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German Pages 1728 [1731] Year 2018
Tipke /Lang · Steuerrecht
Steuerrecht begründet von
Prof. Dr. Klaus Tipke Universitätsprofessor (em.) in Köln
fortgeführt bis zur 20. Aufl. u.a. von
Prof. Dr. Joachim Lang Universitätsprofessor (em.), Rechtsanwalt u. Steuerberater in Köln
fortgeführt von
Prof. Dr. Roman Seer Universitätsprofessor an der Ruhr-Universität Bochum
Prof. Dr. Johanna Hey Direktorin des Instituts für Steuerrecht an der Universität zu Köln
Dipl.-Kfm. Heinrich Montag Steuerberater
Prof. Dr. Joachim Englisch Universitätsprofessor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Prof. Dr. Joachim Hennrichs
Universitätsprofessor an der Universität zu Köln
23. neu bearbeitete Auflage 2018
Vorauflagen 1. Auflage 1973 2. Auflage 1974 3. Auflage 1975 4. Auflage 1977 5. Auflage 1978 6. Auflage 1978 7. Auflage 1979 8. Auflage 1981 9. Auflage 1983 10. Auflage 1985 11. Auflage 1987
12. Auflage 1989 13. Auflage 1991 14. Auflage 1994 15. Auflage 1996 16. Auflage 1998 17. Auflage 2002 18. Auflage 2005 19. Auflage 2008 20. Auflage 2010 21. Auflage 2012 22. Auflage 2015
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-20149-4 (geb.) ISBN 978-3-504-20150-0 (brosch.) ©2018 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany
„Die gerechte Verteilung der Gesamtsteuerlast auf die einzelnen Bürger ist ein Imperativ der Ethik … Die vornehmste Aufgabe eines Rechtsstaates ist es, für gerechte Regeln zu sorgen und sie durchzusetzen, seine Bürger vor Unrecht zu schützen.“
Klaus Tipke Die Steuerrechtsordnung, 1993, S. 261
Bearbeiter
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung (§ 1) Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung (§ 2)
Prof. Dr. Roman Seer
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht (§ 3)
Prof. Dr. Johanna Hey
Europäisches Steuerrecht (§ 4) Rechtsanwendung im Steuerrecht (§ 5)
Prof. Dr. Joachim Englisch
Allgemeines Steuerschuldrecht (§ 6)
Prof. Dr. Roman Seer
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht (§ 7)
Prof. Dr. Johanna Hey/ Prof. Dr. Joachim Englisch
Einkommensteuer (§ 8)
Prof. Dr. Johanna Hey/ Prof. Dr. Roman Seer
Bilanzsteuerrecht, Mitunternehmerschaften (§§ 9, 10)
Prof. Dr. Joachim Hennrichs
Körperschaftsteuer (§ 11)
Prof. Dr. Johanna Hey
Gewerbesteuer (§ 12)
Dipl.-Kfm. Heinrich Montag
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung (§ 13)
Dipl.-Kfm. Heinrich Montag/ Prof. Dr. Johanna Hey
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht (§ 14)
Dipl.-Kfm. Heinrich Montag
Erbschaft- und Schenkungsteuer (§ 15) Grund-/Vermögensteuer (§ 16)
Prof. Dr. Roman Seer
Umsatzsteuer (§ 17) Spezielle Verkehr- und Verbrauchsteuern (§ 18)
Prof. Dr. Joachim Englisch
Steuervergünstigungen, Gemeinnützigkeit (§§ 19, 20)
Prof. Dr. Johanna Hey
Steuerverfahrens- und Steuerstrafrecht (§§ 21–24)
Prof. Dr. Roman Seer
Zitierempfehlung Bearbeiter in Tipke/Lang23, Steuerrecht, § ... Rz. ...
Vorwort zur 23. Auflage Die Neuauflage steht ganz im Zeichen der umfangreichen Änderungen des Steuerverfahrensrechts der 18. Legislaturperiode. Während sich die Große Koalition zu keinerlei ernsthaften Reform des materiellen Steuerrechts durchringen konnte, hat sie sich der Aufgabe eines digitalisierten, international vernetzten Steuerverfahrens angenommen. Seit Anfang 2015 waren dazu insgesamt 15 Änderungsgesetze zu verarbeiten, von denen das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens vom 18.7.2016 hervorsticht. Dies hat uns veranlasst, substanzielle Änderungen des § 21 (Durchführung der Besteuerung) vorzunehmen. Herausgestellt wird die Entwicklung hin zu einer „kontrollierten Selbstregulierung des Steuervollzugs“, die in der neuen Rechtsform des automatischen Steuerbescheides, in elektronischen Risikomanagementsystemen, der digitalen Vernetzung von Finanzbehörden, Unternehmen und Steuerberatern und in dem deutlich ausgeweiteten grenzüberschreitenden digitalen Informationsaustausch zum Ausdruck gelangt. In diesem Zusammenhang spielt der Datenschutz im Besteuerungsverfahren eine wichtige eingriffsbegrenzende Rolle. Ihm wurde ein neuer Abschnitt gewidmet, der die am 25.5.2018 in Kraft tretende EU-DatenschutzgrundVO ebenso reflektiert wie das kurz vor Ende der 18. Legislaturperiode ohne vertiefende Diskussion und unter Ausschluss des Finanzausschusses durch den Deutschen Bundestag „gepeitschte“ Begleitgesetz vom 17.7.2017 („Omnibusgesetz“ zur Änderung des BVersG und anderer Vorschriften). Neu gefasst worden ist außerdem ein spezieller Abschnitt der „Rechtsformen kooperativen Verwaltungshandelns“, der die verbindliche Auskunft, Zusage und tatsächliche Verständigung im Zusammenhang behandelt. Weitere wichtige verfahrensrechtliche (gesetzliche) Neuerungen betreffen den von der OECD initiierten „Anti-Base Erosion and Profit Shifting“ (BEPS)-Prozess mit einer deutlichen Ausweitung von unternehmensbezogenen Anzeige-, Mitteilungs- und Informationspflichten. Symptomatisch für den Stillstand in der Fortentwicklung des materiellen Steuerrechts ist neben der verfassungswidrig ausgestalteten Grundsteuer das mit erhebliche Geburtswehen, ja -komplikationen erlassene „Gesetz zur Anpassung des Erbschaft- und Schenkungsteuergesetzes an die Rechtsprechung des BVerfG“ vom 4.11.2016. Die Regelung zur Steuerbegünstigung von Unternehmensvermögen der §§ 13a-13c ErbStG ist leider ein (weiterer) gesetzgeberischer Tiefpunkt. Die Komplexität und undurchsichtige Interdependenz der Normenbestandteile hat einen Grad erreicht („Hyperlexie“), der selbst vom fachkundigen Rechtsanwender nicht mehr beherrschbar ist. Wenn die Höhe der konkreten Steuerbelastung vom versierten Erbschaftsteuer-Fachberater nicht mehr vorherseh- und berechenbar ist, verliert das Gesetz seinen (strafbewehrten) Geltungsanspruch. Bemerkenswert untätig blieb der Gesetzgeber trotz unveränderten Reformbedarfs auch in der Einkommen- und Körperschaftsteuer. Er erschöpft sich dort in Detailänderungen und „minimalinvasiver“ Verarbeitung der Rechtsprechung von Bundesfinanzhof und Bundesverfassungsgericht wie im Fall der Neuregelung der Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen in § 3a EStG, einer ebenfalls geradezu grotesk komplexen Reaktion auf die Überraschungsentscheidung des Großen Senats des BFH zum Sanierungserlass. Wie gewohnt reflektiert die Neuauflage alle Änderungen im Kleinen, spart aber auch nicht an Kritik in Bezug auf die Grundsatzfragen. Zu diesen gehört unter anderem die Dauerbaustelle der steuerlichen Verluste. Der Gesetzgeber agiert mit dem fortführungsgebundenen Verlustvortrag in § 8d KStG untauglich, das Bundesverfassungsgericht dagegen hat mit seiner Entscheidung zu § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG deutliche Grenzen aufgezeigt. Der aktuelle Koalitionsvertrag als Grundlage der begonnenen 19. Legislaturperiode schweigt zu den meisten dieser Grundsatzthemen, gibt keine Antworten auf den Druck des internationalen Steuerwettbewerbs (U.S. Tax Reform; BREXIT) oder bleibt vage wie zur Abgeltungsteuer. Zum Teil erhebliche Reformimpulse gehen demgegenüber vom europäischen Steuerrecht aus. Die Kommission hat in den letzten Jahren sowohl im Bereich der direkten Steuern wie auch vor allem im Mehrwertsteuerrecht eine regelrechte Flut von Richtlinien- und Verordnungsvorschlägen unterbreitet, von denen auch einige (wie etwa die Anti-Missbrauchsrichtlinien I+II und die mehrwertsteuerliche E-Commerce-Richtlinie) schon vom Rat angenommen wurden. Fragwürdig sind die expansiven Tendenzen der Kommission im Bereich der Kontrolle von Fiskalbeihilfen. Sie beschränken VII
Aus dem Vorwort zur 21. Auflage sich nicht nur auf das internationale Steuerrecht wie etwa den bekannten Apple-Fall, sondern greifen weit ins Unternehmenssteuerrecht aus – ein Teil der vorerwähnten Verrenkungen etwa bei der Neuregelung des § 3a EStG lässt sich auch damit erklären. Vielfältigen Anpassungsdruck hat ferner erneut der EuGH erzeugt, sei es durch seine grundfreiheitliche Judikatur oder durch ein grundlegendes Infragestellen tradierter umsatzsteuerlicher Institute wie der Organschaft und dem Rechnungserfordernis beim Vorsteuerabzug. Vor diesem Hintergrund ist und bleibt es das Anliegen des „Tipke/Lang“, den Reformbedarf und mögliche Lösungen wissenschaftlich aufzuarbeiten. Gerade wenn sich die Steuerpolitik in kasuistischen Einzelregelungen übt, bedarf es umso mehr einer Steuersystemlehre. Dem fühlen wir uns unverändert und mit Nachdruck verpflichtet. Das Werk ist längst nicht mehr ein reines Lehrbuch, sondern ein grundlegendes Nachschlagewerk des Steuerrechts. Dementsprechend ist es mittlerweile auch elektronisch in Datenbanken verfügbar. Um den Nutzern einen echten Mehrwert zu bieten, bedarf es einer Verlinkung mit den digital verfügbaren Rechtsprechungsdatenbanken, Zeitschriften und Kommentaren. Dies setzt voraus, dass die Rechtsprechungszitate für eine eindeutige Zuordnung Datum und Aktenzeichen enthalten. Deshalb haben wir unsere Zitierweise dieser Entwicklung so weit, wie es bis zum Redaktionsschluss möglich war, angepasst. Unser Ziel ist, diesen Umstellungsprozess mit der nächsten Auflage vollständig abzuschließen. Unser Dank gilt dem Verlag Dr. Otto Schmidt und der bewährten Betreuung durch Frau Dr. Sabine Kick. Mit Weitsicht und Geduld hat sie den Terminplan koordiniert, überwacht und für die notwendigen Abstimmungen der einzelnen Kapitel gesorgt. An den beteiligten Lehrstühlen haben sich die wissenschaftlichen Mitarbeiter/innen und studentischen Hilfskräfte durch Fundstellenkontrollen und Korrekturlesearbeiten erneut sehr engagiert um das Werk verdient gemacht. Köln und Bochum, im März 2018
Johanna Hey
Roman Seer
Aus dem Vorwort zur 21. Auflage Zwischen der 20. und der 21. Auflage liegen statt der üblichen zwei Jahre diesmal drei Jahre. Dies hat zwei Gründe. Zum einen sah es zu Beginn der 17. Legislaturperiode so aus, als müssten große Reformgesetzgebungen in der Neuauflage verarbeitet werden. Diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Zum anderen war ein Generationenwechsel zu bewältigen. Unser verehrter Lehrer Joachim Lang und der langjährige Autor Wolfram Reiß hatten schon seit längerem ihr Ausscheiden in der 21. Auflage angekündigt. Vor allem die bisher von Joachim Lang mit einzigartiger Schaffenskraft bewältigte Stofffülle machte es erforderlich, das Autorenteam neu aufzustellen und die Zuständigkeiten neu zuzuschneiden. Wir freuen uns, dass es gelungen ist, für die Neuauflage Joachim Englisch, der sich als einer der führenden deutschen Umsatzsteuerspezialisten auch international eine Namen gemacht hat, für die indirekten Steuern, namentlich die Umsatzsteuer, zu gewinnen. Aus seiner Feder stammt zudem ein neuer Grundlagenteil zum Einfluss des Europarechts auf das Steuerrecht. Unser Kölner Kollege Joachim Hennrichs übernimmt als anerkannter Bilanzsteuerrechtler von Johanna Hey die Gewinnermittlung und die Besteuerung der Personenunternehmen. Auf diese Weise war es möglich, die Teile von Joachim Lang wie folgt zu verteilen: Die Einführungskapitel sowie die finanzverfassungsrechtlichen Grundlagen werden zukünftig von Roman Seer geschultert. Joachim Englisch bearbeitet die Rechtsanwendung im Steuerrecht. Johanna Hey nimmt sich künftig der Darstellung der verfassungsrechtlichen Grundlagen sowie der Einkommensteuer an. Ansonsten bleibt alles beim alten. Heinrich Montag führt in bewährter Manier die Abschnitte zur Gewerbesteuer und zur Unternehmensbesteuerung fort. VIII
Aus dem Vorwort zur 21. Auflage sich nicht nur auf das internationale Steuerrecht wie etwa den bekannten Apple-Fall, sondern greifen weit ins Unternehmenssteuerrecht aus – ein Teil der vorerwähnten Verrenkungen etwa bei der Neuregelung des § 3a EStG lässt sich auch damit erklären. Vielfältigen Anpassungsdruck hat ferner erneut der EuGH erzeugt, sei es durch seine grundfreiheitliche Judikatur oder durch ein grundlegendes Infragestellen tradierter umsatzsteuerlicher Institute wie der Organschaft und dem Rechnungserfordernis beim Vorsteuerabzug. Vor diesem Hintergrund ist und bleibt es das Anliegen des „Tipke/Lang“, den Reformbedarf und mögliche Lösungen wissenschaftlich aufzuarbeiten. Gerade wenn sich die Steuerpolitik in kasuistischen Einzelregelungen übt, bedarf es umso mehr einer Steuersystemlehre. Dem fühlen wir uns unverändert und mit Nachdruck verpflichtet. Das Werk ist längst nicht mehr ein reines Lehrbuch, sondern ein grundlegendes Nachschlagewerk des Steuerrechts. Dementsprechend ist es mittlerweile auch elektronisch in Datenbanken verfügbar. Um den Nutzern einen echten Mehrwert zu bieten, bedarf es einer Verlinkung mit den digital verfügbaren Rechtsprechungsdatenbanken, Zeitschriften und Kommentaren. Dies setzt voraus, dass die Rechtsprechungszitate für eine eindeutige Zuordnung Datum und Aktenzeichen enthalten. Deshalb haben wir unsere Zitierweise dieser Entwicklung so weit, wie es bis zum Redaktionsschluss möglich war, angepasst. Unser Ziel ist, diesen Umstellungsprozess mit der nächsten Auflage vollständig abzuschließen. Unser Dank gilt dem Verlag Dr. Otto Schmidt und der bewährten Betreuung durch Frau Dr. Sabine Kick. Mit Weitsicht und Geduld hat sie den Terminplan koordiniert, überwacht und für die notwendigen Abstimmungen der einzelnen Kapitel gesorgt. An den beteiligten Lehrstühlen haben sich die wissenschaftlichen Mitarbeiter/innen und studentischen Hilfskräfte durch Fundstellenkontrollen und Korrekturlesearbeiten erneut sehr engagiert um das Werk verdient gemacht. Köln und Bochum, im März 2018
Johanna Hey
Roman Seer
Aus dem Vorwort zur 21. Auflage Zwischen der 20. und der 21. Auflage liegen statt der üblichen zwei Jahre diesmal drei Jahre. Dies hat zwei Gründe. Zum einen sah es zu Beginn der 17. Legislaturperiode so aus, als müssten große Reformgesetzgebungen in der Neuauflage verarbeitet werden. Diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Zum anderen war ein Generationenwechsel zu bewältigen. Unser verehrter Lehrer Joachim Lang und der langjährige Autor Wolfram Reiß hatten schon seit längerem ihr Ausscheiden in der 21. Auflage angekündigt. Vor allem die bisher von Joachim Lang mit einzigartiger Schaffenskraft bewältigte Stofffülle machte es erforderlich, das Autorenteam neu aufzustellen und die Zuständigkeiten neu zuzuschneiden. Wir freuen uns, dass es gelungen ist, für die Neuauflage Joachim Englisch, der sich als einer der führenden deutschen Umsatzsteuerspezialisten auch international eine Namen gemacht hat, für die indirekten Steuern, namentlich die Umsatzsteuer, zu gewinnen. Aus seiner Feder stammt zudem ein neuer Grundlagenteil zum Einfluss des Europarechts auf das Steuerrecht. Unser Kölner Kollege Joachim Hennrichs übernimmt als anerkannter Bilanzsteuerrechtler von Johanna Hey die Gewinnermittlung und die Besteuerung der Personenunternehmen. Auf diese Weise war es möglich, die Teile von Joachim Lang wie folgt zu verteilen: Die Einführungskapitel sowie die finanzverfassungsrechtlichen Grundlagen werden zukünftig von Roman Seer geschultert. Joachim Englisch bearbeitet die Rechtsanwendung im Steuerrecht. Johanna Hey nimmt sich künftig der Darstellung der verfassungsrechtlichen Grundlagen sowie der Einkommensteuer an. Ansonsten bleibt alles beim alten. Heinrich Montag führt in bewährter Manier die Abschnitte zur Gewerbesteuer und zur Unternehmensbesteuerung fort. VIII
Aus dem Vorwort zur 19. Auflage Mit dem neuen Autorenteam hoffen wir, das Werk von Klaus Tipke und Joachim Lang erfolgreich fortzuführen und fortzuentwickeln. Der von Klaus Tipke bereits in der ersten Auflage erhobene und von Joachim Lang bei Übernahme der 12. Auflage bekräftigte Anspruch, dem real existierenden Steuerchaos Prinzipien und Strukturen einer Steuersystemlehre entgegenzusetzen, dient uns weiterhin als Leitbild gerade auch in einer Besteuerungswelt, die an Komplexität deutlich zugenommen hat. Die personelle Neu- und Umbesetzung haben wir zudem für eine Reihe konzeptioneller Neuerungen genutzt, einzelne Abschnitte zusammengelegt oder neu platziert, um Sinnzusammenhänge noch deutlicher zu machen. Hierzu haben wir im vorderen Teil einige kleinere Paragraphen zusammengelegt. Das bisher im hinteren Teil des Buchs behandelte Unternehmensteuerrecht haben wir in den §§ 10–14 an die Darstellung der Einkommen- und Körperschaftsteuer herangerückt. Einen neuen Abschnitt gibt es zur Grund- und Vermögensteuer, in dem Roman Seer derzeit vor allem die Grundsteuer behandelt, in dem aber auch Raum ist für neue vermögensbezogene Abgaben, die derzeit in der politischen Debatte eine Renaissance erleben. Trotz einer durch absolute Reformunfähigkeit geprägten Legislaturperiode war in der vorliegenden 21. Auflage aber auch inhaltlich wieder viel zu tun. Denn die Probleme werden durch die Untätigkeit der Politik nicht weniger, allenfalls bleibt mehr Zeit, sie wissenschaftlich aufzuarbeiten. Die ungelöste Staatsschulden- und Eurokrise lenkt alle Aufmerksamkeit auf die Haushalts- und Währungspolitik. Der Finanzminister hetzt von einem Krisengipfel zum nächsten. Dies mag einer der Gründe sein, warum von den hochfliegenden steuerpolitischen Ankündigungen des Koalitionsvertrags von CDU/CSU und FDP vom 26.10.2009 nichts in die Tat umgesetzt wurde. Dabei hatte die Politik zu Beginn der 17. Legislaturperiode hohe Erwartungen geweckt: Reform der Kommunalfinanzen, Streichung von Umsatzsteuerprivilegien, Einführung einer modernen Gruppenbesteuerung. Drei Jahre später ist die Bilanz ernüchternd. Die Kommission zur Reform der Kommunalfinanzen hat ihre Arbeit vorzeitig eingestellt. Die Umsatzsteuerreform wurde wegen der politisch als nicht aushaltbar eingestuften verteilungspolitischen Debatten gar nicht erst in Angriff genommen, und selbst eine verhältnismäßig begrenzte Maßnahme wie die Abschaffung des Gewinnabführungsvertrages für Zwecke der körperschaftsteuerrechtlichen Organschaft hatte keine Verwirklichungschancen. Das Steuervereinfachungsgesetz 2011 verdient seine Namen nicht. Der Entwurf eines Gesetzes zum Abbau der kalten Progression hängt im Vermittlungsausschuss fest. Die Länder werden in ihrer Blockadehaltung durch das 2020 infolge der Schuldenbremse einzuhaltende Nullverschuldungsgebot geeint. Überhaupt stehen die Zeichen trotz eines sich nach dem konjunkturellen Einbruch 2009/2010 überraschend schnell erholenden Steueraufkommens überall auf Steuererhöhung. Köln und Bochum, im August 2012
Johanna Hey
Roman Seer
Aus dem Vorwort zur 19. Auflage Es gibt kein Rechtsgebiet, das so änderungsanfällig ist wie das Steuerrecht, und zwar nicht nur hierzulande. Die Loseblattkommentierung von Steuergesetzen ist nicht in Deutschland, sondern in den USA erfunden worden. Die steuerlichen Normsysteme sind in sehr vielen Ländern zersplittert und hochkompliziert. Das hängt mit der Vielfalt von Interessenkollisionen zusammen, auf der einen Seite divergierende fiskalische Interessen vieler Steuergläubiger auf föderaler, regionaler und lokaler Ebene und auf der anderen Seite die Gruppeninteressen der Steuerzahler, die mit unterschiedlicher lobbyistischer Kraft durchgesetzt werden. Jeder Steuerrechtler, der sich mit ausländischen Steuerrechtsunordnungen befasst hat und noch die deutsche Sprache beherrscht, lernt die Kernstruktur des deutschen Steuerrechts schätzen, das vor einem Jahrhundert noch Vorbild war. Die Abgabenordnung von Enno Becker wurde in viele Länder imIX
Aus dem Vorwort zur 19. Auflage Mit dem neuen Autorenteam hoffen wir, das Werk von Klaus Tipke und Joachim Lang erfolgreich fortzuführen und fortzuentwickeln. Der von Klaus Tipke bereits in der ersten Auflage erhobene und von Joachim Lang bei Übernahme der 12. Auflage bekräftigte Anspruch, dem real existierenden Steuerchaos Prinzipien und Strukturen einer Steuersystemlehre entgegenzusetzen, dient uns weiterhin als Leitbild gerade auch in einer Besteuerungswelt, die an Komplexität deutlich zugenommen hat. Die personelle Neu- und Umbesetzung haben wir zudem für eine Reihe konzeptioneller Neuerungen genutzt, einzelne Abschnitte zusammengelegt oder neu platziert, um Sinnzusammenhänge noch deutlicher zu machen. Hierzu haben wir im vorderen Teil einige kleinere Paragraphen zusammengelegt. Das bisher im hinteren Teil des Buchs behandelte Unternehmensteuerrecht haben wir in den §§ 10–14 an die Darstellung der Einkommen- und Körperschaftsteuer herangerückt. Einen neuen Abschnitt gibt es zur Grund- und Vermögensteuer, in dem Roman Seer derzeit vor allem die Grundsteuer behandelt, in dem aber auch Raum ist für neue vermögensbezogene Abgaben, die derzeit in der politischen Debatte eine Renaissance erleben. Trotz einer durch absolute Reformunfähigkeit geprägten Legislaturperiode war in der vorliegenden 21. Auflage aber auch inhaltlich wieder viel zu tun. Denn die Probleme werden durch die Untätigkeit der Politik nicht weniger, allenfalls bleibt mehr Zeit, sie wissenschaftlich aufzuarbeiten. Die ungelöste Staatsschulden- und Eurokrise lenkt alle Aufmerksamkeit auf die Haushalts- und Währungspolitik. Der Finanzminister hetzt von einem Krisengipfel zum nächsten. Dies mag einer der Gründe sein, warum von den hochfliegenden steuerpolitischen Ankündigungen des Koalitionsvertrags von CDU/CSU und FDP vom 26.10.2009 nichts in die Tat umgesetzt wurde. Dabei hatte die Politik zu Beginn der 17. Legislaturperiode hohe Erwartungen geweckt: Reform der Kommunalfinanzen, Streichung von Umsatzsteuerprivilegien, Einführung einer modernen Gruppenbesteuerung. Drei Jahre später ist die Bilanz ernüchternd. Die Kommission zur Reform der Kommunalfinanzen hat ihre Arbeit vorzeitig eingestellt. Die Umsatzsteuerreform wurde wegen der politisch als nicht aushaltbar eingestuften verteilungspolitischen Debatten gar nicht erst in Angriff genommen, und selbst eine verhältnismäßig begrenzte Maßnahme wie die Abschaffung des Gewinnabführungsvertrages für Zwecke der körperschaftsteuerrechtlichen Organschaft hatte keine Verwirklichungschancen. Das Steuervereinfachungsgesetz 2011 verdient seine Namen nicht. Der Entwurf eines Gesetzes zum Abbau der kalten Progression hängt im Vermittlungsausschuss fest. Die Länder werden in ihrer Blockadehaltung durch das 2020 infolge der Schuldenbremse einzuhaltende Nullverschuldungsgebot geeint. Überhaupt stehen die Zeichen trotz eines sich nach dem konjunkturellen Einbruch 2009/2010 überraschend schnell erholenden Steueraufkommens überall auf Steuererhöhung. Köln und Bochum, im August 2012
Johanna Hey
Roman Seer
Aus dem Vorwort zur 19. Auflage Es gibt kein Rechtsgebiet, das so änderungsanfällig ist wie das Steuerrecht, und zwar nicht nur hierzulande. Die Loseblattkommentierung von Steuergesetzen ist nicht in Deutschland, sondern in den USA erfunden worden. Die steuerlichen Normsysteme sind in sehr vielen Ländern zersplittert und hochkompliziert. Das hängt mit der Vielfalt von Interessenkollisionen zusammen, auf der einen Seite divergierende fiskalische Interessen vieler Steuergläubiger auf föderaler, regionaler und lokaler Ebene und auf der anderen Seite die Gruppeninteressen der Steuerzahler, die mit unterschiedlicher lobbyistischer Kraft durchgesetzt werden. Jeder Steuerrechtler, der sich mit ausländischen Steuerrechtsunordnungen befasst hat und noch die deutsche Sprache beherrscht, lernt die Kernstruktur des deutschen Steuerrechts schätzen, das vor einem Jahrhundert noch Vorbild war. Die Abgabenordnung von Enno Becker wurde in viele Länder imIX
Aus dem Vorwort zur 19. Auflage portiert. Es gibt keinen Steuerrechtler weltweit, der die Ordnung des Steuerrechts tief greifender herausgearbeitet hat als Klaus Tipke. Es gibt im Ausland kein dreibändiges Werk über die „Steuerrechtsordnung“. Noch in den 1990er Jahren suchten die mittel- und osteuropäischen Regierungen nach dem Zusammenbruch des Sozialismus deutschen Rat. Wir mussten sie davon überzeugen, dass die deutschen Steuergesetze kein Vorbild mehr sein können. Ich entschloss mich, den dogmatisch gesunden Kern des deutschen Steuerrechts in dem „Entwurf eines Steuergesetzbuchs“ zu verdeutlichen. Eine Reihe von Haushaltsministern – einen Steuerreformminister wie Johannes von Miquel und Matthias Erzberger kennt die Geschichte der Bundesrepublik nicht – sowie eine tages- und lenkungspolitisch ausgerichtete Steuergesetzgebung hat das deutsche Steuerrecht im Stakkato der Steueränderungsgesetzgebung so zerstört, dass es in regelmäßigen Umfragen des World Economic Forum auf den letzten Plätzen landet. Auch die gegenwärtige Koalition hat ihre Reformversprechen nicht eingehalten. Sie hat im Gegenteil einen steuersystematischen Scherbenhaufen produziert und den Trend zur Experimentiergesetzgebung verstärkt. Die Wettbewerbsfähigkeit eines Steuersystems erschöpft sich nicht in niedrigen Steuersätzen, sie lebt ebenso von Einfachheit, Transparenz, Planungssicherheit, Entscheidungsneutralität und einer Art von Gerechtigkeit, die den Steuerzahler nicht fiskalisch oder ideologisch beliebig schröpft, sondern Prinzipien der Steuergerechtigkeit wie das Leistungsfähigkeitsprinzip und das Nettoprinzip folgerichtig verwirklicht. Die Unfähigkeit, das deutsche Steuerrecht zu seinem früheren internationalen Ansehen zurückzuführen, mündet in Einmauerungspolitik zur Sicherung von Steuersubstrat, was im Ausland mittlerweile belächelt wird. Ein Schweizer Kollege bemerkte schmunzelnd, die Steuerpolitik der Deutschen erinnere ihn an den Mauerbau der DDR, die auch unfähig gewesen war, ihre Bürger im Land zu halten. Besonders ärgerlich ist, dass die Verrottung des deutschen Steuerrechts der Steuerhinterziehung einen spieltheoretisch positiven Wert vermittelt und sich dabei die Bankenbranche unserer Nachbarländer die Hände reibt. Die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs ist gegen Einmauerungspolitik gerichtet. Der EuGH schält seine Vision eines europäischen Raumes ohne Binnengrenzen und seine Rechtfertigungsdogmatik immer klarer heraus. Er weist die Steuersubstratmentalität der Mitgliedstaaten in die Schranken, kann allerdings nicht zu einem Hoffnungsträger für die Verbesserung nationalen Steuerrechts hochstilisiert werden. Hierfür ist er nicht zuständig. Die deutschen Finanzgerichte leisten zunehmend Widerstand gegen eine verfassungsfremde Steuergesetzgebung, u.a. gegen die Verletzung von Normenklarheit und -bestimmtheit, die Missachtung des Nettoprinzips und die Benachteiligung von Arbeitnehmern. Das Richterrecht ist wesentlicher Faktor der Rechtsdogmatik, die auch das Steuerrecht beanspruchen darf. Die systematisch-kritische Darstellung des Steuerrechts bildet das Hauptanliegen dieses Lehrbuchs, das den Umfang eines „systematischen Grundrisses“ (so der Untertitel bis zur 13. Auflage) mittlerweile weit überschritten hat. Seit der Übernahme des Lehrbuchs von meinem verehrten Lehrer Klaus Tipke im Jahre 1989 haben die Materien dramatisch zugenommen, nicht zuletzt wegen der Sündenfälle der deutschen Steuergesetzgebung, die nicht nur darzustellen, sondern auch kritisch zu würdigen sind. Es freut uns, dass das Lehrbuch zunehmend von Steuerpraktikern genutzt wird, denen der Gesetzgeber den Orientierungsrahmen geraubt hat. Mit zunehmendem Alter wird es Zeit, das Werk in jüngere Hände zu geben. Ich freue mich, die Federführung Johanna Hey und Roman Seer anvertrauen zu können. Beide verfügen über das Talent, die dogmatische Phantasie und Leidenschaft, um das System des Steuerrechts im Umfeld einer systematisch schwer zu bewältigenden Gesetzgebung zu pflegen und fortzuentwickeln. Joachim Englisch hat die Überarbeitung des § 16 übernommen und steht für weitere Teile des Lehrbuchs bereit. Wie Klaus Tipke im Jahre 1989 bin ich zuversichtlich, dass meine Schüler das systematisch-dogmatische Konzept der bisherigen 19 Auflagen erfolgreich weiterführen und vertiefen werden. Köln, im Februar 2008 X
Joachim Lang
Aus dem Vorwort zur 12. Auflage
Aus dem Vorwort zur 12. Auflage Als ich 1973 die erste Auflage dieses Grundrisses vorlegte, war ich mir nicht sicher, ob es je eine zweite Auflage geben würde. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, bis 1989 würden 12 große Auflagen erscheinen, hätte ich gewiß erheblich an seinem Realitätssinn gezweifelt. Das Buch hat Eigenarten, von denen man – jedenfalls 1973 – nicht sicher sein konnte, ob sie angenommen werden würden. Der bloße Steuertechniker, der über das unkritische Subsumieren einzelner Fälle und Verfahrensförmeleien nicht hinaus will, kommt nicht auf seine Kosten. Ohnehin lassen sich die technischen Details des Steuerrechts weder auf 500 noch auf 800 Seiten darstellen. Im übrigen gibt es technische Darstellungen, die durchaus ihren eigenen Wert haben, zur Genüge. Praktiker sind in der Regel daran gewöhnt, mit Spezialkommentaren zu arbeiten, weniger mit systematischen Büchern. Das ist verständlich. In der Tat kann eine systematische Gesamtübersicht über das Steuerrecht die Kommentare nicht ersetzen. Das systematische Buch ist ein aliud. Das Buch konnte auch nicht mit dem Zuspruch derer rechnen, die Orientierung an Prinzipien und teleologische Auslegung für Rechtspolitik oder für Ideologie halten und den Subsumtionsautomaten als idealen Steuerrechtler ansehen. Im juristischen Universitätsbereich mußte allein die Tatsache, daß das Steuerrecht bloß ein Wahlfach zusammen mit anderen Fächern ist, bloß ein Wahlfachteil mit anderen Worten, dem Erfolg des Buches Grenzen setzen. Und doch, das Buch muß in eine Lücke hineingeraten sein; anders wäre sein bisheriger Erfolg nicht zu erklären. Die Eigenart des Buches besteht im folgenden: Es bemüht sich, das Steuerrecht als Ganzes zu erfassen und aufzufassen, das Steuerrecht als eine Einheit zu sehen und zu verstehen, seine Prinzipien aufzudecken und sich an ihnen zu orientieren. Das Buch enthält zur Erhellung systematischer Mängel auch Ausführungen de lege ferenda. Aber primär ist es ein dogmatisches Werk. Dogmatik arbeitet systemimmanent, nicht systemtranszendent. Aber Dogmatik besteht eben auch nicht bloß aus einer Summe streng wörtlich zu nehmender Normen, sondern in der Erfassung und dem systematischen Inbeziehungsetzen des gesamten Normengefüges. Will Steuerrechtswissenschaft eine rationale Disziplin sein, so muß sie dogmatisch-systematisch wirken und eine sytemadäquate Terminologie entwickeln. Steuerrechtswissenschaft muß rechtliche Unordnung kritisieren und versuchen, eine systematische Ordnung aufzuzeigen, und zwar eine Wertordnung. Sonst ist die blendendste Rhetorik, ist auch der größte Zitatenwald wertlos. Steuerrechtswissenschaft darf es nicht hinnehmen, daß der Inhalt der Steuergesetze kurzfristig nur an der nächsten Wahl orientiert wird. Politischer Opportunismus braucht rechtliche Gegengewichte, soll das Recht nicht ethisch verkrüppeln. Das Buch beläßt es nicht bei generellen, abstrakten Ausführungen, es geht auch auf das Besondere ein. Aber es kann und will den Spezialisten nicht ersetzen, sondern auch zeigen: Spezialisierung, die die speziellen Teile nicht als eingebunden in das Ganze sieht, die Sekundärregeln des Spezialgebiets nicht als Folgeregeln von übergreifenden Primärregeln versteht, kann rechtlich borniert sein. Mancher Spezialist sieht kein Bedürfnis, sich um Regeln zu kümmern, die über sein Spezialgebiet hinausgreifen, vorausgesetzt er interessiert sich überhaupt für Regeln. Der Spezialist für Bilanzsteuerrecht mag das Maßgeblichkeitsprinzip als das Fundamentalprinzip des Steuerrechts ansehen. Der Spezialist für Versicherungsrecht mag diese Materie a priori für gerecht halten und die Frage gar nicht erst aufkommen lassen, inwieweit sich Versicherungsrecht mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip vereinbaren lasse. Das Buch kann auf 800 Seiten nur begrenzt Stoff anhäufen. Aber maximale Stoffanhäufung ist auch nicht das Anliegen des Buches. Bloße Stoffanhäufung kann dazu führen, daß viel gelernt werden muß, nicht selten aber wenig begriffen wird. Viel lernen und wenig verstehen ist aber das Gegenteil eines akademischen Lehr- und Lernideals. Seit Mai 1988 bin ich von Lehr- und Prüfungsverpflichtungen in der Universität befreit. Ermöglicht worden ist mir das durch den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, dem ich auch an dieser XI
Aus dem Vorwort zur 1. Auflage Stelle aufrichtig danke. Um möglichst viel Kraft für meine Forschungsarbeit freisetzen zu können, hat mein Lehrstuhlnachfolger Joachim Lang die Gesamtverantwortung für das Buch übernommen. Eine solche Gesamtverantwortung ist unentbehrlich, soll ein Buch aus einem Guß entstehen. Ich bin zuversichtlich, daß Joachim Lang das systematisch-dogmatische Konzept der bisherigen elf Auflagen erfolgreich weiterführen und vertiefen wird … Köln, im März 1989
Klaus Tipke
Aus dem Vorwort zur 1. Auflage Dieser Grundriß, der die Grundzüge des Steuerrechts darstellt, ist aus meinen Vorlesungsskripten „Allgemeines Steuerrecht“, „Besonderes Steuerrecht“ und „Rechtsschutz in Steuersachen“ hervorgegangen. Den Inhalt habe ich nochmals überarbeitet. Es handelt sich um einen systematischen Grundriß, der einen Überblick über die steuerliche Gesamtrechtsordnung geben soll. Dem dafür bestehenden Bedürfnis vermögen die Kommentare zu den Einzelsteuergesetzen nicht abzuhelfen. Das mangelhaft systematisierte Steuerrecht besteht aus etwa 50 Steuerarten, die in mehr als 90 Steuergesetzen und in über 100 Rechtsverordnungen geregelt sind. Steuerverwaltung und Steuerberatung haben über 5000 (noch) relevante Urteile des Reichs- und Bundesfinanzhofs zu beachten, die Steuerverwaltung überdies zahlreiche Verwaltungsanordnungen (Richtlinien; Erlasse und Verfügungen der Finanzministerien und Oberfinanzdirektionen, von denen jährlich über 1000 zu ergehen pflegen). Es ist weder möglich, noch ist es die Aufgabe eines systematischen Grundrisses, das gesamte, zu einem nicht unerheblichen Teil situationsabhängige Steuerrecht nach Art eines Kommentars als bloße Summe von Vorschriften quantitativ bis in seine sich ständig ändernden Details darzustellen. Vielmehr ist es dem Verfasser darauf angekommen, die vorhandenen systemtragenden Prinzipien herauszuarbeiten und in einer konzentrierten, erklärenden und problematisierenden Kurzdarstellung einen auf das Wesentliche beschränkten Gesamtüberblick in der Weise zu geben, daß die systematischen Grundzüge erkennbar werden und nach Bedarf ein vertieftes Nacharbeiten ermöglicht wird. Trotz der ständigen Bewegung im besonderen Steuerrecht zeigt sich immer wieder, daß fast alle Probleme allgemeinen, insbesondere systematischen Charakter haben. Der Systemgedanke erweist sich namentlich in dreierlei Hinsicht als fruchtbar: Das systemtragende Prinzip ist gleichbedeutend mit dem für die Gesetzesauslegung maßgeblichen Telos des Gesetzes; an ihm orientiert sich die Lückenausfüllung, soweit diese zulässig ist; und schließlich ist es Vergleichsmaßstab für die Prüfung von Verstößen gegen den Gleichheitssatz. Die Steuerrechtswissenschaft ist ihrem Ordnungsauftrag, das Steuerrecht systematisch aufzuarbeiten und darzustellen, bisher kaum nachgekommen. Die wenigen Lehrbücher, die bisher zum besonderen Steuerrecht erschienen sind, lassen jedenfalls weithin noch keine systematische Ordnung erkennen. Sie sind durchweg auf die bloße Wiedergabe des Gesetzesinhalts und weniger auf die Anleitung zu dessen Verständnis – das heißt im wesentlichen: auf Herausarbeitung der systemtragenden Prinzipien sowie der Systembrüche – angelegt. So existiert denn bis heute kein geschlossenes steuerjuristischer Lehrgebäude mit weitgespannten systematischen Ableitungszusammenhängen. Dieser Grundriß kann und will nicht für sich in Anspruch nehmen, das Versäumte bereits nachgeholt zu haben. Es handelt sich um einen Anfang, den ich geglaubt habe, nunmehr tun zu sollen, zumal in Anbetracht des mit Recht allseits beklagten Lehrbuchmangels. Das Buch bietet nicht nur fertige Lösungen an, es will auch dazu anregen, entsprechend seiner Konzeption systematisch weiterzudenken. EinXII
Aus dem Vorwort zur 1. Auflage Stelle aufrichtig danke. Um möglichst viel Kraft für meine Forschungsarbeit freisetzen zu können, hat mein Lehrstuhlnachfolger Joachim Lang die Gesamtverantwortung für das Buch übernommen. Eine solche Gesamtverantwortung ist unentbehrlich, soll ein Buch aus einem Guß entstehen. Ich bin zuversichtlich, daß Joachim Lang das systematisch-dogmatische Konzept der bisherigen elf Auflagen erfolgreich weiterführen und vertiefen wird … Köln, im März 1989
Klaus Tipke
Aus dem Vorwort zur 1. Auflage Dieser Grundriß, der die Grundzüge des Steuerrechts darstellt, ist aus meinen Vorlesungsskripten „Allgemeines Steuerrecht“, „Besonderes Steuerrecht“ und „Rechtsschutz in Steuersachen“ hervorgegangen. Den Inhalt habe ich nochmals überarbeitet. Es handelt sich um einen systematischen Grundriß, der einen Überblick über die steuerliche Gesamtrechtsordnung geben soll. Dem dafür bestehenden Bedürfnis vermögen die Kommentare zu den Einzelsteuergesetzen nicht abzuhelfen. Das mangelhaft systematisierte Steuerrecht besteht aus etwa 50 Steuerarten, die in mehr als 90 Steuergesetzen und in über 100 Rechtsverordnungen geregelt sind. Steuerverwaltung und Steuerberatung haben über 5000 (noch) relevante Urteile des Reichs- und Bundesfinanzhofs zu beachten, die Steuerverwaltung überdies zahlreiche Verwaltungsanordnungen (Richtlinien; Erlasse und Verfügungen der Finanzministerien und Oberfinanzdirektionen, von denen jährlich über 1000 zu ergehen pflegen). Es ist weder möglich, noch ist es die Aufgabe eines systematischen Grundrisses, das gesamte, zu einem nicht unerheblichen Teil situationsabhängige Steuerrecht nach Art eines Kommentars als bloße Summe von Vorschriften quantitativ bis in seine sich ständig ändernden Details darzustellen. Vielmehr ist es dem Verfasser darauf angekommen, die vorhandenen systemtragenden Prinzipien herauszuarbeiten und in einer konzentrierten, erklärenden und problematisierenden Kurzdarstellung einen auf das Wesentliche beschränkten Gesamtüberblick in der Weise zu geben, daß die systematischen Grundzüge erkennbar werden und nach Bedarf ein vertieftes Nacharbeiten ermöglicht wird. Trotz der ständigen Bewegung im besonderen Steuerrecht zeigt sich immer wieder, daß fast alle Probleme allgemeinen, insbesondere systematischen Charakter haben. Der Systemgedanke erweist sich namentlich in dreierlei Hinsicht als fruchtbar: Das systemtragende Prinzip ist gleichbedeutend mit dem für die Gesetzesauslegung maßgeblichen Telos des Gesetzes; an ihm orientiert sich die Lückenausfüllung, soweit diese zulässig ist; und schließlich ist es Vergleichsmaßstab für die Prüfung von Verstößen gegen den Gleichheitssatz. Die Steuerrechtswissenschaft ist ihrem Ordnungsauftrag, das Steuerrecht systematisch aufzuarbeiten und darzustellen, bisher kaum nachgekommen. Die wenigen Lehrbücher, die bisher zum besonderen Steuerrecht erschienen sind, lassen jedenfalls weithin noch keine systematische Ordnung erkennen. Sie sind durchweg auf die bloße Wiedergabe des Gesetzesinhalts und weniger auf die Anleitung zu dessen Verständnis – das heißt im wesentlichen: auf Herausarbeitung der systemtragenden Prinzipien sowie der Systembrüche – angelegt. So existiert denn bis heute kein geschlossenes steuerjuristischer Lehrgebäude mit weitgespannten systematischen Ableitungszusammenhängen. Dieser Grundriß kann und will nicht für sich in Anspruch nehmen, das Versäumte bereits nachgeholt zu haben. Es handelt sich um einen Anfang, den ich geglaubt habe, nunmehr tun zu sollen, zumal in Anbetracht des mit Recht allseits beklagten Lehrbuchmangels. Das Buch bietet nicht nur fertige Lösungen an, es will auch dazu anregen, entsprechend seiner Konzeption systematisch weiterzudenken. EinXII
Aus dem Vorwort zur 1. Auflage zelne Teile des Stoffes weiter zu differenzieren und auch einen Grundriß des internationalen Steuerrechts vorzulegen, wird die Aufgabe der kommenden Jahre sein. Dem Benutzer des Buches wird auffallen, daß viele Dissertationen zitiert sind; es sind dies insbesondere die im Kölner Institut für Steuerrecht vorhandenen Arbeiten. Sie sind wissenschaftlich von recht unterschiedlichem Wert. Wenn sie gleichwohl weitgehend erfaßt worden sind, so deshalb, weil sie in den Literaturangaben der Kommentare und Lehrbücher durchweg fehlen, weil sie in der Regel brauchbare Materialsammlungen enthalten und weil gezeigt werden soll, welche Bereiche des Steuerrechts schon häufig, welche hingegen durch Dissertationen bisher noch gar nicht behandelt worden sind. Auch Doktorvätern fehlt hier offenbar die Übersicht. Dieser Grundriß ist in erster Linie als Anleitung für das akademische Studium des Steuerrechts gedacht. Ich denke allerdings, daß das Buch auch sonst in der steuerrechtlichen Ausbildung von Nutzen sein kann. Der Grundriß soll es aber auch dem bereits in der Praxis tätigen Juristen ermöglichen, sich in das Steuerrecht einzuarbeiten. Den nicht juristisch vorgebildeten Angehörigen der steuerberatenden Berufe soll er in das spezifisch steuerrechtliche Denken einführen; er soll ihm zeigen, daß steuerrechtliche Normen, Richtlinien und Urteile keine fixen oder unabänderlichen Daten sind. Mit seiner systematischen Konzeption wird das Buch auch Steuerrichtern und Steuerbeamten dienen, denn sie brauchen diese Konzeption für die richtige Rechtsanwendung, auch für die Prüfung von Verstößen gegen den Gleichheitssatz. Köln, im September 1973
Klaus Tipke
XIII
Inhaltsübersicht Seite
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . Allgemeines Literaturverzeichnis
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VII XVII LI LXV
§1
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
§2
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung . . . . . . . . . . . . .
35
§3
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
§4
Europäisches Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149
§5
Rechtsanwendung im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
§6
Allgemeines Steuerschuldrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
249
Grundlagen der Steuerrechtsordnung
Besonderes Steuerschuldrecht §7
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
273
§8
Einkommensteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
313
§9
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
541
§ 10 Besteuerung von Mitunternehmerschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
683
§ 11 Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
741
§ 12 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
791
§ 13 Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
815
§ 14 Konzern- und Umwandlungssteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
863
§ 15 Erbschaft- und Schenkungsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
895
§ 16 Grund-/Vermögensteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
955
§ 17 Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
975
§ 18 Spezielle Verkehr- und Verbrauchsteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1177
§ 19 Arten und Rechtfertigung von Steuervergünstigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1235
§ 20 Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1247
XV
Inhaltsübersicht
Steuerverfahrens- und Steuerstrafrecht
Seite
§ 21 Durchführung der Besteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1259
§ 22 Rechtsschutz in Steuersachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1421
§ 23 Materielles Steuerstraf- und -ordnungswidrigkeitenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1513
§ 24 Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1553
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1575
XVI
Inhaltsverzeichnis Seite
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . Allgemeines Literaturverzeichnis
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VII XV LI LXV
Gegenstand und Bedeutung des Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzung von steuerwissenschaftlichen Nachbardisziplinen . . . . . . . . . . Steuerrecht als Referenzgebiet des öffentlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis des Steuerrechts zu anderen Rechtsgebieten . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Steuerrecht und Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Steuerrecht und Sozialrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Steuerrecht und „Einheit der Rechtsordnung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gebiete und Gesetze des allgemeinen Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Das allgemeine Steuerrecht im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Abgabenordnung als Teilkodifikation (Mantelgesetz) des Steuerrechts 6.3 Das Bewertungsgesetz als Teilkodifikation (Mantelgesetz) des Steuerrechts 6.4 Allgemeines Steuerschuldrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Steuerverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Gebiete und Gesetze des besonderen Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Besonderes Steuerschuldrecht und Sondergebiete des Steuerrechts . . . . . 7.2 Internationales Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Europäisches Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 6 10 11 12 15 17 18 18 18 20 22 23 25 25 26 34
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35 40 40 41 42 44 45 48 56 61
Grundlagen der Steuerrechtsordnung § 1 Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung 1. 2. 3. 4.
§ 2 Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Steuerbegriff; Abgrenzung von anderen Abgaben . . . . . . . . . . 2.1 Verfassungsrechtlicher Inhalt und Bedeutung des Steuerbegriffs . 2.2 Die Merkmale des Steuerbegriffs in § 3 I AO . . . . . . . . . . . . . 2.3 Gebühren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Sonderabgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Steuergesetzgebungshoheit (Art. 105 GG) . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Steuerertragshoheit (Art. 106; 107 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Steuerverwaltungshoheit (Art. 108 GG) . . . . . . . . . . . . . . . .
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XVII
Inhaltsverzeichnis
§ 3 Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
Seite
A. System des Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
I. II. 1. 2.
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65 67 67 68 69 71 71 73 74
B. Das Leistungsfähigkeitsprinzip als allgemein anerkanntes Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
Problemstellung: Systemhaftigkeit versus Steuerchaos . . . . . Formale und inhaltliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das äußere System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das inhaltliche oder innere System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Prinzipien als Träger des inhaltlichen oder inneren Systems 2.2 Die steuergesetzlichen Normgruppen im System . . . . . . . 2.2.1 Drei Normgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Relevanz der richtigen Einordnung . . . . . . . . . . . . 3. Die Effizienz des Systemgedankens . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Das Leistungsfähigkeitsprinzip als systemtragender Vergleichsmaßstab für Fiskalzwecknormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Konkretisierungen des Leistungsfähigkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zuordnungssubjekte steuerlicher Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips im Vielsteuersystem durch Besteuerung von Einkommen, Vermögen und Konsum . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Vielsteuersystem vs. Alleinsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Leistungsfähigkeitsindikatoren Einkommen, Vermögen, Konsum . . . . . .
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...... ...... ......
75 79 80
...... ...... ......
80 81 82
C. Verfassungsrechtliche Maßstäbe des Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
I. 1. 2. 3. 4.
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92 92 93 93 95
Gleichmäßigkeit der Besteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung und Inhalt des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 I GG) im Steuerrecht Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gebot der Rechtssetzungsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steuerrechtsspezifische Konkretisierungen des Allgemeinen Gleichheitssatzes . . . . . . Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen und Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Willkürverbot oder Gebot verhältnismäßiger Gleichheit? . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Rechtfertigung von Sozialzwecknormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Rechtfertigung von Vereinfachungszwecknormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gleichmäßige Besteuerung und Steuerföderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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97 97 98 100 102 103 103 105 106 108 110
III. Der verfassungsrechtliche Schutz des Existenzminimums . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
111 112
II. 1. 2. 3. 4. 5.
XVIII
Steuern im Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formale und materiale Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . Verwirklichung formaler Rechtsstaatlichkeit im Steuerrecht . Verwirklichung materialer Rechtsstaatlichkeit im Steuerrecht Steuergerechtigkeit und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis Seite
V. Freiheitsrechtliche Schranken der Besteuerung und Übermaßverbot . . . . . . . . 1. Rechtsstaatlicher und grundrechtlicher Gehalt des Übermaßverbots . . . . . . . . . . 1.1 Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Relative Wirkungslosigkeit des freiheitsrechtlichen Übermaßverbots gegenüber dem Steuereingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Das Verbot der Erdrosselungssteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 2 I GG als allgemeine Schranke der Besteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bedeutung von Art. 4 GG für das Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Steuern als Eingriff in die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Prinzip eigentumsschonender Besteuerung (Art. 14 GG) . . . . . . . . . . . . . .
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118 118 118
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119 120 121 121 122 123
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126 127 128 128 128 129 131 133 136 136 137 138 142 146
A. Rechtsnormen des Europäischen Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149
1. 2. 3. 4.
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150 151 152 154 154 156
B. Einwirkung des Europarechts auf nationale Steuerrechtsnormen . . . . . . . .
157
1. 2. 3. 4. 5.
157 160 164 167 170
VI. Sozialstaatlich gerechte Besteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Steuerrechtliches Legalitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Inhalt und Bedeutung des steuerrechtlichen Legalitätsprinzips . . . 1.2 Rechtsgrundlagen des steuerrechtlichen Legalitätsprinzips . . . . . . 1.3 Konkretisierungen des steuerrechtlichen Legalitätsprinzips . . . . . 1.4 Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gebote der Bestimmtheit und Normenklarheit . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtssicherheit durch Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Prinzipielles Verbot rückwirkender Steuergesetze . . . . . . . . . . . 3.1.1 Verfassungsrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung 3.1.3 Rechtfertigung rückwirkender Steuergesetze . . . . . . . . . . . 3.2 Rückwirkende Gesetzesanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 4 Europäisches Steuerrecht
Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundär- und Tertiärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis von Primär- und Sekundärrecht . . . . . . . . . . . Keine Rechtsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Rechtlich unverbindliche Erklärungen von EU-Organen 4.2 Entscheidungen der europäischen Gerichte . . . . . . . .
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Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unionsrecht und harmonisiertes Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durchführungsverbot und Rückforderungsgebot bei steuerlichen Beihilfen . Durchsetzung des Unionsrechts im Wege nationalen Steuerverfahrensrechts Verhältnis zu verfassungsrechtlichen Wertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XIX
Inhaltsverzeichnis Seite
C. Rechtsgrundlagen und Stand steuerrechtlicher Harmonisierung . . . . . . . . .
173
1. Harmonisierung der indirekten Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Harmonisierung der direkten Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
173 174
D. Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . .
178
1. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gewährleistungsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung von Grundfreiheitsverstößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179 182 189
E. Das Beihilfenverbot im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
198
§ 5 Rechtsanwendung im Steuerrecht A. Rechtsnormen des Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
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205 206 208 208 209 209 210 210 213
B. Methoden der Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
214
1. Struktur von Rechtsnormen, Syllogismus der Rechtsfolgebestimmung und Primat teleologischer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Kanon der traditionellen Auslegungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wirtschaftliche Interpretation der Steuergesetze (wirtschaftliche Betrachtungsweise) . 4. Ausfüllung von Gesetzeslücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verfassungskonforme Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Richtlinienkonforme Gesetzesinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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215 219 224 225 231 232
C. Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise . . . .
233
Parlamentsgesetze . . . . . . . . . . . . . . Rechtsverordnungen . . . . . . . . . . . . Autonome Satzungen . . . . . . . . . . . Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . Supranationales europäisches Recht . . Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keine Rechtsnormen . . . . . . . . . . . . 7.1 Verwaltungsvorschriften . . . . . . . 7.2 Entscheidungen der Steuergerichte
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1. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei Divergenz zwischen wirtschaftlichem Verhalten und juristischem Zustand (§ 41 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei gesetzwidrigem oder sittenwidrigem Verhalten (§ 40 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei Gestaltungsmissbrauch (§ 42 AO) . . . . . . . . . 3.1 Zweck und Anwendungsbereich des § 42 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Tatbestand des Gestaltungsmissbrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XX
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233
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235 236 237 241 244
Inhaltsverzeichnis Seite
4. Wirtschaftliche Zurechnung statt Maßgeblichkeit der zivilrechtlichen Berechtigung (§ 39 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
244
D. Ermessensausübung (§ 5 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
246
§ 6 Allgemeines Steuerschuldrecht 1. Inhalt des Steuerschuldverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Steuerschuldverhältnis als materiell-rechtlicher Teil des Steuerrechtsverhältnisses 1.2 Kanon der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entstehung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gläubiger- und Schuldnerwechsel, Verpfändung, Pfändung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Vorgänge kraft Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Vorgänge kraft Rechtsgeschäft, Pfändung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Erlöschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Steueranspruch und Steuerschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Steuergläubiger und Steuerschuldner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Entstehung des Steueranspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Der Entstehungstatbestand des Steueranspruchs (Steuertatbestand) . . . . . . . . . 5.3.1 Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Das Steuersubjekt und die Steuerrechtsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Das Steuerobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Die Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.5 Die abstrakten Merkmale des inländischen Steuerschuldverhältnisses . . . . 5.3.6 Die Steuerbemessungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.7 Der Steuersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.8 Die Steuervergünstigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Konkurrenz der Steuertatbestände oder Steueransprüche . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Gesamtschuldnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Der Haftungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Haftungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Haftungsumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Akzessorietät der Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Legalitätsprinzip oder Opportunitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Subsidiarität der Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Der Steuervergütungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Der Steuererstattungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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249 249 249 250 251 251 251 252 252 252 253 255 255 256 257 258 258 258 259 259 261 262 263 263 264 267 267 268 268 268 270
XXI
Inhaltsverzeichnis
Besonderes Steuerschuldrecht § 7 Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
Seite
A. Grundsätze der Gestaltung von Steuerarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
273
B. Steueraufkommen, Steuerquote und Steuerarten in Deutschland . . . . . . . . .
278
C. Steuern auf das Einkommen und Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
282
1. 2. 3. 4.
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282 285 287 288
D. Steuern auf die Verwendung von Einkommen und Vermögen . . . . . . . . . . .
302
E. Besondere Sozialzwecksteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
304
1. Zölle und Abschöpfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umweltsteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
304 304
Steuern auf das Erwerbseinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besteuerung des Vermögenstransfers durch die Erbschaft- und Schenkungsteuer Besteuerung des Vermögensbestandes durch Substanzsteuern . . . . . . . . . . . . Reform der Besteuerung von Einkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 8 Einkommensteuer A. Allgemeine Charakterisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Steuerpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
316
1. Natürliche Personen als Steuersubjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Internationale Abgrenzung der Steuerpflicht durch die unbeschränkte und beschränkte Steuerpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
316 318
C. Objekt und Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer . . . . . . . . . . . . . .
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1. Grundelemente des § 2 EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Bedeutung des § 2 EStG für den Einkommensteuertatbestand . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Disponibles Einkommen als Maßstab objektiver und subjektiver Leistungsfähigkeit . 1.3 Periodizität der Einkommensteuer und Jahressteuerprinzip (§ 2 VII EStG) . . . . . . 1.4 Periodischer Entstehungszeitpunkt der Einkommensteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Einkommensteuerobjekt: Summe der Einkünfte (§ 2 I-III EStG) . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zur rechtlichen Bestimmung des Steuerguts „Einkommen“ . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Das Einkommen als zentraler Begriff des öffentlichen Schuldrechts . . . . . . . 2.1.2 Reinvermögenszugangs-, Quellen- und Markteinkommenstheorie . . . . . . . . 2.1.3 Pragmatische Legaldefinition des Einkommens durch den Einkünftekatalog . . 2.2 Bestimmung der Einkünfte nach dem objektiven Nettoprinzip . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Ermittlung der Einkünfte nach dem Nominalwertprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zeitliche Zuordnung der Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
322 322 323 324 325 325 325 325 326 327 328 330 331
XXII
Inhaltsverzeichnis Seite
2.5 Verluste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Verlustausgleich und Verlustabzug (Verlustrücktrag/-vortrag) . . . . . . . . . . 2.5.2 Beschränkungen des Verlustausgleichs und Verlustabzugs . . . . . . . . . . . . 3. Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer: das zu versteuernde Einkommen i.S.d. § 2 V EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Private Abzüge i.S.d. § 2 IV, V EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Das subjektive Nettoprinzip als Grundlage der Berücksichtigung existenznotwendiger Privatausgaben und die Lehre vom indisponiblen Einkommen 3.1.2 Berücksichtigung des existenznotwendigen Lebensbedarfs . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Reform der Familienbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Tatbestandstechnischer Aufbau des zu versteuernden Einkommens . . . . . . . . . . . . .
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332 332 334
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339 339
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339 343 345 351 353
D. Bestimmung steuerpflichtiger Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
354
1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuerbare Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Objektiver Tatbestand: Erzielen von Einkünften . . 2.2 Subjektiver Tatbestand: Einkünfteerzielungsabsicht 3. Steuerfreie Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Objektive Befreiungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Freibeträge/Freigrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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354 355 355 356 363 363 367
E. Die persönliche Zurechnung von Einkünften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
368
1. 2. 3. 4.
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368 369 372 375
F. Ermittlung der Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
376
I. Unterschiedliche Ermittlung der Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Dualismus der Einkünfteermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
376 376 377
II. System der Einkünfteermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Typen der Einkünfteermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Ermittlung der Einkünfte durch Bilanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Überschussrechnungen nach dem Zufluss- und dem Abflussprinzip (§§ 4 III; 8 ff.; 11 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Ergänzende Ermittlung von Veräußerungseinkünften (§§ 16; 17; 23 EStG) . 1.4 Privilegierende Einkünfteermittlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Personelle Zuordnung der Gewinnermittlungsarten . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Schätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundbegriffe der Einkünfteermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Das terminologische System der Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen 2.1.1 Die Abgrenzung der Erwerbssphäre zur Privatsphäre . . . . . . . . . . . 2.1.1.1 Finalität und Kausalität des Handelns . . . . . . . . . . . . . . . .
..... ..... .....
378 378 379
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379 381 384 385 385 386 386 386 386
Allgemeine Zurechnungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konkretisierung der Zurechnungsregeln bei einzelnen Einkunftsarten Zurechnung von Einkünften unter Familienangehörigen . . . . . . . . Zurechnung von Einkünften im Erbfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XXIII
Inhaltsverzeichnis Seite
2.2
2.3
2.4
2.5 III. 1. 2. 3.
XXIV
2.1.1.2 Bestimmung der Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen durch das Veranlassungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.3 Subjektiv-finale und objektive Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.4 Zusammentreffen mehrerer Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Die persönliche Zurechnung von Erwerbsbezügen, Erwerbsaufwendungen und von sog. Drittaufwand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Die zeitliche Zuordnung von Erwerbsbezügen und Erwerbsaufwendungen . 2.1.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzung der Betriebsausgaben/Werbungskosten zu den Privatausgaben . . . . . 2.2.1 Inhaltsgleiche Interpretation des Betriebsausgaben- und des Werbungskostenbegriffs nach dem Veranlassungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Gemischt veranlasste Aufwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.1 Bedeutung des § 12 EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.2 Aufteilungsgebot bei gemischter Veranlassung . . . . . . . . . . . . . . Praktisch besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Gesetzgeberische Typisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Arbeitsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Arbeitszimmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Berufsverbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Bewirtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.6 Doppelte Haushaltsführung: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.7 Fahrten zwischen Wohnung und Erwerbsstätte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.8 Fort- und Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.9 Geschenke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.10 Kleidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.11 Kraftfahrzeugkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.12 Reisekosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.13 Telefonkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.14 Umzugskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.15 Verlust von Wirtschaftsgütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.16 Verpflegungsmehraufwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.17 Zinsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nichtabziehbare Erwerbsaufwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Allgemeine Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Besondere Regeln für privat mitveranlasste Erwerbsaufwendungen . . . . . . 2.4.3 Besondere Regeln zum Schutz der Gesamtrechtsordnung . . . . . . . . . . . . 2.4.4 Besondere Regeln zum Schutz des Steueraufkommens gegen Steuerverlagerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pauschalierung von Erwerbsaufwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ermittlung der Überschusseinkünfte (§§ 8–9a EStG) Allgemeine Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werbungskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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G. Die einzelnen Einkunftsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einführung in das Einkunftsartenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gewinneinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 1 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft (§§ 13–14a EStG) . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Bestimmung und Privilegierung der Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft . 1.2 Gewinnermittlung nach Durchschnittssätzen (§ 13a EStG) . . . . . . . . . . . . . 2. Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§§ 15; 16 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Allgemeine Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Überblick über die Arten der gewerblichen Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einkünfte aus selbständiger Arbeit (§ 18 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Überschusseinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der Begriff des Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Arbeitslohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Durch die nichtselbständige Beschäftigung veranlasste Einnahmen . . . . . . 1.2.2 Versorgungsbezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Lohnsteuerpauschalierungen, insb. geringfügige Beschäftigung . . . . . . . . 2. Einkünfte aus Kapitalvermögen mit Abgeltungsteuer (§§ 20; 32d; 43 V 1 EStG) . . . . 2.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Arten der Kapitaleinkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Ermittlung der Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Reichweite der Abgeltungsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Kritik und Reformbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wiederkehrende Bezüge (§ 22 Nr. 1–1a EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Abgeordnetenbezüge (§ 22 Nr. 4 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Einkünfte aus sonstigen Leistungen (§ 22 Nr. 3 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Einkünfte aus der Veräußerung von Privatvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Ungleiche Erfassung von Veräußerungseinkünften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Einkünfte aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften (§ 17 EStG) 7.3 Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften (§§ 22 Nr. 2; 23 EStG) . . . . . . . 7.4 Zur gleichmäßigen Besteuerung von Veräußerungseinkünften . . . . . . . . . . . . . 8. Alterseinkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Rürup-Kommission und geltende Rechtslage nach dem Alterseinkünftegesetz . . . 8.3 Kritik und Reformüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Gemeinsame Vorschriften zu allen Einkunftsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Konkurrenzen mehrerer Einkunftsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
492 492
H. Private Abzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
494
1. Allgemeines zu den privaten Abzügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abzugsfähigkeit sog. Sonderausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Außergewöhnliche Belastungen (§§ 33; 33a; 33b EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
494 495 498
XXV
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4. Unterhaltsabzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Allgemeiner Unterhaltsabzug (§ 33a I EStG) . . . . . . 4.2 Unterhalt für Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Allgemeine Voraussetzungen (§ 32 I-V EStG) . . 4.2.2 Familienleistungsausgleich (§§ 31; 32 VI EStG) . 4.2.3 Zusätzliche Abzüge für den Kindesunterhalt . . .
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504 504 506 506 507 509
J. Einkommensteuertarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Der linear-progressive Tarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuerermäßigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Fiskalzweckermäßigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Sozialzweckermäßigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Steuerermäßigungen für außerordentliche Einkünfte (§§ 34; 34b EStG) 2.3 Begünstigung nicht entnommener Gewinne (§ 34a EStG) . . . . . . . . . 2.4 Steuerermäßigung bei Auslandseinkünften (§§ 34c; 34d EStG) . . . . . . 2.5 Pauschale Anrechnung der Gewerbesteuer (§ 35 EStG) . . . . . . . . . . . 3. Veranlagung von Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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511 515 515 515 517 517 519 522 523 524
K. Zum Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
526
L. Annexsteuer: Kirchensteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
529
1. Arten der Kirchenfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Besteuerungsrecht der Religionsgemeinschaften nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 VI WRV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Kirchensteuerpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ausgestaltung der Kirchensteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verwaltung der Kirchensteuer, Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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530
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531 533 534 537
A. Überblick über das System betrieblicher Gewinnermittlung . . . . . . . . . . . .
541
I. Gewinnermittlungsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Subjektiver Anwendungsbereich der Gewinnermittlungsarten . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 9 Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
B. Betriebsvermögensvergleich nach §§ 4 I; 5 I EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
544
I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gewinn i.S.d. § 4 I 1 EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bestandteile des Betriebsvermögensvergleichs . . . . . . 2.1 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Gewinn- und Verlustrechnung . . . . . . . . . . . . . 3. Technik der Bilanzierung und doppelten Buchführung .
544 544 545 545 546 547
XXVI
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II. Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (§ 5 I 1 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Prinzipielle Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen GoB für die Steuerbilanz Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung und Bilanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Rechtsnatur und Ermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Reichweite der Verweisung gemäß § 5 I 1 EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Insbesondere: GoB und Europäische Bilanzrichtlinien, Unzuständigkeit des EuGH in Steuerstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Formelle Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Materielle Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Prinzipien der Richtigkeit und Vollständigkeit; GoB der Nichtbilanzierung schwebender Geschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Prinzip der Bilanzidentität und Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3 Vorsichts-, Realisations- und Imparitätsprinzip; Anschaffungswertprinzip . . 2.5.4 Wirtschaftliche Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.5 Wesentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.6 True and Fair View . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.7 Nominalwertprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.8 Stichtagsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grenzen der Maßgeblichkeit handelsrechtlicher Bilanzierungsregeln für das Steuerrecht 3.1 Vorrang expliziter steuerrechtlicher Ansatz- und Bewertungsvorschriften (§ 4 I 9; § 5 VI EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Insbesondere: Steuerrechtliche Wahlrechte (§ 5 I 1 Hs. 2 EStG) . . . . . . . . . . . . . 3.3 Handelsrechtliche Wahlrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtfertigung des Maßgeblichkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zur Zukunft des Maßgeblichkeitsprinzips und Überlegungen de lege ferenda (einschließlich GKB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ansatz von Wirtschaftsgütern des Betriebsvermögens und sonstigen Bilanzposten (Bilanzierung dem Grunde nach) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der steuerrechtliche Begriff des Wirtschaftsguts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Vermögensgegenstand – Wirtschaftsgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Besonderheiten einzelner Wirtschaftsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Immaterielle Wirtschaftsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Selbständige Vermögensgegenstände und unselbständige Teile, insb.: Grundstücke und Gebäude, selbständige Gebäudeteile und selbständige bewegliche Wirtschaftsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Subjektive Zurechnung von Wirtschaftsgütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Passivierung von Verbindlichkeiten und Rückstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Voraussetzungen der Passivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Verbindlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Rückstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Überblick über die Passivierungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Außenverpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Rechtliche Entstehung und wirtschaftliche Verursachung . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.3.5 Wesentlichkeit kein Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.6 Steuerrechtliche Sondervorschriften: § 5 III-IVb, § 6a EStG . . . 2.3.7 Insb.: angeschaffte Rückstellungen (Verpflichtungsübernahme, §§ 4f; 5 VII EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.8 Auflösung von Rückstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechnungsabgrenzungsposten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zugehörigkeit zum Betriebsvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Entnahmen und Einlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entnahme- und Einlagefähigkeit von Wirtschaftsgütern, Nutzungen und Leistungen . . 2. Bewertung von Entnahmen und Einlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Bewertung von Wirtschaftsgütern und sonstigen Bilanzposten (Bilanzierung der Höhe nach) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wertbegriffe des § 6 EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Anschaffungskosten (§ 6 I Nr. 1 Satz 1, Nr. 2 Satz 1 EStG) . . . . . . . . . . 1.2 Herstellungskosten (§ 6 I Nr. 1 Satz 1, Nr. 1a, Nr. 2 Satz 1 EStG) . . . . . . 1.3 Teilwert (§ 6 I Nr. 1 Satz 2 u. 3, Nr. 2 Satz 2, Nr. 4 Satz 1 Hs. 1, 5, 7 EStG) 1.4 Gemeiner Wert (§ 6 I Nr. 4 Satz 1 Hs. 2, Nr. 5a, IV, VI 1 EStG) . . . . . . . 1.5 Beizulegender Zeitwert (§ 6 I Nr. 2b EStG i.V.m. § 255 IV HGB) . . . . . . 1.6 Buchwert (§ 6 III 1, V 1 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bewertung einzelner Wirtschaftsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Einzelbewertungsgrundsatz und Ausnahmen (insb. Bewertungseinheiten, § 5 Ia 2 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Insb.: Bewertungseinheiten gem. § 5 Ia 2 EStG . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Abnutzbares Anlagevermögen (§ 6 I Nr. 1 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Andere aktive Wirtschaftsgüter (§ 6 I Nr. 2 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Lifo (§ 6 I Nr. 2a EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Passive Wirtschaftsgüter (§ 6 I Nr. 3, 3a EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abschreibungen und Zuschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Absetzung für Abnutzung (AfA) und Substanzverringerung (AfS) . . . . . 3.2 Teilwertabschreibungen und Wertaufholungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Sonderabschreibungen und erhöhte Absetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Subjektive Abschreibungsberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI. 1. 2. 3.
Gewinn- und Verlustrealisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien der Gewinn- und Verlustrealisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewinnrealisierung bei Umsatzgeschäften (Lieferung und Leistung) . . . . . . . . . . . Aufgeschobene Gewinnrealisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Aufschub der Besteuerung stiller Reserven bei demselben Stpfl. (RfE; §§ 6b, 6c; § 6 V 1, 2 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Übergang stiller Reserven auf andere Steuerrechtssubjekte . . . . . . . . . . . . . . 4. Besteuerung stiller Reserven ohne Realisationsakt als ultima ratio . . . . . . . . . . . . 4.1 Entstrickungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Gesetzliche Ersatzrealisationstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Entnahme i.S.d. § 4 I 2 EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis Seite
4.2.2 Betriebsaufgabe als Totalentnahme (§§ 14; 14a III; 16 III; 18 III EStG); Betriebsunterbrechung und Betriebsverpachtung (§ 16 IIIb EStG) . . . . . . . 4.2.3 Ausschluss oder Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (§§ 4 I 3; 16 IIIa EStG; § 12 I KStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VII. Bilanzberichtigung und Bilanzänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Besonderheiten der bilanziellen Gewinnermittlung bei Kapitalgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Gewinnermittlung nach §§ 5 I, 4 I EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formale Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Besondere Bilanzierungs- und Bewertungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Vereinfachte Gewinnermittlung durch betriebliche Überschussrechnung nach § 4 III EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. 2. 3. 4.
Persönlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien der Gewinnermittlung nach § 4 III EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . Betriebseinnahmen und -ausgaben in der Kassenrechnung . . . . . . . . . . . . Zeitliche Erfassung von Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben nach dem Zu- und Abflussprinzip (§ 11 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Abweichungen vom Zu- und Abflussprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Aufzeichnungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Wechsel der Gewinnermittlungsart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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...... ...... ......
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A. Dualismus der Unternehmensbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Besteuerung von Mitunternehmerschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Besteuerung der laufenden Einkünfte von Mitunternehmern (§§ 15 I 1 Nr. 2, III; 15a; 13 VII; 18 IV 2 EStG) . . . . . . . . . . . . . . 1. Besteuerung der Mitunternehmerschaft nach dem Transparenzprinzip 2. Zweistufigkeit der Einkünfte von Mitunternehmern . . . . . . . . . . . . 3. Mitunternehmerschaft als Unterfall der Personengesellschaft . . . . . . 4. Qualifikation und Zurechnung der Einkünfte von Mitunternehmern . 4.1 Der Begriff des Mitunternehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Funktion des Mitunternehmerbegriffs . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Zivilrechtliche Gesellschafterstellung . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Mitunternehmerrisiko und Mitunternehmerinitiative . . . . 4.2 Zweistufige Qualifikation der Einkünfte von Mitunternehmern . 4.2.1 Steuerbarkeit der Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Qualifikation der Einkunftsart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Zurechnung der Einkünfte von Mitunternehmern . . . . . . . . . . 5. Arten der Mitunternehmerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern . . . . . . . . . . . . . 6.1 Zweistufige Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern . . .
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§ 10 Besteuerung von Mitunternehmerschaften
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XXIX
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6.2 Buchführungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Einzelheiten zur ersten Stufe der Einkünfteermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Einzelheiten zur zweiten Stufe der Einkünfteermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Besteuerung von Sondervorgängen: Gründung, Umstrukturierungen, Veräußerungen, Erbfolge, Betriebsaufgabe und Realteilung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Sacheinlage einzelner Wirtschaftsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Einbringung von Sachgesamtheiten (Betrieb, Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil; § 24 UmwStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Beitritt eines neuen Gesellschafters in eine bestehende Personengesellschaft; Aufnahme in ein Einzelunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern innerhalb der Mitunternehmerschaft und zwischen beteiligungsidentischen Schwestergesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Übertragung von Anteilen an einer Mitunternehmerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Veräußerung von Mitunternehmeranteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Ausscheiden von Gesellschaftern gegen (Bar-)Abfindung . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Unentgeltliche Übertragung von Mitunternehmeranteilen . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Tod eines Mitunternehmers und vorweggenommene Erbfolge . . . . . . . . . . . . 5. Auflösung und Realteilung (einschließlich Sachwertabfindung) . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Aufgabe des Gewerbebetriebs der Mitunternehmerschaft und Liquidation . . . . 5.2 Realteilung (einschließlich Sachwertabfindung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Begünstigung des nicht entnommenen Gewinns (§ 34a EStG) . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 11 Körperschaftsteuer A. Allgemeine Charakterisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Dualismus der Unternehmensbesteuerung durch Nebeneinander von Trennungsund Transparenzprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bedeutung der Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Körperschaftsteuersystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vermeidung wirtschaftlicher Doppelbelastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Frühere Körperschaftsteuersysteme in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Seit 2001: Klassisches System mit pauschaler Entlastung auf Anteilseignerebene . . . . 3.1 Grundstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Gründe für den Systemwechsel vom Anrechnungsverfahren zu einem klassischen System mit Teilentlastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Bewertung der Belastungswirkungen beim Anteilseigner . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Subjektive Steuerpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Körperschaftsteuersubjekte i.S.d. §§ 1 I Nr. 1–6, 3 KStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Beginn und Ende der Körperschaftsteuerpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Juristische Personen des Öffentlichen Rechts (Öffentliche Unternehmen) . . . . . . .
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IV. Unbeschränkte und beschränkte Körperschaftsteuerpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Subjektive Steuerbefreiungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Steuerobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einkommen als Steuerobjekt, zu versteuerndes Einkommen als Bemessungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ermittlung des Einkommens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Objektive Steuerbefreiungen, insb. Steuerfreiheit von Beteiligungserträgen (§ 8b KStG) 3. Unterscheidung zwischen betrieblichen und außerbetrieblichen Vermögensmehrungen und -minderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Abgrenzung von Betriebsausgaben, Gewinnausschüttungen und betriebsfremden Aufwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Kapitalerhöhungen und Gesellschaftereinlagen, Einlagenrückgewähr . . . . . . . . . 4. Besondere Vorschriften über den Abzug von Aufwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Abziehbare und nicht abziehbare Aufwendungen nach §§ 9; 10 KStG . . . . . . . . . 4.2 Beschränkung des Abzugs von Finanzierungsaufwand im Konzern (Zinsschranke, § 4h EStG; § 8a I KStG) und Gesellschafterfremdfinanzierung (§ 8a II, III KStG) . 5. Verlustausgleich und Verlustabzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Freibeträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Verdeckte Gewinnausschüttungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Voraussetzungen der verdeckten Gewinnausschüttung . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Rechtsfolgen der verdeckten Gewinnausschüttung . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Verdeckte Einlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Besondere Fälle der Gewinnrealisierung und ihres Aufschubs . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Liquidation (§ 11 KStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Ausschluss oder Beschränkung des Besteuerungsrechts, insb. Sitzverlegung (§ 12 KStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Eintritt in eine subjektive Steuerbefreiung (§ 13 KStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Tarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 12 Gewerbesteuer 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuerobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Stehender Gewerbebetrieb . . . . . . 2.2 Reisegewerbebetrieb . . . . . . . . . . 2.3 Mehrheit von Gewerbebetrieben . . 2.4 Beginn und Ende der Besteuerung . 3. Steuersubjekte . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bemessungsgrundlage . . . . . . . . . . . 4.1 Bemessungszeitraum . . . . . . . . . 4.2 Gewerbeertrag (§ 7 GewStG) . . . . 4.2.1 Allgemeine Modifikationen .
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4.2.2 Gesetzliche Sonderregelungen bei der Ermittlung des Gewerbeertrags (§§ 7a, 7b GewStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Hinzurechnungen (§ 8 GewStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Kürzungen (§ 9 GewStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Verlustabzug nach § 10a GewStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Steuermessbetrag (§ 11 GewStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Freibeträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Steuermesszahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zerlegung des einheitlichen Steuermessbetrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Entstehung, Festsetzung und Erhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Entstehung der Steuerschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Festsetzung der Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Vorauszahlungen und Abrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Steuererklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Grundsätzliche Unterschiede in der Besteuerung von Personenunternehmen und Kapitalgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Unterschiede in der laufenden Besteuerung von Personenunternehmen und Kapitalgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Besteuerungsunterschiede bei einzelnen Steuerarten . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zusammenfassender Vergleich laufender Besteuerungsunterschiede . . . . . . . . 2.1 Wesentliche Belastungsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Bedeutung des Thesaurierungs- und Entnahme-/Ausschüttungsverhaltens 2.3 Bedeutung der Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Unterschiede in der Besteuerung von Sondervorgängen . 1. Gründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . 1.3 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anteilsveräußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . 2.3 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erbfall und Schenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . 3.2 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Erbschaft- und Schenkungsteuer . . . . . . . . . . . . . . 4. Liquidation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . 4.2 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 13 Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
XXXII
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B. Besteuerung zusammengesetzter Unternehmensformen . . . . . . . . . . . . . . .
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I. GmbH & Co. KG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
833 833 835
II. Betriebsaufspaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. GmbH (AG) & Stille Gesellschaft . . . . . . 1. Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer . 2.1 Atypisch stille Gesellschaft . . . . . . . . 2.2 Typisch stille Gesellschaft . . . . . . . . . 3. Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Typisch stille Gesellschaft . . . . . . . . . 3.2 Atypisch stille Gesellschaft . . . . . . . .
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C. Internationales und Europäisches Unternehmensteuerrecht . . . . . . . . . . . .
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I. Grundzüge der Besteuerung grenzüberschreitender Unternehmenstätigkeit . 1. Rechtsformabhängige Zuweisung von Besteuerungsrechten im Internationalen Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auslandsinvestitionen von Steuerinländern (Outbound-Sachverhalte) . . . . . . 3. Inlandsinvestitionen von Steuerausländern (Inbound-Sachverhalte) . . . . . . . .
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II. Der Einfluss des Europarechts auf die Besteuerung von Unternehmen . . . . . . . . . . 1. Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überprüfung des nationalen Unternehmensteuerrechts am Maßstab der Grundfreiheiten durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Ursachen fehlender Rechtsformneutralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungs- und europarechtliche Dimension des Gebots der Rechtsformneutralität . . 3. Methoden zur Verwirklichung von Rechtsformneutralität und ihre Umsetzung in der Unternehmensteuerreform 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 14 Konzern- und Umwandlungssteuerrecht A. Organschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Körperschaftsteuerliche Organschaft . 2.1 Voraussetzungen . . . . . . . . . . 2.1.1 Organgesellschaft . . . . . . 2.1.2 Organträger . . . . . . . . .
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XXXIII
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2.1.3 Finanzielle Eingliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Gewinnabführungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Materiell-rechtliche Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.1 Verlustausgleichsverbot nach § 14 I 1 Nr. 5 KStG . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.2 Vorvertragliche Rücklagen und Verluste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.3 Bruttomethode nach § 15 Satz 1 Nr. 2 KStG . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.4 Bruttomethode nach § 15 Satz 1 Nr. 3 KStG . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.5 Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG und Gewerbesteueranrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.6 Ausgleichszahlungen nach § 304 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.7 Mehr- und Minderabführungen nach § 14 III, IV KStG . . . . . . . . . . 2.3 Verfahrensrechtliche Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gewerbesteuerliche Organschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Materiell-rechtliche Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Gesonderte Ermittlung und Zusammenrechnung bereinigter Gewerbeerträge . 3.3 Verfahrensrechtliche Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fortentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Umwandlung von Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Gesellschaftsrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Umwandlungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sonstige Umwandlungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Steuerrechtliche Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umwandlungen im Inland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Vermögensübergang auf eine Personengesellschaft oder eine natürliche Person (§§ 3–10 UmwStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Vermögensübertragung auf eine andere Körperschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.1 Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.2 Zusätzliche Voraussetzungen und Restriktionen bei Spaltung und Teilübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils in eine Kapitalgesellschaft gegen Gewährung von Gesellschaftsanteilen (§§ 20–23, 25 UmwStG) . . . 2.3.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XXXIV
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Inhaltsverzeichnis Seite
2.4 Anteilstausch (§ 21 UmwStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils in eine Personengesellschaft (§ 24 UmwStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3 Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grenzüberschreitende und ausländische Umwandlungen . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtfertigung und Charakter der Erbschaft- und Schenkungsteuer . . . . . . . . . . . . . 2. Unveränderter Reformbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Steuerobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erwerb von Todes wegen (§§ 1 I Nr. 1; 3 ErbStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Erwerb durch Erbanfall (§ 3 I Nr. 1, 3 ErbStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Erwerb auf Grund von Vermächtnis oder Pflichtteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Erwerb durch Schenkung auf den Todesfall (§ 3 I Nr. 2 ErbStG) . . . . . . . . . . . . 1.4 Erwerb durch Vertrag zugunsten Dritter auf den Todesfall (§ 3 I Nr. 4 ErbStG) . . . 1.5 Erweiterung um Ergänzungs- und Ersatztatbestände (§ 3 II ErbStG) . . . . . . . . . . 2. Schenkung unter Lebenden (§§ 1 I Nr. 2; 7 ErbStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Grundtatbestand der freigebigen Zuwendung unter Lebenden (§ 7 I Nr. 1 ErbStG) 2.2 Gemischte Schenkung/Schenkung unter Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Mittelbare Schenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Erweiterung um Ergänzungs- und Ersatztatbestände (§ 7 I Nr. 2–10, V–VII ErbStG) 3. Zweckzuwendung (§§ 1 I Nr. 3; 8 ErbStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ersatzerbschaftsteuer bei Familienstiftungen und -vereinen (§ 1 I Nr. 4 ErbStG) . . . . .
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§ 15 Erbschaft- und Schenkungsteuer
III. Subjektive Steuerpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Steuersubjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Kreis der Steuerschuldner (§ 20 I ErbStG) . . . . . . . 1.2 Steuersubjektivität von Gesellschaften . . . . . . . . . . 2. Steuerschuldnerschaft und spezielle Haftungstatbestände . 3. Internationale Abgrenzung der Steuerpflicht/Unionsrecht IV. 1. 2. 3. 4.
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Bewertung des steuerpflichtigen Vermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedarfsbewertung, Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spannungsverhältnis Verkehrswert/Ertragswert . . . . . . . . . . . . . . . . . Verkehrswert als leitender Bewertungsmaßstab des Erbschaftsteuerrechts . Bewertung des Grundvermögens und der Betriebsgrundstücke . . . . . . . 4.1 Unbebaute Grundstücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Mietwohn- und Geschäftsgrundstücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Ein- und Zweifamilienhäuser, Wohn- und Teileigentum . . . . . . . .
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4.4 Sachwertverfahren als Auffang-Bewertungsmethode . . . . . . . . . . . . 4.5 Erbbaurechte/Gebäude auf fremdem Grund und Boden . . . . . . . . . . 4.6 Nachweis des niedrigeren gemeinen Werts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bewertung land- und forstwirtschaftlichen Vermögens (§§ 158–175 BewG) 6. Bewertung des Betriebsvermögens (§§ 95–109; 199–203 BewG) . . . . . . . . 6.1 Ansatz und Zurechnung des Betriebsvermögens . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Erforderlichkeit einer Unternehmensbewertung . . . . . . . . . . . . . . . 7. Bewertung sonstigen Vermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Geldvermögen, Wertpapiere, Kapitalforderungen, Schulden u.Ä. . . . . 7.2 Anteile an nichtnotierten Kapitalgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . .
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Steuerbefreiungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persönliche Freibeträge (§ 16 i.V.m. § 15 ErbStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderer Versorgungsfreibetrag (§ 17 ErbStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachliche Steuerbefreiungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Verschonung des Unternehmensvermögens (§§ 13a-c ErbStG) . . . . . . . 3.2 Verschonungsabschlag für zu Wohnzwecken vermietete Grundstücke (§ 13d ErbStG n.F.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Zuwendungen im Ehe- und Familienkreis (§ 13 I Nr. 4a, 4b, 4c ErbStG) 3.4 Sonstige sachliche Steuerbefreiungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Steuerbemessungsgrundlage . . . . . . . . . . Entstehung der Steuer, Bewertungsstichtag Tarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten des Verfahrens . . . . . . . . Anzeigepflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steuererklärungspflichten . . . . . . . . . . . . . Kontrollmitteilungen . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Grundsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
955
1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Charakter der Steuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Rechtfertigung der Steuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuerobjekt (§ 2 GrStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einheitsbewertung des Grundbesitzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Bewertungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Einheitswert land- und forstwirtschaftlicher Betriebe (§§ 19 I; 33–67 BewG) . 3.3 Einheitswert von Grundstücken (§§ 19 I; 68–94; 99 BewG) . . . . . . . . . . . . 3.4 Besonderheiten in den „neuen“ Bundesländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Steuerbefreiungen (§§ 3–8 GrStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Steuersubjekt (§ 10 GrStG), Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Steuermessbetrag (§ 13 GrStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Bemessungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Steuermesszahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
955 955 956 958 958 958 959 959 962 962 963 964 964 965
V. 1. 2. 3.
VI. VII. VIII. IX. 1. 2. 3.
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§ 16 Grund-/Vermögensteuer
XXXVI
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Inhaltsverzeichnis Seite
7. 8. 9. 10. 11.
Hebesatzrecht der Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . Periodizität, Besteuerungsverfahren . . . . . . . . . . . Besondere Billigkeitsmaßnahmen (§§ 32–34 GrStG) Sondervorschriften für die „neuen“ Bundesländer . . Reform der Grundsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . .
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966 967 968 969 969
B. Vermögensteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Derzeitiger Rechtszustand: Existenz eines außer Kraft getretenen Vermögensteuergesetzes 2. Reformüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
972 972
§ 17 Umsatzsteuer A. Entwicklung und System der Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Geschichtlicher Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsgrundlagen im nationalen und im Unionsrecht . . . . . 3. Belastungsgrund und Belastungstechnik . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Umsatzsteuer als indirekte Verbrauchsteuer . . . . . . 3.2 Die Umsatzsteuer als Allphasen-„Mehrwertsteuer“ . . . . 3.3 Die Umsatzsteuer als Verkehrsteuer . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Neutralitätsprinzip und weitere zentrale Steuerprinzipien
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976 977 980 980 984 986 987
B. Steuersubjekte und Steuerschuldner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Unternehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Abstrakte Unternehmerfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Selbständige Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Gewerbliche oder berufliche Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Beginn und Ende der Unternehmereigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Unternehmenseinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Unternehmereigenschaft von juristischen Personen des öffentlichen Rechts 1.7 Organschaftliche Unternehmensverbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8 Nur im Interesse der Mitglieder tätige Vereinigungen . . . . . . . . . . . . . . 1.9 Kleinunternehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausnahmen: Nichtunternehmer als Steuersubjekte und Steuerschuldner . . . . 3. Verlagerung der Steuerschuldnerschaft auf den Leistungsempfänger . . . . . . .
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991 992 994 996 998 1000 1000 1004 1009 1010 1012 1012
C. Steuerobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1014
1. Entgeltliche Leistungen von Unternehmern im Inland (§ 1 I Nr. 1 UStG) . . . . . 1.1 Leistungen (Lieferungen und sonstige Leistungen) . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Lieferungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1.1 Begriff, Grundformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1.2 Sonderregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1.3 Rücklieferung und Rückgängigmachung . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Sonstige Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Regeln für gemischte Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4 Sonderbestimmungen zum Leistungsgegenstand kraft wirtschaftlicher Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1014 1014 1019 1019 1022 1023 1024 1026
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1030
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XXXVII
Inhaltsverzeichnis Seite
1.2 Zurechnung der Leistung zum Unternehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Entgeltlichkeit der Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Tauschumsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Einzelfälle zum Leistungsaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3.1 Erbschaft/Erbauseinandersetzung/vorweggenommene Erbfolge 1.3.3.2 Schadensersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3.3 Mitgliedsbeiträge an Vereine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3.4 Gesellschafterbeiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3.5 Zuschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Leistungen im Rahmen des Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Inländischer Leistungsort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unentgeltliche Wertabgaben aus dem Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Entnahmetatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Sachentnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Verwendungsentnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Leistungsentnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Unentgeltliche Wertabgaben an Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Unentgeltliche Sachzuwendungen an Dritte für Unternehmenszwecke . . . . 3. Nichtsteuerbarkeit der Geschäftsveräußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1031 1032 1032 1034 1035 1036 1037 1040 1041 1044 1046 1048 1049 1049 1056 1056 1058 1060 1060 1063 1064
D. Steuerbefreiungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Rechtfertigung dem Grunde nach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Versagung des Vorsteuerabzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausgewählte Befreiungstatbestände im Einzelnen . . . . . . . . . . . . 3.1 Grundstücksüberlassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Heilberufliche, soziale und kulturelle Leistungen . . . . . . . . . . 3.3 Finanzdienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Befreiungen wegen Konkurrenz zu besonderen Verkehrsteuern . 3.5 Befreiung nach § 4 Nr. 28 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Option . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1085
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
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1085 1088 1089 1091 1092 1092 1093
F. Steuersätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1095
1. Rechtfertigung von Steuerermäßigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelne Ermäßigungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XXXVIII
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E. Bemessungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Entgelt beim Leistungsaustausch . . . . . . . . Tauschgeschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unentgeltliche Wertabgaben . . . . . . . . . . . Mindestbemessungsgrundlage . . . . . . . . . . Innergemeinschaftlicher Erwerb und Einfuhr Umsatzsteuer und Bemessungsgrundlage . . . Differenz-(Margen-)besteuerung . . . . . . . .
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G. Steuerentstehung und nachträgliche Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Dualismus von Soll- und Ist-Besteuerung beim Leistungsaustausch . . . . . . . . . . . . . . 2. Korrekturen nach § 17 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1099 1101
H. Rechnungsausstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1104
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuerschuld bei unrichtigem oder unberechtigtem Steuerausweis . . . . . . . . . . . . . .
1104 1106
J. Vorsteuerabzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abzug der im zwischenunternehmerischen Leistungsaustausch abgerechneten Vorsteuer 2.1 Leistung von einem anderen Unternehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Unternehmereigenschaft des Leistungsempfängers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Leistung für das Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Grundsätzliche Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Gemischte Verwendung und Zuordnungswahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Ordnungsgemäße Rechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Analoge Anwendung einkommensteuerlicher Abzugsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ausschluss des Vorsteuerabzugs bei steuerfreien Umsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Anteiliger Vorsteuerabzug bei gemischter Verwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1109 1113 1113 1115 1118 1118 1124 1129 1131 1131 1131 1135
K. Berichtigung des Vorsteuerabzugs nach § 15a UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1137
1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1137 1139
L. Zum Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1140
M. Sonderregelung für Land- und Forstwirte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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N. Grundzüge des Internationalen Umsatzsteuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Leitgedanken territorialer Zuordnung von Steuerhoheiten . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundlagen des geltenden Regelungssystems in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zuordnung der Steuerhoheiten im Warenhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Grundregeln zum Ort der Lieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Grenzausgleich im Handel mit Drittstaatenbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Handel innerhalb des EU-Binnenmarkts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Virtueller Grenzausgleich v.a. im zwischenunternehmerischen Handel 3.3.3 Handel mit Endverbrauchern und Gleichgestellten . . . . . . . . . . . . 3.4 Reihengeschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Sonderregelungen für Energielieferungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zuordnung der Steuerhoheiten bei sonstigen Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Grundregeln zum Ort der sonstigen Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Leistung für unternehmerische und gleichgestellte Zwecke . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis Seite
4.2.2 Leistung für private Endverbraucher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Überblick der speziellen Ortsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das innergemeinschaftliche Kontrollverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Perspektiven der Besteuerung grenzüberschreitender Leistungen im Binnenmarkt
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1167 1167 1171 1172
O. Bekämpfung von Umsatzsteuerbetrug und -ausfällen . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 18 Spezielle Verkehr- und Verbrauchsteuern A. Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuerobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Eigentumswechsel an inländischem Grundstück (§ 1 I GrEStG) . . . . . . . . . . . 2.1.1 Eigentumserwerb und schuldrechtlicher Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Kaufverträge und andere schuldrechtliche Verträge (§ 1 I Nr. 1 GrEStG) . . 2.1.3 Die Auflassung (§ 1 I Nr. 2 GrEStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Der Eigentumserwerb (§ 1 I Nr. 3 GrEStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Das Meistgebot (§ 1 I Nr. 4 GrEStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.6 Abtretung von Übereignungsansprüchen und Rechten aus Kaufangeboten . 2.2 Übergang der Verwertungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Änderung im Gesellschafterbestand einer Personengesellschaft (§ 1 IIa GrEStG) . 2.4 Anteilsvereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Grundstück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Befreiungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Steuersubjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bemessungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Regel-Bemessungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Erwerb noch zu bebauender Grundstücke im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Ansatz von Grundbesitzwerten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Steuersatz und Entstehung der Steuerschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1177 1180 1180 1180 1181 1182 1182 1184 1184 1185 1185 1189 1194 1194 1199 1199 1199 1201 1203 1204
B. Versicherungsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1204
C. Feuerschutzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1208
D. Rennwett- und Lotteriesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1209
E. Kraftfahrzeugsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1212
F. Luftverkehrsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1216
G. Spezielle Verbrauch- und Aufwandsteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1218
1. 2. 3. 4. XL
Überblick . . . . . . . . . . . . Steuerschuldner . . . . . . . . Steuerobjekte . . . . . . . . . . Steuerbemessungsgrundlage
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Inhaltsverzeichnis Seite
5. Steuerentstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1233 1233
§ 19 Arten und Rechtfertigung von Steuervergünstigungen A. Wirtschaftslenkende Steuervergünstigungen und Direktsubventionen . . . . .
1235
B. Gesetze und Förderungszwecke wirtschaftslenkender Steuervergünstigungen und Direktsubventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1236
C. Techniken wirtschaftslenkender Begünstigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1237
1. Entlastung durch wirtschaftslenkende Steuervergünstigungen 1.1 Arten der Steuervergünstigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Wirkung und Eignung der Steuervergünstigungen . . . . . 2. Begünstigung durch Zulagen und Prämien . . . . . . . . . . . .
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1238 1238 1238 1239
D. Rechtfertigung wirtschaftslenkender Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Allgemeine Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vereinbarkeit mit Europarecht und Internationalen Abkommen . . . . . . . . . . . . . . . .
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E. Abbau von Steuervergünstigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 20 Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht A. Gemeinnützigkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Gemeinnützigkeit als Förderung der Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wirtschaftliche Betätigung gemeinnütziger Körperschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Spendenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1254
1. Spenden für gemeinnützige Zwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Spenden an politische Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Haftung und Vertrauensschutz bei Spendenbestätigung (§ 10b IV EStG; § 9 III KStG) . .
1254 1257 1257
Steuerverfahrens- und Steuerstrafrecht § 21 Durchführung der Besteuerung A. Prinzipien des Steuerverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1259
I. Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung . 1. Rechtsstaatlicher Auftrag der Finanzbehörden . . . . . . . . 2. Verfahrensmaximen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Untersuchungsmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XLI
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2.2 Kooperationsmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kontrollierte Selbstregulierung des Steuervollzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. III. IV. 1. 2.
Übermaßverbot als Schranke der Sachaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Recht auf Informationsteilhabe, Grundsatz rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . Vertrauensschutzprinzip; Grundsatz von Treu und Glauben . . . . . . . . . . . . . . Verfassungsrechtliche Grundlagen des Vertrauensschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenhang zwischen Vertrauensschutz und allgemeinem Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. 1. 2. 3.
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B. Organisation und Zuständigkeit der Finanzbehörden . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Die Hierarchie der Finanzbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zweigleisiger Verwaltungsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weisungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1275 1275 1276
II. Die Zuständigkeit der Finanzbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Örtliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Der Steuerverwaltungsakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1280
I. II. 1. 2.
Datenschutz im Besteuerungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Recht auf informationelle Selbstbestimmung/EU-DSGVO v. 27.4.2016 Steuergeheimnis (§ 30 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenschutzrechtlicher Informationsanspruch . . . . . . . . . . . . . . .
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1284 1284 1284 1284 1285 1285 1286 1288
IV. Bestandskraft des Steuerverwaltungsakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Formelle und materielle Bestandskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundlagen- und Folgebescheide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Entstehung des Steuerverwaltungsakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehungsphasen eines Steuerverwaltungsakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wirksamwerden des Steuerverwaltungsakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Geltung der Erklärungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Bekanntgabe des Steuerverwaltungsakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Zeitpunkt der Bekanntgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Inhalts- und Bekanntgabeadressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Fehler bei der Bekanntgabe des Steuerverwaltungsakts und deren Rechtsfolgen
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Anforderungen an die Ausgestaltung des Steuerverwaltungsakts Inhaltliche Bestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XLII
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V. 1. 2. 3.
Bedeutung des Verwaltungsakts für das Besteuerungsverfahren Begriff und Typologie des Verwaltungsakts . . . . . . . . . . . . . Abgrenzung des Verwaltungsakts von anderen Handlungsformen Typologie der Verwaltungsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. VII. VIII. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Nebenbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . Rechtswidrigkeit des Steuerverwaltungsakts Spezielle Steuerverwaltungsakte . . . . . . . . Steuerbescheid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feststellungsbescheid . . . . . . . . . . . . . . . . Steuermessbescheid . . . . . . . . . . . . . . . . Steuervergütungsbescheid . . . . . . . . . . . . Erstattungs- bzw. Rückforderungsbescheid . . Abrechnungsbescheid (§ 218 II AO) . . . . . . Haftungs- und Duldungsbescheid . . . . . . .
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D. Rechtsformen kooperativen Verwaltungshandelns . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1305
I. II. III. IV.
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1305 1308 1309 1310
E. Verwaltungsverfahren im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1314
I. II. 1. 2. 3. 4.
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F. Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. II. 1. 2. 3. 4. 5.
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III. Beweis und Beweismaß in finanzbehördlichen Steuerverfahren . . . . . . . . . . . . . 1. Gewissheitsgrad finanzbehördlicher Sachaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1337 1337
Verbindliche Auskunft (§ 89 II-VII AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . Lohnsteueranrufungsauskunft (§ 42e EStG) . . . . . . . . . . . . . . Verbindliche Zusage nach einer Außenprüfung (§§ 204-207 AO) . Sog. tatsächliche Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Besteuerung im gestuften Verwaltungsverfahren Beteiligte des Besteuerungsverfahrens . . . . . . . Begriff des Beteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beteiligungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bevollmächtigung (gewillkürte Vertretung) . . . . .
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Letztverantwortung der Finanzbehörde für die Sachaufklärung Mitwirkungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeiner Grundsatz (§ 90 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesteigerte Mitwirkungspflicht bei Auslandssachverhalten . . . . . Anzeigepflichten nach §§ 137 ff. AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten . . . . . . . . . . . . . . Steuererklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Verpflichtung zur Abgabe der Steuererklärung . . . . . . . . . . 5.2 Form, Inhalt, Frist der Steuererklärung . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Verspätungszuschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Berichtigungspflicht bei unrichtigen Steuererklärungen . . . . 6. Spezielle Mitwirkungspflichten (§§ 93 ff. AO) . . . . . . . . . . . . . 6.1 Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Grenze: Übermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Mitwirkungsverweigerungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Benennungsverlangen nach § 160 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XLIII
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2. Beweisvermutung nach § 158 AO, Vertrauensvorschussprinzip 3. Beweisreduzierung nach § 162 AO, Sphärenverantwortlichkeit 4. Beweiserhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Beweisgegenstand und Beweismittel . . . . . . . . . . . . . 4.2 Beweisverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Beweisverwertungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Besondere Verfahren der Sachaufklärung . . . . . . . 1. Außenprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zweck der Außenprüfung . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . 1.3 Außenprüfung als Ermessensentscheidung . . . 1.4 Prüfungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Prüfungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Digitale Außenprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Rechtliches Gehör, Schlussbesprechung . . . . . 1.8 Verwertung der Prüfungsfeststellungen . . . . . . 1.9 Kontrollmitteilungen in der Außenprüfung . . . 1.10 Besondere Arten von Außenprüfungen . . . . . . 2. Steuerfahndung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nachschau als besonderes Steueraufsichtsinstrument
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G. Festsetzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. 1. 2. 3.
Amtshilfe und Informationsaustausch Amtshilfe im engeren Sinn . . . . . . . . . Sog. Spontanhilfe, Kontrollmitteilungen Internationaler Informationsaustausch .
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I. 1. 2. 3. 4. 5.
Arten der Steuerfestsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endgültige Steuerfestsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vollautomatische Steuerfestsetzung (§ 155 IV AO) . . . . . Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung . Vorläufige Steuerfestsetzung, Aussetzung . . . . . . . . . . . Abweichende Festsetzung aus Billigkeitsgründen . . . . . .
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II. 1. 2. 3. 4.
Festsetzungsverjährung . . . . . . . . Wirkung der Festsetzungsverjährung Festsetzungsfristen . . . . . . . . . . . . Fristbeginn, Anlaufhemmung . . . . . Fristablauf, Ablaufhemmung . . . . .
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III. Feststellungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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H. Erhebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Verwaltungsakte mit Titelfunktion (§ 218 I AO) als Grundlage für die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Fälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hinausschieben der Fälligkeit durch Stundung (§ 222 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. 1. 2. 3.
Erlöschen fälliger Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zahlung (§§ 224; 225 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufrechnung (§ 226 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Billigkeitserlass; Erstattung aus Billigkeitsgründen (§ 227 AO) 3.1 Grundgedanke des Erlasses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Erlass als Ermessensentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Billigkeitsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Sachliche Unbilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Persönliche Unbilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Billigkeitsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zahlungsverjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Verhältnis von Festsetzungs- und Zahlungsverjährung . . 4.2 Verjährungsfrist, Hemmung, Unterbrechung . . . . . . . .
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IV. Verzinsung, Säumniszuschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick über das Zinssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die einzelnen Verzinsungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen (§ 233a AO) 2.2 Stundungszinsen (§ 234 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Hinterziehungszinsen (§ 235 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge und Steuervergütungen (§ 236 AO) . . . 2.5 Aussetzungszinsen (§ 237 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Konkurrenz der Zinstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zinsbescheid (§ 239 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Säumniszuschlag (§ 240 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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J. Vollstreckungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Besonderheit der Verwaltungsvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vollstreckung wegen Geldforderungen (§§ 259–327 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vollstreckung wegen anderer Leistungen als Geldforderungen (Zwangsmittel, §§ 328–336 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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K. Korrektur von Steuerverwaltungsakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. II. III. 1. 2.
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IV. Spezielle Korrekturvorschriften für Steuerbescheide und diesen gleichgestellte Steuerverwaltungsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundtatbestand des § 172 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zweigleisigkeit des Korrektursystems . . . . . . . . . Korrekturterminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Korrekturvorschriften . . . . . . . . . . . Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten (§ 129 AO) Sonstige allgemeine Korrekturvorschriften . . . . . . .
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2. Korrektur wegen nachträglich bekannt werdender Tatsachen oder Beweismittel (§ 173 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Grundgedanke der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Tatbestandsmerkmale der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Tatsachen oder Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Nachträgliches Bekanntwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Rechtserheblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Negativmerkmale: Ermittlungspflichtverletzung und grobes Verschulden . 2.2.5 Negativmerkmal: Änderungssperre nach § 173 II AO . . . . . . . . . . . . . 3. Korrektur wegen bei Erstellung der Steuererklärung unterlaufenen Schreib- oder Rechenfehlern (§ 173a AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Korrektur wegen widerstreitender Steuerfestsetzung (§ 174 AO) . . . . . . . . . . . . . 4.1 Mehrfachberücksichtigung eines Sachverhaltes (§ 174 I, II AO) . . . . . . . . . . 4.2 Nichtberücksichtigung eines Sachverhalts (§ 174 III AO) . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Folgekorrektur nach § 174 IV, V AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Korrektur von Folgebescheiden (§ 175 I 1 Nr. 1 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Korrektur wegen rückwirkenden Ereignisses (§ 175 I 1 Nr. 2 AO) . . . . . . . . . . . . 7. Korrektur bei Datenübermittlung durch Dritte (§ 175b AO) . . . . . . . . . . . . . . . 8. Unselbständige Korrektur von materiellen Fehlern (§ 177 AO) . . . . . . . . . . . . . . 9. Vertrauensschutz nach § 176 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Überblick über das Rechtsschutzsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Der Justizgewährleistungsanspruch des Art. 19 IV GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die verschiedenen Rechtswege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Außergerichtliches Rechtsbehelfsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. II. 1. 2.
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V. Korrekturvorschriften für andere Steuerverwaltungsakte . . . . . . . . . . . 1. Überblick über die Regeln der §§ 130; 131 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rücknahme eines rechtswidrigen Steuerverwaltungsakts (§ 130 AO) . . . . . 2.1 Rücknahme eines belastenden Steuerverwaltungsakts (§ 130 I AO) . . . 2.2 Rücknahme eines begünstigenden Steuerverwaltungsakts (§ 130 II AO) 3. Widerruf eines rechtmäßigen Steuerverwaltungsakts (§ 131 AO) . . . . . . . 3.1 Widerruf eines belastenden Steuerverwaltungsakts (§ 131 I AO) . . . . . 3.2 Widerruf eines begünstigenden Steuerverwaltungsakts (§ 131 II AO) . .
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§ 22 Rechtsschutz in Steuersachen
Zweck und Rechtsnatur des Rechtsbehelfsverfahrens Durchführung des Rechtsbehelfsverfahrens . . . . . . Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Eingeschränkter Suspensiveffekt des Einspruchs . . . . . 2.1 Grundsatz des § 361 I AO . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Aussetzung der Vollziehung . . . . . . . . . . . . . . . 3. Hinzuziehung zum Verfahren (§ 360 AO) . . . . . . . . . 4. Die Ausgestaltung des Einspruchsverfahrens . . . . . . .
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4.1 4.2 4.3 4.4
Charakter eines verlängerten Verwaltungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . Rechtliches Gehör, Erörterung des Sach- und Rechtsstandes (§ 364a AO) . Präklusion verspäteten Tatsachenvortrages (§ 364b AO) . . . . . . . . . . . . Aussetzung und Ruhen des Verfahrens (§ 363 AO) . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Abschluss des Rechtsbehelfsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Gerichtliches Rechtsbehelfsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. 1. 2. 3.
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II. Das Klagesystem der FGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick über das Klagesystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Klagearten im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Anfechtungsklage (§ 40 I 1. Alt. FGO) . . . . . . . . . . . . . 2.2 Verpflichtungsklage (§ 40 I 2. Alt. FGO) . . . . . . . . . . . 2.3 Sonstige (allgemeine) Leistungsklage (§ 40 I 3. Alt. FGO) . 2.4 Feststellungsklage (§ 41 FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zulässigkeit der Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zulässigkeit des Finanzrechtswegs . . . . . . . . . . . . . . . . Zuständigkeit des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Statthafte Klageart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfolgloses Vorverfahren (§ 44 I FGO) . . . . . . . . . . . . . 4.1 Grundsatz des obligatorischen Vorverfahrens . . . . . . 4.2 Ausnahmen vom Vorverfahren . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Sog. „Untätigkeitsklage“ (§ 46 FGO) . . . . . . . . 4.2.2 Sprungklage (§ 45 FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . Klagebefugnis (§ 40 II FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Anwendungsbereich und Funktion der Klagebefugnis . 5.2 Rechtsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Subjektive Betroffenheit des Klägers . . . . . . . . . . . . 5.4 Vortrag zur Klagebefugnis („Geltendmachung“) . . . . 5.5 Klagebefugnis bei Feststellungsbescheiden (§ 48 FGO) . Beteiligten-, Prozess-, Postulationsfähigkeit . . . . . . . . . . Wahrung der Klagefrist (§ 47 FGO) . . . . . . . . . . . . . . . Richtiger Beklagter (sog. Passivlegitimation, § 63 FGO) . . Ordnungsmäßigkeit der Klageerhebung (§§ 64; 65 FGO) . . Rechtsschutzbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Negative Sachurteilsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . .
IV. Übersicht über die gerichtlichen Rechtsbehelfe . V. Das Klageverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Untersuchungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . 1.2 Offizial- und Dispositionsmaxime . . . . . . .
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6. 7. 8. 9. 10. 11.
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5.
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III. 1. 2. 3. 4.
Die Gerichtsverfassung der Finanzgerichtsbarkeit Zweistufiger Gerichtsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . Die Senatsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der sog. fakultative Einzelrichter (§ 6 FGO) . . . . .
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2. 3.
4. 5.
6. VI. 1. 2. 3.
1.3 Grundsatz der Mündlichkeit und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Grundsatz rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beiladung (§§ 60; 60a FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachaufklärung und Entscheidungsfindung durch das Gericht . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Überblick über die Stationen der Sachaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Vorbereitende Sachaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Beweiserhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Beweismaß und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Regelbeweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Beweismaßorientierung an der Sphärenverantwortlichkeit/fundamentale Beweisregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Beweislastorientierung an der Sphärenverantwortlichkeit . . . . . . . . . . 3.5 Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Grundsatz der freien Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Indizien- und Anscheinsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Aussetzung des Verfahrens (§ 74 FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klageänderung (§§ 67; 68 FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entscheidung des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Entscheidungsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Entscheidungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klagerücknahme/Erledigung der Hauptsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1464 1465 1465 1466 1466 1467 1469 1471 1471
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1472 1473 1474 1474 1475 1476 1476 1477 1477 1478 1480
Vorläufiger Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . Zweigleisigkeit des vorläufigen Rechtsschutzes . Aussetzung der Vollziehung . . . . . . . . . . . . Einstweilige Anordnung (§ 114 FGO) . . . . . .
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1480 1481 1482 1485
VII. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick über das Rechtsmittelsystem . . . . . . . 2. Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zweck der Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Statthaftigkeit der Revision (§ 115 I, II FGO) 2.3 Revisionszulassungsgründe (§ 115 II FGO) . . 2.4 Grundsatz der Vollrevision . . . . . . . . . . . . 2.5 Revisionsgründe (§ 118 FGO) . . . . . . . . . . 2.6 Revisionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Entscheidung des Bundesfinanzhofs . . . . . . 3. Nichtzulassungsbeschwerde (§ 116 FGO) . . . . . . 4. Beschwerde (§ 128 FGO) . . . . . . . . . . . . . . . .
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1486 1487 1488 1488 1488 1488 1491 1491 1492 1492 1494 1495
VIII. Anhörungsrüge (§ 133a FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Kosten des Gerichtsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X. Rechtskraft (§ 110 FGO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1495 1496 1498
D. Verfassungsrechtlicher Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1498
I. Verfassungsbeschwerde (Art. 93 I Nr. 4a GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1499
XLVIII
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Inhaltsverzeichnis Seite
II. Konkrete Normenkontrolle (Art. 100 I GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Entscheidung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1502 1504
E. Europarechtlicher Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1507
§ 23 Materielles Steuerstraf- und -ordnungswidrigkeitenrecht A. Überblick über das System des Steuerstraf- und -ordnungswidrigkeitenrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1513
I. Rechtfertigung eines Steuerstraf- und -ordnungswidrigkeitenrechts . . . . . . . . . . . II. Unterscheidung zwischen Steuerverfehlungen und allgemeinen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unterscheidung zwischen Steuerstraftaten und Steuerordnungswidrigkeiten . . . . .
1513
B. Die einzelnen Steuerstraftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1518
I. Steuerhinterziehung (§ 370 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geschütztes Rechtsgut und Deliktscharakter . . . . . . . . . . . . 2. Objektiver Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Tathandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Taterfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Steuerverkürzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Erlangung eines nicht gerechtfertigten Steuervorteils 2.2.3 Kompensationsverbot (§ 370 IV 3 AO) . . . . . . . . 2.3 Kausalität zwischen Tathandlung und Taterfolg . . . . . . . 2.4 Verkürzung von harmonisierten EU-Abgaben . . . . . . . . 3. Subjektiver Tatbestand, Irrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zeitliche Stadien der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Selbstanzeige (§ 371 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Rechtsnatur und Zweck der Selbstanzeige . . . . . . . . . . . 5.2 Positive Strafbefreiungsvoraussetzungen (§ 371 I, III AO) 5.3 Negative Strafbefreiungsvoraussetzungen (§ 371 II AO) . . 6. Konkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1518 1518 1519 1519 1523 1523 1525 1526 1527 1528 1528 1530 1532 1532 1533 1535 1538 1539
II. Gewerbs-/Bandenmäßige Schädigung des Umsatzsteueraufkommens (§ 26c UStG) . III. Steuerhehlerei (§ 374 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1544 1544
C. Die einzelnen Steuerordnungswidrigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1544
I. II. III. 1. 2. 3.
Leichtfertige Steuerverkürzung (§ 378 AO) . . . . . . . . . Schädigung des Umsatzsteueraufkommens (§ 26b UStG) Steuergefährdungen (§§ 379–382 AO) . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Steuergefährdung (§ 379 AO) . . . . . . . . . . . Gefährdung von Abzugsteuern (§ 380 AO) . . . . . . . . . . .
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1515 1516
1544 1547 1547 1547 1548 1549
XLIX
Inhaltsverzeichnis Seite
4. Gefährdung von Verbrauchsteuern (§ 381 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gefährdung von Ein- und Ausfuhrabgaben (§ 382 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Unzulässiger Erwerb von Steuererstattungs- und Vergütungsansprüchen (§ 383 AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zweckwidrige Verwendung des Identifikationsmerkmals des § 139a AO (§ 383a AO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Pflichtverletzung bei Übermittlung von Vollmachtsdaten (§ 383b AO) . . . . . . VII. Verletzung der Aufsichtspflicht in Betrieben und Unternehmen (§ 130 OWiG) .
1549 1550
...
1550
... ... ...
1550 1551 1551
A. Steuerstrafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1553
I. II. 1. 2. 3. 4. 5.
§ 24 Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenverfahren
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuständigkeit zur Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung des Ermittlungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden . . . . . . . . . . . Rechtsstellung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren Abschluss des Ermittlungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Strafbefehlsantrag, öffentliche Anklage . . . . . . . . . . 5.2 Einstellungen nach §§ 153, 153a StPO . . . . . . . . . . 5.3 Absehen von der Strafverfolgung nach § 398a AO . . . 5.4 Verständigungen im Ermittlungsverfahren . . . . . . . .
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1553 1553 1553 1555 1559 1564 1565 1565 1566 1567 1568
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1569 1569 1569 1569 1570
B. Steuerordnungswidrigkeitenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1571
I. II. 1. 2.
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1571 1572 1572 1572
III. Rechtsbehelf des Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1572
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1575
III. Verfahren vor den Strafgerichten in Steuersachen . 1. Zuständiges Strafgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Öffentliche Klage vor den Strafgerichten . . . . . . . . 2.1 Strafbefehlsverfahren (§§ 407 ff. StPO) . . . . . . 2.2 Öffentliche Klage nach § 170 I StPO . . . . . . .
L
Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . Grundsätze des Ermittlungsverfahrens Abschluss des Ermittlungsverfahrens .
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Abkürzungsverzeichnis
a.A. a.a.O. AB abl. ABl. EG Abl. EU Abs. Abschn. abw. AcP AdV a.E. AEAO AEUV a.F. AfaA AfK AfS AG
AnfG Anm. AO AO-StB AöR arg. Art. ASA AStBV AStG Aufl. ausf. AusfG AVmG AWD, AWD BB AWG AW Prax AZO
andere(r) Ansicht am angegebenen Ort Ausführungsbestimmung(en) ablehnend Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (bis Januar 2003) Amtsblatt der Europäischen Union (seit Februar 2003) Absatz Abschnitt abweichend Archiv für die civilistische Praxis (Zeitschrift) Aussetzung der Vollziehung am Ende Anwendungserlass zur Abgabenordnung Vertrag über die Arbeitsweise der EU alte(r) Fassung Absetzung wegen/für außergewöhnliche Abnutzung Archiv für Kommunalwissenschaften (Zeitschrift) Absetzung für Substanzverringerung Aktiengesellschaft; auch „Die Aktiengesellschaft“ (Zeitschrift); mit Ortsbezeichnung: Amtsgericht Aktuelle Juristische Praxis/Pratique juridique actuelle (Zeitschrift) Anschaffungskosten Aktiengesetz Aktuelle Steuerrundschau (Zeitschrift) Alternative amtlich(e) Gesetz zur Umsetzung der Amtshilferichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften Anfechtungsgesetz Anmerkung Abgabenordnung AO-Steuerberater (Zeitschrift) Archiv für öffentliches Recht (Zeitschrift) argumentum Artikel Archiv für Schweizerisches Abgaberecht (Zeitschrift) Anweisungen für das Straf- und Bußgeldverfahren Außensteuergesetz Auflage ausführlich Ausführungsgesetz Altersvermögensgesetz Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters (Zeitschrift) Außenwirtschaftsgesetz Außenwirtschaftliche Praxis (Zeitschrift) Allgemeine Zollordnung
BAföG BAG
Bundesausbildungs-Förderungsgesetz Bundesarbeitsgericht
AJP/PJA AK AktG AktStR Alt. amtl. AmtshilfeRLUmsG
LI
Abkürzungsverzeichnis BAnz BauGB BayObLG BayRS BayStMFin. BayVBl. BayVerfGH BB BBauG BBG BBK Bd., Bde. BdF BDI Begr. Beil. BeitrRLUmsG BEPS ber. BerlinFG Bespr. bestr. betr. BetrAVG BewÄndG BewDV BewG BewRGr BewRL BfF BFG BFH BFHE BFH/NV BFuP BgA BGB BGBl. BGE BGHSt BGHZ BierStG BIFD BilMoG BilReG BIP BiRiLiG BIT LII
Bundesanzeiger Baugesetzbuch Bayrisches Oberstes Landesgericht Bayerische Rechtssammlung Bd. I–V Bayerisches Staatsministerium der Finanzen Bayerische Verwaltungsblätter (Zeitschrift) Bayerischer Verfassungsgerichtshof Betriebs-Berater (Zeitschrift) Bundesbaugesetz Bundesbeamtengesetz Buchführung, Bilanz, Kostenrechnung, Zeitschrift für das gesamte Rechnungswesen Band, Bände Bundesminister der Finanzen Bundesverband der Deutschen Industrie Begründung Beilage Gesetz zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Beitreibungsrichtlinie – Umsetzungsgesetz) Base Erosion and Profit Shifting berichtigt Berlinförderungsgesetz Besprechung bestritten betrifft, betreffend Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung Bewertungsänderungsgesetz Bewertungs-Durchführungsverordnung Bewertungsgesetz Richtlinien für die Bewertung des Grundvermögens Bewertungs-Richtlinien für das land- und forstwirtschaftliche Vermögen Bundesamt für Finanzen Beweissicherungs- und Feststellungsgesetz; Berlinförderungsgesetz Bundesfinanzhof Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis (Zeitschrift) Betrieb gewerblicher Art Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Entscheidungen des schweizerischen Bundesgerichts Amtliche Sammlung von Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Amtliche Sammlung von Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Biersteuergesetz Bulletin for International Fiscal Documentation (Zeitschrift) Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz Bilanzrechtsreformgesetz Bruttoinlandsprodukt Bilanzrichtlinien-Gesetz Bulletin for International Taxation (Zeitschrift)
Abkürzungsverzeichnis BKGG BLJ BlStSozArbR BMF BMWF BMWi. Bp BpO BR BRAGO BR-Drucks. BranntwMonG BRRG BSG BSHG BSP bspw. BStBl. BT BT-Drucks. BTR Bull. Int. Tax BuW BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerfGK BVerwG BVerwGE BZRG BZSt.
Bundeskindergeldgesetz Bucerius Law Journal Blätter für Steuerrecht, Sozialversicherung und Arbeitsrecht (Zeitschrift) Bundesminister(ium) der Finanzen Bundesminister(ium) für Wirtschaft und Finanzen Bundesminister(ium) für Wirtschaft Betriebsprüfung Betriebsprüfungsordnung Bundesrat Bundesgebührenverordnung für Rechtsanwälte Bundesrats-Drucksache Branntweinmonopolgesetz Beamtenrechtsrahmengesetz Bundessozialgericht Bundessozialhilfegesetz Bruttosozialprodukt beispielsweise Bundessteuerblatt Bundestag Bundestags-Drucksache British Tax Review (Zeitschrift) Bulletin for International Taxation Betrieb und Wirtschaft (Zeitschrift, ab 1991) Bundesverfassungsgericht Amtliche Sammlung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Amtliche Sammlung von Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bundeszentralregistergesetz Bundeszentralamt für Steuern
CDFI CGI CIR CMLRev CpD-Konto
Cahiers de Droit Fiscal International (Zeitschrift) Code général des impôts Code des impôts sur les revenues Common Market Law Review (Zeitschrift) Conto-pro-Diverse
DATEV
Datenverarbeitungsorganisation des steuerberatenden Berufs in der Bundesrepublik Deutschland e.G., Nürnberg Der Betrieb (Zeitschrift) Doppelbesteuerungsabkommen Die Betriebswirtschaft (Zeitschrift) Gesetz zum Abbau von Hemmnissen bei Investitionen in der DDR einschl. Berlin (Ost) (DDR-Investitionsgesetz) Deutscher Familiengerichtstag dergleichen Deutsche Gemeindesteuer-Zeitung (Zeitschrift) das heißt Digesten Deutscher Industrie- und Handelstag dinglich Dissertation
DB DBA DBW DDR-IG DFGT dgl. DGStZ d.h. Dig. DIHT dingl. Diss.
LIII
Abkürzungsverzeichnis
DStR DStRE DStZ DStZA und B DStZ/E DV (DVO) DVBl. DVR DWS
Deutscher Juristentag Deutsche Notar-Zeitschrift Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsches Recht (Zeitschrift) Deutsche Richterzeitung (Zeitschrift) Drucksache Der Steuerbeamte (Zeitschrift) Deutsches Steuerblatt (Zeitschrift) Deutsche Steuergewerkschaft Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft (Tagungsbände s. Allgemeines Literaturverzeichnis) Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift) Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst Deutsche Steuer-Zeitung, seit 1980 (Zeitschrift) Deutsche Steuer-Zeitung Ausgabe A und B, bis 1979 (Zeitschrift) Deutsche Steuer-Zeitung/Eildienst, seit 1980 (Zeitschrift) Durchführungsverordnung Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) Deutsche Verkehrsteuer-Rundschau (Zeitschrift) Deutsches wissenschaftliches Steuerinstitut der Steuerberater e.V.
EAG EAO 1974 EATLP ECOFIN EC Tax Rev. Ed. EDV E-EStG EFG EFTA e.G. EG EGAO EGBGB EGHGB EGKS EGMR EGV EigZulG Einf. Einl. EK ElektroG EMRK EnergieStG EnergieStRL entspr. ErbBstg. ErbR ErbSt ErbStDV ErbStG
Europäische Atomgemeinschaft Regierungsentwurf einer Abgabenordnung von 1974 European Association of Tax Law Professors Economic and Financial Council EC Tax Review Editor (Herausgeber) Elektronische Datenverarbeitung Entwurf eines Einkommensteuergesetzes Entscheidungen der Finanzgerichte (Zeitschrift) Europäische Freihandelsassoziation eingetragene Genossenschaft Europäische Gemeinschaft Einführungsgesetz zur AO Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Einführungsgesetz zum Handelsgesetzbuch Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Eigenheimzulagengesetz Einführung Einleitung Eigenkapital Elektro- und Elektronikgerätegesetz Europäische Menschenrechtskonvention Energiesteuergesetz Energiesteuerrichtlinie entsprechend Erbfolgebesteuerung (Zeitschrift) Zeitschrift für die gesamte erbrechtliche Praxis Erbschaftsteuer Erbschaftsteuer-Durchführungsverordnung Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz
DJT DNotZ DÖV DR DRiZ Drucks. DStB DStBl. DStG DStJG
LIV
Abkürzungsverzeichnis ErbStR ErbStRG ESA ESt estpfl. EStB EStDV EStG EStGE EStR
ET EU EuG EuGH EuGHE EuGRZ EuR EuRS EuSt EuStZ EuZW e.V. EWG EWGV EWiR EWIV EWS EZ FA FAG FAGO FamRZ FAZ FeuerschStG FG FGO FHF FinArch. FinBeh. FinMin. FinSen. FinVerw. FlurBG FMK Fn. Fördergebietsgesetz FR
Erbschaftsteuer-Richtlinien Erbschaft- und Schenkungsteuerreformgesetz European Space Agency Einkommensteuer einkommensteuerpflichtig Ertrag-Steuerberater (Zeitschrift) Einkommensteuer-Durchführungsverordnung Einkommensteuergesetz Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, 2005 Einkommensteuer-Richtlinien (mit Hinweisteil) Zitierweise: R 134 EStR (Richtlinienteil) H 134 EStR (Hinweisteil) European Taxation (Zeitschrift) Europäische Union Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften Europäischer Gerichtshof Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht (Zeitschrift) Europarechtsschutz (Kommentierungsteil in Tipke/Kruse) Einfuhrumsatzsteuer Europäische Steuerzeitung Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht eingetragener Verein Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG-Vertrag Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Zeitschrift) Erhebungszeitraum Finanzamt Finanzausgleichsgesetz Geschäftsordnung für die Finanzämter Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Frankfurter Allgemeine Zeitung Feuerschutzsteuergesetz Finanzgericht Finanzgerichtsordnung Fachhochschule für Finanzen Finanzarchiv (Zeitschrift) Finanzbehörde Finanzministerium Senator/Senatorin für Finanzen Finanzverwaltung Flurberinigungsgesetz Finanzminister-Konferenz Fußnote Gesetz über Sonderabschreibungen und Abzugsbeträge im Fördergebiet Finanz-Rundschau (bis 1990); Finanz-Rundschau für Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer (bis 1999); Finanz-Rundschau Ertragsteuerrecht (Zeitschrift) LV
Abkürzungsverzeichnis FS FuE FuSt FVG
Festschrift Forschung und Entwicklung Finanzen und Steuern Gesetz über die Finanzverwaltung
GA GBO GbR gem. GenG GewArch. GewSt GewStDV GewStG GewStR GG GKG GKKB gl. A. GmbH GmbHG GmbHR GmbHStB GmbH-Stpr GmSOGB GNOFÄ GoB G-REIT GrESt GrEStDV GrEStG GrR-Charta GrS GrStG GS GStB GuV GVBl. GVG
Generalanwalt; Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Grundbuchordnung Gesellschaft bürgerlichen Rechts gemäß Genossenschaftsgesetz Gewerbearchiv (Zeitschrift) Gewerbesteuer Gewerbesteuer-Durchführungsverordnung Gewerbesteuergesetz Gewerbesteuer-Richtlinien Grundgesetz Gerichtskostengesetz Gemeinsame Konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage gleicher Ansicht Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betreffend die GmbH GmbH-Rundschau (Zeitschrift) GmbH-Steuerberater (Zeitschrift) GmbH-Steuerpraxis (Zeitschrift) Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes Grundsätze zur Neuorganisation der Finanzämter und zur Neuordnung des Besteuerungsverfahrens Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung/Bilanzierung German Real Estate Investment Trust Grunderwerbsteuer Grunderwerbsteuer-Durchführungsverordnung Grunderwerbsteuergesetz Charta der Grundrechte der EU Großer Senat Grundsteuergesetz Gesetzessammlung oder Gedächtnisschrift Gestaltende Steuerberatung (Zeitschrift) Gewinn und Verlust Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz
H Habil. HBeglG 2004 Hdb. HdJ HdU HdWW HFA des IdW HFR HGB HHR HHSp
Hinweis Habilitationsschrift Haushaltsbegleitgesetz 2004 Handbuch Handbuch des Jahresabschlusses (Loseblatt) Handbuch der Unternehmensbesteuerung Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft Hauptfachausschuss des Instituts der Wirtschaftsprüfer Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung Handelsgesetzbuch Herrmann/Heuer/Raupach, Komm. zum EStG/KStG (Loseblatt) Hübschmann/Hepp/Spitaler, Komm. zur AO/FGO (Loseblatt)
LVI
Abkürzungsverzeichnis
HWB HWStR
Highest in – first out Herstellungskosten herrschende Lehre/herrschende Meinung Höchstrichterliche Rechtsprechung Strafrecht (Zeitschrift) Herausgeber, herausgegeben Halbsatz Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (Bände s. Allgemeines Literaturverzeichnis) Handwörterbuch der Betriebswirtschaftslehre Handwörterbuch des Steuerrechts
IAS IBFD-Bulletin i.d.F. i.d.R. i.d.S. IdW i.E. i.Erg. i.e.S. IFA IFA-Bulletin IFRS ifst i.H.v. INF insb. InsO InvStG InvZulG I.R.C. i.S.d. ISR IStR i.S.v. i.Ü. i.V.m. IVM IWB i.w.S.
International Accounting Standards Bulletin of the International Bureau of Fiscal Documentation in der Fassung in der Regel in dem (diesem) Sinne Institut der Wirtschaftsprüfer im Einzelnen im Ergebnis im engeren Sinne International Fiscal Association Bulletin for International Fiscal Documentation, Amsterdam International Financial Reporting Standards Institut für Finanzen und Steuern in Höhe von Die Information über Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift) insbesondere Insolvenzordnung Investmentsteuergesetz Investitionszulagengesetz Internal Revenue Code im Sinne des/der Internationale Steuer-Rundschau (Zeitschrift) Internationales Steuerrecht (Zeitschrift) im Sinne von im Übrigen in Verbindung mit International VAT Monitor (Zeitschrift) Internationale Wirtschafts-Briefe im weiteren Sinne
JA Jb. JbFStR. Jg. JGG JöR jPdöR JR JStG Jura JuS
Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift) Jahrbuch Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht Jahrgang Jugendgerichtsgesetz Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart juristische Person des öffentlichen Rechts Juristische Rundschau (Zeitschrift) Jahressteuergesetz Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Juristische Schulung (Zeitschrift)
Hifo HK h.L./h.M. HRRS Hrsg., hrsgg. Hs. HStR
LVII
Abkürzungsverzeichnis JW JZ
Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) Juristenzeitung (Zeitschrift)
KAG KAGB KapErhG
Kommunalabgabengesetz Kapitalanlagegesetzbuch Gesetz über die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln und über die Verschmelzung von Gesellschaften mit beschränkter Haftung Kommanditgesellschaft Kommanditgesellschaft auf Aktien Kirchensteuergesetz Karlsruher Juristische Bibliographie (Zeitschrift) Kommunal-Kassen-Zeitschrift Kleine und mittlere Unternehmen Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes (s. Allgemeines Literaturverzeichnis) Dokumente der Kommission der Europäischen Gemeinschaften Kommentar Kölner Steuerdialog (Zeitschrift) Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz Kraftfahrzeugsteuergesetz kritisch Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (Zeitschrift) Gesetz zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG-Komm. (Loseblatt) Körperschaftsteuer Körperschaftsteuer-Durchführungsverordnung Körperschaftsteuergesetz Körperschaftsteuer-Richtlinie Kommunale Steuer-Zeitschrift Kölner Schrift zum Wirtschaftsrecht
KG KGaA KiStG KJB KKZ KMU Kölner EStGE KOM Komm. KÖSDI Korb-II-Gesetz KraftStG krit. KritV KroatienAnpG KS/KSM KSt KStDV KStG KStR KStZ KSzW LAG LBH LBP lfd. Lfg. Lifo li. Sp. lit. LPartG LS LStDV LStR LT-Drucks. LuF
Lastenausgleichsgesetz Littmann/Bitz/Hellwig, EStG-Komm. (Altzitate) Littmann/Bitz/Pust, EStG-Komm. (Loseblatt) laufend Lieferung Last in – first out linke Spalte Literatur Lebenspartnerschaftsgesetz Leitsatz Lohnsteuer-Durchführungsverordnung Lohnsteuer-Richtlinien (mit Hinweisteil) Zitierweise: R 70 LStR (Richtlinienteil)/H 70 LStR (Hinweisteil) Landtags-Drucksache Land- und Forstwirtschaft
m. Anm. m.a.W. MDR
mit Anmerkung(en) mit anderen Worten Monatsschrift für Deutsches Recht (Zeitschrift)
LVIII
Abkürzungsverzeichnis MinölStG m.N. MoMiG
MRK MSchrKrim MünchKomm. m.w.N. MwStSystRL MZK
Mineralölsteuergesetz mit Nachweisen Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen Gesetz zur Modernisierung der Rahmenbedingungen für Kapitalbeteiligungen Menschenrechtskonvention (s. EMRK) Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (Zeitschrift) Münchener Kommentar mit weiteren Nachweisen Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie Der Modernisierte Zollkodex
NB Nds. n.F. N.F. NJW N&R nrkr. NRW NSt NV NVwZ NWB NZG
Neue Betriebswirtschaft (Zeitschrift) Niedersachsen/niedersächsisch neue(r) Fassung Neue Folge Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) Netzwirtschaften und Recht (Zeitschrift) nicht rechtskräftig Nordrhein-Westfalen Neues Steuerrecht von A–Z Nicht-Veranlagung Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Wirtschafts-Briefe Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht
OECD OECD-MA ÖJT ÖPP österr. EStG (öEStG) ÖStZ öVwGH OFD(en) OFH OHG OLG ORDO OVG OVGE OVGSt OWiG
Organization for Economic Cooperation and Development OECD-Musterabkommen Österreichischer Juristentag Öffentlich-private Partnerschaft österreichisches Einkommensteuergesetz Österreichische Steuerzeitung (Zeitschrift) Österreichischer Verwaltungsgerichtshof Oberfinanzdirektion(en) Oberster Finanzgerichtshof Offene Handelsgesellschaft Oberlandesgericht Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Oberverwaltungsgericht Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte Entscheidungen des preuß. OVG in Staatssteuersachen Ordnungswidrigkeitengesetz
p.a. PIR PIStB Preuß. (pr.) ProtErklG
per annum Praxis der internationalen Rechnungslegung (Zeitschrift) Praxis Internationale Steuerberatung (Zeitschrift) preußisch Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz Praxis Steuerstrafrecht (Zeitschrift) Publizitätsgesetz
MoRaKG
PStR PublG
LIX
Abkürzungsverzeichnis RAO RAP RdA R/D RechtsVO Reg.Begr. RegE REIT RennwLottG re. Sp. resp. RFH RFHE RGBl. RIW/AWD RJF R/K/L RL RLA Rn./Rnrn. Rs. RS Rspr. RStBl. RT RWP Rz.
Reichsabgabenordnung Rechnungsabgrenzungsposten Recht der Arbeit (Zeitschrift) Rau/Dürrwächter, Komm. zum UStG (Loseblatt) Rechtsverordnung Regierungsbegründung Regierungs-Entwurf Real Estate Investment Trust Rennwett- und Lotteriegesetz rechte Spalte respektive Reichsfinanzhof Sammlung der Entscheidungen des Reichsfinanzhofs Reichsgesetzblatt Recht der Internationalen Wirtschaft/Außenwirtschaftsdienst (Zeitschrift) Revue de Jurisprudence Fiscale (Zeitschrift) Reiß/Kraeusel/Langer, Komm. zum UStG (Loseblatt) Richtlinie Rundschau für den Lastenausgleich Randnummer/Randnummern Rechtssache Rechtssammlung Rechtsprechung Reichssteuerblatt Reichstag Rechts- und Wirtschaftspraxis (Zeitschrift bis 1991) Randziffer(n)
S. sc. SchaumweinStG sec. SEStEG
Satz/Seite scilicet (nämlich) Schaumweinsteuergesetz section Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften Sozialgerichtsbarkeit (Zeitschrift) Sozialgesetzbuch Sozialgesetzbuch, Allgemeiner Teil Sozialgerichtsgesetz Amtliche Sammlung der EuGHE Solidaritätszuschlag Solidaritätszuschlagsgesetz Staatsanwaltschaft Steueränderungsgesetz Gesetz zur Verbesserung der steuerlichen Bedingungen zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland im Europäischen Binnenmarkt (Standortsicherungsgesetz) Steueranpassungsgesetz Der Steuerberater (Zeitschrift) Steuerbereinigungsgesetz 1999 Steuerberatungsgesetz Die Steuerberatung (Zeitschrift) Steuerberater-Jahrbuch
SGb. SGB SGB-AT SGG Slg. SolZ SolZG StA StÄndG StandOG StAnpG StB StBereinG 1999 StBerG Stbg. StbJb. LX
Abkürzungsverzeichnis
StuB StuW StV StVergAbG StVj StWa StWG subj. SWI
Steuerberaterkongress-Report (seit 1977) Die steuerliche Betriebsprüfung (Zeitschrift) Steuerberatervergütungsverordnung Steuerberater-Woche (Zeitschrift) Steuererlasse in Karteiform (Hrsg.: Felix/Carlé) Steuerentlastungsgesetz Steuer und Studium (Zeitschrift) Steuerrecht kurzgefasst (Zeitschrift) Strafgesetzbuch Steuerliches Journal (Zeitschrift) Steuerklasse Steuerkongreß-Report (bis 1976) Missbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz Steuerpflicht/Steuerpflichtiger Strafprozessordnung Quintessenz des Steuerrechts strittig Straf- und Bußgeldstellen vgl. ZStAmnG Steuerreformgesetz Steuer-Revue (Zeitschrift) Steuerrechtskartei Tipke, Die Steuerrechtsordnung (Bände s. Allgemeines Literaturverzeichnis) Stromsteuergesetz ständige Rechtsprechung Gesetz zur Ergänzung des Steuersenkungsgesetzes (Steuersenkungsergänzungsgesetz) Gesetz zur Reform der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung (Steuersenkungsgesetz) Steuern und Bilanzen (Zeitschrift) Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift) Strafverteidiger (Zeitschrift) Steuervergünstigungsabbaugesetz Steuerliche Vierteljahresschrift (Zeitschrift bis 1993) Steuer-Warte (Zeitschrift) Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft subjektiv(e) Steuer & Wirtschaft International (Zeitschrift)
ThürVBl. TKG TW Tz. u.a. UAbs. Ubg. u.E. umf. umstr. UMTS UmwG UmwStG
Thüringer Verwaltungsblätter Telekommunikationsgesetz Teilwert Textziffer und andere, unter anderem Unterabsatz Die Unternehmensbesteuerung (Zeitschrift) unseres Erachtens umfassend umstritten Universal Mobile Telecommunication System Umwandlungsgesetz Umwandlungssteuergesetz
StbKongrRep. StBp. StBVV StBW StEK StEntlG SteuerStud SteuK StGB StJ StKl. StKongrRep. StMBG Stpfl. StPO StQ str. StraBu StrbEG StRG StRev, Schweiz StRK StRO StromStG st. Rspr. StSenkErgG StSenkG
LXI
Abkürzungsverzeichnis UntStFG UUntStRefG 2008 UR US-GAAP USt UStÄndG UStDV UStG USt-IdNr. UStKongrBericht UStR u.U. UVR VA VAG VAT VBlBW VCI VerfRS VermBG Verpfl. VersR VersStG VerwArch. Vfg. VG vGA VGH VGR VJSchrStFR VO Vol. Vorb. vs. VSF VSSR VStG VuR VVDStRL VwGH VwGO VwVfG VwZG VZ WEG WG WiB wirtschaftl. LXII
Gesetz zur Fortentwicklung des Unternehmenssteuerrechts Unternehmensteuerreformgesetz 2008 Umsatzsteuer-Rundschau (Zeitschrift) (Zitierweise seit 1984) Generally Accepted Accounting Principles (USA) Umsatzsteuer Umsatzsteueränderungsgesetz Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung Umsatzsteuergesetz Umsatzsteuer-Identifikationsnummer Umsatzsteuerkongress-Bericht Umsatzsteuer-Rundschau (Zeitschrift) (Zitierweise bis 1983)/ Umsatzsteuerrichtlinien unter Umständen Umsatzsteuer- und Verkehrsteuer-Recht (Zeitschrift) Verwaltungsakt Versicherungsaufsichtsgesetz Value added tax Verwaltungsblätter für Badem-Württemberg (Zeitschrift) Verband der Chemischen Industrie Verfassungsrechtsschutz (Kommentierungsteil in Tipke/Kruse) Vermögensbildungsgesetz Verpflichtung Versicherungsrecht, Juristische Rundschau für die Individualversicherung (Zeitschrift) Versicherungsteuergesetz Verwaltungsarchiv (Zeitschrift) Verfügung Verwaltungsgericht verdeckte Gewinnausschüttung Verwaltungsgerichtshof Tagungsband der Jahrestagung der Gesellschaftsrechtlichen Vereinigung Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht (Zeitschrift) Verordnung Volume Vorbemerkung versus Vorschriftensammlung Bundesfinanzverwaltung Vierteljahresschrift für Sozialrecht (Zeitschrift) Vermögensteuergesetz Verbraucher und Recht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtshof Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz Verwaltungszustellungsgesetz Veranlagungszeitraum Gesetz über das Wohnungseigentum und das Dauerwohnrecht (Wohnungseigentumsgesetz) Wirtschaftsgut Wirtschaftliche Beratung (Zeitschrift, ab 1994) wirtschaftlich
Abkürzungsverzeichnis Wiss. Beirat wistra WJSU Wj. WJOVL WM WoBauG WoPG WPg. WRV WTJ
Wissenschaftlicher Beirat Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht Das Wirtschaftstudium (Zeitschrift) Wirtschaftsjahr World Journal of VAT/GST Law (Zeitschrift) Wertpapier-Mitteilungen (Zeitschrift) Wohnungsbaugesetz Wohnungsbauprämiengesetz Die Wirtschaftsprüfung (Zeitschrift) Weimarer Reichsverfassung World Tax Journal (Zeitschrift)
zahlr. ZBJV ZEuS ZEV ZevKR ZEW ZfWG ZIP zit. ZfB ZfbF ZfgK ZfhF ZfIR ZfZ ZG ZGR ZHR ZIS ZK ZKF ZLW ZollVG ZPO ZPr. ZRP ZSt ZSteu ZStW zust. zutr. ZVG ZWH ZwSt zzgl.
zahlreiche(n) Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins Zeitschrift für europarechtliche Studien Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge (ab 1994) Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung Zeitschrift für Wett- und Glücksspielrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht zitiert Zeitschrift für Betriebswirtschaft Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung Zeitschrift für Immobilienrecht Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern Zeitschrift für Gesetzgebung/Zollgesetz Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik Zollkodex/Zivilkammer/Zollkasse Zeitschrift für Kommunalfinanzen Zeitschrift für Luft- und Weltraumrecht Zollverwaltungsgesetz Zivilprozessordnung Die Zollpraxis (Zeitschrift) Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift zum Stiftungswesen Zeitschrift für Steuern und Recht Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft zustimmend zutreffend Zwangsversteigerungsgesetz Zeitschrift für Wirtschaftsstrafrecht und Haftung im Unternehmen Zweitwohnungsteuer zuzüglich
LXIII
Allgemeines Literaturverzeichnis Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht, 20. Aufl. 2017 Blümich, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, Loseblatt Born/Albers/Dürr, Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, 10 Bände, 1977 ff. (zit. HdWW) Crezelius, Steuerrecht I u. II, 2. Aufl. 1994 DStJG 1: Tipke (Hrsg.), Übertragung von Einkunftsquellen im Steuerrecht, 2., unveränderte Aufl., 1979 DStJG 2: Kruse (Hrsg.), Die Grundprobleme der Personengesellschaft im Steuerrecht, 1979 DStJG 3: Söhn (Hrsg.), Die Abgrenzung der Betriebs- oder Berufssphäre von der Privatsphäre im Einkommensteuerrecht, 1980 DStJG 4: Ruppe (Hrsg.), Gewinnrealisierung im Steuerrecht, 1981 DStJG 5: Tipke (Hrsg.), Grenzen der Rechtsfortbildung durch Rechtsprechung und Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht, 1982 DStJG 6: Kohlmann (Hrsg.), Strafverfolgung und Strafverteidigung im Steuerstrafrecht, 1983 DStJG 7: Raupach (Hrsg.), Werte und Wertermittlung im Steuerrecht, 1984 DStJG 8: Vogel (Hrsg.), Grundfragen des Internationalen Steuerrechts, 1985 DStJG 9: Stolterfoht (Hrsg.), Grundfragen des Lohnsteuerrechts, 1986 DStJG 10: Schulze-Osterloh (Hrsg.), Rechtsnachfolge im Steuerrecht, 1987 DStJG 11: Kruse (Hrsg.), Zölle, Verbrauchsteuern, europäisches Marktordnungsrecht, 1988 DStJG 12: Friauf (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht, 1989 DStJG 13: Woerner (Hrsg.), Umsatzsteuer in nationaler und europäischer Sicht, 1990 DStJG 14: Doralt (Hrsg.), Probleme des Steuerbilanzrechts, 1991 DStJG 15: Kirchhof (Hrsg.), Umweltschutz im Abgaben- und Steuerrecht, 1993 DStJG 16: Lang (Hrsg.), Unternehmensbesteuerung in EU-Staaten, 1994 DStJG 17: Wassermeyer (Hrsg.), Grundfragen der Unternehmensbesteuerung, 1994 DStJG 18: Trzaskalik (Hrsg.), Der Rechtsschutz in Steuersachen, 1995 DStJG 19: Lehner (Hrsg.), Steuerrecht im Europäischen Binnenmarkt, 1996 DStJG 20: Widmann (Hrsg.), Besteuerung der GmbH und ihrer Gesellschafter, 1997 DStJG 21: Fischer (Hrsg.), Steuervereinfachung, 1998 DStJG 22: Birk (Hrsg.), Steuern auf Erbschaft und Vermögen, 1999 DStJG 23: Pelka (Hrsg.), Europa- und verfassungsrechtliche Grenzen der Unternehmensbesteuerung, 2000 DStJG 24: Ebling (Hrsg.), Besteuerung von Einkommen, 2001 DStJG 25: Seeger (Hrsg.), Perspektiven der Unternehmensbesteuerung, 2002 DStJG 26: Jachmann (Hrsg.), Gemeinnützigkeit, 2003 DStJG 27: Pezzer (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht, 2004 DStJG 28: von Groll (Hrsg.), Verluste im Steuerrecht, 2005 DStJG 29: Mellinghoff (Hrsg.), Steuern im Sozialstaat, 2006 DStJG 30: Schön (Hrsg.), Einkommen aus Kapital, 2007 DStJG 31: Widmann (Hrsg.), Steuervollzug im Rechtsstaat, 2008 DStJG 32: Seer (Hrsg.), Umsatzsteuer im europäischen Binnenmarkt, 2009 DStJG 33: Hüttemann (Hrsg.), Gestaltungsfreiheit und Gestaltungsmissbrauch im Steuerrecht, 2010 DStJG 34: Hey (Hrsg.), Einkünfteermittlung, 2011 DStJG 35: Wieland (Hrsg.), Kommunalsteuern und -abgaben, 2012 DStJG 36: Achatz (Hrsg.), Internationales Steuerrecht, 2013 DStJG 37: Jachmann (Hrsg.), Erneuerung des Steuerrechts, 2014 DStJG 38: Mellinghoff (Hrsg.), Steuerstrafrecht an der Schnittstelle zum Steuerrecht, 2015 DStJG 39: Sieker (Hrsg.), Steuerrecht und Wirtschaftspolitik, 2016 DStJG 40: Drüen (Hrsg.), Besteuerung von Arbeitnehmern, 2017 LXV
Allgemeines Literaturverzeichnis Gosch, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Loseblatt Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002 (zit. Hey, Steuerplanungssicherheit) Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 7. Aufl. 2018 Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Loseblatt (zit. HHSp) Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I: Historische Grundlagen, 3. Aufl. 2003, Band II: Verfassungsstaat, 3. Aufl. 2004, Band III: Demokratie-Bundesorgane, 3. Aufl. 2005, Band IV: Aufgaben des Staates, 3. Aufl. 2006, Band V: Rechtsquellen, Organisation, Finanzen, 3. Aufl. 2007, Band VI: Bundesstaat, 3. Aufl. 2008, Band VII: Freiheitsrechte, 3. Aufl. 2009, Band VIII: Grundrechte: Wirtschaft, Verfahren, Gleichheit, 3. Aufl. 2010, Band IX: Allgemeine Grundrechtslehren, 3. Aufl. 2011, Band X: Deutschland in der Staatengemeinschaft, 3. Aufl. 2012, Band XI: Internationale Bezüge, 3. Aufl. 2013, Band XII: Normativität und Schutz der Verfassung, 3. Aufl. 2014 (zit. HStR I–XII) F. Kirchhof, Grundriss des Steuer- und Abgabenrechts, 2. Aufl. 2001 P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch. Ein Vorschlag zur Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer, 2003 (zit. Kirchhof, Einkommensteuer) P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch. Ein Reformentwurf zur Erneuerung des Steuerrechts, 2011 (zit. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch) P. Kirchhof, Einkommensteuergesetz, Kommentar, 17. Aufl. 2018 P. Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Einkommensteuergesetz, Kommentar, Loseblatt (zit. KS) Klein, Abgabenordnung, Kommentar, 13. Aufl. 2016 Kohlmann, Steuerstrafrecht, Kommentar, Loseblatt Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Band I: Allgemeiner Teil, 1991 Kube/Mellinghoff u.a., Leitgedanken des Rechts, Festschrift für Paul Kirchhof, Bd. I: Staat und Verfassung, Bd. II: Staat und Bürger, 2013 Kühn/v. Wedelstädt, Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 21. Aufl. 2015 J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Habil., 1981/88 (zit. J. Lang, Bemessungsgrundlage) J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuches, BMF-Schriftenreihe Heft 49, 1993 (zit. J. Lang, Steuergesetzbuch) J. Lang u.a., Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, 2005 (zit. Kölner EStGE) Littmann/Bitz/Pust, Einkommensteuergesetz, Kommentar, Loseblatt v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 3 Bände, 6. Aufl. 2010 Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 4. Aufl. 2017 L. Schmidt, Einkommensteuergesetz, Kommentar, 37. Aufl. 2018 Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, Habil., 1996 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band I: Wissenschaftsorganisatorische, systematische und grundrechtlich-rechtsstaatliche Grundlagen, 2. Aufl. 2000, Band II: Steuerrechtfertigungstheorie, Anwendung auf alle Steuerarten, sachgerechtes Steuersystem, 2. Aufl. 2003, Band III: Steuerrechtswissenschaft, Steuergesetzgebung, Steuervollzug, Steuerrechtsschutz, Steuerreformbestrebungen, 2. Aufl. 2012 (zit. StRO I–III) Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Loseblatt
LXVI
Grundlagen der Steuerrechtsordnung §1 Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung Literatur: Tipke, Die Steuerrechtsordnung (StRO I–III), Band I (Wissenschaftsorganisatorische, systematische und grundrechtlich-rechtsstaatliche Grundlagen), Band II (Steuerrechtfertigungstheorie, Anwendung auf alle Steuerarten, sachgerechtes Steuersystem), Band III (Föderative Steuerverteilung, Rechtsanwendung und Rechtsschutz, Gestalter der Steuerrechtsordnung), 2. Aufl.: Bd. I, 2000; Bd. II, 2003; Bd. III, 2012.
1. Gegenstand und Bedeutung des Steuerrechts In keinem Rechtsgebiet begegnet der Bürger dem Staat häufiger als im Steuerrecht. Bereits mit seiner 1 Geburt tritt er in ein Dauer-Steuerrechtsverhältnis zum Staat ein1, das sich, sobald das Erwerbsleben beginnt, zu sukzessiven Schuldverhältnissen verdichtet (s. § 6 Rz. 1 ff.). Das Steuerrecht beeinflusst jede wirtschaftliche Betätigung. Von der Höhe der Gesamtsteuerlast hängt es ab, in welchem Umfang der Bürger sein Einkommen investieren, sparen oder konsumieren kann. Die Besteuerung besitzt daher einen großen Einfluss auf die Freiheitsbetätigung der Bürger und Unternehmen. Umgekehrt hängt vom Steueraufkommen der Umfang der Staatsleistungen ab, ohne die eine moderne Gesellschaft funktionsunfähig wäre. Die Steuerrechtswissenschaft befasst sich mit der rechtlichen Ordnung der Besteuerung2. Sie eruiert 2 die Besteuerung als Rechtsverhältnis zwischen Staat und Bürger, der vom Staat erwartet, dass die Steuerlasten freiheitsschonend und gerecht verteilt werden. Dadurch wird die Steuerrechtswissenschaft, wenn sie ihre Verantwortung gegenüber Bürgern, Staat und Gesellschaft wahrnimmt, notwendig zur Steuergerechtigkeitswissenschaft3. Wenn der wirtschaftlich handelnde Bürger dem Staat im Steuerrecht alltäglich begegnet, so wird der Staat im Steuerrecht auf die Probe gestellt, wie viel Recht und wie viel Gerechtigkeit er dem Bürger zu vermitteln vermag. Deshalb ist es zentrales Anliegen dieses Buches, das Steuerrecht als Teil einer rechtsstaatlichen Ordnung des Rechts und besonders als Recht mit der Aufgabe der Steuergerechtigkeit, kurzum als Steuerrechtsordnung zu entfalten, wie sie umfassender Erkenntnisgegenstand von Klaus Tipke, dem Begründer dieses Buches war und ist4. Der Rechtsstaat erschöpft sich nicht in formellen Institutionen. Es genügt nicht, dass Behörden nach dem Gesetz verfahren und dass es Gerichte gibt, die für die Einhaltung der Gesetze sorgen. Der Rechtsstaat muss auch Staat des Rechts sein und die Idee der Gerechtigkeit verbürgen5. Das Grundgesetz bindet nach den Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat die 3 vollziehende Gewalt und die Rspr. an „Gesetz und Recht“ (Art. 20 III, 79 III GG); dadurch wird die 1 Mit seiner Geburt wird dem Säugling bereits eine lebenslange Steueridentifikationsnummer zugeteilt (s. § 139a AO). 2 „(Steuer-)Rechtswissenschaft durch Systemrationalität“, s. Tipke, FS J. Lang, 2010, 21 (26 ff.). 3 So die Besprechung der „Steuerrechtsordnung“ (Literaturübersicht) von K. Vogel, JZ 1993, 1121; zur Steuergerechtigkeitstheorie von Tipke auch J. Lang, StuW 2001, 78 ff.; aus jüngerer Zeit zuletzt insb. Eckhoff, StuW 2016, 207; aus sozialwissenschaftlicher Sicht Liebert, Steuergerechtigkeit in der Globalisierung, 2011, 36 ff. 4 Zum grundlegenden dreibändigen Werk Tipkes (Literaturübersicht) s. insb. K. Vogel, JZ 1993, 1121 (zur Erstauflage); zur Zweitauflage: J. Lang, H. Schaumburg/H. Schaumburg, Drüen, Bozza-Bodden, Brandis, Hey, StuW 2013, 53–120. 5 In der Rspr. des BVerfG finden sich Aussagen zum Gerechtigkeitsbegriff – bei aller Zurückhaltung gegenüber seiner Mehrdeutigkeit – sogar überwiegend im Bereich des Abgabenrechts, s. Beaucamp, DVBl. 2017, 348 (349 ff.).
