJG 7 (1984), 97; Ordelheide, Zu den Anschaffungsnebenkosten nach Handels- und Steuerrecht, FS Felix, 1989, 223; Beiser, Sind verlorene Skonti Anschaffungskosten oder Finanzierungsaufwand?, DStR 1991, 174; Söhn, Anschaffungskosten/Herstellungskosten und Betriebsausgabenbegriff, StuW 1991, 270; Wichmann, Bemerkungen zum Anschaffungsbegriff im Einkommensteuerrecht, BB 1993, 2349; Wichmann, Die Systematik der Anschaffungs- und Herstellungsvorgänge, FR 1997, 589; Weber-Grellet, Steuerbilanzrecht, 1996, § 17; Blümich/Ehmcke, § 6 EStG Rz. 90 ff. (2010); Moxter, Bilanzrechtsprechung6, 2007, § 11; Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 31 ff.; Cremer, SteuerStud 2007, 546; Meyering, Denkanstöße zu den Anschaffungskosten und ihre Ermittlung, StuW 2009, 42. 2 S. BFH BStBl. 2011, 35; 2011, 709; BFH/NV 2011, 1480; BStBl. 2012, 205. 3 BFH BStBl. 2004, 872 (873 ff.); bei Grund und Boden s. BFH BStBl. 2011, 35; 2011, 761; bei gebrauchten (leerstehenden) Immobilien s. BFH/NV 2011, 215. 4 Kahle/Hiller, DStZ 2013, 462 (464); dies., WPg. 2013, 403 (404); MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 255 HGB Rz. 13. 5 S. EuGH v. 3.10.2013 – C-322/12, GIMLE (dazu auch Rz. 96a); a.A. Schulze-Osterloh, NZG 2014, 1 ff.; wohl auch MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 255 HGB Rz. 45. 6 Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 41; MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 255 HGB Rz. 16. 7 Vgl. BFH BStBl. 2012, 205. 8 BFH I R 2/10, BStBl. 2011, 761; BFH IX R 50/13, DStR 2015, 293. 9 BFH/NV 2011, 1480; BFH BStBl. 2012, 205.
Hennrichs
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561
§9
Rz. 235
235
Anleger in einem Bauherrenmodell beurteilt der BFH nicht als Bauherren, sondern als Erwerber des bebauten Grundstücks. Dabei stellen nach BFH BStBl. 1990, 299, „sämtliche Aufwendungen, die sie (sc. die Anleger) an die Projektanbieter zahlen, um das Grundstück mit dem bezugsfertigen Gebäude zu erhalten, Anschaffungskosten“ des bebauten Grundstücks dar (Hervorhebung durch Verf.). Denn „erst die Verbindung der Verträge des Modells (Vertragsgeflecht) [führe] zu dem von den Beteiligten angestrebten Ziel […], nämlich dem Anleger ein bebautes Grundstück zu verschaffen.“ Diese Rspr. hat der BFH (BStBl. 1995, 166) auf Immobilienfonds in der Rechtsform einer gewerblich geprägten KG und kürzlich auf geschlossene Schiffsfonds (BStBl. 2011, 709; BFH/NV 2011, 1334; BFH/NV 2011, 1361) sowie Windkraftfonds (BStBl. 2011, 706) übertragen1. Begründet wird dies damit, „dass die steuerliche Beurteilung der Aufwendungen für den Erwerb eines Grundstücks [resp. Schiffs, Windparks] nicht davon abhängen [könne], ob die Gegenleistung für den Erwerb aufgrund eines Vertrages in einer Summe gezahlt wird oder aufgrund mehrerer Verträge, in die der einheitliche Vorgang aus steuerlichen Gründen aufgespalten wird, in Teilbeträgen zu zahlen [sei].“ Bei der Organisation des Fonds in der Form einer Personengesellschaft müsse daher die gesellschaftsbezogene Betrachtung nach § 42 AO zurücktreten und müssten die einzelnen Teilverträge der Gesellschafter zusammengefasst werden. Erst so werde eine zutreffende Besteuerung erreicht, wie sie bei einer angemessenen Gestaltung durch einen Gesamtvertrag erfolgt wäre.
236
Die Ablösung eines Erbbaurechts stellt nach BFH/NV 2011, 1480, nachträgliche Anschaffungskosten des Grundstücks dar, wenn dadurch die Beschränkung seiner Eigentümerbefugnis beseitigt werden soll. Sofort abziehbare Werbungskosten lägen hingegen vor, wenn durch die Ablösung der Abschluss eines neuen Erbbauvertrags mit höheren Erbbauzinsen ermöglicht werden solle. Das im Rahmen einer Kapitalerhöhung gezahlte Aufgeld (Agio) stellt nach BFHE 226, 500, keine (nachträglichen) Anschaffungskosten der Altbeteiligungen dar, es sei aber als Anschaffungskosten der neu hinzuerworbenen Anteile zu aktivieren2.
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Anschaffungsnebenkosten3 sind ohne Rücksicht auf Wertsteigerung4 alle in einem unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhang mit der Anschaffung stehenden Aufwendungen, die neben dem Anschaffungspreis geleistet werden5. Nicht erforderlich ist, dass die Nebenkosten bereits vor oder im Zeitpunkt des Erwerbs oder erst im Anschluss hieran als Folgekosten des Erwerbsvorgangs entstehen6 (z.B. Erschließungskosten). Maßgeblich ist die Zweckbestimmung der Aufwendungen (finaler Zweckzusammenhang zwischen Anschaffungsvorgang und Aufwendung), ein bloß kausaler oder zeitlicher Zusammenhang ist nicht ausreichend7. Sie müssen einzelnen Wirtschaftsgütern konkret zugeordnet werden können (kein Ansatz von Gemeinkosten bei den Anschaffungskosten). Nebenkosten bei Eingehung von Dauerschuldverhältnissen (z.B. Maklerprovision bei einem Mietvertrag) führen mangels aktivierungsfähigen Wirtschaftsguts nicht zu aktivierungsfähigen Anschaffungsnebenkosten8. Demgegenüber sind Anschaffungsnebenkosten bei unentgeltlichem Erwerb denkbar9.
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Nebenkosten sind insb. Provisionen, Lade- und Transportkosten, Transportversicherungskosten, Eingangsfrachten, Zölle, grds. auch die Grunderwerbsteuer (letztere aber nicht bei Vereinigung von Gesellschaftsanteilen, weil in diesem Fall nicht final mit dem Anschaffungsvorgang zusammenhängend10), Gerichts- und Notarkosten, ggf. auch Beratungskosten, wenn sie nach dem endgültig gefassten Entschluss des Stpfl. entstehen und nicht lediglich eine Maßnahme zur Vorbereitung einer
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
1 Hierzu Grützner, StuB 2011, 655; Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 54; Wit, DStR 2011, 1023; krit. Bode, DB 2011, 1306; Hoffmann, StuB 2011, 641 (642); Peetz, DStZ 2011, 904 (905 ff., 910). 2 Zust. Weber-Grellet, BB 2011, 43. 3 S. Kahle/Hiller, Anschaffungsnebenkosten beim Erwerb von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften, IFSt-Schrift Nr. 495, 2014. 4 BFH BStBl. 1992, 70 (72). 5 BFH BStBl. 1999, 828 (831); 2004, 639 (Berücksichtigung von Anschaffungsnebenkosten bei Teilwertermittlung); Moxter, DStR 1999, 51; Grube, DStZ 1999, 313 (Prozesskosten); Grube, FR 2007, 533 (Beurkundungskosten); Lohmann/von Goldacker/Achatz, BB 2008, 1592. 6 BFH BStBl. 1997, 811; BFH IX R 43/11, BFHE 242, 51, BFH/NV 2013, 1853 (Tz. 13). 7 BFH BStBl. 2002, 349; 2006, 369; 2011, 761. 8 BFH BStBl. 1997, 808; Schmidt/Kulosa33, § 7 EStG Rz. 52. 9 BFH IX R 43/11, BFH/NV 2013, 1853; Schmidt/Kulosa33, § 7 EStG Rz. 53; a.A. für den Fall der Schenkung BMF BStBl. I 1993, 80 (Tz. 13: weder Anschaffungsnebenkosten noch sofort abziehbare BA/WK), aber Verstoß gegen Nettoprinzip. 10 BFH BStBl. 2011, 761; krit. Weber-Grellet, BB 2012, 43 (44 f.).
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Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 239
§9
noch unbestimmten, erst später zu treffenden Entscheidung sind1. Richtigerweise regelmäßig noch der Entscheidungsfindung zuzuordnen und deshalb keine Anschaffungsnebenkosten (sondern sofort abzugsfähig) sind Kosten für die Durchführung einer Due Diligence bei einem Unternehmensoder Anteilskauf, weil durch die Due Diligence die Entscheidungsgrundlagen erst geschaffen oder bestätigt werden sollen2. Ebenfalls keine Anschaffungsnebenkosten sind Finanzierungskosten, sie gehören zu den sofort abziehbaren Geldbeschaffungskosten (BFH BStBl. 1984, 101 [104]). Besonders weit legt BMF BStBl. 2005, 1025, den Begriff der Anschaffungsnebenkosten aus, indem grds. sämtliche Implementierungskosten sog. ERP-Software, selbst wenn sie deren Kaufpreis um ein Vielfaches übersteigen, zu aktivieren sind3.
Anschaffungspreisminderungen sind von den AK abzusetzen (§ 255 I 3 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG). Die Vorschrift beruht auf dem actus contrarius-Gedanken4 und auf dem Prinzip der Erfolgsneutralität von Anschaffungsvorgängen5. Das Prinzip der Erfolgsneutralität wiederum folgt aus dem Realisationsprinzip (§ 252 I Nr. 4 HGB). Der Ausweis eines anschaffungsbedingten Gewinns soll vermieden werden. Die Anschaffung führt lediglich zu einer erfolgsneutralen Vermögensumschichtung, d.h. zu einer Änderung der Vermögenszusammensetzung. Zu den Anschaffungspreisminderungen zählen Skonti und Rabatte, darüber hinaus aber ganz allgemein Vorgänge, die mit dem Anschaffungsgeschäft in Zusammenhang stehen und sich als (teilweise) Ermäßigung (Rückführung) von Anschaffungs- oder Herstellungskosten darstellen6. Hier einzuordnen sind etwa: die mängelbedingte Minderung des Kaufpreises oder Werklohns (§§ 441, 638 BGB); Verzicht auf einen Teil des Anschaffungspreises7; Schadenersatzzahlungen oder Konventionalstrafen, wenn sie ausnahmsweise einen verdeckten Preisnachlass bezwecken, nämlich einen beim Empfänger verbleibenden Minderwert der erhaltenen Leistung abdecken sollen (was bei einem Schadenersatz statt der Leistung wegen Mängeln des Werkes der Fall sein kann). Keine Anschaffungspreisminderung ist dagegen bei Schadenersatzzahlungen anzunehmen, die nicht einen mängelbedingten Minderwert, sondern andere Interessen ausgleichen sollen und neben die unverändert fortbestehende Leistungspflicht des Verkäufers oder Werkunternehmens treten. Dementsprechend ist Schadenersatz wegen Verzugs (§ 634 Nr. 4 i.V.m. § 280 Abs. 2, § 286 BGB) nicht als Minderung der AK zu beurteilen8. Auch Schadenersatzzahlungen des Steuerberaters für schlechte steuerliche Beratung im Zusammenhang mit dem Anschaffungsgeschäft sind nicht als erfolgsneutrale Anschaffungspreisminderung, sondern als steuerpflichtige Einnahme zu beurteilen9. Ebenfalls nicht von den AK abzusetzen sind Schadenersatzleistungen für die Beseitigung versteckter Mängel oder Ersatz für Aufwendungen für die Selbstvornahme der Mängelbeseitigung (§ 637 BGB), die vom Grundsatz her als Erhaltungsaufwand zu beurteilen wären10. Bei Zuschüssen11 ist zu unterscheiden: Für sog. Investitionszuschüsse (Zuschüsse für die Anschaffung oder Herstellung von Wirtschaftsgütern) gilt nach h.M. handels- und steuerbilanzrechtlich ein 1 BFH BStBl. 2004, 597; BFH BStBl. 2010, 159. 2 Kahle, DB 2014, Beil. 4 S. 10, m.w.N. Eingehend Kahle/Hiller, Anschaffungsnebenkosten beim Erwerb von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften, IFSt-Schrift 495, 2014; dies., DB 2014, 500. 3 Zu Recht krit. Hoffmann, StuB 2006, 56. 4 So explizit BFH v. 26.2.2002 – IX R 20/98, BStBl. 2002, 796 (Tz. 21 und 24). 5 Vgl. BFH v. 26.3.1992 –IV R 74/90, BStBl. 1993, 96. 6 BFH v. 26.2.2002 – IX R 20/98, BStBl. 2002, 796 (Tz. 15); BFH v. 16.3.2004 – IX R 46/03, BStBl. 2004, 1046 (für eine Provision, die der Grundstückserwerber vom Vermittler des Kaufvertrags erhält und die keine besonderen, über die Anschaffung hinausgehenden Leistungen abgelten soll); BFH v. 22.4.2008 – X B 125/07, BFH/NV 2008, 1155. 7 Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 67. 8 Vgl. FG Niedersachsen, EFG 1994, 871, rkr.; Blümich/Ehmcke, § 6 EStG Rz. 322; KSM/Werndl, § 6 EStG Rz.. B125; Korn/Strahl, § 6 EStG Rz. 75. 9 BFH v. 26.3.1992 – IV R 74/90, BStBl. 1993, 96; s. außerdem BFH v. 16.3.2004 – IX R 46/03, BStBl. 2004, 1046; MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 255 HGB Rz. 35. 10 BFH v. 20.8.2013 – IX R 5/13, BFH/NV 2014, 312. 11 S. dazu BFH v. 5.4.1984 –IV R 96/82, BStBl. 1984, 552; ferner BFH v. 17.9.1987 – IV R 49/86, BStBl. 1988, 327; BFH v. 23.3.1995 – IV R 58/94, BStBl. 1995, 702; BFH v. 19.7.1995 – I R 56/94, BStBl. 1996, 28; BFH v. 5.6.2003 – IV R 56/01, BStBl. 2003, 801; BFH v. 24.6.2009 – IV R 26/06, BStBl. 2009, 781; BFH v. 29.11.2000 – I R 87/99, BStBl. 2002, 655; und öfter; aus der Lit.: Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 71 ff.; MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 255 HGB Rz. 40 ff.; HdJ/Wohlgemuth, Abt. I/9 Rz. 75 ff.; Küting, DStR 1996, 276 ff.; 313 ff.; eingehend S. Wolf, Bilanzierung von Zuschüssen nach HGB und IFRS, 2010. Zu privaten Zuschüssen s. eingehend HFA 2/1996 i.d.F. 2013.
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§9
Rz. 240
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Wahlrecht, diese entweder sofort erfolgswirksam zu vereinnahmen oder erfolgsneutral von den AK/HK abzusetzen1. Demgegenüber sind sog. Aufwandszuschüsse (kein Zusammenhang mit AK/ HK; auch Ertragszuschüsse genannt) grds. erfolgswirksam zu vereinnahmen, doch kann die Gewinnrealisierung auch in diesen Fällen durch RAP oder sonstige Passivposten gestreckt sein, wenn die Voraussetzungen für eine solche Passivierung im Einzelfall gegeben sind2. Insb. zeitraumbezogene private Aufwandszuschüsse (z.B. Vermieterzuschüsse zur Sicherung des weiteren Betriebs des Mieters an den vermieteten Standorten) beruhen auf einem wirtschaftlichen Austauschverhältnis und sind gem. § 250 II HGB, § 5 V 1 Nr. 2 EStG passiv abzugrenzen und nach Maßgabe der Erfüllung der Gegenleistungsverpflichtung ratierlich erfolgswirksam zu vereinnahmen3. Zuzahlungen des Verkäufers an den Erwerber (sog. negativer Kaufpreis) wie sie z.B. beim Erwerb eines überschuldeten Unternehmens geleistet werden, sind erfolgsneutral zu behandeln. BFH BStBl. 2006, 656, hat aus dem Grundsatz der Erfolgsneutralität des Anschaffungsvorgangs hierzu rechtsfortbildend den Ansatz eines passiven Ausgleichspostens4 entwickelt.
240
Umsatzsteuer: Nach § 15 UStG abziehbare Vorsteuerbeträge gehören nicht zu den AK/HK eines Wirtschaftsguts (§ 9b I EStG)5. Umgekehrt ist die nicht abziehbare Vorsteuer als Teil der AK/HK zu behandeln6. Soweit das Abzugsverbot des § 12 Nr. 3 EStG Platz greift (s. § 8 Rz. 241), darf die Vorsteuer auch nicht den AK/HK zugeordnet werden, so z.B. die nach § 15 Ia 1 UStG nicht abziehbaren Vorsteuerbeträge.
241
Werden mehrere Wirtschaftsgüter zu einem einheitlichen Gesamtkaufpreis erworben, insb. Grundstück mit Gebäude (= zwei Wirtschaftsgüter, s. Rz. 138) oder Unternehmen, so ist der Kaufpreis nach dem Grundsatz der Einzelbewertung (s. Rz. 270) bei Erwerb in ein Betriebsvermögen nach dem Verhältnis der Teilwerte (in Privatvermögen: Verkehrswerte) aufzuteilen7.
242
Auch ein Windpark besteht nach BFH aus mehreren Wirtschaftsgütern (s. BFH v. 14.4.2011 – IV R 46/09, BStBl. 2011, 696; BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10, BStBl. 2012, 407; Rz. 139, 235), auf die die Anschaffungskosten verteilt werden müssen. Dabei ist nach BStBl. 2011, 929, zweistufig vorzugehen: auf einer ersten Stufe ist zu ermitteln, welche Aufwendungen unmittelbar einem Wirtschaftsgut zugeordnet werden können, und auf einer zweiten Stufe sind die übrigen Aufwendungen „entsprechend dem Verhältnis der auf der ersten Stufe ermittelten Anschaffungskosten auf alle Wirtschaftsgüter zu verteilen“.
243
Beim Erwerb eines Grundstücks mit Abbruchgebäude differenzieren Rspr. und Verwaltung wie folgt8: Wird das Gebäude innerhalb von drei Jahren nach Anschaffung abgebrochen und ein neues Gebäude errichtet, wird (widerleglich) vermutet, dass im Zeitpunkt der Anschaffung die Absicht bestand, das alte Gebäude durch ein neues zu ersetzen: Restbuchwert und Abbruchkosten gehören zu den HK des neuen Gebäudes. Bei Erwerb des Grundstücks mit Abbruchabsicht ohne Neubebauung gehören Restbuchwert und Abbruchkosten zu den AK des Grundstücks. Bei Erwerb ohne Abbruchabsicht sind Restbuchwert und Abbruchkosten sofort abziehbare Betriebsausgaben.
244
Beim Tausch bestehen die AK im gemeinen Wert des hingegebenen Wirtschaftsguts (§ 6 VI 1 EStG). Dem Tausch gleichgestellt ist die verdeckte Einlage von Wirtschaftsgütern aus einem 1 Vgl. R 6.5 II EStR. Zust. Weber-Grellet, DB 1994, 2405 (2408); Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 73 (der sogar von einer „nahezu gewohnheitsrechtlichen Gewährung des Wahlrechts“ spricht); Rätke, StuB 2004, 122; MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 255 HGB Rz. 41; für grundsätzliche Pflicht zur Kürzung der AK/HK Blümich/Ehmcke, § 6 EStG Rz. 331; umgekehrt gegen Minderung der AK Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh18, § 42 GmbHG Rz. 358. 2 Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 79; Küting, DStR 1996, 313 (314); HFA 2/1996 i.d.F. 2013, unter 2.1.2. 3 HFA 2/1996 i.d.F. 2013 (unter 2.1.2.); zust. Küting, DStR 1996, 313 (314). 4 Zust. Hoffmann, DStR 2006, 1315; Roser/Haupt, GmbHR 2007, 78; Schiffers, WPg. 2006, 1279; Ernsting, GmbHR 2007, 135. 5 Dazu R 9b EStR 2005; ausf. HHR/Eschenbach, § 9b EStG; Krollmann, DB 1999, 2079; Simon, DStR 1999, 1516; Lohse/Zeiler, Stbg. 2000, 197. 6 BFH BStBl. 2005, 567. 7 BFH BStBl. 1989, 604 (605), m.w.N. 8 Dazu BFH GrS BStBl. 1978, 620; BFH BStBl. 1989, 604; 1993, 504; 1997, 325; 2002, 805; 2004, 872 (Kosten der Zwangsräumung eines besetzten Grundstücks); 2006, 461; H 6.4 EStH 2005; Blümich/ Ehmcke, § 6 EStG Rz. 352 ff.
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Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 252
§9
Betriebsvermögen in eine im Betriebsvermögen gehaltene Kapitalgesellschaft mit der Folge, dass sich die AK der Beteiligung an der Kapitalgesellschaft um den Teilwert des eingelegten Wirtschaftsguts erhöhen (§ 6 VI 2 EStG); s. auch § 6 VI 3 EStG: Einlagewert, wenn das Wirtschaftsgut innerhalb der letzten drei Jahre angeschafft/hergestellt worden ist1. Im abgebenden Betriebsvermögen kommt es zu einer Gewinnrealisierung in Höhe der Differenz zwischen dem Buchwert und dem Teilwert des verdeckt eingelegten Wirtschaftsguts. Im Fall der Einlage bisher privat genutzter Wirtschaftsgüter bildet der Einlagewert (§ 6 I Nr. 5 EStG: Teilwert oder AK/HK, s. Rz. 375) die zukünftige AfA-Bemessungsgrundlage2; zur Berücksichtigung bereits vorgenommener Abschreibungen (§ 7 I 5 EStG) s. Rz. 301. Bei der unentgeltlichen Übertragung eines Wirtschaftsguts in das Betriebsvermögen eines anderen Stpfl. ist der gemeine Wert anzusetzen (§ 6 IV EStG). Bei der Überführung eines Wirtschaftsguts zwischen verschiedenen Betriebsvermögen desselben Stpfl. ist der Buchwert anzusetzen, sofern die Besteuerung der stillen Reserven sichergestellt ist (§ 6 V 1 EStG). Einstweilen frei.
245
246–249
1.2 Herstellungskosten (§ 6 I Nr. 1 Satz 1, Nr. 1a, Nr. 2 Satz 1 EStG) § 6 EStG enthält keine eigene Definition der Herstellungskosten3. Nach dem ausdrücklich erklärten Willen des Gesetzgebers (vgl. BT-Drucks. 10/317, 88) stimmt jedoch der in § 255 II HGB normierte handelsrechtliche Herstellungskostenbegriff mit dem des § 6 EStG überein4, so dass trotz des sog. Bewertungsvorbehalts (§ 5 VI EStG) der Grundsatz der Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen GoB gilt (s. auch Rz. 70). Danach sind HK i.S.d. § 6 EStG i.V.m. § 255 II 1 HGB „die Aufwendungen, die durch den Verbrauch von Gütern und die Inanspruchnahme von Diensten für die Herstellung eines Vermögensgegenstands, seine Erweiterung oder für eine über seinen ursprünglichen Zustand hinausgehende wesentliche Verbesserung entstehen“. Zu den HK gehören die Einzelkosten und – anders als bei den AK – die Gemeinkosten. Herstellungspreisminderungen sind wie bei den AK abzusetzen; der Rechtsgedanke des § 255 I 3 HGB gilt auch für HK5.
250
Einzelkosten sind die Materialkosten, die Fertigungskosten und die Sonderkosten der Fertigung, z.B. Kosten für Entwürfe, Modelle, Spezialwerkzeuge (§ 255 II 2 HGB). Forschungs- und Vertriebskosten dürfen nicht in die HK einbezogen werden (§ 255 II 4 HGB). Ebenfalls nicht zu den HK gehören die nach § 15 UStG abziehbaren Vorsteuerbeträge (zu § 9b EStG s. Rz. 240). Herstellungskostenminderungen sind in analoger Anwendung des § 255 I 3 HGB abzusetzen, wenn der Minderungsvorgang seinen Anlass in der Herstellung hat (BFH/NV 2011, 797, bzgl. Baukostenzuschuss).
251
Nach § 255 II 2 HGB müssen (vor BilMoG: „dürfen“) bei der Berechnung der Herstellungskosten auch angemessene Teile der Materialgemeinkosten (z.B. Kosten der Lagerhaltung, der Materialprüfung und des Transports), der Fertigungsgemeinkosten6 und des Wertverzehrs des Anlagevermögens, soweit dieser durch die Fertigung veranlasst ist, eingerechnet werden. Bezüglich der Kosten der allgemeinen Verwaltung sowie für betriebliche Sozial- und Altersvorsorgeaufwendungen besteht weiterhin ein Einbeziehungswahlrecht (§ 255 II 3 HGB). Handelsrechtliche Bewertungswahlrechte führen nach Auffassung des IV. Senats (BFH BStBl. 1994, 176) zu steuerrechtlichen Aktivierungsgeboten, ebenso wie dies bisher zu den Ansatzwahl-
252
1 Dazu Füger/Rieger, DStR 2003, 628. 2 S. BFH BStBl. 2001, 190 (191); BFHE 229, 538. 3 Dazu R 6.3 EStR 2005; aus der Lit. z.B. Moxter, FS D. Schneider, 1995, 445; Mellwig, FS Budde, 1995, 397; HHR/Stobbe/Rade, § 6 EStG Anm. 454 ff.; Wohlgemuth/Ständer, WPg. 2003, 203; zu den Änderungen durch BilMoG Lengsfeld/Wielenberg, WPg. 2008, 321. 4 So auch BFH GrS BStBl. 1990, 830 (833). 5 BFH v. 7.12.2010 – IX R 46/09, BStBl. 2012, 310; BFH v. 19.7.1995 – I R 56/94, BStBl. 1996, 28. 6 Z.B. Kosten der Fertigungsvorbereitung, Raumkosten, Energiekosten, Kosten der Hilfs- u. Betriebsstoffe, Reparaturkosten im Fertigungsbereich, Grundsteuer auf die Fertigungsanlagen, Versicherungsprämien u. Kosten der Betriebsführung, der Unfallfürsorge u. des Lohnbüros im Fertigungsbereich.
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§9
Rz. 253
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
rechten judiziert worden ist (s. Rz. 111). Dies hat in der Vergangenheit zur Durchbrechung der Begriffseinheit von Handelsrecht und Steuerrecht geführt. Mit der Abschaffung des handelsrechtlichen Wahlrechts bzgl. der Material- und Fertigungsgemeinkosten in § 255 II HGB kommt es jedoch zu einer Annäherung des handelsrechtlichen an den steuerrechtlichen Herstellungskostenbegriff. Entscheidend ist, ob die Rspr. für den verbleibenden Bereich der Sozialund Altersvorsorgeaufwendungen am steuerrechtlichen Aktivierungsgebot festhalten wird. 253
Die Verwaltung erkannte früher nach R 6.3 IV EStR 2008 das handelsrechtliche Wahlrecht für Verwaltungskosten und Aufwendungen für soziale Leistungen (§ 255 II 3 HGB) auch für die Steuerbilanz an. Seit Schreiben v. 12.3.20101 geht das BMF nun aber von einer steuerlichen Einbeziehungspflicht der Kosten aus (R 6.3 I EStR 2012) – zu Unrecht, denn das Wahlrecht bezweckt eine Vereinfachung der Bewertung, was auch steuerbilanziell sachgerecht ist (Rz. 114) und durch die Auffassung der FinVerw. konterkariert wird2. Eine weitere Anwendung des R 6.3 IV EStR 2008 wird immerhin übergangsweise einstweilen nicht beanstandet3. Das Wahlrecht zur Einbeziehung von Fremdkapitalzinsen gem. § 255 III 2 HGB (die nicht zu den HK gehören, jedoch aktiviert werden dürfen, soweit sie auf den Zeitraum der Herstellung entfallen) kann auch steuerrechtlich weiterhin in Übereinstimmung mit der Handelsbilanz (§ 5 I 1 Hs. 1 EStG) ausgeübt werden4.
254
HK sind nach § 255 II 1 HGB auch die Aufwendungen, die für die Erweiterung eines Wirtschaftsguts (z.B. Gebäudeanbau; auch Aufstockung oder Umbau eines Flachdaches zu einem Satteldach5) oder für eine über seinen ursprünglichen Zustand hinausgehende wesentliche Verbesserung entstehen (s. Rz. 250)6. Davon abzugrenzen ist zum einen der Fall, dass durch den Aufwand ein neues Wirtschaftsgut geschaffen wird, was insb. bei nachträglichen Baumaßnahmen an Gebäuden zur Schaffung einer anderen Nutzungsmöglichkeit der Fall sein kann7. Zum anderen sind die HK von sofort abziehbaren sog. verlorenen Aufwendungen8 und sog. Erhaltungsaufwand9 zu unterscheiden: Liegen weder HK zur Erweiterung oder Verbesserung eines bestehenden WG noch HK eines neuen WG vor, so sind die Aufwendungen sofort als Betriebsausgaben abzugsfähig.
255
Bei Gebäuden erfordert die Annahme von HK zur wesentlichen Verbesserung eine Betrachtung des gesamten Gebäudes. Werden nur einzelne Teile ersetzt oder modernisiert (z.B. Heizungserneuerung oder Außenverkleidung mit besserer Isolierung), so genügt das für § 255 II 1 HGB nicht und liegt regelmäßig Erhaltungsaufwand vor. Eine wesentliche Verbesserung bei Wohngebäuden ist gegeben, wenn das Objekt in seinem Standard angehoben wird (von einfach auf mittel oder gehoben; z.B. Ersatz von Kohleöfen durch eine moderne Heizung, BFH BStBl. 2003, 590; dagegen nicht bei Umstellung von Öl- auf Gasheizung; eine Standardanhebung wurde auch bejaht bei Ersatz einfachverglaster durch isolierverglaste Fenster, BFH BStBl. 2003, 596; dagegen wiederum keine ausreichende Standardanhebung, wenn lediglich die vorhan1 BMF BStBl. 2010, 239, Rz. 8; nunmehr R 6.3 I EStÄR 2012; dazu Spieker, DB 2013, 780. 2 Wie hier zu Recht Freidank/Velte, StuW 2010, 356 (65 f.); Geberth/Blasius, FR 2010, 408 (409); Kahle, DB 2014, Sonderbeil. 4 S. 11; HHR/Anzinger, § 5 EStG Anm. 262. 3 BMF BStBl. I 2013, 296; zuvor schon BMF BStBl. I 2010, 597; s. Spieker, DB 2013, 780 (782). 4 BMF BStBl. 2010, 239, Rz. 6. 5 BFH v. 15.5.2013 – IX R 36/12, BStBl. 2013, 732. 6 S. zur Beseitigung einer bestehenden Schadstoffbelastung eines Grundstücks BFH BStBl. 2000, 482. 7 Dazu BFH BStBl. 1992, 808; 1998, 625; 2004, 949; BFH/NV 2005, 543; BFH BStBl. 2006, 707; 2007, 922; Paus, DStR 1994, 1633. 8 Bsp.: Vorauszahlungen für Bauleistungen, die wegen Konkurses des Bauunternehmers nicht erbracht werden (BFH GrS BStBl. 1990, 830); nachträgliche Erschließungskosten, z.B. Beiträge zum Bau von Straßenschwellen, die den Erschließungszustand des Grundstücks nicht verbessern, u.U. sogar verschlechtern (vgl. BFH BStBl. 1996, 89; 2004, 282, u. ausf. Spindler, DB 1996, 444). Zur Bilanzierung von Erschließungsbeiträgen s. auch Schoor, StBp. 1997, 239. 9 Funnemann, Herstellungs- und Erhaltungsaufwendungen im Lichte nationaler und internationaler Rechnungslegungsgrundsätze, Diss., 2002; rechtsvergleichend Renner, ÖStZ 2008, 96 u. 282; A. Bauer, ÖStZ 2008, 168.
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Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 261
§9
denen Badezimmereinrichtungen und Fliesen ersetzt werden, s. BFH BStBl. 2003, 569). Die Rspr. ist kasuistisch1. Ein Sonderproblem der Abgrenzung zwischen sofort abziehbarem Erhaltungsaufwand und zu aktivierenden HK stellt die Figur des sog. anschaffungsnahen Herstellungsaufwands (insb. eines Gebäudes) dar2. Gem. § 6 I Nr. 1a Satz 1 EStG3 sind innerhalb von drei Jahren nach Anschaffung des Gebäudes durchgeführte Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen den HK zuzuordnen, wenn sie (ohne USt) 15 % der AK des Gebäudes übersteigen. Gem. Satz 2 der Vorschrift gehören zu den fraglichen „Aufwendungen“ nicht Kosten für Erweiterungen i.S.d. § 255 II 1 HGB sowie für üblicherweise jährlich anfallende Erhaltungsarbeiten (z.B. Heizungswartung). Einheitliche Baumaßnahmen wie die Modernisierung eines Hauses im Ganzen und von Grund auf sind allerdings einheitlich zu beurteilen. Daher sind alle Aufwendungen, die im Rahmen einer umfassenden Instandsetzung und Modernisierung anfallen, insgesamt als HK i.S. des § 6 I Nr. 1a EStG zu behandeln4.
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Einstweilen frei.
1.3 Teilwert (§ 6 I Nr. 1 Satz 2 u. 3, Nr. 2 Satz 2, Nr. 4 Satz 1 Hs. 1, 5, 7 EStG) Der Teilwert5 ist ein originär steuerrechtlicher Wertbegriff ohne unmittelbare handelsrechtliche Entsprechung. § 6 I Nr. 1 Satz 3 EStG definiert den Teilwert als den Betrag, den ein Erwerber des ganzen Betriebs im Rahmen des Gesamtkaufpreises für das einzelne Wirtschaftsgut ansetzen würde; dabei ist davon auszugehen, dass der Erwerber den Betrieb fortführt (s. auch § 10 BewG). Der Teilwert ist nach der Vorstellung des Gesetzes eine bestimmte Größe, keine Bandbreite6. Damit enthält die Teilwert-Definition eine Fortführungsannahme (GoingConcern-Prämisse), die Fiktion des Erwerbers des ganzen Betriebs und die Fiktion der Verteilung des Gesamtkaufpreises auf die einzelnen Wirtschaftsgüter. Die Bewertung mit dem Teilwert beruht auf der Vorstellung, dass der Wert der Wirtschaftsgüter des Betriebsvermögens wesentlich von der Ertragskraft des Betriebs abhängt und in einem arbeitenden, rentablen Betrieb höher liegt als der Liquidationswert.
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Der Teilwertbegriff enthält eine Vielzahl von Fiktionen (Rz. 260), so dass er nur mittels Schätzung handhabbar ist. Diese Unbestimmtheit hat Kritik am Teilwertbegriff, z.T. auch die Forderung nach Aufgabe hervorgerufen7, ohne dass seine Angemessenheit im Rahmen des Gesetzes-
261
1 Vgl. Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 183 ff. 2 Dazu Märkle, Anschaffungs-, Herstellungs- und Erhaltungskosten bei Gebäuden8, 2011; Neufang, BB 2004, 78; Blümich/Ehmcke, § 6 EStG Rz. 410 ff.; Scheffler/Glaschke, StuB 2006, 491; Wendt, FS Spindler, 2011, 879 ff.; KSM/Werndl, § 6 EStG Rz. B 1 ff. 3 Krit. zu dieser Vorschrift Spindler, DB 2004, 507; G. Söffing, DB 2004, 946; Pezzer, DStR 2004, 525 (526 ff.); Carlé, FS Korn, 2005, 41; Wendt, FS Spindler, 2011, 879 ff. 4 BFH v. 25.8.2009 – IX R 20/08, BStBl. 2010, 125; ; BFH v. 27.5.2013 – IX B 3/13, BFH/NV 2013, 1408; dazu Wendt, FS Spindler, 2011, 879 ff.; Günther, StuW 2011, 267; krit. Fahlenbach, DStR 2010, 2066; ders., DStR 2014, 1902 (1904). 5 BMF BStBl. I 2014, 1162; R 6.7 EStR 2012 m. Hinw. Aus der Lit. z.B. Rief-Drewes, Der Teilwert, Diss., 2004; Kadel, Außerplanmäßige Abschreibungen und Zeitwert in der deutschen und US-amerikanischen Handels- und Steuerbilanz, Diss., 2005; Schlotter, Teilwertabschreibung und Wertaufholung zwischen Steuerbilanz und Verfassungsrecht, Diss., 2005; Mellwig, FS Moxter, 1994, 1069; Moxter, FS F. Klein, 1994, 827; Müller-Dott, FS Ritter, 1997, 215; Meussen, StuW 1998, 174; Beiser, DStR 2002, 1777; Rief-Drewes, Der Teilwert, Diss., 2004; Kadel, Außerplanmäßige Abschreibung und Zeitwert in der deutschen und US-amerikanischen Handels- und Steuerbilanz, 2005; Hommel/ Berndt, FR 2000, 1305. Zum neuen TW-Erlass des BMF (s.o.) Adrian/Helios, Ubg. 2014, 489; Hannig, BB 2014, 752; Hörhammer, BB 2014, 497; Hörhammer/Schumann, StuB 2014, 551; Förster, DK 2014, 256; U. Prinz, DB 2014, 1825. 6 BFH v. 9.1.2013 – IV B 8/12, BFH/NV 2013, 551; BFH v. 20.12.2012 – IV B 12/12, BFH/NV 2013, 547. 7 S. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 175 ff. m. zahlr. Nachw. in Fn. 107; vgl. ferner Stellungnahme des Wiss. Beirats von Ernst & Young zur Abschaffung des Teilwerts, BB Beil. 3/2004.
Hennrichs
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§9
Rz. 262
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
zwecks grds. in Frage gestellt wird. Auch fehlt es bei aller Kritik an praktikablen Alternativen. Die Praxis hat den Teilwertbegriff mittels (widerlegbarer) Teilwertvermutungen handhabbar gemacht: Oberes Richtmaß des Teilwerts ist der Wiederbeschaffungswert (= was zur Wiederbeschaffung aufgewendet werden muss); er gilt insb. für Wirtschaftsgüter des Umlaufvermögens. Unteres Richtmaß ist der Einzelveräußerungspreis (= was sich bei der Veräußerung des einzelnen Wirtschaftsguts erzielen lässt): er kommt in Betracht für überflüssige Güter. Die Rspr. hat die Vermutung aufgestellt, dass der Teilwert im Zeitpunkt der Anschaffung den AK entspreche (jüngst BFH BStBl. 2011, 709); diese Vermutung gilt nicht bei Fehlmaßnahmen (BFH BStBl. 1989, 269; 1989, 274; 1990, 119). 262
Einzelfälle: Rz. 320 ff. und BMF BStBl. I 2014, 1162.
263–264
Einstweilen frei.
1.4 Gemeiner Wert (§ 6 I Nr. 4 Satz 1 Hs. 2, Nr. 5a, IV, VI 1 EStG) 265
Bei der unentgeltlichen Übertragung von Wirtschaftsgütern vom Betriebsvermögen eines Stpfl. in das Betriebsvermögen eines anderen (§ 6 IV EStG), beim Tausch (§ 6 VI 1 EStG) sowie bei Ausschluss oder Beschränkung bzw. Begründung des deutschen Besteuerungsrechts (§ 6 I Nr. 4 Satz 1 Hs. 2 u. Nr. 5a EStG) wird der gemeine Wert angesetzt. Mangels eigener Definition im EStG ist auf § 9 II BewG zurückzugreifen (§ 1 II BewG)1. Der gemeine Wert ist der Wert, den das Wirtschaftsgut bei Veräußerung im gewöhnlichen Geschäftsverkehr erzielen würde (= Verkehrswert). Zur Ermittlung des gemeinen Wertes von Anteilen an Kapitalgesellschaften, für die ein Börsenkurs nicht besteht, s. § 11 II 2 BewG2.
1.5 Beizulegender Zeitwert (§ 6 I Nr. 2b EStG i.V.m. § 255 IV HGB) 266
Auf den beizulegenden Zeitwert i.S.d. § 255 IV HGB wird in § 6 I Nr. 2b EStG Bezug genommen. Die Vorschrift betrifft nur Stpfl., die in den Anwendungsbereich des § 340 HGB fallen (im Wesentlichen Kreditinstitute), und auch dort nur Finanzinstrumente des Handelsbestands, die nicht in einer Bewertungseinheit i.S.d. § 5 Ia 2 EStG abgebildet werden3. Für diese besondere Gruppe von Stpfl. und Wirtschaftsgütern sieht das Gesetz nunmehr (grds. ab Wj. 2010, s. § 52 XVI 10 EStG) auch steuerrechtlich eine erfolgswirksame sog. Fair Value Bewertung selbst oberhalb der historischen AK oder HK vor. Der Wertansatz dieser Finanzinstrumente „atmet“ also auch in der Steuerbilanz je nach Zeitwert nach oben und nach unten, ohne dass es auf die Dauerhaftigkeit der Wertsteigerung oder Wertminderung ankäme4. Das ist mit dem allgemeinen Anschaffungswert- und Realisationsprinzip nicht vereinbar. Zweck der (rechtspolitisch zweifelhaften5) Regelung ist es, den Kreditinstituten an dieser Stelle den Gleichlauf von Handels- und Steuerbilanz zu ermöglichen6.
1.6 Buchwert (§ 6 III 1, V 1 EStG) 267
Sollen Wirtschaftsgüter erfolgsneutral, d.h. ohne Gewinnrealisierung (s. Rz. 430), in das Betriebsvermögen eines anderen Stpfl. übertragen werden, so sind die Buchwerte fortzuführen 1 S. aber § 11 II 3 BewG, der für die ertragsteuerrechtliche Bewertung von Anteilen an nicht börsennotierten Kapitalgesellschaften die Anwendung des Stuttgarter Verfahrens ausschließt; zust. Hahn, IStR 2006, 797 (800). 2 Hierzu BFH BStBl. 2010, 843; 2011, 68; BFH/NV 2011, 18. 3 Handelsbilanziell ist der beizulegende Zeitwert außerdem maßgebend für die Bewertung von sog. Planvermögen i.R. der Deckung von Altersversorgungsverpflichtungen (s. § 246 II 2, 3; § 253 I 4 HGB). Insoweit bleibt es steuerrechtlich beim Anschaffungswert- und Realisationsprinzip, § 5 VI; § 6 I Nrn. 1, 2 EStG. Vgl. NWB Praxishdb. BilStR/Kahle/Hiller2, Rz. 817 f., 955 ff. (968). 4 Zu der Neuregelung s. HHR/Helios, § 6 EStG Anm. 1124a ff.; Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 427 f.; Helios/Schlotter, DStR 2009, 547; Helios/Schlotter, FR 2010, 874; Velte, StuW 2012, 56. 5 NWB Praxishdb. BilStR/Kahle/Hiller2, Rz. 962; Velte, StuW 2012, 56 (68 f.). 6 HHR/Helios, § 6 EStG Anm. 1124g; Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 429, m.w.N.
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Hennrichs
Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 271
§9
(§ 6 III 1, V 1 EStG). Das Gesetz selbst verwendet den in der Praxis geläufigen Begriff des Buchwerts in § 6 EStG nicht (wohl aber § 1 V Nr. 4 UmwStG), sondern spricht von dem Wert, „der sich nach den Grundsätzen über die Gewinnermittlung ergibt“; gemeint sind die fortgeschriebenen AK/HK (s. auch § 1 V Nr. 4 UmwStG). 268–269
Einstweilen frei.
2. Bewertung einzelner Wirtschaftsgüter 2.1 Einzelbewertungsgrundsatz und Ausnahmen (insb. Bewertungseinheiten, § 5 Ia 2 EStG) 2.1.1 Überblick Nach § 5 Ia 1 EStG dürfen Posten der Aktivseite nicht mit solchen der Passivseite verrechnet werden (Saldierungsverbot)1. Diesem Ansatzgrundsatz entspricht bezogen auf die Bewertung der Grundsatz der Einzelbewertung (§ 252 I Nr. 3 HGB; § 6 I EStG: „für die Bewertung der einzelnen Wirtschaftsgüter …“; Art. 6 I lit. f RL 2013/34/EU)2. Danach sind Wirtschaftsgüter prinzipiell einzeln zu bewerten. Wertminderungen bei einem Wirtschaftsgut und Wertsteigerungen bei einem anderen Wirtschaftsgut dürfen also grds. nicht kompensierend ausgeglichen werden (s. auch § 246 II 1 HGB). Zulässige Ausnahmen dazu sind u.a. die Festbewertung (§ 240 III HGB), die Gruppenbewertung (§ 240 IV HGB, R 6.8 IV EStR 2008) und die Durchschnittsbewertung (R 6.8 III 3 EStR 2008). Gem. § 252 II HGB ist außerdem ausnahmsweise eine pauschale Bewertung (z.B. Pauschalrückstellungen für Gewährleistungsverpflichtungen; Cluster-Bewertung bei Großimmobilienbeständen3) zulässig, wenn eine strikte Einzelbewertung nur mit unvertretbarem (unwirtschaftlichem) Zeit- und Kostenaufwand möglich wäre4. S. außerdem § 6 I Nr. 3a Buchst. a und c EStG (dazu Rz. 289).
270
2.1.2 Insb.: Bewertungseinheiten gem. § 5 Ia 2 EStG Eine (weitere) Ausnahme vom Grundsatz der Einzelbewertung regelt § 5 Ia 2 EStG5 i.V.m. § 254 HGB für sog. Bewertungseinheiten6. Sie können zur Absicherung von finanzwirtschaftlichen Risiken (insb. Währungs- und Zinsrisiken) gebildet werden. Hat der Stpfl. beispielsweise aus einem in US-$ fakturierten Geschäft eine $-Forderung, so hat er damit ein Währungsrisiko in seinen Büchern. Dies kann er neutralisieren, indem er eine gleich hohe Fremdwährungsposi1 Dieses Verrechnungs- oder Saldierungsverbot gilt auch für die Handelsbilanz (§ 246 II 1 HGB), wird dort aber für sog. Planvermögen zur Deckung von Altersversorgungsverpflichtung nach Maßgabe des § 246 II 2 HGB durchbrochen. Steuerbilanziell bleibt es dagegen auch für Planvermögen bei dem allgemeinen Verrechnungsverbot gem. § 5 Ia 1 EStG. 2 Dazu Wiedmann, FS Moxter, 1994, 453; Glanegger, FS L. Schmidt, 1993, 145; Christiansen, DStZ 1995, 385; Christiansen, DStR 2003, 264; Moxter, Grundsätze ordnungsmäßiger Rechnungslegung, 2003, 23 ff.; Amort, WM 2013, 1250; MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 252 HGB Rz. 30 ff. 3 OLG Frankfurt a.M. v. 16.5.2012, 23 Kap 1/06, NZG (Tz. 773); Sigloch/Schmidt/Hageböke, DB 2005, 2589 (2591). 4 EuGH v. 14.9.1999 – C-275/97, Slg. 1999, I-5331 (DE+ES); EuGH v. 7.1.2003 – C-306/99, Slg. 2003, I-1 (BIAO); OLG Frankfurt a.M. v. 16.5.2012, 23 Kap 1/06, NZG (Tz. 773); BFH v. 9.1.2013, I R 33/11, BFHE 240, 226 (Tz. 54); Baumbach/Hopt/Merkt36, § 252 HGB Rz. 9; MünchKomm. BilanzR/ Tiedchen, § 252 HGB Rz. 34; Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 69. 5 Eingefügt durch Gesetz v. 28.4.2006, BGBl. I 2006, 1095. 6 Dazu Meinert, Die Bildung objektübergreifender Bewertungseinheiten nach Handels- und Steuerrecht, Köln, 2000; Christiansen, DStR 2003, 264; Hahne, BB 2003, 1943; Hahne, DStR 2005, 843; ders., StuB 2007, 18; Pfitzer/Scharpf/Schaber, WPg. 2007, 675 u. 721; M. Schmidt, BB 2009, 882; Herzig/ Briesemeister, Ubg. 2009, 158; M. Schmidt, BB 2009, 882; Hennrichs, WPg. 2010, 1185 ff.; Miksch/Mattern, DB 2010, 579; Drewes, DStR 2011, 1967; Helios/Meinert, Ubg. 2011, 592; U. Prinz, DStJG 34 (2011), 135 (157 ff.); Scharpf, DB 2012, 357; Wulf, DStZ 2012, 534; Schnittger, DStR 2013, 1771; Velte/ Haaker, StuW 2013, 182; Freiberg, StuB 2014, 264; NWB Praxishdb. BilStR/Hick2, Rz. 1020 ff.; zu § 254 HGB eingehend IDW RS HFA 35; Gelhausen/Fey/Kämpfer, Rechnungslegung und Prüfung nach dem BilMoG, Rz. H 3 ff.
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§9
Rz. 272
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
tion mit gegenläufigem Vorzeichen (im Beispiel: eine Fremdwährungsverbindlichkeit) eingeht (oder ein entsprechendes Devisentermingeschäft abschließt). In einem solchen Fall eines sog. Hedging heben sich die Effekte aus den Fremdwährungspositionen unabhängig von der weiteren Währungsentwicklung wirtschaftlich betrachtet auf: einem (unrealisierten) Währungsverlust aus der einen Position steht ein (unrealisierter) Währungsgewinn aus der anderen Position gegenüber (und vice versa). Eine strikt imparitätische (Rz. 90) Einzelbewertung (erfolgswirksame Erfassung des Währungsverlusts, aber noch keine Erfassung des unrealiserten Währungsgewinns) würde dann zum Ausweis von Verlusten führen, die wirtschaftlich betrachtet gar nicht bestehen, weil das Währungsrisiko im Beispiel abgesichert ist. Daher werden bei Bestehen einer Bewertungseinheit das Imparitäts-, das Realisations- und das Einzelbewertungsprinzip eingeschränkt und nicht realisierte Verluste nicht ausgewiesen, wenn, soweit und solange diesen in gleicher Höhe nicht realisierte Gewinne gegenüberstehen1. 272
Sicherungsfähig sind nicht nur schwebende Geschäfte, sondern alle Arten von Vermögensgegenständen (Wirtschaftsgütern), aus denen ein finanzwirtschaftliches Risiko resultieren kann, auch z.B. Auslandsbeteiligungen2 oder Dividendenforderungen aus Auslandsbeteiligungen. Der Terminus „finanzwirtschaftliche Risiken“ ist weit zu verstehen. Umfasst ist richtigerweise der gesamte Anwendungsbereich des § 254 HGB3. Der Absicherung finanzwirtschaftlicher Risiken, nämlich von Marktpreisänderungsrisiken, dienen auch Warentermingeschäfte (§ 254 Satz 2 HGB) über Rohstoffe zur Absicherung4.
273
Taugliche Sicherungsinstrumente sind u.a. Devisentermin- oder -optionsgeschäfte. Zulässige Sicherungsformen sind nach § 254 HGB nicht nur das Micro-Hedging, bei dem ein Risiko durch ein einzelnes Gegenrisiko neutralisiert wird, sondern auch das sog. Macro- und das Portfolio-Hedging (Absicherung mehrerer gleichartiger Risiken durch ein oder mehrere Sicherungsinstrumente). Auch eine antizipative Absicherung von mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarteten Transaktionen ist möglich. Vorausgesetzt wird aber stets eine entsprechende Sicherungsabsicht und Designation der Sicherungsbeziehung5.
274
Zweck der Bildung einer Bewertungseinheit ist es, dass das gesicherte Risiko nicht ergebniswirksam werden soll, weil sich die gegenläufigen Risiken aus Grund- und Sicherungsgeschäft i.Erg. gegenseitig aufheben. Daher ordnet § 254 HGB als Rechtsfolge an, dass § 249 I (Drohverlustrückstellungen), § 252 I Nr. 3 (Einzelbewertungsgrundsatz) und Nr. 4 (Vorsichts-, Realisations- und Imparitätsprinzip), § 253 I 1 (Anschaffungswertprinzip) und § 256a HGB (Währungsumrechnung) in dem Umfang und für den Zeitraum nicht anzuwenden sind, in dem die gegenläufigen Wertänderungen sich ausgleichen. I.Erg. wird damit eine kompensatorische Bewertung erreicht. Buchungstechnisch gelten handelsrechtlich die sog. Einfrierungsmethode (bei der die Werte der gesicherten Positionen eingefroren und nicht entsprechend der Währungskursänderung angepasst werden) und die sog. Bruttomethode (bei der die Wertänderungen beiderseits durchgebucht werden, wodurch sie sich i.Erg. saldieren) als zulässig6. Der beschriebenen Zwecksetzung des § 254 HGB, wonach das gesicherte Risiko nicht ergebniswirksam werden soll, entspricht es am besten, wenn die Effekte ohne Berührung der GuV verarbeitet werden7. Das gilt richtigerweise nicht 1 Vgl. BT-Drucks. 16/10067, 58; Gelhausen/Fey/Kämpfer, Rechnungslegung und Prüfung nach dem BilMoG, Rz. H 2. 2 Hennrichs, WPg. 2010, 1185 ff.; Kämpfer/Fey, FS Streim, 2008, 187 ff.; Miksch/Mattern, DB 2010, 579; IDW RS HFA 35 Tz. 28. 3 Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 237; Frotscher2, § 5 EStG Rz. 144a; Günkel, RdF 2011, 59 (64); Herzig/Briesemeister, Ubg. 2009, 157 (158); a.A. (nur Teilbereich des § 254 HGB sei erfasst) NWB Praxishdb. BilStR/Hick2, Rz. 1051. 4 Ebenso i.E. NWB Praxishdb. BilStR/Hick2, Rz. 1053 a.E.; Herzig/Briesemeister, Ubg. 2009, 157 (158); a.A. Hahne, StuB 2007, 18; wohl auch Blümich/Krumm123, § 5 EStG Rz. 237. 5 Einzelheiten bei IDW RS HFA 35. 6 Vgl. BT-Drucks. 16/10067, 95; IDW RS HFA 35 Tz. 75 ff.; Gelhausen/Fey/Kämpfer, Rechnungslegung und Prüfung nach dem BilMoG, 2009, Rz. H 103 ff., 121 ff.; Beck’scher Bilanz-Komm./ Förschle/Usinger9, § 254 HGB Rz. 52 f. 7 Vgl. Hennrichs, WPg. 2010, 1185 (1188 f.) m.w.N.
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Hennrichs
Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 275
§9
nur während der Dauer der Sicherungsbeziehung, sondern auch noch bei deren Beendigung1. Anderenfalls, also bei erfolgswirksamer Abrechnung der Bewertungseinheit, würde deren Zweck (Erfolgsneutralität der gegenläufigen Wertänderungen) am Ende doch verfehlt. § 254 HGB ist bis zum Ende, d.h. einschließlich der Schlussrechnung, noch einschlägig2. Erst auf die aus der Bewertungseinheit entlassenen Teile finden wieder die allgemeinen Vorschriften Anwendung. Für die steuerliche Gewinnermittlung werden gem. § 5 Ia 2 EStG die Ergebnisse der handelsrechtlich gebildeten Bewertungseinheiten maßgeblich. Es gilt insoweit eine konkrete (formelle) Maßgeblichkeit3. Die handelsrechtliche Erfolgsneutralität ist daher auch steuerrechtlich anzuerkennen, und zwar wiederum nicht nur während der Dauer der Sicherungsbeziehung, sondern richtigerweise auch noch bei Beendigung der Bewertungseinheit4. Die in § 5 Ia 2 EStG angeordnete Bindung an die handelsrechtliche Rechnungslegung gilt nicht nur hinsichtlich des „Ob“ einer Bewertungseinheit, sondern gerade auch bzgl. der Ergebnisauswirkung der Bildung, Fortführung und Auflösung der Bewertungseinheit5. Denn der Gesetzgeber wollte mit der Einführung des § 5 Abs. 1a EStG eine Differenzierung von Handels- und Steuerrecht im Bereich der Bewertungseinheiten gerade vermeiden6. Zudem will der Gesetzgeber mit den Vorschriften der § 254 HGB; § 5 Ia 2 EStG wirtschaftlich vernünftige Absicherungsstrategien anerkennen. Die Effizienz der wirtschaftlichen Absicherung wäre aber ganz erheblich beeinträchtigt, würde man die Ergebnisbeiträge aus Grund- und Sicherungsgeschäft am Ende doch getrennt und asymmetrisch besteuern7 (zum Verhältnis des § 5 Ia 2 EStG zu § 8b KStG auch sogleich Rz. 276 f.). Die Gegenauffassung, die bei Beendigung einer Bewertungseinheit wieder uneingeschränkt die allgemeinen Vorschriften anwenden will8, beruht auf einem unzutreffenden handelsrechtlichen Verständnis, wonach die Bewertungseinheit für die Schlussrechnung wieder aufzuspalten sei. Wie dargelegt (Rz. 273), gilt § 254 HGB nach zutreffender Ansicht aber auch noch für die Schlussrechnung bei Beendigung der Bewertungseinheit. Damit ist das nach § 5 Ia 2 EStG formell maßgebliche „Ergebnis der in der handelsrechtlichen Rechnungslegung zur Absicherung finanzwirtschaftlicher Risiken gebildeten Bewertungseinheit(en)“ ein Nullergebnis, soweit die Sicherungsbeziehung effektiv ist. Auch bei der steuerlichen Gewinnermittlung kommt es deshalb insoweit von vornherein nicht zum Ausweis eines Ertrags. Das ist auch nach dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit geboten. Denn „aufgrund des bestehenden Sicherungszusammenhangs steht für den Stpfl. von vornherein fest, dass ein Gewinn oder Verlust aus dem Grundgeschäft durch ein korrespondierendes negatives (oder positives) Ergebnis aus dem Sicherungsgeschäft neutralisiert wird, sich seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mithin weder erhöht noch vermindert“9. 1 IDW RS HFA 35 Tz. 86; WP-Hdb 2012, Bd. I14, Abschn. E Rz. 470 f.; Hennrichs, WPg. 2010, 1185 (1191 f.); IDW RS HFA 35 Tz. 86; HHR/Hick, § 5 EStG Anm. 1647, 1649 (2010); NWB Praxishdb. BilStR/Hick2, Rz. 1056, 1085 f.; Micksch/Mattern, DB 2010, 579 (581); Naumann, Bewertungseinheiten im Gewinnermittlungsrecht der Banken, 1995, 180 ff.; KölnKomm. Rechnungslegungsrecht/Prinz, § 254 HGB Rz. 14; U. Prinz, DStJG 34 (2011), 135 (159); MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 254 HGB Rz. 88; Weitbrecht/Helios, RdF 2012, 141 (142); a.A. (erfolgswirksame Erfassung der Wertänderungen bei Beendigung der Bewertungseinheit) OFD Frankfurt a.M. v. 22.3.2012, DStR 2012, 1389; Herzig/Briesemeister, Ubg. 2009, 157 (160); Meinert, Die Bildung objektübergreifender Bewertungseinheiten nach Handels- und Steuerrecht, 2010, 245 ff., 365. 2 Hennrichs, WPg. 2010, 1187 (1191); HHR/Hick, § 5 EStG Anm. 1649; NWB Praxishdb. BilStR/ Hick2, Rz. 1086. 3 Blümich/Buciek, § 5 EStG Rz. 236, 238; KölnKomm. Rechnungslegungsrecht/Prinz, § 254 HGB Rz. 8; Korn/Schiffers, § 5 EStG Rz. 450. 4 Wie hier HHR/Hick, § 5 EStG Anm. 1646; NWB Praxishdb. BilStR/Hick2, Rz. 1085 f.; Hahne, StuB 2008, 181 (183 ff.); Micksch/Mattern, DB 2010, 579 (581 ff.). 5 Zutr. HHR/Hick, § 5 EStG Anm. 1646. 6 BT-Drucks. 16/634, 10. 7 Zutr. Micksch/Mattern, DB 2010, 579 (584). 8 OFD Frankfurt a.M. v. 22.3.2012, DStR 2012, 1389; Herzig/Briesemeister, Ubg. 2009, 157 (160); Häuselmann, Ubg. 2008, 391 f.; Meinert, Die Bildung objektübergreifender Bewertungseinheiten nach Handels- und Steuerrecht, 2010, 260 ff.; wohl auch BMF DB 2010, 2024, und OFD Rheinland DB 2011, 737, wonach § 5 Ia 2 EStG „nur für die Bewertung“ gelten soll, während „tatsächlich realisierte Gewinne und Verluste“ wieder nach den allgemeinen Regeln zu beurteilen seien. 9 Zutr. Micksch/Mattern, DB 2010, 579 (583 f.).
Hennrichs
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§9
Rz. 276
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Umstr. ist, wie sich die konkrete Maßgeblichkeit gem. § 5 Ia 2 EStG zu steuerrechtlichen Vorschriften über die Gewinn- und Einkommensermittlung sowie die Verlustverrechnung (insb. § 3 Nr. 40, § 3c und § 15 Abs. 4 EStG; § 8b KStG) verhält. Nach Auffassung der Finanzverwaltung sollen die Regelungsbereiche „strikt zu trennen“ sein1. Würden Ergebnisse aus Grund- und Sicherungsgeschäft realisiert, seien diese Vorgänge nicht mehr unter dem Aspekt der Bewertungseinheit zu beurteilen, sondern nach Realisationsgesichtspunkten. Folglich sollen Ergebnisse aus der Realisation von Komponenten der Bewertungseinheit für die steuerrechtliche Beurteilung nach ihren Bestandteilen aufzuteilen und z.B. von § 8b KStG erfasste Teile separiert zu beurteilen sein. Das FG Düsseldorf hat sich dieser Sichtweise in einer Entscheidung vom 13.12.20112 angeschlossen. Die Revisionsentscheidung, BFH v. 6.3.2013 – I R 18/123, hat diese Streitfrage nicht abschließend geklärt4.
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Der skizzierten Auffassung ist nicht zuzustimmen. Wie dargelegt (Rz. 274 f.), sind die Sondervorschriften über Bewertungseinheiten auch noch auf deren Beendigung anzuwenden. Die Beendigung bleibt damit handelsrechtlich ebenfalls erfolgsneutral. Das gilt dann gem. § 5 Ia 2 EStG auch bei der steuerlichen Gewinnermittlung. Dabei folgt die steuerliche Erfolgsneutralität daraus, dass die Beendigung der Bewertungseinheit gem. § 254 HGB i.V.m. § 5 Ia 2 EStG nicht GuV-wirksam wird, weil das Ergebnis aus der Realisation des Sicherungsinstruments gegen das gesicherte Grundgeschäft zu verbuchen ist. Hiernach ist das Abwicklungsergebnis von vornherein nicht Teil des handels- und wegen der formellen Maßgeblichkeit gem. § 5 Ia 2 EStG ebenso nicht Teil des steuerrechtlichen Ergebnisses. Für eine Korrektur auf der zweiten, außerbilanziellen Stufe fehlt damit der Ansatzpunkt5. Für die steuerrechtliche Beurteilung nach § 8b KStG folgt daraus weiter, dass die gesicherte Beteiligung gem. § 5 Ia 2 EStG i.V.m. § 254 HGB mit einem gegenüber den ursprünglichen Anschaffungskosten veränderten Buchwert aus der Bewertungseinheit entlassen wird. Da § 8b II 2 KStG für die Bemessung des Veräußerungsgewinns auf den Buchwert nach den Vorschriften über die steuerliche Gewinnermittlung verweist, zu diesen Vorschriften aber auch § 5 Ia 2 EStG i.V.m. § 254 HGB gehören, ist der relevante Buchwert derjenige, der sich nach Verrechnung um den Betrag der Realisation des Sicherungsinstruments ergibt.
278–279
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Einstweilen frei.
2.2 Abnutzbares Anlagevermögen (§ 6 I Nr. 1 EStG) I.E. bestimmt § 6 EStG für die einzelnen Wirtschaftsgüter Folgendes: 280
Abnutzbare Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens sind grds. mit den Anschaffungs- oder Herstellungskosten vermindert um Abschreibungen (§§ 7; 7a EStG) und Abzüge (z.B. nach § 6b EStG) anzusetzen (§ 6 I Nr. 1 Satz 1 EStG). Ist der Teilwert auf Grund einer voraussichtlich dauernden Wertminderung niedriger, so kann dieser angesetzt werden (§ 6 I Nr. 1 Satz 2 EStG, s. Rz. 321). An die Stelle der Anschaffungs- und Herstellungskosten kann ein Ersatzwert treten (Einlagewert nach § 6 I Nr. 5 EStG; gemeiner Wert oder Buchwert nach § 6 III–VI EStG in den Fällen des Tausches und der unentgeltlichen Übertragung). Der Begriff des Anlagevermögens und seine Abgrenzung zum Begriff des Umlaufvermögens bestimmen sich nach Handelsrecht6. Nach § 247 II HGB gehören zum Anlagevermögen Wirtschaftsgüter, „die bestimmt sind, dauernd dem Geschäftsbetrieb zu dienen“ (funktionales Verständnis der dauernden Nutzung7).
1 OFD Frankfurt a.M. v. 22.3.2012, DStR 2012, 1389; gleichlautend OFD Rheinland v. 11.3.2011, DB 2011, 737 f.; s. auch BMF v. 25.8.2010, DB 2010, 2024; zust. Herzig/Briesemeister, Ubg. 2009, 157 (160). 2 FG Düsseldorf v. 13.12.2011, 6 K 1209/09F, DStR 2012, 1331. 3 BFH v. 6.3.2013 – I R 18/12, BStBl. 2013, 588. 4 Ebenso NWB Praxishdb. BilStR/Hick2, Rz. 1068; s. auch Schnittger, DStR 2013, 1771 (1773), der allerdings meint, dass „die Erwägungen des BFH den Schluss nahe[legen], dass das FG […] mit seinem Urteil insoweit in der Sache richtig lag“. 5 Micksch/Mattern, DB 2010, 579 (582). 6 BFH BStBl. 1990, 706 (707), m.w.N. 7 BFH BStBl. 2006, 58, m. Anm. Weber-Grellet, StuB 2006, 274.
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Wirtschaftsgüter des nicht abnutzbaren Anlagevermögens und des Umlaufvermögens sind ebenfalls mit den Anschaffungs- oder Herstellungskosten oder einem Ersatzwert anzusetzen (§ 6 I Nr. 2 Satz 1 EStG); ausnahmsweise Zeitwert (§ 6 I Nr. 2b EStG i.V.m. § 340e III HGB; Rz. 266). Es gelten die Regelungen für Teilwertabschreibung und Wertaufholung (§ 6 I Nr. 2 Satz 2, 3 EStG). Im Unterschied zu § 6 I Nr. 1 EStG sind reguläre AfA nach § 7 EStG und erhöhte Absetzungen i.S.d. § 7a EStG bei nicht abnutzbaren Wirtschaftsgütern und Wirtschaftsgütern des Umlaufvermögens nicht zulässig. Abzüge nach § 6b EStG sind auf Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens beschränkt.
281
Nicht abnutzbares Anlagevermögen: insb. Grund und Boden, Beteiligungen1, Wertpapiere, Ausleihungen und sonstige Finanzanlagen.
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Bewertung von Wirtschaftsgütern
2.3 Andere aktive Wirtschaftsgüter (§ 6 I Nr. 2 EStG)
Umlaufvermögen: Wirtschaftsgüter, die nicht dazu bestimmt sind, dauernd dem Geschäftsbetrieb des Unternehmens zu dienen, sondern umgesetzt oder verbraucht werden sollen (ex § 247 II HGB). Dazu gehören Vorräte (Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe, fertige/unfertige Erzeugnisse2 und Waren sowie auf Vorratsvermögen geleistete Anzahlungen), Forderungen, Wertpapiere (auch: nicht verbriefte Anteile an Unternehmen, soweit nicht Anlagevermögen)3, Schecks, Kassenbestand, Bundesbank- und Postgiroguthaben, Guthaben bei Kreditinstituten. Geldforderungen sind nach § 6 I Nr. 2 EStG mit den AK oder dem niedrigeren Teilwert zu bewerten4. Als AK ist i.d.R. der Nennwert anzusetzen. Der Ansatz des niedrigeren Teilwerts kommt insb. bei Forderungsausfall5 und bei Forderungen in ausländischer Währung in Betracht (§ 256a HGB), ggf. auch bei unverzinslichen oder niedrig verzinslichen Forderungen6. Bestrittene Forderungen sind überhaupt erst zu bilanzieren, wenn sie rechtskräftig zuerkannt oder anerkannt werden (Rz. 141).
2.4 Lifo (§ 6 I Nr. 2a EStG) Zur Vereinfachung der Bewertung erlaubt § 6 I Nr. 2a EStG für die Bewertung gleichartiger Wirtschaftsgüter des Vorratsvermögens das sog. Lifo-Verfahren (Last-in-first-out).7 Dabei wird für die Vorratsbewertung unterstellt, dass die zuletzt angeschafften oder hergestellten Wirtschaftsgüter zuerst verbraucht oder veräußert worden und damit die Altbestände nach wie vor auf Lager sind (§ 6 I Nr. 2a EStG). Eine übereinstimmende Ausübung des Wahlrechts in Handels- und Steuerbilanz ist nach h.M. nicht mehr erforderlich8 (Rz. 41, 105 f.; zur Rechtslage vor BilMoG s. BFH BStBl. 2001, 636).
283
Voraussetzung der Lifo-Bewertung ist auch nach BilMoG weiterhin, dass sie den GoB entspricht. Die Zwecksetzung des § 256 Satz 1 HGB ist durch das BilMoG nicht verändert worden. Nach wie vor geht es dem Gesetz, wie in der amtlichen Überschrift zum Ausdruck kommt, um Vereinfachung der Bewertung. Substanzerhaltung ist auch nach BilMoG nicht eigentli-
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1 Dazu BFH v. 7.5.2014 – X R 19/11 (TW-Abschreibung auf GmbH-Beteiligung); E. Weber, Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung für Beteiligungen, Diss., 1980; Knobbe-Keuk, AG 1979, 293. Zur Beschränkung der Teilwertabschreibung auf Beteiligungen durch § 3c II EStG; § 8b III KStG, s. § 11 Rz. 41. 2 Dazu Köhler, StBp. 2007, 332 ff.; 349 ff.; 2008, 16 ff.; 43 ff.; 79 ff. 3 Dazu Haußer, Die Bewertung von Wertpapieren des Umlaufvermögens nach HGB, US GAAP und IAS, Diss., 2002. 4 Dazu ausf. Bellin, Der Teilwert bei uneinbringlichen und zweifelhaften Geldforderungen im Bilanzsteuerrecht, Diss., 1997. 5 BFH/NV 2007, 814. 6 Vgl. BFH BStBl. 1990, 639; Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 296. 7 Dazu eingehend Hüttemann/Meinert, Die Lifo-Methode in Handels- und Steuerbilanz, 2013 (IFStSchrift Nr. 486); dies., DB 2013, 1865; Hennrichs, Ubg. 2011, 705; Herzig, DB 2014, 1756; Hildebrandt, DB 2011, 1999; Drüen/Mundfortz, DB 2014, 2245. Aus der älteren Lit. Schneider/Siegel, WPg. 1995, 261; Hölscher, SteuerStud 1998, 394 u. 465 (didaktisch gelungene Darstellung des LifoVerfahrens); Mayer-Wegelin, DB 2001, 554. 8 BMF BStBl. I 2010, 239 (Tz. 17); Entwurf eines BMF-Schreibens zu Lifo v. 22.10.2014, Tz. 10 (abrufbar unter www.bundesfinanzministerium.de); Herzig, DB 2014, 1756 (1758 f.); krit. Drüen/Mundfortz, DB 2014, 2245 (2249 f.).
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Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
cher Gesetzeszweck, sondern bloß rechnerischer Reflex des Lifo-Verfahrens1. Lifo ist deshalb nach den handelsrechtlichen GoB und damit wegen des GoB-Verweises in § 6 I Nr. 2a EStG auch steuerrechtlich unzulässig, wenn die unterstellte Verbrauchsfolge absolut undenkbar ist (wie bei leicht verderblichen Vorräten oder Saisonbetrieben) oder wenn im Einzelfall keine Bewertungsvereinfachung erreicht wird2. Bei der Beurteilung, ob Lifo eine Bewertungsvereinfachung bewirkt, ist aber vom „Normalmaß“ des nach den GoB Gebotenen auszugehen. Eine moderne, computergestützte Lagerhaltung darf die Zulässigkeit des Verfahrens nicht beschränken. Lifo bleibt daher möglich, wenn hinsichtlich der in Rede stehenden Vorräte bei nicht-computergestützter Lagerführung eine Vereinfachung erreicht würde3. 285
De lege ferenda sollte der Verweis auf die handelsrechtlichen GoB in § 6 I Nr. 2a EStG gestrichen werden. Nach der Aufgabe der umgekehrten Maßgeblichkeit kann es auf die GoB-Verträglichkeit des Lifo-Verfahrens nicht mehr ankommen.
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a) Verbindlichkeiten sind gem. § 6 I Nr. 3 EStG unter „sinngemäßer Anwendung der Vorschriften der Nr. 2 anzusetzen“. Bei „sinngemäßer Anwendung“ entsprechen den Anschaffungskosten, auf die § 6 I Nr. 2 EStG für das aktive Wirtschaftsgut Bezug nimmt, hier die „Abschaffungskosten“4. Maßgebend ist der Erfüllungsbetrag der Verpflichtung (Rückzahlungsbetrag i.S.d. § 253 I 2 HGB) zum maßgeblichen Bilanzstichtag. Das ist i.d.R. der Nennbetrag der Verbindlichkeit5, weil die Schuld regelmäßig zu diesem Betrag getilgt werden muss. Die „sinngemäße Anwendung“ der Vorschriften der Nr. 2 bedeutet weiter, dass bei Verbindlichkeiten wahlweise der höhere Teilwert angesetzt werden kann, wenn dieser auf Grund einer voraussichtlich dauernden Wertänderung höher ist. Für Verbindlichkeiten gilt danach bei der Folgebewertung das sog. Höchstwertprinzip.6
2.5 Passive Wirtschaftsgüter (§ 6 I Nrn. 3, 3a EStG)
286a Der Erfüllungsbetrag einer Sachleistungsverpflichtung ist regelmäßig zu schätzen. Besteht wegen
einer Schadstoffbelastung eines Grundstücks eine Sanierungsverpflichtung, hindert eine deshalb erfolgte Teilwertberichtigung eines Grundstücks nicht die Bewertung der bestehenden Sanierungsverpflichtung mit dem Erfüllungsbetrag. Dieser ist allerdings um den bei der Erfüllung der Verpflichtung anfallenden und als Anschaffungs- oder Herstellungskosten zu aktivierenden Aufwand zu mindern7. – Für die Verpflichtung, bei Rückgabe von Individualleergut oder sog. Brunneneinheitsleergut (Rz. 159) die erhaltenen Pfandgelder an die Kunden zurückzuzahlen, ist eine Verbindlichkeit zu passivieren. Die Verbindlichkeit kann aber wegen Bruch oder Schwund des Leerguts, bei den Brunneneinheitsleergut darüber hinaus auch der Höhe nach zu mindern sein, wenn aufgrund der eigentumsunabhängigen Zirkulation des Leerguts erfahrungsgemäß davon auszugehen ist, dass ein bestimmter Teil an andere Poolmitglieder zurückgegeben wird8.
1 BFH BStBl. 2001, 636; Drüen/Mundfortz, DB 2014, 2245 ff.; Hüttemann/Meinert, Die Lifo-Methode in Handels- und Steuerbilanz, 2013 (IFSt-Schrift Nr. 486), S. 35, 42 ff., 53 ff.; MünchKomm. BilanzR/ Hennrichs, § 256 HGB Rz. 10; a.A. Herzig/Gasper, DB 1992, 1301 (1302, 1306); Herzig, DB 2014, 1756 (1757 f.); nicht eindeutig Entwurf eines BMF-Schreibens zu Lifo v. 22.10.2014, Vor Tz. 1 einerseits und Tz. 2 f. andererseits (abrufbar unter www.bundesfinanzministerium.de). 2 BFH BStBl. 2001, 636: Lifo-Verfahren entspricht bei WG mit hohen AK, die individuell zugeordnet werden können, nicht den GoB; Entwurf eines BMF-Schreibens zu Lifo v. 22.10.2014, Tz. 6, 9 (abrufbar unter www.bundesfinanzministerium.de); großzügiger Herzig/Gasper, DB 1992, 1301 (1302, 1306), nach denen Lifo uneingeschränkt stets zulässig sei, selbst wenn die tatsächliche Verbrauchsfolge nachweislich eine andere sein sollte oder wenn im Einzelfall keine Vereinfachung erreicht wird. 3 Drüen/Mundfortz, DB 2014, 2245 (2250 f.); Hennrichs, Ubg. 2011, 705 (707 ff.); MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 256 HGB Rz. 13; Herzig, DB 2014, 1756 (1760); Hüttemann/Meinert, Die LifoMethode in Handels- und Steuerbilanz, 2013 (IFSt-Schrift Nr. 486), S. 63 ff.; diffenzierend nach Handelsware und sonstigen Vorräten Entwurf eines BMF-Schreibens zu Lifo v. 22.10.2014, Tz. 6 f. (abrufbar unter www.bundesfinanzministerium.de). 4 Groh, DB 2007, 2275. 5 Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 441. 6 MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 253 HGB Rz. 24 f.; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. § 253 HGB Rz. 86; Moxter, BB 1989, 945 f. 7 BFH BStBl. 2010, 482. 8 BFH v. 9.1.2013 – I R 33/11, BFHE 240, 226 (Tz. 54, 56).
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Sowohl für unverzinsliche Geldschulden (zinslose Darlehen, auch Gesellschafterdarlehen1; gesetzliche Verbindlichkeiten, z.B. Schadenersatzverpflichtungen gem. § 823 BGB, enthalten ebenfalls keinen Zinsanteil2) als auch für Sachleistungsverpflichtungen besteht seit Inkrafttreten dem Wirtschaftsjahr 1999 (vgl. § 56 XVI 2 EStG) steuerlich ein Abzinsungsgebot3 mit einem Zinssatz von 5,5 %. Durch die Abzinsung gem. § 6 I Nr. 3 EStG entsteht ein Abzinsungsgewinn, der bei der steuerrechtlichen Gewinnermittlung erfolgswirksam zu erfassen (a.o. Ertrag), also nicht abzugrenzen ist4. Das Gebot der Abzinsung von Verbindlichkeiten beruht auf der typisierenden Vorstellung des Gesetzgebers, dass eine erst in der Zukunft zu erfüllende Verpflichtung den Schuldner weniger belaste als eine sofortige Leistungspflicht5. Bei der Folgebewertung in den nachfolgenden Wirtschaftsjahren sind die zum abgezinsten Betrag erfassten Verbindlichkeiten grds. ratierlich aufzuzinsen6. Dies stellt einen a.o. Aufwand dar. Die Voraussetzungen für die Abzinsung (nebst ratierlicher Aufzinsung) sind an jedem Bilanzstichtag neu zu beurteilen (arg. „am Bilanzstichtag“, § 6 I Nr. 3 Satz 2 EStG). Eine Abzinsung ist so lange beizubehalten, wie die Voraussetzungen des § 6 I Nr. 3 EStG weiter vorliegen.
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Bewertung von Wirtschaftsgütern
Wird eine abgezinste Verbindlichkeit zum steuerlichen Barwert vorzeitig abgelöst, entsteht in der Steuerbilanz kein Tilgungsgewinn. Die vorzeitige Tilgung zum Barwert ist vielmehr steuerbilanziell erfolgsneutral (Aktiv-Passiv-Tausch). Das ist anders in der Handelsbilanz, in der zinslose Verbindlichkeiten gem. § 253 I 2 HGB nicht abzuzinsen, sondern zum Nennbetrag auszuweisen sind7. Daher ist in der Handelsbilanz bei vorzeitiger Tilgung eines zinslosen Darlehens zum Barwert ein Tilgungsgewinn auszuweisen (und nach § 250 II HGB passiv abzugrenzen, wenn der Ertrag wirtschaftlich betrachtet als auf die restliche Laufzeit des Darlehens bezogen zu beurteilen ist). Diese Abweichungen zwischen Handels- und Steuerbilanz sind Folge der steuergesetzlichen Sondervorschriften über die allein steuerbilanziell vorzunehmende erfolgswirksame Abzinsung von zinslosen Verbindlichkeiten bei der Zugangsbewertung (§ 5 VI; § 6 I Nr. 3 EStG).
Ausgenommen von dem Abzinsungsgebot sind Verbindlichkeiten, deren Laufzeit am Bilanz- 287a stichtag weniger als 12 Monate beträgt, sowie Verbindlichkeiten, die verzinslich sind oder auf einer Anzahlung oder Vorauszahlung beruhen (§ 6 I Nr. 3 Satz 2 EStG). Auch ein niedriger Zinssatz begründet eine verzinsliche Verbindlichkeit8. Zu beachten ist ferner, dass eine Verzinslichkeit auch verdeckt gegeben sein kann. Zum einen kann in einem nominellen Rückzahlungsbetrag verdeckt ein Zinsanteil enthalten sein9. Das kann bei einem Rückzahlungs-Agio (Rückzahlungsbetrag ist größer als der Nennbetrag, z.B. sog. Zero-Bonds10) oder bei einem Auszahlungs-Disagio (Rückzahlungsbetrag ist größer als der Auszahlungsbetrag) anzunehmen sein11. In diesen Fällen zahlt der Schuldner mit dem Rückzahlungsbetrag ein Entgelt für die Kapitalüberlassung12. Auch bei formal zinsloser Stundung kann von einem verdeckten Zins1 BFH BStBl. 2010, 177; 2010, 478. 2 MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 253 HGB Rz. 21 a.E. 3 Das steuerrechtliche Abzinsungsgebot wurde durch das sog. Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 (Gesetz v. 24.3.1999, BGBl. I, 402) eingeführt. Zur (problematischen) Vereinbarkeit mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip Beiser, DB 2001, 296, Erwiderung v. Knoll und Replik v. Beiser, DB 2001, 779; s. ferner Feld, WPg. 1999, 861; Schulze-Osterloh, BB 2003, 351; grundl. Konezny, Die Abzinsung von Schulden, Diss., Wien 2004. Zu Einzelfragen BMF BStBl. 2005, 699; Viskorf, DB 2006, 1231; Groh, DB 2007, 2275; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 253 HGB Rz. 90 ff. 4 BMF BStBl. I 2005, 699 (Tz. 41); Groh, DB 2007, 2275 (2276). 5 BFH v. 6.10.2009, I R 4/08, BStBl. 2010, 177 (Tz. 14); krit. Schulze-Osterloh, BB 2003, 351. 6 BMF BStBl. I 2005, 699 (Tz. 41). 7 Das handelsrechtliche Abzinsungsgebot gem. § 253 II HGB gilt nur für Rückstellungen, nicht für Verbindlichkeiten im engeren Sinne. Vgl. MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 253 HGB Rz. 22 a.E.; Schulze-Osterloh, BB 2003, 351 (353); E. Strobl, FS Döllerer, 1988, 615 (618, 620 f.). 8 BMF BStBl. I 2005, 699 (Tz. 13); Groh, DB 2007, 2275 (2277); MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. § 253 HGB Rz. 109, m.w.N. 9 Groh, DB 2007, 2275; E. Strobl, FS Döllerer, 1988, 615 (622 ff.). 10 Dazu Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, S. 230; MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 253 HGB Rz. 26 m.w.N. 11 Instruktiv E. Strobl, FS Döllerer, 1988, 615 (622 ff.). 12 Schulze-Osterloh, BB 2003, 351 (353); E. Strobl, FS Döllerer, 1988, 615 (618 f., 624).
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Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
anteil auszugehen sein1. Entscheidend ist die Auslegung des zugrunde liegenden Rechtsgeschäfts2. Zum anderen können verdeckte Zinsen auch außerhalb des Rückzahlungsbetrages vereinbart sein, wenn der (nominal unverzinslichen) Schuld anderweitige, nicht in Geldzahlungen bestehende wirtschaftliche Nachteile gegenüber stehen3. Beispielsweise kann eine mit der Gewährung von Darlehen zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus verbundene Belegbindung oder sonstige Zweckbindung dem wirtschaftlichen Gehalt nach einer Zinsvereinbarung entsprechen4. Entscheidend ist, ob bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise eine Verzinslichkeit i.S. einer Gegenleistung für die Kapitalüberlassung gewollt ist5. 287b Enthält eine Verbindlichkeit nach diesen Maßstäben (Rz. 287a) offen oder verdeckt einen Zinsanteil, ist sie gem. § 6 I Nr. 3 Satz 2 2. Alt. EStG von der Abzinsung ausgenommen. Allerdings muss in solchen Fällen bilanziell zwischen der Kapital- und der verdeckten Zinsschuld unterschieden werden. Der maßgebende Rückzahlungsbetrag der Verbindlichkeit ist dann nämlich nicht der nominelle, sondern der materielle, d.h. allein der Kapitalrückzahlungsbetrag6. Nur mit diesem ist die Verbindlichkeit anzusetzen, der Zinsaufwand ist zu verteilen. Dafür ist der nominelle „Rückzahlungsbetrag“ um den enthaltenen Zinsanteil zu kürzen, d.h. in den materiellen Kapitalrückzahlungsbetrag und den (verdeckten) Zinsanteil aufzuteilen7 („Abzinsung“ zur Verteilung von Zinsaufwand8). 288
b) Rückstellungen sind nach § 253 I 2 HGB handelsrechtlich in Höhe des Erfüllungsbetrags anzusetzen, der nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung notwendig ist. Indem das modernisierte HGB auf den Erfüllungsbetrag abstellt, macht es deutlich, dass handelsrechtlich bei der Rückstellungsbewertung künftige Preis- und Lohnentwicklungen zu berücksichtigen sind9. Steuerrechtlich gilt dagegen in Durchbrechung der Maßgeblichkeit das strikte Stichtagsprinzip (§ 6 I Nr. 3a Buchst. f EStG), d.h., künftige Preis- und Kostensteigungen dürfen nicht berücksichtigt werden. Gleichwohl sind auch Rückstellungen mit dem spezifisch steuerlichen Zinssatz von 5,5% abzuzinsen (§ 6 I Nr. 3a Buchst. e EStG). Das ist systematisch eine Schieflage10. Die Abzinsung führt einen zukünftigen Erfüllungsbetrag auf den Gegenwartswert zurück. Das ist nur sachgerecht, wenn in dem Betrag, der abgezinst wird, die künftigen Preisentwicklungen berücksichtigt sind. Strenges Stichtagsprinzip und Abzinsung führt dagegen zu einer systematischen Unterbewertung von Rückstellungen. Besonders krit. wird es, wenn auch noch strenge Stichtagsbetrachtung, Abzinsung und Ansammlung (vgl. auch § 6 I Nr. 3a Buchst. d EStG und dazu sogleich) miteinander kombiniert werden. So sind bspw. Rückstellungen für Deponie-Rekultivierung nach der tatsächlichen Inanspruchnahme und Rückbauverpflichtungen linear anzusammeln, gleichwohl aber abzuzinsen. Dadurch kumulieren sich die Effekte derart, dass der Steuerbilanzansatz die wirtschaftliche Belastungssituation nicht mehr realitätsgerecht abbildet. Mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip ist das nur schwerlich vereinbar11. Der IV. Senat BFH sieht in diesen Kumulationseffekten gleichwohl kein Verfassungsproblem12
1 MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 253 HGB Rz. 21. 2 MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 253 HGB Rz. 21. 3 E. Strobl, FS Döllerer, 1988, 615 (622 ff.); MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. § 253 HGB Rz. 110. 4 BMF BStBl. I 2005, 699 (Tz. 15); MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. § 253 HGB Rz. 110; s. aber auch BFH v. 27.1.2010, I R 35/09, BStBl. 2010, 478 (Tz. 16): „Die bloße Zweckbindung eines Darlehens begründet keine ‚Verzinslichkeit‘“. 5 BMF BStBl. I 2005, 699 (Tz. 16). 6 Beck‘scher Bilanzkomm./Schubert9, § 253 HGB Rz. 53. 7 Schulze-Osterloh, BB 2003, 351 (353); MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 253 HGB Rz. 21 f. 8 So Groh, DB 2007, 2275. 9 Statt aller z.B. Baumbach/Hopt/Merkt36, § 253 HGB Rz. 3; Herzig, DB 2008, 1 (8); zur Rechtslage vor dem BilMoG s. Schulze-Osterloh, BB 2003, 351; Schulze-Osterloh, DStR 2008, 63 (70). 10 Zutr. Kahle/Günter, StuW 2012, 43 (54); Kahle, DB 2014, Beil. 4 S. 19; Mayr, DStJG 34 (2011), 327 (340 f.). 11 Zutr. MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 253 HGB Rz. 154 ff. m.w.N. 12 BFH BStBl. 2012, 98. Dazu mit Recht krit. Schulze-Osterloh, BB 2011, 1969.
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Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 288b
§9
und beruft sich dafür u.a. auf den (seinerseits aber ganz fragwürdigen, s. Rz. 50, 104, 189) Beschluss des BVerfG zu den Jubiläumsrückstellungen (BVerfGE 123, 111). Nach Inkrafttreten des BilMoG ist die Frage streitig geworden, welche Restbedeutung dem 288a Grundsatz der Maßgeblichkeit für die Rückstellungsbewertung zukommt. Das BMF1 und wohl auch der I. Senat des BFH2 wollen aus dem Einleitungssatz des § 6 I Nr. 3a EStG, wonach Rückstellungen „höchstens insbesondere“ unter Berücksichtigung der in Nr. 3a normierten Grundsätze anzusetzen sind, sowie aus der Entstehungsgeschichte des sog. Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 ableiten, dass die Höhe von Rückstellungen in der Steuerbilanz – mit Ausnahme der Pensionsrückstellungen – den zulässigen Ansatz in der Handelsbilanz (Höchstwert) nicht überschreiten dürfe. Daraus wird eine Art Zwei-Stufen-Theorie gefolgert: Auf einer ersten Stufe sei die Rückstellung nach den besonderen Vorschriften des EStG zu bewerten. Der so gefundene Wert sei sodann auf einer zweiten Stufe mit dem handelsrechtlichen Wertansatz zu vergleichen. Ist dieser Handelsbilanzwert (ausnahmsweise) niedriger als der steuerliche Wertansatz, sei der niedrigere handelsrechtliche Ansatz auch für das Steuerrecht maßgebend. Praktisch relevant wird die Frage insb. für die Bewertung von Rückstellungen für Sachleistungsverpflichtungen (§ 6 I Nr. 3a Buchst. e EStG), bspw. Rückstellungen für bergrechtliche Verpflichtungen oder für die Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen. Während der Abzinsungszeitraum bei diesen Rückstellungen handelsrechtlich nämlich nach h.M. bis zum Ende der Erfüllung reichen soll3, ist nach § 6 I Nr. 3a Buchst. e Satz 2 EStG steuerrechtlich nur bis zum Beginn der Erfüllung abzuzinsen. Aufgrund des handelsrechtlich längeren Abzinsungszeitraums kann es zu niedrigeren handelsrechtlichen Wertansätzen kommen, die sodann nach Ansicht der FinVerw. für die steuerliche Gewinnermittlung maßgeblich werden sollen. Die Problematik stellt sich erstmals nach Inkrafttreten des BilMoG, weil Rückstellungen vorher handelsrechtlich gar nicht abzuzinsen waren. Immerhin erlaubt das BMF, den sich auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung ergebenden Gewinn durch Bildung einer gewinnmindernden Rücklage über 15 Jahre zu verteilen4. Dem ist nicht zu folgen. Richtigerweise gehen die Grundsätze des § 6 I Nr. 3a EStG dem all- 288b gemeinen Maßgeblichkeitsgrundsatz als lex specialis und nach dem Bewertungsvorbehalt gem. § 5 VI EStG vor5. Steuerrechtlich ist die Abzinsung detailreich und nach einem eigenständigen Konzept normiert: Sämtliche für die Abzinsung relevanten Parameter, nämlich der abzuzinsende Betrag, der Abzinsungszeitraum und der Abzinungssatz, sind steuergesetzlich besonders geregelt, s. § 6 I Nr. 3a Buchst. f (für den abzuzinsenden Betrag), Buchst. e Satz 2 (für den Abzinsungszeitraum) und Satz 1 (für den Abzinsungssatz). Daneben ist kein Raum für einen Rückgriff auf die handelsrechtlichen GoB. Der Wortlaut des Einleitungssatzes („höchstens insbesondere“) steht nicht entgegen, denn er verlangt nicht zwingend einen Vergleich mit dem Wertansatz nach Handelsrecht, sondern kann auch als deklaratorischer Hinweis darauf verstanden werden, dass der steuerliche Wertansatz nach Maßgabe der folgenden Grundsätze begrenzt ist. Die von der FinVerw. vertretene Rechtsauffassung führt zu einer Art „Meistbegünstigungsmaßgeblichkeit“ (Restmaßgeblichkeit pro fisco), die vom Gesetzgeber des BilMoG nicht gewollt war und auch nicht sachgerecht wäre. Das Problem würde sich freilich entschärfen, wenn man die steuergesetzlich angeordnete Begrenzung des Abzinsungszeitraums auf den Beginn der Erfüllung der Sachleistungsverpflichtung (§ 6 I Nr. 3a Buchst. e Satz 2 EStG) auch für das Handelsrecht übernehmen würde. Tragend für die steuergesetzli1 S. R 6.11 III EStÄR 2012; zuvor bereits OFD Münster v. 13.7.2012, BB 2012, 2174; zust. Meurer, BB 2012, 2807. 2 BFH v. 11.10.2012 – I R 66/11, BStBl. 2013, 676 (Tz. 14); BFH v. 2.7.2014 – I R 46/12, BStBl. 2014, 979 (Tz. 17). 3 IDW HFA 34 Tz. 40; IDW RH HFA 1.009 Tz. 9. 4 R 6.11 III 2 EStÄR 2012. 5 Ebenso MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 253 HGB Rz. 117; M. Prinz, DB 2012, Heft 35/M1; ders., FR 2013, 506 (508 f.); U. Prinz/Hütig, StuB 2012, 798 f.; Günkel, StbJb. 2012/13, S. 385 (391 f.); Briesemeister/Joisten/Vossel, FR 2013, 164 ff.; Buchholz, Ubg. 2012, 777 (780 ff.); Zwirner/Endert/Sepetauz, DStR 2012, 2094 (2097 f.).
Hennrichs
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577
§9
Rz. 289
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
che Vorschrift war der Gedanke der Objektivierung der Gewinnermittlung und der Gesichtspunkt des zutreffenden, vorsichtig bemessenen Schuldenausweises1. Beides sind Aspekte, die gerade auch für den kapitalschützenden Jahresabschluss überzeugend sind.
289
§ 6 I Nr. 3a EStG (eingeführt durch StEntlG 1999/2000/2002) begrenzt die Bildung von Rückstellungen2 auf folgende Höchstwerte3: – Bei Rückstellungen für gleichartige Verpflichtungen (z.B. Schadensersatz-, Garantieverpflichtungen) ist in Übereinstimmung mit der bisherigen Rspr. (z.B. BFH BStBl. 1998, 249) die Wahrscheinlichkeit einer nur teilweisen Inanspruchnahme zu berücksichtigen (§ 6 I Nr. 3a Buchst. a EStG)4. – § 6 I Nr. 3a Buchst. b EStG stellt klar, dass Rückstellungen für Sachleistungsverpflichtungen5 mit den Einzelkosten (BFH BStBl. 1988, 661) und angemessenen Teilen der notwendigen Gemeinkosten zu bewerten sind (bzgl. einer Rückstellung für Aufbewahrungspflichten nach § 147 AO s. BFH BStBl. 2011, 496). – § 6 I Nr. 3a Buchst. c EStG verlangt die Kompensation mit künftigen Vorteilen. Das ist vor dem Hintergrund des Einzelbewertungsgrundsatzes (Rz. 270) und des Saldierungsverbots (Rz. 85) rechtspolitisch zweifelhaft. Voraussetzung für die wertmindernde Berücksichtigung der künftigen Vorteile ist zum einen, dass zwischen der zu erfüllenden Verpflichtung und dem wirtschaftlichen Vorteil ein sachlicher Zusammenhang besteht6. Daher kann bspw. eine Rückstellung wegen der öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen zur Durchführung von luftverkehrstechnischen Maßnahmen, für deren Durchführung die Umsetzungsfristen am Bilanzstichtag bereits abgelaufen waren, nicht mit dem Argument abgelehnt werden, dem stünden künftige Vorteile (Betriebseinnahmen) aus der Vercharterung der Flugzeuge gegenüber. Zwischen dem künftigen Vorteil aus der allgemeinen Aufrechterhaltung des Betriebs und der Verpflichtung zur Durchführung der Maßnahmen besteht kein hinreichender sachlicher Zusammenhang. Die künftigen Betriebseinnahmen stehen nur im allgemeinen Zusammenhang mit dem laufenden Betrieb7. Zum anderen muss der künftige Vorteil wahrscheinlich sein, d.h. es müssen mehr Gründe für als gegen den Vorteilseintritt sprechen. Der Abschluss schuldrechtlicher Verträge ist für eine Kompensation mit künftigen Vorteilen nach der Rspr. des BFH nicht erforderlich8. – § 6 I Nr. 3a Buchst. d EStG ordnet an, dass für Verpflichtungen, deren Verpflichtungsumfang am Bilanzstichtag zwar bereits rechtlich vollständig feststeht, für deren Entstehen im wirtschaftlichen Sinn aber der laufende Betrieb ursächlich ist (sog. echte Ansammlungsrückstellungen, z.B. Rückstellungen für Abbruch- oder Entfernungsverpflichtungen)9, Rückstellungen zeitanteilig in gleichen Raten anzusammeln sind (mit Sonderregelungen in § 6 I Nr. 3a Buchst. d Satz 2 EStG für die Entsorgung von Altfahrzeugen; und in § 6 I Nr. 3a Buchst. d Satz 3 EStG für die Stillegung von Kernkraftwerken: Verteilung über 25 Jahre). Hinsichtlich der Bemessung des Ansammlungszeitraums gilt dabei das Stichtagsprinzip (Rz. 98 f.); bei späterer Verlängerung des ursprünglichen Zeitraums ist der Bewertung der Rückstellung zum Stichtag der verlängerte Zeitraum zugrunde zu legen10. Von den echten Ansammlungsrückstellungen zu unterscheiden sind sog. 1 Vgl. BT-Drucks. 14/443, S. 24; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 253 HGB Rz. 163; Kirchhof/Fischer13, § 6 EStG Rz. 159; Reuter, Die Bewertung von Rückstellungen in der Handelsund Steuerbilanz nach dem Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002, Lohmar 2006, S. 224. 2 Keine Anwendung auf Verbindlichkeiten, BFH v. 9.1.2013 – I R 33/11, BFHE 240, 226 (Tz. 58). 3 Eingehend MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 253 HGB Rz. 117 ff. 4 Dazu Kemper/Konold, DStR 2003, 1686; Rätke, StuB 2004, 858. 5 Zur Nachbetreuungsverpflichtung von Versicherungsverträgen als Sachleistungsverpflichtung i.S.d. § 6 I Nr. 3a Buchst. b EStG und der Ermittlung der Höhe der zu bildenden Rückstellung s. BFHE 234, 239; BFH BFH/NV 2011, 2032; BFH/NV 2011, 2032; BFH/NV 2011, 2035. 6 BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, BStBl. 2014, 302 (Tz. 31, 33 f.). 7 Zutr. BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, BStBl. 2014, 302 (Tz. 34); s. aber auch BFH v. 21.8.2013 – I B 60/12, BFH/NV 2014, 28 (betreffend sog. Kippentgelte im Zusammenhang mit einer Rekultivierungsverpflichtung). 8 BFH v. 21.8.2013 – I B 60/12, BFH/NV 2014, 28; a.A. IDW RS HFA 34 Tz. 31 für die Handelsbilanz. 9 S. dazu BFH v. 2.7.2014 – I R 46/12, BStBl. 2014, 979 (Beseitigungspflicht für Bauten auf fremdem Grund und Boden); ferner BFH BStBl. 1993, 89 (Erneuerung einer Restauranteinrichtung); BFH BStBl. 1983, 104 (Garantieverpflichtungen); Joisten, FR 2013, 455 (Auswirkungen einer Vertragsverlängerung auf die Bilanzierung von Verteilungsrückstellungen). 10 BFH v. 2.7.2014 – I R 46/12, BStBl. 2014, 979 (Tz. 16 ff., 20 ff.), m.w.N. zum Streitstand.
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Hennrichs
Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 300
§9
unechten Ansammlungsrückstellungen, bei denen sich der Verpflichtungsumfang mit dem Fortschritt der Tätigkeit nicht nur im wirtschaftlichen Sinn, sondern tatsächlich in jedem Wirtschaftsjahr ändert. Beispiele sind Rekultivierungsrückstellungen im Tagebau, bei denen mit dem Fortschritt der Bodenbearbeitung das Ausmaß der Rekultivierungsverpflichtung tatsächlich zunimmt. Für sie gilt § 6 I Nr. 3a Buchst. d EStG nicht. Sie sind vielmehr gemäß tatsächlicher Inanspruchnahme anzusammeln1. – Schließlich sind Rückstellungen für Geld- und Sachleistungsverpflichtungen entgegen bisheriger Rspr. (BFH BStBl. 1998, 728) stets mit 5,5 % abzuzinsen, vgl. § 6 I Nr. 3a Buchst. e EStG2; dazu s. auch Rz. 288a f. Ausgenommen von der Abzinsung sind nach § 6 I Nr. 3a Buchst. e Satz 1 Hs. 2 EStG i.V.m. § 6 I Nr. 3 Satz 2 EStG Verbindlichkeiten, deren Laufzeit am Bilanzstichtag weniger als zwölf Monate beträgt, und solche, die verzinslich sind oder auf einer Anzahlung oder Vorausleistung beruhen3 (s. Rz. 287a).
Für Pensionsrückstellungen gelten die Sondervorschriften des § 6a EStG (dazu Rz. 51 und Rz. 195). Gem. § 6a III 1 EStG sind sie höchstens mit dem Teilwert anzusetzen; dieser wird in § 6a III 2 EStG näher bestimmt4. Die Vorschrift führt u.a. aufgrund des hohen Rechenzinsfußes von 6 % zu einer die wirtschaftliche Belastungssituation nicht sachgerecht abbildenden Unterbewertung der Pensionsrückstellungen in der Steuerbilanz. Das ist rechtspolitisch und verfassungsrechtlich fragwürdig, weil damit i.Erg. eine Übermaßbesteuerung bewirkt wird5. Das BVerfG sah in der Anhebung des Rechenzinsfußes von 5,5 auf 6 % allerdings keinen Verfassungsverstoß (BVerfGE 68, 287).
290
291–299
Einstweilen frei.
3. Abschreibungen und Zuschreibungen Literatur: Albach, Die degressive Abschreibung, 1967; Dietz, Die Normierung der Abschreibung in Handels- und Steuerbilanz, Diss., 1971; Costede, Grundfragen der Absetzungsbefugnis wegen Abnutzung, StuW 1986, 44; Jakob/Wittmann, Von Zweck und Wesen steuerlicher AfA, FR 1988, 540; Schneeloch, Abschreibungen und Zuschreibungen, Einzelfragen zur Handels- und Steuerbilanz, WPg. 1988, 661; Karrenbauer, Die Abschreibung im Einkommen- und Bilanzsteuerrecht, Diss., 1993; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993, 186 ff.; P. Schubert, Die Abschreibungsberechtigung im Einkommensteuerrecht, Diss., 1994; Moxter, Bilanzrechtsprechung6, 2007, § 14; Oestreicher/Spengel, Steuerliche Abschreibung und Standortattraktivität, 2003; von Schweinitz, Abschreibungen zwischen Aufwands- und Subventionstatbestand, 2005; rechtsvergleichend: Voß, RIW 2006, 610; Hennrichs, Bilanzierung und Bewertung eines Geschäfts- oder Firmenwerts nach BilMoG, Steuerbilanzrecht und IFRS, in FS Schaumburg, 2009, 367 ff.; Hennrichs, AfA und Abschreibung bei Sachanlagen – Insbesondere AfA-Tabellen und Bestimmung der Nutzungsdauern in Handels- und Steuerbilanz sowie IFRS-Abschluss nach BilMoG, Ubg. 2011, 788; Grube, Zur Absetzung wegen wirtschaftlicher Abnutzung insbesondere von Gebäuden, FR 2011, 633.
3.1 Absetzung für Abnutzung (AfA) und Substanzverringerung (AfS) Bei der Gewinnermittlung sind die Vorschriften über die Absetzung für Abnutzung oder Substanzverringerung (§§ 7 ff. EStG) zu befolgen (§§ 4 I 9, III 3; 5 VI EStG). a) Abzuschreiben sind abnutzbare Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens mit einer betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer von mehr als einem Jahr. Nach statischer Bilanzauffassung bezweckt die AfA, den Wertverzehr zu berücksichtigen6. Doch setzt AfA nicht unbedingt einen Wertverzehr voraus (z.B. AfA auf genutzte Antiquitäten), und die steuerlich relevanten 1 BFH BStBl. 2012, 98; krit. Weber-Grellet, BB 2012, 43 (46). 2 Dazu Rz. 287; s. ferner Ernsting, StuB 1999, 457 (Sachleistungsverpflichtungen); Feld, WPg. 1999, 861; Siegel, StuB 1999, 195 (197 ff.); Rogall/Spengel, BB 2000, 1234. 3 BFH BStBl. 2010, 478; 2012, 98. 4 Hierzu z.B. BFHE 229, 234; Schmidt/Weber-Grellet33, § 6a EStG Rz. 51 ff. 5 Kahle, DB 2014, Beil. 4 S. 20. 6 Zum Zweck der AfA m.w.N. Blümich/Brandis, § 7 EStG Rz. 30 ff.; HHR/Nolde, § 7 EStG Anm. 9; Schmidt/Kulosa33, § 7 EStG Rz. 2 f.; Grube, FR 2011, 633 f.
Hennrichs
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579
300
§9
Rz. 301
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
AfA-Sätze sind auch nicht notwendig am Wertverzehr des jeweiligen WG orientiert. Richtigerweise geht es bei der AfA daher um die Verteilung des Aufwands für das Wirtschaftsgut auf die Perioden der wirtschaftlichen Nutzung1. Gem. § 7 I 1, IV EStG „ist“ AfA vorzunehmen, d.h. es besteht eine Pflicht zur Absetzung. Unterlassene AfA kann grds. nachgeholt werden. Dabei ist in den Fällen der § 7 I, II und IV 2 EStG der Restbuchwert auf die neu zu schätzende Restnutzungsdauer nach der bisher angewendeten Methode (Rz. 308 ff.) zu verteilen. In den gesetzlichen typisierten Fällen der § 7 IV 1, V EStG sind hingegen weiterhin die gesetzlich vorgeschriebenen AfA-Sätze anzusetzen, so dass sich i.Erg. die AfA-Dauer verlängert2. Spiegelbildlich ist eine Korrektur überhöhter AfA vorzunehmen3. 301
Bemessungsgrundlage der AfA sind die Anschaffungs- oder Herstellungskosten einschließlich fiktiver Anschaffungskosten u.a. Ersatzwerte (s. Rz. 245). Bei Wirtschaftsgütern, die aus einem Einkünfteerzielungsvermögen der Überschusseinkünfte in ein Betriebsvermögen eingelegt worden sind, mindert sich der Einlagewert (i.S.d. § 6 I Nr. 5 EStG) zur Ermittlung der AfA-Bemessungsgrundlage um die bisher vorgenommenen AfA oder Substanzverringerungen, SonderAfA oder erhöhte Absetzungen (§ 7 I 5 EStG); die Vorschrift verhindert eine doppelte Abschreibung4. Abgeschrieben wird grds. auf null (wobei ein Erinnerungswert von 1 Euro kaufmännischer Übung entspricht). Ist mit Sicherheit ein Rest- oder Schrottwert zu erwarten und ist dieser wesentlich (z.B. bei Schiffen), so ist die Bemessungsgrundlage allerdings von vornherein um diesen Wert zu kürzen5.
302
Abnutzbar und damit abschreibungsfähig sind insb. Gebrauchsgegenstände wie z.B. die Büroeinrichtung oder ein Pkw. Nicht abschreibungsfähig (weil nicht abnutzbar) sind Kunstwerke anerkannter Meister6. Demgegenüber können auch antike Gebrauchsgegenstände wie z.B. ein mehr als 100 Jahre alter Schreibtisch7 oder gar eine mehr als 300 Jahre alte Meistergeige8 einem technischen Verschleiß unterliegen, der eine AfA rechtfertigt, auch wenn es wirtschaftlich zu keinem Wertverzehr, sondern sogar zu einem Wertzuwachs kommt. Grundstücke sind zunächst in den nicht abschreibungsfähigen Grund und Boden und in das abnutzbare Gebäude aufzugliedern. Gebäudeteile verschiedener Nutzungs- und Funktionszusammenhänge sind selbständige Wirtschaftsgüter (s. Rz. 138) und jeweils für sich abschreibungsfähig (vgl. § 7 Va EStG). Selbständig abschreibungsfähig sind auch Mietereinbauten/-umbauten (s. Rz. 153). Immaterielle Wirtschaftsgüter, darunter der Geschäfts- oder Firmenwert9 (zu § 7 I 3 EStG s. Rz. 318) sowie Nutzungsrechte10 (Nießbrauch, dingliches Wohnrecht, Erbbaurecht, obligatorisches Nutzungsrecht), sind abschreibungsfähig, wenn ihre Verwertbarkeit aus rechtlichen oder wirtschaftlichen Gründen zeitlich begrenzt ist. Dies ist jeweils im Einzelfall zu prüfen11. Zur Problematik der subjektiven AfA-Berechtigung s. Rz. 340. 1 2 3 4
5 6 7 8 9 10
11
580
Zutr. Schmidt/Kulosa33, § 7 EStG Rz. 2 f., m.w.N. Schmidt/Kulosa33, § 7 EStG Rz. 7 f. BFH IX R 12/13, BStBl. 2014, 563; Schmidt/Kulosa33, § 7 EStG Rz. 11. Änderung der Vorschrift durch das JStG 2010 v. 8.12.2010, BGBl. I 2010, 1768 (1769), s. Schmidt/ Kulosa33, § 7 EStG Rz. 80; Kirchhof/Lambrecht13, § 7 EStG Rz. 62. Zur Fassung vor dem JStG 2010 s. BFH BStBl. 2005, 698; 2010, 961; 2010, 964; Wendt, Das Verhältnis von Entnahme/Einlage zur Anschaffung und Veräußerung im Einkommensteuerrecht, Diss., 2003, 111 ff. BFH BStBl. 1993, 284. Schmidt/Kulosa33, § 7 EStG Rz. 107, „Kunstgegenstände“. BFH BStBl. 1986, 355. BFH BStBl. 2001, 194. Dazu BFH BStBl. 1994, 590; 1998, 775; Groh, FS F. Klein, 1994, 815; Hartung, FS Beisse, 1997, 235; Thiel, FS Flick, 1997, 1005; Kienzle, Bilanzierung und Bewertung des Goodwills nach internationalen Rechnungslegungsstandards, 2006; Velte, StuW 2008, 280; Hennrichs, FS Schaumburg, 2009, 367 ff. BFH BStBl. 1970, 382 (Abstandszahlung eines Mieters); 1974, 481 (Nießbrauch); 1977, 595 (entgeltlich erworbenes Mietrecht); 1978, 386; 1979, 38; 1979, 399; 1979, 401; 1980, 244 (246); 1981, 68 (89); 1981, 295 (297); 1982, 594 (unentgeltliche Pkw-Nutzung); Vorbehaltsnießbrauch: BFH BStBl. 1984, 202; 1992, 67; Schmidt/Kulosa33, § 7 EStG Rz. 44. Warenzeichen, Marken, Arzneimittelzulassungen können gem. BMF BStBl. I 1999, 686 (entgegen BFH BStBl. 1996, 586) in Anlehnung an § 7 I 3 EStG grds. über 15 Jahre abgeschrieben werden. Dagegen sollen Domains (BFH BStBl. 2007, 301) nicht abnutzbar sein (a.A. Mank, DStR 2005, 1294; Schmidt/Kulosa33, § 7 EStG Rz. 29).
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Hennrichs
Rz. 306
§9
Die AfA beginnt mit der Anschaffung (Erlangung des sog. wirtschaftlichen Eigentums1, Rz. 145 ff.) oder Herstellung (Fertigstellung, § 9a EStDV)2. Bei unterjähriger Anschaffung oder Herstellung des Wirtschaftsguts ist die AfA nach Maßgabe des § 7 I 4 EStG aufzuteilen, d.h. der Absetzbetrag für dieses Jahr vermindert sich um jeweils ein Zwölftel für jeden vollen der Anschaffung/Herstellung vorausgehenden Monat.
303
b) § 7 I 1 EStG setzt für die AfA voraus, dass sich die Verwendung oder Nutzung des Wirtschaftsguts erfahrungsgemäß auf einen Zeitraum von mehr als einem Jahr erstreckt. Bei kürzerer Nutzungsdauer (kurzlebige Wirtschaftsgüter) sind die Anschaffungs- oder Herstellungskosten sofort als Betriebsausgaben (oder Werbungskosten) abziehbar, und zwar selbst dann, wenn die Nutzungsdauer über den Bilanzstichtag hinausreicht.3
304
Bewertung von Wirtschaftsgütern
Die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer (§ 7 I 2 EStG) ist nach BFH BStBl. 1998, 59; BStBl. 2011, 709, der Zeitraum der Nutzbarkeit eines Wirtschaftsguts unter Berücksichtigung der betriebstypischen Beanspruchung (bei einem Taxi kann sie anders sein als bei dem Firmenwagen eines Anwalts). Die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer wird nicht dadurch vermindert, dass der Stpfl. das Wirtschaftsgut vor Beendigung seines technischen oder wirtschaftlichen Wertverzehrs veräußert (wie im Fall von Autovermietungsunternehmen, BFH BStBl. 1998, 59)4. Die Nutzungsdauer ist zu schätzen. Bei der Schätzung ist in der HGB- und Steuerbilanz das Vorsichtsprinzip gem. § 252 I Nr. 4 HGB (i.V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG) zu berücksichtigen. Eine im IFRS-Konzernabschluss angenommene Nutzungsdauerschätzung kann nicht ohne weiteres für die HGB- und Steuerbilanz übernommen werden, weil sie auf einer anderen Gewichtung des Vorsichtsprinzips beruhen kann5. Hilfsmittel der Schätzung6 sind die AfA-Tabellen des BMF7. Sie dienen der Beweiserleichterung im Bereich der Sachverhaltsermittlung und der Verfahrensökonomie. Nach der Finanzrechtsprechung haben sie im Rahmen der steuerlichen Gewinnermittlung zunächst die „Vermutung der Richtigkeit“ für sich, „da sie ein zusammengefasstes Fachwissen zur durchschnittlichen betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer von Wirtschaftsgütern enthalten“8 und „umfassende praktische Erfahrungen“9 widerspiegeln10. Die Gerichte sind an die AfA-Tabellen allerdings nicht gebunden11.
305
Auch der Stpfl. hat keinen Rechtsanspruch auf Anwendung der AfA-Tabellen12. Maßgebend ist eine einzelfallbezogene Schätzung nach den Gegebenheiten des konkreten Betriebs bzw. nach den tatsächlichen Verhältnissen beim einzelnen Stpfl.13. Es ist damit auf die spezifischen Verhältnisse (Art und Grad der Nutzung) des jeweiligen Wirtschaftsguts im jeweiligen Betrieb abzustellen14. Will der Stpfl. eine gegenüber den AfA-Tabellen kürzere Nutzungsdauer zugrunde legen, muss er eine solche besonders glaubhaft machen15. Dass in der Handelsbilanz tatsächlich mit einer kürzeren Nutzungsdauer gerechnet wird, genügt für sich allein nicht. Ist eine kürzere Nutzungsdauer als nach den AfA-
306
1 BFH I R 57/10, BStBl. 2012, 407 (Tz. 20). 2 Für den Abschreibungsbeginn irrelevant ist nach BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10, BStBl. 2012, 407, die tatsächliche Inbetriebnahme des Wirtschaftsguts. 3 Schmidt/Kulosa33, § 7 EStG Rz. 23. 4 S. zur Nutzungsdauer ausf. Grube, FR 2011, 633 (634 ff.). 5 S. Hennrichs, Ubg. 2011, 788 (790 ff.), m.w.N. zum Streitstand. 6 Schmidt/Kulosa33, § 7 EStG Rz. 105; Kirchhof/Lambrecht13, § 7 EStG Rz. 54. 7 BMF, AfA-Tabelle für die allgemein verwendbaren Anlagegüter, BStBl. I 2000, 1532 (Geltung ab 2001). Dazu Hommel, BB 2001, 247; Heil, StuB 2001, 105; Starck, JZ 2001, 132 (Erlasszuständigkeit); zu den ökonomischen Wirkungen der Verlängerung der Abschreibungsdauern: Oestreicher/Spengel, Steuerliche Abschreibung und Standortattraktivität, 2003; Oestreicher/Spengel, StuB 2003, 458. 8 FG Schleswig-Holstein EFG 1980, 174; FG Niedersachsen v. 9.7.2014 – 9 K 98/14, BB 2014, 2226. 9 Vgl. Hommel, BB 2001, 247 (248). 10 Vgl. z.B. BFH BStBl. 2009, 899; Schmidt/Kulosa33, § 7 EStG Rz. 105 m.w.N. 11 BFH BStBl. 1992, 1000; 2011, 696; 2011, 709; BFH/NV 2011, 1339. 12 KSM/Waldhoff, § 7 EStG Rz. B 298a. 13 BFH BStBl. 1992, 1000; 2001, 311. 14 BFH BStBl. 1998, 59. 15 BMF BStBl. I 2001, 860 (unter 2.); vgl. auch Schmidt/Kulosa33, § 7 EStG Rz. 102: „anhand konkreter Umstände glaubhaft machen“; Kirchhof/Lambrecht13, § 7 EStG Rz. 54.
Hennrichs
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581
§9
Rz. 307
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Tabellen aber aufgrund des Vorsichtsprinzips nach den betriebsindividuellen Umständen gerechtfertigt, ist dies auch für die Steuerbilanz maßgebend1. Legt der Kaufmann im handelsrechtlichen Jahresabschluss eine Nutzungsdauer zugrunde, die länger ist als nach den AfA-Tabellen, muss er sich dies im Zweifel auch bei der steuerbilanziellen Gewinnermittlung entgegenhalten lassen2. Zwar gilt für Schätzungen, die als solche auf tatsächlichem Gebiet liegt (Tatfrage), nicht der Maßgeblichkeitsgrundsatz. Maßgeblich werden aber die bei der Schätzung zu beachtenden handelsrechtlichen GoB, namentlich das Vorsichtsprinzip. Da Handels- und Steuerbilanz insoweit auf denselben konzeptionellen Grundlagen beruhen, wären Abweichungen hinsichtlich der Nutzungsdauerschätzung nicht plausibel3.
307
In Bezug auf Windparks hat der BFH entschieden, dass diese zwar aus verschiedenen einzelnen Wirtschaftsgütern bestehen4, deren betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer aber aufgrund der besonderen technischen und baulichen Einheit grds. einheitlich zu schätzen ist5. Dagegen ist der Beginn der AfA für jedes Wirtschaftsgut eigenständig zu beurteilen (Grundsatz der Einzelbewertung, Rz. 270)6.
308
c) § 7 EStG regelt verschiedene AfA-Methoden, die der Stpfl. wählen kann. Dieses steuerrechtliche Methodenwahlrecht kann nach der Aufgabe der umgekehrten Maßgeblichkeit (s. Rz. 42 f.) zukünftig unabhängig von der handelsrechtlichen Jahresbilanz ausgeübt werden7. Zu unterscheiden sind folgende AfA-Methoden:
309
aa) AfA in gleichen Jahresbeträgen (lineare AfA); die Anschaffungs- oder Herstellungskosten werden gleichmäßig auf die voraussichtliche Nutzungsdauer verteilt (§ 7 I 1, 2 EStG). Für Gebäude gilt die Sonderregel des § 7 IV EStG.
310
bb) Nur für bewegliche Güter: AfA nach Maßgabe der Leistung (z.B. km-Leistung eines Lkw; Arbeitsstunden einer Maschine), wenn der Umfang der auf einzelne Jahre entfallenden Leistung nachgewiesen wird (§ 7 I 6 EStG). Beispiel: Voraussichtliche Gesamtleistung eines Kfz: 100 000 km. Stpfl. fährt im ersten Jahr 15 000 km, im zweiten Jahr 25 000 km, im dritten Jahr 30 000 km. – Absetzen kann er im ersten Jahr 15 %, im zweiten Jahr 25 %, im dritten Jahr 30 % der AK etc.
311
cc) AfA in fallenden Jahresbeträgen (degressive AfA) gem. § 7 II EStG. Die degressive AfA beruht auf der Überlegung, dass manche Wirtschaftsgüter in den ersten Jahren der Nutzung schneller veralten als in den folgenden. Allerdings setzt die Wahl der degressiven AfA steuerlich nicht einen solchen degressiven Nutzungsverlauf tatsächlich voraus. Vielmehr kann das Methodenwahlrecht frei ausgeübt werden8. Ein Wechsel der Methode von der degressiven zur linearen AfA ist für den im Zeitpunkt des Übergangs noch vorhandenen Restwert möglich (§ 7 III 1 u. 2 EStG), nicht umgekehrt (§ 7 III 3 EStG)9. Die Inanspruchnahme einer Sonderabschreibung bleibt möglich10.
312
Der Gesetzgeber behandelt die degressive AfA je nach Bedarf mal als Instrument der Investitionsförderung, mal als Mittel der Gegenfinanzierung. Mit dem Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung v. 26.4.2006 (BGBl. I 2006, 1091) war der Höchstsatz befristet für zwischen dem 31.12.2005 und dem 1.1.2008 angeschaffte oder hergestellte Wirtschaftsgüter zunächst von 20 % auf 30 % und maximal das Dreifache der linearen AfA angehoben worden11, nur um die degressive AfA durch UntStRefG 2008 für nach dem 1.1.2008 angeschaffte Wirtschaftsgüter vollständig 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
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Hennrichs, Ubg. 2011, 788 (795). Zutr. Hoffmann, PIR 2011, 148. S. i.E. Hennrichs, Ubg. 2011, 788 (795 f.). BFH BStBl. 2011, 696; BFH/NV 2011, 1339; BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10, BStBl. 2012, 407. Hierzu Urbahns, StuB 2011, 537; teilweise krit. Hoffmann, StuB 2011, 641 (642). BFH BStBl. 2011, 696; BFH/NV 2011, 1339; zust. Peetz, DStZ 2011, 904 (910); in Bezug auf den Vereinfachungsfaktor Kirchhof/Lambrecht13, § 7 EStG Rz. 24. BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10, BStBl. 2012, 407. Hennrichs, Ubg. 2011, 788 (789); Hennrichs, Ubg. 2009, 533 (540); s. auch Rz. 106. Vgl. NWB Praxishdb. BilStR/Adrian2, Rz. 3528 f.; Hennrichs, Ubg. 2011, 788 f. Dazu HHR/Nolde, § 7 EStG Anm. 360–377. BFH BStBl. 2006, 799. Dazu Fischer/Hoberg, BB 2006, 484.
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Hennrichs
Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 315
§9
abzuschaffen, sie dann aber als Maßnahme der Konjunkturbelebung durch Gesetz v. 21.12.2008 (BGBl. I 2008, 2896) auf zwei Jahre befristet für nach dem 31.12.2008 und vor dem 1.1.2011 angeschaffte Wirtschaftsgüter mit einem Höchstsatz von 25 % wieder einzuführen. Für seit dem 1.1.2011 angeschaffte oder hergestellte Wirtschaftsgüter ist die degressive AfA in der Steuerbilanz sodann wieder nicht mehr zulässig. Auch wenn man die degressive AfA nicht zum zwingenden Bestand des Bilanzsteuerrechts zählt, besteht die Gefahr, dass der Zickzackkurs des Gesetzgebers Investitionsentscheidungen verzerrt.
dd) Absetzung wegen außergewöhnlicher Abnutzung (AfaA, § 7 I 7 EStG) mit der Folge eines erhöhten Wertverzehrs1. Unterschieden werden kann zwischen außergewöhnlicher technischer Abnutzung (z.B. durch mehrschichtige Nutzung, Beschädigung, Zerstörung, etwa durch Brand, Hochwasser) und wirtschaftlicher Abnutzung (z.B. durch neue Erfindungen, Modewechsel, neues Modell). Für das Konkurrenzverhältnis zur Teilwertabschreibung gilt Folgendes: Einerseits ist für die Absetzung wegen außergewöhnlicher Abnutzung unerheblich, ob und inwieweit der Teilwert gesunken ist. Andererseits rechtfertigt eine bloße Wertminderung ohne Auswirkung auf die betriebsgewöhnliche Nutzung keine AfaA (BFH BStBl. 2004, 592). In Betracht kommt dann eine Teilwertabschreibung (s. Rz. 321).
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AfaA ist nach dem Wert zu bestimmen, um den der im Jahr des Ereignisses (Schadenseintritts) vorhandene Restbuchwert des Wirtschaftsguts durch das Ereignis gemindert wird. Für ein bereits voll abgeschriebenes Wirtschaftsgut kommt danach AfaA nicht in Betracht2. d) Sofortabschreibung und Sammelabschreibung für geringwertige Wirtschaftsgüter (GWG)3: AK/HK von abnutzbaren beweglichen und selbständig nutzbaren4 Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens können gem. § 6 II 1 EStG im Jahr der Anschaffung/Herstellung oder Einlage des Wirtschaftsguts oder der Eröffnung des Betriebs sofort als Betriebsausgaben abgezogen werden, wenn die Kosten 410 Euro (bei AK/HK vermindert um den darin enthaltenen Vorsteuerbetrag) nicht übersteigen (seit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz v. 22.12.2009, BGBl. I, 3950, wie vor der UntStRef 2008 ein Wahlrecht; die UntStRef hatte eine Pflicht bei nicht 150 Euro übersteigenden Werten eingeführt.)5. Übersteigt der Wert der Wirtschaftsgüter i.S.d. Satzes 1 den Betrag von 150 Euro, sind sie gem. § 6 II 4 EStG in ein besonderes, laufend zu führendes Verzeichnis aufzunehmen, es sei denn, dass die Angaben über den Tag der Anschaffung/Herstellung und der AK/HK aus der Buchführung ersichtlich sind (§ 6 II 5 EStG).
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Übersteigen die AK/HK 150 Euro, aber nicht 1 000 Euro, ermöglicht § 6 IIa 1 EStG im Jahr der Anschaffung/Herstellung oder Einlage des Wirtschaftsguts oder der Eröffnung des Betriebs die Bildung eines Sammelpostens. Dieses Wahlrecht kann der Stpfl. aber nur für alle in einem Wirtschaftsjahr angeschafften/hergestellten/eingelegten Wirtschaftsgüter einheitlich ausüben6. Der Sammelposten ist im Wirtschaftsjahr der Bildung und den darauf folgenden 4 Wirtschaftsjahren um je ein Fünftel gewinnmindernd aufzulösen (§ 6 IIa 2 EStG). Die Vorschrift normiert damit der Sache nach abweichend von § 7 I 2 EStG die Fiktion einer fünfjährigen Nutzungsdauer. § 6 IIa EStG gilt allerdings auch für Wirtschaftsgüter mit einer Nutzungsdauer von unter fünf Jahren. Auch das Ausscheiden eines Wirtschaftsguts aus dem Betriebsvermögen hat keine Auswirkungen auf die Höhe des Sammelpostens (§ 6 IIa 3 EStG). Wird ein Sammelposten gebildet, ist die Sofortabschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter mit einem Wert von höchstens 150 Euro zulässig (§ 6 IIa 4 EStG). Der Sammelposten soll zur Vermeidung eines Auseinanderfallens von Handels- und Steuerbilanz auch in der Handelsbilanz gebildet werden kön-
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1 Hierzu ausf. Grube, FR 2011, 633 (636 ff.); Grube, FR 2011, 987. 2 BFH VIII R 33/09, BStBl. 2013, 171 (Tz. 23). 3 Sehr krit. hierzu G. Söffing, BB 2007, 1032; Kölpin, StuB 2007, 525; grundl. Voß, FR 2007, 1149; zu Praxisfragen Böhlmann/Keller, BB 2007, 2732; Wagner/Staats, DB 2007, 2395; Ortmann-Babel/Bolik, BB 2008, 1217; Conrad, DStR 2008, 710; Pohl, DStR 2008, 2302; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 253 HGB Rz. 174 ff. 4 S. BFH v. 9.5.2012 – III B 198/11, BFH/NV 2012, 1433: maßgeblich ist die konkrete betriebliche Zweckbestimmung des Wirtschaftsguts in dem konkreten Betrieb. 5 Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 592. 6 Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 604.
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§9
Rz. 316
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
nen (BT-Drucks. 16/5491, 14). Das erscheint allerdings zweifelhaft, denn indem § 6 IIa EStG auch Wirtschaftsgüter mit kürzerer Nutzungsdauer als fünf Jahre und aus dem Betriebsvermögen ausgeschiedene Wirtschaftsgüter erfasst, verstößt die Vorschrift gegen die handelsrechtlichen GoB, ohne dass dies durch den Vereinfachungszweck gerechtfertigt wäre1. 316
e) Für Gebäude2 und selbständige Gebäudeteile sind Sonderregeln zu beachten (§ 7 IV, V, Va EStG). Hier werden bestimmte AfA-Sätze fest typisiert (§ 7 Abs. 4 EStG für die lineare Gebäude-AfA, § 7 Abs. 5 EStG für die degressive Gebäude-AfA).
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Degressive AfA für den Mietwohnungsbau wird letztmalig gewährt, wenn das Gebäude vor dem 1.1.2006 angeschafft (obligatorischer Vertrag) bzw. mit der Herstellung begonnen wurde (Bauantrag); vgl. § 7 V 1 Nr. 3c EStG.
318
f) Die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer eines entgeltlich erworbenen Geschäfts- oder Firmenwerts ist durch § 7 I 3 EStG auf 15 Jahre festgesetzt. Der Praxiswert3 einer Freiberuflerpraxis kann dagegen nach BFH BStBl. 1994, 590, auch weiterhin auf Grund des Individualbezugs zum ehemaligen Inhaber in einem kürzeren Zeitraum (in der Regel drei – fünf Jahre) abgeschrieben werden.
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g) Absetzung für Substanzverringerung (AfS): Bei Bergbauunternehmen, Steinbrüchen und anderen abbau- oder ausbeutungsfähigen Betrieben, bei denen die Substanz verbraucht wird, kann auf der Grundlage der AK linear abgesetzt werden; zulässig sind aber auch Absetzungen entspr. dem Substanzverzehr (§ 7 VI EStG). Verneint hat der GrS des BFH (BStBl. 2007, 508 [515]) AfS indes für Bodenschätze, die ein Stpfl. auf einem ihm gehörenden Grundstück im Privatvermögen entdeckt und dann zum Teilwert in sein Betriebsvermögen einlegt4. Zwar sei der Bodenschatz kein Nutzungsrecht, sondern ein selbständiges materielles Wirtschaftsgut; auch gilt § 11d II EStDV (Ausschluss der AfS) nicht für Bodenschätze im Betriebsvermögen. Durch die Versagung der AfS soll aber der Nutzungseinlage (Rz. 182) vergleichbar verhindert werden, dass der im Betrieb erwirtschaftete Gewinn aus dem Abbau unversteuert bleibt. Dem Ergebnis ist zuzustimmen, es sprengt jedoch die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung und vermag dogmatisch nicht zu überzeugen. Statt das Problem wie zuvor der VIII. Senat, BFH BStBl. 1994, 846, über die Nutzungseinlage zu lösen, kreiert der GrS eine Sonderrechtsprechung zur Abschreibungsfähigkeit eingelegter Bodenschätze, ohne deutlich zu machen, dass er sich dabei letztlich einer steuerverschärfenden Analogie zu § 11d II EStDV bedient5.
3.2 Teilwertabschreibungen und Wertaufholungen 320
§ 6 I Nr. 1 Satz 2, Nr. 2 Satz 2 EStG erlaubt statt der AK/HK den Ansatz des niedrigeren Teilwerts („kann dieser angesetzt werden“). Nach h.M. soll dies ein steuerliches Wahlrecht i.S.d. § 5 I 1 Hs. 2 EStG n.F. sein, das unabhängig von dem handelsrechtlichen Niederstwertprinzip (§ 253 III 3, IV HGB) in der Steuerbilanz frei ausgeübt werden könne6. Dem ist nicht zu folgen7. Es ist schon zweifelhaft, ob die Formulierung „kann“ für die Teilwertabschreibung wirkMit Recht krit. Köplin, StuB 2007, 526; Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 608. Umfassend Kahle/Heinstein, DStZ 2007, 93 u. 141. Dazu Schmidt/Wacker33, § 18 EStG Rz. 200 ff.; Blümich/Hutter, § 18 EStG Rz. 243 ff. Zust. Weber-Grellet, FR 2007, 515; Kanzler, DStR 2007, 1101; Schulze-Osterloh, BB 2007, 1323; krit. Hoffmann, DStR 2007, 854; U. Prinz, StuB 2007, 428; Paus, DStZ 2007, 523. 5 Zutr. Schulze-Osterloh, BB 2007, 1323. 6 BMF BStBl. I 2010, 239; Günkel, FS Herzig, 2010, 509 (513 f.); Günkel, StbJb. 2009/2010, 331 (336 f.); Herzig/Briesemeister, DB 2009, 926 (929 f.); Herzig/Briesemeister, DB 2009, 976 (978); Herzig/Briesemeister, WPg. 2010, 63 (71 f.); Herzig/Briesemeister, DB 2010, 917 (918 f.); U. Prinz, DB 2010, 2069 (2071); ferner Dietel, DB 2012, 483 (steuerliches Wahlrecht und Stetigkeitsgebot); MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 253 HGB Rz. 13. 7 Vgl. Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, DB 2009, 2570 (2571 f.); Anzinger/Schleiter, DStR 2010, 395 (396 ff.); Hennrichs, Ubg. 2009, 533 (540 f.); Hennrichs, StbJb. 2009/2010, 261 (267 ff.); Hoffmann, StuB 2009, 515 f., 787 f.; Schenke/Risse, DB 2009, 1957 (1958 f.); SchulzeOsterloh, DStR 2011, 534 (536 ff.).
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Rz. 323
§9
lich ein steuerliches Wahlrecht ausdrücken will1. Vom historischen Gesetzgeber gewollt (subjektiv-teleologische Auslegung) ist das nicht2. Und auch objektiv-teleologisch wäre eine weitreichende, eigenständige Steuerbilanzpolitik mit dem Gedanken der gleichmäßigen Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit kaum vereinbar (s. Rz. 106). Die Vorschrift hat Bedeutung vor allem für nichtabnutzbare Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens (Grundstücke, Beteiligungen, Forderungen) sowie für Wirtschaftsgüter des Umlaufvermögens, da in beiden Fällen eine reguläre Abschreibung ausscheidet. § 6 I Nr. 1 Satz 2, Nr. 2 Satz 2 EStG macht in Durchbrechung des Imparitätsprinzips (s. Rz. 90) zur Voraussetzung der Teilwertabschreibung3, dass es sich um eine voraussichtlich dauernde Wertminderung handelt. Das Erfordernis der voraussichtlich dauernden Wertminderung gilt steuerbilanzrechtlich auch bei Finanzanlagen und für das Umlaufvermögen (Letzteres ist rechtspolitisch fragwürdig, weil Umlaufvermögen definitionsgemäß ja schnell umgeschlagen werden soll, arg. e § 247 II HGB). Das in § 253 III 4 HGB für Finanzanlagen weiterhin vorgesehene Wahlrecht außerplanmäßiger Abschreibung bei nur vorübergehender Wertminderung sowie die handelsrechtliche Pflicht zur außerplanmäßigen Abschreibung bei jedweder Wertminderungen im Umlaufvermögen gem. § 253 IV 1 HGB laufen steuerrechtlich leer.
321
Die Teilwertabschreibung ist nach BFH BStBl. 2010, 482, für Wirtschaftsgüter, an die Sanierungspflichten geknüpft sind, grds. unabhängig von der Bildung einer Rückstellung für die Sanierungsverpflichtung zu beurteilen4, allerdings kann es wegen der Sanierungsverpflichtung an der dauernden Wertminderung fehlen; zur Teilwertabschreibung trotz Verbot der Bildung einer Verlustrückstellung zudem BFH/NV 2010, 1090. S. auch Rz. 190.
322
Eine voraussichtlich dauernde Wertminderung liegt nach BFH-Rspr. vor, „wenn der Teilwert nachhaltig unter den maßgeblichen Buchwert gesunken ist und deshalb aus Sicht des Bilanzstichtags aufgrund objektiver Anzeichen ernstlich mit einem langfristigen Anhalten der Wertminderung gerechnet werden muss. Hierfür [bedürfe] es einer an der Eigenart des Wirtschaftsgutes ausgerichteten Prognose.“5 Die Nachweispflicht liegt beim Stpfl.6 BFH BStBl. 2006, 680, hat sich einem vermögenswertorientierten Teilwertverständnis angeschlossen und bejaht bei abnutzbaren Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens die Teilwertabschreibung, wenn der Teilwert am Bilanzstichtag mindestens für die halbe objektive Restnutzungsdauer (nicht: individuelle Verbleibensdauer beim betreffenden Stpfl.) unter dem planmäßigen Restbuchwert liegt7. Bei WG des Umlaufvermögens genügt es, wenn die Wertminderung bei Aufstellung der Handelsbilanz noch vorliegt oder voraussichtlich bis zum Verbrauch oder Verkauf anhält8.
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1 Nicht zu den Fällen eines steuerrechtlichen Wahlrechts zählt die Vorschrift namentlich Schulze-Osterloh, DStR 2011, 534 (536 f.) m.w.N. 2 Vgl. BT-Drucks. 16/10067, 124; Hennrichs, Ubg. 2009, 533 (538); Schulze-Osterloh, DStR 2011, 534 (535); Mayr, DStJG 34 (2011), 327 (331 f.). 3 BMF BStBl. I 2014, 1162; dazu Adrian/Helios, Ubg 2014, 489; Hannig, BB 2014, 752; Hörhammer, BB 2014, 497; Hörhammer/Schumann, StuB 2014, 551; Förster, DK 2014, 256; U. Prinz, DB 2014, 1825. Grds. Rief-Drewes, Der Teilwert, Diss., 2004; Kadel, Außerplanmäßige Abschreibungen und Zeitwert in der deutschen und US-amerikanischen Handels- und Steuerbilanz, Diss., 2005; Schlotter, Teilwertabschreibung und Wertaufholung zwischen Steuerbilanz und Verfassungsrecht, Diss., 2005; ferner Jakobs/Lorbacher, GmbHR 1998, 1204 (Verfassungsmäßigkeit); Niemann, IFSt-Schrift Nr. 368, 1999; Uelner/Albert, IFSt-Schrift Nr. 369, 1999; zur dauernden Wertminderung bei Wertpapieren: grundl. Schön, FS Raupach, 2006, 299. 4 Einschränkend allerdings BMF v. 11.5.2010, BStBl. I. 2010, 495. 5 BFH/NV 2012, 306 = DStR 2012, 21, m. Anm. Hoffmann; BFH/NV 2012, 310 = DStRE 2012, 209. Zudem BFH BStBl. 2009, 778. 6 BMF BStBl. I 2014, 1162 (Tz. 4). 7 Bestätigt durch BFH BStBl. 2009, 778; 2009, 899; BFH/NV 2011, 423. Krit. Teschke, DStZ 2006, 661; Schlotter, BB 2006, 1738 (ausschüttungsorientiertes Teilwertverständnis); Rätke, StuB 2011, 858 (860); Weber-Grellet, BB 2010, 43 (45); Weber-Grellet, BB 2012, 43 (48). 8 Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 368, m.w.N.
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§9
Rz. 324
324
Bei börsennotierten Anteilen des Anlagevermögens ist nach heute h.M.1 eine Teilwertabschreibung zulässig, wenn der Börsenkurs der Aktie zum Bilanzstichtag unter den Buchwert gesunken ist, der Kursverlust eine Bagatellgrenze von 5 % überschreitet und keine konkreten Anhaltspunkte für eine alsbaldige Wertaufholung vorliegen. Relevant ist dabei allein der Kurs am Bilanzstichtag; nach dem Bilanzstichtag und bis zum Tag der Bilanzaufstellung möglicherweise eintretende Kursänderungen berühren als wertbegründende (und nicht werterhellende) Umstände die Bewertung der Aktien zum Bilanzstichtag nicht2. Die steuerrechtliche Beurteilung folgt damit der im Börsenkurs zum Ausdruck kommenden Prognose durch den Kapitalmarkt3 und vermeidet somit eine aufwändige und mit Unsicherheit behaftete eigene Prognose.
325
Entsprechend ist bei Anteilen an Investmentfonds zu entscheiden, „wenn das Vermögen des Investmentfonds überwiegend in an Börsen gehaltenen Aktien angelegt ist“4. Bei festverzinslichen Wertpapieren ist dagegen eine Teilwertabschreibung nicht alleine wegen eines unter den Nominalwert gesunkenen Kurswertes zulässig5. Das ist zutreffend. Denn die festverzinslichen Wertpapiere zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine Forderung in Höhe des Nominalwertes verbriefen. Am Fälligkeitstag erhält der Gläubiger daher (Bonität des Schuldners vorausgesetzt) in jedem Fall den Nennbetrag des Papiers. Eine Teilwertabschreibung kommt daher bei diesen Papieren nur in Betracht, wenn das Absinken des Kurswertes ein Risiko in Bezug auf die Rückzahlung ausdrückt6.
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Ebenfalls nicht ohne weiteres übertragbar sind die Grundsätze zur Teilwertabschreibung von börsennotierten Aktien auf Fremdwährungsverbindlichkeiten. Hier soll es nach BFH BStBl. 2009, 778, auf die Laufzeit der Verbindlichkeit ankommen. Bei einer Laufzeit einer Fremdwährungsverbindlichkeit von z.B. zehn Jahren begründe ein Kursanstieg der Fremdwährung am Stichtag grds. keine voraussichtlich dauernde Teilwerterhöhung, da in diesen Fällen davon auszugehen sei, dass sich die Wertschwankungen in der Regel wieder ausglichen. Auch die Bildung einer gewinnmindernden Rücklage nach § 52 XVI 8 EStG hielt der BFH nicht für zulässig7. Vollends schlüssig erscheint diese Differenzierung nicht. Der Kurswert einer Währung beinhaltet die Zukunftseinschätzung der Marktakteure nicht anders als der Kurswert einer Aktie.
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Weitere Einzelfälle: TW-Abschreibungen einer Forderung wegen Uneinbringlichkeit, wenn der Schuldner in Zahlungsschwierigkeiten gerät: BMF BStBl. I 2014, 1162 (Tz. 20). Dagegen keine TWAbschreibung wegen Unverzinslichkeit einer Forderung: BFH v. 24.10.2012 – I R 43/11, BStBl. 2013, 162. – Für bewusst nicht kostendeckend kalkulierte sog. Verlustprodukte ist eine Teilwertabschreibung nicht zulässig, wenn der Betrieb insgesamt rentabel geführt wird8. – Bei Grundstücken lässt die FinVerw. (BMF BStBl. I 2014, 1162 [Tz. 13]) TW-Abschreibungen allein wegen gesunkener Preis oder Bodenrichtwerte nicht zu, weil Immobilienpreise Schwankungen unterlägen und nicht auszuschließen sei, dass eine Preisschwankung eine nur vorübergehende Wertminderung darstelle. Das ist zu eng. Richtigerweise indizieren gesunkene Bodenrichtwerte einer dauerhafte Wertminderung9. – Bei einem Lebensversicherungsanspruch rechtfertigt sich nach BFH BStBl. 2011, 552, die Teilwert-
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
1 BFH v. 26.9.2007 – I R 58/06, BStBl. 2009, 294; BFH v. 21.9.2011 – I R 89/10, BStBl. 2014, 612; BFH v. 21.9.2011 – I R 7/11, BStBl. 2014, 616; nun auch BMF BStBl. I 2014, 1162 (Tz. 15 ff.); grundl. Schön, FS Raupach, 2006, 299: Schlotter, Teilwertabschreibung und Wertaufholung zwischen Steuerbilanz und Verfassungsrecht, 2005, 370 ff. 2 BFH v. 21.9.2011 – I R 89/10, BStBl. 2014, 612; so schon Schlotter, BB 2011, 171 (173); nun auch BMF BStBl. I 2014, 1162 (Tz. 15). 3 Im Anschluss an Schön, FS Raupach, 2006, 299; Schlotter, Teilwertabschreibung und Wertaufholung zwischen Steuerbilanz und Verfassungsrecht, 2005, 370 ff.; Schlotter, BB 2011, 171; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 253 HGB Rz. 61 ff.; zust. Hoffmann, DB 2008, 260; Schlotter, BB 2008, 546; Hahne, DStR 2008, 540; Heger, Ubg. 2008, 68; Patek, FR 2008, 689; Hoffmann, DStR 2012, 25; krit. Jochum, FR 2009, 423 (425 ff.). 4 BFH v. 21.9.2011 – I R 7/11, BStBl. 2014, 616; nun auch BMF BStBl. I 2014, 1162 (Tz. 17 ff.). 5 BFH v. 8.6.2011 – I R 98/10, BStBl. 2012, 716; BMF BStBl. I 2014, 1161 (Tz. 14); krit. Rätke, StuB 2011, 858 (860 f.); A. Schmid, BB 2011, 2475 (2477 f.). 6 BFH v. 8.6.2011 – I R 98/10, BStBl. 2012, 716; zust. Weber-Grellet, BB 2012, 43 (48). 7 BFH BStBl. 2009, 778. Krit. aus betriebswirtschaftlicher Sicht Rzepka/Scholze, StuW 2011, 92 (93 ff.). 8 BFH v. 29.4.1999 – IV R 14/98, BStBl., 681; BMF BStBl. I 2014, 1162 (Tz. 3). 9 So zu Recht U. Prinz, DB 2014, 1825 (1828); Förster, DB 2014, 382 (383).
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Bewertung von Wirtschaftsgütern
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§9
abschreibung nicht alleine dadurch, „dass der Rückkaufswert [der] Versicherung das angesammelte Deckungskapital regelmäßig unterschreitet, […] solange der Rückkauf nicht ernstlich beabsichtigt“ sei. – Bei einer Betriebsaufspaltung ist nach BFH BStBl. 2010, 274, die Teilwertabschreibung einer Forderung des Besitzunternehmens gegen die Betriebsgesellschaft nach denselben Kriterien zu beurteilen, die für die Teilwertberichtigung der Beteiligung am Betriebsunternehmen durch das Besitzunternehmen bestehen; es sei daher eine Gesamtbetrachtung der Ertragsaussichten von Besitz- und Betriebsunternehmen vorzunehmen. – Zum Teilwert einer Forderung auf einen Sanierungszuschuss s. BFH v. 24.7.2013 – IV R 30/10, BFH/NV 2014, 304. TW-Abschreibung einer GmbH-Beteiligung bei über mehrere Jahre gewährten Sanierungszuschüssen: BFH v. 7.5.2014 – X R 19/11, BFH/NV 2014, 1736.
Nach altem (Handelsbilanz-)Recht konnte ein niedrigerer Wert in der Handelsbilanz auch nach Wegfall des Grundes für eine außerplanmäßige Abschreibung grds. beibehalten werden (§ 253 II 3 HGB a.F.). An die Stelle dieses früheren Wahlrechts ist durch das BilMoG ein Wertaufholungsgebot getreten (§ 253 V 1 HGB); eine (auch steuerrechtlich sachgerechte) Ausnahme gilt nur noch für einen entgeltlich erworbenen Geschäfts- und Firmenwert (§ 253 V 2 HGB)1. Für die Steuerbilanz galt schon früher und gilt nach wie vor ein Wertaufholungsgebot2 auf den höheren Teilwert, höchstens jedoch auf die fortgeführten Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten (§ 6 I Nr. 1 Satz 4, Nr. 2 Satz 3 EStG). Anders als in § 253 V 1 HGB ist die Zuschreibungspflicht allerdings nicht auf den Wegfall der Gründe für die ursprüngliche außerplanmäßige Abschreibung begrenzt, sondern erfasst jede auch auf anderen Gründen beruhende Werterholung3. Das Wertaufholungsgebot greift auch Platz, wenn der Grund für eine Abschreibung wegen außergewöhnlicher technischer oder wirtschaftlicher Abnutzung (s. Rz. 313) entfallen ist, s. § 7 I 2 Hs. 2 EStG. Nach BFH BStBl. 2010, 784, ist das strenge Wertaufholungsgebot als verfassungsgemäß zu beurteilen.
328
329–334
Einstweilen frei.
3.3 Bewertungsfreiheiten Wird dem Stpfl. abw. von den Grundregeln des § 7 EStG ein niedrigerer Ansatz zugestanden, so spricht man von Sofortabschreibung, Sonderabschreibung und erhöhter Absetzung (dazu § 19 Rz. 17). Sie wird gewährt aus Vereinfachungs- und/oder wirtschaftspolitischen Gründen.
335
Bei den allgemein in § 7a EStG geregelten Sonderabschreibungen und erhöhten Absetzungen – in erster Linie ist dies die ab 2008 geltende Sonderabschreibung zur Förderung kleiner und mittlerer Betriebe (§ 7g V, VI EStG) – handelt es sich um wirtschaftslenkende Steuervergünstigungen (s. § 19 Rz. 16 f.).
336
Mit § 7g EStG verfolgt der Gesetzgeber bereits seit 1984 (StEntlG 1984 v. 22.12.1983, BGBl. I 1983, 1583) den Zweck, die Liquiditätssituation und Eigenkapitalausstattung kleiner und mittlerer Unternehmen zu verbessern. Durch das UntStRefG 2008 ist die frühere Sonderabschreibung und Ansparrücklage für nach dem 31.12.2007 angeschaffte oder hergestellte Wirtschaftsgüter (zum zeitlichen Anwendungsbereich i.E. § 52 XXIII EStG) neu gestaltet worden4. Der Gesetzeszweck ist durch Überführung der bisherigen Ansparrücklage (§ 7g III EStG a.F.) in einem (außerbilanziell vorzunehmenden) Investitionsabzug verdeutlicht worden. Der Abzugs-
337
1 Dazu auch Hennrichs, FS Schaumburg, 2009, 367 ff. 2 Dazu BFH BStBl. 2007, 707 (Verfassungsmäßigkeit der Anwendung auf vor Einführung von § 6 I Nr. 1 Satz 4, Nr. 2 Satz 3 EStG vorgenommene Teilwertabschreibungen), m. Anm. U. Prinz, StuB 2007, 664; s. ferner Feld, WPg. 1999, 861; Herzig/Rieck, WPg. 1999, 305; Jonas, StbJb. 2001/02, 321 (Beteiligungen); Leplow, Das Wertaufholungsgebot in der Handels- und Steuerbilanz, Diss., 2002; Schlotter, Teilwertabschreibung und Wertaufholung zwischen Steuerbilanz und Verfassungsrecht, 2005. 3 Zur Zuschreibung nach ausschüttungsbedingter Teilwertabschreibung von Beteiligungen s. BFH BStBl. 2010, 225; krit. Weber-Grellet, BB 2010, 43 (46). 4 Dazu BMF v. 20.11.2012, BStBl. I 2013, 1493; Bruschke, DStZ 2008, 204; Grützner, StuB 2008, 332; Kulosa, DStR 2008, 131; B. Meyer/Ball, FR 2009, 641; Peetz, DStZ 2008, 680; M. Wendt, FR 2008, 598; A. Groß, StuB 2009, 214; Hottmann, DStR 2009, 1236.
Hennrichs
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587
§9
Rz. 338
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
betrag erlaubt im Vorgriff auf künftige Investitionen eine Gewinnminderung und zieht damit einen großen Teil der späteren AfA zeitlich vor1. Die besondere Förderung für Existenzgründer (§ 7g VII EStG a.F.2) wurde abgeschafft. Mit Gesetz v. 21.12.2008, BGBl. I 2008, 2896, hat der Gesetzgeber als Maßnahme zur Konjunkturbelebung die Grenzen für die Anwendung von § 7g EStG für zwei Jahre befristet angehoben. 338
Bei Betrieben mit einem Betriebsvermögen von nicht mehr als 235 000 Euro (2009/2010: 335 000 Euro) bzw. einem gem. § 4 III EStG ermittelten Gewinn von nicht mehr als 100 000 Euro (2009/2010: 200 000 Euro) ermöglicht § 7g EStG einen gewinnmindernden Abzug i.H.v. bis zu 40 % der voraussichtlichen3 AK/HK für bewegliche abnutzbare Wirtschaftsgüter (Investitionsabzugsbetrag). Maximal abzugsfähig sind 200 000 Euro. Der Investitionsabzug wird außerbilanziell vorgenommen. Das anzuschaffende Wirtschaftsgut ist hinreichend konkret zu bezeichnen4. Bei Personengesellschaften und Gemeinschaften tritt an die Stelle des Stpfl. die Gesellschaft/Gemeinschaft (§ 7g VII EStG)5. Im Wirtschaftsjahr der Anschaffung ist der für das jeweilige Wirtschaftsgut vorgenommene Investitionsbetrag gewinnerhöhend hinzuzurechnen. Gleichzeitig können – begrenzt durch den Hinzurechnungsbetrag – 40 % der (tatsächlichen) AK/HK des Wirtschaftsguts abgesetzt werden, so dass es bei einer Entsprechung von prognostizierten und tatsächlichen Kosten zu einer Kompensation kommt. Wird der Investitionsabzugsbetrag mangels Anschaffung des Wirtschaftsguts nicht bis zum Ende des dritten auf das Wirtschaftsjahr des Abzugs folgenden Wirtschaftsjahrs hinzugerechnet, muss der Abzug rückgängig gemacht werden.
339
§ 7g V, VI EStG sieht unter den Voraussetzungen des Abs. 1 eine Sonderabschreibung für das Jahr der Anschaffung/Herstellung und die vier folgenden Jahre in Höhe von maximal 20 % der AK/HK vor. Die Sonderabschreibung kann unabhängig von einem vorherigen Investitionsabzug in Anspruch genommen werden. Die Neufassung durch das UntStRefG 2008 soll die Inanspruchnahme der steuerlichen Investitionsförderung vereinfachen und verbessern, um ein Gegengewicht zu der Entlastung (großer) Kapitalgesellschaften und Personenunternehmen durch die UntStRef 2008 zu schaffen (BT-Drucks. 16/4841, 32). Zielsetzung und Zielerreichung sind zweifelhaft. Die Verbesserungen (insb. Anhebung der Abzugsobergrenze von 154 000 auf 200 000 Euro sowie Verzicht auf das Erfordernis der Neuwertigkeit des anzuschaffenden Wirtschaftsguts) sind marginal. Angesicht der eng gefassten Betriebsvermögens- und Gewinnobergrenzen handelt es sich jedenfalls nicht um eine Mittelstandskomponente. Überhaupt ist eine steuerliche Förderung des Mittelstands durch gezielte Regelungen bereits angesichts der Heterogenität mittelständischer Unternehmen zum Scheitern verurteilt. Mittelstandsfreundlich ist Steuergesetzgebung vor allem dann, wenn sie zu Vereinfachung führt.
3.4 Subjektive Abschreibungsberechtigung 340
Abschreibungsberechtigt ist grds. nur, wer das Wirtschaftsgut zur Erzielung von Einkünften einsetzt (§ 2 I; § 7 I EStG: „durch den Stpfl. zur Erzielung von Einkünften“) und die Anschaffungs- und Herstellungskosten selbst getragen hat („Eigenaufwand“)6. Das wird regelmäßig der rechtliche oder zumindest wirtschaftliche Eigentümer des Wirtschaftsguts sein. Diese subjektive Abschreibungsberechtigung setzt aber nicht unbedingt zivilrechtliches oder wirtschaftliches Eigentum am fraglichen Wirtschaftsgut voraus7. Auch eigene Erwerbsaufwendungen auf ein 1 Schmidt/Kulosa33, § 7g EStG Rz. 4. 2 Dazu BFH v. 2.2.2012 – IV R 16/09, BStBl. 2012, 766, wonach eine GmbH & Co. KG keine Rücklage für Existenzgründer gem. § 7g VII EStG a.F. bilden kann, wenn an der Komplementär-GmbH eine natürliche Person beteiligt ist, die kein Existenzgründer i.S. der Vorschrift ist. 3 BFH BStBl. 2004, 184, zu den Anforderungen an die Konkretisierung der Investitionsabsicht; zur Problematik der Investitionsprognose ferner Drüen, AG 2006, 707 (710 f.). 4 Zu den Anforderungen an die Aufzeichnung BFH BStBl. 2006, 462; 2007, 791 u. 818. 5 Schmidt/Kulosa33, § 7g EStG Rz. 9; B. Meyer/Ball, FR 2009, 641 (642). 6 Anschaulich Jakob, Einkommensteuer4, Rz. 807 ff. 7 BFH GrS BStBl. 1995, 281; BFH BStBl. 1982, 454; 1983, 627; 1992, 67; 1994, 319 (320); 1997, 121; 2010, 670; FG Düsseldorf v. 12.2.2014 – 7 K 407/13 E (juris; Rev. Unter VIII R 10/14); insoweit zust. Weber-Grellet, BB 2011, 43 (46).
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Hennrichs
Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 342
§9
Wirtschaftsgut, das der Stpfl. zwar zur Einkünfteerzielung nutzt, das ihm aber nicht zuzurechnen ist, müssen nach dem Leistungsfähigkeits- und Nettoprinzip steuerlich abzugsfähig sein. Trägt z.B. der Arzt-Ehegatte die Herstellungskosten der Arztpraxis, die auf dem Grundstück des anderen Ehegatten errichtet wird, so hat der Arzt die durch die Baumaßnahmen geschaffenen Nutzungsmöglichkeiten selbst dann zu aktivieren und diese wie ein Gebäude abzuschreiben, wenn die Voraussetzungen für das sog. wirtschaftliche Eigentum am Gebäude(teil) im Einzelfall nicht gegeben sein sollten1. Dergestalt erlangt der Stpfl., der das fremde Wirtschaftsgut zur Einkünfteerzielung nutzt und die Kosten getragen hat, die AfA-Berechtigung und kann damit seine Erwerbsaufwendungen auch dann steuerlich abziehen, wenn sie auf fremdes Eigentum erbracht wurden. Zu Bauten auf fremdem Grund und Boden sowie zu Mietereinbauten s. auch bereits Rz. 151 ff. Demgegenüber ist eine „Dritt-AfA“ nach h.M. nicht anzuerkennen (allgemein zum sog. Drittaufwand s. § 8 Rz. 223 ff.)2. Betreibt beispielsweise ein Kind einen eigenen Gewerbebetrieb im Haus der Eltern, so sind die AK/HK steuerlich in Gefahr: Die Eltern können sie nicht abziehen, weil sie nicht steuerbar agieren; und das Kind ist zwar steuerbar tätig, hat aber die Aufwendungen nicht selbst getragen und soll daher nicht AfA-berechtigt sein3. Diese strikte Linie ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Zum einen kann man mit der Figur der abgekürzten Zahlungskette argumentieren (§ 8 Rz. 225). Wenn etwa der Vater die Anschaffungskosten zuerst dem Kind zuwendet und anschließend das Kind die Praxisräume selbst anschafft, wäre es AfAberechtigt; die Herkunft der AK ist grds. gleichgültig (§ 8 Rz. 224). Dass und warum dies anders sein soll, wenn unmittelbar der Vater die Räume anschafft, ist nicht recht einzusehen. Zudem kann in solchen Konstellationen durch Abschluss von Mietverträgen leicht steuerlich abzugsfähiger Aufwand gestaltet werden: Denn bei einem Mietverhältnis bezieht der Vermieter Einkünfte und bleibt damit selbst AfA-befugt; der Mieter kann zwar keine AfA, wohl aber den Mietzins als BA absetzen4. Es ist aber doch kaum sinnvoll, wenn das Steuerrecht Anreize zum Abschluss von an sich nicht gewollten Mietverträgen schafft oder aber „Dummensteuereffekte“ bewirkt, nämlich den schlecht beratenen Stpfl., der keine Gestaltungsvorsorge trifft, durch Versagung der AfA „bestraft“.
341
Im Fall der unentgeltlichen Übertragung des Wirtschaftsguts ist der Rechtsnachfolger AfAberechtigt. Für die AfA-Bemessungsgrundlage5 des Rechtsnachfolgers ist wie folgt zu differenzieren:
342
– Hat das Wirtschaftsgut zuvor nicht zu einem Betriebsvermögen gehört, so tritt der Rechtsnachfolger gem. § 11d I 1 EStDV in die „Fußstapfen“ seines Rechtsvorgängers und führt dessen AfA fort. Entscheidend ist auch in diesem Fall für die Berechtigung zur AfA, dass Kostentragung und Einkünfteerzielung in einer Hand liegen. So hat der BFH BStBl. 1994, 319, entgegen früherer Praxis (BFH BStBl. 1972, 114; BMF BStBl. 1984, 561 Tz. 51) entschieden, dass dem Vermächtnisnießbraucher die AfA-Befugnis nach § 11d EStDV nicht zustehe, weil die vom Erblasser getragenen Anschaffungs-/Herstellungskosten nach dessen Tode nicht dem Vermächtnisnehmer, sondern dem Erben als Gesamtrechtsnachfolger des Erblassers zuzurechnen seien. Folge: Der Erbe ist Rechtsnachfolger i.S.d. § 11d EStDV, ist aber gleichwohl nicht AfA-befugt, weil er während des Vermächtnisnießbrauchs mit dem Wirtschaftsgut keine Einkünfte erzielen kann. – Wird ein einzelnes WG des Betriebsvermögens unentgeltlich aus betrieblichem Anlass in das Betriebsvermögen eines anderen Stpfl. übertragen, so ergibt sich die AfA-Bemessungsgrundlage 1 Schmidt/Kulosa33, § 7 EStG Rz. 51. – Führen die eigenen Aufwendungen zu einem WG, das dem Nutzenden zuzurechnen ist (z.B. Scheinbestandteil, Betriebsvorrichtung, wirtschaftliches Eigentum an fremdem Gebäudeteilen, Rz. 151 ff.), so ist die AfA-Befugnis unproblematisch. Abgeschrieben wird dann das jeweilige WG nach den allgemeinen Regeln (Schmidt/Kulosa33, § 7 EStG Rz. 50). 2 Vgl. BFH (GrS) BStBl. 1999, 782; Schnorr, StuW 2003, 222; Schmidt/Kulosa33, § 7 EStG Rz. 57. 3 Jakob, Einkommensteuer4, Rz. 811; Schmidt/Kulosa33, § 7 EStG Rz. 57. 4 So denn auch die Empfehlung bei Schmidt/Kulosa33, § 7 EStG Rz. 58. 5 Zu Anschaffungsnebenkosten beim unentgeltlichen Erwerb s. Rz. 237 a.E. m.w.N.
Hennrichs
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§9
Rz. 343
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
des Empfängers aus § 6 IV EStG: gemeiner Wert. Zur Übertragung von einzelnen Wirtschaftsgütern zwischen verschiedenen Betriebsvermögen desselben Stpfl. s. § 6 V EStG. – Bei unentgeltlichen Übertragungen von Betrieben, Teilbetrieben oder Mitunternehmeranteilen wird die AfA auf der Grundlage von Buchwerten fortgeführt (§ 6 III 1 EStG).
343–359
Einstweilen frei.
VI. Entnahmen und Einlagen1 1. Entnahme- und Einlagefähigkeit von Wirtschaftsgütern, Nutzungen und Leistungen 360
Dem Unterschiedsbetrag zwischen den zu vergleichenden Betriebsvermögen ist der Wert der Entnahmen hinzuzurechnen, der Wert der Einlagen ist abzurechnen (§§ 4 I 1; 5 VI EStG). Das ist deshalb erforderlich, weil Gewinn nur ist, was durch den Betrieb erwirtschaftet worden ist. Einlagen und Entnahmen grenzen die betriebliche von der außerbetrieblichen Sphäre ab. Was entnommen wird, ist im Betrieb erwirtschaftet worden, folglich zu erfassen. Was eingelegt wird, kommt von außen in den Betrieb, ist nicht im Betrieb erwirtschaftet worden, folglich nicht zu erfassen. Würden Einlagen steuerlich erfasst, käme es zu einer Doppelbesteuerung, da sie regelmäßig aus versteuertem Einkommen geleistet werden.
361
Entnahmen sind gem. § 4 I 2 EStG alle Wirtschaftsgüter (Barentnahmen, Waren, Erzeugnisse, Nutzungen und Leistungen), die der Stpfl. dem Betrieb für sich, für seinen Haushalt oder für andere betriebsfremde Zwecke im Laufe des Jahres entnommen hat. Nach dem Gesetzeswortlaut von § 4 I 2 EStG setzen Einlage und Entnahme einen Wertzugang bzw. Wertabgang zu betriebsfremden Zwecken voraus. Dies ist zunächst eine Frage nach der Auslegung des Begriffs „Betrieb“2 i.S.d. § 4 I 2 EStG, die der Gesetzgeber inzwischen inzident in § 6 V 1 EStG zugunsten eines engen Betriebsbegriffs entschieden hat3. § 4 I 3 EStG (eingefügt durch SEStEG v. 7.12. 2006, BGBl. I 2006, 2782) kodifiziert zudem ein allgemeines Entstrickungsprinzip, indem der Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts der Entnahme für betriebsfremde Zwecke gleichgestellt wird, dazu ausf. Rz. 406, 450.
362
§ 4 I 2 EStG definiert unpräzise. Zu unterscheiden ist zwischen Substanzentnahmen (Entnahmen von Wirtschaftsgütern) und Entnahmen von Nutzungen und Leistungen. Wer ein Wirtschaftsgut nutzt, entnimmt nicht das Wirtschaftsgut selbst. Wer eine Dienstleistung erbringen lässt, entnimmt kein Wirtschaftsgut. Somit besteht der gewinnerhöhende „Wert der Entnahme“ (§ 4 I 1 EStG) nicht in einem Substanzwert, sondern in den für betriebsfremde Zwecke aufgewendeten Kosten; diese müssen dem zu versteuernden Gewinn hinzugerechnet werden. Demnach bildet § 4 I 2 EStG bezüglich der Entnahmen von Nutzungen und Leistungen4 einen Kostenkorrekturtatbestand. Beispiele für Entnahmen: Ein Möbelhändler gibt seiner Ehefrau aus der Ladenkasse Geld für den Haushalt (Barentnahme); er schenkt seiner Tochter eine Möbelgarnitur aus dem Laden (Sachentnahme); er benutzt einen zum Betriebsvermögen gehörenden Pkw privat (Nutzungsentnahme); er lässt einen im Betrieb angestellten Boten in seinem Privatgarten arbeiten (Leistungsentnahme). Nicht entnahmefähig ist die eigene Arbeitskraft des Stpfl., z.B. Rechtsanwalt berät Familienangehörigen. 1 Zu den unterschiedlichen Auffassungen zwischen engem, weitem u. vermittelndem Betriebsbegriff KSM/Plückebaum, § 4 EStG Rz. B 9 ff., 228 ff. m.w.N. 2 Zu den unterschiedlichen Auffassungen zwischen engem, weitem u. vermittelndem Betriebsbegriff KSM/Plückebaum, § 4 EStG Rz. B 9 ff., 228 ff. m.w.N. 3 Zutr. Kirchhof/Crezelius13, § 4 EStG Rz. 94; a.A. Kirchhof/P. Fischer13, § 6 EStG Rz. 186, der in der Neuregelung eine Bestätigung des weiten Betriebsbegriffs des BFH sieht. 4 Dazu ausf. KSM/Plückebaum, § 4 EStG Rz. B 300.
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Hennrichs
Rz. 370
§9
Die Entnahme muss durch ein Handeln (Tun, Dulden, Unterlassen) verursacht sein, das betriebsfremden Zwecken dient. Schlüssiges Verhalten genügt (z.B. ein Wirtschaftsgut wird nicht mehr für den Betrieb verwendet oder genutzt). Das Verhalten muss aber eindeutig auf eine Entnahmehandlung schließen lassen1.
363
Umgekehrt liegen Einlagen vor, wenn Wirtschaftsgüter dem Betrieb im Laufe des Wirtschaftsjahres von außen zugeführt werden (§ 4 I 8 Hs. 1 EStG). § 4 I 8 Hs. 2 EStG stellt spiegelbildlich zur Entstrickung die Begründung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik an dem Gewinn aus der Veräußerung des Wirtschaftsguts (Verstrickung) einer Einlage gleich. Anders als § 4 I 2 EStG erwähnt § 4 I 8 EStG „Nutzungen und Leistungen“ nicht. Der BFH GrS (BStBl. 1988, 348; 2007, 508 [514]) verneint die Einlagefähigkeit von schlichten Nutzungen2, soweit diese nicht als dingliche oder obligatorische Nutzungsrechte den Tatbestand des Wirtschaftsguts erfüllen. Bestätigt hat der GrS aber die Rspr., wonach bei betrieblicher Mitbenutzung privater Wirtschaftsgüter die auf die betriebliche Nutzung entfallenden Kosten als Einlage abgesetzt werden können (analog zur Entnahme Kostenkorrektureinlage).
364
U.E. ist die Einlagefähigkeit von Nutzungen und sonstigen Leistungen nicht am Wirtschaftsgutbegriff festzumachen, sondern muss von der Korrekturfunktion der Einlage als Abgrenzung der betrieblichen zur außerbetrieblichen Sphäre her bestimmt werden. Soweit Leistungen und Nutzungen mit Aufwand des Stpfl. verbunden sind, müssen sie als „Nutzungsaufwandseinlagen“3 auch im Fall schlichter Nutzungen zu einer Gewinnkorrektur führen. Es kann das zum sog. Drittaufwand (s. § 8 Rz. 223 ff.) entwickelte Kostentragungsprinzip herangezogen werden.
365
Entnahmen und Einlagen
Beispiel Betriebliche Nutzung eines nicht bilanzierten Pkw im Umfang von 20 %. In diesem Umfang sind die Pkw-Aufwendungen einschließlich AfA als Einlage absetzbar. Gehört der Pkw nicht dem Unternehmer, sondern einem Dritten (z.B. der Ehefrau), und der Dritte überlässt das Fahrzeug unentgeltlich zur Nutzung, dann liegt sog. Drittaufwand vor (s. § 8 Rz. 223 ff.).
Entnahmen oder Einlagen liegen auch vor, wenn diese durch unangemessene Rechtsgestaltungen oder Scheingestaltungen verdeckt sind (verdeckte Entnahmen4 oder verdeckte Einlagen5).
366
Keine Entnahme liegt dagegen vor, wenn ein zu Unrecht bilanziertes WG des notwendigen Privatvermögens ausgebucht wird. Die Bilanz ist erfolgsneutral zu berichtigen (BFH BStBl. 1976, 378). Im umgekehrten Fall liegt keine Einlage zum Zeitpunkt der Bilanzberichtigung vor: Zu Unrecht nicht bilanzierte Wirtschaftsgüter sind mit dem Wert einzubuchen, mit dem sie bei von Anfang an richtiger Bilanzierung zu Buche stehen würden (BFH BStBl. 1978, 191). S. auch Rz. 219.
367
Einstweilen frei.
368–369
2. Bewertung von Entnahmen und Einlagen Entnahmen und Einlagen i.S.v. § 4 I 2, 8 Hs. 1 EStG sind prinzipiell mit dem Teilwert zu bewerten (§ 6 I Nr. 4 Satz 1 Hs. 1, Nr. 5 Satz 1 Hs. 1 EStG)6. Dagegen gilt für die durch das 1 Dazu näher m.w.N. BFH BStBl. 1990, 128 (130); BFH/NV 2005, 126 (Bewusstsein der Aufdeckung stiller Reserven nicht erforderlich). 2 Dazu Erfmeyer, Die Nutzungseinlage im Steuerrecht, Bestandsaufnahme und Kritik der BFH-Rechtsprechung, Diss., 1991; Frye, FR 1998, 973 (975 ff.) (abw. v. BFH GrS); zur Abgrenzung zwischen Nutzungseinlage und materiellem WG im Fall der Einlage eines Bodenschatzes GrS BFH/NV 2007, 1218. 3 Überzeugend Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 305 ff.; Meurer, BB 2002, 503 (506); Beiser, DB 2003, 15; a.A. mit Hinweis auf den Wortlaut Wassermeyer, DB 2003, 2616 (2618 ff.). 4 Bsp. für verdeckte Entnahmen liefern insb. Angehörigenverträge (s. § 8 Rz. 162 ff.): Unterhaltszahlungen werden z.B. als Arbeitslohn kaschiert. Im Zusammenhang mit verdeckten Gewinnausschüttungen s. Hellwig, FS Döllerer, 1988, 205 (verdeckte Entnahme). 5 BFH GrS BStBl. 1998, 307; Weber-Grellet, DB 1998, 1532; Groh, StbJb. 1997/98, 7. 6 Nach BFH/NV 2011, 2117, ist bei der Einlage durch Verzicht auf Pensionsansprüche der Teilwert der Pensionsanwartschaft des Berechtigten und nicht der gem. § 6a EStG ermittelte Teilwert der Pensionsverbindlichkeit des Verpflichteten maßgeblich.
Hennrichs
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591
370
§9
Rz. 371
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
SEStEG eingeführte Entstrickungsentnahme (§ 4 I 3 EStG) bzw. Verstrickungseinlage (§ 4 I 8 Hs. 2 EStG) der gemeine Wert als Bewertungsmaßstab (§ 6 I 4 Satz 1 Hs. 2, Va EStG). Die Bewertung wird wie folgt konkretisiert und modifiziert: 371
a) Entnahmen: Die Bewertung zum Teilwert setzt die Entnahme von Wirtschaftsgütern voraus, so dass bezüglich der Entnahmen von Nutzungen und Leistungen eine Gesetzeslücke besteht1. Entspr. dem Korrekturzweck des Entnahmetatbestandes (s. Rz. 362) sind Entnahmen von Nutzungen und Leistungen mit den tatsächlichen Selbstkosten des Stpfl. zu bewerten (BFH BStBl. 1980, 176; 1990, 8: Kfz-Totalschaden, s. § 8 Rz. 278). Im Falle der privaten Nutzung von Betriebsfahrzeugen ist als Entnahme (wenn kein ordnungsgemäßes Fahrtenbuch geführt wird) monatlich 1 % des inländischen Listenpreises anzusetzen, wenn das Fahrzeug zu mehr als 50 % betrieblich genutzt wird (§ 6 I Nr. 4 Satz 2, 3 EStG, s. § 8 Rz. 271), andernfalls sind die Kfz-Kosten nutzungsentsprechend aufzuteilen. Die Nutzung eines betrieblichen Kfz zur Erzielung von Überschusseinkünften ist durch die Listenpreisregelung nicht mit abgegolten, sondern mit den auf sie entfallenden Selbstkosten zu erfassen (BFH/NV 2006, 2157).
372
§ 6 I Nr. 4 Satz 4 EStG gestattet für Sachspenden (nicht: Nutzungen und Leistungen) an gemeinnützige Körperschaften Entnahmen zum Buchwert und stellt damit stille Reserven aus subventionellen Gründen steuerfrei (sog. Buchwertprivileg)2.
373
Besondere Vorschriften enthält § 16 III 6, 7 EStG für die Betriebsaufgabe (= Totalentnahme): Bei Veräußerung einzelner Wirtschaftsgüter sind die Veräußerungspreise, ansonsten gemeine Werte anzusetzen.
374
Der Entnahmewert (Teilwert bzw. gemeiner Wert bei Betriebsaufgabe) ist bei Wirtschaftsgütern, die der Stpfl. aus einem Betriebsvermögen in das Privatvermögen überführt, maßgeblich für die weitere AfA3.
375
b) Einlagen: Wird das Wirtschaftsgut innerhalb von drei Jahren vor dem Einlagezeitpunkt angeschafft/hergestellt, eine wesentliche Beteiligung i.S.d. § 17 EStG oder (seit der UntStRef 2008, BGBl. I 2007, 1912) ein Wirtschaftsgut i.S.d. § 20 II EStG eingelegt, so ist der Einlagewert auf die um die AfA gekürzten AK/HK begrenzt (§ 6 I Nr. 5 Satz 1 Hs. 2, Satz 2 EStG). In diesen Fällen ist der Teilwert demnach nur dann anzusetzen, wenn er unter den fortgeschriebenen Anschaffungs- oder Herstellungskosten liegt. Durch diese Regelung sollen stille Reserven, die sich vor der Einlage gebildet haben, mit ins Betriebsvermögen übernommen werden4. Liegt der Teilwert unter den AK/HK, so ist nach § 6 I Nr. 5 Satz 1 EStG dieser anzusetzen, wodurch vor der Einlage entstandene Wertverluste nicht ins Betriebsvermögen übernommen werden. Diese unterschiedliche Behandlung von Werterhöhungen und Wertverringerungen ist nach BFH BStBl. 1996, 684; 2008, 965, nur gerechtfertigt, wenn vor der Einlage der Verlustausgleich beschränkt war; dies soll durch Übernahme der Verluste in den betrieblichen Bereich nicht umgangen werden können. Anderenfalls müssten die Verluste aber ins Betriebsvermögen übernommen werden können. Im Wege der Rechtsfortbildung hat der BFH daher für wesentliche Beteiligungen (§ 17 EStG) den Ansatz der höheren ursprünglichen AK für zulässig erklärt (vgl. aber zur Beschränkung des Verlustausgleichs nach geltender Rechtslage § 17 II 6 EStG). Ein dem Stpfl. geschenktes Wirtschaftsgut ist auch dann mit dem Teilwert einzulegen, wenn der Schenker das Wirtschaftsgut innerhalb der letzten drei Jahre angeschafft, hergestellt oder entnommen hat (BFH BStBl. 1994, 15). Geringwertige Wirtschaftsgüter, die bereits nach § 9 I 3 Nr. 7 Satz 2 EStG im Rahmen einer Überschusseinkunftsart abgesetzt worden sind, können innerhalb von drei Jahren nach der Anschaffung nur mit einem Betrag von 0 Euro eingelegt werden (BFH BStBl. 1994, 638). Schließlich verknüpft § 6 I Nr. 5 Satz 3 EStG die Einlagenbe1 Wassermeyer, DB 2003, 2616; ferner Briese, DStR 2004, 249. 2 Dazu Hüttemann, DB 2008, 1590; Seer, GmbHR 2008, 785. 3 H 7.3 EStR 2008; BFH BStBl. 2000, 656; anders V. Wendt, Das Verhältnis von Entnahme/Einlage zur Anschaffung/Veräußerung im Einkommensteuerrecht, Diss., 2003, 101 ff. (nachträgliche AK in Höhe der aufgedeckten stillen Reserven). 4 S. BT-Drucks. 16/4841, 50; Blümich/Ehmcke, § 6 EStG Rz. 1053.
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Hennrichs
Gewinn- und Verlustrealisierung
Rz. 403
§9
wertung mit einer vorangegangenen Entnahme. Bei der Eröffnung eines Betriebs (= Totaleinlage) ist § 6 I Nr. 5 EStG entsprechend anzuwenden (§ 6 I Nr. 6 EStG). Für die Bewertung spielt es keine Rolle, ob die Einlage offen oder verdeckt vorgenommen wird. § 6 VI 2, 3 EStG stellt den Spezialfall einer verdeckten Einlage (Definition s. § 11 Rz. 92 ff.) von Wirtschaftsgütern in das Betriebsvermögen einer Kapitalgesellschaft dem Tausch gleich und ordnet an, dass die AK der Beteiligung um den Teilwert bzw. Einlagewert des eingelegten Wirtschaftsguts zu erhöhen sind. Im abgebenden Betriebsvermögen wird ein Gewinn realisiert. Einstweilen frei.
376
377–399
VII. Gewinn- und Verlustrealisierung Literatur (bis 2000 s. Voraufl.): Beiser, Die Gewinnrealisierung im Steuerrecht und Handelsrecht, ÖStZ 2001, 335; G. Mayr, Gewinnrealisierung im Steuerrecht und Handelsrecht, Wien 2001; Pilhofer, Umsatz- und Gewinnrealisierung im internationalen Vergleich, Diss., 2002; Weber-Grellet, Realisationsprinzip und Belastungsprinzip – Zum zeitlichen Ausweis von Ertrag und Aufwand, DB 2002, 2180; Dauber, Das Realisationsprinzip als Grundprinzip der steuerrechtlichen Gewinnermittlung, Diss., 2003; Kessler/Huck, Grenzüberschreitende Transfers von Betriebsvermögen, StuW 2005, 193; Hoffmann/Lüdenbach, Das Realisationsprinzip – 1884 und heute, DStR 2004, 1758; Carlé, Entstrickung im Ertragsteuerrecht, KÖSDI 2007, 15401; Kaeser, Entstrickung und Verstrickung, in Lüdicke (Hrsg.), Besteuerung von Unternehmen im Wandel, 2007, 131; Sessar, Grundsätze ordnungsgemäßer Gewinnrealisierung im deutschen Bilanzrecht – Objektivierung des Realisationszeitpunkts in wirtschaftlicher Betrachtungsweise, Diss., 2007; von der Laage, Besteuerungsbedürfnis versus Europarechtskonformität beim Wegzug einer Europäischen Aktiengesellschaft – Anm. zum Beschl. des FG Rheinland-Pfalz v. 7.1.2011 – 1 V 1217/10, StuW 2012, 182.
1. Prinzipien der Gewinn- und Verlustrealisierung Das Jahresergebnis der Steuerbilanz hängt wesentlich von den Prinzipien ab, nach denen Erträge und Aufwendungen in einer Periode anzusetzen sind. Im Unterschied zu den Überschussrechnungen nach den §§ 4 III; 8 ff. EStG gelten nicht Zu- und Abflussprinzip (§ 11 I 1, II 1 EStG; s. § 8 Rz. 191 ff.), sondern ein System handelsrechtlicher und spezifisch steuerrechtlicher Prinzipien der Gewinn- und Verlustrealisierung, die festlegen, wann ein Gewinn oder Verlust erwirtschaftet ist.
400
a) Kraft der Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen GoB für die Steuerbilanz (s. Rz. 40 ff.) wird das steuerbilanzielle Periodenergebnis zunächst durch das Realisationsprinzip und das Imparitätsprinzip bestimmt.
401
Nach dem bereits in Rz. 89 angesprochenen Realisationsprinzip (§ 252 I Nr. 4 letzter Hs. HGB) werden Wertsteigerungen bis zum Zeitpunkt der Realisation grds. nicht in der Bilanz ausgewiesen. Hierdurch können sich bis zum Realisationszeitpunkt sog. stille Reserven bilden. § 252 I Nr. 4 letzter Hs. HGB enthält keine explizite Definition des Realisationszeitpunktes; insoweit ist diese Vorschrift im Wege der Auslegung zu konkretisieren (s. Rz. 410 ff.). Vor dem durch die handelsrechtlichen GoB bestimmten Realisationszeitpunkt dürfen keine Gewinne, nach dem Imparitätsprinzip wohl aber Verluste und vorhersehbare Risiken in der Bilanz ausgewiesen werden (§ 252 I Nr. 4 HGB; s. Rz. 90). Dies geschieht insb. durch den Ansatz von Rückstellungen (s. Rz. 90, 170 ff.). Der imparitätische Ausweis von Gewinnen und Verlusten entspricht dem übergeordneten Vorsichtsprinzip, das die Haftungssubstanz des Unternehmens erhalten, überhöhte Gewinnentnahmen und übermäßige Steuerbelastungen vermeiden will (s. Rz. 48, 88).
402
b) Realisationsprinzip und Imparitätsprinzip als Unterprinzipien des handelsrechtlichen Vorsichtsprinzips harmonieren durchaus mit den spezifisch steuerrechtlichen Prinzipien. Das Realisationsprinzip gehört zu den Fundamentalkonkretisierungen des Markteinkommens (§ 7 Rz. 33). Die Markteinkommensteuer erfasst grds. nur das erwirtschaftete Einkommen. Die
403
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§9
Rz. 404
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Gefahr falscher Bewertung nicht realisierten Vermögenszuwachses wird vermieden. Realisationsprinzip und Imparitätsprinzip verhüten grds. Substanzbesteuerung, indem Vermögen nur insoweit zur Besteuerung freigegeben wird, als es in seinem Bestand gefestigt und nicht durch absehbare künftige Ereignisse gefährdet ist. 404
Im Interesse der vollständigen Erfassung steuerlicher Leistungsfähigkeit werden die handelsrechtlichen Grundsätze der Gewinn- und Verlustrealisierung allerdings teilweise steuerspezifisch ergänzt: In den Fällen der Entnahme, der Betriebsaufgabe, der Überführung von Wirtschaftsgütern in das Ausland etc. besteht ein Bedürfnis nach Abrechnung der stillen Reserven, die in der Erwerbssphäre erwirtschaftet worden sind. Dazu haben sich folgende steuerspezifische Prinzipien der Gewinn- und Verlustrealisierung herausgebildet:
405
aa) Prinzip der Buchwertverknüpfung1: Solange die stillen Reserven steuerlich erfasst bleiben, kann die Bewertung der Wirtschaftsgüter beibehalten, d.h. können die Buchwerte steuerneutral fortgeführt werden. Dabei steht das Prinzip der Buchwertfortführung bei Übergang stiller Reserven auf einen anderen Stpfl. in einem rechtfertigungsbedürftigen Spannungsverhältnis mit dem Grundsatz der Individualbesteuerung (§ 8 Rz. 22 ff.; § 10 Rz. 150; § 14 Rz. 44). Das Prinzip der Buchwertverknüpfung greift in folgenden Fällen Platz: – Das stille Reserven enthaltende Vermögen wird unentgeltlich übertragen. Eine Wertaufdeckung durch Leistungsaustausch findet hier nicht statt, so dass es das durch das Markteinkommensprinzip konkretisierte Übermaßverbot rechtfertigt, die Buchwerte selbst beim Übergang stiller Reserven auf andere Steuerrechtssubjekte beizubehalten (s. § 6 III EStG; § 11d EStDV; s. Rz. 430 ff.). – Überführung einzelner Wirtschaftsgüter zwischen verschiedenen (Sonder-)Betriebsvermögen desselben Stpfl. (§ 6 V 1, 2 EStG) sowie in bestimmten Fällen selbst zwischen (Sonder-)Betriebsvermögen und Gesellschaftsvermögen und zwischen den jeweiligen Sonderbetriebsvermögen verschiedener Mitunternehmer derselben Mitunternehmerschaft (§ 6 V 3 EStG). – Das stille Reserven enthaltende Vermögen wird nach den Vorschriften des UmwStG umstrukturiert. In diesen Fällen könnte der Steuerzugriff den Effekt haben, dass der Umstrukturierungsprozess gestört oder gar verhindert würde (s. Rz. 421 ff.). Eine solche Besteuerung zur Unzeit rechtfertigt ihren Aufschub und auch den Übergang stiller Reserven auf andere Steuerrechtssubjekte, sofern die spätere Besteuerung gesichert ist (s. Rz. 436; § 14 Rz. 40 ff.).
406
bb) Prinzip der Steuerentstrickung: Im Zeitpunkt des Ausscheidens aus der Steuerverstrickung wird es erforderlich, stille Reserven als ultima ratio steuerlich abzurechnen (s. ausf. Rz. 450). Diesen Zweck verfolgen die Vorschriften über die Entnahme (§ 4 I 2 u. 3 EStG) und die Betriebsaufgabe (§ 16 III u. IIIa EStG), die §§ 11; 12; 13 KStG sowie die Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG. Zu unterscheiden sind dabei die folgenden beiden Alternativen: – Das Ausscheiden des Wirtschaftsguts aus dem Betriebsvermögen (insb. durch Entnahme, Betriebsaufgabe). – Das Ausscheiden des Wirtschaftsguts aus der nationalen Besteuerungshoheit (insb. durch Überführung in eine Auslandsbetriebsstätte, Sitzverlegung). Einstweilen frei.
407–408
2. Begriff und Entstehung stiller Reserven 409
Da Wertzuwächse erst bei Realisierung erfasst werden, können sich stille Reserven (auch „stille Rücklagen“ im Unterschied zu „offenen Rücklagen“) bilden2. Stille Reserve ist der Unterschiedsbetrag zwischen Buchwert und höherem gemeinen Wert (Verkehrswert) oder Teilwert eines (aktiven) Wirtschaftsguts. 1 Dazu Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 786 ff.; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 353 ff.; Troost, Die Buchwertfortführung im Steuerrecht auf dem Weg zu einem allgemeinen Rechtsprinzip, Diss., 1996; Fasold, Die einkommensteuerliche Problematik der Buchwertfortführung, Diss., 2005; Kredig, Besteuerung stiller Reserven bei Unternehmensumstrukturierungen, Diss., 2013. 2 Aus bilanzrechtlicher Sicht krit. Küting, Stille Reserven in der Diskussion, StuB 1999, 761.
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Hennrichs
Gewinn- und Verlustrealisierung
Rz. 413
§9
Stille Reserven können insb. entstehen durch: – Nichtberücksichtigung von „ruhenden“ Wertzuwächsen infolge des Anschaffungs- oder Herstellungskostenprinzips des § 6 I Nrn. 1, 2 EStG; – erhöhte Absetzungen oder Sonderabschreibungen (s. § 19 Rz. 17); – Sofortabschreibung von geringwertigen Wirtschaftsgütern (s. Rz. 314); – inflationäre Erhöhungen des Preises für Wirtschaftsgüter; – Überbewertung von Schulden.
3. Gewinnrealisierung bei Umsatzgeschäften (Lieferung und Leistung) Der verfassungsrechtliche Inhalt des Realisationsprinzips, das verlangt, die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit wirtschaftlich maßvoll zu gestalten und bei der Besteuerung auf möglichst sichere Werte abzustellen1, führt zunächst in gleicher Weise wie das handelsrechtliche Vorsichtsprinzip zu einem Realisationsaktprinzip (dazu bereits Rz. 89). Prinzipiell ist die Realisation am Markt durch Leistungsaustausch (Umsatzakt) abzuwarten; der Besteuerung ist die realisierte Vermögensmehrung zugrunde zu legen.
410
Zur Bestimmung des Realisationszeitpunkts wird grds. an die zugrunde liegenden Zivilrechtsstrukturen2 angeknüpft. Im Falle eines Umsatzakts (z.B. aufgrund eines Kauf- oder Werkvertrags) kommen theoretisch drei Realisationszeitpunkte in Betracht: der Zeitpunkt des Vertragsabschlusses, der Leistung und schließlich der Bezahlung des Entgelts.
411
Beispiel Autohändler verkauft im März ein Auto. Im Juli wird das Auto geliefert. Im August überweist der Kunde den Kaufpreis. Frage: Wann ist der Verkaufsgewinn erwirtschaftet? Im März, Juli oder August?
Der sicherste Zeitpunkt wäre die Bezahlung des Entgelts, im Beispielsfall die Gutschrift des Kaufpreises auf dem Bankkonto. Bei der Bilanzierung gilt aber nicht das Zuflussprinzip (s. § 11 I 5 EStG), sondern erfasst werden Wirtschaftsgüter. Daher ist die Frage, wann die Forderung auf den Kaufpreis (§ 433 II BGB) oder Werklohn (§ 631 I BGB) als Wirtschaftsgut angesetzt werden darf. Hierzu hat sich die h.M. entwickelt, den Gewinn bereits, aber auch erst bei der Erbringung der Leistung auszuweisen. Im Beispielsfall wird also im Zeitpunkt der Lieferung die Kaufpreisforderung aktiviert, das gelieferte Auto zum Buchwert ausgebucht und die Differenz als Ertrag erfasst („per Forderungen aus Lieferungen und Leistungen und Ertrag an Waren“). Damit ist im Juli der Gewinn realisiert. Maßgeblich ist grds. der Übergang der Preisgefahr3, da der Anspruch auf die Gegenleistung dann „quasi sicher“ ist4 und nur noch mit dem allgemeinen Ausfallrisiko von Forderungen behaftet ist. Risiken, die dem Geschäft nach der Leistungserbringung, jedoch vor dem Zufluss der Gegenleistung noch anhaften, können durch Wertberichtigung des Erfüllungsanspruchs berücksichtigt werden.
412
Bis zum Zeitpunkt der Leistung als dem Realisationszeitpunkt ist ein schwebendes Geschäft anzunehmen. Solange ein Geschäft schwebt, d.h. der zur Sach- oder Dienstleistung Verpflichtete seine den Vertrag kennzeichnende Hauptleistung noch nicht erbracht hat, sind die aus ihm resultierenden Forderungen und Verbindlichkeiten grds. nicht zu bilanzieren (GoB der Nichtbilanzie-
413
1 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 344 ff.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (307 ff., 312 ff.). 2 S. Moxter, Grundsätze ordnungsmäßiger Rechnungslegung, 2003, 44 ff. Zum Konflikt zwischen rechtlicher und wirtschaftlicher Betrachtungsweise hat insb. die Rs. EuGH v. 27.6.1996 – C-234/94, Tomberger, EuGHE 1996, I-3133, geführt, dazu BFH BStBl. 1999, 547; 1999, 551; 2000, 632; grds. zu der Frage, ob bereits der Übergang wirtschaftlichen Eigentums zur Gewinnrealisierung führen soll, Haarmann, FS Raupach, 2006, 233, und Bergmann, FS Loukota, Wien 2005, 81 (am Bsp. der Wertpapierleihe). 3 S. z.B. BFH BStBl. 2006, 20; 2006, 26 (27 ff.), zur Realisierung des Gewinns aus der Veräußerung von Eigentumswohnungen; dazu Grützner, StuB 2005, 1048; Schmidt/Weber-Grellet33, § 5 EStG Rz. 609; Woerner, BB 1988, 769 (774). 4 Vgl. BFH BStBl. 2006, 20; Blümich/Buciek, § 5 EStG Rz. 940.
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§9
Rz. 414
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
rung schwebender Geschäfte, Rz. 86). Ein Gewinnausweis ist noch nicht zulässig. Vorleistungen durch Zahlungen in Form erhaltener Anzahlungen sind durch Passivierung zu neutralisieren (§ 266 III Buchst. C. Nr. 3. HGB). Für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften müssen handelsrechtlich nach dem Imparitätsprinzip (s. Rz. 90) Rückstellungen gebildet werden (§ 249 I 1 2. Alt. HGB). Für die Steuerbilanz verbietet dies § 5 IVa 1 EStG (s. Rz. 90, 190). 414
Befindet sich der Stpfl. in einem (Dauer-)Schuldverhältnis mit seiner Leistung im Erfüllungsrückstand, ist das Geschäft insoweit nicht mehr schwebend (Rz. 185)1. Ein Erfüllungsrückstand liegt vor, wenn der eine Teil für einen bestimmten Zeitraum die Leistung des Vertragspartners bereits erhalten, seinerseits aber die Gegenleistung noch nicht oder noch nicht vollständig erbracht hat (z.B. Mietrückstand des Mieters). Es ist dann – auch für Zwecke der Steuerbilanz – eine Verbindlichkeitsrückstellung zu bilden.
415
Im Einzelfall kann die Feststellung, wann der Gewinn als realisiert zu beurteilen ist, Schwierigkeiten bereiten. Problematisch kann die Gewinnrealisation insb. sein, wenn bspw. zwar die Preisgefahr schon übergegangen ist, aber dennoch einzelne Teilleistungen (z.B. Aufstellung und Montage oder Einweisung) am Bilanzstichtag noch nicht erbracht worden sind2, dem Kunden Rücktrittsrechte3 gewährt sind oder sale-and-lease-back- oder sale-and-buy-back-Gestaltungen gegeben sind4. Die entscheidende Frage ist stets, ob der Anspruch des Stpfl. „so gut wie sicher“5 („quasi-sicher“6) ist. Das erfordert eine wertende Beurteilung der Risikolage auf der Grundlage der vertraglichen oder dispositiven gesetzlichen Bestimmungen7. Schuldrechtliche Ereignisse wie Übergabe der Ware, Übergang der Preisgefahr usw. sind Indikatoren, die auf ihre Bedeutung für den Eintritt einer Mehrung disponiblen Vermögens untersucht werden müssen8. Im Einzelfall kann der Anspruch selbst dann „so gut wie sicher“ und damit zu aktivieren sein, wenn die Preisgefahr noch nicht übergegangen ist (z.B. bei Teilerfüllung9; auch denkbar bei bereits bezahlter Ware, zu der eine Vorabnahme stattgefunden hat und die uneingeschränkt zur Lieferung bereit steht10).
416
Bei langfristiger Auftragsfertigung11 (z.B. Herstellung von Kraftwerken, Infrastrukturgroßprojekten), die sich über mehrere Steuerperioden hinzieht, entstehen bis zur Auftragsbeendigung und -abrechnung erhebliche Probleme aus dem Periodizitätsprinzip (s. § 8 Rz. 44 ff.). Ein Gewinnausweis ist grds. erst am Ende des Auftrags mit Abnahme der Leistung zulässig, weil prinzipiell erst dann die Gefahr übergeht (§ 644 BGB). Zuvor gilt der GoB der Nichtbilanzierung schwebender Geschäfte. 1 BFH BStBl. 2004, 126 (Neutralisierung vereinnahmter Stillhalterprämie bei Optionsgeschäft), dazu Hahne/Sievert, DStR 2003, 1992; Hahne/Liepolt, DB 2006, 1329; s. ferner Gschwendtner, Zur Bilanzierung von Vorleistungen bei Dauerrechtsverhältnissen, DStZ 1995, 417. 2 Vgl. dazu Beck’scher Bilanz-Komm./Schubert/Roscher9, § 247 HGB Rz. 83; Gelhausen, Das Realisationsprinzip im Handels- und Steuerbilanzrecht, 1985, 210 ff.; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 57. 3 Dazu BFH BStBl. 1997, 382 (383 f.): grds. Realisation trotz Rücktrittsrechts, der Rücktritt erlange erst bilanzrechtliche Bedeutung mit Ausübung des Gestaltungsrechts; der drohenden Ausübung des Rücktrittsrechts ist ggf. durch Bildung einer Rückstellung Rechnung zu tragen. 4 Vgl. dazu IDW ERS HFA 13. Allerdings ist dieser Standard nach wie vor nicht offiziell verlautbart worden, weil die Details der Gewinnrealisierung in solchen Fällen weiterhin umstr. sind. 5 BFH BStBl. 2006, 20. 6 Dauber, Das Realisationsprinzip als Grundprinzip der steuerrechtlichen Gewinnermittlung, 2003, 144; Euler, Grundsätze ordnungsmäßiger Gewinnrealisierung, 1989, 69 f.; Gelhausen, Das Realisationsprinzip im Handels- und im Steuerbilanzrecht, 1985, S. 68, 72; Moxter, Bilanzrechtsprechung6, § 5 I 1. 7 Zutr. Woerner, FR 1984, 489 (494). 8 Woerner, BB 1988, 769 (774). 9 BFH BStBl. 1983, 369; 2008, 557: Teilgewinnrealisierung bei selbständig abrechenbaren und vergütungsfähigen Teilleistungen; zurückhaltend aber z.B. BFH BStBl. 1986, 552: keine Realisation, wenn Ware am Bilanzstichtag zwar getrennt gelagert, aber noch nicht ausgeliefert worden ist. 10 RFHE 29, 276 (281, 289); BFHE 56, 449 (452); Leffson, GoB6, 1982, 258 ff. 11 Dazu Paal, Realisierung sog. Teilgewinne aus langfristigen, auftragsbezogenen Leistungen im Jahresabschluss der AG, 1977; Pickert, Die steuerbilanzielle Behandlung unfertiger Beratungsleistungen beim Unternehmensberater, Diss., 1989; Schröer, Das Realisationsprinzip in Deutschland und Großbritannien. Eine systematische Untersuchung und ihre Anwendung auf langfristige Auftragsfertigung und Währungsumrechnung, Diss., 1998, 213 ff.; Harm/Sonntag, NWB 2003, Fach 17, 1719; Küting/ Bauer/Hess/Reuter, DStR 2008, Beihefter 47, 81; Kranz, Aspekte der Immobilienbilanzierung: IFRS vs. HGB und Steuerrecht, 2012.
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Hennrichs
Gewinn- und Verlustrealisierung
Rz. 422
§9
Auf diese Weise können nichtaktivierbarer Aufwand und Gewinn in verschiedene Perioden fallen. Dies führt zu Progressionsschwankungen und birgt auf Grund der Mindestbesteuerung des § 10d II 1 EStG das Risiko unvollständiger Verlustnutzung1. Eine Teilgewinnrealisierung ist nach der bisherigen Rspr. nur zulässig, wenn Teilleistungen selbständig abgrenzbar, zum Bilanzstichtag fertig gestellt und vom Empfänger abgenommen sind. Nach BFH BStBl. 1976, 543; 1980, 506; 1983, 369, muss die Teilleistung zivilrechtlich erfüllt sein: Die geschuldete Leistung muss zivilrechtlich endgültig bewirkt worden sein und der Leistende dementspr. einen Anspruch einredefrei erworben haben2. Der Gewinnausweis bei solcherart qualifizierten Teilleistungen steht in Einklang mit dem Realisationsprinzip (vgl. § 641 I 2 BGB). In Betracht kommt außerdem eine Aktivierung des Anspruchs auf Abschlagzahlungen nach Maßgabe des § 632a BGB3. Weitergehend erlaubt die nach den IFRS verpflichtende (IAS 11) und auch für HGB/EStG unter dem Aspekt des § 252 II HGB alternativ diskutierte Percentage of Completion-Methode4 eine dem Fertigungsfortschritt entsprechende Gewinnrealisation ohne Realisationsakt.
Gewinnrealisierung ist grds. auch dann anzunehmen, wenn ein Tausch oder tauschähnlicher Vorgang vorliegt, das Veräußerungsentgelt also nicht in Bargeld, sondern in Sachwerten oder in Dienstleistungen besteht. In diesen Fällen bemessen sich die Anschaffungskosten des eingetauschten Gegenstands nach dem gemeinen Wert des hingegebenen Wirtschaftsguts (§ 6 VI 1 EStG). Entgegen dem früher von der Rspr. (BFH GrS BStBl. 1959, 30) praktizierten sog. Tauschgutachten5 führt gem. § 6 VI 1 EStG auch der Tausch von Anteilen an Kapitalgesellschaften stets zu Gewinnrealisierung. § 6 VI 1 EStG erfasst auch den tauschähnlichen Vorgang der Einbringung eines Wirtschaftsguts in das Betriebsvermögen einer Personengesellschaft oder Kapitalgesellschaft gegen Gewährung von Gesellschafterrechten, wenn nicht §§ 20; 24 UmwStG (s. Rz. 436 ff. u. § 10 Rz. 152 ff.) oder § 6 V 3 EStG (s. Rz. 444; § 10 Rz. 155 ff.) eingreifen.
417
418–420
Einstweilen frei.
4. Aufgeschobene Gewinnrealisierung 4.1 Aufschub der Besteuerung stiller Reserven bei demselben Stpfl. (Rücklage für Ersatzbeschaffung; §§ 6b, 6c; § 6 V 1, 2 EStG) In bestimmten Fällen wird die Besteuerung der stillen Reserven trotz Realisationsaktes aufgeschoben, wenn stille Reserven auf ein anderes Wirtschaftsgut desselben Steuersubjekts übertragen (Ersatzbeschaffung; §§ 6b, 6c EStG) oder einzelne Wirtschaftsgüter zwischen verschiedenen Betriebsvermögen desselben Stpfl. überführt werden (§ 6 V 1, 2 EStG) und die spätere Erfassung sichergestellt ist. Der Besteuerungsaufschub verändert den Zeitpunkt der Besteuerung. Hierdurch entstehen Liquiditäts- und Zinsvorteile.
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Der Aufschub der Besteuerung stiller Reserven wird insb. gewährt, um Umstrukturierungen des Anlagevermögens steuerlich nicht zu stören oder zu verhindern. Das Übermaßverbot wird hier durch das Markteinkommensprinzip konkretisiert. Werden (betriebsnotwendige) Wirtschaftsgüter durch gleichartige, die gleiche betriebliche Funktion erfüllende Wirtschaftsgüter ersetzt, so dienen die Veräußerungen nicht dem Zweck, Gewinne zu erwirtschaften, sondern es sollen die Bedingungen für das Erwirtschaften verbessert oder perpetuiert werden6. Der Aufschub
422
1 Dazu Lang/Englisch, StuW 2005, 3 (21 ff.). 2 S. aber auch BFH BStBl. 1999, 21 (23), wo die Frage des zivilrechtlichen Gefahrübergangs zugunsten einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise offen gelassen wurde. 3 Vgl. (zu § 8 II HOAI) BFH v. 14.5.2014 – VIII R 25/11 (Gewinnrealisierung bei Planungsleistungen eines Ingenieurs nicht erst mit der Abnahme, sondern wenn der Anspruch auf Abschlagszahlung gem. § 8 II HOAI entstanden ist); s. auch Kranz, Aspekte der Immobilienbilanzierung: IFRS vs. HGB und Steuerrecht, 2012. 4 Dazu Kahle, StuB 2001, 1201, mit Vergleich HGB – US-GAAP. 5 „Abgeschafft“ durch Einfügung von § 6 VI 1 EStG im StEntlG 1999/2000/2002 (BT-Drucks. 14/23, 172). Dazu Cattelaens, DB 1999, 1083; Hoffmann, GmbHR 1999, 452. 6 J. Lang, DStJG 4 (1981), 94; zur Rechtsentwicklung s. auch HHR/Tiedchen, § 5 Rz. 659; s. ferner BTDrucks. IV/2400, 62: Das Anlagevermögen sei „seinem Wesen nach nicht zur Gewinnerzielung durch Veräußerung bestimmt“.
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§9
Rz. 423
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
der Besteuerung stiller Reserven dient im Rahmen wirtschaftlich maßvoller Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit der Erhaltung der Erwerbsgrundlagen. 423
a) Ersatzbeschaffung1: Scheidet ein Wirtschaftsgut infolge höherer Gewalt (z.B. Brand, Diebstahl) oder infolge bzw. zur Vermeidung eines behördlichen Eingriffs (z.B. Enteignung) gegen Entschädigung aus dem Betriebsvermögen aus und wird im Laufe desselben Wirtschaftsjahres ein Ersatzwirtschaftsgut2 angeschafft, so kann die stille Reserve auf das Ersatzwirtschaftsgut übertragen werden (s. R 6.6 EStR 2008). Beispiel: Bei einem Gewerbetreibenden verbrennt eine Maschine, die mit 5 000 Euro zu Buche steht. Die Feuerversicherung zahlt eine Entschädigung von 10 000 Euro. Damit ist an sich ein Gewinn von 5 000 Euro realisiert. Im gleichen Jahr wird als Ersatz eine neue Maschine für 15 000 Euro angeschafft. Die Ersatzmaschine ist mit den AK abzgl. der die verbrannte Maschine betreffenden stillen Reserve zu aktivieren (15 000 – 5 000 = 10 000 Euro). Damit ist die stille Reserve von 5 000 Euro wieder hergestellt, eine Gewinnrealisierung in der Schlussbilanz vermieden.
424
Die in R 6.6 EStR 2008 aufgestellte Voraussetzung der entsprechenden Behandlung im handelsrechtlichen Jahresabschluss ist nach Abschaffung des Grundsatzes der umgekehrten Maßgeblichkeit in § 5 I 2 EStG aufzugeben3.
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Wird die Ersatzbeschaffung nicht in demselben Jahr durchgeführt, ist sie aber ernstlich geplant, so darf als Passivposten eine „steuerfreie Rücklage für Ersatzbeschaffung“ in Höhe der stillen Reserve gebildet werden (R 6.6 IV EStR 2008)4. Im Zeitpunkt der Ersatzbeschaffung ist die Rücklage durch Übertragung auf das Ersatzwirtschaftsgut aufzulösen; dessen Buchwert wird entsprechend niedriger als die AK angesetzt. Die Ersatzbeschaffung ist grds. innerhalb des auf das Ausscheiden folgenden Wirtschaftsjahres vorzunehmen, andernfalls ist die Rücklage gewinnerhöhend aufzulösen (nach Art des Wirtschaftsguts differenzierende Regelung in R 6.6 IV EStR 2008).
426
b) Reinvestitionsrücklage5: §§ 6b; 6c EStG gestatten die Übertragung stiller Reserven bei Veräußerung bestimmter Anlagegüter. Der früher umfangreiche Katalog der begünstigten Anlagegüter umfasst nur noch Grund und Boden, Aufwuchs auf land- und forstwirtschaftlichem Grund und Boden, Gebäude sowie Binnenschiffe (§ 6b I 1, 2 EStG) und in begrenztem Umfang Anteile an Kapitalgesellschaften (§ 6b X EStG). Voraussetzung ist u.a., dass das Wirtschaftsgut mindestens sechs Jahre zum Betriebsvermögen gehört hat (§ 6b IV 1 Nr. 2 EStG); zur gesellschafterbezogenen Betrachtung bei Personengesellschaften s. § 10 Rz. 124. Die angeschafften oder hergestellten Reinvestitionswirtschaftsgüter müssen außerdem zum Anlagevermögen einer inländischen Betriebsstätte gehören (§ 6b IV Nr. 3 EStG). Diese Bedingung erscheint im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit im europäischen Binnenmarkt bedenklich.6 Die Übertragung ist limitiert auf die Anschaffung artgleicher Wirtschaftsgüter, d.h. der Gewinn aus der 1 Ebling, FS Moxter, 1994, 1005; Blümich/Ehmcke, § 6 EStG Rz. 980 ff.; krit. Marchal, Die steuerrechtlichen Grundlagen der Rücklage für Ersatzbeschaffung, Diss., 2005, S. 108 ff., 129 ff., 154 ff. (unzulässige Rechtsfortbildung). 2 Dazu BFH BStBl. 2004, 421, m. Anm. Weber-Grellet, StuB 2004, 459. 3 Vgl. Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer der Rechtswissenschaft, DStR 2008, 1057 (1059). 4 St. Rspr., s. BFH BStBl. 1982, 568 (569); 1983, 371; 1999, 488 (Übergang zu § 4 III EStG); 1999, 602 (Rücklage unzulässig bei Schätzung); 2001, 130 (Rücklage bei Verkehrsunfall); 2001, 830 (behördliches Nutzungsverbot). 5 Grundl. Thiel, DStJG 4 (1981), 183; Schön, Gewinnübertragungen bei Personengesellschaften nach § 6b EStG, Diss., 1986; ferner Dötsch, GS Knobbe-Keuk, 1997, 411 (Betriebsveräußerung; Betriebsaufgabe); Kanzler, FS Beisse, 1997, 251 (Landwirte); Schoor, FR 1997, 251; Jachmann, DStZ 2002, 203; Bröder, SteuerStud 2003, 139; Ritzrow, StBp. 2005, 45 u. 70 (Rspr.); Schoor, StuB 2006, 504. 6 Teilweise wird eine unionsrechtskonforme Auslegung der Vorschrift § 6 IV Nr. 3 EStG dahingehend befürwortet, dass das Reinvestitionswirtschaftsgut auch in einer ausländischen EU-Betriebsstätte liegen könne, s. FG München v. 7.7.2014 – 5 K 1206/14, EFG 2014, 1775, Rev. unter IV R 35/14; ebenso FG Niedersachsen v. 1.12.2011 – 6K 435/09, rkr.; gl.A. Broemel/Endert, DB 2012, 2714; a.A. Mitschke, DStR 2012, 1629.
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Hennrichs
Gewinn- und Verlustrealisierung
Rz. 430
§9
Veräußerung von Grund und Boden kann nur auf die AK/HK von Grund und Boden übertragen werden u.s.w. Lediglich der Gewinn aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften kann bis zu einem Betrag von 500 000 Euro auch auf andere Wirtschaftsgüter übertragen werden (§ 6b X 1 EStG). Die Technik entspricht der bei Ersatzbeschaffung (s. Rz. 423). Findet die Anschaffung nicht im Jahr der Veräußerung statt, kann eine gewinnmindernde Rücklage gebildet werden (§ 6b III, X 5–10 EStG), die grds. spätestens am Schluss des vierten auf ihre Bildung folgenden Wirtschaftsjahres aufzulösen ist. Die Rechtfertigung der Reinvestitionsrücklage ist umstritten. Die Vorschrift steht zwischen Fiskal- und Sozialzwecknorm. Soweit sie die Besteuerung von lediglich inflationsbedingten Scheingewinnen vermeidet und damit die steuerneutrale Wiederbeschaffung gleichwertiger Wirtschaftsgüter ermöglicht, ist sie unvollkommene Fiskalzwecknorm. Unvollkommen, weil der Gesetzgeber den Katalog der begünstigten Anlagegüter stark eingeschränkt hat. Werden darüber hinaus auch nicht inflationsbedingte stille Reserven verschont, handelt es sich um eine wirtschaftspolitisch sinnvolle Vergünstigung. Der Gesetzgeber versteht die Reinvestitionsrücklage dagegen seit jeher ausschließlich als Steuervergünstigung1, indem er die Investitionsrücklage nicht allgemein für Anlagegüter, sondern nur für solche Anlagegüter zulässt, bei denen ihm die Marktanpassung, Rationalisierung oder Modernisierung als besonders sinnvoll oder gar geboten erscheint. Diese Sicht erlaubt es, §§ 6b; 6c EStG nach Kassenlage einzuschränken.
427
§ 6b X EStG2 verfolgt einen zusätzlichen Zweck: Indem Personenunternehmen eine Kompensation für die auf Körperschaften beschränkte Steuerfreiheit der Gewinne aus der Veräußerung von Beteiligungen an anderen Körperschaften (§ 8b II KStG) gewährt wird, sollen Rechtsformunterschiede gemildert werden. Die Vorschrift basiert einerseits auf einem krassen Missverständnis der Funktion von § 8b II KStG, der Doppelbelastungen im Hinblick auf die körperschaftsteuerrechtliche Vorbelastung im Kaufpreis realisierter offener Rücklagen vermeiden soll (dazu § 11 Rz. 39 ff.), ist aber andererseits § 8b II KStG weder in den Voraussetzungen noch in der Rechtsfolge äquivalent und daher insgesamt verfehlt.
428
c) Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern zwischen verschiedenen BV: Gem. § 6 V 1 EStG sind die Buchwerte ferner steuerneutral fortzuführen, wenn ein einzelnes WG von einem BV in ein anderes BV desselben Stpfl. überführt wird und die Besteuerung der stillen Reserven sichergestellt ist. Zur Überführung von WG bei Mitunternehmerschaften s. § 6 V 2, 3 EStG und dazu § 10 Rz. 155 ff.
429
4.2 Übergang stiller Reserven auf andere Steuerrechtssubjekte (§ 6 III, V 3 EStG; UmwStG)3 Die Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit gebietet es grds., dass jede natürliche Person ihr eigenes Einkommen versteuert (Grundsatz der Individualbesteuerung, § 8 Rz. 22 ff.). Mit diesem Gebot ist die Übertragung stiller Reserven auf andere Steuersubjekte an sich nicht zu vereinbaren. Gleichwohl lassen § 6 III, V EStG und das UmwStG die intersubjektive Übertragung stiller Reserven zu (s. auch § 10 Rz. 152 ff., § 14 Rz. 40 ff.). Technisch wird die spätere Erfassung der stillen Reserven beim Empfänger durch die Fortführung der Buchwerte sichergestellt. Diese Einschränkung der Besteuerung nach der persönlichen Leistungsfähigkeit ist durch das Markteinkommensprinzip und das Übermaßverbot gerechtfertigt. Das Prinzip der Buchwertverknüpfung (s. Rz. 405) verhindert die Substanzbesteuerung des ruhenden Vermögens und modifiziert das Leistungsfähigkeitsprinzip unter Liquiditätsgesichtspunkten sachgerecht4. Der Unterschied zur Entnahmebesteuerung, die als ultima ratio-Besteuerung auch 1 BT-Drucks. IV/2400, 62 ff.; BR-Drucks. 193/64, 46. EuGH v. 19.9.2000 – C-156/98, EuGHE 2000, I-6857 Rz. 23 = BStBl. 2001, 47, erkennt in §§ 6b; 52 VIII EStG i.d.F. des JStG 1996 nur im Hinblick auf ihre Beschränkung auf die neuen Bundesländer und Berlin eine unzulässige Beihilfe i.S.d. Art. 87 EGV (dazu § 19 Rz. 80 ff.). 2 BT-Drucks. 14/7344, 7. Dazu HHR/Köster, Jahresbd. 2002, § 6b EStG Anm. J 01-6 ff. 3 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 362 ff. 4 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 362 ff.
Hennrichs
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599
430
§9
Rz. 431
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
ohne Realisationsakt am Markt und Zufluss liquider Mittel auf die stillen Reserven zugreift, besteht darin, dass die stillen Reserven steuerverstrickt bleiben, wenngleich bei einem anderen Steuersubjekt. 431
a) Unentgeltliche Übertragung von Betrieben, Teilbetrieben und Mitunternehmeranteilen: § 6 III EStG1 schreibt eine Buchwertverknüpfung vor. Diese Vorschrift grenzt Zuwendungsvorgänge (insb. Schenkungen im Rahmen vorweggenommener Erbfolge) systemgerecht aus dem Markteinkommenstatbestand aus.
432
Bei teilentgeltlicher Übertragung von Betriebsgesamtheiten (Betriebe, Teilbetriebe, Mitunternehmeranteile)2 vertritt BFH BStBl. 1993, 436 (437); 1995, 367 (371); BFH/NV 2008, 854, die sog. Einheitstheorie. Der Vorgang ist einheitlich entweder § 16 I 1 EStG oder § 6 III EStG zuzuordnen: Liegt das Entgelt unter den Buchwerten des übertragenen Betriebsvermögens, so sind die Buchwerte nach § 6 III EStG fortzuführen. Beim Übertragenden ist der Unterschiedsbetrag zwischen dem niedrigeren Veräußerungserlös und dem Buchwert Zuwendung, kein erwirtschafteter Verlust3. Liegt das Entgelt dagegen über den Buchwerten, ergibt sich in Höhe des ermäßigten Entgelts ein Veräußerungsgewinn nach § 16 II EStG. § 6 III EStG greift auch auf Erwerberseite nicht, statt der Buchwerte setzt der Erwerber die ermäßigten AK an. Bei der Übertragung mehrerer Wirtschaftsgüter ist grds. die von den Vertragsparteien zugrunde gelegte Aufteilung des Kaufpreises auf einzelne Wirtschaftsgüter maßgeblich (BFH BStBl. 2006, 9; BMF BStBl. 2007, 269).
433
b) Erbfall und Erbauseinandersetzung4 sind zivil- und steuerrechtlich selbständig zu beurteilende Rechtsvorgänge.5 Der Erbfall ist der nicht einkommensteuerbare Zuwendungsakt. Folgen dem Erblasser mehrere Erben nach und gehört zum Nachlass ein Gewerbebetrieb, ist die Erbengemeinschaft insoweit „geborene Mitunternehmerschaft“; die Miterben werden mit dem Erbfall ertragsteuerlich Mitunternehmer und bleiben dies bis zur Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft.6 Die Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft ist sodann ertragsteuerlich eine Auseinandersetzung der Mitunternehmerschaft nach den dafür geltenden Grundsätzen (s. § 10 Rz. 155 ff., 200 ff.)7. Je nach Gestaltung können entgeltliche Rechtsgeschäfte (Veräußerungen und Anschaffungsgeschäfte) anzunehmen sein, die bei dem Veräußernden zu Gewinnrealisierung und bei dem Erwerbenden zu (abschreibungsfähigen) Anschaffungskosten führen, oder es können § 6 III, V, VI, § 16 III EStG einschlägig sein: Übernimmt beispielsweise ein 1 Zuvor § 7 I EStDV, durch StEntlG 1999/2000/2002 in § 6 III EStG übernommen; zu Einzelheiten s. BMF BStBl. I 2005, 458; dazu Kai, DB 2005, 794; Carlé/Fuhrmann, FR 2006, 749. 2 Kemmer, Teilentgeltliche Rechtsgeschäfte in der Einkommensteuer, Diss., 1987; Brinkmann, Teilentgeltliche Unternehmensnachfolge im Mittelstand, Diss., 2005, 111 ff. 3 Zur teilentgeltlichen Übertragung von Betriebsvermögen s. Felix, FR 1987, 601; Groh, StuW 1984, 217; Märkle, StbJb. 1987/88, 309; Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 39. 4 Monographien zu Erbauseinandersetzung u. vorweggenommener Erbfolge: Heyeres, Zusammenwirken von Einkommensteuer und Erbschaftsteuer als Gestaltungsproblem der Unternehmernachfolge, Diss., 1996; Holdorf-Habetha, Der Übergang von gewerblich genutztem Vermögen im Wege der Erbfolge im Einkommensteuerrecht, Diss., 1996; Seidler, Anschaffungskosten und Gewinnrealisierung bei Rechtsnachfolge im Erbgang, Diss., 1996; Pohl, Unternehmensnachfolge durch Teilungsanordnung und Sondererbfolge im Einkommensteuerrecht, Diss., 1997; Gebel, Betriebsvermögensnachfolge2, 2002; Esch/Baumann/Schulze zur Wiesche, Handbuch der Vermögensnachfolge7, 2009; Spiegelberger, Vermögensnachfolge2, 2010; Gruber/Kalss/Müller; Erbrecht und Vermögensnachfolge, 2010; Hörger/ Pohl, Unternehmens- und Vermögensnachfolge3, 2011; Traut, Vermögensnachfolge, Versorgungsleistungen und Unternehmen, 2013; Krauß, Vermögensnachfolge in der Praxis4, 2015; s. ferner Seer, SteuerStud 1992, 414; Märkle, DStR 1994, 769 u. 812; Brandenberg, StbJb. 1995/96, 287; Kappe, StbJb. 1995/96, 295; Stuhrmann, StbJb. 1995/96, 273; Esser, DStZ 1997, 439; Däinghaus/Reichel, DStZ 1998, 34; Schulze zur Wiesche, BB 1999, 2223 (StEntlG 1999/2000/2002); Schoor, DStZ 2002, 55; Klein/Langen, Vorweggenommene Erbfolge und neuer Rentenerlass, 2005; Hallerbach, StuB 2006, 572. Eingehend Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 604 ff. 5 BFH v. 5.7.1990 – GrS 2/89, BStBl. 1990, 837; BMF BStBl. I 1993, 62; BMF BStBl. I 2006, 253; BMF BStBl. I 2007, 269. Zur Entwicklung der Rspr. u. zu BFH GrS BStBl. 1990, 837, s. Söffing, DB-Beil. 12/1989; Herzig/Müller, DStR 1990, 359; A. Müller, Wirtschaftliche Konsequenzen des Wandels der Rspr. zur ertragsteuerlichen Behandlung der Erbauseinandersetzung und der vorweggenommenen Erbfolge, Diss., 1993. 6 Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 606. 7 Eingehend Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 608 ff., m.w.N.
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Hennrichs
Gewinn- und Verlustrealisierung
Rz. 435
§9
Miterbe den Gewerbebetrieb gegen Ausgleichszahlungen an die Miterben, die dadurch aus der Miterbengemeinschaft ausscheiden, so ist der Fall ebenso zu beurteilen wie die sonstigen Fälle des Ausscheidens aus einer Personengesellschaft gegen Abfindung1 (§ 10 Rz. 182 f.): die weichenden Miterben veräußern ihre Mitunternehmeranteile entgeltlich an den Erwerber; der übernehmende Miterbe hat AK i.H.d. Abfindung und erwirbt i.Ü. (i.H. seiner Erbquote) unentgeltlich2. Wird die Erbengemeinschaft dagegen dergestalt auseinandergesetzt, dass das Betriebsvermögen des Gewerbebetriebs auf die Miterben gleichmäßig nach Erbquoten verteilt wird, liegt eine Realteilung ohne Ausgleichszahlung vor, die gem. § 16 III 2–4 EStG (dazu § 10 Rz. 201 ff.) zu beurteilen ist3. Gehören zum Nachlass mehrere selbständige Betriebe und werden diese aufgeteilt, gilt ebenfalls Buchwertfortführung (§ 16 III 2; nach a.A. [aber mit demselben Ergebnis] § 6 III 1 EStG)4. Zur Realteilung mit Ausgleichszahlungen5 s. § 10 Rz. 203. Findet eine gegenständliche Teilauseinandersetzung bezogen auf einzelne Wirtschaftsgüter statt, ist § 6 V 3 Nr. 1 EStG zu beachten.6 Beispiel zum sog. Mischnachlass7: Erben sind A und B je zur Hälfte. Zum Nachlass gehört ein Betrieb (Wert 1 Mio. Euro) und privater Grundbesitz (Wert 1 Mio. Euro). Wenn A den Betrieb und B den privaten Grundbesitz erhalten, wird lediglich das Zugewendete aufgeteilt. A führt die Werte nach § 6 III EStG und B die Werte nach § 11d EStDV fort. Variante: Der Wert des privaten Grundbesitzes beträgt nur 500 000 Euro, so dass A an B eine Abfindung von 250 000 Euro bezahlt. Da A und B jeweils im Wert von 750 000 Euro am Gesamtnachlass (Wert: 1,5 Mio. Euro) beteiligt sind, erwirbt A den Betrieb zu drei Vierteln unentgeltlich und zu einem Viertel entgeltlich. Bei einem Buchwert des Betriebs von 400 000 Euro führt A die Buchwerte nach § 6 III EStG i.H.v. 300 000 Euro fort; der restliche Buchwert von 100 000 Euro wird durch AK i.H.v. 250 000 Euro ersetzt, so dass A die Buchwerte um 150 000 Euro auf 550 000 Euro aufzustocken hat. B veräußert an A ein Viertel des Betriebs und hat einen Veräußerungsgewinn von 150 000 Euro (250 000 Euro ./. 100 000 Euro) zu versteuern.
434
Im thematischen Kontext mit der Erbauseinandersetzung hat der GrS (BStBl. 1990, 847) grundl. auch über die vorweggenommene Erbfolge (das sind Vermögensübertragungen unter Lebenden mit Rücksicht auf die künftige Erbfolge) entschieden8. In der Entscheidung werden vier Arten von Leistungen, die im Zusammenhang mit einer vorweggenommenen Erbfolge stehen, wie folgt beurteilt: (1.) Versorgungsleistungen werden grds. als unentgeltlich und privat qualifiziert. Sie stellen weder Veräußerungsentgelt noch Anschaffungskosten dar, sondern sind wiederkehrende Bezüge (§ 22 Nr. 1 EStG) und Sonderausgaben (§ 10 I Nr. 1a EStG). Ein voll entgeltlicher Vorgang in Gestalt einer (2.) betrieblichen Veräußerungsrente liege nur vor, wenn das Verhältnis zwischen dem Wert des Betriebs, Teilbetriebs oder des Mitunternehmeranteils und der Rentenzahlung kaufmännisch ausgewogen sei und die Parteien eine Veräußerung auch wollten. Zwischen nahen Angehörigen spreche unabhängig von den übertragenen Werten eine widerlegbare Vermutung für eine private Versorgungsrente9 (hierzu auch Rz. 27). Hingegen werden (3.) Abstandszahlungen an den Übertragenden und sog. Gleichstellungsgelder an Miterben sowie die (4.) Übernahme privater Verbindlichkeiten als Veräußerungsentgelte und Anschaffungskosten qualifiziert. Die Übernahme der Schulden des Betriebs stellt demgegenüber kein Entgelt dar. Für die Behandlung dieser teilentgeltlichen Vorgänge10 gilt wiederum die Einheitstheorie (s. Rz. 432).
435
Zutr. Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 610. Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 610. Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 614 f. Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 617. S. dazu außerdem Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 618 f. und 549, m.w.N. Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 622. Als Mischnachlass bezeichnet man Fälle, in denen einzelnen Erben ausschließlich Wirtschaftsgüter des Privatvermögens, anderen Erben ein Betrieb/Betriebe zugewiesen werden; dazu BMF BStBl. I 2007, 269; Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 636 ff. 8 Dazu auch BMF BStBl. I 1993, 80; eingehend auch Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 45 ff. 9 BFH BStBl. 1986, 51; 1992, 465; 2005, 130. 10 Dazu Märkle, DStR 1993, 1005; Stobbe, StuW 1996, 289 (Einheits- vs. Spaltungstheorie). 1 2 3 4 5 6 7
Hennrichs
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601
§9
Rz. 436
436
c) Einbringung von Betrieben, Teilbetrieben und Mitunternehmeranteilen: Das UmwStG1 geht nach der Reform durch das SEStEG v. 7.12.2006 (BGBl. I 2006, 2782) grds. vom Ansatz des gemeinen Werts des eingebrachten Betriebsvermögens aus (§ 20 II 1 UmwStG), lässt aber unter bestimmten Voraussetzungen die steuerneutrale Übertragung stiller Reserven durch Buchwertverknüpfung zu:
437
aa) Wird ein Betrieb, Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil in eine Kapitalgesellschaft2 eingebracht (Sacheinlage) und erhält der Einbringende neue Anteile, so kann die übernehmende Gesellschaft statt des gemeinen Werts Buch- oder Zwischenwerte ansetzen, wenn die spätere Besteuerung bei der übernehmenden Gesellschaft mit Körperschaftsteuer sichergestellt ist (§ 20 II 2 Nrn. 1–3 UmwStG). Die Bewertung beim Einbringenden korrespondiert mit den Wertansätzen bei der aufnehmenden Kapitalgesellschaft (§ 20 III 1 UmwStG); dazu § 14 Rz. 69 ff.
438
bb) Wird ein Betrieb, Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil in eine Personengesellschaft eingebracht (s. § 10 Rz. 152 ff.), so geht das Gesetz ebenfalls – wie zu aa) – grds. vom Ansatz des gemeinen Werts aus, § 24 II 2 UmwStG erlaubt aber die Einbringung zu Buchwerten oder Zwischenwerten, soweit das inländische Besteuerungsrecht hinsichtlich des eingebrachten Betriebsvermögens nicht ausgeschlossen oder beschränkt wird. § 24 UmwStG gilt auch bei Aufnahme eines (weiteren) Gesellschafters in eine Personengesellschaft oder ein Einzelunternehmen gegen Bareinlage (§ 10 Rz. 154). Dahinter steht die Idee, dass in diesen Fällen wirtschaftlich betrachtet eine neue, erweiterte Mitunternehmerschaft entstehe3. Das ist im Fall der Aufnahme eines neuen Beteiligten in ein Einzelunternehmen richtig (rechtlich geschieht dies durch Gründung einer Gesellschaft nebst Sacheinlage des bisherigen Einzelunternehmens und ggf. zusätzlicher Bareinlage des Neuen), bei Aufnahme eines neuen Gesellschafters in eine bestehende Personengesellschaft aber fragwürdig. Ein Gesellschafterwechsel bei einer Personengesellschaft lässt nämlich die Identität der Personengesellschaft zivilrechtlich unberührt. Daher besteht zivilrechtlich gar kein Grund für eine Neubewertung zum gemeinen Wert oder einem Zwischenwert. Sachgerecht wäre vielmehr allein eine zwingende Buchwertfortführung. Die Vorstellung, ein Gesellschafterwechsel führe zu einer neuen, erweiterten Mitunternehmerschaft, ist dem Transparenzprinzip bei der Besteuerung von Personengesellschaften geschuldet. Immerhin erlaubt § 24 UmwStG in diesen Fällen die (zivilrechtlich betrachtet einzig sachgerechte) Buchwertfortführung.
439
d) Die Einbringung einzelner Wirtschaftsgüter in eine Kapitalgesellschaft begründet einen gewinnrealisierenden Vorgang. Dagegen ordnet § 6 V 3 EStG bei Einbringung in eine Personengesellschaft zwingend eine Buchwertverknüpfung an.
440
e) Zu den steuerrechtlichen Folgen der Umwandlung von Kapitalgesellschaften s. § 14 Rz. 42 ff.; über Gewinnrealisierung bei Betriebsaufspaltung s. § 13 Rz. 80 ff.
441
f) Zu Personengesellschaften regelt § 6 III EStG die unentgeltliche Übertragung eines Mitunternehmeranteils (s. § 10 Rz. 183 ff.), § 6 V EStG die erfolgsneutrale Übertragung einzelner Wirtschaftsgüter zwischen (Sonder-)Betriebsvermögen der Mitunternehmer und dem Gesamthandsvermögen der Mitunternehmerschaft (s. § 10 Rz. 155 ff.) und § 16 III EStG die Realteilung (s. Rz. 433 und § 10 Rz. 201 ff.).
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Einstweilen frei.
442–449
1 Zu den Änderungen durch das SEStEG Überblick bei Dötsch/Pung, DB 2006, 2704 u. 2763; zur Umwandlung u. Verschmelzung sowie weitere Lit. zum UmwStG s. § 14 vor Rz. 40 ff. (Schaubild der verschiedenen Umwandlungsarten: § 14 Rz. 41). 2 Zur Neuregelung der Einbringung durch das SEStEG Ley, FR 2007, 109; Patt, Der Konzern 2006, 730; Orth, DB 2007, 419; Ritzer/Rogall/Stangl, WPg. 2006, 1210. 3 BFH/NV 2000, 34; BMF BStBl. I 1998, 268, Tz. 24.01.
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Hennrichs
Rz. 460
§9
Nach den verfassungsrechtlich geprägten Inhalten des Markteinkommens- und des Realisationsprinzips ist das Abwarten der Realisierung eine eigentumsschonende Maßnahme. Dies darf aber nicht dazu führen, dass die im Betriebsvermögen gespeicherten stillen Reserven gar nicht versteuert werden. Einem sowohl am Leistungsfähigkeitsprinzip als auch am Übermaßverbot ausgerichteten System ertragsteuerlicher Realisation entspricht das erwähnte (s. Rz. 406) Entstrickungsprinzip: Solange die stillen Reserven steuerlich erfasst bleiben, kann die Realisation abgewartet und können Buchwerte fortgeführt werden; im Zeitpunkt des Ausscheidens aus der Steuerverstrickung wird es allerdings erforderlich, als ultima ratio bis dahin nicht realisierte Vermögensmehrungen abzurechnen. So erklären sich die Vorschriften über Entnahme und Betriebsaufgabe sowie §§ 11; 12; 13 VI KStG (dazu § 11 Rz. 100 ff.); § 21 II 2 UmwStG; § 6 AStG1.
450
Über die gesetzlich normierten Einzelfälle hinaus enthielt das EStG bis 2006 keinen allgemeinen gesetzlichen Entstrickungstatbestand. Auch ein allgemeines Entstrickungsprinzip ließ sich aus den lückenhaften gesetzlichen Regeln nicht ableiten. Die Rechtsanwendungspraxis behalf sich durch extensive, den Wortlaut übersteigende Auslegung der Begriffe der „Entnahme“ und „Betriebsaufgabe“ (BFH BStBl. 1970, 760). Dieser sog. finale Entnahmebegriff (s. auch Rz. 460) wurde erst durch BFHE 222, 402 (finale Entnahme), sowie BFHE 227, 83, und BFH/NV 2010, 432 (finale Betriebsaufgabe) aufgegeben2.
451
Zwischenzeitlich hat der Gesetzgeber jedoch die Rechtsfolgen des finalen Entnahmebegriffs gesetzlich festgeschrieben. Mit SEStEG v. 7.12.2006 (BGBl. I 2006, 2782) und JStG 2010 (BGBl. I 2010, 1768) wurden zur konsequenten Sicherung des deutschen Besteuerungsrechts (BTDrucks. 16/2710, 25) in § 4 I 3; § 16 IIIa EStG; § 12 KStG für grenzüberschreitende Sachverhalte allgemeine Entstrickungstatbestände und in § 4 I 8 Hs. 2 EStG (i.V.m. § 8 I KStG) ein mit diesen korrespondierender Verstrickungstatbestand kodifiziert. Ein in sich geschlossenes System steuerlicher Entstrickungstatbestände ist indes nicht entstanden3.
452
Gewinn- und Verlustrealisierung
5. Besteuerung stiller Reserven ohne Realisationsakt als ultima ratio 5.1 Entstrickungsprinzip
Einstweilen frei.
453–459
5.2 Gesetzliche Ersatzrealisationstatbestände 5.2.1 Entnahme i.S.d. § 4 I 2 EStG Den Tatbestand einer Entnahme zum Teilwert (§§ 4 I 2; 6 I Nr. 4 Satz 1 Hs. 1 EStG) für betriebsfremde Zwecke (s. dazu Rz. 361) hatte die Rspr. in der Vergangenheit zu einem weitgehenden Ersatzrealisierungstatbestand modifiziert und darunter auch den Fall erfasst, in dem ein Wirtschaftsgut aus dem Inland in eine ausländische Betriebsstätte überführt wird (und damit die Betriebsvermögenseigenschaft an sich nicht verloren geht). Ziel dieses sog. finalen Entnahmebegriffs war es, die steuerliche Erfassung der stillen Reserven umfassend zu gewährleisten4. Von dieser Erweiterung des Entnahmebegriffs hat der BFH in seinem Urteil v. 17.7. 1 Zur Anpassung der Wegzugsbesteuerung an die Vorgaben des EuGH (EuGH v. 11.3.2004 – C-9/02, Lasteyrie, EuGHE 2004, I-2409; EuGH v. 7.9.2006 – C-479/04, „N“, EuGHE 2006, I-8089) durch das SEStEG Töben/Reckwardt, FR 2007, 159; Stümper, GmbHR 2007, 358. 2 Anm. Gosch, BFH/PR 2010, 116; Wassermeyer, IStR 2010, 461; Benecke, IStR 2010, 101; Köhler, IStR 2010, 337; Schneider/Oepen, FR 2009, 22; Ditz, IStR 2009, 115; Mitschke, FR 2008, 1144 u. FR 2009, 326; U. Prinz, DB 2009, 807; Roser, DStR 2008, 2389; Kahle/Franke, IStR 2009, 406; zur Kritik an der Theorie der finalen Entnahme: Tipke, StuW 1972, 264 ff.; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 275 ff.; Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, 2011, Rz. 5 378 ff.; Kroppen, IStR 2005, 74 (75). 3 Vgl. Schwenke, DStZ 2007, 235 (242). Ferner HHR/U. Prinz, Jahresbd. 2007, Vor § 4 EStG Anm. J 06-2; Wassermeyer, IStR 2007, 833. 4 BFH GrS BStBl. 1975, 168; BFH BStBl. 1978, 305 (306) m.w.N.; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 436 ff.; Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 476 ff.; Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 326 ff.