Seer 1
§ 1 Rz. 4
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
formal rechtsstaatliche Gesetzmäßigkeit in den Dienst der materiellen Gerechtigkeit gestellt und die Steuergerechtigkeit zu einem wesentlichen Aspekt der Rechtsstaatlichkeit. Das Verfassungsrecht durchdringt das Steuerrecht als in die Vermögens- und Privatsphäre des Bürgers tief eingreifendes öffentliches Recht (s. Rz. 26 f.). Damit haben nahezu alle Grundfragen des Steuerrechts verfassungsrechtliche Ausgangspunkte. Steuerrechtswissenschaft ist also zu einem bedeutenden Teil Verfassungsrechtswissenschaft6. Sie dogmatisiert und kommentiert das Finanzverfassungsrecht (s. § 2) und entfaltet für das Steuerrecht die Grundrechte und die Strukturprinzipien der Verfassung, besonders das Rechtsstaatsprinzip (s. § 3 Rz. 90 ff.) und das Sozialstaatsprinzip (s. § 3 Rz. 210 ff.). Die Steuergerechtigkeit lebt von der Besteuerungsmoral des Staates und der Steuermoral der Bürger7: Der Staat hat für die gerechte Austeilung der Steuerlasten zu sorgen. Er hat rechtsstaatlich und nicht fiskalisch zu agieren. 4 Das Steuerverfassungsrecht bildet die Grundlage für die von Tipke begründete und in der „Steuer-
rechtsordnung“ weiterentwickelte steuerrechtswissenschaftliche Systemlehre. Diese Lehre fordert vom Gesetzgeber und vom Anwender der Steuergesetze den folgerichtigen Vollzug systemtragender Prinzipien8, ein folgerichtig entwickeltes Steuersystem sachgerechter Regeln9, das Steuergerechtigkeit, Rechtssicherheit im Steuerrecht und auch Zweckmäßigkeit der Besteuerung verbürgt. Die Notwendigkeit einer solchen Lehre erwächst besonders aus der realen Unordnung des Steuerrechts, dem sog. Steuerdschungel oder Steuerchaos10. Vor allem hat die Steuerrechtswissenschaft dem Gesetzgeber zu verdeutlichen, dass Steuern in einem rechtsstaatlich ausgerichteten Steuerstaat nicht beliebig eingeführt und gestaltet werden können. Dies leistet die Steuerrechtfertigungslehre11. 5 Je mehr Mittel der Staat benötigt, desto mehr wird er zum Steuerstaat, desto mehr findet der Rechts-
staat im Steuerstaat seinen wesentlichen Ausdruck. Als eine Staatsstrukturbestimmung impliziert der Begriff des Steuerstaats aber nicht nur ein Primat der Steuerfinanzierung staatlicher Ausgaben, sondern zugleich auch die freiheitsrechtliche Garantie privatwirtschaftlicher Betätigung12. Die Steuer6 Zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen des Steuerrechts insb. die Beiträge in HStR: K. Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, II3, § 30; Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, V3, § 116; P. Kirchhof, Die Steuern, V3, § 118; außerdem in „Leitgedanken des Rechts“, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013: Korioth (§ 135), Reimer (§ 136), Birk (§ 147), Eckhoff (§ 148), Jochum (§ 149), Wernsmann (§ 152). 7 Dazu Tipke, Besteuerungsmoral und Steuermoral, 2000 (empirisch reflektiert von Lösel/Brähler/Hackert, StuW 2009, 221 ff.); Sausgruber, Ursachen und Wirkungen von Steuerillusionen, Eine experimentelle Untersuchung zur Wahrnehmung von Steuern, 2002; Kirchgässer, FS M. Rose, 2003, 215; Bizer/Falk/Lange (Hrsg.), Am Staat vorbei, Transparenz, Fairness u. Partizipation kontra Steuerhinterziehung, 2004; BMF, Monatsbericht März 2005: Steuermoral – Das Spannungsfeld von Freiwilligkeit der Steuerzahlung u. Steuerhinterziehung (Forschungsbericht des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung Tübingen); Fuest, DFGT 4 (2007), 87 ff.; Birk, FS Spindler, 2011, 13 ff.; Feld/Schneider, Steuerunehrlichkeit, Abschreckung und soziale Normen: Empirische Evidenz für Deutschland, 2011, Stiftung Marktwirtschaft Schrift Nr. 112; Möhlmann, FinArch. Bd. 70 (2014), 3, wonach die Steuermoral in Ost-Deutschland ausgeprägter als die in West-Deutschland sein soll; Bültmann, DStR 2017, 1, fordert unter Hinweis auf ein gleichnamiges Forschungsprojekt der Stiftung Marktwirtschaft e.V. Staatscompliance. 8 Tipke, StRO I2, 256 ff. (Gerechtigkeit durch systemtragende Prinzipien), 263 (Konsequentes Zu-EndeDenken); zur Folgerichtigkeit als zentraler Leitidee des Steuerrechts und zum Misstrauen gegenüber dem Begriff der „Steuergerechtigkeit“ s. Schön, StuW 2013, 289 (295 ff.); zur Folgerichtigkeit s.a. Palm, Kempny, JöR n.F. Bd. 64 (2016), 457 (465 ff.), 477 (484 ff.). 9 Tipke, StRO I2, 273 ff. (Sachgerechtigkeit als auf die Sache bezogene, sachangemessene Gerechtigkeit). 10 K. Vogel, JZ 1993, 1121 (1123), zum sog. Steuerchaos außerdem J. Lang, FR 1993, 661 (664 ff.); J. Lang, FS Kriele, 1997, 965 (966 ff.); Mössner, FS Lang, 2010, 83 (84 ff.); Schenke, FS Wahl, 2011, 803 (809 ff.). 11 Dazu Tipke, StRO II2. 12 Zur Steuerstaatlichkeit als Strukturmerkmal s. Isensee, FS H.P. Ipsen, 1977, 426; K. Vogel, HStR II3, 2004, § 30 Rz. 51 ff.; Heintzen, FS Isensee, 2007, 831 (835 ff.); Crezelius, DStR-Beihefter zu Heft 51–52/2013, 99 f.; dagegen eher deskriptiv Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, 22 ff.; aus finanzwissenschaftlicher Sicht: Gawel, Der Staat 2000, 209.
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Seer
1. Gegenstand und Bedeutung des Steuerrechts
Rz. 7 § 1
staatlichkeit bedeutet die Trennung zwischen Staat und Wirtschaft; der Steuerstaat partizipiert lediglich in Gestalt der Steuer am ökonomischen Erfolg der sich in seinem Hoheitsgebiet betätigenden Wirtschaftssubjekte. Das Steuerrecht ist damit Teil einer freiheitlich verfassten Rechtsordnung. Besteuerung ist Teilhabe am Privateigentum, am privaten Wirtschaften13. Steuern sind nicht erforderlich, wenn dem Staat bereits alles gehört und wenn die Wirtschaft allein vom Staat betrieben wird. Daher wird die Privatnützigkeit des Eigentums und der Wirtschaft durch die Institution der Besteuerung bestätigt. Die Frage, wie viel das freiheitlich verfasste Gemeinwesen von dem privaten Erwerb beanspruchen und Privatkonsum beschneiden kann, hängt von dem Ausmaß der Sozialpflichtigkeit ab, das Verfassung (Art. 14 II GG) und Gesellschaft dem Privateigentum abverlangen (s. Rz. 39 ff.). Der klassisch-liberale Zweck der Besteuerung erstreckt sich lediglich auf den eigenen Finanzbedarf 6 des Staates, der benötigt wird, um die Rechts- und Wirtschaftsordnung zu verwirklichen, die das Individuum schützt und ihm den institutionellen Rahmen für die Entfaltung der Persönlichkeit bietet. Danach sind Steuern der Preis für den Schutz des Staates, für die institutionelle Sicherheit14, die für das private Wirtschaften erforderlich ist15. Ein Staat, der wie die Bundesrepublik Deutschland eine führende Position in der Weltwirtschaft einnimmt, hat bereits einen großen institutionellen Finanzbedarf. Seine Bürger erwarten von ihm ein hohes Niveau an innerer Sicherheit sowie Funktionstüchtigkeit seiner Organe, und die Völkergemeinschaft bindet ihn in ein dichtes Netz internationaler Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten ein. Die aktive, eben auch finanziell bedeutsame Teilnahme an kollektiven Sicherheits- und Finanzsystemen und internationalen Hilfsprogrammen ist wesentlicher Faktor für die Prosperität der Privatwirtschaft in einer eng verflochtenen Weltwirtschaft16. Aus Art. 20 I, 28 I 1 GG ergibt sich, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Sozialstaat ist. Obgleich 7 das Grundgesetz damit keine bestimmte Wirtschaftsordnung vorschreibt17, gibt es in der Bundesrepublik Deutschland einen breiten gesellschaftlichen Konsens über die „soziale Marktwirtschaft“ und ein hohes Maß staatlich gewährleisteter sozialer Sicherheit. Die Besteuerung besitzt damit auch eine Umverteilungsfunktion18. Zu dem institutionellen Finanzbedarf tritt ein sozialer Finanzbedarf der sozialen Sicherung, Fürsorge, Vorsorge und Umverteilung hinzu, der Steuerlasten zum beherrschenden Faktor der Wirtschaftsordnung macht.
13 Dazu grundl. P. Kirchhof, Besteuerung und Eigentum, VVDStRL 39 (1981), 213; P. Kirchhof, HStR V3, 2007, § 118 Rz. 1 ff. (Steuer als Preis der Freiheit); Pausenberger, Eigentum und Steuern in der Republik, Diss., 2008, 255 ff. 14 Institutionelle Sicherheit als wesentliche Voraussetzung für die Effizienz einer Volkswirtschaft hat insb. der Wirtschaftshistoriker u. Nobelpreisträger Douglas C. North nachgewiesen (North, Theorie des institutionellen Wandels, 1988). 15 So forderte bereits Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776 (dt. Ausgabe [hrsgg. v. Recktenwald]: Der Wohlstand der Nationen5, 1990), in seiner ersten Steuermaxime (s. § 7 Rz. 2), dass Steuern nach dem Einkommen, das die Bürger „jeweils unter dem Schutz des Staates erzielen“, bemessen werden sollten. Zu den sog. Assekuranztheorien des 17. Jahrhunderts s. Mann, Steuerpolitische Ideale, Vergleichende Studien zur Geschichte der ökonomischen und politischen Ideen und ihres Wirkens in der öffentlichen Meinung 1600–1935, 1937 (Nachdruck: 1978), 105 ff. 16 Zum Spannungsverhältnis zwischen dem internationalen Steuerwettbewerb und dem Steuerstaatbegriff s. Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, Diss., 2014, 20 ff.; zur beihilferechtlich relevanten Frage eines (un-)fairen internationalen Steuerwettbewerbs s. Schaumburg, ISR 2016, 371; Frenz, DStZ 2016, 142; s.a. die Aktionspläne der OECD gegen „Base Erosion and Profit Shifting – BEPS“, www.oecd.org/tax/ beps. 17 Dazu P. Kirchhof, HStR VIII3, 2010, § 169 Rz. 101. 18 Zum Umverteilungszweck der Besteuerung s. etwa Fellinger, FS M. Fischer, 2010, 365 (367 ff.); Genser/ Ramser/Stadler, Umverteilung und soziale Gerechtigkeit, 2011; Kammer, Die Politische Ökonomie der Umverteilung, Diss., 2013, 23 ff., 59 ff.; aus philosophischer Sicht Black, Eigentumsfreiheit und Besteuerung aus liberaler Perspektive, Diss., 2010.
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§ 1 Rz. 8
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
8 Zudem werden Steuergesetze zur wirtschafts-, sozial- und kulturpolitischen Lenkung eingesetzt (s.
§ 3 Rz. 21). Die Vorstellung, das Steuerrecht könne beliebig als Vehikel der Sozialgestaltung instrumentalisiert werden, hat das Steuerrecht sozialpolitisch überfrachtet. Es wird dazu missbraucht, Gruppen- und Individualinteressen zu befriedigen, denn wählerorientierte Steuerpolitik ist anfällig, gruppenorientierte Steuerpolitik zu sein. Angesichts dieser Steuerpolitik gehen Steuermoral und Rechtsbewusstsein des Steuerzahlers gänzlich verloren: Gerecht sind dann solche Steuern, die von den anderen bezahlt werden19. Das damit legitimierte Bestreben, die eigene Steuerbelastung möglichst gering zu halten, macht Gegenmaßnahmen des Gesetzgebers erforderlich. Der für und wider gesellschaftliche Gruppen agierende Aktionismus des Steuergesetzgebers verändert das Steuerrecht zum viel zitierten Steuerchaos (s. § 3 Rz. 1). 9 Je höher jedoch der Finanzbedarf des Staates ist, der von seinen Bürgern zu tragen ist, desto gerech-
ter muss die Verteilung der Steuerlasten sein, desto strikter ist die Allgemeinheit und Gleichheit der Besteuerung zu handhaben. Wer viel Steuern zu zahlen hat, erwartet, dass er nicht auch noch die Steuern der anderen mitbezahlt. Er vermag nur die Verteilung von Steuerlasten zu akzeptieren, die sich von Gruppen- und Individualinteressen sichtbar distanziert. Und wenn das Steuerrecht schon durch die Größe des Finanzbedarfs zum beherrschenden Faktor der Wirtschaftsordnung wird, dann sollte der Steuergesetzgeber tunlichst davon absehen, die infolge hoher Steuerlasten unvermeidbaren Lenkungswirkungen noch durch Lenkungsmaßnahmen zu verstärken. Er sollte sich darauf besinnen, dass Steuern vornehmlich für die institutionelle Sicherheit der Wirtschaftsplanung erhoben werden, die durch die Hektik der Steueränderungsgesetzgebung untergraben wird. Die Qualität einer Ordnung des Rechts bietet auch Rechtssicherheit (s. § 3 Rz. 4 ff.). Die institutionelle Unsicherheit des Steuerrechts, die Planungsunsicherheit, die permanente Veränderung von Investitionsbedingungen beeinträchtigen die Effizienz der Volkswirtschaft, ohne dass dadurch ein einziger Cent für das Steueraufkommen gewonnen wird. 10 Wie die anderen Rechtswissenschaften ist die Steuerrechtswissenschaft rechtstheoretische, rechtsprak-
tische und didaktische Normenlehre. Sie unterscheidet zwischen Fiskalzweck-, Sozialzweck- und Vereinfachungszwecknormen (s. § 3 Rz. 19 ff.), beschäftigt sich mit methodischen und praktischen Fragen der Rechtsanwendung (s. § 5), dogmatisiert, systematisiert und kommentiert das geltende Steuerrecht und vermittelt den Stoff des geltenden Steuerrechts in Kommentaren und Lehrbüchern. Indessen veranlasst der gegenwärtige Zustand der Steuergesetzgebung auch dazu, sich de lege ferenda mit dem Steuerrecht zu befassen, weil ordnungswidrige Steuergesetze den rechtswissenschaftlichen Ordnungsauftrag verhindern. Das Rechtssystem der Besteuerung muss also notgedrungen in Spannung zum geltenden Gesetz20 entwickelt werden. Je tiefer das Steuerrecht im Chaos versinkt, desto unabweisbarer fällt der Steuerrechtswissenschaft die Aufgabe zu, auf die Erneuerung des Rechts hinzuarbeiten. Das ideale Ergebnis einer Rechtsreform wäre die Schaffung eines konsistenten Steuergesetzbuches21. Alle großen Kodifikationen des Rechts gingen aus einer gesteigerten Unordnung des Rechts hervor (s. § 3 Rz. 8).
19 Dazu Klotz, FS F. Klein, 1994, 289; Schmidtchen, Vom nicht marginalen Charakter der Steuermoral, in Smekal/Theurl (Hrsg.), Stand und Entwicklung der Finanzpsychologie, 1994, 185; Salditt, FS Tipke, 1995, 475; W. Wendt, FS Ritter, 1997, 637; Körner/Strotmann, Steuermoral – Das Spannungsfeld von Freiwilligkeit der Steuerzahlung und Regelverstoß durch Steuerhinterziehung, 2006. 20 So K. Vogel, JZ 1993, 1121 f. 21 Vgl. J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, 1993; Stiftung Marktwirtschaft (Kommission Steuergesetzbuch); P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch – Ein Reformentwurf zur Erneuerung des Steuerrechts, 2011; J. Lang/M. Eilfort (Hrsg.), Strukturreform der deutschen Ertragsteuern, 2013; M. Jachmann (Hrsg.), Erneuerung des Steuerrechts, DStJG 37 (2014). Allgemein zu Zukunftsaufgaben der Steuerrechtswissenschaft Tipke, StRO III2, 1879 ff.; Tipke, StuW 2013, 97; Bareis, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, 1799. Zur Kritik gegenüber einer umfassenden reformatorischen Erneuerung des Steuerrechts aus ökonomischer Sicht F. W. Wagner, FR 2012, 653, m. Replik von P. Kirchhof, FR 2012, 701; F. W. Wagner, DStR 2014, 1133.
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1. Gegenstand und Bedeutung des Steuerrechts
Rz. 13 § 1
Das Steuerrecht hat aber auch eine besondere Bedeutung für die Rechtsberatung und Rechtsgestal- 11 tung22. Die (internationale) Planung von Unternehmensstrukturen und -standorten, Investitionsplanungen und -entscheidungen, Gestaltungen von Gesellschaftsverträgen, Testamenten u.a. ökonomisch bedeutsamen Rechtsgeschäften von Vermögensübertragungen und -nachfolgen bedürfen wesentlich auch der steuerrechtlichen Würdigung, nicht allein zum Zwecke der Steuerminimierung, sondern auch aus Gründen der finanziellen Planungssicherheit, auch zur Absicherung gegen steuerstrafrechtliche Vorwürfe. Wegen des engen Zusammenhangs mit dem Steuerrecht befasst sich die Steuerrechtswissenschaft auch mit dem Recht der Steuerberatung und mit dem Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht (s. §§ 23, 24). Die Internationalität des Wirtschaftsverkehrs führt die Steuerrechtswissenschaft außerdem auf die 12 Felder des Völkerrechts und des Europarechts (s. § 4) sowie der Rechtsvergleichung23. Ein Teilgebiet des Steuerrechts, das wegen seiner Komplexität in diesem Buch nicht dargestellt werden kann, ist das Internationale Steuerrecht24 (s. dazu Rz. 81 ff.). Auch vermag dieses Buch aus Platzgründen keine zusammenhängende Darstellung der Steuerrechts- 13 geschichte anzubieten25, weist jedoch geschichtliche Entwicklungen dort nach, wo sie für das geltende Steuerrecht besondere Bedeutung haben, denn Recht ist fixierte Geschichte, so dass sich Bedeutung und Inhalt rechtlicher Institutionen ohne Kenntnis ihrer Geschichte nicht ausmessen lassen. Gesamtdarstellungen der Steuergeschichte haben hauptsächlich Ökonomen26 verfasst. Von Juristen sind vornehmlich begrenzte Zeitabschnitte und spezielle Themen bearbeitet worden27. Somit bestehen auf 22 S. etwa J. Lang, StuW 1976, 76 (79); Jacobsen, FR 2009, 162; zum wirtschaftshistorischen Rollenverständnis der Steuerberatung seit dem 19. Jahrhundert s. Krüger, Steuerberatung und Gerechtigkeit, Diss., 2014. 23 Die Rechtsvergleichung gewinnt im Zuge globalisierter Wirtschaftsbeziehungen und der gewachsenen Mobilität von Menschen und Kapital eine immer größere Bedeutung; s. dazu die Arbeiten der International Fiscal Association (IFA), des OECD-Steuerausschusses und der European Association of Tax Law Professors (EATLP). Zum Rechtsvergleich im Internationalen Steuerrecht s. Reimer in Lehner (Hrsg.), Reden zum Andenken von K. Vogel, 2010, 89. 24 Dieses Buch ergänzt Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017. 25 Vgl. hierzu die kurzen Abrisse von Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht20, 2017, § 1 A; Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1991, § 1 I; Homburg, Allgemeine Steuerlehre7, 2015, 23 ff.; Schomburg, Lexikon der deutschen Steuer- und Zollgeschichte, Abgaben, Dienste, Gebühren, Steuern und Zölle von den Anfängen bis 1806, 1992. Unterhaltsame u. zugleich lehrreiche Einblicke in die Steuergeschichte bieten die Buchreihe von Pausch/Pausch, Kleine Weltgeschichte der Steuerzahler/der Steuerobrigkeit/der Steuerberatung, 1988, 1989, 1990; A. Pausch, Persönlichkeiten der Steuerkultur, Steuergeschichte in Lebensbildern von Miquel bis Spitaler, 1992; U. Schultz (Hrsg.), Mit dem Zehnten fing es an, Eine Kulturgeschichte der Steuer, 1986; Tipke, StRO III2, 1276 ff. Die DStJG hat in 2013 erstmalig ein steuerhistorisches Symposium durchgeführt, deren Referate v. Drüen, Waldhoff, Reimer, Piltz, Hüttemann, Schmoeckel u. Thier in StuW 2014, 16–87 abgedruckt sind. 26 Eine ausf. Ideengeschichte der Besteuerung der Zeit von 1600 bis 1936 enthält Mann, Steuerpolitische Ideale, 1937 (Nachdruck 1978). Im Weiteren A. Wagner, Finanzwissenschaft3, 3. Teil, 1. Buch: Steuergeschichte vom Altertum bis zur Gegenwart, 1910 (Nachdruck 1973); Webber/Wildavsky, A History of Taxation and Expenditure in the Western World, 1986; Kolms, Geschichte der Steuern, HdWW, Bd. VII, 310 ff. (m.w.N.). 27 Insb. K.H. Lang, Historische Entwicklung der deutschen Steuerverfassungen seit der Karolinger bis auf unsere Zeiten, 1793; Fuisting, Die geschichtliche Entwicklung des Preußischen Steuersystems und systematische Darstellung der Einkommensteuer2, 1894; Jenetzky, System und Entwicklung des materiellen Steuerrechts in der wissenschaftlichen Literatur des Kameralismus von 1680–1860, 1978; Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, 1980, Erster Teil: Rekonstruktion der Steuerrechtsgeschichte in rechtspraktischer Absicht; Großfeld, Die Einkommensteuer, Geschichtliche Grundlage und rechtsvergleichender Ansatz, 1981; H. Schulz, Das System und die Prinzipien der Einkünfte im werdenden Staat der Neuzeit dargestellt anhand der kameralwissenschaftlichen Literatur (1600–1835), 1982; Oechsle, Die steuerlichen Grundrechte in der jüngeren deutschen Verfassungsgeschichte, Zugleich eine Unter-
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§ 1 Rz. 14
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
dem Gebiete des Steuerwesens zahlreiche Lücken rechtshistorischer Forschung und das Bedürfnis nach einer rechtshistorischen Gesamtdarstellung. Ein besonders wichtiges Thema der deutschen Geschichte ist die Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechts28. 2. Abgrenzung von steuerwissenschaftlichen Nachbardisziplinen 14
a) Mit dem Phänomen der „Steuern“ befasst sich nicht nur die Steuerrechtswissenschaft. Die klassische Steuerlehre mit einer bedeutenden geschichtlichen Tradition ist die finanzwissenschaftliche Steuerlehre (s. Rz. 16 ff.). Sie ist ein Teil der Volkswirtschaft (früher: Nationalökonomie) und daher makroökonomisch orientiert. Hingegen hat die betriebswirtschaftliche Steuerlehre (s. Rz. 20 ff.) die Steuerbelastung des mikroökonomischen Wirtschaftens zum Gegenstand. Der mikroökonomische Ansatz ist der rechtswissenschaftlichen Sicht insofern ähnlich, als die aus Rechtsverhältnissen resultierenden Steuerbelastungen eruiert werden. Im Bereich der betriebswirtschaftlichen Steuerberatungswissenschaft wird naturgemäß auch mit juristischen Methoden gearbeitet, vermengt sich das betriebswirtschaftliche und juristische Schrifttum. Das Steuerberaterexamen ist (nach wie vor) weitgehend juristisch ausgerichtet.
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Die interdisziplinäre Kooperation der Steuerwissenschaften29 dient dem Ziel, die ökonomische Rationalität des Steuerrechts zu verbessern. Das Steuerrecht ist ökonomisches Recht; deshalb beruht seine Sachlogik nicht zuletzt auch auf ökonomischen Sachgesetzlichkeiten. Daher kann das Steuerrecht eine sachlogische Struktur nur entwickeln, wenn es ökonomisch rational verfasst ist und besonders auch das utilitaristische Verhalten des Menschen hinreichend berücksichtigt. Juristische und ökonomische Betrachtungsweisen ergänzen und befruchten sich gegenseitig. Mithin sollten Ökonomen und Juristen in ihren Zielen, ein „gutes“ Steuersystem zu gestalten, nicht auseinander streben und vermeintliche Gegensätze aufbauen, sondern sich darum bemühen, grundsätzliche Missverständnisse der interdisziplinären Diskussion aufzuklären.
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b) Die finanzwissenschaftliche Steuerlehre30 hat die Finanzierung des öffentlichen Sektors zum Gegenstand. Dabei geht es ihr um die volkswirtschaftlich optimale Verteilung der Steuerlasten, um die Minimierung von Wohlfahrtsverlusten, von negativen Steuerwirkungen auf Produktion, Konsum, suchung über das historische Verhältnis von Steuerverfassungsrecht und Finanzwissenschaft, 1993; Schwennicke, „Ohne Steuer kein Staat“, Zur Entwicklung und politischen Funktion des Steuerrechts in den Territorien des Heiligen Römischen Reichs (1500–1800), 1996; Kruse, StuW 1998, 3; Mathiak, Zwischen Kopfsteuer und Einkommensteuer, Die preußische Klassensteuer von 1820, 1999; Thier, Steuergesetzgebung und Verfassung in der konstitutionellen Monarchie, Staatssteuerreformen in Preußen 1871–1893, 1999; Mathiak, StuW 2001, 324; Harris, Income Tax in Common Law Jurisdictions – From the Origins to 1820, 2006; Seer (Hrsg.), Steuern im historischen Kontext, Bochumer Schriften zum Steuerrecht, 2014; zur Geschichte des internationalen Steuerrechts (insb. des Doppelbesteuerungsrechts) anhand dessen deutschen Protagonisten in der Weimarer Republik s. Bräunig, Herbert Dorn (1887-1957), Diss., 2016. 28 Voß, Steuern im Dritten Reich, Vom Recht zum Unrecht unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, 1995; Friedensberger/Gössel/Schönknecht (Hrsg.), Die Reichsfinanzverwaltung im Nationalsozialismus, 2002; Schauer, Die Steuergesetzgebung des Nationalsozialismus als Mittel der Machtpolitik, 2003; Kuller, Finanzverwaltung und Judenverfolgung (Beispiel: Bayern), Diss., 2008; zur Praxis der unteren Finanzbehörden in dieser Zeit instruktiv die rechtsgeschichtliche Studie von Otterbeck, Das Finanzamt Bonn im Nationalsozialismus, Diss., 2014. 29 Dazu Popitz, Festgabe von Schanz, Bd. I, 1928, 39; Höhn/Meier, FS Keller, 1971, 123; Elschen, StuW 1991, 99; Wagner, FS D. Schneider, 1995, 723; Schmiel, Rechtskritik als Aufgabe der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, 2005; Raupach, FS Mellwig, 2007, 367. Einen Überblick über Methoden und Interdisziplinarität juristischer und ökonomischer Steuerforschung geben Betting/Wagner, StuW 2013, 266. 30 S. dazu Handbuch der Finanzwissenschaft3, Bde. I–IV, 1977–1983. Lehrbücher der Finanzwissenschaft von Stiglitz/Schönfelder2, 1989 (Nachdruck 2000); Musgrave/Musgrave/Kullmer, Die öffentlichen Finanzen in Theorie und Praxis6, Bd. 1–4 (Bd. 2: Steuern), 1994; Andel, Finanzwissenschaft4, 1998; Wellisch, Finanzwissenschaft, Bd. I-II, 2014; Homburg, Allgemeine Steuerlehre7, 2015; Brümmerhoff/Büttner, Fi-
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2. Abgrenzung von steuerwissenschaftlichen Nachbardisziplinen
Rz. 18 § 1
Preisgestaltung, Wettbewerb, Konjunktur, Wachstum, Beschäftigung, Kapitalbildung, Sparen und Investieren. Es lassen sich zwei Hauptströmungen, eine normative und eine positive31, unterscheiden: aa) Die klassische nationalökonomische Steuerlehre32 war stets auch normativ-ethisch angelegt. Ihre Werke sollte jeder Steuerjurist kennen, der sich wissenschaftlich mit dem Steuerrecht beschäftigt. Die klassischen Steuermaximen von Adam Smith (Gleichheit, Bestimmtheit, Bequemlichkeit und Wohlfeilheit der Besteuerung, s. § 7 Rz. 2) können durchaus auch als rechtliche Grundsätze der Ausgestaltung von Steuern verstanden werden. Die Erkenntnisse, die David Ricardo, John Stuart Mill und Adolph Wagner zur Steuergleichheit, Steuergerechtigkeit und Besteuerungsmoral gewonnen haben, sind steuerrechtswissenschaftlich unmittelbar verwertbar. Später ist die normativ-ethische Seite der Besteuerung herausragend von Fritz Neumark, Heinz Haller und Richard A. Musgrave erfasst und herausgearbeitet worden33.
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bb) Demgegenüber operiert die sog. positive Finanzwissenschaft wertfrei quantifizierend, zumeist in ma- 18 thematischen Modellen. Zu dieser Richtung gehört die Optimalsteuertheorie, deren Forschungsgegenstand sich auf die Steuerwirkungen, auf eine wohlfahrtsoptimale Verteilung (Allokation) der Steuerlasten konzentriert34. An erster Stelle steht die Effizienz (das Steuersystem soll die effiziente Allokation der Ressourcen nicht behindern) und an letzter Stelle ein normatives Verständnis von Gerechtigkeit35. Wichtigstes Ergebnis der Optimalsteuertheorie ist die Konsumorientierung des Steuersystems (s. § 3 Rz. 55 ff.), die besonders in einem Spannungsverhältnis zur Umverteilungsgerechtigkeit steht, weshalb sie von normativethisch denkenden Finanzwissenschaftlern mit Skepsis betrachtet wird36. In der Tat sind die Erkenntnisse der Optimalsteuertheorie einer normativ orientierten Steuerrechtswissenschaft, -praxis und -politik schwer zu vermitteln, wie umgekehrt Optimalsteuertheoretiker normative Bedingungen, rechtliche und gesellschaftliche Realitäten weitgehend außer Acht lassen, was die „wertfreie“ Forschung augenscheinlich realitätsfremd macht. Bei näherer Betrachtung liefern jedoch die optimal-taxation-Analysen sehr wohl rechtlich verwertbare Erkenntnisse, weil eine ökonomisch richtig wirkende Besteuerung nicht nur zur Steuergleichheit, sondern auch zur verfahrenstechnischen Vereinfachung des Steuerrechts beiträgt37.
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nanzwissenschaft11, 2015; Zimmermann/Henke/Broer, Finanzwissenschaft12, 2012; Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie9, 2017. Vgl. Andel, Finanzwissenschaft4, 1998, § 2. Insb. Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, erstmals veröffentlicht im Jahre 1776 (dt. Ausgabe [hrsgg. v. Recktenwald]: Der Wohlstand der Nationen8, 1999, 703 ff. [5. Buch, 2. Kap., 2. Teil: Steuern]; John Stuart Mill, Grundsätze der politischen Ökonomie, dt. Ausgabe von Soetbeer, 1869 (3. Band, 5. Buch, 2. Kap.: Von den allgemeinen Grundsätzen der Besteuerung); David Ricardo, Grundgesetze der Volkswirtschaft und Besteuerung, dt. Ausgabe von Baumstark, 1877 (Achtes Hauptstück: Von den Steuern); Adolph Wagner, Finanzwissenschaft3, 1910 (Nachdruck 1973), 5. Buch: Allgemeine Steuerlehre oder Theorie der eigentlichen Besteuerung. Haller, Die Steuern3, Grundlinien eines rationalen Systems öffentlicher Abgaben, 1981; Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, 1970; Musgrave/Musgrave, Public Finance in Theory and Practice5, 1989 (dt. Ausgabe: Musgrave/Musgrave/Kullmer, Die öffentlichen Finanzen in Theorie und Praxis6, Bde. 1–4 [Bd. 2: Steuern], 1994). Dazu Pohmer (Hrsg.), Zur optimalen Besteuerung, mit Beiträgen von Hackmann, M. Rose, Seidl, Wiegard, 1983. So Stiglitz/Schönfelder, Finanzwissenschaft2, 1989 (Nachdruck 2000), 408, im Gegensatz zu Musgrave/ Musgrave/Kullmer, Die öffentlichen Finanzen in Theorie und Praxis6, Bd. 2, Kap. 10, B (Anforderungen an ein „gutes Steuersystem“), die der Steuergerechtigkeit Vorrang vor Effizienz u. Wohlfeilheit einräumen. S. im Weiteren § 7 Rz. 2 ff. Haller, FinArch. 46 (1988), 236; Haller, FS Pohmer, 1990, 21, 31 ff.; Musgrave in M. Rose (Hrsg.), Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, 1991, 35 (37): „Das gute Steuersystem ist, wie Adam Smith klar, klarer noch als unsere gegenwärtige Diskussion, erkannte, keine Frage der Ökonomie alleine. Es ist auch eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit …“. Zur Umsetzung von optimalsteuertheoretischen Konzepten in der Steuergesetzgebung J. Lang, Steuergesetzbuch, 1993, 129 ff., 140 f.; s. auch den Meinungsstand bei Krause-Junk (Hrsg.), Steuersysteme der Zukunft, Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik, 1998; Smekal (Hrsg.), Einkommen versus Konsum – Ansatzpunkte zur Steuerreformdiskussion, 1999.
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§ 1 Rz. 19
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
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cc) Zur Finanzwissenschaft gehört auch die Steuerpsychologie und -soziologie38. Die Steuerpsychologie liefert (empirische) Erkenntnisse über Einstellungen, Motivationen, Emotionen und Verhalten der Steuerzahler gegenüber der Besteuerung. Die Steuermentalität gibt Auskunft über die innere Einstellung zur Besteuerung insgesamt. Die Steuermoral spiegelt die Einstellung gegenüber der Erfüllung oder Vernachlässigung der Steuerpflichten wider. Auf der Grundlage der Erkenntnisse können Gesetzgeber und Finanzverwaltung Maßnahmen zur Überwindung des Steuerwiderstandes entwickeln (zur sog. Tax-ComplianceStrategie s. § 21 Rz. 183).
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c) Die betriebswirtschaftliche Steuerlehre39 befasst sich mit dem Einfluss der Besteuerung auf ökonomische Entscheidungen, und zwar als Disziplin der Entscheidungstheorie, der Steuerberatung und Beratung der Steuergesetzgebung nicht nur mit dem Einfluss der Besteuerung auf unternehmerische Entscheidungen. Vielmehr untersucht sie unter dem mikroökonomischen Aspekt des Verhaltens einzelner Wirtschaftssubjekte das gesamte, auch private Vermögensdispositionen erfassende Spektrum der Besteuerung. Ihr Ausgangspunkt ist das Bestreben der Wirtschaftssubjekte, das Nettoergebnis des Handelns zu maximieren. Ihr steuerpolitisches Ideal ist die Entscheidungsneutralität der Besteuerung40. In der Theorie pflegt sich die betriebswirtschaftliche Steuerlehre als „wertfreie“ Wissenschaft zu verstehen41; tatsächlich ist sie jedoch bei der Ermittlung von Steuerfolgen und im steuerpolitischen Bereich zwangsläufig normative Wissenschaft42. Die betriebswirtschaftliche Steuerlehre hat folgende Aufgaben43:
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aa) Die betriebswirtschaftliche Steuerwirkungslehre44 untersucht den Einfluss der Besteuerung auf betriebliche Zustände und Vorgänge. Sie untersucht die Abhängigkeit der Steuerbelastung von bestimmten 38 Dazu Mann, FinArch. 2 (1934), 281; Schmölders, Finanz- und Steuerpsychologie3, 1970; Lewis, The Psychology of Taxation, 1982; Smekal/Theurl (Hrsg.), Stand und Entwicklung der Finanzpsychologie, 1994; Bizer/Falk/Lange (Hrsg.), Am Staat vorbei – Transparenz, Fairness und Partizipation kontra Steuerhinterziehung, 2004 (mit Beiträgen zur Steuermoralforschung); Kirchler, The Economic Psychology of Tax Behaviour, 2007; zur Empirie der Steuerhinterziehung s. Franzen, Neue Kriminalpolitik 2008, 72 ff., 94 ff. Eine empirische Untersuchung der Einstellung gegenüber Steuerhinterziehung im Hinblick auf Faktoren wie Nationalität, Alter, Geschlecht, Einkommenslevel, Bildung, Religion, u.s.w. findet sich bei McGee (Hrsg.), The Ethics of Tax Evasion, 2012. 39 Zum Gegenstand und zur Entwicklung der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre D. Schneider, FS Scherpf, 1983, 21 ff. Seibold, Steuerliche Betriebswirtschaftslehre in nationaler und transnationaler Sicht, Habil., 2002; Jacobs, StuW 2004, 251; König, StuW 2004, 260; F.W. Wagner, StuW 2004, 237; Treisch, StuW 2006, 255; Hundsdoerfer/Kiesewetter/Sureth, ZfB 38 (2008), 61; F.W. Wagner, StuW 2008, 97; Watrin, StuW 2011, 299; Schneeloch, BFuP 63 (2011), 243; zum Einfluss auf das Europäische Steuerrecht s. Kraft, FR 2017, 405. 40 Dazu Elschen, StuW 1991, 99; Wagner, StuW 1992, 2; Jansen, Entscheidungsneutrale Gewinnbesteuerung und Liquidität, Köln 2000; Treisch, SteuerStud. 2000, 368; Musil/Leibohm, FR 2008, 807; M. Rose, FS Lang, 2010, 641 ff.; zur Entscheidungsneutralität der Vermögensteuer im Vergleich zur Ertragsteuer s. Diller/Grottke/Schildbach, StuW 2015, 222 (223). 41 Wöhe, FS Scherpf, 1983, 5 (8). 42 Allerdings hat sich die betriebswirtschaftliche Steuerlehre in jüngster Zeit von der normativen Forschung abgewandt und auf eine empirische Steuerforschung konzentriert, um in englischsprachigen Top-Ranking-Journals international akzeptiert und anerkannt zu werden. Dies ist aus wirtschaftswissenschaftlicher (Karriere-)Sicht nachvollziehbar, birgt allerdings die Gefahr, dass der Dialog zwischen betriebswirtschaftlicher Steuerlehre und den Rechtswissenschaften bzw. der Steuerpraxis weitgehend zum Erliegen kommt. Daher mit Recht krit. gegenüber einer einseitig-empirischen Ausrichtung der Forschung Siegel/Bareis/Förster/Kraft/Schneeloch, FR 2013, 1128; für eine normative betriebswirtschaftliche Steuerforschung: Schneider/Bareis/Siegel, DStR 2013, 1145; Kußmaul u.a., DB 2017, 1337. Mittlerweile hat sich die Forschungsgruppe Anwendungsorientierte Steuerlehre – FAST gebildet, die diesen Dialog aufrechterhalten und insb. durch eine(n) Kongress/Jahrestagung pflegt (s. www.forschungsgrup pe-steuerlehre.de, dort sind seit 2014 Kongresse u. Tagungen nachgewiesen). 43 Dazu Wöhe, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, Bd. I/16, 1988, 7 ff.; Schneeloch, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, Bd. I/16, 2012, 1 ff.; Denk, FS Schlager, 2012, 127 (130 ff.). 44 Dazu D. Schneider, Investition, Finanzierung und Besteuerung7, 1992; D. Schneider, Steuerlast und Steuerwirkung, 2002. Zur sog. Teilsteuerrechnung grundl. G. Rose, BFuP 1979, 293; G. Rose, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre3, 1992, 16 ff. Besondere Lit.: Marx/Hetebrügge, DB 2007, 2381; Thönnes, StuW
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2. Abgrenzung von steuerwissenschaftlichen Nachbardisziplinen
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betrieblichen Dispositionen, von der Art betrieblicher Organisation, der Wahl der Rechtsform und des Standorts, Beschaffung, Produktion, Absatz, Finanzierung und Investition. Dabei ermittelt die betriebswirtschaftliche Steuerlehre die Gesamtbelastung aller Steuerfolgen einer betrieblichen Größe oder Disposition. bb) Die betriebswirtschaftliche Steuergestaltungslehre45 (Steuerplanung und Steuerpolitik, insb. Bilanzpolitik) zieht die Schlussfolgerungen aus der Steuerwirkungslehre. Sie untersucht, welche betrieblichen Dispositionen getroffen werden müssen, damit die steuerliche Belastung minimiert wird. Dabei hat sie den Steuerfaktor in der Rangfolge der Entscheidungsparameter ökonomisch optimal einzustufen und zu gewichten. Steuerlich vorteilhafte Standorte, Rechts- und Finanzierungsformen, Investitionen können i.Ü. so nachteilhaft sein, dass sie als optimale Entscheidungsalternativen ausscheiden46. Besonders problematisch ist die Ungewissheit der Steuergestaltung47 durch Nichtanerkennung von Steuergestaltungen und durch die permanente Veränderung des Steuerrechts; dabei erweist sich die institutionelle Unsicherheit des Steuerrechts als erheblich wirtschaftsschädlicher Faktor.
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cc) Die Steuerberatungswissenschaft48 zieht die praktischen Schlussfolgerungen aus der Steuerwirkungslehre und Steuergestaltungslehre. Der standesrechtliche Aufgabenbereich der Steuerberatung macht diese weitgehend zur Rechtsberatung. Besonders die externen Aufgaben, die sich aus der Vertretung der Wirtschaftssubjekte gegenüber Behörden und Gerichten ergeben, die sog. Steuerdeklarationsberatung und die Durchsetzung steuerrechtlicher Auffassungen, werden mit juristischen Methoden und Kenntnissen erfüllt, was auch den Charakter der Steuerberaterprüfung prägt49. Hingegen greift die interne, zukunftsorientierte Beratung des Wirtschaftssubjekts auf spezifisch betriebswirtschaftliche Methoden zurück. Die Steuerberatungswissenschaft fundiert schließlich die Erkenntnis, dass der schlecht oder gar nicht Beratene häufig der Dumme ist. Je komplizierter die Steuergesetze ausgestaltet sind, desto mehr ist die Steuervermeidung den gut Beratenen vorbehalten. Die Steuern verkommen zu „Dummensteuern“50.
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2008, 134; zum European Tax Analyzer zur Berechnung von mikrosimulierten internationalen Steuerbelastungsvergleichen von Unternehmen s. Reister, Steuerwirkungsanalysen unter Verwendung von unternehmensbezogenen Mikrosimulationsmodellen, 2009; Grünewald, Internationales Steuerinformationssystem, 2010. Dazu Wagner/Dirrigl, Die Steuerplanung der Unternehmung, 1980; Siegel, Steuerwirkungen und Steuerpolitik in der Unternehmung, 1982; G. Rose, FS von Wallis, 1985, 275; Rödder, Gestaltungssuche im Ertragsteuerrecht, Entwicklung von Gestaltungsmöglichkeiten und Gestaltungsbeispiele, Diss., 1991; D. Schneider, Investition, Finanzierung und Besteuerung7, 1992; Jacobsen, Die Methodik steuerlicher Gestaltungssuche, 2007; zusammengefasst: Jacobsen, FR 2009, 162; J. Hey, FS Kirchhof, 2013, Bd. 2, 1657 ff.; Scheffler, Besteuerung von Unternehmen III – Steuerplanung2, 2013. Vor diesem Hintergrund kann Steuervermeidungsplanung doppelt ineffizient sein, da sie dem Staat Einnahmen vorenthält und zugleich betriebswirtschaftlich sinnvolle Entscheidungen stört, s. J. Hey, FS P. Kirchhof, 2013, Bd. 2, 1657 (1659). F. W. Wagner, DStR 2014, 1133 (1136) folgert vom Ansatz des „Homo Oeconomicus“ aus, dass Steuersysteme entweder so zu konstruieren seien, dass sie für eine Steuervermeidung keine Anreize setzen, oder die Eingriffe des Staats so vorzunehmen seien, dass die Neigung zur Steuervermeidung in den Dienst demokratisch kontrollierter Lenkungsmaßnahmen gestellt wird (Homo Oeconomicus als „Partner“ des Steuerstaats). Dazu G. Rose, Verunsicherte Steuerpraxis, StbJb. 1975/1976, 41; G. Rose, FS Wöhe, 1989, 289; G. Rose, FS D. Schneider, 1995, 479; G. Rose, GS B. Knobbe-Keuk, 1997, 515; zu G. Roses Bemühen um Steuerplanungssicherheit s. Tipke, FS G. Rose, 1991, 91; s. auch Voss, Ungewissheit im Steuerrecht, 1992; zur Einkommensbesteuerung unter Unsicherheit s. Hemmerich/Kiesewetter, ZfBF Vol. 66 (2014), 98. Dazu G. Rose, StbKongrRep. 1977, 191; Wagner, DB 1991, 1; A. Söffing, Gestaltung der steuerlichen Beratung, Ein Ansatz zur Begründung der institutionell-orientierten Steuerlehre als Teilbereich der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, 1993; Kaiser, Steuerberatung als Risiko-Management, 1995; Schiffers, StuW 1997, 42; zur Funktion des Steuerberaters als betriebswirtschaftlicher Berater s. Schanz, DStR 2015, 1986 (Teil I) u. 2032 (Teil II). Zum Verhältnis zwischen Steuerberatung und Rechtsstaat s. Symposium für Pelka, 2010, mit Beiträgen v. J. Lang, Pelka, Salditt, Seer, Thiel u. Tipke; zur Ethik der Steuerberatung s. Hommerich, DStR 2008, 1161. Den Begriff „Dummensteuer“ hat G. Rose eingeführt (G. Rose, FS Tipke, 1995, 153); s. auch Wagener, Dummensteuern und die (Un-)Möglichkeit ihrer Vermeidung, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 2001, 87.
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§ 1 Rz. 24 24
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
dd) Das steuerliche Rechnungswesen basiert zunächst auf einer propädeutisch gelehrten kaufmännischen Technik des Rechnens und Kalkulierens, der Buchführung und Bilanzierung. Diese auf kaufmännischer Praxis und Übung beruhende Technik wird sodann durch akademische Methoden und Erkenntnisse angereichert und zu einer betriebswirtschaftlichen bilanznormbildenden Disziplin, die auf die Fortbildung des Bilanzsteuerrechts wesentlich Einfluss nimmt. Die betriebswirtschaftliche Steuerbilanzlehre hat zum einen die analytische Aufgabe, betriebswirtschaftliche Erkenntnisse in Normen externer Rechnungslegung umzusetzen, und zum anderen die gestaltende Aufgabe der Bilanzpolitik, der Entwicklung von Normen interner Rechnungslegung für die Finanz-, insb. die Investitionsplanung der Unternehmung.
25 ee) Schließlich fällt der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre auch die normbildende Aufgabe einer Gesetzeswissenschaft zu, die betriebswirtschaftliche Erkenntnisse bei der Interpretation und rechtspolitischen Gestaltung von Steuergesetzen fruchtbar macht. Hier geht es um die betriebswirtschaftlich orientierte Kommentierung von Steuergesetzen namentlich des Bilanzsteuerrechts, sodann um Grundfragen der Steuerrechtsordnung und um die Mitwirkung an Entscheidungsprozessen der Steuergesetzgebung.
3. Steuerrecht als Referenzgebiet des öffentlichen Rechts 26
a) Das Steuerrecht ist die Gesamtheit der Rechtsnormen, die Rechte und Pflichten im Steuerrechtsverhältnis (s. § 6 Rz. 1) regeln. Es ist öffentliches Recht, denn die Normen des Steuerrechts sind Trägern hoheitlicher Gewalt, den nach Art. 106, 107 GG steuerberechtigten Körperschaften (s. § 2 Rz. 57 ff.) und den nach Art. 108 GG verwaltenden Behörden, zugeordnet51. Das Steuerrecht ist ein Teil des öffentlichen Finanzrechts, welches das Finanzverfassungsrecht, das Abgabenrecht, das Recht des Haushalts-, Kassen-, Rechnungs- und Kreditwesens, das Währungs- und Subventionsrecht umfasst52. Das Abgabenrecht besteht aus dem Steuerrecht, dem Recht der Gebühren, Beiträge, Sonderabgaben sowie dem Abgabenrecht der EU53.
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b) Das Steuerrecht ist Verwaltungsrecht, und zwar ebenso wie z.B. das Polizeirecht ist es das Recht der Eingriffsverwaltung. Dieser Charakter des Steuerrechts wird besonders im Steuerverfahren deutlich. Die Finanzbehörden handeln überwiegend durch Verwaltungsakte (§ 118 AO), die sie selbst vollstrecken können (s. § 21 Rz. 50 ff.). Sie erlegen den Stpfl. nicht nur Geldleistungs-, sondern auch Mitwirkungspflichten auf (s. § 21 Rz. 172 ff.). Bei der Durchführung der Besteuerung greifen die Finanzbehörden nicht nur in die Vermögenssphäre, sondern auch in die nichtvermögensrechtliche Privatsphäre ein54. Charakteristisch für das Steuerrecht als Eingriffsrecht sind die rechtsstaatlichen Anforderungen an die Steuergesetzgebung und Steuerverwaltung (s. § 3 Rz. 90 ff.). Hervorzuheben ist besonders die überragende Bedeutung des Gleichheitssatzes (Gleichmäßigkeit der Besteuerung), die Abwehrfunktion der Grundrechte, die rechtsstaatliche Rechtssicherheit und der strenge Gesetzesvorbehalt. Die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis entstehen regelmäßig allein auf Grund Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands (§ 38 AO); dieser anspruchsbegründende Tatbestand räumt grds. kein Verwaltungsermessen ein (§ 5 AO gilt hauptsächlich für Verfahrensakte). Schließlich ist die Finanzgerichtsbarkeit ein Zweig der besonderen Verwaltungsgerichtsbarkeit (§ 1 FGO). In wesentlichen Teilen (z.B. im System der Klagen gegen Verwaltungshandeln; dazu § 22 Rz. 73 ff.) stimmt die Finanzgerichtsordnung mit der Verwaltungsgerichtsordnung überein.
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c) Innerhalb des Verwaltungsrechts bildet jedoch das Steuerrecht ein eigenständiges rechtliches Subsystem55 mit einer eigenen, speziell ausgebildeten Verwaltung, eigener Gerichtsbarkeit, der Finanzgerichtsbarkeit, und mit eigenen Berufen, wie z.B. dem des Steuerberaters oder des Fachanwalts für Steuerrecht. Wie andere große Rechtsgebiete ist das Steuerrecht von spezifischen Zwecken und Zu den Zuordnungslehren s. Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I13, 2017, § 22 Rz. 28 ff. Dazu Henneke, Öffentliches Finanzwesen – Finanzverfassung2, 2000, Rz. 38 ff.; Tipke, StRO I2, 34. Dazu F. Kirchhof, Grundriss des Steuer- u. Abgabenrechts2, 2001, 5, 125. Vgl. dazu v. Hammerstein, Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatsphäre im Steuerrecht, Diss., 1993; zum Datenschutz s. § 21 Rz. 17 ff. 55 Tipke, StRO I2, 35 (m. zahlr. N. in Fn. 10).
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4. Verhältnis des Steuerrechts zu anderen Rechtsgebieten
Rz. 30 § 1
Wertungen geprägt. Wirtschaftliche Begriffe wie Einkommen, Gewinn, Umsatz, Vermögen, Wirtschaftsgut und Materien eines speziellen wirtschaftlichen Wissens wie insb. die verschiedenen Formen der Rechnungslegung spielen im Steuerrecht eine zentrale Rolle und versperren ökonomiefremd ausgebildeten Juristen den Zugang zum Steuerrecht, was sich etwa in der Steuerstrafjustiz fatal zu Lasten des Rechtsstaats auswirken kann. Mitunter werden bei Schadensersatzprozessen steuerrechtliche Gutachten eingeholt, das Steuerrecht außerhalb des Grundsatzes „iura novit curia“ wie ausländisches Recht (§ 293 ZPO) behandelt. Die Steuerberatung liegt überwiegend in den Händen von Nichtjuristen. Dieser Befund darf nicht den Blick dafür verstellen, dass Steuerrecht Verwaltungsrecht par excellence ist, dessen Grundfragen verwaltungsrechtlicher Natur und häufig auch (ebenso wie im Wirtschaftsverwaltungsrecht) vom Standpunkt des Verfassungsrechts zu lösen sind. Das verfassungsrechtlich abgeleitete Fundamentalprinzip des Steuerrechts, das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (s. § 3 Rz. 40 ff.), wird konkretisiert in einer wirtschaftlich orientierten Begrifflichkeit und Teleologie, die das Steuerrecht als selbstständigen Rechtszweig56 von dem übrigen Verwaltungsrecht abheben, wo wirtschaftliche Begriffe eine weniger herausragende Rolle spielen oder wo wirtschaftliche Begriffe wie etwa der des Einkommens gern vom Steuerrecht übernommen werden (s. Rz. 41). Die wirtschaftliche Orientierung des Steuerrechts ermöglicht es Ökonomen, das Steuerrecht kompetent anzuwenden. Allerdings muss die wirtschaftliche Orientierung des Steuerrechts bei seiner Anwendung stets auf juristische Methoden zurückgeführt werden. So ist die sog. wirtschaftliche Betrachtungsweise oder wirtschaftliche Auslegung des Steuergesetzes eine teleologische Methode zur Verwirklichung des Gesetzeszwecks, einen wirtschaftlichen Vorgang oder Zustand erfassen zu wollen (s. § 5 Rz. 70). Allgemein zielt die wirtschaftliche Betrachtungsweise in ihrer verwaltungsrechtlichen Funktion darauf ab, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gleichmäßig zu erfassen und damit die Steuergleichheit zu verwirklichen. d) Steuerrecht ist ebenso wie das Sozialrecht und das Subventionsrecht öffentliches Schuldrecht57. 29 Das Steuerschuldverhältnis (§§ 37 ff. AO) ist ein gesetzliches Schuldverhältnis, das ebenso wie die Schuldverhältnisse des Sozial- und Subventionsrechts vermögensrechtliche Ansprüche statuiert (s. § 6 Rz. 11). Dadurch bestehen zwischen dem Steuerrecht und Rechtsgebieten der sog. Leistungsverwaltung dogmatische Gemeinsamkeiten, die teils auf zivilrechtliche Institutionen zurückgreifen, teils eine eigenständige übergreifende Terminologie hervorbringen58 und die teils als verwaltungsrechtliche Besonderheiten z.B. die Dogmatik von Geldleistungsverwaltungsakten (s. § 21 Rz. 50 ff.) bewältigen müssen. Gegenüber dem gesetzlichen Anspruch einer Privatperson ist der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis wesentlich durch das Durchsetzungsgebot charakterisiert. Während die Privatperson auf ihren gesetzlichen Anspruch (als zivilrechtlich Unterhaltsberechtigte oder Sozialhilfeberechtigte) verzichten kann, zwingen Legalitätsprinzip und Gleichheitssatz den Steuergläubiger grds. dazu, den Steueranspruch durchzusetzen (s. § 21 Rz. 254). Die Rechtsstaatlichkeit lässt es auch nicht zu, die Verjährung eines Anspruchs disponibel zu gestalten. Deshalb begründet die Verjährung nicht lediglich eine Einrede; sie bewirkt vielmehr das Erlöschen des Anspruchs (s. § 6 Rz. 16). Gleichwohl deutet die Verwendung des Begriffs „Steuerschuldrecht“ in der Abgabenordnung auf viele Gemeinsamkeiten des Steuerschuldrechts mit dem zivilrechtlichen Schuldrecht hin59. Dies ist wesentlich Enno Becker, dem Schöpfer der Reichsabgabenordnung, zuzuschreiben (s. Rz. 53). 4. Verhältnis des Steuerrechts zu anderen Rechtsgebieten Das Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung ist mit vielen Rechtsgebieten mehr oder weniger eng ver- 30 flochten. Im Bereich des Internationalen Steuerrechts hat es partiell die Qualität von Völkerrecht (s. § 2 AO) und Europarecht (dazu ausf. § 4). Die Tatbestände des Steuerstrafrechts und des Steuer56 Zum Steuerrecht als selbständigem Zweig des Verwaltungsrechts mit historischen Hinweisen Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 18 ff. 57 S. Tipke, StRO I2, 36 f. 58 Zum Einkommen als zentralem Begriff des öffentlichen Schuldrechts § 8 Rz. 49 ff. 59 Vgl. Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 93 ff.
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§ 1 Rz. 31
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
ordnungswidrigkeitenrechts sind als sog. Blankettvorschriften dadurch gekennzeichnet, dass sie ohne Rückgriff auf das Steuerrecht nicht angewendet werden können (s. § 23 Rz. 22). Enge Bezüge in der Lösung von Grundfragen bestehen auch zwischen Steuerrecht und Wirtschaftsverwaltungsrecht auf den Gebieten des Wirtschaftsverfassungsrechts, namentlich des Grundrechtsschutzes von Unternehmen, der Wirtschaftslenkung (zu direkten/indirekten Subventionen s. § 19 Rz. 5) und des Rechtsschutzes (z.B. Konkurrentenklage, s. § 22 Rz. 126). Soweit i.Ü. Steuergesetze zur Lenkung eingesetzt werden, wird das Steuerrecht in der Rechtsordnung vielfältig vernetzt mit dem Umweltrecht (s. § 7 Rz. 111 ff.), dem Parteienrecht (s. § 20 Rz. 21 f.) und mit allen vom Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht (s. § 20) begünstigten Rechtsgebieten (z.B. Wissenschaftsrecht, Schulrecht, Denkmalschutzrecht). In einem ausführlicher zu behandelnden Verhältnis steht das Steuerrecht zum Zivilrecht und zum Sozialrecht. 4.1 Steuerrecht und Zivilrecht Literatur: Ball, Steuerrecht und Privatrecht, Theorie des selbständigen Steuerrechtssystems, 1924; Flume, Steuerwesen und Rechtsordnung, 1952 (Nachdruck: Köln 1986); Tipke, Steuerrecht und Bürgerliches Recht, JuS 1970, 149; Meincke, Bürgerliches Recht und Steuerrecht, JuS 1976, 693; Crezelius, Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, Habil., 1983; Walz, Die steuerrechtliche Herausforderung des Zivilrechts, ZHR 147 (1983), 281; Knobbe-Keuk, Das Steuerrecht – eine unerwünschte Quelle des Gesellschaftsrechts?, 1986; Schulze-Osterloh, Zivilrecht und Steuerrecht, AcP 190 (1990), 139; Koller, Privatrecht und Steuerrecht, Eine Grundlagenstudie zur Interdependenz zweier Rechtsgebiete, Habil., 1993; Koller, Privatrecht und Steuerrecht – Ein erschöpftes Thema?, ZBJV 131 (1995), 92; Klingelhöffer, Die Bedeutung des Steuerrechts bei der Auslegung und Anwendung zivilrechtlicher Normen, DStR 1997, 544; Schön, Die zivilrechtlichen Voraussetzungen steuerlicher Leistungsfähigkeit, StuW 2005, 247; Crezelius, Der Pflichtteilsanspruch zwischen Zivilrecht und Steuerrecht, in FS Bengel/Reimann, 2012, 33; A. Meyer, Steuerliches Leistungsfähigkeitsprinzip und zivilrechtliches Ausgleichssystem, Habil., 2013; Kemmler, Geldschulden im öffentlichen Recht, Habil., 2015. 31
Obwohl Steuerrecht öffentliches Recht ist, bestehen enge Beziehungen zwischen Steuerrecht und Zivilrecht, die seit jeher kontrovers diskutiert werden. Die namentlich von Crezelius60 vertretene Auffassung bewertet das Steuerrecht als Annexrecht oder Folgerecht des Zivilrechts. Mithin lebe das Steuerrecht weitgehend von der Teleologie und Dogmatik des Zivilrechts. Das Zivilrecht sei dem Steuerrecht prävalent61. Die herrschende, namentlich von Tipke62 fundierte Meinung, der sich auch das BVerfG63 angeschlossen hat, entwickelt das Verhältnis des Steuerrechts zum Zivilrecht64 wie folgt:
60 Crezelius, Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, 1983 (dazu krit. SchulzeOsterloh, StuW 1986, 74 u. AcP 190 [1990], 139 ff.); ausgewogener Crezelius, Steuerrecht II2, 1994, 6 ff. Vermittelnd Schön, StuW 2005, 247: Teleologie und Systematik des Steuerrechts drängten zur „autonomen“ Auslegung des Steuerrechts. Jedoch sei die „Begriffswahl des historischen Gesetzgebers“ zu berücksichtigen. 61 So leitete insb. Flume, Steuerwesen und Rechtsordnung, 1952 (Nachdruck: 1986) aus einem Gebot der Kongruenz des Steuerrechts zur allgemeinen Rechtsordnung einen Vorrang der Zivilrechtsordnung vor der Steuerrechtsordnung ab, leugnete allerdings nicht, dass das Steuerrecht eine eigenständige, vom Zivilrecht abgelöste Begrifflichkeit statuieren kann (1986, 24). Aus Schweizer Sicht hat Koller, Privatrecht und Steuerrecht, 1993, 395 f., 447 ff.; Koller, ZBJV 131 (1995), 92 (102 f.), die These aufgestellt, dass das Steuerrecht grundlegende zivilrechtliche Ordnungsstrukturen nicht unterlaufen dürfe und vom Zivilrecht vorgegebene Grundinstitutionen und Leitbilder mit imperativen Charakter zu beachten habe. Dabei seien die Wertungen beider Teilrechtsordnungen für den jeweiligen konkreten Problemkreis zuvor gegeneinander abzuwägen. 62 StRO I2, 43 ff. 63 BVerfG v. 27.12.1991 – 2 BvR 72/90 (Kammerbeschluss), BStBl. II 1992, 212 ff. = StuW 1992, 186 ff. (m. Anm. Meincke). 64 Die in der Literatur vertretenen Ansätze hat umfassend aufbereitet: A. Meyer, Steuerliches Leistungsfähigkeitsprinzip und zivilrechtliches Ausgleichssystem, 2013, 32 ff.
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4. Verhältnis des Steuerrechts zu anderen Rechtsgebieten
Rz. 35 § 1
a) Entsprechend dem verfassungsrechtlich abgeleiteten Fundamentalprinzip der Besteuerung nach der 32 wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit knüpfen Steuergesetze durchweg an wirtschaftliche Vorgänge oder Zustände an, wie Einkommen, Vermögen, Bereicherung, Verbrauch, Aufwand. Diese wirtschaftlichen Vorgänge und Zustände werden weitgehend durch das Zivilrecht gestaltet. Das Zivilrecht liefert die Institutionen für den Rechtsverkehr, der für die an ihm Beteiligten wirtschaftliche Ergebnisse hervorbringt, an die das Steuerrecht anknüpft65. Diese Anknüpfung an einen zivilrechtlich vorgegebenen wirtschaftlichen Vorgang oder Zustand66 bringt der steuergesetzliche Tatbestand unterschiedlich zum Ausdruck. Teils bezieht sich das Steuergesetz ausdrücklich auf zivilrechtliche Institutionen, z.B. auf das Eigentum 33 (§ 39 I AO; § 1 I Nr. 3 GrEStG), den Erwerb durch Erbfall i.S.d. § 1922 BGB (§ 3 I Nr. 1 ErbStG), durch Schenkung auf den Todesfall i.S.d. § 2301 BGB (§ 3 I Nr. 2 ErbStG), auf die Begriffe „Kaufvertrag“, „Auflassung“, „Meistgebot im Zwangsversteigerungsverfahren“ (§ 1 I GrEStG). Der Aufbau der vorgenannten Vorschriften verstärkt den zivilrechtlichen Bezug, indem der zivilrechtlich orientierte Tatbestand durch einen Tatbestand ergänzt wird, der erkennbar abweichend von der Zivilrechtslage an bestimmte wirtschaftliche Sachverhalte anknüpft (z.B. § 39 I AO im Verhältnis zu den Tatbeständen des § 39 II AO). Zum weit überwiegenden Teil verwenden jedoch die Steuergesetze Begriffe zivilrechtlicher Herkunft wie Vermietung, Verpachtung, Nießbrauch, Leibrente, Veräußerung, ohne eine Maßgeblichkeit des zivilrechtlichen Begriffsinhalts für den steuerlichen Tatbestand erkennbar zu machen.
b) Bei der Auslegung zivilrechtlich vorgegebener Begriffe ist zunächst davon auszugehen, dass es kei- 34 ne teleologische Prävalenz des Zivilrechts gibt; das dem Zivilrecht nebengeordnete Steuerrecht hat seine eigene Teleologie, die bei der Interpretation von Steuergesetzen zu entfalten ist67. Dazu konstatiert das BVerfG, dass steuerrechtliche Tatbestandsmerkmale, auch wenn sie einem anderen Rechtsgebiet entnommen sind, nach dem steuerrechtlichen Bedeutungszusammenhang, nach dem Zweck des jeweiligen Steuergesetzes und dem Inhalt der Einzelregelung zu interpretieren seien; es bestünde weder eine Vermutung für ein übereinstimmendes noch für ein abweichendes Verständnis68. Damit bestätigt das BVerfG69 für das Steuerrecht den allgemeinen methodologischen Ansatz, dass nach Zweck und Wertung der anzuwendenden Norm zu bestimmen ist, ob und ggf. wie viel die anzuwendende Norm von dem Regelungsinhalt des anderen Rechtsgebiets übernommen hat. Diese Fragen stellen sich in allen Rechtsgebieten (z.B. Relevanz des zivilrechtlichen Eigentumsbegriffs für den Diebstahlstatbestand) und eben auch im Steuerrecht, wo die sog. wirtschaftliche Betrachtungsweise (besser: wirtschaftliche Auslegung) als teleologische Methode die Maßgeblichkeit zivilrechtlicher Regelungsinhalte zu begrenzen hat (s. § 5 Rz. 70 ff.). aa) Danach ist der zivilrechtliche Regelungsinhalt maßgeblich, wenn er wirtschaftliche Vorgänge oder Zu- 35 stände konstituiert, an die das Steuergesetz anknüpft. Zivilrechtlich zwangsläufige Unterhaltspflichten mindern die steuerliche Leistungsfähigkeit und sind deshalb im Steuerrecht realitätsgerecht zu berücksichtigen (im Weiteren § 8 Rz. 75). Dort, wo Steuergesetze ausdrücklich an zivilrechtliche Institutionen anknüpfen, hat der Rechtsanwender die Rezeption der zivilrechtlichen Institution zu beachten. Er darf beispielsweise die abschließende Aufzählung von Kapitalgesellschaftsformen in § 1 I Nr. 1 KStG nicht um die Publikums-GmbH & Co. KG erweitern (s. § 11 Rz. 24). Jedoch kann auch bei einer strikten Anknüpfung an 65 So auch Crezelius, Steuerrecht II2, 1994, 6; A. Meyer, Steuerliches Leistungsfähigkeitsprinzip und zivilrechtliches Ausgleichssystem, 2013, 15 ff. 66 Dazu ausf. Tipke, StRO I2, 44 f. 67 BVerfG v. 27.12.1991 – 2 BvR 72/90 (Kammerbeschluss), BStBl. II 1992, 212 (213), im Anschluss an Ruppe, Schulze-Osterloh, Tipke/Lang: Zivilrecht und Steuerrecht seien nebengeordnete, gleichrangige Rechtsgebiete, „die denselben Sachverhalt aus einer anderen Perspektive und anderen Wertungsgesichtspunkten beurteilen“; Sieker, FS P. Kirchhof, 2013, Bd. 2, 1667 (1668 f.). 68 BVerfG v. 27.12.1991 – 2 BvR 72/90 (Kammerbeschluss), BStBl. II 1992, 212 (214) unter Berufung auf Kruse, Ruppe, Tipke/Lang. 69 Unter Berufung auf Engisch, Einführung in das juristische Denken11, hrsgg. u. bearb. v. Würtenberger/ Otto, 2010, 140 ff. (m.w.N.), 274 (sog. Relativität der Begriffe: Begriffe haben in verschiedenen Rechtssätzen jeweils eine verschiedene Bedeutung).
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§ 1 Rz. 36
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
zivilrechtliche Institutionen eine spezifisch steuerrechtliche Würdigung des Sachverhalts geboten sein, so etwa im Falle wirtschaftlicher Betätigung vor dem Entstehen einer juristischen Person (s. § 11 Rz. 26) oder im Falle von Steuersparkonstruktionen70. Vor diesem Hintergrund hat es nicht überzeugt, dass der BFH in Änderung seiner langjährigen früheren Rspr. eine an den weichenden Erbprätendenten in Ausführung eines Erbvergleichs gezahlte Abfindung mit einer rein zivilrechtlichen Begründung nicht mehr als Erwerb von Todes wegen nach § 3 I Nr. 1 ErbStG erfassen wollte71. 36
bb) In aller Regel aber verwenden Steuergesetze Begriffe zivilrechtlicher Herkunft a priori nicht in Übereinstimmung mit dem Zivilrecht, sondern sie sind auf den steuerrechtlichen Normzweck zugeschnitten. Der Katalog von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung in § 21 I EStG enthält nicht ausschließlich Vermietungen und Verpachtungen im zivilrechtlichen Sinne. In dieser Weise sind die meisten Begriffe als spezifisch steuerrechtliche zu erkennen, auch wenn sie in anderen Rechtsgebieten verwendet werden wie der in § 15 II EStG definierte Begriff des Gewerbebetriebs, wie die Begriffe Unternehmen (steuerrechtlich insb. spezifiziert durch den Begriff der Mitunternehmerschaft), Rente, Nießbrauch, Zinsen, wie Begriffe des Handels- und Gesellschaftsrechts (Lieferung, Werklieferung, Einlage, Entnahme, Gewinnanteil) sowie des Arbeitsrechts, dessen Arbeitnehmerbegriff von dem steuerrechtlichen erheblich abweicht.
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Indessen gebietet auch die Interpretation spezifisch steuerrechtlicher Begriffe, dass der Rechtsanwender genau erklärt, welche Wirkungen die zivilrechtliche Regelung auf den wirtschaftlichen Vorgang oder Zustand entfaltet. Dazu ist es erforderlich, dass die Zivilrechtslage selbst genau eruiert wird. Wenn etwa eine verdeckte Gewinnausschüttung infolge Verletzung eines Wettbewerbsverbots durch den beherrschenden Gesellschafter angenommen wird, dann ist zuvor das zivilrechtliche Bestehen eines solchen Wettbewerbsverbots zu klären (s. § 11 Rz. 86). Bei der Bestimmung von Einkünften aus einer Mitunternehmerschaft wirkt sich das Gesellschaftsrecht maßgeblich aus, weil die zivilrechtliche Regelung der Rechtszuständigkeiten auch die wirtschaftliche Zurechnung der Vorgänge mitkonstituiert (s. § 10 Rz. 31 ff.). Gleichwohl darf der Rechtsanwender bei dem Rückgriff auf das Zivilrecht die Aufgabe, ein Steuergesetz zu interpretieren, nicht aus dem Auge verlieren. So hätte die Regelung des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 2 EStG zur doppelstöckigen Personengesellschaft auch de lege lata gewonnen werden können, weil es nach steuerrechtlichem Verständnis auf die Unmittelbarkeit von Vergütungen nicht ankommen kann.
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Neben dem Einfluss des Zivilrechts auf das Steuerrecht lässt sich umgekehrt auch ein Einfluss des Steuerrechts auf das Zivilrecht registrieren72. Personen und wirtschaftliche Vorgänge sind mit Steuern unterschiedlich belastet. Dies veranlasst Bürger und Unternehmen dazu, Vertragsgestaltungen und Rechtsformen so zu wählen, dass die Steuerlasten möglichst gering sind. Zum Abbau der Spannungen zwischen dem Zivil- und dem Steuerrecht hat beigetragen, dass die wirtschaftliche Betrachtungsweise auch in das Zivilrecht eingedrungen ist. I.Ü. kann ein Steuerrecht, das seine eigene Teleologie missachtet, das Zivilrecht erheblich stören (s. Rz. 47).
70 So BVerfG v. 27.12.1991 – 2 BvR 72/90 (Kammerbeschluss), BStBl. II 1992, 212 (213) zum Fall eines Bauherrenmodells: „Die Grenzen der Auslegung sind nicht deshalb überschritten, weil § 1 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG ersichtlich an zivilrechtliche Rechtsgeschäfte anknüpft, das Finanzgericht den Gegenstand des Erwerbs aber nach dem Erfolg beurteilt, der aufgrund der zivilrechtlichen Gestaltung in der Person des Erwerbers letztlich eintreten soll“ (3. LS). 71 BFH v. 4.5.2011 – II R 34/09, BStBl. II 2011, 725 (726); der Gesetzgeber hat daraufhin systematisch folgerichtig den erbschaftsteuerlichen Tatbestand des § 3 II Nr. 4 ErbStG mit dem StUmgBG v. 23.6.2017, BGBl. I 2017, 1682 (1688) erweitert, s. dazu näher § 15 Rz. 21. 72 Dazu Walz, ZHR 147 (1983), 281 ff.; Knobbe-Keuk, Das Steuerrecht – eine unerwünschte Quelle des Gesellschaftsrechts?, Köln 1986; Schulze-Osterloh, AcP 190 (1990), 139 ff.; Meincke, AcP 190 (1990), 358 (insb. zum Finanzierungsleasing); eingehend zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen grundlegende Wertungen des Steuerrechts auf das zivilrechtliche Ausgleichssystem Einfluss nehmen können, A. Meyer, Steuerliches Leistungsfähigkeitsprinzip und zivilrechtliches Ausgleichssystem, 2013, passim.
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4. Verhältnis des Steuerrechts zu anderen Rechtsgebieten
Rz. 39 § 1
4.2 Steuerrecht und Sozialrecht Literatur: Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993; Gutachten der ExpertenKommission „Alternative Steuer-Transfer-Systeme“, Probleme einer Integration von Einkommensbesteuerung und steuerfinanzierten Sozialleistungen, Heft 59 der BMF-Schriftenreihe, 1996; Kaltenborn, Abgaben u. Sozialtransfer in Deutschland, 2003; Jachmann, Nachhaltige Entwicklung u. Steuern, 2003, 275 ff.; Mitschke, Abstimmung von steuerfinanzierten Sozialleistungen u. Einkommensteuer durch Integration, in FS M. Rose, 2003, 463; Hinz, Einkommensteuerrecht u. Sozialrecht – Gegensätzlichkeit u. Nähe, 2004; Mellinghoff (Hrsg.), Steuern im Sozialstaat, DStJG 29 (2006) mit Beiträgen v. Raupach, Kube, F. Kirchhof, Wenner, Brandis, D. Felix, P. Axer, Richter, Myßen, Otto, M. Lang; Seiler, Staatliches Nehmen – Staatliches Geben – Zum wechselbezüglichen Selbststand von Steuer- u. Sozialrecht, AöR 136 (2011), 95 ff.; Leibohm, Bedarfsorientierung als Prinzip des öffentlichen Finanzrechts – Zur wechselseitigen Abstimmung von Steuerrecht und Sozialrecht, Diss., 2011; Ott/Schürmann/Werding, Schnittstellen im Sozial-, Steuer- und Unterhaltsrecht, 2012; Jahresberichte über das Sozialrecht in der Rspr. des BFH in JbSozR (Bearbeiter: zuletzt Schuler-Harms/Isbarn, JbSozR 36 [Jahrgang 2014], 383; Kemmler, JbSozR 37 [Jahrgang 2015], 517; 38 [Jahrgang 2016], 555).
a) Die Beziehungen zwischen Steuerrecht und Sozialrecht bewegen sich zunächst auf verfassungs- 39 rechtlicher Ebene: Soweit der Sozialstaat von Verfassungs wegen das materielle sog. sozial-kulturelle Existenzminimum zu gewährleisten hat73, wirken die sozialrechtlichen Maßstäbe auf das Steuerrecht ein74: Der Staat darf dem Bürger nicht etwas nehmen, was er ihm auf der anderen Seite (wieder) zu geben hat, wenn es ihm fehlt. Dem hat das BVerfG im Grundsatz entsprochen: „Die Höhe des steuerlich zu verschonenden Existenzminimums hängt von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen und dem in der Rechtsgemeinschaft anerkannten Mindestbedarf ab. Der Steuergesetzgeber muss dem Einkommensbezieher von seinen Erwerbsbezügen mindestens das belassen, was er dem Bedürftigen zur Befriedigung seines existenznotwendigen Bedarfs aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellt“75. Der Sozialstaat und das ihm immanente Subsidiaritätsprinzip76 werden auf den Kopf gestellt, wenn die Steuerfreiheit des Existenzminimums77 unter dem Niveau des Sozialhilferechts angesetzt und damit der sich selbst versorgende Steuerzahler schlechter gestellt wird als der Sozialhilfeempfänger78. Der soziale Steuerstaat gefährdet seine finanzielle Grundlage, zerstört die Steuermoral, öffnet der Ausbeutung der sozialstaatlichen Einrichtungen Tür und Tor, ermutigt die Nichtbedürftigen zum Trittbrettfahren, wenn er den, der für sich selbst und die Gesellschaft erwirbt, nicht besser stellt als den, der von der Gesellschaft ohne eigenen Beitrag lebt.
73 Formuliert in § 9 SGB I: „Wer nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften seinen Lebensunterhalt zu bestreiten oder in besonderen Lebenslagen sich selbst zu helfen, und auch von anderer Seite keine ausreichende Hilfe erhält, hat ein Recht auf persönliche und wirtschaftliche Hilfe, die seinem besonderen Bedarf entspricht, ihn zur Selbsthilfe befähigt, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht und die Führung eines menschenwürdigen Lebens sichert“. Zur verfassungsrechtlichen Absicherung s. BVerfG v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 u.a., BVerfGE 125, 175 (223 ff.) – zum verfassungsrechtlich gebotenen Mindestumfang von Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV). 74 Dazu umfassend die Habilitationsschrift von Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993; s. auch Seiler, AöR 136 (2011), 95 (101 ff.); Leibohm, Bedarfsorientierung als Prinzip des öffentlichen Finanzrechts, 2011, 184 ff. 75 LS 2 des Beschlusses des BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91 u.a., BVerfGE 87, 153 (dazu § 3 Rz. 160 f.; § 8 Rz. 81 ff.). 76 Dazu umfassend Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, 1968. 77 Krit. gegenüber dem Abzug der das Existenzminimum sichernden Aufwendungen von der einkommensteuerlichen Bemessungsgrundlage aber Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem Bundesverfassungsgericht, Diss., 2011, passim. 78 S. auch BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (155).
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§ 1 Rz. 40 40
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
b) Obgleich das Sozialrecht auf verfassungsrechtlicher Ebene auf das Steuerrecht einwirkt, sind Sozialrecht und Steuerrecht gleichrangig79. Das bedeutet, dass das Steuerrecht sozialrechtlich relevante Sachverhalte möglichst in Abstimmung mit dem Sozialrecht, jedoch eigenständig und ungebunden an das Sozialrecht zu regeln hat80. Das Steuerrecht ist kein Annexrecht zum Sozialrecht. Wenn z.B. die Sozialhilfe so stark gekürzt wird, dass sie das verfassungsrechtlich gewährleistete Existenzminimum nicht mehr abdeckt, dann ist der Gesetzgeber nicht befugt, dem Sozialrecht im Steuerrecht nachzufolgen; er hat vielmehr den verfassungswidrigen Zustand des Sozialhilferechts zu beseitigen.
41 c) Die grundlegende Wesensverwandtschaft zwischen Sozialrecht und Steuerrecht ist darin begrün-
det, dass das Fundamentalprinzip der Besteuerung, die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, sein Spiegelbild im Sozialrecht hat81: Das Steuerrecht nimmt den wirtschaftlich Leistungsfähigen Mittel; das Sozialrecht gewährt den wirtschaftlich Bedürftigen Mittel. Bedürftigkeit ist negative Leistungsfähigkeit. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Indikatoren der steuerrechtlichen Leistungsfähigkeit und der sozialrechtlichen Bedürftigkeit aufeinander abzustimmen. Zahlreiche Sozialleistungsgesetze (Sozialgesetzbuch, Bundeskindergeldgesetz, Bundeselterngeldgesetz, Bundesausbildungsförderungsgesetz, Wohngeldgesetz, Wohnungsbau-Prämiengesetz etc.) verweisen auf den steuerrechtlichen Einkommensbegriff und modifizieren ihn sehr unterschiedlich, so dass eine unübersehbare Vielheit von Einkommensbegriffen und damit auch ein starkes Bedürfnis nach Vereinheitlichung entsteht82. Die sozialgesetzlichen Modifikationen des steuerrechtlichen Einkommensbegriffs beruhen im Wesentlichen darauf, dass der sozialhilferechtliche Einkommensbegriff auf die bedarfsorientierten Nettogrößen (unter Anrechnung von Steuern) zugeschnitten ist, während der steuerrechtliche Einkommensbegriff primär an die Einkommensentstehung anknüpft83. Demnach wäre der Weg zu einer Harmonisierung der Einkommensbegriffe eröffnet, wenn der steuerrechtliche Einkommensbegriff die Bedarfssituation des Stpfl. so berücksichtigen würde, wie es das Leistungsfähigkeitsprinzip gebietet (§ 3 Rz. 40 ff.; § 8 Rz. 70 ff.). Hieran zeigt sich die Spiegelbildlichkeit von steuerlicher Leistungsfähigkeit und sozialrechtlicher Bedürftigkeit84. 42 d) Schließlich ist das Steuerrecht mit dem Sozialrecht auch durch die steuergesetzlichen Sozialzweck-
normen (s. § 3 Rz. 21) verbunden, soweit diese in Fällen der Bedürftigkeit gezielte Steuerentlastungen gewähren. Im Allgemeinen sollten bedürftige Bürger durch sozialrechtliche Transferzahlungen finanziell gefördert werden, weil das steuerrechtliche Instrumentarium die Bedürftigsten, nämlich die Einkommens- und Vermögenslosen, gar nicht zu erfassen vermag. Besondere Abzüge von der Bemessungsgrundlage sind zur Förderung nach dem Bedürftigkeitsprinzip am wenigsten geeignet, weil sie dem Steuerzahler mit dem höchsten Einkommen im Widerspruch zum Bedürftigkeitsprinzip den höchsten finanziellen Vorteil verschaffen. 43 Gänzlich verfehlt ist indessen die Bewertung des Kinderfreibetrags als Sozialsubvention; der Kinder-
freibetrag ist Pauschale für den existenznotwendigen Regelbedarf des Kindes und unentbehrlicher 79 Tipke, StRO I2, 39, gegen J. Martens, StVj 1989, 199 ff., der einen „Vorrang des Sozialrechts“ damit begründet, dass der Gesetzgeber Regeln, die er im Sozialrecht festgelegt habe, konsequenterweise auch im Steuerrecht gelten lassen müsse. 80 Eingehend Ott/Schürmann/Werding, Schnittstellen im Sozial-, Steuer- und Unterhaltsrecht, 2012, 23 ff., 102 ff. 81 Tipke, StRO I2, 39 f. (m. zahlr. N.). Zur Diskussion über die Geltung des Leistungsfähigkeitsprinzips in der Sozialversicherung Dickhöfer, Zufluss- und Entstehungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, Diss., 2011, 102 ff., 133 ff. 82 IFSt, Einkommensbegriffe und Einkommensermittlung in Transfergesetzen, Brief Nr. 252, 1985; Franz, StuW 1988, 17; Burger, Der Einkommensbegriff im öffentlichen Schuldrecht, 1991; Brandis, DStJG 29 (2006), 93 (113 ff.); Leibohm, Bedarfsorientierung als Prinzip des öffentlichen Finanzrechts, 2011, 71 ff. Eine tabellarische Übersicht der verschiedenen Einkommensbegriffe findet sich bei Ott/Schürmann/ Werding, Schnittstellen im Sozial-, Steuer- und Unterhaltsrecht, 2012, 83 f. 83 Dazu ausf. Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993, 137 ff. 84 Dazu Schmal, Der Abzug von Vorsorgeaufwendungen im Einkommensteuerrecht, Diss., 2013, 84 ff.
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5. Steuerrecht und „Einheit der Rechtsordnung“
Rz. 48 § 1
Baustein für die Steuerfreiheit des verfassungsrechtlich gewährleisteten Existenzminimums (s. § 8 Rz. 93). Ein Dualismus zwischen Kindergeld und Kinderfreibetrag85 besteht nur insofern, als im Umfange staatlicher Finanzierung des Existenzminimums ein Kinderfreibetrag nicht erforderlich ist. 5. Steuerrecht und „Einheit der Rechtsordnung“ Literatur: Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, 1995; Tipke, Über die Einheit der Steuerrechtsordnung, in FS Friauf, 1996, 741; Felix, Einheit der Rechtsordnung, Zur verfassungsrechtlichen Relevanz einer juristischen Argumentationsfigur, 1998; Lamprecht, Verschränkungen zwischen Unternehmensrecht und Unternehmensteuerrecht – Zur Einheit der Rechtsordnung und dem Verhältnis beider Rechtsgebiete zueinander, in FS Blaurock, 2013, 291.
Das Steuerrecht ist Teil der Gesamtrechtsordnung. Wesentliches Element einer Ordnung ist die Wi- 44 derspruchsfreiheit ihrer Grundwertungen des Rechts und der Gerechtigkeit: Wenn der Gesetzgeber solche Grundwertungen in einem Teil der Rechtsordnung festgelegt hat, dann muss er sie in anderen Teilen der Rechtsordnung beachten. Diese wertungsmäßige Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als Ordnungselement des Rechts wird mit dem Postulat „Einheit der Rechtsordnung“ zum Ausdruck gebracht86. Die „Einheit der Rechtsordnung“ ist in folgenden Fällen von Bedeutung: a) Die Regelungen der verschiedenen Rechtsgebiete sind von einer einzigen, rechtsgebietübergreifend wirksamen Grundwertung, insb. von einer verfassungsrechtlichen Grundwertung betroffen. Demzufolge sind die betroffenen Regelungen in einer sog. Werteinheit verklammert. Die „Werteinheit der Rechtsordnung“ prägt insb. die Beziehungen zwischen Steuerrecht und Sozialrecht, soweit das sozialrechtliche Bedürfnisprinzip als Spiegelbild zum steuerrechtlichen Leistungsfähigkeitsprinzip Platz greift (s. Rz. 41). So ist der Gesetzgeber insb. verpflichtet, die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Existenzminimums im Sozialhilferecht wie im Steuerrecht zu vollziehen, wobei ein über dem Sozialhilferecht liegendes steuerrechtliches Existenzminimum eine auch im Sozialrecht gültige Grundwertung befriedigt (s. Rz. 39).
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b) Die „Einheit der Rechtsordnung“ wird auch gestört, wenn das Steuerrecht Grundwertungen anderer Rechtsgebiete nicht beachtet, die jedoch nach der eigenen Teleologie des Steuerrechts zu beachten sind. So mindern z.B. zivilrechtlich zwangsläufige Unterhaltspflichten die steuerliche Leistungsfähigkeit. Wenn sie nicht realitätsgerecht im Steuerrecht berücksichtigt werden, so wird dadurch nicht nur die steuerrechtliche Grundwertung des Familien-Nettoprinzips verletzt (s. § 8 Rz. 75 f.), sondern auch die „Einheit der Rechtsordnung“ negiert87. Demnach gerät die „Einheit der Rechtsordnung“ immer dann in Gefahr, wenn die Steuernorm wirtschaftliche Ergebnisse von Regelungen anderer Rechtsgebiete entgegen der eigenen Grundwertung unberücksichtigt lässt.
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Die Missachtung der steuerrechtlichen Grundwertung führt häufig zu erheblichen Störungen der vom 47 Steuerrecht betroffenen Rechtsgebiete88. So veranlasst die ungleiche steuerliche Belastung der verschiedenen Unternehmensformen (s. § 13 Rz. 1 ff.) zur Gestaltung gesellschaftsrechtlich zweifelhafter Gesellschaftsformen. c) Am schwierigsten ist die „Einheit der Rechtsordnung“ in den Fällen der Wertekonkurrenz einzuhalten. Das Steuerrecht darf Grundwertungen anderer Teile nicht durchkreuzen oder unterlaufen, sofern dies durch die eigene Teleologie nicht hinreichend gerechtfertigt ist. Demnach muss eine „Werteabwägung“ 85 Dazu ausf. Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993, 239 ff.; krit. zur Kombination von Kindergeld und Kinderfreibetrag etwa Mellinghoff, Referat 66. DJT, 2006, Q 95 f.; Leibohm, Bedarfsorientierung als Prinzip des öffentlichen Finanzrechts, 2011, 204 ff. Zu den Einkommensschwellen Ott/ Schürmann/Werding, Schnittstellen im Sozial,- Steuer- und Unterhaltsrecht, 2012, 127 f. 86 Für das Steuerrecht insb. Tipke, StRO I2, 57 ff.; Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, 142 ff.; zur verfassungsrechtlichen Fundierung P. Kirchhof, StuW 2000, 316; A. Meyer, Steuerliches Leistungsfähigkeitsprinzip und zivilrechtliches Ausgleichssystem, 2013, 56 ff., 63 ff. 87 S. Zeidler, Ehe und Familie, in Benda/Maihofer/Vogel, Hdb. des Verfassungsrechts der BRD2, 1995, 555 (604). 88 Dazu Raupach, FS Tipke, 1995, 105.
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§ 1 Rz. 49
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
vorgenommen werden89, um die im Schrifttum häufig heftig gerungen wird. Beispiele hierfür sind die Abzugsverbote für Geldstrafen, Geldbußen (s. § 8 Rz. 294), Schmier- und Bestechungsgelder (s. § 8 Rz. 299). Das Nettoprinzip hat hier gegenüber den Wertungen des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts zurückzutreten, um die dort angeordneten Sanktionen für rechtswidriges Verhalten nicht durch steuerliche Abzugsfähigkeit zu entkräften.
6. Gebiete und Gesetze des allgemeinen Steuerrechts 6.1 Das allgemeine Steuerrecht im Überblick 49
Das allgemeine Steuerrecht umfasst drei Teile. Neben den Grundlagen der Steuerrechtsordnung (s. Rz. 50 f.) umfasst es das allgemeine Steuerschuldrecht (s. Rz. 63 ff.) und das Steuerverfahrensrecht (s. Rz. 67 ff.).
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Die Grundlagen der Steuerrechtsordnung werden weitgehend durch das Verfassungsrecht bestimmt. Das Steuerrecht wird zunächst durch den Steuerbegriff (s. § 2 Rz. 9 ff.) abgegrenzt, der zwar in der Abgabenordnung (§ 3 I AO) normiert ist, jedoch hauptsächlich für die Anwendung des Finanzverfassungsrechts Bedeutung hat, das für Steuern gilt. Dieses regelt in den Art. 105–108 GG die Aufteilung der steuerlichen Staatsgewalten und der Steuerhoheiten (s. § 2 Rz. 1 ff.) zwischen Bund und Ländern. Außerhalb der Finanzverfassung gibt es keine steuerspezifischen Bestimmungen des Grundgesetzes (s. § 2 Rz. 7). Es entspricht jedoch dem Charakter des Steuerrechts als öffentlichem Eingriffsrecht (s. Rz. 27), dass die Grundrechte, besonders Art. 1–3; 6; 12–14 GG, und die Strukturprinzipien der Verfassung, besonders das Rechtsstaatsprinzip und das Sozialstaatsprinzip das rechtsstaatliche System des Steuerrechts tragen (s. § 3).
51 Weitere Gebiete des Grundlagenteils sind die steuerliche Rechtsquellenlehre (s. § 5 Rz. 1 ff.), die sich
mit dem am rechtsstaatlichen Legalitätsprinzip orientierten Gesetzesbegriff (§ 4 AO) und mit den Arten von Rechtsnormen des Steuerrechts befasst, die Anwendung der juristischen Methodenlehre auf die Auslegung und Fortbildung von Steuergesetzen (s. § 5 Rz. 46 ff.) sowie die allgemeine Dogmatik und Begrifflichkeit des Steuerrechtsverhältnisses (s. § 6 Rz. 1 ff.). 6.2 Die Abgabenordnung als Teilkodifikation (Mantelgesetz) des Steuerrechts 52 Das bedeutendste Gesetz des Steuerrechts ist die Abgabenordnung, eine Teilkodifikation des allgemei-
nen Steuerrechts, die auch als Mantelgesetz des Steuerrechts bezeichnet wird. Sie „zieht“ diejenigen Materien „vor die Klammer“, die für alle oder doch mehrere Steuerarten gemeinsam gelten. Dadurch werden die Einzelsteuergesetze entlastet, Wiederholungen und widersprüchliche Regelungen vermieden. Sie regelt in ihrem Ersten Teil Grundbegriffe des Steuerrechts, sodann das Steuerschuldrecht (Zweiter Teil), das Steuerverfahren (§§ 16 ff. AO, sowie Dritter bis Siebenter Teil) und schließlich das nicht dem Steuerrecht angehörende Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht (Achter Teil). 53 Die geltende Abgabenordnung ist als AO 1977 am 1.1.1977 in Kraft getreten90 und hat die bis dahin
geltende Reichsabgabenordnung von 1919 abgelöst91. Die RAO geht auf einen im Sommer 1918 gefassten Beschluss des Reichsschatzamtes zurück, ein Mantelgesetz für das Steuerrecht zu schaffen, in dem die allgemeinen und sich zum Teil widersprechenden Vorschriften der Einzelsteuergesetze zusammengefasst werden sollten. Es war ein Glücksfall für die Steuergesetzgebung, dass mit dieser Aufgabe allein Enno Becker betraut wurde, der hauptamtlich Zivilrichter und nebenamtlich zwölf Jahre 89 Dazu Tipke, StRO I2, 49 ff.; s. auch Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, 110 ff. 90 AO 1977 v. 16.3.1976, BGBl. I 1976, 613. Materialien: EAO 1974, BT-Drucks. VI/1982; BR-Drucks. 23/71; BT-Drucks. 7/1979; BR-Drucks. 726/75; krit. zur AO 1977 Tipke, StKongrRep. 1976, 121. 91 Ausf. zur Entstehungsgeschichte der RAO u. AO 1977 HHSp/Musil, Einf. AO, u. zur RAO Cordes, Untersuchungen über Grundlagen und Entstehung der Reichsabgabenordnung vom 23.12.1919, Diss., 1971; BT-Drucks. VI/1982, 92 f.; Tipke, StRO I1, 32 ff.
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6. Gebiete und Gesetze des allgemeinen Steuerrechts
Rz. 55 § 1
(1906–1918) Richter am Oberverwaltungsgericht Oldenburg war, wo er u.a. auch mit Steuerstreitsachen befasst war. Enno Becker war deshalb kein betriebsblinder Steuerspezialist und ohne störende politische Vorgaben ausschließlich der juristischen Ordnungsaufgabe verpflichtet. Er erarbeitete in kurzer Zeit (November 1918 bis Sommer 1919) den Entwurf einer RAO, ohne sich auf ein wissenschaftliches Fundament stützen zu können92. Da die RAO zahlreiche systematische und terminologische Mängel aufwies, die zum Teil aus der Hast der Entwurfsarbeit zu erklären waren93, ersuchte der Bundestag die Bundesregierung 1963, das allgemeine Steuerrecht zu reformieren, dabei Systematik und Terminologie zu verbessern und die Abgabenordnung als Mantelgesetz wiederherzustellen. Dies geschah nach Jahren der Beratung94 mit dem Ergebnis der AO 1977. Mit dem Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens v. 18.7.201695 ist die AO 1977 in der 18. Legislaturperiode an die heutigen Bedürfnisse einer digitalen Finanzverwaltung angepasst worden (s. § 21 Rz. 5 ff., 183 ff.). Die Abgabenordnung ist kein Steuergrundgesetz. Die Grundnormen der Steuerrechtsordnung er- 54 geben sich aus der Verfassung (s. Rz. 50). Anders als etwa der Allgemeine Teil des Sozialgesetzbuchs enthält die AO wenig Grundsätzliches, die rechtsstaatlichen Grundsätze der Besteuerung werden nur bruchstückhaft (z.B. in den §§ 30; 85 AO) angesprochen96. Die Gliederung der Abgabenordnung ist im Ganzen akzeptabel, wenngleich auch nicht optimal, so wenn etwa Vorschriften zum Steuerrechtsverhältnis (§§ 33 ff. AO) und zur Rechtsanwendung (§§ 39 ff. AO) mit dem Steuerschuldrecht vermengt oder wenn grundlegende Vorschriften zum Verwaltungshandeln (§§ 118 ff. AO) hinter Vorschriften zum Verfahrensablauf (Beweismittel, Fristen, Termine) angeordnet werden97. Die Anpassung der AO an Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes ist teilweise missglückt98: So sind z.B. die steuerspezifischen Vorschriften über die Stpfl. (§§ 33 ff. AO) nicht mit den Regelungen über die Beteiligung am Verfahren (§§ 78 ff. AO; §§ 11 ff. VwVfG) abgestimmt worden. Die Korrekturvorschriften (§§ 130, 131 AO) sind für Steuerverwaltungsakte nur bedingt tauglich99. Nach wie vor fehlt ein in sich geschlossener und abgestimmter Abschnitt über die kooperativen Handlungsformen (sog. tatsächliche Verständigung, verbindliche Auskunft, Zusage, s. § 21 Rz. 14 ff.)100. Schließlich sind die datenschutzrechtlichen Informationsrechte der Stpfl. ungeachtet der geltenden EU-Datenschutzgrund-VO unzureichend ausgestaltet (s. § 21 Rz. 10, 18) Die Abgabenordnung (1977) gilt nicht für alle Steuern, sondern nach § 1 I AO nur für solche Steu- 55 ern (einschließlich Steuervergütungen), die durch Bundesrecht (Art. 105 GG) oder Recht der Europäischen Gemeinschaften geregelt werden, soweit sie durch Bundesfinanzbehörden oder Landesfinanzbehörden verwaltet (Art. 108 GG) werden (s. dazu § 2 Rz. 73 f.). Für Realsteuern (§ 3 II AO) gilt die Abgabenordnung nach § 1 I AO insoweit, wie sie durch Landesfinanzbehörden (Finanzämter) verwaltet werden; diese Verwaltung erstreckt sich auf das Verfahren zur Festsetzung und evtl. zur Zerlegung des Steuermessbetrages (§§ 22 I; 184 III; 185 AO). Außer in den Stadtstaaten obliegt die Festsetzung, Erhebung und Beitreibung dieser Steuern den steuerberechtigten Gemeinden (s. Art. 108 IV 2 GG); insoweit regelt § 1 II AO den Anwendungsbereich der Abgabenordnung. 92 Dazu ausf. Cordes, Untersuchungen über Grundlagen u. Entstehung der RAO, 1971; Tipke, StuW 1990, 74. 93 Dazu Tipke, StbJb. 1968/69, 69 ff.; Tipke, AöR 94 (1969), 224 ff., 235 ff. 94 Siehe nur BT-Drucks. 7/79 v. 25.1.1973 (93: Übernahme der BT-Drucks. VI/1982). 95 Gesetz v. 18.7.2016, BGBl. I 2016, 1679. 96 Vgl. Tipke, StRO I2, 109; J. Lang, Steuergesetzbuch, 1993, §§ 3–7 (Grundsätze der Besteuerung). 97 Unzutreffend die Abschnittsüberschrift „Verfahrensgrundsätze“ für die §§ 78–117 AO u. signifikant für das Grundsatzdefizit; vgl. i.E. Kritik u. Vorschläge von Tipke, FR 1970, 240; Tipke, StuW 1971, 96; sowie die Gliederung in Grundvorschriften u. Vorschriften der einzelnen Verfahrensstationen v. J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, 1993, 349 ff. 98 S. i.E. Tipke, StbKongrRep. 1976, 121; Kruse, JbFSt. 1976/77, 53; Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1991, 212 f. 99 Vgl. hierzu J. Lang, Steuergesetzbuch, 1993, 219 ff. 100 Eine Liste der nach wie vor verbliebenen Defizite der AO findet sich bei Seer, StuW 2015, 315 (329 f.).
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§ 1 Rz. 56
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
Für die von den Gemeinden verwalteten kommunalen Steuern (insb. Vergnügungs-, Hunde-, Getränke-, Jagd-, Schankerlaubnis-, Fremdenverkehrssteuer) gilt die Abgabenordnung nur, soweit in den Landesgesetzen über die kommunalen Steuern die Abgabenordnung für anwendbar erklärt worden ist. Zu beachten sind insb. die Kommunalabgabengesetze der Länder101. Der sprachlich missglückte § 1 III AO will ausdrücken, dass für die Verwaltung der steuerlichen Nebenleistungen (§ 3 IV AO) nicht ein anderes Gesetz gilt, sondern auch die Abgabenordnung (insb. auch §§ 130; 131 AO).
6.3 Das Bewertungsgesetz als Teilkodifikation (Mantelgesetz) des Steuerrechts 56
Mit der Funktion der AO vergleichbar ist das Bewertungsgesetz. Das BewG ist durch Gesetz v. 10.8.1925, RGBl. I 1925, 214, eingeführt worden, um steuerartenübergreifend reichseinheitliche Bewertungsmaßstäbe zu normieren102. Die Konzeption der Einheitsbewertung baute das Reichsbewertungsgesetz v. 16.10.1934, RGBl. I 1934, 1035, weiter aus, indem es die einheitliche Wertfeststellung auf Realsteuern (Grund- und Gewerbesteuer) ausdehnte und einen periodisch wiederkehrenden Hauptfeststellungszeitpunkt einführte. Zweck der Einheitsbewertung war es, für alle an Vermögenswerte anknüpfenden Steuern in verwaltungsökonomischer Weise einen einheitlichen Wert (Einheitswert) festzustellen. Diese Verklammerungsfunktion hatte das BewG auch nach dem 2. Weltkrieg beibehalten103. Die Idee der Einheitsbewertung (s. §§ 19–109 BewG) ist heute allerdings gescheitert (s. § 16 Rz. 23). Sie könnte auf Dauer nur überzeugen, wenn der Belastungsgrund und das Belastungsziel aller erfassten Steuern im Wesentlichen vergleichbar wären und die von den jeweiligen einheitswertabhängigen Steuern erfassten Bewertungsobjekte im Einheitswertverfahren zumindest annäherungsweise vergleichbare Werte zugewiesen erhielten104. Bereits Albert Hensel hatte aber erkannt, dass jeder im Steuerrecht verwendete „Wert“ nur wegen seiner im Steuertatbestand zu erfüllenden Funktion von Bedeutung ist105, dass bei der Bewertung also zwischen den einzelnen Steuerarten differenziert werden kann und ggf. sogar muss106. Den objektiven Wert schlechthin, den (für alle Steuerarten maßgebenden) Wert „an sich“, gibt es nicht (s. auch § 15 Rz. 54, § 16 Rz. 6 ff.)107. Zudem vermittelte die verwaltungsaufwendige und rechtstechnisch komplizierte Einheitsbewertung des BewG nur den Schein von Präzision und führte tatsächlich zu Phantasiewerten. Da es vor allem nicht gelingen konnte, die Einheitsbewertung des Grundbesitzes der realen Wertentwicklung auch nur einigermaßen zeitgerecht anzupassen108, blieb das Bewertungsgleichmaß in eklatanter Weise auf der Strecke109.
57
Das BVerfG hat seine jahrzehntelange Zurückhaltung in den beiden sog. Einheitswertbeschlüssen110 aufgegeben und die Verfassungswidrigkeit des evidenten Missverhältnisses zwischen der Bewertung des Grund- und des Geldvermögens für die Vermögensteuer sowie die Erbschaft- und Schenkung-
101 102 103 104 105 106 107
108 109 110
20
S. i.E. die Nachweise bei Tipke/Kruse/Seer, § 1 AO Rz. 44. Zur rechtshistorischen Entwicklung s. P. Kirchhof, Die Steuerwerte des Grundbesitzes, 1985, 8 ff. Vgl. Bewertungsgesetz v. 13.8.1965, BGBl. I 1965, 851. Zitzelsberger, FS Ritter, 1997, 661 (662). Hensel, Steuerrecht3, 1933, 82. S. die steuerartenübergreifende Analyse von Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 105 ff.: „Der Rechtswert als Funktionsbegriff“. Zu der Bewertung als Tatfrage u. Rechtsproblem s. grundl. Raupach (Hrsg.), Werte und Wertermittlung im Steuerrecht, DStJG 7 (1984), mit 20 Referaten ausschließlich zu steuerrechtlichen Bewertungsproblemen. Aus neuerer Zeit: Seer, DStJG 36 (2013), 337 (340 ff.); eingehend Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 143 ff., 321 ff. Eine weitere Hauptfeststellung gelang für das Grundvermögen nach 1935 in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt nur zum 1.1.1964. Zur Verfassungswidrigkeit der Grundbesitz-Einheitsbewertung s. 15. Aufl., § 12 Rz. 52 ff.; zur verbliebenen Verfassungswidrigkeit der Grundsteuer s. § 15 Rz. 23. BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 u. BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165; dazu § 3 Rz. 65.
Seer
6. Gebiete und Gesetze des allgemeinen Steuerrechts
Rz. 60 § 1
steuer klar ausgesprochen111. Diese Judikate des BVerfG haben die Einheitsbewertung und die von dieser Bewertung abhängigen Steuern, insb. die beiden genannten Steuerarten, tiefgreifend erschüttert. Die vom BVerfG bei einheitlichem Steuertarif verlangte realitätsgerechte Wertrelation in der Bemessungsgrundlage (§ 15 Rz. 5, 58) erfordert für die periodisch den Vermögensbestand belastenden Steuern, die unterschiedlichen Vermögen permanent gegenwartsnah zu bewerten. Die historische Erfahrung mit der Einheitsbewertung lehrt jedoch, dass dies mit zumutbarem Verwaltungsaufwand praktisch unmöglich ist (§ 3 Rz. 145 f.). Deshalb sah der Gesetzgeber von einer fristgerechten Neufassung des Vermögensteuergesetzes ab, ohne es allerdings ausdrücklich aufzuheben, so dass es seit dem 1.1.1997 außer Vollzug getreten ist (s. § 16 Rz. 61 ff.; § 7 Rz. 15). Während die explizite Abschaffung der Vermögensteuer am Widerstand der damaligen Opposition und der SPD-regierten Länder scheiterte, gelang es der Regierungskoalition, die Aufhebung der Gewerbekapitalsteuer mit Wirkung vom Erhebungszeitraum 1998 an durchzusetzen. Eine Einheitsbewertung existiert damit praktisch nicht mehr. Zwar werden nach § 19 I BewG für 58 den inländischen Grundbesitz weiterhin sog. Einheitswerte gesondert festgestellt (§ 21 Rz. 124). Diese „Einheitswerte“ gelten steuerrechtlich jedoch nur noch für die Grundsteuer (§ 13 I GrStG; s. § 16 Rz. 16), nicht mehr für die aperiodisch anfallende Erbschaft- und Schenkungsteuer. Dort sind an die Stelle der Einheitswerte nach § 12 III ErbStG Grundbesitzwerte getreten, die nur noch im Bedarfsfalle zum Besteuerungszeitpunkt festzustellen sind (sog. Bedarfsbewertung, § 151 I 1 Nr. 1 BewG; dazu § 15 Rz. 50 ff.). Der Wegfall der Vermögen- und Gewerbekapitalsteuer erlaubte es außerdem, die für inländische gewerbliche und freiberufliche Betriebe früher ebenfalls vorgesehene Einheitsbewertung (§ 19 I Nr. 2 BewG a.F.) mit Wirkung v. 1.1.1998 abzuschaffen. Der Wert des Betriebsvermögens braucht seitdem nur noch im Erb- oder Schenkungsfall für die Bemessung der Erbschaft- oder Schenkungsteuer ermittelt zu werden (s. § 151 I 1 Nr. 2 BewG, s. § 15 Rz. 51). Geblieben ist die Mantelgesetzfunktion des BewG. Die allgemeinen Bewertungsvorschriften (= Ers- 59 ter Teil, §§ 1–16 BewG) gelten nach § 1 I BewG für alle öffentlich-rechtlichen Abgaben, die durch Bundesrecht geregelt sind (§ 2 Rz. 32 ff.), soweit sie durch Bundes- oder Landesfinanzbehörden verwaltet werden (§ 2 Rz. 73) und nichts anderes vorgeschrieben ist. Das BewG enthält so den Allgemeinen Teil des Bewertungsrechts und fasst als Mantelgesetz Vorschriften zusammen, die für alle oder mehrere Steuerarten gelten. § 2 regelt den noch auf die Einheitsbewertung zugeschnittenen Begriff der wirtschaftlichen Einheit (s. § 16 Rz. 7). § 3 BewG behandelt die Wertermittlung eines Wirtschaftsguts bei mehreren Beteiligten. §§ 4–8 BewG behandeln die Zurechnung von Wirtschaftsgütern und Lasten, die von einer Bedingung oder Befristung abhängig sind. I.Ü. richtet sich die Zurechnung nach § 39 AO (dazu § 5 Rz. 140 f.). §§ 9–16 BewG legen allg. Bewertungsmaßstäbe und Wertbegriffe112 fest: gemeiner Wert (§ 9 BewG), Teilwert113 (§ 10 BewG), Kurswert (§ 11 I BewG), Nennwert (§ 12 I BewG), Rückkaufswert (§ 12 IV 2, 3 BewG) und Kapitalwert (§§ 13 ff. BewG). Zur Bedeutung der einzelnen Wertmaßstäbe s. etwa § 15 Rz. 54 ff. Der Besondere Teil des BewG (§§ 17 ff. BewG) ist gem. § 17 I BewG nach Maßgabe der Einzelsteu- 60 ergesetze anzuwenden. Umfänglich verweisen § 12 ErbStG für die Erbschaft- und Schenkungsteuer und § 13 I GrStG für die Grundsteuer („Einheitsbewertung“ des inländischen Grundbesitzes, § 17 II BewG) auf das BewG. Daneben finden sich in den Einzelsteuergesetzen punktuelle Verweisungen: z.B. für die Grunderwerbsteuer in § 8 II GrEStG (bei fehlender Gegenleistung, bei Umwandlung oder Gesellschafterwechsel: Anknüpfung an Grundbesitzwerte; s. § 18 Rz. 5) oder für die Einkommensteuer in § 13a IV, V EStG (s. § 8 Rz. 410)114.
111 Bestätigt durch BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (45 ff.). 112 Dazu Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil. 2014, 132 ff. 113 Dazu Gabert, Der Bewertungsmaßstab des Teilwerts im Bilanzsteuerrecht, Diss., 2011; C. Lange, 75 Jahre Teilwert, Diss., 2011. 114 Dazu Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 105 ff.
Seer 21
§ 1 Rz. 61
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
61
Das BewG regelt grds. nicht die Bewertung von Markteinkommen. Die Bewertungen für Steuern auf Markteinkommen (§ 7 Rz. 30 ff.) basieren wesentlich auf realisierten, marktbestätigten Werten. Die realisationsorientierten Bewertungen (z.B. nach §§ 6; 8 II EStG) schließen gem. § 1 II BewG die Anwendung des BewG aus. Obgleich das BewG im Wesentlichen Sonderrecht für die nach einem ruhenden oder zugewendeten Bestand des Vermögens bemessenen Steuern regelt, gilt es in bestimmten Sonderfällen auch außerhalb dieser Steuern. Subsidiäre Regeln des Ersten Teils des BewG finden nach § 1 I BewG z.B. bei der einkommensteuerlichen Bewertung des Tausches (§ 6 VI EStG) oder der Wirtschaftsgüter bei Betriebsaufgabe (§ 16 III EStG) oder vergleichbaren Fällen der Entstrickung (§ 9 Rz. 450 ff.) Anwendung.
62
Die unübersichtlich geregelte Anwendung des BewG ist in folgender Reihenfolge zu prüfen: 1. Gibt es anzuwendende spezielle Vorschriften außerhalb des BewG (z.B. § 6 EStG)? 2. Verweist ein Steuergesetz ausdrücklich auf die Anwendung des BewG (z.B. § 13a EStG)? 3. Gelten besondere Bewertungsvorschriften des Zweiten Teils des BewG (§ 17 BewG)? 4. Soweit die Prüfung nach 1.–3. nichts anderes ergibt, gelten die allgemeinen Bewertungsvorschriften (§§ 2–16 BewG) nach Maßgabe des § 1 I BewG. 6.4 Allgemeines Steuerschuldrecht
63 Das allgemeine Steuerschuldrecht umfasst das allgemeine Recht der Steuerschuldverhältnisse; die-
ses ist in der Abgabenordnung geregelt. Die Verwendung des Begriffs „Steuerschuldrecht“ (Zweiter Teil der AO) deutet auf die Gemeinsamkeiten des Steuerschuldrechts mit dem zivilrechtlichen Schuldrecht hin115. Dies ist wesentlich Enno Becker zu verdanken, der bis 1918 hauptamtlicher Zivilrichter war (s. Rz. 53). In der Zeit nach Inkrafttreten der RAO wurde das Steuerschuldrecht mehr in Kategorien des Zivilrechts als des öffentlichen Rechts entwickelt116. So erinnert die Regelung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) an das Zivilrecht. § 37 AO knüpft an den Inhalt des § 241 I 1 BGB an: Kraft des Schuldverhältnisses ist der Gläubiger berechtigt, von dem Schuldner eine Leistung zu fordern. In dem Steuerschuldverhältnis entsteht der Anspruch als das Recht des Gläubigers, von dem Schuldner eine konkrete Geldleistung i.S.d. § 37 AO zu fordern, rechtsstaatlich kraft Gesetzes (§ 38 AO). Auf der passiven Seite des Steuerschuldverhältnisses muss der Steuerschuldner (s. § 6 Rz. 6) als der Adressat des Steueranspruchs (§ 241 I 1 BGB) von anderen Schuldnern unterschieden werden, so z.B. von dem Haftungsschuldner, der akzessorisch für eine fremde Steuerschuld einzustehen hat (§ 6 Rz. 8)117. Auch das Schicksal der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ist in Anlehnung an die zivilrechtliche Terminologie geregelt, die Fälligkeit (§§ 220 ff. AO), das Erlöschen (§ 47 AO) durch Zahlung (§§ 224–225 AO), Aufrechnung (§ 226 AO), Erlass (§§ 163; 227 AO) und Verjährung (§§ 169–171; 228–232 AO), im Weiteren die Gesamtschuldnerschaft (§ 44 AO), die Gesamtrechtsnachfolge (§ 45 AO), sowie die Abtretung, Verpfändung und Pfändung (§ 46 AO). 64 Diese Terminologie darf nun nicht den Blick auf den Charakter des Steuerschuldrechts als öffentliches
Recht verstellen. Dieser Charakter tritt hervor in der strengen Gesetzmäßigkeit der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 38 AO), sodann in dem bereits erwähnten (s. Rz. 29) Durchsetzungsgebot; hierbei muss die rechtsstaatlich-gesetzliche Anspruchsentstehung von der Anspruchsverwirk115 Vgl. Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1991, 93 f. 116 Vgl. dazu insb. die Schrift von Merk, Steuerschuldrecht, 1926. Die öffentlich-rechtliche Rechtsnatur des Steuerschuldverhältnisses war zwar erkannt (Merk, a.a.O., 8 ff.), jedoch vermochte man noch keine verwaltungsrechtlich brauchbaren Ergebnisse, etwa zum Verhältnis von Tatbestandsverwirklichung u. Steuerfestsetzung, zu gewinnen. 117 Mit der Begründung einer eigenen Schuldnerposition durch Verwirklichung eines Haftungstatbestandes (§§ 69 ff. AO) weicht das Steuerrecht von der zivilrechtlichen Unterscheidung von Schuld u. (beschränkter/unbeschränkter) Haftung ab. Hierzu ausf. Merk, Steuerschuldrecht, 1926, 74 ff.; Hess, Schuld und Haftung im Abgabenrecht, Diss., 1972.
22
Seer
6. Gebiete und Gesetze des allgemeinen Steuerrechts
Rz. 68 § 1
lichung durch Verwaltungshandeln unterschieden werden. Wenn etwa eine Steuerschuld abweichend vom Gesetz festgesetzt wird, so wird dadurch der materiell-rechtliche Bestand des Steueranspruchs nicht berührt118. Vielmehr beruht die Regelung der Bestandskraft von Verwaltungsakten auf der allein verfahrensrechtlich notwendigen Begrenzung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung durch die rechtsstaatlichen Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes (s. § 21 Rz. 80 ff.). Das bedeutet, dass ein materiell-rechtlich weiterhin bestehender Anspruch seitens der Behörde nicht mehr durchgesetzt werden kann. Indessen besteht die Besonderheit des Steuerschuldrechts gerade darin, dass seine Normen auf die 65 Rechtsstaatlichkeit des Verwaltungshandelns zugeschnitten sein müssen. Wenn demnach die Behörde im Interesse des Rechtsfriedens Steueransprüche nicht mehr verfolgen soll, dann ist es zweckmäßig, auch ihr Erlöschen anzuordnen. So bewirkt der Eintritt der Festsetzungsverjährung nicht nur eine verfahrensrechtliche Festsetzungssperre (§ 169 I 1 AO), sondern auch das Erlöschen der Steuerschuld (§ 47 AO); die zivilrechtliche Regelung, dass dem Verpflichteten lediglich eine Einrede zusteht (§ 214 I BGB), die er geltend zu machen hat, ist mit Durchsetzungsgebot und Untersuchungsgrundsatz (§ 88 AO) nicht zu vereinbaren. Im Weiteren orientieren sich die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Schuldnern gem. § 44 AO im Rahmen des Auswahlermessens sowie die Voraussetzungen für Stundung und Erlass von Steueransprüchen an spezifisch öffentlich-rechtlichen Maßstäben der Gerechtigkeit und Billigkeit. Auch wenn das Steuerschuldrecht vom Steuerverfahrensrecht (s. Rz. 67 ff.) abzugrenzen ist, ist es mit diesem jedoch an vielen Stellen verzahnt. Diese Verzahnung findet ihren Niederschlag insb. in der Platzierung steuerschuldrechtlicher Vorschriften in den Abschnitten der Abgabenordnung über das Verfahren (z.B. §§ 152; 163; 169 ff.; 218 ff.; 228 ff.; 233 ff.; 240 AO). Das Steuerschuldrecht ist außerdem von den übergreifenden Normen des Steuerrechtsverhältnis- 66 ses abzugrenzen. So gehören die Regelungen über den Stpfl. (§§ 33–36 AO) nicht zum Steuerschuldrecht. Bereits aus der Lektüre des § 33 AO ist zu erkennen, dass mit dem Begriff des Stpfl. das Verfahrenspflichtverhältnis (s. § 6 Rz. 2) miterfasst ist. 6.5 Steuerverfahrensrecht Die Ansprüche aus dem Steuerschuldrecht müssen durchgesetzt, die Gesetze des materiellen Steuer- 67 rechts in einem rechtsstaatlichen Verfahren vollzogen werden. Das Steuerverfahren ist ein Verwaltungsverfahren; deshalb bestand das Bedürfnis, die verfahrensrechtlichen Vorschriften der Abgabenordnung an das Verwaltungsverfahrensgesetz119 anzugleichen, was allerdings teilweise missglückt ist (s. Rz. 54). a) Verwaltungsverfahren ist nach der Definition des § 9 VwVfG „die nach außen wirkende Tätigkeit 68 der Behörden“, demnach Verwaltungshandeln. Daher hat das Steuerverfahrensrecht zunächst das Handeln der Behörden im Steuerrechtsverhältnis, und zwar die Zuständigkeit zum Verwaltungshandeln (s. § 21 Rz. 38 ff.) und die Formen rechtsverbindlichen Handelns (z.B. durch Steuerverwaltungsakt, s. § 21 Rz. 50 ff.) zu regeln. Die sachliche Zuständigkeit der Finanzbehörden (§ 6 II AO) ist im Gesetz über die Finanzverwaltung120 geregelt, das die Verteilung der Verwaltungshoheiten auf Bund und Länder in Art. 108 GG vollzieht (s. hierzu § 2 Rz. 73 ff. sowie § 21 Rz. 30 ff.).
118 So die von Schranil, Besteuerungsrecht und Steueranspruch, 1925, begründete Lehre, dass die Steuerschuld durch eine rechtlich wirksame Steuerfestsetzung zur Steuerzahlungsschuld konkretisiert werde. Diese entspricht der sog. formellen Rechtsgrundtheorie (s. P. Kirchhof, NJW 1985, 2977), dazu Tipke/ Kruse/Drüen, § 38 AO Rz. 11. 119 VwVfG v. 25.5.1976, BGBl. I 1976, 1253, etwa zeitgleich mit der AO 1977 v. 16.3.1976, BGBl. I 1976, 613. 120 FVG i.d.F. v. 4.4.2006, BGBl. I 2006, 846, zuletzt geändert durch Ges. v. 14.8.2017, BGBl. I 2017, 3122 (3129).
Seer 23
§ 1 Rz. 69
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
69
b) Die Abgabenordnung unterscheidet die Durchführung der Besteuerung (Vierter Teil) und das Erhebungsverfahren (Fünfter Teil) und markiert damit zwei Phasen des Steuerverfahrens; die erste Phase bis einschließlich der Feststellung der gesetzlich fixierten Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis durch Steuerverwaltungsakte (Steuerfestsetzungsverfahren) und die zweite Phase der Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis auf der Grundlage der anspruchsfeststellenden Steuerverwaltungsakte i.S.d. § 218 I AO (Steuererhebungsverfahren). Nach dieser Grundunterscheidung ergeben sich folgende Stationen des Steuerverfahrens:
70
aa) Vorbereitung der Steuerfestsetzung (zu den Ermittlungsverfahren s. § 21 Rz. 170 ff.): Die Feststellung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis (Steuerfestsetzung i.w.S.) wird zunächst vorbereitet durch die Erfassung der Stpfl. (§§ 137 ff. AO), die Mitwirkung der Stpfl. (§§ 90; 140 ff. AO), besonders durch die Abgabe einer Steuererklärung (§§ 149 ff. AO) und ggf. durch weitere Sachaufklärung und Beweiserhebung (§§ 88; 91 ff. AO). Die Steuerfestsetzung wird dabei weitgehend im Wege einer (kontrollierten) Selbstregulierung durch den Stpfl. selbst vorbereitet (s. § 21 Rz. 5 ff.). Finanzbehördliche (amtswegige) Ermittlungen greifen regelmäßig erst nach Erlass des Erstbescheides in besonderen Verfahren der Sachaufklärung (§§ 193–207 AO: Außenprüfung; §§ 208–217 AO: Steuer-/ Zollfahndung/Steueraufsicht) und bereiten dann zumeist einen Änderungsbescheid vor.
71
bb) Steuerfestsetzung, das ist die Steuerfestsetzung i.e.S. (§§ 155–157 AO) und abweichend von § 157 II AO die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen (§§ 179–183 AO), die Festsetzung, Zerlegung und Zuteilung von Steuermessbeträgen (§§ 184 ff. AO), ferner der Erlass von Haftungsbescheiden (§§ 191; 192 AO) und Festsetzung steuerlicher Nebenleistungen (§ 3 IV AO); dabei findet die Beweiswürdigung statt, die in den §§ 158–162 AO lediglich rudimentär und ohne eine dem § 96 I 1 Hs. 1 FGO entsprechende Generalklausel geregelt ist (s. § 21 Rz. 204 ff.).
72
cc) Steuererhebung, das ist die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis auf der Grundlage von Steuerverwaltungsakten mit Titelfunktion (s. § 21 Rz. 310). Die Steuererhebung geschieht durch Zahlung an die Finanzbehörde (§ 224 AO), z.B. durch Abschlusszahlungen gem. Einkommensteuerbescheid (§ 36 IV EStG) oder durch Vorauszahlungen gem. Vorauszahlungsbescheid (§ 37 III EStG), durch Quellenabzug, z.B. durch Steuerabzug vom Arbeitslohn (§§ 38 ff. EStG), durch Aufrechnung (§ 226 AO) und schließlich durch Vollstreckung (Sechster Teil der AO), die zwangsweise Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis.
73
Das Steuerverfahren ist nicht ausschließlich in der Abgabenordnung geregelt. Vielmehr enthalten die Einzelsteuergesetze steuerartspezifische Verfahrensvorschriften über Mitwirkungspflichten, über Art und Zeitraum von Steuerfestsetzungen sowie über Steuererhebungsformen, insb. Vorauszahlungen und Quellenabzüge.
74
c) Der Rechtsstaat gewährt sowohl gegen die rechtswidrige Tätigkeit, als auch gegen die rechtswidrige Untätigkeit (§ 347 I 2 AO; § 46 FGO) seiner Behörden Rechtsschutz, indem das Verwaltungshandeln in einem besonderen Rechtsbehelfsverfahren überprüft wird, wenn das Verwaltungshandeln durch Rechtsbehelf von dem beanstandet wird, der die Verletzung seiner Rechte geltend macht.
75 aa) Im rechtsstaatlichen System der Gewaltenteilung wird die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshan-
delns grds. von unabhängigen, allein Gesetz und Recht (Art. 20 III GG) unterworfenen Gerichten überprüft; dabei hat der gerichtliche Rechtsschutz nach Maßgabe des Art. 19 IV GG lückenlos zu sein. Den Rechtsschutz in Steuersachen nehmen hauptsächlich die Finanzgerichte wahr (s. § 33 FGO). Das durch den Rechtsbehelf der Klage eingeleitete Verfahren vor den Finanzgerichten, der Steuerprozess, ist in der Finanzgerichtsordnung geregelt. Im Finanzrechtsweg (Rechtsweg vor den Finanzgerichten) wird zunächst nach § 33 I Nr. 1, 2 FGO nur das Handeln von Bundes- und Landesfinanzbehörden überprüft. Demnach ist besonders in Gemeinde- und Kirchensteuersachen gem. § 33 I Nr. 4 FGO zu prüfen, ob die Ausführungsgesetze der Länder zur Finanzgerichtsordnung den Finanzrechtsweg angeordnet haben oder ob (i.d.R. in Gemeindesteuersachen) die Generalklausel des § 40 I 1 VwGO
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Seer
7. Gebiete und Gesetze des besonderen Steuerrechts
Rz. 78 § 1
Platz greift und der Rechtsweg vor den allgemeinen Verwaltungsgerichten (Verwaltungsrechtsweg, § 40 VwGO) eröffnet ist, für den die Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) gilt (s. § 22 Rz. 6). bb) Dem Steuerprozess ist nach Maßgabe der § 44 I FGO; §§ 347 AO ein Vorverfahren vorgeschal- 76 tet, in dem die Behörde selbst prüfen soll, ob sie das Recht richtig angewandt und ein ihr eingeräumtes Ermessen richtig (§ 5 AO) ausgeübt hat. In Abgabenangelegenheiten der AO (§ 347 I Nr. 1 i.V.m. § 1 AO) sind die Vorschriften der §§ 347–367 AO über das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren anzuwenden (s. im Weiteren § 22 Rz. 9). 77 Allgemeines Steuerrecht
Grundgesetz
Grundlagen der Steuerrechtsordnung: Systemtragende Prinzipien Finanzverfassungsrecht
Abgabenordnung
Allgemeines Steuerschuldrecht (Allgemeines Recht der Steuerschuldverhältnisse)
Steuerverfahrensrecht (Organisation und Handeln der Finanzverwaltung, Rechtsschutz)
Gesetz über die Finanzverwaltung (Behördenorganisation)
Finanzgerichtsordnung (gerichtlicher Rechtsschutz)
7. Gebiete und Gesetze des besonderen Steuerrechts 7.1 Besonderes Steuerschuldrecht und Sondergebiete des Steuerrechts Das besondere Steuerrecht umfasst zwei Komplexe: Zum einen regelt es die Steuerschuldverhältnisse 78 der einzelnen Steuerarten. Die einzelnen Steuerarten, ihr Entstehen auf Grund eines zumeist sehr normenreichen Tatbestandes i.S.d. § 38 AO, ihre Fälligkeit und Tilgung (verknüpft mit steuerartspezifischen Verfahrensvorschriften) sind in den sog. Einzelsteuergesetzen geregelt. In Anlehnung an die zivilrechtliche Terminologie wird die Regelung der Einzelsteuergesetze als besonderes Steuerschuldrecht bezeichnet. Die Steuern auf das Einkommen und Vermögen sind geregelt im EStG (Einkommen-
Seer 25
§ 1 Rz. 79
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
steuer, s. §§ 8, 10) und in den Kirchensteuergesetzen (s. § 8 Rz. 950 ff.)121, im KStG (Körperschaftsteuer, s. § 11) und GewStG (Gewerbesteuer, s. § 12) sowie im ErbStG (Erbschaft- und Schenkungsteuer, s. § 15) und im GrStG (Grundsteuer, s. § 16). Die Steuern auf die Verwendung von Einkommen und Vermögen sind geregelt im UStG (s. § 17), in den Verbrauchsteuergesetzen (s. § 18 Rz. 105) sowie in den Verkehrsteuergesetzen (GrEStG, VersStG, FeuerschStG, Rennwett- und LotterieG, KraftStG, s. § 18 Rz. 1 ff.). 79
Zum anderen haben sich im Steuerrecht, das im Steuerstaat zu einem riesigen Rechtsgebiet ausgewuchert ist, umfassende Sondergebiete entwickelt. Teils sind diese Sondergebiete besondere Lehr- und Forschungsgebiete wie das der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre (s. Rz. 20 ff.) nahe stehende Bilanz- und Unternehmensteuerrecht (s. §§ 9, 13, 14); hier wird das Steuerrecht steuerartenübergreifend unter den Aspekten der Unternehmensformen, der Änderung der Unternehmensform (deren Steuerfolgen z.T. im Umwandlungsteuergesetz geregelt sind) und der einzelnen Unternehmensvorgänge behandelt, und es werden steuerliche Gesamtbelastungen ermittelt (s. § 13 Rz. 177 ff.). Teils sind die Sondergebiete rechtliche Spezialgebiete mit einer eigenständigen teleologischen Struktur auf Grund spezifischer Prinzipien und Wertungen wie das Steuersubventionsrecht und das Internationale Steuerrecht.
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Das Steuersubventionsrecht122 besteht aus Sozialzwecknormen, die auf den verschiedensten außersteuerrechtlichen Prinzipien und Wertungen beruhen (s. § 3 Rz. 21 f.). Dem Steuersubventionsrecht gehört insb. das Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht an. Es ist allgemein im Zweiten Teil der AO „Steuerschuldrecht“ (§§ 51–68 AO) und im Besonderen in den Einzelsteuergesetzen geregelt (s. § 19 Rz. 7 ff.). Wegen seiner außersteuerrechtlichen Qualität gehört es jedoch materiell nicht zum Steuerschuldrecht. Dort sind seine sozial- und kulturpolitisch motivierten Steuervergünstigungen nur eingebaut; diese verbauen und gefährden die Statik des Steuerschuldrechts. 7.2 Internationales Steuerrecht Literatur: Bühler, Prinzipien des Internationalen Steuerrechts, 1964; K. Vogel (Hrsg.), Grundfragen des Internationalen Steuerrechts, DStJG 8 (1985) mit diversen Beiträgen zum internationalen Steuerrecht; K. Vogel, Über „Besteuerungsrechte“ und über das Leistungsfähigkeitsprinzip im Internationalen Steuerrecht, in FS F. Klein, 1994, 361; Schaumburg, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im internationalen Steuerrecht, in FS Tipke, 1995, 125; Schaumburg, Systemdefizite im Internationalen Steuerrecht, StuW 2000, 369; M. Lang, Wohin geht das Internationale Steuerrecht?, IStR 2005, 289; FS Schaumburg, 2009, mit diversen Beiträgen zum Internationalen Steuerrecht; Jankowiak, Doppelte Nichtbesteuerung im Internationalen Steuerrecht, Diss., 2009; Schaumburg, Das Nettoprinzip im Internationalen Steuerrecht, in FS J. Lang, 2010, 1099; Birk, Doppelbesteuerungsabkommen im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland, in FS J. Lang, 2010, 1131; Rödder, Globalisierung und Unternehmenssteuerrecht, in FS J. Lang, 2010, 1147; Lampert, Doppelbesteuerungsrecht und Lastengleichheit, Diss., 2010; Achatz (Hrsg.), Internationales Steuerrecht, DStJG 36 (2013), mit diversen Beiträgen zum internationalen Steuerrecht; Valta, Das Internationale Steuerrecht zwischen Effizienz, Gerechtigkeit und Entwicklungshilfe, Diss., 2014; Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung8, 2016; Grotherr/Herfort/Strunk, Internationales Steuerrecht3, 2017; Grotherr (Hrsg.), Hdb. der internationalen Steuerplanung4, 2017; Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017; Haase, Internationales u. Europäisches Steuerrecht5, 2017; Mössner u.a., Steuerrecht international tätiger Unternehmen5, 2018.
81 Das Internationale Steuerrecht wird zum Sondergebiet durch die Erweiterung der Rechtsquellen auf
völkerrechtliche und supranationale Normen (s. § 5 Rz. 26 f.) und durch seine Aufgabe, die nationalen Steuerrechtsordnungen aufeinander abzustimmen123. Die Darstellung des stoff- und normenreichen 121 Die Kirchensteuergesetze sind nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 WRV Landesgesetze (aufgezählt bei Tipke/Kruse/Seer, § 1 AO Rz. 53). 122 Ausf. zu dem Thema S. Sieker (Hrsg.), Steuerrecht und Wirtschaftspolitik, DStJG 39 (2016) mit Beiträgen zum nationalen Recht, Europarecht u. internationalen Wirtschaftsrecht. 123 Sehr zu empfehlen ist die zweibändige Sammlung v. van Raad, Materials on International & EU Tax Law, International Tax Center Leiden, mit den relevanten Rechtsquellen des Internationalen und Eu-
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7. Gebiete und Gesetze des besonderen Steuerrechts
Rz. 84 § 1
Internationalen Steuerrechts kann nur von einem Speziallehrbuch geleistet werden124, so dass das Sondergebiet des Internationalen Steuerrechts hier nur wie folgt kurz skizziert werden kann: a) Über den Begriff des Internationalen Steuerrechts (IStR) wird seit Jahrzehnten relativ fruchtlos 82 gestritten125, was mit der Vielfalt der Aufgabe zusammenhängt, die nationalen Steuerrechtsordnungen aufeinander abzustimmen. Der Ausgangspunkt ist die Notwendigkeit, Wirtschaftssubjekte nicht mit einem prohibitiven Übermaß an Steuern zu belasten, wenn sie sich grenzüberschreitend betätigen. Aus dieser Sicht ist das Internationale Steuerrecht zunächst vergleichbar dem Internationalen Privatrecht Kollisions- bzw. Konfliktrecht mit der Funktion, die Steuertatbestände gegeneinander abzugrenzen und eintretende Mehrfachbelastungen zu beseitigen126. Ein derart enger Begriff des IStR wird der Aufgabe nicht gerecht, die das IStR infolge der zunehmen- 83 den Verdichtung des internationalen Wirtschaftsverkehrs zu bewältigen hat. Es geht nicht allein darum, den internationalen Wirtschaftsverkehr vor Steuererdrosselung zu bewahren. Die nationalen Steuerrechtsordnungen sind nicht nur kollisionsrechtlich aufeinander abzustimmen. Vielmehr sind die Steuerfolgen der verschiedenen Steuerrechtsordnungen auch in einer Weise zu harmonisieren und an international gültigen Besteuerungsprinzipien (Gleichheitssatz, Diskriminierungsverbote127, Leistungsfähigkeitsprinzip, Prinzip der Wettbewerbsneutralität, Übermaßverbot etc.)128 auszurichten, so dass Diskriminierungseffekte möglichst nicht eintreten und der Wettbewerb möglichst wenig gestört wird. Die so beschriebene Aufgabe des IStR erstreckt sich auf alle Normen, die Steuerfolgen für den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr haben. Dementsprechend ist der Begriff des IStR weit zu fassen: Das IStR umfasst alle nationalen, völker- und europarechtlichen Normen mit Steuerfolgen für den internationalen, d.h. grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr129. b) Abgrenzungsfunktion des nationalen IStR: Dem IStR stellt sich grds. das Problem, dass die na- 84 tionalen Steuerhoheiten (s. § 2 Rz. 32 ff.) über das Staatsgebiet hinausreichen130: Das Völkerrecht verbietet zwar die Vornahme von Hoheitsakten im Ausland (Grundsatz der formellen Territorialität). Hingegen gibt es völkerrechtlich kein Prinzip materieller Territorialität, das es verbieten würde, Rechtsfolgen des innerstaatlichen Rechts auch an ausländische Sachverhalte anzuknüpfen, z.B. die ausländischen Einkünfte einer Person mit Wohnsitz im Inland zu besteuern (s. § 8 Rz. 25 f.). Dieser Fall zeigt aber, dass die formelle Territorialität dazu zwingt, die Besteuerung ausländischer Sachverhalte mit inländischen Zugriffsmerkmalen auszustatten (Besteuerung von Exporten/Importen an der Staatsgrenze, Besteuerung von ausländischen Einkommen und Vermögen bei inländischen Steu-
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ropäischen Steuerrechts in englischer, deutscher u. französischer Sprache (Bezugsquelle: www.itcleiden.nl). Dieses Buch wird ideal ergänzt durch das Lehrbuch des Tipke-Schülers u. langjährigen Honorarprofessors an der Universität zu Köln Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017. Dazu ausf. m.w.N. Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017, § 1; K. Vogel, DStZ 1997, 269. So insb. Bühler, Prinzipien des Internationalen Steuerrechts, 1964, 1 ff. (IStR i.e.S.: völkerrechtlich begründete Normen des Kollisionsrechts; IStR i.w.S.: völker- u. internationalrechtliche Kollisionsnormen). IFA-cahiers, Vol. 78b (1993), Non-Discrimination Rules in international Taxation; Ribbrock, EWS 2005, 401; Lang/Schuch/Staringer (Hrsg.), Die Diskriminierungsverbote im Recht der DBA, 2006; Rust, DStJG 36 (2013), 71 (74 ff.). Dazu insb. K. Vogel, FS F. Klein, 1994, 361; Schaumburg, FS Tipke, 1995, 125. So auch K. Vogel, DStZ 1997, 269: Gesamtheit der Rechtsvorschriften, die sich auf die Besteuerung von grenzüberschreitenden Sachverhalten beziehen. Es setze sich zusammen aus Normen des Völkerrechts, des Staatengemeinschaftsrechts u. aus Normen des innerstaatlichen Rechts (von Bühler sog. Außensteuerrecht). Zum Folgenden insb. K. Vogel, Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, Frankfurt/M. 1965, 101 ff.; Vogel/Lehner, DBA6, 2015, Grundlagen Rz. 11 ff. (m.w.N.). S. auch Burmester, Grundlagen internationaler Regelungskumulation und -kollision unter besonderer Berücksichtigung des Steuerrechts, Habil. 1993; Burmester, JZ 1993, 698.
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§ 1 Rz. 85
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
erschuldnern). Besteuerte der Staat rigoros alles, was ihm im Rahmen seiner formellen Territorialität möglich ist, würde der internationale Wirtschaftsverkehr zum Erliegen kommen. Daher hängt die Entwicklung der nationalen Volkswirtschaften und der Weltwirtschaft wesentlich davon ab, ob und inwieweit die Ausübung der Steuerhoheiten vom Grundsatz der internationalen Rücksichtnahme131 bestimmt ist. Die Beschränkung der Besteuerung durch die formelle Territorialität und die im vitalen wirtschaftlichen Interesse aller Handelsstaaten liegende internationale Rücksichtnahme finden im IStR folgenden Niederschlag: 85
aa) Das Recht der Zölle (Steuern gem. § 3 III AO) liefert das archaische Beispiel für steuerrechtliche Verhinderung des internationalen Wirtschaftsverkehrs in Gestalt sog. Schutzzölle, die dem Zweck dienen, die inländische Wirtschaft gegen ausländische Konkurrenz abzuschirmen (s. § 7 Rz. 108). Nach den Prinzipien der liberalen Wirtschaftsordnung, die früher im GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) und heute in der WTO (World Trade Organisation) ihren Ausdruck finden, dient das Zollrecht nicht mehr der Warenstromerdrosselung, sondern allenfalls der Warenstromregulierung (bestenfalls müssten Zölle ganz abgeschafft werden). Es gelten die Grundsätze des nichtdiskriminierenden Marktzuganges und der Verhältnismäßigkeit132.
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bb) Das IStR der indirekten Steuern (zum Begriff s. § 7 Rz. 20), insb. des Umsatz- und Verbrauchsteuerrechts ist seit jeher von dem Grundsatz geprägt, die Steuerbelastung auf das Staatsgebiet zu begrenzen. Technisch geschieht dies durch Umsatzsteuerbefreiung von Exporten sowie durch Verbrauchsteuerbefreiungen und -vergütungen. Die Begrenzung der Steuerbelastung auf das Staatsgebiet macht das Recht der indirekten Steuern prinzipiell kollisionsfrei. Dies setzt allerdings eine weitgehende Harmonisierung der indirekten Steuern und eine übereinstimmende Interpretation der Regeln über den Besteuerungsort voraus (s. § 17 Rz. 393 ff.).
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cc) Die praktischen und didaktischen Schwerpunkte des IStR liegen im Recht der direkten Steuern auf das Einkommen und Vermögen (ESt, KSt, GewSt, VSt, ErbSt-/SchSt). Das IStR der vorgenannten Steuern ist von den Grundsätzen der Quellenbesteuerung (source taxation) und der weltweiten Besteuerung (worldwide taxation) beherrscht133. Die durchgängige Befolgung des Quellenprinzips, nur inländische Steuergüter zu besteuern, würde auch das Recht der direkten Steuern theoretisch kollisionsfrei machen. Dazu bedürfte es aber eines weltweit akzeptierten Territorialprinzips im Sinne einer geschlossenen Gerechtigkeitsordnung, innerhalb derer für alle Staaten gleiche oder vergleichbare territoriale Anknüpfungspunkte der Quellenbesteuerung gelten134. Zu einem solchen Konsens konnten sich bisher nicht einmal die Industriestaaten durchringen. Solange dieser nicht erzielt worden ist, besteht aus Sicht der nationalen Fisci die Gefahr sog. weißer Einkünfte, die in keinem Staat besteuert werden. Das in der Staatenpraxis bevorzugte Prinzip der weltweiten Besteuerung bewirkt demgegenüber Überschneidungen der Steuertatbestände und damit steuerliche Mehrfachbelastungen, die erst durch die sog. Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) zu vermeiden bzw. zu beseitigen sind (s. Rz. 92). Soweit DBA allerdings die Freistellung ausländischer Einkünfte vorsehen, besteht auch bei einer im Ausgangspunkt weltweiten Besteuerung die Gefahr weißer Einkünfte135. Dem versucht der nationale (deutsche) Gesetzgeber zunehmend durch unilaterale Normen, die einen Rück-
131 S. Menck, FS Debatin, 1997, 305; Lindencrona, FS Ritter, 1997, 539. 132 Vgl. Petersmann, DStJG 11 (1988), 5 (9 ff.); Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, Habil., 2008, 193 ff. (Mehrebenensystem), 362 ff. (GATT u. GATS); zur Bedeutung der WTO für das Steuerrecht s. Farrell, The Interface of International Trade and Taxation, Diss., 2012. 133 Dazu K. Vogel, DStJG 8 (1985), 3 ff., 17 ff.; K. Vogel, Intertax 1988, 216 ff., 319 ff., 393 ff.; IFA-Cahiers, Vol. 90a (2005), Source and residence: new configuration of their principles (dazu auch Lehner/Reimer, IStR 2005, 542); Andersson, IBFD-Bulletin 2006, 395; Mössner, IBFD-Bulletin 2006, 501; Pinto, IBFD-Bulletin 2007, 277; Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017, Rz. 6.53 ff. 134 Klarsichtig Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017, Rz. 6.60. 135 M. Lang, DStJG 36 (2013), 7 (22 ff.).
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7. Gebiete und Gesetze des besonderen Steuerrechts
Rz. 89 § 1
fall des Besteuerungsrechts an die Bundesrepublik Deutschland in bestimmten Fällen vorsehen, zu begegnen (sog. Treaty Override; s. auch § 5 Rz. 26)136. Das Prinzip der weltweiten Besteuerung, konkretisiert durch das Welteinkommensprinzip (Univer- 88 salitätsprinzip)137 und das Weltvermögensprinzip, wird auf den Umstand gestützt, dass der Stpfl. im Staatsgebiet residiert, d.h. dort Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt, Geschäftsleitung oder Sitz (§§ 8–11 AO) hat. Dies befähigt den Staat, die steuerliche Leistungsfähigkeit des Stpfl. umfassend zu besteuern, weil er den besten Zugriff auf die Gesamtverhältnisse hat, so in den Fällen unbeschränkter Einkommen- und Körperschaftsteuerpflicht. Demgegenüber reduziert sich der Zugriff auf die inländischen Steuergüter, wenn der Stpfl. im Ausland residiert, wie in den Fällen beschränkter Steuerpflicht. Die Besteuerung erfolgt dann zwangsläufig nach dem Quellenprinzip, auch Ursprungs- oder Territorialitätsprinzip genannt. Danach werden nur inländische Einkünfte (§ 49 EStG) und Inlandsvermögen (§ 121 BewG; § 2 I Nr. 3 ErbStG) besteuert. Nach § 2 I 1 GewStG unterliegen der Gewerbesteuer nur Gewerbebetriebe, soweit sie im Inland betrieben werden. Das Gewerbesteuerobjekt ist damit nach dem Territorialitätsprinzip abgegrenzt. Das Zusammenspiel von Quellenprinzip und Prinzip weltweiter Besteuerung zeigt sich im System der Vermeidung von Doppelbesteuerungen (s. Rz. 91 ff.). Ein besonderes Problem der Hochsteuerländer ist die Steuerflucht in Niedrigsteuerländer (sog. 89 Steueroasen/Tax Haven)138. Multinational tätige Konzerne nutzen gezielt das Steuergefälle und bauen sogar ihre Konzernstruktur zwecks Steuerminimierung darauf auf139. Die OECD hat das Problem eines unfairen Steuerwettbewerbs zum Anlass genommen, das sog. Base Erosion and Profit Shifting (BEPS) durch einen sog. Aktionsplan zu bekämpfen140 (dazu auch § 7 Rz. 74). Als nationales Maßnahmegesetz existiert in Deutschland bereits seit mehr als vierzig Jahren das Außensteuergesetz141, das sich gegen den Wohnsitzwechsel (§§ 2 I; 6 I AStG) und Einkünfteverlagerungen (§§ 1; 7 ff. AStG) in niedrigbesteuernde Gebiete (§§ 2–6 AStG) richtet. Das AStG ist ungemein kompliziert und schwierig zu handhaben. Es geht um eine z.T. überspannte, die Selbständigkeit von Kapitalgesellschaften bewusst negierende Verwirklichung des Quellenprinzips: Es sollen die in der Bundesrepublik Deutschland erwirtschafteten Einkommen und Vermögen dem deutschen Steuerzugriff trotz entgegenwirkender Gestaltungen erhalten bleiben. Die Maßnahmen des AStG gipfeln in der Hinzurechnungsbesteuerung der §§ 7 ff. AStG, die thesaurierte Gewinne sog. Zwischengesellschaften in Niedrigsteuerländern zum Zwecke der Besteuerung in der Bundesrepublik Deutschland als ausgeschüttet fingiert (zur Europarechts136 Ein sog. treaty override ist ein Bruch eines Völkervertrags durch nationales Recht (s. Jankowiak, Doppelte Nichtbesteuerung im internationalen Steuerrecht, Diss., 2009, 219 ff., 254 ff.; ausf. Gebhardt, Deutsches Tax Treaty Overriding, Diss., 2012). Dieser Vertragsbruch ist zwar völkerrechtswidrig, aber innerstaatlich (auch verfassungsrechtlich) zulässig, s. BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1 (26), zusammengefasst v. Musil, FR 2016, 297. Ein treaty override muss aber ultima ratio bleiben; vorzugswürdig ist es, bereits auf völkerrechtskonforme Weise sog. subject-to-tax- oder switch-over-Regeln in die DBA einzubauen, dazu ausf. Jankowiak, Doppelte Nichtbesteuerung im internationalen Steuerrecht, Diss., 2009, 129 ff. 137 Dazu Beil, Der Belastungsgrund des steuerstaatlichen Synallagmas, Zur Zulässigkeit des Welteinkommensprinzips im deutschen internationalen Einkommensteuerrecht, Diss., 2001. 138 Zum Begriff und zu Erscheinungsformen der Steuerflucht s. Bürger, Steuerflucht, 2006, 31 ff. 139 Dies gilt vor allem für US-amerikanische Konzerne wie Apple, Google oder Starbucks, s. Pinkernell, StuW 2012, 369; Pinkernell, IStR 2013, 180; Watrin/Ebert, StuW 2013, 299 (dazu Treidler/Grothe, StuW 2014, 175); Kroppen, DStJG 37 (2014), 259 (261 ff.). 140 OECD, Action Plan on Base Erosion and Profit Shifting v. 19.7.2013, wo 15 Maßnahmen aufgeführt sind, welche die beteiligten Staaten in deren nationales Recht umsetzen wollen. In Deutschland sind daraufhin als BEPS-Abwehrgesetze das Gesetz v. 20.12.2016, BGBl. I 2016, 3000, sowie das StUmgBG v. 23.6.2017, BGBl. I 2017, 1682 ergangen (zu den damit verbundenen Maßnahmen s. § 21 Rz. 174, 176). Auf unionsrechtlicher und multinationaler Ebene ist zudem der internationale Informationsaustausch durch mehrere Änderungen der EU-AmtshilfeRL sowie den Abschluss multilateraler Abkommen deutlich verstärkt worden, s. § 21 Rz. 273 ff. 141 Gesetz über die Besteuerung bei Auslandsbeziehungen v. 8.9.1972, BGBl. I 1972, 1713, zuletzt geändert durch Ges. v. 27.6.2017, BGBl. I 2017, 2074.
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§ 1 Rz. 90
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
widrigkeit s. § 4 Rz. 99). Das Quellenprinzip wird schließlich konkretisiert durch die Grundsätze internationaler Einkünftezuordnung142. Hauptsächlich handelt es sich hier um international anerkannte Methoden der Aufteilung von Steuerquellen, u.a. der Gewinnabgrenzung bei verbundenen Unternehmen durch das Instrument von Verrechnungspreisen143 sowie der Abgrenzung von Betriebsstättengewinnen144. Art. 7 II OECD-MA fingiert die unselbständige Betriebsstätte nicht nur für die Einkünftezuordnung, sondern auch für die Einkünfteermittlung als selbständige Einheit (Authorized OECD Approach [AOA] in der Ausgestaltung des sog. functionally separate entity approach), so dass zwischen Stammhaus und Betriebsstätte grenzüberschreitend getätigte Innentransaktionen nach Verrechnungspreis-Grundsätzen beurteilt werden145. 90
Die Maßnahmen der Steuersubstratsicherung durch das AStG fallen aus dem System international anerkannter Einkünftezuordnung heraus. Das gilt besonders für die Berichtigung von Einkünften nach § 1 AStG146. Mit der durch Verordnung147 konkretisierten Besteuerung der Funktionsverlagerungen ab 2006 ist § 1 AStG zu einem umfassenden, technisch komplexen und unausgereiften Gewinnrealisierungstatbestand ausgebaut worden. In 2013 ist der sog. AOA durch Einfügung von § 1 V AStG in das innerstaatliche Recht transformiert worden148. Als einseitige nationale Maßnahme zur Sicherung von Steuersubstrat birgt § 1 AStG erhebliches zwischenstaatliches Konfliktpotenzial. Dem Stpfl. wird übermäßiger, kostenintensiver Ermittlungsaufwand aufgebürdet. Die Methode, mit der Besteuerung von Funktionsverlagerung Steuersubstrat zu sichern, dürfte letztlich ihr Ziel verfehlen, weil die international tätigen Unternehmen angereizt werden, Unternehmensstruktur und Wertschöpfung von Drittstaaten aus zu organisieren, um die Anwendung des AStG auszuschalten. Zudem will der deutsche Gesetzgeber nicht zur Kenntnis nehmen, dass die Steuersubstratmaßnahmen des AStG Grundfreiheiten des AEUV verletzen können (s. § 4 Rz. 97 ff.). 142 Dazu Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017, Kap. 21; Piltz/Schaumburg (Hrsg.), Internationale Einkünfteabgrenzung, 2003; Wheeler, The Attribution of Income to a Person for Tax Treaty Purposes, IBFD-Bulletin 2006, 477; IFA-cahiers, Vol. 92b (2007), Conflicts in the attribution of income to a person. 143 Dazu OECD, Transfer Pricing Guidelines for Multinational Enterprises and Tax Administrations, 2010; Kroppen (Hrsg.), Handbuch Internationale Verrechnungspreise, Loseblatt; Wassermeyer/Baumhoff (Hrsg.), Verrechnungspreise international verbundener Unternehmen, 2014; außerdem s. § 11 Rz. 85 m.w.N.; zur Verrechnungspreisdokumentation s. § 21 Rz. 174, 209; zu Advance Pricing Agreements (APA) s. § 21 Rz. 139; Rodemer, Advance Pricing Agreements im US-amerikanischen und im deutschen Steuerrecht, Diss., 2001; Bär, Verständigungen über Verrechnungspreise verbundener Unternehmen im deutschen Steuerrecht, Diss., 2009. 144 Dazu Kroppen, FS Wassermeyer, 2005, 691; Puls, Die Betriebsstätte im Abgaben- u. Abkommensrecht, Diss., 2005; IFA-cahiers, Vol. 91b (2006), The attribution of profits to permanent establishments (dazu Förster/Neumann/Rosenberg, IStR 2005, 617; Brülisauer, ASA 2006/2007, 337); Ernst, Die Dienstleistungsbetriebsstätte im Abkommensrecht, Diss., 2015; Bendlinger, Die Betriebsstätte in der Praxis des internationalen Steuerrechts3 (Österreich), 2016; Looks/Heinsen (Hrsg.), Betriebsstättenbesteuerung3, 2017. 145 Krit. Kroppen, FS Herzig, 2010, 1072 (1085 ff.); Kußmaul/Ruiner/Delarber, Ubg. 2011, 873; ausf. Berner, Betriebsstättenbesteuerung nach dem AOA, Diss., 2016; Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017, Rz. 19.267 u. 19.271. 146 Neugefasst durch Art. 7 des UntStRefG 2008 v. 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912; zuletzt geändert durch Art. 8 des Gesetzes v. 22.12.2014, BGBl. I 2014, 2417 (2427). 147 VO zur Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes nach § 1 I AStG in Fällen grenzüberschreitender Funktionsverlagerungen (Funktionsverlagerungsverordnung – FVerlV) v. 12.8.2008, BGBl. I 2008, 1680, i.V.m. § 1 III 13 AStG; s. dazu außerdem als Verwaltungsvorschrift BMF BStBl. I 2010, 774 (sog. Verwaltungsgrundsätze Funktionsverlagerung); dazu Kroppen/Rasch, IWB 2010, 824; Blum/Lange, GmbHR 2011, 65; Baumhoff/Ditz/Greinert, Ubg. 2011, 161; Freudenberg/Ludwig, BB 2011, 215; Greil, DStZ 2011, 283. 148 Argumente für die Umsetzung des AOA in deutsches Recht nennt Naumann, DStJG 36 (2013), 253 (256); krit. hierzu Ditz/Quilitzsch, DStR 2013, 1917 (1919 f.). S. nun die sog. BetriebsstättengewinnaufteilungsVO (BsGaV) v. 13.10.2014, BGBl. I 2014, 1603, geändert durch VO v. 12.7.2017, BGBl. I 2017, 2360; dazu sind Verwaltungsgrundsätze durch BMF v. 22.12.2016, BStBl. I 2017, 182, ergangen (s. Heinsen, DB 2017, 85; Tenberge, IWB 2017, 99).
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7. Gebiete und Gesetze des besonderen Steuerrechts
Rz. 92 § 1
Die Gesamtheit der Normen einer nationalen Steuerrechtsordnung, die dazu dienen, die Besteuerung 91 auslandsbezogener Sachverhalte zu bestimmen, wird als Außensteuerrecht bezeichnet149. Das nationale Außensteuerrecht enthält kollisionsbegründende Normen, das sind Normen, die sich mit Steuernormen einer ausländischen Rechtsordnung überschneiden und Doppelbesteuerung auslösen. c) Dadurch gewinnt das IStR kollisionsauflösende Funktion, die hauptsächlich durch völkerrecht- 92 liche, zu innerstaatlichem Recht (s. § 5 Rz. 26) gewordene Verträge zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (Doppelbesteuerungsabkommen – DBA150) vollzogen wird151. DBA begründen keine Steueransprüche. Sie bilden vielmehr ein durch Musterabkommen152 entwickeltes Normensystem, das die Steuertatbestände kollisionsauflösend beschränkt153. Vor Anwendung eines DBA muss also immer zuerst das Bestehen des nationalen Steueranspruchs geprüft werden. DBA-Normen gehen schon kraft ihrer Spezialität den Normen der Einzelsteuergesetze vor (klarstellend § 2 AO). Soweit sie nicht Platz greifen, kommen kollisionsauflösende Normen des nationalen Rechts, die sog. unilateralen Maßnahmen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung in Betracht. Im Zuge der Anti-BEPS-Initiative der OECD (s. Rz. 89) haben 67 Staaten (darunter auch die Bundesrepublik Deutschland) am 7.6.2017 in Paris ein multilaterales völkerrechtliches Abkommen (sog. Multilaterales Instrument – MLI) unterzeichnet, durch das – soweit DBA davon betroffen sind – der Inhalt der Aktionspläne auf vereinfachte Weise Eingang in das DBA-Recht finden soll. Allerdings bedarf es dazu gem. Art. 59 Abs. 2 GG noch der Übernahme des MLI in das nationale deutsche Recht durch ein zustimmungsbedürftiges Bundesgesetz und seine nachfolgende Ratifizierung. Sobald dies geschehen ist, überlagert das MLI die mit anderen Unterzeichnerstaaten geschlossenen bilateralen DBA154.