Hennrichs
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603
460
§9
Rz. 461
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
2008 – I R 77/06 schließlich Abstand genommen1. Durch das SEStEG und das JStG 2010 wurde sodann aber die Entnahmefiktion in § 4 I 3, 4 EStG kodifiziert (s. Rz. 470). Daneben ist für eine erweiternde Auslegung des Entnahmebegriffs kein Raum mehr. § 4 I 3 EStG regelt die Gefährdung der Besteuerung der stillen Reserven durch Ausschluss oder Beschränkung des inländischen Besteuerungsrechts abschließend. 461
Die Aufdeckung der stillen Reserven durch Entnahme gem. § 4 I 2 EStG ist berechtigt, wenn das Wirtschaftsgut seine Betriebsvermögenseigenschaft verliert und damit zu steuerlich nicht verstricktem Privatvermögen wird. Ein Zugriff auf die stillen Reserven ist indes noch nicht geboten, wenn das Wirtschaftsgut in anderer Form steuerverstrickt bleibt: – Durch § 4 I 6 EStG ist bereits entschieden, dass ein Wirtschaftsgut nicht dadurch entnommen wird, dass der Stpfl. von der Gewinnermittlung nach § 4 I EStG zur Gewinnermittlung nach § 13a EStG übergeht; dasselbe gilt für den Wechsel zur Gewinnermittlung nach § 4 III EStG. – Ebenso lehnt die Rspr. Betriebsaufgabe (Totalentnahme) ab bei Strukturwandel2 (z.B. vom Gewerbebetrieb zum landwirtschaftlichen Betrieb/vom freiberuflichen Betrieb zum Gewerbebetrieb). Die Rspr. lässt sich davon leiten, dass der Stpfl. bei Strukturwandel einerseits keinen Veräußerungserlös erzielt, aus dem er die Steuern zahlen könnte, andererseits aber die stillen Reserven unter steuerlicher Kontrolle bleiben, so dass sie bei einer späteren Veräußerung erfasst werden können. – Wenn ein Wirtschaftsgut von einem Betriebsvermögen in ein anderes überführt wird, verneint die Rspr. bisher bereits den Tatbestand der Entnahme (s. z.B. BFH BStBl. 1987, 342; 1989, 187). Der Gesetzgeber geht dagegen in § 6 V 1 EStG von einer Entnahme aus, verhindert die Aufdeckung der stillen Reserven jedoch auf der Bewertungsebene durch zwingenden Buchwertansatz, soweit die Besteuerung der stillen Reserven sichergestellt ist.
462
Das Wirtschaftsgut kann auch infolge einer Gesetzes- oder Rechtsprechungsänderung aus der Steuerverstrickung ausscheiden3. Eine Entnahme wird hierdurch nicht begründet. Die Besteuerung der stillen Reserven ist nur zulässig auf Grund einer besonderen gesetzlichen Regelung (z.B. § 13 KStG im Fall des Erlöschens einer Steuerbefreiung). Rückwirkende Klarstellungen, dass ein Wirtschaftsgut von Anfang an nicht dem Betriebsvermögen zugeordnet werden konnte, führen zu einer Ausbuchung zum Buchwert.
5.2.2 Betriebsaufgabe als Totalentnahme (§§ 14; 14a III; 16 III; 18 III EStG); Betriebsunterbrechung und Betriebsverpachtung (§ 16 IIIb EStG) 463
Veräußert der Stpfl. seinen ganzen Gewerbebetrieb (Betriebsveräußerung) oder selbständige organisatorische Einheiten (Teilbetriebsveräußerung, § 8 Rz. 420), so ergibt sich die Steuerbarkeit der daraus erzielten gewerblichen Einkünfte bereits aus den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften (§§ 2 II Nr. 1, 15; 4 I 1, 5 I 1 EStG). § 16 I 1 Nr. 1 EStG ist insoweit nur klarstellend (§ 8 Rz. 421). Ein steuerpflichtiger Veräußerungsgewinn entsteht gem. § 16 II EStG in der Höhe, um den der Veräußerungspreis nach Abzug der Veräußerungskosten den Buchwert des Betriebsvermögens übersteigt. Die konstitutive Bedeutung des § 16 I 1 Nr. 1 EStG liegt darin, Aufgriffstatbestand für die Begünstigungen gem. § 16 IV; § 34 EStG zu sein. Wegen der geballten Aufdeckung stiller Reserven bei Betriebsveräußerung wird die Besteuerung des Veräußerungsgewinns durch einen Freibetrag (§ 16 IV EStG) und einen ermäßigten Steuersatz (§ 34 EStG) privilegiert (§ 8 Rz. 421 f.).
464
Wird der Betrieb nicht veräußert, sondern aufgegeben (Betriebsaufgabe4) und werden dabei alle wesentlichen Betriebsgrundlagen in ein anderes Vermögen überführt, so liegt gleichsam eine 1 BFH I R 77/06, BStBl. 2009, 464; dazu BMF BStBl. I 2009, 671. 2 BFH GrS BStBl. 1975, 168; BFH BStBl. 1987, 342; 1993, 36 (39). 3 Dazu Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 323 ff.; Tiedtke/Heckel, DStZ 1999, 725 (Beendigung einer Betriebsaufspaltung auf Grund Rechtsprechungsänderung). 4 Wendt, FR 1998, 264; Glanegger, DStR 1998, 1329; Schulze zur Wiesche, Betriebsveräußerung, Gesellschafterwechsel und Betriebsaufgabe im Steuerrecht8, 2002; Stopper, Die Betriebsaufgabe als Gewinnausweistatbestand, Diss., 2005; Kanzler, DStR 2009, 400.
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Hennrichs
Gewinn- und Verlustrealisierung
Rz. 466
§9
„Totalentnahme“ vor, bei der die Abrechnung der bislang unversteuerten stillen Reserven wie bei der allgemeinen Entnahme (Rz. 460 ff.) gewährleistet sein muss. Wegen der geballten Aufdeckung stiller Reserven normiert § 16 III EStG auch für die Betriebsaufgabe den Aufgriffstatbestand für die Begünstigungen gem. § 16 IV; § 34 EStG. Eine Betriebsaufgabe liegt vor, wenn alle wesentlichen Betriebsgrundlagen eines ganzen Betriebs (oder eines Teilbetriebs) in einem einheitlichen Vorgang und zeitlich konzentriert (sonst allmäliche Betriebsauflösung, die zu laufendem, nicht privilegiertem Gewinn führt) einzeln an verschiedene Erwerber (sonst Betriebsveräußerung gem. § 16 I 1 Nr. 1 EStG, die allerdings gleichwertig ist, nämlich zu denselben Rechtsfolgen führt1) veräußert und/oder ganz oder z.T. in ein anderes Vermögen überführt werden, so dass dadurch der Betrieb als selbständiger Organismus des Wirtschaftslebens zu bestehen aufhört2. Die Einheitlichkeit des Vorgangs innerhalb absehbarer Zeit kennzeichnet die Betriebsaufgabe und grenzt sie zu Entnahmen und Veräußerungen während des lebenden Betriebs ab. Veräußerungen im laufenden Betrieb sowie die allmähliche Betriebsabwicklung sind nicht privilegiert3. Dies schließt aber nicht aus, dass sich die Aufgabe über mehrere Veranlagungszeiträume erstreckt4. Parallel zu § 4 I 3, 4 EStG stellt § 16 IIIa EStG die Erfassung inländischer stiller Reserven bei Betriebsverlagerung ins Ausland sicher (s. Rz. 470). Die Betriebsaufgabe ist ferner abzugrenzen von der Betriebsunterbrechung (Rz. 465) und der Strukturänderung (Rz. 466). Die Betriebsaufgabe kann auf freiem Entschluss oder auf Zwang (z.B. auf einem Berufsverbot) beruhen. Die bloße Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist allerdings noch keine Betriebsaufgabe, weil der (Teil-)Betrieb auch während des Insolvenzverfahrens und darüber hinaus fortgeführt werden kann5. Die Betriebsaufgabe muss sich eindeutig entweder aus äußerlich erkennbaren Umständen oder aus einer Aufgabeerklärung ergeben6. Keine Betriebsaufgabe ist die bloße Betriebsunterbrechung, bei der die Wirtschaftsgüter weder veräußert noch in das Privatvermögen überführt werden, sondern die werbende Tätigkeit innerhalb eines angemessenen Zeitraums wieder aufgenommen werden soll7. Für diese Fälle regelt § 16 IIIb EStG n.F.8 nunmehr eine Fortführungsfiktion: Der (Teil-)Betrieb gilt nicht als aufgegeben (sondern nur als unterbrochen), bis entweder der Stpfl die Aufgabe ausdrücklich gegenüber dem FA erklärt oder dem FA Tatsachen bekannt werden, aus denen sich die Betriebsaufgabe ergibt. Die Aufgabeerklärung bindet den Stpfl., auch wenn er sich über die steuerlichen Folgen der Versteuerung der stillen Reserven nicht bewusst war9. Bei Betriebsverpachtung10, wenn der Stpfl. die wesentlichen Betriebsgrundlagen im Ganzen verpachtet, gesteht ihm die Rspr. ein Wahlrecht zwischen gewerblichen Einkünften und Einkünften aus Vermietung und Verpachtung zu (s. nun ebenfalls § 16 IIIb EStG). Im letzteren Fall muss er die Betriebsaufgabe ausdrücklich erklären11.
465
Ebenfalls keine Betriebsaufgabe ist die bloße Strukturänderung (z.B. die Umstellung eines bisherigen Produktions- zu einem Handelsbetrieb)12. Dasselbe soll sogar bei Übergang zur Liebhaberei gelten (Beispiel: ein ehedem einkommensteuerlich relevanter Betrieb der Land- und
466
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 173 f. BFH BStBl. 1989, 602 (604); 1991, 512 (513); Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 173 ff. Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 184. BFH BStBl. 2005, 637. Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 184. BFH BStBl. 1998, 379. Dazu BFH BStBl. 1996, 276; 1997, 561; BFH/NV 1999, 1198; Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz. 470 ff.; Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 181. Eingeführt durch Art. 1 Nr. 11 des Steuervereinfachungsgesetzes v. 1.11.2011, BGBl. I 2011, 2131; mit Wirkunge v. 5.11.2011, s. Art. 52 XXXIV 9 EStG. BFH BStBl. 2005, 160. Zur Betriebsverpachtung BFH GrS BStBl. 1964, 124; BFH BStBl. 1985, 456; 1993, 36 (vorübergehende Verpachtung); 1998, 388; 2006, 591; R 16 V EStR 2008; Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 690 ff.; Doralt, GS Trzaskalik, 2005, 273; S. Schuster, FR 2007, 584. BFH/NV 1999, 1198; 2001, 768 u. 1106 (Aufgabeerklärung); Olfen, Stbg. 2006, 106. Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 177.
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§9
Rz. 467
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Forstwirtschaft wird von einem bestimmten Zeitpunkt an als Liebhaberei fortgeführt, BFH BStBl. 1982, 3811). In diesem Fall bleibe das bisher dem Betrieb dienende Vermögen weiterhin Betriebsvermögen mit der Folge, dass eine Auflösung und Versteuerung der im Betriebsvermögen steckenden stillen Reserven zunächst nicht in Betracht komme. Vielmehr sei das Betriebsvermögen festzuschreiben, wie es im Zeitpunkt des Übergangs zur Liebhaberei vorhanden war. Mit den im Zeitpunkt des Übergangs vorhandenen Werten war und bleibt dieses hiernach noch (gleichsam „eingefrorenes“) Betriebsvermögen (ohne Betrieb), dessen stille Reserven noch der Auflösung harren. Andererseits kann die Betriebsaufgabe auch darin bestehen, dass die wesentlichen Betriebsgrundlagen verdeckt (bei offener Einlage: § 20 UmwStG) in eine Kapitalgesellschaft eingebracht werden2. Der verdeckten Einlage geht eine (Total-)Entnahme zwangsläufig voraus. 467
Nach § 16 III EStG werden die stillen Reserven durch Ansatz der Veräußerungspreise und des gemeinen Werts der nicht veräußerten Wirtschaftsgüter im Zeitpunkt der Betriebsaufgabe aufgedeckt. Hingegen werden bei unentgeltlichem Übergang des Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils die Buchwerte fortgeführt (§ 6 III EStG; Rz. 430 ff.). Für die Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils in eine Kapital- oder Personengesellschaft gegen Gesellschaftsrechte (gesellschaftsrechtliche Einlage) gelten die Sondervorschriften der §§ 20; 24 UmwStG (s. Rz. 436 ff. und § 14 Rz. 69 ff., 79 ff.). Einstweilen frei.
468–469
5.2.3 Ausschluss oder Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (§§ 4 I 3; 16 IIIa EStG; § 12 I KStG)3 470
Der durch SEStEG für nach dem 31.12.2005 endende Wirtschaftsjahre eingefügte § 4 I 3 EStG stellt den Ausschluss und die Beschränkung des Besteuerungsrechts hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung und Nutzung eines Wirtschaftsguts einer Entnahme für betriebsfremde Zwecke i.S.v. § 4 I 2 EStG gleich. Dabei ordnet § 6 I Nr. 4 Satz 1 Hs. 2 EStG mit Rücksicht auf die international übliche Anwendung von Fremdvergleichspreisen die Bewertung zum gemeinen Wert statt zum Teilwert an. Seit dem JStG 2010 bestimmt § 16 IIIa EStG entsprechend, dass der Aufgabe des Gewerbebetriebs der Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung sämtlicher Wirtschaftsgüter des Betriebs oder eines Teilbetriebs gleichsteht.
471
§§ 4 I 3; 16 IIIa EStG enthalten keinen Katalog von Entstrickungstatbeständen, sondern definiert die Entstrickungsentnahme/-betriebsaufgabe von der Rechtsfolge des Ausschlusses bzw. der Beschränkung des inländischen Besteuerungsrechts her. Von § 4 I 3 EStG erfasst werden soll neben der Überführung einzelner Wirtschaftsgüter in eine ausländische Betriebsstätte in einem Anrechnungs- oder DBA-Freistellungsstaat bzw. aus einer inländischen Betriebsstätte in das ausländische Stammhaus, der Verlegung von Betriebsstätten in das Ausland4 auch der Abschluss eines Doppelbesteuerungsabkommens. Bis zum JStG 2010 wurde auch der Wegzug des Stpfl. unter § 4 I 3 EStG gefasst5; dieser ist nun speziell in § 16 IIIa EStG geregelt. Eine Beschränkung des inländischen Besteuerungsrechts soll ferner dann vorliegen, wenn mit dem Betriebsstättenstaat kein DBA besteht bzw. die Anrechnungsmethode vereinbart wurde6. 1 Zust. Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 177. 2 BFH BStBl. 1991, 512 (513). 3 Dazu grundl. HHR/U. Prinz, Jahresbd. 2007, Vor § 4 EStG; U. Prinz, GmbHR 2007, 966 (967 ff.); ferner Kessler/Huck, StuW 2005, 193; Wassermeyer, DB 2006, 1176; Wassermeyer, DB 2006, 2420; Wassermeyer, IStR 2008, 176; Bilitewski, FR 2007, 57; Strahl, FR 2007, 665 (Wegzug von Personengesellschaften). 4 Von BFH BStBl. 1971, 630, noch als Betriebsaufgabe gem. § 16 II EStG eingeordnet; dazu ausf. KSM/ Reiß, § 16 EStG Rz. F 66 ff. (1992). 5 Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 329. 6 BT-Drucks. 16/2710, 42; Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 487, m.w.N.
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Rz. 477
§9
Gem. § 4 I 4 EStG (i.V.m. § 16 IIIa Hs. 2 EStG) liegt ein Ausschluss oder eine Beschränkung des Besteuerungsrechts insb. dann vor, wenn ein bisher einer inländischen Betriebsstätte zuzuordnendes Wirtschaftsgut einer ausländischen Betriebsstätte zuzuordnen ist. Danach ist bei Überführung und Wegzug (vgl. § 16 IIIa Hs. 2 EStG) ins Ausland stets von einer Entstrickung und daran anknüpfenden Entstrickungsbesteuerung auszugehen1.
472
Rechtsfolge von § 4 I 3; § 16 IIIa EStG ist grds. (s. aber sogleich und Rz. 474) die sofortige Besteuerung der stillen Reserven i.H. der Differenz zwischen Buchwert und gemeinem Wert (§ 6 I Nr. 4 EStG). Im Fall der Nutzungsüberlassung (vgl. § 4 I 3 2. Alt. EStG) inländischer Wirtschaftsgüter an ausländische Betriebsstätten kommt es zu einer Nutzungsentnahme und nicht zur Entnahme des Wirtschaftsguts (s. § 1 IV 1 Nr. 2, V AStG)2. Ausgenommen von der Sofortbesteuerung sind wegen Art. 14 Fusions-RL Anteile an einer SE/SCE, auch wenn es infolge einer grenzüberschreitenden Sitzverlegung zur Entstrickung kommt (§ 4 I 5 EStG); der Gewinn aus einer späteren Veräußerung der Anteile wird jedoch ohne Rücksicht auf entgegenstehende DBA erfasst (§ 15 Ia EStG).
473
Unbeschränkt Stpfl. (nicht beschränkt Stpfl.!) können bei Überführung in eine EU-Betriebsstätte (nicht EWR!) für Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens (nicht Umlaufvermögen!) gem. § 4g EStG einen Ausgleichsposten in Höhe der Differenz zwischen Buchwert und gemeinem Wert bilden, der einschließlich des Jahres seiner Bildung innerhalb von fünf Jahren aufzulösen ist3. § 4g II 2 EStG normiert Fälle vorzeitiger Auflösung des Ausgleichspostens bei Ausscheiden des Wirtschaftsguts aus dem Betriebsvermögen bzw. aus der Besteuerungshoheit der EU-Mitgliedstaaten sowie bei Realisierung der stillen Reserven im Ausland, deren Eintreten der Stpfl. unverzüglich anzuzeigen hat.
474
§ 4 I 3 EStG ist an die Stelle entsprechender Regelungen der Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätze (BMF BStBl. 1999, 1076, Tz. 2.6) getreten, geht aber über diese hinaus. Andererseits bleibt § 4g EStG hinter der bisher von der FinVerw. eingeräumten Möglichkeit der Bildung eines Merkpostens über 10 Jahre zurück. Deshalb handelt es sich auch nicht um eine bloße Klarstellung der bisherigen Rechtslage. Damit verstößt die Rückwirkung auf nach dem 31.12.2005 endende Wirtschaftsjahre (§ 52 VIIIb EStG) gegen den rechtsstaatlichen Vertrauensschutz.
475
Neben der Ausgleichspostenmethode des § 4g EStG hat der Gesetzgeber mit dem JStG 2010 nun in § 36 V EStG eine zinslose Steuerstreckung auf fünf Jahre eingeführt. Sie greift jedoch allein in den Entstrickungsfällen des § 16 IIIa EStG und nur dann ein, wenn die Wirtschaftsgüter einem Betriebsvermögen des Stpfl. in einem anderen Mitgliedstaat der EU oder des EWR zuzuordnen sind und dieser Amtshilfe nach der Richtlinie 77/799/EWG; 2011/16/EU sowie gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen nach der Richtlinie 2008/55/EG leistet.
476
Die Entstrickungsbesteuerung führt verglichen mit dem Fall der Überführung eines Wirtschaftsguts zwischen zwei im Inland belegenen Betriebsteilen oder dem Umzug des Stpfl. innerhalb Deutschlands zu einer Schlechterstellung und damit zu einer Beschränkung der EUGrundfreiheiten (s. auch § 11 Rz. 102)4. Gleichwohl dürfte die Regelung nach der Entscheidung des EuGH in der Rs. DMC5 als EU-rechtskonform zu beurteilen sein. Danach ist eine Entstrickungsbesteuerung der stillen Reserven gerechtfertigt, wenn der Mitgliedstaat seine Besteuerungsbefugnis hinsichtlich der stillen Reserven bei ihrer Realisierung „tatsächlich nicht
477
Gewinn- und Verlustrealisierung
1 Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 175. Differenzierend (zur früheren Rechtslage) noch BFH I R 77/06, BStBl. 2009, 464; s. ferner BFH/NV 2010, 432; Wassermeyer, DB 2006, 1176 u. 2420; Ritter, JbFSt. 1976/77, 288 (304); Schaumburg, DStJG 4 (1981), 247 (253). 2 Zum Verhältnis der neuen Vorschriften des § 1 IV, V AStG zu den Entstrickungsregeln der §§ 4 I 3, 4; 16 IIIa EStG; § 12 I KStG s. Ditz/Quilitzsch, DStR 2013, 1917 (1919): Anwendungsvorrang der Entstrickungsregeln. 3 Dazu Kessler/Winterhalter/Huck, DStR 2007, 133; Hoffmann, DB 2007, 652; Lange, GmbHR 2007, 966 (971 f.); Kramer, DB 2007, 2338. 4 S. FG Düsseldorf v. 5.12.2013 – 8 K 3664/11 F, EFG 2014, 119; ferner Hahn, IStR 2006, 797 (803); Benecke/Schnitger, IStR 2007, 22; Förster, DB 2007, 72 (75); Rödder/Schumacher, DStR 2007, 369 (372); a.A. Schenke, DStZ 2007, 235 (243 ff.). 5 EuGH v. 23.1.2014 – C-164/12, DMC, DStR 2014, 193 (Rz. 44 ff., 56 f.).
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§9
Rz. 478
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
ausüben kann, was vom nationalen Gericht festzustellen“ sei1. Und auch eine Steuerstreckungsmöglichkeit verteilt über fünf Jahresraten hat der EuGH grds. als angemessen und verhältnismäßig beurteilt2. 478–499
Einstweilen frei.
C. Besonderheiten der bilanziellen Gewinnermittlung bei Kapitalgesellschaften3 1. Gewinnermittlung nach § 5 I EStG 500
Steuerobjekt der Körperschaftsteuer ist das Einkommen der juristischen Person (§ 7 I KStG); § 8 I 1 KStG verweist für die Ermittlung der körperschaftsteuerrechtlichen Bemessungsgrundlage auf die Vorschriften des EStG. Gem. § 8 II KStG gelten sämtliche Einkünfte von unbeschränkt steuerpflichtigen Körperschaftsteuersubjekten i.S.v. § 1 I Nrn. 1–3 KStG als gewerblich. Inländische Kapitalgesellschaften4 ermitteln ihren Gewinn gem. § 5 I EStG. GmbH und Aktiengesellschaft sind als Handelsgesellschaften (§ 13 III GmbHG; § 3 I AktG) nach §§ 6; 238 HGB buchführungspflichtig. Für nach ausländischem Recht gegründete Körperschaften, die in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig sind, gilt nunmehr ebenfalls die Gewerblichkeitsfiktion (§§ 1 I Nr. 1; 8 II KStG i.d.F. des SEStEG). Mangels Buchführungspflicht nach HGB5 kommt indes nicht § 5 I EStG, sondern § 4 I EStG zur Anwendung. Beschränkt steuerpflichtige Körperschaften i.S.v. § 1 I Nrn. 1–3 KStG sowie andere Körperschaften können alle sieben Einkunftsarten verwirklichen und dementsprechend ihr Einkommen auch nach § 4 I oder § 4 III bzw. §§ 8 ff. EStG ermitteln (s. § 8 Rz. 188 ff.). Nachteilige Rechtsfolgen der Differenzierung zwischen beschränkt und unbeschränkt stpfl. Körperschaften in § 8 II KStG sind nicht mit dem AEUV vereinbar6.
501
Der deutsche Gesetzgeber hat die EU-Bilanzrichtlinie (Rz. 72), die unmittelbar nur für Kapitalgesellschaften (und gleichgestellte Personenhandelsgesellschaften ohne natürliche Person als Vollhafter, insb. die typische GmbH & Co. KG, s. § 264a HGB) gilt (Rz. 94), in §§ 238 ff. HGB rechtsformunabhängig für alle bilanzierenden Kaufleute umgesetzt. Daher gelten für Kapitalgesellschaften zunächst ebenfalls die allgemeinen GoB7 (Rz. 66 ff., 85 ff.). Handelsrechtlich werden die allgemeinen GoB ergänzt und modifiziert durch Spezialregeln in §§ 264 ff. HGB für Kapitalgesellschaften, §§ 336 ff. HGB für Genossenschaften, §§ 340 ff. HGB für Kreditinstitute sowie §§ 341 ff. HGB für Versicherungsunternehmen. Hinzu treten bestimmte rechtsformspezifische Vorschriften in den gesellschaftsrechtlichen Gesetzen (für die GmbH: §§ 42 ff. GmbHG; für die Aktiengesellschaft: §§ 150 ff. AktG).
502
In dem Verweis in § 5 I 1 EStG ist das True and Fair View-Prinzip (§ 264 II 1 HGB), dessen Dynamik der Gesetzgeber misstraute, jedoch nach umstrittener, aber zutreffender Auffassung nicht eingeschlossen (Rz. 71, 74, 93 ff.). Auch die Anwendung von IAS/IFRS für den Konzernabschluss kapitalmarktorientierter Unternehmen (Art. 4 IAS-VO; § 315a HGB) hat auf die steuerrechtliche Gewinnermittlung mangels Konzernsteuerbilanz (s. § 11 Rz. 25; § 14 Rz. 9) keine Auswirkungen (Rz. 71). 1 EuGH v. 23.1.2014 – C-164/12, DMC, DStR 2014, 193, LS 1 und Rz. 56 f. Ähnlich von der Laage, StuW 2012, 182 (188 ff.). 2 EuGH v. 23.1.2014 – C-164/12, DMC, DStR 2014, 193 (Rz. 59 ff., 62); ebenso bereits Mitschke, DStR 2012, 629 ff. 3 EuGH v. 23.1.2014 – C-164/12, DMC, DStR 2014, 193 (Rz. 59 ff., 62); ebenso bereits Mitschke, DStR 2012, 629 ff. 4 Zur Buchführungspflicht ausländischer Kapitalgesellschaften mit Verwaltungssitz in Deutschland s. Maul/Schmidt, BB 2003, 2297 (2299); Hey, Der Konzern 2004, 577 (585); Prinz/von Freeden, Der Konzern 2004, 318 (321). 5 Hennrichs, FS Horn, 2006, 387 (390 ff.); a.A. Schumann, ZIP 2007, 1189 (1193). 6 Ebenso Schnitger/Fischer, DB 2007, 598. 7 Dazu Ballwieser, FS Budde, 1995, 43.
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Rz. 508
§9
Für Zwecke der Besteuerung ist das handelsbilanzielle Ergebnis der Kapitalgesellschaft auf einer zweiten Stufe (außerbilanziell) zu korrigieren. Hier sind insb. verdeckte Gewinnausschüttungen (§§ 8 III 2; 8a KStG), nicht abzugsfähige Betriebsausgaben (§ 8 I KStG i.V.m. §§ 3c I; 4 V EStG) und nicht abzugsfähige Aufwendungen nach § 10 KStG hinzuzurechnen, steuerfreie Beteiligungserträge (§ 8b KStG) und verdeckte Einlagen abzuziehen; i.E. vgl. § 11 Rz. 38 ff.
503
Besonderheiten der bilanziellen Gewinnermittlung bei Kapitalgesellschaften
2. Formale Besonderheiten Der Jahresabschluss (§ 242 I HGB) der Kapitalgesellschaft besteht aus Bilanz sowie Gewinnund Verlustrechnung und ist gem. § 264 I 1 HGB um einen Anhang zu erweitern. Im Anhang sind insb. Angaben zur Ausübung von Wahlrechten aufzunehmen (§§ 284 ff. HGB).
504
Die Gliederung der Bilanz gibt § 266 HGB vor (s. Rz. 18). Dieses Bilanzschema ist für Kapitalgesellschaften verpflichtend. Für kleine Kapitalgesellschaften (§ 267 I HGB) gelten Erleichterungen (§§ 264 I 4; 266 I 3; 274a; 276; 288 HGB), insb. besteht die Möglichkeit der Aufstellung einer verkürzten Bilanz.
505
§ 275 HGB lässt für die Gewinn- und Verlustrechnung der Kapitalgesellschaft sowohl das Gesamtkosten- als auch das Umsatzkostenverfahren zu; bei Aufstellung nach dem Gesamtkostenverfahren schreibt § 275 II HGB die Gliederung in Staffelform vor.
506
Am deutlichsten unterscheidet sich die Handelsbilanz der Kapitalgesellschaft von der eines Personenunternehmens durch die Gliederung des Eigenkapitals1. Das Eigenkapital der Kapitalgesellschaft setzt sich zusammen aus gezeichnetem Kapital, Rücklagen, Gewinnvortrag und Jahresüberschuss (§ 266 III A. HGB). Die erste Eigenkapitalposition ist das sog. gezeichnete Kapital i.S.d. § 272 I HGB (Nenn- oder Nominalkapital). Es handelt sich um das Grundkapital der Aktiengesellschaft (§§ 1 II; 6 AktG) bzw. das Stammkapital der GmbH (§§ 3 I Nr. 3; 5 GmbHG). Das gezeichnete Kapital ist von Gewinn und Verlust unabhängig. Veränderungen des Grund- oder Stammkapitals sind nur infolge eines förmlichen Beschlusses über Kapitalerhöhung oder -herabsetzung möglich. § 272 Ia, Ib HGB normieren Regeln für die Behandlung des Erwerbs eigener Anteile. In der Kapitalrücklage (§ 272 II HGB) sind insb. Einlagen enthalten, die nicht zum gezeichneten Kapital gehören sowie das Agio bei Ausgabe neuer Aktien. Die Gewinnrücklagen speisen sich aus nicht ausgeschütteten Gewinnen (§ 58 AktG); zur gesetzlichen Rücklage s. § 150 AktG; § 5a III GmbHG. Der Gewinnvortrag umfasst nicht ausgeschüttete und nicht in Rücklagen eingestellte Gewinne; im Verlustvortrag wird der noch nicht durch nachfolgende Gewinne oder die Auflösung von Gewinnrücklagen ausgeglichene Verlust (Jahresfehlbetrag) früherer Wirtschaftsjahre aufgezeichnet.
507
Es ergibt sich folgendes Schema (§ 266 III A HGB):
508
A. Eigenkapital I.
Gezeichnetes Kapital
II.
Kapitalrücklage
III. Gewinnrücklagen 1. gesetzliche Rücklage 2. Rücklage für eigene Anteile an einem herrschenden oder mehrheitlich beteiligten Unternehmen 3. satzungsmäßige Rücklagen 4. andere Gewinnrücklagen IV. Gewinnvortrag/Verlustvortrag V.
Jahresüberschuss/Jahresfehlbetrag
1 Dazu Singhof in HdJ, Abt. III/2; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 102 ff.; zum Eigenkapital der Personenunternehmen Hennrichs/Pöschke in HdJ, Abt. III/1.
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§9
Rz. 509
509
Der Jahresüberschuss oder Jahresfehlbetrag ist das Ergebnis der jeweiligen Periode. Er leitet sich als Überschuss der Erträge über die Aufwendungen (oder der Aufwendungen über die Erträge) aus der Gewinn- und Verlustrechnung (s. Rz. 20) ab. Jahresfehlbetrag und Verlustvortrag stehen grds. auf der Passivseite der Bilanz. Nur wenn Jahresfehlbetrag und Verlustvortrag die Summe der einzelnen Eigenkapitalanteile (gezeichnetes Kapital, Kapital- und Gewinnrücklagen) übersteigen, wird auf der Aktivseite der Bilanz ein „nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag“ ausgewiesen (s. Rz. 13).
510
Aktiengesellschaften weisen gem. § 58 IV AktG in der Bilanz nicht den Jahresüberschuss, sondern den zur Verteilung an die Aktionäre bestimmten Bilanzgewinn aus. Der Bilanzgewinn leitet sich wie folgt aus der Gewinn- und Verlustrechnung ab (§ 158 I 1 AktG):
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Jahresüberschuss + Gewinnvortrag/Verlustvortrag aus dem Vorjahr + Entnahmen aus der Kapitalrücklage + Entnahmen aus der Gewinnrücklage ./. Einstellung in Gewinnrücklagen = Bilanzgewinn
511
GmbH und KGaA haben ein Wahlrecht, entweder den Jahresüberschuss oder den Bilanzgewinn auszuweisen (§ 268 I HGB).
3. Besondere Bilanzierungs- und Bewertungsvorschriften 512
Das Betriebsvermögen der Kapitalgesellschaft ist nach den allgemeinen handelsrechtlichen GoB anzusetzen und zu bewerten (Rz. 501). Das sog. Einblicksgebot (True and Fair View-Prinzip) gem. § 264 II 1 HGB ist steuerlich nicht maßgeblich (str., s. Rz. 93 ff.). Handelsrechtlich ist das gesamte Vermögen der Kapitalgesellschaft Betriebsvermögen. Die Frage nach gewillkürtem Betriebsvermögen stellt sich nicht. Ob dies auch steuerrechtlich gilt, hängt davon ab, ob man der Kapitalgesellschaft eine außerbetriebliche Sphäre zugesteht, was der BFH in st. Rspr. verneint (dazu bereits Rz. 221 und § 11 Rz. 37)1.
513
Infolge der generellen Einschränkung handelsbilanzieller Wahlrechte und der Aufgabe der Umkehrmaßgeblichkeit durch das BilMoG (s. Rz. 42 f.) sind die diesbzgl. Sonderregeln für Kapitalgesellschaften entfallen (Aufhebung von §§ 279; 280 HGB a.F.). Einstweilen frei.
514–549
D. Vereinfachte Gewinnermittlung durch betriebliche Überschussrechnung nach § 4 III EStG Literatur: J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Habil., 1981/88, 448 ff.; Groh, Zur Struktur der betrieblichen Überschußrechnung, FR 1986, 393; Fein, Die Systematik der Einnahme-Überschussrechnung gemäß § 4 III EStG, Diss., 2003; Volk, Die Überschussrechnung nach § 4 III EStG, DB 2003, 1871; von Campenhausen, Gewinnermittlung nach § 4 I, III EStG und Cash-flow. Ein Vergleich, SteuerStud 2004, 641; Eisgruber, Die Zahlungsmittelrechnung nach § 4 III EStG, Diss., 2005; Handzik, Die Einnahmen-Überschuss-Rechnung2, 2005; Schoor, Einnahme-Überschussrechnung: Gelöste und ungelöste Probleme, StuB 2005, 341; Schoor, Neues und Problematisches zur Einnahmen-Überschussrechnung, DStZ 2006, 683; Treisch/Müßig, Betriebsvermögensvergleich und Einnahmen-Ausgaben-Rechnung – Unterschiede und Gemeinsamkeiten, SteuerStud 2007, 21; Ramb/ Schneider, Die Einnahmeüberschussrechnung von A–Z5, 2010; Eisgruber, Arten der Einkünfteermittlung – Bestandsaufnahme und Kritik – „vereinfachte“ Gewinnermittlung (§ 4 Abs. 3 EStG), DStJG 34 (2011), 185; Klein, Die Einnahmen-/Überschussrechnung, 2011; Klocke/Kunow, Einnahmen-Über1 Zur diesbzgl. Rspr. des österr. VwGH s. Stangl, ÖStZ 2005, 39.
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Hennrichs
Vereinfachte Gewinnermittlung durch betriebliche Überschussrechnung
Rz. 551
§9
schussrechnung8, 2011; Schumann, Aktuelle Entwicklungen bei der Einnahme-Überschuss-Rechnung, EStB 2013, 182; Gunsenheimer, Die Einnahmen-Überschussrechnung nach § 4 Abs. 3 EStG14, 2015.
1. Persönlicher Anwendungsbereich1 Steuerpflichtige Unternehmer, die nicht gesetzlich verpflichtet sind, Bücher zu führen und regelmäßig Abschlüsse zu machen (insb. sog. Kleingewerbetreibende, Einzelkaufleute unterhalb der handelsrechtlichen Buchführungsgrenzen und Freiberufler, s. Rz. 7 ff.), haben folgende Alternativen:
550
– Sie können freiwillig bilanzieren. Dann gelten die Vorschriften für den Betriebsvermögensvergleich (§ 5 I EStG und § 4 I i.V.m. § 4 III 1 EStG). Für Land- und Forstwirte gilt § 13a II EStG. – Bilanzieren sie nicht, dann greift die vereinfachte Gewinnermittlung nach § 4 III EStG ein, wenn sich der Stpfl. nach außen erkennbar für die Überschussrechnung entschieden hat2. Land- und Forstwirte haben die Alternative zwischen der Ermittlung nach Durchschnittssätzen gem. § 13a EStG und § 4 III EStG (s. § 13a II 2 EStG). – Werden weder freiwillig Bilanzen nach § 4 I EStG erstellt noch Aufzeichnungen nach § 4 III EStG gemacht, die erkennen lassen, dass sich der Stpfl. für die Überschussrechnung entschieden hat, ist der Gewinn nach § 4 I EStG zu schätzen3. Bei Mitunternehmerschaften ist diese als solche Subjekt der Einkünfteerzielung und Gewinnermittlung (§ 10 Rz. 12, 14, 82 ff.). Bilanziert die Gesellschaft (weil sie dazu entweder gesetzlich verpflichtet ist, §§ 6, 238 ff. HGB, 140 f. AO, oder freiwillig), kommt eine isolierte 4-III-Rechnung allein auf Gesellschafterebene nicht in Betracht; die Gewinnermittlung erfolgt vielmehr einheitlich nach der von der Gesellschaft angewendeten Gewinnermittlungsmethode (§ 10 Rz. 115 und BFH v. 25.6.2014 – I R 24/13, BFHE 246, 404). Ob insoweit allerdings auch eine nach ausländischem Recht bestehende Buchführungspflicht oder eine tatsächliche Abschlusserstellung nach Maßgabe ausländischen Bilanzrechts das Wahlrecht zur 4-III-Rechnung versagt4, erscheint zweifelhaft.5
2. Prinzipien der Gewinnermittlung nach § 4 III EStG Nach § 4 III 1 EStG ist als Gewinn (oder Verlust) der Überschuss der Betriebseinnahmen (oder Betriebsausgaben) über die Betriebsausgaben (oder Betriebseinnahmen) anzusetzen. Auf diese Weise soll die Gewinnermittlung gegenüber der Bilanzierung vereinfacht werden; es gelten die Prinzipien der sog. Kassenrechnung: Zuflussprinzip (§ 11 I EStG) und Abflussprinzip (§ 11 II EStG; dazu § 8 Rz. 191 ff.). Die Überschussrechnung ist also im Kern eine Geldrechnung. Bestandsaufzeichnungen gibt es grds. nicht (s. aber zur Behandlung des Anlagevermögens und bestimmter Wirtschaftsgüter des Umlaufvermögens § 4 III 3–5 EStG und Rz. 580 ff.). Namentlich Rückstellungen sind im System der 4-III-Rechnung nicht vorgesehen. Ausgaben für (ungewisse, aber wahrscheinliche) Verbindlichkeiten wirken sich daher in der Überschussrechnung erst im Zeitpunkt der Verausgabung aus. Auch für Rechnungsabgrenzungsposten und Teilwertabschreibungen ist in einer 4-III-Rechnung kein Raum6.
1 Dazu Ritzrow, Zur Einnahme-Überschussrechnung berechtigter Personenkreis, SteuerStud 2000, 58. 2 Zur Ausübung des Gewinnermittlungswahlrechts BFH/NV 1999, 1195; BFH BStBl. 2006, 509; 2009, 368; Drüen, DStR 1999, 1589; Schoor, DStZ 2006, 683; Schulze-Osterloh, BB 2006, 434. 3 BFH BStBl. 1991, 802; 1999, 481. 4 So ohne weiteres BFH v. 25.6.2014 – I R 24/13, BFHE 246, 404; ferner Gosch, BFH/PR 2015, 1 (2). 5 Verneinend für § 5 I EStG BFH v. 13.9.1989 – I R 117/87, BStBl II 1990, 57; FG Hessen DStRE 2011, 267 (268); Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 138, 147; s. auch Drüen, ISR 2014, 265 ff. m.w.N. 6 Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 371; Eisgruber, DStJG 34 (2011), 185 (192 f.).
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§9
Rz. 552
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Jedoch gilt der Grundsatz der Gesamtgewinngleichheit1. Demnach dürfen sich allenfalls Periodenverschiebungen, also Unterschiede in der Höhe der jeweiligen jährlichen Gewinne und Verluste ergeben. Diese Periodenverschiebungen folgen zwangsläufig aus den Unterschieden zwischen grundsätzlicher Kassenrechnung und Bilanzierung nach dem Prinzip der Periodisierung (Periodenabgrenzung nach der wirtschaftlichen Verursachung, s. § 252 I Nr. 3 HGB, Art. 6 I lit. d RL 2013/34/EU2; s. auch bereits § 8 Rz. 190). Abgesehen von dieser durch die Gewinnermittlungstechnik ausgelösten Periodenverschiebung muss § 4 III EStG aber den gleichen Totalgewinn (Gewinn von der Eröffnung bis zur Veräußerung oder Aufgabe des Betriebs) erfassen wie die in § 4 I EStG niedergelegte bilanzielle Gewinnermittlung.
553
Der Zweck der gleichen Totalgewinnermittlung (§ 4 III i.V.m. I EStG) ist bei der Auslegung zu berücksichtigen. Grundbegriffe der Gewinnermittlung sind identisch zu interpretieren. Das gilt insb. für den Begriff des Betriebsvermögens. In Abkehr zur bisher st. Rspr. (BFH BStBl. 1983, 101) erkennt dies seit BFH BStBl. 2004, 985, auch die Rspr. an und gestattet mit der h.M. im Schrifttum auch bei Einnahmen-Überschuss-Rechnung die Bildung von gewillkürtem Betriebsvermögen (Rz. 213)3. Die betriebliche Widmung ist nicht von der Bilanzierung abhängig. Ausreichend ist eine unmissverständliche Dokumentation durch zeitnahe Aufzeichnungen (dazu BMF BStBl. 2004, 1064). Verfehlt ist die Auffassung des BFH4, Angehörige von freien Berufen könnten Betriebsvermögen nur entspr. den Erfordernissen ihres Berufs bilden. So gehört entgegen BFH BStBl. 1991, 13; 1994, 750, der Goldvorrat eines Zahnarztes auch dann zum Betriebsvermögen, wenn er längere Zeit in der Praxis gehortet wird. Es handelt sich um Wirtschaftsgüter, die durch einen betrieblichen Vorgang angeschafft und dadurch Betriebsvermögen geworden sind (s. Rz. 211, 217 f.). Erst durch Entnahme verliert das Zahngold die Qualität von Betriebsvermögen.
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Grundl. unterscheidet § 34a II EStG zwischen Einnahmen-Überschussrechnung und Bestandsvergleich, indem der Antrag auf Begünstigung des nicht entnommenen Gewinns auf den gem. §§ 4 I; 5 I EStG ermittelten Gewinn beschränkt wird. Die Differenzierung kann angesichts der komplexen Aufzeichnungspflichten im Rahmen von § 4 III EStG (s. Rz. 590) nicht mit Praktikabilitätserwägungen und wegen der Einschränkungen durch § 4 III 3, 4 EStG auch nicht mit den Vorteilen der CashFlow-Rechnung legitimiert werden5.
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Einstweilen frei.
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3. Betriebseinnahmen und -ausgaben in der Kassenrechnung 560
a) Prinzip der Geldrechnung: Während die Bilanz- und Buchführungstechnik die Vermögensumschichtungsketten des Wirtschaftens relativ genau nach den GoB verzeichnet, trifft die Überschussrechnung als grundsätzliche Kassenrechnung (s. § 8 Rz. 192) eine Auswahl, um den Vereinfachungszweck zu verwirklichen. Deshalb erfasst die Kassenrechnung nach § 11 EStG vorrangig Geldzugänge und -abgänge. Das gilt namentlich im Bereich des beweglichen Umlaufvermögens (zum Anlagevermögen und zu Immobilien sowie Finanz-Wirtschaftsgütern s. § 4 III 4, 5 EStG und dazu Rz. 582 ff). Beispiel: Schafft der bilanzierende Kaufmann Ware auf Ziel an (aufgeschobene Fälligkeit des Kaufpreises), so aktiviert er diese Ware mit den AK (Buchung 1: Wareneinkauf und Vorsteuer an Verbindlichkeiten). Bei Bezahlung ist die Verbindlichkeit auszubuchen (Buchung 2: Verbindlich1 BFH GrS BStBl. 1990, 830 (834 ff.); BFH BStBl. 1973, 51; 1984, 516 (518); 1994, 172 (173); 1999, 488; 2000, 120 (121); 2006, 712 (714); J. Lang, Bemessungsgrundlage, S. 448 ff.; Kanzler, FR 1998, 233 (242); krit. Drüen, Periodengewinn und Totalgewinn, Diss., 1999, 61 ff.; Drüen, FR 1999, 1097; Eisgruber, DStJG 34 (2011), 185 (195). 2 Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (313). 3 Dazu Drüen, DB 2003, 2351; Drüen, FR 2004, 94; Bischoff, DStR 2004, 1280; Kanzler, FR 2004, 93; zuvor grundl. m.w.N. Wassermeyer, DStJG 3 (1980), 315 (328 ff.); G. Söffing, StbJb. 1980/81, 451 (516 ff.); Woerner, StbJb. 1989/90, 207 (288 ff.). 4 BFH BStBl. 1985, 517; 1990, 17 (18); 1991, 13 (14); für Land und Forstwirte BFH/NV 2008, 1229 (1231). 5 Zur allgemeinen Kritik an § 34a EStG s. § 8 Rz. 838.
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Hennrichs
Vereinfachte Gewinnermittlung durch betriebliche Überschussrechnung
Rz. 564
§9
keiten an Bank). Bei Weiterveräußerung und Lieferung der Ware wird der Gewinn (Differenz zwischen AK und dem Nennwert der Forderung aus dem Verkauf) realisiert (Buchung 3: Forderungen an Warenverkauf und Umsatzsteuer). Bezahlt der Kunde die Ware, ist die Forderung gegen Bank auszubuchen (Buchung 4: Bank an Forderungen). Die enthaltene Umsatzsteuer ist an das Finanzamt lt. Umsatzsteuer-Voranmeldung abzuführen (Buchung 5: Umsatzsteuer an Bank). Die doppelte Buchführung erfasst also fünf Geschäftsvorfälle mit zwölf Kontenbewegungen.
Anders die Überschussrechnung nach § 4 III EStG: Hier wird nicht die Ware selbst erfasst, sondern der bei Anschaffung gezahlte Kaufpreis wird sofort in voller Höhe Betriebsausgabe; bei Veräußerung ist der erhaltene Kaufpreis als Betriebseinnahme zu erfassen. Die Umsatzsteuer ist Bestandteil der Betriebseinnahme (kein durchlaufender Posten i.S.d. § 4 III 2 EStG, da nicht für Rechnung des Finanzamts vereinnahmt1), die Vorsteuer Bestandteil der Betriebsausgabe. Umsatz- und Vorsteuerbeträge werden sodann neben der Überschussrechnung für die Umsatzsteuer-Voranmeldung aufgezeichnet. Die Zahlung an das Finanzamt ist Betriebsausgabe, die Vergütung Betriebseinnahme.
561
Wurde allerdings der an sich gebotene sofortige Betriebsausgabenabzug für die Anschaffung von Umlaufvermögen zunächst versäumt (z.B. vergessen), so kann dies, soweit eine Korrektur gem. §§ 172 ff. AO nicht möglich ist, nicht einfach in der ersten noch offenen Veranlagung nachgeholt werden2. Die Ausgaben wirken sich dann erst bei Veräußerung des betreffenden Wirtschaftsguts aus. § 4 II EStG ist auch unter dem Gesichtspunkt der Gesamtgewinngleichheit nicht anwendbar3.
562
Forderungen und Verbindlichkeiten beeinflussen den Gewinn nach § 4 III EStG grds. nicht. Bspw. wirkt sich eine Honorarforderung grds. nicht auf den Gewinn i.S.d. § 4 III EStG aus. Erst die Zahlung auf die Forderung bewirkt eine Betriebseinnahme. Forderungen und Verbindlichkeiten werden aber dann berücksichtigt, wenn sich der Zu- und Abfluss von Wirtschaftsgütern nicht in der Vereinnahmung und Verausgabung von Geld niederschlägt. Erlässt bspw. ein 4-III-Rechner einem Schuldner aus privaten Gründen eine Honorarforderung, so ist dieser Vorgang als Entnahme der Honorarforderung zu werten; der Überschuss der Betriebseinnahmen über die Betriebsausgaben ist um den Wert der entnommenen Honorarforderung zu erhöhen4. Ferner ist eine unbare Betriebseinnahme etwa aufgrund Tauschs oder Leistung an Erfüllungs statt (§ 364 BGB) mit dem Empfang der entgegengenommenen Sache bewirkt und zu berücksichtigen5. Dieser subsidiäre Rückgriff auf Vermögenszugänge und -abgänge, die nicht in Geld bestehen, verkompliziert die Überschussrechnung im Interesse der Vollständigkeit. Zu Darlehen sogleich Rz. 565.
563
b) Gem. § 4 III 2 EStG werden Betriebseinnahmen/-ausgaben nicht erfasst, wenn es sich um durchlaufende Posten handelt (z.B. Gerichtskostenvorschuss eines Rechtsanwalts; nicht dagegen Praxisgebühr6). Auf diese Weise soll eine Aufblähung des Zahlenwerks vermieden werden. § 4 III 2 EStG gilt nur für die Überschussrechnung; beim Betriebsvermögensvergleich wird die Erfolgsneutralität durch Aktivierung/Passivierung von Forderungen/Verbindlichkeiten erreicht7.
564
1 2 3 4
S. BFH BStBl. 1975, 441. BFH BStBl. 2005, 758. BFH BStBl. 2006, 712; a.A. Weber-Grellet, StuB 2006, 19 (21). BFH BStBl. 1975, 526. Ein betrieblich veranlasster Erlass einer Honorarforderung führt dagegen bei der § 4-III-Rechnung weder zu einer Erhöhung des Gewinns des Stpfl. noch zu einer Minderung des Gewinns, denn eine Betriebseinnahme ist in diesem Falle nicht zugeflossen und eine Ausgabe ist nicht geleistet. Das steuerliche Ergebnis ist das gleiche, als wenn der Stpfl. seinen Gewinn nach § 4 I EStG ermitteln würde; in diesem Falle wäre zwar bereits die Honorarforderung im Jahr ihrer Entstehung gewinnerhöhend zu erfassen gewesen; umgekehrt hätte sich dann aber der Verlust der Honorarforderung als Betriebsvermögensverlust im Jahr seines Eintritts gewinnmindernd ausgewirkt. 5 BFH BStBl. 1975, 526; 1986, 607. Dazu grds. Groh, FR 1986, 393. S. auch J. Lang, Bemessungsgrundlage, 453 ff. 6 S. BMF BStBl. I 2004, 526. 7 BFH BStBl. 1998, 162.
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§9
Rz. 565
565
c) Darlehensgewährung und Darlehensaufnahme sowie Darlehensrückzahlungen werden, obwohl sie sich in Geld niederschlagen, nicht als Betriebsausgaben/Betriebseinnahmen behandelt. Der BFH begründet das damit, dass weder der Zufluss bei Darlehensaufnahme noch der Abfluss bei Darlehenshingabe wirtschaftlich einen endgültigen Geldzugang oder Geldabgang begründe, der gewinnerhöhend oder gewinnmindernd berücksichtigt werden könnte1. Bei Hingabe von Darlehensmitteln wendet der Stpfl. Anschaffungskosten für eine Forderung auf, die zum nicht abnutzbaren Anlagevermögen zählt2, für die § 4 III 4 EStG gilt (dazu auch Rz. 582). Die Rückzahlung des Darlehens führt zu einer erfolgsneutralen Verrechnung mit der Forderung3. Bei der Darlehensaufnahme gilt spiegelbildlich dasselbe4. Fällt die Forderung des Darlehensgebers auf Rückzahlung des Darlehens aus, so ist dies allerdings konsequent in dem Zeitpunkt gewinnmindernd als Betriebsausgabe zu berücksichtigen, wenn feststeht, dass das Darlehen nicht zurückgezahlt wird5.
566–569
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Einstweilen frei.
4. Zeitliche Erfassung von Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben nach dem Zuund Abflussprinzip (§ 11 EStG) 570
In der Überschussrechnung werden Geschäftsvorfälle nach dem Prinzip der Kassenrechnung grds. erst mit Zu- und Abfluss erfasst (§ 11 EStG; s. § 8 Rz. 191 ff.). Wirtschaftliche Lasten werden nicht bereits im Zeitpunkt ihrer wirtschaftlichen Verursachung, sondern erst bei tatsächlichem Abfluss als Betriebsausgaben steuerlich wirksam. Gewinne werden erst im Zeitpunkt des Zuflusses von Betriebseinnahmen besteuert. Während der bilanzierende Kaufmann den Gewinn bei Lieferung der Ware, also unabhängig von der Bezahlung der Ware, ausweisen muss (s. Rz. 412), vermeidet die Überschussrechnung Liquiditätsengpässe auf Grund schlechter Zahlungsbereitschaft/-fähigkeit des Schuldners, indem die Betriebseinnahme erst bei Zufluss, d.h. Eingang des Geldes, angesetzt wird.
571
Maßgeblich für die Annahme von Zu- und Abfluss ist der Zeitpunkt, in dem der Stpfl. die wirtschaftliche Verfügungsmacht über das Wirtschaftsgut6 möglichst sicher erwirbt oder verliert. Beispiel: Bei Zahlung mit Scheck ist Zuflusszeitpunkt die Scheckübergabe, sofern der Scheck sofort eingelöst werden kann7. Bei Banküberweisung ist die Betriebseinnahme im Zeitpunkt der Gutschrift auf dem Bankkonto anzusetzen8. Die Verpflichtung zur Rückzahlung tangiert den Zufluss i.S.d. § 11 I 1 EStG nicht9. Abflusszeitpunkte gem. § 11 II 1 EStG sind bei Zahlung mit Scheck wie bei Einnahmen die Scheckübergabe10, bei Banküberweisung der Eingang des Überweisungsauftrags bei der Bank11. Kontokorrentzinsen gelten im Zeitpunkt der Buchung als abgeflossen, solange die Bank die weitere Kreditierung nicht verweigert, auch wenn die gebuchten Zinsen tatsächlich nicht mehr bezahlt werden können12.
572
Zu beachten sind die in § 11 I 2, II 2 EStG enthaltenen Modifikationen des Zufluss- und Abflussprinzips (dazu § 8 Rz. 194) für regelmäßig wiederkehrende Einnahmen und Ausgaben; sie sind dem Wirtschaftsjahr zuzurechnen, zu dem sie wirtschaftlich gehören, wenn sie in 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
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BFH BStBl. 1970, 44; 1972, 334. Vgl. BFH BStBl. 1973, 293; Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 185. Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 185. Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 186. BFH BStBl. 1972, 334; 1976, 380. BFH BStBl. 2001, 646 (648) m.w.N. BFH BStBl. 1981, 305; Apitz, FR 1985, 290. BFH BStBl. 1984, 480 (482); BFH/NV 2000, 18; Schmidt/Krüger33, § 11 EStG Rz. 50 „Überweisungen“. BFH BStBl. 1990, 287. BFH BStBl. 1969, 76; 1981, 305; 1994, 338; 1997, 767; 2001, 482. BFH BStBl. 1986, 453; 1987, 673; 1997, 509; Hirsch, FR 1986, 316. BFH BStBl. 1997, 509.
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Hennrichs
Vereinfachte Gewinnermittlung durch betriebliche Überschussrechnung
Rz. 582
§9
engem zeitlichem Zusammenhang (st. Rspr., BFH/NV 2003, 169: bis zu zehn Tage vor Beginn oder nach Beendigung des betreffenden Kalenderjahres) zufließen bzw. abfließen. Beispiele: Zahlungen einer Kassenärztlichen Vereinigung an einen Kassenarzt sind regelmäßig wiederkehrende (Betriebs-)Einnahmen i.S.d. § 11 I 2 EStG. Leistet die Kassenärztliche Vereinigung im Januar für Dezember des Vorjahres Abschlagszahlungen, so sind diese als regelmäßig wiederkehrende Einnahmen dem Vorjahr zuzurechnen1. Umsatzsteuervorauszahlungen sind regelmäßig wiederkehrende Ausgaben2.
§ 11 I 3 EStG erlaubt die gleichmäßig Verteilung von Vorauszahlungen für Nutzungsüberlassungen von mehr als fünf Jahren über den gesamten Nutzungszeitraum, § 11 II 3, 4 EStG. Die entsprechenden Ausgaben sind gem. § 11 II 3, 4 EStG entgegen BFH BStBl. 2005, 195 (Erbbauzinsen), gleichmäßig zu verteilen, soweit es sich nicht um ein marktübliches Damnum oder Disagio handelt. Ziel ist es, Vorauszahlungsgestaltungen entgegenzuwirken.
573
574–579
Einstweilen frei.
5. Abweichungen vom Zu- und Abflussprinzip § 4 III 3, 4 EStG enthält Sonderregelungen, die eine übermäßige Verzerrung der Periodenergebnisse unterbinden sollen (s. § 8 Rz. 194):
580
a) Anlagevermögen: aa) § 4 III 3 EStG schließt mit dem Verweis auf die AfA-Vorschriften bei Anschaffung/Herstellung von abnutzbarem Anlagevermögen den sofortigen Abzug der Anschaffungs- oder Herstellungskosten als Betriebsausgaben aus. Die Anschaffungs- oder Herstellungskosten für abnutzbare Anlagegüter, die sich länger als ein Jahr verwenden oder nutzen lassen (z.B. Einrichtungsgegenstände, Maschinen), sind vielmehr auf die Jahre der Verwendung oder Nutzung zu verteilen; als Betriebsausgaben ist jeweils nur die auf das Jahr entfallende AfA abzusetzen (§ 4 III 3 i.V.m. § 7 EStG; dazu Rz. 300 ff.). Gem. § 4 III 3 EStG sind § 6 II, IIa EStG entspr. anzuwenden (Sofortabschreibung und Bildung von Sammelposten für geringwertige Wirtschaftsgüter [s. Rz. 314 f.]). Bei betrieblich veranlasstem „Verlust“ (z.B. Zerstörung, Diebstahl) eines abnutzbaren Anlageguts entstehen Betriebsausgaben in Höhe des Restbuchwerts. Eine Teilwertabschreibung (Rz. 320 ff.) ist dagegen nicht zugelassen. Wird ein noch nicht voll abgeschriebenes Wirtschaftsgut veräußert, so ist der Veräußerungserlös als Betriebseinnahme anzusetzen; der Restbuchwert ist wie eine Betriebsausgabe abzusetzen. Bei Tausch bemisst sich die Betriebseinnahme nach dem gemeinen Wert des hingegebenen Wirtschaftsguts (§ 6 VI 1 EStG analog; dazu Rz. 244); bei Entnahme nach dem Teilwert (§ 6 I Nr. 4 Satz 1 EStG analog; s. dazu Rz. 371). Bei sog. Entstrickungsentnahme i.S.v. § 4 I 3 EStG kann gem. § 4g IV EStG für Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens zur Vermeidung der Sofortversteuerung ein Ausgleichsposten gebildet werden. Das Aktivierungsverbot für nicht entgeltlich erworbene immaterielle Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens (§ 5 II EStG) gilt allerdings auch für die Gewinnermittlung nach § 4 III EStG. Aufwendungen für selbst geschaffene immaterielle Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens sind daher abweichend von § 4 III 4 EStG mit ihrem Abfluss (§ 11 II 1 EStG) als Betriebsausgaben abziehbar und nicht erst im Zeitpunkt ihrer Veräußerung oder Entnahme zu berücksichtigen3.
581
bb) Bei Wirtschaftsgütern des nicht abnutzbaren Anlagevermögens (z.B. GmbH-Beteiligungen, Grund und Boden, Darlehensforderungen, s. Rz. 281 u. Rz. 565) sorgt § 4 III 4 EStG für die Gleichstellung, indem Ausgaben für Anschaffung/Herstellung zunächst nicht zum Abzug zugelassen werden. AK oder HK für nicht abnutzbare Anlagegüter sind erst (dann aber in vollem Umfang) im Zeitpunkt des Zuflusses des Veräußerungserlöses oder der Entnahme als Betriebsausgaben zu berücksichtigen (§ 4 III 4 EStG).
582
1 BFH BStBl. 1987, 16; 1996, 266. Dazu Tehler, DB 1987, 1168, m. Erwiderung Horlemann, DB 1987, 1711. 2 BFH BStBl. 2008, 282. 3 BFH BStBl. 1980, 244; 2007, 301; Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 398.
Hennrichs
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§9
Rz. 583
583
cc) Der in Rz. 421 ff. behandelte Aufschub der Besteuerung stiller Reserven ist auch im Fall der Gewinnermittlung nach § 4 III EStG zulässig (§ 6c EStG; R 6c EStR 2008).
584
b) Bei Umlaufvermögen (s. Rz. 281) schränken § 4 III 4, 5 EStG mit Wirkung für nach dem 5.5.2006 angeschaffte/hergestellte Wirtschaftsgüter (§ 52 X 2 EStG) das Zu-/Abflussprinzip weiter ein. Zwar gilt nach wie vor der Grundsatz, dass Wirtschaftsgüter des Umlaufvermögens nicht aktiviert werden und die Zahlung des Kaufpreises bzw. der Material- und Fertigungskosten zu unmittelbar abzugsfähigen Betriebsausgaben führt; Betriebseinnahmen fallen erst mit Zufluss der Veräußerungserlöse an. Das gilt aber nur noch, wenn es sich nicht um Kapitalgesellschaftsanteile, Wertpapiere, Grund und Boden und Gebäude des Umlaufvermögens handelt. Bei diesen Finanz-Wirtschaftsgütern und Immobilien dürfen gem. § 4 III 4 EStG die Anschaffungs-/Herstellungskosten (wie bei nicht abnutzbaren Anlagen, Rz. 582) erst im Zeitpunkt des Zuflusses des Veräußerungserlöses bzw. der Entnahme als Betriebsausgaben abgezogen werden. Damit kommt es zu einer zusätzlichen Durchbrechung des Zu- und Abflussprinzips an zentraler Stelle und einer weiteren Komplizierung der 4-III-Rechnung.
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c) Entnahmen/Einlagen (s. Rz. 360 ff.): § 4 III EStG enthält keine eigene Regelung von Entnahme und Einlage, obwohl auch bei Kassenrechnung das Bedürfnis nach Abgrenzung von betrieblicher und außerbetrieblicher Sphäre besteht. Geldeinlagen sind keine Betriebseinnahmen, Geldentnahmen sind keine Betriebsausgaben.
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Wie Betriebseinnahmen/-ausgaben werden folgende Vorgänge behandelt: Wird ein WG veräußert, das zuvor eingelegt worden ist (Sacheinlage), so muss von der Betriebseinnahme „Veräußerungserlös“ der Wert der Sacheinlage abgezogen werden (wie eine Betriebsausgabe), da sonst ein z.T. nicht erwirtschafteter Gewinn erfasst würde. Wird ein für den Betrieb angeschafftes Wirtschaftsgut entnommen, nachdem die Anschaffungskosten als Betriebsausgabe behandelt worden sind, so muss der Wert der Sachentnahme als Betriebseinnahme behandelt werden, damit der volle Abzug der Anschaffungskosten rückgängig gemacht wird. Für die Bewertung gelten § 6 I Nrn. 4, 5, 5a EStG entspr.
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Einstweilen frei.
587–589
6. Aufzeichnungspflichten 590
§ 4 III 5 EStG schreibt lediglich Verzeichnisse für die nicht abnutzbaren Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens sowie die Wirtschaftsgüter des Umlaufvermögens i.S.d. § 4 III 4 EStG vor, also nicht die Aufzeichnung der Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben. Zwar sind für Umsatzsteuerzwecke die Einnahmen aufzuzeichnen (§ 22 UStG), hieraus ergibt sich aber keine Pflicht zur Führung eines gesonderten Kassenbuchs1. Die Aufzeichnung der Betriebsausgaben empfiehlt sich gleichwohl aus Beweisgründen zur Vermeidung der Schätzung. Aufwendungen i.S.d. § 4 V 1 Nrn. 1–4, 6b, 7 EStG sind nach § 4 VII EStG aufzuzeichnen2. Kleingewerbetreibende müssen den Wareneingang und -ausgang aufzeichnen (§§ 143; 144 AO); s. ferner § 4 IVa 6 EStG (Aufzeichnung von Einlagen und Entnahmen wg. Schuldzinsenabzug); § 4g IV EStG (Ausgleichsposten); § 6c II EStG (Übertragung stiller Reserven); § 7a VIII EStG (erhöhte Absetzungen/Sonderabschreibungen); § 7g EStG3.
591
Für Veranlagungszeiträume ab 2005 muss der Steuererklärung gem. § 60 IV EStDV4 eine Gewinnermittlung nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck beigefügt werden, die sog. Anlage EÜR5. 1 2 3 4 5
BFH/NV 2006, 940. Vgl. hierzu BFH BStBl. 1988, 611; 1988, 613. BFH BStBl. 2004, 187. Vgl. BGBl. I 2004, 3884. Anlage EÜR m. Anleitung in BMF BStBl. I 2008, 16; dazu BFH X R 18/09, BStBl. 2012, 129; Handzik, Der neue Vordruck zur Einnahmenüberschussrechnung2, 2005; krit. im Hinblick auf bürokratischen Aufwand Weilbach, Stbg. 2006, 170; Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 374.
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Hennrichs
Rz. 592
§9
Beim Übergang von der Ermittlung nach §§ 4 I; 5 I EStG zu der vereinfachten Gewinnermittlung nach § 4 III EStG oder umgekehrt sind im Übergangszeitpunkt Hinzurechnungen bzw. Abrechnungen erforderlich, damit einerseits der gesamte Gewinn erfasst wird, andererseits Doppelerfassungen vermieden werden (R 4.6 EStR 2008)1. FinVerw. und Rspr. (H 4.6 EStR 2008; BFH BStBl. 2001, 102) gehen von einer dreijährigen Bindungsfrist aus, bis ein erneuter Wechsel zugelassen wird.
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Vereinfachte Gewinnermittlung durch betriebliche Überschussrechnung
7. Wechsel der Gewinnermittlungsart
1 Dazu Holler, Der Wechsel der Gewinnermittlungsart im Einkommensteuerrecht, Diss., 1992; Kanzler, FR 1999, 225; Kirchhof/Crezelius13, § 4 EStG Rz. 217 ff.; Schoor, StuB 2007, 221; Ritzrow, StBp. 2007, 338 u. 362.
Hennrichs
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§ 10 Besteuerung von Mitunternehmerschaften A. Dualismus der Unternehmensbesteuerung Das Unternehmensteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland ist geprägt durch den Dualismus von Einkommen- und Körperschaftsteuer. Eigene steuerjuristische Personen sind nur die in § 1 KStG aufgezählten Verbandsformen (dazu s. § 11). Personengesellschaften gehören nicht dazu. Bei Personengesellschaften wird folglich nicht diese als solche besteuert, sondern der von der Personengesellschaft erwirtschaftete Gewinn wird steuerlich den Gesellschaftern zugerechnet (Transparenzprinzip): Ist Gesellschafter der Personengesellschaft eine natürliche Person, sind die Gewinnanteile (und die Sondervergütungen) nach Maßgabe des § 15 I 1 Nr. 2 EStG Teil der einkommensteuerbaren Einkünfte des Gesellschafters. Ist Gesellschafter der Personengesellschaft eine steuerjuristische Person (z.B. eine Kapitalgesellschaft), geht deren Gewinnanteil in die Ermittlung ihres zu versteuernden Einkommens nach dem KStG ein1.
1
Die Zuordnung zu Einkommen- oder Körperschaftsteuer orientiert sich an der tradierten Zweiteilung in natürliche und juristische Personen2 (zur Kritik s. Rz. 4 ff.). Steuersubjekt ist entweder eine natürliche Person (als Einzelunternehmer oder Mitunternehmer) oder eine juristische Person (insb. die Kapitalgesellschaften AG, KGaA und GmbH).3 Die Personengesellschaft hat der Gesetzgeber in § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG ungeachtet ihrer zivilrechtlichen Verselbständigung (§ 124 HGB) nicht als steuerjuristische Person eingeordnet. Der Gesellschafter einer Personengesellschaft wird steuerlich als sog. Mitunternehmer bezeichnet und konzeptionell grds. dem Einzelunternehmer gleichgestellt. Als Folge dieser Entscheidung beherrschen die Widersprüche zwischen zivilrechtlicher Verselbständigung und steuerrechtlicher Transparenz der Personengesellschaft das Richterrecht der Mitunternehmerschaft (Rz. 10 ff.).
2
Dabei spielen Personenunternehmen – anders als im Ausland – im Wirtschaftsleben der Bundesrepublik mit rd. 83 % aller Unternehmen zahlenmäßig eine große Rolle4. Dies erklärt die Bedeutung des Steuerrechts der Personengesellschaft für die Praxis. Die Rechtsformabhängigkeit der Unternehmensbesteuerung bietet durch geschickte Kombination steuerlicher Eigenschaften in aus unterschiedlichen Rechtsformen zusammengesetzten Unternehmen (dazu § 13 Rz. 70 ff.) zudem vielfältige Möglichkeiten der steuerlichen Gestaltung.
3
Die verfassungsrechtliche Legitimation des Dualismus der Unternehmensbesteuerung ist umstritten. Das BVerfG erhebt gegen die rechtsformabhängig unterschiedliche Besteuerung der verschiedenen Unternehmensrechtsformen keine verfassungsrechtlichen Einwände5. Dem ist nicht zuzustimmen6. Zum einen beruht die verfassungsrechtliche Billigung einer transparen-
4
1 Grundl. und (mit Recht) krit. zum überkommenen Dualismus der Unternehmensbesteuerung Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2014. 2 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. 1984, 751 (759). Nach dem Entwurf von P. Kirchhof sollen Personen- und Kapitalgesellschaften als sog. steuerjuristische Personen einheitlich besteuert werden, s. P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch – Ein Reformentwurf zur Erneuerung des Steuerrechts, 2011, Erläuterungen zu § 12 Buch I Allgemeiner Teil. 3 Anders hingegen der Unternehmerbegriff gem. § 2 UStG (§ 17 Rz. 33 ff. [35]); s. auch § 5 I 3 GewStG (§ 12 Rz. 15) und § 1 I 2 AStG (§ 1 Rz. 89; dazu auch Ditz/Quilitzsch, DStR 2013, 1917 f.). 4 H. Hansen, GmbHR 2003, 22 (23); zur weiteren Entwicklung H. Hansen, GmbHR 2004, 39 (41). 5 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164; ebenso i.Erg. Hüttemann, DStJG 25 (2002), 123 (139 f.); Sieker, DStJG 25 (2002), 145 (151 ff., 168 ff.). Beide Autoren wollen rechtsformspezifische Unterschiede durch Detailkorrekturen innerhalb des dualen Systems der Unternehmensbesteuerung beseitigen oder abmildern. Großzügig hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine rechtsformneutrale Unternehmensbesteuerung namentlich auch Birk, StuW 2000, 328 (333); Drüen, GmbHR 2008, 393 (398 ff.); Pelka, StuW 2000, 389 (396). 6 Dötsch in Dötsch/Herlinghaus/Hüttemann/Lüdicke/Schön (Hrsg.), Die Personengesellschaft im Steuerrecht – Gedächtnissymposion für Brigitte Knobbe-Keuk, 2011, 7 ff.; Schön, ebenda, 139 (145 ff.); Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16 ff.; Hey, DStR 2007, 925 (931); Hey, FS Herzig, 2010, 7 (15 ff.); Keß, FR 2006, 869 (870); Palm, FS P. Kirchhof, 2013, Bd. II, § 157 Rz. 4 ff.; Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2014, § 8; Schön, StuW 2005, 247.
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§ 10
Rz. 5
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
ten Besteuerung bei Personengesellschaften durch das BVerfG auf unzutreffenden zivilrechtlichen Prämissen; denn zivilrechtlich gilt bei Personengesellschaften gem. § 124 HGB das Trennungsprinzip ebenso wie bei Kapitalgesellschaften1 (s. auch Rz. 14 f.). Zum anderen ist verfassungsrechtlich aus dem Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ein Gebot der Rechtsformneutralität abzuleiten (s. § 13 Rz. 169 ff.)2. Hiernach können zwar Rechtsformunterschiede durchaus besteuerungsrelevant sein. Das Verfassungsprinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung fordert nicht, bestehende und relevante Unterschiede einzuebnen. Aber die Unterschiede müssen doch im Hinblick auf das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit relevant sein, d.h. sie müssen eine unterschiedliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ausdrücken3. 5
Zwischen Kapital- und Personengesellschaften bestehen keine im Hinblick auf das Leistungsfähigkeitsprinzip relevanten Unterschiede, die eine ungleiche Besteuerung rechtfertigen würden. Die den Leistungsfähigkeitsindikator „Gewinn“ (oder Verlust) prägenden Rechtsbeziehungen sind hier wie dort zivilrechtlich der Gesellschaft zugeordnet4. Die Personengesellschaft hat gem. § 124 HGB ebenso wie die Kapitalgesellschaft eigenes Vermögen und sie erzielt eigenes Einkommen, die Gesellschaft ist Inhaber des Gewerbebetriebs und damit Träger des Steuerobjekts (Rz. 14). Die Gesellschafter haben keine unmittelbare Berechtigung an den einzelnen Wirtschaftsgütern des Gesellschaftsvermögens5, sondern allein Gesellschafterrechte. Auch die Entnahmerechte der Personengesellschafter ergeben keinen steuerrechtlich relevanten Unterschied6. Zum einen liegt die Entscheidung über die Gewinnverwendung gesellschaftsrechtlich bei den Personengesellschaften letztlich ebenfalls in den Händen aller Gesellschafter, die nämlich im Rahmen der Feststellung des Jahresabschlusses auch über die Gewinnverwendung entscheiden können7. I.Ü. begründet allein das Entnahmerecht der persönlich haftenden Gesellschafter von Personengesellschaften noch keine Leistungsfähigkeitssteigerung auf ihrer Ebene, solange sie es nicht tatsächlich ausüben. Werden die Gewinnanteile nicht bis spätestens zur Feststellung des nächsten Jahresabschlusses zur Auszahlung verlangt, bleiben sie auf den Kapitalkonten stehen. Als Eigenkapital nehmen sie dann voll an etwaigen Verlusten der Gesellschaft teil. Erwirtschaftet also die Gesellschaft in der Folgezeit Verluste, werden diese von den Kapitalkonten abgeschrieben (§ 120 Abs. 2 HGB). Für die nicht entnommenen Gewinnanteile der Gesellschafter gilt dann: „wie gewonnen, so zerronnen!“ Von einer Leistungsfähigkeitssteigerung auf Ebene der Gesellschafter kann bei dieser Lage schlechterdings keine Rede sein8. Schließlich legitimiert auch die grds. persönliche Gesellschafterhaftung keine transparente Besteuerung9. Haftung hat mit der Leistungsfähigkeit nichts zu tun. Wieso der Umstand, dass ein Personengesellschafter für Gesellschaftsschulden persönlich haftbar gemacht werden kann 1 Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (9) m.w.N. 2 S. namentlich Hey, DStG 24 (2001), 155 (161 ff.); J. Lang, StuW 1990, 107 (116); J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (98 ff.); J. Lang, FS Reiß, 2008, 379 (386 ff.); Schön, StuW 2000, 151 (152 f.); Hennrichs, StuW 2002, 201 ff.; Hennrichs, FR 2010, 721 (723 ff.); Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16 ff.; Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2014, insb. § 8 B; je m.w.N. 3 Hennrichs, StuW 2002, 201 (202), m.w.N. 4 Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (9 ff.); Hennrichs, StuW 2002, 201 ff.; Hennrichs, FR 2010, 721 (723 ff.); Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16 ff.; Palm, FS P. Kirchhof, 2013, Bd. II, § 157 Rz. 9, 11, 13 f., 16; ders., Person im Ertragsteuerrecht, 2014, § 8 A. 5 Zivilrechtlich unzutreffend BFH v. 29.2.12 – II R 57/09, BStBl. 2012, 917, wo der Senat (unter II.2.d) aa) meint, bei der Gesamthand sei eine unmittelbare dingliche Mitberechtigung der Gesamthänder am Gesellschaftsvermögen gegeben. 6 Hennrichs, FR 2010, 721 (724); Palm, FS P. Kirchhof, 2013, Bd. II, § 157 Rz. 12; Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2014, § 8 A II 1c (insb. S. 498 f.). 7 Vgl. Hennrichs, FR 2010, 721 (724); Hennrichs, WPg. 2009, 1066 (1070 f.); HdJ/Hennrichs/Pöschke, Abt. III/1 Rz. 79 ff.; Palm, FS P. Kirchhof, 2013, Bd. II, § 157 Rz. 12. 8 Flume, DB 1971, 692 (693); Hennrichs, StuW 2002, 201 (208); Hennrichs, FR 2010, 721 (724); KnobbeKeuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993, § 9 I 1; Kraus, Körperschaftsteuerliche Integration von Personenunternehmen, 2008, 123 ff. 9 Hennrichs, FR 2010, 721 (727); Palm, FS P. Kirchhof, 2013, Bd. II, § 157 Rz. 18; ders., Person im Ertragsteuerrecht, 2014, § 8 A II 3; Schön, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 139 (147).
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Hennrichs
Dualismus der Unternehmensbesteuerung
Rz. 9
§ 10
und dies bei ihm eine „negative Soll-Leistungsfähigkeit“ bewirkt, ihn „im Vergleich zum Kapitalgesellschafter in irgendeiner Weise besteuerungswürdig machen sollte, erschließt sich nicht“1. I.Ü. sollte für die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht das abstrakte Risiko der Haftung, sondern die tatsächliche Verlusttragung relevant sein2. Eine transparente Verlustzurechnung als Reaktion auf das abstrakte Risiko persönlicher Haftung ist nicht erforderlich. Erst tatsächlich getragene Verluste aus persönlicher Haftung, also die tatsächliche persönliche Inanspruchnahme, müssen gemäß dem Nettoprinzip steuerlich berücksichtigungsfähig sein3. Besonders augenfällig wird die Fragwürdigkeit des derzeitigen Dualismus der Unternehmensbesteuerung bei der GmbH & Co. KG. Diese Mischform steht wirtschaftlich betrachtet der GmbH gleich4, was im Gesellschafts- und Bilanzrecht auch längst anerkannt ist (vgl. §§ 125a I 2; 130a; 177a HGB; § 264a HGB). Dass das Ertragsteuerrecht diese wirtschaftliche Vergleichbarkeit beider Gesellschaftsformen ignoriert und sogar völlig unterschiedlich besteuert, ist ordnungspolitisch fragwürdig und vor dem Hintergrund der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht einzusehen.
6
Hinsichtlich der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besonders liegt nur der Einzelunternehmer, der in der Tat jederzeit allein und unmittelbar über sein Betriebsvermögen verfügen kann. Besonders liegt außerdem die börsennotierte Gesellschaft, bei der eine transparente Besteuerung kaum praktikabel sein dürfte5.
7
De lege ferenda wird deshalb vorgeschlagen, die Personengesellschaften zukünftig in die Körperschaftsteuer einzubeziehen6 (vgl. auch § 7 Rz. 90 f. und § 13 Rz. 185). Erwogen werden könnte aber auch, an die Stelle des bisherigen Dualismus der Unternehmensbesteuerung mit seiner scharfen Grenzziehung zwischen Personen- und Kapitalgesellschaften ein dreiteiliges Modell zu setzen: Für den Einzelunternehmer würde hiernach zwingend die transparente Besteuerung nach dem EStG gelten; börsennotierte Gesellschaften wären zwingend der Körperschaftsteuer unterworfen; für alle anderen Unternehmensformen, also für die nicht-börsennotierten Gesellschaften, könnte eine steuergesetzliche Option eingeräumt werden, für oder gegen die transparente oder selbständige Besteuerung zu optieren (ähnlich dem US-amerikanischen check-the-box-Verfahren)7. Einerseits könnten also Personengesellschaften zur Körperschaftsteuer optieren, andererseits aber auch GmbH und nicht-börsennotierte AG zur transparenten Besteuerung. Die bei Personengesellschaften und GmbH zivilrechtlich gewährte Privatautonomie, das Innenverhältnis der Gesellschaft grds. frei zu gestalten, würde so eine steuergesetzliche Entsprechung finden. Das könnte die Akzeptanz eines Modellwechsels erhöhen. Andererseits würde ein Optionsmodell eine weitere Verkomplizierung der Steuerrechtsordnung bedeuten.
8
Einstweilen frei.
9
1 2 3 4 5
Zutreffend Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2014, § 8 A II 3 (S. 513). Zutreffend Schulze-Osterloh, DStJG 2 (1979), 131 (161 ff.); DStJG 25 (2002), 178. Hennrichs, FR 2010, 721 (727, 730 f.). Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16 (21) m.w.N. Schön, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 139 (141 ff., 147); vgl. auch Hennrichs, StuW 2002, 201 (215 ff.). 6 Vgl. Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (10 f.); Hennrichs, FR 2010, 721 (727 ff.); Hennrichs, StuW 2002, 201 (214 ff.); J. Lang, BB 2006, 1769 (1772); J. Lang, FS Reiß, 2008, 379 (388); J. Lang, FS Herzig, 2010, 323 (329); Müller-Gatermann, Stbg. 2007, 145 (155 ff.); je m.w.N. – Für eine Besteuerung der Personengesellschaften nach dem körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzip gibt es durchaus Vorbilder in ausländischen Steuerrechtsordnungen, vgl. Hey/Bauersfeld, IStR 2005, 649 ff.; Spengel/Schaden/Wehrße, StuW 2010, 44 ff.; Schön, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 139 (141 ff.). 7 Dafür namentlich Schön, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 139 (145 ff., 148).
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§ 10
Rz. 10
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
B. Besteuerung von Mitunternehmerschaften I. Besteuerung der laufenden Einkünfte von Mitunternehmern (§§ 15 I 1 Nr. 2, III; 15a; 13 VII; 18 IV 2 EStG) Literatur (bis 2003 s. 21. Aufl.): List, Personengesellschaften im Wandel zivil- und steuerrechtlicher Beurteilung, BB 2004, 1473; Sudhoff, Personengesellschaften8, 2005; Söffing, Besteuerung der Mitunternehmer5, 2005; Hennrichs/Lehmann, Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung – Kritische Anmerkungen zum Beschluss des BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, DStR 2006, 1316 = NJW 2006, 2757, StuW 2007, 16; Ley, Ausgewählte Neuerungen der Besteuerung der Mitunternehmerschaften, KÖSDI 2008, 16204; Lüdicke/Sistermann, Unternehmensteuerrecht, 2008; Prinz, Besteuerung der Personengesellschaften – unpraktikabel und realitätsfremd?, FR 2010, 736; Hennrichs, Besteuerung von Personengesellschaften – Transparenz- oder Trennungsprinzip, FR 2010, 721; Dötsch/Herlinghaus/ Hüttemann/Lüdicke/Schön (Hrsg.), Die Personengesellschaft im Steuerrecht – Gedächtnissymposion für Brigitte Knobbe-Keuk, 2011; Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften3, 2011; Hey, Einkünfteermittlung, DStJG 34 (2011); Ley, Steuerliche Transparenz von Personengesellschaften, Ubg. 2011, 274; M. Wendt, Rechtsprechungs-Highlights zum Unternehmenssteuerrecht der Personengesellschaften, StbJb. 2011/12, 31; Seitz/Düll, Übertragung von Wirtschaftsgütern und betrieblichen Sachgesamtheiten in Mitunternehmerschaften, StbJb. 2011/12, 107; Th. Wagner, Das Treuhandmodell als Gestaltungsinstrument, StbJb. 2011/12, 133; J. Lange, Personengesellschaften im Steuerrecht8, 2012; Rutemöller, Die Zuordnung von Sonderbetriebsvermögen im Rahmen einer mehrfachen Betriebsaufspaltung, DStZ 2012, 839; Prinz, Ertragsteuerliche Entwicklungen und Gestaltungen im Leben der Personengesellschaften, JbFSt. 2013/14, 389; Kahle, Die Steuerbilanz der Personengesellschaft, DStZ 2012, 61; Kahle, Steuerliche Gewinnermittlung bei doppelstöckigen Personengesellschaften, DStZ 2014, 273; Zimmermann/Hottmann/Kiebele/Schaeberle/Scheel, Die Personengesellschaft im Steuerrecht11, 2013; Hottmann/Fanck/Lahme, Besteuerung der Gesellschaften12, 2013, Teil I u. III; Niehus/ Wilke, Die Besteuerung der Personengesellschaften6, 2013; Schiffers, Gestaltungshinweise zum Jahresende 2013: Hinweise zur Ertragsbesteuerung der Personengesellschaften, DStZ 2013, 850; Prinz/Hoffmann (Hrsg.), Beck’sches Handbuch der Personengesellschaften4, 2014; Schulze zur Wiesche, Gestaltungen innerhalb von Mitunternehmerschaften, DStZ 2014, 719. Rechtsvergleichend: Hey/Bauersfeld, Die Besteuerung der Personen(handels)gesellschaften in den Mitgliedstaaten der EU, der Schweiz und den USA, IStR 2005, 649; R.A. Hermann, Die Besteuerung von Personengesellschaften in den EU-Mitgliedstaaten und den USA, Diss., 2006; Schön, Die Personengesellschaft im Steuerrechtsvergleich, in Dötsch/Herlinghaus/Hüttemann/Lüdicke/Schön (Hrsg.), Die Personengesellschaft im Steuerrecht – Gedächtnissymposion für Brigitte Knobbe-Keuk, 2011, 139.
1. Besteuerung der Mitunternehmerschaft nach dem Transparenzprinzip 10
Das Einkommensteuerrecht der Mitunternehmerschaft unterscheidet sich grundl. von dem der Kapitalgesellschaft und ihrer Anteilseigner im Hinblick auf die Steuersubjektivität der Gesellschaft: Die Kapitalgesellschaft ist Körperschaftsteuersubjekt und damit als solche eine steuerjuristische Person. Dagegen ist die Personengesellschaft als solche weder Körperschaft- noch Einkommensteuersubjekt. Subjekte der Einkommensteuer sind vielmehr die natürlichen Personen (§ 1 EStG), demnach die Gesellschafter und Mitunternehmer einer Personengesellschaft i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG, nicht die Gesellschaft als solche. Nach dem Transparenzprinzip werden die Gewinne der Personengesellschaft unmittelbar den Gesellschaftern zugerechnet, entweder einer natürlichen Person als dem Einkommensteuersubjekt oder einer Körperschaft als Körperschaftsteuersubjekt1 (Rz. 1), während die Gewinne der Kapitalgesellschaft nach dem Trennungsprinzip zunächst der Körperschaftsteuer und sodann erst in Gestalt von Gewinnausschüttungen (§ 20 I Nr. 1 EStG) der Einkommensteuer des Anteilseigners unterliegen (s. § 11 Rz. 1 f.). 1 Dazu Bippus, DStR 1998, 749; Groh, Trennungs- und Transparenzprinzip im Steuerrecht der Personengesellschaften, ZIP 1998, 89; Reiß, Stbg. 1999, 356; Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 62 ff. (Grundlagen des Transparenzprinzips), 130 ff. (dogmatische Konkretisierung des Transparenzprinzips); Reiß, StuW 2000, 399 f.; Kirchhof/Reiß13, § 15 EStG Rz. 163; Hennrichs, FR 2010, 721 ff.
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Hennrichs
Besteuerung der Mitunternehmerschaft nach dem Transparenzprinzip
Rz. 13
§ 10
Die Rspr. des RFH und des BFH zur Besteuerung des Mitunternehmers war über Jahrzehnte ganz vom Transparenzprinzip geleitet: Ziel war die Gleichstellung von Mit- und Einzelunternehmern. Die rechtliche Existenz der Personengesellschaft wurde mittels der Bilanzbündeltheorie hinweggedacht1. Die Besteuerung der Mitunternehmerschaft basierte auf dem Konzept der „Vielheit der Gesellschafter“. Dem lag die Vorstellung zugrunde, jeder Gesellschafter unterhalte durch die Teilhaberschaft in der Gesellschaft einen eigenen Gewerbebetrieb; nicht nur der Gewinn wurde anteilig zugerechnet, sondern auch das Betriebsvermögen der Personengesellschaft gedanklich aufgespalten. Dieses Konzept kollidiert indes mit der gesamthänderischen Bindung des Gesellschaftsvermögens und der zivilrechtlichen Subjektivität der Personengesellschaft, die dogmatisch auf der modernen Gesamthandslehre2 basiert und die der BGH mittlerweile selbst für die (Außen-) BGB-Gesellschaft bestätigt hat3.
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Auf die zivilrechtliche Verselbständigung der Gesellschaft („Einheit der Gesellschaft“) nimmt der BFH seit Mitte der 1970er Jahre zunehmend mehr Rücksicht4, indem der Personengesellschaft immerhin partielle Steuerrechtsfähigkeit zugestanden wird: Zwar ist die Personengesellschaft nicht Einkommensteuersubjekt. Jedoch sei die Zivilrechtsfähigkeit der Personengesellschaft bei der Bestimmung des Einkommensteuerobjekts zu beachten: Die Personengesellschaft sei „Steuerrechtssubjekt bei der Feststellung der Einkunftsart und der Einkünfteermittlung“ (so BFH v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl. 1995, 617 [621]). Diese Qualifikation sei aber nicht abschließend, da bei Gefährdung der „sachlich richtigen Besteuerung der Gesellschafter“ das Prinzip der Einheit der Gesellschaft hinter dem der Vielheit der Gesellschafter zurücktreten müsse. Das klingt nach ergebnisorientierter Einzelfallbetrachtung, nicht aber nach einem in sich geschlossenen Konzept. Daher ist dem BFH vorgeworfen worden, er schwanke zwischen Einheits- und Vielheitsbetrachtung5, so dass die so gewonnenen Ergebnisse nicht immer zu überzeugen vermögen. Selbst zwischen den Senaten des BFH besteht zuweilen keine einheitliche Linie bezüglich Einheit versus Vielheit der Personengesellschaft, wie unterschiedliche Judikate zur Frage der Übertragung von Wirtschaftsgütern zwischen Schwesterpersonengesellschaften zeigen6.
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Zur Erklärung wird u.a. die Vorstellung der gemeinschaftlichen Tatbestandsverwirklichung bemüht7. Da eine einkommensteuerliche Subjektivität der Personengesellschaft dem EStG (un-
13
1 Dazu grundl. E. Becker, Grundlagen der Einkommensteuer, 1940, 102 ff.; ferner Meßmer, StbJb. 1972/73, 127; Söffing, StbJb. 1976/77, 241; Kurth, StuW 1978, 1; Kurth, StuW 1978, 203; Haas, DStR 1997, 1706. 2 Grundl. Flume, ZHR 136 (1972), 177, und im Weiteren sehr instruktiv U. Huber, FS Lutter, 2000, 107; ferner Hadding, FS Kraft, 1998, 137 (141 f.); Hadding, ZGR 2001, 712 (717 ff.); Hennrichs, StuW 2002, 201 (206); Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16 (19); MünchKomm. BGB/Ulmer/Schäfer6, Vorbem. § 705 BGB Rz. 9 ff.; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht4, 2002, 196 ff.; Schön, StuW 1996, 275 (282). 3 BGH v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, BGHZ 146, 341 (343 ff.); v. 24.2.2003 – II ZR 385/99, BGHZ 154, 88 (94); v. 4.12.2008 – V ZB 74/08, BGHZ 179, 102. Dazu umf. K. Schmidt, NJW 2001, 993, u. im Weiteren Wiedemann, JZ 2001, 661; Dauner-Lieb, DStR 2001, 356; je m.w.N. 4 BFH v. 28.1.1976 – I R 84/74, BStBl. 1976, 744; v. 15.7.1976 – I R 17/74, BStBl. 1976, 748; v. 21.10. 1976 – IV R 210/72, BStBl. 1977, 145; v. 10.11.1980 – GrS 1/79, BStBl. 1981, 164; BFH v. 29.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. 1984, 751 (761 f.); v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. 1991, 691 (699 ff.); v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl. 1995, 617 (620 ff.); relativierend jetzt aber wieder BFH v. 3.2.2010 – IV R 26/07, BStBl. 2010, 751; v. 6.5.2010 – IV R 52/08, BStBl. 2011, 261; vgl. auch Ley, Ubg. 2011, 274 (276 f.), die meint, dass nach der aktuellen Rspr. des BFH wieder die Vielheitsbetrachtung überwiege; zum Ganzen s. auch Schulze-Osterloh, FS L. Schmidt, 1993, 307. 5 Hennrichs, FR 2010, 721 (721 f.); Lüdicke/Sistermann, Unternehmensteuerrecht, 2008, § 1 Rz. 8, S. 4; Schön, StuW 1996, 275 (287 f.); Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 41 ff.; Hallerbach, Personengesellschaft, 1999, 136. 6 S. einerseits BFH v. 25.11.2009 – I R 72/08, BStBl. 2010, 471 sowie die Vorlage v. 10.4.2014 – I R 80/12, BStBl. 2013, 1004 (Az. beim BVerfG: 2 BvL 8/13); andererseits BFH v. 15.4.2010 – IV B 105/09, BStBl. 2010, 971; näherRz. 158 m.w.N. 7 Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 85 ff., 98 f.; ihm folgend auch noch Hey in 20. Aufl., § 18 Rz. 12; ebenso Kirchhof/Reiß13, § 15 EStG Rz. 162 ff. Zur Dogmatik steuersubjektbezogener Tatbestandsverwirklichung auch Beierl, Die Einkünftequalifikation bei gemeinsamer wirtschaftlicher Betätigung im Einkommensteuerrecht, 1987; Bodden, Einkünftequalifikation, 2001, 57 ff. (u.a. zu Beierl u. Pinkernell).
Hennrichs
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§ 10
Rz. 14
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
zweifelhaft) nicht entnommen werden kann1, sei im Grundsatz davon auszugehen, dass die Gesellschafter gemeinschaftlich den Einkommensteuertatbestand verwirklichten und die von der Personengesellschaft erwirtschafteten Einkünfte nach dem Transparenzprinzip originär eigene Einkünfte der Gesellschafter als den einzigen Rechtssubjekten der Einkommensteuer seien2. Das bedeute abweichend von der Bilanzbündeltheorie nicht, dass die rechtliche Existenz der Personengesellschaft einkommensteuerrechtlich hinwegzudenken sei. Vielmehr seien die Gemeinschaftlichkeit der Marktteilnahme und die gesamthänderischen Bindungen der Gesellschafter als einkommensteuerrechtlich beachtliche Determinanten wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen. 14
Auf dem Boden des modernen Verständnisses der Personengesellschaften sind diese Ausführungen, wie Hüttemann zu Recht eingewendet hat, „nur schwer nachvollziehbar, denn es ist nun einmal allein die Gesellschaft, die als rechtsfähige (Außen-)Personengesellschaft eine unternehmerische Tätigkeit am Markt entfaltet“3. Träger des Gewerbebetriebs ist die Personengesellschaft (Rz. 5). Die Annahme, die Gesellschafter selbst übten die gewerbliche Tätigkeit am Markt aus, ist zivilrechtlich unzutreffend und wäre, wollte man steuerrechtlich an ihr festhalten, „letztlich rein fiktiv“4. Richtig verstanden bewirkt § 15 I 1 Nr. 2 EStG hinsichtlich des von der Gesellschaft erzielten Gewinns ein Auseinanderfallen von Steuersubjekt und Subjekt der Einkünfteerzielung sowie eine Zurechnung fremder Einkünfte5: Subjekt der Einkünfteerzielung ist die Gesellschaft selbst. Deren Gewinn wird sodann den einzelnen Mitunternehmern anteilig als Gewinnanteil zugerechnet (Zurechnungsthese).
15
Die Besteuerung nach dem Transparenzprinzip bei Personengesellschaften ist rechtspolitisch nicht überzeugend6. Wie dargelegt (Rz. 4 ff.), ist der tradierte Dualismus der Unternehmensbesteuerung sogar verfassungsrechtlich zweifelhaft. Personengesellschaften stehen hinsichtlich der relevanten Leistungsfähigkeitsindikatoren (Gewinn/Verlust) den Kapitalgesellschaften näher als dem Einzelunternehmer7. Auch wenn man die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht teilt, so spricht doch jedenfalls steuersystematisch viel dafür, die Personengesellschaften (zumindest die Gesellschaften i.S.d. § 264a HGB) de lege ferenda in die KSt einzubeziehen8 (s. § 7 Rz. 90 f. und § 13 Rz. 185, sowie bereits Rz. 8 m.w.N. auch zu Optionsmodellen). Einstweilen frei.
16–19
2. Zweistufigkeit der Einkünfte von Mitunternehmern 20
Im geltenden Transparenzsystem stellt sich dogmatisch die Aufgabe, die sog. „Einheitsbetrachtung“ (Rz. 12) in die Qualifikation, persönliche Zurechnung und Ermittlung von Einkünften der Gesellschafter zu integrieren. Dies geschieht durch ein sog. mehrstufiges System9: 1 Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 74 ff., 206. 2 So auch wieder BFH v. 3.2.2010 – IV R 26/07, BStBl. 2010, 751 (Tz. 24); Wacker, FS Goette, 2011, 561 ff. 3 Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (43). 4 Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (45). 5 Zutreffend Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (45 f.) im Anschluss an Schön, StuW 1996, 275 (284 ff.). 6 Grundl. und eingehend Palm, Person im Ertragssteuerrecht, 2014 (insb. § 8); ferner Hennrichs, FR 2010, 721 ff.; ders., StuW 2002, 201 ff.; Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16 ff.; je m.w.N. 7 Zust. Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (10). 8 Vgl. Hennrichs, FR 2010, 721 (727 ff.); Hennrichs, StuW 2002, 201 (214 ff.); J. Lang, BB 2006, 1769 (1772); J. Lang, FS Reiß, 2008, 379 (388); J. Lang, FS Herzig, 2010, 323 (329); Müller-Gatermann, Stbg. 2007, 145 (155 ff.); je m.w.N. – Für eine Besteuerung der Personengesellschaften nach dem körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzip gibt es durchaus Vorbilder in ausländischen Steuerrechtsordnungen, vgl. Hey/Bauersfeld, IStR 2005, 649 ff.; Spengel/Schaden/Wehrße, StuW 2010, 44 ff. 9 Zum mehrstufigen System s. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 364 ff.; J. Lang, FS L. Schmidt, 1993, 291 (294 ff., 300); Bordewin, FS L. Schmidt, 1993, 421 ff.; Gosch, DStZ 1996, 417; Kempermann, DStZ 1995, 225 f.; Weber-Grellet, DStR 1995, 1341; Bodden, DStZ 1996, 73; Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 23 ff., 98 f.; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 163 ff.; HHR/Tiede, § 15 EStG Anm. 450; Kahle, DStZ 2012, 61 (62 ff.).
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Hennrichs
Mitunternehmerschaft als Unterfall der Personengesellschaft
Rz. 29
– Auf der ersten Stufe sind die Einkünfte der Personengesellschaft zu qualifizieren. Auf Gesellschaftsebene setzen auch die Sondertatbestände des § 15 III EStG an (s. Rz. 61 ff.). Die Gewerblichkeit der Gesellschaft ist besonders bedeutsam für die Gewerbesteuer, die nach § 5 I 3 GewStG von der Gesellschaft geschuldet wird (s. § 12 Rz. 15); s. aber auch Rz. 52 zum sog. Treuhandmodell.
§ 10 21
Die erste Stufe der Gewinnermittlung ergibt den Gewinnanteil (§ 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 1 EStG), d.i. der Anteil des Gesellschafters und Einkommensteuersubjekts am Gewinn der Gesellschaft (s. Rz. 109: Schaubild); dabei sind die in sog. Ergänzungsbilanzen einzelner Mitunternehmer ausgewiesenen Wertkorrekturen der Gesellschaftsbilanz miterfasst (s. Rz. 105, 123). – Die zweite Stufe der Gewinnermittlung erfasst sodann die Sondervergütungen des jeweiligen Mitunternehmers (§ 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG) und sein Sonderbetriebsvermögen (s. Rz. 100 ff., 106, 131).
22
Auf der zweiten Stufe werden außerdem Korrekturen vorgenommen, die dem Transparenzprinzip geschuldet sind und durch die der Umstand berücksichtigt wird, dass das EStG die Tatbestandsverwirklichung auf den einzelnen Gesellschafter und Einkommensteuerschuldner bezieht: Die Einkünfte eines Gesellschafters sollen hiernach nicht steuerbar sein, weil er persönlich auf Grund von Sonderaufwendungen keine Gewinnerzielungsabsicht hat (s. Rz. 41 f.), oder die Einkünfte aus der Gesellschaft sollen bei den einzelnen Gesellschaftern verschiedenen Einkunftsarten zuzurechnen sein können (zur sog. Zebragesellschaft s. Rz. 47).
23–24
Einstweilen frei.
3. Mitunternehmerschaft als Unterfall der Personengesellschaft Das Steuerrecht der Personengesellschaft ist zweigeteilt. Nicht jede Personengesellschaft ist Mitunternehmerschaft, sondern nur, wenn ihre Gesellschafter als Mitunternehmer i.S.v. § 15 I 1 Nr. 2 EStG anzusehen sind. Dies trifft zu auf gewerblich tätige Personengesellschaften mit der Erweiterung des § 15 III EStG und kraft Verweisung gem. § 13 VII EStG auf land- und forstwirtschaftliche sowie gem. § 18 IV 2 EStG auf freiberufliche Personengesellschaften. Vermögensverwaltende Personengesellschaften1 und Personengesellschaften mit sonstigen Einkünften i.S.d. §§ 2 I Nr. 7; 22 EStG sind dagegen keine Mitunternehmerschaften; § 15 I 1 Nr. 2 EStG ist nicht anwendbar, und zwar auch dann nicht, wenn die Gesellschaft qua Eintragung in das Handelsregister Personenhandelsgesellschaft ist (§ 105 II 1 HGB). Nicht die zivilrechtliche Gesellschaftsform ist entscheidend, sondern die steuerrechtliche Einkunftsartenabgrenzung.
25
I.E. unterscheiden sich vermögensverwaltende Personengesellschaften von Mitunternehmerschaften, indem sie kein Betriebsvermögen haben; der Personengesellschaft überlassene Wirtschaftsgüter werden nicht zu Sonderbetriebsvermögen. Wertsteigerungen der zur Einkünfteerzielung eingesetzten Vermögensgegenstände unterliegen der Besteuerung nur im Rahmen von §§ 22 Nr. 2; 23 EStG. Da vermögensverwaltende Personengesellschaften nicht der Gewerbesteuer unterliegen, besteht kein Bedürfnis der Umqualifizierung von Vergütungen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter in Sondervergütungen. Die Einkünfte werden als Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten ermittelt; §§ 4 I; 5 I EStG gelten nicht (zur Einkünfteermittlung der Zebragesellschaft als Sonderfall der vermögensverwaltenden Personengesellschaft s. Rz. 47; zur Diskontinuität der Einkünfteerzielungsabsicht bei Übergang einer Immobilie aus dem Bereich der Vermögensverwaltung in die Gewerblichkeit s. BFH v. 9.3.2011 – IX R 50/10, BStBl. 2011, 704, und unten Rz. 42).
26
Einstweilen frei.
27–29
1 Dazu Groh, JbFSt. 1979/80, 221; J. Lang, FS L. Schmidt, 1993, 304 f.; Krüger, Die vermögensverwaltende Personengesellschaft im Ertragsteuerrecht, Diss., 1995; Tulloch/Wellisch, DStR 1999, 1093; Engel, Vermögensverwaltende Personengesellschaft und ertragsteuerrechtliche Selbständigkeit, Diss., 2003; Drüen, SteuerStud 2004, 8; Mönkemöller, Die Zurechnung der Überschusseinkünfte bei Personengesellschaften, Diss., 2005; Kuhn, Die steuerrechtliche Behandlung vermögensverwaltender Gesamthandsgemeinschaften, Diss., 2006; Wacker, StbJb. 2006/07, 55.
Hennrichs
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§ 10
Rz. 30
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
4. Qualifikation und Zurechnung der Einkünfte von Mitunternehmern 4.1 Der Begriff des Mitunternehmers Literatur (bis 2003 s. 21. Aufl.): Ritzow, Die Kriterien der Mitunternehmerschaft, StBp. 2009, 175; Dötsch, Mitunternehmer und Mitunternehmerschaft, in Dötsch/Herlinghaus/Hüttemann/Lüdicke/ Schön (Hrsg.), Die Personengesellschaft im Steuerrecht – Gedächtnissymposion für Brigitte KnobbeKeuk, 2011, 7; Kubata/Riegler/Straßen, Zur Gewerblichkeit freiberuflich tätiger Personengesellschaften, DStR 2014, 1949.
4.1.1 Funktion des Mitunternehmerbegriffs 30
Nach § 15 I 1 Nr. 2 EStG bezieht nur Einkünfte aus Gewerbebetrieb, wer Gesellschafter einer Personengesellschaft und zugleich Mitunternehmer ist. Der Mitunternehmerbegriff hat die Funktion, diejenigen Personen zu bestimmen, denen die im Rahmen der Mitunternehmerschaft erwirtschafteten Einkünfte anteilig unmittelbar zugerechnet werden (s. auch Rz. 1, 14)1. Zugleich grenzt der Mitunternehmerbegriff die Erwerbs- von der Privatsphäre, insb. die Mitunternehmerschaft von einem verdeckten Unterhaltsverhältnis (s. Rz. 79 ff.) ab. Schließlich unterscheidet er die Einkünfte i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG von anderen Einkunftsarten, z.B. von Einkünften eines typisch stillen Gesellschafters, der Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.d. § 20 I Nr. 4 EStG erzielt. Ist der Gesellschafter nicht zugleich Mitunternehmer, so kann er allenfalls – bei entsprechender Tatbestandsverwirklichung – Einkünfte im Rahmen einer nichtbetrieblichen Einkunftsart beziehen oder erzielen (Rz. 26).
4.1.2 Zivilrechtliche Gesellschafterstellung 31
Die jüngere Rspr. des BFH2 knüpft an den Begriff des Gesellschafters in § 15 I 1 Nr. 2 EStG an und leitet daraus einen grds. zivilrechtlich orientierten Begriffsinhalt des Mitunternehmers ab. So kann nach BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. 1984, 751 (768), Mitunternehmer grds. nur sein, wer „zivilrechtlich Gesellschafter einer Personengesellschaft ist oder – in Ausnahmefällen – eine diesem wirtschaftlich vergleichbare Stellung innehat“. Dazu nennt der GrS beispielhaft Gesamthandsgemeinschaften in Form von (unternehmerisch tätigen) Erben- und Gütergemeinschaften (s. auch BFH v. 18.8.2005 – IV R 37/04, BStBl. 2006, 165) sowie Bruchteilsgemeinschaften3. Bloße Büro- und Praxisgemeinschaften mit dem Zweck der Teilung der Betriebskosten begründen dagegen keine Mitunternehmerschaft (BFH v. 14.4.2005 – XI R 82/03, BStBl. 2005, 752).
32
Aus der Anknüpfung an die zivilrechtliche Gesellschafterstellung folgt, dass der BFH faktische (verdeckte) Mitunternehmerschaften nur dann anerkennt, wenn ihnen entweder ein (verdecktes) Gesellschaftsverhältnis oder ein wirtschaftlich vergleichbares Gemeinschaftsverhältnis zugrunde liegt (zu Treuhandverhältnissen s. Rz. 51 f.). Ob ein solches verdecktes Gesellschaftsverhältnis vorliegt, ist unabhängig von der formalen Bezeichnung der zwischen den Beteiligten
1 Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (25) m.w.N. 2 Grundl. BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. 1984, 751 (Aufgabe der Gepräge-Rspr.); v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. 1991, 691 (mehrstöckige Personengesellschaft); BFH v. 13.7.1993 – VIII R 50/92, BStBl. 1994, 282 (verdeckte Mitunternehmerstellung); zust. L. Woerner, BB 1986, 704 (706); HHR/ Haep, § 15 EStG Anm. 336. Nach BFH v. 3.4.1998 – VIII B 62/97, BStBl. 1998, 401 ist für die Annahme einer Mitunternehmerschaft allerdings nicht erforderlich, dass der Gesellschaftsvertrag allen formellen Anforderungen des Zivilrechts genügt. Auch bei einer fehlerhaft zustande gekommenen Gesellschaft handle es sich zivilrechtlich um ein Gesellschaftsverhältnis. Die zivilrechtliche Betrachtungsweise wird also durch die in § 41 I 1 AO positivierte wirtschaftliche Betrachtungsweise ergänzt. 3 Vgl. auch Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (14 f.).
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Hennrichs
Qualifikation und Zurechnung der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 35
§ 10
bestehenden Rechtsbeziehungen nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu beurteilen1. Die bloße Bündelung von Austauschverträgen ist aber selbst bei gewinnabhängiger Vergütung nicht ausreichend2. Die Orientierung am zivilrechtlichen Gesellschafterbegriff wird von vielen kritisiert, weil sie den Blick für die steuerrechtliche Teleologie verstelle3. Die zivilrechtliche Gesellschafterstellung könne letztlich nicht ausschlaggebend sein, sondern entscheidend sei ein steuerrechtlicher Mitunternehmerbegriff, nämlich ob der Stpfl. Mitunternehmerrisiko trage und Mitunternehmerinitiative entfalten könne (Rz. 35 ff.; s. auch BFH v. 9.9.1999 – IV B 18/99, BFH/NV 2000, 313). Auf der einen Seite gebe es deshalb Gesellschafter, die keine Mitunternehmer seien (wobei auf § 20 I Nr. 4 EStG hingewiesen wird), auf der anderen Seite könnten auch Nichtgesellschafter, die am Erfolg des Unternehmens beteiligt sind und mindestens über einem Kommanditisten entsprechende Mitwirkungsrechte verfügen, (verdeckte) Mitunternehmer sein.
33
M.E. ist die grds. Orientierung am zivilrechtlichen Gesellschafterbegriff richtig. Sie entspricht dem Wortlaut des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG4 und verspricht Rechtssicherheit. Für die doppelstöckige Personengesellschaft (dazu Rz. 71, 143), für die der BFH (v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. 1991, 691 [698 f.]) dem Zivilrecht folgend nur die Obergesellschaft, nicht aber die Gesellschafter der Obergesellschaft als Gesellschafter und Mitunternehmer der Untergesellschaft angesehen hat, gilt mittlerweile die Sonderregelung des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 2 EStG. Der Streit ist allerdings meistens ohne praktische Auswirkungen. Denn bei Bejahung der Mitunternehmereigenschaft ist in aller Regel auch ein Gesellschaftsverhältnis (zumindest eine Innengesellschaft) gegeben. Voraussetzungen für das Vorliegen einer Gesellschaft ist nach § 705 BGB nur, dass sich mehrere Personen zur Erreichung eines gemeinsamen Zwecks vertraglich verbinden und sich verpflichten, diesen zu fördern; dabei bedarf der Vertrag keiner besonderen Form, sondern er kann auch stillschweigend geschlossen werden. Wer Mitunternehmer ist, erfüllt regelmäßig diese Voraussetzungen, weil der Begriff des Mitunternehmers auch gemeinsames Handeln zu einem gemeinsamen Zweck von einander gleichgeordneten Personen zum Inhalt hat (zutreffend BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. 1984, 751). In den Fällen der verdeckten Mitunternehmerschaft wird demgemäß i.d.R. eine (konkludent vereinbarte) Innengesellschaft vorliegen (zu Treuhandverhältnissen s. Rz. 51 f.).
34
4.1.3 Mitunternehmerrisiko und Mitunternehmerinitiative Die zivilrechtliche Gesellschafterstellung ist zwar notwendige (Rz. 31 ff.), aber nicht hinreichende Bedingung für § 15 I 1 Nr. 2 EStG. Mitunternehmer ist nach st. Rspr. nicht bereits jeder Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft in der Rechtsform einer OHG oder KG, obwohl dies eine grammatikalische Auslegung des § 15 I 1 Nr. 2 EStG nahelegen könnte (der in seinem Relativsatz den Begriff des Mitunternehmers nur mit dem Gesellschafter einer „anderen Gesellschaft“ als der OHG und der KG verbindet). Mitunternehmer i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG ist vielmehr nur, wer als Gesellschafter einer Personengesellschaft oder (den Wortlaut des § 15 I 1 Nr. 2 EStG ergänzend) als Teilhaber einer wirtschaftlich vergleichbaren 1 Grundl. BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. 1994, 282. Im Weiteren BFH v. 2.9.1985 – IV B 51/85, BStBl. 1986, 10; v. 21.9.1995 – IV R 65/94, BStBl. 1996, 66; v. 8.11.1995 – XI R 14/95, BStBl. 1996, 133 (Kriterien für die steuerliche Anerkennung von Verträgen zwischen Angehörigen sind bei der Beurteilung verdeckter Mitunternehmerschaften nicht heranzuziehen!); v. 7.7.1998 – IV B 62/67, BFH/NV 1999, 167; BFH v. 16.5.2013 – IV R 35/10, BFH/NV 2013, 1945 (Treuhand); FG Hamburg v. 18.10.2013 – 6 K 175/11, EFG 2014, 360, Rev. unter IV R 42/13 (zur zeitlichen Mindestdauer einer Beteiligung); Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 384 ff.; Priester, FS L. Schmidt, 1993, 331 (353); Kirchhof/Reiß13, § 15 EStG Rz. 213 ff.; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 280 ff.; HHR/Haep, § 15 EStG Anm. 340 ff. 2 BFH v. 1.7.2003 – VIII R 2/03, BFH/NV 2003, 1564. 3 So Hey in 20. Aufl., § 18 Rz. 18, m.w.N. 4 Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (12).
Hennrichs
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§ 10
Rz. 36
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
Gemeinschaft Mitunternehmerrisiko trägt und Mitunternehmerinitiative entfalten kann1. Das Gesellschafts-, Gemeinschafts-, Treuhand- oder sonstige Rechtsverhältnis muss also danach beurteilt werden, ob es dem Einkommensteuerschuldner als Grundvoraussetzungen des steuerlichen Mitunternehmertatbestands (1.) die rechtliche, nicht nur faktische Beteiligung an einer Gesellschaft oder Gemeinschaft (BFH v. 13.7.1993 – VIII R 50/92, BStBl. 1994, 282 ff.; v. 16.12.1997 – VIII R 32/90, BStBl. 1998, 480), und (2.) die Merkmale des Mitunternehmerrisikos und der Mitunternehmerinitiative vermittelt. 36
Mitunternehmerrisiko ist gegeben, wenn der Stpfl. unmittelbar an Erfolg/Misserfolg des Unternehmens beteiligt ist. Als Merkmale des Mitunternehmerrisikos werden angesehen: Beteiligung am laufenden Gewinn und Verlust; Beteiligung auch an den (realisierten) stillen Reserven des Anlagevermögens; Auseinandersetzungsanspruch (bei Ausscheiden oder Liquidation), der sich auch auf die stillen Reserven des Anlagevermögens einschließlich des Firmenwerts erstreckt; persönliche Haftung für Gesellschaftsverbindlichkeiten.2 Daher trägt der typisch still Beteiligte, der nach §§ 230 ff. HGB bei Auseinandersetzung der Gesellschaft lediglich seine Einlage zurückerhält, kein Mitunternehmerrisiko; anders hingegen der atypisch still Beteiligte3. Kein Mitunternehmer ist, wessen Beteiligung an einer Gesellschaft rechtlich oder tatsächlich kurzzeitig befristet ist und wer deshalb von der Teilhabe an der von der Gesellschaft erstrebten Betriebsvermögensmehrung, insb. an den stillen Reserven, ausgeschlossen ist (s. BFH v. 25.6. 1984 – GrS 4/82, BStBl. 1984, 751 [770]). Der befristet Beteiligte kann nichtsteuerbare Einkünfte oder Einkünfte aus Kapitalvermögen haben4.
37
Mitunternehmerinitiative liegt in der Teilhabe an oder dem Einfluss auf Unternehmensentscheidungen. Ausreichend ist die Möglichkeit zur Ausübung von Gesellschafterrechten, die wenigstens den Stimm-, Kontroll- und Widerspruchsrechten angenähert sind, die einem Kommanditisten nach dem HGB zustehen (BFH v. 29.4.1981 – IV R 131/78, BStBl. 1981, 663; v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. 1984, 751; je m.w.N.) oder die den gesellschaftsrechtlichen Kontrollrechten nach § 716 Abs. 1 BGB entsprechen.5 Bei einer Komplementär-GmbH soll die nicht abdingbare organschaftliche Vertretungsbefugnis ausreichen.6 Damit wird die relevante Schwelle der sog. Mitunternehmerinitiative allerdings so weit nach unten gelegt, dass man füglich am Sinn dieses Merkmals zweifeln kann. Namentlich Knobbe-Keuk hat sich deshalb schon früh und mit beachtlichen Gründen dafür ausgesprochen, auf das Merkmal der Mitunternehmerinitiative zu verzichten7. Dafür spricht auch, dass die Vorstellung, ein Kommanditist übe (Mit-)Unternehmerinitiative aus, zivilrechtlich ohnehin kaum haltbar ist. Träger des Unternehmens ist die Personengesellschaft. Sie selbst entfaltet die Unternehmerinitiative8.
1 Grundl. BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. 1984, 751 (768 f.); verdeckte Mitunternehmerstellungen: BFH v. 13.7.1993 – VIII R 50/92, BStBl. 1994, 282 (284 f.); v. 1.8.1996 – VIII R 12/94, BStBl. 1997, 272 (275 f.); v. 4.11.1997 – VIII R 18/95, BStBl. 1999, 384 (Gütergemeinschaft); v. 18.4.2000 – VIII R 68/98, BStBl. 2001, 359 (Umsatzbeteiligung nicht ausreichend); v. 4.11.2004 – III R 21/02, BStBl. 2005, 168 (Strohmann), m. Anm. Steinhauff, NWB 2005 Fach 3, 13295; BFH v. 5.4.2006 – VIII R 74/03, BStBl. 2006, 595, m. Anm. Wacker, NWB 2006 Fach 3, 14199; ausf. HHR/Haep, § 15 EStG Anm. 300–326; s. auch Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (25 ff.). 2 BFH v. 2.5.1984 – GrS 4/82, BStBl. 1984, 751; v. 28.10.2008 – VIII R 32/07, BFH/NV 2009, 355; zum Mitunternehmerrisiko bei interner Haftungsfreistellung BFH v. 10.10.2012 – VIII R 42/10, BStBl. 2013, 79; krit. dazu Karl, GmbHR 2013, 163; Karl, DStR 2011, 159 (160). 3 S. Rz. 70; Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht14, § 6 Rz. 1113; Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften3, 2011, 95. 4 Zur Besteuerung des Veräußerungsgewinns eines nur kurzzeitig Beteiligten s. Olbrich, DStR 1997, 186; zur zeitlichen Dauer der Beteiligung und Unbeachtlichkeit einer vertraglich vereinbarten Rückwirkung s. FG Hamburg v. 18.10.2013 – 6 K 175/11, EFG 2014, 360 ( dazu Rev. unter IV R 42/13). 5 Zust. z.B. Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (31 f.), m.w.N. 6 BFH v. 25.4.2006 – VIII R 74/03, BStBl. 2006, 595; v. 10.10.2012 – VIII R 42/10, BStBl. 2013, 79; krit. dazu Karl, BB 2010, 1311 (1312); Karl, DStR 2011, 159 (160). 7 Knobbe-Keuk, StuW 1986, 106 (114). 8 Zutreffend Schön, StuW 1996, 275 (286).
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Qualifikation und Zurechnung der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 42
§ 10
Aus dem Wesen des Mitunternehmerbegriffs als Typusbegriff1 (hierzu § 5 Rz. 53 f.) folgt, dass Mitunternehmerrisiko und Mitunternehmerinitiative unterschiedlich stark ausgeprägt sein können und ein Mehr an Risiko ein Weniger an Initiative und umgekehrt kompensieren kann, ohne dass eines von beiden Merkmalen ganz fehlen darf2. Entscheidend ist das Gesamtbild.
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Einstweilen frei.
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4.2 Zweistufige Qualifikation der Einkünfte von Mitunternehmern Wie bereits ausgeführt (Rz. 20 ff.), ist nach h.M. bei der Qualifikation der Einkünfte von Mitunternehmern zweistufig zu verfahren: Zunächst ist zu prüfen, welche Tatbestandsmerkmale auf der Ebene der Gesellschaft erfüllt werden. Sodann ist auf der zweiten Stufe zusätzlich die Ebene des einzelnen Mitunternehmers zu würdigen. Erst auf der zweiten Stufe kann abschließend festgestellt werden, ob der einzelne Mitunternehmer steuerbare Einkünfte erwirtschaftet hat und welcher Einkunftsart seine Einkünfte zuzuordnen sind.
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4.2.1 Steuerbarkeit der Einkünfte3 Als Konsequenz der partiellen Steuerrechtsfähigkeit der Personengesellschaft fordert die Rspr. Gewinnerzielungsabsicht sowohl auf der Ebene der Gesellschaft als auch beim Gesellschafter4. Dabei bezieht sie (systematisch angreifbar) allerdings bereits auf Gesellschaftsebene den Bereich des Sonderbetriebsvermögens ein, obwohl dieser erst zur Gesellschafterebene gehört.5 Nach der Gegenansicht soll es von vornherein nur auf die Gewinnerzielungsabsicht des Gesellschafters ankommen, da Subjekt der Einkommensteuer nicht die Personengesellschaft, sondern allein die natürliche Person sei6.
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Im Normalfall bedeutet Gewinnerzielungsabsicht der Gesellschaft zugleich Gewinnerzielungsabsicht aller Gesellschafter. Fehlt eine Gewinnerzielungsabsicht der Gesellschaft, so steht dies zunächst der Annahme steuerbarer Einkünfte bei jedem Gesellschafter entgegen. Jedoch können Sondererträge und Sonderaufwendungen (s. Rz. 100 ff., 138 ff.) einzelner Gesellschafter dazu führen, dass die Absicht des Gesellschafters abweichend von der Gesellschaftsabsicht zu beurteilen ist. Zu beachten ist, dass vor der Prüfung der Einkünfteerzielungsabsicht die Einkunftsart zu klären ist. Eine die Einkunftsarten übergreifende Einkünfteerzielungsabsicht kennt das Gesetz nicht. Das hat Konsequenzen bei Umstrukturierungen von Immobilienbeständen: Überträgt ein Gesellschafter vermietete Immobilien auf eine vermögensverwaltende Personengesellschaft (Rz. 25) und führt diese die Vermietung weiter, so hat der Gesellschafter kontinuierlich Einkünfteerzielungsabsicht (vor der Veräußerung allein und nach der Veräußerung zusammen mit anderen). Diese Kontinuität wird aber unterbrochen, wenn die Personengesellschaft, die das Grundstück weiterhin vermietet, gewerblich geprägt ist (§ 15 III Nr. 2 EStG, Rz. 65 ff.) und Einkünfte aus Gewerbebetrieb erzielt. Die nunmehr erforderliche Gewinnerzielungsabsicht
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1 Zugmaier, FR 1999, 997; Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (27); a.A. WeberGrellet, FS Beisse, 1997, 551 (568). 2 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/ 751, BStBl. 1984, 751 (769); BFH v. 7.1.1994 – IV R 114/91, BStBl. 1994, 635 (637); v. 4.11.2004 – III R 21/02, 2005, 168 (170); v. 10.5.2007 – IV R 2/05, BStBl. 2007, 927 (929 f.); v. 10.10.2012 – VIII R 42/10, BStBl. 2013, 79 (81). 3 Dazu Reiß, Stbg. 1999, 356 (361 f.) (Einkünfteerzielungsabsicht); Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 170 ff.; Bodden, Einkünftequalifikation, 2001, 153 f.; zur Steuerbarkeit privater Veräußerungsgeschäfte nach § 23 Abs. 1 Satz 4 EStG beim Erwerb eines Personengesellschaftsanteils und anschließender Veräußerung gesamthänderisch gehaltener Grundstücke s. BFH v. 21.1.2014 – IX R 9/13, DStR 2014, 515; zur Problematik der „Mischfälle“ vgl. Schießl, DStR 2014, 512, m.w.N. 4 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. 1984, 751 (765 ff.); BFH v. 8.12.1998 – IX R 49/95, BStBl. 1999, 468 (471); v. 5.9.2000 – IX R 33/97, 2000, 676 (681); v. 23.4.1999 – IV B 149/98, BFH/NV 1999, 1336; BFH v. 2.7.2008 – IX B 46/08, BStBl. 2008, 815; v. 9.3.2011 – IX R 50/10, BStBl. 2011, 704; Schmidt/ Wacker33, § 15 EStG Rz. 182 f. 5 BFH v. 25.7.1996 – VIII R 28/94, BStBl. 1997, 202. 6 So namentlich Hey in 20. Aufl., § 18 Rz. 24, im Anschluss an Reiß, Stbg. 1999, 356; Kirchhof/Reiß13, § 15 EStG Rz. 172; Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 170 ff.
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§ 10
Rz. 43
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
ist gegenüber der früheren Überschusserzielungsabsicht ein „aliud“. Das führt dazu, dass beim übertragenden Gesellschafter die Einkünfteerzielungsabsicht zu versagen sein kann, weil seine Vermietungstätigkeit nicht auf Dauer angelegt war und sich in der Haltezeit nur Werbungskostenüberschüsse ergeben haben (so BFH v. 9.3.2011 – IX R 50/10, BStBl. 2011, 704). 43–44
Einstweilen frei.
4.2.2 Qualifikation der Einkunftsart1 45
Die Einkunftsart ist zunächst auf der Ebene der Gesellschaft zu bestimmen, wo die Gewerblichkeit der Personengesellschaft durch § 15 III EStG extensiv festgelegt ist (s. Rz. 61 ff.). Gemischte Tätigkeiten sind nach § 15 III Nr. 1 EStG insgesamt als gewerblich zu behandeln, auch wenn die Gesellschaft nur partiell gewerblich tätig ist (sog. Abfärberegelung, s. Rz. 61). Handelt die Gesellschaft teilweise ohne Gewinnerzielungsabsicht, so sind die Teilbereiche erst nach erfolgter Umqualifikation zu segmentieren und die nicht steuerbaren Einkünfte auszuscheiden (BFH v. 25.6.1996 – VIII R 27/94, BStBl. 1997, 202).
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Die Betätigung der Gesellschaft braucht nicht segmentiert zu werden, wenn die Gesellschaft diverse freiberufliche Tätigkeiten umfasst; dadurch wird nach BFH v. 23.11.2000 – IV R 48/99, BStBl. 2001, 241, der freiberufliche Charakter der Mitunternehmerschaft nicht beeinträchtigt (s. Rz. 62). Bei der Vermögensverwaltung im Rahmen freiberuflicher oder land- und forstwirtschaftlicher Tätigkeit der Gesellschaft greifen die Subsidiaritätsklauseln der §§ 20 VIII; 21 III; 22 Nr. 1 Satz 1, Nr. 3 Satz 1; 23 II EStG Platz (s. § 8 Rz. 588 ff.). Freiberufliche sowie land- und forstwirtschaftliche Tätigkeiten einer Gesellschaft sind zu segmentieren, wenn die Gesellschaft nicht in den Anwendungsbereich des § 15 III EStG fällt.
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Endgültig lässt sich die Einkunftsart freilich erst auf der Ebene der Gesellschafter bestimmen, weil allein der Gesellschafter den Einkommensteuertatbestand verwirklicht. BFH v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl. 1995, 617 (622)2, hat formuliert, dass der „Einheitsgedanke“ zurückzutreten habe, „wenn andernfalls eine sachlich zutreffende Besteuerung des Gesellschafters nicht möglich wäre“. Das letzte Wort wird daher immer erst auf Gesellschafterebene gesprochen. So beziehen Gesellschafter einer vermögensverwaltenden Personengesellschaft, die ihre Beteiligung im Betriebsvermögen halten, gewerbliche Einkünfte, während die Einkünfte der Gesellschaft sowie der übrigen Gesellschafter vermögensverwaltend bleiben (sog. Zebragesellschaft; vgl. BFH v. 30.10.2002 – IX R 80/98, BStBl. 2003, 167 [172]; BFH v. 11.4.2005 – GrS 2/02, BStBl. 2005, 679 [681]3). Die Umqualifizierung findet außerhalb der Zebragesellschaft ausschließlich auf Gesellschafterebene statt4. Als alleinige Einkommensteuersubjekte können die Gesellschafter dogmatisch konsequent verschiedenartige Einkünfte aus der Gesellschaft beziehen, weil die gemeinschaftliche Tatbestandsverwirklichung die Einkunftsart des Gesellschafters nur partiell mitzubestimmen vermag; die Abfärberegelung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG (Rz. 61) ist nicht anwendbar, da sie sich allein auf Gesellschafts-, nicht auf Gesellschafterebene bezieht5. Wegen der Subsidiarität der Überschusseinkünfte gegenüber den Gewinneinkünften kommt jedoch lediglich eine Umqualifizierung von gemeinsam in der Personengesellschaft erzielten vermögensverwaltenden Einkünften in Gewinneinkünfte auf Gesellschafterebene in Frage, während eine Umqualifikation in vermögensverwaltende Einkünfte ausgeschlossen ist.6 Mangels 1 Hiller/Rogall, SteuerStud 2001, 478; Bodden, Einkünftequalifikation, 2001. 2 Hierzu s. Weber-Grellet, DStR 1995, 1341 (zust.); Paus, DStZ 1996, 172; Schmidt-Liebig, FR 1996, 58; Schmidt-Liebig, BB 1996, 1799. 3 Ferner z.B. BFH v. 19.10.2010 – I R 67/09; BStBl. 2011, 367. Aus der Lit. namentlich Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (17 f.); Kempermann, DStZ 1996, 685; Kohlhaas, Stbg. 1998, 557; Söffing, DB 1998, 896; Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 179 ff.; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 200 ff.; Zähle, Die grundstücksverwaltende Zebragesellschaft in gesellschafts- und steuerrechtlicher Sicht, Diss., 2002; Schlagheck, StuB 2003, 846; Niehus, DStZ 2004, 143. 4 BFH v. 11.4.2005 – GrS 2/02, BStBl. 2005, 679; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 202 ff., 205. 5 Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften3, 87. 6 Vgl. BFH v. 11.4.2005 – GrS 2/02, BStBl. 2005, 679; v. 18.8.2005 – IV R 59/04; v. 10.11.2005 – BStBl. 2005, 830; v. 10.11.2005 – IV R 29/04, BStBl. 2006, 173; v. 9.10.2008 – IX R 72/07, BStBl. 2009, 231; zust. Reiß, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 177 Rz. 7.
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Qualifikation und Zurechnung der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 51
§ 10
Abschirmwirkung nimmt der BFH (v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl. 1995, 617), eine Zebragesellschaft auch dann an, wenn die Gesellschaft selbst vermögensverwaltend tätig ist, weil sie die Drei-Objekte-Grenze gewerblichen Grundstückshandels nicht überschreitet, an ihr jedoch ein Gesellschafter beteiligt ist, dessen Grundstücksgeschäfte zusammen mit seinem Anteil an den gesellschaftlichen Immobilienverkäufen gewerblichen Grundstückshandel begründen. Die Grundstücksgeschäfte der Gesellschaft sollen hiernach zugleich eigene des Gesellschafters sein (m.E. zweifelhaft)1. Überträgt ein gewerblich tätiger Gesellschafter einer Zebragesellschaft ein Wirtschaftsgut seines Betriebsvermögens in das Gesamthandsvermögen der Personengesellschaft, führt dies steuerlich nicht zur Aufdeckung der stillen Reserven bei dem Gesellschafter, soweit dieser an der Zebragesellschaft betrieblich beteiligt ist2. 48–49 Einstweilen frei.
4.3 Zurechnung der Einkünfte von Mitunternehmern3 Da die endgültige Qualifikation der Einkünfte von Mitunternehmern erst auf Gesellschafterebene stattfindet, ist sie untrennbar verbunden mit der Frage der Einkünftezurechnung. Bezüge können innerhalb eines Personenverbands nicht isoliert beurteilt werden. Wem die Einkünfte zugerechnet werden, hängt davon ab, wer Mitunternehmer ist.
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Beispiel Wird eine gewerbliche Personengesellschaft zwischen Vater und Kindern (zu Familienpersonengesellschaften auch Rz. 79) steuerlich nicht anerkannt, haben die Kinder keine Einkünfte, sondern Unterhaltsbezüge. Dem Vater sind als Alleinunternehmer die gesamten Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§ 15 I 1 Nr. 1 statt Nr. 2 EStG) zuzurechnen. Bei der Korrektur einer unangemessenen, Unterhaltsleistungen verdeckenden Gewinnverteilung wird auch die Zurechnung von Einkünften korrigiert. Wird der Treugeber nicht als Mitunternehmer einer Immobilienfonds-Gesellschaft mit Einkünften aus Vermietung und Verpachtung anerkannt, so werden ihm diese Einkünfte nicht zugerechnet; statt dessen kann er aber Einkünfte aus Kapitalvermögen als Darlehensgeber oder stiller Gesellschafter haben (BFH v. 27.1.1993 – IX R 269/87, BStBl. 1994, 615).
Die Zweistufigkeit der Einkünfteprüfung exemplifizieren besonders die Fälle der persönlichen Zurechnung von Einkünften bei Treuhandverhältnissen4: Es ist zunächst auf der ersten Stufe 1 Im Weiteren zur Anwendung der Drei-Objekte-Grenze bei Mitunternehmerschaften s. Kobor, FR 1999, 1155; Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 172 ff.; aus der Rspr. BFH v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl II 1995, 617; v. 7.3.1996 – IV R 2/92, BStBl. 1996, 369; v. 11.12.1997 – III R 14/96, BStBl. 1999, 401; v. 5.6.2008 – IV R 81/06, BStBl. 2010, 974. BMF BStBl. 2004, 434 Tz. 14, macht – wenig konsequent – den Durchgriff von einer Mindestbeteiligung abhängig. Bei Veräußerung der Beteiligung gilt § 39 II Nr. 2 AO, s. BFH BStBl. 1999, 390; 2003, 250 (auch für gewerblich geprägte/tätige Personengesellschaften); BFH v. 26.4.2012 – IV R44/09, BStBl. 2013, 142 (keine Gewinnrealisierung beim Gesellschafter bei der Übertragung eines Wirtschaftsguts seines Betriebsvermögens in das Gesamthandsvermögen der vermögensverwaltenden Gesellschaft, soweit dieser an einer Zebragesellschaft beteiligt ist). Nach BFH v. 22.8.2012 – X R 24/11, BStBl. 2012, 865 erfolgt auch eine Zusammenrechnung der Grundstücksgeschäfte einer gewerblich tätigen Mitunternehmerschaft und einer vermögensverwaltend tätigen Grundstücksgemeinschaft. Zur Zusammenrechnung von Grundstücksveräußerungen einer gewerblich tätigen GbR und der Einbringung des gesamten bisher der privaten Vermögenssphäre des Gesellschafters zugerechneten Grundbesitzes in eine KG, an der der einbringende Gesellschafter zu 100 % beteiligt ist, s. FG Baden-Württemberg v. 16.4.2013 – 8 K 2832/11, EFG 2014, 35 (dazu Rev. unter X R 21/13). Beachte auch BFH v. 5.5.2011 – IV R 34/08, BStBl. 2011, 787, wonach „ein ungeteiltes Grundstück mit fünf freistehenden Mehrfamilienhäusern […] nur ein Objekt im Sinne der […] Drei-Objekt-Grenze [sei]“ (Hervorhebungen durch Verf.); außerdem betont der BFH in diesem Urteil, dass „die Beteiligung eines oder mehrerer gewerblich tätiger Gesellschafter an einer vermögensverwaltenden Personengesellschaft […] nicht dazu [führe], dass die Tätigkeit dieser Gesellschaft insgesamt als gewerblich anzusehen [sei].“ 2 BFH v. 26.4.2012 – IV R 44/09, BStBl. 2013, 142; dazu Schulze zur Wiesche, DStZ 2012, 833; Levedag, GmbHR 2013, 243. 3 Dazu Schmidt-Liebig, StuW 1989, 110 (Grenzbereiche der Einkunftszurechnung); Lang/Seer, FR 1992, 637 (Zurechnung von Treuhandverhältnissen); Wüllenkemper, FR 1993, 389 (Zurechnung bei Verteilungsstreitigkeiten); Raupach, FS Beisse, 1997, 403 (Zurechnung als Problem der Tatbestandsverwirklichung); P. Fischer, FR 1998, 813, und gründlich Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 81 ff. 4 Dazu grundl. Lang/Seer, FR 1992, 637 f., m.w.N.
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§ 10
Rz. 52
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
zu eruieren, welche Einkünfte die Gesellschaft hat. Sodann stellt sich auf der zweiten Stufe vorrangig die Frage, wem diese Einkünfte der Gesellschaft zuzurechnen sind. Da Einkünfte der Gesellschaft nur ihren Mitunternehmern zugerechnet werden können, hängt die Zurechnung der von der Gesellschaft erwirtschafteten Einkünfte von der Verwirklichung des Mitunternehmertatbestands ab. Dabei ist es nicht erforderlich, dass das Zurechnungssubjekt selbst am Markt teilnimmt. Vielmehr geht es um die mitunternehmerische Zuordnung der Betätigung, welche die Gesellschaft ausgeübt hat. Diese Zuordnung kann allein durch ein Innenverhältnis begründet werden, wie das Treuhandverhältnis zeigt: 52
Nach BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. 1984, 751 (768 f.), kann ein Treuhandverhältnis, das die Mitgliedschaft in einer Personengesellschaft zum Gegenstand hat, die Mitunternehmereigenschaft vermitteln1. Gesellschafter ist zivilrechtlich der Treuhänder und nicht der Treugeber. Gleichwohl ist der Treugeber Zurechnungssubjekt für die auf der ersten Stufe qualifizierten Einkünfte der Gesellschaft, wenn ihm das Treuhandverhältnis eine Rechtsstellung vermittelt, nach der er gesellschaftsrechtlich Risiko trägt und Initiative entfalten kann. Handelt der Treuhänder auf Rechnung und Weisung des Treugebers, dann sind nicht ihm als zivilrechtlichem Gesellschafter (s. Rz. 31 ff.), sondern dem Treugeber die Einkünfte zuzurechnen (BFH v. 10.12.1992 – XI R 45/88, BStBl. 1993, 538 [540]; v. 16.5. 1995 – VIII R 18/93, BStBl. 1995, 714 m.w.N.; einschränkend BFH BStBl. 2005, 168 [170]: Strohmann). Ist nach Lage des Falles an der Personengesellschaft nur ein Gesellschafter mitunternehmerisch beteiligt (sog. Treuhandmodell), so sollen die Wirtschaftsgüter des Gesellschaftsvermögens nach Auffassung des IV. Senats steuerrechtlich allein dem einzelnen Mitunternehmer zuzurechnen und dieser steuerrechtlich wie ein Einzelunternehmer zu behandeln sein (so BFH v. 3.2..2010 – IV R 26/07, BStBl. 2010, 751, m.w.N.2; m.E. zweifelhaft3).
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Für die Beurteilung derartiger mitunternehmerkonstituierender Innenverhältnisse kann der Rechtsgedanke des § 39 II Nr. 1 Satz 1 AO herangezogen werden. Dieser besagt, dass die subjektive Zurechnung nicht an die zivilrechtliche Rechtszuständigkeit, hier die zivilrechtliche Gesellschafterstellung des Treuhänders, sondern an das wirtschaftliche Herrschaftsverhältnis anzuknüpfen hat4. Demnach muss das Treuhandverhältnis als wirtschaftliches Herrschaftsverhältnis ausgestaltet sein, damit dem Treugeber auch tatsächlich die Mitunternehmereigenschaft vermittelt ist.
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Mitunternehmer ist auch derjenige, der an einem Mitunternehmeranteil eine atypisch stille (s. Rz. 70) Unterbeteiligung5 hält, und zwar sowohl qua Innengesellschaft im Verhältnis zum Hauptbeteiligten als auch gem. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 2 EStG (s. Rz. 71) im Verhältnis zur Hauptgesellschaft (BFH v. 2.3.1995 – IV R 135/92, BStBl. 1995, 531). Dem Unterbeteiligten sind, soweit er auf Grund der Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses zum Hauptbeteiligten Mitunternehmerrisiko und Mitunternehmerinitiative trägt (BFH v. 2.10.1997 – IV R 75/96, BStBl. 1998, 137 [138]), die auf die Unterbeteiligung entfallenden Einkünfte aus der Hauptgesellschaft unmittelbar zuzurechnen.
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Der Besteller eines Nießbrauchs an einem Personengesellschaftsanteil bleibt Mitunternehmer, wenn ihm ein hinreichender Bestand vermögensrechtlicher Substanz und gesellschaftsrecht1 Vgl. ferner BFH v. 21.4.1988 – IV R 47/89, BStBl. 1989, 722 (Publikumsgesellschaft); v. 10.12.1992 – XI R 45/88, BStBl. 1993, 538 (Verlustzuweisungsgesellschaft); v. 27.1.1993 – IX R 269/87, BStBl. 1994, 615 (Immobilienfonds); v. 4.11.2004 – III R 21/02, BStBl. 2005, 168 (verdeckte Treuhand); v. 16.5.2013 – IV R 35/10, BFH/NV 2013, 1945 (Klagebefugnis des Treugebers). 2 Dazu zust. Wacker, FS Goette, 2011, 561 ff.; Ley, Ubg. 2011, 274 (279); Benz/Goß, DStR 2010, 839. 3 S. die berechtigte Kritik von Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (46); krit. auch namentlich Blümich/Gosch, § 5 GewStG Rz. 51 ff.; vgl. auch Th. Wagner, StbJb. 2011/12, 133 ff. (zu Gestaltungsmöglichkeiten). 4 Vgl. BFH v. 27.9.1988 –VIII R 193/83, BStBl. 1989, 414 (416); BFH v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. 1991, 691 (700); stärker auf das Außenverhältnis abstellend BFH v. 27.1.1993 – IX R 269/87, BStBl. 1994, 615 (617 f.); dazu krit. Lang/Seer, FR 1992, 637 (642 ff.). 5 Carlé, KÖSDI 2005, 14475, m.w.N.; Carlé, KÖSDI 2008, 16166; Weigl, Stille Gesellschaft und Unterbeteiligung2, 2004; Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften3, 95; Haack, NWB 2006 Fach 18, 4335; zur abkommensrechtlichen Behandlung Stegemann, IStR 2002, 329; zu den verfahrensrechtlichen Folgen § 21 Rz. 124.
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Arten der Mitunternehmerschaft
Rz. 62
§ 10
licher Mitwirkungsrechte verbleibt (BFH v. 1.3.1994 – VIII R 35/92, BStBl. 1995, 241)1. Der Nießbrauchnehmer wird nur dann Mitunternehmer, wenn er über die wirtschaftliche Nutzung des Anteils hinaus auf Grund gesonderter Absprachen Mitunternehmerinitiative entfalten kann. 56–59
Einstweilen frei.
5. Arten der Mitunternehmerschaft a) § 15 I 1 Nr. 2 EStG erfasst nur die gewerbliche Mitunternehmerschaft; das ergibt sich auch aus § 15 III Nr. 1 EStG. Für land- und forstwirtschaftliche Mitunternehmerschaften verweist § 13 VII EStG auf § 15 I 1 Nr. 2 EStG, für freiberufliche Mitunternehmerschaften ist § 18 IV 2 EStG Verweisungsnorm. Unanwendbar ist § 15 I 1 Nr. 2 EStG für vermögensverwaltende Personengesellschaften (s. Rz. 25 f., s. auch Rz. 47).
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b) Ist eine Personengesellschaft nur partiell gewerblich tätig, so gilt sie nach der Abfärberegelung des § 15 III Nr. 1 EStG in vollem Umfang als Gewerbebetrieb2. Dem Wortlaut nach kommt es auf die Tätigkeit der Gesellschaft an, so dass gewerbliche Einkünfte im Sonderbereich die Rechtsfolge des § 15 III Nr. 1 EStG nicht auslösen (zutreffend BFH v. 28.6.2006 – XI R 31/05, BStBl. 2007, 378)3. Die Vorschrift soll vereinfachen4 und die Entstehung unterschiedlicher Einkunftsarten in einer Personengesellschaft sowie die Einkünfteverlagerung in den nichtgewerblichen Bereich verhindern, führt aber – § 35 EStG außer Acht gelassen – zu durch den Vereinfachungszweck nicht gerechtfertigten Mehrbelastungen durch die Gewerbesteuer.
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§ 15 III Nr. 1 EStG soll u.a. zur Umqualifikation der Einkünfte von Freiberufler-Mitunternehmerschaften i.S.d. § 18 IV 2 i.V.m. § 15 I Nr. 2 EStG führen, also bei einem Zusammenschluss von Freiberuflern in einer GbR oder in einer Partnerschaftsgesellschaft nach dem am 1.7.1995 in Kraft getretenen PartGG (BGBl. I 1994, 1744)5, wenn an dieser Berufsfremde beteiligt sind, die die Merkmale des § 18 I Nr. 1 EStG nicht erfüllen (sog. Durchsäuerungsthese)6. Dagegen ist einzuwenden, dass eine Beteiligung nicht-freiberuflicher Gesellschafter die Tätigkeit der Gesellschaft, auf die § 15 III Nr. 1 EStG abstellt (Rz. 61), nicht teilweise gewerblich
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1 Dazu Gschwendtner, NJW 1995, 1875; Gschwendtner, DStZ 1995, 708 (Treuhandlösung beim Nießbrauch u. bei der Testamentsvollstreckung an einem Kommanditanteil); Söffing/Jordan, Nießbrauch an einem Mitunternehmeranteil, BB 2004, 353; Schulze zur Wiesche, DB 2008, 2728; ausführlich Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften3, 97 ff.; Kubata/Riegler/Straßen, Zur Gewerblichkeit freiberuflich tätiger Personengesellschaften, DStR 2014, 1949 2 Dazu Grune, BB 1998, 1081; Seer/Drüen, BB 2000, 2176; Westerwald, StWa 2000, 105; Bodden, Einkünftequalifikation, 2001, 148 ff.; Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 183 ff.; Kempermann, DStR 2002, 664; Siegmund/Ungemach, DStZ 2009, 133. Zu Recht krit. Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (21 f.); zu § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG Nichtannahmebeschluss des BVerfG v. 5.6.2013 – 2 BvR 2677/11, HFR 2013/1534 aufgrund mangelnder Beschwerdebefugnis der Personengesellschaft im Verfassungsbeschwerdeverfahren. 3 Ebenso Stapperfend, StuW 2006, 303 (309 f.); dazu ferner Schulze zur Wiesche, Stbg. 2007, 84. 4 Der angebliche Vereinfachungszweck wird allerdings ad absurdum geführt, wenn auch die gewerbesteuerbefreite gewerbliche Tätigkeit zur Infektion führt, mit der Folge, dass nunmehr gewerbesteuerbefreite von gewerblich infizierten Einkünften abgegrenzt werden müssen. I. Erg. erkennt dies BFH BStBl. 2002, 152, allerdings ohne auf die Anwendung von § 15 III Nr. 1 EStG zu verzichten. 5 Dazu HHR/Brandt, § 18 EStG Anm. 412 ff.; Demuth, Der einkommensteuerliche Mitunternehmerbegriff bei den freiberuflichen Einkünften, 2004; Demuth, DStZ 2005, 112; Kempermann, FR 2007, 577 (Freiberufler-Personengesellschaft i. d. Rspr.); Partnerschaftsgesellschaft: Kommentare von Henssler u. Ulmer; Schnittker, Gesellschafts- und steuerrechtliche Behandlung einer englischen Limited Liability Partnership, 2007. Zu dieser Gesellschaft auch Henssler/Mansel, NJW 2007, 1393. 6 BFH v. 11.6.1985 – VIII R 254/80, BStBl. 1985, 584; v. 9.10.1986 – IV R 235/84, BStBl. 1987, 124; v. 7.11.1991 – IV R 17/90, BStBl. 1993, 324; v. 14.12.1993 – VIII R 13/93, BStBl. 1994, 922; v. 30.1.1986 – IV R 23/84, BFH/NV 1987, 508; v. 28.10.2008 – VIII R 69/06, BStBl. 2009, 642; zur Beteiligung einer Freiberufler-Kapitalgesellschaft BFH v. 3.12.2003 – IV B 192/03, BStBl. 2004, 303 dazu Nichtannahmebeschluss des BVerfG v. 19.4.2004 – 1 BvR 594/04, BStBl. 2008, 681; zur Steuerberatungsund Wirtschaftsprüfungs-GmbH & Co. KG BFH v. 10.10.2012 – VIII R 42/10, BStBl. 2013, 79; Kempermann, FR 2007, 577; krit. Hild, DB 2005, 1875; Sarrazin, FS Raupach, 2006, 515 ff; Karl, DStR 2011, 159; Karl, BB 2010, 1311.
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§ 10
Rz. 63
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
macht. Die Beteiligung eines Berufsfremden verändert die Tätigkeit der Gesellschaft, die am Markt ausschließlich freiberufliche Leistungen anbietet, nicht. Es handelt sich gerade nicht um eine gemischte Tätigkeit. Erst auf Gesellschafterebene wirkt sich das Fehlen der Merkmale des § 18 I Nr. 1 EStG aus, indem es beim berufsfremden Gesellschafter zur Umqualifikation in Einkünfte nach § 15 EStG kommt1. Dies entspricht der Dogmatik der Zebragesellschaft. 63
Gegen BFH v. 6.10.2004 – IX R 53/01, BStBl. 2005, 3832, ordnet § 15 III Nr. 1 2. Alt. EStG i.d.F. des JStG 2007 (BGBl. I 2006, 2878) an, dass als Gewerbebetrieb in vollem Umfang die mit Einkünfteerzielungsabsicht unternommene Tätigkeit einer OHG oder KG gilt, wenn die Gesellschaft gewerbliche Einkünfte i.S. des § 15 I 1 Nr. 2 EStG bezieht3. Für diese sog. Abfärbewirkung genügt danach allerdings die bloße Beteiligung an einer gewerblichen Personengesellschaft nicht. Vielmehr wird auch ein „Bezug“ von Gewinnanteilen i.S. des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG vorausgesetzt4. Die Anwendung dieser Nichtanwendungsgesetzgebung auch für Veranlagungszeiträume vor 2006 (§ 52 XXXIIa EStG) verletzt als echte Rückwirkung den rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgrundsatz5.
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Eine gewerbliche Tätigkeit von ganz untergeordneter Bedeutung, die kaum in Erscheinung tritt, entfaltet aus Gründen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes allerdings keine umqualifizierende Wirkung gem. § 15 III Nr. 1 1. Alt. EStG6. Dasselbe sollte richtigerweise auch für § 15 III Nr. 1 2. Alt. EStG im Falle einer ganz geringfügigen Beteiligung gelten7. Nach BFH v. 19.2.1998, IV R 11/97, BStBl. 1998, 603, kann die Gewerblichkeit gem. § 15 III Nr. 1 EStG durch Ausgliederung der gewerblichen Tätigkeiten in eine zweite Personengesellschaft vermieden werden8. Gleichwohl verletzt § 15 III Nr. 1 EStG entgegen BVerfGE 120, 1, den Gleichheitssatz, weil der Personengesellschaft die bei Einzelunternehmen zulässige Trennung von gewerblichen und nichtgewerblichen Einkünften versagt wird9. Mit dem vom BVerfG zugrunde gelegten Vereinfachungsinteresse ist die Abfärbung nicht zu rechtfertigen. Die Rechtsfolge steht außer Verhältnis zum verfolgten Ziel.
1 Ebenso Korn, DStR 1995, 1249 (1255 f.); Korn, StbKongrRep. 1995, 143 (157 ff.); s. auch Demuth, Der einkommensteuerliche Mitunternehmerbegriff bei den freiberuflichen Einkünften, 2004, 144 ff., 175 ff.; Demuth, DStZ 2005, 112, der anhand eines eigenständigen Freiberufler-Mitunternehmerbegriffs dem nicht qualifizierten Mitunternehmer bereits die Mitunternehmereigenschaft absprechen will. 2 Dazu Groh, DB 2005, 2430. 3 Dazu Müller/Funk/Müller, BB 2005, 2271; Ernst, BB 2005, 2213 (Private Equity Fonds); Wacker, JbFSt. 2005/06, 322. 4 BFH v. 26.6.2014 – IV R 5/11, DStR 2014, 1964. 5 Dahingehend Blümich/Bode, § 15 EStG Rz. 282a; a.A. Niedersächs. FG, EFG 2011, 870; nachgehend offen gelassen durch BFH v. 26.6.2014 – IV R 5/11, DStR 2014, 1964. 6 Keine gewerbliche Infektion bei max. 3 % des Nettoumsatzes und 24 500 Euro gewerblicher Umsatz, s. BFH v. 27.8.2014 – VIII R 6/12, DStR 2015, 346; VIII R 16/11; VIII R 41/11. Aus der Lit zum Ganzen Bordewin, NWB 1999 Fach 3, 10703; Wendt, FR 1999, 1182; Neu, DStR 1999, 2109; Rose, DB 2000, 993; Schild, DStR 2000, 576; Wehrheim/Brodthage, DStR 2003, 485; Kantwill, SteuerStud 2004, 267; Demuth, KÖSDI 2005, 14491; krit. im Hinblick auf den Vereinfachungszweck von § 15 III Nr. 1 EStG Groh, DB 2005, 2430. 7 FG Münster v. 7.12.2000 – 3 K 4979/95 F, EFG 2002, 129 (zu § 15 III Nr. 1 2. Alt. EStG); dem zuneigend, letztlich aber offen gelassen Niedersächs. FG v. 8.12.2010 – 2 K 295/08, EFG 2011, 870 m.w.N; ebenso offen gelassen durch BFH v. 26.6.2014 – IV R 5/11, DStR 2014, 1964. 8 S. auch BFH v. 12.6.2002 – XI R 21/99, BFH/NV 2002, 1554; zum Ausgliederungsmodell Seer/Drüen, BB 2000, 2176; Schulze zur Wiesche, Stbg. 2006, 165; Schulze zur Wiesche, BB 2006, 75. 9 Zutreffend Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (21 ff.); ferner namentlich Stadie, FR 1989, 93; Schulze-Osterloh, GS Knobbe-Keuk, 1997, 531 (534 ff.); Gosch, StBp. 1998, 81; Grune, BB 1998, 1081; Habscheid, BB 1998, 1184; Grabowski, FS 50 Jahre Fachanwälte, 1999, 587; Jachmann, DStJG 23 (2000), 9 (52 ff.); Drüen, FR 2000, 177; Drüen, GmbHR 2008, 393 (402); Heuermann, DB 2004, 2548; a.A. BFH v. 10.8.1994 – I R 133/93, BStBl. 1995, 171; v. 8.12.1994 – IV R 7/92, BStBl. 1996, 264; v. 24.4.1997 – IV R 60/93, BStBl. 1997, 567; v. 13.11.1997 – IV R 67/96, BStBl. 1998, 254; v. 19.2.1998 – IV R 11/97, BStBl. 1998, 603; v. 16.8. 1998 – IV R 56/97, BStBl. 1998, 735; v. 29.11. 2011 – IV R 91/99, BStBl. 2002, 221; v. 25.7.2000 – XI B 41/00, BFH/NV 2001, 204.
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Hennrichs
Arten der Mitunternehmerschaft
Rz. 68
§ 10
c) § 15 III Nr. 2 EStG regelt u.E. ebenfalls nur für die Ebene der Gesellschaft die sog. gewerblich geprägte Personengesellschaft1. Sind bei einer tatsächlich land- und forstwirtschaftlich, freiberuflich oder vermögensverwaltend tätigen Personengesellschaft ausschließlich eine oder mehrere Kapitalgesellschaften persönlich haftende Gesellschafter und sind nur diese oder Nichtgesellschafter zur Geschäftsführung befugt, so gilt die Tätigkeit der Personengesellschaft voll als gewerblich. Eine gewerblich geprägte Personengesellschaft2 als persönlich haftender Gesellschafter steht einer Kapitalgesellschaft gleich; die gewerbliche Prägung wird also bis auf die „Enkel-Ebene“ durchgereicht. Hauptanwendungsfall ist die typische GmbH & Co. KG3. § 15 III Nr. 2 EStG ist ferner auch auf eine Schein-KG4, GmbH & atypisch stille Gesellschaft (s. Rz. 70) sowie ausländische Personengesellschaften5 anzuwenden.
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§ 15 III Nr. 2 EStG knüpft an die frühere Gepräge-Rspr. des BFH (s. Urt. v. 3.8.1972 – IV R 235/67, BStBl. 1972, 799; v. 22.11.1972 – I R 252/70, BStBl. III 1973, 405) an. Diese Rspr. hatte BFH v. 25.6. 1984 – GrS 4/82, BStBl. 1984, 751 (762), aufgegeben, ihm folgend BFH v. 17.1.1985 – IV R 106/81, BStBl. 1985, 291; v. 7.2.1985 – IV R 31/83, BStBl. 1985, 372; 1985, 434. Daraufhin hat jedoch der Gesetzgeber durch § 15 III Nr. 2 EStG die alte Rechtslage gesetzlich verankert und erweitert6.
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§ 15 III Nr. 2 EStG enthält eine systemwidrige Ausnahme zu der Regel, dass es bei einer Personengesellschaft für die Einkünftequalifikation auf die Tätigkeit der Gesellschaft selbst ankommt7. Warum die Einkünftequalifikation auf Gesellschaftsebene von der Zusammensetzung des Gesellschafterkreises abhängen soll, ist nicht einzusehen8. Die Vorschrift erweist sich insb. hinsichtlich der Regelung der Geschäftsführungsbefugnis als praktisch beliebig einsetzbares Instrument der Gestaltung, das eine Einkünftequalifikation nach Wahl ermöglicht („Gewerbebetrieb auf Antrag“). Rechtspolitisch ist das zweifelhaft9.
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d) Eine weitere von der Rspr. kreierte Ausnahme betrifft die Betriebsaufspaltung (dazu § 13 Rz. 80 ff.). Im Fall einer Betriebsaufspaltung wird die Vermietung/Verpachtung mindestens einer wesentlichen Betriebsgrundlage durch das sog. Besitzunternehmen statt als Vermietung/ Verpachtung als gewerbliche Tätigkeit angesehen, wenn die Gesellschafter des sog. Besitzunternehmens in der Lage sind, ihren Willen auch in der Betriebsgesellschaft durchzusetzen (s. § 13 Rz. 84). Nach jüngerer Rspr. kann die Betriebsgesellschaft sowohl Kapitalgesellschaft als auch
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1 Dazu mit Recht krit. Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (19 f.); ferner Jakob, FS Felix, 1989, 111; Leuthe, Die gewerblich geprägte Gesellschaft bürgerlichen Rechts, Diss., 1993; Eisgruber, DStR 1995, 1569 (Erwiderung: Henkel/Jakob, DStR 1995, 1573); Felix, NJW 1997, 1040; Lüdemann, BB 1996, 2650 (Einkünfteerzielungsabsicht); Ritzrow, StBp. 1999, 177 u. 197 (Innengesellschaft); Söffing, DB 2003, 905 (zu § 15 III Nr. 2 Satz 2 EStG); Weßling/Romswinkel, Stbg. 2004, 501 (Beteiligung an ausländischen Personengesellschaften); zur Verfassungswidrigkeit des § 15 III Nr. 2 EStG Bodden, Einkünftequalifikation, 2001, 164 ff. m.w.N.; Niehus, StuW 2008, 359 (als Gestaltungsinstrument); BFH BStBl. 2009, 266 (Einkünfteerzielungsabsicht); abl. zur Anwendung des § 15 III Nr. 2 EStG auf die Abgrenzung der Einkunftsarten im Abkommensrecht und die damit verbundene Zuordnung des Besteuerungsrechts Hess. FG v. 15.11.2012 – 11 K 3175/09, EFG 2013, 503 (dazu Rev. unter I R 3/13). Ein individualvertraglicher Haftungsausschluss bei einer GbR hat nach BMF DStR 2014, 654 keine Auswirkungen auf die gewerbliche Prägung. 2 Dies gilt nach BFH v. 8.6.2000 – IV R 37/99, BStBl. 2001, 162, „a maiore ad minus“ auch dann, wenn Obergesellschaft mit einer Kapitalgesellschaft als Gesellschafterin nicht nur gewerblich geprägt ist, sondern selbst auch einer gewerblichen Tätigkeit nachgeht. 3 Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, Hdb. der GmbH & Co. KG20, 2009. Die KG erzielt nach BFH v. 10.10.2012 – VIII R 42/10, BStBl. 2013, 79 auch dann gewerbliche Einkünfte, wenn die Komplementär-GmbH weder am Vermögen noch am Gewinn der Gesellschaft beteiligt ist und auch über keine Stimmrechte verfügt. 4 BFH v. 22.11.1994 – VIII R 63/93, BStBl. 1996, 93. 5 BFH v. 14.3.2007 – XI R 15/05, BStBl. 2007, 924; dazu Strunk, Stbg. 2007, 403. 6 Vgl. BT-Drucks. 10/3663, 6; 10/4513, 64. Nach BFH v. 4.9.1997 – IV R 27/96, BStBl. 1998, 286; v. 8.10.2001 – VIII B 22/01, BFH/NV 2002, 333, soll die rückwirkende Anwendung des § 15 III Nr. 2 EStG keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen. 7 Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (19); Hüttemann, ebenda, 39 (48 f.) („systematisch nicht mehr einzuordnen“; „Fremdkörper“); je m.w.N. 8 Zutreffend Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (49). 9 Ebenso Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (19 f.).
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§ 10
Rz. 69
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
Personengesellschaft (sog. mitunternehmerische Betriebsaufspaltung, s. Rz. 135, § 13 Rz. 80) sein1. Besitzgesellschaft soll durch konkludente Begründung einer Besitz-GbR auch die Bruchteilsgemeinschaft ohne Gesamthandsvermögen sein können2. 69
e) Bei Anwendung des Mitunternehmerbegriffs ergeben sich Schwierigkeiten bei der Einordnung des Kommanditisten. Der Kommanditist ist oft bloßer Kapitalgeber. Er ist zur Geschäftsführung nicht befugt (§ 164 HGB). Das Kontrollrecht des § 166 HGB gewährt ihm keine Unternehmerinitiative. Gleichwohl qualifiziert § 15 I 1 Nr. 2 EStG die Kommanditgesellschaft expressis verbis als Mitunternehmerschaft. Nach st. Rspr. sind Kommanditisten Mitunternehmer, wenn das Gesellschaftsverhältnis dem Regelstatut des HGB für die KG zumindest nahe kommt3. Allerdings ist ein Kommanditist, dem zwar die regulären Mitwirkungsrechte eingeräumt sind, der aber weder am laufenden Gewinn noch am Gesamtgewinn der KG beteiligt ist, kein Mitunternehmer (BFH v. 28.10.1999 – VIII R 66-70/97, BStBl. 2000, 183). Er ist einkommensteuerrechtlich dann wie ein Darlehensgeber oder stiller Gesellschafter zu behandeln.
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f) Bei der stillen Gesellschaft (s. § 230 HGB) wird zwischen typisch und atypisch stiller Beteiligung4 unterschieden. Der stille Gesellschafter erzielt nach § 20 I Nr. 4 EStG Einkünfte aus Kapitalvermögen, wenn er kein Mitunternehmer ist (typisch stiller Gesellschafter). Trägt der Stille dagegen i.S.d. o.g. Kriterien Mitunternehmerrisiko und hat er Mitunternehmerinitiative, ist er Mitunternehmer (atypisch stiller Gesellschafter). Leitbild für die Abgrenzung ist der Kommanditist. Voraussetzung für eine Klassifizierung als atypisch stiller Gesellschafter ist, dass seine vertraglich begründete Rechtsstellung derart vom Regelstatut des § 230 HGB abweicht, dass sie nach dem Gesamtbild mindestens dem Typus eines Kommanditisten entspricht5. Mitunternehmerrisiko trägt der stille Gesellschafter insb. dann, wenn er am Verlust6 und an stillen Reserven des Anlagevermögens und dem Firmenwert beteiligt ist7.
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g) Auf der Grundlage einer zivilrechtlichen Betrachtung hatte der GrS (v. 25.2.1991, GrS 7/89, BStBl. 1991, 691 [698]) auch die sog. mehrstöckige Personengesellschaft anerkannt8. Danach sollten auch Personenhandelsgesellschaften und mitunternehmerisch tätige Gesellschaften bürgerlichen Rechts Gesellschafter und Mitunternehmer i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG sein können. Damit verbunden war eine Abschirmwirkung der Obergesellschaft: Die Gesellschafter der
1 Zur Auswirkung von Gewerbesteuerbefreiungen (§ 3 GewStG) des Betriebsunternehmens auf das Besitzunternehmen im Rahmen der mitunternehmerischen Betriebsaufspaltung s. FG Rheinland-Pfalz v. 24.4.2013 – 2 K 1106/12, EFG 2013, 1675 (dazu Rev. unter IV R 26/13). 2 BFH v. 18.8.2005 – IV R 59/04, BStBl. 2005, 830; BMF BStBl. 2006, 766. 3 Dazu m.w.N. Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 266 ff., Rz. 750 ff. Zu den diversen Formen aus steuersystematisch-betriebswirtschaftlicher Sicht Maurer, Die Besteuerung von Anleger-Kommanditgesellschaften, Diss., 1999. 4 Dazu Troost, Die steuerliche Abgrenzung zwischen typischen und atypischen stillen Gesellschaften, Diss., 1997; Zacharias/Hebig/Rinnewitz, Die atypisch stille Gesellschaft2, 2000; Schulze-Osterloh u. Groh, FS H.W. Kruse, 2001, 377 u. 417; Blaurock, Hdb. Stille Gesellschaft7, 2010; Weigl, Stille Gesellschaft, Treuhand und Unterbeteiligung3, 2012; Schoor/Natschke, Die GmbH & Still im Steuerrecht4, 2005; Fleischer/Thierfeld, Stille Gesellschaft im Steuerrecht8, 2008; Crezelius, FS Schaumburg, 2009, 239; Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften3, 2011, 95. – Zur Anwendbarkeit des § 15 III Nr. 2 EStG BFH v. 26.11.1996 – VIII R 42/94, BStBl. 1998, 328; BMF BStBl. 1998, 583; Gschwendtner, DStZ 1998, 335; Lindwurm, DStR 2000, 53. 5 BFH v. 6.7.1995 – IV R 79/94, BStBl. 1996, 269 (270). 6 BFH v. 27.6.2013 – IV R 53/10, BFH/NV 2013, 1920. 7 Hierzu i.E. BFH v. 25.6.1981 – IV R 61/78, BStBl. 1982, 59; v. 27.5.1993 – IV R 1/92, BStBl. 1994, 700; v. 22.8.2002 – IV R 6/01, BFH/NV 2003, 36; v. 16.12.2003 – VIII R 6/93, BFH/NV 2004, 1080; v. 17.7. 2014 – IV R 52/11. 8 Dazu Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 610 ff.; HHR/Rätke, § 15 EStG Anm. 600–645; NWB Praxishdb. BilStR/Kahle2, Rz. 1581 ff.; Schmidt/Heinz/Jung, GmbHR 2007, 628 (Bilanzierungspflichten); Mücke, DB 2009, 1088; Thiel, FS Spiegelberger, 2009, 504; Seitz, StbJb. 2009/2010, 107; Ley, KÖSDI 2010, 17148.
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Hennrichs
Arten der Mitunternehmerschaft
Rz. 73
§ 10
Obergesellschaft waren nicht auch Mitunternehmer der Untergesellschaft1, so dass im Verhältnis der Untergesellschaft zu den Gesellschaftern der Obergesellschaft § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG unanwendbar war. Der Gesetzgeber korrigierte dies, um die massenhafte Umgestaltung schlichter Personengesellschaften in mehrstöckige Personengesellschaften zu verhindern: Die durch StÄndG 1992 eingeführte Regelung des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 2 EStG stellt den mittelbar über eine oder mehrere Personengesellschaften beteiligten Gesellschafter dem unmittelbar beteiligten Gesellschafter gleich, wenn er durch eine ununterbrochene Mitunternehmerkette mit der die Vergütung leistenden Gesellschaft verbunden ist (zu den Rechtsfolgen s. Rz. 143). h) Die Anerkennung des negativen Kapitalkontos von Kommanditisten (Berücksichtigung der Verluste über die Einlage hinaus) durch die Rspr. (BFH v. 10.11.1980 – GrS 1/79, BStBl. 1981, 164) prädestinierte die KG als Verlustzuweisungsgesellschaft. Auf solche Verlustzuweisungsgesellschaften reagierte der Gesetzgeber mit § 15a EStG2. Die Vorschrift trifft allerdings auch die normale KG. Nach § 15a EStG wird der Anteil am Verlust einer KG dem Kommanditisten zwar zugerechnet; soweit jedoch ein negatives Kapitalkonto des Kommanditisten entsteht oder sich erhöht, darf der Verlust weder mit anderen Einkünften ausgeglichen noch nach § 10d EStG abgezogen werden. Er kann als verrechenbarer Verlust lediglich mit zukünftigen Gewinnen aus der KG-Beteiligung ausgeglichen werden (§ 15a II EStG).
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Zum Kapitalkonto i.S.d. § 15a EStG zählen nur solche Gesellschafterkonten, die Eigenkapitalcharakter haben. Konten, auf denen Gesellschafterforderungen erfasst werden, die aus Sicht der KG Fremdkapital ausdrücken, sind nicht Teil des Kapitalkontos i.S.d. § 15a EStG. Für früher sog. eigenkapitalersetzende Darlehen im Sonderbetriebsvermögen gilt richtigerweise nichts anderes3, sie zählen nicht zum Eigenkapital der Gesellschaft und erhöhen daher das Kapitalkonto des Kommanditisten nicht; die frühere gesellschaftsrechtliche Sonderbehandlung solcher Darlehen wurde durch das MoMiG abgeschafft, so dass heute weniger denn je Anlass besteht, diese Darlehen dem Eigenkapital zuzurechnen4. Maßgebend für die Abgrenzung von Eigenund Fremdkapitalkonten ist nicht die gesellschaftsvertragliche Bezeichnung5, sondern die wahre zivilrechtliche Rechtsnatur der Konten6.
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1 Krit. zu BFH v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. 1991, 691, s. Raupach, StuW 1991, 278; Seer, StuW 1992, 35; Schulze-Osterloh, FS L. Schmidt, 1993, 307; L. Schmidt, FS Moxter, 1994, 1109; ferner Groh, DB 1991, 879; Crezelius, JZ 1991, 546; Meyer-Scharenberg, DStR 1991, 919; Hahn, DStZ 1992, 161; Söffing, FR 1991, 253; Söffing, FR 1992, 185; Söffing, FS F. Klein, 1994, 737. 2 S. insb. die Kritik von Knobbe-Keuk, NJW 1980, 2557; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 482 ff. Ferner grundl. Lüdemann, Verluste bei beschränkter Haftung, Eine steuer- und verfassungsrechtliche Studie am Beispiel des § 15a EStG, Diss., 1998; Helmreich, Verluste bei beschränkter Haftung und § 15a EStG, 1998. Aktueller: Huber, ZGR 1988, 1 ff.; Deffland, SteuerStud 2003, 27; Ley, DStR 2004, 1515; Kantwill, SteuerStud 2004, 439; Brandenberg, DB 2004, 1632; Paus, StWa 2006, 63; Höck, Stbg. 2006, 261; Kempermann, DStR 2008, 1917 (aktuelle Rspr.); Hüttemann/Meyer, DB 2009, 1613; Prinz, StuB 2009, 129; Kahle, DStZ 2010, 720; Wendt, Stbg 2010, 145.; Dötsch, FS Spindler, 2011, 595. Handelsrechtlich s. HdJ/Hennrichs/Pöschke, Abt. III/1; Dörfler/Zerbe, DStR 2012, 1212; Sahrmann, DStR 2012, 1109; Kersten/Feldgen, FR 2013, 197; Jacobsen/Hildebrandt, DStR 2013, 433; Kußmaul/Delab/Thomas, StB 2013, 273. 3 BFH v. 26.9.1996 – IV R 105/94, BStBl. 1997, 277 (281); v. 13.10.1998 – VIII R 78/97, BStBl. 1999, 163 (164); v. 28.3.2000 – VIII R 28/98, BStBl.II 2000, 347 (348), behandelt das Gesellschafterdarlehen und selbst das eigenkapitalersetzende Darlehen als Fremdkapital der Gesellschaft; Schmidt/Wacker33, § 15a EStG Rz. 88; a.A. (Einbeziehung in das Kapitalkonto) Hey in 20. Aufl., § 18 Rz. 41; L. Schmidt, DStZ 1992, 703. Zu sog. Finanzplandarlehen s. BFH v. 7.4.2005, IV R 24/03, BStBl. 2005, 598 m. Anm. Köplin, StuB 2005, 843; Kahle, FR 2010, 773 (780); Schmidt/Wacker33, § 15a EStG Rz. 91. Ausf. zum Ganzen Nestler, Das Verhältnis zwischen steuerrechtlichem Verlustausgleich im Rahmen des § 15a EStG und zivilrechtlicher Haftung am Beispiel des Eigenkapitalersatzrechts, Diss., 2006, 144 ff. 4 Zutreffend Kahle, FR 2010, 773 (779 f.), m.w.N. 5 Zu den verschiedenen Konten-Modellen s. BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. 2009, 272; Ley, KÖSDI 1994, 9972; Ley, DStR 2003, 957; Ley, DStR 2009, 613; HdJ/Hennrichs/Pöschke, Abt. III/1 Rz. 52 ff., 92 ff.; Huber, ZGR 1988, 1 ff.; Kahle, DStZ 2010, 720. 6 Zur Abgrenzung zwischen Kapital- und Darlehenskonten BFH v. 15.2.2008 – IV R 46/05, BStBl. 2008, 812; v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. 2009, 272; FG Hamburg v. 10.10.2012 – 2 K 171/11, EFG 2013, 197 (dazu Rev. unter IV R 41/12); BMF BStBl. I 1997, 627; Pohl, NWB 2008 Fach 3, 15237; Strahl,
Hennrichs
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§ 10
Rz. 74
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
74
Der Wert des Kapitalkontos i.S.d. § 15a EStG bestimmt sich nach zutreffender Auffassung des BFH (v. 14.5.1991 – VIII R 31/88, BStBl. 1992, 167 [170]; v. 7.4.2005 – IV R 24/03, BStBl. 2005, 598) nur anhand der ersten Stufe der Gewinnermittlung (Gesellschaftsbilanz und Ergänzungsbilanz). Das Sonderbetriebsvermögen, also die zweite Stufe der Gewinnermittlung (s. Rz. 22), ist nicht mit einzubeziehen1. Dies ist folgerichtig, weil der Kommanditist grds. nicht mit dem Sonderbetriebsvermögen für Gesellschaftsschulden haftet.
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Zutreffend wendet BFH v. 18.12.2003 – IV B 201/03, BStBl. 2004, 231 (233), § 15a EStG durch Beschränkung der Verlustzuweisung der Unter- an die Obergesellschaft auf die mehrstöckige Personengesellschaft an2. § 15a EStG gilt entspr. bei der stillen Beteiligung (§ 20 I Nr. 4 Satz 2 EStG)3 und bei Einkünften aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 I 2 EStG)4 sowie auch bei Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft (§ 13 VII EStG) und bei Einkünften aus selbständiger Arbeit (§ 18 IV 2 EStG).
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Das von § 15a EStG verfolgte Ziel, die steuerliche Verlustzuweisung der begrenzten gesellschaftsrechtlichen Haftung anzugleichen, ist unvollkommen umgesetzt. § 15a I 2 EStG erweitert (nach Wahl des Stpfl.) die Verlustverrechnung auf die Fälle der Außenhaftung nach § 171 I HGB, lässt aber andere Verpflichtungstatbestände sowie die Haftung im Innenverhältnis unberücksichtigt. Nach § 15a III 1 EStG führt die Einlageminderung zu einer Nachversteuerung; eine Haftungserweiterung (z.B. auf Grund der Umwandlung der Gesellschafterstellung, BFH v. 14.10.2003 – VIII R 38/02, BStBl. 2004, 115; v. 12.2.2004 – IV R 70/02, BStBl. 2004, 423)5 bewirkt dagegen keine Ausgleichsfähigkeit in der Vergangenheit entstandener verrechenbarer Verluste6.
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BFH v. 14.10.2003 – VIII R 32/01, BStBl. 2004, 3597 hatte zunächst in zutreffender teleologischer Reduktion von § 15a I 1 EStG im Fall nachträglicher vorgezogener Einlagen die Bildung eines Korrekturpostens gefordert, wenn die Einlagen zum Ausgleich eines negativen Kapitalkontos geleistet und im Wirtschaftsjahr der Einlage nicht durch ausgleichsfähige Verluste verbraucht wurden. Auf diese Weise war ein Ausgleich der Verluste späterer Wirtschaftsjahre bis zum Verbrauch dieses Postens möglich. Zugegebenermaßen kompliziert die Bildung derartiger Korrekturposten die Anwendung von § 15a EStG. Doch statt die Vorschrift einer grundsätzlichen Revision zu unterziehen und Widersprüche zwischen den Ausgleichsmöglichkeiten nach § 15a I Satz 1 und Satz 2 EStG zu beseitigen, hat der Gesetzgeber durch JStG 2009 in § 15a Ia EStG kurzerhand die Ausgleichs- bzw. Abzugsfähigkeit von Verlusten aufgrund nachträglicher Einlagen ausgeschlossen8. Folge ist der Ausschluss des Verlust-
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KÖSDI 2009, 16531; Ley, DStR 2009, 613; Gocke/Rogall, FS Schaumburg, 2009, 345; Prinz, StuB 2009, 129; Kahle, DStZ 2010, 720; Kahle, FR 2010, 773 (774 ff.); Dötsch, FS Spindler, 2011, 595 ff.; Kersten/Feldgen, FR 2013, 197. Vgl. auch R. 15a Abs. 2 EStR; dazu Schmidt/Wacker33, § 15a EStG Rz. 83; Blaurock/Berninger, JZ 1992, 614; Haas, DStZ 1992, 655; L. Schmidt, DStZ 1992, 702; Kahle, FR 2010, 773 (774). Zum Verbot der Verrechnung von Sonderbilanzgewinnen mit Verlustanteilen („Saldierungsverbot“) s. insb. Kreile, FS Ritter, 1997, 167 (179 f.); Pyszka, BB 1997, 2153; Theisen, DStR 1998, 1896. I.E. hierzu Ley, DStR 2004, 1498; Ley, KÖSDI 2005, 14486. BFH v. 23.7.2002 – VIII R 36/01, BStBl. 2002, 858; hierzu Kuck, DStR 2003, 235; Groh, FS L. Schmidt, 1993, 439. Dabei läuft § 15a I 2 EStG mangels im Handelsregister eingetragener Hafteinlage bei der stillen Gesellschaft leer (BFH v. 11.3.2003 – VIII R 33/01, BStBl. 2003, 705 [706]). Zur Anwendung des § 15a EStG bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung Spindler, FR 1997, 147; zur Problematik der Reichweite der Verweisung s. jüngst BFH v. 2.9.2014 – IX R 52/13, DStR 2015, 160. Dazu Söffing, DStZ 2008, 175. Nach BVerfG, Beil. zu BFH/NV 4/2007, 235, verfassungsrechtlich unbedenklich; krit. dagegen Watrin/Sievert/Nußmann, BB 2004, 1529; Wilke, INF 2004, 69. Weiterentwickelt in BFH v. 26.6.2007 – IV R 28/06, BStBl. 2007, 934; 2008, 118; dazu Brandenberg, DB 2004, 1632 (1634 ff.); Claudy/Steger, DStR 2004, 1504; Ley, KÖSDI 2004, 14374; Pickhardt-Poremba, StuB 2004, 366; Wacker, DB 2004, 11; Hempe/Siebels/Obermaier, DB 2004, 1460; Grützner, StuB 2004, 577; Kempermann, DStR 2004, 1515; Niehus/Wilke, FR 2004, 677; Rogall, BB 2004, 1819; Strotmeier, NWB 2004 Fach 3, 13023; Steger, DB 2006, 2086. Kritik Wendt, Stbg. 2009, 1 (4); Wacker, DStR 2009, 403; Kempermann, DStR 2008, 1917 (1920); Kempermann, NZG 2009, 321; Grützner, StuB 2009, 251.
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Hennrichs
Arten der Mitunternehmerschaft
Rz. 80
§ 10
ausgleichs trotz wirtschaftlicher Belastung. Mit dem Vereinfachungsinteresse ist dies u.E. nicht zu rechtfertigen.
Außer durch § 15a EStG bekämpft der Gesetzgeber Verlustzuweisungsgesellschaften durch §§ 15b; 13 VII; 18 IV 2; 20 VII; 21 I 2; 22 Nr. 1 Satz 1 Hs. 2 EStG (s. § 8 Rz. 66) und § 15 IV 6–8 EStG, der die Verlustverrechnung aus stillen Beteiligungen an einer Kapitalgesellschaft einschränkt1. § 15b EStG schränkt die Nutzung von Verlusten im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen („modellhaften Gestaltungen“) ein, wenn dem Stpfl. aufgrund eines vorgefertigten Konzepts die Möglichkeit geboten werden soll, zumindest in der Anfangsphase der Investition Verluste mit übrigen Einkünften zu verrechnen (§ 15b II 2 EStG). Dabei ist der Begriff der Verlustzuweisungsgesellschaft wenig trennscharf2. Sowohl § 15a EStG als auch § 15b EStG setzen Gewinnerzielungsabsicht auf Gesellschafts- wie auch auf Gesellschafterebene voraus (s. Rz. 20 ff., 41 f.). Insb. ist § 15 II 2 EStG zu beachten. Andernfalls kommt es von vornherein nicht zur Zurechnung von Verlusten. Soweit § 15a EStG den allg. Rechtsgedanken formuliert, dass Verluste einkommensteuerrechtlich nur insoweit geltend gemacht werden können, als sie gegenwärtig zu einer wirtschaftlichen Belastung führen, ist die Vorschrift Ausdruck des Prinzips der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Dies rechtfertigt die Anwendung auch auf normale Kommanditgesellschaften3. Kritikwürdig ist jedoch die wenig konsequente Umsetzung dieses Regelungszwecks4. § 15b EStG, der § 15a EStG verdrängt (§ 15b I 3 EStG), geht weiter, indem unabhängig von der Verlusthaftung Steuerstundungseffekte durch das Vorziehen von Aufwand verhindert werden (vgl. § 8 Rz. 66).
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i) Die Familienpersonengesellschaft5 ist geeignet, faktisch ein Familien-Realsplitting (s. § 8 Rz. 103 f.) herzustellen. Deshalb begegnen ihr Rspr. und Steuerverwaltung mit besonderem Misstrauen. Es gelten die allgemeinen Kriterien für die steuerliche Anerkennung von Verträgen zwischen Familienangehörigen (§ 8 Rz. 164 ff.). So muss zunächst der Gesellschaftsvertrag zivilrechtlich wirksam geschlossen sein. Die zivilrechtliche Wirksamkeit des Gesellschaftsvertrags gilt als Indiz für die Ernsthaftigkeit des Gesellschaftsverhältnisses. Bei dem Abschluss des Gesellschaftsvertrags mit Minderjährigen ist insb. darauf zu achten, dass nach § 1822 Nr. 3 BGB die familiengerichtliche Genehmigung erteilt und nach § 1909 BGB ein Ergänzungspfleger (BFH v. 27.4.2005 – II R 52/02, BStBl. 2005, 892) bestellt ist.
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Ist der Gesellschaftsvertrag wirksam zustande gekommen, so kann die steuerliche Anerkennung der Mitunternehmerschaft daran scheitern, dass die Ausgestaltung des Gesellschaftsverhältnisses
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1 Eingeführt im Zusammenhang mit der Abschaffung der Mehrmütterorganschaft durch StVergAbG v. 16.5.2003 (BGBl. I 2003, 660); geändert durch Gesetz v. 16.12.2003 (BGBl. I 2003, 2840); ernstliche Zweifel bzgl. der Anwendung auf Altverluste BFH v. 3.2.2005 – BStBl. 2005, 351; ferner krit. Schulze zur Wiesche, BB 2003, 713; Wagner, INF 2003, 618; Groh, DB 2004, 668 (672). 2 Während der BFH (Beschluss v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. 1984, 751 [770]; Urt. v. 21.6.2011 – IX R 2/96, BStBl. 2001, 789 [793]) eine Verlustzuweisungsgesellschaft annimmt, wenn der Gesellschaft die Einkünfteerzielungsabsicht fehlt, setzen §§ 15a; 15b EStG diese gerade voraus. Dabei ist die Begrifflichkeit des BFH irreführend, da eine Personengesellschaft ohne Einkünfteerzielungsabsicht zur Verlustzuweisung von vornherein ungeeignet ist; s. hierzu Kohlhaas, FR 1999, 504 (512); Kohlhaas, FR 2003, 598 (599); Seer/Schneider, BB 1999, 872. Zur Vermutung fehlender Gewinnerzielungsabsicht bei Verlustzuweisungsgesellschaften BFH BStBl. 1996, 219; 2000, 676; Loritz, BB 1997, 1281; Kohlhaas, BB 1998, 399; Kohlhaas, FR 1999, 1038. 3 Blümich/Heuermann, § 15a EStG Rz. 18 (2012); a.A. 17. Aufl., § 9 Rz. 522. 4 Nach BFH v. 14.12.1999 – IX R 7/95, BStBl. 2000, 265; v. 14.10.2003 – VIII R 81/02, BStBl. 2004, 118 (120), begegnet § 15a I 2 EStG gleichwohl keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. 5 Dazu Schütte, Die Familiengesellschaft im Einkommensteuerrecht, Diss., 1986 (rechtsvergleichende Untersuchung); Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 505 ff.; Kußmaul, StbKongrRep. 1995, 205; Schmid, DStZ 1995, 205 (KG); Bordewin, DB 1996, 1359; Meyer-Koppitz, DStZ 1996, 265 (KG); Kleine-Rosenstein, StuB 1999, 912 (Voraussetzungen der steuerlichen Anerkennung); Kleine-Rosenstein, StuB 1999, 1027 (Gewinnverteilung); Kleine-Rosenstein, StuB 1999, 1310 (Sonderformen); Carlé/Halm, KÖSDI 2000, 12383; Seifert, Auswirkungen der Unternehmenssteuerreform auf Familienpersonengesellschaften, Diss., 2002; Ritzrow, StBp. 2003, 140 u. 173; Hohaus/Eickmann, BB 2004, 1707 (vermögensverwaltende Familien-KG); Blümich/Bode, § 15 EStG Rz. 371–440 (2011).
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§ 10
Rz. 81
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
dem sog. Fremdvergleich nicht standhält. Die Rspr. zum Kind-Kommanditisten neigt dazu, die Familienpersonengesellschaft zu diskriminieren, indem sie den Angehörigen die Gestaltung dispositiven Gesellschaftsrechts weitgehend versagt und ihnen ein bestimmtes Gesellschafterbild vorschreibt1. Das handelsgesetzliche Regelungsstatut des Kommanditisten wird vor allem bei der schenkweisen Aufnahme eines Angehörigen in die Gesellschaft zum Maßstab2. Der Gesellschaftsvertrag muss auch tatsächlich durchgeführt werden; dabei bedarf es keines Dauerpflegers3. 81
Schließlich prüfen Rspr. und Verwaltung (R 15.9 III 1 EStR) auch bei Anerkennung der Familiengesellschaft als solcher, ob die Gewinnverteilung steuerlich zu übernehmen ist. Dabei begrenzt die Rspr.4 bei schenkweise begründeten Kommanditanteilen minderjähriger Kinder die anzuerkennende durchschnittliche Rendite auf nicht mehr als 15 % des gemeinen Werts der Beteiligung. Darüber hinausgehende Beträge werden als unangemessen beurteilt und dem Elternteil als Komplementär zugewiesen. Die 15 %-Grenze wird im Schrifttum5 zu Recht abgelehnt. Einstweilen frei.
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6. Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern Literatur (bis 2003 s. 21. Aufl.): Drüen, Die Bilanzen der Personengesellschaft, SteuerStud 2005, 199; Jachmann, Sondervergütungen i.S.v. § 15 I 1 Nr. 2 EStG für Leistungen im Dienste der Gesellschaft, DStR 2005, 2019; Schoor, Aufstellung und Fortentwicklung von Ergänzungsbilanzen, StBp. 2006, 212 u. 255; Söffing, Für die Anwendung der Subsidiaritätsthese in Fällen der Bilanzierungskonkurrenz, DB 2007, 1994; Hüttemann, Gewinnermittlung bei Personengesellschaften, in Dötsch/Herlinghaus/ Hüttemann/Lüdicke/Schön (Hrsg.), Die Personengesellschaft im Steuerrecht – Gedächtnissymposion für Brigitte Knobbe-Keuk, 2011, 39; Hüttemann, Einkünfteermittlung bei Gesellschaften, in DStJG 34 (2011), 291; Kahle, Die Steuerbilanz der Personengesellschaft, DStZ 2012, 61; Kahle, Die Sonderbilanz bei der Personengesellschaft, FR 2012, 109; Kortendick, § 6b EStG bei ein- und mehrstöckigen Mitunternehmerschaften, Ubg. 2013, 425; Dreßler, Betriebsaufspaltung: Keine Abfärbewirkung auf transparente Gesellschaften, DStR 2013, 1818; Reiß, § 177 – Personengesellschaften, in FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, 1925; Kahle, Besonderheiten der steuerlichen Gewinnermittlung bei Personengesellschaften, in Prinz/Kanzler (Hrsg.), NWB Praxishdb. Bilanzsteuerrecht2, 2014, Rz. 1340 ff.; Dornheim, DStR 2014, 14.
6.1 Zweistufige Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern 100
a) Rechtsgrundlagen der Ermittlung von Mitunternehmereinkünften sind die allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften der §§ 4 ff. i.V.m. § 15 I 1 Nr. 2 EStG. Die §§ 4 ff. EStG sind insofern lückenhaft verfasst, als sie auf die Gewinnermittlung einzelner natürlicher Personen zugeschnitten sind. Daher werden die §§ 4 ff. EStG durch § 15 I 1 Nr. 2 EStG spezifiziert. Diese Vorschrift bestimmt zwei Komponenten der Mitunternehmereinkünfte, erstens den Gewinnanteil, d.i. der Anteil am Gewinn der Gesellschaft, also der von der Gesellschaft erwirtschaftete Teil der Mitunternehmereinkünfte6, und zweitens Sondervergütungen, das sind auf der Gesellschafterebene erwirtschaftete Bezüge des Mitunternehmers. Sie beruhen auf besonderen, neben dem Gesellschaftsvertrag bestehenden vertraglichen Beziehungen zwischen Gesellschaft und 1 Vgl. dazu die Kritik von Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 510 ff. 2 Dazu m.w.N. BFH v. 7.11.2000 – VIII R 16/97, BStBl. 2001, 186 (188); Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 750 ff. 3 BFH v. 22.7.1980 – VIII R 114/78, BStBl. 1981, 101. 4 BFH v. 29.9.1972 – GrS 4/71, BStBl. 1973, 5; BFH v. 13.3.1980 – IV R 59/76, BStBl. 1980, 437; v. 24.7. 1986 – IV R 103/83, BStBl. 1987, 54 (56); anders BFH v. 9.10.2001 – VIII R 77/98, BStBl. 2002, 460, für schenkweise Unterbeteiligung an KG-Anteil. 5 HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 171; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 513 ff.; Kleine-Rosenstein, StuB 1999, 1027; differenzierend Blümich/Bode, § 15 EStG Rz. 412. 6 Dazu instruktiv Kahle, DStZ 2012, 61 ff.
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Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 103
§ 10
Gesellschafter1. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG nennt beispielhaft Vergütungen für Tätigkeiten des Gesellschafters im Dienst der Gesellschaft, für Darlehen und die sonstige Überlassung von Wirtschaftsgütern. Während die gewerbliche Mitunternehmerschaft als Handelsgesellschaft zu bilanzieren hat (§ 140 AO i.V.m. §§ 238 ff. HGB), besteht für die freiberufliche Mitunternehmerschaft ein Wahlrecht zur Gewinnermittlung durch Überschussrechnung nach Maßgabe des § 4 III EStG (s. § 9 Rz. 7, 550). Das Wahlrecht besteht auf Ebene der Mitunternehmerschaft, die als solche Subjekt der Einkünfteerzielung und Gewinnermittlung ist (Rz. 12, 14, 82 ff.). Die Gewinnermittlung erfolgt also einheitlich nach der von der Gesellschaft angewendeten Gewinnermittlungsmethode. Bilanziert die Gesellschaft freiwillig, kommt eine isolierte 4-III-Rechnung allein auf Gesellschafterebene nicht in Betracht (Rz. 115). Im Fall einer Überschussrechnung nach § 4 III EStG gilt der Grundsatz der Gesamtgewinngleichheit (s. § 9 Rz. 552). Der Gewinn einer land- und forstwirtschaftlichen Mitunternehmerschaft kann auch nach Durchschnittssätzen (§ 13a III-VI EStG) ermittelt werden.
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Vermögensverwaltende Personengesellschaften (s. Rz. 25) haben den Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten (§§ 2 II Nr. 2; 8–9a EStG) zu ermitteln. Sind an einer vermögensverwaltenden Personengesellschaft auch Gesellschafter beteiligt, welche die Beteiligung im Betriebsvermögen halten, entsteht eine sog. Zebragesellschaft (s. Rz. 47). Verfahrensrechtlich sind dabei nach zutreffender Auffassung des GrS (BFH BStBl. 2005, 679) im Grundlagenbescheid zunächst die Einkünfte sämtlicher Gesellschafter als Überschusseinkünfte zu ermitteln2. Die Umqualifizierung vollzieht sich erst im Einkommensteuerbescheid (Folgebescheid) des gewerblich beteiligten Gesellschafters. Zuständig ist das für die persönliche Besteuerung des Gesellschafters zuständige (Wohnsitz-)FA. Die Umqualifizierung sowie die Ermittlung der Höhe der gewerblichen Einkünfte durch das Wohnsitzfinanzamt ist nicht nur praktikabler als die zuvor von Teilen der Rspr.3 favorisierte sog. Ping-Pong-Lösung, sondern entspricht auch insofern § 180 I Nr. 2a AO, als die zur Umqualifizierung führenden persönlichen Verhältnisse anders als Vorgänge im Sonderbereich nicht in Zusammenhang mit der Beteiligung stehen4.
102
b) Der Sondervergütungstatbestand hat zunächst Qualifikationsfunktion: § 15 I 1 Nr. 2 EStG will nämlich mit Blick auf die Gewerbesteuer die Schmälerung gewerblicher Einkünfte verhindern, indem die Vergütungen als Betriebsausgaben der Gesellschaft abgezogen und sodann beim Gesellschafter als nichtgewerbliche Bezüge aus selbständiger/nichtselbständiger Arbeit oder Vermögensverwaltung besteuert werden5. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG gewährleistet, dass die Summe der gewerblichen Einkünfte aus der Mitunternehmerschaft (s. auch Rz. 108) unberührt bleibt; die Sondervergütungen reduzieren zwar den Steuerbilanzgewinn der Gesellschaft, sind aber gleichzeitig beim empfangenden Mitunternehmer als gewerbliche Sonderbetriebseinnahmen anzusetzen. Dieser Qualifikationszweck des Sondervergütungstatbestands unterscheidet die Besteuerung des Mitunternehmers grundl. von der Besteuerung der Kapitalgesellschaft, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Verträge zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern nach dem sog. Trennungsprinzip prinzipiell auch steuerlich respektiert werden (s. § 11 Rz. 1), und bringt die Gleichstellung mit dem Einzelunternehmer, für den die Möglichkeit, sich selbst auf schuldvertraglicher Basis Leistungsvergütungen zu zahlen, naturgemäß nicht besteht, weil Verträge immer mindestens zwei Parteien voraussetzen und niemand einen Vertrag „mit sich selbst“ schließen kann6. Die Vorschrift bewirkt ferner i.Erg., dass es für die Besteuerung des Mitunternehmers keinen Unterschied macht, ob er Vergütungen auf schuld-
103
1 BFH v. 30.9.2003 – III R 5/00, BStBl. 2003, 947 (948); 2008, 428 (Abgrenzung zu Entnahmen); Althoff/Engelsing, SteuerStud 1999, 302; Grützner, StuB 2000, 498; Schiffers, GmbHStB 2004, 334; Kahle, DStZ 2012, 62 (70 f.); Kahle, FR 2012, 109 (114 f.). 2 So schon zuvor BMF BStBl. I 1994, 282; zum Beschluss des GrS Dürrschmidt/Friedrich-Vache, DStR 2005, 1515; P. Fischer, NWB 2005 Fach 2, 8813; Marchal, DStZ 2005, 861; Zähle, Stbg. 2005, 456; Bilsdorfer, SteuerStud 2006, 29; Schlagheck, StuB 2007, 730; krit. Lüdicke, DB 2005, 1813. 3 BFH v. 18.5.1995 – IV R 125/92, BStBl. 1996, 5 (8); v. 11.7.1996 – IV R 103/94, BStBl. 1997, 39; v. 10.12.1998 – BStBl. 1999, 390 (398); v. 11.12.1997 – III R 14/96, BStBl. 1999, 401; BFH v. 13.12.1999 – III B 15/99, BFH/NV 2000, 827; einschränkend BFH v. 26.4.2001 – IV R 14/00, BStBl. 2001, 798. 4 Dazu Kunz, Stbg. 2003, 149; Zähle, DStR 2003, 1328. 5 Zur Gesetzgebungsgeschichte: Begr. zum EStG 1934, RStBl. 1935, 9 (42); BFH v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. 1991, 691 (697 f.); H.W. Kruse, DStJG 2 (1979), 37 (47 ff.). 6 Krit. zum Sondervergütungstatbestand und Sonderbetriebsvermögen Prinz, FR 2010, 736 (742 f.).
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§ 10
Rz. 104
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
rechtlicher oder auf gesellschaftsrechtlicher Basis (als Gewinnvorab) erhält. Vergütungen auf schuldvertraglicher Grundlage (z.B. ein Geschäftsführergehalt) mindern zwar auf der ersten Stufe den Gesellschaftsgewinn, sind aber beim empfangenden Mitunternehmer auf der zweiten Stufe als gewerbliche Sonderbetriebseinnahmen anzusetzen, so dass die Vergütung die Summe der gewerblichen Einkünfte aus der Mitunternehmerschaft nicht berührt (s.o.). Das steuerliche Ergebnis ist daher das Gleiche wie bei einem Gewinnvorab, das schon nicht den Gewinn der ersten Stufe mindert1. Daher wird der Vorschrift des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG auch eine Vereinfachungsfunktion zugeschrieben; die streitträchtige Abgrenzung zwischen gesellschafts- und schuldrechtlichen Vergütungen mit der hieraus entwickelten Kasuistik der verdeckten Gewinnausschüttung bei Kapitalgesellschaften (§ 11 Rz. 70 ff.) könne bei Personengesellschaften entfallen. Schließlich hat der Sondervergütungstatbestand Ermittlungsfunktion: Er erweitert die Ermittlung der Mitunternehmereinkünfte auf den außerhalb der Gesamthand erwirtschafteten Teil der Mitunternehmereinkünfte. Diesen Regelungszweck bringt der Sondervergütungstatbestand aber nur bruchstückhaft zum Ausdruck, so dass die Auffassungen darüber, wie die Mitunternehmereinkünfte zu ermitteln sind, die dem Gewinnanteil, d.h. dem Anteil am gesamthänderisch erwirtschafteten Gewinn hinzuzufügen sind, erheblich divergieren. 104
c) Aus den beiden Komponenten des § 15 I 1 Nr. 2 EStG ergibt sich folgende Zweistufigkeit der Gewinnermittlung, für die i.Ü. die §§ 4 ff. EStG anzuwenden sind (vgl. Schaubild Rz. 109).
105
aa) Auf der ersten Stufe wird der Gewinnanteil ermittelt und aus der Gesellschaftsbilanz abgeleitet. Die Gesellschaftsbilanz stellt das Gesellschaftsvermögen dar und ist nach Maßgabe des § 5 I EStG aus der Handelsbilanz der Gesellschaft abzuleiten. Ansatz- und Bewertungswahlrechte auf der Ebene der Gesellschaft (z.B. § 6 II EStG) sind grds. einheitlich auszuüben. Etwas anderes gilt nur für personenbezogene Steuervergünstigungen (sogleich und Rz. 124). Sondervorgänge (z.B. der Eintritt eines neuen Gesellschafters) oder personenbezogene Regelungen (wie z.B. Steuervergünstigungen) können dazu führen, dass die in der Gesellschaftsbilanz ausgewiesenen Wertansätze zu korrigieren sind. Dies geschieht in sog. Ergänzungsbilanzen (s. Rz. 123). Die Ergänzungsbilanz ist Teil der ersten Stufe der Gewinnermittlung (Ermittlung des Gewinnanteils). Sie weist zusammen mit der Gesellschaftsbilanz den für den einzelnen Mitunternehmer steuerlich zutreffenden Wert des Anteils am Gesamthandsvermögen aus. Die Ergänzungsbilanz ist in die Ermittlung des Gewinnanteils einzubeziehen. Mithin besteht der Gewinnanteil i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 1 EStG aus dem Anteil an dem in der Gesellschaftsbilanz ausgewiesenen Gewinn oder Verlust, der nach Satzung, gesetzlichen Vorschriften und Gewinnverteilungsbeschluss den einzelnen Gesellschaftern zugewiesen wird, sowie dem Ergebnis einer etwaigen Ergänzungsbilanz.
106
bb) Auf der zweiten Stufe ist der außerhalb der Gesamthand erwirtschaftete Gewinn des einzelnen Mitunternehmers zu ermitteln. Grundlage der Gewinnermittlung auf der zweiten Stufe ist das Sonderbetriebsvermögen (s. Rz. 131 ff.). Zum Sonderbetriebsvermögen gehören alle Wirtschaftsgüter, die der Vermögenssphäre des Gesellschafters zuzuordnen sind und die der Gesellschafter zur Erwirtschaftung seines Gewinns aus der Gesellschaft einsetzt. Das Sonderbetriebsvermögen wird in der Sonderbilanz dargestellt, die den wirtschaftlichen Erfolg der außerhalb der Gesellschaft erbrachten Leistungen des Gesellschafters erfasst. Der Sonderbilanzgewinn oder -verlust resultiert aus Sondererträgen und Sonderaufwendungen; sie werden entspr. der allgemeinen Gewinnermittlungsterminologie als Sonderbetriebseinnahmen und Sonderbetriebsausgaben bezeichnet. Sonderbetriebseinnahmen sind hauptsächlich die Sondervergütungen i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG (s. Rz. 138 ff.).
107
cc) Umstritten ist, auf welche Weise der auf der ersten Stufe ermittelte Gewinnanteil und das auf der zweiten Stufe ermittelte Sonderbilanzergebnis in dem Gesamtgewinn des Mitunter1 Kahle, DStZ 2012, 62 (70).
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Hennrichs
Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 108
§ 10
nehmers zusammenzufassen sind. Döllerer1 hat die Theorie einer konsolidierten Gesamtbilanz entwickelt, nach der der Rechnungskreis der Gesellschaft und der des Gesellschafters zu einer wirtschaftlichen Einheit zusammengefasst werden mit der Konsequenz, dass die Rechtsbeziehungen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter bilanziell nicht oder nicht vollständig erfasst werden. Dies widerspricht dem Konzept der partiellen Steuerrechtsfähigkeit der Personengesellschaft (s. Rz. 11 f.). Demgegenüber geht die von BFH v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. 1991, 6972, bestätigte Methode, Gewinnanteil und Sonderbilanzergebnis zu addieren (sog. additive Gewinnermittlung), grds. von der bilanziellen Beachtlichkeit der Rechtsbeziehungen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter aus. Indessen würde die reine Lehre von der bilanziellen Rechtssubjektivität der Personengesellschaft das Trennungsprinzip verwirklichen, das der Steuergesetzgeber der Kapitalgesellschaft vorbehalten hat (s. Rz. 10 und § 11 Rz. 1). Aus diesem Grunde praktiziert die h.M. die additive Methode mit sog. korrespondierender Bilanzierung, die einerseits die Rechtssubjektivität der Personengesellschaft respektiert, andererseits aber auch dem Erfordernis steuerschuldnerbezogener Gewinnermittlung Rechnung trägt3. Die Methode korrespondierender Bilanzierung bedeutet z.B., dass eine Pensionszusage an einen Gesellschafter zwar auf Gesellschaftsebene durch Passivierung einer Rückstellung in der Gesellschaftsbilanz zu einer Gewinnminderung führt, diese aber durch eine zeit- und betragsmäßig korrespondierende Aktivierung in der Sonderbilanz des Gesellschafters i.Erg. neutralisiert wird (s. Rz. 145; s. außerdem Rz. 144). Sie sorgt dafür, dass sich die Werte der betroffenen Bilanzen nicht überschneiden und keine Lücken der Einkünfteermittlung entstehen. Schließlich liefert die Notwendigkeit periodenidentischer Wertekorrespondenz die dogmatische Grundlage dafür, die Ermittlung des Gesamtgewinns der Mitunternehmerschaft (Gewinnanteil und korrespondierendes Sonderbilanzergebnis) einheitlich dem Betriebsvermögensvergleich nach den §§ 4 ff. EStG zu unterwerfen (s. Rz. 115).
1 Döllerer, DStZA 1974, 211; Döllerer, DStZA 1976, 435; Döllerer, JbFSt. 1978/79, 322; Döllerer, FS Flume, Bd. II, 1978, 43 ff.; Döllerer, DStZ 1980, 259; Döllerer, DStZ 1983, 179. Eine Theorie der strukturierten Gesamtbilanz hat Uelner, JbFSt. 1978/79, 311 ff.; Uelner, JbFSt. 1979/80, 338 ff.; Uelner, DStJG 14 (1991), 139 (147), entwickelt. 2 Im Anschluss an H.W. Kruse, DStJG 2 (1979), 37 (47). Vgl. auch BFH BStBl. 1981, 164 (167); 1986, 58; 1988, 883; 1999, 163 (165); 2003, 871 (874); 2008, 174. 3 Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 404; J. Lang, FS L. Schmidt, 1993, 303 f.; Reiß, StuW 1986, 245; Sieker, Eigenkapital und Fremdkapital der Personengesellschaft, Gesellschaftsrecht, Steuerrecht, Bilanzierungsfragen, Diss., 1991, 93 ff.; Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (55 f.); Kahle, DStZ 2012, 61 (65); NWB Praxishdb. BilStR/Kahle2, Rz. 1455 f.; Herbst/Stegemann, DStR 2013, 176; zu Österreich: Fritz-Schmied/Urnik, ÖStZ 2007, 146; krit. insb. Raupach, DStZ 1992, 692; List, BB 2004, 1473 (1475).; zur Anwendung der Methode der korrespondierenden Bilanzierung bei der Betriebsaufspaltung Niedersächs. FG v. 23.11.2011 – 4 K 161/10, EFG 2012, 297 (dazu Rev. unter IV R 63/11) sowie Crezelius, DB 2012, 651 (654).
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108
§ 10
Rz. 109
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
109
Das Schaubild zeigt die Gewinnermittlungsschritte bei einer OHG mit zwei Gesellschaftern, A und B. Dabei wird angenommen, dass A und B ihre Beteiligungen entgeltlich von den Altgesellschaftern C und D erworben haben und dass beide auf Grund von Dienstverträgen Geschäftsführervergütungen von der OHG beziehen. 110
Erste Stufe: A’s „Gewinnanteil“ i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 1 EStG besteht aus seinem Anteil am Gesellschaftsgewinn (wobei die Sondervergütungen an A und B den Gewinn der Gesellschaft gemindert haben) und einem Korrekturbetrag aus seiner Ergänzungsbilanz (s. Rz. 123). Falls A seine Beteiligung zu einem Preis über dem Buchwert der Beteiligung erworben hat, sind die über den Buchwert der Beteiligung hinausgehenden AK auf die Wirtschaftsgüter der OHG zu verteilen und in seiner Ergänzungsbilanz zu aktivieren. Soweit die AK auf abnutzbare Wirtschaftsgüter entfallen, kann A zusätzliche AfA beanspruchen, die als negativer Korrekturbetrag (Aufwand) seinen Gewinnanteil verringert. Hätte A die Beteiligung zum Buchwert erworben oder wäre er seit Gründung der Gesellschaft beteiligt, würde eine Ergänzungsbilanz nicht erforderlich sein, da seine AK und der Buchwert seiner Beteiligung identisch wären.
111
Zweite Stufe: Hier wird die Geschäftsführervergütung des A zusammen mit seinen anderen Sonderbetriebseinnahmen und Sonderbetriebsausgaben erfasst (s. Rz. 138 ff.). Das Ergebnis der zweiten Stufe, der Sonderbilanzgewinn (oder -verlust), bildet zusammen mit dem Gewinnanteil den Gewinn des A, d.h. die gewerblichen Einkünfte i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG, die er als Mitunternehmer der AB OHG erzielt. Die Gewinnermittlung für B erfolgt in gleicher Weise.
112
Schließlich werden die gewerblichen Einkünfte der Gesellschafter zum „Gesamtgewinn“ der AB OHG zusammengefasst, der als Ausgangsgröße für die Ermittlung des Gewerbeertrags nach § 7 GewStG dient1. Da die Gewerbesteuer erst am Gesamtgewinn der Mitunternehmerschaft und nicht schon am Gesellschaftsgewinn erster Stufe anknüpft, können A und B die Gewerbesteuer nicht durch die Vereinbarung von Geschäftsführervergütungen mindern. Die Erfassung der Sondervergütungen in den Sonderbilanzen der Gesellschafter und schließlich im Gesamtgewinn der Mitunternehmerschaft ist das bilanztechnische Mittel, um die gewerbesteuerliche Gleichbelastung von Einzelund Mitunternehmer zu erreichen. 1 Das Ergebnis der einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellung nach §§ 179 II; 180 I Nr. 2a AO hat allerdings keine Bindungswirkung für die Gewerbesteuer, da diese in einem eigenständigen Verfahren festgesetzt wird.
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Hennrichs
Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 121
§ 10
113–114
Einstweilen frei.
6.2 Buchführungspflichten Mangels gesetzlicher Regelung speziell für die Mitunternehmerschaft ist unklar, wer in welchem Umfang zur Buchführung verpflichtet ist. Die handelsrechtliche Buchführungspflicht verpflichtet allein die Personenhandelsgesellschaft als solche zur Aufstellung der Gesellschaftsbilanz. Den einzelnen Gesellschaftern obliegt dagegen handelsrechtlich keine Buchführungspflicht1. Ergänzungs- und Sonderbilanzen sind rein steuerrechtliche Bilanzen. Die Pflicht zur Aufstellung von Ergänzungs- und Sonderbilanzen kann sich daher nur aus dem Steuerrecht ergeben. Die Begründung einer steuerlichen Buchführungspflicht mit § 141 AO2 überzeugt nicht, weil diese Vorschrift die Buchführungspflicht nur bezüglich der dort niedergelegten Grenzen konstituiert, nicht jedoch den sachlichen Umfang der Buchführung im Allgemeinen erweitert. Die Erweiterung der Buchführungspflicht lässt sich aber auf § 5 I i.V.m. § 15 I 1 Nr. 2 EStG stützen: Nach dem Wortlaut des § 5 I EStG ist der Betriebsvermögensvergleich zwar nur für die Gesellschaftsbilanz angeordnet. Da jedoch eine Mischung von Betriebsvermögensvergleich (§§ 5 I; 4 I EStG) und Überschussrechnung (§ 4 III EStG) Zusammenballungs- oder Minderungseffekte bei den in § 15 I 1 Nr. 2 EStG zusammenhängend geregelten Einkünften bewirken würde, die mit dem Regelungszweck des § 15 I 1 Nr. 2 EStG nicht zu vereinbaren sind3, sind die gesamten Einkünfte i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG im Wege lückenausfüllender Anwendung des § 5 I EStG einheitlich dem Ermittlungstypus der Bilanzierung zu unterwerfen, damit insb. auch die erforderliche Wertekorrespondenz von Gesellschafts- und Gesellschaftervermögen (s. Rz. 108) verwirklicht werden kann. Anders formuliert: Auf der ersten und der zweiten Stufe der Gewinnermittlung kommt einheitlich die von der Gesellschaft angewandte Gewinnermittlungsmethode zur Anwendung4. Geschieht die Gewinnermittlung auf der Ebene der Gesellschaft durch Bilanzierung (wie regelmäßig, Rz. 121), ist auch auf der zweiten Stufe ein Betriebsvermögensvergleich vorzunehmen. Eine isolierte 4-III-Rechnung allein für die Sonderbereiche ist unzulässig5.
115
Entgegen der h.M.6 kann allerdings nicht die Gesellschaft, sondern nur der jeweils betroffene Gesellschafter bezüglich Ergänzungs- und Sonderbilanz buchführungspflichtig sein7.
116
117–119
Einstweilen frei.
6.3 Einzelheiten zur ersten Stufe der Einkünfteermittlung a) Gesellschaftsbilanz und grds. Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen GoB: Die Ermittlung des Gewinnanteils setzt zunächst voraus, dass der Gewinn der Gesellschaft ermittelt wird. Weder §§ 4 ff. EStG noch § 15 I 1 Nr. 2 EStG enthalten hierfür auf die Besonderheiten gemeinschaftlicher Einkünfteerzielung zugeschnittene Vorgaben. So sind Ergänzungsbilanzen als Richterrecht entstanden, die der Gesetzgeber aber in seinen Willen aufgenommen hat, indem er etwa in § 6 V 4 EStG oder § 24 II 1 UmwStG das Instrument der Ergänzungsbilanz voraussetzt.
120
Die Ermittlung des Gewinns der Gesellschaft, aus dem sodann der Gewinnanteil des Gesellschafters abzuleiten ist, erfolgt bei den Personenhandelsgesellschaften (zu freiberuflichen und vermögensverwaltenden Mitunternehmerschaften Rz. 101 f.) durch Bilanzierung. OHG und KG sind Handelsgesellschaften und damit Kaufleute (§ 6 HGB) und folglich gem. §§ 238 ff.
121
1 S. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 415, 442. 2 BFH v. 23.10.1990 – VIII R 142/89, BStBl. 1991, 401; v. 11.3.1992 – XI R 38/89, BStBl. 1992, 797; v. 25.1.2006 – IV R 14/04, BFH/NV 2006, 874, wo die Ausübung von Bilanzierungswahlrechten aber ausschließlich dem Mitunternehmer vorbehalten wird; dazu ausf. Ley, WPg. 2006, 904. 3 So Raupach, DStZ 1992, 697. 4 Zutreffend Kahle, DStZ 2012, 61 (64). 5 Kahle, DStZ 2012, 61 (64). 6 Vgl. BFH v. 23.10.1990 – VIII R 142/85, BStBl. 1991, 401; H 4.1 EStR; Kahle, DStZ 2012, 61 (64). 7 Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 442 f.; Schön, DStR 1993, 185 (193).
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§ 10
Rz. 122
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
HGB zur Buchführung und Bilanzierung nach den handelsrechtlichen GoB verpflichtet. Das Steuerrecht knüpft an diese Buchführungspflicht an (§ 140 AO, abgeleitete steuerliche Buchführungspflicht). Auch inhaltlich werden nach § 5 I 1 EStG grds. die handelsrechtlichen GoB maßgeblich für die Gesellschaftsbilanz (Steuerbilanz erster Stufe). Allerdings werden die handelsrechtlichen GoB vielfach durch besondere steuerliche Gewinnermittlungsvorschriften (§§ 4 ff. EStG) modifiziert. 122
Insb. für die Abgrenzung des Betriebsvermögens gelten nach h.M. die steuerrechtlichen Grundsätze (vgl. auch R 4.2 II, XI, XII EStR). In der Steuerbilanz der Gesellschaft sollen folglich nur die Wirtschaftsgüter auszuweisen sein, die nach den allgemeinen Regeln dem Betriebsvermögen zuzuordnen sind (dazu § 9 Rz. 210 ff.). Liebhabereivermögen und Teile des Gesellschaftsvermögens, die ganz überwiegend für nicht-betriebliche, private Zwecke der Gesellschafter genutzt werden (z.B. eine privat genutzte Wohnung im Betriebsgebäude), werden daher ungeachtet des Maßgeblichkeitsgrundsatzes aus der Steuerbilanz der Gesellschaft ausgeklammert1. Über jeden Zweifel erhaben ist diese Sichtweise nicht. Namentlich Knobbe-Keuk hat mit guten Gründen die Auffassung vertreten, dass das Gesellschaftsvermögen auch bei den Personengesellschaften stets Betriebsvermögen darstelle und die Personengesellschaft (ebenso wie die Kapitalgesellschaft2, s. § 9 Rz. 221) kein Privatvermögen haben könne3. Eine private Nutzung von Gesellschaftsvermögen sowie eine Nutzung zu nicht fremdüblichen Konditionen wäre danach über die Entnahme-Vorschriften auszugleichen.4 Zur Zurechnung des Gesellschaftsvermögens beim sog. Treuhandmodell s. BFH BStBl. 2010, 751, und oben Rz. 52 (nach der m.E. angreifbaren5 Auffassung des IV. Senats soll das Gesellschaftsvermögen beim Treuhandmodell dem „Ein-Unternehmer“-Treugeber zuzurechnen und dieser steuerrechtlich wie ein Einzelunternehmer zu behandeln sein, sog. Bruchteilsbetrachtung). In die Gesellschaftsbilanz gehören zwar alle, aber auch nur die Wirtschaftsgüter des Gesellschaftsvermögens. Wirtschaftsgüter, die zivilrechtlich einem Gesellschafter gehören und von diesem der Gesellschaft zur Nutzung überlassen werden, sind nach h.M. sog. Sonderbetriebsvermögen des Gesellschafters und auf der zweiten Gewinnermittlungsstufe zu erfassen (Rz. 100, 103 und näher sogleich Rz. 131 ff.).
123
b) Ergänzungsbilanzen6 sind Wertkorrekturbilanzen, um insb. im Fall des Anteilserwerbs die AK eines einzelnen Gesellschafters steuerlich zutreffend zu berücksichtigen7. Sie werden hauptsächlich erforderlich bei dem entgeltlichen Erwerb eines Mitunternehmeranteils, bei der Einbringung eines Betriebs in eine Personengesellschaft zum Buchwert gem. § 24 II UmwStG (s. Rz. 152 f.), bei der Inanspruchnahme personenbezogener Steuervergünstigungen (s. auch Rz. 124) sowie nach § 6 V EStG zur subjektbezogenen Zuordnung stiller Reserven bei der 1 BFH v. 16.3.1983 – IV R 36/79, BStBl. 1983, 459; v. 3.10.1989 – VIII R 184/85, BStBl. 1990, 319; v. 29.7.1997 – VIII R 57/94, BStBl. 1998, 652; R 4.2 XI EStR; Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (49); Kahle, DStZ 2012, 61 (67). 2 Dazu BFH v. 4.12.1996 – I R 54/96, BFHE 182, 123; v. 12.11.2004 – I R 56/03, BFHE 208, 519; BFH v. 22.8.2007 – I R 32/06, BStBl. 2007, 961; BFH v. 15.2.2012 – I B 97/11, BStBl. 2012, 697; NWB Praxishdb. BilStR/Kahle2, Rz. 1361 ff. 3 Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 415 f. 4 Zur Berücksichtigung der Nutzungsentnahme nach der 1 %-Regelung bei Vermietung von Kfz an Personengesellschaften durch ihre Gesellschafter bei der Gewinnermittlung der Gesellschaft gem. § 4 Abs. 5 Nr. 6 EStG vgl. BFH v. 18.9.2012 – VIII R 28/10, BStBl. 2013, 120. 5 Krit. namentlich Blümich/Gosch, § 5 GewStG Rz. 51 ff.; Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (46). 6 Dazu Regniet, Ergänzungsbilanzen bei der Personengesellschaft, Sonderbilanzen der Gesellschafter und Wertkorrekturen der Gesellschaftsbilanz, Diss., 1990; Uelner, DStJG 14 (1991), 139; Gschwendtner, DStR 1993, 817; Niehus, Fortführung von Ergänzungsbilanzen, StuW 2002, 116; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 460 ff.; Ritzrow, StWa 2004, 45; Glanegger, DStR 2004, 1686 (betr. persönlich haftenden KGaA-Gesellschafter); Kahle, FR 2013, 873; Schmitt/Keuthen, DStR 2013, 1565; NWB Praxishdb. BilStR/Kahle2, Rz. 1396 ff. 7 Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (52); Rödder, DB 1992, 953 (955).
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Hennrichs
Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 125
§ 10
Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern in das Gesellschaftsvermögen (s. Rz. 155 ff.). Bei dem Erwerb des Mitunternehmeranteils liegen die AK i.d.R. über dem Buchwert des Mitunternehmeranteils in der Gesellschaftsbilanz, weil im Anteilskaufpreis stille Reserven mitvergütet werden. Würde dieser Vorgang in der Gesellschaftsbilanz erfasst, käme es bei allen Gesellschaftern zu Gewinnauswirkungen. Stattdessen ist der Mehrbetrag der AK gegenüber dem in der Steuerbilanz der Gesellschaft festgehaltenen Buchwert in der Ergänzungsbilanz zu aktivieren. Dies geschieht zunächst dadurch, dass die anteiligen stillen Reserven in der Ergänzungsbilanz bis zum Teilwert der Wirtschaftsgüter, die in der Gesellschaftsbilanz aktiviert sind, durch Aufstockung auf die einzelnen Wirtschaftsgüter verteilt werden1. Reicht die Summe der Teilwerte nicht aus, so ist der verbleibende Differenzbetrag zum Kaufpreis als derivativer Firmenwert (vgl. § 246 I 4 HGB) in der Ergänzungsbilanz anzusetzen. Die Ergänzungsbilanz ist bereits während des Bestehens der Mitunternehmerschaft fortzuentwickeln. Die sich auf der Grundlage der in der Ergänzungsbilanz ausgewiesenen höheren AK ergebenden höheren Abschreibungen mindern den Anteil des Gesellschafters am Gesellschaftsgewinn. Soweit der Aufstockungsbetrag nicht durch erhöhte AfA während der Dauer der Beteiligung an der Gesellschaft verbraucht wird, mindert er als Teil der AK den Gewinn des Gesellschafters bei einer späteren Veräußerung seiner Beteiligung. Wahlrechte in der positiven Ergänzungsbilanz sollen unabhängig von der Gesellschaftsbilanz ausgeübt werden können2. Nimmt eine Gesellschaft personenbezogene Steuervergünstigungen (z.B. §§ 7d; 7h EStG) anteilig für die Gesellschafter in Anspruch, die die Voraussetzungen der Steuervergünstigung erfüllen, so geschieht dies durch eine negative Ergänzungsbilanz für die begünstigten Gesellschafter3. Dies gilt insb. für die Reinvestitionszulage nach § 6b EStG4, deren Voraussetzungen seit UntStFG v. 20.12.2001 (BGBl. I 2001, 3858)5 wieder in der Person des einzelnen Mitunternehmers verwirklicht sein müssen6. Die auf den Mitunternehmeranteil bezogene Interpretation des § 6b EStG ist u.a. relevant für die Besitzzeit i.S.d. § 6b IV 1 Nr. 2 EStG und für die Möglichkeiten der Übertragung stiller Reserven zwischen Gesellschafts- und Gesellschaftervermögen. Auch die Vornahme der degressiven AfA (s. § 7 V EStG für Gebäude) soll personenbezogen zu interpretieren sein, weil steuerlich gemäß dem Transparenzprinzip der einzelne Gesellschafter als Bauherr anzusehen sei7. Auf dem Boden der hier vertretenen Ansicht zur partiellen eigenen Steuerrechtsfähigkeit der Personengesellschaft (Rz. 5, 12, 14) ist dem nicht zu folgen. Inhaber des Gewerbebetriebs und Bauherr ist die Gesellschaft8.
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c) Die Gewinnverteilung wird zunächst durch das Gesellschaftsrecht (gesetzliche Vorschriften, Satzung, Gewinnverteilungsbeschluss) bestimmt, jedoch steuerrechtlich modifiziert. Es werden dem gesellschaftsrechtlich bestimmten Gewinnanteil die steuerlichen Mehr- und Minderergebnisse hinzugerechnet, und zwar jeweils dem Gesellschafter, dem die Steuerfolge z.B. einer Ent-
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1 Nach der vom Zivilrecht abw. Bruchteilsbetrachtung werden dabei die Werte der einzelnen Wirtschaftsgüter in der Ergänzungsbilanz aufgestockt. Die Ergänzungsbilanz stellt also nicht nur einen rein rechnerischen Korrekturposten dar (a.A. Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht14, § 6 Rz. 1154). Dazu BFH v. 18.2.1993 – IV R 40/92, BStBl. 1994, 224 ff.; Beck’sches Hdb. Personengesellschaften/Friedrich3, § 6 Rz. 76 ff.; Gschwendtner, DStR 1993, 817; HHR/Tiede, § 15 EStG Anm. 500; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 460, 463. 2 BFH v. 20.11.2014 – IV R 1/11, DStR 2015, 283. 3 Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 474. 4 BFH v. 13.8.1987 – VIII B 179/86, BStBl. 1987, 782. 5 Dazu Schneider/Salzer, SteuerStud 2006, 179; zur vorübergehenden Beseitigung der Mitunternehmerbezogenheit durch StEntlG 1999/2000/2002 und dem erneuten Konzeptionswechsel durch das UntStFG Kanzler, FR 2002, 117; Kanzler, FR 2006, 691. 6 NWB Praxishdb. BilStR/Kahle2, Rz. 1384 f.; Kahle, DStZ 2012, 61 (69). – Zur Dogmatik s. Schön, Gewinnübertragungen bei Personengesellschaften nach § 6b EStG, Diss., 1986; Selbmann, Die Übertragung stiller Reserven bei Personengesellschaften nach § 6b EStG, Diss., 2003. – Krit. zur „gesellschafterbezogenen“ Anwendung von Steuervergünstigungen aus systematischer Sicht Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (51 f.). 7 Vgl. Kahle, DStZ 2012, 61 (69). 8 Ebenso Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 418 ff.
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Rz. 126
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
nahme oder nichtabziehbaren Aufwendung (§ 4 V EStG) zuzuordnen ist1. Bei Familienpersonengesellschaften wird die Gewinnverteilung korrigiert, um unterhaltsrechtlich begründete Einkommensverwendungen auszusondern (s. Rz. 79 ff.). 126
d) Nach alledem vollzieht sich die Ermittlung des gesamthänderisch erwirtschafteten Gewinnanteils in folgenden Schritten: – Ausgangsgröße ist die aus der Handelsbilanz abgeleitete Steuerbilanz der Personengesellschaft (Steuerbilanz erster Stufe), die das Gesellschaftsvermögen ausweist. – Der in der Gesellschaftsbilanz ausgewiesene Gewinn oder Verlust ist nach Gesellschaftsrecht und Steuerrecht auf die einzelnen Gesellschafter zu verteilen (Gewinnanteil). – Schließlich ist der dem Gesellschafter zugewiesene Anteil am Gewinn oder Verlust der Gesellschaft bei erfolgswirksamer Veränderung der in der Ergänzungsbilanz ausgewiesenen Werte zu korrigieren. Das Ergebnis ist der auf der ersten Stufe zu ermittelnde Gewinnanteil i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 1 EStG (vgl. Schaubild Rz. 109).
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Einstweilen frei.
6.4 Einzelheiten zur zweiten Stufe der Einkünfteermittlung 130
a) Wie bereits ausgeführt (Rz. 108), besteht der Gesamtgewinn der Mitunternehmerschaft aus der Addition des gesamthänderisch erwirtschafteten Gewinnanteils i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 1 EStG und des in der Sonderbilanz (zweite Stufe) ausgewiesenen Gewinns oder Verlusts; dabei sind die Ansätze in Gesellschaftsbilanz und Sonderbilanz nach der bereits erwähnten (s. Rz. 108) Methode korrespondierender Bilanzierung aufeinander abzustimmen. Während die Ermittlung der Mitunternehmereinkünfte auf der ersten Stufe immerhin noch an die Handelsbilanz der Gesellschaft und an die gesellschaftsrechtliche Gewinnverteilung anknüpft, wird auf der zweiten Stufe der Boden des Zivilrechts weitgehend verlassen2. Sonderbilanz, Sonderbetriebsvermögen sowie Sonderbetriebseinnahmen und -ausgaben sowie die Methode korrespondierender Bilanzierung sind rein steuerrechtliche Kategorien, die der steuerspezifischen Bestimmung der Mitunternehmereinkünfte in § 15 I 1 Nr. 2 EStG und der Ausrichtung der Mitunternehmerbesteuerung am Einzelunternehmer dienen.
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b) Sonderbetriebsvermögen3: Als Sonderbetriebsvermögen sind in der Sonderbilanz die Wirtschaftsgüter anzusetzen, die der Vermögenssphäre des Gesellschafters zuzuordnen sind (also zivilrechtlich nicht der Gesellschaft, sondern dem Gesellschafter gehören), aber der Gesellschaft zur Nutzung überlassen und damit zur Erwirtschaftung von Einkünften i.S.v. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG eingesetzt werden. Dogmatisch ist das Institut des Sonderbetriebsvermögens nicht über jeden Zweifel erhaben4. Da es nicht die einzelnen Mitunternehmer sind, die den Gewerbe1 Zur Abweichung vom gesellschaftsvertraglichen Gewinnverteilungsschlüssel BFH/NV 2000, 29, m.w.N.; 2005, 33 (Verteilung von SonderAfA), m. Anm. Paus, DStZ 2005, 196 f.; BFH BStBl. 2005, 420. Lit. zur steuerrechtlichen Gewinnverteilung: Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 429 ff.; Rose, Zur steuerlichen Beurteilung einvernehmlicher inkongruenter Gewinnverteilungen in Personen- und Kapitalgesellschaften, FR 2002, 1; Ritzrow, Änderung der Gewinnverteilung bei Personengesellschaften, StBp. 1999, 29; Ritzrow, Gewinnverteilung bei Personengesellschaften, StuW 2005, 20; Söffing/Hallerbach, Besteuerung der Mitunternehmer5, 2005, 342 ff. 2 Vgl. dazu insb. die dogmatische Gegenposition von Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 437 ff. 3 Dazu Uelner, DStJG 14 (1991), 139 (144 ff.); Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 440 ff.; Schön, DStR 1993, 185; Kempermann, FS Flick, 1997, 445; N. Schneider, Sonderbetriebsvermögen – Rechtsgrundlage und Umfang, Diss., 2000; Ley, KÖSDI 2003, 13907; Tiedtke/Hils, DStZ 2004, 482; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 506 ff.; HHR/N. Schneider, § 15 EStG Anm. 700 ff.; Menkel, Sonderbetriebsvermögen bei der Überlassung von Wirtschaftsgütern, Diss., 2007; Sparrer, Sonderbetriebsvermögen – über die Legitimation zur Definition, Diss., 2007; Wenzel, NWB 2009, 1070; Prinz, DB 2010, 972; Prinz, JbFfSt. 2010/2011, 461; Neufang/Schmid, Stbg. 2012, 337; Wichmann, Stbg. 2012, 539; Neufang/Schmid, Stbg. 2013, 26. 4 Sehr krit. namentlich Knobbe-Keuk, StuW 1974, 1 (35); ferner zutreffend Jakob, Einkommensteuer4, 2008, Rz. 1108 Fn. 64.
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Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 133
§ 10
betrieb betreiben, sondern allein die Gesellschaft selbst die steuerbare Tätigkeit entfaltet (Rz. 5, 12, 14), führt kein Weg hin zu einem Sonder-,Betrieb’ dieses Gesellschafters; das Sonderbetriebsvermögen ist gleichsam „Betriebsvermögen ohne Gewerbebetrieb“1. Allerdings ist die Figur des Sonderbetriebsvermögen heute als Realität der Besteuerungspraxis zu akzeptieren und mittlerweile auch in § 6 V EStG gesetzlich angedeutet. Seine Grundlage findet die Figur am ehesten in einer teleologischen Auslegung der §§ 15; 16 EStG2. Erfasst werden alle Wirtschaftsgüter, die der Gesellschafter der Gesellschaft entgeltlich gegen eine Sondervergütung oder unentgeltlich zur betrieblichen Nutzung überlässt. Das Gesetz erwähnt in § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG zwar nur die Sondervergütungen. Die Betriebsvermögenseigenschaft der zur Erwirtschaftung von Sondervergütungen eingesetzten Wirtschaftsgüter folgt aber unmittelbar aus § 15 I 1 Nr. 2 EStG.3 Das Sonderbetriebsvermögen eines Gesellschafters gehört neben dem Gesamthandsvermögen für Zwecke der Zinsschranke nach § 4h EStG zum Betrieb der Mitunternehmerschaft.4 aa) Zuordnung des Wirtschaftsguts zur Vermögenssphäre des Gesellschafters: Sonderbetriebsvermögen sind zunächst alle im Alleineigentum des Gesellschafters stehenden Wirtschaftsgüter, die dem Betrieb der Personengesellschaft zu dienen bestimmt und geeignet sind. Befand sich das Wirtschaftsgut bislang im Privatvermögen des Gesellschafters, so ist es mit Beginn der Nutzung im Gewerbebetrieb der Gesellschaft in das Sonderbetriebsvermögen eingelegt (§ 6 I Nr. 5 EStG) und fortan steuerverstrickt. Damit wird der Mitunternehmer im Hinblick auf den Umfang des Betriebsvermögens dem Einzelunternehmer gleichgestellt, der betrieblich genutzte Wirtschaftsgüter grds. nicht als Privatvermögen zurückbehalten kann5. Eine Gleichbehandlung mit Kapitalgesellschaften und ihren Anteilseignern ist wegen des Dualismus der Unternehmensbesteuerung allerdings nicht gegeben (Rz. 1 ff.)6
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Überlässt ein Mitunternehmer der Personengesellschaft immaterielle Wirtschaftsgüter zur Nutzung, so sind sie in seiner Sonderbilanz zu aktivieren; § 5 II EStG steht nicht entgegen, weil das fragliche Wirtschaftsgut in das Sonderbetriebsvermögen eingelegt wird (s.o.) und die Vorschriften über die Einlage dem § 5 II EStG vorgehen7. Die Rspr. bezieht in das Sonderbetriebsvermögen aber auch zum Eigenbetrieb des Gesellschafters gehörende Wirtschaftsgüter ein, wenn diese der Gesellschaft zur Nutzung überlassen werden. Demnach soll in den Fällen der Bilanzierungskonkurrenz8 zwischen Eigenbetriebsvermögen (§ 15 I 1 Nr. 1 EStG) und Sonderbetriebsvermögen (§ 15 I 1 Nr. 2 EStG) Letzteres den Vorrang haben9. Dem ist nicht zu folgen10. Vielmehr ist § 15 I 1 Nr. 2 EStG entspr. seinem 1 Schön, DStR 1993, 185 (193); Hüttemann, DStJG 34 (2011), 297, (325); a.A. Reiß, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 177 Rz. 13. 2 Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (54); Schön, DStR 1993, 185 ff. 3 Zu Leistungen zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern bei vermögensverwaltenden Personengesellschaften, s. Reiß, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 177 Rz. 15. BFH v. 17.12.2008 – XI R 25/08, BFH/NV 2009, 748; v. 25.5.2011 – IX R 22/10, BFH/NV 2012, 14 (Finanzierungsaufwand für Beteiligung an Immobilienfonds). 4 BMF BStBl. I 2008, 718 Rz. 6; Schmidt/Loschelder33, § 4h EStG Rz.8; zur Ermittlung des steuerlichen EBITDA bei mehrstöckigen Personengesellschaften FG Köln v. 19.12.2013 – 10 K 1916/12, EFG 2013, 421 (dazu Rev. unter IV R 4/14) entgegen BMF BStBl. I 2008 Rz. 42. 5 BFH v. 3.5.1993 – GrS 3/92, BStBl. 1993, 616 (622). 6 Reiß, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 177 Rz. 14. 7 Kahle, FR 2012, 109 (112 f.), m.w.N. 8 Vgl. dazu insb. Bordewin, DStZ 1997, 98; Bürkle/Knebel, DStR 1998, 1067; Reiß, DStR 1998, 1887; N. Schneider, Sonderbetriebsvermögen – Rechtsgrundlage und Umfang, Diss., 2000, 54 f.; Hiller, StWa 2003, 215; M. Klein, NWB 2003 Fach 17, 1727; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 534 ff.; Rättke, StuB 2006, 22; Söffing, DB 2007, 1994; Kahle, FR 2012, 109 (115 f.). 9 BFH v. 27.8.1997 – XI R 72/96, BStBl. 1979, 750 (753 f.); v. 18.5.1983 – I R 5/82, BStBl. 1983, 771 (773); v. 6.10.1987 – VIII R 137/81, 1988, 679 (680); v. 28.10.1999 – VIII R 41/98, BStBl. 2000, 339 (340); v. 18.8.2005 – IV R 59/04, BStBl. 2005, 830 (832). 10 Wie hier und grundl. Knobbe-Keuk, StuW 1979, 30 f.; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 448 ff.; im Weiteren Bordewin, DStR 1997, 98; Döllerer, DStZ/A 1974, 211 (216, 218); Groh, DStZ 1996, 673 (675 f.); Hallerbach, Die Personengesellschaft im Einkommensteuerrecht, Diss., 1999, S. 167 ff., 169; Neu, DStR 1996, 1757 (1759); L. Schmidt, FS Haas, 1996, 321 (331); Söffing, DB 2007,
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Rz. 134
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
Wortlaut und Gesetzeszweck allein eine Qualifikationsnorm, keine Zuordnungsvorschrift. Auch teleologisch ist eine ausdehnende Interpretation im Sinne einer Zuordnungsnorm nicht gerechtfertigt. Nach Aufgabe der Bilanzbündeltheorie (Rz. 11) und vor dem Hintergrund einer auch steuerlich grds. anzuerkennenden Trennung der Gesellschaftssphäre von der Sphäre des Gesellschafters (Personengesellschaft als „Steuerrechtssubjekt bei der Feststellung der Einkunftsart und der Einkünfteermittlung“ [Rz. 5, 12, 14]) spricht alles dafür, dem Eigenbetrieb des Gesellschafters den Vorrang einzuräumen1. Die abweichende Zuordnung zum Sonderbetrieb ist ein Rückfall in altes Bilanzbündeldenken. Sinn und Zweck des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG ist es, zu verhindern, dass Leistungen missbräuchlich den gewerblichen Einkünften entzogen werden. Dieses Risiko besteht aber bei ohnehin dem Betriebsvermögen zugerechneten Wirtschaftsgütern nicht, so dass es einer Zurechnung zum Sonderbetriebsvermögen hier zur Verwirklichung des Telos der Norm nicht bedarf (sog. Subsidiaritätstheorie). 134
In den Fällen der doppelstöckigen Personengesellschaft (s. auch Rz. 143) erfolgt die Zurechnung der vermieteten Wirtschaftsgüter nach h.M. folgerichtig zum Sonderbetriebsvermögen bei der nutzenden Untergesellschaft2. Dies resultiert aus der Gleichstellung von mittelbar und unmittelbar beteiligten Gesellschaftern gem. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 2 EStG.
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Die Frage der Zuordnung von Wirtschaftsgütern bei Bilanzierungskonkurrenz stellt sich nicht nur im Fall von vertikalen Nutzungsüberlassungen (vom Gesellschafter an die Gesellschaft, Rz. 133, oder im Fall einer doppelstöckigen Personengesellschaft, mittelbare vertikale Ebene, Rz. 134), sondern auch im Fall der Überlassung von Wirtschaftsgütern zwischen Schwesterpersonengesellschaften3 (horizontale Richtung), d.h. Personengesellschaften mit ganz oder teilweise identischem Gesellschafterkreis. Sind beide Schwesterpersonengesellschaften gewerblich tätig (oder gewerblich geprägt), werden die Wirtschaftsgüter (abweichend von Rz. 133 f.) dem (Eigen-)Betriebsvermögen der vermietenden Gesellschaft zugerechnet4. Ebenso entscheidet die Rspr. bei der mitunternehmerischen Betriebsaufspaltung (s. hierzu § 13 Rz. 80).5 Nur bei Vermietung durch eine nicht gewerbliche Schwestergesellschaft werden die Wirtschaftsgüter dem Sonderbetriebsvermögen der mietenden Gesellschaft zugeordnet.
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Die Ungleichbehandlung der Fälle (Vorrang des Sonderbetriebsvermögens bei unmittelbarer oder mittelbarer vertikaler Nutzungsüberlassung, Rz. 133 f.; Vorrang des Eigenbetriebsvermögens bei horizontaler Nutzungsüberlassung, Rz. 135) lässt sich konstruktiv zwar unter Hinweis auf den Wortlaut des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG begründen. Denn bei Nutzungsüberlassung von einer Schwestergesell-
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1994; HHR/Tiede, § 15 EStG Anm. 531; Woerner, DStZ/A 1977, 299 (308); dagegen Kempermann, FS Flick, 1997, 445 (449 f.); Pinkernell, Einkünftezurechnung, Diss., 2001, 200 f. Gegen die Verallgemeinerung der Subsidiaritätstheorie BFH BStBl. 2000, 399 (402); 2001, 316 (319). Zutreffend Knobbe-Keuk, StuW 1979, 30 (31), m.w.N. und unter Hinweis darauf, dass das Schrifttum nach Aufgabe der Bilanzbündeltheorie von dieser Subsidiaritätsthese auch beinahe allgemein „als selbstverständlich“ ausgegangen ist; Knobbe-Keuk, DStR 1980, 423 (426). BFH v. 24.3.1999 – I R 144/97, BStBl. 2000, 399 (402); v. 7.12.2000 – III R 35/98, BStBl. 2001, 316 (319 f.). Lit.: Groh, DStZ 1996, 673; Brandenberg, FR 1997, 87; Brandenberg, DB 1998, 2488; Meyer/Ball, FR 1998, 1075; Söffing, BB 1998, 1973; Strahl, KÖSDI 1998, 11533; Kroschel/Wellisch, DStZ 1999, 167; Neu, INF 1999, 492 u. 522; Poll, DStR 1999, 477; Pott/Rasche, DStZ 1999, 127; Kloster/Kloster, GmbHR 2000, 111; N. Schneider, Sonderbetriebsvermögen – Rechtsgrundlage und Umfang, Diss., 2000, 216 ff.; Werner, Einkommensteuerrechtliche Zurechnungen bei mittelbaren Beteiligungen an Personengesellschaften, Diss., 2003, 89 ff.; Korn, KÖSDI 2007, 15711. BFH v. 16.6.1994 – IV R 48/92, BStBl. 1996, 82; v. 22.11.1994 – VIII R 63/93, BStBl. 1996, 93; 23.4. 1996 – VIII R 13/95, BStBl. 1998, 325 (326); v. 26.11.1996 – VIII R 42/94, BStBl. 1998, 328 (atypisch stille Gesellschaft); v. 24.11.1998 – VIII R 61/97, BStBl. 1999, 483; v. 9.10.2008 – IX R 72/07, BStBl. 2009, 231; NWB Praxishdb. BilStR/Kahle2, Rz. 1538 f. BFH v. 6.10.1987 – VIII R 137/84, BStBl. 1988, 679; v. 18.8.2005 – IV R 59/04, BStBl. 2005, 830; v. 30.8.2007 – IV R 50/05, BStBl. 2008, 129; v. 10.5.2012 – IV R 34/09, BStBl. 2013, 471. – Nach BFH v. 22.9.2011 – IV R 33/08, BStBl. 2012, 10 und BMF v. 18.2.2013, BStBl. I 2013, 197 hat für Zwecke des § 4 IVa EStG eine geänderte betriebsvermögensmäßige Zuordnung eines Wirtschaftsguts des Anlagevermögens während des Bestehens einer mitunternehmerischen Betriebsaufspaltung weder eine Entnahme beim abgebenden Betrieb noch eine Einlage beim aufnehmenden Betrieb zur Folge, wenn der Vorgang zu Buchwerten erfolgt (betriebsbezogene Auslegung des § 4 IVa EStG).
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Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 137
§ 10
schaft an eine andere Schwestergesellschaft handelt es sich um Vermögen der Gesellschaft und nicht des Gesellschafters, so dass § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG dem Wortlaut nach nicht einschlägig ist1. Materiell und unter dem Aspekt der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bleibt aber dennoch ein gehöriges Unbehagen, denn bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise liegen die verschiedenen Fälle doch sehr nah beieinander. Was der materielle (Gerechtigkeits-)Grund sein soll, die Nutzungsüberlassung zwischen Schwesterpersonengesellschaften steuerrechtlich ganz anders zu behandeln als die vom Gesellschafter an die Gesellschaft, bleibt offen2. Die von der Rspr. befürwortete Differenzierung beeinträchtigt außerdem die Finanzierungsfreiheit. Denn es entstehen steuerlich induzierte Anreize zur Änderung der relevanten Finanzierungsstruktur im Konzern (bspw. durch Einschaltung einer Schwestergesellschaft als Zahlstelle für einen Cashpool statt der Muttergesellschaft). Das Steuerrecht sollte aber entscheidungs- und vor allem finanzierungsneutral wirken, also die Wahl zwischen verschiedenen Finanzierungsalternativen nicht verzerren.
bb) Betriebsvermögenseigenschaft des Wirtschaftsguts: Die Rspr. knüpft zunächst an die allgemeine Betriebsvermögensterminologie (s. § 9 Rz. 210 ff.) an; dabei kann der Gesellschafter auch gewillkürtes Sonderbetriebsvermögen bilden3. Sodann unterscheidet die st. Rspr. des BFH4 zwei Kategorien von Sonderbetriebsvermögen: Wirtschaftsgüter, die geeignet und objektiv erkennbar bestimmt sind, dem Betrieb der Personengesellschaft zu dienen (Sonderbetriebsvermögen I), und Wirtschaftsgüter, die der Beteiligung des Mitunternehmers zu dienen bestimmt sind (Sonderbetriebsvermögen II). Maßgeblich ist der Veranlassungszusammenhang5. Der BFH rechnet zum Sonderbetriebsvermögen II alle Wirtschaftsgüter, die der Mitunternehmer zur Begründung oder Stärkung seiner Beteiligung einsetzt, u.a. auch Beteiligungen an Kapitalgesellschaften mit der Folge, dass Ausschüttungen als Sonderbetriebseinnahmen zu behandeln sind6. Typischer Fall in der Rspr. sind die Anteile eines Kommanditisten an der Komplementär-GmbH bei einer GmbH & Co. KG, wenn die GmbH keinen wesentlichen eigenen Geschäftsbetrieb führt, sondern allein mit der Geschäftsführung der KG beauftragt ist. Über die Einflussnahme auf die GmbH könne der Kommanditist dann indirekt auch die KG beeinflussen, so dass die Anteile an der GmbH seine Beteiligung an der KG zumindest stärken7. 1 Hey in 20. Aufl., § 18 Rz. 70; Märkle, DStZ 1997, 233 (248). 2 Ebenso L. Schmidt, FS Haas, 1996, 321 (331); ferner Neu, DStR 1996, 1757 (1759); mit Recht krit. auch Groh, DStZ 1996, 673 (675); Pinkernell, Einkünftezurechnung, Diss., 2001, 202; Lademann/Richter/Markl, § 15 EStG Rz. 578; HHR/Tiede, § 15 EStG Anm. 532. 3 S. BFH v. 23.7.1975 – I R 210/73, BStBl. 1976, 180; v. 21.10.1976 – IV R 71/73, BStBl. 1977, 150; v. 5.12.1979 – I R 184/76, BStBl. 1980, 119; v. 23.10.1990 – VIII R 142/89, BStBl. 1991, 401; v. 7.4.1992 – VIII R 86/87, BStBl. 1993, 21; v. 7.7.1992 – VIII R 2/87, BStBl. 1993, 328 (330 f.); v. 5.9.2012 – X B 129/11, BFH/NV 2013, 37; Beck’sches Hdb. Personengesellschaften/Friedrich3, § 6 Rz. 88; Schmidt/ Wacker33, § 15 EStG Rz. 527 ff.; krit. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 445 f.; Schön, DStR 1993, 185 (187). 4 BFH v. 24.9.1976 – I R 149/74, BStBl. 1977, 69; v. 5.4.1979 – IV R 48/77, BStBl. 1979, 554; v. 11.10. 1979 – IV R 123/76, BStBl. 1980, 40; v. 12.11.1985 – VIII R 286/81, BStBl. 1986, 55; v. 6.5.1986 – VIII R 160/85, BStBl. 1986, 838; v. 13.9.1988 – VIII R 236/81, BStBl. 1989, 37; v. 6.7.1989 – IV R 62/86, BStBl. 1989, 890; v. 31.10.1989 – VIII R 374/83, BStBl. 1990, 677 (678); v. 19.2.1991 – VIII R 65/89, BStBl. 1991, 789 (790); v. 7.7.1992 – VIII R 2/87, BStBl. 1993, 328 (329); v. 3.3.1998 – VIII R 66/96, BStBl. 1998, 383 (385); v. 27.6.2006 – VIII R 31/04, BStBl. 2006, 874 (876). 5 So jetzt auch für die Zuordnung von Verbindlichkeiten zum passiven Sonderbetriebsvermögen II BFH v.. 27.6.2006 – VIII R 31/04, BStBl. 2006, 874; dazu Köplin, StuB 2007, 31; Mückl, DStR 2008, 2137. 6 Zum Sonderbetriebsvermögen II u.a. BFH v. 10.11.1994 – IV R 15/93, BStBl. 1995, 452; v. 3.3.1998 – VIII R 66/96, BStBl. 1998, 383; v. 15.10.1998 – IV R 18/98, BStBl. 1999, 286; v. 28.8.2003 – IV R 46/02, BStBl. 2004, 216; v. 3.4.2008 – IV R 54/04, BStBl. 2008, 742; v. 23.2.2012 – IV R 13/08, BFH/NV 2012, 1112; Betriebsaufspaltung: BFH v. 23.9.1998 – XI R 72/97, BStBl. 1999, 281; v. 13.10.1998 – VIII R 46/95, BStBl. 1999, 357; v. 10.6.1999 – IV R 21/98, BStBl. 1999, 715; v. 25.11.2004 – IV R 7/03, BFH/NV 2005, 610; Walter/Stümper, GmbHR 2006, 1187; mittelbare Grundstücksüberlassung: BFH BStBl. 2002, 733; 2005, 578, m. Anm. Weber-Grellet, StuB 2005, 805; Schulze zur Wiesche, DStZ 2007, 602 (Beteiligungen); Kahle, FR 2012, 109 (112 f.). 7 BFH v. 15.11.1967 – IV R 139/67, BStBl. 1968, 152; v. 23.1.2001 – VIII R 12/99, BStBl. 2001, 825. Hierzu Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht14, § 6 Rz. 1152; Beck’sches Hdb. Personengesellschaften/ Friedrich3, § 6 Rz. 87; Kahle, FR 2012, 109 (113). Fraglich ist, ob ein Anteil von 5 % am Nennkapital der Komplementär-GmbH auch dann notwendiges Sonderbetriebsvermögen II an der GmbH & Co. KG ist, wenn der Kommanditist nicht an der Geschäftsführung der Komplementär-GmbH beteiligt
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§ 10
Rz. 138
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
Auch ein Darlehen zur Finanzierung der Beteiligung ist Sonderbetriebsvermögen II1. Mit dem Begriff des Sonderbetriebsvermögens II überschreitet der BFH den Wortlaut des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG, da diese Vorschrift die Überlassung von Wirtschaftsgütern an die Gesellschaft voraussetzt2. Hinsichtlich ihrer Rechtsfolgen unterscheiden sich die beiden Kategorien des Sonderbetriebsvermögens nicht. 138
c) Sonderbetriebseinnahmen/Sonderbetriebsausgaben: Der rein steuerrechtliche Abschluss der zweiten Stufe umfasst neben der Sonderbilanz die Sondergewinn- und -verlust-Rechnung mit den Sondererträgen und Sonderaufwendungen der Gesellschafter. Unter Anwendung der allgemeinen Gewinnermittlungsterminologie spricht man von Sonderbetriebseinnahmen und Sonderbetriebsausgaben. Sonderbetriebseinnahmen/-ausgaben sind alle Bezüge und Aufwendungen, die ihre Veranlassung in der Beteiligung an der Personengesellschaft haben3. Hieran ändert auch die Einschaltung Dritter in den Leistungsaustausch nichts4. Dabei wird die Veranlassung in Übereinstimmung mit dem Sonderbetriebsvermögen I und II abgegrenzt. Neben den in § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG ausdrücklich angesprochenen Sondervergütungen, die der Gesellschafter von der Gesellschaft bezieht, resultieren Sonderbetriebseinnahmen und -ausgaben insb. aus Wertveränderungen des Sonderbetriebsvermögens (AfA und Finanzierungsaufwendungen der Wirtschaftsgüter des Sonderbetriebsvermögens sowie Veräußerungsgewinne und -verluste). Bei dem Ansatz von Betriebseinnahmen/-ausgaben ist zu beachten, dass § 11 EStG (s. § 8 Rz. 192 ff.) unanwendbar ist; es gelten vielmehr die bilanziellen Regeln über Erträge und Aufwendungen (s. Rz. 115)5. § 11 EStG ist nur anzuwenden, wenn die Gesellschaft nicht buchführungspflichtig ist und ihren Gewinn nach Maßgabe des § 4 III EStG ermittelt.
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Spezifiziert werden die Sonderbetriebseinnahmen durch den in § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG normierten Sondervergütungstatbestand6. Der Sondervergütungstatbestand stellt Leistungen societatis causa und Leistungen auf schuldrechtlicher Basis i.Erg. gleich. Sondervergütungen berühren die Summe der gewerblichen Einkünfte aus der Mitunternehmerschaft ebensowenig wie z.B. ein Gewinnvorab (Rz. 103). Die Vorschrift dient damit der Gleichstellung von Mitunternehmer und Einzelunternehmer, weil der Einzelunternehmer keine Verträge mit sich selbst schließen kann, deshalb u.a. auch keinen Unternehmerlohn abziehen kann7.
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ist und somit keinen besonderen Einfluss auf die Geschäftsführung der KG ausüben kann (dazu FG München v. 10.12.2010 – 13 K 1724/07; Rev. beim BFH unter IV R 1/12). Kahle, FR 2012, 109 (113). Der BFH stützt sich auf § 4 I EStG: Erforderlich sei, dass „das Wirtschaftsgut unmittelbar dem Betrieb der Personengesellschaft dient“ (BFH BStBl. 1998, 385). Eine ausreichende Rechtsgrundlage verneinen insb. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 444 f., u. Schön, DStR 1993, 185 (188); Söffing, DStR 2003, 1105 (1106 ff.). Ausf. zu Rechtsgrundlage und Berechtigung der verschiedenen Fallgestaltungen des Sonderbetriebsvermögens II: N. Schneider, Sonderbetriebsvermögen – Rechtsgrundlage und Umfang, Diss., 2000, 116 ff., 127 ff., 219 ff. Weitere Lit.: Schulze zur Wiesche, FR 1999, 14; Söffing, BB 2003, 616; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 517 f.; Betriebsaufspaltung: Lutterbach, DB 1999, 2332; Bock, DStZ 2000, 42; Höhmann, NWB 2003 Fach 3, 12293. So die st. Rspr., z.B. BFH v. 15.10.1975 – I R 16/73, BStBl. 1976, 188; v. 5.12.1979 – I R 184/76, BStBl. 1980, 119; v. 31.7.1985 – VIII R 261/81, BStBl. 1986, 304; v. 9.11.1988 – I R 191/84, BStBl. 1989, 343 (344); v. 8.4.1992 – XI R 37/88, BStBl. 1992, 812; v. 30.8.2007 – IV R 14/06, BStBl. 2007, 942 (943); Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 640 ff.; zur Problematik der Sondervergütungen in grenzüberschreitenden Fällen vgl. Ditz/Tcherveniachki, DB 2014, 203; Hagemann/Kahlenberg, Ubg. 2013, 770; Kramer, IStR 2014, 21; Pohl, DB 2013, 1572. Zu mittelbaren Leistungsbeziehungen BFH v. 7.12.2004 – VIII R 58/02, BStBl. 2005, 390; Gschwendtner, DStR 2005, 771; Jachmann, DStR 2005, 2019. Vgl. BFH v. 11.12.1986 – IV R 222/84, BStBl. 1987, 553; v. 21.6.1989 – X R 14/86, BStBl. 1989, 881; Groh, DB 1987, 1006 (1012); Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 641. Dazu Reuter, Sonderbetriebseinkünfte im Verfahren der einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellung, Diss., 1995; KSM/Reiß, § 15 EStG Rz. E 334 ff.; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 560 ff.; Jachmann, DStR 2005, 2021; zur Berücksichtigung von Sondervergütungen im Rahmen der Zinsschranke (§ 4h EStG) BMF BStBl. I 2008, 718 Rz. 19. BFH v. 28.10.1999 – VIII R 41/98, BStBl. 2000, 339 (341).
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Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 142
§ 10
§ 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG erfasst nur Vergütungen für Dienste und Nutzungsüberlassungen sowie Darlehen. Der Terminologie des Sondervergütungstatbestands liegen zwei kausalrechtliche Abgrenzungskriterien zugrunde: Zum einen beruhen Sondervergütungen i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG auf besonderen Vertragsbeziehungen zwischen der Gesellschaft und einzelnen Gesellschaftern1 und unterscheiden sich dadurch vom Gewinnanteil des Gesellschafters2. Zum anderen muss die von der Gesellschaft vergütete Leistung bei wirtschaftlicher Betrachtung als Beitrag zur Erreichung oder Verwirklichung des Gesellschaftszwecks anzusehen sein (sog. Beitragstheorie)3; Leistung und Mitunternehmerschaft dürfen nicht nur zufällig und vorübergehend aufeinander treffen4. Forderungen im Rahmen des laufenden Geschäftsbetriebs, namentlich solche aus Lieferungs- und Leistungsbeziehungen zwischen Gesellschafter und Gesellschaft zu fremdüblichen Konditionen, werden daher grds. nicht erfasst5. Auch Entgelte für Veräußerungsgeschäfte sind keine Sondervergütungen i.S.d. § 15 I Nr. 2 EStG6.
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Der Begriff des Darlehens i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG wird von der h.M. weit ausgelegt. Hierunter sollen nicht nur Gelddarlehen i.S.d. § 488 BGB fallen, sondern jede Überlassung von Kapital zur Nutzung7. Bspw. soll es nach h.M. zu einer steuerrechtlichen Umqualifizierung von Forderungen auf rückständigen Arbeitslohn oder aus Lieferungs- und Leistungsbeziehungen kommen können, wenn diese der Gesellschaft „wie“ ein Darlehen überlassen werden. Hierfür wird es nicht für erforderlich gehalten, dass zwischen der Gesellschaft und dem Gesellschafter ausdrücklich oder stillschweigend ein Darlehen im zivilrechtlichen Sinne vereinbart wird (zivilrechtliche Schuldumschaffung)8. Ausreichend sei bereits, wenn eine andere Forderung gesellschaftlich veranlasst gestundet wird9.
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Dem ist nicht zuzustimmen. Das Gesetz spricht von „Hingabe“ von Darlehen. Ein „Hingeben“ setzt begrifflich eine aktive Kapitalüberlassung voraus. Dem kann das passive Stehenlassen von anderen Geldforderungen oder gar eine bloße Stundung nicht gleichgestellt werden. Auch teleologisch ist es nicht gerechtfertigt, eine einfache Stundung von Forderungen beispielsweise aus Lieferungs- und Leistungsbeziehungen als „Darlehen“ i.S.d. § 15 I 1 Nr. 1 EStG zu erfassen. Denn es kann nicht unterstellt werden, dass die Stundung stets ein Beitrag zur Förderung des Gesellschaftszweckes wäre. Stundungen und sogar Forderungsverzichte gegen Besserungsschein sind auch im gewöhnlichen Geschäftsverkehr mit fremden Dritten keineswegs unüblich. Der o.g. Beitragsgedanke (Rz. 140) trifft auf solche Gestaltungen nicht zu. Jedenfalls bei nur kurz-
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1 So BFH v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. 1991, 691. 2 Dazu BFH v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. 1991, 691 (698); v. 13.10.1998 – VIII R 4/98, BStBl. 1999, 284 (Abgrenzung zum Gewinnvorab); v. 24.1.2008 – IV R 87/06, BStBl. 2008, 428; KSM/Reiß, § 15 EStG Rz. E 334 ff.. S. aber auch BFH v. 14.12.2000 – IV R 56/04, BStBl. 2001, 238; 2006, 838, wonach Sonderbetriebseinnahmen auch bei Veruntreuung von Gesellschaftsmitteln durch einen Mitunternehmer vorliegen sollen (zw.); zur Abgrenzung von Sondereinnahme und Ergebnisvorab bei vermögensverwaltenden Gesellschaften FG Berlin-Brandenburg, EFG 2013, 928, dazu Wichmann, Stbg. 2014, 1. 3 Grundl. Woerner, BB 1974, 592; Woerner, BB 1975, 645; Woerner, DStZA 1977, 299; Woerner, DStZ 1980, 203; Woerner, StbKongrRep. 1982, 193; s. ferner z.B. Kahle, FR 2012, 109 (114). Auf der Grundlage der Beitragstheorie judiziert die st. Rspr.: BFH v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. 1991, 691 (701); v. 23.2.1979 – I R 163/77, BStBl. 1979, 757; v. 23.5.1979 – I R 56/77, BStBl. 1979, 763; v. 8.12.1982 – I R 9/79, BStBl. 1983, 570 (571); v. 6.7.1999 – VIII R 46/94, 1999, 720 (Leistungen über eine zwischengeschaltete Schwester-Kapitalgesellschaft); 2005, 390 (Leistungen über die Komplementär-GmbH); KSM/Reiß, § 15 EStG Rz. E 339; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 562; Höck, Stbg. 2006, 494. 4 BFH v. 24.1.1980 – IV R 154/77, BStBl. 1980, 269 (271). 5 BFH v. 6.9.1960 – I R 29/60 U, BStBl.I 1960, 443; v. 18.9.1969 – IV R 338/64, BStBl. 1970, 43; besonders deutlich BFH v. 8.1.1975 – I R 142/72, BStBl. 1975, 437; aus der Lit. z.B. Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 535, 549, 562, 568; Jakob, Einkommensteuer4, 2008, Rz. 1112; Frotscher/Maas/Kauffmann, § 15 EStG Rz. 268; HHR/N. Schneider, § 15 EStG Anm. 728. 6 BFH BStBl. 2000, 339 (340). 7 Vgl. NWB Praxishdb. BilStR/Kahle2, Rz. 1520; Blümich/Bode, § 15 EStG Anm. 526; HHR/Tiede, § 15 EStG Anm. 541; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 594. 8 Vgl. BFH v. 18.12.1991 – XI R 42/88, BStBl. 1992, 585. 9 BFH v. 18.12.1991 – XI R 42/88, BStBl. 1992, 585; s. auch BFH v. 18.7.1979 – I R 38/76, BStBl. 1979, 673; Blümich/Bode, § 15 EStG Rz. 526; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 594.
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§ 10
Rz. 143
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
fristiger Überlassung von Geld oder Stundung sollte kein Darlehen i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG angenommen werden1. Wollte man bei jeder auch nur kurzfristigen Überlassung von Kapital oder anderen Wirtschaftsgütern bereits Sonderbetriebsvermögen annehmen, so würde dies zu einem bilanziellen Hin und Her nötigen. Das Wirtschaftsgut (beispielsweise ein nur kurzfristig vermietetes Grundstück) würde u.U. in kurzen Abständen je nach Art seiner vorübergehenden Nutzung zwischen Betriebsvermögen und Privatvermögen mit der Folge etwaiger Gewinnverwirklichung schwanken2. Das wäre weder praktikabel noch sachgerecht. 143
Bei mehrstöckigen Personengesellschaften ordnet § 15 I 1 Nr. 2 Satz 2 EStG an, dass auch der mittelbar über eine oder mehrere Personengesellschaften beteiligte Gesellschafter der Obergesellschaft für unmittelbare Leistungen an die Untergesellschaft Sondervergütungen bezieht, indem der mittelbar beteiligte dem unmittelbar beteiligten Gesellschafter gleichgestellt wird, wenn er durch eine ununterbrochene Mitunternehmerkette mit der die Vergütung leistenden Gesellschaft verbunden ist. Die durch StÄndG 1992 als Reaktion auf BFH v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. 1991, 691 (698) eingeführte Regelung hat zur Folge3, dass die an den Gesellschafter der Obergesellschaft geleisteten Sondervergütungen der Untergesellschaft im Gesamtgewinn der Untergesellschaft zu erfassen sind. Wirtschaftsgüter, die der Gesellschafter der Obergesellschaft der Untergesellschaft überlässt, gehören zum Sonderbetriebsvermögen I der Untergesellschaft; ebenso sind die von der Obergesellschaft selbst überlassenen Wirtschaftsgüter als Sonderbetriebsvermögen I der Untergesellschaft zu aktivieren (s. Rz. 134, 137).
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d) Die bereits in Rz. 108 behandelte korrespondierende Bilanzierung vermittelt zwischen der rechtlichen Selbständigkeit der Personengesellschaft und dem Ziel der Gleichstellung mit dem Einzelunternehmer. Zwar gelten sowohl in der Gesellschafts- als auch in der Sonderbilanz grds. die materiellen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung. Um zu erreichen, dass Sondervergütungen zeit- und betragsgleich in Gesellschafts- und Sonderbilanz erfasst werden, werden die Folgen der Passivierung in der Gesellschaftsbilanz jedoch durch entspr. Ansatz in der Sonderbilanz wieder neutralisiert, wenn mit der Belastung der Gesellschaft ein entspr. Vorteil des Gesellschafters korrespondiert. Die Anwendung der handelsrechtlichen GoB hat in der rein steuerrechtlichen Sonderbilanz im Hinblick auf die Gleichbehandlung von Einzelunternehmer und Mitunternehmer zurückzutreten. Zeitliche Verschiebungen werden insb. vermieden, indem das Imparitätsprinzip (s. § 9 Rz. 90) in der Sonderbilanz nicht zur Anwendung kommt. Beispiele: Gewährt der Gesellschafter der Gesellschaft ein Darlehen, so ist in der Gesellschaftsbilanz nach handelsrechtlichen GoB in voller Höhe eine Verbindlichkeit zu passivieren und „korrespondierend“ eine entsprechende Forderung in der Sonderbilanz des Gebers zu aktivieren; diese Forderung gehört zum Sonderbetriebsvermögen I. Mit- und Einzelunternehmer stellt die Rspr. gleich, indem sie Teilwertabschreibungen von Forderungen abweichend vom Imparitätsprinzip erst bei Beendigung der Mitunternehmerstellung zulässt4. Ebenso wenig kann der Gesellschafter 1 Insoweit wie hier Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 594; zust. Beck’scher Bilanzkomm./Kozikowski/ Staudacher, § 247 HGB Rz. 771; s. auch N. Schneider, Sonderbetriebsvermögen – Rechtsgrundlage und Umfang, Diss., 2000, 214 ff. 2 Vgl. Raupach, JbFSt. 1975/76, 222 (225). 3 Zu den Rechtsfolgen des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 2 EStG Seer, StuW 1992, 35; V. Sarrazin, FS L. Schmidt, 1993, 393; Ley, KÖSDI 1996, 10923; Ley, KÖSDI 2010, 17148; Seitz, StbJb. 2009/2010, 107; Söhn, StuW 1999, 328 (einheitliche u. gesonderte Feststellungen); Werner, Einkommensteuerrechtliche Zurechnungen bei mittelbaren Beteiligungen an Personengesellschaften, Diss., 2003, 33 ff.; Schmidt/ Wacker33, § 15 EStG Rz. 615 ff. Zur Behandlung von Tätigkeitsvergütungen an einen atypisch still Unterbeteiligten BFH v. 2.10.1997 – IV R 75/96, BStBl. 1998, 137. Zur Behandlung von Umstrukturierungen u. Beteiligungskauf Stegemann, INF 2003, 266; L. Mayer, DB 2003, 2034; Gerhold, SteuerStud 2004, 624; Kricheldorf, Ertragsteuerliche Konsequenzen aus der Umstrukturierung doppelstöckiger Personengesellschaften, Diss., 2008. 4 BFH v. 12.7.1990 – IV R 37/89, BStBl. 1991, 64; v. 19.5.1993 – IV R 106/94, BStBl. 1993, 714; v. 14.12. 1995 – IV R 106/94, BStBl. 1996, 226 (228); v. 26.9.1996 – IV R 105/94, BStBl. 1997, 277 (281); v. 28.3. 2000 – VIII R 28/98, BStBl. 2000, 347 (350); v. 5.6.2003 – IV R 36/02, BStBl. 2003, 871 (874); v. 1.3. 2005 – VIII R 5/03, BFH/NV 2005, 1523; v. 28.3.2007 – IV B 137/06, BFH/NV 2007, 1489 (doppelstöckige Personengesellschaft); Pinkernell, Einkünftezurechnung, Diss., 2001, 202 f.; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 544; Kahle, DStZ 2012, 61 (65).
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Besteuerung von Sondervorgängen
Rz. 149
§ 10
in der Sonderbilanz Rückstellungen wegen drohender Inanspruchnahme aus persönlicher Haftung oder Bürgschaft zugunsten der Gesellschaft bilden1.
Für Pensionszusagen2 der Gesellschaft an Gesellschafter sind in der Gesellschaftsbilanz nach Maßgabe der §§ 5 I; 6a EStG; § 249 I 1 HGB Rückstellungen zu bilden. Korrespondierend zu diesen Passivposten sind nach BFH v. 30.3.2006 – IV R 25/04, BStBl. 2008, 171, BMF BStBl. 2008, 317, in der Sonderbilanz des begünstigten Gesellschafters abweichend vom Realisationsprinzip Forderungen zu aktivieren (s. bereits Rz. 108)3. Nur ihm kommt der Vermögensvorteil zugute. Damit hat sich der BFH zutreffend gegen eine Verteilung des neutralisierenden Aktivpostens auf die Sonderbilanzen aller Gesellschafter ausgesprochen.
145
146–149
Einstweilen frei.
II. Besteuerung von Sondervorgängen: Gründung, Umstrukturierungen, Veräußerungen, Erbfolge, Betriebsaufgabe und Realteilung Literatur (Auswahl): Stuhrmann, Realteilung durch Bar- und Sachwertabfindung, DStR 2005, 1355; Rogall/Stangl, Die Realteilung einer Personengesellschaft, FR 2006, 345; Dietel, Die Sachwertabfindung von Mitunternehmern – Ungeklärte Rechtslage bei der Abfindung mit betrieblichen Sachgesamtheiten, DStR 2009, 1352; Hageböke, Die Ausbringung eines Teilbetriebs aus einer Mitunternehmerschaft durch „Upstream“-Abspaltung, Ubg. 2009, 105; Wendt, Realteilung und Ausscheiden gegen Sachwertabfindung – Vorrang des Kontinuitätsprinzips?, in FS Lang, 2010; Strahl, Einbringung in Personengesellschaften, Ubg. 2011, 433; Rödder/Herlinghaus/van Lishaut (Hrsg.) Umwandlungssteuergesetz2, 2013; Dornheim, Die Übertragung von Wirtschaftsgütern zwischen beteiligungsidentischen Schwesterpersonengesellschaften, Ubg. 2012, 618; Rogall/Gerner, Zur Übertragung und Überführung von einzelnen Wirtschaftsgütern nach § 6 Abs. 5 EStG – Anmerkungen zum BMF-Schreiben vom 08.12.2011, Ubg. 2012, 81; Schmitt/Franz, Die Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern bei Mitunternehmerschaften – ein gesetzlicher Kompromiss zwischen steuerlicher Systematik und wirtschaftlicher Vernunft, Ubg. 2012, 395; Niehaus/Wilke, Konkretisierung des Anwendungsbereichs steuerneutraler Realteilungen, FR 2012, 1093; Graw, Der Teilbetrieb nach dem Umwandlungssteuer-Erlass 2011, 2013; Heuermann, Einheit, Trennung oder modifiziertes Trennen?, DB 2013, 1328; Hoheisel, Neue Leitlinien bei der Umstrukturierung von Mitunternehmerschaften, StuB 2013, 98; Levedag, Einbringung und Einlage von Privatvermögen in Personengesellschaften, GmbHR 2013, 243; Levedag, Sacheinlagen in betriebliche Personengesellschaften, GmbHR 2013, 969; Strahl, Ausweitung der Einheitstheorie auf Einbringungen gegen Mischentgelt, Ubg. 2013, 762; Strahl, Übertragung von Wirtschaftsgütern bei Mitunternehmerschaften – Reichweite der Aufgabe der Trennungstheorie, FR 2013, 322; Wildermuth, Die Einbringung von Betriebsvermögen in eine Personengesellschaft nach § 24 UmwStG, Ubg. 2013, 234; Fuhrmann, Einbringung einer betrieblichen Sachgesamtheit gegen Mischentgelt, NZG 2014, 137; Stohn/Mirbach, Überführung und Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern nach § 6 Abs. 5 EStG, SteuerStud 2014, 143; Dornheim, Ist die Gesamtplanrechtsprechung bei betrieblichen Umstrukturierungen am Ende?, DStZ 2014, 46; Geissler, Die verbilligte Übertragung betrieblicher Sachgesamtheiten – Anwendung der Einheitstheorie bei § 16 EStG und § 24 UmwStG, FR 2014, 152; Potsch, Einschränkung der Gesamtplanrechtsprechung zu Gunsten des Steuerpflichtigen bei vorweggenommener Erbfolge, NZG 2014, 332; Oenings/Lienicke, Betriebliche Umstrukturie1 BFH v. 12.7.1990 – IV R 37/89, BStBl. 1991, 64 (65). 2 Dazu grds. BFH v. 2.12.1997 – VIII R 15/96, BStBl. 2008, 174; Gschwendtner, DStZ 1998, 777; Paus, FR 1999, 121; Söffing, BB 1999, 40 u. 96; Pinkernell, Einkünftezurechnung, Diss., 2001, 202 f.; Luckey, Direktzusagen im Steuerrecht der Personengesellschaften, Diss., 2002; Lührmann, StuB 2004, 241; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 585 ff.; Schmidt/Weber-Grellet33, § 6a EStG Rz. 35; Otto, DStR 2007, 268; Fuhrmann/Demuth, DStZ 2007, 823; Ley, KÖSDI 2008, 1604 (1605); Sievert/Kardewitz, Ubg. 2008, 617; Groh, BetrAV 2009, 40. 3 Vgl. Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 587; Wacker, FR 2008, 801; krit. Paus, DStZ 2005, 598; Paus, FR 2007, 463; Sievert/Kardekewitz, Ubg. 2008, 617 (auch zu Umsetzungsfragen); dazu ferner Fuhrmann/Demuth, WPg. 2007, 77; Lempenau/Schiller, DB 2007, 1045; Hüttemann/Klatt, NWB 2006 Fach 17, 2089; Groh, DB 2008, 2391; zuvor schon Gschwendtner, DStZ 1998, 777 (781 ff.); J. Lang, FS L. Schmidt, 1993, 291 (304); Luckey, Direktzusagen im Steuerrecht der Personengesellschaften, Diss., 2002, 179 f.; Jachmann, DStR 2005, 2019 (2022); a.A. P. Fischer, FR 1991, 157 (160); Raupach, DStZ 1992, 692 (698).
Hennrichs
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655
§ 10
Rz. 150
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
rungen nach Einschränkung der Gesamtplan-Argumentation durch den BFH, DStR 2014, 1997; Dornheim, Teilentgeltliche Übertragungen einzelner Wirtschaftsgüter bei Mitunternehmerschaften – BFH fordert BMF zum Beitritt auf, FR 2014, 869.
1. Überblick 150
Die Umstrukturierung bei Personengesellschaften1 (insb. Aufnahme und Ausscheiden von Gesellschaftern, Einbringung von Betrieben, Teilbetrieben und Mitunternehmeranteilen, Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern und Auflösung der Gesellschaft) wirft ertragsteuerrechtlich die Frage nach der Behandlung der vorhandenen stillen Reserven auf. Unterscheiden lassen sich entgeltliche, unentgeltliche und teilentgeltliche Vorgänge, Teil- und Vollübertragungen. In einer Reihe von Fällen gewährt der Gesetzgeber einen Besteuerungsaufschub und toleriert dabei z.T. auch den Übergang stiller Reserven auf andere Steuersubjekte, um wirtschaftlich sinnvolle Umstrukturierungen zu ermöglichen. Soweit die Steuerverstrickung gewahrt ist, trägt dies dem Gedanken eigentumsschonender Besteuerung Rechnung (s. § 9 Rz. 421 u. § 3 Rz. 189 ff.). Bei Aufdeckung der stillen Reserven mildert die Anwendung der Tarifermäßigung des § 34 EStG Progressionsnachteile auf Grund der Zusammenballung der Einkünfte (s. § 8 Rz. 813). Ein System, nach dem der Gesetzgeber die Umstrukturierung von Personengesellschaften begünstigt, ist allerdings nur schwer erkennbar, da es an einer zusammenhängenden, in sich geschlossenen Regelung fehlt2. Vielfach unabgestimmte Einzelregelungen finden sich, richterrechtlich ergänzt, in §§ 6 III, V; 16 EStG sowie § 24 UmwStG. Die häufigen Gesetzesänderungen der letzten Jahre, die umfangreiche Rspr. sowie die Erlasse der FinVerw. zur Besteuerung von Sondervorgängen – insb. zum sog. steuerschädlichen Gesamtplan – machen die Rechtslage noch unübersichtlicher3. Bei teilentgeltlichen Vorgängen ist von der Rspr. für die Fälle der (Teil-)Betriebsveräußerung die sog. Einheitstheorie (§ 9 Rz. 432; außerdem Rz. 153, 187) entwickelt worden, um den Normenwiderstreit zwischen § 16 I und § 6 III EStG aufzulösen, da die (Teil-)Betriebsveräußerung grds. in den Anwendungsbereich beider Vorschriften fällt.4 Hiernach ist der Vorgang insgesamt entweder als entgeltlich oder unentgeltlich zu qualifizieren. Die Nichtrealisierung stiller Reserven in diesen Fällen wird damit gerechtfertigt, dass bei der Veräußerung einer betrieblichen Einheit alle wesentlichen Betriebsgrundlagen an einen Erwerber übertragen werden und die betriebliche Einheit erhalten bleibt, womit die Verstrickung der stillen Reserven gewährleistet ist.5
2. Gründung 2.1 Sacheinlage 151
Bei Gründung einer Personengesellschaft können statt Bareinlagen Sacheinlagen getätigt werden. Während sich bei Bareinlagen das Kapitalkonto des Gesellschafters in Höhe des Nennbetrags erhöht, ist bei Sacheinlagen zu unterscheiden, ob die eingebrachten Wirtschaftsgüter aus dem Privatvermögen oder aus dem Betriebsvermögen stammen. Beteiligt sich der Gesellschafter durch Einbringung eines Wirtschaftsguts aus dem Betriebsvermögen, so greift § 6 V 3 EStG (dazu Rz. 155 ff.) ein, d.h. Übertragung zu Buchwerten. Wird das Wirtschaftsgut dagegen 1 Dazu grundl. Herlinghaus, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 67 ff. m.w.N. 2 Herlinghaus, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 67 (94). 3 Insb. durch StEntlG 1999/2000/2002 v. 24.3.1999 (BGBl. I 1999, 402); StSenkG v. 23.10.2000 (BGBl. I 2000, 1433); UntStFG v. 20.12.2001 (BGBl. I 2001, 3858); zur Rechtsentwicklung ausf. HHR/Wendt, Jahresband 2002, § 6 Anm. J 01–1 ff.; zur jüngsten Entwicklung der Gesamtplanrechtsprechung Potsch, NZG 2014, 332. 4 BFH v. 10.7.1986 – IV R 12/81, BStBl. 1986, 811; v. 18.9.2013 – X R 42/10, BFH/NV 2013, 2006; v. 22.10.2013 – X R 14/11, BStBl. 2014, 158. 5 BFH v. 10.7.1986 – IV R 12/86, BStBl. 1986, 811; v. 18.9.2013 – X R 42/10, BFH/NV 2013, 2006; v. 22.10.2013 – X R 14/11, BStBl. 2014, 158; ähnlich auch BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. 2008, 608 zur Rechtfertigung des Übergangs stiller Reserven auf ein anderes Steuersubjekt im Gegensatz zu Verlustvorträgen i.S.d. § 10d EStG.
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Hennrichs
Gründung
Rz. 153
§ 10
aus dem Privatvermögen gegen Gewährung von Gesellschafterrechten übertragen, nimmt BFH (v. 19.10.1998 – VIII R 69/95, BStBl. 2000, 230; dazu BMF BStBl. 2000, 462; 2004, 1190; 2011, 713), einen entgeltlichen, tauschähnlichen Vorgang an; Rechtsfolge: § 6 VI 1 EStG (gemeiner Wert). Innerhalb der Fristen der §§ 17; 23 EStG kommt es damit im abgebenden Privatvermögen zur Gewinnrealisation1.
2.2 Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils (§ 24 UmwStG)2 Im Fall der Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils in eine Mitunternehmerschaft hat der Einbringende, wenn er Mitunternehmer wird, die Wahl zwischen
152
– der Einbringung der Sachgesamtheit mit den Rechtsfolgen des UmwStG oder – der Einbringung der einzelnen Wirtschaftsgüter mit der Rechtsfolge des § 6 V 3 EStG. Während § 6 V 3 EStG zwingend die Fortführung der Buchwerte vorschreibt (dazu Rz. 155), räumt § 24 II UmwStG bei Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils in eine Personengesellschaft gegen Gesellschaftsrechte unter bestimmten Voraussetzungen ein Wahlrecht zum Ansatz des Buchwerts, des gemeinen Werts oder eines Zwischenwerts ein.3 Maßgebend dafür, ob eine begünstigte Einbringung gegen Gesellschaftsrechte oder eine zur Gewinnrealisierung führende sonstige Leistung vorliegt, sind die Kriterien, die auch im Rahmen des § 15a EStG zur Abgrenzung von Eigen- und Fremdkapital herangezogen werden.4 Erhält der Einbringende neben dem Mitunternehmeranteil auch eine Darlehensforderung gegen die Gesellschaft, schließt dies die Anwendung des § 24 UmwStG nicht aus; die Gutschrift ist jedoch als Entgelt anzusehen, das sich gewinnrealisierend auswirken kann.5 Der Wert, mit dem das Betriebsvermögen in der Bilanz der Personengesellschaft einschließlich der Ergänzungsbilanzen ihrer Gesellschafter angesetzt wird, gilt bei dem Einbringenden als Veräußerungspreis (§ 24 III 1 UmwStG). Entscheidet sich die aufnehmende Personengesellschaft für den Ansatz der Buchwerte, kann die Buchwertverknüpfung (s. § 9 Rz. 405, 430) durch eine negative Ergänzungsbilanz des einbringenden Gesellschafters hergestellt werden (sog. Bruttomethode)6, wenn die eingebrachten Wirtschaftsgüter in der Gesellschaftsbilanz zur Anpassung der Kapitalkonten mit dem gemeinen Wert angesetzt werden. Ebenso besteht die Möglichkeit, in der Gesamthandsbilanz das eingebrachte Betriebsvermögen mit den Buchwerten anzusetzen und die steuersubjektbezogene Zuordnung stiller Reserven durch eine Kombination von positiven und negativen Ergänzungsbilanzen bei den Gesellschaftern sicherzustellen (sog. Nettomethode)7. Für die Erfolgsneutralität des Umwandlungsvorgangs ist es jedoch nicht zwingend erforderlich, dass die stillen Reserven des eingebrachten Betriebsvermögens mittels Ergänzungsbilanzen ausschließ1 Krit. Reiß, DB 2005, 358; Doege, INF 2005, 306; zur Anwendung der Gesamtplanrechtsprechung: Siegmund/Ungemach, DStZ 2008, 762. 2 Dazu Kerssenbrock/Rundshagen, BB 2004, 2490 (doppelstöckige Personengesellschaft); Rogall, BB 2005, 410; Schulze zur Wiesche, DStZ 2006, 406; Strahl, Ubg. 2011, 433; zur Praxiseinbringung BFH v. 4.12.2012 – VIII R 41/09, BStBl. 2014, 288; Fuhrmann/Müller, DStR 2013, 848. 3 Zum Teilbetriebsbegriff s. Graw, Der Teilbetrieb im Umwandlungssteuerrecht nach dem Umwandlungssteuer-Erlass 2011. 4 Vgl. näher BMF BStBl. I 2011, 1314 Rz. 24.08; zur Verbuchung der Gegenleistung ausschließlich auf dem Kapitalkonto II FG München v. 6.11.2012 – 13 K 943/09, EFG 2013, 421 (dazu Rev. unter IV R 46/12). 5 BFH v. 18.9.2013 – X R 42/10, BFH/NV 2013, 2006; FG Münster v. 25.10.2012 – 3 K 4089/10 F, EFG 2013, 338 (dazu Rev. unter IV R 47/12); gl.A. BMF BStBl. I 2011 Tz. 24.07; Schmitt/Hörtnagl/Stratz6, § 24 UmwStG Rz. 140; Patt in Dötsch/Pung/Möhlenbrock, § 24 UmwStG Rz. 59 f.; Patt, GmbH-StB 2011, 303 (305); Wüllenkemper, EFG 2011, 491 (495); Brandenberg, Stbg. 2012, 145 (155); Fuhrmann in Widmann/Mayer, § 24 UmwStG Rz. 538, 527. 6 Zu den unterschiedlichen Methoden s. BMF, BStBl. I 2011, 1314 (UmwStE) Tz. 24.14; Kirchhof/ Reiß13, § 15 EStG Rz. 257; Schmitt/Keuthen, DStR 2013, 1565. 7 Vgl. BMF BStBl. I 2011, 1314 (UmwStE) Tz. 24.14; Fuhrmann in Widmann/Mayer, § 24 UmwStG Rz. 821; Schmitt/Keuthen, DStR 2013, 1565 (1567).
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153
§ 10
Rz. 154
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
lich dem Einbringenden zugeordnet werden; sie können vielmehr auch auf andere Gesellschafter überspringen1. Der Gesetzgeber nimmt die interpersonale Verlagerung stiller Reserven als Ausnahme vom Grundsatz der Individualbesteuerung (§ 8 Rz. 22 ff.) bei Umwandlungsmaßnahmen nach dem UmwStG bewusst in Kauf2. 154
Bei der Einbringung eines Betriebes gegen ein sog. Mischentgelt – bestehend aus Gesellschaftsrechten und z.B. einer Darlehensforderung gegen die Personengesellschaft – findet nach Auffassung des BFH die Einheitstheorie Anwendung (Rz. 150; 187; § 9 Rz. 432). Eine Buchwertfortführung ist dann möglich, wenn die Summe aus dem Nominalbetrag der Gutschrift auf dem Kapitalkonto des Einbringenden bei der Personengesellschaft und dem gemeinen Wert der eingeräumten Darlehensforderung den steuerlichen Buchwert des eingebrachten Einzelunternehmens nicht übersteigt.3
2.3 Beitritt eines neuen Gesellschafters in eine bestehende Personengesellschaft; Aufnahme in ein Einzelunternehmen 155
Der Beitritt eines neuen Gesellschafters sowie die Aufnahme eines Gesellschafters in ein Einzelunternehmen werden steuerrechtlich wie die Gründung einer neuen Personengesellschaft unter gleichzeitiger Einbringung des bestehenden Unternehmens behandelt. Vollzieht sich der Vorgang unentgeltlich, so ordnet § 6 III 1 Hs. 2 EStG vorrangig vor den Wahlrechten des § 24 UmwStG zwingend die Buchwertfortführung an. § 6 III EStG ist bei der Übertragung eines Mitunternehmeranteils auch dann anwendbar, wenn vorher oder gleichzeitig ein funktional wesentliches Grundstück des Sonderbetriebsvermögens zum Buchwert nach § 6 V EStG übertragen worden ist (Rz. 165).4 Auch bei einer über- und unterquotalen Übertragung von Sonderbetriebsvermögen soll § 6 III EStG auf den gesamten Vorgang anwendbar sein5. Leistet der Eintretende eine Einlage in das Betriebsvermögen, gilt § 24 II 1 UmwStG mit dem Wahlrecht zwischen Buchwert, Zwischenwert und gemeinem Wert. Zahlt er dagegen in das Privatvermögen eines Mitunternehmers, liegt hierin eine Teilanteilsveräußerung. Dieser Fall ist der Aufnahme in ein Einzelunternehmen6 unter Zuzahlung in das Privatvermögen gleichgestellt, indem § 16 I 2 EStG; § 24 II 2 UmwStG den Veräußerungsgewinn dem laufenden, nicht durch § 34 EStG begünstigten Gewinn zuordnen. Damit hat der Gesetzgeber zu Recht Gestaltungsmöglichkeiten (s. etwa „Zwei-Stufen-Modell“, BFH v. 16.9.2004 – IV R 11/03, BStBl. 2004, 1068) Einhalt geboten.
1 Vgl. FG Köln v. 22.6.2011 – 4 K 2859/07, EFG 2012, 90; Schmitt/Keuthen, DStR 2013, 1565 (1569), m. Hinw. auf § 24 Abs. 5 UmwStG; Fuhrmann in Widmann/Mayer, § 24 UmwStG Rz. 431, 435, 450. 2 Vgl. FG Köln v. 22.6.2011 – 4 K 2859/07, EFG 2012, 90; Schmitt/Keuthen, DStR 2013, 1565 (1569); Fuhrmann in Widmann/Mayer, § 24 UmwStG Rz. 431, 436 f.; vgl. auch Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 2 ff. 3 BFH v. 18.9.2013 – X R 42/10, DStR 2013, 2380; a.A. BMF BStBl. I 2011, 1314 (UmwStE) Rz. 24.07; dazu Dornheim, FR 2013, 1022; Rosenberg/Placke, DB 2013, 2821; Görden, GmbH-StB 2013, 364; Mische, BB 2013, 2866; Kulosa, HFR 2013, 1155; Geissler, FR 2014, 152; Fuhrmann, NZG 2014, 137. 4 BFH v. 2.8.2012 – IV R 41/11, DStR 2012, 2118 gegen BMF BStBl. I 2005, 458 Rz. 6; dazu Blumers, DB 2013, 1625; Krämer, EStB 2014, 33; Förster, DB 2013, 2047; Bohn/Peters, DStR 2013, 281; Vees, DStR 2013, 681; Vees, DStR 2013, 743; Stein/Stein, FR 2013, 156; Levedag, GmbHR 2013, 673; Rogall/Dreßler, Ubg. 2013, 73; Hubert, StuB 2014, 21; Potsch, NZG 2014, 332; s. auch FG Münster 12 K 3303/11-F, EFG 2014, 1369 (Rev. BFH: IV R 29/14): Der Gewinnneutralität der unentgeltlichen Übertragung eines Mitunternehmeranteils gem. § 6 III EStG, bei der alle wesentlichen Betriebsgrundlagen auf den Erwerber übergehen, steht nicht entgegen, dass wenige Tage zuvor (funktional unwesentliches) Sonderbetriebsvermögen unter Aufdeckung der stillen Reserven an den bisher Nutzungsberechtigten unter Ansatz eines laufenden Gewinns beim Rechtsvorgänger veräußert wird. 5 Vgl. BFH v. 2.8.2012 – IV R 41/11, DStR 2012, 2118 gegen BMF BStBl. I 2005, 458 Rz. 16; dazu Rogall/Freßler, Ubg. 2013, 73 (76). 6 Dazu Bode, DStR 2002, 114; Böttner, DB 2002, 1798 (Zuzahlung ins Privatvermögen).
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Hennrichs
Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern innerhalb Mitunternehmerschaft
Rz. 158
§ 10
3. Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern innerhalb der Mitunternehmerschaft und zwischen beteiligungsidentischen Schwestergesellschaften Seit 1999 ist die Gewinnrealisierung bei der Übertragung von Wirtschaftsgütern zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern in § 6 V EStG geregelt1, der den früheren Mitunternehmererlass v. 20.12.1977 (v. 13.7.1977 – I R 217/75, BStBl. 1978, 8) ersetzt. Zur heutigen Konzeption hat der Gesetzgeber allerdings erst nach einem einzigartigen Hin und Her von Aufdeckung stiller Reserven und Buchwertfortführung gefunden. Nachdem das StEntlG 1999/2000/2002 die intersubjektive Übertragung stiller Reserven gegenüber dem sog. Mitunternehmererlass stark eingeschränkt hatte2, kehrten das StSenkG v. 23.1.2000 (BGBl. I 2000, 1433) und das UntStFG v. 20.12.2001 (BGBl. I 2001, 3858) weitgehend zur alten Rechtslage zurück. Als wesentlicher Unterschied zum Mitunternehmererlass räumt das Gesetz allerdings keine Wahlrechte mehr ein. Vielmehr sind die Buchwerte nach Maßgabe des § 6 V EStG fortzuführen, sofern die Besteuerung der stillen Reserven sichergestellt ist (§ 6 V 1 EStG).
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Die Buchwerte sind zunächst in den Fällen ohne intersubjektive Übertragung stiller Reserven fortzuführen: § 6 V 2 EStG ordnet die Buchwertfortführung für den Transfer zwischen Betriebsvermögen und Sonderbetriebsvermögen desselben Stpfl. an. Die Buchwertfortführung stellt hier die folgerichtige Konsequenz aus der transparenten Besteuerung der Personengesellschaft dar.3 § 6 V 3–6 EStG normieren sodann die Fälle intersubjektiver Übertragung stiller Reserven (Durchbrechung des Prinzips der Individualbesteuerung4, § 8 Rz. 22 ff., § 9 Rz. 430), nämlich den Transfer zwischen Betriebsvermögen (§ 6 V 3 Nr. 1 EStG) oder Sonderbetriebsvermögen (§ 6 V 3 Nr. 2 EStG) und Gesellschaftsvermögen, und zwar nach § 6 V 3 EStG für den Transfer von Wirtschaftsgütern entweder unentgeltlich oder gegen Gewährung oder Minderung von Gesellschaftsrechten (§ 6 V 3 Nrn. 1, 2 EStG) sowie sogar den unentgeltlichen Transfer zwischen den Sonderbetriebsvermögen von Mitunternehmern derselben Mitunternehmerschaft (§ 6 V 3 Nr. 3 EStG; ebenso: BFH v. 6.7.1999, VIII R 37/97, BFH/NV 2000, 310).
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Dogmatisch handelt es sich bei § 6 V 1, 2 EStG um eine Entnahme i.S.d. § 4 I 2 EStG aus dem abgehenden Betriebsvermögen, verbunden mit einer Einlage i.S.d. § 4 I 8 EStG in das aufnehmende Betriebsvermögen, deren Bewertungen abweichend von § 6 I 1 Nrn. 4, 5 EStG geregelt sind. § 6 V 3 EStG ist ein Sonderfall des Tauschs, wenn die Übertragung gegen Gewährung oder Minderung von Gesellschaftsrechten erfolgt (§ 6 VI 4 EStG)5; die Fälle der unentgeltlichen Übertragung gem. § 6 V 3 EStG sind wiederum Entnahmen mit besonderer Bewertungsregel (BMF BStBl. I 2011, 1279, Tz. 1, 8).
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1 Dazu BMF BStBl. I 2000, 1190; BMF, BStBl. I 2011, 1279; zur aktuellen Gesetzesfassung Bergsteiner, Umstrukturierung von Personenunternehmen mit Einzelwirtschaftsgütern, Diss., 2002; aus betriebswirtschaftlicher Sicht Röhner, Die einkommensteuerrechtliche Behandlung der Übertragung von Wirtschaftsgütern bei Mitunternehmerschaften, Diss., 2003; HHR/Niehus/Wilke, § 6 EStG Anm. 1440 ff.; Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 681 ff.; Wehrheim/Nickel, BB 2006, 1361 (steuersystematische Einordnung); Seitz/Düll, StbJb. 2011/12, 107 ff.; Jäschke, GmbHR 2012, 601 ff.; Schulze zur Wiesche, DStZ 2012, 12 ff.; Scharfenberg, DB 2012, 193 ff.; M. Schmitt/R. Franz, Ubg. 2012, 395 ff.; BMF BStBl. I 2013, 1164; zu grenzüberschreitenden Mitunternehmerschaften Heurung/Dresgen, GmbHR 2014, 187; zur Klagbefugnis BFH v. 7.2.2013 –IV R 33/12, BFH/NV 2013, 1120. 2 Lit. zu der Fassung des StEntlG 1999/2000/2002 u. des StSenkG s. 17. Aufl., § 9 Rz. 548 Fn. 104; zur Gesetzesentwicklung vgl. BFH v. 20.5.2010 – IV R 42/08, BStBl. 2010, 820; Reiß in StbJb. 2001/02, 281 ff. 3 Reiß, FS P. Kirchhof, 1925 (1933). 4 Hüttemann, DStJG 25 (2002), 123 (135); Reiß, BB 2001, 1125 (1227 f.); differenzierend Hey, GS Trzaskalik, 2005, 219 ff. 5 Zum entgeltlichen Charakter der Gewährung von Gesellschaftsrechten, vgl. BFH v. 24.1.2008 – IV R 66/05, BFH v. 24.1.2008 – IV R 66/05, BFH/NV 2008, 1301; BFH v. 19.10.1998 – VIII R 69/95, BStBl. 2000, 230; BMF BStBl. I 2011, 713; 2011, 1279. Zur Anwendung des § 6 V EStG beim Ausscheiden von Gesellschaftern Nebe, Stbg. 2013, 19; zum formellen Bilanzenzusammenhang bei geänderter Zuordnung von bisherigem Sonderbetriebsvermögen BFH v. 21.8.2012 – I B 179/11, BFH/NV 2013, 21.
Hennrichs
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§ 10
Rz. 159
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
159
Einzelheiten: Für § 6 V EStG ist es unerheblich, ob das fragliche Wirtschaftsgut dem Anlageoder Umlaufvermögen zuzuordnen ist. Auch wesentliche Betriebsgrundlagen sind erfasst. Für § 6 V 1, 2 EStG ist die gleichzeitige Übernahme von Verbindlichkeiten unschädlich (BMF BStBl. I 2011, 1279, Tz. 3; anders für § 6 V 3 EStG, weil das Gesetz dort nach unentgeltlich/ entgeltlich differenziert und in der Übernahme von Schulden bei Übertragung einzelner Wirtschaftsgüter ein Entgelt liegt, s. sogleich). Das aufnehmende (Sonder-) Betriebsvermögen muss nicht bereits vor der Übertragung bestanden haben, es genügt, wenn es im Zuge der Übertragung entsteht. Abgebendes und aufnehmendes Betriebsvermögen müssen auch nicht derselben Einkunftsart (§§ 13; 15; 18 EStG) zuzuordnen sein (BMF BStBl. I 2011, 1279, Tz. 3, 5). § 6 V 1, 2 EStG ist auch anwendbar, wenn mehrere einzelne Wirtschaftsgüter zeitgleich überführt werden, selbst wenn diese zusammen einen Betrieb oder Teilbetrieb bilden (BMF BStBl. I 2011, 1279, Tz. 6).
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Eine Übertragung erfolgt nur unentgeltlich i.S.d. § 6 V 3 EStG, wenn keine Gegenleistung gewährt wird. Eine Gegenleistung kann im Fall der Übertragung von einzelnen Wirtschaftsgütern (anders als bei der Übertragung von wirtschaftlichen Einheiten gem. § 6 III EStG, s. Rz. 185) auch in der Übernahme von Schulden bestehen. Zu teilentgeltlichen Übertragungen bei Übernahme von Passiva unter dem Verkehrswert des übertragenen Wirtschaftsguts s. Rz. 164.
161
Für die Frage, ob eine Übertragung gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten i.S.d. § 6 V 3 EStG vorgenommen wird, ist maßgeblich auf den Charakter des in diesem Zusammenhang angesprochenen Kapitalkontos des Gesellschafters abzustellen. Erhöht sich durch die Übertragung des Wirtschaftsguts der Kapitalanteil des Gesellschafters, liegt eine Übertragung gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten vor. (Auch) In diesem Zusammenhang wird die Abgrenzung von Eigenkapital- und Darlehenskonten relevant (dazu Rz. 73 m.w.N.).
162
§ 6 V 4 EStG sieht einen rückwirkenden Teilwertansatz vor,1 wenn die nach § 6 V 3 EStG zum Buchwert übertragenen Wirtschaftsgüter innerhalb einer dreijährigen Sperrfrist veräußert oder entnommen werden, soweit die stillen Reserven nicht durch eine Ergänzungsbilanz2 dem übertragenden Gesellschafter zugeordnet worden sind. § 6 V 5, 6 EStG3 soll die im Hinblick auf das Teileinkünfteverfahren nach § 3 Nr. 40 EStG bzw. Schachtelprivileg nach § 8b KStG vorteilhafte Übertragung stiller Reserven auf eine Kapitalgesellschaft mittels einer siebenjährigen Sperrfrist unterbinden4. Die Sperrfristbestimmung des § 6 V 4 EStG kommt allerdings im Hinblick auf den Sinn und Zweck in der Situation einer „Einmann-GmbH & Co. KG“ (Einbringung eines WG durch den an der KG zu 100% beteiligten Kommanditisten) dann nicht zum Tragen, wenn für das vom allein vermögensmäßig beteiligten Gesellschafter eingebrachte Wirtschaftsgut keine Ergänzungsbilanz erstellt wird (teleologische Reduktion).5 Wenn zum Zeitpunkt der Einbringung nur der einbringende Gesellschafter am Ergebnis und dem Vermögen der aufnehmenden Personengesellschaft beteiligt war und sich hieran bis zur Veräußerung des eingebrachten Wirtschaftsguts innerhalb der in § 6 V 4 EStG genannten Sperrfrist nichts ändert, ist die Annahme einer Sperrfristverletzung weder mit dem Zweck der Norm noch dem Willen des Gesetzgebers vereinbar. Die Sperrfristregelung ist gemäß der ratio legis des § 6 V 4 EStG 1 Dazu BMF BStBl. I 2011, Rz.7; Rogall/Gerner, Ubg. 2012, 81 (83); Rogall/Freßler, Ubg. 2013, 73 (82). 2 Zur neuartigen Konzeption und Unzulänglichkeiten dieser erstmaligen gesetzlichen Erwähnung der Ergänzungsbilanz Paus, FR 2003, 59; Welke/Hucht, StuB 2002, 422; von Campenhausen, DB 2004, 1282; Ritzrow, StBp. 2005, 20 (24 f.). 3 Dazu Briese, StuB 2003, 248; Schroer/Starke/Underberg, FR 1999, 875. 4 Vgl. Groh, DB 2003, 1403 (1404): „soll verhindert werden, dass die stillen Reserven auf die Kapitalgesellschaft übergehen und von ihren Anteilseignern entsprechend § 3 Nr. 40 EStG bzw. § 8b Abs. 1, 2 und 6 KStG anschließend im Halb- oder Nulleinkünfteverfahren realisiert werden.“ 5 BFH v. 31.7.2013 – I R 44/12, BFH/NV 2013, 1855; v. 26.6.2014 – IV R 31/12, BFH/NV 2014, 1930 (entgegen R. 6.15 EStR und. BMF BStBl. I 2011, 1279 Rz. 26); gl.A. HHR/Niehus/Wilke, § 6 EStG Anm. 1471a; Kirchhof/Reiß13, § 15 EStG Rz. 381c; Prinz, FR 2012, 726; Schroer/Starke, FR 2003, 836 (837); a.A. FG Düsseldorf v. 3.9.2012 – 3 J 2579/11 F, EFG 2012, 1914 (dazu Rev. unter IV R 31/12); Haberland, FR 2013, 538; Levedag, GmbHR 2013, 969 (970); zu § 24 UmwStG s. Schulze zur Wiesche, DStZ 2014, 108.
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Hennrichs
Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern innerhalb Mitunternehmerschaft
Rz. 164
§ 10
auf solche Vermögensübertragungen zu beschränken, bei denen – ohne einen gegenläufigen Ergänzungsbilanzansatz – der während der Sperrfrist erzielte Veräußerungs- oder Entnahmegewinn nicht nur dem Einbringenden zuzurechnen wäre. § 6 V 3–6 EStG sind lückenhaft. Nach dem Gesetzeswortlaut sind insb. Übertragungen zwischen den Betriebsvermögen beteiligungsidentischer Schwesterpersonengesellschaften nicht erfasst. Der I. Senat des BFH und das BMF gehen deshalb in solchen Fällen von einer Aufdeckung der stillen Reserven aus.1 Der I. Senat des BFH hält diese Lücke des Gesetzes zwar für sinn- und sogar für verfassungswidrig,2 meint aber, dies beruhe auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers, weshalb eine analoge Anwendung der Vorschrift nicht in Betracht komme. Demgegenüber hält der IV. Senat des BFH diesen Rechtsstandpunkt der Kollegen des I. Senats für „ernstlich zweifelhaft“.3 In der Tat ist teleologisch betrachtet eine Aufdeckung der stillen Reserven in solchen Fällen nicht überzeugend, weil die personelle Zuordnung der stillen Reserven aus Sicht des Transparenzprinzips gewahrt bleibt. Zudem zwingt die Rspr. des I. Senats die Stpfl. zu Umweggestaltungen4 (z.B. Kettenübertragung eines WG zunächst vom Gesellschafts- ins Sonderbetriebsvermögen und anschließend ins Gesellschaftsvermögen der Schwestergesellschaft5), die zum einen ökonomisch unnötige Transaktionskosten auslösen (bei Grundstücken etwa Notarkosten und GrESt, vgl. §§ 1, 5, 6 GrEStG) und zum anderen Gefahr laufen, unter das Verdikt der Gesamtplanrechtsprechung6 (§ 5 Rz. 123) zu geraten.
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Abgrenzung: § 6 V 3 EStG regelt nicht die Übertragung von Wirtschaftsgütern aus dem Privatvermögen in das Gesellschaftsvermögen (dazu Rz. 151 m.w.N.). Ebenso regelt § 6 V 3 EStG nicht die entgeltliche Veräußerung im eigentlichen Sinne. Eine Gewährung oder Minderung von Gesellschaftsrechten liegt bei Erhöhung oder Minderung des (in Kapitalanteile aufzuteilenden) Gesellschaftskapitals vor, ein Entgelt bei Einräumung eines eigenständigen schuldrechtlichen Zahlungsanspruchs (Fremdkapital) gegen die Gesellschaft.7 In diesen Fällen tritt wie bisher Gewinnrealisierung ein und kommt es zur Aufdeckung der stillen Reserven (BMF BStBl. I 2011, 1279, Tz. 15, 38). Bei teilentgeltlicher Übertragung (z.B. Übernahme von Schulden unter dem Verkehrswert des übertragenen Wirtschaftsguts) ist nach Auffassung der Finanzverwaltung der unentgeltliche Teil nach § 6 V 3 EStG zum Buchwert zu übertragen, hinsichtlich des entgeltlichen Teils liege eine Veräußerung vor, die zur anteiligen Aufdeckung der stillen Reserven führe (BMF BStBl. I 2011, 1279, Tz. 15; BStBl. I 2013, 1164; Trennungstheorie). Demgegenüber kommt es nach der zutreffenden Rspr. des IV. Senats des BFH bei teilentgeltlicher Übertragung eines WG nicht zur Realisierung eines Gewinns, wenn das Entgelt den Buchwert nicht übersteigt.8
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1 BFH v. 25.11.2009 – I R 72/08, BStBl. 2010, 471; BMF BStBl. I 2006, 228 (229 IV. 1) sowie BMF v. 8.12.2011, BStBl. I 2013, 1164, Tz. 18. 2 S. den Vorlagebeschluss des BFH v. 10.4.2013 – I R 80/12, BStBl. 2013, 1004; Az. beim BVerfG 2 BvL 8/13. 3 BFH v. 15.4.2010 – IV B 105/09, BStBl. 2010, 971; hierzu Gosch, DStR 2010, 1173; Hennrichs, FR 2010, 722; Herlinghaus, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 67 (77 ff.); Ley, Ubg. 2011, 274 (277 f.); Ley, DStR 2011, 1208; Kirchhof/Reiß13, § 15 EStG Rz. 388a ff.; Dornheim, Ubg. 2012, 618; Bernütz/Loll, DB 2013, 665; Tiede, StuB 2013, 883; je m.w.N. 4 Vgl. Ostermayer/Riedel, BB 2003, 1305; Niehus, FR 2005, 278; die Möglichkeit der steuerneutralen Realteilung auf Schwesterpersonengesellschaften ablehnend FG Düsseldorf v. 9.2.2012 – 3 K 1348/10 F, EFG 2012, 1256 (dazu Rev. unter IV R 8/12); zu möglichen Ausweichgestaltungen bei der Realteilung Niehus/Wilke, FR 2012, 1093. 5 Für eine steuerrechtliche Würdigung solcher Sachverhalte als abgekürzte Aus- und Einbringung unabhängig von den rechtlichen Gestaltungen Ley, DStR 2011, 1208. 6 Dazu BMF BStBl. I 2011, 1279, Tz. 19; BMF BStBl. I 2013, 1164; ferner Förster/Schmidtmann, StuW 2003, 114; Crezelius, FR 2003, 537; Strahl, KÖSDI 2003, 13918; Strahl, FR 2004, 929; Strahl, StbJb. 2005/06, 97 (101 ff.); Söffing, BB 2004, 2777; Spindler, DStR 2005, 1; Förster, FS Korn, 2005, 3; Förster, StbJb. 2004/05, 227; Dornheim, DStZ 2014, 56. 7 Vgl. Kirchhof/Reiß13, § 15 EStG Rz. 162; § 2 EStG Rz. 73. 8 BFH v. 19.9.2012 – IV R 11/12, DStR 2012, 2051; v. 21.6.2012 – IV R 1/08, DStR 2012, 1500 entgegen BMF BStBl. I 2011, 1279, Rz. 15; dazu M. Wendt, DB 2013, 834; U. Prinz/Cüting, DB 2012, 2597;
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§ 10 165
Rz. 165
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
Konkurrenzen: § 6 III (Rz. 183 ff.); § 16 III 2 EStG (Rz. 201 ff.) und § 24 UmwStG (Rz. 152 f.) gehen § 6 V 3 EStG vor, soweit im Rahmen einer Sachgesamtheit einzelne Wirtschaftsgüter übertragen werden.1 Im Verhältnis zu § 6 IV EStG hat § 6 V EStG Vorrang.2 Bringt der Stpfl. einen Betrieb in eine Mitunternehmerschaft ein und wendet er zugleich einem Dritten unentgeltlich Mitunternehmeranteile zu (z.B. bei Einbringung eines bislang einzelkaufmännischen Unternehmens in eine KG unter Schenkung einer Beteiligung an Kinder im Zuge einer Unternehmensnachfolge), sind auf diesen Vorgang § 6 III EStG und § 24 UmwStG nebeneinander anwendbar, da der Sinn und Zweck der Vorschriften den Ausschluss der jeweils anderen Norm nicht gebietet.3 Bei einer unentgeltlichen Übertragung eines Mitunternehmeranteils und gleichzeitiger Übertragung von Sonderbetriebsvermögen zum Buchwert in das Gesamthandsvermögen einer Mitunternehmerschaft sind § 6 III EStG und § 6 V EStG parallel anwendbar.4 Ist an einer Mitunternehmerschaft eine Kapitalgesellschaft beteiligt, sind bei Sacheinlagen die Vorschriften über die vGA und die verdeckten Einlagen vorrangig.5
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Einstweilen frei.
4. Übertragung von Anteilen an einer Mitunternehmerschaft6 4.1 Veräußerung 180
Gewinne aus der Veräußerung eines Anteils an einer Mitunternehmerschaft gehören gem. § 16 I 1 Nr. 2 EStG zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb (zur Betriebsveräußerung s. auch § 8 Rz. 421; § 9 Rz. 463). Bei Veräußerung des gesamten Mitunternehmeranteils greift die Tarifbegünstigung des § 34 I, II Nr. 1 EStG sowie ggf. die Freibetragsregelung des § 16 IV EStG ein. Der Begriff des Mitunternehmeranteils i.S.d. § 16 I Nr. 2 EStG umfasst nicht nur
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2 3 4
5 6
Heuermann, DB 2013, 1328; Vees, DStR 2013, 681; Levedag, GmbHR 2013, 673; s. auch die jüngste Beitrittsaufforderung des BFH v. 19.3.2014 – X R 28/14, BStBl. 2014, 629. Gl. A. BMF BStBl. I 2011, 1279, Tz. 12; Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 710; zum Anwendungsverhältnis von § 16 III 1 EStG und § 6 V EStG s. FG Nürnberg v. 19.6.2012 – 6 K 633/10 (dazu Rev. unter IV R 26/12); zum Verhältnis von § 24 UmwStG und § 6 V 3 Nr. 2 EStG bei der Einbringung eines Geschäfts- oder Firmenwertes im Rahmen der Begründung einer atypisch stillen Gesellschaft Hess. FG v. 7.12.2011 – 13 K 367/07 (dazu Rev. unter IV R 5/12). Zum Verhältnis von § 6 V EStG zu § 24 UmwStG bei der Übertragung einer 100%gen Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft vom Sonder- in das Gesamthandsvermögen Reiser/Schierle, DStR 2013, 113; Schmitt/Hörtnagl/Stratz6, § 24 UmwStG Rz. 4. Bei der Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils in eine Personengesellschaft gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten geht § 24 UmwStG als lex specialis § 16 I 1 Nr. 1 bis 3 und II EStG vor, s. Rasche in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, § 24 UmwStG Rz. 13. Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 710. BFH v. 18.9.2013 – X R 42/10, DStR 2013, 2380 gegen BMF BStBl. I 2011, 1314 Tz. 24.07. BFH v. 2.8.2012 – IV R 41/11, DStR 2012, 2118 gegen BMF BStBl. I 2005, 458 Tz. 6; BStBl. I 2013, 1164BStBl.; zur Problematik s. Förster, DB 2013, 2047; Bohn/Peters, DStR 2013, 281; Vees, DStR 2013, 681; Vees, DStR 2013, 743; Stein/Stein, FR 2013, 156; Levedag, GmbHR 2013, 673; Rogall/ Dreßler, Ubg. 2013, 73; Dornheim, FR 2014, 869; zur Anwendbarkeit des § 6 III EStG bei vorheriger Veräußerung von funktional nicht wesentlichen Sonder-BV unter Aufdeckung der stillen Reserven beim Veräußerer s. FG Münster 12 K 3303/11-F, EFG 2014, 1369 (Rev. BFH: IV R 29/14). Zur Ausgliederung von funktional wesentlichen Wirtschaftsgütern kurz vor einer Einbringung i.S.d. § 20 UmwStG FG Baden-Württemberg v. 28.11.2013, DStZ 2014, 99 (dazu Rev. unter IV R 44/13). BFH v. 15.9.2004 – I R 7/02, BStBl. 2005, 867; Kirchhof/Reiß13, § 15 EStG Rz. 390; Rasche in Rödder/ Herlinghaus/van Lishaut2, § 24 UmwStG Rz. 18 f.; Groh, DB 2003, 1403; krit. dazu Briese, GmbHR 2005, 207. Paus, StBp. 2004, 357 u. 2005, 15 u. 48; Paus, StWa 2003, 49; ferner Brandenberg, DStZ 2002, 512 (unentgeltlich) u. 552 (entgeltlich); Hoffmann, GmbHR 2002, 236 (unentgeltlich); Brandenberg, NWB 2002 Fach 3, 12037; Förster, FR 2002, 649; Ley, KÖSDI 2004, 14024; Schoor, SteuerStud 2004, 519; Brandenberg, Stbg. 2004, 65; Mecklenbrauck, Die Abfindung zum Buchwert beim Ausscheiden eines Gesellschafters, Diss., 2004; Kanzler, FS Korn, 2005, 287 (unentgeltlich); Brinkmann, Teilentgeltliche Unternehmensnachfolge im Mittelstand, Diss., 2005; Ley, FS Schaumburg, 2009, 423. Ausführlich Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften3, 168 ff.; Bohn/Peters, DStR 2013, 281; Holln, NWB 2013, 3706.
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Hennrichs
Übertragung von Anteilen an einer Mitunternehmerschaft
Rz. 182
§ 10
den Anteil des Mitunternehmers am Vermögen der Gesellschaft, sondern auch das Sonderbetriebsvermögen. Voraussetzung ist daher, dass wesentliche Betriebsgrundlagen, die im Sonderbetriebsvermögen (s. Rz. 131 ff.) des Veräußerers enthalten sind, mitübertragen werden1. Was wesentliche Betriebsgrundlage ist, bestimmt sich quantitativ-funktional2 entsprechend dem Gesetzeszweck der §§ 16; 34 EStG, nur die Aufdeckung zusammengeballter stiller Reserven tariflich zu begünstigen. § 16 I 2 EStG schließt die Tarifbegünstigung richtigerweise für Gewinne aus der Veräußerung von Teilanteilen an einer Mitunternehmerschaft aus3, indem diese dem laufenden Gewinn zugeordnet werden. Zwar sind auch die bei Veräußerung eines Teilanteils realisierten stillen Reserven über einen längeren Zeitraum entstanden, es fehlt aber an der Aufdeckung aller stillen Reserven, wie sie den übrigen Fällen der §§ 16; 34 EStG als Normzweck zugrunde liegt4. Der Mitunternehmeranteil ist handelsbilanziell Vermögensgegenstand, nach st. Rspr. des BFH steuerrechtlich jedoch kein Wirtschaftsgut5 (§ 9 Rz. 158). Das Steuerrecht behandelt die Übertragung von Gesellschaftsanteilen an Personengesellschaften dem Transparenzgedanken folgend als anteilige Übertragung der einzelnen Wirtschaftsgüter des Gesellschaftsvermögens (§ 39 II Nr. 2 AO)6. § 16 I 1 Nr. 2 EStG dient lediglich der Zusammenfassung zwecks Anwendung der Tarifbegünstigung des § 34 EStG. Deshalb steht § 16 I 1 Nr. 2 EStG nach BFH BStBl. 2003, 250 (255), einem Durchgriff auf die im Gesamthandsvermögen enthaltenen Grundstücke als Zählobjekte zur Beurteilung, ob der Gesellschafter durch Veräußerung eines Anteils an einer gewerblichen Mitunternehmerschaft in eigener Person einen gewerblichen Grundstückshandel begründet, nicht entgegen (dazu Rz. 47).
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4.2 Ausscheiden von Gesellschaftern gegen Abfindung Scheidet ein Gesellschafter aus der Personengesellschaft aus und erhält er hierfür ein Entgelt (Abfindung, § 738 I 1 BGB), ist dies steuerlich ebenfalls eine Veräußerung des Anteils i.S.v. § 16 I 1 Nr. 2 EStG7. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Entgelt aus gesellschaftsfremdem Vermögen (so bei Übertragung des Anteils an einen anderen Mitunternehmer) oder aus dem Gesellschaftsvermögen geleistet wird (so der gesetzliche Regelfall, § 738 I 1 BGB)8. Veräußerungspreis ist das vereinbarte Entgelt, bei Abfindung aus dem Gesellschaftsvermögen der 1 BFH v. 19.3.1991 – VIII R 76/83, BStBl. 1991, 635; v. 6.12.2000 – VIII R 21/00, BStBl. 2003, 194 (196 f.); v. 10.11.2005 – IV R 7/05, BStBl. 2006, 176 (177). Dazu Schulze zur Wiesche, StBp. 2004, 63 u. 110; Schoor, StBp. 2008, 113; zur Zurückbehaltung von Forderungen bei einer Praxiseinbringung nach § 24 UmwStG s. BFH v. 4.12.2012 – VIII R 41/09, BStBl. 2014, 288.2013; dazu Fuhrmann/ Müller, DStR 2013, 848. 2 BFH v. 2.10.1997 – IV R 84/96, BStBl. 1998, 104. 3 Eingefügt durch UntStFG v. 20.12.2001 (BGBl. I 2001, 3858); zuvor BFH v. 18.10.1999 – GrS 2/98, BStBl. 2000, 123 (128 f.) (Festhalten an der Tarifbegünstigung für Bruchteilsübertragungen allein aus Gründen der Rechtssicherheit); zweifelnd auch BFH v. 6.12.2000 – VIII R 21/00, BStBl. 2003, 194 (197). 4 Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 411; Wendt, FR 2002, 127 (128 f.); Geissler, FR 2001, 1029 (1035 f.); a.A. 17. Aufl., § 17 Rz. 46 Fn. 84; zur Abgrenzung von laufendem Gewinn und steuerbegünstiger Mitunternehmeranteilsveräußerung bei Unbestimmtheit der Gegenleistung FG Düsseldorf, EFG 2013, 287 (dazu Rev. unter VIII R 47/12). 5 BFH v. 6.11.1985 – I R 242/81, BStBl. 1986, 333; v. 28.11.2002 – III R 1/01, BStBl. 2003, 250 (255); v. 6.5.2010 – IV R 52/08, BStBl. 2011, 261; BFH v. 26.4.2012 – IV R 44/09, BStBl. 2013, 142 (Tz. 18); zust. Sommer, Bilanzierung von Anteilen an Personengesellschaften in Handels- und Steuerbilanz, Diss., 1996, 191 ff.; Kahle, DStZ 2012, 61 (66); a.A. Kirchhof/Reiß13, § 16 EStG Rz. 133; krit. auch Dietel, DStR 2002, 2140 (2144 f.); zur handelsbilanziellen Erfassung ausf. Graf von Kanitz, WPg. 2007, 57. 6 BFH v. 6.5.2010 – IV R 52/08, BStBl. 2011, 261; v. 26.4.2012 – IV R 44/09, BStBl. 2013, 142; Ley, Ubg. 2011, 274 (278); Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 452, 480. 7 BFH v. 10.3.1998 – VIII R 76/96, BStBl. 1999, 269 (271); BFH v. 14.9.1994 – I R 12/94, BStBl. 1995, 407; Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 450. 8 Vgl. BFH v. 10.3.1998 – VIII R 76/96, BStBl. 1999, 269; BFH v. 15.4.1993 – IV R 66/92, BStBl. 1994, 227; a.A. (bei Abfindung aus dem Gesellschaftsvermögen handele es sich um die Aufgabe eines Mitunternehmeranteils i.S.d. § 16 III 1 EStG) Kirchhof/Reiß13, § 16 EStG Rz. 117. Zur Sachwertabfindung von Mitunternehmern s. Dietel, DStR 2011, 1493.
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182
§ 10
Rz. 183
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
Abfindungsanspruch1. Soweit Sonderbetriebsvermögen nicht mit veräußert wird, sondern in das Privatvermögen übergeht, der gemeine Wert dieser Wirtschaftsgüter wie ein Veräußerungserlös zu berücksichtigen.2 Dem ist für die Ermittlung des Veräußerungsgewinns der Buchwert des veräußerten Mitunternehmeranteils gegenüber zu stellen. Maßgeblich ist dabei der Buchwert des Mitunternehmeranteils einschließlich Sonderbilanz und etwaiger Ergänzungsbilanz.3 Muss der Ausgeschiedene mit einer Inanspruchnahme durch die Gesellschaftsgläubiger rechnen (s. § 160 HGB) und ist der Aufwendungsersatzanspruch des Gesellschafters (§ 110 HGB) nicht vollwertig (weil die Gesellschaft in wirtschaftlichen Schwierigkeiten ist), mindert dies den Veräußerungsgewinn.4 183
Im Gegenzug hat der Erwerber Anschaffungskosten für die erworbenen ideellen Anteile des Ausgeschiedenen an den einzelnen Wirtschaftsgütern des Gesellschaftsvermögens (§ 39 II Nr. 2 AO; Rz. 181). Geht der Anteil auf einen neuen Gesellschafter über, hat dieser seine Aufwendungen für die Anteile an den Wirtschaftsgütern des Gesellschaftsvermögens, soweit diese höher sind als in der Steuerbilanz der Gesellschaft ausgewiesen, in einer Ergänzungsbilanz zu aktivieren und in den künftigen Perioden fortzuentwickeln. Der zu aktivierende „Mehrbetrag“ ist auf alle bilanzierten Wirtschaftsgüter mit stillen Reserven zu verteilen. Auch immaterielle Wirtschaftsgüter sind anzusetzen (§ 5 II EStG steht nicht entgegen, da die Wirtschaftsgüter entgeltlich erworben worden sind). Ein etwaiger verbleibender Mehrbetrag ist grds.5 als Geschäftsoder Firmenwert anzusetzen.6 Erfolgt die Abfindung aus dem Gesellschaftsvermögen gegen Anwachsung, ist ertragsteuerlich ebenfalls von einem Anschaffungsgeschäft auszugehen. Die anteilige Aufstockung der Buchwerte geschieht in diesem Fall nach h.M. in der Steuerbilanz der Gesellschaft.7
4.3 Unentgeltliche Übertragung 184
Für die unentgeltliche Übertragung eines Mitunternehmeranteils ordnet § 6 III EStG eine Buchwertverknüpfung an. Diese Vorschrift grenzt Zuwendungsvorgänge systemgerecht aus dem Markteinkommenstatbestand aus. Voraussetzung ist nach Verwaltungsauffassung, dass das zugehörige Sonderbetriebsvermögen vollständig mitübertragen wird8. Nach zutreffender Ansicht des BFH scheidet die Aufdeckung stiller Reserven bei der unentgeltlichen Übertragung des Anteils gem. § 6 IIII EStG dagegen auch dann aus, wenn ein funktional wesentliches Wirtschaftsgut des Sonderbetriebsvermögens vorher oder zeitgleich nach § 6 V EStG zum Buchwert übertragen worden ist (Rz. 155, 165). Der Gewinnneutralität gem. § 6 III EStG steht es auch nicht entgegen, dass wenige Tage zuvor (funktional unwesentliches) Sonderbetriebsvermögen unter Aufdeckung der stillen Reserven – unter Ansatz eines laufenden Gewinns beim Rechtsvorgänger – veräußert wird.9 1 Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 455 f. 2 BFH v. 28.7.1994 – IV R 53/91, BStBl II 1995, 112; BFH v. 24.8.1989 – IV R 67/86, BStBl. 1990, 132; Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 460. 3 Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 463. 4 Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 465 m.w.N. 5 Wird der „Mehrbetrag“ der Abfindung nicht als Entgelt für die Übernahme stiller Reserven oder eines Geschäftswerts, sondern für die Freistellung eines „lästigen Gesellschafters“ gezahlt, darf kein Geschäfts- oder Firmenwert aktiviert werden, Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz. 270 ff. 6 Zum Ganzen Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz. 262 ff. m.w.N. 7 Zum Ganzen Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 480 ff. (482) m.w.N. – Zur handelsrechtlichen Bilanzierung in diesen Fällen s. einerseits IDW RS HFA 7 Tz. 59 (ebenfalls Aufstockung in der HB); a.A. Lüdenbach, StuB 2013, 744 (keine Aufstockung, sondern Verrechnung des den Buchwert des Anteils des Ausgeschiedenen übersteigenden Betrags mit den Kapitalanteilen der anderen). 8 BMF BStBl. 2005, 458, m.Anm. Emmerich/Kloster, GmbHR 2005, 448; Kai, DB 2005, 794; Korn, KÖSDI 2005, 14633; Wendt, FR 2005, 468; Boeddinghaus, NWB 2006 Fach 3, 13621; Stegemann, INF 2005, 344; Wacker, JbFSt. 2005/06, 554; Schulze zur Wiesche, DStZ 2005, 664; Wacker, ZSteu 2005, 358; Wendt, StbJb. 2011/12, 31 (38 ff.). 9 FG Münster, 12 K 3303/11-F, EFG 2014, 1369 (dazu Rev. unter IV R 29/14).
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Hennrichs
Übertragung von Anteilen an einer Mitunternehmerschaft
Rz. 189
§ 10
Die unentgeltliche Übertragung eines Teilanteils an einem Mitunternehmeranteil ist – anders als im Fall der entgeltlichen Übertragung (Veräußerung, s. Rz. 180) – in § 6 III 1 Hs. 2 EStG der Übertragung des gesamten Mitunternehmeranteils gleichgestellt.
185
Bei teilentgeltlicher Übertragung eines Mitunternehmeranteils ist nach der vom BFH praktizierten Einheitstheorie (dazu § 9 Rz. 432) zu unterscheiden: Übersteigt das Entgelt das Kapitalkonto des veräußerten Mitunternehmeranteils, so ist einheitlich von einem entgeltlichen Geschäft auszugehen. Das ermäßigte Entgelt ist Veräußerungspreis i.S.d. § 16 II EStG und der Freibetrag nach § 16 IV EStG ist in voller Höhe zu gewähren. Unterschreitet das Entgelt den Wert des Kapitalkontos, wird das Geschäft insgesamt als unentgeltlich behandelt, d.h. zwingende Buchwertfortführung gem. § 6 III EStG. Die teilweise Unentgeltlichkeit wird regelmäßig außerbetrieblich veranlasst sein (dazu BFH BStBl. 2003, 112), so dass der Veräußerer keinen Veräußerungsverlust geltend machen kann. Für § 6 III EStG ist die Übernahme von Schulden, die zu der betrieblichen Einheit gehören, nicht als Entgelt anzusehen (anders als im Fall des § 6 V 3 EStG, Rz. 156, 159). Denn zu den betrieblichen Einheiten i.S.d. § 6 III EStG gehören regelmäßig auch Schulden, so dass bei deren Anrechnung als Entgelt die Anwendbarkeit des § 6 III EStG ausgeschlossen wäre1.
186
4.4 Tod eines Mitunternehmers und vorweggenommene Erbfolge2 Erbfall und vorweggenommene Erbfolge bezogen auf einen Mitunternehmeranteil sind Hauptanwendungsfälle der unentgeltlichen Übertragung i.S.d. § 6 III EStG.3 Wird die Gesellschaft mit allen Erben fortgeführt und demzufolge keine Abfindungszahlung geleistet (für den Kommanditisten die gesetzliche Regel s. § 177 HGB; für persönlich haftende Gesellschafter bei sog. einfacher Nachfolgeklausel im Gesellschaftsvertrag), lässt § 6 III 1 EStG die Fortführung der Buchwerte durch den oder die in die Gesellschaft eintretenden Erben bzw. die verbleibenden Gesellschafter zu4. Auf die einkommensteuerrechtliche Abrechnung der stillen Reserven beim Erblasser wird dann verzichtet.
187
Wird die Gesellschaft dagegen nur unter den verbliebenen Gesellschaftern fortgesetzt und erhalten die Erben des Verstorbenen eine Abfindung (nunmehr gesetzliche Regel für den Tod persönlich haftender Gesellschafter in OHG und KG, §§ 131 III Nr. 1, 161 II HGB, § 738 BGB; oder als gesellschaftsvertragliche Fortsetzungsklausel vereinbart), liegt ein Veräußerungsvorgang i.S.d. § 16 I 1 Nr. 2 EStG vor. In der Person des Erblassers entsteht ein begünstigter Veräußerungsgewinn i.H. der Differenz zwischen dem Wert des Abfindungsanspruchs und dem Buchwert des Mitunternehmeranteils im Todeszeitpunkt5. Die Gesellschafter haben in dieser Höhe spiegelbildlich Anschaffungskosten für die Anteile des verstorbenen Gesellschafters (§ 39 II Nr. 2 AO)6. S. auch Rz. 182 f. und § 9 Rz. 433. Zu teilentgeltlichen Übertragungen Rz. 185; § 9 Rz. 432.
188
Wird die Gesellschaft nur mit einem oder mehreren Erben fortgesetzt, die dafür im Gesellschaftsvertrag qualifiziert sind (sog. qualifizierte Nachfolgeklausel), sind Ausgleichszahlungen an die ausgeschlossenen Miterben zivilrechtlich Instrumente des erbrechtlichen Wertausgleichs und steuerlich der außerbetrieblichen Ebene der Miterben untereinander zuzurechnen (Privatschuld7). Sie
189
1 Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 655. 2 Dazu Felix, KÖSDI 1997, 11064; Märkle, FR 1997, 135; Knebel, DB 2000, 169; Kempermann, FR 2003, 321; Hils, Die Behandlung des Sonderbetriebsvermögens im Erbfall, Diss., 2004; Schulze zur Wiesche, DStZ 2013, 25; Riedel, GmbH-StB 2013, 178; Wachter, DB 2013, 200; Stein, JbFSt. 2013/14, 745; Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 660 ff. 3 Zu Anschaffungsnebenkosten bei einem unentgeltlichen Erwerb BFH v. 9.7.2013 – IX R 4/11, DStR 2013, 1984. Zur Behandlung von im Zusammenhang mit einer unentgeltlichen Übertragung im Wege der Erbfolge angefallenen Notarkosten als Entnahme FG Nürnberg v. 17.3.2011 – 4 K 582/2009, EFG 2011, 1688 (dazu Rev. unter IV R 44/12). 4 Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz. 86. 5 BFH v. 15.4.1993 – IV R 66/92, BStBl. 1994, 227; Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 661. 6 Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz. 81; Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 661. 7 Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 673, m.w.N.
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§ 10
Rz. 190
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
führen deshalb bei dem oder den qualifizierten Mitunternehmer-Erben nicht zu Anschaffungskosten für den Anteil und bei den übrigen Erben nicht zu einem Veräußerungsgewinn i.S.v. § 16 I 1 Nr. 2 EStG.1 Zur Erbauseinandersetzung s. auch § 9 Rz. 433. 190–199
Einstweilen frei.
5. Auflösung 5.1 Aufgabe des Gewerbebetriebs der Mitunternehmerschaft und Liquidation 200
Bei Auflösung und anschließender Liquidation der Gesellschaft werden stille Reserven im Gesamthands- und Sonderbetriebsvermögen durch Veräußerung bzw. Entnahme von Wirtschaftsgütern in das Privatvermögen der Gesellschafter aufgedeckt. Der Aufgabegewinn ist gem. §§ 16 III, IV; 34 II Nr. 1 EStG begünstigt, wenn die stillen Reserven in einem einheitlichen Vorgang aufgedeckt werden2. Abzugrenzen ist gegenüber dem laufenden Gewinn3. S. § 9 Rz. 463 ff.
5.2 Realteilung 201
Statt durch Liquidation mit Versilberung des Gesellschaftsvermögens und Barauszahlungen kann eine Personengesellschaft auch durch Realteilung beendigt werden. Realteilung4 ist die Auflösung einer Mitunternehmerschaft unter Verteilung des Betriebsvermögens (einzelne Wirtschaftsgüter oder Teilbetriebe) auf die bisherigen Mitunternehmer. Die Rechtsfolgen der zuvor nur richterrechtlich5 behandelten Realteilung sind mittlerweile in § 16 III 2–4 EStG geregelt. An einer Legaldefinition der Realteilung fehlt es aber immer noch. Mangels Betriebsaufgabe liegt eine steuerneutrale Realteilung nicht vor, wenn ein Mitunternehmer ausscheidet und der Verbleibende den Betrieb unverändert fortführt (vgl. auch BMF BStBl. I 2011, 1279, Tz. 17, 37). In diesem Fall kann jedoch § 6 V 3 Nr. 1 EStG erfüllt sein (BMF BStBl. I 2011, 1279, Tz. 17, 37).
202
Nach § 16 III EStG gilt Folgendes: Werden Teilbetriebe, Mitunternehmeranteile oder einzelne Wirtschaftsgüter in das Betriebsvermögen6 der einzelnen Mitunternehmer übertragen, so sind die Buchwerte fortzuführen, sofern die Besteuerung der stillen Reserven sichergestellt ist 1 Vgl. Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz. 89; Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 672. 2 BFH v. 12.12.2000 – VIII R 10/99, BStBl. 2001, 282; 2003, 67: Erstreckung über mehrere Veranlagungszeiträume (bis zu 3) ist unschädlich; BFH v. 22.10.2013 – X R 14/11, BStBl. 2014,158: keine Anwendung der Einheitstheorie auf die teilentgeltliche Betriebsaufgabe; BFH v. 30.8.2012 – IV R 44/10, BFH/NV 2013, 376, v. 25.2.2010 – IV R 49/08, BStBl. 2010, 726; Hess. FG v. 15.8.2013 – 1 K 2111/09, EFG 2013, 1924 (dazu Rev. unter IV R 36/13): zeitraumbezogene materiell rechtliche Betrachtung mehrerer Rechtsgeschäfte im Wege der Gesamtplanrechtsprechung aufgrund des Zwecks der § 16 I, IV i.V.m. § 34 EStG. 3 BFH v. 23.1.2003 – IV R 75/00, BStBl. 2003, 467. 4 Zu Anwendungsbereich und Rechtsfolgen BMF BStBl. I 2006, 228; Musil, DB 2005, 1291; Heß, DStR 2006, 777; Kölpin, StuB 2006, 751 (Spitzenausgleich); Paus, DStZ 2006, 285; Paus, StWa 2006, 251; Rogall/Stangl, FR 2006, 345; Schell, BB 2006, 1026; Schoor, INF 2006, 306; Schulze zur Wiesche, DB 2006, 921; Spiegelberger, NWB 2006 Fach 3, 14019; Stahl, KÖSDI 2006, 14939; Stahl, DStZ 2006, 548; Vogelgesang, ZSteu 2006, 242; Werner, StuB 2007, 939 u. 2008, 66; Röhner, StuW 2008, 144; Kai, SteuerStud 2008, 594; Brandenberg, FS Spiegelberger, 2009, 33; Röhring, EStB 2013, 190; Schoor, NWB 2013, 3250; aus betriebswirtschaftlicher Sicht Bock, Die Realteilung von Personengesellschaften im Einkommensteuerrecht, Diss. 2010; zur Anwendung auf Ausscheiden eines Mitunternehmers gegen Sachwertabfindung Mitschke, NWB 2009, 606 (abl.); zur Sachwertabfindung durch Übertragung von Sachgesamtheiten FG Hamburg v. 18.4.2012 – 3 K 89/11, EFG 2012, 1744 (dazu Rev. unter III R 49/13); Niehus/Wilke, FR 2012, 1093 (1100); zur Realteilung einer ihren Gewinn durch EÜR ermittelnden freiberuflichen Mitunternehmerschaft BFH v. 11.4.2013 – III R 32/12, BStBl. 2014, 242. 5 BFH v. 1.12.1992 – VIII R 57/90, BStBl. 1994, 607; 1998, 268 (betr. UmwStG), 342; BMF BStBl. I 1994, 601; BFH v. 11.4.2013 – III R 32/12, DStR 2013, 1830. 6 Bei Überführung in das Privatvermögen ist § 16 III 2 EStG hingegen nicht anzuwenden. Dies kann entsprechend dem Transparenzmodell zwischen den einzelnen Mitunternehmern unterschiedlich zu beurteilen sein, Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften3, 196.
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Hennrichs
Begünstigung des nicht entnommenen Gewinns (§ 34a EStG)
Rz. 220
§ 10
(§ 16 III 2 EStG). Das führt i.d.R. zur personellen Verlagerung stiller Reserven1. Das früher von der Rspr. (s. u.a. BFH v. 18.5.1995 – IV R 20/94, BStBl. 1996, 70 [71]) eingeräumte Wahlrecht, die Buchwerte fortzuführen oder die stillen Reserven aufzudecken und zu versteuern, hat der Gesetzgeber analog zu § 6 V 3 EStG abgeschafft. Kommt es innerhalb einer dreijährigen Sperrfrist zur Entnahme oder Veräußerung von zum Buchwert übertragenem Grund und Boden, Gebäuden oder anderen wesentlichen Betriebsgrundlagen, wird rückwirkend der gemeine Wert angesetzt (§ 16 III 3 EStG). Auf diese Weise soll Gestaltungen entgegengewirkt werden. Eine Buchwertfortführung scheidet von vornherein aus, wenn einzelne Wirtschaftsgüter unmittelbar oder mittelbar auf eine Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse übertragen werden (§ 16 III 4 EStG); es wird der gemeine Wert angesetzt. Unverständlich ist, warum der Gesetzgeber die Divergenz zwischen BFH und BMF zur Behandlung von Ausgleichszahlungen nicht entschieden hat. Wird ein Wertausgleich gezahlt, weil einer der Gesellschafter mehr Sachwerte erhält als ihm nach seiner Gesellschafterstellung zustehen, nimmt BFH BStBl. 1994, 607, beim Empfänger laufenden Ertrag (nicht begünstigt!) in Höhe des vollen Ausgleichsbetrags an2. Der zur Zahlung verpflichtete Gesellschafter hat hiernach korrespondierend in voller Höhe Anschaffungskosten. Dagegen beschränkt BMF BStBl. I 2006, 228 (229) den zu versteuernden Gewinn auf die anteilig aufgedeckten stillen Reserven im Verhältnis des gezahlten Betrags zum Teilwert der übernommenen Wirtschaftsgüter, d.h. der Wertausgleich wird um einen anteiligen Buchwert gemindert3. I.Ü. hindert die Ausgleichszahlung nicht die Fortführung der Buchwerte der übernommenen Wirtschaftsgüter/ Teilbetriebe.
203
Beispiel (s. BMF BStBl. 2006, 228, Tz. VI): A und B sind Gesellschafter einer OHG mit zwei Kinos. Kino 1 hat einen Buchwert von 100 000 Euro/Verkehrswert 1 Mio. Euro, Kino 2 einen Buchwert von 80 000 Euro/Verkehrswert 800 000 Euro. Nach Realteilung der OHG führt jeder der beiden Gesellschafter jeweils ein Kino als Einzelunternehmen fort. A zahlt an B 100 000 Euro Wertausgleich für das ihm zugeteilte höherwertige Kino. Lösung: Die Kinos bilden Teilbetriebe, so dass die Buchwerte der Kinos nach § 16 III 2 i.V.m. § 6 III EStG in den Eröffnungsbilanzen der Einzelunternehmen fortzuführen sind. Nach BFH hat A zusätzliche AK i.H.v. 100 000 Euro und B den Wertausgleich i.H.v. 100 000 Euro ohne Anwendung der §§ 16 IV; 34 EStG als laufenden Gewinn zu versteuern, nach BMF nur im Verhältnis des Wertausgleichs zum Teilwert, d.h. zusätzliche AK des A i.H.v. 90 000 Euro und entsprechend laufender Gewinn bei B.
Mit dem SEStEG wurde § 16 V EStG eingefügt, durch den verhindert werden soll, dass durch eine Realteilung, bei der Teilbetriebe übertragen werden, Anteile von einem nicht nach § 8b II KStG Steuerbegünstigten auf einen von dieser Norm Begünstigten übertragen werden4.
204
205–219
Einstweilen frei.
III. Begünstigung des nicht entnommenen Gewinns (§ 34a EStG)5 Die Begünstigung des nicht entnommenen Gewinns durch den Sondertarif nach § 34a EStG 2008 (s. § 8 Rz. 813, 828 ff.) können auch Mitunternehmer in Anspruch nehmen. Der Gesetz1 Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 547. 2 Der aber nicht der GewSt unterliegt, BFH v. 17.2.1994 – VIII R 13/94, BStBl. 1994, 809; Grobshäuser/ Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften3, 200. 3 Zum Ganzen s. auch Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 549, 618; Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz. 420 ff. 4 Hierzu Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften3, 199. 5 BMF BStBl. I 2008, 838, m. Anm. Ley, Ubg. 2008, 13; OFD Frankfurt/M., Rundvfg. v. 19.11.2013, S 2290aA – 02-St 213, DStR 2014, 803; Thiel/Sterner, DB 2007, 1099; Forst/Schaaf, EStB 2007, 263; Schultes-Schnitzlein/Keese, NWB 2007 Fach 3, 14683; Schulze zur Wiesche, DB 2007, 1610; Ley, KÖSDI 2007, 15737; Ley/Brandenberg, FR 2007, 1085; Hölzerkopf/Taetzner, BB 2007, 2769 (Verwendungsreihenfolge); Schiffers, GmbHStB 2007, 345 (GmbH & Co. KG); Ortmann-Babel/Zipfel, BB 2007, 2205 (2208 ff.); M. Schmitt, Stbg. 2007, 573 (581 ff.); Blum, BB 2008, 322; Fellinger, DB 2008, 1877; Grützner, StuB 2008, 745; Gragert/Wißborn, NWB 2008 Fach 3, 15251; Schiffers, DStR
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§ 10
Rz. 221
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
geber hat die Tarifbegünstigung für Gewinne aus Mitunternehmerschaft gesellschafter- und veranlagungszeitraumbezogen ausgestaltet. Jeder einzelne Mitunternehmer kann gem. § 34a I 2 EStG für jeden Mitunternehmerschaftsanteil und ohne Bindung für die Folgejahre (arg. „für jeden Veranlagungszeitraum gesondert“) einen Antrag auf Tarifbegünstigung stellen, wenn sein Anteil an dem nach §§ 4 I; 5 I EStG ermittelten Gewinn mehr als 10 % beträgt oder 10 000 Euro übersteigt (§ 34a I 3 EStG). Bei mehrstöckigen Personengesellschaften ist der Wortlaut von § 34a I 2 EStG, trotzdem der Gesellschafter der Obergesellschaft mittelbar zugleich einen Mitunternehmeranteil an der Untergesellschaft hält (vgl. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 2 EStG), m.E. dahingehend teleologisch zu reduzieren, dass nur ein Begünstigungsantrag bezüglich der Beteiligung an der Obergesellschaft zu stellen ist. Die gesellschafterbezogene Ausgestaltung des Begünstigungsantragsrechts vermeidet eine Anpassung der Gesellschaftsverträge. Jeder Gesellschafter kann individuell anhand seiner persönlichen Einkommensteuerverhältnisse entscheiden, ob der Begünstigungsantrag gegenüber einer sofortigen Regelbesteuerung vorteilhaft ist. 221
Nicht entnommener Gewinn (§ 34a II EStG) und Nachversteuerungsbetrag (§ 34a IV EStG) werden durch den Saldo der Entnahmen und Einlagen im Wirtschaftsjahr für jeden Mitunternehmer individuell ermittelt. Sondertarifierungsfähig ist der gem. §§ 4 I; 5 I EStG ermittelte, nicht entnommene Gewinn des Mitunternehmeranteils, d.h. unter Einbeziehung von Ergänzungs- und Sonderbilanzen. Entgegen dem Regelungsziel der Verwirklichung von Belastungsgleichheit mit der Kapitalgesellschaft ist daher davon auszugehen, dass § 34a EStG nicht auf das gesellschaftsrechtliche Eigenkapital der Personengesellschaft beschränkt ist, sondern die Gesellschafterebene einbezieht. Folglich mindern Sondervergütungen den gem. § 34a II EStG zu ermittelnden Begünstigungsbetrag nicht, solange keine Privatentnahme aus dem Sonderbereich vorliegt1. Mit Einlagen in das Sonderbetriebsvermögen können Entnahmen aus dem Gesamthandsvermögen saldiert werden. Damit werden in erheblichem Umfang Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet.
222
Zur Nachversteuerung kommt es außer durch Entnahme auch durch die Übertragung von Wirtschaftsgütern gem. § 6 V 1–3 EStG, soweit nicht der Nachversteuerungsbetrag mit übertragen wird (§ 34a V EStG); ferner in den Fällen des § 34a VI EStG, d.h. infolge Betriebsveräußerung und -aufgabe, Einbringung in eine Kapitalgesellschaft und Formwechsel, Übergang zur Gewinnermittlung gem. § 4 III EStG sowie auf Antrag des Stpfl. In den Fällen der unentgeltlichen Übertragung eines Mitunternehmeranteils sowie bei einer Einbringung zu Buchwerten nach § 24 UmwStG geht der Nachversteuerungsbetrag auf den Rechtsnachfolger oder den neuen Mitunternehmeranteil über (§ 34a VII EStG).
223
Zuständig für den Begünstigungsantrag und die gesonderte Feststellung des Nachversteuerungsbetrags ist das Wohnsitzfinanzamt des Mitunternehmers (§ 34a IX EStG). Es ist davon auszugehen, dass das Betriebsfinanzamt den begünstigungsfähigen Gewinn für jeden einzelnen Mitunternehmer ermittelt und dem Wohnsitzfinanzamt mitteilt. Eine gesetzliche Regelung fehlt.
2008, 1805; Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften3, 268 ff.; Harle, SteuerStud 2009, 244; Söffing/Worgulla, NWB 2009, 916 (doppelstöckige Mitunternehmerschaft); B. Fischer, FS Schaumburg, 2009, 319; Wendt, DStR 2009, 406; Ley, FS Herzig, 2010, 469; Wrede/Friederich, Stbg. 2010, 57; Kessler/Pfuhl/Grether, DB 2011, 185; Schneider/Wesselbaum-Neugebauer, FR 2011, 166; Bodden, FR 2011, 829; Bodden, FR 2012, 68; Brähler/Guttzeit/Scholz, StuW 2012, 119; Haag, BB 2012, 1966; Maetz, FR 2013, 652; Hellmeier, Forum Steuerrecht 2013, 63; Maetz, FR 2013, 652; Bareis, FR 2014, 581. – Zum Einfluss auf Gesellschaftsverträge Rodewald/Pohl, DStR 2008, 724; Reichert/ Düll, ZIP 2008, 1249; Crezelius, FS Spiegelberger, 2009, 65; Bisle, SteuK 2012, 182. – Aus steuerstrafrechtlicher Sicht Pflaum, wistra 2012, 205. 1 Vgl. Thiel/Sterner, DB 2007, 1099 (1102 f.); Schiffers, GmbHR 2007, 841 (842); krit. im Hinblick auf die gesetzgeberische Zielsetzung Hey, DStR 2007, 925 (926 ff.).
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§ 11 Körperschaftsteuer Rechtsgrundlagen: Körperschaftsteuergesetz i.d.F. der Bekanntmachung v. 15.10.2002 (BGBl. I 2002, 4144); Körperschaftsteuer-Durchführungsverordnung 1994 i.d.F. der Bekanntmachung v. 22.2.1996 (BGBl. I 1996, 365). Kommentare: Blümich, EStG, KStG, GewStG, Bd. 4; Dötsch/Pung/Möhlenbrock, Die Körperschaftsteuer, Loseblatt; Ernst & Young, KStG; Frotscher/Maas, Kommentar zum KStG; Herrmann/Heuer/ Raupach, EStG/KStG, Bde. IX u. X; Mössner/Seeger, KStG; Gosch, Körperschaftsteuergesetz2, 2009; Erle/Sauter, Heidelberger Kommentar zum KStG3, 2010; Streck, KStG mit Nebengesetzen8, 2014. Lehr- und Handbücher: Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993, 558; Tipke, StRO II2, 2003, 1163; Widmann (Hrsg.), Besteuerung der GmbH und ihrer Gesellschafter, DStJG 20 (1997); Seeger (Hrsg.), Perspektiven der Unternehmensbesteuerung, DStJG 25 (2002); Seer, Die Entwicklung der GmbH-Besteuerung, 2005; Frotscher, Körperschaftsteuer – Gewerbesteuer2, 2008; Jäger/F. Lang, Körperschaftsteuer18, 2009; Zenthöfer/Leben, Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer16, 2013; Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht16, 2013, § 6 B.; Gosch, § 178: Körperschaftsteuer, in Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013; Dötsch/Alber/Sädtler/Sell/Zenthöfer, Körperschaftsteuer17, 2014; Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften4, 2014, Kap. II; Niehus/Wilke, Besteuerung der Kapitalgesellschaften4, 2014. Zum Körperschaftsteuergesetz 1920/1922: Evers, Kommentar zum Körperschaftsteuergesetz in der Fassung vom 30. März 1920/8. April 1922, 1923; zum Körperschaftsteuergesetz 1925: Evers, Kommentar zum Körperschaftsteuergesetz vom 10. August 19252, 1927; zum Körperschaftsteuergesetz 1934: Mirre/Dreutter, Das Körperschaftsteuergesetz vom 16. Oktober 1934, 1939. Zur Entwicklung der Körperschaftsteuer: Rasenack, Die Theorie der Körperschaftsteuer, 1974; HHR/Desens, KStG, Dok. 1 KSt. Zur Unternehmensteuerreform 2000: s. 18. Aufl., § 11 vor Rz. 10.
A. Allgemeine Charakterisierung I. Dualismus der Unternehmensbesteuerung durch Nebeneinander von Trennungs- und Transparenzprinzip Körperschaften unterliegen als eigenständige Steuersubjekte1 der proportionalen Körperschaftsteuer. Im Verhältnis zwischen Körperschaft und Anteilseigner gilt das Trennungsprinzip2. Das Trennungsprinzip besagt, dass sich Körperschaft und Anteilseigner grds. wie zwei fremde Dritte gegenüberstehen. Sie verfügen steuerlich über getrennte Vermögenssphären. Leistungsbeziehungen werden unter der Voraussetzung ihrer Angemessenheit (s. Rz. 74) anerkannt. An Anteilseigner gezahlte Vergütungen sowie für zukünftige Verpflichtungen gebildete Rückstellungen (insb. Pensionsrückstellungen) mindern das Einkommen der Körperschaft. Auf der Ebene des Anteilseigners werden Leistungsvergütungen entsprechend der verwirklichten Einkunftsart als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 EStG), aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG) u.s.w. erfasst. Bei Ausschüttung von Gewinnen an natürliche Personen greift zusätzlich zur KSt die ESt ein. Der in einer Körperschaft erwirtschaftete Gewinn wird folglich auf zwei Ebenen besteuert. Die Gesamtbelastung setzt sich zusammen aus der proportionalen Belastung des thesaurierten Gewinns und der Belastung der Ausschüttung. Die Höhe der Gesamtbelastung hängt wesentlich davon ab, ob der Gesetzgeber ein Körperschaftsteuersystem (s. Rz. 6 ff.) zur Anwendung bringt, das die Vorbelastung auf Körperschaftsebene berücksichtigt.
1
Dagegen werden Personengesellschaften nach dem Transparenzprinzip besteuert, so dass der Gewinn unmittelbar und ausschließlich beim Gesellschafter der progressiven ESt unterliegt (hierzu i.E. § 10 Rz. 10 ff.). Leistungsbeziehungen zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern wirken sich weder in der ESt noch in der Gewerbesteuer aus (s. § 12 Rz. 21); sie werden dem
2
1 Grundl. hierzu Palm, Person im Ertragsteuerrecht, Habil., 2013, 472 ff. 2 Zu Verwirklichung und Durchbrechungen des Trennungsprinzips im KStG Böhmer, StuW 2012, 33.
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Gesamtgewinn der Personengesellschaft hinzugerechnet. Zwar ist die Personengesellschaft – was auch ihrer zivilrechtlichen Rechtsstellung entspricht – partiell als Einkünfteerzielungsund Einkünfteermittlungssubjekt verselbständigt (dazu § 10 Rz. 12). Sie ist aber nicht Steuersubjekt der ESt. Auf diese Weise hat der Gesetzgeber die Besteuerung der Personengesellschaft konzeptionell am Einzelunternehmer ausgerichtet. Denn der Einzelunternehmer verfügt von vornherein nur über eine Besteuerungsebene. Sein Gewinn unterliegt unmittelbar der ESt. Bereits zivilrechtlich ist es ihm wegen § 181 BGB nicht möglich, seine Vermögenssphären zu trennen und Leistungsvergütungen mit seinem Unternehmen zu vereinbaren. 3
Dieses Nebeneinander von KSt und ESt führt zu einem rechtsformabhängigen „Dualismus der Unternehmensbesteuerung“ der Einzelunternehmen und Personengesellschaften einerseits, der Kapitalgesellschaften und sonstigen Körperschaften andererseits (dazu ausf. § 13 Rz. 168 ff.).
II. Bedeutung der Körperschaftsteuer nach den Unternehmensteuerreformen 2008 4
Die Körperschaftsteuer hat in den letzten zwei Jahrzehnten eine beispiellose Entwicklung mitgemacht. Seit Anfang der 1990er Jahre befindet sich der Körperschaftsteuersatz in freiem Fall. Wurden thesaurierte Gewinne von Körperschaften vor 1990 noch entsprechend dem damaligen Einkommensteuerspitzensatz mit 56 % belastet, beträgt der Steuersatz seit 2008 infolge der Unternehmensteuerreform 2008 (UntStRefG 2008 v. 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912) nur noch 15 % (zur Entwicklung i.E. s. Rz. 110). Mit dieser drastischen Absenkung des Körperschaftsteuersatzes hat sich das Verhältnis zwischen Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer verschoben. Seit 2008 hat die Gewerbesteuer sowohl absolut als auch relativ zur KSt nochmals an Gewicht gewonnen1. Bei einem durchschnittlichen Hebesatz von 400 % geht die Gewerbesteuer mit 14 Punkten in die Gesamtbelastung ein (vgl. § 12 Rz. 1 ff.). Sie wird damit für Kapitalgesellschaften und sonstige Körperschaften mit gewerblichen Einkünften zur gleichberechtigten Unternehmensteuer neben der KSt, bei höheren Hebesätzen übersteigt sie die KSt sogar. Um die Belastung von Kapitalgesellschaften richtig einschätzen zu können, müssen Körperschaft- und Gewerbesteuer – trotz fortbestehender Unterschiede hinsichtlich Steuerobjekt und Bemessungsgrundlage (vgl. § 12 Rz. 3 ff.) – folglich zwingend zusammen betrachtet werden.
5
Einstweilen frei.
III. Körperschaftsteuersystem 1. Vermeidung wirtschaftlicher Doppelbelastung 6
Wird der Gewinn zunächst bei der Körperschaft mit KSt belastet, der ausgeschüttete Gewinn dann nochmals bei dem Anteilseigner (Aktionär, Gesellschafter einer GmbH u.s.w.) der ESt unterworfen, so ergibt sich eine wirtschaftliche Doppelbelastung2. Die volle Doppelbelastung mit KSt und ESt (sog. klassisches System) versucht man (formal-)juristisch damit zu rechtfertigen, dass Körperschaft und Anteilseigner je für sich eigenständige Rechtssubjekte seien3. Entgegen BVerfGE 116, 164 (198) reicht dies als Rechtfertigung jedoch nicht aus4. Zwar bedarf es 1 Herzig, DB 2007, 1451; Rödder, DStR 2007, Beihefter zu Heft 40, 3; Derlien/Wittkowski, DB 2008, 835; Kavcic/Vogel, StuB 2008, 121; Dietrich/Krakowiak, DStR 2009, 661. 2 Wirtschaftliche Doppelbelastung im Unterschied zur juristischen Doppelbesteuerung wegen der Steuersubjektverschiedenheit von Körperschaft und Anteilseigner. 3 Dazu ausf. Hey, Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung in Europa, Diss., 1997, 241 ff.; Reich, Die wirtschaftliche Doppelbelastung der Kapitalgesellschaften und ihrer Anteilsinhaber, 2000; Tipke, StRO II2, 1163 ff.; Englisch, Dividendenbesteuerung, Diss., 2005, 96 ff.; Palm, JZ 2012, 297; Palm, Person im Ertragsteuerrecht, Habil., 2013, 485 ff.; HHR/Desens, Einf. KSt Anm. 15 ff. m. zahlr. N. (2014). 4 Zur Kritik an dieser Entscheidung ausf. § 13 Rz. 172 f. m.N.
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Rz. 7
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der KSt schon aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit, da Gewinne, solange sie thesauriert werden, nicht beim Anteilseigner erfasst werden können1. In Höhe des thesaurierten Gewinns verfügt die Körperschaft über eine eigene, allerdings nur vorübergehende Leistungsfähigkeit. Insoweit ergänzt die KSt die ESt2. Dies erklärt aber noch nicht, warum ausgeschüttete Gewinne beim Anteilseigner einer Körperschaft nochmals belastet werden, zumal wenn sich dadurch insgesamt eine ungleiche Belastung im Verhältnis zum Einzelunternehmer oder Gesellschafter einer Personengesellschaft ergibt3, denn die Einschaltung einer juristischen Person begründet keine endgültig höhere Leistungsfähigkeit. Richtigerweise müsste die Vorbelastung mit KSt bei Ausschüttung vollständig beseitigt und stattdessen der individuelle Einkommensteuersatz des Anteilseigners zur Anwendung gebracht werden. International haben sich im Laufe der Zeit unterschiedliche (und jeweils wechselnde) Methoden zur teilweisen oder vollständigen Vermeidung der Doppelbelastung herausgebildet. In Betracht kommen z.B. eine (vollständige oder teilweise) Steuerbefreiung des ausgeschütteten Gewinns bei der Körperschaft oder beim Anteilseigner, eine (vollständige oder teilweise) Anrechnung der KSt auf die ESt des Anteilseigners oder eine Milderung der Doppelbelastung durch Anwendung eines ermäßigten Einkommensteuersatzes auf Ausschüttungen beim Empfänger. Durch den Wettbewerb der Steuersysteme (insb. in Europa, s. § 7 Rz. 70 ff.) und den dadurch ausgelösten Zwang zu niedrigeren Körperschaftsteuersätzen ist ein Trend zur Wiedereinführung einer mindestens teilweisen Doppelbelastung entstanden4. Stand ursprünglich das Bedürfnis nach Entlastung von der körperschaftsteuerrechtlichen Vorbelastung im Vordergrund, bedarf es nunmehr – außer bei Gesellschaftern mit sehr niedrigem individuellem Einkommensteuersatz – einer Nachbelastung auf Anteilseignerebene, um eine Hochschleusung auf die höhere Einkommensteuerbelastung anderer Einkunftsarten zu erreichen. Für 2014 stellen sich die wichtigsten ausländischen Körperschaftsteuersysteme wie folgt dar5: – Klassische Systeme: Irland, Schweiz; – Teilentlastungssysteme (ermäßigte Sondersteuersätze oder Teilfreistellung bei der ESt): Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Slowenien, Spanien, Tschechien, Ungarn, USA; – Teilanrechnungssysteme: Großbritannien, Japan, Kanada; – Vollanrechnungssysteme: Australien, Malta; – Steuerbefreiung beim Anteilseigner: Estland, Slowakei, Zypern.
Zur Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung in Europa s. § 13 Rz. 143 ff. Teilentlastungssysteme (auch als „Shareholder-Relief-Systeme“ bezeichnet) weichen zwar ab vom Ideal einer synthetischen ESt, da die Dividendenbelastung nicht mehr exakt der Belastung anderer Einkünfte entspricht. Sie haben aber bei der Erfassung grenzüberschreitender Sachverhalte entscheidende Vorteile, indem sie über die (niedrige) KSt im Sitzstaat der ausschüttenden Gesellschaft und die (reduzierte) ESt im Ansässigkeitsstaat des Anteilseigners automatisch zu einer in etwa hälftigen Aufkommensteilung zwischen den beteiligten Staaten führen. Zudem las-
1 Zur Bedeutung des Realisationsprinzips in diesem Zusammenhang Schön, DStJG 37 (2014), 217 (231 ff.). 2 J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (62). 3 Jachmann, DStJG 23 (2000), 9 (18 f.); Schön, StuW 2000, 151 (152); Hey, DStJG 24 (2001), 155 (171); Palm, JZ 2012, 297 (302). 4 Dazu Weinelt, Das deutsche Körperschaftsteuersystem im Spannungsfeld zwischen nationaler Steuerordnung und europäischem Steuerwettbewerb, Diss., 2007, 88 ff. 5 BMF, Die wichtigsten Steuern im internationalen Vergleich 2013; KPMG, Global Corporate Tax Handbook 2014; einen Überblick geben ferner Mennel/Förster, Steuern in Europa, USA, Kanada und Japan, 2013.
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Körperschaftsteuer
sen sie sich auf verhältnismäßig einfache Weise europarechtskonform auf Auslandssachverhalte1 erstrecken (dazu Rz. 18).
2. Frühere Körperschaftsteuersysteme in Deutschland 8
In Deutschland wurde das klassische System der Doppelbelastung durch das Körperschaftsteuergesetz 1920 eingeführt2. Von 1953 bis 1976 wurde die Doppelbelastung durch einen gespaltenen Tarif gemildert (ab 1958 15 % für Ausschüttungen, Regelsteuersatz 51 %).
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Von 1977 bis 2000 praktizierte der deutsche Gesetzgeber die Vollanrechnung der KSt auf den ausgeschütteten Gewinn, kombiniert mit einem ermäßigten Ausschüttungssteuersatz auf Körperschaftsebene3. Die körperschaftsteuerrechtliche Vorbelastung wurde bei Ausschüttung zunächst auf eine einheitliche Ausschüttungsbelastung von 30 % herab- bzw. heraufgeschleust und sodann durch Anrechnung auf die ESt/KSt des Anteilseigners und ggf. Vergütung vollständig neutralisiert. Um die Vorbelastung exakt zu erfassen, wurden sämtliche noch nicht ausgeschütteten Gewinne (= „für Ausschüttungen verwendbares Eigenkapital“, § 29 II KStG a.F.) in einer jährlich fortzuführenden Gliederungsrechnung erfasst und nach ihrer Vorbelastung unterteilt in: 1. ungemildert (zuletzt in 1999 und 2000 mit 40 %) belastete Eigenkapitalteile (EK 40); 2. mit 30 % belastete Eigenkapitalteile (EK 30); 3. unbelastete Eigenkapitalteile, d.h. Vermögensmehrungen, die der KSt nicht unterliegen (EK 0). Je nachdem, welchem dieser Teilbeträge eine Ausschüttung entstammte, minderte oder erhöhte sich die KSt nach § 27 I KStG a.F., um das Belastungsniveau der Ausschüttungsbelastung von 30 % zu erreichen.
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Diese Regelungen behalten für einen Übergangszeitraum bis zum Jahr 2017 Bedeutung: Wie dargestellt, war das EK 40 mit einem latenten Steuerminderungsanspruch verbunden (dem Vermögenswert zukommt) und das EK 0 mit einer latenten Steuerlast. Beides sollte auch nach dem Systemwechsel zum Halbeinkünfteverfahren nicht verloren gehen. Allerdings ist die Handhabung der aus dem Anrechnungsverfahren stammenden Körperschaftsteuerguthaben und Nachbelastungsbeträge Gegenstand permanenten gesetzgeberischen Herumexperimentierens4: – Durch das StSenkG wurden die Teilbeträge des für Ausschüttungen verwendbaren Eigenkapitals zunächst zum Ende der Anwendung des Anrechnungsverfahrens (i.d.R. 31.12.2000) umgegliedert und nochmals gesondert festgestellt (§ 36 KStG). Für das Folgejahr (i.d.R. 2001) wurde ein Steuerguthaben i.H.v. 1/ 6 des EK 40 ermittelt (§ 37 I KStG), das ursprünglich über einen Zeitraum von 18 Jahren bei Vornahme ordentlicher Gewinnausschüttungen zu einer Körperschaftsteuerminderung führen sollte (§ 37 KStG). Entsprechendes galt bei Verwendung von EK 02: bei Ausschüttung Erhöhung der KSt um 3/7 (§ 38 KStG)5. – Mit dem StVergAbG v. 16.5.2003 (BGBl. I 2003, 660) fror der Gesetzgeber als Reaktion auf die massenweise Mobilisierung der Körperschaftsteuerguthaben (negatives Körperschaftsteueraufkommen in 2001!) die Guthaben für Ausschüttungen zwischen dem 11.4.2003 und vor dem 1.1.2006 durch ein sog. „Körperschaftsteuermoratorium“6 ein. Für ordentliche Gewinnausschüttungen 1 Grds. zur Behandlung von Auslandssachverhalten in unterschiedlichen Körperschaftsteuersystemen Schraufl, Körperschaftsteuersysteme im internationalen Rahmen unter Effizienzkriterien, Diss., 2004. 2 Zur geschichtlichen Entwicklung s. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993, 558 ff.; Potthast, Die Entwicklung der Körperschaftsteuer von den Vorformen bis zur Unternehmensteuerreform 2001, Diss., 2008; HHR/Desens, KStG, Dok. KSt. (2011). 3 Zu den Einzelheiten s. 16. Aufl., § 11 Rz. 35 ff., 140 ff. 4 Überblick über den Gesamtkomplex Semmler, NWB 2006, Fach 4, 5047 u. 5069. 5 Dazu Semmler, DStR 2002, 391. Europarechtlich bedenklich im Hinblick auf die Auslegung der Mutter-Tochter-Richtlinie durch EuGH C-294/99, Athinaiki Zythopoiia; s. Schnitger, GmbHR 2003, 1240; Frotscher, BB 2006, 861. 6 Von BFH BStBl. 2007, 662 als verfassungskonform bestätigt; a.A. Streck/Binnewies, DB 2007, 359; ebenso Birk/Desens, DB 2003, 1644; Birk/Desens, StuW 2004, 97; Birk, GS Trzaskalik, 2005, 345 (aus kompetenzrechtlicher Sicht) und ausf. Lenz, Zulässigkeit der eingeschränkten Realisierungsmöglichkeit von Körperschaftsteuerguthaben. Eine verfassungsrechtliche Untersuchung des § 37 IIa KStG i.d.F. des StVergAbG, Diss., 2005.
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ab dem 1.1.2006 wurde die Körperschaftsteuerminderung wieder gewährt, allerdings der Höhe nach auf den Betrag begrenzt, der sich durch eine fiktive gleichmäßige Verteilung des Körperschaftsteuerguthabens auf die Restlaufzeit der Übergangsregelung bis zum Jahr 2017 ergab (§ 37 IIa Nr. 2 KStG). – Das SEStEG v. 7.12.2006 (BGBl. I 2006, 2782) ordnet für die Jahre 2008–2017 in Abkehr vom früheren System eine ausschüttungsunabhängige Auszahlung in 10 gleichen Jahresbeträgen an (§ 37 V KStG)1. Die Regelung macht die zuvor für die volle Nutzung des Guthabens erforderliche komplexe Ausschüttungsplanung entbehrlich. Die Auszahlung wirkt sich nur innerhalb der KSt, nicht aber im Rahmen des SolZ aus (s. diesbezügl. Vorlage des BFH BStBl. 2012, 603 an das BVerfG). – Eine erneute Änderung der Übergangsregelung sieht das JStG 2008 v. 20.12.2007, BGBl. I 2007, 3150, in § 38 IV–X KStG für vormals steuerfrei im EK 02 thesaurierte Gewinne vor. Nach der ursprünglichen Übergangsregelung des StSenkG war bei Ausschüttung des EK 02 eine Nachversteuerung i.H.v. 3/7 des Ausschüttungsbetrags vorgesehen, die allerdings durch Verzicht auf Ausschüttung von EK 02 während des Übergangszeitraums vermieden werden konnte. Nunmehr ist eine ausschüttungsunabhängige Nachversteuerung von 3 % des Nachversteuerungsbetrags in 10 gleichen Jahresraten bis 2017 vorgesehen, § 38 VI KStG2. I.Ü. wird auf Nachversteuerung verzichtet. – Nach BVerfGE 125, 1, war die Übergangsregelung in Teilen gleichheitssatzwidrig, soweit es durch die Umgliederungsvorschrift des § 36 III, IV KStG zu einer Vernichtung von sog. EK 45 (mit 45 % vorbelastete Altgewinne) kam. Beanstandet wurde, dass der Gesetzgeber ohne sachlichen Grund, insb. ohne sich auf Vereinfachungsinteressen berufen zu können, von der eigenen Vorgabe, das Körperschaftsteuerguthaben im Umstellungszeitpunkt zu erhalten, abgewichen war. Die Entscheidung ist weit über den konkreten Anlass hinaus bedeutsam, da sie der generellen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung komplexer Übergangssysteme Grenzen setzt3. §§ 34 XIIIf; 36 VIa; 37 I KStG i.d.F. des JStG 2010 fassen die Umgliederungsvorschriften neu und sorgen für den Erhalt des EK 454.
3. Seit 2001: Klassisches System mit pauschaler Entlastung auf Anteilseignerebene Literatur (s. ferner 18. Aufl., § 11 vor Rz. 10): Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung, BMF-Schriftenreihe, Heft 66, 1999; Bareis, Das Halbeinkünfteverfahren im Systemvergleich, StuW 2000, 133; Grotherr, Das neue Körperschaftsteuersystem, BB 2000, 849; Pezzer, Kritik des Halbeinkünfteverfahrens, StuW 2000, 144; Schneeloch/Trockels-Brand, Körperschaftsteuerliches Anrechnungsverfahren versus Reformpläne, DStR 2000, 907; Siegel/Bareis/Herzig/Schneider/Wagner/Wenger, Verteidigt das Anrechnungsverfahren gegen unbedachte Reformen!, BB 2000, 1269; Bozza-Bodden, Das deutsche und das italienische Körperschaftsteuersystem im Europäischen Binnenmarkt, Diss., 2002; Bareis, Probleme mit der Hälfte, BB 2003, 2315; Djanani/Herbener, Trends in der Besteuerung von Kapitalgesellschaften und deren Anteilseignern: Einzel- oder Doppelbesteuerung, IStR 2003, 506; Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, Diss., 2004; Englisch, Dividendenbesteuerung (Systemvergleich Deutschland – Spanien), Diss., 2005; Wäckerlin, Betriebsausgabenabzugsverbot und Halbeinkünfteverfahren. Zugleich ein Beitrag zur Besteuerung des Anteilseigners einer Kapitalgesellschaft, Diss., 2006.
3.1 Grundstruktur Seit 2001 gilt in Deutschland ein klassisches System mit Entlastung auf Anteilseignerebene. Gewinnausschüttungen lassen die KSt unberührt. Die Vorbelastung auf der Ebene der ausschüttenden Körperschaft wird aber beim Empfänger berücksichtigt. Dabei ist zwischen einkommensteuerpflichtigen und körperschaftsteuerpflichtigen Gesellschaftern zu unterscheiden. 1 Dazu Dötsch/Pung, DB 2006, 2648 (2653 ff.); Ernsting, DB 2007, 180; Ott, StuB 2007, 87; Schiffers, GmbHStB 2007, 76; Förster/Felchner, DStR 2007, 280; zur bilanziellen Behandlung des Körperschaftsteuerguthabens s. BMF BStBl. I 2008, 280; BFH BStBl. 2008, 886; Ortmann-Babel/Bolik, DB 2008, 2107; Ott, StuB 2008, 127. 2 FG Schleswig-Holstein EFG 2013, 153: verfassungskonform. 3 Dazu Bareis, FR 2010, 455; Binnewies, DStR 2010, 408; und grds. Drüen, DStR 2010, 513. 4 Dazu Holst/Nitzschke, DStR 2011, 1450 (Unzulänglichkeiten); Kasperczyk/Hübner, DStR 2011, 1446 (verfahrensrechtliche Aspekte); BFH BStBl. 2011, 983: Neuregelung durch JStG 2010 verfassungskonform.
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§ 11 12
Rz. 12
Körperschaftsteuer
Teileinkünfteverfahren/Abgeltungsteuer in der ESt: Für Ausschüttungen bis zum 31.12.2008 (vgl. § 52a III EStG) hatte der Anteilseigner (Ausschüttungsempfänger) seine Gewinnanteile aus der Beteiligung (Dividenden) nur zur Hälfte als Einnahmen aus Kapitalvermögen anzusetzen (sog. Halbeinkünfteverfahren). Seit dem 1.1.2009 wird zwischen Beteiligungen im Betriebs- und Privatvermögen differenziert. Für im Betriebsvermögen gehaltene Beteiligungen gilt weiterhin ein Teileinkünfteverfahren; der steuerfreie Anteil des Beteiligungsertrags beträgt nunmehr nur noch 40 % (§ 3 Nr. 40 Satz 1 EStG). Auf diese Weise wird der auf 15 % reduzierten Körperschaftsteuervorbelastung auf Gesellschaftsebene Rechnung getragen. Aufwendungen, die in wirtschaftlichem Zusammenhang mit dem Beteiligungsertrag stehen, dürfen zu 60 % von der Bemessungsgrundlage abgezogen werden (§ 3c II 1 EStG). Erträge aus im Privatvermögen gehaltenen Beteiligungen unterliegen seit dem 1.1.2009 der Abgeltungsteuer i.H.v. 25 % (§§ 20 I Nr. 1; 32d I; 43 I 1 Nr. 1; 43a I 1 Nr. 1 EStG i.V.m. § 52a EStG). Der Stpfl. kann Veranlagung beantragen, wenn dies zu einer niedrigeren ESt führt, d.h. wenn sein persönlicher Grenzsteuersatz unter 25 % liegt (§ 32d VI EStG). In diesem Fall ist der volle Beteiligungsertrag in die Bemessungsgrundlage der ESt einzubeziehen. Werbungskosten, die in Zusammenhang mit dem Beteiligungsertrag stehen, können indes auch bei Veranlagung nicht über den Sparer-Pauschbetrag i.H.v. 801/1 602 Euro hinaus geltend gemacht werden (§ 20 IX 1 Hs. 2 EStG), es sei denn, es handelt sich um eine „typischerweise unternehmerische Beteiligung“, für die § 32d II Nr. 3 EStG die Veranlagung im Teileinkünfteverfahren i.V.m. § 3c II EStG vorsieht; zu den weiteren Fällen der Antragsveranlagung s. § 8 Rz. 503; zur Verletzung des objektiven Nettoprinzips bei Veranlagung s. § 8 Rz. 506.
13
Beteiligungsertragsbefreiung in der KSt: Ist eine Körperschaft selbst Anteilseignerin einer anderen (Tochter-)Körperschaft, so bleiben bei ihr die von der Tochterkörperschaft ausgeschütteten Dividenden grds. steuerfrei (§ 8b I KStG; s. auch § 13 Rz. 135). Durch die Beteiligungsertragsbefreiung werden Mehrfachbelastungen bei hintereinander geschalteten Körperschaften im Wesentlichen vermieden: Der im Konzern erwirtschaftete Gewinn wird nur einmal mit 15 % KSt belastet. Der danach verbleibende Betrag kann durch Muttergesellschaften „durchgeschüttet“ werden und bildet erst, wenn er die Unternehmensebene verlässt und an eine natürliche Person ausgeschüttet wird, einkommensteuerpflichtige Einnahmen aus Kapitalvermögen gem. § 20 EStG. Seit 2004 ist die ursprünglich zu 100 % gewährte Beteiligungsertragsbefreiung allerdings auf 95 % begrenzt, indem § 8b V 1 KStG pauschal i.H.v. 5 % der Bezüge nichtabziehbare Betriebsausgaben fingiert (dazu i.E. Rz. 42). Eine empfindliche Einschränkung hat das System der Beteiligungsertragsbefreiung durch die seit 1.3.2013 geltende Ausnahme für Streubesitzdividenden erfahren (§ 8b IV KStG). § 8b I KStG kommt nur noch zur Anwendung für unmittelbare Beteiligungen von mindestens 10 %. Kaskadeneffekte bei gestaffelten Beteiligungen werden hingenommen (s. i.E. Rz. 42 zur Besteuerung von Streubesitzdividenden in der GewSt s. § 12 Rz. 42).
14
Gewinne aus der Anteilsveräußerung: Der von einer Körperschaft erwirtschaftete Gewinn kann dem Anteilseigner nicht nur durch Ausschüttung zufließen, sondern wirtschaftlich auch durch den Verkauf der Beteiligung in Form eines erhöhten Kaufpreises, mit dem der Erwerber bestehende Gewinnrücklagen vergütet. Deshalb gilt auch für den Erlös aus der Veräußerung von Beteiligungen an Körperschaften für natürliche Personen entweder das Teileinkünfteverfahren (im Betriebsvermögen gehaltene Beteiligungen sowie Veräußerungsgewinne i.S.d. § 17 EStG) bzw. die Abgeltungsteuer (im Privatvermögen gehaltene Beteiligungen < 1 %). Bei Veräußerung durch eine Körperschaft ist der Gewinn nach § 8b II, III 1 KStG zu 95 % steuerfrei; s. Rz. 39 ff. und § 13 Rz. 41). Dies gilt nach wie vor auch für die Veräußerung von Streubesitz. Die Befreiung von der KSt bzw. die Ermäßigung der ESt auf Veräußerungsgewinne vermeidet Verzerrungen zwischen Ausschüttung und Veräußerung der Beteiligung; sie ist zur Vermeidung einer mehrfachen Belastung jedenfalls insoweit gerechtfertigt, als der Kaufpreis der Beteiligung durch bereits mit KSt belastete Rücklagen bestimmt wird. Die Rechtfertigung ist jedoch fraglich, soweit mit dem Kaufpreis auch sonstige Werte (stille Reserven, Geschäftswert) entgolten werden oder wenn der Kaufpreis etwa durch Börsenkursschwankungen ohne Rücksicht auf die Werthaltigkeit der veräußerten Betei-
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ligung gebildet wird1. Soweit die umfassende Veräußerungsgewinnbefreiung damit gerechtfertigt wird, dass der Erwerber die latente Steuerlast der stillen Reserven in einer Minderung des Kaufpreises auf den Veräußerer überwälzt (s. BFH BStBl. 2008, 551 [553 f.]), wird zumindest gegen das Individualsteuerprinzip (s. § 3 Rz. 14; § 8 Rz. 22 ff.) verstoßen.
Teileinkünfteverfahren und Beteiligungsertragsbefreiung korrespondieren mit Beschränkungen des Abzugs von Beteiligungsaufwendungen durch § 3c II EStG2; § 8b III, V KStG, die zum Ausschluss von Umgehungen auch für Aufwendungen in Zusammenhang mit Gesellschafterdarlehen gelten (dazu i.E. Rz. 41 f.). Dabei kommt es gem. § 3c II 7 EStG3 für den Ausschluss des Abzugs nicht mehr darauf an, ob dem Stpfl. in dem betreffenden Veranlagungszeitraum tatsächlich steuerbefreite Einnahmen zufließen (so zuvor die Rspr.4). Ausreichend ist, dass der Stpfl. die Absicht zur Erzielung von Betriebsvermögensmehrungen oder Einnahmen i.S.v. § 3 Nr. 40 EStG hat. Die Gesetzesänderung mag Zufälligkeiten und Gestaltungsmöglichkeiten, die sich aus dem Abschnittsprinzip ergeben, vermeiden. Die Ausweitung des Abzugsverbots verdeckt jedoch, dass § 3c II EStG, soweit Aufwendungen erfasst werden, die in Zusammenhang mit laufenden Beteiligungserträgen stehen, insg. verfehlt ist. Statt § 3c II EStG zu verschärfen, hätte der Gesetzgeber die Regelung abschaffen müssen. Die Verknüpfung des Teileinkünfteverfahrens bzw. der Beteiligungsertragsbefreiung mit den Beschränkungen des Abzugs von Aufwendungen durch § 3c II EStG; § 8b V KStG (dazu i.E. Rz. 41 f.) ist entgegen BFH BStBl. 2007, 551, nicht gerechtfertigt5. Da die Steuerbefreiungen in § 3 Nr. 40 EStG; § 8b I KStG lediglich ein steuertechnisches Instrument darstellen, um die Vorbelastung der Ausschüttungen mit KSt zu berücksichtigen und eine Mehrfachbelastung zu verhindern, die Ausschüttungen wirtschaftlich also keineswegs steuerfrei sind (unechte Steuerbefreiung), verstößt das Abzugsverbot für damit zusammenhängende Aufwendungen gegen das objektive Nettoprinzip und Art. 3 I GG. Die – zugegebenermaßen großzügige – Typisierung der Vorbelastung durch die (partielle) Steuerbefreiung von Veräußerungsgewinnen (s. Rz. 14) kann entgegen dem BFH zur Rechtfertigung nicht herangezogen werden, da sie in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit den Beteiligungsaufwendungen steht. Das partielle Abzugsverbot für Beteiligungsaufwendungen ist entgegen dem BFH auch nicht im Hinblick auf den nur anteiligen Ansatz der Anschaffungskosten im Rahmen der Veräußerungsgewinnermittlung folgerichtig. Jener ist durch die Technik bedingt, die der Gesetzgeber für die Ermittlung des partiell steuerpflichtigen 1 Krit. Bareis, StuW 2000, 133 (141 f.); von Lishaut, StuW 2000, 182 (192 f.); Hey, DStJG 24 (2001), 155 (203); Krause-Junk in Lüdicke, Internationale Aspekte der Unternehmenssteuerreform, 2001, 1 (6); Pezzer, DStJG 25 (2002), 37 (56); Romswinkel, GmbHR 2002, 1059; Spengel/Schaden, DStR 2003, 2192 (2194 ff.); HHR/Watermeyer, § 8b KStG Anm. 14 (2004); a.A. Wenger, StuW 2000, 177 (181); Schön, StuW 2000, 151 (158); J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (92 ff.); Rödder, DStJG 25 (2002), 253 (276); Briese, StuB 2003, 440; Scheffler, DB 2003, 680; Herzig, DB 2003, 1459; Schreiber/Rogall, BB 2003, 497; Englisch, Dividendenbesteuerung, Diss., 2005, 390 f.; ausf. Roderburg, Die Steuerfreiheit der Anteilsveräußerungsgewinne im neuen Körperschaftsteuerrecht, Diss., 2005, 278 ff.; zum Einfluss auf die Bildung von Anteilskaufpreisen Eisgruber/Glass, DStR 2003, 389; Rogall, DStR 2003, 750. 2 Grundl. zu § 3c II EStG Beck, Die Besteuerung von Beteiligungen an körperschaftsteuerpflichtigen Steuersubjekten im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht unter Berücksichtigung der Erwerbsaufwendungen der Steuerpflichtigen, Diss., 2004; Wäckerlin, Betriebsausgabenabzugsbeschränkung und Halbeinkünfteverfahren, Diss., 2006; Münch, Die Abziehbarkeit von Finanzierungsaufwendungen im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht. Insb. § 3c I, II EStG; § 8b III, V sowie § 8a KStG, Diss., 2006, 115 ff.; Stiller, StuW 2011, 75. 3 Dazu insb. auch zur Rechtsentwicklung Förster, GmbHR 2011, 393; Nacke, FR 2011, 699; Lendewig/ Jaschke, SteuerStud 2011, 174. 4 BFH BStBl. 2010, 220; 2010, 627; 2011, 785 (Veräußerungsverlust); 2012, 8 (symbolischer Kaufpreis); 2013, 802; krit. Stiller, StuW 2011, 75 (77 f., 80 ff.). 5 Wie hier Schön, FR 2001, 381; Englisch, FR 2008, 230; Intemann, DB 2007, 2797 (2799 ff.); Hamdan/ Hamdan, DStZ 2007, 730; Otto, DStR 2008, 228; Paus, DStZ 2008, 145; Förster, GmbHR 2011, 393; Frotscher, DStR 2001, 2045; Briese, StuB 2003, 440; Maiterth/Wirth, DStR 2004, 433; S. Wagner, StuB 2004, 495; Herzig, DStJG 28 (2005), 185 ff.; Thömmes, IStR 2005, 685; Heuermann, DB 2005, 2708; Intemann, DStR 2006, 1447; Intemann, DB 2007, 1658 (1659); Greulich/Hamann/Krohn, StBp. 2007, 238; Piltz, DStJG 30 (2007), 211 (226 ff.); Weiß, SteuerStud 2008, 287; Seer, GmbHR 2009, 1036 (1045); Eckhoff, FS Steiner, 2009, 118 (132).
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Veräußerungsgewinns gewählt hat. Der partielle Ansatz der Anschaffungskosten korrespondiert mit dem partiellen Ansatz des Veräußerungspreises. Die Beteiligungsaufwendungen liegen dagegen auf einer Ebene mit den Veräußerungskosten. Beide müssten vollständig zum Abzug zugelassen werden (wie hier Stiller, StuW 2011, 75 [76 f.]).
3.2 Gründe für den Systemwechsel vom Anrechnungsverfahren zu einem klassischen System mit Teilentlastung 16
Die Ersetzung des Vollanrechnungsverfahrens durch ein klassisches System mit pauschalem Entlastungsmechanismus (Halbeinkünfte-/Teileinkünfteverfahren, Abgeltungsteuer) durch die Unternehmensteuerreformen 2000 und 2008 stellen einen steuersystematischen Rückschritt dar1. Der Systemwechsel ist mit dem Grundsatz gleichmäßiger Besteuerung aller Einkunftsarten prinzipiell unvereinbar (s. Rz. 19 f.). Die weitere Absenkung der Vorbelastung durch die Unternehmensteuerreform 2008 schwächt das Problem der Doppelbelastung zwar ab (zu den Belastungswirkungen i.E. Rz. 19), beseitigt es aber nicht.
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Nicht überzeugend war die Begründung, das Anrechnungsverfahren sei zu kompliziert und missbrauchsanfällig gewesen2. Auch die Notwendigkeit der Gegenfinanzierung der kontinuierlichen Absenkung des Körperschaftsteuersatzes ist keine Rechtfertigung. Gewichtiger waren jedoch die europarechtlichen Einwände gegen das Anrechnungsverfahren, die zwischenzeitlich in der Rs. Meilicke I durch den Europäischen Gerichtshof (C-292/04) bestätigt wurden3. Das Anrechnungsverfahren war auf die Anrechnung inländischer KSt beschränkt; hierin lag ein Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit. Infolge der Rs. Meilicke I kann für noch unter Geltung des Anrechnungssystems erfolgte Ausschüttungen ausl. Körperschaften gegebenenfalls eine Körperschaftsteuergutschrift geltend gemacht werden. Bei der Durchsetzung der Anrechnung ausländischer KSt steht der Stpfl. jedoch vor erheblichen praktischen Problemen. In der Rs. Meilicke II (EuGH C-262/09) hat der EuGH klargestellt, dass der Stpfl. ohne Anspruch auf Beweiserleichterungen, insb. Schätzung, den vollen Nachweis der ausländischen Vorbelastung erbringen muss. Da nicht davon auszugehen ist, dass die ausschüttende Körperschaft im Ausland zu einer der früheren deutschen Gliederungsrechnung entsprechenden Aufzeichnung verpflichtet war, dürfte dieser Nachweis vielfach unmöglich sein4. Dem Effektivitätsgrundsatz wird die Entscheidung nicht gerecht. Allerdings zeigen sich hier auch die faktischen Grenzen einer grenzüberschreitenden Anwendung nicht harmonisierter Körperschaftsteuersysteme. Dass sich der Anspruch auf Anrechnung ausländischer Körperschaftsteuer kaum realisieren lässt, wird noch deutlicher in der Rs. Kronos International (EuGH C-47/12), in der der EuGH zwar zunächst die unterschiedslose Anwendung des jeweiligen Körperschaftsteuersystems auch auf Auslandsdividenden fordert, sodann aber einen Anspruch auf Vergütung ausländischer Körperschaftsteuer verneint, wenn die Dividenden im Inland nicht zu steuerpflichtigen Einnahmen führen5.
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Das seit 2001 geltende klassische System mit Teilentlastung vermeidet den Konflikt mit dem Europarecht. Sowohl die teilweise Freistellung nach § 3 Nr. 40 EStG als auch der Abgeltung1 S. den von Siegel initiierten Aufruf von 78 Professoren, „Verteidigt das Anrechnungsverfahren gegen unbedachte Reformen!“, BB 2000, 1269 f.; Bareis, StuW 2000, 133 (135 f.): „Systemfehler“; Bareis, BB 2003, 2315: mangelnde Schlüssigkeit der Umsetzung des Halbeinkünfteverfahrens. 2 So BT-Drucks. 14/2683, 132 ff. 3 Schön, DStJG 37 (2014), 217 (242); ferner hierzu Rainer, DStR 2007, 527; Sedemund, IStR 2007, 245; Thömmes, IWB 2007, Fach 11A, 1131; Meilicke, DB 2007, 650; Umsetzungsfragen: Intemann, NWB 2008, Fach 4, 5263; Scherer, DStR 2008, 1274; zuvor schon EuGH C-319/02, Manninen, sowie EuGH C-35/98, Verkooijen; EuGH C-315/02, Lenz. 4 Die abschließende Entscheidung des FG Köln EFG 2012, 2300, m. Anm. Bozza-Bodden sowie FG Düsseldorf EFG 2012, 1159, m. Anm. Hoffmann, bestätigen, dass der Anspruch auf Anrechnung ausländischer Körperschaftsteuer praktisch leer läuft; hierzu Sydow, NWB 2012, 2842. Krit. Linn/Müller, IWB 2011, 576; Ribbrock, BB 2011, 2151; Intemann, NWB 2011, 3268; Delbrück/Hamacher, IStR 2011, 549; Sobanski, DStR 2011, 1485; Sedemund/Ballwieser, IStR 2012, 888. S. auch das neuerliche Vorabentscheidungsersuchen des FG Köln EFG 2012, 973, bei dem es allerdings nicht primär um die Nachweisobliegenheiten, sondern u.a. um die Behandlung von Drittstaatensachverhalten geht; dazu Kröner/Köth, BB 2012, 1899. 5 Hierzu de Werth, DB 2014, 2252.
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Körperschaftsteuersystem
Rz. 19
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steuersatz (mit Anrechnung ausländischer Kapitalertragsteuer gem. § 32d V EStG) und die Beteiligungsertragsbefreiung (§ 8b I KStG) finden unterschiedslos für In- und Auslandsdividenden Anwendung. Die bisherige Benachteiligung beschränkt steuerpflichtiger Anteilseigner, die mangels Veranlagung (vgl. § 50 V 1 EStG i.d.F. des JStG 2008) nicht in den Genuss des Halbeinkünfteverfahrens kommen, wird bei Beteiligungen im Privatvermögen ab 2009 durch die Abgeltungsteuer beseitigt; zukünftig kann es auf Grund der regelmäßig eingreifenden DBAQuellensteuerreduktion sogar zu Vorteilen ausländischer Anleger kommen1.
3.3 Bewertung der Belastungswirkungen beim Anteilseigner In der Unternehmensteuerreform 2000 strebte der Gesetzgeber durch das Halbeinkünfteverfahren für Anteilseigner mit Grenzsteuersatz von 40 % eine exakt der Belastung anderer Einkünfte entsprechende Belastung von Beteiligungserträgen an. Bei dieser Betrachtung wurde jedoch nur auf die Vorbelastung mit KSt i.H.v. 25 % abgestellt. Die Gewerbesteuer wurde zu Unrecht ausgeblendet. Unter Einbeziehung von Gewerbesteuer (Hebesatz 400 %) und SolZ musste mit einer Vorbelastung auf Gesellschaftsebene von 38,6 % gerechnet werden, so dass sich beim Anteilseigner stets eine deutliche Mehrbelastung gegenüber anderen Einkünften ergab (z.B. 50,88 % gegenüber 40 %). Durch die Unternehmensteuerreform 2008 sank die Gesamtbelastung auf Grund der Absenkung der Vorbelastung auf 29,825 % (KSt/SolZ/400 % GewSt) für Ausschüttungen im Betriebsvermögen trotz der Anhebung des einkommensteuerpflichtigen Anteils der Dividende von 50 % auf 60 % insgesamt deutlich ab2. Beim Anteilseigner mit Grenzsteuersatz 40 % beträgt die Gesamtbelastung jetzt nur noch 46,7 %. Für Ausschüttungen im Privatvermögen ergibt sich auf Grund der seit 2009 eingreifenden Abgeltungsteuer ein uneinheitliches Bild. Einerseits liegt die Gesamtbelastung unabhängig vom individuellen Grenzsteuersatz bei maximal 47,3 % (ohne SolZ). Andererseits kommt es für Anteilseigner mit Grenzsteuersatz unter 25 % in Zukunft zu einer ungemilderten wirtschaftlichen Doppelbelastung, da bei Veranlagung gem. § 32d VI EStG die volle Dividende versteuert werden muss. Verhindert wird nur die Anwendung des gegenüber dem individuellen Einkommensteuersatz höheren Abgeltungsteuersatzes. Belastungswirkungen von Teileinkünfteverfahren/Abgeltungssteuer ab 2009 I.
II.
Ebene der Kapitalgesellschaft 1.
Gewinn vor Steuern
2.
KSt/SolZ/GewSt (400 %)
100
3.
Ausschüttbarer Gewinn
29,8
Ebene des Anteilseigners 4.
Persönlicher ESt-Satz in %
5.
Einkommensteuerschuld (ohne SolZ)
70,2 0
10
20
30
40
45
a)
Teileinkünfteverfahren (60 %)
0
4,2
8,4
12,6
16,8
18,9
b)
Abgeltungsteuer/Veranlagung
0
7,0
14,0
17,5
17,5
17,5
III. Steuerlast 6.
Gesamtbelastung a)
Teileinkünfteverfahrten (60 %)
29,8
34,0
38,2
42,5
46,7
48,8
b)
Abgeltungsteuer/Veranlagung
29,8
36,8
43,8
47,3
47,3
47,3
1 Rädler, DB 2007, 988; Kube, IStR 2010, 301 (304 ff.): europarechtlich daher unbedenklich. 2 Vgl. auch den Belastungsvergleich BT-Drucks. 16/4841, 46; zu den Belastungswirkungen mit Abgeltungsteuer seit 2009 Schiffers, GmbHStB 2008, 141 u. 262.
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Rz. 20
Körperschaftsteuer
Die Abbildung verdeutlicht die Verzerrungen der Belastungsrelation im Vergleich zu anderen Einkünften. Der aus Art. 3 I GG abzuleitende Grundsatz, dass alle Einkünfte entsprechend der dadurch gesteigerten Leistungsfähigkeit als gleichwertig anzusehen und gleichmäßig zu besteuern sind, wird durchbrochen1. Ob die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele eines einfach zu handhabenden, missbrauchsresistenten und europarechtskonformen Verfahrens die verzerrenden Wirkungen des Teileinkünfteverfahrens rechtfertigen können, ist zweifelhaft. BVerfGE 116, 164 (200) hat an der Ungleichbehandlung von Dividenden gegenüber anderen Einkünften allerdings mit dem wenig überzeugenden Hinweis auf die Abschirmwirkung der Körperschaft keinen Anstoß genommen. Legt man diese Rspr. gleichwohl zugrunde, fehlt es aber jedenfalls an einer Rechtfertigung der Ungleichbehandlung je nachdem, ob die Beteiligung im Betriebs- oder im Privatvermögen gehalten wird. Privatanleger werden außer bei sehr hohem individuellem Einkommensteuersatz gegenüber betrieblichen Anlegern in doppelter Weise benachteiligt2, indem einerseits auch bei Veranlagung der volle Beteiligungsertrag in die einkommensteuerrechtliche Bemessungsgrundlage eingeht und andererseits trotz Veranlagung tatsächliche Werbungskosten oberhalb des Sparer-Pauschbetrags von 801/1 602 Euro nicht geltend gemacht werden können (§ 20 IX 1 EStG). Demgegenüber können im Teileinkünfteverfahren gem. § 3c II EStG in wirtschaftlichem Zusammenhang mit den Einnahmen stehende Aufwendungen zu 60 % abgezogen werden. Der Gesetzesbegründung ist die erhebliche Diskriminierung gerade der Kleinanleger keine Zeile einer Begründung wert. Eine Rechtfertigung dieser gleichheitssatzwidrigen Benachteiligung der Privatanleger ist nicht ersichtlich3, zumal frühere Unterschiede im Besteuerungsumfang durch die nunmehr geltende volle Steuerbarkeit privater Veräußerungsgewinne aus Beteiligungen (§ 20 II 1 Nr. 1 EStG) beseitigt wurden.
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Verletzt ist zudem das Gebot der Finanzierungsneutralität (§ 7 Rz. 7), weil Dividenden im Vergleich mit ebenfalls abgeltungsbesteuerten, aber nicht vorbelasteten Zinseinkünften (§ 20 I Nr. 7 EStG; dazu i.E. § 8 Rz. 492 ff.) steuerlich benachteiligt werden4. Das erhebliche Belastungsgefälle zugunsten von Zinseinkünften setzt einen massiven Anreiz zur Gesellschafterfremdfinanzierung, dem der Gesetzgeber mit § 32d II 1 Nr. 1b EStG zu begegnen versucht, indem für Kapitalerträge i.S.d. § 20 I Nrn. 4 u. 7 EStG (Einkünfte aus stiller Beteiligung und Zinseinkünfte) statt des Abgeltungsteuersatzes der reguläre Einkommensteuertarif zur Anwendung kommt, wenn sie von einer Körperschaft an einen zu mind. 10 % beteiligten Gesellschafter oder eine nahe stehende Person gezahlt werden. § 32d II 1 Nr. 1c Satz 1 EStG bezieht sog. Back-to-Back-Finanzierungen ein, bei denen ein die Kapitalerträge schuldender Dritter (Bank) im Zusammenhang mit der Kapitalanlage seinerseits Kapital an den Betrieb des Gläubigers überlassen hat; s. auch § 8 Rz. 501.
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Einstweilen frei.
B. Subjektive Steuerpflicht I. Körperschaftsteuersubjekte i.S.d. §§ 1 I Nrn. 1–6, 3 KStG 23
§ 1 I KStG enthält einen Katalog der Körperschaftsteuersubjekte5:
1 Vgl. BVerfGE 84, 348 (363 f.); 96, 1 (6); 99, 88; BFH BStBl. 1999, 450. 2 Weitere Einzelheiten Loos, DB 2007, 704. 3 Ebenso Intemann, DB 2007, 1658 (1660 f.); krit. ferner Loos, DB 2007, 704; Fischer, DStR 2007, 1898; Jachmann, DStJG 34 (2011), 251 (261). 4 Hierzu und zu Abhilfemöglichkeiten s. Schön, DStJG 37 (2014), 217 (244 ff.). 5 Überblick s. Schönwald, SteuerStud 2004, 498.
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Rz. 24
§ 11
a) Kapitalgesellschaften (insb. Europäische Gesellschaften1, AG2, KG auf Aktien3, GmbH4); Unter § 1 I Nr. 1 fällt auch die durch MoMiG v. 23.10.2008 in § 5a GmbHG eingeführte Unternehmergesellschaft (UG).
Das SEStEG hat den Katalog der Nr. 1 mit der Aufnahme der Europäischen Gesellschaft (Societas Europaea = SE) sowie durch Öffnung („insbesondere“) für nach ausländischem Recht gegründete Kapitalgesellschaften an die Rspr. des EuGH zur Sitzverlegung angepasst (s. auch Rz. 31). b) Genossenschaften5 einschließlich der Europäischen Genossenschaften6; c) Versicherungs- und Pensionsfondsvereine auf Gegenseitigkeit; d) sonstige juristische Personen des privaten Rechts; e) nichtrechtsfähige Vereine7, Anstalten, Stiftungen8 und andere Zweckvermögen des privaten Rechts9; f) Betriebe gewerblicher Art von jPdöR (dazu Rz. 28 ff.). Das Gesetz knüpft an die Rechtsform an. Deshalb sind alle juristischen Personen des privaten Rechts (a–d) stets Körperschaftsteuersubjekte (KSt als „ESt der juristischen Person“). Nichtrechtsfähige Personenvereinigungen und Vermögensmassen des privaten Rechts (e) sind dagegen nach § 3 I KStG nur dann körperschaftsteuerpflichtig, wenn ihr Einkommen weder nach dem Körperschaftsteuergesetz noch nach dem Einkommensteuergesetz unmittelbar bei einem ande1 Schön/Spindler, IStR 2004, 571; Herzig, Besteuerung der Europäischen Aktiengesellschaft, 2004; Bartone/Klapdor, Die Europäische Aktiengesellschaft, 2005; Rödder, DStR 2005, 893; Albert, IFSt-Schrift Nr. 426 (2005); Schaumburg, JbFSt. 05/06, 105; Erkis, Die Besteuerung der Europäischen (Aktien-) Gesellschaft, Diss., 2006; Kessler/Huck, Der Konzern 2006, 352; Eggers, Gründung und Sitzverlegung einer SE aus ertragsteuerrechtlicher Sicht, Diss., 2006; Schäfer-Elmayer, Besteuerung einer in Deutschland ansässigen Holding in der Rechtsform der SE (Societas Europaea), Diss., 2007; Schön/Schindler, Die SE im Steuerrecht, 2008; zur Verbreitung der SE Eidenmüller/Engert, AG 2008, 721; zur Einführung einer europäischen Privatgesellschaft (Europa-GmbH) Hommelhoff/Teichmann, DStR 2008, 925; zu deren Besteuerung Balmes/Rautenstrauch/Kott, DStR 2009, 1557. 2 Müller/Rödder, Beck’sches Hdb. der AG: Gesellschaftsrecht, Steuerrecht, Börsengang2, 2009. 3 Zur Besteuerung der KGaA s. Schaumburg/Schulte, Die KGaA, 2000; Hölzl, Die Besteuerung der KGaA, Diss., 2003; Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004; Kessler, FS Korn, 2005, 307; Hageböke/ Koetz, DStR 2006, 293 (zu Fragen der Gewinnermittlung); Rohrer/Orth, BB 2007, 1594; Kusterer, DStR 2008, 484; Drüen/von Heck, DStR 2012, 541; Kollruss, DStZ 2012, 650; Wiss. Beirat Steuern Ernst & Young, DB 2014, 147 ff. 4 Historische Lit. s. 17. Aufl., § 11 Rz. 7 Fn. 33; aktuell: Seer, Die Entwicklung der GmbH-Besteuerung, 2005; Seer, GmbHR 2009, 1036; Tillmann/Schiffers/Wälzholz, Die GmbH im Gesellschaftsund Steuerrecht5, 2009; Hottmann u.a., Die GmbH im Steuerrecht3, 2011; Müller/Winkeljohann, Beck’sches Hdb. der GmbH: Gesellschaftsrecht, Steuerrecht5, 2014; zu Auswirkungen des MoMiG auf die Besteuerung der GmbH Hein/Geeb, DStR 2008, 2289; Fuhrmann, NWB 2008, Fach 4, 5391. 5 Historische Lit. s. 20. Aufl., § 11 Rz. 23 Fn. 34. Stracke, Besteuerung von Genossenschaften in der Europäischen Union, Diss., 1997; Kühnberger/Th. Schmidt, Die Rechnungslegung der Genossenschaften, 2002; Beuthien/Dierckes/Werheim, Die Genossenschaft, Teil 2: Steuerrecht, 2008. 6 Umsetzung der VO Nr. 1435/2003 über das Statut der Europäischen Genossenschaften (SCE), ABl. L 207 v. 18.8.2003, 1. 7 Zweifelhaft BFH BStBl. 1997, 361; grundl. Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, Habil., 2003; Lit. zur Besteuerung von Vereinen s. § 20 vor Rz. 1. 8 Braun, Die steuerpflichtige und gemeinnützige Stiftung aus der Betrachtung zweier Rechtsordnungen, Diss., 2000; Wachter, Stiftungen, 2001; Sandberg, Grundsätze ordnungsmäßiger Jahresrechnung für Stiftungen, Habil., 2001; Berndt/Götz, Stiftungen und Unternehmen: Zivilrecht, Steuerrecht, Gemeinnützigkeit8, 2009; Binz/Sorg, Die Stiftung5, 2008; Ohlmann, Die Stiftung als steuerliches Gestaltungsund Finanzierungsinstrument, 2004; Brandmüller/Lindner, Gewerbliche Stiftungen3, 2005; v. Campenhausen/Richter, Stiftungsrechts-Hdb.4, 2014; Geringhoff, Das Stiftungssteuerrecht in den USA und Deutschland – ein Rechtsvergleich, Diss., 2007; Orth, WPg. 2007, 969; Zimmermann, NJW 2011, 2931; weitere Lit. § 20 Rz. 4. 9 Dazu Schmidt, Zum Begriff des „Zweckvermögens“ in Rechts- und Finanzwissenschaft, VerwArch. 60 (1969), 295 ff. u. 61 (1970), 60 ff.; Streck, StuW 1975, 135; Breuninger/Orth/Prinz/Raupach, JbFSt. 1993/94, 341; Blümich/Rengers, § 1 KStG Rz. 113 ff. (2012).
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§ 11
Rz. 25
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ren Stpfl. zu versteuern ist1. Damit ist auf den vorrangig zu prüfenden § 15 I 1 Nr. 2 EStG hingewiesen (s. § 10 Rz. 10 ff.). Der Große Senat des BFH (BStBl. 1984, 751 [756 ff.]) hat entgegen anderen Auffassungen in der Literatur2 eine Publikums-GmbH & Co. KG trotz der wirtschaftlichen Vergleichbarkeit (beschränkte Haftung, Gesellschafterstruktur) weder als Kapitalgesellschaft i.S.d. § 1 I Nr. 1 KStG noch als nichtrechtsfähigen Verein i.S.d. § 1 I Nr. 5 KStG oder nichtrechtsfähige Personenvereinigung i.S.d. § 3 I KStG qualifiziert. Die Einordnung als Körperschaftsteuersubjekt scheitert daran, dass die GmbH & Co. KG zivilrechtlich eine Personengesellschaft ist, deren Einkünfte nach § 15 I 1 Nr. 2 EStG den Gesellschaftern zuzurechnen sind. Dies entspricht der im Körperschaftsteuerrecht ursprünglich getroffenen3 und bis heute unveränderten gesetzgeberischen Entscheidung, an die zivilrechtliche Rechtsform anzuknüpfen. Ausnahmen von der strikten Anknüpfung an die Rechtsform würden im geltenden Körperschaftsteuerrecht einen kaum zu rechtfertigenden Systembruch bedeuten. Die gebotene gleichmäßige Besteuerung aller Unternehmensformen ist nur de lege ferenda zu erreichen (s. § 13 Rz. 177 ff.).
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Verbundene Unternehmen (§ 15 AktG), insb. Konzernunternehmen (§ 18 AktG), bleiben selbständige Körperschaftsteuersubjekte, auch wenn eine Organschaft (§§ 14 ff. KStG, s. § 14 Rz. 1 ff.) besteht. Handelsrechtlich ist dagegen seit 2005 für kapitalmarktorientierte Unternehmen ein einheitliches Konzernergebnis auf der Grundlage von IAS/IFRS zu ermitteln4. Zur Weiterentwicklung der Organschaft in Richtung einer Gruppenbesteuerung s. § 14 Rz. 28 ff.
II. Beginn und Ende der Körperschaftsteuerpflicht 26
Die Anknüpfung an die Rechtsform stößt auf Schwierigkeiten, wenn das im Werden begriffene Gebilde bereits vor seiner juristischen Entstehung tätig wird: Die in der Phase bis zur Errichtung (durch Abschluss des Gesellschaftsvertrags oder der Satzung) bestehende Vorgründungsgesellschaft ist entsprechend der zivilrechtlichen Qualifikation als BGB-Gesellschaft bzw. OHG kein Steuersubjekt i.S.d. § 1 I KStG, sondern Mitunternehmerschaft i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG. Verluste aus der Vorgründungsphase werden dementsprechend unmittelbar den Mitunternehmern zugerechnet und gehen nicht auf die künftige juristische Person über. Die in der Gründungsphase zwischen Errichtung und Registereintragung bestehende Vorgesellschaft wird zivilrechtlich überwiegend als Gesellschaft sui generis aufgefasst, die im Wesentlichen nach dem Recht der künftigen juristischen Person behandelt wird. Dementsprechend werden auch im Steuerrecht auf die Vorgesellschaft diejenigen Vorschriften angewendet, die nach der Registereintragung für die juristische Person gelten5. Die Körperschaftsteuerpflicht der Vorgesellschaft entfällt rückwirkend wieder, wenn es letztlich nicht zu einer Eintragung ins Handelsregister kommt6. Dann gilt das Recht der Personengesellschaften.
1 Dazu grundl. Martini, DStR 2012, 388. 2 Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, 1980, insb. 407 ff.; Walz, Gutachten F zum 53. DJT, 1980, 95 ff.; s. ferner (z.T. de lege ferenda) Schulze-Osterloh, DStJG 5 (1982), 241 (253 f.); SchulzeOsterloh, JbFSt. 1985/86, 232; Uelner, JbFSt. 1980/81, 359 (371 f.); Andreas, Die steuerliche Qualifikation körperschaftlich strukturierter Personengesellschaften und kapitalistisch beteiligter Personengesellschafter, Diss., 1984; Döllerer, StuW 1988, 20; rechtsvergleichend zum Recht der USA Schwochert, GmbHR 1984, 101; Boles/Walz, GmbHR 1986, 435; zur neueren Reformdiskussion (zwingende Einbeziehung der GmbH & Co. KG in die KSt) Hey, FS Raupach, 2006, 479 (492 f.). 3 Dazu Evers, Kommentar zum KStG 19252, 1927, Einl. 27 f. 4 Dazu Erle/Heurung in Erle/Sauter3, Vor §§ 14–19 KStG Rz. 59 ff. 5 BFH BStBl. 1990, 91; a.A. Hüttemann, FS Wassermeyer, 2005, 27 (31 ff.); s. hierzu ferner Joswig, Gründungsbilanzierung bei Kapitalgesellschaften nach Handels- und Steuerrecht, Diss., 1995; Klose, Die Gründung der GmbH zwischen Gesellschafts- und Steuerrecht, Diss., 1995; Kautz, Die Vorgesellschaft im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 2000; Crezelius, FS Wassermeyer, 2005, 15. Zum Beginn der Körperschaftsteuerpflicht bei einer von Todes wegen errichteten Stiftung s. BFH BStBl. 2005, 149; zu nichtrechtsfähiger Stiftung Hess. FG EFG 2010, 1242, bestätigt durch BFH/NV 2012, 786. 6 Dazu BFH BStBl. 1998, 531; 2010, 991.
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Rz. 28
§ 11
Wie die für die GmbH zulässige Einpersonen-Gründung zu behandeln ist, ist schon zivilrechtlich nicht unstreitig1. Richtig dürfte es sein, auch für die Einpersonen-Gründung zwischen dem Zeitraum bis zur Errichtung, in dem ein Einzelunternehmen besteht, und der Gründungsphase zu unterscheiden. Nach der Errichtung ist bereits ein körperschaftlich organisiertes Gebilde vorhanden, für das der Gründer einen fest abgegrenzten, verselbständigten Teil seines Vermögens zur Verfügung hält. Dies rechtfertigt es, jedenfalls steuerrechtlich, von einer Vorgesellschaft zu sprechen und sie als Körperschaftsteuersubjekt zu behandeln. Anderenfalls ergäbe sich eine kaum zu rechtfertigende Ungleichbehandlung gegenüber den GmbH-Gründungen, an denen mehrere Gründer beteiligt sind.
Für die Beendigung der Körperschaftsteuerpflicht gilt Folgendes: Die Körperschaft besteht auch nach ihrer Löschung im Handelsregister fort, solange sie zivilrechtlich besteht, d.h. noch über bilanzierungs- und bewertungsfähige Vermögensgegenstände verfügt, vgl. auch § 11 KStG (hierzu Rz. 100)2.
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III. Juristische Personen des Öffentlichen Rechts (Öffentliche Unternehmen) Literatur: Selmer, Besteuerung öffentlicher Unternehmen und Wettbewerbsneutralität, DÖV 1978, 381; Riegler, Besteuerung öffentlicher Betriebe 1920–1989, 1990 (Materialsammlung); Seer, Inhalt und Funktion des Begriffs „Betrieb gewerblicher Art“ für die Besteuerung der öffentlichen Hand, DStR 1992, 1751 u. 1790; Bader, Hoheitsbetrieb und Betrieb gewerblicher Art im Umsatz- und Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1997; Siegel, Der Begriff des Betriebs gewerblicher Art, Diss., 1999; F. Kirchhof, Wettbewerbsschutz durch Besteuerung der Betriebe gewerblicher Art?, in FS Offerhaus, 1999, 333; Landwehr, Betriebe gewerblicher Art von juristischen Personen des öffentlichen Rechts im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 2000; Kessler/Fritz/Gastl, Ertragsteuerliche Behandlung wirtschaftlicher Betätigungen von juristischen Personen des öffentlichen Rechts, BB 2001, 961; Seer/Wendt, Strukturprobleme der Besteuerung der öffentlichen Hand, DStR 2001, 825; Steffen, Der Betrieb gewerblicher Art. Die Zusammenfassung von wirtschaftlichen Tätigkeiten der juristischen Person des öffentlichen Rechts, Diss., 2001; Albert, Steuerfragen gemeinnütziger Organisationen und der öffentlichen Hand, IFSt-Schrift Nr. 395, 2001; Hilgenstock, Besteuerung öffentlicher Unternehmen, Diss., 2002; Hüttemann, Die Besteuerung der öffentlichen Hand, 2002; Seer/Wolsztynski, Steuerrechtliche Gemeinnützigkeit der öffentlichen Hand, 2002; Gastl, Die Besteuerung juristischer Personen des öffentlichen Rechts – eine kritische Bestandsaufnahme, DStZ 2003, 99; Kußmaul/Blasius, Körperschaftsteuerlich relevante Betätigungsfelder der öffentlichen Hand, INF 2003, 21; Wolf, Steuerliche Privilegien staatlicher Wirtschaftstätigkeit, DB 2003, 849; Häck, Die öffentliche Hand im Körperschaft- und Umsatzsteuerrecht, Diss., 2004; Strahl, Die Abgrenzung hoheitlicher und wirtschaftlicher Tätigkeiten von Körperschaften des öffentlichen Rechts im Ertrags- und Umsatzsteuerrecht, in FS Korn, 2005, 489; Beermann, Hoheitsbetriebe von Kirchen und Religionsgemeinschaften, Diss., 2005; Heidler, Besteuerung von juristischen Personen des öffentlichen Rechts und privaten gemeinnützigen Körperschaften. Analyse am Beispiel der Hochschulen, Diss., 2007; 30. Berliner Steuergespräch, FR 2009, Heft 7 mit Beiträgen von Heger, Hüttemann, Müller-Gatermann und Kurth; Seer/Klemke, Abgrenzung des Betriebs gewerblicher Art vom Hoheitsbetrieb, BB 2010, 2015; Hidien/Versin, Die öffentliche Hand als Steuersubjekt, SteuerStud 2014, 662 u. 718.
Körperschaften des öffentlichen Rechts werden nur insoweit besteuert, als sie mit ihren Betrieben gewerblicher Art mit privaten Unternehmen konkurrieren. Dazu bestimmt § 4 KStG (inhaltlich): Betriebe gewerblicher Art von juristischen Personen des öffentlichen Rechts sind alle Einrichtungen, die einer nachhaltigen wirtschaftlichen Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen außerhalb der Land- und Forstwirtschaft dienen und die sich innerhalb der Gesamtbetätigung der juristischen Person wirtschaftlich herausheben3. Die Absicht, Gewinn zu erzielen, und die Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr 1 Einpersonen-Vorgesellschaft bejahend u. ausf. zum aktuellen Meinungsstand K. Schmidt, Gesellschaftsrecht4, 2002, 1247 f.; a.A. Ulmer, BB 1980, 1001. S. zum Meinungsstand auch MünchKomm. Merkt, 2010, § 11 GmbHG Rz. 181 ff. 2 BFH BStBl. 1987, 308 (310); 1990, 468; Saenger, GmbHR 1994, 300; Fandrich, Das steuerliche Ende der Kapitalgesellschaften, Diss., 1996; HHR/Klein, § 1 KStG Anm. 72 ff. (2014). 3 Dazu BFH BStBl. 1979, 748 f.; 1990, 870; 1997, 230; 2010, 502. Zu Recht krit. hinsichtlich der Relevanz des Tatbestandsmerkmals der Einrichtung Lock, ZKF 2011, 247 u. 273.
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Rz. 29
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sind nicht erforderlich (Abs. 1; § 8 I 2 KStG). Ein Betrieb gewerblicher Art ist auch dann Steuersubjekt, wenn er selbst juristische Person des öffentlichen Rechts ist (Abs. 2). Zu den Betrieben gewerblicher Art gehören auch Betriebe, die der Versorgung der Bevölkerung mit Wasser, Gas, Elektrizität oder Wärme, dem öffentlichen Verkehr oder dem Hafenbetrieb dienen (Abs. 3). Als Betrieb gewerblicher Art gilt auch die Verpachtung1 eines solchen Betriebs (Abs. 4). Zu den Betrieben gewerblicher Art gehören nicht Betriebe, die überwiegend der Ausübung der öffentlichen Gewalt dienen (Hoheitsbetriebe). Für die Annahme eines Hoheitsbetriebs reichen Zwangs- oder Monopolrechte nicht aus (Abs. 5). Der die Besteuerung der öffentlichen Hand rechtfertigende Grundsatz der Wettbewerbsneutralität findet im Gesetz keinen unmittelbaren Ausdruck, sondern ist im Wege der Auslegung beim Tatbestandsmerkmal des Hoheitsbetriebs zur Geltung zu bringen2. Wettbewerbsschutz ist dort angebracht, wo der Markt für private Wettbewerber offen ist und Angebot und Nachfrage bestehen. Wird die öffentliche Hand im Wege der Eingriffsverwaltung tätig, handelt sie unzweifelhaft hoheitlich. Schwierigkeiten bereitet die Abgrenzung dagegen im Bereich der Leistungsverwaltung und bei gemischter Tätigkeit. Hier kommt es auf das „Überwiegen“ an (s. § 4 V KStG: „überwiegend“, teleologisch unbefriedigend). Die Frage der Zuordnung von Versorgungsbetrieben3 löst § 4 III KStG dahingehend, dass er die wichtigsten Versorgungszweige dem gewerblichen Sektor zuordnet. Die Rspr. behilft sich i.Ü. mit der ebenfalls nicht trennscharfen Formel, die Tätigkeit müsse der öffentlichen Hand „eigentümlich und vorbehalten“ sein4. Ausgangspunkt ist dabei i.d.R. die verwaltungsrechtliche Einordnung, die aber keineswegs immer Aufschluss über die Wettbewerbsrelevanz der Tätigkeit gibt. Jedenfalls der relevante Markt ist unabhängig von der Reichweite der öffentlich-rechtlichen Vorschriften zu bestimmen. BFH BStBl. 2009, 1022, hat im Fall landesrechtlich der öffentlichen Hand vorbehaltener Tätigkeiten (Betrieb eines Krematoriums) zutr. erkannt, dass auch Wettbewerbsbeeinträchtigungen in anderen Bundesländern oder anderen EU-Mitgliedstaaten das Bedürfnis nach Einordnung als Betrieb gewerblicher Art begründen können5. Beispiele für Betriebe gewerblicher Art sind Blutalkoholuntersuchungen, Mensabetriebe, kommunale Kindergärten, Musikschulen, Parkhäuser.
Eine abschließende Bestimmung der Reichweite hoheitlichen Handelns i.S.v. § 4 V KStG ist insb. im Hinblick auf die Tendenz zu materieller Aufgabenprivatisierung und dem hierdurch neu entstehenden Wettbewerb mit privaten Anbietern nicht möglich. Ohnehin bleibt der Konkurrentenschutz lückenhaft, da er sich nicht auf den landwirtschaftlichen Sektor und die Vermögensverwaltung (dazu Rz. 30) bezieht. Der Gesetzgeber sollte das durch die umsatzsteuerrechtliche Rspr. des EuGH (s. § 17 Rz. 56 ff.) bedingte Auseinanderlaufen von § 4 V KStG und § 2 III UStG zum Anlass nehmen, die steuerliche Sphäre der öffentlichen Hand einheitlich zu definieren und konsequent am Wettbewerbsgedanken auszurichten6. 29
Steuersubjekt ist nach Wortlaut und Zweck des § 1 I Nr. 6 KStG der einzelne Betrieb gewerblicher Art. Auf die Rechtsfähigkeit kommt es – wie auch sonst im Steuerrecht – für die Steuersubjektfähigkeit nicht an. Dagegen geht der BFH seit BStBl. 1974, 391, davon aus, Steuersubjekt sei die Körperschaft des öffentlichen Rechts. Dennoch verselbständigt die Rspr. den Betrieb 1 Dazu BFH BStBl. 1979, 717 f.; 1983, 386; zur Verpachtung von Hoheitsbetrieben s. Buciek, DStZ 1985, 113; s. ferner BFH BStBl. 1990, 870. 2 Teleologisch überzeugend BFH BStBl. 1988, 910; 1990, 95; 1990, 866; 1997, 139; 2005, 501; krit. Droege, BWVBl 2011, 41 (45 f.); zur Abgrenzung des gewerblichen Betriebs vom hoheitlichen Betrieb s. Laule, DStZ 1988, 183; Altehoefer, FS Schmidt, 1993, 677; Boetius, DB-Beil. 17/1996; Baldauf, DStZ 2008, 327 u. 717; Seer/Klemke, BB 2010, 2015 ff.; Fiand, KStZ 2010, 61. 3 Richtigerweise müssten entgegen BFH BStBl. 1997, 139, auch Entsorgungsbetriebe als BgA eingeordnet werden, vgl. Seer/Klemke, BB 2010, 2015 (2022 f.). So jetzt auch FG Düsseldorf EFG 2013, 1509 (1511). 4 BFH BStBl. 1952, 41; 1976, 355; 1988, 910; 2005, 501; 2009, 1022; 2012, 837. 5 BFH BStBl. 2009, 1022; BMF BStBl. I 2009, 1597; dazu Schiffers, DStZ 2010, 122. 6 S. etwa das Plädoyer von Seer/Klemke, BB 2010, 2015 (2024).
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gewerblicher Art gegenüber der Trägerkörperschaft1. Der einzelne Betrieb gewerblicher Art ist Gewinnermittlungssubjekt (BFH BStBl. 1979, 193)2. Vertragliche Vereinbarungen zwischen Betrieb gewerblicher Art und Trägerkörperschaft werden grds. anerkannt und den Regeln für Vereinbarungen zwischen beherrschendem Gesellschafter und Kapitalgesellschaft unterworfen3. Die unentgeltliche Überführung von Wirtschaftsgütern zwischen dem Betrieb gewerblicher Art und der Trägerkörperschaft ist Gewinnausschüttung und keine Entnahme (BFH BStBl. 2003, 412)4. Der Betrieb gewerblicher Art kann an die Trägerkörperschaft spenden (BFH BStBl. 1990, 237 [239]). §§ 20 I Nr. 10; 43 I 1 Nrn. 7b u. 7c; 44 VI EStG regeln die Behandlung des Transfers von Gewinnen des Betriebs gewerblicher Art an nicht steuerpflichtige Trägerkörperschaften5. Für die Verlusttätigkeit von Betrieben gewerblicher Art hat JStG 2009 v. 19.12.2008, BGBl. I 2008, 2794, ein nicht zu rechtfertigendes Sonderrecht6 geschaffen: § 8 I 2 KStG schließt zunächst auch für dauerdefizitäre Betriebe gewerblicher Art die Annahme von Liebhaberei ausdrücklich aus. Sodann exkludiert § 8 VII KStG entgegen BFH BStBl. 2007, 9617 für Dauerverlustgeschäfte8 die Rechtsfolgen einer verdeckten Gewinnausschüttung zwischen Betrieben gewerblicher Art bzw. GmbH im Mehrheitsbesitz juristischer Personen des öffentlichen Rechts und Trägerkörperschaft. Schließlich enthält § 8 VIII, IX KStG Regeln für den Verlustausgleich bei Zusammenfassung von Betrieben gewerblicher Art. Danach werden die einzelnen Tätigkeiten gesonderten Sparten zugeordnet. Betriebe, die gem. § 4 VI 1 KStG zusammengefasst werden dürfen (bei Gleichartigkeit, enger technisch-wirtschaftlicher Verflechtung oder Versorgungsbetrieben), werden stets einer Sparte zugeordnet (§ 8 IX KStG). Die Zusammenfassung mit einem Hoheitsbetrieb ist unzulässig (§ 4 VI 2 KStG)9. Innerhalb der einzelnen Sparten können positive und negative Ergebnisse einzelner Betriebe gewerblicher Art ausgeglichen werden, nicht aber zwischen den Sparten. Damit wird die bisherige Rechtspraxis des sog. kommunalen Querverbunds10 gesetzlich festgeschrieben. Daneben besteht die Möglichkeit der Ergebnisverrechnung durch Begründung einer Organschaft11. Die Neuregelung führt zu einer Privilegierung öffentlicher gegenüber privater Unternehmen12 und wirft unionsrechtliche Zweifelsfragen im Hinblick auf Art. 107 f. AEUV auf13. Zudem ist 1 BFH BStBl. 1983, 147, m. Anm. Klempt, DStZ 1983, 262; s. aber auch BFH BStBl. 1984, 496, m. Anm. Klempt, DStZ 1984, 571: Miet- u. Pachtverträge werden nicht anerkannt, wenn sie die wesentliche Grundlage des Betriebs gewerblicher Art betreffen; dazu grundl. Damas, DStZ 2005, 866. Zu Unstimmigkeiten dieser Konzeption krit. Hüttemann, FR 2009, 308, 312; Hüttemann, Die Besteuerung der öffentlichen Hand, 2002, 130 ff.; Zuordnung von Betriebsvermögen zwischen Trägerkörperschaft und BgA Kronawitter, KStZ 2011, 81. 2 Zu Gewinnermittlung und Bilanzierung bei Betrieben gewerblicher Art Strahl, NWB 2009, 2650 u. 2732. 3 Grenzen BFH BStBl. 2001, 558; 2009, 246. 4 Dazu Bauschatz/Strahl, DStR 2004, 489; s. ferner Gröpl, StuW 1997, 131. 5 Dazu BFH BStBl. 2007, 841; 2008, 573; 2008, 317 ; v. Krahn, ZKF 2009, 25 u. 53. Zur Kapitalertragsteuer des BgA: BFH, BStBl. 2013, 328 (keine KapErtrSt bei Thesaurierung im BgA); dazu Schüttler/ Engels/Schmidt, DStR 2012, 1069; Bott/Gastl, DStZ 2012, 571. 6 Hierzu Anwendungsschreiben BMF BStBl. I 2009, 1303 (m. Anm. Hüttemann, DB 2009, 2629; Strahl, DStR 2010, 193; Schiffers, DStZ 2010, 119); Fiand/Klaiber, KStZ 2009, 41; Bracksiek, FR 2009, 15; Leippe/Baldauf, DStZ 2008, 568 u. DStZ 2009, 67; Leippe, ZKF 2009, 81; Eversberg/Baldauf, DStZ 2010, 358; und überwiegend krit. 30. Berliner Steuergespräch, FR 2009, Heft 7. Zur Anwendung der Neuregelung s. BMF BStBl. I 2009, 1303 ff., m. Anm. Leippe, DStZ 2010, 106; Pinkos, DStZ 2010, 96; Schiffers, DStZ 2010, 119. 7 Anm. Hüttemann, DB 2007, 2508; Augsten/Lissel, WPg. 2008, 291; Leippe, ZKF 2008, 78; krit. Geißelmeier/Bargenda, DStR 2009, 1333 (1336). 8 Dazu Meier, FR 2010, 168. 9 Wie BFH BStBl. 2008, 573. 10 BFH GrS BStBl. III 1967, 240; BFH BStBl. 1990, 242; 1992, 432. 11 Hierzu Eversberg, DStZ 2012, 278. 12 S. die Kritik v. Hüttemann, FR 2009, 308 (311); Heger, FR 2009, 301 (307). 13 Zur Notwendigkeit der Durchführung des Verfahrens gem. Art. 88 III EG-Vertrag ausf. Weitemeyer, FR 2009, 1; zuvor schon Weitemeyer, StuW 2003, 326; ferner Heger, FR 2009, 301 (307); Hüttemann, FR 2009, 308 (311); a.A. FG Köln EFG 2010, 1345 (nicht notifizierungspflichtige Altbeihilfe).
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§ 11
§ 11
Rz. 30
Körperschaftsteuer
sie konzeptionell mit dem Nebeneinander eines erweiterten Verlustausgleichs zwischen einzelnen Betrieben gewerblicher Art im Rahmen der Spartenbildung und dem Ausschluss der vGA im Verhältnis zur Trägerkörperschaft missglückt1. 30
Einkünfte aus der Vermögensverwaltung der öffentlichen Hand (s. § 14 AO) sind grds. nicht steuerbar. Nur soweit ein Steuerabzug vorzunehmen ist, greift die beschränkte Steuerpflicht des § 2 Nr. 2 KStG ein (s. Rz. 32). Die Steuer ist in diesem Fall durch den Abzug abgegolten (§ 32 I Nr. 2, II KStG). In bestimmten Fällen kann vom Steuerabzug abgesehen werden (§ 44a IV 1 Nr. 2 EStG), in anderen reduziert sich die Kapitalertragsteuerbelastung (§ 44a VIII 1 Nr. 2 EStG)2.
IV. Unbeschränkte und beschränkte Körperschaftsteuerpflicht 31
Wie das EStG grenzt das KStG die Besteuerungshoheit international durch die Unterscheidung zwischen unbeschränkter (§ 1 I KStG) und beschränkter (§ 2 Nr. 1 KStG) Steuerpflicht ab3. Anknüpfungspunkt der unbeschränkten Steuerpflicht sind Geschäftsleitung oder Sitz im Inland; es werden sämtliche Einkünfte (Welteinkommen) erfasst (§ 1 II KStG). Beschränkt steuerpflichtig sind Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen, die weder ihre Geschäftsleitung noch ihren Sitz im Inland haben mit ihren inländischen Einkünften (§ 2 Nr. 1 KStG; § 49 EStG). Nach ausländischem Recht gegründete Gesellschaften sind Körperschaftsteuersubjekte, wenn ihre rechtliche Struktur und ihre wirtschaftliche Position der einer deutschen Körperschaft entsprechen (sog. Typenvergleich4). Ausländische Gesellschaften mit statutarischem Sitz im Ausland sind als sog. doppelansässige Gesellschaften5 nach § 1 I Nr. 1 KStG unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtig, wenn sie einer deutschen Kapitalgesellschaft entsprechen und ihre Geschäftsleitung (Verwaltungssitz) in das Inland verlegen. Auf die Frage der Rechtsfähigkeit der ausländischen Gesellschaft, die sich nach internationalem Privatrecht beurteilt und die bisher von der Rspr. (BFH BStBl. 1992, 972 [973]) zur Voraussetzung der Subsumtion unter § 1 I Nr. 1 KStG gemacht wurde, kommt es auf Grund der Erweiterung des Katalogs der Nr. 1 durch das SEStEG in Zukunft nicht mehr an6. Der EuGH hatte in den Entscheidungen Centros (1999), Überseering (2002) und Inspire Art (2003) gefordert, der Zuzugsstaat müsse die von einem anderen Mitgliedstaat verliehene Rechtsfähigkeit anerkennen. In EuGH C-210/06, Cartesio, hat der Gerichtshof EU-Mitgliedstaaten mit Sitztheorie zwar weiterhin zugebilligt, die Rechtsfähigkeit anlässlich des Wegzugs zu entziehen. Ebenso geht der BGH für aus Drittstaaten zuziehende Gesellschaften weiterhin von der Anwendung der Sitztheorie und damit vom Verlust der Rechtsfähigkeit aus7. Dennoch ist die ausländische Gesellschaft u.E. auch in diesen 1 Krit. Hüttemann, FR 2009, 308 (311). 2 Dazu Kessler/Fritz/Gastl, BB 2004, 2325 (2327 ff.); Sorg, NWB 2006, Fach 3, 14265; Bott, DStZ 2009, 710; Schiffers, DStZ 2010, 378; Bürstinghaus, DStZ 2011, 345. 3 Unterschiede zwischen beschränkter und unbeschränkter Körperschaftsteuerpflicht s. Eckl, Wechsel von beschränkter und unbeschränkter Steuerpflicht bei Kapitalgesellschaften, Diss., 2006, 62–77. 4 Zurückzuführen auf die sog. Venezuela-Entscheidung RFHE 27, 78; aktuell BMF BStBl. I 2004, 411 zur LLC; OFD Frankfurt, RIW 2009, 96; BFH BStBl. 2009, 234 u. 263, m. Anm. Flick/Heinsen, IStR 2008, 781; Steiner, ÖStZ 2007, 160 u. 204; Martini, IStR 2012, 441; Kahlenberg, European Taxation 2014, 152; rechtsvergleichend Kopec/Mroz, Ubg. 2014, 164; zur Vereinbarkeit mit EU-Recht Fibbe, ET 2006, 487; Stewens, FR 2007, 1047; Hochheim, Der Typenvergleich aus europarechtlicher Sicht, Diss., 2008; bejahend Sauter/Altrichter-Herzberg in Erle/Sauter3, § 2 KStG Rz. 6. 5 Dazu grundl. Großmann, Doppelt ansässige Kapitalgesellschaften im internationalen Steuerrecht, Diss., 1995; Staringer, Besteuerung doppelt ansässiger Kapitalgesellschaften, Habil., Wien 1999; Stein, Doppelt ansässige Kapitalgesellschaften, Diss., 2007; ferner Hey, Der Konzern 2004, 577; zur britischen LLC: Kessler/Eike, DStR 2005, 2101; Korts, Stbg. 2005, 485; Pohl, JbFSt. 2005/06, 387; Wachter, FR 2006, 358 u. 393; zur britischen LLP: Schnittker, Gesellschafts- und steuerrechtliche Behandlung einer englischen Limited Liability Partnership mit Verwaltungssitz in Deutschland, Diss., 2006; Moschetti, FS J. Lang, 2010, 1167; Piltz, FS Herzig, 2010, 23; Schnitger, IStR 2013, 82. 6 Wie hier Kahle/Cortez, FR 2014, 673 (681). 7 Vgl. BGHZ 178, 192 (Trabrennbahn): Behandlung einer schweizerischen AG mit Verwaltungssitz in Deutschland als rechtsfähige Personengesellschaft; Kahle/Cortez, FR 2014, 673 (677 f.).
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Subjektive Steuerpflicht
Rz. 35
§ 11
Fällen unter § 1 I Nr. 1 KStG und nicht wie bisher unter § 1 I Nr. 5 KStG zu subsumieren, denn in der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 16/2710, 30) werden ausdrücklich auch außerhalb der EU gegründete Gesellschaften einbezogen, ohne zwischen Sitz- und Gründungstheorie zu differenzieren1. Daneben normiert § 2 Nr. 2 KStG eine beschränkte Steuerpflicht sonstiger nicht unbeschränkt steuerpflichtiger Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen mit ihren inländischen Einkünften, soweit diese vollständig oder teilweise einem Steuerabzug unterliegen. Hauptanwendungsfall sind kapitalertragsteuerpflichtige Einkünfte von Körperschaften des öffentlichen Rechts außerhalb ihrer Betriebe gewerblicher Art (s. Rz. 30), vgl. § 43 EStG; § 32 I Nr. 2, II KStG und von steuerbefreiten Körperschaften, vgl. § 32 I Nr. 1 i.V.m. § 5 II Nr. 1 KStG2. § 2 Nr. 2 Hs. 2 Buchst. a–c KStG erfassen darüber hinaus Entgelte aus Wertpapierleihe.
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V. Subjektive Steuerbefreiungen Das Körperschaftsteuerrecht kennt – anders als das Einkommensteuerrecht – subjektive Steuerbefreiungen, die in § 5 KStG aufgelistet sind3. Ein Großteil der Befreiungstatbestände betrifft jPdöR (z.B. Bundeseisenbahnvermögen; Kreditanstalten des öffentlichen Rechts) sowie Körperschaften, die öffentliche oder sozialpolitisch erwünschte Aufgaben wahrnehmen (insb. Pensions-, Sterbe-, Kranken- und Unterstützungskassen4; Berufsverbände5 und politische Parteien6; bestimmte Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften; Wirtschaftsförderungsgesellschaften7). Von besonderer Bedeutung ist § 5 I Nr. 9 KStG, wonach Körperschaften, die gemeinnützigen, mildtätigen oder kirchlichen8 Zwecken dienen, von der KSt befreit sind (zum Gemeinnützigkeitsrecht s. § 20).
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Zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen werden wirtschaftliche Geschäftsbetriebe in dem Umfang aus der Steuerbefreiung ausgenommen, in dem die steuerbefreite Körperschaft mit steuerpflichtigen Unternehmen konkurriert (s. z.B. § 5 I Nr. 7 Satz 2, Nr. 9 Satz 2 KStG; s. Rz. 28 u. § 20 Rz. 6 ff.). Die Befreiungen gelten nicht für die Kapitalertragsteuer (§§ 5 II Nr. 1; 32 I Nr. 1 KStG; § 43 EStG; s. auch § 2 Nr. 2 KStG) und für beschränkt steuerpflichtige Steuersubjekte (§§ 5 II Nr. 2; 2 Nr. 1; 32 I Nr. 2 KStG). § 5 II Nr. 2 Hs. 2 KStG bezieht allerdings infolge von EuGH C-386/04, Stauffer, beschränkt steuerpflichtige EU-/EWR-Körperschaften in die Steuerbefreiung des § 5 I Nr. 9 KStG ein (s. dazu § 20 Rz. 2).
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Außer im KStG finden sich subj. Körperschaftsteuerbefreiungen auch in Spezialgesetzen. § 11 I 2 InvStG befreit Investmentfonds, die als Zweckvermögen i.S.d. § 1 I Nr. 5 KStG gelten, von der KSt. § 16 I REITG v. 28.5.2007, BGBl. I 2007, 914, sieht eine körperschaftsteuerbefreite Immobilienaktiengesellschaft vor (sog. G-REIT = German Real Estate Investment Trust)9. Mit der Einführung des G-REIT verfolgt der Gesetzgeber das Ziel einer breiteren Streuung von Immobilienanlagen und trägt der internationalen Verbreitung10 von REITs Rechnung. Die Steu-
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1 Wie hier HHR/Altendorf, Jb. 2007, § 1 KStG Anm. J 06-3; Ernst & Young/Kalbfleisch, § 1 KStG Rz. 45 ff. (2011); Kahle/Cortez, FR 2014, 673 (681). 2 Dazu Storg, NWB 2006, Fach 3, 14265. 3 S. dazu Gosch/Heger2, § 5 KStG Rz. 1 ff. 4 S. auch § 6 KStG; dazu Buttler/Baier, Steuerliche Behandlung von Unterstützungskassen6, 2014. 5 Dazu Schlieder, Die steuerrechtliche Behandlung der Berufs- und Wirtschaftsverbände, Diss., 1960; Blecker, Die Besteuerung der Berufsverbände ohne öffentlich-rechtlichen Charakter, Diss., 1971; Eggers, DStR 2007, 461; Kühner, DStR 2009, 1786; Blümich/v. Twickel, § 5 KStG Rz. 65 ff. (2013). 6 Dazu Hüttemann, FS J. Lang, 2010, 321. 7 Dazu BFH BStBl. 2003, 723; 2006, 141. 8 Dazu Mack, Die kirchliche Steuerfreiheit in Deutschland, Diss., 1916, Nachdruck 1965; BFH BStBl. 1996, 583. 9 Hierzu i.E. mit Literaturnachweisen § 8 Rz. 496. 10 Hellio/Kenk, IWB 2007, Gr. 2, Fach 5, 1477; Knebel/Schmidt, IWB 2007, Gr. 2, Fach 10, 1957; Stoschek/Dammann, IStR 2006, 403; Pluskat, IStR 2006, 661; Schacht/Gänsler, IStR 2007, 99; Cornelisse/Weber/Wijs/Blokland, ET 2006, 3 u. 68 (EU-Harmonisierung).
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§ 11
Rz. 36
Körperschaftsteuer
erbefreiungen sollen eine Gleichstellung mit dem Direktanleger bewirken (sog. investmentsteuerrechtliches Transparenzprinzip). Zur Besteuerung des REIT-Anlegers s. § 8 Rz. 496.
C. Steuerobjekt I. Einkommen als Steuerobjekt, zu versteuerndes Einkommen als Bemessungsgrundlage 36
Steuerobjekt der KSt ist das Einkommen. Bemessungsgrundlage ist das zu versteuernde Einkommen des Steuersubjekts im Kalenderjahr (§ 7 III KStG) vor Verteilung (Ausschüttung) an die Gesellschafter (§ 8 III 1 KStG). Das KStG definiert den Einkommensbegriff nicht, sondern verweist, auch für die Gewinnermittlung, auf die Vorschriften des EStG und auf Spezialvorschriften des KStG (§ 8 I KStG). Wie die ESt (s. § 8 Rz. 44 ff.) ist die KSt eine Periodensteuer; sie wird nach dem Jahreseinkommen bemessen und veranlagt (§ 7 III, IV KStG). Maßgeblich ist das Nettoeinkommen; es gilt das objektive Nettoprinzip1. In der Terminologie der Wirtschaftswissenschaften kann eine Körperschaft kein Einkommen haben, da Einkommen erst entsteht, wenn Ertragsteile einem privaten Haushalt zufließen und ihm als Kaufkraft zur privaten Verfügung stehen. Das Unternehmen der Körperschaft wirft danach Ertrag ab; die KSt ist Ertragsteuer. Der Steuergesetzgeber ist an diese Terminologie indessen nicht gebunden.
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§ 8 II KStG i.d.F. des SEStEG qualifiziert die Einkünfte von unbeschränkt Stpfl. i.S.d. § 1 Nr. 1 bis 3 KStG als Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Auf die Buchführungspflicht nach HGB kommt es seit dem Veranlagungszeitraum 2006 nicht mehr an. Umstritten ist, ob es sich um eine Rechtsgrund- oder eine Rechtsfolgenverweisung handelt. Der BFH vertritt seit 1996 (BFHE 182, 123) in nunmehr st. Rspr. (anders noch BFH BStBl. 1970, 470) die Auffassung, die Tätigkeit einer Kapitalgesellschaft gelte gem. § 8 II KStG auch insoweit als Gewerbebetrieb, als sie nicht unter eine der sieben Einkunftsarten des § 2 I EStG falle. Damit werden auch Verluste auf Grund einer Betätigung ohne Totalgewinnabsicht („Liebhaberei“) anders als im Einkommensteuerrecht zunächst anerkannt. Wird die Verlusttätigkeit im überwiegenden Interesse eines Gesellschafters ausgeübt und der Verlust nicht durch diesen ausgeglichen, findet eine Korrektur über das Rechtsinstitut der vGA statt2. Diese Rspr. ist aus dem Gesetz nicht abzuleiten. Sie spaltet das Steuerobjekt der KSt, weil sie nur für Steuersubjekte i.S.d. § 1 I Nrn. 1–3 KStG, nicht aber für sonstige Körperschaftsteuersubjekte gilt3. Der BFH hat seine Auffassung außer mit den Anforderungen des 2001 abgeschafften Anrechnungsverfahrens vor allem mit der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz begründet und noch einmal ausdrücklich unter Geltung des Halbeinkünfteverfahrens bestätigt (BFH BStBl. 2007, 961). Spätes1 Unstreitig Hey u. Heger, DStR 2009, Beihefter zu Heft 34, 109 u. 117. 2 Ausdrücklich und mit ausf. Begründung BFH BStBl. 2007, 961; ferner BFHE 186, 540; BFH BStBl. 2002, 490; BFHE 208, 519; anders BFH/NV 2002, 1538, m. Anm. Prinz, FR 2002, 1171. Der Rspr. grds. zust. Wassermeyer, FS Haas, 1996, 401; Stolterfoth, FS Kruse, 2001, 485; Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 2004, 65 ff.; Seeger, FS Wassermeyer, 2005, 81; Wassermeyer, DB 2011, 1828 (1830 ff.); Briese, FR 2014, 1001 (1011); Mindermann/Lukas, NWB 2014, 2092 (praktische Konsequenzen) und zuvor schon Thiel/Eversberg, DStR 1993, 1881; Kister, Liebhaberei bei Kapitalgesellschaften, Diss., 2005; Kritik: Weber-Grellet, DStR 1994, 12; Hoffmann, DStR 1999, 269; Pezzer, FR 1998, 1093; Pezzer, StuW 1998, 76; Schön, FS Flume, 1998, 265 (270); Musil, DStZ 2003, 649 (652); Hüttemann, FS Raupach, 2005, 495; Weber-Grellet, BB 2014, 2263 (2265 ff.): grundl. Nippert, Die außerbetriebliche Sphäre der Kapitalgesellschaften im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 2006; anders auch der österr. VwGH v. 20.6.2000, 98/15/0169; dazu Stangl, Die außerbetriebliche Sphäre von Kapitalgesellschaften, Diss., 2004; Stangl, ÖStZ 2005, 39; Renner, DStZ 2014, 453. Zu Praxisfragen Mindermann/Lukas, NWB 2014, 2092. 3 Deutlich anhand BFH BStBl. 2002, 861 (Ausnahme für beschränkt stpfl. Kapitalgesellschaften, weil sie keiner Buchführungspflicht nach HGB unterliegen); Nichtanwendungserlass BMF BStBl. I 2002, 1394, aufgehoben durch BMF BStBl. I 2010, 1350; anders jetzt BFH BStBl. 2013, 1024, Liebhaberei einer ausländischen, nicht buchführungspflichtigen Kapitalgesellschaft verneint; s. die Kritik von Piltz, DStR 2014, 684.
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Ermittlung des Einkommens
Rz. 40
§ 11
tens mit der Aufgabe des Tatbestandsmerkmals der Buchführungspflicht nach HGB in § 8 II KStG ist dieses Argument jedoch hinfällig. Der einheitliche Wortlaut dürfte eine Differenzierung zwischen buchführungspflichtigen Kapitalgesellschaften und sonstigen Körperschaften i.S.v. § 8 II KStG ausschließen. Wie bisher gilt: § 8 II KStG erweitert das Steuerobjekt nicht, sondern hat als Rechtsgrundverweisung lediglich Einkünftequalifikationsfunktion. Was als Einkommen gilt, bestimmt sich nach dem EStG, insb. nach § 2 EStG. Die Frage der Steuerbarkeit ist der in § 8 II KStG geregelten Einkünftequalifikation vorgelagert. Was nach dem EStG nicht steuerbar ist, etwa Lotterieeinkünfte oder (negative) Einkünfte aus Liebhaberei, wird auch vom KStG nicht erfasst. Folglich hat auch die Kapitalgesellschaft eine außerbetriebliche Sphäre (Privatsphäre).
II. Ermittlung des Einkommens 1. Allgemeines Die Ermittlung des Einkommens geschieht nach den Vorschriften des EStG und den §§ 8 ff. KStG (§ 8 I KStG). Da Kapitalgesellschaften, die hier allein berücksichtigt werden, lediglich Einkünfte aus Gewerbebetrieb haben (§ 8 II KStG) und Sonderausgaben (mangels persönlicher Lebensbedarfsaufwendungen, s. allerdings § 9 I Nr. 2 KStG) nicht möglich sind, gilt prinzipiell Folgendes: Einkommen (§§ 7; 8 I KStG) = Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§ 8 II KStG; § 2 I 1 Nr. 2 EStG) = Gewinn (§ 2 II 1 Nr. 1 EStG) = aus der Handelsbilanz abgeleitetes Steuerbilanzergebnis (§ 5 EStG), modifiziert durch die §§ 8 ff. KStG (§ 8 I KStG). Ausgangspunkt für die Einkommensermittlung nach § 8 I KStG ist der Jahresüberschuss.
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Zu Besonderheiten der Ermittlung des Handelsbilanzgewinns von Kapitalgesellschaften s. § 9 Rz. 500 ff.
2. Objektive Steuerbefreiungen, insb. Steuerfreiheit von Beteiligungserträgen (§ 8b KStG) Der aus der Handelsbilanz abgeleitete Jahresüberschuss ist um die nach dem KStG steuerbefreiten Erträge zu mindern. Neben Mitgliedsbeiträgen (§ 8 V KStG)1 sind vor allem Beteiligungserträge i.S.d. § 8b KStG objektiv steuerbefreit.
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Gem. § 8b I KStG bleiben Dividenden und andere Gewinnausschüttungen und gem. § 8b II KStG Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an Körperschaften bei der Ermittlung des Einkommens außer Ansatz2. Diese Beteiligungsertragsbefreiung ist Bestandteil des seit 2001 geltenden klassischen Körperschaftsteuersystems und verhindert durch abschließende Besteuerung auf der Ebene der Tochtergesellschaft wirtschaftliche Doppelbelastungen innerhalb der KSt (zur Rechtfertigung s. Rz. 14). Ab dem VZ 2014 gilt dies jedoch nur noch, soweit die Bezüge das Einkommen der leistenden Körperschaft nicht gemindert haben (§ 8b I 2 KStG)3. Nachdem die Beteiligungsertragsbefreiung zunächst unabhängig von der Vorbelastung gewährt wurde, hat der Gesetzgeber sukzessive eine Korrespondenz beider Ebenen hergestellt. Die zunächst durch JStG 2007 auf verdeckte Gewinnausschüttungen beschränkte Regelung des § 8b I 2 KStG richtet sich nunmehr grds. sachgerecht4 allgemein gegen Fälle, in denen es an der die Steu-
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1 Dazu Podlinski, Die Mitgliederbeiträge im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1960; BFH BStBl. 1990, 550. 2 Dazu BMF BStBl. I 2003, 292, ausf. Anm. u.a. Dötsch/Pung, DB 2003, 1016; Eilers/Schmidt, GmbHR 2003, 613; Füger/Rieger, FR 2003, 543 u. 589; zu Anwendungsfragen der Steuerfreiheit der Veräußerungsgewinne gem. § 8b II KStG s. Leip, BB 2002, 1839; Müller/Wangler, SteuerStud 2010, 111 (Überblick u. steuersystematische Einordnung); Bruschke, DStZ 2012, 813; Rohler, GmbH-StB 2014, 263. Zur Definition der Veräußerungskosten Ditz/Tcherveniachki, DStR 2012, 1161; Riedel, FR 2014, 356. Zur Rechtslage in Österreich Haslinger, Die Veräußerung von Beteiligungen, Diss., Wien 2006. 3 Zur Neufassung Becker/Loose, IStR 2012, 758. 4 Der Wortlaut geht allerdings über den Gesetzeszweck hinaus, z.B. falls die Einkommensminderung bei der ausschüttenden Gesellschaft nicht dauerhaft ist, s. Desens, Beihefter zu DStR 2013, 13 (19 f.). HHR/Watermeyer, § 8b KStG Anm. 7 (2014), äußert grds. verfassungsrechtliche Bedenken.
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§ 11
Rz. 41
Körperschaftsteuer
erbefreiung rechtfertigenden Vorbelastung fehlt, insb. gegen hybride Finanzierungen durch Nutzung von Genussrechten. Hybride Finanzierungen machen sich die unterschiedliche Qualifikation von Vergütungen für Kapitalüberlassung zunutze, wenn diese im Staat der ausschüttenden Gesellschaft als abzugsfähiger Zins, in Deutschland dagegen als steuerbefreite Dividende eingestuft werden1. Der Zweck, Doppelbelastungen zu vermeiden, wirkt sich zudem auf die Auslegung von § 8b I und II aus. BFH BStBl. 2013, 5882, verneint daher zutr. die Anwendung von § 8b II KStG auf Stillhalterprämien aus Optionsgeschäften. Im Umkehrschluss hat der Erwerber in Höhe der Optionsprämie abzugsfähigen Aufwand; § 8b III 3 KStG gilt nicht. 41
Als Kehrseite der Steuerfreiheit können weder Teilwertabschreibungen noch Verluste aus der Veräußerung von Beteiligungen geltend gemacht werden (§ 8b III 3 KStG)3. Dies ist sachgerecht, um eine (doppelte) Verlustnutzung sowohl auf Ebene der Körperschaft als auch beim Anteilseigner zu verhindern, nicht jedoch, wenn sich der Verlust (bspw. infolge von Liquidation) nur noch auf der Ebene des Anteilseigners auswirken kann4 oder es im Fall vergeblicher Aufwendungen (sog. Due-Diligence-Kosten) bei gescheitertem Erwerb später nicht zu einem steuerbefreiten Veräußerungsgewinn kommt (BFH BStBl. 2013, 343, m. Anm. Ditz/Tcherveniachki, DB 2013, 1634). Der Zusammenhang mit § 8b KStG-Anteilen ist nicht veranlassungsbezogen, sondern objektbezogen zu ermitteln. Gem. § 8b III 4-7 KStG ist das Abzugsverbot auch auf Gewinnminderungen in Zusammenhang mit Darlehen wesentlich beteiligter Gesellschafter (> 25 %), nahestehender Personen sowie rückgriffsberechtigter Dritter (§ 8b III 4–7 KStG) anzuwenden5. Auf diese Weise sollen Umgehungen durch Fremdkapitalgestaltungen verhindert werden. Die Regelung ist Ausdruck überzogener Missbrauchsabwehr und führt damit zu einer nicht gerechtfertigten Verletzung des objektiven Nettoprinzips. Sie erfasst jedwedes Gesellschafterdarlehen, ist also nicht auf eigenkapitalersetzende6 Darlehen beschränkt. Nur wenn der Stpfl. den Nachweis führt, dass auch ein fremder Dritter das Darlehen gewährt bzw. nicht zurückgefordert hätte, können weiterhin Teilwertabschreibungen vorgenommen werden. Durch Zollkodexgesetz v. 22.12.2014 ist entgegen der Rspr. (BFH BStBl. 2013, 785 u. 791) eine entsprechende Regelung in § 3c II 2 ff. EStG aufgenommen worden, wonach das Abzugsverbot des § 3c II 1 EStG nunmehr auch für Substanzverluste von Gesellschafterdarlehen und sonstigen überlassenen Wirtschaftsgütern des Gesellschafters gilt.
42
Seit 2004 ist die Steuerbefreiung für Ausschüttungen und Veräußerungsgewinne auf 95 % beschränkt (§ 8b III 1, V KStG), indem 5 % des Gewinns bzw. der Bezüge als nichtabziehbare Betriebsausgaben fingiert werden7. Die Regelung gilt unabhängig davon, ob es sich um eine Beteiligung an einer in- oder ausländischen Kapitalgesellschaft handelt und verdrängt die allgemeine Vorschrift des § 3c I EStG (s. § 8b III 2, V 2 KStG). 1 I.E. zu den erfassten Gestaltungen HHR/Watermeyer, § 8b KStG Anm. 49 (2014); Desens, Beihefter zu DStR 4/2013, 13 (19 f.). 2 Dagegen Helios/Niedrig, DStR 2012, 1301; krit. auch Schnitger, DStR 2013, 1774. 3 BFH/NV 2011, 521 (verfassungsrechtlich unbedenklich); s. ferner Sell, DB 2004, 2290. 4 Herzig, DB 2003, 1459; IFSt-Arbeitsgruppe, IFSt-Schrift Nr. 471 (2011), 74 f.; aber auch FG Düsseldorf EFG 2013, 1068 (1069): möglicherweise wünschenswerte Einschränkung, aber nach Wortlaut und Zweck der Vorschrift nicht zu rechtfertigen; ebenso FG München, DStRE 2011, 742. 5 Kritik: Stellungnahme der Centrale für GmbH Dr. Otto Schmidt, GmbHR 2007, 924 (925 f.); Schmidt/ Schwind, NWB 2008, Fach 4, 5223 (verfassungsrechtliche Bedenken); Neumann/Stimpel, GmbHR 2008, 57 (62 ff.); Neumann/Watermeyer, Ubg. 2008, 748; Hoffmann, DStR 2008, 857; Altrichter-Herzberg, GmbHR 2008, 337; Prinz, FS Schaumburg, 2009, 459; Gocke/Hötzel, FS Herzig, 2010, 89; Gosch, FS Herzig, 2010, 63 (75 f.); als Missbrauchstypisierung gerechtfertigt s. BFH/NV 2014, 1325. 6 Zur Reform des Eigenkapitalersatzrechts durch das MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, aus gesellschaftsrechtlicher Sicht Bork, ZGR 2007, 250; Hölzle, GmbHR 2007, 729; Winter, DStR 2007, 1484; Krolop, ZIP 2007, 1738. 7 Hintergrund war die Europarechtswidrigkeit der zuvor zwischen Inlandsfällen (§ 3c I EStG) und Auslandsfällen (5 %-Regel) differenzierenden Behandlung (EuGH C-168/01, Bosal; EuGH C-471/04, Keller Holding; BFH BStBl. 2007, 279; 2008, 821 u. 823; BFH/NV 2009, 849).
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Ermittlung des Einkommens
Rz. 42
Nach BVerfGE 127, 224, enthält § 8b III, V KStG eine mit Art. 3 I GG vereinbare Pauschalierung der mit steuerfreien Beteiligungseinnahmen in Zusammenhang stehenden Betriebsausgaben. Die Regelung ist gleichwohl verfehlt1. Zunächst hat das BVerfG außer Betracht gelassen, dass § 8b I KStG nur eine technische, Doppelbelastungen vermeidende Steuerbefreiung enthält. Wie bereits in BVerfGE 116, 164 (198 f.), hält das Gericht den Gesetzgeber für frei, an die zivilrechtliche Selbständigkeit der juristischen Person anzuknüpfen (BVerfGE 127, 250). Selbst wenn man dieser Argumentation folgt, lässt sich die durch § 8b III, V KStG begründete Verletzung des objektiven Nettoprinzips jedoch auch unter Vereinfachungsgesichtspunkten nicht rechtfertigen. Die Anknüpfung an die Höhe des Beteiligungsertrags ist ungeeignet, den mit dem Halten einer Beteiligung verbundenen Aufwand in realitätsgerechter Weise zu pauschalieren (ebenso der zugrundeliegende Normenkontrollantrag des FG Hamburg EFG 2008, 236). Das Verfassungsgericht selbst geht davon aus, dass sich ein Regelfall, der der Pauschalierung zugrunde gelegt werden könnte, nicht feststellen lasse (BVerfGE 127, 258). Dann aber wäre allenfalls Raum für eine widerlegbare Typisierung. Letztlich basiert die Entscheidung des BVerfG auf der – die Doppelbelastung ausblendende – Geringfügigkeit der Belastung durch § 8b III, V KStG von maximal 1,25 % des Beteiligungsertrags. Damit ist aber nach wie vor offen, ob die Rechtfertigung auch gegenüber dem Kaskadeneffekt tiefer gestufter Beteiligungsketten durchgreift.
Trotz der 95%igen Freistellung bei der Empfängerin wird bei der ausschüttenden Körperschaft weiterhin auf die volle Dividende Kapitalertragsteuer erhoben (§ 8 I KStG; §§ 43 I 1 Nr. 1; 43a I 1 Nr. 1 EStG), die aber gem. § 36 II Nr. 2 EStG bei der unbeschränkt steuerpflichtigen Empfängerin auf die KSt angerechnet wird. Ist Empfängerin eine beschränkt steuerpflichtige EU-Gesellschaft i.S.d. Mutter-Tochter-Richtlinie (90/435/EWG), kann von der Erhebung der Kapitalertragsteuer abgesehen werden (§ 43b EStG); allerdings erheblich eingeschränkt durch § 50d III EStG2. Europarechtswidrig (s. EuGH C-284/09, Kommission./.Deutschland) war, dass bei beschränkt steuerpflichtigen Empfängern, die nicht unter die Mutter-Tochter-Richtlinie fallen, die Kapitalertragsteuer wegen der in § 32 I Nr. 2 KStG normierten Abgeltungswirkung definitiv wurde. Statt für beschränkt körperschaftsteuerpflichtige Anteilseigner eine Erstattungsregel vorzusehen3, geht § 8b IV KStG (eingeführt durch Gesetz vom 21.3.2013, BGBl. I 2013, 561) den umgekehrten Weg und nimmt sog. „Streubesitzdividenden“4 ab dem 1.3.2013 (§ 34 VIIa 2 KStG) allgemein aus der Beteiligungsertragsbefreiung aus. Die Steuerbefreiung des § 8b I KStG für Dividenden greift nur noch ein, wenn eine unmittelbare Beteiligung von mindestens 10 % am Grund- oder Stammkapital der ausschüttenden Gesellschaft besteht. Maßgeblich sind grds. die Verhältnisse zu Beginn des Kalenderjahres, wobei der unterjährige Hinzuerwerb auf den Beginn des Kalenderjahres bezogen wird und dazu führen kann, dass kein Streubesitz vorliegt5. Veräußerungsgewinne aus Streubesitz sind weiterhin steuerfrei. Die Körperschaftsteuerpflicht der Streubesitzdividenden wurde unverständlicherweise in ihren Voraussetzungen nicht
1 S. die Kritik an BVerfGE 127, 224 Lammers, DStZ 2011, 483; Krug, DStR 2011, 598; zuvor Graf Kerssenbrock, BB 2003, 2148; Maithert/Wirth, DStR 2004, 433; Frischmuth, StuB 2005, 829; Oldiges, DStR 2008, 533. 2 Hierzu Schade, Die deutsche Anti-Treaty-Shopping-Regel des § 50d Abs. 3 EStG – Zu den Grenzen und dem Bedürfnis nach einer spezialgesetzlichen Regelung, Diss., 2013; Leisner-Egensperger, DStZ 2013, 745. 3 Eine solche findet sich aufgrund der Rückwirkung der EuGH-Entscheidung allerdings für Altfälle in § 32 V KStG, hierzu Geurts/Faller, DStR 2012, 2357; Anissimov/Stöber, DStZ 2013, 379; Lemaitre, IWB 2013, 269 (275 ff.). 4 Hierzu Patzner/Nagler, IStR 2012, 790; Benz/Jetter, DStR 2013, 489; Grefe, DStZ 2013, 573; Hechtner/Schnitger, Ubg. 2013, 269; Herlinghaus, FR 2013, 529; Hey, KSzW 2013, 353; Intemann, BB 2013, 1239; Kessler/Dietrich, DStR 2012, 2101; Desens, Beihefter zu DStR 4/2013, 13; Kusch, NWB 2013, 1068; Haisch/Helios, DB 2013, 724; Linn, IStR 2013, 235; Schönfeld, DStR 2013, 937; Watrin/ Eberhardt, IStR 2013, 814 (Gestaltungsmöglichkeiten); Wiese/Lay, GmbHR 2013, 404. Investmentvermögen: Hillebrand/Klamt/Migirov, DStR 2013, 1646; Ebner, NWB 2013, 2147. Zu alternativen gesetzgeberischen Lösungen am Bsp. Österreichs Fraedrich, IStR 2012, 565. 5 Hierzu OFD Frankfurt, DStR 2014, 427, m. Anm. Ernst, DB 2014, 449; Bolik/Zöller, DStR 2014, 782; Adrian, GmbHR 2014, 407; Kamphaus/Weihmann/Sauer, Ubg. 2014, 258; Behrens/Renner/Faller, DStZ 2014, 336; Mössner, IStR 2014, 497.
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§ 11
§ 11
Rz. 43
Körperschaftsteuer
mit der für Beteiligungen unterhalb von 15 % geltenden Gewerbesteuerpflicht abgestimmt1. Selbst wenn sich der Gesetzgeber aus europarechtlichen (eher fiskalischen!) Gründen gezwungen sah2, zur Beseitigung der Diskriminierung beschränkt steuerpflichtiger Anteilseigner die Steuerpflicht auf Inlandssachverhalte auszudehnen, hätte er zur Abmilderung der hierdurch entstehenden systemwidrigen Doppelbelastung3 die Gewerbesteuerpflicht für Streubesitzdividenden streichen können. Zu bemängeln ist, dass auch die jetzige Regel europarechtswidrig ist, da es bei beschränkt steuerpflichtige Anteilseignern infolge der Abgeltungswirkung der Kapitalertragsteuer (§ 32 I Nr. 2 KStG) bei einer Bruttobesteuerung bleibt, während inländische Empfänger (sachgerecht) Betriebsausgaben, die in Zusammenhang mit den steuerpflichtigen Bezügen stehen, geltend machen können; § 8b V KStG gilt nicht (§ 8b IV 7 KStG). 43
§ 8b II 4, 5 KStG regeln weitere Ausnahmen von der Steuerbefreiung. Nach Satz 4 ist die Steuerbefreiung nicht anwendbar, wenn die Beteiligung in früheren Jahren (d.h. vor Inkrafttreten von § 8b III 3 KStG) mit steuerlicher Wirkung auf einen niedrigeren Teilwert abgeschrieben wurde. Satz 5 versagt die Befreiung bei vorheriger Inanspruchnahme von § 6b EStG. Die Verlagerung stiller Reserven in den Anwendungsbereich der Beteiligungsertragsbefreiung durch Einbringung verhindert der Gesetzgeber innerhalb einer Siebenjahresfrist durch rückwirkende Versteuerung des Einbringungsgewinns (§ 22 II UmwStG i.d.F. des SEStEG); zur Weiteranwendung von § 8b IV KStG4 für vor der Reform des UmwStG entstandene einbringungsgeborene Anteile s. § 34 VIIa KStG.
44
Durch § 8b VII, VIII KStG sind Kreditinstitute, Finanzdienstleister sowie Lebens- und Krankenversicherungsunternehmen von der Steuerbefreiung ausgenommen, um diesen Unternehmen als Kehrseite der Vollbesteuerung den steuerlichen Ansatz von Teilwertabschreibungen und Veräußerungsverlusten zu ermöglichen5. In § 8b IX KStG ist mit Blick auf die Vorgaben der Mutter-Tochter-Richtlinie (dazu § 13 Rz. 144) für EU-Gesellschaften eine Rückausnahme vorgesehen. § 8b X KStG i.d.F. des UntStRefG 2008 sanktioniert Umgehungsgestaltungen zur Beziehung steuerfreier Beteiligungserträge durch Wertpapierleihe6; s. auch korrespondierend § 2 Nr. 2 Buchst. a–c KStG.
3. Unterscheidung zwischen betrieblichen und außerbetrieblichen Vermögensmehrungen und -minderungen 3.1 Abgrenzung von Betriebsausgaben, Gewinnausschüttungen und betriebsfremden Aufwendungen 45
Ebenso wie im Einkommensteuerrecht (s. § 8 Rz. 206 ff.) ist auch für die körperschaftsteuerliche Einkommensermittlung die betriebliche von der außerbetrieblichen Sphäre abzugrenzen (§ 4 IV EStG; § 8 I KStG). Im Gegensatz zur natürlichen Person ist die betriebsfremde Sphäre 1 Hierzu Richter/Reeb, DStZ 2013, 702. 2 Zu europarechtskonformen Alternativen Fraedrich, IStR 2012, 565; Schiefer/Quinten, IWB 2013, 460. 3 Rathke/Ritter, DStR 2014, 1207, erörtern eine Abmilderung durch Anwendung des Teileinkünfteverfahrens; § 3 Nr. 40 EStG gelte über § 8 I KStG auch für die Körperschaftsteuer. Dies würde allerdings wegen der fortbestehenden Abgeltungsbesteuerung ausländischer Anteilseigner zu neuerlicher Europarechtswidrigkeit führen. 4 Dazu BMF BStBl. I 2004, 44; Kroschewski, GmbHR 2002, 761; Schmitt, BB 2002, 435; Patt, FR 2004, 561; zu Recht krit. (steuerfreie Veräußerung nach steuerneutraler Einbringung ist kein Missbrauch): Müller/Semmler, StuB 2002, 842; Romswinkel, DB 2002, 1679; Roderburg, Die Steuerfreiheit der Anteilsveräußerungsgewinne im neuen Körperschaftsteuerrecht, Diss., 2005, 360 ff.; und ausf. Knepel, Einbringungsgeborene Anteile nach Inkrafttreten des SEStEG, Diss., 2011. 5 Zum Anwendungsbereich BFH BStBl. 2007, 60, m. Anm. Bindl, DStR 2006, 1817; BFH BStBl. 2009, 671, m. Anm. Löffler/Hansen, DStR 2009, 1135; BFH/NV 2012, 619; Rechtsprechungsübersicht Bindl/Haisch, Ubg. 2012, 667; zu Notwendigkeit einschränkender Auslegung Ebel, FR 2014, 500. 6 Dazu Bergmann, FS Loukota, Wien 2005, 81; Haarmann, FS Raupach, 2006, 233; Wagner, Der Konzern 2007, 505; Hahne, BB 2007, 2055; Roser, Ubg. 2008, 89; Schnitger/Bildstein, IStR 2008, 202; Kraft/Edelmann, FR 2012, 889 (zeitlicher Anwendungsbereich).
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Ermittlung des Einkommens
Rz. 46
§ 11
der Körperschaft zweigeteilt1: Aufwendungen können mit Rücksicht auf das Gesellschaftsverhältnis getätigt werden (Gewinnausschüttungen); dann handelt es sich um die Verteilung von Einkünften2 (s. § 8 III 1 KStG). Sie können in Geld und sonstigen geldwerten Zuwendungen (Sachwerte3, Nutzungen, Leistungen) bestehen. Derartige Aufwendungen mindern das Einkommen nicht (§ 8 III 2 KStG). Leistungen an den Gesellschafter sind nicht automatisch Gewinnverteilung, sondern schuldrechtliche Verträge zwischen Kapitalgesellschaft und Gesellschaftern werden körperschaftsteuerrechtlich prinzipiell anerkannt (sog. Trennungsprinzip; dazu Rz. 1). Es muss aber stets geprüft werden, ob eine Vermögensmehrung oder -minderung durch Teilnahme am Marktgeschehen erwirtschaftet und damit Ausdruck der steuerlichen Leistungsfähigkeit der Körperschaft ist4 oder ob sie ihre Veranlassung (teilweise) im Gesellschaftsverhältnis hat. So kann statt einer auf einer schuldrechtlichen Vereinbarung beruhenden Betriebsausgabe eine durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasste verdeckte Gewinnausschüttung = Einkommensverteilung (s. Rz. 70) anzunehmen sein, und es kann umgekehrt statt einer auf einer schuldrechtlichen Vereinbarung beruhenden Betriebseinnahme eine durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasste verdeckte Einlage (s. Rz. 92) anzunehmen sein. Daneben gibt es betriebsfremde Aufwendungen, die nicht notwendig durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst sind, z.B. Spenden und Aufwendungen für durch die Verfassung der Gesellschaft vorgeschriebene Zwecke i.S.d. § 10 Nr. 1 KStG (dazu Rz. 48). Sie mindern das Einkommen nur, wenn dies besonders angeordnet ist (insb. Spendenabzug nach § 9 I Nr. 2 KStG; dazu Rz. 47). Systematisch sind sie mit der einkommensteuerlichen Einkünfteverwendung vergleichbar. Insoweit ist dieser Terminus auch im Körperschaftsteuerrecht angebracht (zur außerbetrieblichen Sphäre der Kapitalgesellschaft s. auch Rz. 37).
3.2 Kapitalerhöhungen und Gesellschaftereinlagen, Einlagenrückgewähr Bei dem Betriebsvermögensvergleich sind Vermögensmehrungen der Gesellschaft auf Grund von Kapitalerhöhungen (z.B. Erhöhung des Grundkapitals durch Ausgabe neuer Aktien) und Gesellschaftereinlagen, da nicht von der Gesellschaft erwirtschaftet, gem. § 4 I 1 EStG abzurechnen. Umgekehrt lassen Vermögensminderungen der Gesellschaft, die auf der Rückzahlung von Einlagen beruhen, das Einkommen der Gesellschaft unberührt. Entsprechend bilden zurückgezahlte Einlagen beim Gesellschafter keine Einnahmen aus Kapitalvermögen (§ 20 I Nr. 1 Satz 3 EStG). Um dies zu gewährleisten, werden alle nicht in das Nennkapital geleisteten Einlagen auf einem laufend fortzuschreibenden gesonderten Konto erfasst (steuerliches Einlagekonto, § 27 I 1, 2 KStG)5. Unterjährige Einlagen beeinflussen das Einlagekonto nicht. Maßgeblich ist nach BFH BStBl. 2013, 560 der Stand des Einlagekontos zum Ende des vorangegangenen Wirtschaftsjahres6. Leistungen der Körperschaft an den Anteilseigner mindern erst dann dieses Konto und stellen eine nicht steuerbare Einlagenrückzahlung dar, wenn kein ausschüttbarer Gewinn mehr vorhanden ist (§ 20 I Nr. 1 Satz 3 EStG i.V.m. § 27 I 3 KStG)7. Über die 1 A.A. aber BFHE 182, 123; BFH BStBl. 1997, 548; 1998, 161; BFHE 186, 540, m. Anm. Hoffmann, DStR 1999, 269; Pezzer, FR 1998, 1093; wie die Rspr. Wassermeyer, FS Haas, 1996, 401; Wassermeyer, GmbHR 1998, 157 (158), nach dessen Auffassung Kapitalgesellschaften keine außerbetriebliche Sphäre haben. Alle Aufwendungen mit Ausnahme offener Ausschüttungen sollen „begrifflich“ Betriebsausgaben sein (Wassermeyer, FS Raupach, 2006, 565 [573 f.]); dazu Rz. 37 a.E. 2 Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986, 50 ff. 3 Tübke, Sachausschüttungen im deutschen, französischen und Schweizer Aktien- und Steuerrecht, Diss., 2002; Orth, WPg. 2004, 777 u. 841; Bareis/Siegel, BB 2008, 479. 4 So zutr. Frotscher, GmbHR 1998, 23 (24). 5 Anwendungsschreiben BMF BStBl. I 2003, 366; zum Begriff des körperschaftsteuerlichen Eigenkapitals ausf. Förster/van Lishaut, FR 2002, 1205 ff. u. 1257 ff.; zur Funktion des steuerlichen Einlagekontos BFH/NV 2010, 248. Zum Problem der nachträglichen Korrektur fehlerhafter Buchungen auf dem Einlagekonto Ott, DStR 2014, 673. 6 Kritik Siegel, DStZ 2013, 739; Bareis, DB 2013, 2231. 7 S. BT-Drucks. 14/2683, 186 f.; Frotscher/Maas, § 27 KStG Rz. 19 f. (2011).