149 So schon Bühler, Prinzipien des internationalen Steuerrechts, 1964, 44 ff.; vgl. heute Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017, Rz. 1.4 (Begriff des IStR). 150 Zu den von der Bundesrepublik Deutschland abgeschlossenen DBA s. Wassermeyer (Hrsg.), Doppelbesteuerung, Loseblatt; Gosch/Kroppen/Grotherr (Hrsg.), DBA-Kommentar, Loseblatt; zum OECDMusterabkommen nebst Musterkommentar Vogel/Lehner, DBA6, 2015; Schönfeld/Ditz, DBA, 2013; s. auch Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017, Kap. 19. Aus historischer Sicht anhand der das deutsche internationale Steuerrecht während der Weimarer Republik prägenden Person Dorns lesenswert Bräunig, Herbert Dorn (1887-1957), Diss., 2016, 50 ff. 151 Einen steuerlichen Sonderstatus kraft allg. Regeln des Völkerrechts (Art. 25 GG) u. völkerrechtlicher, zumeist multilateraler Abkommen (Wiener Übereinkommen, Nato-Truppenstatut etc.) gibt es für Diplomaten, UN-/EG-Bedienstete u. Angehörige von Streitkräften (dazu die Kommentierungen des § 1 EStG). 152 In erster Linie OECD-Musterabkommen; dazu die Loseblatt-Kommentare v. Wassermeyer und Gosch/ Kroppen/Grotherr, sowie die gebundenen Kommentare v. Vogel/Lehner, DBA6, 2015; Schönfeld/Ditz, DBA, 2013. Zur Bedeutung des OECD-Musterabkommens u. -kommentars Waters, FS Loukota, 2005, 671; Waldhoff, StbJb. 2005/2006, 161; Ward, IBFD-Bulletin 2006, 97 (Erwiderung: Ellis, IBFD-Bulletin 2006, 103); Engelen, IBFD-Bulletin 2006, 105; Pijl, IBFD-Bulletin 2006, 351; M. Lang, ÖStZ 2006, 203. Darüber hinaus existieren z.B. ein UN-Musterabkommen, ein Musterabkommen der USA und seit 2013 auch in der Bundesrepublik Deutschland eine so genannte „Verhandlungsgrundlage für Doppelbesteuerungsabkommen im Bereich der Steuern vom Einkommen und Vermögen“, BMF IV B 2 S 1301/13/10009, Stand 22.8.2013; Anmerkungen hierzu Lüdicke, IStR-Beih. 2013, 26; Rotter/Welz/ Lammers, Kommentar zur Verhandlungsgrundlage für DBA, 2014. 153 Zur Vermeidung des Missbrauchs der Ausnutzung von Doppelbesteuerungsabkommen (sog. treaty shopping) s. Rudolf, Treaty Shopping und Gestaltungsmissbrauch, Diss., 2012; Schade, Die deutsche Anti-Treaty-Shopping-Regelung des § 50d Abs. 3 EStG – Zu den Grenzen und dem Bedürfnis nach einer spezialgesetzlichen Regelung, Diss., 2013; Domschat, Die deutsche Vorschrift zur Verhinderung von Abkommens- und Richtlinienmissbrauch und ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht, Diss., 2013. 154 Davon sind aus deutscher Sicht ca. 30 DBA, weltweit ca. 1.100 DBA betroffen. Das Nebeneinander von DBA und MLI verkompliziert das Abkommens- u. Kollisionsrecht ganz erheblich. Dabei stellen sich bisher noch nicht vollständig gelöste Abgrenzungs- und Auslegungsfragen, s. näher Benz/Böhmer, ISR 2017, 27; Schön, IStR 2017, 681.
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§ 1 Rz. 93
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
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Es gibt zwar keine allgemeine völkerrechtliche Verpflichtung, Doppelbesteuerungen zu beseitigen. Jedoch folgt aus dem international anerkannten Normensystem der DBA, welche Art von Doppelbesteuerungen vermieden werden sollen. Allgemein dient das kollisionsauflösende IStR dem Ziel, die Kollision gleichartiger Steuern verschiedener Hoheitsträger auf Einkünfte und Vermögen, die demselben Steuersubjekt zuzuordnen sind, zu beseitigen. Maßgeblich für die kollisionsauflösende Funktion des IStR ist also ein Begriff der Doppelbesteuerung155 mit folgendem Inhalt: Identität von Steuerobjekt und Steuersubjekt; Gleichartigkeit von Steuern verschiedener Hoheitsträger156. Liegt eine derartige Doppelbesteuerung vor, so soll das Steuerobjekt im Verhältnis der verschiedenen Hoheitsträger nur einmal besteuert werden (Grundsatz der Einmalbesteuerung).
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Im Wesentlichen gibt es zwei Methoden, mit denen Doppelbesteuerung beseitigt werden kann, die Freistellungsmethode und die Anrechnungsmethode157. Mit der Freistellungsmethode verzichtet der freistellende Staat auf die Besteuerung; er gewährt eine sachliche Steuerbefreiung, eine „Ausgrenzungs“-Befreiung (s. § 6 Rz. 41). Beispiel: Die Bundesrepublik Deutschland stellt ausländische Betriebsstätteneinkünfte steuerfrei, weil diese im Quellenstaat besteuert werden. Nach der Anrechnungsmethode wird die auf das Steuerobjekt entfallende ausländische gleichartige Steuer auf die eigene Steuer angerechnet (s. z.B. die unilateralen Maßnahmen in den § 34c I EStG, § 26 KStG, § 21 ErbStG). Im System der Vermeidung der Doppelbesteuerung haben das Prinzip der weltweiten Besteuerung und das Quellenprinzip folgende Bedeutung:
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aa) Der Wohnsitzstaat beansprucht das Prinzip weltweiter Besteuerung (s. Rz. 88). Er will aber nicht nur das Welteinkommen oder Weltvermögen besteuern, sondern die Umstände steuerlicher Leistungsfähigkeit einschließlich der persönlichen Lebensumstände umfassend berücksichtigen. Dem Prinzip weltweiter Besteuerung entspricht die Anrechnungsmethode, weil sie das Konzept der Steuerbemessung nach dem Welteinkommen oder Weltvermögen aufrechterhält. Dieses Konzept gibt der Wohnsitzstaat selbst dann nicht vollständig auf, wenn er Einkünfte freistellt, weil die Besteuerung dem Quellenstaat überlassen ist; in diesem Fall berücksichtigt er die freigestellten Einkünfte bei der Anwendung des progressiven Steuersatzes (sog. Progressionsvorbehalt, s. § 8 Rz. 808 f.).
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bb) Der Quellenstaat beansprucht das Quellenprinzip (s. Rz. 88) und will die unter seinem Schutz erwirtschafteten Einkünfte und belegenen Vermögen besteuern. Dieser Anspruch ist unabweisbar in einer auf gegenseitiger Anerkennung der Souveränität und gegenseitiger Rücksichtnahme basierenden Völkergemeinschaft. Daher verdient das Quellenprinzip den grundsätzlichen Vorrang vor dem Prinzip weltweiter Besteuerung158. Soll also im Interesse des internationalen Wirtschaftsverkehrs der Grundsatz der Einmalbesteuerung gelten, so gebührt dem Quellenstaat das Besteuerungsrecht. Das fiskalisch motivierte Ziel des Wohnsitzstaates, steuerliche Leistungsfähigkeit für die eigene (progressive) Besteuerung total zu erfassen, hat gegenüber dem Ziel des IStR, übermäßige Besteuerung zu vermeiden und zugleich die Steuerquellen fair unter den Staaten aufzuteilen, zurückzutreten. Die Anrechnungsmethode trägt beiden Zielen Rechnung, weshalb sie auch als unilaterale Maßnahme üblich ist. Hin155 Dazu Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017, Rz. 15.1 ff.; Vogel/Lehner, DBA6, 2015, Grundlagen Rz. 6 ff.; Krause, Internationale Doppelbesteuerung, Ursachen und Lösungen, Diss., 2003. 156 So auch der Begriff der „juristischen Doppelbesteuerung“ im amtl. Kommentar zu Art. 23 A OECDMusterabkommen, Rz. 1: Dieselben Einkünfte oder dasselbe Vermögen werden bei derselben Person durch mehr als einen Staat besteuert. 157 Dazu Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017, Rz. 17.16 ff.; s. auch Sutter/Wimpissinger, Freistellungs- u. Anrechnungsmethode in den DBA, 2002; Hüsing, SteuerStud. 2007, 312 (Vermeidung der Doppelbesteuerung u. Verluste); Winhard, Die Funktion der abkommensrechtlichen Steuerfreistellung und ihre Auswirkungen auf das deutsche Recht, Diss., 2007; Lampert, Doppelbesteuerungsrecht und Lastengleichheit, Diss., 2010, 250 ff.; E. Schmidt, DStJG 36 (2013), 87. 158 So die h.M., s. K. Vogel, DStJG 8 (1985), 3 ff., 17 ff.; Schaumburg, FS Tipke, 1995, 125 (128 ff.); Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017, Rz. 6.53 ff., 6.60; ausf. unter Berücksichtigung der Bedürfnisse von Entwicklungs- u. Schwellenländern Valta, Das Internationale Steuerrecht zwischen Effizienz, Gerechtigkeit und Entwicklungshilfe, Diss., 2014, 45 ff.
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Seer
7. Gebiete und Gesetze des besonderen Steuerrechts
Rz. 98 § 1
gegen befolgt die Freistellungsmethode konsequent das Quellenprinzip, weil sie allein dem Quellenstaat das Besteuerungsrecht belässt. I.Ü. verwirklicht auch das Quellenprinzip die Totalität der Besteuerung, eben nur nicht zu Gunsten eines einzigen Staates. Die Totalität der Besteuerung nach dem Quellenprinzip kann aber von einem einzigen Staat zu leisten sein: Im Falle der sog. Grenzgängerbesteuerung (s. § 8 Rz. 30) stellt sich nämlich die Frage, ob der Quellenstaat nicht verpflichtet ist, die gesamten Umstände steuerlicher Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen, wenn sämtliche Einkünfte im Quellenstaat erwirtschaftet werden. d) Harmonisierungsfunktion des IStR: Die in Rz. 83 genannten Prinzipien der Steuergleichheit und 97 Wettbewerbsneutralität gebieten schließlich die Harmonisierung von Steuerfolgen. Die Verschiedenheit der Steuerrechtsordnungen lässt sich durch ein IStR, das Steueransprüche in Bezug auf die grenzüberschreitende Tätigkeit abgrenzt und Anspruchskollisionen beseitigt, nur sehr bedingt ausgleichen. Besteuerung ist ein mehr oder weniger erheblicher Standortfaktor, der wesentlich außerhalb des herkömmlichen IStR angesiedelt ist, weil die meisten Steuersubjekte nicht grenzüberschreitend tätig werden. Je größer jedoch der Anteil internationaler Betätigung wird, desto stärker wird der Druck auf die Staaten, für internationale Steuergleichheit und Wettbewerbsneutralität zu sorgen. Aus dem sog. Wettbewerb der Steuersysteme (s. § 7 Rz. 71 ff.) wachsen dem IStR neue Aufgaben der Harmonisierung von Steuerrechtsordnungen zu. Die Neutralitätseffekte des kollisionsauflösenden IStR sind begrenzt159. Die Anrechnungsmethode 98 hat den Effekt, dass binnenwirtschaftlich tätige Unternehmen und Exportunternehmen gleichgestellt werden (sog. Kapitalexportneutralität). Die Freistellungsmethode verwirklicht die sog. Kapitalimportneutralität, indem ausländische Investoren und ihre Konkurrenten gleicher Besteuerung unterworfen werden. Derartige Neutralitätseffekte verbessern nur geringfügig die internationale Steuerneutralität, nach der es steuerlich gleichgültig wäre, an welchem Ort, im Inland- oder im Ausland, sodann in welchen Ländern die wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet wird. Antworten auf die Frage, in welchem Umfang die sog. Globalisierung der Märkte dazu zwingt, die Verschiedenheit der Steuerrechtsordnungen zu Gunsten der internationalen Steuerneutralität preiszugeben, liefert exemplarisch der Europäische Binnenmarkt und damit die Entwicklung des europäischen Steuerrechts. Während das kollisionsauflösende IStR die nationalen Steuertatbestände wohl beschränkt (Rz. 81 ff.), i.Ü. aber auf den Inhalt des nationalen Steuerrechts nicht einwirkt, ist das europäische Steuerrecht darauf angelegt, die nationalen Steuerrechtsordnungen inhaltlich anzugleichen und damit der internationalen Steuerneutralität eine gegenüber dem kollisionsauflösenden IStR fortgeschrittene Qualität zu vermitteln. Demnach ist das europäische Steuerrecht Teil des IStR, soweit es harmonisierend die Besteuerung des internationalen Wirtschaftsverkehrs gestaltet und damit die Aufgabe des IStR erfüllt, die nationalen Steuerrechtsordnungen möglichst diskriminierungsfrei und wettbewerbsneutral aufeinander abzustimmen (Rz. 83)160. Soweit das europäische Steuerrecht Normen mit Steuerfolgen außerhalb des internationalen Wirtschaftsverkehrs erfasst, reicht es über den Begriff des IStR (s. Rz. 82 ff.) hinaus.
159 Ausf. zur Kapitalexport-/Kapitalimportneutralität Vogel/Lehner, DBA6, 2015, Grundlagen Rz. 267a f.; Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung8, 2016, 18 ff.; Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017, Rz. 17.16 ff.; krit. K. Vogel, StuW 1993, 380 (386 ff.). Eine Analyse der Neutralitätskonzepte findet sich bei Spengel, DStJG 36 (2013), 39. 160 Zum Verhältnis des Internationalen Steuerrechts zum Europarecht K. Vogel, StuW 1993, 380; Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1995; Gassner/Lang/Lechner, Doppelbesteuerungsabkommen und EU-Recht, 1996; M. Lang, FS Rädler, 1999, 429; R. Klapdor, Effiziente Steuerordnung durch ein europäisches Musterabkommen?, Diss., 2000; Lehner, IStR 2001, 329; Schaumburg, DB 2005, 1129; Kofler, ÖStZ 2007, 495; Metzler, ÖStZ 2007, 441; Rosenthal, IStR 2007, 610; Jirousek, FS Nolz, 2008, 43; Beiser, ÖStZ 2009, 211; Keuthen, Die Vermeidung der juristischen Doppelbesteuerung im EG-Binnenmarkt, Diss., 2009.
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§ 1 Rz. 99
Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung
7.3 Europäisches Steuerrecht 99
Aufgrund der kontinuierlich gestiegenen Bedeutung des Unionsrechts für das nationale Steuerrecht der Mitgliedstaaten, wird dem europäischen Steuerrecht ein eigener Paragraf (s. § 4) gewidmet.
100 Besonderes Steuerrecht Besonderes Steuerschuldrecht (Recht der einzelnen Steuerarten)
Steuern auf das Einkommen und Vermögen: EStG, Kirchensteuergesetze, KStG, GewStG, sowie bewertungsgesetzabhängige Steuerarten: BewG, ErbStG, GrStG
Steuern auf die Verwendung von Einkommen und Vermögen: UStG, Verkehr-/Verbrauchsteuergesetze
Sondergebiete des Steuerrechts
Steuersubventionsrecht, insb. Gemeinnützigkeitsund Spendenrecht: §§ 51–68 AO, Fördergesetze
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Bilanz- und Unternehmensteuerrecht (Besonderes Steuerschuldrecht der Unternehmen) UmwStG
Internationales und europäisches Steuerrecht: AStG, DBA, ZK
§2 Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung Literatur: Verhandlungen des 61. Deutschen Juristentages, Empfehlen sich Maßnahmen, um in der Finanzverfassung Aufgaben- und Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden stärker zusammenzuführen?, Bd. I, II/1, 1996, mit Gutachten v. F. Kirchhof u. Referaten von Geske (M 9 ff.), Milbradt (M 35 ff.) u. Dieckmann (M 59 ff.); K. Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, HStR, II3, § 30; Kube, Finanzgewalt in der Kompetenzordnung, Habil., 2004; Siekmann, Die Staatsfinanzierung nach dem Grundgesetz, 2005; Waldhoff/Hey, Finanzautonomie und Finanzverflechtung in gestuften Rechtsordnungen, VVDStRL 66 (2007), 216 ff., 277 ff.; Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, HStR, V3, § 116; Seer, Zukunft des Steuerföderalismus, in FS Schnapp, 2008, 303; Hummel, Verfassungsrechtsfragen der Verwendung staatlicher Einnahmen, Diss., 2008; Korte, Die konkurrierende Steuergesetzgebung im Bereich der Finanzverfassung, Diss., 2008; Haag, Die Aufteilung steuerlicher Befugnisse im Bundesstaat, Diss., 2011; Kube, Der bundesstaatliche Finanzausgleich, 2011; Kempny, Die Staatsfinanzierung nach der Paulskirchenverfassung, Diss., 2011; Henneke, Die Kommunen in der Finanzverfassung des Bundes und der Länder, 2012; Tipke, StRO III2, 2012, 1307 ff.; Korioth, Finanzverfassung, FS P. Kirchhof, Bd. II. 2013, 1469; Link, Föderalismusreform III – Kritische Analyse der föderalen Finanzbeziehungen und aktuell diskutierte Reformansätze, Ifst-Schrift 501, 2014; Haltern/Reimer, Die künftige Ausgestaltung der bundesstaatlichen Finanzordnung, VVDStRL 73 (2014), 103 ff., 153 ff.; Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages, Neuordnung der Finanzbeziehungen – Aufgabengerechte Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, Bd. I, 2014, Abt. D, mit Gutachten v. Kempny/Reimer (dazu Begleitaufsätze v. R. Schenke, NJW 2014, 2542; Fromme/Ritgen, DVBl. 2014, 1017) u. Referaten v. Feld, Henneke u. Voß; Schweisfurth/Voß (Hrsg.), Haushalts- und Finanzwirtschaft der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 2017; Federer-Meyer, Finanzielle Solidarität im Bundesstaat, Diss., 2017; Mehlhaf, Kommunen im Finanzausgleich des Grundgesetzes, Diss., 2017; s. außerdem die Kommentierungen der Art. 104a–115 GG.
1. Einführung a) Abschnitt X (Das Finanzwesen) des Grundgesetzes umfasst zwei Komplexe: das bundesstaatliche 1 Finanzverfassungsrecht (Art. 104a–108 GG) und das Haushaltsverfassungsrecht (Art. 109–115 GG). Das Finanzverfassungsrecht des GG regelt nach der Ausgabenzuständigkeit von Bund und Ländern in Art. 104a GG nicht die Einnahmenzuständigkeit umfassend für alle Arten von Abgaben (Steuern, Gebühren, Beiträge, Sonderabgaben), wie es aus heutiger Sicht im Hinblick auf den Wildwuchs von Abgaben sinnvoll wäre1. In den Art. 105–108 GG sind vielmehr nur Zuständigkeiten für Steuern, die sog. Steuerhoheiten normiert: die Steuergesetzgebungshoheit (Art. 105 GG), die Steuerertragshoheit (Art. 106; 107 GG) und die Steuerverwaltungshoheit (Art. 108 GG). Das BVerfG versteht die Finanzverfassung als eine in sich geschlossene Rahmen- und Verfahrensordnung, die auf Formenklarheit und auf Formenbindung angelegt und nicht analogiefähig ist2. Es hat die Begrenzungs- und Schutzfunktion der Finanzverfassung dabei nicht nur für Sonderabgaben (s. Rz. 25 ff.), sondern auch für Gebühren (s. Rz. 20 ff.) betont3.
1 So F. Kirchhof, VVDStRL 52 (1993), 71 (95 ff.). Zu den ökonomischen Wirkungen Kaltenborn, Abgaben und Sozialtransfers in Deutschland, 2003. 2 BVerfG v. 6.11.1984 – 2 BvL 19/83 u.a., BVerfGE 67, 256 (288 f.); BVerfG v. 28.3.2002 – 2 BvG 1/01, 2 BvG 2/01, BVerfGE 105, 185 (193 f.); zuletzt BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, NJW 2017, 2249, Rz. 58 ff. zur Verfassungswidrigkeit des KernbrStG. 3 So BVerfG v. 19.3.2003 – 2 BvL 9/98 u.a., BVerfGE 108, 1 (17 ff.); in jüngeren Entscheidungen hat das BVerfG allerdings die Gesetzgebungskompetenz pragmatisch dahinstehen lassen, wenn die Ausgestaltung der „Gebühr“ jedenfalls materiell rechtswidrig war, s. zuletzt BVerfG v. 17.1.2017 – 2 BvL 2/14 u.a., NVwZ 2017, 696, Rz. 61 ff.
Seer 35
§ 2 Rz. 2
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
2 Indessen ist in einem Bundesstaat die Staatsgewalt auf Gesamtstaat (Bund) und Gliedstaaten (Län-
der) sachlich zu verteilen4. Einem solchen Regelungszweck dient das Finanzverfassungsrecht der Art. 105–108 GG. Es sucht in differenzierter und eben auch komplizierter Weise zwei einander widerstrebende Prinzipien auszugleichen, einerseits das Autonomieprinzip, das Bund und Ländern gesonderte Zuständigkeiten zuweist, und andererseits das „bündische Prinzip“5, das gemeinsame Zuständigkeiten begründet6. Demzufolge sind die Steuern nach einem Mischsystem verteilt7: Die großen Steuern (Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Umsatzsteuer) sind in einem Verbundsystem der Gemeinschaftsteuern (Art. 106 III 1 GG) mit quotenmäßiger Aufteilung zusammengefasst (s. Art. 106 III, IV GG u. Rz. 60 f.). Die übrigen Steuern werden nach einem Trennsystem entweder vollständig dem Bund (s. Art. 106 I GG u. Rz. 58) oder vollständig den Ländern (s. Art. 106 II GG u. Rz. 59) zugewiesen. 3 b) Demnach ist das bundesstaatliche Finanzverfassungsrecht Staatsorganisationsrecht, dessen Funk-
tion nicht in einer materiellen Ausgestaltung der Steuerrechtsordnung besteht. Der Katalog der Steuerarten in Art. 106 GG bildet lediglich eine historische Bestandsaufnahme von Steuern und beruht nicht auf konkreten Wertentscheidungen des Verfassungsgebers zu einer gerechten Aufteilung der Steuerlasten auf die Stpfl.8 Schon die mangelnde Systematik des Art. 106 GG lässt klar erkennen, dass der Verfassungsgeber nicht über ein für die Steuerschuldner gerechtes oder gar nur zweckmäßiges Steuersystem mit dem Ziel reflektiert hat, eine ethisch rationale und damit zeitlos gültige Steuergrundordnung schaffen zu wollen9. Er hatte vielmehr nur die andere Seite, die der Steuergläubiger, im Blickfeld und verteilte unter den Gebietskörperschaften der bundesstaatlichen Ordnung das Aufkommen aus einem historischen Konglomerat real existierender Steuern. 4 Das BVerfG hat in seinem Urteil vom 13.4.2017 zur Verfassungswidrigkeit der Kernbrennstoffsteuer
der Existenz eines Steuererfindungsrechts, wonach Bund oder Länder auch völlig neuartige, bisher in der Finanzverfassung des Grundgesetzes nicht geregelte Steuern einführen könnten10, eine Absage erteilt11. Vielmehr darf der Gesetzgeber – ohne Verfassungsänderung – nur in den Grenzen der in Art. 105, 106 GG vorgegebenen Steuertypen und Kompetenzen neue Steuern „erfinden“ bzw. bereits vorhandene Steuern verändern. Die fundamentale Schwäche der Gegenmeinung besteht darin, dass sie die Frage der Ertragsverteilung offen lassen muss, weil Art. 106 GG über dort nicht aufgeführte 4 Vgl. dazu Döhler, Autonome Besteuerungsrechte für Gliedstaaten und Gemeinden in ausgewählten föderativen Finanzverfassungen, Diss., 2002; Lienemeyer, Die Finanzverfassung der Europäischen Union, Ein Rechtsvergleich mit bundesstaatlichen Finanzverfassungen, Diss., 2002; Haag, Die Aufteilung steuerlicher Befugnisse im Bundesstaat, Diss., 2011, 39 ff.; Magnani, Die primäre Steuerverteilung unter den Länder – Status quo und Reformperspektiven, Diss., 2016, passim. Zur Möglichkeit der Ausweitung des nationalen Steuerwettbewerbs anhand eines Rechtsvergleichs mit der Schweiz und den USA Nücken, Nationaler Steuerwettbewerb, Diss., 2013, 22 f., 51 f., 257 ff., 279 ff.; s. auch Gutachten 70. DJT (2014) v. Kempny/Reimer. 5 BVerfG v. 24.6.1986 – 2 BvF 1/83 u.a., BVerfGE 72, 330. 6 Zur Systematik der Verteilung von Mangoldt/Klein/Starck/Schwarz, Bd. 36, 2010, Art. 106 GG Rz. 21 ff.; Sachs/Siekmann8, 2018, Vor Art. 104a GG Rz. 46 ff.; Art. 106 GG Rz. 2. 7 Idealtypisch kann die Steuerhoheit allein beim Gesamtstaat liegen, der sodann den Gliedstaaten die nötigen Mittel zuweist (Gesamtverbundsystem), oder die Steuerhoheit liegt allein bei den Gliedstaaten, die dem Gesamtstaat die nötigen Mittel überweisen (Überweisungssystem), oder jede Körperschaft hat Steuerautonomie für alle Steuergüter, so dass sich innerstaatliche Doppelbesteuerungen ergeben (Konkurrenz- oder Parallelsystem). Ausf. mit Rechtsvergleich zum System in Kanada, Schweiz u. den USA: Haag, Die Aufteilung steuerlicher Befugnisse im Bundesstaat, 2011, Diss., 266 ff., 306 ff. 8 Grundl. Tipke, StRO III2, 1353 ff.; Tipke, BB 1994, 437. 9 R. Wendt, Finanzhoheit und Finanzausgleich, HStR VI3, § 139 Rz. 29 f. 10 So etwa vertreten von R. Wendt, Finanzhoheit und Finanzausgleich, HStR VI3, § 139 Rz. 29; Tipke, StRO III2, 1325, 1353 ff.; Osterloh, NVwZ 1991, 823 (828); Söhn, FS Stern, 1997, 587 (599 ff.); T. Schmidt, StuW 2015, 171 (174 ff.); de constitutione ferenda gegen eine Beschränkung der Gesetzgebungskompetenz nach bestimmten Steuertypen Kempny/Reimer, Gutachten 70. DJT, 2014, D 50. 11 BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, NJW 2017, 1037, Rz. 72 ff.
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Seer
1. Einführung
Rz. 5 § 2
(neue) Steuerarten nichts aussagen kann. Die angebotenen unterschiedlichen Problemlösungen (Regelung durch den einfachen Gesetzgeber, Ertragshoheit kraft Sachzusammenhangs zugunsten der regelnden Gebietskörperschaft, durch den Verfassungsgeber zu schließende Regelungslücke) vermögen unisono nicht zu überzeugen12. Eine Ergänzung der Verteilungsregel kann nicht der einfache Gesetzgeber, sondern nur der Verfassungsgeber, der über die erforderliche Mehrheit sowohl im Deutschen Bundestag als auch im Deutschen Bundesrat verfügt, beschließen. Da es angesichts der qualifizierten Mehrheitserfordernisse höchst ungewiss ist, ob der Verfassungsgeber hinsichtlich der neuartigen Steuer überhaupt eine Ertragsverteilungsregel zustande bringt, hinge die Steuerverteilung ansonsten in der Luft. Wer auf das Erfordernis einer verfassungsrechtlichen Ertragsverteilungsregel verzichtet und den Steuerertrag kurzerhand der jeweils gesetzgebenden Körperschaft zuweist, reizt zum „Wettlauf“ (zwischen Bund und Ländern) in der Erfindung neuer Steuern an. Dies widerspricht der vom BVerfG betonten Schutzfunktion der Finanzverfassung. Daher ist die Aufzählung der Ertragszuweisung in Art. 106 GG abschließend, so dass weder der Bund noch die Länder Steuererfindungsrechte außerhalb der vom GG genannten Steuern und Steuerarten reklamieren können13. Die Regelung des Steuertatbestands hängt insofern von einer Regelung in Art. 106 GG ab, als dort die Gläubigerseite normiert ist. Ein Steueranspruch ist erst dann vollständig normiert, wenn auch bestimmt ist, wer den Steueranspruch innehat. Wollen Bund oder Land eine neue, in Art. 106 GG nicht aufgeführte Steuerart einführen, müssen Bundestag und Bundesrat mit qualifizierter Mehrheit gleichzeitig die austarierte Ertragsverteilungsregel des Art. 106 GG ergänzen14. Art. 106 GG gibt dem Steuergesetzgeber damit einen Handlungsrahmen vor. Dieser Handlungsrah- 5 men dient nur dem Zweck der Aufkommensverteilung und kann deshalb nicht dazu dienen, herkömmliche Steuerarten oder herkömmliche Besteuerungsformen verfassungsrechtlich zu institutionalisieren. Das bedeutet, dass Steuern abgeschafft werden können. Art. 106 GG regelt die Ertragshoheit nur für den Fall, dass die Steuer erhoben wird; er ordnet die Erhebung nicht an und sichert somit nicht den Bestand der in Art. 106 GG aufgeführten Steuern15. Nach Vorstellung des BVerfG ist die Steuer durch ihre Verankerung in Art. 106 GG zwar wohl „dem Grunde nach“ in „ihrer wesentlichen Struktur“ gerechtfertigt; sie muss jedoch grundrechtskonform ausgestaltet sein16. Dessen unbeschadet unterliegen auch die finanzverfassungsrechtlich festgelegten Steuern dem Wandel der Anschauungen über die „richtige“ Besteuerung. Dementsprechend können unabhängig von der historischen Prägung der in Art. 106 GG aufgeführten Steuern fundamentale Steuerreformen durchgeführt werden17: Die Steuern des Art. 106 GG können grundl. umgestaltet und es können auch neuartige Steuern eingeführt werden, sofern sich diese einer der in Art. 106 GG aufgeführten Steuern zuordnen lassen18. Ist dies nicht möglich, so bedarf Art. 106 GG aber der Ergänzung, weil der Steuergläubiger in Gestalt der Ertragshoheit nicht einfachgesetzlich normiert werden kann, vielmehr verfassungsrechtlich bestimmt sein muss. Art. 106 GG ist vorher oder uno actu mit dem Gesetz zur Einführung der neuen Steuer zu ergänzen (s. Rz. 4). Die Erfahrung lehrt allerdings, dass Steuerreformen besonders im Falle von Bundesgesetzen, die der Zustimmung des Bundesrats bedürfen (Art. 105 III GG), häufig nur durch überparteilichen Konsens mit den für die Ergänzung des Art. 106 GG erforderlichen Zweidrittelmehrheiten (Art. 79 Abs. 2 GG) zustande kommen.
12 13 14 15 16 17
Eingehend herausgearbeitet durch BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, NJW 2017, 2249, Rz. 80-98. Ebenso schon früher insb. K. Vogel, FS Tipke, 1995, 93 (100 ff.). Siehe nun auch BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, NJW 2017, 2249, Rz. 86 ff. Anders noch Wacke, Das Finanzwesen der Bundesrepublik Deutschland, 1950, 62 ff. Siehe BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (24 f.). Grundl. hierzu von Mangoldt/Klein/Starck/Jachmann, Bd. 36, 2010, Art. 105 GG Rz. 32 ff. (Bedeutung der Ertragshoheit). 18 Möckel, DÖV 2012, 265 (266 ff.). Zur Abgrenzung sowie zur Begriffsbestimmung von Verkehr-, Verbrauch- und Aufwandsteuer s. Rz. 48 f.; Seer, ZfZ 2013, 146.
Seer 37
§ 2 Rz. 6
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
6 In der Vergangenheit sind die Straßengüterverkehrsteuer (Art. 106 I Nr. 3 GG), die Gesellschaftsteuer
(Kapitalverkehrsteuer i.S.d. Art. 106 I Nr. 4 GG)19, die Wechselsteuer (Art. 106 I Nr. 4 GG) sowie die einmaligen Vermögensabgaben und Lastenausgleichsabgaben (Art. 106 I Nr. 5 GG) abgeschafft worden20. Die Gewerbesteuer dürfte gänzlich abgeschafft (genauer: ersetzt) werden, wenn Art. 28 II 3 GG beachtet bleibt, d.h. die Kommunen über eine andere wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle mit eigenem Hebesatzrecht verfügen (s. Rz. 53). Die Vermögensteuer (Art. 106 II Nr. 1 GG) wird derzeit nicht erhoben und darf u.E. nicht erhoben werden, weil sie mit einer gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit nicht zu vereinbaren ist (s. § 3 Rz. 121; § 16 Rz. 62)21. Über die grundrechtliche Zulässigkeit einer Steuer trifft die staatsorganisatorische Regelung des Art. 106 GG keine Aussage, so dass eine dort aufgeführte grundrechtswidrige Steuer verfassungsrechtlich keinen Bestand haben kann22. Allerdings hat der Gesetzgeber in der jüngeren Vergangenheit auch nicht wenige Steuern neu eingeführt. Der zum 1.1.1995 erneuerte Solidaritätszuschlag23 ist eine Ergänzungsabgabe zur ESt/KSt (Art. 106 I Nr. 6 GG); seine mangelnde Befristung hält die h.M. (bisher) für unschädlich24. Auch wenn eine Befristung nicht bereits aus dem Begriff „Ergänzungsabgabe“ hergeleitet werden kann, so aber doch wohl aus dessen Funktion, in „Ausnahmelagen“ oder „besonderen Notfällen“ Bedarfsspitzen des Bundes zu finanzieren, womit keine dauerhafte Aufkommensverschiebung zugunsten des Bundes verbunden sein sollte25. Die Offenheit der finanzverfassungsrechtlichen Steuerbegrifflichkeit exemplifiziert die Stromsteuer; sie weicht vom tradierten Verbrauchsteuerbegriff als Privatkonsumsteuer insoweit ab, als sie nicht nur die Stromkonsumenten, sondern auch Unternehmen belastet und insoweit den Charakter einer Produktionsmittelsteuer erhält (s. auch Rz. 48). Gleichwohl hat das BVerfG die Stromsteuer dem Verbrauchsteuerbegriff i.S.d. Art. 106 I Nr. 2 GG zugeordnet (s. § 18 Rz. 116)26. Vom Verbrauchsteuerbegriff des Art. 106 Abs. 1 Nr. 2 GG jedenfalls nicht mehr gedeckt sind aber direkte Produktionsmittelsteuern, wie z.B. die durch Gesetz v. 8.12.2010, BGBl. I 2010, 1814, zum 1.1.2011 (be-
19 Zum bisher nicht verwirklichten Plan, im Wege einer sog. verstärkten Zusammenarbeit von 11 Mitgliedstaaten der EU (s. Art. 326 ff. AEUV; s. dazu EuGH C-209/13 [Vereinigtes Königreich./.EU], ECLI:EU:C:2014:283) eine Finanztransaktionssteuer einzuführen, s. Büttner/Erbe/Hannig/von Schweinitz, Steuern und Abgaben im Finanzsektor II, IFSt-Schrift Nr. 502, 2015, mit einem Blick auf die bereits bestehenden Finanztransaktionssteuern in Frankreich u. Italien. 20 Zum Vorschlag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nach Art. 106 I Nr. 5 GG einmalig eine „Vermögensabgabe“ zur Sanierung der durch die Finanz- und Bankenkrise strapazierten Staatsfinanzen einzuführen (auf der Basis eines Gutachtens v. Bach/Beznozka/Steiner [DIW], Politikberatung kompakt, Bd. 59, 2010), s. G. Kirchhof, StuW 2011, 189 (201 f.); Kube, DStR-Beihefter 2013, 37 (47 f.); s. auch § 16 Rz. 63. 21 Kube, DStR-Beihefter 2013, 37 (38 f.). 22 So BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (24) zur GewSt: Art. 106 VI GG rechtfertige die Steuer zwar dem Grunde nach, entziehe sie aber nicht der gleichheitsrechtlichen Überprüfung. Wegweisend Tipke, StRO I2, 298 ff. 23 Der zunächst befristete Solidaritätszuschlag (s. Gesetz v. 24.6.1991, BGBl. I 1991, 1318) ist durch das Gesetz v. 23.6.1993, BGBl. I 1993, 944, zu einem unbefristeten Zuschlag gemacht worden. 24 BVerfG v. 8.9.2010 – 2 BvL 3/10 (Kammerentscheidung), FR 2010, 999, mit krit. Anm. v. Birk; BFH v. 21.7.2011 – II R 52/10, BStBl. II 2012, 43 (45 ff.); Hilgers/Holly, DB 2010, 1419 (1420); a.A. die vom BVerfG als unzulässig verworfene Normenkontrollvorlage des Niedersächs. FG v. 25.11.2009 – 7 K 143/08, Rz. 236 ff. Das BVerfG hatte bereits zuvor gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlags gerichtete Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG v. 19.11.1999 – 2 BvR 1167/96; BVerfG v. 11.2.2008 – 2 BvR 1708/06). 25 Krit. auch Schemmel, Verfassungswidriger Solidaritätszuschlag, Karl-Bräuer-Institut, Heft 102, 2008, 27 f.; Selmer/Hummel, Jahrbuch für öffentliche Finanzen, 2013, 365 (372 ff.); Wiss. Beirat Ernst & Young, DStR 2014, 1309 (1311 ff.); Bartone, FS R.Wendt, 2015, 739 (753 ff.); für eine verfassungsrechtlich gebotene Abschmelzung Kube, DStR 2017, 1792 (1797 ff.). Das Niedersächs. FG v. 21.8.2013 – 7 K 143/08 hat das BVerfG erneut angerufen (dortiges Az. 2 BvL 6/14). 26 BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00 u.a., BVerfGE 110, 274 (296), wonach es keinen Rechtssatz geben soll, der das Anknüpfen einer Verbrauchsteuer an ein Produktionsmittel verbietet. Zum Verbrauchsteuerbegriff s. Rz. 47.
38
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1. Einführung
Rz. 8 § 2
fristet) eingeführte und jüngst vom BVerfG für nichtig erklärte Kernbrennstoffsteuer27. Dagegen hat das BVerfG die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die mit Gesetz v. 9.12.2010, BGBl. I 2010, 1885, eingeführte (unbefristete) Luftverkehrsteuer nach Art. 105 II i.V. mit Art. 106 I Nr. 3 GG („sonstige auf motorisierte Verkehrsmittel bezogene Verkehrsteuer“) bejaht28. Von der Einführung neuer, in Art. 105; 106 GG bisher nicht genannter Steuerarten zu unterscheiden ist die Erweiterung bzw. Umgestaltung bekannter Steuerarten. So ist es u.E. noch vom Kompetenztitel des Art. 105 II GG i.V.m. Art. 106 III GG gedeckt, wenn der Bund die Körperschaftsteuer zu einer allgemeinen Unternehmensteuer, die rechtsformneutral an den Gewinn des Unternehmens anknüpft (s. § 13 Rz. 168 ff.), ausdehnen würde29. Eine verfassungsändernde Mehrheit ist nur erforderlich, wenn die Fundamentalreform eine andere Verteilung des Steueraufkommens und damit eine Änderung oder Ergänzung des Art. 106 GG erfordert (s. Rz. 4). c) Die für den Stpfl. relevanten materiellen Grundwertungen der Steuerrechtsordnung sind damit 7 nicht dem Finanzverfassungsrecht, sondern anderen Teilen des Grundgesetzes, so insb. dem Abschnitt I (Die Grundrechte) und den Strukturprinzipien der Verfassung (Rechtsstaatsprinzip, Sozialstaatsprinzip) zu entnehmen (s. § 3). Zu materiellen Grundwertungen der Steuerrechtsordnung enthält das Grundgesetz keine ausdrücklichen Bestimmungen (s. § 1 Rz. 50). Demgegenüber war in Art. 134 WRV die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit festgeschrieben (s. 8 § 3 Rz. 40). Auch in vielen geltenden Verfassungen ist das Leistungsfähigkeitsprinzip entsprechend dem Vorbild in Art. 13 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 ausdrücklich verankert30. Darüber hinaus enthalten einige Verfassungen konkrete materielle Festlegungen, z.B. die Progressivität der Besteuerung (u.a. Italien, Spanien), das Verbot steuerlicher Privilegierung (Art. 112 I der belgischen Verfassung) oder gar ein konkretes Steuerprogramm wie das Ziel „egalitärer Vermögens- und Einkommensverteilung“ (Art. 106 I der portugiesischen Verfassung). Die praktischen Erfahrungen und besonders auch der Streit um Art. 106 GG lehren, dass konstitutionelle Konkretisierungen oder Begrenzungen der Besteuerung31 nicht den Effekt haben, die Situation des Steuerrechts zu verbessern, z.B. das belgische Steuerrecht privilegienfrei zu gewährleisten, die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit oder ein sozialistisches Steuerprogramm32 zu effektuieren. Daher ist das Schweigen des Grundgesetzes zu materiellen Inhalten der Besteuerung nicht als Nachteil zu bewerten, eine
27 Zum fehlenden Verbrauchsteuertypus der KernBrSt als direkte Produktionsmittelsteuer ausf. BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, NJW 2017, 2249, Rz. 138-161; zuvor bereits Seer, DStR 2012, 325 (331 ff.); Drüen, ZfZ 2012, 309 (315 ff.); Seer, ZfZ 2013, 146 (149 f.). 28 BVerfG v. 5.11.2014 – 1 BvF 3/11, BVerfGE 137, 350, Rz. 28-31; a.A. Eilers/Hey, DStR 2011, 97 (99 ff.); Lehmann/Sterner/Wölfel, IStR 2014, 616 (617 ff.), mit einem Rechtsvergleich. 29 Zu den Reformüberlegungen s. J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (107 f.); zur Idee einer sog. Inhabersteuer J. Lang, Perspektiven der Unternehmensteuerreform, in Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung, BMF-Schriftenreihe, Heft 66, 1999, Anh. Nr. 1, S. 19 ff. Die Inhabersteuer ist als Einkommensteuer für Personenunternehmen konzipiert und soll der Rechtsformneutralität im Verhältnis zur Körperschaftsteuer dienen. 30 Art. 13 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte v. 26.8.1789, u. z.B. Art. 53 I der italienischen, Art. 31 der spanischen, Art. 4 V der griechischen Verfassung. Umfassender Überblick von Tipke, StRO I2, 488 ff. 31 Dazu K. Vogel, FS Maunz, 1981, 424; K. Vogel, HStR I1, § 27 Rz. 73 f.; Tipke, StRO I2, 463 ff.; Folkers, Begrenzungen von Steuern und Staatsausgaben in den USA, 1983 (zur berühmten kalifornischen Steuerrevolte); Schemmel/Borell, Verfassungsgrenzen für Steuerstaat und Staatshaushalt, Ein Beitrag zur Reform der Finanzverfassung, Karl-Bräuer-Institut, Heft 75, 1992. 32 Die Verfassung hat Portugal nicht daran gehindert, auf Madeira eine Steueroase für flüchtendes Kapital einzurichten. Obgleich in Art. 31 der spanischen Verfassung Prinzipien der Steuergerechtigkeit (Leistungsfähigkeitsprinzip, Progressionsprinzip, Verbot der Erdrosselungssteuer, Verbot der Steuerverschwendung, Gesetzmäßigkeit der Besteuerung) positiviert sind, räumt das spanische Verfassungsgericht dem Gesetzgeber mehr Handlungsspielraum ein als das BVerfG. Dazu Taboada, FS Tipke, 1995, 583 ff.
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§ 2 Rz. 9
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
Einfügung steuerrechtlicher Programmsätze in das Grundgesetz nicht erforderlich33. Letztlich liegt es überall nicht so sehr am Verfassungstext als vielmehr an der durch Legislative, Rspr. und Exekutive geschaffenen Verfassungswirklichkeit, wie viel Recht und Gerechtigkeit eine Steuerrechtsordnung gewährt. 2. Der Steuerbegriff; Abgrenzung von anderen Abgaben Literatur: Leon, Der Begriff der Steuer, FinArch. 31 (1914), 489; Friauf, Verfassungsrechtliche Grenzen der Wirtschaftslenkung und Sozialgestaltung durch Steuergesetze, 1966; Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972; Starck, Überlegungen zum verfassungsrechtlichen Steuerbegriff, in FS Wacke, 1972, 193; Knies, Steuerzweck und Steuerbegriff, Habil., 1976; Bodenheim, Der Zweck der Steuer, Diss., 1979; Schaefer, Der verfassungsrechtliche Steuerbegriff, Diss., 1997; Jarass, Nichtsteuerliche Abgaben und lenkende Steuern, 1999; Kreibohm, Der Begriff der Steuer im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Diss., 2004; Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, Habil., 2005; Reimer, Abgaben, in FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 136; Söhn, Steuer, in FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 145; s. außerdem Kommentare zu Art. 105 GG und § 3 AO.
2.1 Verfassungsrechtlicher Inhalt und Bedeutung des Steuerbegriffs 9 Die Legaldefinition der Steuer in § 3 I AO hat in der Steuerpraxis keine nennenswerte Bedeutung.
Der Steuerbegriff wird vielmehr hauptsächlich für die Abgrenzung der in den Art. 105–108 GG normierten Steuerhoheiten benötigt. Er ist relevant für die Fragen der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Abgaben, die als Steuer, aber auch als Gebühren, Beiträge oder Sonderabgaben qualifiziert werden können. I.Ü. kann der Steuerbegriff überall dort verfassungsrechtlich relevant werden, wo der verfassungsrechtliche Inhalt steuerbegriffsabhängiger Institutionen zu eruieren ist34. 10 Das BVerfG35 vertritt in st. Rspr. die Auffassung, dass der Verfassungsgeber den einfach-gesetzlichen
Steuerbegriff in § 1 der RAO von 1919 übernommen habe (sog. Rezeptionsargument)36. Der auf Otto Mayer zurückgehende Steuerbegriff der RAO37 brachte indessen nicht hinreichend zum Ausdruck, dass Steuern auch wirtschaftslenkenden Charakter haben können. Insoweit bedurfte der historische Steuerbegriff der Ergänzung. Der verfassungsrechtliche Steuerbegriff hat auch der Notwendigkeit Rechnung zu tragen, „dass die Steuer in der modernen Industriegesellschaft zwangsläufig auch zum zentralen Lenkungsinstrument aktiver staatlicher Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik geworden ist“38 (s. §§ 19, 20). Der Gesetzgeber der AO 1977 hat dem Lenkungscharakter der Steuer 33 F. Kirchhof, VVDStRL 52 (1993), 71 (77 f.), lehnt die Aufnahme des Leistungsfähigkeitsprinzips in die Verfassung nachdrücklich ab; über Zustand und Zukunft des Leistungsfähigkeitsprinzips mit Blick auf das GG aus heutiger Sicht F. Kirchhof, BB 2017, 662; Waldhoff, Die Verwaltung 48 (2015), 85 (88 ff.), sieht sogar die Gefahr einer „Überkonstitutionalisierung des Steuerrechts“. 34 Bsp.: Geltung des Steuergeheimnisses gegenüber Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen (vgl. BVerfG v. 17.7.1984 – 2 BvE 11/83, 2 BvE 15/83, BVerfGE 67, 100 [143]). 35 BVerfG v. 16.6.1954 – 1 PBvV 2/52, BVerfGE 3, 407 (435); BVerfG v. 6.11.1984 – 2 BvL 19/83 u.a., BVerfGE 67, 256 (282). 36 Zum verfassungsrechtlichen Steuerbegriff näher Knies, Steuerzweck und Steuerbegriff, 1976, 116 ff.; Schaefer, Der verfassungsrechtliche Steuerbegriff, 1997; Bonner Komm./Vogel/Waldhoff, 1997, Vor Art. 104a–115 GG Rz. 352 ff.; Waldhoff, HStR V3, § 116 Rz. 85. 37 S. Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1991, 29 f. 38 So BVerfG v. 6.11.1984 – 2 BvL 19/83 u.a., BVerfGE 67, 256 (282) zur Investitionshilfeabgabe; aus jüngerer Zeit s. BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (112); BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, 1 BvR 1748/99, BVerfGE 110, 274 (293); BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (182); BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (30): „Der Gesetzgeber darf seine Steuergesetzgebungskompetenz grds. auch ausüben, um Lenkungswirkungen zu erzielen“. Eingehend hat sich der 63. DJT (2000) mit der folgenden Frage befasst: Inwieweit ist die Verfolgung ökonomischer, ökologischer und anderer öffentlicher Zwecke durch Instrumente des Abgabenrechts zu empfehlen?: Gutachten: Trzaskalik, 2000, Referate: Juchum, Raupach, R. Schmidt; umfassend: Wernsmann, Verhaltens-
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2. Der Steuerbegriff; Abgrenzung von anderen Abgaben
Rz. 13 § 2
durch Anfügung des § 3 I Hs. 2 AO Rechnung getragen. § 3 I Hs. 2 AO lässt es zu, dass der fiskalische Hauptzweck „Erzielung von Einnahmen“ gegenüber dem von der Steuer in erster Linie verfolgten Sozialzweck (s. § 3 Rz. 21) zu einem Nebenzweck degradiert wird. Der Fiskalzweck „Erzielung von Einnahmen“ darf aber nicht gänzlich wegfallen. Der Steuerbegriff ist nicht erfüllt, wenn die Abgabe lediglich dem Zweck dienen soll, den Betroffenen wirtschaftlich zu „erdrosseln“. Die Finanzierungsfunktion der Steuer schlägt dann in eine Verwaltungsfunktion mit Verbotscharakter um (zum Verbot der Erdrosselungssteuer s. § 3 Rz. 184). Das klassische Beispiel für eine Sozialzwecksteuer mit lenkendem Hauptzweck und fiskalischem Ne- 11 benzweck (Lenkungsteuer) ist der Zoll. Er dient heutzutage nicht mehr der Warenstromerdrosselung, sondern der -regulierung (s. § 1 Rz. 85). Historische Beispiele für Lenkungsteuern sind die Werkfernverkehrsteuer39 und der Konjunkturzuschlag40. Keine echten Sozialzwecksteuern sind die Tabak- und Alkoholsteuern (als spezielle Verbrauch- und Aufwandsteuern). Sie werden von der Rechtspolitik gern als Mittel zum Schutze der Volksgesundheit ausgewiesen, dienen aber nach wie vor primär der Einnahmeerzielung (Ausnahme: sog. Alkopopsteuer, s. § 18 Rz. 107, 113). Kampfhunde- und Gewaltspielautomatensteuern wirken regelmäßig erdrosselnd41, so dass an die Stelle der verfassungswidrigen Steuer das ordnungsrechtliche Verbot der Kampfhundezucht und des Inverkehrbringens von Gewaltspielen zu treten hat, das i.Ü. die Bevölkerung wirksamer zu schützen vermag als eine Sozialzwecksteuer. Zunehmende Bedeutung gewinnt die Besteuerung von Energie (Energie-, Stromsteuer); diese Steuern werden gern als Steuern zum Schutze der Umwelt ausgewiesen, dienen aber ebenso dem Fiskalzweck (s. § 18 Rz. 116). Nach Auffassung des BVerfG sollen Sozialzwecksteuern auch keine zur Steuergesetzgebungskompetenz hinzutretende Sachkompetenz erfordern (s. Rz. 55)42. Sozialzwecksteuern bedürfen aber der Rechtfertigung durch ein Sonderbelastungsprinzip, das sich grds. am Gemeinwohl zu orientieren hat; dabei darf das Leistungsfähigkeitsprinzip wohl eingeschränkt, jedoch nicht ausgeschaltet werden (s. § 3 Rz. 133). Im einfachgesetzlichen Bereich hat der Steuerbegriff vor allem Bedeutung für die Anwendung der 12 AO (§ 1 AO), die sachliche Zuständigkeit der Finanzbehörden nach dem Gesetz über die Finanzverwaltung (s. § 21 Rz. 30 ff.) und die Art des Rechtsschutzes (Einspruch nach den §§ 347 ff. AO sowie Finanzrechtsweg nach § 33 FGO). 2.2 Die Merkmale des Steuerbegriffs in § 3 I AO a) Die Legaldefinition des Steuerbegriffs in § 3 I AO lautet: Steuern sind Geldleistungen, die nicht ei- 13 ne Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft; die Erzielung von Einnahmen kann Nebenzweck sein.
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lenkung, Habil., 2005; Wernsmann, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 152; Zu verfassungs- und unionsrechtlichen Grenzen steuerlicher Lenkung auch Glaser, StuW 2012, 168; ausf. S. Sieker (Hrsg.), Steuerrecht und Wirtschaftspolitik, DStJG 39 (2016). BVerfG v. 22.5.1963 – 1 BvR 78/56, BVerfGE 16, 147. BVerfG v. 15.12.1970 – 1 BvR 559/70 u.a., BVerfGE 29, 402. Die Rspr. setzt die Schwelle der „Erdrosselung“ dagegen sehr hoch und toleriert diese Steuern regelmäßig als noch verfassungsmäßige Sozialzwecksteuern (zu Kampfhundesteuern s. BVerwG v. 19.1.2000 – 11 C 8/99, BVerwGE 110, 265 [270 f.]; BVerwG v. 15.10.1994 – 9 C 8/13, BVerwGE 150, 224 Rz. 26 ff.: erdrosselnde Wirkung bei dem 26fachen Satz im Vergleich zu Nichtkampfhunden; zu sog. Killerautomatensteuern s. BVerfG v. 3.5.2001 – 1 BvR 624/00, HFR 2001, 709; BVerwG v. 22.12.1999 – 11 C 9/99, BVerwGE 110, 248 [251]). Allerdings hat BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, 2 BvR 2004/95, BVerfGE 98, 106 (125 f.) kommunale Verpackungsteuern wegen Unvereinbarkeit mit den bundesrechtlichen Vorgaben des Abfallrechts und damit widersprüchlichen Unterlaufens der Entscheidungen des Sachgesetzgebers als verfassungswidrig verworfen (s. Rz. 55).
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§ 2 Rz. 14
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
b) Demnach bestimmt § 3 I AO folgende Merkmale des Steuerbegriffs: 14
aa) Die Steuer ist eine Geldleistung; nicht erfasst werden also Naturalleistungen, Hand- und Spanndienste, Wehrdienst, Feuerwehrdienst, Melde-, Anzeige- und andere Mitwirkungspflichten, Schöffenpflicht etc.
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bb) Die Steuer ist keine Gegenleistung für eine besondere Leistung und unterscheidet sich dadurch von den mit staatlichen Gegenleistungen verknüpften Vorzugslasten (Gebühren [s. Rz. 20–22] und Beiträge [s. Rz. 23 f.]). Von den Sonderabgaben unterscheidet sich die Steuer als Einnahme zur Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs; sie dient grds. nicht der Finanzierung besonderer Aufgaben (s. Rz. 25).
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Eine Zweckbindung des Steueraufkommens ist mit dem haushaltsrechtlichen Grundsatz der Gesamtdeckung (Non-Affektationsprinzip) unvereinbar, wonach alle Einnahmen als Deckungsmittel für alle Ausgaben zu dienen haben (§ 7 Satz 1 Haushaltsgrundsätzegesetz). Nach der Rspr. des BVerfG sind Zwecksteuern finanzverfassungsrechtlich zulässig43. Diese Rspr. bestätigte das BVerfG zur Verknüpfung des Strom- und Mineralölsteueraufkommens mit der Senkung der Rentenversicherungsbeiträge44. Eine Zweckbindung von Steuern sei „verfassungsrechtlich unbedenklich“. Dem Grundsatz der Gesamtdeckung des Haushalts komme kein Verfassungsrang zu.
17 cc) Die Geldleistung muss von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen (Bund, Land, Gemein-
de, Kirche) – hoheitlich – auferlegt sein; folglich scheiden vertragliche und freiwillige Zahlungen sowie Zahlungen an andere Institutionen aus. 18 dd) Die Geldleistung muss – mindestens nebenzwecklich – zur Erzielung von Einnahmen auferlegt
sein, zur Deckung des Finanzbedarfs. Folglich werden nicht erfasst: Geldstrafen, Bußgelder, Zwangsgelder, Säumnis- und Verspätungszuschläge, Zinsen, Kosten; solche in Steuergesetzen vorgesehenen Geldschulden werden aber zum Teil als Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 I i.V.m. § 3 IV AO) den Steuern gleichbehandelt (vgl. etwa §§ 222; 226; 227; 228 AO). Die Einnahmen müssen endgültig erzielt werden, dürfen nicht zur Rückzahlung vorgesehen sein. Daher war die sog. Zwangsanleihe nach dem Haushaltsbegleitgesetz 1983 keine Steuer45. 19
ee) Die Geldleistung muss allen auferlegt sein, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Dieser Passus zielt auf Gleichmäßigkeit (Allgemeinheit) und Tatbestandsmäßigkeit (Gesetzmäßigkeit) der Besteuerung (s. § 3 Rz. 230 ff.). 2.3 Gebühren Literatur: Wilke, Gebührenrecht und Grundgesetz, 1973; Clausen, Das gebührenrechtliche Kostendeckungsprinzip, 1978; K. Vogel, Vorteil und Verantwortlichkeit. Der doppelgliedrige Gebührenbegriff des Grundgesetzes, in FS Geiger, 1989, 518 ff.; Gawel, Die kommunalen Gebühren, 1995; Gramm, Vom Steuerstaat zum gebührenfinanzierten Dienstleistungsstaat?, Der Staat 36 (1997), 267; Hendler, Gebührenstaat statt Steuerstaat?, DÖV 1999, 749; Gawel, Umweltabgaben zwischen Steuer- und Gebührenlösung, 1999; Sacksofsky/Wieland, Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat, 2000; Drömann, Nichtsteuerliche Abgaben im Steuerstaat. Ein Beitrag zur dogmatischen Bewältigung von Verleihungsabgaben, Diss., 2000; Wienbracke, Bemessungsgrenzen der Verwaltungsgebühr, 2004; Wild, Renaissance des Kostendeckungsprinzips?, DVBl. 2005, 733; P. Kirchhof, Nichtsteuerliche Abgaben, HStR V3, § 119 Rz. 26 ff.; Perlitius, Die vorteilsabschöpfende Verwaltungsgebühr, Diss., 2010; Habermann, Gebühren für Gefahrenabwehr, Diss., 2011; Cicek, Öko43 BVerfG v. 2.10.1973 – 1 BvR 345/73, BVerfGE 36, 66 (70 f.); BVerfG v. 6.12.1983 – 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325 (344); BVerfG v. 15.1.2014 – 1 BvR 1656/09, BVerfGE 135, 126 (144); dazu umfassend Waldhoff, StuW 2002, 285; Musil, DVBl. 2007, 1526. 44 BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00 u.a., BVerfGE 110, 274 (294). 45 BVerfG v. 6.11.1984 – 2 BvL 19/83 u.a., BVerfGE 67, 256 (281 ff.).
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2. Der Steuerbegriff; Abgrenzung von anderen Abgaben
Rz. 22 § 2
logische Komponenten im Abfallgebührenrecht, Diss., 2011; Wieland, Gebühren, Beiträge und Sonderabgaben im System der Kommunalfinanzierung, in DStJG 35 (2012), 159 ff.; Die Verwaltung Bd. 46 (2013), Heft 3 zu nichtsteuerlichen Abgaben im Verwaltungsrecht (S. 313–440) mit Beiträgen v. Droege, G. Kirchhof, Magen u. Brüning; Wernsmann, Gebühr und Beitrag in der Finanzverfassung, in FS R.Wendt, 2015, 1053; Christ/Oebbecke (Hrsg.), Handbuch Kommunalabgabenrecht, 2016.
Ebenso wie die Steuer ist die öffentlich-rechtliche Gebühr eine Abgabe zur Deckung des allgemeinen Fi- 20 nanzbedarfs (wie § 3 I AO: „Erzielung von Einnahmen“). Von der Steuer unterscheidet sich die Gebühr durch die Verknüpfung mit einer individuell zurechenbaren Gegenleistung des öffentlich-rechtlichen Gemeinwesens: Das systemtragende Gebührenprinzip ist das Äquivalenzprinzip; es erlaubt die Bemessung der Gebühr nach den Prinzipien der Kostendeckung (Gebühr überwälzt die äquivalenten Kosten) und des Vorteilsausgleichs (Gebühr schöpft den äquivalenten Vorteil ab)46. Systemfremd ist es, Vorzugslasten (Gebühren und Beiträge) nach dem Prinzip der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu bemessen. Gleichwohl hat es das BVerfG für zulässig angesehen, Kindergartengebühren nach dem Familieneinkommen zu staffeln, soweit die Höchstgebühr die anteiligen Kosten der öffentlichen Leistung nicht überschreitet47. Eine einkommensabhängige progressive Staffelung von Benutzungsgebühren verstärkt jedoch den progressiven Einkommensteuertarif (dazu § 8 Rz. 2) und verwischt die Grenze zwischen Steuer und Vorzugslast. Zudem verbirgt ein einkommensabhängiger Gebührentarif eine Transferleistung zugunsten der niedrig Belasteten, kumuliert dadurch ggf. mit direkten Sozialtransfers und gefährdet so die Transparenz im Sozialstaat. Schließlich wird das Subsidiaritätsprinzip (dazu § 1 Rz. 39) verletzt, wenn das Arbeitseinkommen durch Überschreiten bestimmter Einkommensschwellen zum kompensatorischen Verlust staatlicher Leistungen der Daseinsvorsorge führt und sich dadurch Familieneinkommen sogar im Gesamtergebnis verringert. Legaldefinitionen enthalten die Kommunalabgabengesetze der Länder, z.B. § 4 II KAG NW: „Ge- 21 bühren sind Geldleistungen, die als Gegenleistung für eine besondere Leistung – Amtshandlung oder sonstige Tätigkeit – der Verwaltung (Verwaltungsgebühren) oder für die Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen und Anlagen (Benutzungsgebühren) erhoben werden“. Verwaltungsgebühren werden z.B. für die Erteilung von Bescheinigungen, für Genehmigungen, Erlaubnisse und Bauabnahmen erhoben. Benutzungsgebühren sind z.B. Gebühren für die Benutzung von Sportanlagen, Büchereien, den Besuch von Schulen, die Nutzung von Verkehrseinrichtungen wie Häfen, Flughäfen (u.a. Gebühren für die Sicherheit der Fluggäste), die Versorgung mit Wasser, Strom, Gas sowie die Entsorgung (z.B. Abwasser-, Kanalgebühren)48. Analog zu den Lenkungsteuern (s. Rz. 11) gibt es auch Lenkungsgebühren49, bei denen der Fiskal- 22 zweck zum Nebenzweck wird. Verfassungsrechtlich sind Lenkungsgebühren ebenso zulässig wie Lenkungsteuern. Nach Ansicht des BVerfG darf der Gesetzgeber mit der Gebührenerhebung nicht nur Zwecke des Kostenersatzes und Vorteilsausgleichs, sondern auch der Verhaltenslenkung sowie soziale Zwecke (s. bereits Rz. 20) verfolgen50. Es hat Grundwasserentnahmegebühren (sog. Wasserpfennig) nicht nur mit Umweltschutzzwecken, sondern auch mit dem Äquivalenzprinzip im Sinne einer Res46 Zur sog. PKW-Maut s. das sog. Infrastrukturabgabengesetz v. 8.6.2015, BGBl. I 2015, 904, zuletzt geändert durch Ges. v. 18.5.2017, BGBl. I 2017, 1218. 47 BVerfG v. 10.3.1998 – 1 BvR 178/97, BVerfGE 97, 332 (346 f.); dazu Besprechungen v. Friedl, ZKF 1999, 152; Jestaedt, DVBl. 2000, 1820; zu dem Problemkreis ausf. Behlert, Staffelung von Leistungsentgelten der Verwaltung nach dem Einkommen der Nutzer, Diss., 2002; Schumacher, Rechtsfragen der sozialen Bemessung von kommunalen Gebühren, Diss., 2003, 23, 151 ff.; ohne erkennbares Problembewusstsein toleriert v. Droege, Die Verwaltung 46 (2013), 313 (331 f.). 48 Zur Abgrenzung zwischen Verwaltungs- und Benutzungsgebühren OVG Münster v. 10.1.2013 – 14 A 2253/12, KStZ 2013, 96. 49 Kloepfer, AöR 97 (1972), 232; R. Wendt, Die Gebühr als Lenkungsmittel, Diss., 1974; H. D. Jarass, Nichtsteuerliche Abgaben und lenkende Steuern unter dem Grundgesetz, 1999, 27 ff.; G. Kirchhof, Die Verwaltung 46 (2013), 349. 50 So BVerfG v. 19.3.2003 – 2 BvL 9/98 u.a., BVerfGE 108, 1 (18 ff.) – Hochschulrückmeldegebühr.
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§ 2 Rz. 22
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
sourcennutzungsgebühr gerechtfertigt51. Durch die Grundwasserentnahme erhielten die Nutzer einen „abschöpfungsfähigen Sondervorteil“ gegenüber all denen, die das betreffende Gut nicht oder nicht in gleichem Umfang nutzen dürfen. Mit dieser Legitimation wird jedoch die Finanzherrschaft des Staates über seine Sachherrschaft hinaus auf alle möglichen „Güter der Allgemeinheit“ und zur Erfindung von Umweltgebühren erweitert. Eine Sondernutzung von Naturressourcen ohne konkreten Gegenleistungsbezug lässt sich beliebig konstruieren52. Die Gebührenzwecke dürfen jedoch nicht beliebig zur sachlichen Rechtfertigung der konkreten Bemessung einer Gebühr herangezogen werden53. Wird Wasser nicht ebenso allgemein gebraucht wie Luft? Ist etwa die Erhebung einer Qualitätsluftgebühr für alpine Touristen gegenüber dem Prinzip des Steuerstaates legitimiert? Die Wasserpfennigentscheidung macht es dem Staat leicht, im Bereich der Gebühren seine Fiskalgier zu befriedigen, ohne auf die strengen finanzverfassungsrechtlichen Anforderungen für Steuern und Sonderabgaben Rücksicht nehmen zu müssen54. Dies gilt allgemein für die Tendenz, Abgaben für die Einräumung von Rechten zu erheben. Damit werden öffentliche Güter durch den Staat zu Lenkungszwecken verknappt (Bsp.: Sportwettenkonzessionsabgabe55, Emissionshandel56) zu einer weiteren Einnahmenquelle gemacht. Keine Lenkungsgebühr, sondern eine den Ländern nach Art. 106 II Nr. 5 GG zustehende Steuer (s. § 7 Rz. 104) ist die Spielbankabgabe. Weder bezweckt sie eine Verhaltenssteuerung noch gilt sie eine staatliche Leistung (z.B. Befreiung von einem Konzessionsverbot oder von der GewSt) ab57. 2.4 Beiträge Literatur: Wachsmuth, Richterliche Rechtsfortbildung auf dem Gebiet des kommunalen Beitragsrechts nach dem Kommunalabgabengesetz Baden-Württemberg, Diss., 1994; Beushausen, Kommunale Beiträge – Rechtfertigung und Tatbestand, KStZ 1998, 41; Küffmann, Die Finanzierung der Kommune, Teil I: Beiträge und Kostenerstattungen, 2004; Werner, Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im Beitragsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung, 2004; Aussprung, Brennpunkte des Beitragsrechts, DVBl. 2005, 740; FS Driehaus, 2005, mit Beiträgen Dietzel zur Beitragsverjährung, 49, Lohmann zum Solidaritätsprinzip, 142, O. Schneider zu kommunalabgabenrechtlichen Beitragsformen, 179, Stamm zu wiederkehrenden Beiträgen, 188, Witt zum Straßenausbaubeitragsrecht, 213; F. Kirchhof, Finanzierungsinstrumente des Sozialstaats, in DStJG 29 (2006), 39; Bauersfeld, Die Verbandslast, Diss., 2010; Wernsmann, Gebühr und Beitrag in der Finanzverfassung, in FS R.Wendt, 2015, 1053; v. Weschpfennig, Rechtliche Grenzen von allgemeinen Studienabgaben – Studienbeiträge oder Akademikersteuer?, Diss., 2015; Röß, Die Neuordnung der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch den Rundfunkbeitragsstaatsvertrag, Diss., 2015; A. Hoffmann, Der Rundfunkbeitrag, Diss., 2016.
51 So BVerfG v. 7.11.1995 – 2 BvR 413/88, 2 BvR 1300/93, BVerfGE 93, 319 (345 ff.) – sog. Wasserpfennig. 52 Mit Recht krit. Birk, FS Ritter, 1997, 41. Im Weiteren S. Meyer, Gebühren für die Nutzung von Umweltressourcen, Diss., 1995; Heimlich, Die Verleihungsgebühr als Umweltabgabe, Diss., 1996; Drömann, Nichtsteuerliche Abgaben im Steuerstaat, Diss., 2000, 260 ff.; Wohlfeil/Kaeser, GS Trzaskalik, 2005, 431; den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers betont dagegen Perlitius, Die vorteilsabschöpfende Verwaltungsgebühr, Diss., 2010, 135 ff.; s. auch Cicek, Ökologische Komponenten im Abfallgebührenrecht, Diss., 2011; G. Kirchhof, Die Verwaltung 46 (2013), 349 (377). 53 BVerfG v. 19.3.2003 – 2 BvL 9/98 u.a., BVerfGE 108, 1 (19 f.); BVerfG v. 6.11.2012 – 2 BvL 51/06, 2 BvL 52/06, BVerfGE 132, 334 (350); BVerfG v. 17.1.2017 – 2 BvL 2/14 u.a., NVwZ 2017, 696, Rz. 65, zu Hochschulrückmeldegebühren. 54 Zu finanzverfassungsrechtlichen Problemstellungen einer umfassenden Wassernutzungsabgabe Durner/ Waldhoff, Rechtsprobleme der Einführung bundesrechtlicher Wassernutzungsabgaben, 2013, 65 ff. 55 Dazu Müller-Franken, VerwArch 103 (2012), 315 (329). 56 Desens, DVBl. 2010, 228 (229); Ismer, Klimaschutz als Rechtsproblem, Habil., 2014, 142 ff. 57 BFH v. 8.3.1995 – II R 10/93, BStBl. II 1995, 432 (437); Tipke/Kruse/Drüen, § 3 AO Rz. 18b, m.w.N.; Müller-Franken, DStZ 2012, 506 (507 ff.).
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2. Der Steuerbegriff; Abgrenzung von anderen Abgaben
Rz. 24 § 2
Beiträge sind hoheitlich zur Finanzbedarfsdeckung auferlegte Aufwendungsersatzleistungen
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a) für die Herstellung, Anschaffung oder Erweiterung öffentlicher Einrichtungen und Anlagen; b) für die Verbesserung von Straßen, Wegen und Plätzen, nicht für deren laufende Unterhaltung und Instandsetzung. Eine Legaldefinition des Beitrags findet sich in den Kommunalabgabengesetzen der Länder; s. z.B. § 8 II KAG NW. Der Aufwendungsersatz wird erhoben, weil (kausale Verknüpfung!) eine konkrete Gegenleistung, ein konkreter wirtschaftlicher Vorteil, in Anspruch genommen werden kann, die Möglichkeit hierzu geboten wird. Umstritten ist derzeit, ob der Rundfunkbeitrag, der im Zuge des 15. Rundfunkänderungsstaatsvertrages58 die frühere „Rundfunkgebühr“ ersetzt hat, ein Beitrag59 oder eine (verfassungswidrige) „Rundfunksteuer“60 ist. Dies ist zweifelhaft, weil eine haushaltsbezogene Abgabe nur noch einen recht losen Zusammenhang mit der Nutzung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aufweist und sich damit einer Steuer annähert61. Als Vorzugslast nicht klar definierbar ist die Verbandslast (Mitgliedsabgabe)62, die von Zwangsmit- 24 gliedern einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (z.B. IHK, Kammern der freien Berufe) erhoben wird. Die Rspr. bejaht einen „Beitrag im rechtlichen Sinne“ und lässt einen nicht messbaren, nur vermuteten Nutzen genügen63. Nach der h.M. im Schrifttum ist die Verbandslast ein eigenständiger Abgabentypus, den der Verfassungsgeber vorgefunden hat64. Materiell-rechtlich steht die Verbandslast allerdings einer Steuer oder eine Sonderabgabe mit Finanzierungsfunktion (s. Rz. 25 ff.) nahe, so dass ihre Ausgestaltung nicht die Schutz- und Begrenzungsfunktion der Finanzverfassung durch eine steuerähnliche Abschöpfung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit der Pflichtmitglieder unterlaufen darf65. 2.5 Sonderabgaben Literatur: Selmer, Sonderabfallabgaben und Verfassungsrecht, Ein Beitrag zum Umweltschutz durch Sonderabgaben und Steuern, 1996; P. Kirchhof, Die Sonderabgaben, FS Friauf, 1996, 669; Jachmann, Sonderabgaben als staatliche Einnahmequelle im Steuerstaat, StuW 1997, 299; Kieser, Sonderabgaben als Steuern, Diss., 2000; Staudacher, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Sonderabgaben, Diss., 2004; Selmer, Die sog. 58 Für NRW GV 2011 NRW, 661. 59 So P. Kirchhof, Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 2010, abrufbar unter www.ard. de/download/472642; Kube, Der Rundfunkbeitrag – Rundfunk- und finanzverfassungsrechtliche Einordnung, 2013, abrufbar unter: www.ard.de/download/401140/Rechtsgutachten; Dörr in FS Wendt, 2015, 799 (805 ff.); nach Auffassung des BVerwG v. 18.3.2016 – 6 C 6/15, BVerwGE 154, 275 Rz. 12 ff., ist der Rundfunkbeitrag als „rundfunkspezifische Abgabe“ verfassungskonform; dazu kritisch Pagenkopf, NJW 2016, 2535. 60 So Korioth/Koemm, DStR 2013, 833; Exner/Seifarth, NVwZ 2013, 1569; krit. auch Droege, Die Verwaltung 46 (2013), 313 (316 f.); Meßerschmidt, DÖV 2015, 220 (221 ff.); zum Streitstand Röß, Die Neuordnung der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch den Rundfunkbeitragsstaatsvertrag, Diss., 2015, 50 ff.; A. Hoffmann, Der Rundfunkbeitrag, Diss., 2016, 137 ff. 61 Derzeit sind ca. 70 Verfassungsbeschwerden vor dem BVerfG anhängig (Az. 1 BvR 1675/16 u.a.). Das BVerfG hat am 30.8.2017 Bund und Länder mit einem umfangreichen 9-Punkte-Fragenkatalog zur Stellungnahme aufgefordert. 62 Dazu insb. Tettinger, FS Kruse, 2001, 79; Hey, StuW 2008, 289; Bauersfeld, Die Verbandslast, Diss., 32 ff.; BerlinKomm./Müller-Franken, Art. 105 GG Rz. 113 ff. 63 BVerwG v. 25.11.1971 – I C 48.65, BVerwGE 39, 100 (107); BVerwG v. 17.12.1998 – 1 C 7/98, BVerwGE 108, 169 (179); BVerwG v. 26.4.2006 – 6 C 19/05, BVerwGE 125, 384 (388); die Beitragspflicht der zwangsweisen IHK-Mitglieder hat das BVerfG v. 12.7.2017 – 1 BvR 2222/12 u.a., NJW 2017, 2744, Rz. 80 ff., erneut als verfassungskonform gebilligt (dazu Anm. v. Kirchberg, NJW 2017, 2723). 64 S. BerlinKomm./Müller-Franken, Art. 105 GG Rz. 113, 114; Bauersfeld, Die Verbandslast, Diss., 52 ff.: „Sonderabgabe im weiteren Sinne“. 65 Dazu Hey, StuW 2008, 289 (298 ff.); Bauersfeld, Die Verbandslast, Diss., 96 ff.
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§ 2 Rz. 25
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
Gruppennützigkeit der Sonderabgabe – eine Zulässigkeitsvoraussetzung im Wandel, FS Mußgnug, 2005, 217; Waechter, Sonderabgaben sind normale Abgaben, ZG 2005, 97; Jochum, Neustrukturierung der Sonderausgabendogmatik, StuW 2006, 134; Hummel, Das Merkmal der Finanzierungsverantwortung in der Sonderabgaben-Rechtsprechung des BVerfG, DVBl. 2009, 874; Reimer/Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für Sonderabgaben des Banken- u. Versicherungssektors, 2011; Ramin, Die Sonderabgabe im finanzverfassungsrechtlichen System unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, KStZ 2013, 201; Beckhaus, Der Verantwortungsbegriff im Rahmen öffentlich-rechtlicher Zahlungspflichten, Diss., 2013; Thiemann, Die Dogmatik der Sonderabgabe im Umbruch, AöR 138 (2013), 60; Schoch, Flexibilisierung der Sonderabgabendogmatik durch das Bundesverfassungsgericht, in FS Wendt, 2015, 983; Jäkel, Sonderabgaben im System der grundgesetzlichen Finanzverfassung und die Rechtsprechung des BVerfG, Jura 2017, 630. 25
a) Während Steuern dazu dienen, den allgemeinen, in den Haushaltsplänen ausgewiesenen Finanzbedarf der Steuergläubiger zu decken, sind Sonderabgaben Abgaben zur Finanzierung besonderer Aufgaben, die nicht in den Haushaltsplänen erfasst sind (sog. parafiskalische Abgaben). Sonderabgaben werden von bestimmten Gruppen von Bürgern bzw. Unternehmen erhoben und einem Sonderfonds außerhalb des Haushaltsplans zugeleitet. Da Sonderabgaben keine Steuern sind, ergibt sich die Sonderabgabenhoheit nicht aus den Art. 105 ff. GG, sondern aus den allgemeinen Regeln der Art. 70 ff. GG66. Die Anerkennung einer Abgabenkompetenz außerhalb der Finanzverfassung birgt die Gefahr, dass die Abgabenbelastung völlig unüberschaubar wird. Daher entfaltet das BVerfG die Begrenzungs- und Schutzfunktion der Finanzverfassung (s. Rz. 1) insb. für Sonderabgaben67. Zwar betont das BVerfG, dass Sonderabgaben nur als „seltene Ausnahmen“ zulässig seien68. Gleichwohl erfindet der Gesetzgeber nach wie vor neue Sonderabgaben69. Mittlerweile unterscheidet die Rechtsprechung zwischen Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion (Sonderabgaben im engeren Sinne) und Sonderabgaben mit Ausgleichs-, Abschöpfungs- oder Lenkungsfunktion (Sonderabgaben im weiteren Sinne).
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b) Lediglich für die Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion hat das BVerfG konturierte, strenge Voraussetzungen entwickelt, die sowohl materiell- als auch verfahrensrechtlicher Art sind70. Die Ergebnisse der nachfolgend dargelegten Kasuistik sind dabei jedoch nicht immer widerspruchs- und willkürfrei. aa) Der Gesetzgeber muss mit der Sonderabgabe einen Sachzweck verfolgen, der über die bloße Mittelbeschaffung hinausgeht.
66 BVerfG v. 6.11.1984 – 2 BvL 19/83 u.a., BVerfGE 67, 256 (274); BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155, m.w.N. 67 Grundl. BVerfG v. 6.11.1984 – 2 BvL 19/83 u.a., BVerfGE 67, 256 (288 f., zur Investitionshilfsabgabe); BVerfG v. 6.7.2005 – 2 BvR 2335/95, 2 BvR 2391/95, BVerfGE 113, 128 (146 f., zur Abfallausfuhrabgabe); BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvR 743/01, BVerfGE 123, 132 (139 f., zum Holz-/Forstabsatzfonds). 68 BVerfG v. 10.12.1980 – 2 BvF 3/77, BVerfGE 55, 274 (308 - Berufsausbildungsabgabe); BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155 (206 f. – Filmabgabe nach dem FFG). 69 So etwa die sog. BaFin-Umlage (gebilligt von BVerfG v. 16.9.2009 – 2 BvR 852/07, BVerfGE 124, 235 [243]; BVerfG v. 24.11.2015 – 2 BvR 355/12, Rz. 34 ff. – Nichtannahmebeschluss; dazu Kube, JZ 2016, 373; Selmer, JuS 2017, 183); zu der seit dem 1.1.2011 als Vorsorgeinstrument in der sog. Bankenkrise erhobenen sog. Bankenabgabe s. Schön/Hellgardt/Osterloh-Konrad, WM 2010, 2145 (Teil I) u. 2193 (Teil II); Martini, NJW 2010, 2019; Möslein, JZ 2012, 243 (245); ausf. Reimer/Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für Sonderabgaben des Banken- und Versicherungssektors, 2011. 70 Zu den Zulässigkeitsanforderungen i.E. mit Vorschlägen zur Modifizierung der bisherigen Sonderabgabendogmatik Beckhaus, Der Verantwortungsbegriff im Rahmen öffentlich-rechtlicher Zahlungspflichten, Diss., 2013, 102 ff., 140 ff., 150 ff.: Parallelität der Zulässigkeitsanforderungen von Sonderabgaben und Steuern; Thiemann, AöR 138 (2013), 60 (87 ff.): Übertragung der Rechtsgründe der Verursachung und des Vorteilsausgleichs.
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2. Der Steuerbegriff; Abgrenzung von anderen Abgaben
Rz. 31 § 2
bb) Homogene Gruppe der Abgabepflichtigen: Eine gesellschaftliche Gruppe kann nur dann mit 27 einer Sonderabgabe in Anspruch genommen werden, wenn sie durch eine gemeinsame, in der Rechtsordnung oder in der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorgegebene Interessenlage oder durch besondere gemeinsame Gegebenheiten von der Allgemeinheit und anderen Gruppen abgrenzbar ist. Im Falle der Feuerwehrabgabe hat das BVerfG die Homogenität der in Anspruch genommenen Gruppe verneint71, dagegen bei der Altenpflegeumlage aus der Rolle der Abgabenpflichtigen als Anbieter auf dem sozialversicherungsrechtlich regulierten Spezialmarkt der Altenpflege abgeleitet72. Bei der zuletzt entschiedenen Weinabgabe soll sie in dem gemeinsamen Interesse von Weinerzeuger und -abfüller an der Absatz- und Imageförderung des „deutschen Weins“ im In- und Ausland bestehen73. cc) Gruppenverantwortung: Der nach bb) abgrenzbaren Gruppe von Abgabenpflichtigen muss eine 28 besondere Verantwortung zugewiesen werden, weil sie dem Abgabenzweck evident näher steht als jede andere Gruppe oder die Allgemeinheit der Steuerzahler. Aus dieser Sachnähe zum Erhebungszweck muss eine besondere Gruppenverantwortung für die Erfüllung der mit der außersteuerlichen Abgabe zu finanzierenden Aufgabe entspringen. Dies hat das BVerfG etwa im Falle des sog. Kohlepfennigs verneint: Die Sicherstellung der Energieversorgung liege im Allgemeininteresse und sei deshalb als Gemeinlast durch Steuer zu finanzieren74. Ebenso deutlich judizierte es im Fall der Feuerwehrabgabe: Das Interesse an einem wirksamen Feuerschutz sei kein Gruppen-, sondern ein Allgemeininteresse. Es fehle an der besonderen Sachnähe der belasteten Gruppe zum Feuerwehrwesen, so dass deren Finanzierungsverantwortlichkeit nicht bestehe75. dd) Gruppennützigkeit: Das Abgabenaufkommen muss im Interesse der Gruppe der Abgabepflich- 29 tigen, also gruppennützig verwendet werden. Für eine gruppennützige Verwendung der Abgabe reicht es aus, dass das Aufkommen unmittelbar oder mittelbar überwiegend im Interesse der Gruppe der Abgabepflichtigen verwendet wird76. Unschädlich ist, wenn daneben auch andere Gruppen oder die Allgemeinheit gewisse Vorteile aus der Abgabenverwendung haben. ee) Schließlich fordert das BVerfG im Interesse wirksamer parlamentarisch-demokratischer Legiti- 30 mation und Kontrolle der erhobenen Sonderabgabe zusätzlich die periodische Überprüfung der Abgabe durch den Gesetzgeber selbst und (in einer Anlage zum Haushaltsplan) die ergänzende Dokumentation der Sonderabgabe77. Dadurch soll die Vollständigkeit des Haushaltsplans und eine fortlaufende parlamentarische Kontrolle der (Finanzierungs-)Sonderabgabe gewährleistet werden. c) Wenig strikt und eher konturenlos ist das BVerfG dagegen hinsichtlich der Begrenzung von Son- 31 derabgaben im weiteren Sinne. Insoweit hat das BVerfG die Erfordernisse der Gruppenverantwortung und Gruppennützigkeit gelockert, weil Anlass der Abgabe nicht die Finanzierung einer beson71 BVerfG v. 24.1.1995 – 1 BvL 18/93 u.a., BVerfGE 92, 91 (120). 72 BVerfG v. 17.7.2003 – 2 BvL 1/99, BVerfGE 108, 186 (223 ff.). 73 BVerfG v. 6.5.2014 – 2 BvR 1139/12 u.a., BVerfGE 136, 194, Rz. 120 ff.; sehr weitgehend auch BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155, Rz. 131 ff., wonach bei der sog. Filmabgabe Kinobetreiber, Programmanbieter, Lizenzrechteinhaber der Videowirtschaft und Fernsehveranstalter eine homogene Gruppe mit einer besonderen Finanzierungsverantwortung zur Förderung des deutschen Films seien. 74 BVerfG v. 11.10.1994 – 2 BvR 633/86, BVerfGE 91, 186 (205 f.). 75 BVerfG v. 24.1.1995 – 1 BvL 18/93 u.a., BVerfGE 92, 91 (120 f.), zum Solidarfonds Abfallrückführung und zu weiteren Absatzfonds: BVerfG v. 6.7.2005 – 2 BvR 2335/95, 2 BvR 2391/95, BVerfGE 113, 128 (153); BVerfG v. 3.2.2009 – 2 BvL 54/06, BVerfGE 122, 316; BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvR 743/01, BVerfGE 123, 132; anders für den Weinabsatzfonds aber BVerfG v. 6.5.2014 – 2 BvR 1139/12 u.a., BVerfGE 136, 194, Rz. 132 ff., insb. Rz. 140. 76 BVerfG v. 10.12.1980 – 2 BvF 3/77, BVerfGE 55, 274 (307 f.); BVerfG v. 31.5.1990 – 2 BvL 12/88 u.a., BVerfGE 82, 159 (180); BVerfG v. 17.7.2003 – 2 BvL 1/99 u.a., BVerfGE 108, 186 (229 f.); zur Filmförderung s. BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155, Rz. 149 ff. 77 S. BVerfG v. 31.5.1990 – 2 BvL 12/88 u.a., BVerfGE 82, 159 (181); BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155, Rz. 122; BVerfG v. 6.5.2014 – 2 BvR 1139/12 u.a., BVerfGE 136, 194, Rz. 117.
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§ 2 Rz. 32
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
deren Aufgabe, sondern der Anreiz zu einem bestimmten Verhalten oder eine Sanktion für ein bestimmtes Fehlverhalten sei. Vor allem rechtspflichtbezogene Sonderabgaben, die einen Ausgleich für die Nichterfüllung einer bestimmten Rechtspflicht vorsehen, toleriert das BVerfG78. Jedoch kann die Lockerung nicht so weit gehen, dass umweltpolitisch motivierte „Vorteilsabschöpfungen“ ohne Gegenleistungsbezug als Ressourcennutzungsgebühren (s. Rz. 22) oder als Sonderabgaben zulässig sind79. Eine derartige Rechtfertigung von Abgaben höhlt nicht nur den Gebührenbegriff aus; sie unterläuft erst recht die strengen Voraussetzungen für Sonderabgaben. Gerade auf dem Feld der Umweltabgaben kann die Opferbereitschaft der Bürger leicht missbraucht werden. Die Töpfchenwirtschaft der Sonderfonds und die nur eingeschränkte parlamentarische Kontrolle des Ausgabenwettbewerbs bergen große Gefahren der Mittelverschwendung und Verschleierung der Staatstätigkeit. I.Ü. kann die Effizienz einer Umweltabgabe nicht nach Kriterien der Verantwortung oder Verursachung bemessen werden; der Lenkungseffekt richtet sich allein nach der Höhe des Preises, den der Abgabepflichtige für sonderbelastetes Verhalten zu entrichten bereit ist bzw. zahlen kann und welche Vermeidungsalternativen bestehen (s. § 7 Rz. 120). Schließlich sind auch die europarechtlichen Anforderungen an Lenkungssonderabgaben noch weitgehend ungeklärt80. 3. Die Steuergesetzgebungshoheit (Art. 105 GG) 32
Art. 105 GG enthält für das Recht der Steuergesetzgebung (Steuergesetzgebungshoheit) spezielle Vorschriften, die den Art. 70 ff. GG vorgehen. Das GG weist den Ländern das Recht der Gesetzgebung zu, soweit das GG dem Bund nicht ausdrücklich Gesetzgebungsbefugnisse verleiht (Art. 70 I GG). Das GG unterscheidet die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes (s. Art. 71 GG) und die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes. Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat (Art. 72 I GG). Die Steuergesetzgebungshoheit ist in Art. 105 GG wie folgt geregelt:
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a) Der Bund hat nach Art. 105 I GG die ausschließliche Gesetzgebung über die Zölle und Finanzmonopole. Art. 105 I GG hat kaum noch praktische Bedeutung. Das Zollrecht ist weitgehend Recht der Europäischen Zollunion geworden (s. § 1 Rz. 85); das Branntweinmonopol81 als zuletzt verbliebenes einziges Finanzmonopol ist mit Wirkung zum 31.12.2017 abgeschafft worden.
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b) Der Bund hat nach Art. 105 II GG die konkurrierende Gesetzgebung über alle übrigen Steuern, wenn ihm entweder das Aufkommen der Steuer ganz oder zum Teil zusteht oder wenn die Voraussetzungen des Art. 72 II GG vorliegen. Besitzt der Bund auch nur teilweise die Steuerertragshoheit (s. Art. 106 I, III GG u. Rz. 57 ff.), bedarf es der zusätzlichen Erforderlichkeitsklausel i.S.d. Art. 72 II GG nicht (dazu Rz. 35).
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Mit Gesetz v. 27.10.1994 (BGBl. I 1994, 3146) wurde die nicht justitiable Bedürfnisklausel des Art. 72 II GG a.F. durch eine justitiable (Art. 93 I Nr. 2a GG) Erforderlichkeitsklausel ersetzt82. Dazu hat 78 Bsp.: BVerfG v. 26.5.1981 – 1 BvL 56/78 u.a., BVerfGE 57, 139 (166): Schwerbehindertenabgabe, BVerfG v. 8.6.1988 – 2 BvL 9/85, 2 BvL 3/86, BVerfGE 78, 249 (269): Fehlbelegungsabgabe im sozialen Wohnungsbau. 79 Die Zulässigkeit von Abschöpfungsabgaben bejahen Jachmann, StuW 1997, 299 (307 f.); Jochum, StuW 2006, 134 (143 f.); a.A. HHSp/Wernsmann, § 3 AO Rz. 240. 80 Dazu Pieper, DÖV 1996, 232; Götz in FS Friauf, 1996, 37. 81 Der Fiskalzweck des Branntweinmonopols (Gesetz über das Branntweinmonopol v. 8.4.1922, RGBl. 1922, 335 [405]) hatte sich längst überlebt. Zuletzt war das Branntweinmonopol in Wirklichkeit eine Agrarmarktordnung mit Ablieferungszwang (s. Jarsombeck, ZfZ 1999, 38 [42]). Nach dem BranntweinmonopolabschaffungsG v. 21.6.2013, BGBl. I 2013, 1650, endete es zum 31.12.2017. Vom Branntweinmonopol zu unterscheiden ist die Branntweinsteuer (s. § 18 Rz. 113). 82 Dazu aus finanzverfassungsrechtlicher Sicht Osterloh, GS Trzaskalik, 2005, 181 (189 ff.); Hey, FS Solms, 2005, 35 (37 ff.); Hey, VVDStRL 66 (2007), 277 (310 ff.); Seer/Drüen in Kluth (Hrsg.), Föderalismus-
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3. Die Steuergesetzgebungshoheit (Art. 105 GG)
Rz. 39 § 2
das BVerfG die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung in mehreren Entscheidungen konkretisiert83. Die verschärften Voraussetzungen des Art. 72 II GG begrenzen nicht nur die Einführung bestimmter Steuerarten dem Grunde nach, sondern können auch späteren Änderungen bundesgesetzlich geregelter Steuern (dem Umfang nach) entgegenstehen84. Die seit 15.11.1994 (vgl. Art. 125a II GG) geltende Fassung des Art. 72 II GG unterscheidet alternativ drei mögliche Ziele als Voraussetzung zulässiger Bundesgesetzgebung: die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet, die Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse oder die Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse. Macht eines dieser Ziele eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich, so hat der Bund das Gesetzgebungsrecht. aa) Durch die Änderung des Art. 72 II GG sollten den Ländern mehr Kompetenzen verliehen werden 36 (s. BT-Drucks. 12/7109, 9). Das BVerfG interpretiert die alternativen Voraussetzungen des Art. 72 II GG wie folgt: – Das bundesstaatliche Rechtsgut gleichwertiger Lebensverhältnisse ist erst dann bedroht und der Bund erst dann zum Eingreifen ermächtigt, wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern „in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet“85. – Eine bundesgesetzliche Regelung ist zur „Wahrung der Rechtseinheit“ erforderlich, wenn und so- 37 weit die mit ihr erzielbare Einheitlichkeit der rechtlichen Rahmenbedingungen Voraussetzung für die Vermeidung einer Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen ist, die im Interesse sowohl des Bundes als auch der Länder nicht hingenommen werden kann86. – Eine bundesgesetzliche Regelung ist zur „Wahrung der Wirtschaftseinheit“ erforderlich, wenn und 38 soweit sie Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des gesamtstaatlichen Wirtschaftsraums ist, wenn also unterschiedliche Landesregelungen oder das Untätigbleiben der Länder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich brächten87. Während die Wahrung der Rechtseinheit in erster Linie auf die Vermeidung einer Rechtszersplitterung zielt (s. Rz. 37), geht es bei der Wahrung der Wirtschaftseinheit im Schwerpunkt darum, Schranken und Hindernisse für den wirtschaftlichen Verkehr im Bundesgebiet zu beseitigen88. bb) Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, hat das BVerfG in vollem Umfang zu prüfen. Dabei bil- 39 ligt das BVerfG in seiner jüngsten Rspr. dem Gesetzgeber im Hinblick auf die allein zulässigen Zwecke einer bundesgesetzlichen Regelung und deren Erforderlichkeit im gesamtstaatliche Interesse i.S.
83
84 85 86 87 88
reformgesetz, 2007, Art. 105 GG Rz. 3 ff.; Wernsmann/Spernath, FR 2007, 829; Korte, Die konkurrierende Steuergesetzgebung des Bundes im Bereich der Finanzverfassung, Steuerautonomie der Länder ohne Reform?, 2008; Kempny/Reimer, Gutachten 70. DJT, 2014, D 72 ff. Grundl. BVerfG v. 24.10.2002 – 2 BvF 1/01, BVerfGE 106, 62 (Altenpflege). Im Weiteren: BVerfG v. 16.3.2004 – 1 BvR 1778/01, BVerfGE 110, 141 (Kampfhunde); BVerfG v. 9.6.2004 – 1 BvR 636/02, BVerfGE 111, 10 (Ladenschluss); BVerfG v. 27.7.2004 – 2 BvF 2/02, BVerfGE 111, 226 (Juniorprofessor); BVerfG v. 26.1.2005 – 2 BvF 1/03, BVerfGE 112, 226 (Studiengebühren); BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155, Rz. 114 ff. (Filmabgabe); BVerfG v. 21.7.2015 – 1 BvF 2/13, BVerfGE 140, 65, Rz. 31 ff. (Betreuungsgeld). S. dazu BVerfG v. 27.1.2010 – 2 BvR 2185/04, 2 BvR 2189/04, BVerfGE 125, 141 (155) – zur Gewerbesteuer; BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfG 138, 136, Rz. 106–116 – zur Erbschaft- und Schenkungsteuer. BVerfG v. 24.10.2002 – 2 BvF 1/01, BVerfGE 106, 62 (144); zu dem Begriff krit. Kahl, „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ unter dem Grundgesetz, 2016, passim. BVerfG v. 27.1.2010 – 2 BvR 2185/04, 2 BvR 2189/04, BVerfGE 125, 141 (155); BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, Rz. 109. BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, Rz. 109. BVerfG v. 27.1.2010 – 2 BvR 2185/04, 2 BvR 2189/04, BVerfGE 125, 141 (155 f.); BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, Rz. 109.
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§ 2 Rz. 40
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
des Art. 72 II GG eine Einschätzungsprärogative zu89. Von den Schranken des Art. 72 II GG betroffen sind die derzeit noch bundesgesetzlich geregelten Landes- und Gemeindesteuern: die Vermögensteuer, die Erbschaft- und Schenkungsteuer, die Verkehrsteuern i.S.d. Art. 106 II Nr. 3 GG, das sind die Grunderwerbsteuer (s. § 18 Rz. 1 ff.), die Feuerschutzsteuer (s. § 18 Rz. 75 ff.) und die Rennwett- und Lotteriesteuer (s. § 18 Rz. 80 ff.), die Biersteuer (s. § 18 Rz. 112) sowie die kommunalen Realsteuern, das sind die Grundsteuer und die Gewerbesteuer. Die Abgaben von Spielbanken sind bereits landesgesetzlich geregelt. Der durch Gesetz v. 28.8.2006 (BGBl. I 2006, 2034) eingefügte Art. 105 IIa 2 GG weist den Ländern ausdrücklich die Befugnis zur Bestimmung des Steuersatzes bei der Grunderwerbsteuer zu. 40
cc) Nach einer föderal ausgerichteten Interpretation des Art. 72 II GG ist zunächst eine bundesgesetzliche Kompetenz für Landessteuern mit Bezug auf die lokal gebundene Infrastruktur zu verneinen; diese fällt in die föderal angelegte „Bandbreite unterschiedlicher Lebensverhältnisse“90: Die Grunderwerbsteuer bezieht sich auf den lokal gebundenen Grundstückserwerb, die Biersteuer auf regional unterschiedliches Trinkverhalten und örtliche Qualitätskontrolle. Es ist auch den Ländern zu überlassen, ob der Feuerschutz als Teil der örtlichen Sicherheit mit einer Feuerschutzsteuer verknüpft ist. Demzufolge fallen die vorgenannten Steuern in die Kompetenz der Länder. Die Regelung des Art. 105 IIa 2 GG zur Bestimmung des GrESt-Satzes durch die Länder bleibt hinter der Erforderlichkeit des Art. 72 II GG zurück. Dagegen sind Wetten und Lotterien infolge des Internets nicht lokal gebunden. Die Wahrung sowohl der Rechtseinheit als auch der Wirtschaftseinheit ist für gleiche Wettbewerbsbedingungen der Anbieter sogar europaweit erforderlich, so dass die bundesgesetzliche Regelung der Rennwett- und Lotteriesteuer nicht zu beanstanden ist91.
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Hingegen ist bei den kommunalen Realsteuern eine bundesgesetzliche Kompetenz nicht ohne weiteres zu erkennen. Im Bereich der Kommunalsteuern sind die Steuerbelastungen ohnehin schon unterschiedlich. Mithin ist den Ländern im Bereich der lokalen Steuern grundsätzlich eine umfassende Gesetzgebungskompetenz zuzusprechen, zumal bisher die gleichheitsrechtlich dringend gebotene Reform der Kommunalsteuern bundesgesetzlich nicht geglückt ist (s. § 7 Rz. 92 f., § 16 Rz. 38 f.). Schon von daher muss es den einzelnen Ländern grds. möglich sein, insb. die gleichheitswidrige Misere der Gewerbe- und Grundsteuer zu überwinden und die kommunalen Steuerlasten so zu verteilen, wie sie der Infrastruktur des Landes am besten entsprechen. Allerdings kann umgekehrt der Bund die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um einen Steuertourismus in allein aus steuerlichen Gründen geschaffenen Niedrigsteuergebieten (Beispiel: ostfriesische Kleinstgemeinde Norderfriedrichskoog) bundesweit zu unterbinden92.
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dd) Bei der Vermögensteuer sowie der Erbschaft- und Schenkungsteuer ist die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung insofern anzuerkennen, als die Bemessungsgrundlage über das Gebiet eines Landes hinausreicht. Hier droht eine „Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen“, wenn die VSt oder ErbSt der landesgesetzlichen Kompetenz zugewiesen wären. Beide Steuern dienen dem Zweck, eine nach dem Weltvermögen bzw. nach dem Weltvermögenserwerb bemessene Gesamtleistungsfähigkeit zu belasten. Dieser Zweck wird international durch Doppelbesteuerungsnormen notgedrungen eingeschränkt. Innerhalb des Bundesgebiets ist jedoch die gesamtstaatliche Verantwortung für die Verwirklichung gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit wahrzunehmen. 89 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, Rz. 111; ebenso BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155 Rz. 115 f., zur Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 74 I Nr. 11 GG zu einer bundeseinheitlichen Filmabgabe (Sonderabgabe, s. Rz. 25 ff.) nach dem Filmförderungsgesetz (FFG). 90 BVerfG v. 26.1.2005 – 2 BvF 1/03, BVerfGE 112, 226 (248) – Studiengebühren. 91 BFH v. 22.3.2005 – II B 14/04, Rz. 36 ff.; dazu auch Brüggemann, Die Besteuerung von Sportwetten im Rennwett- und Lotteriegesetz, Diss, 2015, 117 ff. 92 BVerfG v. 27.1.2010 – 2 BvR 2185/04, 2 BvR 2189/04, BVerfGE 125, 141 (143) – Mindesthebesatz bei der Gewerbesteuer; s. auch Hey in FS Solms, 2005, 35 (41); nur i.Erg. ebenso Korte, Die konkurrierende Steuergesetzgebung des Bundes, Diss., 2008, 217 (Kompetenz auf der Grundlage der Übergangsregelung des § 125a II GG).
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3. Die Steuergesetzgebungshoheit (Art. 105 GG)
Rz. 46 § 2
Eine landesbezogene Besteuerung/Nichtbesteuerung von Erbschaften und Schenkungen und ein Doppelbesteuerungsrecht nach dem Muster des Schweizer interkantonalen Steuerrechts konterkariert die gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, damit auch das Anliegen des Erbschaftsteuerbeschlusses vom 7.11.2006 (s. § 15 Rz. 58); zudem wird das Vermögen- und Erbschaftsteuerrecht hochkomplex zersplittert. Demnach gebietet die Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung von VSt und ErbSt93. ee) Recht, das auf Grund der bis zum 15.11.1994 geltenden Fassung des Art. 72 II GG erlassen wor- 43 den ist, gilt als Bundesrecht fort (Art. 125a II GG). Die Änderungskompetenz des Bundes ist eng auszulegen: Die wesentlichen Elemente sind beizubehalten, so dass für eine Neukonzeption von Regelungen kein Raum ist. Sollten z.B. die Kommunalsteuern wegen einer Entscheidung des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der GewSt oder GrSt grundl. reformiert werden müssen, hat der Bund nach Art. 125a II 2 GG die Länder zur Neuregelung der Kommunalsteuern zu ermächtigen94. c) Bundesgesetze über Steuern, deren Aufkommen den Ländern oder Kommunen ganz oder zum 44 Teil zufließt, bedürfen der Zustimmung des Bundesrates (Art. 105 III GG). Verweigert der Bundesrat die Zustimmung, so können Bundesrat, Bundestag oder Bundesregierung die Einberufung eines Vermittlungsausschusses verlangen (Art. 77 II GG). Der Vermittlungsausschuss hat kein eigenes Gesetzesinitiativrecht (Art. 76 I GG), sondern vermittelt lediglich zwischen den Regelungsalternativen. Daher ist bei den häufig hektischen Steuergesetzgebungsverfahren zu beachten, dass der Vermittlungsausschuss eine Änderung, Ergänzung oder Streichung der vom Bundestag beschlossenen Vorschriften nur vorschlagen darf, wenn und soweit der Einigungsvorschlag im Rahmen des Anrufungsbegehrens und des ihm zu Grunde liegenden Gesetzgebungsverfahrens verbleibt. Der Vermittlungsvorschlag muss dem Bundestag aufgrund der dort geführten parlamentarischen Debatte zurechenbar sein95. d) Die Länder haben
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– die Befugnis zur konkurrierenden Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nach Art. 105 II GG (s. Rz. 34) keinen Gebrauch durch Gesetz macht (Art. 72 I GG). Entsprechendes gilt, wenn der Bund ein Gesetz aufhebt; dadurch gibt er der Landesgesetzgebung den Weg frei. Ist die bundesgesetzliche Regelung einer Steuer, an deren Aufkommen der Bund nicht beteiligt ist, nicht erforderlich i.S.d. Art. 72 II GG, so haben die Länder nach der Grundregel des Art. 70 I GG das ausschließliche Recht der Gesetzgebung (s. Rz. 35); – die ausschließliche Befugnis zur Gesetzgebung über die örtlichen Verbrauch- und Aufwand- 46 steuern (Art. 105 IIa 1 GG) und über die Bestimmung des Grunderwerbsteuersatzes (Art. 105 IIa 2 GG). Art. 105 IIa 2 GG wurde durch Gesetz v. 28.8.2006, BGBl. 2006, 2034, eingefügt. Nach der in Rz. 35 favorisierten Auslegung haben die Länder darüber hinaus bereits nach Art. 105 II GG i.V.m. Art. 72 II GG das Gesetzgebungsrecht für die Grunderwerbsteuer (s. Rz. 40);
93 So jedenfalls für die Verschonungssubvention der §§ 13a, 13b ErbStG (s. § 15 Rz. 106 ff.) BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, Rz. 112 ff.; s. auch Hey, FS Solms, 2005, 35 (37); Hey, VVDStRL 66 (2007), 277 (298 ff.); Seer/Drüen in Kluth (Hrsg.), FödRefG, Art. 105 GG Rz. 8; R. Wendt, HStR VI3, § 139 Rz. 35; Schubert, Die Verfassungswidrigkeit der Erbschaft- und Schenkungsteuer und die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Neuregelung, Diss., 2011, 239 ff.; a.A. Wernsmann/ Spermath, FR 2007, 829 (833); Haag, Die Aufteilung steuerlicher Befugnisse im Bundesstaat, Diss., 2011, 404 ff.; differenzierend Korte, Die konkurrierende Steuergesetzgebung des Bundes, Diss., 2008, 128–153; differenzierend auch Kempny/Reimer, Gutachten 70. DJT, 2014, D 75 ff., die dem Bund eine Koordinierungskompetenz hinsichtlich der Bemessungsgrundlage und deren Zerlegung, den Ländern aber eine Kompetenz zur Festlegung der Steuersätze und persönlichen Freibeträge zubilligen wollen. 94 So BVerfG v. 9.6.2004 – 1 BvR 636/02, BVerfGE 111, 10 (31). 95 S. näher BVerfG v. 7.12.1999 – 2 BvR 301/98, BVerfGE 101, 297 (307 f. – Arbeitszimmer); BVerfG v. 15.1.2008 – 2 BvL 12/01, BVerfGE 120, 56 (73 ff. – UntStRefG 2004); BVerfG v. 8.12.2009 – 2 BvR 758/07, BVerfGE 125, 104 (122 – HaushaltsbegleitG 2004); Hey, FS Spindler, 2011, 97 (99 ff.).
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§ 2 Rz. 47
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
– die Befugnis zur Kirchensteuergesetzgebung nach Maßgabe des Art. 137 VI WRV i.V.m. Art. 140 GG (s. § 8 Rz. 953). 47
e) Der Verbrauchsteuerbegriff hat für die Steuergesetzgebungshoheit grundsätzliche Bedeutung (s. bereits Rz. 6). Er ist aber weder im GG noch in den Steuergesetzen legaldefiniert, sondern wird dort vorausgesetzt. Das BVerfG rekurriert auf das traditionelle (historisch gewachsene) Verständnis und bezeichnet Verbrauchsteuern als Warensteuern, die den Verbrauch vertretbarer, regelmäßig zum baldigen Verzehr oder kurzfristigen Verbrauch bestimmter Güter des ständigen Bedarfs belasten96. Verbrauchsteuern schöpfen die in der Einkommensverwendung zu Tage tretende steuerliche Leistungsfähigkeit des Konsumenten ab. Sie werden zwar in der Regel bei demjenigen Unternehmer erhoben, der das Verbrauchsgut für die allgemeine Nachfrage anbietet; sie sind aber auf Überwälzung auf den Verbraucher angelegt, auch wenn die Überwälzung nicht in jedem Fall gelingen muss97. In seiner Entscheidung zur Stromsteuer hat das BVerfG98 gemeint, dass der Verbrauchsteuerbegriff nicht nur die Besteuerung des Privatkonsums99, sondern auch den produktiven Bereich erfassen könne. Es gebe keinen Rechtssatz, der das Anknüpfen einer Verbrauchsteuer an ein Produktionsmittel verbiete. Diese Aussage des BVerfG darf allerdings nicht aus dem Gesamtzusammenhang gerissen werden. Sie steht im Zusammenhang mit Steuern (z.B. Energie-, Stromsteuer), die in ihrem Kern durchaus auf einen konsumtiven Endverbrauch hin ausgerichtet sind, dabei allerdings auch Produktionsprozesse belasten können. Das BVerfG hat auf das Merkmal der Überwälzbarkeit nicht verzichtet. Im verfassungsrechtlichen Sinne ist die Überwälzbarkeit keine Seins-, sondern eine Sollenskategorie. Eine Steuer ist dann auf „Überwälzung angelegt“ (rechtliche Inzidenz), wenn nach Zweck und Ausgestaltung des Gesetzes Steuerschuldner und Steuerträger auseinanderfallen sollen100. Steuern, die von ihrer typischen Ausgestaltung her auf den Endkonsum ausgerichtet sind101, bleiben Verbrauchsteuern, auch wenn ein Produktionsprozess betroffen sein sollte. Handelt es sich dagegen um eine von diesem Typus abweichende direkte Steuer, die den Produktionsmittelprozess belasten soll (Beispiel: KernbrSt, s. Rz. 6), handelt es sich um eine besondere Betrieb-/Unternehmensteuer, die einer besonderen kompetenzrechtlichen Grundlage bedarf102. Ansonsten könnten Bund, Länder und Kommunen im Gewande der „Verbrauchsteuer“ beliebig neue partikulare Unternehmensteuern einführen, an die der Verfassungsgeber bei Erlass der Art. 105 ff. GG nie gedacht hatte. Die in Art. 105, 106 GG festgelegten kompetenzrechtlichen Konturen wären vollends verschwommen.
48 Aufwandsteuern sind Steuern auf das Halten bzw. den Gebrauch von Gütern und Dienstleistun-
gen. Der sich darin zeigende Einsatz finanzieller Mittel wird nicht nur indirekt besteuert, so dass 96 So BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, 2 BvR 2004/95, BVerfGE 98, 106 (123 f.); ausf. BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, NJW 2017, 2249, Rz. 112 ff. 97 BVerfG v. 10.5.1962 – 1 BvL 31/58, BVerfGE 14, 76 (95 f.); BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 (23); BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, NJW 2017, 2249, Rz. 119 ff. 98 BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00 u.a., BVerfGE 110, 274 (296); zur Stromsteuer s. auch Ismer, Klimaschutz als Rechtsproblem, Habil., 2014, 199 ff. 99 So vor allem Schmölders, Hdb. der Finanzwissenschaft2, Bd. II, 1956, 640 f.: Die Verbrauchsteuer ziele auf „die in der Einkommensverwendung zutage tretende steuerliche Leistungsfähigkeit“ ab. Dagegen sei an eine Inanspruchnahme der „Produktionsbetriebe, die aus steuertechnischen Gründen zur Abführung oder Verauslagung der Steuer herangezogen werden“ bei einer „echten Verbrauchsteuer niemals gedacht“. 100 S. BVerfG v. 11.10.1994 – 2 BvR 633/86, BVerfGE 91, 186 (205); BVerfG v. 6.5.2014 – 2 BvR 1139/12 u.a., BVerfGE 136, 194 Rz. 129: „Überwälzung keine bloße marktabhängige Möglichkeit, sondern die rechtlich vorbereitete und vorgesehene Regelfolge der Abgabenbelastung“; BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, NJW 2017, 2249, Rz. 123 f.; s. auch Zitzelsberger, Grundlagen der Gewerbesteuer, Habil., 1990, 140 f.; Seer, DStJG 23 (2000), 87 (116). 101 Der historische Gesetzgeber (BT-Drucks. II/480, S. 107, Tz. 160) zählte folgende Beispiele auf: Tabak-, Kaffee-, Tee-, Zucker-, Salz-, Branntwein-, Mineralöl-, Schaumwein-, Essigsäure-, Zündwaren-, Leuchtmittel-, Spielkarten-, Süßstoffsteuer sowie die Kohlenabgabe. 102 Eingehend BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, NJW 2017, 2249, Rz. 134 ff., m.w.N.
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3. Die Steuergesetzgebungshoheit (Art. 105 GG)
Rz. 48 § 2
Aufwandsteuern nicht notwendig auf Überwälzung angelegt sind103. So wird z.B. der Hunde-/Kraftfahrzeughalter und der Inhaber einer Zweitwohnung direkt durch die Hunde-, die Kraftfahrzeug- (s. § 7 Rz. 107; § 18 Rz. 85) oder die Zweitwohnungsteuer besteuert. Unabhängig davon charakterisiert die st. Rspr. des BVerfG Aufwandsteuern als „Steuern auf die in der Einkommensverwendung für den persönlichen Lebensbedarf zum Ausdruck kommende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit“104. Die ursprünglich als direkte Konsumsteuer konzipierte Kraftfahrzeugsteuer105 ist mittlerweile allerdings mit dem Lenkungszweck des Umweltschutzes „bepackt“ worden und damit eher eine Lenkungsteuer (s. § 18 Rz. 86). Sie ist mit Wirkung vom 1.7.2009 von einer Landes- zur Bundessteuer (s. Art. 106 I Nr. 3 GG) mutiert106, so dass dem Bund nun ohne weiteres die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz nach Art. 105 II GG zusteht107. Den Konsumsteuercharakter der Zweitwohnungsteuer beachtet die Rspr. wenigstens insoweit, als sie reine Kapitalanlagen ausscheidet und juristische Personen nicht heranzieht108. Zudem verletzt die Zweitwohnungsteuer Art. 6 I GG, soweit eine Zweitwohnung am Arbeitsort eines nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten besteuert wird109. Für zulässig hält die Rspr. dagegen die Zweitwohnungsteuer in den sog. Kinderzimmerfällen, in denen Studierende mit Hauptwohnsitz noch am Wohnsitz ihrer Eltern gemeldet sind und am Studienort eine „Zweitwohnung“ (ggf. sogar in einem Studentenwohnheim) unterhalten110. Diese Besteuerung hat mit dem Belastungsgrund einer Aufwandsteuer jedoch nichts mehr zu tun und erweist sich als „Mobilitätssteuer“, die überflüssiger Weise die berufliche Aus- und Fortbildung behindert. Entgegen der Auffassung der Rspr. betrifft die Besteuerung von Erwerbs- und Ausbildungswohnungen, insb. von Studentenwohnungen, nicht die Konsumleistungsfähigkeit und fällt damit aus dem Kompetenzbereich des Art. 105 IIa 1 GG heraus111.
103 Zur Relevanz der subjektiven Absicht des Gesetzgebers in diesem Zusammenhang Birk/Haversath, Verfassungsmäßigkeit der kommunalen Vergnügungsteuern auf Geldspielgeräte am Beispiel Berlins, 2013, 19 f. 104 BVerfG v. 7.5.1963 – 2 BvL 8/61, BVerfGE 16, 64 (74); BVerfG v. 4.2.2009 – 1 BvL 8/05, BVerfGE 123, 1 (10). 105 Zum Verhältnis zur sog. PKW-Maut (s. Rz. 20): Welz, UVR 2014, 119. 106 Gesetz zur Änderung des GG (Föderalismusreform Stufe II) v. 19.3.2009, BGBl. I 2009, 606. 107 Dies nimmt BVerfG v. 5.11.2014 – 1 BvF 3/11, BVerfGE 137, 350, Rz. 31, ohne weiteres auch für die Luftverkehrsteuer an und versteht Art. 106 I Nr. 3 GG damit letztlich als einen Bundeskompetenztitel zur Gestaltung von Mobilitätssteuern auf motorbetriebene Vehikel. 108 Zur Zweitwohnung als Kapitalanlage: BVerfG v. 29.6.1995 – 1 BvR 1800/94 (Kammerbeschluss); BVerwG v. 10.10.1995 – 8 C 40/93, BStBl. II 1996, 37; zur Besteuerung juristischer Personen: BVerwG v. 27.9.2000 – 11 C 4/00, JZ 2001, 603, mit Anm. Birk/Tappe; zur grds. verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Zweitwohnungsteuer s. BVerfG v. 6.12.1983 – 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325 (344 ff.); zur Unzulässigkeit eines degressiven Steuertarifs: BVerfG v. 15.1.2014 – 1 BvR 1656/09, BVerfGE 135, 126, Rz. 55 ff. 109 BVerfG v. 11.10.2005 – 1 BvR 1232/00 u.a., BVerfGE 114, 316 (332 ff.); s. auch BFH v. 13.4.2012 – II R 67/08, BStBl. II 2012, 389 (391), Rz. 20. 110 BVerfG v. 17.2.2010 – 1 BvR 529/09, Rz. 30 ff. (Kammerbeschluss); BFH v. 17.2.2010 – II R 5/08, BFHE 229, 572 (573 ff.); BVerwG v. 13.5.2009 – 9 C 7/08, Rz. 14 ff.; nach BVerfG v. 8.5.2013 – 1 BvL 1/08, BVerfGE 134, 1 (23), Rz. 65; BVerfG v. 15.1.2014 – 1 BvR 1656/09, BVerfGE 135, 126, Rz. 50 f., soll es ein legitimes Lenkungsziel der Zweitwohnungsteuer sein, Studierende zur Ummeldung des Nebenwohnsitzes in einen Hauptwohnsitz nach Maßgabe des Melderechts zu bewegen; gegen die Rspr. überzeugend mit dem Argument mangelnder Folgerichtigkeit Buchmaier, Bundesstaatliche, verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Zweitwohnungsteuer, Diss., 2010, 178 ff.; s. auch Petry, BB 2010, 2860. 111 Für die Hundesteuer hat BVerwG v. 16.5.2007 – 10 C 1/07 – entschieden, dass ein Diensthund nicht der Hundesteuer unterliegt, weil es an einem besteuerbaren Aufwand für die persönliche Lebensführung fehle. Warum für die Zweitwohnungsteuer wertungsmäßig etwas anderes gelten soll, erschließt sich nicht. Nach BVerwG v. 11.7.2012 – 9 CN 1/11, BVerwGE 143, 301 (303 ff.) ist einer Bettensteuer, die neben privaten auch berufliche oder gewerbliche Übernachtungen erfasst, der Charakter einer Aufwandsteuer abzusprechen (ebenso BFH v. 15.7.2015 – II R 32/14, BStBl. II 2015, 1031, Rz. 21).
Seer 53
§ 2 Rz. 49
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
49
f) Der ebenfalls finanzverfassungsrechtlich determinierte Typus einer Verkehrsteuer (Art. 106 I Nr. 3, II Nr. 3 GG) knüpft an Akte des Rechtsverkehrs an (s. § 18 Rz. 1 ff.). Typischerweise wird der wirtschaftliche Aufwand belastet, der durch den Verkehrsakt ausgelöst wird und eine bestimmte Leistungsfähigkeit indiziert. Belastet werden soll dabei nur der Beteiligte, bei dem der Rechtsverkehrsakt einen wirtschaftlichen Aufwand ausgelöst hat. Eine Überwälzung ist damit gleichsam nicht kategorisch ausgeschlossen, jedenfalls aber nicht intendiert112.
50
g) Die Gesetzgebungsbefugnis nach Art. 105 IIa 1 GG (s. Rz. 46) erstreckt sich nur auf die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern113, solange und soweit sie nicht bundesgesetzlich geregelten Steuern gleichartig sind. Die Gleichartigkeitssperre soll verhindern, dass die einem Steuerberechtigten zugewiesenen Steuerquellen von einem anderen Steuerberechtigten gleichfalls ausgeschöpft werden. Es soll der Steuerbürger vor Mehrfachbelastung, vor übermäßiger, unkoordinierter Besteuerung und damit zugleich auch vor ungleichmäßiger Belastung durch mehrere Steuerberechtigte geschützt werden. Daher ist Gleichartigkeit zu bejahen, wenn Steuertatbestände miteinander konkurrieren, indem sie die gleiche Quelle steuerlicher Leistungsfähigkeit ausschöpfen und die gleiche wirtschaftliche Wirkung haben. Auf unterschiedliche Steuertechniken kommt es nicht an; zu vergleichen sind die Steuergüter114.
51
Die Rspr. des BVerfG unterscheidet bei der Prüfung der Gleichartigkeit örtlicher Verbrauch- und Aufwandsteuern mit bundesgesetzlich geregelten Steuern (insb. mit Einkommen-, Umsatzsteuer) zwischen herkömmlichen örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern, die bei Inkrafttreten des Finanzreformgesetzes 1969 zum 1.1.1970 bereits bestanden, und neueren Steuern. Die herkömmlichen Steuern habe der Verfassungsgeber nicht antasten wollen, so dass sie nicht als gleichartig anzusehen seien115. Zu diesen Steuerarten zählen die Vergnügung-, Spielgeräte-116, Getränke-, Hunde-, Jagd- u. Fischereisteuer. Für die nicht herkömmlichen Steuern (z.B. Zweitwohnungsteuer) führt das BVerfG einen Vergleich der steuerbegründenden Merkmale durch. Dabei stellt das BVerfG117 darauf ab, ob Steuern dieselbe Quelle wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ausschöpfen. Der steuerbegründende Tatbestand dürfe nicht denselben Belastungsgrund erfassen wie eine Bundessteuer118; er habe sich in Gegenstand, Bemessungsgrundlage, Erhebungstechnik und wirtschaftlicher Auswirkung von der Bundessteuer zu unterscheiden119.
112 Desens, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 189 Rz. 15; Seer, ZfZ 2013, 146 (148, 150 ff.), dort auch zur mangelhaften Abstimmung von Verbrauch- und Verkehrsteuern. 113 Dazu David, StVj 1990, 164; Tipke, DÖV 1995, 1027; Schwarting, Kommunale Steuern, Grundlagen, Verfahren, Entwicklungstendenzen2, 2007; Becker, BB 2011, 1175 (1177 ff.); Wernsmann u. Henneke, DStJG 35 (2012), 95 ff., 117 ff.; Tipke, StRO III2, 1327 ff.; Wernsmann, NVwZ 2013, 124. 114 Tipke, StuW 1975, 242; Tipke, StRO III2, 1328 f.; K. Vogel, StuW 1971, 308 (311 f.); K. Vogel, HStR IV2, § 87 Rz. 55 ff.; R. Wendt, HStR VI3, § 139 Rz. 40 ff. Zu den unterschiedlichen Auffassungen über die Gleichartigkeit von Steuern s. Küssner, Die Abgrenzung der Kompetenzen des Bundes und der Länder im Bereich der Steuergesetzgebung sowie der Begriff der Gleichartigkeit von Steuern, Diss., 1992; Bultmann, DStZ 1996, 760; eher nach der technischen Ausgestaltung der Steuer unterscheidet aber weiterhin Wernsmann, DStJG 35 (2012), 95 ff. 115 BVerfG v. 4.6.1975 – 2 BvR 824/74, BVerfGE 40, 56 (63 f.); BVerfG v. 26.2.1985 – 2 BvL 14/84, BVerfGE 69, 174 (183 f.). 116 Birk/Haversath, Verfassungsmäßigkeit der kommunalen Vergnügungsteuern auf Geldspielgeräten am Beispiel Berlins, 2013, 19 ff.: „verkappte Unternehmenssteuer“. 117 BVerfG v. 12.10.1978 – 2 BvR 154/74, BVerfGE 49, 343 (355); BVerfG v. 6.12.1983 – 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325 (351); BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, 2 BvR 2004/95, BVerfGE 98, 106 (124 f.). 118 BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, 2 BvR 2004/95, BVerfGE 98, 106 (125), zur Verpackungsteuer. 119 BVerfG v. 6.12.1983 – 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325 (351); BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, 2 BvR 2004/95, BVerfGE 98, 106 (125).
54
Seer
3. Die Steuergesetzgebungshoheit (Art. 105 GG)
Rz. 54 § 2
Das Merkmal der Örtlichkeit charakterisiert Steuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis120, das sind 52 z.B. Steuern, die den „Verzehr an Ort und Stelle“ belasten121. So verwirklichte die Kasseler Verpackungsteuer das Merkmal der Örtlichkeit, weil ihr Steuertatbestand das Steuerobjekt auf Einwegverpackungen für Speisen und Getränke zum Verzehr an Ort und Stelle begrenzte und damit typisierend darauf abstellte, dass die Verpackung im Gemeindegebiet verbraucht wird122. Örtlichkeitsmerkmal und Gleichartigkeitsverbot dürfen nicht miteinander vermengt werden123. Örtlichkeit bedeutet nicht schon Ungleichartigkeit. h) Die Gemeinden haben nach der abschließenden Regelung des Art. 105 GG kein eigenes Recht zur 53 Steuergesetzgebung. Nach Art. 106 VI 2 GG ist den Gemeinden lediglich das Recht einzuräumen, die Hebesätze der Grundsteuer und Gewerbesteuer im Rahmen der Gesetze festzusetzen. Das BVerfG hat es von der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 105 II GG als gedeckt angesehen, dass der Bund in § 16 IV 2 GewStG einen Mindesthebesatz in Höhe von 200 % (s. § 12 Rz. 43) eingeführt hat124. Vor dem gesetzgeberischen Hintergrund der Verhinderung einer gezielten Steueroasenpolitik von Kleinstkommunen (s. Rz. 41) ist dieser Eingriff in das kommunale Selbstverwaltungsrecht (Art. 28 II 3 GG) vertretbar125. Der im Jahre 1997 hinzugefügte 2. Hs. des Art. 28 II 3 GG sichert den Gemeinden eine „mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle“. Dadurch wird die Eigenverantwortlichkeit ertrags- und nicht gesetzgebungshoheitlich abgesichert. Art. 28 II 3 Hs. 2 GG sichert auch nicht den Bestand der Gewerbesteuer. Diese darf durch adäquate andere wirtschaftskraftbezogene Steuerquellen ersetzt werden126. In Landesverfassungen und Kommunalabgabengesetzen der Länder wird den Gemeinden indessen 54 vielfach das Recht auf Erschließung eigener Steuerquellen eingeräumt. Insb. delegieren die Länder ihr Steuererfindungsrecht für die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern (Art. 105 IIa GG) an die Gemeinden127. Das geschieht z.B. durch § 1 I KAG NW. Die abgeleitete Steuergesetzgebungskompetenz der Kommunen steht indessen unter dem Vorbehalt anderweitiger Bundes- oder Landesgesetzgebung und ist regelmäßig von Genehmigungen durch Landesbehörden abhängig. Die Gemeinden erlassen Steuersatzungen, die der Genehmigung der Aufsichtsbehörden bedürfen (s. z.B. § 2 II KAG NW); als Richtschnur dienen den Aufsichtsbehörden Mustersatzungen (Mustersteuerordnungen), sie sind keine Rechtsnormen, können aber von den Genehmigungsbehörden durchgesetzt werden. Die Steuersatzungen können keine Steuern festsetzen, für die die Länder kein Steuererfindungsrecht haben; folglich kann dieses auch nicht übertragen werden. Obwohl der Anteil der kommunalen Verbrauchund Aufwandsteuern an den Gesamteinnahmen der Kommunen weniger als 1 % beträgt, schießen in Zeiten kommunaler Finanznot neue örtliche Verbrauch- oder Aufwandsteuern aus dem Boden (Beispiele: Betten-, Boots-, Camping-, Mobilfunkmasten-, Pferde-, Sauna-, Schusswaffenbesitz-,
120 So die präzise Formulierung in Art. 105 GG vor der Einfügung des Art. 105 IIa GG durch Finanzreformgesetz v. 12.5.1969, BGBl. I 1969, 359; sie gilt als in Art. 105 IIa GG rezipiert (BVerfG v. 4.6.1975 – 2 BvR 824/74, BVerfGE 40, 56 [60 f.]; BVerfG v. 6.12.1983 – 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325 [343]); dazu Wernsmann, DStJG 35 (2012), 95 ff.; Henneke, DStJG 35 (2012), 117 ff. 121 BVerfG v. 23.3.1977 – 2 BvR 812/74, BVerfGE 44, 216 (226 f.); BVerfG v. 26.2.1985 – 2 BvL 14/84, BVerfGE 69, 174 (183). 122 BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, 2 BvR 2004/95, BVerfGE 98, 106 (124). 123 BVerfG v. 4.6.1975 – 2 BvR 824/74, BVerfGE 40, 56 (61); BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, 2 BvR 2004/95, BVerfGE 98, 106 (124 f.). 124 BVerfG v. 27.1.2010 – 2 BvR 2185/04, 2 BvR 2189/04, BVerfGE 125, 141 (166 ff.). 125 Dazu auch Faber, Die Kommunen zwischen Finanzautonomie und staatlicher Aufsicht – Vorgaben zur Einnahmenoptimierung und Ausgabenkontrolle in der Haushaltssicherung, Diss., 2012, 24 ff., 43 ff. 126 Vgl. Beschlussempfehlung des BT-Rechtsausschusses v. 10.9.1997, BT-Drucks. 13/8488, 3. 127 Dies ist finanzverfassungsrechtlich zulässig (dazu m.w.N. von Mangoldt/Klein/Starck/Jachmann, Bd. 36, Art. 105 GG Rz. 54).
Seer 55
§ 2 Rz. 55
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
Sexsteuer)128. Um hier einem steuerlichen Wildwuchs entgegenzuwirken, bedarf es über die bloße technische Ausgestaltung hinausgehend eine Rückbesinnung auf den eigentlichen steuerlichen Belastungsgrund insb. im Vergleich zu der bundesgesetzlich geregelten Umsatzsteuer (s. Rz. 51). Dies sollten die Aufsichtsbehörden der Länder sorgfältig prüfen. 55
i) Eine steuerrechtliche Regelung, die Lenkungswirkungen in einem nicht steuerlichen Kompetenzbereich entfaltet, setzt keine zur Steuergesetzgebungskompetenz hinzutretende Sachkompetenz voraus; jedoch darf der Steuergesetzgeber keine Regelungen herbeiführen, die den vom zuständigen Sachgesetzgeber getroffenen Regelungen widersprechen129. Es gilt das Prinzip der Widerspruchsfreiheit, nach dem das Bundesrecht die Normen des Landesgesetzgebers und des kommunalen Satzungsgebers bricht, wenn z.B. das bundesumweltrechtliche Kooperationsprinzip den Normen von Landesabfallgesetzen130 oder der kommunalen Normierung einer Verpackungsteuer131 entgegensteht.
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j) Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass – im Interesse der Einheit der Wirtschaftsordnung (und der Lebensverhältnisse sowie der Einheit der Gesetzesanwendung) – die Kompetenz des Bundes gänzlich dominiert. Allerdings hat die Neufassung des Art. 72 II GG die Kompetenz der Länder bei den Steuern, an deren Steueraufkommen der Bund nicht beteiligt ist, erweitert (s. Rz. 35 ff.). Wird gegen die Steuerkompetenzordnung verstoßen, indem Bund, Länder oder Gemeinden zu Unrecht eine Kompetenz in Anspruch nehmen oder auf Grund Art. 105 GG eine nichtfiskalische Abgabe auferlegen, so ist der Stpfl., der aus einem solchen Gesetz in Anspruch genommen wird, in seinem Recht auf Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) verletzt; er kann Klage und Verfassungsbeschwerde erheben, dies allerdings mit Erfolg nur dann, wenn sich die Kompetenz nicht aus einer anderen Vorschrift ergibt, etwa aus Art. 74 Nr. 11 GG. Allein wegen falscher Etikettierung ist ein Gesetz nicht verfassungswidrig. 4. Die Steuerertragshoheit (Art. 106; 107 GG)
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a) Art. 106 GG verteilt das Steueraufkommen nach Steuerarten. Dies hat zur Folge, dass der Gläubiger der einzelnen Steuerart verfassungsrechtlich bestimmt sein muss (zum eingeschränkten Steuererfindungsrecht s. Rz. 4 ff.). Die in Art. 106 GG zwischen Bund und Ländern verankerte Ertragsverteilung ist nur auf Steuern (zum Begriff s. Rz. 9 ff.) anwendbar und nicht auf andere Staatseinnahmen (z.B. Gebühren, Beiträge, Sonderabgaben, Erlöse aus der Versteigerung von UMTS-Lizenzen u.ä.) analogiefähig (zur Formenstrenge der Finanzverfassung s. Rz. 1).
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b) Die Erträge (das Aufkommen) aus folgenden Abgaben (Bundesabgaben, Bundesertragsabgaben) stehen dem Bund zu (Art. 106 I GG): 128 Zur Pferdesteuer: Rauscher/Rauber, KStZ 2011, 161; Waldhoff, JuS 2016, 382; zur Bettensteuer: BVerwG v. 11.7.2012 – 9 CN 1/11, BVerwGE 143, 301; BFH v. 15.7.2015 – II R 31/14, BStBl. II 2015, 1031; BFH v. 15.7.2015 – II R 33/14, BStBl. II 2016, 126 (gegen beide BFH-Urt. sind Verfassungsbeschwerden unter 1 BvR 2886/15, 1 BvR 2887/15 anhängig); Rutemöller, DStZ 2011, 246; Dürrschmidt, KStZ 2013, 1; Wienbracke, KStZ 2013, 41; Petry, FS Wendt, 2015, 937; Selmer, JuS 2016, 667; Musil/Schulz, StuW 2017, 17; zur Mobilfunkmastensteuer: Funke, KStZ 2010, 121 (Teil I), 143 (Teil II), 206 (Replik auf die Stellungnahme des Städte- u. Gemeindebundes NRW); Funke, Die Handymastensteuer, Diss., 2009; zur Schusswaffensteuer: Meier/Kievits, KStZ 2011, 103; Braun, StuW 2012, 348; Braun, DÖV 2015, 97; allgemein s. Henneke, DStJG 35 (2012), 117 ff.; Betzinger/Müller, KStZ 2012, 101; Stolterfoht in FS P. Kirchhof, Bd. II, § 191. 129 Grundl. BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1876/91 u.a., BVerfGE 98, 83 (Landesabfallgesetze); BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, 2 BvR 2004/95, BVerfGE 98, 106 (Kasseler Verpackungsteuer); dazu Jobs, DÖV 1998, 1039; Rodi, StuW 1999, 105; P. Kirchhof, StuW 2000, 316 (323); Trzaskalik, Gutachten E zum 63. DJT, 2000, 31 ff.; K. Vogel, FS Badura, 2004, 589; Sodan/Kluckert, NVwZ 2013, 241; Dürrschmidt, KStZ 2013, 1; Birk/Haversath, Verfassungsmäßigkeit der kommunalen Vergnügungsteuern auf Geldspielgeräte am Beispiel Berlins, 2013, 21 ff. 130 BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1876/91 u.a., BVerfGE 98, 83 (98 ff.). 131 BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, 2 BvR 2004/95, BVerfGE 98, 106 (118 ff.).
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Seer
4. Die Steuerertragshoheit (Art. 106; 107 GG)
Rz. 61 § 2
(1) Finanzmonopole (s. Rz. 33); (2) Zölle (s. Rz. 33); (3) Verbrauchsteuern, soweit sie nicht den Ländern (Biersteuer), Bund und Ländern (Umsatzsteuer) oder den Gemeinden (Art. 106 II GG: örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuer, s. Rz. 50 ff.) zustehen; (4) Straßengüterverkehrsteuer (abgeschafft), und seit 1.7.2009 Kraftfahrzeugsteuer (s. Rz. 48) u. sonstige auf motorisierte Verkehrsmittel bezogene Steuern132. Dafür erhalten die Länder nach Art. 106b GG eine finanzielle Kompensation aus dem Steueraufkommen des Bundes (Gesetz zur Änderung des GG v. 19.3.2009, BGBl. I 2009, 606). Die Beträge sind in dem Gesetz zur Regelung der finanziellen Kompensation zugunsten der Länder in Folge der Übertragung der Ertragshoheit der KfzSt auf den Bund (KraftStKompG) v. 29.5.2009, BGBl. I 2009, 1170, festgelegt. (5) Kapitalverkehrsteuern (abgeschafft); Versicherungsteuer; Wechselsteuer (abgeschafft); (6) einmalige Vermögensabgaben (s. Rz. 6) und zur Durchführung des Lastenausgleichs erhobene Ausgleichsabgaben Gesetz über den Lastenausgleich v. 14.8.1952, BGBl. I 1952, 446, neugefasst durch Gesetz v. 2.6.1993, BGBl. I 1993, 845; (7) die Ergänzungsabgabe zur Einkommen- und zur Körperschaftsteuer: Solidaritätszuschlag (s. Rz. 6), wieder eingeführt mit Wirkung v. 1.1.1995 durch Gesetz v. 23.6.1993, BGBl. I 1993, 944 (975). (8) Abgaben im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften, sog. Abschöpfungen.
c) Die Erträge aus folgenden Steuern (Landessteuern, Landesertragsteuern) stehen den Ländern zu 59 (Art. 106 II GG): (1) Vermögensteuer (erhoben bis zum VZ 1996, s. § 16); (2) Erbschaftsteuer (s. § 15); (3) Kraftfahrzeugsteuer (bis 30.6.2009); (4) Verkehrsteuern, soweit sie nicht dem Bund (bis zum 30.6.2009: Kraftfahrzeugsteuer) oder Bund und Ländern gemeinsam (so die Umsatzsteuer, s. § 17) zustehen: Grunderwerbsteuer, Feuerschutzsteuer, Rennwett- und Lotteriesteuer (s. § 18); die Umsatzsteuer wird zweimal ausgeschaltet, zum einen durch Art. 106 I Nr. 2 GG als Verbrauchsteuer, zum anderen durch Art. 106 II Nr. 3 GG als Verkehrsteuer (dazu § 17 Rz. 21); (5) Biersteuer (s. § 18 Rz. 105, 112); (6) Spielbankabgabe (s. Rz. 22).
Das Aufkommen dieser Steuern steht den einzelnen Ländern insoweit zu, als die Steuern von den Finanzbehörden in ihrem Gebiet (endgültig) vereinnahmt werden, sog. örtliches Aufkommen (Art. 107 I 1 GG). d) Außerdem erhalten Bund und Länder einen Anteil an der Gewerbesteuer, sog. Gewerbesteuer- 60 umlage (Art. 106 VI 4, 5 GG; dazu Rz. 67). e) Gemeinschaftsteuern, d.h. solche, deren Aufkommen Bund und Ländern gemeinsam zusteht, 61 sind (Art. 106 III GG): (1) Einkommensteuer (s. § 8), Körperschaftsteuer (s. § 11), soweit das Aufkommen aus der Einkommensteuer nicht den Gemeinden zugewiesen ist (s. Rz. 65 f.). Am Aufkommen der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer sind der Bund und die Länder je zur Hälfte beteiligt (Art. 106 III 2 GG).
132 Nach BVerfG v. 5.11.2014 – 1 BvF 3/11, BVerfGE 137, 350, Rz. 31, gehört hierzu die Luftverkehrsteuer.
Seer 57
§ 2 Rz. 62
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
Der Länderanteil am Aufkommen der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer steht den einzelnen Ländern insoweit zu, als die Steuern von den Finanzbehörden in ihrem Gebiet vereinnahmt werden (Art. 107 I 1 GG; s. auch §§ 19, 20 AO). Durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, sind für die Körperschaftsteuer und die Lohnsteuer nähere Bestimmungen über die Abgrenzung sowie über Art und Umfang der Zerlegung des örtlichen Aufkommens zu treffen (Art. 107 I 2 GG). Das ist geschehen durch das Zerlegungsgesetz, neugefasst durch das Zerlegungs- und Kraftfahrzeugsteueränderungsgesetz v. 6.8.1998, BGBl. I 1998, 1998 (zuletzt geändert durch Gesetz v. 20.12.2016, BGBl. I 2016, 3000 [3014]). 62
(2) Umsatzsteuer133: Die Anteile von Bund und Ländern werden durch Bundesgesetz festgesetzt, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf (Art. 106 III 3 GG). Art. 106 III 4 GG bestimmt die Grundsätze für die Festsetzung der Anteile. Der durch Gesetz v. 3.11.1995 (BGBl. I 1995, 1492) eingefügte Art. 106 III 5 GG bezieht in die Festsetzung der Anteile den Familienleistungsausgleich ein. Die Anteile sind neu festzusetzen, wenn sich das Verhältnis zwischen den Einnahmen und Ausgaben des Bundes und der Länder wesentlich anders entwickelt (Art. 106 IV 1 GG). Nach Art. 106 IV 2, 3 GG ist ein Ausgleich auch durch Finanzzuweisungen des Bundes zulässig. Die Anteile von Bund, Ländern und Gemeinden ergeben sich aus § 1 Finanzausgleichsgesetz – FAG, das mit Wirkung v. 1.1.2020 neu ausgestaltet worden ist134. Die Regelung trägt die Handschrift des politischen Detailkompromisses und ist sehr kompliziert. Grob vereinfacht ergeben sich für ab 2020 die folgenden Anteile: ca. 52,8 % Bund, 45,2 % Länder u. 2 % Gemeinden135.
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Der Länderanteil am Umsatzsteueraufkommen steht den einzelnen Ländern nach Maßgabe ihrer Einwohnerzahl zu; für einen Teil, höchstens für ein Viertel des Länderanteils, können Ergänzungsanteile für die Länder vorgesehen werden, deren Aufkommen aus Einkommensteuer und Körperschaftsteuer je Einwohner unter dem Länderdurchschnitt liegt (Art. 107 I 4 GG).
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Über den Finanzausgleich136 hat das BVerfG fünfmal grundl. entschieden137. Den nach dessen Vorgaben geordneten Finanzausgleich138 regelt zunächst das Maßstäbegesetz vom 9.12.2001, BGBl. I 2001, 2302 (zuletzt geändert durch Gesetz vom 14.8.2017, BGBl. I 2017, 3122). Allerdings ist es dem Gesetzgeber in dem Maßstäbegesetz nicht gelungen, die vom BVerfG geforderten Zuteilungs- und Ausgleichsmaßstäbe (befreit von tages- und machtpolitischen Interessen) in einer mittleren Ebene einzuziehen, auf deren Basis sodann das Finanzausgleichsgesetz (s. Rz. 62) Detailregelungen festlegt. Der vom BVerfG vorgenommene Rückgriff auf John Rawls’ theoretische Denkfigur eines „Schleiers des Nicht-
133 Dazu Hidien, Die Verteilung der Umsatzsteuer zwischen Bund und Ländern, Diss., 1998. 134 Durch Gesetz zur Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems v. 14.8.2017, BGBl. I 2017, 3122 (3123 ff.). Bis 2019 einschließlich gilt noch das FAG a.F. v. 20.12.2001, BGBl. I 2001, 3955, zuletzt geändert durch Ges. v. 1.12.2016, BGBl. I 2016, 2755. 135 Für 2018 u. 2019 ergibt sich nach § 1 FAG a.F. die folgende (überschlägige) Verteilung: ca. 52 % Bund, 46 % Länder u. 2 % Gemeinden. 136 Zum Finanzausgleich s. Habilitationsschriften v. Häde, Finanzausgleich, 1996; Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997; Hidien, Der bundesstaatliche Finanzausgleich in Deutschland, 1999; s. außerdem Geske, Der bundesstaatliche Finanzausgleich, 2001; Korioth, ZG 2007, 1; Geske, Der Staat 46 (2007), 203; Kahl (Hrsg.), Nachhaltige Finanzstrukturen im Bundesstaat, 2011, mit Beiträgen insb. v. Kahl, Feld, Reimer, Waldhoff, Korioth u. Wieland; Kube, Der bundesstaatliche Finanzausgleich, 2011; Wendt, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 144; Reimer, VVDStRL 73 (2014), 153 (176 ff.); Kempny/Reimer, Gutachten 70. DJT, 2014, D 54 ff., 93 ff.; Federer-Meyer, Finanzielle Solidarität im Bundesstaat. Diss. 2017. 137 BVerfG v. 20.2.1952 – 1 BvF 2/51, BVerfGE 1, 117; BVerfG v. BVerfG v. 24.6.1986 – 2 BvF 1/83 u.a., BVerfGE 72, 330; BVerfG v. 27.5.1992 – 2 BvF 1/88 u.a., BVerfGE 86, 148; BVerfG v. 11.11.1999 – 2 BvF 2/98 u.a., BVerfGE 101, 158; BVerfG v. 19.10.2006 – 2 BvF 3/03, BVerfGE 116, 327. 138 Dazu BMF, Die Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs, BMF-Schriftenreihe, Heft 73, 2003 (Materialien); zur Neuregelung des Finanzausgleichs ab 2020 s. BT-Drucks. 18/11131, 11 ff.; 18/11135, 61 ff.; 18/12589, 129 ff.
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4. Die Steuerertragshoheit (Art. 106; 107 GG)
Rz. 65 § 2
wissens“139 hat den Gesetzgeber offensichtlich überfordert140. Die Maßstäbe bündischer Solidarität, staatlicher Autonomie und föderaler Gleichbehandlung141 sind auf vier Stufen der Finanzverteilung in Einklang zu bringen. Auf der ersten Stufe ist Steuerertragsverteilung im Verhältnis zwischen dem Bund und der Ländergesamtheit gem. Art. 106 GG (s. Rz. 58 ff.) durchzuführen (sog. primärer vertikaler Finanzausgleich). Der durch Art. 106 GG im vertikalen Bund-Länder-Verhältnis zugeordnete Länderanteil wird daraufhin auf der in Art. 107 I GG geregelten zweiten Stufe unter den Ländern verteilt (primärer horizontaler Finanzausgleich). Leitend ist insoweit das Prinzip der Steuerverteilung nach der regionalen Steuerkraft142. Diese vornehmlich vom Gedanken der gebietskörperschaftlichen Eigenund Folgenverantwortung geprägte Steueraufteilung korrigiert auf der dritten Stufe der sog. Länderfinanzausgleich (sekundärer horizontaler Finanzausgleich) des Art. 107 II GG143 durch Umverteilung der primären Steueraufkommen der Länder. Hintergrund dieser Regelung ist, dass die Länder eine unterschiedliche Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftskraft aufweisen und deshalb die insoweit schlechter gestellten Länder – aufgrund entsprechend geringerer Steuererträge – ihre Aufgaben nicht angemessen erfüllen können. Deshalb soll der Länderfinanzausgleich nach dem Solidaritätsprinzip zu einer angemessenen Annäherung der Finanzkraft führen, ohne allerdings zu einer Nivellierung zu führen oder die Finanzkraftreihenfolge zu verändern144. Schließlich eröffnet Art. 107 II 5 GG auf der vierten Stufe dem Bund die Möglichkeit, aus seinen Mitteln Bundesergänzungszuweisungen (sekundärer vertikaler Finanzausgleich) zugunsten leistungsschwacher Länder zu gewähren. Auch diese vom Prinzip der bündischen Solidarität getragene vierte Stufe des Finanzausgleichs unterliegt dem aus dem Prinzip der gebietskörperschaftlichen Eigenverantwortung folgendem Verbot der Nivellierung und Veränderung der Finanzkraftreihenfolge145. Dementsprechend unterliegen zum Zweck der Sanierung eines in Not geratenen Landeshaushalts eingeforderte Bundesergänzungszuweisungen einem strengen ultima ratio-Prinzip146. Dies gilt u.E. auch für die mit Wirkung v. 1.1.2020 in dem neugestalteten Finanzausgleich nach Art. 107 II 6 GG n.F. möglichen sog. Gemeindesteuerkraftzuweisungen147. Die Gemeinden erhalten148 (1) einen Anteil am Aufkommen der Einkommensteuer (Art. 106 V GG i.V.m. §§ 1–5; 7 Gemeindefinanzreformgesetz [GFRG] i.d.F. der Bekanntmachung v. 10.3.2009, BGBl. I 2009, 502, zuletzt geändert durch Ges. v. 21.11.2016, BGBl. I 2016, 2613). Das Gemeindefinanzreformgesetz sieht Folgendes vor:
139 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (deutsche Übersetzung), 1975, 159 ff.; ausführlich zum juristischen Gebrauch dieser Leitidee: Heinz, Der Schleier des Nichtwissens im Gesetzgebungsverfahren, Diss., 2009. 140 Dazu mit unterschiedlichen Folgerungen krit. Korioth, ZG 2002, 334 (341); Jung, Maßstäbegerechtigkeit im Länderfinanzausgleich, Diss., 2008; Heinz, Der Schleier des Nichtwissens im Gesetzgebungsverfahren, Diss., 2009, 31 ff., 276 ff., 306 ff.; Kube, Der bundesstaatliche Finanzausgleich, 2011, 39 ff., 93 ff.; Reimer, VVDStRL 73 (2014), 153 (176 ff.); Kempny/Reimer, Gutachten 70. DJT, 2014, D 56 ff., 97 ff., zu den Reformoptionen. 141 BVerfG v. 11.11.1999 – 2 BvF 2/98 u.a., BVerfGE 101, 158 (219 ff.). 142 Dazu Pommer, Örtliches Aufkommen von Steuern und Zerlegung als Probleme des Finanzausgleichs und der Steuerrechtfertigung, Diss., 2016, 101 ff. 143 Neugefasst durch Ges. v. 13.7.2017, BGBl. I 2017, 2347. 144 BVerfG v. 24.6.1986 – 2 BvF 1/83 u.a., BVerfGE 72, 330 (418 f.); BVerfG v. 19.10.2006 – 2 BvF 3/03, BVerfGE 116, 327 (380). 145 Seer in FS Schnapp, 2008, 303 (309); Kube, Der bundesstaatliche Finanzausgleich, 2011, 30. 146 BVerfG v. 19.10.2006 – 2 BvF 3/03, BVerfGE 116, 327 (386 ff.). 147 Allerdings geht Mehlhaf, Kommunen im Finanzausgleich des Grundgesetzes, 2017, 160, davon aus, dass sowohl das Nivellierungs- als auch das Übernivellierungsverbot insoweit nicht greifen. 148 Dazu Hidien, KStZ 1998, 101; Hidien, ZKF 1999, 270; Weiß, ZKF 2001, 26 ff., 52 ff.; Wendt/Elicker, DÖV 2001, 7621; Kaspar, KStZ 2008, 1; J. Müller, Die Beteiligung der Gemeinden an den Gemeinschaftsteuern, Diss., 2010.; Mehlhaf, Kommunen im Finanzausgleich des Grundgesetzes, 2017, 187 ff. Zur verfassungsrechtlich bedenklichen Finanzierung von Konsolidierungshilfen für überschuldete Gemeinden durch eine sog. Solidarumlage Koblenzer/Günther, ifst-Schrift Nr. 499 (2014), 39 ff.
Seer 59
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§ 2 Rz. 66
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
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Die Gemeinden erhalten 15 % des Aufkommens an Lohnsteuer und veranlagter Einkommensteuer sowie 12 % des Aufkommens aus Kapitalertragsteuer nach § 43 I 1 Nr. 5–7, 8–12 EStG. Der Gemeindeanteil wird nach den Steuerbeträgen bemessen, die von den Finanzbehörden im Gebiet des Landes unter Berücksichtigung der Zerlegung nach Art. 107 I GG vereinnahmt werden (§ 1 GFRG). Dieses Aufkommen wird anhand einer Schlüsselzahl auf die einzelnen Gemeinden verteilt. Die Schlüsselzahl ergibt sich aus dem Anteil der Gemeinde an den durch Bundesstatistiken ermittelten Einkommensteuerbeträgen, die auf das zu versteuernde Einkommen ihrer Einwohner bis zu einem Höchstbetrag von jährlich 35 000 Euro, bei Zusammenveranlagung von Ehegatten 70 000 Euro entfallen (§ 3 GFRG). Die Einkommensgrenzen bei der Berechnung der Schlüsselzahl dienen dazu, Steuerkraftunterschiede zwischen den Gemeinden in einem politisch gewünschten Umfang zu nivellieren. Damit andererseits die Angleichung nicht zu stark ausfällt, werden die Höchstbeträge von Zeit zu Zeit an die gesamtwirtschaftliche Einkommensentwicklung angepasst. Der darüber hinausgehende Gemeindeanteil wird nach Einwohnerzahl verteilt;
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(2) das Aufkommen der Realsteuern (Art. 106 VI 1 GG), d.h. der Gewerbesteuer und der Grundsteuer (s. § 3 II AO). Bund und Länder werden jedoch durch Gesetz an dem Gewerbesteueraufkommen beteiligt, sog. Gewerbesteuerumlage (Art. 106 VI 4, 5 GG)149. Die vertikale Aufteilung der Umlage zwischen Bund und Ländern richtet sich nach dem Verhältnis zwischen Bundes- und Landesvervielfältigern (§ 6 I 2 GFRG), ihre horizontale Verteilung unter den Ländern nach dem Örtlichkeits- und Vereinnahmungsgrundsatz (§ 3 FAG).
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(3) das Aufkommen der örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern (s. dazu Rz. 46, 50 ff.) nach Maßgabe der Landesgesetzgebung (s. Art. 106 VI 1 GG);
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(4) vom Länderanteil am Gesamtaufkommen der Gemeinschaftsteuern (s. dazu Rz. 60 ff.) einen von der Landesgesetzgebung zu bestimmenden Hundertsatz (Art. 106 VII 1 GG);
70
(5) einen Anteil am Aufkommen der Landessteuern (s. Rz. 59), soweit es die Landesgesetzgebung vorsieht (Art. 106 VII 2 GG);
71
(6) einen Anteil am Aufkommen der Umsatzsteuer (s. Rz. 62 f.). Der Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer wird nach den §§ 5a–5d GFRG (s. Rz. 65) auf die Länder und Gemeinden verteilt. Maßgebliche Faktoren sind der Anteil der einzelnen Gemeinden am Gewerbesteueraufkommen (25 %), an der Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (50 %) sowie am Anteil der sozialversicherungspflichtigen Entgelte (25 %).
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Die Verfassungen der Länder verpflichten die Landesgesetzgeber zu einem kommunalen Finanzausgleich, der die Finanzkraftunterschiede der Gemeinden abmildern soll150. Zusätzlich darf der Bund nunmehr nach dem neu eingeführten Art. 104c GG den Ländern Finanzhilfen für gesamtstaatlich bedeutsame Investitionen finanzschwacher Gemeinden (Gemeindeverbänden) im Bereich der kommunalen Bildungsinfrastruktur gewähren151.
149 Dazu näher Mehlhaf, Kommunen im Finanzausgleich des Grundgesetzes, 2017, 196 ff., der für eine Abschaffung der Gewerbesteuerumlage plädiert, s.a. Broer, DStZ 2014, 352; weitergehend Kempny/Reimer, Gutachten 70. DJT, 2014, D 56 ff. 150 Zu Strukturfragen u.a. Münstermann, ZKF 2004, 245 (Teil I), 265 (Teil II), 294 (Teil III), 2005, 5 (Teil IV), 25 (Teil V); Laier, Der Kommunale Finanzausgleich, Diss., 2010; Rauber, KStZ 2012, 201; speziell zu Hessen mit empirischen Belegen und Handlungsempfehlungen Rauber, Finanzierung zentralörtlicher Funktionen, Diss., 2012, 43 ff.; 135 ff.; 167 f.; ebenso zu Niedersachsen Broer, KStZ 2012, 161 (Teil I), 181 (Teil II); zum sog. Ausgleichsstock Huylmans, Der Ausgleichsstock in NordrheinWestfalen, Diss., 2013; Moewes, Abundanzumlagen im kommunalen Finanzausgleich, Diss., 2015; Bataille/Geisler, Der kommunale Finanzausgleich in Nordrhein-Westfalen (Loseblatt). 151 Eingeführt durch Ges. v. 13.7.2017, BGBl. I 2017, 2347, um den dringenden Modernisierungs- und Sanierungsbedarf bei kommunalen Bildungseinrichtungen zu erfüllen, s. BT-Drucks. 18/11131, 17.
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Seer
5. Die Steuerverwaltungshoheit (Art. 108 GG)
Rz. 72 § 2
Ertragshoheit gem. Art. 106 GG über die zurzeit erhobenen Steuern Bund (Art. 106 I GG)
Länder (Art. 106 II GG)
Gemeinden und Gemeindeverbände (Art. 106 VI GG)
– Zölle – Verbrauchsteuern i.S.d. Art. 106 I Nr. 2 GG: – BranntweinSt – KaffeeSt – EnergieSt – StromSt – SchaumweinSt – TabakSt – KfzSt u. auf motorisierte Verkehrsmittel bezogene Verkehrsteuern i.S.d. Art. 106 I Nr. 3 (z.B. LuftVSt) – VersicherungsSt – Solidaritätszuschlag (Ergänzungsabgabe i.S.d. Art. 106 I Nr. 6 GG) Abgaben im Rahmen der EU
– Erbschaft- u. – Realsteuern (GrSt u. SchenkungSt GewerbeSt) unter Be– Verkehrsteuern rücksichtigung der i.S.d. Art. 106 II GewerbeSt-Umlage an Bund u. Länder Nr. 3: – GrunderwerbSt – örtliche Verbrauch– Rennwett- u. u. Aufwandsteuern LotterieSt (z.B. HundeSt, Ver– FeuerschutzSt gnügungsSt, ZweitwohnungSt) – BierSt – Spielbankabgabe (s. § 7 Rz. 104)
Gemeinschaftsteuern gem. Art. 106 III GG Einkommensteuer
42,5 %
– Lohnsteuer/veranlagte 44 % Einkommensteuer
42,5 %
15 %
44 %
12 %
– Zinsabschlagsteuer Körperschaftsteuer
50 %
50 %
–
Umsatzsteuer (s. Rz. 62)
ca. 52 %
ca. 46 %
ca. 2 %
5. Die Steuerverwaltungshoheit (Art. 108 GG) Literatur: Bonsels, Einwirkungs- und Mitwirkungsrechte des Bundes bei der Verwaltung der Steuern durch die Länder, Diss., 1995; Uelner, Die Finanzminister im System der sog. Gewaltenteilung, in FS Friauf, 1996, 217; Oeter, Die Finanzverwaltung im System der bundesstaatlichen Kompetenzteilung, Thür. VBl. 1997, 1; Löwer, Verfassungsrechtsfragen der Steuerauftragsverwaltung, BMF-Schriftenreihe, Heft 70, 2001; Seer, Kooperativ-föderale Steuerverwaltung in Deutschland, in FS Ruppe, 2007, 533; Drüen, Die föderale Steuerverwaltung aus der Sicht des Grundgesetzes, FR 2008, 295; Schmitt, Steuervollzug im föderalen Staat, in DStJG 31 (2008), 99; Hidien/Walden, Brauchen wir eine Bundessteuerverwaltung?, in FS FH des Bundes für öffentliche Verwaltung, 2009, 651; Senger, Die Reform der Finanzverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland, Diss., 2009; M. Schmitt, Steuerverwaltung, in FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 161; s. außerdem die Kommentierungen zu Art. 108 GG (insb. Seer in Bonner Kommentar, 2011).
Seer 61
§ 2 Rz. 73
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
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Auf Druck der Alliierten hat Art. 108 GG mit der Tradition einer unitarischen Reichsfinanzverwaltung gebrochen und eine föderale Steuerverwaltung vorgesehen152. Die heutige Gestalt der Steuerverwaltungshoheit entspricht im Wesentlichen dem FinanzreformG 1969, hat aber im Zuge der jüngeren Föderalismusreformen Modifikationen mit einer Stärkung der Bundeszuständigkeiten erfahren153. Art. 108 GG folgt der Konzeption eines sog. kooperativen Föderalismus. Während die Gesetzgebungskompetenz für die wesentlichen Steuern zur Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse beim Bund liegt (s. Rz. 35 f.), besitzen die Länder – von den reinen Bundessteuern (insb. Zöllen, besondere Verbrauchsteuern, nunmehr auch Kfz-Steuer) abgesehen – die Steuerverwaltungskompetenz. Um für die sog. Gemeinschaftsteuern i.S.d. Art. 106 III GG (Einkommen-, Körperschaft-, Umsatzsteuer, s. Rz. 61 f.) einen vereinheitlichten Steuervollzug im Bundesgebiet zu sichern, statuiert Art. 108 III GG insoweit eine Bundesauftragsverwaltung. Diese ermöglicht es dem Bund, im gesamtstaatlichen Interesse auf die Verwaltung der Gemeinschaftsteuern durch die Länder einzuwirken154.
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Um die Effizienz der Steuerverwaltung zu steigern, ist in jüngerer Zeit ein Bündel von Maßnahmen getroffen worden. Art. 108 I 3, II 3 GG enthält seit 2001 eine Öffnungsklausel, um den früher durchgängig dreistufigen hierarchischen Verwaltungsaufbau verschlanken zu können (s. § 21 Rz. 33, m.w.N.)155. Auf einfachgesetzlicher Ebene ist der Zuständigkeitskanon des Bundeszentralamts für Steuern – BZSt (bis zum 31.12.2005: Bundesamt für Finanzen) – in § 5 FVG als Bundesoberbehörde deutlich erweitert worden. Das BZSt besitzt nicht nur eine Zentralzuständigkeit für internationale Steuersachverhalte und den grenzüberschreitenden Datenaustausch, sondern fungiert nunmehr als Datensammelstelle und Bindeglied der miteinander zunehmend vernetzten Länderfinanzverwaltungen (s. § 21 Rz. 34, 40). Im Zuge der Föderalismusreform hatte der Bundesrechnungshof darüber hinausgehend die Einführung einer Bundessteuerverwaltung gefordert156. Aufgrund des massiven Widerstands der Länder konnte die Stellung des Bundes im Verhältnis zu den Ländern beim Steuervollzug in den Föderalismusreform-Stufen I und II aber nur „in kleiner Münze“ durch die beiden Begleitgesetze gestärkt werden. Neben dem Ausbau der Zuständigkeiten des BZSt wurden die Mitwirkungsrechte der Bundesbetriebsprüfung bei den von den Landesfinanzbehörden durchzuführenden Außenprüfungen (§ 19 FVG, s. § 21 Rz. 244) ausgedehnt und die Steuerungsrechte des Bundes zur Verwirklichung der länderübergreifenden Vollzugsziele durch das Instrument von sog. Zielvereinbarungen erweitert (s. § 21a FVG; zum Weisungsrecht des BMF s. § 21 Rz. 35). Die verstärkte Zusammenarbeit zwischen Bundesund Landesfinanzbehörden ist von dem in der Föderalismusreformstufe III weiter ausgebauten Art. 108 IV GG (s. Rz. 78) gedeckt157.
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Es werden verwaltet – von Bundesfinanzbehörden: Zölle, bundesgesetzliche Verbrauchsteuern (einschließlich Einfuhrumsatzsteuer und Biersteuer), Kfz-Steuer, Abgaben im Rahmen der EU (s. Art. 108 I GG);
152 Zur Entstehungsgeschichte s. Bonner Komm./Seer, 2011, Art. 108 GG Rz. 17 ff. 153 FinanzreformG v. 12.5.1969, BGBl. I 1969, 359; im Zuge der Stufen I u. II der Föderalismusreform die sog. Begleitgesetze v. 5.9.2006, BGBl. I 2006, 2098, u. v. 10.8.2009, BGBl. I 2009, 2702; zur Stufe III zuletzt Ges. v. 13.7.2017, BGBl. I 2017, 2347 (2348); Ges. v. 14.8.2017, BGBl. I 2017, 3122 (3129 ff.). 154 S. dazu BVerfG v. 22.5.1990 – 2 BvG 1/88, BVerfGE 81, 310 (332); BVerfG v. 19.2.2002 – 2 BvG 2/00, BVerfGE 104, 249 (264); Bonner Komm./Seer, 2011, Art. 108 GG Rz. 107 ff. 155 Eingeführt durch Gesetz v. 26.11.2001, BGBl. I 2001, 3219. 156 Präsident des BRH, Probleme beim Vollzug von Steuergesetzen, 2006, 157 ff.; F. Kirchhof, ZG 2006, 288 (298 f.); Kienbaum Management Consultant GmbH, Forschungsbericht im Auftrag des BMF, BMFMonatsbericht 03/2007, 75 ff.; Schleicher, DStJG 31 (2008), 59 (78 ff.); dagegen Schmitt, DStJG 31 (2008), 99 (122 ff.); Hidien/Walden in FS Fachhochschule öffentliche Verwaltung des Bundes, 2009, 651 ff.; ferner dazu Tipke, StRO III2, 1410 ff. 157 Siehe auch Seer/Drüen in Kluth (Hrsg.), FödRefG, Art. 108 GG Rz. 31; Drüen, FR 2008, 295 (299); Bonner Komm./Seer, 2011, Art. 108 GG Rz. 131 ff.; zu kommunalen Informationsrechten bei Auseinanderfallen von Verwaltungs- und Ertragshoheit Drüen, DÖV 2012, 493.
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Seer
5. Die Steuerverwaltungshoheit (Art. 108 GG)
Rz. 79 § 2
– von Landesfinanzbehörden im Auftrage des Bundes: Steuern, die ganz oder zum Teil dem Bund zufließen: Versicherungsteuer, Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Umsatzsteuer (s. Art. 108 III GG); – von Landesfinanzbehörden in Landeseigenverwaltung: Erbschaft- und Schenkungsteuer, Grunderwerbsteuer, Feuerschutzsteuer, Rennwett- und Lotteriesteuer, Spielbankabgabe, Gewerbe- u. Grundsteuer, örtliche Verbrauch- u. Aufwandsteuern (s. Art. 108 II 1 GG). In Art. 108 I GG nicht besonders genannt ist die Versicherungsteuer. Diese Bundessteuer wurde bis 76 zum 30.6.2010 durch die Landesfinanzbehörden im Auftrag des Bundes (s. Art. 108 III GG) verwaltet. Das Begleitgesetz zur zweiten Föderalismusreform vom 10.8.2009, BGBl. I 2009, 2702 (2708), hat mit Wirkung v. 1.7.2010 in § 5 I Nr. 25 FVG eine Zentralzuständigkeit des BZSt für die Verwaltung der Versicherungsteuer geschaffen, um den gleichmäßigen Vollzug dieser Steuer zu effektuieren (s. BTDrucks. 16/12400, 16). Das Ausführungsgesetz zu Art. 108 GG ist das Gesetz über die Finanzverwaltung, das die Organisa- 77 tion und sachliche Zuständigkeit (§ 16 AO) der Finanzbehörden regelt (s. § 21 Rz. 30 ff.). Die örtliche Zuständigkeit ist in den §§ 17 ff. AO geregelt (s. § 21 Rz. 43 ff.). Art. 108 IV GG enthält als Ausprägung des kooperativen Föderalismus eine besondere Kooperations- 78 ermächtigung. Im Hinblick auf die begrenzte Effizienz der geteilten Verwaltungshoheit soll die Ermächtigung verhindern, dass eine rationelle und moderne Verwaltung an der verfassungsrechtlichen Trennung der Aufgabenbereiche durch Ländergrenzen scheitert158. Art. 108 IV GG ermöglicht ein Zusammenwirken von Bund und Ländern in verschiedenen Formen (Art. 108 IV GG). Es kommen sowohl Mitwirkungsbefugnisse der gliedstaatlichen Finanzbehörden in der Bundesfinanzverwaltung als auch umgekehrt Mitwirkungsbefugnisse der Bundesfinanzbehörden in den Finanzverwaltungen der Länder in Betracht. Möglich ist auch die Delegation von Steuerverwaltungsaufgaben. Allerdings enthält Art. 108 IV GG kein Blankett für eine Mischverwaltung und Zuständigkeitsdelegation, sondern gestattet nur eine punktuelle Durchbrechung der Steuerverwaltungskompetenzen des Art. 108 I–III GG159. Von der Kooperation oder Delegation muss eine messbare Effizienzsteigerung im Sinne eines gleich- und gesetzmäßigeren Steuervollzugs ausgehen. Unter dieser Voraussetzung ist die Kooperationsund Delegationsklausel des Art. 108 IV GG ein Beweglichkeitsfaktor, der eine kompetenzrechtliche Flexibilität im Bund-Länder-Verhältnis eröffnet, um so ein zweckmäßiges und anpassungsfähiges Steuerverwaltungssystem zu garantieren160. Art. 108 IV 3 GG n.F. lässt es nunmehr ausdrücklich zu, dass mit einem Bundesgesetz über das Zusammenwirken von Bund und Ländern bei Zustimmung einer im Gesetz genannten Mehrheit von Ländern Vollzugsregeln erlassen werden, die in allen Ländern gelten161. Art. 108 IVa GG n.F. ermöglicht nunmehr auch, durch ein zustimmungsbedürftiges Bundesgesetz un- 79 ter den in Rz. 78 genannten materiellen Voraussetzungen länderübergreifende Zentralzuständigkeiten zu schaffen. Dazu bedarf es aber des Einvernehmens des in seiner Steuerverwaltungskompetenz betroffenen Landes. Schon bisher konnte die Verwaltung von Steuern, die den Gemeinden zufließen, von den Ländern ganz oder zum Teil den Gemeinden übertragen werden (Art. 108 IV 2 GG). Das ist (außer in den Stadtstaaten) geschehen hinsichtlich der Realsteuerfestsetzung (= Anwendung der Realsteuerhebesätze auf die Realsteuermessbescheide) und der Verwaltung der kommunalen (sog. örtlichen) Verbrauch- und Aufwandsteuern (s. Rz. 48 f.: z.B. Vergnügung-, Hunde-, Getränkesteuer). 158 S. BT-Drucks. V/2861, 38, Rz. 174. 159 S. BVerfG v. 27.6.2002 – 2 BvF 4/98, BVerfGE 106, 1 (26); Seer/Drüen in Kluth (Hrsg.), FödRefG, Art. 108 GG Rz. 30 f.; Drüen, FR 2008, 295 (299); Bonner Komm./Seer, 2011, Art. 108 GG Rz. 131. 160 Seer/Drüen in Kluth (Hrsg.), FödRefG, Art. 108 GG Rz. 31; Drüen, FR 2008, 295 (299); Bonner Komm./Seer, 2011, Art. 108 GG Rz. 132. 161 Eingefügt durch Ges. v. 13.7.2017, BGBl. I 2017, 2347 (2348). Abweichend davon sieht § 21a I FVG die Möglichkeit allgemeiner fachlicher Weisungen des Bundes vor, wenn nicht mindestens 11 Länder widersprechen.
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§ 2 Rz. 80
Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen der Steuerrechtsordnung
Die Steuerverwaltungshoheit gem Art. 108 GG und ihre organisatorische Umsetzung im FVG 80 Verwaltung durch Bundesbehörden (Art. 108 I GG)
Bundesministerium der Finanzen (§ 3 I FVG): Leitung der Bundesfinanzverwaltung Bundeszentralamt für Steuern (§ 5 FVG): Aufgaben, deren zentrale Erledigung zweckmäßig ist (Art. 108 IV 1 GG), z.B. Entlastung von deutschen Abzugsteuern aufgrund von DBA, Erstattung von USt an ausländische Organisationen, Vergabe von USt-Identifikationsnummern, Mitwirkung bei Außenprüfungen (§ 19 FVG), Zentral-Verbundstelle für den grenzüberschreitenden Informationsaustausch, VersicherungSt (s. Rz. 76) Hauptzollämter (§ 12 FVG – untere Bundesfinanzbehörden) Verwaltung der Zölle, der Abgaben im Rahmen der EU und der bundesgesetzlich geregelten Verbrauchsteuern (BierSt, BranntweinSt, KaffeeSt, EnergieSt, SchaumweinSt, TabakSt) einschließlich Einfuhr-USt, Kfz-Steuer
Verwaltung durch Landesbehörden (Art. 108 II, III GG)
Landesfinanzministerium bzw. -senatoren (§ 3 II FVG): Leitung der Landesfinanzverwaltung Oberbehörden der Landesfinanzverwaltung für bestimmte Aufgaben (§ 2 I Nr. 2 FVG) sowie Oberfinanzdirektionen (§ 8a FVG – Mittelbehörden) Leitung der Landesfinanzverwaltung in ihrem Bezirk Finanzämter (§ 17 FVG – untere Landesfinanzbehörden)
Bundesauftragsverwaltung gem. Art. 108 III i.V.m. Art. 85 GG:
Verwaltung gem. Art. 108 II GG: VSt, ErbSt, GrunderwerbSt, Rennwett- u. LotterieSt, Spielbankenabgabe,
ESt u. KSt einschl. Solidaritätszuschlag, USt ohne Einfuhr-USt (Gemeinschaftsteuern i.S.d. Art. 106 III GG)
Verwaltung durch Gemeinden (Art. 108 IV 2 GG)
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Seer
bzgl. der Realsteuern (GewSt und GrundSt) Ermittlung u. Festsetzung der Besteuerungsgrundlagen → Erlass von Grundlagenbescheiden
Steuerämter delegiert durch Kommunalabgabengesetze: örtliche Verbrauch- u. Aufwandsteuern (z.B. HundeSt, JagdSt, ZweitwohnungSt, VergnügungsSt)
Festsetzung u. Erhebung der Realsteuern durch Anwendung des Hebesatzes (§ 184 III AO) → Erlass des Folgebescheides
§3 Steuersystem und Steuerverfassungsrecht A. System des Steuerrechts Literatur: Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts2, 1983; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 1991, Kap. 6 (Begriffs- und Systembildung in der Jurisprudenz), 437 ff.; Tipke, Steuerrecht – Chaos, Konglomerat oder System?, StuW 1971, 2; Tipke, StRO I2, 2000, 61 ff.; P. Kirchhof, Die Steuerrechtsordnung als Wertordnung, StuW 1996, 3; P. Kirchhof, Die Widerspruchsfreiheit im Steuerrecht als Verfassungspflicht, StuW 2000, 316; Birk, Ordnungsmuster im Steuerrecht – Prinzipien, Maßstäbe u. Strukturen, in FS Schaumburg, 2009, 3; Eckhoff, Steuerrecht ohne System, in FS Steiner, 2009, 118; FS J. Lang, 2010, mit Beiträgen von Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, 21, Mössner, Prinzipien im Steuerrecht, 83 und Drüen, Über Theorien im Steuerrecht, 57; Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, in FS Spindler, 2011, 29; Birk, Das Ungerechte an der Steuergerechtigkeit, StuW 2011, 354; J. Lang, Das Anliegen der Kölner Schule: Prinzipientreue des Steuerrechts, StuW 2013, 53; Droege, Steuergerechtigkeit – eine Demokratiefrage, RW 2013, 374; Drüen, Prinzipien und konzeptionelle Leitbilder einer Einkommensteuerreform, DStJG 37 (2014), 9; J. Lang, Steuergerechtigkeit, StuW 2016, 101.
I. Problemstellung: Systemhaftigkeit versus Steuerchaos „Steuerrecht – Chaos, Konglomerat oder System?“ – diese Frage hat das Forscherleben von Klaus 1 Tipke beherrscht1; ebenso unermüdlich hat Joachim Lang für eine prinzipienverpflichtete Neuordnung des Steuerrechts geworben2. Der Zustand des geltenden Steuerrechts verleiht diesem Anliegen ungebrochene Aktualität. Zwar sind die Forderungen nach Fundamentalreform in den letzten Jahren weitgehend verstummt, da die Politik wenig Interesse zeigt3 (s. Rz. 8). Des ungeachtet befindet sich das Steuerrecht weiterhin in Unordnung, in einem Steuerchaos4. Seit jeher wird es als Vehikel von parteipolitischen Positionen5 gehandhabt und nicht als Materie des Rechts. Das Gemeinwohl läuft in einer pluralistischen Demokratie Gefahr, durch Gruppeninteressen verdrängt zu werden6. Dank seiner jeden Lebensbereich und jeden Wähler erfassenden Breitenwirkung scheint das Steuerrecht prädestiniert zur „Stimmenfangpolitik“7 durch steuerliche Wahlkampfgeschenke. Diese Wahlkampfgeschenke werden durch systemverletzende Gegenfinanzierungsmaßnahmen8 oft teuer erkauft, die auch dann nicht zurückgedreht werden, wenn Haushaltsüberschüsse finanziellen Handlungsspielraum eröffnen9. Dem 1 So der programmatische Titel der Abhandlung (StuW 1971, 2) zu Beginn der StuW-Herausgebertätigkeit. 2 Angefangen mit J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes. Münsteraner Symposion, Band II, 1985; J. Lang, Die einfache und gerechte Einkommensteuer, 1987; zuletzt J. Lang, StuW 2013, 53 u. StuW 2016, 101. 3 Schön, Beihefter zu DStR 17/2008, 10, postulierte bereits 2008 das Ende der steuerpolitischen Illusionen. 4 Dazu näher J. Lang, FR 1993, 661 (664 f.) (Steuerchaos als Produkt des Interessenpluralismus); J. Lang, Stbg. 1994, 10; Raupach, FS Klein, 1994, 309; Helsper, BB 1995, 17; Helsper, BB 1996, 2326; Jachmann, Wider das Steuerchaos, 1998. 5 Dazu Franke, Steuerpolitik in der Demokratie, Habil., 1993; Findling, Die Politische Ökonomie der Steuerreform, 1995. 6 Dazu grundl. von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977. Weber-Grellet, DB 2007, 1717, führt die Reformunfähigkeit des Steuerrechts auf strukturelle Mängel der repräsentativen Demokratie zurück. 7 Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuerwirrwarr!?, Rechtsreform statt Stimmenfangpolitik, 2006, 22 ff. 8 Zum Unheil der Gegenfinanzierungsgesetzgebung Hey, StuW 2013, 107. 9 Hey, DStZ 2017, 632 (633 f.); zum Bedürfnis nach Steuerentlastung auch Dorn u.a., ifo Schnelldienst 10.8.2017, 31.
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§ 3 Rz. 2
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
Steuergesetzgeber führen Bundes- und Landesfinanzministerien die Feder10. Sie tragen Verantwortung nicht nur für den Zustand des Steuerrechts, sondern auch für den Haushalt. Finanzminister verstehen sich in erster Linie als Haushalts- und nicht als Steuerminister. Die Entlastung der einen Gruppe resultiert damit regelmäßig in der Belastung einer anderen Gruppe. Durch detailverliebte und überkomplexe Missbrauchsvermeidungsgesetze versucht der Gesetzgeber zudem, Steuerwiderstand zu brechen. Schließlich begründen Defizite der Gesetzgebungstechnik und der Gesetzesfolgenabschätzung permanente Nachjustierungen. 2 Folge der Unordnung des Steuerrechts ist nicht nur Steuerunrecht, sondern auch erhebliche Steuer-
unsicherheit. Die institutionelle Unsicherheit der Besteuerung erzeugt Planungsunsicherheit und vermittelt dem Steuerzahler das Gefühl, Besteuerung lasse sich beliebig manipulieren. Fehlende Besteuerungsmoral schlägt sich in geringer Steuermoral nieder11. Der Bürger empfindet den Steuerstaat nicht als Rechtsstaat, sondern als unersättlichen Leviathan. Folglich sieht er sich legitimiert, skrupellos nach mehr oder weniger legalen Steuertipps und Steuertricks zu fahnden. Der Betrug des Staates, die Steuerhinterziehung, gilt oft noch als Kavaliersdelikt (s. aber auch § 23 Rz. 3). Global agierende Unternehmen können die sich ihnen durch die fehlende Kooperationsbereitschaft der Staaten bietenden Gestaltungsmöglichkeiten ausreizen. Im Internationalen Kampf gegen „aggressive Steuerplanung“12, geführt unter dem Akronym BEPS (Base Erosion and Profit Shifting), müssen die Verantwortungsbereiche jedoch klar definiert werden. Für eine Kategorie der illegitimen Gestaltung unterhalb der Illegalität ist in Rechtsstaaten kein Raum. Daher sind nicht primär die Unternehmen an den Pranger zu stellen. Vielmehr ist es Aufgabe der Politik, auch international für eine Steuerrechtsordnung zu sorgen, die Doppelbesteuerung ebenso verhindert wie doppelte Nichtbesteuerung13. Erhöhte Transparenz durch flächendeckend automatisierten internationalen Informationsaustausch (s. § 21 Rz. 273 ff.) hilft, Steuerhinterziehung und Gestaltungsmissbrauch zu vermeiden, beseitigt aber nicht die Brüche des materiellen Steuerrechts. 3 Eine gerechte und rechtssichere Ordnung des Steuerrechts müsste eigentlich im allseitigen Interes-
se liegen, nicht nur im rechtlichen, sondern auch im ökonomisch-ordnungspolitischen Streben nach Effizienz der Wirtschaftsordnung und Finanzverwaltung. Für die Agenten und Vertreter des Staates (Steuerpolitiker, Finanzbeamte, Finanzrichter) erhebt sich die Forderung, dass der Rechtsstaat dort sein Handeln rechtfertigt, wo er dem Bürger alltäglich begegnet und ihm dabei etwas wegnimmt. Für das Steuerrechtsbewusstsein der Bürger ist unabdingbar, dass ihnen der Rechtsstaat die Überzeugung vermittelt, sie müssten die Steuern der anderen nicht mitbezahlen. 4 Die Systemlehre von Klaus Tipke14, auf der dieses Buch basiert, stellt dem unsystematisch wuchern-
den Steuerrecht, der herrschenden Steuerunordnung die Anforderungen von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit entgegen, die ganz allgemein das Wesen „richtigen“ Rechts ausmachen15. Das Ziel der Steuergerechtigkeit ist nur dann erreichbar, wenn sich der Gesetzgeber sowohl in der formalen als auch in der inhaltlichen Ausgestaltung des Steuerrechts Prinzipien und Regeln unterwirft. Nur dann entsteht ein Steuersystem.
10 Tipke, StRO III2, 1379 ff.; Borgmann, Stbg. 1989, 392 (393): Finanzministerium als „Ghostwriter“ der Steuergesetze, Parlament als „Leihmutter“ der Finanzverwaltung. 11 Tipke, Besteuerungsmoral und Steuermoral, 2000. 12 S. die Initiativen von G 20, OECD und EU; hierzu insb. OECD, Erläuterung, OECD/G20 Projekt Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung, 2015, 4; Überblick HHR/Ismer, Einf. ESt Anm. 1007 (2017); ferner § 7 Rz. 70 ff. 13 Dazu aus gleichheitsrechtlicher Sicht Rust, ISR 2013, 241. 14 Umfassend ausgebreitet in dem dreibändigen Werk „Die Steuerrechtsordnung“ (StRO I–III), s. Allgemeines Literaturverzeichnis. 15 Vgl. auch die allgemeinen Systemlehren von Canaris, Systemdenken; Larenz, Methodenlehre, 437 ff.
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A. System des Steuerrechts
Rz. 8 § 3
II. Formale und inhaltliche Ordnung 1. Das äußere System Das äußere System betrifft die Art der formalen Stoffanordnung, die technische Gliederung und 5 Ordnung des Stoffes, die möglichst übersichtlich sein soll. Elemente des äußeren Systems sind die Ordnungsbegriffe des Gesetzes16, der Gesetzesaufbau und die Stellung des einzelnen Rechtssatzes in der Gliederung des Gesetzes. Mit diesen Elementen operiert die sog. systematische Methode der Gesetzesauslegung (s. § 5 Rz. 63 ff.). Die Rechtserkenntnis aus dem äußeren System hängt von dem juristischen Reifegrad des anzuwendenden Gesetzes ab. Das äußere System setzt ein inneres System voraus, dem es folgen muss. Nur dann kann es Quelle von Rechtserkenntnis sein. Die Schaffung und Erhaltung eines äußeren Systems erfordert nicht nur die Existenz eines inneren Systems, sondern auch ein erhebliches Maß an Disziplin und Begriffszucht vom Gesetzgeber. Der Gesetzgeber muss klare Vorstellungen davon haben, was er regeln will. Er muss sich des inneren Systems bewusst sein, muss Begriffe eindeutig besetzen und verwenden17. Je präziser Begriffe und Gliederung eines Gesetzeswerks die vom Gesetzgeber gewollten Rechtsfolgen verdeutlichen und die rationale Fortentwicklung des Rechts und der Rechtsdogmatik gestatten, desto eher werden Juristen geneigt und in der Lage sein, mit dem äußeren System zu argumentieren. Genau an dieser äußeren Ordnung fehlt es jedoch den über Jahrzehnte regellos gewucherten gelten- 6 den Steuergesetzen. Die überstürzte legislative Umsetzung in letzter Minute gefundener politischer Kompromisse und mit „heißer Nadel“ gestrickte Gesetzestexte verhindern begriffliche Präzision. Das Fehlen eines klaren Regelungsplans schlägt sich meist auch in der äußeren Form der Gesetze nieder. Unzulässig sind allerdings Schlüsse von dem Zustand des äußeren Systems auf den des inneren Systems. Weder lässt sich aus der Regelungstechnik folgern, es handle sich um ungleiche Sachverhalte (so ermöglicht die Erfassung des Einkommens in sieben Einkunftsarten keine gleichheitsrechtlichen Schlussfolgerungen), noch kann umgekehrt ein Mangel an äußerer Systematik zwangsläufig mit fehlender innerer Systemgerechtigkeit gleichgesetzt werden18. Entsprechend dem verschiedenen Entwicklungsstand des Steuerrechts verwirklichen die Steuergeset- 7 ze das äußere System in unterschiedlicher Qualität. Das äußere System der Abgabenordnung ist trotz der oben (§ 1 Rz. 54) aufgezeigten Mängel im Großen und Ganzen ausgereift. Allerdings besteht auch hier die Gefahr, dass neue Entwicklungen der Automatisierung des Besteuerungsverfahrens konzeptionslos und unabgestimmt an vielen Einzelstellen eingeflickt werden, statt die Abgabenordnung systematisch in das 21. Jahrhundert zu überführen. Stellenweise schlimm ist die Qualität der Steuergesetze, die die einzelnen Steuerarten regeln. So lässt etwa der Aufbau des EStG den Funktionszusammenhang von Vorschriften nicht erkennen, wenn z.B. die privaten Abzüge i.S.d. § 2 IV, V EStG (s. § 8 Rz. 700 ff.) an verschiedenen Stellen geregelt sind oder grundlegende Merkmale einkommensteuerbarer Einkünfte wie Markteinkommensqualität und Einkünfteerzielungsabsicht (s. § 8 Rz. 52) nur partiell positiviert sind (§ 15 II EStG). Das äußere System des Steuerrechts fände seinen idealen Ausdruck in einem Steuergesetzbuch19. Es könnte das innere, inhaltliche System steuerartenübergreifend durch Verwendung einer stimmigen Terminologie in eine formale und sprachliche Ordnungsstruktur umsetzen. Dem Steuerzahler würde ein Überblick über 16 Dazu Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, 52 ff., 142 ff.; ferner Larenz, Methodenlehre, 437 ff.: Das äußere oder „abstrakt-begriffliche“ System; Tipke, StRO I2, 61 ff. 17 Bsp.: § 4 Vb EStG besagt, die Gewerbesteuer und die darauf entfallenden Nebenleistungen „sind“ keine Betriebsausgaben. Wenn die Gewerbesteuer weiterhin Objektsteuer sein soll, dann ist die Gewerbesteuer Betriebsausgabe i.S.v. § 4 IV EStG (ebenso Kirchhof/Bode17, § 4 EStG Rz. 237). Der Gesetzgeber hätte ein Betriebsausgabenabzugsverbot anordnen müssen. Andernfalls hätte die Gewerbesteuer richtigerweise in § 12 Nr. 3 EStG aufgenommen werden müssen. Trotz dieser systematischen Widersprüche bejahte der BFH die Verfassungskonformität: BFH v. 16.1.2014 – I R 21/12, BStBl. II 2014, 531. 18 Englisch, FS J. Lang, 2010, 167 (178). 19 Tipke, Gedanken zu einem Steuergesetzbuch, StuW 2000, 309.
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§ 3 Rz. 9
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
die Gesamtheit seiner Belastung ermöglicht. Die Neukodifikation des Steuerrechts könnte ein Befreiungsschlag sein. Rechtliches Chaos bildet einen typischen Entstehungsgrund für die Kodifikation: Alle großen Kodifikationen des Rechts hatten einen Zustand gesteigerter Unordnung des geltenden Rechts zu überwinden, dienten der Rechtsbereinigung, -vereinheitlichung und -vereinfachung, der Corpus juris civilis Justinians I., der Code civil Napoleons und das BGB, das die Verschiedenheit der deutschen Land- und Provinzrechte ablöste. Der desolate Zustand der Steuergesetze in den letzten Jahrzehnten hat dazu herausgefordert, bedeutende Fortschritte in der Rechtserkenntnis der Besteuerung zu erzielen, auf deren Grundlage die Steuerrechtswissenschaft Vorschläge für in sich geschlossene Kodifikationen erarbeitet hat20. Zugrunde liegt die Erkenntnis, dass nur ein systematisch geordnetes Steuerrecht den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Gleichmäßigkeit der Besteuerung (s. Rz. 110 ff.) genügen kann. Das Systematisierungsanliegen wird auch durch die fortschreitende Digitalisierung nicht obsolet21. Aus Systemwidrigkeit resultierende Ungleichbehandlung verschwindet nicht durch Digitalisierung. Allenfalls kann der Einsatz moderner EDVTechnik die Anwendung komplizierter Vorschriften erleichtern. Die Forschung zu Chancen und Risiken der Digitalisierung des Steuerrechts steckt allerdings noch in den Anfängen22. Ob die Politik jemals die Kraft zu einer Neuordnung des Steuerrechts aufbringen wird, ist fraglich. Denn trotz der allgegenwärtigen Forderung nach Steuervereinfachung dürfte sich der Wähler für das Anliegen einer Systematisierung des Steuerrechts nur begrenzt interessieren, wenn nicht zugleich Steuersenkungsversprechen abgegeben werden23.
2. Das inhaltliche oder innere System 9 Nach dem Verständnis der herrschenden Wertungsjurisprudenz24 beruhen die Regeln einer Rechts-
ordnung auf bestimmten Wertungen, nach denen die Rechtsgemeinschaft ihre Verhältnisse ordnet. Diese Wertungen bilden das inhaltliche oder innere System25 einer Rechtsordnung. Ein inneres System kommt grds. nur dann zustande, wenn die verschiedenen Wertungen aufeinander abgestimmt sind und in den Regeln der Rechtsordnung folgerichtig vollzogen werden26. Die normative Folgerichtigkeit des inneren Systems begründet auch die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung (s. auch § 1 Rz. 44 ff.)27. 10 Ein gerechtes, von der Rechtsgemeinschaft allgemein akzeptiertes Rechtssystem entwickelt sich
nur auf der Grundlage sachgerechter Wertungen, das sind Wertungen, die zum einen den rechtsethischen Konsens der Rechtsgemeinschaft zum Ausdruck bringen und zum anderen der Sachlogik des Regelungsgegenstands gerecht werden, daher sachbezogen oder sachangemessen sind28. Angesichts des ökonomischen Regelungsgegenstands der Besteuerung ist die ökonomische Rationalität ein bedeutender Faktor der Sachgerechtigkeit. Ökonomisch unvernünftige Besteuerungsformen sind meist auch ungerecht und umgekehrt (s. Rz. 59 ff.). Demnach sollten sich juristische Wertungen den z.T. „wertfrei“ (s. § 1 Rz. 45, 46) gewonnenen Erkenntnissen der ökonomischen Wissenschaften nicht verschließen, sondern ökonomische Wirkungsmechanismen und natürliche Verhaltensweisen des homo oeconomicus einkalkulieren. Dies erklärt die eminente Bedeutung der interdisziplinären Kooperation 20 J. Lang, Steuergesetzbuch, 1993; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, sowie das Projekt „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, (www.stiftung-marktwirtschaft.de). 21 A.A. Weber-Grellet, StuW 2016, 226 (238). 22 Erste Überlegungen Ahrendt, NJW 2017, 537. 23 Ähnlich Wagner, DStR 2014, 1133 (1140). 24 Umfassend dazu Larenz, Methodenlehre, 119 ff.; 125 ff.; 474 ff.; auch § 5 Rz. 49. 25 Grundl. für das Steuerrecht Tipke, dessen Lebenswerk auf die Erforschung des inneren steuerrechtlichen Systems angelegt ist (s. J. Lang, StuW 2001, 78 [80 ff.]). S. zuletzt Tipke, StRO I2, 67 ff. (das inhaltliche, materiale oder innere System als Prinzipienhierarchie). 26 Grundl. Canaris, Systemdenken, 40 ff. 27 Dazu Sodan, JZ 1999, 864; P. Kirchhof, StuW 2000, 316; Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, Diss., 2007. 28 Grundl. für das Steuerrecht Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis. Vom politischen Schlagwort zum Rechtsbegriff und zur praktischen Anwendung, 1981, sowie vertiefend Tipke, StRO I2, 273 ff.
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A. System des Steuerrechts
Rz. 13 § 3
der Steuerwissenschaften (s. § 1 Rz. 13 ff.) für die Erkenntnis ökonomischer Rationalität des Steuerrechts. 2.1 Prinzipien als Träger des inhaltlichen oder inneren Systems Das inhaltliche oder innere System der Rechtsordnung wird getragen von den Prinzipien als ord- 11 nungsstiftende Grundwertungen; sie sind richtunggebende Maßstäbe, die durch den rechtsethischen Konsens rechtliche Entscheidungen zu rechtfertigen vermögen29. Derartige Rechtsprinzipien oder Rechtsgrundsätze, auch bezeichnet als (allgemeine) Rechtsgedanken oder Ausprägungen der Rechtsidee, bedürfen durchweg der Konkretisierung; sie bestimmen keine Rechtsfolgen; dadurch unterscheiden sie sich von den Einzelwertungen und Rechtssätzen (Normen, Regeln)30. Die Einzelwertung liegt dem Rechtssatz zugrunde, der die Rechtsfolge anordnet. Während Regeln oder Normen die ihnen zu Grunde liegenden Einzelwertungen entweder erfüllen 12 oder nicht erfüllen, anwendbar oder nicht anwendbar sind, gebieten Rechtsprinzipien als Richtwerte die optimale Verwirklichung des ihnen immanenten rechtsethischen Konsenses; sie sind Optimierungsgebote. Rechtsprinzipien sind folglich auch dadurch charakterisiert, dass sie in unterschiedlichen Graden erfüllt werden können31, weil die Ordnung des Rechts nicht prinzipienmonistisch, sondern -pluralistisch zusammengefügt ist. Deshalb können die verschiedenen Rechtsprinzipien in einer Regel zusammenwirken, sich ergänzen oder einander widersprechen32. Rechtsprinzipien haben entweder einen konstruktiven Inhalt (z.B. Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit) oder einen prohibitiven Inhalt (z.B. verfassungsrechtliche Schranken der Besteuerung); dabei wirken häufig konstruktive und prohibitive Prinzipien zusammen (z.B. Verbot einer übermäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit). Rechtsprinzipien haben unterschiedlichen Rang und unterschiedliche Wirkkraft. Das inhaltliche 13 oder innere System der Steuerrechtsordnung wird durch folgende Hierarchie von Prinzipien bestimmt: a) Systemtragende Prinzipien des Steuerrechts sind Rechtsprinzipien, die das steuerrechtliche System im Ganzen tragen. Sie enthalten rechtsethische Wertungen, deren Gültigkeit unabhängig von der konkreten gesetzlichen Ausgestaltung ist. Es handelt sich um Prinzipien, die der Rechtsstaat verbürgt, um die Prinzipien formaler und materialer Rechtsstaatlichkeit33. Diese Prinzipien sind zunächst die verfassungsrechtlichen Prinzipien, das sind im Grundgesetz normierte Prinzipien wie der Gleichheitsgrundsatz, das Legalitätsprinzip, das Übermaßverbot oder das Sozialstaatsprinzip. Diese verfassungsrechtlichen Prinzipien werden sodann steuerspezifisch konkretisiert durch das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Das Leistungsfähigkeitsprinzip wird in erster Linie 29 Larenz, Richtiges Recht, Grundzüge einer Rechtsethik, 1979, 23 ff.; Larenz, Methodenlehre, 474. Eindringlich für das Steuerrecht Birk, FS Schaumburg, 2009, 3; Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, Habil., 2008, 9–69; Mössner, FS J. Lang, 2010, 83. 30 Dazu ausf. Alexy, Theorie der Grundrechte7, 2015, 71 ff. (Regeln und Prinzipien); Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts4, 1990, 39 ff., 141 ff.; Larenz, Methodenlehre, 474 ff.; Reimer, Verfassungsprinzipien, Ein Normtyp im Grundgesetz, Diss., 2001; Progl, Der Prinzipienbegriff, Diss., 2002; Bergmann Ávila, Theorie der Rechtsprinzipien, 2006; Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, Habil., 2008, 7–69 (Zur Lehre von den Rechtsprinzipien); Heinold, Die Prinzipientheorie bei Ronald Dworkin und Robert Alexy, Diss., 2011. 31 So die Unterscheidung von Alexy, Theorie der Grundrechte7, 2015, 75 f., ebenso Larenz, Methodenlehre, 475, m.w.N.; Drüen, DStJG 37 (2014), 9, (43 f.); ob verfassungsrechtlich eine Optimierungspflicht des Gesetzgebers besteht, ist unter Staatsrechtlern jedoch stark umstritten; abl. mit Überblick über den Meinungsstand Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, Habil., 2014, 274 ff. 32 Dazu grundl. Canaris, Systemdenken, 112 ff. 33 Grundl. Tipke, StRO I2, 103 ff. (Grundrechtlich-rechtsstaatliche Prinzipien des Steuerrechts), 256 ff. (Gerechtigkeit durch systemtragende Prinzipien). S. auch J. Lang, Über das Ethische der Steuertheorie von Klaus Tipke, FS Tipke, 1995, 12 ff.
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§ 3 Rz. 14
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
als Vergleichsmaßstab des Gleichheitssatzes entfaltet (Rz. 40 ff.). Es wirkt aber auch mit anderen verfassungsrechtlichen Prinzipien zusammen, etwa mit dem Übermaßverbot (s. Rz. 180 ff.), dem Verbot der Benachteiligung von Ehe und Familie (s. Rz. 162 ff.) und dem Sozialstaatsprinzip (s. Rz. 210 ff.). Wenngleich das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht ausdrücklich in der Verfassung normiert ist (s. § 2 Rz. 8), so erhält es verfassungsrechtliche Verbindlichkeit und Wirkkraft durch die Anwendung des Gleichheitssatzes und anderer steuerrelevanter Verfassungsnormen. I.Erg. ist also festzustellen, dass systemtragende Prinzipien des Steuerrechts verfassungskräftige Prinzipien sind. Sie sind aus der Wertordnung des Grundgesetzes abgeleitet; diese Wertordnung prägt die Ordnung des Steuerrechts als öffentliches Recht. 14
b) Verfassungskräftige Subprinzipien: Die systemtragenden Prinzipien des Steuerrechts werden durch steuerrechtliche Subprinzipien konkretisiert, die nur für einzelne Normgruppen des Steuerrechts gelten. Auch sie haben (mit eingeschränkter Intensität) verfassungsrechtliche Wirkkraft, weil sie Wertungen der Verfassung konkretisieren (Beispiele zur Einkommensteuer: Universalitätsprinzip, Totalitätsprinzip, Prinzip der Individualbesteuerung, objektives/subjektives Nettoprinzip). Sie unterliegen damit nicht der freien Gestaltungsmacht des Gesetzgebers.
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c) Einfachgesetzliche Prinzipien schließlich detaillieren das inhaltliche oder innere System des Steuerrechts, ohne dass dies so verfassungsrechtlich geboten wäre. Keine verfassungsrechtliche Verbindlichkeit genießen z.B. das Markteinkommensprinzip (verfassungsrechtlich zulässig wäre auch eine Einkommensteuer auf den gesamten Reinvermögenszugang einschließlich Schenkungen und Erbschaften), das Nominalwertprinzip (dem Leistungsfähigkeitsprinzip entspräche besser ein Realwertprinzip) oder Bilanzierungsprinzipien. Einfachgesetzliche Prinzipien haben vor allem Bedeutung für die rechtsdogmatisch folgerichtige Weiterentwicklung von Teilgebieten des Steuerrechts; über das Folgerichtigkeitsgebot können sie auch verfassungsrechtliche Bindungen erzeugen (dazu Rz. 118 ff.).
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Die Konkretisierungsbedürftigkeit der Rechtsprinzipien hängt von ihrer Stellung in der Prinzipienhierarchie ab. Hochrangige Prinzipien wie das Leistungsfähigkeitsprinzip sind ihrem Rang entsprechend abstrakt und daher vieldeutig. Für die rechtsethische Überzeugungskraft, für die Transparenz und Planbarkeit des Steuerrechts kommt es darauf an, auf welche Weise der Konkretisierungsspielraum ausgefüllt wird, ob die Schritte der Konkretisierung auf den verschiedenen Stufen der Prinzipienhierarchie folgerichtig, systemkonsequent vollzogen und Systembrüche in Gestalt unbegründeter Prinzipienverletzungen vermieden werden.
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Nach der Art der Prinzipienqualität lassen sich unterscheiden: (1) Normierte und normkonzipierende Prinzipien. – Normierte Prinzipien sind unmittelbar in einem Rechtssatz niedergelegt. Sie finden sich vor allem im Grundgesetz (z.B. Sozialstaatsprinzip, Gleichheitssatz [besser: Gleichheitsgrundsatz], Rechtsstaatsprinzip), in allgemeinen Gesetzen und im Allgemeinen Teil eines Gesetzes. – Bloß normkonzipierende Prinzipien liegen den gesetzlichen Regelungen als sinnstiftende Wertung, Regel, Motivation, Leitidee oder Zweckgedanke zugrunde (ohne normiert, positiviert zu sein). Das Gesetz selbst nennt die normkonzipierenden Prinzipien nicht ausdrücklich, es ist aber Inkarnation oder Ausfluss solcher Prinzipien. Die normkonzipierenden Prinzipien sind nicht selbst Normen, sie wirken durch die Normen, werden durch diese – das Prinzip konkretisierend – in das Normative umgesetzt (Beispiele: Leistungsfähigkeitsprinzip, Markteinkommensprinzip, Nettoprinzip, Grundsatz von Treu und Glauben, Bilanzierungsprinzipien).
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(2) Wertende und technische Prinzipien, oder mit anderen Worten: Prinzipien der Gerechtigkeit (z.B. Leistungsfähigkeitsprinzip) und Prinzipien der Zweckmäßigkeit. Prinzipien bloßer Zweckmäßigkeit sind z.B. das Stichtagsprinzip und das Jahresabschnitts- oder Annuitätsprinzip. Zweckmäßigkeitserwägungen sind Grundlage von Vereinfachungsvorschriften; sie entsprechen dem Prinzip der Verwaltungsrationalität und -praktikabilität (s. Rz. 23, 145 ff.). Vereinfachungsvorschriften können allerdings 70
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A. System des Steuerrechts
Rz. 20 § 3
auch die Gleichmäßigkeit der Besteuerung positiv beeinflussen; Vorschriften, die wegen ihrer Kompliziertheit praktisch nicht richtig angewendet werden, beeinträchtigen die Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Technische Prinzipien haben nicht die gleiche Wertigkeit wie das (ethische) Leistungsfähigkeitsprinzip (s. Rz. 130). Der Gesetzgeber muss insoweit gleichmäßig zurückstecken, wenn die totale Durchführung des Leistungsfähigkeitsprinzips verwaltungstechnisch unmöglich oder mit unverhältnismäßigem Verwaltungsaufwand verbunden wäre.
2.2 Die steuergesetzlichen Normgruppen im System Literatur: Vogel, Die Abschichtung von Rechtsfolgen im Steuerrecht, StuW 1977, 97; Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, Habil., 1983, 67 ff., 153 ff., 194 ff., 232 ff.; McDaniel/Surrey, International Aspects of Tax Expenditures: A Comparative Study, 1985; Tipke, StRO I2, 2000, 73 ff.; HHR/Hey, Einf. ESt Anm. 60–65 (2014).
2.2.1 Drei Normgruppen Bei der Aufdeckung der den Steuergesetzen zugrunde liegenden (normkonzipierenden) Prinzipien ist 19 zunächst zu berücksichtigen, dass die in den Steuergesetzen enthaltenen Normen verschieden grundmotiviert, Ausfluss verschiedener Prinzipien sind. Das System ist also nicht monistisch, sondern pluralistisch oder multifunktional. Zu unterscheiden sind Fiskalzwecknormen, Sozialzwecknormen und Vereinfachungszwecknormen34. Mit einem Steuergesetz oder einer Norm kann allerdings auch ein Doppel- oder Mehrfachzweck verfolgt werden. a) Fiskalzwecknormen Die meisten Normen der Steuergesetze sind Fiskalzwecknormen (Finanz- oder Ertragszwecknor- 20 men). Sie dienen dazu, den notwendigen Finanzbedarf der öffentlichen Haushalte zu decken (Primärfunktion). Sie treffen konkrete Steuerwürdigkeitsentscheidungen nach Kriterien austeilender (besser: zuteilender) Gerechtigkeit (deshalb auch als Lastenausteilungsnormen bezeichnet), wobei selbstredend die Grundrechte zu berücksichtigen sind. Die Fiskalzwecknormen orientieren sich überwiegend am Leistungsfähigkeitsprinzip (s. Rz. 40 ff.), jedoch auch am Äquivalenzprinzip (s. Rz. 44; Gewerbesteuer: § 12 Rz. 1; Grundsteuer: § 16 Rz. 2). Fiskalzwecknormen können Steuerbefreiungen sein, die den Steuertatbestand auf die Steuerwürdigkeitsentscheidung zuschneiden35. So gibt es Fiskalzweckbefreiungen zur Abgrenzung des Steuerobjekts (s. § 8 Rz. 138; § 17 Rz. 222) und zur Vermeidung steuerlicher Mehrfachbelastungen, international (s. § 17 Rz. 226 ff.; § 8 Rz. 138) und national, z.B. im Verhältnis der Umsatzsteuer zu besonderen Verkehrsteuern (s. § 4 Nr. 9 Buchst. a und b UStG; § 17 Rz. 226 ff.) und Steuerermäßigungen zur Kompensation steuerlicher Zusatzbelastungen (s. § 35 EStG; § 8 Rz. 811 ff.), zur Vermeidung einer Übermaßbesteuerung oder zur Sicherung des Steueraufkommens im internationalen Steuerwettbewerb (s. § 7 Rz. 78 und 88). Fiskalzwecknormen, die das Leistungsfähigkeitsprinzip ausführen, enthalten keine Steuervergünstigung, auch dann nicht, wenn Ausgaben, die die Leistungsfähigkeit mindern, zum Abzug von der Bemessungsgrundlage zugelassen werden. Verfassungswidrige Fiskalzwecknormen können nicht als Sozialzwecknormen (s. Rz. 21) aufrechterhalten werden; dies schon deshalb nicht, weil Lenkung oder Intervention immer etwas Bezwecktes, Finales ist36. Dies schließt nicht aus, dass auch Fiskalzwecknormen soziale Auswirkungen
34 Grundl. hierzu Vogel, StuW 1977, 97. 35 Zu diesen aptiven Steuervergünstigungen J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, 1974, 118 ff. 36 S. HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 457 (2014) zur Umdeutung von Vereinfachungszwecknormen in Lenkungszwecknormen.
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§ 3 Rz. 21
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
(Gestaltungswirkungen) haben37; diese sind jedoch Folge, nicht Zweck der Normen. So haben z.B. die Fiskalzwecknormen des Einkommen- und Umsatzsteuerrechts nicht den Zweck, die wirtschaftliche Tätigkeit, die Investition, das Sparen oder das Konsumieren zu behindern, auch wenn sie unzweifelhaft die Entscheidung zwischen Arbeit/Freizeit oder Sparen/Konsum beeinflussen. b) Sozialzwecknormen 21
Die Steuergesetze sind nicht unerheblich durchsetzt mit Sozialzwecknormen (i.w.S.). Das sind Normen, die sozialpolitisch (insb. wohlstandskorrigierend oder redistributiv), wirtschaftspolitisch, kulturpolitisch, gesundheitspolitisch, berufspolitisch etc., folglich nicht oder nicht überwiegend fiskalisch motiviert sind. Sie treffen keine Steuerwürdigkeitsentscheidungen. Sie können Steuerentlastungen durch Steuervergünstigungen (s. § 19), aber auch zusätzliche Steuerbelastungen (z.B. durch Steuerabzugsbeschränkungen) oder Sondersteuern schaffen. Wer sich „sozial erwünscht“ verhält, wird steuerlich entlastet, wer sich „sozial unerwünscht“ verhält, wird steuerlich sonderbelastet. Da es nicht nur Sozialzwecksteuern (wie Alkoholsteuern, Tabaksteuer, Hundesteuer), sondern viele in Steuergesetze eingestreute Einzel-Sozialzwecknormen gibt, machen die Sozialzwecknormen das Steuerrecht unübersichtlich und schwer verständlich, zumal sie nicht nach dem Normzweck zusammengefasst und geordnet, sondern dort platziert sind, wohin sie bloß technisch gehören (Beispiele: §§ 10b; 34g EStG). Zu unterscheiden sind: – Lenkungsnormen38: Sie wollen durch gezielte Steuerentlastung oder -belastung ein bestimmtes Gemeinwohlverhalten des Stpfl. stimulieren. Lenkungsnormen sind daher gemeinwohlbezogen nach dem Gemeinwohl- und Verdienstprinzip zu rechtfertigen (s. Rz. 135). Eine Umdeutung von Fiskalzwecknormen in Lenkungsnormen ist schon deshalb nicht möglich, weil das BVerfG verlangt, dass „der Lenkungszweck mit hinreichender Bestimmtheit tatbestandlich vorgezeichnet“ sein müsse39. Die Norm muss von einer – entweder anhand des Gesetzestextes oder der Gesetzesmaterialien – erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung getragen sein40. Ist ein Förder- oder Lenkungszweck im Gesetzgebungsverfahren nicht zum Ausdruck gekommen, darf ein solcher zur Rechtfertigung nicht unterstellt werden. Das Gericht statuiert damit für Sozialzwecknormen einen Begründungszwang41. Die Lenkungsnorm darf also nicht unerkennbar in einer Fiskalzwecknorm, z.B. in einer zu niedrig bewertenden Norm oder einem Abzugsverbot versteckt sein. – Umverteilungsnormen: Sie bezwecken Wohlstandskorrektur im Interesse eines sozialen Ausgleichs. Wohlstandsmehrende Steuervergünstigungen sind nach dem Bedürfnisprinzip zu rechtfertigen (Rz. 134). I.Ü. dient das Sozialstaatsprinzip der Rechtfertigung von Umverteilungsnormen (s. Rz. 212 ff.).
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Materiell gehören die Sozialzwecknormen nicht zum Steuerrecht, sondern zum Wirtschaftsrecht, Sozialrecht oder zu anderen Bereichen42. Die Sozialzwecksteuern (z.B. Branntweinsteuer, Tabaksteuer, Hundesteuer) haben im Allgemeinen neben dem Sozialzweck – sekundär – auch einen Fiskalzweck.
37 Hierzu Hey, DStJG 39 (2016), 11 (41–46). 38 Dazu umfassend die Habil. von Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005. 39 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (148). 40 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (238). 41 Breinersdorfer, DStR 2010, 2492 (2495); krit. zur Aufwertung gesetzgeberischer Begründungserfordernisse Schwarz/Bravidor, JZ 2011, 653 ff.; allgemein zur Bedeutung von „Gesetzesbegründungen“ im Steuerrecht als Materialen der Gesetzesentstehung Hohmann, StuW 2017, 177. 42 Dazu Tipke, StRO I2, 77 ff. m.w.N. Zu den gleichwohl bestehenden legitimatorischen Unterschieden Schön, FS Spindler, 2011, 189.
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A. System des Steuerrechts
Rz. 25 § 3
Steuerentlastende Sozialzwecknormen bewirken Steuervergünstigungen (s. § 19); sie werden auch als Steuersubventionen, Steuervorteile oder Steuerprivilegien bezeichnet. Von Steuersubventionen i.e.S. lassen sich Zulagen unterscheiden (z.B. Investitionszulage, Altersvorsorgezulage gem. § 83 EStG). Ist eine steuerentlastende Sozialzwecknorm nicht gerechtfertigt (hierzu i.E. § 19 Rz. 70 ff.), so liegt eine Privilegierung (und damit ein Steuergeschenk), ist eine steuer(-sonder-)belastende Sozialzwecknorm nicht gerechtfertigt, so liegt eine Diskriminierung vor. Noch nicht ausdiskutiert ist, ob nicht gerechtfertigte Sozialzwecknormen als Fiskalzwecknormen aufrechterhalten werden können, wenn sie objektiv dem Leistungsfähigkeitsprinzip entsprechen43. c) Vereinfachungszwecknormen Vereinfachungszwecknormen44 sollen aus technisch-ökonomischen Gründen die Steuerrechtsanwen- 23 dung erleichtern, vereinfachen, praktikabler oder ökonomischer gestalten; sie sollen Überkompliziertheit und Undurchführbarkeit des Gesetzes vermeiden, etwa durch Typisierungen, Pauschalierungen, Vereinfachungsfreibeträge und -grenzen. Derartige Normen bewirken Ungleichbehandlung und bedürfen daher der Rechtfertigung in einem System gleichmäßiger Austeilung der Steuerlasten (s. Rz. 145 ff.). Es wäre indessen verfehlt, das Ziel einfacher Steuerrechtsanwendung lediglich mit einer Vergröberung der 24 Besteuerung verwirklichen zu wollen. Einfache Rechtsanwendung gewährleisten in erster Linie klar und bestimmt verfasste Steuergesetze, die möglichst wenig Streit und verkomplizierende Rspr. verursachen45. Der Gesetzgeber hat die Akzeptanz der Besteuerung durch folgerichtige und widerspruchsfreie Verwirklichung von Prinzipien herzustellen und daher solche Differenzierungen zu unterlassen, die das innere System des Steuerrechts stören46. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Materie des Steuerrechts mit wenigen Generalklauseln bewältigt werden kann. Die für Laien leichte Lesbarkeit einer Generalklausel verdeckt häufig ihre hohe Streitanfälligkeit47.
2.2.2 Relevanz der richtigen Einordnung Die Einordnung der Normen in die richtige Gruppe (s. Rz. 19 ff.) ist relevant
25
– für die Rechtsanwendung: die teleologische Auslegung oder Auslegung auf Grund von Prinzipien setzt die Kenntnis des Normzwecks voraus (s. § 5 Rz. 49 ff.); – für die Bewertung der einzelnen Norm unter dem Gesichtspunkt der individuell gerechten Verteilung von Lasten und Vorteilen, insb. unter dem Aspekt des Gleichheitssatzes (s. Rz. 40, 43); für Fiskalzwecknormen gelten andere Prinzipien der Sachgerechtigkeit als für Sozialzwecknormen (s. Rz. 131 ff.); – für die Reichweite des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums, wenn es um die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage geht; Steuervergünstigungen kann der Steuergesetzgeber streichen, nicht hingegen steuerentlastende Fiskalzwecknormen wie Abzugstatbestände für Erwerbsaufwendungen; – für die Beweislast der tatsächlichen Voraussetzungen, die bei Steuervergünstigungen denjenigen trifft, der die Vergünstigung geltend macht (s. dazu § 22 Rz. 191);
43 Bejahend Wernsmann in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, 161 (170); Vogel, StuW 1977, 97 (110). 44 Literatur zu den Vereinfachungszwecknormen s. vor Rz. 145. 45 Dazu Wolff-Diepenbrock, FS Offerhaus, 1999, 299. 46 Dazu Jachmann, StuW 1998, 193; P. Kirchhof, DStJG 24 (2001), 9 (20 ff.): Gestaltungsprinzipien der Einfachheit und Widerspruchsfreiheit. Zur Devise „Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung“ s. Rz. 146. 47 Vgl. dazu Kölner EStGE, Begr. Rz. 106 ff.
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§ 3 Rz. 26
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
– für die Anwendung des § 40 AO; diese Vorschrift gilt nur für Fiskalzwecknormen (s. § 5 Rz. 109); ob § 41 I AO auf Steuervergünstigungen angewendet werden kann, ist zweifelhaft; – für die Anwendung des europäischen Beihilferechts gem. Art. 107 AEUV (s. § 4 Rz. 115 ff.); – für die Erkenntnis wirtschaftlicher Effekte; – für Sozialgesetze, die an den Einkommensbegriff des Einkommensteuergesetzes anknüpfen.
3. Die Effizienz des Systemgedankens 26
Ein systematisiertes Steuerrecht ist keine Frage bloßer juristischer Ästhetik. Es hat gegenüber einem nichtsystematisierten Steuerrecht auch nicht nur den Vorteil größerer Stimmigkeit, Übersichtlichkeit, Klarheit, Durchsichtigkeit, Verständlichkeit, Praktikabilität, Lehr- und Lernbarkeit, Prüfbarkeit und Übersetzbarkeit. Fehlt das innere System, die rechtsethische Prinzipienordnung, so ist das Steuerrecht keine Gerechtigkeitsordnung; es herrscht Willkür. Systematisches Denken, eine systematische Konzeption ist daher unentbehrliche Voraussetzung für gute Steuergesetzgebung.
27
Darüber hinaus ist die Methode der Rechtsanwendung systemabhängig. Insb. verhilft das innere System mit seinen Prinzipien dazu, (1) die teleologischen Orientierungsmaßstäbe zu gewinnen, die für die Gesetzesauslegung erforderlich sind; denn das innere System ist eine teleologische Prinzipienordnung. Im Wege und in den Grenzen (möglicher Wortsinn!) der Auslegung ist der im System und seinen Prinzipien wurzelnde Wert- oder Zweckgedanke zur Geltung zu bringen. Auslegung als Ermittlung des Sinns einer Norm ist die Ermittlung des wertungsmäßigen Gehalts oder des technischen Zwecks der Norm. Erst bei Berücksichtigung der Grund- und Einzelwertungen oder Zwecke erschließt sich der teleologische Gehalt von Rechtsvorschriften. Eine Auslegung, die das innere System nicht berücksichtigt, entartet leicht zum freischwebenden methodischen Vagabundieren (Gefühlsjurisprudenz; im Steuerrecht oft unter dem Deckmantel sog. „wirtschaftlicher Betrachtungsweise“) oder sie erweist sich als blinde Begriffsjurisprudenz (s. § 5 Rz. 48); damit ist nichts gegen die „wirtschaftliche Betrachtungsweise“ bei der Auslegung gesagt. Richtig verstanden ist diese wirtschaftliche Betrachtungsweise nichts weiter als der Reflex des Prinzips der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und damit teleologische Auslegung; (2) Gesetzeslücken aufzudecken und auszufüllen. Sie kommen dadurch zustande, dass der Gesetzgeber von bestimmten Prinzipien oder Wertungen ausgeht, das Prinzip aber bei der Umsetzung in gesetzliche Tatbestände nicht konsequent zu Ende führt. Das Prinzip dient dann als Maßstab für die Lückenfeststellung und -ausfüllung durch Analogie u.a. Argumente juristischer Logik (s. § 5 Rz. 74 ff.); (3) Verstöße gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) aufzudecken. Dadurch erweist sich der Systemgedanke als eine dynamische Kraft. Der Gleichheitssatz verlangt eine folgerichtige, durchgängige Anwendung der gesetzgeberischen Wertungen. Eine unterschiedliche Wertung gleicher Sachverhalte verletzt den Gleichheitssatz. Allerdings ist ein Systembruch (Verstoß gegen den Gleichheitssatz) gerechtfertigt, wenn sachliche Gründe für eine Wertungsdifferenzierung vorliegen (insb. in Fällen von wertungsmäßig atypisch liegenden Tatbeständen); (4) das Ermessen entsprechend § 5 AO auszuüben.
28–39
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Einstweilen frei.
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B. Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung
Rz. 40 § 3
B. Das Leistungsfähigkeitsprinzip als allgemein anerkanntes Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung I. Das Leistungsfähigkeitsprinzip als systemtragender Vergleichsmaßstab für Fiskalzwecknormen Literatur: Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, Ein Beitrag zu den Grundfragen des Verhältnisses Steuerrecht und Verfassungsrecht, Habil., 1983; P. Kirchhof, Der verfassungsrechtliche Auftrag zur Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, StuW 1985, 319; J. Lang (Hrsg.), FS Tipke, 1995, mit Beiträgen von Schaumburg, 125 (internationales Steuerrecht), Lehner, 237 (wirtschaftliche Betrachtungsweise), Söhn, 343 (Markteinkommenstheorie), Taboada, 583 (Spanien) und Klett, 599 (Schweiz); Jachmann, Leistungsfähigkeitsprinzip und Umverteilung, StuW 1998, 293; Herrera Molina, Capacidad Económica y Sistema Fiscal, 1998 (dazu Ehmcke, StuW 1999, 89); Moschetti/Bozza-Bodden, Die Interpretation des Leistungsfähigkeitsprinzips gem. Art. 53 I der ital. Verfassung, StuW 1999, 78; Senn, Die verfassungsrechtliche Verankerung von anerkannten Besteuerungsgrundsätzen unter besonderer Berücksichtigung des Leistungsfähigkeitsprinzips, Diss., Zürich 1999, 149–195; Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip in der Unternehmenssteuerreform, StuW 2000, 328; P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, 17 ff.; 14. ÖJT (2000): Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, Dogmatische Grundfragen – Rechtspolitischer Stellenwert, Gutachten von Gassner/M. Lang, Bd. III/1, 2000 (gegen das Gutachten Beiser, Das Leistungsfähigkeitsprinzip – Irrweg oder Richtschnur?, ÖStZ 2000, 413; Replik von Gassner/M. Lang, Die mangelnde Leistungsfähigkeit des Leistungsfähigkeitsprinzips, ÖStZ 2000, 643); Tipke, StRO I2, 2000, 479 ff.; J. Lang, Konkretisierungen und Restriktionen des Leistungsfähigkeitsprinzips, in FS Kruse, 2001, 313; Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, 161 ff.; Ahlheim/Wenzel/Wiegard (Hrsg.), FS M. Rose, 2003, mit Beiträgen: Petersen, Werte, Prinzipien und Gerechtigkeit: Zu einem dynamischen Verständnis von Leistungsfähigkeit, 59; Windisch/Blankenburg, Globalisierung und Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, 211; Beiser, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Licht des Gemeinschaftsrechtes, StuW 2005, 295; Schön, Die zivilrechtlichen Voraussetzungen steuerlicher Leistungsfähigkeit, StuW 2005, 247; FS für den italienischen Verfassungsgerichtshof (50 anni Corte costitutionale), 2006: Beiträge zum Leistungsfähigkeitsprinzip von Fedeke, Moschetti, Boria, Stevanato; Tipke/Seer/Hey/Englisch (Hrsg.), FS J. Lang, 2010: P. Kirchhof, Leistungsfähigkeit und Erwerbseinkommen, 451, und Taboada, Leistungsfähigkeitsprinzip, Gleichheitssatz und Eigentumsgarantie, 263; Birk, § 147: Leistungsfähigkeitsprinzip, in Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013; Desens, Die Verwirklichung des Leistungsfähigkeitsprinzips als Maßstab der Steuernormen in der Rechtsprechung des BVerfG, StuW 2016, 240; F. Kirchhof, Das Leistungsfähigkeitsprinzip nach dem Grundgesetz – Zustand und Zukunft, BB 2017, 662.
Tradiertes Fundamentalprinzip der Steuergerechtigkeit und demzufolge oberster Vergleichsmaß- 40 stab gerechter Verteilung steuerlicher Lasten ist das Leistungsfähigkeitsprinzip. Die Entwicklung des Leistungsfähigkeitsprinzips48 zu einem fundamentalen Maßstab steuerlicher Lastengleichheit seit Thomas von Aquin hielt 1776 Adam Smith in seiner ersten Steuermaxime der Steuergleichheit („equality of taxation“) fest49. Sodann war wegweisend für viele Verfassungen50 in Art. 13 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte v. 3.11.1789 niedergelegt: „Für die Unterhaltung der Streitmacht und für die Kosten der Verwaltung ist ein gemeinschaftlicher Beitrag unerlässlich; dieser
48 Hierzu insb. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, Habil., 1983, 6 ff.; Pohmer/Jurke, FinArch. 42 (1984), 445; Hahn, StuW 2004, 167. 49 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, erstmals veröffentlicht 1776, dt. Ausgabe (hrsgg. v. Recktenwald): Der Wohlstand der Nationen13, 2013, 703: Die Bürger sollen Steuern im Verhältnis zu ihren Fähigkeiten („in proportion to their respective abilities“) zahlen, und zwar besonders im Verhältnis zum Einkommen, das sie unter dem Schutze des Staates genießen. Letzterer Hs. spricht auch, nicht nur, wie Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I7, 1991, 50, meint, das Äquivalenzprinzip an (s. Rz. 44). Zu den Steuermaximen von A. Smith s. § 7 Rz. 2. 50 S. Tipke, StRO I2, 488 ff.
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§ 3 Rz. 41
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
soll unter allen Bürgern des Staates im Verhältnis zu ihren Vermögensverhältnissen51 auf gleiche Weise verteilt werden.“ Art. 134 der Weimarer Reichsverfassung v. 11.8.1919 lautete: „Alle Bürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze bei“52. Das Grundgesetz enthält keine dem Art. 134 WRV entsprechende Spezialnorm, so dass das Gebot gleichmäßiger Besteuerung aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abgeleitet wird. 41
Das Leistungsfähigkeitsprinzip wird weltweit und in allen steuerwissenschaftlichen Disziplinen als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung anerkannt53. Gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip wird allerdings eingewendet, es sei zu vieldeutig, um aus ihm konkrete Schlüsse ziehen zu können54. Diese Auffassung verkennt Charakter und Rang des Leistungsfähigkeitsprinzips: Es prägt das Steuerrecht ebenso wie der Grundsatz der Privatautonomie das Zivilrecht prägt. Mit dieser rechtsgebietsprägenden Funktion fungiert das Leistungsfähigkeitsprinzip als Primärgrundsatz des Steuerrechts; dieser leitet ein inneres System von Rechtsprinzipien, die das Leistungsfähigkeitsprinzip konkretisieren und dadurch eine dogmatisch verifizierbare Ordnung des Steuerrechts substantiieren55. Aus dem Rang eines in der Prinzipienhierarchie obersten Rechtsgrundsatzes folgt seine Konkretisierungsbedürftigkeit: Durch Subprinzipien, Legislativakte, Judikatur und wissenschaftliche Dogmatik wird das Leistungsfähigkeitsprinzip bis hin zur einzelnen Steuerfolge verwirklicht oder auch (z.B. gegenüber Sozialzwecknormen) zurückgenommen. Auch der Grundsatz der Privatautonomie wird u.a. durch das Bedürfnis nach dem Schutz des schwächeren Vertragspartners eingeschränkt. Kein Zivilrechtler würde die Konkretisierungs-, auch Restriktionsbedürftigkeit zum Anlass nehmen, die Privatautonomie als systemtragendes Prinzip des Zivilrechts zu bestreiten. Nicht anders verhält es sich mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip: Es liefert den rechtsethisch klugen Richtwert56, der für die Ordnung des Steuerrechts nicht weniger benötigt wird als die Privatautonomie für die Ordnung des Zivilrechts. Zum Leistungsfähigkeitsprinzip gibt es keine Alternative eines besser geeigneten Primärgrundsatzes; es gibt lediglich die Alternative fundamentaler Prinzipienlosigkeit.
42
Im 19. Jahrhundert ist das Leistungsfähigkeitsprinzip als klassenkämpferisches Prinzip zur Rechtfertigung der Steuerprogression entwickelt worden. Wer dies zum Anlass nimmt, das Leistungsfähigkeitsprinzip abzuwerten57, übersieht, dass sich das Leistungsfähigkeitsprinzip von einem umverteilungspolitischen zu ei51 „En raison de leurs facultés“ bezog sich nach dem historischen Sprachgebrauch nicht allgemein auf die Leistungsfähigkeit, sondern auf die Vermögensverhältnisse, vgl. BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (269). 52 Dazu Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen des Gesetzgebers, Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit – Gleichheit vor dem Gesetz, VJSchrStFR 1930, 441. Schon zuvor § 173 der Frankfurter Reichsverfassung s. Kempny, FR 2011, 1155. 53 Dazu Tipke, StRO I2, 479 ff. In den ökonomischen Steuerwissenschaften allerdings zunehmend durch Effizienz- und Neutralitätspostulate verdrängt, s. hierzu § 7 Rz. 7 ff. 54 So besonders prominent Gassner/M. Lang, Gutachten für den 14. ÖJT (2000); Gassner/M. Lang, ÖStZ 2000, 643; sowie vereinzelt in der älteren Rspr. des BVerfG (so BVerfG v. 23.11.1976 – 1 BvR 150/75, BVerfGE 43, 108 [120] unter Verweis auf die ältere finanzwissenschaftliche Lit. von Haller, Pohmer u. Schmidt); Littmann, FS Neumark, 1970, 113; Arndt, FS Mühl, 1981, 17 ff.; Arndt, NVwZ 1988, 787; Martens, KritV 1987, 39; Schmidt, JbFSt. 1995/1996, 31. 55 Dazu Tipke, StRO I2, 492 ff. (unbestimmtes, kein unbestimmbares Prinzip), sowie auch zur Dogmatik des Leistungsfähigkeitsprinzips Costede, FS Felix, 1989, 17; Beiser, ÖStZ 2000, 413 („tragfähiges Ordnungsprinzip, aus dem systemgerechte Lösungen abgeleitet werden können“); Birk, StuW 2000, 328; Werndl, Allgemeines Steuerrecht, 2000, Rz. 154 ff.; J. Lang, DStJG 24 (2001), 55 ff.; J. Lang, FS Kruse, 2001, 313; grds. a.A. Kruse, FS Friauf, 1996, 793; Gassner/M. Lang, 14. ÖJT (2000), Bd. III/1, und Gassner/M. Lang, ÖStZ 2000, 643 (Ergebnis: das Leistungsfähigkeitsprinzip sei für die Steuerrechtsdogmatik wertlos). 56 Dazu umfassend Tipke, StRO I2, 479 ff. (auf der Suche nach einem sachgerechten Fundamentalprinzip sozial gerechter Besteuerung). 57 Schmidt, Die Steuerprogression, Habil., 1960, 41 ff.; Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1991, 52 f.; Leisner, StuW 1983, 97; Leisner, Demokratie: Betrachtungen zur Entwicklung einer gefährdeten Staatsform, 1998, 341 ff., 348 ff.
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B. Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung
Rz. 44 § 3
nem Rechtsprinzip entwickelt hat, das vornehmlich den grundrechtlichen Schutz des Stpfl. gegenüber dem Staat konkretisiert58. Es ist nicht nur Zugriffs-, sondern auch Schutzprinzip. Bei der juristischen Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips geht es nicht um Steuerprogression und Umverteilung59, um Schröpfung des Steuerzahlers, sondern um leistungsfähigkeitsgerechte Steuerarten und konsistent ausgeformte Indikatoren steuerlicher Leistungsfähigkeit, auch um die Schonung des Stpfl., soweit (wie im Falle des Existenzminimums) steuerlich belastbare Leistungsfähigkeit zu verneinen ist. Das Leistungsfähigkeitsprinzip fordert keinen progressiven Tarif60. Birk61 schlägt mit seiner Steuerwirkungslehre die Brücke zur ökonomischen Steuertheorie. Danach lässt sich das juristische Verständnis des Leistungsfähigkeitsprinzips in der Formel „Gleiche Besteuerung gleicher wirtschaftlicher Sachverhalte mit gleicher Belastungswirkung“ zusammenfassen. Auf diese Weise wird dem Effizienzpostulat, das Ökonomen heutzutage an die erste Stelle zu setzen pflegen, entsprochen (s. § 7 Rz. 4). Das Ideal einer entscheidungsneutralen Besteuerung62 ist mit den historischen Vorstellungen des Leistungsfähigkeitsprinzips als Rechtfertigung von Umverteilung sicher nicht zu vereinbaren. Es entspricht aber ziemlich exakt dem modernen rechtlichen Verständnis einer gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, das u.a. in der Rechtsformneutralität der Besteuerung seinen Niederschlag findet.
Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist der fundamentale Vergleichsmaßstab für Fiskalzwecknormen (s. 43 Rz. 20); für Sozialzwecknormen gelten Prinzipien, die geeignet sind, Abweichungen vom Leistungsfähigkeitsprinzip zu rechtfertigen. Das Leistungsfähigkeitsprinzip gilt für alle Steuern, auch für die indirekten Steuern auf den Konsum63. Allerdings belasten indirekte Steuern wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht zielgenau. Die Indikation wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit wird in der Einkommensverwendung unterstellt, typisiert oder vermutet64. Indirekte Steuern belasten auch das Existenzminimum65. Das Leistungsfähigkeitsprinzip wird komplementär ergänzt durch das finanzwissenschaftlich fundier- 44 te Äquivalenzprinzip66. Dieses Prinzip hat sich aus den Assekuranztheorien des 17. Jahrhunderts
58 Das Leistungsfähigkeitsprinzip kann auch freiheitsrechtlich verstanden werden. Dazu Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, Habil., 1983, 123 ff., 179 ff., 202 ff.; P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, 17 ff.; Liesenfeld, Das steuerfreie Existenzminimum und der progressive Tarif als Bausteine eines freiheitlichen Verständnisses des Leistungsfähigkeitsprinzips, Diss., 2005; a.A. F. Kirchhof, BB 2017, 662 (665). 59 Dazu Jachmann, StuW 1998, 293; Osterloh-Konrad, Zur Legitimation steuerlicher Umverteilung, StuW 2017, 305 (307 f.); Nayin, Umverteilung in Deutschland: Was ist Aufgabe des Steuersystems?, ifstSchrift 519 (2017). 60 S. auch BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (117). 61 Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, Habil., 1983, 76 ff., 153 ff. Vgl. auch Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, 2003, 55 ff. (Leistungsfähigkeitsprinzip im Kontext von Ökonomie und Verfassungsrecht). 62 Zum Verhältnis von steuerrechtswissenschaftlichem Leistungsfähigkeitsverständnis und ökonomischen Neutralitätspostulaten Elschen, StuW 1991, 99; F.W. Wagner, StuW 1992, 2. 63 Z.B. BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, Rz. 119, NJW 2017, 2249; ferner dazu Tipke, StRO II2, 979 ff.; Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, Habil., 2008, 563 ff.; Desens, StuW 2016, 240 (253). 64 Insb. P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, 25 (die indirekte Besteuerung könne „allenfalls im Typus des Besteuerungsgutes eine vermutete, nicht aber individuelle Leistungsfähigkeit“ erfassen); P. Kirchhof, DStR 2008, 1 (3); P. Kirchhof, Umsatzsteuer Gesetzbuch, 2008, 20 (typisierend zum Ausdruck kommende Leistungsfähigkeit). 65 Zur Vergütung der das Existenzminimum belastenden USt J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, BMF-Schriftenreihe, Bd. 49, 1993, 101 (103); Tipke, StRO II2, 1003 ff.; Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, Habil., 2008, 600. Im Weiteren Schemmel, Entlastung lebensnotwendiger Ausgaben von der Mehrwertsteuer, 2009; Leipold, UR 2009, 584; Englisch, UR 2010, 400. 66 Dazu Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, Habil., 2001. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, Habil., 2004; Tipke, StRO I2, 476 ff.; Hey, FS J. Lang, 2010, 133 ff.; J. Lang, StuW 2011, 144 (146 ff.); J. Lang, StuW 2013, 53 (58):
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§ 3 Rz. 45
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
entwickelt, die Steuern als Prämien für staatlichen Schutz rechtfertigen67; demnach dient es in erster Linie der Rechtfertigung von Steuern dem Grunde nach68. Steuern sind allgemeines Äquivalent für die Leistungen des Staates. Über die weitergehende Bedeutung des Äquivalenzprinzips für das Steuerrecht wird gestritten. Nach dem juristischen Steuerbegriff sind Steuern Geldleistungen ohne staatliche Gegenleistung (§ 3 I AO). Damit ist einer irgendwie konkretisierbaren „Äquivalenz“ von Steuer und staatlicher Gegenleistung a priori der Boden entzogen. Steuern sind ungeeignet, die Kosten staatlich bereitgestellter Leistungen abzubilden, sondern können allenfalls den hieraus gezogenen Nutzen reflektieren69. Nur wenn man das Äquivalenzprinzip als Nutzenprinzip (benefit principle, principio de beneficio) versteht, lässt es sich auch für das Steuerrecht nutzbar machen. Die Rechtfertigung von Steuern nach dem Nutzenprinzip soll den Steuerzahler idealiter zum Gewinner machen, indem die Vorteilhaftigkeit der steuerfinanzierten Gemeinschaft die Steuerlast überwiegt. 45
Im internationalen Steuerrecht wirkt das Nutzenprinzip seit jeher als Prinzip zwischenstaatlicher Verteilungsgerechtigkeit, und zwar in Gestalt des Quellen- oder Territorialitätsprinzips70, das der Aufteilung von Steuersubstrat auf mehrere Staaten dient und das Leistungsfähigkeitsprinzip einschränkt71. Das Nutzenprinzip ist ein Grundprinzip territorialer Zuordnung von Vermögen, Betriebstätten, Umsätzen etc. Der Staat soll den primären steuerlichen Zugriff erhalten, der die Erwirtschaftung der Steuerquelle durch Bereitstellung staatlicher Infrastruktur ermöglicht. Im Wettbewerb der Steuersysteme, der richtig verstanden ein Wettbewerb um das beste Preis-/Leistungsverhältnis zwischen Abgabenbelastung und staatlicher Infrastruktur ist (s. § 7 Rz. 71 f.) und die Staaten gleichzeitig dazu aufruft, Steuergestaltungen entgegenzuwirken, die eine Entkoppelung von territorialer Erwirtschaftung und Steuerzahlung bewirken, gewinnt das Nutzenprinzip erheblich an Bedeutung72. Die OECD leitet hieraus die Anknüpfung der Besteuerung am Ort der Wertschöpfung ab73.
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Traditionell werden auch die Gemeindesteuern, die durch eine räumlich enge Beziehung des Steuergläubigers zum Stpfl. charakterisiert sind74, mit dem Äquivalenzprinzip in Verbindung gebracht. Die
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Äquivalenzprinzip als Rechtfertigungsprinzip, nicht als Gerechtigkeitsprinzip; HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 514 (2014). Dazu Mann, Steuerpolitische Ideale, 1937, 103 ff. Die erste Steuermaxime von A. Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (erstmals veröffentlicht 1776, dt. Ausgabe [hrsg. v. Recktenwald]: Der Wohlstand der Nationen13, 2013, 703: Die Bürger sollen Steuern im Verhältnis zu ihren Fähigkeiten [„in proportion to their respective abilities“] zahlen, und zwar besonders im Verhältnis zum Einkommen, das sie unter dem Schutze des Staates genießen) bildet den historischen Übergang von einem assekuranztheoretisch fundierten Äquivalenzprinzip zum Leistungsfähigkeitsprinzip ab. Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, Habil., 2001, 22, wirft der Rechtswissenschaft eine „ausgeprägte organische Staatsauffassung“ vor, „die die Steuererhebung nicht weiter hinterfragt. Als Steuerbegründungsnorm scheidet das Äquivalenzprinzip hier von vornherein aus, da für die Steuererhebung nach diesen Auffassungen nur das Leistungsfähigkeitsprinzip in Betracht kommt.“ Hingegen befasst sich Vogel, Rechtfertigung der Steuern: Eine vergessene Vorfrage, Der Staat 1986, 481, grundl. mit der äquivalenztheoretischen Rechtfertigung von Steuern. Zum Unterschied zwischen Nutzen- und Kostenäquivalenz Hey, FS J. Lang, 2010, 137 f. J. Lang, StuW 2011, 144 (147). Grundl. hierzu Vogel, DStJG 8 (1985), 3 (17 ff.: Prinzipien internationaler Gerechtigkeit), (23 f.: Abwägung der Opfer- und Nutzenargumente); Vogel, Worldwide vs. Source taxation of income, Intertax 1988, 216, 319 ff., 393 ff. Dazu Schaumburg, FS Tipke, 1995, 125; Schaumburg, StuW 2000, 369. Dazu J. Lang, FS Schaumburg, 2009, 45. OECD, Erläuterung, OECD/G20 Projekt Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung, 2015, 4; ebenso EU-Kommission, Mitteilung „Eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union“ v. 17.6.2015, COM(2015) 302 final, 10: Besteuerung am „Ort der tatsächlichen Wirtschaftstätigkeit“. Dazu Zitzelsberger, Grundlagen der Gewerbesteuer, Habil., 1990, 146 ff.; Hey, StuW 2002, 314.
Hey
B. Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung
Rz. 49 § 3
Grundsteuer wird mit der Nutzung von Grund und Boden75 gerechtfertigt. Das BVerfG hat das Äquivalenzprinzip darüber hinaus als gleichheitsrechtlichen Maßstab für die Rechtfertigung der Gewerbesteuer anerkannt76. Freilich werden hier auch die Grenzen des Äquivalenzprinzips deutlich: Es ist weder geeignet, die Sonderbelastung einer bestimmten Gruppe von Nutzern öffentlicher Infrastruktur noch eine bestimmte steuerliche Bemessungsgrundlage zu legitimieren77. Als Nutzenprinzip verstanden führt das Äquivalenzprinzip zu gleichen Bemessungsgrundlagen wie das Leistungsfähigkeitsprinzip, weil einzige sinnvolle Maßeinheit des gezogenen Nutzens der mittels staatlicher Infrastruktur erwirtschaftete Gewinn ist. So kann das Äquivalenzprinzip auch im Zusammenhang mit der Gewerbesteuer in erster Linie nur die Zuordnung und Abgrenzung des Steuersubstrats zwischen den Kommunen leisten. Auch (spezielle) Verbrauchsteuern werden z.T. nutzentheoretisch gerechtfertigt78. Je spezieller die 47 indirekte Konsumsteuer belastet, desto deutlicher wird ihr nutzentheoretischer Gehalt: Die Energiesteuer kann wie eine Straßennutzungsgebühr gerechtfertigt werden. Umweltbezogene Steuern sind der Preis für die Nutzung von Umweltgütern und gesundheitsbezogene Steuern dienen der Abgeltung zusätzlicher Kosten, die Raucher und Trinker dem öffentlichen Gesundheitswesen aufbürden. Freilich darf dies nicht zu einer Wiederbelebung des überkommenen Akzisenwesens führen, das durch ein Konglomerat spezieller Verbrauchsteuern mehr oder weniger willkürlich einzelnen Konsumhandlungen besondere Kosten für das Gemeinwohl zuordnet (zu Rationalitätsdefiziten besonderer Verbrauchsteuern s. § 18 Rz. 123 ff.). Zusammenfassend ist damit festzustellen, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip der dominierende 48 Maßstab für Steuergerechtigkeit bleiben muss. Ein gerechtes Steuersystem belastet nicht die Leistungsunfähigen. Aus der Zunahme indirekter Steuern an der Gesamtbelastung des Bürgers ergeben sich entsprechende Steuergerechtigkeitsverluste. Dies verpflichtet den Rechtsstaat, die direkten Steuern umso strikter am Leistungsfähigkeitsprinzip auszurichten, d.h. besonders die Einkommensteuer leistungsfähigkeitsgerechter auszugestalten und die Ertragsunabhängigkeit kommunaler Steuern zurückzuführen79.
II. Konkretisierungen des Leistungsfähigkeitsprinzips Das abstrakte Leistungsfähigkeitsprinzip bedarf sowohl in persönlicher als auch sachlicher Hinsicht 49 der Konkretisierung. Es ist danach zu fragen, wer Zuordnungssubjekt steuerlicher Leistungsfähigkeit sein kann, nur der Mensch (Art. 3 I GG) oder auch Unternehmen, zumindest in der Rechtsform juristischer Personen (Art. 19 III GG). Im Weiteren ist danach zu fragen, wie steuerliche Leistungsfähigkeit zu bemessen ist, nach dem Einkommen, nach dem Vermögen oder nach dem Konsum oder in einer Kombination der vorgenannten Indikatoren steuerlicher Leistungsfähigkeit.
75 S. § 16 Rz. 2 f. Bei der Umweltgrundsteuer (s. § 7 Rz. 123) tritt der Ausgleich umweltschädlicher Versiegelung als äquivalenztheoretische Rechtfertigung hinzu. 76 BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (39 f.); v. 15.2.2016 – 1 BvL 8/12, BStBl. II 2016, 557 (562). Krit. zur äquivalenztheoretischen Rechtfertigung Tipke, StRO II2, 1139 ff.; Jachmann, DStJG 25 (2002), 195 (210 ff.). 77 Vanistendael, FS J. Lang, 2010, 101 (104); ausf. Hey, FS J. Lang, 2010, 133 ff. 78 Vgl. J. Lang, FS Schaumburg, 2009, 45 (52), der das Äquivalenzprinzip auch zur Rechtfertigung der allgemeinen Verbrauchsbesteuerung durch die Umsatzsteuer für besser geeignet erachtet als das Leistungsfähigkeitsprinzip. 79 Zu den Reformansätzen § 7 Rz. 82 ff.
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§ 3 Rz. 50
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
1. Zuordnungssubjekte steuerlicher Leistungsfähigkeit 50
Aus ökonomischer Sicht sind Träger steuerlicher Leistungsfähigkeit80 (nur) natürliche Personen81. Nur sie sind in der Lage zu konsumieren. Jede Steuer beschneidet die Konsummöglichkeiten natürlicher Personen und muss daher aus dieser Perspektive gerechtfertigt werden. Auch für die gleichheitsgerechte Lastenausteilung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip ist Bezugspunkt zunächst die einzelne natürliche Person. So wie die Gleichheit ein Recht des Bürgers und Menschen ist, beziehen sich Steuergleichheit und Leistungsfähigkeitsprinzip auf den Menschen und Bürger.
51 Indes können auch Unternehmen bzw. Unternehmensträger Einkommen erwirtschaften, Vermögen
bilden und mit diesem zu Zuordnungssubjekten steuerlicher Leistungsfähigkeit erklärt und separat besteuert werden82. In diesem Fall hat das Unternehmen als inländische juristische Person des Privatrechts gem. Art. 19 III GG einen Anspruch auf gleichmäßige Verteilung der Steuerlast nach dem Prinzip objektiver Leistungsfähigkeit. Allerdings kommt es durch Einschaltung juristischer Personen in den Wirtschaftsprozess nicht zu einer Vervielfältigung steuerlicher Leistungsfähigkeit. Hinter Unternehmen stehen stets natürliche Personen. Somit ist die Besteuerung der Unternehmen auf die ursprünglich menschenbezogene Bedeutung des Leistungsfähigkeitsprinzips zurückzuführen. Die Menschen können zunächst die Gleichbehandlung von Unternehmen nach dem Maßstab der von den Unternehmen verwirklichten objektiven Leistungsfähigkeit verlangen. Sodann ist der Unternehmenserfolg auch bei den unternehmenden Menschen zu berücksichtigen; dabei darf eine steuerliche Vorbelastung auf Unternehmensebene nicht ausgeblendet werden. Die Doppelbelastung des Einkommens ist zu vermeiden. Dem trug das abgeschaffte körperschaftsteuerliche Vollanrechnungsverfahren (s. § 11 Rz. 8) am besten Rechnung. 2. Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips im Vielsteuersystem durch Besteuerung von Einkommen, Vermögen und Konsum Literatur: Mitschke, Über die Eignung von Einkommen, Konsum und Vermögen als Bemessungsgrundlagen der direkten Besteuerung, Eine meßtechnische Analyse, 1976; Haller, Die Steuern, Grundlinien eines rationalen Systems öffentlicher Abgaben3, 1981; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer: Rechtssystematische Grundlagen steuerlicher Leistungsfähigkeit im deutschen Einkommensteuerrecht, Habil., 1981/88; Mitschke, Steuer- und Transferordnung aus einem Guß, Entwurf einer Neugestaltung der direkten Steuern und Sozialtransfers in der BRD, 1985; Bach, Die Perspektiven des Leistungsfähigkeitsprinzips im gegenwärtigen Steuerrecht, StuW 1991, 116; Tipke, StRO II2, 2003; J. Lang, Konkretisierungen und Restriktionen des Leistungsfähigkeitsprinzips, in FS Kruse, 2001, 313; Achatz, Die Auswahl von Besteuerungsgegenständen – verfassungsrechtliche Aspekte, ÖStZ 2002, 434, 536 f.; Desens, Die Verwirklichung des Leistungsfähigkeitsprinzips als Maßstab der Steuernormen in der Rechtsprechung des BVerfG, StuW 2016, 240. Literatur zur konsumorientierten Besteuerung: Rose, Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, 1991; F.W. Wagner, Die zeitliche Erfassung steuerlicher Leistungsfähigkeit, in Hax/Kern/Schröder, Zeitaspekte in betriebswirtschaftlicher Theorie und Praxis, 1989, 261 (270 ff.); Naust, Konsumorientierte Steuerreform, FinArch. 49 (1991/92), 501 ff.; Schneider, Einkommensteuer, Konsumsteuer und Steuerreformen der letzten Jahre, FinArch. 49 (1991/92), 534 ff.; Kaiser, Konsumorientierte Reform der Unternehmensbesteuerung, Diss., 1992; Rose, Reform der Besteuerung des Sparens und der Kapitaleinkommen, BBBeil. 5/1992; Schwinger, Einkommens- und konsumorientierte Steuersysteme, 1992; Schwinger, Konsum oder Einkommen als Bemessungsgrundlage direkter Steuern?, StuW 1994, 39; Richter, Marktorientierte 80 Grundl. Palm, Person im Ertragsteuerrecht, Habil., 2013, insb. 438 ff. 81 Schneider, StuW 1975, 97 (102); Herzig, StuW 1990, 22 (31); Homburg, Allgemeine Steuerlehre7, 2015, 228. 82 Dazu Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000, 16 ff.; Jachmann, DStJG 23 (2000), 9 (16 ff.); Seer, DStJG 23 (2000), 87 (90 f.); J. Lang, DStJG 24 (2001), 50 (58 ff.); differenzierend Palm, Person im Ertragsteuerrecht, Habil., 2013, 482 ff.: Unternehmen als bloße Ertragsquelle und (vermögensrechtsfähige) Unternehmensträger als mögliche personale Träger von objektiver Leistungsfähigkeit.
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B. Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung
Rz. 54 § 3
Neugestaltung des Einkommensteuersystems, 1995; Kiesewetter, Theoretische Leitbilder einer Reform der Unternehmensbesteuerung, StuW 1997, 24; Beiträge in Rose, Standpunkte zur aktuellen Steuerreform, 1997; Rose, Konsumorientierung des Steuersystems – theoretische Konzepte im Lichte empirischer Erfahrungen, in Krause-Junk, Steuersysteme der Zukunft, 1998, 247; Beiträge in Smekal/Sendlhofer/Winner, Einkommen versus Konsum, Ansatzpunkte zur Steuerreformdiskussion, 1999; Grambeck, Konsumsteuerreform und Konsumbesteuerung, 2003; Wurmsdobler, Zinsbereinigung des Einkommens in Österreich, StuW 2003, 176; Beiträge in FS M. Rose, 2003, insb. Kap. II, u. in FS Wagner, 2004; Waldburger, Sparbereinigung der Einkommensteuer, Diss., 2005; Petersen, Konsumorientierte Besteuerung als Ansatz effizienter Besteuerung, StuW 2006, 266; Reis, Konsumorientierte Unternehmensbesteuerung aus verfassungsrechtlicher Sicht, 2007; Institute for Fiscal Studies, Dimensions of Tax Design. The Mirrlees Review, Oxford 2010 (insb. Attanasio/Wakefield, The Effects on Consumtion and Saving of Taxing Asset Returns, 677 ff.); Boadway, From Optimal Tax Theory to Tax Policy, Cambridge, MA, USA 2012.
2.1 Vielsteuersystem vs. Alleinsteuer Das Leistungsfähigkeitsprinzip wird wesentlich durch die Auswahl und Gestaltung der Steuerbemes- 52 sungsgrundlagen konkretisiert. Der Inhalt einer gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit hängt nämlich davon ab, welchen wirtschaftlichen Vorgängen und Zuständen steuerlich belastbare wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zugeordnet wird. Die Auffassungen zum geeignetsten Steuergut als Gegenstand der Steueranknüpfung und Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit haben sich in der Steuergeschichte erheblich gewandelt. Im 17. Jahrhundert galt Grund und Boden als das geeignetste Steuergut. Im 19. Jahrhundert setzte die soziale Revolution nach dem Umbruch von der Feudalgesellschaft zur Industriegesellschaft das Kapital an die erste Stelle der Steuergüter. Die moderne Steuertheorie hat sich seit Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend dem Konsum als dem geeignetsten Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit zugewandt. Der theoretischen Überzeugung, dass es überhaupt ein für die Indikation steuerlicher Leistungs- 53 fähigkeit geeignetstes Steuergut gibt, entspricht die Idee, das gesamte Steueraufkommen mit einer einzigen Steuer (einer sog. Alleinsteuer) zu bestreiten. Die Idee der Alleinsteuer geht davon aus, dass jede Steuer von den Erträgen der Volkswirtschaft abgeschöpft werden muss. Demnach sollte die Steuer nur an das Steuergut anknüpfen, das mit den Erträgen der Volkswirtschaft am besten identifiziert werden kann. Als ein solches galt im 17. Jahrhundert der „produit net“ des Grund und Bodens, der durch die physiokratische „impôt unique“ belastet werden sollte83. Im 19. Jahrhundert wurde das Ideal einer einzigen Einkommensteuer erdacht, weil sich die Überzeugung durchsetzte, dass das als Vermögenszuwachs definierte Einkommen der ideale Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit sei84. Im 20. Jahrhundert wurde die Idee der Alleinsteuer vor allem im Zusammenhang mit der persönlichen Ausgabensteuer diskutiert, weil deren Verfechter annehmen, dass sich die Produktivität einer Volkswirtschaft letztlich im individuellen Konsum niederschlägt85. Die Alleinsteuer ist nicht nur deshalb eine Utopie, weil das Steueraufkommen eines Steuerstaates 54 nicht mit einer einzigen Steuer zu akquirieren ist, sondern weil die Vorstellung, es gäbe ein bestqualifiziertes Steuergut, schon theoretisch falsch ist. Vielmehr haben die einzelnen Steuergüter ihre Vorund Nachteile, so dass die weltgeschichtliche Steuerwirklichkeit (die Alleinsteuer wurde noch in keinem Land verwirklicht), die Steuerlasten in einem Vielsteuersystem auf mehrere Steuergüter zu ver-
83 Dieses Ideal der Alleinsteuer wurde insb. in Frankreich u. England entwickelt. Dazu ausf. Mann, Steuerpolitische Ideale, 1937, 166 ff. 84 Mann, Steuerpolitische Ideale, 1937, 249 ff. (Das Ideal einer einzigen Einkommensteuer); Wilke, Die Entwicklung der Theorie des staatlichen Steuersystems in der deutschen Finanzwissenschaft des 19. Jahrhunderts, Diss., 1921, 18 ff.; Auerswald, Beiträge zur Lehre von einer einzigen Steuer, Diss., 1922. 85 Fisher, Income in Theory and Income Taxation in Practice, Econometrica, Wisc., 5 (1937), 1 ff.; Kaldor, An Expenditure Tax, 1955; Krause-Junk, Steuern, IV: Verteilungslehren, HdWW Bd. 7, 332 (341).
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§ 3 Rz. 55
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
teilen, auch in der Theorie richtig ist86. Das Vielsteuersystem genießt den Vorzug, dass durch die Kombination verschiedener Steuergüter die Eigenschaften des Steuersystems optimiert werden können. Die Gerechtigkeit der direkten Steuern wird durch die Unmerklichkeit der indirekten Konsumsteuern ergänzt. Das Steueraufkommen kann auf die einzelnen Steuerarten so verteilt werden, dass keine Steuer als zu drückend empfunden wird. Die Anknüpfung an eine Mehrheit von Steuergütern bietet schließlich auch die beste Gewähr für die gleichmäßige Austeilung der Steuerlasten, weil sich niemand jeder Steuer entziehen kann. Wer Einkommensteuer hinterzieht, sein Einkommen in der Schattenwirtschaft erzielt, trägt im Zeitpunkt der Einkommensverwendung immerhin noch durch die Umsatzsteuer zur Finanzierung des Staates bei. Je größer allerdings die Vollzugsdefizite bei den direkt die steuerliche Leistungsfähigkeit erfassenden Steuern sind und je mehr demzufolge die auf Überwälzbarkeit angelegten indirekten Steuern dominieren (wie insb. in den osteuropäischen Staaten), desto weniger gewährleistet das Vielsteuersystem die Besteuerung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. 2.2 Leistungsfähigkeitsindikatoren Einkommen, Vermögen, Konsum 55
Grds. lassen sich drei Leistungsfähigkeitsindikatoren unterscheiden, die – dynamische Stromgröße „Einkommen“ (Vermögenszugang); – statische Bestandsgröße „Vermögen“ (Konsum- und Investitionsfonds); – dynamische Stromgröße „Konsum“ (Güterverbrauch).
56 Einwirkung der Steuern auf Einkommen, Vermögen, Konsum
EINKOMMEN
VERMÖGEN [Konsum- + Investitionsfonds] Investitionen = Vermögensumschichtungen
Steuern auf das Einkommen und Vermögen
KONSUM
Steuern auf die Verwendung von Einkommen und Vermögcn
Jeder der Indikatoren „Einkommen“, „Vermögen“ und „Konsum“ wird durch jede Steuer belastet: Eine Steuer auf das Einkommen reduziert nicht nur das Einkommen, sondern ebenso auch die Konsummöglichkeiten des Steuerzahlers. Eine Steuer auf den Konsum belastet nicht nur den Konsum, sondern im Nachhinein auch das Einkommen, indem sie die Verwendung des Einkommens belastet. Und jede Steuer wird schließlich aus einem (u.U. fremdfinanzierten) Vermögen entrichtet. Der Umstand, dass jede Steuer Einkommen, Vermögen und Konsum belastet, lässt nun verschiedene Ansätze der Rechtfertigung von Steuern zu87: Tipke richtet seine Rechtfertigungstheorie am Einkommen aus. Es gäbe nur eine Steuerquelle: das als Vermögen gespeicherte Einkommen88. Demgegenüber konsta86 So auch Tipke, StRO II2, 1213 ff. 87 Dazu näher J. Lang, FS Kruse, 2001, 313. 88 So Tipke, StRO I2, 326: „Es gibt nur eine Steuerquelle: das Einkommen, genau: das als Vermögen gespeicherte Einkommen. Der Gesetzgeber muß solche Steuergegenstände und Bemessungsgrundlagen auswählen, die sich in die ‚Einheit der Steuerrechtsordnung‘ einfügen und in diesem Rahmen dazu füh-
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B. Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung
Rz. 60 § 3
tiert Rose89: „Die endgültige Reallast einer Steuerzahlung ist immer ein Konsumopfer. Folglich sind die Konsumenten die einzigen Träger realer Steuerlasten“. Letzteres entspricht dem in den ökonomischen Steuerwissenschaften (Optimalsteuertheorie, s. § 1 Rz. 18) vollzogenen steuertheoretischen Paradigmenwechsel von einer kapital- zu einer konsumorientierten Besteuerung (dazu ausf. Rz. 69 ff.). Von der Auswahl der Leistungsfähigkeitsindikatoren hängen die Wirkungen des Steuersystems ab. 57 Da im Prinzip jede Steuer jeden Leistungsfähigkeitsindikator belastet, bestimmt die Auswahl des Leistungsfähigkeitsindikators nach der ökonomischen Steuerwirkungslehre eigentlich nur den Zeitpunkt des Steuerzugriffs in dem Ablauf der ökonomischen Verhältnisse des Bürgers, wie das oben stehende Schaubild (Rz. 56) zeigt. Bei den Überlegungen, zu welchem Zeitpunkt die Steuer zugreifen soll, ist von Bedeutung, für welche Gesellschaft das Steuersystem geschaffen werden soll. Wird auf ein hohes Maß an Umverteilung Wert gelegt, auf die Einebnung von reich und arm, auf ega- 58 litäre Verteilung des Volksvermögens, dann muss der Anteil des Staates möglichst früh, möglichst vor dem Konsum, also in den Zeitpunkten abgeschöpft werden, in denen Vermögen entsteht oder noch nicht verwendet worden ist (Konzept der sog. kapitalorientierten Besteuerung). Soll jedoch die Gesellschaft möglichst freiheitlich und individualistisch nach dem Subsidiaritätsprin- 59 zip konzipiert sein90 und in erster Linie dem Bürger die Verantwortung für seinen Wohlstand und „pursuit of happiness“ zugewiesen sein, dann hat der Staat abzuwarten, bis der Bürger konsumiert. Der Steuerzugriff ist also möglichst spät anzusetzen (so das Konzept der sog. konsumorientierten Besteuerung). Dadurch wird das Steuersystem spar- und investitionsfreundlich; es lässt die Bildung privaten Wohlstandes zu, belohnt ökonomische Tüchtigkeit und Vorsorge für die Zukunft. Da das Grundgesetz keine bestimmte Wirtschaftsverfassung vorschreibt (s. § 1 Rz. 7), hat der Steuer- 60 gesetzgeber bei der Auswahl der Leistungsfähigkeitsindikatoren großen Spielraum. Er hat das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I; 28 I 1 GG) zu beachten, das jedoch zu den Alternativen kapital- oder konsumorientiertes Steuersystem keine konkreten Direktiven gibt, weil beide Alternativen triftige Argumente sozialer Steuergerechtigkeit ins Feld führen können. Die Wahrheiten der Rechtswirklichkeit liegen meist in der Mitte, in einer Synthese von Extrempositionen, in einem Vielsteuersystem, das die Ziele der Freiheit und Umverteilung in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander setzt, wie es der sog. sozialen Markwirtschaft angemessen ist, dabei vor allem eines verwirklicht: Rechtsstaatliche, privilegienfeindliche Steuergleichheit. So liegt dem geltenden Steuersystem nicht puristisch ein kapital- oder konsumorientierter Ansatz zugrunde. Der hohe Anteil indirekter Steuern auf den Verbrauch begründet traditionell eine Konsumorientierung. Hält man sich vor Augen, dass rund 50 % aller Steuerzahler nur in ganz geringem Umfang mit Einkommensteuer belastet sind, ist für sie die Besteuerung weitgehend konsumorientiert. Gleichzeitig werden in die traditionell kapitalorientiert ausgerichtete Einkommensteuer zunehmend Elemente einer Konsumorientierung integriert. Problematisch ist lediglich, dass sich der Gesetzgeber seines Tuns nicht bewusst ist. Auch in der Steuerrechtswissenschaft ist es mit wenigen Ausnahmen bisher nicht zu einer vertieften Auseinandersetzung mit den Konzepten kapital- und konsumorientierter Besteuerung gekommen91. Dies birgt die Gefahr, dass Steuerwirkungen bei Ausgestaltung und Rechtfertigung von Steuern vernachlässigt werden. ren, daß das Einkommen (Vermögen) der Stpfl. nach einem einheitlichen Maßstab belastet wird …“ S. auch Tipke, StRO I2, 97, 248, 500. Zu diesem Grundsatz Trzaskalik, FS Tipke, 1995, 321 ff. 89 Plädoyer für ein konsumbasiertes Steuersystem, in Rose, Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, 1991, 14. 90 Dafür plädieren insb. die Nobelpreisträger von Hayek (grundl.: The Constitution of Liberty, 1960), Friedman u. Buchanan (grundl.: The Limits of Liberty, 1975). S. Zintl, Individualistische Theorien und die Ordnung der Gesellschaft, 1983. 91 Die vor allem von J. Lang in die Steuerrechtswissenschaft transportierte ökonomische Konsumsteuertheorie (s. insb. J. Lang, Konsumorientierung – Eine Herausforderung für die Steuergesetzgebung?, in Smekal/Sendlhofer/Winner, Einkommen versus Konsum – Ansatzpunkte zur Steuerreformdiskussion,
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§ 3 Rz. 61
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
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Kapitalorientierte Besteuerung: Das dem geltenden Steuerrecht weltweit noch zugrunde gelegte Verständnis von Steuergerechtigkeit ist im 19. Jahrhundert geprägt worden und ist kapitalorientiert: Dem Konzept kapitalorientierter Besteuerung entsprechen die Steuern auf den Vermögensbestand (sog. Substanzsteuern, s. § 7 Rz. 22) und die nach der Reinvermögenszugangstheorie (s. § 7 Rz. 30, § 8 Rz. 50 ff.) ausgestaltete Einkommensteuer (sog. Kapitaleinkommensteuer92).
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Zu den Steuern auf den Vermögensbestand gehören die Vermögensteuer, die nach dem Vermögensteuerbeschluss des BVerfG von 199593 in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung nicht erhoben werden darf (s. § 7 Rz. 43; § 16 Rz. 61 ff.), sowie die kommunalen Substanzsteuern, die historisch mit dem Äquivalenzprinzip gerechtfertigt werden, so die zum 1.1.1998 abgeschaffte Gewerbekapitalsteuer (s. § 12 Rz. 1) und die Grundsteuer (s. § 16 Rz. 1 ff.). Mit einer gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ist die Belastung bestimmter Vermögensarten unvereinbar: Weder aus dem gewerblichen Vermögen noch aus dem Grundbesitz lässt sich eine besondere Leistungsfähigkeit ableiten, die eine Zusatzsteuer zur Einkommensteuer rechtfertigen würde. Bis auf die Grundsteuer verzichtet der deutsche Fiskus derzeit auf eine laufende Besteuerung des Vermögens94. Gleichwohl bestehen in bestimmten politischen Kreisen Intentionen zur Revitalisierung einer allgemeinen Vermögensbesteuerung95. Herkömmlicherweise wird die Sonderbelastung des Vermögens soll-ertragsteuerlich gerechtfertigt: „Fundierte“ Vermögenseinkommen sollen belastungswürdiger sein als „unfundierte“ Arbeitseinkommen. Das BVerfG hat, auch wenn es die Vermögensteuer im Hinblick auf die mangelnde Bewertungsgleichheit für verfassungswidrig erklärt hat, im Vermögensteuerbeschluss vom 22.6.1995 an dieser sog. Fundustheorie festgehalten96. Hiergegen ist einzuwenden:
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(1) Gleichmäßige Lastenausteilung kann nicht an der Ertragsfähigkeit des Vermögens97, nicht an typisiert unterstellten Soll-Erträgen, sondern nur an Ist-Erträgen ansetzen. Vermögen erzeugt nicht per se Erträge. Das Leistungsfähigkeitsprinzip verfolgt auch keinen interventionistischen Zweck, die
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1999, 143) ist ansonsten nur vereinzelt Gegenstand steuerrechtlicher Diskussion gewesen, s. etwa Dorenkamp, Nachgelagerte Besteuerung von Einkommen, Diss., 2004, 90 ff.; Englisch, Dividendenbesteuerung, Diss., 2005, 182 ff. Zu den Schwierigkeiten der Umsetzung der Erkenntnisse der Optimalsteuertheorie in konkrete Steuergesetzgebung, vgl. Boadway, From Optimal Tax Theory to Tax Policy, Cambridge, MA, USA 2012; Raskolnikov, 98 Cornell Law Review (2013), 523; Jacobs, FinArch. 69 (2013), 338. Gegen diese Besteuerungsform insb. Sinn, Kapitaleinkommensbesteuerung, Eine Analyse der intertemporalen, internationalen und intersektoralen Allokationswirkungen, 1985, sowie die Vertreter der konsumorientierten Besteuerung (pars pro toto: Mitschke, Rose, F.W. Wagner, Wenger, Sievert, sowie Kaiser, Konsumorientierte Reform der Unternehmensbesteuerung, Diss., 1992; Bach, Der Cash-flow als Bemessungsgrundlage der Unternehmensbesteuerung, in Smekal/Sendlhofer/Winner, Einkommen versus Konsum, 1999. BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121. Zur Besteuerung des Vermögensbestands durch die Erbschaft- und Schenkungsteuer s. § 7 Rz. 39; § 15 Rz. 3. Vgl. insb. den Vorschlag von Bündnis 90/DIE GRÜNEN für die Einführung einer einmaligen Vermögensabgabe, BT-Drucks. 17/10770. Ausgeglichene Haushalte und geringes Interesse in der Bevölkerung haben aber auch die Politik – mit Ausnahme der Linkspartei – zurückhaltender gemacht. Im Bundestagswahlkampf 2017 spielte die Forderung nach Einführung einer Vermögensteuer keine Rolle, so deuten Bündnis 90/DIE GRÜNEN in ihrem Bundestagswahlprogramm 2017 (S. 194 u. 196) nur noch vage die Möglichkeit einer „Vermögenssteuer für Superreiche“ an; zu den rechtlichen Bedenken gegen eine Vermögensteuer s. § 16 Rz. 63. BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (139); Böckenförde, BVerfGE 93, 149 (157). Zur Fundustheorie m.zahlr.N. Tipke, StRO II2, 922 ff. Nach BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (137) dürfe die VSt „nur so bemessen werden, daß sie in ihrem Zusammenwirken mit den sonstigen Steuerbelastungen die Substanz des Vermögens, den Vermögensstamm, unberührt läßt und aus den üblicherweise zu erwartenden, möglichen Erträgen (Sollerträgen) bezahlt werden kann“. Mit dieser Grundaussage will das BVerfG die von Böckenförde, BVerfGE 93, 149 (152 ff.) für zulässig erachtete umverteilende Substanzabschöpfung ausschließen.
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B. Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung
Rz. 68 § 3
Stpfl. zu bestmöglicher Ressourcennutzung anzuhalten. Ein solcher ist mit einer freiheitlichen Grundordnung privatnützigen Wirtschaftens unvereinbar. Das erkennt das BVerfG für die Nutzung von Humankapital, toleriert die Soll-Ertrags-Besteuerung aber für die Nutzung von Sachkapital: „Wer sein Talent, durch Arbeit Erträge zu erzielen, brachliegen läßt, wird grds. nicht besteuert. Wer hingegen Vermögen ungenutzt läßt, wird für Zwecke der Besteuerung so behandelt, als habe er Erträge erzielt“98. Eine derartige Diskriminierung der Vermögenseinkünfte lässt sich nicht rechtfertigen. (2) Steuerliche Leistungsfähigkeit ist grds. als Zahlungsfähigkeit zu verstehen und setzt Liquidität 64 zur Steuerzahlung voraus. Im Falle der Ertragslosigkeit sind liquide Mittel nicht vorhanden. Dadurch können dem Stpfl. zusätzlich zur Steuerlast weitere Vermögensnachteile, z.B. Kreditkosten entstehen, weil die Fähigkeit zur Steuerzahlung einfach unterstellt wird. (3) Im Weiteren negiert die Besteuerung von Vermögen die laufende Geldentwertung (Inflation). 65 Dies hängt damit zusammen, dass die Besteuerung aus währungspolitischen und praktischen Gründen vom Nominalwertprinzip (Grundsatz: 1 Euro = 1 Euro) nicht abweichen kann (s. § 8 Rz. 56). Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist aber ein Realwert-, kein Nominalwertprinzip; daher ist nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip an Realvermögen und Realeinkünfte (Realgewinn, Realzins usw.) anzuknüpfen99. Die zur Rechtfertigung einer Vermögensbesteuerung unterstellten „Soll-Erträge“ kompensieren vielfach lediglich die Geldentwertung. Sie zusätzlich zur Einkommensbesteuerung einer Vermögensbesteuerung zu unterwerfen, verschärft den Eingriff in die Vermögenssubstanz. Nimmt man noch die nahezu unlösbaren rechtspraktischen Probleme realitätsgerechter Bewertung 66 ruhenden Vermögens hinzu (s. § 16 Rz. 62), ist die Steuerbelastung des Vermögensbestands ungeeignet, das Leistungsfähigkeitsprinzip sachgerecht zu konkretisieren, wie namentlich Tipke zur Vermögensteuer, zur Grundsteuer und zur Gewerbekapitalsteuer überzeugend begründet hat100. Die historischen Klischees der Fundustheorie von leicht und sicher verdienten Vermögenseinkünften haben sich überlebt101. Kapitaleinkommensteuer: Nach dem Ideal der Reinvermögenszugangstheorie (bzw. Reinvermögens- 67 zuwachstheorie, s. § 7 Rz. 30) wäre eine globale, alle realisierten und nichtrealisierten Wertsteigerungen erfassende Wertzuwachssteuer die richtige Steuer. Denn reicher und damit leistungsfähiger wird der Stpfl. auch durch nicht realisierte Wertsteigerungen. Eine Steuer auf den nichtrealisierten Wertzuwachs wäre indes mit den Substanzsteuern immanenten Mängeln fehlender Liquidität und Bewertungsunsicherheit behaftet. Die Wertzuwachssteuer hat sich nirgendwo, so auch nicht im deutschen Einkommensteuerrecht, durchsetzen können102. Die geltende Einkommensteuer erfasst nur das realisierte Erwerbseinkommen, d.h. die Summe der 68 Einkünfte, die der Stpfl. durch eine mit Einkünfteerzielungsabsicht ausgeübte Erwerbstätigkeit erwirtschaftet hat103. Dadurch wird die Reinvermögenszugangstheorie auf das Administrierbare zu98 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (135). 99 Dazu ausf. Tipke, StRO I2, 512 ff. (Leistungsfähigkeitsprinzip und Inflation); Weber, Inflationsberücksichtigung in der Einkommensteuer, Diss., 2012, 91 ff. 100 Tipke, StRO II2, 914 ff. (zur Vermögensteuer), 953 ff. (zur Grundsteuer) und 1139 f. (zur Gewerbekapitalsteuer). 101 Kube, DStJG 37 (2014), 343 (352 f.); zur Fundustheorie im Zusammenhang mit der Ertragsbesteuerung Schön, DStJG 37 (2014), 217 (227 f.). 102 In Gestalt einer kommunalen Steuer auf Bodenwertsteigerungen, auch Planungswertausgleich genannt, wird sie immer wieder einmal ins Spiel gebracht, vgl. Kumpmann, Wertzuwachssteuer, ZStW 1907, Ergänzungsheft XXIV; Müthling, Wertzuwachssteuerrecht4, 1943; Friauf, DVBl. 1972, 652; Liedschulte/Zink, Die Erfassung von Wertzuwächsen im Rahmen der Einkommens- und Ertragsbesteuerung, 1973; Figel, Die Problematik einer Bodenwertzuwachssteuer in steuerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Sicht, Diss., 1975; Schüßler-Langeheine/Steinfort, KStZ 1997, 107; Huber, DÖV 1999, 173. 103 So § 2 I Kölner EStGE. Dazu Kölner EStGE, Begr. Rz. 133 ff. (Beschränkung des Einkünftetatbestandes auf das Erwerbseinkommen) sowie § 8 Rz. 52.
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§ 3 Rz. 69
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
rückgenommen104. Die Beschränkung auf das erwirtschaftete, am Markt realisierte und dort wertbestätigte Einkommen (zur sog. Markteinkommenstheorie s. § 7 Rz. 30 f.; § 8 Rz. 52) wirkt der Ungleichbehandlung entgegen, weil sie kaum vollständig erfassbare Nutzungen und Wertschöpfungen außerhalb der Erwerbssphäre (s. § 7 Rz. 32) ausgrenzt und die Gefahr der Ungleichbewertung von Einkommen mindert. In der Vergangenheit erfasste das geltende Recht selbst das Erwerbseinkommen höchst unvollständig, weil nach der Quellentheorie (s. § 8 Rz. 50) private Veräußerungseinkünfte prinzipiell nicht erfasst wurden. Mittlerweile werden durch die Abgeltungsteuer und die Ausweitung der Veräußerungsfristen für Immobilien auch Wertsteigerungen des Privatvermögens weithin der Besteuerung unterworfen. 69
Konsumorientierte Besteuerung105: Faktisch richten sich die Steuersysteme weltweit immer stärker an Konsum und konsumierbarem Einkommen aus. Damit ereignet sich in der Steuerwirklichkeit, was steuertheoretisch von der Optimalsteuertheorie (s. § 1 Rz. 18) durch den Paradigmenwechsel von einer kapital- zu einer konsumorientierten Besteuerung vorgezeichnet wurde. Bei der Konsumorientierung des Steuersystems ist die Konsumorientierung der Steuern auf das Einkommen von der Steuerbelastung des Konsums durch die indirekten, auf Überwälzbarkeit angelegten Steuern zu unterscheiden.
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Indirekte Steuern auf den Konsum sind die Umsatzsteuer (s. § 17) und die speziellen Verbrauchsteuern (s. § 18 Rz. 105 ff.). Sie belasten die in der Einkommensverwendung zum Ausdruck kommende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit106. Indirekte Steuern auf den Konsum sind mit dem ihre Gerechtigkeitsqualität beeinträchtigenden Nachteil behaftet, dass sie die persönlichen Verhältnisse des Konsumenten, auf den die Steuer überwälzt wird, nicht berücksichtigen können; sie müssten zumindest insoweit vergütet werden, als sie den existenznotwendigen Lebensbedarf belasten (s. bereits Rz. 43).
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Gleichheitsrechtlich rechtfertigen lässt sich grds. nur die Umsatzsteuer als allgemeine Konsumsteuer. Die Konsumleistungsfähigkeit drückt sich in der Einkommensverwendung aus, unabhängig davon, für welche Güter das Einkommen verwendet wird. Zu rechtfertigen wäre allenfalls eine gesonderte Besteuerung von Luxusgütern, deren Konsum als Ausdruck gesteigerter Konsumleistungsfähigkeit angesehen werden kann. Freilich ist eine auch nur annähernd vollständige und damit widerspruchsfreie Erfassung gesteigerter Konsumleistungsfähigkeit nicht möglich (s. auch § 18 Rz. 123 ff.). So leidet das historische Konglomerat der speziellen Verbrauchsteuern unter der willkürlichen Auswahl der Güter107. Durch die grundsätzliche Beschränkung auf Steuergüter wie Mineralöle, Alkohol und Tabakwaren, die gemäß den Sozialzwecken des Umweltschutzes und der Gesundheit sonderbelastungswürdig sind, gewinnt das europäisch harmonisierte Verbrauchsteuersystem (s. § 4 Rz. 66 f.) an Rechtfertigungsqualität, indem die speziellen Verbrauchsteuern zunehmend den Charakter von Sozialzwecksteuern (s. Rz. 21) gewinnen.
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Die geltende Einkommensteuer ist nicht nur kapital-, sondern auch konsumorientiert ausgestaltet, denn ihre Bemessungsgrundlage ist im Wesentlichen zweistufig aufgebaut: Auf der ersten Stufe (§ 2 I–III EStG) erfasst sie im Tatbestand „Summe der Einkünfte“ das Erwerbseinkommen und auf der zweiten Stufe soll der indisponible, für die Steuerzahlung nicht verfügbare Teil des Einkommens und damit die indisponible Einkommensverwendung in Gestalt privater Abzüge i.S.d. § 2 IV, V EStG ausgegrenzt werden (s. § 8 Rz. 70 ff.). Diese dualistische, kapital- und konsumorientierte Konzeption ist vornehmlich Adolph Wagner zu verdanken; er erkannte: „Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer Person liegt in zwei Reihen von Momenten, solchen, welche den Erwerb und Besitz von Sachgütern, und solchen, welche die Verwendung dieser Güter zu eigener oder anderer pflichtgemäß zu er-
104 Tipke, StRO II2, 629 ff. 105 Literatur: s. vor Rz. 52. 106 Dazu Schmidt, Konsumbesteuerung durch Mehrwertsteuer, Zur konsumorientierten Ausgestaltung mehrwertsteuerlicher Erhebungstechnik, Diss., 1999; Tipke, StRO II2, 982 ff. (Anknüpfung an das konsumierte Einkommen durch die Umsatzsteuer zur Ergänzung der Einkommensteuer). 107 Dazu Tipke, StRO II2, 1037 ff.
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B. Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung
Rz. 74 § 3
möglichender Bedürfnisbefriedigung betreffen“108. Infolge dieser dualistischen Konzeption des EStG hat die Steuerrechtswissenschaft109 die Lehre vom indisponiblen Einkommen entwickelt: Nach dem sog. subjektiven Nettoprinzip ist der für den existenznotwendigen Lebensbedarf verwendete und demnach für die Steuerzahlung nicht verfügbare Teil des Erwerbseinkommens aus der Bemessungsgrundlage110 auszuscheiden. Dieser von der st. Rspr. des BVerfG seit 1982 (s. § 8 Rz. 71 ff., 76) bestätigte Konsens der Juristen, not- 73 wendige Privataufwendungen minderten die steuerliche Leistungsfähigkeit und seien daher in der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer zu berücksichtigen (s. § 8 Rz. 74 ff.), widerspricht der Vorstellung mancher Ökonomen, allein die Summe der Einkünfte, das sog. Markteinkommen bzw. Erwerbseinkommen (s. Rz. 68) sei der „richtige“ Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit, der durch die Einbeziehung von Konsumausgaben verfälscht werde111. Die monistische Messung der Leistungsfähigkeit allein nach dem Erwerbseinkommen vermag schon ökonomisch nicht zu überzeugen, wie das wegweisende Konzept des großen Ökonomen Adolph Wagner belegt. Es ist nicht zu bestreiten, dass Erwerbseinkommen Leistungsfähigkeit richtig misst (s. Rz. 68). Doch darf das Erwerbseinkommen nicht mit steuerlicher Leistungsfähigkeit gleichgesetzt werden, weil das zur Bestreitung des existenznotwendigen Lebensunterhalts erforderliche Einkommen zur Steuerzahlung nicht zur Verfügung steht. Daher bedarf das Erwerbseinkommen der Ergänzung durch einen zweiten Messfaktor, der die individuelle, von der Existenz einer Familie abhängige Leistungsfähigkeit bestimmt. Die Lehre von der monistischen Messung steuerlicher Leistungsfähigkeit allein nach dem Erwerbseinkommen negiert die schlichte Tatsache, dass ein Junggeselle und ein Familienvater mit gleichem Erwerbseinkommen nicht gleich leistungsfähig sind. Zur verfassungsrechtlichen Fundierung durch das Gebot der Steuerfreiheit des (Familien-)Existenzminimums s. Rz. 160 f. Während die Relevanz des existenznotwendigen Konsums für die Dogmatik des Einkommensteuer- 74 rechts mittlerweile juristisch weitgehend geklärt ist, ist die Konsumorientierung des Erwerbseinkommens nicht nur von Ökonomen, sondern auch von Juristen kontrovers diskutiert worden112. Das klassische Modell der direkten Steuer auf den Konsum ist die Ausgabensteuer113. Dieses Modell ist noch in den 1990er Jahren ernsthaft in Erwägung gezogen worden114, jedoch ist seine Untauglich108 A. Wagner, Finanzwissenschaft, Bd. II2, 1890, 444. Zur Entwicklung dieses Ansatzes auch Bredt, Die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, Ein Beitrag zur Systematik und Reform der direkten Steuern in Preußen und dem Reiche, 1912; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Habil., 1981/88, 34 f.; Jüptner, StVj 1990, 307 (315 ff.). 109 Grundl. Tipke schon in der 1. Aufl. dieses Buchs (vgl. die Zitate in Tipke, StRO II2, 788 ff., m.zahlr.N.); scharf angegriffen von Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem BVerfG, Diss., 2010, 150 ff., 155 ff., der sowohl der Lehre vom indisponiblen Einkommen als auch dem aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip gewonnenen subjektiven Nettoprinzip jede Berechtigung abspricht. 110 A.A. Bareis, DStR 2010, 565 ff.: Abbau der Freibeträge bei steigendem Einkommen durch Ausgestaltung des Tarifs. 111 So insb. Schneider, StuW 1984, 356; Bareis, StuW 1991, 38 (Behandlung sog. „notwendiger Privatausgaben“); Bareis, FS Schneider, 1995, 39 (Markteinkommensbesteuerung und Existenzminima); Siegel/ Bareis, Strukturen der Besteuerung3, 1999, 22 ff.; Bareis, StuW 2000, 81 (zur Ehegattenbesteuerung); Bareis, Maßstäbe für die Besteuerung des Einkommens, in Internationale Juristen-Kommission, Grundrechtsschutz im Steuerrecht, 2001, 89; Schneider, Steuerlast und Steuerwirkung, 2002 (Nachdruck 2014), 307 ff. 112 Dazu insb. die Beiträge in Rose, Standpunkte zur aktuellen Steuerreform, 1997, und Smekal/Sendlhofer/Winner, Einkommen versus Konsum, Ansatzpunkte zur Steuerreformdiskussion, 1999; Niehus, DStZ 2000, 697; Rasenack, FS Quaritsch, 2000, 363; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49; J. Lang, FS Kruse, 2001, 313; J. Lang, FS Rose, 2003, 325; J. Lang in Rose, Integriertes Steuer- und Sozialsystem, 2003, 83. Zum Diskussionsstand im Ausland zum Ende des 20. Jahrhunderts s. 20. Aufl., § 4 Rz. 115 Fn. 89. 113 Literaturnachweise s. 20. Aufl., § 4 Rz. 115 Fn. 90 u. 91. 114 Insb. auf dem „Heidelberger Kongress“, vgl. hierzu Rose, Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, 1991.
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§ 3 Rz. 75
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
keit mittlerweile allgemein erkannt worden. Eine verwaltungspraktikable Erfassung des Privatkonsums durch eine Ausgabensteuer, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Rechtsanwendungsgleichheit (s. Rz. 111 ff.) genügen würde, ist schlichtweg nicht denkbar. Vor allem J. Lang hat sich daher für eine umfassende Ausrichtung der bestehenden Einkommensteuer an der Konsumleistungsfähigkeit eingesetzt115. Von den meisten Steuerrechtswissenschaftlern wurde die Diskussion indes ignoriert; in der Rspr. des BVerfG hat sie keinerlei Widerhall gefunden116. Sie ist mittlerweile weitgehend zum Erliegen gekommen. 75 Dies ist umso bemerkenswerter, als die aktuelle Rechtsentwicklung davon geprägt ist, dass investier-
te Einkommen unter dem Druck des Steuerwettbewerbs (s. § 7 Rz. 70 ff.) in vielen Ländern, so auch in Deutschland, zunehmend konsumorientiert besteuert werden. Der Gesetzgeber praktiziert mithin schon seit geraumer Zeit Konsumorientierung, freilich ohne für den Wechsel von einer kapitalorientierten zu einer konsumorientierten Einkommensbesteuerung Rechenschaft abzulegen oder diesen auch nur offen zu legen. Der schleichenden Konsumorientierung der Steuersysteme liegt nicht bessere Erkenntnis zugrunde, vielmehr reagiert das Steuerrecht in erster Linie auf die gesteigerte Mobilität der Steuerquellen und den europäischen und internationalen Wettbewerb um Steueraufkommen. Konsum ist schlicht weniger mobil als Kapital. Dabei können zwei Methoden konsumorientierter Einkommensbesteuerung117 unterschieden werden, die beide im geltenden Recht anzutreffen sind: 76 – Nachgelagerte Besteuerung: Investierte Einkommen werden erst im Zeitpunkt ihrer Konsumier-
barkeit besteuert. Alle Investitionen einschließlich der Ersparnisse werden bei der Einkünfteermittlung als Aufwendungen abgezogen oder als investierte Bezüge nicht besteuert (sog. Sparbereinigung der Einkünfte); dafür sind die späteren Bezüge aus den Investitionen voll zu versteuern118. Die Methode nachgelagerter Besteuerung setzt als real verwirklichtes Rechtsprinzip im geltenden Einkommensteuerrecht vor allem im Bereich der Zukunftsvorsorge von Arbeitnehmern an: Der Beamte ist bereits voll nachgelagert besteuert, weil die während seines Erwerbslebens erwirtschaftete Pension erst im Zeitpunkt des Zuflusses besteuert wird. Davon ausgehend wird die Zukunftsvorsorge mit Arbeitseinkommen nur gleichbehandelt, wenn diese insgesamt nachgelagert besteuert wird. Im Vordergrund steht hier die vom BVerfG seit 1980119 geforderte Gleichbehandlung von Beamten und Pflichtversicherten der gesetzlichen Rentenversicherung, die mit dem Alterseinkünftegesetz v. 5.7.2004120 verwirklicht worden ist (s. § 8 Rz. 570). Unternehmen werden durch Cash-Flow-Steuern121 nachgelagert besteuert: Die Bemessungsgrundlage besteht aus den Einzahlungen und Auszahlungen einer Periode; es handelt sich um ei-
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115 Grundl. J. Lang in Rose, Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, 1991, 291. Zu gesetzgeberischen Konsequenzen s. auch Jacobs, From Optimal Tax Theory to Applied Tax Policy, FinArch. 69 (2013), 338. 116 Obwohl die Entscheidung zur Rentenbesteuerung (BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73) hierzu Anlass gegeben hätte. 117 Dazu ausf. J. Lang, DStJG 24 (2001), 49; J. Lang, FS Kruse, 2001, 313; J. Lang, FS Rose, 2003, 325; J. Lang in Rose, Integriertes Steuer- und Sozialsystem, 2003, 83; Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, 2003, 147 ff.; Dorenkamp, Nachgelagerte Besteuerung von Einkommen, Diss., 2004, 94 ff., 117 ff. 118 Dazu grundl. aus rechtlicher Sicht Dorenkamp, Nachgelagerte Besteuerung von Einkommen, Diss., 2004. Aus ökonomischer Sicht Fuest/Mitschke, Nachgelagerte Besteuerung und EU-Recht, 2008; Mitschke, FR 2008, 249. 119 BVerfG v. 26.3.1980 – 1 BvR 121/76, BVerfGE 54, 11; ferner BVerfG v. 24.6.1992 – 1 BvR 459/87, BVerfGE 86, 369; v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73. 120 BGBl. I 2004, 1427. 121 Dazu ausf. Kaiser, Konsumorientierte Reform der Unternehmensbesteuerung, Diss., 1992, 36 ff.; Bach in Smekal/Sendlhofer/Winner, Einkommen versus Konsum, 1999, 85; Suttmann, Die Flat Tax, Diss.,
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B. Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung
Rz. 78 § 3
ne reine Überschussrechnung ohne Aktivierung von Anschaffungskosten (keine Verteilung von Anschaffungs-/Herstellungskosten durch Abschreibungen auf mehrere Perioden!). Eine voll nachgelagerte Besteuerung verwirklicht auch ein Körperschaftsteuersatz von null; erfasst werden nur die Beteiligungseinzahlungen und -auszahlungen auf der Ebene des Anteilseigners. In diese Richtung bewegt sich der internationale Trend, die Körperschaftsteuersätze weit unter das Niveau des Spitzensatzes der Einkommensteuer abzusenken. Diese Art der Spreizung von Steuersätzen ist als partiell nachgelagerte Besteuerung investierter Unternehmenseinkommen zu qualifizieren (s. auch § 7 Rz. 88)122. – Zinsbereinigte Besteuerung123: Einkünfte werden nur insoweit besteuert, als sie die marktübliche 78 Verzinsung des Kapitals überschreiten. Hierzu wird ein Abzug für eine Eigenkapitalverzinsung mit standardisiertem Zinssatz gewährt. Die Zinsbereinigung der Einkünfte bewirkt dasselbe Ergebnis intertemporaler Neutralität (s. Rz. 80) wie die nachgelagerte Besteuerung, gewährleistet jedoch eine bessere Kontinuität des Steueraufkommens. Außer fiskalischen werden auch Vereinfachungsargumente angeführt: Die zinsbereinigte Einkommensteuer sieht von der schwierigen und international nicht durchsetzbaren Besteuerung von Zinsen ab, und die zinsbereinigte Unternehmensteuer neutralisiert das bilanzpolitische Ziel der Gewinnminderung. Die streitanfällige Bildung eigenkapitalmindernder Bilanzposten wie z.B. Rückstellungen wird unattraktiv, weil sie die Bemessungsgrundlage des Zinsfreibetrags mindert. Allerdings leidet die Methode der Zinsbereinigung unter dem Akzeptanzproblem, dass einer vollständigen Steuerfreiheit von Zinsen die Steuerpflicht von Arbeitseinkünften gegenübersteht. Daher vermittelt die Zinsbereinigung das Bild einer unvollständigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, so dass sie nicht nur von Juristen, sondern auch von prominenten Ökonomen abgelehnt wird124. Dessen ungeachtet findet eine partielle Zinsbereinigung durch niedrige Abgeltungsteuern auf private Kapitaleinkünfte weltweite Verbreitung, vgl. Einführung von § 32d EStG durch Unternehmensteuerreformgesetz 2008 v. 14.8.2007125. Auch die Körperschaftsteuer soll nach Vorstellung der EU-Kommission im Zuge europäischer Harmonisierung durch einen Zinsabzug auf Eigenkapital zinsbereinigt werden126.
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2007, 190–223; s. auch den aktuellen US-Reformvorschlag einer „destination based cash flow tax“ (DBCFT); dazu Becker/Englisch, Ubg 2017, 69; weitere Nachw. § 7 Rz. 74. S. Dorenkamp, Nachgelagerte Besteuerung von Einkommen, Diss., 2004. Grundl. Broadway/Bruce, Journal of Public Economics 1984, 231; Wenger, FinArch. 41 (1983), 207; Institute for Fiscal Studies, Equity for Companies: a corporation tax for the 1990s, 1991 (Allowance for Corporate Equity – ACE); Devereux, National Tax Journal 2012, 709; zu den Wirkungen von ACESystemen Zangari, Adressing the Debt Bias: A Comparision between the Belgian and the Italian ACE Systems, EU Taxation Papers, Working Paper N.44-2014; im Weiteren Wenger in Rose, Standpunkte zur aktuellen Steuerreform, 1997, 115; Jakobs, FS Debatin, 1997, 207; Kiesewetter, Zinsbereinigte Einkommen- und Körperschaftsteuer, 1999; Lammersen, Die zinsbereinigte Einkommen- und Gewinnsteuer, 1999; Klemm, Allowances for Corporate Equity, 53 CES-ifo-Studies, 2007; Rumpf, StuW 2009, 333 (Abstimmung zwischen Abgeltungsteuer und zinsbereinigter Unternehmensteuer); Griffith/Hines/ Sørensen, International Capital Taxation, in Institute for Fiscal Studies, Dimensions of Tax Design, 2010, 914 (973 ff.); Zöller, Die Zinsbereinigte Gewinnsteuer (ZGS), Diss., 2011. Homburg in Rose, Standpunkte zur aktuellen Steuerreform, 1997, 107 (111 ff.); Hackmann in Andel, Probleme der Besteuerung II, 1999, 35; Schneider, StuW 2000, 421; Nguyen-Thanh/Rose/Thalmeier, StuW 2003, 169; Wurmsdobler, StuW 2003, 176 (aus österreichischer Sicht). BGBl. I 2007, 1912. „Freibetrag für Wachstum und Investitionen“, s. Art. 11 GKKB-Entwurf (EU-Kommission, Vorschlag für eine Richtlinien über eine Gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage v. 25.10.2016, COM[2016] 685 final); dazu Rose, StuW 2017, 217.
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§ 3 Rz. 79
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
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– Trends127: Der allgemeine Trend zur Konsumorientierung der Besteuerung128 im Zeitalter der Globalisierung ist nicht mehr zu übersehen. International lassen sich drei Wege konsumorientierter Besteuerung von Einkommen ausmachen, erstens die Verlagerung der Steuerlasten von den direkten Ertragsteuern zu den indirekten Konsumsteuern, zweitens die Schedulisierung der Ertragsbesteuerung durch duale Einkommensteuer u.a. Formen gezielt niedriger Besteuerung von investitionsrelevanten Einkommen, und drittens die immer stärkere Spreizung von niedrigem Körperschaftsteuersatz und höherem Spitzensatz der Einkommensteuer (s. § 7 Rz. 88 ff.; § 13 Rz. 181).
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Die Methoden der Konsumorientierung bezwecken die lebenszeitliche oder überperiodische Gleichmäßigkeit (sog. intertemporale Neutralität) der Besteuerung. Werden Zinsen traditionell periodenbesteuert, so steigt die „finale“ Steuerlast gegenüber der Steuerbelastung des innerhalb einer Periode konsumierten Einkommens (s. nachfolgendes Beispiel). Dieser überperiodische Anstieg der Steuerlast wird durch Inflation und Progression verstärkt. Er diskriminiert das Kapitaleinkommen gegenüber sofort konsumiertem (Arbeits-)Einkommen. Die Periodizität ist mit einer lebenszeitlich angelegten Messung steuerlicher Leistungsfähigkeit unvereinbar und verzerrt die Entscheidung zwischen Sparen und Konsum. Dieser steuerlichen Präferenz des Gegenwartskonsums gegenüber dem durch Sparen ermöglichten Zukunftskonsum wirken nachgelagerte und zinsbereinigte Besteuerung entgegen129. Beispiel: Legt ein Sparer im Alter von 25 Jahren 10 000 Euro zu 6 % an, dann beträgt das Sparguthaben im Alter von 65 Jahren 102 857 Euro, wenn die Zinsen nicht besteuert werden. Wird das Sparguthaben erst im Zeitpunkt des späteren Konsums mit einem Steuersatz von 30 % besteuert, verbleiben dem Sparer nach Steuern 72 000 Euro (102 857–30 857 Euro). Im Falle der periodischen Besteuerung der Zinsen mit einem Steuersatz von 30 % verfügt der 65jährige Sparer nach Steuern über ein Sparguthaben von lediglich 36 292 Euro. Daraus resultiert eine überperiodische Steuerlast von 64,72 % Die Steuerbelastung hat sich also im Gesamtergebnis mehr als verdoppelt. Sowohl bei einer Zinsbereinigung als auch bei einer Sparbereinigung der Einkünfte bleibt die Steuerlast dagegen konstant.
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Die Konsumorientierung der Einkommensbesteuerung dient also der Verwirklichung des Gleichheitssatzes, indem die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit überperiodisch gleichmäßig gemessen wird130. Nachgelagerte Besteuerung oder Zinsbereinigung beinhalten folglich keine Steuervergünstigungen, sondern lediglich die systemkonsequente Umsetzung des Leistungsfähigkeitsindikators konsumierbares Einkommen.
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Trotz aller Vorzüge einer konsumorientierten Besteuerung gibt es weder steuerrechtstheoretisch noch verfassungsrechtlich einen Zwang zu einer vollumfänglich lebenszeitlichen Definition steuerlicher Leistungsfähigkeit131. Unzweifelhaft unterteilt das Periodenprinzip einheitliche wirtschaftliche Sachverhalte in willkürliche Abschnitte. Zwingend bedarf es insoweit eines periodenübergreifenden Aus127 Bach/Scheremet/Teichmann, Internationale Entwicklungstendenzen nationaler Steuersysteme – von der direkten zur indirekten Besteuerung?, 2001; Rose, Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland, 2002; Jahresgutachten 2003/04 des Sachverständigenrats: Integration von KSt u. ESt sowie duale ESt (s. § 7 Rz. 89); Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, Habil., 2004; Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, 2004; Wiss. Beirat beim BMF, Flat Tax oder Duale Einkommensteuer?, Zwei Entwürfe zur Reform der deutschen Einkommensbesteuerung, BMF-Schriftenreihe, Heft 76, 2004; Essers/Rijkers, The Notion of Income from Capital, 2005 (Kölner Jahreskongress der EATLP 2003; Bericht von Horlemann, StuW 2003, 271) mit den Grundsatzreferaten von J. Lang (pro Leistungsfähigkeitsprinzip) und Gassner (contra Leistungsfähigkeitsprinzip) zu dem Thema: „The Influence of Tax Principles on the Taxation of Income from Capital“. 128 Krit. hierzu insb. Tipke, StRO II2, 638 ff. 129 Zu den positiven volkswirtschaftlichen Wirkungen nachgelagerter Besteuerung Fuest, FR 2011, 11 ff. 130 Ausf. zu den Vorzügen einer konsumorientierten Erfassung von Einkommen s. 20. Aufl., § 4 Rz. 122–123; a.A. P. Kirchhof, FS J. Lang, 2010, 451 (476: Lebenseinkommen „als Besteuerungsgegenstand gänzlich ungeeignet“); C. Wagner, Steuergleichheit unter Standortvorbehalt, Diss., 2010, 206 ff. (Ausrichtung am Lebenseinkommen nicht mit Art. 3 I GG vereinbar). 131 Englisch, Dividendenbesteuerung, Diss., 2005, 188 ff.; Niehus, DStZ 2000, 697 (700 f.).
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C. Verfassungsrechtliche Maßstäbe des Steuerrechts
Rz. 82 § 3
gleichs leistungsfähigkeitsbegründender und leistungsfähigkeitsmindernder Umstände, insb. durch einen unbegrenzten Verlustabzug. Ob der Gesetzgeber darüber hinaus intertemporale Neutralität durch Elemente der Spar- oder Zinsbereinigung anstrebt, obliegt dagegen seinem gesetzgeberischen Gestaltungsermessen. Dieses freilich muss er gleichheitssatzkonform ausüben, so. z.B. Beamte und Sozialversicherungsrentner gleichermaßen nachgelagert besteuern (s. Rz. 116 ff.; § 8 Rz. 564 f.). Einstweilen frei.
83–89
C. Verfassungsrechtliche Maßstäbe des Steuerrechts Literatur: P. Kirchhof, Besteuerungsgewalt und Grundgesetz, 1973; Vogel, Steuergerechtigkeit und soziale Gestaltung, DStZA 1975, 409; Friauf, Unser Steuerstaat als Rechtsstaat, StbJb. 1977/78, 39; Birk, Steuergerechtigkeit und Transfergerechtigkeit, ZRP 1979, 221; Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, 1980; Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981; P. Kirchhof, Steuergerechtigkeit und sozialstaatliche Geldleistungen, JZ 1982, 305; Loritz, Das Grundgesetz und die Grenzen der Besteuerung, NJW 1986, 1; Vogel, Rechtfertigung der Steuern: Eine vergessene Vorfrage, Der Staat 25 (1986), 481; Martens, Grundrecht auf Steuergerechtigkeit?, KritV 1987, 39; Schuppert, Verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstäbe bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Steuergesetzen, in FS Zeidler, Bd. 1, 1987, 691; Friauf (Hrsg.), Steuerrecht im Verfassungsstaat, DStJG 12 (1989); Rodi, Die Rechtfertigung von Steuern als Verfassungsproblem, dargestellt am Beispiel der Gewerbesteuer, Diss., 1994; J. Lang, Über das Ethische der Steuertheorie von Klaus Tipke, in FS Tipke, 1995, 3; Stang, Auswirkungen der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts auf die Besteuerung, 1995; P. Kirchhof, Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Steuern, Symposion für Vogel, 1996, 27; Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland-Schweiz, Diss., 1997; Scholz, Steuerstaat und Rechtsstaat, in FS Leisner, 1999, 797; P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000; Tipke, StRO I2, 2000, 105 ff., 228 ff.; Jachmann, Steuerrechtfertigung aus der Gemeinwohlverantwortung, DStZ 2001, 225; Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001; F. Kirchhof, Der Weg zur verfassungsgerechten Besteuerung, StuW 2002, 185; Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, Ansätze zu einer an der Gemeinwohlverantwortung des Einzelnen ausgerichteten Lastenverteilungsgerechtigkeit, 2003; Hey, Wandel der Verfassungsrechtsprechung, StBJb. 2007/08, 19; Kiehne, Grundrechte und Steuerordnung in der Rspr. des BVerfG, 2004; Mellinghoff, Steuergesetzgebung im Verfassungsstaat, Stbg. 2005, 1; Mellinghoff, Verfassungsgebundenheit des Steuergesetzgebers, in FS Bareis, 2005, 171; Di Fabio, Steuern und Gerechtigkeit – Das Freiheits- und Gleichheitsgebot im Steuerrecht, JZ 2007, 749; Papier, Steuerrecht im Wandel – verfassungsrechtliche Grenzen der Steuerpolitik, DStR 2007, 973; Tipke, Steuergerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Folgerichtigkeitsgebots, StuW 2007, 201; Thiesen, Steuerverfassungstheorie, Diss., 2008; Birk, Verfassungsfragen im Steuerrecht, DStR 2009, 877 (zur Rspr.); Birk, Steuerrecht und Verfassungsrecht – Zur Rolle der Rechtsprechung bei der verfassungskonformen Gestaltung der Steuerrechtsordnung, 2009; Waldhoff, Die „andere Seite“ des Steuerverfassungsrechts, in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des Steuerrechts, 2009, 125; Wernsmann, Zunehmende Europäisierung und Konstitutionalisierung als Herausforderungen für den Steuergesetzgeber, in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, 161; Breinersdorfer, Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers – einige Überlegungen anhand der Rspr. des BVerfG und EuGH, StuW 2009, 211; HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 370–781 (2014) (Verfassungsmaßstäbe für Steuergesetze); Mellinghoff, Verfassungsbindung und weiter Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in FS Spindler, 2011, 153; Weber-Grellet, Das Koordinatensystem des BVerfG bei der Prüfung von Steuergesetzen, FR 2011, 1028; P. Kirchhof, Die Leistungsfähigkeit des Steuerrechts – Steuerrecht und Verfassungsrecht, StuW 2011, 365; Mellinghoff, Steuerverfassungsrecht im Gespräch, FR 2012, 989; Kempny, Steuerrecht und Verfassungsrecht, StuW 2014, 185; Hey, Steuerrecht und Staatsrecht im Dialog: Nimmt das Steuerrecht in der Judikatur des BVerfG eine Sonderrolle ein?, StuW 2015, 3; Seiler, Verfassung in ausgewählten Teilrechtsordnungen: Konstitutionalisierung und Gegenbewegungen im Steuerrecht, VVdStRL 75 (2016), 333; Tappe, Festlegende Gleichheit – folgerichtige Gesetzgebung als Verfassungsgebot?, JZ 2016, 27; Tappe, Die Begründung von Steuergesetzen – Normatives Ermessen im Steuerrecht zwischen Gesetzmäßigkeit und Gestaltungsfreiheit, Habil., 2012 (im Druck); Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge, Band 64, 2016 mit Beiträgen von Musil, Steuerrecht und Verfassungsrecht, 443, Palm, Das Steuerverfassungsrecht als dogmatisches Referenzgebiet des allgemeinen Verfassungsrechts, 457, Kempny, Steuerverfassungsrechtliche Sonderdogmatik zwischen Verallgemeinerung und Zurückführung, 477, Heintzen, Das
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§ 3 Rz. 90
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
Steuerrecht zwischen Autarkie und Vernetzung, 493, Wieland, Steuerrecht als Innovationsressource des Verfassungsrechts?, 505, Schön, Grundrechtsschutz gegen den demokratischen Steuerstaat, 515, Droege, Der Beitrag des Steuerrechts und der Fortschritt der Verfassung, 539, P. Kirchhof, Das Steuerrecht als Verfassungsproblem, 553.
I. Steuern im Rechtsstaat 1. Formale und materiale Rechtsstaatlichkeit 90
Alle Staatsgewalten, so auch Steuergesetzgebung, -verwaltung und -rechtsprechung sind an die rechtsstaatliche Ordnung des Grundgesetzes und besonders die Grundrechte gebunden (Art. 1 III; 20 III GG). Art. 20 III 2. Hs. GG bindet die vollziehende Gewalt und die Rspr., so auch die Steuerverwaltung und die Steuerrechtsprechung an „Gesetz und Recht“. Die durch das Änderungsverbot des Art. 79 III GG besonders geschützte Rechtsstaatlichkeit bedeutet, dass die Ausübung der geteilten staatlichen Macht nur auf der Grundlage einer die Grundrechte gewährleistenden Verfassung und von formell und materiell verfassungsmäßig erlassenen Gesetzen mit dem Ziel der Gewährleistung von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zulässig ist132.
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Der Rechtsstaat hat eine formale und materiale Seite133. Historisch entwickelte sich zunächst der formale Rechtsstaat, der die Gewaltenteilung, die Herrschaft des Gesetzes (rule of law), die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und den Rechtsschutz gegen Akte öffentlicher Gewalt durch unabhängige Gerichte anerkennt134. Der formale Rechtsstaat verwirklicht vornehmlich die Rechtssicherheit. Die Deformierung des Rechtsstaats durch den Nationalsozialismus machte indes klar, dass ein Rechtsstaat ohne Gewährleistung materialer Gerechtigkeit undenkbar ist. Das Grundgesetz der BRD hat die formalen Elemente des Rechtsstaats übernommen, jedoch auf Grund der negativen Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung wesentliche materiale Elemente hinzugefügt. Der Rechtsstaat des Grundgesetzes ist zwar auch Gesetzesstaat; er verbürgt aber zugleich auch den materialen Rechtsstaat, der dem Ziel der Gerechtigkeit dient, was insb. in der Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 III GG) zum Ausdruck gebracht ist135. Die Gerechtigkeit wird durch die Werteordnung der Grundrechte136 substantiiert. Damit gewährleistet der materiale Rechtsstaat vor allem die Menschenwürde 132 Zum Begriff der Rechtsstaatlichkeit allgemein Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, HStR II3, 2004, § 26; Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat. Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte, Habil., 1997; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I2, 1984, § 20; Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, 2006. 133 Dazu Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I2, 1984, § 20, 772 ff.; Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, HStR II3, 2004, § 26, 997 f.; Benda in Benda/Maihofer/Vogel, Hdb. des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland2, 1994, 719 (720 ff.) (vom ‚formalen‘ zum ‚materialen‘ Rechtsstaat) (Nachdruck 1995) u. grundl. für das Steuerrecht Tipke, StRO I2, 105 ff. 134 Allgemein durchgesetzt hat sich die auch Art. 1 III; 20 III GG zugrunde liegende Dreiteilung der Gewalten nach dem 1748 in Genf veröffentlichten „De l’esprit des Lois“ von Charles de Montesquieu: Gesetzgebung (puissance législative), vollziehende Gewalt (puissance exécutrice) u. Rspr. (puissance de juger). Die geteilten Gewalten des Staates sollen sich gegenseitig begrenzen u. kontrollieren, besonders soll die Rspr. die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns kontrollieren u. gewährleisten. Zum rechtsstaatlichen Gewaltenteilungsgrundsatz Stern, Das Staatsrecht in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I2, 1984, 792 ff., u. ausf. Bd. II, 1980, § 36; Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, HStR II3, 2004, § 26, 565 ff. Im Steuerrecht wird allerdings der Gewaltenteilungsgrundsatz durch die dominierende fachliche Mitwirkung der Ministerialbürokratien von Bund und Ländern gefährdet. Dazu Westerfelhaus, DStZ 1997, 129. 135 Dazu Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I2, 1984, § 20, 772 ff.; Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht: Eine verfassungsrechtliche und verfassungstheoretische Untersuchung zu Art. 20 III GG, Diss., 2003; Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, HStR II3, 2004, § 26, 1007 (mit der Formel von „Gesetz und Recht“ wolle die Verfassung auf die Idee der Gerechtigkeit hinführen). 136 Di Fabio, JZ 2004, 1.
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I. Steuern im Rechtsstaat
Rz. 94 § 3
sowie die Gleichheit und Freiheit der Menschen; ohne solche Menschenrechte ist der Rechtsstaat undenkbar. Zudem dient der soziale Rechtsstaat (Art. 20; 28 I GG) dem Ziel sozialer Gerechtigkeit137. Die historische Entwicklung vom formalen zum materialen Rechtsstaat findet auch im Steuerrecht ihren 92 Niederschlag. Während der Weimarer Zeit befasste sich die Steuerrechtswissenschaft hauptsächlich mit den Elementen der formalen Rechtsstaatlichkeit, mit der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, der Lehre vom Steuertatbestand (§ 38 AO), dem verfahrensrechtlichen Steuergeheimnis und Fragen des Rechtsschutzes, des rechtlichen Gehörs etc.138. Erst in der Nachkriegszeit, unter der Geltung des Grundgesetzes, rückten die Themen der materialen Rechtsstaatlichkeit, der Steuergerechtigkeit und Rechtfertigung von Steuern, der gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit139 und der freiheitsrechtlichen Steuereingriffsschranken in den Vordergrund, wurde die Steuerrechtswissenschaft, soweit sie sich mit den vorgenannten Themen befasste, zur Steuergerechtigkeitswissenschaft140.
2. Verwirklichung formaler Rechtsstaatlichkeit im Steuerrecht Das Ziel des formalen Rechtsstaats, dem Bürger Rechtssicherheit zu gewähren, verwirklicht im Steuer- 93 recht zunächst der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung (Legalitätsprinzip, s. Rz. 230 ff.), konkretisiert durch das den Gesetzgeber verpflichtende Prinzip der Bestimmtheit von Steuergesetzen (s. Rz. 243 ff.) und das Verbot rückwirkender Steuergesetze (s. Rz. 260 ff.). Der formale Rechtsstaat muss überdies einen Ausgleich zwischen Rechtsrichtigkeit und Rechtssicherheit schaffen. Geschützt ist das Vertrauen in behördliches Verhalten. Deshalb darf die Finanzverwaltung aus Gründen der Rechtssicherheit Verwaltungsvorschriften nicht rückwirkend verschärfen (s. Rz. 282). Sie ist an Zusagen gebunden (s. § 21 Rz. 14 ff.). Der formal-rechtsstaatliche Vertrauensschutzgrundsatz begründet die Bestandskraft von Steuerverwaltungsakten, nach der wirksame Verwaltungsakte nur noch unter besonderen Voraussetzungen zum Nachteil des Bürgers aufgehoben oder geändert werden dürfen (s. § 21 Rz. 381 ff.). Hier wirkt die formale Rechtsstaatlichkeit und das Ziel der Rechtssicherheit zu Lasten der materialen Rechtsstaatlichkeit über die Gesetzmäßigkeit hinaus, denn auch rechtswidrige Steuerverwaltungsakte wachsen in Bestandskraft (s. § 21 Rz. 80 ff.). Schließlich genießt der Stpfl. im formal-rechtsstaatlichen System der Gewaltenteilung lückenlosen Rechtsschutz (s. § 22). 3. Verwirklichung materialer Rechtsstaatlichkeit im Steuerrecht Der materiale Rechtsstaat wirft die Fragen über Steuergerechtigkeit und die Rechtfertigung von Steu- 94 ern auf. Die Frage, ob die Auferlegung von Steuern überhaupt gerechtfertigt ist141, wird im Steuerstaat ohne Weiteres bejaht. Gerungen wird um die Fragen des „wie“ der Besteuerung in einem Vielsteuersystem142, um die Fragen der Rechtfertigung einzelner Besteuerungsformen, Steuerarten, der gerechten Ausgestaltung von Bemessungsgrundlagen und der Begrenzung der Steuerlasten. Letztere 137 Dazu Benda, Der soziale Rechtsstaat, in Benda/Maihofer/Vogel, Hdb. des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland2, 1994, 719 (Nachdruck 1995); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland20, 1999, 83 ff. 138 S. Tipke, StRO I2, 107 f. 139 In Bezug auf Art. 134 WRV (s. § 2 Rz. 8) grundl. schon Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen des Gesetzgebers, Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit – Gleichheit vor dem Gesetz, VJSchrStFR 1930, 441. 140 Dazu eindringlich Vogel, DStZ 1975, 409. Grundl. zu Grenzen und Relativität von Steuergerechtigkeit Birk, StuW 2011, 354. 141 Nach Tipke, StRO I2, 228, die allgemeine Steuerrechtfertigungstheorie, mit der sich insb. auch Vogel, Rechtfertigung der Steuern, Der Staat 1986, 481 ff., befasst hat. Dazu aus österreichischer Sicht Ruppe, StuW 2011, 372. 142 Dazu umfassend Tipke, StRO II2 (Steuerrechtfertigungstheorie, Anwendung auf alle Steuerarten, sachgerechtes Steuersystem).
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§ 3 Rz. 95
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
Frage, mit der sich insb. Klaus Vogel143 und Paul Kirchhof144 beschäftigt haben, lenkt auf die Staatsausgaben145 hin: Der staatliche Einnahmebedarf wird nicht aus dem Steuerrecht, sondern durch die Definition von Staatsaufgaben und Staatsausgaben determiniert. Freilich stehen beide Seiten in einer Wechselbeziehung. Je drückender die Steuerlasten für den Bürger werden, desto schwieriger ist Steuergerechtigkeit gegen Steuerwiderstand, -vermeidung und -verdrossenheit durchzusetzen, und desto mehr empört Steuerverschwendung146, die der Rechtfertigung von Steuern den Boden entzieht. 95
Im materialen Rechtsstaat lassen sich Steuern nur rechtfertigen, wenn sie gerecht im Sinne der grundrechtlichen Werteordnung ausgestaltet sind; d.h. die formal-rechtsstaatliche Funktion des Legalitätsprinzips garantiert noch keine gerechten Steuern. Hierzu ist der Inhalt der verfassungsrechtlichen Werteordnung zu erforschen, der durch die Prinzipien materialer Rechtsstaatlichkeit bestimmt wird147. Es handelt sich um systemtragende Prinzipien des Steuerrechts (s. Rz. 13), die als richtunggebende Maßstäbe (s. Rz. 11) die Gerechtigkeit der Steuerrechtsordnung bestimmen.
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Die Steuergerechtigkeit wird wesentlich durch die Gleichmäßigkeit der Besteuerung bestimmt. Aus Art. 1 III; 20 III GG folgt, dass der Gesetzgeber selbst an den Gleichheitssatz und die in ihm verankerte Steuergerechtigkeit gebunden ist, gleichheitswidrige Steuergesetze verfassungswidrig sind. Mit dem material-rechtsstaatlichen Gehalt des Legalitätsprinzips ist ein wertungsfreier, gerechtigkeitsfreier Gesetzespositivismus nicht zu vereinbaren. Der Steuergesetzgeber muss sich bei der Ausübung seines Gestaltungsrechts primär von Gerechtigkeitserwägungen leiten lassen148. Die Abgabenordnung erinnert an zentralen Stellen an die das Wesen der material-rechtsstaatlichen Steuer prägenden systemtragenden Prinzipien der Steuergleichheit und der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung sowie an den Kontext beider systemtragender Prinzipien, so in der Legaldefinition des Steuerbegriffs (§ 3 I AO) und in § 85 AO, der „Besteuerungsgrundsätze“ regelt. Nach § 3 I AO muss die Steuer allen auferlegt sein, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Dieser Passus der Legaldefinition enthält keine Begriffsmerkmale der Steuer, denn eine Abgabe ist auch dann eine Steuer, wenn sie die Anforderungen der Steuergleichheit und Gesetzmäßigkeit nicht erfüllt. Er bringt vielmehr das Wesen der material-rechtsstaatlichen Steuer programmatisch, appellhaft zum Ausdruck.