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46
§ 11
Rz. 47
Körperschaftsteuer
§§ 27; 28 KStG wird nach BMF BStBl. I 2013, 1615, auch der Erwerb eigener Anteile abgewickelt1. Beispiel2: Steuerbilanz (Passiva) Gezeichnetes Kapital
1 000 Einlagekonto (§ 27 KStG)
Kapitalrücklage (offene Einlagen) Gewinnrücklage (verdeckte Einlagen)
70 20
Gewinnrücklage (thesaurierte versteuerte Gewinne) Gewinnvortrag Jahresüberschuss
30 10 10
Fremdkapital
500
90 ausschüttbarer Gewinn (§ 27 I 5 KStG)
50
Beträgt die Leistung der Körperschaft an den Anteilseigner z.B. 60, so übersteigt sie den ausschüttbaren Gewinn i.S.d. § 27 I 5 KStG um 10 und bildet nur in dieser Höhe eine nicht steuerbare Einlagenrückzahlung gem. § 20 I Nr. 1 Satz 3 EStG.
§ 27 VIII KStG erweitert den Anwendungsbereich des steuerlichen Einlagekontos antragsabhängig auf EU-Körperschaften mit der Folge, dass auch die von Auslandsgesellschaften zurückgezahlten Einlagen beim Anteilseigner nicht länger als Einnahmen versteuert werden müssen (§ 20 I Nr. 1 Satz 3 EStG)3.
4. Besondere Vorschriften über den Abzug von Aufwendungen 4.1 Abziehbare und nicht abziehbare Aufwendungen nach §§ 9; 10 KStG 47
§ 9 KStG erlaubt den Abzug von Aufwendungen, die keine Betriebsausgaben sind. Ein einheitlicher Zweck liegt der Vorschrift nicht zugrunde: Nach § 9 I Nr. 1 KStG sind Gewinnanteile und Geschäftsführervergütungen für persönlich haftende Gesellschafter von KG auf Aktien und vergleichbaren Kapitalgesellschaften abziehbar. Sie sind Einkünfte aus Gewerbebetrieb der Gesellschafter (§ 15 I 1 Nr. 3 EStG). Die Vorschrift dient der Vermeidung von Doppelbelastungen. § 9 I Nr. 2 KStG lässt Zuwendungen zur Förderung steuerbegünstigter (gemeinnütziger) Zwecke i.S.d. §§ 52–54 AO in begrenzter Höhe zum Abzug zu; jedoch darf die Zuwendung nicht allein im Interesse eines Gesellschafters liegen; dann handelt es sich um eine verdeckte Gewinnausschüttung4. Die Vorschrift trägt dem Umstand Rechnung, dass das KStG keine Sonderausgaben kennt. Spenden sind grds. der außerbetrieblichen Sphäre (s. Rz. 37 a.E.) zuzuordnen5. Sie sind nur dann Betriebsausgaben (oder Werbungskosten), wenn sie betrieblich (oder beruflich) veranlasst sind, also z.B. Werbezwecken dienen6 (zum sog. Sponsoring s. § 20 Rz. 9). Auch wirtschaftspolitische, berufsständische oder berufsfördernde wissenschaftliche Zielsetzungen können eine betriebliche Veranlassung darstellen7. 1 Hierzu BMF BStBl. I 2013, 1615; Ott, StuB 2014, 163; Schiffers, GmbHR 2014, 79. 2 Weitere Bsp. bei Dötsch/Pung/Möhlenbrock, § 27 KStG Rz. 51 ff. (2012). 3 Sedemund/Fischenich, BB 2008, 1656; Spilker/Peschke, DStR 2011, 385; Sievert/Sedemund/Seufer, DB 2011, 1606. 4 Dazu BFH BStBl. 1974, 586; 1979, 192; 1983, 150 (151); 1990, 237 (239); 1992, 849; BFH/NV 2008, 988; HHR/Drüen, § 9 KStG Anm. 38 (2011); krit. gegenüber der vermehrten Annahme von vGA K.-R. Wagner, DStR 2011, 1594; Jansen, DStZ 2010, 170: Spendenabzug als Regel, und grundl. Zimmermann, Spenden als verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 2011. 5 J. Lang, StuW 1984, 29 m.w.N.; Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986, 52. 6 Nestle, BB 1971, 951; Koch, IFSt-Schrift Nr. 223 (1983), 7; J. Lang, JbFSt. 1983/84, 211 (222). 7 Vgl. BFH BStBl. 1982, 466 f.; 1985, 92; von Wallis, DStZ 1983, 136; Kohlmann/Felix, DB 1983, 1060 m.w.N.; Reuter, DStR 1983, 635 (636 f.); Frick, BB 1983, 1336 (1337 f.); a.A. Gérard, FR 1984, 254.
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Abzug von Aufwendungen
Rz. 48
§ 11
Die Förderung allgemeiner politischer Ziele, etwa der Erhaltung und Förderung der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, reicht dagegen für eine betriebliche Veranlassung nicht aus1. Auch gibt es bei Unternehmensspenden keine Vermutung für eine betriebliche Veranlassung2. Vielmehr ist die betriebliche Veranlassung der Ausgaben jeweils im Einzelfall vorrangig zu prüfen. Ist die Betriebsausgabeneigenschaft gegeben, so sind die Aufwendungen unbeschränkt abziehbar. Nur wenn die Aufwendungen Einkünfteverwendung darstellen, greift § 9 I Nr. 2 KStG ein. BFH BStBl. 1988, 215 (221 f.) entnimmt aus § 9 I Nr. 2 KStG dagegen zu Unrecht ein allgemeines Abzugsverbot für Spenden, welche die vorgeschriebenen Höchstbeträge übersteigen, auch wenn sie Betriebsausgabencharakter haben3. Allgemein zum Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht s. § 20.
Zur Abziehbarkeit von im Mitgliedergeschäft erwirtschafteten Rückvergütungen der Erwerbsund Wirtschaftsgenossenschaften an ihre Mitglieder s. § 22 KStG4. § 10 regelt die Nichtabziehbarkeit von Aufwendungen, die zwar das handelsrechtliche Ergebnis der Körperschaft gemindert haben, bei denen es sich aber (überwiegend) nicht um Betriebsausgaben handelt. Gem. der nicht abschließenden Regelung sind nichtabziehbar5 insb.: (1) Aufwendungen für die Erfüllung von Zwecken, die dem Körperschaftsteuersubjekt durch Stiftungsgeschäft, Satzung oder sonstige Verfassung vorgeschrieben sind, es sei denn, dass es sich um Zwecke i.S.d. § 9 I Nr. 2 KStG handelt (§ 10 Nr. 1 KStG). Es handelt sich nicht um Betriebsausgaben, sondern um Einkommensverwendungen6. Da § 10 Nr. 1 KStG Aufwendungen, die den Gegenstand des Unternehmens betreffen, nicht erfassen will, ist die Bedeutung der Vorschrift für Kapitalgesellschaften gering; sie betrifft insb. Stiftungen und andere Zweckvermögen.
(2) Steuern vom Einkommen und sonstige Personensteuern (insb. die frühere Vermögensteuer), die Umsatzsteuer für Entnahmen oder verdeckte Gewinnausschüttungen, Vorsteuern auf nicht abziehbare Aufwendungen i.S.d. § 4 V 1 Nrn. 1–4, 7, VII EStG sowie auf diese Steuern entfallende Nebenleistungen, d.h. insb. Nachzahlungszinsen (§ 10 Nr. 2 KStG entspricht § 12 Nr. 3 EStG)7. Für die Gewerbesteuer gilt § 4 Vb EStG über § 8 I KStG. Bei der Ermittlung des Jahresüberschusses gem. § 8 I KStG sind die nach § 10 Nr. 2 KStG nichtabziehbaren Steuern, wenn sie bereits durch Bescheid festgesetzt sind, als Verbindlichkeiten, wenn sie noch nicht festgesetzt, aber schon entstanden sind, als Rückstellungen ausgewiesen. Zur Ermittlung des Einkommens sind sie dem Jahresüberschuss außerhalb der Bilanz (s. Rz. 88) daher wieder hinzuzurechnen.
(3) Geldstrafen, sonstige vermögensrechtliche Rechtsfolgen mit überwiegendem Strafcharakter und Leistungen zur Erfüllung von Auflagen oder Weisungen8 (§ 10 Nr. 3 KStG entspricht § 12 Nr. 4 EStG). (4) Aufsichtsratsvergütungen und sonstige mit der Überwachungstätigkeit zusammenhängende Aufwendungen, jedoch nur zur Hälfte (§ 10 Nr. 4 KStG). Aufsichtsratsvergütungen sind Betriebsausgaben. Durch die Beschränkung des Abzugs auf die Hälfte soll überhöhten (s. auch § 113 AktG) Aufsichtsratsvergütungen entgegengewirkt werden. Die pauschale Maßnahme ist jedoch weder systematisch noch verfassungsrechtlich gerechtfertigt9. 1 2 3 4 5 6 7
BFH BStBl. 1988, 221 f.; a.A. List, BB 1984, 465 f. A.A. Reuter, DStR 1983, 636 f. Dazu Anm. Woerner, BB 1987, 807; Woerner, BB 1988, 394; Felix, FR 1988, 152. BFH/NV 2007, 1599; Herlinghaus, DStZ 2003, 865 (Verhältnis zur vGA). Dazu Ehmcke, DStJG 20 (1997), 257; Schönwald, SteuerStud 2005, 544. BFH BStBl. 2005, 305. Verfassungskonform nach BFH/NV 2010, 470; 2012, 697; BFH BStBl. 2012, 697 (mangels außerbetrieblicher Sphäre der Kapitalgesellschaft ist BFH BStBl. 2011, 503, zur einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Erstattungszinsen nicht übertragbar); a.A. Brete, DStZ 2009, 692; Paus, DStZ 2012, 432. 8 Dazu J. Lang, StuW 1985, 10; BFH BStBl. 1986, 845. 9 So auch Tipke, NJW 1980, 1082; Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981, 101; Ehmcke, DStJG 20 (1997), 257 (273); Bicanski/Brandis, FS zum 20jährigen Bestehen der Fachhochschule für Finanzen in Nordrhein-Westfalen, 1997, 33 (39); Schulze-Osterloh, FS Offerhaus, 1999, 375; Marx,
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48
§ 11
Rz. 48
Körperschaftsteuer
I.Ü. gelten über § 8 I KStG die einkommensteuergesetzlichen Abzugsverbote, insb. § 3c I EStG (Ausn. § 8b III 2 KStG) sowie § 4 V EStG (zum Verhältnis zur verdeckten Gewinnausschüttung s. BFH/NV 2007, 1230).
4.2 Beschränkung des Abzugs von Finanzierungsaufwand im Konzern (Zinsschranke, § 4h EStG; § 8a I KStG) und Gesellschafterfremdfinanzierung (§ 8a II, III KStG) Literatur (Nachw. zu § 8a KStG a.F. s. 18. Aufl., § 11 vor Rz. 80): Homburg, Die Zinsschranke – eine beispiellose Steuerinnovation, FR 2007, 717; Thiel, Die steuerliche Behandlung von Fremdfinanzierungen im Unternehmen, FR 2007, 729; Töben, Die Zinsschranke – Befund und Kritik, FR 2007, 739; Neumann, Zinsschranke nach dem Unternehmensteuergesetz 2008. Die schwierige Neuregelung in 9 Prüfungsschritten, EStB 2007, 292; Schaden/Käshammer, Die Neuregelung des § 8a KStG im Rahmen der Zinsschranke, BB 2007, 2259; Staats/Renger, Hebelt ein Logikfehler die Zinsschranke aus?, DStR 2007, 1801; Musil/Volmering, Systematische, verfassungsrechtliche und europarechtliche Probleme der Zinsschranke, DB 2008, 12; Herzig/Lochmann/Liekenbrock, Die Zinsschranke im Lichte einer Unternehmensbefragung, DB 2008, 593; Hoffmann, Zinsschranke, 2008; Drissen, Die Zinsschranke als fragwürdige Innovation der Unternehmensteuerreform 2008, SteuerStud 2008, 533; Hey, Die Zinsschranke als Maßnahme zur Sicherung des inländischen Steuersubstrats aus europa- und verfassungsrechtlicher Sicht, in FS Djanani, 2008, 109; Blaufus/Lorenz, Die Zinsschranke in der Krise, StuW 2009, 323; Bohn, Zinsschranke und Alternativmodelle zur Beschränkung des steuerlichen Zinsabzugs, Diss., 2009; Herzig/Bohn/Fritz, Alternativmodelle zur Zinsschranke, DStR 2009, 61; Loukota, Internationale Probleme mit der deutschen Zinsschranke, SWI 2008, 105; S. Neumann, Die Zinsschranke „bei schlechtem Wetter“, Ubg. 2009, 461; Schön, Zurück in die Zukunft? Gesellschafter-Fremdfinanzierung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung, IStR 2009, 882; Watrin/Pott/Richter, Auswirkungen der Zinsschranke auf die steuerliche Bemessungsgrundlage (empirisch), StuW 2009, 56; Prinz, Bedeutung der Finanzierungsfreiheit im Steuerrecht, in FS Herzig, 2010, 147; zu Reformmöglichkeiten und Rechtsvergleich mit Italien Kessler/Dietrich, Die Zinsschranke nach dem WaBeschG – la dolce vita o il dolce far niente?, DB 2010, 240; Lenz/Dörfler, Die Zinsschranke im internationalen Vergleich, DB 2010, 18; Herzig/Liekenbrock, Expertenbefragung zu Rechtsunsicherheiten der Zinsschranke, Ubg. 2011, 102; Goebel/Eilinghoff, (Nicht-)Konformität der Zinsschranke mit dem Grundgesetz und dem Europarecht, DStZ 2010, 550; Kaminski, Überlegungen zu den internationalen Aspekten der Zinsschranke, IStR 2011, 783; Schirmer, Die Zinsschranke, StBp. 2012, 1, 29 u. 64; Brähler/Kühner, Das Symmetrieverhalten der Zinsschranke, DB 2012, 1222; Kraft/Körner/Türksch, Kritik der konzeptionellen Diskriminierung der Eigenkapitalfinanzierung im deutschen Steuerrecht, DB 2012, 2416; Prinz, Zinsschranke unter „partiellem Verfassungsverdacht“, FR 2012, 541; Marquart, Zinsabzug und steuerliche Gewinnallokation, Diss., 2013; Jehlin, Die Zinsschranke als Instrument zur Missbrauchsvermeidung und Steigerung der Eigenkapitalausstattung, 2013; Schön (Hrsg.), Fremd- und Eigenkapital im Steuerrecht, 2013 (mit ausf. Länderberichten); Heuermann, Steuerinnovation im Wandel: Einige Thesen zur Zinsschranke und ihrer Verfassungsmäßigkeit, DStR 2013, 1; Prinz, Ist die Zinsschranke verfassungsrechtlich besser als ihr Ruf?, FR 2013, 145; Prinz, Zinsschranke – Bestandsaufnahme zu Verfassungszweifeln, DB 2013, 1571; Marquart/Jehlin, Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen einer „Steuerinnovation“, DStR 2013, 2301; Heyes, Ursachen, Rahmenbedingungen und neue Rechtfertigungsansätze zur Zinsschranke (§ 4h EStG, § 8a KStG), Diss., 2014; Staats, Zur Verfassungskonformität der Zinsschranke, Ubg. 2014, 52; München/Mückl, Die Vereinbarkeit der Zinsschranke mit dem Grundgesetz, DStR 2014, 1469; Ismer, Verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Zinsschranke, FR 2014, 777. Ausland/Rechtsvergleich: Ressler, Die Unterkapitalisierung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., Wien 2008; Cryns, Gesellschafterfremdfinanzierung in Frankreich und Zinsschranke – ein Rechtsvergleich, Diss., 2010; Ernst, Gesellschafter-Fremdfinanzierung im deutschen und U.S.-amerikanischen Steuerrecht, Diss., 2010; Schmidt, Zinsschranke und Rechtsformwahl, Diss., 2010; Schmidtpott, Die deutsche Zinsschranke – ein Vergleich mit den niederländischen Thin Capitalisation Rules und den US-amerikanischen Earnings Stripping Rules, Hefte zur Internationalen Besteuerung Nr. 167, 2010; Müller/ Hernández, Einführung einer Zinsschranke in Spanien, IStR 2012, 877; Schön (Hrsg.), Fremd- und Eigenkapital im Steuerrecht, 2013 (m. ausf. Länderberichten). StuB 2007, 136; Peetz, GmbHR 2009, 977; ausf. Schwan, Steuerliche Begrenzungsmöglichkeiten der Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat, Diss., 2012, 135 ff.; a.A. BVerfGE 34, 103; Gosch/Heger2, § 10 KStG Rz. 40. Ähnliche Bedenken bestehen gegen weitergehende Maßnahmen zur steuerlichen Regulierung von Managervergütungen, vgl. Drüen, KSzW 2013, 343.
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Abzug von Aufwendungen
Rz. 50
Im Unterschied zu Dividenden (vgl. § 8 III 1 KStG) mindern Zinsen als betrieblicher Aufwand grds. das Einkommen der zinszahlenden Körperschaft. Zwischen verbundenen Unternehmen kann daher durch die Wahl zwischen Eigen- und Fremdkapital (sog. Gesellschafterfremdfinanzierung) beeinflusst werden, ob die Besteuerung auf der Ebene der Tochter- oder der Muttergesellschaft stattfindet.
§ 11 49
Innerhalb Deutschlands ergeben sich abgesehen von § 8b V KStG und etwaigen – und z.T. durchaus beachtlichen – Gewerbesteuerhebesatzdifferenzen keine Belastungsunterschiede zwischen einer Besteuerung des Gewinns auf der Ebene der dividendenzahlenden Tochtergesellschaft oder der zinsempfangenden Muttergesellschaft. Fremdkapitalgestaltungen können jedoch zur Ausnutzung eines internationalen Steuersatzgefälles eingesetzt werden. Die Ursache des Problems liegt in der fehlenden Finanzierungsneutralität des Internationalen Steuerrechts. Auf Grund der abkommensrechtlich üblichen und EU-rechtlich durch die Mutter-Tochter-Richtlinie sowie die Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie abgesicherten Praxis der gegenläufigen Zuweisung von Besteuerungsrechten an Unternehmensgewinnen einerseits und Zinsen andererseits (s. § 13 Rz. 144, 146) lässt sich grenzüberschreitend steuern, ob Gewinne im Staat der Tochtergesellschaft oder im Staat der Muttergesellschaft versteuert werden. Ein Bedürfnis, den Abzug von Zinsaufwendungen zu limitieren, besteht demnach grds. nur im Verhältnis zum Ausland. Allerdings hatte der EuGH in der Rs. Lankhorst-Hohorst (C-324/00)1 den europarechtlichen Rahmen dahingehend abgesteckt, dass allein auf grenzüberschreitende Sachverhalte anwendbare Regeln zur Begrenzung der Gesellschafterfremdfinanzierung gegen die Grundfreiheiten verstoßen. Die Rs. Test Claimants in the Thin Cap Group litigation aus dem Jahr 2007 (C-524/04) bestätigt dies zwar im Grundsatz, lässt jedoch Spielräume für eine auf Auslandssachverhalte begrenzte Missbrauchsregel2. Unabgestimmte Lösungsansätze auf nationaler Ebene bergen allerdings die Gefahr von Doppelbelastungen. Für eine bruchfreie Lösung bedürfte es eines konzertierten Vorgehens auf abkommens- bzw. europarechtlicher Ebene3.
Nachdem der BFH mit Hinweis auf den Grundsatz der Finanzierungsfreiheit (BFH BStBl. 1992, 532) einer Grenzziehung auf der Grundlage von § 42 AO eine Absage erteilt hatte, bekämpfte der Gesetzgeber ab 1994 die Gesellschafterfremdfinanzierung mit § 8a KStG a.F., indem ab einem bestimmten Fremd-/Eigenkapitalverhältnis an wesentlich beteiligte Gesellschafter gezahlte Zinsen als verdeckte Gewinnausschüttungen dem Gewinn der Gesellschaft wieder hinzugerechnet wurden. Zwar erfasste § 8a I 2 KStG a.F. auch sog. Rückgriffsfälle4, in denen die Kapitalgesellschaft das Fremdkapital von einem Dritten (Bank) erhält und dieser auf den Anteilseigner oder eine diesem nahe stehende Person zurückgreifen kann (z.B. im Rahmen einer Bürgschaft), dennoch bestanden Umgehungsmöglichkeiten. Diese hat der Gesetzgeber im UntStRefG 2008 zum Anlass genommen, in Abkehr vom bisherigen Konzept der Gesellschafterfremdfinanzierung Zinsaufwand nach § 4h EStG; § 8a I KStG generell nur noch beschränkt zum Abzug zuzulassen (sog. Zinsschranke). Es ging ihm dabei aber keineswegs nur um die Schließung von Lücken bei der Gesellschafterfremdfinanzierung, sondern um die Bekämpfung jedweder Fremdfinanzierungsgestaltung5 zum Nachteil des deutschen Fiskus6. Das Abzugsverbot richtet sich, allerdings mit Erweiterungen in § 8a II KStG, in erster Linie gegen konzernangehörige Betriebe. Die Zinsschranke ist im EStG geregelt und damit rechtsformübergreifend auch im Personengesellschaftskonzern und auf Kapitalgesellschaften nach-
1 Dazu Kube, IStR 2003, 325; Vinther/Werlauff, EC Tax Review 2003, 97; Cordewener, ET 2003, 102; Kessler, DB 2003, 2507. 2 S. Schön, IStR 2009, 882. Zum Teil allerdings zurückgenommen durch EuGH C-282/12, Itelcar, Rz. 36 ff. 3 So mit großer Deutlichkeit Homburg, FR 2007, 717 (727 f.); Empfehlung hierzu Zielke, StuW 2009, 63. 4 Dazu insb. Esser, Zur Rückgriffsklausel im neuen § 8a KStG, IFSt-Schrift Nr. 419 (2004). Einschränkung auf reine Back-to-Back-Finanzierungen durch BMF BStBl. I 2004, 593. 5 Zum Vorrang der Abgrenzung zwischen Eigen- und Fremdkapital Goebel/Eilinghoff/Busenius, DStZ 2010, 742. 6 Zu den gängigen Gestaltungen vgl. Rödder/Stangl, DB 2007, 479; zu den künftigen Gestaltungen zur Vermeidung der Zinsschranke Dörr/Fehling, Ubg. 2008, 345; zur Notwendigkeit der Zinsschranke Schwarz, IStR 2008, 11.
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§ 11
Rz. 51
Körperschaftsteuer
geschaltete Personengesellschaften anwendbar1. Zinszahlungen an Gesellschafter einer Personengesellschaft mindern indes schon wegen § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG den Gewinn der Gesellschaft nicht, so dass insoweit kein Anwendungsbereich für ein Abzugsverbot besteht. Die Hauptbedeutung der Zinsschranke liegt in der KSt. 51
Die im Detail hochkomplexe Regelung stellt sich in ihren Grundzügen wie folgt dar (s. auch Anwendungsschreiben BMF BStBl. I 2008, 718)2: Nach § 4h I 1 EStG sind die den Zinsertrag übersteigenden Zinsaufwendungen eines Betriebes (Zinssaldo) nur bis zu 30 % des um den Zinssaldo sowie die Abschreibungen erhöhten Gewinns abziehbar (sog. steuerliches EBITDA = earnings before interest, tax, depreciation and amortization). Nicht ausgenutztes EBITDA ist seit dem VZ 2010 vortragsfähig (§ 4h I 3 EStG)3.
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§ 4h II EStG normiert Ausnahmen: Der Zinssaldo bleibt voll abzugsfähig, wenn a) er weniger als 3 Mio. Euro beträgt (Freigrenze!); b) der Betrieb nicht oder nur anteilsmäßig zu einem Konzern gehört; dabei bestimmt § 4h III 5, 6 EStG die Konzernzugehörigkeit anhand eines erweiterten Konzernbegriffs nicht nur danach, ob nach dem zugrunde gelegten Rechnungslegungsstandard ein gemeinsamer Abschluss aufgestellt wird, sondern auch, ob er aufgestellt werden könnte bzw. ob die Finanz- und Geschäftspolitik des Betriebs mit anderen Betrieben einheitlich bestimmt werden kann (Anlehnung an IAS 27);
c) der Betrieb zu einem Konzern gehört, seine Eigenkapitalquote aber gleich hoch oder höher ist als die des Konzerns; toleriert wird eine Abweichung bis zu 2 %. Dieser Eigenkapitalvergleich wird als sog. Escape-Klausel bezeichnet. Die zugrunde zu legenden Abschlüsse können einheitlich entweder nach IFRS, nach dem nationalen Handelsrecht eines EUMitgliedstaats oder nach US-GAAP aufgestellt werden (§ 4h II 8 ff. EStG)4.
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§ 8a II, III KStG normieren Rückausnahmen schädlicher Gesellschafterfremdfinanzierung. Betragen die an einen unmittelbar oder mittelbar wesentlich beteiligten Gesellschafter (> 25 %), eine diesem nahe stehende Person oder einen rückgriffsberechtigten Dritten gezahlten Zinsen mehr als 10 % des Zinssaldos, findet § 4h EStG unabhängig von der Konzernzugehörigkeit (§ 8a II KStG; § 4h II 1 Buchst. b, III 5 EStG) oder dem Eigenkapitalvergleich (§ 8a III KStG) Anwendung. Dabei kehrt § 8a III 1 KStG die Beweislast um. Die Inanspruchnahme der Escape-Klausel des § 4h II 1 Buchst. c EStG wird davon abhängig gemacht, dass die Körperschaft nachweist, dass weder sie noch irgendein anderer zu demselben Konzern gehöriger Rechtsträger (Rechtsverhältnisse Dritter!) die 10 %-Grenze überschreitet. Diese Einbeziehung sämtlicher Gesellschaften des Konzerns ist nicht nachvollziehbar5.
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Gem. § 4h I 1 EStG nicht abziehbare Zinsaufwendungen können als Zinsvortrag in den folgenden Veranlagungszeiträumen abgezogen werden (§ 4h I 5 EStG)6. Der Zinsvortrag unterliegt 1 Rechtsformübergreifend, aber nicht rechtsformneutral Prinz, DB 2008, 368; Kollruss/Seitz/Gruebner/ Niedental, DStZ 2009, 117; zur Anwendung auf Personengesellschaften Kollruss, GmbHR 2007, 1133 (1135 f.); Kußmaul/Ruiner/Schappe, DStR 2008, 904; van Lishaut/Schumacher/Heinemann, DStR 2008, 2341; Kröner/Bolik, DStR 2008, 1309; Hoffmann, GmbHR 2008, 113 u. 183; Feldgen, NWB 2009, 998. 2 Dazu Goebel/Eilinghoff, DStZ 2008, 630; Köhler/Hahne, DStR 2008, 1505; Hölzer/Nießner, FR 2008, 845; Fischer/Wagner, BB 2008, 1872; Hallerbach, StuB 2008, 592 u. 624; Schultes-Schnitzlein/Miske, NWB 2008, Fach 4, 5357; Schwedhelm/Finke, GmbHR 2009, 281. 3 Dazu Göritzer, SWI 2010, 484; Lenz/Dörfler/Adrian, Ubg. 2010, 1; Rödder, DStR 2011, 529; Herzig/ Liekenbrock, DB 2010, 690. 4 Dazu Hennrichs, DB 2007, 2106; Lüdenbach/Hoffmann, DStR 2007, 636; Heintges/Kamphaus/Loitz, DB 2007, 1261; Hahne, StuB 2007, 808; Köster, BB 2007, 2278; Küting/Weber/Reuter, DStR 2008, 1602. 5 Rödder, DStR 2007, Beihefter zu Heft 40, 3. 6 Schaden/Käshammer, BB 2007, 2317; Beußer, FR 2009, 49; bei Bilanzierung nach IFRS oder USGAAP ist die Bildung eines Deferred Tax Assets möglich, vgl. Kröner, DB 2006, 2084 (2085); Dahlke, BB 2007, 1831 (1837); Loitz/Neukamm, WPg. 2008, 196.
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Abzug von Aufwendungen
Rz. 55
§ 11
denselben Restriktionen wie der Verlustvortrag, d.h. Anteilseignerwechsel (§ 8c I KStG, s. Rz. 58), Umwandlung (§§ 4 II; 20 IX; 24 VI UmwStG) und Aufgabe/Übertragung des Betriebs (§ 4h V EStG) führen zum Wegfall. Zudem kann der Vortrag nur dann genutzt werden, wenn das Unternehmen nicht dauerhaft auf eine die restriktive 30 %-Grenze übersteigende Fremdfinanzierung angewiesen ist. 55
Zinssaldo < 1 Mio. Euro (2008/09: 3 Mio. Euro)
Zinssaldo ≤ 30 % des EBITDA
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Zinsschranke, d.h. Zinssaldo > 30 % des EBITDA unterliegt (§ 4h I 2 EStG)
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§ 11 56
Rz. 56
Körperschaftsteuer
Die Zinsschranke führt zu einem (temporären) Betriebsausgabenabzugsverbot. Zwangsläufig sind damit Doppelbelastungen verbunden, weil der Empfänger der Zinszahlungen den Zinsertrag zu versteuern hat. Zum anderen richtet sich die Zinsschranke nicht nur gegen Gesellschafterfremdfinanzierungen, sondern erfasst jegliche Zinszahlungen, d.h. unabhängig von etwaigen Rückgriffsansprüchen ist auch die „normale“ Bankenfinanzierung sanktioniert. Die vom Gesetzgeber gewählte Lösung zur Bekämpfung einer Verlagerung von Steuersubstrat durch Fremdfinanzierungsgestaltungen ist inakzeptabel1. Abgesehen von den immensen praktischen Problemen der § 4h EStG; § 8a KStG, die bereits während des Gesetzgebungsverfahrens Gegenstand einer Flut von Aufsätzen waren, ist die Zinsschrankenregelung systematisch verfehlt und verfassungswidrig2. Das Abzugsverbot verletzt das objektive Nettoprinzip. Als Rechtfertigungsgründe ungeeignet sind die erwarteten Mehreinnahmen oder das allgemeine Ziel der Sicherung des inländischen Steuersubstrats. Der Abfluss von Steuersubstrat ins Ausland rechtfertigt für sich genommen weder die Abkehr vom Nettoprinzip noch die Missachtung völker- und europarechtlicher Bindungen. Anzuerkennen ist allein das Ziel der Missbrauchsabwehr. Mit § 4h EStG; § 8a KStG schießt der Gesetzgeber aber weit über dieses Ziel hinaus3: Die Zinsschranke ist nicht auf Gesellschafterfremdfinanzierungen begrenzt, sie richtet sich nicht spezifisch gegen den missbräuchlichen Entzug deutschen Besteuerungssubstrats und trifft durch die hohe Quote der Nichtabzugsfähigkeit von 70 % auch den Normalfall fremdfinanzierter Unternehmen4. All dies unterscheidet § 4h EStG auch von Gesellschafterfremdfinanzierungsregelungen im Ausland5, auf die zur Rechtfertigung gerne rekurriert wird. Noch nicht einmal die europarechtlichen Probleme hat der Gesetzgeber gelöst. § 4h EStG ist hinsichtlich der Betriebsdefinition des § 15 Satz 1 Nr. 3 Satz 2 KStG (Zusammenfassung von Organträger und Organgesellschaft, s. § 14 Rz. 14) verdächtig, gegen die Niederlassungsfreiheit zu verstoßen6. Die Fiktion, dass der gesamte Organkreis einen Betrieb bildet, eröffnet nur Inlandskonzernen die Möglichkeit, der Zinsschranke durch Begründung einer Organschaft weitgehend auszuweichen. I.Ü. hätte sich nach neuerer EuGH-Rspr. (s. Rz. 49) auch eine europarechtskonform auf Auslandssachverhalte begrenzte Missbrauchsregelung konzipieren
1 S. die z.T. geharnischte Kritik im Schrifttum insb. Homburg, FR 2007, 717; Eilers, FR 2007, 733 (734 f.); Töben, FR 2007, 739; Hey, BB 2007, 1303 (1305 f.); Knopf/Bron, BB 2009, 1222; Süß/Wilke, SteuerStud 2010, 561; moderater Rödder/Stangl, DB 2007, 479 (483 ff.); Thiel, FR 2007, 729, die für das Grundkonzept Verständnis aufbringen, nicht aber für die konkrete Ausgestaltung; Neumann, Ubg. 2009, 461 (Zinsschranke nicht prinzipiell krisenverschärfend). 2 Ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit: AdV-Beschluss BFH/NV 2014, 970 (zustimmend Cortez/Schmidt, IWB 2014, 507; Prinz, DB 2014, 1102; Hick, FR 2014, 564; Wiese, GmbHR 2014, 546; München/Mückl, DStR 2014, 1469); auch bereits BFH BStBl. 2012, 611, m. Anm. Prinz, FR 2012, 541; ferner FG Berlin-Brandenburg EFG 2012, 358, m. Anm. Prinz, FR 2012, 170; Hey, FS Djanani, 2008, 109 (121 ff.); a.A. BMF BStBl. I 2014, 1516 (Nichtanwendungserlass zu BFH/NV 2014, 970); FG Münster EFG 2013, 1147; Staats, Ubg. 2014, 520; Ismer, FR 2014, 777, der allerdings „teleologische Korrekturen“ für erforderlich hält (783); dezidiert Heuermann, DStR 2013, 1; dagegen Prinz, FR 2013, 145. Überblick über die Rspr. zu § 4h EStG Prinz, DB 2013, 1571. Ausführliche verfassungsrechtliche Würdigung Cryns, Gesellschafterfremdfinanzierung, Diss., 2011, 312 ff.; Marquat, Zinsabzug und steuerliche Gewinnallokation, Diss., 2013, 196–217; Heyes, Ursachen, Rahmenbedingungen und neue Rechtfertigungsansätze zur Zinsschranke, Diss., 2014, 404 ff. 3 Ebenso Homburg, FR 2007, 717 (719 f.). 4 Eilers, FR 2007, 733 (735). 5 S. dazu International aspects of thin capitalization, CDFI LXXXIb (1996); ferner rechtsvergleichend Kessler/Köhler/Knörzer, IStR 2007, 418; Peter, IFSt-Schrift Nr. 436 (2006); Zielke, RIW 2006, 600; Gouthière, ET 2005, 367; Goebel/Eilinghoff, IStR 2008, 233; Lüking/Schanz, ÖStZ 2007, 597; Novacek, ÖStZ 2008, 206; Herzig/Bohn, IStR 2009, 253; Bauer, StuW 2009, 163; van den Berg, ET 2009, 3. 6 Schreiber/Overesch, DB 2007, 813 (817 f.); Homburg, FR 2007, 717 (724 f.); ausf. Führich, IStR 2007, 341; Kraft/Bron, EWS 2007, 487; Hey, FS Djanani, 2008, 109 (112 ff.); Beiser, FS Djanani, 2008, 4 (25 ff.); Wilke/Süß, FR 2009, 796. Dagegen dürfte ein Verstoß gegen die Zins- und LizenzgebührenRichtlinie (RL 2003/49/EG) nach der EuGH-Rs. Scheuten Solar (C-397/09) zur gewerbesteuerrechtlichen Hinzurechnung von Zinsen nicht mehr in Betracht kommen; dazu Hiller, BB 2011, 2715.
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Verlustausgleich und Verlustabzug
Rz. 58
§ 11
lassen, wobei allerdings die Möglichkeit des Nachweises der Angemessenheit der Finanzierung im Einzelfall erforderlich wäre1.
5. Verlustausgleich und Verlustabzug Für die Verlustberücksichtigung gelten im Körperschaftsteuerrecht grds. dieselben Regeln wie im Einkommensteuerrecht2. Über § 8 I KStG findet insb. die Mindestbesteuerung des § 10d II EStG (s. dazu krit. § 8 Rz. 67 f.) Anwendung3.
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Zusätzliche Restriktionen der Verlustverrechnung regelt § 8c I KStG4. Danach führt ein Anteilseignerwechsel unter folgenden Voraussetzungen zum anteiligen oder vollen Untergang des Verlustabzugs bzw. schließt den Verlustausgleich aus:
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– Werden innerhalb von fünf Jahren mittelbar oder unmittelbar mehr als 25 % der Anteile einer Körperschaft (auch Stimmrechte!) an einen Erwerber, diesem nahe stehende Personen5 oder eine Erwerbergruppe mit gleichgerichteten Interessen i.S.d. § 8c I 3 KStG übertragen (= schädlicher Beteiligungserwerb), ist der Ausgleich und Abzug der bis zum Erwerb nicht genutzten Verluste anteilig ausgeschlossen (§ 8c I 1 KStG). Bei unterjährigem Beteiligungswechsel bleibt ein Ausgleich mit den bis zu diesem Zeitpunkt im Wirtschaftsjahr erzielten Gewinnen allerdings zulässig (BFH BStBl. 2012, 3606). Höchst unbestimmt sollen darüber hinaus auch den genannten Übertragungsvorgängen „vergleichbare“ Sachverhalte die Rechtsfolge des § 8c KStG auslösen. Mehrere Anteilserwerbe innerhalb des Fünfjahreszeitraums werden zusammengerechnet; nach dem erstmaligen Überschreiten der Beteiligungsgrenze führt ein weiterer Beteiligungshinzuerwerb unterhalb von 50 % nicht zu weiteren anteiligen Kürzungen des Verlustvortrags (BT-Drucks. 16/4841, 76)7. – Bei einer Übertragung von mehr als 50 % (mittelbar oder unmittelbar) innerhalb von fünf Jahren an einen Erwerber sind die zuvor nicht genutzten Verluste vollständig nicht abziehbar. Die mit UntStRefG 2008 eingeführte Grundregel hat in der Folgezeit einige Einschränkungen8 erfahren. – Gem. § 8c I 5 KStG (sog. Konzernklausel) werden konzerninterne Umstrukturierungen ausgenommen, allerdings nur bei 100%iger Beteiligungsidentität zwischen übertragendem und übernehmendem Rechtsträger9. 1 S. den Vorschlag von Schön, IStR 2009, 882 (888); zu Alternativregelungen auch Ernst, StuW 2010, 262; zu den konkreten europarechtlichen Anforderungen an die Voraussetzungen einer derartigen Missbrauchsnorm EuGH C-282/12, Itelcar, Rz. 41. 2 Grundl. Herzig, Verluste im Körperschaftsteuerrecht, DStJG 28 (2005), 185 ff. 3 Hierzu grundl. Fischer, FR 2007, 281; ferner Klomp, GmbHR 2012, 675. 4 Dazu BMF BStBl. I 2008, 736. Entwurf eines BMF-Schreibens zu § 8c KStG v. 15.4.2014 (dazu Neyer, GmbHR 2014, 734; Schneider/Sommer, FR 2014, 537; Neumann, GmbHR 2014, 673; Ritzer/Stangl, DStR 2014, 977; Suchanek/Rüsch, DStZ 2014, 419). Grundl. zu § 8c KStG Ernst, Neuordnung der Verlustnutzung nach Anteilseignerwechsel, IFSt–Schrift Nr. 470 (2011); Schmitz, Steuerrechtliche Reaktionen auf den Handel mit Verlustgesellschaften im Rechtsvergleich, Diss., 2012. Einzelbeiträge zur Rechtsentwicklung und zu einzelnen Anwendungsproblemen s. 20. Aufl., § 11 Rz. 58, Fn. 127. 5 Zu beschränken auf Personen, die im Interesse des Erwerbers handeln, s. Stollenwerk, Geschäfte zwischen nahestehenden Personen, Diss., 2014, 220–237. 6 Zur Aufteilung s. Entwurf BMF-Schreiben zu § 8c KStG v. 15.4.2014, Rz. 31 f.; Adrian, StuB 2014, 464; Adrian/Weiler, BB 2014, 1303; Suchanek/Trinkaus, FR 2014, 889. 7 Berechtigte Kritik an der unverständlichen und zu Gestaltungen zwingenden Konzeption Dörr, NWB 2007, Fach 4, 5181 (5187 f.); zur Anwendung der Gesamtplanrechtsprechung auf gestreckte Übertragungen (s. § 5 Rz. 123) BMF BStBl. I 2008, 736, Rz. 19; dazu Pohl, GmbHR 2009, 132. 8 Überblick Niehus/Wilke, SteuerStud 2012, 473. 9 Krit. insb. im Hinblick auf die damit verbaute Möglichkeit einer teleologischen Reduktion in den Fällen einer konzerninternen beherrschungsidentischen Umstrukturierung, die das 100 %-Kriterium nicht erfüllt, J. Lang, GmbHR 2012, 57 (59).
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Körperschaftsteuer
– Gem. § 8c I 6–9 KStG (sog. Stille-Reserven-Klausel) können Verluste auch bei schädlichem Beteiligungserwerb, weiterhin insoweit abgezogen werden, wie ihnen zum Zeitpunkt der schädlichen Übertragung im Inland (!) steuerpflichtige stille Reserven gegenüberstehen1. – Die durch Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung v. 16.7.2009, BGBl. I 2009, 1959, in § 8c Ia KStG eingefügte Sanierungsklausel wurde, nachdem sie die EU-Kommission als unzulässige Beihilfe i.S.v. Art. 107 AEUV eingeordnet hat2, durch BeitrRLUmsG v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2592, bis zur Aufhebung der Beihilfeentscheidung suspendiert (§ 34 VIIc 3 ff. KStG). Damit sind auch Anteilserwerbe zum Zweck der Unternehmenssanierung zunächst wieder den sanierungshemmenden Restriktionen des § 8c I 1 KStG unterworfen3. § 8c KStG ist an die Stelle von § 8 IV KStG getreten, mit dem der Gesetzgeber den sog. Mantelkauf zu unterbinden suchte, d.h. den Erwerb von verlustbehafteten Anteilen zum ausschließlichen Zweck der Verrechnung mit zukünftigen Gewinnen4. Nachdem sich der BFH (BStBl. 2004, 1085; 2005, 528; 2007, 602) um eine stärker am Missbrauchsvermeidungszweck der Vorschrift orientierte Auslegung von § 8 IV KStG bemüht hatte, ist der Gesetzgeber mit der Normierung von § 8c KStG vom Gesetzeszweck der Missbrauchsvermeidung abgerückt. Der Telos der Norm scheint ausschließlich auf Verlustvernichtung und die sich hieraus ergebenden Steuermehreinnahmen gerichtet zu sein. Die Einstufung der Sanierungsklausel des § 8c Ia KStG als Steuervergünstigung durch die EU-Kommission ist Folge der Konzeptlosigkeit des deutschen Gesetzgebers. Nicht die durch § 8c Ia KStG ermöglichte unbegrenzte Verlustverrechnung ist die rechtfertigungsbedürftige Ausnahme, sondern der Grundtatbestand des § 8c I KStG.
§ 8c KStG stößt auf einhellige Ablehnung5. Die Vorschrift verletzt das objektive Nettoprinzip. Gleichzeitig wird das Trennungsprinzip als systemtragender Grundsatz des Körperschaftsteuerrechts einseitig außer Kraft gesetzt, indem zwar einerseits daran festgehalten wird, dass Verluste der Körperschaft nur auf Unternehmensebene verrechnet werden können, andererseits aber im Fall des Beteiligungswechsels durch die Körperschaft auf die Anteilseignerebene hindurchgeschaut wird, freilich ohne die Verluste dann unmittelbar den Anteilseignern zuzurechnen, wie es nach dem Transparenzprinzip geboten wäre. Die Rechtsfolgen treffen unter Verstoß gegen den Grundsatz der Individualbesteuerung die Körperschaft und die verbleibenden Altgesellschafter, obwohl sie keinen Einfluss auf die Verwirklichung des schädlichen Anteilserwerbs 1 Zu den vielfältigen Anwendungsproblemen der Stille-Reserven-Klausel Suchanek/Jansen, GmbHR 2011, 174; T. Wagner, DB 2010, 2751; Roser, EStB 2010, 265; Brinkmann, Ubg. 2011, 94; Niehus/Wilke, SteuerStud 2012, 473; Schnitger/Rometzki, Ubg. 2013, 1. 2 EU-Kommission v. 26.1.2011, C7/2010, K(2011)275; dagegen Brodersen/Mückl, ET 2014, 56 f. Die Klage der Bundesrepublik gegen die Beihilfeentscheidung ist als verfristet (!) zurückgewiesen worden, EuGH T-205/11, Deutschland./.Kommission. Allerdings sind weitere Klagen anhängig, hierzu Olbig, GmbH-StB 2013, 89. Ausf. zu den europarechtlichen Fragen Breuninger/Ernst, GmbHR 2011, 673; Drüen, DStR 2011, 289; Hackemann/Momen, BB 2011, 2135; Marquart, IStR 2011, 445; Blumenberg/ Haisch, FR 2012, 12; Linn, IStR 2011, 481 (Handlungsmöglichkeiten betroffener Unternehmen); Klemt, DStR 2013, 1057. 3 Umfassend zu den steuerlichen Rahmenbedingungen für Unternehmenssanierungen Kahlert/Rühland, Sanierungs- und Insolvenzsteuerrecht, 2011; Eilers/Bühring, Sanierungssteuerrecht, 2012; ferner Eilers/ Bühring, StuW 2009, 246; ferner Töben, StbJb. 2009/10, 363; Frey/Mückl, GmbHR 2010, 1193; Gänsler, Ubg. 2013, 154. 4 Zur Weitergeltung von § 8 IV KStG für Anteilsübertragungen vor dem 1.1.2008 s. § 34 VIIb KStG; zu den zu § 8 IV KStG diskutierten Alternativlösungen s. Krupske, GmbHR 2006, 741; Rombey/Imschweiler, DStR 2007, 321; Breinersdorfer, StuW 2008, 216. 5 Hey, BB 2007, 1303 (1306 f.); Jonas, WPg. 2007, 407 (409 f.); Kußmaul/Zabel, BB 2007, 967 (971 f.); Watrin/Strohm/Wittkowski, GmbHR 2007, 785 (788); Hüttemann, Stbg. 2007, 559 (560 ff.); Schwedhelm, GmbHR 2008, 404; Thiel, FS Schaumburg, 2009, 515; Schulze-Osterloh, FS Gauweiler, 2009, 275; Drüen, Ubg. 2010, 543 (545 ff.); J. Lang, GmbHR 2012, 57. Die extensive Auslegung von § 8c KStG durch BMF BStBl. I 2008, 736 und durch den Entwurf eines BMF-Schreibens zu § 8c KStG v. 15.4.2014 verschärft die Defizite noch. Kritisch aus unionsrechtlicher Sicht Drüen/Schmitz, GmbHR 2012, 485; zu Korrekturbedarf und Alternativmodellen Bethmann/Mammen/Sassen, DStR 2012, 1941; Wiss. Beirat Ernst & Young, DB 2012, 1704. Zu den einfachgesetzlichen Rechtsanwendungsproblemen Kohlhaas/Kranz, GmbHR 2013, 1308.
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Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen
Rz. 69
§ 11
haben. Die Einbeziehung mittelbarer Übertragungen1 dürfte, gerade wenn sie sich im Ausland auf einer weit entfernten Konzernstufe vollzieht, mit einem verfassungswidrigen strukturellen Vollzugsdefizit behaftet sein. Die Vorschrift ist nicht nur wirtschaftspolitisch verfehlt, weil sie risikoreiche Investitionen und Unternehmenssanierungen erschwert, sie ist auch verfassungswidrig (s. Vorlage des FG Hamburg EFG 2011, 1460)2. Ebenso wie Lenkungsnormen (s. § 19 Rz. 76) genügen auch Missbrauchsvermeidungsvorschriften den Anforderungen von Art. 3 I GG nur, wenn sie zielgenau ausgestaltet sind3. In § 8c KStG ist der Missbrauchsvermeidungszweck aber noch nicht einmal angedeutet, auch wenn sich die Rspr. richtigerweise um einschränkende missbrauchszweckkonforme Auslegung bemüht4. Die zwischenzeitlich angefügten Einschränkungen vermögen die Regelung nicht zu retten5. Die Konzernklausel ist mit dem 100 %-Identitätserfordernis systemwidrig eng ausgefallen. Die Stille-Reserven-Klausel geht zwar grds. in die richtige Richtung, indem sie wenigstens verhindert, dass Verluste untergehen, die zur Bildung steuerpflichtiger stiller Reserven beigetragen haben6. Indes macht auch sie § 8c KStG nicht zu einer Missbrauchsvorschrift7. Die potentielle Europarechtswidrigkeit der Sanierungsklausel mit der Folge der Übermaßbesteuerung8 verschärft die Verfassungswidrigkeit9. Nur die Rückkehr zu einer konsequent am Missbrauchsvermeidungszweck ausgerichteten Vorschrift kann die Probleme lösen10.
6. Freibeträge Körperschaften i.S.d. § 1 I Nrn. 3–6 KStG, deren Leistungen bei den Anteilseignern nicht zu Einnahmen aus Kapitalvermögen führen können11, Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften sowie land- und forstwirtschaftliche Vereine erhalten Freibeträge (§§ 24; 25 KStG)12.
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Einstweilen frei.
7. Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen 7.1 Verdeckte Gewinnausschüttungen Literatur (w. Nachw. bis 1999 s. 17. Aufl., § 11 vor Rz. 50): Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986; Fiedler, Verdeckte Vermögensverlagerung bei Kapital1 Zu den Möglichkeiten teleologischer Reduktion bei Verkürzung der Beteiligungskette FG BerlinBrandenburg BB 2012, 1327; Karl, BB 2012, 92; Roth, DB 2012, 1768. 2 Ebenso u.a. J. Lang, GmbHR 2012, 57 (Art. 3 I u. 14 I GG); Röder, StuW 2012, 18 (28 ff.); Karl, BB 2012, 92; Kessler/Hinz, DB 2011, 1771; Drüen/Schmitz, Ubg. 2011, 921 (auch zu den Möglichkeiten verfassungskonformer Auslegung); Beck in Beck/Osterloh-Konrad, Unternehmensnachfolge, 2010, 1 (21 ff.); Oenings, FR 2009, 606; Gewährung von AdV im Hinblick auf die mögliche Verfassungswidrigkeit bejahend FG Münster EFG 2012, 165; FG Berlin-Brandenburg EFG 2012, 358; a.A. FG Sachsen EFG 2011, 1457; Möhlenbrock, Ubg. 2010, 256 (257); Jochum, FR 2011, 497 (502 ff.): zulässige Typisierung. 3 Hey, BB 2007, 1303 (1304). 4 BFH BStBl. 2012, 360; hierzu Altrichter-Herzberg, GmbHR 2012, 725; Goldacker/Heerdt, Ubg. 2013, 170. 5 A.A. Schmitz, Steuerrechtliche Reaktionen auf den Handel mit Verlustgesellschaften im Rechtsvergleich, Diss., 2012, 103 ff. 6 J. Lang, GmbHR 2012, 57 (59 f.); positiver C. Dorenkamp, IFSt-Schrift Nr. 461 (2010), 26; Eisgruber/Schaden, Ubg. 2010, 73 (74). 7 Drüen, Ubg. 2010, 543 (548 f.). 8 S. J. Lang, GmbHR 1212, 57 (61 f.). 9 Zur Wechselwirkung der europa- und verfassungsrechtlichen Fragen s. auch Breuninger/Ernst, GmbHR 2011, 673; Hils, KSzW 2011, 351. 10 Vorschläge J. Lang, GmbHR 2012, 57 (61 f.); Ernst, Neuordnung der Verlustnutzung nach Anteilseignerwechsel, IFSt-Schrift Nr. 470 (2011), 106 ff.; rechtsvergleichend Lenz, FS Herzig, 2010, 131; Frankus, Die Verlustverrechnung nach § 8 IV KStG, § 8c KStG im Rechtsvergleich mit US-amerikanischem Steuerrecht, Diss., 2010; mit Österreich S. Schmitz, DStZ 2011, 324. 11 Dazu Blümich/Schlenker, § 24 KStG Rz. 1, 13 (2013). 12 Dazu BFH BStBl. 1985, 634; 1990, 470.
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§ 11
Rz. 70
Körperschaftsteuer
gesellschaften, Diss., 1994; W. Müller, Verdeckte Gewinnausschüttung in Zivil- und Steuerrecht, DStJG 17 (1994), 289; Pezzer, Zur Dogmatik der verdeckten Gewinnausschüttung, FR 1996, 379; Reiß, Gesellschaftsrechtlich unzulässige Gewinnausschüttungen und ihre Rückabwicklung, StuW 1996, 337; Frotscher, Verdeckte Gewinnausschüttung, in DStJG 20 (1997), 205; Hoffmann, Notwendige Reform der verdeckten Gewinnausschüttung, StbKongrRep. 1997, 81; Schön, Die verdeckte Gewinnausschüttung, in FS Flume zum 90. Geburtstag, 1998, 265; K.-R. Wagner, Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen, 2000; Bauschatz, Verdeckte Gewinnausschüttung und Fremdvergleich im Steuerrecht der GmbH, Diss., 2001; Wassermeyer, Verdeckte Gewinnausschüttung: Veranlassung, Fremdvergleich und Beweisrisikoverteilung, DB 2001, 2465; Heuberger, Die verdeckte Gewinnausschüttung aus Sicht des Aktien- und des Gewinnsteuerrechts, Diss., 2001; Wassermeyer, Verdeckte Gewinnausschüttung – BFH versus Finanzverwaltung, GmbHR 2002, 1; Scheffler, Korrektur von unangemessenen Vertragsbeziehungen zwischen einer Kapitalgesellschaft und ihren Anteilseignern, BB 2002, 543; Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 2004; Pel, Die verdeckte Gewinnausschüttung der Nichtkapitalgesellschaften, DB 2004, 1065; Schachtschneider, Steuerverfassungsrechtliche Probleme der Betriebsaufspaltung und der verdeckten Gewinnausschüttung, Diss., 2004; Ernst & Young, Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen; Neumann, VGA und verdeckte Einlagen2, 2006; Kohlhepp, Verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftund Einkommensteuerrecht, Diss., 2006; Schönwald, Gesellschaftliche Vermögensmehrungen bzw. -minderungen bei der Kapitalgesellschaft, SteuerStud 2006, Beil. 2; Wilhelmy, Lösung für das Problem der verdeckten Gewinnausschüttung, FR 2007, 470; Schulte/Behnes, Verdeckte Gewinnausschüttung, BB-Special 9/2007; Pelchen, Verdeckte Gewinnausschüttungen im französischen und deutschen Steuerrecht, Diss., 2007; Janssen, Die verdeckte Gewinnausschüttung, NWB 2008, Fach 4, 5239; Brandis, Aktuelle Rechtsprechung zur verdeckten Gewinnausschüttung, Ubg. 2008, 365; Niehus/Wilke, Verdeckte Gewinnausschüttungen, SteuerStud 2009, 357; Rüd, Verdeckt ausschütten (vGA), ohne auszuschütten?, FR 2009, 703; Lange/Janssen, Verdeckte Gewinnausschüttungen11, 2013; Kohlhepp, Überblick über die Rechtsprechung zur verdeckten Gewinnausschüttung im Zeitraum 2012/2013, DB 2013, 2171 ; Böhmer, Verdeckte Gewinnausschüttungen bei Überschuss erzielenden Körperschaften, DStR 2012, 1995; Haußmann, Verdeckte Gewinnausschüttungen im Dreiecksverhältnis und wirtschaftliche Betrachtungsweise, StuW 2014, 305; Koch/Haußmann, Verdeckte Gewinnausschüttungen im Konzernverbund, SteuerStud 2014, 399; Weber-Grellet, Die verdeckte Gewinnausschüttung als Instrument der Fehlerkorrektur, BB 2014, 2263; Briese, Verdeckte Gewinnausschüttung: Zweifelsfragen bei der Gewinnermittlung von Kapitalgesellschaften, DB 2014, 2610.
7.1.1 Voraussetzungen der verdeckten Gewinnausschüttung 70
a) Die Körperschaft kann ihre Einkünfte offen nach gesellschaftsrechtlichen Vorschriften oder in verdeckter Form verteilen. Die verdeckte Einkünfteverteilung (= verdeckte Gewinnausschüttung, s. § 8 III 2 KStG) führt dazu, dass die Körperschaft einen zu niedrigen Jahresüberschuss (anders ausgedrückt: einen zu niedrigen Gewinn i.S.d. § 4 I 1 EStG1) ausweist, weil sie eine Zuwendung an den Anteilseigner (z.B. das überhöhte Gehalt) zu Unrecht als Betriebsausgabe behandelt oder weil sie zugunsten des Anteilseigners auf Betriebseinnahmen verzichtet hat (z.B. durch Gewährung eines zinslosen Darlehens, Verkauf von Wirtschaftsgütern zu marktunüblich niedrigen Preisen etc.). Derartige verdeckte Ausschüttungen sind gem. § 8 III 2 KStG dem Einkommen der Körperschaft hinzuzurechnen („… verdeckte Gewinnausschüttungen mindern das Einkommen nicht.“). Das Rechtsinstitut der verdeckten Gewinnausschüttung dient dazu, eine durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasste (nicht betriebliche) Verringerung des gem. § 8 I KStG i.V.m. § 2 I EStG erzielten Einkommens der Körperschaft zu verhindern; es handelt sich um körperschaftsteuerrechtlich irrelevante Einkommensverteilung (§ 8 III 1 KStG) und nicht um Einkommenserzielung. Die Grenzlinie entspricht prinzipiell derjenigen zwischen Betriebs- und Privatausgaben im Einkommensteuerrecht2 (s. dazu § 8 Rz. 230 ff.).
1 S. auch Frotscher, GmbHR 1998, 23 (24); Wassermeyer, GmbHR 1998, 157 (159). 2 Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986, 65; Frotscher, GmbHR 1998, 23 (24); Wassermeyer, GmbHR 1998, 157 (158 f.).
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Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen
Rz. 73
§ 11
Die im Körperschaftsteuerrecht und Einkommensteuerrecht vergleichbare Abgrenzungsaufgabe erfordert die Entwicklung verallgemeinerungsfähiger Prüfungsmaßstäbe1, um die im Detail allerdings gerungen wird. Grds. findet die aus dem Trennungsprinzip (s. Rz. 1) folgende Anerkennung der schuldrechtlichen Beziehungen zwischen Kapitalgesellschaft und Gesellschaftern dort ihre Grenze, wo der zwischen einander Fremden übliche, hier aber häufig fehlende Interessengegensatz die Vertragsbedingungen oder die Vertragsdurchführung verfälscht. Insoweit weisen Verträge zwischen Körperschaft und Anteilseigner Parallelen zu Verträgen unter nahen Angehörigen auf (s. § 8 Rz. 162 ff.). Hier wie dort können die zivilrechtlichen Vereinbarungen der Besteuerung nur dann zugrunde gelegt werden, wenn sie dem sog. Fremdvergleich standhalten, d.h. nach Inhalt und tatsächlicher Durchführung dem zwischen Fremden Üblichen entsprechen (s. dazu Rz. 74 und allgemein § 8 Rz. 163 ff.). Die Bedeutung der verdeckten Gewinnausschüttung für die Praxis erklärt sich aus ihren Belastungswirkungen. Mit ausschließlich der ESt des Gesellschafters unterliegenden Leistungsvergütungen lassen sich gegenüber der partiellen Doppelbelastung von Gewinnausschüttungen durch das Teileinkünfteverfahren bzw. die Abgeltungsteuer (s. Rz. 12 ff.) und ggf. im Hinblick auf die Gewerbesteuer Belastungsvorteile erzielen2. b) Definition des I. Senats des BFH: § 8 III 2 KStG regelt nur die Rechtsfolgen, nicht aber die Voraussetzungen der verdeckten Gewinnausschüttung. Seit 1989 definiert der I. Senat des BFH folgendermaßen: Verdeckte Gewinnausschüttung i.S.d. § 8 III 2 KStG ist jede Vermögensminderung (verhinderte Vermögensmehrung), die durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst ist, sich auf die Höhe des Einkommens auswirkt3 und in keinem Zusammenhang mit einer offenen Ausschüttung steht4. Problematisch ist die Erweiterung der verdeckten Gewinnausschüttung auf verhinderte Vermögensmehrungen, weil es hierdurch zu der Besteuerung von fiktivem Einkommen kommen kann5.
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Mit dieser Definition hat der I. Senat unter Aufgabe der früheren Einheitsdefinition6 den Tatbestand der verdeckten Gewinnausschüttung auf Gesellschaftsebene von der Gesellschafterebene abgekoppelt7. Vor 1989 hatte die Rspr. die Annahme einer verdeckten Gewinnausschüttung bei der Gesellschaft von der Zuwendung eines Vermögensvorteils an den Gesellschafter abhängig gemacht8. Inzwischen hat BFH BStBl. 2004, 131, die Verbindung beider Ebenen partiell wiederhergestellt, indem die Vermögensminderung bei der Körperschaft objektiv geeignet sein muss, beim Gesellschafter (irgendwann) einen Bezug i.S.v. § 20 I Nr. 1 Satz 2 EStG auszulösen (sog. „Vorteilsgeneigtheit“9).
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c) Einen rechtssystematischen Fortschritt bedeutet die Rspr. des I. Senats des BFH insofern, als in der Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis im Unterschied zur Veranlassung
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1 Insoweit übereinstimmend Gosch, DStZ 1997, 1 (2); Pezzer, StbKongrRep. 1997, 63 (71); Wassermeyer, GmbHR 1998, 157 (161). 2 Zu den Belastungswirkungen ab 2009 Wilhelmy, FR 2007, 470; Binz, DStR 2008, 1820; Bareis, DStR 2009, 600. 3 Im Hinblick auf § 8b II KStG zu verneinen bei Unterpreisverkauf von Beteiligungen, s. Frotscher, Körperschaftsteuer/Gewerbesteuer2, 2008, Rz. 397; krit. Briese, FR 2009, 994. 4 BFH BStBl. 1989, 633; 1989, 855; 1993, 311; 1994, 479; 1997, 577; verkürzte Definition in BFH BStBl. 2004, 171 (verdeckte Gewinnausschüttung als „eine durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasste Minderung [verhinderte Mehrung] des Unterschiedsbetrags i.S.d. § 4 I 1 EStG“) ohne inhaltliche Neuerung, s. Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 2004, 14 ff. 5 Sehr deutlich in BFH BStBl. 2013, 1024; krit. zu dieser Erweiterung der vGA s. Gosch2, 2009, § 8 KStG Rz. 254; Piltz, DStR 2014, 684 (687). 6 Dazu Kohlhepp, Verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaft- und Einkommensteuerrecht, Diss., 2006, 89 f.; 92 ff.; 102 ff.; für eine Rückkehr zur Einheitsdoktrin jetzt Rüd, FR 2009, 703. 7 Krit. Scholtz, FR 1990, 321, 350 u. 386; Schön, FS Flume, 1998, 265 (274). 8 BFH BStBl. 1967, 626 (früher st. Rspr.). 9 Dazu HHR/Wilk, § 8 KStG Anm. 113 (2014).
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§ 11
Rz. 74
Körperschaftsteuer
durch den Betrieb (§ 4 IV EStG i.V.m. § 8 I KStG)1 das zentrale Tatbestandsmerkmal der verdeckten Gewinnausschüttung gesehen wird. Im Regelfall ist eine Vermögensminderung durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst, wenn die Kapitalgesellschaft ihrem Gesellschafter oder einer diesem nahe stehenden Person (s. Rz. 75) einen Vermögensvorteil zuwendet, den sie bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters einem Nichtgesellschafter nicht gewährt hätte2. Das vom Fremdvergleich abw. Verhalten indiziert die Veranlassung im Gesellschaftsverhältnis3. Das Merkmal der „Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“4 hat jedoch nicht die Funktion eines materiell-rechtlichen Tatbestandsmerkmals, sondern dient nur als Denkhilfe zur Würdigung der einzelnen Indizien5 im Rahmen des Fremdvergleichs. Diese Entwicklung der Rspr., die nun schärfer zwischen dem rechtlichen Obersatz (für die verdeckte Gewinnausschüttung: Veranlassung der Vermögensminderung oder verhinderten Vermögensmehrung durch das Gesellschaftsverhältnis) einerseits und der Tatsachenfeststellung und -würdigung anhand von Indizien andererseits trennt, ist durch die Rspr. des BVerfG zur Anerkennung von Ehegattenarbeitsverhältnissen6 inspiriert, nach der Indizmerkmale nicht zu rechtlichen Tatbestandsmerkmalen verselbständigt werden dürfen.
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Welches Motiv einer Handlung im Einzelfall zugrunde liegt, ist keine Rechtsfrage, sondern eine Frage der Tatsachenfeststellung, eine Beweisfrage7. Bei der Tatsachenfeststellung muss, wenn die Anhörung des Handelnden keine Klarheit ergibt, auf Grund objektiver Umstände auf die subjektiven Voraussetzungen der verdeckten Gewinnausschüttung (Motivation, Zweck) geschlossen werden (Indizienbeweis, s. § 22 Rz. 193). Die Rspr. hat eine Reihe von Hilfskriterien zur Prüfung der gesellschaftsrechtlichen Veranlassung entwickelt. Von bes. Bedeutung ist der Fremdvergleich8, der sowohl für die Anerkennung dem Grunde nach als auch der Höhe nach (Prüfung der Angemessenheit) herangezogen wird. Innerhalb des Fremdvergleichs stellt der BFH u.a. auf die Üblichkeit ab und nimmt auch dann eine verdeckte Gewinnausschüttung an, wenn die Vereinbarung oder ihre Durchführung nicht für den Gesellschafter, sondern für die Gesellschaft wirtschaftlich vorteilhaft ist und der Fremdvergleich ergibt, dass ein fremder Vertragspartner sich auf die für ihn nachteilige (unübliche) Vereinbarung nicht eingelassen hätte. In der Unüblichkeit wird ein Indiz fehlender Ernstlichkeit gesehen9. „Nicht 1 Diesen rechtssystematischen Gegensatz verwischen BFH/NV 1995, 548; 1997, R190 (zum Verhältnis von vGA und nichtabziehbaren Betriebsausgaben i.S.v. § 4 V EStG); BFH BStBl. 1997, 548; 1998, 161; Wassermeyer, FS Haas, 1996, 401; Wassermeyer, GmbHR 1998, 157 (158) u. GmbHR 2002, 1 (2); Wassermeyer, FS Raupach, 2006, 565 (573 f.); Wassermeyer DB 2011, 1828 (1830 ff.), danach können Aufwendungen gleichzeitig Betriebsausgaben und vGA sein; dagegen Pezzer, StuW 1998, 76 (79 f.); Weber-Grellet, DStZ 1998, 357 (361); Martini, FR 2011, 562 f. 2 Insb. BFH BStBl. 1993, 311. 3 BFH BStBl. 1997, 577 (578); Wassermeyer, FS Offerhaus, 1999, 405. 4 Dazu Wassermeyer, GmbHR 1986, 29; Woerner, FS v. Wallis, 1985, 327; Becker, StbJb. 1985/86, 381; Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986, 41; Schuhmann, StBp. 2005, 114. 5 Vgl. Wassermeyer, FR 1989, 219 f.; Wassermeyer, GmbHR 1998, 157 (161): „Unterfall des Fremdvergleichs“; Schmidt-Liebig, FR 2003, 273; Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 2004, 143 ff. 6 BFH BStBl. 1996, 34; dazu § 8 Rz. 163; ferner Pezzer, StbJb. 1996/97, 25 u. StbKongrRep 1997, 63 (66); s. aber auch BFH/NV 2009, 2005. 7 Dazu § 21 Rz. 204 ff.; speziell für vGA s. Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986, 81 ff.; Wassermeyer, FR 1989, 223; Eppler, DStR 1988, 339; Stolze, Verdeckte Gewinnausschüttung und nahestehende Personen, Diss., 1999, 228 ff.; a.A. Döllerer, Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen bei Kapitalgesellschaften2, 1990, 96 f.; Weber-Grellet, DStZ 1998, 357 (364). 8 Hierzu allgemein § 8 Rz. 164 ff., 244; Bilsdorfer, Der steuerliche Fremdvergleich bei Vereinbarungen unter nahestehenden Personen, Diss., 1996; Wolff-Diepenbrock, FS Beisse, 1997, 581; Wassermeyer, FS Offerhaus, 1999, 405; Wassermeyer, StbJb. 1998/99, 157 ff.; Martini, FR 2011, 562 (Kriterien bei Versagen des Fremdvergleichs); Schnorberger/Billau, Der Konzern 2011, 511. 9 Insb. BFH BStBl. 1996, 383, zu einem in der Bilanz der GmbH als Rückstellung passivierten Honorar, das der Höhe nach angemessen, aber 11 Jahre lang nicht ausgezahlt worden war.
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Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen
Rz. 77
§ 11
ernstliche“ Vereinbarungen dürften indes als Scheingeschäfte (§ 117 BGB; § 41 II AO) zu beurteilen sein1. Sie sind für die Besteuerung ohnehin unerheblich, verfälschen daher den Gewinn der Gesellschaft nicht, so dass die Anwendung der Korrekturnorm des § 8 III 2 KStG nicht erforderlich ist. Es kommt in Sonderfällen auch in Betracht, dass Verträge zwischen Gesellschaft und Gesellschafter wegen Steuerumgehung (§ 42 AO) nicht anerkannt werden können2. Darüber hinaus kann der Rspr. des BFH nicht gefolgt werden. Die Unüblichkeit zum Nachteil des Gesellschafters begründet kein Korrekturbedürfnis, solange der Vertrag tatsächlich durchgeführt worden ist. § 8 III 2 KStG hat nicht die Aufgabe, Leistungsbeziehungen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter auf ein Standard- oder Durchschnittsmaß zurechtzustutzen. Die gesellschaftsrechtliche Veranlassung setzt voraus, dass Begünstigter der verdeckten Gewinnausschüttung ein Gesellschafter ist. Ausreichend ist jedoch die Verschaffung eines mittelbaren wirtschaftlichen Vorteils, sei es, dass die Gesellschaft den Vorteil einer dem Gesellschafter nahe stehenden Person3 gewährt (z.B. einem Verwandten oder einer vom Gesellschafter beherrschten anderen Gesellschaft, insb. Unterpreis-/Überpreisgeschäfte zwischen Schwestergesellschaften4), sei es, dass die Gesellschaft eine Aufgabe wahrnimmt, zu deren Erfüllung der Gesellschafter rechtlich verpflichtet gewesen wäre oder der er sich nicht hätte entziehen können.
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Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der gesellschaftsrechtlichen Veranlassung ist der Abschluss der Vereinbarung (st. Rspr., BFH BStBl. 1997, 301; 2005, 653), so dass eine spätere Veränderung der Umstände die Angemessenheit weder im Nachhinein begründen noch entfallen lassen kann. Dies gilt auch für den Eintritt in eine (beherrschende) Gesellschafterstellung (BFH BStBl. 1997, 806). Nicht mit dieser Rspr. in Einklang steht der Schluss auf eine gesellschaftsrechtliche Veranlassung auf Grund eines späteren Verzichts auf eine angemessene Leistungsvergütung (so aber BFH/NV 1995, 164; BFH BStBl. 2002, 111 [113]).
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Schließlich muss die Vermögensminderung (verhinderte Vermögensmehrung) der Körperschaft zugerechnet werden können.
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Dies ist zu bejahen, wenn die jeweils maßgebende Handlung (oder Unterlassung) durch die vertretungsberechtigten Organe der Körperschaft vorgenommen wird5. Der Körperschaft sind aber auch Handlungen des Anteilseigners zuzurechnen, der selbst nicht Organ (Vorstand, Geschäftsführer) ist, wenn die Handlungen mit Zustimmung des Organs geschehen (im Falle der Unkenntnis jedenfalls mit dessen mutmaßlicher Zustimmung). Nicht mehr der Körperschaft zurechenbar sind jedoch ohne Kenntnis des Organs begangene strafbare Handlungen des Anteilseigners (z.B. Unterschlagung, Untreue), die das Organ nicht billigen könnte, ohne sich selbst strafbar oder gegenüber der Gesellschaft schadensersatzpflichtig zu machen6. Eine verdeckte Gewinnausschüt1 Pezzer, StbKongrRep. 1997, 63 (70); a.A. Wassermeyer, GmbHR 1998, 157 (160). 2 Allerdings definiert die Rspr. (BFH/NV 1999, 1516) die vGA grds. unabhängig von § 42 AO, so dass es insb. nicht auf eine Umgehungsabsicht ankommt. Dem ist zuzustimmen, da § 8 III 2 KStG lex specialis gegenüber § 42 AO ist. 3 Dazu BFH BStBl. 1997, 301; BFH/NV 2005, 1266; BFH BStBl. 2007, 658; 2011, 62; BFH BStBl. 2011, 62; Hahnhäuser, Verdeckte Gewinnausschüttung an Nichtgesellschafter, Diss., 1965; Wassermeyer, FR 1989, 221; Kahlert, Verdeckte Gewinnausschüttung an Nichtgesellschafter im Gesellschaftsrecht, Diss., 1994; Stolze, Verdeckte Gewinnausschüttung und nahestehende Personen, Diss., 1999; Rust, Verdeckte Einlagenrückgewähr an Dritte in der Kapitalgesellschaft, Diss., 2000; Ott/Schmitz, INF 2005, 941; Schumann, GmbHR 2008, 1029; Winter, GmbHR 2010, 1073; Dorn, SteuerStud 2011, 703; Stollenwerk, Geschäfte zwischen nahestehenden Personen, Diss., 2014, 77–122. 4 Zu der sich bei Gewinnverlagerungen zwischen Schwesterpersonengesellschaften ergebenden Dreieckskonstellation BFH GrS BStBl. 1988, 348; in deutlichem Widerspruch hierzu die Beurteilung im Rahmen der Schenkungsteuer durch BFH BStBl. 2013, 930. Kritik an der Rspr. s. Koch/Haußmann, SteuerStud 2014, 399; Haußmann, StuW 2014, 305; s. ferner J. Lang, FR 1984, 629; Sturm, Die verdeckte Gewinnausschüttung im europäischen Konzern, Diss., 1994; Brandis, FS J. Lang, 2010, 719 ff. 5 BFH BStBl. 1993, 351 (352); 2011, 55 (bei Irrtum des Geschäftsführers); dazu Paus, DStZ 2008, 650; Schmitz, GmbHR 2009, 910. 6 Flume, DB 1993, 1945; a.A. Wassermeyer, DB 1993, 1948; Wassermeyer, StVj. 1993, 208 (220); ferner Kolbe, StuB 2006, 961.
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§ 11
Rz. 78
Körperschaftsteuer
tung kann dann aber darin liegen, dass die Körperschaft den ihr gegen den Anteilseigner zustehenden Schadensersatzanspruch nicht geltend macht. Begeht dagegen ein dem Gesellschafter nahestehender Fremdgeschäftsführer ohne dessen Kenntnis und Billigung eine Unterschlagung, fehlt es an der gesellschaftsrechtlichen Veranlassung1, weil den Anteilseigner insofern keine Überwachungspflichten treffen.
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d) Trotz der Besinnung auf die allgemeine Veranlassungsdogmatik hat der BFH bisher prinzipiell an seiner Sonderrechtsprechung zur verdeckten Gewinnausschüttung an beherrschende Gesellschafter2 festgehalten. Eine verdeckte Gewinnausschüttung soll unabhängig von der Angemessenheit der Leistung auch dann vorliegen, wenn eine Kapitalgesellschaft Leistungen an einen beherrschenden Gesellschafter oder eine diesem nahe stehende Person erbringt, die nicht auf einer im Voraus getroffenen, klaren und eindeutigen, nicht notwendig schriftlichen3, aber zivilrechtlich wirksamen4 Vereinbarung beruhen5. Die Vereinbarung muss vor der Leistungserbringung durch die Körperschaft abgeschlossen sein (sog. Nachzahlungsverbot oder Rückwirkungsverbot), um zu verhindern, dass der Gesellschafter ex post anhand der tatsächlichen Gewinnentwicklung entscheidet, ob er sich Gewinne als Ausschüttungen oder Leistungsvergütungen auszahlen lässt. Auch eine fehlerhafte Abwicklung – unterlassene Passivierung einer der Höhe nach angemessenen Pensionszusage – soll auf eine mangelhafte Umsetzung schließen lassen6. Der Rspr. ist zuzugeben, dass das Fehlen eines Interessengegensatzes und eingeschränkte Kontrollmöglichkeiten beim beherrschenden Gesellschafter in besonderem Maße die Chance willkürlicher Aufteilung zwischen Gewinnverwendung und Leistungsvergütung schafft. Ob ein solcher Missbrauch aber tatsächlich vorliegt, lässt sich nicht abschließend anhand formaler Kriterien beurteilen. Die Tatsache, dass der Gesellschafter beherrschend ist, darf lediglich bei der Indizienwürdigung im Rahmen des Fremdvergleichs berücksichtigt werden7. Dementsprechend hat der BFH mittlerweile entschieden, dass das Fehlen einer klaren Vereinbarung als solches weder ein Tatbestandsmerkmal der verdeckten Gewinnausschüttung i.S.d. § 8 III 2 KStG ist, noch eine unwiderlegbare Vermutung begründet8 und Unklarheiten notfalls durch Sachverhaltsaufklärung zu beseitigen sind9. Dabei dürfen die Anforderungen an den Gegenbeweis nicht überspitzt werden. Dass die BFH-Rspr. nicht mit den allgemeinen Fremdvergleichsgrundsätzen vereinbar ist, bestätigt nun BFH BStBl. 2013, 1046, wonach die Sonderrechtsprechung zum beherrschenden Gesellschafter in DBA-Fällen durch Art. 9 II OECD-MA (dealing at arm’s length principle) gesperrt wird, so dass insb. das Rückwirkungsverbot in grenzüberschreitenden Sachverhalten nicht gilt10.
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e) Einzelfälle: Unerheblich ist, in welche Form der Vorteil gekleidet ist. In der Praxis überwiegen Austauschverträge, bei denen der Wert der Leistung der Gesellschaft den Wert der Gegenleistung des Gesellschafters übersteigt. Die Rspr. hat eine reichhaltige, geradezu überbordende Kasuistik hervorgebracht. Anschaulich sind die in H 36 V KStR aufgeführten Beispiele für verdeckte Gewinnausschüttungen. Von besonderer praktischer Bedeutung sind folgende Fallgestaltungen: 1 2 3 4 5
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BFH BStBl. 2007, 830, m. Anm. Renner, ÖStZ 2007, 454; Steinhauff, NWB 2008, Fach 4, 5233. Dazu Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 2004, 110 ff.; Gosch2, § 8 KStG Rz. 318g ff. S. Gosch2, § 8 KStG Rz. 324. BFH BStBl. 1999, 35. BFH BStBl. 1989, 632; 1990, 795; 1993, 311; 1997, 577; BFH/NV 2012, 612; 2012, 1003. Hierzu Woerner, FS v. Wallis, 1985, 327; Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986, 45; krit. Tiedtke, DStR 1993, 933 (937); Sturm, Die verdeckte Gewinnausschüttung im europäischen Konzern, Diss., 1994, 52 ff. BFH BStBl. 2006, 928 (930), m. Anm. Prinz, WPg. 2006, 1409. A.A. Weber-Grellet, DStZ 1998, 357 (363). BFH/NV 1997, 806; BFH BStBl. 1992, 362; 1996, 246; 1997, 703, m. Anm. Pezzer, FR 1996, 221; 1999, 35; strenger aber wieder BFH BStBl. 2005, 882, m. Anm. Pezzer, FR 2005, 891. BFH BStBl. 2001, 612, m. Anm. Pezzer, FR 1999, 1058; Fritsche, GmbHR 1999, 989. Hierzu Andresen/Immenkötter/Frohn, DB 2013, 534; Haverkamp, ISR 2013, 96.
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Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen
Rz. 83
aa) Ein Gesellschafter erhält für seine Vorstands- oder Geschäftsführertätigkeit ein unangemessen hohes Gehalt1. In die Angemessenheitsprüfung sind sämtliche (feste und variable) Gehaltsbestandteile einzubeziehen. Entscheidend ist die Gesamtausstattung.
§ 11 80
Von besonderer Praxisrelevanz ist die Abgrenzung zwischen Arbeitslohn und verdeckter Gewinnausschüttung bei unentgeltlicher Überlassung von Wirtschaftsgütern der Körperschaft zur Privatnutzung, namentlich die (unbefugte) Privatnutzung des Dienst-Kfz durch den Gesellschafter-Geschäftsführer2. bb) Zahlt die Gesellschaft an einen Gesellschafter neben einem (angemessenen) festen Gehalt eine erfolgsabhängige Vergütung (Umsatzvergütung; Tantieme)3, so legten Rspr. und FinVerw. bisher starre Grenzen an, wonach eine gewinnabhängige Tantieme höchstens 25 % der Gesamtbezüge4 und höchstens 50 % des Jahresüberschusses5 betragen durfte. In Abkehr von dieser Praxis hat sich BFH BStBl. 2004, 132; 2004, 136; 2004, 139, für eine Einzelfallbetrachtung innerhalb von Bandbreiten ausgesprochen. Den zuvor zugrundegelegten Grenzen wird zu Recht nur noch Indizwirkung beigemessen. Auch Überstundenvergütungen, Nacht-, Sonn- und Feiertagszuschläge für Gesellschafter-Geschäftsführer hält der BFH entgegen seiner bisherigen Rspr. nicht mehr generell für durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst6, wenn im konkreten Einzelfall (betriebsinterner Fremdvergleich) nicht erwartet werden kann, dass die Arbeit ohne zusätzliche Vergütung geleistet wird. Die Branchenüblichkeit allein reicht jedoch nicht aus (BFH/NV 2005, 247). Bei mehreren Gesellschafter-Geschäftsführern wird auf die Angemessenheit der Gesamtausstattung der Geschäftsführung abgestellt (BFH/NV 2011, 1396).
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cc) Eine GmbH gibt aus Anlass des Geburtstags ihres Gesellschafter-Geschäftsführers einen Empfang7.
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dd) Die steuerliche Anerkennung von Pensionsrückstellungen8 für beherrschende Gesellschafter-Geschäftsführer von Kapitalgesellschaften macht der BFH nicht nur von einer rechtswirksamen Pensionsvereinbarung, sondern auch davon abhängig, dass ein hohes Maß an Wahr-
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1 BMF BStBl. I 2002, 972, m. Anm. Derlien, DStR 2002, 622; Niehues, DB 2002, 1579; Engers, DB 2003, 116; Ott, INF 2003, 509; Krupske, GmbHR 2003, 208; Krupske, INF 2004, 188; ferner Evers/Grätz/ Näser, Die Gehaltsfestsetzung bei GmbH-Geschäftsführern5, 2001; Zimmermann, GmbHR 2002, 353 (kleine GmbHs); Bascopé/Hering, GmbHR 2005, 741; Hoffmann, DStZ 2005, 97; Schade, SteuerStud 2005, 483; Tänzer, GmbHR 2005, 1256; Schwedhelm, GmbHR 2006, 281; Erhart/Lüke, BB 2007, 183 (AG); Janssen, DStZ 2007, 483. 2 Hierzu BMF BStBl. I 2012, 478. Bei berechtigter Nutzung geht die Rspr. von Arbeitslohn aus; i.Ü. ist auf den Veranlassungszusammenhang im Einzelfall abzustellen, vgl. BFH/NV 2009, 1311; BFH BStBl. 2010, 234; 2012, 266; 2013, 1044 (zu Beweisfragen); grds. für einen Vorrang der vGA vor der Annahme von Arbeitslohn Pust, FS Spindler, 2011, 721. 3 Dazu BFH BStBl. 1978, 234; 1989, 854; 1999, 321 (m. Anm. Gosch, DStR 1999, 669; Pezzer, FR 1999, 603); 2002, 111; 2003, 329; 2003, 418; 2004, 307 (Vorschuss); 2008, 314 (Einbeziehung von Jahresfehlbeträgen); BMF BStBl. I 2002, 219, m. Anm. Schnittker/Best, GmbHR 2002, 565; Schuhmann, GmbHR 2007, 977. Umsatztantiemen führen grds. zur Annahme einer vGA BFH BStBl. 1999, 321; BFH/NV 2011, 301. 4 BFH BStBl. 1995, 549; 1999, 241; Kritik: Pezzer, StbKongrRep. 1997, 63 (76); s. auch Brenner, DStZ 1996, 65; Gosch, DStZ 1997, 1 (4); Hoffmann, DStR 1998, 313 (316); Weber-Grellet, DStZ 1998, 357 (358). 5 BFH BStBl. 2000, 547, m. Anm. Pezzer, FR 2000, 1277; BFH BStBl. 2004, 525: Einbeziehung von Verlustvorträgen m. Anm. Janssen, BB 2004, 1776. 6 BFH BStBl. 2005, 307, m. Anm. Pezzer, FR 2004, 1281; BFH/NV 2006, 131; aber auch BFH BStBl. 2007, 393; BFH/NV 2012, 1127. 7 Dazu BFH BStBl. 1992, 359; 2011, 285. 8 Zur aktuellen Rspr. Otto, GmbHR 2014, 617; Briese, DB 2014, 801; s. ferner Doetsch/Lenz, Steuerliche Behandlung von Versorgungszusagen an (Gesellschafter-)Geschäftsführer und Vorstände9, 2014; Janssen, NWB 2010, 3455 (zu BFH BStBl. 2013, 41); Wübbelsmann, DStR 2014, 1861; Auswirkungen einer Veräußerung der GmbH: Hoffmann, DStR 2002, 2211; Böhmer, StBW 2014, 343; Verzicht: Langohr-Plato, INF 2004, 16 u. 65; Heeg, DStR 2009, 567; Krise der GmbH: Horath/Kauter, StuB 2006, 182; Abfindung u. Übertragung von Pensionsansprüchen: BFH/NV 2006, 1515; Förster, DStR 2006, 2149 (2151); Förster, Stbg. 2006, 520; Fuhrmann/Demuth, KÖSDI 2007, 15625; Wellisch/Quast/
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§ 11
Rz. 84
Körperschaftsteuer
scheinlichkeit für die Inanspruchnahme der Gesellschaft spricht. Die Zusage muss ernsthaft, erdienbar, finanzierbar und angemessen sein. Die Zusage darf grds. erst nach einer bestimmten Probezeit ausgesprochen werden1 und muss mit einer leistungsausschließenden Wartezeit verbunden werden; die sofortige Unverfallbarkeit führt grds. zur Unangemessenheit2. Zwischen Zusage und Auszahlung der Pension müssen mindestens 10 Jahre liegen (Erdienbarkeit)3, dabei wird ein Pensionseintrittsalter von 65 Jahren zugrunde gelegt4. Die Pensionszusage darf nicht an Stelle eines Gehalts gewährt werden (sog. „Nur-Pension“)5, nicht zur Überschuldung der Gesellschaft führen6 und keine Überversorgung begründen, d.h. nicht 75 % der am Bilanzstichtag bezogenen Aktivbezüge übersteigen7. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, nimmt der BFH verdeckte Gewinnausschüttungen an. Auch die Zahlung einer Kapitalabfindung gegen Verzicht auf laufende Pensionszahlungen ist schädlich8. 84
ee) Erhält ein Gesellschafter von der Gesellschaft ein Darlehen, obwohl schon bei der Darlehenshingabe mit der Uneinbringlichkeit gerechnet werden muss, so liegt eine verdeckte Gewinnausschüttung in Höhe der Valuta vor9. Im Fall eines nicht marktgerecht niedrigen Zinses besteht die verdeckte Gewinnausschüttung in der Differenz zum Marktzins.
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ff) Ein Gesellschafter liefert an die Gesellschaft Waren oder erwirbt von der Gesellschaft Waren oder sonstige Wirtschaftsgüter oder erbringt/erhält Dienstleistungen zu nicht marktgerechten Preisen oder erhält besondere Preisnachlässe und Rabatte (BFH/NV 2005, 105). Diese Fallgruppe ist von großer Bedeutung für Zwecke der internationalen Einkünfteabgrenzung zwischen verbundenen Unternehmen durch sog. Verrechnungspreise10. Ergänzt werden die
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Machill, BB 2007, 987; Wellisch/Quast, DB 2006, 2139; Uckermann/Pradl, BB 2009, 1331. Zum Verzicht auf künftig noch zu erdienende Pensionsanwartschaften (sog. Future Service) BMF BStBl. I 2012, 874, m. Anm. Dernberger/Lenz, DB 2012, 2308. BFH BStBl. 2002, 670; 2005, 882; 2013, 41 (46); Kritik Janssen, NWB 2010, 3455 ff.; Otto, DStR 2011, 106. BFH BStBl. 1993, 455. BFH BStBl. 1995, 419; 1997, 440; 2003, 416; 2003, 926; BFH/NV 2006, 616; BFH BStBl. 2013, 39 (auch für nachträgliche Erhöhungen), m. Anm. Weber-Grellet, StuB 2009, 186; Cramer, DStR 1995, 976; Gosch, FR 1997, 438; BFH/NV 2014, 728 (keine Altersdiskriminierung). Seit BFH BStBl. 1982, 612 (615 f.); 1991, 379; 1995, 478. Verdeckte Gewinnausschüttung infolge von Weiterarbeit nach Erreichen des Pensionsalters bei gleichzeitigem Pensionsbezug: BFH/NV 2008, 1273; krit. Schothöfer/Killat, DB 2011, 896. BFH BStBl. 1996, 204; 2008, 523; 2013, 14; BMF BStBl. I 2013, 35. Dabei soll auf Ebene der Gesellschaft bereits die Bildung der Pensionsrückstellung zu versagen sein. Die Rspr. des BFH ist nur haltbar als Indizienwürdigung im Einzelfall, nicht als genereller Rechtssatz. Kritik s. Kempermann, FR 1995, 835; Gschwendtner, DStZ 1996, 7 u. 238; Hoffmann, DStZ 1996, 236; Förster/Heger, DStR 1996, 408; Pezzer, StbJb. 1996/97, 25 u. StbKongrRep. 1997, 63 (75); Frotscher, GmbHR 1998, 23 (27); Gosch2, § 8 KStG Rz. 1131; Killat, DB 2013, 195 (197). BFH/NV 2001, 866, m. Anm. Hoffmann, GmbHR 2001, 399; BFH BStBl. 2005, 653; 2005, 657, m. Anm. Gosch, DStR 2001, 882; BFH BStBl. 2005, 659, 662 u. 664, m. Anm. Paus, INF 2006, 70. BFH BStBl. 2005, 176; 2012, 665; BMF BStBl. I 2004, 1045; dazu Briese, GmbHR 2004, 1123; Briese, GmbHR 2005, 272; Paus, FR 2005, 409; Finsterwalder, DB 2005, 1189; Vieten/Schmidt-Rask, DStR 2006, 2142. BFH/NV 2014, 795; krit. Bareis, FR 2014, 493; Briese, BB 2014, 1567; s. außerdemRz. 93 zu Forderungsverzicht und verdeckter Einlage. Dazu BFH BStBl. 1990, 795; BFH/NV 2005, 916 (unbesichertes Darlehen einer GmbH an ausländische Muttergesellschaft); Wienands/Teufel, GmbHR 2004, 1301. Überblick Wiensch, SteuerStud 2013, 520. Grundl. zur internationalen Einkünfteabgrenzung zwischen verbundenen Unternehmen BFH BStBl. 2004, 171; dazu Baumhoff, IStR 2001, 751; Gosch, StBp. 2001, 361; Wassermeyer, DB 2001, 2465; zum Ganzen s. Kaminski, Verrechnungspreisbestimmung bei fehlendem Fremdvergleichspreis, Habil., 2001; Rasch, Konzernverrechnungspreise im internationalen, bilateralen und europäischen Steuerrecht, Diss., 2001; Schoeri, Verrechnungspreise, Gleichheit und steuerliche Leistungsfähigkeit, FS J. Lang, 2010, 1117; Vögele/Borstell/Engler, Verrechnungspreise3, 2011; Schön, IStR 2011, 777 (Fremdvergleich in der EuGH-Rspr.); Baßler, Steuerliche Gewinnabgrenzung im Europäischen Binnenmarkt, Diss., 2011; Sassmann, Verfahrensrechtliche Regelungen zur Einkünfteabgrenzung zwischen nahestehenden Kapitalgesellschaften im deutschen nationalen und internationalen Steuerrecht, Diss., 2011; Luckhaupt/Overesch/Schreiber, StuW 2012, 359.
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Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen
Rz. 86
§ 11
Grundsätze der verdeckten Gewinnausschüttung durch § 1 I, III 1–8 AStG. Das UntStRefG 2008 kodifiziert hier weitreichende Sonderregeln für den Fremdvergleich zum Zweck der Verrechnungspreisermittlung1. Insb. werden den Stpfl. umfassende Dokumentationspflichten aufgebürdet. gg) Als einen Anwendungsfall der verhinderten Vermögensmehrung2 hat der BFH seine Rspr. zu Wettbewerbsverbot und Geschäftschancenlehre entwickelt. Umstritten ist, ob eine verdeckte Gewinnausschüttung auch dann vorliegt, wenn der Anteilseigner neben dem Betrieb der Körperschaft auf eigene Rechnung geschäftlich tätig wird (sog. Wettbewerbsverbot3). Mittlerweile erkennt der BFH an, dass der Gesellschafter grds. auch mit steuerrechtlicher Wirkung neben oder an Stelle der Gesellschaft tätig werden kann. Eine verdeckte Gewinnausschüttung liegt erst dann vor, wenn der Gesellschaft auf Grund der Tätigkeit des Gesellschafters im Einzelfall ein zivilrechtlicher Schadensersatzanspruch zusteht, die Gesellschaft ihn aber nicht geltend macht, oder wenn der Gesellschafter eine Geschäftschance der Gesellschaft für sich ausnutzt, für die die Gesellschaft von einem fremden Dritten ein Entgelt verlangen würde4. Diese sog. Geschäftschancenlehre läuft Gefahr, die KSt in eine Sollertragsteuer zu verwandeln5. Abstrakt lassen sich die Geschäftschancen nicht aufteilen. Stattdessen ist anhand allgemeiner Zurechnungskriterien zu entscheiden, wer das Einkommen erzielt. Das Einkommen wird nur dann der Körperschaft zurechenbar sein, wenn sich die Geschäftschance bereits rechtlich bei ihr konkretisiert hat. Auf der Grundlage der Geschäftschancenlehre wurde bereits in der Vergangenheit eine Besteuerung grenzüberschreitender Funktionsverlagerungen diskutiert6. Durch das UntStRefG 2008 hat der Gesetzgeber nun in § 1 III 9, 10 AStG losgelöst von der vGA-Dogmatik und unter gravierender Verletzung sowohl der Grundsätze der Realisation als auch der internationalen Einkünfteabgrenzung die Besteuerung von Funktionsverlagerungen kodifiziert7.
1 S. die überwiegend krit. Stellungnahmen im Schrifttum Wassermeyer, DB 2007, 535; Fischer/Looks/im Schlaa, BB 2007, 918; Freytag, IWB 2007, Gr. 1, Fach 3, 1133; Lahodny-Karner/Hirschböck, SWI 2007, 207; Kroppen/Rasch/Eigelshoven, IWB 2007, Gr. 1, Fach 3, 2201; Frischmuth, IStR 2007, 485; Kaminski, RIW 2007, 594; Dörr/Fehling, NWB 2007, Fach 2, 9375 (aus europarechtlicher Sicht); Bernhardt/ van der Ham/Kluge, IStR 2007, 717 (zum Verhältnis zur verdeckten Einlage); Klapdor, StuW 2008, 83; Strahl, KÖSDI 2008, 15861; Roeder, Ubg. 2008, 202. 2 Dazu Wassermeyer, FS Müller, 2001, 397. 3 S. Thiel, GmbHR 1992, 338; Pezzer, StuW 1992, 270; Niemann, FS Rose, 1991, 387; Döllerer, BB 1993, 1498; Müller, Das Wettbewerbsverbot des GmbH-Gesellschafters und seine körperschaftsteuerlichen Folgen, Diss., 1995; Mechnig, Wettbewerbsverbot und verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 1995; Lawall, Das ungeschriebene Wettbewerbsverbot des GmbH-Gesellschafters, Diss., 1996; Becker, Das gesellschaftsrechtliche Wettbewerbsverbot in der Einmann-GmbH, Diss., 1997; Gosch, DStR 1997, 702; Steck, Wettbewerbsverbot und verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 1999; Wepler, Verdeckte Gewinnausschüttung bei Konkurrenzhandlungen von GmbH-Gesellschaftern zu ihrer Gesellschaft, Diss., 2001. 4 BFHE 178, 371, m. Anm. Pezzer, FR 1995, 906; BFHE 179, 258; 181, 122; BFH/NV 1997, R142, R232, R355, R433; BFH/NV 1996, 645; 1999, 1125; 2003, 1349; Gosch, DStR 1995, 1863; Buyer, GmbHR 1996, 98; Lawall, DStR 1996, 605; Lawall, NJW 1997, 1742; Wassermeyer, DStR 1997, 681; Frotscher, GmbHR 1998, 23 (30 f.); Fleischer, DStR 1999, 1249; Jakob, DStR 2000, 1122; Schuhmann, StBp. 2004, 35; Gosch2, § 8 KStG Rz. 850a. 5 S. die Kritik v. Schön, FS Flume, 1998, 268 ff.; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993, 656. 6 Vgl. Borstell, StbJb. 2001/02, 206; Serg, DStR 2005, 1916; Wassermeyer, DB 2007, 535; Kroppen/ Rasch/Eigelshoven, IWB 2007, Gr. 1, Fach 3, 2201; Ditz, DStR 2006, 1625; Frotscher, FR 2008, 49; Wassermeyer, FR 2008, 67; Kahle, Der Konzern 2007, 647; Looks/Scholz, BB 2007, 2541; Wulf, DB 2007, 2280; Naumann u. Frotscher in Lüdicke, Besteuerung von Unternehmen im Wandel, 2007, 167 u. 183; s. aktuell auch Stollenwerk/Willems, GmbH-StB 2012, 81 u. 123. 7 Dazu Funktionsverlagerungs-Verordnung BMF BStBl. I 2009, 34, und Verwaltungsgrundsätze-Funktionsverlagerung, BMF BStBl. I 2010, 774. Kritik u.a. J. Lang, FS Reiß, 2008, 379 (394 ff.); Hey, BB 2007, 1303 (1307 f.); Blumers, BB 2007, 1757; (Transferpaket als Verstoß gegen Einzelbewertungsgrundsatz); Frotscher, FR 2008, 49; Frischmuth, StuB 2010, 743 (Regelungsziel). Zur Vereinbarkeit mit EU-Recht: Rolf, IStR 2009, 152; Schön, FS Herzig, 2010, 301; Rohler, GmbH-StB 2012, 54 (im
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§ 11 87
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Körperschaftsteuer
hh) Tätigt die Gesellschaft in eigenem Namen verlustträchtige Risikogeschäfte1, so ist die Annahme eines Handelns im privaten Interesse des Gesellschafters i.d.R. nicht gerechtfertigt, vgl. BFH BStBl. 2003, 487, klarstellend zu BFH/NV 1999, 269; a.A. BMF BStBl. I 2003, 333, wenn „das Geschäft nach Art und Umfang der Geschäftstätigkeit der Gesellschaft völlig unüblich, mit hohen Risiken verbunden und nur aus privaten Spekulationsabsichten des Gesellschafter-Geschäftsführers zu erklären ist“.
7.1.2 Rechtsfolgen der verdeckten Gewinnausschüttung2 88
Die Rechtsfolgen der verdeckten Gewinnausschüttung sind in § 8 III 2 KStG nur ansatzweise gesetzlich geregelt. Zu unterscheiden ist zwischen der Gesellschafts- und der Gesellschafterebene. a) Gesellschaftsebene: Verdeckte Gewinnausschüttungen mindern das Einkommen nicht (§ 8 III 2 KStG). Weist die Gesellschaft infolge einer verdeckten Gewinnausschüttung einen zu niedrigen Jahresüberschuss aus, so muss die verdeckte Gewinnausschüttung diesem nach Auffassung des BFH außerhalb der Steuerbilanz3 wieder hinzugerechnet werden. Die daraus resultierende Einkommenserhöhung löst KSt i.H.v. 15 %, SolZ sowie Gewerbesteuer aus. b) Gesellschafterebene: Verdeckte Gewinnausschüttungen bilden Einnahmen aus Kapitalvermögen (§ 20 I Nr. 1 Satz 2 EStG) des Anteilseigners, sobald sie diesem zufließen (§ 11 EStG). Nach der Definition des für diese Einkünfte zuständigen VIII. Senats des BFH ist eine verdeckte Gewinnausschüttung gegeben, wenn die Kapitalgesellschaft ihrem Gesellschafter außerhalb der gesellschaftsrechtlichen Gewinnverteilung einen Vermögensvorteil zuwendet und diese Zuwendung ihren Anlass im Gesellschaftsverhältnis hat4. Bei verdeckten Gewinnausschüttungen durch Leistung an einen Dritten (nahe stehende Person s. Rz. 75) hat nur der Gesellschafter Einkünfte i.S.d. § 20 I Nr. 1 Satz 2 EStG. Die steuerliche Behandlung bei dem Dritten hängt grds. nur von seinem Verhältnis zum Gesellschafter ab. Zu den erbschaft- und schenkungsteuerrechtlichen Rechtsfolgen (§§ 7 VIII 2; 15 IV ErbStG) s. § 15 Rz. 31. Für die Bewertung der verdeckten Gewinnausschüttung5 sind Fremdvergleichsmaßstäbe heranzuziehen und nicht Entnahmegrundsätze. So soll ungeachtet der Bewertung beim Gesellschafter die private Pkw-Nutzung für Zwecke von § 8 III 2 KStG nicht mit dem Entnahmewert des § 6 I Nr. 4 Satz 2 EStG anzusetzen sein; im Fall verbilligter Miete soll die Kosten-, nicht die Marktmiete maßgeblich sein (BFH/NV 2005, 793) zuzüglich eines Gewinnaufschlags (BFH/NV 2011, 1019).
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Gesellschafts- und Gesellschafterebene werden bisher getrennt betrachtet. Die Rspr. geht nach Aufgabe der sog. Einheitsdefinition durch BFH BStBl. 1989, 522, davon aus, dass die verdeckte Gewinnausschüttung auf Gesellschafts- und Gesellschafterebene nicht notwendig übereinstimmen müsse. Dies darf freilich nicht so verstanden werden, dass verdeckte Gewinnausschüttungen auf Gesellschafts- und Gesellschafterebene völlig getrennte Wege gehen. Die Klammer zwi-
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Hinblick auf EuGH C-371/10, National Grid Indus); mit Verfassungsrecht: Micker, IStR 2010, 829; mit internationalem Recht/OECD-Grundsätzen: Wehnert/Sano, IStR 2010, 53; Baumhoff/Puls, IStR 2009, 73. Dazu Paus, FR 1997, 565; Wassermeyer, FR 1997, 563. Reiß, StuW 2003, 21; zu steuerstrafrechtlichen Konsequenzen Weidemann, wistra 2007, 201. BFH BStBl. 2002, 366; 2002, 367; 2005, 841; BMF BStBl. I 2002, 603. Dazu Wassermeyer, GmbHR 2002, 617; Wassermeyer, FS Raupach, 2006, 565 (Auseinandersetzung mit der Kritik von Bareis u. Briese); B. Lang, DStZ 2003, 219; zu Recht krit. Dörner, INF 2002, 481; Frotscher, FR 2002, 859; Reiß, StuW 2003, 21 (24 ff.); Bareis, BB 2005, 354; Briese, GmbHR 2005, 597 u. GmbHR 2006, 1308; Harle, GmbHR 2008, 1257; Briese, FR 2009, 991 (mit Replik Kohlhepp, FR 2009, 996); Bareis, GmbHR 2009, 813; Briese, BB 2014, 1943. BFH/NV 1998, 1582, m. Anm. Gosch, DStR 1998, 1550; Wassermeyer, DB 1998, 1997; Ahmann, DStZ 1999, 233; Wichmann, INF 1999, 329. Zur Zurechnung der vGA auf Gesellschafterebene: F. Lang, Ubg. 2009, 468; Breier/Sejdija, GmbHR 2011, 290. BFH BStBl. 2005, 882 (883); 2012, 260. Zur Ermittlung des Gewinnaufschlags Dötsch/Pung/Möhlenbrock/Klingebiel, § 8 III KStG Teil C Rz. 429 ff. (2009); Kohlhepp, DStR 2009, 357.
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Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen
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§ 11
schen beiden Ebenen ist die Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis. Deshalb ist entgegen BFH BStBl. 2005, 882 (s. Rz. 88), zur Vermeidung von Doppelbelastungen ein Gleichlauf der Bewertung auf Gesellschafts- und Gesellschafterebene zu fordern1. Die Rechtsfolgen können aber zeitversetzt auftreten: So ist eine Pensionsrückstellung für eine unangemessene Pensionszusage (s. Rz. 83) gem. § 8 III 2 KStG dem Jahresüberschuss der Körperschaft hinzuzurechnen, stellt aber keine Einnahme i.S.d. § 20 I Nr. 1 Satz 2 EStG dar, solange keine Zahlungen an den Gesellschafter geleistet werden. Ein Auseinanderfallen der Rechtsfolgen2 beider Ebenen vermeidet der Gesetzgeber durch das seit 2008 geltende materielle Korrespondenzprinzip sowie die verfahrensrechtliche Korrekturnorm des § 32a KStG3. § 3 Nr. 40 Satz 1 Buchst. d Satz 2, 3 EStG; § 8b I 2–4 KStG machen die Anwendung des Teileinkünfteverfahrens bzw. der Beteiligungsertragsbefreiung davon abhängig, dass die Bezüge das Einkommen der leistenden Körperschaft nicht gemindert haben. Dies soll unabhängig von den anzuwendenden Doppelbesteuerungsabkommen auch für Leistungen ausländischer Körperschaften gelten4. § 8b I 4 KStG enthält eine Rückausnahme insb. für vGA unter Beteiligung von Schwestergesellschaften, um Doppelbelastungen zu vermeiden, soweit das Einkommen einer nahe stehenden Person erhöht wurde und § 32a KStG – was vor allem in Auslandsfällen zutrifft – keine Anwendung findet. Eine § 8b I 2 KStG entsprechende Verknüpfung besteht im Rahmen der Abgeltungsteuer; § 32d I 1 EStG greift nicht ein, soweit die Bezüge das Einkommen der Körperschaft gemindert haben (§ 32d II Nr. 4 EStG). § 32a I KStG verknüpft die Ebenen verfahrensrechtlich. Soweit gegenüber einer Körperschaft ein Steuerbescheid hinsichtlich einer verdeckten Gewinnausschüttung erlassen, aufgehoben oder geändert wird, kann (Ermessen!)5 der Bescheid des Gesellschafters entsprechend angepasst werden; zur Festsetzungsverjährung s. § 32a I 2 KStG. Die Regelung ist in mehrfacher Hinsicht imperfekt. Zum einen ist unklar, welche Ermessenserwägungen die FinVerw. dazu berechtigen sollen, von der Änderung abzusehen, wenn es um die Vermeidung einer Doppelbelastung geht. Zum anderen fehlt eine entsprechende Regelung im EStG. Für den einkommensteuerpflichtigen Gesellschafter günstige Anpassungen wird man in analoger Anwendung von § 32a KStG vornehmen können; ob dies auch im umgekehrten Fall gilt6, ist zweifelhaft (zur Zulässigkeit steuerverschärfender Analogien s. § 5 Rz. 81 ff.).
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Bezüglich der Rückabwicklung verdeckter Gewinnausschüttungen7 ist zwischen Zivil- und Steuerrecht zu unterscheiden:
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– Zivilrechtlich besteht ein gesetzlicher Rückgewähranspruch nach §§ 62 I; 57 I AktG allenfalls für Aktiengesellschaften8; für sonstige Körperschaften wird ein Rückgewähranspruch 1 Ebenso Briese, GmbHR 2005, 1271, und wohl auch Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 2004, 232 (maßgeblich: Sicht der Körperschaft). 2 Nicht notwendig des Tatbestands, vgl. Dötsch/Pung, DB 2007, 11 (12). 3 Eingeführt durch JStG 2007 v. 13.12.2006 (BGBl. 2007, 2878); zum zeitl. Anwendungsbereich BFH BStBl. 2012, 839. Überblicke zu § 32a KStG Bob/Trinks, SteuerStud 2011, 572; Horst, NWB 2009, 2954 u. 3022; Stöber, FR 2013, 448. 4 Zur Anwendung in grenzüberschreitenden Sachverhalten Schnitger/Rometzki, BB 2008, 1648; Becker/ Kempf/Schwarz, DB 2008, 371; Dörfler/Adrian, Ubg. 2008, 373; Frase, BB 2008, 2713 (Europarecht). 5 I.d.R. auf null reduziert, BFH/NV 2009, 1029. Zur Frage der Berücksichtigung von Vertrauensschutz bei Ausübung des Ermessens Kohlhaas, DStR 2013, 122. 6 So Kohlhepp, DStR 2009, 1416 (1418); zurückhaltender Frotscher/Maas, § 32a KStG Rz. 36 (2014). 7 Dazu Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986, 188; Seeger, StVj 1992, 249; Buyer, DB 1994, 602; Reiß, StuW 1996, 337; Wassermeyer, StbJb. 1995/96, 213; Wichmann, BB 1998, 20; Geißler, GmbHR 2003, 394; Schnorr, GmbHR 2003, 861 (unter bes. Berücksichtigung des Halbeinkünfteverfahrens); Schütz, DStZ 2004, 14; Lay, Rückgängigmachung der verdeckten Gewinnausschüttung bei der GmbH. Änderungen durch den Systemwechsel vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren?, Diss., 2006; Assmann, StBp. 2007, 321 (zur Möglichkeit der Qualifikation als Buchungsfehler); Schulz, DStR 2014, 2165. 8 Schneider, ZGR 1985, 280; BGHZ 136, 125, m. Anm. Goette; Letters, JbFSt. 1978/79, 430; Döllerer, BB 1979, 61; Döllerer, DStR 1980, 399; zur GmbH s. Kleffner, Erhaltung des Stammkapitals und Haftung nach §§ 30, 31 GmbHG, Diss., 1994.
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Körperschaftsteuer
häufig im Gesellschaftsvertrag durch Satzungsklauseln1 begründet2. Ausnahmsweise kommt ein Anspruch auf Grund der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht in Betracht3. – Die steuerrechtlichen Folgen der verdeckten Gewinnausschüttung werden durch die Rückgewähr nicht rückgängig gemacht. Der einmal verwirklichte Tatbestand der verdeckten Gewinnausschüttung soll nach st. Rspr. nachträglich nicht wieder entfallen können. Es bleibt bei der Erhöhung des Einkommens der Körperschaft (§ 8 III 2 KStG) und der Versteuerung des Zuflusses beim Gesellschafter (§ 20 I Nr. 1 Satz 2 EStG). Die Rückzahlung behandelt der BFH bei der Gesellschaft als Einlage, beim Gesellschafter als nachträgliche Anschaffungskosten4. Zur Entspannung der vGA-Problematik würde es beitragen, könnten auch die steuerlichen Folgen rückgängig gemacht werden5.
7.2 Verdeckte Einlagen Literatur (bis 1995 s. 17. Aufl.): Marx, Verdeckte Einlagen als Problemfälle der Rechnungslegung und Besteuerung, FR 1995, 453; Beiser, Gesellschaftereinlage oder Leistungsaustausch, StuW 1996, 62; Fischer, Sacheinlage im Gesellschafts- und Steuerrecht der GmbH, Diss., 1997; Hoffmann, Steuergestaltungen durch Einlagen in Kapitalgesellschaften nach der neuesten BFH-Rspr., StbJb. 1998/99, 217; Groh, Ist die verdeckte Einlage ein Tauschgeschäft?, DB 1997, 1683; Weber-Grellet, Die verdeckte Einlage, DB 1998, 1532; Füger/Rieger, Verdeckte Einlage in eine Kapitalgesellschaft zu Buchwerten, DStR 2003, 628; Beinert, Nutzungseinlage als Gestaltungsinstrument im Halbeinkünfteverfahren, StbJb. 2003/04, 346; Gassner, Die verdeckte Einlage in Kapitalgesellschaften, 2004; AltrichterHerzberg, Tatbestand und Rechtsfolgen der verdeckten Sacheinlage bei der GmbH sowie die nachträgliche Umwandlung der Bareinlage in eine (offene) Sacheinlage im Zivil- und Steuerrecht, Diss., 2004; Hiort, Einlagen obligatorischer Nutzungsrechte in Kapitalgesellschaften, Diss., 2004; Böth, Die verdeckte Einlage – eine häufig unterschätzte Feststellung Teil I und II, StBp. 2005, 341 und 2006, 13; Briese, Die verdeckte Einlage in eine Kapitalgesellschaft. Ein Beitrag für eine rechtsformneutrale Gewinnermittlungskonzeption, GmbHR 2006, 1136; Altrichter-Herzberg, Steuerliche Aspekte der verdeckten Sacheinlage bei der GmbH nach der Neuregelung durch das MoMiG, GmbHR 2009, 1190. S. auch Nachw. vor Rz. 70.
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Die verdeckte Einlage bildet systematisch grds. das Spiegelbild der verdeckten Gewinnausschüttung. Verdeckte Einlagen erhöhen das Einkommen der Körperschaft nicht (§ 8 III 3 KStG). Mit dem JStG 2007 hat der Gesetzgeber in § 8 III 3–6 KStG erstmals die Rechtsfolgen der verdeckten Einlage geregelt, nicht jedoch den Tatbestand. Eine verdeckte Einlage liegt vor, wenn ein Gesellschafter (oder eine ihm nahe stehende Person) der Gesellschaft einen Vermögensvorteil zuwendet und diese Zuwendung durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst ist. Zur Feststellung der Veranlassung dient auch hier der Fremdvergleich: Es ist zu prüfen, ob ein 1 Dazu Meyer-Arndt, JbFSt. 1979/80, 297; Schmidt, JbFSt. 1979/80, 314; Theisen, GmbHR 1980, 132 u. 182; Lagemann, Die Steuerklausel, Diss., 1979; Schneider, ZGR 1985, 302; Zenthöfer, DStZ 1987, 185, 217 u. 273. 2 Döllerer, Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen bei Kapitalgesellschaften2, 1990; einschränkend jedoch BFH BStBl. 1984, 725 f., m. abl. Anm. Brezing, DB 1984, 2059, u. zust. Anm. Schmidt, FR 1984, 540; abl. auch Döllerer, BB 1986, 97; Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986, 194. 3 Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986, 189, 193. 4 BFH BStBl. 1987, 733; 1989, 1029; 1997, 92; 2006, 132; dagegen Kohlhaas, DStR 1996, 525. Zum Sonderfall der Rückgewähr einer vGA an nahe stehende Personen: BFH/NV 2005, 105, m. Anm. Schwedhelm/Binnewies, GmbHR 2005, 65; Replik Wassermeyer, GmbHR 2005, 149; Duplik Schwedhelm/ Binnewies, GmbHR 2005, 151. 5 Zu Vorschlägen im bestehenden System s. das Schrifttum in Rz. 91 Fn. 7. Eine weiterreichende Lösung der vGA-Problematik, die allerdings aus DBA-rechtlichen Gründen nicht ohne weiteres umsetzbar ist, findet sich im Vorschlag eines Unternehmerlohnabzugs („transparente Entnahme“) bzw. der Normierung von Nichtaufgriffsgrenzen, vgl. Stiftung Marktwirtschaft, Kommission Steuergesetzbuch, Steuerpolitisches Programm 2006, 27; auch Hey, StuB 2007, 267 (271).
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Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen
Rz. 94
§ 11
Nichtgesellschafter bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns den Vermögensvorteil der Gesellschaft nicht gewährt hätte1. Der Maßstab der „Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns“ ist mindestens so problematisch wie die „Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“ für die Prüfung der verdeckten Gewinnausschüttung (s. Rz. 73), zumal der Anteilseigner, der die verdeckte Einlage erbringt, keineswegs Kaufmann sein muss2. Auch hier geht es um die Würdigung von Indizien im Einzelfall. Verdeckte Gewinnausschüttung und verdeckte Einlage entsprechen sich als Spiegelbilder nicht vollständig. So können Nutzungen und Gebrauchsvorteile (z.B. der wirtschaftliche Vorteil aus einem zinslosen/zinsermäßigten Darlehen oder einer verbilligten Miete) zwar Gegenstand einer verdeckten Gewinnausschüttung sein, nicht aber umgekehrt Gegenstand einer verdeckten Einlage. Diese Unterscheidung beruht darauf, dass die Spezialnorm des § 8 III 2 KStG alle durch das Gesellschaftsverhältnis veranlassten Vermögensminderungen der Körperschaft erfasst, während § 4 I 1 EStG als Grundnorm des Betriebsvermögensvergleichs nach h.M. nur solche Vermögensmehrungen als Einlagen neutralisiert, die als Wirtschaftsgüter in eine Bilanz aufgenommen werden können3; zur Nutzungseinlage s. allgemein § 9 Rz. 364 f. Rechtsfolgen der verdeckten Einlage: Der durch die verdeckte Einlage zu hoch ausgewiesene Gewinn der Gesellschaft ist zu korrigieren, indem die verdeckte Einlage zur Ermittlung des Einkommens außerhalb der Bilanz wieder abgezogen wird (§ 8 III 3 KStG). Sie wirkt sich nicht auf den Gewinn aus, sondern erhöht das steuerliche Einlagekonto (§ 27 KStG; Rz. 46). Aufgrund des Abzugs bei der Gesellschaft muss korrespondierend beim Anteilseigner die durch die verdeckte Einlage bewirkte Vermögensminderung ebenfalls steuerlich neutralisiert werden. Deshalb darf der Anteilseigner, wenn er die Beteiligung an der Gesellschaft im Privatvermögen hält, seine Vermögensminderung nicht als Werbungskosten bei seinen Einkünften aus Kapitalvermögen abziehen. Befindet sich die Beteiligung im Betriebsvermögen des Anteilseigners, so ist die verdeckte Einlage auf dem Beteiligungskonto zu aktivieren4. Die verdeckte Einlage eines Wirtschaftsguts aus dem Betriebsvermögen führt beim Gesellschafter gem. § 6 VI 2 EStG zur Realisierung stiller Reserven.
93
Ein auf dem Gesellschaftsverhältnis beruhender Forderungsverzicht5 des Anteilseigners auf seine nicht mehr vollwertige Forderung gegenüber seiner Kapitalgesellschaft bedeutet bei der Gesellschaft eine verdeckte Einlage in Höhe des Teilwerts der Forderung; beim Anteilseigner führt dies korrespondierend zum Zufluss des noch werthaltigen Teils der Forderung. § 7 VIII 1 ErbStG i.d.F. des BeitrRLUmsG v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2592, regelt schenkungsteuerrechtliche Rechtsfolgen (disquotaler) Einlagen. Danach gilt die Werterhöhung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, die ein anderer als der Zuwendende erlangt, als Schenkung an die Mitgesellschafter, hierzu § 15 Rz. 31.
Um ein Auseinanderfallen von Gesellschafts- und Gesellschafterebene auch bei der verdeckten Einlage zu vermeiden, macht § 8 III 4 KStG die Einkommenskorrektur bei der Gesellschaft 1 BFH/NV 1998, 624, m. Anm. Wassermeyer, IStR 1998, 149. 2 Streck8, § 8 KStG Rz. 82. 3 BFH GrS BStBl. 1988, 348 (354), m. Anm. Schmidt, FR 1988, 166; BFH BStBl. 1989, 633; a.A. BFH BStBl. 1987, 65. 4 BFH GrS BStBl. 1988, 348 (355) m.w.N. 5 BFH GrS BStBl. 1998, 307; dazu Groh, BB 1997, 2523; Parczyk, BB 1998, 924; Arteaga, BB 1998, 977; Gebhardt, DStR 1998, 225; Wichmann, INF 1998, 265; s. auch BFH BStBl. 1998, 305; BFH/NV 1998, 572; BFH BStBl. 2002, 436 (eigenkapitalersetzendes Darlehen; dazu Uhländer, BB 2005, 70); BFH BStBl. 2005, 707, m. krit. Anm. Hoffmann/Sauter, GmbHR 2005, 1335; BMF BStBl. I 2003, 648 (Forderungsverzicht gegen Besserungsschein); dazu Graf Kerssenbrock, ZSteu 2006, 209; ferner Clemm, FS Haas, 1996, 67; Schlagheck, GmbHR 2000, 363; Kempf/Uhlig, DStR 2000, 723; Helm/Krinninger, DB 2005, 1989; Briese, GmbHR 2008, 568; Marenbach, SteuerStud 2008, 431; Drews/Götze, DStR 2009, 945; Mach, FR 2012, 800 u. 845. Zum Verzicht auf zukünftige noch nicht erdiente Pensionsleistungen BMF BStBl. I 2012, 874, m. Anm. Killat, DStZ 2012, 643. Zur Ermittlung der Werthaltigkeit der Forderung Urbahns, DStZ 2005, 148; Benz/Böing, Ubg. 2012, 440.
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94
§ 11
Rz. 95
Körperschaftsteuer
davon abhängig, dass die verdeckte Einlage das Einkommen des Gesellschafters nicht gemindert hat (zur spiegelbildlichen Handhabung bei der vGA, s. Rz. 90). 95–99
Einstweilen frei.
8. Besondere Fälle der Gewinnrealisierung und ihres Aufschubs1 8.1 Liquidation (§ 11 KStG) Literatur: Sarx, Zur Abwicklungs-Rechnungslegung einer Kapitalgesellschaft, in FS Forster, 1992, 547; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993, 935; Schmidt, Liquidationsergebnisse und Liquidationsrechnungslegung im Handels- und Steuerrecht, in FS Schmidt, 1993, 227; Jünger, Liquidation und Halbeinkünfteverfahren, BB 2001, 69; Dötsch/Pung, Die Auflösung und Abwicklung von Körperschaften. Das BMF-Schreiben v. 26.8.2003, DB 2003, 434; Förster, Die Liquidationsbilanz5, 2005; Geier, Die Limited und die steuerlichen Probleme bei Liquidation, Der Konzern 2006, 421; Budde/Förschle, Sonderbilanzen. Von der Gründungsbilanz bis zur Liquidationsbilanz4, 2008; Kess, Ertragsbesteuerung bei Liquidationen. Ein Rechtsformvergleich aus verfassungsrechtlicher Sicht, Diss., 2008; Wohltmann, Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer in der Liquidation, NWB 2009, 950; Bergmann, Liquidationsbesteuerung von Kapitalgesellschaften, Diss., 2012; Bergmann, Einheitlicher Besteuerungszeitraum und Zwischenveranlagungen in Liquidation und Insolvenz, GmbHR 2012, 943.
100
Werden unbeschränkt steuerpflichtige Körperschaften i.S.v. § 1 I Nrn. 1–3 KStG zum Zwecke der Verteilung des Vermögens aufgelöst und abgewickelt, so gewährleistet § 11 KStG, dass die bisher nicht realisierten Gewinne bei der letzten sich bietenden Gelegenheit versteuert werden (Liquidationsbesteuerung). Gewinnermittlungszeitraum für den Liquidationsgewinn ist die Zeit vom Schluss des der Auflösung vorangegangenen Wirtschaftsjahres bis zur Beendigung der Abwicklung2; er soll drei Jahre nicht überschreiten (§ 11 I 2 KStG). Der Liquidationsgewinn wird durch Vermögensvergleich (Abwicklungs-Endvermögen ./. Abwicklungs-Anfangsvermögen) ermittelt. Abwicklungs-Endvermögen ist das zur Verteilung kommende Vermögen, vermindert um die im Abwicklungszeitraum zugeflossenen steuerfreien Vermögensmehrungen (§ 11 III KStG). Deshalb erfasst der Liquidationsgewinn auch die stillen Reserven.
8.2 Ausschluss oder Beschränkung des Besteuerungsrechts, insb. Sitzverlegung (§ 12 KStG) Literatur: Eckl, Wechsel zwischen beschränkter und unbeschränkter Steuerpflicht bei Kapitalgesellschaften, Diss., 2006; Dötsch/Pung, SEStEG: Die Änderungen des KStG, DB 2006, 2648; Hruschka, Die Internationalisierung des KStG nach dem SEStEG, StuB 2006, 631; Blumenberg/Lechner, Der Regierungsentwurf des SEStEG: Entstrickung und Sitzverlegung bei Kapitalgesellschaften, BB 2006, 25; Eickmann/Stein, Die Wegzugsbesteuerung nach dem SEStEG, DStZ 2007, 723; Köhler, Grenzüberschreitende Outbound-Verschmelzung und Sitzverlegung vor dem Hintergrund der jüngsten BFH-Rechtsprechung, IStR 2010, 337; Wiss. Beirat bei Ernst & Young, Die Systematik der sog. Entstrickungsbesteuerung, DB 2010, 1776; Thömmes, Wegzugsbesteuerung von Gesellschaften verstößt gegen Unionsrecht, IWB 2011, 896; Brinkmann/Reiter, National Grid Indus: Auswirkungen auf die deutsche Entstrickungsbesteuerung, DB 2012, 16; Ruiner, Überlegungen zur deutschen Wegzugsbesteuerung von Gesellschaften im Lichte des EuGH-Urteils in der Rs. National Grid Indus BV, IStR 2012, 49; Rautenstrauch/Seitz, National Grid Indus: Europarechtliche Implikationen für den Wegzug und die internationale Umwandlung von Gesellschaften, Ubg. 2012, 14. Lit. zur Sitzverlegung vor 2007 (§ 12 KStG a.F.) s. 17. Aufl., § 11 vor Rz. 81 und 18. Aufl., § 11 vor Rz. 101.
101
Ein Bedürfnis für die steuerliche Erfassung stiller Reserven besteht auch, wenn stille Reserven aus der deutschen Besteuerungshoheit ausscheiden, insb. durch Sitzverlegung oder Verlagerung 1 Hierzu allgemein § 9 Rz. 400 ff. 2 Zur Einordnung dieses besonderen Besteuerungszeitraums s. BFH BStBl. 2013, 508; zu sich hieraus im Rahmen der Anwendung von § 10d EStG ergebenden Ungleichbehandlungen Bareis, DB 2013, 1265.
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Besondere Fälle der Gewinnrealisierung und ihres Aufschubs
Rz. 104
§ 11
einzelner Wirtschaftsgüter in das Ausland. 2006 hat der Gesetzgeber die Sitzverlegung mit dem SEStEG in den Kontext eines neuen, gesetzlich normierten Entstrickungskonzepts gestellt (dazu § 9 Rz. 450). § 12 KStG i.d.F. des SEStEG normiert die Steuerfolgen der Entstrickung stiller Reserven bei Überführung einzelner Wirtschaftsgüter ins Ausland (Abs. 1), Auslandsverschmelzungen (Abs. 2) sowie dem Wegzug von Körperschaften ins Ausland (Abs. 3). § 12 I KStG entspricht § 4 I 3 EStG (dazu § 9 Rz. 470): Die Überführung eines Wirtschaftsguts ins Ausland wird als Veräußerung zum gemeinen Wert fingiert, soweit das Besteuerungsrecht der Bundesrepublik Deutschland bezüglich des Gewinns aus der Veräußerung oder Nutzung ausgeschlossen oder beschränkt wird. Die Rechtsfolge der Sofortversteuerung wird bei Zuordnung des Wirtschaftsguts zu einer Betriebsstätte in einem anderen EU-Mitgliedstaat abgemildert durch die Möglichkeit der Bildung eines über fünf Jahre aufzulösenden Ausgleichspostens nach § 4g EStG (anwendbar auch für Zwecke der KSt, vgl. § 12 I 1 Hs. 2 KStG). Nach der EuGH-Rs. National Grid Indus (C-231/10) v. 29.11.2011 ist jedoch in Frage gestellt, ob die Streckung der Sofortversteuerung über fünf Jahre gemeinschaftsrechtskonform ist, da die Verlagerung von Wirtschaftsgütern in eine EU-/EWR-Betriebsstätte gegenüber einer keine Besteuerungsfolgen auslösenden Verlagerung im Inland diskriminiert bleibt1 (s. auch § 13 Rz. 154).
102
§ 12 II KStG schiebt die Besteuerung im Fall von Auslandsverschmelzungen auf, wenn eine beschränkt stpfl. Körperschaft im Ausland in einem § 2 UmwG entsprechenden Vorgang auf eine andere Körperschaft desselben Staates verschmolzen wird und das deutsche Besteuerungsrecht gewahrt bleibt. Für eine Aufdeckung der stillen Reserven besteht, solange Wirtschaftsgüter in einer inländischen Betriebsstätte steuerverstrickt bleiben, kein Bedürfnis.
103
Hinsichtlich des in § 12 III KStG geregelten Wegzugs einer Körperschaft ist zwischen der Verlegung des (Satzungs-)Sitzes und der Geschäftsleitung (entspricht i.d.R. dem Verwaltungssitz) zu unterscheiden. Gesellschaftsrechtlich führt die Herausverlegung des Verwaltungssitzes einer Kapitalgesellschaft – anders als die Verlegung des Satzungssitzes – nach der Streichung von § 4a II GmbHG und § 5 II AktG durch MoMiG v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 20262, nicht mehr zur Liquidation der Gesellschaft. Steuerrechtlich ist zukünftig zwischen der Sitzverlegung innerhalb der EU/EWR und dem Wegzug in einen Drittstaat zu differenzieren. Die Verlegung der Geschäftsleitung in einen anderen EU-/EWR-Staat führt nur unter den Voraussetzungen von § 12 I KStG, d.h. nur bei Ausschluss oder Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts, zu einer Gewinnrealisierung. Bei Wegzug in einen Drittstaat fingiert dagegen § 12 III KStG die Körperschaft unabhängig von ihrem gesellschaftsrechtlichen Schicksal als aufgelöst, wenn sie ihre Geschäftsleitung und/oder ihren Sitz ins Ausland verlegt und dadurch aus der unbeschränkten Steuerpflicht in einem Mitgliedstaat der EU/EWR ausscheidet (Satz 1) oder nach Doppelbesteuerungsrecht infolge der Verlegung von Sitz oder Geschäftsleitung als außerhalb der EU/EWR ansässig gilt (Satz 2). § 11 KStG ist mit der Maßgabe, dass an die Stelle des zu verteilenden Vermögens der gemeine Wert des vorhandenen Vermögens tritt, entsprechend anzuwenden. Mit der Erweiterung auf den EU-/EWR-Raum hat der Gesetzgeber der europarechtlichen Kritik3 an der Schlussbesteuerung ohne Realisationsakt Rechnung getragen.
104
1 S. EuGH-Vorlage des FG Düsseldorf EFG 2014, 119, m. zust. Anm. Linn, IStR 2014, 136; krit. dagegen Mitschke, IStR 2014, 37; ferner Brinkmann/Reiter, DB 2012, 16 (19); Rautenstrauch/Seitz, Ubg. 2012, 14 (15 f.); Thömmes, IWB 2011, 896 (903): Anwendungssperre; Beutel/Rehberg, IStR 2012, 94; Bron, EWS 2012, 32; Ruiner, IStR 2012, 49; Körner, IStR 2012, 1; a.A. Mitschke, IStR 2012, 6, demzufolge nach National Grid Indus BV sogar eine Verschärfung der bisherigen Wegzugsbesteuerung in Betracht kommt. S. dagegen die Grundsatzkritik des Wiss. Beirats von Ernst & Young, DB 2010, 1776, an der Konzeption von § 12 I KStG; § 4 I 3 EStG. S. allerdings auch EuGH C-164/12, DMC Beteiligungsgesellschaft, zu vergleichbaren Regeln in §§ 20; 21 UmwStG 1995, die der Gerichtshof für unionsrechtskonform erachtete. 2 Dazu Otte, BB 2009, 344. 3 Dazu Hey, Der Konzern 2004, 577 (583 ff.); Kessler/Huck/Obser/Schmalz, DStZ 2004, 855; Kleinert/ Probst, DB 2004, 674; Wassermeyer, GmbHR 2004, 613 (615 f.); a.A. Körner, IStR 2004, 424 (430).
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§ 11
Rz. 105
Körperschaftsteuer
§ 12 III KStG greift dem Wortlaut nach auch dann ein, wenn an die Stelle der unbeschränkten die beschränkte Steuerpflicht tritt. Steuersystematisch ist die Aufdeckung der stillen Reserven nicht geboten, soweit sie auf eine im Inland fortexistierende Betriebsstätte entfallen, da die Steuerverstrickung in Deutschland gewahrt bleibt1. Der Wertungswiderspruch zu § 12 I, II KStG ist durch teleologische Reduktion von § 12 III KStG aufzulösen2.
8.3 Eintritt in eine subjektive Steuerbefreiung (§ 13 KStG) 105
Scheidet eine stpfl. Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse aus der Steuerpflicht überhaupt aus, weil sie subjektiv steuerbefreit ist, so hat sie eine Schlussbilanz aufzustellen, in der die Wirtschaftsgüter regelmäßig mit dem Teilwert anzusetzen sind (§ 13 I, III KStG). Dadurch werden auch in diesen Fällen die bislang nicht versteuerten Gewinne noch von der Steuer erfasst. Eine solche Gewinnrealisierung unterbleibt jedoch für diejenigen Wirtschaftsgüter einer steuerbefreiten gemeinnützigen, mildtätigen oder kirchlichen Körperschaft, die der Förderung steuerbegünstigter Zwecke dienen (§ 13 IV KStG)3. Wird umgekehrt ein bisher steuerbefreites Steuersubjekt körperschaftsteuerpflichtig4, so stellt § 13 II, III KStG sicher, dass die während der Steuerfreiheit entstandenen stillen Reserven unversteuert bleiben5. Einstweilen frei.
106–109
D. Tarif 110
Der Steuersatz beträgt 15 % des zu versteuernden Einkommens (§ 23 I KStG). Er ist unter dem Druck des europäischen Steuersatzwettbewerbs von 56 % (1977) auf 50 % (ab 1990), 45 % (ab 1994), 40 % (ab 1999), 25 % (ab 2001) und schließlich 15 % (ab Veranlagungszeitraum 2008) gesenkt worden.
111
Auch zur KSt wird ein Solidaritätszuschlag erhoben (§ 1 I SolZG).
1 Frotscher, IStR 2006, 67; zu der überschießenden Tendenz von § 12 III KStG auch Haase, BB 2009, 1448. 2 Blumenberg/Lechner, BB 2006, 25 (32); Eickmann/Stein, DStZ 2007, 723 (725); Blümich/Hofmeister, § 12 KStG Rz. 100 f. (2012). Zu weiteren Fragen der Reichweite von § 12 III KStG s. Hölscher, IStR 2013, 747. 3 Dazu Niemann, Steuerentstrickung für gemeinnützige Zwecke, IFSt-Schrift Nr. 332 (1994). 4 S. BFH BStBl. 2007, 808. 5 Dazu Selchert, DStR 1985, 195; Schauhoff, DStR 1996, 366; Fuchs/Lieber/Ludwig, DStZ 2003, 765; Schmidt/Fritz, DB 2002, 2509.
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§ 12 Gewerbesteuer Rechtsgrundlagen: Gewerbesteuergesetz (GewStG) i.d.F. der Bekanntmachung v. 15.10.2002 (BGBl. I 2002, 4167), zuletzt geändert durch Gesetz v. 25.7.2014 (BGBl. I 2014, 1266); Gewerbesteuer-Durchführungsverordnung (GewStDV) i.d.F. der Bekanntmachung v. 15.10.2002 (BGBl. I 2002, 4180), zuletzt geändert durch Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften v. 22.12.2014 (BGBl. I 2014, 2417). Die Gewerbesteuer-Richtlinien 2009 (GewStR 2009) v. 28.4.2010 (BStBl. I 2010, Sondernr. 1, S. 2). Literatur: Kommentare: W. Blümich, EStG/KStG/GewStG, Bd. 4, Loseblatt; Lenski/Steinberg, Gewerbesteuergesetz, 2 Bde., Loseblatt; Deloitte (Hrsg.), Gewerbesteuergesetz, Kommentar, 2009; Bergemann/Winkler (Hrsg.), Kommentar Gewerbesteuer, 2012; Glanegger/Güroff, Gewerbesteuergesetz8, 2014. Monographien: Zitzelsberger, Grundlagen der Gewerbesteuer, 1990; Schnädter, Die Geschichte des Gewerbesteuerrechts und ihrer Prinzipien, Diss., 1993; Tipke, StRO II2, 2003, 1132 ff.; Schnädter, Die grundlegenden Wertungen des Gewerbesteuerrechts, 1996. Lehrbücher/Lernbücher: Reichert, Lehr- und Trainingsbuch Gewerbesteuer5, 2011; Bergmann/Wingler, Gewerbesteuer, 2011; Watrin, Ertragsteuern20, 2013; Zenthöfer/Alber, Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer16, 2013; Heckem/Pohl/Schnitter, Gewerbesteuer20, 2014.
1. Einführung Die Gewerbesteuer wurde historisch nach dem sog. Äquivalenzprinzip als Ausgleich für die unmittelbaren und mittelbaren Lasten gerechtfertigt, die Gewerbebetriebe für die Gemeinden verursachen1. Seit dem 1.1.2004 sind die Gemeinden nach § 1 GewStG jedoch nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, eine Gewerbesteuer als Gemeindesteuer zu erheben2. Diese Verpflichtung ist nicht nur im Hinblick auf die Finanzautonomie der Gemeinden verfassungsrechtlich bedenklich3. Sie führt in Verbindung mit dem Mindesthebesatz nach § 16 IV GewStG als Abkehr vom Äquivalenzprinzip auch die ursprüngliche Rechtfertigung der Gewerbesteuer endgültig ad absurdum. Das BVerfG teilt diese Bedenken indessen nicht, weil der Kernbereich der kommunalen Finanzautonomie nicht betroffen sein soll4. Auf Basis des Äquivalenzprinzips wurde die Gewerbesteuer als Objekt- oder Realsteuer konzipiert, die losgelöst von den persönlichen Verhältnissen des Steuerschuldners an das Objekt Gewerbebetrieb anknüpft. In ihrer ursprünglichen Grundstruktur wurde sie durch die Besteuerungsmerkmale Ertrag, Kapital und Lohnsumme bestimmt5 mit dem Ziel, über die Anknüpfung an unterschiedliche Besteuerungsgrundlagen nicht nur die objektivierte Ertragskraft des Gewerbebetriebs zu erfassen und dadurch die Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu erhöhen, sondern zugleich zur Konjunkturunabhängigkeit des Gewerbesteueraufkommens beizutragen6. Inzwischen hat die Gewerbesteuer sich weitestgehend von ihrer ursprünglichen Grundstruktur entfernt7. Wesentliche Entwicklungsschritte waren: 1 Begr. zum GewStG 1936 in RStBl. 1937, 693, 696; BT-Drucks., IV/3418, 51; BVerfGE 19, 101, 112; 21, 54, 65 ff.; 26, 1, 11; 13, 331, 348; Flämig, DStJG 12 (1989), 33, 36 ff.; Zitzelsberger, Grundlagen der Gewerbesteuer, 146 ff.; Tipke, StRO II2, § 19; Schnädter, Die grundlegenden Wertungen des Gewerbesteuerrechts. 2 Vgl. zur Neufassung des § 1 GewStG im Rahmen des Gesetzes zur Änderung des Gewerbesteuergesetzes v. 23.12.2003 (BGBl. I 2003, 2922) die Begr. des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Einführung einer Gemeindewirtschaftsteuer (BR-Drucks. 561/03, 32). 3 Dazu Walz/Süß, DStR 2003, 1637; Otting, DB 2004, 1222. Vgl. auch BFH BStBl. 2005, 143. 4 BVerfG v. 27.1.2010 – 2 BvR 2185/04, BVerfGE 125, 141. 5 BVerfGE 26, 1. 6 Vgl. RT-Drucks. 1937 Nr. 42, RStBl. 1937, 693. 7 Vgl. dazu Gosch, DStZ 1998, 327 ff.
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§ 12
Rz. 2
Gewerbesteuer
– die Einführung der Gewerbesteuerumlage, mit der Bund und Länder am Gewerbesteueraufkommen beteiligt wurden1, und die damit verbundene starke Relativierung des Äquivalenzprinzips2, das ohnehin nie lückenlos verwirklicht wurde und daher seit langem stark umstritten war3, – der Wegfall der Lohnsumme als Besteuerungsgrundlage4, – die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zum 1.1.19985 und die als Ausgleich dafür eingeführte Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer6, – die Abschaffung der Abzugsfähigkeit der Gewerbesteuer als Betriebsausgabe bei der Ermittlung des Gewinns zum 1.1.20087, die nach Auffassung des BFH7 trotz einer Beeinträchtigung des objektiven Nettoprinzips zumindest bei Körperschaften verfassungsgemäß sein soll. Damit hat sich die Gewerbesteuer trotz objektivierender Hinzurechnungselemente wie dem Viertel der Summe bestimmter Entgelte für die Nutzung des dem Gewerbebetrieb überlassenen Geld- und Sachkapitals und der zusätzlichen Freibeträge weitgehend zu einer Ertragsteuer entwickelt8. Einen entsprechend hohen Gewerbesteuerhebesatz vorausgesetzt, kann die Gewerbesteuer sogar zur dominierenden Unternehmensteuer werden9. Sie führt insoweit zu einer Sonderbelastung für mittlere und größere Gewerbebetriebe10, für die das Äquivalenz- und Objektsteuerprinzip auf jeden Fall keinerlei Rechtfertigung bieten kann. Notwendig ist vielmehr auch bei der Gewerbesteuer die Orientierung am Leistungsfähigkeitsprinzip11. Auf der Grundlage dieses Prinzips und unter Berücksichtigung der Strukturveränderungen des Gewerbesteuerrechts indiziert die Entwicklung der Gewerbeertragsteuer zu einer Sonderertragsteuer für Gewerbebetriebe einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz12. 2
Dass die Gewerbesteuer gegen Grundrechte verstößt, wird auch nicht dadurch sanktioniert, dass der Gesetzgeber im Rahmen der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer den – untauglichen – Versuch unternommen hat, die verbleibende Gewerbesteuer wirksam abzusichern. Art. 106 VI GG, der die Gewerbesteuer explizit aufführt, und Art. 28 II 3 GG, der den Gemeinden als Grundlage ihrer finanziellen Eigenverantwortung eine wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle mit Hebesatzrecht zugesteht, können den Gleichheitssatz nicht verdrängen13. 1 Vgl. Art. 106 V, VI GG i.d.F. v. 12.5.1969, BGBl. I 1969, 359, und das Gemeindefinanzreformgesetz v. 8.9.1969, BGBl. I 1969, 1587, im Anschluss an das Gutachten der Kommission für die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland von 1966 u. das Gutachten zum Gemeindesteuersystem und zur Gemeindesteuerreform in der Bundesrepublik Deutschland sowie die Stellungnahme zum Finanzreformgesetz des Wissenschaftlichen Beirats beim BdF v. 16.3.1968/25.5.1968 (BdF-Schriftenreihe 10, 1968). Vgl. dazu auch § 2 Rz. 67. 2 BVerfGE 46, 224 (236 f.); dazu auch Tipke, StRO II2, 1137. 3 Vgl. i.E. Tipke, StRO II2, 1136 ff. 4 Vgl. Steueränderungsgesetz 1979, BGBl. I 1978, 1849. 5 Vgl. Art. 4 des Gesetzes zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform, BGBl. I 1997, 2590; vgl. dazu i.E. auch Karthaus, DB 1997, 1887. 6 § 5, 5a–5b Gesetz zur Neuordnung der Gemeindefinanzen (Gemeindefinanzreformgesetz i.d.F. v. 10.3.2009 (BGBl. I, 502), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes v. 8.5.2012 (BGBl. I, 1030); Gesetz über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern (Finanzausgleichsgesetz – FAG) v. 20.12.2001 (BGBl. I 2001, 3955), zuletzt geändert durch Aufbauhilfegesetz v. 15.7.2013 (BGBl. I 2013, 2401). 7 Vgl. § 4 Vb EStG i.d.F. des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008, BGBl. I 2007, 1912. BFH v. 16.1.2014 – I R 21/12, BStBl. II 2014, 531; dazu Nöcker, FR 2014, 698. 8 Vgl. dazu m.w.N. Gosch, DStZ 1998, 327 (328). 9 Vgl. dazu Herzig, DB 2007, 1541. 10 Dazu Tipke, StRO II2, 1147 m.w.N. 11 Vgl. insb. Wendt, BB 1987, 1257 (1259 ff.); Tipke, StRO II2, 1146 ff.; Gosch, DStZ 1998, 327 (329). 12 Vgl. dazu i.E. die überzeugend begründeten Vorlagebeschlüsse des Niedersächs. FG v. 23.7.1997, BBBeil. 16/1997 und v. 5.5.1998, FR 1998, 1041; v. 21.4.2004, FR 2004, 907; v. 14.4.2005, FR 2005, 690. 13 BVerfG Beschl. v. 15.1.2008, FR 2008, 818. Vgl. zum früheren Recht bereits Wendt, BB 1987, 1677 ff.; Maunz/Dürig/Herzog, Art. 106 GG Anm. 88; Zitzelsberger, Grundlagen der Gewerbesteuer, 215 ff.;
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Einführung
Rz. 2
Das BVerfG hat sich in der Vergangenheit in einer Vielzahl singulärer Einzelfallentscheidungen mit der Verfassungsfrage beschäftigt1. Es hat sich jedoch lange der längst überfälligen umfassenden verfassungsrechtlichen Überprüfung entzogen, indem es die Zulässigkeitsanforderungen exzessiv ausgedehnt hat2. Die Hoffnung, dass der dadurch entstandene Eindruck falsch verstandener politischer Rücksichtnahme durch eine überzeugende Sachentscheidung des BVerfG schließlich doch noch revidiert werden würde, hat sich trotz überzeugender Vorlagebeschlüsse3 leider nicht erfüllt. Im Gegenteil: Das BVerfG4 hat die Rechtfertigung der Gewerbesteuer erneut primär aus dem Äquivalenzprinzip abgeleitet und damit nicht nur seine frühere Auffassung5 konterkariert, ohne sich inhaltlich mit der überzeugenden Kritik des Äquivalenzprinzips auseinanderzusetzen6. Es hat darüber hinaus „vorbeugend“ auch die neuere Entwicklung der Gewerbesteuer hin zu einer objektivierten Ertragsteuer sanktioniert und dem Gesetzgeber insofern gewissermaßen einen Freifahrtschein ausgestellt7, der dem weiteren Vorstoß in verfassungsrechtlich kritische Grenzbereiche und vermeintliche Freiräume Vorschub leistet. Der Gesetzgeber hat diese Freiräume bedenkenlos genutzt und die Gewerbesteuer im Rahmen der Unternehmensteuerreform 2008 zunächst „revitalisiert“: Er hat die gewerbesteuerlichen Hinzurechnungen erheblich ausgeweitet, um das Steueraufkommen der Kommunen unabhängiger von der wirtschaftlichen Entwicklung der Unternehmen zu machen, was dem Leistungsfähigkeitsprinzip klar und diametral entgegensteht, und im Hinblick auf die finanziellen Interessen der Kommunen letztlich steuerpolitisch zu einer Zementierung des Status quo geführt hat8. Die dann von der Bundesregierung auf Basis des Koalitionsvertrags v. 26.10.2009 im Frühjahr 2010 eingesetzte Arbeitsgruppe Kommunalsteuern ist trotz des verfassungsrechtlich desolaten Zustands der Gewerbesteuer9 gescheitert10, und zwar primär an der kommunalen Furcht vor Aufkommensverlusten und politischer Verantwortung11. Vor dem Hintergrund eines finanzverfassungsrechtlichen Verteilungssystems in Art. 106 GG, das die Kosten des Sozialstaats ungenügend berücksichtigt und dringend der Reformierung bedarf12, sind die Aussichten, zur Wahrung der Grundrechte vollständig auf die Erhebung der Gewerbesteuer zu verzichten und sie verfassungskonform durch eine kommunale Einkommen- und Gewinnsteuer zu ersetzen13, daher ohne einen Paradigmenwechsel beim BVerfG außerordentlich gering.
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Tipke, StRO II2, 1134 f.; Tipke BB 1994, 437; Dicken, KStZ 1995, 228; Vorlagebeschluss Niedersächs. FG, BB 1997, Beil. 16, 10. Zum neuen Recht ebenfalls krit. Gosch, DStZ 1998, 329; anders aber wohl Klotz, Zur Reform der Gewerbesteuer, FS Flick, 1997, 15 f. Vgl. dazu aber BFH BStBl. 2004, 17; 2004, 303; 2004, 464; BFHE 203, 263. Vgl. BVerfGE 13, 290; 13, 311; 19, 101 (112); 21, 54 (63); 26, 1 (7); 42, 374 (384); 64, 224; BFH/NV Beil. 5/2001, 66. BVerfG BStBl. 1999, 509. Dazu insb. Tipke, FR 1999, 532; Paus, FR 1999, 534. Vgl. Vorlagebeschl. Niedersächs. FG v. 21.4.2004, FR 2004, 907. Dazu insb. Hey, FR 2004, 876; Niedersächs. FG v. 14.5.2000, FR 2005, 690; Selder, FR 2014, 174. Vgl. Beschl. v. 15.1.2008, FR 2008, 818; Kritik dazu insb. Hartmann, BB 2008, 2490; Keß, FR 2008, 829. Ein Ruhenlassen außergerichtlicher Rechtsbehelfsverfahren wegen der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Gewerbesteuer kommt nicht mehr in Betracht (BMF BStBl. I 2008, 934). Vgl. BVerfG v. 25.10.1977, BVerfGE 46, 224. Vgl. dazu grundl. insb. Tipke, StRO II2, 1198 ff.; Hey, Vom Nutzen des Nutzenprinzips für die Gestaltung der Steuerrechtsordnung, FS J. Lang, 2010, 133 (152 ff.); Solms, Die Ersetzung der Gewerbesteuern, FS J. Lang, 2010, 439 (443); Hey, StuW 2011, 131 (135). Vgl. dazu auch Keß, FR 2008, 829 (831). Dazu insb. Hey, BB 2007, 1303 (1307); Herzig DB 2008, 1541; S. Neumann, Ubg. 2008, 585. Vgl. zusammenfassend dazu zuletzt Roser, Kritische Bestandsaufnahme der Gewerbesteuer, DStJG 35 (2012), 189 ff. Vgl. Bericht des BMF über die abschließende Sitzung der Gemeindefinanzkommission am 15.6.2011 (www.bundesfinanzministerium.de). Hey, StuW 2011, 131 (134). Vgl. J. Lang, Bestandsaufnahme der kommunalsteuerlichen Reformmodelle, DStJG 35 (2012), 323 f. Zur älteren Literatur vgl. 20. Aufl., § 12 Fn. 29; außerdem § 7 Rz. 92; vgl. auch Jonas, FR 2010, 97; Karl-Bräuer-Institut, Aktuelle Empfehlungen zu Abbau und Ersatz der Gewerbesteuer2, 2010; P. Kirchhof, FR 2010, 961 ff.; Kuban, FR 2010, 978; Oesterreicher, FR 2010, 965; Richter/Welling, FR 2010, 981; Broer, KStZ 2011, 221; Geberth, DStR 2011, 151; Hey, StuW 2011, 131; S. Neumann, WPg. 2011, 177.
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§ 12
§ 12
Rz. 3
Gewerbesteuer
2. Steuerobjekt 3
Die Gewerbesteuer belastet – als Besteuerungsgut1 – die Erträge von gewerblichen Unternehmen, und zwar nach Wegfall der Gewerbekapitalsteuer über die Besteuerungsgrundlage Gewerbeertrag ausschließlich den Ist-Ertrag, der durch Hinzurechnungen und Kürzungen modifiziert wird. Jedoch erklärt das GewStG nicht die Erträge gewerblicher Unternehmen zum Steuerobjekt, sondern den Gewerbebetrieb selbst (§§ 2; 35a GewStG; BFH BStBl. 1991, 358). Diese antiquierte Anknüpfung hängt mit dem ursprünglichen Real- oder Objektsteuercharakter der Gewerbesteuer zusammen, der der Befürchtung des Gesetzgebers entsprechend2 mit der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer gänzlich weggefallen ist und nie konsequent durchgeführt wurde. Denn das Gesetz kennt seit jeher auch subjektive Durchbrechungen, so in §§ 8 Nr. 9; 10a Satz 3 GewStG und im Freibetrag nach § 11 I 3 GewStG (s. auch Rz. 21, zur Berücksichtigung der Ergänzungsbilanzen und Sonderbilanzen von Mitunternehmern). Steuerobjekte sind der stehende Gewerbebetrieb (§ 2 I 1 GewStG) und der Reisegewerbebetrieb (§ 35a GewStG), nicht die freie Berufstätigkeit und die Vermögensverwaltung3.
2.1 Stehender Gewerbebetrieb 4
Stehender Gewerbebetrieb ist jeder Gewerbebetrieb, der kein Reisegewerbebetrieb ist (§ 1 GewStDV). Der Gewerbesteuer unterliegt er, soweit er im Inland betrieben wird (§ 2 I 1 GewStG), d.h. soweit für ihn im Inland eine Betriebsstätte (§ 12 AO) unterhalten wird (§ 2 I 3 GewStG)4. Soweit ausländische Einkünfte bei der Gewerbesteuer erfasst werden, ist eine Anrechnung der ausländischen Steuer geboten5. Gewerbebetrieb ist ein gewerbliches Unternehmen i.S.d. Einkommensteuergesetzes (§ 2 I 2 GewStG). Mit dem Steuerentlastungsgesetz 1984 v. 22.12.1983 (BGBl. I 1983, 1583) ist in § 15 II EStG eine Legaldefinition des Gewerbebetriebs aufgenommen worden. § 15 II 1 EStG stimmt im Wesentlichen mit dem früheren § 1 I 1 GewStDV überein6. Abgrenzungsschwierigkeiten haben die Gerichte ständig beschäftigt. Irgendein teleologischer Bezug zum angeblichen Äquivalenzprinzip ist dabei nicht zu erkennen7 und systematisch auch nicht intendiert8.
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Von der Rechtsform des Unternehmens ist es abhängig, welche ergänzenden einkommensteuerund gewerbesteuerrechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen für einen Gewerbebetrieb zu beachten sind:
1 Dazu § 6 Rz. 23, 36. 2 BT-Drucks. 13/8348, 15. 3 Fettel, Der Gewerbebetrieb als Objekt der Besteuerung bei der Gewerbesteuer, in FS für P. Scherpf, Berlin 1968, 123 ff. Vgl. dazu auch § 8 Rz. 413 ff. Zur Anteilsveräußerung bei Immobiliengesellschaften Lüdicke, WPg. 2007, 700. 4 Nach § 2 VII GewStG (vgl. Gesetz v. 25.7.2014, BGBl. I 2014, 1266) gehört zum Inland nicht nur der Anteil am Festlandssockel, sondern auch der Anteil an der Ausschließlichen Wirtschaftszone. Zur Bedeutung für Offshore-Windkraftanlagen Becker, BB 2014, 2270. Zur Zurechnung von im Ausland erbrachten Leistungen u. zur Aufteilung des Gewerbeertrags grds. nach der sog. direkten Methode BFH BStBl. 1985, 405; zu Gewinnen aus der Veräußerung von Anteilen an einer ausländischen Kapitalgesellschaft BFH BStBl. 1985, 160; s. ferner § 2 VII GewStG. 5 Vgl. dazu i.E. Becker/Loose, DStR 2012, 57; Bier, Die Gewerbesteuer aus Sicht der Wirtschaft, DStJG 35 (2012), 219. 6 Zu beiden Vorschriften BFH GrS BStBl. 1984, 762 f. 7 Vgl. zur Abgrenzung i.E. § 8 Rz. 413 ff. 8 Hey, Vom Nutzen des Nutzenprinzips für die Gestaltung der Steuerrechtsordnung, FS J. Lang, 2010, 133 (153).
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Steuerobjekt
Rz. 7
§ 12
(1) Einzelunternehmen können nur kraft gewerblicher Tätigkeit i.S.d. § 15 II EStG Gewerbebetrieb und damit gewerbliche Unternehmen i.S.d. § 15 I 1 Nr. 1 EStG sein1. (2) Mitunternehmerschaften (OHG, KG und andere Gesellschaften, z.B. BGB-Gesellschaften, atypische stille Gesellschaften2, Partenreedereien – s. auch § 13 Rz. 70 ff. –, bei denen die Gesellschafter als Unternehmer [Mitunternehmer] anzusehen sind), können kraft gewerblicher Tätigkeit und/oder kraft Fiktion Gewerbebetrieb sein:
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(a) Soweit Mitunternehmerschaften ein gewerbliches Unternehmen (§ 15 I 1 Nr. 1 und II EStG) betreiben, sind sie kraft Tätigkeit gewerbesteuerpflichtig, und zwar unabhängig von der Rechtsform ihrer Gesellschafter von dem Zeitpunkt an, in dem alle Voraussetzungen des Gewerbebetriebs erfüllt sind3. Dass der Gesellschafter zugleich Mitunternehmer ist (§ 15 I 1 Nr. 2 EStG), hat insoweit nur für den sachlichen Umfang der Steuerpflicht Bedeutung4. Die Personenhandelsgesellschaften (OHG, KG) unterhalten i.d.R. ein gewerbliches Unternehmen5. Besitzpersonengesellschaften im Rahmen einer Betriebsaufspaltung üben eine gewerbliche Tätigkeit aus, ihre Vermietung und Verpachtung ist nicht mehr als Vermögensverwaltung anzusehen6; die Rspr. zur Betriebsaufspaltung7 gilt daher auch nach Aufgabe der GeprägeRspr.8 (s. aber § 15 III EStG) fort9. Einen selbständigen Steuergegenstand bildet auch die Tätigkeit einer atypisch stillen Gesellschaft mit der Folge, dass die Mitunternehmer sachlich gewerbesteuerpflichtig sind10. Personengesellschaften, an denen wie im sog. Treuhandmodell nur ein Gesellschafter mitunternehmerschaftlich beteiligt ist, unterliegen hingegen nicht der Gewerbesteuer11. (b) Durch Fiktionen12 wird die Gewerbesteuerpflicht von Personengesellschaften ausgedehnt, begründet oder ausgeschlossen: (aa) Als Gewerbebetrieb gilt in vollem Umfang die mit Einkünfteerzielungsabsicht unternommene Tätigkeit einer OHG, KG oder anderen Personengesellschaft (z.B. einer BGB-Gesellschaft), wenn die Gesellschaft – neben anderen Tätigkeiten (z.B. freie Berufstätigkeit, Landwirtschaft oder Vermögensverwaltung) – auch eine gewerbliche Tätigkeit i.S.d. § 15 I 1 Nr. 1 EStG ausübt (§ 15 III Nr. 1 EStG)13. 1 Zum sachlichen Umfang eines Gewerbebetriebs s. BFH/NV 1987, 55; zur Gewerblichkeit durch Beteiligung an Kapitalgesellschaften BFH BStBl. 2001, 809; dazu auch Blumers/Witt, DB 2002, 60; Wiese, GmbHR 2002, 293. 2 Vgl. dazu auch § 13 Rz. 4 ff. 3 BFH v. 30.8.2012 – IV R 54/10, BStBl. 2012, 927. 4 S. BFH GrS BStBl. 1984, 751; s. auch § 10 Rz. 65. 5 Dazu Knobbe-Keuk, JbFSt. 1975/76, 175 (178 ff.); ferner Hönle, DB 1981, 1007 u. Budde, FR 1981, 1. 6 Dagegen weicht der BFH BStBl. 2006, 557 von seiner st. Rspr. ab und lässt bei einem nach § 3 Nr. 20c GewStG von der Gewerbesteuer befreiten Betriebsunternehmen die Merkmalserstreckung der Gewerbesteuerbefreiung auf das Besitzunternehmen zu. Dazu: Fischer, NWB, Fach 5, 1603. 7 BFH GrS BStBl. 1972, 63; s. ferner § 13 Rz. 80 ff. 8 BFH GrS BStBl. 1984, 751. Vgl. dazu auch § 10 Rz. 65. 9 BFH BStBl. 1986, 296. 10 Soweit der BFH in BStBl. 1986, 311, eine andere Auffassung vertreten hat, ist diese Auffassung durch den Beschluss des Großen Senats in BStBl. 1993, 616, überholt (vgl. BFH BStBl. 1995, 794; BFHE 179, 427; 182, 110; dazu insb. auch Gschwendtner, DStZ 1998, 335). Die Abgrenzung des jeweiligen Gewerbebetriebs hängt davon ab, ob der Stille am gesamten Handelsgeschäft oder an einzelnen Geschäftsbereichen beteiligt ist (BFH BStBl. 1995, 764; BFHE 179, 427). Vgl. dazu auch § 13 Rz. 96 ff. 11 Vgl. BFH BStBl. 2010, 751. Dazu auch Rödder, DStR 2005, 69; Benz/Grundke, StuW 2009, 2009; Hahne, StuB 2010, 420; Keß, FR 2010, 633; Neumayer/Imschweiler, EStB 2010, 345. 12 So BT-Drucks. 10/3663, 8. 13 Vgl. auch § 13 Rz. 74, § 10 Rz. 61. Bei einem „äußerst geringen Anteil“ originär gewerblicher Einkünfte tritt die sog. Abfärberegelung des § 15 III Nr. 1 EStG jedoch nicht ein. Vgl. BFH BStBl. 2000, 229; 2002, 152; BFH v. 6.10.2004, FR 2005, 144; dazu Weber-Grellet, StuB 2005, 167; dazu auch Neu, DStR 1999, 2109; Wendt, FR 1999, 1183; Drüen, FR 2000, 177; Wehrheim/Brodthage, DStR 2003, 485; Demuth, KÖSDI 2005, 14491. Zur Gewerblichkeit freiberuflich tätiger Personenge-
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§ 12 8
Rz. 8
Gewerbesteuer
(bb) Als Gewerbebetrieb gilt in vollem Umfang auch die mit Einkünfteerzielungsabsicht unternommene Tätigkeit einer sog. gewerblich geprägten Personengesellschaft (insb. der Kapitalgesellschaft & Co. KG einschließlich mehrstöckiger Gesellschaften), die keinerlei gewerbliche Tätigkeit i.S.d. § 15 I 1 Nr. 1 und II EStG ausübt (§ 15 III Nr. 2 EStG)1. Die sachliche Gewerbesteuerpflicht einer gewerblich geprägten Personengesellschaft beginnt nicht bereits mit der Verwirklichung der in § 15 III Nr. 2 EStG genannten Tatbestandsmerkmale, sondern erst mit dem Beginn der werbenden Tätigkeit2. (cc) Als Gewerbebetrieb gilt grds. nicht die Tätigkeit von Arbeitsgemeinschaften (§ 2a GewStG). (dd) Das „Ergebnis der Tätigkeit“ einer Europäischen Wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV) „wird nur bei ihren Mitgliedern besteuert“ (Art. 40 VO [EWG] Nr. 2137/85, ABl. EG L 199 v. 31.7.1985). § 5 I 4 GewStG sieht deshalb vor, dass bei der EWIV die Mitglieder selbst als Gesamtschuldner für die Gewerbesteuer in Anspruch zu nehmen sind (R 5.2 GewStR). Dies deswegen, weil unabhängig von der steuerlichen Gemeinschaftsregelung3 für die ab 1.7.1989 zur Verfügung stehende Rechtsform EWIV, auf die im Übrigen die für eine OHG geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden sind (§ 1 des EWIV-AusführungsG v. 14.4.1988 [BGBl. I 1988, 514]), von der Finanzverwaltung und Teilen des Schrifttums die Gewerbebetriebseigenschaft der EWIV bejaht wird (BMF, DB 1989, 354)4.
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(3) Kapitalgesellschaften (z.B. SE, AG, KGaA, GmbH), Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften und Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit gelten – unabhängig von der Art der Tätigkeit – stets und in vollem Umfang als Gewerbebetrieb5 (§ 2 II GewStG), was verfassungsrechtlich vor allem deshalb zulässig sein soll, weil die Vermögenssphäre der Kapitalgesellschaft gegenüber ihrem Gesellschafter abgeschirmt ist6. Ist eine Kapitalgesellschaft Organgesellschaft i.S.d. §§ 14; 17 oder 18 KStG (dazu § 14 Rz. 1 ff.), so gilt sie gem. § 2 II 2 GewStG als Betriebsstätte des Organträgers7. Kapitalgesellschaften i.S.d. § 2 II GewStG sind auch solche ausländischen Gesellschaften, die ihrem Wesen nach inländischen Kapitalgesellschaften entsprechen. Für ihre Gewerbesteuerpflicht mit inländischen Betriebsstätten (s. auch § 2 VI GewStG) gilt die im ESt- und KSt-Recht entwickelte sog. isolierende Betrachtungsweise nicht8.
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(4) Als Gewerbebetrieb gilt auch die Tätigkeit der sonstigen juristischen Personen des privaten Rechts (rechtsfähige Vereine, Stiftungen, Anstalten) und der nichtrechtsfähigen Vereine, soweit sie einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb (ausgenommen Land- und Forstwirtschaft) unterhalten (§ 2 III GewStG; § 14 AO)9.
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sellschaften Kubata/Riegler/Straßen, DStR 2014, 1949. Zur Verfassungsmäßigkeit im Hinblick auf Art. 3 I GG BVerfG FR 1999, 528 (dazu auch Rz. 1 m. Fn.); BFH BFH/NV 2000, 222; BFH/NV 2000, 312; BVerfG v. 26.10.2004, FR 2005, 139. Vgl. auch § 10 Rz. 65. BFH BStBl. 2004, 464. S. Scriba, Die Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung, 1988, 178. Vgl. Weimar/Delp, WPg. 1989, 89 (97); Authenrieth, BB 1989, 305 (309 f.); Krabbe, DB 1985, 2585; a.A. Hamacher, FR 1986, 557; keine abschließende Aussage bei Ganske, DB-Beil. 20/1985; Saß, DB 1985, 2266. Vgl. auch Glanegger/Güroff8, § 2 GewStG Rz. 406. Das soll eine Typisierung zum Zwecke der Verwaltungsvereinfachung sein (RT-Drucks. IV 1928/586, 110; s. auch BFH BStBl. III 1963, 69 f.); BFH GrS BStBl. 1984, 763, spricht auch insoweit von einer Fiktion; BFH BStBl. 1990, 76, dagegen von einer Unterstellung in Form einer unwiderlegbaren Vermutung. Vgl. auch R/H 2.1(4) GewStR. Vgl. BVerfG Beschl. v. 24.3.2010, FR 2010, 670; krit. insoweit aber zu Recht bereits Drüen, GmbHR 2008, 393 (398 ff.); Keß, FR 2010, 672. Vgl. dazu § 14 Rz. 20 ff. Zur sog. Mehrmütterorganschaft § 14 Rz. 6. Vgl. BFH BStBl. 1979, 447; 1981, 220; 1983, 77. S. auch BFH BStBl. 1984, 451; s. Lenski/Steinberg, § 2 GewStG Anm. 2714 ff., zu den Tatbestandsvoraussetzungen des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs.
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Steuerobjekt
Rz. 13
§ 12
(5) Unternehmen von juristischen Personen des öffentlichen Rechts sind gewerbesteuerpflichtig, wenn sie als stehende Gewerbebetriebe1 anzusehen sind (§ 2 I GewStDV)2.
2.2 Reisegewerbebetrieb Reisegewerbebetrieb ist ein Gewerbebetrieb, dessen Inhaber nach der Gewerbeordnung einer Reisegewerbekarte bedarf. Gewerbesteuerpflichtig ist er, soweit er im Inland betrieben wird (§ 35a GewStG; § 35 GewStDV, Abschn. R/H 2.1(3) GewStR).
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2.3 Mehrheit von Gewerbebetrieben Unterhält eine natürliche Person (nebeneinander oder nacheinander) mehrere gleichartige3 Betriebe, die eine wirtschaftliche Einheit bilden (= wirtschaftlich, finanziell und organisatorisch innerlich zusammenhängend, je nach Gleichartigkeit/Ungleichartigkeit der Tätigkeiten und Nähe/Entfernung der Ausübung), so liegt nach h.M. ein Steuerobjekt vor4; handelt es sich hingegen, insb. wegen Verschiedenartigkeit der Betriebe, um mehrere wirtschaftliche Einheiten, so wird jede Einheit für sich als Steuerobjekt behandelt. Dies gilt auch beim Zusammentreffen eines stehenden Gewerbebetriebes mit einem Reisegewerbebetrieb, jedoch mit der Subsidiaritätsregel des § 35a II 2 GewStG. Es gilt ferner entsprechend für mehrere Unternehmen einer juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Dagegen bilden nach h.M. mehrere Gewerbebetriebe einer Mitunternehmerschaft5 und einer Kapitalgesellschaft immer eine Einheit. Die Unternehmen mehrerer Personengesellschaften können dagegen auch dann nicht zu einem einheitlichen Unternehmen zusammengefasst werden, wenn sie wirtschaftlich und organisatorisch verflochten und die gleichen Gesellschafter im gleichen Verhältnis beteiligt sind6. In dieser Kasuistik steckt, gemessen an den Folgen, sicher keine Sachgerechtigkeit. Es wäre jedenfalls konsistenter, auch bei einer Mehrheit gewerblicher Betätigungen einer natürlichen Person stets von einem einheitlichen Gewerbebetrieb auszugehen.
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Die Folgen: Verluste können nur innerhalb ein- und desselben Gewerbebetriebs ausgeglichen und vorgetragen werden. Jeder Gewerbebetrieb erhält einen Freibetrag; also je mehr Gewerbebetriebe, desto mehr Freibeträge. Gegen die h.M. stellt sich mit guten Gründen R. Schumacher insofern, als er – gestützt auf die Auffassung, die Gewerbesteuer wolle die objektive Leistungsfähigkeit messen, die sich in der gewerblichen Tätigkeit ausdrücke – annimmt, auch mehrere gewerbliche Tätigkeiten einer natürlichen Person bildeten stets einen einheitlichen Gewerbebetrieb7.
2.4 Beginn und Ende der Besteuerung Die unterschiedliche gewerbesteuerliche Behandlung der Unternehmen je nach Rechtsform (s. auch § 13 Rz. 36 ff.) schlägt sich auch in einem unterschiedlichen Beginn und Ende ihrer Steuerpflicht nieder8: Bei Einzelgewerbetreibenden beginnt die Steuerpflicht erst mit Erfüllung aller 1 Die Gewerbesteuerpflicht der Unternehmen von jPdöR ist also nicht deckungsgleich mit deren Körperschaftsteuerpflicht (§§ 1 I Nr. 6; 4 KStG), da letztere – im Gegensatz zu § 15 II EStG – auch ohne Gewinnerzielungsabsicht und Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr entsteht (§ 4 I 2 KStG); zu besonderen Anwendungsfragen zur Besteuerung von Betrieben gewerblicher Art und Eigengesellschaften von jPdöR vgl. BMF BStBl. I 2009, 1303 (1312); R 2.1 GewStR. 2 Dazu Kohorst, Die Besteuerung der Gemeindebetriebe, Diss. 1965, 28 ff., 58 ff., 66 f. 3 S. auch BFH BStBl. 1981, 746, m. Anm. Wolff-Diepenbrock, DStZ 1982, 63. 4 S. auch BFH BStBl. 1989, 901; 1997, 573; R 2.4 GewStR. 5 Zur atypisch stillen Gesellschaft s. § 13 Rz. 93 ff. 6 Vgl. BFH BStBl. 80, 465. 7 R. Schumacher, StuW 1987, 111. 8 S. auch H. Müller, Die persönliche und sachliche Gewerbesteuerpflicht unter besonderer Berücksichtigung von Beginn und Ende der Steuerpflicht, Diss. 1986; Krit. dazu insb. auch Bier, Die Gewerbesteuer aus Sicht der Unternehmen, DStJG 35 (2012), 227 ff.
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§ 12
Rz. 14
Gewerbesteuer
Voraussetzungen eines Gewerbebetriebs i.S.d. § 15 II EStG und endet bereits mit der völligen Aufgabe jeder werbenden Tätigkeit, d.h. mit Beginn der Liquidation (s. auch § 4 GewStDV, R 2.5, 2.6 GewStR)1. Dies gilt auch für Mitunternehmerschaften, allerdings mit der Besonderheit, dass die Aufnahme einer gewerblichen Tätigkeit eine Personengesellschaft in vollem Umfang gewerbesteuerpflichtig werden lässt (s. Rz. 7; § 13 Rz. 38); dies gilt ferner für juristische Personen des öffentlichen Rechts mit ihren gewerbesteuerpflichtigen Unternehmen. 14
Bei Kapitalgesellschaften, Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften sowie Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit beginnt die Steuerpflicht mit Erlangung der Rechtsfähigkeit (Registereintragung bzw. aufsichtsbehördliche Erlaubnis) oder auf Grund einer bereits vorher aufgenommenen, auf (nicht notwendigerweise gewerbliche, s. § 8 II KStG) Einkünfteerzielung gerichteten Tätigkeit. Die Steuerpflicht endet mit dem Erlöschen der Rechtsfähigkeit, d.h. erst nach Abschluss der Liquidation (vgl. auch R 2.1 GewStR; § 16 Rz. 55 f.). Nach der Rspr. des BFH hat dies zur Folge, dass bei Kapitalgesellschaften auch Gewinne aus der Veräußerung von Betrieben und Teilbetrieben dem Gewerbeertrag zuzurechnen sind2. Gewerblich geprägte Personengesellschaften i.S.d. § 15 III Nr. 2 EStG sind hingegen wie Personengesellschaften zu behandeln3. Sonstige juristische Personen des privaten Rechts und nichtrechtsfähige Vereine werden mit ihren wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben den Einzelgewerbetreibenden und Mitunternehmerschaften entsprechend behandelt (s. R 2.1(5) GewStR). Bloß vorübergehende Unterbrechungen des Betriebs heben die Gewerbesteuerpflicht nicht auf (§ 2 IV GewStG)4.
3. Steuersubjekte 15
Steuersubjekt (Steuerschuldner) ist der Unternehmer, für dessen Rechnung (d.h. zugleich: für dessen Risiko) ein Gewerbe tatsächlich betrieben wird (§ 5 I 1, 2 GewStG). Im Fall einer gewerblich tätigen Personengesellschaft ist grds. die Gesellschaft Steuerschuldner (§ 5 I 3 GewStG). Eine Personengesellschaft, die keine Mitunternehmerschaft, sondern einkommenbzw. körperschaftsteuerlich als Betriebstätte eines der Gesellschafter anzusehen ist5, ist mangels eines eigenen gewerblichen Unternehmens i.S.d. § 2 I GewStG hingegen nicht Steuerschuldner6. Für die EWIV bleibt es dagegen nach § 5 I 4 GewStG bei der Steuerschuldnerschaft der Mitglieder (Gesellschafter). Zur Organschaft § 14 Rz. 20 ff. Die persönlichen Befreiungen von der Gewerbesteuer (§ 3 GewStG) sind an die Befreiungen nach § 5 KStG angelehnt7.
4. Bemessungsgrundlage 16
Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer ist der Gewerbesteuermessbetrag (§ 14 GewStG), der sich durch Anwendung eines Prozentsatzes, der sog. Steuermesszahl, auf den abgerundeten 1 S. auch Woltmann, DB 1987, 2008. 2 BFH BStBl. 1990, 699; 2002, 155. Soll die Ertragskraft des laufenden Gewerbebetriebs besteuert werden, ist dies systematisch nicht zu begründen. Vgl. auch die 20. Aufl., § 12 Rz. 14. 3 Vgl. BFH BStBl. 1995, 900; 2004, 464. Vgl. auch H 2.5 GewStR. Dazu auch § 13 Rz. 78 ff. 4 Zur Betriebs- u. Teilbetriebsverpachtung im Gewerbesteuerrecht s. Selder in Glanegger/Güroff8, § 7 GewStG Rz. 80, 36 ff. 5 Vgl. dazu BFH BStBl. 1993, 574; 1997, 39; 1999, 401; BMF BStBl. I 1994, 282, Tz. 5; OFD Berlin DStR 2003, 1526. 6 So nunmehr auch BFH BStBl. 2010, 754. 7 Dazu § 11 Rz. 33. Zur Gewerbesteuerbefreiung von Kooperationen gemeinnütziger Körperschaften, DStR 2012, 116; zur Steuerpflicht von Lotterieveranstaltungen BFH BStBl. 2011, 368; zum Umfang der Steuerbefreiung von Altenwohn- und -pflegeeinrichtungen BFH BStBl. 2011, 892; zur Befreiung gewerblicher Einkünfte aus Vermögensanlagen bei öffentlich-rechtlichen Versorgungseinrichtungen BFH v. 9.2.2011 – I R 47/09, BStBl. 2012, 601.
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Bemessungsgrundlage
Rz. 18
§ 12
und um Freibeträge gekürzten Gewerbeertrag ergibt. Der Gewerbeertrag wird periodisch, d.h. für den Bemessungszeitraum, ermittelt und grenzt als sog. Besteuerungsgrundlage (§ 6 GewStG) den Umfang der Bemessungsgrundlage ab.
4.1 Bemessungszeitraum Nach dem Periodizitätsprinzip wird die Gewerbesteuer und damit der Gewerbeertrag als Besteuerungsgrundlage grds. für einen bestimmten Bemessungszeitraum ermittelt und zeitlich abgegrenzt. Ebenso wie das Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht mildert jedoch auch das Gewerbesteuerrecht die Härten des Periodizitätsprinzips durch die Möglichkeit eines periodenübergreifenden Verlustabzugs (vgl. Rz. 36).
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Nach § 10 GewStG ist zeitlich der Gewerbeertrag maßgebend, der in dem Erhebungszeitraum bezogen worden ist, für den der Steuermessbetrag nach § 14 GewStG festgesetzt wird. Bemessungs- oder Ermittlungszeitraum ist insoweit grds. das Kalenderjahr (§§ 10 I; 14 GewStG). Bei Unternehmen, die nach HGB zur Buchführung verpflichtet sind und ein abweichendes Wirtschaftsjahr haben, gilt der Gewerbeertrag als in dem Erhebungszeitraum bezogen, in dem das Wirtschaftsjahr endet (§ 10 II GewStG).
4.2 Gewerbeertrag (§ 7 GewStG) Die Ausgangsgröße für den Gewerbeertrag ist der nach den Vorschriften des Einkommensteuergesetzes/Körperschaftsteuergesetzes zu ermittelnde Gewinn aus dem Gewerbebetrieb, der bei der Ermittlung des Einkommens anzusetzen ist (§ 7 Satz 1 GewStG)1. Eine verfahrensrechtliche Bindung an die gesonderte und einheitliche Feststellung der zuzurechnenden Einkünfte besteht jedoch weder dem Grunde noch der Höhe nach2. Da als Besteuerungsgut prinzipiell die „objektivierte“ Ertragskraft eines laufenden Gewerbebetriebs erfasst werden soll3, wird diese Ausgangsgröße durch die besonderen gesetzlichen Hinzurechnungen (§ 8 GewStG) und Kürzungen (§ 9 GewStG) sowie durch allgemeine Modifikationen korrigiert. Nach § 7 Satz 2 GewStG gehört auch der Gewinn aus der Veräußerung oder Aufgabe – des Betriebs oder eines Teilbetriebs einer Mitunternehmerschaft, – des Anteils eines Gesellschafters, der als Unternehmer (Mitunternehmer) des Betriebs einer Mitunternehmerschaft anzusehen ist4, – des Anteils eines persönlich haftenden Gesellschafters einer Kommanditgesellschaft auf Aktien zum Gewerbeertrag, soweit er nicht auf eine natürliche Person als unmittelbar beteiligter Mitunternehmer entfällt. Begründet wird dies mit der angeblichen Notwendigkeit, Missbräuche verhindern zu müssen5. § 7 Satz 2 GewStG soll deshalb nach Auffassung des BFH verfassungsgemäß sein, obwohl die Vorschrift nicht nur Missbrauchsfälle erfasst6 und insoweit klar über 1 Der BFH stellt dabei selbst dann „pragmatisch“ auf die technische Anknüpfung an den Gewinn aus Gewerbebetrieb ab, wenn vom Gesetzeszweck und insb. vom Objektsteuercharakter der GewSt her Zweifel bestehen. Vgl. BFH BStBl. 2007, 322. 2 Vgl. BFH BStBl. 2004, 699 m.w.N. 3 Vgl. z.B. BFH BStBl. 1988, 374; 1991, 358; 1992, 437. 4 Vgl. dazu auch § 13 Rz. 45 ff. Zur Problematik der Steueranknüpfung beim mehrstöckigen Personengesellschaftskonzern vgl. Kleymann/Hidersmann, BB 2006, 2104. 5 Gesetzentw. der Bundesregierung, BR-Drucks. 638/01, Begr. zu Art. 4 Nr. 2. Vgl. dazu auch Behrens, BB 2002, 860; Bonertz, DStR 2002, 795. Durch ein technisches Versehen wurde § 7 Satz 2 GewStG durch das sog. Solidarpaktfortführungsgesetz (BGBl. I 2001, 3955) abgeschafft, bevor die Vorschrift in Kraft getreten ist, so dass zumindest in der Übergangsphase bis zum Inkrafttreten des erneuten „Reparaturgesetzes“ (Fünftes Gesetz zur Änderung des Steuerbeamten-Ausbildungsgesetzes, BGBl. I 2002, 2715) keine Rechtsgrundlage für die Erfassung entsprechender Veräußerungsvorgänge bestand. Vgl. dazu auch Bechler/Schröder, DB 2002, 2238; Schmidt/Hageböke, DStR 2003, 790. 6 BFH BStBl. 2011, 511; v. 30.8.2012 – IV R 54/10, BFH/NV 2012, 2083; Verfassungsbeschwerde anhängig 1 BvR 1236/11 zu BFH v. 22.7.2010, BFH/NV 2010, 2193.
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§ 12
Rz. 19
Gewerbesteuer
das Ziel hinausschießt. Letztlich geht es aber offensichtlich ausschließlich um fiskalische Interessen, die die steuersystematisch gebotene Orientierung an der Ertragskraft des laufenden Gewerbebetriebs völlig ignorieren und konterkarieren. Nach § 7 Satz 4 GewStG sind §§ 3 Nr. 40; 3c II EStG bei der Ermittlung des Gewerbeertrags einer Mitunternehmerschaft anzuwenden, soweit mittelbar oder unmittelbar natürliche Personen beteiligt sind; im Übrigen ist § 8b KStG anzuwenden. Damit wird gesetzlich klargestellt, dass die Zwischenschaltung einer Personengesellschaft der Anwendung der § 3 Nr. 40 EStG; § 8b KStG entgegen der früheren Verwaltungsauffassung nicht entgegensteht1.
4.2.1 Allgemeine Modifikationen 19
Allgemeine Modifikationen des nach einkommen- oder körperschaftsteuerlichen Vorschriften ermittelten Gewinns aus Gewerbebetrieb ergeben sich über die Regelungen in Einzelgesetzen hinaus2 vor allem aus dem Bemühen von Rspr. und Finanzverwaltung, gewerbesteuerlichen „Besonderheiten“ und „Prinzipien“ Rechnung zu tragen, ohne allerdings diese Besonderheiten und Prinzipien zuvor hinreichend und abschließend zu klären. Daher ergibt sich eine Kasuistik, die jedes systematische Konzept vermissen lässt3 und im Hinblick auf das Nettoprinzip verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen ist4. Während bei der Ermittlung des Gewerbeertrags vorweggenommene Betriebsausgaben z.B. hinzuzurechnen sind5, sind nicht zu erfassen insb. – Veräußerungs- oder Aufgabegewinne i.S.d. § 16 EStG6 bei denjenigen Stpfl., deren Steuerpflicht eine gewerbliche Tätigkeit voraussetzt. Dies gilt daher nicht für Kapitalgesellschaften, Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften sowie Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (s. Rz. 9, 14), – der Spitzenausgleich bei Realteilung einer Personengesellschaft (BFH BStBl. 1994, 809), – Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an einer Personengesellschaft (H 7.1 GewStR). Soweit Teile eines Mitunternehmeranteils mit Gewinn veräußert werden oder bei der Anteilsveräußerung auf Seiten des Veräußerers und auf Seiten des Erwerbers dieselben Personen Mitunternehmer sind, sind ggf. laufende Gewinne anzunehmen, die nach Auffassung des BFH der Gewerbesteuer unterliegen7, – Gewinne aus der Auflösung von Rücklagen nach § 7g EStG, die vor der Betriebseröffnung gebildet wurden8.
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Nicht zu berücksichtigen sind auch die Besteuerungsgrundlagen, die erst von der Summe der Einkünfte (s. § 24b EStG a.F., Ausbildungsplatz-Abzugsbetrag), dem Gesamtbetrag der Einkünfte (s. §§ 10 I Nr. 5; 10d EStG) oder dem Einkommen (s. §§ 24; 25 KStG) abzuziehen sind. Nicht berücksichtigt werden ferner bei allen Stpfl. diejenigen einkommensteuerlichen Vorschriften, die bestimmte Verluste aus Gewerbebetrieb vom allgemeinen Verlustausgleich und Verlustabzug ausschließen (§§ 15 IV; 15a EStG; R 7.1 GewStR). 1 BMF BStBl. 2003 I, 292, Tz. 57. Vgl. dazu auch Rogall, DB 2004, 2176; Welke, GmbHR 2004, 1146. Zu dem weiterhin und entgegen dem Postulat der Rechtsformneutralität bestehenden Besteuerungsunterschied zwischen Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften vgl. Prinz/Hick, GmbHR 2006, 24. 2 Vgl. z.B. §§ 7–14; 21 AStG; §§ 18; 19 UmwStG u. die Aufzählung in Abschn. R/H 7.1(1) GewStR. 3 Vgl. i.E. R 7.1 ff. GewStR. 4 Jackspann, DStJG 23 (2000), 9; Hey, BB 2007, 1303 (1307); Bier, Die Gewerbesteuer aus Sicht der Wirtschaft, DStJG 35 (2012), 232 ff. 5 BFH BStBl. 1978, 23; krit. dazu z.B. Hidien, StBp. 2008, 125. 6 Vgl. dazu auch § 13 Rz. 45 ff. 7 BFH BStBl. 2004, 756. Vgl. auch BFH BStBl. 2005, 173 zur Schädlichkeit der Zurückbehaltung wesentlicher Betriebsgrundlagen. Vgl. dazu auch § 13 Rz. 45 ff. 8 BStBl. I 2003, 331.
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Montag
Bemessungsgrundlage
Rz. 23
§ 12
In fortschreitender Aushöhlung ihres Charakters als Objekt- und Realsteuer ist die Gewerbesteuer, die für Erhebungszeiträume festgesetzt wird, die nach dem 31.12.2007 enden, gem. § 4 Vb EStG keine Betriebsausgabe mehr1. Das Gleiche gilt für die auf die Gewerbesteuer entfallenden Nebenleistungen wie z.B. Zuschläge und Zinsen. Die Nichtabzugsfähigkeit gilt wegen § 7 GewStG auch für die Ermittlung des Gewerbeertrages.
Bei Personengesellschaften legt die h.M. – obwohl die Personengesellschaft als solche besteuert wird (§ 5 I 3 GewStG)2 – nicht nur den Gewinn der Gesellschaft (§ 7 GewStG: „aus dem Gewerbebetrieb“) zugrunde, sondern sie bezieht auch die Sonderbetriebseinnahmen und -ausgaben der Gesellschafter sowie die Sondervergütungen an die Gesellschafter mit ein3; sie erfasst damit die Summe der gewerblichen Einkünfte der Gesellschafter i.S.d. Einkommensteuerrechts, die sich aus der Steuerbilanz der Gesellschaft sowie etwaigen Ergänzungsbilanzen4 und Sonderbilanzen für einzelne Mitunternehmer ergeben5.
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4.2.2 Hinzurechnungen (§ 8 GewStG)6 Komplizierte, die Rspr. immer wieder beschäftigende Hinzurechnungen und Kürzungen sollen den Gewinn objektivieren, die „objektive“ Ertragskraft – abstrahiert vom jeweiligen Rechtsträger oder Steuersubjekt – erfassen (s. § 7 GewStG; dazu Begr. RStBl. 1937, 693 [695 f.]).
22
Krit. ist zu fragen: Warum stellt sich der Gesetzgeber einen Betrieb vor, den es in Wirklichkeit nicht gibt (einen Betrieb, der nur mit eigenen Wirtschaftsgütern, ohne Fremdkapital arbeitet)? Was ist das für eine Objektivierung, die an der Wirklichkeit des individuellen Betriebs vorbeisieht? Das Schlagwort „Objektsteuercharakter“ vermag die Sachgerechtigkeit der Objektsteuerregel nicht zu ersetzen.
Hinsichtlich der Vereinbarkeit mit EU-Recht hat der EuGH in Bezug auf die Hinzurechnung von Zinsen entschieden, dass kein Verstoß gegen die Zins- und Lizenzrichtlinie vorliegt7. Nach Auffassung des BFH liegt insb. auch kein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit vor8. 23
Hinzuzurechnen sind insb.: a) Ein Viertel der Summe bestimmter Entgelte für die Nutzung des dem Betrieb überlassenen Geld- und Sachkapitals, soweit diese Summe den Freibetrag von 100 000 Euro übersteigt (§ 8 Nr. 1 GewStG)9. Die Hinzurechnung erfolgt unabhängig von der Dauer der Überlassung und unabhängig von der steuerlichen Behandlung beim Gläubiger der jeweiligen Entgelte. Durch diesen Wegfall des Korrespondenzprinzips kommt es insb. bei mehrstufigen Betei1 Geändert durch Art. 1 des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008, BGBl. I 2007, 1912. Ausweislich des Gesetzesentw. der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/4841, Begr. zu Art. 1, Nr. 5, dient die Abschaffung des Abzugs der Gewerbesteuer als Betriebsausgabe der Verbesserung der Steuerbelastungstransparenz. Zudem entfalle die wechselseitige Beeinflussung der Bemessungsgrundlagen der Gewerbesteuer einerseits und der Einkommen- und Körperschaftsteuer andererseits. Wesentliche Bedeutung kommt aber wohl eher dem fiskalischen Gesichtspunkt der Verminderung des Einkommen- und Körperschaftsteueraufkommens zu. Entsprechend auch Ott, StuB 2007, 563. 2 Dazu Rz. 6 ff. 3 Vgl. H 7.1(3) GewStR. 4 BFH BStBl. 1986, 350. 5 Ausf. § 10 Rz. 120 ff. 6 Vgl. zu Details insb. Zitzelsberger, Grundlagen der Gewerbesteuer, 241 ff.; Glanegger/Güroff8, § 8 GewStG; Dorenkamp, Die Mär von der Gewerbesteuerverstetigung durch Hinzurechnungen, FS J. Lang, 2010, 755 ff. 7 Vgl. BFH BStBl. 2012, 507; EuGH-Urt. Scheuten Solar Technology, BStBl. 2012, 528, als Reaktion auf den Vorlagebeschl. des BFH v. 27.5.2009, RIW 2010, 89. Dazu insb. auch Göbel/Jacobs, IStR 2009, 87 (88); Göbel/Jacobs, IStR 2009, 349; Hahn, IStR 2009, 346; Obser, IStR 2009, 780 (783); Rehm/Nagler, GmbHR 2009, 1223; Hölscher, RIW 2010, 51; Jaschke, RIW 2011, 766; Rehm/Nagler, GmbHR 2011, 937; Thömmes, IWB 2011, 419. 8 BFH v. 7.12.2011 – I R 30/08, BStBl. 2012, 507. 9 Vgl. dazu auch Gleichlautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder v. 2.7.2012, BStBl. I 2012, 654; dazu insb. Boller/Franke, BB 2012, 2920; Costa/Bennert, StuB 2012, 702; Ritzer, DStR 2013, 558.
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§ 12
Rz. 24
Gewerbesteuer
ligungsverhältnissen zu einer gewerbesteuerlichen Mehrfachbelastung1. Diese Mehrfachbelastung, die durch die Nichtabzugsfähigkeit der Gewerbesteuer als Betriebsausgabe noch verschärft wird2, ist verfassungsrechtlich problematisch3. Hinzugerechnet werden 25 % der Summe aus folgenden Beträgen, soweit sie bei der Ermittlung des Gewinns abgesetzt worden sind: 24
aa) Entgelte für Schulden (§ 8 Nr. 1a GewStG). Erfasst werden alle Fremdkapitalzinsen und sonstige Entgelte. Die Hinzurechnung, die bei grenzüberschreitenden Darlehensverhältnissen zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft nach Auffassung des BFH keinen Verstoß gegen die unionsrechtliche Niederlassungsfreiheit darstellt4, setzt voraus, dass die entsprechenden Betriebsausgaben zuvor bei der Ermittlung des Gewinns abzugsfähig waren (§ 8 Satz 1 GewStG). Insofern kommt eine Hinzurechnung von Zinsen nur in Betracht, wenn ihre Abzugsfähigkeit nicht durch die Zinsschranke gem. § 4h EStG; § 8a KStG eingeschränkt ist. Die Vorschrift enthält ferner Fiktionen für die Annahme von Schuldentgelten bei Gestaltungen, denen als Hauptzweck grds. kein, für den Tatbestand der Hinzurechnung aber eigentlich erforderliches Finanzierungsgeschäft zugrunde liegt. So gelten nach § 8 Nr. 1a Satz 2 1. Alt. GewStG Abschläge aus der vorzeitigen Erfüllung von Forderungen aus Lieferungen und Leistungen als Entgelt, obwohl derartige Abschläge nur der zügigen Abwicklung des Zahlungsverkehrs und u.U. der Kundenbindung dienen und keine Form der Finanzierung darstellen. Erfasst werden aber nur Skonti und wirtschaftlich vergleichbare Vorteile, die nicht dem gewöhnlichen Geschäftverkehr entsprechen5. § 8 Nr. 1a Satz 2 2. Alt. GewStG schließlich rechnet die Diskontbeträge bei der Veräußerung von Wechsel- und anderen Geldforderungen zu den Schuldentgelten, wodurch hauptsächlich Abschläge bei Factoring und Forfaitierung betroffen sind6. Nach § 8 Nr. 1a Satz 3 GewStG gilt auch der Abschlag auf Forderungen aus schwebenden Vertragsverhältnissen als bei der Ermittlung des Gewinns abgesetzt und ist damit bei der Ermittlung des Gewerbeertrages hinzuzurechnen7. Nach Auffassung der Finanzverwaltung soll Zinsaufwand auch dann hinzurechnungspflichtig sein, wenn ein sog. Durchlaufkredit vorliegt8. Bei Durchlaufkrediten sind Zinsaufwand und Zinsertrag sachlich indessen so eng verknüpft, dass die objektive Ertragskraft des Betriebs nicht gestärkt wird und eine teleologische Reduktion geboten ist9.
1 Vgl. grds. dazu Derlien/Wittkowski, DB 2008, 835; Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler e.V., Existenzgefährdende Hinzurechnungen bei der Gewerbesteuer entschärfen! Sonderinformation 55, 2008; zu den Auswirkungen auf die Betriebsaufspaltung vgl. § 13 Rz. 89 ff. Soweit es innerhalb des Organkreises durch die Hinzurechnung zu einer doppelten steuerlichen Belastung käme, hat diese zu unterbleiben, vgl. dazu R/H 7.1(5) GewStR. Entsprechend auch Rödder, DStR 2007, Beihefter zu Heft 40, 12. Vgl. dazu auch Richter, FR 2007, 1042. 2 Dazu Rz. 1 Fn. 7. 3 Vgl. den Vorlagebeschluss des FG Hamburg v. 29.2.2012, DStRE 2012, 478, Az. des BVerfG 1 BvL 8/12; dazu Grünwald/Fritz, DStR 2012, 2046; Hamsch/Karrenbock, Ubg. 2012, 624; Gosch, BFH/PR 2013, 56; Möbus/Krüger, BB 2013, 168; Ritzer, DStR 2013, 558; Kohlhaas, DStR 2014, 297; vgl. allerdings auch BFH-Beschl. v. 16.10.2012, BStBl. 2013, 30; BFH-Urt. v. 4.6.2014 – I R 70/12, DB 2014, 2199; Petrak/Karrenbock, DStR 2012, 2046. 4 BFH v. 17.9.2014 – I R 30/13, IStR 2015, 28. 5 Vgl. dazu insb. auch Gleichlautende Erlasse v. 2.7.2012, BStBl. I 2012, 654, Rz. 16; dazu insb. auch Ritzer, DStR 2013, 558. 6 Vgl. dazu insb. Gleichlautende Ländererlasse v. 2.7.2012, BStBl. I 2012, 654; Ritzer, DStR 2013, 558. 7 Zur Forfaitierung insb. auch Gleichlautende Ländererlasse v. 2.7.2012, BStBl. I 2012, 654, Rz. 19 ff. Problematisch ist insb. die Behandlung von Preisanpassungsklauseln in Rz. 20. Dazu auch Neumann, Ubg. 2008, 585 (589); Ritzer, DStR 2008, 1613 (1617). Zur Hinzurechnung beim Forderungsverkauf im Asset-Backed-Securities-Modell BFH v. 26.8.2010, BFH/NV 2011, 143; DStR 2010, 2455. 8 Vgl. Gleichlautende Ländererlasse v. 2.7.2012, BStBl. I 2012, 654, Rz. 11. 9 Vgl. dazu insb. IDW-Stellungnahme, IDW-Fachnachrichten 2008, 144; Neumann, Ubg. 2008, 585; Ritzer, DStR 2008, 1613 (1615). Zu den Auswirkungen auf das Cash-Pooling im Konzern insb. Rosenberg in Eilers/Rödding/Schmalenbach, Unternehmensfinanzierung, 2008, 637 ff.
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Bemessungsgrundlage
Rz. 27
§ 12
Einschränkungen der Hinzurechnung ergeben sich durch das sog. Bankenprivileg des § 19 GewStDV für Kreditinstitute i.S.d. § 1 KWG1 und die Nichteinbeziehung von Abzinsungen gem. § 6 I Nr. 3 EStG2. Motiv: Es soll nicht darauf ankommen, ob der Ertrag mit Eigen- oder mit Fremdkapital erzielt wurde. Das Fremdkapital wird daher wie Eigenkapital behandelt3.
bb) Renten und dauernde Lasten (§ 8 Nr. 1b GewStG). Es werden alle Renten und dauernden Lasten erfasst, auf Grund der Methodik der Summenhinzurechnung des § 8 Nr. 1 GewStG im Ergebnis aber nur zu 25 % hinzugerechnet. Als Ausgleich zur vollen Erfassung aller Renten und dauernden Lasten sieht die Ausnahme des § 8 Nr. 1b Satz 2 GewStG vor, dass Pensionszahlungen auf Grund einer unmittelbar vom Arbeitgeber erteilten Versorgungszusage nicht als dauernde Lasten gelten sollen4.
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cc) Gewinnanteile eines (typischen) stillen Gesellschafters (§ 8 Nr. 1c GewStG)5
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Auch diese Hinzurechnung dient dazu, den mit Fremdkapital arbeitenden Betrieb dem Betrieb gleichzustellen, der mit Eigenkapital finanziert wird6. Dementsprechend erhöhen Verlustanteile eines stillen Gesellschafters einen Verlust i.S.d. § 7 GewStG7. § 8 Nr. 1c GewStG ist lex specialis gegenüber § 8 Nr. 1a GewStG, nachdem die letztgenannte Vorschrift auch gewinnabhängige Vergütungen für Fremdkapital erfasst.
dd) Miet- und Pachtzinsen (einschließlich Leasingraten) (§ 8 Nr. 1d u. e GewStG)8. Abhängig vom Gegenstand der Sachüberlassung, sind Miet- und Pachtzinsen, einschließlich Leasingraten in unterschiedlich großem Umfang hinzuzurechnen. Grds. sind dabei nur Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens zu betrachten, die im Eigentum eines anderen stehen. Motiv: Es soll eine Gleichbehandlung mit Betrieben erreicht werden, die mit eigenen (nicht gemieteten oder gepachteten) Wirtschaftsgütern arbeiten (s. auch Begr. RStBl. 1937, 693 [696]). Da nicht der (gedachte) Rohertrag (den die Anlagegüter abwerfen), sondern der Reinertrag hinzugerechnet werden soll, wird pauschal ein bestimmter Finanzierungsanteil der Miet- und Pachtzinsen angesetzt. Handelt es sich um bewegliche Wirtschaftsgüter, erfolgt eine Erfassung in der hinzuzurechnenden Summe des § 8 Nr. 1 GewStG, zu 20 % (§ 8 Nr. 1d GewStG), bei unbeweglichen Wirtschaftsgütern dagegen zu 50 % (§ 8 Nr. 1e GewStG). Diese pauschale Festlegung des Finanzierungsanteils soll sich aus dem berücksichtigungsfähigen Werteverzehr für das überlassene Wirt1 Dazu insb. Glanegger/Güroff8, § 8 GewStG Nr. 1a Rz. 93 ff. Zur Erweiterung des sog. Bankenprivilegs auf Finanzierungsleasing- und Factoringgesellschaften Beckert/Schilling, BB 2009, 360; Heinz/ Schäfer-Elmayer, BB 2009, 365. 2 Vgl. Entwurf eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008, BT-Drucks. 16/4841, Begr. zu Art. 3, Nr. 1, sowie BMF BStBl. I 2005, 699, Tz. 39. 3 Dazu RStBl. 1937, 693 (696) – BVerfGE 26, 1: Hinzurechnung nicht verfassungswidrig (sachgerecht und hinreichend bestimmt). 4 Im Hinblick auf den Zweck, die betriebliche Altersversorgung zu fördern (BT-Drucks. 16/4841. 79 f.), werden von der Finanzverwaltung über den Wortlaut hinaus zu Recht auch andere Versorgungsformen nicht erfasst. Vgl. Gleichlautende Ländererlasse v. 2.7.2012, BStBl. I 2012, 654, Rz. 27. 5 Zur Abgrenzung gegenüber dem partiarischen Darlehen BFH BStBl. 1984, 373; 1984, 623; 2006, 334. Vgl. auch § 13 Rz. 107 ff. 6 Zur Kritik an der völligen Hinzurechnung der Gewinnanteile gegenüber der bis zum Erhebungszeitraum 2007 hälftigen Hinzurechnung von Dauerschuldzinsen Schmidt, DB 1984, 424; Entsprechendes gilt für die nur 25 %-Hinzurechnung der übrigen gewinnabhängigen Vergütungen ab 2008. 7 Dazu R/H 8.1(3) GewStR. 8 Die Hinzurechnung verstößt nach Auffassung des BFH weder gegen verfassungsrechtliche Anforderungen noch gegen gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbote (vgl. dazu insb. Urt. v. 4.6.2014 – I R 21/13, BFH/NV 2014, 1853; v. 4.6.2014 – I R 70/12, BFH/NV 2014, 1850; v. 15.7.2005, BStBl. 2005, 716. Dazu i.E. Roser, IFSt-Schrift Nr. 497 (2014), Gewerbesteuerliche Hinzurechnungen von Nutzungsentgelten nach § 8 Nr. 1d bis f GewStG, Konzeptionelle Grundprobleme und Lösungsüberlegungen. Die Hinzurechnung von Leasingraten muss aber unterbleiben, wenn der Leasing-Geber in einem EU- bzw. EWR-Staat ansässig ist, mit dem ein DBA besteht, BMF v. 18.10.2006, BStBl. I 2006, 611.
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§ 12
Rz. 28
Gewerbesteuer
schaftsgut ergeben, der bei beweglichen Wirtschaftsgütern wesentlich geringer ist1. Zwar ist in dieser Pauschalierung eine Angleichung der gewerbesteuerlichen Auswirkungen des Leasings an den Kreditkauf zu erkennen, was vor dem Hintergrund des Objektsteuercharakters der Gewerbesteuer positiv zu bemerken ist2. Die Pauschalierung entzieht sich aber jeder wirtschaftlichen Realität, nach der der Finanzierungsanteil sachrichtig auf Basis des tatsächlichen Marktzinses festzulegen wäre. Liegt kein reiner Miet- oder Pachtvertrag, sondern ein sog. gemischter Vertrag vor, ist die Hinzurechnung nur möglich, wenn die Vermietung oder Verpachtung eine von den übrigen Leistungen trennbare Hauptleistung ist3. 28
ee) Aufwendungen für die zeitlich befristete Überlassung von Rechten (§ 8 Nr. 1f GewStG)4. Hinzugerechnet wird auch der Finanzierungsanteil der Aufwendungen für die zeitlich befristete Überlassung von Rechten, welche insb. Konzessionen und Lizenzen umfassen, mit Ausnahme der sog. Vertriebslizenzen, die ausschließlich dazu berechtigen, daraus abgeleitete Rechte Dritten zu überlassen. Ebenfalls ausgeschlossen von der Hinzurechnung sind Aufwendungen, die nach § 25 des Künstlersozialversicherungsgesetzes Bemessungsgrundlage für die Künstlersozialabgabe sind. Die Ausnahme von Vertriebslizenzen ergibt sich aus der Tatsache, dass es sich bei der Weiterveräußerung eines Rechts ohne dessen Verwertung durch eigene Fruchtziehung i.S. einer gewerblichen Tätigkeit um reine Handelsvertreteraktivitäten handelt und eine Hinzurechnung insoweit nicht gerechtfertigt ist. Hinzuzurechnen sind 25 % aller Aufwendungen für die zeitlich befristete Überlassung von Rechten, womit trotz der anerkanntermaßen regelmäßig unterschiedlichen Laufzeit der einzelnen Rechtsüberlassungen der Finanzierungsanteil pauschaliert wird5. Die Unterstellung eines pauschalen Finanzierungsanteils bedeutet vor allem für forschende und innovative Unternehmen innerhalb eines Konzerns erhöhte Belastungen. Die Hinzurechnung der Aufwendungen läuft zudem in vielen Fällen auf eine Ausdehnung der steuerlichen Belastung über das Steuersubjekt des Betriebes hinaus, wenn z.B. Unternehmen erhöhte Aufwendungen durch Konzessionsabgaben für die Nutzung von öffentlichen Flächen an die Endkunden weitergeben müssen. Eine Überlassung von Rechten liegt nicht vor, wenn eine endgültige Rechtüberlassung i.S.d. Einräumung oder Übertragung des Rechts vereinbart ist. Der wirtschaftliche Hintergrund der Hinzurechnungen ist teilweise dem Grunde nach (insb. bei der Überlassung von Rechten), besonders aber der Höhe der pauschalierten Zinsanteile nach wirtschaftlich nicht nachvollziehbar und offenbar primär vom Gegenfinanzierungsgedanken getragen6. Die Hinzurechnungen führen dazu, dass der Gewerbeertrag die Bemessungsgrundlage von Einkommen- oder Körperschaftsteuer häufig übersteigen wird und verstärkt7 ertragsunabhängige Elemente besteuert werden. Nach Einführung des Abzugsverbots für die Gewerbesteuer in § 4 Vb EStG ist dies systematisch kaum noch zu rechtfertigen.
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b) Gewinnanteile und Geschäftsführungsvergütungen persönlich haftender Gesellschafter einer KGaA (§ 8 Nr. 4 GewStG; R 8.2 GewStR). § 8 Nr. 4 GewStG ist eine Korrekturvorschrift zu § 9 Nr. 1 KStG. Durch die Hinzurechnung der Geschäftsführungsvergütung wird insoweit eine Gleichbehandlung mit den Mitunternehmerschaften bewirkt, obwohl die KGaA eine Kapitalgesellschaft ist (s. § 2 II GewStG). Ist der 1 Vgl. Entwurf eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008, BT-Drucks. 16/4841, Begr. zu Art. 3, Nr. 1. 2 Zum Verlust des Leasingvorteils und Kritik an der Pauschalierung insb. Scheffler, BB 2007, 874. S. auch Fehling, NWB, Fach 5, 1617. 3 Für die Hinzurechnung ist nur das Entgelt zu berücksichtigen, das auf die Vermietung oder Verpachtung entfällt, vgl. H 8.1(4) GewStR. Vgl. auch Kohlhaas, FR 2009, 381. 4 Vgl. dazu i.E. auch Gleichlautende Ländererlasse v. 2.7.2012, BStBl. I 2012, 654, Rz. 40 ff.; vgl. auch Mohr, DStR 2013, 1580. 5 Vgl. Entwurf eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008, BT-Drucks. 16/4841, Begr. zu Art. 3, Nr. 1. Vgl. zu Lizenzzahlungen auch Clemens/Laurent, DStR 2008, 440; zu Know-how-Entgelten Hicken, DB 2008, 257. 6 Vgl. dazu auch Rödder, DStR 2007, Beihefter zu Heft 40, 11. 7 Vgl. auch Ott, StuB 2007, 563 (566).
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persönlich haftende Gesellschafter seinerseits gewerbesteuerpflichtig, so soll eine Doppelbelastung durch die Kürzung nach § 9 Nr. 2b GewStG vermieden werden1. Soweit bei ihm Betriebsausgaben im Zusammenhang mit der KGaA-Geschäftsführung entstehen, kann es auch zu einer Doppelentlastung kommen, weil diese Aufwendungen bei der KGaA nicht nach § 8 Nr. 4 GewStG hinzugerechnet werden2. c) Gewinnanteile (Dividenden), Bezüge und Leistungen aus Anteilen an einer Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse, die nach § 3 Nr. 40 EStG; 8b I KStG freigestellt sind und als sog. Streubesitzdividenden nicht die Voraussetzungen des § 9 Nr. 2a oder Nr. 7 GewStG erfüllen (§ 8 Nr. 5 GewStG)3. Bei Inlandsdividenden erfolgt die Hinzurechnung insb. dann, wenn zu Beginn des Erhebungszeitraums keine Beteiligungsquote von 15 % vorliegt. Bei Auslandsdividenden geht das DBA-Schachtelprivileg den Hinzurechnungsvorschriften vor4. Darüber hinaus kann sich systemwidrig eine Hinzurechnung auch dann ergeben, wenn keine aktiven Einkünfte vorliegen5. Im Gleichlauf mit den Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommen- und Körperschaftsteuergesetzes bleiben Betriebsausgaben, soweit sie nach den Vorschriften der § 3c EStG; § 8b V KStG in Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen oder nach § 8b X KStG in Zusammenhang mit einer Wertpapierleihe steuerlich nicht abzugsfähig sind, auch bei der Ermittlung des Gewerbeertrages unberücksichtigt6.
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d) Die Anteile am Verlust einer in- oder ausländischen Mitunternehmerschaft (§ 8 Nr. 8 GewStG).
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§ 8 Nr. 8 GewStG betrifft den Fall, dass zum Betriebsvermögen die Beteiligung an einer Personengesellschaft gehört. Dieser Verlust entstammt einem fremden Betrieb, der selbst der Gewerbesteuer unterliegt. Er soll, ebenso wie der Gewinn (s. § 9 Nr. 2 GewStG), eliminiert werden. e) Ausgaben Körperschaftsteuerpflichtiger i.S.d. § 9 I Nr. 2 KStG gem. § 8 Nr. 9 GewStG7. f) Ausschüttungs- und abführungsbedingte Gewinnminderungen gem. § 8 Nr. 10 GewStG8.
g) Ausländische Steuern vom Einkommen, die nach § 34c EStG (bereits) bei der Ermittlung der Einkünfte abgezogen werden, mindern grds. auch den Gewerbeertrag (§ 7 GewStG). Sie sind dem Gewinn aus Gewerbebetrieb aber hinzuzurechnen (= Abzugsverbot), soweit sie auf Gewinne oder Gewinnanteile entfallen, die bei der Ermittlung des Gewerbeertrags außer Ansatz gelassen werden (ausländische Betriebstätten) oder nach § 9 GewStG (Schachteldividenden) gekürzt werden (§ 8 Nr. 12 GewStG). Mit Einführung des § 26 VI 3 KStG9 und der Neufassung des § 34c II EStG ist diese Hinzurechnungsvorschrift zumindest für Quellensteuern auf Dividenden bedeutungslos.
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4.2.3 Kürzungen (§ 9 GewStG) Kürzungen des Gewinns und der Hinzurechnungen sind durch § 9 GewStG vorgeschrieben. a) Da der Betrieb mit eigenem Grundbesitz dem Betrieb mit fremdem Grundbesitz (der die Miete/Pacht abziehen kann) gleichgestellt werden soll, wird die Summe des Gewinns und der 1 Vgl. dazu allerdings Schminke/Heuel, FR 2004, 861. 2 Vgl. BFH BStBl. 1991, 253, m. Anm. Gosch, FR 1991, 345. 3 Grds. dazu Steinmüller, DStR 2009, 1564; Ernst, Ubg. 2010, 494; Heurung/Engel/Seidel, DB 2010, 1551; Beckmann/Schranz, DB 2011, 954. 4 Vgl. BFH BStBl. 2011, 129; dazu insb. Schönfeld, IStR 2010, 658. Zur Unionsrechtwidrigkeit der rückwirkenden Hinzurechnung für den Zeitraum 2001 BFH v. 6.3.2013 – I R 14/07, BFH/NV 2013, 1325. 5 Vgl. zu den Aktivitätserfordernissen BFH BStBl. 2010, 1028. Dazu auch Rödder/Schumacher, DStR 2002, 105 (108 ff.); Prinz/Simon, DStR 2002, 149; Rödder, WPg. 2002, 625. 6 Zur Nichtabzugsfähigkeit einer Teilwertabschreibung auf Streubesitzanteile, FG Hamburg EFG 2007, 140. Zur gewerbesteuerlichen Auswirkung des § 8b V KStG vgl. Richter, BB 2007, 751. 7 Vgl. dazu auch Gutachten der Unabhängigen Sachverständigenkommission zur Prüfung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts, Schriftenreihe des BdF 40, 1988, 229–231, 262–264 u. 283. 8 Vgl. dazu auch § 11 Rz. 41. Zur Hinzurechnung im Falle der Organschaft BFH BStBl. 2010, 646. Dazu auch Trieglaff, StuB 2010, 432. Nach Auffassung des BFH BStBl. 2010, 301, sind Zuschreibungen auch dann im Gewerbeertrag zu erfassen, wenn die Teilwertabschreibung hinzugerechnet wurde. 9 Jahressteuergesetz 2007, BGBl. I 2006, 2879.
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Hinzurechnungen um 1,2 % des Einheitswerts (per 1.1.1964 + 40 %, s. § 121a BewG) des zum Betriebsvermögen gehörenden Grundbesitzes gekürzt (§ 9 Nr. 1 Satz 1 GewStG)1. Die Kürzung setzt voraus, dass der Grundbesitz nicht von der Grundsteuer befreit ist. Hier wird die Gleichstellung also nicht durch Hinzurechnung (beim Betrieb mit fremdem Grundbesitz), sondern durch Kürzung (beim Betrieb mit eigenem Grundbesitz) erreicht. Zur wahlweise alternativen Kürzung um den Teil des Gewerbeertrags, der auf die Verwaltung und Nutzung des eigenen Grundbesitzes entfällt, s. § 9 Nr. 1 Satz 2–4 GewStG2. 34
b) § 9 Nr. 2 GewStG3 ist das Gegenstück zu § 8 Nr. 8 GewStG. c) § 9 Nr. 2b GewStG korrespondiert als lex specialis zu § 9 Nrn. 2 u. 2a GewStG mit § 8 Nr. 4 GewStG. Durch diese Kürzungsvorschrift soll auch für Gewinnanteile einer KGaA (= Kapitalgesellschaft) eine gewerbesteuerliche Doppelbelastung ebenso vermieden werden, wie nach § 9 Nr. 2 GewStG für Gewinnanteile von Mitunternehmerschaften. Die Kürzung kommt nach Auffassung des BFH dann nicht in Betracht, wenn die Komplementärin steuerbefreit ist4. d) § 9 Nr. 5 GewStG bewirkt, dass auch bei Einzelunternehmen und Personengesellschaften sämtliche Spenden i.S.d. § 10b I EStG gewerbesteuerlich abziehbar sind.
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e) § 9 Nrn. 2a, 7 u. 8 GewStG schaffen ein gewerbesteuerliches Schachtelprivileg (ab Beteiligungsquote 15 %)5. R 9.3 Satz 5 GewStR verzichtet bei einer im Laufe eines Erhebungszeit1 Gebilligt von BVerfGE 26, 1 (13). 2 BFH BStBl. 2003, 355; 2006, 659. Zu der sog. erweiterten Kürzung vgl. insb. Glanegger/Güroff8, § 9 GewStG Nr. 1 Rz. 17 ff.; Jebens/Jebens, BB 2002, 73; Mensching/Tyarks, DStR 2009, 2037; zu Gestaltungsmöglichkeiten Wagenseil, BB 2010, 2079; Wolff, StBp. 2012, 149; Sanna, DStR 2012, 1989; Neu/ Hamacher, Der Konzern 2013, 583; zu den Besonderheiten bei unterjährigem An- oder Verkauf Wagner, Ubg. 2014, 183. Bei Unternehmen, die ausschließlich eigenen Grundbesitz oder neben eigenem Grundbesitz eigenes Kapitalvermögen verwalten und nutzen, tritt auf Antrag an die Stelle der Kürzung nach § 9 Nr. 1 Satz 1 GewStG eine Kürzung des Gewinns und der Hinzurechnungen um den Teil des Gewerbeertrags, der auf die Verwaltung und Nutzung eigenen Grundbesitzes entfällt (§ 9 Nr. 1 Satz 2 ff. GewStG). Diese sog. erweiterte Kürzung ist allerdings insb. dann ausgeschlossen, wenn der Grundbesitz ganz oder zum Teil dem Gewerbebetrieb eines Gesellschafters dient (§ 9 Nr. 1 Satz 5 Nr. 1) oder wenn der Gewerbeertrag auf bestimmte Sondervergütungen an Gesellschafter entfällt und es sich nicht um Vergütungen für die Überlassung von Grundbesitz handelt (§ 9 Nr. 1 Satz 5 Nr. 1a GewStG). Möglich ist die erweiterte Kürzung, wenn der Grundbesitz ganz oder zum Teil dem Gewerbebetrieb eines Gesellschafters dient (§ 9 Nr. 1 Satz 5 GewStG) und das nutzende Unternehmen steuerbefreit ist (BFH BB 2007, 2158). Dazu ist kein Miet- oder Pachtvertrag erforderlich. Es reicht aus, dass der Grundbesitz unmittelbar oder mittelbar den betrieblichen Zwecken des Gesellschafters dient (BFH BStBl. 2002, 873). Dies ist insb. bei einer mittelbaren, über eine Personengesellschaft gehaltenen Beteiligung an einer vermögensverwaltenden Kapitalgesellschaft (BFH BStBl. 1999, 169) und auch bei einer relativ geringen Beteiligungsquote der Fall (BFH BStBl. 2005, 576). Die mittelbare Beteiligung über eine Kapitalgesellschaft schließt die erweiterte Kürzung demgegenüber nicht aus (BFH BStBl. 1999, 532), während die erweiterte Kürzung für Einkünfte, die ein Komplementär über eine vermögensverwaltende Personengesellschaft erzielt, ausgeschlossen sein soll (BFH v. 19.10.2010 – R 67/09, BStBl. 2011, 367; dazu Borggräfe/Schüppen, DB 2012, 1644; Sanna, DStR 2012, 1365; Fröhlich, DStR 2013, 377). Bei einer Betriebsverpachtung ist die erweiterte Kürzung grds. nicht anzuwenden, BFH BStBl. 2005, 778. Zum Ausschluss der Einbeziehung von Zinserträgen BFH BStBl. 2000, 355; zur Auflösung von Rücklagen BFH BStBl. 2001, 251; zur Unschädlichkeit von Hilfstätigkeiten BFH BStBl. 2001, 359; zur Überlassung von Betriebsvorrichtungen als unschädliche Nebentätigkeit Bahns/Graw, FR 2008, 257; zur Schädlichkeit einer Beteiligung an grundstücksverwaltender Personengesellschaft BFH BStBl. 2003, 355; 2011, 367; zur Schädlichkeit der Verpachtung an gewerblich tätigen Gesellschafter NV 2009, 85; zur Schädlichkeit der Beteiligung an einer gewerblich tätigen Personengesellschaft BFH/NV 2006, 466; 2008, 821; dazu auch Dieterlen/Käshammer, BB 2006, 1935; zur Unschädlichkeit der Sicherungsgestellung eigenen Grundvermögens für Kredite Dritter, BFH BStBl. 2006, 434; zur Versagung im Organkreis BFH BStBl. 2011, 887. 3 S. auch Lehwald, DStR 1982, 18; ferner BFH BStBl. 1986, 72 (zur KGaA); sowie FG Bad.-Württ. EFG 1986, 466 und Kraushaar, DB 1986, 2302 (zur entspr. Anwendung auf einen Übertragungsgewinn). 4 BFH v. 4.12.2012 – I R 42/11, Der Konzern 2013, 292; krit. dazu Carlé, Der Konzern 2013, 278. 5 Maßgebend ist die Beteiligung am Grund- oder Stammkapital (BFH v. 30.5.2014 – I R 12/13, GmbHR 2014, 996). Im Rahmen des § 9 Nr. 7 Satz 1 GewStG ist dabei keine unmittelbare Beteiligung erfor-
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raums beginnenden Steuerpflicht auf das Tatbestandsmerkmal „Beteiligung zu Beginn des Erhebungszeitraums“ in § 9 Nrn. 2a u. 7 GewStG und stellt im Sinne einer Billigkeitsmaßnahme auf die Höhe der Beteiligung zu Beginn der Steuerpflicht ab. Das Schachtelprivileg gilt jedoch nur für Beteiligungserträge, die laufend als Ausschüttung oder als steuerbare Liquidationsrate (§ 20 I Nrn. 1 bis 3 EStG) vereinnahmt werden1, nicht für Gewinne aus der Veräußerung der Beteiligung oder für den Übernahmegewinn im Rahmen der Umwandlung einer GmbH auf den Alleingesellschafter2. Erzielt eine Organgesellschaft Schachteldividenden, ist insoweit gewerbesteuerlich kein Raum für eine Anwendung des § 8b V KStG, weil die entsprechenden Bezüge nicht in dem maßgebenden Gewerbeertrag enthalten sind (§§ 7 Satz 1 GewStG; 15 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 KStG)3.. f) § 9 Nr. 3 GewStG soll sowohl positive als auch negative Gewerbeerträge erfassen und führt daher im letzteren Fall zu einer Hinzurechnung. Für § 9 Nr. 2b GewStG soll Entsprechendes gelten. Ergänzung zu b, c, e, f: Das mit diesen Vorschriften u.a. verfolgte Prinzip, die auf ausländische Betriebstätten sowie Beteiligungen an ausländischen Personen- und Kapitalgesellschaften entfallenden Betriebsergebnisse gewerbesteuerlich nicht zu erfassen (§ 2 I 1 GewStG: „im Inland betrieben“), ist nicht durchgängig realisiert, was bei der Erfassung des Hinzurechnungsbetrags nach §§ 7 ff. AStG besonders deutlich wird4.
4.3 Verlustabzug nach § 10a GewStG Nach § 10a Satz 1 GewStG wird der maßgebende Gewerbeertrag bis zu einem Betrag in Höhe von 1 Mio. Euro um die Fehlbeträge gekürzt, die sich bei der Ermittlung des maßgebenden Gewerbeertrags für die vorangegangenen Erhebungszeiträume nach den Vorschriften der §§ 7–10 GewStG ergeben haben, soweit die Fehlbeträge nicht bei der Ermittlung des Gewerbeertrags für die vorangegangenen Erhebungszeiträume berücksichtigt worden sind. Soweit der maßgebende Gewerbeertrag 1 Mio. Euro übersteigt, können nicht berücksichtigte Fehlbeträge der vorangegangenen Erhebungszeiträume nach Einführung der sog. Mindestbesteuerung wie bei der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer nur noch zu 60 % gekürzt werden5. Nach Auffassung des BFH soll diese Einschränkung grds. verfassungsgemäß sein6, zumal im Einzelfall „flankierend“ die Möglichkeit von Billigkeitsmaßnahmen besteht7. Damit mildert das Gewerbesteuerrecht die Härten des Periodizitätsprinzips zumindest partiell durch die Möglichkeit eines periodenübergreifenden Verlustabzugs in Form eines zeitlich unbegrenzten Vortrags sog. Fehlbeträge (= um Hinzurechnungen, Kürzungen, modifizierte Verluste innerhalb der Besteuerungsgrundlage „Gewerbeertrag“) ab. Ein Verlustrücktrag ist anders als nach § 10d EStG bei der Gewerbesteuer nicht möglich. Damit wird insb. dem finanziellen Schutzbedürfnis kleinerer Gemeinden mit wenigen großen Steuerzahlern Rechnung getragen, was verfassungsrechtlich unbedenklich sein soll8. Der Abzug von Gewerbeverlusten setzt nach der Rspr. des BFH allerdings sowohl Unternehmensidentität als auch Unternehmeridentität voraus.
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derlich (BFH BStBl. 2001, 685 ff.). Zu möglichen Auswirkungen der Hinzurechnung nach § 8 Nr. 5 GewStG auf das Schachtelprivileg Prinz/Simon, DStR 2002, 149. Zur Kritik an der Maßgeblichkeit des Beginns des Erhebungszeitraums vgl. Starke/Günther, FR 2008, 814. BFH BStBl. 1998, 25; 2004, 462. Vgl. BFH BStBl. 2002, 875. Vgl. dazu FG Münster v. 14.5.2014, nrkr.; dazu insb. Pyszka/Nienhaus, DStR 2014, 1585. Vgl. H 7.1(1) GewStR. Dazu insb. Rödder, IStR 2009, 874; Haas, IStR 2011, 353 (358); Bier, Die Gewerbesteuer aus Sicht der Unternehmen, DStJG 35 (2012), 219 ff.; Hagemann, Ubg. 2014, 706. Vgl. zur verfassungsrechtlichen Problematik Lang/Englisch, StuW 2005, 3. BFH v. 22.8.2012 – I R 9/11 09, BStBl. 2013, 512; v. 11.10.2012 – IV R 3/09, BStBl. 2013, 176; dazu Glanegger/Güroff8, § 10a GewStG Rz. 115. Dazu BFH v. 20.9.2012 – IV R 60/11, BFH/NV 2013, 410. Vgl. dazu BFH BStBl. 1990, 1083; 1991, 25; BFH/NV 1991, 766.
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Unternehmensidentität liegt grds. dann vor, wenn der Betrieb, der den Verlust erwirtschaftet hat, nach dem Gesamtbild der wesentlichen Merkmale mit dem Betrieb identisch ist, in dem der Verlust verrechnet werden soll1. Nach Auffassung des BFH liegt Unternehmensidentität insoweit nicht vor, als Verluste auf einen Teilbetrieb entfallen, der veräußert wurde2. Der BFH stellt dabei auf die Selbständigkeit des Teilbetriebs und die besondere Behandlung des Veräußerungsgewinns ab und fragmentiert damit den Gewerbebetriebsbegriff, was zumindest bei Kapitalgesellschaften im Hinblick auf die Behandlung der entsprechenden Veräußerungsgewinne nicht gerechtfertigt erscheint. Bei Kapitalgesellschaften3 und Mitunternehmerschaften, bei denen eine Kapitalgesellschaft unmittelbar oder mittelbar über eine Mitunternehmerschaft beteiligt ist4, hängt die Verlustverrechnung darüber hinaus gem. § 10a Satz 10 GewStG; § 8c KStG, davon ab, ob und inwieweit die Kapitalgesellschaft einem qualifizierten Anteilseignerwechsel unterlag. So führt die unmittelbare wie auch mittelbare Übertragung von mehr als 25 % der Anteile innerhalb eines Fünfjahreszeitraums zu einem entsprechend quotalen Untergang der Fehlbeträge. Werden mehr als 50 % der Anteile übertragen, geht der verbleibende Fehlbetrag komplett unter. Neben der Unternehmensidentität setzt der Verlustabzug nach Auffassung des BFH auch Unternehmeridentität voraus. Dies stützt der BFH auf § 10a Satz 3 i.V.m. § 2 V GewStG, was sowohl im Hinblick auf die objektbezogene Betrachtung als auch den Zweck des § 10a GewStG problematisch erscheint5. Ein Unternehmerwechsel führt daher nicht nur in den Fällen des Betriebsübergangs im Ganzen, sondern insb. auch in den Fällen des Wechsels einzelner Gesellschafter einer Personengesellschaft zur anteiligen Versagung des gewerbesteuerlichen Verlustvortrags6. Dies gilt selbst dann, wenn der ausgeschiedene Gesellschafter über eine andere Personengesellschaft weiterhin an der Untergesellschaft beteiligt bleibt7, insb. also auch nach Änderung des § 15 I Nr. 2 EStG8, oder auch dann, wenn der ausgeschiedene Gesellschafter über eine Organgesellschaft mittelbar an der Personengesellschaft beteiligt bleibt9. Umgekehrt bleibt danach der gewerbesteuerliche Verlustvortrag erhalten, sofern ein Einzelunternehmer seinen Gewerbebetrieb in eine Personengesellschaft einbringt10. Die Höhe der vortragsfähigen Fehlbeträge ist nach § 10a Satz 6 GewStG gesondert festzustellen, wobei sich die gesonderte Feststellung über die Höhe der Beträge hinaus auch auf deren Abzugsfähigkeit dem Grunde nach erstreckt11.
1 BFH BStBl. 1985, 403; BFH/NV 1991, 804; BFH BStBl. 1994, 764; 1994, 477; BFH/NV 1997, 428; BFH/NV 2003, 81; BFH BStBl. 2007, 72 (dazu auch Wendt, FR 2007, 709). Dazu Bethmann, Die Problematik des gewerbesteuerlichen Betriebsbegriffs, dargestellt am Beispiel der gewerbesteuerlichen Verlustkompensation im Gewerbesteuerrecht, 1980. Zu Gestaltungsmöglichkeiten Heinz/Wilke, GmbHR 2010, 360; Kutt/Möllmann, DB 2010, 1150; Prinz, StuB 2010, 470. 2 BFH v. 7.8.2008, BFH/NV 2008, 1960. 3 Zu Einzelheiten vgl. auch § 13 Rz. 43. 4 Dazu insb. Hoffmann, DStR 2009, 257; Suchanek, Ubg. 2009, 178 (182). Vgl. dazu auch Behrendt/ Arjes/Nogens, BB 2008, 367. Vgl. K. Weber, Ubg. 2010, 201; Schöneborn, NWB 2011, 366. 5 Dazu Glanegger/Güroff8, § 10a GewStG Rz. 93 ff.; die die Kritik mit Bezug auf die Einführung von § 10a Satz 4 u. 5 GewStG allerdings nunmehr als obsolet ansehen. 6 Vgl. BFH v. 11.10.2012 – IV R 3/09, BStBl. 2013, 176; vgl. i.E. dazu Glanegger/Güroff8, § 10a Rz. 97 ff.; Kupfer/Göller/Leiber, Ubg. 2014, 361. 7 BFH BStBl. 1997, 179 (181); 1999, 794; vgl. dazu auch Wendt, FR 1999, 1311. 8 Dazu Gschwendter, DStR 1996, 1363; Herzig/Förster/Förster, DStR 1996, 1025 (1031). 9 Dazu BFH BStBl. 2001, 114. 10 BFH BStBl. 1993, 616; dazu auch Orth, DB 1994, 1313. 11 BFH BStBl. 2004, 469. Vgl. dazu auch Loose/Suck, FR 2008, 864. Zur Bindungswirkung des Bescheids bei Personengesellschaften BFH BStBl. 2011, 903.
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Zerlegung des einheitlichen Steuermessbetrags
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4.4 Steuermessbetrag (§ 11 GewStG) Der Steuermessbetrag als Bemessungsgrundlage1 der Gewerbesteuer ergibt sich durch Anwendung eines Prozentsatzes, der sog. Steuermesszahl, auf den auf volle 100 Euro nach unten abgerundeten ggf. um Freibeträge gekürzten Gewerbeertrag2.
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4.4.1 Freibeträge Bei natürlichen Personen und Personengesellschaften ist der Gewerbeertrag vor Anwendung der Messzahl um einen Freibetrag von maximal 24 500 Euro zu kürzen (§ 11 I 3 Nr. 1 GewStG). Für Unternehmen i.S.d. § 2 III und des § 3 Nrn. 5, 6, 8, 9, 15, 17, 21, 26, 27, 28 und 29 GewStG sowie für Unternehmen von juristischen Personen des öffentlichen Rechts besteht ein Freibetrag von 5 000 Euro (§ 11 I 3 Nr. 2 GewStG). Kapitalgesellschaften sind also benachteiligt, soweit es sich nicht um eine KapGes. & atypisch Still handelt3.
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Da jeder „Betrieb“ den Freibetrag erhält, können Vorteile erreicht werden durch Aufspaltung in mehrere (ungleichartige) Betriebe.
4.4.2 Steuermesszahlen Nach Abrundung und nach Freibeträgen wird die maßgebende Steuermesszahl angewendet. Die Steuermesszahl beträgt 3,5 %4.
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4.4.3 Verfahren Der Steuermessbetrag wird durch den Steuermessbescheid, der vom zuständigen Finanzamt erlassen wird, festgesetzt (§ 184 AO)5. Der Gewerbesteuermessbescheid ist von Amts wegen aufzuheben oder zu ändern, wenn der Einkommensteuerbescheid geändert wird und die Aufhebung oder Änderung den Gewinn aus Gewerbebetrieb berührt (§ 35b I GewStG). Die Änderung ist nicht nur in den Fällen durchzuführen, in denen sich die Höhe des Gewinns aus Gewerbebetrieb verändert6. Notwendig ist die Änderung vielmehr erst recht, wenn die Qualität der Einkünfte dem Grunde nach wechselt7. Voraussetzung ist eine Änderung der Höhe des Gewinns aus Gewerbebetrieb (BFH BStBl. 1999, 475). Der Steuermessbescheid ist Grundlagenbescheid (§ 171 X AO) und insoweit gesondert anzufechten (§ 351 II AO)8.
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5. Zerlegung des einheitlichen Steuermessbetrags Hat ein Gewerbebetrieb Betriebsstätten9 in mehreren Gemeinden oder erstreckt sich eine Betriebsstätte über mehrere Gemeinden, so ist der einheitliche Steuermessbetrag in die auf die beteiligten Gemeinden entfallenden Anteile zu zerlegen und jeder Gemeinde ihr Anteil zuzuteilen (§ 28 GewStG; Verfahren: §§ 185 ff. AO)10. Die Zerlegung findet auch in Fällen der Organ1 Sachliche Billigkeitsmaßnahmen i.S.d. § 163 Satz 1 AO sind nach dem BFH v. 25.4.2012 – I R 24/11, BFH/NV 2012, 1516, bei der Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrags nicht anzuwenden; krit. dazu Stangl/Hageböke, Ubg. 2013, 259. 2 Ausnahmen: § 11 III GewStG für Hausgewerbetreibende. Vgl. dazu auch BFH BStBl. 2003, 492. 3 BFH BStBl. 1994, 327; 2008, 200. Dazu auch § 13 Rz. 108. 4 Ausnahmen § 11 III GewStG. Eine Vergleichsrechnung zur Gewerbesteuerbelastung findet sich bei Bergmann/Markel/Althof, DStR 2007, 693. 5 Vgl. dazu § 21 Rz. 130. 6 Vgl. BFH BStBl. 1999, 475. Zur Anwendbarkeit bei Organschaft BFH BStBl. 2010, 644. 7 So nunmehr zu Recht BFH BStBl. 2004, 902. Ferner auch BFH BStBl. 2005, 185, zur Umqualifizierung von Veräußerungs- zu laufendem Gewinn. 8 Vgl. dazu § 22 Rz. 15; zum Klagerecht der Gemeinden im Steuermessverfahren vgl. Söhn, StuW 1993, 354; zum Rechtsschutzinteresse im Aussetzungsverfahren BFH BStBl. 1997, 136. 9 S. auch BFH BStBl. 1982, 241; 1982, 624. 10 S. auch BFH BStBl. 1988, 201; 1988, 292; Seitrich, DStZ 1985, 401; zur Verfassungsmäßigkeit Olbrich, DB 1996, 958; zur Beschwer der Gemeinde im Einspruchsverfahren BFH/NV 1997, 308.
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§ 12
Rz. 42
Gewerbesteuer
schaft statt, da die Organgesellschaft als Betriebsstätte gilt (§ 2 II 2 GewStG). Zerlegungsmaßstab sind grds. die Arbeitslöhne (§ 29 I Nr. 1 GewStG), bei Windenergieanlagen werden anteilig auch die steuerlichen Buchwerte bestimmter Wirtschaftsgüter des Sachanlagevermögens berücksichtigt (§ 29 I Nr. 2 GewStG)1.
6. Entstehung, Festsetzung und Erhebung 6.1 Entstehung der Steuerschuld 42
Die Gewerbesteuer entsteht gem. § 18 GewStG grds. mit Ablauf des Erhebungszeitraums, für den die Festsetzung vorgenommen wird. Vorauszahlungen auf die Gewerbesteuer entstehen bereits mit Beginn des Kalendervierteljahres, in dem Vorauszahlungen zu entrichten sind, oder mit Begründung der Steuerpflicht, wenn die Steuerpflicht erst im Laufe des Kalendervierteljahres begründet wird (§ 21 GewStG).
6.2 Festsetzung der Gewerbesteuer 43
Die Gewerbesteuer wird durch die Gemeinde festgesetzt. Dabei wendet die Gemeinde gem. § 16 I GewStG auf den Steuermessbetrag den durch Beschluss der Gemeindevertretung festgesetzten Hebesatz an. Dieser Hebesatz ist ein Prozentsatz, der sich grds. nach dem Steuerbedarf der Gemeinde richtet2. Obwohl es dadurch bundesweit zu erheblichen Hebesatzunterschieden kommt3, ist eine Gleichmäßigkeit der Gewerbebesteuerung in den verschiedenen Gemeinden verfassungsrechtlich nicht geboten4. Mit § 16 IV 2 GewStG wurde im Widerspruch dazu ab Erhebungszeitraum 2004 ein Mindesthebesatz i.H.v. 200 % eingeführt, was nach Auffassung des BVerfG mit der Finanzautonomie der Gemeinden zu vereinbaren sein soll5. Die Gewerbesteuer wird mit dem Gewerbesteuerbescheid festgesetzt. Dabei sind grds. die Verfahrensvorschriften der AO anzuwenden (§ 1 II Nrn. 1–4 AO). Der Gewerbesteuerbescheid ist als Folgebescheid an den Gewerbesteuermessbescheid, den Zerlegungsbescheid oder den Zuteilungsbescheid gebunden (§§ 182 I; 184 I; 185 AO).
6.3 Vorauszahlungen und Abrechnung 44
Auf die Gewerbesteuer sind grds. vierteljährliche Vorauszahlungen zu entrichten (§ 19 I GewStG). Die Vorauszahlungen werden durch Vorauszahlungsbescheide festgesetzt (§ 155 I, II Nr. 4 AO). Sie basieren grds. auf der Steuer, die sich bei der letzten Veranlagung ergeben hat (§ 19 II GewStG), und werden im Rahmen der Abrechnung über die Vorauszahlungen auf die Steuerschuld des Erhebungszeitraums angerechnet (§ 20 GewStG).
7. Steuererklärungen 45
Steuerpflichtige Gewerbebetriebe haben eine Erklärung zur Festsetzung des Steuermessbetrags und im Falle einer Zerlegung (§ 28 GewStG) außerdem eine Zerlegungserklärung abzugeben 1 Dazu Waffenschmidt, FR 2013, 268; Becker, BB 2014, 2270; zur Zerlegung bei Solaranlagen § 29 I Nr. 2 GewStG, dazu Stöbener/Gach, DStR 2012, 1376; Moorkamp, StuB 2014, 61. 2 Dazu Schäfers, Die Festsetzung des Gewerbesteuer-Hebesatzes durch die Gemeinden, Diss. 1964; Schnorr, Das Hebesatzrecht der Gemeinden, Diss. 1973; Fedden, Zur Problematik der Verkoppelung und Genehmigung der Realsteuerhebesätze, Diss. 1974. 3 Vgl. dazu Andrae, IFSt-Schrift Nr. 493 (2013), Entwicklung der Hebesätze der Gemeinden mit 20.000 und mehr Einwohnern im Jahr 2013 gegenüber 2012. 4 BVerfGE 21, 54 (68 f.); s. auch BVerfGE 10, 354 (371); 12, 139 (143); 12, 319 (324). Auch unionsrechtlich bestehen vor dem Hintergrund des EuGH-Urt. v. 11.9.2008 – C-428–434/06, UGT Rioja, keine Bedenken. Dazu de Weerth, IStR 2008, 732. 5 Vgl. BVerfG v. 27.1.2010, BVerfGE 125, 141.
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Steuererklärungen
Rz. 45
(§ 14a GewStG; § 25 GewStDV). Grds. ist der Steuerschuldner (§ 5 GewStG) zur Abgabe der Gewerbesteuererklärung verpflichtet. Für Organgesellschaften (= Betriebsstätten, s. Rz. 9) sind eigene Steuererklärungen abzugeben (§ 25 I Nr. 2 GewStDV), allerdings vom Organträger als Steuerschuldner1.
1 Vgl. dazu i.E. § 14 Rz. 27a. Zur Steuererklärungspflicht der Besitzgesellschaft im Rahmen einer Betriebsaufspaltung s. BFH BStBl. 1985, 199.
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§ 12
§ 13 Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung A. Grundsätzliche Unterschiede in der Besteuerung von Personenunternehmen und Kapitalgesellschaften Literatur: HHR/Hey, Einf. KSt (1999); Hey, Besteuerung von Unternehmensgewinnen und Rechtsformneutralität, in DStJG 24 (2001), 155; Priester, Unternehmenssteuer-Reform und Gesellschaftsvertrag. Kautelarpraktische Überlegungen, DStR 2001, 795; Seeger (Hrsg.), Perspektiven der Unternehmensbesteuerung, DStJG 25 (2002); Freyer, Unternehmensrechtsform und Steuern, 2004; Lühn, Rechtsformwahl im nationalen und internationalen Konzern, 2004; Schaumburg/Rödder, Unternehmensteuerreform 2008, 2007; Drüen, Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung als verfassungsrechtlicher Imperativ?, GmbHR 2008, 393; Eisgruber, Belastungsvergleiche nach Rechtsformen nach der Unternehmensteuerreform, Der Konzern 2008, 343; Förster, Rechtsformwahl und Rechtsformoptimierung nach der Unternehmensteuerreform, Ubg. 2008, 185; Kessler/Kröner/Köhler, Konzernsteuerrecht2, 2008, 53 ff.; Rödder, Rechtsformwahl – Unternehmensbesteuerung nach der Reform, WPg. 2008, 66; Jacobs, Unternehmensbesteuerung und Rechtsform4, 2009; Drüen, Das Unternehmenssteuerrecht unter verfassungsrechtlicher Kontrolle – Zur Gestaltungsfreiheit des Steuergesetzgebers zwischen Folgerichtigkeit und Systemwechsel, Ubg. 2009, 23; Friese, Rechtsformwahlfreiheit im Europäischen Steuerrecht, 2010; Scheffler, Besteuerung von Unternehmen, Bd. III, Steuerplanung, 2010; M. Rose, Zur steuerlichen Gleichbehandlung der Gewinne von Unternehmen unabhängig von deren Rechtsform, FS J. Lang, 2010, 641; Broer, Die Ziele Rechtsform- und Investitionsneutralität bei der Unternehmensbesteuerung im Lichte der Wahlprogramme zur Bundestagswahl 2013, DStZ 2013, 636; BDI/VCI, Die Steuerbelastung der Unternehmen in Deutschland, 2013; König/Maßbaum/ Sureth, Besteuerung und Rechtsformwahl: Personen-, Kapitalgesellschaften und Mischformen im Vergleich6, 2013; Drüen, Leitlinien des Unternehmenssteuerrechts, DStZ 2014, 564; Seer, Die unternehmenssteuerlichen Pläne der Bundesregierung, GmbHR 2014, 505.
Im Rahmen der Besteuerung von Unternehmen knüpft das Steuerrecht an die unterschiedlichen Rechtsformen an, die das Zivilrecht für die rechtliche Strukturierung der Unternehmen vorsieht, so dass die zivilrechtliche Abgrenzung zwischen Personenhandelsgesellschaften als Gesamthandsgemeinschaften einerseits und Kapitalgesellschaften als Körperschaften andererseits grds. auch das Steuerrecht bestimmt1.
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In ihren Grundzügen werden die Ansatzpunkte und Konsequenzen einer rechtsformabhängigen Unternehmensbesteuerung bei der unterschiedlichen Behandlung von Personen- und Kapitalgesellschaften sichtbar. Bestrebungen, die auftretenden Vorteile der Grundtypen zu kombinieren und gleichzeitig ihre Nachteile zu vermeiden, finden ihren Niederschlag in Unternehmensformen, die nicht mit dem zivilrechtlichen Ordnungsrahmen einer Rechtsform übereinstimmen, sondern sich aus mehreren Rechtsformen zusammensetzen.
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Mit dem Ziel, zunächst die grundsätzlichen Unterschiede in der Besteuerung der Personen- und Kapitalgesellschaften offen zu legen, beziehen sich die folgenden Ausführungen zur laufenden Besteuerung und zu den steuerlichen Folgen praktisch besonders bedeutsamer Sondervorgänge ausschließlich auf Unternehmensformen, die mit der zivilrechtlichen Ordnungsstruktur übereinstimmen. In diesem Rahmen werden bei den Personengesellschaften als Mitunternehmerschaften i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG nur OHG und KG2, bei den Kapitalgesellschaften aus-
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1 Vgl. § 10 Rz. 1 ff. Zur Rechtsformneutralität darüber hinaus insb. auch BVerfG DStR 2006, 1316; Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16. Zu Reformüberlegungen, die auf eine Annäherung von Personenunternehmen an das Besteuerungssystem für Kapitalgesellschaften gerichtet sind, vgl. Kraus, Körperschaftsteuerliche Integration von Personenunternehmen, Diss., 2009. 2 Dazu § 10 Rz. 9 ff.
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§ 13
Rz. 4
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
schließlich AG1 und GmbH berücksichtigt; die KGaA bleibt außer Betracht2. Auf die Besonderheiten von Familiengesellschaften3 und die Behandlung von Partnerschaftsgesellschaften4 als besondere Rechtsform für die berufliche Zusammenarbeit von Angehörigen freier Berufe wird nicht eingegangen.
I. Unterschiede in der laufenden Besteuerung von Personenunternehmen und Kapitalgesellschaften 1. Besteuerungsunterschiede bei einzelnen Steuerarten 4
Nach dem Wegfall der Vermögensteuer zum 1.1.1997 (s. § 16 Rz. 61 ff.) und der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zum 1.1.1998 (s. § 12 Rz. 1 ff.) reduzieren sich die Belastungsunterschiede zwischen Personen- und Kapitalgesellschaften in der laufenden Besteuerung ausschließlich auf die Ertragsteuern.
1.1 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer 5
a) Steuerpflicht: Während Kapitalgesellschaften nach § 1 KStG selbst körperschaftsteuerpflichtig sind, unterliegen bei einer Personengesellschaft ausschließlich die Gesellschafter, denen die Einkünfte über die einheitliche und gesonderte Gewinnfeststellung (§§ 179 ff. AO) zugerechnet werden, der Einkommensteuer (§ 1 EStG) oder der Körperschaftsteuer (§ 1 KStG).
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b) Gewinnanteile: Bei einer Personengesellschaft werden Gewinne den Gesellschaftern als Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§ 15 I 1 Nr. 2 EStG) im Jahre ihrer Entstehung zugerechnet. Wie die Einkünfte versteuert werden, hängt entscheidend davon ab, ob die Gewinne entnommen werden oder im Unternehmen verbleiben und die Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG genutzt wird. – Soweit die Gewinne nicht entnommen werden, kommt auf Antrag des Stpfl. ein proportionaler Steuersatz von 28,25 % (einschließlich Solidaritätszuschlag 29,80 %) zur Anwendung, wenn der Gewinnanteil mindestens 10 % beträgt oder 10 000 Euro übersteigt und der Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich nach § 4 I oder § 5 EStG ermittelt wird (§ 34a I EStG)5. Die entsprechende Einkommensteuer wird durch die Gewerbesteueranrechnung nach § 35 EStG6 um das 3,8fache des Gewerbesteuermessbetrags, höchstens um die tatsächliche Gewerbesteuer gemindert7. 1 Zu den steuerlichen Aspekten der Gründung einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE) Förster/Lange, DB 2002, 288 ff.; Herzig/Griemla, StuW 2002, 55; Schulz/Petersen, DStR 2002, 1508; Thömmes, Besteuerung der SE, in Theisen/Wenz (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft, 2002, 465; Endres, RIW 2004, 735; Rödder, DStR 2005, 893; Schön/Schindler, Die SE im Steuerrecht, 2008; zu den zivilrechtlichen Grundlagen Hirte, DStR 2005, 653 (700). Zur SE als Gestaltungsinstrument für grenzüberschreitende Umstrukturierungen vgl. § 13 Rz. 42; außerdem auch Decher, Der Konzern 2006, 805. Zur Europäischen Privatgesellschaft Brems/Cannivé, Der Konzern 2008, 629; Zur Limited insb. Kessler/ Eicke, DStR 2005, 2101; Wengel/Pfeiffer, StuB 2009, 917. 2 Vgl. BFH/NV 2010, 1919. Grundl. dazu insb. Drüen/van Heek, DStR 2012, 54 m.w.N.; zur Besteuerung des persönlich haftenden Gesellschafters einer KGaA Wassermeyer, FS Streck, 2011, 259 ff.; Bielinis, DStR 2014, 769. 3 Dazu Langenfeld/Gail, Hdb. Familienunternehmen, Loseblatt; Carlé/Halm, KÖSDI 2000, 12383; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 740 ff. m.w.N.; zur Familienstiftung Blumers, DStR 2012, 1. 4 Zu den zivil- u. steuerrechtlichen Besonderheiten von Partnerschaftsgesellschaften vgl. insb. U. Müller, FR 1995, 402; Seibert, BFuP 1995, 473; Gail, BFuP 1995, 481; Meilicke/Graf von Westphalen/ Hoffmann/Lenz/Wolff, Partnerschaftsgesellschaftsgesetz2, 2006; Oberlander, BFuP 1995, 497. 5 Vgl. dazu i.E. § 8 Rz. 828; außerdem Ley, KÖSDI 2007, 15737; Ortmann-Babel/Zipfel, BB 2007, 2205; Schiffers, GmbHR 2007, 841; Wilk, DStZ 2007, 216; Ley/Brandenberg, FR 2007, 1085; Kessler/Pfuhl/ Grether, DB 2011, 185; Bodden, FR 2012, 60. 6 Vgl. i.E. § 8 Rz. 840. Dazu auch BMF BStBl. I 2007, 701; 2009, 440; 2010, 43; 2010, 1312. 7 Vgl. i.E. § 8 Rz. 841. Auf Basis der einheitlichen Steuermesszahl von 3,5 % (§ 11 II GewStG) beträgt die Minderung 13,3 % des Gewerbeertrags.
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Unterschiede in der laufenden Besteuerung
Rz. 8
§ 13
– Wird der begünstigte Betrag (§ 34a II EStG) später ganz oder teilweise entnommen, ist er – vermindert um die ermäßigte Steuer sowie den entsprechenden Solidaritätszuschlag – mit einem Steuersatz von 25 % (einschließlich Solidaritätszuschlag 26,375 %) nachzuversteuern (§ 34a III EStG)1. – Soweit die Gewinne des laufenden Wirtschaftsjahres sofort entnommen werden oder kein Antrag auf ermäßigte Besteuerung nach § 34a EStG gestellt wird, unterliegen sie wie bisher einmalig der Besteuerung beim Gesellschafter. Der Spitzensteuersatz beträgt 45 %. Unter Berücksichtigung des Solidaritätszuschlags von 5,5 % ergibt sich eine Spitzenbelastung i.H.v.47,48 %2, die allerdings um die Gewerbesteueranrechnung nach § 35 EStG gemindert wird3. Bei einer Kapitalgesellschaft werden Gewinne unabhängig davon, ob sie thesauriert oder ausgeschüttet werden, mit einem einheitlichen Körperschaftsteuersatz4 i.H.v. 15 % (einschließlich Solidaritätszuschlag 15,825 %) versteuert5. Soweit Gewinnausschüttungen erfolgen, gilt Folgendes:
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Ausschüttungen unterliegen anders als Entnahmen bei einer Personengesellschaft einer Kapitalertragsteuer, die im Rahmen der Abgeltungsteuer6 25 % beträgt (§§ 20 I Nr. 1; 43 I Nr. 1; 43a I Nr. 1 EStG). Bei den Gesellschaftern ist dann grds. wie folgt zu differenzieren:
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– Ausschüttungen ins Privatvermögen unterliegen bei einer natürlichen Person grds. der Abgeltungsteuer i.H.v. 25 % (§§ 3 Nr. 40 Satz 2; 32d EStG). Die Steuer ist grds. mit dem Kapitalertragsteuerabzug abgegolten (§ 43 V EStG). – Ausschüttungen ins Betriebsvermögen unterliegen nicht der Abgeltungsteuer (§§ 32d; 20 VIII EStG). Sie sind nach dem Teileinkünfteverfahren zu 40 % freigestellt (§ 3 Nr. 40 Satz 1d, 2 EStG) und werden beim Gesellschafter in Abhängigkeit davon besteuert, ob sie thesauriert7 werden und die Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG genutzt wird oder ob sie entnommen werden8. – Soweit eine Kapitalgesellschaft zu Beginn des Kalenderjahres unmittelbar mit mindestens 10 % am Grund- oder Stammkapital einer anderen Kapitalgesellschaft beteiligt ist, sind Gewinnausschüttungen nach § 8b I KStG bei der empfangenden Gesellschaft grds. freigestellt. Dies gilt auch dann, wenn die Beteiligung über eine Personengesellschaft gehalten wird (§ 8b VI KStG). Nach § 8b V KStG gelten jedoch 5 % der Bezüge als nicht abzugsfähige Betriebsausgaben, so dass die Dividenden im Ergebnis zu 95 % steuerfrei bleiben9. – Ist eine Kapitalgesellschaft unmittelbar zu weniger als 10 % am Grund- oder Stammkapital einer anderen Kapitalgesellschaft beteiligt, werden Gewinnausschüttungen, die nach dem 1 Ein Veranlagungswahlrecht i.S.d. § 32d EStG wird dem Personenunternehmer vorenthalten. Krit. dazu Hey, DStR 2007, 928 f. 2 Einschließlich Kirchensteuer (dazu § 10) erhöht sich die Belastung auf 49,52 % Die Berechnung erfolgt ausgehend von einem Einkommensteuersatz e, einem Kirchensteuersatz k und einem Solidaritätszuschlag z nach der Formel: e (1+k+z)/(1+e × k). 3 Vgl. dazu i.E. Rz. 19. 4 Vgl. dazu i.E. § 11 Rz. 110. 5 Vgl. § 23 I KStG, der vom Veranlagungszeitraum 2008 an gilt (§ 34 XIa KStG). Vgl. dazu Schiffers, DStZ 2007, 567. 6 Vgl. §§ 43 V 1; 52a I EStG; dazu i.E. auch § 8 Rz. 492 ff. 7 Vgl. Rz. 19. 8 Vgl. dazu BMF BStBl. I 2008, 838; dazu auch Grützner, StuB 2008, 745; Ley, Ubg. 2008, 214; Pohl, BB 2008, 1536; Niehus/Wilke, DStZ 2009, 14. Grds. zur Beurteilung der Regelung insb. Knirsch/Maiterth/ Hundsdörfer, DB 2008, 1406; Fechner/Bäuml, DB 2008, 1652; B. Fischer, Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG-Bewertung aus Sicht eines international tätigen deutschen Personengesellschaftskonzerns, FS Schaumburg, 2009, 319; Wendt, DStR 2009, 406. 9 Vgl. dazu Oldiges, DStR 2008, 533; Rödder/Schumacher, DStR 2003, 1725 (1726); Dötsch/Pung, DB 2003, 151; Rogall, DB 2003, 2185; Rödder, DStR 2004, 1629 (1631). Vgl. auch FG Hamburg EFG 2004, 1639; dazu Frischmuth, StuB 2005, 264; Thömmes, IStR 2005, 685 (692); Rehm/Nagler, IStR 2006, 859 (860); Salzmann, IStR 2007, 73 (Anm. zu BFH-Urt. v. 13.6.2006).
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§ 13
Rz. 9
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
28.2.2013 zufließen (§ 34 VIIa KStG), abweichend von § 8b I 1 KStG als sog. Streubesitzdividenden voll1 besteuert (§ 8b IV KStG). Die Hinzurechnung von 5 % der Bezüge nach § 8b V KStG erfolgt insoweit nicht (§ 8b IV 7 KStG). 9
c) Betriebsausgaben und Werbungskosten: Bei Personengesellschaften sind persönliche Aufwendungen der Gesellschafter, die wirtschaftlich durch die Beteiligung verursacht sind, als sog. Sonderbetriebsausgaben in voller Höhe abzugsfähig2. Bei Gesellschaftern einer Kapitalgesellschaft sind persönliche Aufwendungen, die wirtschaftlich durch die Beteiligung an der Gesellschaft und die daraus resultierenden Erträge verursacht sind, demgegenüber nach § 3c II EStG nur eingeschränkt abzugsfähig3. Bei natürlichen Personen gilt Folgendes: – Soweit die Anteile im Betriebsvermögen gehalten werden, sind Aufwendungen, die im wirtschaftlichen Zusammenhang mit den Dividenden stehen, zu 60 % abzugsfähig (§ 3c II EStG)4. – Soweit die Anteile im Privatvermögen gehalten werden, sind Werbungskosten nicht abzugsfähig. Berücksichtigt wird nur der Sparer-Pauschbetrag i.H.v. 801 Euro bzw. 1 602 Euro bei Zusammenveranlagung (§ 20 IX EStG). Bei Kapitalgesellschaften sind Ausgaben, die mit steuerfreien Dividenden in Zusammenhang stehen, prinzipiell voll abzugsfähig. Pauschal gelten jedoch 5 % der Bezüge gem. § 8b V KStG als nicht abzugsfähige Betriebsausgaben5.
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d) Verlustanteile: Bei einer Personengesellschaft werden die Verluste den Gesellschaftern grds. unmittelbar zugerechnet, so dass den Gesellschaftern in den Grenzen des § 15a EStG grds. neben dem Verlustausgleich auch der Verlustabzug offen steht. Durch die sog. Mindestbesteuerung wird der Verlustausgleich jedoch eingeschränkt6. Eine unbegrenzte Verrechnung ist nach § 10d EStG nur noch für einen Sockelbetrag i.H.v.1 Mio. Euro möglich. Höhere Beträge können nur noch bis zu 60 % des Gesamtbetrags der Einkünfte verrechnet werden7. Hinzu kommt, dass negative Einkünfte gem. § 34a VIII EStG nicht mit ermäßigt besteuerten Gewinnen ausgeglichen werden dürfen. Bei einer Kapitalgesellschaft werden die Verluste den Gesellschaftern demgegenüber nur im Falle der Organschaft mit Gewinnabführungsvertrag zugerechnet8. Die bei einer Kapitalgesellschaft anfallenden Verluste können daher grds. nur von der Kapitalgesellschaft selbst im Wege des Verlustabzugs (§ 8 KStG; § 10d EStG) verrechnet werden. Der Verlustausgleich ist durch die sog. Mindestbesteuerung wie bei natürlichen Personen beschränkt9.
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e) Steuerfreie Erträge: Soweit eine Personengesellschaft steuerfreie Erträge erzielt oder sonstige Steuervergünstigungen erhält, kommen die Vergünstigungen den Gesellschaftern grds. unmittelbar zugute. Bei einer Kapitalgesellschaft wirken sich Steuerbefreiungen oder Tarifbegünstigungen demgegenüber grds. nur auf der Gesellschaftsebene aus. Soweit die entspre1 Vgl. dazu i.E. § 11 Rz. 42; darüber hinaus auch Benz/Jetter, DStR 2013, 489; Desenz, Beihefter zu DStR 4/2013; Grefe, DStZ 2013, 577; Haisch/Helios, DB 2013, 726; Hechtner/Schnitger, Ubg. 2013, 269; Herlinghaus, FR 2013, 529; Ernst, DB 2014, 449; Lang/Förster, StbJb. 2013/2014, 103; Richter/ Reeb, DStZ 2013, 702; Schönfeld, DStR 2013, 937; Wiese/Lay, GmbHR 2013, 404; Watrin/Eberhard, IStR 2013, 814; Binnewies, GmbH-StB 2014, 242. 2 Vgl. insb. BFH BStBl. 1993, 706; 1993, 447 m.w.N.; FG Berlin EFG 1999, 281. Vgl. dazu i.E. auch Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 640 ff. 3 Vgl. BFH BStBl. 2008, 551; dazu Intemann, DB 2007, 2797. 4 Vgl. § 52a IV EStG. 5 Zur Behandlung von Betriebsausgaben im Zusammenhang mit Auslandsdividenden EuGH BStBl. 2008, 834; BFH BStBl. 2008, 821; 2008, 823; BMF BStBl. I 2008, 940. 6 Vgl. dazu i.E. § 8 Rz. 67. 7 Vgl. dazu Rödder/Schumacher, DStR 2003, 1725; Dötsch/Pung, DB 2004, 151; Dötsch, DStZ 2003, 25. 8 Vgl. i.E. § 14 Rz. 1 ff. 9 Vgl. Fn. 6.
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Unterschiede in der laufenden Besteuerung
Rz. 15
§ 13
chenden Erträge an die Gesellschafter ausgeschüttet werden, werden sie bei natürlichen Personen im Betriebsvermögen zu 60 % besteuert und im Privatvermögen im Rahmen der Abgeltungsteuer erfasst und daher im Ergebnis teilweise nachversteuert1. Die Nachversteuerung unterbleibt lediglich dann, wenn die Ausschüttungen einer Kapitalgesellschaft zufließen (§ 8b I KStG). f) Leistungsvergütungen: Die rechtlichen Beziehungen zwischen einer Gesellschaft und ihren Gesellschaftern sind nicht auf die gesellschaftsrechtliche Ebene beschränkt, sie können auch auf besonderen schuldrechtlichen Verträgen beruhen. Die (angemessenen2) Vergütungen im Rahmen eines schuldrechtlichen Leistungsaustauschs, sog. Leistungsvergütungen, sind bei einer Kapitalgesellschaft grds. als Betriebsausgaben abzugsfähig. Die Vergütungen führen bei den Gesellschaftern i.d.R. zu Einkünften i.S.d. §§ 18–21 EStG und damit u.a. zur Berücksichtigung der einschlägigen Pauschbeträge3. Einschränkungen können sich jedoch aus der sog. Zinsschranke ergeben (§ 4h EStG; § 8a KStG), die allerdings grds. auch für Personenunternehmen gilt4. Bei einer Personengesellschaft mindern die Leistungsvergütungen i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG den Gewinn demgegenüber grds. nicht5. Sie gehören bei den Gesellschaftern wegen des Subsidiaritätsprinzips zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb; Pausch- oder Freibeträge kommen insoweit nicht in Betracht.
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g) Sonderbetriebsvermögen: Wirtschaftsgüter, die der Personengesellschaft von einem Gesellschafter zur Nutzung überlassen werden, gehören zum Sonderbetriebsvermögen des Gesellschafters (dazu § 10 Rz. 100 ff., 131 ff.). Das hat zur Folge, dass bei Veräußerung dieser Wirtschaftsgüter der Veräußerungsgewinn, bei Beendigung der Nutzungsüberlassung der Entnahmegewinn zu versteuern ist. Bei der Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft gehören die entsprechenden Wirtschaftsgüter demgegenüber grds. zum Privatvermögen; Veräußerungsgewinne werden daher nur im Rahmen der §§ 17; 20 II; 23 EStG erfasst.
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h) Pensionsrückstellungen werden für Gesellschafter einer Personengesellschaft einkommensteuerlich zumindest im Ergebnis nicht anerkannt6, während für die tätigen Gesellschafter von Kapitalgesellschaften lediglich in Ausnahmefällen Einschränkungen gelten7.
14
1.2 Gewerbesteuer a) Anteile am Gewinn oder Verlust aus der Beteiligung an einer Personengesellschaft unterliegen bei einem gewerbesteuerpflichtigen Gesellschafter gem. § 8 Nr. 8; § 9 Nr. 2 GewStG nicht erneut der Gewerbesteuer. Wie Gewinnausschüttungen einer Kapitalgesellschaft bei einem gewerbesteuerpflichtigen Gesellschafter zu behandeln sind, hängt demgegenüber insb. von der Höhe der Beteiligungsquote zu Beginn des Erhebungszeitraumes ab, was nach dem Wegfall der Körperschaftsteuerbefreiung für Streubesitzanteile (dazu Rz. 8) die Kasuistik und Systembrüche der Regelungen nochmals massiv erhöht8. 1 Vgl. dazu i.E. Rz. 6. 2 Zur verdeckten Gewinnausschüttung allgemein § 11 Rz. 70 ff. Zur Angemessenheit der Gesamtbezüge eines Gesellschafter-Geschäftsführers BMF BStBl. 2002 I, 972; dazu auch Höfer/Kaiser, DStR 2003, 274; grds. Seer, Die steuerliche Behandlung des beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführers einer Kapitalgesellschaft, in Jahrbuch des Bundesverbandes der Steuerberater 2014, 61. 3 Vgl. z.B. §§ 9a; 20 IX EStG. 4 Zur Zinsschranke allgemein § 11 Rz. 49 ff. Zu den Belastungswirkungen insb. Ernst & Young, Die Unternehmensteuerreform 2008, 2007, Rz. 42 ff.; zu rechtsformabhängigen Belastungswirkungen Bachmann/Schultze, DBW 2008, 9; Prinz, DB 2008, 368; Kollruss/Erl u.a., DStZ 2009, 117. 5 Dazu ausf. § 10 Rz. 103. 6 Vgl. BMF BStBl. I 2008, 317; dazu insb. Groh, DB 2008, 2391; Sievert/Kardekewitz, Ubg. 2008, 617. 7 Vgl. BFH BStBl. 1995, 419; 1996, 420; 1999, 316; 2006, 928; R 41 IX EStR; R 38 KStR 2004; BMF BStBl. 2005 I, 387; dazu insb. auch Janssen, DStZ 1999, 741; Mahlow, DB 1999, 2590; Schmidt/WeberGrellet33, § 6a EStG Rz. 17; Prinz, WPg. 2006, 1409. 8 Vgl. dazu insb. Grefe, DStZ 2013, 573; Richter/Reeb, DStZ 2013, 702 (705 ff.).
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§ 13
Rz. 16
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
– Liegt die Beteiligungsquote mindestens bei 15 %, unterliegen die Gewinnausschüttungen nicht erneut der Gewerbesteuer (§§ 9 Nr. 2 a; 8 Nr. 5 GewStG). Nach § 8b V KStG gelten 5 % der Gewinnanteile als nichtabzugsfähige Betriebsausgaben, die mangels Anwendung der Kürzungsvorschriften insoweit auch der Gewerbesteuer unterliegen1. – Bei einer Beteiligungsquote unter 10 % unterliegen die Gewinnausschüttungen nicht nur der Körperschaftsteuer, sondern in voller Höhe auch der Gewerbesteuer. – Soweit die Beteiligungsquote mindestens bei 10 %, aber unter 15 % liegt, erfolgt nach Maßgabe des § 8 Nr. 5 GewStG eine Hinzurechnung, so dass die Ausschüttungen im Ergebnis in voller Höhe erneut der Gewerbesteuer unterliegen. 16
b) Leistungsvergütungen i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG gehen bei einer Personengesellschaft über § 7 GewStG unmittelbar in den Gewerbeertrag ein; bei Kapitalgesellschaften kommt eine Erfassung lediglich im Rahmen der Zinsschranke (§ 4h EStG; § 8a KStG)2 bzw. im Rahmen der Hinzurechnungen nach § 8 Nr. 1 GewStG in Betracht. Die Aufwendungen, die beim Gesellschafter im Zusammenhang mit den Leistungsvergütungen entstehen, mindern bei der Personengesellschaft als Sonderbetriebsausgaben auch den Gewerbeertrag; bei der Kapitalgesellschaft kommt eine entsprechende Entlastung nicht in Betracht.
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c) Gesellschaftergrundstücke: Während bei einer Personengesellschaft § 9 Nr. 1 GewStG auch für das in Grundbesitz bestehende Sonderbetriebsvermögen der Gesellschafter anzuwenden ist, ist eine derartige Kürzung bei einer Kapitalgesellschaft nicht möglich.
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d) Für Personengesellschaften besteht gem. § 11 I 3 Nr. 1 GewStG ein Freibetrag i.H.v. 24 500 Euro. Nach Wegfall der früheren Messbetragsstaffel beträgt die Messzahl einheitlich 3,5 % (§ 11 II GewStG)3.
2. Zusammenfassender Vergleich laufender Besteuerungsunterschiede 2.1 Wesentliche Belastungsfaktoren 19
Bei einem Rechtsformvergleich sind in der laufenden Besteuerung eine Vielzahl von Entscheidungsparametern zu berücksichtigen. In der Praxis ist ein Vorteilhaftigkeitsvergleich daher nur auf Basis der individuellen Verhältnisse des Einzelfalls möglich und aussagekräftig. Pauschalaussagen sind weder theoretisch zu rechtfertigen noch für die Praxis tauglich. An dieser Beurteilung hat auch die Unternehmensteuerreform 2008 nichts geändert. Im Gegenteil: Die nominellen Belastungsunterschiede wurden zwar verringert. Gleichzeitig wurden jedoch insb. mit den Veränderungen bei der Gewerbesteuer4 sowie der Einführung der Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG, der Abgeltungsteuer und dem Teileinkünfteverfahren massive Strukturveränderungen durchgeführt, die isoliert und im Zusammenwirken über unterschiedliche Bemessungsgrundlagen hinaus verstärkt zu außerordentlich differenzierten Belastungswirkungen führen5.
20
Bei einer Personengesellschaft, an der natürliche Personen beteiligt sind, hängt die Steuerbelastung u.a. davon ab, ob Gewinne einbehalten und nach § 34a EStG begünstigt besteuert, später entnommen oder unmittelbar mit dem Normalsatz versteuert werden. Bei einer Kapitalgesell1 2 3 4 5
Vgl. BFH v. 10.1.2007 – BStBl. 2007, 585; krit. dazu insb. auch Richter, BB 2007, 751. Vgl. dazu § 11 Rz. 49 ff. Vgl. § 12 Rz. 37. Dazu insb. Herzig, DB 2007, 1541. Vgl. dazu insb. auch Binz, DStR 2007, 1692; Blumenberg/Benz, Die Unternehmensteuerreform 2008, 2007; Cordes, WPg. 2007, 526; Endres/Spengel/Reister, WPg. 2007, 478; Ernst & Young, Die Unternehmensteuerreform 2008, 2007; Homburg/Houben/Maiterth, WPg. 2007, 376; Lühn/Lühn, StuB 2007, 253 (259); Rödder, DStR 2007, Beihefter zu Heft 40; Schaumburg/Rödder, Unternehmensteuerreformgesetz 2008, 2007; Derlien/Wittkowski, DB 2008, 835; Kavcic/Vogel, DStR 2008, 573; Müller/ Schmidt/Langkau, StuW 2010, 81. Zur Ermittlung der Belastungswirkungen der Unternehmensteuerreform 2008 mit Hilfe der Teilsteuerrechnung Marx/Hetebrügge, DB 2007, 2381; zum Konzept der Teilsteuerrechnung vgl. grds. 18. Aufl., § 18 Rz. 216 ff.
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Unterschiede in der laufenden Besteuerung
Rz. 22
§ 13
schaft, an der natürliche Personen beteiligt sind, kommt es insb. darauf an, ob ausgeschüttet oder thesauriert wird, die Beteiligung im Privat- oder Betriebsvermögen liegt, ob im Betriebsvermögen thesauriert, später entnommen oder sofort „normal“ versteuert und die Voraussetzungen des gewerbesteuerlichen Schachtelprivilegs (§ 9 Nr. 2a GewStG) erfüllt sind.
2.2 Bedeutung des Thesaurierungs- und Entnahme-/Ausschüttungsverhaltens Übersicht: Gegenüberstellung wesentlicher Belastungswirkungen
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Personengesellschaft
Kapitalgesellschaft
Keine bzw. Thesaurierung mit Thesaurie- Option rung ohne 100 36,16 Option
Privatvermögen
Betriebsvermögen
Gewinn
100,00
100,00
100,00
100,00
100,00
– GewSt
–14,00
–14,00
–14,00
–14,00
–14,00
–15,00
–15,00
– ESt regulär (45 %)
–45,00
–16,27
– Thesaurierungstarif (28,25 %)
–28,25
–18,03
+ GewSt-Anrechnung
13,30
13,30
13,30
– SolZ
–1,74
–0,82
–1,16
–0,83
–0,83
verbleiben
52,56
70,23
63,84
70,17
70,17
Steuerbelastung
47,44
29,77
36,16
29,83
29,83
nachzuversteuernde Entnah- 0 men (brutto)
100,00
63,84
– EStG (28,25 %)
–28,25
–18,03
– SolZ
–0,82
–0,99
Nachversteuerungsbetrag
0
70,93
– ESt (25,00 %)
–17,73
–11,21
– SolZ
–0,98
–0,62
Ausschüttung
70,17
70,17
– ESt
–17,54
–18,95
– KSt
44,82
– SolZ
–0,96
–1,04
Steuerbelastung der Ausschüttung/Entnahme
0
18,71
11,83
18,50
19,99
Gesamtsteuerbelastung
47,44
48,48
47,99
48,33
49,82
Bei einer exemplarischen Gegenüberstellung der Belastungswirkungen, die sich aus der vorangegangenen Übersicht1 zur Zeit für Personen- und Kapitalgesellschaften ergeben, zeigt sich, dass insb. das Thesaurierungs- bzw. Entnahme-/Ausschüttungsverhalten die Höhe der Steuer-
1 Vgl. dazu Cordes, WPg. 2007, 526. Die Berechnungen beruhen insb. auf folgenden Annahmen: Einkommensteuerspitzensatz 45 %; Gewerbesteuerhebesatz 400 %; keine Kirchensteuerpflicht; im Betriebsvermögen sind die Voraussetzungen des § 9 Nr. 2a GewStG erfüllt, so dass die Ausschüttung nicht der Gewerbesteuer unterliegt.
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§ 13
Rz. 23
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
belastung maßgeblich bestimmt. Bei einer Personengesellschaft hängt die Steuerbelastung zudem entscheidend von der Ausübung des Wahlrechtes nach § 34a I EStG ab1. – Bei einer vollständigen Thesaurierung ergibt sich bei Inanspruchnahme der Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG mit einer Belastung von 29,77 % für die Personengesellschaft zwar annähernd die gleiche Belastung wie bei einer Kapitalgesellschaft mit 29,83 % Dies setzt allerdings voraus, dass keine Entnahme der anfallenden Einkommensteuer und des Solidaritätszuschlags erfolgt und auch die Gewerbesteuer aus privaten außerbetrieblichen Mitteln gezahlt wird2. Werden die entsprechenden Steuern aus betrieblichen Mitteln bezahlt, erfolgt insoweit der Übersicht entsprechend nur teilweise i.H.v. 63,84 eine Thesaurierung mit dem Sondertarif, während für die „Entnahme“ der Steuern i.H.v.36,163 der Normalsatz zur Anwendung kommt. Die Belastung steigt dann auf 36,16 % an und liegt damit deutlich über der Belastung einer Kapitalgesellschaft4. – Die Steuerbelastung steigt, je höher die Thesaurierung ist, wenn die thesaurierten Beträge später entnommen werden. – Inwieweit diese höhere Steuer durch Zinsvorteile aus der Nutzung der Thesaurierungsbegünstigung (über-)kompensiert wurde, hängt insb. von der Dauer der Thesaurierung und den Zinssätzen ab. – Die Vorteilhaftigkeit der Thesaurierungsbegünstigung relativiert sich darüber hinaus dann, wenn im normalen Progressionstarif niedrige Steuersätze anzuwenden sind, während bei der Nachversteuerung eine Belastung von 48,48 % entsteht. Die Thesaurierungsbegünstigung ist daher primär für Gesellschafter mit dauerhaft hohen Einkommensteuersätzen von Interesse5. – Im Ausschüttungsfall liegt die Belastung bei der Kapitalgesellschaft sowohl im Betriebsvermögen und damit im Rahmen des Teileinkünfteverfahrens (49,81 %) als auch im Privatvermögen und damit der Abgeltungsteuer (48,33 %) über der Belastung bei der Personengesellschaft, bei der keine Thesaurierung erfolgt und der Normalsteuersatz angewandt wird.
2.3 Bedeutung der Gewerbesteuer 23
Neben der Thesaurierungsquote hat vor allem auch die Gewerbesteuer entscheidenden Einfluss auf die Gesamtsteuerbelastung6. Grds. ist Folgendes festzuhalten: – Bei einer Kapitalgesellschaft führt jede Erhöhung der Gewerbesteuer zu einem Anstieg der Thesaurierungsbelastung und zu einer Minderung des Ausschüttungsvolumens. Die Höhe der Gewerbesteuer, insb. die Höhe der Hebesätze, hat daher für Kapitalgesellschaften besondere Bedeutung7. – Bei einer Personengesellschaft werden Gewerbesteuererhöhungen durch die Gewerbesteueranrechnung8 nach § 35 EStG stark relativiert. Bis zu Gewerbesteuerhebesätzen von 380 % 1 Die erste Spalte zeigt, dass die Höhe der Thesaurierung die Steuerbelastung einer Personengesellschaft nicht beeinflusst, solange von der Option nach § 34a EStG kein Gebrauch gemacht wird. Dazu auch Harle, BB 2008, 2151; Jorde/Götz, BB 2008, 1032; Rauenbusch, DB 2008, 656 (659); Rüd, FR 2008, 413; Schanz/Kollruss/Zipfel, DStR 2008, 1702. 2 Vgl. dazu i.E. Kleineidam/Liebchen, DB 2007, 409 (410); Cordes, WPg. 2007, 526 (527). Zur Vermeidung von Entnahmen durch Darlehens- oder Verrechnungskonten Cordes, WPg. 2007, 526 (527). 3 Zur Ermittlung des Steuerbetrags vgl. die Formel bei Kleineidam/Liebchen, DB 2007, 409 (410). 4 Vgl. dazu insb. Cordes, WPg. 2007, 526 (527); Kleineidam/Liebchen, DB 2007, 409 (409); Klipstein, DStZ 2009, 805. 5 Vgl. Cordes, WPg. 2007, 526 (529); vgl. auch Blum, BB 2008, 322. 6 Vgl. dazu i.E. insb. Ernst & Young, Die Unternehmensteuerreform 2008, 2007, 96 ff. 7 Zu Optimierungspotenzialen Dietrich/Krakowiak, DStR 2009, 661. 8 Vgl. i.E. Ernst & Young, Die Unternehmensteuerreform 2008, 2007, 96 ff.; außerdem Bergemann/ Markl/Althof, DStR 2007, 695; Herzig, DB 2007, 1541; Herzig/Lochmann, DB 2007, 1037; Kossow, DB 2008, 1227.
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Unterschiede in der Besteuerung von Sondervorgängen
Rz. 38
§ 13
wird die Gewerbesteuer voll durch die Gewerbesteueranrechnung kompensiert, während dies bei höheren Hebesätzen nicht mehr in vollem Umfang möglich ist. Die Bedeutung der Gewerbesteuer ist insofern hebesatzabhängig eingeschränkt. 24–34
Einstweilen frei.
II. Unterschiede in der Besteuerung von Sondervorgängen Die Unterschiede in der steuerrechtlichen Behandlung von Personen- und Kapitalgesellschaften zeigen sich nicht nur bei der laufenden Besteuerung. Sie treten auch bei der Besteuerung von Sondervorgängen auf, wie aus der beispielhaften Untersuchung einiger solcher Vorgänge im Folgenden hervorgeht, bei denen neben den Ertragsteuern auch die Grunderwerbsteuer zu berücksichtigen ist.
35
1. Gründung 1.1 Grunderwerbsteuer Grundstückstransaktionen zwischen Personen- oder Kapitalgesellschaften und ihren Gesellschaftern sind grds. gem. § 1 I Nr. 1 GrEStG steuerbar. Die Steuer beträgt gem. § 11 I GrEStG 3,5 % des Werts der Gegenleistung1. Mit Ausnahme von Bayern und Sachsen haben die Bundesländer allerdings von ihrem Recht Gebrauch gemacht, höhere Steuersätze festzulegen (Art. 105 IIa 2 GG), so dass je nach Belegenheit zur Zeit eine Belastung von bis zu 6,5 % eintreten kann2. Bei Transaktionen zwischen einer Personengesellschaft und ihren Gesellschaftern wird die Steuer jedoch, anders als bei Kapitalgesellschaften, insoweit nicht erhoben, als die Gesellschafter am Vermögen der Gesamthand beteiligt sind (§§ 5; 6 GrEStG)3.
36
1.2 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer Personen- und Kapitalgesellschaften werden bei einer Bargründung i.d.R. gleich behandelt. Unterschiede ergeben sich jedoch dann, wenn ein Gesellschafter im Rahmen einer Sachgründung Wirtschaftsgüter aus einem anderen Betriebsvermögen in die Gesellschaft einlegt. Während bei einer Personengesellschaft gem. § 6 V 3 i.V.m. § 6 V 1 EStG grds. die Buchwerte fortzuführen sind4, sind für die Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft außerhalb des § 20 UmwStG zwingend die Teilwerte anzusetzen und damit die stillen Reserven zu realisieren.
37
1.3 Gewerbesteuer Bei Personengesellschaften beginnt die Gewerbesteuerpflicht in dem Zeitpunkt, in dem erstmals alle Voraussetzungen eines Gewerbebetriebs erfüllt sind. Der Zeitpunkt der Eintragung ins Handelsregister ist für den Beginn bedeutungslos5. Bei Kapitalgesellschaften beginnt die Steuerpflicht demgegenüber grds. mit der Eintragung ins Handelsregister; auf Art und Umfang der Tätigkeit kommt es von diesem Zeitpunkt an nicht mehr an6. Gewerbesteuerpflicht besteht daher auch dann, wenn die Kapitalgesellschaft nicht gewerblich tätig wird. Die vor Eintragung ins Handelsregister bestehende Vor- oder Gründer1 Abw. Steuersätze gelten insb. für folgende Bundesländer: Berlin 4,5 %; Brandenburg 5 %; Bremen 4,5 %; Hamburg 4,5 %; Niedersachsen 4,5 %; Nordrhein-Westfalen 5 %; Sachsen-Anhalt 4,5 %. Vgl. dazu auch DATEV, LEXinform, Dok.-Nr. 0922952. 2 Vgl. die Übersicht in DATEV, LEXinform, Dok.-Nr. 0922952. 3 Vgl. dazu auch § 13 Rz. 39. 4 Vgl. dazu auch BFH BFH/NV 2010, 535; dazu insb. Gosch, DStR 2010, 1173; Hahne, StuB 2010, 611; Schmidt/Kulosa33, § 6 EStG Rz. 641 ff. Vgl. außerdem BMF BStBl. 2011, 1279; dazu insb. Rogall/Gerner, Ubg. 2012, 81. 5 Vgl. R 2.5 (1) GewStR; dazu auch § 12 Rz. 8. 6 Vgl. R 2.5 (2) GewStR; dazu auch § 12 Rz. 9.
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Rz. 39
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
gesellschaft bildet nach der Rspr. des BFH zusammen mit der später eingetragenen Kapitalgesellschaft einen einheitlichen Steuergegenstand, wenn sie bereits vor der Eintragung nach außen tätig wird1.
2. Anteilsveräußerung 2.1 Grunderwerbsteuer 39
Ein Gesellschafterwechsel unterliegt grds. sowohl bei einer Personengesellschaft (§ 1 IIa GrEStG)2 als auch bei einer Kapitalgesellschaft (§ 1 III GrEStG)3 der Grunderwerbsteuer, wenn ein inländisches Grundstück zum Gesellschaftsvermögen gehört und mindestens 95 % der Anteile übergehen4. Ein Gesellschafterwechsel kann nach § 1 IIIa GrEStG auch dann besteuert werden, wenn eine wirtschaftliche Beteiligung i.H.v. mind. 95 % an einer Gesellschaft mit inländischem Grundbesitz entsteht5. Bei Personengesellschaften können sich dabei jedoch insb. aus den personenbezogenen Steuerbefreiungen des § 3 GrEStG sowie aus § 6 III GrEStG Erleichterungen ergeben6. Bei konzerninternen Umstrukturierungen wird die Grunderwerbsteuer unter den Voraussetzungen des § 6a GrEStG nicht erhoben7.
2.2 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer 40
a) Veräußerungsgewinne: Der Gewinn aus der Veräußerung einer Beteiligung an einer Personengesellschaft8 wird gem. § 16 I Nr. 2 EStG grds. unabhängig von der Höhe der Beteiligung und unabhängig davon besteuert, ob die Beteiligung von einer natürlichen Person oder einer Kapitalgesellschaft veräußert wird. Während ein Veräußerungsgewinn bei einer Kapitalgesellschaft ungemildert der Körperschaftsteuer unterliegt und Verluste bei der Veräußerung der Beteiligung durch Kapitalgesellschaften oder natürliche Personen verrechenbar sind, bestehen bei natürlichen Personen für Veräußerungsgewinne insb. die folgenden Vergünstigungen, wenn der gesamte Mitunternehmeranteil veräußert wird und auf der Seite des Veräußerers und des Erwerbers nicht dieselben Personen stehen (§ 16 II 3, III 2 EStG). – Bei Vollendung des 55. Lebensjahres oder dauernder Berufsunfähigkeit kommt auf Antrag einmal im Leben der Freibetrag nach § 16 IV EStG bis zu max. 45 000 Euro zur Anwendung. 1 BFH BStBl. 1960, 319; 1977, 561. Dazu auch Baumgartner, Die Vorgesellschaft der Aktiengesellschaft im Steuerrecht, Diss. rer. pol., 1972, 153 ff.; Römer, Die steuerrechtliche Behandlung der Vorformen der Kapitalgesellschaften. Eine Untersuchung über die Körperschaftsteuer-, Vermögensteuer- und Gewerbesteuerpflicht der Kapitalgesellschaften im Gründungsstadium, Diss. rer. pol., 1978, 148 ff. 2 Vgl. dazu auch BFH-Urt. v. 29.2.2012 – II R 57/09, BStBl. II 2012, 917; v. 24.4.2013 – II R 17/10, BStBl. II 2013, 833; dazu insb. auch Behrens/Bock, DStR 2012, 1307; Salzmann, DStR 2012, 1314; Bock, GmbHR 2013, 862; außerdem auch Fuhrmann, KÖSDI 2014, 18768; zur Auffassung der Finanzverwaltung BStBl. I 2014, 561; dazu insb. Stangl/Aichberger, DB 2014, 1509. 3 Zur Auslegung des Begriffs „Anteil der Gesellschaft“ i.S.v. § 1 III GrEStG BFH v. 12.3.2014 – II R 51/12, BFH/NV 2014, 1315; dazu auch Behrens, BB 2014, 2647. 4 Zum Verhältnis von § 1 IIa und § 1 III GrEStG bei Personengesellschaften Boruttau17, § 1 GrEStG Rz. 816 f.; dazu auch Fuhrmann, KÖSDI 2014, 18768. Zur Frage der Abzugsfähigkeit Gadek/Mörwald, DB 2012, 2010. 5 Vgl. dazu auch Gleichlautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder BStBl. I 2013, 1364; Behrens, DStR 2013, 2726; Liekenbrock/Joisten, Ubg. 2013, 743; Wagner/Lieber, DB 2013, 1387; dazu insb. auch Fuhrmann, KÖSDI 2014, 18774; Wagner/Mayer, BB 2014, 279. 6 Vgl. Pahlke5, § 3 GrEStG Rz. 11 ff., § 6 GrEStG Rz. 30; Heine, INF 2000, 389 (392); Koordinierter Ländererlass, BStBl. I 2000, 344 (348). 7 Vgl. dazu Gleichlautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder, BStBl. I 2012, 662; dazu auch Behrens, DStR 2012, 2149; Jorde/Trinkaus, Ubg. 2012, 649; Lieber/Wagner, DB 2012, 1772; Behrens, DStR 2013, 2726; Illing, DStZ 2013, 504. 8 Zu Grundfragen der Besteuerung betrieblicher Veräußerungsgewinne § 8 Rz. 181 ff. Vgl. auch den Überblick bei Kröner, BB 2012, 2403; BB 2013, 2711.
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Rz. 41
§ 13
– Soweit der Veräußerungsgewinn den Freibetrag übersteigt oder der Freibetrag nicht in Anspruch genommen wird, unterliegt der Veräußerungsgewinn bis zu einem Höchstbetrag von 5 Mio. Euro bei Vollendung des 55. Lebensjahres oder dauernder Berufsunfähigkeit auf Antrag einmal im Leben nach § 34 III EStG dem halben Steuersatz. – Wird der Antrag auf Anwendung des halben Steuersatzes nicht gestellt oder der Höchstbetrag überschritten, kommt insoweit auf Antrag der ermäßigte Steuersatz nach der Fünftelregelung des § 34 I EStG zur Anwendung. Bei Anteilen an einer Kapitalgesellschaft ist danach zu differenzieren, wer die Anteile veräußert. – Bei einer Kapitalgesellschaft sind Veräußerungsgewinne nach § 8b II KStG – unabhängig von der Beteiligungsquote1 – grds. steuerfrei2, wobei sich allerdings insb. bei Finanzunternehmen nach § 8b VII KStG3 und für Anteile i.S.d. § 22 UmwStG innerhalb einer Frist von 7 Jahren Restriktionen ergeben können4. Nach § 8b III KStG gelten 5 % der steuerfreien Bezüge i.S.d. § 8b I KStG als nicht abzugsfähige Betriebsausgaben. Im Ergebnis werden Veräußerungsgewinne daher insoweit grds. nur zu 95 % freigestellt5. – Soweit natürliche Personen Anteile an einer Kapitalgesellschaft veräußern, sind grds. folgende Fälle zu unterscheiden: – Im Privatvermögen werden Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, die vor dem 1.1.2009 erworben wurden (§ 52a III 2 EStG), grds. weiterhin nur dann zur Hälfte besteuert, wenn ein privates Veräußerungsgeschäft vorliegt (§§ 22 Nr. 2; 23 I Nr. 2; § 3 Nr. 40j EStG) oder der Veräußerer innerhalb der letzten 5 Jahre am Kapital der Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar zumindest mit 1 % beteiligt war (§§ 3 Nr. 40c; 17 EStG). – Mit Einführung der Abgeltungsteuer sind Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, die nach dem 31.12.2008 (§ 52a X EStG) erworben und im Privatvermögen gehalten wurden und nicht unter § 17 EStG fallen (§ 20 VIII EStG), unabhängig von der Haltedauer und der Höhe der Beteiligung voll steuerpflichtig (§ 20 II EStG). Der Steuersatz beträgt einheitlich 25 % (§ 32d I 1 EStG)6. Veräußerungsverluste sind insb. bei Aktien nur beschränkt verrechenbar (§ 20 VI EStG). – Bei Anteilen i.S.d. § 17 EStG7 fallen Veräußerungsgewinne nicht unter die Abgeltungsteuer (§ 20 VIII EStG). Nach dem Teileinkünfteverfahren sind Veräußerungsgewinne zu 60 % steuerpflichtig, Betriebsausgaben und Anschaffungskosten sind (vgl. § 52a IV EStG) zu 60 % abzugsfähig (§§ 3 Nr. 40c; 3c II EStG). Dabei kommt der Freibetrag nach § 17 III EStG, nicht aber der ermäßigte Steuersatz nach § 34 EStG, zur Anwendung (§ 34 II Nr. 1 EStG). – Im Betriebsvermögen werden Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft grds. unabhängig von der Höhe der Beteiligung zu 60 % versteuert, soweit der Gewinn nicht nach § 6b X EStG bis zum Höchstbetrag von 500 000 Euro von den Anschaffungskosten für Anteile an Kapitalgesellschaften oder bestimmten anderen Wirtschaftsgütern abgezogen oder in eine entsprechende Rücklage eingestellt wird8. Bei 100 %-Beteiligung liegt ein Teilbetrieb i.S.d. 1 Zur Einführung der Steuerpflicht für Streubesitzdividenden § 13 Rz. 8. 2 Vgl. i.E. § 11 Rz. 35 ff. Zur Abziehbarkeit von Veräußerungskosten BFH-Urt. v. 12.3.2014 – IR 45/13, BFH/NV 2014, 1327; außerdem auch Riedel, FR 2014, 356. 3 Vgl. i.E. § 11 Rz. 44; BFH BStBl. 2007, 60; 2009, 671; BFH/NV 2012, 263; 2012, 453; 2012, 613; BMF BStBl. I 2002, 712; außerdem auch Breuninger/Winkler, Ubg. 2011, 13; Riegel, Ubg. 2011, 121; Schaden/Zipfel, StbJb. 2011/2012, 79 ff. 4 Vgl. i.E. § 14 Rz. 73 ff. 5 Vgl. dazu Roser, GmbHR 2003, 1250; Gocksch/Buge, DStR 2004, 1549; Richter, GmbHR 2004, 1192. 6 Vgl. das Veranlagungswahlrecht in § 32d VI EStG. 7 Zur Rechtsentwicklung Strahl, KÖSDI 2007, 15657. Zur verfassungsrechtlich problematischen Absenkung der Beteiligungsquote von 10 % auf 1 % für bestehende Beteiligungen insb. Schüppen/Sanna, BB 2001, 2397 ff.; Inselmann/van Lengerich, DStR 2002, 705. Zur Beurteilung der Wesentlichkeit im Zeitablauf BFH BStBl. 2008, 856. Nach BFH BStBl. 2005, 398, soll indessen eine zulässige unechte Rückwirkung vorliegen; VerfBeschw 2 BvR 735, 05 BFH/NV 2006, 725. Vgl. auch Schmidt/WeberGrellet33, § 17 EStG Rz. 33. 8 Vgl. dazu insb. Förster, DStR 2001, 1913 ff.; Rödder/Schumacher, DStR 2001, 1634 (1638); Schoor, StuB 2001, 837; Strahl, FR 2001, 1154; Kölpin, StuB 2002, 380; Rödder/Schumacher, DStR 2002, 105 (107); Strahl, KÖSDI 2002, 13145.
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§ 13
Rz. 42
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
§ 16 I Nr. 1 Satz 2 EStG vor, so dass der zu 60 % steuerpflichtige Veräußerungsgewinn (§ 3 Nr. 40 EStG) ggf. um den Freibetrag nach § 16 IV EStG zu kürzen ist. Der ermäßigte Steuersatz nach § 34 I, III EStG dürfte zumindest dann weiter anwendbar sein, wenn der Veräußerungsgewinn wegen Verstoßes gegen die Sperrfrist (§ 3 Nr. 40 Satz 3, 4 EStG) nicht steuerbefreit ist1. – Verluste sind nach § 3c II 1 u. 2 EStG zu 60 % abzugsfähig. Diese vor dem Hintergrund des objektiven Nettoprinzips ohnehin nicht zu rechtfertigende Beschränkung der Abzugsfähigkeit2 ist offensichtlich insb. auch in den Fällen verfehlt, in denen Veräußerungsgewinne voll steuerpflichtig wären3.
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Wenn eine Personengesellschaft Anteile an einer Kapitalgesellschaft veräußert, ist der Gewinn insoweit zu 40 % steuerfrei, als natürliche Personen beteiligt sind (§ 3 Nr. 40 EStG). Soweit Kapitalgesellschaften beteiligt sind, ist der Gewinn im Ergebnis zu 95 % steuerfrei (§ 8b II, III, VI KStG).
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b) Verluste: Bei einer Personengesellschaft werden Verluste dem Gesellschafter grds. unmittelbar zugerechnet, so dass ein etwaiger Verlustvortrag eines Gesellschafters ihm beim Ausscheiden erhalten bleibt. Bei einer Kapitalgesellschaft steht ein Verlustvortrag demgegenüber zwar der Gesellschaft zu. Gleichwohl bleibt der Verlustvortrag aber von einem Gesellschafterwechsel nicht unberührt, was nicht nur wirtschaftspolitisch verfehlt und systemwidrig4, sondern auch verfassungsrechtlich problematisch ist5. Nach § 8c I 1 KStG entfällt ein bestehender Verlustvortrag grds. quotal, soweit innerhalb von 5 Jahren mehr als 25 % der Anteile übertragen werden. Der Verlustvortrag entfällt grds. vollständig (§ 8c I 2 KStG), soweit innerhalb von 5 Jahren mehr als 50 % der Anteile übertragen werden6. Das quotale oder vollständige Abzugsverbot tritt ausnahmsweise dann nicht ein, wenn die Voraussetzungen der sog. „Konzernklausel“ (§ 8c I 5 KStG) oder der sog. „Stille-Reserven-Regel“ (§ 8c I 6, 7 KStG) erfüllt sind7 oder ein Beteiligungserwerb zum Zweck der Sanierung (§ 8c Ia KStG) vorliegt8. – Nach der Konzernklausel liegt ein schädlicher Beteiligungserwerb nicht vor, wenn an dem übernehmenden Rechtsträger dieselbe Person zu jeweils 100 % mittelbar oder unmittelbar beteiligt ist9.
1 Vgl. dazu insb. Schmidt/Wacker33, § 16 EStG Rz. 161; entsprechend wohl auch Schaumburg/Rödder, Unternehmenssteuerreform 2001, 2000, 182. 2 Schaumburg/Rödder, Unternehmenssteuerreform 2001, 2000, 182. 3 Vgl. allerdings BFH v. 19.6.2007, DStR 2007, 1756. 4 Streck8, § 8c KStG Rz. 1 m.w.N.; grundl. Hey, BB 2007, 1303 (1306 f.); Rödder, DStR 2007, Beihefter zu Heft 40, 12 f.; außerdem auch Dorenkamp, Systemgerechte Neuordnung der Verlustverrechnung, IFSt-Schrift Nr. 461, 2010; Ernst, Neuordnung der Verlustverrechnung nach Anteilseignerwechsel, IFSt-Schrift Nr. 470 (2011). 5 Vgl. dazu Roth, DB 2012, 1768; Bethmann/Mammen/Sassen, DStR 2012, 1941; Esterer/Bartelt, Ubg. 2012, 383, Lang, GmbHR 2012, 57. 6 Grds. zu § 8c KStG insb. auch R. Neumann, Die Kapitalgesellschaft im Würgegriff des § 8c KStG?, FS Streck, 2011, 103. Zu den Auswirkungen des § 8c KStG auf die Bewertung von Unternehmen im Rahmen von Unternehmenskäufen Jacob/Pasedag, WPg. 2010, 92. 7 Vgl. dazu i.E. § 11 Rz. 58; außerdem auch Lang, Der Konzern 2010, 35; Bien/Wagner, BB 2010, 923; Cortez/Brucker, BB 2010, 734; Eisgruber/Schaden, Ubg. 2010, 73; Frey/Muckl, GmbHR 2010, 71; Jacob/Pasedag, WPg. 2010, 92; Haßa/Gasmann, DB 2010, 1198. 8 Vgl. dazu i.E. § 11 Rz. 58; außerdem auch Altrichter-Herzberg, GmbHR 2009, 466; B. Lang, DStZ 2009, 751; Mückl/Remplik, FR 2009, 689; N. Meyer, BB 2009, 2284; Neumann/Stimpel, Der Konzern 2009, 409; Sistermann/Brinkmann, DStR 2009, 1453; Suchanek/Herbst, Ubg. 2009, 525. Vgl. auch Verf. OFD Rheinland/Münster, DStR 2010, 929. 9 Nach den Gesetzesmaterialien geht es darum, das Verschieben von Verlusten auf Dritte zu verhindern (BT-Drucks. 17/15, 17, 30 f.). Über den Wortlaut der Begründung hinaus soll aber wohl eine Übertragung einer Verlustgesellschaft im Konzern unschädlich sein. Vgl. dazu auch Eisgruber/Schaden, Ubg. 2010, 73 (76). Aufgrund der technischen Umsetzung im Gesetzestext werden jedoch selbst offensichtlich unbedenkliche Umstrukturierungen nicht ausgenommen. Vgl. Ernst, Neuordnung der Verlustnutzung nach Anteilseignerwechsel – Reformbedarf und haushaltspolitische Bedeutung des § 8c KStG, IFSt-Schrift Nr. 470 (2011), 44 f.
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Unterschiede in der Besteuerung von Sondervorgängen
Rz. 45
§ 13
– Nach der Stille-Reserven-Regel kann ein Verlust auch bei einem schädlichen Beteiligungserwerb insoweit abgezogen werden, als er die zum Zeitpunkt des Beteiligungserwerbs vorhandenen stillen Reserven des inländischen Betriebsvermögens der Körperschaft nicht übersteigt1. – Schließlich kann ein Verlust auch dann abgezogen werden, wenn ein Beteiligungserwerb zum Zweck der Sanierung des Geschäftsbetriebs der Körperschaft erfolgt (§ 8c Ia 1 KStG)2. Als Sanierung ist dabei eine Maßnahme anzusehen, die darauf gerichtet ist, die Zahlungsunfähigkeit zu verhindern oder zu beseitigen und zugleich die wesentlichen Betriebsstrukturen zu erhalten (§ 8c Ia 2 ff. KStG). Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Beschränkungen des Verlustabzugs wurden durch diese Ausnahmeregelungen indessen eher noch verschärft als beseitigt3. Daher ist eine systematisch konsistente Regelung, die das Nettoprinzip wahrt und sich auf echte Missbrauchsfälle beschränkt, nötiger denn je4.
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2.3 Gewerbesteuer a) Veräußerungsgewinne i.S.d. § 16 EStG gehören grds. nicht zum Gewerbeertrag5. Bei der Veräußerung eines Mitunternehmeranteils fällt daher keine Gewerbesteuer an, soweit auf der Seite des Veräußerers und des Erwerbers nicht dieselben Personen stehen (§ 16 II 3, III 2 EStG, R 7.1 (3) GewStR)6 und der Gewinn bei einer natürlichen Person entsteht oder bei der Veräußerung durch eine Mitunternehmerschaft auf eine natürliche Person als unmittelbar beteiligter Mitunternehmer entfällt (§ 7 Satz 2 GewStG)7. Einkünfte des laufenden Gewerbebetriebs liegen auch dann nicht vor, wenn nur ein Teil eines Mitunternehmeranteils veräußert wird. Soweit auf Grund der entsprechenden Einschränkung des § 16 I Nr. 2 EStG Gewerbesteuerpflicht angenommen werden sollte, ist dies systematisch nicht gerechtfertigt8. Bei Veräußerung eines Mitunternehmeranteils durch eine Kapitalgesellschaft fällt demgegenüber ebenso Gewerbesteuer an wie bei der Veräußerung durch eine Personengesellschaft, soweit der Veräußerungs1 Vgl. dazu auch Rödder/von Freeden, Ubg. 2010, 551. 2 Aufgrund von Zweifeln der EU-Kommission an der Vereinbarkeit der Regelung mit den Beihilfevorschriften eines Gemeinsamen Marktes hat das BMF die Anwendung der Regelung ausgesetzt. Vgl. BMF BStBl. I 2010, 482; 2010, 488. Dazu insb. auch Sedemund/Fischenich, BB 2008, 535 (538 f.); Ortmann-Babel/Bolik/Gageur, DStR 2009, 2173 ff.; Sistermann/Brinkmann, DStR 2009, 1453 ff.; Suchanek/Herbst, Ubg. 2009, 525 ff.; de Weert, DB 2010, 1205; Drüen, DStR 2011, 289; Ehrmann, DStR 2011, 5; Marquardt, IStR 2011, 445; Schön, JbFSt 2011/2012, 119 ff. Vgl. auch Beschluss FG Münster DStR 2011, 1507, wonach die Sanierungsklausel keine Beihilfe darstellt. 3 Vgl. insb. die Bestandsaufnahme von J. Lang, GmbHR 2012, 57. Vgl. darüber hinaus grundl. Hey, BB 2007, 1303 (1306 f.); insb. auch Blümich/Brandis, § 8c KStG Rz. 22; Drüen, Ubg. 2009, 23 (28); Drüen, Ubg. 2010, 534 (545 f.); Eilers, StuW 2010, 210; Feltes, Steuerliche Verlustkompensation und Anteilsübertragung bei Kapitalgesellschaften, Diss. 2010, § 11; Schmiel, BB 2010, 151; Kessler/Hinz, DB 2011, 1771; Drüen/Schmitz, Ubg. 2011, 921 m.w.N. Das FG Hamburg (GmbHR 2011, 711) konstatiert die Verletzung des Gleichheitssatzes, während das FG Sachsen (EFG 2011, 1457) die Verfassungsmäßigkeit bejaht. Der BFH hat das Revisionsverfahren zur Entscheidung des Sächsischen FG im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des FG Hamburg ausgesetzt (BFH-Beschl. v. 28.10.2011, BFH/NV 2012, 605; dazu auch Kröner, BB 2013, 2711) und gewährt AdV beim Vorliegen besonderer Umstände (Beschl. v. 9.5.2012, BFH/NV 2012, 1489; dazu auch Ritzer DStR 2014, 977). Zur AdV durch die Finanzverwaltung FinMinSchlHol, DStR 2012, 1607. 4 Vgl. auch J. Lang, GmbHR 2012, 58 (63); grundl. zum Meinungsstand und Reformbedarf Dorenkamp, Systemgerechte Neuordnung der Verlustverrechnung, IFSt-Schrift Nr. 461 (2010); Ernst, Neuordnung der Verlustnutzung nach Anteilseigerwechsel – Reformbedarf und haushaltspolitische Bedeutung des § 8c KStG, IFSt-Schrift Nr. 470 (2011). 5 BFH BStBl. 1962, 438; 1964, 248; 1971, 182; 1982, 707; Abschn. R 7.1 (3) GewStR. 6 Vgl. auch Rz. 40. 7 Vgl. § 12 Rz. 19. Zur Veräußerung einer doppelstöckigen Personengesellschaft Hülsemann, DStR 2014, 104. 8 Vgl. § 12 Rz. 18. Die als Voraussetzung für die Begünstigung nach § 16 I Nr. 2 EStG geforderte Aufdeckung aller stillen Reserven (BT-Drucks. 14/6882, 34) ist bei der Abgrenzung des Gewerbeertrags nicht entscheidend (vgl. BFH/NV 2000, 1554).
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§ 13
Rz. 46
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
gewinn nicht auf eine natürliche Person als unmittelbar beteiligter Mitunternehmer entfällt (§ 7 Satz 2 GewStG)1. 46
Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft unterliegen bei einer Kapitalgesellschaft ebenfalls nicht der Gewerbesteuer (§ 8b II KStG; § 7 GewStG). Bei natürlichen Personen, die die Anteile im Betriebsvermögen hatten, sind sie demgegenüber zu 60 % steuerpflichtig (§ 3 Nr. 40 EStG; § 7 GewStG). Werden Anteile an einer Kapitalgesellschaft von einer Personengesellschaft veräußert, ist bei der Ermittlung des Gewerbeertrags der Personengesellschaft in Abhängigkeit von der Rechtsform zu differenzieren. Soweit Kapitalgesellschaften beteiligt sind, ist der Gewinn voll steuerbefreit (§ 8b II, VI KStG; § 7 Satz 4 GewStG). Soweit natürliche Personen beteiligt sind, ist der Gewinn zu 60 % steuerpflichtig (§ 3 Nr. 40 EStG; § 7 GewStG).
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b) Gewerbeverluste: Auch bei einer Kapitalgesellschaft kann sich zukünftig allein durch einen Gesellschafterwechsel eine Minderung von Gewerbeverlusten ergeben. Nach § 10a Satz 8 GewStG; § 8c KStG entfällt der Verlustvortrag quotal bei einer Übertragung von Stimm- oder Anteilsrechten von mehr als 25 % bis zu 50 % Der Verlustvortrag entfällt vollständig bei einer Übertragung von mehr als 50 %2. Wird ein Mitunternehmeranteil veräußert, kann ein Gewerbeverlust nur insoweit abgezogen werden, als die Gesellschafter, die den Betrieb fortführen, vor der Änderung der Beteiligungsverhältnisse am Gewinn der Gesellschaft beteiligt waren3.
3. Erbfall und Schenkung 3.1 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer 48
a) Gewinnrealisierung: Die unentgeltliche Übertragung eines Mitunternehmeranteils (dazu auch § 9 Rz. 431) erfolgt nach § 6 III EStG zwingend mit Buchwertverknüpfung4, so dass die stillen Reserven nicht realisiert, sondern auf den Rechtsnachfolger übertragen werden. Im Gegensatz dazu können die Buchwerte bei der unentgeltlichen Übertragung einer Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft grds. nicht fortgeführt werden. Die Anwendung des § 6 III EStG ist auch bei einer 100 %-Beteiligung (Teilbetrieb) nicht möglich5. b) Verluste: Bei einer Personengesellschaft werden Verluste grds. den Gesellschaftern zugerechnet6 und können dort zu Verlustvorträgen führen. Diese Verlustvorträge konnten in der Vergangenheit zwar nicht durch Schenkung übertragen werden7, jedoch in Erbfällen übergehen8. In Abkehr von seiner früheren Rspr. vertritt der BFH die Auffassung, dass der Erbe einen vom Erblasser nicht ausgenutzten Verlustvortrag nicht mehr geltend machen kann9. Bei einer Kapitalgesellschaft verfällt ein Verlustvortrag nach dem Wortlaut des § 8c KStG demgegenüber sowohl bei Schenkung als auch im Erbfall quotal oder vollständig dann, wenn mehr als 25 % oder mehr als 50 % der Mitgliedschaftsrechte übertragen werden. Vom Zweck der Vorschrift her ist dies nicht zu rechtfertigen, so dass eine teleologische Reduktion geboten ist. 1 Vgl. § 12 Rz. 18; zu den Auswirkungen und Gestaltungsüberlegungen insb. im Hinblick auf die Steuerermäßigung nach § 35 EStG Neu/Hamacher, GmbHR 2014, 841. 2 Vgl. dazu auch Rz. 43. 3 Vgl. dazu § 12 Rz. 35. 4 Zu den Änderungen durch das UntStFG vgl. Rödder/Schumacher, DStR 2001, 1634 (1635 ff.); Rödder/ Schumacher, DStR 2002, 105 (106); Korn, KÖSDI 2005, 14633. 5 Vgl. BFH BStBl. 2006, 457. 6 Vgl. Rz. 43. 7 Vgl. BFH BStBl. 1991, 899. 8 Vgl. H zu 10d EStR 2008; BFH BStBl. 2000, 622; 2002, 487; 2004, 414; 2005, 262; zur Entwicklung der BFH-Rspr. Schmidt/Heinicke33, § 10d EStG Rz. 13; Marx, FR 2005, 612; Rudisch, DB 2006, 976; Strnad, BB 2006, 1774. 9 BFH BStBl. 2008, 608; zu der notwendigen Vertrauensschutzregelung BMF BStBl. I 2008, 809. Vgl. auch Birnbaum, DB 2008, 778; Dötsch, DStR 2008, 641; Witt, BB 2008, 1199; Scheffler, BB 2009, 2469. Krit. dazu auch Schmidt/Heinicke33, § 10d EStG Rz. 14; Fischer/Lackus, DStR 2014, 302.
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Unterschiede in der Besteuerung von Sondervorgängen
Rz. 51
§ 13
c) Steuerermäßigung: Nach § 36b EStG kann die Einkommensteuer auf Antrag durch Anrechnung der Erbschaftsteuer partiell ermäßigt werden1. Soweit bei der Erbschaftsteuer rechtsformabhängige Belastungsunterschiede bestehen, schlagen sie sich mithin auch auf die Einkommensteuer nieder.
3.2 Gewerbesteuer Bei einer Kapitalgesellschaft bleibt der Gewerbeverlust im Erbfall oder bei einer Schenkung nach § 10a GewStG; § 8c KStG vom Wortlaut her nicht mehr unberührt2. Tritt bei einer Personengesellschaft durch Erbfall oder Schenkung ein Gesellschafterwechsel ein, kann ein vorhandener Gewerbeverlust von den ursprünglichen Gesellschaftern nur entsprechend ihrer Beteiligungsquote im Verlustentstehungsjahr genutzt werden3.
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3.3 Erbschaft- und Schenkungsteuer Leistungen zwischen einer Personen- oder einer Kapitalgesellschaft einerseits und ihren Gesellschaftern andererseits sind regelmäßig gesellschaftsrechtlich veranlasst und unterliegen daher grds. nicht der Erbschaft- und Schenkungsteuer4. Erbschaft- und Schenkungsteuer kann jedoch insb. bei der Übertragung von Gesellschaftsanteilen entstehen (§§ 1; 7 ErbStG).
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Nach dem Erbschaftsteuerreformgesetz5 ist die Übertragung des Anteils an einer Personengesellschaft ebenso wie die Übertragung der Anteile an einer Kapitalgesellschaft, die nicht an einer deutschen Börse zum Handel im regulierten Markt zugelassen sind6, im Erb- oder Schenkungsfall grds. rechtsformneutral mit dem gemeinen Wert zu bewerten (§§ 1; 12 II, V ErbStG; 11 II; 109 II BewG)7. Soweit der gemeine Wert nicht aus Verkäufen unter Dritten abzuleiten ist, die weniger als ein Jahr zurückliegen, kann ein vereinfachtes Ertragswertverfahren angewendet werden (§§ 11 II 4; 199 ff. BewG), wenn dies nicht zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führt8. Rechtsformabhängige Differenzierungen9 ergeben sich jedoch für den sog. Verschonungsabschlag (§ 13a I ErbStG), der für begünstigtes Betriebsvermögen nach § 13b I ErbStG gewährt wird, wenn das sog. Verwaltungsvermögen bestimmte Grenzen nicht überschreitet (§ 13b II ErbStG), innerhalb der Lohnsummenfrist eine Mindestlohnsumme eingehalten wird (§ 13a I ErbStG) und die Behaltensfristen nicht verletzt werden (§ 13a V ErbStG)10. Im Einzel-
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Vgl. dazu Herzig/Joisten/Vessel, DB 2009, 584. Vgl. Rz. 48. Vgl. R 10a.3 (3) GewStR. Dazu insb. auch Ley, KÖSDI 2013, 18366, 18466. Vgl. allerdings für Leistungen zwischen Kapitalgesellschaften und ihren Gesellschaften §§ 7 VIII; 15 IV ErbStG. Vgl. zur Auffassung der Finanzverwaltung BStBl. I 2012, 331; dazu insb. Viskorf/Haag, DStR 2012, 1166; Schulte/Petschulat, IFSt-Schrift Nr. 484 (2013); vgl. andererseits dazu BFH-Urt. v. 30.1.2013 – II R 6/12, BStBl. 2013, 930, das von der Finanzverwaltung nicht angewandt wird (BStBl. I 2013, 1465); dazu auch Birnbaum, DB 2013, 1371; Loose, DB 2013, 1080; van Lishaut, FR 2013, 891; Zimmert, DStR 2013, 1654; Buchner, FR 2014, 784; Geck in Kapp/Ebeling, § 7 ErbStG Rz. 209 ff. (2014); zu entsprechenden Leistungsbeziehungen bei Personengesellschaften Geck, KÖSDI 2013, 18290. Vgl. das Gesetz zur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts (Erbschaftsteuerreformgesetz) v. 24.12.2008, BGBl. I 2008, 3018, das grds. auf Erwerbe anzuwenden ist, für die die Steuer nach dem 31.12.2008 entsteht (Art. 1 Nr. 29). Allgemein dazu § 15 Rz. 5 f.; außerdem auch Rödder, DStR 2008, 997; Wiese/Lukas, GmbH 2009, 57; Piltz, Das neue ErbStG im Spiegel des Gleichheitsgebots (Art. 3 GG), FS Schaumburg, 2009, 1067; zum früheren Recht 19. Aufl., § 18 Rz. 263; von Oertzen/Schienke-Ohletz, Ubg. 2009, 406; Korezkij, Ubg. 2009, 638; Stahl, KÖSDI 2010, 17033. Vgl. § 11 II BewG. Für börsennotierte Anteile gilt der Kurswert (§ 111 BewG). Vgl. auch Bäuml, GmbHR 2009, 1135; Riedel, GmbHR 2009, 743. Zu ausländischen Aktien R 95 IV ErbStR 2003. Vgl. dazu allgemein insb. auch Hey, JZ 2007, 564; Seer, ZRP 2007, 116; Dorfleitner/Ilmberger/Meyer-Scharenberg, DBW 2010, 7. Vgl. dazu Balmes/Felten, FR 2009, 258 (259); außerdem auch Piltz, DStR 2008, 745; Schiffers, DStZ 2009, 548; Demuth, KÖSDI, 2011, 17386. Dazu i.E. insb. Balmes/Felten, FR 2009, 258 (259 ff.); Scholten/Korezkij, DStR 2009, 73. Dazu i.E. Urbach, KÖSDI 2014, 19136.
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§ 13
Rz. 52
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
nen gelten für die Übertragung von Unternehmensvermögen die folgenden Regelungen, die nach Auffassung des BVerfG1 verfassungsrechtlich im Grundsatz nicht zu beanstanden sind. In ihrer Ausgestaltung durch §§ 13a, 13b ErbStG sind sie in Teilen, insb. in Bezug auf die – unverhältnismäßige Verschonung größerer Betriebe ohne Bedürfnisprüfung, – Regelung über das Verwaltungsvermögen, – Freistellung von der Mindestlohnsumme beim Erwerb von Betrieben mit bis zu 20 Beschäftigten, – Regelung über das Verwaltungsvermögen, aber nicht mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 I GG zu vereinbaren und insoweit nur noch aufgrund einer bis zum 30.6.2016 befristeten Weitergeltungsanordnung anzuwenden2. 52
– Zum begünstigten Vermögen3 gehören Beteiligungen an Personengesellschaften und Anteile an Kapitalgesellschaften, die im Rahmen des Erwerbs ertragsteuerlichen Betriebsvermögens übergehen, und zwar unabhängig von der Beteiligungshöhe (§ 13b I Nr. 2 ErbStG). Im Privatvermögen sind Beteiligungen an Kapitalgesellschaften demgegenüber nur dann begünstigt, wenn eine unmittelbare Beteiligung am Nennkapital von mehr als 25 % oder eine sog. Poolvereinbarung besteht (§ 13b I Nr. 3 ErbStG)4.
53
– Liegt begünstigtes Vermögen vor, ist die Gewährung des Verschonungsabschlags von 85 % im gesetzlichen Grundfall des § 13a I ErbStG weiterhin davon abhängig, ob, inwieweit und seit wann das begünstigte Vermögen sog. Verwaltungsvermögen enthält5. – Dem Grunde nach sind Beteiligungen an einer Personengesellschaft unabhängig von der Beteiligungshöhe kein – schädliches – Verwaltungsvermögen, während die Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft grds. nicht begünstigt ist, wenn die unmittelbare Beteiligung am Nennkapital 25 % oder weniger beträgt (§ 13b II 2 Nr. 2 ErbStG) und keine Poolvereinbarung besteht (§ 13b II 2 Nr. 2 ErbStG) – Liegt der Wert des Verwaltungsvermögens bei mehr als 50 %, kommt der Verschonungsabschlag nicht in Betracht (§ 13b II ErbStG). – Liegt der Wert des Verwaltungsvermögens nicht bei mehr als 50 %, ist es gleichwohl insoweit nicht begünstigt, als es dem Betrieb im Besteuerungszeitpunkt weniger als zwei Jahre zuzurechnen ist (§ 13b II 3 ErbStG)6.
1 Urt. v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BStBl. 2015, 50. 2 Vgl. dazu i.E. § 15 Rz. 106 ff.; außerdem auch Stalleiken, DB 2015, 18; Piltz, DStR 2015, 97. 3 Dazu grds. insb. Stahl, KÖSDI, 2010, 16820; Weber/Schwend, DStR 2011, 13; vgl. auch Gleichlautender Ländererlass, BStBl. I 2010, 713, A 21 V; Noll, Schenkungsteuerliche Fragen bei der Übertragung von Anteilen an Personengesellschaften im Lichte aktueller Entwicklungen, FS Schaumburg, 2009, 1025. 4 Dazu Kreklau, BB 2009, 748; von Oertzen, Der erbschaftsteuerliche Poolvertrag gemäß § 13b 1 Nr. 3 ErbStG. Ein Beispiel interdisziplinärer Beratung, FS Schaumburg, 2009, 1045; Feick/Nordmeier, DStR 2009, 893; Rohde/Gemeinhard, StuB 2009, 709; Söffing/Thonemann, DB 2009, 1836. 5 Vgl. dazu auch Scholten/Korezkij, DStR 2009; 147; Dillberger/Fest, DStR 2009, 671; Kamps, FR 2009, 353; Schulze zur Wiesche, DStR 2009, 732. Krit. zum Verwaltungsvermögenstest insb. Hannes/Steger/ Stalleiken, DStR 2009, 2029. Zu den Änderungen der §§ 13a, 13b ErbStG durch das AmtshilfeRLUmsG (BGBl. I 2013, 1809, 1842); vgl. Oberste Finanzbehörden der Länder BStBl. I 2013, 1272; dazu auch Korezkij, DStR 2013, 2550; Bäuml, StuB 2012, 706; Felten, BB 2012, 2275; Krause, DStZ 2014, 115. 6 Zur Ergänzung des § 13b II ErbStG in Bezug auf die Ermittlung der Verwaltungsvermögensquote bei Kapitalgesellschaften und des sog. jungen Verwaltungsvermögens im Rahmen des JStG 2010 (BStBl. I 2010, 1393 [1421]) vgl. Melchior, DStR 2010, 2481; Siegmund/Zipfel, DStZ 2010, 474; Scholten/Korezkij, DStR 2010, 1721; Schulte/Pfeifer/Birnbaum, DB 2010, 812; Wachter, DB 2010, 2691 (2695). Zur Rechtslage nach Einführung des § 13b II 7 ErbStG nach dem 7.6.2013 vgl. Mayer/Gries, DStZ 2014, 689.
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Montag
Unterschiede in der Besteuerung von Sondervorgängen
Rz. 56
§ 13
– Für das verbleibende begünstigte Vermögen wird ein Verschonungsabschlag gewährt, der grds. 85 % (§§ 13a I; 13b IV ErbStG) beträgt. Der Verschonungsabschlag entfällt im Grundfall jedoch rückwirkend insoweit in dem prozentualen Umfang1, in dem die Summe der maßgebenden Lohnsummen innerhalb der Lohnsummenfrist von fünf Jahren 400 % der Ausgangslohnsumme (Mindestlohnsumme) unterschreitet (§ 13a I ErbStG)2. Der Verschonungsabschlag entfällt darüber hinaus mit Wirkung für die Vergangenheit zeitanteilig auch insoweit, als innerhalb der Behaltensfrist von fünf Jahren eine schädliche Disposition, insb. Veräußerung, erfolgt (§ 13a V ErbStG)3. Soweit der Verschonungsabschlag nicht zur Freistellung führt, kann ein Abzugsbetrag, der maximal 150 000 Euro beträgt und größenabhängig gekürzt wird, abgezogen werden (§ 13a II ErbStG). Der verbleibende Betrag wird voll versteuert, wobei bei Erwerbern der StKl. II und III ein Entlastungsbetrag nach § 19a ErbStG zur Anwendung kommen kann. Eine Stundung nach § 28 ErbStG kommt nur insoweit in Betracht, als Betriebsvermögen vorliegt. – Alternativ kann auch eine unwiderrufliche Option für einen Verschonungsabschlag i.H.v. 100 % ausgeübt werden, wenn der Erwerber den Betrieb für sieben Jahre fortführt, die Lohnsumme nach zehn Jahren nicht weniger als 700 % der Lohnsumme im Erwerbszeitpunkt beträgt und der Anteil des Verwaltungsvermögens am gesamten Betriebsvermögen 10 % nicht übersteigt (§ 13a VIII ErbStG).
54
4. Liquidation 4.1 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer4 Bei der Liquidation einer Kapitalgesellschaft ist der im Abwicklungszeitraum erzielte Gewinn bei der Kapitalgesellschaft zu versteuern, wobei die Rechtslage, insb. auch hinsichtlich des anzuwendenden Steuersatzes, des Veranlagungszeitraums maßgebend ist, in dem der Besteuerungszeitraum endet5. Soweit natürliche Personen beteiligt sind, sind die Liquidationsraten im Betriebsvermögen, bei Einkünften nach § 17 EStG oder den Einkünften aus Kapitalvermögen zu 60 % anzusetzen (§ 3 Nr. 40c EStG)6. Im Privatvermögen unterliegen sie der Abgeltungsteuer, soweit sie nicht unter § 17 EStG fallen und die Anteile nach dem 31.12.2008 erworben wurden7. Bei einer Kapitalgesellschaft sind die Liquidationsraten demgegenüber nach § 8b II KStG grds. steuerbefreit8.
55
Bei der Beteiligung an einer Personengesellschaft werden Aufgabegewinne (§ 16 III EStG) unabhängig von der Höhe der Beteiligung als Einkünfte aus Gewerbebetrieb versteuert. Bei natürlichen Personen unterliegt ein Aufgabegewinn unter Berücksichtigung des Freibetrags, der nach § 16 IV EStG altersbedingt oder bei dauernder Berufsunfähigkeit einmal im Leben
56
1 Entgegen dem RegEntw. (BT-Drucks. 16/7918, 55 ff.) kommt es also nicht zu einem Fallbeileffekt. Vgl. dazu auch Balmes/Felten, FR 2009, 258 (267); Scholten/Korezkij, DStR 2009, 253. 2 Vgl. zu den Behaltensregeln Oberste Finanzbehörde der Länder BStBl. I 2013, 1508; dazu auch Rödder/Dietrich, Ubg. 2014, 90; außerdem Immes, Ubg. 2011, 855. 3 Vgl. dazu insb. auch Balmes/Felten, FR 2009, 258 (268); Scholten/Korezkij, DStR 2009, 304; Hannes/ Onderka, ZEV 2009, 10 (12); Weng, BB 2009, 1780; Zipfel/Lahme, DStZ 2009, 633. Die Umwandlung einer Kapitalgesellschaft ist entgegen der früheren Rechtslage und dem RegEntw. im Interesse der Rechtsformneutralität nicht mehr schädlich. Vgl. dazu auch Crezelius, ZEV 2009, 1 (5). 4 Verfassungsrechtlich dazu insb. Keß, Ertragsbesteuerung bei Liquidationen, Diss., 2008. 5 Während der BFH BStBl. 2008, 319, die Auffassung vertritt, dass für den Zeitraum, für den bei noch nicht abgeschlossener Liquidation eine Körperschaftsteuerveranlagung durchzuführen ist, auch eine Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrags zu erfolgen hat, will die Finanzverwaltung dieses Urteil nach BMF BStBl. I 2008, 542, nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus anwenden. Vgl. auch RFH RStBl. 1939, 589; BMF BStBl. I 2003, 434; außerdem Dötsch/Jost/Pung/Witt, § 11 KStG Rz. 21; Frotscher/Maas, § 11 KStG Rz. 27; Blümich, § 11 KStG Rz. 42; Fuhrmann, KÖSDI 2006, 14906 (14912). 6 Vgl. i.E. Schmidt/Weber-Grellet33, § 17 EStG Rz. 210 ff. m.w.N. 7 Vgl. dazu Rz. 41. 8 Vgl. Jünger, BB 2001, 69.
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§ 13
Rz. 57
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
gewährt wird, dem ermäßigten Steuersatz nach § 34 EStG. Wenn der Stpfl. das 55. Lebensjahr vollendet hat oder dauernd berufsunfähig ist, kommt auf Antrag einmal im Leben der halbe Steuersatz nach § 34 III EStG in Betracht. Wird der Antrag nach § 34 III nicht gestellt oder der begünstigte Höchstbetrag von insg. 5 Mio. Euro überschritten, kann die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes nach der Fünftelregelung des § 34 I EStG beantragt werden1.
4.2 Gewerbesteuer 57
a) Steuerpflicht: Die Gewerbesteuerpflicht endet bei einer Kapitalgesellschaft nicht (wie bei der Personengesellschaft) bereits mit der Beendigung (d.h. mit der Einstellung) der gewerblichen Tätigkeit2, sondern erst mit der letzten Abwicklungshandlung3. Anders als bei Personengesellschaften unterliegt nicht nur der während der Abwicklung entstehende Gewinn bei der Kapitalgesellschaft der Gewerbeertragsteuer4. Nach der h.M.5 werden auch Gewinne aus der Veräußerung von Betrieben und Teilbetrieben erfasst6.
58
b) Liquidationsgewinn: Bei einer Personengesellschaft unterliegt ein Aufgabegewinn i.S.d. § 16 III EStG grds. nicht der Gewerbesteuer7. Liquidationsgewinne aus einer Kapitalgesellschaft unterliegen bei natürlichen Personen demgegenüber im Rahmen eines Gewerbebetriebs zu 60 % der Gewerbesteuer (§ 3 Nr. 40 EStG; § 7 GewStG). Bei Kapitalgesellschaften sind sie grds. in voller Höhe freigestellt (§ 8b II KStG; § 7 GewStG)8.
59–69
Einstweilen frei.
B. Besteuerung zusammengesetzter Unternehmensformen9 70
In Anbetracht der bestehenden Unterschiede bei der Besteuerung von Personen- und Kapitalgesellschaften ist der Versuch, die steuerlichen Vorteile der vom Gesetzgeber vorgegebenen Rechtsformen zu kombinieren und gleichzeitig ihre Nachteile zu vermeiden, nach wie vor von Bedeutung10. Er findet seinen Niederschlag in Unternehmensformen, die nicht mit dem zivilrechtlichen Ordnungsrahmen einer Rechtsform übereinstimmen, sondern sich aus mehreren Rechtsformen zusammensetzen und in ihrer steuerlichen Behandlung zumindest partiell Besonderheiten gegenüber den zivilrechtlichen Grundtypen aufweisen.
I. GmbH & Co. KG Literatur: Schiffers, Die mittelständische GmbH & Co. KG im Rechtsformvergleich nach der Unternehmensteuerreform 2008, GmbHR 2007, 505; Schiffers, Die Tarifänderung für die GmbH & Co. KG nach der Unternehmensteuerreform 2008 und ihre Konsequenzen, GmbHStB 2007, 243; Günther, GmbH oder GmbH & Co. KG – welche Rechtsform ist steuerlich günstiger?, Gestaltende Steuerberatung 2007, 99; Mohr, Aktuelle Brennpunkte der Vertragsgestaltung bei GmbH & Co. KG, GmbHStB 2009, 115; Altendorf, Aktuelle Hinweise zur GmbH & Co. KG, GmbHStB 2009, 211; 1 Vgl. dazu i.E. auch Rz. 40. 2 Vgl. RFH RStBl. 1938, 910; 1938, 911; 1939, 5; 1941, 386; R 2.5 (1), H 2.5 (1) GewStR. Dazu auch Lenski/Steinberg/Sarrazin, § 2 GewStG Anm. 2468 ff. 3 Vgl. RFH RStBl. 1939, 543; 1940, 116; 1940, 435; BFH BStBl. 1980, 658; R 2.5 (1), H 2.5 (1) GewStR. 4 Vgl. dazu auch BFH BStBl. I 2008, 312; BMF BStBl. I 2008, 542; R 2.6 (2–4) GewStR. 5 BFH BStBl. 1990, 699 m.w.N.; H 7.1 (3) Nr. 2, 7.1 (4) GewStR. 6 Glanegger/Güroff8, § 2 GewStG Rz. 475. 7 Vgl. R 2.6 (1) GewStR. 8 Vgl. insoweit auchRz. 45 zur Behandlung von Veräußerungsgewinnen. 9 Für die wertvolle Unterstützung bei der Überarbeitung des § 13 B danken wir Herrn RA Dr. Christoph Kraus. 10 Vgl. dazu insb. Förster/Brinkmann, BB 2002, 1289; Müller-Gatermann, Stbg. 2007, 145. Zu der Frage, ob die Einführung einer optionalen transparenten Besteuerung der GmbH das Konstrukt der GmbH & Co. KG redundant werden ließe, Fechner/Lethaus, FS H. Schaumburg, 2009, 287.
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GmbH & Co. KG
Rz. 74
§ 13
Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, GmbH & Co. KG20, 2009; Wagner/Rux, Die GmbH & Co. KG12, 2013; Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG11, 2010; Pflüger, Ist die GmbH oder die GmbH & Co. KG die steuerlich günstigere Rechtsform, GmbHStB 2011, 424; Söffing, Die GmbH & Co. KG2, 2013. Zur älteren Lit. vgl. 16.–21. Aufl.
Die GmbH & Co. KG ist handelsrechtlich eine Personengesellschaft1. Alleiniger Komplementär der KG ist i.d.R. eine GmbH2, so dass sich für die beteiligten natürlichen Personen eine vollständige Haftungsbeschränkung ergibt3. Sind die Gesellschafter der Komplementär-GmbH in gleicher Höhe auch als Kommanditisten an der KG beteiligt, liegt eine GmbH & Co. KG i.e.S. vor4.
71
Für die Besteuerung dieser Unternehmensform, gelten grds. die allgemeinen Regeln, so dass sich die Vorteile von GmbH und Personengesellschaft durch entsprechende Vertragsgestaltung zumindest teilweise kombinieren lassen5. Bedeutsam ist vor allem die unmittelbare Verlustzurechnung bei gleichzeitiger Haftungsbeschränkung für die Gesellschafter. Gegenüber der grundsätzlichen Behandlung von Personen- und Kapitalgesellschaften sind jedoch im Wesentlichen die folgenden Besonderheiten zu beachten6.
72
1. Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer a) Steuerpflicht: Mit dem Beschluss des Großen Senats7 hat der BFH klargestellt, dass eine GmbH & Co. KG auch dann nicht Körperschaftsteuersubjekt ist, wenn sie als sog. Publikums-KG organisiert ist und insoweit körperschaftliche Strukturen aufweist. Steuersubjekte sind vielmehr die natürlichen (§ 1 EStG) und juristischen Personen (§ 1 KStG), die als Gesellschafter an der KG beteiligt sind.
73
b) Einkunftsart: Nach der Aufgabe der Geprägetheorie durch den BFH hat der Gesetzgeber die Grundsätze der früheren Rspr. mit der Einführung des § 15 III Nr. 2 EStG gesetzlich verankert8. Die Tätigkeit einer GmbH & Co. KG, bei der ausschließlich Kapitalgesellschaften persönlich haftende Gesellschafter sind und bei der nur diese Kapitalgesellschaften oder Nichtgesellschafter zur Geschäftsführung befugt sind, gilt demnach auch dann als Gewerbebetrieb, wenn die Tätigkeit der Gesellschaft an sich nicht unter § 15 I 1 Nr. 1 EStG fällt9.
74
1 Zur GmbH & Co. GbR vgl. von Gronau/Konold, DStR 2001, 1926 ff.; Paus, DStZ 2002, 66; BMFSchreiben v. 17.3.2014 – IV C 6 - S 2241/07/10004; zur GmbH & Co. KGaA: Kohlruss, GmbHR 2003, 709; Sauter, StB 2006, 183; Bauschatz, DStZ 2007, 39. Zur Übertragung des Geschäftsbetriebs einer GmbH & Co. KG auf eine GmbH Schäffler/Gebert, DStR 2010, 636. 2 Zur grundl. Reform des GmbH-Rechts durch das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.10.2008 vgl. BGBl. I, 2026. 3 Mit der Unternehmergesellschaft ist durch das MoMiG eine weitere Gesellschaftsform eingeführt worden, die als Komplementär in Betracht kommt, vgl. dazu Heeg, DB 2009, 719; Koch/Vater/Mraz, BB 2009, 848; Rüdiger, GmbHR 2011, 459. 4 Zur Einheits-GmbH & Co. KG, bei der sich die Anteile an der Komplementär-GmbH im Gesamthandsvermögen der KG befinden Krietenstein, StuB 2006, 16; Werner, DStR 2006, 706. 5 Binz/Sorg, GmbHR 2011, 281. 6 Zu ertragsteuerlichen Fragen im Zusammenhang mit der Liquidation einer GmbH & Co. KG Ley, KÖSDI 2005, 14815; Schmidt-Naschke/Rehm, DStR 2013, 2085. 7 BFH BStBl. II 1984, 751; 95, 794. Vgl. dazu auch Herzig, BB 1985, 741; Streck, DStR 1986, 3. Zur Publikums-GmbH & Co. KG vgl. auch Maurer, Die Besteuerung von Anleger-Kommanditgesellschaften, 1999; Zacher, DStR 1999, 1838; Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, GmbH & Co. KG20, § 2 Rz. 354 ff. 8 Vgl. dazu insb. Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 211; Ley, KÖSDI 2004, 14032. Vgl. auch BFH BStBl. II 2001, 164; dazu Söffing, DB 2003, 905. 9 Da Personengesellschaften die zur Geschäftsführung berechtigten Personen grds. frei bestimmen können, steht einer nicht gewerblich tätigen GmbH & Co. KG faktisch ein Wahlrecht zur Behandlung als gewerblich geprägte Personengesellschaft oder nicht gewerbliche Personengesellschaft zu. Die Verfassungsmäßigkeit des § 15 III Nr. 2 EStG hat der BFH noch einmal ausdrücklich bestätigt in BStBl. II 2004, 464 (466).
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§ 13
Rz. 75
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
75
c) Betriebsvermögen: Sind die Gesellschafter der Komplementär-GmbH gleichzeitig Kommanditisten der GmbH & Co. KG, gehören die von den Kommanditisten gehaltenen Anteile an der Komplementär-GmbH zu ihrem Sonderbetriebsvermögen II1. Begründet wird die Zugehörigkeit zum SBV II damit, dass die GmbH-Anteile es dem Kommanditisten ermöglichen, über seine Stellung in der Komplementär-GmbH Einfluss auf die Geschäftsführung der GmbH & Co. KG auszuüben2. SBV liegt allerdings nur vor, wenn sich die GmbH auf die Geschäftsführung für die KG beschränkt oder wenn ein daneben bestehender Gewerbebetrieb von ganz untergeordneter Bedeutung ist3. Dividenden der Komplementär-GmbH stellen Sonderbetriebseinnahmen dar und sind damit Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Je nachdem, ob es sich bei dem Gesellschafter um eine natürliche Person oder eine Kapitalgesellschaft handelt, unterliegen sie dem Teileinkünfteverfahren (§ 3 Nr. 40d EStG) oder können grds. steuerfrei vereinnahmt werden (§ 8b I KStG). Die Gewinne aus der Veräußerung der Anteile erfahren eine entsprechende Behandlung. Sie werden bei natürlichen Personen als Gesellschafter nach dem Teileinkünfteverfahren (§ 3 Nr. 40a EStG) belastet, bei Kapitalgesellschaften als Gesellschafter sind sie nach § 8b II KStG grds. steuerfrei.
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d) Gewinnverteilung: Da die GmbH & Co. KG Personengesellschaft ist, wird ihr Gewinn einheitlich festgestellt und auf die Gesellschafter verteilt (§§ 179; 180 AO). Wenn die Gesellschafter in der Lage sind, ihre gleichlaufenden Interessen in der KG und der GmbH gemeinsam zu verwirklichen, ist die Angemessenheit der Gewinnverteilung zu überprüfen4. Wird dabei die GmbH benachteiligt, liegt eine verdeckte Gewinnausschüttung vor5.
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e) Geschäftsführergehälter: Übt ein GmbH-Gesellschafter, der zugleich Kommanditist einer gewerblichen GmbH & Co. KG ist, die Geschäftsführung der GmbH aus, so erkennt der BFH das Vertragsverhältnis zwischen GmbH und Gesellschafter nicht an; das Geschäftsführergehalt ist zwar bei der GmbH Betriebsausgabe, gehört beim Gesellschafter-Geschäftsführer jedoch nicht zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, sondern als Vergütung der KG zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb, die im Gesamtgewinn der KG enthalten sind6. Soweit die Komplementär-GmbH eine eigene Geschäftstätigkeit von nicht untergeordneter Bedeutung ausübt, dürfte eine Aufteilung erforderlich sein7. Bei überhöhten Tätigkeitsvergütungen können sich verdeckte Gewinnausschüttungen ergeben8.
1 BFH BStBl. II 1995, 174; 1999, 286. Vgl. dazu auch Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 714. Ob die GmbH-Anteile wesentliche Betriebsgrundlagen sind, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Vgl. dazu OFD Münster, GmbHR 2009, 108; Brandenberg, DB 2003, 2563. 2 BFH BStBl. II 1991, 510. Krit. zur Rspr. des BFH: Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, § 11 I 2, 444 ff. Vgl. auch das vor dem BFH anhängige Verfahren, in dem die Frage erörtert wird, ob der Anteil von 5 % am Nennkapital der Komplementär-GmbH notwendiges Sonderbetriebsvermögen des zu 5 % an der GmbH & Co. KG beteiligten Kommanditisten ist, auch wenn der Kommanditist nicht an der Geschäftsführung der Komplementär-GmbH beteiligt ist und somit keinen besonderen Einfluss auf die Geschäftsführung der KG ausüben kann (BFH IV R 1/12 oder BFH/NV 2012, 723). 3 Vgl. BFH BStBl. II 1986, 55 (57); 1991, 510. Teile der Rspr. und der Finanzverwaltung (vgl. EFG 1994, 513; DStR 2001, 1032 u. 2002, 1860) nehmen SBV auch bei einer eigenständigen Tätigkeit der GmbH von nicht ganz untergeordneter Bedeutung an, wenn die Komplementär-GmbH über ihre gesellschaftsrechtliche Verbundenheit hinaus auch wirtschaftlich mit der GmbH & Co. KG verflochten ist. Anders OFD Nordrhein-Westfalen, Verfügung v. 17.6.2014, S 2242 - 2014/0003 - St 114. 4 Vgl. dazu insb. Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 722 ff. 5 Vgl. auch BFH BStBl. II 1977, 467; 1977, 477; 1977, 504; Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, Handbuch der GmbH & Co.20, § 7 Rz. 196 ff.; Wassermeyer, GmbHR 1999, 18. 6 Vgl. BFH BStBl. II 1993, 792; 1999, 720. Dies gilt auch dann, wenn der Kommanditist die Management-Leistung über die Zwischenschaltung einer Kapitalgesellschaft erbringt. Vgl. BFH BStBl. II 2003, 191; zu Pensionsrückstellungen BFH BStBl. II 2005, 88; 2008, 171; vgl. dazu Fuhrmann/Demuth, WPg. 2007, 77; Kolbe, StuB 2007, 109; Paus, FR 2007, 463. 7 Vgl. Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 717. 8 Vgl. dazu i.E. Wassermeyer, GmbHR 1999, 18; BMF BStBl. I 1998, 90.
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Montag
Betriebsaufspaltung
Rz. 81
§ 13
2. Gewerbesteuer1 a) Steuerpflicht: Nach § 2 I 2 GewStG ist ein Gewerbebetrieb ein gewerbliches Unternehmen i.S.d. EStG2. Damit gelten die Geprägegrundsätze des § 15 III Nr. 2 EStG auch im Gewerbesteuergesetz. Die sachliche Gewerbesteuerpflicht beginnt trotz der gewerblichen Prägung anders als bei einer Kapitalgesellschaft erst dann, wenn sämtliche Tatbestandsmerkmale eines Gewerbebetriebs erfüllt sind, insb. die tatsächliche Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr vorliegt3. Entsprechend endet die Steuerpflicht bereits mit der tatsächlichen Einstellung des Betriebs4.
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b) Geschäftsführergehälter: Erhält ein Kommanditist, der zugleich Geschäftsführer der Komplementär-GmbH ist, für diese Geschäftsführertätigkeit eine Vergütung, so unterliegt diese Vergütung der Gewerbeertragsteuer5.
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II. Betriebsaufspaltung Literatur: Baumert/Schmidt-Leithoff, Die ertragsteuerliche Behandlung der Betriebsaufspaltung nach der Unternehmensteuerreform 2008, DStR 2008, 888; Levedag, Die Betriebsaufspaltung im Fadenkreuz der Unternehmensteuerreform und des Jahressteuergesetzes 2008, GmbHR 2008, 281; Wälzholz, Aktuelle Probleme der Betriebsaufspaltung, GmbHStB 2008, 304; Strahl, Umgekehrte und mitunternehmerische Betriebsaufspaltung als Gestaltungsmodelle unter besonderer Berücksichtigung der Unternehmensteuerreform 2008, in FS Schaumburg, 2009, 493; Mohr, Aktuelle Gestaltungsfragen zur Betriebsaufspaltung, GmbHStB 2009, 134; Söffing/Micker, Die Betriebsaufspaltung, Formen, Voraussetzungen, Rechtsfolgen5, 2013; Schulze zur Wiesche, Die Betriebsaufspaltung in der Rechtsprechung der letzten Jahre, StBp 2010, 256; Neufang/Otto, BB-Rechtsprechungsreport Betriebsaufspaltung 2010/2011, BB 2011, 2967; Crezelius, Die Betriebsaufspaltung – ein methodologischer Irrgarten, in FS Streck, 2011, 45; Kußmaul/Schwarz, Besteuerungsfolgen im Rahmen der echten Betriebsaufspaltung zwischen zwischen Besitzpersonen – und Betriebskapitalgesellschaft, GmbHR 2012, 1055; Micker, Aktuelle Praxisfragen der Betriebsaufspaltung, DStR 2012, 589; Kaligin, Die Betriebsaufspaltung8, 2013; Dreßler, Neues zur Betriebsaufspaltung – ein Überblick über die aktuelle BFH-Rechtsprechung, Ubg. 2014, 240 Carlé, Die Betriebsaufspaltung2, 2014. Zur älteren Lit. vgl. 16.–21. Aufl.
Eine Betriebsaufspaltung (Betriebsteilung, Doppelgesellschaft oder auch Doppelunternehmen) ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Person oder eine Personengruppe (das Besitzunternehmen) Anlagevermögen an eine gewerblich tätige Personen- oder Kapitalgesellschaft (das Betriebsunternehmen) verpachtet oder es dem Betriebsunternehmen auf andere Weise zur Nutzung überlässt. Ist das Betriebsunternehmen eine Personengesellschaft, liegt eine mitunternehmerische Betriebsaufspaltung vor6.
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Die Betriebsaufspaltung zwischen einer Besitzpersonengesellschaft und einer Betriebskapitalgesellschaft entsteht durch die Ausgründung einer Kapitalgesellschaft aus einer Personengesellschaft (echte Betriebsaufspaltung), durch die Neugründung zweier rechtlich selbständiger Gesellschaften (unechte Betriebsaufspaltung) oder durch die Abspaltung einer Personengesell-
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1 Zu den geänderten Belastungswirkungen für die GmbH & Co. KG auf Grund der Ausweitung der Gewerbebesteuerung durch das UntStRefG 2008 Stollenwerk, GmbHStB 2007, 276 u. 313; Wesselbaum-Neugebauer, GmbHR 2007, 1300. 2 Zu der Frage, ob die Freiberufler GmbH & Co. KG einen Gewerbebetrieb darstellt, BFH, Urt. v. 10.10.2012 – VIII R 42/10, BStBl. II 2013, 79; vgl. dazu Autenrieth, WPg. 2014, 139. 3 BFH BStBl. II 1995, 900; 1998, 745; 2004, 464. Vgl. auch R 2.5 I GewStR. 4 Vgl. R 2.6 I GewStR; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 232. Zu den gewerbesteuerlichen Auswirkungen bei der Veräußerung von Mitunternehmeranteilen bei der GmbH & Co. KG vgl. Neumayer/Obser, EStB 2008, 445. 5 BFH BStBl. II 1979, 284. 6 Zur Behandlung der mitunternehmerischen Betriebsaufspaltung und zum Verhältnis zu § 15 I 1 Nr. 2 EStG BFH BStBl. II 1998, 325; 1999, 483; 2000, 399; 2005, 830; 2008, 129; 2012, 10; FR 2008, 277 m. Anm. Kanzler; BMF BStBl. I 1998, 583; 2006, 766. Vgl. dazu auch Gebhardt, EStB 2007, 65; Kratzsch, StB 2007, 89; Schulze zur Wiesche, StBp. 2010, 256. Zur Frage der Abfärbung auf transparente Betriebsgesellschaften vgl. Dreßler, DStR 2013, 1818.
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§ 13
Rz. 82
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
schaft aus einer Kapitalgesellschaft (umgekehrte Betriebsaufspaltung)1. Steuerlich ist die Betriebsaufspaltung vor allem aus folgenden Gründen interessant: Wie bei einem reinen Personenunternehmen werden Verluste der Besitzgesellschaft unmittelbar zugerechnet, und erbschaftsteuerlich kann von der Begünstigung von Betriebsvermögen Gebrauch gemacht werden2. Wie bei einer reinen Kapitalgesellschaft sind die Geschäftsführungsvergütungen der Betriebsgesellschaft abzugsfähig, für Gesellschafter-Geschäftsführer der Betriebsgesellschaft können Pensionsrückstellungen gebildet werden, was vor allem im Hinblick auf die Minderung der Gewerbesteuer interessant war, sich jedoch im Hinblick auf die Anrechnung der Gewerbesteuer nach § 35 EStG relativiert hat3. I.Ü. gelten gegenüber der grundsätzlichen Behandlung von Personen- und Kapitalgesellschaften im Wesentlichen die folgenden Besonderheiten:
1. Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer 82
a) Einkunftsart: Miet- und Pachtverträge zwischen einer Kapitalgesellschaft und ihren Gesellschaftern werden i.d.R. steuerrechtlich anerkannt. Bei personeller und sachlicher Verflechtung zwischen Besitz- und Betriebsunternehmen nimmt der BFH jedoch keine Vermögensverwaltung i.S.d. § 14 AO an, sondern geht davon aus, dass sich das Besitzunternehmen über die Kapitalgesellschaft am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr beteiligt (§ 15 II EStG) und daher mit seinen Pachteinnahmen gewerbliche Einkünfte erzielt4. Diese Beurteilung wird vom BVerfG gebilligt5, obwohl es an einer Regelung, die die Grundsätze der Betriebsaufspaltung gesetzlich festlegt, nach wie vor mangelt6.
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Eine sachliche Verflechtung7 von Besitz- und Betriebsunternehmen liegt dann vor, wenn das überlassene Wirtschaftsgut für die Betriebsgesellschaft eine der wesentlichen Betriebsgrundlagen ist, d.h. nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zur Erreichung des Betriebszwecks der Betriebsgesellschaft erforderlich ist und besonderes Gewicht für deren Betriebsführung besitzt8. Unbebaute Grundstücke sind wesentliche Betriebsgrundlagen, falls sie betriebsnotwendig sind oder von der Betriebsgesellschaft mit Zustimmung des Besitzunternehmens für betriebliche Zwecke bebaut werden9. Der Betriebsgesellschaft zur Nutzung überlassene Gebäude verkörpern nach der zunehmend extensiven Auslegung der Rspr. regelmäßig wesentliche Betriebs-
1 Zur Betriebsaufspaltung über die Grenze Haverkamp, IStR 2008, 165; Jarzynska/Klipstein, StB 2009, 239; Schulze zur Wiesche, BB 2013, 2463. Zu den Implikationen des durch das AmtshilfeRLUmsG (BGBl. I 2013, 1809) eingeführten § 50i EStG auf Fälle der grenzüberschreitenden Betriebsaufspaltung vgl. Crezelius, FR 2013, 1065 (1067 f.); Schulze zur Wiesche, BB 2013, 2463 (2466 f.); Rödder/Kuhr/ Heimig, Ubg. 2014, 477. 2 Zur Bedeutung der Erbschaftsteuerreform für die Betriebsaufspaltung vgl. Wehrheim/Rupp, DB 2008, 1455; Braun, Ubg. 2009, 647. 3 Vgl. zu den Vor- und Nachteilen der Betriebsaufspaltung Butz-Seidl, GmbHStB 2007, 240; Baumert/ Schmidt-Leithoff, DStR 2008, 888; Strahl, FS Schaumburg, 493; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 804; HHR/Gluth, § 15 EStG Anm. 772 (2013). 4 Vgl. insb. BFH BStBl. II 1972, 63; 1986, 296; 1994, 466; 1997, 569; 2000, 417; BFH/NV 2001, 1560. 5 BVerfGE 25, 28; 69, 188; HFR 1995, 223; NJW 2004, 2513; FR 2005, 139. Krit. zu dieser Rspr. Knobbe-Keuk, StbJb. 1980/81, 335 (349); Döllerer, GmbHR 1986, 165; Seer, BB 2002, 1833; Carlé, Die Betriebsaufspaltung, 4 ff.; HHR/Gluth, § 15 EStG Rz. 773 (2013). 6 Vgl. BR-Drucks. 165/85; BT-Drucks. 10/4513; dazu auch Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 806 f.; Flume, DB 1985, 115; IDW, WPg. 1985, 339; Knobbe-Keuk, BB 1985, 945. 7 Zu dem Kriterium der sachlichen Verflechtung, Ritzrow, StBp. 2009, 54 (111); Micker, DStR 2012, 589; Kußmaul/Schwarz, GmbHR 2012, 834. 8 Vgl. BFH BStBl. II 1970, 17; 1989, 1014; 1997, 565; 2009, 803; BFH/NV 2010, 208. Maßgeblich für die Beurteilung des Vorliegens einer wesentlichen Betriebsgrundlage sind somit allein funktionale Gesichtspunkte (BFH BStBl. II 1989, 1014). Anders als bei der Betriebsveräußerung (-aufgabe) ist der Umfang der stillen Reserven irrelevant. 9 BFH BStBl. II 1989, 1014; 1998, 478; 2002, 662.
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Betriebsaufspaltung
Rz. 86
§ 13
grundlagen1. Auf standardisierte Büro- und Verwaltungsgebäude2 trifft dies mittlerweile ebenso zu wie auf „Allerweltsgebäude“3. Eine Ausnahme gilt praktisch nur dann, wenn das Gebäude für den Betrieb der Betriebsgesellschaft qualitativ oder quantitativ von völlig untergeordneter Bedeutung ist4. Die personelle Verflechtung ist dann gegeben, wenn die an Besitz- und Betriebsunternehmen beteiligten natürlichen Personen einen einheitlichen geschäftlichen Betätigungswillen haben, d.h. wenn die Personen, die das Besitzunternehmen beherrschen, in der Lage sind, ihren Willen auch in der Betriebsgesellschaft durchzusetzen5. Bei der Beurteilung der personellen Verflechtung darf nach dem Beschluss des BVerfG v. 12.3.19856 nicht mehr von der widerlegbaren Vermutung ausgegangen werden, Eheleute verfolgten gleichgerichtete Interessen. Eine Zusammenrechnung von Anteilen der Eheleute ist insofern nur in den Fällen gerechtfertigt, in denen nur an einem der Unternehmen beide Eheleute beteiligt sind und zusätzlich zur ehelichen Lebensgemeinschaft Beweisanzeichen vorhanden sind, die für die Annahme einer personellen Verflechtung durch gleichgerichtete Interessen sprechen7; dementsprechend ist grds. auch bei minderjährigen Kindern zu verfahren8. Bei einer Gütergemeinschaft liegt die personelle Verflechtung dann vor, wenn sowohl das Betriebsgrundstück als auch die Mehrheit der Anteile an der Betriebsgesellschaft zum Gesamtgut gehören9.
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b) Gewinnrealisierung: Nach § 6 VI 2 EStG soll die steuerneutrale Übertragung einzelner Wirtschaftsgüter von der Besitzgesellschaft auf die Betriebskapitalgesellschaft seit dem 1.1.1999 nicht mehr möglich sein und damit zur Gewinnrealisierung führen10, während bei einer mitunternehmerischen Betriebsaufspaltung11 wieder Buchwertverknüpfung geboten ist (§ 6 V EStG)12.
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c) Betriebsvermögen: Da die Anteile an der Betriebskapitalgesellschaft unmittelbar der gewerblichen Betätigung des Besitzunternehmens dienen, gehören sie bei der Besitzpersonengesell-
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1 Unbeachtlich für die Beurteilung als wesentliche Betriebsgrundlage ist, ob das Betriebsunternehmen ein gleichwertiges Grundstück jederzeit am Markt mieten oder kaufen könnte, vgl. BFH BStBl. II 1993, 718; 2009, 803. 2 Vgl. BFH BStBl. II 2000, 621; 2003, 757; 2006, 176; 2006, 804. Dazu P. Fischer, FR 2001, 34; Krupske, StuB 2001, 232; krit. LBP/Bitz, § 15 EStG Rz. 344 (2012). Vgl. dazu auch BMF BStBl. I 2001, 634; 2002, 88; 2002, 647; DStR 2004, 727. 3 BFH/NV 2003, 910; BFH BStBl. II 2003, 757; 2006, 804. Dazu Patt, EStB 2006, 454; Prühs, GmbHStpr 2007, 33. 4 BFH BStBl. II 1997, 565; 2000, 621; BFH/NV 2001, 894; 2001, 1252; BFH, Beschl. v. 16.2.2012 – X B 99/10, BFH/NV 2012, 1110. 5 BFH BStBl. II 1972, 63; 1997, 437; 1997, 565; 2000, 417; 2002, 363; 2003, 757; 2007, 165; BFH, Urt. v. 23.3.2011 – X R 45/09, BStBl. II 2011, 778; BFH, Beschl. v. 8.9.2011 – IV R 44/07, BStBl. II 2012, 136; BFH/NV 2000, 1804; 2008, 363; 2008, 784; BFH, Urt. v. 16.5.2013 – IV R 54/11, BFH/NV 2013, 1557. 6 BVerfGE 69, 188; vgl. dazu Felix, KÖSDI 1985, 5976; Herzig/Kessler, DB 1986, 2402; BMF BStBl. I 1985, 537. 7 BFH BStBl. II 1986, 62; 1986, 362; 1986, 611; FG Köln EFG 2009, 102; BFH/NV 2011, 1859. Dazu auch Herzig/Kessler, DB 1986, 2402; BMF BStBl. I 1986, 537; Unvericht, DB 1989, 995; Micker, DStR 2012, 589 (590 f.). 8 Vgl. 15.7 VIII EStR. Dazu auch Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 849. 9 Vgl. BFH BStBl. II 1993, 876; BFH/NV 2007, 149. Nach BFH BStBl. II 2008, 858 wird die personelle Verflechtung durch die Zwischenschaltung eines Dauertestamentsvollstreckers nicht unterbrochen. Vgl. dazu Kanzler, FR 2009, 86; Bitz, GmbHR 2008, 1047; Knatz, DStR 2009, 27. 10 Vgl. BFH BStBl. II 2001, 771; 2005, 378; 2008, 579; BFH/NV 2010, 2053. Dazu auch Hörger u.a., DStR 1999, 565 (573); Hörger/Pauli, GmbHR 2001, 1139; Lederle, GmbHR 2004, 985. 11 S. Rz. 80. 12 Sachlich ist diese Ungleichbehandlung nicht zu rechtfertigen, so dass die teleologische Reduktion des § 6 VI 2 EStG geboten erscheint und die Buchwertverknüpfung in Anbetracht der wirtschaftlichen Einheit zwischen Besitz- und Betriebsunternehmen auch bei einer Übertragung auf eine BetriebsGmbH zugestanden werden sollte. Zur Bedeutung der wirtschaftlichen Einheit allgemein auch Wehrheim, BB 2001, 913.
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§ 13
Rz. 87
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
schaft i.d.R. ebenso zum Sonderbetriebsvermögen1 wie die Wirtschaftsgüter, die ein Gesellschafter des Besitzunternehmens dem Betriebsunternehmen unmittelbar überlässt2, oder Darlehen, die die Gesellschafter der Betriebs-GmbH bei der Gründung für die Dauer ihrer Beteiligung geben3. Beim Besitzunternehmen in Form des Einzelunternehmens liegt notwendiges Betriebsvermögen vor4. 87
d) Miet- bzw. Pachtvertrag: Während die Vereinbarung eines überhöhten Miet- oder Pachtzinses5 bei der Betriebskapitalgesellschaft zu verdeckten Gewinnausschüttungen führen kann, wird ein zu niedriges Nutzungsentgelt grds. steuerlich anerkannt. Selbst wenn die Nutzungsüberlassung dazu führt, dass das Besitzunternehmen auf Dauer Verluste erleidet, liegt keine Nutzungseinlage vor6. Erfolgt die Nutzungsüberlassung hingegen deshalb (teilweise) unentgeltlich, um Erträge aus der Beteiligung zu erzielen, so findet auf die mit der Nutzungsüberlassung zusammenhängenden Aufwendungen insoweit das Teilabzugsverbot nach § 3c Abs. 2 EStG Anwendung. Dies hat der Gesetzgeber im Rahmen des JStG 2015 für Wirtschaftsjahre, die nach dem 31.12.2014 beginnen, entgegen der bisherigen Rspr. des BFH7 auch für sog. substanzbezogene Aufwendungen festgelegt.
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e) Wegfall der personellen oder sachlichen Voraussetzungen: Entfallen die Voraussetzungen einer Betriebsaufspaltung, liegt nach Auffassung des BFH8 bezüglich des Besitzunternehmens grds. eine Betriebsaufgabe (§ 16 III 1 EStG) vor: Die zum Betriebsvermögen des Besitzunternehmens gehörenden Wirtschaftsgüter werden mit dem Wegfall der Voraussetzungen notwendiges Privatvermögen; stille Reserven werden also sofort realisiert. Die Fortführung der Buchwerte ist allerdings dann möglich, wenn die Überlassung der wesentlichen Betriebsgrundlagen subsidiär die Voraussetzungen einer Betriebsverpachtung erfüllt9. Dies setzt voraus, dass sämtliche wesentlichen Betriebsgrundlagen als einheitliches Ganzes verpachtet werden10. Eine 1 BFH BStBl. II 2001, 185; 2002, 662; 2010, 593 (597 f.) m.w.N. Dazu auch Roser, EStB 2009, 177. Gewinnanteile aus der Betriebs-GmbH sind grds. nicht phasengleich zu aktivieren. Vgl. BFH BStBl. II 2000, 632; 2001, 185; BMF BStBl. I 2000, 1510; dazu auch Groh, DB 2000, 2444 (2558); Kraft, WPg. 2001, 2. Vgl. zu Bilanzierungsfragen bei Betriebsaufspaltung im Allgemeinen: Hoffmann, StuB 2010, 249; Crezelius, DB 2012, 651. 2 BFH BStBl. II 1989, 714; 1999, 279 (281); 2005, 830; BFH/NV 1998, 1202. 3 Vgl. BFH BStBl. II 1995, 452; 2001, 335; 2010, 593. 4 BFH BStBl. II 1989, 714. Zum notwendigen Betriebsvermögen des Besitzeinzelunternehmens gehören auch die unmittelbaren und mittelbaren Anteile an einer Kapitalgesellschaft, welche intensive und dauerhafte Geschäftsbeziehungen zur Betriebskapitalgesellschaft unterhält, BFH BStBl. II 2005, 694; 2005, 833; BFH-Urt. v. 12.6.2013 – X R 2/10, BStBl. II 2013, 907, Schießl, StuB 2008, 428; Bode, FR 2014, 68; Prinz, DB 2014, 1218. Zur abkommensrechtlichen Beurteilung der Betriebsaufspaltung vgl. BFH/NV 2011, 1602; C. Schmidt, IStR 2011, 691; Neufang/Otto, BB 2011, 2967 (2971). 5 Vgl. BFH BFHE 185, 230. Dazu auch Harle, GmbHR 2009, 1093; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 819. Zum erbschaftsteuerlichen Risiko der Vereinbarung erhöhter Nutzungsentgelte (vgl. § 146 BewG) LBP/Bitz, § 15 EStG Rz. 390 (2014). 6 Vgl. BFH BStBl. II 1991, 713. Die Gewinnerzielungsabsicht des Besitzunternehmens wird selbst bei unentgeltlicher Überlassung wesentlicher Betriebsgrundlagen nicht angezweifelt, weil das Besitzunternehmen das Bestreben habe, Beteiligungserträge zu erzielen. Nutzungsentgelte und Ausschüttungen bzw. Wertsteigerungen der Anteile werden als Substitute eingeordnet. In dieses Bild der wirtschaftlichen Einheit von Betriebs- und Besitzunternehmen passt die Entscheidung des BFH BStBl. II 2010, 274, nach der die Teilwertabschreibung einer Forderung des Besitzunternehmens gegen das Betriebsunternehmen nur dann in Betracht kommt, wenn im Rahmen einer Gesamtbetrachtung der Ertragsaussichten beider Unternehmen auch der Teilwert der Beteiligung zu einer Abschreibung nötigt (vgl. dazu Hoffmann, StuB 2010, 249; Weber-Grellet, NWB 2010, 742; Wendt, FR 2010, 336). 7 Vgl. BFH-Urt. v. 28.2.2013 – IV R 49/11, BStBl. II 2013, 802; v. 17.7.2013 – X R 17/11, BFH/NV 2014, 21. Vgl. dazu Binnewies, GmbHR 2013, 1339; Ott, StuB, 2013, 519; Ott, StuB 2013, 879. 8 BFH BStBl. II 1984, 474; 1994, 23; 1998, 325; BFH/NV 2000, 539; BFH-Urt. v. 22.10.2013 – X R 14/11, BStBl. II 2014, 158. Vgl. dazu auch Schulze zur Wiesche, DStZ 2014, 311. 9 Vgl. BFH BStBl. II 1997, 460; 1998, 325; BFH/NV 1998, 578; BStBl. II 2002, 519; 2002, 527; 2002, 722; 2006, 591; 2008, 220; FR 2008, 424, m. Anm. Kanzler. Dazu auch Stamm/Lichtinghagen, StuB 2007, 205; Strahl, KÖSDI 2008, 16027 (16035). 10 BFH BStBl. II 1998, 388; 2002, 722.
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GmbH (AG) & Stille Gesellschaft
Rz. 92
§ 13
Betriebsaufgabe wird ferner bei einer Betriebsunterbrechung im engeren Sinne abgelehnt1. Stellt das Betriebsunternehmen die werbende Geschäftstätigkeit ein, wird dabei nach aktueller Rspr. des BFH von der Absicht des Besitzunternehmens, den Betrieb innerhalb eines überschaubaren Zeitraums in gleichartiger oder ähnlicher Weise wieder aufzunehmen, ausgegangen, solange die Fortsetzung objektiv möglich ist und eine eindeutige Aufgabeerklärung nicht abgegeben wird2. Auch nach dem durch das Steuervereinfachungsgesetz 20113 eingeführten § 16 IIIb EStG gilt die gewerbliche Tätigkeit bis zu einer ausdrücklichen Aufgabeerklärung als fortgeführt. Jedoch gilt dies nur solange, bis dem Finanzamt Tatsachen bekannt werden, aus denen sich ergibt, dass eine Betriebsaufgabe vorliegt4.
2. Gewerbesteuer a) Steuerpflicht: Da das Besitzunternehmen nach Auffassung des BFH keine Vermögensverwaltung, sondern eine gewerbliche Tätigkeit ausübt, unterliegt es ebenso wie das Betriebsunternehmen der Gewerbesteuer.
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b) Steuerbefreiungen: Nach geänderter Rspr. des BFH schlägt die Befreiung der Betriebsgesellschaft von der Gewerbesteuer auf das Besitzunternehmen durch5. Dies bedeutet, dass sowohl die Betriebsgesellschaft als auch das Besitzunternehmen von der Gewerbesteuer befreit sind, selbst wenn bei Letzterem die Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung nicht vorliegen.
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c) Miet- und Pachtzinsen: Die Hinzurechnungstatbestände für Nutzungsentgelte auf bewegliche bzw. unbewegliche Wirtschaftsgüter nach § 8 Nr. 1d, e GewStG6 i.H.v. 5 % bzw. 12,5 % führen bei der Betriebsaufspaltung zu gewerbesteuerlichen Doppelbelastungen, da bei dem Vermieter/Verpächter eine korrespondierende Entlastung unterbleibt.7
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d) Erweiterte Gewerbeertragskürzung: Die erweiterte Kürzung des Gewerbeertrags nach § 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG ist bei der Betriebsaufspaltung nicht möglich8.
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III. GmbH (AG) & Stille Gesellschaft Literatur: Fleischer/Thierfeld, Stille Gesellschaft im Steuerrecht8, 2008; Schulze zur Wiesche, Die GmbH & Still unter Berücksichtigung des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 ab 2009, GmbHR 2008, 1140; Wälzholz, Die GmbH & Still nach der Unternehmensteuerreform 2008, GmbHStB 2008, 11; Crezelius, Steuerrechtsfragen der atypisch stillen Gesellschaft, in FS Schaumburg, 2009, 239; Blaurock, Handbuch Stille Gesellschaft7, 2010; Czisz/Krane, Die Besteuerung von Einkünften aus typisch stillen Gesellschaften unter der Abgeltungsteuer, DStR 2010, 2226; Brinkmann, Die stille Beteiligung in der Außenprüfung, StBp. 2011, 213 u. 241; Stollenwerk/Piron, Steuerneutralität bei GmbH & Still – GmbH & Co. KG & Still, GmbH-StB 2011, 48; Schulze zur Wiesche, Die GmbH & Still in der aktuellen Rechtsprechung, DB 2011, 1477; Suchanek, Die atypisch stille Gesellschaft im Umwandlungsfall, Ubg. 2012, 431; von Holtum, GmbH-StB 2013, 311; Schulze zur Wiesche, 1 BFH BStBl. II 1997, 460; 2002, 722; 2006, 591. Dazu Wendt, FR 2006, 828; Steinhauff, NWB Fach 3, S. 14321; Stamm/Lichtinghagen, StuB 2007, 205; Strahl, KÖSDI 2008, 16027 (16035). 2 BFH BStBl. II 2006, 591; BFH/NV 2007, 1004. Dazu Kanzler, FR 2007, 800; Bitz, GmbHR 2007, 548. Die Fortsetzung ist objektiv möglich, solange das vormalige Besitzunternehmen sämtliche für den Betrieb wesentlichen Betriebsgrundlagen zurückbehält. 3 BGBl. I 2011, 2131. 4 Krit. zur Neuregelung: Grottke/Kittl, StuB 2011, 819. Vgl. auch Nacke, DB 2011, 132 (134). 5 BFH BStBl. II 2006, 661; FR 2007, 242 m. Anm. Kanzler. Vgl. dazu ferner Wendt, FR 2006, 789; Hagen/Lucke, StuB 2006, 837; Söffing, BB 2006, 1529; Binnewies, GmbHR 2007, 48; Jost, DB 2007, 1664. Krit. zur geänderten Rspr. Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 871. Einschränkend FinMin. NRW, DStR 2010, 2462. 6 Zu berücksichtigen ist jeweils der Freibetrag des § 8 Nr. 1 GewStG i.H.v. 100 000 Euro. 7 Dasselbe gilt für den Fall, dass zwischen Betriebs- und Besitzunternehmen Finanzierungsverhältnisse bestehen (vgl. § 8 Nr. 1a GewStG). Organschaft setzt zusätzlich zur finanziellen Eingliederung einen Gewinnabführungsvertrag voraus, der allein aus Haftungsgründen regelmäßig nicht vorliegt. Vgl. dazu § 14 A. 8 BFH/NV 2005, 1624; 2009, 1279; 2012, 1176; Herbst/Bohn, GmbHR 2012, 699.
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763
§ 13
Rz. 93
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
Die GmbH & Still6, 2013; Volb, Die stille Gesellschaft, 2013; Lipp, Die stille Gesellschaft – Feststellung von Gewinn und Verlust, StuB 2014, 256; Lipp, Die stille Gesellschaft in der deutschen Abkommenspraxis, IWB 2014, 760; Wichmann, Gesellschafts-, handels- und steuerrechtliche Fragen zur GmbH & Still, DStZ 2014, 442. Zur älteren Lit. vgl. die 16.–21. Aufl.
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Als stille Gesellschaft i.S.d. §§ 230 ff. HGB wird grds. auch die Beteiligung am Handelsgewerbe einer GmbH oder AG anerkannt1. Der stille Gesellschafter2 leistet eine Vermögenseinlage3 in das Vermögen der Kapitalgesellschaft und erhält dafür einen Anspruch auf Gewinnbeteiligung4. Unterschieden wird steuerrechtlich zwischen typischer und atypischer stiller Gesellschaft. Während bei der typischen stillen Gesellschaft das tatsächliche Verhältnis zwischen den Vertragsparteien dem handelsrechtlichen Typus entspricht und nicht über eine Kapitalbeteiligung mit gewinnabhängiger Verzinsung hinausgeht5, hat der atypische stille Gesellschafter auf Grund der Vereinbarungen im Gesellschaftsvertrag entweder maßgeblichen Einfluss auf die Geschäftsführung oder Anspruch auf eine Beteiligung an den realisierten stillen Reserven, d.h. Unternehmerinitiative oder Unternehmerrisiko. Die atypische stille Gesellschaft wird daher im Gegensatz zur typischen stillen Gesellschaft als Mitunternehmerschaft angesehen6.
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Die atypisch stille Gesellschaft eröffnet ähnlich wie die GmbH & Co. KG die Möglichkeit, die haftungsrechtlichen Vorteile der Kapitalgesellschaft mit den steuerlichen Vorteilen der Mitunternehmerschaft zu verbinden7. Zudem eignen sich stille Beteiligungen dazu, Einkünfte zwecks mehrmaliger Ausnutzung der Entlastungswirkung der Progression und der Freibeträge auf mehrere Personen zu verteilen8.
1. Grunderwerbsteuer 95
Erbringt der (typische oder atypische) stille Gesellschafter seine Vermögenseinlage durch Übertragung eines Grundstücks oder wird bei der Auseinandersetzung ein Grundstück übertragen, so fällt grds. Grunderwerbsteuer an (§ 1 GrEStG)9. Die Anwendung der §§ 5; 6 GrEStG kommt nicht in Betracht, da die stille Gesellschaft keine Gesamthandsgemeinschaft ist.
2. Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer 2.1 Atypisch stille Gesellschaft 96
Für die atypisch stille Gesellschaft gelten als Mitunternehmerschaft die Ausführungen zur Besteuerung gewerblicher Personengesellschaften grds. entsprechend (s. § 10 Rz. 60)10. Die aty1 BFH BStBl. II 1954, 336; 1965, 119; 1977, 155; 1995, 171; 1995, 764; 1995, 794. Zur Beteiligung an einzelnen Unternehmenssegmenten Pyszka, DStR 2003, 857. Zur (typisch) stillen Beteiligung an einem Nicht-Handelsgewerbe Milatz, DStZ 2006, 141. 2 Zur Abgrenzung der stillen Gesellschaft gegenüber einem partiarischen Darlehen insb. BFH BStBl. II 1988, 62; 1994, 700; 2006, 334; BGH GmbHR 1992, 747; DStR 1995, 106; OLG Dresden DStR 2000, 649; Lienau/Lotz, DStR 1991, 618; Schön, ZGR 1990, 220; Blaurock, EWiR 1992, 1111. 3 Zur Einlage des Stillen insb. auch Schmid/Hamann, DStR 1992, 950; Groh, Das negative Kapitalkonto des stillen Gesellschafters, FS L. Schmidt, 1993, 439. 4 Zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) auf die stille Gesellschaft vgl. Mock, DStR 2008, 1645. 5 BFH BStBl. II 1975, 34; OFD Frankfurt/M. StuB 2001, 90; OFD Erfurt FR 2003, 1299. Vgl. auch Troost, Die steuerliche Abgrenzung zwischen typischen und atypischen stillen Gesellschaften, 1997. 6 BFH BStBl. II 1981, 424; 1986, 311; DB 1994, 125; BFH/NV 2010, 1425; 2010, 2056; vgl. dazu insb. auch Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 340 ff. 7 LBP/Bitz, § 15 EStG Rz. 51a (2013). 8 LBP/Bitz, § 15 EStG Rz. 51 (2013). Zur stillen Gesellschaft als Mittel zur Reduzierung der Steuerbelastung bei Umwandlung von Familienpersonengesellschaften (Richter/Dümichen, Ubg. 2012, 748), in Bezug auf Unternehmensfinanzierungen (Eichfelder, Ubg. 2013, 178) bzw. in Bezug auf die Hinzurechnungsbesteuerung nach §§ 7 ff. AStG (Kessler/Becker, IStR 2005, 505). 9 BFH BStBl. II 1975, 363. 10 Vgl. auch OFD Frankfurt, DStR 2001, 1159. Zur Veranlagung der GmbH & atypisch Still Ros, DStR 2001, 1592.
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GmbH (AG) & Stille Gesellschaft
Rz. 100
§ 13
pische Gesellschaft ist i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2, II EStG gewerblich tätig1 und insofern auch selbständiges Subjekt der Gewinnerzielung, Gewinnermittlung und Einkünftequalifikation2. Es gelten allerdings insb. folgende Besonderheiten: a) Betriebsvermögen: Anders als die OHG oder KG besitzt die atypisch stille Gesellschaft als Innengesellschaft kein Gesamthandsvermögen. Die Existenz eines Betriebsvermögens der atypisch stillen Gesellschaft wird vor diesem Hintergrund teilweise in Zweifel gezogen3. Die h.M. geht jedoch davon aus, dass das Betriebsvermögen der atypisch stillen Gesellschaft das Betriebsvermögen des Inhabers des Handelsgeschäfts4 und das Sonderbetriebsvermögen des Stillen umfasst5. Letzteres entsteht insb. dann, wenn der Stille dem Inhaber des Handelsgeschäfts neben seiner Einlage Wirtschaftsgüter zur Nutzung überlässt6. Ferner gehören die GmbH-Anteile eines Gesellschafters, der gleichzeitig als Stiller beteiligt ist, grds. zum Sonderbetriebsvermögen7.
97
b) Geschäftsführervergütung: Hinsichtlich der Abgrenzung der gewerblichen Einkünfte geht der BFH8 davon aus, dass der atypisch stille Gesellschafter einer GmbH aus seiner Geschäftsführertätigkeit für die GmbH grds. gewerbliche Einkünfte erzielt9.
98
c) Sonderbetriebsausgaben derjenigen atypisch stillen Gesellschafter, die auch GmbH-Anteile in ihrem Sonderbetriebsvermögen halten, unterliegen dem Abzugsverbot nach § 3c II EStG allenfalls insoweit, als sie durch das Gesellschaftsverhältnis zur GmbH veranlasst sind10.
99
d) Verlustverrechnung: Nach § 15 IV 6 ff. EStG ist der Ausgleich von Verlusten eingeschränkt, soweit eine Kapitalgesellschaft atypisch still an einer anderen Kapitalgesellschaft beteiligt ist11. Gesellschaftsvertragliche Verluste sind danach weder mit anderen Einkünften noch nach § 10d EStG auszugleichen. Sie sind nur mit Gewinnen zu verrechnen, die der Gesellschafter im vorangegangenen Wirtschaftsjahr oder in den folgenden Wirtschaftsjahren aus derselben Beteiligung bezieht. Verfassungsrechtlich ist diese Einschränkung zumindest insoweit problematisch, als sie auch finale Verluste erfasst.12
100
1 BFH BStBl. II 1995, 171; 1995, 794; BFHE 179, 427; BFH/NV 1996, 504; 1996, 506; 1998, 328; 1999, 169. Vgl. auch Kempermann, FR 1995, 22; Ruban, DStZ 1995, 637 (640). 2 Vgl. BFH BFHE 182, 101. Vgl. dazu Gschwendtner, DStZ 1998, 335. 3 Döllerer, DStR 1985, 295; Döllerer, StbJb. 1987/88, 289 (299); LBP/Bitz, § 15 EStG Rz. 51 (2013). 4 Der im Schrifttum (vgl. Schulze zur Wiesche, GmbHR 1982, 114) vertretenen Ansicht, das gesamte Betriebsvermögen des Inhabers des Handelsgeschäftes sei Sonderbetriebsvermögen im Rahmen der atypisch stillen Gesellschaft, ist der BFH (BStBl. II 1984, 820) ausdrücklich entgegengetreten. 5 BFH BStBl. II 1994, 709; Schmidt/Wacker33, § 15 EStG Rz. 348. 6 Döllerer, DStR 1985, 295; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, § 9 II 4c; Suchanek/Hagedorn, FR 2004, 1149. 7 Vgl. BFH BStBl. II 1999, 286; BFH/NV 2010, 2056. Vgl. dazu auch Schulze zur Wiesche, DB 2011, 1477 (1478). 8 BFH BStBl. II 1994, 702; BFH/NV 1999, 773; entsprechend zu Nutzungsvergütungen BFH BStBl. II 1995, 683; BFH/NV 2000, 420; vgl. auch FG Köln EFG 1987, 1503. 9 Krit. dazu insb. Schwedhelm, GmbHR 1994, 445; Felix, KÖSDI 1994, 10156; Horn/Maertens, GmbHR 1995, 816; Schulze zur Wiesche, DStZ 1998, 285. 10 Vgl. dazu i.E. Löher, BB 2002, 2361. 11 Vgl. dazu insb. BMF BStBl. I 2008, 970; Wißborn, NWB 2009, 199; Riegler/Riegler, DStR 2014, 1031. Zum Wegfall des Verlustvortrags bei Ausscheiden des stillen Gesellschafters aus einer atypisch stillen Gesellschaft vgl. BFH/NV 2009, 843. 12 Wacker, NWB 2012, 2462; Riegler/Riegler, DStR 2014, 1031 (1034). Die Verlustverwertungsbeschränkung findet nach verfassungskonformer Auslegung des BFH bei vor dem 21.11.2002 geschlossenen stillen Gesellschaftsverträgen nicht auf Verluste Anwendung, die auf das erste nach Verkündung des StVergAbG am 20.5.2003 im Jahr 2003 abgelaufene Wirtschaftsjahr entfallen (vgl. BFH-Beschl. v. 27.3.2012 – I R 62/08, BFHE 236, 543).
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§ 13
Rz. 101
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
2.2 Typisch stille Gesellschaft Für die typische stille Gesellschaft gilt im Wesentlichen Folgendes: 101
a) Da die stille Beteiligung i.d.R. keine verdeckte Einlage darstellt1, sind die Gewinnanteile des typischen stillen Gesellschafters bei der Gewinnermittlung der Kapitalgesellschaft grds. als Betriebsausgaben (§ 4 IV EStG) abzugsfähig. Ist der Stille gleichzeitig Gesellschafter der GmbH, ist die Angemessenheit der Gewinnverteilung in der stillen Gesellschaft im Hinblick auf verdeckte Gewinnausschüttungen zu überprüfen2.
102
Wenn die stille Beteiligung nicht zum Betriebsvermögen des Anteilseigners gehört, führen die Gewinnanteile im Jahr des Zuflusses zu Einkünften aus Kapitalvermögen (§ 20 I Nr. 4 EStG). Sie unterliegen einer grds. abgeltenden Kapitalertragsteuer i.H.v. 25 % zzgl. SolZ (§§ 32d I 1; 43 I Nr. 3; 43a I 1 Nr. 1 EStG)3. Sofern die Voraussetzungen des § 32d II EStG vorliegen, werden die Kapitalerträge des Stillen allerdings zum individuellen Steuersatz veranlagt4. Dies betrifft insb. den Fall, dass der Stille oder eine ihm nahe stehende Person zu mindestens 10 % an der operativ tätigen Kapitalgesellschaft beteiligt ist (§ 32d II 1 Nr. 1b EStG). Bei beschränkt steuerpflichtigen Anteilseignern gilt die Einkommensteuer mit dem Kapitalertragsteuerabzug als abgegolten (§ 50 II EStG).
103
b) Werbungskosten (z.B. Schuldzinsen im Zusammenhang mit der Finanzierung der Beteiligung, Beratungskosten) sind grds. nicht abzugsfähig (§§ 2 II 2; 20 IX 1 Hs. 2 EStG). Insoweit gilt grds. nur der Sparer-Pauschbetrag i.H.v. 801 Euro bzw. 1 602 Euro (§ 20 IX 1 Hs. 1 EStG). In den Fällen von § 32d II 1 Nr. 1 EStG werden die tatsächlichen Werbungskosten hingegen anerkannt (§ 32d II 2 EStG).
104
c) Laufende Verluste, die sich auf Grund gesellschaftsrechtlicher Verlustbeteiligung ergeben können, sind bis zur Höhe der Einlage als negative Einnahmen zu berücksichtigen5. Sie können allerdings nur noch nach Maßgabe des § 20 VI 1 EStG und nicht mehr gegen positive Einkünfte aus anderen Einkunftsarten verrechnet werden. Auch ein Abzug nach § 10d EStG ist insoweit versperrt (§ 20 VI 1 Hs. 2 EStG). Soweit eine Kapitalgesellschaft typisch still an einer anderen Kapitalgesellschaft beteiligt ist, ist zudem die Verlustverrechnungsbeschränkung der §§ 20 I Nr. 4; 15 IV 6 ff. EStG zu beachten6. Ist der stille Gesellschafter über seine Einlage hinaus am Verlust beteiligt, gilt außerdem § 15a EStG entsprechend (§ 20 I Nr. 4 Satz 2 EStG)7. Darüber hinausgehend ist jedoch ein Verlust der Einlage durch Konkurs oder Liquidation als privater Vermögensverlust grds. nicht abzugsfähig8.
105
d) Veräußert der stille Gesellschafter seine im Privatvermögen gehaltene Beteiligung, so sind Gewinne gem. § 20 II 1 Nr. 4 EStG nur steuerpflichtig9, wenn die Beteiligung nach dem 31.12.2008 erworben wurde (§ 52 XXVIII 13 EStG). Sie unterliegen grds. dem Abgeltungsteuersatz i.H.v. 25 % zzgl. SolZ (§ 32d I 1 EStG). 1 BFH BStBl. II 1976, 226; Streck8, § 8 KStG Rz. 42. 2 Dazu BFH BStBl. II 1973, 650; 1978, 427; 1980, 477; 1982, 387; 2001, 299. Vgl. auch Döllerer, ZGR 1977, 504; Heinemann, KÖSDI 1980, 3890; Döllerer, ZGR 1981, 560; Costede, StuW 1983, 308 (313); Bitsch, GmbHR 1983, 56; Streck8, § 8 KStG Rz. 150; Schmidt/Weber-Grellet33, § 20 EStG Rz. 80. 3 Zur Veranlagungsoption nach § 32d IV EStG und zur Günstigerprüfung nach § 32d VI EStG vgl. § 8 Rz. 503. 4 Zur GmbH & typisch Still als steuerliches Gestaltungsinstrument unter der Abgeltungsteuer vgl. Middendorf/Engel, StuB 2010, 738. 5 BMF BStBl. I 2010, 94; vgl. dazu Dinkelbach, DB 2009, 870; Kleinmanns, DStR 2009, 2359; Rockoff/ Weber, DStR 2010, 363; Czisz/Krane, DStR 2010, 2226. 6 Vgl. zu verfassungsrechtlichen Zweifeln an dieser Regelung BFH BStBl. II 2011, 272; Buciek, FR 2011, 281. 7 Dazu auch § 10 Rz. 72. 8 FG München EFG 1981, 341; Söffing, FR 1982, 445; Czisz/Krane, DStR 2010, 2226 (2231); Schmidt/ Weber-Grellet33, § 20 EStG Rz. 87. 9 Blumenberg/Benz, Die Unternehmensteuerreform 2008, 45.
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Internationales und Europäisches Unternehmensteuerrecht
Rz. 130
e) Wenn der Stille seine Einlage durch Dienstleistungen erbringt1, gehören die Dienstleistungsvergütungen grds. zu den Einkünften i.S.d. § 20 I Nr. 4 EStG.
§ 13 106
3. Gewerbesteuer 3.1 Typisch stille Gesellschaft Bei der typischen stillen Gesellschaft ist der Inhaber des Handelsgeschäfts Schuldner der Gewerbesteuer. Bei der Ermittlung seines Gewerbeertrages wird der Gewinnanteil des typisch Stillen generell zu einem Viertel hinzuaddiert (vgl. § 8 Nr. 1c GewStG). Ob der Gewinnanteil beim Stillen der Gewerbesteuer unterliegt oder nicht, ist ohne Relevanz, so dass die Gefahr der Doppelbelastung besteht2.
107
3.2 Atypisch stille Gesellschaft Eine Mitunternehmerschaft ist zwar gem. § 5 I 3 GewStG grds. subjektiv gewerbesteuerpflichtig (s. § 12 Rz. 15). Der BFH3 geht jedoch bei der atypischen stillen Gesellschaft davon aus, dass allein der Inhaber des Handelsgeschäfts Schuldner der Gewerbesteuer ist4. Objektiv gewerbesteuerpflichtig sind dagegen die Mitunternehmer als Gesellschaft5, wobei die Abgrenzung des jeweiligen Gewerbebetriebs davon abhängt, ob der Stille am gesamten Handelsgeschäft oder an einzelnen Geschäftsbereichen beteiligt ist6. Erstreckt sich die atypische stille Gesellschaft auf das gesamte Handelsgeschäft, liegt auch dann ein einheitlicher Gewerbebetrieb vor, wenn mehrere stille Beteiligungen bestehen7. Der Freibetrag nach § 11 I 3 Nr. 1 GewStG wird in diesem Fall nur einmal gewährt8. Bestehen stille Beteiligungen an einzelnen Geschäftsbereichen, entstehen demgegenüber mehrere Gewerbebetriebe, deren Gewerbeertrag jeweils gesondert unter mehrfacher Berücksichtigung des vollen Freibetrags zu ermitteln ist9. Andererseits ist der Ergebnisausgleich dann auf den einzelnen Gewerbebetrieb beschränkt. Einstweilen frei.
108
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C. Internationales und Europäisches Unternehmensteuerrecht I. Grundzüge der Besteuerung grenzüberschreitender Unternehmenstätigkeit Literatur: Homburg, Perspektiven der internationalen Unternehmensbesteuerung, in Andel, Probleme der Besteuerung III, 2000, 9; Piltz/Schaumburg, Internationale Betriebsstättenbesteuerung, 2001; Lüdicke, Fortentwicklung der Internationalen Unternehmensbesteuerung, 2002; Spengel, Internationale Unternehmensbesteuerung in der EU, Diss., 2003; Gehauf, Gewinntransfers in multinatio1 Auch Dienstleistungen können Vermögenseinlagen i.S.d. § 230 HGB sein. Vgl. BFH BStBl. II 1965, 558; 1965, 560; 1968, 356; 1972, 187; 1984, 373. 2 Stollenwerk, GmbHStB 2007, 276 (281); Brinkmann, StBp. 2011, 213 (216). 3 BFH BStBl. II 1986, 311; 1990, 591; 1994, 327; 1994, 709; 1995, 171; 1995, 764; 1995, 794; BMF BStBl. I 1987, 765. Vgl. dazu auch Döllerer, DStR 1985, 295; Unvericht, DStR 1987, 413; Zacharias/ Sudtmeyer/Rinnewitz, DStR 1988, 128; Ehlers/Busse, DB 1989, 448; Oenings, DStR 2008, 279 (280). 4 Zu der Frage der Unternehmeridentität im Rahmen der gewerbesteuerlichen Verlustverrechnung nach § 10a GewStG bei der atypisch stillen Gesellschaft vgl. Oenings, DStR 2008, 279. Vgl. auch BFH/NV 2009, 843; BFH, Urt. v. 24.4.2014 – IV R 34/10, DB 2014, 1530; OFD-Verfügung Frankfurt a.M. DStR 2011, 2154. 5 BFH BStBl. 1995, 794; 1998, 328; vgl. dazu auch BMF BStBl. I 1998, 583. 6 Vgl. BFH BStBl. 1995, 764; 1998, 685; dazu auch Lindwurm, DStR 2000, 53 (59). 7 Vgl. BFH BStBl. 1996, 764. 8 Vgl. BFH BStBl. 1994, 327; 1995, 764. 9 BFH BStBl. 1998, 685; 2010, 40; vgl. dazu Schulze zur Wiesche, DStZ 2009, 873; Kanzler, FR 2009, 1135.
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Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
nalen Unternehmen und deren Besteuerung, Diss., 2004; Kußmaul/Tcherveniachki, Die ertragsteuerliche Behandlung von Direktinvestitionen ausländischer Investoren in Deutschland, SteuerStud 2005, 26 u. 70; Wotschofsky, Organisationsformen grenzüberschreitender Unternehmenstätigkeit aus ertragsteuerlicher Sicht, RIW 2005, 30; Günkel, Die Besteuerung grenzüberschreitender Aktivitäten nach der Unternehmensteuerreform, WPg. 2008, 572; Scheffler, Internationale betriebswirtschaftliche Steuerlehre3, 2009; Fuest, Volkswirtschaftliche Aspekte der Besteuerung von Auslandsgewinnen multinationaler Unternehmen, in FS Herzig, 2010, 867; Mössner, Steuerrecht international tätiger Unternehmen4, 2010; Rödder, Globalisierung und Unternehmenssteuerrecht: Wie ist das ertragsteuerliche Besteuerungssubstrat multinationaler Unternehmen sachgerecht auf die betroffenen Fisci aufzuteilen?, in FS J. Lang, 2010, 1147; Jacobs/Endres/Spengel, Internationale Unternehmensbesteuerung. Deutsche Investitionen im Ausland. Ausländische Investitionen im Inland7, 2011; Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, 2011; Schnitger, Praktische Probleme bei der Vermeidung der Doppelbesteuerung von Mitunternehmensgewinnen, IStR 2011, 653; West u.a., Key Practical Issues To Eliminate Double Taxation of Business Income, Bull. for International Taxation 2012, 343; Watrin/Ebert, Multinationale Unternehmen und Besteuerung. Aktueller Stand der betriebswirtschaftlichen Forschung, StuW 2013, 298.
1. Rechtsformabhängige Zuweisung von Besteuerungsrechten im Internationalen Steuerrecht 131
Die Rechtsformabhängigkeit der Unternehmensbesteuerung setzt sich in der Besteuerung der grenzüberschreitenden Unternehmensbetätigung fort. Nicht nur das deutsche Internationale Steuerrecht knüpft an die Rechtsform an, im Ausland werden Unternehmen in aller Regel ebenfalls nach Rechtsform besteuert1. Zudem weisen Doppelbesteuerungsabkommen (s. § 1 Rz. 92) die Besteuerungsrechte rechtsformabhängig zu. Kapitalgesellschaften werden mit wenigen Ausnahmen auch im Ausland als selbständige Steuersubjekte nach dem Trennungsprinzip (s. § 10 Rz. 10 und § 11 Rz. 1) besteuert2 und sind subjektiv abkommensberechtigt. Stärker differenziert ist die Behandlung der Personengesellschaft3, wobei die Besteuerung auch im Ausland vielfach dem Transparenzprinzip (s. § 10 Rz. 10) folgt4, so dass nicht die Personengesellschaft selbst, sondern die Gesellschafter mit ihren anteiligen Gewinnen besteuert werden mit der weiteren Folge, dass sich Personengesellschaften in eigener Person nicht auf den Schutz der DBA berufen können. Der Einzelunternehmer wiederum ist als natürliche Person abkommensberechtigt.
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Sind Quellen- und Sitzstaat unterschiedlicher Auffassung über die Einordnung eines Rechtsgebildes, so führt dies zu Qualifikationskonflikten5, in deren Folge es zu Mehr- oder Minder1 Überblick bei Maier-Frischmuth, StuB 2003, 1. 2 Übersicht bei HHR/Hey, Einf. KSt Anm. 230 ff. (1999). 3 Zur Behandlung der Personengesellschaft im Internationalen Steuerrecht BMF BStBl. 2010, 354 (m. Anm. Hruschka, DStR 2010, 1357; C. Schmidt, IStR 2010, 413; Schmitt-Homann, DStR 2010, 2545); ferner Ostendorf, Behandlung von Sondervergütungen der Mitunternehmer im internationalen Steuerrecht, Diss., 1993; Toifl, Personengesellschaften im Recht der DBA, Diss., 2003; Wicke, Personengesellschaften im Recht der deutschen DBA, Diss., 2003; Gündisch, Personengesellschaften im DBARecht, Diss., 2004; Kahle, StuW 2005, 61; Weggenmann, Personengesellschaften im Lichte der Doppelbesteuerungsabkommen, Diss., 2005; Hagena, Die Behandlung von Personengesellschaften in den DBA der Bundesrepublik Deutschland mit den Staaten Mittel- und Südamerikas, Diss., 2006; Machens, Ausländische Personengesellschaften im internationalen Steuerrecht, Diss., 2007; Liebchen, Beteiligungen an ausländischen Personengesellschaften, Diss., 2008; Wassermeyer, Der Konzern 2008, 338; Wassermeyer, FR 2010, 537; Lüdicke, IStR 2011, 91; Wassermeyer, IStR 2011, 85; Spengel/Schaden/Wehrße, StuW 2012, 105. 4 Übersicht Hey/Bauersfeld, IStR 2005, 649; für Spanien s. Woertz, Körperschaftsteuer für Personenunternehmen, Diss., 2009. 5 Hierzu Lamers/Stevens, ET 2004, 155; Geuenich, Qualifikationskonflikte im OECD-MA und deutschen DBA am Beispiel einer atypisch stillen Gesellschaft, Diss., 2005; Gündisch, IStR 2005, 829; FS Loukota, 2005: Jirousek, 175 ff.; Wolff, 691 ff.; Djanani/Brähler, StuW 2007, 53 (als Instrument internationaler Steuerplanung); Heurung/Seidel, FS Djanani, 2008, 313 (typisch stille Beteiligung); Vogel/ Lehner5, 2008, Einl. DBA Rz. 150 ff.; Jankowiak, Doppelte Nichtbesteuerung im Internationalen Steuerrecht, Diss., 2009; Lampert, Doppelbesteuerung und Lastengleichheit. Qualifikations- und Zurechnungskonflikte bei der Besteuerung von Personengesellschaften, Diss., 2009; Erkner, SWI 2010, 420
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Hey
Internationales und Europäisches Unternehmensteuerrecht
Rz. 135
§ 13
belastungen gegenüber einer einheitlichen Qualifikation kommen kann. Hieraus resultierende Besteuerungsvorteile sollen durch § 50d IX 1 Nr. 1 EStG verhindert werden, indem die in DBA vereinbarte Freistellungsmethode im Fall eines Qualifikationskonflikts suspendiert wird (gesetzliche „subject to tax“-Klausel)1. International diskutiert die OECD im Rahmen ihrer BEPS-Initiative (Base Erosion and Profit Shifting) die Bekämpfung von Gestaltungsmöglichkeiten, die aus der Unabgestimmtheit der Steuersysteme entstehen (sog. Hybrid Mismatch Arrangements)2.
2. Auslandsinvestitionen von Steuerinländern (Outbound-Sachverhalte) Die steuerliche Behandlung von Auslandsinvestitionen hängt wesentlich davon ab, ob mit dem Tätigkeitsstaat ein DBA besteht. Im Folgenden wird die Behandlung der Grundformen3 grenzüberschreitender Unternehmenstätigkeit im Verhältnis zwischen DBA-Staaten auf der Grundlage des OECD-Musterabkommens dargestellt:
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a) Auslandsbetriebsstätte: Die Steuerpflicht grenzüberschreitender Betätigung von Einzel- und Mitunternehmern sowie Kapitalgesellschaften richtet sich danach, ob im Ausland eine Betriebsstätte, d.h. eine feste Geschäftseinrichtung (vgl. § 12 AO; Art. 5 OECD-MA)4, begründet wird. Sie ist regelmäßig Anknüpfungspunkt der beschränkten Steuerpflicht im Tätigkeitsstaat. Auf Ebene der DBA erlaubt das Betriebsstättenprinzip des Art. 7 I 2 OECD-MA dem Betriebsstättenstaat die Besteuerung. Die Aufteilung des Gewinns zwischen Betriebsstätte und Stammhaus erfolgt nach dem sog. separate entity approach5, indem die Selbständigkeit der Betriebsstätte fingiert wird (s. auch § 1 Rz. 89). Im Inland unterliegt der im Ausland erzielte Gewinn nach dem Welteinkommensprinzip der Einkommensteuer, wird aber entspr. der deutschen Abkommenspraxis unter Anwendung des Progressionsvorbehalts (§ 32b EStG) freigestellt (Art. 23 A OECD-MA)6. Infolge der Freistellung finden wegen § 3c I EStG im Ausland erlittene Verluste lediglich im Rahmen des negativen Progressionsvorbehalts des § 32b EStG Berücksichtigung. Dieselben Rechtsfolgen greifen ein, wenn sich ein in Deutschland ansässiger Gesellschafter an einer ausländischen Personengesellschaft beteiligt7. Der Auslandsgewinn wird den Gesellschaftern unmittelbar und anteilig zugerechnet, ist aber im Inland von der Besteuerung freigestellt. Wird die Personengesellschaft im Quellenstaat ausnahmsweise als Körperschaftsteuersubjekt eingestuft, ändert dies an der Besteuerung in Deutschland grds. nichts; im Quellenstaat wird Körperschaftsteuer fällig.
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b) Kapitalgesellschaft im Ausland: Wird die Auslandstätigkeit durch eine im Ausland ansässige Kapitalgesellschaft ausgeübt, greift die inländische Steuerhoheit erst bei Repatriierung der Gewinne durch Ausschüttung ein. Die ausländische Kapitalgesellschaft entfaltet Abschirmwirkung, soweit nicht die Hinzurechnungsbesteuerung der §§ 7 ff. AStG Anwendung findet (s. § 1
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(ausl. Personengesellschaften); M. Lang, IStR 2010, 114; Lüdicke, IStR 2011, 91; Jacobs/Endres/Spengel, Internationale Unternehmensbesteuerung7, 2011, 429 ff., 508 ff., 1300 ff.; Haase, IWB 2013, 162. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von § 50d IX 1 Nr. 1 EStG s. AdV-Verfahren BStBl. 2011, 156 (verfassungswidriges Treaty Override, unzulässige echte Rückwirkung; so auch FG Köln, EFG 2014, 204); ebenso Gebhardt, IStR 2011, 58 (59 f.); Kirchhof/Gosch11, § 50d EStG Rz. 43; a.A. Thiel, FS Herzig, 2010, 1023. Zur Kritik an § 50d IX EStG ferner Kempf/Bandl, DB 2007, 1377; Vogel, IStR 2007, 225; Wagner, NWB 2007, Fach 3, 14427; M. Müller, BB 2009, 751. Zu DBA-rechtlichen subject to tax-Klauseln BStBl. I 2013, 980; Lüdicke, IStR 2013, 721; Schönfeld, IStR 2013, 757. Lüdicke, Bull. for Internat. Taxation 2014, 309; Schnitger/Oskamp, IStR 2014, 385. Instruktive Übersicht bei Wotschofsky, RIW 2005, 30 (33). Betriebsstättenerlass v. 25.8.2009, BStBl. I 2009, 888 (dazu Ditz/Schneider, DStR 2010, 81); s. ferner insb. zu den Entwicklungen auf OECD-Ebene Kroppen, FS Herzig, 2010, 1071; Bendlinger, SWI 2011, 531; Kofler/van Thiel, ET 2011, 327; Wassermeyer/Andresen/Ditz, Betriebsstätten-Handbuch, 2012; s. ferner § 1 Rz. 81 ff. m.w.N. Authorised OECD Approach (AOA); zur Umsetzung in nationales Recht Schaumburg, ISR 2013, 197; Ditz, ISR 2013, 261. Vogel/Lehner5, Art. 23 DBA Rz. 16 u. 56. Dazu Pyszka/Brauer, Ausländische Personengesellschaften im Unternehmenssteuerrecht, 2004; Engel/ Hilbert, FR 2012, 394.
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§ 13
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Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
Rz. 89). Der Sitzstaat der Tochtergesellschaft hat gem. Art. 10 OECD-MA das Recht, neben der Körperschaftsteuer auf den thesaurierten Gewinn auf die Ausschüttung Quellensteuer zu erheben1. Im Inland befreit § 8b I KStG die Ausschüttung, wenn die Empfängerin eine Kapitalgesellschaft ist und kein Streubesitz i.S.v. § 8b IV KStG vorliegt. § 8b V KStG, der seit 2004 für In- und Auslandsdividenden gleichermaßen gilt (s. § 11 Rz. 18, 42), reduziert die Steuerbefreiung allerdings zur pauschalen Abgeltung von in Zusammenhang mit der steuerfreien Schachteldividende stehenden, nicht abzugsfähigen Aufwendungen auf 95 % des Ausschüttungsbetrags. Im Staat der Tochtergesellschaft erhobene Quellensteuer wird definitiv. Ist Empfänger der Ausschüttung ein Einzelunternehmer oder eine Mitunternehmerschaft, greift das Teileinkünfteverfahren (§ 3 Nr. 40 EStG) ein. Die ausländische Quellensteuer wird gem. § 34c EStG; Art. 23B OECD-MA angerechnet.
3. Inlandsinvestitionen von Steuerausländern (Inbound-Sachverhalte) 136
a) Inlandsbetriebsstätte: Im Ausland ansässige Einzelunternehmer und Personengesellschafter sind gem. § 49 I Nr. 2 Buchst. a EStG, der über § 8 I 1 KStG auch für ausländische Körperschaften gilt, mit ihren Einkünften aus einer inländischen Betriebsstätte in Deutschland beschränkt einkommen- bzw. körperschaftsteuerpflichtig. Dabei sollen gem. § 50d X EStG entsprechend § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG nicht nur der Anteil am Gesamthandsgewinn, sondern auch Sondervergütungen des ausländischen Personengesellschafters in vollem Umfang als gewerbliche Einkünfte (Unternehmensgewinne) in Deutschland besteuert werden, auch wenn hierin Vergütungen enthalten sind, die vom (Wohn-)Sitzstaat anderen Einkunftsarten zugerechnet werden2.
137
b) Kapitalgesellschaft im Inland: Ausländische Anteilseigner, die sich an einer inländischen Kapitalgesellschaft beteiligen, sind mit den Ausschüttungen gem. § 49 I Nr. 5 Buchst. a EStG beschränkt steuerpflichtig. Die Besteuerung wird durch den Quellenabzug i.H.v. 25 % (§§ 43 I 1 Nr. 1; 43a I 1 Nr. 1 EStG) abgegolten (§ 50 II 1 EStG); dabei reduziert sich der Quellenabzug nach Art. 10 II 1 Buchst. b OECD-MA auf 15 %. Hieraus können für ausländische Anteilseigner Vorteile gegenüber der allgemein für Gewinnausschüttungen im Privatvermögen geltenden Abgeltungsteuer entstehen (s. § 11 Rz. 18). Die Anwendung des Teileinkünfteverfahrens für im Betriebsvermögen gehaltene Beteiligungen von Steuerausländern ist mangels Veranlagung ausgeschlossen, soweit die Beteiligung nicht zu einer inländischen Betriebsstätte gehört (§ 50 II 2 Nr. 1 EStG). Handelt es sich bei dem Empfänger um eine beschränkt steuerpflichtige Körperschaft, werden gem. § 44a IX EStG 2/5 der Kapitalertragsteuer unabhängig vom Vorliegen eines DBA auf Antrag erstattet. Bei EU-Kapitalgesellschaften als Empfänger kann der Abzug gem. § 43b EStG entfallen (dazu Rz. 144). Einstweilen frei.
138–142
II. Der Einfluss des Europarechts auf die Besteuerung von Unternehmen Literatur (bis 2002 s. 18. Aufl.; bis 2004 s. 20. Aufl.): Englisch, Dividendenbesteuerung. Europa- und verfassungsrechtliche Vorgaben im Vergleich der Körperschaftsteuersysteme Deutschlands und Spaniens, Diss., 2005; Maiterth, Der Einfluss der Besteuerung auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, StuW 2005, 47; Schießl, Europäisierung der deutschen Unternehmensbesteuerung durch den EuGH, NJW 2005, 849; Spengel/Braunagel, EU-Recht und Harmonisierung der Konzern1 Unter den Voraussetzungen der Mutter-Tochter-Richtlinie (s. Rz. 144) ist die Kapitalertragsteuer auf 0 % reduziert; nach Art. 10 II 1 OECD-MA beträgt sie ansonsten 5 % bei Schachteldividenden (Beteiligung mind. 25 %) und 15 % bei Streubesitzdividenden. Zur z.T. abw. Abkommenspraxis s. Vogel/ Lehner/Tischbirek5, Art. 10 DBA Rz. 67. 2 Rückwirkend novelliert durch AmtshilfeRLUmsG v. 26.6.2013, BGBl. I 2013, 1809; dazu Mitschke, FR 2013, 694; Hagena/Klein, ISR 2013, 267. BFH/NV 2014, 614, hält § 50d X EStG sowohl als Treaty Override als auch als rückwirkendes Nichtanwendungsgesetz für verfassungswidrig; dazu Lehner, IStR 2014, 189.
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Der Einfluss des Europarechts auf die Besteuerung von Unternehmen
Rz. 146
§ 13
besteuerung in Europa, StuW 2006, 34; Fischer, Europarecht und Körperschaftsteuer, DStR 2006, 2281; Geibel, Unternehmenssteuerrecht im europäischen Binnenmarkt, JZ 2007, 277; Saß, Zur Begrenzung der nationalen Ausgestaltung der Körperschaftsteuersysteme durch den EuGH, DB 2007, 1327; Elschner/Heckemeyer/Spengel, Besteuerungsprinzipien und effektive Unternehmenssteuerbelastungen in der EU, ZEW Discussion Paper No. 09–034 (2009); Hey, Vorrecht des Quellenstaates und binnenmarktkonforme Besteuerung von Kapitalgesellschaften in der Europäischen Union, in FS Schaumburg, 2009, 767; Rödder, Wo steht und wohin entwickelt sich das Europäische Unternehmenssteuerrecht?, in FS Herzig, 2010, 349; Frenz, Steuerliche Benachteiligung von Gesellschaften, DStZ 2011, 555.
1. Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung Obwohl die Beseitigung von Hemmnissen grenzüberschreitender Wirtschaftstätigkeit zu einer der Kernforderungen der europäischen Verträge gehört, ist das Unternehmensteuerrecht bisher nur sehr punktuell harmonisiert (dazu § 4 Rz. 70 ff.). Die aktuell vorhandenen Richtlinien beeinflussen die Besteuerung von Unternehmen, namentlich das Körperschaftsteuerrecht, wie folgt:
143
– Die Mutter-Tochter-Richtlinie (90/435 EWG; erweitert durch 2003/123/EG) verhindert die internationale Doppelbesteuerung und Doppelbelastung von Gewinnen, die von einer EU-Tochtergesellschaft an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft bzw. an eine ausländische Betriebsstätte der Muttergesellschaft ausgeschüttet werden. Hierzu berücksichtigt der Sitzstaat der Muttergesellschaft die Vorbelastung der Auslandsdividende durch Anrechnung bzw. Freistellung (gewährleistet durch § 8b I KStG). Im Gegenzug verzichtet der Sitzstaat der Tochtergesellschaft auf die Erhebung von Kapitalertragsteuer (s. § 43b EStG, einschränkend § 50d III EStG). Zur Vermeidung doppelter Nichtbesteuerung sieht Art. 4 Ia der RL nunmehr die Einführung eines materiellen Korrespondenzprinzips vor, wonach die Freistellung im Staat der Muttergesellschaft im Fall der Gewinnminderung bei der Tochtergesellschaft ausgeschlossen wird (Änderungsrichtlinie 2014/86/EU v. 8.7.2014).
144
– Die Fusionsrichtlinie (90/434/EWG) vermeidet in Fällen grenzüberschreitender Fusionen, Spaltungen, der Einbringung von Unternehmensteilen und des Austausches von Anteilen die Aufdeckung und Besteuerung stiller Reserven. Zur Sicherung des Besteuerungsrechts des Herkunftsstaats ist eine Buchwertverknüpfung vorgeschrieben. 2005 wurde die Fusionsrichtlinie an das seit dem 8.10.2004 unmittelbar geltende Statut einer Europäischen Aktiengesellschaft1 angepasst. Bereits die SE-VO ermöglicht grenzüberschreitende Verschmelzungen unter Beteiligung bzw. zur Gründung einer SE. Durch Verabschiedung der Verschmelzungsrichtlinie (RL 2005/56/EG, ABl. EU L 310 v. 25.11.2005, 1 ff.) und der Rspr. des EuGH in der Rs. Sevic2 sind die gesellschaftsrechtlichen Hürden grenzüberschreitender Umwandlungen auch für nationale Unternehmensformen aus dem Weg geräumt. Nachdem er sich nicht länger auf das Fehlen der gesellschaftsrechtlichen Grundlagen berufen konnte, hat der deutsche Gesetzgeber daraufhin mit dem SEStEG v. 7.12. 2006 (BGBl. I 2006, 2782) die längst überfällige Europäisierung des Umwandlungssteuerrechts vorgenommen (i.E. s. § 14 Rz. 45)3, sich aber – obwohl die Steuerneutralität der Umwandlung durchgängig von dem Fortbestehen der Steuerverstrickung der stillen Reserven in Deutschland abhängig gemacht wurde – nicht auf eine Internationalisierung verstanden4.
145
– Nach der in § 50g EStG umgesetzten Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie (2003/49/EWG)5 sind grenzüberschreitende Zins- und Lizenzgebührenzahlungen zwischen Kapitalgesellschaften zur Vermeidung von Doppelbesteuerungen im Quellenstaat von jedweder Quellensteuer zu befreien. Auf diese Weise wird das Besteuerungsrecht ausschließlich dem Sitzstaat zugewiesen. Damit erreicht die Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie gerade nicht die angestrebte Finanzierungsneutra-
146
1 Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Gesellschaft v. 8.10.2001, Dok-Nr. 2157/2001, ABl. EG 2001 Nr. 294; zur Besteuerung der SE s.§ 11 Rz. 23 m. Nachw. in der zugehörigen Fn. 2 EuGH C-411/03, Sevic. 3 Zu den europarechtlichen Vorgaben Klingberg/van Lishaut, Der Konzern 2005, 698; Pietsch, Die Vereinbarkeit der umwandlungssteuerrechtlichen Vorschriften mit den Grundfreiheiten, Diss., 2005; Thiel, DB 2005, 2316; Frotscher, IStR 2006, 65; Hörtnagel, Stbg. 2006, 471; Körner, IStR 2006, 109; Rauch/Schanz, SteuerStud 2009, 4. 4 Krit. Werra/Teiche, DB 2006, 1455. 5 Vorschlag einer Neufassung, KOM(2011) 714 endg.
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§ 13
Rz. 147
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
lität im Verhältnis zu Dividenden, da diese nach der Mutter-Tochter-Richtlinie ausschließlich mit der Körperschaftsteuer des Quellenstaats belastet sind (s. auch § 4 Rz. 72).
147
– Das Schiedsabkommen (90/436/EWG) stellt als multilaterales Abkommen in Fällen der Gewinnberichtigung zwischen verbundenen Unternehmen und der Abgrenzung von Betriebsstättengewinnen sicher, dass es zur Durchführung eines Schlichtungsverfahrens kommt, damit Doppelbesteuerungen vermieden werden können.
148
Zu weitergehenden Harmonisierungsanstrengungen, insb. zum Richtlinienvorschlag einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage (GKKB/CCCTB) s. § 4 Rz. 71 und ausf. § 9 Rz. 59 ff.
149
Insgesamt steht und fällt jede weitere Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung auf Grund des Einstimmigkeitsprinzips mit der Einigungsbereitschaft1 der Mitgliedstaaten. Einigungsdruck erzeugt insb. der europäische Steuerwettbewerb (s. § 7 Rz. 70 ff.), dem sich derzeit kaum Einhalt gebieten lässt. Der am 1.7.1997 vom ECOFIN beschlossene unverbindliche Verhaltenskodex gegen unfairen Steuerwettbewerb (KOM(1997) 495, ABl. EG 1998 C 210, 227 = BR-Drucks. 814/97; § 4 Rz. 12) schützt nicht gegen ein allgemein niedriges Steuerniveau im Ausland2 und legitimiert keine diskriminierenden und beschränkenden Abwehrmaßnahmen, wie sie das Außensteuerrecht insb. mit der Hinzurechnungsbesteuerung (s. Rz. 155) vorsieht (EuGH C-196/04, Cadbury Schweppes). Allein das Beihilferecht (Art. 107 f. AEUV) bietet rechtlich durchsetzbaren Schutz gegen unfaire Praktiken anderer Mitgliedstaaten (dazu i.E. § 4 Rz. 37 ff.). Inwieweit die EU-Kommission mit ihren die BEPS-Initiative der OECD ergänzenden Vorschlägen zur Bekämpfung aggressiver Steuerplanung3 bei den Mitgliedstaaten Gehör finden wird, bleibt abzuwarten.
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Einstweilen frei.
2. Überprüfung des nationalen Unternehmensteuerrechts am Maßstab der Grundfreiheiten durch den EuGH 151
Handlungsdruck folgt für die nationalen Gesetzgeber jedoch aus den Entscheidungen des EuGH. Die Benachteiligung grenzüberschreitender Unternehmensbetätigung wird vom EuGH meist als mit der Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit unvereinbar erachtet. Schwerpunkte der Rspr. lassen sich wie folgt umreißen:
152
Besonders häufig ist der EuGH mit der diskriminierenden Wirkung mitgliedstaatlicher Körperschaftsteuersysteme befasst. Soweit sie Auslandsdividenden4 oder ausländische Anteilseigner5 1 Zum Einigungsbedarf für eine gerechte Aufteilung der Steuerquellen Hey in Konrad/Lohse, Einnahmen- und Steuerpolitik in Europa: Herausforderungen und Chancen, 2009, 75; zum Vorschlag eines alternativen „European Tax Allocation Systems (ETAS)“ s. Hernler, FS Herzig, 2010, 1057; zur bisher ergebnislosen deutsch-französischen Konvergenzinitiative Eilers/Nücken, DB 2012, 535; Dorenkamp, Ubg. 2012, 421. 2 S. aber EuGH C-88/03, Portugiesische Republik/Kommission: regionaler und lokaler Steuersatzwettbewerb als verbotene Beihilfe; grundl. zur europarechtlichen Bewertung von Niedrigsteuersätzen Hoffmann, Die Besteuerung von Kapitalgesellschaften und ihren Anteilseignern in Irland im Vergleich zu Deutschland, Diss., 2005, 223 ff. 3 Empfehlung der Kommission v. 6.12.2012, betreffend aggressive Steuerplanung, Com (2012) 8806 final; dazu M. Lang, SWI 2013, 206. 4 EuGH C-35/98, Verkooijen; C-315/02, Lenz; C-319/02, Manninen; C-446/04, Test Claimants in the FII Group Litigation; C-436/08, Haribo; C-437/08, Österreichische Salinen; anders zu Dividenden aus Drittstaaten s. EuGH C-157/05, Holböck: Keine Ausdehnung auf Drittstaaten für vor dem 31.12.1993 bestehende Regelungen; dazu Saß, DB 2007, 1327; Schönfeld, IStR 2007, 443; s. ferner Kraft/Gebhardt/Quilitzsch, FR 2011, 593. 5 EuGH C-170/05, Denkavit; C-379/05, Amurta; C-540/07, Kommission/Italien; C-377/07, STEKO; C-303/07, Alpha; C-487/08, Kommission/Königreich Spanien; C-284/09, Kommission/Bundesrepublik Deutschland; anders jedoch EuGH C-374/04, Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation; C-284/06, Burda: kein Anspruch auf Körperschaftsteuergutschrift der ausschüttenden gebietsansässigen Gesellschaft bei Ausschüttung an gebietsfremde Gesellschaft; EuGH C-282/07, Truck Center SA: Zulässigkeit der Erhebung von Quellensteuer.
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Der Einfluss des Europarechts auf die Besteuerung von Unternehmen
Rz. 153
§ 13
benachteiligen1, erkennt der Gerichtshof regelmäßig auf einen Verstoß gegen die Kapitalverkehrs- oder Niederlassungsfreiheit. So hat die Rs. Meilicke I, gerichtet gegen die Inlandsbeschränkung des bis 2001 in Deutschland praktizierten Vollanrechnungsverfahrens, den vollzogenen Wechsel zum Teileinkünfteverfahren im Nachhinein bestätigt (s. § 11 Rz. 17). Die Diskriminierung von ausländischen Anteilseignern war ferner Gegenstand der Entscheidungen Lankhorst-Hohorst (EuGH C-324/00) und Test Claimants in the Thin Cap Group (EuGH C-524/04) zur Gesellschafterfremdfinanzierung (dazu i.E. § 11 Rz. 49) sowie Bosal und Keller Holding zum Abzug von Beteiligungsaufwand im Sitzstaat der Muttergesellschaft (§ 11 Rz. 42)2. In einer Reihe von Entscheidungen (u.a. Verurteilung der Bundesrepublik in der Rs. Kommission/Deutschland, C-284/09) hat der EuGH zudem deutlich gemacht, dass die in den meisten Staaten geltenden Beteiligungsertragsbefreiungen (§ 8b I KStG) auch unterhalb der Beteiligungserfordernisse der Mutter-Tochter-Richtlinie nicht nach der Ansässigkeit der Dividenden empfangenden Körperschaft differenzieren dürfen (s. i.E. § 11 Rz. 42). Dem Anspruch des EuGH, In- und Auslandsdividenden gleich zu behandeln, ist die Ausweitung der zuvor nur auf Auslandssachverhalte anwendbaren Vorschriften der §§ 8a, 8b V KStG auch auf rein innerstaatliche Sachverhalte zu verdanken. Auch die Zinsschranke des § 4h EStG differenziert zumindest im Grundtatbestand nicht zwischen In- und Auslandskonzernen (s. aber Rz. 156 u. § 11 Rz. 56). Damit bewirkt der EuGH – unbeabsichtigt – häufig das Gegenteil eines Abbaus steuerlicher Verzerrungen im Binnenmarkt (dazu auch Rz. 156). Besonders umstr. ist, ob die Mitgliedstaaten bei einem Verzicht auf die Besteuerung von Auslandsgewinnen durch Anwendung der Freistellungsmethode gleichwohl im Ausland erlittene Verluste anerkennen müssen (s. hierzu auch § 4 Rz. 98)3. Die Anerkennung von Verlusten ausländischer Tochtergesellschaften im Sitzstaat der Muttergesellschaft hat der EuGH in der Rs. Marks & Spencer4 lediglich als ultima ratio für geboten erachtet, soweit eine Verlustnutzung im Quellenstaat endgültig ausscheidet (sog. finale Verluste). I.Ü. sei der Ausschluss sofortiger Verlustverrechnung im Hinblick auf die Gefahr doppelter Verlustnutzung und die abkommensrechtliche Verteilung der Besteuerungshoheit gerechtfertigt. Damit sind die Erwartungen, der EuGH werde die Mitgliedstaaten zu einer umfassenden grenzüberschreitenden Gruppenbesteuerung5 zwin1 Zum Ganzen grundl. Englisch, Dividendenbesteuerung, Diss., 2005, 212 ff., 325 ff., 396 ff.; Denys, ET 2007, 221; Saß, DB 2007, 1327; Vanistendael, ET 2007, 210; S. Wagner, Der Konzern 2008, 332; Rust, DStR 2009, 2568; Englisch, Intertax 2010, 197; Kube/Straßburger, IStR 2010, 301; Tenore, EC Tax Review 2010, 74; Duttine/Stumm, BB 2012, 867. Zur eng verbundenen Problematik juristischer Doppelbesteuerung infolge fehlender oder unvollständiger Anrechnung von Quellensteuern durch den Wohnsitzstaat des Anteilseigners s. EuGH C-513/04, Kerckhaert-Morres; EuGH C-128/08, Jacques Damseaux (Grundfreiheitenverstoß verneinend); krit. Kühbacher, ÖStZ 2009, 496. Zur gemeinschaftsrechtlichen Beurteilung juristischer Doppelbesteuerung s. auch § 4 Rz. 92. 2 EuGH C-168/01, Bosal, m. Anm. Englisch, Unternehmensbewertung & Management 2004, 58; Hahn, GmbHR 2003, 1245; Wagner, DStZ 2004, 185; EuGH C-471/04, Keller Holding, m. Anm. Stahlschmidt, FR 2006, 525. 3 Umfassend Weber, Grenzüberschreitende Verlustverrechnung im Konzern, Diss., 2008; Eisenbarth, Grenzüberschreitende Verlustverrechnung als Kerngebiet des Europäischen Steuerrechts, Diss., 2010; und aktuell Lüdicke/Lange-Hückstädt, IStR 2013, 611. 4 EuGH C-446/03, Marks & Spencer; bestätigt durch EuGH C-337/08, X Holding BV. Zu Marks & Spencer Douma/Naumburg, ET 2006, 431; Herzig/Wagner, DStR 2006, 1; Hey, GmbHR 2006, 113; M. Lang, SWI 2006, 3; M. Lang, ET 2006, 54; Maiterth, DStR 2006, 915; O’Shea, EC Tax Review 2006, 66. Zu X-Holding Pache/Englert, IStR 2010, 448; da Silva, Intertax 2011, 257; Schlussfolgerungen für die deutsche Organschaft FG Rheinland-Pfalz EFG 2010, 1632; Niedersächs. FG EFG 2010, 815; Pache/Englert IStR 2007, 47; Kußmaul/Niehren, FS Djanani, 2008, 177; Homburg, IStR 2009, 350; von Brocke, DStR 2010, 964; Homburg, IStR 2011, 111, m. Erwiderung Mitschke, IStR 2011, 185; Winter/Marx, DStR 2011, 1101; s. ferner § 14 Rz. 29. 5 Dazu Scheunemann, Grenzüberschreitende konsolidierte Konzernbesteuerung, Diss., 2005; Fülbier/ Pferdehirt, DB 2006, 175; Kaufer, Grenzüberschreitende Organschaft kraft Gemeinschaftsrecht, Diss., 2006; Weber/da Silva, From Marks & Spencer to X Holding: The Future of Cross-Border Group Taxation, 2011; Lampert/Grave, DStZ 2012, 463; s. ferner T. Wagner, Konzeption einer Gruppenbesteuerung, Diss., 2006, mit einem Vorschlag für eine europarechtskonform auf das Inland beschränkte Gruppenbesteuerung; ähnlich Witt, Die Konzernbesteuerung, Habil., 2006.
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§ 13
Rz. 154
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
gen, enttäuscht. In der Rs. Lidl Belgium1 hat der Gerichtshof die Marks & Spencer-Doktrin auch auf Betriebsstättenverluste angewandt. Die Rs. Krankenheim Ruhesitz Wannsee2 hat die Pflicht des Ansässigkeitsstaates zur Verlustanerkennung eingeschränkt. Danach soll der Ansässigkeitsstaat die Anerkennung des Auslandsverlusts ablehnen können, wenn die Berücksichtigung im Quellenstaat aufgrund restriktiver (ihrerseits europarechtswidriger) Verlustausgleichsregeln des Quellenstaates unterbleibt. Eine Aufgabe der Rspr. zur grenzüberschreitenden Berücksichtigung finaler Verluste bedeutet dies nicht. In den Rs. A Oy3 und Nordea Bank4 hält der EuGH daran fest, dass Verluste, die sich aufgrund einer Liquidation der Betriebsstätte/Tochtergesellschaft im Quellenstaat endgültig nicht mehr auswirken können, im Ansässigkeitsstaat berücksichtigt werden müssen5; Gleiches gilt, wenn wie bei Währungsverlusten aus Dotationskapital von vornherein eine Berücksichtigung nur im Ansässigkeitsstaat möglich ist6. Wann ein Verlust als final im Sitzstaat zu berücksichtigen ist, bleibt allerdings auch nach verschiedenen hierzu ergangenen Entscheidungen des BFH7 umstritten. Richtigerweise müssten die nationalen Gerichte diesbezüglich erneut den EuGH anrufen8, anstatt diesen Begriff in Eigenregie und ohne hinreichende europarechtliche Rückkoppelung selbst zu konkretisieren. Im Rahmen der Anrechnungsmethode müssen Auslandsverluste dagegen grds. ohne Einschränkungen berücksichtigt werden. JStG 2009 (BGBl. I 2008, 2794) begrenzt folglich die Anwendung von § 2a EStG auf Drittstaatensachverhalte. Damit scheidet auch die Anwendung im Rahmen des negativen Progressionsvorbehalts gem. § 32b EStG aus. 154
Ebenfalls noch nicht abschließend geklärt sind die europarechtlichen Vorgaben für die Zuordnung und Abrechnung stiller Reserven bei Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften9 und Überführung von Einzelwirtschaftsgütern10. Zwar dürfen gesellschaftsrechtliche Nachteile im Zuzugsfall nicht länger auf die Sitztheorie gestützt werden (Rs. Centros, Überseering und Inspire Art11). 1 EuGH C-414/06, Lidl Belgium; dazu Anm. von Brocke, DStR 2008, 2201; Kessler/Eicke, IStR 2008, 581; Meussen, ET 2008, 233; Schulz-Trieglaff, StuB 2008, 519; Sedemund, DB 2008, 1120; Sedemund/ Wegner, DB 2008, 2565; Seiler/Axer, IStR 2008, 838; Thömmes, IWB 2008, Fach 11A, 1185. 2 EuGH C-157/07, Rz. 49 f., m. Anm. Breuninger/Ernst, DStR 2009, 1981; Haslehner, SWI 2008, 561; Kube, IStR 2008, 305 (310 f.); Lamprecht, IStR 2008, 766; Thömmes, IWB 2008, Fach 11A, 1205; Schulz-Trieglaff, StuB 2009, 260; Spengel/Matenaer, IStR 2010, 817. 3 EuGH C-123/11; dazu Cohrs, European Taxation 2013, 345; Heurung/Engel/Bresgen, GmbHR 2013, 638; v. Brocke, IWB 2013, 189; Schiefer/Quinten, IStR 2013, 261. 4 EuGH C-48/13. 5 Zu den Schlussfolgerungen für die Berücksichtigung vergeblicher Aufwendungen für die Gründung einer Betriebsstätte s. FG Köln, EFG 2013, 143. Damit sind die auf OY AA, EuGH C-231/05, gestützten Erwartungen der Finanzverwaltung (Mitschke, IStR 2012, 626; Hruschka, DStR 2013, 392; Schulz-Triglaff, ISR 2013, 216), der EuGH werde ganz vom europarechtlichen Gebot grenzüberschreitender Verrechnung finaler Verluste abrücken, nicht bestätigt worden. 6 EuGH C-293/06, Deutsche Shell, m. Anm. Ditz/Schönfeld, DB 2008, 1458; S. Wagner, Der Konzern 2008, 645; ähnlich EuGH C-231/05, Rewe Zentralfinanz, zu Teilwertabschreibungen auf Auslandsbeteiligungen m. Anm. Cloer/Lavrelashvili, RIW 2007, 377; Reichl/Wittkowski, IStR 2007, 385; Röhrbein, IWB 2007, Fach 11A, 1141. 7 S. hierzu BFH/NV 2010, 1744; 2011, 524 (Berücksichtigung auch in der Gewerbesteuer; Berücksichtigung erst im Finalitäts- und nicht bereits im Verlustentstehungsjahr); BFH BStBl. 2010, 1065 (Bejahung der Finalität auch bei Umstrukturierung im Ausland; Differenzierung zwischen Finalität aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen); BFH/NV 2014, 963 (Wahrscheinlichkeit späterer Verlustnutzung im Betriebsstättenstaat), m. Anm. Kahlenberg, StuB 2014, 446; ferner Rublack, Berücksichtigung finaler Auslandsverluste, IFSt-Schrift Nr. 472 (2011), m. zahlr. Nachw. des Diskussionsstandes; sehr restriktives Finalitätsverständnis Schwenke, IStR 2011, 368. 8 Ebenso Cordewener, 20 EC Tax Review 2011, 58; a.A. BFH/NV 2014, 963 (965). 9 Lit. bis 2005 s. 20. Aufl., § 18 Rz. 519 Fn. 563. 10 Dazu Tenore, Intertax 2006, 386. 11 EuGH C-212/97, Centros; C-208/00, Überseering; C-167/01, Inspire Art; anders für den Wegzug EuGH C-81/87, Daily Mail; bestätigt durch EuGH C-210/06, Cartesio, m. Anm. und Schlussfolgerungen für die Wegzugsbesteuerung Aigner, SWI 2009, 76; Brakalova/Barth, DB 2009, 213; Thömmes, IWB 2009, Fach 11A, 1219; Zimmer/Naendrup, NJW 2009, 545; Kußmaul/Richter/Ruiner, EWS 2009, 1; Leible/Hoffmann, BB 2009, 58; Hellgardt/Illmer, NZG 2009, 94; Frenzel, EWS 2009, 158; Frobenius, DStR 2009, 487; Nave, BB 2009, 870; Schneeweiss, Intertax 2009, 363; Dourado/Pistone, Intertax 2009, 342; Gebert/Fingerhuth, IStR 2009, 445; Richter/Heyd, StuW 2010, 367.
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Der Einfluss des Europarechts auf die Besteuerung von Unternehmen
Rz. 155
§ 13
Des Weiteren lässt sich aus den steuerrechtlichen Entscheidungen Lasteyrie du Saillant1 und N2 zur Wegzugsbesteuerung natürlicher Personen sowie National Grid Indus (EuGH C-371/10)3 zur Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften der allgemeine Grundsatz folgern, dass eine Aufdeckung stiller Reserven ohne Realisierungsakt bei Grenzüberschreitung unverhältnismäßig ist. Andererseits erkennt der EuGH aber das Besteuerungsrecht des Staats, unter dessen Steuerhoheit die stillen Reserven entstanden sind, an. Damit stellt sich die Frage, wie ein europarechtskonformer Interessenausgleich zwischen dem Verzicht auf Sofortversteuerung und der Wahrung des Besteuerungsrechts des Wegzugsstaats aussehen kann. Der deutsche Gesetzgeber hat mit dem SEStEG die Konsequenzen aus der europarechtlichen Kritik4 an der Inlandsbeschränkung des Umwandlungssteuerrechts gezogen und die Vorgaben der Fusionsrichtlinie umgesetzt (s. § 14 Rz. 45 und § 11 Rz. 101 ff.). Gleichzeitig wurde die bloße Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts zum Anlass einer Sofortversteuerung genommen. Trotz der hiermit einhergehenden Benachteiligung von Auslandsinvestitionen ist jedoch nach den Rs. National Grid Indus (EuGH C-371/10)5 und DMC6 davon auszugehen, dass der EuGH an dem in § 4 I 3 EStG normierten Grundsatz der Sofortrealisierung, die lediglich durch die restriktiv ausgestaltete Stundungsregelung des § 4g EStG (i.V.m. § 12 I 1 Hs. 2 KStG) abgemildert wird, keinen Anstoß nehmen wird. Die Finanzverwaltung zieht sogar den Schluss, die deutschen Regelungen seien großzügiger als europarechtlich erforderlich, so dass die Stundung unter weitergehende Bedingungen gestellt werden könne7. In der Rs. Cadbury Schweppes zur britischen Hinzurechnungsbesteuerung ist deutlich geworden, dass Maßnahmen gegen Gewinnverlagerungen nur zur Abwehr „künstlicher Gestaltungen“ zulässig sind8. Damit dürften auch weite Teile des deutschen Außensteuerrechts gegen die Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit verstoßen9. JStG 2008 (BGBl. I 2007, 3150) 1 EuGH C-9/02, Lasteyrie du Saillant; dazu Aigner/Tissot, SWI 2004, 293; Beiser, ÖStZ 2004, 282; Deininger, INF 2004, 460; Eicker/Schwind, EWS 2004, 186; Ismer/Reimer/Rust, EWS 2004, 207; Körner, IStR 2004, 424; Maier-Frischmuth, StuB 2004, 732. 2 EuGH 470/08, N, m. Anm. van den Hurk/Korving, Bull. Int. Tax 2007, 150. 3 Dazu Dürrschmidt, StuW 2010, 137; Thömmes, SWB 2011, 896; Körner, IStR 2012, 1; Loidl/Moshammer, SWI 2012, 177; Hahn, BB 2012, 681; Bron, EWS 2012, 32; Ruiner, IStR 2012, 49; Rautenstrauch/ Seitz, Ubg. 2012, 14; Kessler/Philipp, DStR 2012, 267; Mitschke, DStR 2012, 629; Mitschke, IStR 2012, 6; von der Laage, StuW 2012, 182; Sieker, FR 2012, 352; Thömmes/Linn, IStR 2012, 282. 4 Vgl. etwa Engert, DStR 2004, 664; van Lishaut, FR 2004, 1301; Heinz, FR 2005, 485. 5 Dazu ECJ Task Force, European Taxation 2013, 276; van den Hurk/van den Broek/Korving, Bull. for International Taxation 2013, 257. S. ferner zu europarechtswidriger Sofortbesteuerung bei Entstrickung EuGH C-64/11, Kommission ./. Spanien; EuGH C-38/10, Kommission ./. Portugal; EuGH C-261/11, Kommission ./. Dänemark. 6 EuGH C-164/12; dazu Sydow, DB 2014, 265; Musil, FR 2014, 470. 7 S. das Papier: „Zwölf Punkte zur weiteren Modernisierung und Vereinfachung des Unternehmensteuerrechts“, www.iww.de/quellenmaterial/dokumente/120611.pdf; ebenso Mitschke, DStR 2012, 629; a.A. § 11 Rz. 102. 8 EuGH C-196/04, Cadbury Schweppes; dazu Wassermeyer/Schönfeld, GmbHR 2006, 1065; Gliniorz/ Klattig, NWB 2006 Fach 2, 9073; Sedemund, BB 2006, 2119; Axer, IStR 2007, 162; Hahn, IStR 2006, 667; Kraft/Bron, IStR 2006, 614; Meussen, ET 2007, 13; Thömmes/Nakhai, IWB 2006, Fach 11A, 887; Frischmuth, StuB 2007, 65; Hackemann, IStR 2007, 351; Hahn, DStZ 2007, 201; O’Shea, EC Tax Review 2007, 13; Kroppen, DStJG 30 (2007), 319 (329 ff.); Waldens/Sedemund, IStR 2007, 450 (Gestaltungsüberlegungen); Goebel/Palm, IStR 2007, 720; Möller, IStR 2010, 166; anders EuGH C-298/05, Columbus Container, hinsichtlich des Übergangs von der Anrechnungsmethode durch § 20 II AktG (Diskriminierung verneint, m. Anm. Meussen, ET 2008, 169); s. dazu aber auch das abw. Schlussurteil des BFH BStBl. 2010, 774 (dazu von Brocke/Hackemann, DStR 2010, 368; Lieber, IStR 2010, 142; Prinz, FR 2010, 378; Rehfeld, IWB 2010, 80; Sydow, IStR 2010, 174; Intemann, NWB 2011, 39). 9 Umfassende europarechtliche Würdigung Wassermeyer, IStR 2001, 113; Bille, Hinzurechnungsbesteuerung in Europa, Diss., 2004; Schönfeld, Hinzurechnungsbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, Diss., 2005; Schönfeld, StuW 2005, 158; Lütke, Die CFC-Legislation im Spannungsfeld zwischen europäischer Kapitalverkehrsfreiheit und weltweiter Kapitalliberalisierung (WTO), Diss., 2006; Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, Diss., 2007; Rust, INTERTAX 2008, 492; Kraft/Schmidt, RIW 2011, 758 (zur reformierten Wegzugsbesteuerung des § 6 AStG); Vogel/Cortez, RIW 2011, 532; Schön, Beihefter zu IStR 2013, 3; zu den Möglichkeiten einer gemeineuropäischen Regelung Maisto/Pistone, ET 2008, 503 u. 554.
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§ 13
Rz. 156
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
hat daher in § 8 II AStG die Möglichkeit des Nachweises einer tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit der Zwischengesellschaft geschaffen, um den Anforderungen des EuGH zu genügen1; ähnlich § 15 VI AStG für EU-/EWR-Familienstiftungen. Zulässig ist dagegen die zur Gewährleistung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsquellen notwendige Gewinnabgrenzung durch Verrechnungspreise (EuGH C-311/08, SGI)2. 156
Der EuGH kann die Diskriminierungen und Beschränkungen durch das nationale Unternehmensteuerrecht nur punktuell auf der Grundlage des ihm vorgelegten Fallmaterials aufgreifen. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, nach den Vorgaben des Gerichtshofs einheitliche Regelungen zur systematischen Beseitigung der Hindernisse grenzüberschreitender Unternehmenstätigkeit zu verabschieden. Dies zu erkennen, sind die Mitgliedstaaten allerdings bisher zumeist nicht bereit. Stattdessen werden in einem regelrechten „race to the bottom“ der Steuersystematik3 zur Beseitigung der Diskriminierungen Steuerinländer in die nachteiligen Regeln für Steuerausländer einbezogen. Der deutsche Gesetzgeber nimmt zudem auch bei neuen Reformmaßnahmen erhebliche europarechtliche Ingerenzen in Kauf. Dies gilt namentlich für die Funktionsverlagerung (§ 1 III 9, 10 AStG; s. § 11 Rz. 86), die nur Inlandskonzernen offenstehenden Möglichkeiten der Vermeidung der Zinsschranke (§ 15 I 1 Nr. 3 KStG; s. § 11 Rz. 56) sowie die Bruttobesteuerung von Dividenden ausländischer Streubesitzanteilseigner (§ 8b IV i.V.m. § 32 I Nr. 2 KStG, s. § 11 Rz. 42).
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Einstweilen frei.
D. Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung Literatur: Becker/Lion, Ist es erwünscht, das Einkommen aus Gewerbebetrieb nach gleichmäßigen Grundsätzen zu besteuern ohne Rücksicht auf die Rechtsform, in der das Gewerbe betrieben wird?, 33. DJT, 1925; Walz/Knobbe-Keuk/Littmann, Empfiehlt sich eine rechtsformunabhängige Besteuerung der Unternehmen?, 53. DJT, 1980; J. Lang, Reform der Unternehmensbesteuerung, StuW 1989, 3; J. Lang, Reform der Unternehmensbesteuerung auf dem Weg zum Europäischen Binnenmarkt und zur Deutschen Einheit, StuW 1990, 107; Graß, Unternehmensformneutrale Besteuerung, Diss., 1992; Elschen, Institutionalisierte oder personale Besteuerung von Unternehmensgewinnen2, 1994; Reiß, Rechtsformabhängigkeit der Unternehmensbesteuerung, in DStJG 17 (1994), 3; Englisch, Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung bei Ertragsteuern, DStZ 1997, 778; Jachmann, Besteuerung von Unternehmen als Gleichheitsproblem, in DStJG 23 (2000), 9; Hey, Besteuerung von Unternehmensgewinnen und Rechtsformneutralität, in DStJG 24 (2001), 155; Hennrichs, Dualismus der Unternehmensbesteuerung aus gesellschaftsrechtlicher und steuersystematischer Sicht, StuW 2002, 201; P. Kirchhof, Maßstäbe für die Ertragsbesteuerung von Unternehmen, in DStJG 25 (2002), 1; Schreiber, Die Steuerbelastung der Personenunternehmen und der Kapitalgesellschaften. Ein Beitrag zur Weiterentwicklung der Unternehmensbesteuerung, WPg. 2002, 557; Sieker, Möglichkeiten rechtsformneutraler Besteuerung von Einkommen, in DStJG 25 (2002), 145; Prasse, Die Unternehmenssteuerreform 1999/2000. Eine verfassungsrechtliche und steuersystematische Untersuchung mit einzelnen Vorschlägen zur Optimierung der Unternehmensbesteuerung, Diss., 2003; Vogt, Neutralität und Leistungsfähigkeit. Eine verfassungs- und europarechtliche Untersuchung der Unternehmensbesteuerung nach dem StSenkG, Diss., 2003; Schneider, Steuervereinfachung durch Rechtsformneutralität?, DB 2004, 1517; P. Kirchhof, Die Besteuerung von Erwerbsgemeinschaften, in FS Bareis, 2005, 133 ff.; Schneider, Vertikale Gerechtigkeit wider Rechtsformneutralität und Lebenseinkommensbesteuerung, in FS 1 Notwendig geworden insb. nach BFH BStBl. 2010, 774; zweifelnd, ob § 8 II AStG ausreicht, Bürger, SteuerStud 2009, 525; ausf. Kritik bei Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, § 8 AStG Anm. 405 ff. (2009). 2 Dazu Jiménez, Bull. Int. Tax 2010, 271; Schwaiger, SWI 2010, 525; Heidenbauer, SWI 2011, 67; zu Schlussfolgerungen bzgl. § 1 AStG Naumann/Sydow/Becker/Mitschke, IStR 2009, 665; Andresen, IStR 2010, 289; Becker/Sydow, IStR 2010, 195; Englisch, IStR 2010, 139. Zur Bedeutung der SGI-Entscheidung für die Anwendung von § 1 AStG Schleswig-Holsteinisches FG, EFG 2013, 279. 3 Hey, StuW 2004, 193 (197); de la Feria/Fuest, FS J. Lang, 2010, 1043; Böwing-Schmalenbrock, Verbösernde Gleichheit und Inländerdiskriminierung im Steuerrecht. Der Einfluss des Unionsrechts aus der Perspektive innerstaatlicher Sachverhalte, Diss., 2010.
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Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung
Rz. 169
§ 13
Bareis, 2005, 275 ff.; Maiterth/Sureth, Unternehmensfinanzierung, Unternehmensrechtsform und Besteuerung, BFuP 2006, 225; Schmiel, Rechtsformneutralität als Leitlinie für eine Neukonzeption der Unternehmensbesteuerung, BFuP 2006, 246; F.W. Wagner, Was bedeutet und wozu dient Rechtsformneutralität der Besteuerung, StuW 2006, 101; Weinelt, Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung, Diss., 2006; Heinrich, Die Rechtsformneutralität der Besteuerung – rechtspolitisches Ziel oder rechtliches Gebot?, in FS Ruppe, 2007, 205; Siegel, Rechtsformneutralität – ein klares und begründetes Ziel, in FS Schneeloch, 2007, 271; Drüen, Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung als verfassungsrechtlicher Imperativ?, GmbHR 2008, 393; Hey, Verfassungsrechtliche Maßstäbe der Unternehmensbesteuerung, in FS Herzig, 2010, 7; J. Lang, Auf der Suche nach rechtsformneutraler Besteuerung von Unternehmen, in FS Herzig, 2010, 323; Rose, Zur steuerlichen Gleichbehandlung der Gewinne von Unternehmen unabhängig von deren Rechtsform, in FS J. Lang, 2010, 641; Palm, Person im Ertragsteuerrecht, Habil., 2013. Weitere Nachweise vor Rz. 1.
1. Ursachen fehlender Rechtsformneutralität Die Rechtsformabhängigkeit des geltenden Unternehmensteuerrechts beruht auf dem Nebeneinander von körperschaftsteuer- und einkommensteuerpflichtigen Unternehmen, von Trennungs- und Transparenzprinzip (vgl. § 11 Rz. 1 f.). Im Dualismus der Unternehmensbesteuerung hat sich der Gesetzgeber entschieden, die Personengesellschaft ungeachtet ihrer zivilrechtlichen Verselbständigung am Leitbild des Einzelunternehmers zu orientieren. Damit stehen sich Kapitalgesellschaften auf der einen, Personengesellschaften und Einzelunternehmer auf der anderen Seite gegenüber. Das Ausmaß der rechtsformabhängigen Belastungsunterschiede wird erst deutlich, wenn sowohl die Ebene des Unternehmens als auch die Ebene des Unternehmers betrachtet werden. Abstrakte Aussagen zu Vor- bzw. Nachteilhaftigkeit einer Rechtsform sind zudem umso schwieriger, je mehr Faktoren betrachtet werden1.
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Überdies beschränkt sich die rechtsformabhängige Ungleichbehandlung nicht auf Einkommenund Körperschaftsteuer, sondern auch Erbschaft- und Schenkungsteuer (§ 15 Rz. 106 ff.) sowie die Gewerbesteuer sind in hohem Maße rechtsformabhängig konzipiert. Zwar fungiert die Gewerbesteuer auf kommunaler Ebene formal als allgemeine Unternehmensteuer. Indes entscheidet sich rechtsformabhängig, in welchem Umfang ein Unternehmen der Gewerbesteuer unterliegt (s. § 12 Rz. 5 ff.). Zudem setzen sich die Rechtsformunterschiede auf Grund der Anknüpfung der gewerbesteuerrechtlichen Bemessungsgrundlage an Einkommen- und Körperschaftsteuer (§ 7 S. 1 GewStG) fort. Auch die Anrechnung der Gewerbesteuer gem. § 35 EStG ist rechtsformabhängig auf Personenunternehmen begrenzt.
2. Verfassungs- und europarechtliche Dimension des Gebots der Rechtsformneutralität Der Rechtsformabhängigkeit des geltenden Rechts wird die Forderung nach Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung entgegengehalten. Rechtsformneutralität ist ein Gebot ökonomisch rationaler Besteuerung, Konkretisierung des ökonomischen Grundsatzes der Neutralität der Besteuerung2. Das Steuerrecht soll Entscheidungsneutralität (s. § 7 Rz. 3) verwirklichen und die Wahl zwischen verschiedenen Rechtsformen nicht verzerren. Richtigerweise ist Rechtsformneutralität zudem eine Ausprägung des Gebots gleichmäßiger Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Eine Vereinheitlichung der Unternehmensbesteuerung kann überdies zu Vereinfachung führen3. Zwar verheißt die strenge Anknüpfung an die zivilrechtliche Rechtsform Rechtssicherheit, gleichzeitig erzeugt die Rechtsformabhängigkeit aber erhebliches Gestaltungspotential, dem Rspr. und Verwaltung entgegenwirken müssen. Hierin liegt eine der Hauptursachen der Kompliziertheit des geltenden Unternehmensteuerrechts. 1 Hierzu Müller/Schmidt/Langkau, StuW 2010, 81 (dynamisches Modell des Rechtsformvergleichs). 2 Dazu und zu weiteren an die Unternehmensbesteuerung gerichteten Neutralitätsforderungen m. zahlr. Nachw. HHR/Hey, Einf. KSt Anm. 37 ff. (1999). 3 P. Kirchhof, StbJb. 2002/03, 7; Stapperfend, FR 2005, 74 (77); sehr krit. dagegen Schneider, DB 2004, 1517.
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§ 13
Rz. 170
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
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Dennoch ist die Bedeutung des Postulats der Rechtsformneutralität umstritten. Die Kontroverse über die Frage, ob das Steuerrecht nach Rechtsform differenzieren darf, ist so alt wie das Nebeneinander von Körperschaft- und Einkommensteuer1, hat in jüngerer Zeit aber neue Impulse erhalten.
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Von ökonomischer Seite wird in der Debatte um eine Duale Einkommensteuer verstärkt dem Gebot der Finanzierungs- oder Investitionsneutralität der Vorrang eingeräumt. Rechtsformneutralität allein garantiere keine optimale Allokation von Investitionen2. Dem ist zuzustimmen. Indes setzt die Verwirklichung von Investitionsneutralität Rechtsformneutralität voraus. Beide Ziele schließen sich nicht aus. Die Forderung nach Investitionsneutralität geht aber weiter, indem sie sich allgemein gegen eine Ungleichbehandlung von Fremd- und Eigenkapitalfinanzierung richtet.
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Verfassungsrechtlich wird das Gebot der Rechtsformneutralität der Besteuerung im Schrifttum unmittelbar auf Art. 3 I GG gestützt3. Daneben hat das Neutralitätsgebot eine freiheitsrechtliche Verankerung in Art. 12 I; 14 I GG; gelegentlich wird auch Art. 9 I GG genannt4. BVerfGE 116, 164 (198 ff. zu § 32c EStG 1994) vermag dagegen in Art. 3 I GG kein allgemeines verfassungsrechtliches Gebot der Rechtsformneutralität zu erkennen. Das zur Umsatzsteuer aufgestellte Verdikt rechtsformunabhängiger Ausgestaltung (BVerfGE 101, 151) lasse sich nicht verallgemeinern5. Vielmehr stehe es dem Gesetzgeber frei, die zivilrechtliche Rechtsform zum Anknüpfungspunkt unterschiedlicher Besteuerungsfolgen zu nehmen (wiederholt in BVerfGE 127, 224 [250])6. Die Abschirmung der Vermögenssphäre der Kapitalgesellschaft sei hinreichender Rechtfertigungsgrund für eine wirtschaftliche Doppelbelastung des ausgeschütteten Gewinns. Auch der 66. DJT hat keine Pflicht zur Beseitigung der Rechtsformunterschiede zu erkennen vermocht7. Der Hinweis auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers kann indes nicht überzeugen8. Die Rechtsform als solche taugt nicht zur Rechtfertigung von Belastungsunterschieden, wenn sich in ihr nicht unterschiedliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit manifestiert. Auch der gestaltungsfreie Gesetzgeber darf Differenzierungskriterien nicht willkürlich wählen.
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Ohnehin wird der Zusammenhang zwischen zivilrechtlicher Rechtsform und steuerrechtlicher Leistungsfähigkeit immer unklarer. Traditionell galt es, die wirtschaftliche Doppelbelastung ausgeschütteter Gewinne von Kapitalgesellschaften zu rechtfertigen. Hierzu wurde mit der 1 S. insb. Becker und Lion anlässlich des 33. DJT, 1925; zur Entwicklung der Reformdiskussion HHR/ Hey, Einf. KSt Anm. 183 ff. (1999). 2 Grundl. F.W. Wagner, Was bedeutet und wozu dient die Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung?, StuW 2006, 101 (109); Rose, FS J. Lang, 2010, 641 (643). 3 J. Lang, StuW 1990, 107 (115 f.); Jachmann, DStJG 23 (2000), 9 (41 f.); Balmes, DStJG Sonderband Unternehmensbesteuerung 2001, 25 (33 ff.); Hey, DStJG 24 (2001), 155 (166 ff.), 180; Weinelt, Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung, Diss., 2006, 99, 138; Lauterbach, Ein neues Unternehmensteuerrecht für Deutschland?, Fehlende Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung und allgemeiner Gleichheitssatz, Diss., 2008, 51 ff.; Hey, FS Herzig, 2010, 7 (14 ff.); Palm, Person im Ertragsteuerrecht, Habil., 2013, 545 ff.; a.A. Drüen, GmbHR 2008, 393; Musil/Leibohm, FR 2008, 807. 4 Insb. von P. Kirchhof, StuW 2002, 3 (11); ferner Weber, JZ 1980, 545 (547); Waldhoff, StuW 2000, 217 (220), und vertieft Merzrath, Die Vereinigungsfreiheit des GG als Maßstab der Steuergesetzgebung, Diss., 2007, 98 ff., 178 f. 5 Nach Auffassung des Berichterstatters P. Kirchhof, StuW 2002, 3 (11, 18); P. Kirchhof, StbJb. 2002/03, 7, ist diese Aussage auf die Ertragsteuern zu übertragen; Elicker, Entwurf einer proportionalen NettoEinkommensteuer, 2004, 169; dezidiert a.A. Schneider, DB 2004, 1517 (1519). 6 Weber, JZ 1980, 545 (549); Birk, StuW 2000, 328 (333); Pelka, StuW 2000, 389 (392 ff.); Stapperfend, FR 2005, 74 (76); s. auch die ältere Rspr. des BVerfG, BVerfGE 13, 331 (339); 18, 224; 26, 327, u. BFH BStBl. 1984, 751 (758); 95, 329 (330). 7 S. Beschluss III.18 u. 19 des 66. DJT, 2006. 8 Ebenfalls sehr krit. Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16; J. Lang, FS Reiß, 2008, 379 (386 ff.); Seer, FS J. Lang, 2010, 655 (658 ff.); ferner Kanzler, NWB 2006, Fach 3, 14189; Kess, FR 2006, 869; Stahlschmidt, StuB 2006, 756; Wendt, FR 2006, 775; Palm, JZ 2012, 297; zust. dagegen Wieland, Stbg. 2006, 573.
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Hey
Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung
Rz. 176
§ 13
eigenen Leistungsfähigkeit der juristischen Person argumentiert1. Mit zunehmender Senkung des Körperschaftsteuersatzes gegenüber dem Einkommensteuerspitzensatz stellt sich aber genau entgegengesetzt das Bedürfnis nach Rechtfertigung einer Privilegierung des in einer Kapitalgesellschaft erwirtschafteten Gewinns. Hierzu hat sich BVerfGE 116, 164, nicht geäußert. Dabei bedeutet Rechtsformneutralität richtig verstanden nicht einheitliche Besteuerung unter Missachtung rechtsformspezifischer Besonderheiten. Vielmehr ist der zivilrechtlichen Ausgestaltung der einzelnen Rechtsformen i.S. steuerrechtlicher Rechtsformgerechtigkeit und Rechtsformangemessenheit insofern Rechnung zu tragen, als sie sich in unterschiedlicher steuerlicher Leistungsfähigkeit niederschlägt2.
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So muss z.B. die persönliche Inanspruchnahme des Gesellschafters bei der Personengesellschaft steuerrechtlich zu ausgleichsfähigen Verlusten führen3; eine Haftungsbeschränkung steht dagegen voller Verlustzurechnung entgegen. § 15a EStG ist unvollkommener Ausdruck dieses Prinzips (s. § 10 Rz. 72 ff.). Allerdings sind längst nicht alle zivilrechtlichen Rechtsformunterschiede geeignet, unterschiedliche Steuerfolgen zu begründen. Z.B. vermögen unterschiedliche Vertretungs- oder Haftungsregeln keine unterschiedliche Besteuerung des in der einen oder anderen Rechtsform erwirtschafteten Gewinns zu rechtfertigen4. Warum sollte der mit dem Risiko voller persönlicher Haftung erzielte Gewinn einer Personengesellschaft höher/niedriger besteuert werden als der einer GmbH? Ebenso wenig sind Fremd- oder Selbstorganschaft oder der Zugang zum Kapitalmarkt bei gleicher Gewinnhöhe als Maßstäbe einer Differenzierung der Steuerlasten geeignet.
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Ob sich auch dem Europarecht ein Gebot der Rechtsformneutralität entnehmen lässt, wird ebenfalls kontrovers diskutiert. Der EuGH folgert aus Art. 49 I 2 AEUV die uneingeschränkte Wahl der Niederlassung in unterschiedlicher Rechtsform5. Zuzustimmen ist dem Verbot einer Benachteiligung von (beschränkt steuerpflichtigen) EU-Unternehmen mit unselbständiger Zweigniederlassung gegenüber (unbeschränkt steuerpflichtigen) Tochtergesellschaften. Insoweit geht es um die Verwirklichung der Inländergleichbehandlung6. Ein allgemeines europarechtliches Gebot der Rechtsformneutralität7 lässt sich dagegen nicht begründen. Die Grundfreiheiten sanktionieren die Ungleichbehandlung von In- und Auslandssachverhalten, können aber u.E. die Gleichbehandlung rechtlich selbständiger und rechtlich unselbständiger Unternehmen nicht erzwingen, soweit die Mitgliedstaaten auch im reinen Inlandssachverhalt nach der Rechts-
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1 Hierzu ausf. m.w.N. und krit. Tipke, StRO II2, 1190 ff.; Hey, Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung in Europa, Diss., 1997, 241–266; neuerdings wieder Böhmer, StuW 2010, 33 (35); differenzierend Palm, JZ 2012, 297 (300 ff.): Eigene Leistungsfähigkeit nur für Stiftungen und BgA zu bejahen, da hinter diesen keine (natürlichen) Personen stehen; ausf. Palm, Person im Ertragsteuerrecht, Habil., 2013, 485–544. 2 Hey, DStJG 24 (2001), 155 (180); s. auch Hennrichs, StuW 2002, 201 (210) („Denkbare Modelle einer rechtsformgerechten Unternehmensbesteuerung“); ähnlich Wäckerlin, Betriebsausgabenabzugsbeschränkung und Halbeinkünfteverfahren, Diss., 2006, 110 ff., mit der Schlussfolgerung, dem Gebot der Rechtsformneutralität komme gegenüber dem Leistungsfähigkeitsprinzip keine eigene Bedeutung zu. Seer, FS J. Lang, 2010, 655 (656 ff.), fordert zu Recht die Wahrnehmung der gesellschaftsrechtlichen Rechtswirklichkeit (zu den Rechtstatsachen Kornblum, GmbHR 2014, 694), nach der auch die meisten GmbHs personalistisch strukturiert sind, so dass die Grenzen zwischen den Rechtsformen verschwimmen. 3 Hüttemann, DStJG 25 (2002), 123 (140). 4 Palm, Person im Ertragsteuerrecht, Habil., 2013, 511; a.A. scheinbar Schneider, DB 2004, 1517 (1520 f.). 5 St. Rspr., z.B. EuGH C-253/03, CLT-UFA. 6 Zutr. Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages auf das Ertragsteuerrecht, Diss., 2006, 290. 7 Hierzu grundl. Friese, Rechtsformwahlfreiheit im Europäischen Steuerrecht, Diss., 2010 (bejahend). Ferner Herzig, GS Knobbe-Keuk, 1997, 627 (633 ff.); HHR/Hey, Einf. KSt Anm. 109 (1999); Jacobs, FS Fischer, 1999, 85 (95 ff.); Schön, EWS 2000, 281; Dautzenberg, EWS 2001, 270; P. Kirchhof, StuW 2002, 3 (11 f.); Wattel, EC Tax Review 2003, 194; Schnitger, IStR 2004, 821; Schnitger, ET 2004, 522; Dörr, Der Konzern 2005, 576; Thömmes, IWB 2005, Fach 11A, 861; M. Lang, IStR 2006, 397; Heinrich, FS Ruppe, 2007, 205 (219–224); Pezzer, FR 2007, 188; Köhler, FS Herzig, 2010, 953.
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§ 13
Rz. 177
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
form differenzieren. Der Satz vom Anspruch auf Gleichbehandlung der Betriebsstätte mit einer Tochtergesellschaft lässt sich nicht umkehren1.
3. Methoden zur Verwirklichung von Rechtsformneutralität und ihre Umsetzung in der Unternehmensteuerreform 2008 177
Über die Methoden zur Herstellung von Rechtsformneutralität gehen die Auffassungen ebenfalls weit auseinander2. Die Vielfalt der Reformvorschläge3 mag mitursächlich gewesen sein, dass der Gesetzgeber in der Unternehmensteuerreform 2008 das ursprünglich im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD v. 11.11.2005 vorgegebene Ziel „weitgehender Rechtsformneutralität“ frühzeitig aufgegeben und die bestehende Rechtsformabhängigkeit in mancher Hinsicht sogar noch vertieft hat4.
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Nicht ausreichend ist es, wenn das Umwandlungssteuerrecht einen steuerneutralen Wechsel zwischen den Rechtsformen ermöglicht5. Rechtsformneutralität bedeutet gerade auch Beibehaltung der aus außersteuerlichen Gründen gewählten Rechtsform. Ferner lassen sich Personenunternehmen bei einer signifikant abgesenkten Belastung der Kapitalgesellschaft – abgesehen davon, dass Rechtsformneutralität in Grenzsteuersätzen zu messen ist und daher den Einkommensteuerspitzensatz zur Orientierung nehmen muss6 – auch nicht mehr auf die vielfach unter der Gesamtbelastung aus Körperschaft- und Gewerbesteuer liegende Durchschnittsbelastung der Einkommensteuer verweisen.
179
Auf der Grundannahme, dass nur die natürliche Person Träger wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit sein könne7, basiert die ökonomische Forderung nach Rechtsformneutralität durch Teilhabersteuer8. Danach sollen auch Kapitalgesellschaften transparent besteuert werden, indem einbehaltene wie ausgeschüttete Gewinne dem Anteilseigner unmittelbar zugerechnet und infolgedessen nur der Einkommensteuer unterworfen werden. Abgesehen davon, dass die Teilhabersteuer gerade nicht den Anforderungen der Rechtsformangemessenheit entspricht, da sie die juristisch-ökonomische Trennung der Vermögensmassen von Kapitalgesellschaft und Anteilseigner ignoriert, dürfte sich dieser Vorschlag auch in der Realität des Steuerwettbewerbs überholt haben. Der Steuerwettbewerb zwingt zu einer Entkoppelung des für Unternehmen gelten1 So auch Schlussanträge GA Maduro (Tz. 42 ff.) zu Marks & Spencer (EuGH C 446/03), wo die Frage offen geblieben ist. 2 Darstellung der verschiedenen denkbaren Modelle HHR/Hey, Einf. KSt Anm. 192 ff. (1999); Hennrichs, StuW 2002, 201 (210 ff.); s. auch Brühler Empfehlungen, BMF-Schriftenreihe 66, 1999, 72 ff. 3 Überblick und Gegenüberstellung Stapperfend, FR 2005, 74; Hey, FS Raupach, 2006, 479; Schreiber/ Spengel, BFuP 2006, 479, u. ausf. Köth, Die Besteuerung von Unternehmen vor dem Hintergrund nationaler und internationaler Reformvorschläge, Diss., 2006; Weinelt, Das deutsche Körperschaftsteuersystem im Spannungsfeld zwischen nationaler Steuerordnung und europäischem Steuerwettbewerb, Diss., 2007, 101 ff. 4 Zum Einfluss des UntStRefG 2008 auf die Rechtsformwahl (z.T. auch Finanzierungswahl) Binz, DStR 2007, 1692; Endres/Spengel/Reister, WPg. 2007, 478 (481 ff.); Harle/Kuhmann, GmbHR 2007, 1138; Homburg/Houben/Maiterth, WPg. 2007, 376; Kaminski/Hofmann/Kaminskaite, Stbg. 2007, 161; Knief/Nienaber, BB 2007, 1309; Lühn/Lühn, StuB 2007, 253; Merkel, SteuerStud 2007, 539; Scheffler, SteuerStud 2007, 446; Schiffers, GmbHR 2007, 505; Weber, NWB 2007 Fach 18, 4509; Winkeljohann/ Fuhrmann, BFuP 2007, 464; zu den Ursachen des Scheiterns der Reformforderungen s. auch J. Lang, FS Herzig, 2010, 323. 5 Watrin, DStZ 1999, 238 (241); Schiffers, FS Herzig, 2010, 823 (824: steuerneutraler Rechtsformwechsel als second best-Lösung). 6 Jachmann, DStJG 23 (2000), 9 (27); Krawitz, DB 2000, 1721 (1727); Hey, DStJG 24 (2001), 155 (186); Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, Diss., 2004, 17 f. 7 Schneider, DB 2004, 1517 (1518). 8 Vgl. insb. den Vorschlag von Engels/Stützel, Teilhabersteuer2, 1968; ferner Report of the Royal Commission on Taxation (Carter-Report), Bd. 4, 1966; Friauf, FR 1969, 27; Karl-Bräuer-Institut, Zur Teilhabersteuer, 1969; Ketzel, Teilhabersteuer – Konzeption und Gestaltungsmöglichkeit, Diss., 1969; Stützel, StbKongrRep. 1969, 319; Croneberg, Die Teilhabersteuer, Diss., 1973; Wamsler, Körperschaftsteuerliche Integration statt Anrechnung?, Diss., 1998; krit. Tipke, NJW 1980, 1079 (1080); HHR/Hey, Einf. KSt Anm. 185 (1999); Schneider, DB 2004, 1517 (1519).
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Hey
Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung
Rz. 182
§ 13
den Steuersatzes von dem progressiven Einkommensteuertarif. Nur so lässt sich eine wettbewerbsfähige Niedrigbesteuerung von Unternehmensgewinnen realisieren (s. § 7 Rz. 70 ff.). Deshalb wird auch der Vorschlag P. Kirchhofs1 einer Vereinigung von Einkommen- und Körperschaftsteuer den Anforderungen des Steuerwettbewerbs nicht gerecht, wenn nicht gleichzeitig die Einkommensteuer insgesamt in eine niedrige Flat Tax umgestaltet wird (dazu § 7 Rz. 86)2. Eine Flat Tax würde das Problem der Rechtsformabhängigkeit auf Grund des derzeitigen Nebeneinanders von progressivem Einkommensteuertarif und proportionalem Körperschaftsteuersatz auf einen Schlag lösen. Auch die Verwendungsneutralität ist bei Freistellung ausgeschütteter/entnommener Gewinne beim Empfänger ohne weiteres gegeben. Dieser Lösungsansatz ist bestechend3, indes wenig realistisch (s. § 7 Rz. 88 ff.).
180
Flexibler bleibt der Gesetzgeber in der Tarifgestaltung, wenn er im Rahmen Dualer Einkommensteuer (s. § 7 Rz. 76 ff., 88 ff.) Kapitaleinkommen unabhängig davon, in welcher Rechtsform es erwirtschaftet wird, durchgehend niedrig proportional, Arbeitseinkommen dagegen weiterhin (hoch) progressiv besteuert. Wird die Duale Einkommensteuer dabei – wie im Vorschlag des Sachverständigenrats4 – lediglich in das bestehende System dualer Unternehmensbesteuerung implantiert, dient sie allerdings in erster Linie der Verwirklichung annähernder Finanzierungs- und Investitionsneutralität und kann auch diese nicht rechtsformunabhängig erreichen5. Wird die Niedrigbesteuerung von Kapitaleinkommen wie in der Unternehmensteuerreform 2008 nur partiell umgesetzt, verschärfen sich die Rechtsformunterschiede sogar noch: Nur Gesellschafter von Kapitalgesellschaften haben künftig in den Grenzen des § 32d II EStG die Chance, Unternehmensgewinne als niedrig abgeltungsbesteuerte Zinsen auf die Gesellschafterebene zu transferieren. Zinszahlungen für Gesellschafterdarlehen einer Personengesellschaft unterliegen dagegen wegen § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG stets der Regelbesteuerung, weil sie sich als gewerbliche Gewinne nicht für die Abgeltungsteuer qualifizieren (§ 8 Rz. 499)6.
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Daneben belegt die Unternehmensteuerreform 2008 mit dem Sondersteuersatz für nicht entnommene Gewinne (§ 34a EStG), dass auch einkommensteuerrechtliche Integrationsmodelle weder Rechtsform- noch Finanzierungsneutralität7 zu erreichen vermögen. Einkommensteuerrechtliche Integrationsmodelle, wie sie im Vorfeld der Reform als Rücklagenmodell8, Tarifoption/Tarifrücklage9, T-Modell10 entwickelt wurden11, basieren auf einem der Kapitalgesellschaftsbelastung angenäherten Sondertarif für einbehaltene Gewinne von Personenunternehmen inner-
182
1 P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, 2003, 44 ff., 202 ff.; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, 458 ff. 2 So P. Kirchhof, StuW 2002, 3 (14 f.); P. Kirchhof, StbJb. 2002/03, 7 (21, 26); P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, 2003, 44 ff., 202 ff.; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, 459 f.; skeptisch Homburg/Bolik, BB 2005, 2330; Spengel, Ubg. 2012, 256 (258 ff.). 3 S. auch das Plädoyer von Seer, BB 2004, 2272, für eine Flat Tax; ausf. Aufarbeitung des Diskussionsstandes bei Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, 2004, 261 ff. 4 Sachverständigenrat/ZEW/MPI, Reform der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung durch die Duale Einkommensteuer, BMF-Schriftenreihe 79, 2006; zuvor Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2002/03, 5. Kap., I; ferner Wiss. Beirat beim BMF, Flat Tax oder Duale Einkommensteuer? Zwei Entwürfe zur Reform der deutschen Einkommensbesteuerung, BMF-Schriftenreihe 76, 2004; zust. Köth, Die Besteuerung von Unternehmen vor dem Hintergrund nationaler und internationaler Reformvorschläge, Diss., 2006, 279 ff., 347 ff.; krit. Englisch, Die Duale Einkommensteuer – Reformmodell für Deutschland?, IFSt-Schrift Nr. 432 (2005). 5 I.E. Liekenbrock, DStZ 2007, 279. 6 Endres/Spengel/Reister, WPg. 2007, 478 (484); Homburg, DStR 2007, 686; Homburg/Houben/Maiterth, WPg. 2007, 376. 7 Dazu Umlauf, Finanzierungsneutralität im deutschen Steuerrecht, 2008; Broer, StuW 2010, 57 (Abgeltungsteuer als Hauptursache fehlender Finanzierungsneutralität); Förster, Stbg. 2011, 49. 8 S. Brühler Empfehlungen, BMF-Schriftenreihe 66, 1999, 82 ff. 9 Fechner/Lethaus, Die Tarifrücklage, IFSt-Schrift Nr. 437 (2006). 10 Wiss. Beirat bei Ernst & Young, BB 2005, 1653. 11 In eine ähnliche Richtung gehen die Vorschläge von Haase/Hinterdobler, BB 2006, 1191, und Steckmeister, Stbg. 2006, 161 u. 356.
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§ 13
Rz. 183
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
halb der Einkommensteuer. Zur Verwirklichung der von der Großen Koalition noch im Koalitionsvertrag angestrebten „weitgehenden Rechtsform- und Finanzierungsneutralität“ ist eine derart punktuelle Maßnahme per se ungeeignet, weil sie das Nebeneinander von Transparenzund Trennungsprinzip nicht überwindet. Aber auch „Belastungsneutralität der unterschiedlichen Rechtsformen“, auf die die ursprünglichen Pläne im Gesetzgebungsverfahren zurückgenommen wurden (BT-Drucks. 16/4841, 31 f.), erreicht § 34a EStG nicht1. 183
Die Unterschiede beginnen bereits bei der Belastung des nicht entnommenen/einbehaltenen Gewinns: Zum einen wird der ermäßigte Steuersatz des § 34a I 1 EStG bei Personenunternehmen auf die Bezugsgröße des nicht entnommenen Gewinns statt wie bei der Körperschaft auf das Einkommen vor Ausschüttung angewendet2. Zum anderen führt das Nebeneinander von einheitlich gesellschaftsbezogener (Kapitalgesellschaft) und individuell gesellschafterbezogener (Personengesellschaft, s. § 10 Rz. 220 ff.) Bestimmung des ermäßigt zu besteuernden Gewinns zwangsläufig zu Abweichungen. Die strukturellen Belastungsunterschiede setzen sich fort bei Ausschüttung/Entnahme: Konsequent und zur Annäherung an die Besteuerung der Kapitalgesellschaft unerlässlich ist zwar, dass der zunächst begünstigte Gewinn des Personenunternehmens bei Entnahme nachbelastet wird. Die Nachbelastungssysteme sind jedoch – ohne erkennbaren Grund – unterschiedlich ausgestaltet. Dividenden unterliegen entweder der Abgeltungsteuer (mit Veranlagungswahlrecht) oder dem Teileinkünfteverfahren. Entnahmen zuvor begünstigter Gewinne von Personenunternehmen werden dagegen stets konstant mit 25 % nachversteuert (s. § 8 Rz. 832), so dass es in der Regel auch bei gleicher Vorbelastung zu einer höheren Steuerlast als bei der Kapitalgesellschaft kommt.
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Entstanden sind zwei in vielen Details unterschiedliche Systeme der Niedrigbesteuerung um den Preis einer weiteren Komplizierung des ohnehin schon komplexen Personengesellschaftsteuerrechts bei gleichzeitigem Verlust eines der Hauptvorteile des Transparenzprinzips, der Verwendungsneutralität zwischen Einbehaltung und Entnahme. Erreicht wird lediglich die „Erhöhung der Investitionsfähigkeit von Personenunternehmen“ (BT-Drucks. 16/4841, 32). Für ertragsstarke Personengesellschaften mit Gesellschaftern im Einkommensteuerspitzensatz wird § 34a EStG den Druck zur Umwandlung reduzieren. Sie werden doppelt begünstigt, indem sie sowohl an der bisher Kapitalgesellschaften vorbehaltenen Niedrigbesteuerung investierter Gewinne partizipieren, als auch die angestammten Vorteile der Personengesellschaftsbesteuerung behalten (z.B. Verlustverrechnung, steuerfreie Durchleitung von Auslandsgewinnen an den Gesellschafter, steuerneutrale Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern gem. § 6 V EStG)3. Für Personenunternehmer mit Grenzsteuersatz zwischen 30 % und 45 % stellen sich dagegen kaum beherrschbare Gestaltungsaufgaben, da der temporäre Vorteil der Niedrigbesteuerung einbehaltener Gewinne den Nachteil der konstanten Gesamtbelastung der Entnahme i.H.v. 48,3 % nur bei langfristiger Investition im Unternehmen kompensieren kann. Durchgesetzt hat sich damit nicht das Allgemeininteresse an struktureller Bereinigung und Vereinfachung, sondern das Gruppeninteresse der großen Personengesellschaftskonzerne. Angesichts massiver Ungereimtheiten des geltenden Personengesellschaftssteuerrechts4 ist es umso unverständlicher, dass die Beibehaltung des Dualismus z.T. vehement verteidigt wird.