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Die systemtragenden Prinzipien der Steuergleichheit und der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung werden ergänzt durch das Prinzip sozialstaatlich gerechter Besteuerung (s. Rz. 210 ff.) und durch die prohibitiven Prinzipien der Steuereingriffsschranken. Steuereingriffsschranken ergeben sich aus: – dem grundrechtlichen Schutz der Menschenwürde (Art. 1 I GG) und dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG); – dem in dem Schutzgebot des Art. 6 I GG verankerten Verbot der Benachteiligung von Ehe und Familie (s. Rz. 162 ff.); – dem rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Übermaßverbot (s. Rz. 180 ff.), u.a. in seiner Ausprägung als Verbot der Erdrosselungssteuer, das aus den Art. 12 I; 14 I GG abgeleitet ist (s. Rz. 184 f.). 143 Vogel, Verfassungsgrenzen für Steuern und Staatsausgaben?, FS Maunz, 1981, 415; Vogel, Rechtfertigung der Steuern, Der Staat 1986, 481 ff.; Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, HStR II3, 2004, § 30, 875 ff. 144 Grundl. P. Kirchhof, VVDStRL 39 (1981), 213 (234 ff.); ferner etwa P. Kirchhof, FS Merten, 2007, 149 ff. 145 Zu dem Zusammenhang zwischen Steuern u. Staatsausgaben grundl. auch v. Arnim, Besteuerung und Eigentum, VVDStRL 39 (1981), 286 (311 ff.) (zur Notwendigkeit eines Durchgriffs auf die Steuerverwendung). 146 Dazu insb. Tipke, Steuergerechtigkeit, 171 ff. (s. J. Lang, StuW 2001, 79). 147 Dazu umfassend Tipke, StRO I2, 228 ff. (Prinzipien materialer Rechtsstaatlichkeit), 256 ff. (Gerechtigkeit durch systemtragende Prinzipien). 148 Tipke, StRO II2, 587; krit. gegenüber dem Topos der Steuergerechtigkeit Droege, RW 2013, 374; zu Steuergerechtigkeit s. außerdem § 1 Rz. 2 ff.
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I. Steuern im Rechtsstaat
Rz. 100 § 3
4. Steuergerechtigkeit und Verfassungsrecht Gestritten wird, ob ein Unterschied zwischen Steuergerechtigkeit und Verfassungsmäßigkeit des Steu- 98 errechts besteht. Kann es ungerechte Steuern unterhalb der Verfassungswidrigkeit geben? Gibt es einen verfassungsrechtlichen Zwang, stets die gerechteste Lösung zu wählen? Gibt es eine solche überhaupt149? Wie weit reicht die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers? Ist eine Konstitutionalisierung des Steuerrechts Fluch oder Segen? Prinzipien eines gerechten Steuersystems lassen sich sowohl ökonomisch als auch juristisch gewinnen. 99 Fragen der Steuergerechtigkeit sind größtenteils universell, sie können unabhängig von einer konkreten Verfassung anhand allgemeiner rechtsethischer Prinzipen beantwortet werden. Dabei bestehen durchaus erhebliche Wertungsspielräume, die freilich nicht beliebig, sondern der Sachlogik der Besteuerung folgend auszufüllen sind. Die Steuerpolitik missachtet diese Sachgesetzlichkeiten, ist taub gegenüber Argumenten juristischökonomischer Rationalität, reklamiert weitreichende Gestaltungsfreiheit und fühlt sich in erster Linie dem Steueraufkommen verpflichtet150. Sie lässt sich allenfalls mit dem Hinweis auf verfassungsrechtliche Vorgaben in die Schranken weisen. Daher ist die Intention, Fragen der gerechten Ausgestaltung von Steuern zu verfassungsrechtlichen zu machen, nur allzu verständlich. Zur Durchsetzung von Steuergerechtigkeit bedarf es des BVerfG151, dessen Pro-Futuro-Rspr. (s. § 22 Rz. 287 f.) allerdings hohe Risikobereitschaft des Gesetzgebers ermöglicht. Nachdem sich das BVerfG in den 1960er und 1970er Jahren größte Zurückhaltung auferlegt hat, leis- 100 tet es seit Beginn der 1980er Jahre unverzichtbare Beiträge zur Durchsetzung der systemtragenden Prinzipien eines verfassungskonformen Steuerrechts152. Das BVerfG lässt keinen Zweifel, dass der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum verfassungsrechtlich durch die Prinzipien der finanziellen Leistungsfähigkeit und der Folgerichtigkeit begrenzt ist (s. Rz. 118 ff.). Stringent gewährleistet es die Steuerfreiheit des Existenzminimums (s. Rz. 160) und den Schutz von Ehe und Familie (s. Rz. 162 ff.). Es erteilt reinen (Gegen-)Finanzierungsinteressen eine scharfe Absage und hat die Anforderungen an den rechtsstaatlichen Vertrauensschutz (s. Rz. 260 ff.) verschärft. Das Prinzip eigentumsschonender Besteuerung (s. Rz. 189 ff.) hat der Zweite Senat nach Aufgabe des sog. Halbteilungsgrundsatzes zwar mittlerweile zurückgenommen, indes ohne es vollständig aufzugeben (s. Rz. 196 f.). Allerdings ist gerade die Rspr. zu Art. 3 I GG nicht immer vorhersehbar. Das Ausmaß der Gruppenungleichheit im Steuerrecht führt die Praxis des BVerfG immer wieder an einen Scheideweg. Das Gericht kann sich auf die formal-rechtsstaatliche Gewaltenteilung berufen, den Grundsatz richterlicher Zurückhaltung (den sog. judicial self-restraint153) bemühen und die Weite des dem Gesetzgeber eingeräumten Gestaltungsspielraums betonen. Alternativ kann es dem Steuergesetzgeber abverlangen, dass er die ihm eingeräumte Gerechtigkeitskompetenz wahrnimmt, indem er die Gerechtigkeitswertungen der Verfassung befolgt und die von ihm selbst gesetzten Wertungen und Sachgesetzlichkeiten system- und wertungskonsequent vollzieht. Das BVerfG wird zu „judicial activism“ herausgefordert, wenn der Gesetzgeber seine Verantwortung für das Recht und den ihm zugewiesenen Handlungsspielraum nicht wahrnimmt.
149 Hierzu grundl. Birk, StuW 2011, 354; Tipke in Kube/Mellinghoff u.a., Leitgedanken des Rechts, Bd. II 2013, § 146. 150 S. insb. Nawrath, DStR 2009, 2; zustimmend Lepsius, JZ 2009, 260 (262), der für eine Aufwertung des Fiskalzwecks auch in der verfassungsgerichtlichen Rechtfertigungsdogmatik plädiert; grundl. gegen einen derartigen Fiskalismus Hey, FR 2008, 1033; Tipke, JZ 2009, 533. 151 Englisch, FS J. Lang, 2010, 167 (169). 152 Dazu Hey, StbJb. 2007/2008, 19; Tipke, JZ 2009, 533. Grds. a.A. Lepsius, JZ 2009, 260. 153 Dazu Kriele, HStR IX3, 2011, § 188 Rz. 9 f.
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§ 3 Rz. 101
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
101 Die verfassungsrechtliche Bindung des Steuergesetzgebers durch die Gebote der Sachgerechtigkeit
und Folgerichtigkeit ist nicht nur unter Staatsrechtlern154, sondern auch unter Steuerrechtlern155 nicht unwidersprochen. Der Vorwurf des judicial activism zeiht das BVerfG der Verkennung seiner Position im gewaltengeteilten Staat und Übergriffen in die Kompetenzbereiche des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. Demokratisch legitimiert ist der Gesetzgeber freilich nicht zu Steuerwillkür und Systemlosigkeit. Die Kritik an der Konstitutionalisierung des Steuerrechts läuft Gefahr, einem Rechtsgebiet die rechtsstaatliche Basis zu entziehen, auf dem der Bürger dem Staat alltäglich begegnet. Das BVerfG trägt besondere Verantwortlichkeit für die Verwirklichung des Rechtsstaats im Steuerrecht156. Es muss sich dem prinzipienlos handelnden Gesetzgeber entgegenstemmen. 102 Dies heißt freilich nicht, jedwede Frage des Steuerrechts sei verfassungsrechtlich determiniert. Es
bleiben weitreichende Wertungs- und Konkretisierungsspielräume innerhalb der verfassungsrechtlichen Vorgaben157, wie etwa die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Indikatoren steuerlicher Leistungsfähigkeit verdeutlicht (Rz. 55 ff.). Sowohl Kapital als auch Konsum sind sachgerechte Maßgrößen steuerlicher Leistungsfähigkeit. Die Entscheidung zwischen beiden obliegt daher der Gestaltungshoheit des Steuergesetzgebers. Insofern führt die Steuerrechtfertigung notwendig über den Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen hinaus158, weil in der Verfassung die Steuerrechtsordnung zu wenig konkret festgeschrieben ist, um das BVerfG instand zu setzen, vom Gesetzgeber ein gerechtes Steuersystem zu erzwingen. Die formal-rechtsstaatliche Begrenzung der Richtermacht gegenüber dem Gesetzgeber erzeugt Gerechtigkeitslücken, die die Rechtfertigungslehre aufzudecken hat. Die Vermögensteuer, die Grundsteuer und die Gewerbesteuer mögen verfassungsrechtlich zulässig sein. Deshalb sind sie aber noch nicht durch Prinzipien eines gerechten Steuersystems (s. hierzu § 7 Rz. 37, 42 f.) gerechtfertigt159. Die dem Gesetzgeber verbleibenden erheblichen Gestaltungsspielräume nicht allein nach politischem Opportunismus auszufüllen, sondern anhand dogmatisch begründeter Steuergerechtigkeitsüberlegungen ist gemeinsame Aufgabe der Steuerwissenschaften. Insb. können hier auch ökonomische Effizienzpostulate einfließen160. 103–109
Einstweilen frei.
154 Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, 232, 238; Kischel, AöR 124 (1999), 174 (187), Wieland, DStJG 24 (2001), 29 (37 ff., 44 ff.); Lepsius, JZ 2009, 260 (263); Droege, RW 2013, 374 (385 ff.; 394). 155 Wernsmann, in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, 161, 165 ff.; HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 520 (2014); Droege, StuW 2011, 105 ff. (insb. für die Rechtsanwendung); zwischen Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit differenzierend Drüen, FS Spindler, 2011, 29 (38 ff.); Eckhoff in Kube/Mellinghoff u.a., Leitgedanken des Rechts, Bd. II 2013, § 148 Rz. 10; zurückhaltend auch Musil in Schön/Röder (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts II, 2014, 129 (136 ff.); Kempny, StuW 2014, 185 (199): Indiz, nicht Bedingung. 156 Tipke, StRO III2, 1354 ff.; ferner dezidiert auch Schön, StuW 2013, 289 (293 ff.): „kraftvolle grundrechtliche Kontrolle“ mit Folgerichtigkeit als Leitidee; Eckhoff in Kube/Mellinghoff u.a., Leitgedanken des Rechts, Bd. II 2013, § 148 Rz. 5. 157 Englisch, FS J. Lang, 2010, 167 (201 f.); Drüen, DStJG 37 (2014), 9 (45 f.). 158 Vgl. die Rezension von Sachs, StVj 1993, 283 (287) (Tipke ginge es „letztlich nicht um die Verfassungsmäßigkeit, sondern um die Gerechtigkeit der Steuerrechtsordnung“). 159 S. Tipke, StRO II2, 914 ff. (Vermögensteuer), 953 ff. (Grundsteuer), 1132 ff. (Gewerbesteuer), u. Rz. 60 ff. 160 Englisch, FS J. Lang, 2010, 167 (181); vgl. ferner die normativ-ökonomischen Arbeiten etwa von Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, 1970; Haller, Die Steuern3, Grundlinien eines rationalen Systems öffentlicher Abgaben, 1981; Rose, Überlegungen zur Steuergerechtigkeit aus betriebswirtschaftlicher Sicht, StuW 1985, 330; Walzer, Steuergerechtigkeit, 1987; Elschen, StuW 1988, 1 ff.; Franke, Steuerpolitik in der Demokratie, Habil., 1993, 39 ff.; Fuest, DStJG 37 (2014), 67.
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Hey
II. Gleichmäßigkeit der Besteuerung
Rz. 110 § 3
II. Gleichmäßigkeit der Besteuerung 1. Bedeutung und Inhalt des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 I GG) im Steuerrecht Literatur: Allgemeine: Kommentare zu Art. 3 GG, hier wegen der ausführlichen Behandlung der Steuergleichheit besonders zu empfehlen die Kommentierungen von Rüfner, Bonner Kommentar zum GG, Art. 3 GG Abs. 1 Rz. 196 ff. (1992); Osterloh/Nußberger in Sachs, GG-Kommentar8, 2018, Art. 3 GG Rz. 134–175; Leibholz/Rinck, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 3 GG Rz. 496–955; Abhandlungen: Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz2, 1959; Zippelius/Müller, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), 7 (37); P. Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, HStR VIII3, 2010, § 181; Huster, Rechte und Ziele, Zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes, Diss., 1993. Besondere: P. Kirchhof, Steuergleichheit, StuW 1984, 297; Arndt, Gleichheit im Steuerrecht, NVwZ 1988, 787; Birk, Gleichheit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, StuW 1989, 212; Kruse, Über die Gleichmäßigkeit der Besteuerung, StuW 1990, 332; Sachs, Die Auswirkungen des allgemeinen Gleichheitssatzes auf das Steuerrecht in der Rspr. des BVerfG, StVj 1994, 75; Koblenzer, Der allgemeine Gleichheitssatz im Steuerrecht, SteuerStud 1999, 390; Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000 (dazu Waldhoff, StuW 2000, 217); Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz – Rechtsfolgen und Rechtsschutz, 2000; Tipke, StRO I2, 2000, 282 ff.; Vogel in FS 50 Jahre BVerfG, 2001, 527 (541 ff.); Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, 32 ff.; Seiler, Das Steuerrecht als Ausgangspunkt aktueller Fortentwicklungen der Gleichheitsdogmatik, JZ 2004, 481; J. Lang, Die gleichheitsrechtliche Verwirklichung der Steuerrechtsordnung, StuW 2006, 22; Gosch, Vielerlei Gleichheiten – Das Steuerrecht im Spannungsfeld von bilateralen, supranationalen und verfassungsrechtlichen Anforderungen, DStR 2007, 1553; Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2009, 175; Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, in FS J. Lang, 2010, 167; Eckhoff, in Kube/Mellinghoff u.a., Leitgedanken des Rechts, Bd. II 2013, § 148 Gleichmäßigkeit der Besteuerung; P. Kirchhof, Die Gleichheit vor dem Steuergesetz – Maßstab und Missverständnisse, StuW 2017, 3. Internationale: Klett, Der Gleichheitssatz im Steuerrecht, Zeitschrift für Schweizerisches Recht 1992, 2. Hbd., 1; Steichen, Der Gleichheitssatz im Europäischen Steuerrecht, in FS Debatin, 1997, 417; Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland-Schweiz, Diss., 1997, 313 ff.; Meussen, The Principle of Equality in European Taxation, Kluwer Law International 1999 (Rezension von Reimer, StuW 2000, 285); Tipke/Bozza, Besteuerung von Einkommen, Rechtsvergleich Italien, Deutschland, Spanien, 2000, u.a. mit Beiträgen zur Steuergerechtigkeit (Tipke u. Moschetti) u. zum Gleichheitssatz (Birk u. Paladin); Tipke, StRO I2, 2000, 307 ff.; Binisti-Jahndorf, StuW 2001, 341 (346 ff.) (Frankreich); Marx, Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung in Frankreich, 2001, 104 ff.; Sokoloff/ Zolt, Inequality and Taxation, Tax Law Review 2006, 167.
Die Steuergerechtigkeit wird hauptsächlich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) abge- 110 leitet161. Dies entspricht der Bedeutung des Gleichheitssatzes als einer grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellung des GG, als einem Schlüsselbegriff der Gerechtigkeit162. Die Regelung des Art. 3 I GG gebietet die Gleichheit vor dem Gesetz, bezieht sich also unmittelbar auf die Gesetzesanwendung. Demnach schreibt Art. 3 I GG die gleichmäßige Anwendung der Steuergesetze durch die Finanzbehörden163 und die Finanzgerichte vor (sog. Rechtsanwendungsgleich161 BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55 (70); v. 3.7.1973 – 1 BvR 368/65, BVerfGE 35, 324 (335); v. 23.11.1976 – 1 BvR 150/75, BVerfGE 43, 108 (118 f.); v. 22.2.1984 – 1 BvL 10/80, BVerfGE 66, 214 (223); v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60 (88); v. 10.3.1998 – 1 BvR 178/97, BVerfGE 97, 332 (346); v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (30); v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1 (27 f.); v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, Rz. 99, BStBl. II 2017, 1082 (1094); Bonner Komm./Rüfner, Art. 3 Abs. 1 GG Rz. 2 ff. (1992); Tipke, StRO I2, 282 ff., 298 ff.; Huster, Rechte und Ziele, Diss., 1993, 29 ff. 162 Zippelius, VVDStRL 47 (1989), 7 (23), ihm zust. Böckenförde, VVDStRL 47 (1989), 63 (95) (Gleichheitssatz als Gerechtigkeitsauftrag). 163 § 85 AO: „Die Finanzbehörden haben die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben. Insbesondere haben sie sicherzustellen, dass Steuern nicht verkürzt, zu Unrecht erhoben oder Steuererstattungen und Steuervergütungen nicht zu Unrecht gewährt oder versagt werden“.
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§ 3 Rz. 111
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
heit164). Darüber hinaus ist gem. Art. 1 III; 20 III GG auch der Steuergesetzgeber an den Gleichheitssatz gebunden165. Das Gebot dieser sog. Rechtsetzungsgleichheit richtet an den Gesetzgeber einen am Wertesystem des Grundgesetzes orientierten Gerechtigkeitsauftrag. Grundrechtsberechtigt sind natürliche Personen. Nach Maßgabe des Art. 19 III GG gilt der Gleichheitssatz ferner für inländische juristische Personen, die ebenfalls Zuordnungssubjekte steuerlicher Leistungsfähigkeit sein können (s. Rz. 51). Die ausdrückliche Ausgrenzung ausländischer juristischer Personen166 wird durch die europarechtlichen Diskriminierungsverbote (s. § 4 Rz. 79 ff.) teilweise aufgefangen167. 2. Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit 111 Der an den Gesetzgeber gerichtete Gerechtigkeitsauftrag muss gleichheitseffizient erfüllt werden. Im
Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit treten formale und materiale Rechtsstaatlichkeit (s. Rz. 90 ff.) in eine Wechselbeziehung, die unmittelbar im allgemeinen Gleichheitssatz normiert ist: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ (Art. 3 I GG). Steuergleichheit ist nur dann verwirklicht, wenn das gleichheitssatzkonforme Gesetz auch gleichmäßig angewendet wird. Gleichheit meint Gleichheit im tatsächlichen Belastungserfolg. Dieser Kontext zwischen Steuergleichheit und Gesetzmäßigkeit erweitert den ursprünglich formal-rechtsstaatlichen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung (s. Rz. 230 ff.) um eine material-rechtsstaatliche Komponente. 112 Gesetzwidrige Verwaltungspraxis verletzt sowohl das Prinzip der Gesetzmäßigkeit als auch den
Gleichheitssatz in Gestalt der Rechtsanwendungsgleichheit; Beispiel: Steuervereinbarungen (s. Rz. 240). Die Gleichheit vor dem geltenden, das Recht verkörpernden Gesetz gewährt grds. keine Gleichheit im Unrecht168. Daher kann sich der Stpfl. nicht auf eine gesetzwidrige Verwaltungspraxis berufen und verlangen, ebenso wie andere Stpfl. entgegen dem Gesetz begünstigt zu werden. Beispiel: Mangelnde Kontrollen bei einer Gruppe von Stpfl. vermitteln Stpfl. einer anderen Gruppe keinen Anspruch, dass bei ihr auch der Untersuchungsgrundsatz (§ 88 AO) verletzt wird. Schöpft die Verwaltung verfassungswidrig die ihr vom Steuergesetz eingeräumten Möglichkeiten nicht aus, so kann der Stpfl. nicht verlangen, ebenso wie andere verschont zu werden. 113 Eine Klagebefugnis besitzt er jedoch dann, wenn die Ungleichbehandlung nicht nur auf einem im Mas-
senverfahren jederzeit vorkommenden Vollzugsmangel, sondern auf einem strukturellen, dem Gesetzgeber zurechenbaren Vollzugsdefizit beruht (zur Klagebefugnis s. § 22 Rz. 127). In diesem Fall führt die gleichheitswidrige Verwaltungspraxis sogar zur Verfassungswidrigkeit der materiellen Gesetzesnorm selbst169. Das gleichheitsgerecht gesetzte Recht wird gleichheitswidrig, wenn es nicht auch gleichheitsgerecht vollzogen wird.
164 Grundl. das Zinssteuerurteil BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (s. Rz. 113), im Weiteren BFH v. 11.3.1992 – II R 129/88, BStBl. II 1992, 707; v. 18.2.1997 – VIII R 33/95, BStBl. II 1997, 499 (508); v. 19.2.1999 – VI R 43/95, BStBl. II 1999, 361 (Trinkgelder). Lit.: Tipke in Vogelgesang, Perspektiven der Finanzverwaltung, 1992, 95; Ondracek, FS Ritter, 1997, 227; Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, Habil., 1999; Tipke, FS Offerhaus, 1999, 819; Vogel, Ungleichheiten beim Vollzug von Steuergesetzen im Bundesstaat, 2000; Karl, DStZ 2002, 598; Pezzer, StuW 2007, 101; Waldhoff, StuW 2013, 121. 165 BVerfG v. 23.10.1951 – 2 BvG 1/51, BVerfGE 1, 14 (52); v. 23.2.1972 – 2 BvL 36/71, BVerfGE 32, 346 (360); v. 28.2.1973 – 2 BvR 487/71, BVerfGE 34, 325 (328); v. 24.3.1976 – 2 BvR 804/75, BVerfGE 42, 64 (72); P. Kirchhof, HStR VIII3, 2010, § 181 Rz. 5, 8; Huster, Rechte und Ziele, Diss., 1993, 15 ff. 166 S. m.w.N. BFH v. 24.1.2001 – I R 81/99, BStBl. II 2001, 290. 167 Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000, 21. 168 Dazu ausf. P. Kirchhof, HStR V2, 2000, § 125 Rz. 65 ff.; Pauly, JZ 1997, 647; BFH v. 12.10.2000 – V B 66/00, BFH/NV 2001, 296. 169 S. BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (272).
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II. Gleichmäßigkeit der Besteuerung
Rz. 115 § 3
Mit dem Schluss vom Vollzugsdefizit auf die Verfassungswidrigkeit der unzureichend vollzogenen materiellen Norm hat das BVerfG dem Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht wie in keinem anderen Rechtsgebiet zum Durchbruch verholfen170. Gleichheitseffizienz heißt nach dem 1. Leitsatz des Zinsurteils von 1991171: „Der Gleichheitssatz verlangt für das Steuerrecht, daß die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden. Die Besteuerungsgleichheit hat mithin als ihre Komponenten die Gleichheit der normativen Steuerpflicht ebenso wie die Gleichheit bei deren Durchsetzung in der Steuererhebung. Daraus folgt, daß das materielle Steuergesetz in ein normatives Umfeld eingebettet sein muß, welches die Gleichheit der Belastung auch hinsichtlich des tatsächlichen Erfolges prinzipiell gewährleistet“. Die steuerliche Lastengleichheit fordere, „daß das materielle Steuergesetz die Gewähr seiner regelmäßigen Durchsetzbarkeit so weit wie möglich in sich selbst trägt“172. Eine gesetzliche Regelung verletze den Gleichheitssatz, wenn das „Ziel der Gleichheit im Belastungserfolg prinzipiell nicht zu erreichen“ sei173. Der Gesetzgeber müsse die Steuerehrlichkeit durch „hinreichende, die steuerliche Belastungsgleichheit gewährleistende Kontrollmöglichkeiten abstützen. Im Veranlagungsverfahren bedarf das Deklarationsprinzip der Ergänzung durch das Verifikationsprinzip“174. Diese Rspr. führte das BVerfG mit dem Spekulationssteuerurteil175 zu dem von Tipke angestrengten Musterprozess fort: Verfassungsrechtlich verboten sei „der Widerspruch zwischen dem normativen Befehl der materiell pflichtbegründenden Steuernorm und der nicht auf Durchsetzung angelegten Erhebungsregel. Zur Gleichheitswidrigkeit führt nicht ohne weiteres die empirische Ineffizienz von Rechtsnormen, wohl aber das normative Defizit des widersprüchlich auf Ineffektivität angelegten Rechts“ (2. Leitsatz).
Vor allem im Spekulationssteuerurteil wird der Ausnahmecharakter der Figur des strukturellen Voll- 114 zugsdefizits deutlich. Strukturell ist insb. nicht eine durch latente Unterfinanzierung der Finanzverwaltung verursachte Vollzugsschwäche. Der Vorwurf lag in erster Linie in der Widersprüchlichkeit der Normbefehle, der Anordnung der materiellen Steuerpflicht auf Kapitaleinkünfte einerseits, dem erst 2017 durch das Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz176 aufgehobenen Verbot effizienter Ermittlungen durch § 30a AO a.F. andererseits. Die Ineffizienz des Vollzugs war damit gesetzlich vorgegeben177. So revolutionär der Schluss vom Vollzugsdefizit auf die Verfassungswidrigkeit der materiellen Norm war, so verstellt dieser doch den Blick auf den eigentlichen Übeltäter, die unvollkommene Vollzugsnorm. Das BVerfG hatte es der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen, ob er das materielle Recht den Vollzugsmöglichkeiten anpasst oder das strukturelle Vollzugsdefizit beseitigt. Bemerkenswert ist, dass erst die drastische Ausweitung des internationalen Informationsaustausches (dazu § 21 Rz. 273 ff.) den Gesetzgeber dazu bewogen hat, das nationale Vollzugshemmnis des § 30a AO a.F. zu beseitigen. Ob sich die Rspr. auf andere Bereiche übertragen lässt, ist unklar. Kritikwürdige Vollzugsdefizite gibt 115 es viele, offen ist, wann diese die Qualität eines strukturellen Vollzugsdefizit erreichen mit der Folge der Verfassungswidrigkeit der zugrundeliegenden materiellen Norm178. Diese Frage stellt sich z.B. bei Normen, die an Auslandssachverhalte anknüpfen, in denen die Verifikationsmöglichkeiten struk-
170 Hierzu i.E. Birk, StuW 2004, 277; Hey, DB 2004, 724; Kraft/Bäuml, DB 2004, 615 (Analyse zu BVerfG/ BFH); Winterhoff, Steuerverfahrensrecht und tatsächliche Belastungsgleichheit, Zur Verfassungswidrigkeit der Spekulationsgewinnbesteuerung, Diss., 2004; Meyer, DÖV 2005, 551. 171 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239. 172 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (271). 173 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (272). 174 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (273). 175 BVerfG v. 9.3.2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94. 176 BGBl. I 2017, 1682. 177 HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 436 (2014). 178 Bsp. bei Tipke/Kruse/Seer, § 85 AO Rz. 16 ff. (2017); Waldhoff, StuW 2013, 121 (129 ff.), bemüht sich um ein „subsumtionsfähiges Modell des strukturellen Vollzugsdefizits“.
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§ 3 Rz. 116
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
turell durch das Territorialitätsprinzip begrenzt sind179, oder bei Vorschriften, die den privaten Lebensbereich betreffen, der durch die verfassungsrechtliche Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) strukturell geschützt ist. Den Schritt zur Verfassungswidrigkeit der materiellen Norm wird man in unterhalb von § 30a AO a.F. angesiedelten Fällen häufig nicht gehen wollen; dann aber besteht die Gefahr, dass die unvollkommene Vollzugssituation ungerügt bleibt. Seer fordert deshalb zu Recht, dass die Frage der Vollzugstauglichkeit bereits bei der Ausgestaltung des materiellen Rechts stets mitbedacht werden muss180. Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit wird auch durch überkomplexe Normen des materiellen Rechts verletzt, deren Vollzug mit angemessenen Mitteln nicht sichergestellt oder deren Voraussetzungen vom Stpfl. nicht nachgewiesen werden können. Nachdem das BVerfG bisher nicht bereit war, gegen überkomplexe Normen die rechtsstaatlichen Gebote der Bestimmtheit und Normenklarheit in Stellung zu bringen (s. Rz. 247), könnte die Erkenntnis helfen, dass derartige Normen (auch) gegen das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit verstoßen. 3. Gebot der Rechtssetzungsgleichheit 116 Den Gesetzgeber verpflichtet Art. 3 I GG nach ständiger Formulierung des BVerfG bei steter Orien-
tierung am Gerechtigkeitsgedanken wesentlich Gleiches gleich, wesentlich Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln181. 117 Da kein Mensch dem anderen, keine Situation der anderen vollkommen gleicht (identisch ist), bedarf
es zur Feststellung einer relevanten Ungleichbehandlung der Identifikation, der Umstände, die in Bezug auf den jeweiligen Normzweck wesentlich sind. Es kann immer nur um einen Vergleich einzelner Bezugspunkte gehen. Hierzu bildet das BVerfG Vergleichsgruppen, fragt nach der Vergleichbarkeit von Situationen. Ob Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen den zu vergleichenden Gruppen relevant sind, hängt von dem Vergleichsmaßstab (tertium comparationis) ab. Maßgeblich für die Feststellung der Ungleichbehandlung ist der tatsächliche Belastungserfolg. Dabei geht es nur um die Belastungswirkung von Einzelnormen. Die Kompensation der Belastung durch andere Normen mit Entlastungseffekt setzt einen sachlogischen Zusammenhang der Normen voraus; sie lässt die Ungleichbehandlung nicht entfallen, sondern ist richtigerweise erst auf der Rechtfertigungsebene zu berücksichtigen (s. Rz. 129). 118 Die jüngere Rspr. des BVerfG achtet besonders darauf, dass der Gesetzgeber das gleichheitsrechtliche
Folgerichtigkeitsgebot182 einhält. Der Gleichheitssatz verpflichtet den Gesetzgeber zu konsequenter Umsetzung bereichsspezifisch zu gewinnender, sachgerechter Wertungen. Allerdings relativiert das BVerfG dahingehend, dass der Gesetzgeber bei Auswahl des Steuergegenstandes und Bestimmung des Steuersatzes über einen weitreichenden Gestaltungsspielraum verfüge183. Dann aber habe er die einmal 179 Hierzu im Besonderen Waldhoff, StuW 2013, 121 (132 ff.); s. ferner als Anwendungsbeispiel Pirner/ Könemann, IStR 2013, 423 zur Grunderwerbsteuer bei internationalen Umstrukturierungen; abl. BFH v. 9.4.2008 – II R 39/06, BFH/NV 2008, 1529 (1531). 180 Tipke/Kruse/Seer, § 85 AO Rz. 15 (2017); ebenso Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, Habil., 1999, 532 ff.; Eckhoff in Kube/Mellinghoff u.a., Leitgedanken des Rechts, Bd. II 2013, § 148 Rz. 17. 181 Grundl. BVerfG v. 17.12.1953 – 1 BvR 147/52, BVerfGE 3, 58 (135); vgl. ferner BVerfG v. 14.4.1959 – 1 BvL 23/57, BVerfGE 9, 237 (244); v. 24.3.1976 – 2 BvR 804/75, BVerfGE 42, 64 (72); v. 8.6.2004 – 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412 (431); v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 (244); v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, BVerfGE 133, 377 (407); v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082 (1094). 182 Hierzu allgemein Schwarz, FS Isensee, 2007, 949; Tipke, StuW 2007, 201; P. Kirchhof, HStR VIII3, § 181 Rz. 209–231; Englisch, FS J. Lang, 2010, 167; Payandeh, AöR 136 (2011), 578; Thiemann in Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rspr. des BVerfG, Bd. 2, 2011, 179; Mellinghoff, Ubg 2012, 369; Schön, StuW 2013, 289 (295 ff.); Leisner-Egensperger, DÖV 2013, 533. 183 Grundl. Vermögensteuerbeschluss BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (136), im Anschluss an BVerfG v. 7.5.1968 – 1 BvR 420/64, BVerfGE 23, 242 (256); v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89,
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II. Gleichmäßigkeit der Besteuerung
Rz. 120 § 3
getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umzusetzen. Sein Handlungsspielraum werde „vor allem durch zwei eng miteinander verbundene Leitlinien begrenzt: durch die Ausrichtung der Steuerlast an den Prinzipien der finanziellen Leistungsfähigkeit und der Folgerichtigkeit“184. Diese enge Verbindung von Leistungsfähigkeitsprinzip und Folgerichtigkeitsgebot macht deutlich, dass das Folgerichtigkeitsgebot nicht formal zu verstehen, sondern nur auf konsequente Umsetzung sachgerechter185 Belastungsentscheidungen gerichtet ist. So verstößt eine (Rück-)Ausnahme von einer systemwidrigen Ausnahmebestimmung nicht gegen das Gebot der Folgerichtigkeit. Die Sanierungsklausel in § 8c Ia KStG ist entgegen der Entscheidung des EuG186 keine rechtfertigungsbedürftige Steuervergünstigung (notifizierungspflichtige Beihilfe; s. § 4 Rz. 117), sondern nur eine (partielle) Rückkehr zu dem von § 8c KStG systemwidrig verletzten objektiven Nettoprinzip187.
Indem das BVerfG den Anwendungsbereich des Folgerichtigkeitsgebots formal-juristisch auf den 119 Binnenbereich einzelner Steuern beschränkt, verkennt es die dem gesamten Steuerrecht zugrundeliegende einheitliche Wertung des Leistungsfähigkeitsprinzips188. Wie sich am Gewerbesteuerbeschluss189 deutlich machen lässt, birgt dies die Gefahr, Wertungszusammenhänge willkürlich zu zerreißen. Die Sonderbehandlung einer einzelnen Einkunftsart in der Einkommensteuer müsste sich am Maßstab der Folgerichtigkeit messen lassen. Nichts anderes kann gelten, wenn die Grundentscheidung der Gleichwertigkeit aller Einkunftsarten durch Regelung einer Sonderbelastung in einer separaten Steuer verletzt wird. Richtigerweise ist zu fordern, dass der Gesetzgeber, wenn er mit unterschiedlichen Steuern auf ein und denselben Leistungsfähigkeitsindikator (Einkommen, Vermögen, Konsum, s. Rz. 55 ff.) zugreift, diese inhaltlich aufeinander abstimmen muss190. Das Folgerichtigkeitsgebot wird in jüngerer Zeit wegen vermeintlich antidemokratischer Kompro- 120 missfeindlichkeit z.T. heftig angefeindet191. Indes führt es weder zu einer unzulässigen Einschränkung demokratisch legitimierter Gestaltungsfreiheit noch verhindert es Kompromisse. In erster Linie
184
185 186 187 188 189 190 191
BVerfGE 84, 239 (271), sodann Beschlüsse zur Erbschaftsteuer (BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165 [172]) und zur doppelten Haushaltsführung (BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, BVerfGE 107, 27 [47]), sowie der zweite Erbschaftsteuerbeschluss (BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 [30]), ferner BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (29) (Gewerbesteuerbeschluss) und v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136 (181) (ErbSt-Urteil). Grundl. Urteil zur unterschiedlichen Besteuerung von Beamtenpensionen u. Renten BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (125); sodann Beschlüsse zur doppelten Haushaltsführung BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, BVerfGE 107, 27 (47); zur Teilkindergeldregelung BVerfG v. 8.6.2004 – 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412 (433), zur Tarifbegrenzung nach § 32c EStG 1994 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (180); Erbschaftsteuerbeschluss BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (30 f.); Gewerbesteuerbeschluss BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (29); Urteil zur Entfernungspauschale BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (230 f.); GrESt bei eingetragener Lebenspartnerschaft BVerfG v. 18.7.2012 – 1 BvL 16/11, BVerfGE 132, 179 (189); Altersvorsorgeaufwendungen: BVerfG v. 14.6.2016 – 2 BvR 290/10, BStBl. II 2016, 801 (805). Krit. Eckhoff, FS Steiner, 2009, 118 (128 ff.), demzufolge kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Systemgerechtigkeit besteht, sondern nur auf konsequente Umsetzung der einfachgesetzlichen Entscheidungen. EuG v. 4.2.2016 – T 287/11, ECLI:EU:T:2016:60 – Heitkamp Bauholding/Kommission. S. zu Systeminkonsequenzen und Rückausnahmen auch Crezelius, FR 2009, 881 ff. Krit. Tipke, StuW 2007, 201 (208); Hey, DStR 2009, 2561 (2563); Englisch, FS J. Lang, 2010, 167 (184 ff.); a.A. Schober, Verfassungsrechtliche Restriktionen für den vereinfachenden Einkommensteuergesetzgeber, Diss, 2009, 142 ff. BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1. Zutr. Englisch, FS J. Lang, 2010, 167 (184, 189 ff.). So etwa die Kritik von Sondervotum Bryde zu BVerfG v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07, BVerfGE 121, 317 (380 f.); Lepsius, JZ 2009, 260 (262); Droege, Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart 64 (2016), 539 (547 ff.); Tappe, JZ 2016, 27 (32 f.).
Hey 101
§ 3 Rz. 121
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
fordert es Rationalität, es ist damit durchaus offen, für die Verwirklichung unterschiedlicher, auch gegenläufiger Prinzipien und Ziele. Das Folgerichtigkeitsgebot steht einem Interessenausgleich nicht entgegen, zwingt den Gesetzgeber aber zu rational nachvollziehbaren Abwägungen, eine Pflicht, die im Grunde auch schon aus dem Willkürverbot folgt. In einem demokratischen Rechtsstaat liegt hierin für den grundrechtssensiblen Bereich des Steuerrechts keine unverhältnismäßige Beschränkung des Gesetzgebers. Vielmehr gewährleistet Nachvollziehbarkeit der Gesetzgebung, wie Wolfgang Schön überzeugend herausarbeitet192, gerade in der Demokratie konsensfähige Mehrheitsentscheidungen bei gleichzeitigem Schutz der Minderheit. Ebenso wenig führt das Folgerichtigkeitsgebot zu einer Erstarrung des Rechts. Die Pflicht zu systemgerechter konsequenter Umsetzung einmal getroffener Belastungsentscheidungen schließt einen Systemwechsel193, die Entscheidung für eine neue Grundwertung, nicht aus, solange diese ihrerseits auf sachgerechten Prinzipien beruht. Der Gesetzgeber kann nur von einem sachgerechten Besteuerungsprinzip zu einem anderen sachgerechten Besteuerungsprinzip wechseln. So kann er sachgerechter Weise nicht von einer Allphasennettoumsatzsteuer zu einer Allphasenbruttoumsatzsteuer, von einer Netto-Einkommensteuer zu einer Bruttoeinkommensteuer wechseln. Das BVerfG194 fordert zudem, dass der Systemwechsel eindeutig vollzogen werden muss und ein Mindestmaß an konzeptioneller Neuorientierung aufweist, mag er auch schrittweise erfolgen. 4. Steuerrechtsspezifische Konkretisierungen des Allgemeinen Gleichheitssatzes 121 Der Gleichheitssatz ist insofern ein Blankett, als er den Vergleichsmaßstab selbst, die folgerichtig um-
zusetzende Wertung nicht liefert. Der Vergleichsmaßstab muss bereichsspezifisch gewonnen werden. Er muss richtig, d.h. eine von der Rechtsgemeinschaft anerkannte Gerechtigkeitswertung sein. Gleichheitsrelevante Gerechtigkeitswertungen sind die systemtragenden Prinzipien, das sind die im Grundgesetz normierten Prinzipien195 sowie das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit als steuerspezifischer Vergleichsmaßstab, zu dem es keine Alternativen gibt (s. Rz. 41). Nach st. Rspr. des BVerfG fordert der im Allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) verankerte Grundsatz der Steuergerechtigkeit, dass die Steuerlasten auf die Stpfl. im Verhältnis der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verteilt werden196; dies gelte insb. im Einkommensteuerrecht, das auf die Leistungsfähigkeit des einzelnen Stpfl. hin angelegt sei197. Indes gilt das Leistungsfähigkeitsprinzip für alle Steuerarten, nach jüngerer Rspr. des BVerfG insb. auch für die indirekten Steuern auf den Konsum198. Besteuerbare wirtschaftliche Leistungsfähigkeit kommt auch in der Einkommensverwendung zum Ausdruck. Wird der einzige Zweck der Umsatzsteuer in der Einnahmeerzielung gesehen, wird dieser jede eigene Sachlogik und Gerechtigkeitsqualität abgesprochen199. 192 Schön, JöR 64 (2016), 515 (534 ff.). 193 Ausf. Drüen, FS Spindler, 2011, 29 ff.; ferner Birk, StuW 2000, 328 (334); Eckhoff, FR 2007, 989 (993 f.); Breinersdorfer, StuW 2009, 211 (213); Englisch, FS J. Lang, 2010, 167 (192 ff.). 194 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (242). 195 Zur Interdependenz zwischen Gleichheitssatz u. anderen Wertungen des GG Bonner Komm./Rüfner, Art. 3 Abs. 1 GG Rz. 66 ff. (1992); Leibholz/Rinck, Art. 3 GG Rz. 50 ff. (2011 u. 2013), u. grundl. P. Kirchhof, HStR VIII3, 2010, § 181 Rz. 21 ff. (Gleichheit im Umfeld der Gesamtverfassung). 196 Seit BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55 (67) (Haushaltsbesteuerung); v. 24.6.1958 – 2 BvF 1/57, BVerfGE 8, 51 (68 f.) (Parteispenden); aktuell BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082 (1094 f.) (§ 8c KStG). 197 S. insb. BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvR 620/78, BVerfGE 61, 319 (343 f.); v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60 (86). 198 BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, BVerfGE 98, 106 (127 f.); BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (297); BVerfG v. 2.4.2017 – 2 BvL 6/13, Rz. 118, HFR 2017, 760 (767) (Kernbrennstoffsteuer); u. ausf. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, Habil., 2008, 563 ff. 199 So noch BFH v. 8.11.1972 – II B 24/72, BStBl. II 1973, 94 (95); v. 26.6.1984 – VII R 60/83, BFHE 141, 369 (382) zur Branntweinsteuer.
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Hey
II. Gleichmäßigkeit der Besteuerung
Rz. 124 § 3
An diese verfassungsrechtlich verankerten Gerechtigkeitswertungen ist der Steuergesetzgeber gebun- 122 den. I.Ü. hat der Steuergesetzgeber wertungsmäßigen Gestaltungsspielraum, auf welche Weise er die systemtragenden Prinzipien konkretisiert, für die Besteuerung sachgerechte Subprinzipien auswählt und begrenzt sowie sachgerechte Besteuerungsformen konstituiert, soweit er hierbei Wertungswidersprüche vermeidet. Zwei Kriterien des inneren Systems bestimmen seinen Gestaltungsspielraum, erstens das Kriterium der Sachgerechtigkeit als einer auf den Regelungsgegenstand, die vorgefundene Ordnungsstruktur bezogenen, sachangemessenen Gerechtigkeit200, und zweitens das soeben erläuterte (s. Rz. 118 ff.) Kriterium der Folgerichtigkeit201: Der Gesetzgeber muss das sachgerechte Prinzip, für das er sich entschieden hat, konsequent umsetzen und die einmal getroffene Wertentscheidung folgerichtig durchhalten202. Basis für die Effizienz des Gleichheitssatzes im Steuerrecht ist die Erkenntnis, dass das Steuerrecht 123 ebenso wie andere Teilrechtsgebiete auf sachgerechten Prinzipien und besonders die Steueranknüpfung auf einer Sachlogik beruht, der sich der Gesetzgeber nicht beliebig widersetzen kann203. In diesem Sinne sind die Steuerarten verfassungsrechtlich vorstrukturiert204. Sachlogische Konkretisierungen am Beispiel der Einkommensteuer: Hier bedeutet Steuergleichheit zunächst Allgemeinheit der Besteuerung: Die Steuerbefreiung von Monarchen, z.B. der englischen Königin, wird heutzutage nicht mehr als gerecht empfunden. Also ist es richtig, dass alle Bürger (Universalitätsprinzip) ihr gesamtes Einkommen (Totalitätsprinzip) versteuern (s. § 8 Rz. 1). Das Einkommensteuerobjekt ist auf das Erwerbseinkommen begrenzt (s. § 7 Rz. 30; § 8 Rz. 52). Hierbei handelt es sich um eine Sachgesetzlichkeit, die systemkonsequent (Rz. 118) umgesetzt werden muss, wenn sich der Gesetzgeber für das Erwerbseinkommen als Einkommensteuerobjekt entschieden hat. Das objektive Nettoprinzip gehört zu den gesetzgeberischen Grundentscheidungen, die folgerichtig zu verwirklichen sind (s. § 8 Rz. 54 f.). Von Verfassungs wegen ist es geboten, dass der für den existenznotwendigen Lebensbedarf zu verwendende Teil des Einkommens, das sog. indisponible Einkommen, ausgegrenzt wird (s. § 8 Rz. 74). Somit ist die in § 2 EStG normierte dualistische Struktur des zu versteuernden Einkommens verfassungsrechtlich vorstrukturiert.
5. Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen und Kontrolldichte 5.1 Willkürverbot oder Gebot verhältnismäßiger Gleichheit? Im Wandel begriffen und bis heute nicht abschließend geklärt sind die Anforderungen an die Recht- 124 fertigung von Ungleichbehandlungen und Abweichungen vom Folgerichtigkeitsgebot. Traditionell interpretiert die Rspr. des BVerfG den Gleichheitssatz als Willkürverbot205. Danach ist der Gleichheitssatz verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muss206. Es darf 200 Dazu Tipke, StRO I2, 273 ff., u. allgemein P. Kirchhof, HStR VIII3, 2010, § 181 Rz. 191 (Sachgerechtigkeit). 201 Dazu insb. P. Kirchhof, HStR VIII3, 2010, § 181 Rz. 222 ff. (Folgerichtigkeit gewährleistet Gleichheit in der vorgefundenen Ordnung, verlangt logische Konsequenz bei der Einführung des Rechtssatzes in das jeweilige Teilrechtsgebiet u. in der Gesamtrechtsordnung). 202 So Tipke, StRO I2, 327 ff. 203 Grds. a.A. Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1991, 45 ff. (fehlende Sachgesetzlichkeit der Steueranknüpfung); Brinkmann, Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung und formeller Gesetzesbegriff, Diss., 1982, 77 ff., 115: „Mangels geeigneter Vergleichsmaßstäbe ist nicht vorgegeben, welche Sachverhalte für die Besteuerung gleich zu behandeln sind“; zurückhaltend im Hinblick auf die Relativität von Gerechtigkeitsvorstellungen auch Drüen, StuW 2013, 72 (73 f.). 204 P. Kirchhof, Die Steuern, HStR V3, 2007, § 118 Rz. 220 ff. 205 Dazu Müller, VVDStRL 47 (1989), 43 f.; Leibholz/Rinck, Art. 3 GG Rz. 21 (2016); Bonner Komm./Rüfner, Art. 3 Abs. 1 GG Rz. 16 ff. (1992); P. Kirchhof, HStR VIII3, 2010, § 181 Rz. 232 ff.; Huster, Rechte und Ziele, Diss., 1993, 45 ff. 206 St. Rspr. des BVerfG (s. Leibholz/Rinck, Art. 3 GG Rz. 21, 27 m.w.N. [2016]).
Hey 103
§ 3 Rz. 125
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
weder wesentlich Gleiches willkürlich ungleich noch wesentlich Ungleiches willkürlich gleich behandelt werden207. 1980 näherte der Erste Senat des BVerfG das Willkürverbot jedoch der in den Freiheitsrechten zur Anwendung gebrachten Verhältnismäßigkeitsprüfung an: Der Gleichheitssatz sei dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten anders behandelt werde, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können (sog. neue Formel)208. Bis heute stehen beide Rechtfertigungsmaßstäbe nebeneinander, ohne dass sich stets vorhersagen lässt, wann sich das Gericht darauf beschränkt, lediglich evidente Ungerechtigkeiten aufzugreifen (Willkürkontrolle) und wann es den strengeren Verhältnismäßigkeitsmaßstab anlegt209. Letztlich entscheidet hierüber die Intensität der Ungleichbehandlung im Einzelfall. Als Kriterien zieht das Gericht heran: Unausweichlichkeit der Ungleichbehandlung, Nähe zu durch Art. 3 III GG verbotenen Diskriminierungen, mittelbare Berührung grundrechtlich geschützter Freiheiten, Anknüpfung an personen- statt an sachverhaltsbezogene Merkmale. 125 Für das Steuerrecht gilt ferner Folgendes: Die abzulehnende Differenzierung zwischen der Auswahl
der Steuergegenstände und der Ausgestaltung einzelner Steuern (s. Rz. 118) schlägt sich in der Rspr. des BVerfG auch im Rechtfertigungsmaßstab nieder. Die Ausübung der dem Gesetzgeber bei der Auswahl der Steuergegenstände zugebilligten Gestaltungsfreiheit wird lediglich auf evidente Ungerechtigkeiten im Wege der Willkürkontrolle überprüft. Im Binnenbereich einzelner Steuern wendet das Gericht dagegen grds. das Gebot verhältnismäßiger Gleichheit an. Abweichungen von der einmal getroffenen Belastungsentscheidung bedürfen nicht nur (irgend)eines sachlichen Grundes, sondern eines besonderen, sachlich rechtfertigenden Grundes, der hinreichend ist, um die Abweichung zu rechtfertigen210. Der strengere Maßstab gilt, ungeachtet der grundsätzlichen Gestaltungshoheit über den Tarif, auch zur Rechtfertigung von Tarifsprüngen und Sondertarifen211. Diese bisher zweistufige Konzeption, wonach auf der 1. Stufe der Auswahl des Steuergegenstandes weitreichende Gestaltungsfreiheit mit bloßer Willkürkontrolle gewährt und auf der 2. Stufe Folgerichtigkeit und verhältnismäßige Gleichheit verlangt wird, hat das BVerfG in der Entscheidung zu den Jubiläumsrückstellungen212 um eine 3. Stufe erweitert: Danach soll die Lösung „komplexer dogmatischer Streitfragen“ bei der Ausgestaltung des Steuertatbestands wiederum lediglich einer Willkürkontrolle unterliegen. So soll sich der Gesetzgeber, auch wenn er sich grds. für die Verwirklichung des Imparitätsprinzips im Bilanzsteuerrecht entschieden hat, in Einzelfällen ohne besonderen Grund hiervon abweichen können. Es ist indes kaum nachvollziehbar, wann eine folgerichtigkeitsgebundene einfachgesetzliche Belastungsentscheidung vorliegt und wann eine lediglich willkürbegrenzte dogmatisch komplexe Einzelfrage. Fragen der Abgrenzung von Erwerbs- und Privataufwendungen, wie sie etwa 207 S. Leibholz/Rinck, Art. 3 GG Rz. 27 (2016). 208 Seit BVerfG v. 7.10.1980 – 1 BvL 50/79, BVerfGE 55, 72 (88); ferner z.B. BVerfG v. 8.6.1993 – 1 BvL 20/85, BVerfGE 89, 15 (22 f.); v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07, BVerfGE 121, 317 (369); v. 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07, BVerfGE 124, 199 (219 f.). Dazu ausf. Huster, Rechte und Ziele, Diss., 1993, 61 ff. In ähnlicher Weise stellt auch der Zweite Senat des BVerfG auf den Gruppenvergleich ab, s. BVerfG v. 15.10.1985 – 2 BvL 4/83, BVerfGE 71, 39 (58 f.); v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (144); s. dazu auch Böckenförde, VVDStRL 47 (1989), 63 (96 f.). Zu Einzelheiten Sachs/Osterloh/Nußberger8, Art. 3 GG Rz. 13 ff.; zur Weiterentwicklung in der Rspr. des BVerfG R. Wendt, FS Stern, 2012, 1553. 209 Sachs/Osterloh/Nußberger8, Art. 3 GG Rz. 25 ff. Tendenz der aktuellen Rspr. zu abgestufter Verhältnismäßigkeitsprüfung s. Britz, NJW 2014, 346. 210 BVerfG v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 (290); v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, BVerfGE 107, 27 (48); v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (234); v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082 (1095) m.w.N. 211 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (181) zu § 32c EStG a.F.; Vorlage FG Düsseldorf v. 14.12.2012 – 1 K 2309/09 E, EFG 2013, 692 mit Anm. Wagner zur sog. Reichensteuer im VZ 2007 (Az. BVerfG 2 BvL 1/13). Unvereinbarkeit eines degressiven Zweitwohnungssteuertarifs mit Art. 3 I GG s. BVerfG v. 15.1.2014 – 1 BvR 1656/09, BVerfGE 135, 126 (148). 212 BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111.
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Hey
II. Gleichmäßigkeit der Besteuerung
Rz. 129 § 3
den Entscheidungen zur Entfernungspauschale213 oder zum häuslichen Arbeitszimmer214 zugrunde lagen, sind dogmatisch ebenso komplex wie die der Anerkennung von Rückstellungen. Widersprüche werden nur dann vermieden, wenn einheitlich der Verhältnismäßigkeitsmaßstab zur Anwendung gebracht wird. Der Rückzug auf eine Evidenzkontrolle ist nicht nur abzulehnen, weil eine trennscharfe Differenzierung nicht möglich ist, sondern vor allem, weil die reine Willkürprüfung das Wertesystem des Grundgesetzes negiert. Um sachgerechte Grundwertungen des Steuerrechts zu durchbrechen, reicht eben nicht jedweder Grund. Stattdessen kann der Intensität der Ungleichbehandlung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung Rechnung getragen werden215, wie dies bei der Überprüfung von Freiheitsbeeinträchtigungen auch geschieht. Temporäre Belastungseffekte (z.B. Rückstellungsverbote, zeitliche Streckung von Verlustvorträgen) 126 weisen eine geringere Eingriffsintensität auf als endgültige Abzugsverbote, was freilich nicht heißt, dass sie nicht rechtfertigungsbedürftig seien, sondern lediglich, dass Gründe von geringerem Gewicht für ihre Rechtfertigung ausreichen. Ein Eingriff geringerer Intensität ist ferner dann anzunehmen, wenn der Stpfl. über „belastungsmin- 127 dernde“ Ausweichmöglichkeiten verfügt, wie dies insb. im gestaltungsoffenen Unternehmensteuerrecht häufig der Fall ist216. Freilich darf auf diese Weise nicht dem Stpfl. aufgebürdet werden, durch intelligente Gestaltungen einer Grundrechtsverletzung ausweichen zu müssen. Die Verantwortung für einen gleichheitssatzkonformen Zustand trifft den Gesetzgeber und nicht die Stpfl. und ihre Berater217. Deshalb ist zu begrüßen, dass das BVerfG im EK 45-Beschluss218 präzisiert, das in Frage kommende Verhalten (1.) müsse zweifelsfrei legal sein, (2.) dürfe keinen unzumutbaren Aufwand für den Stpfl. bedeuten und (3.) ihn auch sonst keinem nennenswerten finanziellen oder rechtlichen Risiko aussetzen. Allerdings bleibt die Frage, warum der Gesetzgeber berechtigt sein soll, Normen zu schaffen, die auf Nichtanwendung angelegt sind, denen ausgewichen werden muss, um den Eintritt eines verfassungswidrigen Zustands zu verhindern. 5.2 Rechtfertigungsgründe Werden Sachgerechtigkeit und Sachlogik der Besteuerung grds. anerkannt, so vermag sich der 128 Gleichheitssatz auch im Steuerrecht als Rechtfertigungsgebot zu entfalten: Die Durchbrechung des Prinzips, der Systembruch, bedarf der Rechtfertigung durch ein anderes sachgerechtes Prinzip. Die Zweckpluralität steuergesetzlicher Normen zwingt zum Interessenausgleich auf der Rechtfertigungsebene. Anerkannt hat das BVerfG Lenkungszwecke (s. Rz. 21 f.) und Vereinfachungszwecke (s. Rz. 23 f.) 129 sowie das Ziel der Missbrauchsvermeidung219. Letzteres ruft eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung nur dann hervor, wenn die Missbrauchsvermeidung in typisierender Weise durch Vereinfachungszwecknormen erfolgt. Da von Steuermissbrauch nur dann gesprochen werden kann, wenn Steuervorteile entgegen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und der vom Gesetzgeber in zulässiger Weise verfolgten Regelungsziele in Anspruch genommen werden, verwirklicht Missbrauchsver213 214 215 216
BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210. BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268. Sachs/Osterloh/Nußberger8, Art. 3 GG Rz. 32. BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (51 ff.); v. 17.11.2009 – 1 BvR 2192/05, BVerfGE 125, 1 (33 f.). 217 Verkannt in BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (51 f.) zur Abfärberegelung des § 15 III Nr. 1 EStG. 218 BVerfG v. 17.11.2009 – 1 BvR 2192/05, BVerfGE 125, 1 (33 ff.); auch schon BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (53). 219 BVerfG v. 24.1.1962 – 1 BvR 845/58, BVerfGE 13, 331 (344 f.); v. 30.9.1998 – 2 BvR 1818/91, BVerfGE 99, 88 (97); v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 (253 ff.); v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082 (1098).
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§ 3 Rz. 130
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
meidung die Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Das Erbschaftsteuerurteil von 2014 begründet sogar eine gleichheitsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers zur Vermeidung gestaltungsanfälliger Normen220. Ein Rechtfertigungsbedürfnis entsteht erst dann, wenn der Gesetzgeber den Missbrauch in der Weise typisiert, dass auch nicht missbräuchliche Fälle miterfasst werden. Eine Rechtfertigung kann auch im Wege der Kompensation von Vor- und Nachteilen erfolgen, soweit diese in einem unmittelbaren sachlichen Zusammenhang stehen und nicht zufällig zusammentreffen221. So lässt sich die Beschränkung der Einkommensteuerermäßigung des § 35 EStG auf gewerbliche Einkünfte mit der nur den Gewerbetreibenden auferlegten Zusatzlast der Gewerbesteuer rechtfertigen. 130 Die rein fiskalisch begründete Durchbrechung einer gesetzgeberischen Grundentscheidung ist
gleichheitsrechtlich nicht gerechtfertigt222. Dem Trend der Steuergesetzgebung, Rechtsgrundsätze des Steuerrechts beliebig zur Schöpfung von Steuersubstrat aufzuopfern, hat das BVerfG gerade in jüngerer Zeit noch einmal nachdrücklich widersprochen223, und zwar auch dann, wenn Steuersenkungen an anderer Stelle „gegenfinanziert“ werden224: Dem Ziel der Einnahmeerzielung dient jede, auch jede willkürliche Besteuerung. Für die verfassungsgerechte Lastenverteilung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip enthält der Einnahmeerzielungszweck kein Richtmaß. Der Fiskalzweck als solcher heiligt nicht beliebige Besteuerung. Der Fiskalzweck kann und muss gerade mit einem strengen Verständnis des Gleichheitssatzes erfüllt werden, damit dem Steuerzahler das Bewusstsein vermittelt wird, er müsse die Steuern der anderen nicht mitentrichten. 5.3 Rechtfertigung von Sozialzwecknormen 131 Sozialzwecknormen (s. Rz. 21 f.) weichen vom Leistungsfähigkeitsprinzip gezielt ab. Steuervergüns-
tigungen (s. § 19) verschonen steuerliche Leistungsfähigkeit, während Sozialzwecksteuern wie z.B. Umweltsteuern und steuerverschärfende Sozialzwecknormen über dem Niveau vorhandener steuerlicher Leistungsfähigkeit belasten wie z.B. ökologisch steuerverschärfende Normen (s. § 7 Rz. 113). 132 Nach st. Rspr. des BVerfG ist der Steuergesetzgeber nicht gehindert, außerfiskalische Förderungs- und
Lenkungsziele aus Gründen des Gemeinwohls zu verfolgen225. Danach bedürfen Abweichungen vom Leistungsfähigkeitsprinzip und seinen konkretisierenden Prinzipien, z.B. vom Nettoprinzip (s. § 8 Rz. 54), der Rechtfertigung durch „Gründe des Gemeinwohls“. Das rechtfertigende Prinzip bildet für die Sozialzwecknormen den Vergleichsmaßstab, nach dem zu prüfen ist, ob die steuergesetzliche Bevorzugung oder Benachteiligung gerechtfertigt werden kann und ob die Sozialzwecknorm als solche gleichheitsgerecht ausgestaltet ist226. Bei Ausgestaltung und Rechtfertigung von Sozialzwecknormen sind folgende Prinzipien zu beachten:
220 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, 5. Leitsatz. 221 Ausf. hierzu Hey, AöR 128 (2003), 226 ff.; s. auch HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 460 (2014). 222 St. Rspr., s. bereits BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55 (80); ferner BVerfG v. 1.6.1965 – 2 BvR 616/63, BVerfGE 19, 76 (84 f.); v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60 (89); v. 5.2.2002 – 2 BvR 305/93, BVerfGE 105, 17 (45); v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (182); v. 15.1.2014 – 1 BvR 1656/09, BVerfGE 135, 126 (150 f.); v. 14.6.2016 – 2 BvR 290/10, BStBl. II 2016, 801 (805). 223 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (236 f.); v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 (281). 224 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, Rz. 150, BStBl. II 2017, 1082 (1102) (§ 8c KStG). 225 S. zuletzt BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136 (181 f.) betr. Erbschaftsteuer. 226 Grundl. hierzu Schön, FS Spindler, 2011, 189 ff.; Glaser, StuW 2012, 168; Seer, Ubg 2012, 376 (380); zum Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Vergünstigung und den Anforderungen an die Ausgestaltung BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136 (182 ff.); großzügiger noch BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (293 ff.) zur Ökosteuer.
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II. Gleichmäßigkeit der Besteuerung
Rz. 136 § 3
(1) Das Gemeinwohlprinzip ist das Generalprinzip. Da das Steuerrecht Gemeinlasten verteilt, muss 133 letztlich jede Verteilung von Steuerlasten mit der Gemeinwohlverantwortung des Stpfl. gerechtfertigt werden können227. Ökonomisch lassen sich Steuervergünstigungen und Sonderbelastungen (nur) zur Beseitigung eines Marktversagens rechtfertigen. Eine allein im Interesse einzelner Bürger und Gruppen liegende steuerliche Sonderbehandlung ist dagegen nicht einsehbar. Das BVerfG228 verlangt, dass sich Steuervergünstigungen „gemeinwohlbezogen“ rechtfertigen lassen; andernfalls sei der Gleichheitssatz verletzt. Ebenso müssen Sonderbelastungen durch Sozialzwecksteuern (z.B. Umweltsteuern, s. § 7 Rz. 111 ff.), Abzugsverbote und andere Steuerverschärfungen durch das Gemeinwohl gerechtfertigt sein. Dabei darf das Leistungsfähigkeitsprinzip wohl eingeschränkt, aber nicht ausgeschaltet werden. So rechtfertigt selbst der hochrangige Gemeinwohlwert des Umweltschutzes keine existenzgefährdenden Steuerbelastungen229. (2) Das Bedürfnisprinzip230 berücksichtigt wirtschaftliche Bedürftigkeit durch Steuerentlastung. So- 134 zialzwecknormen, die das Bedürfnisprinzip verwirklichen, sind scharf zu unterscheiden von Fiskalzwecknormen, die nicht vorhandene steuerliche Leistungsfähigkeit berücksichtigen wie z.B. Normen zur steuerlichen Freistellung des Existenzminimums. Die Steuerentlastung durch eine Bedürfnisnorm muss also eine zusätzliche zur Berücksichtigung steuerlicher Leistungsunfähigkeit sein wie z.B. die (frühere) Eigenheimförderung der Familien durch ein sog. Baukindergeld (§ 34f EStG) oder die Förderung von Vermögensbeteiligungen der Arbeitnehmer (§ 3 Nr. 39 EStG). Derartige Förderungen liegen nicht nur im Interesse der Familien oder Arbeitnehmer. Es liegt vielmehr auch im Interesse der Allgemeinheit, dass die Lebensverhältnisse der Familie materiell gesichert sind (vgl. Art. 6 I GG) und dass soziale Gegensätze zwischen Arbeitnehmern und Unternehmenseignern abgebaut werden. Die Bedürfnisnorm muss ihrem Zweck angemessen sein. Steuervergünstigungen, die die Bemessungsgrundlage verkürzen, bewirken infolge des Degressionseffekts (als Kehrseite der Progression), dass der Vergünstigungseffekt mit wachsendem Einkommen steigt. Solche Vergünstigungen pervertieren das Bedürfnisprinzip, indem sie den am wenigsten Bedürftigen die höchste Steuerentlastung zuweisen. Daher lassen sich Abzüge von der Bemessungsgrundlage nicht als Bedürfnisnormen rechtfertigen. Das richtige Instrument sind Abzüge von der Steuerschuld und Zulagen (s. § 19 Rz. 30). (3) Das Verdienstprinzip will ein bestimmtes, dem Allgemeininteresse dienendes Verhalten belohnen. 135 Zu einem solchen Verhalten sollen die am Verdienstprinzip ausgerichteten Sozialzwecknormen anreizen wie insb. Steuervergünstigungen für Investitionen in wirtschaftsschwachen Regionen oder für Gemeinwohlzwecke wie z.B. den Denkmal- und Umweltschutz. Mit dem Zweck der Kapitallenkung sind Abzüge von der Bemessungsgrundlage wie insb. erhöhte Absetzungen und Sonderabschreibungen i.S.d. § 7a EStG zu vereinbaren, denn dieser Zweck richtet sich ja gerade an diejenigen, die fähig sind, Kapital gemeinnützig einzusetzen. Der Gesetzgeber hält sich selten an diese Prinzipien. Steuervergünstigungen erhält jedem Bekenntnis 136 zum Subventionsabbau zum Trotz die Gruppe mit der effizientesten Lobbyarbeit. Man denke nur an die gegen jede Vernunft eingeführte231 Umsatzsteuerprivilegierung für Hoteldienstleistungen in § 12 II Nr. 11 UStG. Ohne politische Einsicht ist dem Problem kaum beizukommen; nur manchmal hilft das europäische Beihilfenverbot (s. § 4 Rz. 115 ff.). Ansonsten lässt sich die nichtgerechtfertigte Steuervergünstigung, das verfassungswidrige Steuerprivileg nur schwer zu Fall bringen (s. § 19 Rz. 78). Zwar berechtigt der gleichheitssatzwidrige Begünstigungsausschluss zur Klage, jedoch nur dann, wenn
227 228 229 230
Dazu Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, 2003, 51 ff. BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (148). Dazu näher J. Lang, DStJG 15 (1993), 115 (157 f.) sowie § 7 Rz. 119. Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981, 16 ff., hat das Bedürfnis- und Verdienstprinzip nach den Regeln von Chaim Perelmann, Über die Gerechtigkeit, 1967, 16 ff. (Jedem nach seinen Bedürfnissen, Jedem nach seinen Verdiensten) entwickelt. S. auch Tipke, StRO I2, 261 f., 530. 231 Durch Wachstumsbeschleunigungsgesetz v. 22.12.2009, BGBl. I 2009, 3950.
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§ 3 Rz. 145
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
nicht offensichtlich ausgeschlossen ist, dass die Begünstigung auf den Kläger erstreckt werden kann. So blieben z.B. die gleichheitssatzwidrigen Steuerprivilegien der Abgeordneten (s. § 8 Rz. 539 ff.) auf die nicht zur Entscheidung angenommene Verfassungsbeschwerde eines Finanzrichters hin unbeanstandet232. Zu weiteren Fragen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Steuervergünstigungen s. § 19 Rz. 74 ff. 137–144
Einstweilen frei.
5.4 Rechtfertigung von Vereinfachungszwecknormen Literatur: Bühler/Kirchhof/Klein (Hrsg.), Steuervereinfachung, in FS Meyding, 1994; Egge, Lage der Steuerverwaltungen und Folgerungen, StuW 1994, 272; Isensee, Vom Beruf unserer Zeit für Steuervereinfachung, StuW 1994, 3; Tipke, Über ein gerechteres und einfacheres Steuerrecht, Idee und Verwirklichungsschwierigkeiten, Stbg. 1994, 162; Meyding, Steuervereinfachung, in FS Oettinger, 1995, 103; Fischer, Steuervereinfachung, DStJG 21 (1998); Ruppe, Steuervereinfachung, ÖStZ 1998, 138; Rose, Steuern einfacher machen!, 1999; Jachmann, Grundlagen einer Steuervereinfachung, in FS Offerhaus, 1999, 1071; P. Kirchhof, Der verfassungsrechtliche Auftrag zur Vereinfachung des Steuerrechts, in FS Kirchhof, 2002, 201; Schön, Vermeidbare und unvermeidbare Hindernisse der Steuervereinfachung, StuW 2002, 23; Bizer, Steuervereinfachung und Steuerhinterziehung, 2008; Schober, Verfassungsrechtliche Restriktionen für den vereinfachenden Einkommensteuergesetzgeber, Diss., 2009; Ondracek, Steuervereinfachung ist machbar – aber wie und wann?, DStR 2011, 1. 145 Auch eine von sachgerechten Prinzipien geprägte Rechtsordnung muss praktikabel sein. Insb. eine
Massenfall-Verwaltung wie die Steuerverwaltung kommt ohne Vereinfachungszwecknormen nicht aus. Solche Normen sollen das „Massengeschäft“ der Besteuerung ermöglichen oder erleichtern; sie sollen Überkompliziertheit und Undurchführbarkeit der Gesetze oder unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand verhindern (Praktikabilitätsprinzip). Da Gesetze, die nicht praktikabel sind, nicht gleichmäßig durchgeführt werden können, dienen Vereinfachungszweckvorschriften letztlich auch dem Gleichheitssatz. Das Praktikabilitätsprinzip hat – als primäres Zweckmäßigkeitsprinzip – allerdings nicht die gleiche Wertigkeit wie ethische Prinzipien. Der Gewinn an Praktikabilität darf nicht durch einen beträchtlichen Verlust an Einzelfallgerechtigkeit erkauft werden. 146 Die Bestrebungen, dem Steuerchaos zu entfliehen und das Steuerrecht grundlegend zu vereinfachen,
gehen von einem Spannungsverhältnis zwischen Steuervereinfachung und Einzelfallgerechtigkeit aus233. Dieses Spannungsverhältnis besteht, wenn mit Einzelfallgerechtigkeit die Befriedigung von Individualinteressen identifiziert wird. Demgegenüber sind die Ziele von Steuergerechtigkeit und Steuervereinfachung gleichgerichtet, soweit das Steuerrecht auf rechtsstaatliche Regelhaftigkeit zurückgeführt wird. Insoweit gilt die Devise: „Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung“234 und umgekehrt, indem Besteuerungsprinzipien folgerichtig und widerspruchsfrei in Normen umgesetzt und dabei überflüssige Differenzierungen vermieden werden (s. bereits Rz. 24). Indessen wird das Ziel einfacher Rechtsanwendung verfehlt, wenn der Gesetzestext auf wenige, für den Laien (vermeintlich) leicht lesbare Generalklauseln verkürzt wird235. 147 Zur Entlastung der Steuerverwaltung arbeitet der Gesetzgeber mit Typisierungen und Pauschalie-
rungen (= Typisierung rechnerischer Grundlagen), Durchschnittssätzen, Vereinfachungsbefreiungen,
232 BVerfG v. 26.7.2010 – 2 BvR 2227/08, BFH/NV 2010, 1983 m. Anm. Bode, FR 2010, 994. 233 Dazu Thiel, FS Tipke, 1995, 295 (zum JStG 1996); Flies, StWa 1998, 7; Jachmann, StuW 1998, 193 (196 ff.); P. Kirchhof, DStJG 24 (2001), 9 (20 ff.). Allgemein zur Einzelfallgerechtigkeit: Schneider, ZRP 1998, 323; Herzog, NJW 1999, 25. 234 Dazu näher J. Lang, FS Meyding, 1994, 33 ff.; Seer, StuW 1995, 184. 235 Vgl. dazu Kölner EStGE, Begr. Rz. 106 ff.
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II. Gleichmäßigkeit der Besteuerung
Rz. 148 § 3
Freibeträgen und Freigrenzen. Alle diese Vereinfachungszwecknormen236 sollen eine Durchschnittsnormalität fixieren; dadurch erzeugen sie im Einzelfall Ungleichbehandlung (Beispiel: Ein Werbungskosten-Pauschbetrag mit dem Betrag X behandelt nur die Fälle nach dem Nettoprinzip richtig, in denen die Werbungskosten X betragen; alle übrigen Fälle werden entweder bevorzugt oder benachteiligt). Das BVerfG lässt die „vergröbernde, die Abwicklung von Massenverfahren erleichternde Typisierung“ grds. zu237: Der Gesetzgeber dürfe „einen steuererheblichen Vorgang um der materiellen Gleichheit willen im typischen Lebensvorgang erfassen und individuell gestaltbare Besonderheiten unberücksichtigt lassen“238. Es muss indessen für die Typisierung ein Bedürfnis bestehen; sie muss zur Vereinfachung geeignet sein und sie darf nicht unverhältnismäßig sein. Gibt es verschiedene, gleich effektive Möglichkeiten der Verwaltungsvereinfachung, hat der Gesetzgeber die für die Stpfl. am wenigsten belastende zu wählen239. Voraussetzung einer verfassungskonformen Typisierung ist ferner, dass die Regelung nach der gesetz- 148 geberischen Zielsetzung und nach ihrem objektiven Regelungsgehalt das Ergebnis eines Typisierungsvorgangs ist. Der Gesetzgeber darf sich nicht von Erwägungen leiten lassen, die mit einer zulässigen Typisierung in keinem erkennbaren Zusammenhang stehen240. Die gesetzlichen Verallgemeinerungen müssen auf einer möglichst breiten, alle betroffenen Gruppen und Regelungsgegenstände einschließenden Beobachtung aufbauen241. Insb. darf der Gesetzgeber für eine gesetzliche Typisierung keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss realitätsgerecht den Durchschnittsfall als Maßstab zugrunde legen242. Auch darf die wirtschaftlich ungleiche Wirkung auf die Steuerzahler ein gewisses Maß nicht übersteigen. Vielmehr müssen die steuerlichen Vorteile der Typisierung im rechten Verhältnis zu der mit der Typisierung notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen243. Deshalb dürfen Pauschbeträge nicht unverhältnismäßig hoch oder niedrig angesetzt sein. So ist
236 Dazu P. Kirchhof, VVDStRL 39 (1981), 213 (264 ff.); P. Kirchhof, HStR VIII3, 2010, § 181 Rz. 129 ff.; von Bornhaupt, NWB 1998, Fach 2, 7003; Klenke, KStZ 1998, 129; Klein, Die legislative Typisierung von Erwerbsaufwendungen im Einkommensteuerrecht, Diss., 2001; Steenken, Die Zulässigkeit gesetzlicher Pauschalierungen im Einkommensteuerrecht am Beispiel der Entfernungspauschale, Diss., 2002; Jarzyk-Dehne, Pauschalierungen im Steuerrecht, Diss., 2003; Schober, Verfassungsrechtliche Restriktionen für den vereinfachenden Einkommensteuergesetzgeber, Diss., 2009. 237 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, BVerfGE 87, 153 (172); ferner BVerfG v. 24.1.1962 – 1 BvR 845/58, BVerfGE 13, 331 (341); v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57, BVerfG 21, 12 (27); v. 8.2.1983 – 1 BvL 28/79, BVerfGE 63, 119 (128); v. 6.12.1983 – 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325 (354 f.); v. 6.11.1985 – 1 BvL 47/83, BVerfGE 71, 146 (157); v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82, BVerfGE 75, 108 (162); v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60 (91 ff.); v. 30.5.1990 – 1 BvL 2/83, BVerfGE 82, 126 (151 f.); v. 8.10.1991 – 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348 (359 f.); v. 10.4.1997 – 2 BvL 77/92, BVerfGE 96, 1 (6 f.); v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 (245 f.); v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082 (1095). Zur Verhältnismäßigkeit der Ausgestaltung von Vereinfachungszwecknormen (Freigrenze statt Freibetrag) s. BVerfG v. 27.7.2010 – 2 BvR 2122/09, BFH/NV 2010, 1994. 238 BVerfG v. 10.4.1997 – 2 BvL 77/92, BVerfGE 96, 1, 1. Leitsatz. 239 BVerfG v. 17.11.2009 – 1 BvR 2192/05, BVerfGE 125, 1 (23 ff.). 240 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (240). 241 BVerfG v. 8.10.1991 – 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348 (359); v. 17.11.1992 – 1 BvL 8/87, BVerfGE 87, 234 (255); v. 10.4.1997 – 2 BvL 77/92, BVerfGE 96, 1 (6); v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (232 f.); v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 (279); v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082 (1095 f.): abstrakte Missbrauchsgefahr erlaubt keine vom typischen Missbrauchsfall losgelöste Regelungen. 242 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (238); v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082 (1096) m.w.N. 243 BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (292); v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (31); v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (30); v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 (246) v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136 (234); v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082 (1096).
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§ 3 Rz. 149
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
z.B. die Pauschalierung des Existenzminimums grds. so zu bemessen, dass sie in möglichst allen Fällen den existenznotwendigen Bedarf abdeckt244. Treten in Einzelfällen unbillige Härten auf, so kann ein Billigkeitserlass (§§ 163; 227 AO) in Betracht kommen245. 149 In den regelmäßig wiederkehrenden Steuervereinfachungsdebatten werden zum Teil große Hoffnun-
gen in eine Vereinfachung durch Typisierungen und Pauschalierungen gesetzt. Weder Möglichkeiten noch Grenzen einer Vereinfachungsgesetzgebung sind indes bisher hinreichend ausgelotet. Das allenthalben wiederholte politische Bekenntnis zu Steuervereinfachung ist eine Leerformel, wenn ihr keine materielle Systematisierung vorausgeht. Durch das bloße Wegstreichen von Normtext wird das Steuerrecht im Zweifel nicht einfacher, sondern allenfalls ungerechter und streitanfälliger. Auch die Typisierung der besonders ermittlungsintensiven Erwerbsaufwendungen stößt schnell an ihre Grenzen. Je vielgestaltiger ein Lebenssachverhalt ist, desto weniger lässt sich ein der Typisierung/Pauschalierung zugänglicher Durchschnittsfall ermitteln. Eine Typisierung/Pauschalierung muss dann entweder ganz unterbleiben oder zulasten des Vereinfachungseffekts durch Härtefallklauseln flankiert bzw. widerlegbar gemacht werden. Insb. muss auf diese Weise das Existenzminimum vor dem Zugriff durch vereinfachende Erwerbsaufwendungsabzugsverbote geschützt werden246. Lässt sich ein Regelfall nicht feststellen, sollte entgegen der Entscheidung des BVerfG zu § 8b V KStG247 auf die Pauschalierung grds. verzichtet werden; eine unwiderlegbare Pauschalierung ist unzulässig. 150 So lässt sich etwa der Durchschnittsfall des steuerfrei zu belassenden Existenzminimums einigermaßen gut typisieren248. Zwar mögen die Preise für den lebensnotwendigen Bedarf zwischen Großstadt und ländlicher Region differieren. Der Sachverhalt als solcher ist aber klar umrissen. Auch die Werbungskosten eines Arbeitnehmers sind einer Typisierung zugänglich, wobei § 9a Satz 1 Nr. 1 EStG zutreffend als widerlegliche Vermutung ausgestaltet ist, die allerdings besser in Beziehung zur Höhe der Einnahmen gesetzt würde. Dagegen ist der Mitteleinsatz bei anderen Einkünften, etwa aus Vermietung und Verpachtung oder im Rahmen der Gewinneinkunftsarten, so vielgestaltig, dass sich Typisierungen von vornherein weitgehend ausschließen249. Abzulehnen ist daher der Vorschlag P. Kirchhofs250, die Aufwendungen in Zusammenhang mit grundstücksbezogenen Einkünften unwiderleglich i.H.v. 2,4 % des Kaufpreises zu pauschalieren.
6. Gleichmäßige Besteuerung und Steuerföderalismus 151 Der Gleichheitssatz wirkt nur gegenüber einzelnen Gebietskörperschaften. Rechtfertigungsbedürftig
ist die Ungleichbehandlung nur, wenn sie durch ein und denselben Normsetzer veranlasst ist. So wenig der Gleichheitssatz dadurch verletzt werden kann, dass ausländische Staaten höhere oder niedrigere Steuern erheben als der Inlandsstaat, so wenig kann er durch unterschiedliche Steuerlasten in den Ländern und Gemeinden – als verschiedenen Steuerberechtigten – verletzt werden. Die unterschiedlichen Lasten haben ihre Ursache in der Gesetzgebungsautonomie der Länder und der Hebesatzautonomie
244 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, BVerfGE 87, 172. 245 BVerfG v. 22.5.1963 – 1 BvR 78/56, BVerfGE 16, 147 (177); v. 21.12.1966 – 1 BvR 33/64, BVerfGE 21, 54 (71); v. 28.1.1970 – 1 BvL 4/67, BVerfGE 27, 375 (385); v. 17.7.1974 – 1 BvR 51/69, BVerfGE 38, 61 (95). 246 Zutr. Schober, Verfassungsrechtliche Restriktionen für den vereinfachenden Einkommensteuergesetzgeber, Diss., 2009, 176 f. 247 BVerfG v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224. 248 Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem BVerfG, Diss., 2011, 231 ff.; Modrzejewski, Existenzsicherung in Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht. Eine Neuausrichtung des subjektiven Nettoprinzips, Diss. 2018, 1. Kap. D.I.3.b) u. 2. Kap. A.II. im Vergleich zu der z.T. individualisierten Erfassung des Existenzbedarfs im Sozialrecht Kempny/Krüger, SGb. 2013, 384 (390 f.). 249 So auch Schober, Verfassungsrechtliche Restriktionen für den vereinfachenden Einkommensteuergesetzgeber, Diss., 2009, 184 ff. 250 P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, 1143 ff. (§ 8 II 2 der Bilanzordnung).
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III. Der verfassungsrechtliche Schutz des Existenzminimums
Rz. 161 § 3
der Gemeinden. Die steuerliche Gesetzesgleichheit endet also an der Grenze der zuständigen Gebietskörperschaften251. Da die Steuergesetzgebungskompetenz indessen ganz überwiegend beim Bund liegt (s. § 2 Rz. 56), 152 sind die Stpfl. weitgehend gegen von Land zu Land ungleichmäßige Steuerbelastung und den sich daraus für den wirtschaftlichen Wettbewerb und die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse ergebenden nachteiligen Folgen geschützt. Eine Hauptausnahme bilden die unterschiedlichen kommunalen Realsteuerhebesätze. Allerdings wird eine Stärkung der Steuergesetzgebungsautonomie der Länder de constitutione lata im Bereich von Vermögens- und Erbschaftsteuer (§ 2 Rz. 42 f.), de constitutione ferenda als Zuschlagsrecht zur Einkommen- und Körperschaftsteuer252 intensiv diskutiert. Erhebliche verfassungsrechtlich nicht hinnehmbare Ungleichbehandlungen entstehen i.Ü. bereits derzeit durch den föderalen Steuervollzug, da die Länder ihre Vollzugskompetenz (Art. 108 GG) durchaus unterschiedlich und z.T. zu gezielter Standortpolitik nutzen. Bundeseinheitlich gesetztes Recht muss indes auch regional einheitlich vollzogen werden (hierzu auch § 2 Rz. 74). Einstweilen frei.
153–159
III. Der verfassungsrechtliche Schutz des Existenzminimums In der Wertordnung des GG ist die durch Art. 1 I GG geschützte Menschenwürde der oberste Wert253. 160 Dies hat auch die rechtsstaatliche Ordnung des Steuerrechts zu beachten. Insofern ist es schlechterdings verfassungswidrig, wenn das Steuerrecht die materiellen Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein nicht verschont254. Das verfassungsrechtliche Postulat der Steuerfreiheit des Existenzminimums duldet keine Einschränkungen. Haushaltserwägungen haben vor dieser verfassungsrechtlichen Primärwertung im Steuerrecht zurückzutreten255. Auch indirekte Steuern sollten das Existenzminimum nicht antasten256. Das Gebot der Steuerfreiheit des Existenzminimums257 gewinnt das BVerfG in st. Rspr. aus Art. 1 161 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 I GG; Art. 3 I; 6 I GG und den Freiheitsrechten. Es ist zugleich Ausdruck der Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, dem Stpfl. nicht das 251 BVerfG v. 25.2.1960 – 1 BvR 239/52, BVerfGE 10, 354 (371); v. 2.5.1961 – 1 BvR 203/53, BVerfGE 12, 319 (324); v. 14.4.1964 – 2 BvR 69/62, BVerfGE 17, 319 (331); v. 21.12.1966 – 1 BvR 33/64, BVerfGE 21, 54 (68). Im Weiteren BVerfG v. 29.10.1969 – 1 BvR 65/68, BVerfGE 27, 175 (179); v. 23.2.1972 – 2 BvL 36/71, BVerfGE 32, 346 (360); v. 27.3.1979 – 2 BvL 2/77, BVerfGE 51, 43 (59); BVerfG v. 29.12.2004 – 1 BvR 113/03, NVwZ-RR 2005, 297; aktuell: BayVGH v. 8.7.2011 – 4 ZB 10.3133, KStZ 2011, 209; BVerwG v. 24.2.2012 – 9 B 80/11, KStZ 2012, 91; FG Köln v. 8.6.2017 – 13 K 3913/12, Rz. 38; Tipke, StRO I2, 2000, 363 ff. (m.w.N.). 252 S. etwa Hey, VVdStRL 66 (2007), 277 (308 ff.) m.w.N. 253 St. Rspr. seit BVerfG v. 17.8.1956 – 1 BvB 2/51, BVerfGE 5, 85 (204); Poscher, JZ 2004, 756; Stern, FS Badura, 2004, 571. 254 Grundl. BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60 (85 f.). 255 A.A. die Grundfreibetragsentscheidung BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, BVerfGE 87, 153 (178 f.) (s. § 8 Rz. 72 ff.). 256 Dazu Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, Habil., 2001. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, Habil., 2004; Tipke, StRO I2, 476 ff.; Hey, FS J. Lang, 2010, 133 ff.; J. Lang, StuW 2011, 144 (146 ff.). 257 Dazu Söhn, FinArch. 46 (1988), 154; Treisch, Existenzminimum und Einkommensbesteuerung, Diss., 1999; Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem BVerfG. Eine ökonomische, steuersystematische und grundrechtsdogmatische Kritik des subjektiven Nettoprinzips, Diss., 2011. Allgemein zum verfassungsrechtlichen Schutz des Existenzminimums: Soria, JZ 2005, 644; Wallerath, JZ 2008, 157 sowie umfassend zur Bestimmung des soziokulturellen Existenzminimums Hartz IV-Beschluss BVerfG v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09, BVerfGE 125, 175.
Hey 111
§ 3 Rz. 161
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
wegzunehmen, was ihm mit den Mitteln des Sozialrechts sogleich wieder zurückgegeben werden müsste. Deshalb gilt für das steuerrechtliche Existenzminimum als verfassungsrechtlich determinierte Untergrenze das sozialhilferechtlich festgelegte Leistungsniveau258. Vor dem Steuerzugriff geschützt ist grds. nur der gegenwärtige Bedarf259; dies schließt indes den Abzug existenznotwendiger Vorsorgeaufwendungen ein260.
IV. Leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung der Familie Literatur: J. Lang, Familienbesteuerung, StuW 1983, 103; Zeidler, Verfassungsrechtliche Fragen zur Besteuerung von Familien- und Alterseinkommen, StuW 1985, 1; Böckenförde, Steuergerechtigkeit und Familienlastenausgleich, StuW 1986, 335; Pezzer, Familienbesteuerung und Grundgesetz, StuW 1989, 219; J. Lang, Verfassungsrechtliche Gewährleistung des Familienexistenzminimums im Steuer- und Kindergeldrecht, StuW 1990, 331; Lingemann, Das rechtliche Konzept der Familienbesteuerung, Diss., 1994; Pechstein, Familiengerechtigkeit als Gestaltungsgebot für die staatliche Ordnung, Habil., 1994; Wendt, Familienbesteuerung und Grundgesetz, in FS Tipke, 1995, 47; Brockmeyer, Verfassungsrechtliche Maßstäbe für eine gerechte Familienbesteuerung, DStZ 1999, 666; P. Kirchhof, Ehe- und familiengerechte Gestaltung der Einkommensteuer, NJW 2000, 2792; Sacksofsky, Steuerung der Familie durch Steuern, NJW 2000, 1896; Tipke, StRO I2, 2000, 365 ff.; Birk/Wernsmann, Der Schutz von Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht, JZ 2001, 218; Gröpl, Grundgesetz, BVerfG und „Kinderleistungsausgleich“, StuW 2001, 150; Mellinghoff, Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Besteuerung von Ehe und Familie, in Internationale Juristen-Kommission, Grundrechtsschutz im Steuerrecht, 2001, 39; Papier, Ehe und Familie in der neueren Rspr. des BVerfG, NJW 2002, 2129; Tünnemann, Der verfassungsrechtliche Schutz der Familie und die Förderung der Kindererziehung im Rahmen des staatlichen Kinderleistungsausgleichs, Diss., 2002; P. Kirchhof, Maßstäbe für eine familiengerechte Besteuerung, ZRP 2003, 73; P. Kirchhof, Der Schutz von Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht, in FS Rose, 2003, 505; Di Fabio, Der Schutz von Ehe und Familie: Verfassungsentscheidung für die vitale Gesellschaft, NJW 2003, 993; Wangen, Der Familienlastenausgleich im Spannungsfeld von sozialstaatlicher Sicherheit und rechtsstaatlicher Freiheit, Diss., 2003; Maurer, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Besteuerung von Ehegatten und Familien, Diss., 2004; Henschler, Die Minderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch Kinder im Einkommensteuerrecht, Diss., 2005; Felix u. Axer, Die Familie zwischen Privatrecht, Sozialrecht und Steuerrecht, DStJG 29 (2006), 149 ff., 175 ff.; J. Lang, Familiensteuergerechtigkeit, in GS Tettinger, 2007, 553; Jachmann/Liebl, Wesentliche Aspekte zur Familienbesteuerung, DStR 2009, 2056; Merkt, Leitsätze für eine freiheits- und gleichheitsgerechte Einkommensteuer bei Ehe und Familie, DStR 2009, 221; Leisner-Egensperger, Kindergerechte Familienbesteuerung, FR 2010, 865; Jachmann, Berücksichtigung von Kindern im Focus der Gesetzgebung, FR 2010, 123; Seiler, Leitlinien einer familiengerechten Besteuerung, FR 2010, 113; Sacksofsky, Familienbesteuerung in der steuerpolitischen Diskussion, FR 2010, 119; Löhr/Serwe, Das Ehegattensplitting auf dem Prüfstand, 2011; Haupt/Becker, Kinder in schlechter Verfassung, DStR 2013, 734; Leisner-Egensperger, § 175: Besteuerung von Ehe und Familie, in Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013; Sandweg, Der Splittingtarif nach § 32a V EStG – Relikt aus alten Zeiten oder ausgewogene Berücksichtigung der steuerlichen Leistungsfähigkeit?, DStR 2014, 2097, mit Replik Bareis/Siegel, Splitting als partielle Trauscheinsubvention - alles andere als „ausgewogene Berücksichtigung der steuerlichen Leistungsfähigkeit“, DStR 2015, 456, und Duplik Sandweg, DStR 2015, 459; Englisch, Subjektives Nettoprinzip und Familienbesteuerung, DStJG 37 (2014), 159; Maiterth/Chirvi, Das Ehegattensplitting aus der Sicht der Steuerwissenschaften, StuW 2015, 19; StuW Heft 4/2016: Schwerpunkt Familienbesteuerung mit Beiträgen von Bareis/Siegel, 306, Das Ehegattensplitting im Widerspruch zu den Besteuerungsprinzipien; Bach/Geyer/Wrohlich, Ehegattenbesteuerung aus wirtschafts- und sozialpolitischer Perspektive: Mehr Individualbesteuerung, 316; Rees, Optimal Tax Theory and Family Taxation, 324; Kube, Stand und Perspektiven der Ehegatten- und Familienbesteuerung, 332 u. Spangenberg, Der lange Weg zur Individualbesteuerung: Gleichstellungsrechtliche Perspektiven, 343; Becker/Englisch, Reformbedarf und Re258 St. Rspr. seit BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60 (85 f.); aktuell BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (155) m.w.N. 259 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, BVerfGE 87, 153 (179 f.). 260 BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (155): Sonderausgabenabzug Krankenversicherungsbeiträge; dazu Söhn, FS J. Lang, 2010, 549; noch weitergehend Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem BVerfG, Diss., 2011, 245 ff.
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Hey
IV. Leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung der Familie
Rz. 163 § 3
formoptionen beim Ehegattensplitting, DStR 2016, 1005; Becker/Englisch, Reformbedarf und Reformoptionen beim Ehegattensplitting, ifst-Schrift Nr. 510 (2016); Standpunkte, DB Heft 9/2016 mit Becker/Englisch u. P. Kirchhof; Modrzejewski, Existenzsicherung in Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht. Eine Neuausrichtung des subjektiven Nettoprinzips, Diss., 2018.
Nach Art. 6 I GG stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutze des Staates. Diesen Schutz 162 hat das BVerfG zum einen als Benachteiligungsverbot und zum anderen als Förderungsgebot entfaltet261. Das Benachteiligungsverbot konkretisiert den Gleichheitssatz. Stpfl. sind je nach Familiensituation nicht gleich leistungsfähig262. Deshalb muss der Steuergesetzgeber den familiären Verhältnissen der Stpfl. Rechnung tragen. Hingegen räumt das BVerfG263 dem Gesetzgeber bei der Erfüllung des Förderungsgebots einen weiten Gestaltungsspielraum ein. Im Steuerrecht hat das Förderungsgebot des Art. 6 I GG praktisch keine Bedeutung. Konkrete Ansprüche auf bestimmte Sozialzwecknormen lassen sich aus ihm nicht herleiten264. Jenseits des Benachteiligungsverbots verbleiben einfachgesetzliche Gestaltungsspielräume. Das 163 Grundgesetz gibt keine konkrete Form der Ehegattenbesteuerung vor. Eine Kumulierung der Ehegatteneinkünfte (sog. Haushaltsbesteuerung) verstößt jedoch gegen das verfassungsrechtliche Benachteiligungsverbot und verletzt den Grundsatz der Individualbesteuerung (Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips!), wie das BVerfG bereits in den 1950er Jahren festgestellt hat265. Das heute geltende Ehegattensplitting266 hatte das BVerfG in seinem Beschluss zur Haushaltsbesteuerung aus dem Jahr 1957 als verfassungsmäßige Alternative erwähnt267. Die Zusammenveranlagung von Ehegatten (§§ 26; 26b EStG; s. § 8 Rz. 845 ff.) mit der tariflichen Rechtsfolge des Splittings (§ 32a V EStG; s. § 8 Rz. 846 ff.) berücksichtigt die Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft der intakten Durchschnittsehe268. Das Ehegattensplitting ist danach keine Steuervergünstigung, sondern eine mögliche gesetzgeberische Antwort auf den wirtschaftlichen Sachverhalt der ehelichen Lebensgemeinschaft269. Auf das Vor261 Grundl. BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55 (76) (Haushaltsbesteuerung). Dazu ausf. die vor Rz. 162 zit. Monographien von Lingemann, 60 ff., Pechstein, 129 ff. und Tünnemann, 208 ff. (Förderung der Familie im Rahmen des staatlichen Kinderleistungsausgleichs). 262 Dazu ausf. Tipke, StRO I2, 365 ff. 263 BVerfG v. 10.5.1960 – 1 BvR 190/58, BVerfGE 11, 105 (126); v. 13.12.1966 – 1 BvR 512/65, BVerfGE 21, 1 (6); v. 6.5.1975 – 1 BvR 332/72, BVerfGE 39, 316 (326); v. 23.11.1976 – 1 BvR 150/75, BVerfGE 43, 108 (123 f.); v. 6.6.1978 – 1 BvR 102/76, BVerfGE 48, 346 (366); v. 13.1.1982 – 1 BvR 848/77, BVerfGE 59, 231 (263); v. 20.5.1987 – 1 BvR 762/85, BVerfGE 75, 348 (360); v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60 (81). 264 BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 81. 265 BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55 (67); v. 16.12.1958 – 1 BvL 3/57, BVerfGE 9, 20 (34 f.). 266 Begründung s. BT-Drucks. 3/260, 32 ff. 267 BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55 (80): „Will man aus dem Gesichtspunkt der Sozialstaatlichkeit und des Schutzes von Ehe und Familie der besonderen Lage des Ehemannes und Familienvaters, der für mehrere Personen aufzukommen hat, Rechnung tragen, so gibt es dazu verschiedene, in der Öffentlichkeit bereits erörterte Wege (Erhöhung der Freibeträge, Einführung des ‚splitting‘).“ 268 BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvR 620/78, BVerfGE 61, 319 (345 f.); v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, BVerfGE 133, 377 Rz. 94 – Im Anschluss an J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Habil., 1981/88, 627 ff. 269 H.M. im Schrifttum, vgl. seit 1994: Verhandlungen des 60. DJT: Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie, Bd. II/1, 1994, Referat von J. Lang, O 61 (O 72 ff.); Beschluss Nr. 11 (O 92): Abschaffung des Ehegattensplittings abgelehnt (46:65:14) u. Umbau in ein Familien-Realsplitting angenommen (106:1:12); s. ferner Grönert, DStZ 1998, 895 (897, Zulässigkeit der Abschaffung des Ehegattensplittings bejahend); Lietmeyer, DStZ 1998, 849 (852); Oepen, Zur Einkommensbesteuerung von Ehegatten – Entstehung, Kritik und Änderungsvorschläge, IFSt-Schrift Nr. 370 (1999), 12; Vogel, StuW 1999, 201 (grundl.); Söhn, FS Oberhauser, 2000, 413; Tipke, StRO I2, 377 ff.; Kanzler, DStJG 24 (2001), 417 (435 ff.); Kanzler, FR 2001, 806; Seer, FS Kruse, 2001, 357; Richter/Steinmüller, FR 2002, 812; Winhard, DStR 2006, 1729; Birk, FR 2012, 1029 (1031).
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§ 3 Rz. 164
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
handensein oder die Möglichkeit der Geburt von Kindern in der Ehe kommt es dabei nicht an270, was allerdings nicht ausschließt, das Ehegattensplitting auch als familienpolitischen Beitrag zur staatlichen Neutralität gegenüber unterschiedlichen Modellen der Teilung von Erwerbs- und Familien-/Erziehungsarbeit zu interpretieren271. Die Anerkennung der Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft knüpft an den verfassungsrechtlichen Ehebegriff an. Das BVerfG definiert die Ehe i.S.d. Art. 6 I GG bisher als das auf Dauer angelegte und zuvor staatlich beurkundete Zusammenleben von Mann und Frau in einer umfassenden (grds. unauflösbaren) Lebensgemeinschaft272, wird diesen Ehebegriff aber nach Einführung der „Ehe für alle“273 für Ehen gleichgeschlechtlicher Partner öffnen müssen. 164 Allerdings ist das Ehegattensplitting nach wie vor lebhaft umstritten. Im Kern geht es um die Frage der Einkommensverteilung auf zwei Individuen. Das Ehegattensplitting ist verfassungsrechtlich allein unter dem Aspekt der Individualbesteuerung zu würdigen, wohingegen Ökonomen die Ehegattenbesteuerung vereinzelt aus der ganz anderen Sicht des Gegensatzes von Individual- und Globaleinkommensbesteuerung diskutieren274 oder aber die Bedeutung des Familienstandes für die Ermittlung steuerlicher Leistungsfähigkeit gänzlich negieren275. Insofern ist für die interdisziplinäre Diskussion noch keine gemeinsame Plattform gebildet worden. Auch der Rechtsvergleich ergibt höchst unterschiedliche Formen der Ehegattenbesteuerung276. Doch auch im juristischen Schrifttum sind die Meinungen geteilt, wobei zu unterscheiden ist zwischen der rechtspolitischen Kritik der mangelnden Zielgenauigkeit des Ehegattensplittings zur Familienförderung (s. hierzu § 8 Rz. 104), und der verfassungsrechtlichen Kontroverse mit den Extrempositionen der Verfassungswidrigkeit des Ehegattensplittings277 und der Verfassungswidrigkeit seiner Abschaffung278. Wer der Ehe ein emanzipiertes Leitbild zugrunde legt, betont die Gütertrennung während der Ehe und lehnt –
270 BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvR 1057/91, BVerfGE 99, 216 (240); v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, BVerfGE 133, 377 Rz. 97. 271 BVerfG v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, BVerfGE 133, 377 Rz. 98; BT-Drucks. 3/260, 34: „besondere Anerkennung der Aufgabe der Ehefrau als Hausfrau und Mutter“. 272 BVerfG v. 29.7.1959 – 1 BvR 205/58, BVerfGE 10, 59 (66); v. 11.10.1978 – 1 BvR 16/72, BVerfGE 49, 286 (300); neuerdings ohne den Zusatz der Unauflösbarkeit v. 17.7.2002 – 1 BvF 1/01, BVerfGE 105, 313 (345); v. 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07, BVerfGE 124, 199 (229); Tettinger, Der grundgesetzlich gewährleistete besondere Schutz von Ehe und Familie, Essener Gespräche, Bd. 35, 2001, 117 (133 ff.). 273 Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts v. 20.7.2017, BGBl. I 2017, 2787. 274 So unterscheidet Homburg, Allgemeine Steuerlehre7, 2015, 81 ff., die Individualbesteuerung von der Globaleinkommensbesteuerung mit folgender Definition: „Die gemeinsame Steuer der Ehegatten soll nur von der Summe ihrer Einkommen abhängen und nicht von deren Verteilung“ (83). Verfassungsrechtlich ist aber gerade die Verteilung des Einkommens auf die Eheleute relevant. Das Splitting ist nicht gerechtfertigt, wenn die Einkommen in der Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft nicht hälftig aufgeteilt werden. Die Erwerbsgemeinschaft der Eheleute ist durchaus der einer Personengesellschaft vergleichbar. Bei beiden Erwerbsgemeinschaften kommt es steuerrechtlich darauf an, in welchem Umfange die Beteiligten an dem Einkommen partizipieren; s. auch Homburg, StuW 2000, 261; Scherf, StuW 2000, 269. 275 Bareis, StuW 2000, 81 (83) (ökonomische Diskussion der Abhandlung von Vogel, StuW 1999, 20). 276 Dazu Tipke, StRO I2, 374 ff.; Kanzler, FR 2002, 760; Lindencrona, Intertax 2002, 474; Rauch/Wessing, IWB 2003, Fach 5, Gr. 2, 375 (Niederlande). 277 Sacksofsky, NJW 2000, 1896; Sacksofsky, FR 2010, 119 (121); Vollmer, Das Ehegattensplitting: Eine verfassungsrechtliche Untersuchung der Einkommensbesteuerung von Eheleuten, Diss., 1998; Zuleeg, DÖV 2005, 687; Brosius-Gersdorf, Demografischer Familienwandel und Familienförderung, Habil., 2011, 500 ff., 505; Spangenberg, StuW 2016, 343 (350) m.w.N. in Fn. 98; zweifelnd neuerdings auch Becker/Englisch, ifst-Schrift Nr. 510 (2016), 76 ff.; zu rechtfertigen allenfalls im Hinblick auf die Möglichkeit, für die Einzelveranlagung zu optieren. 278 S. Badura in Maunz/Dürig, Art. 6 GG Anm. 86 (2012); Stern, Staatsrecht IV/1, 2006, 434 f.; Burgi in Friauf/Höfling, Art. 6 GG Rz. 56 (2002); Homburg, Allgemeine Steuerlehre7, 2015, S. 84 ff.
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IV. Leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung der Familie
Rz. 166 § 3
gegen den empirischen Befund279 – schon faktisch die Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft ab. Danach bestreiten Gegner des Ehegattensplittings wie Sacksofsky und Vollmer die Einkommensverteilung innerhalb der Ehe280. Das Leitbild der grds. für sich selbst wirtschaftenden Eheleute reduziert die Verteilung des Einkommens auf die Erfüllung von Unterhaltspflichten. Noch weitergehend ist die Annahme einer mittelbaren Diskriminierung von Frauen, die durch das Ehegattensplitting von der Arbeitsaufnahme abgehalten würden281. Die entgegengesetzte These von der verfassungsrechtlichen Alternativlosigkeit des heutigen Ehegattensplittings verkennt jedoch, dass die über die Abbildung der Unterhaltsgemeinschaft hinausgehenden Wirkungen des Ehegattensplittings bei höheren Einkommen nicht zwingend durch das Benachteiligungsverbot des Art. 6 I GG geboten sind.
Ob das Splitting in erster Linie der Abbildung (fiktiver) gegenseitiger Unterhaltspflichten dient, wie 165 sie rechtlich (nur) bei getrenntlebenden oder geschiedenen Ehegatten bestehen, oder einer darüber hinaus gehenden Einkommensverteilung, hängt maßgeblich vom Progressionsverlauf des Einkommensteuertarifs ab. Aktuell beginnt die obere Proportionalzone bereits ab dem Betrag von 54 950 Euro (s. § 8 Rz. 805), so dass das Ehegattensplitting (s. § 8 Rz. 846 ff.) bis zu einem gemeinsam zu versteuernden Einkommen von 109 900 Euro wirkt. Damit erstreckt sich die Splittingwirkung auf einen Einkommensbereich, wo die eheliche Einkommensverteilung wesentlich aus der gesetzlichen Unterhaltsgemeinschaft resultiert. Die Frage, ob das Ehegattensplitting bei sehr hohen Einkommen „gekappt“ werden kann282, stellt sich derzeit in erster Linie für den Bereich der sog. Reichensteuer, der Anhebung des Spitzensteuersatzes für Einkommen ab 260 533/521 066 Euro auf 45 %. Vollzieht das Einkommensteuerrecht nicht zumindest die gesetzliche Unterhaltsgemeinschaft der Eheleute nach, ist zu befürchten, dass Eheleute sich gegenseitig unter Steuergestaltungsdruck setzen und den Splittingeffekt mit Verträgen wiederherstellen. Die Dummen sind dann Eheleute, die keine Gestaltungsmöglichkeiten haben. Unterschiedliche Familienideologien bewirken auch verschiedene verfassungsrechtliche Grundauffas- 166 sungen zum Verhältnis anderer Lebensgemeinschaften zur Ehe. Nach st. Rspr. des BVerfG darf der Gesetzgeber die Ehe gegenüber anderen Lebensgemeinschaften nicht diskriminieren, insb. Verheiratete nicht gegenüber Nichtverheirateten bei der Gewährung rechtlicher Vorteile benachteiligen283. Allerdings wird eine „punktuelle gesetzliche Benachteiligung“ hingenommen, wenn die gesetzliche Regelung „im Ganzen“ betrachtet keine Schlechterstellung von Eheleuten bewirkt284. Demnach ist das „spiegelbildlich“ zum Förderungsgebot gehörende Benachteiligungsverbot für Ehe und Familie im Verhältnis zu Nicht-Verheirateten und Nicht-Familien285 verfassungsgerichtlich gesichert.
279 Sehr aufschlussreich Baumgarten/Houben, StuW 2014, 116. 280 Sacksofsky, NJW 2000, 1896 (1900); Sacksofsky, FR 2010, 119 (121): „Sozialwissenschaftler können zeigen, dass es für die bestehende Ehe nicht egal ist, wie sich die Einkommensverteilung in der Ehe gestaltet. Die Verhandlungsmacht der Ehepartner wird davon wesentlich mitbestimmt, ebenso wie die Konsumentscheidungen im Haushalt.“; Vollmer, Das Ehegattensplitting, Diss., 1998, 92: „Eine vermeintliche Halbteilung des ehelichen Einkommens und infolgedessen der Leistungsfähigkeit der EhepartnerInnen ist im Falle des Bestehens einer Zugewinngemeinschaft jedoch eine Unterstellung und damit eine rechtliche Fiktion.“; s. auch Spangenberg, Neuorientierung der Ehebesteuerung: Ehegattensplitting und Lohnsteuerverfahren, Hans-Böckler-Stiftung-Arbeitspapier 106, 2005, 39. 281 Spangenberg, Mittelbare Diskriminierung im Einkommensteuerrecht, Diss., 2013, 109. 282 Abl. Stöcker, BB 1999, 234; Jachmann/Liebl, DStR 2010, 2009 (2010); dagegen Söhn, FS Vogel, 2000, 639 (656 ff.): grds. zulässig bei sehr hohen Einkommen; ähnlich von Renesse, ZRP 2013, 87 (88 f.), die zusätzlich nach Güterständen differenziert. 283 BVerfG v. 10.7.1984 – 1 BvL 44/80, BVerfGE 67, 186 (195 f.); v. 12.3.1985 – 1 BvR 571/81, BVerfGE 69, 188 (205 f.); v. 16.6.1987 – 1 BvL 4/84, BVerfGE 75, 382 (393); v. 12.2.2003 – 1 BvR 624/01, BVerfGE 107, 205 (215). 284 BVerfG v. 12.2.2003 – 1 BvR 624/01, BVerfGE 107, 205 (215 f.). 285 So Sachs/von Coelln8, Art. 6 GG Rz. 36.
Hey 115
§ 3 Rz. 167
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
167 Hiervon zu unterscheiden ist die umgekehrte Frage, ob das geltende Ehegattensplitting und sonstige
Steuererleichterungen für Verheiratete für andere, vergleichbare Lebensgemeinschaften geöffnet werden müssen. Sie ist rein gleichheitsrechtlich286 zu beantworten. Der Ausschluss anderer Lebensformen, „die nach dem geregelten Lebenssachverhalt und den mit der Normierung verfolgten Zielen der Ehe vergleichbar sind, lässt sich nicht durch die bloße Verweisung auf das Schutzgebot der Ehe rechtfertigen“287. Dementsprechend hat das BVerfG zur Erbschaftsteuer288 und zum Ehegattensplitting289 ein Gebot stl. Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe aus Art. 3 I GG abgeleitet. Die hiergegen vorgebrachte Forderung nach einem rechtlichen „Schutzabstand“290 lief mangels Konkurrenz zwischen Ehe und gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaft leer291. Dies könnte sich nach Einführung der „Ehe für alle“ (s. Rz. 163) ändern. Indes kann es aus der steuerlichen Perspektive des Leistungsfähigkeitsprinzips nur darauf ankommen, inwieweit der Gesetzgeber die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft als der Ehe vergleichbare „umfassende institutionalisierte Verantwortungsgemeinschaft“ ausgestaltet hat, so dass die Lebenspartner wie Ehegatten eine Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft bilden292. Mit dieser an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Lebenspartner orientierten Argumentation trägt das BVerfG zu einer Entideologisierung der Debatte bei. Auch erteilt es der Schutzabstandsthese eine Absage293. Der aus Art. 6 I GG abgeleitete Schutz- und Förderauftrag ist deutlich zu trennen von dem allein auf Art. 3 I GG gestützten Anspruch Dritter auf Gleichbehandlung294. § 2 VIII EStG zieht die Konsequenz der estl. Gleichstellung der Lebenspartner mit Ehegatten. Dass Lebenspartner gem. § 20a LPartG die Möglichkeit der Überleitung in eine Ehe haben, ändert nichts daran, dass fortbestehende Lebenspartnerschaften entsprechend ihrer der Ehe nachgebildeten wirtschaftlichen Verhältnisse zu besteuern sind. 168 Allerdings darf der Gesetzgeber über Art. 3 I GG nicht zu einer ganz anderen Familienpolitik ge-
zwungen werden; er bleibt berechtigt, die Ehe als rechtlich verbindliche und in besonderer Weise mit gegenseitigen Einstandspflichten ausgestattete dauerhafte Paarbeziehung gegenüber anderen Lebensformen zu begünstigen295. Insb. lässt sich keine Erstreckung der Ehegattenbesteuerung auf nichteheliche Lebensgemeinschaften folgern. Anders als bei der Ehe (für alle) und der eingetragenen Lebenspartnerschaft fehlt es hier an der rechtlich verfestigten Lebensnähe zum Partner. Nachweisprobleme treten hinzu. Gleichheitsrechtlich ist es daher
286 S. BVerfG v. 21.7.2010 – 1 BvR 611/07, BVerfGE 126, 400 (420); v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, BVerfGE 133, 377 (411, Rz. 84); Haupt/Becker, DStR 2013, 734 (737). 287 BVerfG v. 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07, BVerfGE 124, 199 (226); v. 21.7.2010 – 1 BvR 611/07, BVerfGE 126, 400 (420). 288 BVerfG v. 21.7.2010 – 1 BvR 611/07, BVerfGE 126, 400. 289 BVerfG v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, BVerfGE 133, 377: krit. Hillgruber, JZ 2013, 843; Greite, FR 2013, 724 f.; zust. Sanders, NJW 2013, 2236. 290 So Krings, ZRP 2000, 409. Für eine Besserstellung auch Pauly, NJW 1997, 1955; von Münch, NJW 1999, 260; Burgi, Der Staat 2000, 487 (501); Pawlowski, JZ 2000, 765; Robbers, JZ 2001, 779 (783 f.); Scholz/Uhle, NJW 2001, 393 (398 f.). Abl. hingegen Freitag, DÖV 2002, 445 u. Lindenberg/Micker, DÖV 2003, 707. 291 BVerfG v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, BVerfGE 133, 377 (411 f., Rz. 85). 292 BVerfG v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, BVerfGE 133, 377 (414 f., Rz. 91). 293 Vgl. auch schon BVerfG v. 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07, BVerfGE 124, 199 (226): „Aus dem besonderen Schutz der Ehe kann kein Gebot abgeleitet werden, dass andere Lebensgemeinschaften im Abstand zur Ehe auszugestalten und mit geringeren Rechten zu versehen sind.“ 294 Dies verkennen Löhr/Serwe, Das Ehegattensplitting auf dem Prüfstand, 2011, 29 ff. 295 BVerfG v. 17.7.2002 – 1 BvF 1/01, BVerfGE 105, 313 (348); v. 28.2.2007 – 1 BvL 5/03, BVerfGE 117, 316 (328 f.); v. 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07, BVerfGE 124, 199 (225); v. 19.6.2012 – 2 BvR 1397/09, BVerfGE 131, 239 (259 f.); v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, BVerfGE 133, 377 (410 f. Rz. 83).
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IV. Leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung der Familie
Rz. 170 § 3
nicht zu beanstanden, dass das Ehegattensplitting an das Zivilrecht anknüpft296, so dass andere Lebensgemeinschaften, insb. die nichteheliche Lebensgemeinschaft ausgeschlossen bleiben297. Auch die Erstreckung des Splitting auf (verwitwete) Alleinerziehende mit Kindern lässt sich nicht mittels Art. 3 I GG erzwingen298. Rechtspolitisch mag man daran zweifeln, die Unterhaltsbedürfnisse von Kindern stl. auf ein (erweitertes) Existenzminimum zu begrenzen, Ehegatten dagegen sogar über die Unterhaltsgemeinschaft hinaus Splittingvorteile zu gewähren. Dennoch verbleiben gravierende Unterschiede, da zwischen Eltern und Kindern zwar eine Verbrauchsgemeinschaft, aber i.d.R. keine Erwerbsgemeinschaft besteht. Damit wird die Lebensgemeinschaft zwischen Eltern und Kindern nicht negiert. Es bleibt dem Gesetzgeber aber unbenommen, die Unterschiede zu betonen, gerade weil das Ehegattensplitting nicht die einzige verfassungskonforme Form der steuerlichen Abbildung familiärer Lebensgemeinschaften ist.
Eltern und Kinder bilden eine Familie und werden durch Art. 6 I GG ebenfalls geschützt. Daher 169 dürfen wegen der nachteiligen Progressionswirkung für Einkommensteuerzwecke auch die Einkommen von Eltern und Kindern nicht kumuliert werden299. Ab 1982 hat das BVerfG seine Judikatur zu Art. 6 I GG gegenüber dem Steuergesetzgeber schrittweise verschärft300 und die folgenden beiden Postulate bestätigt: – Die für das Existenzminimum des Stpfl. und seiner Familie benötigten Aufwendungen müssen in Höhe der staatlichen Existenzsicherung durch Sozialleistungen steuerfrei gestellt sein (privates Nettoprinzip: § 8 Rz. 71 ff., 81 ff.), und – zwangsläufige Unterhaltsleistungen müssen realitätsgerecht berücksichtigt werden (Prinzip familiärer Einkommensverteilung: § 8 Rz. 75 ff., 88 ff.). Tatsächlich durchgeführte Verträge zwischen Ehegatten oder zwischen Eltern und Kindern sind – auch steuerrechtlich – grds. wie Verträge zwischen Fremden zu behandeln (dazu ausf. § 8 Rz. 162 ff.). Art. 6 I GG entfaltet Schutzwirkung auch gegenüber der Besteuerung von Vermögen, Erbschaften 170 und Schenkungen. Garantiert ist der Erhalt des familiären Gebrauchs- und Vorsorgevermögen gegenüber dem Steuerzugriff. Der Vermögensteuerbeschluss von 1995 hat folgende Garantie familiären Lebensstandards ausgesprochen: „Soweit Vermögensteuerpflichtige sich innerhalb ihrer Ehe oder Familie auf eine gemeinsame – erhöhte – ökonomische Grundlage individueller Lebensgestaltung einrichten durften, gebietet der Schutz von Ehe und Familie gem. Art. 6 I GG, dass der Vermögensteuergesetzgeber die Kontinuität dieses Ehe- und Familiengutes achtet“301. Bei der Erbschaftsteuer tritt der Schutz von Ehe und Familie neben den verfassungsrechtlichen Schutz der Testierfreiheit302. Das bedeutet i.V.m. Art. 14 GG, dass das normale bzw. durchschnittliche Gebrauchs- und Vorsorgevermögen innerhalb der Familie erbschaftsteuerlich zu verschonen ist (s. Rz. 192; § 15 Rz. 5 f., 100, 136). Einstweilen frei.
171–179
296 BFH v. 21.6.1957 – VI 115/55 U, BStBl. III 1957, 300; v. 9.3.1973 – VI R 396/70, BStBl. II 1973, 487; v. 6.12.1985 – VI R 56/82, BStBl. II 1986, 390; v. 17.4.1998 – VI R 16/97, BStBl. II 1998, 473 (474). 297 Ipsen, Ehe und Familie, HStR VII3, 2009, § 154 Rz. 44; Papier, NJW 2002, 2129 (2130 f.); Bültmann, StuW 2004, 131 (134 f.). Bereits BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvR 620/78, BVerfGE 61, 319 (348), hat eine Ausdehnung des Ehegattensplittings auf Alleinstehende mit Kindern abgelehnt (aktuell bestätigt BFH v. 24.7.2014 – III B 28/13, BFH/NV 2014, 1741); s. auch BFH v. 28.1.2005 – III B 97/04, BFH/NV 2005, 1050; v. 21.3.2012 – III B 52/11, BFH/NV 2012, 1125 (nichtverheiratete Eltern); BFH v. 26.4.2017 – III B 100/16, BStBl. II 2017, 903; BFH v. 24.4.2013 – II R 65/11, BStBl. II 2013, 633 (zusammenlebende und füreinander sorgende Geschwister). 298 BFH v. 17.10.2012 – III B 68/12, BFH/NV 2013, 362; v. 27.5.2013 – III B 2/13, BFH/NV 2013, 1406. A.A. (verfassungswidrige Benachteiligung von Kindern) mit ausf. Begründung Haupt/Becker, DStR 2013, 734 (736 ff.). 299 S. BVerfG v. 30.6.1964 – 1 BvL 16/62, BVerfGE 18, 97 (106). 300 Zur Neuorientierung der BVerfG-Rspr. J. Lang, StuW 1983, 103; Pezzer, FS Zeidler, 1987, 757. 301 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, Leitsatz 5. 302 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165 (174).
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§ 3 Rz. 180
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
V. Freiheitsrechtliche Schranken der Besteuerung und Übermaßverbot Literatur: Papier, Die Beeinträchtigungen der Eigentums- und Berufsfreiheit durch Steuern vom Einkommen und Vermögen, Der Staat 11 (1972), 483; P. Kirchhof, Besteuerung und Eigentum (1. Bericht), VVDStRL 39 (1981), 213; v. Arnim, Besteuerung und Eigentum (2. Bericht), VVDStRL 39 (1981), 286; Jachmann-Michel, Die Freiheit vor dem Steuergesetz im Rechtsstaat, StuW 2017, 209.
1. Rechtsstaatlicher und grundrechtlicher Gehalt des Übermaßverbots 1.1 Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns 180 Das Verhältnismäßigkeitsprinzip und das hieraus abgeleitete Übermaßverbot303 sind verfassungs-
rechtlich im Rechtsstaatsprinzip304 und in den Grundrechten305 begründet, und zwar für die Besteuerung besonders in Art. 14 I GG, aber auch in Art. 12 I GG306. Das Übermaßverbot gilt grds. für jede staatliche Maßnahme, also für Maßnahmen der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rspr. Es beschränkt den Eingriff in die freiheitlich geschützte Sphäre des Bürgers auf Maßnahmen, die das gewählte Mittel in ein vernünftiges Verhältnis zum angestrebten Zweck setzen. Diese Rationalität der Zweck-Mittel-Relation wird durch die Kriterien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit konkretisiert. 181 Besondere praktische Bedeutung hat das Übermaßverbot im Steuerverfahren. Der Eingriff in die all-
gemeine Handlungsfreiheit oder das Recht auf informationelle Selbstbestimmung kann ohne weiteres in Verhältnis zum Ermittlungsziel gesetzt werden. I.E. ist wie folgt zu prüfen: (1) Geeignetheit: Die Finanzbehörde darf keine Maßnahmen ergreifen, mit denen der angestrebte Zweck nicht erreicht werden kann. Unzulässig ist die Ermittlung von Tatsachen, die für den konkret zu prüfenden Steuertatbestand nicht relevant sind. So dürfen z.B. die Einzelheiten einer Erkrankung nicht ermittelt werden, wenn feststeht, dass Aufwendungen i.S.d. § 33 EStG geleistet worden sind. Bei der Durchführung einer Außenprüfung dürfen keine Mitarbeiter des geprüften Betriebs befragt werden, die über die steuerlich relevanten Verhältnisse des Inhabers nicht hinreichend informiert sind. Forderungen dürfen nur dann verpfändet werden, wenn die Pfändung zur Befriedigung führen kann307. (2) Erforderlichkeit: Die Finanzbehörde ist verpflichtet, von mehreren geeigneten Maßnahmen nur diejenige zu ergreifen, die den Betroffenen am geringsten belastet. So ist die Befragung von Betriebsangehörigen nicht erforderlich, soweit der Betriebsinhaber Auskünfte zu erteilen vermag; §§ 93 I 3; 200 I 3 AO entsprechen dem Übermaßverbot. Auswahl und Umfang von Vollstreckungsmaßnahmen müssen den Vollstreckungsschuldner so gering als möglich belasten.
303 Lit.: Allgemeine: Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, Habil., 1961; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Habil., 1981; d’Avoine, Die Entwicklung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, Diss., 1994; von Arnauld, JZ 2000, 276; Lücke, DVBl. 2001, 1469 (additiver Grundrechtseingriff und Verhältnismäßigkeitsprinzip). Besondere: Tipke, StRO I2, 205 ff. (formelles Übermaßverbot), 417 ff. (materielles Übermaßverbot); Elicker, DVBl. 2006, 480. 304 BVerfG v. 5.3.1968 – 1 BvR 579/67, BVerfGE 23, 127 (133: Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots ergeben sich als übergreifende Leitregeln allen staatlichen Handelns zwingend aus dem Rechtsstaatsprinzip u. haben daher Verfassungsrang); Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I2, 1984, 861 ff. 305 Dazu insb. R. Wendt, AöR 1979, 414. 306 S. P. Kirchhof, Die Steuern, HStR V3, 2007, § 118 Rz. 145 ff.; Tipke, StRO I2, unterscheidet ein aus der formalen Rechtsstaatlichkeit abgeleitetes formelles Übermaßverbot (205 ff.) u. ein aus den Art. 1 I; 2 I; 12 I; 14 I GG abgeleitetes materielles Übermaßverbot, identisch mit den verfassungsrechtlichen Grenzen der Besteuerung (417 ff.). 307 BFH v. 18.7.2000 – VII R 101/98, BStBl. II 2001, 5.
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V. Freiheitsrechtliche Schranken der Besteuerung und Übermaßverbot
Rz. 183 § 3
(3) Zumutbarkeit (Verhältnismäßigkeit i.e.S.)308: Auch eine erforderliche, den Betroffenen so gering als möglich belastende Maßnahme kann eine Belastung des Betroffenen zur Folge haben, die außer Verhältnis zur Bedeutung des angestrebten Zwecks steht, so dass die Maßnahme dem Betroffenen als nicht mehr zumutbar erscheint. Unverhältnismäßiger Verwaltungsaufwand kann die Mitwirkung des Beteiligten unzumutbar machen. In diesem Sinne befolgt die Anerkennung von Kostenpauschalen (z.B. Reisekostenpauschalen) das Übermaßverbot. Unzumutbar ist auch die Einnahme des Augenscheins in einer Privatwohnung nach 19 Uhr oder die Benennung von Zahlungsempfängern, wenn dadurch die wirtschaftliche Existenz des Stpfl. gefährdet wird; das Übermaßverbot begründet eine Ausnahme von § 160 AO309. 1.2 Relative Wirkungslosigkeit des freiheitsrechtlichen Übermaßverbots gegenüber dem Steuereingriff Im materiellen Steuerrecht bereitet die Anwendung des Übermaßverbots Schwierigkeiten. Auch wenn 182 der steuerliche Zugriff eine massive Beeinträchtigung der grundrechtlich geschützten Freiheiten darstellt, spielen die Freiheitsrechte in der Begrenzung des Steuereingriffs eine untergeordnete Rolle. Die Durchsetzungsschwäche der Freiheitsrechte entsteht auf der Rechtfertigungsebene. Dies liegt im Wesen der Steuer als allgemeinem Deckungsbeitrag zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben ohne Bezug zur Erfüllung bestimmter Verwaltungszwecke310. Die Herstellung einer Zweck-Mittel-Relation zwischen dem Steuereingriff und dem staatlichen Finanzierungsanspruch scheitert, weil sich die Frage, ob der konkrete Steuereingriff erforderlich ist, nicht beantworten lässt, will man nicht in eine letztlich ergebnislose Debatte über Qualität und Umfang der mit den Steuereinnahmen finanzierten Staatsaufgaben eintreten. Alle Versuche, das Verhältnismäßigkeitsprinzip als wirkmächtige Schranke gegen den Fiskalhunger des Staates zu etablieren, müssen als gescheitert angesehen werden. Umso wichtiger ist es, dass die Steuerlast gleichgerecht verteilt wird. Dabei ist jedoch zwischen Fiskalzweck- und Lenkungsnormen zu unterscheiden. Lenkungsnormen, 183 die darauf gerichtet sind, das Verhalten der Stpfl. zu beeinflussen, lassen sich sehr wohl an den Freiheitsrechten messen und durch diese auch wirksam begrenzen. Soweit Steuern lenkend auf das Verhalten des Stpfl. einwirken, lässt sich diese Gestaltungswirkung in Beziehung zu dem außerfiskalischen Lenkungsziel setzen, auch wenn es sich lediglich um einen durch die finanzielle Belastung vermittelten mittelbaren Eingriff311 handelt, der grds. geringer wiegt als ein ausdrückliches Ver- oder Gebot. Weniger eindeutig ist, ob die Freiheitsrechte auch als Begrenzungsnormen gegenüber nicht intendierten Gestaltungswirkungen312 von Fiskalzwecknormen fungieren können, wie sie insb. durch Normen entstehen, die gleiche wirtschaftliche Sachverhalte ungleich behandeln und den Stpfl. damit regelrecht dazu zwingen, bestimmte Gestaltungsmaßnahmen zu ergreifen, etwa eine bestimmte Rechts- oder Finanzierungsform zu wählen. Die Freiheitsgrundrechte können hier neben Art. 3 I GG in Stellung gebracht werden, freilich nur unter Beachtung des verfassungsrechtlichen Eingriffsbegriffs, der allerdings auch mittelbare Beeinträchtigungen erfasst313. Derartige Gestaltungswirkungen sind jedenfalls dann der freiheitsrechtlichen Überprüfung zugänglich, wenn sie für den Gesetzgeber vorhersehbar sind.
308 309 310 311 312
Dazu Albrecht, Zumutbarkeit als Verfassungsmaßstab, Diss., 1995. S. BFH v. 25.8.1986 – IV B 76/86, BStBl. II 1987, 481 (482). BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (115); Tipke, StRO I2, 418. S. HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 569 ff. (2014). Dazu grundl. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, Habil., 1983, 194 ff.; zurückhaltend Kempny, StuW 2014, 185 (188). 313 Allerdings einschränkend für sog. Selbstbeeinträchtigungen, soweit diese keinen zwangsgleichen Charakter einnehmen Sachs/Sachs8, Vor Art. 1 GG Rz. 93.
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§ 3 Rz. 184
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
1.3 Das Verbot der Erdrosselungssteuer Literatur: Knies, Steuerzweck und Steuerbegriff, 1976, 129 ff.; Mußgnug, Verfassungsrechtlicher und gesetzlicher Schutz vor konfiskatorischen Steuern, JZ 1991, 993; Tipke/Kruse/Drüen, § 3 AO Rz. 17 ff. (2017); Jachmann, Sozialstaatliche Steuergesetzgebung im Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Freiheit: Belastungsgrenzen im Steuersystem, StuW 1996, 97, 100 ff.; Elicker, Darf der Steuerzugriff ein Unternehmen zahlungsunfähig machen?, StuW 2002, 217; Fenner, Erdrosselnde Abgaben als staatliches Interventionsinstrument, 2004. 184 Um die Freiheitsrechte als Schutz vor übermäßiger Besteuerung nicht gänzlich leer laufen zu lassen,
hat das BVerfG schon früh aus Art. 12 I; 14 I GG das Verbot der sog. Erdrosselungsteuer abgeleitet314. In der Entscheidung v. 25.9.1992 formuliert der II. Senat des BVerfG das Verbot der Erdrosselungssteuer wie folgt: „Steuergesetze sind in ihrer freiheitsbeschränkenden Wirkung jedenfalls an Art. 2 I GG zu messen. Dabei ist indes zu berücksichtigen, dass Steuergesetze in die allgemeine Handlungsfreiheit gerade in deren Ausprägung als persönliche Entfaltung im vermögensrechtlichen und im beruflichen Bereich (Art. 14 I; Art. 12 I GG) eingreifen. Dies bedeutet, dass ein Steuergesetz keine „erdrosselnde“ Wirkung haben darf: Das geschützte Freiheitsrecht darf nur so weit beschränkt werden, dass dem Grundrechtsträger (Stpfl.) ein Kernbestand des Erfolges eigener Betätigung im wirtschaftlichen Bereich in Gestalt der grundsätzlichen Privatnützlichkeit des Erworbenen und der grundsätzlichen Verfügungsbefugnis über die geschaffenen vermögenswerten Rechtspositionen erhalten bleibt“315.
Die Figur der Erdrosselungsteuer ist – abgesehen von der denkwürdigen Halbteilungsentscheidung (s. Rz. 189 ff.) – theoretisch geblieben; bejaht hat das Bundesverfassungsgericht die erdrosselnde Wirkung noch nie316. Die Grenze der Konfiskation oder Erdrosselung setzt zu spät ein317. Entfaltet eine Steuer Verbotswirkung, indem sie den Stpfl. faktisch dazu zwingt, seine wirtschaftliche Tätigkeit einzustellen, handelt es sich schon begrifflich nicht mehr um eine Steuer. Soll das Übermaßverbot im Steuerrecht nicht vollends leer laufen, muss der verfassungsrechtliche Schutz vor Überbelastung (s. Art. 106 III 4 Nr. 2 GG) vorher einsetzen. BVerfGE 115, 97 (116) sieht eine – allerdings sehr zurückhaltend formulierte – Grenze in der „Zumutbarkeit“ der Belastung (hierzu im Weiteren Rz. 196): „Trotz mangelnder konkreter Verwaltungszwecke, die in ein Verhältnis zur Steuerbelastung gesetzt und bewertet werden könnten, bleibt die Möglichkeit, in Situationen zunehmender Steuerbelastung der Gesamtheit oder doch einer Mehrheit der Steuerpflichtigen, insb. etwa dann, wenn eine solche Belastung auch im internationalen Vergleich als bedrohliche Sonderentwicklung gekennzeichnet werden kann, vom Gesetzgeber die Darlegung besonderer rechtfertigender Gründe zu fordern, nach denen die Steuerlast trotz ungewöhnlicher Höhe noch als zumutbar gelten dürfe.“ 314 BVerfG v. 24.7.1962 – 2 BvL 15/61, BVerfGE 14, 221 (241); v. 24.9.1965 – 1 BvR 228/65, BVerfGE 19, 119 (128 f.); v. 14.5.1968 – 2 BvR 544/63, BVerfGE 23, 288 (314 f.); v. 7.10.1969 –2 BvL 3/66, BVerfGE 27, 111 (131); v. 9.3.1971 – 2 BvR 326/69, BVerfGE 30, 250 (271 f.); v. 19.12.1978 – 1 BvR 335/76, BVerfGE 50, 57 (105); v. 22.3.1983 – 2 BvR 475/78, BVerfGE 63, 343 (368); v. 28.11.1984 – 1 BvR 1157/82, BVerfGE 68, 287 (310); v. 3.7.1985 – 1 BvL 55/81, BVerfGE 70, 219 (230); v. 31.5.1988 – 1 BvR 520/83, BVerfGE 78, 214 (230); v. 31.5.1988 – 1 BvL 22/85, BVerfGE 78, 232 (243); v. 31.5.1990 – 2 BvL 12/88, BVerfGE 82, 159 (190); v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, BVerfGE 87, 153 (169); v. 8.4.1997 – 1 BvR 48/94, BVerfGE 95, 267 (300); v. 5.2.2002 – 2 BvR 305/93, BVerfGE 105, 17 (32); v. 17.7.2003 – 2 BvL 1/99, BVerfGE 108, 186 (233); v. 18.01.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (115 ff.). 315 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, BVerfGE 87, 153 (169). 316 S. aber (erstmalig) EGMR v. 14.5.2013, App. Nr. 66529/11, NKM v. Hungary, mit Anm. Baker, ET 2013, 393: Grenzsteuerbelastung von 98 % als Verletzung der Eigentumsgarantie („excessively high tax, undermining the economic viability of the taxpayer“); außerdem im Zusammenhang mit erhöhter Besteuerung von Kampfhunden BVerwG v. 15.10.2014 – 9 C 8/13, BVerwGE 150, 225, Rz. 22 ff.; abgelehnt dagegen bzgl. 20 %iger Vergnügungssteuer VGH Baden-Württemberg v. 20.7.2017 – 2 S 1671/16, KStZ 2017, 194. 317 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (115 f.).
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V. Freiheitsrechtliche Schranken der Besteuerung und Übermaßverbot
Rz. 187 § 3
2. Art. 2 I GG als allgemeine Schranke der Besteuerung Art. 2 I GG hat im Steuerrecht zunächst Bedeutung für den Gesetzesvorbehalt (s. Rz. 230 f.). Zwar 185 gibt es kein „Grundrecht auf Steuerfreiheit“318, Art. 2 I GG schützt jedoch vor Steuereingriffen ohne gesetzliche Grundlage. Ferner gewährleistet Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG das allgemeine Persönlichkeitsrecht319; insb. gewährt die st. Rspr. des BVerfG320 dem Bürger einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung. Mit diesen Inhalten entfaltet Art. 2 I GG seinen Schutz im Steuerverfahrensrecht321: Der Stpfl. darf im Steuerverfahren nicht herabwürdigend behandelt werden. Bei Außenprüfungen (§§ 193 ff. AO), Steuerfahndungen (§ 208 AO) und bei der Einnahme eines Augenscheins (§§ 98; 99 AO) hat der Steuerbeamte darauf zu achten, dass die Integrität und Intimsphäre des Stpfl. gewahrt bleiben; er hat insb. verletzende Äußerungen, einen rüden Umgangston und die Herabwürdigung des Stpfl. gegenüber Familien- und Betriebsangehörigen zu unterlassen. Allerdings passt der Topos „Bereich privater Lebensgestaltung“ oder „Privatsphäre“ im Steuerrecht 186 insofern nicht, als die Tatbestandsmerkmale von Steueransprüchen häufig intime Tatsachen der privaten Lebensgestaltung (Krankheitskosten i.S.d. § 33 EStG, Kosten eines häuslichen Arbeitszimmers etc.) erfassen, die von der Steuerverwaltung überprüft werden müssen322. Insofern bewegt sich die Ermittlung der steuerrelevanten Sachverhalte notwendig in der grundrechtlich geschützten Privatsphäre323. Der „unantastbare Bereich“ lässt sich auch nicht von einem Bereich „marktoffenbarer Vorgänge“ abgrenzen324, weil die Steuergesetze nicht nur marktoffenbare Merkmale enthalten. Art. 2 I GG als Grundlage der Legalität kann nicht die Durchsetzung der Legalität behindern, so dass der Persönlichkeitsschutz nicht die Überprüfung „privater“ Tatbestandsmerkmale untersagt, sondern mehr die Art und Weise der Überprüfung i.V.m. dem Übermaßverbot bestimmt. Schließlich eröffnet der Stpfl. selbst seine sog. Privatsphäre, wenn er Aufwendungen aus seiner Privatsphäre geltend macht, z.B. Arbeitszimmeraufwendungen: Verweigert der Stpfl. ohne hinreichenden Grund die nichtangemeldete Einnahme eines Augenscheins seiner Wohnung (§§ 98; 99 I 3 AO; Art. 13 GG), so darf das Finanzamt den Steuerabzug der Arbeitszimmeraufwendungen versagen325. 3. Bedeutung von Art. 4 GG für das Steuerrecht Art. 4 GG, der die Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit regelt, hat Bedeutung für das Kir- 187 chensteuerrecht (s. § 8 Rz. 950 ff.), für den Steuerabzug der Kirchensteuer (s. § 8 Rz. 712), für die För318 So die überspitzte Formulierung v. Wacke, StbJb. 1966/67, 75 (107); dazu krit. Tipke, StRO I1, 1993, 158 f. 319 Dazu ausf. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, 646 ff.; Sachs/ Murswiek8, Art. 2 GG Rz. 59 ff. 320 St. Rspr. seit BVerfG v. 3.6.1980 – 1 BvR 185/77, BVerfGE 54, 148 (153). Zu den Verbindungslinien zur Menschenwürdegarantie s. BVerfG v. 16.1.1957 – 1 BvR 253/56, BVerfGE 6, 32 (41); v. 15.1.1970 – 1 BvR 13/68, BVerfGE 27, 344 (351); v. 14.2.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 (281). 321 Dazu Hammerstein, Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatsphäre im Steuerrecht, Diss., 1993; P. Kirchhof, FS Tipke, 1995, 27; Pfister, „Finanzprivatsphäre“ in Deutschland, Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart 65 (2017), 393; s. hierzu auch das französische Conseil d’État v. 22.7.2016, No. 400913: Unverhältnismäßigkeit von Offenlegungspflichten; hierzu Lüdicke/Salewski, ISR 2017, 99. 322 Tipke, StRO I2, 425 ff. (keine Steuereingriffsgrenze „Privatsphäre“). 323 Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, Habil., 2001, 229 f., tritt für „umfassende Sachaufklärung“ ein: „Datenschutz und Schutz der Privatsphäre haben hinter der gleichmäßigen Teilhabe an den Lasten der Gesellschaft … zurückzutreten“. 324 So P. Kirchhof, FS Tipke, 1995, 27 (34 f.); P. Kirchhof, Die Steuern, HStR V3, 2007, § 118 Rz. 204. 325 Niedersächs. FG v. 9.3.1993 – VII 314/90, EFG 1994, 182; FG Düsseldorf v. 14.10.1992 – 5 K 144/90 E, EFG 1993, 64: Die Einnahme des Augenscheins nach 19 Uhr darf verweigert werden (§ 99 I 1 AO; Zumutbarkeit i.S.d. Übermaßverbots).
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§ 3 Rz. 188
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
derung religiöser Zwecke durch das Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht (s. § 20 Rz. 1 f., 15 f.) sowie für die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen326. Diese berührt wohl den Schutzbereich der Gewissensfreiheit (Art. 4 I GG). Jedoch erkennt die Rspr.327 ein Recht auf Steuerverweigerung bzw. auf steuermindernde Billigkeitsmaßnahmen nicht an, wenn Steuern für Militäreinsätze u.a. Zwecke verwendet werden, die der Stpfl. nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann. Die Rspr. beruft sich zu Recht auf das alleinige Recht des Parlaments (Art. 110 II, III GG), über die Verwendung von Haushaltsmitteln zu entscheiden. Daher ist die Verwendung von Steuern für gewissenswidrige Zwecke der durch Art. 4 I GG geschützten Gewissensentscheidung a priori entzogen. Auch darf das parlamentarische Budgetrecht nicht durch Steuerverweigerung verletzt werden. Der Schutzbereich des Art. 4 I GG wird durch Art. 110 II, III GG begrenzt. 4. Steuern als Eingriff in die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) 188 Steuergesetze enthalten keine unmittelbaren Regelungen der Berufswahl oder Berufsausübung, des-
halb tut sich das BVerfG schwer damit, überhaupt die berufsfreiheitsrechtliche Relevanz der Besteuerung zu erkennen. Dennoch hat die Besteuerung erheblichen Einfluss auf die Berufsausübung, schließlich geht es um den Schutz von Tätigkeiten zur Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage328 und damit nicht nur um die Tätigkeit als solche, sondern auch um deren ökonomischen Erfolg. Alle Steuern, die das Ergebnis der Erwerbstätigkeit betreffen, greifen folglich in Art. 12 I GG ein329. Das BVerfG nimmt einen Eingriff in den Schutzbereich von Art. 12 GG indes nur dann an, wenn die Erhebung von Steuern und sonstigen Abgaben „in engem Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufes steht und – objektiv – eine berufsregelnde Tendenz deutlich erkennen lässt“330. Hiervon ausgehend zieht das BVerfG Art. 12 GG in erster Linie gegenüber Lenkungsnormen und besonderen Lenkungsteuern heran. In diesem Fall lässt sich eine Zweck-Mittel-Relation zwischen dem Lenkungszweck und der Beeinträchtigung der Berufsfreiheit herstellen. Allgemeinen Steuern soll dagegen die Nähe zu einem spezifischen Beruf fehlen. Zweifelhaft ist dies allerdings, weil auch Fiskalzwecknormen, wie z.B. das einkommensteuerrechtliche Einkunftsartenrecht, in erheblichem Maße auf die Berufsausübung einwirken können331. Von einer Regelung der Berufswahl ist auszugehen, wenn die Steuer so ausgestaltet ist, dass sie eine sinnvolle wirtschaftliche Tätigkeit unmöglich macht. Zu eng ist die Reduzierung auf verbotsähnlich wirkende Erdrosselungssteuern durch den I. Senat in der Entscheidung v. 1.4.1971 (s. auch Rz. 184)332. Steuern, die diese Schwelle nicht überschreiten, müssen jedenfalls als Berufsausübungsregeln einer Verhältnismäßigkeitskontrolle unterzogen werden. Eine Verletzung von Art. 12 GG hat das BVerfG allerdings noch nie bejaht333.
326 Dazu Naujok, Gewissensfreiheit und Steuerpflicht, Diss., 2003, m. Bespr. Plum, StuW 2004, 283; Kempny, StuW 2014, 185 (192). 327 BFH v. 6.12.1991 – III R 81/89, BStBl. II 1992, 303; v. 14.1.2002 – IX B 115/01, BFH/NV 2002, 667; v. 16.10.2003 – IV B 46/02, BFH/NV 2004, 311; v. 26.1.2012 – II B 70/11, BFH/NV 2012, 735; sowie Nichtannahmebeschluss BVerfG v. 28.8.1992 – 1 BvR 928/92, NJW 1993, 455. 328 BVerfG v. 26.6.2002 – 1 BvR 558/91, BVerfGE 105, 252 (265). 329 Friauf, DStJG 12 (1989), 3 (25); Jachmann-Michel, StuW 2017, 209 (212 ff.). 330 BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, BVerfGE 98, 106 (117); ferner v. 30.10.1961 – 1 BvR 833/59, BVerfGE 13, 181 (186); v. 10.5.1962 – 1 BvL 31/58, BVerfGE 14, 76 (100); v. 22.5.1963 – 1 BvR 78/56, BVerfGE 16, 147 (162); v. 13.5.1969 – 1 BvR 25/65, BVerfGE 26, 1 (12); v. 5.3.1974 – 1 BvL 27/72, BVerfGE 37, 1 (17); v. 17.7.1974 – 1 BvR 51/69, BVerfGE 38, 61 (79); v. 12.10.1976 – 1 BvR 197/73, BVerfGE 42, 374 (384 ff.); v. 12.10.1977 – 1 BvR 216/75, BVerfGE 46, 120 (137); v. 11.10.1977 – 1 BvR 343/73, BVerfGE 47, 1 (21); v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (288); s. zu Art. 12 I GG und Besteuerung auch Hohmann, DÖV 2000, 406. 331 Tipke, StRO I2, 432; a.A. C. Wagner, Steuergleichheit unter Standortvorbehalt, Diss., 2010, 67 f. 332 BVerfG v. 1.4.1971 – 1 BvL 22/67, BVerfGE 31, 8 (23). 333 Tipke, StRO I2, 433 mit Fn. 66.
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V. Freiheitsrechtliche Schranken der Besteuerung und Übermaßverbot
Rz. 191 § 3
5. Das Prinzip eigentumsschonender Besteuerung (Art. 14 GG) Die Bedeutung der Eigentumsgarantie für das Steuerrecht füllt nicht nur ganze Bibliotheken334, sie 189 hat auch das BVerfG von Beginn an beschäftigt und zu zahlreichen Richtungswechseln veranlasst. Bis heute lassen sich allein vier Phasen ausmachen: Nachdem der Investitionshilfebeschluss aus dem Jahr 1954335 noch jegliche Bedeutung der Eigentumsfreiheit für staatlich auferlegte Geldleistungspflichten abgelehnt hatte, waren die folgenden Jahrzehnte von der zu Recht als widersprüchlich kritisierten336 These beherrscht, der Schutzbereich sei erst dann eröffnet, wenn eine Steuer erdrosselnde bzw. substanzbeeinträchtigende Wirkung entfalte337. Schutzbereichseröffnung und Rechtsverletzung fielen uno actu zusammen, freilich ohne dass das BVerfG jemals eine substanzbeeinträchtigende Steuer hätte identifizieren können. Der als „Eigentumswende“338 gefeierte Vermögensteuerbeschluss339 war folglich nicht deshalb so Aufsehen erregend, weil der Zweite Senat ganz selbstverständlich von einem Eingriff in die Eigentümerfreiheit ausging, sondern weil mit der Postulierung einer Belastungsobergrenze auch die ungleich schwierigere Aufgabe bewältigt schien, dem Verhältnismäßigkeitsprinzip eine justitiable Besteuerungsgrenze abzugewinnen. Allerdings war die Entscheidung nicht wiederholbar. Zehn Jahre später ist der Zweite Senat im Beschluss zu Obergrenzen für Einkommen- und Gewerbesteuer von dem Versuch, konkrete Grenzen festzulegen, wieder abgerückt (s. Rz. 195 f.)340. Als gesichert kann mittlerweile angesehen werden, dass Steuern in den Schutzbereich von Art. 14 I 190 GG eingreifen, sei es, dass man Art. 14 I GG als Eigentümerfreiheit auch auf den Schutz des Vermögens ausdehnt, sei es, dass man den Umstand, dass die Steuerforderung als abstrakte Wertsummenschuld dem Stpfl. überlässt, mit welchen Mitteln er die Schuld begleicht, lediglich unter dem Gesichtspunkt der Eingriffsintensität berücksichtigt. Unzweifelhaft muss der Stpfl. eigentumsrechtlich geschützte Geldmittel hingeben, um die Steuerschuld zu begleichen. Steuern knüpfen regelmäßig entweder an den Erwerb von Eigentum341, seinen Bestand oder seine Verwendung an. Weit schwieriger ist es, Art. 14 I GG auch auf der Rechtfertigungsebene als Prinzip eigentumsscho- 191 nender Besteuerung im Sinne Paul Kirchhofs342 zu einer schlagkräftigen Begrenzung gegen übermäßige Steuereingriffe zu etablieren. 334 Süffisant zu dieser Clusterbildung Tipke, StRO I2, 441 f. mit Nachweisen des Schrifttums zum Halbteilungsgrundsatz, S. 437. 335 BVerfG v. 20.7.1954 – 1 BvR 459/52, BVerfGE 4, 7. 336 Z.B. Friauf, DÖV 1980, 480 (484); Isensee, FS Klein, 1994, 611 (620); Eschenbach, Der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentums, Diss., 1996, 123. 337 Erstmals in BVerfG v. 29.7.1959 – 1 BvR 394/58, BVerfGE 10, 89 (116); ferner v. 24.7.1962 – 2 BvL 15/61, BVerfGE 14, 221 (241 f.); v. 24.9.1965 – 1 BvR 228/65, BVerfGE 19, 119 (128 f.); v. 14.5.1968 – 2 BvR 544/63, BVerfGE 23, 288 (315); v. 7.10.1969 – 2 BvL 3/66, BVerfGE 27, 111 (131); v. 8.3.1983 – 2 BvL 27/81, BVerfGE 63, 312 (327); v. 22.3.1982 – 2 BvR 475/78, BVerfGE 63, 343 (368); v. 28.11.1984 – 1 BvR 1157/82, BVerfGE 68, 287 (310); v. 3.7.1985 – 1 BvL 55/81, BVerfGE 70, 219 (230); v. 31.5.1988 – 1 BvR 520/83, BVerfGE 78, 214 (230). 338 Leisner, NJW 1995, 2591. 339 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121. 340 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97. 341 S. BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (112). 342 P. Kirchhof, VVDStRL 39 (1981), 213 (281): „Ein Grundrecht des Eigentümers hindert nicht eine Finanzausstattung des Staates zu Lasten des Privateigentums, sondern fordert eine eigentumsschonende Deckung des staatlichen Finanzbedarfs.“ Zur Interpretation des Art. 14 GG nach den Einheitswertbeschlüssen vgl. P. Kirchhof, Symposion für Vogel, 1996, 27 (45 f.); Butzer, Freiheitsrechtliche Grenzen der Steuer- und Sozialabgabenlast, 1999; P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, 50 ff.; Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000; Jachmann, FS Schiedermair, 2000, 391; Vogel, FS Maurer, 2001, 297; Vogel, FS 50 Jahre BVerfG, 2001, 527 (532 ff.); Löhle, Verfassungsrechtliche Gestaltungsspielräume und -grenzen bei der Besteuerung von Erbschaften und Schenkungen, Diss., 2001; Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, 2003, 65 ff.; Englisch,
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§ 3 Rz. 192 192
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
In den Einheitswertbeschlüssen v. 22.6.1995 zu Vermögens- und Erbschaftsteuer343 hatte der Zweite Senat des BVerfG aus Art. 14 GG zwei Grenzen abgeleitet: (1) Zunächst statuierte er einen Bestandsschutz des Vermögensstammes, der allerdings der steuerlichen Anknüpfung an Soll-Erträge nicht entgegenstehen soll. Das BVerfG hat diesen absoluten Schutz des Vermögensstammes nicht näher begründet. Auch Steuern, die nach dem Vermögen bemessen werden, schlagen nicht in eine Enteignung im formalen Sinne um, da es nicht zu einem Transfer konkreter Vermögensgegenstände kommt; die Konkretisierungsbefugnis liegt weiterhin beim Stpfl. Sie wirken aber enteignungsgleich und können folglich nur unter den für Enteignungen geltenden Voraussetzungen gerechtfertigt werden. Da aber eine Entschädigung zur Kompensation des Steuereingriffs ausscheidet, bedarf es außergewöhnlicher Umstände, um ausnahmsweise das enteignungsgleiche Opfer rechtfertigen zu können344. Im ebenfalls aus Art. 14 I GG z.T. i.V.m. Art. 6 I GG abgeleiteten besonderen Schutz des persönlichen und familiären Gebrauchsvermögens345 entfaltet Art. 14 GG seine existenzsichernde Funktion. Das normale bzw. durchschnittliche Gebrauchsvermögen ist vermögensteuerlich freizustellen und auch erbschaftsteuerlich zu verschonen, wobei der Erbschaftsteuerbeschluss die völlige Steuerfreiheit nur bei „kleineren Vermögen“ anordnet. In praxi ist das persönliche und familiäre Gebrauchsvermögen – die Entscheidung v. 22.6.1995 nennt den Wert eines „durchschnittlichen Einfamilienhauses“346 – schwer zu quantifizieren, und zwar besonders im Hinblick auf regionale Unterschiede. Außerhalb der Vermögensteuer und der Erbschaftsteuer hat die Figur des besonderen Schutzes des persönlichen und familiären Gebrauchsvermögens bisher keine Wirkungen gezeitigt. Das Urteil des I. Senats v. 8.1.1999347 verneint den Schutz des Gebrauchsvermögens vor der Grunderwerbsteuer und der BFH hat entschieden, dass das selbst genutzte Einfamilienhaus von Verfassungs wegen nicht von der Grundsteuer auszunehmen sei348.
(2) Sodann leitete der Zweite Senat des BVerfG aus Art. 14 II 2 GG, nach dem der Eigentumsgebrauch „zugleich“ dem privaten Nutzen und dem Wohl der Allgemeinheit zu dienen hat349, den sog. Halbteilungsgrundsatz ab: „Die Vermögensteuer darf zu den übrigen Steuern auf den Ertrag nur hinzutreten, soweit die steuerliche Gesamtbelastung des Soll-Ertrages bei typisierender Betrachtung von Einnahmen, abziehbaren Aufwendungen und sonstigen Entlastungen in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand verbleibt“350. 193 Zur Ermittlung, ob die Belastungsobergrenze erreicht ist, nimmt der Senat die steuerliche Gesamt-
belastung in den Blick. Zugrunde liegt die Erkenntnis, dass Steuern, ganz gleich wie der Gesetzgeber
343 344 345 346 347 348 349 350
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StuW 2003, 237; Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, Diss., 2004; Ipsen, FS Badura, 2004, 201; P. Kirchhof, StuW 2006, 3; Klawonn, Die Eigentumsgewährleistung als Grenze der Besteuerung, Diss., 2007; P. Kirchhof, Die Steuern, HStR V3, 2007, § 118 Rz. 117 ff. Dezidiert gegen die Kirchhof’sche Dogmatik das abw. Votum von Böckenförde, BVerfGE 93, 149 (153 ff.); Bull, NJW 1996, 281 (Erwiderung von Vogel, NJW 1996, 1257), und abl. auch Tipke, StRO I2, 449 ff.; Wieland, DStJG 24 (2001), 29 (35 ff.); Dreier/Wieland, GG-Kommentar, Bd. I3, 2013, Art. 14 GG Rz. 66 ff. Weitere Literaturnachweise 20. Aufl. § 4 Rz. 223, Fn. 35. BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (VSt); v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165 (ErbSt). Dazu ausf. J. Lang in 20. Aufl., 2010, § 4 Rz. 214 ff. Hey, Zukunft der Vermögensbesteuerung, IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), 40 ff.; zurückhaltender Musil, DB 2013, 1994 (1997): Zulässigkeit von Substanzeingriffen, sofern „strukturell kein Vermögensverlust droht“; Musil, DStR 2013, 1994 (1997). BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (138, 140 f.); v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165 (174 f.). BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (141). BVerfG v. 8.1.1999 – 1 BvL 14/98, BStBl. II 1999, 152. BFH v. 19.7.2006 – II R 81/05, BStBl. II 2006, 767. P. Kirchhof, VVDStRL 39 (1981), 213 (271 f.): „Das „Zugleich“ von Allgemein- und Privatnützigkeit bringt staatliches und privates Ertragsbegehren nebeneinander zur Geltung …“. BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, LS 3.
Hey
V. Freiheitsrechtliche Schranken der Besteuerung und Übermaßverbot
Rz. 196 § 3
den Steuergegenstand bezeichnet, nur aus Einkommen bzw. Vermögen gezahlt werden können. Dabei sind freilich einige Fragen offengeblieben, z.B. ob bei der Ermittlung der Gesamtsteuerbelastung351 des Einkommens auch die indirekten Steuern auf die Einkommensverwendung zu berücksichtigen sind, ob die Kirchensteuer, evtl. sogar Sozialversicherungsabgaben einfließen müssen. Richtig ist jedenfalls die Zusammenfassung von Steuern, die im gleichen Zeitpunkt zugreifen352. Die Belastung durch Steuern, die an den Soll-Ertrag anknüpfen, ist zu den Ist-Ertragsteuern hinzuzuaddieren. Zu berücksichtigen ist zudem der Zusammenhang zwischen Bemessungsgrundlage und Steuersatz353. Die Einheitswertbeschlüsse von 1995 mögen einzelne Schwächen und Widersprüche aufweisen; auch er- 194 schwert die fehlende Konturenschärfe mancher Aussagen ihre konkrete Verwertbarkeit. All dies schmälert nicht die programmatische Intensität, mit der das Prinzip eigentumsschonender Besteuerung entfaltet wird: Das freiheitsethische Prinzip ergänzt die vornehmlich von Tipke ausgelotete Gleichheitsethik354. Die Antworten auf diese Fragen führen zu der Erkenntnis, dass der Wert der Eigentümerfreiheit im Steuerrecht manifestiert werden muss, um das rechtsethische Fundament des Steuerrechts mit einer weiteren starken Säule abzusichern, nicht zuletzt auch zur Abschirmung des Gleichheitssatzes gegen umverteilungsideologische Fehlentwicklungen. Der Halbteilungsgrundsatz fungiert in diesem Kontext nach wie vor als einprägsame Chiffre.
Während sich das Schrifttum355 intensiv um dogmatische Klärung des Halbteilungsgrundsatzes be- 195 mühte, judizierte die Steuerrechtsprechung356 geschlossen gegen den Halbteilungsgrundsatz. Zehn Jahre nach den Einheitswertbeschlüssen distanzierte sich auch der Zweite Senat des BVerfG selbst im Beschluss v. 18.1.2006357 von der Idee der Belastungsobergrenze. Die Aussagen des Vermögensteuerbeschlusses seien den Besonderheiten der zur Einkommensteuer hinzutretenden Vermögensteuer geschuldet. Eine „allgemein verbindliche, absolute Belastungsobergrenze in der Nähe einer hälftigen Teilung“ lasse sich Art. 14 I 1; II 2 GG nicht entnehmen358. Mit der Aufgabe des Halbteilungsgrundsatzes ist das BVerfG zu einer dogmatisch überzeugenderen 196 Mittellage zurückgekehrt. Zwar hat es verbindlichen Obergrenzen eine Absage erteilt, ohne jedoch den Schutz durch das Übermaßverbot ganz preiszugeben. Die Gestaltungsfreiheit des Steuergesetzgebers werde durch die allgemeinen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit begrenzt. Das BVerfG stützt sich dabei wesentlich auf das Element der Zumutbarkeit. Im Rahmen einer Gesamtabwägung zur Angemessenheit und Zumutbarkeit könnten sich Obergrenzen für eine Steuerbelastung ergeben359. Eine Über351 Zur Gesamtbelastung allgemein Lücke, DVBl. 2001, 1469 sowie grundl. Seer, DStJG 23 (2000), 87 (106 ff.). Aus ökonomischer Sicht insb. Bareis, DB 1996, 1153; Rose, DB 1995, 1879; Rose, DB 1995, 2387; Rose, DB 1997, 494; Rose, DB 1998, 1154; Rose, StuW 1999, 12; Wagner/Hör, DB 1996, 585. Vgl. auch G. Kirchhof, NJW 2006, 732 (zur Kumulationswirkung unterschiedlicher staatlicher Maßnahmen); G. Kirchhof, Beihefter zu DStR 49/2009, 135 (136 ff.); Drüen in Kube/Mellinghoff u.a., Leitgedanken des Rechts, Bd. II 2013, § 158, Rz. 16. 352 Ebenso G. Kirchhof, Beihefter zu DStR 49/2009, 135 (137). 353 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (116). 354 Dazu J. Lang, FS Tipke, 1995, 3 (18 ff.); J. Lang, StuW 2001, 78 (82 f.); Tipke, StRO I2, Vorwort (S. VIII): „Paul Kirchhof hat der Betonung der Gleichgerechtigkeit durch Gleichbelastung aus gutem Grund akzentuiert eine Höchstbelastungsgerechtigkeit an die Seite gestellt“. Symposion zum 80. Geburtstag von Tipke: P. Kirchhof, StuW 2006, 3; J. Lang, StuW 2006, 22. 355 S. zusätzlich zu den Nachw. in Rz. 191 Butzer, StuW 1999, 227; Jachmann, Verfassungsrechtliche Grenzen der Besteuerung, 1996; Jachmann, StuW 1996, 97; J. Lang, NJW 2000, 457; J. Lang, FS Vogel, 2000, 173; Seer, FR 1999, 1280; Seer, DStJG 23 (2000), 87 (106 ff.). 356 Grundl. BFH v. 11.8.1999 – XI R 77/97, BStBl. II 1999, 771. Im Weiteren BFH v. 18.9.2003 – X R 2/00, BStBl. II 2004, 17; v. 15.3.2005 – IV B 91/04, BStBl. II 2005, 647; v. 21.7.1999 – V B 61/99, BFH/NV 1999, 1653; v. 25.2.2003 – VIII B 253/02, BFH/NV 2003, 624; v. 30.10.2003 – V B 158/03, BFH/NV 2004, 237. 357 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97. Dazu Pezzer, DB 2006, 912; Wernsmann, NJW 2006, 1169. 358 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (114). 359 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (115 ff.).