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Körperschaftsteuerrechtliche Integrationsmodelle versprechen einen höheren Grad der Zielerreichung, indem sie das Nebeneinander von Transparenz- und Trennungsprinzip durch – optionale oder zwingende – Einbeziehung von Personenunternehmen in die Körperschaftsteuer bzw. eine allgemeine Unternehmensteuer überwinden. Allerdings sind, je weiter der Anwen1 I.E. Hey, DStR 2007, 925 (926 ff.); J. Lang, FS Reiß, 2008, 379 (383 ff.); Klipstein, DStZ 2009, 80; Bodden, FR 2014. 920: s. auch den Aufruf zur Abschaffung von § 34a EStG aus der Wissenschaft Knirsch/ Maiterth/Hundsdoerfer, DB 2008, 1405 mit Replik aus der Wirtschaft Fechner/Bäuml, DB 2008, 1652. Der Vorschlag, § 34a EStG zu einem „virtuellen Trennungsprinzip“ auszubauen (s. Schneider/Wesselbaum-Neugebauer, FR 2011, 166), würde an dem Nebeneinander zweier Systeme nichts ändern und birgt daher keinerlei Vorteile gegenüber einer Integration von Personengesellschaften in die Körperschaftsteuer (dazu Rz. 185). 2 Thiel/Sterner, DB 2007, 1099 f. 3 Ähnlich Wilk, DStZ 2007, 216 (219), allerdings mit dem abzulehnenden Schluss, es bedürfe keiner Maßnahmen für Personenunternehmen. 4 S. hierzu die Beiträge zum 35. Berliner Steuergespräch am 14.6.2010 von Hennrichs, Prinz, Brandenberg, Richter/Welling, Schmitt, Fechner/Bäuml, FR 2010, 721.
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Hey
Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung
Rz. 187
§ 13
dungsbereich des Trennungsprinzips gezogen wird, insb. bei Einbeziehung von Einzelunternehmern in die Körperschaftsteuer, erhebliche praktische Probleme zu bewältigen. Dies hat sowohl das Scheitern des Vorschlags einer Körperschaftsteueroption im Rahmen der Unternehmensteuerreform 20001 als auch der noch weiter gehende Vorschlag einer Allgemeinen Unternehmensteuer der Kommission Steuergesetzbuch der Stiftung Marktwirtschaft (s. § 7 Rz. 90)2 gezeigt. Die Fülle der erforderlichen Sonderregeln für personenbezogene Unternehmen macht den Vorteil der Einheitlichkeit schnell zunichte. Vorzugswürdig ist deshalb eine moderate Ausdehnung der Körperschaftsteuer3. Eine zwingende Einbeziehung von kapitalistisch organisierten Personenunternehmen, insb. GmbH & Co. KG sowie Publikumsgesellschaften, käme weitgehend ohne Sonderregeln aus. Daneben könnten Personengesellschaften, insb. Personenhandelsgesellschaften, sich der Körperschaftsteuer optional unterwerfen; hierzu und zu Regelungen zur Gewährleistung leistungsfähiger Besteuerung der Gesellschafter auch § 7 Rz. 89 f. Überdies belegt die Unternehmensteuerreform 2008, dass rechtsformabhängige Belastungsunterschiede nur verringert werden können, wenn die Gewerbesteuer in die Reformüberlegungen einbezogen wird4. Hierzu hatte die Kommission Steuergesetzbuch der Stiftung Marktwirtschaft den Vorschlag einer aufeinander abgestimmten Allgemeinen und Kommunalen Unternehmensteuer (dazu § 12 Rz. 2) gemacht. Doch anstatt die auch vom Sachverständigenrat5 nachdrücklich unterstützte Forderung nach alternativen Formen der Gemeindefinanzierung aufzugreifen, hat der Gesetzgeber die Gewerbesteuer 2008 aufgewertet und ihr noch mehr Bedeutung für die Rechtsformwahl6 zugewiesen. So führen unterdurchschnittliche Gewerbesteuerhebesätze (zwischen 200 und 380 %) künftig nur noch bei Kapitalgesellschaften zum Absinken der Gesamtbelastung (GewSt/KSt/SolZ), im günstigsten Fall auf 22,8 %. Dagegen wirken sich auf Grund der Begrenzung der Anrechnung in § 35 EStG auf die tatsächlich zu zahlende Gewerbesteuer Gewerbesteuersätze unter 380 % bei Personengesellschaften nicht mehr aus.
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Schließlich bleibt jede Unternehmensteuerreform unvollständig, solange in der Erbschaft- und Schenkungsteuer die Übertragung von Personenunternehmen gegenüber Kapitalgesellschaften begünstigt wird. Das Erbschaftsteuerreformgesetz v. 24.12.2008 (BGBl. I 2008, 3018) hält – mit nur geringfügigen Modifikationen – an der Rechtsformabhängigkeit der Begünstigungen fest (dazu § 15 Rz. 106 ff.).
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1 Vgl. § 4a KStG-E i.d.F. des Entwurfs eines StSenkG v. 25.2.2000, BT-Drucks. 14/2683, 77; dazu Schön, StuW 2000, 151 (156 f.); J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (104 f.); Dorenkamp, Nachgelagerte Besteuerung von Einkommen, Diss., 2004, 370 ff.; rechtsvergleichend (Frankreich) Bippus, DStR 1998, 749; Hahn, DStR 1999, 833; Hellio/Rädler, IStR 2000, 401. Allgemein für optionale Lösungen Hüttemann, DStJG 25 (2002), 123 (141); w.N. und Kritik bei HHR/Hey, Einf. KSt Anm. 204 (1999). 2 Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, Steuerpolitisches Programm, 2006, 29 f.; Hey, StuB 2006, 267 (272); s. ferner die Vorarbeiten einer Inhabersteuer von J. Lang, Brühler Empfehlungen, BMF-Schriftenreihe 66, 1999, Anh. Nr. 1, 19 ff.; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (106 ff.); dazu Hennrichs, StuW 2002, 201 (212 ff.). 3 S. auch J. Lang, FS Reiß, 2008, 379 (388); Seer, FS J. Lang, 2010, 655 (660 f.), u. § 7 Rz. 90; aus niederländischer Sicht ebenfalls für eine Option zugunsten von public partnerships Essers, FS J. Lang, 2010, 615 (622); ebenfalls rechtsvergleichend (Spanien) Woertz, Körperschaftsteuer für Personenunternehmen, Diss., 2009, 211–271. 4 S. Hey, DStJG 24 (2001), 155 (204 ff.); Hüttemann, DStJG 25 (2002), 123 (141); Kußmaul/Beckmann/ Meyering, StuB 2003, 1021. 5 BMF-Schriftenreihe 79, 2006, 30 f.; s. ferner Beschluss III. 21 des 66. DJT, 2006, Bd. II/1, Q 170. 6 Herzig, DB 2007, 1541 (1543); Klipstein, DStZ 2009, 805 (807 ff.).
Hey
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§ 14 Konzern- und Umwandlungssteuerrecht A. Organschaft Literatur: David, Die Organgesellschaft im Reichssteuerrecht, 1933; Schultze-Schlutius, Die Organtheorie, 1955; Jurkat, Die Organschaft im Körperschaftsteuerrecht, 1975; Sonnenschein, Organschaft und Konzerngesellschaftsrecht, Habil., 1976; Rupp, Die Ertragsbesteuerung nationaler Konzerne – Konzernsteuerbilanz oder Weiterentwicklung der körperschaftsteuerlichen Organschaft, 1983; Crezelius, Faktischer Konzern und steuerrechtliche Organschaft, in FS Kropff, 1997, 37; Gassner (Hrsg.), Besteuerung von Unternehmensgruppen: Bestandsaufnahme und Vorschläge zur Reform der Organschaft im Körperschaftsteuerrecht, Wien 1998; Erle, Der Preis der Organschaft, in FS W. Müller, 2001, 557; Krebs, Gedanken zur Neuregelung der ertragssteuerlichen Organschaft, in FS W. Müller, 2001, 301; Staringer, Perspektiven der Konzernbesteuerung, DStJG 25 (2002), 73; Herzig (Hrsg.), Organschaft, 2003; B.A. Fischer, Organschaft und Steuerumlagen, in Lüdicke/Sistermann, Unternehmensteuerrecht, 2008, 599; Kessler/Kröner/Köhler, Konzernsteuerrecht2, 2008; Herzig/Wagner, Zukunft der Organschaft im EG-Binnenmarkt, DB 2005, 1; Hofer, Grenzüberschreitende Verlustverrechnung bei Organschaft, 2007; Klarmann, Körperschaftsteuerliche Organschaft – Entstehung, Inhalt und Problematik der bestehenden deutschen Regelung, IFSt-Schrift Nr. 440, 2006; Witt, Die Konzernbesteuerung, 2006; Rödder, Perspektiven der Konzernbesteuerung, ZHR 171 (2007), 380; Wagner, Denkanstöße zur Modifikation der ertragsteuerlichen Organschaft, StuW 2007, 308; Fuhrmann, Organschaft als steuerliches Gestaltungsinstrument, KÖSDI 2008, 15989; IFSt-Arbeitsgruppe, Einführung einer modernen Gruppenbesteuerung, IFSt-Schrift Nr. 471, 2011; Niehren, Perspektiven der körperschaftsteuerlichen Organschaft, 2011; Müller/Stöcker/Lieber, Die Organschaft9, 2014; Stangl/ Winter, Organschaft 2013/2014, 2014; Schreiber/Stiller, Ökonomische Anforderungen an eine Reform der Gruppenbesteuerung, StuW 2014, 216. Zur aktuellen Reformdiskussion darüber hinaus insb. Rz. 28 ff. Zu älteren Dissertationen vgl. die 20. Aufl., § 18 vor Rz. 400.
1. Einführung Im Rahmen einer Steuerrechtsordnung, der kein einheitliches und geschlossenes System für die Besteuerung von Unternehmen zugrunde liegt, knüpft das Steuerrecht prinzipiell auch bei der Besteuerung rechtlich und wirtschaftlich verbundener Unternehmen an die einzelnen Rechtsträger an1. Mit der sog. Organschaft, die auf die Rspr. des Preußischen Oberverwaltungsgerichts zur Gewerbesteuer im Jahre 1902 zurückgeht2 und über die Gewerbesteuer hinaus heute auch in unterschiedlicher Ausprägung für die Körperschaftsteuer, die Umsatzsteuer3 und die Grunderwerbsteuer4 von Bedeutung ist, geht das deutsche Steuerrecht indessen über die primär am Zivilrecht orientierten Ordnungsstrukturen hinaus. Gemessen an der prinzipiellen Anknüpfung an die Rechtsform (§ 1 KStG) könnte dies vordergründig zwar als unsystematisch erscheinen. Teleologisch ist die Organschaft i.S. einer wirtschaftlichen Unternehmenseinheit5 jedoch kein Systembruch, sondern der Versuch, den Erfordernissen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit rechtsformübergreifend Rechnung zu tragen6. Im Kern geht es dabei darum, Mehrfach- oder 1 Vgl. dazu § 13 Rz. 1 ff.; dazu auch Herzig in Herzig, Organschaft, 3. 2 Vgl. zur Rechtsentwicklung Herzig in Herzig, Organschaft, 3 ff. m.w.N. 3 Zur Umsatzsteuer § 17 Rz. 64 ff.; darüber hinaus insb. auch Widmann, Organschaft und Umsatzsteuer, in Herzig, Organschaft, 333. 4 Vgl. dazu insb. Koordinierter Ländererlass, BStBl. 2007 I, 422; dazu insb. Behrens/Meyer-Wirges, DStR 2007, 1290; außerdem insb. auch Günkel/Lieber, Grunderwerbsteuerliche Organschaft, in Herzig, Organschaft, 352. Vgl. auch BFH BStBl. 2005, 839; dazu Behrens, BB 2005, 2621; Brinkmann/ Tschesche, BB 2005, 2783; Willibald/Widmayer, DB 2005, 2543; Wischott/Schonweiß, DStR 2006, 172. Zur Grunderwerbsteuer als Umstrukturierungshemmnis im Konzern Fuhrmann, KÖSDI 2005, 14591. Zum begrenzten Anwendungsbereich und der unzureichenden Entlastungswirkung durch Einführung des § 6a GrEStG vgl. § 13 Rz. 39. 5 So bereits RFH RStBl. 1930, 148. 6 Vgl. auch Montag, Grundlagen der gewerbesteuerlichen Organschaft, in Herzig, Organschaft, 291 (304).
Montag
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§ 14
Rz. 2
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
Nichtbelastungen zu vermeiden und den vom Nettoprinzip her gebotenen Ergebnisausgleich bei wirtschaftlich verbundenen Unternehmen sicherzustellen1. Die Organschaft ist insoweit keine Steuervergünstigung2 und steht daher steuersystematisch nicht zur Disposition3.
2. Körperschaftsteuerliche Organschaft 2.1 Voraussetzungen 2
Körperschaftsteuerliche Organschaft4 besteht gem. §§ 14 I; 17; 18 KStG grds. dann, wenn eine Kapitalgesellschaft mit Geschäftsleitung und Sitz im Inland (Organgesellschaft) finanziell in ein einziges anderes gewerbliches Unternehmen (Organträger) eingegliedert und verpflichtet ist, ihren ganzen Gewinn an den Organträger abzuführen. I.E. sind dazu folgende Voraussetzungen zu erfüllen:
2.1.1 Organgesellschaft 3
Organgesellschaft kann grds. nur eine Kapitalgesellschaft, d.h. eine AG, KGaA5, GmbH oder SE6 mit Geschäftsleitung im Inland und Sitz in einem Mitgliedstaat der EU oder in einem Vertragsstaat des EWR-Abkommens sein (§§ 14 I 1, 17 KStG). Im Hinblick darauf, dass die Europäische Kommission den sog. doppelten Inlandsbezug (Sitz und Geschäftsleitung im Inland) als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit gewertet hat, lässt § 14 I 1 KStG jetzt auch Kapitalgesellschaften als Organgesellschaften zu, die im EU-/EWR-Ausland gegründet wurden und ihre Geschäftsleitung in Deutschland haben7. Ausgeschlossen sind hingegen Lebens- und Krankenversicherungsunternehmen (§ 14 II KStG). Für diese branchenspezifische Sonderregelung ist eine sachliche Rechtfertigung nicht erkennbar, sie dürfte gegen Art. 3 I GG verstoßen8. Körperschaften, die gem. § 1 I Nrn. 2–6 KStG körperschaftsteuerpflichtig sind, können ebenso wenig Organgesellschaft sein wie die GmbH & Co. KG und andere Personengesellschaften9.
2.1.2 Organträger 4
Über die gewerbliche Tätigkeit hinaus muss der Organträger nach § 14 I 1 Nr. 2 KStG insb. folgende Voraussetzungen erfüllen10: – Organträger muss eine natürliche Person, eine nicht von der Körperschaftsteuer befreite Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse oder auch eine gewerblich tätige Personengesellschaft sein.
1 Vgl. dazu auch BFH BStBl. 1975, 179; 1972, 358; 1986, 73; 1990, 916. Zur wirtschaftlichen Bedeutung Prinz in Herzig, Organschaft, 545. 2 So völlig abwegig in 2002 aber BT-Drucks. 15/480, 22; 15/481, 39. Dazu Graf Kerssenbrock, RIW 2002, 889; Köster/Schiffers, GmbHR 2002, 1218; Prinz/Otto, FR 2003, 53. 3 Dazu auch Rödder/Schumacher, DStR 2002, 1970; Prinz/Otto, FR 2003, 53. 4 Vgl. auch BMF BStBl. I 2003, 437. Dazu auch Dötsch/Pung, DB 2003, 1970; Heurung/Klübenspies, BB 2003, 2483; ergänzend BMF-Schreiben BStBl. I 2005, 1038. 5 Dazu insb. Frotscher, Der Konzern 2005, 139. 6 Vgl. dazu § 11 Rz. 23. 7 Gesetz v. 20.2.2013 (BGBl. I 2013, 285). 8 Vgl. dazu Hey, FR 2001, 1279; Hey in Herzig, Organschaft, 507. 9 Zur GmbH & Co. KG BFH BStBl. 1973, 169; 1973, 562. Darüber hinaus insb. auch Eversberg in Herzig, Organschaft, 75; zur atypisch stillen Gesellschaft BFH BFH/NV 2011, 1397; BFH BFH/NV 2011, 2052; OFD Frankfurt, Der Konzern 2013, 362, dazu zu Recht krit. Hageböke, Der Konzern 2013, 334. 10 Vgl. dazu i.E. auch Brill, KÖSDI 2012, 18103; Dötsch/Pung, DB 2013, 305; Stangl/Brühl, Der Konzern 2013, 77 (97 ff.); Weigert/Strohm, Der Konzern 2013, 249; Stangl/Winter, Organschaft 2013/2014, 79 ff.
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Montag
Körperschaftsteuerliche Organschaft
Rz. 6
§ 14
– Die Beteiligung an der Organgesellschaft muss ununterbrochen während der gesamten Dauer der Organschaft einer inländischen Betriebsstätte i.S.d. § 12 AO zuzuordnen sein1. – Das Einkommen der Organgesellschaft ist der inländischen Betriebsstätte des Organträgers zuzurechnen. – Die der inländischen Betriebsstätte zuzurechnenden Einkünfte unterliegen sowohl nach inländischem Steuerrecht als auch nach Abkommensrecht der Besteuerung im Inland. Organträger kann auch eine Personengesellschaft i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG mit Geschäftsleitung im Inland sein, wenn sie eine Tätigkeit i.S.d. § 15 I 1 Nr. 1 EStG ausübt und die Anteile an der Organgesellschaft im Gesamthandsvermögen der Personengesellschaft liegen (§ 14 I 1 Nr. 2 Satz 2 u. 3 KStG)2. Eine gewerblich geprägte Personengesellschaft kommt demnach im Gegensatz zu einer geschäftsleitenden Holding als Organträger nicht mehr in Betracht3. Für einen über die Anforderungen des § 15 III Nr. 1 EStG hinausgehenden Mindestumfang der gewerblichen Tätigkeit ist grds. kein Raum, so dass insb. auch innerkonzernliche Dienstleistungen4 oder die Qualifizierung als Besitzunternehmen im Rahmen einer Betriebsaufspaltung ausreichend sind5. Die Gewerblichkeit muss nicht bereits zu Beginn des Wirtschaftsjahres vorliegen. Sie kann vielmehr auch erst im Laufe des Wirtschaftsjahres begründet werden und muss spätestens im Zeitpunkt der Gewinnabführung vorliegen6.
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Die Organschaft zu mehreren Organträgern, die sich zur einheitlichen Willensbildung in einer GbR zusammengeschlossen haben (sog. Mehrmütterorganschaft), wurde mit dem StVergAbG7 rückwirkend für 2003 abgeschafft, nachdem sie in 2002 gegen die Rspr. des BFH8 erst rückwirkend auch für frühere Veranlagungszeiträume kodifiziert worden war9. Damit wurde der verfassungsrechtlich gebotene Dispositions- und Vertrauensschutz in besonderer Weise beeinträchtigt. Problematisch ist insb. die Behandlung gewerbesteuerlicher Verlustvorträge bei der früheren Mehrmütter-GbR, die grds. entfallen10 und allenfalls im Rahmen einer außerordentlich restriktiven Übergangsregelung, die ggf. im Wege einer teleologischen Reduktion verfassungskonform anzuwenden ist11, genutzt werden können12. Der BFH geht demgegenüber davon aus, dass kein Verstoß gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 II GG) abgeleitete
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1 Dazu i.E. Schirmer, GmbHR 2013, 797; Dötsch/Pung, DB 2014, 1215. 2 Gosch, Die Personengesellschaft als Organträgerin, FS Raupach, 2006, 461; Frotscher, Ubg. 2009, 426; Bäuml, FR 2013, 1121. 3 Zur Implementierung eines Personengesellschafter-Treuhandmodells Joachimsen/Mangold/Zinowsky, DStR 2014, 2045. Nach Auffassung der Finanzverwaltung (OFD Frankfurt/M., Der Konzern 2013, 362; FMin. Schleswig-Holstein, Der Konzern 2013, 363) soll auch die GmbH & atypisch Still nicht Organträger sein können. Dazu mit Recht krit. Hageböke, Der Konzern 2013, 724. 4 Vgl. zur Auffassung der Finanzverwaltung BMF BStBl. 2005 I, 2038; dazu auch Blumers/Goerg, DStR 2005, 397; Dötsch, DB 2005, 2541; Dötsch, Der Konzern 2005, 695; Roser, EStB 2006, 21; Nau/ Schiffers/Watermeyer, GmbHR 2005, 470; Walter, GmbHR 2005, 456. Zur Gewerblichkeit der Organträger-Personengesellschaft außerdem Blumers/Goerg, BB 2003; Schmidt/Hageböke, Der Konzern 2003, 601; Orth, DB 2005, 741; Hageböke/Heinz/Dötsch, DB 2006, 473; Kolbe, StuB 2006, 411; Suchanek, DStR 2006, 836. 5 Vgl. dazu BFH-Urt. v. 24.7.2013 – I R 40/12, BStBl. 2014, 272. 6 Vgl. BFH-Urt. v. 24.7.2013 – I R 40/12, BStBl. 2014, 272; entgegen BMF BStBl. I 2005, 1038, Rz. 21; dazu auch oben Fn. 4. 7 Vgl. Fn. 4. Dazu auch Rödder, DStR 2002, 1800; Jonas in Herzig, Organschaft, 306. 8 Vgl. BFH BStBl. 2000, 695. 9 Vgl. dazu Müller/Orth, DStR 2002, 1737; zur verfassungsrechtlichen Problematik insb. Kirchhof/ Raupach, DB 2001, Beil. 3; Raupach, DStR 2001, 1395; Herlinghaus, GmbHR 2001, 956 (962); P. Kirchhof in Herzig, Organschaft, 485. 10 BMF BStBl. I 2005, 1038 (1039, Tz. 9). 11 BFH-Beschl. v. 15.2.2012 – I B 7/11, BStBl. 2012, 751. 12 Vgl. BMF BStBl. I 2005, 1038 (1039, Tz. 10 ff.). Dazu auch Rautenstrauch/Adrian, DB 2005, 1018; Walter, GmbHR 2005, 496.
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§ 14
Rz. 7
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
Rückwirkungsverbot vorliegt1, und ist insoweit durch das BVerfG bestätigt worden2. Die Rückwirkungsproblematik wird dabei offenbar vor allem deshalb verdrängt, weil die ältere Rspr. und das neue Recht im Ergebnis übereinstimmen3. Letztlich besteht das verfassungsrechtliche Problem aber gerade darin, dass Stpfl., die im Vertrauen darauf, dass die Verwaltungsauffassung rechtswidrig war, Rechtsbehelfe geführt haben bzw. nach § 363 AO ruhen ließen, durch den BFH zunächst ihr Recht bekommen haben, das ihnen durch den Gesetzgeber und auch durch das BVerfG rückwirkend wieder genommen wurde.
2.1.3 Finanzielle Eingliederung 7
Nach § 14 I 1 Nrn. 1, 2 KStG muss die Organgesellschaft finanziell in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert sein. Finanzielle Eingliederung liegt dann vor, wenn dem Organträger vom Beginn des Wirtschaftsjahres der Organgesellschaft an4 die Mehrheit der Stimmrechte aus der Beteiligung an der Kapitalgesellschaft zusteht. Eine mittelbare Beteiligung reicht für die finanzielle Eingliederung dann aus, wenn die Beteiligung an jeder zwischengeschalteten Gesellschaft die Mehrheit der Stimmrechte gewährt5.
2.1.4 Gewinnabführungsvertrag 8
Über die finanzielle Eingliederung hinaus ist zusätzlich der Abschluss eines Gewinnabführungsvertrags i.S.d. § 291 I AktG erforderlich, in dem die Organgesellschaft sich verpflichtet, ihren ganzen Gewinn an den Organträger abzuführen. Der Gewinnabführungsvertrag muss auf mindestens fünf Jahre abgeschlossen sein6, bis zum Ende des Wirtschaftsjahres der Organgesellschaft, für das erstmals Organschaft bestehen soll, wirksam geworden sein und während seiner gesamten Dauer durchgeführt werden7. Nach § 14 I 3 Nr. 3 gilt der Gewinnabführungsvertrag unter besonderen Voraussetzungen auch dann als ausgeführt, wenn die Gewinnabführung oder die Verlustübernahmen auf fehlerhaften Bilanzansätzen beruhen8. Der Gewinnabführungsvertrag ist insb. dann nicht tatsächlich durchgeführt, wenn der Jahresüberschuss der Organgesellschaft nicht mit vororganschaftlichen Verlusten verrechnet wird9. Bei der GmbH setzt die 1 BFH BStBl. 2006, 549. Dazu auch Pezzer, FR 2006, 651, der eine „betriebswirtschaftliche Betrachtungsweise“ bemüht, um die Verletzung des Rückwirkungsverbots zu rechtfertigen, und dabei offenbar nicht berücksichtigt, dass auch Betriebswirte zwischen der unterschiedlichen Rechtsqualität von Gesetzen, Verwaltungsanweisungen und Gerichtsurteilen differenzieren. 2 Vgl. BVerfG v. 15.10.2008 – 1 BvR 1138/06, HFR 2009, 187; BFH v. 27.11.2008, DStR 2009, 849. 3 Vgl. entsprechend auch Pezzer, FR 2006, 651. 4 Zum Beginn der Organschaft insb. bei Rückwirkungen BFH BStBl. 2004, 534; BMF BStBl. I 2004, 549; dazu auch Schumacher, DStR 2006, 124; Baldamus, Der Konzern 2003, 813; Dötsch, Der Konzern 2004, 273; zum Verhältnis von Organschaft und Umwandlung allgemein insb. Herlinghaus, FR 2004, 974. Zur Einhaltung der 5-Jahres-Frist bei Änderung des Gewinnabführungsvertrags BFH v. 22.10. 2008, DStR 2009, 100; dazu auch Kolbe, StuB 2009, 226. 5 I.E. dazu auch R 57 KStR 2004; Scheidle/Koch, DB 2005, 2656. 6 Zur Notwendigkeit der Bemessung nach Zeitjahren BFH BStBl. 2011, 727 (relativierend BFH-Beschl. v. 22.12.2010 – I B 83/10, BStBl. 2014, 490); dazu auch Pyszka, GmbHR 2011, 1030; Herzberg, GmbHR 2014, 85. 7 Eine vorzeitige Beendigung kann nur aus wichtigem Grund erfolgen (§ 14 Nr. 3 Satz 2 KStG). Dazu BFH-Urt. v. 14.11.2013 – VI R 20/12, BStBl. 2014, 456; Doege/Holtrup, StuB 2014, 369; außerdem insb. auch Dötsch, Der Konzern 2012, 319; Heurung/Engel/Müller-Thomczik, GmbHR 2012, 1227; Stangl/Brühl, Ubg. 2012, 657; Schaefer/Wind/Mager, DStR 2013, 2399; Stangl/Aichberger, Ubg. 2013, 685. 8 Vgl. dazu i.E. Middendorf/Holtrichter, StuB 2013, 123; Beneke/Schnitger, IStR 2013, 143, 155; Dötsch/ Pung, DB 2013, 305; Fellinger/Welling, DStR 2013, 1718; Jesse, FR 2013, 629; Müller/von der Laage, FR 2013, 727; Prinz, StuB 2013, 265; Stangl/Brühl, Der Konzern 2013, 77; dies., DB 2013, 538; Rödder, Ubg. 2012, 717; Wolfersdorff, Rödder u.a., DB 2012, 2241. 9 BFH-Urt. v. 21.10.2010 – IV R 21/07, BStBl. 2014, 481. Vgl. dazu grds. Dötsch, Gewinnabführungsvertrag, in Herzig, Organschaft, 408; Neumann, StbJb. 2011/2012, 53; Dötsch, Der Konzern 2012, 104; Gänsler, Ubg. 2014, 701.; zur Bedeutung der Zahlungsfähigkeit von Organgesellschaft/Organträger Stangl/Ritzer, Der Konzern 2012, 529.
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Körperschaftsteuerliche Organschaft
Rz. 10
§ 14
Organschaft nach § 17 Satz 2 KStG weiterhin voraus, dass die Gewinnabführung den in § 301 AktG genannten Betrag nicht überschreitet und eine Verlustübernahme durch Verweis auf § 302 AktG in seiner jeweils geltenden Fassung vereinbart wird1. Abgesehen von den gesetzlichen Rücklagen dürfen Gewinnrücklagen nur insoweit gebildet werden, als dies bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung wirtschaftlich begründet ist (§ 14 I 1 Nr. 4 KStG)2.
2.2 Materiell-rechtliche Folgen 2.2.1 Grundsätze Liegt finanzielle Eingliederung und ein Gewinnabführungsvertrag vor, so ist das Einkommen der Organgesellschaft nach § 14 I KStG dem Organträger zuzurechnen, soweit gem. § 16 KStG keine Ausgleichszahlungen an außenstehende Aktionäre geleistet werden. Das bedeutet, dass die Organgesellschaft als selbständiges Körperschaftsteuersubjekt ihr Einkommen gesondert ermittelt, also kein einheitliches Unternehmen mit dem Organträger besteht, sondern nach der sog. Zurechnungstheorie3 lediglich eine Zurechnung des gesondert ermittelten – positiven oder negativen – Einkommens erfolgt. Die Organschaftsregelungen gehen insoweit als lex specialis den allgemeinen körperschaftsteuerlichen Regelungen vor4. Die Zurechnung erfolgt grds. zu dem Zeitpunkt, in dem das Wirtschaftsjahr der Organgesellschaft endet. Entsprechend wird das Einkommen der Organgesellschaft nur den Gesellschaftern einer Organträger-Personengesellschaft zugerechnet, die im Zeitpunkt der Zurechnung an der Organträgerin beteiligt sind5. Bei der Organgesellschaft mindert eine Gewinnabführung das handelsrechtliche Ergebnis, während ein Verlustausgleich es erhöht. Bei der Einkommensermittlung ist der gesellschaftsrechtlichen Veranlassung der Vorgänge jedoch Rechnung zu tragen, so dass die Gewinnabführung bei der Organgesellschaft hinzuzurechnen, ein Verlustausgleich zu kürzen ist. Korrespondierend dazu wird die Gewinnabführung bei der Einkommensermittlung des Organträgers gekürzt, während eine Verlustübernahme hinzuzurechnen ist. Soweit die Gewinnabführung beim Organträger gekürzt wird, ist dies technisch bedingt und keineswegs als Umqualifizierung zu einer steuerfreien Einnahme zu verstehen6. Das Abzugsverbot nach § 3c I EStG ist beim Organträger insoweit nicht anwendbar.
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2.2.2 Besonderheiten Bei der Ermittlung und Versteuerung des Einkommens der Organgesellschaft und des Organträgers sind im Wesentlichen folgende Besonderheiten zu beachten7: 1 Zum zeitlichen Anwendungsbereich der dynamischen Verweisung auf § 302 AktG vgl. § 17 II KStG, der die Fortgeltung von § 34 Xb KStG regelt; dazu i.E. Ortmann-Babel/Bolik/Zöller, DB 2014, 1570; zur Neuregelung vgl. Scheiffele/Hörner, DStR 2013, 553; außerdem auch Rz. 8 Fn. 8. 2 Dazu insb. Dötsch in Herzig, Organschaft, 97, 103. Zum zeitlichen Zusammenhang zwischen Anlass und Rücklagenzuführung Rödder/Schmidtmann, Ubg. 2014, 177. Zu Verfahrensfragen T. Müller, Der Konzern 2009, 167. 3 Vgl. bereits RFH RStBl. 1933, 138. Grds. dazu insb. Gosch/Neumann2, § 14 KStG Rz. 1 ff.; Orth, Der Konzern 2005, 79. Vgl. auch BFH BStBl. 2003, 9 zur Ermittlung des Spendenabzugs. 4 Vgl. i.E. insb. Herlinghaus in Herzig, Organschaft, 119 ff. Zur Behandlung von verdeckten Gewinnausschüttungen Thiel, DB 2006, 633. Zur Behandlung mezzaniner Finanzierungen bei Organschaft R. Schmid, GmbHR 2008, 464. 5 Vgl. dazu BFH-Urt. v. 28.2.2013 – IV R 50/09, BStBl. 2013, 494. 6 So aber Thiel, DB 2002, 1340. Dagegen zu Recht die h.M., insb. Rödder/Schumacher, DStR 2002, 1163; Beinert/Mikus, DB 2002, 1467; Krebühl, DStR 2002, 1248; Frotscher, DB 2002, 1522; Köplin/ Klein/Lüpges, FR 2002, 921; Schaden/Franz, GmbHR 2002, 880; Dötsch, Der Konzern 2003, 31; Harle, BB 2003, 184; Rödder in Herzig, Organschaft, 153 (158). 7 Zur Anwendung besonderer Tarifvorschriften für die Organgesellschaft vgl. § 19 KStG, der nunmehr klarstellt, dass der Organträger unbeschränkt steuerpflichtig sein muss. Vgl. dazu i.E. Heinz/Scheuch, IStR 2014, 915. Zur Bedeutung bei § 8c KStG Hunkenschröder/Kellersmann/Zwirner, Der Konzern 2013, 531. Zur Anwendung im Rahmen des § 8b X KStG: Schnitger/Bildstein, FR 2012, 117; zu den
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§ 14
Rz. 11
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
2.2.2.1 Verlustausgleichsverbot nach § 14 I 1 Nr. 5 KStG 11
Um zu verhindern, dass Verluste doppelt oder einseitig zu Lasten des Inlands abgezogen werden, bleiben negative Einkünfte des Organträgers oder der Organgesellschaft unberücksichtigt, soweit sie in einem ausländischen Staat berücksichtigt werden (§ 14 I Nr. 5 KStG)1.
2.2.2.2 Vorvertragliche Rücklagen und Verluste 12
Die körperschaftsteuerliche Organschaft erstreckt sich grds. nur auf Gewinne und Verluste, die während der Laufzeit des Gewinnabführungsvertrags entstanden sind. Daher gilt für vororganschaftliche Verluste und Rücklagen Folgendes: – Verluste, die vor dem Beginn des Organschaftsverhältnisses entstanden sind, sind nach § 15 Satz 1 Nr. 1 KStG nicht abzugsfähig. Soweit vorvertragliche Verluste bei der Gewinnabführung nicht verrechnet werden, steht dies der Durchführung des Gewinnabführungsvertrags entgegen2. – Anders als Gewinnrücklagen, die während der Laufzeit des Gewinnabführungsvertrags gebildet wurden, dürfen vorvertragliche Gewinnrücklagen nicht abgeführt, sondern nur ausgeschüttet werden3.
2.2.2.3 Bruttomethode nach § 15 Satz 1 Nr. 2 KStG 13
Um die systemkonforme Anwendung des Teileinkünfteverfahrens auch dann zu erreichen, wenn eine natürliche Person oder eine Personengesellschaft mit natürlichen Personen als Gesellschaftern Organträger ist, erfolgt die Anwendung der § 8b I–VI KStG; § 3 Nr. 40 u. § 3c EStG; § 4 VI UmwStG sowie der DBA-Regelungen für Gewinnanteile an ausländischen Gesellschaften nicht bei der Organgesellschaft, sondern beim Organträger (§ 15 Satz 1 Nr. 2 KStG)4.
2.2.2.4 Bruttomethode nach § 15 Satz 1 Nr. 3 KStG 14
Die Zinsschranke nach § 4h EStG ist gem. § 15 Satz 1 Nr. 3 Satz 1 KStG bei der Organgesellschaft nicht anzuwenden. Organträger und Organgesellschaft/en sind vielmehr im Rahmen der Zinsschranke als ein Betrieb anzusehen. Dies führt insb. dazu, dass Finanzierungen innerhalb der Organschaft nicht unter die Zinsschranke fallen, die Freigrenze des § 4h II 1a EStG sich einheitlich nur auf den Organkreis bezieht und auch die Escape-Klausel des § 4h II 1c EStG insgesamt nur für den Organkreis zur Anwendung kommt5.
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Auswirkungen der Zinsschranke Herzig/Liekenbrock, DB 2009, 1949; Herzig/Liekenbrock, Ubg. 2009, 750; Schuck/Faller, DB 2010, 2186; Bohn/Loose, DStR 2011, 1009; Althoff/Taron, StuB 2012, 67; dies. StuB 2012, 99; zu Konkurrenzen bei Mitunternehmerschaften Letzgus, Ubg. 2010, 699; Haase/Brändel, DB 2011, 1128; zur Gewerbesteueranrechnung Schaumburg/Bäuml, FR 2010, 1061. Zur Bilanzierung von Ertragsteuern nach IFRS und BilMoG insb. Loitz/Klevermann, DB 2009, 409; Dahlke, BB 2009, 878; Melcher/Murer, DB 2011, 2529; Pilhofer/Suermann/Müller, StuB 2013, 799. Vgl. Benecke/Schnitger, IStR 2013, 143; Gründig/Schmid, DStR 2013, 617; Polatzky/Seitner, Ubg. 2013, 285; Schaden/Polatzky, IStR 2013, 131; Schneider/Schmitz, GmbHR 2013, 281; Wagner/Liekenbrock, Ubg. 2013, 133. Vgl. BFH, BFH/NV 2011, 151; dazu auch Dötsch, Der Konzern 2010, 99; Krau, StBp. 2010, 65; Heurung/Engel/Schröder, BB 2011, 599 (603). Gewinne aus der Auflösung organschaftlicher Kapitalrücklagen können nur ausgeschüttet werden. Dazu BFH BStBl. 2003, 923; BMF BStBl. I 2003, 647; vgl. auch Richter, GmbHR 2004, 79. Vgl. dazu m.w.N. insb. Rödder, Steuerfreie Erträge der Organgesellschaft, in Herzig, Organschaft, 143 ff.; Kollruss, BB 2007, 78; zur Bruttomethode im Verhältnis zu § 8b VII–IX KStG nach der Einführung des § 15 Satz 1 Nr. 2 Satz 3 KStG durch JStG 2009 Heurung/Seidel, BB 2009, 472; zu den Auswirkungen auf die internationale Dividendenbesteuerung Schänzle/Birker, Ubg. 2014, 635. Zur erstmaligen Anwendung ab 2000 vgl. BFH BStBl. 2011, 131. Vgl. dazu auch Blumenberg/Benz, Die Unternehmensteuerreform 2008, 2007, 121 ff.; Ernst & Young, Die Unternehmensteuerreform 2008, 2007, 149 ff.; Rödder, DStR 2007, Beihefter zu Heft 40, 7; Herzig/Liekenbrock, DB 2007, 2387.
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§ 14
2.2.2.5 Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG und Gewerbesteueranrechnung Soweit der Organträger ein Einzelunternehmen oder eine Personengesellschaft ist, an der natürliche Personen beteiligt sind, dürfte die Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG grds. auch insoweit zu gewähren sein, als der nicht entnommene Gewinn aus der Organgesellschaft stammt. Abgesehen davon, dass der Zweck des § 34a EStG dem nicht entgegensteht, sind die entsprechenden Erträge über die Gewinnabführung auch im steuerbilanziellen Gewinn des Organträgers und damit auch vom Wortlaut her im maßgebenden Gewinn nach § 34a II EStG enthalten1. Die Gewerbesteueranrechnung nach § 35 EStG kommt nach Auffassung des BFH bei den Gesellschaftern einer Organträger-Personengesellschaft nicht in Betracht, obwohl die Entlastung vom Zweck der Vorschrift her geboten ist2.
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2.2.2.6 Ausgleichszahlungen nach § 304 AktG Ausgleichszahlungen an Minderheitsgesellschafter sind Gewinnverwendung und von der Organgesellschaft nach § 16 Satz 1 KStG mit 20/17 selbst zu versteuern3. Dies gilt auch dann, wenn die Ausgleichszahlung vom Organträger geleistet wurde (§ 16 Satz 2 KStG)4. § 16 KStG will gewährleisten, dass Ausgleichszahlungen unabhängig von der Rechtsform des Organträgers mit Körperschaftsteuer belastet werden.
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2.2.2.7 Mehr- und Minderabführungen nach § 14 III, IV KStG Da die handelsrechtliche Gewinnabführung und das steuerrechtliche Einkommen nach unterschiedlichen Vorschriften zu ermitteln sind und auch während der Organschaft Gewinnrücklagen gebildet oder aufgelöst werden können, können sich zwischen Gewinnabführung bzw. Verlustausgleich einerseits und Einkommenszurechnung Abweichungen ergeben. Ist die Gewinnabführung höher als das zuzurechnende Einkommen, liegen sog. Mehrabführungen, umgekehrt Minderabführungen vor5. In Abhängigkeit vom Verursachungszeitpunkt wird zwischen vororganschaftlichen und organschaftlichen Mehr- und Minderabführungen unterschieden6.
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(1) Vororganschaftliche Mehr- und Minderabführungen (§ 14 III KStG) Nachdem der BFH7 zu Recht entschieden hat, dass Mehrabführungen entgegen Abschn. 59 IV KStR 1995 auch dann nicht als Ausschüttung zu behandeln sind, wenn sie vororganschaftlich verursacht sind, wurde mit dem EuRLUmsG in § 14 III KStG eine Regelung geschaffen, die 1 Die technische Behandlung der Einkommenszurechnung (außerbilanzielle Kürzung der Gewinnabführung und Einkommenszurechnung) steht der teleologisch gebotenen Wertung nicht entgegen. Vgl. auch Pohl, DB 2008, 84; Rogall, DStR 2008, 429. 2 BFH-Urt. v. 22.9.2011 – IV R 3/10, BStBl. 2012, 14; v. 22.9.2011 – IV R 42/09, BFH/NV 2012, 236; krit. dazu mit Recht Schmidt/Wacker33, § 35 EStG Rz. 54; Prinz/Hütig, StuB 2012, 20; Wacker, JbFSt. 2012/13, 489 ff. 3 Nach BFH BStBl. 2010, 407, steht eine Ausgleichszahlung der Anerkennung des Gewinnabführungsvertrags entgegen, wenn neben einem Festbetrag ein zusätzlicher Ausgleich vorgesehen ist, der sich am hypothetischen Gewinnanspruch orientiert. Nach BMF BStBl. I 2010, 372, ist dieses Urteil nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus anzuwenden. Vgl. dazu auch Hubertus/Lüdemann, DStR 2009, 2136. Grds. zu verunglückten Organschaften vgl. insb. Schneider/Hinz, Ubg. 2009, 738. 4 Vgl. i.E. Krebühl, DStR 2002, 1246; Orth, DB 2002, 813; Dötsch, Der Konzern 2004, 716; Schumacher, Ausgleichszahlungen an außenstehende Anteilseigner, in Herzig, Organschaft, 194 ff. 5 Vgl. dazu insb. Wassermeyer in Herzig, Organschaft, 208; Sedemund, DB 2010, 1255; S. Neumann, Ubg. 2010, 673; Breier, Der Konzern 2011, 11, 84; zu Sonderfragen bei nachgeordneten Personengesellschaften Dötsch/Pung, Der Konzern 2010, 223; zu den Folgewirkungen im Hinblick auf die Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG vgl. von Freeden/Rogall, FR 2009, 785. 6 Vgl. grds. dazu insb. auch Thiel, Nach 50 Jahren immer noch aktuell: Die besonderen Ausgleichsposten in der Steuerbilanz des Organträgers, FS J. Lang, 2010, 755 ff. Zur Abgrenzung insb. Dötsch/Pung, Der Konzern 2008, 150; zur Behandlung bei Umwandlungen Schumacher, Mehr- und Minderabführungen i.S.d. § 14 Abs. 3 u. 4 KStG im Rahmen von Umwandlungen, FS Schaumburg, 2009, 477. Zur Behandlung im Falle von Verschmelzungen insb. Heerdt, DStR 2009, 938; Meining, BB 2009, 1444. 7 BFH BStBl. 2005, 49. Zur Anwendung des Urteils BMF BStBl. I 2005, 65.
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die frühere Verwaltungsauffassung gesetzlich festschreibt. Mehrabführungen, die in vororganschaftlicher Zeit verursacht sind, gelten danach als Gewinnausschüttungen mit der Notwendigkeit, ggf. Kapitalertragsteuer einzubehalten (§ 44 VII EStG); Minderabführungen sind als Einlage zu behandeln. § 14 III KStG ist verfassungsrechtlich allein deshalb problematisch, weil er insb. dann zu einer unzulässigen Rückwirkung führt, wenn die Organgesellschaft ein abweichendes Wirtschaftsjahr oder ein Rumpfwirtschaftsjahr hat, für das die Bilanz bereits vor Wirksamwerden der Verabschiedung des Gesetzes festgestellt wurde1. Darüber hinaus ist die Regelung vom Zweck, den Voraussetzungen und den Rechtsfolgen her außerordentlich unklar2, was den BFH3 aber leider nicht dazu veranlasst, die Verletzung des rechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes zu problematisieren4.
(2) Organschaftliche Mehr- und Minderabführungen 19
Soweit die Organgesellschaft zulässigerweise Gewinnrücklagen dotiert oder organschaftliche Abweichungen zwischen Gewinnabführung und Einkommenszurechnung entstehen, können sich entsprechend § 14 IV 6 KStG5 Mehr- und Minderabführungen ergeben. Nach § 14 IV 1 KStG sind für diese Mehr- oder Minderabführungen beim Organträger der Beteiligungsquote entsprechend grds. besondere aktive oder passive Ausgleichsposten zu bilden. Ein passiver Ausgleichsposten ist allerdings dann nicht zu bilden, wenn die auf die Organgesellschaft entfallenden Beteiligungsverluste aufgrund außerbilanzieller Zurechnung neutralisiert werden und damit das dem Organträger zuzurechnende Einkommen nicht mindern6. Die Ausgleichsposten sind nach § 14 IV 2 KStG insb. im Zeitpunkt der Veräußerung erfolgswirksam aufzulösen. Damit hat der Gesetzgeber rückwirkend (§ 34 IX KStG) die Auffassung der Finanzverwaltung7 gesetzlich festgeschrieben, nachdem der BFH8 diese Auffassung mit fragwürdiger Begründung verworfen hatte und die Finanzverwaltung dieses Urteil nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus anwendet9. Sinn und Zweck der Ausgleichsposten ist es, eine doppelte bzw. eine Nichtbesteuerung des in vertraglicher Zeit erwirtschafteten Einkommens der Organgesellschaft zu verhindern. Inwieweit die gesetzliche Regelung dies sicherstellt, ist allerdings fraglich, da das systematische Grundkonzept und die Rechtsnatur der Ausgleichsposten nicht geklärt wurde und daher eine Reihe von Einzelfragen offen bleibt10. 1 Entsprechend nunmehr auch BFH-Urt. v. 6.6.2013 – I R 38/11, BStBl. 2014, 398, der eine unzulässige Rückwirkung sieht. Für Mehrabführungen soll § 14 III KStG bei Organgesellschaften anzuwenden sein, deren Wirtschaftsjahr nach dem 31.12.2003 endet (§ 34 IX KStG), obwohl das Gesetz erst v. 9.12.2004 datiert und am 16.12.2004 in Kraft getreten ist (BGBl. I 2004, 2310). A.A. FG Düsseldorf, GmbHR 2013, 828. 2 Vgl. dazu i.E. Rödder, DStR 2005, 217; außerdem Dötsch/Pung, Der Konzern 2003, 278; Dötsch/ Pung, DB 2005, 10; Korn/Strahl, KÖSDI 2005, 14510 (14515); Grube/Behrendt/Heg, GmbHR 2006, 1026, 1079; Schumacher, DStR 2006, 310; Schumann/Kempf, FR 2006, 219; Thiel in FS Raupach, 2006, 543 (557); Dötsch/Witt, Der Konzern 2007, 190; Bareis, FR 2008, 649; Dötsch, Ubg. 2008, 117; Neumann, Ubg. 2010, 673 (675); Bareis, FR 2013, 1121; Mylich, DStR 2014, 2437. 3 BFH-Urt. v. 6.6.2013 – I R 38/11, BStBl. 2014, 398; v. 27.11.2013 – I R 26/13, BStBl. 2014, 651. Suchanek, GmbHR 2013, 1104; Doege/Middendorf, StuB 2014, 682. 4 Dazu allgemein § 3 Rz. 243 ff. 5 Vgl. KStG i.d.F. des JStG 2008, BGBl. I 2007, 3150 (3166). Dazu insb. Dötsch/Pung, DB 2007, 2669 (2672); Trautmann/Faller, DStR 2012, 890. 6 Vgl. BFH-Urt. v. 29.8.2012 – I R 65/11, BStBl. 2013, 555. Nach BMF BStBl. I 2013, 921 ist dieses Urteil nur dann anzuwenden, wenn die Mehrabführungen auf nach § 15a EStG nicht verrechenbaren Verlusten beruhen. Vgl. dazu auch Faller, DStR 2013, 1977; Heurung/Engel/Schröder, BB 2013, 663; Aichberger/Ritzer, Der Konzern 2014, 219; Tiede, StuB 2013, 93, 606; Trautmann/Faller, DStR 2013, 293; van Freeden/Josten, Ubg. 2014, 512. 7 Vgl. R 63 II, III KStR 2004; BFH BStBl. 1996, 614; außerdem auch die Nachw. im Rahmen des BFHUrt. DStR 2007, 895. 8 BFH BStBl. 2007, 796. Dazu Kußmaul/Richter, BB 2007, 1256; krit. Weber-Grellet, StuB 2007, 623. 9 Vgl. BMF v. 5.10.2007, BStBl. 2007 I, 743. 10 Vgl. Dötsch/Pung, DB 2007, 2669 (2672); außerdem auch Wassermeyer in Herzig, Organschaft, 217; Dötsch, Der Konzern 2003, 21 (29); Neumann/Suchanek, Ubg. 2013, 549; Suchanek/Jansen/Hesse, Ubg. 2013, 280.
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Gewerbesteuerliche Organschaft
Rz. 23
§ 14
2.3 Verfahrensrechtliche Folgen Die Organschaft begründet bei der Körperschaftsteuer trotz der wirtschaftlichen Unternehmenseinheit verfahrensrechtlich keine Einheit zwischen den einbezogenen Rechtsträgern1 mit der Folge, dass für Organträger und Organgesellschaft grds. eigenständige Steuererklärungsund sonstige Mitwirkungspflichten bestehen und gesonderte Körperschaftsteuerbescheide ergehen.
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Für Feststellungszeiträume, die nach dem 31.12.2013 beginnen (§ 34 IX KStG), ist jedoch nach § 14 V KStG eine einheitliche und gesonderte Feststellung durchzuführen. Danach wird das dem Organträger zuzurechnende Einkommen der Organgesellschaft und damit zusammenhängende andere Besteuerungsgrundlagen sowie von der Organgesellschaft geleistete und anzurechnende Steuern gegenüber dem Organträger und der Organgesellschaft gesondert und einheitlich festgestellt. Die entsprechende Feststellungserklärung soll mit der Körperschaftsteuererklärung der Organgesellschaft verbunden werden (§ 14 V 5 KStG). Örtlich zuständig ist das Finanzamt, das für die Besteuerung nach dem Einkommen der Organgesellschaft zuständig ist (§ 14 V 4 KStG) und den einheitlichen Feststellungsbescheid an Organträger und Organgesellschaft bekanntzugeben hat. Getroffene Feststellungen sind als Grundlagenbescheid nach § 182 AO für die Besteuerung des Organträgers und der Organgesellschaft bindend (§ 14 V 2 KStG) und können folglich auch von Organgesellschaft und Organträger mit Rechtsbehelfen angefochten werden2.
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3. Gewerbesteuerliche Organschaft 3.1 Voraussetzungen Gewerbesteuerliche Organschaft liegt seit dem Erhebungszeitraum 2002 wie bei der Körperschaftsteuer gem. § 2 II 2 GewStG dann vor, wenn eine Kapitalgesellschaft finanziell in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert und durch einen Gewinnabführungsvertrag i.S.d. § 291 III AktG verpflichtet ist, ihren ganzen Gewinn an den Organträger abzuführen3. Gewerbesteuerliche und körperschaftsteuerliche Organschaft sind daher in ihren Voraussetzungen nunmehr zwingend miteinander verknüpft.
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Nach § 14 KStG setzt die Organschaft grundsätzlich voraus, dass der Organträger Sitz und Geschäftsleitung im Inland hat. Der BFH geht davon aus, dass im Hinblick auf abkommensrechtliche Diskriminierungsverbote auch ein im Ausland ansässiges Unternehmen Organträger sein kann und die Organgesellschaft darüber hinaus nicht als Betriebsstätte des Organträgers anzusehen ist4. Da die Finanzverwaltung diese Auffassung nicht teilt, wird das Urteil über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht angewendet5.
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1 Vgl. Drüen, StbJb. 2006/2007, 273, 301; Hendricks, Ubg. 2011, 711; Drüen, Der Konzern 2013, 433. 2 Vgl. dazu i.E. Rödder, Ubg. 2012, 717 (723); Dötsch/Pung, DB 2013, 305 (313); Drüen, Der Konzern 2013, 433 (444); Teiche, DStR 2013, 2197 (2204). 3 Im Falle einer atypisch stillen Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft geht die Gewerbesteuerpflicht der Mitunternehmerschaft der organschaftlichen Zurechnung nach BFH NFH/NV 2011, 2053, vor. 4 BFH BStBl. 2012, 106. Zur Diskussion dieser überaus überraschenden und kontroversen Entscheidung und der Frage, ob damit die Möglichkeit eröffnet wird, Gewinne der deutschen Besteuerung zu entziehen, insb. Behrens, Ubg. 2011, 665; Buciek, FR 2011, 588; Dötsch, Der Konzern 2011, 267; Ehlermann/ Petersen, IStR 2011, 747; Frotscher, IStR 2011, 697; Kotyrba, BB 2011, 1382; Lüdicke, IStR 2011, 740; Mitschke, IStR 2011, 537; Mössner, IStR 2011, 349; Rödder/Schönfeld, DStR 2011, 886; Schnitger/Berliner, IStR 2011, 747; Stöber, BB 2011, 1943; Tetzlaff/Pockelwald, StuB 2011, 414; Glahe, IStR 2012, 128. 5 BMF BStBl. I 2012, 119.
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Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
3.2 Materiell-rechtliche Folgen 3.2.1 Grundsätze 24
Liegt gewerbesteuerliche Organschaft vor, gilt die Organgesellschaft gem. § 2 II 2 GewStG als Betriebsstätte des Organträgers. Nach der sog. eingeschränkten Einheitstheorie führt die Betriebsstättenfiktion nach Auffassung des BFH und der Finanzverwaltung1 allerdings nicht dazu, dass Organträger und Organgesellschaft als einheitliches Unternehmen anzusehen sind. Infolge der Betriebsstättenfiktion wird dem Organträger lediglich für die Dauer der Organschaft die persönliche Gewerbesteuerpflicht der Organgesellschaft zugerechnet2. Der Organträger wird Steuerschuldner nach § 5 GewStG, während die objektive Steuerpflicht bei der Organgesellschaft verbleibt3.
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Organgesellschaft und Organträger stellen deshalb keine Einheits- oder Konzernbilanz auf, sondern ermitteln den Gewerbeertrag getrennt. Die getrennt ermittelten Gewerbeerträge werden dann zusammengerechnet und durch Korrekturen relativiert, die ihre Rechtsgrundlage in § 2 II 2 GewStG haben und steuerliche Doppelbelastungen oder ungerechtfertigte Steuerentlastungen vermeiden sollen4. Im Ergebnis wird dadurch bei der Ermittlung des Gewerbeertrags ein Trennungsprinzip praktiziert, das mehr oder weniger kasuistisch durch die Einheitstheorie relativiert wird und weder vom Wortlaut noch vom Zweck her aus § 2 II 2 GewStG abzuleiten ist5.
3.2.2 Gesonderte Ermittlung und Zusammenrechnung bereinigter Gewerbeerträge 26
Auf Grund der Relativierung des Trennungsprinzips durch organschaftsbedingte Korrekturen einerseits und die Bruttomethode nach § 15 Satz 1 Nr. 2 KStG andererseits vollzieht sich die Ermittlung des Gewerbeertrags für den Organkreis im Wesentlichen in drei Schritten6. Im ersten Schritt erfolgt die getrennte Ermittlung des Gewerbeertrags für Organträger und Organgesellschaft mit der Folge, dass – für Innenumsätze im Organkreis die allgemeinen Gewinnrealisierungsgrundsätze gelten7; – Steuerbefreiungen nach § 3 GewStG und sonstige Steuervergünstigungen gesondert für Organträger und Organgesellschaften zu prüfen sind8; – Gewinnabführungen das Ergebnis der Organgesellschaft nicht mindern und korrespondierend beim Organträger zu eliminieren sind; Im zweiten Schritt sind die organschaftsbedingten Korrekturen nach § 2 II 2 GewStG durchzuführen. Daraus folgt insb.: – Hinzurechnungen nach § 8 GewStG entfallen, soweit die entsprechenden Beträge bereits im Gewerbeertrag berücksichtigt werden. – Gewinne aus der Veräußerung der Organbeteiligung bleiben beim Organträger insoweit außer Ansatz, als während der Dauer des Organschaftsverhältnisses bei der Organgesellschaft Gewinnrücklagen gebildet wurden. – Gewinnminderungen des Organträgers, insb. Veräußerungsverluste oder Teilwertabschreibungen, sind nicht zu berücksichtigen, soweit sie auf Gewinnminderungen der Organgesell1 2 3 4 5 6 7 8
Vgl. H 2.3 GewStR m.w.N. Vgl. dazu BFH BStBl. 1990, 918; 1997, 181. Dazu auch Montag in Herzig, Organschaft, 291 (295). Vgl. dazu auch Glanegger/Güroff8, § 2 GewStG Rz. 518. Vgl. dazu die st. Rspr. des BFH, BFH BStBl. 1972, 582; 1986, 73; 1992, 630; 1994, 768; 1995, 794; 1997, 181; 2001, 114. Dazu auch Montag in Herzig, Organschaft, 296. Niehaves/Thiemer, DStR 2002, 1703; Montag in Herzig, Organschaft, 296. Dazu Montag in Herzig, Organschaft, 296. Vgl. Glanegger/Güroff8, § 2 GewStG Rz. 523 ff. Vgl. BFH BStBl. 2004, 244; 2011, 181.
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Fortentwicklung
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schaft beruhen oder auf Gewinnausschüttungen oder Gewinnabführungen der Organgesellschaft zurückzuführen sind (§ 8 Nr. 10 GewStG)1. – Die erweiterte Kürzung für Grundstücksunternehmen (§ 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG) wird versagt, wenn eine Organgesellschaft ihre Grundstücke an eine andere Gesellschaft im Organkreis vermietet2. Im dritten Schritt sind schließlich die Folgewirkungen des § 15 Satz 1 Nrn. 2 u. 3 KStG zu berücksichtigen, die sich aus der Anwendung der Bruttomethode ergeben3.
3.3 Verfahrensrechtliche Folgen Aufgrund der Betriebsstättenfiktion des § 2 II 2 GewStG ist die Organgesellschaft für die Dauer der Organschaft kein Steuersubjekt, ihre persönliche Steuerpflicht wird dem Organträger zugerechnet4, dessen Finanzamt im Gewerbesteuermessbescheid über die Voraussetzungen der gewerbesteuerlichen Organschaft entscheidet. Eine einheitliche und gesonderte Feststellung der Besteuerungsgrundlagen wie bei der Körperschaftsteuer ist insb. im Hinblick auf die Korrekturvorschrift des § 35b GewStG nicht erforderlich5.
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4. Fortentwicklung Obwohl die Organschaft bereits seit langem als wirtschaftliche Einheit rechtlich selbständiger Unternehmen anerkannt ist6, liegt nach wie vor kein geschlossenes Besteuerungskonzept vor7. Der Gesetzgeber hat zwar erkannt, dass die Besteuerung verbundener Unternehmen zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes weiterentwickelt werden muss8. Wesentliche Kritikpunkte wie die Notwendigkeit des Gewinnabführungsvertrags9, das „Einfrieren“ vororganschaftlicher Verluste10, die Besteuerung von Zwischengewinnen11 und vor allem die primär auf Inlandsgesellschaften konzentrierte Betrachtung12 wurden jedoch keiner systematischen Lösung zugeführt. Im Gegenteil: Das Organschaftsrecht wurde punktuell massiv verschärft13, ohne dass konzeptionell Fortschritte erkennbar wären. 1 Vgl. R 7.1 V, H 7.1 V GewStR; entsprechend BFH BStBl. 1994, 768; 2004, 751. Werden vororganschaftliche Gewinne ausgeschüttet, können Teilwertabschreibungen jedoch berücksichtigt werden, dazu BFH BStBl. 2003, 354. Dazu auch Kohlruss, GmbHR 2004, 781. 2 Vgl. BFH BStBl. 2011, 887; dazu auch Duttiné, DStR 2011, 2033; Huland/Dickhöfer, BB 2013, 2583 3 Vgl. dazu Rz. 13. Probleme können sich gewerbesteuerlich insoweit insb. auch bei der Zinsschranke im Zusammenhang mit §§ 8 Nr. 1, 9 Nr. 1 GewStG ergeben. Dazu i.E. Klass/Strecker, Ubg. 2012, 535; zum Schachtelprivileg Hageböke, Der Konzern 2014, 313. 4 BFH-Urt. v. 27.6.1990 – I R 183/85, BStBl. 1990, 916; BFH-Urt. v. 28.1.2004 – I R 84/03, BStBl. 2004, 539; BFH-Urt. v. 21.10.2009 – I R 29/09, BStBl. 2010, 644. 5 Vgl. i.E. Beneke/Schnitger, IStR 2013, 143 (157); Dötsch/Pung, DB 2013, 305 (314); Drüen, Der Konzern 2013, 433 (438); Teiche, DStR 2013, 2197 (2201). 6 Vgl. RFH RStBl. 1930, 148. 7 Vgl. insb. Herzig/Wagner, DB 2005, 1; zu den ökonomischen Anforderungen Schreiber/Stiller, StuB 2014, 216. 8 Vgl. Bericht der Bundesregierung zur Fortentwicklung des Unternehmenssteuerrechts, FR 2001, Beil. zu Heft 11, 2. 9 Vgl. Bericht der Bundesregierung zur Fortentwicklung des Unternehmenssteuerrechts, FR 2002, Beil. zu Heft 11, 16; dazu auch Herzig/Wagner, DB 2005, 1 (5); Wagner, StuW 2007, 308 ff. 10 Vgl. Bericht der Bundesregierung zur Fortentwicklung des Unternehmenssteuerrechts, FR 2002, Beil. zu Heft 11, 17. 11 Vgl. dazu insb. Krebühl in Herzig, Organschaft, 595; vgl. außerdem auch die kontroverse Diskussion zu BFH BStBl. 2012, 106 (Rz. 21 Fn. 6); außerdem auch Witt, Ubg. 2010, 737; Kahle/Vogel/Schulz, Ubg. 2011, 761; Kosalla, Ubg. 2011, 737. 12 Vgl. insb. Schaumburg in Herzig, Organschaft. 13 Z. B. Gewinnabführungsvertrag auch Organschaftsvoraussetzung für Gewerbesteuer, Einschränkungen für Personengesellschaft als Organträger, Ausschluss vorvertraglicher Verluste bei der Gewerbesteuer, Abschaffung Mehrmütterorganschaft. Vgl. auch Krebühl, DStR 2002, 1241; Krebühl in Herzig, Organschaft, 595; Dötsch, Der Konzern 2003, 21; Stollenwerk, GmbHR 2003, 199.
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§ 14 29
Rz. 29
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
Die Notwendigkeit, dieses Konzeptionsdefizit kurzfristig abzubauen, wurde durch die internationale Entwicklung faktisch dramatisch verstärkt. Die internationalen Verflechtungen der Wirtschaft führen in Verbindung mit dem Wettbewerb der Steuersysteme1 und der Attraktivität ausländischer Konzepte2 wirtschaftlich zu einem Handlungsdruck, dem der deutsche Gesetzgeber sich im Interesse des Standorts eigentlich kurzfristig stellen müsste. Die Hoffnungen, dass dieser Handlungsdruck sich durch die Rspr. des EuGH rechtlich noch zusätzlich verstärken würden, haben sich indessen nicht erfüllt. Der EuGH hat in der Rs. Marks & Spencer entschieden, dass die Begrenzung der Verlustverrechnung innerhalb einer Gruppe auf die im Inland ansässigen Gesellschaften grds. zulässig ist. Auslandsverluste müssen als ultima ratio nur dann innerhalb der Gruppe im Inland berücksichtigt werden, wenn aktuell alle Möglichkeiten der Verlustverrechnung im Ausland ausgeschöpft sind, auch zukünftig keine Verrechnungsmöglichkeit besteht und die Verluste außerdem auch im Inlandsfall verrechenbar wären3. Der deutsche Gesetzgeber hat bislang noch keine systematisch schlüssigen Konsequenzen aus der Entwicklung gezogen, die von der Entscheidung Marks & Spencer ausgeht4. Klar ist aber, dass der Versuch, die Verrechnung von Auslandsverlusten im Inland entscheidend an die Erfordernis des wirksamen Gewinnabführungsvertrages zu knüpfen, europarechtlich bedenklich5 und daher auf Dauer nicht haltbar ist. Der Gesetzgeber muss insoweit seine bisherige Zurückhaltung6 im Interesse des Standortes und der europarechtlichen Anforderungen schnellstens aufgeben und ein Konzept verwirklichen, das rechtsform- und grenzüberschreitend der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verbundener Unternehmen Rechnung trägt. Eine „echte“ europaweite Konzernbesteuerung würde zwar die Vereinheitlichung der Gewinnermittlung voraussetzen7. Ob und ggf. wann es tatsächlich dazu kommt, ist jedoch nicht abzusehen8.
1 Grds. dazu auch IFSt, Internationaler Steuerwettbewerb, Vorteile und Gefahren, Bd. 422, 2004. 2 Zum Reformdruck auf Grund des Europäischen Steuerwettbewerbs grundl. Hey, StuW 2004, 206; Birk, FR 2005, 121. Vgl. zum österr. Ansatz, ein attraktives Besteuerungskonzept zu entwickeln, insb. Finenzeller/Hirschler, RIW 2004, 561; Waldens/Foddanu, Praxis Internationale Steuerberatung 2004, 194; Gableitner/Furherr, Der Konzern 2005, 129. Darüber hinaus zur Bedeutung und Ausgestaltung einzelner Besteuerungskonzepte insb. Endres, Intertax 2003, 349; Endres, WPg. 2003, Sonderheft Holding und Organschaft, 35; Günkel, WPg. 2003, Sonderheft Holding und Organschaft, 40; Endres in Herzig, Organschaft, 461; Lüdicke/Rödel, IStR 2004, 549; Nagler/Kleinert, DB 2005, 855; Herzig/ Englisch/Wagner, Der Konzern 2005, 298. 3 Dazu i.E. insb. Englisch, IStR 2006, 22; Herzig/Wagner, Der Konzern 2006, 176; Herzig/Wagner, DStR 2006, 1; Maiterth, DStR 2006, 915; Hey, GmbHR 2006, 115; Scheunemann, RIW 2006, 80; Wernsmann/Nippert, FR 2006, 153. Zur neueren Entwicklung der EuGH-Rspr. Schlussanträge v. 23.10.2014 – C-172/13, IStR 2014, 855; dazu Beneke/Staats, IStR 2014, 862; vgl. außerdem insb. auch Schnitger, IStR 2014, 587; Herbort, IStR 2015, 15. 4 Vgl. EuGH-Urt. v. 13.12.2005 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837; vgl. auch Hey, GmbHR 2006, 119; Schönfeld, IStR 2012, 368; Lüdicke/Lange-Hückstädt, IStR 2013, 611; Mitschke, IStR 2013, 209; Becker/Loose, Ubg. 2014, 141. 5 Vgl. i.E. insb. Wiss. Beirat Ernst & Young, BB 2005, 754 (755); Herzig/Wagner, DB 2005, 1 (7); Raupach/Pall, NZG 2005, 489 (492); Scheunemann, Grenzüberschreitende konsolidierte Konzernbesteuerung 2005, 268; Bergemann/Schönherr/Stäblein, BB 2005, 1706 (1715); Hey, GmbHR 2006, 113; Hofer, Grenzüberschreitende Verlustverrechnung bei Organschaft, 2007; Esser, Grenzüberschreitende Gruppenbesteuerung im Konzern, IFSt-Schrift Nr. 450, 2008; Trieglaff, StuB 2008, 519; Dörfler/Ribbrock, BB 2008, 304; G. Mayr, BB 2008, 1312; Watrin/Ullmann/Wittkowski, Ubg. 2008, 557. Zu den möglichen gesellschaftsrechtlichen Auswirkungen eines Verzichts auf den Gewinnabführungsvertrag Schöne/Heurung/Petersen, DStR 2012, 1680. Zur Möglichkeit eines grenzüberschreitenden Gewinnabführungsvertrags Hoene, IStR 2012, 462. 6 Vgl. bereits Hey, GmbHR 2006, 119. 7 Vgl. dazu auch Schaumburg in Herzig, Organschaft, 419 (435); Herzig/Wagner, DB 2005, 1 (9); Hey, GmbHR 2006, 113 (122). Vgl. dazu auch das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats „Einheitliche Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer in der Europäischen Union“ v. März 2007, www.bun desfinanzministerium.de; Herzig, FR 2009, 1037. Vgl. auch den RLEntw. über die Gemeinsame Konsolidierte Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage (GKKB oder nach der englischen Abkürzung CCCTB) v. 16.3.2011, KOM(2011) 121 endg., Beschluss des Bundesrates BR-Drucks. 155/11. 8 Vgl. dazu insb. auch Anzinger, StuW 2002, 261 (263); Laule, IStR 2001, 297 (306); Schön, Zur Zukunft der Organschaft in der Europäischen Union, in Herzig, Organschaft, 612; Hey, GmbHR 2006, 113
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Fortentwicklung
Rz. 31
§ 14
Das Ziel, das derzeitige Organschaftsrecht durch eine moderne Gruppenbesteuerung zu ersetzen1, war insoweit bis zu einer harmonisierten europäischen Lösung ein Schritt in die richtige Richtung2. Die Ergebnisse der zur Erarbeitung von Lösungsalternativen eingesetzten Facharbeitsgruppe3 waren allerdings ernüchternd: Da die Ersatzmodelle, insb. das sog. IFSt-Modell4, mit nicht tragbaren Steuermindereinnahmen verbunden sein sollen, wird primär die Beibehaltung der bestehenden Organschaftsregelungen und des Gewinnabführungsvertrags befürwortet und allenfalls eine Rückführung der Formalien des Gewinnabführungsvertrags sowie der Ersatz der Ausgleichsposten durch eine sog. „Einlagelösung“ in Betracht gezogen. Sollte die Aufkommensneutralität im Rahmen einer Gesamtabwägung in den Hintergrund treten, wird das sog. Gruppenbeitragsmodell empfohlen. Letztlich werden diese Ergebnisse den Anforderungen an ein konsistentes Gesamtkonzept indessen nicht gerecht:
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Das Gruppenbeitragsmodell ist abzulehnen:
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– Es sieht die Abschaffung des Gewinnabführungsvertrags vor, Gruppenträger und Gruppengesellschaften schließen stattdessen einen sog. Gruppenvertrag ab, der beim Beitragsleistenden bis zur Höhe des zu versteuernden Einkommens abzugsfähige Beitragsleistungen zulässt, die korrespondierend beim Empfänger steuerpflichtigen Ertrag darstellen5. Es gibt damit die Technik der steuerlichen Ergebniszurechnung zugunsten von Gruppenbeiträgen auf, die zu Vermögensverschiebungen in der Gruppe, zu Gläubigerbenachteiligungen und betriebswirtschaftlichen Fehlanreizen führen können und gesellschafts-, insolvenz- und ggf. auch strafrechtlich neue grundl. Rechtsfragen und Inkonsistenzen aufwerfen, die zurzeit noch völlig ungeklärt sind6. – Soweit offene Rechtsfragen im Hinblick auf die Einlagenrückgewähr, gesellschaftsrechtliche Treuepflichten, Organhaftung, Anfechtungsvorschriften der Insolvenzordnung und strafrechtliche Untreuevorwürfe bestehen, entsteht eine Komplexität, die keinerlei Vorteile mehr gegenüber einem Gewinnabführungsvertrag haben dürfte. – Das Gruppenbeitragsmodell steht auch im Widerspruch zur deutsch-französischen Körperschaftsteuerinitiative7. – Schließlich wirft es gewerbesteuerlich so viele Fragen auf, dass letztlich insoweit nur die Möglichkeit verbleibt, das Gruppenbeitragsmodell gewerbesteuerlich im Ergebnis wieder
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(123); Rautenstrauch, FR 2009, 114; Kahle/Dahlke/Schulz, Ubg. 2011, 491; Prinz, StuB 2011, 462; Rödder, Ubg. 2011, 473 (490). Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, 2009, S. 14, im Internet abrufbar: http://www.cdu.de/doc/pdfc/091026-koalitionsvertrag; vgl. auch Zwölfpunkteprogramm zur Modernisierung und Vereinfachung des Unternehmensteuerrechts; dazu Diller/Kittl, StuB 2012, 270. Zur Diskussion insb. auch Schön, ZHR 2007, 409; Krebühl, FR 2009, 1042; Lüdicke, FR 2009, 1025; Richter/Welling, FR 2009, 1049; Witt, FR 2009, 1045; Günkel/Wagner, Ubg. 2010, 603; Kessler/Philipp, Ubg. 2010, 867; Rödder, Ubg. 2011, 473; Frey/Sälzer, BB 2012, 294; Gerlach, FR 2012, 45; Ismer, DStR 2012, 821; zu den Konzepten im Ausland vgl. für Osterreich: Kessler/Jepp, DB 2009, 2737; Leitner/Stetsko, Ubg. 2010, 746; Mayr, IStR 2010, 633; Buse, Die österreichische Gruppenbesteuerung und ihre ertragsteuerlichen Rückwirkungen auf in Deutschland ansässige Kapitalgesellschaften, 2011; für Frankreich: Lenz/Seroin/Handwerker, DB 2012, 365; für die Niederlande: Jungnitz, IStR 2006, 266; Boer, IStR 2011, 61; im Überblick Sureth/Mehrmann/Dalke, StuW 2010, 160; Ismer, DStR 2011, 821; IFSt-Arbeitsgruppe, Einführung einer modernen Gruppenbesteuerung, IFSt-Schrift Nr. 471, 2011, 106 ff. Vgl. dazu i.E. Bericht der Facharbeitsgruppe „Verlustverrechnung und Gruppenbesteuerung“ vom 15.9.2011, im Internet abrufbar unter http://www.bundesfinanzministerium.de/nn–306/DE/Wirt schaft–und–Verwaltung/Steuern/Veroeffentlichungen–zu–Steuerarten/Koerperschaftssteuer–Umwand lungssteuerrecht/001.html. Vgl. IFSt, Einführung einer modernen Gruppenbesteuerung, Ein Reformvorschlag, IFSt-Schrift Nr. 471, 2011; dazu vertiefend auch Rödder, Ubg. 2011, 473. Vgl. dazu i.E. Brusch, DB 2011, Standpunkte, S. 45; Anh. 7 zum Prüfbericht der Facharbeitsgruppe „Verlustverrechnung und Gruppenbesteuerung“ (Rz. 30 Fn. 10); Frey/Sälzer, BB 2012, 294; Lampert/ Grave, DStZ 2012, 463 (499); Schreiber/Stiller, StuW 2014, 216. Vgl. Rödder, Ubg. 2011, 473 (481). Vgl. Lenz/Serain/Handwerker, DB 2012, 365 (369).
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§ 14
Rz. 32
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
aufzugeben und die zusammengerechneten gewerbesteuerlichen Ergebnisse der Gruppengesellschaft auf die Kommunen zu zerlegen1. 32
Systematisch ist auch die Beibehaltung der bestehenden Organschaftsregelungen mit „kleineren Modifikationen“ abzulehnen, die ausschließlich aus Haushaltsgründen die ursprüngliche Vision einer umfassenden Reform aufgibt, nur noch pragmatische Erleichterungen anstrebt und dadurch ausschließlich die Symptome kuriert und erneut jede grundlegende Neuorientierung vermissen lässt2. – Der gravierende Nachteil der Verknüpfung der Einkommenszurechnung mit unerwünschten gesellschaftsrechtlichen Folgen wird beim Festhalten am Gewinnabführungsvertrag nicht beseitigt. Das Festhalten am Gewinnabführungsvertrag beruht auf dem Subjektsteuerprinzip, wonach eine steuerliche Verlustzurechnung zum Gruppenträger erfordert, dass der Gruppenträger die Verluste auch trägt. Dieser Gedanke ist jedoch steuersystematisch dann nicht mehr überzeugend, wenn die wirtschaftliche Einheit der Gruppengesellschaften als Basis für die Verlustzurechnung ausreicht, weil der Gruppenträger eine mit Verlusten verbundene wirtschaftliche Belastung trägt. Dies entspricht auch internationaler Sichtweise. – Gegen die Beibehaltung des Gewinnabführungsvertrags spricht auch, dass die handelsrechtliche Verlustübernahme aufgrund der zunehmenden Abweichung zwischen den handelsund steuerrechtlichen Ergebnissen, insb. auch nach BilMoG, nicht mit der steuerlichen Ergebniszurechnung korrespondiert, so dass das Erfordernis der handelsrechtlichen Verlustübernahme noch stärker in Frage gestellt wird. – Schließlich steht die Beibehaltung des Gewinnabführungsvertrags auch im Widerspruch zum EU-Richtlinienvorschlag zur CCCTB3 sowie der deutsch-französischen KörperschaftsteuerInitiative v. 16.8.20114, die einen Gewinnabführungsvertrag selbstverständlich nicht voraussetzen5.
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Zielführend und vorrangig6 ist nach wie vor vielmehr die Orientierung am IFSt-Modell, das an der steuerlichen Ergebniszurechnung zum Gruppenträger festhält und konsistent weiterzuentwickeln ist7. – Das Modell setzt für eine Gruppenbesteuerung eine Mindestbeteiligung von 75 % und einen gemeinsamen Antrag von Gruppenträger und Gruppengesellschaft mit grds. fünfjähriger Bindung voraus. Es ist insoweit gegenüber dem Gruppenbeitragsmodell gesellschaftsrechtlich deutlich unproblematischer. Der Antrag sollte als Geschäftsführungsmaßnahme zu qualifizieren sein, die keine Zustimmung der Gesellschafterversammlungen erfordert, und hinsichtlich Gläubigerschutz, Kapitalschutz, Organhaftung usw. nur die Frage nach Steuerumlagen als Ausgleich des Steuereffektes aufwirft. – Dem steuerlichen Gedanken der Verlustübertragung könnte dadurch Rechnung getragen werden, dass die Verlustzurechnung betragsmäßig durch den fortgeschriebenen Beteiligungsansatz der Organgesellschaft unter Berücksichtigung „nachlaufender Einlagen“ begrenzt wird. Ergänzend könnte als Voraussetzung für die Verrechnung von Verlusten grundsätzlich auch eine weitergehende Haftung des Gruppenträgers für Verluste und Verbindlichkeiten des Gruppenmitglieds in Erwägung gezogen werden. Die Beschränkung von Verlustverrech1 Rödder, Ubg. 2011, 473 (482). 2 Zu den Details der „kleinen“ Organschaftsreform im Rahmen des Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts (BGBl. I 2013, 285) v. Wolfersdorff, Rödder u.a., DB 2012, 2241, sowie Rz. 8 Fn. 8. 3 Dazu Rz. 28 Fn. 9. 4 Vgl. BT-Drucks. 17/158, 1. Dazu insb. auch Lenz/Serain/Handwerker, DB 2012, 365. 5 Vgl. dazu insb. Lenz/Serain/Handwerker, DB 2012, 365 (367). 6 Vgl. dazu insb. Hey, FR 2012, 994 (997); außerdem Oesterwinter, DStZ 2012, 867; zum niederländischen Konzept Elsweier/Grave, IStR 2013, 91. 7 Vgl. grundl. dazu Rödder, Ubg. 2011, 473 ff.; außerdem insb. auch Lenz/Serain/Handwerker, DB 2012, 365 (369).
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Umwandlung von Unternehmen
Rz. 39
§ 14
nungen würde jedoch einerseits eine Verrechenbarkeit der als Gruppengesellschaft entstehenden Verlustvorträge voraussetzen. Andererseits würde jede Begrenzung der Verlustverrechnung die Gruppenbesteuerung verkomplizieren und die angestrebte Entkopplung vom Gesellschaftsrecht konterkarieren. – Die besonderen Regelungen für Mehr- und Minderabführungen werden entsprechend der französischen Regelung dann obsolet, wenn Personenunternehmen nur nach Option für die Körperschaftsteuerpflicht Gruppenträger werden könnten und eine Dividendenfreistellung dauerhaft gewährleistet wäre. Werden Personenunternehmen ohne Körperschaftsteueroption als Gruppenträger akzeptiert, gewährleistet das Konzept des Gruppengesellschafts- und Gruppenträgerkontos eine einfache Technik, durch die der Transfer von Vorgruppengewinn zum steuerneutralen Ergebnistransfer bei Gruppengewinn abgegrenzt wird. – Grenzüberschreitend könnte als Schutz gegen eine steuerliche Ergebniszurechnung zu einem nicht in Deutschland steuerpflichtigen Gruppenträger ein Treaty Override eingeführt werden. Auslandsverluste wären zumindest insofern im Inland zu berücksichtigen, als sie im Falle einer echten wirtschaftlichen Liquidation des Investments in der ausländischen Tochterkapitalgesellschaft nicht genutzt werden könnten. Einstweilen frei.
34–39
B. Umwandlung von Unternehmen Rechtsgrundlagen: Umwandlungssteuergesetz i.d.F. des Art. 6 des Gesetzes über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften (SEStEG) v. 7.12.2006, BGBl. I 2006, 2782 (2791)1, zuletzt geändert durch Gesetz v. 25.7.2014, BGBl. I 2014, 1266. Verwaltungsanweisungen: Anwendung des Umwandlungssteuergesetzes i.d.F. des Gesetzes über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften (SEStEG), BMF-Schreiben v. 11.11.2011, BStBl. I 2011, 1314 (im Folgenden: UmwSt-Erlass). Literatur: Grundlagen/Kommentare: Thiel, Das Umwandlungssteuerrecht im Wandel der Zeiten, in FS Flume II, 1978, 281; Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, Loseblatt; Lutter (Hrsg.), Spaltung, Formwechsel nach neuem Umwandlungsrecht und Umwandlungssteuerrecht, 1995; Herzig (Hrsg.), Steuerorientierte Umstrukturierung von Unternehmen, 1997; Schaumburg/Piltz (Hrsg.), Internationales Umwandlungssteuerrecht, 1997; Zöllner, Grundsatzüberlegungen zur umfassenden Umstrukturierbarkeit der Gesellschaftsformen nach dem Umwandlungsgesetz, in FS Claussen, 1997, 423; Wassermeyer/Mayer/Rieger (Hrsg.), Umwandlungen im Zivil- und Steuerrecht, in FS Widmann, 2000; Maiterth/Müller, Gründung, Umwandlung und Liquidation …, 2001; Klingberg/van Lishaut, Die Internationalisierung des Umwandlungssteuerrechts, Der Konzern 2005, 698; Pricewaterhouse Coopers AG (Hrsg.), Reform des Umwandlungssteuerrechts, 2007; Sagasser/Bula/Brünger, Umwandlungen4, 2011; Schwedhelm, Die Unternehmensumwandlung7, 2012; Brodersen/Euchner u.a., Beck’sches Handbuch Umwandlungen international, 2013; Engl, Formularbuch Umwandlungen3, 2013; Kallmeyer, Umwandlungsgesetz5, 2013; Lutter, UmwG5, 2013; Rödder/Herlinghaus/van Lishaut, UmwStG2, 2013; Schmitt/Hörtnag/Stratz, Umwandlungsgesetz, Umwandlungssteuergesetz6, 2013; Kraft/Edelmann/Bron, Umwandlungssteuergesetz, 2014. Vgl. zu Dissertationen vor 2003 und zur Literatur vor SEStEG den Überblick in der 20. Aufl., § 18 vor Rz. 450. Überblick Literatur zum UmwSt-Erlass 2011: Benz/Bindl u.a., Der Umwandlungssteuererlass 2011, DB 2012, Beil. Nr. 1; Carlé/Korn/Stahl/Strahl, Umwandlungen – Der neue Umwandlungssteuer-Erlass2, 2012; Drüen/Hruschka/Kaeser/Sistermann, DStR 2012, Beihefter zu Heft 2; Flick Gocke Schaumburg/Bundesverband der Deutschen Industrie e.V., Der Umwandlungssteuer-Erlass 2011, 1 Das Gesetz gilt für nach dem 12.12.2006 erfolgte Umwandlungen (§ 27 I UmwStG). Für vom 1.1.1995 bis 12.12.2006 erfolgte Umwandlungen gilt das UmwStG i.d.F. der Bekanntmachung v. 15.10.2002, BGBl. I 2002, 4133, ber. BGBl. I 2003, 738, dazu 18. Aufl., § 18 Rz. 450 ff.
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§ 14
Rz. 40
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
2012 (zit. FGS/BDI); Ott, Der neue Umwandlungssteuer-Erlass, StuB 2012, 131; Schell/Krohn, DB 2012, 1057, 1119; Schneider/Ruroff/Sistermann, Umwandlungssteuer-Erlass 2011, 2012; Kotyrba/ Scheunemann, BB 2012, 224; Kröner/Momen, DB 2012, 71.
I. Gesellschaftsrechtliche Grundlagen 1. Umwandlungsgesetz 40
Von der Auflösung eines Unternehmens und der anschließenden Übertragung seiner einzelnen Vermögensgegenstände ist die Umwandlung zu unterscheiden, die das Unternehmensvermögen insgesamt betrifft. Das Umwandlungsgesetz führt wesentliche gesellschaftsrechtliche Umwandlungsmöglichkeiten in einem Gesetz zusammen1. Die zivilrechtliche Unterscheidung zwischen juristischen Personen, Personengesellschaften und natürlichen Personen ist insoweit teilweise aufgegeben. Sie sind sämtlich Rechtsträger i.S.d. Umwandlungsgesetzes. Das Gesetz unterscheidet vier Arten der Umwandlung (§ 1 UmwG): Verschmelzung, Spaltung, Vermögensübertragung und Formwechsel. Verschmelzung ist die Übertragung des gesamten Vermögens eines oder mehrerer Rechtsträger auf einen anderen bereits bestehenden Rechtsträger (sog. Verschmelzung durch Aufnahme) oder auf einen mit dem Übertragungsakt neu geschaffenen Rechtsträger (sog. Verschmelzung durch Neugründung) gegen Gewährung von Anteilen an dem übernehmenden oder neu gegründeten Rechtsträger. Die Spaltung (Aufspaltung, Abspaltung, Ausgliederung) unterscheidet sich von der Verschmelzung dadurch, dass nicht das Vermögen als Ganzes, sondern nur Vermögensteile (diese jeweils als Gesamtheit) übertragen werden. Machen die auf andere Rechtsträger übertragenen Vermögensteile das gesamte Vermögen des übertragenden Rechtsträgers aus, so dass dieser aufgelöst wird, handelt es sich um eine Aufspaltung. Bleibt der übertragende Rechtsträger mit einem Teil seines Vermögens bestehen, spricht man von Abspaltung oder Ausgliederung. Bei der Abspaltung gehen die Anteile an dem übernehmenden oder neu gegründeten Rechtsträger auf die Anteilsinhaber des übertragenden Rechtsträgers über; bei der Ausgliederung erhält dieser Rechtsträger selbst die Anteile. Die Vermögensübertragung i.S.d. § 174 UmwG ist mit der Verschmelzung und Spaltung vergleichbar; jedoch besteht die Gegenleistung für das übertragene Vermögen nicht in Anteilen an dem übernehmenden Rechtsträger. Beim Formwechsel bleibt die rechtliche und wirtschaftliche Identität des einzigen an diesem Vorgang beteiligten Rechtsträgers unverändert. Dieser ändert lediglich seine Rechtsform.
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In der folgenden Übersicht sind die verschiedenen Arten der Umwandlung nach dem UmwG systematisch zusammengestellt:
1 Zu den zulässigen Umwandlungsarten s. Widmann/Mayer, Einf. UmwG Rz. 12.
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Umwandlung von Unternehmen
Rz. 42
§ 14
2. Sonstige Umwandlungsmöglichkeiten Das UmwG regelt die bestehenden Umwandlungsmöglichkeiten nicht abschließend. Es erfasst einerseits nicht die Möglichkeiten, die das allgemeine Zivil- und Handelsrecht, z.B. für den Formwechsel durch eine Änderung der Betätigung bzw. der Haftung oder die Anwachsung (§ 738 I BGB), bietet1. Die Anwendbarkeit des UmwG ist außerdem auch grds. auf Rechtsträger mit Sitz im Inland begrenzt (§ 1 I UmwG). Mit Ausnahme der Verschmelzung von Kapitalgesellschaften (§§ 122a ff. UmwG) und der Umwandlung einer Europäischen Aktiengesellschaft, SE, sind grenzüberschreitende Umwandlungen daher nicht möglich2. 1 Vgl. dazu insb. Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 24 ff. 2 Vgl. insb. SE-Verordnung, VO (EG) Nr. 2157/2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. EG L 294 v. 20.11.2001; SEEG (Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft v. 22.12.2004, BGBl. I, 3675). Vgl. dazu auch Decher, Der Konzern 2006, 805; Reichert, Der Konzern 2006, 821; Kowalski, DB 2007, 2243.
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§ 14
Rz. 43
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
II. Steuerrechtliche Folgen 1. Einführung 43
Soweit bei einer Umwandlung Vermögen auf einen anderen Rechtsträger übergeht, können sich daraus sowohl ertragsteuerliche als auch umsatz- und grunderwerbsteuerliche Folgen ergeben. Das Umwandlungssteuergesetz regelt ausschließlich die ertragsteuerliche Behandlung der Umwandlung, während für die Umsatzsteuer und die Grunderwerbsteuer1 grds. die allgemeinen Regeln gelten.
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Teleologischer Ausgangspunkt des Umwandlungssteuergesetzes ist das prinzipielle Gebot, stille Reserven nach dem Grundprinzip der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit beim Übergang auf andere Rechtssubjekte zu besteuern2. Durch das Markteinkommensprinzip und das Übermaßverbot ist es jedoch gerechtfertigt, das Individualprinzip in Umwandlungsfällen zu durchbrechen, wenn die zukünftige Besteuerung der stillen Reserven gesichert ist3. Das UmwStG knüpft sachlich an die gesellschaftsrechtlichen Strukturen des UmwG an. Die Regelungsbereiche beider Gesetze sind aber nicht deckungsgleich4:
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Das UmwStG befasst sich nur mit solchen Umwandlungen, die einen Vermögensübergang bewirken, also grds. nicht mit dem Formwechsel; dieser hat keine steuerlichen Folgen, weil der Rechtsträger seine rechtliche und wirtschaftliche Identität behält und lediglich sein Rechtskleid ändert (s. Rz. 40 f.). Den Formwechsel einer Kapitalgesellschaft oder Genossenschaft in eine Personengesellschaft (§ 1 III UmwStG) und den Formwechsel einer Personenhandelsgesellschaft in eine Kapitalgesellschaft (§ 25 UmwStG) behandelt das UmwStG jedoch insoweit abweichend vom UmwG wie einen Fall des Vermögensübergangs. Diese Abweichung ist nach der steuerrechtlichen Systematik erforderlich, weil in diesen Fällen des Formwechsels das Steuersubjekt wechselt (§§ 1 I; 3 I KStG; s. § 11 Rz. 23 ff.). Andererseits regelt das UmwStG – teilweise über das UmwG hinaus – auch die Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils in eine Kapitalgesellschaft (§§ 20 ff. UmwStG) oder in eine Personengesellschaft (§ 24 UmwStG). Vor seiner Neufassung durch das SEStEG5 erfasste das UmwStG fast ausschließlich inländische Umwandlungsvorgänge6. Es entsprach damit nicht mehr den europäischen Anforderungen, die sich aus geändertem EU-Recht7 und der EuGH-Rspr. ergeben8, und musste daher von seinem Anwendungsbereich her europäisiert werden9. Mit der Neufassung des UmwStG durch das SEStEG trägt der Gesetzgeber der Notwendigkeit zur Europäisierung des Umwandlungssteuer1 Zur Grunderwerbsteuer als Umstrukturierungshindernis Fuhrmann, KÖSDI 2005, 14591; Neitz/Lange, Ubg. 2010, 17; zur Einführung der sog. Konzernklausel nach § 6a GrEStG, die Umstrukturierungen im Konzern erleichtern soll, BMF BStBl. I 2010, 1321; I 2011, 673; dazu insb. auch Stadler/Schaflitzl, DB 2009, 2621; Wischott/Schönweiß, DStR 2009, 2638; Behrens, Ubg. 2010, 845; Wälzholz, GmbH-StB 2010, 108; Klass/Möller, BB 2011, 407; Schaflitzl/Götz, DB 2011, 374. 2 Vgl. § 9 Rz. 430 ff. Dazu insb. auch BT-Drucks. 12/6885, 22; Rödder, DStJG 25 (2002), 253; Wassermeyer, BB 1994, 1; Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 1 ff. 3 Vgl. dazu Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 5 ff. Der Gesetzgeber hat darüber hinaus außerdem klargestellt (BT-Drucks. 12/6885, 14), dass das UmwStG dazu dient, betriebswirtschaftlich erwünschte Umstrukturierungen nicht durch steuerrechtliche Folgen zu behindern. Diesem Ziel ist im Rahmen der teleologischen Gesetzesinterpretation (dazu § 5 Rz. 46 ff.) angemessen Rechnung zu tragen. 4 S. Widmann/Mayer, Vor § 1 UmwStG Rz. 2, 16. 5 Vgl. Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 24 ff. 6 Ausnahme: § 23 UmwStG a.F. für bestimmte Einbringungsvorgänge innerhalb der EU. 7 Möglichkeit der grenzüberschreitenden und ertragsteuerlichen Verschmelzung einer SE. 8 Vgl. insb. die Entscheidungen Lasteyrie du Saillant, EuGH v. 11.3.2004 – C-9/02, DStR 2004, 551; N, EuGH v. 7.9.2006 – C-479/04, DStR 2006, 1691; X und Y, EuGH v. 21.11.2002 – C-436/00, DStRE 2003, 400; Sevic Systems, EuGH v. 13.12.2005 – C-411/03, DStR 2006, 49. 9 Vgl. dazu insb. Rödder/Schumacher, DStR 2006, 1525; Rödder/Schumacher, DStR 2007, 369.
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Umwandlungen im Inland
Rz. 48
§ 14
rechts Rechnung1. Nach § 1 I 1 Nrn. 1 und 2 UmwStG erstreckt sich das Gesetz grds. auch auf „vergleichbare ausländische Vorgänge“ und erfasst daher nicht nur reine Auslandsumwandlungen, sondern auch grenzüberschreitende Umwandlungen in der EU/EWR2. Eine Globalisierung ist entgegen den ursprünglichen Entwürfen des BMF nicht erfolgt, so dass insoweit erhebliche Lücken bleiben3. Nach § 2 I UmwStG sind Einkommen, Vermögen und die gewerbesteuerliche Bemessungsgrundlage so zu ermitteln, als ob das Vermögen der Körperschaft mit Ablauf des Stichtags der Bilanz, die dem Vermögensübergang zugrunde liegt (steuerlicher Übertragungsstichtag), ganz oder teilweise auf den übernehmenden Rechtsträger übergegangen wäre4. § 2 UmwStG lässt insoweit aus Vereinfachungsgründen die sog. steuerliche Rückwirkung zu und ermöglicht es damit, die steuerlichen Wirkungen der Umwandlung grds. auf einen Zeitpunkt zurückzubeziehen, der bis zu acht Monate vor der Anmeldung zum Handelsregister liegt (§ 17 II 2 UmwG). Durch § 2 IV 3 ff. UmwStG wird die Rückwirkung versagt, um der missliebigen Verrechnung von Verlusten und Zinsvorträgen entgegenzuwirken5. Mit Wirkung ab dem steuerlichen Übertragungsstichtag tritt der übernehmende Rechtsträger grds. in die steuerliche Rechtsstellung der Überträgerin ein (§§ 4 II, 12 III, 15 I, 18 UmwStG). Die Finanzverwaltung schränkt diesen Grundsatz entgegen Wortlaut und Zweck allerdings ein6.
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2. Umwandlungen im Inland 2.1 Vermögensübergang auf eine Personengesellschaft oder eine natürliche Person (§§ 3–10 UmwStG)7 2.1.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer Der 2. Teil des Umwandlungssteuergesetzes (§§ 3–10) regelt die ertragsteuerlichen Folgen der Verschmelzung einer Körperschaft auf eine Personenhandelsgesellschaft oder eine natürliche Person (den Alleingesellschafter, s. § 3 I UmwStG; § 3 II Nr. 2 UmwG). Diese Vorschriften gelten entsprechend für den Formwechsel einer Kapitalgesellschaft oder Genossenschaft in eine Personengesellschaft (§ 9 UmwStG) und für die Aufspaltung und Abspaltung des Vermögens einer Körperschaft auf eine Personenhandelsgesellschaft (§ 16 UmwStG).
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Danach hat die übertragende Körperschaft die Wirtschaftsgüter in ihrer Schlussbilanz grds. mit dem gemeinen Wert anzusetzen (§ 3 I UmwStG)8. Sie kann jedoch unabhängig von der Bewertung in der Handelsbilanz9 einheitlich auf Antrag insb. dann auch die Buchwerte oder Zwischenwerte ansetzen (§ 3 II UmwStG), wenn die übergehenden Wirtschaftsgüter Betriebs-
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1 Vgl. i.E. Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 13. 2 Vgl. auch UmwSt-Erlass, Randnr. 01.20, dazu Hahn, Ubg. 2012, 738. 3 Vgl. krit. dazu mit Recht Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 124 ff. Vgl. auch Schnitger/Rometzki, FR 2006, 845; Binnewies, GmbHStB 2007, 117; Schmidtmann, IStR 2007, 229. 4 Vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 02.02; dazu insb. Dietrich/Kaeser in FGS/BDI, UmwSt-Erlass 2011, 2012, 83 ff.; Beneke, GmbHR 2012, 113; außerdem grds. auch van Lishaut in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 10 ff., § 2 UmwStG. 5 Dazu Behrendt/Klages, BB 2013, 1815; Viebrock/Loose, DStR 2013, 1364; Melan/Wecke, DB 2014, 1447. 6 Vgl. dazu auch UmwSt-Erlass, Randnr. Org 03; van Lishaut in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, § 2 UmwStG Rz. 38 ff.; zur Bedeutung für das gewerbesteuerliche Schachtelprivileg Ernst, Ubg. 2012, 678. Nach Auffassung des BFH (Urt. v. 16.4.2014 – I R 44/13, BFH/NV 2014, 1402) kommt eine Besitzzeitanrechnung im Rahmen des § 9 Nr. 2a GewStG insb. auch bei einem qualifizierten Anteilstausch (§ 21 UmwStG) nicht in Betracht. Dazu auch Mattern, DStR 2014, 2376. 7 UmwSt-Erlass, Randnr. 03.01; dazu auch Kutt/Carstens in FGS/BDI, 123 ff.; Stimpel, GmbHR 2012, 123; Förster/Felchner, DB 2006, 1072; Klingebiel, Der Konzern 2006, 600; Müller/Maiterth, WPg. 2007, 249; Ott, StuB 2007, 163; Strahl, KÖSDI 2007, 15513; Stimpel, GmbH-StB 2008, 74. 8 Vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 03.07; dazu insb. Bogenschütz, Ubg. 2011, 393; Drosdzol, DStR 2011, 1258; Kutt/Carstens in FGS/BDI, 133 ff.; Schumacher/Neitz-Hackstein, Ubg. 2011, 409. 9 Zur Eigenständigkeit des § 3 I UmwStG als steuerliche Ansatz- und Bewertungsvorschrift vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 03.04; dazu auch Kutt/Carstens in FGS/BDI, 128 ff.
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§ 14
Rz. 49
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
vermögen der übernehmenden Personengesellschaft oder natürlichen Person werden, eine Gegenleistung nicht gewährt wird oder nur in Gesellschaftsrechten besteht und die deutsche Besteuerung sichergestellt bleibt. Sie hat also, wenn ihre stillen Reserven nach der Übertragung steuerlich verstrickt bleiben (s. auch § 9 Rz. 438 ff.), ein Wahlrecht, ob sie die stillen Reserven ganz oder teilweise aufdecken und einen entsprechenden Übertragungsgewinn realisieren will, der der Körperschaftsteuer unterliegt oder die Buchwerte fortführen will. 49
Der übernehmende Rechtsträger hat die auf ihn übergegangenen Wirtschaftsgüter mit den Schlussbilanzwerten zu übernehmen (§ 4 I UmwStG) und tritt außerdem grds. in die Rechtsstellung der übertragenden Körperschaft ein (§ 4 II UmwStG1). Verluste gehen nach § 4 II 2 UmwStG aber nicht über. Der „Verlust von Verlusten“ kann durch eine Aufstockung der Buchwerte zwar zumindest partiell vermieden werden. Soweit die Mindestbesteuerung greift (§ 10d II EStG), fallen Verluste jedoch endgültig weg, was zu einer Verletzung des Nettoprinzips führt2.
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Den Gesellschaftern der umgewandelten Kapitalgesellschaft werden nach § 7 UmwStG anteilig Einkünfte aus Kapitalvermögen in Höhe des ausschüttbaren Gewinns zugerechnet3. Diese Einkünfte unterliegen nach §§ 43 I Nr. 1; 43a I Nr. 1 EStG einer Kapitalertragsteuer i.H.v. 25 %, die mit dem Wirksamwerden der Umwandlung entsteht. Darüber hinaus kann sich beim Gesellschafter ein Übernahmegewinn oder Übernahmeverlust als Differenz zwischen dem Buchwert des Anteils und dem anteiligen Wert des übernommenen Buchwerts ergeben (§ 4 IV UmwStG). – Ein Übernahmegewinn, der sich insb. um einen Sperrbetrag nach § 50c EStG erhöhen und um die nach § 7 UmwStG separat besteuerten Einkünfte vermindern kann (§ 4 V UmwStG), wird bei als Mitunternehmern beteiligten Kapitalgesellschaften nach § 8b KStG, bei natürlichen Personen nach §§ 3 Nr. 40; 3c II EStG besteuert. – Ein Übernahmeverlust bleibt nach § 4 VI UmwStG außer Ansatz, was zumindest dann zu einer systematisch problematischen Vernichtung von Anschaffungskosten führt, wenn Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen voll steuerpflichtig sind4. Durch teleologische Reduktion ist sicherzustellen, dass der Übernahmeverlust aus einer späteren Veräußerung des Mitunternehmeranteils berücksichtigt wird5.
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Haben zwischen umgewandelter Körperschaft und Übernehmerin Rechtsbeziehungen bestanden, so erlöschen bestehende Forderungen und Verbindlichkeiten infolge der durch die Umwandlung eintretenden Vereinigung der Vermögen (Konfusion). Waren die Wertansätze von Forderungen und Verbindlichkeiten unterschiedlich hoch, z.B. infolge einer Wertberichtigung der Forderungen, so kann ein sog. Umwandlungsfolgegewinn entstehen, der gem. § 6 I 1 UmwStG durch eine steuerfreie Rücklage neutralisiert werden kann6. Die Besteuerung wird dadurch allerdings nur in die Zukunft verlagert, weil die Rücklage in den folgenden drei Jahren gewinnerhöhend aufgelöst werden muss (§ 6 I 2 UmwStG). Einstweilen frei.
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1 Dazu i.E. UmwSt-Erlass, Randnr. 04.09; vgl. auch Kutt/Carstens in FGS/BDI, 164 ff. 2 Vgl. Strahl, KÖSDI 2007, 15513 (15516); Schaflitzl/Widmayer, BB 2006, Special 8 zu Heft 44, 41. 3 Vgl. dazu auch Beneke/Schnitger, Ubg. 2011, 1. Zur Frage, ob die Einlagefiktion des § 5 II, III UmwStG auf § 7 UmwStG durchschlägt, enthält auch der UmwSt-Erlass unmittelbar keine Antwort. Vgl. dazu insb. Bogenschütz, Ubg. 2011, 393 (406); Ott, StuB 2011, 771 (776); Cordes/Dremel/Carstens in FGS/BDI, 217; Förster/Felchner, DB 2008, 2445. 4 Vgl. Hey, GmbHR 2001, 996; Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 58; Strahl, KÖSDI 2007, 15513 (15519) m.w.N.; van Lishaut in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, § 4 UmwStG Rz. 124. 5 Vgl. Strahl, KÖSDI 2007, 15519. Vgl. jedoch BFH v. 12.7.2012 – IV R 29/09, BStBl. 2012, 728; v. 12.7. 2012 – IV R 12/11, BFH/NV 2013, 200. 6 Vgl. auch UmwSt-Erlass, Randnr. 06.02 ff. Dazu auch Bron, DStZ 2012, 609.
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Umwandlungen im Inland
Rz. 60
§ 14
2.1.2 Gewerbesteuer Soweit sich bei Umwandlung einer Kapitalgesellschaft in eine Personengesellschaft bei der übertragenden Kapitalgesellschaft ein Übertragungsgewinn i.S.d. § 3 UmwStG ergibt, ist dieser Übertragungsgewinn entsprechend § 18 I UmwStG gewerbesteuerlich voll zu erfassen. Ein gewerbesteuerlicher Verlustvortrag nach § 10a GewStG geht nicht auf die übernehmende Personengesellschaft über (§ 18 I 2 UmwStG)1.
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Soweit sich bei der übernehmenden Personengesellschaft ein Übernahmegewinn oder -verlust ergibt, ist er gem. § 18 II UmwStG nicht zu erfassen2. Erfolgt innerhalb von fünf Jahren eine Veräußerung oder eine Betriebsaufgabe, unterliegt ein Auflösungs- oder Veräußerungsgewinn jedoch gem. § 18 III UmwStG der Gewerbesteuer3, wobei systemwidrig auch neu gebildete oder im Betrieb des aufnehmenden Rechtsträgers bereits vorhandene stille Reserven erfasst werden sollen4.
56
Einstweilen frei.
57
2.1.3 Grunderwerbsteuer Soweit Grundvermögen auf die übernehmende Personengesellschaft übergeht, entsteht gem. § 1 I Nr. 3 GrEStG Grunderwerbsteuer, soweit die Voraussetzungen des § 6a GrEStG nicht erfüllt sind5. Bemessungsgrundlage ist gem. § 8 II Nr. 2 GrEStG der Grundbesitzwert i.S.d. § 138 II, III BewG. Der Steuersatz beträgt gem. § 11 II GrEStG 3,5 %, wobei die Bundesländer mit Ausnahme von Bayern und Sachsen nach Art. 105 IIa GG zwischenzeitlich höhere Steuersätze festgesetzt haben6. Grunderwerbsteuer entsteht darüber hinaus auch dann, wenn die übertragende Körperschaft zu mindestens 95 % an einer Personen- oder Kapitalgesellschaft beteiligt ist, die über Grundvermögen verfügt (§ 1 IIa, III GrEStG)7.
58
Einstweilen frei.
59
2.2 Vermögensübertragung auf eine andere Körperschaft 2.2.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer Im Falle der Vermögensübertragung von einer Körperschaft auf eine andere Körperschaft gelten für die Verschmelzung und die Vermögensübertragung (Vollübertragung) die §§ 11–13 UmwStG. Für die Auf- und Abspaltung sowie die Teilübertragung gelten die §§ 11–13 1 Vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 18.01; dazu auch Möllmann/Carstens in FGS/BDI, 299. 2 Vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 18.02. 3 Die Gewerbesteuer entsteht auch dann im Zeitpunkt der Betriebsveräußerung, wenn der Veräußerungspreis in Form wiederkehrender Bezüge gezahlt wird. Vgl. BFH-Urt. v. 17.7.2013 – X R 40/10, BStBl. 2013, 883. 4 Vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 18.09; BFH-Urt. v. 28.2.2013 – IV R 33/09, BFH/NV 2013, 1122; dazu auch Salzmann, DStR 2013, 1327; außerdem auch Trossen in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, § 18 UmwStG Rz. 57; Neu/Hamacher, GmbHR 2012, 280 (283 ff.); zu den überschießenden Wirkungen bei Inbound-Investments Kraft, IStR 2012, 528. 5 Vgl. dazu Gleichlautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder, BStBl. I 2012, 662; dazu insb. auch Behrens, DStR 2012, 2149; Jorde/Trinkaus, Ubg. 2012, 649; Lieber/Wagner, DB 2012, 1772; Behrens, DStR 2013, 2726; Stangl/Aichberger, DB 2013, 2762. Zur besonderen Problematik bei Umstrukturierungen im Ausland Pirner/Könemann, IStR 2013, 423; zu grenzüberschreitenden Umstrukturierungen Karla/Figatowski, Ubg. 2014, 439; zur Abzugsfähigkeit Gadek/Mörwald, DB 2012, 2010. 6 Vgl. die Übersicht DATEV LEXinform Dok.-Nr. 0922952 mit einem Höchstsatz von zzt. 6,5 % in Schleswig-Holstein. 7 In Bezug auf § 1 III GrEStG hat der BFH für den Fall mittelbarer Anteilsvereinigungen klargestellt, dass auf jeder Ebene die 95 %-Grenze maßgeblich ist. Vgl. BFH BStBl. 2011, 225. In Bezug auf § 1 IIa GrEStG ist dies aber noch nicht abschließend geklärt. Vgl. allerdings Oberste Finanzbehörden der Länder, BStBl. I 2010, 245; dazu Grieser/Wirges, DStR 2011, 847.
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§ 14
Rz. 61
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
UmwStG grds. entsprechend (§ 15 I 1 UmwStG). Ergänzend sind jedoch zusätzliche Voraussetzungen und Restriktionen zu beachten (§ 15 I 2, II, III UmwStG).
2.2.1.1 Grundsätze1 61
Die übertragende Körperschaft, die nach Auffassung der Finanzverwaltung verpflichtet ist, auf den steuerlichen Übertragungsstichtag eine eigenständige steuerliche Schlussbilanz zu erstellen und abzugeben2, hat die übergehenden Wirtschaftsgüter gem. § 11 I UmwStG grds. mit dem gemeinen Wert anzusetzen. Dadurch tritt regelmäßig eine Gewinnrealisierung ein, die der Körperschaftsteuer unterliegt. Auf Antrag3 können jedoch einheitlich auch die Buchwerte oder Zwischenwerte angesetzt werden, soweit insb. die deutsche Besteuerung sichergestellt bleibt4 und eine Gegenleistung nicht gewährt wird oder in Gesellschaftsrechten besteht (§ 11 II UmwStG). Eine Gewinnrealisierung wird dadurch ganz oder teilweise vermieden.
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Die übernehmende Kapitalgesellschaft hat die auf sie übergehenden Wirtschaftsgüter grds. mit den Schlussbilanzansätzen der übertragenden Körperschaft zu übernehmen (§ 12 I UmwStG) und tritt insoweit grds. in die Rechtsstellung der übertragenden Körperschaft ein (§ 12 III UmwStG). Eine Maßgeblichkeit der Wertansätze in der Handelsbilanz besteht nicht5. Steuerliche Verlustvorträge, verrechenbare Verluste und nicht ausgeglichene negative Einkünfte gehen gem. § 12 III 2 i.V.m. § 4 II 2 UmwStG allerdings nicht über6. Soweit die Übernehmerin an der übertragenden Gesellschaft beteiligt ist, kann sich gem. § 12 II 1 UmwStG bei einer Verschmelzung auf die Mutter (up-stream-merger) ein Übernahmegewinn oder -verlust (Differenz zwischen Buchwert der Anteile an der übertragenden Gesellschaft und dem Wert, mit dem die übergegangenen Wirtschaftsgüter zu übernehmen sind) ergeben. Nach § 12 II 1 UmwStG bleibt ein Übernahmegewinn oder -verlust außer Ansatz, und zwar nach Auffassung der Finanzverwaltung unabhängig davon, ob eine Aufwärts-, Seitwärts- oder Abwärtsverschmelzung erfolgt7. § 12 II 1 UmwStG setzt indessen das Vorhandensein eines Buchwerts für die Beteiligung an der Übertragerin voraus, so dass § 12 II 1 UmwStG insb. im Falle des down-stream-mergers nicht anzuwenden ist. Es gelten vielmehr Einlagegrundsätze, so dass insb. die Kosten des Vermögensübergangs abzugsfähig sind8. Soweit steuerwirksame Teilwertabschreibungen durchgeführt oder steuerfreie Rücklagen gebildet wurden, kann sich jedoch eine Steuerbelastung ergeben (§ 12 II 2 1 Zu den besonderen Fragen bei Organschaftsverhältnissen UmwSt-Erlass, Randnr. Org 01 ff; dazu i.E. Rödder/Jonas/Montag in FGS/BDI, 555 ff.; darüber hinaus auch Vogel, Ubg. 2010, 618 ff.; Dötsch, Ubg. 2011, 20; Gebert, DStR 2011, 102; Heurung/Engel, BB 2011, 151; Heurung/Engel/Thiedemann, Der Konzern 2012, 16; insb. zu Mehrabführungen Heerdt, DStR 2009, 938; Lohmann/Heerdt, Ubg. 2011, 91; Olbing, GmbH-Stb 2012, 188; Suchanek/Schaaf/Hannweber, Ubg. 2012, 223. 2 Vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 11.02; dazu insb. auch Demuth, KÖSDI 2012, 17784; Rödder/SchmidtFehrenbacher in FGS/BDI, 228 ff. 3 Dazu i.E. UmwSt-Erlass, Randnr. 11.12 i.V.m. Rz. 03.28; vgl. auch Demuth, KÖSDI 2012, 17784 (17787). 4 Zur europarechtlichen Problematik einer fehlenden Stundungsregelung Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, § 11 Rz. 130; außerdem auch unten Rz. 83. 5 Vgl. UmwSt-Erlass Randnr. 12.02 i.V.m. 04.04. Dazu auch Demuth, KÖSDI 2012, 17784 (17791). 6 In diesen Fällen ist die Aufdeckung stiller Reserven in Erwägung zu ziehen, wobei allerdings die Mindestbesteuerung nach § 10d II EStG zu beachten ist. Eine alternative Verschmelzung auf die Verlustgesellschaft kann im Hinblick auf § 8c KStG (Gesellschafterwechsel) problematisch sein. Vgl. auch BFH-Urt. v. 18.12.2013 – I R 25/12, BFH/NV 2014, 904; dazu Ott, StuB 2014, 488. Steuerpolitisch ist die Abschaffung des Übergangs von Verlustvorträgen außerordentlich fragwürdig. Vgl. dazu Maiterth/Müller, DStR 2006, 1861 ff.; Dörfler/Wittkowski, GmbHR 2007, 352; insb. Rödder in Rödder/ Herlinghaus/van Lishaut2, § 12 UmwStG Rz. 108 ff. m.w.N. Vgl. dazu auch Kessler/Weber/Aberle, Ubg. 2008, 209. 7 Vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 12.05; entsprechend auch Dötsch in Dötsch/Jost/Pung/Witt, KStG, § 12 UmwStG Rz. 32. 8 Vgl. insb. Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, § 12 UmwStG Rz. 64; Rödder/Schaden, Ubg. 2011, 40 (43); Rogall, NZG 2011, 813; Schumacher/Neitz-Hackstein, Ubg. 2011, 414; Demuth, KÖSDI 2012, 17784 (17792).
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Umwandlungen im Inland
Rz. 65
§ 14
UmwStG). Eine Steuerbelastung kann sich bei einem Übernahmegewinn auch ergeben, soweit § 8b KStG anzuwenden ist (§ 12 II 2 UmwStG)1. Für die Anteile an der übertragenden Gesellschaft, die im Betriebsvermögen liegen oder im Privatvermögen gem. § 17 EStG bzw. nach § 21 UmwStG a.F. als einbringungsgeborene Anteile steuerverstrickt sind2, gilt grds. die Fiktion einer Veräußerung und Anschaffung zum gemeinen Wert (§ 13 I UmwStG)3. Auf Antrag können jedoch gem. § 13 II UmwStG auch die Buchwerte oder die Anschaffungskosten angesetzt werden, wenn das deutsche Besteuerungsrecht für Veräußerungsgewinne nicht ausgeschlossen oder beschränkt wird (§ 13 II UmwStG). Für alle übrigen Anteile ist grds. § 20 IVa Satz 1 u. 2 EStG anzuwenden4.
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2.2.1.2 Zusätzliche Voraussetzungen und Restriktionen bei Spaltung und Teilübertragung Gegenüber der Verschmelzung ist die Steuerneutralität von Spaltungen und Teilübertragungen an zusätzliche Voraussetzungen und Restriktionen geknüpft5.
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a) Teilbetriebserfordernis Die sinngemäße Anwendung der §§ 11 ff. UmwStG setzt nach § 15 I 2 UmwStG voraus, dass ein Teilbetrieb übertragen wird und im Falle der Abspaltung oder Teilübertragung bei der übertragenden Körperschaft ein Teilbetrieb verbleibt (sog. doppeltes Teilbetriebserfordernis)6. Bislang war nach übereinstimmender Auffassung von Finanzverwaltung und BFH7 wie bei § 16 EStG grds. auch bei der Auslegung des § 15 UmwStG ein Teilbetrieb anzunehmen, wenn ein mit gewisser Selbstständigkeit ausgestatteter, organisatorisch geschlossener Teil eines Gesamtbetriebs vorliegt, der für sich alleine lebensfähig ist. Nach Auffassung der Finanzverwaltung soll nunmehr jedoch der europäische Teilbetriebsbegriff8 zugrunde zu legen sein. Danach ist ein Teilbetrieb „die Gesamtheit der in einem Unternehmensteil einer Gesellschaft vorhandenen aktiven und passiven Wirtschaftsgüter, die in organisatorischer Hinsicht einen selbstständigen Betrieb, d.h. eine aus eigenen Mitteln funktionsfähige Einheit, darstellen“. Mit diesem geänderten Begriffsverständnis setzt die Finanzverwaltung sich nicht nur über die Ziele des Gesetzgebers hinweg, der die Regelungen zur Spaltung „im Grundsatz materiell unverändert“ fortführen wollte9. Sie zieht aus einem geänderten Begriffsverständnis, das weder im Wortlaut noch im Zweck des Gesetzes begründet ist und i.Ü. auch durch den BFH nicht geteilt wird10, so weitreichende kasuistische und restriktive Folgerungen für die Abgrenzung des Teilbetriebs und die Zuordnung von aktiven und passiven Wirtschaftsgütern, dass in der Gesetzesanwendung unvorhersehbare und willkürliche Rechtsfolgen entstehen, die die mit dem Gesetz angestrebte Erleichterung von Strukturmaßnahmen11 obsolet werden lassen und völlig konterkarieren12. 1 Dies soll insb. für die Pauschalierung von Betriebsausgaben nach § 8b III KStG gelten. Differenziert und zu Recht krit. dazu insb. Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, § 12 UmwStG Rz. 82 ff. 2 Vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 13.01. 3 Dazu i.E. Förster/Hölscher, Ubg. 2012, 729. 4 Vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 13.01. Differenzierend dazu Rödder/Schmidt-Fehrenbacher in FGS/ BDI, 262 ff. 5 Vgl. auch R. Neumann, GmbHR 2012, 141; Stahl, KÖSDI 2012, 17815. Zur Ermittlung eines Übernahmeergebnisses BFH v. 9.1.2013 – IR 34/12, BFH/NV 2013, 881; dazu auch Riepolt, StuB 2014, 96. 6 Vgl. Heurung/Engel/Schröder, GmbHR 2011, 617. 7 Vgl. BFH BStBl. 2011, 467 Rz. 22. 8 Vgl. Art 2 lit. j der RL 2009/133/EG, AB/EG Nr. L 10, 34 und UmwSt-Erlass, Randnr. 15.02. 9 Vgl. die Gesetzesbegr. in BT-Drucks. 16/2710, 35. 10 Vgl. BFH BStBl. 2011, 467 Rz. 67. 11 Vgl. grds. bereits BT-Drucks. 12/6885, 14 zu UmwStG 1995. 12 Dazu auch Köhler, DB 2012, Gastkomm. in Heft 4 (DB0465187); Goebel/Ungemach, DStR 2012, 353; Prinz/Hütig, StuB 2012, 484. Krit. zum geänderten Teilbetriebsbegriff insb. Schumacher/Bier in FGS/BDI, 270 ff.; andererseits auch Rasche, GmbHR 2012, 149 (152 ff.).
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65
§ 14
Rz. 66
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
Nach dem UmwSt-Erlass 2011 sind bei der Zuordnung von Wirtschaftsgütern drei Kategorien zu unterscheiden: – Funktional wesentliche Betriebsgrundlagen sind dem Teilbetrieb zuzuordnen (Randnr. 15.02), so dass z.B. bei gemischter Nutzung ein Spaltungshindernis besteht (Randnr. 15.08) und Grundstücke ggf. real aufzuteilen sind. – Zuzuordnen sind auch funktional nicht wesentliche Betriebsgrundlagen, wenn sie „nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten“ zuordenbar sind (Randnr. 15.02). – Wirtschaftsgüter, die nicht zuordenbar sind, können „echten“ Teilbetrieben frei (Randnr. 15.09), fiktiven Teilbetrieben hingegen nicht zugeordnet werden (Randnr. 15.11). Maßgebend für die Zuordnung soll in zeitlicher Hinsicht der steuerliche Übertragungsstichtag sein (Randr. 15.03), was dem Gesetz ebenso wenig zu entnehmen ist1 wie die in sachlicher Hinsicht maßgeblichen Kriterien für die wirtschaftliche Zuordnung2. Der Erlass löst sich auch insofern vollständig vom Gesetzeswortlaut und vom Gesetzeswerk und wird daher weder den rechtssystematischen Grundanforderungen noch den praktischen Bedürfnissen an konsistenten und vorsehbaren Regelungen gerecht.
b) Missbrauchsverhinderung 66
Zur Verhinderung von Missbräuchen schränkt § 15 II UmwStG die grundsätzliche Anwendung der §§ 15 I; 11 ff. UmwStG ein. Nach § 15 II 1 UmwStG ist eine steuerneutrale Spaltung ausgeschlossen, wenn ein „fiktiver“ Teilbetrieb (Mitunternehmeranteil oder eine 100 %-Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft) innerhalb von drei Jahren vor dem steuerlichen Übertragungsstichtag durch Übertragung von Wirtschaftsgütern, die kein Teilbetrieb sind, erworben oder aufgestockt worden sind3. Nach § 15 II 2 UmwStG ist eine steuerneutrale Spaltung durch die sog. Nachspaltungs-Veräußerungssperre auch dann ausgeschlossen, wenn durch die Spaltung die Veräußerung an außen stehende Personen vollzogen wird oder wenn die Voraussetzungen für eine Veräußerung geschaffen werden (§ 15 II 2 ff. UmwStG)4.
2.2.2 Gewerbesteuer 67
Gewerbesteuerlich gelten die §§ 11–13; 15 UmwStG gem. § 19 I UmwStG entsprechend. Das bedeutet, dass der Übertragungsgewinn grds. der Gewerbesteuer unterliegt, während der Übernahmegewinn nicht erfasst wird5. Gewerbeverluste gehen grds. nicht über (§ 19 II UmwStG)6.
2.2.3 Grunderwerbsteuer 68
Soweit die übertragende Gesellschaft Grundstücke hat oder mindestens 95 % der Anteile an einer Gesellschaft hält, die über Grundbesitz verfügt, fällt Grunderwerbsteuer an (§ I, II, IIa GrEStG), soweit die Voraussetzungen des § 6a GrEStG nicht erfüllt sind7. 1 Vgl. dazu Stangl/Grundke, DB 2010, 1851; Kessler/Philipp, DStR 2011, 1065. 2 Vgl. Schumacher/Bier in FGS/BDI, 272 ff. 3 Vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 15.15 ff. Dazu i.E. auch R. Neumann, GmbHR 2012, 141 (147); Schumacher/Bier in FGS/BDI, 281 ff. 4 Vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 15.22 ff.; dazu auch R. Neumann, GmbHR 2012, 141 (147); Schumacher/ Bier, 284 ff. 5 Vgl. dazu i.E. Schmitt/Hörtnagl/Stratz6, § 19 UmwStG Rz. 8, 14; Trossen in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, § 19 UmwStG Rz. 15 ff. 6 Zur Behandlung von Gewerbeverlusten einer Personengesellschaft, deren Gesellschafter auf eine andere Kapitalgesellschaft verschmolzen wird, Behrendt/Arjes, DStR 2008, 811. 7 Vgl. Rz. 58.
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Umwandlungen im Inland
Rz. 72
§ 14
2.3 Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils in eine Kapitalgesellschaft gegen Gewährung von Gesellschaftsanteilen (§§ 20–23, 25 UmwStG)1 2.3.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer Ein Betrieb, Teilbetrieb2 oder Mitunternehmeranteil kann wie folgt nach § 20 UmwStG in eine Kapitalgesellschaft gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten eingebracht werden:
69
– durch Verschmelzung, Aufspaltung und Abspaltung (aus) einer Personenhandelsgesellschaft sowie durch deren Formwechsel (s. § 25 UmwStG); – durch Ausgliederung (s. §§ 124 I; 3 I UmwG) aus einer Personenhandelsgesellschaft, einer Körperschaft oder aus dem Vermögen eines Einzelkaufmanns; – außerhalb des Umwandlungsgesetzes: – durch Einzelrechtsnachfolge (Einzelübertragung der Wirtschaftsgüter) auf die Kapitalgesellschaft; – durch Anwachsung gem. § 738 BGB (Beispiel: Alle Kommanditisten einer GmbH & Co. KG scheiden aus der Gesellschaft aus). Die aufnehmende Kapitalgesellschaft hat das eingebrachte Betriebsvermögen in ihrer Steuerbilanz3 grds. mit dem gemeinen Wert anzusetzen (§ 20 II 1 UmwStG). Der gemeine Wert gilt für den Einbringenden als Veräußerungspreis und Anschaffungskosten der Anteile (§ 20 III UmwStG), so dass Gewinnrealisierung eintritt und die stillen Reserven unter den Voraussetzungen des § 20 IV UmwStG nach §§ 16 IV; 34 I, III EStG oder nicht begünstigt nach den allgemeinen Grundsätzen zu versteuern sind4.
70
Auf Antrag der Übernehmerin5 kann das eingebrachte Betriebsvermögen unter bestimmten Voraussetzungen6 jedoch einheitlich auch mit dem Buchwert oder einem Zwischenwert angesetzt (§ 20 II 2 u. 4 UmwStG) und die Gewinnrealisierung dadurch ganz oder teilweise vermieden werden. Die Übernehmerin tritt grds. in die Rechtsstellung des Einbringenden ein (§ 23 I u. III UmwStG). Die erworbenen Anteile gelten abzüglich anderer Gegenleistungen als mit den Einbringungswerten angeschafft und bleiben nach § 17 VI EStG weiterhin steuerverhaftet. Dadurch entstehen zusätzlich zu den stillen Reserven der eingebrachten Wirtschaftsgüter auch in den als Gegenleistung erhaltenen Gesellschaftsrechten, den Anteilen an der Kapitalgesellschaft, entsprechende stille Reserven. Diese Verdoppelung wird jedoch idealtypisch über sieben Jahre systematisch konsequent, aber in einem hochkomplexen und mit außerordentlichen Nachweisanforderungen verbundenen Verfahren wieder abgebaut7. Werden die als Gegenleistung erhaltenen oder die eingebrachten innerhalb der Frist von sieben Jahren veräußert, ist grds. wie folgt zu differenzieren:
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Erfolgt innerhalb von sieben Jahren nach dem Einbringungszeitpunkt eine Veräußerung der – erhaltenen – Anteile, die nicht zum gemeinen Wert angesetzt wurden, ist der Gewinn aus der Einbringung rückwirkend im Wirtschaftsjahr der Einbringung als sog. Einbringungsgewinn I nach § 16 EStG zu versteuern, wobei §§ 16 IV; 34 I, III EStG nicht anzuwenden sind (§ 22 I 1
72
1 Vgl. insb. auch Dörfler/Rautenstrauch/Adrian, BB 2007, 1711; Voß, BB 2006, 496; Patt, Der Konzern 2006, 730; Ritzer/Rogall/Stangl, WPg. 2006; 1210; Bauernschmitt/Blöchle, BB 2007, 743; Förster/ Wendland, DB 2007, 631; Herlinghaus, FR 2007, 286; Mitsch, INF 2007, 225; Ott, StuB 2007, 10; Schönherr/Lemaitre, GmbHR 2007, 459; Schröder/Pickhardt-Poremba, DB 2007, 2166; Strahl, KÖSDI 2007, 15442; Langheim, Die Einbringung von Unternehmensteilen nach der Fusionsrichtlinie und ihre Umsetzung im deutschen Umwandlungssteuerrecht, 2008; Rasche, GmbHR 2012, 149. 2 Zum maßgeblichen Teilbetriebsbegriff Rz. 65. 3 Dazu i.E. Kahle/Vogel, Ubg. 2012, 493. 4 Vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 20.25 ff.; dazu i.E. auch Hötzel/Kaeser in FGS/BDI, 352 ff. 5 UmwSt-Erlass, Randnr. 20.25 ff.; dazu i.E. auch Hötzel/Kaeser in FGS/BDI, 346 ff. 6 Zur europarechtlichen Problematik der erzwungenen Gewinnrealisierung unten Rz. 83. 7 Vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 22.28; dazu i.E. auch Stangl/Kaeser in FGS/BDI, 460 ff.
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§ 14
Rz. 73
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
UmwStG)1. Der Einbringungsgewinn I ist dabei die Differenz zwischen dem gemeinen Wert des eingebrachten Vermögens nach Übertragungskosten und dem Einbringungswert, vermindert um jeweils ein Siebtel für jedes seit dem Einbringungszeitpunkt abgelaufene Wirtschaftsjahr (§ 22 I UmwStG). Der Einbringungsgewinn I gilt als nachträgliche Anschaffungskosten (§ 22 I 4 UmwStG), so dass der Gewinn aus der Veräußerung der Anteile, der nach den allgemeinen Regeln besteuert wird (§§ 13 ff. EStG; § 8b KStG), sich mindert2. Die übernehmende Gesellschaft kann den Einbringungsgewinn gewinnneutral als Erhöhungsbetrag ansetzen (§ 23 II UmwStG), soweit das eingebrachte Betriebsvermögen noch zum Betriebsvermögen der übernehmenden Gesellschaft gehört, und das daraus resultierende Abschreibungspotential zukünftig nutzen. Wurde das Betriebsvermögen zum gemeinen Wert übertragen, liegt sofort abziehbarer Aufwand vor. 73
Werden die eingebrachten Anteile innerhalb von sieben Jahren veräußert, ist nach § 22 II UmwStG ein sog. Einbringungsgewinn II zu versteuern, soweit die Anteile im Rahmen einer Sacheinlage nach § 20 I UmwStG unter dem gemeinen Wert eingebracht wurden und der Einbringende keine nach § 8b II KStG begünstigte Person war3.
2.3.2 Gewerbesteuer 74
Soweit ein Einbringungsgewinn entsteht, unterliegt dieser Gewinn bei einem Gewerbebetrieb grds. der Gewerbesteuer, soweit er nicht auf eine natürliche Person entfällt (§ 7 Satz 2 GewStG)4.
2.3.3 Grunderwerbsteuer 75
Soweit Grundstücke auf die Kapitalgesellschaft übergehen, kann gem. § 1 I Nr. 3 GrEStG Grunderwerbsteuer5 entstehen, wenn die Voraussetzungen des § 6a GrEStG nicht erfüllt sind6.
2.4 Anteilstausch (§ 21 UmwStG)7 2.4.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer 76
Werden Anteile an einer Kapitalgesellschaft gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten in eine andere Kapitalgesellschaft eingebracht, sind die Anteile bei der aufnehmenden Gesellschaft grds. mit dem gemeinen Wert anzusetzen (§ 21 I 1 UmwStG). Der gemeine Wert gilt für den Einbringenden als Veräußerungspreis (§ 21 II 1 UmwStG), so dass eine Gewinnrealisierung eintritt, die nach den allgemeinen Regeln zu versteuern ist8. Alternativ kommt insb. dann, wenn die aufnehmende Gesellschaft nach der Einbringung unmittelbar die Mehrheit der Stimmrechte an der erworbenen Gesellschaft hat (sog. qualifizierter Anteilstausch), auch der Ansatz des Buchwertes oder eines Zwischenwertes in Betracht (§ 21 I 2 UmwStG), so dass eine Gewinnrealisierung ganz oder teilweise vermieden werden kann. Der angesetzte Wert gilt für den Einbringenden als Veräußerungspreis und als Anschaffungskosten der erhaltenen Anteile (§ 21 II 1 UmwStG). Erfolgt die Einbringung nicht zum gemeinen Wert, führt eine Veräußerung der eingebrachten Anteile innerhalb von sieben Jahren nach dem Einbringungszeitpunkt beim Einbringenden rückwirkend zu einer Versteuerung des sog. Einbringungsgewinns II (§ 22 II 1 UmwStG). Der Einbringungsgewinn II ergibt sich dabei aus der Differenz zwischen dem gemeinen Wert 1 Vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 22.01 ff.; Pung, GmbHR 2012, 158 ff.; Stangl/Kaeser in FGS/BDI, 386 ff. 2 Vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 22.08 ff.; dazu i.E. auch Stangl, Ubg. 2009, 698; Stangl/Kaeser in FGS/ BDI, 396 ff.; allgemein dazu auch Kessler, Ubg. 2011, 34. 3 Vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 22.12 ff.; dazu auch Stangl/Kaeser in FGS/BDI, 402 ff. 4 Vgl. dazu i.E. Glanegger/Güroff8 § 7 GewStG Anh. Rz. 1275 ff.; Herlinghaus in Rödder/Herlinghaus/ van Lishaut2, § 20 UmwStG Rz. 214. Vgl. auch Rz. 77. 5 Vgl. Rz. 58 Fn. 5. 6 Vgl. dazu Rz. 58. 7 Vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 21.01 ff.; dazu i.E. auch Hageböke/Kröner/Kaeser in FGS/BDI, 362 ff. 8 Vgl. insb. §§ 13; 15; 17; 18; 23 EStG oder § 8b KStG.
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Umwandlungen im Inland
Rz. 80
§ 14
im Einbringungszeitpunkt und dem Einbringungswert, vermindert um jeweils ein Siebtel für jedes seit der Einbringung abgelaufene Wirtschaftsjahr. Der Einbringungsgewinn II erhöht die Anschaffungskosten der erhaltenen Anteile (§ 22 II 4 UmwStG), so dass beim Einbringenden spätere Gewinne aus der Veräußerung der Anteile vermindert bzw. Verluste erhöht werden1. Soweit die Steuer auf den Einbringungsgewinn II entrichtet wird, erhöht dieser Gewinn gleichzeitig die Anschaffungskosten der eingebrachten Anteile (§ 23 II 2 UmwStG) und mindert damit einen in der Regel nach § 8b II KStG zu versteuernden späteren Veräußerungsgewinn.
2.4.2 Gewerbesteuer Soweit der Einbringende gewerbesteuerpflichtig ist, kann sowohl ein bei der Einbringung entstehender Gewinn als auch ein späterer Einbringungsgewinn I oder II der Gewerbesteuer (§ 7 GewStG) unterliegen2.
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2.4.3 Grunderwerbsteuer Hat die Kapitalgesellschaft, deren Anteile eingebracht werden, Grundbesitz, kann die Einbringung zu einer steuerpflichtigen Anteilsvereinigung führen (§ 1 III GrEStG) und damit zu einer Grunderwerbsteuer führen, wenn die Voraussetzungen des § 6a GrEStG nicht erfüllt sind3.
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2.5 Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils in eine Personengesellschaft (§ 24 UmwStG) 2.5.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer4 Ein Betrieb, Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil kann wie folgt nach § 24 UmwStG in eine Personengesellschaft eingebracht werden, wobei der Einbringende Mitunternehmer wird:
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– durch die Umwandlungsarten nach dem Umwandlungsgesetz, die in Rz. 40 f. dargestellt sind; – außerhalb des Umwandlungsgesetzes durch Einzelrechtsnachfolge (Einzelübertragung der Wirtschaftsgüter) auf die Personengesellschaft. Die Anwendung des § 24 UmwStG ist insb. auch dann möglich, wenn ein Einzelunternehmen nach vorheriger Veräußerung wesentlicher Betriebsgrundlagen eingebracht wird5 oder die Einbringung gegen ein sog. Mischentgelt aus Gesellschaftsrechten und einer sonstigen Leistung erfolgt6. Die Personengesellschaft hat das eingebrachte Vermögen grds. mit dem gemeinen Wert anzusetzen (§ 24 II 1 UmwStG), so dass Gewinnrealisierung eintritt und Einkommensteuer (§ 16 EStG) oder Körperschaftsteuer (§ 8 I KStG) anfällt. Dabei ist § 16 IV EStG bei natürlichen Personen dann anzuwenden, wenn nicht Teile von Mitunternehmeranteilen eingebracht werden. Soweit ab 2009 das Teileinkünfteverfahren nicht anzuwenden ist, ist § 34 I, III EStG anwendbar (§ 24 III 2 UmwStG). Alternativ können jedoch auch die Buchwerte oder Zwischenwerte angesetzt werden, wenn das deutsche Besteuerungsrecht für das eingebrachte Betriebsvermögen nicht ausgeschlossen oder beschränkt wird (§ 24 II 2 UmwStG). In diesem Fall wird die Gewinnrealisierung ganz oder teilweise vermieden7. 1 Die Versteuerung erfolgt nach den allgemeinen Regeln (z.B. §§ 13; 15; 17; 18 oder 23 EStG; § 8b KStG). 2 Vgl. dazu i.E. Stangl in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, § 22 UmwStG Rz. 151. 3 Vgl. dazu Rz. 58. 4 Vgl. UmwSt-Erlass, Randnr. 24.01 ff.; dazu i.E. auch Rogall/Gerner in FGS/BDI, 495 ff.; zur Ausbringung eines Teilbetriebs aus einer Mitunternehmerschaft durch „Upstream“-Abspaltung Hageböke, Ubg. 2009, 105; zur Umstrukturierung von Personengesellschaften auch Ley/Brandenberg, Ubg. 2010, 767. 5 BFH-Urt. v. 9.11.2011, BStBl. 2012, 638. 6 BFH-Urt. v. 18.9.2013 – XR 42/10, BFH/NV 2013, 2006; dazu insb. Strahl, Ubg. 2013, 762. 7 Zur Spaltung von Personengesellschaften insb. Franz/Wegener, Ubg. 2008, 608; Hageböke, Ubg. 2009, 105.
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§ 14
Rz. 81
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
2.5.2 Gewerbesteuer 81
Soweit bei der Einbringung ein Gewinn entsteht, unterliegt er der Gewerbesteuer, soweit er nicht auf eine natürliche Person als unmittelbar beteiligter Mitunternehmer entfällt (§ 7 Satz 2 GewStG)1.
2.5.3 Grunderwerbsteuer 82
Soweit Grundstücke oder mindestens 95 % der Anteile an einer Gesellschaft, die Grundbesitz hält, auf die Personengesellschaft übergehen und die Voraussetzung des § 6a GrEStG nicht erfüllt sind2, unterliegt die Übertragung zwar der Grunderwerbsteuer (§ 1 I Nr. 3, IIa 3 GrEStG). Die Grunderwerbsteuer wird jedoch nicht erhoben, soweit Beteiligungsidentität besteht (§§ 6 III, I; 5 GrEStG).
3. Grenzüberschreitende und ausländische Umwandlungen 83
Soweit an einer Umwandlung eine Kapital- oder Personengesellschaft beteiligt ist, die nach dem Recht eines EU- oder EWR-Staates gegründet wurde und Sitz oder Geschäftsleitung in der EU bzw. dem EWR hat, ist das UmwStG grds. dann anwendbar, wenn der Umwandlungsvorgang nach ausländischem Recht dem deutschen Umwandlungsrecht vergleichbar ist (§ 1 I, II UmwStG)3. Grenzüberschreitende und ausländische Umwandlungen außerhalb von Europa werden also nicht erfasst4. Für Umwandlungen innerhalb von Europa gelten grds. die allgemeinen Regeln5. Der Ansatz eines unter dem gemeinen Wert liegenden Wertes (Buchwert oder Zwischenwert) ist jedoch nur dann möglich, wenn das deutsche Besteuerungsrecht für das übertragene Vermögen durch die Umwandlung nicht ausgeschlossen oder eingeschränkt wird6. Das setzt regelmäßig voraus, dass das übertragene Vermögen auf Dauer in einer Betriebsstätte der Übernehmerin in Deutschland verbleibt. Ist dies nicht der Fall, erfolgt prinzipiell eine sofortige Versteuerung7. Nach § 50i II EStG ist der gemeine Wert im Rahmen vonEinbringungen und Umwandlungen auch dann anzusetzen, wenn Sachgesamtheiten betroffen sind, die aus einem Vermögenstransfer in gewerblich geprägte Personengesellschaften resultieren und einem Stpfl. Im DBA-Ausland zuzurechnen sind8.
1 Dazu i.E. Keuthen, Ubg. 2013, 480. 2 Vgl. oben Rz. 58. 3 Vgl. i.E. Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 94 ff.; dazu auch Blöchle/ Weggenmann, IStR 2008, 87. 4 Krit. dazu mit Recht Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 124 ff. Vgl. dazu auch Schnitger/Rometzki, FR 2006, 845; Binnewies, GmbHStB 2007, 117; Schmidtmann, IStR 2007, 229. 5 Zur Steuerneutralität bei grenzüberschreitenden Umwandlungen vgl. auch Brähler/Heerdt, StuW 2007, 260; Kahle/Michel, IStR 2012, 882; Kahlenberg/Mair/Strauch, StuB 2013, 698; Schönhaus/Müller, IStR 2013, 174; zur Drittstaatenumwandlung Hruschka, IStR 2012, 844; Becker/Kamphaus/Loose, IStR 2013, 328. 6 Vgl. i.E. Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 97; Riedel, Ubg. 2013, 30. 7 Soweit andauerndes deutsches Besteuerungsrecht für einen Gewinn aus der Veräußerung des eingebrachten Betriebsvermögens nicht sichergestellt ist, kommt es mangels einer Stundungsregelung – wie z.B. in § 6 V AStG oder § 4g EStG – zu einer Sofortbesteuerung, was europarechtlich nicht haltbar ist. Vgl. dazu auch Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, §§ 20 UmwStG Rz. 165d, 11 UmwStG Rz. 130 ff. Zu den europarechtlichen Anforderungen EuGH-Urt. v. 23.1.2014 – C-164/12 – DMC, FR 2014, 466; dazu Linn, IStR 2014, 136; Sydow, DB 2014, 265. 8 Vgl. dazu insb. Rödder/Kuhr/Heimig, Ubg. 2014, 477; außerdem auch Bodden, DB 2014, 2371; Bron, DStR 2014, 1849; zur Diskussion über die Rechtslage vor dem 1.1.2014; Hruschka, IStR 2014, 785 (787); Hruschka, IStR 2015, 62; Neumann-Tomm, IStR 2015, 60.
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§ 15 Erbschaft- und Schenkungsteuer Rechtsgrundlagen: Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz (ErbStG) i.d.F. der Bekanntmachung v. 27.2.1997, geändert durch das Erbschaftsteuerreformgesetz v. 24.12.2008, BGBl. I, 3018; zuletzt geändert durch das AmtshilfeRLUmsG v. 26.6.2013 (BGBl. I 2013, 1809 [1842]); Erbschaftsteuer-Durchführungsverordnung (ErbStDV) v. 8.9.1998, BGBl. I 1998, 2658. Verwaltungsvorschriften: ErbStR und ErbStH v. 19.12.2011, BStBl. I, Sondernr. 1/2011. Literatur: Kommentare zum ErbStG: Viskorf/Knobel/Schuck/Wälzholz4, 2012; Meincke16, 2012; Preißer/Rödl/Seltenreich2, 2013; Fischer/Jüptner/Pahlke/Wachter5, 2014; Kapp/Ebeling, Loseblatt; Moench/Weinmann, Loseblatt; Troll/Gebel/Jülicher, Loseblatt. Zu den verfassungs- und europarechtlichen Grundlagen sowie zu dogmatischen Einzelfragen s. Birk (Hrsg.), Steuern auf Erbschaft und Vermögen, DStJG 22 (1999), m. Beiträgen von Arndt, Birk, Crezelius, Ebeling, M. Lang, Meincke, Mellinghoff, Osterloh, Piltz u. Seer; Crezelius, Die Entwicklung des Erbschaftsteuerrechts in den letzten 100 Jahren, FR 2007, 613; Birnbaum, Leistungsfähigkeitsprinzip und ErbStG, Diss., 2007; von Waldenfels, Der Gleichheitssatz im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, Diss., 2008; J. Lang, Das verfassungsrechtliche Scheitern der Erbschaft- und Schenkungsteuer, StuW 2008, 189; Crezelius, Das neue Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht im Rechtssystem, ZEV 2009, 1; Seer, Die Erbschaft- und Schenkungsteuer im System der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, GmbHR 2009, 225; Holly, Verfassungsmäßigkeit der Erbschaftsteuerreform, Diss., 2011; Schubert, Die Verfassungswidrigkeit der Erbschaft- und Schenkungsteuer und die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Neugestaltung, Diss., 2011; Blum, Bewertungsgleichmaß und Verschonungsregelungen – Gleichmäßigkeit der Besteuerung im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, Diss., 2012; Ergenzinger, Schenkungsteuergesetz – Konturen einer von der Erbschaftsteuer getrennten Schenkungsteuer, Diss., 2012; Grolig, Folgerichtigkeitsgebot und Erbschaftsteuerrecht, Diss., 2013. Lehrbücher u.ä.: Schulte, Erbschaftsteuerrecht, 2010; Moench/Hübner, Erbschaftsteuer3, 2012; Grootens/Koltermann, Bewertung und Erbschaftsteuer8, 2014. Reformvorschläge: Flämig, Reform der Erbschaftsteuer, DWS-Symposion 2006; Seer, Reform der Erbschaft- und Schenkungsteuer: Breite Bemessungsgrundlage – niedriger Steuertarif!, ZRP 2007, 116; Balle/Gress, Die neue Erbschaft- und Schenkungsteuer: Der Auftrag des BVerfG an den Gesetzgeber als Chance zu einer grundlegenden Reform, BB 2007, 2660; Houben/Maiterth, Zurück zum Zehnten – Modelle für die nächste Erbschaftsteuerreform, in FS F. Wagner, 2009, unter www.franzw-wagner.de abrufbar; Neumann, Das neue Unternehmenserbschaftsteuerrecht – ein Gegenentwurf, in FS Herzig, 2010, 365; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, 582–810 (Buch 3), dazu Seer, StuW 2013, 239; Wiss. Beirat, Die Begünstigung des Unternehmensvermögens in der Erbschaftsteuer, 2012.
I. Einführung 1. Rechtfertigung und Charakter der Erbschaft- und Schenkungsteuer Die ErbSt rechtfertigt sich durch die auf Grund des Erbes/der Zuwendung i.S. eines Mittelerwerbs eingetretene Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Empfängers1. Sie ist eine Steuer auf das Einkommen i.S. eines Reinvermögenszugangs (§ 7 Rz. 38). In ihrer derzeitigen Ausgestaltung knüpft sie als Bereicherungssteuer an die Vermögensmehrung beim Empfänger (dem Bereicherten) an. Gegen diese Rechtfertigung der ErbSt spricht deshalb nicht das häufig vorgebrachte Argument, dass das erworbene Vermögen durch Erbfall/Schenkung nicht größer oder wertvoller werde2. Es vernachlässigt, dass die verschiedenen Steuersubjekte 1 Grundl. bereits von Schanz, Studien zur Geschichte und Theorie der Erbschaftsteuer, FinArch. a.F. Bd. 17 (1900), 553 (672); aus jüngerer Zeit Steuerreformkommission, BMF-Schriftenreihe 17, 1971, 659 Rz. 154; D. Schneider, StuW 1979, 38 (39 f.); Tipke, StRO II2, 873 f., m.w.N.; Meincke, DStJG 22 (1999), 39 (40 ff.); Crezelius, DStJG 22 (1999), 73 (102 ff.); P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, Grundgedanken Rz. 1, § 73 Rz. 3 f. 2 So etwa Ritter, BB 1994, 2285 (2287); Kruse, BB 1996, 717 (718); Zitzelsberger, FS Ritter, 1997, 661 (665).
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§ 15
Rz. 2
Erbschaft- und Schenkungsteuer
auseinander gehalten werden müssen1. Besteuert wird nicht das vom Erblasser hinterlassene Vermögen, sondern die Bereicherung, die der Erwerb von Erblasservermögen beim Erben bewirkt. 2
Konsequenterweise hat der Gesetzgeber an der Konzeption einer Erbanfallsteuer festgehalten. Sie besteuert nicht die Nachlassmasse als solche (Nachlasssteuer, sog. „Tote-Hand-Steuer“)2, sondern die Bereicherung beim Erben. Im Unterschied zur Nachlasssteuer ist die Erbanfallsteuer weder Objektsteuer noch letzte Vermögensteuer des Erblassers. Vielmehr erfasst sie als Subjektsteuer (§ 7 Rz. 21) beim Bereicherten Einkommen i.w.S. und könnte daher auch dem EStG inkorporiert werden3. Zwar ist dies vor allem aus praktischen Erwägungen technisch nicht geschehen4. Dies ändert aber nichts daran, dass die ErbSt eine Einkommensteuer i.w.S. ist5. Sind Erbschaft- und Schenkungsteuer Einkommensteuern i.w.S., müssen sie derart mit der Einkommensteuer abgestimmt werden, dass möglichst keine Überschneidungen entstehen6. Zum § 35b EStG s. Rz. 73 u. § 8 Rz. 815.
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Die ErbSt unterscheidet sich von der Einkommensteuer allerdings dadurch, dass sie nicht an eine am Markt gebildete Wertschöpfung, nicht an das Markteinkommen, sondern an einen Vermögenstransfer anknüpft (§ 7 Rz. 40). Deshalb ordnet der BFH die Erbschaft- und Schenkungsteuer nach wie vor als Verkehrsteuer ein7. Diese Qualifikation knüpft aber nur an die formale Ausgestaltung der Steuer an, trifft jedoch nicht ihren materiellen Gehalt. Die ErbSt schöpft des Weiteren nicht vom Ertrag (auch nicht von einem Sollertrag), sondern vom Vermögensbestand ab (§ 7 Rz. 39). Sie ist mithin keine Sollertragsteuer8, sondern – aus der Perspektive des übertragenen Vermögens – eine Substanzsteuer9. Der Substanzsteuereffekt tritt bei der ErbSt daher 1 Meincke, FS Tipke, 1995, 391 (394 f.); Meincke, DStJG 22 (1999), 39 (43 f., 46 ff.); Seer, StuW 1997, 283 (285); Birk, StuW 2005, 346 f.; Birnbaum, Leistungsfähigkeitsprinzip und ErbSt, 2007, 31 ff., 81. 2 Die ErbSt ist derzeit z.B. in Großbritannien u. in den USA als Nachlasssteuer ausgestaltet; s. Albrecht, Die steuerliche Behandlung deutsch-englischer Erbfälle, Diss., 1992, 192 ff.; Wassermeyer, Das USamerikanische Erbschaftsteuerrecht, Diss., 1996, Rz. 148 ff.; Freckem, Die Besteuerung von Nachlässen in den einzelnen amerikanischen Bundesstaaten, Diss., 2007, passim; instruktiver Überblick von Troll/ Gebel/Jülicher, § 21 ErbStG Rz. 91–138; zur ErbSt in den USA nach der Steuerreform 2010 s. Brix/ Scherer, ZEV 2011, 118; Cortez, IWB 2011, 866. In Deutschland gab es eine Nachlasssteuer nur übergangsweise in der Zeit von 1919 bis 1922; zur Rechtsentwicklung u. Unterscheidung s. Timm, FinArch. 42 (1984), 552. Zur Anrechnung ausländischer Nachlasssteuer auf die deutsche ErbSt s. Rz. 47. 3 D. Schneider, StuW 1979, 38 (40); Timm, FinArch. 42 (1984), 553 (561 ff.); Heinz, ZEV 2004, 221; Hey, JZ 2007, 564 (566); Crezelius, FR 2007, 616; Röder, ZEV 2008, 169 (170); Meincke16, Einf. ErbStG Rz. 2; a.A. Schulte, FR 2007, 309 (310). 4 Vgl. Steuerreformkommission, BMF-Schriftenreihe 17, 1971, Rz. 155. 5 So auch Friz, Das Verhältnis der Erbschaft- und Schenkungsteuer zur Einkommensteuer, Diss. 2014, 46; zu weitgehend allerdings von Waldenfels, Der Gleichheitssatz im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, 2008, 93 ff., wonach die Besteuerung von Erbschaften und Schenkungen bereits von Verfassungs wegen geboten sein soll. 6 Tipke, StRO II2, 878 (881); Mellinghoff, DStJG 22 (1999), 127 (134 ff.); Seer, DStJG 22 (1999), 191 (199); Seer, StuW 1997, 283 (293); Hey, JZ 2007, 564 (566); Crezelius, BB-Special 10/2007 (BB 2007/46), 1 (13 ff.); Birnbaum, Leistungsfähigkeitsprinzip und Erbschaftsteuer, 2007, 42 ff; trotz seines abw. Ansatzes auch Schulte, FR 2007, 309 (312); eine ausführliche Darstellung verschiedener Lösungsmöglichkeiten zeigt Friz, Das Verhältnis der Erbschaft- und Schenkungsteuer zur Einkommensteuer, Diss. 2014, 103 ff. Der BFH steht der Kumulation der Steuerarten bisher leider unkrit. gegenüber, s. BFH BStBl. 1987, 175 (177); 1991, 350 (353); 1995, 207; 2010, 641 (643 f.), dagegen Verfassungsbeschwerde beim BVerfG anhängig: 1 BvR 1432/10; dazu die gegensätzlichen Anmerkungen v. Keß, FR 2010, 954 f.; Leipold, HFR 2010, 834 f. 7 BFH BStBl. 1983, 179 (180); 2008, 258 (259); 2010, 74 (75); 2010, 363. 8 Unrichtig Zitzelsberger, FS Ritter, 1997, 661 (665); Nachreiner, ZEV 2005, 1 (5 ff.) folgert aus dem Vermögensteuerbeschluss in BVerfGE 93, 121 (§ 3 Rz. 60; § 16 Rz. 61 f.), dass die ErbSt nur als Sollertragsteuer ausgestaltet sein dürfe. Der Besteuerungsgrund besteht aber nicht im Halten von Vermögen, sondern in der Bereicherung durch den Erbfall/die Schenkung. Deshalb ist die Aussage im Vermögensteuerbeschluss des BVerfG auf die ErbSt nicht übertragbar (Hey, JZ 2007, 564 [565], dort Fn. 21). 9 Vgl. Oberhauser, Hdb. Finanzwissenschaft, Bd. II3, 1980, 487 (488); Seer, GmbHR 2002, 873 (874).
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Reformbedarf
Rz. 6
§ 15
nicht planwidrig ungewollt, sondern plangemäß intendiert ein1. Folgerichtigerweise betrachtet BVerfGE 117, 1, (33 ff.) auch nicht den Ertragswert, sondern den Verkehrswert (gemeinen Wert) als den leitenden Bewertungsmaßstab der ErbSt (Rz. 58). Der Rechtfertigungsansatz als Bereicherungssteuer trägt auch die im ErbStG integrierte Schenkungsteuer. Der bereits zu Lebzeiten durch eine freigebige Zuwendung Bereicherte (Rz. 22 ff.) hat durch den unentgeltlichen Vermögenserwerb nicht anders als ein Erbe einen Mittelzuwachs (eine Bereicherung) erfahren, die seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erhöht. Die Schenkungsteuer ist damit eine vorweggenommene ErbSt, welche die Steuer auf den Erbanfall zur Vermeidung von Umgehungen sinnvollerweise flankiert2. Dementsprechend gelten die Vorschriften des ErbStG für Schenkungen unter Lebenden sinngemäß (§ 1 II ErbStG).
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2. Unveränderter Reformbedarf Das BVerfG hat mit Urteil v. 17.12.2014 (1 BvL 21/12, BStBl. 2015, 50) den Gesetzgeber nach den beiden Beschlüssen v. 22.6.1995 (2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165) und v. 7.11.2006 (1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1) nun schon ein drittes Mal (!) zur Reform der Erbschaft- und Schenkungsteuer gezwungen. Zunächst war das Jahressteuergesetz (JStG) 19973 daran gescheitert, das Bewertungsgleichmaß (Art. 3 I GG) in der Bemessungsgrundlage durch eine realitätsgerechte Wertrelation (Rz. 58) der unterschiedlichen Vermögen zueinander herzustellen. Daraufhin hatte BVerfGE 117, 1 (37 ff.) die Verletzungen des Grundsatzes der realitätsgerechten Wertrelation und damit des Art. 3 I GG i.E. minutiös aufgelistet und in diesem Beschluss eine strenge 2-Stufen-Prüfung durchgeführt. Auf der ersten Stufe hat es gefordert, das Bewertungsgleichmaß i.S. einer folgerichtigen Umsetzung der vom Gesetzgeber durch das ErbStG getroffenen Belastungsentscheidung herzustellen. Auf einer nachrangigen zweiten Stufe hat es allerdings zugelassen, durch möglichst „zielgenaue“ und „normenklare“ Lenkungstatbestände die auf der ersten Stufe folgerichtig konkretisierte Belastungsentscheidung zur Verwirklichung außersteuerlicher Lenkungsziele wieder einzuschränken oder gar aufzuheben (s. Rz. 106 ff.)4. Das ErbStRefG 20095 hat versucht, diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben durch eine Reform der betroffenen Regelungskomplexe gerecht zu werden. Ebenso wie das JStG 1997 legte es das von BVerfGE 93, 165 (174 f.) aus Art. 14 I; 6 I GG entwickelte Familienprinzip zugrunde und verschonte weiterhin das familiäre Gebrauchsvermögen (s. Rz. 100; § 3 Rz. 192)6. Gleichzeitig verschärfte es allerdings in § 19 I ErbStG für die Steuerklassen II und III die Steuertarife. I.Ü. behielt auch das ErbStRG 2009 wie bereits das JStG 1997 die Konzeption des Erbschaftsteuergesetzes v. 17.4.1974, BGBl. I 1974, 933, bei. Die drängenden Probleme einer Ehegattenbesteuerung (s. Rz. 103) blieben damit leider weiterhin unbehandelt.
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Stattdessen legte der Reformgesetzgeber sein Hauptaugenmerk auf die Verschonung des Vermögens von sog. Familienunternehmen. Der Gesetzgebungsprozess war von der Sorge getragen, dass die ErbSt die Unternehmensfortführung gefährden könnte7. Die zur Erlangung einer „zielgenauen“ Steuerverschonung extrem-technokratisch ausgefallenen Regelungen der §§ 13a, b ErbStG hat das BVerfG nun in seinem Urteil v. 17.12.2014 (BStBl. 2015, 50) ebenfalls für gleichheitswidrig erachtet. Denn die Regelungen sind in höchstem Maße gestaltungsanfällig und führen zu schlicht willkürlichen Steuerlasten (s. Rz. 109-111, 116 f.). Aufgrund des Ausmaßes der Verschonungssubvention der §§ 13a, b ErbStG 2009 unterfällt nur ein kleiner Bruch-
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1 Seer, StuW 1997, 283 (287). 2 Zur Ergänzungsfunktion der Schenkungsteuer Oberhauser, Hdb. Finanzwissenschaft, Bd. II3, 1980, 487 (500 f.), m.w.N.; krit. Naarmann, Das Verhältnis der Schenkungsteuer zur Erbschaftsteuer, Diss., 1985, 240 ff.; Ergenzinger, Schenkungsteuergesetz, Diss., 2012, 101 ff., welche der Schenkungsteuer eine von der Erbschaftsteuer unabhängige, eigenständige Funktion geben wollen. 3 Art. 1, 2 des JStG 1997 v. 20.12.1996, BGBl. I 1996, 2049. 4 Dazu krit. Seer, ZEV 2007, 101 (105 ff.); J. Hey, JZ 2007, 564 (569 ff.). 5 Gesetz zur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts v. 24.12.2008, BGBl. I 2008, 3018. 6 Vgl. hierzu ausführlich Blum, Bewertungsgleichmaß und Verschonungsregelungen, Diss. 2012, 40 ff. 7 Ausführlich zur Historie des ErbStRG 2009 Schmitt, FS H. Schaumburg, 2009, 1079.
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Rz. 7
Erbschaft- und Schenkungsteuer
teil aller Erbfälle und Schenkungen der ErbSt1. Diesen Betroffenen hat das ErbStRG 2009 durch das Zusammenwirken des Verkehrswertansatzes und spürbarer Steuersätze eine gesteigerte Belastung auferlegt, um ein ganz bestimmtes, vorgegebenes Steueraufkommen zu erzielen. Damit trägt derzeit eine kleine gesellschaftliche Gruppe eine „Sonderlast“2, die sie gegenüber den Verschonten diskriminiert und in ihren Grundrechten verletzt (s. Rz. 116). Gleichzeitig setzt die Begünstigung Fehlanreize und birgt für die „Begünstigten“ aufgrund der in die Zukunft wirkenden Wohlverhaltensregeln Steuerrisiken, die mehr schaden als nützen (s. Rz. 117). Das BVerfG hat dem Gesetzgeber nun eine Frist bis zum 30.6.2016 gesetzt, um Abhilfe zu schaffen (s. Rz. 106). Vorzugswürdig ist es, auf spezielle Steuerverschonungen zu verzichten und stattdessen einen (für alle) flachen Steuertarif zu schaffen3.
II. Steuerobjekt 1. Erwerb von Todes wegen (§§ 1 I Nr. 1; 3 ErbStG) 7
Der ErbSt unterliegt der Erwerb von Todes wegen, dessen Tatbestände § 3 ErbStG abschließend aufzählt4. Das Gesetz knüpft vor allem in § 3 I ErbStG unmittelbar an die zivilrechtliche Rechtslage als Voraussetzung des erbschaftsteuerlichen Vermögensanfalls an5. Daraus folgt aber keine durchgängige Maßgeblichkeit des Zivilrechts für das Steuerrecht (§ 1 Rz. 31 ff.; § 5 Rz. 71)6.
1.1 Erwerb durch Erbanfall (§ 3 I Nrn. 1, 3 ErbStG) 8
Der Tatbestand des Erwerbs durch Erbanfall knüpft an die zivilrechtliche Stellung des Erben an. Der Erwerb verwirklicht sich unmittelbar mit dem Erbfall, ohne dass es einer Erwerbshandlung des Erben bedarf (§§ 1922 I; 1942 I BGB). Dies gilt unabhängig davon, ob das Erbrecht auf gesetzlicher oder gewillkürter Erbfolge (Testament, Erbvertrag) beruht. Ein von Ehegatten verfügtes gemeinschaftliches Testament (sog. Berliner Testament) i.S. des § 2265 BGB führt damit zum steuerpflichtigen Zwischenerwerb des überlebenden Ehegatten, bevor das Vermögen in die nachfolgende Generation gelangt7. 1 Für das Jahr 2013 weist das Statistische Bundesamt ein steuerpflichtiges Betriebsvermögen sowie Anteile an Kapitalgesellschaften von insgesamt ca. 34 Milliarden Euro aus. Dem steht eine Steuerbegünstigung in derselben Höhe gegenüber, s. Statistisches Bundesamt, Finanzen und Steuern – Erbschaft- und Schenkungsteuer 2013 v. 27.8.2014, Tabelle S. 22. I.Erg. blieb damit eine ganze Vermögensart praktisch verschont. 2 Zutreffend Crezelius, ZEV 2009, 1 (2) u. ZEV 2012, 1 (3). 3 Zu den Reformoptionen s. Seer, GmbHR 2015, 113 (117 ff.). 4 S. BFH BStBl. 1991, 412; 2011, 725 (726). 5 Vgl. BFH BStBl. 1983, 179; 1997, 820 (822); 2011, 725 (727): Der Erwerb durch Erbanfall (§ 3 I Nr. 1 1. Alt. ErbStG) ist ausschließlich nach bürgerlich-rechtlichen Kriterien zu bestimmen; eine wirtschaftliche Betrachtungsweise ist insoweit ausgeschlossen. Auch ein auf ausländischem Recht beruhender Erwerb kann der inländischen Steuer unterliegen, s. BFH BStBl. 2012, 782 (785 f.). 6 Nur dort, wo sich das Erbschaftsteuerrecht durch Verwendung der zivilrechtlichen Begriffe oder durch Verweise die Tatbestände des BGB zu eigen macht, folgt es dem Zivilrecht; ansonsten ist es nach dem ihm eigenen Bedeutungszusammenhang auszulegen, vgl. auch BVerfG BStBl. 1992, 212 (zur Grunderwerbsteuer); ausf. Kobor, Die Auslegung im Erbschaftsteuerrecht, Diss., 2000; Klein, Ausländische Zivilrechtsformen im deutschen Erbschaftsteuerrecht, Diss., 2000, Rz. 59 ff.; Klein, FR 2001, 118; a.A. aber Crezelius, Erbschaft- und Schenkungsteuer in zivilrechtlicher Sicht, Habil., 1979, 36 f.; Crezelius, FR 2007, 613 (619 ff.). 7 Dieser ungünstigen steuerlichen Folge kann durch die Einräumung von bereits im Todesfall des Erstversterbenden fällig werdenden Vermächtnissen (s. Rz. 13) zugunsten der Schlusserben entgegengewirkt werden. Alternativ dazu können Schlusserben aber auch bereits nach dem Tode des Erstversterbenden ggf. Pflichtteilsansprüche geltend machen (s. Rz. 14). Schließlich kann der überlebende Ehegatte sein Erbe (gegen Abfindung) mit steuerlicher Wirkung ausschlagen (s. Rz. 21).
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Erwerb von Todes wegen
Rz. 12
§ 15
Der Erwerb durch Erbanfall vermittelt dem Erben die dingliche Teilhabe am Nachlass des Verstorbenen, dessen Gesamtrechtsnachfolger er wird (§§ 1922 I; 1967 BGB). Hinterlässt der Erblasser mehrere Erben, so wird der Nachlass gemeinschaftliches Vermögen der Miterben (Erbengemeinschaft, § 2032 I BGB). Das Vermögen ist erbschaftsteuerlich aber nicht der Erbengemeinschaft, sondern den einzelnen Miterben als Steuersubjekte (Rz. 36) nach Maßgabe der Erbquoten1 anteilig zuzurechnen (§ 39 II Nr. 2 AO)2.
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Die zeitlich nachfolgende Erbauseinandersetzung unter den Miterben berührt die ErbSt grds. nicht mehr. Die Erben werden mit dem besteuert, was sie beim Erbfall erhalten (Erbanfall!), nicht mit dem, was als Ergebnis der Erbauseinandersetzung in ihr Vermögen letztlich übergeht3. Konsequenterweise ändert auch eine testamentarische Teilungsanordnung (§ 2048 BGB) an der Besteuerung des Erbteils nichts4. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn die Teilungsanordnung nicht nur eine Auseinandersetzungsregel beinhaltet, sondern darüber hinaus die Erbquoten verschieben soll und damit in Wirklichkeit insoweit ein Vorausvermächtnis (Rz. 13) darstellt5. Im Ausnahmefall kann es im Zuge der Erbauseinandersetzung zu freigebigen Zuwendungen unter den Miterben (§ 7 I Nr. 1 ErbStG; s. Rz. 22) kommen, die dann Schenkungsteuer auslösen.
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Das Erbschaftsteuerrecht folgt dem Zivilrecht auch insoweit, als eine Ausschlagung (§§ 1942 ff. BGB) die Steuerpflicht rückwirkend entfallen lässt6. Wird die Erbschaft ausgeschlagen, so gilt der Anfall an den Ausschlagenden als nicht erfüllt (§ 1953 I BGB, zur Ausschlagungsfrist s. § 1944 BGB). Die Ausschlagung ist ein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 I 1 Nr. 2 AO (s. § 21 Rz. 440).
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§ 6 I ErbStG stellt klar, dass auch der Erwerb durch den Vorerben (§§ 2100 ff. BGB) ein Erwerb durch Erbanfall ist. Obwohl der Vorerbe in seinen Verfügungsrechten über den Nachlass einem Nießbraucher ähnlich beschränkt ist (§§ 2112 ff. BGB), wird er als Vollerbe behandelt. Die Belastung mit dem Nacherbenrecht kann nicht wertmindernd abgezogen werden7. Der Vorerbe ist Steuerschuldner (Rz. 36) und haftet mit seinem Privatvermögen für die Steuerschuld8. Im Innenverhältnis kann er die Steuer jedoch auf den Nacherben dadurch überwälzen, dass er sie aus den Mitteln der Vorerbschaft entrichtet (§ 20 IV ErbStG; § 2126 BGB). Der Nacherbe unterliegt vor dem Eintritt des Nacherbfalls (§ 2106 BGB) grds. noch keiner Steuerpflicht (§ 10 IV ErbStG). Stirbt der Vorerbe, so wertet § 6 II 1 ErbStG in Abweichung vom Zivilrecht den Nacherbfall als Erwerb vom Vorerben und nicht vom Erblasser. § 6 II 2 ErbStG gibt dem Nacherben aber das Wahlrecht, der Versteuerung die Verhältnisse zum Erblasser zugrunde zu legen9. Tritt der Nacherbfall bereits zu Lebzeiten des Vorerben ein, so gilt er als aufschiebend bedingter Erwerb des Nacherben vom Erblasser (§ 6 III 1 ErbStG). Abweichend
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1 Finanzbehörden u. -gerichte dürfen grds. von der Richtigkeit der in einem Erbschein ausgewiesenen Erbquoten ausgehen (s. § 2365 BGB); allerdings besteht daran keine starre Bindung, s. BFH BStBl. 1996, 242. 2 Zur Bindungswirkung des gesondert und einheitlich festzustellenden Grundbesitzwerts (Rz. 51) s. BFH BStBl. 2004, 179 (181); Stegmaier, DStZ 2000, 581 (582). 3 Statt vieler Meincke16, § 3 ErbStG Rz. 20; zur einkommensteuerlichen Problematik der Erbauseinandersetzung s. § 9 Rz. 433 ff. 4 BFH BStBl. 1983, 329; 1992, 669; BFH/NV 2011, 603 (607). 5 Zur Abgrenzung s. BFH/NV 2005, 214 (215); 2011, 603 (607); Mehne, DStR 1992, 273; Steiger, UVR 1993, 72; Schuhmann, UVR 2005, 375; Brüggemann, ErbBstg. 2011, 165 (167 ff.); Roth, RNotZ 2013, 193. 6 Zur Ausschlagung als erbschaftsteuerliches Gestaltungsmittel s. Christ, ZEV 1995, 446; Hannes, ZEV 1996, 10; Mayer, DStR 2004, 1541; Wälzholz, FS Streck, 2011, 245; Tölle, NWB 2013, 148. 7 Ebenso wenig sind Zahlungen des Vorerben zur Ablösung des Nacherbenrechts als Nachlassverbindlichkeiten i.S.d. § 10 V ErbStG abziehbar, BFH BStBl. 1996, 137. 8 RFH RStBl. 1935, 1509. 9 Es handelt sich steuerlich weiterhin um einen Erwerb vom Vorerben, bei dem lediglich für die Anwendung der Steuerklasse die Verhältnisse zum Erblasser maßgebend sind. Überträgt der Vorerbe mit Rücksicht auf die angeordnete Nacherbschaft auf den Nacherben Vermögen, handelt es sich um eine davon zu unterscheidende eigenständige freigebige Zuwendung des Vorerben an den Nacherben, s. BFH BStBl. 2011, 123 (125): beide Erwerbe sind nach § 14 ErbStG (s. Rz. 145) zusammenzurechnen.
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§ 15
Rz. 13
Erbschaft- und Schenkungsteuer
vom Zivilrecht, das insgesamt nur von einem zeitlich gestreckten Erbfall ausgeht, begreift § 6 ErbStG die Vor- und Nacherbschaft als zwei Erbfälle, so dass es zu einem doppelten erbschaftsteuerlichen Zugriff auf das Erblasservermögen kommt1. Gem. § 6 IV ErbStG stehen Nachvermächtnisse und beim Tod des Beschwerten fällige Vermächtnisse oder Auflagen einer Nacherbschaft gleich.
1.2 Erwerb auf Grund von Vermächtnis oder Pflichtteil 13
§ 3 I Nr. 1 ErbStG stellt für Zwecke der ErbSt der dinglichen Erbenstellung die durch den Erbfall ausgelösten schuldrechtlichen Ansprüche gleich. So gilt der Erwerb auf Grund eines Vermächtnisses (§§ 1939; 2147 ff. BGB, Geld-, Verschaffungs- oder Sachvermächtnis) als ein Erwerb von Todes wegen, obwohl der Vermächtnisnehmer zivilrechtlich erst vom Erben bei Erfüllung des Vermächtnisanspruchs erwirbt2. Damit korrespondierend ist die Vermächtnisschuld beim belasteten Erben als Nachlassverbindlichkeit gem. § 10 V Nr. 2 ErbStG abzuziehen (Rz. 126). Steuerpflichtig ist auch ein Vorausvermächtnis, das ein Erbe zusätzlich zu seinem Erbteil erwirbt (§ 2150 BGB). Das Vorausvermächtnis ist im Einzelfall von der Teilungsanordnung (§ 2048 BGB, dazu Rz. 10) abzugrenzen, die über die Erbquote hinaus keinen zusätzlichen Erwerb begründen soll und bei der der zugewiesene Nachlassgegenstand in vollem Umfang auf den Erbteil angerechnet wird. Ist das Vermächtnis formunwirksam, lassen die Beteiligten das wirtschaftliche Ergebnis des Vermächtnisses aber gleichwohl eintreten, so ist es nach § 41 I AO (§ 5 Rz. 95) auch der ErbSt zugrunde zu legen. Allerdings muss es als Vollzug der Anordnung des Erblassers identifizierbar sein3. Als Erwerb von Todes wegen gilt auch jeder Erwerb, auf den die für Vermächtnisse geltenden Vorschriften des bürgerlichen Rechts Anwendung finden (§ 3 I Nr. 3 ErbStG): sog. Voraus des überlebenden Ehegatten (§ 1932 II BGB), sog. Dreißigster zugunsten Familienangehöriger des Erblassers (§ 1969 II BGB).
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Pflichtteilsansprüche (§§ 2303 ff. BGB) führen noch nicht wegen ihrer bloßen Existenz, sondern erst dann zur Steuerpflicht, wenn sie geltend gemacht werden. § 9 I Nr. 1b ErbStG schiebt die Entstehung des Steueranspruchs auf den Zeitpunkt der Geltendmachung des Pflichtteils hinaus und trägt so dem Umstand Rechnung, dass dem Pflichtteilsberechtigten im Unterschied zu Erben und Vermächtnisnehmern keine Ausschlagungs- bzw. Zurückverweisungsbefugnis zusteht4. Zugleich respektiert das Gesetz damit die Gründe, die den Gläubiger im Interesse der Erben oder aus Pietät gegenüber dem Erblasserwillen bewogen haben, von der Einforderung des Anspruchs abzusehen5. Wenn der Gläubiger auf die Durchsetzung seines Anspruchs verzichtet, soll nicht auch noch ErbSt anfallen (s. § 13 I Nr. 11 ErbStG). „Geltend gemacht“ ist der Anspruch nicht erst mit Rechtshängigkeit einer zivilrechtlichen Klage, sondern 1 Instruktiv dazu Siebert, BB 2010, 1252. Die Rspr. hält die Doppelbelastung verfassungsrechtlich für unbedenklich (s. BFH/NV 2007, 242, die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde vom BVerfG nicht angenommen). 2 Zum Kauf- und Übernahmevermächtnis s. BFH BStBl. II 2008, 982: Bereicherung = gemeiner Wert des aufschiebend bedingten Sachleistungsanspruchs gegen den Beschwerten; Hofmann, DStZ 2003, 838 (840); Daragan, ZErb 2008, 353; krit. Billig, UVR 2002, 42 f.; zum Wahlvermächtnis BFH BStBl. 2004, 1039 (1040 f.); 2007, 461 (463): Bereicherung = gemeiner Wert des schließlich gewählten Gegenstandes (s. auch Crezelius, ZEV 2004, 476; Ebeling, DStR 2005, 1633; von Elsner, JbFfSt. 2005/2006, 584 (590); Viskorf, FR 2004, 1334; zur Behandlung von Vermächtnissen allgemein s. Piltz, ZEV 2005, 469; zur Unterscheidung von bedingten, befristeten u. betagten Vermächtnissen Brüggemann, ErbBstg. 2014, 197; BFH UVR 2014, 300; krit. zum Entstehungszeitpunkt Geck, FS Korn, 2005, 557 (559). 3 BFH BStBl. 2000, 588 (590); 2007, 461 (462); außerdem Anm. Sedlaczek, UVR 2000, 422. 4 Seer/Krumm, ZEV 2010, 57 (59 f.); zum Hintergrund auch Bühring, Pflichtteilsrecht und Erbschaftsteuer, Diss., 2011, 102 ff. 5 Meincke16, § 9 ErbStG Rz. 30; s. auch Stahl, KÖSDI 2001, 12740; Schuhmann, UVR 2004, 298; Berresheim, RNotZ 2007, 501 (519 ff.); speziell zu den sog. Pflichtteilsstrafklauseln s. Müller/Grund, ZErb 2007, 205 (206 ff.); Geck, FS Korn, 2005, 557 (565 ff.).
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Seer
Erwerb von Todes wegen
Rz. 16
§ 15
bereits dann, wenn der Gläubiger sich an den/die Erben wendet und zu erkennen gibt, dass er seinen Anspruch verfolgt. Die Geltendmachung eines Anspruchs auf Auskunft nach § 2314 I BGB reicht dafür zwar noch nicht aus; allerdings ist auch keine Bezifferung des Anspruchs erforderlich1. Macht der Pflichtteilsberechtigte nur einen Teilanspruch geltend, entsteht die ErbSt auch nur in Ansehung dieses Teilbetrags2. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass er auf den nicht geltend gemachten Anspruchsteil verzichtet3. Geschieht ein Pflichtteilsverzicht gegen Abfindungsleistung, ist die Abfindung als Surrogat nach § 3 II Nr. 4 ErbStG steuerbar4.
1.3 Erwerb durch Schenkung auf den Todesfall (§ 3 I Nr. 2 ErbStG) Die Schenkung auf den Todesfall ist ein Schenkungsversprechen unter der Bedingung, dass der Beschenkte den Schenker überlebt (sog. Überlebensbedingung, § 2301 I 1 BGB). Als Erwerb von Todes wegen i.S.d. § 3 I Nr. 2 Satz 1 ErbStG ist auch eine bereits zu Lebzeiten vollzogene Schenkung (§ 2301 II BGB) zu behandeln, bei der die Rechtsfolgen des Erfüllungsgeschäfts mit dem Tode des Schenkers eintreten, ohne dass noch irgendeine weitere Rechtshandlung hinzukommt5.
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Als Schenkung auf den Todesfall fingieren § 3 I Nr. 2 Satz 2, 3 ErbStG den auf einem Ausscheiden des Gesellschafters beruhenden Übergang des Gesellschaftsanteils bei dessen Tod auf einen anderen Gesellschafter (so bei Personengesellschaften) oder auf die Gesellschaft (bei Kapitalgesellschaften), soweit der Steuerwert des Gesellschaftsanteils (Rz. 70 ff.) Abfindungsansprüche Dritter übersteigt (s. auch § 7 VII ErbStG, dazu Rz. 30)6. Gemeint sind hier vor allem die Fälle der Fortsetzungsklausel bei Personengesellschaften (§ 736 BGB)7 sowie der Einziehungsklausel bei Kapitalgesellschaften (z.B. § 34 GmbHG)8. Die Vorschrift des § 3 I Nr. 2 Satz 2 ErbStG findet auch dann Anwendung, wenn ein Gesellschafter durch Tod aus einer zweigliedrigen Personengesellschaft ausscheidet und sein Gesellschaftsanteil dem verbliebenen
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1 BFH BStBl. 2006, 718 (719) m. Anm. Messner, ZEV 2006, 515 f.; FG Nürnberg DStRE 2007, 1029 f.; Wälzholz, ZEV 2007, 162; Lohr/Görges, DStR 2011, 1939; a.A. Meincke, ZErb 2004, 1 (3). Zur (steuerlich sinnvollen) Geltendmachung eines Pflichtteils durch einen Alleinerben („gegen sich selbst“) s. BFH BStBl. 2013, 332 (333 f.); Billig, UVR 2014, 314 (316). FG München EFG 2013, 1154, wendet § 9 I Nr. 1b ErbStG schließlich nicht an, wenn ein noch nicht geltend gemachter Pflichtteilsanspruch seinerseits vererbt wird (Rev. II R 21/14); dagegen mit Recht Billig, UVR 2014, 314 (317). 2 BFH BStBl. II 1973, 798 (800); a.A. noch RFH RStBl. 1940, 3. 3 Seer/Krumm, ZEV 2010, 57 (62). Behält sich dagegen der Pflichtteilsberechtigte die Geltendmachung des restlichen Pflichtteils vor, ist der Pflichtteilsanspruch im Ganzen geltend gemacht, s. FG Hamburg EFG 1978, 555 f.; Seer/Krumm, ZEV 2010, 57 (62); Lohr/Görges, DStR 2011, 1939; Moench/Weinmann, § 3 ErbStG Rz. 121; Troll/Gebel/Jülicher, § 3 ErbStG Rz. 227. 4 S. dazu Rz. 21; Bühring, Pflichtteilsrecht und Erbschaftsteuer, Diss., 2011, 114 ff.; Lohr/Görges, DStR 2011, 1939 (1940 ff.); zu einkommensteuerlichen Folgen s. BFH BStBl. 2005, 554; Lohr/Görges, DStR 2011, 1890. 5 BFH BStBl. 1991, 181, unter der Voraussetzung, dass die Zuwendung beim Empfänger zu einer Bereicherung führt u. sich die Beteiligten über die Unentgeltlichkeit der Zuwendung einig sind, vgl. auch Carlé, KÖSDI 1996, 10571; Fumi, EFG 2005, 795 (796); zum dogmatischen Verhältnis zwischen § 3 I Nr. 2 und § 7 I Nr. 1 ErbStG s. Wiegand, Das Schenkungsversprechen im Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuerrecht, Diss., 2011, 47 ff.; Hasbach, Gesellschaftsvertragliche Abfindungsklauseln in der Erbschaft- und Schenkungsteuer, Diss., 2014, 43 ff. 6 Da es sich um eine gesetzliche Fiktion einer Schenkung auf den Todesfall handelt, brauchen die Beteiligten sich nicht über die Unentgeltlichkeit der Zuwendung einig zu sein, BFH BStBl. 1992, 912; Hasbach, Gesellschaftsvertragliche Abfindungsklauseln in der Erbschaft- und Schenkungsteuer, Diss., 2014, 137 ff. m.w.N.; a.A. Klein-Blenkers, Die Bedeutung der subjektiven Merkmale im Erbschaftund Schenkungsteuerrecht, Diss., 1992, 234 ff. 7 Nach BFH/NV 1996, 609, soll § 3 I Nr. 2 Satz 2 ErbStG auch dann anwendbar sein, wenn der verstorbene Gesellschafter bei lebzeitigem Ausscheiden nach dem Gesellschaftsvertrag gar keinen Abfindungsanspruch gehabt hätte. 8 Zu den einzelnen Fallgruppen s. Riedel, ZErb 2009, 2 (Teil I) u. 113 (Teil II); Krumm, NJW 2010, 187; Klose, GmbHR 2010, 300 (Teil I) u. 355 (Teil II); Jesse, FR 2011, 201 (Teil 1), 303 (Teil II); Ivens, GmbHR 2011, 465; Baumann/Seer/Krumm, Fachberater für Unternehmensnachfolge, 2011, Rz. 1696 ff., 1749 ff.
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§ 15
Rz. 17
Erbschaft- und Schenkungsteuer
Gesellschafter anwächst (§ 738 I 1 BGB)1. Für den Erben bildet nur der Abfindungsanspruch die steuerbare Bereicherung und zwar selbst dann, wenn er infolge des Erbfalls zuerst Gesellschafter geworden ist, er den Gesellschaftsanteil aber unverzüglich auf Grund einer entsprechenden gesellschaftsvertraglichen Regelung an die Mitgesellschafter bzw. die Gesellschaft überträgt (s. § 10 X ErbStG).
1.4 Erwerb durch Vertrag zugunsten Dritter auf den Todesfall (§ 3 I Nr. 4 ErbStG) 17
Obwohl der Vertrag zugunsten Dritter auf den Todesfall (§§ 330, 331 BGB) außerhalb des Erbrechts steht, qualifiziert ihn § 3 I Nr. 4 ErbStG wegen seiner materiellen Nähe zu den Schenkungsversprechen i.S.d. § 2301 BGB (Rz. 15) als Erwerb von Todes wegen. Die Besteuerung der im Valutaverhältnis (Versprechensempfänger-Dritter) geschuldeten Leistung ist jedoch nur gerechtfertigt, wenn es sich aus Sicht des Versprechensempfängers (Erblassers) um eine freigebige Zuwendung an den Dritten handelt2. Als Hauptanwendungsfälle der Verträge zugunsten Dritter auf den Todesfall sind zu nennen: Lebensversicherungs-3 und Rentenverträge4, aber auch auf den Namen eines Dritten abgeschlossene Sparverträge.
1.5 Erweiterung um Ergänzungs- und Ersatztatbestände (§ 3 II ErbStG) 18
§ 3 II Nrn. 1–3, 7 ErbStG ergänzen die Grundtatbestände des § 3 I ErbStG um dort nicht erfasste Erwerbsvorgänge, die ebenfalls durch den Tod eines Vermögensinhabers ausgelöst werden (Ergänzungstatbestände). Dagegen treten die in § 3 II Nrn. 4–6 ErbStG aufgeführten Erwerbe an die Stelle von Bereicherungen, die infolge einer rechtserheblichen Disposition des Erwerbers entweder nicht endgültig eintreten konnten oder rückwirkend entfallen sind (Ersatztatbestände).
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§ 3 II Nr. 1 ErbStG qualifiziert den Übergang von Vermögen auf eine wegen einer Anordnung des Erblassers im Todesfalle zu errichtende Stiftung als Erwerb von Todes wegen5. Zur möglichen Steuerbefreiung nach § 13 I Nr. 16b ErbStG s. Rz. 123. Das sog. Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 v. 24.3.1999, BGBl. I, 402, hat § 3 II Nr. 1 ErbStG um Satz 2 ergänzt, wonach auch die vom Erblasser angeordnete Bildung oder Ausstattung einer Vermögensmasse ausländischen Rechts (insb. eines sog. Trusts) einen Erwerb von Todes wegen ausmacht. Der Tatbestand wird flankiert durch die schenkungsteuerpflichtigen Tatbestände des § 7 I Nr. 8 Satz 2 u. Nr. 9 Satz 2 ErbStG, die auch den Erwerb durch Zwischenberechtigte aus der Masse sowie den Erwerb bei Auflösung besteuern6. Diese Vorschriften künden vom Ungeist des 1 BFH BStBl. 1992, 925 (928); a.A. Haas, Erbschaftsteuerrecht und gesellschaftsrechtliche Nachfolge, Diss., 1996, 72 f.: unzulässige steuerverschärfende Analogie (dazu ausf. § 5 Rz. 81 ff). 2 So bereits RFH RStBl. 1931, 559; s. auch BFH/NV 1986, 672; ausf. zur freigebigen Zuwendung bei Dreiecksverhältnissen Gebel, ZEV 2000, 173. 3 BFH BStBl. 2002, 153 (154) rechnet dazu auch Lebensversicherungsverträge, die zur Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherung abgeschlossen werden. Zum Zeitpunkt des Vermögenserwerbs s. Niedersächs. FG EFG 2006, 910 (911 f.); Hess. FG EFG 2007, 1791 f.; zur erbschaftsteuerlichen Behandlung von Lebensversicherungen allgemein s. Gebel, UVR 1993, 141; Gebel, ZEV 2005, 236; Rödder, DStR 1993, 781; Fiedler, DStR 2000, 533; Wilms, UVR 2000, 249; Lehmann, ZEV 2004, 398; Geck, KÖSDI 2007, 15584; R E 3.6 u. 3.7 ErbStR 2011. 4 Zur Behandlung von Ansprüchen von Hinterbliebenen aus einer zugunsten des Erblassers von dessen Arbeitgeber abgeschlossenen Direktversicherung s. BFH BStBl. 2014, 323 (324); speziell zu Hinterbliebenen-Pensionen nach tätigen Gesellschaftern s. BVerfG BStBl. 1989, 938; 1994, 547; BFH BStBl. 1990, 322 (325); BFH/NV 1999, 311; R E 3.5 ErbStR 2011. 5 Zum Charakter der Vorschrift s. BFH BStBl. 1996, 99; s. außerdem Gebel, BB 2001, 2554; allgemein zu verselbständigten Nachlassvermögen im Vergleich Birnbaum/Lohbeck/Pöllath, FR 2007, 376 (Teil I: Stiftungen und Vereine) u. 479 (Teil II: Trust). 6 Dazu BFH BStBl. 2013, 84 (85 f.); allerdings ist es ernstlich zweifelhaft, ob auch satzungsmäßige Zuwendungen ausländicher Stiftungen an ihre satzungsmäßig Berechtigten unter § 7 I Nr. 9 Satz 2 ErbStG fallen, zumal nach § 20 I Nr. 9 Satz 2 EStG (s. § 8 Rz. 496) eine Doppelbesteuerung von Einkommen- und Schenkungsteuer droht (s. BFH/NV 2014, 1554 [1555]); zum Problemkreis s. auch Linn/Schmitz, DStR 2014, 2541.
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Schenkung unter Lebenden
Rz. 21
§ 15
„Steuerbelastungsgesetzes 1999/2000/2002“, das in einer wahren Hypertrophie vermeintliche „Steuerschlupflöcher“ schließen wollte und hier durch fiktive Zwischenerwerbe systemfremde Doppelbesteuerungseffekte verursacht1. § 3 II Nr. 2 ErbStG stellt dem Vermächtnis (Rz. 13) erbschaftsteuerlich die erbrechtliche Auflage (§§ 1940; 2192 ff. BGB) gleich. Nach § 3 II Nr. 7 ErbStG wird als Erwerb von Todes wegen schließlich auch dasjenige erfasst, was der Vertragserbe oder der Schlusserbe eines gemeinschaftlichen Testaments wegen beeinträchtigender Schenkungen des Erblasser nach § 2287 BGB (analog) vom Beschenkten erlangt2.
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§ 3 II Nrn. 4, 5 ErbStG erfassen Surrogate (Abfindungen), die der Begünstigte für den Verzicht auf Pflichtteilsansprüche (Rz. 14)3, auf Vermächtnisse (Rz. 13), die Zurückweisung eines Rechts aus einem Vertrag des Erblassers zugunsten eines Dritten (Rz. 17) oder für die Ausschlagung einer Erbschaft (Rz. 11) erhält4. Dem stellt § 3 II Nr. 6 ErbStG das Entgelt gleich, das ein Nacherbe (Rz. 12) für die Übertragung seiner im Vorerbfall entstehenden Anwartschaft erhält. In Gestalt der Surrogationstatbestände legt das ErbStG eine wirtschaftliche Betrachtungsweise an den Tag, um dem Bereicherungsprinzip widersprechende Besteuerungslücken zu schließen (s. außerdem Rz. 29 ff.). Aus Sicht der Stpfl. bieten sich Abfindungsvereinbarungen an, um die Folgen steuerlich ungünstiger testamentarischer Anordnungen (z.B. des sog. Berliner Testaments, s. Rz. 8) abzumildern. Nach bisher st. Rspr. ist auch das Ergebnis eines ernsthaft gemeinten Erbvergleichs der Erbschaftsbesteuerung zugrunde zu legen5. Dies schränkt BFH BStBl. 2011, 725 (726 f.) unter Reklamation eines Analogieverbots (dazu § 5 Rz. 81 ff.) für Abfindungsleistungen an weichende Erbprätendenten jedenfalls dann ein, wenn bereits unsicher ist, ob diese überhaupt eine Rechtsposition zum Erwerb von Todes wegen besitzen6. U.E. widerspricht dieser Ausschluss dem Sinn und Zweck des § 3 II ErbStG und provoziert den Gesetzgeber nur zur Verlängerung des Surrogat-Katalogs.
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2. Schenkung unter Lebenden (§§ 1 I Nr. 2; 7 ErbStG) Der Schenkungsteuer unterliegen Schenkungen unter Lebenden, die § 7 ErbStG in einem abschließenden Katalog definiert.
1 Mit Recht krit. Jülicher, IStR 1999, 109 u. 202; Schindhelm/Stein, FR 1999, 880; dies., StuW 1999, 31 (dort zum Trust); Söffing/Kirsten, DB 1999, 1626; ausf. Klein, Ausländische Zivilrechtsformen im deutschen Erbschaftsteuerrecht, 2000, Rz. 245 ff. (zum Trust), 267 ff.; zum Trust außerdem: Habammer, DStR 2002, 425; von Oertzen, DStR 2002, 433; Wienbracke, StBp. 2008, 153. 2 BFH BStBl. 1991, 412, hatte die Erfassung des Anspruchs des Vertragserben aus § 2287 BGB mangels Rechtgrundlage ursprünglich für rechtswidrig erachtet, woraufhin der Gesetzgeber § 3 II Nr. 7 ErbStG mit dem StÄndG 1992 v. 25.2.1992, BGBl. I 1992, 297, ergänzt hat. Dabei übersah er aber, dass § 2287 BGB auch auf den Schlusserben eines gemeinschaftlichen Testaments analog angewendet wird. Die Neufassung des § 3 II Nr. 7 ErbStG durch das ErbStRG 2009 zieht daraus klarstellend die folgerichtige Konsequenz (so bereits zur früheren Fassung BFH BStBl. 2000, 587 [588]). 3 § 3 Abs. 2 Nr. 4 ErbStG erfasst nur Abfindungen für den Verzicht auf entstandene Pflichtteilsansprüche. Die Abfindung, die ein künftiger gesetzlicher Erbe an einen anderen Erben für den Verzicht auf einen künftigen Pflichtteilsanspruch zahlt, wird dagegen als eine freigebige Zuwendung i.S. des § 7 I Nr. 1 ErbStG des künftigen gesetzlichen Erben behandelt, s. BFH BStBl. 2001, 456 (457 f.); 2013, 922 f. Allerdings soll sich die anwendbare Steuerklasse nach dem Verhältnis des Leistungsempfängers (Verzichtenden) zum künftigen Erblasser richten; gegen diese Inkonsequenz Hartmann, UVR 2001, 255 (258 f.). 4 Dazu ausf. Meincke, ZEV 2000, 214; Berresheim, RNotZ 2007, 501 ff.; instruktiv zu Abfindungen für einen Pflichtteilsverzicht Löhr/Görges, DStR 2011, 1939 (1940 ff.). 5 So bereits RFH RStBl. 1935, 1485; 1938, 929; 1942, 1063; BFH BStBl. 1972, 886; aus jüngerer Zeit BFH BStBl. 1996, 242; BFH/NV 1999, 313; 2001, 601; Berresheim, RNotZ 2007, 501 (525 ff.); zur Auslegung eines Erbvergleichs s. BFH/NV 2013, 938. 6 So bereits Benne, FR 2004, 1102 (1106); zust. M. Fischer, ZEV 2011, 441; Berresheim, DB 2011, 2623 (2625 f.).
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§ 15
Rz. 22
Erbschaft- und Schenkungsteuer
2.1 Grundtatbestand der freigebigen Zuwendung unter Lebenden (§ 7 I Nr. 1 ErbStG) 22
Als Schenkungen unter Lebenden gelten nach dem Grundtatbestand des § 7 I Nr. 1 ErbStG vornehmlich freigebige Zuwendungen unter Lebenden, soweit der Bedachte durch sie auf Kosten des Zuwendenden bereichert wird. Darunter fallen zunächst alle Schenkungen i.S.d. § 516 I BGB. Der steuerrechtliche Begriff der freigebigen Zuwendung ist jedoch als Ausdruck einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise (§ 5 Rz. 70) weiter gefasst. Während die Schenkung nach § 516 I BGB das beiderseitige Einverständnis über die Unentgeltlichkeit voraussetzt, bedarf es bei der „freigebigen Zuwendung“ nur des „Willens zur Unentgeltlichkeit“ auf Seiten des Zuwendenden1. Der Wille zur Unentgeltlichkeit liegt nach der Rspr. dann vor, „wenn der Zuwendende in dem Bewusstsein handelt, zu der Vermögenshingabe weder rechtlich verpflichtet zu sein noch dafür eine mit seiner Leistung in einem synallagmatischen, konditionalen oder kausalen Zusammenhang stehende Gegenleistung zu erhalten“2. Dabei sind zivilrechtliche Gestaltungsfreiheiten zu beachten3. An der Unentgeltlichkeit fehlt es daher bspw., wenn der Erwerber einen Gegenstand absprachegemäß wieder zurückgewähren muss, wie insb. bei Leih- und Treuhandverhältnissen (allerdings kann die bloße Nutzungsmöglichkeit eine steuerbare Bereicherung begründen)4.
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Der Zuwendende muss die Unentgeltlichkeit seiner Leistung wenigstens „nach Laienart“ erfasst haben (Parallelwertung in der Laiensphäre). Die innere Tatsache ist anhand objektiver Umstände zu verifizieren, so dass auf einen Willen zur Unentgeltlichkeit etwa dann geschlossen werden kann, wenn zwischen Leistung und Gegenleistung ein auffälliges Missverhältnis besteht (zur gemischten Schenkung s. Rz. 25) und die Beteiligten verwandtschaftlich miteinander verbunden sind5. Demgegenüber existiert im Geschäftsleben der Erfahrungssatz, dass sich Kaufleute nichts zu schenken pflegen6. Im Bereich geschäftlicher Beziehungen kann deshalb auch bei objektiver Ungleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung der Wille zur Unentgeltlichkeit fehlen, wenn für die Leistung aus Sicht des Leistenden sein geschäftliches Interesse ganz im Vordergrund gestanden hat7. Eine freigebige Zuwendung liegt auch nicht bereits in der Übernahme einer Bürgschaft. Sie führt erst dann zur Steuerpflicht, wenn nach den objektiven Umständen der Schuldner vom Bürgen endgültig von der gegen ihn weiterbestehenden Forderung befreit werden soll8. Obwohl bereits ein formgültiges Schenkungsversprechen eine Forde1 BFH BStBl. 1992, 921 (923); 1994, 366 (369); 1995, 609; 1997, 832 (834); FG Düsseldorf EFG 2000, 139, zum Problem ausf. Klein-Blenkers, Die Bedeutung der subjektiven Merkmale im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, 1992, 100 ff., 123. 2 S. etwa BFH BStBl. 2008, 256, für eine Zuwendung von Geld für einen Teilverzicht auf nachehelichen Unterhalt (s. Schlünder/Geißler, FR 2008, 530; Münch, DStR 2008, 26); BFH BStBl. 2014, 896, für den vorzeitigen unentgeltlichen Verzicht auf ein vorbehaltenes Nießbrauchsrecht; demgegenüber fordern Meincke16, § 7 ErbStG Rz. 82 ff.; Klein-Blenkers, ZEV 1994, 221 (224), zusätzlich einen auf die Bereicherung gerichteten, weiter gehenden „Willen zur schenkweisen Zuwendung“. 3 BFH BStBl. 2005, 843 (845): keine freigebige Zuwendung bei Erfüllung einer Ausgleichsforderung auf Grund ehevertraglicher Beendigung des Güterstands der Zugewinngemeinschaft, selbst wenn der Güterstand der Zugewinngemeinschaft im Anschluss an die Beendigung wieder neu entsteht (Modell der „Güterstandsschaukel“; FG Düsseldorf EFG 2006, 1447 f.; anders aber BFH BStBl. 2007, 785 [786 f.], wenn der Güterstand der Zugewinngemeinschaft fortgeführt wird); Schlünder/Geißler, ZEV 2005, 505; Wachter, FR 2006, 42; Kensbock/Menhorn, DStR 2006, 1073. 4 S. etwa BFH BStBl. 2011, 134 (136); BFH/NV 2014, 537 (538); anders jedoch BFH BStBl. 2010, 806 (807 f.) zur Vermeidung eines Wertungswiderspruchs zu § 3 I Nr. 1 ErbStG (s. Rz. 14) für die zinslose Stundung eines nicht geltend gemachten Pflichtteilsanspruchs; außerdem Jülicher, ZErb 2007, 361 (362); Meincke16, § 7 ErbStG Rz. 55; Noll, FS Schaumburg, 2009, 1025 (1032) m.w.N. 5 BFH BStBl. 1991, 912 (914); BFH/NV 1999, 618; vgl. auch die objektivierende Theorie von SchulzeOsterloh, StuW 1977, 122 (135). 6 Dazu krit. Hartmann, UVR 1996, 39 (41); Hartmann, DStZ 1998, 508; Mößlang, UVR 1998, 13; Viskorf, Stbg. 1998, 337. 7 BFH BStBl. 1997, 832 (835); zum Sponsoring s. Mückl, StuW 2007, 122; speziell zur freigebigen Zuwendung an Sportvereine s. BFH BStBl. 2007, 472 (476 ff.) m. krit. Anm. Mückl, BB 2007, 1095; außerdem Viskorf, ZEV 2007, 285 (291); Eggers, DStR 2007, 1752. 8 BFH/NV 2000, 1557; dazu Anm. Hartmann, UVR 2000, 448.
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Schenkung unter Lebenden
Rz. 25
§ 15
rung und damit eine vermögensmäßige Bereicherung des Beschenkten ausmacht, entsteht die Schenkungsteuer gem. § 9 I Nr. 2 ErbStG erst im Zeitpunkt der Ausführung (Erfüllung) des Schenkungsversprechens (s. Rz. 131)1. Der Gegenstand der freigebigen Zuwendung richtet sich nach dem bürgerlichen Recht2. Fragen der wirtschaftlichen Zuordnung von Wirtschaftsgütern bleiben im Erbschaftsteuerrecht grds. außer Betracht. Die Zurechnung richtet sich vielmehr vornehmlich nach der zivilrechtlichen Lage3. Der Empfänger ist folglich erst dann bereichert, wenn er über den Zuwendungsgegenstand tatsächlich und rechtlich frei verfügen kann4. Die Bereicherung des Bedachten kann sowohl in einer Mehrung seines Vermögens, in der Verringerung seiner Schulden oder einer bloßen Nutzungsmöglichkeit (z.B. der zinslosen Stundung einer Forderung) liegen. Bei Vermögenstransfers societas causa, d.h. solchen zwischen Kapitalgesellschaft und Gesellschafter, liegt keine freigebige Zuwendung vor5. Um eine sich daraus ergebende Besteuerungslücke zu schließen, hat der Gesetzgeber mit dem BeitrRLUmsG v. 7.12.2011 in § 7 VIII 1 ErbStG mit Wirkung v. 14.12.2011 einen weiteren Steuertatbestand fingiert (dazu Rz. 31).
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2.2 Gemischte Schenkung/Schenkung unter Auflage Wenn bei einem gegenseitigen Vertrag Leistung und Gegenleistung in einem evidenten Missverhältnis stehen, kann regelmäßig auf eine gemischte Schenkung geschlossen werden (s. Rz. 23). Als gemischte Schenkung ist es auch zu werten, wenn der Erwerber verpflichtet ist, ein Gleichstellungsgeld an einen Dritten zu zahlen6. Von der gemischten Schenkung ist die Schenkung unter Auflage (§ 525 BGB) abzugrenzen7. Während bei der Schenkung unter Auflage der ganze Gegenstand verschenkt wird, setzt sich die gemischte Schenkung aus einem unentgeltlichen und einem entgeltlichen Rechtsgeschäft zusammen. In Anknüpfung an diese zivilrechtliche Ausgangslage zerlegt der BFH die gemischte Schenkung in einen entgeltlichen und einen unentgeltlichen Teil, so dass nach § 7 I Nr. 1 ErbStG („soweit“) nur der unentgeltliche Teil der Besteuerung unterliegt. Folgerichtig hat er für die Schenkungsteuer den Steuerwert der Bereicherung nach §§ 10 ff. ErbStG bisher nur quotal mit der Folge angesetzt, dass ein zusätzlicher Abzug des Werts der Gegenleistung unterblieb8. Der BFH praktizierte dazu bisher eine Verhältnisrechnung, die ergebnisorientiert verhindern sollte, dass sich bei einer gemischten Schenkung durch den Abzug der Gegenleistung von einem niedrigen Steuerwert (z.B. dem bis zum 31.12.1995 geltenden Einheitswert) eine negative Bemessungsgrundlage errechnete, obwohl der Erwerber in Wirklichkeit bereichert war. Nach der vom BVerfG erzwungenen konsequenten Ausrichtung der Bemessungsgrundlage am Verkehrswert (Rz. 58) bedarf es dieser Krücke nicht mehr. Deshalb sieht R E 7.4 ErbStR 2011 nunmehr sowohl für gemischte Schenkungen 1 Dazu ausf. Wiegand, Das Schenkungsversprechen im Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuerrecht, Diss., 2011, 40 ff. 2 BFH BStBl. 2005, 843 (844); anschaulich für die exakte Bestimmung des Zuwendungsgegenstandes BFH BStBl. 2008, 631: Mit der schenkungsweisen Einräumung einer typischen Unterbeteiligung an einem Gesellschaftsanteil wird kein Gegenstand zugewendet, wenn es sich um eine reine Innengesellschaft ohne die Bildung von Gesamthandsvermögen handelt. Der Unterbeteiligte erwirbt nur ein „Bündel schuldrechtlicher Ansprüche“. Bereichert ist er erst dann, wenn ihm aus der Unterbeteiligung tatsächlich Gewinnausschüttungen zufließen (a.A. Hübner, ZEV 2008, 254). 3 BFH BStBl. 1983, 179; 2007, 319 (321); 2008, 258 (259); 2010, 74 (75); 2010, 363 f.; Noll, FS Schaumburg, 2009, 1025 (1027). 4 BFH BStBl. 2007, 669; 2008, 28; eingehend zu den Zurechnungsfragen bei der „Schenkung unter Vorbehalt“ Escher, FR 2008, 985. 5 Zur verdeckten Gewinnausschüttung s. nur BFH BStBl. 2008, 258; zur verdeckten (disquotalen) Einlage s. nur BFH BStBl. 2010, 566; beides bestätigt durch BFH BStBl. 2013, 930 (933); s. aber nach wie vor BMF v. 5.6.2013, BStBl. I 2013, 1465. 6 BFH BStBl. 2003, 162 (163 f.): Im Verhältnis des Zuwendenden zum Dritten liegt regelmäßig eine (weitere) freigebige Zuwendung (Forderungsschenkung). 7 Ausf. hierzu Hecht, Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen, Diss., 2012, 161 ff. 8 BFH BStBl. 1982, 83; 1982, 714; 1989, 524; 2006, 475 (476); krit. Meincke, ZEV 1994, 17, der zu Recht Friktionen gegenüber der steuerlichen Behandlung der Erwerbe von Todes wegen angeführt hat.
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§ 15
Rz. 26
Erbschaft- und Schenkungsteuer
als auch für Schenkungen unter Auflage wieder eine Saldomethode vor, bei der in den Grenzen des § 10 VI ErbStG (s. Rz. 129) vom vollen Gegenstandswert die Gegenleistung oder Belastung abgezogen wird1. 26
Beim Erwerb einer Beteiligung an einer vermögensverwaltenden Personengesellschaft oder einer anderen Gesamthandsgemeinschaft (z.B. an einer Erbengemeinschaft) fingiert § 10 I 4 ErbStG die Haftung des Erwerbers für die Verbindlichkeiten der Gesamthand (vgl. §§ 130; 128 HGB [analog]) als Gegenleistung, soweit er hierfür gesellschaftsintern, d.h. regelmäßig entsprechend seiner Beteiligungsquote, einzustehen hat2. Auch insoweit können daher die Grundsätze zur gemischten Schenkung zur Anwendung gelangen. Fällt die Beteiligung hingegen unter § 97 I Nr. 5 BewG, fließen die Verbindlichkeiten bereits in die Bewertung der wirtschaftlichen Einheit mit ein (s. Rz. 70 f., 74).
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Lediglich in den Fällen, in denen für das übertragene Vermögen ein Verschonungsabschlag (vgl. §§ 13a; 13c ErbStG) in Anspruch genommen werden kann, muss dafür Sorge getragen werden, dass die (bereits bei der Bewertung der wirtschaftlichen Einheit berücksichtigte) Gegenleistung nicht in voller Höhe, sondern ebenfalls nur entsprechend dem Verschonungsabschlag Berücksichtigung findet (s. § 10 VI 4 f. ErbStG)3.
2.3 Mittelbare Schenkung 28
Das Tatbestandsmerkmal des § 7 I Nr. 1 ErbStG „Bereicherung auf Kosten des Zuwendenden“ erfordert nicht, dass der das Vermögen des Zuwendenden schmälernde Entreicherungsgegenstand mit dem das Vermögen des Empfängers vermehrenden Bereicherungsgegenstand identisch ist4. Es genügt vielmehr, dass der Zuwendende einem anderen mit seinen Mitteln einen Gegenstand von einem Dritten verschafft, ohne dass er selbst zunächst Eigentümer geworden ist. Für die Schenkungsteuer maßgebend ist die tatsächliche Bereicherung, die sich danach richtet, was der Bedachte endgültig erhält5. Schenkt jemand einem anderen z.B. einen Geldbetrag zum Erwerb eines Grundstücks, so ist es eine Frage des Einzelfalls, ob (unmittelbar) der Geldbetrag oder (mittelbar) letztlich das Grundstück zugewendet worden ist. Die Rspr. grenzt dies danach ab, ob in der Schenkungsabrede ein bestimmtes Objekt als Gegenstand der Zuwendung festgehalten ist. In diesem Fall liegt eine mittelbare Grundstücksschenkung vor, wenn der Beschenkte im Verhältnis zum Schenker über das Geld nicht frei verfügen, sondern es nur zum Kauf eines konkret bezeichneten Grundstücks verwenden darf6. Die Bedeutung der mittelbaren Schenkung ergab sich bis zum ErbStRG 2009 vornehmlich daraus, dass nach st. Rspr. als Bereicherung nicht der Geldbetrag, sondern der Steuerwert (des Grundstücks) gelten sollte7. Diese Rspr. war ebenso wie die Judikatur zur gemischten Schenkung (Rz. 25) vom Bemühen getragen, durch Bewertungsschieflagen provozierte Zufälligkeiten (Geld- oder Grundstücksschenkung?) zu vermeiden, und letztlich zum Scheitern verurteilt. Nach Vereinheitlichung des 1 Zur neugefassten Verwaltungsvorschrift s. Gräfe, DStR 2012, 65. 2 Die Bestimmung wurde mit dem ErbStRG 2009 eingefügt. Ohne § 10 I 4 ErbStG wäre die Haftung in Ansehung der Gesellschaftsverbindlichkeiten keine Gegenleistung (BFH BStBl. 1992, 923; 1996, 546; 1999, 476 [nur LS] = BFH/NV 1999, 1426); zur Grundstücksschenkung gegen Übernahme von Grundstückslasten bei Freistellung im Innenverhältnis s. BFH BStBl. 2002, 165 (166 f.) m. krit. Anm. Sedlaczek, UVR 2002, 243. Aufschiebend bedingte Gegenleistungen sind jedoch erst nach Bedingungseintritt zu berücksichtigen, s. BFH BStBl. 2006, 475 (476) m. Anm. Seifried, ZEV 2006, 279; zu im Zusammenhang mit Grundstücksübertragungen übernommenen Pflegeverpflichtungen s. Ländererlasse v. 4.6.2014, BStBl. I 2014, 891; FG Rheinl.-Pf. EFG 2007, 1095. 3 Dazu Pach-Hanssenheimb, DStR 2009, 466 (467 f.). 4 BFH BStBl. 1996, 548; 2005, 188 (189); 2005, 800 (801); 2010, 843 (844); 2012, 712 (715). 5 BFH BStBl. 1991, 32; 2005, 188 (189); BFH/NV 2002, 1030 (1031). 6 Vgl. BFH BStBl. 1979, 533; 1985, 159; 1986, 460; BFH/NV 2006, 302 f.; R E 7.3 I ErbStR 2011; ausf. zur mittelbaren Schenkung Viskorf, ErbR 2006, 44 (Teil 1), 71 (Teil 2); Lehmann, Gesellschaftsrechtliche Gestaltungen im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, Diss., 2009, 139 ff. (zur mittelbaren Anteilsschenkung); zu Grenzfällen s. Wolf, JbFfSt. 2006/07, 591. 7 Diese Grundsätze fanden hingegen auf Erwerbe von Todes wegen keine Anwendung (BFH BStBl. 1991, 310; BFH/NV 1997, 28; 2003, 1583; a.A. Hübner, DStR 2003, 4 [7 f.]).
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Schenkung unter Lebenden
Rz. 31
§ 15
Bewertungsmaßstabs (Rz. 58) könnte sie getrost aufgegeben werden. Allerdings halten sowohl R E 7.3 I ErbStR 2011 als auch der BFH derzeit weiterhin an der Rechtsfigur der mittelbaren Schenkung fest1.
2.4 Erweiterung um Ergänzungs- und Ersatztatbestände (§ 7 I Nrn. 2–10, V–VII ErbStG) Die in § 7 ErbStG ferner aufgeführten steuerpflichtigen Erwerbsvorgänge (§ 7 I Nrn. 2–10 ErbStG) könnten bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise auch als freigebige Zuwendungen i.S.d. Grundtatbestands angesehen werden2. Ihre Aufzählung dient vor allem der Rechtssicherheit. Vergleichbar mit § 3 II ErbStG (Rz. 18 ff.) handelt es sich um Ergänzungs- (§ 7 I Nrn. 2–4, 7–9 ErbStG) und Ersatztatbestände (§ 7 I Nrn. 5, 6, 10 ErbStG).
29
§ 7 V–VII ErbStG enthalten Sonderregelungen zur Gesellschafternachfolge unter Lebenden. Die Regelung des § 7 VII ErbStG entspricht der Vorschrift des § 3 I Nr. 2 Satz 2 ErbStG (Rz. 16), betrifft das Ausscheiden aus anderen Gründen als durch Tod und fingiert eine gemischte Schenkung für den Fall einer unterhalb des Steuerwerts des Anteils verbleibenden Abfindung (z.B. Buchwertklausel)3. § 7 V ErbStG ist systematisch deplatziert, da er die Wertermittlung (§§ 10 ff. ErbStG) für den Fall der Anteilszuwendung mit Buchwertklausel regelt. § 7 VI ErbStG fingiert – ebenfalls wenig geglückt – eine selbständige Schenkung für den Fall, dass ein Personengesellschaftsanteil mit einem Übermaß an Gewinnbeteiligung ausgestattet wird.
30
Eine disquotale (verdeckte) Einlage eines Gesellschafters einer Kapitalgesellschaft begründet wegen der gesellschaftsrechtlichen Veranlassung keine freigebige Zuwendung i.S.d. § 7 I Nr. 1 ErbStG an die Kapitalgesellschaft; nach Auffassung des BFH, der sich einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise versagt, fehlt es auch an einer freigebigen Zuwendung an die durch die disquotale Einlage mittelbar bereicherten Mitgesellschafter4. Um den sich daraus ergebenden Steuergestaltungsmöglichkeiten zu begegnen (s. BT-Drucks. 17/7524, 21), fingiert mit Wirkung v. 14.12.2011 der durch das BeitrRLUmsG v. 7.12.2011, BGBl. I, 2592 (2614), angefügte § 7 VIII 1 ErbStG eine Schenkung an den Mitgesellschafter insoweit, als die verdeckte Einlage zu einer Werterhöhung des Anteils der Mitgesellschafter führt. § 7 VIII 1 ErbStG stellt damit die disquotale (verdeckte) Einlage schenkungsteuerlich einer direkten Zuwendung zwischen Mitgesellschaftern gleich. Die Regelung des § 7 VIII 1 ErbStG ist insoweit problematisch, als sie über die Fälle der verdeckten Einlage hinausgeht und auch Zuwendungen Dritter (Nichtgesellschafter) erfasst5. Der überschießende Wortlaut ist aber zumindest in den Fällen, in denen Gläubiger
31
1 BFH BStBl. 2010, 843 (844) bezieht sie ohne zeitliche Einschränkung ausdrücklich auf alle als Zurechnungsobjekt in Betracht kommenden Gegenstände und Rechte; s. auch FG München EFG 2013, 869 (Rev. II R 26/13), zur mittelbaren Schenkung einer Kapitallebensversicherung. 2 Moench/Weinmann, § 7 ErbStG Rz. 1. So ordnen BFH BStBl. 2001, 456 (457 f.); 2013, 922 f., eine in einem Erbschaftsvertrag zwischen Geschwistern (als gesetzliche Erben) für einen Pflichtteilsverzicht versprochene Abfindung als freigebige Zuwendung ein (s. bei Rz. 21; Lohr/Görges, DStR 2011, 1939 [1940 f.]). Dem entspricht es wertungsmäßig, dass § 7 I Nr. 5 ErbStG eine Abfindung für einen Erbverzicht, den ein gesetzlicher Erbe gegenüber dem Erblasser erklärt hat, als steuerpflichtige freigebige Zuwendung behandelt. 3 Zu den Fallgruppen s. Riedel, ZErb 2009, 2 (Teil I) u. 113 (Teil II); Krumm, NJW 2010, 187; Klose, GmbHR 2010, 300 (Teil I) u. 355 (Teil II); Jesse, FR 2011, 201 (Teil I), 303 (Teil II); Ivens, GmbHR 2011, 465; Baumann/Seer/Krumm, Fachberater für Unternehmensnachfolge, 2011, Rz. 1696 ff., 1749 ff.; Troll/Gebel/Jülicher, § 7 ErbStG Rz. 363–412; Pichler, Das Prinzip der Anwachsung, Diss., 2014, 235 ff. 4 BFH BStBl. 2010, 566 f.; Christ, ZEV 2011, 10 (11); Christ, ZEV 2011, 63; s. auch BFH BStBl. 2013, 930 (932 f.) zu disquotalen verdeckten Gewinnausschüttungen; a.A. Ländererlasse v. 14.3.2012, BStBl. I 2012, 331, Rz. 2.6.1. u. 2. Anders aber nun BFHE 246, 506 = GmbHR 2014, 1334 (1336 f.), wenn im Zuge einer Kapitalerhöhung ein Neugesellschafter (Dritter) begünstigt wird; zusammenfassend Dorn, ZEV 2013, 488. 5 Zur Neuregelung s. Ländererlasse v. 14.3.2012, BStBl. I 2012, 331; van Lishaut/Ebber/Schmitz, Ubg. 2012, 1; Höne, UVR 2012, 10; Milatz/Herbst, ZEV 2012, 21; M. Fischer, ZEV 2012, 77; Viskorf/Haag, DStR 2012, 1166; Schulte/Petschulat, Disquotale Einlagen und verdeckte Gewinnausschüttungen im Schenkungsteuerrecht, IFSt-Schrift 484 (2013), 30 ff.
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§ 15
Rz. 32
Erbschaft- und Schenkungsteuer
(z.B. Banken) zur Sanierung der Kapitalgesellschaft auf Forderungen verzichten, teleologisch zu reduzieren (vgl. BT-Drucks. 17/7524, 21)1. Im Konzernverbund getätigte verdeckte Gewinnausschüttungen (wie auch verdeckte Einlagen) sind aber nur steuerpflichtig, wenn auch ein Bereicherungswille nachweisbar ist (§ 7 VIII 2 ErbStG, s. BT-Drucks. 17/7524, 21).
3. Zweckzuwendung (§§ 1 I Nr. 3; 8 ErbStG) 32
Das sind Zuwendungen von Todes wegen oder freigebige Zuwendungen unter Lebenden, die mit der Auflage verbunden sind, zugunsten eines bestimmten Zwecks verwendet zu werden, oder die von der Verwendung zugunsten eines bestimmten Zwecks abhängig sind. Die Eigenart der Zweckzuwendung besteht darin, dass das Zugewandte keiner bestimmten Person, sondern einem objektiv bestimmten Zweck zugute kommen soll (RT-Drucks. 1/4856, 13, zum ErbStG 1922). Die Steuerpflicht der Zweckzuwendung soll Entlastungswirkungen bei der steuerpflichtigen Zuwendung neutralisieren2. Der Erwerber (einer Zuwendung unter Auflage) hat den eigenen Erwerb nur abzüglich des zur Erfüllung der Zweckauflage erforderlichen Betrages (s. § 10 V Nr. 2 ErbStG, Rz. 126) zu versteuern. Damit dieser insoweit nicht erfasste Betrag der Zuwendung i.Erg. nicht unversteuert bleibt, wird er als „Zweckzuwendung“ der Besteuerung unterworfen. Die Zweckzuwendung führt daher nur insoweit zu einer Steuerpflicht, als hierdurch die Bereicherung des Erwerbers gemindert wird (§ 8 ErbStG). Der Tatbestand der „Zweckzuwendung“ lässt sich mangels einer bereicherten Person3 jedoch im Rahmen einer Bereicherungssteuer (Rz. 1) nicht rechtfertigen und ist ein Überbleibsel des schlichten Verkehrsteuergedankens (Rz. 3).
33
Nach Auffassung der Finanzverwaltung (BB 1986, 250 [251]; DB 1986, 621) liegt im Falle einer Zuwendung für politische Zwecke eine Zweckzuwendung vor. Nach BFH BStBl. 1987, 861, trifft dies dagegen nicht zu, wenn der Bedachte ein Sparguthaben mit der Auflage erhält, die zu Lebzeiten mit dem Erblasser vereinbarte Pflege seines Grabes zu besorgen; vgl. auch BFH BStBl. 1991, 161, zur Pflege eines Pudels.
4. Ersatzerbschaftsteuer bei Familienstiftungen und -vereinen (§ 1 I Nr. 4 ErbStG) Literatur: Meincke, Erbersatzsteuer und Gleichheitssatz, StuW 1982, 169; Rüter, Die Stiftung als Gestaltungsinstrument der Nachfolge bei Familienunternehmen aus steuerlicher Sicht: Modellbetrachtung für eine Einmann-GmbH, 1997; Korezkij, Familienstiftungen im neuen Erbschaftsteuerrecht, ZEV 1999, 132; Werkmüller, Steuerliche Aspekte der ausländischen Familienstiftung, ZEV 1999, 138; Jülicher, Brennpunkte der Besteuerung der inländischen Familienstiftung im ErbStG, StuW 1999, 363; Freundl, Die Stiftung – das Gestaltungsinstrument der Unternehmensnachfolge, DStR 2004, 1509; Seer/Versin, Die Familienstiftung im Steuerrecht, SteuerStud 2006, 281; von Löwe/du Roi Droege, Ist die Erbersatzsteuer bei Familienstiftungen reformbedürftig?, ZEV 2006, 530; Werner, Stiftungen als Instrument der Unternehmens- und Vermögensnachfolge, ZEV 2006, 539; Heuser/Frye, Die deutsche Familienstiftung – steuerrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten für Familienvermögen, BB 2011, 983; Blumers, Die Familienstiftung als Instrument der Nachfolgeregelung, DStR 2012, 1; von Oertzen, Vorbereitungen für den großen Ersatzerbschaftsteuertermin zum 1.1.2014, DStR 2012, Beihefter zu Heft 11; Feldner/Stoklassa, Die Familienstiftung als Instrument der Unternehmensnachfolge, ErbStB 2014, 201 (Teil I) und 227 (Teil II); zum jährlichen Fachtreffen der Familienstiftungen s. Berichte von Falk/Richter, FR 2011, 176; FR 2012, 158; FR 2013, 343.
34
Solange Vermögen in einer Stiftung oder einem Verein rechtlich verselbständigt gehalten wird, ist kein Tatbestand des § 1 I Nrn. 1–3 ErbStG erfüllt. Um zu verhindern, dass dies genutzt wird, um Vermögen über Generationen hinweg der ErbSt zu entziehen, hat das ErbStG 1974 für Familienstiftungen und -vereine einen Ersatzerbschaftsteuertatbestand eingeführt (BT1 Kahlert/Schmidt, DStR 2012, 1208; Ebbinghaus/Osenroth/Hinz, BB 2013, 1374 (1380 f.); Seer, DStR 2014/42, Beihefter, 117 (135 f.). 2 Meincke16, § 8 ErbStG Rz. 2. 3 Steuerschuldner ist deshalb der mit der Zweckauflage Beschwerte (§ 20 I ErbStG, dazu Rz. 36).
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Subjektive Steuerpflicht
Rz. 36
§ 15
Drucks. VII/1333, 3). § 1 I Nr. 4 ErbStG fingiert deshalb im Zeitabstand von 30 Jahren, der nach der Vorstellung des Gesetzgebers einer Generation entspricht, einen Erbfall mit einem Erblasser, der zwei Kinder hinterlässt: Es findet die Steuerklasse I (§ 15 I ErbStG, s. Rz. 136) Anwendung1; der persönliche Freibetrag (§ 16 I Nr. 2 ErbStG, s. Rz. 100) wird bei einem Tarifsplitting doppelt gewährt (s. § 15 II 3 ErbStG). Da der Übergang des Vermögens auf eine Stiftung seinerseits nach §§ 3 II Nr. 1; 7 I Nr. 8 ErbStG steuerbar ist, beginnt die Frist im Zeitpunkt des ersten Übergangs von Vermögen auf die Stiftung (s. § 9 I Nr. 4 ErbStG). Die Steuerschuld kann gem. § 24 ErbStG verrentet oder alternativ nach § 28 II ErbStG gestundet werden. Der Tatbestand des § 1 I Nr. 4 ErbStG erweist sich zumindest hinsichtlich seiner technischen Ausgestaltung innerhalb des ErbStG insoweit als Fremdkörper, als er nicht an zugewendetes (transferiertes) Vermögen, sondern an den (ruhenden) Vermögensbestand anknüpft. Er bezieht sich allein auf Familienstiftungen und -vereine, worunter er solche versteht, die „wesentlich im Interesse einer Familie oder bestimmter Familien errichtet“ sind. Diese Wendung genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Bestimmtheit von Eingriffstatbeständen (§ 3 Rz. 243 ff.) entgegen BVerfGE 63, 312, nicht. BFH BStBl. 1998, 114 (116) versteht darunter (weitgefasste) Vermögensinteressen und rechnet dazu nicht nur Bezugs- und Anfallsrechte, sondern alle Vermögensvorteile, welche die begünstigten Familien aus dem Stiftungsvermögen (potentiell) ziehen können (z.B. auch unentgeltliche/verbilligte Nutzung des Stiftungsvermögens einschließlich des Wohnens)2. Des Weiteren ist es angesichts des von BVerfGE 93, 174, herausgestellten Familienprinzips (Rz. 5, 100) wohl schwer zu rechtfertigen, warum nur Familienstiftungen/-vereine3, nicht aber Nichtfamilienstiftungen (auch nicht: sog. Geliebtenstiftungen) besteuert werden (von BVerfGE 63, 312, erst gar nicht erörtert).
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III. Subjektive Steuerpflicht 1. Steuersubjekte 1.1 Kreis der Steuerschuldner (§ 20 I ErbStG) Anknüpfend an die unter 2. dargelegten Erwerbsvorgänge (= Steuerobjekt) zählt § 20 I ErbStG die folgenden Steuersubjekte i.S.v. Steuerschuldnern (§ 6 Rz. 6, 19) auf: (1) beim Erwerb von Todes wegen (§ 1 I Nr. 1 ErbStG, dazu Rz. 7 ff.): der Erwerber von Vermögen; (2) bei einer Schenkung unter Lebenden (§ 1 I Nr. 2 ErbStG, dazu Rz. 22 ff.): sowohl der Erwerber als auch der Schenker als Gesamtschuldner (§ 44 AO, dazu § 6 Rz. 58 ff.); (3) bei einer Zweckzuwendung (§ 1 I Nr. 3 ErbStG, dazu Rz. 32 f.): der mit der Ausführung der Zuwendung Beschwerte; (4) für die Ersatzerbschaftsteuer (§ 1 I Nr. 4 ErbStG, dazu Rz. 34 f.): die Familienstiftung oder der Familienverein; (5) die ausländische Vermögensmasse (z.B. sog. trust) im Falle des Erwerbs nach §§ 3 II Nr. 1 Satz 2; 7 I Nr. 8 Satz 2 ErbStG (Rz. 19, 29), wobei im letzteren Fall auch derjenige zum Schuldner wird, der die Vermögensmasse gebildet oder ausgestattet hat (z.B. sog. settlor). 1 In den Fällen von sog. Zustiftungen an bereits bestehende Familienstiftungen findet dagegen die ungünstige Steuerklasse III Anwendung (s. BFH BStBl. 2010, 363), selbst wenn der Zuwendende der einzige Begünstigte der Familienstiftung ist. 2 Angesichts der Unbestimmtheit der Vorschrift verwundert es nicht, dass sich ansonsten die Literaturmeinungen darüber, wann ein wesentliches Familieninteresse vorliegt, in einer Spannweite zwischen 25 % (frühere Grenze des § 17 I EStG), 50 % (Grenze des § 15 II AStG), 75 % bis zu 90 % an den laufenden Bezügen oder am zurückfallenden Vermögen schwanken! Zum Meinungsstand s. Laule/ Heuer, DStZ 1987, 495; Jülicher, StuW 1995, 71. 3 Als Familie wird der in § 15 AO aufgeführte Kreis der Angehörigen verstanden; a.A. Flämig, DStZ 1986, 11, 14: Familie = Kernfamilie Eltern/Kinder.
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§ 15
Rz. 37
Erbschaft- und Schenkungsteuer
Sind Beschenkter und Schenker Gesamtschuldner, kann aus dem Charakter der Schenkungsteuer als Bereicherungssteuer (Bereicherungsprinzip) gefolgert werden, dass sich das FA bei pflichtgemäßer Ausübung seines Auswahlermessens (§ 6 Rz. 59) zunächst an den Beschenkten halten muss (s. Wortlaut: „auch der Schenker“, BFH BStBl. 1962, 323). Nach BFH BStBl. 1988, 188, kann vom Schenker – als Gesamtschuldner – allerdings auch dann noch Schenkungsteuer gefordert werden, wenn gegenüber dem Beschenkten bereits ein bestandskräftiger Schenkungsteuerbescheid ergangen ist, der eine materiell zu geringe Steuer ausweist. Hat der Schenker im Verhältnis zum Beschenkten die geschuldete Steuer übernommen und ist dies dem FA bekannt, ist ausnahmsweise vorrangig der Schenker in Anspruch zu nehmen1. Übernimmt der Schenker die Schenkungsteuer, erhöht sich nach § 10 II ErbStG sogar die Bemessungsgrundlage um die auf die Schenkung entfallende Schenkungsteuer. 37
Die Steuerschuldnerschaft der Erwerber des zugewandten Vermögens entspricht dem Bereicherungsprinzip (Rz. 1) und ist systemkonsequent. Ohne Rechtfertigung bleibt es demgegenüber, den (entreicherten!) Schenker auch noch zur Schenkungsteuer heranzuziehen. Seine Gesamtschuldnerschaft ist eine „Verkehrsteuer-Reminiszenz“ (Rz. 3)2. Verfassungsrechtlich kann die Norm allenfalls als (subsidiärer) Haftungstatbestand aufrechterhalten bleiben3. Dasselbe gilt für die Steuerpflicht des mit der Auflage einer Zweckzuwendung Beschwerten (s. Rz. 32). Obwohl die Ersatzerbschaftsteuer nicht die Stiftung/den Verein selbst, sondern die dahinter stehenden Familienmitglieder treffen will, erklärt § 20 I ErbStG die Stiftung/den Verein und nicht die Destinatäre/Mitglieder zum Steuerschuldner. Auch hierdurch wird deutlich, dass die Ersatzerbschaftsteuer innerhalb des ErbStG einen Fremdkörper bildet (s. Rz. 35). Dasselbe gilt für die Besteuerung ausländischer Vermögensmassen (Rz. 19), die nicht die sog. benificiaries, sondern den Trust und bei dessen Ausstattung sogar noch den sog. settlor gesamtschuldnerisch heranzieht.
1.2 Steuersubjektivität von Gesellschaften 38
In Abkehr von einer jahrzehntelangen Rspr. (s. BFH BStBl. 1960, 358) hatte BFH BStBl. 1989, 237, auch Personengesellschaften (OHG, KG, Partnerschaften, BGB-Gesellschaften) unter Hinweis auf ihre zivilrechtliche Verselbständigung als mögliche Erwerber zu eigenständigen Steuerschuldnern erklärt. Hiervon hat sich BFH BStBl. 1995, 81, wieder distanziert und ist richtigerweise zu seiner früheren Rspr. zurückgekehrt. Danach wird der auf der Ebene der Personengesellschaft eingetretene Erwerb erbschaftsteuerlich den Gesellschaftern zugerechnet. Versteht man sowohl die Erbschaft- als auch die Schenkungsteuer als eine Einkommensteuer i.w.S. (Rz. 2), muss – nicht anders als bei der Einkommensteuer – auf die Bereicherung der Gesellschafter als Steuersubjekte abgestellt werden (zur mangelnden Steuersubjektivität der Personengesellschaft s. § 8 Rz. 21)4. Zur mangelnden Steuersubjektivität der Erbengemeinschaft s. bereits Rz. 9. 1 BFH BStBl. II 2008, 897 (898); Voraussetzung ist allerdings, dass die Übernahmeerklärung des Schenkers zivilrechtlich wirksam ist (s. FG Düsseldorf EFG 2008, 961). Zum Ermessen insb. bei insolvenzbedingten Verstößen gegen die Behaltefrist des § 13a I ErbStG (s. Rz. 112) s. Jülicher, ZErb 2008, 346 (347 f.). 2 Tipke, StRO II2, 878. Zur Steuerschuldnerschaft des Schenkers passt nicht, dass § 10 II ErbStG es als zusätzliche freigebige Zuwendung an den Beschenkten wertet, wenn der Schenker die Schenkungsteuer allein trägt; zu den damit verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten s. Korezkij, DStR 1998, 784; Heinrich, ZEV 2002, 98. 3 So BVerfG v. 18.12.2012 – 1 BvR 1509/10, BVerfGK 20, 171 (175) = HFR 2013, 258 (259) - Kammerbeschluss, der mit Recht auch dafür einen besonderen Rechtfertigungsgrund fordert. 4 Vgl. Crezelius, DStJG 17 (1994), 135 (160 f.); Crezelius, DStJG 22 (1999), 73 (91 f.); Daragan, ZEV 1998, 367; Haas, Erbschaftsteuerrecht und gesellschaftsrechtliche Nachfolge, 1996, 21 ff.; Hartmann, DB 1996, 2250; differenzierend Groh, GS Knobbe-Keuk, 1997, 433, (445 ff.); Lehmann, Gesellschaftsrechtliche Gestaltungen im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, Diss., 2009; zur Vererbung von Gesellschaftsanteilen s. Hils, Die Behandlung des Sonderbetriebsvermögens im Erbfall, Diss., 2004; rechtsvergleichend Taucher, FS Loukota, 2005, 531.
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Seer
Subjektive Steuerpflicht
Rz. 40
Im Unterschied zur Personengesellschaft wird die juristische Person Kapitalgesellschaft als eigenständiges, von ihren Gesellschaftern zu unterscheidendes Steuersubjekt sowohl für die Körperschaftsteuer (§ 11 Rz. 1) als auch für die Erbschaft- und Schenkungsteuer angesehen. Folgerichtig ist eine Kapitalgesellschaft (und nicht ihre Gesellschafter) Erwerberin einer an sie gerichteten Zuwendung. Daran ändert sich auch nichts durch die als Folge der Zuwendung eintretende Erhöhung des Werts der Gesellschaftsanteile1.
§ 15 39
2. Steuerschuldnerschaft und spezielle Haftungstatbestände Steuerschuldner (Rz. 36) müssen in vollem Umfang – auch mit ihrem eigenen Vermögen – für die Steuerschuld einstehen. Eine Begrenzung auf den Wert der Bereicherung ist nicht möglich. Zusätzlich zur Steuerschuld enthalten § 20 III, V–VII ErbStG besondere erbschaftsteuerliche Haftungstatbestände (zur Haftung s. § 6 Rz. 62 ff.). Nach § 20 III ErbStG haftet der Nachlass als ungeteilte Vermögensmasse bis zur Erbauseinandersetzung (§ 2042 BGB, dazu Rz. 10) für die ErbSt der am Erbfall Beteiligten2. § 20 V ErbStG erweitert die Haftung auf Dritte, an die der originäre Steuerschuldner seinen Erwerb ganz oder teilweise weiterverschenkt. Die persönliche Haftung des Dritten beschränkt sich dabei auf den Wert der Zuwendung. § 20 VI, VII ErbStG sehen für bestimmte Auslandssachverhalte eine Haftung von Versicherungsunternehmen und Banken vor (zur Anzeigepflicht s. Rz. 149)3.
3. Internationale Abgrenzung der Steuerpflicht/Unionsrecht Literatur: Albrecht, Die steuerliche Behandlung deutsch-englischer Erbfälle, 1992; Schindhelm, Grundfragen des Internationalen Erbschaftsteuerrechts, ZEV 1997, 8; Watrin, Erbschaftsteuerplanung internationaler Familienunternehmen, Diss., 1997; M. Lang, Europarechtliche Aspekte der Erbschaftsbesteuerung, DStJG 22 (1999), 255; M. Klein, Ausländische Zivilrechtsformen im deutschen Erbschaftsteuerrecht, Diss., 2000; Kaass, Europäische Grundfreiheiten und die deutsche Erbschaftsteuer – zur erbschaftsteuerlichen Behandlung grenzüberschreitender Sachverhalte, Diss., 2000; Nekola, Der Einfluß des Europarechts auf das Erbschaftsteuerrecht, Diss., 2000; Busch, Deutsches Erbschaftsteuerrecht im Lichte der europäischen Grundfreiheiten, IStR 2002, 448 (Teil I), 475 (Teil II); Höninger, Internationale Doppelbesteuerung im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht – Kollisionsbegründende und -auflösende Normen des ErbStG, Diss., 2003; Müller-Etienne, Die Europarechtswidrigkeit des Erbschaftsteuerrechts, Diss., 2003; Wilms/Maier, Europarechtliche Kapitalverkehrsfreiheit und deutsches Erbschaftsteuerrecht, UVR 2004, 327 (Teil I), 362 (Teil II); Scheffler/Zinser, Internationale Doppelbesteuerungen bei der Erbschaftsteuer, StuW 2005, 216; Knauf, Determinanten und Gestaltungsansätze der internationalen Nachfolgeplanung, Diss., 2008; Flick/Piltz, Der internationale Erbfall2, 2008, 350; Strunk/Kaminski, Internationale Aspekte des neuen Erbschaftsteuerrechts, Stbg. 2009, 158; Dehmer, Einmal erben, mehrfach zahlen – Gestaltungsansätze zur Vermeidung doppelter Erbschaftsteuerbelastung, IStR 2009, 454; Krawitz/Dornhöfer, Möglichkeiten zur Vermeidung einer internationalen Mehrfachbelastung mit Erbschaft- und Schenkungsteuer bei der unentgeltlichen Übertragung von ausländischem Unternehmensvermögen, in FS Herzig, 2010, 381; Watrin/Kappenberg, Internationale Besteuerung von Vermögensnachfolgen, ZEV 2011, 105; Billig, Die Kapitalverkehrsfreiheit und das deutsche ErbStG – eine unendliche Geschichte?, UVR 2011, 182; Hey, Erbschaftsteuer: Europa und der Rest der Welt, DStR 2011, 1149; Wernsmann, Internationale Doppelbesteuerung als unionsrechtliches Problem – am Beispiel grenzüberschreitender Erbschaften und Schenkungen, in FS Bengel/Reimann, 2012, 371; Kaminski, Methoden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung bei internationalen Erbschaftsteuerfällen, Stbg. 2013, 10; Kalbfleisch/Schlote, Neapel sehen und sterben – erbrechtliche und erbschaftsteuerliche Folgen eines Erbfalls im Ausland, UVR 2013, 82; Glöckner, Übertragung des Familienheims im Erbschaftsteuerrecht aus europarechtlicher Perspektive, Diss., 2013; Jülicher, Praxisprobleme im internationalen Erbschaftsteuerrecht, BB 2014, 1367. Rechtsvergleichend: IFA-Cahiers, Vol. 70b (1985), International double taxation of inheritances and gifts, mit Beiträgen v. Lethaus u.a.; Schriftenreihe Internationales Erbschaftsteuerrecht und Nachlass1 BFH BStBl. 1996, 160; 1996, 616; dazu Hartmann, ZEV 1996, 132; Hartmann, UVR 2003, 330 (332 f.). 2 Dazu Mösbauer, UVR 1998, 340. 3 Dazu BFH BStBl. 2007, 788; zur Vorinstanz s. Slabon, ErbBstg. 2007, 9 u. 233.
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§ 15
Rz. 41
Erbschaft- und Schenkungsteuer
planung, Köln, mit folgenden Arbeiten: Hoog (zu den Niederlanden, 1996), W. Wassermeyer (zu den USA, 1996), Wilde (zu Kanada, 1997), Stein (zu Irland, 1997), Grote (zu Belgien, 1999), Hechler (zu Frankreich, 1998), Sprengel (zu Italien, 2000), Rohde (zu Neuseeland, 2001), Wanke (zu Luxemburg, 2001), Hellwege (zu Spanien, 2002), Hindersmann/Myßen (2003 zu Schweizer Kantonen); Neumann (2006 zu Australien); Freckem (2007 zu US-Bundesstaaten); s. außerdem Zschau, Erbschaftsteuersysteme in Großbritannien, Frankreich und Deutschland, Diss., 2001; Jochum, Erbschaft- und Schenkungsteuer in der Schweiz, UVR 2001, 63 (Teil 1), 100 (Teil 2); Scheffler/Spengel, Erbschaftsteuerbelastung im internationalen Vergleich, BB 2004, 967; zur Erbschaftsbesteuerung bei Übertragung von Unternehmensvermögen in der EU s. Serie in IWB 2007, Gruppe 2, Fach 5 v. Hubert/Hinz/u.a. zu Bulgarien, Griechenland, Italien, Litauen, Luxemburg, Österreich, Slowenien, Spanien, Tschechien u. Ungarn; Bürgin/Ludwig/Schmidt/Schwind, Erbschaft-/Schenkungsteuer in der Schweiz unter Berücksichtigung des DBA zwischen beiden Staaten, ZErb 2009, 49; Faltings, Die Vermeidung der Doppelbesteuerung im internationalen Erbschaftsteuerrecht – Deutschland und Großbritannien, 2010; IFACahiers, Vol. 95b (2010), Death as a taxable event (dazu Watrin/Kappenberg, IStR 2010, 546); Stumpf, Erbschaftsteuer in Japan – ein vergleichender Systemüberblick, IWB 2011, 480; Stade, Der deutschfranzösische Erbfall: Das Ferienhaus und sonstiges Vermögen in Frankreich, ErbR 2012, 262 (269 f.); Kneissler-Dall’Acqua/Comolli, Erbschaft- und Schenkungsteuer in Italien, ZErb 2013, 7; Seker, Internationale Schenkungs- und Erbfälle: Türkei – Überblick über das türkische Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, ErbStB 2013, 27; Bäßler/Moritz-Knobloch, Der deutsch-japanische Erbfall, ZErb 2014, 37; Ley, Das Erbschaftsteuerrecht in der EU, Fam RZ 2014, 345.
41
Die unbeschränkte Steuerpflicht knüpft für die Tatbestände des § 1 I Nrn. 1–3 ErbStG an zwei persönliche Merkmale an (§ 2 I Nr. 1 Satz 1 ErbStG): Erblasser/Schenker oder Erwerber müssen im Zeitpunkt des Erbfalls oder der Ausführung der Schenkung Steuerinländer (§ 2 I Nr. 1 Satz 2 ErbStG) sein. Trifft dies zu, ist bei Erfüllung der Tatbestände des § 1 I Nrn. 1–3 ErbStG der weltweite Vermögensanfall (Weltvermögensprinzip, s. § 1 Rz. 88) zu erfassen. Steuerinländer sind nach § 2 I Nr. 1 Satz 2 Buchst. a ErbStG ebenso wie im Bereich der Einkommensteuer (§ 8 Rz. 25 f.) alle natürlichen Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt (§§ 8; 9 AO) haben. Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen sind demgemäß – ebenso wie im Bereich der Körperschaftsteuer (§ 11 Rz. 31) – Steuerinländer, wenn sie ihre Geschäftsleitung oder ihren Sitz (§§ 10; 11 AO) im Inland haben (§ 2 I Nr. 1 Satz 2 Buchst. d, I Nr. 2 ErbStG). Im Unterschied zum Einkommenund Körperschaftsteuergesetz verwendet § 2 I Nr. 1 ErbStG diese Merkmale jedoch nicht steuersubjekt-, sondern steuerobjektbezogen: Auch Steuerschuldner, die weder Wohnsitz (Sitz) noch gewöhnlichen Aufenthalt (Geschäftsleitung) im Inland haben, sind unbeschränkt steuerpflichtig, wenn auch nur eine der in § 2 I Nr. 1 Satz 1 ErbStG genannten Personen Steuerinländer ist. Nach dem Sinn und Zweck der Norm wirkt sich die Steuerinländerschaft des Erblassers umfassender als die des Erwerbers aus. Nur wenn der Erblasser Steuerinländer war, unterliegt damit auch das gesamte Vermögen der deutschen ErbSt. War der Erblasser hingegen Steuerausländer, kann sich der „gesamte Vermögensanfall“ i.S.v. § 2 I Nr. 1 ErbStG nur auf den dem jeweiligen inländischen Erwerber zuzurechnenden Anteil am Vermögen beziehen1.
42
Die doppelte Anknüpfung in § 2 I Nr. 1 Satz 1 ErbStG widerspricht dem Charakter der ErbSt, die in ihrer derzeitigen Ausgestaltung keine Nachlasssteuer, sondern eine Bereicherungs- und Erbanfallsteuer ist (Rz. 1 f.). Bereichert wird allein der Erwerber, dessen wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sich durch den Erbanfall oder die Schenkung erhöht. Deshalb ist es nicht systemgerecht, für die ErbSt zusätzlich an die Verhältnisse des Erblassers bzw. Schenkers anzuknüpfen und letzteren sogar noch zum Steuerschuldner zu erklären2. Letztlich dient dies allein der fiskalischen Sicherung des Steuersubstrats.
1 Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, 7.28; Meincke16, § 2 ErbStG Rz. 8; Troll/Gebel/Jülicher, § 2 ErbStG Rz. 8; Kapp/Ebeling/Eisele, § 2 ErbStG Rz. 4; Fischer/Jüptner/Pahlke/Wachter5, § 2 ErbStG Rz. 21; Watrin/Kappenberg, ZEV 2011, 105 (106). 2 Schindhelm, ZEV 1997, 8 (10); ausf. Höninger, Internationale Doppelbesteuerung im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, 2003, 109 ff.
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Subjektive Steuerpflicht
Rz. 45
§ 15
§ 2 I Nr. 1 Satz 2 Buchst. b ErbStG erweitert den Kreis der Steuerinländer auf deutsche Staatsangehörige, die, ohne zugleich im Inland einen Wohnsitz zu unterhalten, sich nicht länger als fünf Jahre im Ausland aufgehalten haben (erweiterte unbeschränkte Steuerpflicht für sog. Abwanderer). Das Gesetz orientiert sich hier ausnahmsweise an der Staatsangehörigkeit (Nationalitätsprinzip). Das Nationalitätsprinzip ist jedoch kein sachgerechtes Prinzip des internationalen Steuerrechts. § 2 I Nr. 1 Satz 2 Buchst. b ErbStG diskriminiert unter Verstoß gegen Art. 3 I GG deutsche Staatsangehörige1. Zwar hat der EuGH in einer vergleichbaren niederländischen Regelung keinen Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) gesehen2. U.E. darf ein Mitgliedstaat aber auch seine eigenen Staatsangehörigen nicht ohne Verstoß gegen das Unionsrecht steuerlich schlechter behandeln als andere Unionsbürger.
43
Ohne zeitliche Limitierung qualifiziert § 2 I Nr. 1 Satz 2 Buchst. c ErbStG außerdem solche deutsche Staatsangehörige als Steuerinländer, die in einem Dienstverhältnis zu einer inländischen juristischen Person des öffentlichen Rechts stehen und dafür Arbeitslohn aus einer inländischen öffentlichen Kasse beziehen (sog. Auslandsbedienstete, zur Parallelvorschrift des § 1 II EStG s. § 8 Rz. 29).
44
Sind weder der Erblasser/Schenker noch der/die Erwerber Steuerinländer i.S.d. § 2 I Nr. 1 Satz 2 ErbStG, so kommt nur noch eine beschränkte Steuerpflicht (§ 2 I Nr. 3 ErbStG) in Betracht, die sich lediglich auf das enumerativ in § 121 BewG aufgezählte Inlandsvermögen erstreckt3. Es gilt das Ursprungsland-(Territorial-)Prinzip (s. auch § 8 Rz. 27). Mit der beschränkten Steuerpflicht können beachtliche Nachteile verbunden sein. Zwar ist nach § 19 I ErbStG derselbe Steuertarif (Rz. 139) wie bei einer unbeschränkten Steuerpflicht anzuwenden. An die Stelle der persönlichen Freibeträge (Rz. 100) tritt jedoch nach § 16 II ErbStG nur ein weitaus geringerer Freibetrag i.H.v. 2 000 Euro. Wegen der Beschränkung auf inlandsradiziertes Vermögen ist ferner der Abzug von Schulden nach § 10 VI ErbStG nur eingeschränkt möglich4. Diese Benachteiligung hat der EuGH in seinem Urteil v. 22.4.2010 für EU-Steuerausländer wegen Verstoßes gegen die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 I AEUV) für europarechtswidrig erklärt5. Zwar hat der Gesetzgeber zwischenzeitlich durch das BeitrRLUmsG v. 7.12.2011, BGBl. I 2592 (2614) in § 2 III ErbStG zugunsten des Erwerbers ein Recht auf Option zur unbeschränkten Steuerpflicht in solchen Fällen des § 2 I Nr. 3 ErbStG, in denen der Erblasser, Schenker oder Erwerber bei Entstehung der Steuer einen Wohnsitz im EU- oder EWS-Ausland hatte bzw. hat (zum Parallelfall des § 1 III EStG s. § 4 Rz. 87, § 8 Rz. 30 ff.), geschaffen6. Jedoch erfasst es keine Drittstaatenfälle und birgt für den Antragsteller seinerseits wiederum andere unionsrechtlich zweifelhafte Nachteile (z.B. die Zusammenrechnung von Vor- und Nacherwerben in einem insgesamt 20jährigen Zeitraum)7.
45
1 Höninger, Internationale Doppelbesteuerung im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, 2003, 126 ff.; Müller-Etienne, Die Europarechtswidrigkeit des Erbschaftsteuerrechts, 2003, 156 ff. 2 EuGH C-513/03, van Hilten-van der Hejden, ZEV 2006, 460, m. zust. Anm. Jochum, ebenda, 463 f.; Hahn, ZErb 2006, 250 (254); s. aber Hey, DStR 2011, 1149 (1153); a.A. Bron, IStR 2006, 296 (298 ff.); Schaumburg, Internationales Steuerrecht3, 7.24. 3 Dazu Groß-Bölting, Probleme der beschränkten Steuerpflicht im Erbschaftsteuerrecht, Diss., 1996. 4 EuGH C-43/07, Arens-Siken, IStR 2008, 700, u. EuGH C-11/07, Eckelkamp, IStR 2008, 697, haben durch den Wohnsitz des Erblassers im EU-Ausland bedingte Abzugsbeschränkungen für Nachlassverbindlichkeiten für gemeinschaftswidrig erklärt; s. auch die Übersicht zur EuGH-Rspr. zum Erbschaftsteuerrecht von Hubert, IWB 2011, 331. 5 EuGH C-510/08, Mattner, Rz. 35 ff.; C-181/12, Welte, Rz. 58 ff. (Ausdehnung auf Drittstaaten); C-211/13, Kommission ./. Deutschland, Rz. 54 ff.; Begleitaufsätze v. Werkmüller, IStR 2010, 360; Thömmes, IWB 2010, 373; Jülicher, BB 2014, 1367. 6 Allerdings fehlt die dem § 1 III EStG entsprechende Einschränkung, dass in der Bundesrepublik praktisch das gesamte bei Erbfall oder Schenkung übergehende Vermögen liegt, s. Hey, DStR 2011, 1149 (1154). Zur Anwendung des § 2 III ErbStG s. Ländererlasse v. 15.3.2012, BStBl. I 2012, 328. 7 Deshalb hat FG Düsseldorf EFG 2014, 2153 m. Anm. Fumi auch die Neuregelung dem EuGH zur unionsrechtlichen Prüfung vorgelegt (Rs. C-479/14); zu den unionsrechtlichen Schwächen s. auch Dürrschmidt, IStR 2012, 410 (413 ff.); Lüdicke/Schulz, IStR 2012, 417.
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§ 15
Rz. 46
Erbschaft- und Schenkungsteuer
46
§ 4 AStG erweitert die beschränkte Steuerpflicht für Steuerflüchtlinge unter den Voraussetzungen des § 2 I 1 AStG (Wohnsitzverlagerung in ein sog. Steueroasenland, 10-Jahres-Zeitraum ab Wegzug, s. § 8 Rz. 33) über § 121 BewG hinaus auf jedes erworbene Vermögen, dessen Erträge bei unbeschränkter Einkommensteuerpflicht nicht ausländische Einkünfte i.S.d. § 34c I EStG wären (sog. erweitertes Inlandsvermögen)1.
47
Da das multi- und bilaterale Anti-Doppelbesteuerungsrecht (§ 1 Rz. 92 ff.) auf dem Gebiet der ErbSt im Vergleich zur Einkommen- und Körperschaftsteuer immer noch unterentwickelt ist2, spielen unilaterale Maßnahmen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung eine wichtige Rolle. Nach § 21 I ErbStG ist eine der deutschen ErbSt entsprechende Steuer3 insoweit auf die deutsche ErbSt anzurechnen, als das besteuerte Auslandsvermögen (§ 21 II ErbStG) zugleich der deutschen ErbSt unterliegt4. § 21 II Nr. 1 ErbStG verweist auf § 121 BewG, was eine gegenständliche Beschränkung der Anrechnungsregel zur Folge hat (nicht erfasst sind z.B. Bankguthaben im Ausland5). Der EuGH hat in der Rs. Block entschieden, dass diese Regelung europarechtskonform ist6. Der Steuerrechtsnachteil folge allein daraus, dass zwei Mitgliedstaaten ihre Besteuerungsbefugnisse parallel ausüben würden. Das Unionsrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten zwar nicht, ihre Steuersysteme einander so anzupassen, dass überhaupt keine Doppelbesteuerung entsteht. Dies gilt auch für die Höchstbetragsregelung in § 21 I Satz 1–3 ErbStG, die verhindert, dass eine auf das Auslandsvermögen entfallende (höhere) ausländische Steuer die auf das Inlandsvermögen entfallende deutsche ErbSt mindert7. Führt die fehlende Abgestimmtheit der nationalen Erbschaftsteuersysteme in ihrer Gesamtwirkung aber zu einer konfiskatorischen Besteuerung, reicht es nicht aus, nur die vage Möglichkeit eines Erlasses aus Billigkeitsgründen i.S. der §§ 163, 227 AO (s. § 21 Rz. 329 ff.) anzudeuten8. Verfassungsrechtlich lässt sich aus Art. 14 GG eine Schutzpflicht des Staates herleiten, uni- und bilaterale Maßnahmen zu ergreifen, um die nun schon seit Jahren bekannten negativen Wirkungen des divergierenden Auslandsvermögensbegriffs zu begrenzen9. Zudem greift die von BFH BStBl. 2013, 746, nicht mehr in Frage gestellte Judikatur des EuGH auch europarechtlich zu kurz; die grenzüberschrei1 Zu den erbschaftsteuerlichen Aspekten des Außensteuerrechts s. Kau, UVR 2001, 13; Kußmaul/Cloß, StuB 2010, 704; zu den europarechtlichen Bedenken s. Rz. 45. 2 BMF BStBl. I 2014, 171, zählt lediglich folgende ErbSt-DBA auf: DBA mit Dänemark, Frankreich, Griechenland, Schweden, Schweiz u. USA; zum Progressionsvorbehalt s. Rz. 143. 3 Nach der Rspr. soll zwar eine ausländische Nachlasssteuer (Rz. 2) der deutschen ErbSt entsprechen (BFH BStBl. 1982, 597), nicht aber die kanadische „capital gains tax“, die mit der sonstigen Einkommensteuer des Erblassers im Kalenderjahr seines Todes zu einer einheitlichen Einkommensteuer verbunden ist, s. BFH BStBl. 1995, 540; ebenso FG Rheinl.-Pf. EFG 2000, 86, für den Fall der Schenkung; mit Recht krit. Jülicher, ZEV 1996, 525 (526); Wilde, Das kanadische „Erbschaftsteuerrecht“, 1997, Rz. 524 ff.; Höninger, Internationale Doppelbesteuerung, Diss., 2003, 166 ff. 4 Dazu näher Jülicher, ZEV 1996, 295; Dißars/Dißars, RIW 1996, 144; Gebel, IStR 2001, 71, u. RIW 2001, 115; C. Schmidt, FS Rödl, 2008, 255 (261 ff., 271 ff.) zu deutsch-spanischen Nachlässen; Höninger, Internationale Doppelbesteuerung, Diss., 147 ff.; Jülicher, FS Frotscher, 2013, 273. Nach Meincke16, § 21 ErbStG Rz. 2, soll dem Vorbild des § 34c EStG entsprechend ein Wahlrecht, die ausländische Steuer von der Bemessungsgrundlage abzuziehen (Abzugsmethode), existieren. Dies ist de lege lata wohl kaum aus §§ 10; 21 ErbStG ableitbar (abl. auch BFH BStBl. 2013, 746 [752]), wäre aber geboten, um (ungewollte) Verstöße gegen den Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu vermeiden, s. Schaumburg, RIW 2001, 161 (167); Höninger, Diss., 150 f. 5 So ausdrücklich BFH BStBl. 2013, 746, wonach nicht nur die Anrechnung, sondern auch die Abziehbarkeit als Nachlassverbindlichkeit ausgeschlossen ist; zu der Entscheidung ausf. Hahn, BB 2014, 23. 6 EuGH, C-67/08, Block, IStR 2009, 175 (m. Anm. Billig, FR 2009, 298; Dehmer, IStR 2009, 454) auf Vorlage von BFH BStBl. 2008, 623. 7 BFH/NV 2004 1279 f.; FG Rheinl.-Pf. EFG 2002, 1242 f., sehen darin keine Verletzung des Unionsrechts; s. auch Hey, DStR 2011, 1149 (1156); a.A. Jochum, ZEV 2003, 171 (172); Schnitger, FR 2004, 185 (195). 8 So aber BFH BStBl. 2013, 746 (751), wo offengelassen wird, ob und inwieweit ein Erlassantrag überhaupt Erfolg haben könnte; gegen das Urteil ist unter dem Aktenzeichen 1 BvR 2488/13 Verfassungsbeschwerde erhoben worden. 9 S. Hahn, BB 2014, 23 (28 ff.), der weiterführend Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK ins Feld führt.
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Seer
Bewertung des steuerpflichtigen Vermögens
Rz. 52
§ 15
tende Kapitalverkehrsfreiheit sollte auch und gerade vor massiven Beschränkungen aufgrund von staatenübergreifenden steuerlichen Gesamtbelastungen schützen1. 48–49
Einstweilen frei.
IV. Bewertung des steuerpflichtigen Vermögens 1. Bedarfsbewertung, Verfahren Die Erbschaft- und Schenkungsteuer ist eine aperiodische Steuer, die an einen außerordentlichen Vermögenserwerb im Erb- oder Schenkungsfall anknüpft. Im Unterschied zur Grundund Vermögensteuer (s. § 16 Rz. 23, 62) ist das Vermögen daher nicht permanent, sondern nur einmalig zum Bewertungsstichtag (§ 11 ErbStG) zu bewerten (Stichtagsprinzip; s. Rz. 133). Den Bewertungsstichtag setzt § 11 ErbStG grds. auf den Zeitpunkt der Entstehung der Steuer. Bei den Erwerben von Todes wegen ist dies der Todestag des Erblassers (§ 9 I Nr. 1 ErbStG), bei Schenkungen unter Lebenden der Zeitpunkt der Ausführung der Schenkung (§ 9 I Nr. 2 ErbStG). Bezogen auf diese Zeitpunkte („bei Bedarf“) ist das jeweils übertragene Vermögen (einschließlich der Schulden) zu bewerten.
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Da die für die Festsetzung der Erbschaft- und Schenkungsteuer zuständigen Finanzämter (s. § 35 ErbStG: z.B. Wohnsitz-Finanzamt des verstorbenen Erblassers) häufig nicht in der Lage sind, die örtlich verzweigten wirtschaftlichen Einheiten sachkundig zu bewerten, ordnet § 12 II–VI ErbStG i.V.m. § 151 I BewG für bestimmte Vermögensarten eine gesonderte Wertfeststellung (s. dazu § 21 Rz. 121 ff.) durch Lage-/Betriebsstätten-Finanzämter (s. § 152 BewG) an. Die gesonderte Feststellung ist obligatorisch, wenn die Werte für die Erbschaft- oder Schenkungsteuer von Bedeutung sind2. Das JStG 2007 v. 13.12.2006, BGBl. I 2878, hat die gesonderte Feststellung über die Grundbesitzwerte (§§ 138; 157 BewG) hinaus insb. auf den Wert des Betriebsvermögens (§§ 95–97 BewG) und den Wert von Anteilen an Kapitalgesellschaften i.S.d. § 11 II BewG ausgedehnt (§ 151 I BewG)3. Hinzu kommen gem. § 13a Ia ErbStG außerdem gesonderte Feststellungen des Betriebsstätten-Finanzamts über die für die Gewährung des Verschonungsabschlages nach § 13a ErbStG (dazu Rz. 111) erforderlichen Merkmale der Lohnsumme und Beschäftigtenzahl4. Der von den Bewertungsstellen der Feststellungsfinanzämter (§ 152 BewG) jeweils zu erlassende Feststellungsbescheid ist ein Grundlagenbescheid, der für den Erbschaft-, Schenkung- oder Grunderwerbsteuerbescheid präjudizielle Bindungswirkung besitzt (s. § 21 Rz. 83 ff.). Bei einer Mehrheit von Erben ist die gesonderte Feststellung einheitlich durchzuführen (§ 179 II 2 AO, s. § 21 Rz. 121)5. Für die Bewertung des ausländischen Vermögens bleibt aber nach wie vor das Erbschaftsteuer-Finanzamt zuständig (s. § 151 IV BewG).
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Ob das gesonderte Feststellungsverfahren tatsächlich zur Verwaltungsvereinfachung beiträgt, erscheint fraglich. Nach Mitteilung des Standesamts über einen Sterbefall (Anzeige des Amtsgerichts oder Notars über Testamentseröffnung bzw. Schenkung, Rz. 149) hat das Erbschaftsteuer-Finanzamt zunächst zu prüfen, ob eine materielle Steuerpflicht überhaupt besteht. Dazu
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1 Wernsmann, FS Bengel/Reimann, 2012, 371 (376 ff.). Da EuGH u. BFH diesen Schutz bisher versagen, empfiehlt Jülicher, BB 2014, 1367 (1371) in aller Deutlichkeit: „Kein Halten von Konten etc. in Staaten, die ohne DBA-ErbSt mit Deutschland hieran ihre beschränkte Steuerpflicht knüpfen (Großbritannien, Irland, Spanien, Italien).“ 2 BFH BStBl. 2004, 204 (205 f.), sieht darin eine Voraussetzung, von der die Rechtmäßigkeit des Erbschaftsteuerbescheids abhängt (zu den Folgerungen für die Verwaltungspraxis s. BMF BStBl. I 2004, 916). 3 Zu den Motiven einer gesteigerten Verwaltungseffizienz s. Reg.Begr., BT-Drucks. 16/2712, 88; Moench, ZEV 2007, 12 (15); i.E. s. ErbStR 2011 zu § 151 BewG. 4 Eingeführt durch das sog. StVereinfG 2011 v. 1.11.2011, BGBl. 2131 (2142). 5 BFH BStBl. 2004, 179 (181); davon unterscheidet BFH BStBl. 2005, 19 (20 f.) die freigebige Zuwendung von Miteigentumsanteilen an einem Grundstück, die jeweils für sich den Gegenstand der lediglich gesonderten (aber nicht einheitlichen) Feststellung nach § 151 I BewG bilden.
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übersendet es den durch Erbfall/Schenkung Begünstigten ein Steuererklärungsformular. Hält es nach Auswertung der Steuererklärung eine materielle Steuerpflicht für möglich, so teilt es dies dem jeweiligen Feststellungsfinanzamt (§ 152 BewG) mit. Das zuständige Feststellungsfinanzamt fordert daraufhin den Stpfl. oder die jeweilige Gesellschaft, deren Gesellschaftsanteil zu bewerten ist, gem. § 153 BewG zur Abgabe einer Feststellungserklärung auf. Bei mehrstufigen Beteiligungen ergeben sich hinsichtlich der Bewertungskompetenz nicht selten „Kaskaden“-Zuständigkeiten. Der Stpfl. kann dadurch mit mehreren Finanzbehörden konfrontiert sein, da verschiedene Feststellungsfinanzämter Vermögen zu bewerten haben1. Aufgrund der damit verbundenen Unübersichtlichkeit steigt die Gefahr, dass Feststellungen mit Präklusionswirkung bestandskräftig werden. Neben den Stpfl. treffen sogar Dritte (z.B. die Gesellschaft, an der der Erblasser beteiligt war) Erklärungslasten (§ 153 BewG). Zudem besteht nach § 156 BewG bei allen Beteiligten die Möglichkeit einer Außenprüfung (dazu § 21 Rz. 225 ff.).
2. Spannungsverhältnis Verkehrswert/Ertragswert 53
Hermann Veit Simon erkannte bereits vor über einem Jahrhundert, dass der Wert einer Sache „weder eine Eigenschaft derselben noch überhaupt eine Tatsache, sondern vielmehr eine Meinungssache“ sei2. Er wandte sich damit zu Recht gegen die Vorstellung von einem objektiven Wert3. Den objektiven (einzig richtigen) Wert eines Wirtschaftsguts gibt es nicht. Vielmehr bewegt sich der Bewertende innerhalb eines Entscheidungsfeldes, dessen Umfang von den ihm zur Verfügung stehenden Vergleichsmöglichkeiten abhängt4. Eine Wertermittlung kann daher nicht den Anspruch auf absolute Richtigkeit, sondern nur auf relative Vertretbarkeit für sich erheben.
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Bewerten bedeutet i.e.S. das Zuordnen von Geldeinheiten zu Gütern im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel5. Das Ziel der Bewertung besteht im Steuerrecht darin, Wirtschaftsgütern für die Bemessungsgrundlage einer Steuerart einen bestimmten Geldwert zuzuweisen. Dementsprechend hat sich der Bewertungsmaßstab an dem jeweiligen Besteuerungsgut zu orientieren6. Der Wertmaßstab muss daher nicht für alle Steuerarten derselbe sein. Eine verbreitete Ansicht sieht gleichwohl den gemeinen Wert (§ 9 BewG) als den fundamentalen (leitenden) Bewertungsmaßstab des BewG an7. Der gemeine Wert ist der Preis, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr nach der Beschaffenheit des Wirtschaftsguts bei einer Veräußerung zu erzielen wäre (§ 9 II 1 BewG). Der gemeine Wert ist damit gleich bedeutend mit dem Verkehrswert (Veräußerungs-, Verkaufs-, Markt-, Tauschwert). Es sind alle Umstände, die den Preis beeinflussen, zu berücksichtigen; ungewöhnliche oder persönliche Verhältnisse bleiben jedoch außer Betracht (da sie den gemeinen Wert nicht repräsentieren, s. § 9 II 2 u. 3 BewG). Dem Verkehrswertgedanken widerspricht es allerdings, unter Anwendung des § 9 III BewG in Satzungen oder Gesellschaftsverträgen verankerte Verfügungsbeschränkungen nicht wertmindernd zu berücksichtigen8. Nicht wenige der im BewG verwendeten Wertbegriffe lassen sich als Verkörperungen des Bewertungsmaßstabes „gemeiner Wert“ ansehen: z.B. Kurswert (§ 11 I BewG), Rück1 Zu den Feststellungsverfahren s. näher Höne/Krause, ZEV 2010, 179 u. 298; Halaczinsky, UVR 2011, 203. 2 Simon, Die Bilanzen der Aktiengesellschaften und der Kommanditgesellschaften auf Aktien2, 1898, 293. 3 Diese Vorstellung hegen z.B. BFH BStBl. 1991, 342; Uelner, DStJG 7 (1984), 275 (280). 4 Busse von Colbe, DStJG 7 (1984), 39 f.; ausf. Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 323 ff. 5 Busse von Colbe, DStJG 7 (1984), 39 (40); s. auch Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 105 ff.: „Rechtswert als Funktionsbegriff“. 6 Tipke, StRO II1, 853 ff. 7 Zum wahrscheinlich realisierbaren Tauschwert als steuerlichen Bezugspunkt s. Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 148 ff.; s. außerdem zur historischen Entwicklung des Begriffs Raupach, DStR 2007, 2037 (2038 f.); Raupach, FS Lang, 2010, 843 (850 f.). 8 So aber BFH BStBl. 1994, 503 (504); BFH/NV 1999, 17; mit Recht abl. Piltz, FR 2013, 115 (116); s. auch Seer, GmbHR 2015, 113 (119 f.).
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nahmepreis (§ 11 IV BewG), Rückkaufswert (§ 12 IV BewG), Kapitalwert (§§ 13 ff. BewG), Sachwert (§§ 76 II, III; 90 I BewG), Bodenrichtwert (§§ 145 III; 179 BewG). Der Ertragswert ist keine bloße Unterart des Verkehrswerts1. Zwar beeinflussen die Erträge von Erwerbsvermögen den Verkehrswert. Gleichwohl fallen Ertrags- und Verkehrswert nicht selten erheblich auseinander, weil sich im Verkehrswert mehr als die Ertragskraft eines Wirtschaftsgutes abbildet (besonders deutlich wird dies bei unbebauten Grundstücken, Edelmetallen, Kunstgegenständen u.ä.). Während der gemeine Wert (Verkehrswert) die Veräußerung als Vergleichsfall vor Augen hat, bezieht sich der Ertragswert auf die laufende Nutzung des Wirtschaftsguts. Verkehrs- und Ertragswert sind mithin zwei leitende Wertbegriffe, die einander nicht über- bzw. untergeordnet, sondern nebengeordnet sind2.
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Der Ertragswert ist dem Verkehrswert als Bewertungsmaßstab für solche Steuerarten vorzuziehen, die als sog. Sollertragsteuern (z.B. Grund- und Vermögensteuer, s. § 16 Rz. 1) an die Ertragsfähigkeit des ruhenden Vermögens anknüpfen. Für Steuern, die nach ihrer Konzeption nicht aus der Substanz, sondern aus dem Ertrag des Vermögens gezahlt werden sollen, bildet nicht der Verkehrswert, sondern der Ertragswert den Belastungsgrund folgerichtig ab3. Demgegenüber erweist sich der Verkehrswert als konsequenter Bewertungsmaßstab, wenn das Gesetz dem Stpfl. bewusst zumutet, für die Steuerzahlung einen Teil des erworbenen Vermögens am Markt zu realisieren. Deshalb ist der Verkehrswert bei der ErbSt der leitende Bewertungsmaßstab4.
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Allerdings sollte – in Übereinstimmung mit dem BewG – zwischen Verkehrs- und Ertragswert kein strikter Gegensatz aufgebaut werden. Beide theoretischen Wertansätze nähern sich einander, wenn man unter Ertrag nicht nur die laufenden Erträge, sondern extensiv jeglichen Nutzen, den das Wirtschaftsgut einem jeden Eigentümer vermitteln kann (z.B. Wertsteigerungen, -stabilität), begreift5. Selbst dann aber wird der Ertragswert noch nicht auf den Verkehrswert zurückgeführt, da beide Werte von jeweils unterschiedlichen Vergleichsfällen ausgehen. Am Markt erzielte Verkaufspreise sind häufig von keinem in Zahlen fassbaren Nutzen bestimmt, lassen sich dann rational weder auf erwartete Wertsteigerungen noch auf eine besondere Wertstabilität zurückführen. Deshalb können Verkehrs- und Ertragswert übereinstimmen; sie müssen es aber nicht.
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3. Verkehrswert als leitender Bewertungsmaßstab des Erbschaftsteuerrechts Das BVerfG hat mit seinem Beschluss v. 7.11.2006 (BVerfGE 117, 1) dem bei der Erbschaftund Schenkungsteuer früher bestandenen Konglomerat willkürlicher unabgestimmter Bewertungsmaßstäbe (dazu krit. 18. Aufl. in § 13 Rz. 54 ff.) ein Ende bereitet6. Das BVerfG hält sich 1 S. Vogel, DStZA 1979, 28 (32 f.); P. Kirchhof, DStR 1984, 575 (577); Mark, DStJG 7 (1984), 293 (298 ff.); Kruse, BB 1989, 1349 (1351 f.); Tipke, StRO II1, 853 ff.; Loritz, DStR-Beihefter 8/1995, 8 ff.; Leisner, DB 1996, 595 (597); Zitzelsberger, FS Ritter, 1997, 661 (666 ff.); Jüptner, StuW 2005, 126 (128 f.). 2 Vogel, DStZ 1979, 28 (33); dazu krit. Osterloh, DStJG 22 (1999), 177 (185 ff.); Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 222 ff. 3 Vorsichtiger BVerfGE 93, 121 (143): Charakter der Sollertragsteuer „legt ein Ertragswertverfahren nahe“. 4 BVerfGE 117, 1 (33 f.); zuvor bereits Seer, StuW 1997, 283 (287); Seer, DStJG 22 (1999), 191 (196 f.); aber krit. zum in der Entscheidung BVerfGE 117, 1, unklaren Verhältnis von Substanz- und Ertragswert Hey, JZ 2007, 564 (565 f.); Raupach, FS Lang, 2010, 843 (858 f.); Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 348 f.; gänzlich abl. Nachrainer, ZEV 2005, 1 (5); Jüptner, StuW 2005, 126 (139 ff.); s. auch § 7 Rz. 38 ff. 5 So zutreffend Osterloh, DStJG 22 (1999), 177 (182 ff.); Raupach, DStR 2007, 2037 (2038 ff.); Raupach, FS Lang, 2010, 843 (851 ff.); ebenfalls die Relevanz eines eigenständigen Ertragwerts relativierend Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 222 ff. 6 Fast zeitgleich hat auch der österr. Verfassungsgerichtshof mit den beiden Entscheidungen v. 7.3.2007 u. 15.6.2007, ÖStZ 2007, 316 = ZEV 2007, 237 (m. Anm. Steiner), die gleichheitswidrige Bewertung im österr. Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht für verfassungswidrig erklärt.
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streng an das bereits in den Einheitswertbeschlüssen (zur ErbSt s. BVerfGE 93, 165 [172 f.]) postulierte Gebot der realitätsgerechten Wertrelation. Dieser Grundsatz erfordert bei einem einheitlichen Steuersatz eine einheitliche Bemessungsgrundlage für alle verschiedenen Vermögenswerte. Maßgeblich ist der Verkehrswert (gemeine Wert), da nur dieser den durch den Substanzerwerb vermittelten Zuwachs an Leistungsfähigkeit (Belastungsgrund der Erbschaftund Schenkungsteuer, s. Rz. 1 ff.) zutreffend abbildet1. Die Probleme der Massenverwaltung und die Tatsache, dass es den richtigen Wert an sich nicht gibt (s. Rz. 53), sorgen jedoch dafür, dass der Gesetzgeber zur Realisierung eines praktikablen Besteuerungsverfahrens typisierende und pauschalierende Wertermittlungsregeln aufstellen kann. Allerdings müssen diese für alle Vermögensgegenstände wenigstens zu einem dem Verkehrswert angenäherten Wert (Annäherungswert) führen2. Erst auf einer zweiten Stufe kann der Gesetzgeber durch „zielgenaue und normenklare“ Lenkungsnormen3 einzelne Vermögensarten begünstigen, wenn dafür ausreichende Gemeinwohlgründe vorliegen (dazu Rz. 106 ff.)4. Zu Recht hat BVerfGE 117, 1, die noch in den Einheitswertbeschlüssen geäußerte Vorstellung (BVerfGE 93, 121 [136]) fallen lassen, ein Bewertungsmissverhältnis durch differierende Steuersätze wieder ausgleichen zu können5. Dem ist der Gesetzgeber mit dem Erbschaftsteuerreformgesetz v. 24.12.2008 gefolgt6.
4. Bewertung des Grundvermögens und der Betriebsgrundstücke Literatur zur Grundbesitzbewertung nach dem ErbStRG 2009: Mannek/Jardin, DB 2009, 307; Hecht/von Cölln, BB 2009, 810; Broekelschen/Maiterth, DStR 2009, 833; Pauli, FR-Beilage 11/2009, 13; Viskorf, ErbR 2009, 143; Siegmund/Ungemach, DStZ 2009, 475; Mannek/Roscher, ZNotP 2010, 455; Eisele, NWB 2011, 2289; Droszdol, ZEV 2012, 17; Feldner/Stoklassa, ErbStB 2013, 152 (Teil I), 193 (Teil II) u. 292 (Teil III). Verwaltungsanweisung: ErbStR 2011 zu §§ 176 ff. BewG.
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Für die wirtschaftlichen Einheiten des Grundvermögens und für Betriebsgrundstücke ist der Grundbesitzwert (§ 157 I BewG) nach Maßgabe der §§ 176–198, 99 BewG zu ermitteln. Den Vorgaben des BVerfG folgend ist dies nach § 177 BewG der gemeine Wert (Rz. 54). Entsprechend der auch außerhalb des Steuerrechts angewandten ImmobilienwertermittlungsVO (ImmoWertV)7 konkretisieren §§ 178 ff. BewG ihn für die einzelnen Grundstücksarten wie folgt:
4.1 Unbebaute Grundstücke 60
Unbebaute Grundstücke (definiert in § 178 I, II BewG)8 werden durch einen mittelbaren Preisvergleich (Vergleichswertverfahren) auf der Basis der von den Gutachterausschüssen der Gemeinden nunmehr jährlich zu ermittelnden Bodenrichtwerte (§ 196 BauGB) bewertet. Beim Bodenrichtwert handelt es sich um den durchschnittlichen Lagewert des Grund und 1 BVerfGE 117, 1 (33); zust. Seer, ZEV 2007, 101 (102); Seer, GmbHR 2007, 281 (282); Hey, JZ 2007, 564; Schubert, Verfassungswidrigkeit der Erbschaft- und Schenkungsteuer, Diss., 73 ff. 2 BVerfGE 117, 1 (36); zweifelnd an der tatsächlichen Möglichkeit eines Annäherungswerts in einem typisierten Verfahren Wälzholz, ZErb 2007, 111 (113 f.); J. Lang, StuW 2008, 189 (193 ff.); Raupach, FS Lang, 2010, 843 (847). 3 BVerfGE 117, 1, 35 (37, 69); zust. Papier, DStR 2007, 974 (975 f.); Hübner, DStR 2007, 1013 (1014 ff.); Hey, JZ 2007, 564 (565); a.A. Wälzholz, ZErb 2007, 111. 4 Krit. zu den Steuerverschonungen auf der 2. Stufe Seer, GmbHR 2007, 281 (284 f.); Hey, JZ 2007, 564 (569); s. außerdem Rz. 116 f. 5 A.A. aber Spiegelberger, Stbg. 2007, 305 (308). 6 BGBl. I 2008, 3018; zur Entstehungsgeschichte ausf. Schmitt, FS Schaumburg, 2009, 1079 ff. 7 VO über die Grundsätze für die Ermittlung der Verkehrswerte von Grundstücken v. 19.5.2010, BGBl. I 639; ergänzt um die RL zur Ermittlung von Bodenrichtwerten (BRW-RL), BAnz. 2011 Nr. 24, S. 597; zu deren Bedeutung für die Verkehrswertermittlung von Grundstücken s. Drosdzol, ZEV 2010, 403; Eisele, NWB 2011, 2289; zu Unterschieden zwischen dem BewG und der ImmoWertV s. von Cölln/Behrendt, BB 2011, 2007. 8 Zur Abgrenzung von bebauten Grundstücken s. Stöckel, DStZ 2003, 845; R B 178 ErbStR 2011.
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Bodens pro Quadratmeter der bebauten und unbebauten Grundstücksfläche in einem Gebiet mit im Wesentlichen gleichen Lage- und Nutzungsverhältnissen1. Er ist den Kaufpreissammlungen (§ 195 BauGB) zu entnehmen, welche die Gutachterausschüsse für das jeweilige Gemeindegebiet nach Auswertung der von den beurkundenden Stellen zu übersendenden Kaufverträge (im Idealfall flächendeckend) führen2. Dabei sind Richtzonen zu bilden, die jeweils Gebiete umfassen, die nach Art und Maß der baulichen Nutzung weitgehend übereinstimmen. Durch den Rückgriff auf aktuelle Bodenrichtwerte ist der Gesetzgeber den Anforderungen des BVerfG bereits im JStG 2007 nachgekommen3. Die nach §§ 145 III 1; 179 BewG für die Bewertung des Grund und Bodens relevanten sog. Bodenrichtwerte (§ 196 BauGB) sind jeweils mindestens zum 31.12. jedes zweiten Kalenderjahres (§ 196 I 5 BauGB) durch örtliche Gutachterausschüsse festzustellen. Dadurch soll eine gegenwartsnahe Bedarfsbewertung sichergestellt werden. Gelingt es den Gutachterausschüssen etwa mangels Grundstücksverkäufen nicht, sind die Finanzämter gem. § 179 Satz 4 BewG berechtigt, einen Vergleichswert aus Werten vergleichbarer Flächen abzuleiten4. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sollen die Bodenrichtwerte so abgeleitet werden, dass der individuelle Bodenwert des einzelnen Grundstücks nur unerheblich von dem Richtwert der zugeordneten Bodenwertzone abweicht (BT-Drucks. 13/4839, 50). Allerdings treten derartige Abweichungen in der Praxis nicht selten auf. Deshalb nimmt die h.M., ohne dass dies im BewG zum Ausdruck käme, am Bodenrichtwert Korrekturen vor, wenn das konkrete Grundstück sich seinem Typus nach vom Bodenrichtwertgrundstück unterscheidet. So wird der Bodenrichtwert bei einer abweichenden Geschossflächenzahl5 durch Anwendung von Umrechnungskoeffizienten6 der abweichenden rechtlichen Bebaubarkeit angepasst (R B 179.2 II–VII ErbStR 2011)7. Orientiert sich der Bodenrichtwert an der Grundstückstiefe, so ist die Grundstücksfläche nach den Vorgaben des Gutachterausschusses in Vorder- und Hinterland aufzuteilen. Außerdem ist bei unterschiedlichen erschließungsbeitragsrechtlichen Zuständen zwischen dem Bodenrichtwertgrundstück und dem zu bewertenden Grundstück eine Anpassung vorzunehmen8. Weitere wertbeeinflussende Merkmale (z.B. Ecklage, Zuschnitt, Beschaffenheit des Baugrundes) sollen nach R B 179.2 VIII ErbStR 2011 aber unbeachtlich sein. Dies überzeugt unter Beachtung des Art. 3 I GG nicht. Sie waren früher mit Rücksicht auf einen Unsicherheitsabschlag von 20 % außer Ansatz geblieben (R 162 Satz 2 ErbStR 2003). Nach Fortfall des Abzugs eines pauschalen Unsicherheitsabschlags ist es jedoch willkürlich, andere individuelle Grundstücksbesonderheiten schlicht außer Betracht zu lassen. Ein schlechter Zuschnitt oder eine Geruchsbelästigung kann den Wert eines Grundstücks ebenso mindern wie eine verringerte Geschossflächenzahl (zur Möglichkeit des Gegenbeweises eines niedrigeren gemeinen Werts s. aber Rz. 68).
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4.2 Mietwohn- und Geschäftsgrundstücke Für Mietwohn-, Geschäfts- und gemischt genutzte Grundstücke sieht § 182 III BewG grds. ein Ertragswertverfahren vor. Das Verfahren ist zur Verkehrswertermittlung sachgerecht, weil bei 1 2 3 4
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Zur Ermittlung und Funktion der Bodenrichtwerte s. Eisele, ZEV 2000, 96; Eisele, NWB 2011, 2289. Jüptner, StuW 2005, 126 (131 f.); Drosdzol, ZEV 2008, 10 (12 f.); Eisele, NWB 2011, 2289 (2290). Viskorf, FR 2007, 624 (625); Hey, JZ 2007, 564 (567); Wachter, DNotZ 2007, 173 (175). § 179 BewG wurde durch das BeitrRLUmsG v. 7.12.2011, BGBl. I, 2592 (2614) um Satz 4 ergänzt, dazu Roscher, DStR 2012, 122 (124 f.); BFH BStBl. 2011, 205 (207 f.) hatte zuvor dem Finanzamt die Möglichkeit einer Schätzung des Bodenwerts selbst für den Fall versagt, dass der Gutachterausschuss für das Grundstück keinen Bodenwert ermittelt hatte. Die Geschossflächenzahl gibt an, wie viel Quadratmeter Geschossfläche je Quadratmeter Grundstücksfläche zulässig ist (§ 20 II BauNVO). Die Geschossflächenzahl ist mithin der Quotient aus der Geschossfläche u. der Grundstücksfläche. Bsp.: Geschossfläche eines Gebäudes = 300 qm, Grundstücksfläche = 600 qm; Geschossflächenzahl = 0,5. Liegt die Geschossflächenzahl des zu bewertenden Grundstücks unter der des Bodenrichtwertgrundstücks, ist ein Abschlag vorzunehmen. Liegt sie darüber, ist der Bodenrichtwert dagegen zu erhöhen. BFH BStBl. 2006, 742 (743) unter Zugrundelegung von § 199 BauGB i.V.m. WertV. R B 179.2 VI 6 ErbStR 2011; zu den Anpassungen instruktiv Eisele, NWB 2011, 2289 (2293 ff.).
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diesen Objekten der nachhaltig erzielbare Ertrag für die Werteinschätzung am Markt im Vordergrund steht (s. § 17 I ImmoWertV). Im Einklang mit der ImmoWertV sind der Bodenwert und der Wert der baulichen Anlagen getrennt zu ermitteln (§ 184 I BewG). Der Bodenwert entspricht gem. § 184 II BewG dem Wert eines unbebauten Grundstücks (Bodenrichtwert, s. Rz. 60). Ihm ist der sog. Gebäudeertragswert hinzuzurechnen, der sich wie folgt ermittelt (s. R B 184 ff. ErbStR 2011): Der Reinertrag des Grundstücks (= Rohertrag i.S.v. § 186 BewG abzüglich Bewirtschaftungskosten i.S.v. § 187 BewG) vermindert um den Betrag, der sich durch eine angemessene Verzinsung des Bodenwertes ergibt, ist nach Maßgabe des § 185 III BewG zu kapitalisieren. Während der Rohertrag den tatsächlich vereinbarten (Miet- und Pacht-)Entgelten bzw. der üblichen Miete1 entspricht (s. § 186 I, II BewG), werden die Bewirtschaftungskosten nur typisierend berücksichtigt. Sie sind nach Erfahrungssätzen anzusetzen. Soweit die Gutachterausschüsse keine Erfahrungssätze formuliert haben, ist von pauschalierten Kosten auszugehen, die in Anlage 23 zum BewG niedergelegt sind (§ 187 BewG). 63
Auch hinsichtlich des Liegenschaftszinssatzes greift der Gesetzgeber vorrangig auf die Ermittlungen der Gutachterausschüsse zurück (§ 188 II 1 BewG), hält aber subsidiär typisierende Zinssatzvorgaben in Reserve (§ 188 II 2 BewG). Die Summe aus Bodenwert und Gebäudeertragswert ergibt den Ertragswert des Grundstücks (§ 184 III 1 BewG).
4.3 Ein- und Zweifamilienhäuser, Wohn- und Teileigentum 64
Ein-, Zweifamilienhäuser sowie Wohn- bzw. Teileigentum werden nicht (mehr) im Ertrags-, sondern grds. im Vergleichswertverfahren bewertet (§ 182 II BewG). Dieses Verfahren kommt in der Regel nur bei solchen Grundstücken in Betracht, die mit weitgehend gleichartigen Gebäuden, insb. Wohngebäuden, bebaut sind und bei denen sich der Grundstücksmarkt an Vergleichspreisen orientiert. Das trifft vor allem bei Einfamilien-Reihenhäusern, Eigentumswohnungen, Siedlungshäusern und Garagen zu. Dabei sind die tatsächlichen Kaufpreise solcher Grundstücke heranzuziehen, die hinsichtlich der ihren Wert beeinflussenden Merkmale mit dem zu bewertenden Grundstück hinreichend übereinstimmen (§ 183 I BewG). Für die Anwendung des Vergleichswertverfahrens bedarf es einer ausreichenden Anzahl von Kaufpreisen, die mit dem zu bewertenden Grundstück soweit übereinstimmen, dass die Abweichungen in angemessener Weise berücksichtigt werden können (§ 15 I ImmoWertV)2. Vorbild könnten die Durchschnittspreise je qm Wohn-/Nutzfläche sein, die sich aus den Grundstücksmarktberichten der Gutachterausschüsse ergeben und nach Wohnungsgrößen und Baujahresgruppen gestaffelt sind3. Lässt sich auch anhand der von den Gutachterausschüssen der Kommunen ermittelten Vergleichsfaktoren keine sachgerechte Bewertung durchführen, findet das Sachwertverfahren (Rz. 65 f.) Anwendung (§ 182 IV Nr. 1 BewG).
4.4 Sachwertverfahren als Auffang-Bewertungsmethode 65
Sonstige Grundstücke werden nach dem Sachwertverfahren (dazu R B 189 ff. ErbStR 2011) bewertet. Dasselbe gilt für Ein-, Zweifamilienhäuser und Eigentumswohnungen, für die keine Vergleichswerte existieren, sowie bei Mietwohn-, Geschäfts- und gemischt-genutzten Grundstücken, für die sich keine übliche Miete ermitteln lässt. Das Sachwertverfahren erhält damit nach § 182 IV BewG einen Auffangcharakter. Die Bewertung des Grund und Bodens entspricht gem. § 189 II BewG der Bewertung unbebauter Grundstücke (Rz. 60 f.), d.h. den Bodenrichtwerten. Hinzu kommt der Wert der baulichen und sonstigen Anlagen, der sich 1 Nach § 186 II 1 Nrn. 1, 2 BewG tritt an die Stelle des tatsächlich geschuldeten Entgelts die übliche Miete, wenn das Grundstück eigengenutzt oder unentgeltlich überlassen worden ist oder das tatsächliche Entgelt zu mehr als 20 % von der üblichen Miete abweicht. Zur früheren Rechtslage bis 2006 s. BFH BStBl. 2014, 363. 2 Zu den Anforderungen an die nach § 183 I 2 BewG vorrangig heranzuziehenden, von den Gutachterausschüssen mitzuteilenden Vergleichspreise s. Niedersächs. FG EFG 2014, 1364 (1365 ff.) mit Ausführungen zur Feststellungslast. 3 S. Drosdzol, ZEV 2008, 10 (13); R B 183 ErbStR 2011.
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Bewertung des steuerpflichtigen Vermögens
Rz. 69
§ 15
nach den Regelherstellungskosten richtet (§ 190 I BewG). Dies entspricht §§ 21–23 ImmoWertV und orientiert sich zur Ermittlung des Normalherstellungswerts an den gewöhnlichen Herstellungskosten je Raum- und Flächeneinheit, von denen Abschläge wegen Alters und Baumängeln/-schäden zu machen sind (§ 190 II BewG). Die gewöhnlichen Herstellungskosten sind der Anlage 24 zum BewG zu entnehmen. § 190 I 5 BewG ermächtigt das BMF durch Rechtsverordnung zur Aktualisierung dieser Werte. Mit dem vorstehenden Bewertungssystem, das an die auch für nichtsteuerliche Zwecke geläufige Grundstücksbewertung nach der WertV anknüpft, hat der Gesetzgeber den vom BVerfG aufgestellten Anforderungen auf vertretbare Weise genügt und die Bewertung aller Grundstücksarten folgerichtig auf eine Verkehrswertorientierung ausgelegt. Dabei haben Gesetz- und Verordnungsgeber jedoch die subsidiär – bei Fehlen entsprechender Daten der Gutachterausschüsse – greifenden typisierenden Parameter (Zinssätze, Regelherstellungskosten, etc.) realitätsgerecht-aktuell zu halten und ggf. anzupassen.
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4.5 Erbbaurechte/Gebäude auf fremdem Grund und Boden Die Bewertung von Erbbaurechten richtet sich nach §§ 192 ff. BewG. Die wirtschaftlichen Einheiten „Erbbaurecht“ einerseits und „belastetes Grundstück“ andererseits sind getrennt zu würdigen. Die Bewertung des Erbbaurechts hat vorrangig gem. § 193 BewG anhand von Vergleichswerten zu erfolgen. Fehlt es an Vergleichskaufpreisen, ist der Bodenwertanteil zu ermitteln, der sich wiederum aus der Kapitalisierung der Differenz zwischen dem angemessenen Verzinsungsbetrag des Bodenwertes des unbelasteten Grundstücks und dem vertraglich vereinbarten jährlichen Erbbauzins ergibt (§ 193 III BewG). Der Kapitalisierungsfaktor richtet sich nach der Restlaufzeit des Erbbaurechts. Ist in Ausübung des Erbbaurechts ein Bauwerk errichtet worden bzw. war schon ein Gebäude vorhanden, ist zum Bodenwertanteil noch ein Gebäudewertanteil zu addieren. Ist der bei Ablauf des Erbbaurechts verbleibende Gebäudewert nicht oder nur teilweise zu entschädigen, mindert sich der Gebäudewertanteil entsprechend. Die Neufassung berücksichtigt damit i.Erg. individuelle Gegebenheiten wie die Höhe des Pachtzinses, die Restlaufzeit des Nutzungsrechts und Vereinbarungen zum Heimfall (s. R B 193 f. ErbStR 2011). Das mit dem Erbbaurecht belastete Grundstück ist vorrangig anhand von Vergleichswerten zu bewerten. Liegen solche nicht vor, errechnet sich der Bodenwertanteil als die Summe des über die Restlaufzeit des Erbbaurechts abgezinsten Bodenwerts nach § 179 BewG und der über diesen Zeitraum kapitalisierten Erbbauzinsen (§ 194 III 1 BewG).
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4.6 Nachweis des niedrigeren gemeinen Werts § 198 BewG eröffnet dem Stpfl. die Möglichkeit, im Wege eines Gegenbeweises (s. § 22 Rz. 190 ff.) einen gegenüber den in Rz. 60 ff. genannten Wertansätzen niedrigeren gemeinen Wert nachzuweisen1. Ihn trifft die Feststellungslast (§ 22 Rz. 191)2; eine Kostenerstattung durch den Staat ist nicht vorgesehen. Als geeignete Beweismittel (§ 21 Rz. 212; § 22 Rz. 186) erkennt der BFH bisher in der Regel nur Gutachten eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen oder des örtlich zuständigen Gutachterausschusses an3.
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5. Bewertung land- und forstwirtschaftlichen Vermögens (§§ 158–175 BewG) Auch die bisherige Bewertung des land- und forstwirtschaftlichen Vermögens (§§ 140–144 BewG a.F.) hielt der verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand (s. BVerfGE 117, 1 1 Zur Öffnungsklausel s. Eisele, INF 2007, 376 (377 f.); von Cölln/Behrendt, BB 2011, 2007. 2 Dazu krit. Hey, JZ 2007, 564 (569 f.); Wachter, BB 2007, 577 (579). 3 BFH BStBl. 2005, 259 (260 f.); 2014, 363 (366); weitergehend Ländererlasse v. 19.2.2014, BStBl. I 2014, 808: auch andere Sachverständige als Gutachter möglich. Als weitere Alternative ist der Nachweis eines zeitnah erzielten, niedrigeren Kaufpreises geeignet, s. BFH BStBl. 2004, 703; ebenso R B 198 III, IV ErbStR 2011.
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Erbschaft- und Schenkungsteuer
[64 ff.]). Diesem Zustand versucht das ErbStRG 2009 durch ein vereinfachtes Reinertragswertverfahren abzuhelfen, das an die nachhaltige, objektive Ertragsfähigkeit des Betriebs anknüpft1. Diese wird aus statistischen Daten der Agrarberichte der Bundesregierung abgeleitet. Der Reingewinn umfasst das ordentliche Ergebnis im Durchschnitt der letzten fünf Jahre abzüglich eines angemessenen Lohnansatzes für die Arbeitsleistung des Betriebsinhabers und der nicht entlohnten Arbeitskräfte (§ 163 II BewG). Zur Bestimmung dieses objektivierten Reingewinns sind gem. § 163 III BewG die regionsabhängigen sog. Standarddeckungsbeiträge der selbst bewirtschafteten Flächen und der Tiereinheiten nach einer EU-Typologie zu ermitteln und die Betriebsform zu bestimmen (s. R B 163 ErbStR 2011). Der so ermittelte Reingewinn ist gem. § 163 XI BewG mit einem festen Kapitalisierungsfaktor von 18,6 zu multiplizieren, um auf der Basis eines angenommenen Zinses von 5,5 % zum gemeinen Wert des Wirtschaftsteils zu gelangen. Mit dem Ertragswert sollen auch Wirtschaftsgebäude abgegolten sein. Jedoch darf nach § 162 I 4 BewG ein Mindestwert nicht unterschritten werden, der sich aus dem nach Maßgabe des § 164 BewG ermittelten Wert des Grund und Bodens und dem Wert der übrigen Wirtschaftsgüter zusammensetzt. Der Wert des Grund und Bodens orientiert sich dabei an den Pachtpreisen pro Hektar Land (§ 164 II BewG). Der Wohnteil und Betriebswohnungen bleiben gem. § 167 BewG nach den allgemeinen Regeln über die Grundstücksbewertung (Rz. 59 ff.) zu bewerten. Mit der Ausrichtung des Betriebswerts an einem „objektivierten“, eher fiktiven Ertragswert erfüllt der Gesetzgeber nicht die Vorgabe des BVerfG, das eine Substanzwertermittlung gefordert hat2. Außerdem vermag der Ansatz eines festen Multiplikators nicht zu überzeugen. Allerdings sieht § 162 III 1 BewG i.V.m. § 166 BewG die Bewertung der wirtschaftlichen Einheit mit dem Liquiditätswert vor, wenn und soweit der Betrieb, Teilbetrieb oder wesentliche Betriebsgrundlagen innerhalb eines Zeitraums von 15 Jahren veräußert oder entnommen werden (sog. Nachbewertungsvorbehalt, Ausnahme: Reinvestition des Veräußerungserlöses in land- und forstwirtschaftliches Vermögen, s. § 162 III 2 BewG; zur Reinvestitionsklausel für Betriebsvermögen s. Rz. 113). Durch diese lange Bindung erreicht das Gesetz, dass nur langfristig gehaltenes Vermögen in den Genuss der typisierenden Ertragswertermittlung kommt. Außerdem nimmt § 159 BewG solche Grundstücke von der Bewertung als landund forstwirtschaftliches Vermögen aus, bei denen auf Grund ihrer Lage, ihren Verwertungsmöglichkeiten oder sonstigen Umständen anzunehmen ist, dass sie in absehbarer Zeit anderen Zwecken (z.B. als Bauland) dienen werden.
6. Bewertung des Betriebsvermögens (§§ 95–109; 199–203 BewG) Literatur: Seer, Das Betriebsvermögen im Erbschaftsteuerrecht, in DStJG 22 (1999), 191; Spitzbart, Das Betriebsvermögen im Erbschaftsteuerrecht – Geltendes Recht und Reformvorschläge, Diss., 2000; Löhle, Verfassungsrechtliche Gestaltungsspielräume und -grenzen bei der Besteuerung von Erbschaften und Schenkungen, Diss., 2001, 111 ff.; Lennert, Die Unternehmensnachfolgebesteuerung am Scheideweg, Diss., 2006; Löffler, Steuerrechtliche Wertfindung aus Sicht der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre – Analyse des Besteuerungsproblems fehlender Geldtransaktionen und Entwicklung von Lösungsansätzen, Habil., 2008; Dirrigl, Unternehmensbewertung für Zwecke der Steuerbemessung im Spannungsfeld von Individualisierung und Kapitalmarkttheorie – Ein aktuelles Problem vor dem Hintergrund der Erbschaftsteuerreform, Arbeitskreis Quantitative Steuerlehre, Bd. 68, 2009; Ballwieser, Erbschaftsteuer und Unternehmensbewertung, Sächsische Steuertagung, 2009, 155; Bruckmeier/ Zwirner/Mugler, Unternehmensbewertung im Erbschaftsteuerrecht: Handlungsempfehlungen und Modellrechnungen (§§ 199 ff. BewG und IDW S 1 im Vergleich), DStR 2011, 422; Koschmieder/Herrmann, Die Bewertung von Betriebsvermögen im reformierten Erbschaftsteuerrecht – eine ökonomische Würdigung des vereinfachten Ertragswertverfahrens, in FS Spindler, 2011, 661; Müller/Sureth, Marktnahe Bewertung von Unternehmen nach der Erbschaftsteuerreform?, ZfbF Sonderheft 63/11, 45; Meyering, Einzug betriebswirtschaftlicher Bewertungskalküle in die Erbschaftsteuer, StuW 2011, 274; Hinz, Unternehmensbewertung im Rahmen erbschaft- und schenkungsteuerlicher Zwecke, BFuP 2011, 304; Wollny, Vereinfachtes Ertragswertverfahren – Anmerkungen zur Verletzung der 1 S. dazu Hutmacher, ZEV 2008, 22 u. 182; Hutmacher, ZEV 2009, 22; Jäckel, FR-Beil. 11/2009, 33; Eisele, NWB 2009, 3997; von Cölln, ZEV 2011, 182; R B 158.1-168 ErbStR 2011. 2 BVerfG 117, 1 (64 f.); krit. daher Viskorf, FR 2007, 624 (626 f.).
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Bewertung des steuerpflichtigen Vermögens
Rz. 73
§ 15
Steueräquivalenz, DStR 2012, 1356; Kappenberg, Unternehmensbewertung im Erbschaftsteuerrecht – eine empirische Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Kapitalkostenableitung, Diss., 2012; Schröder, Unternehmensbewertung für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer, Diss., 2014; Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 65 ff., 368 ff.; Kohl, Steuerliche Unternehmensbewertung, in Fleischer/Hüttemann, Rechtshandbuch Unternehmensbewertung, 2015, § 26. Verwaltungsanweisung: R B 11.1–11.6, 95–109, 199.1–203 ErbStR 2011.
6.1 Ansatz und Zurechnung des Betriebsvermögens Nach § 95 I 1 BewG umfasst das Betriebsvermögen alle Teile eines Gewerbebetriebes i.S.d. § 15 I, II EStG, die bei der steuerlichen Gewinnermittlung zum Betriebsvermögen gehören (Grundsatz der Bestandsidentität)1. Den Grundsatz der Bestandsidentität schränkt § 103 III BewG für Rücklagen ein. Sie sind nur abzugsfähig, soweit das Gesetz dies für Zwecke der ErbSt ausdrücklich vorsieht2. Die wirtschaftliche Einheit ist der einzelne gewerbliche Betrieb. Ein Stpfl. kann mehrere Betriebe haben. Jedoch werden die gewerblichen Betriebe von Kapitalgesellschaften, Genossenschaften und Mitunternehmerschaften als wirtschaftliche Einheit behandelt. Sie bilden einen gewerblichen Betrieb (§ 97 I BewG).
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Die Wirtschaftsgüter müssen dem Betriebsinhaber gehören (§§ 95 I; 97 I BewG). Ausnahme: Zum gewerblichen Betrieb einer Mitunternehmerschaft gehören auch die Wirtschaftsgüter, die im Eigentum eines, mehrerer oder aller beteiligten Gesellschafter stehen und bei der steuerlichen Gewinnermittlung zum Betriebsvermögen der Gesellschaft gehören; diese Zurechnung geht anderen Zurechnungen vor. Das gilt auch für Forderungen und Schulden zwischen der Gesellschaft und einem Gesellschafter (vgl. § 97 I Nr. 5 BewG). Zur Aufteilung des Betriebsvermögens auf die an der Personengesellschaft beteiligten Mitunternehmer rechnet § 97 Ia Nr. 1 BewG in einem ersten Schritt die Kapitalkonten aus der Gesamthandsbilanz dem jeweiligen Gesellschafter vorweg zu (Buchst. a), um im zweiten Schritt den verbleibenden Wert nach dem für die Gesellschaft maßgebenden Gewinnverteilungsschlüssel auf die Gesellschafter aufzuteilen (Buchst. b). Auf der Grundlage des Verkehrswertansatzes (s. Rz. 58) können die Kapitalkonten keine alleinige Zurechnungsfunktion besitzen, da auch die Differenz zwischen dem bilanziellen Eigenkapital und dem Verkehrswert auf die Mitunternehmer verteilt werden muss. Hinzu kommt schließlich der additiv hinzuzurechnende Wert der Wirtschaftsgüter und Schulden des Sonderbetriebsvermögens (dazu § 10 Rz. 131 ff.).
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Dem Gewerbebetrieb steht die Ausübung eines freien Berufes i.S.d. § 18 I Nr. 1 EStG gleich (§ 96 I BewG).
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6.2 Erforderlichkeit einer Unternehmensbewertung Nach dem Grundsatz der realitätsgerechten Wertrelation (s. Rz. 58) fordert BVerfGE 117, 1 (38 ff.) auch für das Betriebsvermögen den Ansatz mit einem dem Verkehrswert (gemeinen Wert) wenigstens angenäherten Wert. Damit war die früher in § 109 I BewG a.F. vorgesehene Bewertung des Betriebsvermögens mit den Steuerbilanzwerten nicht vereinbar. Nicht auseinander gesetzt hat sich das BVerfG indessen mit der Rechtfertigung der Steuerbilanzwerte durch die Verhinderung einer latenten Steuerbelastung stiller Reserven mit Einkommen- und ErbSt beim Erben/Beschenkten3. Leider hat das BVerfG auch der Doppelbelastung mit Einkommen- und Erbschaftsteuer keine Beachtung geschenkt. Immerhin hat der Gesetzgeber das sich durch den Verkehrswertansatz verschärfende Problem in einem späten Stadium des Gesetzgebungsprozesses noch gesehen und kurzerhand die bis 1998 bereits gültige Steuerermäßigung des § 35a EStG a.F. in Gestalt des § 35b EStG n.F. reaktiviert. Allerdings greift die sich nur auf Verfügungen von Todes wegen innerhalb eines 5-Jahres-Zeitraums beschränkende Regelung auch und gerade unter den Bedingungen des neuen Erbschaft- und Schenkungssteuer1 Zum Umfang des Betriebsvermögens im Rahmen der steuerlichen Gewinnermittlung s. § 9 Rz. 210 ff. 2 BFH BStBl. 2004, 766, versagt deshalb den Abzug von Rücklagen für Ersatzbeschaffung. 3 Dazu 18. Aufl., § 13 Rz. 48, m.w.N.
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rechts zu kurz (zur Ermäßigung der Einkommensteuer s. § 8 Rz. 815)1. Der Gesetzgeber sollte die Regelung auf Schenkungen erweitern und den Anrechnungszeitraum ausdehnen2. 74
Das BVerfG fordert damit auch für das Betriebsvermögen den Ansatz von Verkehrswerten (Annäherungswerten). Zu Recht hält es den Umstand einer eingeschränkten Fungibilität, ggf. gesteigerter rechtlicher Verpflichtungen und eine mögliche höhere Sozialbindung nicht anders als beim Grundvermögen für bereits durch den Marktwert als erfasst3. In Abkehr von der Einzelbewertung hat der Reformgesetzgeber einen Paradigmenwechsel hin zur Gesamtbewertung des betrieblichen Unternehmens vollzogen. Einige Wirtschaftsgüter werden zwar ungeachtet ihrer (formalen) Betriebsvermögenseigenschaft nach wie vor einzeln bewertet (insb. sog. nicht betriebsnotwendiges Vermögen). Die Gesamtbewertung bildet für betriebliche Organismen aber künftig das bewertungsrechtliche Leitprinzip und zwar rechtsformunabhängig. § 11 Abs. 2 BewG bestimmt das Prinzip der Gesamtbewertung für nicht börsennotierte Kapitalgesellschaften (s. Rz. 80). § 109 BewG wiederum erklärt diese Grundsätze in Ansehung von Betriebsvermögen i.S.v. § 95 BewG und § 97 BewG für entsprechend anwendbar. I.Erg. werden damit nunmehr unabhängig von der zivilrechtlichen Organisationsform die stillen Reserven und der Firmen-/Geschäftswert einbezogen (s. § 13 Rz. 50 ff.).
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Nach § 11 II 2 BewG findet vorrangig ein Vergleichswertverfahren Anwendung, wonach der gemeine Wert aus Verkäufen unter fremden Dritten, die weniger als ein Jahr zurückliegen, abzuleiten ist4. Diese Regel zielt auf die Bewertung von Gesellschaftsanteilen. Sie entfernt sich vom Stichtagsprinzip und kann in Fällen hoher Wertschwankungen zu zufälligen Ergebnissen mit der Gefahr von Über-/Unterbewertungen führen. § 11 II 2 BewG ist daher dahingehend auszulegen, dass der Verkaufswert unbeachtlich ist, sofern ihm für die Ableitung des gemeinen Werts keine Eignung zukommt5. Regelmäßig wird ein zeitnaher Verkaufswert, an den eine Vergleichsbewertung anknüpfen könnte, fehlen. Dann ist der gemeine Wert unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten des Unternehmens oder einer anderen anerkannten, auch im gewöhnlichen Geschäftsverkehr für nichtsteuerliche Zwecke üblichen Methode zu ermitteln (§ 11 II 2 Hs. 1 BewG). Gem. § 11 II 2 Hs. 2 BewG ist dabei die Methode anzuwenden, die ein Erwerber der Bemessung des Kaufpreises für das Unternehmen zugrunde legen würde. Die Feststellungslast, ob eine „andere anerkannte Methode“ diese Anwendungsvoraussetzungen erfüllt und damit anstelle einer Ertragswertmethode anzuwenden ist, trägt nach der sog. Rosenbergschen Normenbegünstigungstheorie (s. § 22 Rz. 191) der sich jeweils darauf Berufende. I.Erg. streitet damit eine Vermutung für die Anwendung einer Ertragswertmethode. Als Mindestwert dient schließlich die Summe der Verkehrswerte der Einzelwirtschaftsgüter abzüglich der Schulden (§ 11 II 3 BewG). Maßgeblich ist mithin der Substanzwert, der den Gebrauchswert der betrieblichen Substanz abbildet. Die Heranziehung des Substanzwerts überrascht angesichts der Tatsache, dass in der Unternehmensbewertungspraxis der hiervon deutlich zu unterscheidende Liquidationswert als Zerschlagungswert die Untergrenze bildet6. Denn niemand zahlt für eine Rekonstruktion des Unternehmens, die sich nicht lohnt; ob sie sich lohnt, hängt aber wiederum von den erhofften Überschüssen in der Zukunft ab7. 1 Krit. hierzu auch Friz, Das Verhältnis der Erbschaft- und Schenkungsteuer zur Einkommensteuer, Diss., 2014, 103 ff. 2 S. Seer, GmbHR 2009, 225 (236 f.); Herzig/Joisten/Vossel, DB 2009, 584 (592). 3 BVerfGE 107, 1 (53); zust. Seer, ZEV 2007, 101 (106); Viskorf, FR 2007, 624 (627); Hübner, DStR 2007, 1013 (1014); Hey, JZ 2007, 564 (566); Wachter, BB 2007, 577 (580, 584). 4 Verkäufe nach dem Stichtag dürfen grds. nicht herangezogen werden, es sei denn, die Preisbildung war vor dem Stichtag bereits abgeschlossen und lediglich die Vollziehung des Anteilskaufs lag nach dem Stichtag (vgl. BFH BStBl. II 1976, 280; 2010, 843 [855]); s. auch BFH BStBl. II 2009, 444, zu nachträglichen Kaufpreisminderungen. 5 Creutzmann, DB 2008, 2784 (2787 f.); Seer, GmbHR 2009, 225 (231). 6 Krit. Creutzmann, DB 2008, 2784 (2790 f.); Gerber/König, BB 2009, 1268; Schulte, FR 2008, 341 (345); Seer, GmbHR 2009, 225 (231); zum Substanzwert s. Wollny, DStR 2012, 716 (Teil I) u. 766 (Teil II); Rüttenauer, ErbStB 2014, 49. 7 Großfeld, Unternehmens- und Anteilsbewertung4, 2002, 222; hierauf weist Landsittel, ZErb 2009, 11 (14) hin und folgert, dass der Substanzwert i.S. eines Liquidationswerts auszulegen sei.
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Bewertung des steuerpflichtigen Vermögens
Rz. 77
§ 15
Die Praxis der Unternehmensbewertung ist von einer Methodenvielfalt geprägt. Es gibt nicht die „eine“ Ertragswertmethode. Es gibt verschiedene Verfahren, die die Ertragsaussichten des Unternehmens angemessen berücksichtigen. Der Gesetzeswortlaut verlangt insoweit keine Ausschließlichkeit. Weit verbreitet und damit nunmehr auch für die steuerliche Bewertung relevant sind die vom Berufsstand der Wirtschaftsprüfer erarbeiteten Ertragsbewertungsgrundsätze, die im Standard IDW S 1 ihren Niederschlag gefunden haben1. Danach werden die künftigen Ertragsüberschüsse (in Abgrenzung zu Liquiditätsüberschüssen) mit den Renditeforderungen der Eigenkapitalgeber auf den Bewertungszeitpunkt diskontiert. Besondere Bedeutung kommt damit der Bezifferung der künftigen Erträge und des Kapitalisierungszinssatzes zu. An dem Beispiel dieser Methode zeigen sich die erheblichen Unsicherheiten der Unternehmensbewertung. Die künftigen Erträge müssen geschätzt werden; sie beruhen auf Planungen und damit letztlich auf einer von komplexen Rahmenbedingungen geprägten Prognose. Der Kapitalisierungszinssatz wiederum setzt sich zusammen aus einem Basiswert und einem Risikozuschlag2. Während der Basiszinssatz mit dem Rückgriff auf den marktüblichen Zinssatz für (quasi-)risikofreie Kapitalmarktanlagen noch einer recht objektiven Bestimmung zugänglich ist3, spiegelt der Risikozuschlag nicht nur die individuellen Umstände in Ansehung des konkreten Unternehmens, der konkreten Marktlage und ähnlicher Faktoren wieder, sondern naturgemäß auch die subjektiven Einschätzungen des Bewertenden.
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Ein nach diesen Grundsätzen erstelltes individuelles Bewertungsgutachten ist aufwändig und kostenintensiv. §§ 199 ff. BewG stellen daher den Beteiligten mit dem sog. vereinfachten Ertragswertverfahren ein von Typisierung geprägtes Alternativverfahren zur Verfügung4. Dem Stpfl. wird insoweit ein echtes Wahlrecht eingeräumt5, sofern das vereinfachte Ertragswertverfahren nicht zu „offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen“ führt. Der die Ausgangsgröße bildende Jahresertrag wird nicht zukunftsorientiert anhand von Planungen ermittelt, sondern richtet sich vergangenheitsorientiert nach dem Betriebsergebnis der letzten drei Jahre vor dem Berechnungsstichtag. Das maßgebliche Betriebsergebnis leitet sich aus dem steuerlichen Gewinn i.S.v. § 4 I 1 EStG ab, der um die in § 202 I BewG genannten Korrekturen zu modifizieren und schließlich um einen pauschalen Abzug von 30 % für die persönliche Steuerbelastung des Betriebsinhabers zu kürzen ist (§ 202 III BewG). Der Kapitalisierungsfaktor wird ebenfalls vorgegeben. Bindend ist insoweit der Kehrwert der Summe aus einem variablen Basiszinssatz (für 2015 nur noch 0,99 %6) und einem festen Risikozuschlag i.H.v. 4,5 % (derzeit also 100 : 5,49 = 18,21). Tendenziell führt diese vereinfachte Bewertung bei eigentümergeführten (insb. kleinen bis mittelgroßen) Unternehmen zumindest derzeit zu einer Überbewertung zulasten der betroffenen Stpfl.7 Der Vergleich mit einer langfristigen Rendite öffentlicher Anleihen mag investitionstheoretisch richtig sein. Er ist aber aus der praktischen unternehmerischen
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1 S. IDW (Hrsg), WPg.-Supplement 3/2008, 68 ff. (Beilage zur Zeitschrift WPg.). 2 S. näher Dirrigl, Unternehmensbewertung, 2009, 62 ff.; Hinz, BFuP 2011, 305 (308 ff.). 3 Es existiert keine Bindung an den in § 203 BewG für das vereinfachte Ertragswertverfahren (dazu Rz. 77) vorgegebenen Kapitalisierungszinssatz (s. Crezelius, ZEV 2009, 1 [6]). 4 S. R B 199.1 ff. ErbStR 2011; außerdem Piltz, Ubg. 2009, 13 ff.; Seer, GmbHR 2009, 225 (231 f.); ausf. Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 393 ff. Vergleiche zwischen dem vereinfachten und dem IDW S 1 – Ertragswertverfahren bieten: Koschmieder/Herrmann, FS Spindler, 2011, 661 (668 ff.); Hinz, BFuP 2011, 305 (307 ff.); Bruckmeyer/Zwirner/Mugler, DStR 2011, 422; Baumann/Seer/Krumm, Fachberater Unternehmensnachfolge, 2011, Rz. 1587 ff. 5 Creutzmann, DB 2008, 2784 (2786); Söffing, DStZ 2008, 867 (868); Landsittel, ZErb 2009, 11 (13); Seer, GmbHR 2009, 225 (228); Schulte/Birnbaum/Hinkers, BB 2009, 300 (301); so nun auch ausdrücklich R B 199.1 IV 1 ErbStR 2011. 6 Der Basiszinssatz ist gem. § 203 II 1, 2 BewG aus der langfristig erzielbaren Rendite öffentlicher Anleihen jeweils zum ersten Börsentag eines Jahres abzuleiten und wird durch die Deutsche Bundesbank errechnet. Das BMF veröffentlicht den maßgeblichen Zinssatz jeweils zu Beginn des Jahres; zuletzt BMF v. 2.1.2015, BStBl. I 2015, 6; wegen der hohen Volatilität der Zinssätze im Laufe eines Jahres zu Recht krit. Hinz, BFuP 2011, 304 (310 ff.); Kohl/König, BB 2012, 607 (608 f.). 7 So bereits die Prognose von Creutzmann, DB 2008, 2784 (2789 f.); später Hinz, BFuP 2011, 304 (317); Kohl/König, BB 2012, 607; dies empirisch anhand verschiedener Gutachten belegend Kappenberg, Unternehmensbewertung im Erbschaftsteuerrecht, Diss., 2012, 163 ff.
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Erbschaft- und Schenkungsteuer
Sicht nur schwer nachvollziehbar und verfehlt die soziale Bewertungswirklichkeit1. Zudem lässt sich ein für alle Unternehmen geltender Risikozuschlag wohl kaum typisieren2; dabei liegt der typisierende Risikozuschlag zulasten der Stpfl. an der unteren Grenze der empfohlenen Risikozuschlagsbandbreiten3. Außerdem bildet der pauschale Steuersatz von nur 30 % die tatsächlich zukünftig bei Unternehmensfortführung auf den Erwerber zukommende Belastung gerade in den Fällen von Personenunternehmen auf eher unrealistisch niedrige Weise ab. Schließlich überzeugt es wenig, zur Ermittlung eines zukunftsorientierten Ertragswerts ausschließlich und ungewichtet an steuerbilanziell gewonnene Vergangenheitswerte anzuknüpfen. Unter dem Blickwinkel zukunftsorientierter Werte bleibt ebenfalls unverständlich, nach § 200 IV BewG sog. „junges Betriebsvermögen“ (innerhalb der letzten zwei Jahre eingelegte Wirtschaftsgüter) auszuklammern und gesondert einzeln zu bewerten4. Die eingangs genannten Faktoren zwingen gerade mittlere Unternehmen, denen die Vereinfachung eigentlich zugute kommen soll, dazu, auf eigene Kosten ein an den jeweiligen Verhältnissen ihrer Unternehmensstruktur ausgerichtetes Bewertungsgutachten einzuholen, was dem Ziel der Vereinfachung der Bewertung zuwider läuft5. Deshalb sehen sowohl die Bundessteuerberaterkammer als auch das Institut der Wirtschaftsprüfer das Bedürfnis, die Besonderheiten eigentümergeführter, kleiner und mittelgroßer Unternehmen bei der Verkehrswertermittlung stärker zu berücksichtigen6. Nach dessen Empfehlungen sind nicht nur der Unternehmerlohn, sondern auch darüber hinausgehende eigentümerbezogene Erfolgsbeiträge bei der Bewertung zu eliminieren oder wenigstens zeitlich abzuschmelzen. Davon unbeschadet bleibt schließlich ein wesentlicher Webfehler für personalistisch geprägte, nicht börsennotierte Personen- und Kapitalgesellschaften in Gestalt des weit verstandenen § 9 III BewG bestehen, der die mit satzungsmäßigen Verfügungs- und Thesaurierungsbeschränkungen eintretenden Wertminderungen kurzerhand negiert (s. Rz. 54).
7. Bewertung sonstigen Vermögens 7.1 Geldvermögen, Wertpapiere, Kapitalforderungen, Schulden u.Ä. 78
Das sonstige Vermögen wird zum Bewertungsstichtag (§§ 11; 9 I ErbStG: Zeitpunkt des Todes oder der Ausführung der Zuwendung) gem. § 12 I ErbStG grds. nach den allgemeinen Bewertungsvorschriften (§§ 1–16 BewG) für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer mit dem gemeinen Wert (Verkehrswert) (§ 9 BewG) bewertet7. Ihm entspricht für Geld, Kapitalforderungen und Schulden der Nennwert (§ 12 I BewG), für börsennotierte Wertpapiere der Kurswert (§ 11 I BewG), für Investmentanteile der Rücknahmepreis (§ 11 IV BewG), für noch nicht fällige Ansprüche aus Lebensversicherungen der Rückkaufswert (§ 12 IV BewG) und 1 Aufgrund des drastisch gefallenen Zinsniveaus auf dem Kapitalmarkt für öffentliche Anleihen (zum 2.1.2014 Basiszins = 2,59 %, zum 2.1.2015 = 0,99 %), soll das Unternehmen eines Mittelständlers bei gleichgebliebener Ertragsprognose plötzlich um 29 % (Erhöhung des Kapitalisierungsfaktors von 14,10 [2.1.2014] auf 18,21 [2.1.2015]) „wertvoller“ geworden sein. Es ist aber kaum anzunehmen, dass in der sozialen Wirklichkeit diese Zinsstrukturveränderung in demselben Ausmaß die Preisfindung beeinflusst, s. Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 396 f. 2 Zutreffend die Stellungnahme des Bundesrats zum Gesetzentw., BR-Drucks. 4/08, 16; ferner krit. Schulte, FR 2008, 341 (346); Landsittel, ZErb 2009, 11 (13). Dagegen berücksichtigt der IDW S 1 in Gestalt eines unternehmensindividuellen Beta-Faktors die Zukunftsaussichten des zu bewertenden Unternehmens, s. Hinz, BFuP 2011, 304 (315 ff.). 3 So hat der Fachausschuss für Unternehmensbewertung (FAUB) des Instituts der Wirtschaftsprüfer (IdW) für die Marktrisikoprämie eine Bandbreite von 4,5 %–5,5 % vorgeschlagen und empfiehlt derzeit, den oberen Wert zu wählen; s. Kohl/König, BB 2012, 607 (609 f.). 4 Mit dem eigenen gemeinen Wert sind nach § 200 III BewG etwa auch Beteiligungen an anderen Gesellschaften anzusetzen. 5 So auch Kappenberg, Unternehmensbewertung im Erbschaftsteuerrecht, Diss., 2012, 217 f. 6 Siehe die gleichlautenden Hinweise der Arbeitsgruppen „Bewertung von KMU“ des IDW und der Bundessteuerberaterkammer, IDW-Fachnachrichten, Heft 4/2014, 282 ff. (IDW-Praxishinweis 1/2014). 7 Zur Bewertung des sonstigen Vermögens s. Ramb, SteuerStud 2007, 607; zur Schätzung des gemeinen Werts bei Kunstgegenständen s. BFH/NV 2002, 28; Heuer, DStR 2002, 845; Steiner, ErbStB 2004, 17.
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Seer
Steuerbefreiungen
Rz. 100
§ 15
für wiederkehrende Nutzungen/Leistungen (z.B. Rentenforderungen) der Kapitalwert (§§ 13–16 BewG). Während uneinbringliche Forderungen nach § 12 II BewG außer Ansatz bleiben, gilt dies für Schulden nicht1. Der im amtlichen Handel notierte Börsenkurs ist der vertypte gemeine Wert des Wertpapiers2. Sachleistungsansprüche (z.B. auf Verschaffung des Eigentums an einem Grundstück) bewertet der BFH nicht (mehr) mit dem Steuerwert der Sache (z.B. Grundbesitzwert), sondern mit dem gemeinen Wert der Forderung3.
79
7.2 Anteile an nichtnotierten Kapitalgesellschaften Bei Anteilen an Kapitalgesellschaften, die an keiner Börse notiert sind (z.B. GmbH-Anteile), fehlt es an einem Kurswert. Sie sollen nach § 11 II 1 BewG mit dem gemeinen Wert (§ 9 BewG) angesetzt werden. Lässt der gemeine Wert sich nicht aus Verkäufen ableiten, die weniger als ein Jahr zurückliegen, so ist er zu schätzen. § 11 II 2 BewG erklärt grds. nur die in der Betriebswirtschaftslehre zur Unternehmensbewertung entwickelten Methoden für maßgeblich. Eine an den künftigen Ertragsaussichten ausgerichtete Methode genießt dabei den prinzipiellen Vorrang. An ihre Stelle kann aber eine andere anerkannte, auch im gewöhnlichen Geschäftsverkehr für nichtsteuerliche Zwecke übliche Methode treten. I.Erg. deckt sich also die Bewertung von nichtnotierten Anteilen an Kapitalgesellschaften mit der Bewertung von Personengesellschaften und Einzelunternehmen (s. daher eingehend Rz. 73 ff.). Einstweilen frei.
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81–99
V. Steuerbefreiungen 1. Persönliche Freibeträge (§ 16 i.V.m. § 15 ErbStG) Nach BVerfGE 93, 174 f., ist der erbschaftsteuerliche Zugriff bei Kindern und Ehegatten derart zu mäßigen, dass jedem dieser Stpfl. der jeweils auf ihn überkommende Nachlass zumindest zum deutlich überwiegenden Teil, bei kleineren Vermögen sogar völlig steuerfrei zugute kommt (sog. Familienprinzip, s. Rz. 5). Als Anhalt für das danach steuerfrei zu stellende sog. Gebrauchsvermögen (§ 3 Rz. 192) hält das BVerfG den Wert eines durchschnittlichen Einfamilienhauses für tauglich. Dieser Wert bezieht sich nach BVerfGE 93, 121 (141) nicht auf ein konkretes Wirtschaftsgut, sondern auf einen Freibetrag, der auch Nicht-Grundeigentümern zugute kommt4. Diesen Anforderungen versucht § 16 I ErbStG auf typisierende Weise durch die folgenden persönlichen Freibeträge nachzukommen: 1.
Ehegatten, eingetragene Lebenspartner
500 000 Euro
2.
Kinder und Kinder verstorbener Kinder
400 000 Euro
3.
Übrige Enkel
200 000 Euro
4.
Übrige Personen der Steuerklasse I (Eltern beim Erwerb von Todes wegen)
100 000 Euro
5.
Übrige Personen
20 000 Euro.
Diese persönlichen Freibeträge finden nach § 16 I ErbStG nur auf Erwerbe Anwendung, die unter die unbeschränkte Steuerpflicht nach § 2 I Nr. 1 ErbStG (Rz. 41 ff.) fallen. In sog. EU-/ 1 BFH BStBl. 2003, 561 (562 f.). 2 BFH/NV 2002, 319 f.: Abweichungen sind nur zuzulassen, wenn der amtlich festgestellte Kurs nicht der wirklichen Geschäftslage des Verkehrs an der Börse entspricht, d.h. seine Streichung hätte erreicht werden können. 3 BFH BStBl. 2008, 951; s. auch bereits das obiter dictum in BFH BStBl. 2004, 1039. 4 Jachmann, StuW 1996, 97 (103); Seer, StuW 1997, 283 (297); krit. zur Höhe des Freibetrages Seer, Ubg. 2012, 378 (382).
Seer
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100
§ 15
Rz. 101
Erbschaft- und Schenkungsteuer
EWS-Auslandsfällen kann der steuerpflichtige Erwerber gem. § 2 III ErbStG durch eine Option zur unbeschränkten Steuerpflicht die persönlichen Steuerfreibeträge erlangen (s. Rz. 45, dort auch zu den verbliebenen europarechtlichen Bedenken). 101
Die Freibeträge beziehen sich auf den Erwerb von einem bestimmten Erblasser oder Schenker. Folglich können Eltern (wenn beide Elternteile Vermögen besitzen) jedem Kind jeweils ein Vermögen mit einem Steuerwert von 400 000 Euro steuerfrei zuwenden. Nach § 14 I ErbStG werden mehrere Erwerbe, die innerhalb eines Zeitraums von 10 Jahren von derselben Person anfallen, zusammengerechnet (Rz. 145), so dass sich der Freibetrag innerhalb dieses Zeitraumes auch nur einmal auswirken kann. Eine darüber hinaus langfristig gestreckte vorweggenommene Erbfolge führt zur mehrfachen Ausnutzung persönlicher Freibeträge, mildert die Erbschaftsteuerprogression (Rz. 141) und lässt Wertsteigerungen des übertragenen Vermögens bereits in der nachfolgenden Generation entstehen.
102
Sofern nicht ohnehin bereits die Steuerbefreiung für das sog. Familienwohnheim eingreift (§ 13 I Nr. 4b u. 4c, dazu Rz. 122), reicht ein Freibetrag i.H.v. 400 000 Euro regelmäßig aus, damit auf jeden Erwerber ein übliches Einfamilienhaus steuerfrei übergehen kann. Im Gegenteil, die hohen Freibeträge erodieren die Steuerbasis und provozieren für die verbleibenden Fälle hohe Steuersätze (s. Rz. 139). Fraglich ist allerdings, ob der Ehegatten-Erwerb durch einen Freibetrag von 500 000 Euro hinreichend freigestellt wird. BVerfGE 93, 175, hatte gefordert, dass die Erbschaft für den Ehegatten nach Art. 6 I GG noch Ergebnis der ehelichen Erwerbsgemeinschaft bleiben müsse. Dann sind bereits zu Lebzeiten getätigte sog. ehebedingte (unbenannte) Zuwendungen unter Ehegatten zumindest insoweit von der Schenkungsteuer freizustellen, als sie den Umfang einer hälftigen Teilung des ehelichen Zugewinns nicht überschreiten (Rz. 119).
103
Wird der gesetzliche Güterstand der Zugewinngemeinschaft (§§ 1363 ff. BGB) durch Scheidung oder Tod aufgelöst, so ist der Zugewinnausgleich bereits nach geltendem Recht nicht steuerbar. Die Erfüllung des Zugewinnausgleichs ist keine freigebige Zuwendung (insoweit klarstellend § 5 II ErbStG)1. Vielmehr besitzt der Ehegatte mit dem geringeren Zugewinn einen ehebedingten (familienrechtlichen) Teilhabeanspruch auf die Hälfte der Zugewinndifferenz. Demgemäß ist auch im Todesfall der Erwerb des überlebenden Ehegatten, der den ehelichen Zugewinn abgilt, von der ErbSt freizustellen. Dazu folgt das ErbStG jedoch nicht der pauschalierenden erbrechtlichen Regelung des § 1371 I BGB (1/4 der Erbschaft = fiktiver Zugewinnausgleich). Vielmehr verlangt der sog. Zugewinnausgleichsfreibetrag des § 5 I ErbStG unter Anknüpfung an die güterrechtliche Lösung des § 1371 II BGB für steuerliche Zwecke die Berechnung des effektiven Zugewinnausgleichs. Die technisch aufwendige Lösung des § 5 I ErbStG bemüht sich hier um ein Höchstmaß an Präzision, die aber auf Grund praktischer Schwierigkeiten in der Realität nicht geleistet werden kann. R E 5.1 II 5 ErbStR 2011 will bei der Berechnung des steuerfreien Zugewinns nominale Wertsteigerungen, die auf dem Kaufkraftschwund beruhen, zulasten des Stpfl. außer Ansatz lassen. Dies hat BFH BStBl. 2007, 783 (784 f.) gebilligt. Solange das Steuerrecht aber am Nominalwertprinzip festhält und keinem Realwertprinzip2 folgt (s. § 3 Rz. 15, 63), ist diese Ausnahme vom Nominalwertprinzip profiskalisch und inkonsequent. Wird die Zugewinngemeinschaft (etwa nachträglich) durch Ehevertrag vereinbart, gilt als Zeitpunkt des Eintritts des Güterstandes (§ 1374 I BGB) nach § 5 I 4 1 BFH BStBl. 2007, 785 (786 f.) nimmt den vorzeitigen Zugewinnausgleich bei fortbestehender Zugewinngemeinschaft aus dem Anwendungsbereich des § 5 II ErbStG heraus (sog. fliegenden Zugewinnausgleich; s. auch H E 5.2 ErbStH 2011); anders aber nach BFH BStBl. 2005, 843 (845), wenn der Güterstand der Zugewinngemeinschaft ehevertraglich beendet wird, selbst wenn der Güterstand der Zugewinngemeinschaft im Anschluss an die Beendigung wieder neu entsteht (Modell der „Güterstandsschaukel“ bei unterbrochener Zugewinngemeinschaft; s. auch Schlünder/Geißler, ZEV 2005, 505; Wachter, FR 2006, 42; Kensbock/Menhorn, DStR 2006, 1073; Fuhrmann, KÖSDI 2013, 18538). 2 Die zivilrechtliche Rspr. des BGH (s. BGHZ 101, 65 [67 f.]; BGH NJW 1994, 434) will für das Erbund Familienrecht dagegen das Realwertprinzip umsetzen; zu den Konsequenzen für die Testamentsgestaltung s. Piltz, ZEV 1999, 98 f.
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Seer
Steuerbefreiungen
Rz. 105
§ 15
ErbStG der Tag des Vertragsabschlusses1. Immerhin erfasst § 5 ErbStG nun auch die Lebenspartnerschaft i.S.d. § 6 LPartG, lässt aber ausländische Güterstände weiterhin unberücksichtigt2. Es spricht de lege ferenda viel dafür, den Ehegatten-Erwerb erbschaft- und schenkungsteuerlich vollständig freizustellen3.
2. Besonderer Versorgungsfreibetrag (§ 17 ErbStG) Dem überlebenden Ehegatten (ebenso dem überlebenden Lebenspartner) steht neben dem persönlichen Freibetrag (Rz. 100) ein besonderer Versorgungsfreibetrag von 256 000 Euro zu. Kinder erhalten einen nach ihrem Alter gestaffelten besonderen Freibetrag von 10 300–52 000 Euro (§ 17 II 1 ErbStG). Haben der Ehegatte/Lebenspartner oder/und die Kinder aus Anlass des Todes des Erblassers Anspruch auf nicht der ErbSt unterliegende Versorgungsbezüge, so ist der Freibetrag um den Kapitalwert (§§ 13; 14 BewG) der Versorgungsbezüge zu kürzen (§ 17 I 2, II 2 ErbStG).
104
Der ErbSt nicht unterliegende Versorgungsbezüge sind Hinterbliebenenbezüge aus einer Beamten- oder Abgeordnetenversorgung, gesetzlichen Sozialversicherung, berufsständischen Pflichtversicherung und nach der neueren BFH-Rspr. auch vertragliche Hinterbliebenenbezüge aus einem Arbeitsverhältnis4; Versorgungsbezüge zugunsten des überlebenden Ehegatten eines Personengesellschafters sollen mangels Arbeitnehmereigenschaft des Gesellschafters hingegen nicht von der Besteuerung ausgenommen sein und schmälern den Versorgungsbeitrag dementsprechend auch nicht5. Durch die Kürzung des Versorgungsfreibetrags, welche die Wirkung einer begrenzten indirekten Besteuerung hat, soll im Vergleich zu denjenigen Hinterbliebenen ein angemessener Ausgleich geschaffen werden, denen aus Anlass des Todes des Erblassers keine oder nur geringe Versorgungsbezüge zustehen (BT-Drucks. 6/3418, 70 f.). Eine völlige Gleichbehandlung der steuerfreien Versorgungsbezüge mit den steuerpflichtigen Versorgungsbezügen einerseits (s. § 3 I Nr. 4 ErbStG, dazu Rz. 17) und dem übrigen steuerpflichtigen Vermögenserwerb andererseits wird wegen der auf 256 000 Euro begrenzten Anrechnung aber nicht erreicht. Die dem Bereicherungsprinzip entsprechende, systemkonforme Lösung bestünde vielmehr darin, alle Versorgungsbezüge in die erbschaftsteuerliche Bemessungsgrundlage einzubeziehen und den Versorgungsfreibetrag ungekürzt zu gewähren.
105
1 Damit versagt § 5 I 4 ErbStG rückwirkenden Güterstandsvereinbarungen seine erbschaftsteuerliche Anerkennung. Zu den Auswirkungen des Güterstandes auf die Erbschaft- und Schenkungsteuer allgemein s. Sontheimer, NJW 2001, 1315; Götz, INF 2001, 417 (Teil 1), 460 (Teil 2). Nach BFH/NV 2005, 1814; 2006, 948, ist diese Regelung verfassungskonform (Verfassungsbeschwerde 1 BvR 887/06 wurde nicht zur Entscheidung angenommen). Zur § 5 I 4 ErbStG überwindenden sog. doppelten Güterstandsklausel unter dem Gesichtspunkt des Gestaltungsmissbrauchs nach § 42 AO s. Holler/ Schmidt, FS Spiegelberger, 2009, 239 (242 ff.). 2 Die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) kann es in europarechtskonformer Auslegung gebieten, den Freibetrag auch auf den Zugewinn nach ausländischem Güterrecht analog anzuwenden, soweit dieser seiner Struktur nach dem deutschen Zugewinnausgleich entspricht, s. Schnitger, FR 2004, 185 (192); a.A. wohl Meincke, ZEV 2004, 353 (357). Immerhin findet nach § 5 III ErbStG der Zugewinnausgleichsfreibetrag auf die deutsch-französische Wahl-Zusammenveranlagung Anwendung (eingeführt durch Gesetz v. 15.3.2012, BGBl. II 178 [179]). 3 So auch P. Kirchhof, FR 2013, 97 (98); noch weitergehend Michelsen, Die erbschaft- und schenkungsteuerliche Behandlung von Vermögensbewegungen unter Ehegatten, Diss., 2008, 38 ff., der bereits von Verfassungs wegen jeden Vermögenstransfer zwischen Ehegatten freigestellt sehen will (abl. BFH BStBl. 2013, 1051 [1052 f.]). 4 Vgl. BFH BStBl. 1981, 715; 1982, 27; modifiziert durch BVerfGE 79, 106 (120); BFH BStBl. 1990, 322 (325); bestätigt durch BVerfG BStBl. 1994, 547; dazu auch Pietsch, UVR 1995, 336. 5 BFH BStBl. 2010, 923 (924, 928).
Seer
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§ 15
Rz. 106
Erbschaft- und Schenkungsteuer
3. Sachliche Steuerbefreiungen 3.1 Verschonungsabschlag/Abzugsbetrag für Unternehmensvermögen (§§ 13a; b ErbStG) 106
Die praktische wichtigste und zugleich umstrittenste sachliche Steuerbefreiung statuiert § 13a ErbStG für das Unternehmensvermögen. Zwar lässt es das BVerfG zu, dass die verkehrswertorientierte Bemessungsgrundlage auf einer 2. Stufe zur Verfolgung von Lenkungszwecken wieder durchbrochen wird1. Es fordert dazu aber, dass das Gesetz den Lenkungszweck deutlich erkennen lässt und den Lenkungstatbestand „zielgenau und normenklar“ ausgestaltet2. Diesen Lenkungsspielraum hat das ErbStRefG 2009 in Gestalt der §§ 13a, b ErbStG zu nutzen versucht, um Familienunternehmen, bei denen die Erbschaft- oder Schenkungsteuer mittelbar einen Liquiditätsentzug bewirken kann, zur langfristigen Sicherung von Arbeitsplätzen von der Erbschaft- und Schenkungsteuer zu verschonen (s. BR-Drucks. 4/08, 52 ff.). Dabei hat es Ausmaß und Reichweite der Verschonungssubvention aber so überdimensioniert, dass das BVerfG in seinem Urteil v. 17.12.2014 (1 BvL 21/12) die Regelung für unverhältnismäßig und insgesamt mit Art. 3 Abs. 1 GG für unvereinbar erklären musste3. Mit Rücksicht auf die Interessen der Länderhaushalte hat das BVerfG seine Entscheidung nur mit einer ex-nunc-Reformpflicht und einer bis zum 30.6.2016 befristeten Weitergeltungsanordnung getroffen (dazu krit. § 22 Rz. 287). Deshalb werden im Folgenden einerseits weiterhin die Grundzüge der Verschonungssubvention erläutert, andererseits aber auch deren verfassungswidriges Übermaß aufgezeigt.
107
Begünstigt sind sowohl der Erwerb von Todes wegen (§ 1 I Nr. 1 ErbStG, einschließlich des Sachvermächtnisses4, s. Rz. 8 ff.) als auch der Erwerb durch Schenkung unter Lebenden (§ 1 I Nr. 2 ErbStG). Begünstigt ist ferner der Erwerb i.S.v. §§ 3 I Nr. 2 Satz 2 u. Satz 3; 7 VII, VIII ErbStG5 (dazu Rz. 16, 30 f.). § 13b IV ErbStG stellt 85 % des Unternehmensvermögens von der Erbschaft- oder Schenkungsteuer frei (sog. Regelverschonung). Für das nach Abzug des prozentualen Abschlages verbleibende Unternehmensvermögen gewährt schließlich § 13a II ErbStG einen zusätzlichen Abzugsbetrag i.H.v. 150 000 Euro. Dieser Freibetrag kann innerhalb eines 10-Jahres-Zeitraums nur einmalig für von derselben Person stammende Erwerbe in Anspruch genommen werden. Er soll ausschließlich Kleinunternehmen zugute kommen (BRDrucks. 4/08, 53). Deshalb schmilzt er i.H.v. 50 % des 150 000 Euro übersteigenden Betrags bis auf 0 Euro ab, so dass er sich überhaupt nur bis zu einem gemeinen Wert des Unternehmensvermögens von 450 000 Euro ganz oder teilweise auswirken kann. Seinem Lenkungszweck entsprechend weist § 13a III 1 ErbStG den Abschlag und Abzugsbetrag nicht formal dem Erben, sondern demjenigen zu, der z.B. aufgrund eines Sachvermächtnisses (auch als Vorausvermächtnis) das Unternehmensvermögen letztlich erhält und fortführt. Bei dem Erben, der mit dem Sachvermächtnis belastet ist, handelt es sich um einen bloßen Durchgangserwerb. Er ist i.Erg. nicht bereichert; sein Erwerb wird durch eine korrespondierende Nachlassverbindlichkeit kompensiert (Rz. 126). § 13a III 2 ErbStG versagt den Verschonungsabschlag und -abzugsbetrag aber auch dann, wenn aufgrund einer Teilungsanordnung begünstigtes Unternehmensvermögen auf einen Miterben zu übertragen ist. Stattdessen soll auch hier der Miterbe, der dieses Unternehmensvermögen letztlich fortführt, in den Genuss der Begünstigung kommen (s. auch R E 13a.3 I 4 ErbStR 2011). Diese Regelung kollidiert jedoch mit dem Erbanfallprinzip, wonach die Teilungsanordnung an der erbschaftsteuerlichen 1 BVerfGE 117, 1 (36 f.); BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BStBl. 2015, 50 (67 ff.), Rz. 124 ff. 2 BVerfGE 117, 1 (32 ff.); krit. zur Unbestimmtheit dieser sog. 2. Stufe: Seer, ZEV 2007, 101 (105 f.); Seer, GmbHR 2007, 281 (285 ff.); Hey, JZ 2007, 564 (567 ff.). 3 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BStBl. 2015, 50, beschränkt die Verfassungswidrigkeit nicht auf die Verschonungssubvention der §§ 13a, 13b ErbStG, sondern erstreckt sie in einer Gesamtschau auch auf die Tarifnorm des § 19 I ErbStG (s.Rz. 284 der Urteilsgründe); s. auch Vorlagebeschluss BFH BStBl. 2012, 899 (916). 4 BFH BStBl. II 2008, 982 (985 f.) – zur alten Rechtslage. 5 Gl.A. Crezelius, ZEV 2009, 1 (5); Jülicher, ZErb 2008, 214; Riedel, ZErb 2009, 2.
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Seer
Steuerbefreiungen
Rz. 108
§ 15
Zuordnung des Unternehmensvermögens nichts ändert1. Mit anderen Worten: Die 1. Stufe der Bemessungsgrundlage mit ihren Bewertungsregeln stimmt mit der 2. Stufe der Steuerverschonung nicht mehr überein. Der weichende Erbe hat auf der 1. Stufe anteiliges Unternehmensvermögen zu Verkehrswerten anzusetzen, ohne auf der 2. Stufe verschont zu werden. Der fortführende Erbe hat auf der 1. Stufe nur anteiliges Unternehmensvermögen anzusetzen, soll aber nach der Intention des Gesetzes die gesamte Verschonungssubvention erhalten. Dies lässt sich nur verwirklichen, wenn nicht nur der anteilige, sondern der volle Verschonungsabschlag angesetzt wird und dieser damit letztlich auch anderes Vermögen mindert. Die Gesetzesbegründung verkennt bei der Teilungsanordnung leider den Zusammenhang (s. BT-Drucks. 16/7918, 34), weil dort – anders als beim Vorausvermächtnis – die Weitergabeverpflichtung nach § 10 Abs. 5 ErbStG gerade nicht abgezogen wird2. Als begünstigtes Unternehmensvermögen definiert § 13b I ErbStG das land- und forstwirtschaftliche Vermögen (s. Rz. 69), das Betriebsvermögen (s. Rz. 70 ff.) sowie Anteile an Kapitalgesellschaften mit einer Mindestbeteiligung von mehr als 25 % des Erblassers/Schenkers am Nennkapital der Gesellschaft (s. Rz. 80). Ebenso wie in § 13a IV Nrn. 1, 2 ErbStG a.F. fallen auch Teilbetriebe und Mitunternehmeranteile3 (vgl. § 16 I EStG; zu den Begriffen s. § 8 Rz. 420; § 10 Rz. 25 ff.)4 unter die Begünstigung. Die Beteiligungsgrenze von 25 % soll ein Indiz dafür sein, dass der Anteilseigner unternehmerisch in die Kapitalgesellschaft eingebunden ist und nicht nur als Kapitalanleger auftritt5. § 13b I Nr. 3 Satz 2 ErbStG trägt erleichternd dem Umstand Rechnung, dass in Familien-Kapitalgesellschaften die Anteile nicht selten durch mehrere Generationennachfolgen unterhalb der maßgeblichen Schwelle liegen und durch eine Stimmrechtsbindung (Stimmrechtspoolvereinbarung) der maßgebliche Einfluss des Familienstamms auf die Geschäftspolitik der Gesellschaft gesichert wird. In einem solchen Fall kommt es für die Mindestquote auf die Summe der Anteile an, die der Stimmrechtsbindung unterliegen6. Im Unterschied zu § 13a IV ErbStG a.F. erstreckt § 13b I ErbStG die Begünstigung auch auf Unternehmensvermögen, das zu einer Betriebsstätte in einem EU-Mitgliedstaat oder einem EWS-Staat gehört (dem gleichgestellt: Beteiligung von mehr als 25 % an einer EU-/ EWS-Kapitalgesellschaft). Den trotz dieser räumlichen Ausdehnung des Kreises der begünstigten Unternehmensvermögen verbliebenen europarechtlichen Zweifeln, dass der Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) auch in Drittstaaten gehaltenes Kapital umfasse und daher § 13b I ErbStG europarechtswidrig sei, ist der EuGH entgegengetreten. Bei Beteiligungen von mehr als 25 % wendet der EuGH vorrangig die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) an, weil die qualifizierte Beteiligung einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der
1 Seer, GmbHR 2009, 225 (232 f.); Baumann/Seer/Krumm, Fachberater Unternehmensnachfolge, 2011, Rz. 1607 f., m. Bsp. zum Risiko eines anteiligen Verlusts des Verschonungsabschlags; a.A. wohl Wälzholz, ZEV 2009, 113 (115). 2 BFH BStBl. II 1983, 329; Meincke16, § 10 ErbStG Rz. 40. 3 Der Übertragende muss zuvor Mitunternehmer gewesen und der Erwerber muss es geworden sein (BFH BStBl. 2008, 631; Noll, FS Schaumburg, 2009, 1025 [1028]; Escher, FR 2008, 985 [987 f.]). Wird der Übertragende nur Gesellschafter, aber nicht Mitunternehmer, ist er bereichert, erfährt aber keine Verschonung nach § 13a ErbStG (BFH a.a.O.). 4 Dazu zählt auch die unentgeltliche Aufnahme von natürlichen Personen in ein Einzelunternehmen, s. Münch, DStR 2002, 1025 (1028 f.). 5 Die Beschränkung auf eine Mindestbeteiligung in dieser Höhe liegt im gesetzgeberischen Ermessen, da hierin eine nachvollziehbare Typisierung einer „unternehmerischen Beteiligung“ zum Ausdruck kommt, ausf. BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BStBl. 2015, 50 (75 f.), Rz. 179-195; s. auch BVerfGE 117, 1 (63); a.A. Scheffler/Wigger, FS Rödl, 2008, 131 (138 ff.), die die Mindestquote als Verstoß gegen Art. 3 I GG qualifizieren (zu den rechtsformspezifischen Auswirkungen s. § 13 Rz. 168 ff.). 6 Zur Poolvereinbarung s. R E 13b.6 III-V ErbStR 2011; eingehend Hannes/von Freeden, Ubg. 2008, 624; Weber/Schwind, ZEV 2009, 16; Kreklau, BB 2009, 748; Lahme/Zikesch, DB 2009, 527; Kamps, FR 2009, 353 (356 ff.); Feick/Nordmeier, DStR 2009, 893; von Oertzen, FS Schaumburg, 2009, 1045; Zipfel/Lahme, DStZ 2009, 615; Kalbfleisch, UVR 2010, 343; Kramer, GmbHR 2010, 1023; zusammenfassend Baumann/Seer/Krumm, Fachberater Unternehmensnachfolge, 2011, Rz. 1761–1766.
Seer
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108
§ 15
Rz. 109
Erbschaft- und Schenkungsteuer
Gesellschaft ermöglicht1. Sie schützt aber (anders als die Kapitalverkehrsfreiheit) keine Drittstaatengesellschaften (s. § 4 Rz. 82). 109
Mit Recht verworfen hat das BVerfG die zur zielgenauen Umsetzung des Lenkungszwecks (s. Rz. 6) i.Erg. untaugliche 50%ige-Verwaltungsvermögensgrenze (ausf. BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BStBl. 2015, 50 [81 ff.], Rz. 231-252). Nach § 13b II 1 ErbStG gelten als Verwaltungsvermögen2: – Grundstücke, Grundstücksteile, grundstücksgleiche Rechte und Bauten, die Dritten zur Nutzung überlassen werden (ausgenommen Fälle der Betriebsaufspaltung und des Sonderbetriebsvermögens, dazu § 10 Rz. 131 ff., § 13 Rz. 80 ff., der konzerninternen Nutzungsüberlassung sowie unter bestimmten Voraussetzungen auch Fälle der sog. Betriebsverpachtung3, dazu § 13 Rz. 88); – im Unternehmensvermögen gehaltene Anteile an Kapitalgesellschaften von bis zu 25 % (sog. Streubesitz), es sei denn, im Wege einer Stimmrechtsbindung wird die Mindestquote überschritten (s. Rz. 108); – Wertpapiere sowie vergleichbare Forderungen, die nicht dem Hauptzweck des Gewerbebetriebes eines Kreditinstituts oder Finanzdienstleistungsinstituts i.S.d. § 1 I, Ia KWG zuzurechnen sind; – der gemeine Wert des nach Abzug des gemeinen Werts der Schulden verbleibenden Bestands an Zahlungsmitteln, Geschäftsguthaben, Geldforderungen und anderen Forderungen, soweit er 20 % des anzusetzenden Werts des Betriebsvermögens des Betriebs oder der Gesellschaft übersteigt4; – Kunstgegenstände5 und ähnliche Wirtschaftsgüter des „guten Geschmacks“, wenn der Hauptzweck des Gewerbebetriebes nicht im Handel mit diesen oder in der Verarbeitung dieser Gegenstände besteht. Nach § 13b II 1 Nr. 3 ErbStG kommt es für die Frage des Verwaltungsvermögensanteils bei Mitunternehmeranteilen und wesentlichen Anteilen an Kapitalgesellschaften auf die Vermögensstruktur auf der Ebene der jeweils gehaltenen Gesellschaft an.
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Mit der Kategorie des sog. Verwaltungsvermögens versucht § 13b II ErbStG sog. produktives vom nicht produktivem Vermögen zu unterscheiden. Bereits die Vorstellung, dass das Verwaltungsvermögen eine weitgehend risikolose Rendite zu erzielen vermöge und keine Arbeitsplätze schaffe/erhalte (BR-Drucks. 4/08, 57), ist eine pure Behauptung und ökonomisch nicht belegbar. Zudem birgt die Abgrenzung des Verwaltungsvermögens vom übrigen Vermögen etliche klärungsbedürftige Zweifelsfragen. Die Kernschwäche der Regelung liegt nach Auffassung des BVerfG aber darüber hinaus in dem von § 13b II ErbStG verfolgten „Alles-oder-Nichts-Prinzip“. Wird die 50 %-Grenze eingehalten, ist grds. das gesamte Unternehmensvermögen (einschließlich des Verwaltungsvermögens) begünstigt. Umgekehrt ist das Unternehmensvermögen insgesamt nicht begünstigt, wenn das Verwaltungsvermögen die 50 %-Grenze auch nur leicht übersteigt. Besonders grotesk wirkt sich der Verwaltungsvermögenstest bei mehrstufigen Betei1 EuGH, C-31/11, Scheunemann, Rz. 23 ff.; abl. gegenüber einer obligatorischen Ausweitung der Steuerbefreiungen auf Drittlandsfälle auch Hey, DStR 2011, 1149; krit. aber Wachter, ZEV 2012, 618 (619 f.); zum Problemkreis s. auch Rz. 45. 2 Hierzu ausf. R E 13b.8–20 ErbStR 2011; Piltz, ZEV 2008, 229; Pauli, DB 2009, 641; Kamps, FR 2009, 353; Schulze zur Wiesche, DStR 2009, 732; Schiffers, DStZ 2009, 610. 3 Krit. in Ansehung des begrenzten Anwendungsbereichs und zur konkreten Ausgestaltung der Betriebsverpachtungs-Ausnahme Hannes/Onderka, ZEV 2009, 10 (13 f.). 4 Den Katalog des sog. Verwaltungsvermögens hat das sog. AmtshilfeRLUmsG v. 26.6.2013, BGBl. I 2013, 1809 (1842) erweitert, um sog. Cash-Gesellschaften aus dem Kreis der förderungswürdigen Gesellschaften zu eliminieren; dazu Ländererlasse v. 10.10.2013, BStBl. I 2013, 1272; Milatz/Herbst, GmbHR 2014, 18; Viskorf/Haag, ZEV 2014, 21. 5 Zum Verhältnis der Kunst als Verwaltungsvermögen und Kunst als Gegenstand der Befreiungsvorschrift des § 13 I Nr. 2 ErbStG s. Hoheisel/Nesselrode, DStR 2011, 441.
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Seer
Steuerbefreiungen
Rz. 111
§ 15
ligungen im Konzernverbund aus. Da der Test jeweils auf der Ebene der Beteiligungsgesellschaft nach dem „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ geführt wird, kann bei mehrstufigen Konzernstrukturen ein Kaskadeneffekt eintreten, wonach der Konzern ausschließlich begünstigtes Vermögen unterhält, obwohl bei einer Gesamtbetrachtung der Verwaltungsvermögensanteil ggf. sogar überwiegt (s. auch BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BStBl. 2015, 50 [85], Rz. 261). Die dadurch bewirkten höchst unterschiedlichen Ergebnisse lassen sich weder durch den Lenkungs- noch durch einen Vereinfachungszweck rechtfertigen. Wenn der 85 %igen Freistellung des Betriebsvermögens (§ 13b IV ErbStG) die Überlegung zugrunde liegt, dass jedes Unternehmen über ein nicht begünstigungsfähiges Verwaltungsvermögen im Umfang von 15 % des gesamten Betriebsvermögens verfügt, ist nicht erklärbar, weshalb § 13b II 1 ErbStG mehr als das 3-fache davon als begünstigungsunschädlich typisiert1. Schließlich führt die verfehlte Weichenstellung zu weiteren kuriosen Ergebnissen: So kann es empfehlenswert sein, den Unternehmenswert auf der 1. Stufe hoch ausfallen zu lassen, damit das Verwaltungsvermögen die 50 %-Grenze sicher unterschreitet und auf der 2. Stufe der 85 %ige Verschonungsabschlag „eingefahren“ werden kann. Eine „zielgenauere“ Lenkung gewährleistet immerhin die sog. Arbeitsplatzklausel, die bisher für alle Betriebe mit mehr als zwanzig Beschäftigten anzuwenden ist (vgl. § 13a I 4 ErbStG)2. Das hat auch das BVerfG erkannt, sich aber an der Ausgestaltung der „Kleinbetriebs“-Grenze gestoßen. Diese Grenze ist dem BVerfG aus dem Blickwinkel des Art. 3 I GG gleichheitsrechtlich zu großzügig ausgefallen, weil dadurch mehr als 90 % aller Betriebe nicht von der Lohnsummenklausel erfasst und so nicht mehr dem eigentlichen Lenkungszweck verpflichtet sind3. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass § 13a I 4, IV 5 ErbStG nunmehr auch nachgeordnete Gesellschaften in die Beschäftigungszahl-Berechnung einbezieht4. Die dem Grunde nach vom BVerfG gebilligte Lohnsummenklausel bewirkt, dass der Verschonungsabschlag nur dann ungeschmälert erhalten bleibt, wenn die Lohnsumme des unmittelbar oder über die Beteiligung (mittelbar) fortgeführten Betriebes in den auf den Erwerb folgenden 5 Jahren insgesamt 400 % der Ausgangslohnsumme nicht unterschreitet. Ausgangslohnsumme ist die durchschnittliche Lohnsumme (zum Begriff s. § 13a IV ErbStG) der letzten 5 vor dem Zeitpunkt der Entstehung der Steuer endenden Wirtschaftsjahre. In die Lohnsumme sind alle Vergütungen, die für Beschäftigungen in Betriebsstätten bzw. Beteiligungsgesellschaften in Mitgliedstaaten der EU oder Staaten des EWS gezahlt werden, einzubeziehen (§ 13a IV 5 ErbStG)5. Die Arbeitsplatzklausel ist mithin „europäisch“ ausgestaltet, ohne dass damit aber bereits letzte Zweifel über die Europarechtskonformität der Regelung ausgeräumt wären (s. Rz. 45, 108)6. Arbeitsplatzverlagerungen innerhalb der EU/EWS sind für die Anwendung der Verschonungsregelung unschädlich7. Unterschreitet nach 5 Jahren oder bei einer früheren Aufgabe bzw. Veräußerung des Betriebs die Summe der maßgebenden jährlichen Lohnsummen die Mindestlohnsumme, ist eine partielle Nachversteuerung vorzunehmen (zur Anzeigenpflicht des Erwerbers s. Rz. 147). Nach § 13a I 5 ErbStG vermindert sich der gewährte Verschonungsabschlag mit 1 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BStBl. 2015, 50 (84), Rz. 252, mit Hinweis auf Blum, Bewertungsgleichmaß und Verschonungsregelungen, Diss., 2012, 211. 2 Zum Problem der Berechnung der Beschäftigtenzahl s. R E 13a.4 II ErbStR 2011. 3 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BStBl. 2015, 50 (79 ff.), Rz. 216–229; zuvor BFH BStBl. 2012, 899 (903 f., 914 f.). 4 Eingefügt durch das AmtshilfeRLUmsG v. 26.6.2013, BGBl. I 2013, 1809 (1842), um insb. Konzernholdinggesellschaften zu erfassen; so bereits zuvor R E 13a.4 II 9 ErbStR 2011; zu den praktischen Problemen der Einbeziehung von Beteiligungsgesellschaften s. Immes, Ubg. 2011, 855 (857 f.). 5 Nicht einzubeziehen sind Arbeitnehmer von in Drittstaaten ansässigen Beteiligungsgesellschaften, s. § 13a IV 5 ErbStG und R E 13a.4 VI u. VII ErbStR 2011. 6 Zur Vereinbarkeit der Lohnsummenregelung mit höherrangigem Recht (Verfassungs- und Europarecht) s. Stiller, ZErb 2011, 2. 7 Zu den immensen Detailproblemen der Anwendung der Lohnsummenregelung im Konzern s. Ländererlasse v. 5.12.2012, BStBl. I 2012, 1250; Hannes/Steger/Stalleiken, BB 2011, 2455; Immes, Ubg. 2011, 855; Weber/Schwind, ZEV 2013, 70; Korezkij, DStR 2013, 346.
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§ 15
Rz. 112
Erbschaft- und Schenkungsteuer
Wirkung für die Vergangenheit in demselben prozentualen Umfang, wie die Mindestlohnsumme unterschritten wird. 112
Da § 13a ErbStG die Fortführung von Unternehmen im Rahmen der Generationennachfolge erbschaftsteuerlich schonen will, enthält § 13a V ErbStG noch zusätzlich eine Behaltensfrist. Danach fallen Verschonungsabschlag und Abzugsbetrag mit der Folge einer Nachversteuerung (Korrektur nach § 175 I 1 Nr. 2 AO, dazu § 21 Rz. 437 ff.; s. auch Rz. 147 zur Anzeigepflicht des Erwerbers) rückwirkend insoweit weg, als der Erwerber innerhalb von 5 Jahren nach dem Erwerb – den Betrieb, Teilbetrieb, Mitunternehmeranteil, wesentliche Betriebsgrundlagen oder umwandlungsrechtliche Surrogate (z.B. Kapitalgesellschaftsanteil, s. § 20 UmwStG) veräußert, aufgibt1, entnimmt oder zu anderen betriebsfremden Zwecken verwendet, oder – sog. Überentnahmen tätigt, welche die Summe der Einlagen und Gewinne/Gewinnanteile innerhalb des fünf-Jahres-Zeitraums insgesamt um mehr als 150 000 Euro übersteigen2, oder – begünstigte Anteile an einer Kapitalgesellschaft veräußert oder einen nach § 13a V Nr. 4 ErbStG vergleichbaren Tatbestand erfüllt, oder – im Falle des § 13b I Nr. 3 Satz 2 ErbStG die Verfügungsbeschränkung oder Stimmrechtsbindung aufgehoben wird3.
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Umwandlungen i.S. der §§ 20; 24 UmwStG (s. § 14 Rz. 69 ff., 79 f.) lösen noch keinen Nachversteuerungstatbestand aus4. Außerdem enthalten § 13a V 3 u. 4 ErbStG eine sog. Reinvestitionsklausel. Danach ist die Veräußerung unschädlich, wenn der Veräußerungserlös in einer begünstigten Vermögensart verbleibt und innerhalb von 6 Monaten in ein begünstigtes Vermögen, das kein Verwaltungsvermögen sein darf, wieder reinvestiert wird (R E 13a.11 ErbStR 2011).
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Das Gesetz schweigt zum Verhältnis der Lohnsummenklausel und der Behaltefrist zueinander. Eine schädliche Veräußerung von begünstigtem Vermögen wirkt quotal-vertikal, indem ein bestimmter Teil des Vermögens zeitanteilig überhaupt nicht begünstigt wird. Dagegen wirkt die Unterschreitung der Lohnsumme quotal-horizontal, indem für das gesamte Vermögen der Verschonungsabschlag prozentual reduziert wird. Soweit sich beide Nachversteuerungstatbestände überschneiden, darf die Nachversteuerung nur einmal durchgeführt werden, d.h. bei der zeitlich späteren Nachversteuerung ist der bereits nachversteuerte Anteil abzuziehen (s. R E 13a.12 III ErbStR 2011).
1 Der Nachversteuerungstatbestand ist nach BFH BStBl. 2005, 571 (572); 2010, 663 f.; 2010, 749 (750), selbst dann anzuwenden, wenn der Betrieb durch eine insolvenzbedingte Liquidation oder durch eine gesetzliche Anordnung (z.B. wegen fehlender Berufsqualifikation des noch minderjährigen Sohnes als Alleinerbe der freiberuflichen Arztpraxis des verstorbenen Vaters) aufgegeben wird (BFH schließt auch einen Erlass wegen sachlicher Unbilligkeit i.S.d. § 227 AO aus; s. außerdem R E 13a.6 I 2 ErbStR 2011). Die vorzugswürdige teleologische Reduktion der Norm (s. Heidemann/Ostertun, ZEV 2003, 267; Krumm, ZEV 2005, 46) verneint BFH BStBl. 2010, 305 auch bei Entnahmen, die lediglich zur Schenkungsteuertilgung getätigt worden sind; s. auch BFH BStBl. 2014, 581, wenn Kommanditanteile zur Erfüllung von Pflichtteilsansprüchen übertragen werden. Auch die Gesamtrechtsnachfolger eines zwischenzeitlich verstorbenen Erben sollen noch an die Behaltensfrist gebunden sein, FG Münster EFG 2013, 1781, krit. Anm. hierzu Tölle, NWB 2014, 2160. 2 Zur Überentnahmeregelungstechnik ausf. Christoffel, INF 1999, 588 (Teil I) u. 618 (Teil II); zur Regelung s. auch Schütte, DStR 2009, 2356. 3 Fraglich ist, inwieweit die Nachversteuerung eingreift, wenn nur ein Gesellschafter die Poolvereinbarung kündigt. Sie unterbleibt jedenfalls dann, wenn die übrigen Gesellschafter noch gemeinsam die 25 %-Grenze erreichen (Scholten/Korezkij, DStR 2009, 304 [307 f.]; weitergehend, d.h. grds. keine Nachversteuerung bei den verbleibenden Gesellschaftern, wohl von Oertzen, Ubg. 2008, 59 [67]). 4 Dies gilt auch bei mehrfach aufeinander folgenden Umwandlungsvorgängen, s. BFH BStBl. 2011, 454 (455); s. zur Ermittlung der maßgeblichen Lohnsummen Ländererlasse v. 21.11.2013, BStBl. I 2013, 1510; Steger/Königer, BB 2014, 2007; Viskorf/Haag, DStR 2014, 360.
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Seer
Steuerbefreiungen
Rz. 117
§ 13a VIII ErbStG gewährt dem Erwerber i.S. eines Optionsrechts sogar die Möglichkeit einer vollständigen Befreiung des unternehmerischen Vermögens von der ErbSt. Allerdings knüpft die Option tatbestandlich an strengere Kautelen als die Regelverschonung an:
§ 15 115
– Die Behaltens- und Lohnsummenfrist verlängert sich von 5 Jahren auf 7 Jahre, – die Mindestlohnsumme aus 7 Jahren beträgt 700 %, – die Verwaltungsvermögensgrenze reduziert sich von 50 % auf 10 %. § 13a VIII ErbStG verlangt vom Erwerber des begünstigten Vermögens eine unwiderrufliche Erklärung, mit der er für die „große Verschonung“ optiert. Nach Auffassung der Finanzverwaltung muss er diese Option einheitlich für alle begünstigten Vermögensarten spätestens bis zum Eintritt der materiellen Bestandskraft (dazu § 21 Rz. 80) ausüben (R E 13a.13 ErbStR 2011)1. Wie in diesem Lehrbuch bereits in den Vorauflagen vertreten, sieht auch das BVerfG in der unlimitierten Verschonungssubvention eine gleichheitswidrige Überprivilegierung (s. BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BStBl. 2015, 50 [73 f.], Rz. 170-175). Es rügt mit Recht, dass §§ 13a, b ErbStG ohne jede Bedürfnisprüfung sogar ein Milliarden-Vermögen im Einzelfall von der Erbschaft- und Schenkungsteuer freistellen2. Das BVerfG erkennt, dass die Ungleichbehandlung hier schon wegen der Größe der steuerbefreiten Beträge ein Maß erreicht, das ohne die konkrete Feststellung der Verschonungsbedürftigkeit des erworbenen Unternehmens mit den Anforderungen an eine gleichheitsgerechte Besteuerung nicht mehr in Einklang zu bringen ist. Dies entspricht der hier bereits früher getroffenen Feststellung: Je größer die Steuerverschonung und damit Sonderbegünstigung einer bestimmten Gruppe ist, umso größer sind die Anforderungen an die Gemeinwohlklausel und ihre Rechtfertigung3. Legt man diesen Maßstab an, so ist das Ausmaß der Begünstigung verfassungsrechtlich überdimensioniert. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, unter Berücksichtigung der mit der Privilegierung verfolgten Gemeinwohlziele hier präzise und handhabbare Kriterien für die Bestimmung einer Obergrenze festzulegen (s. BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BStBl. 2015, 50 [74], Rz. 174). Daran mangelt es bei der vom BVerfG für verfassungswidrig erklärten derzeitigen Regelung.
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U.E. leiden §§ 13a, b ErbStG überhaupt an einem Rechtfertigungsdefizit. Es gibt keinen überzeugenden Sachgrund, Immobilienunternehmer und Vermieter von Mietwohngrundstücken zurückstehen zu lassen. Selbst bei fungiblem Geldvermögen wird das gleichheitsrechtliche Fundamentaldefizit der Freistellung von Betriebsvermögen im Gegensatz zu anderen Vermögensarten an einem einfachen Beispiel greifbar: Ist es das erklärte Ziel des Gesetzes, den Unternehmenserwerb als „Garanten von Produktivität und Arbeitsplätzen“ zu fördern, dann fragt man sich, warum nicht erst recht auch der Erbe von Privatvermögen, der mit seinem geerbten Vermögen ein Unternehmen gründet, in den Genuss der Steuerbegünstigung kommt4. Denn er erhält nicht einfach bereits bestehende, sondern schafft sogar neue Arbeitsplätze! Nicht nur in rechtspolitischer Hinsicht ist ferner die technisch hochkomplizierte und in ihrer Starrheit zugleich an der Lebenswirklichkeit vorbeigehende Regelungstechnik zu bemängeln. Die Vorschriften bilden ein verwaltungstechnisches Monstrum, das weder von den Begünstigten und deren Beratern noch von den Finanzbehörden beherrscht wird. Der Regelungswirrwarr von
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1 Bestätigt durch FG Münster EFG 2014, 660; krit. hierzu Reich, DStR 2014, 1424; Althof, ZEV 2014, 325 (327 f.); Königer, BB 2014, 1251 (1254). Für den Fall der nach einer Betriebsprüfung gewonnenen „besseren Erkenntnis“ lässt es R E 13a.13 III 4 ErbStR 2011 immerhin zu, dass stattdessen die 85%ige Verschonungssubvention des § 13b IV ErbStG Anwendung findet; zu dem Unsicherheitsproblem s. Höne, UVR 2012, 49 (51 f.). 2 So hat etwa § 13a VIII ErbStG zur Gewährung einer vollständigen Steuerbefreiung nicht einmal § 13b II 1 Nr. 3 ErbStG (s. Rz. 109) an die 10 %-Grenze angepasst, so dass es bei Beteiligungsgesellschaften insoweit bei der 50 %-Regelung bleibt, ohne die vollständige Befreiung zu gefährden, s. Hannes/Onderka, ZEV 2009, 10 (12 f.); Schulte/Birnbaum/Hinkers, BB 2009, 300 (303). 3 Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen für den Erlass einer steuerverschonenden Lenkungsnorm Seer, ZEV 2007, 101 (105 f.); Seer, GmbHR 2009, 225 (235 f.). 4 S. schon Seer, StuW 2005, 353 (364); Seer, GmbHR 2009, 225 (236); ferner Piltz, FS Schaumburg, 2009, 1057 (1077).
Seer
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§ 15
Rz. 118
Erbschaft- und Schenkungsteuer
Ausnahme, Rückausnahme und Rück-Rückausnahme verursacht extreme Beratungskosten und birgt aufgrund der in die Zukunft wirkenden langjährigen Arbeitsplatzklausel und Behaltensfrist hohe Steuerrisiken. Angesichts der rasanten technologischen und globalwirtschaftlichen Entwicklung sind auch Zeiträume von 5–7 Jahren eine Ewigkeit. Zudem werden die Erwerber zu marktfremden (beharrenden) unternehmerischen Fehlentscheidungen verleitet, in dem sie ihren Fokus auf die Bewahrung der Steuersubvention richten. Kommt es innerhalb der „Wohlverhaltensfrist“ nach Übernahme zu einer wirtschaftlichen Krise mit gravierenden Strukturentscheidungen, trifft die nachzuversteuernde ErbSt den Übernehmer zur Unzeit. Die „Wohltat“ der Steuerverschonung im Erbfall wird sich dann als staatliches „Danaer“-Geschenk erweisen1. Daran ändert auch die Reinvestitionsklausel (Rz. 113) nur wenig. Deshalb sollte der zur Neuregelung aufgeforderte Gesetzgeber nicht einfach wieder an den §§ 13a, b ErbStG hastig „nachbessernd herumbasteln“. Vielmehr ist es vorzugswürdig, § 13a ErbStG auf einen einfach handhabbaren schlichten Freibetrag (i.S. einer Vereinfachungszwecknorm) zu reduzieren und den Steuertarif abzuflachen 2. Viel gewonnen wäre außerdem, wenn der Gesetzgeber den von BVerfGE 117, 1, eingeforderten Verkehrswertansatz ernst nehmen und unter Aufgabe/Änderung des § 9 III BewG langfristige Verfügungsbeschränkungen und Thesaurierungszwänge bei der Bewertung von Gesellschaftsanteilen wertmindernd berücksichtigen würde (s. Rz. 54). Zudem ist das Ertragswertverfahren bei eigentümergeführten Unternehmen den realen Gegebenheiten anzupassen (s. Rz. 77). Verbleibt trotz dieser Maßnahmen im Einzelfall beim Unternehmenserwerber ein Liquiditätsengpass, ist eine auch auf Schenkungen ausgedehnte Stundung unter gegenüber § 28 ErbStG erleichterten Voraussetzungen zu gewähren.
3.2 Verschonungsabschlag für zu Wohnzwecken vermietete Grundstücke (§ 13c ErbStG) 118
Erwerber von (z.B. mit Ein-, Zwei- oder Mehrfamilienhäuser) bebauten Grundstücken, die zu Wohnzwecken vermietet werden, gelangen in den Genuss eines 10 %-Abschlags auf den Verkehrswert des Grundstücks3. Bei gemischt-genutzten Grundstücken bezieht sich der Abschlag auf den zu Wohnzwecken vermieteten Teil des Grundstücks. Dies gilt allerdings nur, wenn die Grundstücke nicht bereits zum nach § 13a ErbStG begünstigten Unternehmensvermögen gehören. Ebenso wie § 13b ErbStG erfasst § 13c ErbStG aus europarechtlichen Gründen (s. Rz. 108, 111) nicht nur im Inland belegene Grundstücke, sondern erstreckt sich auch auf das Gebiet der EU und des EWS. Anknüpfend an eine Äußerung von BVerfGE 117, 1 (53 f.) nennt BR-Drucks. 4/08, 57 f., als Lenkungsziel die zukünftige Sicherstellung einer angemessenen Wohnraumversorgung. Im Gegensatz zur Regelung des § 13a ErbStG enthält § 13c ErbStG keine Behaltensfrist, wohl aber eine Durchgangserwerbsregelung (dazu Rz. 107). Da ein 10 %-Abschlag ggf. auch schon auf der Bewertungsebene als Unsicherheitsabschlag hätte untergebracht werden können und die Abweichung vom Verkehrswert nicht sehr groß ist, müssen keine gesteigerten Anforderungen an die Rechtfertigungsgründe für diese Steuerverschonung gestellt werden. Aufgrund der künftig tendenziell höheren Bewertung des Grundvermögens hat das ErbStRG 2009 schließlich die Möglichkeit einer Stundung der ErbSt auf den Erwerb von Vermögen i.S.v. § 13c III ErbStG ausgedehnt (§ 28 III Satz 1 ErbStG).
3.3 Ehebedingte (unbenannte) Zuwendung unter Ehegatten (§ 13 I Nr. 4a ErbStG) 119
Sog. ehebedingte (unbenannte) Zuwendungen unter Ehegatten sind solche, die um der Ehe willen erbracht werden und zur Verwirklichung bzw. Sicherung der ehelichen Lebensgemeinschaft 1 J. Lang, FR 2010, 49 (57); Seer, Ubg. 2012, 376 (380 f.). 2 S. etwa Seer, ZRP 2007, 116; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 3. Buch (§§ 73–100), 2011; Holly, Verfassungsmäßigkeit der Erbschaftsteuerreform, Diss., 177 f.; Schubert, Verfassungswidrigkeit der Erbschaft- und Schenkungsteuer, Diss., 2011, 261 ff.; Wiss. Beirat, Die Begünstigung des Unternehmensvermögens in der Erbschaftsteuer, 2012, 11. 3 S. dazu näher R E 13c ErbStR 2011; außerdem Versin, SteuerStud 2010, 459; Stöckel, NWB 2010, 2080; Ramb, NWB 2011, 2071; Billig, UVR 2014, 208.
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Seer
Steuerbefreiungen
Rz. 121
§ 15
beitragen sollen1. Der BFH sieht wegen der über den Tatbestand des § 516 I BGB hinausgehenden Fassung des § 7 I Nr. 1 ErbStG (Rz. 22) in der ehebedingten Zuwendung grds. eine freigebige Zuwendung2. Er argumentiert, dass auch im Zivilrecht die Unentgeltlichkeit der ehebedingten Zuwendung anerkannt sei, wenn es um das Außenverhältnis zu Dritten geht3. Zudem zeige die ansonsten überflüssige Korrekturvorschrift des § 29 I Nr. 3 ErbStG, dass der Gesetzgeber auch den vorweggenommenen Zugewinnausgleich (Rz. 121) mit dem Tatbestand der Schenkung unter Lebenden erfassen wollte. Auf Grund der wenig gradlinigen Rspr. hat der Gesetzgeber im JStG 1996 v. 11.10.1995, BGBl. I 1995, 1250, korrigierend eingegriffen und in § 13 I Nr. 4a ErbStG eine sachliche Steuerbefreiung geschaffen, die an den gleichlautenden Ländererlass v. 10.11.1988, BStBl. I 1988, 513, anknüpft. Nach der zuletzt durch die Erbschaftsteuerreform ergänzten Befreiungsnorm sind lebzeitige Zuwendungen unter Ehegatten (Schenkungen ebenso wie ehebedingte Zuwendungen) steuerfrei, wenn sie ein zu eigenen Wohnzwecken genutztes, inländisches oder in einem Mitgliedstaat der EU bzw. des EWR belegenes Familienwohnheim zum Gegenstand haben4. Die vormalige Beschränkung auf Inlandsvermögen hat der Gesetzgeber zu Recht wegen ihrer Europarechtswidrigkeit (s. Rz. 45, 108) aufgegeben. Der Übertragung des Familienwohnheims bzw. eines ideellen Anteils hieran stellt § 13 I Nr. 4a ErbStG gleich, wenn ein Ehegatte den anderen Ehegatten von Verpflichtungen freistellt, die im Zusammenhang mit der Herstellung oder Anschaffung eines Familienwohnheimes eingegangen worden sind. Dasselbe gilt, wenn ein Ehegatte nachträgliche Herstellungskosten oder Erhaltungsaufwand für ein Familienwohnheim trägt, das im gemeinschaftlichen Eigentum beider Ehegatten oder im Alleineigentum des anderen Ehegatten steht. Die Steuerbefreiung gilt unabhängig vom Güterstand. Zwar ist der Vorschrift ebenso wenig eine zahlen- oder wertmäßige Beschränkung zu entnehmen. Im Wege einer teleologischen Reduktion und verfassungskonformen Auslegung der Befreiungsnorm fordert BFH BStBl. 2013, 1051 (1052 f.) jedoch, dass sich in dem Familienwohnheim im maßgeblichen Übertragungszeitpunkt (§ 9 I Nr. 2 ErbStG, s. Rz. 131) der Mittelpunkt des familiären Lebens der Eheleute befunden haben muss (so auch R E 13.3 II 4 ErbStR 2011). Eheleute können damit zwar zeitlich nacheinander ein in diesem Zeitpunkt jeweils den familiären Lebensmittelpunkt bildendes Familienwohnheim, nicht aber ein Zweit-Familienwohnheim oder eine Ferienwohnung gegenseitig steuerfrei übertragen. Ist das Familienwohnheim teilweise fremdvermietet, so beschränkt sich die Steuerbefreiung auf den Teil der Immobilie, der zu Wohnzwecken eigengenutzt ist5. § 13 I Nr. 4a Satz 3 ErbStG erstreckt die Befreiung nunmehr auch auf eingetragene Lebenspartner.
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Auf der Basis des BVerfGE 93, 165 (175) ist auch der durch ehebedingte Zuwendung vorweggenommene Zugewinnausgleich von der Schenkungsteuer freizustellen (Rz. 102). Insoweit greift § 13 I Nr. 4a ErbStG ganz erheblich zu kurz, indem er sich nur auf das Familienwohnheim bezieht, andere Vermögensgegenstände, durch deren Erwerb ein Ehegatte aber ebenso an den Früchten der ehelichen Lebens- und Erwerbsgemeinschaft beteiligt wird, gleichheitswidrig unberücksichtigt lässt6. Andererseits reicht der Tatbestand des § 13 I Nr. 4a ErbStG aber auch
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1 Vgl. Meincke, NJW 1995, 2769; Götz, FamRB 2006, 126; Wälzholz, FR 2007, 638; dazu auch BGHZ 142, 137 (141 f.) m. Anm. Langenfeld, ZEV 2000, 14. 2 BFH BStBl. 1980, 607; 1994, 366 ff.; BFH/NV 2012, 229 (231); zwischenzeitlich abw. BFH BStBl. 1985, 159; auch zur historischen Entwicklung der Ehegattenbesteuerung: Michelsen, Die erbschaftund schenkungsteuerrechtliche Behandlung von Vermögensbewegungen unter Ehegatten, Diss., 2008, 9 ff.; Wefers/Carlé, ErbStB 2013, 48; speziell zum Problemfall sog. Oder-Konten bei Ehegatten s. BFH BStBl. 2012, 473; Götz/Jorde, DStR 2002, 1462; Götz, ZEV 2011, 408; Esskandari/Bick, FamRZ 2012, 1112; Christ, NZFam 2014, 322 (324 ff.). 3 So z.B. BGHZ 71, 61, für Konkursanfechtung; BGHZ 116, 167, für Pflichtteilsergänzungsansprüche auf Grund beeinträchtigender Schenkung durch den Erblasser. 4 Ausf. hierzu Glöckner, Übertragung des Familienheimes im Erbschaftsteuerrecht aus europarechtlicher Perspektive, Diss., 2013, 131 ff. 5 Nach BFH BStBl. II 2009, 480 f., gehört dazu auch ein an den Arbeitgeber des Ehegatten vermietetes Arbeitszimmer; a.A. Wälzholz, FR 2007, 638 (641 f.). 6 Krit. Sasse, BB 1995, 1613; Seer, StuW 1997, 283, 298; Meincke16, § 13 ErbStG Rz. 18.
Seer
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§ 15
Rz. 122
Erbschaft- und Schenkungsteuer
zu weit, indem er jede freigebige Zuwendung unter Ehegatten, also auch die Schenkung von Anfangsvermögen (§ 1374 BGB) oder Schenkungen im Güterstand der Gütertrennung, erfasst. 122
§ 13 I Nr. 4b u. Nr. 4c ErbStG1 stellen das sog. Familienwohnheim nunmehr auch von der Erbanfallbesteuerung frei2. Begünstigt sind der Ehegatte bzw. Lebenspartner des Erblassers (Nr. 4b) und die Kinder i.S.d. Steuerklasse I Nr. 2 bzw. die Kinder der verstorbenen Kinder i.S. dieser Steuerklasse (Nr. 4c). Gemeinsame Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung ist, dass der Erblasser im Familienwohnheim bis zum Erbfall eine Wohnung zu eigenen Wohnzwecken genutzt hat oder er aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert war (z.B. aufgrund eines Aufenthalts in einem Pflegeheim infolge der Pflegebedürftigkeit) und der Erwerber die Wohnung unverzüglich nach dem Erbfall zur Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken bestimmt. Die Steuerbefreiung fällt mit Wirkung für die Vergangenheit weg, wenn der Erwerber das Familienwohnheim innerhalb von 10 Jahren nach dem Erwerb nicht mehr zu Wohnzwecken selbst nutzt3, es sei denn, er ist aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung gehindert. Für Kinder und Kinder verstorbener Kinder gilt die Steuerbefreiung allerdings nur, soweit die Wohnfläche der Wohnung 200 qm nicht übersteigt. Die Steuerbefreiung entfällt mithin nur für den 200 qm übersteigenden Teil der Wohnfläche. Es handelt sich letztlich um einen Freibetrag. § 13 I Nr. 4b bzw. Nr. 4c Satz 2 ff. ErbStG sollen schließlich sicherstellen, dass bei mehreren Beteiligten (mehrere Erben bzw. Vermächtnisnehmer) ausschließlich diejenige Person die Steuerbefreiung erhält, die die Wohnung – gegebenenfalls erst nach der Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft oder der Erfüllung eines Vermächtnisses – übertragen erhält und auch tatsächlich bewohnt. Die Überwachung der komplizierten und streitanfälligen Begünstigungsvoraussetzungen wird den Finanzbehörden mit zumutbarem Aufwand kaum möglich sein. Auch diese Verschonungssubvention ist misslungen.
3.4 Sonstige sachliche Steuerbefreiungen 123
Sachliche Steuerbefreiungen enthalten des Weiteren §§ 13; 18 ErbStG. Danach sind insb. steuerfrei: – Hausrat bis zu 41 000 Euro (Freibetrag), andere bewegliche körperliche Gegenstände bis zu 12 000 Euro (Freibetrag) bei Erwerb durch Personen der Steuerklasse I (§ 15 I ErbStG, Rz. 136). Im Falle des Erwerbs durch Personen der Steuerklassen II oder III vermindert sich der Freibetrag für beide Arten von Vermögen zusammengerechnet auf einen Freibetrag v. 12 000 Euro (s. § 13 I Nr. 1 ErbStG); – Grundbesitz, Kunstgegenstände/-sammlungen, wissenschaftliche Sammlungen, Bibliotheken und Archive, deren Erhalt im besonderen öffentlichen Interesse liegt und unwirtschaftlich ist, grds. mit 60 % bzw. 85 % des Werts, unter bestimmten Voraussetzungen ohne Rücksicht auf die Art des Gegenstandes sogar mit 100 % des Werts (§ 13 I Nr. 2 ErbStG)4; – das gesetzliche Vermächtnis nach § 1969 BGB (der sog. Dreißigste, s. Rz. 13); – Zuwendungen unter Lebenden (bzw. Schuldbefreiung) zum Zweck des angemessenen Unterhalts oder zur Ausbildung des Bedachten (§ 13 I Nrn. 5, 12 ErbStG); 1 Vgl. hierzu auch Glöckner, Übertragung des Familienheimes im Erbschaftsteuerrecht aus europarechtlicher Perspektive, Diss., 2013, 154 ff. und 184 ff. 2 Hierbei ist der zivilrechtliche Eigentumsübergang gemeint; die Vorschrift findet keine Anwendung auf bloße (wenn auch dingliche) Nutzungsrechte, s. BFH BStBl. 2014, 806. 3 Das Selbstnutzungserfordernis ist ausweislich des Wortlautes selbst dann erfüllt, wenn der Erbe die Wohnung veräußert und diese nur noch aufgrund eines Nutzungsrechts bewohnt (so Geck, ZEV 2008, 557 [559]; Reimann, FamRZ 2009, 90 [93]). 4 Dazu BFH/NV 2002, 28; FG Münster EFG 2015, 61 (Rev. II R 56/14); von Franckenstein/von Oertzen, ZEV 1997, 321; von Oertzen, ZEV 1999, 422; Viskorf, DStZ 2002, 881; Heuer/von Cube, ZEV 2008, 565, u. 2013, 641; Kosner/Willmann, BB 2013, 1309.
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Seer
Steuerbemessungsgrundlage
Rz. 124
§ 15
– Erwerb von Todes wegen bis zu 20 000 Euro (Freibetrag), wenn das Zugewendete ein angemessenes Entgelt für dem Erblasser gegenüber un-/teilentgeltlich erbrachte Pflege- oder Unterhaltsleistungen darstellt (§ 13 I Nr. 9 ErbStG)1; – Pflegegelder, die eine Pflegeperson vom Pflegebedürftigen für Leistungen der Grundpflege oder hauswirtschaftlichen Versorgung erhält, bis zu der nach SGB XI festgelegten Höhe (§ 13 I Nr. 9a ErbStG2); – Vermögensrückfall von Todes wegen an Eltern oder Voreltern, wenn diese das Vermögen zuvor durch Schenkung oder Übergabevertrag dem Erblasser zugewandt hatten (§ 13 I Nr. 10 ErbStG)3; – Verzicht auf die Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs (§ 13 I Nr. 11 ErbStG, s. Rz. 14); – Zuwendungen an Pensions- und Unterstützungskassen i.S.d. § 5 I Nr. 3 KStG (§ 13 I Nr. 13 ErbStG, s. auch § 11 Rz. 33)4; – die üblichen Gelegenheitsgeschenke (z.B. Hochzeits-, Geburtstags-, Weihnachtsgeschenke, § 13 I Nr. 14 ErbStG)5; – Zuwendungen zu ausschließlich kirchlichen, gemeinnützigen oder mildtätigen Zwecken (§ 13 I Nrn. 16, 17 ErbStG)6; – Zuwendungen an politische Parteien i.S.d. § 2 ParteiG und Wählergruppen7 (§ 13 I Nr. 18 ErbStG).
VI. Steuerbemessungsgrundlage Steuerbemessungsgrundlage der ErbSt ist nach § 10 I 1 ErbStG der Wert der Bereicherung des Erwerbers (Bereicherungsprinzip)8, soweit diese nicht steuerfrei ist (dazu Rz. 100 ff.). Der Wert der Bereicherung bestimmt sich nach § 12 ErbStG und den dort genannten Vorschriften des BewG. Es gilt das objektive Nettoprinzip (vgl. zur Einkommensteuer § 8 Rz. 42, 54 f.). Deshalb sind beim Erwerb von Todes wegen vom Wert des Vermögensanfalls die Nachlassverbindlichkeiten (§§ 1967 ff. BGB) mit ihrem ebenfalls nach § 12 ErbStG zu ermittelnden Wert abzuziehen (§ 10 I 2, III–IX ErbStG)9. Dabei kommt es auf die wirtschaftliche Belastung an10. Als Nachlassverbindlichkeiten lassen sich unterscheiden: 1 Zu dieser Vorschrift s. BFH BStBl. 1995, 62; 1995, 784; 2014, 114 (Anm. Pilz-Hönig, ZErb 2014, 70); zur Pflege aus erbschaftsteuerlicher Sicht s. Halaczinsky, UVR 2012, 206; Kieser, ZErb 2014, 300. 2 Stellt die „Zuwendung“ jedoch ein Entgelt dar, fehlt es allerdings bereits an einem steuerbaren Tatbestand. 3 Dazu BFH BStBl. 1994, 656; 1994, 759; FG München EFG 2007, 54 (55); zum Fall einer fehlgeschlagenen vorweggenommenen Erbfolge BVerfG NJW 1998, 743. 4 Dazu BFH BStBl. 1997, 70. 5 Dazu Hess. FG EFG 2005, 1146; Stoklassa/Feldner, ErbStB 2014, 69. 6 Zu § 13 I Nr. 16b ErbStG s. Schauhoff, ZEV 1995, 439; Herfurth, FS Spiegelberger, 2009, 1285; Halaczinsky, UVR 2010, 85; zu § 13 I Nrn. 16c, 17 ErbStG s. BFH BStBl. 1996, 102; 2002, 303 (305); Jung, UVR 1996, 106; Raudszus, ZEV 2003, 481; Halaczinsky, ErbStB 2014, 170 (Teil I), 192 (Teil II); Kalbfleisch, UVR 2014, 157. 7 Mit der Aufnahme der Wählergruppen ist der Gesetzgeber einer Forderung in BVerfGE 121, 108 (121 f.) nachgekommen. 8 Dazu ausf. Klarner, Das Bereicherungsprinzip im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, Diss., 1995; zum Verhältnis zum Stichtagsprinzip (Rz. 133) s. Billig, UVR 2006, 254; Geck, FR 2007, 631; s. auch BFH BStBl. 2008, 260. 9 Das Bereicherungsprinzip schließt es auch aus, beim Nacherben solche Vermögenswerte zu erfassen, die er selbst zu Lebzeiten des Vorerben in Erwartung der Nacherbfolge in Ansehung des Nachlassgegenstandes geschaffen hat (s. BFH BStBl. 2008, 876: Baumaßnahmen auf einem nachlasszugehörigen Grundstück). Die Erhöhung des gemeinen Wertes infolge solcher Maßnahmen ist daher im Nacherbfall in Abzug zu bringen. 10 BFH BStBl. 2007, 651 (652 f.) zur mangelnden wirtschaftlichen Belastung des Erblassers auf Grund eines erst nach seinem Tode fällig werdenden Abfindungsanspruchs der Kinder im Zusammenhang mit einer Pflichtteilssanktionsklausel in einem sog. Berliner Testament (dazu Anm. Wälzholz, ZEV
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§ 15
Rz. 125
Erbschaft- und Schenkungsteuer
125
– Erblasserschulden, d.h. Schulden, die schon in der Person des Erblassers begründet und im Wege der Gesamtrechtsnachfolge (§ 1922 BGB) auf den Erben übergegangen sind (§ 10 V Nr. 1 ErbStG). Zu den Erblasserschulden gehören auch vom Erblasser herrührende Steuern (Erblassersteuern) einschließlich Säumniszuschläge und Zinsen (s. § 45 AO, dazu § 6 Rz. 12)1. Dasselbe gilt für Unterhaltsansprüche des geschiedenen Ehegatten (§ 1586b BGB)2. Nicht zu den Erblasserschulden rechnen dagegen solche Verbindlichkeiten, die zu einem vererbten Betrieb gehören, weil sie bereits bei der Bewertung des Betriebsvermögens nach § 12 V, VI ErbStG abgezogen worden sind;
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– Erbfallschulden, d.h. Schulden, die erst mit dem Erbfall entstehen. Dazu zählen die in § 10 V Nr. 2 ErbStG (s. auch § 1967 II BGB) aufgeführten Verbindlichkeiten aus Vermächtnissen (Rz. 13), Auflagen (Rz. 20), geltend gemachten Pflichtteilsansprüchen (Rz. 14) und Abfindungen aus ernsthaft gemeinten Erbvergleichen (Rz. 21);
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– sonstige Nachlassverbindlichkeiten: Dazu rechnet § 10 V Nr. 3 Satz 1 ErbStG die Kosten der Bestattung des Erblassers einschließlich eines angemessenen Grabdenkmals, die Kosten der laufenden Grabpflege und der Nachlassabwicklung (sog. Erbschaftsverwaltungsschulden)3, wozu auch die Kosten für eine Erbschaftsteuererklärung4 und der Erbauseinandersetzung gehören5. Für diese Kosten lässt § 10 V Nr. 3 Satz 2 ErbStG ohne Einzelnachweis den Abzug eines Pauschbetrages i.H.v. 10 300 Euro zu, der bei mehreren Erben jedem Miterben nur anteilig gewährt wird6. Nicht darunter fallen die Kosten der laufenden Nachlassverwaltung (§ 10 V Nr. 3 Satz 3 ErbStG).
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BFH BStBl. 1984, 37, hat auch den Abzug vorweggenommener Erwerbskosten, die der Erbe zu Lebzeiten des Erblassers an diesen als Gegenleistung für eine vertraglich vereinbarte Erbeinsetzung (§§ 2274 ff. BGB) erbracht hat, zugelassen. Als Erbfallschulden erkennt er allerdings nicht die mit dem übergegangenen Vermögen zusammenhängende latente Einkommensteuerbelastung an, die nicht mehr der Erblasser, sondern erst der Erbe tatbestandlich verwirklicht7.
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2007, 503 f.; Billig, UVR 2007, 346; Kesseler/Thonuet, NJW 2008, 125; Everts, NJW 2008, 557); FG München EFG 2007, 369 f.: kein Abzug bereits verjährter Ansprüche; s. aber BFH BStBl. 2013, 332 (333 f.): nach § 10 III ErbStG ist ein unverjährter Pflichtteilsanspruch trotz einer später durch Versterben des Belasteten eintretenden Konfusion als Nachlassverbindlichkeit beim berechtigten Erben abzugsfähig. S. BFH BStBl. 1992, 9; Moench, DStR 1985, 551 (552 f.); Gebel, BB 1999, 135; dazu gehören auch vom Erblasser hinterzogene Steuern, selbst wenn die Tat erst nach dessen Tod aufgedeckt worden ist, s. Ländererlass v. 14.11.2002, DStZ 2003, 90; allgemein zu Steuerschulden Hartmann, ErbStB 2007, 170. Dasselbe gilt für die Einkommensteuer des Todesjahres des Erblassers, s. BFH BStBl. 2012, 790 (791 f.). Auch wenn die Einkommensteuer gem. § 36 Abs. 1 EStG erst mit Ablauf des Veranlagungszeitraums (31.12.) nach dem Tode des Erblassers technisch entstehen mag, ist sie (anders als eine latente Steuer, s. Rz. 128) doch noch zu Lebzeiten vom Erblasser verwirklicht worden; zum Ganzen s. Billig, UVR 2012, 61. Zur Abzugsfähigkeit von bereits zu Lebzeiten des Erblassers erbrachten Pflegeaufwendungen, wenn der Erwerb zivilrechtlich als nachträgliche Dienstleistungsvergütung anzusehen ist, s. BFH BStBl. 1995, 62; 1995, 784. S. Halaczinsky, ZErb 2011, 147; außerdem BFH BStBl. 1995, 786, für Kosten des Erben zur Erfüllung eines Vermächtnisses. Meincke16, § 10 ErbStG Rz. 45; a.A. K. Konrad, HFR 2007, 1128; allerdings versagen BFH BStBl. 2007, 722 f.; 2008, 874, unter Hinweis auf § 10 VIII ErbStG (Nichtabzugsfähigkeit der ErbSt) den Abzug von Rechtsverfolgungskosten, die mit der ErbSt zusammenhängen (einschließlich der gesonderten Feststellung von Grundbesitzwerten des zum Nachlass gehörenden Grundvermögens). Davon grenzt nun BFH BStBl. 2013, 738 (740) die Kosten für die Erstellung eines Sachverständigengutachtens zur Ermittlung des niedrigeren gemeinen Grundstückswerts als abzugsfähig ab; dazu Bruschke, ErbStB 2014, 133. BFH BStBl. 2010, 489 (490): Dazu gehören auch die Aufwendungen für die Bewertung der im Nachlass befindlichen Grundstücke durch Sachverständige. BFH BStBl. 2010, 491. BFH BStBl. 1961, 162; 1979, 23; 2012, 790 (792); zum Erfordernis der Abstimmung von Einkommenund Erbschaftsteuer s. Rz. 2; zur Forderung des Abzugs der latenten Einkommensteuerbelastung s. Mellinghoff, DStJG 22 (1999), 127 (152 f.). Derzeit ist wegen der Nichtabziehbarkeit latenter Einkommensteuerlasten eine Verfassungsbeschwerde beim BVerfG anhängig (1 BvR 1432/10); dazu kontroverse Anm. Keß, FR 2010, 954 f.; Leipold, HFR 2010, 834 f.
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Seer
Entstehung der Steuer, Bewertungsstichtag
Rz. 132
§ 15
Ebenso wenig ist die vom Erwerber zu entrichtende eigene ErbSt abzugsfähig (§ 10 VIII ErbStG)1. Dasselbe gilt nach § 10 VI Satz 1 ErbStG für Schulden und Lasten, die in wirtschaftlichem Zusammenhang mit Vermögensgegenständen stehen, die nicht der ErbSt unterliegen (Parallele zu § 3c EStG, s. dazu § 8 Rz. 290)2. Stehen die Schulden und Lasten mit teilweise von der ErbSt befreitem Vermögen in einem wirtschaftlichen Zusammenhang, sind sie nur mit dem Betrag abzugsfähig, der dem steuerpflichtigen Teil entspricht (§ 10 VI Satz 3 ErbStG). Gegenleistungen und Belastungen, welche die schenkweise Bereicherung (§ 7 ErbStG) beeinträchtigen, sind grds. mindernd zu berücksichtigen (zur gemischten Schenkung und Schenkung unter Auflage s. bereits Rz. 25 ff.)3. Dazu zählen auch Erwerbsnebenkosten4.
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VII. Entstehung der Steuer, Bewertungsstichtag Die ErbSt entsteht bei Erwerben von Todes wegen grds. im Zeitpunkt des Todes des Erblassers (§ 9 I Nr. 1 ErbStG, Erbfallzeitpunkt), ohne dass noch weitere Umstände hinzutreten müssten. Denn in diesem Zeitpunkt ist nach § 1922 I BGB der Erbe bereits bereichert. Dies gilt nicht nur für den Erwerb durch Erbanfall, sondern grds. auch für die anderen in § 3 I ErbStG aufgeführten Tatbestände. Von diesem Entstehungszeitpunkt machen § 9 I Nr. 1 Buchst. a–j ErbStG in Fällen Ausnahmen, in denen die Bereicherung erst später eintritt5: bei aufschiebend bedingten, betagten oder befristeten Erwerben6; beim Erwerb aufgrund von Pflichtteilsansprüchen7 sowie bei den Ergänzungs- und Ersatztatbeständen des § 3 II ErbStG (dazu Rz. 18 ff.).
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Bei Schenkungen unter Lebenden entsteht die Schenkungsteuer im Zeitpunkt der Ausführung der Zuwendung (§ 9 I Nr. 2 ErbStG). Das Versprechen der Zuwendung (Verpflichtungsgeschäft) gilt damit noch nicht als steuerpflichtiger Vorgang. Vielmehr kommt es auf das Erfüllungsgeschäft an, da im Regelfall erst hierdurch die Bereicherung wirtschaftlich verwirklicht wird8. Die Zuwendung ist ausgeführt, wenn der Beschenkte erhalten hat, was ihm nach der Schenkungsabrede verschafft werden soll. Dementsprechend wird eine mittelbare Schenkung (Rz. 28) erst mit dem mit der Zuwendung beabsichtigten Sachsubstanzübergang ausgeführt9.
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Der Entstehungszeitpunkt hat insb. Bedeutung für die subjektive Steuerpflicht (§ 2 ErbStG, Rz. 41 ff.), den Bewertungsstichtag (§ 11 ErbStG, Rz. 133), die Steuerklasse (§ 15 ErbStG, Rz. 136), die Berücksichtigung früherer und späterer Erwerbe (§§ 14; 27 ErbStG, Rz. 145 f.) und die Wohlverhaltens- bzw. Behaltensfristen des § 13a ErbStG (Rz. 112).
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1 Zum Streit über die Anrechenbarkeit ausländischer ErbSt s. Rz. 47. 2 Bei teilweise befreiten Vermögensgegenständen ist der Schuldenabzug nach § 10 VI 3–5 ErbStG entlastungsabhängig zu kürzen. 3 Zur früheren Regelung des § 25 ErbStG a.F. krit. 18. Aufl., § 13 Rz. 164 f. m.w.N.; zum Hintergrund ihrer Aufhebung durch das ErbStRG 2009 s. Geck, ZEV 2008, 5 (7 f.). 4 Dazu ausf. Ländererlasse v. 16.3.2012, BStBl. I 2012, 338. 5 S. BFH BStBl. 2003, 921 zu betagten Ansprüchen; s. BFH BStBl. 2009, 606, zu Forderungen mit Besserungsabrede; Kapp, StuW 1993, 67; Ebeling, DStJG 22 (1999), 227 (242 ff.). 6 Dazu ausf. Geck, FS Korn, 2005, 557. 7 Entspr. der tatbestandlichen Einschränkung entsteht die ErbSt erst im Zeitpunkt der Geltendmachung des Anspruchs, § 9 I Nr. 1 Buchst. b ErbStG (s. bereits Rz. 14 m.w.N.). 8 S. Weinmann, DStZ 2003, 848 (850 f.); Billig, ZEV 2003, 407; Gebel, DStR 2004, 165; Schuck, DStR 2004, 1948; Siebing, FS Spiegelberger, 2009, 415; zum Ausführungszeitpunkt bei Grundstücksschenkungen s. BFH BStBl. 2005, 312 (313); 2005, 408 (410): bei Vertrag zugunsten Dritter; 2005, 892 (894): bei fehlender Grundbucheintragung, m. Anm. Schlünder, FR 2006, 1096; bei Gesellschaftsanteilen s. BFH BStBl. 2010, 463 (464 f.); ausf. zu weiteren Fragen (z.B. der Abtretung des Schenkungsversprechens durch den Beschenkten; Behandlung des Schenkungsversprechens im Todesfall einer Partei) s. Wiegand, Das Schenkungsversprechen im Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuerrecht, Diss., 2011, 98 ff., 135 ff. 9 BFH BStBl. 2003, 273 (275); BFH/NV 2003, 1425; abw. jedoch BFH BStBl. 2006, 786 (787 f.) bei noch zu errichtenden Gebäuden; s. außerdem Burkhardt, Das Stichtagsprinzip im Schenkungsteuerrecht, Diss., 2004, 105 ff.
Seer
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859
§ 15
Rz. 133
Erbschaft- und Schenkungsteuer
133
Der Wert der Bereicherung ist nach § 11 ErbStG grds. im Zeitpunkt der Entstehung der Steuer (Rz. 130 f.) zu ermitteln (Stichtagsprinzip). Die Wahl dieses Bewertungsstichtages erscheint insofern als sachgerecht, als das angefallene Vermögen ab diesem Zeitpunkt Vermögen des Erben oder Beschenkten geworden ist. Danach eintretende Wertveränderungen (z.B. Kursgewinne oder -verluste bei Wertpapieren) spielen sich bereits im Vermögen des Erwerbers ab und sind daher unbeachtlich1. Die Anknüpfung an den Erbfallzeitpunkt (Rz. 130) führt allerdings zu Härten, wenn der Erwerber im Todeszeitpunkt rechtlich oder faktisch außer Stande ist, über den geerbten Gegenstand zu verfügen, und in der Zwischenzeit bis zur Erlangung der Verfügungsmacht sich der Wert des übernommenen Vermögens vermindert. In atypischen, krassen Einzelfällen kommt eine abweichende Steuerfestsetzung (oder ein Teilerlass) wegen sachlicher Unbilligkeit nach §§ 163; 227 AO in Betracht (dazu § 21 Rz. 334 ff.)2.
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Für die Bereicherung ist die tatsächliche rechtliche Existenz des Anspruchs maßgeblich. Besteht über eine zum Nachlass gehörende Forderung dem Grunde und/oder der Höhe nach Streit, muss das Bestehen und die Höhe für erbschaftsteuerliche Zwecke eigenständig ermittelt werden. Es existiert keine Bindung an etwaige Vergleiche zwischen dem vermeintlichen Schuldner und Gläubiger der Forderung. Denn anders als z.B. beim sog. Erbvergleich (s. Rz. 21) hat der Vergleich seinen Rechtsgrund nicht unmittelbar im Erbrecht3. Dies gilt für Schulden entsprechend4.
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Der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis entsteht, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft (§ 38 AO, dazu § 6 Rz. 11). Dies gilt auch für die Erbschaft- und Schenkungsteuer und zwar nach Maßgabe des § 9 ErbStG (s. Rz. 130 f.). Daher kann die Verwirklichung einer freigebigen Zuwendung i.S.v. § 7 ErbStG grds. nicht dadurch wieder beseitigt werden, dass die Schenkung aus freien Stücken wieder rückgängig gemacht wird5. Etwas anderes gilt nach § 29 I Nr. 1 ErbStG nur, wenn die Herausgabe des Geschenks auf einem gesetzlichen oder vertraglichen Rückforderungsrecht (gleichzustellen: Herausgabeanspruch) beruht6. Dem stellt es § 29 I Nr. 2 ErbStG gleich, soweit der Beschenkte den Rückforderungsanspruch des verarmten Schenkers nach § 528 I 2 BGB durch Unterhaltszahlung abwendet. Als weitere Erlöschenstatbestände mit Rückwirkung formuliert § 29 I ErbStG ferner in den Fällen des § 5 II ErbStG die Anrechnung einer unentgeltlichen Zuwendung auf den Zugewinnausgleich (Nr. 3) sowie die Weiterübertragung von Vermögen innerhalb von 24 Monaten auf eine staatliche Körperschaft oder eine inländische Stiftung, die nach der Satzung ausschließlich und unmittelbar als gemeinnützig anzuerkennen ist (Nr. 4). Ist die Erbschaft- oder Schenkungsteuer bereits festgesetzt, ist die Festsetzung gem. § 175 I Satz 1 Nr. 2 AO (s. § 21 Rz. 437 ff.) aufzuheben oder entsprechend der Erlöschenswirkung zu ändern.
1 BFH BStBl. 1991, 310; 1992, 298; BFH/NV 2000, 320; BVerfG BStBl. 1987, 240; zum Zeitaspekt bei der Schenkung von Unternehmensvermögen Schwarz, ZEV 2001, 57; zur Besonderheit bei Stiftungen s. BFH BStBl. 1996, 99; dazu krit. Ebeling, DStJG 22 (1999), 227 (229 f.). 2 Darauf weist BVerfGE 93, 165 (179) ausdrücklich hin. Zu restriktiv BFH/NV 1998, 1376; zu dem Problem Ebeling, DStJG 22 (1999), 227 (234 ff.); Michel, UVR 2000, 49; Schuhmann, UVR 2000, 450; Naujok, ZEV 2003, 94; Landsittel, ZEV 2003, 221; Meincke, DStR 2004, 573; krit. gegenüber dem Stichtagsprinzip Geck, FR 2007, 631; J. Lang, StuW 2008, 189 (201). 3 BFH BStBl. 2008, 629 (630). 4 BFH BStBl. 2008, 874: Ist der überlebende Ehegatte weder Erbe noch Vermächtnisnehmer geworden, gehört seine Ausgleichsforderung gegen den Erben zu den Nachlassverbindlichkeiten und zwar ungeachtet eines anderslautenden Vergleichs; zur Behandlung eines Vergleichs in einem Streit der Erbprätendenten s. Rz. 21. 5 FG Berlin-Brandenburg DStRE 2008, 1339 (1340); s. auch BFH/NV 2010, 896; die Rückgabe des Geschenks wiederum kann sogar ebenfalls eine freigebige Zuwendung darstellen (Hartmann, DStR 2001, 1545 [1547 f.]; Piltz, ZEV 2009, 70). 6 FG Hamburg EFG 2012, 1686 f.: dies gilt wegen der Anlaufhemmung i.S. des § 175 I 2 AO (s. § 21 Rz. 446) selbst dann, wenn die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen ist.
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Seer
Tarif
Rz. 138
§ 15
VIII. Tarif Die Höhe der Steuerbelastung hängt ganz wesentlich von der verwandtschaftlichen (dem gleichgestellt: ehelichen) Beziehung zwischen Erwerber und Erblasser/Schenker ab. Darin erkennt BVerfGE 93, 174, eine Ausprägung des in Art. 6 I GG wurzelnden Familienprinzips (Rz. 5). Demgemäß hat auch das ErbStRG 2009 daran festgehalten, durch unterschiedliche Steuerklassen (§ 15 I ErbStG), persönliche Freibeträge (§§ 16; 17 ErbStG) und Steuersätze (§ 19 ErbStG) die Steuerlast dem Familienprinzip entsprechend abzustufen. Den engen Familienkreis der Steuerklasse I beschränkt das Gesetz auf die Verwandtschaft in gerader Linie und auf Ehegatten, im Anschluss an BVerfGE 126, 400, erweitert auf eingetragene gleichgeschlechtliche Lebenspartner1. Die ferneren Verwandten in Seitenlinien, denen es zur Missbrauchsabwehr Eltern und Voreltern des Erblassers/Schenkers gleichstellt (s. Rz. 138), ordnet § 15 I ErbStG der Steuerklasse II zu und unterscheidet insgesamt drei Steuerklassen: Steuerklasse I
Ehegatte2, Lebenspartner, Kinder3, Stiefkinder, Enkel4, Urenkel, bei Erwerb von Todes wegen auch: Eltern und Voreltern;
Steuerklasse II
Eltern und Voreltern (bei Schenkung unter Lebenden), Geschwister5, Neffen, Nichten, Stiefeltern, Schwiegerkinder, Schwiegereltern, geschiedener Ehegatte;
Steuerklasse III
alle übrigen Erwerber (insb. juristische Personen6) und bei Zweckzuwendungen.
136
Der durch das BeitrRLUmsG v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2592 (2614) eingeführte § 15 IV ErbStG stellt sicher, dass bei einer durch einen Familienangehörigen als Gesellschafter veranlassten Zuwendung einer Kapitalgesellschaft (s. BFH BStBl. 2008, 258; s. auch Rz. 31) an einen anderen Familienangehörigen nicht die für das Verhältnis zur Kapitalgesellschaft geltende Steuerklasse III (s. Rz. 136), sondern die zwischen den Familienangehörigen geltende Steuerklasse I oder II Anwendung findet (s. auch BT-Drucks. 17/7524, 21, mit Bsp.).
137
Die Beschränkung der Steuerklasse I Nr. 4 (Eltern und Voreltern) richtet sich gegen einen bestimmten Fall der Kettenschenkung, bei der eine Schenkung unter Geschwistern (Steuerklasse II Nr. 2) durch Zwischenschaltung der Eltern im Rahmen der günstigeren persönlichen Freibeträge (Rz. 100) und des günstigeren Steuertarifs der Steuerklasse I (Rz. 136) ausgeführt werden könnte. Darüber hinaus sind Kettenschenkungen aber in den unterschiedlichsten Konstellationen vorstellbar. Die Rspr. erkennt in einer Kettenschenkung dann keinen Gestaltungs-
138
1 BVerfGE 126, 400 (416 ff.) sah in der Ungleichbehandlung von Ehegatten und eingetragenen Lebenspartnern einen Verstoß gegen Art. 3 I GG. Die Gleichstellung hat daraufhin das JStG 2010 v. 8.12. 2010, BGBl. I 1768 (1795), hergestellt. 2 Der überlebende Partner nichtehelicher Lebensgemeinschaften wird einem Ehegatten erbschaftsteuerrechtlich nicht gleichgestellt, s. BFH BStBl. 1983, 114 (akzeptiert durch BVerfG BStBl. 1984, 172; 1990, 103 u. 764). Dies ist angesichts der fehlenden unterhalts- und vermögensrechtlichen Beziehungen im Unterschied zur eingetragenen Lebenspartnerschaft konsequent. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass aus der nichtehelichen Lebensgemeinschaft ein gemeinsames Kind hervorgegangen ist (BFH/NV 2007, 2296). In die Steuerklasse I fallen auch nicht Verlobte, selbst wenn die Erbeinsetzung vor dem Hintergrund einer unmittelbar bevorstehenden Eheschließung erfolgt ist (BFH BStBl. 1998, 396 [398]). 3 Dazu zählen auch Adoptivkinder unabhängig davon, in welchem Alter die Person adoptiert worden ist (daher eignet sich die Adoption sogar als Mittel zur planerischen Erbschaftsteuerersparnis, s. Wenhardt, GStB 2010, 15). Das von einem Dritten adoptierte Kind, bleibt nach § 15 Ia ErbStG – entgegen § 1755 BGB – aber erbschaftsteuerlich zugleich ein Kind der leiblichen Eltern, s. dazu BFH BStBl. 1986, 613 (614 f.); 2010, 554 (555). 4 Zum generationenüberspringenden Vermögenstransfer Vorwold, ErbStB 2003, 352. 5 Darunter fallen auch Geschwister, die z.B. (als Zwillinge) eine dauerhafte Haushalts- und Lebensgemeinschaft bilden, BFH BStBl. 2013, 633 f.; s. auch EGMR NJW-RR 2009, 1606. 6 Bei Errichtung einer inländischen Familienstiftung (dazu Rz. 34 f.) ist der Besteuerung das Verwandtschaftsverhältnis des nach der Stiftungsurkunde entferntest Berechtigten zum Stifter zugrunde zu legen (§ 15 II 1 ErbStG); zum Fall mehrerer Stifter s. BFH BStBl. 2010, 237.
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§ 15
Rz. 139
Erbschaft- und Schenkungsteuer
missbrauch i.S.d. § 42 AO (dazu § 5 Rz. 116 ff.), wenn dem Beschenkten als Mittelsperson rechtlich ein eigener Entscheidungsspielraum hinsichtlich der Weitergabe verbleibt1. 139
§ 19 I ErbStG enthält drei Steuertarifklassen. § 19 I ErbStG zieht unter Berücksichtigung des Familienprinzips (Art. 6 I GG) die Belastungsobergrenze im Familienverbund bei 30 % (Steuerklasse I)2. Bei familienfremden Erwerbern gilt ein 2-Stufen-Tarif von 30 % bzw. 50 %. Dazwischen stehen nun wieder die Seiten-Verwandtschaftsverhältnisse, die das ErbStRG 2009 zunächst demselben 2-Stufen-Tarif wie für Familienfremde unterworfen hatte (s. 20. Aufl., § 13 Rz. 180)3. Wert des steuerpflichtigen Vermögens bis einschl. in Euro
Steuersatz StKl. I
StKl. II
StKl. III
75 000
7
15
30
300 000
11
20
30
600 000
15
25
30
6 000 000
19
30
30
13 000 000
23
35
50
26 000 000
27
40
50
über 26 000 000
30
43
50
140
Der Stufentarif des § 19 I ErbStG unterscheidet sich deutlich vom linear-progressiven Einkommensteuertarif des § 32a I EStG (§ 8 Rz. 800 ff.). Während der Einkommensteuer-Tarif das zu versteuernde Einkommen in Teilerwerbe zerlegt, für die jeweils unterschiedliche Steuersätze gelten (Teilmengentarif), gehen die Erbschaftsteuer-Tarife jeweils von einem einheitlichen Steuersatz für den gesamten Erwerb aus (sog. Vollmengenstaffeltarif)4. Daraus ergeben sich Tarifsprünge, die durch einen Härteausgleich nach § 19 III ErbStG abgemildert werden5.
141
Um trotz der umfangreichen Steuerbefreiungen (Rz. 100 ff.) das angestrebte Steueraufkommen von ca. 4 Mrd. Euro6 zu sichern, erhöht das ErbStRG den Steuertarif für die Steuerklassen II und III deutlich. Die Schonung eines sehr großzügig bemessenen sog. existenzsichernden Gebrauchsvermögens (Rz. 100) und des Unternehmensvermögen (Rz. 106 ff.) gefährden letztlich die gleichmäßige Besteuerung: Um ein bestimmtes Mindest-Steueraufkommen zu erzielen, geht jeder Freibetrag/Bewertungsabschlag auf Kosten der nicht begünstigten Erwerber7. Deshalb hat das BVerfG mit Recht wegen der gleichheitswidrigen Überprivilegierung der Erwerber von Unternehmensvermögen (s. Rz. 116) auch § 19 I ErbStG für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt8 Die gebetsmühlenhaft beschworene Gefahr, dass die ErbSt eine Unternehmens1 BFH BStBl. 1962, 206; 1982, 736; 1994, 128; 2013, 934 (935 f.); zur Frage des Rechtsmissbrauchs s. Spiegelberger, FS Spindler, 2011, 809; zu Gestaltungsüberlegungen Wenhardt, ErbStB 2007, 40; Lehnen/Hanau, ZErb 2006, 149; Billig, UVR 2013, 311. 2 Zur Frage einer Belastungsobergrenze im Erbschaftsteuerrecht s. Seer, StuW 1997, 283 (296 f.); Nachreiner, ZEV 2005, 1 (5 ff.) – aber nicht überzeugend, weil er von einer Sollertragsteuer ausgeht; Schubert, Verfassungswidrigkeit der Erbschaft- und Schenkungsteuer, Diss., 2011, 226 ff. 3 Geändert durch Ges. v. 22.12.2009, BGBl. I 3950 (3953). 4 Meincke16, § 19 ErbStG Rz. 5; zu den mathematischen Grundlagen eines derartigen Stufentarifs s. Nickolay, DStR 1977, 277; zum Unterschied zu dem z.B. in den USA verwendeten sog. Teilmengenstaffeltarif s. Seer, RIW 2001, 664 (673). 5 Sehr krit. gegenüber dem Stufentarif Felix, DStR 1996, 899. 6 Das Steueraufkommen im Jahr 2013 betrug ca. 4,7 Mrd. Euro, Statistisches Bundesamt, Finanzen und Steuern – Erbschaft- und Schenkungsteuer 2013 v. 27.8.2014, Tabelle S. 12. 7 Meincke, ZEV 1997, 52 (55); Seer, StuW 1997, 283 (295); Seer, GmbHR 2007, 283 (287). 8 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BStBl. 2015, 50 (51), Ls. Nr. 1. Allerdings ist auch § 19 I ErbStG bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 30.6.2016, zunächst weiter anzuwenden (Ls. Nr. 2 = befristete Weitergeltungsanordnung, s. Rz. 106).
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Tarif
Rz. 145
§ 15
fortführung gefährden könnte, darf zwar einerseits nicht bagatellisiert, andererseits aber auch nicht dramatisiert und vor allem nicht unreflektiert zur Rechtfertigung eines Privilegs für Erwerber einer bestimmten Vermögensart benutzt werden. Je mehr die Bemessungsgrundlage durch (wohlmeinende) Freibeträge und Bewertungsfreiheiten ausgehöhlt wird, umso stärker müssen die Steuersätze angezogen werden, um dasselbe Steueraufkommen zu erreichen. Das sowohl gleichheitskonforme als auch freiheitsschonende Konzept kann jedoch nur sein, dass kein Erwerber, auch nicht der eines Unternehmens, durch die Erbschaft- und Schenkungsteuer unzumutbar belastet wird. Gegenüber technisch-monströsen, durch Wohlverhaltensklauseln weit in die Zukunft wirkenden Steuerbefreiungen (s. Rz. 111 ff.) ist es eindeutig vorzugswürdig, auf der Basis einer breiten, ungeschmälerten Bemessungsgrundlage nur einen flach-proportionalen Einheitstarif oder allenfalls flach-progressiven Teilmengenstaffeltarif mit geringen Steuersätzen von kaum mehr als 10 % anzuwenden1. Es ist zu hoffen, dass der vom BVerfG zur erneuten Reform des ErbStG gezwungene Gesetzgeber diesen Weg nun endlich einschlägt. Um die generationenübergreifende Fortführung von Unternehmen durch familienfremde Dritte nicht zu gefährden, hatte BVerfGE 93, 176, gefordert, dass die ErbSt für den Erwerb von Betrieben unabhängig von der verwandtschaftlichen Nähe zwischen Erblasser und Erben bemessen wird. Dem folgt § 19a ErbStG, indem er im Falle des Erwerbs von nach § 13a ErbStG begünstigtem Betriebsvermögen (s. § 19a II ErbStG u. Rz. 108) eine Tarifbegrenzung vorsieht. Der Regelungsmechanismus des § 19a III, IV ErbStG soll bewirken, dass der Erwerb begünstigten Betriebsvermögens nur dem Tarif der Steuerklasse I (Rz. 139) unterliegt. Nicht einsichtig ist es, dass § 19a I ErbStG die Tarifbegrenzung im Unterschied zu § 13a ErbStG auf natürliche Personen als Erwerber beschränkt. Erwirbt eine juristische Person, bleibt es bei der ungünstigen Steuerklasse III. § 19a V ErbStG statuiert in sachlicher Übereinstimmung mit § 13a V ErbStG ebenfalls eine Behaltensfrist von 5 bzw. 7 Jahren und damit einen entsprechenden Nachversteuerungstatbestand (dazu bereits Rz. 112).
142
Wird nach einem Doppelbesteuerungsabkommen ein Teil des an sich im Inland steuerpflichtigen Weltvermögens (Rz. 41) freigestellt, unterwirft § 19 II ErbStG das freigestellte ausländische Vermögen einem Progressionsvorbehalt (dazu § 1 Rz. 95, § 8 Rz. 808 ff.)2. Zur Anrechnung ausländischer ErbSt nach § 21 ErbStG im Falle der deutschen Besteuerung des Weltvermögens s. Rz. 47.
143
§ 27 ErbStG sieht Steuerermäßigungen zwischen 10 % u. 50 % für Fälle vor, in denen bei Personen der Steuerklasse I von Todes wegen Vermögen anfällt, das in den letzten 10 Jahren bereits von Personen der Steuerklasse I erworben und versteuert worden ist3. Nach BFH BStBl. 1997, 625, gilt die Steuerermäßigung nicht bei Schenkungen unter Lebenden (§ 27 I ErbStG als lex specialis zu § 1 II ErbStG).
144
Mehrere innerhalb von 10 Jahren (an § 2325 III BGB angelehnte Frist) von derselben Person anfallende Vermögensvorteile werden nach § 14 I 1 ErbStG zusammengerechnet. Die Vorschrift des § 14 ErbStG soll verhindern, dass ein Schenker die Steuer dadurch reduziert, dass er eine größere Schenkung in mehrere Teilschenkungen zerlegt, um so den persönlichen Freibetrag (Rz. 100) mehrfach in Anspruch zu nehmen und zugleich eine niedrigere Steuerstufe innerhalb
145
1 Seer, ZRP 2007, 116 (119 f.); H.-U. Viskorf, FR 2007, 624 (630); Balles/Gress, BB 2007, 2660 (2667); Houben/Maiterth, FS F. Wagner, 2009; so nun auch der Vorschlag von P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch (2011): § 93 – Steuersatz = 10 %. 2 Zur Vereinbarkeit mit dem Europarecht s. Thonemann, ErbStB 2005, 220. 3 Dazu H E 27 ErbStH 2011 mit Berechnungsbsp.; dabei müssen alle Erwerbe unter die Steuerklasse I fallen, s. BFH/NV 2011, 1881 f. Das Hess. FG EFG 2013, 2035 f. (Rev. II R 37/13) beschränkt die Steuerermäßigung nur auf Vorbelastungen durch inländische, nicht aber durch ausländische ErbSt und sieht darin mit Hinweis auf die EuGH-Judikatur in der Rs. Block (s. Rz. 47) auch keinen europarechtlichen Verstoß; dazu krit. Heydt, IStR 2014, 458 f.
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§ 15
Rz. 146
Erbschaft- und Schenkungsteuer
des Progressionstarifs zu erreichen1. Den Einzelerwerben wird dabei der Charakter von selbständigen steuerpflichtigen Vorgängen nicht genommen. § 14 ErbStG enthält eine besondere Art von Progressionsvorbehalt, der den Letzterwerb auf die Stufe des Gesamterwerbs hebt, ohne allerdings den Wert des früheren Erwerbs bei der Zusammenrechnung zu verändern2. Die Frist ist ausgehend vom letzten Erwerb rückwärts zu berechnen3. § 14 ErbStG ist keine Korrekturvorschrift, welche die Bestandskraft der früheren Erbschaftsteuerfestsetzungen durchbricht (dazu § 21 Rz. 381 ff.). Sie trifft lediglich eine besondere Anordnung für die Berechnung der Steuer in Ansehung des letzten Erwerbs. Jeder einzelne Erwerb bleibt ein isolierter erbschaftsteuerlicher Tatbestand für sich. Die für die Vorerwerbe gezahlte Schenkungsteuer ist deshalb auch keine Vorauszahlung auf den Letzterwerb, der den Gesamterwerb vollendet. Es kann daher auch zu keiner Steuererstattung (zum Steuererstattungsanspruch s. § 6 Rz. 89 ff.) früher auf Vorerwerbe gezahlter Steuern kommen4. 146
Nach § 14 I 1 ErbStG sind die früheren Erwerbe nach ihren früheren Werten hinzuzurechnen; in der Zwischenzeit eingetretene Wertveränderungen bleiben unberücksichtigt. Dies gilt auch für Änderungen des BewG (z.B. nach Erlass des ErbStRG 2009). Von dem sich für den Gesamterwerb ergebenden Steuerbetrag wird nach § 14 I 2 ErbStG die Steuer abgezogen, die sich für die früheren Erwerbe nach den persönlichen Verhältnissen des letzten Erwerbs und auf der Grundlage der im Zeitpunkt des Letzterwerbs geltenden Vorschriften ergeben würde (sog. Abzugsteuer). Jedoch muss sich der Freibetrag tatsächlich auswirken5. Aufgrund des Abstellens auf die Verhältnisse im Zeitpunkt des Letzterwerbs handelt es sich um eine fiktive Steuer, die von der für die Vorerwerbe tatsächlich angefallenen Steuer erheblich abweichen kann. Übersteigt letztere die fiktive Abzugsteuer, so ist die tatsächlich geschuldete Steuer abzuziehen (§ 14 I 3 ErbStG: kein Wahlrecht, sondern obligatorische Meistbegünstigungsklausel)6. Die Meistbegünstigung besitzt in besonderem Maße Relevanz für die Zusammenrechnung mit sog. Alterwerben, d.h. vor Inkrafttreten des ErbStRG 2009 ausgeführte Schenkungen7. Das ErbStRG 2009 begrenzt allerdings in § 14 I 4 ErbStG den Abzug der Steuer auf den Vorerwerb, indem nunmehr mindestens die Steuer für den isolierten Letzterwerb anzusetzen ist. Dadurch trägt das Gesetz der Kritik Rechnung, dass ansonsten der Erwerber nur deshalb erbschaftsteuerlich besser stehen könnte, weil sie/er bereits erhebliche Vorerwerbe getätigt hat8.
1 BFH BStBl. 2009, 969; umfassend Jülicher, Zusammenrechnung mehrerer Erwerbe nach § 14 ErbStG, Diss., 1993; s. auch Götz, ZEV 2001, 9; Gebel, ZEV 2001, 213; Meincke, DStR 2007, 273; finanzwissenschaftliche Analyse bei Kundisch/Pfeiler/Schiefele, StuW 2007, 134; Fliedner, UVR 2009, 304. Im Einklang mit dem Weltvermögensprinzip rechnet BFH BStBl. 2012, 40 (41 f.) auch ausländisches Vermögen nach § 14 ErbStG zusammen, versagt dann aber nach § 21 ErbStG die Anrechnung der auf den Vorerwerben lastenden, bei den Vorerwerben nicht berücksichtigten ausländischen ErbSt. Dies ist inkonsequent und europarechtlich nicht überzeugend (s. Rz. 47). 2 BFH BStBl. 1999, 25 f., zählt deshalb beim Erwerb einer Sache, die der Erwerber zunächst unentgeltlich nutzen konnte, zum Wert der Sache auch den Wert der zwischenzeitlich gezogenen Nutzungen hinzu, so dass die Summe der Werte den Wert der Sache übersteigt (a.A. noch BFH BStBl. 1979, 740). 3 BFH BStBl. 2012, 599 f., m. Ausführungen zur Fristberechnung, s. auch Wachter, ZEV 2012, 386; Heggemann/Tönnemann, BB 2012, 1780. 4 BFH BStBl. 2002, 52 (53 f.); FG Münster EFG 2008, 1309 (1310); Krüger/Siegemund/Köhler, Stbg. 1997, 257; Jülicher, ZEV 1997, 275 (277); Rose, DB 1997, 1485 (1486); Stöckel, DStZ 2000, 558; R E 14.1 III 8 ErbStR 2011. 5 BFH BStBl. 2005, 728 (729); dazu Dobroschke, DStR 2005, 1890; Stempel, UVR 2005, 372; Bsp. zu § 14 ErbStG liefern H E 14.1 (1)–14.3 ErbStH 2011. 6 S. R E 14.1 III 5 ErbStR 2011; Weinmann, ZEV 1997, 185; Jülicher, ZEV 1997, 275; Rose, DB 1997, 1485; Korezkij, ZEV 1998, 291. 7 Zur Vermeidung einer Überprogression sind Vorschenkungen bei Schenkungsketten ggf. auch über den 10-Jahres-Zeitraum hinaus einzubeziehen, s. BFH BStBl. 2002, 316 (319); s. auch Götz, BB 2006, 1080. 8 Meincke, DStR 2007. 273 (274): „Wer hat, dem wird gegeben“; s. BR-Drucks. 4/08, 58; krit. zu § 14 I 3, 4 ErbStG aber Meincke, ZEV 2009, 604.
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Besonderheiten des Verfahrens
Rz. 149
§ 15
IX. Besonderheiten des Verfahrens 1. Anzeigepflichten Das ErbStG enthält keine allgemeine Steuererklärungspflicht für den Erwerber. Um die vollständige Erfassung der Steuerfälle gleichwohl sicherzustellen, statuieren §§ 30; 33; 34 ErbStG ein System von Anzeigepflichten (zur Funktion der Mitwirkungspflichten s. § 21 Rz. 172 ff.). Sie dienen in erster Linie dazu, dem Finanzamt die Prüfung zu erleichtern, ob und wen es im Einzelfall zur Abgabe einer Erbschaftsteuererklärung aufzufordern hat (Rz. 151 ff.)1. Nach § 30 I ErbStG hat jeder Erwerber einen steuerbaren Erwerb i.S.d. § 1 ErbStG innerhalb einer Frist von 3 Monaten nach erlangter Kenntnis dem für die Verwaltung der ErbSt zuständigen Finanzamt anzuzeigen (zum Inhalt der Anzeige s. § 30 IV ErbStG). Erfolgt der Erwerb durch Rechtsgeschäft unter Lebenden, ist zur Anzeige auch derjenige verpflichtet, aus dessen Vermögen der Erwerb stammt (insb. der Schenker, § 30 II ErbStG). Bei Zweckzuwendungen (Rz. 32 f.) trifft die Anzeigepflicht den mit der Auflage Beschwerten. Die Anzeigepflicht dauert auch dann an, wenn die Frist von 3 Monaten bereits abgelaufen ist. Erkennt der Erwerber nachträglich, dass ein Nachversteuerungstatbestand (§§ 13a V; 19a V ErbStG, dazu Rz. 112 ff., 142) verwirklicht worden ist, hat er den entsprechenden Sachverhalt gem. § 13a VI 2 ErbStG innerhalb von einem Monat dem zuständigen Finanzamt anzuzeigen. Dasselbe gilt nach § 13a VI 1 ErbStG bei Verstößen gegen die Arbeitsplatzklausel (§ 13a I ErbStG, s. Rz. 111); allerdings beträgt die Frist 6 Monate, beginnend mit Ablauf der Lohnsummenfrist. § 13a VI 3 ErbStG sichert das staatliche Fiskalinteresse schließlich durch eine besondere Anlaufhemmung bei der Festsetzungsfrist (dazu allgemein § 21 Rz. 299) ab.
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Nach dem Wortlaut des § 30 I ErbStG besteht die Anzeigepflicht selbst dann, wenn nach Ansicht des Erwerbers/Schenkers gar keine Steuer festzusetzen ist. Nimmt man die Vorschrift beim Wort, müssten sogar die Kinder eine Liste ihrer Weihnachtsgeschenke an das Finanzamt senden! Der über den Sicherstellungszweck hinausreichende Wortlaut der Vorschrift muss daher teleologisch dahingehend reduziert werden, dass die Anzeigepflicht entfällt, wenn eindeutig und klar feststeht, dass keine Steuerpflicht entstanden ist2. Befindet sich der Anzeigepflichtige jedoch im Zweifel über die Steuerpflicht, dann hat er den Erwerb dem Finanzamt anzuzeigen. Unterlässt er dies, so kann sein Verhalten den Tatbestand einer Steuerhinterziehung (§ 370 I Nr. 2 AO, dazu § 23 Rz. 20 ff.) oder leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 I AO, dazu § 23 Rz. 90 ff.) ausmachen3.
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Nach § 33 ErbStG bestehen Anzeigepflichten für Vermögensverwahrer (insb. Kreditinstitute), Vermögensverwalter und Versicherungsunternehmen. Sie haben dem für die ErbSt zuständigen Finanzamt die in ihrem Gewahrsam befindlichen Vermögensgegenstände, die im Todeszeitpunkt dem Erblasser gegen sie zustehenden Forderungen und anderen Vermögenswerte mitzuteilen (zum Inhalt und zur Form der Anzeige s. §§ 1–3 ErbStDV). Dazu zählen auch Vermögensgegenstände einer ausländischen Zweigniederlassung4. Bei Verletzung der Anzeigepflicht droht eine Geldbuße (§ 33 IV ErbStG: Steuerordnungswidrigkeit)5 und für
149
1 So ausdrücklich BFH BStBl. 1997, 73 (74); ausf. zu den Anzeige- u. Erklärungspflichten Gohlisch, ZErb 2011, 102 (Teil I), 133 (Teil II). 2 Meincke16, § 30 ErbStG Rz. 6; Moench/Weinmann/Kien-Hümbert, § 30 ErbStG Rz. 3; Fischer/ Jüptner/Pahlke/Wachter5, § 30 ErbStG Rz. 22. 3 Zur Festsetzungsfrist und Anlaufhemmung nach § 170 II Nr. 1, V AO s.§ 21 Rz. 299 und BFH BStBl. 1997, 11; 2005, 244; 2007, 954; 2009, 232 f.; Kamps, ErbR 2014, 16; zum Zusammenhang mit dem Steuerstrafrecht s. Warlich, ZErb 2013, 254 (Teil I), 281 (Teil II), dort auch mit steuerstrafrechtlichen Erwägungen. 4 BFH BStBl. 2007, 49 (51); BFHE 246, 527 = DStR 2014, 2338 (2340) hat dem EuGH die Frage vorgelegt (s. C-522/14), ob die Mitteilungspflicht gegen die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) verstößt, wenn die ausländische Zweigniederlassung einem strafbewehrten Bankgeheimnis (wie in Österreich) unterliegt. 5 Dazu App, StVj 1990, 101; außerdem § 23 Rz. 5 ff.
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§ 15
Rz. 150
Erbschaft- und Schenkungsteuer
Versicherungsunternehmen und Kreditinstitute eine Haftung nach § 20 VI ErbStG (Rz. 40). Anzeigepflichtig sind darüber hinaus gem. § 34 ErbStG auch alle deutschen Gerichte, Behörden (insb. Standesämter über die Sterbefälle), Beamten und Notare hinsichtlich steuerrelevanter Sachverhalte (zum Inhalt und zur Form der Anzeige s. §§ 4–11 ErbStDV). 150
Soweit die Anzeigepflichten der §§ 33 f. ErbStG eingreifen, bedarf es grds. keiner Anzeige nach § 30 I ErbStG. Dementsprechend entbindet § 30 III ErbStG den Erwerber von der Anzeigepflicht, wenn der Erwerb auf einer vor einem deutschen Gericht, einem deutschen Notar oder einem deutschen Konsul eröffneten Verfügung von Todes wegen beruht und die Verhältnisse des Erwerbers zum Erblasser unzweifelhaft sind1. Das gilt nicht, wenn zum Erwerb Grundbesitz, Betriebsvermögen, Anteile an Kapitalgesellschaften, die nicht der Anzeigepflicht nach § 33 ErbStG unterliegen, oder Auslandsvermögen gehört (§ 30 III 1 Hs. 2 ErbStG). Ferner bestimmt § 30 III 3 ErbStG für Schenkungen unter Lebenden und Zweckzuwendungen, dass es einer Anzeige nicht bedarf, wenn die Zuwendungen gerichtlich oder notariell beurkundet worden sind.
2. Steuererklärungspflichten 151
Für Erwerber und Schenker besteht eine Steuererklärungspflicht (dazu allgemein § 21 Rz. 182 ff.) nur dann, wenn sie zur Abgabe vom Finanzamt aufgefordert werden (s. § 31 I ErbStG). In der Erklärung sind die zum Nachlass gehörenden Gegenstände und die sonstigen für die Feststellung des Gegenstandes und des Werts des Erwerbs erforderlichen Angaben zu machen (§ 31 II ErbStG). Sind mehrere Erben bzw. mehrere Erwerber von Todes wegen vorhanden, können sie eine gemeinschaftliche Steuererklärung abgeben (§ 31 IV ErbStG).
152
Ist ein Testamentsvollstrecker (§§ 2197 ff. BGB), Nachlassverwalter (§§ 1981 ff. BGB) oder Nachlasspfleger (§§ 1960 II; 1961 BGB) bestimmt bzw. auf Antrag vom Nachlassgericht bestellt worden, hat dieser die Steuererklärung abzugeben (§ 31 V, VI ErbStG). Die genannten Personen sind kraft ihres Amtes zur Verwaltung und Verfügung hinsichtlich des Nachlasses befugt. Sie können deshalb auch nur im Rahmen ihrer Amtsbefugnisse zur Abgabe der Steuererklärung verpflichtet sein. Der Testamentsvollstrecker kann nur im Umfang der ihm vom Erblasser gestellten Aufgaben agieren. Die Amtsbefugnisse des Nachlassverwalters und Nachlasspflegers beschränken sich auf die Verwaltung des Nachlasses; über Erwerbe, die außerhalb dessen liegen, können sie keine Auskunft geben. Deshalb ist es aus Sicht der Finanzbehörde sinnvoll, die Steuererklärung (soweit möglich) auch von einem oder mehreren Erben mitunterschreiben zu lassen (s. § 31 V 2 ErbStG). Die genannten Amtspersonen sind aber ebenfalls erst dann steuererklärungspflichtig, wenn sie dazu aufgefordert werden. Insoweit ergänzen § 31 V, VI ErbStG lediglich die Grundregel des § 31 I ErbStG2. Die Steuererklärungspflicht kann nur das umfassen, was zum gesetzlichen Aufgabenkreis der Amtsperson gehört. Deshalb hat ein Testamentsvollstrecker grds. nur für die Erben, nicht aber für lediglich schuldrechtlich Begünstigte (z.B. Vermächtnisnehmer, Pflichtteilsberechtigte) eine Erbschaftsteuererklärung abzugeben3.
153
Haben die genannten Personen eine Erbschaftsteuererklärung abgegeben, ist der Erbschaftsteuerbescheid abweichend von § 122 I 1 AO ihnen auch bekanntzugeben (§ 32 ErbStG). Dadurch werden Testamentsvollstrecker, Nachlassverwalter, -pfleger aber nicht zu Steuerschuldnern4. Testamentsvollstrecker und Nachlassverwalter sind zivilrechtlich nicht einmal Vertreter der Erben, so dass sie an sich nicht als Bekanntgabeadressaten (§ 21 Rz. 67) fungieren können. Der BFH legt deshalb § 32 I 1 ErbStG (entgegen seiner missverständlichen Überschrift) dahin1 Damit sind nicht die persönlichen Verhältnisse (z.B. Verwandtschaftsgrad) des Erwerbers zum Erblasser/Schenker gemeint, sondern die Rechtsbeziehungen, die den Steuertatbestand ausgelöst haben, s. BFH BStBl. 1997, 73 (74); BFH/NV 2002, 917; zu § 30 III ErbStG s. Hartmann, UVR 2000, 169. 2 BFH BStBl. 2013, 924 (925 f.); Meincke16, § 31 ErbStG Rz. 12. 3 BFH BStBl. 1999, 529 (530 f.); zur Testamentsvollstreckung s. Kalbfleisch, UVR 2012, 268. 4 S. BFH BStBl. 1986, 704 (706); FG Saarland EFG 2013, 1947 (Nachlasspfleger bei unbekannten Erben).
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Besonderheiten des Verfahrens
Rz. 155
§ 15
gehend einschränkend aus, dass der Testamentsvollstrecker Zugangsvertreter nur für diejenigen Personen sein kann, die als Erben am Nachlass auch teilhaben. Folgt man dem, muss dasselbe auch für den Nachlassverwalter gelten. Erbschaftsteuerbescheide, die sich gegen Vermächtnisnehmer, Pflichtteilsberechtigte oder sonstige außerhalb des Nachlasses stehende Personen richten, können daher weder an den Testamentsvollstrecker noch an den Nachlassverwalter als Bekanntgabeadressaten gerichtet werden1. Erst recht findet § 32 I 1 ErbStG keine Anwendung auf die Bekanntgabe von Steuerbescheiden für Steuerschulden, die noch in der Person des Erblassers entstanden sind2. § 32 I 2, II 2 ErbStG legt den genannten privatrechtlichen Amtspersonen darüber hinaus auch die Sorge für die Bezahlung der ErbSt auf. Diese Regelung knüpft an deren Verfügungsbefugnis über den Nachlass an und soll ihnen die (zivilrechtliche) Befugnis vermitteln, die ErbSt aus dem Nachlass zu zahlen (zum Haftungstatbestand des § 20 III ErbStG s. Rz. 40). Auf Verlangen des Finanzamts ist aus dem Nachlass Sicherheit zu leisten (§ 32 I 3 ErbStG). Diese Sicht verkennt, dass die Erbschaftsteuerschuld keine Nachlassverbindlichkeit (s. § 10 VIII ErbStG, Rz. 128), sondern eine persönliche Steuerschuld des Erben darstellt3. Erfüllen die Amtspersonen ihre Pflichten grob fahrlässig oder vorsätzlich nicht, haften sie nach § 69 i.V.m. § 34 III AO (Testamentsvollstrecker, Nachlassverwalter) bzw. § 34 I AO (Nachlasspfleger).
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3. Kontrollmitteilungen Die Erbschaftsteuer-Finanzämter (s. zur Zuständigkeit § 35 ErbStG) sind befugt, den Wohnsitz-Finanzämtern Kontrollmitteilungen über Art und Umfang des erworbenen Vermögens zur weiteren einkommensteuerlichen Auswertung zuzusenden (§ 21 Rz. 263 ff.)4. Der gleich lautende Ländererlass v. 18.6.2003, BStBl. I 2003, 392, weist die Erbschaftsteuer-Finanzämter deshalb an, den für die Einkommensteuer zuständigen Finanzämtern sowohl des Erblassers als auch der Erwerber den ermittelten Nachlass mitzuteilen, wenn der Reinwert des Nachlasses 250 000 Euro oder das zum Nachlass gehörige Kapitalvermögen 50 000 Euro übersteigt. Entsprechendes gilt bei der Schenkung unter Lebenden für Kapitalvermögen von mehr als 50 000 Euro. Außerdem haben die Bewertungsstellen Kontrollmitteilungen an die Erbschaftsteuer-Finanzämter(-stellen) zu übersenden, wenn Grundbesitz durch Erbfolge übergeht5.
1 BFH BStBl. 1991, 49 (51); 1991, 52 (53); 1991, 181 (183); krit. Martin, StVj 1991, 115; Moench/Weinmann/Kien-Hümbert, § 32 ErbStG Rz. 13, zu weiteren Zweifelsfragen. 2 S. BFH BStBl. 1988, 120. 3 Mit Recht krit. Meincke16, § 32 ErbStG Rz. 11. 4 Ebenso BFH BStBl. 1992, 616; a.A. Felix, BB 1988, 2011 (2012); Kottke, BB 1992, 1694. 5 Eine instruktive Übersicht über die einzelnen Verfahrensschritte gibt die Allgemeine Verwaltungsanweisung (der Länder) für die Erbschaft- und Schenkungsteuer (ErbStVA) v. 21.6.2012, BStBl. 2012, 712.
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§ 16 Grund-/Vermögensteuer A. Grundsteuer Literatur: Schneider/Vieregge, Die Grundsteuer in der Finanzreform, 1969; Andreae, Grundsteuern, Handbuch der Finanzwissenschaft3, Bd. II, 1980, 575; Tipke, StRO II2, 2003, 953; Eisele in Henneke/ Pünder/Waldhoff, Recht der Kommunalfinanzen, 2006, § 10; Zimmermann in Hansmann (Hrsg.), Die Grundsteuer als geborene Gemeindesteuer, 2011, 194; Stöckel/Volquardsen, Grundsteuerrecht2, 2012; Schmehl, Kritische Bestandsaufnahme der Grundsteuer, DStJG 35 (2012), 249; Halaczinsky, 50 Jahre Einheitswerte 1964 – Bewertung des Grundbesitzes in den alten Bundesländern, DStR-Beihefter zu Heft 45/2014; Troll/Eisele, Grundsteuergesetz11, 2014. Reformvorschläge: Schelle/Breitenbach, Grundsteuer – Plädoyer gegen eine veraltete Steuerform, Karl-Bräuer-Institut, Bd. 14, 1969; Wiss. Beirat beim BMF, Gutachten zur Reform der Gemeindesteuern, 1982; Drosdzol, Baulandsteuer und Bodenwertsteuer – Neue Perspektiven für die Grundsteuer?, DStZ 1994, 205; Josten, Die Bodenwertsteuer – eine praxisorientierte Untersuchung zur Reform der Grundsteuer, 2000; Bizer/Lang, Ansätze für ökonomische Anreize zum sparsamen und schonenden Umgang mit Bodenflächen, 2000 (dazu Jachmann, StuW 2001, 379); BayStMFin/FinMin RheinlandPfalz, Reform der Grundsteuer, 2004 (dazu Heine, KStZ 2004, 69); Lemmer, Zur Reform der Grundsteuer, Diss., 2004; Lange (Hrsg.), Reform der Gemeindesteuern, Loccumer Protokolle 59/2005, m. Beiträgen zur Grundsteuerreform v. Fromme, 155, u. Thöne, 173; Geiger, Reform des Grundsteuerrechts, Gemeindehaushalt 2006, 145; Bertelsmann Stiftung, Reform der Grundsteuer, 2007; FinSen. Bremen u.a., Grundsteuer auf der Basis von Verkehrswerten (Machbarkeitsstudie), 2010; FinMin. Baden-Württemberg u.a., Eckpunkte für eine vereinfachte Grundsteuer nach dem Äquivalenzprinzip, 2010; FinMin. Thüringen, Reform der Grundsteuer – Gebäudewertunabhängiges Kombinationsmodell, 2011; Wiss. Beirat beim BMF, Stellungnahme zur Reform der Grundsteuer, Berlin, 2011; Spengel/Heckemeyer/Zinn, Reform der Grundsteuer: Ein Blick nach Europa, DB 2011, 10; Bartsch, Die Reformmodelle der Grundsteuer, KStZ 2011, 164 (Teil I), 205 (Teil II); Becker, Grundsteuerreformmodelle im Vergleich – Konzeption und Praxisfolgen, BB 2011, 535 (ergänzend BB 2011, 2391 u. BB 2013, 861; dagegen Zochert, BB 2011, 3105; Schulemann, BB 2012, 813); Richter/Heckmann, Die nicht umlagefähige Mietsteuer als Modell für eine Reform der Grundsteuer, StuW 2011, 331; Schulemann, Reform der Grundsteuer – Handlungsbedarf und Reformoptionen, Karl-Bräuer-Institut, Bd. 109, 2011; Cremers, Grundsteuermodelle und Verfassung, 2012; Feldmann, Reformperspektiven der Grundsteuer für die Gemeindefinanzierung im Sinne einer Property Tax, Diss., 2013; Broer, Grundsteuer: Gemeindesteuer und „Reichensteuer“, Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 2013, Heft 1, 191; Schulte, Kommunale Einkommensbesteuerung, Diss., 2014; Nehls/Scheffler, Grundsteuerreform: Aufkommens- und Belastungswirkungen des Äquivalenz-, Kombinations- und Verkehrswertmodells, IFSt-Schrift Nr. 503 (2015).
1. Einführung 1.1 Charakter der Steuer Die GrSt ist eine der ältesten Steuern und kann bis in das Jahr 2000 v. Chr. zurückverfolgt werden. Im Mittelalter war sie die Hauptsteuer und blieb es in den meisten deutschen Territorien bis in das 19. Jahrhundert hinein1. In dieser Zeit galt vor allem der land- und forstwirtschaftlich genutzte Grundbesitz als Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit (dazu § 3 Rz. 55 ff.). Mit der zunehmenden Verstädterung beschränkte sich die GrSt aber nicht auf den landwirtschaftlichen Boden (Bodensteuer), sondern erstreckte sich auch auf städtischen Grundbesitz (Gebäudesteuer). Nach dieser auch heute noch geltenden Konzeption ist die GrSt eine Steuer auf den Vermögensbestand i.S. einer Sollertragsteuer (§ 3 Rz. 60, § 7 Rz. 22). Sie besteuert den aus dem realen, lokal verorteten Vermögensgegenstand „Grundbesitz“ fließenden Ertrag ohne Beachtung der Lebensverhältnisse des Eigentümers (sog. Realsteuer, § 3 II AO). Ebenso wenig kennt die GrSt persönliche Freibeträge; sie berücksichtigt weder Familienverhältnisse noch die mit dem Grundbesitz zusammenhängenden Schulden. Sie ist daher keine Subjekt-, sondern 1 Zur geschichtlichen Entwicklung s. Andreae, Hdb. Finanzwissenschaft3, 579; Kruse, BB 1996, 717 (718); Neumann in Seer (Hrsg.), Steuern im historischen Kontext, 2014, 331.
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§ 16
Rz. 2
Grund-/Vermögensteuer
eine Objektsteuer (§ 7 Rz. 21) und verwirklicht eine rohe Merkmalbesteuerung, wie sie aus früheren Jahrhunderten tradiert ist.
1.2 Rechtfertigung der Steuer 2
Die Existenz der GrSt war als grobe Sollertragsteuer solange berechtigt, als ein verhältnismäßig geringer Staatsbedarf keine genaueren Ertragsbesteuerungsmethoden erforderte. Seitdem aber die Einkommensteuer die GrSt als Hauptsteuer verdrängt hat und mit dem individuellen Einkommen jeder natürlichen Person über einen exakteren Maßstab steuerlicher Leistungsfähigkeit verfügt (§ 8 Rz. 42 f.), führen unverändert beibehaltene Sollertragsteuern zu Überlagerungen und zur fragwürdigen Mehrfachbelastung desselben Einkommens (s. auch Vermögensteuerbeschluss, BVerfGE 93, 121 [137 ff.]). Die dadurch eintretende Steuerkumulation lässt sich entgegen BVerfGE 65, 323 (353) nicht damit rechtfertigen, dass der Grundbesitz durch ein „fundiertes Einkommen“ eine gesteigerte Leistungsfähigkeit vermittele (sog. Fundustheorie, dazu bereits § 3 Rz. 60 ff.)1. Deshalb wird zur Rechtfertigung der GrSt – ebenso wie für die Gewerbesteuer (§ 12 Rz. 1) – ganz überwiegend das Äquivalenzprinzip (§ 3 Rz. 44) angeführt. Danach soll die GrSt über Gebühren und Beiträge hinaus (zur Unterscheidung s. § 2 Rz. 20 ff.) Aufwendungen der Gemeinde für Infrastrukturleistungen (z.B. Straßen, Grünanlagen und andere öffentliche Einrichtungen) kompensieren, die vor allem durch die Nutzung des Grundbesitzes ausgelöst werden2. Diesem Gedanken entspricht es, dass die GrSt mittlerweile (selbst im sozialen Wohnungsbau, s. § 2 Nr. 1 BetrKV) regelmäßig offen auf den Mieter als Nutzer überwälzt wird (s. § 7 Rz. 20)3. Im Hinblick auf ihre Steuerträgerschaft (§ 6 Rz. 9) hat die GrSt damit praktisch den Charakter einer Einwohnersteuer4 erhalten.
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Die mit dem Äquivalenzgedanken begründete Belastung des Wohnens verstößt jedoch gegen das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, da sie einen Teil des für das menschliche Dasein erforderlichen, steuerfrei zu stellenden Existenzminimums5 in Anspruch nimmt6. Es widerspricht dem aus der grundrechtlichen Erwerbs- und Existenzfreiheit (Art. 1; 2 I; 12 I; 14 I GG) ableitbaren Subsidiaritätsprinzip, wenn der Staat vom Ein1 Ausf. zur Fundustheorie K. Tipke, StRO II2, 922 ff., 957; mit Recht Kruse, BB 1996, 717 (718): „Die Fundusüberlegungen sind längst überholt; sie rosten in den Arsenalen des 19. Jahrhunderts“. Die Fundustheorie wird jüngst erneut von Becker, BB 2011, 2391 (2395 f.) bemüht; dagegen zutr. Schulemann, BB 2012, 813 (814 f.). 2 So etwa Steuerreformkommission, Gutachten, BMF-Schriftenreihe 17, 1971, 714 f.; Wiss. Beirat, Gutachten zur Einheitsbewertung in der Bundesrepublik Deutschland, BMF-Schriftenreihe 41, 1989, 36; Wiss. Beirat, Stellungnahme zur Reform der Grundsteuer, 12/2010, 2 ff.; Gutachten der sog. Goerdeler-Kommission, BMF-Schriftenreihe 46, 1991, Rz. 312; Lemmer, Reform der Grundsteuer, 2004, 33; Zimmermann in Hansmann, Kommunalfinanzen, 194 f.; Richter/Heckmann, StuW 2011, 331 (332 ff.); Schmehl, DStJG 35 (2012), 249; ebenso bereits Begr. des EG zum Realsteuergesetz v. 1.12.1936, RStBl. 1937, 689; aus der jüngeren Rspr.: BFH BStBl. 2006, 767 (769); zweifelnd Hey, FS J. Lang, 2010, 133 (155). 3 Tipke, StRO II2, 958 f.; Kruse, BB 1996, 717 (720); Hey, FS J. Lang, 2010, 133 (155); Schmehl, DStJG 35 (2012), 249. Das Problem negiert BVerfG NJW 2009, 1868 (1869), indem es schlicht behauptet, dass die GrSt nicht auf Abwälzung auf den Wohnungsmieter angelegt sei. Auch der Wiss. Beirat, Stellungnahme zur Reform der Grundsteuer, 2011, 4 f., erwartet, dass der Grundstückseigentümer langfristig denjenigen Teil der Grundsteuer trage, der sich auf den Bodenwert beziehe. Den Rest würden sich Grundstückseigentümer und Mieter „teilen“. Woraus der Wiss. Beirat diese Erkenntnis gezogen hat, ist unklar. Die von ihm getroffenen Annahmen entsprechen u.E. eher Wunschdenken. Derzeit widersprechen sie jedenfalls regelmäßig dem Verhalten der Akteure an den Wohnungsmärkten der Ballungszentren. 4 Zur Einwohnersteuer s. Haury, StuW 1979, 51; Bayer, KStZ 1989, 167; Bayer, Steuerlehre, 1998, Rz. 962, 976; Richter/Heckmann, StuW 2011, 331, fordern als Alternative eine nicht umlagefähige Mietsteuer, um kommunale Infrastrukturinvestitionen gezielt Vermietern anzulasten; dagegen aber Wiss. Beirat, Reform der Grundsteuer, 2011, 4 f. 5 BVerfGE 87, 153 (171 ff.). 6 Tipke, StRO II2, 959, m. dem Hinweis, dass der Steuergesetzgeber das Wohnen dagegen bei der Umsatzsteuer nach § 4 Nr. 12a UStG befreit hat (dazu § 17 Rz. 210 ff.); ebenso P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 2 Rz. 35.
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Grundsteuer
Rz. 4
§ 16
kommen des Grundeigentümers und (mittelbar) des Mieters in Gestalt der GrSt etwas wegbesteuert, was er im selben Atemzug in Gestalt der Wohnungsbauförderung oder des Wohngeldes wieder zurückgibt. Selbst wenn man die Existenz einer GrSt durch den Äquivalenzgedanken als gerechtfertigt ansieht, so gilt dies sicher nicht für den derzeitigen Steuermaßstab (Rz. 23). Denn die willkürlichen Grundstückseinheitswerte (Rz. 10 ff.) sind als Äquivalenzindikatoren für die Inanspruchnahme von Gemeindeleistungen schlechterdings ungeeignet1. Nicht wenige Stimmen aus der Wissenschaft plädieren deshalb mit guten Gründen für die Abschaffung der GrSt2. Im Zuge der Aufhebung der Gewerbekapitalsteuer (§ 12 Rz. 1) hat der Gesetzgeber die GrSt in Art. 106 VI GG ausdrücklich (klarstellend) als Steuer benannt, deren Aufkommen den Gemeinden zusteht3. Auch wenn sich aus dieser bloßen Verteilungsnorm keine positive Aussage über die Verfassungsmäßigkeit des derzeit geltenden GrStG entnehmen lässt (§ 2 Rz. 6; BT-Drucks. 13/8488, 6)4, ist angesichts von Art. 106 VI GG kaum damit zu rechnen, dass die GrSt einfach abgeschafft wird. Hinzu kommt, dass sie konjunkturunempfindliche, fest kalkulierbare Steuereinnahmen gewährleistet, auf welche die Kommunen ohne eine ergiebige Kompensation nicht verzichten werden5. Will man an einer GrSt festhalten, so sind aber zumindest wesentliche Veränderungen vorzunehmen (s. Rz. 38 f.). Das verfassungsrechtliche Gebot einer realitätsgerechten Wertrelation (s. Rz. 23; § 15 Rz. 5, 58) gilt nicht nur im Verhältnis des Grundvermögens zum Kapitalvermögen, sondern auch innerhalb derselben Vermögensart. Die derzeit die Bemessungsgrundlage der GrSt bestimmende Einheitsbewertung von Grundstücken führt zu nicht zu rechtfertigenden, gleichheitswidrigen Wertverzerrungen, die den vom BVerfG aufgestellten Anforderungen widersprechen (s. Rz. 23). Der in BVerfGE 93, 121 (137 ff.) für die VSt als Sollertragsteuer statuierte Eigentumsschutz (s. § 3 Rz. 189 ff.) ist auch für die laufend veranlagte GrSt ernst zu nehmen6. Gleichwohl hat das BVerfG den gebotenen Rechtsschutz gegen die verfassungswidrig ausgestaltete derzeitige GrSt bisher versagt7. Die Judikatur ist vom Ergebnis her geleitet, den Kommunen die stabile Einnahmequelle der GrSt nicht zu nehmen. Jedoch lassen sich zumindest die eklatanten Bewertungsunterschiede zwischen den Grundstücken nicht wegdiskutieren. Dies hat nun auch der BFH erkannt und die Vorschriften über die Einheitsbewertung von Grundstücken dem BVerfG nach Art. 100 I GG wegen eines Verstoßes gegen Art. 3 I GG zur Überprüfung vorgelegt8. 1 S. bereits Andreae, Hdb. der Finanzwissenschaft3, 590; Tipke, StRO II2, 961. 2 So bereits Schelle/Breitenbach, Karl-Bräuer-Institut, Bd. 14, 1969, 45; Schneider/Vieregge, Die Grundsteuer in der Finanzreform, 1969, 94 f.; Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, 1970, 392; außerdem Strunk, StuW 1980, 51 (53); Kruse, BB 1989, 1351 (1353); Kruse, BB 1996, 717 (720); Sigloch in Krause-Junk (Hrsg.), Steuersysteme der Zukunft, 1998, 101 (107); Tipke, StRO II2, 965; Leuchtenberg, DStZ 2006, 36; Schulemann, Reform der Grundsteuer, Karl-Bräuer-Institut, Bd. 109, 2011, 16 f.; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 2 Rz. 35 f. 3 Art. 106 VI GG geändert durch Gesetz v. 20.10.1997, BGBl. I 1997, 2470. 4 Wernsmann, NJW 2006, 1169 (1174) geht nach Art. 106 VI GG von der Vermutung aus, dass die GrSt in verfassungskonformer Weise geregelt werden kann (ebenso Schmehl, DStJG 35 [2012], 249). Dies mag sein, beantwortete aber nicht die Frage, ob das derzeit geltende GrStG verfassungsgemäß ist. 5 Die GrSt hatte in 2013 ein Aufkommen von ca. 12,3 Mrd. Euro und machte damit ca. 20 % der kommunalen Steuerkraft (einschl. der kommunalen Anteile an der ESt u. USt ./. GewSt-Umlage) aus, s. Statistisches Bundesamt, Finanzen und Steuern – Realsteuervergleich 2013, Fachserie 14, Reihe 10.1, 2014; s. außerdem die Daten bei Andreae, Grundsteuer und Gewerbesteuer: Update 2013, IFSt-Schrift Nr. 493, 2013, 13. Deshalb gehen bis auf P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 2 Rz. 35 f., alle Reformentwürfe von der Beibehaltung einer GrSt (s. Rz. 38 f.) aus. 6 S. P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 2 Rz. 35. Anders judiziert aber die Rspr.: BVerfG NJW 2009, 1868 f.; BFH BStBl. 2006, 767 (769); BFH/NV 2006, 369; FG Berlin EFG 2006, 476 (478); FG Düsseldorf EFG 2012, 212 (213) m. Anm. Trossen; OVG Münster KStZ 2007, 220. 7 BVerfG NJW 2009, 1868 (Nichtannahmebeschluss), ohne inhaltliche Auseinandersetzung; sogar ohne jegliche Begründung zuvor BVerfG ZKF 2006, 213 (2. Kammer, 1. Senat): Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde gegen BFH/NV 2006, 369; dazu die berechtigte Kritik v. Balke, ZSteu 2006, 366: „Basta“-Entscheidung. 8 BFH BStBl. 2014, 957 (961 ff.) – BVerfG-Az.: 1 BvL 11/14; trotz der bereits zuvor bestandenen erheblichen verfassungsrechtlichen Zweifel an der Verfassungskonformität der geltenden Einheitsbewertung hatte der BFH zunächst die Rechtslage für Stichtage bis zum 1.1.2007 (Anknüpfung an die für die
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§ 16
Rz. 5
Grund-/Vermögensteuer
Mittlerweile ergehen neuere Einheitswert- und Grundsteuermessbescheide gem. § 165 I 2 Nr. 3 AO nur noch vorläufig (s. § 21 Rz. 292)1. Aufgrund dieser Rechtsprechungsentwicklung ist die Gesetzgebung umso mehr gehalten, die längst überfällige grundl. Reform dieser Steuerart (dazu Rz. 38 f.) einzuleiten.
2. Steuerobjekt (§ 2 GrStG) 5
Da die GrSt nach Art. 106 VI GG den Gemeinden zustehen soll, ist Steuerobjekt (Steuergegenstand) der im Gemeindegebiet belegene Grundbesitz2. Dazu rechnet § 2 Nr. 2 Satz 1 GrStG Grundstücke des Grundvermögens (§§ 68; 70 BewG, s. Rz. 10 ff.). In Übereinstimmung mit § 19 I BewG (s. Rz. 10) gehören zum Grundbesitz aber auch land- und forstwirtschaftliche Betriebe (§ 2 Nr. 1 Satz 1 GrStG, s. Rz. 8 f.) und Betriebsgrundstücke (§ 2 Nrn. 1, 2 Satz 2 GrStG, § 99 I BewG, s. Rz. 12). Soweit die GrSt einen land- und forstwirtschaftlichen Betrieb sowie Betriebsgrundstücke besteuert, ist sie eine Unternehmensteuer.
3. Einheitsbewertung des Grundbesitzes 3.1 Bewertungsverfahren 6
Von den Einheitswertbeschlüssen des BVerfGE 93, 121 u. 165 (dazu § 3 Rz. 192) ist die GrSt zwar äußerlich unangetastet geblieben. Mangels zeitnaher Bewertung sind jedoch auch innerhalb des Grundvermögens erhebliche gleichheitswidrige Wertverzerrungen zu verzeichnen (s. Rz. 23). Der Einheitswert bildet nach § 13 I GrStG weiterhin die Bemessungsgrundlage sowohl für die GrSt A (Betriebe der Land- und Forstwirtschaft, § 14 GrStG) als auch für die GrSt B (übrige Grundstücke, § 15 GrStG). Die Grundbesitz-Einheitswerte sollten an sich nach § 21 I BewG alle sechs Jahre allgemein festgestellt werden (Hauptfeststellung). Nach Art. 2 I 3 BewÄndG v. 13.8.1965, BGBl. I 1965, 851, ist dieses Intervall allerdings ausgesetzt worden. Nach Ergehen der Einheitswertbeschlüsse des BVerfG ist mit keiner Hauptfeststellung mehr zu rechnen. Nach mittlerweile wohl nahezu einhelliger Auffassung wird der derzeitige Zustand verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht mehr gerecht. Die „Einheitsbewertung“ verstößt auch bei der GrSt gegen das Gebot einer realitätsgerechten Wertrelation (s. Rz. 23). Gleichwohl müssen Einheitswerte aber immer noch nach den Wertverhältnissen des 1.1.1964 (in den „neuen“ Bundesländern gar des 1.1.1935, s. Rz. 18) festgestellt werden. Entsteht eine wirtschaftliche Grundstückseinheit neu (z.B. durch Erschließung von Bauland, Neubau), so ist der Einheitswert auf der Basis der Wertverhältnisse des 1.1.1964 bzw. 1.1.1935 (s. § 27 BewG) zum Beginn des nachfolgenden Kalenderjahres (§ 23 II BewG) nachträglich festzustellen (§ 23 I BewG: Nachfeststellung). Ändern sich die tatsächlichen Verhältnisse einer bereits bestehenden Grundstückseinheit (z.B. durch Umbau, Umwidmung, Veräußerung), wird der Einheitswert für den Beginn des nachfolgenden Kalenderjahres fortgeschrieben (§ 22 I, II BewG: Wert-, Art-, Zurechnungsfortschreibung). § 22 III BewG sieht darüber hinaus eine fehlerbeseitigende Fortschreibung vor. Ein mit dem Argument einer gleichheitswidrigen Bewertung (s. Rz. 23) nach § 22 III BewG gestellter Wertfortschreibungsantrag kann das Einfallstor für eine verfassungsrechtliche Überprüfung bereits bestandskräftiger Einheitswertbescheide bilden3.
ErbSt von BVerfGE 117, 1, ausgesprochene Weitergeltungsanordnung) noch toleriert, s. BFH BStBl. 2010, 897 (899 ff.); 2011, 48 (49 f.), dagegen Verfassungsbeschwerde unter 2 BvR 287/11 beim BVerfG anhängig. Auch wenn der Stichtag vom BFH eher zufällig gewählt worden ist (bereits zuvor war der Zustand nicht minder verfassungswidrig), bahnt sich nun ein zu begrüßender Wechsel in der Judikatur an. 1 S. Ländererlasse v. 19.4.2012, BStBl. I 2012, 490; s. auch den Aussetzungsbeschluss nach § 74 FGO (dazu § 22 Rz. 196) des Niedersächs. FG EFG 2014, 820. 2 Zu den Sonderfällen des § 1 II, III GrStG s. Troll/Eisele11, § 1 GrStG Rz. 3f. 3 S. den Fall bei BFH BStBl. 2014, 957; s. i.Ü. zur fehlerbeseitigenden Wertfortschreibung BFH BStBl. 2002, 456.
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Grundsteuer
Rz. 11
Nach § 13 I 2 GrStG knüpft die GrSt an den sog. Einheitswert der jeweiligen wirtschaftlichen Einheit an, die aus mehreren Wirtschaftsgütern bestehen kann (§ 2 I BewG)1. Wirtschaftliche Einheiten bilden land- und forstwirtschaftliche Betriebe (§ 33 I BewG) und Grundstücke (§ 70 I BewG). Mehrere Wirtschaftsgüter können eine wirtschaftliche Einheit aber nur bilden, wenn sie demselben Eigentümer gehören (Ausnahme: § 26 BewG für Ehegatten)2.
§ 16 7
3.2 Einheitswert land- und forstwirtschaftlicher Betriebe (§§ 19 I; 33–67 BewG) Das land- und forstwirtschaftliche Vermögen – landwirtschaftliche Betriebe (§§ 33; 34; 50–52 BewG), forstwirtschaftliche Betriebe (§§ 33; 34; 53–55 BewG), Weinbaubetriebe (§§ 33; 34; 56–58 BewG), gärtnerische Betriebe (§§ 33; 34; 59–61 BewG) und sonstige land- und forstwirtschaftliche Betriebe (§ 62 BewG) – wird mit dem Ertragswert bewertet (§ 36 BewG). Ertragswert ist das 18fache des durchschnittlichen, nachhaltig erzielbaren Reinertrags des Betriebs (§ 36 II 3 BewG). Das entspricht einer potentiellen Rendite von 100 : 18 = 5,5 %. Dabei werden gemeinübliche Verhältnisse unterstellt (insb. ordnungsmäßige, schuldenfreie Bewirtschaftung mit entlohnten, fremden Arbeitskräften, § 36 II BewG) und die natürlichen und wirtschaftlichen Ertragsbedingungen berücksichtigt (§ 36 III BewG). Gebäude und Betriebsmittel sind prinzipiell nicht besonders zu bewerten, sondern in den Ertragswert einzubeziehen (§ 33 II BewG). Soweit die Betriebsmittel freilich in Zahlungsmitteln, Geldschulden und Überbeständen bestehen, werden sie besonders bewertet (§ 33 III BewG). Soweit die Gebäude zum Wohnteil gehören, richtet sich die Bewertung nach der des Grundvermögens (§ 47 BewG).
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Zum Ertragswertverfahren s. i.E. §§ 37 ff. BewG; zu den Besonderheiten in den „neuen“ Bundesländern s. Rz. 18. Darüber hinaus gelten Sonderbestimmungen für forstwirtschaftliche, weinbauliche, gärtnerische und sonstige land- und forstwirtschaftliche Nutzungen, etwa Imkerei (s. §§ 55; 57 f.; 60 f.; 62 II BewG).
9
3.3 Einheitswert von Grundstücken (§§ 19 I; 68–94; 99 BewG) Der Begriff „Grundvermögen“ (§ 68 BewG) darf nicht mit dem Begriff einzeln>„Grundbesitz“ verwechselt werden. Der Begriff „Grundbesitz“ ist der Oberbegriff; er erfasst land- und forstwirtschaftliche Betriebe, Betriebsgrundstücke und Grundvermögen (= Privatgrundstücke); s. § 19 I BewG, auch § 2 GrStG. M.a.W.: Zum Grundvermögen gehört nur solcher Grundbesitz, der weder land- und forstwirtschaftliches Vermögen noch Betriebsgrundstück ist (s. auch § 68 I BewG). Die wirtschaftliche Einheit „Grundvermögen“ ist auch nicht mit dem bürgerlich-rechtlichen Grundstücksbegriff identisch.