Hey 125
§ 3 Rz. 197
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
belastung des Stpfl. sei zu vermeiden: Hinweis auf Art. 106 III 4 Nr. 2 GG. Die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich zur Besteuerung niedriger Einkommen sei angemessen auszugestalten. Die steuerliche Belastung höherer Einkommen dürfe nicht so weit gehen, dass der wirtschaftliche Erfolg grundlegend beeinträchtigt wird und damit nicht mehr angemessen zum Ausdruck kommt. Das Gericht ist damit weiterhin um einen Ausgleich zwischen demokratisch legitimiertem Steuerstaat und individuellem Schutz durch das freiheitliche Übermaßverbot bemüht. 197 Wirksamwerden könnte das Prinzip eigentumsschonender Besteuerung erneut bei der Überprüfung
der Übermaßbesteuerung infolge der verstärkt zu beklagenden Verletzungen des Nettoprinzips360. Abzugsverbote können auch bei moderatem nominellem Steuersatz im Einzelfall zu einer erdrosselnden Effektivsteuerbelastung führen. Das BVerfG selbst hat den Zusammenhang von Bemessungsgrundlage und Steuersatz für die Verhältnismäßigkeit der Belastung hergestellt (s. Rz. 193). Hingegen dürfte der Steuerwettbewerb vorerst dafür sorgen, dass die kumulierten tariflichen Ertragsteuerbelastungen 50 % nicht wesentlich überschreiten. Die daraus resultierende Verlagerung des Aufkommens von den direkten zu den indirekten Steuern kann aber vor allem bei Niedrigverdienern übermäßige, den Schutz des Existenzminimums berührende Gesamtbelastungen durch direkte/indirekte Steuern bewirken. 198–209
Einstweilen frei.
VI. Sozialstaatlich gerechte Besteuerung 210 Aus Art. 20 I; 28 I 1 GG ergibt sich, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Sozialstaat ist. Das So-
zialstaatsprinzip postuliert ein sog. Staatsziel, einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen361. Da sich das Grundgesetz nicht auf eine bestimmte Wirtschaftsverfassung festgelegt hat, verfügt der Gesetzgeber über einen großen Spielraum sozialstaatlicher Gestaltung: Art. 20 I; 28 I 1 GG bestimmen nur das „Was“, das Ziel, die gerechte Sozialordnung; lassen aber für das „Wie“, d.h. für die Erreichung des Ziels, alle Wege offen362. Im Wesentlichen ist das Sozialstaatsgebot auf einen Ausgleich sozialer Ungleichheiten ausgerichtet, und es gewährleistet zur Sicherung der Menschenwürde, also i.V.m. Art. 1 I 1 GG, soziale Mindeststandards363. Danach besteht ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Sozialhilfe364. Das Sozialstaatsprinzip entfaltet sich im Spannungsverhältnis zur freiheitlichen Verfassung des Rechtsstaats: Der Abbau sozialer Ungleichheiten kann nicht auf absolute soziale Gleichheit, auf die egalitäre Einebnung der Vermögensverhältnisse abzielen, wie sie durch eine mit den Art. 14 I; 12 I GG unvereinbare konfiskatorische Besteuerung365 bewerkstelligt werden müsste. 211 Analog zur verfassungsrechtlichen Begründung des Anspruchs auf Sozialhilfe gebietet das Sozial-
staatsprinzip die Steuerfreiheit des Existenzminimums in Höhe der Sozialhilfe (s. Rz. 160 u. § 1 Rz. 39). I.Ü. dient das Sozialstaatsprinzip der Rechtfertigung von Steuernormen, die dem sozialen Ausgleich dienen und auf die Belange der wirtschaftlich schwächeren Schichten der Bevölkerung Rücksicht nehmen366. Das Steuerrecht verwirklicht den sozialen Ausgleich zunächst durch Fiskalzwecknormen, nämlich durch die konsequente Umsetzung des Leistungsfähigkeitsprinzips. Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist auch sozialstaatlich geprägt367.
360 S. Frye, FR 2010, 603 u. § 7 Rz. 80, 93. 361 Dazu Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I2, 1984, § 21 (Das sozialstaatliche Prinzip); Zacher, Das soziale Staatsziel, HStR II3, 2004, § 28; Scholz, FS Mußgnug, 2005, 19. 362 So BVerfG v. 18.7.1967 – 2 BvF 3/62, BVerfGE 22, 180 (204). 363 BVerfG v. 3.7.1973 – 1 BvR 153/69, BVerfGE 35, 348 (355 f.). 364 BVerfG v. 18.6.1975 – 1 BvL 4/74, BVerfGE 40, 121 (133). 365 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, BVerfGE 87, 153 (169). 366 BVerfG v. 15.12.1970 – 1 BvR 559/70, BVerfGE 29, 402 (412). 367 Tipke, StRO I2, 402 f.
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Hey
VII. Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung
Rz. 213 § 3
Sodann dient das Sozialstaatsprinzip auch der Rechtfertigung von Umverteilungsnormen (Rz. 21). 212 Während in der ökonomischen Literatur das Postulat der Steuergerechtigkeit mit Umverteilungsgerechtigkeit identifiziert wird (s. § 7 Rz. 8), ist die Umverteilung rechtsdogmatisch noch wenig geklärt368. Die Wohlstandskorrektur durch Umverteilung ist ein Sozialzweck, der sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite normiert ist369. Umverteilung wird entweder durch Sozialzwecknormen geleistet, die von den Normen gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit abgeschichtet sind, oder die Umverteilungsfunktion tritt zur Fiskalzweckfunktion hinzu. Beispiele: (1) Sozialzwecknorm mit Umverteilungszweck ist der progressive Einkommensteuertarif: Er erfährt seine Rechtfertigung nicht aus Gleichheitssatz und Leistungsfähigkeitsprinzip; diese Prinzipien führen zu einem proportionalen Fiskalzwecksteuersatz. Die Progression ist vielmehr Ausdruck der umverteilenden Sozialstaatlichkeit370. (2) Hingegen hat die Erbschaft- und Schenkungsteuer eine Doppelfunktion: Sie ist primär Fiskalzwecksteuer mit dem Ziel, zugewendetes Einkommen in Gestalt der Bereicherung zu belasten (§ 7 Rz. 38). Da der Staat jedoch den Vermögenstransfer (§ 7 Rz. 40) zum Anlass nimmt, den Vermögensbestand umzuverteilen, hat die Erbschaft- und Schenkungsteuer zusätzlich Umverteilungsfunktion (s. § 7 Rz. 41).
Die sozialstaatliche Umverteilungsfunktion der Besteuerung wird durch die Garantie des Eigentums 213 und des Erbrechts (Art. 14 I GG) limitiert371. Nach der Entscheidung v. 22.6.1995372 ist die umverteilende Substanzabschöpfung durch die Vermögensteuer unzulässig (Rz. 60 ff.). Im Weiteren hat diese Entscheidung die Umverteilungsfunktion der Erbschaft- und Schenkungsteuer stark reduziert (s. Rz. 192 ff.)373. Einstweilen frei.
214–229
VII. Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung Literatur: Wacke, Gesetzmäßige und gleichmäßige Besteuerung, StuW 1947, 22; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973; Brinkmann, Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung und formeller Gesetzesbegriff, Diss., 1982; Hahn, Die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung in rechtsvergleichender Sicht, 1984; Widmer, Das Legalitätsprinzip im Abgaberecht, 1988; Birk, Gleichheit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, StuW 1989, 212; Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, Allgemeiner Teil, 1991, 54 ff.; Tipke, StRO I2, 2000, 118 ff.; P. Kirchhof, Besteuerung nach Gesetz, in FS Kruse, 2001, 17; Selmer, Zur Tatbestandsmäßigkeit öffentlichrechtlicher Geldleistungspflichten, in FS Starck, 2007, 435; Merz, Tatbestandsmäßigkeit und Verwaltungsermessen im Steuerrecht, Diss., 2009; Jochum, § 149: Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, in Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013; Kempny, Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung, in Lexikon des Rechts, Nr. 6/1100 (2013).
368 Jetzt aber grundlegend Osterloh-Konrad, StuW 2017, 305 ff. (Unterscheidung rechtsphilosophischer und verfassungsrechtlicher Argumentationsmuster). 369 Dazu Jachmann, StuW 1998, 293; Mellinghoff, Deutscher Finanzgerichtstag 2005, 31; DStJG 29 (2006): m. Beiträgen von Raupach, 1; Kube, 11; F. Kirchhof, 39. 370 Tipke, StRO I2, 403 ff. (Sozialstaatsprinzip und Steuerprogression), 404 f. (gegen BVerfG v. 24.6.1958 – 2 BvF 1/57, BVerfGE 8, 51 [68 f.]); Jachmann, StuW 1998, 298; Bareis, DStR 2010, 565 (567); vgl. auch Becker, FS Klein, 1994, 379, und grundl. Suttmann, Die Flat Tax, Diss., 2007, 169–184, 283 ff.; s. auch § 7 Rz. 8. 371 Dazu umfassend Jachmann, StuW 1996, 97 ff. 372 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121. 373 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (165).
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§ 3 Rz. 230
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
1. Steuerrechtliches Legalitätsprinzip 1.1 Inhalt und Bedeutung des steuerrechtlichen Legalitätsprinzips 230 Gesetzmäßigkeit der Besteuerung bedeutet zweierlei:
(1) Die Auferlegung von Steuerlasten ist dem Gesetz vorbehalten; sie ist nur zulässig, sofern und soweit sie durch Gesetz angeordnet ist (sog. Vorbehalt des Gesetzes). Die Festsetzung einer Steuer setzt voraus, dass ein gesetzlicher Tatbestand erfüllt ist, an den das Gesetz als Rechtsfolge eine Steuer knüpft (Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung). Aber auch die Rechtsfolge muss sich aus dem Gesetz ergeben. (2) Rechtsverordnungen und Verwaltungsakte dürfen nicht gegen das Gesetz verstoßen (sog. Vorrang des Gesetzes). 231 Wie der allgemeine Gesetzesvorbehalt für Eingriffe in Freiheit und Eigentum hat auch der steuer-
rechtliche Gesetzesvorbehalt zwei Komponenten, die formal-rechtsstaatliche Komponente der Rechtssicherheit374 und die material-rechtsstaatliche Komponente demokratisch legitimierter Gerechtigkeit375. Entwicklungsgeschichtlicher Vorläufer des Prinzips „Keine Steuer ohne Gesetz“ („nullum tributum sine lege“) war die ständische Steuerbewilligung376. Nachdem zur Zeit des Absolutismus das Steuerbewilligungsrecht der Stände praktisch aufgehoben war, war es schon zurzeit der konstitutionellen Monarchie der Volksvertretung vorbehalten, Steuergegenstand und Steuersatz durch Gesetz zu beschließen377. Erst recht ist das durch das Parlament vertretene Volk in einer Demokratie legitimiert, selbst bestimmen zu können, mit welchen Steuern es sich belasten will; Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot (Art. 20 I, III; 28 I GG) sind die beiden tragenden verfassungsrechtlichen Säulen des Gesetzesvorbehalts378, also bestehend aus dem rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalt und dem Parlamentsvorbehalt379.
Stpfl., Steuerbeamte und Steuerrichter sind der Herrschaft eines abschließenden Normensystems unterworfen. Ohne gesetzliche Grundlage darf nicht besteuert werden. Insofern lebt das Steuerrecht aus dem „Dictum des Gesetzgebers“380, der allerdings seinerseits durch die verfassungsrechtliche Wertordnung in seiner Gestaltungsfreiheit beschränkt und daran gehindert ist, gesetzliches Unrecht zu beschließen. 1.2 Rechtsgrundlagen des steuerrechtlichen Legalitätsprinzips 232 Anders als viele ausländische Verfassungen381 ordnet das GG den steuerrechtlichen Gesetzesvorbehalt
nicht ausdrücklich an. Der Gesetzesvorbehalt wird aber abgeleitet aus:
374 Dazu insb. Tipke, StRO I2, 137 ff., 145 ff., 199 ff. 375 Dazu insb. Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, u. aus ökonomischer Sicht Franke, Steuerpolitik in der Demokratie, Habil., 1993. 376 Dazu Friauf, Der Staatshaushaltsplan im Spannungsfeld zwischen Parlament und Regierung, Habil.,1968, 21 ff., 28 ff.; Jesch, Gesetz und Verwaltung2, 1968, 104 ff.; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, 19 ff.; Brinkmann, Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung und formeller Gesetzesbegriff, Diss., 1982, 28 ff. 377 S. Brinkmann, Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung und formeller Gesetzesbegriff, Diss., 1982, 53 ff. 378 So Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, HStR V3, 2007, § 101 Rz. 42. 379 S. Ossenbühl, HStR V3, 2007, § 101 Rz. 42 ff. 380 BVerfG v. 24.1.1962 – 1 BvR 232/60, BVerfGE 13, 318 (328), im Anschluss an Bühler/Strickrodt, Steuerrecht I, 2. Hbd. 3, 658. 381 Dazu ausf. Tipke, StRO I2, 125 f.
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Hey
VII. Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung
Rz. 234 § 3
(1) Art. 2 I GG: Die ökonomische Handlungsfreiheit als Ausfluss der freien Entfaltung der Persönlichkeit382 (sog. Elfes-Urteil) darf nur eingeschränkt werden auf Grund der – durch verfassungsmäßige Gesetze verkörperten – verfassungsmäßigen Ordnung. Zur Handlungsfreiheit „gehört auch das Grundrecht des Bürgers, nur auf Grund solcher Rechtsvorschriften zur Steuer herangezogen zu werden, die materiell und formell der Verfassung gemäß sind und deshalb zur verfassungsmäßigen Ordnung gehören“383. (2) Art. 20 III GG: Danach sind die vollziehende Gewalt und die Rspr. an Gesetz und Recht gebunden. In dieser Vorschrift drückt sich zugleich die Gewaltenteilung aus. Art. 20 III GG wird für den Gerichtsbereich ergänzt durch Art. 92 und Art. 97 I GG. Dem Richter obliegt nicht die Rechtsetzung, sondern die Rspr. (Art. 92 GG); er ist dem Gesetz unterworfen (Art. 97 I GG).
(3) Ergänzung aus Art. 14 I 2, III 2 GG: Nach Art. 14 I 2 GG werden Inhalt und Schranken des Eigentums und des Erbrechts durch die Gesetze bestimmt; nach Art. 14 III 2 GG darf eine Enteignung nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Da die Besteuerung jedenfalls insofern ein schwererer Eingriff ist als die Enteignung, als sie ohne Entschädigung durchgeführt wird, ist die verfassungsmäßige Bindung an das Gesetz auch im Verhältnis zu Art. 14 III GG konsequent (s. Rz. 213). (4) Ausdruck im einfachen Gesetz: Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung kommt auch im einfachen Gesetz zum Ausdruck, und zwar in § 3 I AO (s. Rz. 65) und in § 38 AO. Nach dieser Vorschrift entsteht der Steueranspruch und entstehen andere Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis durch Verwirklichung des Tatbestands, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Die Steuerschuld ist obligatio ex lege. 1.3 Konkretisierungen des steuerrechtlichen Legalitätsprinzips Gesetzmäßigkeit der Besteuerung in der Form des Gesetzesvorbehalts heißt: Exekutive und Judikati- 233 ve dürfen keine Steuern erfinden. Jede Steuer braucht eine gesetzliche Grundlage. Durch Gewohnheitsrecht können Steueransprüche nicht begründet oder verschärft werden (s. § 5 Rz. 21 f.). Selbst wenn man das nicht aus dem Gesetzesvorbehalt ableiten wollte, lässt mindestens Art. 105 GG nicht zu, Steuerrecht auf Gewohnheitsrecht zu gründen384. Die Gesetzmäßigkeit der Besteuerung verlangt, dass sowohl der Tatbestand als auch die Rechtsfolge im Gesetz niedergelegt sein müssen. Der in der steuerrechtlichen Literatur noch oft gebrauchte Begriff der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung greift daher zu kurz. Er dürfte dem Tatbestandsmäßigkeits-Begriff des Strafrechts nachgebildet sein. Während im Strafrecht aber weite Strafrahmen zugelassen werden385, dürfen Steuerbeamte und Steuerrichter die Steuer nicht nach ihrem Ermessen festsetzen; die Steuer muss sich auch der Höhe nach aus dem Gesetz ergeben. Ausnahmen bedürfen gesetzlicher Ermächtigung. Mit dem Begriff der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung wird aber auch noch ein anderer Sinn 234 verbunden: Steuersubjekt, Steuerobjekt, Steuerbemessungsgrundlage und Steuersatz sollen sich aus
382 BVerfG v. 16.1.1957 – 1 BvR 253/56, BVerfGE 6, 32 (36). 383 BVerfG v. 3.12.1958 – 1 BvR 488/57, BVerfGE 9, 3 (11); s. auch BVerfG v. 14.12.1965 – 1 BvR 413/60, BVerfGE 19, 206 (215 ff., 225); v. 14.12.1965 – 1BvL 31/62, BVerfGE 19, 226 (241 f.); v. 14.12.1965 – 1 BvL 2/60, BVerfGE 19, 243 (247); v. 14.12.1965 – 1 BvR 586/58, BVerfGE 19, 248 (251); v. 14.12.1965 – 1 BvR 606/60, BVerfGE 19, 268 (273); v. 27.7.1971 – 2 BvF 1/68, BVerfGE 31, 314 (333 f.). 384 Tipke, StRO I2, 129 f. 385 S. z.B. § 370 I AO: „Mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer …“.
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§ 3 Rz. 235
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
einem formellen Gesetz – nicht aus irgendeinem Rechtssatz – ergeben müssen386. Das läuft auf einen Parlamentsvorbehalt hinaus. § 4 AO, wonach Gesetz jede Rechtsnorm ist, gilt insoweit also nicht. Dieser Auffassung ist i.Erg. beizupflichten. Dies folgt heute aber aus Art. 80 I GG, der auch für das Steuerrecht gilt387. Nach Art. 80 I GG sind Ermächtigungen des (formellen) Gesetzgebers an den Verordnungsgeber nur zulässig, wenn die Ermächtigung nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt ist. Das ist sie aber nur, wenn sie das Steuersubjekt, das Steuerobjekt, die Steuerbemessungsgrundlage und den Steuersatz festlegt. 235 Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung erstreckt sich auch auf Steuerbefreiungen, Steu-
erermäßigungen und sonstige Steuervergünstigungen388. Folglich dürfen weder Behörden noch Gerichte die Steuerschuld ohne gesetzliche Grundlage (begünstigend) herabsetzen. Der Verzicht auf Steuern aus Billigkeitsgründen oder aus Gründen steuertechnischer Vereinfachung bedarf ebenfalls der gesetzlichen Ermächtigung. Solche Ermächtigungen enthalten die §§ 163; 227; 156 AO. Diese sind nach Auffassung des GrS des BFH v. 18.11.2016 zum Sanierungserlass jedoch strikt auf Billigkeitsentscheidungen im Einzelfall beschränkt. Typisierende Billigkeitsregelungen in Gestalt subsumierbarer Tatbestände seien mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar389. Dies schränkt die Möglichkeit von Verwaltungsvorschriften zur gleichmäßigen Erteilung von Billigkeitserlassen und damit deren Vorhersehbarkeit deutlich ein. 236 Steuerliche Wahlrechte beeinträchtigen zwar die Strenge des Legalitätsprinzips, verstoßen indes nicht
gegen den Gesetzesvorbehalt, wenn Voraussetzungen und Reichweite durch Parlamentsgesetz geregelt sind. Eine Besteuerung „nach Wahl“390 unterläuft allerdings die gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Keinesfalls dürfen Beamte oder Richter derartige Wahlrechte im Wege der Gesetzesanwendung, etwa in Verwaltungsvorschriften, gewähren. 237 Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung steht einer Gesetzesauslegung selbstredend
nicht im Wege. Er verträgt aber keine Gesetzeserweiterung oder Gesetzeskorrektur, keine Entscheidung extra oder contra legem. Das Handeln von Beamten und Richtern ist nur aufgrund Gesetzes zulässig. Zwar dürfen m.E. Lücken in einem missglückten Gesetzestext ausgefüllt werden, um den Zweck des Steuergesetzes bei seiner Anwendung beachten zu können; es gibt kein steuerrechtliches Lückenausfüllungs- oder Analogieverbot (s. § 5 Rz. 81 ff.). Das Gesetzmäßigkeitsprinzip wird indes verletzt, wenn Beamte oder Richter das Gesetz korrigieren, weil sie es für ungerecht oder sonst für verfehlt halten. Die Bindung an Gesetz und Recht in Art. 20 III Hs. 2 GG überwindet nicht die Schranken des Gewaltenteilungsgrundsatzes und des hierauf gestützten Verwerfungsmonopols des BVerfG, mag dies auch insofern unbefriedigend sein, als die Verwaltung kein Recht zur Vorlage an das BVerfG besitzt. Sieht ein Finanzgericht Grundrechte als verletzt an, ist es nach Ausschöpfung der Möglichkeiten verfassungskonformer Auslegung verpflichtet, die Entscheidung des BVerfG einzuholen (Art. 100 I GG). Dabei ist die Rspr. allerdings berechtigt, zuvor die Möglichkeiten der Rechtsfortbildung (Analogie und teleologische Reduktion) auszuschöpfen, um den verfassungsrechtlichen Gerechtigkeitswertungen auch ohne Mitwirkung des BVerfG zum Durchbruch zu verhelfen. Der BFH tendiert neuerdings dazu – zugunsten der Stpfl., aber unter Umgehung des BVerfG – gesetzgeberische Intentionen auch dann im Wege verfassungskonformer Auslegung zu berücksichtigen, wenn sie im Gesetzestext nicht
386 Jesch, Gesetz und Verwaltung2, 1968, 107 f.; Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1991, 54 ff.; Tipke, StRO I2, 128 f. 387 Tipke, StRO I2, 129 (m.w.N.). 388 Tipke, StRO I2, 129 (m.w.N.). 389 BFH v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl II 2017, 393 (402 f.), dort Rz. 112. 390 Dazu Birk, NJW 1984, 1325; Belser, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit steuerlicher Wahlrechte, 1986; Weber-Grellet, DStR 1992, 1417; Weber-Grellet, DB 1994, 2405; Weber-Grellet, StbJb. 1994/95, 97; Werndl, ÖStZ 1997, 189; Beck, wistra 1998, 131 (Wahlrechte und Steuerverkürzung). Zu handelsrechtlichen Bilanzierungswahlrechten s. § 9 Rz. 52.
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VII. Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung
Rz. 239 § 3
angedeutet sind391. So begrüßenswert dies i.Erg. ist, bewegen sich diese teleologischen Reduktionen an den Grenzen der Rechtsanwendung392. Überlagert wird der demokratische Gesetzesvorbehalt durch das Europarecht. Der alle Staatsgewalten verpflichtende Anwendungsvorrang des Europarechts (s. Art. 4 III EUV) erfordert die Außerachtlassung europarechtswidriger Gesetze selbst bei explizit entgegenstehendem Gesetzeswortlaut, und zwar bei Vorliegen einer acte claire-Situation auch ohne Anrufung des EuGH (dazu § 4 Rz. 51). Allerdings lassen sich unmittelbar aus dem Europarecht keine Belastungen des Bürgers ableiten, da die Grundfreiheiten die EU-Bürger nur berechtigen und nicht verpflichten und EU-Richtlinien der Umsetzung in nationales Recht bedürfen, um staatliche Eingriffe zu legitimieren (Art. 288 III AEUV).
1.4 Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns Literatur: Isensee, Die typisierende Verwaltung, Habil., 1976; Arndt, Praktikabilität und Effizienz, Habil., 1983; Martens, Vergleichsvertrag im Steuerrecht?, StuW 1986, 97; Rickli, Die Einigung zwischen Behörde und Privaten im Steuerrecht, Diss., 1987; Sontheimer, Der verwaltungsrechtliche Vertrag im Steuerrecht, 1987; Vogel, Vergleich und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung im Steuerrecht, in FS Döllerer, 1988; Buciek, Grenzen des „maßvollen Gesetzesvollzugs“, DStZ 1995, 513; Füllsack, Informelles Verwaltungshandeln, Diss., 1995; Seer, Verträge, Vergleiche und sonstige Verständigungen im deutschen Steuerrecht, StuW 1995, 213; Eckhoff, Vom konfrontativen zum kooperativen Steuerstaat, StuW 1996, 107; Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, Habil., 1996; 4. Münsteraner Symposion, Kooperatives Verwaltungshandeln im Besteuerungsverfahren, m. Beiträgen v. Arndt, Isensee, Kansteiner, Kruse, Raupach u. Seer, 1997; Seer, Möglichkeiten und Grenzen eines „maßvollen“ Gesetzesvollzugs, FR 1997, 553; Meyding u. Stolterfoht, Vereinfachender Gesetzesvollzug durch die Verwaltung, DStJG 21 (1998), 219, 233; Hoffmann, Der maßvolle Gesetzesvollzug im Steuerrecht, 1999; Tipke, Besteuerungsmoral und Steuermoral, 2000; Tipke, StRO I2, 2000, 118 ff.; MüllerFranken, Maßvolles Verwalten, Habil., 2004; Söhn, Steuervereinbarungen und Verfassungsrecht, in FS Selmer, 2004, 911.
Das Gesetzmäßigkeitsprinzip in seiner Ausprägung als Vorrang des Gesetzes enthält nicht nur ein 238 Abweichungsverbot (s. Rz. 230, 232), sondern darüber hinaus auch ein Anwendungsgebot393. Als Ausdruck der demokratischen Staatsform ist das Gesetz nicht bloß Schranke, sondern zugleich Antrieb des Verwaltungshandelns. Für den Bereich der Besteuerung sind die Finanzbehörden deshalb nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die gesetzlich geschuldeten Steuern fest- und durchzusetzen394. Demgemäß verpflichtet § 85 AO die Finanzbehörden, die Steuern nach Maßgabe der Gesetze festzusetzen, zu erheben und insb. sicherzustellen, dass keine Steuern verkürzt werden. Unzulässig ist damit „nicht nur die Besteuerung außerhalb des Gesetzes, sondern auch die Nichtbesteuerung trotz gesetzlicher Anordnung“395. Das Anwendungsgebot verlangt vom Finanzbeamten jedoch nicht, jeden einzelnen Steuerfall nach 239 Art eines Untersuchungsrichters aufzuklären (zum Untersuchungsgrundsatz s. § 21 Rz. 3). Wenn die Finanzbehörde gezwungen wäre, jeden Steuerfall detailliert auf alle nach dem Gesetz u.U. verwirklichten Steuerfolgen hin zu untersuchen, so könnte sie nur einige Fälle exakt, das Gros der Fälle aber 391 So etwa Beschränkung von § 2 III 2 ff. EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 auf „unechte Verluste“ durch BFH v. 9.3.2011 – IX R 56/05, BStBl. II 2011, 649, oder Ausnahme definitiv werdender Verluste aus der Mindestbesteuerung des § 10d II EStG durch BFH v. 26.8.2010 – I B 49/10, BStBl. II 2011, 826; „verfassungskonforme Auslegung“ von § 6 V 3 EStG bei Übertragung von Wirtschaftsgütern zwischen personenidentischen Schwestergesellschaften s. BFH v. 15.4.2012 – IV B 105/09, BStBl. II 2010, 971; s. aber auch dagegen die Vorlage des I. Senats des BFH v. 10.4.2013 – I R 80/12, BStBl. II 2013, 1004 (1010, dort Rz. 50) an das BVerfG, Az. 2 BvL 8/13 (Wortlautgrenze!). 392 Hierzu Brandis, StuW 2013, 88. 393 Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, HStR V3, 2007, § 101 Rz. 4 f. 394 S. bereits Bühler, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1927, 70 f.; Isensee, FS Flume, Bd. II, 1978, 133; Hahn, Die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung in rechtsvergleichender Sicht, Diss., 1984, 69 ff.; Birk, StuW 1989, 212 (213). 395 Birk, StuW 1989, 212 (213).
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§ 3 Rz. 240
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
überhaupt nicht dem materiellen Steuergesetz entsprechend behandeln. Begrenzte Verwaltungsressourcen bewirken, dass sich die größtmögliche Realisierung der Gesetzmäßigkeit im Einzelfall nicht mit der größtmöglichen Realisierung der Gesetzmäßigkeit im Gesamtvollzug, d.h. in der Summe aller Einzelfälle, deckt396. Akzeptiert man als Realität, dass der Vollzug der Steuergesetze immer unter den Bedingungen mehr oder minder begrenzter Verwaltungskapazitäten geschieht, so zwingt das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit (Art. 3 I GG, s. Rz. 110 ff.) dazu, das Verwaltungshandeln auch an der praktischen Realisierbarkeit des Gesamtvollzugs der periodisch jährlich massenweise wiederkehrenden Steuerverfahren auszurichten397. Der finanzbehördliche Gesetzesvollzug steht deshalb vor einem Optimierungsauftrag zwischen beiden verfassungsrechtlichen Gütern. § 85 Satz 1 AO verdeutlicht dies, indem er die Finanzbehörde verpflichtet, die Steuern sowohl „nach Maßgabe der Gesetze“ als auch „gleichmäßig“ zu erheben398. Als dritte verfassungsrechtliche Komponente hat die Finanzverwaltung die durch den Gesetzesvollzug betroffenen Freiheitsgrundrechte (Rz. 185 ff.) in den Abwägungsprozess einzustellen und innerhalb dieses „verfassungsrechtlichen Dreiecks“399 nach einem möglichst schonenden Ausgleich400 zu suchen. Zu den konkreten Anforderungen an die Ausgestaltung des Gesamtvollzugs und der Herausbildung einer Kooperationsmaxime s. § 21 Rz. 170. 240 Im Gegensatz zu Grundrechtsträgern genießen die Finanzbehörden keine Willensfreiheit, kraft derer
sie zu autonomen Vereinbarungen mit Stpfl. berechtigt wären. Eine Vertragsfreiheit, welche die Verwaltung von den „Fesseln der Gesetzmäßigkeit“ befreit, existiert nicht. Als Grundrechtsverpflichtete können sie nach Art. 20 III GG vielmehr nur in den von Gesetz und Recht gezogenen Grenzen agieren401. Der Finanzbehörde ist es deshalb verwehrt, dem einseitigen Interesse des Stpfl., das naturgemäß auf eine möglichst niedrige Steuerlast gerichtet ist, aus falsch verstandener Verwaltungsökonomie, Bequemlichkeit oder Opportunismus contra legem nachzugeben402. So verletzt eine Gemeinde das aus dem Gesetzmäßigkeitsprinzip folgende sog. Koppelungsverbot, wenn sie sich gegenüber einem Unternehmen vertraglich verpflichtet, als Gegenleistung für dessen Ansiedlung im Gemeindegebiet die Gewerbesteuer für eine gewisse Zeit zu erlassen. Ein derartiger Steuervertrag ist wegen Verstoßes gegen das Verbot gesetzesabweichender Steuervereinbarung nichtig403. 241 Entgegen verbreiteter Auffassung404 folgt daraus aber kein allgemeines Verbot öffentlich-rechtlicher
Verträge im Steuerrecht. Es muss zwischen Rechtsform und Inhalt des Verwaltungshandelns deutlich
396 Dazu ausf. § 21 Rz. 5. 397 Vgl. Arndt, Praktikabilität, 83. 398 Entgegen Isensee, Typisierende Verwaltung, Habil., 1976, 101 ff., 157 ff., bedarf die Finanzverwaltung keiner „überlegalen Notkompetenz“, um sich in ihrem Verwaltungshandeln an der Verwirklichung der Gesetzmäßigkeit im Gesamtvollzug orientieren zu dürfen; einlenkend Isensee in 4. Münsteraner Symposion, 20 f. 399 Dazu i.E. Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, Habil., 1996, 295 ff. 400 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, Habil., 1961, 153; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland20, 1995, Rz. 72, 317: „Prinzip praktischer Konkordanz“. 401 Grundl. Spannowsky, Grenzen des Verwaltungshandelns durch Verträge und Absprachen, Habil., 1994, 273 ff. 402 Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, Habil., 1996, 123. 403 Dazu ausf. Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, Habil., 1996, 376 ff.; i.Erg. zutr. BVerwG v. 5.6.1959 – VII C 83.57, BVerwGE 8, 329 (332); v. 12.7.1963 – VII C 27.62, BStBl. I 1963, 794; v. 18.4.1975 – VII C 15.73, BStBl. II 1975, 679 (682); v. 21.10.1983 – 8 C 174/81, DVBl. 1984, 192 (193); OVG Lüneburg v. 1.7.1952 – II A 127/51, OVGE 6, 297; OVG Rheinland-Pfalz v. 1.12.1969 – 6 A 13/69, KStZ 1970, 96; OVG Rheinland-Pfalz v. 9.9.1985 – 12 B 50/85, NVwZ 1986, 68. 404 Vgl. RFH v. 5.1.1938 – VI 683/37, RStBl. 1938, 74; BFH v. 27.1.1955 – IV 281/54 U, BStBl. III 1955, 92; v. 13.7.1955 – VIII R 131/76, BStBl. III 1955, 251; v. 17.12.1963 – VIII R 131/76, BStBl. III 1964, 88; Martens, StuW 1986, 97 (102 f.); HHSp/Schuster, § 38 AO Rz. 66 ff. (2005); HHSp/Söhn, § 78 AO Rz. 107 ff. (2009); Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, Habil., 2004, 190 ff.
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VII. Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung
Rz. 243 § 3
unterschieden werden405. Die Rechtsform sagt über den Inhalt des Verwaltungshandelns nichts aus. Der Inhalt eines öffentlich-rechtlichen Vertrages kann ebenso wie der Inhalt eines Verwaltungsakts rechtmäßig oder rechtswidrig sein. Das Gesetzmäßigkeitsprinzip fordert daher nicht die Unzulässigkeit der Vertragsform, sondern nur eine wirksame Sanktion, wenn der Vertrag inhaltlich das Gesetz verletzt. Die Abgabenordnung hat sich weder ausdrücklich für den öffentlich-rechtlichen Vertrag entschieden406 noch hat sie „beredt geschwiegen“407. Vielmehr fehlt ein erkennbarer Regelungsplan, so dass der Rechtsanwender schlicht vor einem juristischen Vakuum steht408. Insoweit eröffnet sich für die (legislativen) Komplementärgewalten der Exekutive und Judikative ein Raum zur Rechtsfortbildung des Verfahrensrechts409. Dieses Vakuum hat die Rspr. in Gestalt des unmittelbar aus Treu und Glauben abgeleiteten Rechts- 242 instituts der sog. tatsächlichen Verständigung ausgefüllt410. Sie trägt damit praktischen Bedürfnissen sowie der Erkenntnis Rechnung, dass das Steuerrecht keineswegs ein gesetzlich voll durchprogrammiertes Recht (ius strictum) ist, das jeweils nur eine einzig richtige Entscheidung zulässt. In Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung, zu denen Fälle der Schätzung, Wertermittlung und zukunftsorientierten Prognose gezählt werden, lässt der BFH eine beide Seiten bindende sog. tatsächliche Verständigung zu. Bei genauer Betrachtung ist das von der Rspr. kreierte Rechtsinstitut der „tatsächlichen Verständigung“ allerdings nichts anderes als ein öffentlich-rechtlicher Vertrag (s. § 21 Rz. 22). 2. Gebote der Bestimmtheit und Normenklarheit Literatur: Papier, Der Bestimmtheitsgrundsatz, DStJG 12 (1989), 61 ff.; Voß, Ungewißheit im Steuerrecht, 1992; Gassner, Gesetzgebung und Bestimmtheitsgrundsatz, ZG 1996, 37; Tipke, StRO I2, 2000, 136 ff.; Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 186 ff., 547 ff.; Fuchs, Bestimmtheit im Ertragsteuerrecht, 2004; Jehke, Bestimmtheit und Klarheit im Steuerrecht, 2005; Luttermann, Normenklarheit im Steuerrecht und „unbestimmte“ Rechtsbegriffe, FR 2007, 18; Hey, Wandel der Verfassungsrechtsprechung, in StbJb. 2007/2008, 19 (52 f.); Krüger, Normenklarheit u. Vertrauensschutz, NWB 2008, Fach 2, 9825; Ruppe, Der Anspruch auf Normenklarheit im Steuerrecht u. seine Durchsetzung im Gesetzgebungs- u. Rechtsschutzverfahren, DStR-Beihefter zu Heft 17/2008, 20; Drüen, Normenwahrheit als Verfassungspflicht?, ZG 2009, 60; Towfigh, Komplexität und Normenklarheit, Der Staat 48 (2009), 29; Bartone, Gedanken zu den Grundsätzen der Normenklarheit und Normenbestimmtheit als Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips, in Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rspr. des BVerfG – erörtert von den wissenschaftl. Mitarbeitern, 2009, 305.
Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung wird konkretisiert durch die Gebote der Nor- 243 menklarheit und -bestimmtheit. Nach der Rspr. des BVerfG411 soll das Bestimmtheitsgebot sicherstellen, dass die gesetzesausführende Verwaltung für ihr Verhalten steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfindet und dass die Gerichte die Rechtskontrolle durchführen können, wozu sie von Verfassungs wegen verpflichtet sind412. Die Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit 405 Sontheimer, Der verwaltungsrechtliche Vertrag im Steuerrecht, Diss., 1987, 72; Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, Habil., 1996, 128 ff. 406 So unter Hinweis auf § 78 Nr. 3 AO: z.B. Meyer, NJW 1977, 1705 (1708); Iwanek, DStR 1993, 1394 (1397). 407 So z.B. von Groll, FR 1995, 814 (818). 408 Zu dieser in der Methodenlehre vernachlässigten Art von Lücken s. J. Lang, FS Höhn, 1995, 159 (164 ff.). 409 Die Rechtsform des öffentlich-rechtlichen Vertrages ist mangels spezifischer Grundrechtsrelevanz vorbehaltsneutral (dazu Rz. 230 ff.) und bedarf keiner ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung, s. Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, 133 ff., 158 ff., sowie Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, Habil., 2004, 215 f., unter Hinweis auf die Wesentlichkeitstheorie. 410 Zur Rspr. und zu den Einzelheiten der tatsächlichen Verständigung: § 21 Rz. 20 ff. 411 BVerfG v. 3.3.2004 – 1 BvF 3/92, BVerfGE 110, 33 (52 f.); v. 27.7.2005 – 1 BvR 668/04, BVerfGE 113, 348 (375 f.); sowie BVerfG v. 13.6.2007 – 1 BvR 1550/03, BVerfGE 118, 168 (186 f.). 412 BVerfG v. 31.5.2011 – 1 BvR 857/07, BVerfGE 129, 1 (22 f.).
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§ 3 Rz. 244
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
der Norm dienen insb. dazu, die Verwaltung zu binden und ihr Verhalten nach Inhalt, Zweck und Ausmaß zu begrenzen413. Der Bürger soll sich auf mögliche belastende Maßnahmen einstellen können. Bestimmtheit und Klarheit von Steuergesetzen gewährleisten die Vorhersehbarkeit des Grundrechtseingriffs. Der Bestimmtheitsgrundsatz gilt sowohl für den Tatbestand als auch für die Rechtsfolge. Dementsprechend müssen auch Ermessensentscheidungen durch Gesetz hinreichend vorbestimmt sein. 244 Die Rspr. differenziert zunehmend zwischen Normbestimmtheit und Normklarheit414:
– Das Bestimmtheitsgebot richtet sich in erster Linie gegen allzu offene, unbestimmte Tatbestandsmerkmale, die eine rechtssichere Auslegung nicht zulassen, d.h. deren Inhalt nicht nur unbestimmt, sondern unbestimmbar ist. – Der Grundsatz der Normenklarheit ist dagegen verletzt, wenn im Zusammenspiel mehrerer Bestimmungen das Verhältnis der Normen zueinander unklar ist. Das Gebot der Normenklarheit kann innerhalb eines einzelnen Paragraphen verletzt sein, häufiger sind Normenkomplexe betroffen. Ursachen sind u.a. eine Häufung von dynamischen und statischen Verweisungen, unreflektierte Begriffsbildung, widersprüchliche Begriffsverwendung, komplizierte Tatbestandsstufungen mit Regel-, Ausnahme- und Rückausnahmebestimmungen. Ein Verstoß gegen die Normenklarheit kann ferner durch eine Häufung unbestimmter, für sich betrachtet noch bestimmbarer, aber im Zusammenspiel zu einer „Gesamtunschärfe“ führender Tatbestandsmerkmale begründet werden415. Übermäßige Komplexität von Tatbeständen führt zu sog. Hyperlexie416. Während unbestimmte Tatbestandsmerkmale zielgerichtet eingesetzt werden, um das Gesetz entwicklungsoffen zu halten, sind Verstöße gegen die Normenklarheit in der Regel nicht intendiert, sondern Folge schlechter Gesetzgebung. Dem Gebot der Normenklarheit kommt im Steuerrecht große Bedeutung zu. Die Undurchschaubarkeit von Steuergesetzen resultiert häufig nicht nur aus der Unbestimmtheit eines einzelnen Tatbestandsmerkmals oder der Verwendung vager Generalklauseln, sondern aus einem Übermaß an sprachlich unklar abgefassten Detailregelungen, deren Verhältnis zueinander unklar ist. 245 Die vom BVerfG formulierte Forderung, steuerbegründende Tatbestände müssten so bestimmt sein,
dass der Stpfl. die auf ihn entfallende Steuerlast vorausberechnen kann417, muss sich am Verständnishorizont des von der Steuernorm „Betroffenen“ orientieren. Dies ist der Stpfl., nicht sein Berater418, erst recht nicht ein mit hochqualifizierten Richtern besetzter BFH-Senat. Die verfassungsrechtlich sichergestellte Gewähr von Rechtsschutz (Art. 19 IV GG) vermag einer unbestimmten oder unklaren Norm nicht zu Bestimmtheit oder Klarheit zu verhelfen. 246 Das Ausmaß der erforderlichen (hinreichenden) Bestimmtheit einer gesetzlichen Ermächtigung lässt
sich indes nicht allgemein festlegen, sondern hängt von der Eigenart des geregelten Sachbereichs ab, insb. von dem Ausmaß, in dem Grundrechte betroffen werden, und von der Art und der Intensität des Verhaltens, zu dem die Verwaltung ermächtigt wird. Die Anforderungen im Einzelfall richten sich nach 413 BVerfG v. 8.1.1981 – 2 BvL 3/77, BVerfGE 56, 1 (12); v. 3.3.2004 – 1 BvF 3/92, BVerfGE 110, 33 (54); sowie v. 13.6.2007 – 1 BvR 1550/03, BVerfGE 118, 168 (187). 414 Z.B. BVerfG v. 9.4.2003 – 1 BvL 1/01, BVerfGE 108, 52 (75); s. auch Waldhoff/Grefrath, IStR 2013, 477 (478 ff.). 415 Zutr. Bartone in Rensen/Brink, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009, 305 (311). 416 Seer/Michalowski, GmbHR 2017, 609 (614 ff.; 622) am Beispiel der erbschaftsteuerrechtliche Sonderregeln für Betriebsvermögen; allgemein Towfigh, Der Staat 48 (2009), 29 (31 f.). 417 BVerfG v. 14.12.1965 – 1 BvR 571/60, BVerfGE 19, 253 (267); v. 28.2.1973 – 2 BvL 19/70, BVerfGE 34, 348 (365); v. 12.10.1978 – 2 BvR 154/74, BVerfGE 49, 343 (362). 418 Dazu BVerfG v. 3.3.2004 – 1 BvF 3/92, BVerfGE 110, 33 (54); v. 22.3.2005 – 1 BvQ 2/05, BVerfGE 112, 284 (304); Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 558 ff.
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VII. Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung
Rz. 247 § 3
Art und Schwere des jeweiligen Eingriffs. Der Bestimmtheitsgrundsatz ist Prinzip, nicht Norm. Vorausberechenbarkeit meint nicht arithmetisch genaue Berechenbarkeit, sondern ein Mindestmaß an Orientierungssicherheit. Insb. verbietet das Bestimmtheitsgebot nicht von vornherein die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe. Bei vielgestaltigen Sachverhalten ist eine solche Regelungstechnik verfassungsrechtlich grds. unbedenklich. Allerdings rückt dann das Gebot der Normenklarheit in den Vordergrund. Ist eine Norm sowohl offen als auch unklar formuliert, wird sie gerade den Anforderungen des Vollzugs im Massenverfahren nicht mehr gerecht. Obgleich die Bestimmtheit und Verständlichkeit des Gesetzes essentielle Voraussetzungen von Steu- 247 erplanungssicherheit sind419, nimmt die streitanfällige Unbestimmbarkeit und Unverständlichkeit der Steuergesetze permanent zu. Das BVerfG weigert sich, die Gebote der Bestimmtheit und Normenklarheit im Steuerrecht zu effektuieren420. Zwar hat es in einer Sonderkonstellation zum Schutz der informationellen Selbstbestimmung festgestellt, § 93 VIII AO421 verstoße gegen das Gebot der Normenklarheit, da der Kreis der Behörden, die ein Ersuchen zum Abruf von Kontostammdaten stellen können, und die Aufgaben, denen solche Ersuchen dienen sollen, nicht hinreichend bestimmt festlegt sei422. Zum materiellen Steuerrecht frustriert das BVerfG indes alle Hoffnungen, dass dem die Grundsätze der Verstehbarkeit und Vollzugstauglichkeit missachtenden Steuergesetzgeber verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt werden könnten. Es hat die wohlbegründete Vorlage des BFH423 zur Einschränkung des Verlustausgleichs durch § 2 III 2–8 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 als unzulässig zurückgewiesen424 und damit die Anforderungen an die Darlegung der Anwendungsschwierigkeiten so hochgeschraubt, dass es kaum jemals möglich sein dürfte, überhaupt nur die Zulässigkeitshürde zu nehmen. Das Gericht vollzieht eine Abkehr von der richtigen, aber letztlich nur phrasenhaft erhobenen Forderung, der Stpfl. müsse in der Lage sein, seine Steuerlast vorauszuberechnen, wenn es ausreichen lässt, dass die Rechtsanwendungsorgane Zweifelsfragen mit den herkömmlichen Mitteln juristischer Methode unter Heranziehung der gesamten verfügbaren Fachliteratur bewältigen können425. Mit der Überkomplexität426 der früheren Mindestbesteuerung hat sich das Gericht gar nicht erst auseinandergesetzt (zu den Verbindungslinien zum Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit s. Rz. 115). Die aufwendige Rechenprozedur und Separierung von Verlustvorträgen war dem Sachverhalt und dem Regelungsziel (angeblicher) Missbrauchsvermeidung unangemessen. Weder galt es, einen komplexen Lebenssachverhalt zu regeln, noch betraf die Regelung nur einige wenige, steuerlich besonders versierte Stpfl. Vielmehr stellt der Verlustausgleich zwischen verschiedenen Einkunftsarten einen Grundtatbestand des Einkommensteuerrechts dar (§ 8 Rz. 60 f.). § 2 III 2–8 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 war unnötig kompliziert und damit unverhältnismäßig. Auch hat das BVerfG die Chance vertan, der häufig miserablen handwerklichen Qualität der Steuergesetze entgegenzuwirken. Im Gegenteil, es stellt dem unachtsam agierenden Gesetzgeber geradezu einen Freibrief aus: „Stilistische Mängel“ seien grds. unbeachtlich427. Gerade für handwerklich schlechte Gesetze, unklare Regelungspläne und unübersichtlichen Gesetzesaufbau gibt es indes keinerlei Recht419 Dazu grundl. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 547 ff. 420 Dazu Tipke, StRO I2, 138 f.; Papier, DStJG 12 (1989), 61: „Verfassungsrecht und Wirklichkeit klaffen selten so stark auseinander wie beim Bestimmtheitsgrundsatz allgemein und bei seiner Anwendung auf das Steuerrecht im besonderen. Seine Unangefochtenheit und ‚verbale Glorifizierung‘ in Rspr. und Literatur stehen in einem auffälligen Missverhältnis zur tatsächlichen Beachtung in der Gesetzgebung und zur faktischen Durchsetzung seitens der Judikatur.“ 421 Eingeführt durch Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit v. 23.12.2003, BGBl. I 2003, 2928. 422 BVerfG v. 13.6.2007 – 1 BVR 155/03, BVerfGE 118, 168. 423 BFH v. 6.9.2006 – XI R 26/04, BStBl. II 2007, 167. 424 BVerfG v. 12.10.2010 – 2 BvL 59/06, BVerfGE 127, 335 (355). 425 BVerfG v. 12.10.2010 – 2 BvL 59/06, BVerfGE 127, 335; strenger der österreichische VfGH v. 29.6.1990 – G 81/90, Slg. 12420/1990. 426 Zu den verfassungsrechtlichen Folgen von Überkomplexität am Beispiel der §§ 7–14 AStG Waldhoff/ Grefrath, IStR 2013, 477. 427 BVerfG v. 12.10.2010 – 2 BvL 59/06, BVerfGE 127, 335 (357).
Hey 135
§ 3 Rz. 247
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
fertigung. Es handelt sich um eine auch verfassungsrechtlich nicht hinnehmbare „Rücksichtslosigkeit“428 gegenüber den Normunterworfenen. Eine Konsequenz des Zurückweisungsbeschlusses des BVerfG könnte in der Eröffnung weitergehender Spielräume für eine verfassungskonforme Rechtsanwendung liegen. Wenn stilistische Mängel des Gesetzestextes verzeihlich sind, dann muss auch eine sich stärker vom verunglückten Gesetzeswortlaut lösende steuersystematische und verfassungsrechtliche Korrektur durch die Rspr. zulässig sein. In diese Richtung weisen die Anschlussentscheidungen des BFH429, wonach § 2 III 2 ff. EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 nur auf sog. „unechte Verluste“ Anwendung findet. Die Bereitschaft des BFH, mangelhaft abgefasste Normen auch ohne Anrufung des BVerfG verfassungsrechtlich zu korrigieren, wächst. 248–259
Einstweilen frei.
3. Rechtssicherheit durch Vertrauensschutz 3.1 Prinzipielles Verbot rückwirkender Steuergesetze Literatur: Ältere Lit. s. 20. Aufl. vor Rz. 170 u. 179. Allgemein: Götz, BVerfG und Vertrauensschutz, in Festgabe für das BVerfG, Bd. II, 1976, 421; Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981; Stern, Zur Problematik rückwirkender Gesetze, in FS Maunz, 1981, 381; Stern, Das Staatsrecht der BRD, Bd. I2, 1984, 832 ff.; Vogel, Rechtssicherheit und Rückwirkung zwischen Vernunftrecht und Verfassungsrecht, JZ 1988, 833; Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, Diss., 1989; Schmidt, Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit rückwirkender Gesetze, DB 1993, 2250; Wernsmann, Grundfälle zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit rückwirkender Gesetze, JuS 1999, 1177; Vogel, Rückwirkung: eine festgefahrene Diskussion, Ein Versuch, die Blockade zu lösen, in FS Heckel, 1999, 875; Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, Diss., 2002 (krit. zu BVerfG u. EuGH); Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, Eine Analyse des nationalen Rechts, des Gemeinschaftsrechts und der Beziehungen zwischen beiden Rechtskreisen, Habil., 2002; Altmeyer, Vertrauensschutz im Recht der Europäischen Union und im deutschen Recht, Diss., 2003; Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, HStR IV3, 2006, § 79 Rz. 17 ff.; Maciejewski/Theilen, Die aktuelle bundesverfassungsgerichtliche Spruchpraxis zu rückwirkenden Gesetzen, DÖV 2015, 271. Besondere: Friauf, Gesetzesankündigung und rückwirkende Gesetzgebung im Steuer- und Wirtschaftsrecht, BB 1972, 669; Selmer, Rückwirkung von Gesetzen, Verwaltungsanweisungen und Rspr., in StKongrRep. 1974, 83; P. Kirchhof, Die Rückwirkung steuerkonkurrenzlösender Rechtssätze, DStR 1979, 275; Tipke, Zu Gerd Roses Bemühen um mehr Steuerplanungssicherheit, Ein Beitrag aus juristischer Sicht, in FS Rose, 1991, 91 (98 ff.); Ruppe, Rückwirkung von Abgabengesetzen, in FS Adamovich, 1992, 567; Rose, Von den Steuerrechten im Halbschatten und ihrer Bedeutung für die Steuerplanung, in GS Knobbe-Keuk, 1997, 515; Hey, Abbau von Direktsubventionen und Steuervergünstigungen, StuW 1998, 298; J. Lang, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit rückwirkender Steuergesetze, WPg 1998, 163; Spindler, Verfassungsrechtliche Grenzen einer Rückwirkung von Steuergesetzen, DStR 1998, 953; Jachmann, Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit rückwirkender Steuergesetze, ThürVBl 1999, 269; Snelting, Vertrauensschutz als Instrument der Steuerpolitik, StuW 1999, 382; P. Kirchhof, Rückwirkung von Steuergesetzen, StuW 2000, 221; Schaumburg, Rückwirkung und Planungssicherheit im Steuerrecht, DB 2000, 1884; Tipke, StRO I2, 2000, 145 ff.; Spindler, Vertrauensschutz im Steuerrecht, DStR 2001, 725; Vogel, in FS 50 Jahre BVerfG, 2001, 527 (549 ff.); Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 203 ff.; Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip unter besonderer Berücksichtigung des Steuerrechts, Habil., 2002, 475 ff.; DWS, Rückwirkung von Steuergesetzen, 2002; Pezzer (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht, DStJG 27 (2004); Englisch/Plum, Schutz des Vertrauens auf Steuergesetze, Finanzrechtsprechung und Regelungen der Finanzverwaltung, StuW 2004, 342; Werder, Dispositionsschutz bei der Änderung von Steuergesetzen zwischen Rückwirkungsverbot und Kontinuitätsgebot, Diss., 2005; FS Raupach, 2006, m. Beiträgen von Jachmann, Wenn die Rückwirkung zur gesetzgeberischen Routine wird, 27, u. Lehner, Das Rückwirkungsproblem im Spiegel der Abschnittsbesteuerung, 67; Hey, Vom Eintreten des BFH für mehr Steuerplanungs-
428 Altfelder, DB 2001, 350 (355). 429 BFH v. 9.3.2011 – IX R 56/05, BStBl. II 2011, 649.
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Hey
VII. Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung
Rz. 260 § 3
sicherheit, DStR 2007, 1; Hey, Wird die Gesetzesverkündung wieder zum Maß des Vertrauensschutzes?, NJW 2007, 408; Goebel/Eilinghof, Rechtsstaatsprinzip versus Gesetzgebungspraxis des deutschen Parlaments, DStZ 2008, 311; Versin, Rückwirkung von Steuergesetzen, SteuerStud 2009, 172; Schön, „Rückwirkende Klarstellungen“ des Steuergesetzgebers als Verfassungsproblem, in FS J. Lang, 2010, 221; Birk, Der Schutz vermögenswerter Positionen bei der Änderung von Steuergesetzen, FR 2011, 1; Desens, Die neue Vertrauensschutzdogmatik des BVerfG für das Steuerrecht, StuW 2011, 113; Momen, Rückwirkung von Steuergesetzen, BB 2011, 2781; Schönfeld/Häck, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit „unecht“ rückwirkender Steuergesetze, DStR 2012, 1725; Wiss. Beirat Steuern Ernst & Young, Zur Rückwirkung von Normen des Steuerrechts, DB 2012, 761; Desens, Echter Vertrauensschutz bei „unechten“ Rückwirkungen im Steuerrecht, FR 2013, 148; Hey, § 153: Steuerplanung, in Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013; Hey, Rückwirkende Klarstellung und rückwirkende Nichtanwendungsgesetzgebung, JZ 2014, 500; Drüen, Verfassungsrechtliche Grenzen „klarstellender“ Gesetzesänderungen, Ubg 2014, 683; Osterloh, Neuere Entwicklungen zum verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz im Steuerrecht, StuW 2015, 201; Drüen, Rückwirkende Nichtanwendungsgesetze im Steuerrecht, StuW 2015, 210; P. Kirchhof, Die verfassungsrechtlichen Grenzen rückwirkender Steuergesetze, DStR 2015, 717. Ausland/EU: Hahn, Vertrauensschutz im französischen Steuerrecht, IStR 2003, 593; Houloubek/Lang, Vertrauensschutz im Abgabenrecht, 2004; Vorwold, Die Rückwirkung von Steuergesetzen im amerikanischen Verfassungsrecht, StuW 2004, 372; Mairinger/Twardosz, Die maßgebende Rechtslage im Abgabenrecht – Teil I, ÖStZ 2007, 16 (49 ff.) (Rückwirkung von Steuergesetzen); Gunacker-Slawitsch, Überblick über die Vertrauenstatbestände im Abgabenrecht, in FS Ruppe, 2007, 186 (Österreich/EuGH-Rspr.); Hahn, Neues zur Rückwirkung – die Europäische Menschenrechtskonvention, eine übersehene Rechtsquelle, IStR 2011, 437; Meindl, Rechtsschutz gegen rückwirkende Steuergesetze durch die EMRK – ein Vergleich mit der Rechtsprechung zum GG, StuW 2013, 143; Wienbracke, USA – Land der schier unbegrenzten Möglichkeiten rückwirkender belastender Steuergesetzgebung, ZVglRWiss 114 (2015), 337.
3.1.1 Verfassungsrechtliche Grundlagen Das Grundgesetz enthält nicht expressis verbis ein Rückwirkungsverbot für Steuergesetze. Art. 103 II 260 GG bezieht sich nur auf das Strafrecht und ist nicht entsprechend auf das Steuerrecht anwendbar430. Jedoch leitet das BVerfG aus dem rechtsstaatlichen Rechtssicherheitsprinzip in Verbindung mit betroffenen Grundrechten ein prinzipielles Verbot rückwirkender Gesetze ab. Dabei betont das BVerfG431 zur Abschaffung von Subventionen für den Schiffsbau die freiheitsrechtliche Komponente: Die Verlässlichkeit der Rechtsordnung sei „eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Es würde den Einzelnen in seiner Freiheit erheblich gefährden, dürfte die öffentliche Gewalt an sein Verhalten oder an ihn betreffende Umstände im Nachhinein belastendere Rechtsfolgen knüpfen, als sie zum Zeitpunkt seines rechtserheblichen Verhaltens galten“. Das Rückwirkungsverbot greift bei der Rückwirkung von belastenden Gesetzen ein, wobei belastend auch Gesetze sind, die rückwirkend eine Vergünstigung einschränken oder aufheben432. Das Rückwirkungsverbot wirkt indes nicht absolut. Nahezu jedes neue Gesetz wirkt auf in der Vergangenheit begonnene Lebenssachverhalte ein und enttäuscht Erwartungen in die Kontinuität des Rechts. Trotzdem muss der Gesetzgeber zu Gesetzesänderungen in der Lage sein. Um Voraussetzungen und Ausnahmen eines Rückwirkungsverbots wird daher gerungen.
430 Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, Habil.,1986, 417 f.; s. auch BVerfG v. 24.7.1957 – 1 BvL 23/52, BVerfGE 7, 89 (95). 431 BVerfG v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67 (78); dazu Hey, BB 1998, 1444; Leisner, StuW 1998, 254. 432 BVerfG v. 23.3.1971 – 2 BvL 2/66, BVerfGE 30, 367 (386); v. 17.7.1974 – 1 BvR 51/69, BVerfGE 38, 61 (83); v. 17.1.1979 – 1 BvR 446/77, BVerfGE 50, 177 (193); v. 5.2.2005 – 2 BvR 305/93, BVerfGE 105, 17 (37).
Hey 137
§ 3 Rz. 261
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
3.1.2 Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung 261 Zur Eingrenzung unterscheidet das BVerfG zwischen grds. unzulässiger echter (retroaktiver) und
grds. zulässiger unechter (retrospektiver) Rückwirkung433. Der Zweite Senat des BVerfG434 verwendet seit 1983 auch die Begriffe der Rückbewirkung von Rechtsfolgen (statt echter Rückwirkung) und der tatbestandlichen Rückanknüpfung (statt unechter Rückwirkung), ohne dass dies zu Unterschieden in der Sache führt. 262 Echte Rückwirkung nimmt das BVerfG an, wenn das Gesetz in abgeschlossene, der Vergangenheit
angehörende Tatbestände eingreift und deren bereits eingetretene Rechtsfolgen nachträglich ändert. Demgegenüber liegt lediglich unechte Rückwirkung vor, wenn die Gesetzesänderung auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen, die aber in der Vergangenheit ins Werk gesetzt wurden, für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die Rechtsposition nachträglich im Ganzen entwertet435. Im Unterschied zur tatbestandlichen Rückanknüpfung (unechten Rückwirkung), die lediglich den sachlichen Anwendungsbereich einer Norm betreffe, entfalte eine Rechtsnorm nur dann echte Rückwirkung, wenn der Beginn ihres zeitlichen Anwendungsbereichs normativ auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm gültig geworden ist, d.h. vor Verkündung (Art. 82 I GG) liegt436. Im Steuerrecht führt dies zu der sog. Veranlagungszeitraumrechtsprechung. Ausgangspunkt ist das Entstehen des Steueranspruchs gem. § 38 AO. Infolgedessen nimmt das BVerfG bei den periodischen Steuern (Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Annexsteuern, Umsatzsteuer) lediglich unechte Rückwirkung an, wenn das Gesetz noch vor Jahresende mit Wirkung auf den Jahresanfang verkündet wird, weil der Steueranspruch erst mit dem Ablauf des Veranlagungszeitraums (Kalenderjahr: §§ 25 I; 36 I EStG; §§ 30; 31 KStG) entsteht437. Echte Rückwirkung soll hingegen vorliegen, wenn das Gesetz rückwirkend auf das Vorjahr erst im folgenden Jahr beschlossen wird438, weil nur dann nachträglich auf eine bereits entstandene Rechtsfolge eingewirkt wird. Beispiel: Die Einkommensteuer 01 entsteht mit Ablauf des Jahres 01. Obwohl die Sachverhalte, die zu Einkünften führen, während des ganzen Jahres verwirklicht werden, soll es zulässig sein, z.B. noch am 31.12.01 den Einkommensteuertarif 01 zu verschärfen. Darin sieht das BVerfG eine bloß unechte Rückwirkung oder tatbestandliche Rückanknüpfung. Würde der Gesetzgeber hingegen am 2.1.02 beschließen, den Steuersatz für 01 zu erhöhen, so läge eine echte Rückwirkung vor. Unter Vertrauensschutzaspekten sind die Fälle jedoch im Wesentlichen gleich. Beispiel: Mit Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 v. 24.3.1999, BGBl. I 1999, 402, verlängert der Gesetzgeber die bisherige zweijährige Veräußerungsfrist für Immobilien auf 10 Jahre mit Wirkung für Kaufverträge, die nach dem 31.12.1998 geschlossen wurden. A verkauft am 5.1.1999 mit notariellem Vertrag ein
433 Grundl. BVerfG v. 31.5.1960 – 2 BvL 4/59, BVerfGE 11, 139 (145 f.); zuletzt gegen die Kritik im Schrifttum bestätigt in BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1 (18 f.). 434 Angedeutet bereits in BVerfG v. 22.3.1983 – 2 BvR 475/78, BVerfGE 63, 343 (353); seither z.B. BVerfG v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200 (242); v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67 (78); v. 5.2.2002 – 2 BvR 305/93, BVerfGE 105, 17 (36 f.). 435 Grundl. BVerfG v. 31.5.1960 – 2 BvL 4/59, BVerfGE 11, 139 (146), im Weiteren m.N. BVerfG v. 23.3.1971 – 2 BvL 17/69, BVerfGE 30, 392 (404). 436 BVerfG v. 22.3.1983 – 2 BvR 475/78, BVerfGE 63, 343 (353); v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200 (241); v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67 (78). 437 So zuletzt BVerfG v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67 (80), unter Hinweis auf BVerfG v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200 (250, 252 f.: Grundsatz der Jahresbezogenheit). Dazu Lehner, FS Raupach, 2006, 67. 438 BVerfG v. 19.12.1961 – 2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 261 (272 ff.); v. 19.12.1961 – 2 BvR 1/60, BVerfGE 13, 274 (278); v. 19.12.1961 – 2 BvR 2/60, BVerfGE 13, 279 (282 f.); v. 7.7.1964 – 2 BvL 22/63, BVerfGE 18, 135 (143); v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200 (250, 252 f.); v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67.
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Hey
VII. Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung
Rz. 264 § 3
Haus, das er sieben Jahren zuvor angeschafft hatte. Er geht dabei von der Steuerfreiheit der Veräußerung aus. Nach der Auffassung des BVerfG liegt lediglich unechte Rückwirkung vor439.
Die Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung hatte in der Vergangenheit deshalb 263 zentrale Bedeutung, weil das BVerfG nur für die echte Rückwirkung ein grds. Rückwirkungsverbot annimmt. Die unechte Rückwirkung soll dagegen grds. zulässig sein. Die auch zur Überprüfung unechter Rückwirkungen vorzunehmende Abwägung zwischen dem Vertrauensschaden des Bürgers und dem gesetzgeberischen Anliegen für das Gemeinwohl440 ging im Steuerrecht stets zugunsten des Gesetzgebers aus. In 60 Jahren Verfassungsrechtsprechung wurde keine einzige unechte Rückwirkung im Steuerrecht für verfassungswidrig erklärt. Dies hat sich erst mit den drei Beschlüssen des Zweiten Senats des BVerfG vom 7.7.2010441 geändert, in denen das Gericht erstmals unecht rückwirkende Steuergesetze für verfassungswidrig erklärt hat; der Erste Senat hat sich angeschlossen442; hierzu Rz. 266 ff. Zur Kritik der Veranlagungszeitraumrechtsprechung: Die Rückwirkungsrechtsprechung des BVerfG 264 ist im Schrifttum immer wieder kritisiert worden443; auch zeigt die relativ hohe Zahl abweichender Voten444 die Schwierigkeiten, eine allgemein einsehbare Rückwirkungsdogmatik zu entwickeln. Die Kritik setzt vor allem an der dem Veranlagungszeitraum beigemessenen Bedeutung an. Die rein technisch begründete Entstehung des Steueranspruchs mit Ablauf von Veranlagungszeiträumen korrespondiert nicht mit der Abgeschlossenheit der zugrundeliegenden Lebenssachverhalte. Der Stpfl. benötigt Rechtssicherheit nicht am Jahresende, sondern in dem Zeitpunkt, in dem er steuerrechtlich relevante Dispositionen tätigt. Die Steuerplanungssicherheit wird auch dann intensiv beeinträchtigt, wenn der Steuergesetzgeber pro futuro Steuerfolgen für in der Vergangenheit liegende Dispositionen verändert: Der Stpfl. disponiert auf Grund einer bestimmten Steuerrechtslage. Er rechnet z.B. bei dem Erwerb eines denkmalgeschützten Hauses mit einer erhöhten Absetzung (§ 7i EStG) in den Folgejahren und kalkuliert danach die Finanzierung des Kaufpreises. Er zieht bei der Verhandlung einer Entlassungsentschädigung ins Kalkül, ob diese steuerfrei ist und ihm damit als Nettobetrag verbleibt. Abgeschlossen ist eine wirtschaftliche Disposition in dem Zeitpunkt, in dem die Disposition aus rechtlichen oder wirtschaftlichen Gründen nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Der Gesetzgeber trägt dieser Forderung z.T. durchaus Rechnung. So knüpfen Übergangsregelungen bei Verschlechterung der AfA-Regeln i.d.R. an die Anschaffung oder Herstellung eines Wirtschaftsguts als vertrauensrechtlich relevante Disposition an. Auf den späteren periodischen Eintritt der steuerlichen Abschreibungsfolgen kommt es zu Recht nicht an. Ebenso wird bei der Besteuerung von Einkünften aus Versicherungsverträgen (§ 20 I Nr. 6 EStG) auf den Abschluss des Versicherungsvertrages abgestellt (§ 52 XXVIII 3 ff. EStG). 439 BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1 (18 ff.). 440 Insb. BVerfG v. 23.3.1971 – 2 BvL 17/69, BVerfGE 30, 392 (404); v. 5.5.1987 – 1 BvR 724/81, BVerfGE 75, 246 (280). Im Weiteren: BVerfG v. 16.10.1968 – 1 BvL 7/62, BVerfGE 24, 220 (230 f.); v. 22.1.1975 – 2 BvL 51/71, BVerfGE 39, 128 (145 f.); v. 20.6.1978 – 2 BvR 71/76, BVerfGE 48, 403 (416); v. 13.3.1979 – 2 BvR 72/76, BVerfGE 50, 386 (394 f.); v. 26.6.1979 – 1 BvL 10/78, BVerfGE 51, 356 (363); v. 15.5.1985 – 2 BvL 24/82, BVerfGE 70, 69 (84 f.); v. 10.12.1985 – 2 BvL 18/83, BVerfGE 71, 255 (273); v. 15.10.1996 – 1 BvL 44/92, BVerfGE 95, 64 (92); v. 24.3.1998 – 1 BvL 6/92, BVerfGE 97, 378 (389); v. 23.11.1999 – 1 BvF 1/94, BVerfGE 101, 239 (263); v. 22.5.2001 – 1 BvL 4/96, BVerfGE 103, 392 (403); v. 5.2.2002 – 2 BvR 305/93, BVerfGE 105, 17 (37). 441 BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1; v. 7.7.2010 – 2 BvL 1/03, BVerfGE 127, 31; v. 7.7.2010 – 2 BvR 748/05, BVerfGE 127, 61. 442 BVerfG v. 10.10.2012 – 1 BvL 6/07, BVerfGE 132, 302. 443 Insb. Friauf, BB 1972, 669; Pieroth, JZ 1984, 971; Vogel, JZ 1988, 833; Muckel, JA 1994, 14; Arndt/Schumacher, NJW 1998, 1538 f.; J. Lang, WPg. 1998, 163; Schaumburg, DB 2000, 1884 (1886); Tipke, StRO I2, 2000, 156 f.; Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 212 ff., 290 f.; Hey, NJW 2007, 408. 444 U.a. Seuffert, BVerfGE 31, 100; Rupp-von Brünneck, BVerfGE 32, 129; von Schlabrendorff, BVerfGE 37, 414; Steinberger, BVerfGE 48, 23; Steinberger, BVerfGE 72, 276; Kruis, BVerfGE 97, 85; Masing, JZ 2014, 510.
Hey 139
§ 3 Rz. 265
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
265 Hieraus ergibt sich die Forderung, das Rückwirkungsverbot als ein Steuerplanungssicherheit ver-
mittelndes Institut zum Zwecke des Dispositionsschutzes zu entfalten445. Mehr noch würde ein einheitlicher dispositionsbezogener Rückwirkungsbegriff eine umfassende Abwägung des betätigten Vertrauens des Stpfl. gegen das Interesse des Gesetzgebers an Einbeziehung in der Vergangenheit getätigter Dispositionen in die Neuregelung ermöglichen446. 266 Die Beschlüsse vom 7.7.2010: Dieser Kritik ist das BVerfG447 zum Teil nachgekommen. Zwar hält das
Gericht nach ausführlicher Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten an der Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung und an der Abgrenzung anhand von Veranlagungszeiträumen fest. Doch auch wenn sich das BVerfG nicht eindeutig dem im Schrifttum präferierten Dispositionsschutzkonzept zuwendet, stellen die Beschlüsse vom 7.7.2010 in mehrfacher Hinsicht einen Quantensprung dar448. Zum einen analysiert das Gericht behutsam, wann steuerliche Vorschriften Vertrauenstatbestände begründen, zum anderen legt es strenge Maßstäbe an eine Überwindung berechtigter Vertrauensschutzinteressen der Stpfl. an (s. Rz. 281 f.). Der Erste Senat des BVerfG setzt diese Rechtsprechungslinie fort und formuliert noch deutlicher, dass Rückwirkungen in laufenden Veranlagungs- und Erhebungszeiträumen als unechte Rückwirkungen zwar nicht grds. unzulässig seien, sie stünden den Fällen echter Rückwirkung allerdings in vielerlei Hinsicht „nahe“ und unterlägen daher „besonderen Anforderungen“ unter den Gesichtspunkten von Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit449. 267 Zur Schutzwürdigkeit von in der Vergangenheit getätigten Dispositionen vor unecht rückwirken-
den Gesetzesänderungen trifft das Gericht folgende Aussagen: (1) Es besteht kein Anspruch auf den Schutz des Vertrauens in die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen im Zeitpunkt der Anschaffung eines Wirtschaftsguts. Schutzwürdig ist der Stpfl. aber, sobald sich die Aussicht auf Steuerfreiheit mit Ablauf der Spekulationsfrist zu einer konkreten Vermögensposition (verfassungsrechtlich geschützte Rechtsposition) verfestigt. Dem Gesetzgeber ist es damit nicht verwehrt, nach der Verkündung des neuen Gesetzes entstehende Wertzuwächse zu erfassen, er muss aber eine zwischen alten und neuen Wertsteigerungen differenzierende Übergangsregelung schaffen. Ein allgemeiner Grundsatz, dass eine nachträgliche Steuerverstrickung in der Vergangenheit entstandener stiller Reserven stets rechtfertigungsbedürftig ist oder jedwede Steuererhöhung für in der Vergangenheit entstandene stille Reserven eines besonderen Grundes bedarf450, lässt sich hieraus nicht ableiten. Eine Pflicht zur Beschränkung des neuen Gesetzes auf zukünftige Wertsteigerungen wird man aber dann annehmen können, wenn in der Vergangenheit eine Sonderregelung galt, die sich auf das Investitionsverhalten des Stpfl. ausgewirkt und damit einen besonderen Vertrauenstatbestand begrün-
445 Dazu J. Lang, WPg. 1998, 163 (168 ff.); Schaumburg, DB 2000, 1884; Tipke, StRO I2, 156 f.; Pleyer, NJW 2001, 1985; Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 103 ff.; Spindler, DStJG 27 (2004), 69 (77 ff.). 446 J. Lang, WPg. 1998, 163 (168 ff.); Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 103 ff. 447 BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1, zur Verlängerung der Spekulationsfrist von zwei auf zehn Jahre in § 23 I 1 Nr. 1 EStG; s. ferner die Beschlüsse vom selben Tage zur Abschaffung des halben Steuersatzes für Abfindungen (BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 1/03, BVerfGE 127, 31) sowie zur rückwirkenden Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze in § 17 I 4 EStG a.F. (BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvR 748/05, BVerfGE 127, 61). 448 So die ganz einhellige Bewertung im Schrifttum s. Werth, DStZ 2010, 712; Spindler, Stbg. 2010, 529 (533); Birk, FR 2011, 1 (5); Musil/Lammers, BB 2011, 155; krit. dagegen Musil in Schön/Röder (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts II, 2014, 129 (141 ff.). Wiss. Beirat Ernst & Young, DB 2012, 761 ff., äußert Zweifel hinsichtlich der Praktikabilität der differenzierten Abwägungen des 2. Senats. 449 BVerfG v. 10.10.2012 – 1 BvL 6/07, BVerfGE 132, 302 (1. Leitsatz). 450 In diese Richtung Birk, FR 2011, 1 (7 f.); einschränkend Desens, StuW 2011, 113 (123).
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det hat, z.B. für die weitere Absenkung der Beteiligungsgrenze von 10 % auf 1 % ab 2001451 oder eine etwaige Rückkehr vom Abgeltungsteuersatz zum Normaltarif für Gewinne aus der Veräußerung von Kapitalbeteiligungen (§ 20 II EStG). Die Übergangsregelung zur Abgeltungsteuer geht über diese Position sogar noch hinaus, indem § 20 II EStG nur für nach dem 31.12.2008 angeschaffte Wertpapiere zur Anwendung kommt (§ 52 XXVIII 11 EStG). Damit bleiben auch nach dem 1.1.2009 entstehende Wertzuwächse außerhalb der bisherigen Veräußerungsfristen steuerfrei.
(2) Bezüglich der Abschaffung der Steuervergünstigungen für Entlassungsentschädigungen soll es grds. auf den Vertragsschluss ankommen452, da der Inhalt der Abfindungsvereinbarung wesentlich durch die bisherige steuerliche Begünstigung bestimmt worden sei. Allerdings nimmt das Gericht im Weiteren zur Risikoverteilung eine Differenzierung vor: – Schutzwürdig seien nur solche Entschädigungen, die im Jahr 1998 vor Einbringung der Neuregelung in den Bundestag (9.11.1998) vereinbart wurden, soweit die Entschädigung bis zum 31.12.1999 ausgezahlt wurde. – Ausgenommen wurden allerdings Fallgestaltungen, bei denen die Vereinbarung bereits vor 1998 geschlossen war und mithin zwischen Vertragsschluss und Auszahlung ein längerer Zeitraum lag. Dem Stpfl. müsse bewusst sein, dass das Recht über einen mehrjährigen Zeitraum nicht konstant bleibe. – Auch in diesem Fall seien aber die Stpfl. schutzwürdig, denen die Entlassungsentschädigung bereits vor Verkündung des StEntlG 1999/2000/2002 zugeflossen war.
Damit setzt Vertrauensschutz den Zufluss zwar nicht voraus, nach Zufluss ist jedoch von einer erhöhten Schutzwürdigkeit auszugehen453, weil der Stpfl. dann in Kenntnis der Steuerrechtslage über die ihm zugeflossene Entschädigungssumme Spar- oder Konsumentscheidungen trifft454. Bei Gewinnermittlung durch Bestandsvergleich wird man insofern auf den Zeitpunkt der Gewinnverwirklichung durch Realisationsakt abstellen müssen455, soweit ab diesem Zeitpunkt unternehmerische Verwendungsentscheidungen möglich sind. Dies schließt freilich nicht aus, dass zum Schutz von betrieblichen Erwerbshandlungen, etwa Investitionsentscheidungen unter Inanspruchnahme steuerlicher Vergünstigungen, weitergehende Übergangsregelungen erforderlich sind.
Stellungnahme: Der Kritik am zweigeteilten Rückwirkungsbegriff und der Abgrenzung zwischen 268 beiden Kategorien geht es nicht primär um die Begrifflichkeit, sondern um die Überwindung des bisherigen Vertrauensschutzdefizits im Bereich unechter Rückwirkung. Das BVerfG ist dieser Kritik durch stärkere Differenzierung im Bereich der unechten Rückwirkung nachgekommen. Das Ergebnis ist ein Sieg für den in den Rechtsstaat vertrauenden Bürger. Die Bemühungen des BVerfG, den Dispositionsschutz einzugrenzen, orientieren sich zwar weiterhin wenig sachgerecht an Veranlagungszeiträumen456. Dies sollte indes nicht den Blick darauf verstellen, dass sich das Gericht in die richtige Richtung bewegt, indem es die Disposition bzw. unter altem Recht erworbenen Dispositionsmöglichkeiten des Stpfl. ins Kalkül zieht, statt formalistisch auf die Entstehung des Steueranspruchs abzustellen. De facto ist das Gericht damit bei einem einheitlichen, jedenfalls im Ansatz dispositionsschutzorientierten Rückwirkungskonzept angelangt, auch wenn es an der hergebrachten Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung festhält. Wenn damit die Kategorie der echten 451 Musil/Lammers, BB 2011, 155 (159). 452 BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 1/03, BVerfGE 127, 31 (49 f.). 453 BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 1/03, BVerfGE 127, 31 (57); v. 10.10.2012 – 1 BvL 6/07, BVerfGE 132, 302 (327 ff.) weicht diese Position allerdings durch Einbeziehung der zum Zufluss führenden Disposition wieder etwas auf; zu Recht krit. Desens, FR 2013, 148 (151 ff.). 454 So schon Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 12 f., 258 f.: besondere Schutzwürdigkeit der Verwendungsplanung. 455 Zutr. Desens, StuW 2011, 113 (121); Desens, FR 2013, 148 (151). 456 Weniger krit. Desens, StuW 2011, 113 (119): Praktikabilitätserwägungen.
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§ 3 Rz. 269
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Rückwirkung unangetastet bleibt457, wäre zugleich der Befürchtung der Gegner eines einheitlichen Rückwirkungsbegriffs Rechnung getragen, dass mit der Aufgabe dieser Kategorie das bis dato verhältnismäßig hohe Schutzniveau gegenüber echten Rückwirkungen gefährdet werden könne458. I.Erg. entzieht das BVerfG der gängigen und bisher verfassungsgerichtlich tolerierten Praxis der am Jahresende mit unbegrenzter Rückwirkung auf den 1.1. des laufenden Jahres erlassenen Steuergesetze den Boden459. In Zukunft wird der Gesetzgeber stets zwischen materiell bereits voll abgeschlossenen Tatbeständen und noch offenen Tatbeständen differenzieren müssen. Dies muss grds. auch für allgemeine Tariferhöhungen während eines laufenden Veranlagungszeitraums gelten460. Sachgerecht ist auch die Differenzierung nach der Dispositionsbezogenheit der geänderten Norm461. Soweit steuerliche Vorschriften wie die bisherige Steuerfreiheit von Entlassungsentschädigungen konkreten Einfluss auf den Inhalt der zugrundeliegenden Rechtsgeschäfte haben, ist von einer erhöhten Schutzwürdigkeit auszugehen. Schon Vogel462 hat den besonderen Schutz von Normen mit dispositionslenkenden Rechtsfolgen hervorgehoben. Subventionen, mit denen der Staat zu einer bestimmten Disposition angereizt hat, dürfen nicht nachträglich wieder entzogen werden. Das wäre ein mit dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Vertrauensschutz unvereinbares venire contra factum proprium. Dispositionsbezogene Normen können die Disposition sogar konstituieren, wenn ohne die geänderte Rechtsfolge das Rechtsgeschäft nicht oder nicht so zustande gekommen wäre. Das ist bei einem Sonderabschreibungsmodell für Schiffe, Luftfahrzeuge etc. anzunehmen, auch bei Sanierungsgeschäften (§ 3 Nr. 66 EStG a.F.), Mantelkäufen (§ 8 IV KStG a.F.), Umwandlungen nach dem UmwStG oder bisher gewerbesteuerfreien Veräußerungen von Personengesellschaftsanteilen. Bei der Änderung dispositionslenkender bzw. -konstituierender Rechtsfolgen muss die Übergangsregelung an den betroffenen Rechtsakt anknüpfen. Das alte Recht hat für alle Rechtsakte weiter zu gelten, die vor dem Gesetzesbeschluss, in gemeinwohlbegründeten Ausnahmefällen vor der Ankündigung des Gesetzesbeschlusses rechtsverbindlich geworden sind oder wirtschaftlich nicht mehr rückgängig gemacht werden können.
3.1.3 Rechtfertigung rückwirkender Steuergesetze 269 Hinsichtlich der Rechtfertigung rückwirkender Steuergesetze gilt Folgendes:
Rechtfertigungsbedürftig sind grds. nur konstitutive Rechtsänderungen. In Gesetzesmaterialien ist deshalb häufig von „reinen Klarstellungen“, redaktionellen Änderungen, etc. die Rede, um die Anwendung auf alle noch nicht bestandskräftigen Steuerbescheide ohne weitere Rechtfertigung zu begründen. Dem ist BVerfG energisch entgegengetreten463. Konstitutiv ist eine Rechtsänderung bereits dann, wenn es zu einer Norm mehrere vertretbare Auffassungen gibt und der Gesetzgeber eine hiervon rückwirkend festschreibt. Danach dürften rein deklaratorische Rechtsänderungen die absolute Ausnahme sein. Ein Recht des Gesetzgebers zu rückwirkender „authentischer“ Interpretation exis-
457 Dass dies nicht geschehen ist, sondern im Gegenteil auch im Bereich der echten Rückwirkung dem Vertrauen des Bürgers Rechnung getragen wird, belegt BVerfG v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1; hierzu Rz. 269. 458 Z.B. Wernsmann, JuS 2000, 39 (42 f.); Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 28 (2011). 459 Zutr. Desens, StuW 2011, 113 (120). Konsequenzen erkennbar in der Vorlage des BFH v. 7.10.2010 – IX R 70/07, BStBl. II 2011, 346, zur rückwirkenden Einführung eines (nur) ratierlichen Abzugs von Erbbauzinsen (Az. beim BVerfG: 2 BvL 1/11). 460 Zutr. Birk, FR 2011, 1 (8); offengelassen BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1 (26). 461 Dazu näher J. Lang, WPg. 1998, 163 (172 ff.), sowie umfassend Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 306 ff. 462 Vogel, JZ 1988, 833 (838). 463 BVerfG v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1. Die Entscheidung hat ein geteiltes Echo ausgelöst: zustimmend Birk, FR 2014, 338; Buchheim/Lassahn, NVwZ 2014, 562; Hey, NJW 2014, 1564; Hey, JZ 2014, 500; Wiese/Berner, DStR 2014, 1260; Drüen, StuW 2015, 210; krit. dagegen Lepsius, JZ 2014, 488; Wißmann, ZJS 2014, 333 (335 f.); differenziert Osterloh, StuW 2015, 201.
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tiert nicht464. Vielmehr muss der Gesetzgeber, wenn er mit Wirkung für die Vergangenheit in den von Verfassungs wegen der Judikative zugeordneten Prozess der Gesetzesanwendung eingreifen will, über einen der anerkannten Ausnahmetatbestände vom Verbot echter Rückwirkung verfügen. Seit jeher wird das prinzipielle Verbot „echt“ rückwirkender Gesetze durch einen Katalog von vier Ausnahmen z.T. empfindlich eingeschränkt. Das BVerfG465 lässt echte Rückwirkung zu, (1) wenn der Bürger nach der rechtlichen Situation in dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge vom Gesetz zurückbezogen wird, mit dieser Regelung rechnen musste, insb. nach dem Bundestagsbeschluss über das neue Gesetz; (2) wenn das geltende Recht unklar und verworren ist466; (3) wenn der Bürger sich nicht auf den durch eine ungültige Norm erzeugten Rechtschein verlassen darf, und schließlich (4) wenn zwingende Gründe des Gemeinwohls, die dem Gebot der Rechtssicherheit übergeordnet sind, eine Rückwirkungsanordnung rechtfertigen.
Die ersten drei Ausnahmetatbestände fußen auf dem Gedanken der Vorhersehbarkeit der Gesetzesänderung, wobei in der Regel erkennbar nur das Bestehen einer Rechtsunsicherheit ist. Der Ausnahmetatbestand der zwingenden Gründe des Gemeinwohls öffnet darüber hinaus auch die echte Rückwirkung für eine umfassende Abwägung zwischen Bestands- und Änderungsinteressen. Die größte Relevanz kommt im notorisch unklaren Steuerrecht der rückwirkenden Klarstellung zu. Noch nicht abzusehen ist, welche Konsequenzen sich aus dem Beschluss des BVerfG vom 17.12.2013467 für die zukünftige Anwendung dieses Rechtfertigungsgrundes ergeben. Der Erste Senat macht deutlich, dass das Vertrauen in eine dem Stpfl. günstige Interpretation auch bei umstrittener Rechtslage schutzwürdig ist. Auslegungsstreitigkeiten führen grds. nicht dazu, dass das Recht unklar oder verworren ist. Das Argument, eine unklare Rechtslage erzeuge kein Vertrauen, verkennt, dass in einem Rechtsstaat den Gesetzgeber die Verantwortung für eindeutige Eingriffsgrundlagen trifft468. Auch besteht abgesehen von Haushaltsinteressen keine Notwendigkeit, Klarstellungen für die Vergangenheit stets in einer für den Stpfl. ungünstigen Auslegungsvariante vorzunehmen. Von besonderer Bedeutung ist die Entscheidung für die im Steuerrecht häufig anzutreffenden rückwirkenden Nichtanwendungsgesetze469. Zu unterscheiden sind dabei zwei unterschiedliche Konstellationen: – Die häufig durch BMF-Schreiben angekündigte umgehende Wiederherstellung der früheren Rechtslage nach einem günstigen Rechtsprechungswechsel sowie – die gesetzgeberische Gegenreaktionen zur erstmaligen höchstrichterlichen Klärung einer offenen Rechtsfrage. Wenn das BVerfG selbst für den Fall einer noch ungeklärten Rechtslage bei ausstehender Entscheidung des BFH für ein rückwirkendes Eingreifen des Gesetzgebers besondere Rechtfertigungsgründe fordert470, muss 464 BVerfG v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1 (38); scharf kritisiert im Sondervotum von Masing. 465 BVerfG v. 19.12.1961 – 2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 261 (271 f.); v. 31.3.1965 – 2 BvL 17/63, BVerfGE 18, 429 (439); v. 23.3.1971 – 2 BvL 2/66, BVerfGE 30, 367 (387 ff.); v. 25.6.1974 – 2 BvF 2/73, BVerfGE 37, 363 (397); v. 17.1.1979 – 1 BvR 446/77, BVerfGE 50, 177 (193 f.); v. 25.5.1993 – 1 BvR 1509/91, BVerfGE 88, 384 (404); v. 8.4.1998 – 1 BvR 1680/93, BVerfGE 98, 17 (39); v. 18.2.2009 – 1 BvR 3076/08, BVerfGE 122, 374 (394); v. 7.7.2010 – 2 BvL 1/03, BVerfGE 127, 31 (58). 466 Dazu Schnapp, JZ 2011, 1125. 467 BVerfG v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1. 468 Schnapp, JZ 2011, 1125 (1132). 469 Aktuelle Vorlagen an das BVerfG: BFH v. 7.12.2010 – IX R 70/07, BStBl. II 2011, 346; v. 11.12.2013 – I R 4/13, BStBl. II 2014, 791; s. ferner hierzu Wiss. Beirat Ernst & Young, DB 2015, 513. 470 BVerfG v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1 (20); anders allerdings BVerfG v. 21.7.2010 – 1 BvL 11/06, BVerfGE 126, 369; v. 2.5.2012 – 2 BvL 5/10, BVerfGE 131, 20; Sondervotum Masing zu BVerfG v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1. Zu diesen Widersprüchen ausf. Hey, JZ 2014, 500 (503 ff.).
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§ 3 Rz. 270
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
dies a maiore ad minus gelten, sobald eine (erste) höchstrichterliche Klärung vorliegt. Der Gesetzgeber kann eine unliebsame BFH-Entscheidung zwar für die Zukunft, aber nicht ohne weiteres rückwirkend außer Kraft setzen. Anders soll der Fall der Wiederherstellung der Rechtslage nach einem Rechtsprechungswechsel zu beurteilen sein471. Hier habe der Stpfl. aufgrund der früheren ungünstigen Rspr. kein Vertrauen auf eine für ihn günstigere Behandlung bilden können. Die neue Rspr. könne keine Auswirkungen auf in der Vergangenheit getätigte Dispositionen haben und jedenfalls bei sofortiger Ankündigung der Änderung auch für die Zukunft kein Vertrauen begründen. M.E. kann jedoch auch bei Nichtanwendungsgesetzen, die auf die Wiederherstellung der früheren Rechtslage zielen, nicht von vornherein jeder Vertrauensschutz versagt werden, wenn nicht die Rechtsschutzmöglichkeiten drastisch eingeschränkt werden sollen. Schutzwürdig ist auch das Vertrauen in eine von der bisherigen höchstrichterlichen Rspr. abweichende Gesetzesauslegung, in dem der Stpfl. trotz gefestigter Rspr. den Rechtsweg einschlägt472. Primäre Vertrauensgrundlage ist das Gesetz selbst473. Unter bestimmten Umständen kann der Stpfl. auf eine ihm günstige gefestigte Rspr. vertrauen (s. Rz. 280 f.), er muss sich diese aber nicht entgegenhalten lassen, wenn das Gesetz zu seinen Gunsten anders auszulegen ist. 270 In der Berücksichtigung sog. vorlegislatorischer Maßnahmen verbinden sich die Aspekte der Vor-
hersehbarkeit und der zwingenden Gründe des Gemeinwohls. Das BVerfG akzeptiert Rückbeziehungen auf frühere Zeitpunkte im Gesetzgebungsverfahren, um sog. Ankündigungseffekten entgegenzuwirken. – In st. Rspr. lässt das BVerfG die Schutzwürdigkeit des Vertrauens mit dem endgültigen Gesetzesbeschluss im Bundestag über die Neuregelung entfallen474. Dies ist jedoch gerade im Steuerrecht zu großzügig. Zustimmungspflichtige Steuergesetze (Art. 105 III GG) können in unter Ausschluss der Parlamentsöffentlichkeit stattfindenden Vermittlungsverfahren (s. § 2 Rz. 44) unvorhersehbare Veränderungen erfahren. Erst wenn das neue Gesetz im Bundesgesetzblatt verkündet ist, erhält der Stpfl. eine hinreichend verlässliche Rechtsgrundlage, aufgrund derer er disponieren kann. Notwendig ist eine klare Grenze, ab der der Stpfl. die Änderung berücksichtigen muss. Aus diesem Grund sollte auch nicht differenziert und etwa im Falle zustimmungspflichtiger Gesetze auf den Beschluss des Bundesrats oder die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses475 abgestellt werden. Vielmehr ist, wenn der Gesetzgeber hinter die Verkündung zurückgehen will, stets ein besonderer Rechtfertigungsgrund zu fordern476. Dies erkennt das BVerfG für die unechte Rückwirkung jetzt insofern an, als Einnahmen, die vor Verkündung eines steuerverschärfenden Gesetzes zugeflossen sind, von der Gesetzesänderung auszunehmen sind477. – Noch nicht abschließend geklärt ist die Bedeutung weiter vorgelagerter Maßnahmen wie der Ankündigung von Gesetzesvorhaben durch die Bundesregierung im Wege eines Kabinettsbeschlusses478 oder durch Einbringung einer Gesetzesvorlage in den Bundestag479. BVerfGE 97, 67, nimmt an, dass
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Ständige Rspr. des BFH, z.B. BFH v. 12.11.2013 – VIII R 36/10, BStBl. II 2014, 168. Hey, JZ 2014, 500 (504); ebenso Drüen, Ubg 2014, 683 (691). Ebenso Buchheim/Lassahn, NVwZ 2014, 562 (563). BVerfG v. 19.12.1961 – 2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 261 (272); v. 10.3.1971 – 2 BvL 3/68, BVerfGE 30, 272 (287); v. 22.6.1971 – 2 BvL 6/70, BVerfGE 31, 222 (227); v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200 (261); v. 15.10.1996 – 1 BvL 44/92, BVerfGE 95, 64 (88); v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67 (79 f.); v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1 (16 f.). So BVerfG v. 10.10.2012 – 1 BvL 6/07, BVerfGE 132, 302 (324 ff.) für den Fall, dass die Neuregelung erst im Vermittlungsverfahren eingebracht wird; zust. Desens, FR 2013, 148 (152); krit. Krüger, DStZ 2013, 137 (142 f.). S. Hey, NJW 2007, 408; ferner Rz. 269. BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 1/03, BVerfGE 127, 31 (57); einschränkend BVerfG v. 10.10.2012 – 1 BvL 6/07, BVerfGE 132, 302 (328) unter Einbeziehung der zugrundeliegenden Disposition; dagegen Desens, FR 2013, 148 (151). BVerfG v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67. BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 1/03, BVerfGE 127, 31 (56 f.).
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VII. Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung
Rz. 272 § 3
sog. Ankündigungseffekte eine Rückbeziehung auf einen früheren Zeitpunkt rechtfertigen480. Der Gesetzgeber habe ein berechtigtes Interesse zu verhindern, dass die Neuregelung leer läuft, weil Stpfl. sich Vorteile der alten Rechtslage zu sichern suchen, indem sie Investitionen vorziehen. Hier steht nicht die Vorhersehbarkeit der Gesetzesänderung im Vordergrund. Vielmehr geht es dem Gesetzgeber gerade um eine gewisse Überrumplung des Stpfl. Ein solches Vorgehen kann nur in engen Grenzen zulässig sein, wenn andernfalls schwerwiegende volkswirtschaftliche Fehllenkungen zu befürchten sind, die sich nicht allein in einem späteren Einsetzen der Aufkommenswirkungen der Neuregelung erschöpfen. Deutlich geschärft sind durch die Beschlüsse vom 7.7.2010481 die Anforderungen an die Rechtferti- 271 gung unecht rückwirkender Steuergesetze: Hatte das Gericht in der Vergangenheit in Fällen unechter Rückwirkung stets die Enttäuschung des Vertrauens gegen die Gesetzesänderung als solche abgewogen, bezieht es jetzt die vermittelnde Wirkung von Übergangsregelungen in den Abwägungsprozess ein482. Nicht mehr ausreichend ist das allgemeine Änderungsinteresse, sondern der Gesetzgeber muss darlegen, warum er – unter Verzicht auf eine Übergangsregelung – ein Interesse gerade an der Einbeziehung von Altfällen hat. Die Gründe des Gesetzgebers für die Einbeziehung von Altfällen werden einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzogen. Die unechte Rückwirkung soll mit den grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Vertrauensschutzes nur dann vereinbar sein, „wenn sie zur Förderung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich ist und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und dem Gewicht und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt“483. Nicht ausreichend ist danach
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– die „Verbesserung der Rechtslage“; sie betrifft lediglich das allgemeine Änderungsinteresse und begründet kein besonderes Bedürfnis nach Einbeziehung von Altfällen484; Dies muss grds. selbst dann gelten, wenn der bisherige Rechtszustand verfassungswidrig war, da der Gesetzgeber die Verfassungswidrigkeit zu verantworten hat und der Stpfl. in das geltende Gesetz, auch in dessen Verfassungskonformität, vertrauen darf. – ein allgemeines Steuererhöhungs- oder Gegenfinanzierungsinteresse, außer in Fällen eines plötzlich und unerwartet auftretenden außerordentlichen Finanzbedarfs485; – die mit Übergangsregelungen verbundene Komplizierung; der Gesetzgeber hat jedoch einen Typisierungsspielraum bei deren Ausgestaltung486; 480 Zur Ankündigungsproblematik Friauf, BB 1972, 669; Schmidt, DB 1993, 2250 (2254 f.); J. Lang, WPg. 1998, 163 (171 f.). 481 BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1; v. 7.7.2010 – 2 BvL 1/03, BVerfGE 127, 31; v. 7.7.2010 – 2 BvR 748/05, BVerfGE 127, 61 (67). 482 Hierzu ausf. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 392 ff. 483 BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1 (1. Leitsatz). 484 BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1 (25 f.). 485 S. BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1 (26 f.) in deutlicher Abkehr von BVerfG v. 19.12.1961 – 2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 274 (278). S. aber auch BFH v. 18.11.2009 – X R 34/07, BStBl. II 2010, 414 (421): Finanzierbarkeit eines Systemwechsels als Rechtfertigung für die Ausgestaltung von Übergangsvorschriften bejahend (Verfassungsbeschwerde anhängig: 2 BvR 288/10); BFH v. 18.4.2012 – II R 36/10, BStBl. II 2012, 867: Ausgleich unerwarteter Mindereinnahmen aufgrund Rechtsprechungsänderung. 486 BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1 (27). Diesen nutzt BMF v. 20.12.2010 – IV C 6-S 2244/10/10001, BStBl. I 2011, 16, indem zur Umsetzung der Rspr. des BVerfG zu §§ 17; 23 EStG, die Aufteilung zwischen steuerfreien Altwertzuwächsen und neuen Wertzuwächsen linear anhand der Haltedauer ermittelt wird statt einer Wertermittlung zum Stichtag der Gesetzesverkündung der neuen Regelung. Zu gleichheitsrechtlichen Grenzen bei der Ausgestaltung des Übergangsrechts s. BVerfG
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§ 3 Rz. 280
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
– die Schließung von Besteuerungslücken und Missbrauchsbekämpfung. Sie kann zwar, insb. wenn sie sich gegen volkswirtschaftliche Fehllenkungen richtet, eine besondere Dringlichkeit erzeugen, die auch die Einbeziehung von Altfällen rechtfertigt, nicht jedoch, wenn dem Gesetzgeber diese Lücken schon seit längerem bekannt waren487. Bemerkenswert ist, dass sich damit auch die Rechtfertigung der unechten Rückwirkung der echten Rückwirkung stark angenähert hat488 und zum Teil sogar strenger ausfällt. A maiore ad minus müssen die jetzt für die Rechtfertigung unechter Rückwirkungen aufgestellten Grundsätze, soweit sie strenger sind, auch auf die echte Rückwirkung angewandt werden. 273–279
Einstweilen frei.
3.2 Rückwirkende Gesetzesanwendung Literatur: P. Kirchhof, Kontinuität und Vertrauensschutz bei Änderungen der Rspr., DStR 1989, 263; Willibald, Vertrauensschutz bei verschärfender Rspr. im Bereich des Steuerrechts, DStZ 1991, 442; Felix, Zum Rückwirkungsverbot verschärfend geänderter Steuerrechtsprechung, in FS Tipke, 1995, 71; Medicus, Über die Rückwirkung von Rspr., NJW 1995, 2577; Burmeister, Grenzen rückwirkender Verschärfung der Besteuerungspraxis, in FS Friauf, 1996, 759; Lohmeyer, Vertrauensschutz bei der Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden, Stbg. 1997, 395; Offerhaus, Grundsatzfragen der Steuerrechtsprechung, Stbg. 1997, 241; Meesenburg, Das Vertrauensschutzprinzip im europäischen Finanzverwaltungsrecht, 1998; Rose, Rückwirkende Steuerrechtsprechung und Steuerplanungssicherheit, Stbg. 1999, 401; Tipke, StRO I2, 2000, 168 ff.; Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 583 ff.; A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip unter besonderer Berücksichtigung des Steuerrechts, Habil., 2002, 508 ff., 531 ff.; Leisner-Egensperger, Kontinuitätsgewähr in der Finanzrechtsprechung, DStJG 27 (2004), 191; Englisch/Plum, Schutz des Vertrauens auf Steuergesetze, Finanzrechtsprechung und Regelungen der Finanzverwaltung, StuW 2004, 342; Hey, Schutz des Vertrauens in BFH-Rspr. und Verwaltungspraxis, DStR 2004, 1897; Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, 2005; Fischer, Rückwirkende Rechtsprechungsänderung im Steuerrecht, DStR 2008, 697; Kanzler, Rechtsprechungskontinuität und -wandel, in FS Spindler, 2011, 265. 280 Die Rechtsanwendung in Steuersachen durch Verwaltungsbeamte und Angehörige steuerberatender
Berufe pflegt sich an Verwaltungsvorschriften und an der höchstrichterlichen Rspr. besonders des BFH zu orientieren. Obwohl Verwaltungsvorschriften rechtlich nur an die Behörden gerichtet sind und Urteile Rechtskraft nur gegenüber den Prozessbeteiligten erlangen, bilden Verwaltungsvorschriften und Urteile faktisch doch eine Vertrauensbasis für die Stpfl. und ihre Berater. Diese pflegen sich an ihnen zu orientieren. Das gilt vor allem für BFH-Urteile. Erst aus den das Gesetz auslegenden Verwaltungsvorschriften und Urteilen ergibt sich die „Rechtslage“. 281 Die Bindung der Rspr. an das Gesetz hat grds. zur Folge, dass Gerichte nicht an vorangegangene
Rspr. gebunden sind489. Sie haben vielmehr den Einzelfall nach ihrer besten Erkenntnis „richtig“ zu entscheiden. Diese Erkenntnis kann neu und abweichend von früherer Judikatur gewonnen werden. Gleichwohl ist im Schrifttum der Vertrauensschutz gegen rückwirkende, verschärfende Rspr. überzeugend begründet worden490. Der BFH erkennt einen Anspruch auf Vertrauensschutz an, wenn sich die Rspr. verschärft oder von einer allgemein geübten Verwaltungspraxis abweicht und der Stpfl. im
487 488 489
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v. 17.11.2009 – 1 BvR 2192/05, BVerfGE 125, 1, zur Umstellung des körperschaftsteuerrechtlichen Anrechnungs- auf das Halbeinkünfteverfahren. BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvR 748/05, BVerfGE 127, 61 (84). Werth, DStZ 2010, 712 (717); Desens, StuW 2011, 113 (117, 126). Vgl. BVerfG v. 11.11.1964 – 1 BvR 488/62, BVerfGE 18, 224 (240 f.: Verschärfung der BFH-Rspr. zur Pensionsrückstellung). Dazu A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, Habil., 2002, 531 ff.; Leisner-Egensperger, DStJG 27 (2004), 191 (196); Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 598 ff. Insb. Rose, FS v. Wallis, 1985, 275; Rose, StbJb. 1987/88, 361 (369 ff.); Rose, FS Wöhe, 1989, 289; Felix, FS Tipke, 1995, 71; Rose, Stbg. 1999, 401; Tipke, StRO I2, 174 ff. Zum Meinungsstand im Schrifttum
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VII. Formale Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung
Rz. 282 § 3
Vertrauen auf die bisherige Rechtslage Dispositionen getroffen hat491. Jedoch sei ein schützenswertes Vertrauen nur gegeben, wenn eine gesicherte Rechtsauffassung bestand und die Rechtslage nicht als zweifelhaft erschien. Gegen die Gewährung von Vertrauensschutz gegenüber verschärfenden Rechtsprechungsänderungen wird die Gefahr der Erstarrung der Rspr. angeführt. Dem lässt sich begegnen, indem zwischen der richterlichen Entscheidung im Anlassfall und deren verwaltungsrechtlicher Umsetzung in Altfällen unterschieden wird492. Der Anlassfall muss richterrechtlich „richtig“ und ggf. abweichend von früherer Rspr. entschieden werden. Mit der „Ankündigung“, man werde in späteren Entscheidungen „richtig“ entscheiden, wird die Aufgabe des Richters verfehlt493. Die Verwaltung ist sodann aber gehalten, Altfälle weiterhin nach der bisherigen Rspr. zu bescheiden. Die Verwaltung ist zu einer entsprechenden Übergangsregelung verpflichtet494, die den Schutz auch über § 176 I AO hinaus auf Fälle erstreckt, in denen der Stpfl. noch keinen ihn schützenden Steuerbescheid erhalten hat. So hat der BFH in Abkehr von der bisherigen Rspr. die Unvererblichkeit des nicht ausgenutzten Verlustabzugs entschieden (s. § 8 Rz. 63), dabei aber gleichzeitig den Vertrauensschutz respektiert: Die bisherige gegenteilige Rspr. sei weiterhin in allen bis zur Veröffentlichung des GrS-Beschlusses eingetretenen Erbfällen anzuwenden495. Allerdings fehlt der BFH-Rspr. die Stringenz. So soll der vom BFH für rechtsstaatswidrig eingestufte Sanierungserlass trotz seiner gewohnheitsrechtsähnlichen Verfestigung nicht weiterhin auf Altfälle angewendet werden496. Die fehlende Vorhersehbarkeit der Rspr. zum Vertrauensschutz bei nachteiligen Rechtsprechungsänderungen reduziert ihrerseits die Planungssicherheit, zumal Kriterien dafür, wann Vertrauensschutz gewährt wird und wann nicht, nicht erkennbar sind. Die Spruchpraxis erhält damit etwas Willkürliches. Auch bei Änderungen der untergesetzlichen Rechtslage ist verfassungsrechtlicher Vertrauensschutz nichts, was nach Gutdünken mal gewährt, mal versagt werden kann. Umsetzen kann diese Übergangsregelungen anregende Rspr. nur die Finanzverwaltung497. Einem derart gestuften Vorgehen ist gegenüber dem Festhalten an einer überholten Rechtsprechungspraxis unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität der Rspr.498 der Vorzug zu geben. Dementsprechend dürfen Verwaltungsvorschriften grds. nicht rückwirkend erlassen werden499. Zwar 282 sind auch Verwaltungsvorschriften dem Gesetz unterworfen. Ihr vertrauensschutzbildender Zweck ist jedoch nicht die Rechtsgewinnung im Einzelfall, sondern der gleichmäßige Gesetzesvollzug im Massenverfahren. Die Finanzverwaltung ist mit Rücksicht auf den Grundsatz „Keine Gleichheit im
491 492 493 494 495 496
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ausf. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 620 ff.; Spindler in Kube/Mellinghoff u.a., Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013, § 165 Rz. 21. BFH v. 26.9.2007 – V B 8/06, BStBl. II 2008, 405. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 639 ff. Zur Problematik von Ankündigungsurteilen Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 641 ff.; Leisner-Egensperger, DStJG 27 (2004), 197 f. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 646 ff., sowie die Diskussionsbeiträge von Fischer, DStJG (2004), 216, u. J. Lang, DStJG (2004), 213. BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608; ebenso jetzt – zu Recht – für die Abkehr von der bisherigen Rspr. zur Behandlung eigenkapitalersetzender Darlehen BFH v. 11.7.2017 – IX R 36/15, BFH/NV 2017, 1501, Rz. 41 ff. BFH v. 23.8.2017 – I R 52/14, DStR 2017, 2322, Rz. 18 f. gegen BMF v. 27.4.2017 – IV C 6-S 2140/13/10003, BStBl. I 2017, 741 (Rz. 1). Die Begründung überzeugt nicht: Dass einzelne Stimmen die Rechtsgrundlage angezweifelt hatten, unterscheidet die Situation nicht von anderen Rechtsprechungsänderungen – ihnen geht regelmäßig eine Kontroverse voraus – und kann daher dem individuellen Vertrauen nicht entgegengehalten werden. Krit. ebenfalls Uhländer, DB 2017, 2761 (2764). Vgl. BMF v. 24.7.2008 – IV C 4 – S 2225/07/0006, BStBl. I 2008, 809. Hierfür plädiert Leisner-Egensperger, DStJG 27 (2004), 191 (200 ff.). Zum Verbot rückwirkend verschärfender Verwaltungsvorschriften Tipke, StRO I2, 169 ff., u. zur Übertragbarkeit der für Gesetzesänderungen entwickelten Grundsätze Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 680 ff. Vgl. auch Englisch/Plum, StuW 2004, 342 (363 ff.).
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§ 3 Rz. 282
Steuersystem und Steuerverfassungsrecht
Unrecht“ verpflichtet, rechtswidrige Verwaltungsvorschriften durch rechtmäßige zu ersetzen. Jedoch verbietet der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz der Finanzverwaltung, den durch die Verwaltungsvorschrift geregelten Gesetzesvollzug für die Vergangenheit zu ändern. Vielmehr ist die Verwaltungspraxis pro futuro der „richtigen“ Gesetzesanwendung anzupassen. Das gilt besonders für die Anpassung von Verwaltungsvorschriften an eine verschärfende Rspr.
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§4 Europäisches Steuerrecht Deutschsprachige Literatur: (Auswahl; bis 2009 s. auch 13. Aufl., S. 187; 16. Aufl., S. 37; 20. Aufl., S. 35): Lehner (Hrsg.), Steuerrecht im Europäischen Binnenmarkt – Einfluss des EG-Rechts auf die nationalen Steuerrechtsordnungen, DStJG 19 (1996); Lüdicke (Hrsg.), Deutsches Steuerrecht im europäischen Rahmen, 2004; Schäfer, Einwirkungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Steuerrecht durch Maßnahmen der Harmonisierung und die Rechtsprechung des EuGH, 2004; Birk, Das sog. „Europäische“ Steuerrecht, FR 2005, 121; Lüdicke (Hrsg.), Europarecht – Ende der nationalen Steuersouveränität?, 2006; Reich/König, Europäisches Steuerrecht unter besonderer Berücksichtigung der Abkommen mit der Schweiz, Zürich 2006; Loewens, Der Einfluss des Europarechts auf das deutsche Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, 2007; Sedemund, Europäisches Ertragsteuerrecht, 2008; M. Lang/Weinzierl (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht, FS Rödler, Wien 2010; Hecht, Einführung in das Europäische Steuerrecht, 2011; Rehm/Nagler, Europäisches Steuerrecht, 2012; Voß, Kapitel J: Steuerrecht, in Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 2011; Brandt (Hrsg.), Europäische Perspektiven im Steuerrecht, 2013; Kellersmann u.a., Europäische Unternehmensbesteuerung I und II2, 2013; Rehm/Nagler, Europäisches Steuerrecht, 2013; Haase, Internationales u. Europäisches Steuerrecht4, 2014; Schaumburg/Englisch (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht, 2015; Schön/Heber (Hrsg.), Grundfragen des Europäischen Steuerrechts, 2015; Wernsmann, § 30 (Steuerrecht), in Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht3, 2015, 1866; Jacobs/Endres/Spengel (Hrsg.), Internationale Unternehmensbesteuerung8, 2016, S. 109 ff. (Zweiter Teil); M. Lang, Die Vorgaben des Unionsrechts für das Steuerrecht. ASA 2015, 119; Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht2, 2016; sowie die Beiträge in DStJG 41 (2018), Europäisches Steuerrecht. S. ferner allgemein zum Europarecht die Kommentierung von Streinz, EUV/AEUV2, 2012; Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblatt; Schwarze, EU-Kommentar3, 2012; Callies/Ruffert, EUV/AEUV5, 2016. Englischsprachige Literatur (Auswahl): Brokelind (Hrsg.), Towards a Homogeneous EC Direct Tax Law, Amsterdam 2007; Terra/Wattel, European Tax Law6, Alphen aan den Rijn 2012; Panayi, European Union Corporate Tax Law, Cambridge 2013; Dourado (Hrsg.), Movement of Persons and Tax Mobility in the EU: Changing Winds, Amsterdam 2013; Richelle/Schön/Traversa (Hrsg.), Allocation Taxing Powers within the European Union, Berlin 2013; Weber (Hrsg.), EU Income Tax Law: Issues for the Years Ahead, Amsterdam 2013; Brokelind (Hrsg.), Principles of law: Function, Status and Impact in EU Tax Law, Amsterdam 2014; Sarmiento u.a. (Hrsg.), Litigating EU Tax Law in International, National and Non-EU National Courts, Amsterdam 2014; Szudoczky, The Sources of EU Law and Their Relationships: Lessons for the Field of Taxation, Amsterdam 2014; Cerioni, The European Union and Direct Taxation, 2015; Helminen, EU Tax Law4, Amsterdam 2015; Malherbe, European Law on Direct Taxation, 2016; M. Lang/Pistone/Schuch/Staringer (Hrsg.), Introduction to European Tax Law on Direct Taxation4, Wien 2016; Freyer, The Proportionality Principle under EU Tax Law, ET 2017, S. 324 u. 428; Haslehner/Kofler/Rust (Hrsg.), EU Tax Law and Policy in the 21st Century, 2017. Rechtsvergleichend Mason, Common Markets, Common Tax Problems, StuW 2009, 197. Rechtstexte, Urteils- und Fallsammlungen: Haase/Hofacker, Klausurenkurs im Internationalen und Europäischen Steuerrecht, 2011; Bergmann/Ehrke-Rabel/Kofler, Materialien zum Europäischen Steuerrecht, 2011; Weber, European Direct Taxation3 (2 Bände), Alphen aan den Rijn 2011; van Raad, Materials on International & EU Tax Law 2013/2014, Bd. 2, Leiden 2013; IBFD, ECJ Direct Tax Compass 2017, Amsterdam 2017; M. Lang u.a. (Hrsg.), ECJ – Recent Developments in Direct Taxation, Wien (jährlich erscheinender Tagungsband mit Kommentierungen der beim EuGH anhängigen Verfahren zum direkten Steuerrecht); Fallsammlung der Kommission unter http://ec.europa.eu/taxation–customs/common/infringements/case– law/index–en.htm.; Dokumentensammlung von Kofler unter www.steuerrecht.jku.at/gwk.
A. Rechtsnormen des Europäischen Steuerrechts Der Begriff des europäischen Steuerrechts bezeichnet diejenigen – überwiegend supranationalen – 1 Vorgaben des Europarechts, die für die Ausgestaltung der nationalen Steuersysteme von Bedeutung sind. Dabei lassen sich im Wesentlichen zwei Arten der Einwirkung unterscheiden: Erstens wird das
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§ 4 Rz. 2
Europäisches Steuerrecht
Steuerrecht der Mitgliedstaaten der EU zu einem nicht unerheblichen Teil durch Rechtsakte der Union harmonisiert. Diese europäische Steuergesetzgebung tritt teilweise (etwa im Zollrecht) an die Stelle nationaler Steuerrechtsnormen; überwiegend gibt sie in Gestalt von EU-Richtlinien die steuerpolitischen Grundwertungen und vielfach auch Einzelbestimmungen auf Teilgebieten des mitgliedstaatlich gesetzten Steuerrechts vor. Zweitens unterliegt der deutsche Gesetzgeber insb. auch in den noch nicht harmonisierten Bereichen des Steuerrechts quasi-verfassungsrechtlichen Schranken bei der Ausübung seiner Steuersouveränität, die vornehmlich im Primärrecht der europäischen Verträge wurzeln. Ganz überwiegend handelt es sich dabei um spezielle Diskriminierungsverbote: Es besteht ein grundsätzliches Verbot der steuerlichen Schlechterstellung grenzüberschreitender im Vergleich zu rein innerstaatlichen Sachverhalten (s. Rz. 83); verboten sind ferner Steuervergünstigungen, für die sich nur bestimmte Unternehmen qualifizieren1 (s. Rz. 117). 1. Primärrecht 2 Zentrale Grundlage des europäischen Steuerrechts sind der Vertrag über die Europäische Union
(EUV) sowie der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Mit der Ratifikation des Vertrags von Lissabon v. 13.12.20072 ist die Europäische Union (EU) gem. Art. 1 EUV mit Wirkung vom 1.12.2009 an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft (EG) getreten, und der AEUV hat den früheren EG-Vertrag v. 25.3.1957 (EGV)3 abgelöst. Die Union als europäischer Staatenverbund stellt nach ihrem Selbstverständnis eine neue Stufe der Integration ihrer derzeit noch 28 Mitgliedstaaten dar4. Zu ihren bedeutsamsten Zielen zählt gem. Art. 3 Abs. 3 EUV unter anderem und insoweit unverändert die Errichtung eines Binnenmarktes. Sowohl die Kompetenz zur Harmonisierung des Steuerrechts auf der Grundlage des AEUV (insb. Art. 113, 115 f. AEUV) als auch die Beschränkung nationaler Steuersouveränität durch Grundfreiheiten (Art. 26 II AEUV) und Beihilfeverbot (Art. 107 f. AEUV) dienen der Verwirklichung dieses Binnenmarktes und sind daher binnenmarktfinal zu interpretieren. Ein wesentlicher und ggf. auslegungsrelevanter Aspekt ist dabei die Gewährleistung eines freien und unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt (vgl. Art. 107 I, 116 I, 120 I AEUV). Die EU verleiht den Staatsangehörigen ihrer Mitgliedstaaten darüber hinaus eine Unionsbürgerschaft (Art. 9 EUV und Art. 20 AEUV); das daran geknüpfte Freizügigkeitsrecht des Art. 21 AEUV darf grds. keinen steuerlichen Beschränkungen unterliegen. 3 Ferner müssen die Unionsorgane bei der sekundärrechtlichen Angleichung und Koordinierung der
mitgliedstaatlichen Steuersysteme die Grundrechte der EU-Grundrechtecharta (GrR-Charta)5 sowie die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts6 – insb. die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit7 und der Rechtssicherheit sowie des Vertrauensschutzes8 – beachten. Dasselbe
1 Zur Entfaltung des grds. Verbots steuerlicher Beihilfen iSd. Art. 107 I AEUV als Diskriminierungsverbot s. EuGH v. 21.12.2016 – C-524/14 P, ECLI:EU:C:2016:971 Rz. 52 f. – Hansestadt Lübeck. 2 Gesetz zum Vertrag von Lissabon v. 13.12.2007, BGBl. II 2008, 1038. 3 Gesetz zu den Verträgen vom 25.3.1957 zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft, BGBl. II 1957, 753. 4 Zu absehbaren steuerlichen Folgen des sog. BREXIT s. ifst-Schrift 520. 5 Die GrR-Charta wurde ursprünglich am 7.12.2000 vom Europäischen Rat ohne Rechtsverbindlichkeit proklamiert (ABl. C 364 v. 18.12.2000, 1); seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon hat sie gem. Art. 6 I EUV den Rang von EU-Primärrecht. Eingehend zur GrR-Charta Jarass, GrCH3, 2016. 6 S. Schilling, EuGRZ 2000, 3 (17 ff.); Tridimas, The General Principles of EU Law2, Oxford 2007; Grabitz/ Hilf/Nettesheim/Mayer, nach Art. 6 EUV Rz. 388 ff.; Streinz, Europarecht10, Rz. 803 ff. m.w.N.; Englisch in Weber (Hrsg.), Traditional and Alternative Routes to European Tax Integration, 2010, 231 ff. 7 EuGH v. 19.6.1980 – 41/79, 121/79, 796/79, ECLI:EU:C:1980:163 Rz. 21 – Testa u.a.; v. 11.7.1989 – C-265/87, ECLI:EU:C:1989:303 Rz. 21 – Schräder HS Kraftfutter. 8 S. bspw. EuGH v. 4.7.1973 – 1/73, ECLI:EU:C:1973:78 Rz. 5 – Westzucker; v. 10.9.2009 – C-201/08, ECLI:EU:C:2009:539 Rz. 28 f. – Plantanol; Raitio, The Principle of Legal Certainty in EC Law, Dordrecht 2003; s. auch Pauwels, EC Tax Review 2013, 268 (EMRK-Grundsätze).
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A. Rechtsnormen des Europäischen Steuerrechts
Rz. 5 § 4
gilt für die Mitgliedstaaten bei der Rechtssetzung und Rechtsanwendung im Anwendungsbereich des Unionsrechts, also insb. auch bei der Implementierung von harmonisiertem Steuerrecht (s. auch Art. 51, 52 GrR-Charta)9. Der neben dem EUV fortbestehende Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft vom 25.3.1957 hingegen enthält nur ganz vereinzelt besteuerungsrelevante Vorgaben, die lediglich für nukleare Brennstoffe und die damit befassten Unternehmen von Bedeutung sind. Über die Kompetenztitel und Vorgaben des Unionsrechts hinaus existiert eine Reihe weiterer euro- 4 päischer Verträge mit besteuerungsrelevanten Vorschriften. Das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2.5.1992 (EWR) dehnt den europäischen Binnenmarkt auf die EFTA-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen aus. Insb. gelten also auch für grenzüberschreitende Sachverhalte mit Bezug zu diesen Staaten die binnenmarktfinalen Grundfreiheiten. In eingeschränktem Maße gilt dies ferner im Verhältnis zu denjenigen Drittstaaten, mit denen die EU ein Assoziierungsabkommen abgeschlossen hat10. Ferner besteht zwischen der EU und der Schweiz (noch) ein Freizügigkeitsabkommen, das am 1.6.2002 in Kraft getreten ist und ebenfalls einige steuerrechtlich bedeutsame Vorgaben enthält11. Schließlich müssen Steuergesetze und Maßnahmen des Steuervollzugs auch den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)12 genügen; besonders relevant ist dies auf dem Gebiet des Steuerverfahrens und des Steuerstrafrechts13. 2. Sekundär- und Tertiärrecht Das primäre Unionsrecht der Gründungsverträge verleiht der EU nach dem Grundsatz der begrenzten 5 Einzelermächtigung (Art. 4 I; 5 I EUV) Kompetenzen zur Vereinheitlichung, Angleichung und Koordination des in ihren Mitgliedstaaten geltenden Rechts durch Akte sekundären Unionsrechts. Je nach einschlägigem Kompetenztitel stehen hierfür die Instrumente der Verordnung oder der Richtlinie zur Verfügung. Während die Verordnung in jedem Mitgliedstaat unmittelbar geltendes Recht ist, bedarf die Richtlinie der Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber (Art. 288 II, III AEUV). Die Rechtsakte der Steuerharmonisierung erlässt der Rat regelmäßig einstimmig auf Vorschlag der Kommission; das Europäische Parlament sowie der Wirtschafts- und Sozialausschuss werden angehört14. Von der Ermächtigung zur Rechtsangleichung aufgrund qualifizierter Mehrheit nach Art. 116 II AEUV wurde 9 S. grundlegend EuGH v. 18.6.1991 – C-260/89, ECLI:EU:C:1991:254 Rz. 42 – ERT; v. 27.2.2007 – C-354/04, ECLI:EU:C:2007:115 Rz. 51 – Gestoras pro amnistiá u.a./Rat; Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2005, 17 ff.; sowie speziell zum Steuerrecht EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, ECLI:EU:C:2013:105 Rz. 17 ff. – Åkerberg Fransson; Englisch in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, 39 (43 ff.); Dobratz, UR 2014, 425. S. aber auch EuGH v. 29.3.2012 – C-417/10, ECLI:EU:C:2012:184 Rz. 25 ff. – 3 M Italia: keine Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze (oder EU-Grundrechte) bei Steuergesetzgebung ohne Bezug zum Unionsrecht. 10 Überblick bei Callies/Ruffert/Schmalenbach5, Art. 217 AEUV; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Vöneky/BeylageHaarmann, Art. 217 AEUV. 11 Abkommen der EG und der Mitgliedstaaten mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft v. 21.6.1999, ABl. L 114 v. 30.4.2002, BGBl. II 2001, 810; die Schweiz bemüht sich derzeit um eine Neuverhandlung. S. zur Bedeutung im Steuerrecht Reich/König, Europäisches Steuerrecht, Zürich 2006; Maier, Die steuerlichen Implikationen der Mobilitätsgarantien des Freizügigkeitsabkommens Schweiz-EG, 2013; Spies, StuW 2017, 48; EuGH v. 28.2.2013 – C-425/11, ECLI:EU:C:2013:121 – Ettwein (zu § 1a EStG); v. 19.11.2015 – C-241/14, ECLI:EU:C:2015:766 – Bukovansky; BFH v. 9.5.2012 – X R 3/11, IStR 2012, 508. 12 Überblick zur EMRK bei Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht7, § 17 Rz. 32 ff. 13 S. dazu Maisto in Kofler u.a. (Hrsg.), Human Rights and Taxation in Europe and the World, 2011, 373; die Aufsatzserie von Baker in der European Taxation (zuletzt ET 2015, 107); sowie das ausführliche „Factsheet Taxation“ der Pressestelle des EGMR von August 2017. Zur Zurückhaltung des EGMR auf dem Gebiet des materiellen Steuerrechts s. Endresen, Intertax 2017, 508. 14 Rechtsgrundlagen sind insb. Art. 113 AEUV (indirekte Steuern) und Art. 115 AEUV (direkte Steuern); s. auch Art. 192 II [1] Buchst. a AEUV und Art. 194 III AEUV (ökologisch bzw. energiepolitisch motivierte Steuerharmonisierung). Zur institutionellen Struktur der EU s. Streinz, Europarecht10, Rz. 264 ff.
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§ 4 Rz. 6
Europäisches Steuerrecht
bislang im Steuerrecht ebenso wenig Gebrauch gemacht wie von der Möglichkeit verstärkter Zusammenarbeit einer Kerngruppe integrationswilliger Mitgliedstaaten (Art. 20 EUV; „Europa der zwei Geschwindigkeiten“). Die vom Rat genehmigte Einführung einer Finanztransaktionsteuer im Wege verstärkter Zusammenarbeit15 liegt derzeit auf Eis (s. auch Rz. 66). Soll mit Wirkung gegenüber einem Mitgliedstaat ein Rechtsakt mit hoher Regelungsdichte erlassen werden, der anders als die Richtlinie nicht nur hinsichtlich seines Ziels verbindlich wird, ist der Beschluss i.S.d. Art. 288 IV AEUV die adäquate Handlungsform16. 6 Durch Verordnungen des Rates wurde die Europäische Zollunion (Art. 28 ff. AEUV) verwirklicht.
I.Ü. wird die Aufgabe, die nationalen Steuerrechtsordnungen anzugleichen, im Wesentlichen durch Richtlinien vollzogen. Durch Beschlüsse werden auf dem Gebiet des Steuerrechts vor allem beihilferechtliche Entscheidungen der Kommission getroffen (s. Art. 108 II AEUV). Kein sekundäres Unionsrecht, sondern ein zwischen den Mitgliedstaaten geschlossener multilateraler völkerrechtlicher Vertrag i.S.d. früheren Art. 293 EGV ist die auf dem Gebiet der steuerlichen Korrektur von Konzernverrechnungspreisen bedeutsame Schiedsverfahrenskonvention17. 7 Von zunehmender Bedeutung ist auf den Gebieten des umfassend harmonisierten Steuerrechts (s.
Rz. 66 ff.) die Rechtssetzung aufgrund sekundärrechtlicher Übertragung von materiellen Gesetzgebungsbefugnissen auf Kommission und Rat. Der Vertrag von Lissabon (s. Rz. 2) hat die Möglichkeiten zum Erlass solchen Tertiärrechts nochmals deutlich ausgeweitet: Nach Art. 290 AEUV kann der Kommission die Befugnis eingeräumt werden, „nicht wesentliche“ Vorschriften eines Sekundärrechtsaktes im Wege delegierter Rechtsakte zu ergänzen oder zu ändern18. Außerdem können die Kommission oder – ausnahmsweise – der Rat auf der Grundlage des Art. 291 II AEUV ermächtigt werden, Durchführungsbestimmungen zu Sekundärrechtsakten zu erlassen19. Zur letztgenannten Kategorie gehört insb. die auf der Grundlage des Art. 397 MwSt-Systemrichtlinie 2006/112/EG vom Rat erlassene MwSt-Durchführungsverordnung 282/2011. Seit jeher sind außerdem im Zollrecht Durchführungsverordnungen der Kommission von großer praktischer Relevanz20. Demgegenüber finden delegierte Rechtsakte i.S.d. Art. 290 AEUV auf dem Gebiet des Steuerrechts bislang noch keine Anwendung. 3. Verhältnis von Primär- und Sekundärrecht 8 Nach der Konzeption der Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften unterlagen die Orga-
ne der Gemeinschaft bei der Ausübung ihrer Kompetenzen keinen materiell-rechtlichen Bindungen an rechtsstaatliche Grundsätze. Insb. enthielt das Primärrecht keine Grundrechtsgarantien. Nachdem mitgliedstaatliche und namentlich deutsche Gerichte in Vorlageverfahren dem EuGH die Grundrechtsrelevanz gemeinschaftsrechtlicher Harmonisierung verdeutlicht hatten, hat der EuGH im Wege der Rechtsfortbildung einen Katalog von Grundrechten und weitere allgemeine Rechtsgrundsätze rechtsstaatlichen Gehalts entwickelt21. Dabei orientierte sich der EuGH vornehmlich an den gemein15 S. Beschluss des Rates v. 22.1.2013 über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer; sowie den darauf fußenden Kommissionsvorschlag KOM(2013) 71 endg. 16 S. dazu Calliess/Ruffert5, Art. 288 AEUV Rz. 92. 17 Übereinkommen über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen, ABl. L 225 v. 20.8.1990, 10. 18 Zu Recht krit. Lecheler, DVBl. 2008, 873 (877); zur bisherigen Wesentlichkeits-Rspr. des EuGH s. Härtel, Hdb. Europäische Rechtsetzung, 2006, § 11 Rz. 9 ff. 19 S. zur Abgrenzung zwischen delegierten Rechtsakten und Durchführungsbestimmungen EuGH v. 18.3.2014 – C-427/12, ECLI:EU:C:2014:170 – Kommission/Parlament u. Rat. 20 Vgl. insb. Art. 9 der VO (EWG) Nr. 2658/87 v. 23.7.1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif. 21 Grundl. EuGH v. 12.11.1969 – 29/69, ECLI:EU:C:1969:57 Rz. 7 – Stauder; v. 17.12.1970 – 11/70, ECLI:EU:C:1970:114 Rz. 4 – Internationale Handelsgesellschaft; s. dazu eingehend Lenaerts/Van Nuffel, European Union Law3, Rz. 22-016 ff.; Ludwig, EuR 2011, 715.
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A. Rechtsnormen des Europäischen Steuerrechts
Rz. 10 § 4
samen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sowie an den Grundrechtsgarantien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)22. Der primärrechtliche Rang speziell des Grundrechtskatalogs wurde nachfolgend durch den Vertrag von Maastricht23 bekräftigt (vgl. Art. 6 II EUV a.F.) und ergibt sich heute aus Art. 6 III EUV, ergänzt um die Inbezugnahme der EU-GrR-Charta (s. Rz. 3) in Art. 6 I EUV. Können Verstöße gegen Grundrechte oder sonstige allgemeine Rechtsgrundsätze nicht gerechtfertigt werden, ist die entsprechende Sekundärrechtsbestimmung nichtig24. Vorrangig ist jedoch eine primärrechtskonforme Auslegung des Sekundärrechts in Betracht zu ziehen25. Dementsprechend haben Kommission und Rat bei der Harmonisierung des mitgliedstaatlichen 9 Steuerrechts den unionsrechtlichen Gleichheitssatz und die Freiheitsrechte der jeweils Betroffenen zu achten. Der EuGH ist insoweit gefordert, bereichsspezifische Maßstäbe grundrechtlicher Anforderungen an unionsrechtliche Steuergesetze zu entwickeln, so wie dies auch das BVerfG im nationalen Kontext getan hat (s. § 3 Rz. 90 ff.)26. Derzeit besteht ein gravierendes Kontrolldefizit; der EuGH nimmt selbst evident gleichheitswidrige Regelungen mit nicht tragfähigen Begründungen hin. Hauptverantwortlich hierfür ist eine einseitige integrationspolitische Färbung seines Prüfungsansatzes und wohl auch seiner Prüfungsbereitschaft, die sich auch auf die Kontrolldichte (vielfach eine bloße Willkürprüfung) auswirkt und selbst vor einer Deformierung der Grundrechtsdogmatik und einer faktischen Suspendierung von grundrechtlichen Bindungen nicht halt macht27. Stringenter handhabt der EuGH hingegen die Einforderung sonstiger rechtsstaatlicher Standards im Rahmen der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts und namentlich die Prüfung des Rückwirkungsverbots28. In der Rspr. des EuGH ist inzwischen anerkannt, dass der Unionsgesetzgeber auch auf die Wahrung 10 der binnenmarktfinalen Grundfreiheiten des Art. 26 II AEUV verpflichtet ist29. Das betrifft grds. sämtliche sekundärrechtlichen Vorgaben zur Besteuerung grenzüberschreitender Vorgänge, einschließlich verzichtbarer Richtlinienbestimmungen sowie sekundärrechtlicher Ermächtigungen zur Implementierung optionaler Besteuerungsregime30. Auch insoweit pflegt der EuGH allerdings eine im Ver22 Grundl. EuGH v. 17.12.1970 – 11/70, ECLI:EU:C:1970:114 Rz. 4 – Internationale Handelsgesellschaft (gemeinsame Verfassungsüberlieferungen); v. 14.5.1974 – 4/73, ECLI:EU:C:1974:51 Rz. 12; v. 13.12.1979 – 44/79, ECLI:EU:C:1979:290 Rz. 15 – Hauer (EMRK). S. Bergmann, VBlBW 2011, 169; F. Kirchhof, NJW 2011, 3681. S. zur Eigenständigkeit des Unionsgrundrechtsschutzes im Verhältnis zur EMRK aber auch EuGH v. 21.12.2016 – C-203/15 u.a., ECLI:EU:C:2016:970 Rz. 129 – Tele2 Sverige u.a., m.w.N. 23 ABl. C 191 v. 29.7.1992, 1 = BGBl. II 1992, 1251. 24 S. EuGH v. 9.11.2010 – C-92/09 u.a., ECLI:EU:C:2010:662 Rz. 45 f. i.V.m. Rz. 89 u. 91 (zu Garantien der GrR-Charta) – Schecke; v. 22.6.2010 – C-188/10 u.a., ECLI:EU:C:2010:363 Rz. 55 – Melki u.a. 25 S. EuGH v. 13.12.1983 – 218/82, ECLI:EU:C:1983:369 Rz. 15 – Kommission/Rat; v. 29.6.1995 – C-135/93, ECLI:EU:C:1995:201 Rz. 37 – Spanien/Kommission; v. 19.12.2012 – C-549/11, ECLI:EU:C:2012:832 Rz. 32 – Orfey Balgaria. Eingehend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, 220 ff. 26 Dazu eingehend Ohlendorf, Grundrechte als Maßstab des Steuerrechts in der Europäischen Union, 2015. 27 Exemplarisch ist die Entscheidung EuGH v. 8.5.2003 – C-269/00, ECLI:EU:C:2003:254 Rz. 53 f. – Seeling. Ausf. Kritik bei Englisch in Weber (Hrsg.), Traditional and Alternative Routes to European Tax Integration, 2010, 231 (243 ff.). Für eine extensivere Grundrechtsprüfung auch GA Kokott, Schlussanträge v. 4.9.2014 – C-144/13 u.a., ECLI:EU:C:2014:2163 Rz. 84 f. – VDP Dental Laboratory u.a.; Dobratz, UR 2014, 425. Überzeugender denn jüngst auch EuGH v. 7.3.2017 – C-390/15, ECLI:EU:C:2017:174 Rz. 37 ff. – RPO. 28 S. bspw. EuGH v. 29.4.2004 – C-17/01, ECLI:EU:C:2004:242 – Sudholz; v. 26.4.2005 – C-376/02, ECLI:EU:C:2005:251 – Stichting „Goed Wonen“. 29 S. die umfassenden Nachweise bei Zazoff, Der Unionsgesetzgeber als Adressat der Grundfreiheiten, 2011, 70 ff.; s. ferner auch speziell im Steuerrecht EuGH v. 26.10.2010 – C-97/09, ECLI:EU:C:2010:632 – Schmelz. 30 Im Falle optionaler Besteuerungsregime sind etwaige Grundrechtsverstöße durch die nationalen Umsetzungsnormen dem Unionsgesetzgeber und nicht dem nationalen Gesetzgeber zuzurechnen, soweit schon die Ermächtigung inhärent grundfreiheitswidrig ist, s. EuGH v. 26.10.2010 – C-97/09, ECLI:EU:C:2010:632 Rz. 33 – Schmelz.
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§ 4 Rz. 11
Europäisches Steuerrecht
gleich zur Kontrolle mitgliedstaatlicher Maßnahmen (s. dazu Rz. 24 ff.) eher großzügige Herangehensweise31. I.Ü. ist diesbezüglich ebenfalls der erwähnte Vorrang primärrechtskonformer Auslegung (Rz. 8) zu beachten. Das Beihilfeverbot des Art. 107 I AEUV wiederum gilt nur für staatliche Beihilfen; Unionsbeihilfen müssen sich nur an den Grundrechten messen lassen32. 4. Keine Rechtsnormen 4.1 Rechtlich unverbindliche Erklärungen von EU-Organen 11
Die Institutionen der EU, insb. die Kommission sowie die im Rat verbundenen Mitgliedstaaten äußern sich vielfach außerhalb von EU-Gesetzgebungsverfahren in amtlichen Erklärungen, die zwar auf bestimmte steuerrechtliche Standards hinwirken sollen, aber für sich genommen weder gegenüber Unionsbürgern bzw. sonstigen Privatrechtssubjekten noch gegenüber den Mitgliedstaaten Rechtsverbindlichkeit entfalten (sog. „soft law“)33. Die europäischen Verträge sehen dafür die Instrumente der Empfehlung und der Stellungnahme vor (Art. 288 VAEUV). Informell haben sich aber eine Reihe weiterer Handlungsformen herausgebildet, wie etwa Resolution, Verhaltenskodex und Protokollerklärung (Mitgliedstaaten bzw. Rat) oder Mitteilungen34, Erläuterungen und Hinweise (Kommission)35.
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Nach ihrer Funktion lassen sich die betreffenden Maßnahmen im Wesentlichen wie folgt klassifizieren: Sowohl die Kommission als auch der Rat bzw. Vertreter der mitgliedstaatlichen Finanzverwaltungen legen in rechtlich unverbindlichen Dokumenten ihr Verständnis von bestimmten Vorschriften des Primär- oder Sekundärrechts dar (norminterpretierende Akte). Exemplarisch sind die auf dem Gebiet des Zollwesens ausgearbeiteten Erläuterungen zum Harmonisierten System bzw. zur Kombinierten Nomenklatur36 und der Leitfaden zum Mehrwertsteuerregime für elektronische u.ä. Dienstleistungen37. Daneben veröffentlicht die Kommission gelegentlich Kriterien, von denen sie sich bei der Ausübung eines ihr kraft primär- oder sekundärrechtlicher Bestimmungen übertragenen Ermessens auf steuerrechtlich bedeutsamen Tätigkeitsfeldern leiten lässt (Ermessensleitlinien). Besonders praxisrelevant sind insoweit die Mitteilungen zur Vereinbarkeit von steuerlichen Beihilfen mit dem Binnenmarkt (Art. 107 III AEUV; s. Rz. 123). Erwähnenswert sind ferner politische Absichtserklärungen der Mitgliedstaaten, die auf „peer pressure“ statt rechtlichen Zwang zur Beseitigung steuerrechtlicher Hemmnisse bei der Verwirklichung eines freien und unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt setzen. Als häufig sehr wirkungsvoll hat sich bspw. der vom Rat beschlossene Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung38 zwecks Beseitigung von als „schädlich“ angesehenem Steuerwettbewerb erwiesen. Schließlich bemüht sich die Kommission in Mitteilungen und Empfehlungen um
31 S. EuGH v. 26.10.2010 – C-97/09, ECLI:EU:C:2010:632 Rz. 71 – Schmelz. 32 S. dazu EuG v. 5.4.2006 – T-351/02, ECLI:EU:T:2006:104 Rz. 102 – Deutsche Bahn; EuGH v. 23.4.2009 – C-460/07, ECLI:EU:C:2009:254 Rz. 70 – Puffer; Englisch, EuR 2009, 488 (491). Zur Abgrenzung von Unionsbeihilfen und staatlichen Beihilfen s. EuGH v. 23.4.2009 – C-460/07, ECLI:EU:C:2009:254 Rz. 67-71 – Puffer; EuG v. 5.4.2006 – T-351/02, ECLI:EU:T:2006:104 Rz. 100 – Deutsche Bahn; EuG v. 21.3.2012 – T-50/06 u.a., ECLI:EU:T:2012:134 Rz. 73 – Kommission/Irland u.a.; s. aber auch die Rechtsmittelentscheidung des EuGH v. 10.12.2013 – C-272/12 P, ECLI:EU:C:2013:812 Rz. 37 ff. – Kommission/Irland. S. ferner die kritische Würdigung der Rspr. bei Englisch, EC Tax Review 2013, 9. 33 S. dazu ausführlich Hinnekens, EC Tax Review 2014, 247 und 313. 34 S. Adam, Die Mitteilungen der Kommission, 1999. 35 Ausf. und m.w.N. Senden, Soft Law in European Community Law, Oxford 2004, 123 ff.; Peters, FS Bieber, 2007, 405 ff. S. auch Vega García, El soft law en la fiscalidad internacional, Diss. Barcelona 2014. 36 Dazu näher Witte/Wolffgang, Lehrbuch des Europäischen Zollrechts8, Rz. 1307 ff. 37 Einsehbar unter http://ec.europa.eu/taxation_customs/resources/documents/taxation/vat/how_vat_ works/telecom/explanatory_notes_2015_de.pdf. 38 KOM(1997) 495, ABl. C 210 v. 6.7.1998, 227 = BR-Drucks. 814/97; s. dazu Monti, EC Tax Review 1998, 2; Saß, FR 1999, 77; Parly, ET 2000, 406.
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A. Rechtsnormen des Europäischen Steuerrechts
Rz. 14 § 4
eine Koordination der nationalen Steuerpolitiken der Mitgliedstaaten39, wenn eine rechtsverbindliche Harmonisierung über Richtlinien politisch (noch) nicht durchsetzbar ist. Norminterpretierende Akte der Unionsorgane können unbeschadet ihres Mangels an rechtlicher Ver- 13 bindlichkeit im Zusammenspiel mit den ausgelegten Rechtsnormen des Unionsrechts mittelbare Rechtswirkungen erzeugen. Sie werden vom EuGH zur Auslegung von Vorschriften des Sekundärrechts herangezogen, wenn sie wie bspw. Protokollerklärungen den historischen Willen des Unionsgesetzgebers erhellen40 oder wenn sie wegen der Einbindung eines für die Auslegung erforderlichen besonderen Sachverstandes eine gewisse Vermutung der Richtigkeit für sich haben41. So sollen etwa nach st. Rspr. die Erläuterungen auf dem Gebiet des Zollwesens „erheblich zur Auslegung der einzelnen Tarifpositionen beitragen“42. Außerdem sind nach der Grimaldi-Doktrin des EuGH die nationalen Gerichte dazu angehalten, Empfehlungen i.S.d. Art. 288 V AEUV bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen43. Da die Abgabe von Empfehlungen durch Kommission und Rat an keine besonderen Voraussetzungen geknüpft ist (s. Art. 292 AEUV), muss diese Berücksichtigungspflicht konsequenterweise auch für in anderer Form ergehende amtliche norminterpretierende Äußerungen dieser Unionsorgane gelten. Daraus folgt für Finanzgerichte bei Abweichungen vom Rechtsstandpunkt eines Unionsorgans nicht nur eine Begründungslast44, sondern im Fall einer letztinstanzlichen Entscheidung auch eine Vorlagepflicht wegen objektiv zweifelhafter Rechtslage (Art. 267 III AEUV, s. § 22 Rz. 303 ff.). Zudem kommen norminterpretierende Akte oder sonstige Verlautbarungen als Grundlage für Ver- 14 trauensschutz bei der Rechtsanwendung durch Unionsorgane und nationale Stellen in Betracht. Dies gilt sowohl für Privatrechtssubjekte (z.B. betr. die Einschätzung, dass eine Steuervergünstigung keine Beihilfe i.S.d. Art. 107 I AEUV darstellt45) als auch richtigerweise im Verhältnis zu Mitgliedstaaten, insb. wenn die Begrenzung der Rückwirkung von Urteilen des EuGH (s. Rz. 44) in Rede steht. So darf ein Mitgliedstaat grds. darauf vertrauen, dass die von der Kommission vorgenommene Einstufung eines Steuerregimes als grundfreiheitskompatibel im Einklang mit der Rechtslage steht46. Zudem können Verwaltungsvorschriften (Mitteilungen, Leitlinien, usw.) der EU-Kommission, die eine Orientierungsfunktion auch gegenüber Privatrechtssubjekten entfalten sollen, nur unter gebührender Berücksichtigung schutzwürdigen Vertrauens geändert werden47.
39 S. bspw. Empfehlung der Kommission v. 6.12.2012 für Maßnahmen, durch die Drittländer zur Anwendung von Mindeststandards für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich veranlasst werden sollen, C(2012) 8805 final; v. 6.12.2012 betreffend aggressive Steuerplanung, C(2012) 8806 final. 40 So bspw. EuGH v. 3.12.1998 – C-368/96, ECLI:EU:C:1998:583 Rz. 25 ff. – Generics u.a. 41 S. bspw. zur Bedeutung der Leitlinien des MwSt-Ausschusses für die Auslegung der MwSt-Richtlinie GA Kokott v. 31.1.2013 – C-155/12, EU:C:2013:57 Rz. 47 ff. – RR Donnelley Global Turnkey Solutions Poland; GA Wahl v. 2.6.2016 – C-412/15, EU:C:2016:395 Rz. 26 – TMD; skeptischer allerdings GA Sharpston v. 5.3.2015 – C-526/13, EU:C:2015:156 Rz. 52 ff. – Fast Bunkering Klaipe˙da. 42 EuGH v. 28.4.1999 – C-405/97, ECLI:EU:C:1999:207 Rz. 18 – Mövenpick Deutschland; v. 16.9.2004 – C-396/02, ECLI:EU:C:2004:536 Rz. 28 – DFDS. 43 EuGH v. 13.12.1989 – C-322/88, ECLI:EU:C:1989:646 Rz. 18 – Grimaldi; bestätigt z.B. durch EuGH v. 21.1.1993 – C-188/91, ECLI:EU:C:1993:24 Rz. 18 – Deutsche Shell; v. 11.11.2003 – C-207/01, ECLI:EU:C:2003:451 Rz. 41 – Altair Chimica; v. 18.3.2010 – C-317/08 u.a., ECLI:EU:C:2010:146 Rz. 40 – Alassini u.a. S. dazu krit. Härtel, Hdb. Europäische Rechtsetzung, 2006, § 12 Rz. 11 ff. m.w.N. 44 Sarmiento in Weber (Hrsg.), Traditional and Alternative Routes to European Tax Integration, 2010, 53, 59 u. 64. 45 EuGH v. 17.9.2009 – C-519/07, ECLI:EU:C:2009:556 – Kommission/Koninklijke Friesland; hierzu Anm. Englisch, European State Aid Law Quarterly 2010, 397. 46 Zur Relevanz einer solchen Annahme s. EuGH v. 8.4.1976 – 43/75, ECLI:EU:C:1976:56 Rz. 71, 73 – Defrenne; v. 2.2.1988 – 24/86, ECLI:EU:C:1988:43 Rz. 32 – Blaizot; s. aber auch EuGH v. 10.5.2012 – C-39/10, ECLI:EU:C:2012:282 Rz. 60 ff. – Kommission/Estland. 47 S. EuGH v. 28.6.2005 – C-189/02 P u.a., ECLI:EU:C:2005:408 Rz. 209 ff. – Dansk Rørindustri u.a.
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§ 4 Rz. 15 15
Europäisches Steuerrecht
Ermessensleitlinien der Kommission, bspw. zur Akzeptanz steuerlicher Beihilfen als binnenmarktkompatibel, führen im Rahmen des jeweiligen Ermessensspielraums48 außerdem zu einer gleichheitsrechtlich beachtlichen Selbstbindung49. Gemeinsame politische Absichtserklärungen oder Wertungen der Mitgliedstaaten schließlich können dazu führen, dass sie damit unvereinbare Standpunkte nach Treu und Glauben nicht länger als Rechtfertigungsgrund für Grundfreiheits- oder Grundrechtsverstöße (s. Rz. 93) anführen können. 4.2 Entscheidungen der europäischen Gerichte
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Die Gerichte der EU50 – missverständlich unter dem Oberbegriff „Gerichtshof der Europäischen Union“ zusammengefasst – sichern die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Unionsverträge (Art. 19 I EUV)51. Sie entscheiden abschließend über die Auslegung von besteuerungsrelevanten Bestimmungen des Primär- und Sekundärrechts, und ihnen kommt ein Verwerfungsmonopol für primärrechtswidrige Unionsrechtsakte zu52. Im Bereich des Steuerrechts ist überwiegend der Gerichtshof i.S.d. Art. 251 AEUV (der „EuGH“) zuständig, namentlich für Vorlageverfahren nationaler Gerichte betr. die Auslegung und Gültigkeit von Unionsrecht gem. Art. 267 AEUV und für Vertragsverletzungsverfahren der Kommission nach Art. 258 AEUV53. Das Gericht i.S.d. Art. 254 AEUV („EuG“, vormals „Gericht erster Instanz“) kann nach Art. 263 AEUV gegen Entscheidungen der Kommission, insb. über steuerliche Beihilfen sowie in Zollsachen, angerufen werden. Eine Fachgerichtsbarkeit (s. Art. 257 AEUV) für Steuersachen ist bislang nicht eingerichtet worden. Die Auslegung und Anwendung des EWR-Abkommens ist zudem auch Gegenstand der Rspr. des EFTA-Gerichtshofs54.
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Der EuGH ist in Steuersachen grds. nicht mit der Entscheidung von Einzelfällen befasst, sondern regelmäßig mit der Interpretation und Rechtsfortbildung primär- und sekundärrechtlicher Vorgaben des Unionsrechts. Das gilt auch für Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV55 sowie in seiner Rolle als Revisionsgericht bei erstinstanzlichen Entscheidungen des EuG gem. Art. 256 I 2 AEUV. Der Gerichtshof bedient sich dabei des traditionallen Methodenkanons (s. § 5 Rz. 55 ff.), wobei jedoch die genetische Auslegung bislang nur eine untergeordnete Rolle spielt. Zudem trägt die Auslegung Besonderheiten des Unionsrechts Rechnung (insb. der Authenzität sämtlicher amtlicher Sprachfassun48 Auch unionsrechtlich keine Gleichbehandlung im Unrecht, s. EuGH v. 10.11.2011 – C-259/10, ECLI:EU:C:2011:719 Rz. 59 ff. – The Rank Group, m.w.N.; Tridimas, The General Principles of EU Law2, 77. Zu Recht krit. im Kontext des grundgesetzlichen Gleichheitssatzes Kirchhof, HdBStR V2, § 125 Rz. 62 ff. 49 S. EuGH v. 18.5.2006 – C-397/03 P, ECLI:EU:C:2006:328 Rz. 91, 93 – ADM; v. 15.11.2011 – C-106/09 P, ECLI:EU:C:2011:732 Rz. 128 – Kommission/Gibraltar; Härtel, Hdb. Europäische Rechtsetzung, 2006, § 13 Rz. 32 m.w.N. 50 S. dazu Barents, Common Market Law Review 2010, 709. Zu empfehlen sind die elektronischen Entscheidungssammlungen EuRLex (http://eur-lex.europa.eu/) und Curia (http://curia.europa.eu/). 51 Zu Arbeitsweise und Verfahrensabläufen bei EuGH-Entscheidungen in Steuersachen s. im Überblick Dobratz, IWB 2015, 634; sowie allgemein auch Kokott/Sobotta, EuGRZ 2013, 465. 52 Dazu grundl. EuGH v. 22.10.1987 – 314/85, ECLI:EU:C:1987:452 Rz. 15 ff. – Foto-Frost; v. 10.1.2006 – C-344/04, ECLI:EU:C:2006:10 Rz. 27 – IATA und ELFAA; v. 18.7.2007 – C-119/05, ECLI:EU:C:2007:434 Rz. 53 – Lucchini; v. 22.6.2010 – C-188/10, ECLI:EU:C:2010:363 Rz. 54 – Melki; s. ferner Calliess/Ruffert/ Wegener5, Art. 267 AEUV Rz. 2, 13. 53 Eingehend zu den Vertragsverletzungsverfahren in Steuersachen Lyal, EC Tax Review 2015, 5 (9 ff.). 54 S. dazu die Online-Datenbank: http://www.eftacourt.int/index.php/cases. S. zur grds. parallelen Auslegung von im Wesentlichen identischen bzw. wortlautgleichen Vorschriften in AEUV und EWR-Vertrag EuGH v. 23.2.2006 – C-471/04, ECLI:EU:C:2006:143, Rz. 48 – Keller Holding, m.w.N.; EFTA Gerichtshof v. 26.6.2007 – E-2/06, Slg. 2007, 163 Rz. 59 – Norwegian Waterfalls. 55 St. Rspr.; s. bspw. EuGH v. 30.9.2003 – C-224/01, ECLI:EU:C:2003:513 Rz. 60 – Köbler. Häufig zeichnet der EuGH aber in Vorabentscheidungsverfahren den Ausgang des nationalen Rechtsstreits vor; s. dazu grundsätzlich EuGH v. 8.11.2016 – C-243/15, ECLI:EU:C:2016:838 Rz. 64 – Lesoochranárske zoskupenie.
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B. Einwirkung des Europarechts auf nationale Steuerrechtsnormen
Rz. 24 § 4
gen56 sowie der Notwendigkeit unionsweit einheitlicher und damit idR unionsrechtsautonomer Begriffsfindung)57. Obschon der EuGH nach Stellung und Selbstverständnis nicht rechtsschöpferisch, sondern rechtserkennend tätig wird58, kommt seinen Entscheidungen grundsätzliche Bedeutung und eine entsprechende Breitenwirkung zu. Sie weisen insb. auch über die mitgliedstaatliche Steuerrechtsordnung hinaus, die den Rahmen für ein Vorlageverfahren bzw. den Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens bildete. Gesetzgeber, Finanzgerichte und Finanzverwaltung sind daher nach Art. 4 III 2 EUV gehalten, nationale Steuerrechtsnormen im Lichte dieser Entscheidungen auszulegen bzw. auf ihre etwaige Unvereinbarkeit mit Unionsrecht hin zu beurteilen und ggf. Abhilfe zu schaffen59. Zumindest eine offenkundige Verkennung oder Missachtung einschlägiger Rechtsprechungsgrundsätze löst potenziell Staatshaftungsansprüche aus60. Kritisch anzumerken ist, dass die Entscheidungen des EuGH und ihre Begründung der herausgeho- 18 benen Rolle des Gerichtshofs für Rechtsvereinheitlichung und Rechtssicherheit in der EU mitunter nicht gerecht werden. Die Urteile sind meist knapp gehalten, was insb. dem Einigungszwang in der Kammer (Sondervoten sind unzulässig) sowie Übersetzungserfordernissen geschuldet ist. Dieses Defizit kann nur teilweise durch das Studium der meist ausführlicheren vorbereitenden Schlussanträge des Generalanwalts kompensiert werden. Die Urteile sind gelegentlich auch vage oder sogar inkonsistent begründet61, und lassen nicht selten rechtsmethodische und rechtsdogmatische Reflektion vermissen. Wenngleich derlei Rechtsprechungsdefizite gelegentlich auch bei nationalen obersten Gerichten zu beobachten sind, treten sie beim EuGH doch häufiger auf. Einstweilen frei.
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B. Einwirkung des Europarechts auf nationale Steuerrechtsnormen 1. Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten Nach gefestigter und allgemein anerkannter Rspr. des EuGH sind die Grundfreiheiten des AEUV und 24 des EWR in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht, das zudem Anwendungsvorrang vor jeglicher Art nationaler Rechtsnormen beansprucht62. Der Anwendungsvorrang gilt dabei grds. auch im Verhältnis zu völkerrechtlichen Verträgen und namentlich Doppelbesteuerungsabkommen, die 56 Exemplarisch EuGH v. 26.9.2013 – C-189/11, ECLI:EU:C:2013:587 Rz. 47 ff. – Kommission/Spanien. 57 Eingehend Lasok/Millett, Juicial Control in the EU, 2004, 375 ff.; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht7, § 9 Rz. 165 ff.; Riesenhuber in Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre3, 2015, § 10 Rz. 4 ff.; Kofler, ISR 2014, 126; Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say what the Law of the EU Is: Methods of Interpretation and the European Court of Justice, 2013. 58 S. EuGH v. 15.12.1993 – C-292/92, ECLI:EU:C:1993:932 Rz. 8 – Hünermund u.a.; v. 2.2.1988 – 24/86, ECLI:EU:C:1988:43 Rz. 27 – Blaizot u.a.; v. 15.3.2005 – C-209/03, ECLI:EU:C:2005:169 Rz. 66 – Bidar; v. 27.3.1980 – 61/79, ECLI:EU:C:1980:100 Rz. 16 ff. – Denkavit Italiana; s. auch BFH v. 23.2.2010 – VII R 8/08, BFH/NV 2010, 1381 (1386 f.). 59 GA Stix-Hackl, Schlussanträge v. 8.6.2004 – C-453/02, ECLI:EU:C:2004:417, Rz. 60 S. BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07, BAGE 130, 119; Schlücke, Die Umsetzung von EuGH-Entscheidungen in das deutsche Steuerrecht, 2014, S. 77 f. Zum Ausnahmefall sog. „ausbrechender Rechtsakte“ s. eingehend Lenaerts, EuR 2015, 3 (12 ff.), m.w.N. S. außerdem unter Vertrauensschutzaspekten einschränkend EuGH v. 21.9.2017 – C-605/15, ECLI:EU:C:2017:718 Rz. 37 f. – Aviva. 60 S. EuGH v. 12.12.2006 – C-446/04, ECLI:EU:C:2006:774 Rz. 214 – FII Group Litigation (gesetzgeberisches Fehlverhalten); v. 30.9.2003 – C-224/01, ECLI:EU:C:2003:513 Rz. 56 und 121 f. – Köbler; v. 13.6.2006 - C-173/03, ECLI:EU:C:2006:391 Rz. 42 f. – Traghetti del Mediterraneo (richterliche Fehlentscheidung). 61 Erklärungsansätze bei J. Kokott/C. Sobotta, EuGRZ 2013, 465 (472). 62 S. grundl. zur unmittelbaren Geltung und zum Anwendungsvorrang EuGH v. 5.2.1963 – 26/62, ECLI:EU:C:1963:1 – van Gend & Loos; v. 15.7.1964 – 6/64, ECLI:EU:C:1964:66 – Costa/ENEL; speziell zu den einzelnen Grundfreiheiten s. die Nachweise bei Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, 213 f.
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§ 4 Rz. 25
Europäisches Steuerrecht
innerstaatlich (in Deutschland regelmäßig kraft Zustimmungsgesetzes i.S.d. Art. 59 II 1 GG) geltendes Recht sind63. Auch soweit die Ausgestaltung des Steuersystems und die internationale Koordination von Besteuerungsansprüchen jenseits harmonisierter Teilbereiche noch in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, müssen diese ihre Steuersouveränität somit unter Wahrung grundfreiheitlicher Vorgaben ausüben64. Ferner dürfen auch Verwaltungspraxis65 und höchstrichterliche Rspr.66 nicht im Widerspruch zu grundfreiheitlichen Vorgaben stehen. 25
Für indirekte Steuern auf Waren gilt insoweit ein spezielles Verbot diskriminierender oder protektionistischer Besteuerung zulasten grenzüberschreitend gehandelter Güter (Art. 110 AEUV)67. I.Ü. und speziell auf dem Gebiet der direkten Steuern sind die grundfreiheitlichen Garantien der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 45 AEUV), der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV), der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) und der Freiheit des Kapitalverkehrs (Art. 63 I AEUV) zu beachten (Rz. 79 ff.).
26
Verstößt eine nationale Steuerrechtsnorm in einer bestimmten Sachverhaltskonstellation ohne hinreichende Rechtfertigung gegen diese Anforderungen, so bleibt sie zwar gültig, ist aber insoweit unanwendbar68. Dies ist sowohl von den Finanzgerichten zu beachten als auch durch die Finanzverwaltung69 in geeigneter Weise – regelmäßig durch einen Erlass der obersten Finanzbehörde70 – sicherzustellen. Im Regelfall einer gleichheitsrechtlichen Akzentuierung der Grundfreiheiten (s. Rz. 83) hat dies normalerweise die Erstreckung der für innerstaatliche Sachverhalte geltenden günstigeren Regelung auf deren grenzüberschreitendes Pendant zur Folge71. Rechtsmethodisch kann dies je nach Rege-
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Eingehend zum Anwendungsvorrang Schlücke, Die Umsetzung von EuGH-Entscheidungen in das deutsche Steuerrecht, 2014, S. 51 ff. und 119 ff. S. dazu generell EuGH v. 5.11.2002 – C-476/98, ECLI:EU:C:2002:631 Rz. 144 ff. – Open Skies; v. 20.5.2003 – C-469/00, ECLI:EU:C:2003:295 Rz. 37 – Ravil; speziell im Steuerrecht s. auch EuGH v. 28.1.1986 – 270/83, ECLI:EU:C:1986:37 Rz. 26 – Avoir Fiscal; v. 21.9.1999 – C-307/97, ECLI:EU:C:1999:438 Rz. 57 ff. – Saint-Gobain; Mayer-Theobald, Non-garden most favoured negotiating, 2011. Zu den sich aus Art. 351 AEUV ergebenden Besonderheiten bei Abkommen mit Drittstaaten s. Calliess/Ruffert/Schmalenbach5, Art. 351 AEUV. EuGH v. 20.10.2011 – C-284/09, ECLI:EU:C:2011:670 Rz. 44 – Kommission/Deutschland; v. 12.12.2006 – C-374/04, ECLI:EU:C:2006:773 Rz. 63 – ACT Group Litigation; v. 8.11.2007 – C-379/05, ECLI:EU:C:2007:655 Rz. 16 – Amurta; v. 19.11.2009 – C-540/07, ECLI:EU:C:2009:717 Rz. 28 – Kommission/Italien; v. 3.6.2010 – C-487/08, ECLI:EU:C:2010:310 Rz. 37 – Kommission/Spanien. S. EuGH v. 7.6.2007 – C-156/04, ECLI:EU:C:2007:316 Rz. 50 – Kommission/Griechenland; v. 27.4.2006 – C-441/02, ECLI:EU:C:2006:253 Rz. 47 – Kommission/Deutschland. S. EuGH v. 9.12.2003 – C-129/00, ECLI:EU:C:2003:656 Rz. 30 – Kommission/Italien; v. 5.5.1970 – 77/69, ECLI:EU:C:1970:34 Rz. 15 – Kommission/Belgien. Dazu eingehend Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, 633 ff. Vgl. EuGH v. 13.7.1972 – 48/71, ECLI:EU:C:1972:65 Rz. 6 ff. – Kommission/Italien; v. 9.3.1978 – 106/77, ECLI:EU:C:1978:49 Rz. 17 f., 21 f. – Simmenthal II; v. 14.2.1995 – C-279/93, ECLI:EU:C:1995:31 Rz. 47 – Schumacker; v. 5.7.2016 – C-614/14, ECLI:EU:C:2016:514 Rz. 33 ff. – Ognyanov; v. 19.11.2009 – C-314/08, ECLI:EU:C:2009:719 Rz. 82 – Filipiak; BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 (244); v. 28.1.1992 – 1 BvR 1025/82 u.a., BVerfGE 85, 191 (204). Zur Begrenzung auf eine sich gerade im konkreten Einzelfall manifestierende Grundfreiheitsverletzung s. EuGH v. 9.10.2014 – C-326/12, ECLI:EU:C:2014:2269 Rz. 29 ff. – van Caster; v. 2.6.2016 – C-252/14, ECLI:EU:C:2016:402 Rz. 38 f. – Pensioenfonds Metaal en Techniek; v. 17.5.2017 – C-68/15, ECLI:EU:C:2017:379 Rz. 59 f. – „X“; Rust, IStR 2009, 382 (385); i.E. auch M. Lang, FS Lang, 2010, 1003 (1016 ff.). Zur Erstreckung des Anwendungsverbots bzgl. unionsrechtswidriger Vorschriften auch auf die Verwaltung s. EuGH v. 22.6.1989 – 103/88, ECLI:EU:C:1989:256 Rz. 31 – Fratelli Costanzo, betr. den insoweit vergleichbaren Fall einer unmittelbar anwendbaren Richtlinienbestimmung; s. dazu auch Hey, StuW 2010, 301 (308 f.). Krit. Calliess/Ruffert/Kahl5, Art. 4 EUV Rz. 99, m.w.N. Exemplarisch BMF v. 30.9.2013 – IV B 3-S 2293/09/10005-04, BStBl. I 2013, 1612. S. EuGH v. 20.10.2011 – C-284/09, ECLI:EU:C:2011:670 Rz. 94 – Kommission/Deutschland; v. 16.6.2011 – C-10/10, ECLI:EU:C:2011:399 Rz. 44 – Kommission/Österreich; v. 14.2.1995 – C-279/93, ECLI:EU:C:1995:31 Rz. 57 f. – Schumacker; Rust, IStR 2009, 382 (384); sowie generell EuGH v. 10.4.2008 – C-309/06, ECLI:EU:C:2008:211 Rz. 63 – Marks & Spencer.
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B. Einwirkung des Europarechts auf nationale Steuerrechtsnormen
Rz. 28 § 4
lungskonzept entweder durch Nichtanwendung einer benachteiligenden Spezialregelung oder aber durch Absehen von diskriminierenden Tatbestandsvoraussetzungen einer begünstigenden Regelung geschehen. In der zweiten Variante ist mit Blick auf Art. 3 I GG darauf zu achten, dass durch das Ausblenden von benachteiligenden Tatbestandsmerkmalen keine überschießende Begünstigungswirkung eintritt; ggf. sind sie daher nur teleologisch zu reduzieren72. Beispiel: Zur Unanwendbarkeit: Erstreckung der nach § 3 Nr. 26 EStG a.F. steuerfreien Aufwandsentschädigungen für bestimmte nebenberufliche Tätigkeiten im Dienst einer inländischen juristischen Person des öffentlichen Rechts durch Außerachtlassung des Merkmals „inländisch“73; Zurücknahme des für den Abzug von Schulgeld nach § 10 I Nr. 9 EStG a.F. aufgestellten Erfordernisses einer (deutschen) staatlichen Genehmigung nach Art. 7 IV GG auf das dieser Voraussetzung teleologisch zugrunde liegende, nichtdiskriminierende Sonderungsverbot nach den Besitzverhältnissen der Eltern74; Anpassung eines diskriminierenden Abgeltungsteuersatzes bei an Steuerausländer gezahlten Dividenden an die von Steuerinländern zu tragende Steuerbelastung durch Nichtanwendung der Spezialvorschrift, wonach der Quellensteuerabzug abgeltende Wirkung hat75.
Dem Gebot der Unanwendbarkeit kann ausnahmsweise auch im Wege normerhaltender Reduktion 27 i.e.S. Rechnung getragen werden: Sind grundfreiheitsbeschränkende, nach ihrer Belastungswirkung abstufbare Tatbestandsmerkmale oder Rechtsfolgen nur aufgrund der Intensität der Benachteiligung nicht rechtfertigungsfähig bzw. unverhältnismäßig, darf die Vorschrift in grundfreiheitskompatibel modifizierter Form weiter angewendet werden76. Eine beschränkende Wirkung darf also entsprechend vermindert bestehen bleiben. Beispiel: Statuierung diskriminierender, aber gerechtfertigter Nachweispflichten für die berufliche Veranlassung im Ausland angefallener Kosten77 anstelle des gesetzlich vorgesehenen pauschalen Abzugsverbots; Aufrechterhaltung einer diskriminierenden Entstrickungsbesteuerung (wie bspw. § 4 I 3, 4 EStG) unter Zuerkennung eines gesetzlich so nicht vorgesehenen Stundungsanspruchs, aufgrund dessen die Benachteiligung verhältnismäßig ist78.
Im Lichte verfassungsrechtlicher Vorgaben und insb. des Gewaltenteilungsgrundsatzes ist eine solche 28 normerhaltende Reduktion i.e.S. allerdings nur zulässig, wenn dem objektivierten Willen des Gesetzgebers (s. § 5 Rz. 52) dadurch besser Rechnung getragen wird als bei völliger Unanwendbarkeit der Norm bzw. des diskriminierenden Tatbestandselements. Dies darf nicht unter fiskalischen Aspekten beurteilt werden79, sondern bedarf einer subjektiv- wie systematisch-teleologischen Analyse unter Einbeziehung gleichheitsrechtlicher Vorgaben. I.Ü. hat eine grundfreiheitskonforme Auslegung der nationalen Steuerrechtsnorm80 im Rahmen der durch die allgemeine Methodenlehre gezogenen Grenzen (s. § 5 Rz. 58) Vorrang vor ihrer Nichtanwendung81; dies entspricht dem Gebot der größtmöglichen Schonung der mitgliedstaatlichen Souveränität. 72 73 74 75 76
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S. M. Lang, FS Lang, 2010, 1003 (1014) m.w.N. S. BFH v. 22.7.2008 – VIII R 101/02, BStBl. II 2010, 265. S. BFH v. 17.7.2008 – X R 62/04, BStBl. II 2008, 976. S. zu dieser Problematik EuGH v. 20.10.2011 – C-284/09, ECLI:EU:C:2010:457 – Kommission/Deutschland. S. EuGH v. 4.4.1968 – 34/67, ECLI:EU:C:1968:24 Ls. 3 – Lück; sowie implizit auch EuGH v. 10.2.2011 – C-436/08, ECLI:EU:C:2011:61 Rz. 139 ff. – Haribo Lakritzen; s. auch BFH v. 18.12.2013 – I R 71/10, BFHE 244, 331, Rz. 27. Ebenso Rust, IStR 2009, 382 (384 ff.); differenzierend Hey, StuW 2010, 301 (314). S. EuGH v. 28.10.1999 – C-55/98, ECLI:EU:C:1999:533 Rz. 25 ff. – Vestergaard. Zu letzterem EuGH v. 7.9.2006 – C-470/04, ECLI:EU:C:2006:525 Rz. 52 und 97 – N. So M. Lang, FS Lang, 2010, 1003 (1009 ff.) gegen Zorn, RdW 2009, 171 (174). S. generell zu dem aus Art. 4 III EUV abgeleiteten Gebot primärrechtskonformer Auslegung von nationalen Rechtsnormen EuGH v. 5.10.1994 – C-165/91, ECLI:EU:C:1994:359 Rz. 32 ff.– van Munster; v. 26.9.2000 – C-262/97, ECLI:EU:C:2000:492 Rz. 38 ff. – Engelbrecht. Zum Vorrang der primärrechtskonformen Auslegung s. EuGH v. 4.2.1988 – 157/86, ECLI:EU:C:1988:62 Rz. 11 – Murphy; v. 10.2.2000 – C-270/97 u.a., ECLI:EU:C:2000:76 Rz. 62 – Sievers; v. 26.9.2000 –
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§ 4 Rz. 29 29
Europäisches Steuerrecht
Unbeschadet der Außerachtlassung einer grundfreiheitswidrigen Norm in Rechtsprechungs- und Verwaltungspraxis kann die Kommission weiterhin mit Verweis auf den Fortbestand der Norm ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV einleiten (s. § 22 Rz. 306). Insoweit vermag nur der Gesetzgeber Abhilfe zu schaffen, weil die Unvereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit den Grundfreiheiten nach der Rspr. des EuGH abschließend nur durch eine Änderung der Rechtslage (mindestens) auf derselben Stufe der Normenhierarchie behoben werden kann82.
2. Unionsrecht und harmonisiertes Steuerrecht 30
a) Gem. Art. 288 III AEUV ist jeder Mitgliedstaat verpflichtet, eine Richtlinie so in nationales Recht umzusetzen, dass deren Ziel erreicht wird. Im Bereich des harmonisierten Steuerrechts verbleibt dabei entgegen dem Grundkonzept richtlinienbasierter Rechtsangleichung wegen der Regelungsdichte und Detailliertheit der einschlägigen Richtlinien vielfach kaum noch ein Umsetzungsspielraum. Soweit den richtlinienrechtlichen Vorgaben bei deren Inkrafttreten i.Erg. bereits durch geltendes Recht genügt wird, bedarf es keiner gesonderten Umsetzungsmaßnahmen mehr83. Dessen ungeachtet sollte der Gesetzgeber bestehende Steuergesetze zumindest an die sekundärrechtliche Terminologie anpassen84, denn Richtlinienrecht ist regelmäßig unionsrechtsautonom auszulegen85. Knüpft der Gesetzgeber – was immer noch häufig geschieht – stattdessen an tradierte Begrifflichkeiten des nationalen Steuerrechts an, birgt dies daher die Gefahr richtlinienwidriger Rechtsanwendung und ist der Rechtssicherheit abträglich. (Zu) hohe Anforderungen an die Manifestation des mitgliedstaatlichen Umsetzungswillens stellt der EuGH hinsichtlich der Wahrnehmung von in einer Richtlinie eingeräumten Wahlrechten oder Abweichungsbefugnissen86.
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b) Finanzgerichte und Finanzverwaltung müssen Normen im Anwendungsbereich von richtlinienrechtlich harmonisiertem Steuerrecht soweit als möglich richtlinienkonform auslegen87. Dieses Gebot leitet der EuGH in st. Rspr. aus der Loyalitätspflicht des Art. 4 III EUV i.V.m. Art. 288 III AEUV ab88; mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon dürfte Art. 291 I AEUV eine weitere Rechts-
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C-262/97, ECLI:EU:C:2000:492 Rz. 38 ff. – Engelbrecht; v. 22.6.2010 – C-188/10 u.a., ECLI:EU:C:2010:363 Rz. 50 – Melki u.a. S. generell EuGH v. 7.3.2002 – C-145/99, ECLI:EU:C:2002:142 Rz. 37 – Kommission/Italien m.w.N.; sowie speziell zum Steuerrecht EuGH v. 26.10.1995 – C-151/94, ECLI:EU:C:1995:357 Rz. 18 – Kommission/Luxemburg m.w.N.; Rust, IStR 2009, 382 (383); M. Lang, FS Lang, 2010, 1003 (1004 f.). S. EuGH v. 4.6.2009 – C-102/08, ECLI:EU:C:2009:345 Rz. 40 – Salix; v. 15.5.2014 – C-337/13, ECLI:EU:C:2014:328 Rz. 21 – Almos Agrárkülkereskedelmi; sowie generell EuGH v. 30.11.2006 – C-32/05, ECLI:EU:C:2006:749 Rz. 34 – Kommission/Irland. Lohse, DStR 2011, 1740 (1741). EuGH v. 3.12.2009 – C-433/08, ECLI:EU:C:2009:750 Rz. 18 – Yaesu Europe; v. 20.5.2010 – C-352/08, ECLI:EU:C:2010:282 Rz. 33, 46 – Zwijnenburg; v. 18.1.1984 – 327/82, ECLI:EU:C:1984:11 Rz. 11 – Ekro; v. 19.9.2000 – C-287/98, ECLI:EU:C:2000:468 Rz. 43 – Linster; v. 16.7.2009 – C-5/08, ECLI:EU:C:2009:465 Rz. 27 – Infopaq International. S. EuGH v. 4.6.2009 – C-102/08, ECLI:EU:C:2009:345 Rz. 40 – Salix; sowie allgemein EuGH v. 21.10.2010 – C-227/09, ECLI:EU:C:2010:624 Rz. 55 – Accardo u.a.; moderater hingegen EuGH v. 15.5.2014 – C-337/13, ECLI:EU:C:2014:328 Rz. 23 ff. – Almos Agrárkülkereskedelmi. S. Schön, Die Auslegung europäischen Steuerrechts, 1993, 35 ff.; Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts, 1997; Cordewener, UR 2006, 673; Terra/Wattel, European Tax Law6, 83 ff.; Ehrke-Rabel, ÖStZ 2009, 189; sowie allgemein Roth/Jopen in Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre3, 2015, § 13, m.w.N.; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, 249 ff.; Gänswein, Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts, 2009, 219 ff. S. dazu generell EuGH v. 13.11.1990 – C-106/89, ECLI:EU:C:1990:395 Rz. 8 – Marleasing; v. 5.10.2004 – C-397/01 u.a., ECLI:EU:C:2004:584 Rz. 110 ff. – Pfeiffer u.a.; v. 19.1.2010 – C-555/07, ECLI:EU:C:2010:21 Rz. 48 – Kücükdeveci; sowie speziell in steuerrechtlichem Kontext z.B. EuGH v. 15.6.2000 – C-365/98, ECLI:EU:C:2000:323 Rz. 40 – Brinkmann Tabakfabriken; v. 19.4.2007 – C-63/06, ECLI:EU:C:2007:233
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B. Einwirkung des Europarechts auf nationale Steuerrechtsnormen
Rz. 32 § 4
grundlage bilden. Es bezieht sich nicht nur auf diejenigen Steuervorschriften, die eigens zur Umsetzung richtlinienrechtlicher Vorgaben erlassen worden sind, sondern auf jegliche Rechtsnormen, die für die Erreichung der Richtlinienziele von Bedeutung sind89. Eine richtlinienkonforme Auslegung ist dabei auch zulasten der Stpfl. möglich90. Das Gebot richtlinienkonformer Auslegung wirkt nur als Vorrangregel zugunsten eines bestimmten, 32 mit den Richtlinienvorgaben zu vereinbarenden Auslegungsergebnisses unter mehreren vertretbaren Interpretationsansätzen. Es beinhaltet keine eigenständige Auslegungsmethode91. Eine richtlinienkonforme Auslegung kommt vielmehr nur im Rahmen des im jeweiligen Mitgliedstaat geltenden Kanons der Auslegungsmethoden (§ 5 Rz. 55) nebst anerkannter Methoden der Rechtsfortbildung92 (§ 5 Rz. 74) in Betracht93. Sie darf nicht contra legem zu einem Ergebnis führen, das im Lichte der juristischen Methodenlehre der jeweiligen Rechtsordnung nicht vertretbar ist94. Eine unionsrechtskonforme Interpretation eines Gesetzes entgegen dem im Normsetzungsprozess artikulierten und im Gesetzestext und -kontext erkennbaren Gesetzeszweck ist daher unzulässig95. Anderenfalls würde entgegen dem Konzept des Art. 288 III AEUV einer unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinienrecht das Wort geredet96. Davon zu unterscheiden ist die Berücksichtigung eines etwaigen im Normsetzungsprozess zu Tage getretenen Willens des Gesetzgebers zur Umsetzung von Richtlinienvorgaben. Diesem Umstand ist im Kontext der historischen Auslegungsmethode Rechnung zu tragen97. Lassen sich die maßgeblichen gesetzgeberischen Erwägungen für die konkret in Rede stehende Norm mit Richtlinienvorgaben nicht vereinbaren, darf diese Erkenntnis indes nicht durch pauschalen Hinweis auf einen generellen Umsetzungswillen im Rahmen des jeweiligen Gesetzesvorhabens überspielt werden98.
89 90
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Rz. 13 – Profisa; v. 11.4.2013 – C-138/12, ECLI:EU:C:2013:233 Rz. 37 – Rusedespred; Wittock, EC Tax Review 2014, 171 (174 f.). Zur zeitlichen Dimension s. EuGH v. 4.7.2006 – C-212/04, ECLI:EU:C:2006:443 Rz. 113 ff. – Adeneler; Hofmann, ZIP 2006, 2113. S. EuGH v. 4.7.2006 – C-212/04, ECLI:EU:C:2006:443 Rz. 108 – Adeneler, m.w.N.; Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, 263; Canaris, FS Bydlinski, 2002, 47 (73 f.); Everling, FS Carstens, 1984, 95 (101). So ausdrücklich EuGH v. 8.10.1987 – 80/86, ECLI:EU:C:1987:431 Rz. 10 und 14 – Kolpinghuis Nijmegen; v. 5.10.2004 – C-397/01 u.a., ECLI:EU:C:2004:584 Rz. 107 ff. – Pfeiffer u.a.; v. 5.7.2007 – C-321/05, ECLI:EU:C:2007:408 Rz. 45 – Kofoed; s. auch Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 96 f. Zutr. BFH v. 15.2.2012 – XI R 24/09, BStBl. II 2013, 712; Di Fabio, NJW 1990, 947; Canaris, FS Schmidt, 2006, 41 (49 ff.); Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, 282 ff. S. dazu BFH v. 8.9.2010 – XI R 40/08, BStBl. II 2011, 661; BGH v. 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, NJW 2009, 427 m.w.N.; BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07, BAGE 130, 119; Canaris, FS Bydlinski, 2002, 47 (91); a.A. Hummel, EuZW 2007, 268. S. EuGH v. 5.7.2007 – C-321/05, ECLI:EU:C:2007:408 Rz. 45 – Kofoed; v. 15.4.2008 – C-268/06, ECLI:EU:C:2008:223 Rz. 100 f. – Impact; v. 10.3.2011 – C-109/09, ECLI:EU:C:2011:129 Rz. 54 f. – Deutsche Lufthansa/Kumpan. S. EuGH v. 10.3.2011 – C-109/09, ECLI:EU:C:2011:129 Rz. 54 – Lufthansa; v. 4.7.2006 – C-212/04, ECLI:EU:C:2006:443 Rz. 110 – Adeneler; GA Kokott, Schlussanträge in EuGH v. 16.6.2005 – C-105/03, ECLI:EU:C:2004:712 Rz. 39 – Pupino; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, 234; Manthey, DÖV 2011, 921. BFH v. 15.2.2012 – XI R 24/09, BStBl. II 2913, 712; Woerner, DStJG 13 (1990), 247 (254); Probst, DStJG 13 (1990), 137 (141); Pernice, NJW 1990, 2409 (2416); Schön, DStJG 19 (1996), 167 (181 ff.). S. auch EuGH v. 5.7.2007 – C-321/05, ECLI:EU:C:2007:408 Rz. 45 – Kofoed. S. Lutter, JZ 1992, 593 (599 ff.); Schön, Die Auslegung europäischen Steuerrechts, 1993, 56 f.; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, 234 m.w.N.; Nettesheim, EuR 2006, 737 (751). So wohl auch BGH v. 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, NJW 2009, 427; anders wohl EuGH v. 29.4.2004 – C-371/02, ECLI:EU:C:2004:275 Rz. 13 – Björnekulla Fruktindustrier. Wie hier Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, 258 und 274 f.; a.A. Hellert, Der Einfluß des EG-Rechts auf die Anwendung nationalen Rechts, 2001, 117 ff.; Brennecke, EuR 2015, 440 (449 f.). Speziell zu bedenklichen Tendenzen im USt-Recht s. auch § 17 Rz. 56, 160.
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§ 4 Rz. 33
Europäisches Steuerrecht
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c) Eine unmittelbare Wirkung von Richtlinienrecht mit Anwendungsvorrang gegenüber richtlinienwidrigen Bestimmungen nationalen (Steuer-)Rechts ist in Art. 288 III AEUV an sich nicht vorgesehen. Der EuGH hat sie aber gleichwohl im Wege der Rechtsfortbildung unter bestimmten Bedingungen befürwortet: Voraussetzung ist, dass die entsprechende Richtlinienbestimmung unbedingt und hinreichend klar ist99. Es darf also dem Gesetzgeber nicht noch ein Ermessen bezüglich verschiedener Umsetzungsmöglichkeiten eingeräumt sein; auch muss die Umsetzungsfrist abgelaufen sein100. Zudem kommt die unmittelbare Anwendung grds. nur zugunsten eines Privatrechtssubjekts in Betracht, das sich im Verhältnis zum jeweiligen Mitgliedstaat auf ihm günstige Richtlinienbestimmungen „berufen“ kann101. Schließlich ist vorrangig die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung in Erwägung zu ziehen102; dieses Vorrangverhältnis entspricht dem Gebot größtmöglicher Schonung der mitgliedstaatlichen Souveränität.
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Bleibt das nationale Steuerrecht mangels rechtzeitiger oder ordnungsgemäßer gesetzlicher Umsetzung hinter dem Richtlinienrecht zurück, sind also im konkreten Einzelfall steuerentlastend wirkende Richtlinienvorgaben zugunsten des Stpfl. – von Amts wegen103 – zu beachten. Hingegen bietet die Richtlinie der Finanzverwaltung keine Grundlage für eine gegenüber der Gesetzeslage verschärfte Besteuerung104. Etwaige richtlinienwidrige Steuerrechtsnormen sind im konkreten Fall – nur – zulasten des Fiskus unanwendbar, i.Ü. gelten sie fort. Von besonderer Bedeutung ist dies bei „zweischneidigen“ Regelungen wie bspw. der gesetzlichen Begründung der sowohl für die Steuerpflicht wie für die Vorsteuerabzugsberechtigung relevanten Unternehmereigenschaft im Umsatzsteuerrecht (§ 17 Rz. 33 ff.).
35
Der BFH ist bestrebt, diese Rosinentheorie in ihren Folgen zu begrenzen, indem er die „Berufung“ auf eine günstige richtlinienrechtliche Bestimmung nur unter Einbeziehung systematisch verknüpfter Richtlinienvorgaben mit gegenläufiger Belastungswirkung gestattet. Macht der Stpfl. etwa eine Umsatzsteuerbefreiung kraft Richtlinienrechts geltend, muss er auch die darauf bezogenen Richtlinienregelungen für den Ausschluss des Vorsteuerabzugs gegen sich gelten lassen105. Eine solche Gesamtschau ist unionsrechtskonform, weil sie sicherstellt, dass keine im Verhältnis zum Richtlinienrecht überschießenden Begünstigungswirkun99 Grundl. EuGH v. 19.1.1982 – 8/81, ECLI:EU:C:1982:7 Rz. 25 – Becker; s. ferner EuGH v. 8.10.1987 – 80/86, ECLI:EU:C:1987:431 Rz. 7 – Kolpinghuis Nijmegen; v. 4.12.1986 – 71/85, ECLI:EU:C:1986:465 Rz. 13 – FNV; sowie speziell in steuerrechtlichem Kontext bspw. EuGH v. 15.6.2000 – C-365/98, ECLI:EU:C:2000:323 Rz. 32 – Brinkmann Tabakfabriken; v. 17.7.2008 – C-226/07, ECLI:EU:C:2008:429 Rz. 23 ff. – Flughafen Köln/Bonn; v. 26.4.2012 – C-621/10 u.a., ECLI:EU:C:2012:248 Rz. 53 ff. – Balkan and Sea Properties u.a. 100 EuGH v. 10.5.2011 – C-147/08, ECLI:EU:C:2011:286 Rz. 57 – Römer. 101 Grundl. EuGH v. 26.2.1986 – 152/84, ECLI:EU:C:1986:84 Rz. 48 – Marshall; s. ferner v. 8.10.1987 – 80/86, ECLI:EU:C:1987:431 Rz. 9 – Kolpinghuis Nijmegen; v. 7.1.2004 – C-201/02, ECLI:EU:C:2004:12 Rz. 56 – Wells; v. 19.1.2010 – C-555/07, ECLI:EU:C:2010:21 Rz. 46 – Kücükdeveci; S. auch BFH v. 20.8.2009 – V R 32/08, BStBl. II 2010, 88; v. 15.1.2009 – V R 9/06, BStBl. II 2010, 433. 102 Zum Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung s. EuGH v. 19.1.1982 – 8/81, ECLI:EU:C:1982:7 Rz. 25 – Becker; v. 27.6.2000 – C-240/98, ECLI:EU:C:2000:346 Rz. 30 – Oceano Grupo; v. 4.7.2006 – C-212/04, ECLI:EU:C:2006:443 Rz. 113 – Adeneler; Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, 64 f. 103 Entgegen der missverständlichen Formulierung in zahlreichen EuGH-Entscheidungen bedarf es im Steuerverfahren oder Finanzgerichtsprozess keiner ausdrücklichen „Berufung“ des Bürgers auf ihm günstiges Richtlinienrecht oder sonstiges unmittelbar anwendbares Unionsrecht, vgl. EuGH v. 24.10.1996 – C-72/95, ECLI:EU:C:1996:404 Rz. 57 – Kraaijeveld u.a., m.w.N.; v. 12.2.2008 – C-2/06, ECLI:EU:C:2008:78 Rz. 45 – Kempter; v. 26.4.2017 – C-564/15, ECLI:EU:C:2017:302 Rz. 30 ff. – Farkas – jeweils i.V.m. § 85 AO. S. auch von Eijsden/van Dam, EC Tax Review 2010, 199 (207 ff.); unklar hingegen BFH v. 9.8.2007 – V R 27/04, BFHE 217, 314, Rz. 27. 104 Dazu allgemein und grundl. EuGH v. 26.2.1986 – 152/84, ECLI:EU:C:1986:84 Rz. 48 – Marshall; speziell in steuerrechtlichem Kontext: EuGH v. 5.7.2007 – C-321/05, ECLI:EU:C:2007:408 Rz. 45 – Kofoed. 105 S. BFH v. 7.7.2011 – V R 36/10, BFH/NV 2011, 2192 (2193 f.); s. auch FG Münster v. 24.11.2011 – 5 K 1385/07 U, EFG 2012, 764.
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B. Einwirkung des Europarechts auf nationale Steuerrechtsnormen
Rz. 36 § 4
gen eintreten106. Hingegen hat der BFH eine personenübergreifende Gesamtschau von vorteilhaften und nachteiligen Wirkungen der unmittelbaren Anwendung abgelehnt; es soll sich mithin keine Begrenzung der unmittelbaren Anwendbarkeit aus einer Korrespondenz steuerlicher Be- und Entlastungswirkungen einer richtlinienwidrigen Regelung beim Stpfl. einerseits und bei einer weiteren Person andererseits ergeben107. Dies dürfte mit der EuGH-Rspr. indes entgegen der Einschätzung des BFH nicht in Einklang stehen108; jedenfalls wäre wegen objektiver Zweifel eine Vorlageentscheidung des Gerichtshofs einzuholen gewesen109.
d) Im Anwendungsbereich des richtlinienrechtlich harmonisierten Steuerrechts wirken ferner die EU- 36 Grundrechte110 sowie die (sonstigen) allgemeinen Rechtsgrundsätze auf die nationale Steuerrechtsordnung ein (Rz. 3). Im Recht der indirekten Steuern ist nach der Rspr. des EuGH vor allem der Neutralitätsgrundsatz als bereichsspezifische Ausprägung des Gleichheitssatzes zu beachten111. Soweit die Steuergesetze zwingende Richtlinienvorgaben umsetzen, strahlen diese primärrechtlich fundierten Prinzipien nur mittelbar auf die deutsche Steuerrechtsordnung aus: Die richtlinienkonforme Auslegung deutschen Steuerrechts muss dann beachten, dass die Richtlinie ihrerseits primärrechtskonform auszulegen ist (Rz. 8)112. Erscheint dies als ausgeschlossen, darf das Richtlinienrecht nicht außer Betracht gelassen, sondern es kann allenfalls zur Überprüfung durch den EuGH gestellt werden113; anderenfalls würde das Verwerfungsmonopol des EuGH (Rz. 16) unterlaufen. Wo dem deutschen Gesetzgeber hingegen Ausgestaltungsspielräume verbleiben, ist er bei deren Ausfüllung unmittelbar selbst auf die Wahrung der unionsrechtlichen Rechtsgrundsätze verpflichtet. Das betrifft nicht nur die in den je einschlägigen Richtlinien ausdrücklich eingeräumten Wahlrechte, Abweichungsbefugnisse etc., sondern nach zutreffender Ansicht auch das weite Feld derjenigen Regelungen, die als Maßnahmen zur Effektuierung des harmonisierten Rechts nach wie vor der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten (Rz. 41) unterliegen (v.a. Normen des Steuerverfahrensrechts114 und das Recht der Steuerdelikte115).
106 S. EuGH v. 19.1.1982 – 8/81, ECLI:EU:C:1982:7 Rz. 41 ff. – Becker; v. 28.11.2013 – C-319/12, ECLI:EU:C:2013:778 Rz. 46 ff. – MDDP; v. 26.2.2015 – C-144/13, ECLI:EU:C:2015:116 Rz. 37 ff. – VDP Dental; Dies gilt aber dann nicht, wenn lediglich das – richtlinienwidrige – nationale Recht, nicht aber die Richtlinie selbst eine Korrespondenz zwischen Be- und Entlastungswirkungen vorsieht, s. EuGH v. 3.9.2014 – C-589/12, ECLI:EU:C:2014:2131 – GMAC. 107 S. BFH v. 24.10.2013 – V R 17/13, BStBl. II 2015, 513, Rz. 21. 108 Vgl. EuGH v. 14.7.1988 – 207/87, ECLI:EU:C:1988:409 Rz. 10 ff. – Weißgerber; s. auch BFH v. 19.12.1996 – V R 130/92, BStBl. II 1998, 279. 109 Dieser Auffassung war der BFH zuvor auch noch selbst gewesen, vgl. BFH v. 30.6.2011 – V R 37/10, BStBl. II 2011, 842; der EuGH hat die dahingehende Vorlagefrage aber nicht beantwortet, s. EuGH v. 13.12.2012 – C-395/11, ECLI:EU:C:2012:799 Rz. 51 – BLV. 110 S. dazu Kofler u.a. (Hrsg.), Human Rights and Taxation in Europe and the World, Amsterdam 2011. 111 Vgl. etwa EuGH v. 1.4.2004 – C-389/02, ECLI:EU:C:2004:214 Rz. 21 und 25 – Deutsche See-BestattungsGenossenschaft (zur ehem. MineralölSt-StrukturRL); v. 30.3.2006 – C-495/04, ECLI:EU:C:2006:218 Rz. 17 – Smits-Koolhoven (zur TabakSt-StrukturRL); v. 23.4.2009 – C-460/07, ECLI:EU:C:2009:254 Rz. 53 – Puffer (zur MwStSystRL). S. generell zum Neutralitätsgrundsatz Hummel, EuR 2010, 309. 112 S. dazu – ohne spezifisch steuerrechtlichen Bezug – EuGH v. 26.6.2007 – C-305/05, ECLI:EU:C:2007:383 Rz. 28 – Ordre des barreaux francophones et germanophones; sowie speziell zum harmonisierten Steuerrecht EuGH v. 17.5.2001 – C-322/99, ECLI:EU:C:2001:280 Rz. 75 – Fischer. 113 S. EuGH v. 1.7.2014 – C-573/12, ECLI:EU:C:2014:2037 Rz. 57, m.w.N. – Ålands Vindkraft; dazu näher Rz. 52. 114 Exemplarisch EuGH v. 19.11.1998 – C-85/97, ECLI:EU:C:1998:552 Rz. 30 ff. – SFI; v. 22.10.2013 – C-276/12, ECLI:EU:C:2013:678 Rz. 37 ff. – Sabou. 115 S. EuGH v. 19.7.2012 – C-263/11, ECLI:EU:C:2012:497 Rz. 44 ff. – Re¯dlihs; v. 26.2.2013 – C-617/10, ECLI:EU:C:2013:105 Rz. 17 ff. – Åkerberg Fransson. Entgegen BVerfG v. 24.4.2013 – 1 BvR 1215/07, BVerfGE 133, 277 (316), liegt darin auch nicht ansatzweise ein ultra-vires-Akt des EuGH. Dazu ausführlich Engler, Steuerverfassungsrecht im Mehrebenensystem, 2014, S. 85 ff.
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§ 4 Rz. 37
Europäisches Steuerrecht
Eine zwischenzeitlich vertretene restriktivere Linie116 hat sich im EuGH soweit erkennbar nicht durchzusetzen vermocht117. Auch insoweit gilt damit ein Gebot unionsrechtskonformer Auslegung. Ist eine solche nicht möglich, darf die primärrechtswidrige Norm grds. nicht angewendet werden118. Abzulehnen ist aber die direkte Anwendung ungeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsätze zu Lasten des Steuerpflichtigen unter Verdrängung entgegenstehenden nationalen Gesetzesrechts, wie sie vom EuGH (ausnahmsweise) für das Verbot missbräuchlicher Gestaltungen propagiert wird119. Das überzeugt schon deshalb nicht, weil der EuGH dies selbst bei klarem und eindeutigem geschriebenen Richtlinienrecht aus Gründen der Rechtssicherheit ablehnt (Rz. 33)120. Räumt das Gesetz in diesen Bereichen der Finanzverwaltung ein Ermessen ein, hat diese es soweit als möglich unter Beachtung der vorbezeichneten Primärrechtsgrundsätze auszuüben121. 3. Durchführungsverbot und Rückforderungsgebot bei steuerlichen Beihilfen 37
Das grundsätzliche Verbot steuerlicher Beihilfen i.S.d. Art. 107 I AEUV (Rz. 115 ff.) ist in den mitgliedstaatlichen Steuerrechtsordnungen nicht unmittelbar anwendbar. Denn infolge der z.T. im Ermessen stehenden Genehmigungsvorbehalte für Rat und Kommission (Art. 107 II, III AEUV) ist es weder absolut noch unbedingt122. Stattdessen gilt nach Art. 108 III 3 AEUV ein Durchführungsverbot für (neue123) als Beihilfen i.S.d. Art. 107 I AEUV zu qualifizierende steuerliche Maßnahmen, solange die Kommission über sie noch nicht abschließend entschieden hat124. Dieses Durchführungsverbot entfaltet unmittelbare Wirkung125. Dem prinzipiellen Beihilfeverbot ist im Vorfeld einer Kommissionsentscheidung deshalb grds. nicht durch eine Ausdehnung der in Rede stehenden Steu116 Vgl. die Entscheidung EuGH v. 10.7.2014 – C-198/13, ECLI:EU:C:2014:2055 Rz. 32 ff. – Hernández u.a., die wohl maßgeblich vom deutschen Kammerpräsidenten und Berichterstatter beeinflusst worden sein dürfte. Für eine restriktive Linie etwa auch Lehner, IStR 2016, 265 (268), m.w.N. aus dem deutschen Schrifttum. 117 S. die Bestätigung der Åkerberg Fransson-Entscheidung durch die erneut in Besetzung der Großen Kammer gefällte Entscheidung des EuGH v. 16.5.2017 – C-682/15, ECLI:EU:C:2017:373 Rz. 32 ff. – Berlioz Investment Fund; sowie durch EuGH v. 5.4.2017 – C-217/15 u.a., ECLI:EU:C:2017:264 Rz. 16 – Orsi u.a. 118 S. bspw. zum unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz EuGH v. 10.4.2008 – C-309/06, ECLI:EU:C:2008:211 Rz. 63 – Marks & Spencer. 119 S. EuGH v. 18.12.2014 – C-131/13 u.a., ECLI:EU:C:2014:2455 Rz. 41 ff. – Italmoda u.a.; v. 22.11.2017 – C-251/16, ECLI:EU:C:2017:881 Rz. 25 ff. – Cussens; kritisch ebenfalls Drüen, MwStR 2015, 841; Reiß, MwStR 2016, 972. 120 S. speziell zu einer richtlinienrechtlichen Anti-Missbrauchsnorm EuGH v. 5.7.2007 – C-321/05, ECLI:EU:C:2007:408 Rz. 40 ff. – Kofoed. Vgl. ferner den kompromisshaften Ansatz in EuGH v. 5.12.2017 – C-42/17, ECLI:EU:C:2017:936 Rz. 51 ff. – M.A.S. & M.B. 121 EuGH v. 12.1.2006 – C-246/04, ECLI:EU:C:2006:22 Rz. 24 – Turn- und Sportunion Waldburg; v. 24.9.2007 – C-409/04, ECLI:EU:C:2007:548 Rz. 44 f., 50, 52 f. – Teleos; v. 11.7.2002 – C-62/00, ECLI:EU:C:2002:435 Rz. 44 – Marks & Spencer; Englisch, UR 2008, 481 (486 f., 494). 122 EuGH v. 22.3.1977 – 78/76, ECLI:EU:C:1977:52 Rz. 8 – Steinike und Weinlig; v. 8.11.2001 – C-143/99, ECLI:EU:C:2001:598 Rz. 30 – Adria-Wien Pipeline; s. auch EuGH v. 19.9.2000 – C-156/98, ECLI:EU:C:2000:467 Rz. 67 – Deutschland/Kommission. 123 Zur Abgrenzung zu den bestehenden Beihilfen i.S.d. Art. 108 I AEUV s. Art. 1 der VerfVO (EU) 2015/1589; Sutter, Das EG-Beihilfenverbot und sein Durchführungsverbot in Steuersachen, Wien 2005, 153 ff. 124 Dieser Zustand lebt nach der Nichtigkeitserklärung einer positiven Entscheidung der Kommission durch EuG oder EuGH wieder auf, vgl. EuGH v. 11.3.2010 – C-1/09, ECLI:EU:C:2010:136 Rz. 23 ff. – CELF; allerdings kann der EuGH dahingehende Urteilswirkungen aus Gründen des Vertrauensschutzes begrenzen, vgl. EuGH v. 22.12.2008 – C-333/07, ECLI:EU:C:2008:764 Rz. 121 ff. – Régie Networks. Zu Besonderheiten bei Bestehen einer GruppenfreistellungsVO s. Rz. 123. 125 Grundl. EuGH v. 11.12.1973 – 120/73, ECLI:EU:C:1973:152 Rz. 8 – Lorenz; s. ferner EuGH v. 21.11.1991 – C-354/90, ECLI:EU:C:1991:440 Rz. 11 – FCNE; v. 8.11.2001 – C-143/99, ECLI:EU:C:2001:598 Rz. 26 – Adria-Wien Pipeline; v. 15.6.2006 – C-393/04, ECLI:EU:C:2006:403 Rz. 40 – Air Liquide. Das Durch-
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B. Einwirkung des Europarechts auf nationale Steuerrechtsnormen
Rz. 39 § 4
ervergünstigung auf bislang davon ausgeschlossene Wettbewerber Rechnung zu tragen126. Stattdessen darf die Steuervergünstigung vorläufig nicht gewährt werden und die ihr zugrunde liegende gesetzliche Regelung ist im Rahmen der Steuerfestsetzung unanwendbar127. Ist dies von der Finanzverwaltung nicht beachtet worden, müssen die hieraus erlangten Steuervorteile vom Begünstigten zurückgefordert werden: Es ist dazu grds. nachträglich und i.S.d. § 165 I AO vorläufig die Regelsteuerbelastung herzustellen128. Die infolge der Steuervergünstigung zwischenzeitlich erlangten Liquiditätsvorteile sind durch Verzinsung des Rückforderungsanspruchs zu neutralisieren. Verstöße gegen das Durchführungsverbot werden nicht durch eine spätere Positiventscheidung der 38 Kommission geheilt, wonach die steuerliche Beihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar ist129. Allerdings ist dann lediglich der aus der vorzeitigen Inanspruchnahme der steuerlichen Begünstigung erwachsene Zinsvorteil abzuschöpfen130. Das Durchführungsverbot entfaltet drittschützende Wirkung zugunsten der von der Steuervergünstigung ausgeschlossenen Wettbewerber131, die es daher erforderlichenfalls im Wege der negativen Konkurrentenklage gerichtlich durchsetzen können132. Einstweiliger Rechtsschutz (s. § 22 Rz. 311) ist jedoch nur bei eindeutig als Beihilfe zu qualifizierenden Steuervergünstigungen zu gewähren133. In die gleiche Richtung zielen die Konsequenzen einer das Beihilfekontrollverfahren abschließenden 39 Negativentscheidung der Kommission, mit der eine steuerliche Vergünstigung als nicht mit dem Binnenmarkt vereinbare (neue) Beihilfe eingestuft wird. Nach st. Rspr. des EuGH ist „die Aufhebung einer rechtswidrigen Beihilfe durch Rückforderung die logische Folge der Feststellung ihrer Rechts-
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führungsverbot greift unabhängig davon ein, ob die Maßnahme der Kommission bereits wie geboten nach Art. 108 III 1 AEUV notifiziert wurde. S. EuGH v. 15.6.2006 – C-393/04, ECLI:EU:C:2006:403 Rz. 43 ff. – Air Liquide; v. 6.10.2015 – C-66/14, ECLI:EU:C:2015:661 Rz. 21 – IFN. Für eine Ausnahmekonstellation s. EuGH v. 7.9.2006 – C-526/04, ECLI:EU:C:2006:528 – Laboratoires Boiron. S. zur Unanwendbarkeit EuGH v. 8.11.2001 – C-143/99, ECLI:EU:C:2001:598 Rz. 25 ff. – Adria-Wien Pipeline; unter Verweis auf EuGH v. 21.11.1991 – C-354/90, ECLI:EU:C:1991:440 Rz. 10 ff. – Fédération nationale; v. 11.12.1973 – 120/73, ECLI:EU:C:1973:152 Rz. 7 ff. – Lorenz; Sutter, Das EG-Beihilfenverbot und sein Durchführungsverbot in Steuersachen, Wien 2005, 216 ff.; M. Lang, Die Auswirkungen des gemeinschaftsrechtlichen Beihilferechts auf das Steuerrecht, Wien 2009, 68; Bode, FR 2011, 1034 (1037). A.A. Hey, StuW 2010, 301 (309 f.). Näher M. Lang, Die Auswirkungen des gemeinschaftsrechtlichen Beihilferechts auf das Steuerrecht, Wien 2009, 71. EuGH v. 5.10.2006 – C-368/04, ECLI:EU:C:2006:644 Rz. 41 und 54 – Transalpine Ölleitung. EuGH v. 12.2.2008 – C-199/06, ECLI:EU:C:2008:79 Rz. 51 ff. – CELF. S. EuGH v. 8.6.2006 – C-430/04, ECLI:EU:C:2006:374 Rz. 28 ff. – Feuerbestattungsverein Halle (zur richtlinienwidrig unterbliebenen Besteuerung einer jPdöR nach der MwSt-RL; verallgemeinerungsfähig); sowie EuGH v. 3.3.2005 – C-172/03, ECLI:EU:C:2005:130 Rz. 59 – Heiser; v. 8.12.2011 – C-81/10, ECLI:EU:C:2011:811 Rz. 18, 27 – France Télécom (Durchführungsverbot für steuerliche Beihilfen). Auf die engeren Voraussetzungen der traditionellen deutschen Schutznormtheorie (s. Schoch/ Schneider/Bier/Wahl, Vorb. § 42 Abs. 2 VwGO Rz. 94 ff.) kommt es insoweit nicht an. S. Englisch, StuW 2008, 43 ff.; Rennert, EuZW 2011, 576 ff.; sowie ausführlich die Bekanntmachung der Kommission über die Durchsetzung des Beihilfenrechts durch die einzelstaatlichen Gerichte (2009/C 85/01). S. dazu auch EuGH v. 5.10.2006 – C-368/04, ECLI:EU:C:2006:644 Rz. 38 ff. – Transalpine Ölleitung. In diesem Zusammenhang kann eine Vorlage an den EuGH zur Qualifikation des fraglichen Besteuerungsregimes als staatliche Beihilfe angezeigt sein; exemplarisch EuGH v. 8.11.2001 – C-143/99, ECLI:EU:C:2001:598 – Adria-Wien Pipeline. S. EuGH v. 11.3.2010 – C-1/09, ECLI:EU:C:2010:136 Rz. 35 ff. – CELF, auch zu den Entscheidungsalternativen. Strenger für den Fall der Eröffnung eines förmlichen Prüfverfahrens durch die Kommission EuGH v. 21.11.2013 – C-284/12, ECLI:EU:C:2013:755 Rz. 36 ff. – Deutsche Lufthansa; v. 4.4.2014 – C-27/13, ECLI:EU:C:2014:240 – Flughafen Lübeck/Air Berlin; dazu krit. Traupel/Jennert, EWS 2014, 1.
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§ 4 Rz. 40
Europäisches Steuerrecht
widrigkeit.“134 Die Kommission wird dann gem. Art. 16 I der VO 2015/1589 regelmäßig eine Rückforderungsentscheidung erlassen, soweit die für unionsrechtswidrig erachtete steuerliche Vergünstigung in dem betreffenden Mitgliedstaat bereits von Stpfl. in Anspruch genommen werden konnte. Es sind dann grds. Steuern soweit nachzuerheben, wie dies zur Herstellung der Regelsteuerlast erforderlich ist135. Darüber hinaus müssen Zinsen für die gezogenen geldwerten Vorteile erhoben werden (Art. 16 II VO 2015/1589 i.V.m. Kapitel 5 der VO 794/2004). Dabei ist jedoch zu beachten, dass steuerliche Beihilfen in Gestalt von gesetzlichen Steuervergünstigungen nur vom tatsächlich Begünstigten zurückzufordern sind und nur soweit sie ihm verbotene Vorteile i.S.d. Art. 107 I AEUV verschafft haben. Insb. bei den auf Überwälzung angelegten indirekten Steuern kann nicht ohne weiteres unterstellt werden, dass Steuerentlastungen (vollumfänglich) dem Steuerschuldner zugute kamen136. Die Rückforderungsentscheidung ist als Beschluss i.S.d. Art. 108 II 1; 288 IV AEUV gegenüber dem Mitgliedstaat verbindlich, der sie im Wege einzelfallbezogener Prüfung137 nach Maßgabe seines nationalen Verfahrensrechts gegenüber den betroffenen Stpfl. umzusetzen hat138. Dies muss ungeachtet eines etwa gegen die Kommissionsentscheidung angestrengten Nichtigkeitsverfahrens i.S.d. Art. 263 AEUV139 geschehen; bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung kann dem Stpfl. aber einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren sein140. 40
Ausweislich des Art. 16 I der VO 2015/1589 hat die Kommission von einer Rückforderung abzusehen, wenn ansonsten gegen einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts verstoßen würde. Nach st. Rspr. des EuGH ist die Rückforderung rechtswidriger steuerlicher Beihilfen zwar grds. verhältnismäßig141. Ausnahmsweise kann einer Rückforderung aber der unionsrechtliche Grundsatz des Vertrauensschutzes entgegenstehen. Als tauglicher Vertrauenstatbestand soll dabei jedoch grds. nur ein den Unionsorganen zurechenbares Verhalten in Betracht kommen142, namentlich Äußerungen der Kommission zur Vereinbarkeit der betreffenden Steuervergünstigung oder ähnlicher Steuerregime anderer Mitgliedstaaten mit Art. 107 I AEUV143. Hingegen sollen Zusicherungen nationaler Behörden oder gar die „bloße“ steuergesetzliche Regelung der Vergünstigung kein schutzwürdiges Vertrauen des Stpfl. begründen können. Der EuGH verweist in diesem Zusammenhang insb. darauf, dass es einem sorgfältigen Gewerbetreibenden regelmäßig möglich sei festzustellen, ob die steuerliche Beihilfe erst nach positivem Abschluss des Notifizierungsverfahrens des Art. 108 III AEUV gewährt wur-
134 EuGH v. 21.3.1990 – C-142/87, ECLI:EU:C:1990:125 – Belgien/Kommission; v. 10.6.1993 – C-183/91, ECLI:EU:C:1993:233 Rz. 16 – Kommission/Griechenland; v. 22.12.2010 – C-507/08, ECLI:EU:C:2010: 802 Rz. 42 – Kommission/Slowakei m.w.N. 135 S. EuGH v. 21.12.2016 – C-164/15 P u.a., ECLI:EU:C:2016:990 Rz. 93 – Aer Lingus u.a. 136 S. Englisch in Rust/Micheau, State Aid and Tax Law, 69 (82 ff.); a.A. EuGH v. 21.12.2016 – C-164/15 P u.a., ECLI:EU:C:2016:990 Rz. 98 ff. und 115 – Aer Lingus u.a.: (vermeintlich) irrelevanter Aspekt. 137 S. EuGH v. 9.6.2011 – C-71/09 P u.a., ECLI:EU:C:2011:368 Rz. 63 f. u. 114 f. – Comitato „Venezia vuole vivere“ u.a. 138 Näher dazu Rz. 41 ff. und die Bekanntmachung der Kommission 2007/C 272/05 v. 15.11.2007. 139 S. zu dieser Möglichkeit bspw. EuG v. 4.2.2016 – T-620/11, ECLI:EU:T:2016:59 Rz. 44 ff. – GFKL Financial Services. 140 S. dazu EuGH v. 22.12.2010 – C-304/09, ECLI:EU:C:2010:812 Rz. 44 f. – Kommission/Italien; FG Münster v. 1.8.2011 – 9 V 357/11 K, DStR 2011, 1507. 141 S. EuGH v. 17.6.1999 – C-75/97, ECLI:EU:C:1999:311 Rz. 68 – Belgien/Kommission m.w.N.; v. 15.12.2005 – C-148/04, ECLI:EU:C:2005:774 Rz. 113 – Unicredito, m.w.N. Dies gilt selbst bei drohender Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz, s. EuGH v. 24.1.2013 – C-529/09, ECLI:EU:C:2013:31 Rz. 103 – Kommission/Spanien. 142 S. EuGH v. 10.6.1993 – C-183/91, ECLI:EU:C:1993:233 Rz. 18 – Kommission/Griechenland, m.w.N.; v. 17.9.2009 – C-519/07 P, ECLI:EU:C:2009:556 Rz. 84 – Koninklijke FrieslandCampina; s. auch EuGH v. 21.7.2011 – C-194/09 P, ECLI:EU:C:2011:497 Rz. 71 – Alcoa Trasformazioni. 143 S. EuGH v. 22.6.2006 – C-182/03 u.a., ECLI:EU:C:2006:416 Rz. 155 ff. – Belgien und Forum 187; v. 10.12.2013 – C-272/12 P, ECLI:EU:C:2013:812 Rz. 53 – Kommission/Irland u.a.
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B. Einwirkung des Europarechts auf nationale Steuerrechtsnormen
Rz. 43 § 4
de144. Dieser Standpunkt ist indes zu rigide und überspannt vielfach die an den Stpfl. zu stellenden Sorgfaltsanforderungen145. Nicht zuletzt die rechtsdogmatischen Defizite der bisherigen EuGH-Rspr. zu den Kriterien einer steuerlichen Beihilfe i.S.d. Art. 107 I AEUV (s. Rz. 115 ff.) erlauben es nämlich dem Stpfl. vielfach nicht, eine Steuervergünstigung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als notifizierungspflichtige Beihilfe zu identifizieren. 4. Durchsetzung des Unionsrechts im Wege nationalen Steuerverfahrensrechts a) Für die Ausgestaltung des Steuerverfahrens existieren im Bereich des harmonisierten Steuerrechts 41 außer auf dem Gebiet des Zollrechts kaum sekundärrechtliche Vorgaben146. Es gilt damit der sogenannte Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten, wonach diese die hierfür geltenden verfahrensrechtlichen Bestimmungen und Abläufe grds. autonom festlegen147. Für den Steuervollzug durch die deutsche Finanzverwaltung gelten damit neben evtl. spezialgesetzlichen Vorgaben die allgemeinen Regelungen der Abgabenordnung. Die nationalen Verfahrensregelungen stehen allerdings unter gewissen unionsrechtlichen Anwen- 42 dungsvorbehalten: Sie dürfen nicht ungünstiger ausgestaltet sein als die Vorschriften, die für vergleichbare148, aber nicht dem Anwendungsbereich des Unionsrechts unterfallende Sachverhalte gelten (Äquivalenzprinzip). Sie dürfen ferner die Durchsetzung unionsrechtlicher Besteuerungsvorgaben nicht übermäßig erschweren oder praktisch unmöglich machen (Effektivitätsprinzip)149. Dies gilt auch für nicht harmonisierte Bereiche nationalen Steuerrechts, wenn und soweit ansonsten die Durchsetzung grundfreiheitlicher Vorgaben rechtlich oder faktisch erschwert wäre (s. auch Rz. 83)150. b) Nach st. Rspr. des EuGH ist ferner jeder Mitgliedstaat schon europarechtlich verpflichtet, unions- 43 rechtswidrig erhobene Steuern zu erstatten151. Davon darf einzig dann abgesehen werden, wenn die zur Steuerzahlung herangezogene Person die Steuer nachweislich auf Dritte abgewälzt hat und somit durch eine Erstattung „ungerechtfertigt bereichert“ wäre152. Dieser den Mitgliedstaaten zugestandene 144 S. EuGH v. 20.3.1997 – C-24/95, ECLI:EU:C:1997:163 Rz. 25 – Alcan Deutschland; v. 15.12.2005 – C-148/04, ECLI:EU:C:2005:774 Rz. 104 ff. – Unicredito; v. 22.4.2008 – C-408/04 P, ECLI:EU:C:2008:236 Rz. 104 – Salzgitter. S. auch EFTA-Gerichtshof v. 30.3.2012 – E-17/10 u.a. Rz. 123 ff. – VTM Fundmanagement; BFH v. 30.1.2009 – VII B 180/08, BFHE 224, 372 (376 f.). 145 Krit. Hey, Steuerplanungssicherheit, 2002, 361 ff.; Kamps/Fraedrich, FR 2005, 969. Vgl. demgegenüber EuG v. 4.2.2016 – T-620/11, ECLI:EU:T:2016:59 Rz. 189 – GFKL Financial Services. 146 Ausnahmen jenseits des Zollverfahrensrechts sind bspw. Art. 241 ff. und Art. 250 ff. der RL 2006/112/EG (MwSt-RL) sowie Art. 8 der RL 2003/48/EG (Zins-RL). 147 S. dazu generell EuGH v. 19.9.2006 – C-392/04, ECLI:EU:C:2006:586 Rz. 57 – i-21 Germany; Suerbaum, VerwArch 2000, 169 (173); steuerspezifisch etwa EuGH v. 12.5.2011 – C-107/10, ECLI:EU:C:2011:298 Rz. 29 – Enel Maritsa Iztok 3; v. 12.12.2013 – C-362/12, ECLI:EU:C:2013:834 Rz. 31 – FII (3); Englisch in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, 49 ff.; van Eijsden u.a. in Lang u.a. (Hrsg.), Procedural Rules in Tax Law, 2011, 1 (16 ff.). 148 S. dazu EuGH v. 15.4.2010 – C-542/08, ECLI:EU:C:2010:193 Rz. 19 f. – Barth. 149 Zusammenfassend EuGH v. 12.2.2008 – C-2/06, ECLI:EU:C:2008:78 Rz. 57 – Kempter; v. 8.9.2010 – C-409/06, ECLI:EU:C:2010:503 Rz. 58 – Winner Wetten; v. 3.9.2009 – C-2/08, ECLI:EU:C:2009:506 Rz. 24 – Fallimento Olimpiclub; grundl. Ehrke-Rabel, Gemeinschaftsrecht und österreichisches Abgabenverfahren, Wien 2006, 69 ff.; Madner in Holonbek/Lang (Hrsg.), Abgabenverfahrensrecht und Gemeinschaftsrecht, 2010, 115; Wittock, EC Tax Review 2014, 171 (177 ff.). 150 S. EuGH v. 30.6.2011 – C-262/09, ECLI:EU:C:2011:438 Rz. 40 – Meilicke II; GA Wathelet, Schlussanträge v. 21.11.2013 – C-326/12, ECLI:EU:C:2013:757 Rz. 41 ff. – van Caster. 151 EuGH v. 8.3.2001 – C-397/98 u.a., ECLI:EU:C:2001:134 Rz. 84 – Metallgesellschaft u.a.; v. 2.10.2003 – C-147/01, ECLI:EU:C:2003:533 Rz. 93 – Weber’s Wine World; v. 10.4.2008 – C-309/06, ECLI:EU:C:2008:211 Rz. 35 – Marks & Spencer; v. 6.10.2015 – C-69/14, ECLI:EU:C:2015:662 Rz. 24 ff. – Târs¸ia. 152 EuGH v. 2.10.2003 – C-147/01, ECLI:EU:C:2003:533 Rz. 94 ff. – Weber’s Wine World; v. 10.4.2008 – C-309/06, ECLI:EU:C:2008:211 Rz. 41 – Marks & Spencer m.w.N.; v. 6.9.2011 – C-398/09,
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§ 4 Rz. 44
Europäisches Steuerrecht
Vorbehalt findet aber im deutschen Besteuerungsverfahren (s. Rz. 46) keinen Niederschlag. Dessen ungeachtet ist in derartigen Fällen (auch) ein Erstattungsanspruch des eigentlichen Steuerträgers in Betracht zu ziehen153. I.Ü. sind dem Stpfl. auch etwaige Zinsnachteile zu ersetzen154. 44 In zeitlicher Hinsicht ist ferner zu beachten, dass Entscheidungen des EuGH zur Auslegung von Primärund Sekundärrecht entsprechend der institutionellen Stellung des Gerichtshofs keine neuen Rechtsnormen schaffen, sondern nur verdeutlichen, wie die bestehenden Vorschriften seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden sind155. Dementsprechend entfalten die Rechtserkenntnisse des EuGH Rückwirkung bis auf diesen Zeitpunkt. De von Gerichtshof für zutreffend gehaltene Auslegung muss daher auch auf Rechtsverhältnisse angewendet werden, die vor Erlass der jeweiligen EuGH-Entscheidung entstanden sind (näher § 22 Rz. 307). Der Gerichtshof hält sich nur ausnahmsweise aufgrund des unionsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit zur temporalen Begrenzung seiner Entscheidungswirkungen für befugt: Diese komme – nur – in Betracht, wenn vor der Entscheidung eine erhebliche Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der einschlägigen Unionsbestimmungen bestand und eine rückwirkende Klärung erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen hätte156. Hingegen sollen finanziellen Konsequenzen, die sich aus einer Vorabentscheidung für einen Mitgliedstaat ergeben können, für sich allein nicht genügen157. Die vom EuGH entwickelten Kriterien sind zwar akzeptabel; er handhabt diese Ausnahme jedoch mit Blick auf den häufig rechtsfortbildenden Charakter der Entscheidungen zu restriktiv. 45 In Ermangelung unionsrechtlicher Vorschriften richtet sich auch das Erstattungsverfahren entspre-
chend dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten nach den insoweit einschlägigen nationalen Vorschriften der Mitgliedstaaten158. Rechtsgrundlage ist grds. § 37 II AO. Materiell-rechtlich ist die Steuerzahlung bei Unanwendbarkeit der unionsrechtswidrigen gesetzlichen Besteuerungsgrundlage nämlich rechtsgrundlos erfolgt; das gilt auch bei nachträglich besserer Rechtserkenntnis im Sinne einer erstmals unionsrechtsfkonformen Auslegung. Allerdings erfordert die Durchsetzung dieses Anspruchs regelmäßig die vorherige Aufhebung bzw. Änderung des Steuerbescheids, in dem sich die zu beanstandende Steuerrechtsnorm ausgewirkt hat159. Hierfür gelten grds. die Korrekturvorschriften der §§ 172 ff. AO (§ 21 Rz. 394 ff.)160.
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ECLI:EU:C:2011:540 Rz. 18 ff. – Lady & Kid m.w.N. Krit. Capriles, World Journal of VAT/GST Law 2012, 47 ff.; s. ferner Lasin´ski-Sulecki, Intertax 2014, 2. Dazu eingehend EuGH v. 20.10.2011 – C-94/10, ECLI:EU:C:2011:674 Rz. 19 ff. – Danfoss u.a.; anders im Kontext rein nationalen Steuerrechts BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (290). S. EuGH v. 13.3.2007 – C-524/04, ECLI:EU:C:2007:161 Rz. 112 – Thin Cap Group Litigation; v. 19.7.2012 – C-591/10, ECLI:EU:C:2012:478 Rz. 25 ff. – Littlewoods Retail; v. 18.4.2013 – C-565/11, ECLI:EU:C:2013:250 Rz. 21 ff. – Irimie; v. 17.7.2014 – C-654/13, ECLI:EU:C:2014:2127 Rz. 29 ff. – Delphi Hungary Autóalkatrész Gyártó; Cloer/Hagemann, IWB 2014, 191. S. etwa EuGH v. 17.2.2005 – C-453/02 u.a., ECLI:EU:C:2005:92 Rz. 41 – Linneweber und Akritidis; v. 6.3.2007 – C-292/04, ECLI:EU:C:2007:132 Rz. 34 – Meilicke II m.w.N. S. etwa EuGH v. 6.3.2007 – C-292/04, ECLI:EU:C:2007:132 Rz. 35 ff. – Meilicke I; v. 8.9.2010 – C-409/06, ECLI:EU:C:2010:503 Rz. 60 ff. – Winner Wetten; v. 13.4.2010 – C-73/08, ECLI:EU:C:2010:181 Rz. 89 ff. – Bressol u.a.; s. auch § 22 Rz. 307. EuGH v. 17.2.2005 – C-453/02 u.a., ECLI:EU:C:2005:92 Rz. 44 – Linneweber und Akritidis; weitere Nachweise in § 22 Rz. 307. Grundl. EuGH v. 19.9.2006 – C-392/04, ECLI:EU:C:2006:586 Rz. 57 – i-21 Germany; s. ferner EuGH v. 12.12.2006 – C-446/04, ECLI:EU:C:2006:774 Rz. 203 – FII Group Litigation; v. 30.6.2011 – C-262/09, ECLI:EU:C:2011:438 Rz. 55 – Meilicke I (Erstattungsverfahren); v. 20.9.2007 – C-177/06, ECLI:EU:C:2007:538 Rz. 45, 53 – Kommission/Spanien (Rückforderungsverfahren). Dazu eingehend Tipke/Kruse/Drüen, § 37 AO Rz. 33 ff., m.w.N.; Grube, Der Einfluss des unionsrechtlichen Beihilfeverbots auf das deutsche Steuerrecht, 2014, S. 71 ff. S. dazu BFH v. 16.9.2010 – V R 57/09, BStBl. II 2011, 151; Gosch, DStR 2004, 1988 (1989 f.); Birk/ Jahndorf, UR 2005, 198 (199); Lange, Der Anspruch auf Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern, 2008, 72 ff.; Tehler, FS Reiß, 2008, 81 (93 f.); de Weerth, DB 2009, 2677 (2681); Lehnert, Die Korrektur von gemeinschaftsrechtswidrigen Beihilfen in Form von Steuervergünstigungen, 2009,
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B. Einwirkung des Europarechts auf nationale Steuerrechtsnormen
Rz. 48 § 4
Spiegelbildlich hierzu ist jeder Mitgliedstaat auch verpflichtet, unionsrechtswidrig gewährte steuer- 46 liche Begünstigungen zurückzufordern, soweit die maßgeblichen Vorgaben des Unionsrechts unmittelbare oder mittelbare Wirkung im konkreten Steuerrechtsverhältnis entfalten. Dies kommt vor allem in zwei Konstellationen in Betracht: Bei belastender richtlinienkonformer Auslegung von zuvor für den Stpfl. vorteilhaft ausgelegten Bestimmungen harmonisierten Steuerrechts (Rz. 31) oder im Anwendungsbereich des Beihilfekontrollverfahrens nach Art. 108 AEUV (Rz. 37). Hat sich die steuerliche Begünstigung bereits in einer Steuerfestsetzung ausgewirkt, gelten auch insoweit grds. die Korrekturvorschriften der AO. Für das Beihilferecht ist dies in Art. 16 III VO 2015/1589 ausdrücklich vorgegeben. Die für die Korrektur von unionsrechtswidrigen Steuerbescheiden oder ggf. auch für die erstmalige 47 unionsrechtskonforme Steuerfestsetzung maßgeblichen verfahrensrechtlichen Bestimmungen in AO und Einzelsteuergesetzen müssen ebenfalls dem Äquivalenzprinzip und dem Effektivitätsprinzip genügen (Rz. 42)161. Der letztgenannte Grundsatz steht allerdings in einem Spannungsverhältnis zu den auch unionsrechtlich anerkannten Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes162. Nach zutr. Rspr. des EuGH sind daher insb. angemessene Rechtsbehelfs- oder Verjährungsfristen sowie Bestandskraftregelungen des nationalen Steuerverfahrensrechts grds. nicht zu beanstanden163. Hingegen steht der Effektivitätsgrundsatz einer rückwirkenden Änderung solcher Regelungen ohne Übergangsregelung entgegen, zumal wenn auf diese Weise die ex-tunc-Wirkung eines EuGH-Urteils (Rz. 44) unterlaufen werden soll164 (s. auch § 21 Rz. 441). Bei der Änderung von Steuerbescheiden aufgrund einer beihilferechtlichen Rückforderungsentscheidung der Kommission ist außerdem zu beachten, dass über die Möglichkeit der Gewährung von Vertrauensschutz nach Ansicht des EuGH allein nach den von ihm entwickelten (zu) strengen unionsrechtlichen Maßstäben (Rz. 40) und damit grds. bereits abschließend in der an den Mitgliedstaat gerichteten Rückforderungsentscheidung der Kommission zu befinden ist. Solange selbige Entscheidung nicht erfolgreich angefochten ist, können daher bei der Umsetzung dieser Rückforderungsentscheidung durch die nationalen Finanzbehörden im Verhältnis zum Stpfl. die steuerverfahrensrechtlichen Ausprägungen des Grundsatzes der Rechtssicherheit und namentlich die Bestandskraftregelungen der AO (insb. § 172 AO) nur ausnahmsweise Anwendung finden: Es müssen dafür besondere, im Lichte des unionsrechtlichen Vertrauensschutzgrundsatzes
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162 163
164
159 ff.; Geisenberger, Der Einfluss des Europarechts auf steuerliches Verfahrensrecht, 2010, 100 ff., 168. S. bspw. EuGH v. 12.12.2006 – C-446/04, ECLI:EU:C:2006:774 Rz. 203 – FII Group Litigation; v. 15.9.2011 – C-310/09, ECLI:EU:C:2011:581 Rz. 79 – Accor (zum Erstattungsanspruch); v. 18.4.2013 – C-565/11, ECLI:EU:C:2013:250 Rz. 23 ff. – Irimie (zu dessen Verzinsung); v. 5.10.2006 – C-368/04, ECLI:EU:C:2006:644 Rz. 44 – Transalpine Ölleitung; v. 15.12.2005 – C-148/04, ECLI:EU:C:2005:774 Rz. 103, 123 – Unicredito; v. 20.9.2007 – C-177/06, ECLI:EU:C:2007:538 Rz. 45, 53 – Kommission/ Spanien (zur Rückforderung unionsrechtswidriger steuerlicher Begünstigungen). Instruktiv EuGH v. 14.9.2006 – C-181/04 u.a., ECLI:EU:C:2006:563 Rz. 26 ff. – Elmeka. S. bspw. EuGH v. 11.7.2002 – C-62/00, ECLI:EU:C:2008:211 Rz. 35 – Marks & Spencer; v. 3.9.2009 – C-2/08, ECLI:EU:C:2009:506 Rz. 22 – Fallimento Olimpiclub; s. ferner EuGH v. 19.9.2006 – C-392/04, ECLI:EU:C:2006:586 Rz. 59 f. – i-21 Germany: einmonatige Rechtsbehelfsfrist i.d.R. nicht zu beanstanden; v. 8.5.2008 – C-95/07, ECLI:EU:C:2008:267 Rz. 46 ff. – Ecotrade; v. 21.1.2010 – C-472/08, ECLI:EU:C:2010:32 Rz. 20 – Alstom Power Hydro m.w.N.: zweijährige Ausschluss- bzw. Verjährungsfrist i.d.R. angemessen; v. 15.12.2011 – C-427/10, ECLI:EU:C:2011:844 – Banca Antoniana Popolare Veneta. S. dazu auch BFH v. 21.3.1996 – XI R 36/95, BStBl. II 1996, 399; v. 23.11.2006 – V R 51/05, BStBl. II 2007, 433; v. 23.11.2006 – V R 67/05, BStBl. II 2007, 436; v. 16.9.2010 – V R 57/09, BStBl. II 2011, 151; v. 14.2.2012 – VII R 27/10, BFH/NV 2012, 169; Schaumburg, ISR 2014, 243. Zu weitgehend in ihrer Betonung des Effektivitätsprinzips hingegen Jahndorf/Oellerich, DB 2008, 2559; ausgewogener Hummel, Verwaltungsrechtsraum Europa, 2011, 101 (117 f.). S. EuGH v. 30.6.2011 – C-262/09, ECLI:EU:C:2011:438 Rz. 54 ff. – Meilicke II m.w.N., zu § 175 II 2 AO („lex Manninen“); v. 12.12.2013 – C-362/12, ECLI:EU:C:2013:834 Rz. 30 ff. – FII GL III; v. 18.12.2014 – C-640/13, ECLI:EU:C:2014:2457 Rz. 28 ff. – Kommission/Großbritannien. S. auch Drüen, FS Schaumburg, 2009, 609.
Englisch 169
48
§ 4 Rz. 49
Europäisches Steuerrecht
beachtliche Umstände des konkreten Einzelfalles vorliegen, welche die Kommission in ihrer die abstrakte Beihilferegelung betreffenden Entscheidung nicht berücksichtigt hat165. Ähnlich verhält es sich bei den im Vorfeld einer Kommissionsentscheidung unter Verstoß gegen das Durchführungsverbot nach Art. 108 III 3 AEUV gewährte Steuervergünstigungen (Rz. 37); auch insoweit steht die Anwendung der Vorschriften der AO unter dem Vorbehalt der Vereinbarkeit mit unionsrechtlichen Vertrauensschutzkriterien166.
5. Verhältnis zu verfassungsrechtlichen Wertungen 49
a) Ist die Vereinbarkeit einer Bestimmung des materiellen Steuerrechts oder des Steuerverfahrensrechts mit Vorgaben des primären oder sekundären Unionsrechts objektiv zweifelhaft, besteht für die Finanzgerichte die Möglichkeit und für den letztinstanzlich entscheidenden BFH sogar grds. die Pflicht, den EuGH um eine Klärung der insoweit maßgeblichen Unionsrechtslage zu ersuchen (Art. 267 AEUV; s. § 22 Rz. 303)167. Der EuGH nimmt dann zwar nur zur Auslegung des einschlägigen Unionsrechts Stellung und nicht unmittelbar zur Vereinbarkeit des nationalen Rechts hiermit168. Werden die diesbezüglichen Zweifel im Lichte dieser Vorabentscheidung jedoch bestätigt, so hat das vorlegende Gericht in der Konsequenz unbestritten eine „Verwerfungskompetenz“: Es muss nationale Steuergesetze insoweit unangewendet lassen, als sie im Widerspruch zu unmittelbar anwendbarem Unionsrecht stehen und eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht in Betracht kommt169. Dasselbe gilt in der Folge für die Finanzverwaltung170, während den Gesetzgeber nach Art. 4 III EUV eine Reparaturpflicht trifft. Die Bindung von Rspr. und Verwaltung an die deutschen Gesetze tritt insoweit hinter die ebenfalls in Art. 20 III GG verankerte Bindung an unmittelbar anwendbares Unionsrecht171 zurück, dessen Vorrang in Art. 23 I GG i.V.m. den Unionsverträgen gründet.
50
Fraglich ist aber, ob die Finanzgerichtsbarkeit oder gar auch die von vornherein nicht vorlageberechtigte Finanzverwaltung auch ohne vorherige Befassung des EuGH von einer Anwendung deutscher Steuerrechtsnormen absehen dürfen, wenn sie diese für unionsrechtswidrig halten. Hiergegen könnte die in Art. 100 I GG zum Ausdruck kommende Wertung sprechen, wonach die Bindung des Rechtsanwenders an verfassungswidrige (nachkonstitutionelle) Parlamentsgesetze nur aufgrund verfassungsgerichtlicher Entscheidung gelöst werden kann; an die Stelle des BVerfG träte dabei im Falle der Unionsrechtswidrigkeit der EuGH172. Dieser selbst hat eine solche Parallelwertung aber zurückgewiesen 165 S. dazu auch EuGH v. 12.2.2008 – C-199/06, ECLI:EU:C:2008:79 Rz. 42 f. – CELF. 166 S. BFH v. 30.1.2009 – VII B 180/08, BFHE 224, 372 (zu § 169 AO). 167 S. auch EuGH v. 15.9.2005 – C-495/03, ECLI:EU:C:2005:552 Rz. 26 ff. – Intermodal Transports; Calliess/Ruffert/Wegener5, Art. 267 AEUV Rz. 19 ff., 27 ff. 168 S. etwa EuGH v. 3.10.1985 – 249/84, ECLI:EU:C:1985:393 Rz. 12 – Profant; v. 6.3.2007 – C-338/04, ECLI:EU:C:2007:133 Rz. 37 – Placanica; v. 11.10.1007 – C-443/06, ECLI:EU:C:2007:600 Rz. 18 – Hollmann; v. 10.11.2011 – C-126/10, ECLI:EU:C:2011:718 Rz. 29 – Foggia; s. auch Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte, ABl. C 143 v. 11.6.2005, 1 ff. 169 S. EuGH v. 9.3.1978 – 106/77, ECLI:EU:C:1978:49 Rz. 17, 21 – Simmenthal II; v. 8.9.2010 – C-409/06, ECLI:EU:C:2010:503 Rz. 55 – Winner Wetten; v. 26.1.2010 – C-118/08, ECLI:EU:C:2010:39 Rz. 23 ff. – Transportes Urbanos y Servicios Generales; BFH v. 7.11.2007 – I R 19/04, BStBl. II 2008, 228 (231); v. 26.7.2007, I R 39/04, BStBl. II 2008, 95 (98 f.); BFH v. 8.6.2010 – I B 199/09, BFH/NV 2010, 1863 (1864); v. 27.7.2011 – I R 32/10, BFH/NV 2012, 118 (120); BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 (244); Streinz, Europarecht10, Rz. 717 f. 170 EuGH v. 22.6.1989 – 103/88, ECLI:EU:C:1989:256 Rz. 31 – Fratelli Costanzo; Rust, IStR 2009, 382 (383). 171 S. dazu Sachs7, Art. 20 GG Rz. 107; Schmidt-Aßmann, FS Stern, 1997, 745 (754 f.); Jarass/Pieroth14, Art. 20 GG Rz. 53; BVerwG v. 5.6.1986 – 3 C 12/82, BVerwGE 74, 241 (248 f.). 172 So etwa Rau/Dürrwächter/Stadie, UStG, Einf Rz. 257 ff.; seinerzeit auch noch Englisch in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, 39 (80 f.); GA Lenz, v. 25.4.1989 – C-103/88, ECLI:EU:C:1989:256 Rz. 36 – Fratelli Costanzo. Eingehend Hutka, Gemeinschaftsrechtsbezogene Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der deutschen Verwaltung gegenüber Rechtsnormen nach europäischem Gemeinschaftsrecht und nach deutschem Recht, 1997, 169 ff. und Pietzcker, FS Everling, 1995, 1095 ff.
170
Englisch
B. Einwirkung des Europarechts auf nationale Steuerrechtsnormen
Rz. 53 § 4
und betont, nationale Gerichte dürften eine nach ihrer Einschätzung im Widerspruch zu unmittelbarem Unionsrecht stehende Rechtsnorm ohne weiteres unangewendet lassen173. Dem kann verfassungsrechtlich gefolgt werden, denn die Wertung des Art. 100 I GG wird bei unionsrechtswidrigen Parlamentsgesetzen durch die in Art. 23 I GG angelegte Schaffung einer eigenständigen Kategorie von supranationalem Recht und einer ihm eigentümlichen Form der „Kooperation“ von europäischer und nationaler Gerichtsbarkeit174 überlagert. Eine unmodifizierte Übertragung des Rechtsgedankens des Art. 100 I GG ist auch insofern nicht angezeigt, als der EuGH sich ohnehin im Rahmen des Vorlageverfahrens nach Art. 267 AEUV nie direkt zur Vereinbarkeit von nationalem und Unionsrecht äußert und zudem unionsrechtswidrige Normen nur unanwendbar und nicht nichtig sind. Gleichwohl sind um des gebotenen Respekts vor dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber willen aus 51 dem Gewaltenteilungsprinzip gewisse Einschränkungen der „Verwerfungskompetenz“ nationaler Gerichte zu folgern, die auch mit der vom EuGH betonten Notwendigkeit der effektiven Durchsetzung von Unionsrecht zu vereinbaren sind: Ohne vorherige Vorlage an den EuGH dürfen auch Finanzgerichte steuergesetzliche Bestimmungen nur unangewendet lassen, wenn deren Unionsrechtswidrigkeit vor dem Hintergrund der bisherigen EuGH-Rspr. zu den je maßgeblichen primär- oder sekundärrechtlichen Bestimmungen i.S.d. „acte-clair“-Rspr.175 (s. dazu auch § 22 Rz. 303) offenkundig ist176. Des Weiteren sind gerade vor dem Hintergrund einer mitunter inkonsistenten und oszillierenden EuGH-Rspr. (Rz. 18) strenge Anforderungen an die Feststellung der Offenkundigkeit der Unionsrechtswidrigkeit zu stellen. Nicht ohne vorherige Vorlage an den EuGH unangewendet lassen dürfen nationale Gerichte außerdem im 52 Bereich des harmonisierten Steuerrechts solche Steuerrechtsnormen, die nach Einschätzung des betreffenden Gerichts zwar (evtl. sogar offenkundig) primärrechtswidrig sind, aber richtlinienrechtliche Regelungen bzw. darauf basierende Tertiärrechtsakte (Rz. 7) zutreffend umsetzen177. Denn im Kern geht es hier um die Feststellung der Primärrechtswidrigkeit von abgeleitetem Unionsrecht, die sich der EuGH mit guten Gründen selbst vorbehalten hat (grundl. EuGH 314/85, Foto-Frost178). Zur damit einhergehenden Verschärfung der Anforderungen an die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes s. § 22 Rz. 311. Erklärt der EuGH die in Rede stehende Bestimmung des Unionsrechts für primärrechtswidrig und nichtig, schlägt dies regelmäßig unmittelbar auf die Umsetzungsbestimmung im deutschen Steuerrecht durch, die damit ohne weiteres unangewendet bleiben darf und muss179. Entgegen der Auffassung des BVerfG180 bedarf es keiner zusätzlichen Vorlage nach Art. 100 I GG.
b) Unionsrechtliche Vorgaben zur Ausgestaltung des harmonisierten Steuerrechts können derzeit 53 keiner Kontrolle anhand der Grundrechte des deutschen GG unterzogen werden. Der EuGH hat sich um der unionsweit einheitlichen Geltung des sekundären Unionsrechts willen schon frühzeitig gegen
173 EuGH v. 19.1.2010 – C-555/07, ECLI:EU:C:2010:21 Rz. 53 ff. – Kücükdeveci; ebenso schon im Vorfeld der Entscheidung Probst, UR 1990, 302 (304); Birkenfeld, StuW 1998, 55 (61, 64, 66). 174 S. dazu etwa EuGH v. 20.10.2011 – C-396/09, ECLI:EU:C:2011:671 Rz. 20 – Interedil; BVerfG v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92, BVerfGE 89, 155 (175); F. Kirchhof, FS Herzog, 2009, 155 ff. 175 S. EuGH v. 6.10.1982 – 283/81, ECLI:EU:C:1982:335 Rz. 16, 21 – CILFIT u.a.; v. 15.9.2005 – C-495/03, ECLI:EU:C:2005:552 Rz. 33 und 39 – Intermodal Transports; BVerfG v. 31.5.1990 – 2 BvL 12, 13/88, BVerfGE 82, 159 (193); Rüsken, ZfZ 2011, 87; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein, Art. 267 AEUV Rz. 57 ff.; Dourado/Borges, Acte clair in EC direct tax law, Amsterdam 2008. 176 Vgl. auch BverfG v. 28.1.1992 – 1 BvR 1025/82, 1 BvL 16/83 und 10/91, BVerfGE 85, 191 (203 ff.); sowie BVerfG v. 21.11.2011 – 2 BvR 516/09, NJW 2012, 598, Rz. 28; noch strenger Desens, EuGRZ 2011, 211 (213). 177 S. BFH v. 30.11.2000 – V R 30/00, BFH/NV 2001, 405 (407). 178 S. ferner EuGH v. 25.7.2002 – C-50/00 P, ECLI:EU:C:2002:462 Rz. 40 – Unión de Pequeños Agricultores; v. 28.3.2017 – C-72/15, ECLI:EU:C:2017:236 Rz. 78–80 – PJSC; BVerfG v. 31.5.1990 – 2 BvL 12, 13/88, BVerfGE 82, 159 (194). 179 Dazu ausf. Englisch in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, 39 (47 f.). 180 BVerfG v. 13.3.2007 – 1 BvF 1/05, BVerfGE 118, 79 (97 f.) in Anlehnung an Cremer, Die Verwaltung 2004, 165 (186 f.).
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§ 4 Rz. 54
Europäisches Steuerrecht
dessen Überprüfung am Maßstab des Verfassungsrechts der Mitgliedstaaten gewandt181. Das BVerfG hat die Verdrängung des nationalen Grundrechtsschutzes akzeptiert und übt seine Gerichtsbarkeit insoweit nicht länger aus, solange der EuGH einen „im Wesentlichen gleich zu achtenden“ Grundrechtsstandard gewährleistet182. Hiervon geht das BVerfG seit der „Solange II“-Entscheidung (BVerfGE 73, 339) aus. Vor diesem Hintergrund ist es konsequent, auch deutsche Steuergesetze von einer Grundrechtskontrolle auszunehmen, soweit sie zwingende Richtlinienvorgaben umsetzen183. 54
Kritisch anzumerken ist jedoch, dass der Grundrechtsschutz des EuGH speziell auf dem Gebiet des Steuerrechts nicht einmal näherungsweise an die in den letzten 50 Jahren vom BVerfG entwickelten Standards heranreicht (Rz. 9). Sollte der EuGH in dem kaum kaschierten Bestreben nach Aufrechterhaltung von zugegebenermaßen oft mühsam zusammengezimmerten, aber eben „faulen“ Kompromissen in der Unionssteuergesetzgebung weiterhin eine so offenkundig unzureichende Grundrechtsprüfung vornehmen wie in einigen Entscheidungen der letzten Jahre184, muss das dem GG verpflichtete BVerfG ihm die Gefolgschaft versagen und künftig wieder eine eigenständige Prüfung vornehmen185. Vorbild für eine Rückkehr zumindest zu einer Beanstandung evidenter und gravierender Grundrechtsverstöße könnte die entsprechende Vorgehensweise des EGMR186 sein.
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Anders verhält es sich, soweit dem deutschen Gesetzgeber bei der Ausgestaltung bestimmter Bereiche des harmonisierten Steuerrechts oder seines Vollzugs weiterhin ein steuerpolitischer Spielraum verbleibt. Insoweit kann es zu einer Verdoppelung grundrechtlicher Anforderungen kommen, weil neben den Grundrechten des GG dann auch diejenigen der EU-GrR-Charta zu beachten sind (Rz. 3)187. In gleicher Weise gilt dies für sonstige übergeordnete Rechtsprinzipien (z.B. für den verfassungsrechtlichen und den unionsrechtlichen Vertrauensschutzgrundsatz, oder für die Garantie effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 IV GG und den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz). Ähnliche Konstellationen ergeben sich ferner auch jenseits des harmonisierten Steuerrechts für die Kontrolle von außensteuerrechtlichen Normen (zum Begriff s. § 1 Rz. 91) anhand des deutschen Grundrechtekatalogs einerseits und der Grundfreiheiten andererseits, sowie bei der Überprüfung von Steuervergünstigungen188 mit Blick auf Art. 3 I GG und das beihilferechtliche Durchführungsverbot des Art. 108 III 3 AEUV (Rz. 37 ff.). Inwieweit diesbezügliche Bedenken die Finanzgerichte und den BFH jeweils zu einer Vorlage nach Art. 267 AEUV bzw. Art. 100 I GG berechtigen oder verpflichten, ist gesondert nach den je einschlägigen Maßstäben zu beurteilen. I.Ü. präjudiziert der Ausgang eines dieser beiden Verfahren grds. nicht den des je anderen; sie können daher auch unabhängig
181 Grundl. EuGH v. 17.12.1970 – C-11/70, ECLI:EU:C:2002:462 Rz. 3 – Internationale Handelsgesellschaft; seitdem st. Rspr., vgl. EuGH v. 26.2.2013 – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 Rz. 55 ff. – Melloni; S. ferner Stein, EuR 1997, 1469; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht10, 2015, Rz. 358 ff. 182 BVerfG v. 29.5.1974 – 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271 (285) – Solange I; v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (378) – Solange II; v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 u.a., BVerfGE 89, 155 (174 f.) – Maastricht; v. 7.6.2000 – 2 BvL 1/97, BVerfGE 102, 147 (162) – Bananenmarktordnung; v. 13.3.2007 – 1 BvF 1/05, BVerfGE 118, 79 (95) – Emissionsschutz; v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u.a., BVerfGE 123, 267 (335) – Lissabon; v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE126, 286 (306) – Mangold. 183 S. dazu generell BVerfG v. 13.3.2007 – 1 BvF 1/05, BVerfGE 118, 79 (95) – Emissionsschutz – sowie steuerspezifisch BVerfG (K) v. 31.5.2007 – 1 BvR 1316/04, UR 2007, 737. S. zu Modifikationen BVerfG v. 19.7.2011 – 1 BvR 1916/09, BVerfGE 129, 78. S. ferner EuGH v. 22.6.2010 – C-188/10 u.a., ECLI:EU:C:2010:363 Rz. 54 ff. – Melki und Abdeli. Zur eventuellen Notwendigkeit einer Vorlage an den EuGH zwecks Klärung, ob Richtlinienvorgaben zwingend sind, s. BFH v. 6.11.2012 – I B 28/12, BFH/NV 2013, 246, Rz. 14 m.w.N. 184 Exemplarisch EuGH v. 13.11.2008 – C-46/07, ECLI:EU:C:2008:618 Rz. 53 ff. – Puffer; v. 29.10.2009 – C-174/08, ECLI:EU:C:2009:669 Rz. 36 ff. – NCC Construction; v. 13.3.2014 – C-599/12, ECLI:EU:C:2014:144 Rz. 54–56 – Jetair. 185 Vgl. auch Landau/Trésauret, DVBl. 2012, 1329 (1337). 186 S. EGMR v. 30.6.2005 – 45036/98, Bosphorus, NJW 2006, 197, Rz. 155 f. 187 S. auch EuGH v. 11.9.2014 – C-112/13, ECLI:EU:C:2014:2195 Rz. 44 – A/B. 188 S. dazu Hey, StuW 2015, 331 (334 f.).
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C. Rechtsgrundlagen und Stand steuerrechtlicher Harmonisierung
Rz. 66 § 4
voneinander durchgeführt werden189. Es setzt sich damit letztlich der im konkreten Fall strengere Grundrechts- bzw. Rechtsprechungsstandard durch190. Das ist vor allem bei gleichheitsrechtlich strukturierten Prüfungen auch insofern von Bedeutung, als der EuGH in wesentlich geringerem Maße als das BVerfG zu einer Begrenzung von Urteilswirkungen bereit ist191. Einstweilen frei.
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C. Rechtsgrundlagen und Stand steuerrechtlicher Harmonisierung 1. Harmonisierung der indirekten Steuern Die in Art. 113 AEUV geregelte Harmonisierung der indirekten Steuern ist bereits relativ weit fort- 66 geschritten. Das gilt besonders für das Umsatzsteuerrecht, das gegenwärtig vor allem durch die Vorgaben der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie v. 28.11.2006 geprägt wird (dazu im Weiteren § 17 Rz. 5). Die seinerzeitigen Bundesverbrauchsteuern wurden mit der sog. Systemrichtlinie von 1992 einem unionsweit geltenden „System der Verbrauchsteuern“ unterworfen (s. § 18 Rz. 106). Mit der Energiesteuerrichtlinie v. 27.10.2003 wurde die Harmonisierung auf sämtliche marktrelevanten Energieerzeugnisse ausgedehnt (s. § 18 Rz. 106, 116 f.). Daneben sieht Art. 157 der Versicherungsrichtlinie 2009/138/EG eine rudimentäre Regelung zur internationalen Abgrenzung der Besteuerungshoheiten bei der Erhebung nationaler Versicherungsteuern vor. Örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern (Art. 105 IIa GG) sind einer Harmonisierung grds. nicht zugänglich, da sie (wie z.B. die Hunde-, Vergnügung-, Zweitwohnung-, Verpackungsteuer) als „Steuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis“ (s. § 18 Rz. 107, 119) keine Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt hervorrufen. Die erhebliche Reichweite der Harmonisierungsmaßnahmen auf fiskalisch bedeutsamen und steuerpolitisch sensiblen Gebieten des Steuerrechts steht in bedenklicher Diskrepanz zu erheblichen Defiziten an demokratischer Legitimation, die teils den institutionellen Rahmenbedingungen der Union192 und teils den Besonderheiten der steuerspezifischen Kompetenznormen geschuldet sind. Darüber hinaus führt das Einstimmigkeitserfordernis im Rat zur Versteinerung des harmonisierten Steuerrechts, was sich besonders deutlich am Reformstau im Mehrwertsteuerrecht193 zeigt. An der Notwendigkeit einstimmiger Beschlüsse ist auch das Projekt einer unionsweiten Finanztransaktionsteuer194 gescheitert. Es sollte daraufhin im Wege verstärkter Zusammenarbeit i.S.d. Art. 20 EUV vorerst nur von einer Kerngruppe „williger“ Mitgliedstaaten – darunter auch Deutschland – verwirklicht werden195; ein Novum auf dem Gebiet des harmonisierten Steuerrechts. Abgesehen von der 189 S. dazu aus unionsrechtlicher Warte EuGH v. 3.5.2005 – C-387/02 u.a., ECLI:EU:C:2005:270 Rz. 72 – Berlusconi; v. 19.11.2009 – C-314/08, ECLI:EU:C:2009:719 Rz. 81 – Filipiak. Steht die Unanwendbarkeit der nationalen Regelung wegen einer Verletzung unionsrechtlicher Grundrechtsstandards fest, so fehlt es allerdings an der Entscheidungserheblichkeit einer Vorlage nach Art. 100 I GG, vgl. BFH v. 6.3.2013 – I R 14/07, BStBl. II 2015, 349 (352). 190 Ausf. Lindner, EuZW 2007, 71 (73 ff.). 191 S. zu solchen Konstellationen EuGH v. 19.11.2009 – C-314/08, ECLI:EU:C:2009:719 Rz. 84 – Filipiak; v. 8.9.2010 – C-409/06, ECLI:EU:C:2010:503 Rz. 60 – Winner Wetten. 192 Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 10 EUV Rz. 55 ff.; Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, 2011, § 1 Rz. 28 f. 193 S. dazu das Grünbuch der Kommission v. 1.12.2010, KOM(2010) 695 endg. 194 S. RL-Vorschlag der Kommission v. 28.9.2011, KOM(2011) 594 endg.; dazu Henkow, EC Tax Review 2012, 5; Hernández González-Barreda, Intertax 2013, 208. 195 S. RL-Vorschlag der Kommission v. 14.2.2013, KOM(2013) 71 endg.; s. auch Vogel/Cortez, ET 2013, 145; Kempf/Walter-Yadegardjam, MwStR 2013, 150; Ruckes/Lappas, IStR 2013, 255; Cloppenburg, Eine Finanztransaktionssteuer im „kleinen Kreis“, Diss. Passau 2017. Die Klage Großbritanniens gegen den diesbzgl. Ermächtigungsbeschluss des Rates v. 22.1.2013 (s. dazu Panayi, ET 2013, 358) hat der EuGH abgewiesen (EuGH v. 30.4.2014 – C-209/13, ECLI:EU:C:2014:283 – Großbritannien/Rat) und auf die Möglichkeit einer Anfechtung der etwaigen späteren RL verwiesen.
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§ 4 Rz. 67
Europäisches Steuerrecht
steuerpolitischen bzw. finanzwissenschaftlichen Fragwürdigkeit dieser an die „Tobin-Tax“ (Tobin, Eastern Economic Journal 1978, 153) angelehnten Steuer196 sieht sich der entsprechende Richtlinienvorschlag der Kommission zu Recht auch unionsrechtlichen sowie völkerrechtlichen Einwänden ausgesetzt197. Nicht zuletzt drohen bei einer nur teilweisen Einführung in der EU erhebliche Wettbewerbsnachteile für die Finanzmärkte der teilnehmenden Mitgliedstaaten. Auf Druck Frankreichs, das im Zuge des Brexit auf eine Stärkung des Börsenplatzes Paris hofft, sind die Beratungen der Steuer daher im Juli 2017 auf unbestimmte Zeit vertagt worden. 67
Durch Verordnungen harmonisiert ist der Bereich des Zollrechts. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang der Gemeinsame Zolltarif198 und der alle grundlegenden zollrechtlichen Vorschriften zusammenfassende Unionszollkodex (UZK)199. 2. Harmonisierung der direkten Steuern
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Die Harmonisierung der direkten Steuern erfolgt regelmäßig auf der Grundlage des Art. 115 AEUV (s. Art. 114 II AEUV). Sie setzt damit einen unmittelbaren Binnenmarktbezug der Harmonisierung voraus200. Außerdem aktiviert sie mit besonderer Intensität die in Art. 5 EUV niedergelegten Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. Denn sowohl der Stellenwert der direkten Steuern im Steuersystem wie auch deren Ausgestaltung bringen die je mitgliedstaatspezifischen Vorstellungen von Steuergerechtigkeit und Umverteilungsgerechtigkeit in besonderem Maße zum Ausdruck. Es ist daher bei jedem EU-Gesetzesvorhaben auf diesem Gebiet genau abzuwägen, ob und inwieweit das Funktionieren des Binnenmarkts eine Rechtsangleichung gerade auf europäischer Ebene erfordert und ob die bestehenden Hindernisse so gravierend sind, dass ihre Beseitigung durch Harmonisierung den damit einhergehenden Verlust von Steuersouveränität zu legitimieren vermag. Die 1967 von der Kommission angestrebte umfassende Harmonisierung der direkten Steuern201 läuft nach heutigem Verständnis dem Subsidiaritätsprinzip zuwider; diesem Prinzip entspricht vielmehr das Konzept der Mindestharmonisierung202, wie es gegenwärtig bei den direkten Steuern praktiziert wird203.
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Realpolitisch schränkt das Einstimmigkeitserfordernis (Art. 115 AEUV) die Möglichkeiten einer Harmonisierung ohnehin stark ein. Angesichts des intensiven Steuerwettbewerbs zwischen den Mitgliedstaaten wäre zwar zumindest im Körperschaftsteuerrecht eine Rechtsangleichung wohl auch auf Grundlage des bei Wettbewerbsverfälschungen greifenden Art. 116 AEUV und damit im Wege des Mehrheitbeschlusses (Art. 289 I; 294 AEUV) möglich204. Die insoweit initiativberechtigte Kommission hat von dieser Ermächtigung aber bislang noch keinen Gebrauch gemacht. Eine neue Dynamik könnte die Steuerrechtsangleichung durch die Möglichkeit einer verstärkten Zusammenarbeit einer
196 S. Englisch, ISR 2013, 387, m.w.N.; Kaiding, EC Tax Review 2014, 30. 197 S. Englisch/Vella/Yevgenyeva, British Tax Review 2013, 223 (236 ff.); a.A. Tietje/Bering/Zuber, Völkerund europarechtliche Zulässigkeit extraterritorialer Anknüpfung einer Finanztransaktionssteuer, 2014. 198 VO Nr. 2658/87 des Rates v. 23.7.1987, ABl. L 256 v. 7.9.1987, 1. 199 VO (EU) Nr. 952/2013 v. 9.10.2013. 200 Ausf. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Seiler, Art. 113 AEUV Rz. 52; Schrauwen in Weber (Hrsg.), Traditional and alternative Routes to European Tax Integration, 2010, 16 ff. 201 S. Kommission, Programm für die Harmonisierung der direkten Steuern, Sonderbeilage zum Bulletin 8/1967. 202 Dazu Wagner, Das Konzept der Mindestharmonisierung, 2001. 203 Mitteilung der Kommission v. 23.5.2001, KOM(2001) 260 endg., 9; s. auch bereits Mitteilung der Kommission v. 20.4.1990, „Leitlinien zur Unternehmensbesteuerung“, SEK(90) 601 endg. = BRDrucks. 360/90. S. ferner die eingehende Analyse bei Kube/Reimer/Spengel, EC Tax Review 2016, 247 (249 ff.). 204 Callies/Ruffert/Korte5, Art. 116 AEUV m.w.N. zur parallelen Anwendbarkeit.
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C. Rechtsgrundlagen und Stand steuerrechtlicher Harmonisierung
Rz. 70 § 4
Gruppe integrationswilliger Mitgliedstaaten nach dem Vorbild der geplanten Finanztransaktionsteuer (Rz. 66) erhalten. Bislang jedoch hat eine Rechtsangleichung auf dem Gebiet der direkten Steuern nur rudimentär und punktuell stattgefunden. Sie befasst sich vornehmlich mit der Koordination von nationalen Besteuerungsansprüchen, nicht mit einer Angleichung der ihnen zugrunde liegenden mitgliedstaatlichen Steuersysteme. In jüngerer Zeit sind außerdem vermehrt Rechtsakte zur Eindämmung „aggressiver“ Steuerplanung v.a. durch mulitnationale Konzerne und zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung verabschiedet worden. a) Besteuerung von Unternehmen: Obwohl seit Jahrzehnten über eine Harmonisierung der Unter- 70 nehmensbesteuerung diskutiert wird205, sind bisher nur vereinzelte Harmonisierungserfolge zu verzeichnen206. Aus dem Jahr 1990 stammen die Fusionsrichtlinie207 zur Gewährleistung der Steuerneutralität grenzüberschreitender Umstrukturierungen sowie die Mutter-Tochter-Richtlinie208 (MTR) zur Vermeidung von Doppelbesteuerung grenzüberschreitender Schachteldividenden. Die MTR erreicht dies durch einen Vorrang der KSt-Erhebung im Quellenstaat, d.h. im Ansässigkeitsstaat der Tochtergesellschaft209. Im Jahr 2003 wurde mit der ebenfalls nur für verbundene Unternehmen geltenden Zinsund Lizenzgebührenrichtlinie210 (ZLR) ein Verbot der Quellensteuererhebung bei grenzüberschreitenden Zins- und Lizenzgebührenzahlungen zwischen verbundenen Unternehmen im Binnenmarkt statuiert211. Dabei erweist sich die diametral entgegengesetzte Aufkommenszuweisung hinsichtlich der Eigenkapital- und der Fremdkapitalrendite durch die MTR einerseits und die ZLR andererseits insbes. bei hybriden Finanzinstrumenten als verfehlt und gestaltungsanfällig. Zwecks Bekämpfung hybrider Gestaltungen sowie weiterer Formen von Steuerarbitrage ist schließlich im Jahr 2016 mit der Richtlinie EU/2016/1164212 ein unionsweiter Mindeststandard von Anti-Missbrauchsmaßnahmen geschaffen worden. Die Vorgaben u.a. zur Hinzurechnungsbesteuerung, zur Wegzugssteuer und zur Versagung der Steuerfreistellung für bestimmte im Ausland niedrig besteuerte Betriebsstättengewinne sind bis zum 31.12.2018 umzusetzen und gehen zum Teil deutlich über die Anti-BEPS-Empfehlungen der OECD (§ 1 Rz. 89) hinaus. Sie erzeugen im deutschen Außensteuerrecht gleichwohl nur einen geringen Anpassungsbedarf, perpetuieren allerdings auch die das Nettoprinzip verletzende Zinsschrankenregelung (dazu § 11 Rz. 50 ff.) Nach Ansicht des EuGH kann außerdem das harmonisierte Handelsbilanzrecht in Mitgliedstaaten, die wie Deutschland für Zwecke der steuerbilanziellen Gewinnermittlung über einen Maßgeblichkeitsgrundsatz an
205 Zur Entwicklung der Harmonisierungsdebatte HHR/Hey, Einf. KSt Anm. 90 ff.; s. auch van Arendonk, FS Vanistendael, 2008, 1. 206 Eingehend zu den jeweiligen Maßnahmen Kellersmann u.a., Europäische Unternehmensbesteuerung II2, 2013. 207 Richtlinie des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen (90/434/EWG), ABl. L 225/1; dazu Boulogne, Shortcomings in the EU Merger Directive, 2016. 208 Richtlinie des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (90/435/EWG), ABl. L 225 v. 20.8.1990, 6; neugefasst durch RL 2011/96/EU v. 30.11.2011, ABl. EU L 345/08, zuletzt geändert durch RL 2014/86/EU des Rates v. 8.7.2014. S. dazu Kofler, Mutter-Tochter-Richtlinie, Wien 2010; Boulogne, Shortcomings in the EU Merger Directive, 2016. 209 In Deutschland umgesetzt durch die Quellensteuerfreiheit von Gewinnausschüttungen nach §§ 43b; 50d EStG sowie die – generelle – Steuerfreiheit von Dividendenbezügen nach § 8b I KStG. 210 Richtlinie des Rates v. 3.6.2003 über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten (2003/49/EG), ABl. L 157 v. 26.6.2003, 49; dazu Schöllhorn, Die Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie, 2013. 211 In Deutschland umgesetzt durch die §§ 50d; 50g EStG; s. hierzu Hahn, EWS 2008, 273. 212 Richtlinie des Rates v. 12.7.2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken (EU/2016/1164), ABl. L 193 v. 19.7.2016; ergänzt durch Richtlinie EU/2017/952 des Rates v. 29.5.2017 („ATAD I + II“). S. Docclo, Bulletin Int’l Taxation 2017, 367; Ginevra, Intertax 2017, 120; Schuch u.a., Die Anti-TaxAvoidance-Richtlinie, 2017.
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§ 4 Rz. 71
Europäisches Steuerrecht
handelsrechtliche GoB anknüpfen (s. § 9 Rz. 40 ff.), Folgewirkungen für das – als solches nicht harmonisierte – Steuerbilanzrecht haben213. 71
Seit über 15 Jahren verfolgt die Kommission das ehrgeizige Ziel einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB = engl. CCCTB für „Common Consolidated Corporate Tax Base“)214. Grundanliegen ist die Schaffung eines Regimes unionsweit einheitlicher Regelungen zur Konzernbesteuerung für in der EU ansässige oder niedergelassene Körperschaftsteuersubjekte. Die Bemessungsgrundlage soll sich an den internationalen Rechnungslegungsstandards IAS/IFRS orientieren215. Weitere Kernelemente sind die Konsolidierung von Transaktionen zwischen Konzerngesellschaften sowie als notwendige Ergänzung ein System der formelmäßigen Aufteilung der konsolidierten Bemessungsgrundlage unter den betroffenen Mitgliedstaaten anhand eines bestimmten Verteilungsschlüssels216. Die Kommission hatte dazu nach zehnjährigen Vorarbeiten zunächst im Frühjahr 2011 einen Richtlinienvorschlag vorgelegt217. Nachdem sich hierfür im Rat keine Mehrheit fand, strebt die Kommission jetzt eine schrittweise Einführung unter (vorläufigem) Verzicht auf eine Konsolidierung an218. Der Vorschlag enthält nunmehr auch Vorgaben zur Forschungsförderung, Anreize zur Stärkung der Eigenkapitalbasis, und robustere Anti-Missbrauchsregeln. Die Umsetzungschancen sind dennoch weiter ungewiss. Von nicht unerheblicher Bedeutung dürfte sein, ob und ggf. in welche Richtung künftig Fortschritte bei der deutsch-französischen Initiative zur Annäherung der Unternehmenssteuersysteme erzielt werden219. Die Erfahrungen auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer lassen zudem befürchten, dass eine Vollharmonisierung wegen des Einstimmigkeitsprinzips (Rz. 5 und 69) leicht zur Versteinerung des Körperschaftsteuerrechts führen könnte. Für das Frühjahr 2018 hat die Kommission außerdem Vorschläge zur effektiven Besteuerung digitaler Geschäftsmodelle angekündigt220. Die entsprechenden Pläne sind bereits weitgehend ausgearbeitet221. In Aussicht gestellt wird eine zweigleisige Strategie: Zum einen soll den Mitgliedstaaten im Verhältnis untereinander richtlinienrechtlich vorgegeben werden, die „digitale Betriebsstätte“222 als Anknüpfungspunkt für die Wahrnehmung von Besteuerungsrechten in ihr jeweiliges Außensteuerrecht aufzunehmen223. Außer213 S. EuGH v. 7.1.2003 – C-306/99, ECLI:EU:C:2003:3 Rz. 90 ff. – BIOA; v. 3.10.2013 – C-322/12, ECLI:EU:C:2013:632 Rz. 28 – GIMLE. 214 Dazu umfassend Lang/Pistone/Schuch/Staringer, Common Consolidated Corporate Tax Base, Wien 2008; ferner Schön/Schreiber/Spengel (Hrsg.), A Common Consolidated Corporate Tax Base for Europe, 2008; Braunagel, Die Gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage in der EU, 2008; Dahlke, Harmonisierung der Konzernbesteuerung in der Europäischen Union, 2011; Lang u.a. (Hrsg.), Corporate Income Taxation in Europe, 2013. 215 Dazu grundl. Herzig, IAS IFRS und steuerliche Gewinnermittlung, 2004; Jaatinen, Intertax 2012, 260; Eggert, Die Gewinnermittlung nach dem Richtlinienvorschlag über eine GKKB, 2015. 216 S. Hernler, ET 2004, 246; Russo, Intertax 2005, 2; Bogerd, EC Tax Review 2007, 274; Panayi, ET 2008, 114; Weiner, EC Tax Review 2008, 100; Spengel/Oestreicher, DStR 2009, 773; van de Streek, Intertax 2012, 24; Petutschnig, StuW 2012, 192; Massoner, Konsolidierung im Rahmen der Common Consolidated Corporate Tax Base (CCCTB), 2013. 217 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) v. 16.3.2011, KOM(2011) 121/4. 218 S. Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) v. 25.10.2016, KOM(2016) 685 – Schritt 1; sowie Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) v. 25.10.2016, KOM(2016) 685 – Schritt 2. S. Jakob/Fehling, ISR 2017, 290; sowie zu zentralen Aspekten Gutmann/de la Blétière, EC Tax Review 2017, 233; de Groot, Intertax 2017, 742; Köszeghy in Haslehner/Kofler/Rust (Hrsg.), EU Tax Law and Policy in the 21st Century, 2017, 305. 219 S. Hoke, Tax Notes International 2017, 402. 220 S. Mitteilung der Kommission v. 21.9.2017, Ein faires und effizientes Steuersystem in der Europäischen Union für den digitalen Binnenmarkt, COM(2017) 547 final, S. 12. 221 S. Kommission, Entwurf v. 26.2.2018, Taxation of digital activities in the Single Market, n.v. 222 S. dazu OECD/G20 BEPS Project, Action 1, Final Report 2015, S. 107 ff. 223 Auch die formelmäßige Gewinnaufteilung im Rahmen der GKKB soll entsprechend angepasst werden, s. den Kompromissentwurf der Ratspräsidentschaft v. 2.2.2018, n.v.
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C. Rechtsgrundlagen und Stand steuerrechtlicher Harmonisierung
Rz. 73 § 4
dem will die Kommission eine Empfehlung abgeben, bestehende DBA mit Drittstaaten entsprechend anzupassen, und setzt insoweit auch auf laufende Koordinierungsbemühungen der OECD224. Solange die Bestrebungen um eine internationale Neuausrichtung iS der Kommission noch nicht erfolgreich sind, sollen alle Mitgliedstaaten verpflichtend eine sog. „Ausgleichsteuer“ auf bestimmte digitale Geschäftsmodelle einführen. Erhoben würde diese Sondersteuer auf den Inlandsumsatz großer Anbieter. Ein solcher EU-Alleingang ist aber schon deshalb abzulehnen, weil er zur Erosion des konsensbasierten Regelwerks des internationalen Steuerrechts beiträgt und eine negative Vorbildwirkung entfaltet225. Angesichts des bereits erkennbaren Widerstands einiger kleinerer Mitgliedstaaten sind die Umsetzungschancen zudem ungewiss.
b) Als Maßnahme zur Effektuierung bestehender Vereinbarungen zur Vermeidung internationa- 72 ler Doppelbesteuerung existiert seit 1990 das zwischenstaatliche Schiedsübereinkommen226. Es stellt in Fällen der Gewinnberichtigung zwischen verbundenen Unternehmen und der Abgrenzung von Betriebsstättengewinnen sicher, dass es zur Durchführung eines Schlichtungsverfahrens kommt. Erheblich ausgeweitet und verfahrensrechtlich flankiert wurde die verbindliche Streitbeilegung zur Auflösung von Doppelbesteuerungskonflikten 2017 durch die Richtlinie EU/2017/1852. Sie sieht grds. einen Anspruch von Unternehmen wie Einzelpersonen auf ein verbindliches Schiedsverfahren bei jeder Art von Divergenzen in der Auslegung von zwischen EU-Mitgliedstaaten geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen oder des Schiedsübereinkommens vor. c) Fiskaltransparenz und Eindämmung von Steuervermeidung: Einer der ersten europäischen 73 Rechtsakte auf dem Gebiet der direkten Steuern war 1977 die sog. Amtshilferichtlinie227. Sie regelt den Informationsaustausch zwischen den Finanzbehörden der Mitgliedstaaten; ihr Anwendungsbereich ist in der Folgezeit sukzessive erweitert worden. Im Windschatten von OECD-Initiativen und z.T. als Reaktion auf diverse Skandale („Lux-Leaks“, „Panama Papers“, etc.) sind diesbezüglich vor allem in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt worden. Im Jahr 2014 einigten sich die Mitgliedstaaten auf den automatischen Informationsaustausch betreffend Finanzkonten; damit wurde auch die sog. Zinsrichtlinie obsolet und aufgehoben. Im Jahr 2015 folgte die Ausdehnung auf verbindliche Auskünfte u.ä. Steuervorbescheide (sog. „rulings“), und 2016 wurde der automatische Informationsaustausch betreffend länderspezifische Berichte zu Aktivitäten multinationaler Unternehmen („CbC-Reporting“) eingeführt. Schließlich folgten 2017 Zugangsmöglichkeiten der Steuerbehörden zu Informationen zur Bekämpfung der Geldwäsche, insbesondere Informationen über die Identität wirtschaftlich Berechtigter. In Deutschland werden die Vorgaben der Amtshilferichtlinie durch die § 117 ff., 138a AO sowie das EU-AHUmsG und das FinanzKInfAustG umgesetzt. Noch in der Beratungsphase befinden sich Kommissionsvorschläge zur öffentlichen Bekanntmachung der vorerwähnten länderspezifischen Berichte228 und zur Einführung von Meldepflichten für Intermediäre wie insbes. Steuerberatern über die beabsichtigte Durchführung modellhafter Steuergestaltungen229; außerdem prüft die Kommis224 Die OECD-hat für das Frühjahr 2018 einen Zwischenbericht und für 2021 einen Abschlussbericht zur Besteuerung digitaler Geschäftsmodelle angekündigt, s. http://www.oecd.org/tax/beps/oecd-invi tes-public-input-on-the-tax-challenges-of-digitalisation.htm. 225 Eingehendere Kritik bei Becker/Englisch, Makronom März 2018. 226 Übereinkommen v. 23.7.1990 über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen (90/436/EWG), ABl. L 225/10; dazu BMF BStBl. I 2006, 461; Vögele/Forster, IStR 2006, 537; Bödefeld/Kuntschik, IStR 2009, 268. 227 Ursprünglich Richtlinie des Rates v. 19.12.1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern (77/799/EWG), ABl. L 336/15 v. 27.12.1977, nunmehr Richtlinie des Rates v. 15.2.2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (2011/16/EU), ABl. L 64/1 v. 11.3.2011. 228 Vorschlag der Kommission v. 12.4.2016 für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Offenlegung von Ertragsteuerinformationen durch bestimmte Unternehmen und Zweigniederlassungen, COM(2016) 198. 229 Vorschlag der Kommission v. 21.6.2017 für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Modelle, COM(2017) 335.
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§ 4 Rz. 79
Europäisches Steuerrecht
sion Maßnahmen zum Schutz sog. „Whistleblower“. Unzureichend sind demgegenüber bislang noch die datenschutzrechtlichen Vorkehrungen und Standards. 74–78
Einstweilen frei.
D. Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten Literatur zu Grundsatzfragen: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000; Lechner/Staringer/Tumpel, Kapitalverkehrsfreiheit und Steuerrecht, 2000; Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002; von Thiel, Free Movement of Persons and Income Tax Law: The European Court in Search of Principles, Amsterdam 2002; Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages auf das Ertragsteuerrecht, 2006; Vanistendael (Hrsg.), EU Freedoms and Taxation, 2006; Kube, EuGH und Steuerrecht, in Reimer u.a. (Hrsg.), Europäisches Gesellschafts- und Steuerrecht, 2007, 225; Kokott/Ost, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, EuZW 2011, 496; M. Lang, 2005 – Eine Wende in der steuerlichen Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten?, in FS Spindler, 2011, 297; Douma, Non-discriminatory Tax Obstacles, EC Tax Review 2012, 67; Smit, EU Freedoms, Non-EU Countries and Company Taxation, Alphen aan den Rijn 2012; Straßburger, Die Dogmatik der EU-Grundfreiheiten, 2012; Schaper, The Structure and Organisation of EU Law in the Field of Direct Taxes, Amsterdam 2013; Hörner, Die negative Integration einzelstaatlicher Steuerrechtsordnungen, 2014; Mitschke, Direktes Europäisches Steuerrecht auf Schlingerkurs, IStR 2014, 37; Ros, EU Citizenship and Taxation, EC Tax Review 2014, 43; Daxkobler, Die grundfreiheitliche Rechtsprechung des EuGH, Wien 2015; Wattel, Non-discrimination à la Cour, ET 2015, 542; Weber, An Analysis of the Past, Current and Future of the Coherence of the Tax System as Justification, EC Tax Review 2015, 43; Schön, Neutrality and Territoriality – Competing or Converging Concepts in European Tax Law?, Bulletin for International Taxation 2015, 217; Schaumburg/Englisch (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht, 2015, Kap. 7; Englisch, DStJG 41 (2018), n.n.v. Literatur zu speziellen Themenbereichen (Auswahl): Schönfeld, Hinzurechnungsbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2005; Weber, Tax Avoidance and the EC Treaty Freedoms, Den Haag 2005; Cordewener u.a. (Hrsg.), Meistbegünstigung im Steuerrecht der EU-Staaten, 2006; Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2007; Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007; Smit/Kiekebeld, EC Free Movement of Capital, Corporate Income Taxation and Third Countries: Four Selected Issues, Alphen aan den Rijn 2008; Fuest/Mitschke (Hrsg.), Nachgelagerte Besteuerung und EU-Recht, 2008; Lissner, Das Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht unter dem Einfluss der europäischen Grundfreiheiten, 2009; Braun, Die Wegzugsfreiheit als Teil der Niederlassungsfreiheit, 2010; Friese, Rechtsformwahlfreiheit im Europäischen Steuerrecht, 2010; Schröder, Meistbegünstigung im Steuerrecht auf Basis der Grundfreiheiten, 2011; Weber/da Silva (Hrsg.), From Marks & Spencer to X Holding, Alphen aan den Rijn 2011; Lohmann, Die Europarechtskonformität der Hinzurechnungsbesteuerung in der Fassung des JStG 2008, 2012; Glahe, Einkünftekorrektur zwischen verbundenen Unternehmen, 2012; Simader, Withholding Taxes and the Fundamental Freedoms, Alphen aan den Rijn 2013; Neyt/Peeters, Balanced Allocation and Coherence: Some Thoughts in Light of Argenta and K, EC Tax Review 2014, 64; Traversa, Tax Incentives and Territoriality within the European Union: Balancing the Internal Market with the Tax Sovereignty of Member States, World Tax Journal 2014, 315; Wrede, Europarecht und Erbschaftsteuer, 2014; Brinkmann, Unionsrechtliche Würdigung des deutschen Erbschaftsteuerrechts, 2016. 79
Der EuGH zieht seit 1986 die Grundfreiheiten heran, um diskriminierende bzw. beschränkende Bestimmungen der mitgliedstaatlichen Steuersysteme für unanwendbar zu erklären230. Die Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit den Grundfreiheiten erfolgt im Wege einer dreistufigen Prüfung: Auf der ersten Stufe ist über die Anwendbarkeit einer oder mehrerer Grundfreiheit(en) i.S.d. Art. 26 AEUV auf den in Rede stehenden Sachverhalt (bei Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV) bzw. auf die maßgebliche Norm (v.a. bei Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV) zu entscheiden. Dabei ist nach sachlichem, persönlichem, räumlichem und zeitlichem Anwendungsbereich zu differenzieren; außerdem sind ggf. Grundfreiheitskonkurrenzen zu klären. In einem zweiten Schritt 230 S. dazu auch die eingehende empirische Analyse der maßgeblichen Präjudizien durch Schaper, Bulletin for International Taxation 2014, 236. Krit. Elwes, Intertax 2013, 15.
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D. Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten
Rz. 80 § 4
ist ein möglicher Verstoß gegen die je einschlägige Grundfreiheitsgewährleistung zu prüfen. Im Regelfall (zu Ausnahmen Rz. 88 und 91) erfolgt diese Analyse in zwei Teilschritten: Erstens muss das Steuerrecht des Mitgliedstaates eine materiell-rechtliche oder verfahrensrechtliche Schlechterstellung von grenzüberschreitenden Vorgängen gegenüber bestimmten rein innerstaatlichen Vorgängen bewirken. Zweitens müssen beide Vorgänge miteinander vergleichbar sein. Ist ein Verstoß zu bejahen, so wird schließlich auf einer dritten Stufe untersucht, ob eine hinreichende Rechtfertigung für die entsprechende Grundfreiheitsbeschränkung vorliegt. Dazu bedarf es der Geltendmachung eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes durch den betroffenen Mitgliedstaat; außerdem muss der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt werden. In diesem Zusammenhang verlangt der Gerichtshof schließlich auch die folgerichtige Umsetzung des geltend gemachten Rechtfertigungsgrundes. 1. Anwendungsbereich Die Grundfreiheiten sind zunächst nur anwendbar auf besteuerungsrelevante Sachverhalte mit einem 80 grenzüberschreitenden Bezug; rein innerstaatliche Vorgänge genießen keinen Grundfreiheitsschutz231. Die sodann erforderliche Zuordnung zum sachlichen Anwendungsbereich einer der Grundfreiheiten spielt vor allem wegen der daran geknüpften Voraussetzungen an die persönliche, räumliche und zeitliche Anwendbarkeit eine Rolle. Dabei ist die Besteuerung von Arbeitnehmern typischerweise an der Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 45 AEUV zu messen232, wohingegen für die Besteuerung von selbständiger bzw. unternehmerischer Erwerbstätigkeit ohne auf Dauer angelegte Präsenz im Bestimmungsland regelmäßig die Dienstleistungsfreiheit des Art. 56 AEUV einschlägig ist233. Die Kapitalverkehrsfreiheit des Art. 63 AEUV wiederum ist von zentraler Bedeutung im Bereich der Besteuerung von Finanzanlagen234 und sonstiger Investitionen ohne Niederlassungscharakter235 sowie hinsichtlich grenzüberschreitender Erbschaften236, Schenkungen und Spenden237. Das weite Feld der Besteuerung von Betrieben und Betriebsstätten (Unternehmensbesteuerung i.e.S.) unterfällt vornehmlich der Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV238; dasselbe gilt für die Besteuerung von Einkünften aus unternehmerischen Beteiligungen oder aus Vorgängen zwischen verbundenen Unternehmen239. Eine solche 231 Ausf. EuGH v. 15.11.2016 – C-268/15, ECLI:EU:C:2016:874 Rz. 47 ff. – Ullens de Schooten. S. ferner Callies/Ruffert/Brechmann5, Art. 45 AEUV Rz. 41; Terra/Wattel, European Tax Law6, 32; Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht2, 2016, 58. 232 Vgl. bspw. EuGH v. 14.2.1995 – C-279/93, ECLI:EU:C:1995:31 Rz. 22 f. – Schumacker. Dies gilt unbeschadet des 45 IV AEUV auch für im öffentlichen Dienst Beschäftigte, s. EuGH v. 22.6.2017 – C-20/16, ECLI:EU:C:2017:488 Rz. 28 ff. – Bechtel und Bechtel. 233 Vgl. bspw. EuGH v. 26.10.1999 – C-294/97, ECLI:EU:C:1999:524 Rz. 33 ff. – Eurowings; v. 12.6.2003 – C-234/01, ECLI:EU:C:2003:340 Rz. 23 f. – Gerritse; v. 3.10.2006 – C-290/04, ECLI:EU:C:2006:630 Rz. 31 ff. – Scorpio; v. 6.10.2009 – C-153/08, ECLI:EU:C:2009:618 Rz. 29 – Kommission/Spanien. 234 Vgl. bspw. EuGH v. 6.6.2000 – C-35/98, ECLI:EU:C:2000:294 Rz. 25 ff. – Verkooijen; v. 15.7.2004 – C-315/02, ECLI:EU:C:2004:446 Rz. 17 ff. – Lenz; v. 6.3.2007 – C-292/04, ECLI:EU:C:2007:132 Rz. 20 ff. – Meilicke I. 235 Vgl. bspw. EuGH v. 14.9.2006 – C-386/04, ECLI:EU:C:2006:568 Rz. 16 ff. – Stauffer; v. 11.10.2007 – C-451/05, ECLI:EU:C:2007:594 Rz. 57 ff. – ELISA. 236 S. bspw. EuGH v. 23.2.2006 – C-513/03, ECLI:EU:C:2006:131 Rz. 36 ff. – van Hilten-van der Heijden; v. 17.1.2008 – C-256/06, ECLI:EU:C:2008:20 Rz. 28 ff. – Jäger; v. 22.4.2010 – C-510/08, ECLI:EU:C:2010:216 Rz. 18 ff. – Mattner. 237 S. EuGH v. 27.1.2009 – C-318/07, ECLI:EU:C:2009:33 Rz. 23 ff. – Persche. 238 S. bspw. EuGH v. 28.1.1986 – 270/83, ECLI:EU:C:1986:37 – „avoir fiscal“; v. 29.4.1999 – C-311/97, ECLI:EU:C:1999:216 – Royal Bank of Scotland; v. 13.4.2000 – C-251/98, ECLI:EU:C:2000:205 – Baars; v. 12.12.2002 – C-324/00, ECLI:EU:C:2002:749 – Lankhorst-Hohorst; v. 12.6.2003 – C-234/01, ECLI:EU:C:2003:340 – Gerritse; v. 13.7.1993 – C-330/91, ECLI:EU:C:1993:303 – Commerzbank; v. 11.8.1995 – C-80/94, ECLI:EU:C:1995:271 – Wielockx. 239 S. bspw. EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04, ECLI:EU:C:2006:544 Rz. 32 f. – Cadbury Schweppes; v. 13.3.2007 – C-524/04, ECLI:EU:C:2007:161 Rz. 33 f. – Thin Cap Group Litigation.
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§ 4 Rz. 81
Europäisches Steuerrecht
unternehmerische Beteiligung ist immer dann anzunehmen, wenn die jeweils in Rede stehende Beteiligung ihrem Inhaber eine maßgebliche Einflussnahme auf die Geschäftsführung einer anderen Gesellschaft sichert und es ihm ermöglicht, deren Tätigkeiten zu bestimmen240. Daneben wird in solchen Konstellationen meist auch der sachliche Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit tangiert sein. Ist keine Grundfreiheit sachlich einschlägig, ist subsidiär noch zu prüfen, ob das Freizügigkeitsrecht des Art. 21 AEUVoder das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV als verletzt in Betracht kommen. Wenig überzeugend prüft der EuGH den sachlichen Anwendungsbereich der Grundfreiheiten oft ausgehend von dem Sachverhalt bzw. Tatbestand, an den die ungleiche Besteuerungsfolge anknüpft, statt danach zu fragen, bei der Ausübung welchen Freizügigkeitsrechts der Steuerpflichtigen konkret oder zumindest potenziell behindert worden ist241. Vereinfacht ausgedrückt urteilt er meist – aber nicht durchgängig242 – anhand der tatbestandsrelevanten Situation und nicht im Hinblick auf die Motivation des Stpfl. Vereinzelt hat der EuGH auch fallgruppenspezifische Sonderdogmatiken entwickelt243. Mit Ausnahme der Kapitalverkehrsfreiheit weisen alle vorerwähnten Freizügigkeitsrechte auch einen persönlichen Anwendungsbereich auf. Dieser kann je nach Grundfreiheit und konkretem Gewährleistungsgehalt an die Ansässigkeit innerhalb der EU oder an die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates anknüpfen; s. dazu i.E. Art. 21; 45 II; 49; 54; 56 AEUV. Davon zu unterscheiden ist die Frage, wer die Beschränkung einer Grundfreiheit geltend machen kann. Dies wird vom EuGH weitergehend jedem Stpfl. zugestanden, dem aufgrund eines Zusammenhangs mit einem grundfreiheitlich geschützten Vorgang eine steuerliche Mehrbelastung auferlegt wird, auch wenn er das Freizügigkeitsrecht nicht selbst ausgeübt hat244. 81
Der territoriale Anwendungsbereich der Grundfreiheiten reicht über das Gebiet der EU-Mitgliedstaaten245 hinaus. Das EWR-Abkommen enthält ebenfalls alle vier maßgeblichen Grundfreiheiten; diese sind nach der st. Rspr. des EuGH sowie des EFTA-Gerichtshofs in Übereinstimmung mit ihrem jeweiligen Pendant im AEUV auszulegen246. Die Niederlassungsfreiheit sowie die Freizügigkeit von Arbeitnehmern sind ferner auch im Wirtschaftsverkehr zwischen einem Mitgliedstaat der EU und der Schweiz kraft des bilateralen Freizügigkeitsabkommens (Rz. 4) gewährleistet247. Unmittelbar an-
240 S. bspw. EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04, ECLI:EU:C:2006:544 Rz. 32 f. – Cadbury Schweppes; v. 13.3.2007 – C-524/04, ECLI:EU:C:2007:161 Rz. 33 f. – Thin Cap Group Litigation; BFH v. 29.8.2012 – I R 7/12, BStBl. II 2013, 89, Rz. 13. S. auch BFH v. 6.3.2013 – I R 10/11, BStBl. II 2013, 708, Rz. 18 (jedenfalls typischerweise bei Beteiligungen ab 10 %); s. aber auch EuGH v. 11.9.2014 – C-47/12, ECLI:EU:C:2014:2200 Rz. 35 – Kronos International; v. 7.9.2017 – C-6/16, ECLI:EU:C:2017:641, Rz. 42 f. – Eqioum und Enka; v. 20.12.2017 – C-504/16 u.a., ECLI:EU:C:2017:1009, Rz. 79 f. – Deister Holding u.a.: Beteiligung von 10 %, 15 % und selbst von 20 % nicht schon per se ausreichend; FG Münster v. 20.9.2016 – 9 K 3911/13 F, EFG 2017, 323, Rz. 69 (regelmäßig erst ab 25 %). 241 Exemplarisch EuGH v. 7.9.2006 – C-470/04, ECLI:EU:C:2006:525 Rz. 21 ff. – „N“; v. 28.2.2013 – C-544/11, ECLI:EU:C:2013:124 Rz. 28 – Petersen und Petersen. 242 Anders etwa in EuGH v. 24.2.2015 – C-559/13, ECLI:EU:C:2015:109 Rz. 20 – Grünewald; v. 21.12.2016 – C-503/14, ECLI:EU:C:2016:979 Rz. 34 ff. – Kommission/Portugal. 243 S. bspw. EuGH v. 26.5.2016 – C-300/15, ECLI:EU:C:2016:361 Rz. 25 ff. – Kohll und Kohll-Schlesser, m.w.N. (zu Rentenbezügen). 244 S. EuGH v. 6.9.2012 – C-18/11, ECLI:EU:C:2012:532 Rz. 38 f. – Philips Electronics UK; v. 1.4.2014 – C-80/12 u.a., ECLI:EU:C:2014:200 Rz. 23 – Felixstowe Dock and Railway Company; vgl. auch EuGH v. 4.2.2016 – C-336/14, ECLI:EU:C:2016:72 Rz. 41 ff. – Ince. Krit. Henze, ISR 2014, 384 (385). 245 Zu Besonderheiten im Verhältnis zu assoziierten oder abhängigen Überseegebieten der Mitgliedstaaten s. Smit, Intertax 2011, 40; Linn/Müller, IWB 2011, 448 (450 ff.). 246 Vgl. EuGH v. 11.6.2009 – C-521/07, ECLI:EU:C:2009:360 Rz. 33 – Kommission/Niederlande; v. 19.11.2009 – C-540/07, ECLI:EU:C:2009:717 Rz. 65 f. – Kommission/Italien, m.w.N.; EFTA-Gerichtshof v. 4.4.2013 – E-1/04, Fokus Bank, EFTA Court Report 2004, 11, Rz. 22 f. 247 Dazu eingehend Maier, Die steuerlichen Implikationen der Mobilitätsgarantien des Freizügigkeitsabkommens Schweiz-EU, 2013. Hingegen gilt mit Blick auf die Dienstleistungsfreiheit kein steuer-
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D. Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten
Rz. 82 § 4
wendbare Freizügigkeitsrechte sind ferner auch in einigen Assoziierungsabkommen mit Drittstaaten enthalten248. Von besonderer Bedeutung ist schließlich die Einbeziehung jeglicher grenzüberschreitender Vorgänge zwischen einem EU/EWR-Mitgliedstaat einerseits und einem beliebigen Drittstaat andererseits in das Verbot der steuerlichen Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs nach Art. 63 AEUV249. Allerdings sind diesbezüglich gewisse Bereichsausnahmen in der sog. „Grandfathering-Klausel“ des Art. 64 I AEUV vorgesehen250; außerdem bestehen hier evtl. erweiterte Rechtfertigungsmöglichkeiten für steuerliche Diskriminierungen251. Ist ein Freizügigkeitsrecht gegenüber dem anderen im konkreten Anwendungsfall nachrangig, weil letzteres 82 schwerpunktmäßig betroffen ist, so entfaltet es keine Schutzwirkung. Von Bedeutung ist die Klärung von Grundfreiheitskonkurrenzen vor allem bei der Kontrolle unternehmenssteuerrechtlicher Sachverhalte mit Drittstaatsbezug anhand der Niederlassungs- und der Kapitalverkehrsfreiheit wegen deren je unterschiedlicher territorialer Reichweite252. Dabei hat sich der Gerichtshof schon früh gegen die Ansicht253 gewandt, dass Kapitalverkehrsfreiheit und Niederlassungsfreiheit in solchen Konstellationen stets parallel anwendbar sind, also im Verhältnis der Idealkonkurrenz zueinander stehen254. Längere Zeit war aber unklar, ob eine etwaige Subsidiarität der Kapitalverkehrsfreiheit schon bei sachlicher Einschlägigkeit der Niederlassungsfreiheit im jeweiligen Einzelfall eintreten soll oder aber nur, wenn die beschränkungsverdächtige Norm schon tatbestandlich stets auch die Niederlassungsfreiheit berührt: Zahlreiche Entscheidungen verfolgten zunächst den erstgenannten Ansatz255; es gab aber auch abweichende Urteile256. Mit der Entscheidung der Großen Kammer des EuGH in der Rs. FII Group Litigation II hat der Gerichtshof nunmehr endgültig dem zweiten Ansatz den Vorzug gegeben257: Erfasst eine den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr benachteiligende steuerliche Regelung schon abstrakt nicht ausschließlich solche Beteiligungen bzw. Vorgänge, die der Niederlassungsfreiheit unterfallen258, so kommt es auf die tatsächlichen Verhältnisse im konkreten Ein-
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liches Diskriminierungsverbot, vgl. EuGH v. 15.7.2010 – C-70/09, ECLI:EU:C:2010:430 Rz. 35 ff. – Hengartner. S. etwa EuGH v. 24.11.2016 – C-464/14, ECLI:EU:C:2016:896 Rz. 93 ff. – SECIL. S. bspw. EuGH v. 18.12.2007 – C-101/05, ECLI:EU:C:2007:804 Rz. 31 ff. – „A“; v. 20.5.2008 – C-194/06, ECLI:EU:C:2008:289 Rz. 87 ff. – Orange European Smallcup Fund. Entgegen Schön, FS Wassermeyer, 2005, 489 (502 ff.) besteht im Drittstaatenkontext keine steuerliche Bereichsausnahme. S. auch Pistone, Intertax 2006, 234; Schönfeld, DB 2007, 80; Cordewener/Kofler/Schindler, ET 2007, 107; M. Lang, StuW 2011, 209. S. bspw. EuGH v. 24.5.2007 – C-157/05, ECLI:EU:C:2007:297 Rz. 31 ff. – Holböck; v. 18.12.2007 – C-101/05, ECLI:EU:C:2007:804 Rz. 45 ff. – „A“. S. EuGH v. 18.12.2007 – C-101/05, ECLI:EU:C:2007:804 Rz. 60 ff. – „A“; v. 19.11.2009 – C-540/07, ECLI:EU:C:2009:717 Rz. 69 ff. – Kommission/Italien; v. 5.5.2011 – C-267/09, ECLI:EU:C:2011:273 Rz. 54 ff. – Kommission/Portugal; s. auch M. Lang, StuW 2011, 209 (218 ff.). Zur gelegentlich ebenfalls unter diesem Aspekt erforderlichen Abgrenzung der Dienstleistungsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit s. EuGH v. 21.5.2015 – C-560/13, ECLI:EU:C:2015:347 Rz. 29 ff. – Wagner-Raith, m.w.N. S. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, 219 ff.; Rust, DStR 2009, 2568 (2569 ff.); Cordewener, EC Tax Review 2009, 260 (262 f.). S. bspw. EuGH v. 10.5.2007 – C-102/05, ECLI:EU:C:2007:275 Rz. 25 ff. – „A und B“; v. 26.6.2008 – C-284/06, ECLI:EU:C:2008:365 Rz. 68 ff. – Burda; v. 4.6.2009 – C-439/07 und C-499/07, ECLI:EU:C:2009:339 Rz. 68 ff. – KBC Bank. Vgl. EuGH v. 12.12.2006 – C-446/04, ECLI:EU:C:2006:774 Rz. 37 ff. und 80 ff. – FII Group Litigation; EuGH v. 26.6.2008 – C-284/06, ECLI:EU:C:2008:365 Rz. 71 ff. – Burda; EuGH v. 4.9.2009 – C-439/07, ECLI:EU:C:2009:339 Rz. 69 ff. – KBC Bank. Vgl. EuGH v. 17.9.2009 – C-182/08, ECLI:EU:C:2009:559 Rz. 49 – Glaxo Wellcome; v. 24.5.2007 – C-157/05, ECLI:EU:C:2007:297 Rz. 22 (vgl. jedoch auch Rz. 31) – Holböck. Vgl. EuGH v. 13.11.2012 – C-35/11, ECLI:EU:C:2012:707 Rz. 90 ff., insb. Rz. 99 – FII GL II; bestätigt durch EuGH v. 3.10.2013 – C-282/12, ECLI:EU:C:2013:629 Rz. 16 ff. – Itelcar; v. 24.11.2016 – C-464/14, ECLI:EU:C:2016:896 Rz. 31 ff. – SECIL. S. auch die Analyse von Gosch/Schönfeld, IStR 2015, 755; Schön, Eur Bus Org Law Rev 2016, 229; sowie BFH v. 12.10.2016 – I R 80/14, BStBl. II 2017, 615, Rz. 38 ff. S. dazu auch EuGH v. 3.10.2013 – C-282/12, ECLI:EU:C:2013:629 Rz. 20 ff. – Itelcar.
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§ 4 Rz. 83
Europäisches Steuerrecht
zelfall nicht mehr an: Es ist stets – jedenfalls auch – die Kapitalverkehrsfreiheit anwendbar und damit eine Grundfreiheitsprüfung auch im Verhältnis zu Drittstaaten durchzuführen. In Deutschland ist dies bspw. wegen § 1 II Nr. 3 AStG für die Verrechnungspreiskorrekur nach § 1 AStG zu bejahen. Nur wenn eine beschränkungsverdächtige Norm allein auf Konstellationen unternehmerischer Beteiligungen bzw. Vorgänge anwendbar ist (z.B. Organschaftsregeln), bleibt es bei der Versagung des Grundfreiheitsschutzes im Drittstaatenkontext. Schließlich ist auf den Anwendungsvorrang des Art. 7 RL 1612/68 im Verhältnis zu Art. 45 AEUV bei diskriminierender Versagung von Steuerentlastungen im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit hinzuweisen.
2. Gewährleistungsgehalt 83
Für den Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheiten ist die Abgrenzung zwischen den einzelnen Grundfreiheiten zumindest bei der Prüfung steuerrechtlicher Normen regelmäßig ohne Relevanz. Denn in der Rspr.-Entwicklung ist eine Konvergenz der jeweiligen Prüfungsstandards zu beobachten: Nahezu immer interpretiert der EuGH die Grundfreiheiten gleichheitsrechtlich, geht dabei aber weit über ihren (im Wortlaut z.T. noch anklingenden) ursprünglichen Kerngehalt eines Verbotes der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit hinaus: a) I.Erg. nimmt der Gerichtshof auf dem Gebiet des Steuerrechts regelmäßig einen Vergleich der steuerlichen (oder steuerverfahrensrechtlichen259) Belastung rein innerstaatlicher Vorgänge einerseits und vergleichbarer grenzüberschreitender Vorgänge andererseits vor260. Dabei schützen die Grundfreiheiten asymmetrisch nur vor einer steuerlichen Benachteiligung grenzüberschreitender Aktivitäten261. Im Recht der direkten Steuern entspricht dies typischerweise dem Verbot einer steuerlichen Benachteiligung erstens von beschränkt Stpfl. gegenüber unbeschränkt Stpfl. sowie zweitens von Auslandseinkünften unbeschränkt Stpfl. im Verhältnis zu entsprechenden Inlandseinkünften. Dasselbe gilt für an einen grenzüberschreitenden Vorgang als solchen anknüpfende Besteuerungsnachteile wie insb. eine Wegzugs- oder Entstrickungsbesteuerung. Der EuGH effektuiert die Grundfreiheiten ganz i.S. eines Raumes ohne Binnengrenzen (Art. 26 II AEUV): Im Prinzip darf eine Transaktion zwischen Köln und Paris nicht anders behandelt werden als eine Transaktion zwischen Köln und München. Beispiel: Das Recht zur freien Niederlassung in anderen Mitgliedstaaten erfordert grds., dass EU- bzw. EWR-ausländischen Betriebsstätten zuzurechnende Verluste in die steuerliche Bemessungsgrundlage des unbeschränkt Stpfl. zu den gleichen Bedingungen wie die Verluste inländischer Niederlassungen einbezogen werden262. Ebenfalls unter dem Banner eines Verbotes der Diskriminierung grenzüberschreitender Aktivitäten muss beschränkt Stpfl. ein Abzug von Erwerbsaufwendungen im Zusammenhang mit im Inland steuerbaren Einkünften nach denselben Grundsätzen zuerkannt werden, die für unbeschränkt Stpfl. gelten263. Eine Entstrickungsbesteuerung (nur) bei Verbringung von Wirtschaftsgütern in eine ausländische
259 S. dazu bspw. EuGH v. 28.10.1999 – C-55/98, ECLI:EU:C:1999:533 Rz. 21 f. – Verstergaard; v. 7.9.2006 – C-470/04, ECLI:EU:C:2006:525 Rz. 38 – „N“; v. 9.11.2006 – C-433/04, ECLI:EU:C:2006:702 Rz. 30 ff. – Kommission/Belgien; v. 11.6.2009 – C-155/08, ECLI:EU:C:2009:368 Rz. 34 ff. – X & Passenheim van Schoot; instruktiv EuGH v. 19.11.2015 – C-632/13, ECLI:EU:C:2015:765 Rz. 23 ff. – Hirvonen. 260 Vanistendael, ET 2006, 423 (418 ff.); Weber, Intertax 2006, 585 (588, 592 ff.); Kofler/Mason, Columbia Journal of European Law 2007, 63 (79 ff.); Thiel, Tax Law Review 2008, 143 (151 ff.); Wattel, Tax Law Review 2008, 205 (215 ff.); Englisch in Lang (Hrsg.), ECJ – Recent Developments in Direct Taxation, Wien 2008, 113 (134 ff.); M. Lang, EC Tax Review 2009, 98 (99); M. Gammie, WTJ 2010, 162 (171); exemplarisch etwa EuGH v. 25.2.2010 – C-337/08, ECLI:EU:C:2010:89 Rz. 18 ff. – X Holding; EuGH v. 12.6.2014 – C-39/13 u.a., ECLI:EU:C:2014:1758 Rz. 48 – SCA Group Holding. 261 Sehr deutlich bspw. EuGH v. 2.9.2015 – C-386/14, ECLI:EU:C:2015:524 Rz. 15 – Groupe Steria. 262 EuGH v. 15.5.2008 – C-414/06, ECLI:EU:C:2008:278 Rz. 23 ff. – Lidl Belgium; Dörfler/Ribbrock, BB 2008, 649 (653 f.); Eisenbarth, IStR 2010, 309. 263 EuGH v. 12.6.2003 – C-234/01, ECLI:EU:C:2003:340 Rz. 25 ff. – Gerritse; v. 15.2.2007 – C-345/04, ECLI:EU:C:2007:96 Rz. 18 ff. – Centro Equestre; Cordewener, IStR 2003, 109; Schnitger, FR 2003, 745; Sedemund, DStZ 2004, 372.
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D. Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten
Rz. 84 § 4
Betriebsstätte (s. § 4 I 3, 4 EStG) ist grds. unzulässig, soweit sie zu Liquiditätsnachteilen im Vergleich zu einem rein innerstaatlichen Verbringen führt264.
Dabei können die Mitgliedstaaten grds. nicht einwenden, dass bestimmte Nachteile – wie etwa bloße Liquiditätsnachteile265 – eher gering ausfallen, denn die Grundfreiheiten kennen nach st. Rspr. keinen De-minimis-Vorbehalt266. Dies kann allenfalls für die Frage der Verhältnismäßigkeit ihrer Beschränkung eine Rolle spielen. Allerdings hat der EuGH jüngst zu erkennen gegeben, dass er wohl nur bei gravierenden Belastungsunterschieden auch die faktische Benachteiligung grenzüberschreitender Vorgänge als grundfreiheitswidrig beanstandet, wenn eine belastende Steuerregelung zwar tatbestandlich neutral ist, d.h. nicht an Merkmale mit grenzüberschreitendem Bezug (Ansässigkeit etc.) anknüpft, nachteilige Rechtsfolgen aber de facto „meistens“ bei Stpfl. eintreten, die von ihren Freizügigkeitsrechten Gebrauch gemacht haben267. Ähnliches dürfte für einheitlich anwendbare verfahrensrechtliche Erfordernisse geltend, die speziell im grenzüberschreitenden Kontext eine besondere Erschwernis für den Stpfl. bedeuten268. Beim Belastungsvergleich grenzüberschreitender Aktivitäten einerseits und inländischer Aktivitäten 84 andererseits ist auch eine etwaige Einschränkung des Besteuerungsrechts durch Doppelbesteuerungsabkommen (DBA, s. § 1 Rz. 92) zu berücksichtigen, sofern das Abkommen im konkreten Fall anwendbar ist269. Außerdem hat der EuGH wiederholt entschieden, dass der Diskriminierungsvorwurf gegenüber dem Quellenstaat entfällt, wenn mit dem Ansässigkeitsstaat ein vollständiger Nachteilsausgleich durch eine spiegelbildliche Besserstellung im dortigen Steuersystem bilateral vereinbart ist270. Ist der Ausgleich nicht bilateral abgestimmt und sind Mehr- und Minderbelastung daher nicht systematisch verknüpft, wird eine grundfreiheitsrelevante Kompensation vom EuGH aus Gründen der Rechtssicherheit hingegen in der Regel – zutreffend – abgelehnt271. 264 Vgl. EuGH v. 29.11.2011 – C-371/10, ECLI:EU:C:2011:785 – National Grid Indus; sowie bereits im Vorfeld EuGH v. 11.3.2004 – C-9/02, ECLI:EU:C:2004:138 – De Lasteyrie du Saillant; v. 7.9.2006 – C-470/04, ECLI:EU:C:2006:525 Rz. 38 – „N“. S. dazu auch Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht2, 2016, 195 ff.; Körner, IStR 2012, 1. 265 Vgl. z.B. EuGH C-35/08, ECLI:EU:C:2009:625 Rz. 26 – Busley/Cibrian; v. 11.9.2014 – C-47/12, ECLI:EU:C:2014:2200 Rz. 79 f. – Kronos International; v. 21.12.2016 – C-503/14, ECLI:EU:C:2016:979 Rz. 45 – Kommission/Portugal. 266 So bereits EuGH v. 4.4.1974 – 167/73, ECLI:EU:C:1974:35 Rz. 45–47 – Kommission/Frankreich; s. aus jüngerer Zeit EuGH v. 12.7.2012 – C-269/09, ECLI:EU:C:2012:439 Rz. 55 – Kommission/Spanien; v. 19.6.2014 – C-53/13 u.a., ECLI:EU:C:2014:2011 Rz. 42 m.w.N. – Strojírny Prosteˇjov & ACO Industries Tábor. 267 S. EuGH v. 5.4.2014 – C-385/12, ECLI:EU:C:2014:47 Rz. 39-41 – Hervis Sport; bestätigt durch EuGH v. 11.6.2015 – C-98/14, ECLI:EU:C:2015:386 Rz. 38 – Berlington Hungary. 268 S. EuGH v. 30.6.2011 – C-262/09, ECLI:EU:C:2011:438 Rz. 40 – Meilicke II; GA Wathelet, Schlussanträge v. 21.11.2013 – C-326/12, ECLI:EU:C:2013:757 Rz. 41 ff. – van Caster. S. dazu auch Zalasin´ski, ET 2017, 533. 269 S. bspw. EuGH v. 19.1.2006 – C-265/04, ECLI:EU:C:2006:51 Rz. 51 ff. – Bouanich; v. 12.12.2006 – C-374/04, ECLI:EU:C:2006:773 Rz. 71 – ACT Group Litigation; v. 11.6.2009 – C-521/07, ECLI:EU:C:2009:360 Rz. 36 ff. – Kommission/Niederlande. 270 S. EuGH v. 8.11.2007 – C-379/05, ECLI:EU:C:2007:655 Rz. 79 und 84 – Amurta; v. 11.9.2008 – C-11/07, ECLI:EU:C:2008:489 Rz. 68 f. – Eckelkamp; v. 3.6.2010 – C-487/08, ECLI:EU:C:2010:310 Rz. 59 ff. – Kommission/Spanien; v. 17.9.2015 – C-10/14 u.a., ECLI:EU:C:2015:608 Rz. 77 ff. – Miljoen u.a. Zu berücksichtigen ist außerdem auch ein richtlinienrechtlich koordinierter Nachteilsausgleich, s. EuGH v. 26.6.2008 – C-284/06, ECLI:EU:C:2008:365 Rz. 89 ff. – Burda. S. auch den Überblick bei Fortuin in Richelle u.a. (Hrsg.), Allocation Taxing Powers within the European Union, 2013, 213 ff. 271 EuGH v. 8.11.2007 – C-379/05, ECLI:EU:C:2007:655 Rz. 46 – Amurta; v. 18.6.2009 – C-303/07, ECLI:EU:C:2009:377 Rz. 72 – Aberdeen Property Fininvest Alpha; v. 1.12.2011 – C-250/08, ECLI:EU:C:2011:793 Rz. 71 – Kommission/Belgien; anders z.B. noch EuGH v. 7.9.2006 – C-470/04, ECLI:EU:C:2006:525 Rz. 54 – „N“; v. 14.12.2006 – C-170/05, ECLI:EU:C:2006:783 Rz. 46 – Denkavit Internationaal. Anders aber im Bereich persönlicher Abzüge, vgl. EuGH v. 12.12.2002 – C-385/00,
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§ 4 Rz. 85
Europäisches Steuerrecht
85 Ungeachtet der im Kern stets gleichheitsrechtlichen Entfaltung der Grundfreiheiten bei der Kontrolle mitgliedstaatlichen Steuerrechts differenziert der Gerichtshof historisch bedingt terminologisch gleichwohl z.T. noch zwischen einer – ggf. indirekten – „Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit“ im Quellenstaat272 und einer „Beschränkung“ der Grundfreiheit durch den Ansässigkeitsstaat273. Relevant wird diese überkommene Sichtweise aber allenfalls im Kontext von Vergleichbarkeits- und Rechtfertigungsprüfung (Rz. 86 ff. und 93 ff.). Hingegen darf hieraus nicht der Schluss gezogen werden, der EuGH habe die Grundfreiheiten auch im Bereich des Steuerrechts zu Freiheitsrechten weiterentwickelt274. Belastende steuerliche Konsequenzen einer bestimmten Aktivität sind als solche grds. nicht dazu angetan, einen möglichen Verstoß gegen Grundfreiheiten zu belegen. Es besteht insofern ein signifikanter Unterschied zur freiheitsrechtlichen Ausdeutung der Grundfreiheiten in anderen Rechtsbereichen275. Der EuGH hat diesen Ansatz auf steuerliche Maßnahmen bislang nur ganz vereinzelt übertragen276. 86 b) Eine steuerliche Schlechterstellung grenzüberschreitender Vorgänge gegenüber rein innerstaatli-
chen Sachverhalten kann nur dann als grundfreiheitliche Diskriminierung oder Beschränkung qualifiziert werden, wenn die Vergleichbarkeit beider Konstellationen gegeben ist. Dies wird auch vom EuGH grds. in st. Rspr. gefordert277, wenn auch bei Benachteiligungen durch das Herkunftsland nicht immer geprüft (s. Rz. 89). Allerdings geht der EuGH zunehmend dazu über, die Vergleichbarkeit als Teilelement der Rechtfertigungsprüfung zu untersuchen278; diese Fehlentwicklung kann sich u.U. negativ auf die Darlegungslast der Mitgliedstaaten auswirken. Keine klare Linie hat der EuGH außerdem bislang zu der fundamentalen Frage gefunden, nach welchen Kriterien die Vergleichbarkeit zu bestimmen ist279:
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ECLI:EU:C:2002:750 Rz. 100 – de Groot; v. 22.6.2017 – C-20/16, ECLI:EU:C:2017:488 Rz. 71 ff. – Bechtel und Bechtel, m.w.N.; s. ferner de Groot, Intertax 2014, 721 (725 ff.). S. bspw. EuGH v. 14.2.1995 – C-279/93, ECLI:EU:C:1995:31 Rz. 26 ff. – Schumacker; v. 17.9.2015 – C-10/14 u.a., ECLI:EU:C:2015:608 Rz. 57 – Miljoen u.a. Der EuGH unterstellt dabei, dass beschränkt Stpfl. in der Mehrheit der Fälle ausländische Staatsangehörige bzw. Gesellschaften mit Sitz im Ausland sind. Exemplarisch sind EuGH v. 18.9.2003 – C-168/01, ECLI:EU:C:2003:479 Rz. 27 – Bosal; v. 19.1.2006 – C-265/04, ECLI:EU:C:2006:51 Rz. 30 ff. – Bouanich. S. dazu auch EuGH v. 13.7.2006 – C-438/04, ECLI:EU:C:2006:463 Rz. 31 ff. – Mobistar; v. 25.10.2007 – C-240/06, ECLI:EU:C:2007:636 Rz. 27 – Fortum Project Finance; GA Kokott, Schlussanträge v. 2.6.2016 – C-122/15, ECLI:EU:C:2016:65 Rz. 66 – „C“. Wie hier Cordewener in Vanistendael (Hrsg.), EU Freedoms and Taxation, 2006, 1 (26 ff.); M. Lang, IStR 2010, 570 (572); N. Bammens, The Principle of Non-Discrimination in International and European Tax Law, 2012, 542 ff.; Henze, FS Gosch, 2016, 137 (139 und 148); Bizioli, EC Tax Review 2017, 167 (168 f.). Plastisch umschrieben wird dies von GA Bobek, Schlussanträge v. 14.12.2017 – C-382/16, ECLI:EU:C:2017:974 Rz. 39 f. – HornbachBaumarkt. Verkannt z.B. in BFH v. 10.5.2017 – II R 53/14, BFHE 258, 74, Rz. 25 f. S. bspw. EuGH v. 15.12.1995 – C-415/93, ECLI:EU:C:1995:463 Rz. 98 ff. – Bosman; v. 28.9.2006 – C-282/04 und C-283/04, ECLI:EU:C:2006:608 Rz. 18 ff. – „golden shares“; v. 21.12.2016 – C-201/15, ECLI:EU:C:2016:972 Rz. 45 ff. – AGET Iraklis. Der einzige bislang klar nach freiheitsrechtlichen Maßstäben entschiedene Fall ist EuGH v. 9.11.2006 – C-433/04, ECLI:EU:C:2006:702 Rz. 31 – Kommission/Belgien. A.A. und weitergehend Douma, EC Tax Review 2012, 67 (78 ff.), der auch nichtsteuerliche Abgaben in die Analyse der Rspr. mit einbezieht. S. bspw. EuGH v. 14.2.1995 – C-279/93, ECLI:EU:C:1995:31 Rz. 30 – Schumacker; v. 6.6.2000 – C-35/98, ECLI:EU:C:2000:294 Rz. 43 – Verkooijen; v. 7.9.2004 – C-319/02, ECLI:EU:C:2004:484 Rz. 29 – Manninen; v. 16.6.2011 – C-10/10, ECLI:EU:C:2011:399 Rz. 29 – Kommission/Österreich. Ihren Ausgangspunkt hat diese Entwicklung in der Kapitalverkehrsfreiheit genommen; s. dazu und zu den Gründen Kokott/Ost, EuZW 2011, 496 (499 f.). In jüngerer Zeit ist sie auf andere Freizügigkeitsrechte ausgedehnt worden, s. bspw. EuGH v. 17.7.2014 – C-48/13, ECLI:EU:C:2014:2087 Rz. 23 – Nordea Bank (Niederlassungsfreiheit); v. 22.6.2017 – C-20/16, ECLI:EU:C:2017:488 Rz. 52 – Bechtel und Bechtel (Arbeitnehmerfreizügigkeit). Zu Recht krit. GA Kokott, Schlussanträge v. 19.7.2012 – C-123/11, ECLI:EU:C:2012:488 Rz. 40 – „A“; v. 13.3.2014 – C-48/13, ECLI:EU:C:2014:153 Rz. 21 ff. – Nordea Bank; M. Lang, EC Tax Review 2009, 98 (99 ff.). Dieses rechtsdogmatische Defizit dürfte auch dadurch befördert werden, dass der EuGH
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D. Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten
Rz. 87 § 4
Geht es um die einkommensteuerliche Behandlung von beschränkt steuerpflichtigen natürlichen 87 Personen, ist Ausgangspunkt der Überlegungen des EuGH regelmäßig die sog. Schumacker-Doktrin. In der gleichnamigen Entscheidung aus dem Jahr 1995 hat der Gerichtshof apodiktisch festgestellt, dass sich im Bereich der direkten Steuern „Gebietsansässige und Gebietsfremde in der Regel nicht in einer vergleichbaren Situation“ befinden280. Tatsächlich ist der Anwendungsbereich dieses gemessen an der Binnenmarktfinalität der Grundfreiheiten fragwürdigen Grundsatzes281 aber schmal, weil er vom EuGH in der Folgezeit vielfach eingeschränkt worden ist. So soll seit jeher etwas anderes für Quasi-Ansässige (sog. „virtual resident“) gelten, die ihre Einkünfte ganz überwiegend im Quellenstaat beziehen282. Darüber hinaus soll die Schumacker-Doktrin grds. nur bei Steuerrechtsnormen einschlägig sein, die das subjektive Nettoprinzip (§ 8 Rz. 70 ff.) verwirklichen oder sonst an die Gesamtleistungsfähigkeit oder an die Person des Stpfl. anknüpfen283. Für die Besteuerung von Gesellschaften und im Rahmen des objektiven Nettoprinzips gilt sie daher grds. nicht284. Generell nicht aufgegriffen wurde sie vom EuGH zudem – inkonsequent – bei der Würdigung erbschaftsteuerlicher Vorschriften285, wohl aber bei der (in Deutschland nicht erhobenen) Vermögensteuer286. Ist die Schumacker-Doktrin nicht einschlägig, analysiert der EuGH gelegentlich Parallelen und Unterschiede der jeweils für beschränkt und unbeschränkt Stpfl. geltenden Teilsteuersysteme und prüft, ob diese abgesehen von der in Rede stehenden Ungleichbehandlung im Wesentlichen ähnlich strukturiert sind287. Dies ist jedoch insofern abzulehnen, als danach gerade eine besonders weitreichende
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bei der grundfreiheitlichen Kontrolle anderer als steuerlicher Vorschriften ganz überwiegend auf jegliche Vergleichbarkeitsprüfung verzichtet, selbst wenn die betreffend Grundfreiheit als Diskriminierungsverbot entfaltet wird; s. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff, AEUV Art. 45 Rz. 256. EuGH v. 14.2.1995 – C-279/93, ECLI:EU:C:1995:31 Rz. 31 – Schumacker. Zur Kritik s. insb. Avery-Jones, ET 2000, 375; Wattel, ET 2000, 210; M. Lang, EC Tax Review 2009, 98 (100 ff.); Schön, Bulletin Int. Taxation 2015, 271 (283 f.). Grundlegend EuGH v. 14.2.1995 – C-279/93, ECLI:EU:C:1995:31 Rz. 36 f. – Schumacker; vgl. auch EuGH v. 14.9.1999 – C-391/97, ECLI:EU:C:1999:409 Rz. 26 ff. – Gschwind; v. 16.5.2000 – C-87/99, ECLI:EU:C:2000:251 Rz. 23 – Zurstrassen; v. 1.7.2004 – C-169/03, ECLI:EU:C:2004:403 Rz. 16 ff. – Wallentin; v. 10.5.2012 – C-39/10, ECLI:EU:C:2012:282 Rz. 49 ff. – Kommission/Estland. Jüngst hat sich der EuGH außerdem für eine anteilige Vergleichbarkeit ausgesprochen, wenn der Steuerpflichtige nur einen Teil seiner Einkünfte im Quellenstaat erzielt, aber auch den übrigen Teil nicht oder kaum im Ansässigkeitsstaat, so dass dieser ihm keine persönlichen Abzüge gewähren kann, s. EuGH v. 9.2.2017 – C-283/15, ECLI:EU:C:2017:102 Rz. 42 ff. – „X“; Niesten, EC Tax Review 2017, 201. Deutlich EuGH v. 18.6.2015 – C-9/14, ECLI:EU:C:2015:406 Rz. 22 ff. – Kieback. S. auch Vanistendael, EC Tax Review 2014, 121 (122 ff.). Der Gerichtshof ist hier aber nicht durchgängig konsequent und bemüht die Schumacker-Doktrin gelegentlich ohne nähere Begründung auch dann (ergänzend), wenn kein Bezug zur persönlichen oder familiären Situation des Stpfl. besteht, s. bspw. EuGH v. 12.12.2006 – C-374/04, ECLI:EU:C:2006:773 Rz. 60 – ACT Group Litigation; v. 18.7.2007 – C-182/06, ECLI:EU:C:2007:452 Rz. 28 ff. – Lakebrink; v. 22.12.2008 – C-282/07, ECLI:EU:C:2008:762 Rz. 38 ff. – Truck Center; zu Recht krit. Meussen, ET 2009, 185. S. bspw. EuGH v. 29.4.1999 – C-311/97, ECLI:EU:C:1999:216 Rz. 27 ff. – Royal Bank of Scotland; v. 12.6.2003 – C-234/01, ECLI:EU:C:2003:340 Rz. 27 und 53 – Gerritse. Sehr deutlich nunmehr EuGH v. 18.3.2010 – C-440/08, ECLI:EU:C:2010:148 Rz. 43 ff. – Gielen. S. auch EuGH v. 22.12.2010 – C-287/10, ECLI:EU:C:2010:827 Rz. 32 – Tankreederei; v. 1.12.2011 – C-253/09, ECLI:EU:C:2011:795 Rz. 55 ff. – Kommission/Ungarn; v. 31.3.2011 – C-450/09, ECLI:EU:C:2011:198 Rz. 36 ff. – Schröder. Vgl. EuGH v. 22.4.2010 – C-510/08, ECLI:EU:C:2010:216 Rz. 30 ff. – Mattner; v. 17.10.2013 – C-181/12, ECLI:EU:C:2013:662 Rz. 45 ff. – Welte; Erklärungsversuch bei Wrede, Europarecht und Erbschaftsteuer, 2014, S. 164 f. S. EuGH v. 5.7.2005 – C-376/03, ECLI:EU:C:2005:424 Rz. 26 ff. – „D“. S. bspw. EuGH v. 28.1.1986 – 270/83, ECLI:EU:C:1986:37 Rz. 20 – „avoir fiscal“; v. 29.4.1999 – C-311/97, ECLI:EU:C:1999:216 Rz. 28 ff. – Royal Bank of Scotland; v. 21.9.1999 – C-307/97, ECLI:EU:C:1999:438 Rz. 48 f. – Saint-Gobain ZN; S. ferner zur ErbSt bspw. auch EuGH v. 8.6.2016 – C-479/14, ECLI:EU:C:2016:412 Rz. 55 f. – Hünnebeck; v. 26.5.2016 – C-244/15, ECLI:EU:C:2016:359 Rz. 16 – Kommission/Griechenland.