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Das Grundvermögen (Grund und Boden einschl. der wesentlichen Bestandteile, insb. Gebäude3, und des Zubehörs4, ausgenommen Bodenschätze, Maschinen und sonstige Betriebsvorrichtungen5; Erbbaurecht; Wohnungs- und Teileigentum; s. § 68 BewG) wird nach unterschiedlichen Verfahren bewertet6:
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1 Zur Frage der Zusammenfassung mehrerer Windkraftanlagen zu einer wirtschaftlichen Einheit (Windpark) s. BFH BStBl. 2012, 403 (404 f.); aus bilanzsteuerrechtlicher Sicht s. BFH BStBl. 2011, 696. 2 Die Durchbrechung der Zurechnungsregel des § 39 AO allein für Ehegatten ist nicht gerechtfertigt. 3 Zum Begriff „Gebäude“ BFH BStBl. 1986, 787; 1987, 551; 1988, 847; 2012, 274, verneint die Gebäudeeigenschaft eines 450 qm großen, im Hamburger Hafen liegenden Schwimmkörpers, der vor allem zu gastronomischen Zwecken (Terrasse, Lounge) genutzt wird, mangels fester Verbindung mit dem Grund und Boden. 4 Die Begriffe „Bestandteil“ u. „Zubehör“ richten sich nach bürgerlichem Recht, s. BFH BStBl. 1997, 452. 5 Zum Begriff „Betriebsvorrichtungen“ BFH BStBl. 1987, 551; 1988, 440; 2002, 100 (103 f.); 2003, 693 (694); zum Bsp. eines sog. Kfz.-Tower s. BFH/NV 2009, 1609. 6 Belastungen mit Nutzungsrechten (z.B. Nießbrauch, Wohnrecht) werden nicht wertmindernd abgezogen (s. Rz. 22); vgl. auch BFH BStBl. 2004, 179 (180 f.); 2009, 132 (133 f.); Viskorf, ZEV 2004, 190 (191); Viskorf, DStR 2004, 1328.
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§ 16
Rz. 12
Grund-/Vermögensteuer
a) Unbebaute Grundstücke (§ 72 BewG) einschl. baureifer Grundstücke (§ 73 BewG) sind mit dem gemeinen Wert zu bewerten (§ 9 BewG); da keine besonderen Bewertungsvorschriften existieren (§ 17 III BewG), ist § 9 BewG anzuwenden (s. Abschn. 7 I BewRGr v. 19.6.1966). Zu den unbebauten Grundstücken zählen gem. § 72 I 1, III BewG auch solche, auf denen nur ein nicht mehr benutzbares Gebäude steht1. b) Für Grundstücke im Zustand der Bebauung, Erbbaurecht, Wohnungseigentum und Teileigentum, Gebäude auf fremdem Grund und Boden s. die Sondervorschriften der §§ 91–94 BewG. Nach BVerfGE 89, 329 (337 ff.) = BStBl. 1995, 810, soll der gesonderte Ansatz des Erbbauzinses (§ 92 V BewG) mit dem vollen Kapitalwert verfassungsgemäß sein. c) Bebaute Grundstücke (Mietwohngrundstücke, Geschäftsgrundstücke, gemischtgenutzte Grundstücke, Einfamilienhäuser, Zweifamilienhäuser, sonstige bebaute Grundstücke) werden mit dem Ertragswert (§ 76 I BewG) oder dem Sachwert (§ 76 II, III BewG) bewertet. 12
Die Grundstücksarteneinteilung (§ 75 BewG) steht im Abschn. Grundvermögen. Man fragt sich daher, wie Geschäftsgrundstücke und gemischtgenutzte Grundstücke Grundvermögen (s. § 68 I a.E. BewG) sein können. In Wirklichkeit bezweckt der falsch platzierte § 75 BewG eine Einteilung (und Bewertung, s. § 76 BewG) nach Grundstücksarten ohne Rücksicht darauf, ob das Grundstück zum Grundvermögen oder zum Betriebsvermögen gehört. Der Begriff Betriebsgrundstück (§ 99 I BewG) ist für die Bewertung irrelevant (s. § 99 III BewG). Das Einfamilienhaus einer AG ist Betriebsgrundstück, zu bewerten ist es als Einfamilienhaus. Überlässt ein Betriebsinhaber ein Mietwohnhaus Angestellten als Mietwohnungen, so handelt es sich um ein Betriebsgrundstück, das als Mietwohngrundstück zu bewerten ist. Vermietet ein Privatmann ein Grundstück zur Nutzung für gewerbliche Zwecke, so ist dieses Grundstück als Geschäftsgrundstück zu bewerten; Betriebsgrundstück ist dieses Grundstück nicht, da es nicht eigenen gewerblichen Zwecken dient (s. § 99 BewG).
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Bei dem Ertragswertverfahren (§§ 78 ff. BewG) wird der Grundstückswert (Bodenwert, Gebäudewert, Wert der Außenanlagen) durch die Anwendung eines Vervielfältigers (§ 80 BewG, Anl. 3–8 zum BewG) auf die Jahresrohmiete (§ 79 BewG) ermittelt (§ 78 BewG). Bei eigengenutzten, ungenutzten, zu einem von der üblichen Miete um mehr als 20 % abweichenden Mietzins oder unentgeltlich überlassenen Grundstücken ist die übliche Miete in Anlehnung an die Jahresrohmiete zu schätzen (§ 79 II BewG). Zur Schätzung der Rohmiete steht den Finanzämtern ein Mietspiegel zur Verfügung; er kann von den Stpfl. eingesehen werden. Nach BFH BStBl. 1995, 360, verändern Umbau- und Renovierungsarbeiten, die nur vorübergehend die Benutzbarkeit des Gebäudes beeinträchtigen, nicht die anzusetzende Jahresrohmiete. Sind vergleichbare Objekte nicht vorhanden, so kann die Kostenmiete angesetzt werden, wenn sie erzielbar wäre. Die Vervielfältiger sind abhängig von Gemeindegröße, Baujahr und Grundstücksart. Besondere Umstände können zu einer Ermäßigung oder Erhöhung des sich so ergebenden Wertes führen (§§ 81; 82 BewG). Ein Abwertungsfaktor, etwa Lärm, darf nicht mehrfach (über eine ermäßigte Jahresrohmiete und zusätzlich über einen Sonderabschlag nach § 82 BewG), sondern nur einmal bewertungsrechtlich berücksichtigt werden2.
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Das Ertragswertverfahren entspricht im Prinzip dem für die Ermittlung des Verkehrswerts gebräuchlichen Reinertragsverfahren, bei dem der Reinertrag (= Rohertrag ./. Bewirtschaftungskosten) in einen auf den Grund und Boden und einen auf das Gebäude entfallenden Anteil aufgespalten wird3. Bewertungsziel ist nach der Intention des Gesetzes deshalb an sich der gemeine 1 Zur Abgrenzung in den neuen Bundesländern nach Zumutbarkeitskriterien s. BFH BStBl. 2003, 228, (229 f.); 2003, 906; zu Konversionsliegenschaften s. Drosdzol, KStZ 2003, 46. 2 Wenig überzeugend aber BFH BStBl. 1994, 6, wo ein Abschlag wegen Fluglärms abgelehnt wird, obwohl er sich noch nicht in der Spiegelmiete niedergeschlagen hatte; instruktiv Schlepp, DStZ 1993, 759, der die tatrichterlichen Schwierigkeiten beim Umgang mit der Lärm-Rspr. des BFH verdeutlicht; s. außerdem Lück, DStZ 1994, 209. 3 Grotlüschen in Simon/Cors/Halaczinsky/Teß, Hdb. der Grundstückswertermittlung5, 2003, B.5 Rz. 1 ff.; Rössler/Troll/Halaczinsky, § 78 BewG Rz. 7.
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Grundsteuer
Rz. 16
§ 16
Wert (§ 9 BewG)1. Dieses Bewertungsziel wird jedoch bereits dadurch eklatant verfehlt, dass keine zeitnahe Bewertung stattfindet und die Verhältnisse des 1.1.1964 bzw. 1.1.1935 zugrunde gelegt werden (s. bereits § 1 Rz. 56)2. Für die Einheitsbewertung als Massenverfahren musste das Reinertragswertverfahren zudem vereinfacht (typisiert) werden. Das Ertragswertverfahren der §§ 76 ff. BewG geht vom Rohertrag (Jahresrohmiete, § 79 BewG) aus; Bewirtschaftungskosten und Bodenertragsanteile sind durch differenzierte Pauschsätze beim Vervielfältiger (§ 80 BewG; Anl. 3–8 zum BewG) berücksichtigt. Die Vervielfältiger unterscheiden sich allerdings von der Einheitsbewertung auf den 1.1.1935, da sie nicht als grobe Durchschnittszahlen aus Verkäufen abgeleitet, sondern nach Regeln der Rentenrechnung konzipiert sind. Den Vervielfältigern kommt also die Aufgabe zu, den Reinertrag zu kapitalisieren, dabei die Bewirtschaftungskosten zu berücksichtigen sowie außerdem noch den Wert des Bodens und der Außenanlagen aufzunehmen3. Dass die damit sehr weit reichende Typisierung nur fiktive Werte („reine Steuerwerte“) hervorzubringen vermocht hat, verwundert nicht. Zur Ermittlung des Grundstückseinheitswerts nach dem Ertragswertverfahren gilt (vereinfacht) die folgende Formel: Jahresrohmiete (§ 79 BewG) × Vervielfältiger (Anl. 3–8 zum BewG) ./. werterhöhende/-mindernde Umstände (§ 82 BewG) = Einheitswert des Grundstücks (auf volle Hundert Euro abgerundet) Da die charakteristischen Wertmerkmale bebauter Grundstücke zwischen den einzelnen Grundstücksarten sehr unterschiedlich sind, konnte das Ertragswertverfahren nicht auf alle Grundstücke angewandt werden. Bei nicht wenigen Grundstücken (z.B. Fabrikgrundstücken u. ä.)4 tritt der Ertrag für die Kaufpreisbildung gar nicht in Erscheinung. In diesen Fällen (s. § 76 II, III BewG) sieht das BewG ein Sachwertverfahren (§§ 83–90 BewG) vor. Darunter fallen nach § 76 III Nr. 1 BewG auch solche Ein- und Zweifamilienhäuser, die besonders aufwendig gestaltet oder ausgestattet sind und für die sich keine den Herstellungskosten entsprechende Miete erzielen lässt (sog. aufwendige Ein- bzw. Zweifamilienhäuser5).
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Durch das Sachwertverfahren soll der gemeine Wert (Verkehrswert) ermittelt werden (s. § 90 I BewG). Dazu werden nach § 83 BewG der Bodenwert (§ 84 BewG), der Gebäudewert (§§ 85–88 BewG) und der Wert der Außenanlagen (§ 89 BewG) zusammengerechnet. Der sich so ergebende Ausgangswert ist durch Anwendung einer Wertzahl gem. §§ 83 Satz 2; 90 BewG dem gemeinen Wert anzugleichen. Bei der Ermittlung des Gebäudewerts und des Werts der Außenanlagen wird von den durchschnittlichen Herstellungskosten nach den Baupreisverhältnissen des Jahres 1958 ausgegangen (s. §§ 85; 89 BewG). Da auch hier keine zeitnahe Bewertung realisiert werden konnte, steht die Verkehrswertorientierung ebenfalls nur auf dem Papier, auch wenn die Werte nach dem Sachwertverfahren die nach dem Ertragswertverfahren ermittelten Werte regelmäßig übersteigen. Führt die Bewertung im Sachwertverfahren zu höheren Werten als im Ertragswertverfahren, so hat BVerfGE 74, 182 (200 ff.) darin gleichwohl keine Verletzung des Art. 3 GG erkannt. Das technisch sehr aufwendige und hinsichtlich seiner vermeintlichen Exaktheit ehrgeizige Sachwertverfahren macht besonders deutlich, dass auch bei größtem Verwaltungsaufwand keine Wertgleichheit hergestellt werden kann, wenn das Vermögen permanent bewertet werden muss. Diese Erkenntnis stellt nicht nur eine Vermögen- und Gewerbekapitalsteuer, sondern eben auch die GrSt in Frage (s. Rz. 39).
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1 So bereits zum RBewG 1935: RFH RStBl. 1937, 634; 1938, 612; Begr. zum BewÄndG 1965: s. RegE BT-Drucks. IV/1448, 29 f.; BFH BStBl. 1981, 761. 2 Zum deutlichen Missverhältnis zwischen den im Ertragswertverfahren ermittelten Einheitswerten u. den Verkehrswerten schon vor mehr als 20 Jahren Jakob, BMF-Schriftenreihe 48, 1993, 62 f. (65); hier 15. Aufl., § 12 Rz. 53. Ein instruktives Bsp. bietet der Mietspiegel 1964 für Wohnungen in der Hafencity, s. FG Hamburg EFG 2010, 1294. 3 P. Kirchhof, Die Steuerwerte des Grundbesitzes, 1985, 5. 4 Zu Grundstücken bei Kreditinstituten s. BFH BStBl. 2002, 378 (379); zu besonders gestalteten und ausgestatteten Mietwohngrundstücken s. BFH/NV 2011, 2019. 5 S. dazu BFH BStBl. 2006, 615 (616); BFH/NV 2001, 583; 2005, 1979; 2007, 1829; Sauren/Mertzbach, DStR 1990, 580.
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§ 16
Rz. 17
Grund-/Vermögensteuer
3.4 Besonderheiten in den „neuen“ Bundesländern 17
Für das Gebiet der ehemaligen DDR gelten weiterhin besondere Bewertungsvorschriften, die im 3. Abschn. des 2. Teils des BewG (§§ 125–137 BewG) enthalten sind1. Im Zeitpunkt der Wiedervereinigung sah sich die Finanzverwaltung außer Stande, den dort belegenen Grundbesitz nach den Wertverhältnissen zum 1.1.1964 (s. § 1 Rz. 56 ff.) nachträglich festzustellen. Die dadurch bewirkte unterschiedliche steuerliche Behandlung des Vermögens in den beiden Teilen Deutschlands mag für eine Übergangszeit zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands gerechtfertigt gewesen sein2. Nach nun schon 25 Jahren ist aber eine bundeseinheitliche Neuregelung der Bewertung des Grundbesitzes mehr als überfällig. Daran ändert sich auch dadurch nichts, dass sich die Sonderbehandlung des Vermögens in den neuen Bundesländern nur auf die GrSt (s. §§ 125–132 BewG) und die Kürzung der Gewerbeertragsteuer (s. § 9 Nr. 1 Satz 1 GewStG, dazu § 12 Rz. 33, § 133 BewG) beschränkt.
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Land- und forstwirtschaftliches Vermögen wird abweichend von § 19 I BewG nicht mit dem Einheitswert, sondern mit einem sog. Ersatzwirtschaftswert (§ 125 BewG) bewertet3. Für das Grundvermögen sind gem. § 129 I BewG weiterhin die Einheitswerte nach den Wertverhältnissen des 1.1.1935 (!) maßgebend4. Für Nachkriegsbauten gilt die Sondervorschrift des § 130 BewG. Fortschreibungen und Nachfeststellungen (Rz. 6) sind grds. ebenfalls nach den Wertverhältnissen v. 1.1.1935 vorzunehmen (§ 132 I BewG)5. Davon nimmt § 132 II BewG allerdings Mietwohngrundstücke und Einfamilienhäuser aus, für die kein Einheitswert 1935 besteht und deren Wert nur für Grundsteuerzwecke benötigt wird. Für diese Grundstücke ist nach § 42 I GrStG eine Ersatzbemessungsgrundlage zu bilden, die sich nach der Wohn- bzw. Nutzfläche richtet6. Die dadurch innerhalb des Grundvermögens gerade auch in den neuen Bundesländern entstehenden Wertverzerrungen zwingen zur längst überfälligen Neufassung oder gar Abschaffung der GrSt (s. Rz. 38 f.).
4. Steuerbefreiungen (§§ 3–8 GrStG) 19
Befreit von der GrSt ist insb. Grundbesitz der öffentlichen Hand7, Grundbesitz, der unmittelbar für gemeinnützige oder mildtätige Zwecke genutzt wird, Grundbesitz von Kirchen, Religionsgemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind8, Dienstgrundstücke der Geistlichen und Kirchendiener der Religionsgemeinschaften9, Grundbesitz, der den Zwecken der Wissenschaft, der Erziehung, des Unterrichts oder dem Zweck eines Krankenhauses dient (s. Katalog des § 3 I 1 Nrn. 1–6 GrStG). Dies gilt nach § 3 I 3 GrStG auch, wenn der öffent1 2 3 4
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8
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Zu Zweifelsfragen s. Mannek, DStR 1995, 1411. So BVerfG StRK EStG 1990 Allg. R. 100; BFH BStBl. 1997, 527 (528); BFH/NV 2000, 685. Dazu Engel, INF 1994, 618. Trotz des lange zurückliegenden Hauptfeststellungszeitpunktes und der dadurch verursachten erheblichen Schwierigkeiten bei der Bewertung (s. etwa BFH/NV 2011, 968) hat die Rspr. hiergegen lange Zeit keine verfassungsrechtlichen Bedenken geäußert (s. etwa BFH BStBl. 2008, 12 [13] m.w.N.); s. aber nun die Vorlage durch BFH BStBl. 2014, 957, an das BVerfG. Vgl. dazu BFH/NV 2001, 150; zur Bewertung von Grundstücken s. BFH/NV 2003, 8 (10). Dazu näher Troll/Eisele11, Kommentierung zu § 42 GrStG. Zur Steuerbefreiung von öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen, insb. von Parkplätzen u. Parkhäusern s. BFH BStBl. 1989, 302; 2002, 54 (55 f.); BMF BStBl. I 2002, 152; dazu Drosdzol, KStZ 2002, 145; Hessisches FG EFG 2003, 723; von Häfen BFH BStBl. 1989, 302 (303); 1989, 740; 1994, 123 (teilweise durch BFH BStBl. 2002, 54 überholt); von Botschafts-Grundbesitz BFH BStBl. 1990, 189; über die Grundbesteuerung von Gemeindegrundstücken Kohorst, Die Besteuerung der Gemeindebetriebe, Diss. 1965, 28, 67 ff. Auf den Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts wird nur bei der jüdischen Kultusgemeinde verzichtet (§ 3 I Nr. 4 Satz 2 GrStG). Nach BFH BStBl. 2011, 48 (54 f.) soll diese Bestimmung zugunsten islamischer Glaubensgemeinschaften weder auslegungs- noch analogiefähig sein (Verfassungsbeschwerde unter 2 BvR 287/11 beim BVerfG anhängig). Eine schwerlich zu rechtfertigende Vergünstigung; zum Begriff „Dienstgrundstück“ BFH BStBl. 1987, 722; s. auch BFH BStBl. 1990, 190 u. als Reaktion auf die einengende BFH-Rspr. die erweiternde gesetzliche Neufassung (BT-Drucks. 12/4158, 46 f.).
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Grundsteuer
Rz. 22
§ 16
lichen Hand Grundbesitz durch eine Public Private Partnership überlassen wird1. § 3 GrStG enthält damit sachliche Steuerbefreiungen zu Gunsten von juristischen Personen des öffentlichen Rechts, von gemeinnützigen und mildtätigen Körperschaften und von öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaften. § 4 GrStG erweitert teilweise die Befreiungstatbestände auf andere Grundstückseigentümer2. Die Steuerbefreiung nach §§ 3; 4 GrStG tritt jedoch nur ein, wenn der Grundbesitz auch tatsächlich für den steuerbegünstigten Zweck unmittelbar benutzt wird (§ 7 Satz 1 GrStG)3. Dient nur ein räumlich abgegrenzter Teil des Grundbesitzes steuerbegünstigten Zwecken, beschränkt sich die Steuerbefreiung auch nur auf diesen Teil (§ 8 I GrStG). Lässt sich eine gemischte Nutzung nicht räumlich voneinander abgrenzen, so ist der Grundbesitz nur steuerbefreit, wenn die steuerbegünstigten Zwecke überwiegen (§ 8 II GrStG). Darüber hinaus enthalten §§ 5; 6 GrStG Einschränkungen für steuerbegünstigten Grundbesitz, der zu Wohnzwecken oder land- und forstwirtschaftlich genutzt wird4.
5. Steuersubjekt (§ 10 GrStG), Haftung Steuersubjekt (Steuerschuldner, § 6 Rz. 19) ist nach § 10 I GrStG diejenige Person, der das Steuerobjekt (Rz. 5) bei der Feststellung des Einheitswerts zugerechnet wird. Die Zurechnung richtet sich dort nach den Kriterien des wirtschaftlichen Eigentums (§ 39 AO, dazu § 5 Rz. 140 ff.). Wird das Steuerobjekt mehreren Personen zugerechnet, so sind sie Gesamtschuldner (§ 10 III GrStG, s. § 6 Rz. 58 ff.). Dabei ist es gleichgültig, ob sie Miteigentümer nach Bruchteilen sind oder ihnen das Eigentum gemeinschaftlich zur gesamten Hand (§ 39 II Nr. 2 AO, dazu § 5 Rz. 143) zusteht. Personenhandelsgesellschaften und Partnerschaften, die unter ihrem Namen (Firma) Eigentum an Grundstücken erwerben und im Grundbuch als Eigentümer der Grundstücke eingetragen werden (s. § 124 I HGB; § 7 II PartGG), sind eigenständige Grundsteuersubjekte und Steuerschuldner (BFH BStBl. 1988, 298). Ihre Gesellschafter (Partner) haften allerdings für die Grundsteuerschulden der OHG, KG oder Partnerschaft (§ 6 Rz. 66 ff.).
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Obwohl der Einheitswert für den belasteten Grund und Boden dem Erbbauverpflichteten als Eigentümer zugerechnet wird, schuldet der Erbbauberechtigte die GrSt nicht nur für das von ihm errichtete Gebäude, sondern für das gesamte Grundstück (s. § 10 II GrStG). Die vollständige Belastung des Erbbauberechtigten, der die Nutzung des Grund und Bodens dem Erbbauverpflichteten durch einen Erbbauzins vergütet, widerspricht dem Sollertragsteuergedanken5.
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Anders als im Fall des Erbbaurechts (Rz. 21) bleibt der Grundstückseigentümer auch dann Schuldner der gesamten GrSt, wenn das Grundstück mit einem Nießbrauch (§§ 1030 ff. BGB) belastet ist. Im Innenverhältnis zum Eigentümer hat der Nießbraucher die GrSt allerdings zu tragen (s. § 1047 BGB) und haftet dementsprechend gem. § 11 I 1. Alt. GrStG im Außenverhältnis persönlich für die GrSt. Ebenso haftet der mit dem Nießbraucher vergleichbare Inhaber
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1 Dazu Drosdzol, UVR 2006, 21; Eisele, Gemeindehaushalt 2007, 25. Nach BFH BStBl. 2010, 829 (831) fällt der Grundbesitz aber nicht unter die Befreiung des § 3 I 1 Nr. 1 GrStG, wenn er von der Körperschaft des öffentlichen Rechts einem privaten Verwaltungshelfer oder Beliehenen zur Durchführung von Hoheitsaufgaben (im Wege funktionaler Privatisierung) überlassen wird. 2 Zum Betrieb eines Krankenhauses nach § 4 Nr. 6 GrStG s. BFH BStBl. 1991, 535; 2003, 485; BFH/NV 2001, 351; 2002, 814. Wird ein Krankenhausgrundstück (z.B. im Wege einer Betriebsaufspaltung) an einen anderen Rechtsträger vermietet, soll die Befreiung nicht greifen (BFH/NV 2007, 1924; a.A. Hagen/Lucke, StuB 2006, 837 [839 f.]). 3 Eine unmittelbare Benutzung liegt nach § 7 Satz 2 GrStG vor, sobald der Grundbesitz für den steuerbegünstigten Zweck „hergerichtet“ ist. Dies ist er nach BFH BStBl. 1986, 191, nicht schon mit der Bauplanung, sondern erst mit Beginn der konkreten Bauarbeiten. Nach BFH BStBl. 1999, 496, sind Wohnungen auch dann nicht von der GrSt befreit, wenn sie einer gemeinnützigen Körperschaft gehören und zu gemeinnützigen (z.B. therapeutischen) Zwecken genutzt werden (s. auch FG Bremen EFG 2008, 1657). 4 Zur Wohnungsnutzung s. BFH BStBl. 1994, 415; 1999, 496; BFH/NV 2001, 1449; 2006, 1707; zur land- u. forstwirtschaftlichen Nutzung s. BFH BStBl. 1997, 228; BFH/NV 2010, 466. 5 Konsequent wäre es, wie bei Gebäuden auf fremden Grund u. Boden (dazu Troll/Eisele11, § 10 GrStG Rz. 4) die GrSt für den Grund u. Boden (Bodensteuer) vom Eigentümer und für das Gebäude (Gebäudesteuer) vom Erbbauberechtigten zu erheben.
Seer
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§ 16
Rz. 23
Grund-/Vermögensteuer
eines Wohnungsrechts (§ 1093 BGB) nach § 11 I 2. Alt. GrStG. Wird ein Grundstück ganz oder teilweise an eine andere Person übereignet, so haftet der Erwerber neben dem früheren Eigentümer für die auf den (ganz oder teilweisen) Steuergegenstand entfallende GrSt (s. § 11 II GrStG). Die Haftung des Erwerbers ist allerdings zeitlich eingeschränkt. Sie erstreckt sich auf die GrSt des vorangegangenen und laufenden Kalenderjahrs, in dem der Erwerb erfolgt. Dem Objektsteuercharakter entsprechend ordnet § 12 GrStG schließlich eine dingliche Haftung in der Weise an, dass die GrSt auf dem Grundbesitz als öffentliche Last (§ 54 GBO; § 10 I Nr. 3 ZVG) ruht. Die Realisierung des Haftungsanspruchs geschieht im Wege der Zwangsversteigerung (§ 77 II AO, s. § 21 Rz. 370 ff.) auf der Grundlage eines Duldungsbescheids (§ 21 Rz. 141)1. In der Insolvenz begründet § 12 GrStG einen Anspruch auf Absonderung (§ 49 InsO) aus dem Kaufpreis, wenn das Grundstück vom Insolvenzverwalter freihändig veräußert wird2.
6. Steuermessbetrag (§ 13 GrStG) 6.1 Bemessungsgrundlage 23
Die Bemessungsgrundlage bildet nach § 13 I 2 GrStG der vom Lagefinanzamt (§ 18 I Nr. 1 AO) gesondert festgestellte Einheitswert des Grundbesitzes (s. Rz. 6), auf den durch Multiplikation mit der Steuermesszahl (Rz. 24) der Hebesatz der Gemeinde (Rz. 28) angewendet wird (Einheitswert × Steuermesszahl × Hebesatz, s. Beispiel Rz. 31). Das von BVerfGE 93, 121 (136); 117, 1 (31 ff.) postulierte Gebot der realitätsgerechten Wertrelation (s. Rz. 4; § 15 Rz. 5, 58) gilt nicht nur für die Vermögen-, Erbschaft- und Schenkungsteuer, sondern bezogen auf den Grundbesitz auch für die GrSt. Die auf die Wertverhältnisse des 1.1.1964 bzw. 1.1.1935 abstellenden Einheitswerte erfüllen die die Besteuerungsgleichheit gewährleistende Messfunktion leider nicht mehr. Vielmehr kommt es sowohl zwischen als auch innerhalb der unterschiedlichen Grundstücksarten (§ 75 I BewG, Rz. 11 f.) zu gleichheitswidrigen Wertverzerrungen. Eine von den Finanzministerien eingesetzte interadministrative Arbeitsgruppe gelangte bereits 1992 zu dem Ergebnis, dass gegenüber der geltenden Einheitsbewertung des Grundvermögens 288 (!) Zuschlagsfaktoren berücksichtigt werden müssten, um erkennbare Wertbrüche zu bereinigen3. Die Gründe für Wertverzerrungen sind mannigfaltig4. Es können an dieser Stelle nur einige aufgezählt werden: Das Sachwertverfahren führt gegenüber dem Ertragswertverfahren tendenziell zu höheren Werten (Rz. 16). Beide Verfahren negieren altersbedingte Wertunterschiede. Aufgrund der Anknüpfung an den 1.1.1964 gelten alle danach (innerhalb eines Zeitraums von mittlerweile mehr als 50 Jahren) hergestellten Bauten als „neu“5! Dies führt zu dem grotesken Ergebnis, dass etwa ein 1964 errichtetes, seitdem nur noch notdürftig renoviertes Haus mit demselben Vervielfältiger (und derselben auf den 1.1.1964 bezogenen Jahresrohmiete) angesetzt wird wie ein im Jahre 2015 auf dem modernsten Stand der Technik errichteter Neubau. Die für Altbauten in ganz unterschiedlichem Maße aufgewandten, wertbeeinflussenden Erhaltungsaufwendungen und nachträglichen Herstellungskosten werden durch die Wertfortschreibung des § 22 I Nr. 1 BewG zudem nur eher zufällig erfasst. Aufgrund der langen Zeitspanne seit dem letzten Hauptfeststellungszeitpunkt werden neuere Bauarten, -weisen, -konstruktionen von einem Sachwertverfahren, das an Gebäudenormalherstellungskosten des Jahres 1958 (!) anknüpft, nicht berücksichtigt. Heute maßgebliche wertbildende Faktoren wie Energieeffizienz, das Vorhandensein von Solaranlagen, Wärmepumpen, Lärmschutz, luxuriöse Badund Kücheneinrichtungen, elektronische Steuerung der Haustechnik, Anschluss an Hoch1 BVerwG BStBl. 1987, 475: Der Erlass des Duldungsbescheids setzt voraus, dass die GrSt festgesetzt, fällig und vollstreckbar ist. 2 LG Erfurt KKZ 2009, 17 (18); Krumm, Steuervollzug und formelle Insolvenz, Diss., 2009, 49; s. ferner zur GrSt in der Insolvenz App, KKZ 2009, 25. 3 Vgl. Wolf, DStR 1993, 541 (546); s. auch die instruktiven Bsp. v. Kühnold/Stöckel, NWB Fach 11, 767 (2007), 772 ff. 4 S. i.E. die Aufzählung durch BFH BStBl. 2014, 957 (963 ff.). 5 Für die Vervielfältiger des Ertragswertverfahrens sind sogar alle nach dem 20.6.1948 errichteten Nachkriegsbauten „neu“! Vgl. i.E. Hofmann, DStJG 12 (1989), 145 (151 f.).
878
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Seer
Grundsteuer
Rz. 25
§ 16
geschwindigkeitsdatennetze, etc., waren vor 50 Jahren überwiegend noch gar nicht bekannt. Die tiefgreifenden Veränderungen des Wohnungsmarkts in den Ballungszentren und deren Ausdehnung auf vormals ländliche Umgebungen können durch einen Rekurs auf Wertverhältnisse des Jahres 1964 ebenfalls in keiner gleichheitskonformen Wertrelation abgebildet werden. Noch chaotischer erweist sich die Grundstücksbewertung in den mittel- und ostdeutschen („neuen“) Bundesländern. Hier konkurrieren Grundstücke, deren Einheitswerte nach den Wertverhältnissen am 1.1.1935 festgestellt worden sind, mit Grundstücken, für die nach § 42 I GrStG eine ganz anders geartete Ersatzbemessungsgrundlage gilt (Rz. 18). Die Bemessungsgrundlage der GrSt befindet sich mithin derzeit in einem verfassungswidrigen, weil gleichheitswidrigen Zustand1. Eine Reform der GrSt ist daher überfällig (zu Vorschlägen s. Rz. 38 f.).
6.2 Steuermesszahl Die Lagefinanzämter (§§ 22 I; 18 I Nr. 1 AO) haben nach § 13 I 1 GrStG i.V.m. § 184 I 1 AO einen Grundsteuermessbetrag festzusetzen. Dieser ist durch Anwendung eines Tausendsatzes (Steuermesszahl) auf den Einheitswert zu ermitteln, der nach dem Bewertungsgesetz im Veranlagungszeitpunkt (Rz. 6) für das Steuerobjekt maßgebend ist (§ 13 I 2 GrStG).
24
Die auf die Einheitswerte per 1.1.1964 anzuwendenden Steuermesszahlen betragen (§§ 14; 15 GrStG): für für für a) b) für für
Betriebe der Land- und Forstwirtschaft bebaute Grundstücke allgemein Einfamilienhäuser (i.S.v. § 75 V BewG) für die ersten 38 346,89 Euro des Einheitswerts für den Rest des Einheitswerts Zweifamilienhäuser (i.S.v. § 75 VI BewG) unbebaute Grundstücke
6,0 v.T. 3,5 v.T. 2,6 v.T.2 3,5 v.T. 3,1 v.T. 3,5 v.T.
Die uneingeschränkte Besteuerung von Ein- und Zweifamilienhäusern widerspricht BVerfGE 93, 121 (140 f.), wonach das persönliche und familiäre Gebrauchsvermögen nach Art. 14 I; 6 I GG von einer Sollertragsteuer abzuschirmen ist (s. § 3 Rz. 192). Dagegen wendet die Rechtsprechung dessen Real- und Objektsteuercharakter und das Äquivalenzprinzip ein, wonach ohne Rücksicht auf die persönlichen Verhältnisse und die individuelle wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Stpfl. zu besteuern sei3. Das Äquivalenzprinzip taugt zur Rechtfertigung der GrSt aber nicht (s. Rz. 3). Es leuchtet nicht ein, warum für die allgemeine VSt ein persönliches/familiäres Gebrauchsvermögen steuerfrei zu stellen ist, für die GrSt in ihrer Konzeption als SonderVSt hingegen nicht4. In der Konsequenz des BVerfGE 93, 121 (140 f.) ist auch das selbstgenutzte Wohneigentum mit dem Wert eines durchschnittlichen Einfamilienhauses freizustellen. Berücksichtigt man die weitgehende Überwälzung der GrSt auf die Mieter von Wohnungen (Rz. 2), so ist nicht zu rechtfertigen, warum der Wohnungseigentümer von einer Belastung mit GrSt verschont werden soll, der Wohnungsmieter dagegen nicht. Wer das Gebot der Steuerfreiheit des Wohn-Existenzminimums ernst nimmt, muss deshalb das Wohnen insgesamt von der GrSt befreien (Rz. 3). Der vom BVerfG aus Art. 1; 2 I; 6 I; 14 I GG entfaltete Gedanke existenzsichernder und freiheitsschonender Besteuerung bringt damit die GrSt insgesamt ins Wanken (zu den Reformüberlegungen s. Rz. 38 f.).
1 Eindeutig und überzeugend der Vorlagebeschluss des BFH BStBl. 2014, 957 (961 ff.); zuvor bereits angedeutet in BFH BStBl. 2010, 897 (900 f.); 2011, 48 (49 f.). 2 Für Eigentumswohnungen gilt die allgemeine Steuermesszahl von 3,5 v.T. Die Besserstellung der Einfamilienhäuser rechtfertigen BFH BStBl. 1983, 338; BFH/NV 2011, 1726, mit einem für Einfamilienhäuser höheren Vervielfältiger i.S.d. § 80 I BewG i.V.m. Anl. 7. 3 BFH BStBl. 2006, 767 (769); BVerfG NJW 2009, 1868 (1869) – Kammerbeschluss. 4 S. bereits Tipke, MDR 1995, 1177 (1178); Tipke, StRO II2, 962 f.; ebenso Balke, ZSteu 2005, 322; Lichtenberg, DStZ 2006, 36 (38). Deshalb hält P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 2 Rz. 35, die GrSt auch für nicht rechtfertigungsfähig.
Seer
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25
§ 16
Rz. 26
Grund-/Vermögensteuer
26
Die Festsetzung des Grundsteuermessbetrags korrespondiert mit der Feststellung der Einheitswerte. Erfolgt durch Einheitswertbescheid eine Wert-, Art- oder Zurechnungsfortschreibung (Rz. 6), so hat das Lagefinanzamt zugleich auch eine Neuveranlagung (= Neufestsetzung des Steuermessbetrags) auf den Fortschreibungszeitpunkt (= Neuveranlagungszeitpunkt) vorzunehmen (s. § 17 GrStG). Entsteht eine wirtschaftliche Einheit neu (Fall der Nachfeststellung, s. Rz. 6), so hat es den Steuermessbetrag auf den Nachfeststellungszeitpunkt (= Nachveranlagungszeitpunkt) nachträglich festzusetzen (Nachveranlagung, s. § 18 GrStG)1. Den Grundsteuermessbescheid gibt das Lagefinanzamt sowohl dem Adressaten (= Steuerschuldner, Rz. 20) als auch der hebesatzberechtigten Gemeinde (s. § 184 III AO) bekannt.
27
Erstreckt sich das Steuerobjekt über mehrere Gemeinden, so hat das Lagefinanzamt den Steuermessbetrag durch Zerlegungsbescheid (§ 188 AO, s. § 21 Rz. 131) zu zerlegen und den beteiligten Gemeinden zuzuteilen (§§ 22–24 GrStG, zum Zerlegungs- und Zuteilungsverfahren s. §§ 185–190 AO).
7. Hebesatzrecht der Gemeinden 28
Nach Art. 106 VI 2 GG ist den Gemeinden das Recht einzuräumen, die Hebesätze der GrSt im Rahmen der Gesetze festzusetzen (so geschehen durch § 25 GrStG)2. Die Gemeinden bestimmen die Hebesätze (jährlich oder mehrjährlich) durch Satzung (§ 5 Rz. 20). Die Hebesätze für land- und forstwirtschaftliche Betriebe (§ 2 Nr. 1 GrStG, sog. GrSt A) sind meist niedriger als die für andere Grundstücke (§ 2 Nr. 2 GrStG, sog. GrSt B)3. Durch Anwendung des Hebesatzes auf den vom Lagefinanzamt festgesetzten Steuermessbetrag (Rz. 24) setzt die Gemeinde die GrSt fest (§ 27 I 1 GrStG).
29
Bei der Festsetzung der Hebesätze haben die Gemeinden das von BVerfGE 93, 121 (137 ff.) entfaltete Prinzip eigentumsschonender Besteuerung zu beachten. Danach muss auch die GrSt als Sollertragsteuer den Vermögensstamm schonen. Darüber hinaus sind die Hebesätze so auszurichten, dass dem Eigentümer nach der Gesamtbelastung des Sollertrages, d.h. in der Zusammenschau mit Einkommen- und Körperschaftsteuer, typischerweise ein privater Ertragsnutzen verbleibt (§ 3 Rz. 100, 192). Dies entspricht aber nicht der Hebesatzpolitik, bei der den Kommunen ein weiter (kommunalpolitischer) Gestaltungsspielraum zukommen soll4. In atypischen Einzelfällen kommt ein Erlass wegen sachlicher Unbilligkeit in Betracht (Rz. 35 ff.).
8. Periodizität, Besteuerungsverfahren 30
Die GrSt ist eine periodische Steuer; sie wird nach den Verhältnissen zu Beginn des Kalenderjahres (Veranlagungszeitpunkt, §§ 16–18 GrStG) durch die Gemeinde festgesetzt (§ 9 I GrStG, Stichtagsprinzip). Die Steuer entsteht bereits mit dem Beginn des Kalenderjahres, für das sie festzusetzen ist (§ 9 II GrStG, dazu § 6 Rz. 11) und wird grds. jährlich erhoben (§ 27 I GrStG). Sie wird in vierteljährlichen Raten fällig (s. § 28 GrStG). Steht der Grundsteuerbescheid für das laufende Kalenderjahr noch aus, hat der Steuerschuldner auf der Basis der zuletzt festgesetzten Jahressteuer Vorauszahlungen zu leisten (§ 29 GrStG). 1 Aufgrund der unbefristeten Aussetzung der Hauptfeststellung (Rz. 6) ist der Fall der sog. Hauptveranlagung (§ 16 GrStG) derzeit nicht praktisch. 2 Zu den rechtlichen und tatsächlichen Grenzen der kommunalen Hebesätze s. Freisburger, KStZ 2000, 41. 3 Im Jahr 2013 lag der durchschnittliche Hebesatz für die GrSt A bei 296 % u. für die GrSt B bei 498 %, in Städten mit mehr als 50 000 Einwohnern sogar bei 542 %, s. Andreae, Grundsteuer und Gewerbesteuer: Update 2013, IFSt-Schrift Nr. 493, 2013, 37 u. 48; die Spanne der Hebesätze für die GrSt B liegt allerdings zwischen 0 % und 900 %, s. Heine, KStZ 2013, 141 (142). 4 OVG Münster ZKF 2013, 287; Hess. VGH KStZ 2014, 199; Rust, ZKF 2014, 6. FG Berlin-Brandenburg EFG 2011, 1277; ZKF 2011, 239 hat etwa einen Hebesatz von 810 % für die GrSt B ohne weiteres gebilligt. Diese restriktive Rspr. kann sich auf den u.E. wenig überzeugenden Kammerbeschluss des BVerfG NJW 2009, 1868, stützen; dagegen für die Anwendung des sog. Halbteilungsgrundsatzes Seer, FR 1999, 1280 (1288); Seer, DStJG 23 (2000), 87 (112); a.A. Wernsmann, NJW 2006, 1169 (1174).
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Seer
Grundsteuer
Rz. 33
Das grundsteuerrechtliche Besteuerungsverfahren ist dreistufig aufgebaut (zu gestuften Verfahren s. § 21 Rz. 83 ff., 150 ff.):
§ 16 31
Beispiel: A hat im Jahr 1994 auf einem neu parzellierten Grundstück ein Wohnhaus errichtet. Zum 1.1.1995 hat das Lagefinanzamt im Einheitswertbescheid einen Einheitswert von 50 000 Euro für die Grundstücksart „Einfamilienhaus“ festgestellt und dem A zugerechnet (Nachfeststellung, § 23 BewG). Gleichzeitig hat das Lagefinanzamt zum 1.1.1995 einen Grundsteuermessbescheid (Nachveranlagung, § 18 I GrStG) über einen Steuermessbetrag i.H.v. 140,48 Euro (38 346,89 Euro × 2,6 v.T. + 11 653,11 × 3,5 v.T., s. § 15 II GrStG) erlassen. In den Grundsteuerbescheiden 2013–2015 setzt die Gemeinde gegen A jeweils eine jährliche GrSt i.H.v. 140,48 Euro × 540 % Hebesatz lt. Satzung = 758,59 Euro fest.
Einheitswertbescheid und Grundsteuermessbescheid sind dingliche Verwaltungsakte und wirken auch gegenüber einem späteren Rechtsnachfolger (§§ 182 II; 184 I 4; 353 AO). Als Grundlagenbescheide besitzen sie eine präjudizielle Wirkung hinsichtlich ihres jeweiligen Regelungsgehalts (§ 21 Rz. 83 ff.)1, wobei der Grundsteuermessbescheid sich in der Doppelrolle sowohl eines Grundlagen- als auch eines Folgebescheides befindet (§ 21 Rz. 88). Aufgrund dieser präjudiziellen Wirkung kann der Stpfl. nicht erst den Grundsteuermess- oder gar erst den Grundsteuerbescheid anfechten, um die Verfassungswidrigkeit der Einheitsbewertung zu rügen. Es verbleibt ihm vielmehr nur ein Antrag auf eine fehlerbeseitigenden Wertfortschreibung nach § 22 III BewG (s. Rz. 6).
32
9. Besondere Billigkeitsmaßnahmen (§§ 32–34 GrStG) Der Charakter der GrSt als Sollertragsteuer wird besonders deutlich in den besonderen Erlassvorschriften der §§ 32; 33 GrStG. Abweichend von §§ 163; 227 AO (dazu § 21 Rz. 329 ff.) gibt § 32 GrStG einen Rechtsanspruch auf den Erlass der GrSt bei bestimmten Kulturgütern sowie öffentlichen Grünanlagen, Spiel- und Sportplätzen, wenn die jährlichen Kosten den Rohertrag des Grundbesitzes übersteigen2. § 33 I GrStG sieht einen teilweisen Erlass der GrSt vor, wenn bei bebauten Grundstücken und Betrieben der Land- und Forstwirtschaft der normale Roh1 Nach §§ 351 II AO; 42 FGO kann der Stpfl. etwa nicht erst gegen den Grundsteuerbescheid einwenden, dass die Bewertung des Grundvermögens gegen Art. 3 I GG verstößt. Dazu hätte er bereits den Einheitswertbescheid anfechten müssen, s. BVerfG NJW 2009, 1868. 2 Zum Rohertrag u. den zu berücksichtigenden Kosten s. BVerwG BStBl. 1992, 577; Stahlschmidt, KStZ 2000, 146; davon abgrenzend für die Vermögensteuer BFH BStBl. 1996, 118; zum Grundsteuererlass für denkmalgeschützte Häuser: BayVGH v. 3.7.2002 - 4 ZB 02.648, DStRE 2004, 148; Hundt/Nenstiel, ZKF 1994, 26; Kleeberg/Eberl, Kulturgüter in Privatbesitz2, 2001.
Seer
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33
§ 16
Rz. 34
Grund-/Vermögensteuer
ertrag (dazu § 33 I 3 GrStG) um mehr als 50 % gemindert ist, ohne dass dies der Steuerschuldner zu vertreten hat1. In diesem Fall ist die GrSt um 25 % erlassen. Entspricht die Minderung vollständig dem normalen Rohertrag, beläuft sich der Erlass auf 50 % Dem Zweck der Vorschrift entsprechend kommt nach gewandelter Rspr. ein Erlass nun zutr. Weise auch bei strukturell bedingten Ertragsminderungen in Betracht. Aufgrund der Vorlage des BFH BStBl. 2006, 921 (923 f.); 2007, 469, an den Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmS-OGB) hat das BVerwG seine bisher entgegengesetzte Rspr. aufgegeben2. Der Gesetzgeber des JStG 2009 hat dies wegen der befürchteten Grundsteuerausfälle zum Anlass genommen, durch eine Änderung des § 33 GrStG sowohl das erforderliche Ausmaß der Ertragsminderung deutlich anzuheben (von 20 % auf 50 %) als auch den Erlassumfang (statt 80 % nur noch 25 % bzw. 50 %) spürbar einzuschränken3. 34
Nicht unter die Regelung des § 33 GrStG fallen unbebaute Grundstücke ungeachtet dessen, dass sie keinen Ertrag bringen. Hintergrund des Ausschlusses ist die bodenpolitische Überlegung, der Hortung von Bauland entgegenzuwirken4.
35
Der Erlass wird nach § 34 II GrStG nur auf Antrag, der bis zum 31.3. des auf den Erlasszeitraum folgenden Jahres zu stellen ist (s. BFH/NV 1996, 358), gewährt. Da der Erlass der GrSt eine Maßnahme des Erhebungsverfahrens ist, entscheidet über den Erlass i.d.R. die Gemeinde (Rechtsweg gegen die Ablehnung: grds. Verwaltungsrechtsweg, s. § 22 Rz. 94).
36
Die Spezialvorschriften schließen die Anwendung der allgemeinen Billigkeitsregeln (§§ 163; 227 AO, dazu § 21 Rz. 294, 329 ff.) nicht aus5. Ein sachlicher Billigkeitsgrund kann etwa in der für einen atypischen Einzelfall eintretenden Eigentumsverletzung (Eingriff in den Vermögensbestand, s. Rz. 4) liegen (vgl. auch § 21 Rz. 336).
10. Sondervorschriften für die „neuen“ Bundesländer 37
In dem Gebiet der fünf Länder der einstigen DDR gelten Sondervorschriften, die als Abschnitt VI dem Grundsteuergesetz angefügt sind (Einigungsvertrag v. 31.8.1990, BStBl. I 1990, 656 [683]). Zu beachten sind Sondervorschriften zum land- und forstwirtschaftlichen Vermögen (§ 40 GrStG), zur Bemessung der GrSt für Grundstücke nach dem Einheitswert 1935 (§ 41 GrStG), zur Bemessung der GrSt für Mietwohngrundstücke und Einfamilienhäuser nach einer Ersatzbemessungsgrundlage (§ 42 GrStG), zur Steuerfreiheit für neu geschaffene Wohnungen (§ 43 GrStG), zur Steueranmeldung (§ 44 GrStG), zur Fälligkeit von Kleinbeträgen (§ 45 GrStG) sowie zur Zuständigkeit der Gemeinden (§ 46 GrStG). Vgl. auch zu Bewertungs-Besonderheiten im Beitrittsgebiet Rz. 17 f.
1 Zum weiteren Erfordernis der Unbilligkeit (§ 33 I 2 GrStG) bei land- und forstwirtschaftlichen Betrieben und eigengewerblich genutzten Grundstücken s. BFH BStBl. 1989, 13, der den Begriff der Unbilligkeit – anders als in §§ 163; 227 AO – nicht als Ausdruck einer einheitlichen Ermessensvorschrift (§ 21 Rz. 331), sondern als gerichtlich voll überprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriff interpretiert. 2 BVerwG HFR 2007, 705; DVBl. 2008, 1313 (1314); BFH BStBl. 2008, 384 (385); dem folgen nun auch die OVG: OVG Sachsen ZKF 2010, 190; VGH München KStZ 2011, 93; VGH Mannheim ZKF 2011, 191; OVG Münster KStZ 2011, 358; s. auch Englert/Alex, DStR 2007, 95; Balzerkiewicz/Voigt, DStZ 2007, 286 (auch DStZ 2004, 830); Barbier/Arbert, BB 2007, 1421. Der mit Umbau- und Sanierungsarbeiten zwangsläufig verbundene Leerstand fällt jedoch zumindest dann in den Risikobereich des Stpfl. als Eigentümer, wenn ihm diese Schwierigkeiten bereits bei Erwerb des Grundstücks bewusst sein mussten, s. OVG Magdeburg NVwZ-RR 2013, 204 f. 3 BFH BStBl. 2012, 867 (869); OVG Magdeburg NVwZ-RR 2013, 202 (204) halten die Neuregelung für verfassungsgemäß; zum neuen Recht s. außerdem Huschke/Hanisch/Wilms, DStR 2009, 2513; Puhl, KStZ 2010, 67 (Teil I) u. 88 (Teil II). 4 Insoweit erhält die GrSt den Charakter einer Baulandsteuer, dazu Drosdzol, DStZ 1994, 205. 5 BFH BStBl. 1989, 13; Peters, KStZ 1994, 45.
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Seer
Grundsteuer
Rz. 39
§ 16
11. Reform der Grundsteuer Das dringende Bedürfnis nach einer Reform der GrSt ist weitgehend erkannt (s. Literaturübersicht vor Rz. 1). Nach den „Appellentscheidungen“ des BFH BStBl. 2010, 897; 2011, 48, hat die Finanzminister-Konferenz (FMK) drei unterschiedliche Modelle verproben lassen1. Das von den Ländern Berlin, Bremen, Niedersachsen, Sachsen und Schleswig-Holstein vorgelegte sog. Nord-Modell hält an der traditionellen Konzeption der GrSt als Sollertragsteuer fest2. Bei unbebauten Grundstücken soll der Wert durch Multiplikation der Grundstücksfläche mit den sog. Bodenrichtwerten (s. § 15 Rz. 60) ermittelt werden. Bei bebauten Grundstücken sollen – soweit möglich – Daten aus dem Immobilienmarkt genutzt werden, um realitätsnah einen Vergleichswert als Verkehrswert zu gewinnen. Dazu müssen die Kaufpreissammlungen unter Berücksichtigung der Faktoren wie Baujahr, Wohnfläche, Grundstücksgröße und Bodenrichtwert aufbereitet und in eine Datenbank eingespeist werden. Das Nord-Modell typisiert die bebauten Grundstücke in drei Gruppen (Grundstücke des individuellen Wohnungsbaus, Standardgrundstücke mit Renditeorientierung und sonstige Grundstücke mit gewerblicher Nutzung). Für die ersten beiden Gruppen von Grundstücken lassen sich aus regionalen, hilfsweise auch überregionalen Kaufpreissammlungen Vergleichsfaktoren ermitteln. Für die dritte Gruppe von Spezialobjekten versagt allerdings der Einsatz von Datenbanken, so dass nur eine individuelle Bewertung verbleibt. Den Gegenentwurf liefert das sog. Süd-Modell der Länder Bayern, Baden-Württemberg und Hessen. Es löst sich vollständig von der Konzeption einer Sollertragsteuer und folgt dem Äquivalenzprinzip3. Die Bemessungsgrundlage soll sich nach dem Süd-Modell ausschließlich nach physikalischen Flächenmerkmalen der Grundstücke und aufstehenden Gebäuden richten. Als Flächenbezugsgrößen dienen die Grundstücksgröße und die Nutzfläche der Gebäude. Beide Größen werden mit einer unterschiedlichen Äquivalenzzahl multipliziert, die bei den Gebäuden zwischen Wohnzwecken und anderen Nutzungsarten differenziert. Eine Mittelposition nimmt schließlich das sog. Kombinationsmodell ein, welches das Land Thüringen vorgeschlagen hat4. Es folgt nur für den Grund und Boden unter Ansatz der Bodenrichtwerte einer wertbezogenen Betrachtungsweise, für die Gebäude dagegen orientiert es sich – vergleichbar mit dem Süd-Modell – an deren Nutzfläche. Mit dieser Ausgestaltung ähnelt es einem bereits früher von den Ländern Bayern und Rheinland-Pfalz vorgeschlagenen Modell5.
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Die Reformdiskussion ist unter den Bundesländern noch nicht völlig abgeschlossen. Im März 2014 haben sich die Finanzminister/-senatoren der Länder immerhin auf Eckpunkte für eine Reform geeinigt. Favorisiert wird nun ein Modell, das aus einer Bodenwert- und einer Gebäudewertkomponente bestehen soll6. Um den Gebäudewert zu bestimmen, sollen – soweit möglich – elektronisch verfügbare Daten genutzt und die Gebäude nach Typen klassifiziert werden (s. sog. Nord-Modell, Rz. 38). Daneben soll den Ländern die Möglichkeit gegeben werden, im Rahmen eines Messzahlkorridors landesspezifische Messzahlen bei den Boden- und Gebäudewerten einzuführen. Offen ist vor allem noch der Grad der Typisierung, für die zwei Varianten entwickelt werden sollen. Es ist damit politisch klar und angesichts der Finanznot der Kommunen auch nicht verwunderlich, dass die GrSt auf absehbare Zeit nicht abgeschafft wird7. Zudem verzichtet – bis auf Malta und Slowenien – kein EU-Staat auf eine (kommunale)
39
1 Analyse der Reformmodelle bei Cremers, Grundsteuermodelle und Verfassung, 2012, 55 ff. 2 Bericht der „Nord-Länder“: „Grundsteuer auf der Basis von Verkehrswerten – Machbarkeitsstudie“, 2010, abrufbar auf der Homepage der FinSen. Bremen. 3 Bericht der „Süd-Länder“: „Eckpunkte für eine vereinfachte Grundsteuer nach dem Äquivalenzprinzip“, 2010, abrufbar auf der Homepage des Landes Hessen. 4 FinMin. Thüringen, Reform der Grundsteuer – Gebäudewertunabhängiges Kombinationsmodell, 2011, abrufbar auf der Homepage des FinMin. Thüringen. 5 BayStMFin./FinMin. Rheinland-Pfalz (Literatur vor Rz. 1) haben für den Gebäudeanteil ohne Alterswertabschläge pauschale Festwerte vorgeschlagen, die lediglich nach Gebäudearten differieren; s. auch Eisele, DStZ 2003, 834. 6 S. den Bericht des Bayrischen Gemeindetages v. 16.9.2014, abrufbar unter dessen Homepage. 7 Gleichwohl gefordert von P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 2 Rz. 34 ff.
Seer
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883
§ 16
Rz. 39
Grund-/Vermögensteuer
Besteuerung des Grundbesitzes1. Da Art. 106 VI GG die Möglichkeit einer (verfassungskonformen) GrSt unterstellt, kann das BVerfG keine unüberwindlichen Hürden für eine Grundsteuerreform aufstellen. Bestärkt durch Aussagen des BVerfG zum Objektsteuercharakter der GrSt (s. Rz. 1) ignoriert das Nord-Modell das Problem der Verletzung des Familienexistenzminimums bei einer generell verkehrswertorientierten Besteuerung der Wohnimmobilien (s. Rz. 3). Gleichzeitig erfordert es einen hohen Verwaltungsaufwand. Gerade die permanente Bewertung von Gebäuden hat sich in der Vergangenheit als Quelle der Ungleichheit erwiesen. Es ist daher sehr skeptisch zu beurteilen, ob es der Finanzverwaltung gelingen kann, durch den verstärkten EDV-Einsatz und die größere Verfügbarkeit von Kaufpreissammlungen eine Besteuerung nach einer realitätsgerechten Wertrelation der Grundstücke zu realisieren2. Das Süd-Modell besitzt demgegenüber den Charme der Vereinfachung und Transparenz. Im Anschluss an die zur Gewerbesteuer getroffene Entscheidung des BVerfGE 120, 1 (dazu § 12 Rz. 2) bemüht das SüdModell zur Rechtfertigung der GrSt das Äquivalenzprinzip. Trotz dieser höchstrichterlichen Stütze überzeugt dieses Prinzip auch zur Rechtfertigung einer kommunalen Steuer nicht (s. Rz. 3). Tatsächlich besteht allenfalls ein sehr loser Zusammenhang zwischen nicht durch Gebühren und Beiträgen abgegoltenen kommunalen Leistungen und der Grundstücks- bzw. Gebäudenutzfläche3. Das Thüringer Kombinationsmodell sieht sich ebenfalls auf der Grundlage des Äquivalenzprinzips, meint aber, dass sich die kommunalen Leistungen auch in einem höheren Grundstückswert niederschlagen, und knüpft daher für den Wert des Grund und Bodens an die Bodenrichtwerte an. Diese Lösung ist aber weniger durch das Äquivalenzprinzip, sondern mehr durch die Praktikabilität motiviert. Die GrSt setzt sich in diesem Modell letztlich aus einer dem Sollertragsgedanken entsprechenden Bodenwertsteuer4 und einer dem Äquivalenzprinzip folgenden Gebäudesteuer zusammen. Diese Hybrid-Lösung mag steuersystematisch inkonsequent erscheinen, vermeidet aber einerseits das Gebäudebewertungsproblem und andererseits die verteilungspolitisch fragwürdige schlichte Gleichstellung von Nutzflächen unabhängig von ihrer jeweiligen Lage im Gemeindegebiet. Es werden derzeit noch etliche weitere Reformvorschläge diskutiert. Neben einer reinen Bodenwertsteuer, einer kombinierten Bodenwert- und Bodenflächensteuer, einer Miet(wert-)steuer5, einer Kombination von Bodenrichtwert, Grundstücksfläche und Nutzungsfaktor wird eine ökologisch gestaffelte Flächennutzungssteuer6 angeboten7. Wenn man weiterhin an einer GrSt festhalten will8, machen eine Bodenwertsteuer oder eine ökologisch ausgerichtete Flächennutzungssteuer noch am ehesten Sinn. Bleibt gewährleistet, dass die Steuer aus dem Ertrag des Grundstücks geleistet werden kann (Rz. 1, 35 f.), kann eine derartig konzipierte GrSt der gesteigerten Verantwortung des Grundeigentümers (Art. 14 II GG i.V.m. Art. 20 I; 20a GG) Rechnung tragen9. I.Ü. erscheint eine Steuer, die an die von den kommunalen Gutachterausschüssen für Erbschaftsteuerzwecke 1 S. Spengel/Heckemeyer/Zinn, DB 2011, 10 (12 f.), wonach Deutschland hinsichtlich seiner Grundsteuerbelastung einen Platz im Mittelfeld des europäischen Vergleichs einnimmt; s. auch Schmehl, DStJG 35 (2012), 249, mit Rechtsvergleichen. 2 Skeptisch Schulemann, Reform der Grundsteuer, 23 ff.; Bartsch, KStZ 2011, 205 (207 f.); J. Lang, DStJG 35 (2012), 307. 3 Äquivalenztheoretisch konsequent ist vielmehr eine Einwohnersteuer als Kopfsteuer, s. Hey, FS J. Lang, 2010, 133 (155); zur Kritik an einer Abkoppelung von jeglicher Wertermittlung („gut für Villen, schlecht für Wohnblocks“) Schmehl, DStJG 35 (2012), 249. 4 Zu reinen Bodenwertsteuern s. Expertenkommission Wohnungspolitik, BT-Drucks. 13/159, 406 ff.; ausf. Josten, Die Bodenwertsteuer, 2000, 129 ff., 167 ff., mit Modellrechnungen. 5 S. Wiss. Beirat, Stellungnahme 12/2010, einerseits, u. Richter/Heckmann, StuW 2011, 331, andererseits. 6 Bizer/Lang, Ansätze für ökologische Anreize, 2000; befürwortet zuletzt noch einmal durch J. Lang, DStJG 35 (2012), 307; in Erwägung genommen auch v. P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 2 Rz. 37. 7 Einen instruktiven Überblick der Reformvorschläge mit einer kurzen Bewertung gibt Bartsch, KStZ 2011, 164 (Teil I) u. 205 (Teil II); zum Ganzen s. auch Fromme u. Thöne in Lange, Loccumer Protokolle 59/05, 163 ff., 181 ff. 8 Zur Alternative einer kommunalen Zuschlagsteuer auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer s. DWS-Schriftenreihe Nr. 4 (Gemeindefinanzreform durch kommunale Zuschlagsteuer-Symposium), 2003. 9 Ebenso Jachmann, StuW 2001, 379 (383 f.), für die Flächennutzungssteuer.
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Vermögensteuer
Rz. 62
§ 16
sowieso flächendeckend festzustellenden Bodenrichtwerte (§ 15 Rz. 60) anknüpft, noch am ehesten praktikabel zu sein. Sie hätte auch den Vorteil, dass sie vollständig von den Gemeinden verwaltet werden könnte. 40–60
Einstweilen frei.
B. Vermögensteuer Literatur: Enneccerus, Vermögensteuer, fundierte Einkommensteuer oder Erbschaftsteuer?, 1893; Tipke, Über Vermögensteuer-Ungerechtigkeit, in FS Ritter, 1997, 587; Birk, Rechtfertigung der Besteuerung des Vermögens aus verfassungsrechtlicher Sicht, in DStJG 22 (1999), 7; Arndt, Rechtfertigung der Besteuerung des Vermögens aus steuersystematischer Sicht, in DStJG 22 (1999), 25; KarlBräuer-Institut, Sonderinformation 42: Vermögensteuer kein Grund zur Wiedereinführung, 2003; Tipke, StRO II2, 2003, § 14; Vees, Vermögensteuer in Frankreich, Diss., 2004 (besprochen von Oechsle, StuW 2004, 381); Vieten, Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Wiedereinführung der Vermögensteuer, Diss., 2005; Maiterth/Sureth, Wiedereinführung der Vermögensteuer als Mindeststeuer in Deutschland, StuB 2005, 70; Spengel/Zinn, Vermögensabgaben aus ökonomischer Sicht, StuW 2011, 173; G. Kirchhof, Vermögensabgaben aus verfassungsrechtlicher Sicht, StuW 2011, 189; Hey/ Maiterth/Houben, Zukunft der Vermögensbesteuerung, IFSt-Schrift Nr. 483 (2012); Kube, Verfassungsrechtlicher Rahmen von Vermögensteuer und Vermögensabgabe, DStR-Beihefter zu Heft 26/2013, 37; Scheffler, Vermögensteuer und Vermögensabgabe: Schwierigkeiten der Einordnung in das Steuersystem, ebenda, 51.
1. Derzeitiger Rechtszustand: Existenz eines außer Kraft getretenen Vermögensteuergesetzes Aufgrund des Vermögensteuerbeschlusses (BVerfGE 93, 121, dazu § 3 Rz. 60 ff.) ist das VStG v. 17.4.1974, BGBl. I, 949 (i.d.F. der Bekanntmachung v. 14.11.1990, BGBl. I, 2467) heute nicht mehr in Kraft (zum Inhalt des VStG s. 15. Aufl., § 12 Rz. 74–95). Angesichts des nicht zu überwindenden Widerstandes der damaligen Opposition und Bundesratsmehrheit sah der Deutsche Bundestag von einem ausdrücklichen Verzicht auf die VSt ab1. Da die Alternativvorschläge der Opposition2 umgekehrt ebenfalls keine Mehrheit fanden, ist das als verfassungswidrig erkannte VStG formalrechtlich weiter bestehen geblieben. Da das BVerfG seine Entscheidung als Unvereinbarkeitserklärung mit befristeter Pro-Futuro-Reformpflicht (dazu § 22 Rz. 287) gefasst hatte, ist es nach Verstreichen der gesetzten Reformfrist (31.12.1996) durch den Richterspruch außer Kraft getreten.
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Das BVerfG hat die Verfassungswidrigkeit der VSt vor allem aufgrund der Bewertungsungleichheit zwischen den Vermögensarten bejaht (Verstoß gegen Art. 3 I GG). Bestimmt der Gesetzgeber für das gesamte steuerpflichtige Vermögen einen einheitlichen Steuersatz, so kann eine gleichmäßige Besteuerung nur in den Bemessungsgrundlagen der je für sich zu bewertenden wirtschaftlichen Einheiten gesichert werden. Die Bemessungsgrundlage der VSt muss deshalb die wirtschaftlichen Einheiten in ihrer Wertrelation zueinander realitätsgerecht abbilden (BVerfGE 93, 121 [136]: Gebot realitätsgerechter Wertrelation, s. auch zur ErbSt unter § 15 Rz. 5, 58). Wird das Geld- und Wertpapiervermögen mit den bekannten Marktwerten (z.B. Nennwert, Kurswert, Rücknahmepreis) bewertet, dann erfordert eine realitätsgerechte Wertrelation, dass das übrige ruhende Vermögen wenigstens annähernd ebenfalls zum Marktwertniveau bewertet wird3. Dass das ruhende Vermögen für eine periodisch veranlagte VSt aber nicht permanent (zu Verkehrswerten) bewertet werden kann, haben die Erfahrungen mit der
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1 Die damalige Bundesregierung wollte das VStG zunächst ersatzlos aufheben (Art. 5 des Entwurfs eines JStG 1997 der Fraktionen CDU/CSU u. FDP, BT-Drucks. 13/4839, 23 u. 72 f.); zur Kontroverse s. 2. Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucks. 13/5952, 23 ff. 2 Alternativkonzepte zur Neuregelung der VSt finden sich in BT-Drucks. 13/4838, 22 ff. (Fraktion Bündnis 90/Die Grünen) u. BT-Drucks. 13/5504, 21 ff. (Fraktion der SPD). 3 Zum Erfordernis eines sog. Annäherungswerts bei der VSt s. BVerfGE 93, 121 (143).
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§ 16
Rz. 63
Grund-/Vermögensteuer
Einheitsbewertung des Grund- und Betriebsvermögens nachdrücklich gelehrt (s. Rz. 6, § 1 Rz. 57). Eine laufende Besteuerung, die nicht erst an die Realisation des Wertes am Markt, sondern bereits an den ruhenden Vermögensbestand anknüpft, ist zwangsläufig (a priori) auf Ungleichheit, ungleiche Bemessung steuerlicher Leistungsfähigkeit angelegt (§ 3 Rz. 64).
2. Reformüberlegungen 63
In Zeiten chronischer Finanznöte der öffentlichen Haushalte und zunehmender Vermögensakkumulationen wird allerdings das Begehren lauter, die VSt zumindest als sog. „Millionärssteuer“ (Steuer auf Privatvermögen > 1 Million Euro) wieder einzuführen. Währende DIE LINKE eine periodische VSt i.S.d. Art. 106 II Nr. 1 GG (zur Gesetzgebungskompetenz s. § 2 Rz. 42) fordert1, befürworten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine einmalige Vermögensabgabe i.S.d. Art. 106 I Nr. 5 GG zum Zweck der Ablösung der durch die Finanzkrise eingegangenen Staatsschulden2. Gegen die Wiedereinführung einer periodischen VSt spricht bereits die damit unweigerlich verbundene Bewertungsungleichheit (s. Rz. 62), die auch alternative Vermögensteuerentwürfe nicht vermeiden können3. Darüber hinaus setzt BVerfGE 93, 121 (137 ff.) dem vermögensteuerlichen Zugriff durch Entfaltung des Prinzips eigentumsschonender Besteuerung sowohl nach oben (durch Vermögensbestandsschutz und dem Übermaßverbot, Art. 14 I, II GG, dazu § 3 Rz. 180 ff.) als auch nach unten hin (für sog. existenzsicherndes Gebrauchsvermögen, Art. 14 I; 6 I GG, dazu § 3 Rz. 192) Grenzen. Danach bleibt für eine VSt neben der Einkommensteuer nur noch ein schmaler Anwendungsbereich zwischen Stpfl. mit kleinem Vermögen und vermögenden Stpfl. mit hohem Einkommen (sog. „Sandwich-Steuer“). Diesen Bereich verengt noch weiter, wer das Betriebsvermögen zugunsten einer auf das Privatvermögen beschränkten VSt („private VSt“) ausklammern will. Die dann eintretende, einseitige Erosion der Bemessungsgrundlage würde das Gleichheitsdefizit noch erhöhen und trüge nur zur weiteren Chaotisierung des Steuerrechts bei; eine gleichheitsrechtlich zulässige Steuer wäre damit nicht herzustellen4. Wie Tipke eingehend begründet hat, gibt es für die VSt vielmehr keinen überzeugenden Rechtfertigungsgrund5. Zudem wäre der fiskalische Steuerertrag einer „privaten VSt“ wegen ihrer äußerst schmalen Besteuerungsbasis gering und die durch die permanente Bewertung des ruhenden Vermögens verursachten Verwaltungskosten hoch. Es entspricht daher nicht nur der Steuergerechtigkeit, sondern auch der ökonomischen Vernunft, die VSt nicht zu reaktivieren6. Als Zeichen ökonomischer und rechtsstaatlicher Rationalität (zu den Steuermaximen s. § 7 Rz. 2 ff.) sollte sie daher nun auch formalrechtlich aufgehoben werden. Bei der von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geforderten Einführung einer einmaligen Vermögensabgabe stellt sich aufgrund ihrer Einmaligkeit das Bewertungsproblem weniger stark und ist auf einer Stufe mit dem bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer zu stellen (zur sog. Bedarfsbewertung s. § 15 Rz. 50 ff.). Allerdings ist eine zusätzliche Besteuerung des Ver1 Anträge von DIE LINKE v. 19.1.2010, BT-Drucks. 17/453; v. 29.2.2012, BT-Drucks. 17/8792 sowie im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2013, beschlossen auf dem Bundestagswahlparteitag in Dresden, 24 f.: mit einem Steuersatz von jährlich 5 % auf das Vermögen! 2 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Fraktionsbeschluss v. 17.1.2012, Die Grüne Vermögensabgabe; erneut gefordert im Bundestagswahlprogramm 2013, beschlossen auf der Bundesdelegiertenkonferenz, Berlin, 83, dazu die Vorarbeiten von Bach/Beznoska/Steiner (DIW), Politikberatung Kompakt, Bd. 59, 2010; krit. hierzu Hey in Hey/Maiterth/Houben, Zukunft der Vermögensbesteuerung, IFSt-Schrift Nr. 483, 2012, 66 ff. 3 Dies sieht offenbar auch Birk, DStJG 22 (1999), 7 (17 ff.) so; überzeugend auch Maiterth/Sureth, StuB 2005, 70 (75 ff.); Maiterth/Houben in Hey/Maiterth/Houben, Zukunft der Vermögensbesteuerung, IFSt-Schrift Nr. 483, 2012, 110 ff., die die Vermögensbewertung als „Achillesferse einer jeglichen Vermögensbesteuerung“ (133) bezeichnen, dort zu den Schwächen von typisierten Bewertungen insb. 117 ff.; s. auch Kube, DStR-Beihefter 26/2013, 37 (45 ff.). 4 Siemers/Birnbaum, ZEV 2013, 8 (12). 5 Tipke, StRO II2, 768 ff.; Arndt, DStJG 22 (1999), 25 (30 ff.); Kube, DStR-Beihefter 26/2013, 37 (43 ff.); a.A. Birk, DStJG 22 (1999), 7 (12 ff.). 6 S. auch die instruktiven Analysen von Spengel/Zinn, StuW 2011, 173 ff.; Maiterth/Houben in Hey/ Maiterth/Houben, Zukunft der Vermögensbesteuerung, IFSt-Schrift Nr. 483, 2012, 87 ff.; Scheffler, DStR-Beihefter 26/2013, 51.
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Vermögensteuer
Rz. 63
mögens neben der Einkommensteuer nur in einer historischen Ausnahmesituation zu rechtfertigen (z.B. Lastenausgleich nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches oder der Wiedervereinigung). Der bloße Mehrbedarf des Bundes im Zuge der Finanzen- und Bankenkrise vermag den von Art. 106 I Nr. 5 GG gedachten besonderen Ausnahmefall nicht zu begründen1. Vielmehr erweckt die mit einer zehnjährigen Ratenzahlung verbundene Ausgestaltung der „einmaligen“ Vermögensabgabe den Eindruck, dass die Protagonisten nur eine bewertungstechnisch leichter beherrschbare „VSt in neuem Gewande“2 einführen möchten.
1 Mit Recht abl. G. Kirchhof, StuW 2011, 189 (201 f.); Kube, DStR-Beihefter 26/2013, 37 (47 ff.). 2 Scheffler, DStR-Beihefter 26/2013, 51 (52), bezeichnet die vorgeschlagene Vermögensabgabe zutreffend als eine „zeitlich befristete Vermögensteuer“.
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§ 16
§ 17 Umsatzsteuer Rechtsgrundlagen: Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) v. 28.11.2006, ABl. L 347 v. 11.12.2006, 1; DurchführungsVO 2011/282/EU zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112/EG v. 15.3.2011, ABl. L 77/1 v. 23.3. 2011, 1; Umsatzsteuergesetz v. 21.2.2005 (Bekanntmachung der Neufassung BGBl. I 2005, 386), zuletzt geändert durch Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften v. 22.12.2014, BGBl. I 2014, 2417; UStDV v. 21.2.2005 (Bekanntmachung der Neufassung BGBl. I 2006, 434), zuletzt geändert durch Gesetz zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften v. 25.7.2014, BGBl. I 2014, 1266. Verwaltungsvorschriften: Umsatzsteuer-Anwendungserlass (UStAE) v. 1.10.2010, BStBl. I 2010, 846; s. auch die norminterpretierenden Leitlinien des EU-Mehrwertsteuerausschusses zu den MwStVorschriften der EU (einsehbar unter http://ec.europa.eu/taxation_customs/resources/documents/ taxation/vat/key_documents/vat_committee/guidelines-vat-committee-meetings_de.pdf). Kommentare: Birkenfeld/Wäger, Das große Umsatzsteuer-Hdb.; Bunjes, UStG13, 2014; Hartmann/ Metzenmacher (zit.: H/M), UStG; Huschens/Vellen, Umsatzsteuer, 2008; Küffner/Stöcker/Zugmaier, Umsatzsteuer-Kommentar; Offerhaus/Söhn/Lange, Umsatzsteuer; Plückebaum/Malitzky/Widmann, UStG-MwStG; Rau/Dürrwächter (zit.: R/D), UStG; Sölch/Ringleb, UStG; Stadie, UStG2, 2012; Reiß/ Kraeusel/Langer (zit.: R/K/L), UStG; Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG; Weymüller, BeckOK UStG3, 2014; zum österr. UStG Ruppe/Achatz, Umsatzsteuergesetz-Komm.4, Wien 2011; zum schweiz. MwStG Behnisch/Keller/Veja, Die Eidgenössische Mehrwertsteuer; Camenzind/Honauer/ Vallender/Jung/Probst, Hdb. zum (neuen) Mehrwertsteuergesetz3, Bern 2012. Lehrbücher: Stadie, Umsatzsteuerrecht, 2005; Jakob, Umsatzsteuer4, 2009; Walkenhorst, Umsatzsteuer2, 2010; Lippross, Umsatzsteuer23, 2012; Reiß, Umsatzsteuerrecht12, 2014; Rose/Watrin, Umsatzsteuer mit Grunderwerbsteuer und kleineren Verkehrsteuern18, 2013; für Österreich Ehrke-Rabel in Doralt/Ruppe (Hrsg.), Steuerrecht II7, Wien 2014, 139 ff.; für die Schweiz Camenzind u.a., Hdb. zum Mehrwertsteuergesetz3, Bern 2012; zur MwStSystRL Terra/Kajus, A Guide to the European VAT Directives, Bd. 1, Amsterdam 2014; rechtsvergleichend van Brederode, Systems of General Sales Taxation, Alphen aan den Rijn 2009; Schenk/Thuronyi/Cui, Value Added Tax – A Comparative Approach, Cambridge 2015. Grundlagenwerke und -aufsätze (Auswahl): Tipke, Die Umsatzsteuer im Steuersystem, UR 1972, 2; Söhn, Die Umsatzsteuer als Verkehrsteuer und/oder Verbrauchsteuer, StuW 1975, 1; Söhn, Die Umsatzsteuer als indirekte, allgemeine Verbrauchsteuer, StuW 1996, 165; Reiß, Der Belastungsgrund der Umsatzsteuer und seine Bedeutung für die Auslegung des Umsatzsteuergesetzes, DStJG 13 (1990), 3; Tipke, Über Umsatzsteuer-Gerechtigkeit, StuW 1992, 103; Reiß, Der Verbraucher als Steuerträger der Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt, in FS Klaus Tipke, 1995, 433; Birk, Die Umsatzsteuer aus juristischer Sicht, in Kirchhof/Neumann (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Effizienz, 2001, 61; Schön, Umsatzsteuer zwischen Binnenmarkt und Steuerstaat, in Nieskens (Hrsg.), Umsatzsteuer-Kongress-Bericht 2001/2002, 17; P. Kirchhof, Entwicklungsmöglichkeiten der Umsatzsteuer im Rahmen von Verfassungs- und Europarecht, UR 2002, 541; Löhr, Das umsatzsteuerrechtliche Optionsrecht für Vermietungsumsätze, 2003; Fischer, Die Rechtfertigung einer Umsatzbesteuerung und ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten, 2007; Tipke, Das Folgerichtigkeitsgebot im Verbrauch- und Verkehrsteuerrecht, in FS Reiß, 2008, 9; Schaumburg, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Verkehr- und Verbrauchsteuerrecht, in FS Reiß, 2008, 25; DStJG 32 (2009): Beiträge von Reiß, 9, Tumpel, 52, Widmann, 103; Englisch, VAT/GST and Direct Taxes: Different Purposes, in Lang u.a. (Hrsg.), VAT and Direct Taxation, 2009, 1; Cuadros, Die deutsche Umsatzsteuer und das Leistungsfähigkeitsprinzip, 2010; Reiß, Steuergerechtigkeit und Umsatzbesteuerung im Europäischen Binnenmarkt, in FS J. 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§ 17
Rz. 1
Umsatzsteuer
tive Routes to European Tax Integration, Amsterdam 2010, 231; Imstepf, Der Einfluss des EU-Rechts auf das schweizerische Mehrwertsteuerrecht, Bern 2011; van Arendonk/van der Paart (Hrsg.), VAT in an EU and International Perspective, Amsterdam 2011; Lamensch, European Value Added Tax in the Digital Era, Diss. Brüssel 2014; Lang u.a. (Hrsg.), ECJ – Recent Developments in Value Added Tax, Wien 2014. Analyse von MwSt-Systemen weltweit: Ecker/Lang/Lejeune (Hrsg.), The Future of Indirect Taxation, 2012; Lang/Lejeune (Hrsg.), Improving VAT/GST: Designing a Simple and FraudProof Tax System, Amsterdam 2014. Finanzwissenschaftliche Literatur: Sullivan, The Tax on Value Added, New York 1965; Atkinson/Stiglitz, The Design of Tax Structure: Direct versus Indirect Taxation, Journal of Public Economics 1976, 55; R. Musgrave/P. Musgrave, Public Finance in Theory and Practice5, New York u.a., 1989, 399; Tait, VAT, International Practice and Problems, Washington D. C. 1988; Gillis/Shoup/Sicat (Hrsg.), Value Added Taxation in Developing Countries, Washington D.C. 1990; Ebrill/Keen/Bodin/Summers, The Modern VAT, Washington D. C. 2001; Bird/Gendron, The VAT in Developing and Transitional Countries, Cambridge 2007; Crawford/Keen/Smith, VAT and excises, in IFS (Hrsg.), Mirrlees Review – Dimensions of Tax Design, 2010, 275; ferner div. Beiträge zum Symposium on Designing a Federal VAT, Tax Law Review 2010, Issues 2 und 3. Praxiswerke zur Mehrwertsteuer in der EU: de la Feria, A Handbook of EU VAT Legislation, Alphen aan den Rijn; Annacondia/van der Corput (Hrsg.), EU VAT Compass 2014/2015, Amsterdam 2014 (EuGH-Rspr.-Sammlung und Überblick über nationale Besonderheiten in den EU-Mitgliedstaaten). Zur Geschichte: Popitz, UStG-Komm.2, 1921; Franke, Die Geschichte der Reichs-Umsatzsteuer, Diss. rer. pol., 1941; Grabower/Herting/Schwarz, Die Umsatzsteuer – Ihre Geschichte und gegenwärtige Gestaltung im In- und Ausland2, 1962; Zerres, Die Entwicklung der Mehrwertsteuer, 1980; Birkenfeld, Umsatzsteuer in der Zeit, UR 1993, 321; T. Jacobs, Am Anfang war der Warenumsatzstempel, DStZ 2006, 654. USt-Reform: Widmann, Die Mainzer Vorschläge zur Umsatzsteuer, in Nieskens (Hrsg.), Umsatzsteuer-Kongress-Bericht 2001/2002, 63; Beiser, Pro futuro: „Eine neue Umsatzsteuer“, in FS Pircher, 2007, 237; Haffner, Endphasensteuer versus Allphasensteuer. Eine systematische Analyse der Reformvorschläge zur deutschen Umsatzsteuer, 2008; P. Kirchhof, Umsatzsteuergesetzbuch, Reformvorschlag, 2008; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, Buch 4: Umsatzsteuer, 2011; Bergmann, Problemlösung Umsatzsteuerbetrug, 2008; Rahn, Dezentrale Umsatzbesteuerung und Europäischer Binnenmarkt, 2009; Widmann, Mehrwertsteuer geht auch anders!, UR 2009, 9; s. ferner Keen/Smith, International Tax and Public Finance 1999, 741; Bird/Gendron, International Tax and Public Finance 2000, 753; van Doesum/van Norden, BTR 2011, 253; EU-Kommission, Grünbuch über die Zukunft der Mehrwertsteuer, v. 1.12.2010, KOM(2010) 695; Mitteilung der Kommission zur Zukunft der Mehrwertsteuer, v. 6.12.2011, KOM(2011) 851; Engels, Chancen zur Sicherung des Umsatzsteueraufkommens, UR 2013, 188; Ismer/Pull/Endres, Reform des Mehrwertsteuersystems, MwStR 2013, 260.
A. Entwicklung und System der Umsatzsteuer 1. Geschichtlicher Überblick 1
Im Mittelalter1 mussten auf regional unterschiedliche Genuss- und Lebensmittel sog. „Akzisen“ (Verbrauchsabgaben) entrichtet werden2. Nach dem 30jährigen Krieg bestand darin die Haupteinnahmequelle von Städten und Adel, die sie meist in Form eines Binnenzolls erhoben. Noch heute werden daher im englischsprachigen Raum die speziellen Verbrauchsteuern als „excise taxes“ bezeichnet. Ab dem 18. Jhdt. gingen die deutschen Territorien und Städte dann zunehmend dazu über, sog. „Generalkonsumakzisen“ auf alle Arten von gehandelten Waren einzuführen. Die Entwicklung gipfelte 1916 in der Einführung eines sog. „Warenumsatzstempels“ durch das Deutsche Reich, der neben den Verbrauchsteuern der Länder zur Bestreitung der Kriegslasten erhoben wurde3. 1 Zur Entwicklung in der Antike s. Grabower, Die USt – Ihre Geschichte und gegenwärtige Gestaltung im In- und Ausland2, 1962, 7. 2 S. Häuser, Hdb. der Finanzwissenschaften I3, 1977, 3 (37); Klenk, 50 Jahre Steuerreformen in Deutschland, 2003, 123 (134). 3 S. T. Jacobs, DStZ 2006, 654 (656 ff.).
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Englisch
Entwicklung und System der Umsatzsteuer
Rz. 4
Nach dem verlorenen Krieg wurde 1918 vom Reich eine USt i.H.v. zunächst 0,5 % auf sämtliche Waren und Dienstleistungen eingeführt, um den Finanzbedarf für Wiederaufbau und Reparationszahlungen decken zu können. Sie war als (kumulative) Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer bis zum 31.12.1967 in Kraft, wobei die Steuerbelastung stetig anstieg. Diese Variante einer USt wirkte wie folgt:
§ 17 2
a) Die Umsätze eines Unternehmers im Inland wurden auf jeder Produktions- oder Handelsphase, d.h. im Warenhandel von der Herstellung bis zum Einzelhandel, der USt unterworfen; b) Bemessungsgrundlage für die Steuer war das jeweils vereinnahmte Entgelt ohne Berücksichtigung der Vorbelastung der ihrerseits schon besteuerten Leistungsbezüge des Unternehmers, daher Brutto-Umsatzsteuer. Die Anzahl der von einer Ware auf ihrem Produktions- und Verteilungsweg zu durchlaufenden Phasen war also ausschlaggebend für die Höhe der Gesamtbelastung der Ware (Kumulationswirkung). Die sog. Kumulationswirkung der Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer verletzte die Wettbewerbsneutralität und setzte einen Anreiz, die Zahl der Phasen zu reduzieren. Dies führte zu Bestrebungen, den Groß- und Einzelhandel auszuschalten, oder dazu, mehrere Phasen in demselben Unternehmen zu vereinigen (sog. „vertikale Integration“). Abgemildert wurden diese nachteiligen Auswirkungen (nur) für Konzerne durch die Einführung der sog. Organschaft, die es ermöglichte rechtlich selbständige Konzerngesellschaften umsatzsteuerlich als ein einziges Unternehmen zu behandeln (s. auch Rz. 61 ff.). Wegen der durch die Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer ausgelösten Wettbewerbsverzerrungen kam es zu Verfassungsbeschwerden, die vom BVerfG als nur noch übergangsweise hinzunehmende verfassungswidrige Verletzungen des Gleichheitsgrundsatzes angesehen wurden1.
Zur Herstellung der Wettbewerbsneutralität2, allerdings zugleich auch zum Zwecke der Harmonisierung der USt innerhalb der EU und zur Ermöglichung eines exakten Grenzausgleichs (s. Rz. 18, 404 ff.), ist am 1.1.1968 eine Allphasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug eingeführt worden3. Belastet werden sollte auf jeder Produktions- oder Handelsstufe grds. nur noch der vom jeweiligen Unternehmer geschaffene Mehrwert. Dieses System ist trotz einiger Modifikationen im Kern noch heute gültig (s. dazu eingehend Rz. 15 ff.).
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2. Rechtsgrundlagen im nationalen und im Unionsrecht Literatur: Klezath, Die Entwicklung der Umsatzsteuer bei der Verwirklichung des einheitlichen Binnenmarktes, in DStJG 13 (1990), 67; Probst, Übereinstimmung zwischen Umsatzsteuergesetz und 6. EG-Richtlinie sowie richtlinienkonforme Auslegung des Umsatzsteuergesetzes, in DStJG 13 (1990), 137; Menner, Die Umsatzsteuerharmonisierung in der EG, 1992; R/D/Stadie, Einf. Rz. 550 ff. und Teil E; Widmann, Die Entwicklung der Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt – Fehlentwicklungen und Perspektiven, in DStJG 19 (1996), 219; Birkenfeld, Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die Rechtsverwirklichung im Steuerrecht, StuW 1998, 55; Dobratz, Leistung und Entgelt im Europäischen Umsatzsteuerrecht, 2005; Reiß, Zukunft der Umsatzsteuer in Europa, UStKongrBericht 2007, 14; Tehler, Gestaltungsmöglichkeiten des Steuerpflichtigen aufgrund fehlender oder unzulänglicher Umsetzung der MwStSystRL in nationales Recht, UVR 2009, 378. S. ferner § 4 Rz. 66.
a) Rechtsgrundlage für das deutsche Umsatzsteuerrecht sind das Umsatzsteuergesetz (UStG) und die auf Grund gesetzlicher Ermächtigung erlassene Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung (UStDV). Die Gesetzgebungskompetenz für das Umsatzsteuerrecht liegt beim Bund (Art. 105 II GG). Da das Aufkommen Bund und Ländern gemeinsam zusteht (Art. 106 III GG), bedürfen Änderungen des UStG und der UStDV gem. Art. 105 III; 80 II GG der Zustimmung des BR. Die Verwaltung der USt erfolgt – mit Ausnahme der EUSt – durch die Länder (Art. 108 I, II GG). Der Erlass allgemeiner Verwaltungsvorschriften i.S.d. Art. 108 VII GG durch die Bundesregierung bedarf daher ebenfalls der Zustimmung des Bundesrats. Um flexibler auf neue Entwicklungen vor allem in der Rspr. reagieren zu können, sind die bislang auf dieser Rechtsgrundlage ergangenen Umsatzsteuerrichtlinien (UStR) zum 1.11.2010 durch einen 1 S. BVerfGE 18, 1; 21, 12. 2 Dazu BT-Drucks. 4/1590, 25. 3 Dazu Bericht zu BT-Drucks. 5/1581.
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§ 17
Rz. 5
Umsatzsteuer
Umsatzsteuer-Anwendungserlass (UStAE; BStBl. I 2010, 846) abgelöst worden1. Diese Praxis hat sich als zielführend erwiesen; sie basiert auf der grundgesetzlich nicht vorgesehenen BundLänder-Vereinbarung zur Steuerung des einheitlichen Steuervollzugs im Wege konsensualen Zusammenwirkens der obersten Finanzbehörden von Bund und Ländern (s. § 21 Rz. 36). Für Bürger und Gerichte entfaltet der UStAE grds. keine Bindungswirkung (s. § 5 Rz. 33). 5
b) Das nationale Umsatzsteuerrecht wird in besonderem Maße durch das Unionsrecht geprägt. Nach Art. 113 AEUV (ex-Art. 93 EGV) sind die Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern innerhalb der EU zu harmonisieren, soweit dies für das Funktionieren des Binnenmarktes und die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen notwendig ist. Dies soll u.a. dann anzunehmen sein, wenn anderenfalls eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten des Art. 26 AEUV durch eine Benachteiligung oder Erschwerung des grenzüberschreitenden Handels droht2. Eine Harmonisierungs- und Regelungsbefugnis besteht dann nicht nur hinsichtlich des materiellen Steuerrechts, sondern auch hinsichtlich des Steuerverfahrens und insb. auf dem Gebiet der internationalen Amtshilfe. Die Harmonisierung erfolgt stets durch einstimmig zu erlassende Gesetzgebungsakte (Art. 288 II-IV AEUV) des Rates auf Vorschlag der Kommission. Anders als bei der Harmonisierung des Rechts der direkten Steuern besteht dabei keine Begrenzung auf eine Rechtsangleichung durch erst noch durch nationale Gesetze umzusetzendes Richtlinienrecht; faktisch dominiert dieses aber bislang den Harmonisierungsprozess3. Bei nunmehr 28 Mitgliedstaaten erschwert das Einstimmigkeitserfordernis eine Entscheidungsfindung und speziell größere Reformvorhaben ganz erheblich. I.Ü. stellt Art. 5 EUV allgemeingültige Grenzen der Harmonisierung auf. Danach dürfen Unionsrechtsakte auf dem Gebiet des Umsatzsteuerrechts nicht weiter als erforderlich in die Steuersouveränität der Mitgliedstaaten eingreifen und müssen das Subsidiaritätsprinzip wahren4. Außerdem hat der Unionsgesetzgeber gem. Art. 4 II EUV die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu respektieren; dazu dürfte auch die grundlegende Entscheidung zählen, ob staatliche Leistungen eher durch die Besteuerung des Einkommens (stärker umverteilend) oder durch die Besteuerung des Konsums finanziert werden sollen. So ist etwa eine Vereinheitlichung von Umsatzsteuer-Sätzen in der EU nicht nur politisch nahezu chancenlos, sondern wohl auch rechtlich unzulässig.
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In Ausfüllung des Art. 113 AEUV sind seit 1967 mehrere Richtlinien zum Umsatzsteuerrecht in den Mitgliedstaaten ergangen. I.Erg. sind heute der größte Teil des materiellen Umsatzsteuerrechts wie auch bestimmte Aspekte des Umsatzsteuerverfahrens unionsrechtlich determiniert. Von grundl. Bedeutung waren die 1. und 2. Richtlinie5, die die Mitgliedstaaten zur Schaffung eines gemeinsamen Mehrwertsteuersystems verpflichteten mit der ausdrücklichen Zielrichtung der Gewährleistung der Wettbewerbsneutralität sowohl im grenzüberschreitenden Handel im EU-Binnenmarkt als auch auf rein nationaler Ebene6. Die vielfach geänderte 6. Richtlinie zum gemeinsamen Mehrwertsteuersystem7 enthielt detaillierte Angaben zum Gegenstand der Steuer (Steuerbarkeit), zu den Befreiungen, zur Bemessungsgrundlage und zum Vorsteuerabzug. Die Notwendigkeit der Harmonisierung auch hinsichtlich der Bemessungsgrundlage wurde insb. auch deshalb gesehen, weil die Gemeinschaft die Finanzierungsbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel ersetzte (Art. 311 AEUV [ex-Art 269 EGV])8. Maßstab für die von den Mitgliedstaaten aufzubringenden Mehrwertsteuer-Eigenmittel sind die steuerbaren Umsätze im jeweiligen Mitgliedstaat. Die Zielsetzung der Eigenmittelerhebung dürfte indes eine weitreichende Vereinheitlichung der 1 S. dazu Kraeusel/Szabó/Tausch, UVR 2010, 361. 2 Schwarze/Stumpf2, Art. 93 EGV Rz. 13; Stumpf, EuZW 1990, 540 (544); s. ferner Rahn, Dezentrale Umsatzbesteuerung und Europäischer Binnenmarkt, 2009, 35 ff. Vgl. auch EuGH C-376/98, Deutschland/Parlament und Rat, Rz. 84 ff. und 96 ff. 3 Krit. Filtzinger, FS Kirchhof, 2013, § 186 Rz. 15 ff. 4 S. dazu allg. EuGH C-176/09, Luxemburg/Parlament und Rat, Rz. 76 ff. m.w.N.; hierzu auch Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit v. 13.12. 2007, ABl. C 306 v. 17.12.2007, 150. 5 V. 11.4.1967, ABl. P 71 v. 14.4.1967, 1301, 1303. 6 Vgl. dazu auch Dobratz, Leistung und Entgelt im Europäischen Umsatzsteuerrecht, 2005, 110 f. 7 V. 17.5.1977, 77/388 EWG, ABl. L 145 v. 13.6.1977, 1. 8 S. dazu EuGH C-539/09, Kommission/Deutschland, Rz. 64 ff.
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Entwicklung und System der Umsatzsteuer
Rz. 7
§ 17
Bemessungsgrundlage und die Festsetzung von Mindeststeuersätzen nicht rechtfertigen, da ihr der nach Art. 113 AEUV erforderliche Binnenmarktbezug fehlt1. Stattdessen ist für die Beurteilung der Frage, inwieweit die Harmonisierung der Mehrwertsteuer durch Art. 113 AEUV gedeckt ist, maßgeblich auf die Ziele steuerlicher Wettbewerbsneutralität im Binnenmarkt und des Abbaus steuerlicher Handelshemmnisse abzustellen. Dabei ist zu beachten, dass auch die Konfrontation grenzüberschreitend tätiger Unternehmen mit je nach Mitgliedstaat unterschiedlichen Besteuerungssystemen und den damit verbundenen Befolgungskosten schon für sich genommen den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr im Binnenmarkt beeinträchtigen kann. Das heißt freilich auch, dass die Vorgaben des harmonisierten Mehrwertsteuerrechts diese Ziele nicht konterkarieren und insb. den Unternehmen keine unverhältnismäßigen Mitwirkungspflichten auferlegen dürfen (s. dazu etwa Rz. 414 zu §§ 17a ff. UStDV). Die Binnenmarktrichtlinie v. 16.12.19912 beseitigte innerhalb der Gemeinschaft bei Fortbestehen nationaler Umsatzsteuerhoheit die Grenzabfertigung für die Einfuhr und Ausfuhr zwischen EU-Staaten. Stattdessen wurden die Kontrollen in die Unternehmen hinein verlagert. Damit wurde der Grundstein für den internationalen Umsatzsteuer-Karussellbetrug (s. Rz. 464) gelegt, dessen die Mitgliedstaaten bis heute noch nicht Herr geworden sind.
Die 6. RL einschließlich ihrer Änderungen durch spätere Richtlinien und die ihr vorhergehenden Richtlinien wurden ohne wesentliche inhaltliche Änderungen durch die Mehrwertsteuersystem-Richtlinie3 (MwStSystRL) ersetzt. Seither sind nur punktuelle Reformen vorgenommen worden; u.a. erfolgten durch die RL 2008/8/EG und 2008/9/EG Änderungen der MwStSystRL betreffend den Ort der sonstigen Leistung und das Vorsteuervergütungsverfahren4. Flankierend hierzu ist zum 1.7.2011 die Neufassung der Mehrwertsteuer-Durchführungsverordnung5 (MwStDVO) in Kraft getreten, die u.a. zahlr. Konkretisierungen der Neuregelungen zum Leistungsort enthält. Regeln zum Verfahren für den Austausch von mehrwertsteuerrechtlich relevanten Informationen enthält daneben die Zusammenarbeitsverordnung (EU) 904/20106. Mit dem Grünbuch über die Zukunft der Mehrwertsteuer7 hat die Kommission erstmals seit langem wieder einen Anlauf zu einer grundl. Reform des harmonisierten Mehrwertsteuersystems unternommen, um dessen Betrugsanfälligkeit einzudämmen und seine Neutralitätseigenschaften zu erhöhen. Die politischen Aussichten einer solchen dringend notwendigen Fundamentalreform sind jedoch wg. deren fiskalischer Unwägbarkeiten vor dem Hintergrund des vorerwähnten Einstimmigkeitsprinzips eher trübe. Die Kommission plant, als Herzstück der beabsichtigten Reform (frühestens) Ende 2015 einen Richtlinienvorschlag zur Umstellung des bisherigen, betrugsanfälligen und schwer zu administrierenden Systems der Besteuerung grenzüberschreitender Lieferungen im Binnenmarkt vorzulegen. Schneller voran schreiten die Überlegungen zur Einführung verfahrenstechnischer Erleichterungen schon im Rahmen des geltenden Systems8. 1 Krit. insoweit Reiß, UStKongrBericht 2007, 14 (24). 2 RL 91/680/EWG des Rates v. 16.12.1991 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der RL 77/388/EWG im Hinblick auf die Beseitigung der Steuergrenzen, ABl. L 376 v. 31.12.1991, 1, in Deutschland durch das sog. Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetz v. 25.8.1992, BStBl. I 1992, 552, in nationales Recht umgesetzt. 3 RL 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. L 347 v. 11.12.2006, 1. Zu deren Funktion einer grds. bloßen Neufassung der bestehenden Rechtslage s. Erwägungsgrund (3) der Präambel. 4 V. 12.2.2008, ABl. L 44 v. 20.2.2008, 11 (Änderung bezüglich des Ortes) und 23 (Regelung zur Erstattung der Mehrwertsteuer an in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Stpfl.). 5 DVO (EU) Nr. 282/2011 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur RL 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. L 77 v. 23.3.2011, 1; zuletzt geändert durch VO 1042/2013 v. 7.10.2013. S. auch Lamensch, EC Tax Review 2011, 162. 6 VO (EU) Nr. 904/2010 v. 7.10.2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer, ABl. L 268 v. 12.10.2010, 1. Die VO (EU) Nr. 904/2010 hat zum 1.1.2012 die VO (EG) Nr. 1798/2003 (bis 31.12.2012 mit Ausnahme von deren 5. Kapitel) abgelöst. 7 Grünbuch v. 1.12.2010, KOM(2010) 695; s. dazu Nieskens/Slapio, UR 2011, 573; Kuttin/Melhardt, ÖStZ 2011, 184; van Doesum/van Norden, BTR 2011, 253. 8 S. insb. den Richtlinienvorschlag für eine standardisierte MwSt-Erklärung v. 23.10.2013, COM(2013) 721 final; dazu Lejeune/De Clercq/De Naeyer, IVM 2013, 338.
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Rz. 8
Umsatzsteuer
Zu zahlreichen Auslegungsfragen im Zusammenhang mit der MwStRL hat der mit Vertretern der Mitgliedstaaten und der Kommission besetzte MwSt-Ausschuss (s. Art. 398 MwStRL) Leitlinien erarbeitet, die online recherchierbar sind (s. http://ec.europa.eu/taxation_customs/resources/docu ments/taxation/vat/key_documents/vat_committee/guidelines-vat-committee-meetings_de.pdf). Die einstimmig oder mehrheitlich formulierten Leitlinien sollen hauptsächlich eine möglichst einheitliche Anwendung des Richtlinienrechts in den Mitgliedstaaten gewährleisten; die Interpretation ist dabei häufig erkennbar von fiskalischen Erwägungen geleitet. Eine Bindungswirkung gegenüber dem Bürger, nationalen Gerichten bzw. dem EuGH oder auch nur gegenüber der nationalen FinVerw entfalten diese Leitlinien nicht1. Es ist allerdings auffällig, dass der EuGH in seiner Rspr. oft zu mit den Leitlinien übereinstimmenden Ergebnissen gelangt ist.
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Art. 291 I AEUV verpflichtet den deutschen Gesetzgeber auf eine richtlinienkonforme Ausgestaltung des nationalen Umsatzsteuerrechts. Für den nationalen Rechtsanwender wird sie grds. nur über das Gebot richtlinienkonformer Auslegung von UStG und UStDV relevant. Unter bestimmten Umständen sind die RL und die in ihrem Anwendungsbereich relevanten allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts aber auch unmittelbar zugunsten der umsatzsteuerpflichtigen Unternehmer anwendbar (s. dazu i.E. § 4 Rz. 33 ff.). Ist richtlinienwidrig erhobene USt bereits auf den Leistungsempfänger überwälzt worden und kann dieser sie – etwa wg. Insolvenz seines Vertragspartners – nicht zurückerlangen, kann außerdem auch der nicht selbst steuerpflichtige Abnehmer unter Berufung auf die RL einen Erstattungsanspruch gegen die Finanzbehörden geltend machen2. Schließlich ist zu beachten, dass im Bereich zwingender Richtlinienvorgaben grds. kein Grundrechtsschutz nach den Art. 1 ff. GG mehr eingefordert werden kann; stattdessen sind die entsprechenden unionsrechtlichen Bestimmungen an den Grundrechten der EU-Grundrechtecharta zu messen (s. dazu § 4 Rz. 53).
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Anders als die MwStSystRL ist die sie konkretisierende DVO gem. Art. 288 II AEUV innerstaatlich unmittelbar anwendbar3 und ergänzt darum UStG und UStDV. Etwaige den Vorgaben der MwStDVO zuwiderlaufende Vorschriften des nationalen Umsatzsteuerrechts sind unanwendbar. Dies gilt allerdings nicht, soweit die MwStDVO die Umsetzung bestimmter Vorgaben der MwStSystRL voraussetzt und eine solche Umsetzung auch nicht ansatzweise erfolgt ist; insoweit gehen dann auch die Konkretisierungen der DVO ins Leere4.
3. Belastungsgrund und Belastungstechnik 3.1. Die Umsatzsteuer als indirekte Verbrauchsteuer Literatur: Philipowski, Umsatzsteuer: Verbrauch- oder Verkehrsteuer?, USt-Kongreß-Bericht 1985, 183; Tehler, Die Umsatzsteuer als angewandte Verkehr- und/oder Verbrauchsteuer, Diss., 1986; Walden, Die Umsatzsteuer als indirekte Verbrauchsteuer, 1988; Tipke, StRO II2, 2003, 968 ff.; P. Kirchhof, 40 Jahre Umsatzsteuergesetz – eine Steuer im Umbruch, DStR 2008, 1; R/D/Stadie, Einf. Rz. 90 ff.; sowie die vor Rz. 1 aufgeführte Grundlagenliteratur.
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Der BFH hat 1973 zum Sinn der USt noch bemerkt: „Die meisten Verkehrsteuern einschließlich der USt haben keinen tieferen Sinn als den, dem Staat Geld zu bringen“5. Dieser Fiskalzweck, den per definitionem alle Steuern haben (vgl. § 3 I AO), vermag aber die Erhebung gerade einer USt gleichheitsrechtlich nicht zu legitimieren; der staatliche Finanzbedarf ist Gegenstand, nicht Maßstab des Gebotes gleichmäßiger Lastenverteilung anhand sachgerechter Besteuerungsprinzipien6. 1 S. auch BMF v. 3.1.2014, IV D 1 – S 7072/13/10005, BStBl. I 2014, 67. 2 Vgl. EuGH C-94/10, Danfoss A/S und Sauer-Danfoss, Rz. 27 f., zur Parallelproblematik im harmonisierten Verbrauchsteuerrecht. 3 S. BFH v. 14.5.2008 – V B 227/07, BFH/NV 2008, 1371 (1372). 4 Weitergehend Lohse, DStR 2011, 1740, nach dessen Ansicht die innerstaatlichen Rechtswirkungen der MwStDVO grds. nicht über diejenigen der MwStSystRL hinausgehen können. 5 BFH BStBl. 1973, 94 (96). 6 S. dazu auch BVerfGE 122, 210 (233).
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Entwicklung und System der Umsatzsteuer
Rz. 11
§ 17
Dies war im deutschen steuerrechtswissenschaftlichen Schrifttum seit jeher anerkannt; stark umstr. war aber zunächst, an welcher materiellen Belastungskonzeption die USt ausgerichtet ist. Ursprünglich dominierte das Verständnis der USt als Steuer, die eine in Akten des Rechtsverkehrs zum Ausdruck kommende Wirtschaftskraft der am Rechtsgeschäft Beteiligten abschöpfe1. Inzwischen hat sich jedoch zu Recht die Auffassung durchgesetzt, wonach es sich bei der USt nach ihrem Belastungsgrund um eine allgemeine Verbrauchsteuer handelt2. Dies ergibt sich mit verpflichtender Wirkung für die EU-Mitgliedstaaten – und damit auch für das deutsche UStG – schon aus Art. 1 II MwStSystRL bzw. dessen Vorläuferbestimmungen. Danach beruht das gemeinsame Mehrwertsteuersystem auf dem Grundsatz, „dass auf Gegenstände und Dienstleistungen […] eine allgemeine, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist“3. Daher versteht der EuGH die USt uneingeschränkt als Verbrauchsteuer4; dem folgt inzwischen auch der BFH5. Induktiv lässt sich der Verbrauchsteuercharakter der USt außerdem dem System des Vorsteuerabzugs (s. Rz. 15 ff.), der Entnahmebesteuerung (s. Rz. 49) und der Geltung des Verbrauchsortprinzips im internationalen Umsatzsteuerrecht (s. Rz. 393 ff.) entnehmen. Steuergut der USt sind nicht der Gebrauch oder Verbrauch als solcher, sondern die vom Endverbraucher/Konsumenten getätigten geldwerten Aufwendungen für den Konsum von Gütern und Dienstleistungen6. Nur im Entgelt für die empfangenen Leistungen, nicht in deren Geoder Verbrauch manifestiert sich eine belastungswürdige steuerliche Leistungsfähigkeit. Bemessungsgrundlage der USt ist dementsprechend grds., was der Verbraucher für die Leistung aufwendet (vgl. § 10 I 2 UStG). Missverständlich ist es, von der USt als einer allgemeinen Einkommensverwendungssteuer7 zu sprechen. Das trifft auch bei typisierender Betrachtung nur zu, wenn man Einkommen in einem weiten, ökonomischen Sinne versteht und neben Erwerbsbezügen auch Transferzahlungen und sonstige Vermögensmehrungen (z.B. Erbschaften) mit einbezieht. Präziser wäre es, sie als allgemeine Vermögensverwendungssteuer zu bezeichnen. Dessen ungeachtet ist festzustellen, dass Erwerbseinkommen regelmäßig (mindestens) zweimal besteuert wird, zunächst bei seiner Entstehung durch die ESt und erneut bei seiner Verwendung durch die USt. Dadurch gleichen sich die Vor- und Nachteile der ESt und der USt z.T. aus; auch wird durch die Verteilung der Steuerbelastung auf mehrere Steuerarten der Steuerwiderstand reduziert.
1 Herting, BB 1955, 389 (393); Weiß, UR 1981, 149 (149 f.); Hübner, UR 1985, 6 (7); Widmann, DB 1985, 2073 (2074). 2 So bereits BVerfGE 7, 244 (260); verbrauchsteuerorientiert ferner Tipke, UStR 1972, 2 (3 f.); Söhn, StuW 1975, 1 (17); P. Kirchhof, HStR2, 1434; Krautwald, Ungelöste Probleme im Rahmen der Umsatzbesteuerung, Frankfurt a.M./Bern 1982, 7 ff.; Tipke, DStR 1983, 595; Ruppe/Achatz, Sachleistungen an Arbeitnehmer in umsatzsteuerlicher Sicht, Wien 1985, 69 ff.; Tehler, Die USt als angewandte Verkehr- und/oder Verbrauchsteuer, 1986; Walden, Die USt als indirekte Verbrauchsteuer, 1988; Ebke, FS Walter, 1988, 215 (224 f.); Stadie, Das Recht des Vorsteuerabzugs, 1989; Reiß, DStJG 13 (1990), 3; Crezelius, Steuerrecht II, 1991, 357 ff.; Tipke, StRO II2, 975 ff.; Jakob, Umsatzsteuer4, Rz. 11; abl. Weiß, DStJG 7 (1984), 351; Hübner, UR 1985, 6 (7); Philipowski, UStKongrBericht 1985, 183; Theile, Wettbewerbsneutralität der harmonisierten Umsatzsteuer, 1995, 85 f., 135 f.; Theile, StuW 1996, 154; Breinersdorfer, FS Kirchhof, 2013, § 184 Rz. 1. 3 Auch Art. 1 schweiz. MwStG bestimmt ausdrücklich, dass die schweiz. Mehrwertsteuer eine allgemeine, nach dem Prinzip der Allphasensteuer mit Vorsteuerabzug ausgestaltete Verbrauchsteuer ist; vgl. dazu Camenzind/Honauer/Vallender/Jung/Probst, Hdb. zum (neuen) Mehrwertsteuergesetz3, Rz. 49 f.; BGE 123 II 295 (301); BGE 124 II 193 (203); BGE 125 II 326 (333). 4 EuGH C-475/03, Banca popolare di Cremona; aus der früheren Rspr. vgl. u.a. EuGH 15/81, Schul, m. abl. Anm. Weiß, UR 1982, 246; EuGH 50/88, Kühne; C-215/94, Mohr, m. (zu Unrecht) abl. Anm. Widmann, UR 1996, 120; EuGH C-317/94, Elida Gibbs Ltd., UR 1997, 265, m. abl. Anm. Weiß. 5 S. bspw. BFH v. 22.7.2010 – V R 4/09, BStBl. 2013, 590, Rz. 39. 6 Bach, StuW 1991, 116 (128); Fischer, Die Rechtfertigung einer Umsatzbesteuerung und ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten, 2007, 87 f.; Gunacker-Slawitsch, Umsatzsteuerlicher Eigenverbrauch, Wien 2007, 29; Englisch, VAT and Direct Taxation, 2009, 1 (22); Tehler, UR 2013, 171 (173); BFH BStBl. 2006, 479 (480); a.A. Kruse, Steuerrecht I3, 51 f. 7 So Ruppe/Achatz4, Einf. Rz. 37.
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§ 17 12
Rz. 12
Umsatzsteuer
Allerdings ist die USt als eine indirekte Verbrauchsteuer konzipiert. Steuerschuldner ist grds. nicht der Endverbraucher als intendierter Steuerträger, sondern der Fiskus hält sich an die den Markt mit Leistungen versorgenden Unternehmer. Diese sind im Regelfall Steuerschuldner (vgl. § 13a I Nr. 1 UStG) und sollen nach der Vorstellung des Gesetzgebers die Steuerbelastung auf ihren jeweiligen Abnehmer über den Preis für Waren und Dienstleistungen abwälzen. Der EuGH hat denn auch zutr. festgestellt, dass die Unternehmer im Umsatzsteuersystem nur „als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates und im Interesse der Staatskasse fungieren.“1 Auch verfahrensrechtlich setzt die USt daher i.d.R. beim leistenden Unternehmer und nicht beim Endverbraucher als Leistungsempfänger an2. Dem Charakter einer auf Abwälzung angelegten Steuer entspricht es, dass bei steuerpflichtigen Lieferungen oder sonstigen Leistungen die USt in der Rechnung gesondert auszuweisen ist (§ 14 IV Nr. 8 UStG). In Ausnahmefällen wird die USt allerdings auch direkt beim Endverbraucher erhoben, namentlich bei der sog. Entnahmebesteuerung (§ 3 Ib Nr. 1, IXa UStG, s. Rz. 164 ff.) sowie bei der von Privaten erhobenen Einfuhr-USt (s. Rz. 407). Der grds. Verzicht auf eine direkte Besteuerung der Endverbraucher als Steuerdestinatäre beruht auf Praktikabilitätserwägungen3: Eine unmittelbar vom Endverbraucher geschuldete Konsumsteuer ginge mit unzumutbaren Aufzeichnungs- und Nachweispflichten einher und würde absehbar beim Bürger auch einen höheren Steuerwiderstand erzeugen als die im Preis überwälzte USt. Damit verbunden wären notwendig strukturelle Vollzugsdefizite auf Seiten der FinVerw. Doch auch eine „konsumorientierte“ Einkommensteuer mit vollständig sparbereinigter Bemessungsgrundlage (s. dazu § 3 Rz. 169) als alternative Variante einer sog. „personal expenditure tax“4 hat sich bislang nicht durchsetzen können. Insb. aus sozialstaatlichen Erwägungen heraus wird an der umverteilungsintensiveren, klassischen Einkommensteuer neben der USt festgehalten5. Hinzu kommen Umsetzungsschwierigkeiten wie etwa die Einbindung in das geltende System des internationalen Ertragsteuerrechts, das schon nach seinen Grundwertungen wie auch im Detail nicht auf eine konsumorientierte ESt hin ausgelegt ist.
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Nach zutreffender, in der deutschen Steuerrechtswissenschaft auch ganz herrschender Auffassung sind die Konsumaufwendungen – ergänzend zum Erwerbseinkommen – ein geeigneter Maßstab der steuerlichen Leistungsfähigkeit6. Das sozialstaatlich inspirierte Leistungsfähigkeitsprinzip ist demnach die übergreifende Fundamentalregel, die auch das Umsatzsteuerrecht trägt und dafür sorgt, dass es nicht zu einem aparten Teil des Steuerrechts wird. Es wird freilich im Kontext der USt durch teilweise andere Subprinzipien konkretisiert als im Bereich der ESt; so wird die ESt durch das Nettoprinzip (s. § 8 Rz. 54 ff.), die USt hingegen durch das Neutralitätsprinzip (s. Rz. 23 ff.) geprägt, um den jeweiligen Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit zutr. zu ermitteln. Auch kann die persönliche Leistungsfähigkeit i.R.d. USt als indirekter Steuer, die den Verbraucher als intendierten Steuerträger verfahrenstechnisch in der „Anonymität des Marktes“7 belässt, in weitaus geringerem Maße Berücksichtigung finden als in der ESt. Indes 1 Vgl. EuGH C-10/92, Balocchi, Rz. 25; C-271/06, Netto Supermarkt, Rz. 21. 2 Exemplarisch FG München v. 19.9.2012 – 14 K 2779/11 (keine verbindliche Auskunft im Verhältnis zum letztlich belasteten Endverbraucher); s. aber auch § 4 Rz. 43. 3 S. Klose, Die Begriffe des Unternehmers und des Stpfl. im deutschen und europäischen Umsatzsteuerrecht, S. 20; Söhn, StuW 1975, 1 (4 f.). 4 Dazu grundl. Kaldor, An Expenditure Tax, London 1956; s. auch Advisory Commission on Intergovernmental Relations, The Expenditure Tax, Washington D.C. 1974. 5 Krit. gegenüber einem Systemwechsel der Einkommensbesteuerung hin zu einer ausschließlich konsumorientierten Einkommensbesteuerung auch Reis, Konsumorientierte Unternehmensbesteuerung, 2007. S. ferner Ruppe/Achatz4, Einf. Rz. 39; Tipke, StRO II2, 982 f. zur Rechtfertigung der USt als Ergänzung neben der klassischen Besteuerung des „konsumierbaren“ (Arbeits- und Kapital-) Einkommens. 6 Reiß, DStJG 13 (1990), 3 (20); Schaumburg, FS Reiß, 2008, 25 (33); Englisch, VAT and Direct Taxation, 2009, 1 (24); Ehrke-Rabel, Steuerrecht Bd. II, 123; Breinersdorfer, FS Kirchhof, 2013, § 184 Rz. 1; auch das BVerfG sieht den „Aufwand i.S. von Konsum“ als Indikator der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit: BVerfGE 65, 325 (347). Skeptisch J. Lang, StuW 2013, 53 (58 f.). 7 S. P. Kirchhof, HStR V3, § 118 Rz. 241; ebenso BVerfG (K) v. 23.8.1999 – 1 BvR 2164/98, UR 1999, 501 (502); Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, 284.
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Rz. 15
§ 17
gilt das verfassungsrechtlich fundierte Gebot einer steuerlichen Verschonung existenziellen Bedarfs1 prinzipiell auch im Umsatzsteuerrecht, das nicht etwa von den Bindungen an die Grundrechte des GG bzw. der EU-GrR-Charta (s. § 4 Rz. 55) suspendiert ist. Dies erfordert und rechtfertigt Umsatzsteuerentlastungen für bestimmte Kategorien von Gütern und Dienstleistungen (s. Rz. 195 ff.Steuerbefreiungen und Rz. 272 ff. ermäßigter Steuersatz). Auch müssen Wertungswidersprüche zwischen USt und ESt vermieden werden; so darf etwa umsatzsteuerlich grds. nicht als belastungswürdiger Konsumaufwand eingestuft werden, was einkommensteuerlich als Erwerbsaufwand gilt. Die internationale Zuweisung der Besteuerungshoheiten, die sich sowohl innerhalb der EU als auch weltweit primär am sog. Bestimmungslandprinzip bzw. Verbrauchsortprinzip ausrichtet (s. Rz. 393 ff.), bestimmt sich ergänzend nach Prinzipien internationaler Steuerverteilungsgerechtigkeit. Im Kontext des Umsatzsteuerrechts dominiert das sog. Nutzenprinzip („benefit principle“, im deutschsprachigen Raum auch ungenau als Äquivalenzprinzip apostrophiert)2: Es soll derjenige Staat am Aufkommen partizipieren, in dem der Endverbrauch mutmaßlich stattfindet und der diesen Konsum durch seine Rechtsordnung, Infrastruktur etc. mit ermöglicht. Ökonomen charakterisieren das geltende Umsatzsteuer-System (Allphasen-Mehrwertsteuer mit umfassendem Vorsteuerabzug) aus finanzwissenschaftlicher Sicht als konzeptionelles Äquivalent zu einer proportionalen ESt mit Freistellung der Normalverzinsung des Kapitals3. Diese Sichtweise basiert auf der Überlegung, dass die Summe der in einer Volkswirtschaft innerhalb einer bestimmten Periode geschaffenen (Mehr-)Werte der Summe des Einkommens in dieser Volkswirtschaft entspricht. Beide Steuern würden daher volkswirtschaftlich gesehen bei derselben Größe ansetzen. Werden Investitionsgüter – wie in UStG und MwStSystRL vorgesehen – bei Anschaffung sofort vollständig, statt nur entsprechend ihrem Wertverzehr pro rata temporis von der Steuer entlastet, entspricht das einer dahingehenden „Sparbereinigung“ in der ESt und damit effektiv einer Steuerfreistellung des risikolos erzielbaren Zinses (s. § 3 Rz. 80). Ausgeblendet wird die je unterschiedliche gesetzliche Konzeption als direkte Steuer (ESt) einerseits und indirekte Steuer (USt) andererseits, weil dies nichts über die tatsächliche Verteilung der steuerlichen Lasten (sog. Steuerinzidenz) aussage: Die von einem Unternehmer geschuldete ESt/KSt könne evtl. ebenso im Preis auf Konsumenten abgewälzt werden, wie eine nicht vorwälzbare USt möglicherweise von den beim Unternehmer angestellten Arbeitnehmern (in Form niedriger Löhne) oder vom Unternehmer selbst (in Gestalt von Gewinnminderungen) zu tragen sei. Der Steuerjurist darf und muss demgegenüber bei gleichheitsrechtlicher Beurteilung und systematisch-teleologischer Auslegung der USt/MwSt bei der gesetzlichen Belastungskonzeption ansetzen, sofern diese plausibel ist. Nur wenn tatsächliche Gegebenheiten oder gesetzliche Regelungen bei bestimmten Umsatzarten absehbar nicht nur in Einzelfällen jegliche Überwälzung der USt ausschließen, muss dies auch bei rein rechtlicher Würdigung der Steuererhebung Beachtung finden4. Dessen ungeachtet ist bei der Argumentation mit Grundprinzipien der Besteuerung stets zu beachten, dass Unterschiede in der jeweiligen steuerlichen Belastungswürdigkeit vornehmlich aus der unterschiedlichen Erhebungstechnik und dem unterschiedlichen Zeitpunkt des Zugriffs auf das Einkommen/Vermögen (ESt: bei Entstehung, USt: bei Verwendung) resultieren und nicht aus einem fundamental andersartigen Belastungsgrund der USt im Vergleich zur ESt.
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3.2. Die Umsatzsteuer als Allphasen-„Mehrwertsteuer“ In einer modernen arbeitsteiligen Wirtschaft durchlaufen die meisten dem Verbrauch oder Gebrauch dienenden Gegenstände eine Reihe von Phasen oder Stadien, bevor sie zum Endverbraucher gelangen. Nicht nur werden sie meist über mehrere Handelsstufen vertrieben, sondern es gehen schon bei der Herstellung zahlr. Vorleistungen in das endgültige Produkt ein. Letzteres gilt in zunehmendem Maße auch für den Bezug von Dienstleistungen durch Endverbraucher. Umsatzsteuern können dementsprechend einphasig (Fabrikanten- oder Produktionssteuer, 1 S. BVerfGE 125, 175; Englisch, UR 2010, 400 ff.; s. auch § 3 Rz. 80. 2 Grundl. J. Lang, FS Schaumburg, 2009, 45 ff., allerdings mit darüber noch hinausgehenden Folgerungen zur reduzierten Relevanz des Leistungsfähigkeitsprinzips (51 f.). 3 S. bspw. Stiglitz, Economics of the Public Sector3, 2000, 502 f.; Ebrill u.a., The Modern VAT, Washington D.C. 2001, 19; Cnossen in Lang u.a. (Hrsg.), VAT and Direct Taxation, 2009, 125 (141 ff.); Homburg, Allgemeine Steuerlehre6, 126 ff. 4 Offen gelassen durch EuGH v. 24.10.2013 – C-440/12, Metropol, EU:C:2013:687, Rz. 46 ff.
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Rz. 16
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Grossistensteuer, Einzelhandelssteuer), mehrphasig oder allphasig sein. Im geltenden System einer Allphasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug wird die USt auf sämtlichen Produktions- und Vertriebsstufen erhoben (vgl. Art. 1 MwStSystRL). Soweit einem Unternehmer als Abnehmer USt in Rechnung gestellt wird, entlastet dieser sich grds. durch den sog. Vorsteuerabzug (§ 15 UStG). Auf diese Weise wird die gesetzlich vorgesehene Umsatzsteuer-Belastung der Vorleistungen, die ein Unternehmer von einem anderen bezieht, durch eine Steuervergütung wieder neutralisiert. Gelingt die vom Gesetz intendierte Überwälzung der Steuer auf den Phasennächsten, ist der Unternehmer folglich wirtschaftl. nicht mit USt belastet, – weil die Steuer, die in der Vorphase auf ihn überwälzt worden ist, im Wege des Vorsteuerabzugs an ihn vergütet wird (s. Rz. 307 ff.), und – weil die Steuer, die er selbst schuldet, überwälzt werden soll (§ 14 UStG). Private (nichtunternehmerisch tätige) Verbraucher können keinen Vorsteuerabzug geltend machen und werden darum nach der Gesetzeskonzeption endg. mit USt belastet. Das folgende Beispiel soll den Vorgang veranschaulichen:
100 Euro + 19 Euro USt
F
200 Euro + 38 Euro USt
G 19 Euro
38 Euro
19 Euro
E
300 Euro + 57 Euro USt
V
38 Euro 57 Euro
FA Zur obigen Skizze: F liefert einen Gegenstand für 100 Euro an G. Da der Normalumsatz mit 19 % USt belastet ist, stellt er dem G über den Netto-Kaufpreis hinaus 19 Euro USt offen in Rechnung. Die 19 Euro, die F neben dem Netto-Kaufpreis von G erhält, führt F an das Finanzamt (FA) ab; G erhält sie im Wege des Vorsteuerabzugs von seinem FA zurück. G liefert den nämlichen Gegenstand an E weiter für 200 Euro; er stellt dem E neben dem NettoKaufpreis 38 Euro USt in Rechnung (19 %). Die 38 Euro, die er von E erhält, führt er an das FA ab; E erhält sie im Wege des Vorsteuerabzugs von seinem FA zurück. E liefert den nämlichen Gegenstand an den Endverbraucher V. Neben dem Netto-Kaufpreis von 300 Euro berechnet er 57 Euro (19 %) USt. Diese erhält er von V und führt sie an das FA ab. Als Nichtunternehmer kann V keinen Vorsteuerabzug geltend machen (s. § 15 I UStG). Das FA behält also die 57 Euro endgültig. Es handelt sich um ein vereinfachtes Beispiel. Die vielfach begleitenden Umsatzverflechtungen (Einkauf von Hilfsgütern, Investitionsgütern und Inanspruchnahme von Werk- und Dienstleistungen) werden in dem Beispiel nicht berücksichtigt.
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Das obige Beispiel zeigt zugleich, dass die USt schon nach ihrer Besteuerungstechnik keine echte Mehrwertsteuer ist. Bemessungsgrundlage ist nicht die auf jeder Stufe erzielte Wertschöpfung, sondern das jeweilige Gesamtentgelt (ohne USt, vgl. § 10 I 2 UStG). Allerdings darf der Unternehmer von seiner Umsatzsteuerschuld die ihm berechnete, anzunehmenderweise überwälzte USt auf Vorleistungen in Abzug bringen (§ 16 I 2 UStG). Die sich hieraus ergebende Umsatzsteuerzahllast entspricht aus Sicht des Unternehmers i.Erg. regelmäßig einer Besteuerung nur des Nettoumsatzes („Mehrwert“ – im Beispiel jeweils 100 Euro). Anders als 898
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Entwicklung und System der Umsatzsteuer
Rz. 19
§ 17
bei einer USt mit Vorumsatzabzug gilt dies aber dann nicht mehr, wenn bei Vorleistungen einerseits und Ausgangsumsätzen andererseits je unterschiedliche Steuersätze (vgl. § 12 UStG) Anwendung finden. Entscheidend für die Gesamtbelastung ist dann nämlich allein der auf der Endstufe maßgebliche Steuersatz. Die Gewährung eines Vorsteuerabzugs unterstreicht zudem, dass die USt auch materiell nicht als eine die Wertschöpfung des Unternehmens belastende Produktionssteuer konzipiert ist. Der Fiskus erzielt erst mit dem Umsatz auf der Endstufe an den Endverbraucher ein definitives Umsatzsteueraufkommen. Bis dahin gleichen sich – grds. auch zeitlich – die Umsatzsteuer-Erhebung auf den vorhergehenden Stufen und die Vorsteuervergütung auf der je nachfolgenden Stufe aus. Kommt es wie etwa bei unternehmerischen Fehlmaßnahmen nicht zu einem Umsatz an einen Endverbraucher, verbleibt der Staatskasse grds. auch kein Umsatzsteueraufkommen. Bei einer Wertschöpfungsteuer dürfte hingegen das auf den Vorstufen erzielte Steueraufkommen nicht rückgängig gemacht werden. Zutr. hat der EuGH daher auch die italienische IRAP (eine der GewSt vergleichbare Produktionssteuer) nicht als Steuer mit dem Charakter einer USt i.S.d. harmonisierten Mehrwertsteuersystems qualifiziert1.
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Anders als eine Mehrwertsteuer mit Vorumsatzabzug ermöglicht der Vorsteuerabzug im internationalen Warenhandel auch einen exakten Grenzausgleich. Dabei wird der Exportumsatz steuerfrei gelassen (§ 4 Nr. 1 UStG), der Vorsteuerabzug bleibt aber erhalten (§ 15 III Nr. 1 UStG). Dadurch gelangt die Ware unbelastet von inländischer USt auf den Auslandsmarkt. Sie wird dort mit ausländischer (Einfuhr-)Umsatzsteuer belastet. Dies entspricht dem weltweit als sachgerecht anerkannten Bestimmungsland- bzw. Verbrauchsortprinzip, wonach die Besteuerung von Konsumaufwendungen allein dort stattfinden soll, wo der damit korrespondierende Ge- oder Verbrauch mutmaßlich stattfindet (s. Rz. 393 ff.). Die weitgehende Orientierung der USt am Verbrauchsortprinzip (vgl. für Dienstleistungen auch § 3a II ff. UStG, s. Rz. 433 ff.) widerlegt i.Ü. ebenfalls die These, es könne sich bei der USt um eine Produktions- oder Wertschöpfungsteuer handeln.
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Kumuliert über alle Phasen stellen sich bei der Allphasen-Netto-Umsatzsteuer im Idealfall dieselben Belastungswirkungen ein wie bei einer auf Dienstleistungen ausgedehnten, einphasigen Einzelhandelssteuer (vergleichbar der „sales tax“ der US-Bundesstaaten). Im Unterschied zur Einzelhandelssteuer etabliert das harmonisierte Mehrwertsteuer-Konzept aber ein System fraktionierter Zahlungen: Der Fiskus vereinnahmt den Gesamtsteuerbetrag nicht erst auf der Endstufe, sondern als Summe der sich auf sämtlichen dem Endverbrauch vorgelagerten Produktions- und Vertriebsstufen jeweils ergebenden Umsatzsteuer-Zahllasten (Umsatzsteuerschuld abzgl. Vorsteuervergütungsanspruch).
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Die Einschaltung aller Unternehmer in die Kette und die damit verbundene Fraktionierung der Steuererhebung weist einige Vorzüge auf2: Bei Steuerhinterziehung auf Umsätze an Endverbraucher („Schwarzarbeit“ u.ä. Phänomene) verbleibt dem Fiskus zumindest das Steueraufkommen aus der vorgelagerten Stufe, weil der Steuerhinterzieher wegen der ansonsten eintretenden Entdeckungsgefahr faktisch keinen Vorsteuerabzug geltend machen kann. Anders gewendet bietet der Vorsteuerabzug einen Anreiz, die eigenen Umsätze korrekt zu deklarieren, weil regelmäßig anhand der Vorumsätze auf die Höhe der Umsätze geschlossen werden kann. Die Erhebung von USt auch auf vorgelagerten Stufen der Produktion und des Großhandels erlaubt es der Finanzverwaltung zudem, (auch) die fiskalisch besonders bedeutsamen Unternehmen dieser Sektoren steuerlichen Kontrollen zu unterziehen. Schließlich muss der leistende Unternehmer grds. nicht gesondert prüfen, inwieweit er Lieferungen und Dienstleistungen tatsächlich im Einzelhandel (d.h. an einen Endverbraucher) erbracht hat. Als wesentlicher Nachteil des Systems hat sich herausgestellt, dass der Vorsteuerabzug sowohl einzelnen Unternehmern als auch der organisierten Kriminalität Missbrauchsmöglichkeiten eröffnet und damit besondere fiskalische Risiken schafft (s. Rz. 461 ff.). Daneben kann es im geltenden System der grds. Soll-Besteuerung (Rz. 282) und vor allem bei verzögerter Vorsteuervergütung auch zu erheblichen 1 EuGH C-475/03, Banca popolare di Cremona. 2 Die Begr. zum UStG 1968, mit dem die 6. EG-RL (Rz. 6) in nationales Recht umgesetzt wurde, spricht ominös von „wirtschaftlichen, fiskalischen, steuertechnischen und nicht zuletzt psychologischen Gründen“, vgl. Bericht des Finanzausschusses zu BT-Drucks. 5/1581, Allg., Nr. 3.
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Umsatzsteuer
Liquiditätsbelastungen der Unternehmen kommen. Schließlich ist die Sicherstellung der Korrespondenz von USt-Schuld und Vorsteuerabzug für alle Beteiligten auch verfahrenstechnisch problematisch1. Daher wird inzwischen vor allem in der deutschen Fachöffentlichkeit vielfach dafür plädiert, die USt stärker in Richtung Einzelhandelsteuer umzugestalten. Hierfür liegen mittlerweile ausgereifte Konzepte vor (s. insb. Kirchhof, Umsatzsteuergesetzbuch, 2008; ders., Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 101 ff.), die allerdings ihrerseits neue Betrugsrisiken schaffen und für Unternehmen wie Finanzverwaltung erheblichen Befolgungs- bzw. Vollzugsaufwand implizieren. Auch muss es zu denken geben, dass sich weltweit das System der All- oder Mehrphasensteuer ungebrochener Beliebtheit erfreut (auch außerhalb der EU wird es mit seit Jahrzehnten steigender Tendenz von ca. 130 weiteren Staaten praktiziert2). Es sollten daher verstärkt auch die Möglichkeiten ausgelotet werden, das geltende System robuster und weniger missbrauchsanfällig zu machen; in diese Richtung tendieren auch die gegenwärtigen Reformbestrebungen der EU-Kommission (Rz. 7).
3.3. Die Umsatzsteuer als Verkehrsteuer 20
Ihrem Steuerobjekt nach ist die USt überwiegend als eine Verkehrsteuer ausgestaltet: Steuerbar sind im Wesentlichen die entgeltlichen Leistungen bzw. Umsätze der Unternehmer (vgl. § 1 I Nr. 1 UStG). Die Umsatzsteuerschuld knüpft mithin im Regelfall an einen Akt des Rechtsverkehrs an, nämlich an einen Leistungsaustausch im Rahmen eines bestimmten Rechtsverhältnisses3. Dies gilt jedoch nicht ausnahmslos: Bereits technisch knüpfen § 1 I Nr. 1 i.V.m. § 3 Ib Nr. 1 und § 3 IXa Nr. 1 und § 1 I Nr. 4 UStG nicht an Verkehrsakte an, sondern an Realakte (Entnahme, Einfuhr). Man hat diese Tatbestände lange als fiktive Verkehrsakte („Leistung an sich selbst“) erklärt („Fiktionstheorie“)4. Aber es gibt keinen sinnvollen, sachlich einleuchtenden Grund für die Besteuerung fiktiver Akte. Ebensowenig bedarf es einer Realakttheorie5, wonach bei Leistungsabgaben für außerunternehmerische Zwecke die reale Wertabgabe besteuert wird. Sowohl die Besteuerung von Entnahmen für außerunternehmerische Zwecke als auch die Erhebung von Einfuhr-Umsatzsteuer erklären sich zwanglos daraus, dass der nichtunternehmerische Verbrauch den Belastungsgrund der USt abgibt (Rz. 10 ff.). Die Verkehrsteuertechnik dient nur der praktikablen Verwirklichung einer gleichmäßigen Besteuerung nach Maßgabe der Konsumleistungsfähigkeit; soweit sie hierfür unzureichend ist, kann die Besteuerung ohne Rechtfertigungsbedarf auch an Realakte anknüpfen.
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Im Steuerverfahren steht die Erhebungstechnik der USt im Vordergrund. Die USt wird in diesem Zusammenhang daher nicht als Verbrauchsteuer im technischen Sinne qualifiziert. Daher beträgt die Festsetzungsfrist nach § 169 II Nr. 2 AO vier Jahre. Die einfache Änderungsmöglichkeit nach § 172 I Nr. 1 AO ist nicht anwendbar6. Eine Ausnahme gilt für die EUSt (Verbrauchsteuer auch im technischen Sinne, s. § 21 I UStG). Finanzverfassungsrechtlich können sich aus diesem Verkehrsteuercharakter der USt Abgrenzungsprobleme im Verhältnis zu landesrechtlich eingeführten Verkehrsteuern ergeben. Jede Verkehrsteuer ist ihrem Steuerobjekt nach umsatzsteuerähnlich7; auch lassen sich Verkehrsteuern regelmäßig nur als Sondersteuern auf bestimmte Konsumaufwendungen gleichheitsrechtlich legitimieren (falls überhaupt; s. § 18 Rz. 128). Eine Landesverkehrsteuer darf aber der USt nicht gleichartig sein, weil sie sonst als eine – und sei es dem Besteuerungsgegenstand nach auf bestimmte Güter beschränkte – Sonderumsatzsteuer zu qualifizieren wäre. Eine solche Steuer können die Länder neben der durch das 1 Exemplarisch ist insoweit die Reparaturgesetzgebung des § 27 XIX UStG; zu den Hintergründen s. Rz. 465. 2 OECD Consumption Tax Trends 2014, 171 ff. 3 Auch der EuGH macht dies in st. Rspr. zur zwingenden Voraussetzung für einen steuerbaren Umsatz i.S.d. § 1 I Nr. 1 UStG, vgl. EuGH C-16/93, Tolsma, Rz. 14; C-172/96, First National Bank of Chicago, Rz. 26 und C-174/00, Kennemer Golf, Rz. 39, s. ferner Rz. 86 ff. 4 Dazu Dziadkowski, BB 1981, 746 f.; Dziadkowski, BB 1982, 2097; Widmann, UStKongrBericht 1982/83, 58. 5 Weiß, StbKongrRep. 1981, 131 (139); Weiß, UStR 1982, 184; Weiß, UR 1984, 57 (58) („Realakt-Theorie“); s. auch BFH BStBl. 1984, 169. 6 BFH BStBl. 1987, 95. 7 Insoweit zutr. Bonner Komm./Vogel/Walter, Art. 105 GG Rz. 112.
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Rz. 23
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UStG abschließend bundesgesetzlich geregelten USt nicht einführen (Art. 72 I GG)1. Zugleich verdeutlicht aber Art. 106 II Nr. 3 GG, dass es neben der USt andersartige Verkehrsteuern gibt, die finanzverfassungsrechtlich als Landessteuern neben der USt Bestand haben können. Für die erforderliche Abgrenzung kommt es in besonderem Maße auf die tradierten Merkmale der USt an (indirekte, nach dem Entgelt bemessene Allphasensteuer); in Zweifelsfällen außerdem auf die strukturelle Übereinstimmung neu eingeführter Steuern mit herkömmlichen Verkehrsteuern, die im GG als solche i.S.d. Art. 106 II Nr. 3 rezipiert wurden. Dies trägt der historischen Prägung der Finanzverfassung Rechnung (s. § 2 Rz. 3 ff.). I.Ü. dürfen nach Art. 401 MwStSystRL weder Bundes- noch Landesgesetzgeber neben der geltenden USt, die das harmonisierte EU-Mehrwertsteuersystem widerspiegelt, weitere Abgaben mit dem „Charakter von Umsatzsteuern“ erheben. Der EuGH legt dieses Verbot jedoch zutr. eng aus, sodass es praktisch kaum bedeutsam ist2.
Für eine am inneren System der Besteuerung (§ 3 Rz. 9) orientierte Steuertypologie (s. § 8 Rz. 5), für den Steuerartenvergleich und insb. für die Gesetzesauslegung ist hingegen nicht die Belastungstechnik, sondern der Belastungsgrund maßgeblich. Die Tatbestände der MwStSystRL bzw. des UStG sind daher verbrauchsteuerteleologisch, nicht verkehrsteuerteleologisch auszulegen. Im Rahmen des rechtsmethodisch Möglichen (s. § 5 Rz. 46 ff.) hat der Rechtsanwender daher auf eine gleichmäßige Belastung privater Konsumaufwendungen hinzuwirken, sofern der (Unions-)Gesetzgeber von diesem Prinzip mit der auslegungsbedürftigen Rechtsnorm nicht bewusst abweichen wollte.
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In vereinzelten Bestimmungen der MwStSystRL klingt allerdings noch an, dass einige der ursprünglichen Mitgliedstaaten ihre Umsatzsteuersysteme bis zur europarechtlichen Harmonisierung auch dem Belastungsgrund nach als eine Steuer auf die Durchführung von Verkehrsgeschäften verstanden wissen wollten. So sollen ermäßigte Steuersätze gem. Art. 99 II MwStSystRL so festgesetzt werden, dass der ermäßigt besteuerte Unternehmer regelmäßig keinen Vorsteuerüberhang hat; es soll mithin das den bereits realisierten Vorumsätzen zuzuordnende Umsatzsteuer-Aufkommen nicht geschmälert werden.
3.4. Die Bedeutung des Neutralitätsprinzips Für den EuGH ist das Neutralitätsprinzip das Fundamentalprinzip des harmonisierten Mehrwertsteuersystems; er kann sich diesbezügl. auch auf die Präambel zur MwStSystRL stützen3. Das Prinzip ist vom Gerichtshof in zwei Ausprägungen entwickelt worden4: Zum einen entnimmt ihm der EuGH das grds. Gebot, den steuerpflichtigen Unternehmer vollständig von der im Preis von Vorleistungen anzunehmenderweise auf ihn überwälzten USt zu entlasten5. Der dies gewährleistende Vorsteuerabzug sei daher „integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer“6. Zum anderen effektuiert der EuGH das Neutralitätsprinzip als Ausprägung des Gebotes der Wettbewerbsgleichheit. Umsätze bzw. Anbieter gleichartiger Waren und Dienstleistungen sollen gleichermaßen (proportional zum Entgelt) mit USt belastet werden7. 1 S. BVerfGE 7, 244 (258). 2 Nach str. Rspr. müssten nationale Steuern vier Merkmale aufweisen, um den „Charakter von Umsatzsteuern“ i.S.d. Art. 401 MwStSystRL aufzuweisen: (1) allgemeine Steuer auf sämtliche Güter und Dienstleistungen; (2) proportionale Wertsteuer; (3) Allphasensteuer; (4) Nettosteuer mit Vorsteuerabzug zwecks Verwirklichung des Verbrauchsteuerprinzips. Dazu grundl. EuGH GrK C-475/03, Banca popolare di Cremona, Rz. 28 ff.; krit. Hombach, Sperrklauseln im Europäischen Steuerrecht, 2010, 229 ff. 3 Vgl. insb. die Erwägungsgründe 4, 5 und 7 der MwStSystRL; vormals 8. Erwägungsgrund der Ersten Mehrwertsteuerrichtlinie 67/227/EWG. 4 S. dazu auch Henze, UStKongrBericht 2010, 7 (10 ff.), der allerdings in drei Ausprägungen unterteilt. Zum Neutralitätsverständnis der OECD s. die VAT Neutrality Guidelines, abgedruckt in den International VAT/GST Guidelines, April 2014, Chapter 2; dazu Kogels, EC Tax Review 2012, 230. 5 S. EuGH C-62/93, BP Soupergaz, Rz. 16; C-110/98 – C-147/98, Gabalfrisa SL u.a., Rz. 44; C-174/08, NCC Construction Danmark, Rz. 27. 6 S. EuGH C-392/09, Uszodaépítö, Rz. 34; C-107/10, Enel Maritsa Iztok 3, Rz. 32; C-274/10, Kommission/Ungarn, Rz. 43. 7 S. bspw. EuGH C-109/02, Kommission/Deutschland, Rz. 20; C-363/05, JP Morgan Fleming, Rz. 47; C-309/06, Marks & Spencer, Rz. 47; C-357/07, TNT Post, Rz. 37; C-41/09, Kommission/Niederlande, Rz. 66; C-259/10, The Rank Group, Rz. 32 ff.; v. 11.9.2014 – C-219/13, K Oy, EU:C:2014:2207, Rz. 24 ff.
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§ 17
Rz. 24
Umsatzsteuer
Konkretisiert wird diese Forderung durch spezielle Neutralitätspostulate: Das Umsatzsteuersystem muss grds. Rechtsformneutralität1 und Organisationsformneutralität2 wahren. Außerdem dürfen grenzüberschreitend bezogene Waren und Dienstleistungen steuerlich nicht schlechter gestellt werden als rein innerstaatlich gehandelte; für den Warenhandel im EU-Binnenmarkt hat dieses Gebot internationaler Besteuerungsneutralität eine besondere Verankerung in Art. 110 AEUV erfahren3 (für den grenzüberschreitenden Dienstleistungshandel gilt Art. 56 AEUV). 24
In der Rspr. des EuGH spielt das Neutralitätsprinzip eine zentrale Rolle bei der Auslegung der mehrwertsteuerrechtlichen Richtlinienbestimmungen. Dies wirkt sich im Wege richtlinienkonformer Auslegung letztlich auch auf die Auslegung des nationalen Umsatzsteuerrechts aus (s. § 4 Rz. 31 f.). Außerdem hat der EuGH die Mitgliedstaaten auf die Wahrung des Neutralitätsgrundsatzes verpflichtet, soweit ihnen im Umsatzsteuerrecht Gestaltungsermessen verblieben ist, namentlich bei der Ausgestaltung des Besteuerungsverfahrens4. Zu den sich hieraus ergebenden Konsequenzen s. § 4 Rz. 41 f. Nichtsteuerliche Belastungen der Unternehmen durch nicht harmonisierte Regelungen, wie namentlich Befolgungskosten, die Verzinsung von Steueransprüchen und Sanktionen bei Missachtung verfahrensrechtlicher Pflichten, werden vom Gerichtshof allerdings vornehmlich unter Verhältnismäßigkeitsaspekten erörtert und tendenziell weitgehend hingenommen5. Dies überzeugt jedenfalls i.Erg. angesichts der (primären) Rolle des Unternehmers als entschädigungslos in Dienst genommener Steuereinsammler nicht6. Die Mitgliedstaaten müssten vielmehr verstärkte Anstrengungen unternehmen, um Risiken und Kosten der Umsatzsteuererhebung für die Unternehmer möglichst gering zu halten7. Der EuGH hat wiederholt festgestellt, dass es sich bei dem Neutralitätsgrundsatz um die bereichsspezifische Ausprägung des unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes im Mehrwertsteuerrecht handele8. An diesen sind im Anwendungsbereich des Unionsrechts in der Tat auch die Mitgliedstaaten gebunden (s. Art. 6 I EUV i.V.m. Art. 20, 51 I EU-GrR-Charta; s. auch § 4 Rz. 36). Nichts anderes müsste dann allerdings auch für den Unionsgesetzgeber gelten. Die Bestimmungen der MwStSystRL wären daher nicht nur im Lichte des Neutralitätsprinzips – primärrechtskonform – auszulegen, sondern bei ungerechtfertigten Abweichungen vom Neutralitätsprinzip für nichtig zu erklären. Wenn der EuGH stattdessen meint, nur der Gleichheitssatz genieße Verfassungsrang, während der Neutralitätsgrundsatz der „gesetzgeberischen Aus1 S. EuGH C-216/97, Gregg, Rz. 20; C-45/01, Dornier, Rz. 21; C-453/02 und C-462/02, Linneweber und Akritidis, Rz. 25; C-246/04, Turn- und Sportunion Waldburg, Rz. 34; C-106/05, L. u. P., Rz. 50; so auch schon BVerfGE 101, 151 (156). 2 S. EuGH C-169/04, Abbey National, Rz. 68; C-453/05, Ludwig, Rz. 35; v. 7.3.2013 – C-275/11, GfBk, EU:C:2013:141, Rz. 31; v. 18.7.2013 – C-26/12, PPG Holdings, EU:C:2013:526, Rz. 28. 3 S. EuGH C-367/93, Roders, Rz. 15. 4 S. EuGH, C-342/87, Genius Holding, Rz. 18; C-309/06, Marks & Spencer, Rz. 31; C-25/07, Sosnowska, Rz. 17; C-107/10, Enel Maritsa Iztok 3, Rz. 33, 64; C-274/10, Kommission/Ungarn, Rz. 45; C-588/10, Kraft Foods Polska, Rz. 30. 5 Exemplarisch zu Verwaltungssanktionen EuGH v. 20.6.2013 – C-259/12, Rodopi-M 91, EU:C:2013:414, insb. Rz. 40; s. nunmehr aber auch EuGH v. 17.7.2014 – C-272/13, Equoland, EU:C:2014:2091, Rz. 31 f. 6 Dies gilt i.Ü. auch unbeschadet der Streitfrage, ob die Heranziehung des Unternehmers als Fall der Indienstnahme i.e.S. zu beurteilen ist, vgl. Drüen, Die Indienstnahme Privater für den Vollzug von Steuergesetzen, 2012, S. 121 ff. 7 Ein vielversprechender Ansatz dafür ist bspw. das Pilotprojekt zahlreicher EU-Mitgliedstaaten – Deutschland beteiligt sich bedauerlicherweise nicht –, Unternehmern einen Anspruch auf verbindliche Auskunft bei Umsatzsteuerfragen mit grenzüberschreitendem Bezug einzuräumen; s. dazu Lejeune/ Vandenberghe/Van De Putte, IVM 2014, 181. 8 S. EuGH C-498/03, Kingscrest Associates, Rz. 54 f.; C-443/04 und C-444/04, Solleveld u.a., Rz. 35; C-106/05, L. u. P., Rz. 48; C-240/05, Eurodental, Rz. 55 m.w.N.; C-309/06, Marks & Spencer, Rz. 49; C-484/06, Koninklijke Ahold, Rz. 36; C-174/08, NCC Construction Danmark, Rz. 41; C-262/08, CopyGene, Rz. 64; C-259/10 und C-260/10, Rank Group, Rz. 61; EuGH v. 31.1.2013 – C-643/11, LVK-56, EU:C:2013:55, Rz. 55; vgl. auch Zorn, FS Ruppe, 2007, 744 (749). Der Gleichbehandlungsgrundsatz soll freilich nicht im Neutralitätsprinzip erschöpfen, s. EuGH v. 25.4.2013 – C-480/10, Kommission/Schweden, EU:C:2013:263, Rz. 17 m.w.N.
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Entwicklung und System der Umsatzsteuer
Rz. 30
§ 17
arbeitung bedürfe“ und Gegenstand von beschränkenden „Klarstellungen“ sein könne1, zeugt das von einem erschreckenden Mangel an grundrechtsdogmatischer Stringenz. Gleichheitsrechtlich unterlegte Prinzipien sind unbeschadet gesetzlicher Konkretisierungsspielräume folgerichtig zu entfalten; ungerechtfertigte Abweichungen implizieren daher notwendig eine Verletzung des Gleichheitssatzes. Darüber hinaus verkennt der EuGH auch die notwendige Rückkopplung des Neutralitätsprinzips an das Verbrauchsteuerprinzip. Da die als solche handelnden steuerpflichtigen Unternehmer nicht die intendierten Steuerträger, sondern nur „Steuereinsammler“ für den Fiskus sind, kann die USt ihre gleichheitsrechtliche Gerechtigkeitsqualität nicht in erster Linie aus der wettbewerbsneutralen Behandlung der Unternehmer untereinander gewinnen. Fundamentalprinzip der USt muss vielmehr das Prinzip einer gleichmäßigen Belastung von steuerliche Leistungsfähigkeit indizierenden Konsumaufwendungen sein2. Das Neutralitätsprinzip ergänzt und konkretisiert dieses Steuergerechtigkeitsanliegen: Wird nämlich Unternehmern kein Vorsteuerabzug gewährt oder werden sie wettbewerbsverzerrend besteuert, so hat dies eine Belastung von anderen als Konsumaufwendungen bzw. bei Weiterwälzung der USt auf die Endverbraucher deren ungleichmäßige Besteuerung zur Folge; dies steht im Widerspruch zum Verbrauchsteuerideal. Die Sichtweise des EuGH, das Neutralitätsprinzip zur zentralen Besteuerungsmaxime zu erklären, ist demgegenüber noch zu stark im integrationspolitischen Zweck der MwSt-Harmonisierung verhaftet3: Das Ziel einer Verwirklichung des EU-Binnenmarktes durch Abbau von steuerlichen Wettbewerbsverzerrungen bildet zwar die kompetenzrechtliche Grundlage der Unionsgesetzgebung auf dem Gebiet der MwSt, verbürgt aber nicht deren steuerliche Gerechtigkeitsqualität.
25
Zu beanstanden ist vor diesem Hintergrund die Tendenz des Gerichtshofs, dem Neutralitätsprinzip von vornherein nur den Gehalt beizulegen, der sich den geltenden Richtlinienbestimmungen konkret entnehmen lässt. So wird etwa die in § 15 II UStG richtlinienkonform vorgesehene Versagung des Vorsteuerabzugs bei der Verwendung von USt-belasteten Vorleistungen für steuerfreie Ausgangsleistungen (ergo die Gleichstellung von unternehmerischer Verwendung und privatem Endverbrauch4; s. dazu Rz. 345) vom EuGH nicht beanstandet: Entsprechend Art. 168 I MwStSystRL gelte das Neutralitätsprinzip nur, soweit der Unternehmer Eingangsleistungen für seine steuerpflichtigen Tätigkeiten verwende5. Diese Argumentation übersieht, dass die betreffende Regelung jedenfalls einen gleichheitsrechtlich relevanten Verstoß gegen das Verbrauchsteuerprinzip des Art. 1 II MwStSystRL begründet und darum richtigerweise als eine rechtfertigungsbedürftige Einschränkung auch des Neutralitätsprinzips, statt als inhärente Begrenzung desselben zu qualifizieren ist.
26–30
Einstweilen frei
1 S. EuGH C-174/08, NCC Construction, Rz. 42 f.; für eine ausf. Kritik s. Englisch in Weber (Hrsg.), European Tax Integration, 231 (239 ff.). S. auch EuGH C-44/11, Deutsche Bank, Rz. 45; v. 19.12. 2012 – C-310/11, Grattan, EU:C:2012:822, Rz. 29; v. 13.3.2014 – C-204/13, Malburg, EU:C:2014:147, Rz. 43: bloßer Anlegungsgrundsatz und „keine Regel des Primärrechts“. Dem EuGH folgend Heber, UR 2014, 957 (964). 2 Wie hier Löhr, Das umsatzsteuerrechtliche Optionsrecht für Vermietungsumsätze, 2003, 242; Tipke, StuW 1992, 103 (105); s. dazu auch BVerfGE 110, 274 (292). 3 Zur Betonung wirtschaftspolitischer, und zwar in erster Linie wettbewerbsbezogener Zielsetzungen und der damit einhergehenden Vernachlässigung klassischer steuerstaatlicher Gerechtigkeitspostulate durch den EuGH vgl. auch Schön, UStKongrBericht 2001/2002, 17 (20); und krit. Fantozzi, FS Vanistendael, 2007, 387 (388). 4 So ausdrücklich EuGH C-460/07, Puffer, Rz. 54. 5 St. Rspr., vgl. EuGH C-37/95, Ghent Coal Terminal, Rz. 15; C-98/98, Midland Bank, Rz. 19; C-408/98, Abbey National, Rz. 24; C-137/02, Faxworld, Rz. 37; C-515/07, Vereniging Noordelijke Land- en Tuinbouw Organisatie, Rz. 27. S. auch EuGH v. 13.3.2014 – C-204/13, Malburg, EU:C:2014:147, Rz. 41 f., zur Parallelproblematik bei der Verwendung für nicht steuerbare geschäftliche Vorgänge.
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§ 17
Rz. 31
Umsatzsteuer
B. Steuersubjekte und Steuerschuldner 31
Im System der USt ist zwischen Steuersubjekt und Steuerschuldner zu differenzieren. Steuersubjekt ist diejenige natürliche Person oder das Rechtsgebilde, das den steuerbegründenden Tatbestand erfüllen kann und dadurch die Rechtsfolge der Entstehung der Steuer herbeiführt. Für die USt geht es darum, wer die in § 1 I Nrn. 1–5 UStG genannten steuerbaren Umsätze realisieren kann. Außerdem geht es darum, wer den Tatbestand des § 15 UStG mit der Rechtsfolge des Vorsteuer(vergütungs)anspruchs verwirklichen kann. Vom Steuersubjekt zu unterscheiden ist der Steuerschuldner. Dies ist derjenige, der bei Tatbestandserfüllung durch das Steuersubjekt die Steuer(-zahlung) als eigene Verbindlichkeit dem Steuergläubiger (Bund und Ländern) schuldet. Für die USt ist regelmäßig das Steuersubjekt auch der Steuerschuldner, § 13a I Nrn. 1, 2, 4 und 6 UStG. Allerdings kann es auch zu einem Auseinanderfallen von Steuersubjekt und Steuerschuldner kommen. So verlagern §§ 13b II und 13a I Nr. 5 i.V.m. § 25b UStG (s. Rz. 72 ff.) die Steuerschuld vom (leistenden) Steuersubjekt auf den Leistungsempfänger als den Steuerschuldner. Dies dient in erster Linie der Erleichterung der Steuererhebung und der Vermeidung von Steuerausfällen1. Die Steuerschuldverlagerung („reverse charge“) ähnelt in ihrer Zwecksetzung den Steuerentrichtungspflichten Dritter im Ertragsteuerrecht (vgl. § 43 Satz 2 AO; z.B. LSt-Abzug, KapErtragSt-Abzug, s. § 6 Rz. 7). Da die USt anders als ESt und KSt ohnehin auf eine Überwälzung auf den Zahlenden angelegt ist, kann sie zu diesem Zweck direkt bei der Steuerschuldnerschaft ansetzen.
32
Das äußere System (s. § 3 Rz. 5) von UStG und MwStSystRL setzt nicht das Steuersubjekt oder den Steuerschuldner, sondern das Steuerobjekt an die erste Stelle: In §§ 1–1c UStG bzw. Art. 2–4 MwStSystRL werden zunächst die verschiedenen Varianten steuerbarer Umsätze aufgeführt, bevor in § 2 UStG bzw. in Art. 9–13 MwStSystRL das primäre Steuersubjekt näher umschrieben wird: Der Unternehmer, dem in der Terminologie der RL der Stpfl. entspricht. Die Person des Steuerschuldners wiederum wird erst im Anschluss an die einzelnen Tatbestandsmerkmale der USt-Schuld in § 13a UStG bzw. Art. 193–199 MwStSystRL bestimmt. Dessen ungeachtet wird die steuerliche Prüfung i.d.R. beim Steuersubjekt ansetzen.
1. Unternehmer Literatur: Popitz, Hdb. der Finanzwissenschaft, Bd. 2, 1927, 180 ff.; Popitz, Kommentar zum UStG3, 1928; Schaub, Der umsatzsteuerrechtliche Unternehmerbegriff, 1988; Giesberts, Zur Qualifizierung des Unternehmerbegriffs, UR 1993, 279; Klenk, Die Funktion des Unternehmers im Mehrwertsteuersystem, UR 1993, 284; Lange, Juristische Personen des öffentlichen Rechts als Unternehmer, UR 2000, 1; Klose, Die Begriffe des Unternehmers und des Steuerpflichtigen im deutschen und europäischen Umsatzsteuerrecht, 2000; Tiede, Die Holding als umsatzsteuerlicher Unternehmer, 2001; Küffner, Umsatzsteuerliche Behandlung von juristischen Personen des öffentlichen Rechts im Lichte der 6. EG-Richtlinie, 2001; Kensbock, Der Unternehmerbegriff nach deutschem und europäischem Umsatzsteuerrecht, 2003; Blankenheim, „Steuerpflichtiger“ und Unternehmerbegriff im Umsatzsteuerrecht, 2005; Kaiser, Die umsatzsteuerliche Behandlung von Public Private Partnership Modellen, 2007; van Doesum, Contractuele samenwerkingsverbanden in de btw, Deventer 2009; Rachau, Der Unternehmerbegriff im Umsatzsteuerrecht, SteuerStud 2010, 161; Bal, The Vague Concept of „Taxable Person“ in EU VAT Law, IVM 2013, 294; Canz, Die Umsatzbesteuerung der öffentlichen Hand im Wandel, 2013; Henkow, The VAT/GST Treatment of Public Bodies, 2013.
33
Im Regelfall verwirklicht der Unternehmer den besteuerungsrelevanten Tatbestand (vgl. § 1 I Nr. 1; § 1 I Nr. 5 i.V.m. § 1a I Nr. 2a; § 15 I UStG); dementsprechend ist er meist auch Steuerschuldner bzw. Inhaber des Vorsteuervergütungsanspruchs. Der Unternehmerbegriff ergibt 1 S. aber zur Problematik Kempf, Die Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens als Möglichkeit der Bekämpfung von Umsatzsteuerausfällen und seine praktischen Probleme; und Hillek/Friedrich-Vache, Das Reverse-Charge-Verfahren im internationalen Waren- und Dienstleistungsverkehr, FS Reiß, 2008, 275 f., 251 f.
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Steuersubjekte und Steuerschuldner
Rz. 34
§ 17
sich aus § 2 UStG. Nach § 2 I 1 UStG ist Unternehmer, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt. Gewerblich oder beruflich ist gem. § 2 I 3 UStG jede nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen, auch wenn die Absicht, Gewinn zu erzielen, fehlt oder eine Personenvereinigung nur gegenüber ihren Mitgliedern tätig wird. Die Vorschrift des § 2 I UStG beinhaltet nach zutr. Verständnis keine Legaldefinition des Unternehmerbegriffs, sondern konkretisiert ihn nach Art eines Typusbegriffs (s. dazu § 5 Rz. 53)1. Genannt werden charakteristische Merkmale unternehmerischer Tätigkeit i.S.d. UStG, die im Einzelfall stärker oder schwächer ausgeprägt sein können und nicht abschließend sind. Dies entspricht nicht zuletzt einer richtlinienkonformen Auslegung der Vorschrift, weil auch Art. 9 und 10 MwStSystRL die „selbständige wirtschaftliche Tätigkeit“ eines Stpfl. nur typologisch umschreiben. In Zweifelsfällen muss dabei vor allem dem Gesichtspunkt der Praktikabilität der Besteuerung besonderes Gewicht zukommen: Die USt bestimmt als indirekte Verbrauchsteuer vornehmlich den Unternehmer statt den intendierten Steuerträger (Endverbraucher) zum Steuersubjekt und Steuerschuldner, um unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand für den Stpfl. zu vermeiden und der FinVerw. einen effektiven Steuervollzug zu ermöglichen. Die Einstufung als Unternehmer und die damit verbundene Heranziehung als „Steuereinnehmer im Interesse der Staatskasse“ (s. Rz. 12) muss daher gemessen am Organisationsgrad, an der Intensität der Betätigung und an ihrer Erkennbarkeit für die FinVerw. als adäquat erscheinen2. Daher ist den Vorschlägen nicht zu folgen, die jede entgeltliche Erbringung von Leistungen bereits als unternehmerisch ansehen wollen und lediglich nach dem Vorbild des § 19 I UStG eine Umsatzgrenze einführen wollen3. Steuerpolitisch vernünftig hat der deutsche Gesetzgeber auch keinen Gebrauch gemacht von der generellen Ermächtigung des Art. 12 MwStSystRL, nur ganz gelegentlich selbständig berufstätige Personen ebenfalls zu Unternehmern zu erklären. Einem praktikablen Steuervollzug ist damit der Vorzug vor dem Aspekt einer möglichst weitgehenden Besteuerungsneutralität (s. Erwägungsgrund 13 der Präambel zur MwStSystRL) und Belastungsgleichheit eingeräumt worden. Denkbar ist allerdings, dass die Anforderungen an den Grad der geschäftsmäßigen Organisation um der Wahrung hinreichender Wettbewerbsneutralität willen in Zukunft abgesenkt werden müssen, wenn der Trend zu Nebenerwerbstätigkeiten „Privater“ im Rahmen gewerblicher Vermittlungsportale (z.B. Verkäufe über ebay4, Fahrtenvermittlung durch UberPop5; Angebot von Handwerksleistungen über MyHammer, Wohnungsvermittlung über Airbnb, etc.) oder in Peer-to-Peer-Netzen (z.B. sog. Filesharing) anhalten sollte6. I.Ü. muss der Unternehmerbegriff mit Blick auf das gleichheitsrechtliche Gebot gleichmäßiger steuerlicher Belastung sämtlicher Konsumaufwendungen (s. Rz. 23 ff.) weit genug gefasst sein, um grds. alle Arten von Gütern und Dienstleistungen zu erfassen, die in privaten Endverbrauch eingehen können7. Daher ist es verfehlt, den Unternehmerbegriff durch subjektive Merkmale einengen zu wollen. Ebenfalls abzulehnen sind Versuche, die sog. private Vermögensverwaltung prinzipiell auszuschließen8. Auch wer entgeltlich fremdes Vermögen nutzt, tätigt grds. belastungswürdige Aufwendungen für den Verbrauch. Im Prinzip ist der Unternehmerbegriff daher 1 Schmidt-Liebig, StuW 1978, 137 (141); Offerhaus, UR 1991, 279 (279); Giesberts, UR 1993, 279 (281 ff.); Stadie, Umsatzsteuerrecht, Rz. 5.57; Ruppe/Achatz4, § 2 UStG Rz. 44; a.A. Wagner, StuW 1991, 61 (61); Lange, FS Offerhaus, 1999, 701 (712); R/K/L/Reiß, § 2 UStG Rz. 35 f.; Sölch/Ringleb/ Klenk, § 2 UStG Rz. 8; s. auch BFH BStBl. 2011, 292 (294). 2 Zutr. daher BFH BStBl. 1987, 744: Briefmarkensammler; 1987, 752: Münzsammler; abl. Mößlang, UR 1994, 10 (13); vgl. auch BFH BStBl. 1993, 379; Schweiz. Bundesgericht v. 13.4.2012 – 2 C_399/2011, BGE 138 II 251 (Auflösung privater Kunstsammlung). 3 So aber Tehler, UVR 1989, 353; s. auch Tehler, Die USt als angewandte Verkehr- und/oder Verbrauchsteuer, Diss., 1986. 4 S. BFH BStBl. 2012, 634; Weigel, UStB 2014, 234. 5 S. dazu auch die Antwort der BReg. auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke, BT-Drucks. 18/2732. 6 S. dazu auch Roth/Loose, UR 2014, 169. 7 S. dazu und zur notwendigen Abwägung mit Praktikabilitätserfordernissen auch das Schweizerische Bundesgericht v. 13.4.2012 – 2C_399/2011, ASA 2012/2013, 81 (85 f.). 8 So aber Kempke, UR 1986, 114; vgl. dagegen EuGH C-186/89, van Tiem (Erbbaurecht); für subj. Merkmale Bunjes, UR 1988, 307; dagegen Ebke/Andrees, EWS 1993, 350; völlig verfehlt Theile, Wettbewerbsneutralität, 1995, 253, der Gewinnerzielungs-/Wertschöpfungsabsicht (de lege ferenda) verlangt.
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§ 17
Rz. 35
Umsatzsteuer
sowohl in Art. 9 der MwStSystRL als auch in § 2 UStG zutr. umschrieben, wenn über die berufliche Tätigkeit hinaus auch die nachhaltige Vermögensnutzung zur Erzielung von Einnahmen erfasst wird.
1.1 Abstrakte Unternehmerfähigkeit 35
Der Kreis möglicher Umsatzsteuersubjekte macht anders als im Recht der ESt und KSt nicht an der Rechts- bzw. Unternehmensform fest. § 2 I 1 UStG enthält keine dahingehende Spezifizierung; Unternehmer kann vielmehr grds. jede Person und jedes rechtliche Gebilde sein, das zur selbständigen Erbringung steuerbarer Leistungen befähigt ist. Dies ist sachgerecht, weil es der USt nicht um die Besteuerung des Unternehmers selbst geht, sondern dieser nur aus Praktikabilitätsgründen anstelle des Endverbrauchers als Steuersubjekt herangezogen wird (s. Rz. 12). Einschränkungen ergeben sich daher nur mit Blick auf die Notwendigkeit, dass der Unternehmer als potenzieller Steuerschuldner (§ 13a I Nr. 1 UStG) für Zwecke des Steuervollzugs greifbar sein muss1. Neben voll rechtsfähigen Personen kommen somit vornehmlich diejenigen Rechtsgebilde in Betracht, die im Wirtschaftsverkehr als solche auftreten und rechtlich verselbständigte Träger von Rechten, Pflichten und Vermögen sein können. Unternehmer können daher sein: a) natürliche Personen (Einzelunternehmer); b) juristische Personen des Privatrechts (z.B. AG, GmbH, UG, e.V.2, rechtsfähige Stiftung, Genossenschaft, sowie vergleichbare ausländische Rechtsformen); c) juristische Personen des öffentlichen Rechts (s. Rz. 53 ff.); d) Personengesellschaften und teilrechtsfähige Vereinigungen. In Betracht kommen vornehmlich OHG, KG, PartG, BGB-Gesellschaft (GbR), echte Arbeitsgemeinschaft, nichtrechtsfähiger Verein (§ 54 BGB), sowie vergleichbare ausländische Rechtsformen. Innengesellschaften (z.B. stille Gesellschaften, Meta-Gesellschaften, Gewinnpools, Bürogemeinschaften) können mangels selbständiger Leistungserbringung nicht Unternehmer sein3. Die Gesellschafter selbst sind anders als im Einkommensteuerrecht (vgl. § 15 I 1 Nr. 2 EStG) als solche keine Unternehmer, können aber für Zwecke des Vorsteuerabzugs wie Unternehmer zu behandeln sein (s. Rz. 141); e) Gemeinschaften im Rechtssinne. Die Einbeziehung auch von Gemeinschaften ist zwar rechtspolitisch verfehlt, soweit sie nicht (wie z.B. die Erbengemeinschaft nach § 2032 BGB oder die Wohnungseigentümergemeinschaft i.S.d. §§ 10 ff. WEG) als Träger von Vermögensrechten verselbständigt sind, namentlich also im Fall der bloßen Bruchteilsgemeinschaft (§§ 741 ff.; 1008 ff. BGB). Es fehlt hier an der grds. gebotenen zivilrechtlichen Zuordenbarkeit umsatzsteuerrechtlich relevanter Rechte und Pflichten4. Der Gesetzgeber hat jedoch auch solchen Rechtsgebilden die Unternehmerfähigkeit zuerkannt, vgl. §§ 4 Nr. 14 Satz 2; 10 V Nr. 1 UStG5. Damit dürfte er sich auch noch im Rahmen der richtlinienrechtlich eröffneten Umsetzungsspielräume bewegen. Wird im Rahmen einer Bruchteilsgemeinschaft dauerhaft ein über das bloße gemeinschaftliche Innehaben von Vermögensgegenständen hinausgehender Zweck verfolgt, wie dies bei unternehmerischer Betätigung üblicherweise der Fall ist, so wird sie ohnehin regelmäßig durch eine GbR überlagert6. Diese ist dann als Unternehmer anzusehen; 1 S. auch R/K/L/Reiß, § 2 UStG Rz. 69. 2 S. BFH v. 28.8.2013 – XI R 4/11, BStBl. 2014, 282, Rz. 32 (Profifußballverein). 3 S. Jakob, Umsatzsteuer4, Rz. 911; Offerhaus/Söhn/Lange/Meyer, § 2 UStG Rz. 27; Sölch/Ringleb/ Klenk, § 2 UStG Rz. 28; R/K/L/Reiß, § 2 UStG Rz. 84. 4 S. Blankenheim, „Steuerpflichtiger“ und Unternehmerbegriff, 2005, 43 ff. 5 S. auch BFH BStBl. 1993, 729 (730); 1993, 734 (735); 1994, 826 (828); 1995, 30 (31 f.); 1995, 914 (916); 2008, 65 (68); 2008, 497 (499 f.); v. 16.5.2002 – V R 4/01, BFH/NV 2002, 1347 (1348 f.); dazu krit. Stadie, Umsatzsteuerrecht, Rz. 5.13. 6 Schön, DStJG 13 (1990), 81 (89 f.).
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Steuersubjekte und Steuerschuldner
Rz. 37
§ 17
f) Zweckvermögen (z.B. nichtrechtsfähige Stiftungen oder Trusts)1. Insb. die §§ 1 I Nr. 5 KStG; 267 Satz 2 AO legen nahe, dass ihre vermögensrechtliche Verselbständigung und Handlungsfähigkeit im Wirtschaftsverkehr auch für umsatzsteuerliche Zwecke als hinreichend anzusehen sind. Sondervermögen i.S.d. § 1 X KAGB (Investmentfonds) sind damit ebenfalls abstrakt unternehmerfähig; als Unternehmer tritt nach außen aber regelmäßig die Verwaltungsgesellschaft auf2. Zu großzügig nimmt die höchstrichterliche Rspr. die Unternehmereigenschaft jeglicher auch nur vorübergehender Interessengemeinschaft an, wenn sich mehrere Personen zur Verfolgung gleichgerichteter Belange organisieren und wirtschaftlich betätigen (z.B. Küchengemeinschaft einer Fabrikbelegschaft3). Derartige lose Zusammenschlüsse zu Steuersubjekten zu erklären widerspricht dem Praktikabilitätsanliegen der Technik indirekter Verbrauchsbesteuerung. Ihre Unternehmereigenschaft sollte nur bejaht werden, wenn eine GbR oder teilrechtsfähige Vereinigung begründet wurde. Vertretbar scheint es hingegen, die auf Dauer angelegte „Ehegattengemeinschaft“ als Unternehmerin anzusehen4.
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1.2 Selbständige Tätigkeit Die nachhaltige Tätigkeit im Leistungsaustausch muss selbständig ausgeübt werden. § 2 II Nr. 1 UStG enthält nur eine Negativaufzählung typischer Kriterien mangelnder Selbständigkeit natürlicher Personen. Sie sind unselbständig, soweit sie in ein Unternehmen arbeitsvertraglich so eingegliedert sind, dass sie den Weisungen des Unternehmers – zu ergänzen: nach Ort, Art, Zeit der Tätigkeit – zu folgen verpflichtet sind. Dabei kommt es nicht auf das Außenverhältnis an, nicht darauf, wie jemand sich nach außen geriert, sondern auf die vorhandene oder fehlende Abhängigkeit im Innenverhältnis. Gegen unternehmerische Selbständigkeit spricht neben mangelnder Autonomie in der Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen auch das geringe oder fehlende wirtschaftliche Risiko hinsichtlich des Erfolgs der geschuldeten Leistung und der Zufriedenheit des Vertragspartners5. Dies ergibt sich nicht zuletzt auch aus Art. 11 MwStSystRL, wonach zu prüfen ist, ob „hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers“ ein Verhältnis der Unterordnung besteht. Werden beherrschende Gesellschafter von Kapitalgesellschaften kraft Anstellungsvertrages als Leitungsorgan ihrer Gesellschaft tätig, unterliegen sie teils schon rechtlich (als Vorstandsmitglied der AG, vgl. § 76 I AktG), jedenfalls aber faktisch (als GmbH-Geschäftsführer) keiner Weisungspflicht. Gleichwohl wird die Tätigkeit unselbständig ausgeübt, weil insoweit kein hinreichendes wirtschaftliches Risiko vorliegt6. Ferner kann auch eine natürliche Person als Komplementär einer Personengesellschaft umsatzsteuerlich unselbständig sein7. Nicht aus dem Gesellschafterkreis stammende, angestellte Leitungsorgane sind damit erst recht in ihrer Eigenschaft als solche keine Unternehmer. Hingegen können Aufsichtsräte selbständig i.S.d. § 2 I UStG tätig sein, wie sich schon aus der gesetzlichen Wertung des § 3a IV 2 Nr. 3 UStG ergibt. Dies kann aber nicht pauschal festgestellt wer1 Eingehend Tyarks, Körperschaftsteuerrechtliche Zweckvermögen des privaten Rechts und ihre Behandlung im Umsatzsteuerrecht, 2010, 200 ff. 2 Vgl. EuGH C-8/03, BBL, Rz. 42 ff. Näher Berger/Steck/Lübbehüsen/Englisch, InvG/InvStG, 2010, § 11 InvStG Rz. 108; Krismanek, BB 2010, 471. 3 S. BFH BStBl. 1956, 275; weitere Beispiele bei Sölch/Ringleb/Klenk, § 2 UStG Rz. 25. 4 S. EuGH C-25/03, HE, Rz. 58; C-434/03, Charles, Charles-Tijmens, Rz. 23 f. 5 S. EuGH C-355/06, van der Steen, Rz. 21 ff.; C-154/08, Kommission/Spanien, Rz. 102 ff.; BFH BStBl. 2009, 873; FG Hamburg v. 2.8.2013 – 5 K 52/10, EFG 2013, 1967, rkr.; Sölch/Ringleb/Klenk, § 2 UStG Rz. 72; R/D/Stadie, § 2 UStG Rz. 144; R/K/L/Reiß, § 2 UStG Rz. 62. Dabei ist der Grad unternehmerischen Risikos nicht allein anhand der Auswirkungen guter Leistungen bzw. einer Schlechterfüllung auf Vergütung und Haftung im Rahmen eines konkreten Vertragsverhältnisses, sondern auch mit Blick auf mögliche wirtschaftliche Folgewirkungen zu beurteilen. 6 So i.Erg., aber mit abw. Begr. auch BFH BStBl. 2008, 912 (Vereinsvorstand); EuGH C-355/06, van der Steen (Geschäftsführer einer niederländischen GmbH); offen für die Möglichkeit unternehmerischer Geschäftsführertätigkeit aber EuGH v. 13.3.2014 – C-204/13, Malburg, EU:C:2014:147, Rz. 20 u. 38; BFH v. 26.8.2014 – XI R 26/10, UR 2015, 35, Rz. 28 m.w.N. 7 So jetzt auch BFH BStBl. 2011, 433; Abschn. 2.2 II 3 UStAE.
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§ 17
Rz. 38
Umsatzsteuer
den, sondern hängt von der Ausgestaltung des Mandats im Einzelfall, namentlich von den Möglichkeiten der Abberufung ab1.
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Sonstigen Umständen, namentlich der Bezeichnung des Dienstverhältnisses, der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, der Gewährung bezahlten Urlaubs oder der Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen kommt nur indizielle Bedeutung in Zweifelsfällen zu. Letztlich muss die Selbständigkeit anhand einer Gesamtwürdigung aller für und gegen sie sprechenden Tatsachen geprüft werden2. Dabei kann auch die einkommensteuerliche Qualifikation der Tätigkeit eine Indizwirkung entfalten3; zu determinieren vermag sie den richtlinienkonform auszulegenden umsatzsteuerrechtlichen Typusbegriff jedoch nicht. Insb. ist die Umqualifizierung von Arbeitsentgelt in Sondervergütungen als gewerbliche Einkünfte nach § 15 I Nr. 2 EStG für die USt nicht zu übernehmen4. Eine sozialversicherungsrechtliche „Scheinselbständigkeit“ steht der Annahme einer umsatzsteuerrechtlichen Unternehmereigenschaft nicht entgegen. Die Tätigkeit eines unselbständig tätigen Arbeitnehmers ist dem Unternehmer zuzurechnen, für den er tätig ist5. Dessen ungeachtet können Arbeitnehmer gegenüber ihren Arbeitgebern außerhalb des Arbeitsverhältnisses selbständig als Unternehmer Leistungen erbringen6.
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Die Begrenzung möglicher Steuersubjekte auf selbständig Tätige führt dazu, dass unter dem Aspekt gleichmäßiger Belastung von Konsumaufwendungen eine Lücke (keine Gesetzeslücke) entsteht. Wer etwa im Privathaushalt eine Haushaltshilfe anstellt, wendet für die Zwecke privaten Konsums etwas aus seinem Vermögen auf. Gleichwohl wird diese Aufwendung nicht mit USt belastet, da die Haushaltshilfe unselbständig tätig und folglich nicht Umsatzsteuerschuldner ist. Der Gesetzgeber hat die Erfassung Unselbständiger als Steuerschuldner seit jeher technisch für zu schwierig gehalten7. Das ist insofern rechtspolitisch gut vertretbar, als hieraus nur in den Ausnahmefällen privater Arbeitnehmerbeschäftigung Ungleichbelastungen resultieren. Soweit nämlich, wie im Regelfall, Unternehmer die Arbeitsleistung beziehen, wird die Belastung mit USt im Preis für die von ihnen abgesetzte Leistung nachgeholt. Nicht zu rechtfertigen ist allerdings, dass den Mitgliedstaaten in der MwStSystRL nicht zumindest die Möglichkeit eingeräumt wird, Arbeitnehmern für ihre Erwerbsaufwendungen einen Vorsteuerabzug zuzugestehen. Eine solche Entlastung nichtkonsumtiver Aufwendungen von nichtselbständig Erwerbstätigen ist nach dem Verbrauchsteuerprinzip an sich geboten. Praktikabilitätserwägungen können hiergegen jedenfalls in solchen Mitgliedstaaten (wie Deutschland) nicht angeführt werden, in denen der Arbeitnehmer eine Einkommensteuer-Jahreserklärung abgeben und alle Erwerbsaufwendungen deklarieren kann; im Rahmen dieser Erklärung könnte dann auch der Vorsteuerabzug geltend gemacht werden.
Juristische Personen, teilrechtsfähige Gesellschaften und Vereinigungen sowie Gemeinschaften und Zweckvermögen sind grds. selbständig tätig. Als unselbständig wird jedoch gem. § 2 II Nr. 2 UStG die Organgesellschaft behandelt (s. Rz. 64).
1.3 Gewerbliche oder berufliche Tätigkeit 40
Nach § 2 I 3 UStG ist jede nachhaltig zur Erzielung von Einnahmen ausgeübte Tätigkeit eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit. Hierbei handelt es sich um charakteristische Merkmale bestimmter Erwerbstätigkeiten, deren selbständige Ausübung nach der Wertung des Gesetzgebers eine Heranziehung als „Steuereinsammler“ praktikabel und verhältnismäßig erscheinen 1 Generell bejahend hingegen BFH BStBl. 1972, 810; 1997, 255; 2010, 88. 2 S. BFH BStBl. 2008, 912; 2009, 873; Abschn. 2.2 I 5 UStAE; BMF BStBl. 2007, 503 (modifiziert durch BMF BStBl. 2011, 490). 3 S. EuGH C-154/08, Kommission/Spanien, Rz. 96; BFH BStBl. 2011, 433. 4 BFH BStBl. 2011, 433 (435); Abschn. 2.2 II 2 UStAE. 5 S. BFH v. 29.1.2008 – V B 201/06, BFH/NV 2008, 827 m.w.N. 6 Vgl. BFH BStBl. 2008, 443 (Pkw-Vermietung an Arbeitgeber). 7 Begr. des Entwurfs eines UStG, RT-Drucks. 1914/18 Nr. 1461, 25 f.; Nr. 1745, 3 f.; im Auszug abgedruckt bei Popitz, UStG 1918, 1918, 9, 22 f.; Söhn, StuW 1975, 4 f.
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Steuersubjekte und Steuerschuldner
Rz. 43
§ 17
lässt. Die beiden Kriterien der Nachhaltigkeit und der Einnahmeerzielungsabsicht sind i.d.S. wesentliche Charakteristika des Typusbegriffs „Unternehmer“. a) Nachhaltig soll eine Tätigkeit nach Ansicht des BFH jedenfalls dann sein, wenn mehrere gleichartige Handlungen unter Ausnutzung derselben Gelegenheit oder desselben dauernden Verhältnisses vorgenommen werden oder wenn ein Dauerverhältnis geschaffen wird1. Über dieses temporale Element hinaus wird das Kriterium der Nachhaltigkeit in der höchstrichterlichen Rspr. konturlos weit interpretiert. Zu berücksichtigen seien demnach insb. auch die Dauer und die Intensität des Tätigwerdens, die Höhe der Erlöse, die Marktorientierung bei Umsatzvorbereitung, Werbung und Vertrieb, die Zahl der ausgeführten Umsätze, die planmäßige Organisation bzw. Durchführung der Tätigkeit, oder das Unterhalten eines Geschäftslokals. Maßgebend soll dabei eine Gesamtbetrachtung aller Umstände und ihrer jeweiligen Ausprägung sein2.
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Die MwStSystRL benennt das Kriterium der Nachhaltigkeit in Art. 9 nicht ausdrücklich. Der EuGH zieht zwar ähnliche Kriterien zur Feststellung einer „wirtschaftlichen“ (unternehmerischen) Tätigkeit heran wie der BFH. Er stellt dabei aber maßgeblich darauf ab, ob diese in der Gesamtschau für eine „aktive“ Teilnahme am Wirtschaftsverkehr sprechen, wie sie für die in Art. 9 MwStSystRL aufgezählten Berufsgruppen und Betätigungsformen charakteristisch ist3. Dieser Ansatz entspricht besser dem Anliegen der USt als indirekter Verbrauchsteuer, nur solche Personen und Rechtsgebilde als Stpfl. einzustufen, die nach ihrem geschäftlichen Organisationsgrad eine gewisse Gewähr für die ordnungsgemäße Erfüllung der Pflichten eines Fiskalgehilfen des Staates bieten und denen dies deshalb auch zumutbar ist.
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Da nach dem eindeutigen Wortlaut des § 2 I 3 UStG jegliche nachhaltig mit Einnahmeerzielungsabsicht unternommene Tätigkeit als „gewerblich oder beruflich“ und damit potenziell unternehmerisch zu qualifizieren ist, muss das Merkmal der Nachhaltigkeit richtlinienkonform auf den zentralen Gesichtspunkt eines geschäftsmäßig organisierten Marktauftritts hin ausgerichtet werden. Den in der Rspr. des BFH entwickelten Kriterien (s.o.) kommt dabei die Bedeutung typischer Begleitumstände zu, die letztlich einer Gesamtwürdigung unterzogen werden müssen. Anders als im Ertragsteuerrecht (vgl. § 15 II EStG) ist Nachhaltigkeit jedenfalls nicht primär oder gar ausschließlich über die zeitliche Dimension der jeweiligen Betätigung zu bestimmen; gegenteilige Rechtsprechungstendenzen sind verfehlt4. Es sind lediglich umgekehrt solche geschäftlichen Aktivitäten aus dem Unternehmerbegriff auszuscheiden, die bloß gelegentlich erfolgen und keinen besonderen organisatorischen Aufwand erfordern (Umkehrschluss aus Art. 12 I MwStSystRL)5.
43
Die vorstehenden Erwägungen spielen auch für die Abgrenzung von unternehmerischer Betätigung und schlichter Vermögensverwaltung eine Rolle. Auch insoweit können die ertragsteuerlichen Wertungen (s. auch § 14 Satz 3 AO) nicht unbesehen übernommen werden. Die Vermietung oder Verpachtung von Gegenständen, namentlich Immobilien, lässt sich ganz überwiegend als nachhaltig im obigen Sinne und damit als „gewerblich oder beruflich“ i.S.d. § 2 I 3 UStG charakterisieren6. Der Vermieter/Verpächter ist somit umsatzsteuerlich Unternehmer (s. auch § 4 Nr. 12 UStG). Demgegenüber fehlt es bei der Kapitalanlage in Wertpapiere und 1 BFH BStBl. 1969, 282. 2 S. BFH BStBl. 1987, 744 (745): Briefmarkensammler; 1986, 874 (876): Wettbewerbsverbot; 1991, 776 (776 f.): Jahreswagen; 1994, 54: Berufsspieler; 2007, 148 (149): Testamentsvollstrecker; 2011, 524 (527): Aufbau einer Fahrzeugsammlung; 2012, 634 (636 f.): Handel auf ebay. Eingehend zur Entwicklung der Rspr. R/D/Stadie, § 2 UStG Rz. 251 ff. 3 Instruktiv EuGH C-180/10 u.a., Slaby, EuGHE, 2011, 589, Rz. 37; v. 19.7.2012 – C-263/11, Re¯dlihs, EU:C:2012:497, Rz. 30 ff. S. auch das anhängige Verfahren C-331/14 (Bau eines Einkaufszentrums auf „privatem“ Grundstück). 4 Wie hier Bal, IVM 2013, 294 (295 f.); tendenziell ebenso nunmehr R/K/L/Reiß, § 2 UStG Rz. 30 und 38.1 ff. 5 S. EuGH C-230/94, Enkler, EuGHE 1996, 352, Rz. 20; v. 19.7.2012 – C-263/11, Re¯dlihs, EU:C:2012:497, Rz. 32; v. 20.3.2014 – C-72/13, Gmina Wrocław, EU:C:2014:197, Rz. 16 f. 6 Grundl. EuGH C-230/94, Enkler, Rz. 21 f.
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§ 17
Rz. 44
Umsatzsteuer
Finanzanlageprodukte selbst bei häufiger Umschichtung des Portfolios oder hohem Anlagevolumen regelmäßig an einem für Händler typischen Marktauftritt1. Derartige Aktivitäten begründen daher üblicherweise keine Unternehmereigenschaft. 44
b) Nach § 2 I 3 UStG genügt für die Annahme einer gewerblichen oder beruflichen Betätigung die Einnahmeerzielungsabsicht des Stpfl. Es wird mithin keine Gewinnerzielungsabsicht verlangt. Bloß kostendeckend operierende Personen und Rechtsgebilde sind damit ebenso potenzielle Unternehmer wie gemeinnützige, nicht gewinnorientierte Einrichtungen2. Auch die Liebhabertätigkeit i.S.d. Einkommensteuerrechts kann unternehmerisch sein3. Das verwirklicht konsequent die Verbrauchsteueridee4. Die Umsatzsteuerbelastung des Endverbrauchers als intendiertem Steuerträger darf grds. nicht davon abhängen, ob seine Konsumaufwendungen einem gewinnorientierten oder einem verlustträchtigen Anbieter zufließen. Etwaigen überschießenden Begünstigungswirkungen im Rahmen des Vorsteuerabzugs ist im Kontext der diesbezüglich Regelungen entgegenzuwirken (s. Rz. 344).
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c) Für den Unternehmerbegriff ist konstituierend, dass die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit auf die Erbringung von steuerbaren Umsätzen abzielt5. Dies entspricht dem Sinn und Zweck des § 2 I 1 UStG, den Unternehmer als primäres Steuersubjekt der USt zu charakterisieren, und wird durch die enge sprachliche und systematische Anbindung an den Tatbestand steuerbarer Umsätze in § 1 I Nr. 1 UStG untermauert6. Unternehmer kann daher unabhängig von der Rechtsform nicht sein, wessen Tätigkeit nicht auf steuerbare entgeltliche Leistungserbringung an andere gerichtet ist7.
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An einer steuerbaren Leistungserbringung an andere fehlt es z.B. bei Gesellschaftern, die sich auf das Halten von Beteiligungen beschränken8. Dies gilt auch für nur vermögensverwaltende sog. passive Holdinggesellschaften. Nach der nunmehr gefestigten Rspr. des EuGH9 ist eine Holding nur dann als Unternehmer zu behandeln, wenn sie über das Innehaben und das Verwalten der Beteiligungen hinaus entgeltlich – und sei es nur gegenüber ihren Beteiligungsgesellschaften – Leistungen erbringt. Dabei stellen Dividenden u.a. Gewinnbezüge kein Entgelt für die Überlassung von EK oder für sonstige an die Beteiligungsgesellschaft erbrachte Leistungen dar10. 1 S. EuGH C-155/94, Wellcome Trust, Rz. 35 f.; C-77/01, EDM, Rz. 59; C-8/03, BBL, Rz. 41; C-465/03, Kretztechnik, Rz. 20; v. 30.5.2013 – C-651/11, X BV, EU:C:2013:346, Rz. 36; BFH BStBl. 1973, 172 (173); 1987, 512 (515). 2 Unklar für den Sonderfall politischer Parteien allerdings EuGH C-267/08, SPÖ Landesorganisation Kärnten. 3 S. EuGH v. 20.6.2013 – C-219/12, Fuchs, EU:C:2013:413, Rz. 25; und dazu Sutter, ÖStZ 2012, 291. S. ferner BFH BStBl. 2009, 828 (830): Pferdezucht; grundl. Prechtl, Liebhaberei im Umsatzsteuerrecht, 2007; Widmann, FS Kirchhof, 2013, § 183 Rz. 6; a.A. Stadie2, § 2 UStG Rz. 91 ff. 4 So auch R/K/L/Reiß, § 2 UStG Rz. 22; Bal, IVM 2013, 294 (295). 5 BFH BStBl. 1997, 368 (370); 2009, 741 (743); Giesberts, UR 1993, 279 (281); Klose, Die Begriffe des Unternehmers und des Steuerpflichtigen, 2000, 48 f.; Korf, DB 2009, 758 (762); Reiß, UR 2010, 797 (805); a.A. Blankenheim, „Steuerpflichtiger“ und Unternehmerbegriff, 2005, 86 ff. 6 S. dazu auch BFH BStBl. 1988, 916 (918); Sölch/Ringleb/Wagner, § 15 UStG Rz. 234; vgl. ferner BFH BStBl. 80, 622 (624); skeptisch hingegen Tiedtke, UR 2008, 373 f. 7 S. BFH BStBl. 1980, 622; Rose, StbJb. 1989/90, 36 f.; EuGH 89/81, Hong Kong Trade. 8 S. BMF BStBl. 2006, 614; BFH BStBl. 1987, 512; 1988, 557; 1989, 122; Schön, DStJG 13 (1990), 94; EuGH C-60/90, Polysar; vgl. auch EuGH C-142/99, Floridienne & Berginvest; Wäger, FS Reiß, 2008, 229 (240). 9 S. EuGH C-435/05, Investrand; C-16/00, Cibo Participations; C-77/01, EDM; C-102/00, Welthgrove; C-142/99, Floridienne & Berginvest; C-60/90, Polysar; vgl. auch BFH BStBl. 1988, 557; v. 9.2.2012 – V R 40/10, BFH/NV 2012, 681; Jakob, Umsatzsteuer4, Rz. 934; Tiede, Die Holding als umsatzsteuerlicher Unternehmer, 2001; Zorn in Achatz/Tumpel (Hrsg.), USt im Konzern, 2003, 19 (23 f.); abl. Stadie, UR 2007, 1. Zur abweichenden Rechtslage in der Schweiz s. Luuk, ASA 2011, 31. 10 S. EuGH C-333/91, Sofitam, Rz. 13; C-142/99, Floridienne & Berginvest, Rz. 21 ff.; C-16/00, Cibo Participations, Rz. 41 ff.; C-77/01, EDM, Rz. 63 ff.; BFH BStBl. 1980, 622 (624); 1993, 529 (530); v. 1.2.2007 – V R 69/05, BFH/NV 2007, 1205 (1206 f.). Dazu näher Rz. 122 f.
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Steuersubjekte und Steuerschuldner
Rz. 49
§ 17
1.4 Beginn und Ende der Unternehmereigenschaft Der Zeitpunkt des Beginns der Unternehmereigenschaft ist vor allem für den Vorsteuerabzug von Bedeutung, weil dieser nach gegenwärtiger, im Wortlaut des § 15 I 1 UStG angelegter Besteuerungspraxis grds. nur von Stpfl. beansprucht werden kann, die schon beim Leistungsbezug Unternehmer sind (zur Kritik s. Rz. 331). Neutralitätsprinzip und Konsumsteuergedanke fordern dabei eine Entlastung von den Vorsteuern auf sämtliche Eingangsleistungen, die im Rahmen einer (geplanten) unternehmerischen Betätigung i.S.d. § 2 I 1 UStG Verwendung bei der Erbringung von steuerbaren Ausgangsumsätzen finden (sollen). Daher beginnt die Unternehmereigenschaft insb. für die Zwecke des Vorsteuerabzugs anerkanntermaßen bereits mit Vorbereitungs- und Gründungshandlungen1. Kommt es nicht wie ursprünglich geplant zur Ausführung von steuerbaren Ausgangsumsätzen (gescheiterte Unternehmensgründung), so entfällt die Unternehmereigenschaft gleichwohl nicht rückwirkend und es kann folglich ein Vorsteuerabzug beansprucht werden, weil ansonsten entgegen dem Neutralitäts- und Verbrauchsteuerprinzip eine Belastung anderer als Konsumaufwendungen einträte (näher Rz. 329)2. Bei der Gründung von später unternehmerisch tätigen Kapitalgesellschaften ist bereits der (gesellschaftsrechtlich nicht identischen) Vorgründungsgesellschaft die Unternehmereigenschaft zuzuerkennen, selbst wenn sie selbst absehbar keine steuerbaren Umsätze erbringen wird3.
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Die Unternehmereigenschaft dauert an, solange der Unternehmer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit i.S.d. § 2 I UStG selbständig ausübt. Sowohl um der möglichst vollständigen steuerlichen Erfassung von Ausgangsumsätzen willen, wie auch zwecks Sicherstellung eines im Lichte des Neutralitätsprinzips gebotenen Vorsteuerabzugs ist dabei eine extensive Auslegung des Zeitraums unternehmerischer Aktivität geboten. Selbige besteht auch noch fort, wenn der Unternehmer seine eigentliche Geschäftstätigkeit i.S.d. § 2 I 1 UStG eingestellt hat, solange er das eigene Unternehmen i.S.d. § 2 I 2 UStG noch nicht vollständig abgewickelt hat4. Letzteres wird üblicherweise erst mit Übertragung des Betriebs auf Dritte oder durch Abschluss der Liquidation bewirkt5. Die in diesem Zeitraum noch realisierten Umsätze sind daher grds. steuerbar i.S.d. § 1 I Nr. 1 UStG einschließlich der durch die Entstehung von Verwertungsrechten an etwaigem Sicherungseigentum ausgelösten Umsätze (s. dazu Rz. 98). Für die im Abwicklungszeitraum bezogenen Eingangsleistungen kann dementsprechend ein Vorsteuerabzug nach § 15 I 1 Nr. 1 UStG beansprucht werden. I.Ü. führt die Insolvenz des Unternehmens anerkanntermaßen als solche nicht zum Ende der Unternehmereigenschaft des Inhabers; vielmehr wird ihm das Handeln des Insolvenzverwalters zugerechnet.
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Die Unternehmereigenschaft endet, wenn die Geschäftstätigkeit des Unternehmers endgültig eingestellt und die Unternehmensabwicklung objektiv abgeschlossen ist, weil keine Verwertungshandlungen mehr erfolgen bzw. keine Verwertungsbemühungen mehr nachweisbar sind. Die dem ehemaligen Unternehmer dann noch verbleibenden Unternehmensgegenstände sind als entnommen anzusehen, soweit sie ihrer Art nach einer privaten Verwendung zugeführt werden können. Insoweit löst die Betriebsaufgabe oder -übertragung eine Entnahmebesteuerung nach § 1 I Nr. 1 i.V.m. § 3 Ib UStG aus (s. Rz. 164 ff.)6, um die gebotene Belastung (mutmaßlichen) privaten Endverbrauchs sicherzustellen. Soweit Unternehmensvermögen hingegen nur betrieblich nutzbar ist, würde eine an die bloße Unternehmensaufgabe anknüpfende Entnahme-
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1 Grundl. EuGH 268/83, Rompelman, Rz. 23. 2 Grundl. EuGH C-110/94, INZO, Rz. 22. 3 S. EuGH C-137/02, Faxworld, Rz. 27 ff., 43; eingehend Hamm, Vorgesellschaften im Steuerrecht, 2013, S. 199 ff. S. auch Rz. 321. 4 S. R/K/L/Reiß, § 2 UStG Rz. 91. 5 Noch weitergehend BFH BStBl. 1993, 696 (696); Abschn. 2.6 VI 3 UStAE; Ruppe/Achatz4, § 2 UStG Rz. 142: auch bis zum Erlöschen sämtlicher unternehmensbezogener Verbindlichkeiten. Dies überspannt jedoch den Wortlaut des § 2 I UStG (s. Stadie, Umsatzsteuerrecht, Rz. 5.151) und kann zu einer gemessen an Praktikabilitätsaspekten unangemessen langen Fortdauer potenzieller Steuerschuldnerschaft führen, ist also auch teleologisch verfehlt. 6 S. BFH BStBl. 2002, 557.
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§ 17
Rz. 50
Umsatzsteuer
besteuerung gegen das Verbrauchsteuerprinzip verstoßen1. In Art. 18 Buchst. c MwStSystRL ist dies nur optional vorgesehen; der deutsche Gesetzgeber hat aber von dieser Ermächtigung – zu Recht – keinen Gebrauch gemacht2. Das Unternehmen muss in der Konsequenz insoweit als fortbestehend fingiert werden; eine spätere Veräußerung solcher Gegenstände ist dementsprechend umsatzsteuerbar nach § 1 I Nr. 1 UStG3. Von einer Entnahmebesteuerung auch privat nutzbarer Gegenstände kann nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut sowie im Umkehrschluss zur Regelung betreffend die Unternehmensübertragung im Ganzen (§ 1 Ia UStG, s. Rz. 180 ff.) grds. auch dann nicht abgesehen werden, wenn die Betriebseinrichtung später für eine andersartige, neu aufgenommene unternehmerische Tätigkeit verwendet wird4. Dem Neutralitätsprinzip wäre hier vielmehr durch eine Einlagenentsteuerung (s. Rz. 337) Rechnung zu tragen. Anders verhält es sich wegen des Grundsatzes der Unternehmenseinheit (Rz. 52) jedoch, wenn die neue unternehmerische Betätigung noch vor der vollständigen Abwicklung der vorherigen Aktivitäten begonnen wird.
50
Das Neutralitätsprinzip verlangt darüber hinaus, einen Vorsteuerabzug auch noch insoweit zuzugestehen, als die Belastung mit Vorsteuern durch die ehemalige Unternehmertätigkeit veranlasst ist. In analoger Anwendung des § 15 I Nr. 1 UStG ist ein Vorsteuerabzug damit auch dann noch möglich, wenn die werbende Tätigkeit (längst) abgewickelt wurde5, z.B. bei Fortdauer eines Mietvertrags wg. fehlender Kündigungsmöglichkeit.
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Mit dem Tod des Unternehmers endet dessen Unternehmereigenschaft. Sie geht nicht auf den Erben über, falls dieser nicht selbst durch eigene nachhaltige Umsätze die Unternehmereigenschaft begründet6. Der Erbfall ist bei richtlinienkonformer Auslegung des § 3 Ib UStG im Umkehrschluss zum (nicht umgesetzten) Art. 18 Buchst. c MwStSystRL dennoch nicht als Globalentnahme des Unternehmensvermögens einzustufen. Vielmehr bleibt das bisherige Unternehmensvermögen infolge der eingetretenen Gesamtrechtsnachfolge umsatzsteuerlich verhaftet, so dass (erst) dessen Veräußerung oder Überführung in das Privatvermögen durch den Erben als steuerbarer Umsatz i.S.d. § 1 I Nr. 1 UStG (ggf. i.V.m. § 3 Ib UStG) zu werten ist. Der unternehmerische Status des Erblassers wird dem Erben somit für die Zwecke dieser Verwertungshandlungen zugerechnet7.
1.5 Unternehmenseinheit 52
Das Unternehmen umfasst „die gesamte gewerbliche oder berufliche Tätigkeit des Unternehmers“, § 2 I 2 UStG. Daraus folgt, dass ein Unternehmer immer nur ein Unternehmen haben kann. Mehrere „Betriebe“, „Betriebsstätten“ oder „Firmen“ desselben Unternehmers bilden umsatzsteuerrechtlich ein Unternehmen, eine Unternehmenseinheit. Das gilt auch, wenn der Gegenstand der Betriebe ein ganz unterschiedlicher ist (etwa Gastwirtschaft und Autoreparaturwerkstatt). Zwischen den einzelnen Unternehmensteilen (Teilbetrieben) kann weder ein Leistungsaustausch stattfinden, noch führt die Überführung von Gegenständen aus einem Bereich in den anderen zu unentgeltlichen Wertabgaben nach § 3 Ib Nr. 1 und IXa Nr. 1 UStG – es handelt sich vielmehr um sog. (nicht steuerbare) Innenumsätze. Von der richtlinienrechtlichen Möglichkeit, solche Innenumsätze in bestimmten Fällen zu besteuern (s. Art. 18 Buchst. a MwStSystRL), hat der deutsche Gesetzgeber keinen Gebrauch gemacht. Nichtsteuerbar sind sie insb. regelmäßig auch dann, wenn sich die aufnehmende Niederlassung in einem anderen 1 Anders BFH v. 21.5.2014 – V R 20/13, BFHE 246, 226, Rz. 14 ff., mit Anm. Heuermann, MwStR 2014, 597 (598) (Entnahme einer Verseilmaschine). 2 S. EuGH C-322/99 u.a., Fischer und Brandenstein, Rz. 87. 3 S. zur Parallelproblematik im Ertragsteuerrecht BFH BStBl. III 1957, 209. 4 A.A. Ruppe/Achatz4, § 2 UStG Rz. 145. 5 So i.Erg. auch EuGH C-32/03, I/S Fini H, Rz. 24 ff. 6 S. BFH BStBl. 2011, 241. 7 S. BFH BStBl. 2011, 241 (243); Reiß, StVj 1989, 103 (125 f.); Probst, UR 1992, 221; Jakob, Umsatzsteuer4, § 5 F II; Ruppe/Achatz4, § 2 UStG Rz. 154; R/K/L/Reiß, § 2 UStG Rz. 94.1; Abschn. 2.6 Vf. UStAE.
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Steuersubjekte und Steuerschuldner
Rz. 54
§ 17
Mitgliedstaat befindet1. Eine Ausnahme bildet hier die Steuerbarkeit des sog. innergemeinschaftlichen Verbringens von Unternehmensgegenständen (insb. Waren) gem. § 1 I Nr. 1 i.V.m. §§ 3 Ia; 1a II UStG (s. Rz. 418). Sie soll eine Besteuerung nach dem Bestimmungslandprinzip sicherstellen. Eine weitere Ausnahme hat der EuGH jüngst für die Organschaft kreiert (Rz. 64). Die EU-Kommission zieht derzeit als eine mögliche Reformoption (vgl. Rz. 7) in Betracht, entsprechend der Regelung zum innergemeinschaftlichen Verbringen auch die grenzüberschreitende Weitergabe eingekaufter sonstiger Leistungen i.S.d. § 3 IX UStG (Rz. 106) an einen anderen Unternehmensteil der Besteuerung zu unterwerfen2.
1.6 Unternehmereigenschaft von juristischen Personen des öffentlichen Rechts a) Nach § 2 III 1 UStG können juristische Personen des öffentlichen Rechts (jPdöR) nur im Rahmen ihrer Betriebe gewerblicher Art (§§ 1 I Nr. 6; 4 KStG) und ihrer land- und forstwirtschaftlichen Betriebe unternehmerisch tätig sein3. Ausnahmen hiervon werden kasuistisch ergänzend in § 2 III 2 UStG genannt. Ausweislich seines Wortlauts und seiner systematischen Stellung begründet § 2 III UStG nicht die Unternehmereigenschaft der jPdöR, sondern schränkt diese über § 2 I UStG hinaus ein4. Es sind also zunächst die Tatbestandsvoraussetzungen der letztgenannten Vorschrift und sodann in deren Rahmen § 2 III UStG zu prüfen. Getragen wird diese Einschränkung der Unternehmereigenschaft durch die Erwägung, jPdöR als staatliche Stellen nur insoweit der Besteuerung zu unterwerfen, als dies zur Wahrung von Wettbewerbsneutralität notwendig ist5; dies geht auch aus Art. 13 I UAbs. 2 MwStSystRL klar hervor.
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Die Einbeziehung von jPdöR als Steuersubjekte der USt allein dann, wenn ansonsten Verzerrungen im Wettbewerb mit privaten Anbietern entstünden, ist konzeptionell verfehlt. Dieser Ansatz greift zu kurz, weil die als indirekte Verbrauchsteuer konzipierte USt nicht auf die Belastung der jPdöR selbst, sondern auf diejenige der Abnehmer staatlicher Leistungen abzielt. Unter Verbrauchsteueraspekten müssten daher grds. alle entgeltlichen Versorgungsleistungen der öffentlichen Hand erfasst werden, unabhängig davon ob sie im Wettbewerb oder staatsmonopolistisch, auf hoheitlicher oder auf gewerblicher Basis erbracht werden6. Nur so wäre eine gleichmäßige Steuerbelastung von Konsumaufwendungen entsprechend der darin zum Ausdruck kommenden Leistungsfähigkeit sichergestellt7. Lediglich bei existenziell notwendigen Leistungen der Daseinsvorsorge wäre zwingend eine – objektive – Steuerbefreiung (mit Vorsteuerabzug, s. Rz. 207 ff.) vorzusehen. Vor diesem Hintergrund ist ferner die mit § 2 III UStG einhergehende Rechtsformabhängigkeit der Besteuerung ein gravierender Systembruch. Nicht zuletzt bildet § 2 III UStG in der Praxis einen Vorwand für gravierende Vollzugsdefizite
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1 S. EuGH C-210/04, FCE Bank, Rz. 34 ff.; v. 17.9.2014 – C-7/13, Skandia America Corporation, EU:C:2014:2225, Rz. 24–27. 2 S. Commission Staff Working Document SWD(2014) 338 final, v. 29.10.2014. 3 Dazu grundl. Wagner, DStJG 13 (1990), 59 ff.; Weich, Öffentliche Hand im System der Umsatzsteuer, Diss., 1996; Lange, UR 2000, 1; Strahl, FS Korn, 2005, 489; Sterzinger, DStR 2010, 2217; Kraeusel, UR 2010, 480; Seer/Klemke, BB 2010, 2015; Ismer/Keyser, UR 2011, 81; Dziadkowski, BB 2011, 2031. Zur MwSt im Öffentlichen Sektor der EU-Mitgliedstaaten s. Kommissionsstudie von Copenhagen Economics/KPMG, VAT in the public sector and exemptions in the public interest, Final Report for TAXUD/2011/DE/334. Zur historischen Entwicklung s. Dziadkowski, IStR 2009, 835 f. S. ferner Strahl, UR 2012, 381 (Kooperationen von jPdöR); Kronawitter, KStZ 2012, 81 (83 ff.). 4 S. BFH v. 28.10.2004 – V R 19/04, BFH/NV 2005, 725 (726); v. 15.4.2010 – V R 10/09, BFH/NV 2010, 1574 (1576); Sölch/Ringleb/Klenk, § 2 UStG Rz. 230; Lange, UR 2000, 1 (3). S. zur vergleichbaren Funktion des Art. 13 MwStSystRL auch EuGH C-554/07, Kommission/Irland, Rz. 41. 5 S. dazu Seer/Wendt, DStR 2001, 825 (829); Seer/Klenk, BB 2010, 2015; s. auch BT-Drucks. 4/1590, 36. 6 Gl.A. Söhn, StuW 1976, 1 (8 ff.); Brezing, UStKongrBericht 1982/83, 25 (48), sieht in der Erfassung der hoheitlichen Tätigkeit „einen ganz entscheidenden Bruch mit der deutschen Rechtstradition“; er erkennt nicht, dass die technisch-positivistische Tradition des Verkehrsteuerdenkens einem Verbrauchsteuergesetz nicht gerecht werden kann; dagegen zutr. Wagner, DStJG 13 (1990), 59. 7 S. auch P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 102 Rz. 10 f.; Henkow, The VAT/GST Treatment of Public Bodies, 2013, 19 f.
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§ 17
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Umsatzsteuer
bei der Besteuerung von jPdöR1. Die zu einer Ausweitung der Besteuerung von Leistungen der jPdöR tendierenden Reformbestrebungen der EU-Kommission2 sehen sich gleichwohl in den Mitgliedstaaten – insb. auch in Deutschland – erheblichem, wahltaktisch motiviertem Widerstand ausgesetzt. 55
b) Der Anwendungsbereich der Vorschrift erstreckt sich auf alle Einrichtungen der unmittelbaren und der mittelbaren Staatsverwaltung. Zur unmittelbaren Staatsverwaltung zählen alle Behörden und rechtlich unselbständigen Einrichtungen von Bund und Ländern. Diese sind allerdings nur selten unternehmerisch i.S.d. § 2 I UStG tätig, etwa im Bereich der Landesbetriebe Liegenschaftsverwaltung. Von größerer praktischer Bedeutung ist § 2 III UStG für die Einrichtungen der mittelbaren Staatsverwaltung. Hierzu zählen die Gemeinden einschließlich ihrer Eigenbetriebe sowie die übrigen Gebietskörperschaften der Länder; ferner sonstige Körperschaften, rechtsfähige Anstalten oder Stiftungen des öffentlichen Rechts. Körperschaften sind bspw. Universitäten, Studentenwerke und gesetzliche Krankenkassen; Anstalten bspw. Rundfunkanstalten und Sparkassen; Stiftungen bspw. Studienstiftung des deutschen Volkes, Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
Auch kirchliche Einrichtungen können § 2 III UStG unterfallen, sofern ihnen der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zuerkannt wurde3. Keine jPdöR ist hingegen mangels persönlicher Eingliederung in die Staatsverwaltung der Beliehene4. Ebenfalls nicht von der Sonderregelung des § 2 III UStG erfasst sind privatrechtliche Gesellschaften oder Vereinigungen, deren Anteile ganz oder überwiegend von einer jPdöR gehalten werden (sog. Organisationsprivatisierung, z.B. Stadtwerke-GmbH). Für sie gilt § 2 I UStG uneingeschränkt. 56
c) Von zentraler Bedeutung ist im Rahmen des § 2 III UStG die Rechtsfigur des Betriebs gewerblicher Art. Sie wird umsatzsteuerrechtlich nicht eigenständig definiert; stattdessen nimmt § 2 III UStG ausdrücklich Bezug auf das ertragsteuerliche Konzept des § 4 KStG. Diese Verweisungstechnik ist inadäquat. Der vom Gesetzgeber angestrebte Gleichlauf der Abgrenzung von gewerblicher und hoheitlicher Tätigkeit im Umsatzsteuerrecht und im Körperschaftsteuerrecht5 missachtet die umsatzsteuerliche Notwendigkeit, die Vorgaben des Art. 13 MwStSystRL in ihrer unionsrechtsautonomen Auslegung (s. § 4 Rz. 30) in nationales Recht umzusetzen. Der Anbindung der Umsatzsteuer-Erhebung bei der jPdöR an tradierte ertragsteuerliche Konzepte wohnt daher unionsrechtliches Konfliktpotenzial inne. Der BFH sucht dem durch eine extensive „richtlinienkonforme Auslegung“ des § 2 III UStG zu begegnen und modifiziert oder ignoriert alle Tatbestandsmerkmale des § 4 KStG, die sich nicht mit den Kriterien des Art. 13 MwStSystRL (in ihrer Interpretation durch den EuGH) vereinbaren lassen6. Die höchstrichterliche Rspr. hat damit faktisch einen eigenständigen umsatzsteuerrechtlichen Begriff des BgA kreiert. Diese „Auslegung“ entgegen dem klaren Wortlaut und dem 1 S. dazu Bericht des Rechnungshofes v. 2.11.2004, BT-Drucks.15/4081, 10 f. Zur Möglichkeit einer Konkurrentenklage privater Anbieter s. Englisch, StuW 2008, 43; Kohlhepp, DStR 2011, 145; sowie EuGH C-430/04, Feuerbestattungsverein Halle. 2 Vgl. das Weißbuch zur Zukunft der Mehrwertsteuer v. 6.12.2011, KOM(2011) 851 endg., S. 10 f.; basierend auf der Studie von Copenhagen Economics, VAT in the public sector and exemptions in the public interest, Final Report for TAXUD/2011/DE/316, 2011, insb. S. 35. Zu weiteren Reformmodellen s. Schmitz/Möser, UR 2014, 607. 3 S. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 V WRV; dazu Englisch in Birk/Ehlers (Hrsg.), Aktuelle Rechtsfragen der Kirchensteuer, 193 (194); Plückebaum/Malitzky/Widmann, § 2 III UStG Rz. 25 ff.; Schön, DStZ 1999, 701 m.w.N.; Abschn. 2.11 I 1 UStAE. 4 S. EuGH C-235/85, Kommission/Niederlande, Rz. 21 f.; C-359/97, Kommission/Vereinigtes Königreich, Rz. 55; BGH v. 1.10.2009 – VII ZR 183/08, UR 2010, 737 (738); s. auch EuGH C-154/08, Kommission/Spanien, Rz. 113 ff. 5 S. den Bericht des Abgeordneten Toussaint zu den Beschlüssen des Finanzausschusses betr. den Entwurf des UStG 1967, BT-Drucks. V/1581, 11. 6 S. BFH BStBl. 2003, 375 (377); v. 31.7.2007 – V B 44/06, BFH/NV 2007, 2365 (2366); BStBl. 2010, 863 (867); v. 15.4.2010 – V R 10/09, BFH/NV 2010, 1574 (1577). Die Grundlagen hierfür legten Hüttemann, Die Besteuerung der öffentlichen Hand, 2002, 170; Lange, UR 2000, 1 (7 f.); Seer/Wendt, DStR 2001, 825 (831 f.).
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§ 17
erkennbaren Willen des Gesetzgebers sprengt indes die Grenzen richtlinienkonformer Rechtsanwendung; der BFH betätigt sich als Reparaturgesetzgeber contra legem1. I.E. sieht § 4 KStG zunächst eine Reihe von Positivmerkmalen des BgA vor. Keine eigenständige Bedeutung kommt dabei den Kriterien der nachhaltigen, wirtschaftl. Betätigung (jenseits der in § 2 III UStG gesondert erfassten LuF) sowie der Einnahmeerzielungsabsicht zu, weil sie bereits über § 2 I UStG vorausgesetzt werden. Das Merkmal der „wirtschaftlich herausgehobenen Einrichtung“, das keine Entsprechung in Art. 13 MwStSystRL findet, wird vom BFH ebenfalls als umsatzsteuerrechtlich irrelevant erachtet2.
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Abzulehnen ist insoweit in der Tat die von der FinVerw. in diesem Kontext präferierte Indizwirkung absoluter Umsatzuntergrenzen3, ebenso aber die in der ertragsteuerlichen Rspr. vorgenommene Konkretisierung anhand des Verhältnisses der Einkünfte zum Gesamthaushalt der jPdöR4. Richtigerweise wäre entsprechend der Zielsetzung des § 4 KStG auf die Wettbewerbsrelevanz der wirtschaftlichen Betätigung abzustellen5, was Art. 13 MwStSystRL freilich nur bei Umsätzen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Gewalt erlaubt.
Im Kontext des § 4 KStG nimmt die Rspr. sodann seit jeher unter Hinweis auf die Wortlautparallelen zu § 14 AO und im Umkehrschluss zu § 4 IV KStG an, dass die bloße Vermögensverwaltung keinen BgA zu begründen vermag6. Kraft Verweises in § 2 III UStG dürften die zugehörigen Umsätze – insb. der längerfristigen Vermietung und Verpachtung, der Finanzanlage, der Lizenzvergabe sowie aus Sponsoring7 – an sich nicht umsatzsteuerbar sein. Eine solche Bereichsausnahme ist allerdings in Art. 13 I MwStSystRL nicht vorgesehen. Von der vor allem im Immobiliensektor relevanten Ermächtigung des Art. 13 II MwStSystRL wiederum, steuerfreie Umsätze der jPdöR als nicht steuerbar zu behandeln, hat der deutsche Gesetzgeber nach Ansicht des EuGH nicht hinreichend klar und eindeutig Gebrauch gemacht8. Die hieraus (außer bei nicht steuerbaren Finanzanlagen, s. Rz. 46) resultierende Richtlinienwidrigkeit der geltenden Rechtslage9 sucht der BFH durch Ausblenden des § 14 AO im Rahmen des § 2 III UStG (contra legem) zu überwinden10.
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Liegt ein Hoheitsbetrieb i.S.d. § 4 V KStG vor, schließt dies die Annahme eines BgA aus. Die dem Hoheitsbetrieb zuzuordnenden Umsätze sind folglich nach § 2 III UStG nichtunternehmerisch erbracht und nicht steuerbar. Nach traditionellem ertragsteuerlichen Verständnis ist dieser Vorbehalt zugunsten hoheitlicher Betätigung anhand des Aufgabentypus und nicht anhand der gewählten (öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen) Handlungsform zu konkretisieren;
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1 Zu Recht skeptisch die FinVerw., vgl. OFD Niedersachsen DStR 2011, 525; s. auch Blankenheim, „Steuerpflichtiger“ und Unternehmerbegriff, 2005, 327 ff.; Kraeusel, UR 2010, 480; R/K/L/Reiß, § 2 UStG Rz. 164.2 und 189; Gröpl/Zukiwski, MwStR 2014, 77 (84); befürwortend hingegen Ismer/Keyser, UR 2011, 81 (84 ff.). Der Einwand des BFH (v. 10.11.2011 – V R 41/10, BFHE 235, 554, Rz. 15), die „umsatzsteuerliche Auslegung“ des § 4 KStG sei noch mit dessen Wortlaut vereinbar, liegt neben der Sache; er berücksichtigt nicht, dass eine vom Ertragsteuerrecht divergierende umsatzsteuerliche Interpretation des § 4 KStG vom Gesetzgeber gerade nicht gewollt war; s. zur vergleichbaren Problematik des Klammerzusatzes in § 12 II Nr. 8 Buchst. a UStG BFH v. 8.3.2012 – V R 14/11, BFH/NV 2012, 1282. 2 S. BFH v. 15.4.2010 – V R 10/09, BFH/NV 2010, 1574 (1577). 3 Vgl. R 6 V KStH 2008; abl. z.B. BFH BStBl. 1979, 746 (748 f.); 1990, 868 (870); v. 17.3.2010 – XI R 17/08, BFHE 230, 466 (471 f.); v. 10.11.2011 – V R 41/10, DStR 2012, 348 (350). 4 S. BFH BStBl. 1979, 746 (749). 5 So auch BFH BStBl. 1990, 868 (871); v. 1.12.2011 – V R 1/11, BFHE 236, 235, Rz. 18 ff. 6 S. BFH BStBl. 1974, 391 (394) m.w.N. zur RFH-Rspr.; 2003, 520 (522); v. 15.4.2010 – V R 10/09, BFH/NV 2010, 1574 (1576). 7 Zum Sponsoring s. Seer, FS Reiß, 2008, 157. 8 S. EuGH C-102/08, Salix, Rz. 55; und die Nachfolgeentscheidung des BFH v. 20.8.2009 – V R 70/05, UR 2009, 884 (886). S. ferner Sölch/Ringleb/Klenk, § 2 UStG Rz. 233; a.A. vor der Salix-Entscheidung noch Reiß, StuW 1994, 323 (325); Stadie1, § 2 UStG Rz. 264. Außerdem fehlt im Gesetz die erforderliche Rückausnahme für den Fall größerer Wettbewerbsverzerrungen, vgl. dazu EuGH C-247/95, Marktgemeinde Welden, Rz. 21. 9 S. EuGH C-247/95, Marktgemeinde Welden, Rz. 18. 10 S. BFH v. 15.4.2010 – V R 10/09, BFHE 229, 416.
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Rz. 60
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dem entspricht die Formulierung des § 4 V KStG („Betriebe, die … dienen“). Die Tätigkeit muss der öffentlichen Hand „eigentümlich und vorbehalten“ sein1. Diese Auslegung wäre auch umsatzsteuerlich unter der Prämisse der Verwirklichung von Wettbewerbsneutralität sachgerecht, weil bei solchen Aufgaben typischerweise kein signifikanter Wettbewerb mit privaten Anbietern besteht. Der EuGH hat dies jedoch verkannt und die „Ausübung öffentlicher Gewalt“ i.S.d. Art. 13 MwStSystRL handlungsformbezogen interpretiert2. Gegenstand und Zielsetzung der Tätigkeit seien irrelevant. Zwischenzeitlich hat sich der EuGH davon auch einmal wieder distanziert3, hält aber wohl grds. am handlungsformbezogenen Ansatz fest. Der BFH (BStBl. 2010, 863 [867]) hat sich dieser Sichtweise inzwischen umsatzsteuerrechtlich (contra legem) angeschlossen. Selbst wenn eine bestimmte Betätigung einer jPdöR nach ihren Ausübungsmodalitäten an sich als hoheitlich einzustufen wäre, soll bei „richtlinienkonformer Auslegung“ des § 2 III UStG außerdem zumindest umsatzsteuerlich kein Hoheitsbetrieb vorliegen, wenn ansonsten größere Wettbewerbsverzerrungen drohen4. Der EuGH lässt dabei schon einen nicht unerheblichen potenziellen Wettbewerb genügen, wenn er „real“ und nicht – wie etwa im Falle eines Staatsmonopols – bloß hypothetisch ist5. Dies soll sich nach den Verhältnissen im gesamten Bundesgebiet beurteilen. Das Bundesfinanzministerium hat im Juni 2014 einen Referentenentwurf präsentiert, der eine Annäherung der umsatzsteuerrechtlichen Regelungen zur Besteuerung der jPdöR an das Konzept des Art. 13 MwStSystRL vorsieht. Zu diesem Zweck soll in einem neuen § 2b UStG (anstelle des bisherigen § 2 III UStG) von der Rechtsfigur des BgA Abstand genommen werden; stattdessen kommt es künftig darauf an, ob die JPdöR Tätigkeiten im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausübt und ob ggf. keine größeren Wettbewerbsverzerrungen aus der Behandlung als Nichtunternehmer zu erwarten sind. Die Vorschrift enthält außerdem konkretisierende Regelungen zur Steuerbarkeit von Beistandsleistungen und entgeltlicher Kooperation zwischen verschiedenen jPdöR6. Es ist derzeit jedoch wegen unionsrechtlicher Bedenken fraglich, ob der BT diesen Vorschlag annehmen wird. 60
d) Die in der MwStSystRL angelegte umsatzsteuerrechtliche Behandlung von jPdöR weist über die vorstehend erörterten Schwächen hinaus noch ein weiteres gravierendes Defizit auf: Staatliche Stellen können für die von ihnen bezogenen Leistungen privater Anbieter nur insoweit einen Vorsteuerabzug erhalten, als diese Eingangsleistungen für Ausgangsumsätze im Rahmen eines BgA (oder im Zusammenhang mit sonstigen in § 2 III UStG genannten unternehmerischen Aktivitäten) verwendet werden. Geboten wäre nach dem Verbrauchsteuerprinzip jedoch eine generelle Vorsteuerentlastung, weil die jPdöR selbst keine belastungswürdigen Konsumaufwendungen tätigt; diese Erkenntnis hat sich inzwischen weltweit in modernen MwSt-Systemen – Modell steht insoweit das australische MwSt-Recht7 – 1 S. BFH BStBl. 1988, 910 (911); 1998, 410 (411); 2009, 1022 (1022). 2 EuGH 231/87 und 129/88, Commune di Carpaneto Piacentino u.a., Rz. 19, 24; C-202/90, Ayuntamiento de Sevilla, Rz. 18 ff.; C-359/97, Kommission/Vereinigtes Königreich, Rz. 48 ff.; C-408/97, Kommission/Niederlande, Rz. 21 f. 3 S. EuGH C-554/07, Kommission/Irland, Rz. 49. 4 S. BFH v. 15.4.2010 – V R 10/09, BFH/NV 2010, 1574 (1578); v. 1.12.2011 – V R 1/11, BFHE 236, 235; s. zu vergleichbaren Tendenzen auch im Ertragsteuerrecht BFH BStBl. 2010, 502. Es ist zweifelhaft, ob dieses „Hineinlesen“ eines zusätzlichen Tatbestandsmerkmals in § 4 V KStG den Anforderungen des EuGH an Rechtsklarheit genügt, s. dazu EuGH C-554/07, Kommission/Irland, Rz. 59 ff. 5 S. EuGH C-102/08, Salix, Rz. 65 ff.; EuGH C-288/07, Isle of Wight Council, Rz. 38 ff.; Sterzinger, UR 2009, 37 (40 ff.). S. nunmehr auch BFH v. 1.12.2011 – V R 1/11, BFHE 236, 235, Rz. 18 ff.): kommunale Vermietung von Tiefgaragenstellplätzen; sowie Keyser, UVR 2012, 126 m.w.N. 6 S. dazu Englisch, UR 2013, 570; Suck, UR 2013, 205; Pithan, DStZ 2014, 205; Baldauf, UR 2014, 549; Heber, UR 2014, 957 (966 ff.); Ronnecker, ZKF 2014, 100; tendenziell krit. Widmann, DStZ 2014, 147 (152 f.). Auslöser hierfür war die Entscheidung des BFH v. 10.11.2011 – V R 41/10, BFHE 235, 554; s. dazu auch OFD Nieders., UR 2013, 42. 7 Dazu Millar/McCarthy in Ecker u.a. (Hrsg.), The Future of Indirect Taxation, 21 (48 f.); Millar in de la Feria (Hrsg.), VAT Exemptions, 2013, 135. S. auch zum kanadischen Modell Gendron in de la Feria (Hrsg.), VAT Exemptions, 2013, 103.
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Steuersubjekte und Steuerschuldner
Rz. 61
§ 17
durchgesetzt. Immerhin acht andere EU-Mitgliedstaaten gewähren jPdöR daher eine Erstattung von nicht schon nach den allgemeinen Regeln abziehbaren Vorsteuern1.
1.7 Organschaftliche Unternehmensverbindungen Als unselbständige Unternehmensuntergliederung gilt nach § 2 II Nr. 2 Satz 1 UStG trotz ihrer zivilrechtlichen Selbständigkeit die sog. Organgesellschaft. Sie ist durch eine umf. Eingliederung in das Unternehmen eines Organträgers gekennzeichnet und bildet mit diesem eine sog. Organschaft2. International üblich ist hierfür die Bezeichnung als MwSt-Gruppenbesteuerung. Es handelt sich um ein Rechtsinstitut, dessen Einf. den Mitgliedstaaten in Art. 11 MwStSystRL freigestellt worden ist. Diese schon in der 6. MwStRL enthaltene Option sollte ursprünglich gerade auch die Beibehaltung der tradierten deutschen Organschaft ermöglichen3. Mittlerweile haben sich in insgesamt 15 Mitgliedstaaten sehr heterogene Gruppenbesteuerungssysteme herausgebildet4. Inwieweit die derzeitigen nationalen Unterschiede im persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich, hinsichtlich der Eingliederungsvoraussetzungen sowie in den Rechtsfolgen mit Art. 11 MwStSystRL vereinbar sind, wird der EuGH zu klären haben5. Richtigerweise ist den Mitgliedstaaten vorbehaltlich ihrer Verpflichtung auf die Wahrung primärrechtlicher Prinzipien und strukturbildender Grundsätze des Mehrwertsteuersystems (s. § 4 Rz. 36) – namentlich des Neutralitätsprinzips – auch hinsichtlich des „wie“ der Ausgestaltung der Gruppenbesteuerung ein Umsetzungsermessen zuzuerkennen6, denn die Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt durch uneinheitliche nationale Regelung ist schon der Optionalität der Gruppenbesteuerung inhärent und wird durch eine je unterschiedliche Implementierung nicht weiter vertieft. Der EuGH scheint indes einem gegenteiligen Standpunkt zuzuneigen7; dem entspricht tendenziell die Haltung der EU-Kommission8. Es bestünde dann nur noch ein begrenztes Gestaltungsermessen aufgrund des Missbrauchsvorbehalts in Art. 11 II MwStSystRL. Würde der EuGH tatsächlich aus den knappen Formulierungen des Art. 11 I MwStSystRL verbindliche Konkretisierungen der Eingliederungsvoraussetzungen etc. ableiten, so wäre es nur konsequent, bei Abweichung von den Kriterien des § 2 II Nr. 2 Satz 1 UStG auch die Voraussetzungen für eine unmittelbare „Berufung“ auf Richtlinienrecht (s. § 4 Rz. 33 f.) zugunsten der betroffenen Stpfl. als erfüllt anzusehen. De lege ferenda sollte das Regime der Mehrwertsteuergruppe den Mitgliedstaaten unionsrechtlich verbindlich vorgegeben und dann auch schon in der Richtlinie näher ausgeformt werden. 1 Dazu näher Copenhagen Economics/KPMG, VAT in the public sector and exemptions in the public interest, Final Report for TAXUD/2009/DE/316, 2011, 85 ff.; Ismer/Keyser, UR 2011, 81 (89); Henkow, The VAT/GST Treatment of Public Bodies, 2013, 83 ff.; sowie speziell zu den Niederlanden Wassenaar, EC Tax Review 2012, 212. S. auch den Reformvorschlag von Desens u.a., Umsatzsteuerdefinitivbelastung von Körperschaften des öffentlichen Rechts, 2011, S. 35 ff.; Desens/Hummel, StuW 2012, 221. Da die Erstattung außerhalb des USt-Systems erfolgt, dürfte auch kein Verstoß gegen die MwStRL vorliegen; vgl. EuGH v. 24.10.2013 – C-440/12, Metropol, EU:C:2013:687, Rz. 55 ff. 2 Ausf. Hartman, SteuerStud 2011, 393; Müller/Stöcker/Lieber, Die Organschaft8, 2011, 267 ff.; Birkenfeld, UR 2008, 2; Grume/Mönckedieck, UR 2012, 541; Boor, Die Gruppenbesteuerung im harmonisierten Mehrwertsteuerrecht, 2014; Schnarrenberger, Die umsatzsteuerliche Organschaft, 2014; Wäger, DB 2014, 915. Zur Organschaft als Gestaltungsinstrument Leonhard, DStR 2010, 721; zu Besonderheiten bei jPdöR Spiegel/Heidler, DStR 2010, 1062. 3 S. BFH v. 11.12.2013 – XI R 38/12, BStBl. 2014, 428, Rz. 76; Parolini in Maisto (Hrsg.), International and EC Tax Aspects of Groups of Companies, 2008, S. 107 f. m.w.N. 4 S. den Überblick bei Annacondia/van der Corput (Hrsg.), EU VAT Compass 2014/2015, 547 ff. 5 Einen ersten Anlass hierzu werden die Vorlagen des 11. Senats des BFH bieten, s. BFH v. 11.12.2013 – XI R 17/11 und XI R 38/12, BStBl. II 2014, 417 und 428. 6 I.Erg. wie hier tendenziell auch Boor, Die Gruppenbesteuerung im harmonisierten Mehrwertsteuerrecht, 13. 7 S. EuGH v. 25.4.2013 – C-480/10, Kommission/Schweden, EU:C:2013:263, Rz. 34 f.; s. dazu auch Grünwald, MwStR 2013, 328 (329 f.); Birkenfeld, UR 2014, 120. 8 S. EU-Kommission, Mitteilung über die Option der MwSt-Gruppe gem. Art. 11 der RL 2006/112/EG, v. 2.7.2009, KOM(2009) 325 endg.; s. dazu Massin/Vyncke, International VAT Monitor 2009, 454; Ehrke-Rabel, UStKongrBericht 2010, 159.
Englisch
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§ 17
Rz. 62
Umsatzsteuer
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a) Organträger kann jeder Unternehmer i.S.d. § 2 I UStG sein; eine bestimmte Rechtsform wird nicht vorausgesetzt. Nach dem klaren Wortlaut des § 2 II Nr. 2 Satz 1 UStG genügt allerdings eine bloß mittelbare, allein aus den Aktivitäten der Tochtergesellschaft abgeleitete Unternehmereigenschaft insb. bei der reinen Finanzholding nicht für die Begründung einer Organschaft. Der Organträger muss selbst steuerbare Ausgangsumsätze erbringen1. Die Richtlinienkonformität dieser Begrenzung ist im Lichte der jüngeren EuGH-Rspr.2 allerdings sehr zweifelhaft3. Fest steht, dass eine Ausweitung auf Nichtunternehmer nach der extensiven Auslegung des Art. 11 MwStSystRL durch den Gerichtshof jedenfalls zulässig wäre; damit aber ist sie bei zutreffendem Verständnis von Neutralitäts- und Verbrauchsteuerprinzip (Rz. 24 f.) zumindest bei Holdings auch geboten. Als Organgesellschaft kommen nur „juristische Personen“ in Betracht. Im Lichte des Neutralitätsprinzips ist dieser Begriff weit zu interpretieren. Es qualifizieren sich nicht nur Kapitalgesellschaften, sondern entgegen der bislang h.M. auch Personengesellschaften4.
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Die Organschaft setzt die finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Eingliederung der Organgesellschaft in das Unternehmen des Organträgers voraus. Der Organträger muss kraft seiner Beteiligung am abhängigen Unternehmen seinen Willen durch Mehrheitsbeschlüsse durchsetzen können (finanzielle Eingliederung)5 und einen tatsächlichen Einfluss auch auf die lfd. Geschäftsführung institutionell oder personell absichern (organisatorische Eingliederung)6. Außerdem müssen die unternehmerischen Aktivitäten des Organträgers und der Organgesellschaft aufeinander abgestimmt sein und sich fördern bzw. ergänzen (wirtschaftliche Eingliederung)7. Ausschlaggebend ist das Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse; treten bspw. zwei Merkmale stark in Erscheinung, vermag dies eine nur schwache Ausprägung des dritten Merkmals zu kompensieren8. Anders als im Ertragsteuerrecht ist ein Gewinnabführungsvertrag nicht erforderlich. 1 S. BFH BStBl. 2003, 375 (377); Abschn. 2.8 II UStAE; Sölch/Ringleb/Klenk, § 2 UStG Rz. 97; R/K/L/Reiß, § 2 UStG Rz. 105.3; Englisch, UR 2007, 290 (301 f.); Wäger, FS Schaumburg, 2009, 1189 (1190); a.A. R/D/Stadie, § 2 UStG Rz. 670; Schnarrenberger, Die umsatzsteuerliche Organschaft, 93 ff. 2 S. EuGH v. 9.4.2013 – C-85/11, Kommission/Irland, EU:C:2013:217, Rz. 35 ff. im Verbund mit EuGH v. 25.4.2013 – C-480/10, Kommission/Schweden, EU:C:2013:263, Rz. 34 f. Mit der aus den Gesetzgebungsmaterialien ersichtlichen historischen Zwecksetzung der Mehrwertsteuergruppe ist dies freilich kaum zu vereinbaren, vgl. den Richtlinienvorschlag v. 29.6.1973, KOM(73) 950, S. 11; s. dazu auch Parolini in Maisto (Hrsg.), International and EC Tax Aspects of Groups of Companies, 2008, S. 103 (113). Krit. auch Wäger, UVR 2013, 205 (208 f.). 3 Wie hier Küffner/Streit, UR 2013, 401; Slapio, UR 2013, 407 (409 f.); Birkenfeld, UR 2014, 120 (123); Grünwald, MwStR 2014, 226 (229); a.A. BMF v. 5.5.2014, BStBl. I 2014, 820; Sterzinger, UR 2014, 133 (135 ff.); Wäger, UVR 2013, 205 (210); i.Erg. abl. auch Boor, Die Gruppenbesteuerung im harmonisierten Mehrwertsteuerrecht, 120. 4 Wie hier i.Erg. nunmehr BFH v. 11.12.2013 – XI R 38/12, BStBl 2014, 428, Rz. 69 ff. (aber allenfalls im Wege unmittelbarer Anwendbarkeit der Richtlinie); FG München v. 13.3.2013 – 3 K 235/10, EFG 2013, 1434 (Rev. anhängig unter Az. V R 25/13). S. ferner Hahne, D