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§ 4 Rz. 88
Europäisches Steuerrecht
Schlechterstellung in Gestalt erheblicher Abweichungen nicht mehr als diskriminierend erfasst werden könnte288. Es ist bezeichnend, dass der EuGH in solch extremen Fällen auf andere Kriterien zurückgreift, um gleichwohl die Vergleichbarkeit bejahen zu können289. Darüber hinaus hat er den Grundsatz aufgestellt, dass sich Gebietsansässige und Gebietsfremde bezogen auf die Berücksichtigung von unmittelbar mit der ausgeübten Tätigkeit zusammenhängenden Betriebsausgaben in einer vergleichbaren Situation befinden290. 88
Noch weniger Konturen hat die Vergleichbarkeitsprüfung im Kontext der Kontrolle beschränkungsverdächtiger Steuerrechtsnormen des Herkunfts- bzw. Ansässigkeitsmitgliedstaates des Stpfl. gewonnen. Oft sieht der EuGH hier gänzlich von Ausführungen zur Vergleichbarkeit der grenzüberschreitenden mit der innerstaatlichen Aktivität oder Transaktion ab291. Dies ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass er durch seine unreflektierte Beschränkungsterminologie (s. Rz. 85) den gleichheitsrechtlichen Charakter der von ihm durchgeführten Prüfung und damit die Notwendigkeit einer Vergleichbarkeitsprüfung verschleiert. Vereinzelt werden auch wie im Quellenstaatskontext Erwägungen zur Vergleichbarkeit des je einschlägigen Steuerregimes angestellt292.
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Meist bestimmt der Gerichtshof die Vergleichbarkeit aber inzwischen anhand des Gesetzeszwecks der beschränkungsverdächtigen Steuerbestimmung293. Diese Vorgehensweise praktiziert er zudem immer häufiger auch im Kontext steuerlicher Diskriminierung im Quellenstaat294. Der EuGH zieht damit gleichsam die am nationalen Regelungsziel ausgerichtete Rechtfertigungsprüfung (Rz. 93 ff.) in die Vergleichbarkeitsprüfung vor, was auch die verstärkte Tendenz zur Integration beider Prüfungsschritte (Rz. 86) erklären mag. Die Gefahr dieses Ansatzes besteht vor allem in einer unvollständigen Prüfung der Verhältnismäßigkeit der jeweiligen nationalen Maßnahme295: Entscheiden nämlich die vom nationalen Gesetzgeber verfolgten Zwecke schon über die Vergleichbarkeit, findet stattdessen nur noch eine Art Plausibilitätskontrolle statt: Zu fragen ist nur noch danach, ob die verfolgten Zwecke aus europarechtlicher Warte als legitim akzeptiert werden können, und ob im Lichte dieser
288 Vereinzelt hat auch der EuGH eingestehen müssen, dass dieses Kriterium an sich ungeeignet ist, um die Vergleichbarkeit zu bestimmen, vgl. EuGH v. 22.1.2009 – C-377/07, ECLI:EU:C:2009:29 Rz. 33 – STEKO Industriemontage. 289 S. bspw. EuGH v. 8.11.2007 – C-379/05, ECLI:EU:C:2007:655 Rz. 37 – Amurta; v. 22.12.2008 – C-282/07, ECLI:EU:C:2008:762 Rz. 34 ff. – Truck Center; v. 17.9.2015 – C-10/14 u.a., ECLI:EU:C:2015:608 Rz. 68 und 70 – Miljoen u.a.; besonders deutlich auch EuGH v. 1.7.2010 – C-233/09, ECLI:EU:C:2010:397 Rz. 46 f. – Dijkman. 290 S. etwa EuGH v. 12.6.2003 – C-234/01, EU:C:2003:340 Rz. 27 – Gerritse; v. 13.7.2016 – C-18/15, ECLI:EU:C:2016:549 Rz. 23 ff. – Brisal, m.w.N. 291 S. etwa EuGH v. 6.6.2000 – C-35/98, ECLI:EU:C:2000:294 Rz. 35 f. – Verkooijen; v. 7.9.2006 – C-470/04, ECLI:EU:C:2006:525 Rz. 34-39 – „N“. 292 S. etwa EuGH v. 11.7.2002 – C-62/00, ECLI:EU:C:2008:211 Rz. 36 f. – Marks & Spencer; v. 17.1.2008 – C-256/06, ECLI:EU:C:2008:20 Rz. 44 – Jäger; v. 19.11.2009 – C-314/08, ECLI:EU:C:2009:719 Rz. 68-70 – Filipiak. 293 Vgl. bspw. EuGH v. 15.7.2004 – C-315/02, ECLI:EU:C:2004:446 Rz. 29 ff. – Lenz; v. 7.9.2004 – C-319/02, ECLI:EU:C:2004:484 Rz. 32 ff. – Manninen; v. 27.11.2008 – C-418/07, ECLI:EU:C:2008:659 Rz. 27 ff. – Société Papillon; v. 27.1.2009 – C-318/07, ECLI:EU:C:2009:33 Rz. 43 ff. – Persche; v. 25.2.2010 – C-337/08, ECLI:EU:C:2010:89 Rz. 22 ff. – X Holding; v. 1.12.2011 – C-253/09, ECLI:EU:C:2011:795 Rz. 61 ff. – Kommission/Ungarn; v. 5.7.2012 – C-318/10, ECLI:EU:C:2012:415 Rz. 30 ff. – SIAT. 294 S. etwa EuGH v. 14.9.2006 – C-386/04, ECLI:EU:C:2006:568 Rz. 37 ff. – Stauffer; v. 22.7.2007 – C-383/05, ECLI:EU:C:2007:181 Rz. 27 ff. – Talotta; v. 20.10.2011 – C-284/09, ECLI:EU:C:2010:457 Rz. 53 – Kommission/Bundesrepublik Deutschland. Für eine kurze empirische Analyse s. Englisch, IStR 2014, 561. 295 Krit. GA Kokott v. 13.3.2014 – C-48/13, ECLI:EU:C:2014:153 Rz. 27 – Nordea Bank; De Broe/Bammens, EC Tax Review 2009, 131 (133); Englisch, Intertax 2010, 197 (203). A.A. Henze, FS Gosch, 2016, 137 (148).
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D. Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten
Rz. 91 § 4
Zwecksetzung vernünftige Gründe für eine Ungleichbehandlung bestehen296. Das durch die Grundfreiheiten zu verwirklichende Binnenmarktideal wird auf diese Weise u.U. in größerem Maße preisgegeben als dies mit Blick auf gegenläufige nationale Regelungsanliegen erforderlich wäre. Daneben greift der EuGH mitunter auch – womöglich ergebnisorientiert – einzelne Normzwecke im Rahmen eines komplexen Zielbündels heraus und beeinflusst so den Ausgang der Vergleichbarkeitsprüfung297. Diese Vorgehensweise ist daher strikt abzulehnen298. Schließlich hat der EuGH in jüngerer Zeit sowohl für Outbound- als auch für Inbound-Szenarien wiederholt entschieden, dass es bei einem generellen Verzicht auf die Ausübung der inländischen Besteuerungshoheit hinsichtlich auslandsradizierter Einkünftequellen oder auslandsansässiger Steuerpflichtiger an der Vergleichbarkeit von innerstaatlichem und grenzüberschreitendem Sachverhalt fehlen kann299. Stringent durchgehalten wurde diese Rechtsprechungslinie allerdings bislang auch nicht300. Insgesamt haftet der Entscheidungspraxis des EuGH ein Element gerichtlicher Willkür an. Relativierend ist freilich festzustellen, dass sich die Vergleichbarkeitsprüfung seit 2010 in der EuGH-Judikatur nur äußerst selten auf die Feststellung einer Grundfreiheitsbeschränkung ausgewirkt hat; der Schwerpunkt der grundfreiheitlichen Prüfung hat sich entscheidend auf die Würdigung möglicher Rechtfertigungsgründe verlagert. Richtigerweise müsste Ausgangspunkt der Betrachtung die in Art. 26 II AEUV verankerte Funktion der Grundfreiheiten im Rahmen des unionsweiten Binnenmarktes sein, also die Gewährleistung eines steuerlich nicht erschwerten Zugangs zu Märkten im EU-/EWR-Ausland und die Wettbewerbsgleichheit auf diesen Märkten (Rz. 2). Dementsprechend sollte sich die Vergleichbarkeit zwischen einem bestimmten grenzüberschreitenden Vorgang einerseits und einem günstiger besteuerten innerstaatlichen Vorgang andererseits danach bestimmen, ob beide Alternativen in einem hinreichend engen Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen bzw. als ökonomische Entscheidungsalternativen hinreichend substituierbar sind. Jedoch wendet der EuGH einen solchen wettbewerbstheoretisch fundierten Ansatz in seinen Entscheidungen lediglich bei den indirekten Steuern auf Waren und Dienstleistungen an301.
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c) Der EuGH hat in seiner Rspr. auch Grenzen der Effektuierung der Grundfreiheiten im Steuer- 91 recht aufgezeigt. Besteuerungsnachteile, die sich aus den fortbestehenden Disparitäten der nicht harmonisierten nationalen Rechtssysteme ergeben (z.B. höhere Steuersätze im Bestimmungsland bzw. Quellenstaat als im Herkunftsland bzw. Ansässigkeitsstaat), können grundfreiheitlich nicht beanstan-
296 S. bspw. EuGH v. 27.1.2009 – C-318/07, ECLI:EU:C:2009:33 Rz. 45 ff. – Persche. Soweit der EuGH vereinzelt Elemente der Verhältnismäßigkeitsprüfung in die Vergleichbarkeitsprüfung integriert (vgl. etwa EuGH v. 16.6.2011 – C-10/10, ECLI:EU:C:2011:399 Rz. 32 – Kommission/Österreich), führt dies zwar wieder zu zutreffenden Ergebnissen, entbehrt aber jeder Systematik. 297 Exemplarisch EuGH v. v. 6.10.2015 – C-66/14, ECLI:EU:C:2015:661 Rz. 37 f. – IFN. 298 So i.E. auch Schön, Bulletin Int. Taxation 2015, 271 (283 ff.); Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff, AEUV Art. 45 Rz. 256; Reimer in Schaumburg/Englisch, Rz. 7.131 ff. Vgl. auch die klare Position des WTO Appellate Body zur ähnlich strukturierten Diskriminierungsprüfung im Kontext von GATT und GATS; s. bspw. AB v. 14.4.2016 – WT/DS453/AB/R Rz. 6.113 ff. und Rz. 6.140 f. – Argentina – Financial Services, m.w.N. 299 S. zu beschränkt Stpfl. EuGH v. 15.5.1997 – C-250/95, ECLI:EU:C:1997:239 Rz. 21 f. – Futura; v. 12.12.2006 – C-374/04, ECLI:EU:C:2006:773 Rz. 68 – ACT Group Litigation; v. 2.6.2016 – C-252/14, ECLI:EU:C:2016:402 Rz. 51 ff. – Pensioenfonds Metaal en Techniek; zu outbound-Szenarien andeutungsweise erstmals EuGH v. 7.11.2013 – C-322/11, ECLI:EU:C:2013:716 Rz. 45-47 – „K“; v. 17.7.2014 – C-48/13, ECLI:EU:C:2014:2087 Rz. 24 – Nordea Bank; nunmehr sehr deutlich EuGH v. 11.9.2014 – C-47/12, ECLI:EU:C:2014:2200 Rz. 81-86 – Kronos International; v. 17.12.2015 – C-388/14, ECLI:EU:C:2015:795 Rz. 27 – Timac Agro. 300 Vgl. GA Kokott, Schlussanträge v. 23.10.2014 – C-172/13, ECLI:EU:C:2014:2321 Rz. 25 ff. – Kommission/Vereinigtes Königreich einerseits, und das nachfolgenden Urteil des EuGH v. 3.2.2015 – C-172/13, ECLI:EU:C:2015:50 Rz. 23 – Kommission/Vereinigtes Königreich, andererseits. 301 S. bspw. EuGH v. 15.7.1982 – 216/81, ECLI:EU:C:1982:275 Rz. 7 – Cogis; v. 27.2.2002 – C-302/00, ECLI:EU:C:2002:123 Rz. 23 – Kommission/Frankreich.
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§ 4 Rz. 92
Europäisches Steuerrecht
det werden302. Abgelehnt hat der EuGH zu Recht auch das Ansinnen, den Grundfreiheiten ein allgemeines Meistbegünstigungsgebot zu entnehmen303. So ist es insb. nicht möglich, sich unter Verweis auf das grundfreiheitliche Diskriminierungsverbot im Quellenstaat auf ein (günstigeres) Doppelbesteuerungsabkommen zu berufen, wenn der Stpfl. mangels Ansässigkeit im anderen Vertragsstaat nicht originär abkommensberechtigt ist. Auch i.Ü. steht der Gerichtshof einem horizontalen Vergleich von verschiedenen grenzüberschreitenden Aktivitäten im Steuerrecht skeptisch gegenüber304. Allerdings ist die Rspr. (auch) insoweit nicht eindeutig305. Insb. hat der EuGH gelegentlich ein Gebot rechtsformneutraler Besteuerung von grenzüberschreitenden Niederlassungen in Form von Tochtergesellschaften einerseits und in Gestalt von rechtlich unselbständigen Filialen bzw. Betriebsstätten andererseits postuliert306, inzwischen aber auch wieder relativiert307. 92 Nach st. Rspr. des Gerichtshofs beinhalten die Grundfreiheiten auch kein Verbot der internationa-
len Doppelbesteuerung308. Vorbehaltlich sekundärrechtlicher Vorgaben (Rz. 5 ff.) soll es im steuerpolitischen Ermessen der Mitgliedstaaten liegen, ob sie Doppelbesteuerung abmildern oder verhindern. Diesem Standpunkt kann nicht gefolgt werden309. Es besteht kein Zweifel, dass internationale 302 S. EuGH v. 23.10.2008 – C-157/07, ECLI:EU:C:2008:588 Rz. 49 f. – Krankenheim Ruhesitz; v. 20.5.2008 – C-194/06, ECLI:EU:C:2008:289 Rz. 37 – Orange European Smallcap Fund; v. 2.3.2017 – C-496/15, ECLI:EU:C:2017:152 Rz. 45 ff. – Eschenbrenner; Terra/Wattel, European Tax Law6, 68 f. Zu Disparitäten im Steuerverfahren s. EuGH v. 14.4.2016 – C-522/14, ECLI:EU:C:2016:253 – Sparkasse Allgäu. 303 S. bspw. EuGH v. 5.7.2005 – C-376/03, ECLI:EU:C:2005:424 Rz. 59 ff. – „D“; v. 12.12.2006 – C-374/04, ECLI:EU:C:2006:773 Rz. 84 ff. – ACT Group Litigation; v. 20.5.2008 – C-194/06, ECLI:EU:C:2008:289 Rz. 50 f. – Orange European Smallcap Fund; v. 30.6.2016 – C-176/15, ECLI:EU:C:2016:488 Rz. 31 ff. – Riskin und Timmermans. Für eine eingehende Erörterung s. Englisch in Cordewener u.a. (Hrsg.), Meistbegünstigung im Steuerrecht der EU-Staaten, 2006, 163; s. außerdem Cordewener/Reimer, ET 2006, 239 ff. und 291 ff.; Wattel, Tax Law Review 2008, 208 (211 ff.); anders Schuch, EC Tax Review 2006, 6; van Thiel, Free Movement of Persons and Income Tax Law, 2002, 186 ff.; Schroeder, Meistbegünstigung im Steuerrecht auf Basis der Grundfreiheiten, 2011; differenzierend de Groot, Intertax 2014, 405. 304 Exemplarisch sind EuGH v. 23.2.2006 – C-513/03, ECLI:EU:C:2006:131 Rz. 46 f. – van Hilten-van der Heijden; v. 6.12.2007 – C-298/05, ECLI:EU:C:2007:754 Rz. 39 ff. und Rz. 51 – Columbus Container. S. aber auch M. Lang, SWI 2016, 118, m.w.N. 305 S. EuGH v. 21.9.1999 – C-307/97, ECLI:EU:C:1999:438 Rz. 59 ff. – Saint-Gobain ZN; v. 11.6.2009 – C-521/07, ECLI:EU:C:2009:360 Rz. 36 ff. – Kommission/Niederlande; Besonders deutlich für einen horizontalen Vergleich bei unilateralen Quellenstaatsregelungen EuGH v. 24.2.2015 – C-512/13, ECLI:EU:C:2015:108 Rz. 25 – Sopora, allerdings mit ungewöhlich großzügiger Prüfung eines Verstoßes durch typisierende Regelungen (a.a.O., Rz. 34 f.). 306 S. EuGH v. 28.1.1986 – 270/83, ECLI:EU:C:1986:37 Rz. 22 – „avoir fiscal“; v. 23.2.2006 – C-253/03, ECLI:EU:C:2006:129 Rz. 14 – CLT-UFA; v. 18.7.2007 – C-231/05, ECLI:EU:C:2007:439 Rz. 40 – Oy AA. 307 S. EuGH v. 6.12.2007 – C-298/05, ECLI:EU:C:2007:754 Rz. 52 f. – Columbus Container; v. 4.9.2009 – C-439/07 u.a., ECLI:EU:C:2009:339 Rz. 80 – KBC Bank; v. 25.2.2010 – C-337/08, ECLI:EU:C:2010:89 Rz. 38 ff. – X Holding. 308 S. bspw. EuGH v. 14.11.2006 – C-513/04, ECLI:EU:C:2006:713 Rz. 20 ff. – Kerckhaert und Morres; v. 12.2.2009 – C-67/08, ECLI:EU:C:2009:92 Rz. 27 ff. – Block; v. 16.7.2009 – C-128/08, ECLI:EU:C:2009:471 Rz. 20 ff. – Damseaux; v. 15.4.2010 – C-96/08, ECLI:EU:C:2010:185 Rz. 25 – CIBA, v. 26.5.2016 – C-48/15, ECLI:EU:C:2016:356 Rz. 47 – NN (L) International; s. ferner BFH v. 19.6.2013 – II R 10/12, BStBl. II 2013, 746, Rz. 16 ff.; Lenaerts in Maisto (Hrsg.), Taxation of Intercompany Dividends, 2012, 3 (7). Wertungswidersprüchlich allerdings EuGH v. 21.1.2010 – C-311/08, ECLI:EU:C:2010:26 Rz. 53 f. – SGI. 309 Eingehend Englisch, IStR 2007, 67; Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2007, 154 ff.; van Thiel in Avi Yonah u.a. (Hrsg.), Comparative Fiscal Federalism, 2007, 331 ff.; Keuthen, Die Vermeidung der juristischen Doppelbesteuerung im EG-Binnenmarkt, 2009, 155 ff.; Kofler, IStR 2011, 668 (669). Dem EuGH zustimmend hingegen Graetz/Warren, Yale Law Review 2006, 1186 (1219); Wattel, Tax Law Review 2008, 205 (215 ff.); Weber, Intertax 2006, 585 (588);
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D. Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten
Rz. 93 § 4
Doppelbesteuerung gravierende Wettbewerbsverzerrungen spezifisch zulasten des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs bewirkt310. Auch die evtl. Notwendigkeit, richterrechtlich provisorische Aufteilungsmaßstäbe zu entwickeln (meist wären allerdings ohnehin nur bestehende DBA-Vorgaben zu interpretieren), stellt keine unüberwindbare Hürde dar311. Zudem ist es wertungswidersprüchlich, wenn der EuGH gleichwohl grundfreiheitliche Anforderungen an die Ausgestaltung vorhandener Mechanismen zur Vermeidung internationaler Doppelbesteuerung stellt312. 3. Rechtfertigung von Grundfreiheitsverstößen Im Steuerrecht haben die im AEUV ausdrücklich niedergelegten sog. geschriebenen Rechtfertigungs- 93 gründe kaum Relevanz. Die einzige Ausnahme bilden im Rahmen der Kapitalverkehrsfreiheit scheinbar die steuerspezifischen Vorgaben des Art. 65 AEUV. Ihnen misst der EuGH aber unter Verweis auf Art. 65 III AEUV bislang nur deklaratorische Bedeutung zu. Danach soll Art. 65 I lit. a AEUV lediglich das Erfordernis der Vergleichbarkeit von innerstaatlichem und grenzüberschreitendem Vorgang zu entnehmen sein; zudem weise Art. 65 I AEUV insgesamt auf die schon zuvor etablierte Rspr. zur Rechtfertigungsmöglichkeit aus ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe hin313: Nach der richterrechtlich entwickelten sog. „rule of reason“ können nämlich (auch) steuerliche Beschränkungen der Grundfreiheiten durch im AEUV nicht benannte zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein314. Dies soll allerdings nicht in Betracht kommen, wenn es um eine steuerliche Diskriminierung geht, die unmittelbar an die Staatsangehörigkeit anknüpft315. Da der EuGH den statutarischen Sitz einer Gesellschaft der Staatsangehörigkeit gleichsetzt, hat er gelegentlich – aber nicht
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M. Lang, EC Tax Review 2009, 98 (110); Eden, British Tax Review 2010, 610; Marres, Intertax 2011, 112 (115); Schön, Bulletin Int. Taxation 2015, 271 (274 f.); Billau, Die steuerliche Integration des Europäischen Binnenmarktes durch Doppelbesteuerungsabkommen, 2016, S. 230 ff. Differenzierend Rust, DStR 2009, 2568 (2576 f.); Riedl, Die internationale Doppelbesteuerung im EU-Binnenmarkt, 2011; De Broe, EC Tax Review 2012, 180 ff.; Offermanns, ET 2013, 430. Vgl. auch die Beiträge von Kofler, Rust, Wattel und van Thiel in Rust (Hrsg.), Double Taxation within the European Union, 2011, 97 ff., 137 ff., 157 ff., 167 ff. S. auch EuGH v. 12.9.2017 – C-648/15, ECLI:EU:C:2017:664 Rz. 26 – Österreich/Deutschland. In anderen Zusammenhängen hat der EuGH wiederholt Festlegungen zum Vorrang der Besteuerungszuständigkeit eines Mitgliedstaates im Verhältnis zur Steuerhoheit eines anderen Mitgliedstaates entwickelt, s. bspw. EuGH v. 12.12.2002 – C-385/00, ECLI:EU:C:2002:750 Rz. 98 ff. – de Groot; v. 7.9.2006 – C-470/04, ECLI:EU:C:2006:525 Rz. 54 – „N“; v. 23.10.2008 – C-157/07, ECLI:EU:C:2008:588 Rz. 51 – Krankenheim Ruhesitz. S. EuGH v. 28.2.2013 – C-168/11, ECLI:EU:C:2013:117 Rz. 32 ff. – Beker und Beker; v. 12.12.2013 – C-303/12, ECLI:EU:C:2013:822 Rz. 41 ff. – Imfeld & Garcet; s. auch EuGH v. 4.7.2013 – C-350/11, ECLI:EU:C:2013:447 Rz. 55 f. – Argenta Spaarbank; v. 13.3.2014 – C-375/12, ECLI:EU:C:2014:138 Rz. 32 ff. – Bouanich II (die dortigen Abgrenzungsversuche des EuGH überzeugen nicht); v. 22.6.2017 – C-20/16, ECLI:EU:C:2017:488 Rz. 37 ff. – Bechtel und Bechtel. Wie hier krit. Schön, Bulletin Int. Taxation 2015, 271 (292). Grundl. EuGH v. 6.6.2000 – C-35/98, ECLI:EU:C:2000:294 Rz. 44 und 46 – Verkooijen; st. Rspr.; s. auch Schönfeld, StuW 2005, 158 (163). Grundl. EuGH v. 20.2.1978 – 120/78, ECLI:EU:C:1979:42 Rz. 8 – Cassis de Dijon; in Reaktion auf die Ausweitung des Gewährleistungsgehalts der Grundfreiheiten zu genuinen Beschränkungsverboten durch die sog. „Dassonville-Formel“, s. EuGH v. 11.7.1974 – 8/74, ECLI:EU:C:1974:82 Rz. 5 – Dassonville. Erstmals allgemein formuliert in EuGH v. 30.11.1995 – C-55/94, ECLI:EU:C:1995:411 Rz. 37 – Gebhard. S. EuGH v. 22.10.2014 – C-344/13 u.a., ECLI:EU:C:2014:2311 Rz. 38 – Blanco und Fabretti m.w.N. Die Einschränkung gilt nicht für die „indirekte“ Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit, dazu grundl. EuGH GrK v. 25.1.2011 – C-382/08, ECLI:EU:C:2011:27 Rz. 32 ff. – Neukirchinger. Eine steuerliche Schlechterstellung von beschränkt Stpfl., die an die Merkmale der §§ 8–10 AO anknüpft, kann daher gerechtfertigt werden, s. bspw. EuGH v. 28.1.1992 – C-204/90, ECLI:EU:C:1992:35 Rz. 9 und 14 ff. – Bachmann; v. 27.6.1996 – C-107/94, ECLI:EU:C:1996:251 Rz. 54 und 60 ff. – Asscher; sowie eingehend Cordewener/Kofler/van Thiel, CMLRev. 2009, 1951, m.w.N.
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§ 4 Rz. 94
Europäisches Steuerrecht
durchgängig – eine Rechtfertigung von Benachteiligungen beschränkt steuerpflichtiger Kapitalgesellschaften auf Basis ungeschriebener Rechtfertigungsgründe abgelehnt316. 94
I.Ü. muss jede Rechtfertigung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen317. Das grundfreiheitsbeschränkende Steuerregime muss zur Verwirklichung des betreffenden Gemeinwohlanliegens sowohl geeignet als auch erforderlich sein318. In dieser Hinsicht legt der EuGH strenge Maßstäbe an. Eine Prüfung auf Angemessenheit bzw. Verhältnismäßigkeit i.e.S. nimmt der Gerichtshof hingegen regelmäßig nicht oder allenfalls verklausuliert319 vor. Im Übrigen ist ein unionsrechtliches Folgerichtigkeitsgebot zu beachten: Die nationale Regelung muss das fragliche Anliegen auch in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen bestrebt sein320, und nicht lediglich zulasten (bestimmter) grenzüberschreitender Vorgänge. Schließlich muss eine Rechtfertigung ggf. auch den Anforderungen des unionsrechtlichen Grundrechtsstandards genügen321.
95
Als zwingende Gründe des Allgemeininteresses kommen nur solche nationale Regelungsanliegen in Betracht, die auch im Lichte der Zielsetzungen und Wertungen des Unionsrechts als legitim erscheinen322. Bestimmte Zielsetzungen hat der EuGH daher als zur Rechtfertigung von Grundfreiheitsverstößen schon prinzipiell ungeeignet zurückgewiesen. Insb. können drohende Steuerausfälle für sich genommen nicht als zwingender Grund für die Aufrechterhaltung einer Grundfreiheitsbeschränkung anerkannt werden323. Auch kann sich ein Mitgliedstaat nicht darauf berufen, dass eine in seiner Steuerrechtsordnung angelegte steuerliche Benachteiligung eines grenzüberschreitenden Vorgangs gerechtfertigt sei, weil der Stpfl. im Ausland von einem generell günstigen Steuerregime profitiere324. Als schon abstrakt nicht binnenmarktkompatibel ausscheiden soll schließlich auch eine Rechtfertigung von Steuervergünstigungen durch Ziele national ausgerichteter Wirtschafts- oder Arbeitsmarktpolitik325.
316 S. bspw. EuGH v. 29.4.1999 – C-311/97, ECLI:EU:C:1999:216 Rz. 32 – Royal Bank of Scotland; v. 19.11.2009 – C-540/07, ECLI:EU:C:2009:717 Rz. 49 – Kommission/Italien. S. aber bspw. auch EuGH v. 18.6.2009 – C-303/07, ECLI:EU:C:2009:377 Rz. 57 ff. – Aberdeen Property Fininvest Alpha, wo derartige Erwägungen keine Rolle spielten und ungeschriebene Rechtfertigungsgründe diskutiert wurden. 317 Grundl. EuGH v. 30.11.1995 – C-55/94, ECLI:EU:C:1995:411 Rz. 37 – Gebhard; st. Rspr. 318 S. bspw. EuGH v. 15.5.2008 – C-414/06, ECLI:EU:C:2008:278 Rz. 27 – Lidl Belgium; v. 27.11.2008 – C-418/07, ECLI:EU:C:2008:659 Rz. 51 f. – Société Papillon; v. 18.6.2009 – C-303/07, ECLI:EU:C:2009: 377 Rz. 57 – Aberdeen Property Fininvest Alpha. 319 Seltene Fälle einer impliziten Prüfung sind bspw. EuGH v. 13.12.2005 – C-446/03, ECLI:EU:C:2005:763 Rz. 55 – Marks & Spencer; v. 23.1.2014 – C-164/12, ECLI:EU:C:2014:20 Rz. 62 – DMC. S. auch Boulogne/Sumrada Slavnic, ET 2012, 486 (488). 320 S. bspw. EuGH v. 17.11.2009 – C-169/08, ECLI:EU:C:2009:709 Rz. 42 – Regione Sardegna m.w.N.; v. 10.3.2009 – C-169/07, ECLI:EU:C:2009:141 Rz. 55 – Hartlauer; v. 6.3.2007 – C-338/04, ECLI: EU:C:2007:133 Rz. 53 – Placanica; s. auch schon EuGH v. 18.9.2003 – C-168/01, ECLI:EU:C:2003:479 Rz. 36 – Bosal. Dazu Haslehner, CMLRev 2013, 737. Gelegentlich prüft der EuGH dies auch nur implizit, s. bspw. EuGH v. 24.2.2015 – C-559/13, ECLI:EU:C:2015:109 Rz. 43 f. und 51 – Grünewald. 321 St. Rspr., s. bspw. EuGH v. 21.12.2016 – C-201/15, ECLI:EU:C:2016:972 Rz. 62 ff. – AGET Iraklis, m.w.N. 322 S. EuGH v. 4.12.2008 – C-330/07, ECLI:EU:C:2008:685 Rz. 27 – Jobra. 323 S. bspw. EuGH v. 10.3.2005 – C-39/04, ECLI:EU:C:2005:161 Rz. 23 – Laboratoires Fournier (FuE-Förderung); v. 11.2.2011 – C-25/10, ECLI:EU:C:2011:65 Rz. 30 f. – Missionswerk Werner Heukelbach; v. 26.5.2016 – C-244/15, ECLI:EU:C:2016:359 Rz. 13 – Kommission/Griechenland; st. Rspr. Eingehende Kritik bei Schaumburg/Englisch, Rz. 7.213 ff.; kritisch auch Traversa, WTJ 2014, 3. 324 S. bspw. EuGH v. 27.6.1996 – C-107/94, ECLI:EU:C:1996:251 Rz. 53 – Asscher; v. 26.10.1999 – C-294/97, ECLI:EU:C:1999:524 Rz. 44 – Eurowings; v. 12.9.2006 – C-196/04, ECLI:EU:C:2006:544 Rz. 49 – Cadbury Schweppes. 325 Exemplarisch EuGH v. 25.10.2007 – C-464/05, ECLI:EU:C:2007:631 Rz. 25 ff. – Geurts und Vogten; v. 13.11.2003 – C-209/01, ECLI:EU:C:2003:610 Rz. 40 – Schilling und Fleck-Schilling.
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D. Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten
Rz. 97 § 4
I.Ü. hat der EuGH im Steuerrecht einen bereichsspezifischen Kanon anerkannter Rechtfertigungs- 96 gründe entwickelt326: Seit der wegweisenden Entscheidung Marks & Spencer327 ist die Wahrung einer angemessenen Auf- 97 teilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten der praktisch bedeutsamste Rechtfertigungsgrund. In älteren Entscheidungen hatte der EuGH sich noch auf den – angesichts der fortbestehenden nationalen Haushaltssouveränität unhaltbaren – Standpunkt gestellt, die drohende Verschiebung von Steuersubstrat in einen anderen Mitgliedstaat innerhalb des Binnenmarktes rechtfertige wegen der dort eintretenden Besteuerung keine Grundfreiheitsbeschränkung328. Nunmehr akzeptiert er eine Reihe von zwingenden Gemeinwohlinteressen, die nach seinem Verständnis Ausdruck einer sachgerechten internationalen Abgrenzung von Steuerhoheiten unter Orientierung am aus Sicht des EuGH legitimitätsstiftenden Territorialitätsprinzip sind. Grds. gerechtfertigt ist danach zunächst die Abrechnung bislang steuerverhafteter stiller Reserven oder unrealisierter Wertzuwächse bei drohender grenzüberschreitender Steuerentstrickung. Auslöser hierfür ist regelmäßig ein vom Stpfl. veranlasstes Ereignis mit grenzüberschreitendem Bezug. Typischerweise handelt es sich dabei um den Wegzug des Stpfl. selbst oder um den innerbetrieblichen Transfer von Wirtschaftgütern oder auch betrieblicher „Funktionen“ ins Ausland. Der Gerichtshof gesteht den Mitgliedstaaten prinzipiell zu, die bis zu diesem Zeitpunkt nach dem Realisationsprinzip nur latenten Steueransprüche im Rahmen einer Wegzugs- bzw. Entstrickungsbesteuerung vorzeitig, nämlich früher als bei vergleichbarer rein innerstaatlicher Mobilität, zur Entstehung zu bringen329. Allerdings steht diese Rechtfertigungsmöglichkeit unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit. Dabei stellte der EuGH bei privat gehaltenen Wirtschaftsgütern, namentlich bei Beteiligungen, ursprünglich besonders strenge Anforderungen330: Der Steueranspruch musste grds. unverzinst und ohne Sicherheitsleistung bis zur tatsächlichen Veräußerung oder „Binnenmarkt-Entstrickung“ gestundet werden331. Ferner verlangte der EuGH grds. die Berücksichtigung nachträglicher Wertminderungen, die anlässlich einer späteren Veräußerung aufgedeckt würden332. § 6 V, VI AStG orientiert sich noch an diesen Vorgaben. Demgegenüber hält es der EuGH im Kontext einer betrieblichen Entstrickungsbesteuerung seit jeher nicht für erforderlich, späteren Wertminderungen der betroffenen Wirtschaftsgüter durch eine nachträgliche Herabsetzung der Steuerschuld Rechnung zu tragen333. Außerdem dürfen die Mitgliedstaaten die – auch in diesem Kontext gebotene334 – Steuerstundung von der
326 S. hierzu auch die Übersicht bei Cordewener/Kofler/van Thiel, CMLRev. 2009, 1951 (1957 ff.) m.w.N. 327 EuGH v. 13.12.2005 – C-446/03, ECLI:EU:C:2005:763 Rz. 45 – Marks & Spencer. 328 S. EuGH v. 16.7.1998 – C-264/96, ECLI:EU:C:1998:370 Rz. 26 – ICI; v. 12.12.2002 – C-324/00, ECLI:EU:C:2002:749 Rz. 37 – Lankhorst-Hohorst. Mindestens unglücklich ist daher die unreflektierte Bezugnahme auf diese Rspr. in EuGH v. 7.9.2017 – C-6/16, ECLI:EU:C:2017:641, Rz. 35 – Eqiom und Enka. 329 S. EuGH v. 7.9.2006 – C-470/04, ECLI:EU:C:2006:525 Rz. 42 ff. – N; v. 29.11.2011 – C-371/10, ECLI:EU:C:2011:785 Rz. 45 ff. – National Grid Indus; v. 6.9.2012 – C-38/10, ECLI:EU:C:2012:521 Rz. 31 ff. – Kommission/Portugal. Ausf. Analyse bei Orthmann, Entstrickungsbesteuerung und Niederlassungsfreiheit, 2015; Peeters, EC Tax Review 2017, 122. 330 Dazu krit. Englisch, Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, 2008, 63 ff.; Zuijdendorp, EC Tax Review 2007, 5 (10 ff.); relativierend Dobratz, ISR 2014, 198. 331 S. EuGH v. 7.9.2006 – C-470/04, ECLI:EU:C:2006:525 Rz. 37 – N. 332 Vgl. EuGH v. 7.9.2006 – C-470/04, ECLI:EU:C:2006:525 Rz. 54 – N. 333 S. EuGH v. 29.11.2011 – C-371/10, ECLI:EU:C:2011:785 Rz. 56 ff.– National Grid Indus. 334 S. EuGH v. 29.11.2011 – C-371/10, ECLI:EU:C:2011:785 Rz. 52 und 68-74 – National Grid Indus; v. 6.9.2012 – C-38/10, ECLI:EU:C:2012:521 Rz. 34 – Kommission/Portugal; v. 25.4.2013 – C-64/11, ECLI:EU:C:2013:264 Rz. 32 – Kommission/Spanien; v. 23.11.2017 – C-292/16, ECLI:EU:C:2017:888 Rz. 34 ff. – A Oy.
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§ 4 Rz. 98
Europäisches Steuerrecht
Gestellung von Sicherheiten abhängig machen335 und die Steuerschuld bis zu ihrer Begleichung verzinsen336. Schließlich soll sogar die ratierliche Geltendmachung der festgesetzten Steuer jedenfalls bei einer zeitlichen Streckung über mindestens fünf Jahre „in Anbetracht des mit der Zeit steigenden Risikos der Nichteinbringung“ verhältnismäßig sein337. Andererseits ist dem Stpfl. auch die Möglichkeit einzuräumen, auf die Stundung zu verzichten338. Inzwischen hat der Gerichtshof „klargestellt“, dass diese für die Mitgliedstaaten großzügigeren Maßstäbe auch für privat gehaltene Wirtschaftsgüter gelten sollen339. Relevant wird diese Rechtsprechungslinie v.a. bei der Wegzugsbesteuerung von Inhabern wesentlicher Beteiligungen (s. § 6 AStG) und der Entstrickungsbesteuerung anlässlich der Überführung von Wirtschaftsgütern des Betriebsvermögens ins Ausland (§§ 4 I 3–5, 4g EStG; 12 I KStG)340, einer grenzüberschreitenden Umwandlung (UmwStG) oder einer Sitzverlegung (§§ 17 V EStG; 12 III KStG)341. 98
In einer Reihe von Urteilen hat der Gerichtshof ferner dem nationalen Gesetzgeber grds. zuerkannt, Gewinne und Verluste aus Auslandstätigkeiten symmetrisch „freizustellen“, d.h. Auslandsverluste nicht zur Verrechnung mit im Inland steuerbaren Gewinnen zuzulassen, soweit entsprechende Auslandsgewinne ebenfalls nicht steuerbar sind342. Sieht etwa ein Doppelbesteuerungsabkommen vor, dass Unternehmensgewinne nur im Betriebsstättenstaat besteuert werden dürfen und im Staat des Stammhauses freizustellen sind, so kann letzterer etwaige im Betriebsstättenstaat aufgelaufene Verluste vom inländischen Verlustausgleich ausschließen. Etwas anderes soll unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nur für „finale“, im Ausland nicht (mehr) verrechenbare Verluste gelten343. Wie der Gerichtshof jüngst klargestellt hat, müssen finale Auslandsverluste auch nur dann berücksichtigt werden, wenn die mangelnde Verlustverrechnungsmöglichkeit im Ausland nicht auf die dortigen steuerrechtlichen Rahmenbedingungen (bspw. die generelle Versagung eines Verlustvortrages), sondern auf tatsächliche Umstände zurückzuführen ist344. I.Ü. muss auch bei einem in tatsächlichen Umständen wurzelnden Untergang von Verlustverrechnungspotenzial die künftige Verlustverrech335 S. EuGH v. 29.11.2011 – C-371/10, ECLI:EU:C:2011:785 Rz. 74 – National Grid Indus; angedeutet bereits in EuGH v. 21.11.2002 – C-436/00, ECLI:EU:C:2002:704 Rz. 59 – X und Y. 336 S. EuGH v. 29.11.2011 – C-371/10, ECLI:EU:C:2011:785 Rz. 73 – National Grid Indus; v. 6.9.2012 – C-38/10, ECLI:EU:C:2012:521 Rz. 32 – Kommission/Portugal. Ebenso der EFTA Gerichtshof v. 3.10.2012 – E-15/11, Arcade Drilling, Rz. 103. 337 S. EuGH v. 23.1.2014 – C-164/12, ECLI:EU:C:2014:20 Rz. 62 – DMC; v. 21.5.2015 – C-657/13, ECLI:EU:C:2015:331 Rz. 52 – Verder LabTec; s. dazu Gosch, IWB 2014, 183 (187 f.); Mitschke, IStR 2014, 111 (112 f.); Sydow, DB 2014, 265 (268 f.). 338 S. EuGH v. 21.5.2015 – C-657/13, EU:C:2015:331 Rz. 49 – Verder LabTec. 339 S. EuGH v. 16.4.2015 – C-591/13, ECLI:EU:C:2016:979 Rz. 52 ff. – Kommission/Deutschland; v. 21.12.2016 – C-503/14, ECLI:EU:C:2016:979 Rz. 53 ff. – Kommission/Portugal. 340 S. dazu Vorlagebeschluss des FG Düsseldorf v. 5.12.2013 – 8 K 3664/11 F, EFG 2014, 119 (Az. EuGH C-657/13); Körner, IStR 2006, 109; Heurung/Engel/Thiedemann, EWS 2011, 228; Kofler/van Thiel, ET 2011, 327 (329 ff.; Vergleich mit den OECD-Empfehlungen). 341 Ausf. Stewen, Europäische Niederlassungsfreiheit und deutsches Internationales Steuerrecht, 2007; s. auch FG Hamburg v. 26.1.2012 – 2 K 224/10, IStR 2012, 305; Schnitker, BB 2004, 804; Mitscke, IStR 2011, 294; Körner, IStR 2011, 527; Blümich/Ebeling, § 17 EStG Rz. 893 ff.; Panayi, Bull. Int. Taxation 2009, 459; Zernova, Intertax 2011, 471; Rautenstrauch/Seitz, Ubg. 2012, 14; Cerioni, ET 2013, 329. 342 S. insbes. EuGH v. 13.12.2005 – C-446/03, ECLI:EU:C:2005:763 Rz. 45 f. – Marks & Spencer; v. 15.5.2008 – C-414/06, ECLI:EU:C:2008:278 Rz. 33 – Lidl Belgium; v. 25.2.2010 – C-337/08, ECLI:EU:C:2010:89 Rz. 28 – X Holding; v. 7.11.2013 – C-322/11, ECLI:EU:C:2013:716 Rz. 52 – K. Ausf. Analyse der gesamten Judikatur bei Fähling, Die grenzüberschreitende Verlustverrechnung international agierender Unternehmen, 2016, S. 71 ff. 343 S. EuGH v. 13.12.2005 – C-446/03, ECLI:EU:C:2005:763 Rz. 55 – Marks & Spencer; v. 15.5.2008 – C-414/06, ECLI:EU:C:2008:278 Rz. 46 ff. – Lidl Belgium; v. 21.2.2013 – C-123/11, ECLI:EU:C:2013:84 Rz. 49 ff. – A. S. zur Rspr.-Entwicklung (krit.) GA Kokott, Schlussanträge v. 23.10.2014 – C-172/13, ECLI:EU:C:2014:2321 Rz. 36 ff. – Kommission/Vereinigtes Königreich; M. Lang, ET 2014, 530. 344 S. EuGH v. 7.11.2013 – C-322/11, ECLI:EU:C:2013:716 Rz. 75 ff. – K; s. auch Pezzella, ET 2014, 71 (76 ff.); krit. zu dieser Abgrenzung Hey, FS Gosch, 2016, 161 (172).
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D. Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten
Rz. 99 § 4
nung im Ausland unter jedem realistisch in Betracht kommenden Gesichtspunkt ausgeschlossen sein345. Sind Auslandsverluste nach diesen strengen Voraussetzungen im Inland zur Verrechnung anzuerkennen, richtet sich ihre Berechnung grds. nach inländischen Gewinnermittlungsvorschriften346. Die Pflicht zur Berücksichtigung finaler Verluste läuft im Übrigen leer, soweit aufgrund der symmetrischen Nichtbesteuerung von Auslandsgewinnen und Verlusten schon die Vergleichbarkeit mit rein innerstaatlichen Sachverhalten abzulehnen wäre (Rz. 89)347. Darüber hinaus hat der Gerichtshof den Mitgliedstaaten das Recht eingeräumt, Maßnahmen zur Vermeidung von sog. „weißen Einkünften“ zu ergreifen, wenn diese anderenfalls in keiner der beteiligten Steuerjurisdiktionen der Besteuerung unterlägen348. Zurückhaltender äußert sich der EuGH hingegen in jüngerer Zeit zum Anliegen, sog. „double dips“ vorzubeugen, die bei einer Inanspruchnahme von gleichen Steuerentlastungen bzw. Steuervergünstigungen in mehr als einem Mitgliedstaat entstehen könnten349.
In engem Zusammenhang mit der Anerkennung eines legitimen Interesses an der Wahrung einer an- 99 gemessenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse ist in jüngerer Zeit auch eine Neuausrichtung der Rspr. des EuGH zum mitgliedstaatlichen Interesse an einer Bekämpfung des Rechtsmissbrauchs und der Steuerflucht zu beobachten. Ursprünglich hatte der EuGH dahingehende Maßnahmen nur dann für mit den Grundfreiheiten vereinbar erachtet, wenn sie sich speziell auf „rein künstliche Konstruktionen“ beziehen, die auf die Erzielung steuerlicher Vorteile ausgerichtet sind350. Dies könne vor allem bei Gründung einer Tochtergesellschaft anzunehmen sein, die lediglich als Briefkastenfirma fungiere; nicht aber bei „greifbarem Vorhandensein der beherrschten ausländischen Gesellschaft in Form von Geschäftsräumen, Personal und Ausrüstungsgegenständen“351. An diesem Maßstab hält der EuGH für bestimmte Fallgruppen auch heute noch fest352. Beispiel: Die sog. Hinzurechnungsbesteuerung nach den §§ 7 ff. AStG sah ursprünglich vor, die steuerliche Abschirmwirkung im Ausland domizilierter Kapitalgesellschaften (zum körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzip s. § 11 Rz. 1) ohne weiteres zu negieren, wenn die Gesellschaft sog. passive Einkünfte (insb. aus Vermögensverwaltung) erzielte, in einem Niedrigsteuerland ansässig war und ein bestimmter Prozentsatz ihrer Anteile von unbeschänkt Stpfl. gehalten wurde. So sollte typisierend die „missbräuchliche“ Ver345 S. EuGH v. 21.2.2013 – C-123/11, ECLI:EU:C:2013:84 Rz. 51 ff. – A; BFH v. 9.6.2010 – I R 107/09, BFHE 230, 35; v. 5.2.2014 – I R 48/11, BFHE 244, 371; FG Köln v. 13.3.2013 – 10 K 2067/12, EFG 2013, 1430 (Rev. anhängig unter Az. I R 40/13). 346 S. EuGH v. 21.2.2013 – C-123/11, ECLI:EU:C:2013:84 Rz. 59 f.– „A Oy“ und erläuternd die Schlussanträge von GA Kokott, v. 19.7.2012 – C-123/11, ECLI.EU:C:2012:488 Rz. 73 ff. S. dazu – sowie zur nach wie vor umstrittenen Frage des Zeitpunkts der Berücksichtigung – auch BFH v. 9.6.2010 – I R 107/09, BFH/NV 2010, 1744 (1746 f.); v. 9.6.2010 – I R 100/09, BStBl. II 2010, 1065 (1066 f.); Panzer/ Gebert, IStR 2010, 781; Kessler/Philipp, IStR 2010, 865; Graw, DB 2010, 2469; Schwenke, IStR 2011, 368. 347 So jetzt auch BFH v. 22.2.2017 – I R 2/15, BStBl. II 2017, 709. 348 S. EuGH v. 18.7.2007 – C-231/05, ECLI:EU:C:2007:439 Rz. 58 f. – Oy AA. 349 S. EuGH v. 6.9.2012 – C-18/11, ECLI:EU:C:2012:532 Rz. 28 ff. – Philips Electronics; v. 12.12.2013 – C-303/12, ECLI:EU:C:2013:822 Rz. 77 ff. – Imfeld & Garcet; v. 17.9.2015 – C-589/13, ECLI:EU: C:2015:612 Rz. 73 – F. E. Familienprivatstiftung Eisenstadt, S. allerdings auch EuGH v. 13.3.2008 – C-248/06, ECLI:EU:C:2008:161 Rz. 35 f. – Kommission/Spanien. GA Sánchez-Bordona hat den EuGH jüngst zur Revision seiner restriktiven Rechtsprechungslinie aufgefordert, s. Schlussanträge v. 21.2.2018 – C-28/17, ECLI:EU:C:2018:86 Rz. 64 ff. – „NN“. 350 S. bspw. EuGH v. 16.7.1998 – C-264/96, ECLI:EU:C:1998:370 Rz. 26 – ICI; v. 21.11.2002 – C-436/00, ECLI:EU:C:2002:704 Rz. 61 – X und Y; v. 12.12.2002 – C-324/00, ECLI:EU:C:2002:749 Rz. 37 – Lankhorst-Hohorst; v. 11.3.2004 – C-9/02, ECLI:EU:C:2004:138 Rz. 50 – De Lasteyrie du Saillant; v. 12.9.2006 – C-196/04, ECLI:EU:C:2006:544 Rz. 55 – Cadbury Schweppes; S. dazu Schön in Avery Jones u.a. (Hrsg.), FS John Tiley, Cambridge 2008, 75; Englisch, StuW 2009, 3. 351 EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04, ECLI:EU:C:2006:544 Rz. 67 f. – Cadbury Schweppes; s. dazu Poulsen, Intertax 2013, 230 (238 ff.). Ähnlich EFTA-Gerichtshof v. 9.7.2014 – E-3/13 und E-20/13, Rz. 166 ff. – Olsen. 352 S. EuGH v. 7.9.2017 – C-6/16, ECLI:EU:C:2017:641 Rz. 30 ff. und 64 – Eqiom und Enka, m.w.N.
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§ 4 Rz. 100
Europäisches Steuerrecht
lagerung von Einkunftsquellen ins Ausland bekämpft werden. Im Gefolge der EuGH-Entscheidung Cadbury Schweppes353 musste ergänzend § 8 II AStG eingefügt werden, wonach von der Hinzurechnungsbesteuerung bei EU/EWR-ansässigen Gesellschaften grds. abzusehen ist, wenn diese einer „tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit“ nachgehen. 100 Geht es jedoch um die grenzüberschreitende Verlagerung von Steuersubstrat innerhalb einer Unter-
nehmensgruppe, hat der EuGH diese Anforderungen in jüngerer Zeit gelockert: Hier kommt auch bei „realen“ Steuersubjekten und Leistungsbeziehungen eine Rechtfertigung von grundfreiheitsbeschränkenden Einkünftekorrekturvorschriften in Betracht, wenn anderenfalls Gewinne entgegen dem Territorialitätsprinzip nicht bzw. nicht vollständig im Mitgliedstaat ihrer wirtschaftlichen Entstehung besteuert werden könnten354. Der maßgebliche wirtschaftliche Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit im betroffenen Mitgliedstaat darf bei einer Transaktion zwischen einander nahestehenden Personen grds. anhand des sog. Fremdvergleichsgrundsatzes („dealing at arm’s length“-Standard) beurteilt werden355. Beispiel: Gerechtfertigt ist die Beschränkung der Organschaft (§§ 14 ff. KStG, s. § 14 Rz. 1 ff.) auf Organträger, die der deutschen KSt unterliegen (vgl. §§ 14 I Nr. 2; 18 Nr. 2 KStG), um eine wirtschaftlich nicht begründete Zurechnung von in Deutschland erzieltem Einkommen zu einem Subjekt außerhalb der deutschen Steuergewalt zu verhindern356. Jedenfalls ansatzweise zu rechtfertigen ist auch die Korrektur nicht fremdvergleichskonformer Verrechnungspreise (nur) bei grenzüberschreitenden Geschäftsbeziehungen zwischen verbundenen Unternehmen nach § 1 I 1 AStG, um der wirtschaftlich nicht fundierten Verlagerung von Steuersubstrat357 (Erfolgsbeiträgen) ins Ausland entgegenzuwirken358. Auch bei der Verlagerung von Aktivitäten und damit verbundener Besteuerungsgrundlagen in Steueroasen deutet sich gegenwärtig zu Recht ein Umdenken beim EuGH an359. 101 Stets muss der „missbräuchliche“ Charakter der Steuerumgehungshandlungen allerdings im Wege ei-
ner Prüfung aller Umstände des Einzelfalls festgestellt werden; dahingehende unwiderlegbare Vermutungen durch typisierende spezielle Missbrauchsnormen sollen unverhältnismäßig sein360. Diese Anforderungen erscheinen jedoch überzogen, zumal an den Unionsgesetzgeber wesentlich geringere
353 EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04, ECLI:EU:C:2006:544 – Cadbury Schweppes; s. dazu auch Hahn, IStR 2006, 667; Waldens/Sedemund, IStR 2007, 450; Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, 133 ff.; Haarmann, IStR 2011, 565. 354 S. bspw. EuGH v. 12.9.2006 – C-446/03, ECLI:EU:C:2005:763 Rz. 49 f. – Marks & Spencer; v. 13.3.2007 – C-524/04, ECLI:EU:C:2007:161 Rz. 77 – Thin Cap Group Litigation; v. 18.7.2007 – C-231/05, ECLI:EU:C:2007:439 Rz. 54 ff. – Oy AA; v. 8.11.2007 – C-379/05, ECLI:EU:C:2007:655 Rz. 58 – Amurta; Hey, StuW 2008, 167 (182). 355 S. EuGH v. 13.3.2007 – C-524/04, ECLI:EU:C:2007:161 Rz. 80-82 – Thin Cap Group Litigation; v. 17.1.2008 – C-105/07, ECLI:EU:C:2008:24 Rz. 27 ff. – Lammers & Van Cleeff; v. 21.1.2010 – C-311/08, ECLI:EU:C:2010:26 Rz. 71 – SGI; s. auch EuGH v. 17.7.2014 – C-48/13, ECLI:EU:C:2014:2087 Rz. 35 f. – Nordea Bank. Dazu Meussen, ET 2010, 245; Poulsen, Intertax 2012, 200; Glahe, EC Tax Review 2013, 222. 356 Vgl. EuGH v. 18.7.2007 – C-231/05, ECLI:EU:C:2007:439 – Oy AA. 357 Dazu eingehend Schön, Bulletin Int. Taxation 2014, 280. 358 Vgl. EuGH v. 21.1.2010 – C-311/08, ECLI:EU:C:2010:26 – SGI; s. dazu ausf. Glahe, Einkünftekorrektur zwischen verbundenen Unternehmen, 2012; sowie Andresen, IStR 2010, 289; Englisch, IStR 2010, 139; Becker/Sydow, IStR 2010, 195; Glahe, IStR 2010, 870; Schönfeld, IStR 2011, 219; s. aber auch Schön, IStR 2011, 777. 359 S. EuGH v. 1.4.2014 – C-80/12, ECLI:EU:C:2014:200 Rz. 32 – Felixstowe Dock and Railway Company u.a.; v. 5.6.2014 – C-24/12 und C-27/12, ECLI:EU:C:2014:1385 Rz. 51 ff. – X BV und TBG Limited. 360 S. bspw. EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04, ECLI:EU:C:2006:544 Rz. 70 ff. – Cadbury Schweppes; v. 28.10.2010 – C-72/09, ECLI:EU:C:2010:645 Rz. 34 – Établissements Rimbaud; st. Rspr. S. auch Fontana, ET 2006, 317 (325).
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D. Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten
Rz. 102 § 4
Anforderungen gestellt werden361. Richtig ist es hingegen, (auch) bei widerlegbaren Vermutungen zu verlangen, dass sie sich hinreichend eng an typischen Missbrauchskonstellationen ausrichten362. Bereits frühzeitig hat der EuGH klargestellt, dass im Rahmen der Grundfreiheiten ein Vorteilsaus- 102 gleich durch Saldierung der nachteiligen Effekte einer beschränkenden Steuerrechtsnorm mit einer anderweitig bestehenden steuerlichen Besserstellung des grenzüberschreitenden Vorgangs grds. nicht in Betracht kommt363. Eine Ausnahme hiervon stellt die Notwendigkeit dar, die Kohärenz des Steuersystems zu wahren; dies kann eine Beschränkung der Grundfreiheiten rechtfertigen364. Dazu muss ein unmittelbarer systematischer Zusammenhang zwischen dem auf innerstaatliche Vorgänge begrenzten Steuervorteil und dessen Ausgleich durch eine bestimmte ebenfalls nur innerstaatliche Vorgänge treffende steuerliche Belastung bestehen. „Unmittelbarkeit“ erfordert nach Ansicht des EuGH einen betragsmäßig exakten Ausgleich und eine systematische Verknüpfung; letztere wird anhand des Ziels der fraglichen Regelung beurteilt365. Großzügig typisierende Saldierungen, wie sie das BVerfG im Kontext des Art. 3 GG sogar bei zusammenhanglosen Mehr- und Minderbelastungen akzeptiert366, weist der EuGH (zu) pauschal als unzureichend zurück367. Auch muss der Ausgleich grds. im Rahmen identischer Personenarten und in der Person ein und desselben Stpfl. erfolgen. Etwas anderes kommt nur in Betracht, wenn eine personen- und steuerartenübergreifende Betrachtung von der wirtschaftlich nachvollziehbaren Systematik des nationalen Steuersystems gefordert wird368. 361 Exemplarisch EuGH v. 17.10.1996 – C-283/94, ECLI:EU:C:1996:387 Rz. 31 - Denkavit International, zu Art. 3 II Mutter-Tochter-Richtlinie: Ermächtigung zur sehr grob typisierenden Missbrauchsabwehr blieb unbeanstandet. 362 S. EuGH v. 5.7.2012 – C-318/10, ECLI:EU:C:2012:415 Rz. 56 ff. – SIAT; v. 3.10.2013 – C-282/12, ECLI:EU:C:2013:629 Rz. 44 – Itelcar; v. 8.3.2017 – C-14/16, Euro Park Service, ECLI:EU:C:2017:177, Rz. 56 und 69; v. 7.9.2017 – C-6/16, ECLI:EU:C:2017:641, Rz. 31 ff. – Eqiom und Enka. 363 S. EuGH v. 28.1.1986 – 270/83, ECLI:EU:C:1986:37 Rz. 21 – avoir fiscal; v. 21.9.1999 – C-307/97, ECLI:EU:C:1999:438 Rz. 54 – Saint Gobain; v. 26.10.1999 – C-294/97, ECLI:EU:C:1999:524 Rz. 43 f. – Eurowings; v. 6.6.2000 – C-35/98, ECLI:EU:C:2000:294 Rz. 61 – Verkooijen; v. 15.7.2004 – C-315/02, ECLI:EU:C:2004:446 Rz. 43 – Lenz; v. 1.7.2010 – C-233/09, ECLI:EU:C:2010:397 Rz. 41 – Dijkman; v. 5.7.2012 – C-318/10, ECLI:EU:C:2012:415 Rz. 39 – SIAT. 364 Grundl. EuGH v. 28.1.1992 – C-204/90, ECLI:EU:C:1992:35 Rz. 21-23 – Bachmann; v. 28.1.1992 – C-300/90, ECLI:EU:C:1992:37 Rz. 14-16 – Kommission/Belgien. Seither st. Rspr., s. bspw. EuGH v. 11.8.1995 – C-80/94, ECLI:EU:C:1995:271 Rz. 23-25 – Wielockx; v. 7.9.2004 – C-319/02, ECLI:EU:C:2004:484 Rz. 42 – Manninen; v. 27.11.2008 – C-418/07, ECLI:EU:C:2008:659 Rz. 43 – Société Papillon; v. 1.12.2011 – C-250/08, ECLI:EU:C:2011:793, Rz. 70 – Kommission/Belgien. S. ferner Englisch, ET 2004, 323 und 355; Verdoner, ET 2009, 274; Kokott/Ost, EuZW 2011, 496; Weber, EC Tax Review 2015, 43. 365 S. bspw. EuGH v. 28.1.1992 – C-300/90, ECLI:EU:C:1992:37 Rz. 14 – Kommission/Belgien; v. 18.1.2007 – C-104/06, ECLI:EU:C:2007:40 Rz. 26 – Kommission/Schweden; v. 30.1.2007 – C-150/04, ECLI: EU:C:2007:69 Rz. 70 – Kommission/Dänemark; v. 11.10.2007 – C-443/06, ECLI:EU:C:2007:600 Rz. 56 ff. – Hollmann; v. 27.11.2008 – C-418/07, ECLI:EU:C:2008:659 Rz. 43 f. – Société Papillon. 366 Exemplarisch BVerfG v. 28.6.1960 – 2 BvL 19/59, BVerfGE 11, 245 (254); v. 31.5.1988 – 1 BvR 520/83, BVerfGE 78, 214 (227); v. 18.7.2005 – 2 BvF 2/01, BverfGE 113, 167 (236); v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (30); s. zum Vergleich auch Hey, AöR 128 (2003), 226. 367 S. bspw. EuGH v. 6.6.2000 – C-35/98, ECLI:EU:C:2000:294 Rz. 57 f. – Verkooijen; v. 15.7.2004 – C-315/02, ECLI:EU:C:2004:446 Rz. 34 ff. – Lenz; v. 6.10.2015 – C-66/14, ECLI:EU:C:2015:661 Rz. 48 – IFN. Dies steht in einem gewissen Widerspruch zur großzügigen Handhabung von Pauschalierungen in EuGH v. 24.2.2015 – C-512/13, ECLI:EU:C:2015:108 Rz. 34 f. – Sopora. 368 So für das körperschaftsteuerliche Anrechnungsverfahren EuGH v. 7.9.2004 – C-319/02, ECLI:EU:C:2004:484 Rz. 45 – Manninen; v. 12.12.2006 – C-446/04, ECLI:EU:C:2006:774 Rz. 93 – FII Group Litigation; v. 6.3.2007 – C-292/04, ECLI:EU:C:2007:132 Rz. 28 – Meilicke I; zur ErbSt-Anrechnung bei mehrfachem Erwerb EuGH v. 30.6.2016 – C-123/15, EU:C:2016:496 Rz. 36 – Feilen; und für die Konsolidierung im internationalen Konzern wohl auch EuGH v. 27.1.2008 – C-418/07, ECLI:EU:C:2008:659 Rz. 47 f. und 58 – Société Papillon. S. ferner Schön, StbJb. 2003/2004, 17 (52 f.); Weber, EC Tax Review 2003, 220 (225).
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§ 4 Rz. 103
Europäisches Steuerrecht
Beispiel: Grds. kohärent ist die Limitierung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Beiträgen zu einem System der Altersvorsorge auf solche Stpfl., die mit den zu erwartenden Rentenzahlungen absehbar der inländischen Besteuerung unterliegen werden369. Kohärent ist (entgegen EuGH) auch die Entlastung nur solcher Dividenden von inländischen Ertragsteuern, bei denen die zur Ausschüttung verwendeten Gewinne zuvor im entsprechenden Umfang einer inländischen KSt-Belastung unterlegen haben370. 103 Zu kritisieren ist, dass der EuGH teilweise eine staatenübergreifende Steuerbelastungsanalyse vor-
nimmt, um die Verhältnismäßigkeit eines kohärenten Vorteilsausgleichs zu beurteilen371. Da das Kohärenzargument i.Erg. nur die Perspektive der grundfreiheitlichen Beschränkungsprüfung auf systematisch zusammenhängende Be- oder Entlastungsregelungen ausdehnt372, kann es sich richtigerweise wie die Beschränkungsprüfung selbst auch nur auf inländische Steuerlasten beziehen373. Verantwortlich für die Kompensation ausländischer Belastungsnachteile ist der ausländische Mitgliedstaat; sieht er in seinem Steuersystem keinen Ausgleich vor, ist dies grundfreiheitlich als Disparität (Rz. 91) hinzunehmen374. In jüngerer Zeit hat dies der Gerichtshof einerseits selbst wiederholt zugestanden und eine staatenübergreifende Kohärenzbetrachtung ausdrücklich zurückgewiesen375. Andererseits ist der EuGH dazu übergegangen, Aspekte der steuerlichen Kohärenz gelegentlich als solche der zwischenstaatlich angemessenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zu begreifen376. Dies ist angesichts der Unterschiede in den zugrunde liegenden Gerechtigkeitsanliegen – der Kohärenz geht es um interpersonale Lastenausteilungsgerechtigkeit, nicht um internationale Aufkommensverteilungsgerechtigkeit – eine Fehlentwicklung. 104 Der EuGH hat anerkannt, dass die Notwendigkeit wirksamer steuerlicher Kontrollen einen zwin-
genden Grund des Allgemeinwohls darstellt377. Jedoch hat der Gerichtshof in diesem Zusammenhang sehr strenge Verhältnismäßigkeitserfordernisse aufgestellt: Unwiderlegbare gesetzliche Vermutun369 S. EuGH v. 28.1.1992 – C-204/90, ECLI:EU:C:1992:35 Rz. 21 ff. – Bachmann; v. 30.1.2007 – C-150/04, ECLI:EU:C:2007:69 Rz. 71 ff. – Kommission/Dänemark (im Umkehrschluss); s. aber auch EuGH v. 23.1.2014 – C-296/12, ECLI:EU:C:2014:24 Rz. 35 ff. – Kommission/Belgien. 370 Eingehend Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, 344 ff.; Englisch, Intertax 2010, 197 (214); anders – Kohärenz nur bei Einbeziehung auch ausländische KSt-Vorbelastung, s. dazu sogleich oben im Text – EuGH v. 7.9.2004 – C-319/02, ECLI:EU:C:2004:484 – Manninen; v. 6.3.2007 – C-292/04, ECLI:EU:C:2007:132 – Meilicke I; zust. Denys, ET 2007, 221. 371 S. bspw. EuGH v. 7.9.2004 – C-319/02, ECLI:EU:C:2004:484 Rz. 46 – Manninen; v. 23.2.2006 – C-471/04, ECLI:EU:C:2006:143 Rz. 43 – Keller Holding; v. 12.12.2006 – C-446/04, ECLI:EU:C:2006:774 Rz. 93 – FII Group Litigation; v. 6.3.2007 – C-292/04, ECLI:EU:C:2007:132 Rz. 29 – Meilicke I; dazu ausf. Englisch, Intertax 2010, 197. 372 S. van Thiel, Tax Law Review 2008, 143 (171): nur „prima facie“ Diskriminierung; ähnlich Hellerstein/ Kofler/Mason, Tax Law Review 2008, 1 (21). 373 Näher dazu Englisch, Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, 2008, 129 ff.; ebenso Ståhl, EC Tax Review 1997, 227 (229 und 231); Staringer in Lehner/Staringer/Tempel (Hrsg.), Kapitalverkehrsfreiheit und Steuerrecht, 2000, 93 (108). A.A. Douma, ET 2006, 522 (529); Kemmeren, FS Vanistendael, 2007, 555 (576 f.); Vanistendael, EC Tax Review 2005, 208 (216). 374 S. dazu in anderem Zusammenhang auch EuGH v. 23.10.2008 – C-157/07, ECLI:EU:C:2008:588 Rz. 49 – Krankenheim Ruhesitz (keine Anpassung an ausländisches System erforderlich). 375 S. EuGH v. 1.12.2011 – C-253/09, ECLI:EU:C:2011:795 Rz. 81–83 – Kommission/Ungarn; v. 10.4.2014 – C-190/12, ECLI:EU:C:2014:249 Rz. 94 – DFA Investment Trust Company; v. 30.6.2016 – C-123/15, ECLI:EU:C:2016:496 Rz. 40 – Feilen. 376 Sehr deutlich im Vergleich von EuGH v. 6.3.2007 – C-292/04, ECLI:EU:C:2007:132 Rz. 25 ff. – Meilicke I nebst Folgeentscheidung EuGH v. 30.6.2011 – C-262/09, ECLI:EU:C:2011:438, Rz. 29 ff. – Meilicke II einerseits; und EuGH v. 21.12.2016 – C-593/14, ECLI:EU:C:2016:984 Rz. 38 ff. – Masco Denmark, andererseits. 377 S. bspw. EuGH v. 8.7.1999 – C-254/97, ECLI:EU:C:1999:368 Rz. 18 – Baxter; v. 28.10.1999 – C-55/98, ECLI:EU:C:1999:533 Rz. 25 – Vestergaard; v. 26.9.2000 – C-478/98, ECLI:EU:C:2000:497 Rz. 38 – Kommission/Belgien; v. 14.9.2006 – C-386/04, ECLI:EU:C:2006:568 Rz. 47 – Stauffer; v. 11.10.2007 – C-451/05, ECLI:EU:C:2007:594 Rz. 81 – ELISA; st. Rspr.
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D. Verbote steuerlicher Beschränkung von EU-Grundfreiheiten
Rz. 104 § 4
gen oder eine sonstige materiell-rechtliche Schlechterstellung zur Vermeidung von Ermittlungs- und Verifikationsschwierigkeiten im grenzüberschreitenden Kontext werden im EU-Binnenmarkt378 grds. als unangemessen erachtet379. Denn es kämen zwei mildere Maßnahmen in Betracht: Aufgrund der Amtshilferichtlinie 2011/16/EU (ehem. RL 77/799/EWG) könnten die Behörden anderer Mitgliedstaaten um Sachverhaltsaufklärung ersucht werden380; und davon abgesehen könnte vom Stpfl. selbst die Vorlage aller erforderlichen Nachweise verlangt werden381, sofern darin keine unzumutbare Erschwernis für diesen liege382. Etwaige damit einhergehende „behördliche Schwierigkeiten“ bzw. „verwaltungstechnische Nachteile“ seien unbeachtlich383. Der EuGH lässt es hier an Augenmaß missen. Einerseits tendiert er dazu, die Auferlegung unverhältnismäßiger Mitwirkungspflichten zuzulassen384. Andererseits bringt er Verifikationsbedürfnis385 und -aufwand in keinen angemessenen Ausgleich zu den bei einer diskriminierenden Pauschalregelung drohenden (evtl. nur geringen) Belastungsnachteilen386. Ähnliche Feststellungen lassen sich in Bezug auf das vom Gerichtshof im Ausgangspunkt ebenfalls als legitim anerkannte387 Interesse der Mitgliedstaaten an einer effektiven Beitreibung der Steuerschuld treffen. Allerdings hat der Gerichtshof hier gelegentlich administrativen Schwierigkeiten388 ein gewisses Gewicht in der Abwägung aller maßgeblichen Belange zuerkannt389. Einstweilen frei.
105–114
378 Anders im Wirtschaftsverkehr mit Drittstaaten einschließlich nicht der EU angehörenden EWR-Mitgliedstaaten, vgl. EuGH v. 18.12.2007 – C-101/05, ECLI:EU:C:2007:804 Rz. 63 – A; v. 28.10.2010 – C-72/09, ECLI:EU:C:2010:645 Rz. 44 – Établissements Rimbaud; v. 24.11.2016 – C-464/14, ECLI:EU:C:2016:896 Rz. 64 und 126 ff. – SECIL; s. aber auch EuGH v. 22.1.2009 – C-377/07, ECLI:EU:C:2009:29 Rz. 55 – STEKO. S. ferner FG Köln v. 15.1.2014 – 13 K 3735/10, EFG 2014, 667 (670; Vatikanstaat); M. Lang, SWI 2012, 67 (68 ff.); Binder/Pinetz, EC Tax Review 2014, 324. 379 S. bspw. EuGH v. 26.10.1995 – C-151/94, ECLI:EU:C:1995:357 Rz. 21 – Kommission/Luxemburg; v. 8.7.1999 – C-254/97, ECLI:EU:C:1999:368 Rz. 19 f. – Baxter; v. 14.9.2006 – C-386/04, ECLI:EU:C:2006:568 Rz. 49 – Stauffer; v. 29.11.2011 – C-371/10, ECLI:EU:C:2011:785 Rz. 65 ff. – National Grid Indus. 380 S. bspw. EuGH v. 8.7.1999 – C-254/97, ECLI:EU:C:1999:368 Rz. 20 – Baxter; v. 11.10.2007 – C-451/05, ECLI:EU:C:2007:594 Rz. 96 – ELISA; v. 27.1.2009 – C-318/07, ECLI:EU:C:2009:33 Rz. 53 – Persche. Dazu ausf. Hemels, ET 2009, 583; Gabert, ET 2011, 342; Gabert, IWB 2011, 250. 381 S. bspw. EuGH v. 28.1.1992 – C-204/90, ECLI:EU:C:1992:35 Rz. 18 und 20 – Bachmann; v. 3.10.2002 – C-136/00, ECLI:EU:C:2002:558 Rz. 50 – Danner; v. 11.10.2007 – C-451/05, ECLI:EU:C:2007:594 Rz. 92 ff. – ELISA. S. speziell zur Verrechnungspreisdokumentation nach § 90 Abs. 3 AO auch BFH v. 10.4.2013 – I R 45/11, BStBl. II 2013, 771, Rz. 38 ff. 382 S. dazu EuGH v. 13.3.2007 – C-524/04, ECLI:EU:C:2007:161 Rz. 82 – Thin Cap Group Litigation; v. 23.4.2008 – C-201/05, ECLI:EU:C:2008:239 Rz. 85 – CFC and Dividend Group Litigation; v. 15.9.2011 – C-310/09, ECLI:EU:C:2011:581 Rz. 102 – Accor; v. 30.6.2011 – C-262/09, ECLI:EU:C:2011:438 Rz. 45 – Meilicke II. 383 S. bspw. EuGH v. 4.3.2004 – C-334/02, ECLI:EU:C:2004:129 Rz. 29 – Kommission/Frankreich; v. 14.9.2006 – C-386/04, ECLI:EU:C:2006:568 Rz. 48 – Stauffer; v. 27.11.2008 – C-418/07, ECLI:EU:C:2008:659 Rz. 54 – Société Papillon; v. 27.1.2009 – C-318/07, ECLI:EU:C:2009:33 Rz. 55 – Persche; sowie generell EuGH v. 1.7.2010 – C-233/09, ECLI:EU:C:2010:397 Rz. 60 – Dijkman. 384 Exemplarisch EuGH v. 10.2.2011 – C-436/08 und C-437/08, ECLI:EU:C:2011:61 Rz. 104 – Haribo und Österreichische Salinen. 385 Vgl. BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (273): Das Deklarationsprinzip bedarf der Ergänzung durch das Verifikationsprinzip. 386 S. dazu GA Kokott, Schlussanträge EuGH v. 18.9.2008 – C-282/07, ECLI:EU:C:2008:513 Rz. 45 ff. – Truck Center; GA Kokott, Schlussanträge v. 8.9.2011 – C-371/10, ECLI:EU:C:2011:563 Rz. 60 ff. – National Grid Indus. 387 Grundl. EuGH v. 3.10.2006 – C-290/04, ECLI:EU:C:2006:630 Rz. 36 – Scorpio; s. ferner EuGH v. 12.7.2012 – C-269/09, ECLI:EU:C:2012:439 Rz. 64 ff. – Kommission/Spanien. 388 S. dazu die kritische Analyse von van der Smitte, Bulletin Int’l Taxation 2014, 387. 389 S. EuGH v. 29.11.2011 – C-371/10, ECLI:EU:C:2011:785 Rz. 74 – National Grid Indus; v. 18.10.2012 – C-498/10, ECLI:EU:C:2012:635 Rz. 51 – X.
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§ 4 Rz. 115
Europäisches Steuerrecht
E. Das Beihilfenverbot im Steuerrecht Literatur: Vor 2012 erschienene Literatur kann der Vorauflage entnommen werden. Englisch, Steuerliche Sonderbelastung als verbotene Beihilfe – eine unionsrechtliche Achillesferse der Kernbrennstoffsteuer, StuW 2012, 318; M. Lang, State Aid and Taxation, EStAL 2012, 411; Englisch, EU State Aid Rules Applied to Indirect Tax Measures, EC Tax Review 2013, 9; Markert, Deutsche Steuervergünstigungsnormen im Lichte unionsrechtlicher Vorgaben, 2013; Rust/Micheau (Hrsg.), State Aid and Tax Law, 2013; Luja (115) Rossi (123) Wattel (139), Szudoczky (163) in Richelle u.a. (Hrsg.), Allocation Taxing Powers within the European Union, Berlin 2013; Rossi-Maccanico, EU Review of Direct Tax Measures: Interplay between Fundamental Freedoms and State Aid Control, EC Tax Review 2013, 19; Rust, Regionale Steuerautonomie vor dem europäischen Beihilferecht, 2013, Wattel, Interaction of State Aid, Free Movement, Policy Competition and Abuse Control in Direct Tax Matters, World Tax Journal 2013, 128; Bernabeu, R&D&I Tax Incentives in the European Union and State Aid Rules, ET 2014, 178; Grube, Der Einfluss des unionsrechtlichen Beihilfeverbots auf das deutsche Steuerrecht, 2014; Ismer/Karch, Das Referenzsystem bei der beihilferechtlichen Überprüfung nationaler Steuervergünstigungen, IStR 2014, 130; Luja, EU State Aid Rules and Their Limits, Tax Notes International 2014, 353; Musil, Europäisches Beihilferecht und nationales Steuerrecht, FR 2014, 953; Rosenberg, Das beihilferechtliche Durchführungsverbot in Steuerverfahren, 2014; Staes, The Combined Application of the Fundamental Freedoms and the EU State Aid Rules, Intertax 2014, 106; Rossi-Maccanico, Fiscal Aid, Tax Competition, and BEPS, Tax Notes International 2014, 857; Micheau, State Aid, Subsidy and Tax Incentives Under EU and WTO Law, Alphen aan den Rijn 2014; Hey, EU-Beihilfen und Steuervergünstigungen, StuW 2015, 331; Englisch, Das Beihilfenverbot im Steuerrecht, in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, Kap. 9; Schön, State Aid in the Area of Taxation, in Hancher u.a. (Hrsg.), EU State Aids, London 2016, 393; Richelle/Schön/Traversa (Hrsg.), State Aid Law and Business Taxation, 2016; Luja, Do State Aid Rules Still Allow European Union Member States to Claim Fiscal Sovereignty?, EC Tax Review 2016, 312; Fort, EU State Aid and Tax, ET 2017, 370; Balbinot, Beihilfeverbot und Rechtsformneutralität, Diss., 2018; Kokott, DStJG 41 (2018), n.n.v. S. auch die Aufsätze und Dokumentensammlung im Sonderheft Intertax 2/2012. 115 Das grundsätzliche Beihilfenverbot des Art. 107 I AEUV (und des parallel auszulegenden Art. 61
EWR) soll einen unverfälschten Wettbewerb im EU-/EWR-Binnenmarkt gewährleisten und so den zwischenstaatlichen Freihandel absichern390. Es betrifft im Steuerrecht der Mitgliedstaaten vor allem Steuervergünstigungen für Unternehmen. Denn nach st. Rspr. des EuGH können steuerliche Verschonungssubventionen staatliche Beihilfen darstellen, wenn sie eine Verminderung von „normalerweise“ zu tragenden Belastungen bewirken391. Neben gesetzlich vorgesehenen Steuervorteilen können auch eine bloße Verwaltungspraxis oder Einzelmaßnahmen im Steuervollzug das Beihilfenverbot tangieren392. Traditionell im Fokus der Kontrolle steuerlicher Beihilfen durch die Kommission standen seit Ende der Neunzigerjahre Vergünstigungen im Rahmen des Rechts der direkten Unternehmensteuern393. Zunehmend geraten inzwischen auch Verbrauchsteuervergünstigungen ins Visier der
390 Näher Englisch, EuR 2009, 488 (489 f.), m.w.N. 391 Grundl. EuGH v. 23.2.1961 – 30/59, ECLI:EU:C:1961:2 S. 42 – Steenkolenmijnen, zum Beihilfenverbot der damaligen EGKS; seither st. Rspr., s. bspw. EuGH v. 8.11.2001 – C-143/99, ECLI:EU:C:2001:598 Rz. 38 – Adria-Wien Pipeline; v. 15.6.2006 – C-393/04 u.a., ECLI:EU:C:2006:403 Rz. 29 – Air Liquide; v. 22.6.2006 – C-182/03 u.a., ECLI:EU:C:2006:416 Rz. 86 – Belgien/Kommission; v. 17.11.2009 – C-169/08, ECLI:EU:C:2009:709 Rz. 56 – Regione Sardegna. 392 S. EuGH v. 12.10.2000 – C-480/98, ECLI:EU:C:2000:305 – Spanien/Kommission; v. 5.6.2012 – C-124/10 P, ECLI:EU:C:2012:318 – EDF; v. 24.1.2013 – C-73/11 P, ECLI:EU:C:2013:31 – Frucona Kosˇice; Callies/Ruffert/Cremer5, Art. 107 AEUV Rz. 40, m.w.N. Sehr weitgehend die Andeutung in EuGH v. 8.9.2015 – C-105/14, ECLI:EU:C:2015:555 Rz. 61 f. – Taricco: evtl. Beihilferechtswidrigkeit von selektiven Strafbarkeitslücken bei Steuerdelikten. 393 S. die inzwischen außer Kraft getretene Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf Maßnahmen im Bereich der direkten Unternehmensbesteuerung, ABl. C 384 v. 10.12.1998, 3.
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E. Das Beihilfenverbot im Steuerrecht
Rz. 117 § 4
Kommission394, und sie testet die Grenzen des Beihilfenverbotes bei der Kontrolle von Verrechnungspreisregeln und -abreden (§ 1 Rz. 89) im Außensteuerrecht der Mitgliedstaaten395. Die Rechtsauffassung der Kommission zu zentralen Konzepten und Implikationen des Beihilfenverbotes einschließlich einiger steuerspezifischer Konkretisierungen sind von ihr in einer Bekanntmachung veröffentlicht worden396. Der voll justiziable397 Beihilfenbegriff des Art. 107 I AEUV wird vom EuGH und ihm folgend von 116 der Kommission im Steuerrecht regelmäßig über eine vierstufige Prüfungsstruktur entfaltet398: Erstens muss die untersuchte steuerliche Maßnahme Unternehmen einen selektiven Vorteil in Gestalt einer steuerlichen Entlastung399 verschaffen. Der Unternehmensbegriff ist dabei weit zu verstehen und umfasst jede selbständig ausgeübte Erwerbstätigkeit am Markt400. Zweitens muss sie als „staatliche und staatlich finanzierte“ Maßnahme zu qualifizieren sein. Drittens muss sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen und schließlich viertens eine wettbewerbsverfälschende Wirkung haben. Ein selektiver Vorteil wird vom EuGH angenommen, wenn eine steuerliche Entlastung nur be- 117 stimmten Unternehmen oder Produktionszweigen zugute kommen, während er vergleichbaren Unternehmen oder Branchen nicht zugänglich ist401. In diesem Zusammenhang ist nach der st. Rspr. des Gerichtshofs im Regelfall zunächst die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltende allgemeine oder „normale“ steuerliche Behandlung – typischerweise anhand von Belastungsgrund und -prinzipien der in Rede stehenden Steuerart – zu ermitteln402. Oftmals wird dieser Aspekt gemeinsam mit der Feststel394 Einen Überblick über laufende und abgeschlossene Beihilfeverfahren bietet die online-Datenbank der Kommission: http://ec.europa.eu/competition/elojade/isef/index.cfm?clear=1&policy–area–id=3. 395 Anlass sind die Fälle sog. „aggressiver“ internationaler Steuerplanung großer Konzerne, s. bspw. Entscheidung der Kommission v. 11.6.2014, C(2014) 3606 final, Rz. 54 ff. (Apple); v. 11.6.2014, C(2014) 3626 final, Rz. 75 ff. (Starbucks); v. 11.6.2014, C(2014) 3627 final, Rz. 58 ff. (Fiat); ergänzend s. Cachia, EC Tax Review 2017, 23. S. dazu auch für die EU-Kommission Rossi-Maccanico, Tax Notes International 2014, 857; Rossi-Maccanico in Haslehner/Kofler/Rust (Hrsg.), EU Tax Law and Policy in the 21st Century, 2017, 69; krit. Luja, Tax Notes International 2014, 353; sowie tendenziell auch Verhagen, ET 2017, 279; differenziert Traversa/Sabbadini in Haslehner/Kofler/Rust (Hrsg.), EU Tax Law and Policy in the 21st Century, 2017, 107. 396 Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Art. 107 Absatz 1 AEUV, v. 19.7.2016, C/2016/2946. 397 S. EuGH v. 22.12.2008 – C-487/06, ECLI:EU:C:2008:757 Rz. 111 f. – British Aggregates. 398 S. dazu die Mitteilung der Kommission v. 10.12.1998, Rz. 9 ff. 399 Ausnahmsweise kann der Vorteil auch in der gezielten steuerlichen Mehrbelastung von unmittelbaren Wettbewerbern bestehen, vgl. EuGH v. 7.9.2006 – C-526/04, ECLI:EU:C:2006:528 Rz. 33 ff. – Laboratoires Boiron m.w.N.; GA Tizzano, EuGH v. 8.5.2001 – C-53/00, ECLI:EU:C:2001:253 Rz. 36 ff. – Ferring; Jann, FS Baudenbacher, 2007, 419 (428 f.); Englisch, StuW 2012, 318; a.A. Schön in Hancher u.a., EU State Aids, Rz. 10–013. 400 S. bspw. EuGH v. 18.6.1998 – C-35/96, ECLI:EU:C:1998:303 Rz. 36 – Kommission/Italien; v. 16.3.2004 – C-264/01, ECLI:EU:C:2004:150 Rz. 46 – AOK Bundesverband u.a.; v. 27.6.2017 – C-74/16, ECLI:EU:C:2017:496 Rz. 41 ff. – Congregación de Escuelas Pías; Callies/Ruffert/Cremer5, Art. 107 AEUV Rz. 27; s. ferner EuGH v. 10.1.2006 – C-222/04, ECLI:EU:C:2006:8 Rz. 111 ff. – Cassa di Risparmio di Firenze u.a. (Holdings mit Kontrollfunktion). 401 Der Begriff „Produktionszweig“ ist im Rahmen des Art. 107 I AEUV weit zu verstehen und umfasst jeden Wirtschaftszweig einschließlich der Branchen des Dienstleistungssektors, s. EuGH v. 15.12.2005 – C-148/04, ECLI:EU:C:2005:774 Rz. 45 f. – Unicredito; Grabitz/Hilf/Nettesheim/von Wallenberg/ Schütte, Art. 107 AEUV Rz. 40. 402 S. bspw. EuGH v. 8.11.2001 – C-143/99, ECLI:EU:C:2001:598 Rz. 41 – Adria-Wien Pipeline; v. 15.11.2011 – C-106/09 P u.a., ECLI:EU:C:2011:732 Rz. 90 – Kommission/Gibraltar; v. 18.7.2013 – C-6/12, ECLI:EU:C:2013:525 Rz. 19 – P Oy; v. 4.6.2015 – C-5/14, ECLI:EU:C:2015:354 Rz. 76 ff. – KKW Lippe-Ems; v. 21.12.2016 – C-20/15 P, ECLI:EU:C:2016:981 Rz. 54–60 und Rz. 67–80 – World Duty Free u.a. (dort auch zum – richtigerweise abzulehnenden – Ausnahmefall einer Prüfung des Steuersystems selbst auf selektive Wirkung).
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§ 4 Rz. 117
Europäisches Steuerrecht
lung des Vorteils abgehandelt403. Eine potenziell selektive Begünstigung ist bei jeder Verschonung von der Regelbelastung anzunehmen; nicht erforderlich ist, dass die Begünstigung tatbestandstechnisch als explizite Ausnahmebestimmung (Steuerbefreiung o.ä.) konzipiert ist404. Liegt eine solche Abweichung vom Referenzsystem vor, soll sodann die „tatsächliche und rechtliche Vergleichbarkeit“ von begünstigten und nichtbegünstigten Unternehmen anhand des mit der steuerlichen Regelung verfolgten Ziels zu beurteilen sein405. In jüngerer Zeit setzt sich in Rspr. und Kommissionspraxis dabei immer mehr die Tendenz durch, die maßgebliche Zielsetzung anhand der allgemeinen Steuerwürdigkeitsentscheidungen im Rahmen der jeweiligen Steuerart zu bestimmen. Stellt man hingegen auf das lenkungspolitische Anliegen der beihilfeverdächtigen Vergünstigungsregelung ab, wäre jede folgerichtig ausgestaltete Steuervergünstigung beihilferechtlich hinzunehmen406. Grds. nicht zu beanstanden sind jedenfalls unterschiedslos allen Unternehmen offen stehende Steuervergünstigungen407, sofern sie nicht (ausnahmsweise) faktisch selektiv sind (Rz. 118). Die Selektivität einer Maßnahme kann hingegen nicht schon deshalb ausgeschlossen werden, weil eine große Zahl von Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen408 oder ein ganzer Wirtschaftszweig409 eine Steuervergünstigung in Anspruch nehmen können. I.Ü. soll die Selektivität eines Steuervorteils nach der Rspr. des EuGH widerlegt sein, wenn selbiger trotz seines Ausnahmecharakters „durch die Natur und den inneren Aufbau des Steuersystems gerechtfertigt“ ist410. Dies ist nach Ansicht des EuGH anzunehmen, wenn der Vorteil sich als folgerichtige Entfaltung von Grund- oder Leitprinzipien darstellt, die dem betreffenden Steuersystem zugrunde liegen. „Externe“, innerhalb des jeweiligen Referenzsystems nur punktuell – insb. zu Lenkungszwecken oder aus wirtschaftspolitischen Motiven – verfolgte Zielsetzungen haben hingegen keine legitimierende Wirkung411. Die Kommission hält zudem auch verhältnismäßige Vereinfachungszwecknormen412 oder sonst dem effektiven Steuervollzug dienende Regelungen für rechtfertigungsfähig413. 403 S. bspw. EuGH v. 22.12.2008 – C-487/06 P, ECLI:EU:C:2008:757 Rz. 82 – British Aggregates; v. 13.2.2003 – C-409/00, ECLI:EU:C:2003:92 Rz. 47 – Spanien/Kommission; v. 11.9.2008 – C-428/06, ECLI:EU:C:2008:488 Rz. 46 – Unión General de Trabajadores. S. dazu auch Ezcurra, Intertax 2013, 340 (343) m.w.N. 404 Grundl. EuGH v. 22.12.2008 – C-487/06 P, ECLI:EU:C:2008:757 Rz. 89 und 92 – British Aggregates; seither st. Rspr., s. auch Rydelski, EC Tax Review 2010, 149 (150). 405 S. EuGH v. 8.11.2001 – C-143/99, ECLI:EU:C:2001:598 Rz. 41 – Adria-Wien Pipeline; v. 22.6.2006 – C-182/03 u.a., ECLI:EU:C:2006:416 Rz. 119 – Belgien und Forum 187; v. 29.4.2004 – C-308/01, ECLI:EU:C:2004:252 Rz. 68 – GIL Insurance u.a.; v. 6.9.2006 – C-88/03, ECLI:EU:C:2006:511 Rz. 56 – Portugal/Kommission; v. 15.11.2011 – C-106/09 P, ECLI:EU:C:2011:732 Rz. 75 – Kommission/Gibraltar. Zur Darlegungs- und Beweislast s. EuGH v. 8.9.2011 – C-279/08 P, ECLI:EU:C:2011:551 Rz. 65 f. – Kommission/Niederlande. 406 Zur vor allem früher noch schwankenden Handhabung des Bezugspunkts der Finalitätsbetrachtung durch EuGH und Kommission s. Bartosch, Common Market Law Review 2010, 729 (741 f.). 407 S. EuGH v. 19.9.2000 – C-156/98, ECLI:EU:C:2000:467 Rz. 22 – Deutschland/Kommission; v. 15.11.2011 – C-106/09 P, ECLI:EU:C:2011:732 Rz. 73 – Kommission u.a./Gibraltar u.a.; EuG v. 17.12.2015 – T-515/13 u.a., ECLI:EU:T:2015:1004 Rz. 141 ff. – Spanien u.a./Kommission; Micheau, EC Tax Review 2008, 276 (281). 408 S. EuGH v. 17.6.1999 – C-75/97, ECLI:EU:C:1999:311 Rz. 32 – Belgien/Kommission („Maribel“); v. 8.11.2001 – C-143/99, ECLI:EU:C:2001:598 Rz. 48 – Adria-Wien Pipeline; v. 21.12.2016 – C-20/15 P, ECLI:EU:C:2016:981 Rz. 80 – World Duty Free u.a. m.w.N. 409 S. bspw. EuGH v. 15.12.2005 – C-148/04, ECLI:EU:C:2005:774 Rz. 45 – Unicredito (Bankgewerbe). Krit. M. Lang, IStR 2010, 570 (578); wie hier Rossi-Maccanico, EStAL 2009, 489 (496). 410 Grundl. EuGH v. 2.7.1974 – 173/73, ECLI:EU:C:1974:71 Rz. 33 – Italien/Kommission. Seitdem st. Rspr., s. bspw. EuGH v. 8.11.2001 – C-143/99, ECLI:EU:C:2001:598 Rz. 42 – Adria-Wien Pipeline; v. 6.9.2006 – C-88/03, ECLI:EU:C:2006:511 Rz. 80 – Portugal/Kommission; v. 15.11.2011 – C-106/09 P, ECLI:EU:C:2011:732 Rz. 146 ff. – Kommission/Gibraltar (auch zur Darlegungs- und Beweislast); v. 21.12.2016 – C-524/14 P, ECLI:EU:C:2016:971 Rz. 41 – Hansestadt Lübeck. 411 Grundl. EuGH v. 6.9.2006 – C-88/03, ECLI:EU:C:2006:511 Rz. 81 – Portugal/Kommission. 412 S. Beschluss der Kommission v. 16.10.2013, K(2013) 6654 endg., Rz. 39. 413 S. Rossi-Maccanico, Intertax 2012, 92 (99).
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E. Das Beihilfenverbot im Steuerrecht
Rz. 118 § 4
Die Bestimmung des zutreffenden Referenzsystems zur Vorteilsbestimmung bereitet mitunter Probleme. Beispiel: § 8c I KStG lässt den körperschaftsteuerlichen Verlustvortrag bei einem sog. „schädlichen Beteiligungserwerb“ ganz oder teilweise untergehen (§ 11 Rz. 58). § 8c Ia KStG nimmt den Beteiligungserwerb zum Zwecke der Sanierung hiervon aus. Die EU-Kommission hat die Sanierungsklausel des § 8c Ia KStG als verbotene Beihilfe eingestuft414. Der Beschluss basiert maßgeblich darauf, dass § 8c I KStG als Referenzrahmen festgelegt und die Vergleichbarkeitsprüfung an dessen – angeblicher – Zielsetzung ausgerichtet wurde, die Nutzung von Verlustvorträgen bei Übergang signifikanter Anteile des Gesellschaftskapitals auf einen neuen Anteilseigner mit Einfluss auf die Geschäftsführung aus fiskalischen Gründen zu begrenzen. Dementsprechend wird die Ausnahme des § 8c Ia KStG als selektiver Vorteil zugunsten bestimmter – hinsichtlich dieser Zielsetzung mit den übrigen Gesellschaften vergleichbarer – sanierungsbedürftiger Gesellschaften qualifiziert. Eine Rechtfertigung aus Gründen der Missbrauchsabwehr wurde zurückgewiesen. Hätte man hingegen das körperschaftsteuerliche Trennungsprinzip als Referenzrahmen gewählt und § 8c I KStG als Ausnahme hiervon eingestuft, die der Abwehr von Mantelkäufen u. ä. Gestaltungsmissbräuchen dient, wäre § 8c Ia KStG als Gegenausnahme in Fällen fehlender Missbrauchsgefahr systemkonform gewesen und hätte darum nicht einmal als Vorteil, jedenfalls nicht als selektiv eingestuft werden dürfen. Seit der Ergänzung des § 8c I KStG um die Sätze 4 ff. und erst recht seit Einführung des § 8d KStG erscheint die letztgenannte Sichtweise auch zutreffend. Die Kommissionsansicht überzeugt nur im Lichte der ursprünglichen, rein fiskalisch motivierten Fassung des § 8c I KStG415.
Fraglich ist, inwieweit Steuervergünstigungen mittelbar selektiv wirken, selbst wenn die tatbestand- 118 lichen Voraussetzungen für ihre Inanspruchnahme nicht nach bestimmten Unternehmensmerkmalen des Stpfl. (wie etwa Unternehmensfunktionen, Unternehmensgröße oder öffentlich-rechtlicher Rechtsform416) differenzieren. Als geklärt kann in diesem Zusammenhang nur gelten, dass indirekte Vorteile zugunsten bestimmter anderer Unternehmen beihilfenrelevant sind, wenn sie schon in den gesetzlichen Kriterien für die Gewährung der Steuervergünstigung angelegt sind (mittelbare Begünstigung „de jure“)417. Keiner klaren Linie folgt hingegen v.a. die Kommission hinsichtlich der Beurteilung faktisch ungleicher Verteilungswirkungen einer Steuervergünstigungen im Verhältnis zwischen verschiedenen Branchen oder Unternehmenstypen (mittelbare Begünstigung „de facto“)418. Häufig wird unter Orientierung am Vergünstigungszweck stillschweigend die Vergleichbarkeit der unterschiedlich betroffenen Unternehmen oder Wirtschaftszweige in Abrede gestellt, etwa wenn der Einzelhandel in geringerem Maße von Steueranreizen für Forschung und Entwicklung profitiert als bspw. die Automobil- oder Chemiebranche419.
414 S. Beschluss der Kommission v. 26.1.2011, K(2011) 275 endg. S. dazu auch de Weerth, DB 2010, 1205; Drüen, DStR 2011, 289; Linn, IStR 2011, 481; Blumenberg/Kring, Europäisches Beihilferecht und Besteuerung, IFSt-Schrift Nr. 473 (2011), 51 ff.; Arhold, EStAL 2011, 71; Hackemann/Momen, BB 2011, 2135; Drüen, FS Spindler, 2011, 29 (47 f.); Drüen, DStR 2011, 289; Blumenberg/Haisch, FR 2012, 12; Klemt, DStR 2013, 1057; Brodersen/Mückl, ET 2014, 56; Grube, Der Einfluss des unionsrechtlichen Beihilfeverbots auf das deutsche Steuerrecht, 2014, S. 103 ff.; Ismer/Karch, IStR 2014, 130 (132 ff.); Musil, FR 2014, 953 (954 f.). 415 A.A. EuG v. 4.2.2016 – T-620/11, ECLI:EU:T:2016:59 Rz. 111–147 – GFKL Financial Services. 416 Zur Selektivität solcher Kriterien s. EuGH v. 22.6.2006 – C-182/03 u.a., ECLI:EU:C:2006:416 Rz. 125 – Belgien und Forum 187; Mitteilung der Kommission v. 10.12.1998, Rz. 19 f.; Umsetzungsbericht der Kommission v. 9.2.2004, 9; Micheau, EC Tax Review 2008, 276 (277). 417 Exemplarisch EuGH v. 19.9.2000 – C-156/98, ECLI:EU:C:2000:467 Rz. 25 ff. – Deutschland/Kommission, zu § 6b EStG i.d.F. des JStG 2009, wonach allen unternehmerisch tätigen Steuerpflichtigen ein Besteuerungsaufschub für gewisse Veräußerungsgewinne bei Reinvestition in Beteiligungen an bestimmten – somit indirekt begünstigten – Unternehmen im Osten Deutschlands gewährt wurde. 418 S. die wachsweiche Formulierung der Mitteilung der Kommission v. 10.12.1998, Rz. 14: Art. 107 I AEUV sei in solchen Konstellationen „nicht zwangsläufig“ anwendbar. Nach Jann, FS Baudenbacher, 2007, 419 (427), sollen derartige Effekte grds. unbeachtlich sein. Vgl. aber etwa EuGH v. 14.7.1983 – 203/82, ECLI:EU:C:1983:218 – Kommission/Italien. 419 Vgl. dazu Kommissionsmitteilung v. 22.11.2006, Wege zu einer wirksameren steuerlichen Förderung von FuE, KOM(2006) 728, 7 f.; ebenso bspw. Bernabeu, ET 2014, 178 (187).
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§ 4 Rz. 119
Europäisches Steuerrecht
119 Keine Handhabe bietet das EU-Beihilfenrecht gegen den sog. „fairen“ Steuersystemwettbewerb420, etwa in Gestalt eines allgemein niedrigen KSt-Satzes, wie ihn Irland und Zypern eingeführt haben421. Umstritten ist, inwieweit ausnahmsweise schon nationale Belastungsgrundentscheidungen oder sie konkretisierende Besteuerungsmaßstäbe, d.h. grundlegende Systementscheidungen selbst schon für sich genommen wegen selektiver Wirkungen beihilferechtlich beanstandet werden könnnen. Diese Frage steht derzeit im Mittelpunkt der Diskussion um das Vorgehen der Kommission gegen die „aggressiver“ Steuerplanung Vorschub leistende Abgrenzung der jeweiligen nationalen Besteuerungshoheit im Außensteuerrecht und der diesbzgl. Verwaltungspraxis einiger Mitgliedstaaten (Rz. 115 a.E.)422. Richtigerweise liegt in einer solch expansiven Beihilfenkontrolle ein unzulässiger Übergriff in die Steuersouveränität der Mitgliedstaaten423. Wettbewerbsverfälschende nationale Systementscheidungen sind kein Fall des Art. 107 I AEUV, sondern des Harmonisierungsauftrags des Art. 116 AEUV. Der EuGH hingegen hat die Tür hierfür geöffnet, sofern in der Folge eine anhand „typischer und spezifischer Merkmale“ abgrenzbare Gruppe von Unternehmen begünstigt wird424. 120 Die Prüfung des Beihilfecharakters einer Steuervergünstigung durch Kommission und EuGH weist
einen Mangel an rechtsdogmatischer Stringenz auf. Richtigerweise kann schon das Vorliegen eines beihilfeverdächtigen Vorteils nur angenommen werden, wenn die Steuerentlastung oder -verschonung sich nicht auf den Belastungsgrund der Steuer bzw. auf ein diesen Belastungsgrund folgerichtig konkretisierendes Leitprinzip der Besteuerung (bei Lenkungsteuern ggf. das Lenkungsziel) zurückführen lässt425. Anderenfalls wäre das gesamte mitgliedstaatliche Steuerrecht einer potenziellen Beihilfekontrolle unterworfen, weil keine Steuer (außer der Kopfsteuer) vollständig wettbewerbsneutral und frei von Begünstigungswirkungen ist426. Darauf sind die Art. 107 f. AEUV aber nicht angelegt427. Damit ist die vom EuGH propagierte zusätzliche, ebenfalls an denselben grundlegenden Steuerwürdigkeitsentscheidungen ansetzende Vergleichbarkeitsprüfung zwischen begünstigten und nicht begünstigten Unternehmen ebenso redundant wie die darauf basierende Möglichkeit der Rechtfertigung durch dem Steuersystem inhärente Grundwertungen. Als selektiv ist eine nicht systemkonforme Begünstigung nach dem Sinn und Zweck des Art. 107 AEUV (Rz. 115) zu qualifizieren, wenn sie zielgerichtet nur bestimmte Gruppen von Unternehmen428 steuerlich entlastet und so im (nationalen 420 Vgl. EuGH v. 6.9.2006 – C-88/03, ECLI:EU:C:2006:511 Rz. 56 ff. – Portugal/Kommission; EuG v. 7.11.2014 – T-399/11, ECLI:EU:T:2014:938 Rz. 75 f. – Banco Santander; GA Darmon, Schlussanträge v. 17.3.1992 – C-72/91 und C-73/91, ECLI:EU:C:1992:130 Rz. 62 – Sloman Neptun u.a.; GA Kokott, Schlussanträge v. 8.5.2008 – C-428/06 u.a., ECLI:EU:C:2008:262 Rz. 48 – UGT-Rioja u.a. 421 Der geographische Bezugsrahmen der Selektivität reicht nicht über die Grenzen des jeweiligen Mitgliedstaats hinaus, vgl. EuGH GrK v. 6.9.2006 – C-88/03, ECLI:EU:C:2006:511 Rz. 56 ff. – Portugal/ Kommission. 422 Die Kommission greift darüber hinaus auch in weiteren Verfahren auf diesen Ansatz zurück; s. Ylinen, IStR 2017, 100. 423 S. Luja, Intertax 2012, 120 (130 f.). Zumindest zur Zurückhaltung mahnen auch Ismer/Piotrowski, Intertax 2018, 156 (165). 424 S. EuGH v. 15.11.2011 – C-106/09 P, ECLI:EU:C:2011:732 Rz. 146 ff. – Kommission u.a./Gibraltar u.a.; bestätigt durch EuGH v. 21.12.2016 – C-20/15 P, ECLI:EU:C:2016:981 Rz. 74 – World Duty Free u.a. 425 Exemplarisch EuG v. 26.1.2006 – T-92/02, ECLI:EU:T:2006:26 Rz. 67 ff. – Stadtwerke Schwäbisch Hall u.a. (zu § 6 I Nr. 3a Buchst. d S. 3 EStG); s. auch den Diskussionsbeitrag von Schön, 17. ÖJT, Bd. IV/2, 2009, 28; sowie Jennert/Ellenrieder, EWS 2011, 305 (307 f.); abl. M. Lang, ISR 2013, 65 (67), m.w.N. Ergänzend ist beim einzelfallabhängigen Steuererlass ein Vergleich mit dem Verhalten privater Kapitalgeber bzw. Gläubiger anzustellen, vgl. EuGH v. 5.6.2012 – C-124/10 P, ECLI:EU:C:2012:318 Rz. 75 ff. – Kommission/EDF; v. 24.1.2013 – C-73/11 P, ECLI:EU:C:2013:32 Rz. 70 ff. – Frucona Kosˇice. 426 Zimmermann/Henke/Broer, Finanzwissenschaft12, 330; Wellisch, Finanzwissenschaft II, 2000, 95. 427 S. auch GA Jääskinen, Schlussanträge v. 7.4.2011 – C-106/09 P u. C-107/09 P, ECLI:EU:C:2011:215 Rz. 189 – Kommission u.a./Gibraltar u.a. 428 Zu relevanten Merkmalen, die eine gruppenspezifische Begünstigung begründen können, in Abgrenzung von allen Unternehmen gleichermaßen offen stehenden Tatbestandsvoraussetzungen s. näher Schaumburg/Englisch, Rz. 9.30; grds. – nicht aber bzgl. der Anwendung im Einzelfall – überzeugend auch EuG v. 7.11.2014 – T-399/11, ECLI:EU:T:2014:938 Rz. 60 f. – Banco Santander.
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E. Das Beihilfenverbot im Steuerrecht
Rz. 122 § 4
oder binnenmarktweiten) Wettbewerb mit nicht begünstigten Unternehmen stärkt, oder wenn sie ihrer bloßen Wirkung nach bestimmte Unternehmen signifikant stärker entlastet als andere (z.B. Steuervergünstigungen für Forschung und Entwicklung). Ersterenfalls (de jure-Selektivität) sollte die Kontrolldichte umso höher sein, je spezifischer die begünstigte Gruppe abgegrenzt werden kann. Letzterenfalls (de facto-Selektivität) ist der Ausweitung des sachlichen Anwendungsbereichs des Art. 107 I AEUV (auf Fälle jenseits des klassischen Leitbilds der gezielten Marktintervention durch Subventionen) mittels einer parallelen Ausweitung der Rechtfertigungsmöglichkeiten jenseits der geschriebenen Gründe des Art. 107 II und III AEUV Rechnung zu tragen, ähnlich wie dies auch bei den Grundfreiheiten geschehen ist (s. Rz. 93)429. Ansonsten hingegen darf eine schon den Beihilfetatbestand ausschließende Rechtfertigung selektiver Wirkungen nur bei verhältnismäßigen Vereinfachungszwecknormen u.ä. Maßnahmen angenommen werden. Besonderheiten gelten hinsichtlich der regionalen Selektivität von Steuervergünstigungen zugunsten der in einem bestimmten Gebiet innerhalb eines Mitgliedstaates niedergelassenen Unternehmen. Nach gefestigter EuGH-Rspr. ist hier wie folgt zu differenzieren430: Ist die Begünstigung dem Zentralstaat zurechenbar, also bundesgesetzlich verankert, ist die Selektivität uneingeschränkt zu bejahen431. Sind umgekehrt allein subnationale Gebietskörperschaften zur Festlegung des innerhalb ihres Gebietes jeweils geltenden Steuerniveaus befugt, soll mangels steuerlichen „Normalmaßes“ eine regionale Niedrigbesteuerung für sich genommen keine Beihilfe darstellen432. Unterschiedliche kommunale GewSt-Hebesätze (s. § 12 Rz. 43) oder relativ niedrige GrESt-Sätze in einigen Bundesländern (s. § 18 Rz. 2, 65) können daher nicht nach Art. 107 I AEUV beanstandet werden. Bei der in Deutschland praktisch nicht relevanten „asymmetrischen“ subnationalen Steuerhoheit in Gestalt einer Befugnis nur bestimmter Gebietskörperschaften zur Abweichung vom an sich bundesgesetzlich vorgegebenen Steuersystem wiederum soll es maßgeblich auf die Autonomie dieser Körperschaften ankommen433.
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Die übrigen Merkmale verbotener Beihilfen i.S.d. Art. 107 I AEUV sind auf dem Gebiet des Steuer- 122 rechts meist unproblematisch zu bejahen. So bedarf es keines konkreten Nachweises der Auswirkung auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten und einer tatsächlichen Wettbewerbsverzerrung; eine dahingehende von der Steuervergünstigung ausgehende abstrakte Eignung bzw. Gefahr genügt434. Die Beihilfe wird auch regelmäßig aus staatlichen Mitteln, nämlich durch einen Verzicht auf Steueraufkommen finanziert435. Eine Saldierung der Aufkommenseinbußen mit erwarteten Steuermehreinnahmen infolge der von einer Steuervergünstigung ausgehenden Investitionsanreize ist in diesem Zusammenhang nach Sinn und Zweck des Art. 107 I AEUV unzulässig436. Außerdem muss die Ge429 So tendenziell auch Micheau, EC Tax Review 2008, 276 (282). 430 S. insb. EuGH v. 19.9.2000 – C-156/98, ECLI:EU:C:2000:467 Rz. 23 ff. – Deutschland/Kommission; v. 6.9.2006 – C-88/03, ECLI:EU:C:2006:511 Rz. 63 ff. – Portugal/Kommission. Dazu auch M. Lang, 17. ÖJT, Bd. IV/2, 2009, 36. 431 S. etwa EuGH v. 19.9.2000 – C-156/98, ECLI:EU:C:2000:467 Rz. 23 ff. – Deutschland/Kommission. 432 S. EuGH v. 6.9.2006 – C-88/03, ECLI:EU:C:2006:511 Rz. 64 ff. – Portugal/Kommission; Arhold, EuZW 2006, 717 (719 f.); a.A. M. Lang, IStR 2010, 570 (574 f.); s. auch Glaser, EuZW 2009, 363. Vgl. ferner EuGH v. 21.12.2016 – C-524/14 P, ECLI:EU:C:2016:971 Rz. 62 – Hansestadt Lübeck. 433 So grundl. das sog. Azoren-Urteil des EuGH GrK v. 6.9.2006 – C-88/03, ECLI:EU:C:2006:511 Rz. 56 – Portugal/Kommission; seither st. Rspr., s. bspw. EuGH v. 11.9.2008 – C-428/06 u.a., ECLI:EU:C: 2008:488 Rz. 49 ff. – UGT-Rioja u.a. Dazu Stein, EWS 2006, 493; Arhold, EuZW 2006, 717; de Weerth, IStR 2008, 732; Glaser, EuZW 2009, 363; M. Rust, Regionale Steuerautonomie vor dem europäischen Beihilferecht, 2013, S. 133 ff., m.w.N. 434 S. EuGH v. 15.12.2005 – C-148/04, ECLI:EU:C:2005:774 Rz. 54 – Unicredito; v. 15.6.2006 – C-393/04 u.a., ECLI:EU:C:2006:403 Rz. 34 – Air Liquide. S. allerdings auch die De-minimis-Verordnung (EU) Nr. 1407/2013 der Kommission v. 18.12.2013. 435 S. bspw. EuGH v. 19.9.2000 – C-156/98, ECLI:EU:C:2000:467 Rz. 25 ff. – Deutschland/Kommission; EuG v. 4.2.2016 – T-620/11, ECLI:EU:T:2016:59 Rz. 172 ff. – GFKL Financial Services; s. auch EuGH v. 2.7.1974 – 173/73, ECLI:EU:C:1974:71 Rz. 33 und 35 – Italien/Kommission. 436 S. EuGH v. 22.6.2006 – C-182/03 u.a., ECLI:EU:C:2006:416 Rz. 128 f. – Belgien und Forum 187/Kommission; Grube, DStZ 2007, 370 (376).
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§ 4 Rz. 123
Europäisches Steuerrecht
währung der steuerlichen Beihilfe dem Mitgliedstaat zurechenbar sein; es darf keine sog. Unionsbeihilfe vorliegen. Nach der Rspr. des EuGH handelt es sich dabei entgegen dem Wortlaut des Art. 107 I AEUV nicht um ein alternatives, sondern um ein kumulatives Erfordernis im Verhältnis zur Finanzierung aus staatlichen Mitteln437; dies entspricht der Abschnittsüberschrift im AEUV und der Entstehungsgeschichte der Norm438. Relevant wird diese Voraussetzung nur in harmonisierten Bereichen des Steuerrechts (s. Rz. 66): Der Beihilfeeffekt einer Steuervergünstigung ist dort dem Mitgliedstaat nicht zurechenbar, wenn er in einer EU-Richtlinie zwingend vorgegeben ist439 oder wenn eine verzichtbare Richtlinienbestimmung die beihilfenverdächtige Steuervergünstigung als Regelfall vorsieht440. Dasselbe wird man darüber hinaus annehmen müssen, wenn der Beihilfeneffekt vom EU-Sekundärrecht gedeckt ist, weil er einer den Mitgliedstaaten eingeräumten Gestaltungsoption inhärent ist441. 123 Art. 107 AEUV enthält ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Die Kommission ist gem.
Art. 108 III 1 AEUV vor Einführung jeder als Beihilfe zu qualifizierenden Steuervergünstigung zu unterrichten (sog. Notifizierungsverfahren)442. Nach Art. 107 II AEUV sind bestimmte Beihilfen stets mit dem Binnenmarkt vereinbar und dürfen daher eingeführt werden; die Vorschrift wird jedoch sehr restriktiv ausgelegt443. Daneben kann die Kommission Beihilfen mit einer in Art. 107 III AEUV aufgeführten Zwecksetzung für binnenmarktkompatibel erklären. Sie verfügt hierbei nach – fragwürdiger – Ansicht des EuGH über ein sehr weites Ermessen444, das sie durch zahlreiche Mitteilungen und Leitlinien445 fallgruppenspezifisch konkretisiert hat. Für bestimmte Arten von Beihilfen hat die Kommission zudem in z.T. auch für steuerliche Beihilfen relevanten sog. Gruppenfreistellungsverordnungen Voraussetzungen niedergelegt, bei deren Erfüllung eine Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt unterstellt wird und eine Notifizierungspflicht entfällt446.
437 S. allgemein EuGH v. 16.5.2002 – C-482/99, ECLI:EU:C:2002:294 Rz. 24 – Frankreich/Kommission; und speziell in steuerrechtlichem Kontext EuGH v. 22.6.2006 – C-182/03 u.a., ECLI:EU:C:2006:416 Rz. 127 – Belgien und Forum 187/Kommission; v. 23.4.2009 – C-460/07, ECLI:EU:C:2009:254 Rz. 67 ff. – Puffer; v. 5.4.2006 – T-351/02, ECLI:EU:T:2006:104 Rz. 100 f. – Deutsche Bahn. 438 S. auch Englisch, EuR 2009, 488 (489 ff.); s. auch EuG v. 5.4.2006 – T-351/02, ECLI:EU:T:2006:104 Rz. 100 – Deutsche Bahn m.w.N. 439 S. EuGH v. 23.4.2009 – C-460/07, ECLI:EU:C:2009:254 Rz. 67 ff. – Puffer. 440 S. EuG v. 5.4.2006 – T-351/02, ECLI:EU:T:2006:104 Rz. 100 ff. – Deutsche Bahn. 441 So auch Jatzke, EWS 2000, 491 (498). S. dazu in anderem Kontext EuGH v. 26.10.2010 – C-97/09, ECLI:EU:C:2010:632 Rz. 54 – Schmelz; zurückhaltender aber EuGH v. 10.12.2013 – C-272/12 P, ECLI:EU:C:2013:812 Rz. 47 ff. – Kommission/Irland u.a. Eine ausdrückliche Regelung besteht für die Energiesteuerrichtlinie 2003/96/EG, vgl. deren Art. 26 II; s. dazu auch EuG v. 22.4.2016 – T-60/06 RENV II u.a., ECLI:EU:T:2016:233 Rz. 61 ff. – Italien u.a./Kommission (zur Vorläuferrichtlinie). 442 Hierzu anhand des Genehmigungserfordernisses der Ausnahmetatbestände im Strom- und Energiesteuergesetz Frenz/Roth, DStZ 2006, 465; F. Kirchhof, ZfZ 2006, 246. 443 Exemplarisch EuGH v. 19.9.2000 – C-156/98, ECLI:EU:C:2000:467 Rz. 49 – Deutschland/Kommission. 444 S. bspw. EuGH v. 14.2.1990 – C-301/87, ECLI:EU:C:1990:67 Rz. 15 – Frankreich/Kommission; v. 29.4.2004 – C-372/97, ECLI:EU:C:2004:234 Rz. 83 – Italien/Kommission; v. 13.2.2003 – C-409/00, ECLI:EU:C:2003:92 Rz. 93 – Spanien/Kommission; Calliess/Ruffert/Cremer5, Art. 107 AEUV Rz. 50. 445 Zu deren (Selbst-)Bindungswirkung s. bspw. EuGH v. 2.12.2010 – C-464/09 P, ECLI:EU:C:2010:733 Rz. 46 f. – Holland Malt/Kommission. 446 S. insb. Art. 3 der allgemeinen GruppenfreistellungsVO (EU) 651/2014 i.V.m. Art. 108 IV, 109 AEUV i.V.m. Art. 1 I der Ermächtigungs-VO 2015/1588.
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§5 Rechtsanwendung im Steuerrecht A. Rechtsnormen des Steuerrechts Literatur: HHSp/Wernsmann, § 4 AO; Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO; Klein/Gersch13, § 4 AO; Ehlers, Rechtsquellen und Rechtsnormen der Verwaltung, in Ehlers/Pünder, Allgemeines Verwaltungsrecht15, 2015, § 2.
Steuerrechtliche Rechtsanwendung setzt Gesetze i.S.v. Rechtsnormen1 voraus. Nach § 4 AO ist Gesetz 1 „jede Rechtsnorm“. Normen sind Regeln, Vorschriften oder Maßstäbe; sie können rechtsverbindlich sein oder nicht. Rechtsnormen sind für von ihnen betroffene Bürger rechtsverbindlich. Rechtsnormen – auch als Außenrechtssätze oder Rechtsquellen bezeichnet – sind abstrakte und generelle (d.h. für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen geltende) Anordnungen, die in einem bestimmten örtlichen Bereich zu einer bestimmten Zeit im Verhältnis zwischen den jeweils von ihnen Betroffenen verbindlich in dem Sinne sind, dass ihre Durchsetzung von einer staatlichen Autorität garantiert wird2. Für den Bereich des Steuerrechts sind solche Rechtsnormen: förmliche Gesetze, Rechtsverordnungen, autonome Satzungen, völkerrechtliche Rechtsquellen (insb. Doppelbesteuerungsabkommen) und supranationale Normen. Nicht rechtsverbindlich sind die moralischen oder religiösen Normen. Dem Rang nach steht die Verfassung mit ihren Grundnormen über den einfachen Gesetzen, die ein- 2 fachen Gesetze stehen über den Rechtsverordnungen und den Satzungen (sog. Stufenbau der Rechtsordnung). Es gilt der Grundsatz: Lex superior derogat legi inferiori. Rechtsnormen des Unionsrechts gehen im Konfliktfall jeglichem nationalen Recht (grds. auch Verfassungsrecht) im Rang vor, soweit sie innerstaatlich unmittelbar anwendbar sind (dazu § 4 Rz. 24). Konkurrieren Gesetze gleichen Ranges, so gelten folgende ungeschriebene Regeln3: Jüngere Gesetzes- 3 vorschriften gehen älteren vor4; speziellere Gesetzesvorschriften gehen generelleren vor. Generellere jüngere Gesetzesvorschriften gehen spezielleren älteren nicht vor, sofern sich nicht ausnahmsweise im Wege der Auslegung ein abweichender gesetzgeberischer Wille feststellen lässt5. Diese Kollisionsregeln gelten auch im Verhältnis von Völkervertragsrecht (namentlich DBA) zu einfachem nationalem Gesetzesrecht, weil Völkervertragsrecht nur den Rang des nationalen Zustimmungsgesetzes hat6. Die Vorrangregelung des Art. 25 Satz 2 GG gilt insoweit nicht; hieran vermag die Bestimmung des § 2 I AO nichts zu ändern7. Lässt sich ein Widerspruch nicht anhand der vorstehenden Regeln lösen, heben sich die einander widersprechenden Vorschriften gegenseitig auf; es entsteht dann eine ausfüllungsbedürftige Lücke im Gesetz. 1. Parlamentsgesetze Parlamentsgesetze sind Rechtsnormen, die in einem förmlichen Gesetzgebungsverfahren zustande 4 kommen, ordnungsmäßig ausgefertigt und in den dafür vorgeschriebenen amtlichen Blättern ver1 Zur Typologie der Rechtsnormen umfassend HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 50–197. Ausf. auch Tipke/ Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 50–178. 2 Dazu Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, §§ 22 f.; Jochum, Grundfragen des Steuerrechts, 2012, 64 ff. 3 Ausf. etwa Engisch, Einführung in das juristische Denken11, 2010, 276 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 1991, 266 ff. 4 S. dazu auch BFH v. 30.1.2008 – X R 1/07, BStBl. II 2008, 520 (522). 5 BFH v. 29.9.1992 – VII R 56/91, BFHE 169, 564 (570). 6 Grundlegend zur damit verbundenen Möglichkeit eines sog. „treaty override“ BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1, m.w.N. zum Streitstand. 7 Tipke/Kruse/Drüen, § 2 AO Rz. 38; HHSp/Musil, § 2 AO Rz. 6; Klein/Gersch13, § 2 AO Rz. 3.
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§ 5 Rz. 5
Rechtsanwendung im Steuerrecht
kündet werden (für Bundesgesetze s. Art. 76–78; 82; 105 III GG). Sie werden auch als förmliche oder formelle Gesetze bezeichnet. 5 Dem Rang nach ist zwischen der Verfassung und einfachen Gesetzen, der Gesetzgebungshoheit nach
ist zwischen Bundes- und Landesgesetzen (dazu Art. 105 GG betreffend Steuergesetzgebungshoheit) zu unterscheiden. 6 Verfassung Deutschlands ist das Grundgesetz v. 23.5.1949. Es enthält die rechtliche Grundordnung
und hat Vorrang vor einfachen Gesetzen. Insb. die Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rspr. als unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 III GG; s. auch Art. 20 III GG). Sie enthalten Grundwertungen und begründen in ihrer Gesamtheit eine auch im Steuerrecht zu beachtende Wertordnung. 7 Jedes Gericht i.S.d. Art. 92 GG darf ein einfaches Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit prüfen. Das Gericht kann die Verfassungsmäßigkeit allerdings nur bejahen, aber grds. nicht selbst das Gesetz wegen vermeintlicher Verfassungswidrigkeit verwerfen. Hält ein Gericht (gleich welcher Instanz, also FG, BFH) ein (nachkonstitutionelles) Parlamentsgesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so hat es das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Verfassungsgerichts einzuholen (Art. 100 I GG). Verwaltungsbehörden haben diese Möglichkeit nicht; theoretisch können sie allerdings ein Normenkontrollverfahren der Regierung (Art. 93 I Nr. 2 GG) auslösen8. Der Stpfl. kann mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Art. 20 IV; 33; 38; 101; 103; 104 GG enthaltenen Rechte verletzt zu sein (§ 90 I BVerfGG), Verfassungsbeschwerde zum BVerfG erheben (s. § 22 Rz. 271 ff.).
2. Rechtsverordnungen Literatur: HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 58 ff.; Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 51 ff.; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973; App, Änderungen von Rechtsverordnungen durch den Steuergesetzgeber, StVj 1990, 361; Casser, Die Ermächtigungen des § 51 Abs. 1 Einkommensteuergesetz unter besonderer Berücksichtigung von Art. 80 Grundgesetz, 1990; von Danwitz, Rechtsverordnungen, JA 2002, 93. 8 a) Rechtsverordnungen sind Rechtsnormen, die nicht in einem förmlichen Gesetzgebungsverfahren
zustande kommen, sondern von der Exekutive erlassen werden. Im Steuerrecht geschieht dies typischerweise auf Bundesebene durch Bundesregierung oder Bundesfinanzminister. Die meisten Rechtsverordnungen über Steuern bedürfen der Zustimmung des Bundesrates (s. Art. 80 II i.V.m. Art. 105 III; 108 GG). Die wesentlichen Merkmale des Steuertatbestandes (Steuersubjekt, -objekt, -bemessungsgrundlage u. Steuersatz) müssen sich aus einem Parlamentsgesetz ergeben. Diese herkömmliche Auffassung der Steuerrechtslehre9 entspricht der Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG zu Art. 20 GG, s. BVerfGE 49, 89 (126 f.); 57, 295 (320 f.); 77, 170 (230 f.); 88, 103 (116); 98, 218 (243)10. 9 b) Die Wirksamkeit von auf bundessteuergesetzlicher Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen ist
zunächst von einer hinreichenden Ermächtigungsgrundlage abhängig, vgl. nachfolgend aa)–cc). Daneben muss die Verordnung selbst weiteren – unter dd)–ff) erörterten – Voraussetzungen genügen: 8 Zur strittigen, richtigerweise abzulehnenden Befugnis der Verwaltung, vermeintlich verfassungswidrige Gesetze unangewendet zu lassen, s. Sachs/Sachs8, Art. 20 GG Rz. 97, m.w.N.; BVerfG v. 27.10.1998 – 1 BvR 2306/96, BVerfGE 98, 265, Rz. 211. 9 Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I, 1895, 388 ff.; Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I3, 1924 (Nachdruck 1961), 315 ff.; Felix/Kruse, Vom Rechtsschutz im Steuerrecht, 1960, 93, 109 ff.; Wacke, Staatsrechtliche Prüfung der Zusatzsteuer, 1957, 49 f.; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte, 1973, 67 ff., 177 ff.; Tipke, StRO III, 1993, 1150; Isensee/Kirchhof, HStR V3, § 118 Rz. 104; HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 667. 10 Bzgl. der Notwendigkeit einer Festlegung auch des Steuersatzes durch Parlamentsgesetz allerdings offengelassen in BVerfG v. 17.6.2003 – 2 BvL 1/99 u.a., BVerfGE 108, 186 (235).
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A. Rechtsnormen des Steuerrechts
Rz. 15 § 5
aa) Es muss eine Ermächtigung durch ein formell ordnungsgemäßes Parlamentsgesetz vorliegen 10 (Art. 80 I 1 GG), evtl. eine zusätzliche Unterermächtigung (Art. 80 I 4 GG). Beispiele für Ermächtigungen: § 156 I AO; § 51 EStG; § 33 KStG. bb) Art. 80 GG durchbricht das Prinzip der Gewaltenteilung. Die Verfassung begrenzt die Durchbre- 11 chung durch Anforderungen, die dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot Rechnung tragen11: Die Ermächtigung muss nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt sein (Art. 80 I 2 GG)12. Zudem muss der Wesentlichkeitsvorbehalt (s. Rz. 8) gewahrt sein. Im Steuerrecht sind die diesbezüglichen Voraussetzungen strenger als bei nichtsteuerlichen Abgaben, weil Steuern voraussetzungslos bzw. ohne einen die Abgabenhöhe und -ausgestaltung leitenden Gegenleistungsbezug erhoben werden13. Daher beschränkt sich die Bedeutung von steuerlichen Rechtsverordnungen im Wesentlichen darauf, das Gesetz von fachspezifischen, insb. technischen Details zu entlasten oder Begriffe zu konkretisieren (= das Gesetz durchzuführen). Unzulässig sind hingegen gesetzesvertretende und gesetzesändernde Rechtsverordnungen14. Der Inhalt der Ermächtigung betrifft das durch die Rechtsverordnung zu regelnde Sachgebiet, die zu regelnde Materie (BVerfGE 7, 265 [274]). Der Zweck meint das Ziel, das der Verordnungsgeber zu verfolgen hat (BVerfGE 5, 56 [76]). Das Ausmaß der Ermächtigung bestimmt die Grenzen, die der Verordnungsgeber bei seiner inhaltlichen Regelung beachten muss (BVerfGE 5, 56 [76]). Es genügt, wenn Inhalt, Zweck und Ausmaß durch Auslegung dem Gesetz im Ganzen zu entnehmen sind (BVerfGE 8, 274 [307]; 10, 20 [51]; 20, 296 [304]). Die Ermächtigung ist zu unbestimmt, wenn nicht mehr vorausgesehen werden kann, mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden, welchen Inhalt die Rechtsverordnung haben könnte. Beispiele aus dem Steuerrecht, in denen diese Voraussetzungen nicht gegeben waren: BVerfGE 23, 62 ff. und BFH BStBl. II 1974, 205. cc) Nach Art. 80 I 1 GG können durch Gesetz nur die Bundesregierung, ein Bundesminister oder 12 die Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen (zulässige Erstdelegatare). Das Gesetz kann zwar zur Subdelegation an weitere Organe ermächtigen (Art. 80 I 4 GG), diese aber nicht selbst anordnen. dd) Die Rechtsverordnung muss vom ermächtigten Organ unter Wahrung der einschlägigen Ver- 13 fahrenserfordernisse erlassen worden sein. Sie muss ihre Rechtsgrundlage (Ermächtigungsgrundlage) angeben (Art. 80 I 3 GG). ee) Inhaltlich muss sich die Rechtsverordnung in dem durch die Ermächtigungsgrundlage vorgege- 14 benen Rahmen halten. Ihre Regelungen müssen zudem mit höherrangigem Recht und namentlich mit den Grundrechten vereinbar sein. Ist eine etwaige Grundrechtsverletzung durch die gesetzliche Ermächtigung „vorprogrammiert“, so ist bereits letztere verfassungswidrig und die Rechtsverordnung schon deshalb unwirksam. Beispiel: Die Aufzeichnungspflichten nach § 1 IV Steuerhinterziehungsbekämpfungsverordnung (BGBl. I 2009, 3046) sind unverhältnismäßig, weil sie dem Stpfl. unabhängig von ihrer Besteuerungsrelevanz im Einzelfall auferlegt werden und in Wahrheit als Druckmittel gegenüber „unkooperativen“ Staaten (vgl. BMF BStBl. I 2010, 19) dienen sollen (s. auch Wagner, BB 2009, 2293).
ff) Unter den Voraussetzungen des Art. 80 II GG (s. dazu Rz. 8) muss der Bundesrat der Rechts- 15 verordnung zugestimmt haben. 11 Dazu Isensee/Kirchhof/Ossenbühl, HStR V3, § 103 Rz. 20 ff.; Dreier/Bauer, Bd. II3, Art. 80 GG Rz. 32 ff. 12 S. dazu BVerfG v. 5.3.1958 – 2 BvL 18/56, BVerfGE 7, 282 (301 f.); v. 15.12.1959 – 2 BvL 73/58, BVerfGE 10, 251 (258); v. 3.6.1962 – 2 BvR 15/62, BVerfGE 14, 174 (185); s. auch BVerfG v. 11.1.1966 – 2 BvR 424/63, BVerfGE 19, 354 (362); v. 8.8.1978 – 2 BvL 8/77, BVerfGE 49, 89 (126 f.). 13 S. BVerfG v. 24.11.2009 – 2 BvR 1387/04, BVerfGE 124, 348 (381 f.), m.w.N. 14 Unstr.; vgl. statt aller BFH v. 10.6.2015 – I R 79/13, BStBl. II 2016, 326, Rz. 20; Sachs/Mann8, Art. 80 GG Rz. 10 f., m.w.N. Vgl. demgegenüber auf EU-Ebene Art. 290 I AEUV, s. § 4 Rz. 7.
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§ 5 Rz. 16
Rechtsanwendung im Steuerrecht
16
gg) Die Verordnung muss ordnungsgemäß verkündet sein, im Bundesgesetzblatt (Art. 82 I 2 GG) oder im Bundesanzeiger (Gesetz v. 30.1.1950, BGBl. I 1950, 23); die Veröffentlichung im Bundessteuerblatt genügt nicht.
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Bei Verstößen gegen die in aa)–gg) aufgeführten Voraussetzungen sind Rechtsverordnungen unwirksam. Die Gerichte haben die Verordnungen selbst auf ihre Gültigkeit zu prüfen und evtl. als unwirksam zu behandeln, ohne das Verfassungsgericht anrufen zu müssen.
18
Rechtsverordnungen sind insb. die zu den größeren Steuergesetzen ergangenen Durchführungsverordnungen, wie EStDV, LStDV, KStDV, GewStDV, UStDV, ErbStDV. Die meisten Ermächtigungen zu Rechtsverordnungen sind am Schluss eines Gesetzes zusammengefasst, z.B. § 51 EStG; § 33 KStG; § 35c GewStG. 3. Autonome Satzungen Literatur: HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 78 ff.; Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 75 ff.
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Autonome Satzungen sind Rechtsnormen, die von einer juristischen Person des öffentlichen Rechts im Rahmen ihrer verfassungsrechtlich oder gesetzlich verliehenen Autonomie erlassen werden.
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Für das Steuerrecht relevant ist die Autonomie der Gemeinden (s. Art. 28 II GG und Gemeindeordnungen). Die Gemeindeautonomie enthält allerdings nicht die Befugnis zur Auferlegung von Steuern. Eine solche Regelungsbefugnis ergibt sich auch nicht unmittelbar aus Art. 28 II GG, der lediglich die Ertragshoheit hinsichtlich einer wirtschaftskraftbezogenen Steuerquelle und ein diesbezügliches Hebesatzrecht garantiert (bestr.). Es bedarf dazu vielmehr einer besonderen gesetzlichen, hinreichend bestimmten Ermächtigung. Da solche Ermächtigungen durch Art. 105; 106 VI 2 GG begrenzt sind, verbleibt den Gemeinden über die Festsetzung der Realsteuerhebesätze (s. Art. 106 VI 2 GG) hinaus kein Spielraum15. Allerdings wird angenommen, dass die Länder ihr begrenztes Steuererfindungsrecht (s. Art. 105 IIa GG) auf die Gemeinden übertragen können; dies entspricht auch gängiger Praxis (s. § 2 Rz. 54). Nähere Bestimmungen über kommunale Steuersatzungen enthalten die Kommunalabgabengesetze16. Sie sehen regelmäßig eine Genehmigung der Steuersatzungen durch die Aufsichtsbehörde vor.
4. Gewohnheitsrecht Literatur: HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 142 ff.; Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 100 ff.; Isensee/Kirchhof/ Ossenbühl, HStR, Bd. V3, 2007, § 100 Rz. 57 ff.; Tipke, StRO, Bd. I2, 2000, 129 f.; Tipke, StRO III, 1993, 1155 ff. 21
Gewohnheitsrecht17 besteht aus ungeschriebenen Rechtsnormen. Deren Anerkennung als geltendes und gerichtlich durchsetzbares Recht setzt eine langandauernde Übung (meist veranlasst durch eine langjährige st. Rspr.) voraus sowie die allgemeine Rechtsüberzeugung der beteiligten Kreise, die Übung sei rechtens18 sowie rechtsverbindlich19. Erforderlich ist ferner die Formulierbarkeit der Übung als Rechtssatz.
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Der Parlamentsvorbehalt des steuerrechtlichen Legalitätsprinzips (s. § 3 Rz. 231) schließt die gewohnheitsrechtliche Begründung einer Steuerfolge grds. aus. Das Steuerrecht kennt darum kein steuer15 Zur gemeindlichen Satzungsbefugnis: Bleckmann, DVBl. 1987, 1085; Starck, Verfassungsmäßigkeit der Vergnügungssteuer?, 1973, 39 ff.; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte, 1973, 137 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland II, 1980, § 46 III, 1123 ff. 16 Für NRW vgl. § 2 KAG. 17 Ausf. zum Begriff des Gewohnheitsrechts m.w.N. HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 142 ff. 18 Dazu BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (757); v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 (616). 19 S. BVerfG v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248 (269).
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A. Rechtsnormen des Steuerrechts
Rz. 26 § 5
begründendes oder steuergesetzliche Bestimmungen derogierendes Gewohnheitsrecht20. Soweit allerdings Gewohnheitsrecht durch Ausfüllung von Gesetzeslücken (s. Rz. 74 ff.) entsteht, vermag es auch eine Steuerfolge zu begründen, weil die Steuerfolge letztlich auf die Wertentscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzes zurückgeführt wird21. 5. Supranationales europäisches Recht Das supranationale europäische Steuerrecht (s. § 4) besteht vornehmlich aus dem primären und 23 dem sekundären Unionsrecht22. Den Kern des primären Unionsrechts machen die völkerrechtlichen Gründungsverträge aus. Dies sind seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1.12.2009 (BGBl. II 2008, 1038) der Vertrag über die Europäische Union (EUV, BGBl. II 1992, 1251) und anstelle des bisherigen EG-Vertrages der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV, BGBl. II 2008, 1038 [1039]). Daneben besteht der Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft fort (Euratom, BGBl. II 1957, 1014). Zum primären Gemeinschaftsrecht zählen ferner die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art. 6 I EUV), Protokolle zu den Gründungsverträgen, Verträge über den späteren Beitritt von Staaten sowie Verträge über die institutionelle Struktur der Gemeinschaft. Im Weiteren gehört zum primären Gemeinschaftsrecht auch ungeschriebenes Recht, insb. die sog. allgemeinen Rechtsgrundsätze (s. § 4 Rz. 3). Dazu zählen insb. auch Grundrechte, die der EMRK oder den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zu entnehmen sind, soweit sie nicht schon durch die GrR-Charta gewährleistet werden (Art. 6 III EUV). Das sekundäre Unionsrecht umfasst alle von Organen der EU erlassenen verbindlichen Rechtsakte 24 (Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse; rechtlich unverbindlich sind hingegen Empfehlungen und Stellungnahmen, s. Art. 288 AEUV). Die für das Zollrecht bedeutsamen Verordnungen haben allgemeine Geltung; sie sind in allen Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat (Art. 288 II AEUV). Für das Steuerrecht hauptsächlich relevant sind Richtlinien; für die Harmonisierung speziell der direkten Steuern steht grds. allein diese Handlungsform zur Verfügung (s. Art. 114 II; 115; 116 II AEUV). Richtlinien bedürfen für ihr Wirksamwerden gegenüber dem Bürger grds. der Umsetzung durch nationale Gesetze (s. Art. 288 III AEUV). Werden sie jedoch nicht ordnungsgemäß, insb. nicht fristgemäß umgesetzt, so können sie innerstaatlich unmittelbare Geltung erlangen (s. § 4 Rz. 33 ff.). Zu Rang, Geltungsgrund und Wirkungsweise von primärem und sekundärem Unionsrecht innerhalb 25 der nationalen Steuerrechtsordnung s. § 4 Rz. 8. Steuerrechtlich bedeutsam ist ferner im Verhältnis zu den nicht der EU angehörenden Staaten Liechtenstein, Island und Norwegen das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR, BGBl. II 1993, 267; s. § 4 Rz. 4). 6. Völkerrecht Das Internationale Steuerrecht (s. § 1 Rz. 81 ff.) besteht nicht nur aus nationalen Rechtsnormen, 26 sondern auch aus Normen des Völkerrechts. Zu den Völkerrechtsnormen zählen die in § 2 I AO angesprochenen völkerrechtlichen Verträge, ferner die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, die nach Maßgabe des Art. 25 GG als Bestandteil des Bundesrechts Vorrang vor dem einfachen Bundesrecht und Landesrecht (einschließlich Landesverfassungsrecht) haben. Im Steuerrecht hat vor allem das Völkervertragsrecht insb. in Gestalt von DBA (s. § 1 Rz. 92) Bedeutung23. Völkerrechtlich kommen 20 So auch BFH v. 18.2.1959 – II 28/58 U, BStBl. III 1959, 176 (177). 21 So auch HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 703, 142 ff.; Tipke, StRO I2, 130. 22 Dazu Hofmann, Normenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000; Kofler, FS Rödler, 2010, 433 ff.; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht7, § 9 Rz. 12 ff.; Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, Rz. 1.3. 23 Zum Abschluss und innerstaatlichem Wirksamwerden von DBA s. Vogel/Lehner, DBA6, Grundlagen Rz. 45 ff.; Birk/Kirchhof/Lehner, Steuern im Verfassungsstaat, 1996, 95; Stein, IStR 2006, 505.
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§ 5 Rz. 27
Rechtsanwendung im Steuerrecht
Verträge durch die Zustimmungserklärungen der vertragsschließenden Staaten zustande. Die Zustimmungskompetenz steht gem. Art. 59 I GG dem Bundespräsidenten zu. Mit der Unterzeichnung und dem Austausch besonderer Urkunden (sog. Ratifikation) wird der Vertrag bestätigt und endgültig beschlossen. Seine innerstaatliche Rechtsnormqualität im Range eines Bundesgesetzes erhält er durch das Zustimmungsgesetz gem. Art. 59 II 1 GG. Als Spezialnormen gehen DBA den anderen Steuergesetzen vor, wie § 2 AO klarstellt. Allerdings bleibt der nationale Gesetzgeber befugt, durch ihrerseits speziellere Regelungen (z.B. §§ 20 I, II AStG; 15 Ia; 17 V; 50d I, III, VIII, IX EStG; 8b I; 26 VI KStG; 21 II 3 Nr. 2 UmwStG) DBA-Regelungen zu verdrängen. Dieses sog. „Treaty Override“ ist völkerrechtswidrig und berechtigt u.U. den anderen Vertragsstaat zur Kündigung des DBA. Nach Ansicht des BVerfG ist die Abkommensüberschreibung gleichwohl innerstaatlich ohne weiteres wirksam; sie soll unbeschadet des der Verfassung zu entnehmenden Gebots der Völkerrechtsfreundlichkeit der Rechtsordnung keiner besonderen Rechtfertigung bedürfen24. Die hiergegen im Sondervotum König sowie in Teilen der Literatur25 vorgebrachten Argumente sind gewichtig. Sie tragen aber letztlich der im Demokratieprinzip wurzelnden Notwendigkeit nicht hinreichend Rechnung, dass sich der Gesetzgeber bei veränderten politischen Einschätzungen und Präferenzen von seiner früheren Zustimmung zu einem Abkommen wieder lösen können muss. Zwar wäre dann an sich die Neuverhandlung oder Kündigung des Abkommens ein milderes Mittel; hierzu ist der Gesetzgeber aber nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes nicht befugt26. 27
Allgemeine Regeln des Völkerrechts i.S.d. Art. 25 GG sind das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht und allgemein anerkannte Rechtsgrundsätze des Völkerrechts27. Als Völkergewohnheitsrecht hat sich z.B. das Verbot für jeden Staat herausgebildet, seine Steuerpflicht ohne einen hinreichend sachgerechten räumlichen oder persönlichen Anknüpfungspunkt („genuine link“) zum regelnden Staat auszudehnen28. Allgemeine Rechtsgrundsätze des Völkerrechts spezifizieren vor allem die Rechtsanwendung wie rechtslogische Regeln (Analogieschluss u.a. argumenta, s. Rz. 79 ff.; lex posterior derogat legi priori; lex specialis derogat legi generali), das Verbot des Rechtsmissbrauchs und der Grundsatz von Treu und Glauben. 7. Keine Rechtsnormen 7.1 Verwaltungsvorschriften Literatur: Tipke, StRO III2, 2012, 1431 ff.; Isensee/Kirchhof/Ossenbühl, Autonome Rechtsetzung der Verwaltung, HStR V3, 2007, § 104; Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 80 ff.; Erichsen, Verwaltungsvorschriften als Steuerungsnormen und Rechtsquellen, in FS Kruse, 2001, 39; Leisner, Gesetzmäßigkeit von Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht, StuW 2007, 241; Bonner Komm/Seer, Art. 108 GG Rz. 182 ff.
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Verwaltungsvorschriften (Verwaltungsanordnungen, Verwaltungsverordnungen) können einen Einzelfall betreffen, aber auch eine Vielzahl von Fällen. Auch letzterenfalls sind sie keine Rechtsnormen
24 BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1. Zustimmend Musil, FR 2016, 297; so schon zuvor auch Ismer/Baur, IStR 2014, 421. Zur möglicherweise abweichenden unionsrechtlichen Würdigung s. Scherer, IStR 2016, 741. 25 Sondervotum König, BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1 (44 ff.); Rust/Reimer, IStR 2005, 843 (845 f.); Lehner, IStR 2012, 389 (397 ff.); Stöber, DStR 2016, 1889; Haendel, Treaty Overriding im Internationalen Steuerrecht als Verfassungsproblem, 2016, 151 ff.; sehr weitergehend Vogel, IStR 2005, 29. S. ferner die Vorlagebeschlüsse des BFH v. 10.1.2012 – I R 66/09, BFHE 236, 304, m.w.N.; v. 11.12.2013 – I R 4/13, BFHE 244, 1. 26 BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1, Rz. 55; Kube, StuW 2015, 134 (143 f.); Funke, DÖV 2016, 833 (338 f.); a.A. Payandeh, NJW 2016, 1279 (1281). 27 S. BVerfG v. 8.5.2007 – 2 BvM 1/03 u.a., BVerfGE 118, 124 (134); BVerfG (K) v. 13.8.2013 – 2 BvR 2660/06, EuGRZ 2013, 563, Rz. 42. 28 Dazu eingehend Englisch/Krüger, IStR 2013, 513 (514 ff.); s. auch BVerfG v. 22.3.1983 – 2 BvR 475/78, BVerfGE 63, 343 (369).
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7. Keine Rechtsnormen
Rz. 31 § 5
im hier verstandenen Sinne (s. Rz. 1). Verwaltungsvorschriften müssen grds. nur die nachgeordneten Behörden und Bediensteten kraft ihrer Gehorsamspflicht beachten. Hingegen binden sie grds. nicht die Stpfl. und die Gerichte. Sie begründen insb. keine Pflichten für die Stpfl. (eingehend Tipke, StRO III2, 1436 ff.). Soweit Verwaltungsvorschriften als Rechtsnormen oder (Innen-)Rechtssätze bezeichnet werden, weil sie Teil der Rechtsordnung sind und angewiesene Behörden rechtlich binden (Ossenbühl), bedeutet dies nur eine terminologische Abweichung. Verwaltungsvorschriften werden von übergeordneten Behörden (oder Vorgesetzten) kraft ihrer Or- 29 ganisations- und Geschäftsleitungsgewalt erlassen. Nach Art. 108 VII GG kann die Bundesregierung allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen, und zwar mit Zustimmung des Bundesrats auch, soweit die Verwaltung von Bundessteuerrecht den Landesfinanzbehörden oder Gemeinden obliegt. Die Kompetenz der Bundesfinanzverwaltung für ihren eigenen Bereich ist selbstverständlich; jedoch wird durch Art. 108 VII GG eine Kompetenz auch für den Bereich der Landesfinanzverwaltung begründet, und zwar mit Vorrang vor entgegenstehenden Verwaltungsvorschriften der Länder. Auf Art. 108 VII GG beruhen die Richtlinien zu den großen Steuergesetzen (z.B. EStR, KStR, GewStR). Hingegen hat der Bundesminister der Finanzen keine Befugnis zum Erlass allgemeiner Verwaltungsvorschriften betr. den Vollzug von Bundesgesetzen durch Länder und Kommunen, auch nicht gestützt auf die Weisungsbefugnis nach Art. 108 III 2 i.V.m. Art. 85 III GG (s. dazu und zur pragmatischen Handhabung bei den sog. BMF-Schreiben § 21 Rz. 35 f.).
Die Finanzverwaltung ist nicht ermächtigt, Verwaltungsvorschriften zu erlassen,
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– die die Aufklärungstätigkeit der Finanzbehörden in einer Weise einschränken, die die Gleichmäßigkeit der Besteuerung und damit den Gleichheitssatz (Art. 3 GG) verletzt29. Praktikabilitätsgesichtspunkte dürfen in Grenzen berücksichtigt werden30. Durch Verwaltungsvorschriften festgesetzte Pauschbeträge sind rechtswidrig, wenn sie entweder einen nicht hinreichend typisierbaren Sachverhalt betreffen oder aber sich am atypischen Fall orientieren; sie dürfen außerdem nicht angewendet werden, wenn durch sie im Einzelfall eine offensichtlich unzutreffende Besteuerung bewirkt wird31; – durch die außerhalb des Gesetzes (autonom) Wirtschafts- und Sozialpolitik betrieben wird32. Im Sprachgebrauch der Praxis erlässt die Bundesregierung Richtlinien und offenbaren sich die Mi- 31 nisterien in Erlassen und Schreiben, die OFDen erlassen Verfügungen. Inhaltlich lassen sich unterscheiden: a) Organisationsvorschriften; sie betreffen die innere Organisation oder den Geschäftsgang von Behörden; b) Gesetzesanwendungsvorschriften, und zwar norminterpretierende Anordnungen, Ermessensanordnungen und Anordnungen zur Sachverhaltsermittlung (Schätzungsrichtlinien, Bewertungsrichtlinien, Typisierungs- und Vereinfachungsvorschriften). Die Gesetzesanwendungsvorschriften enthalten die Verwaltungsauffassung zu gesetztem Recht, sie setzen nicht selbst Recht. Bei der Auslegung von Verwaltungsvorschriften ist nach h.M. maßgeblich, wie die Verwaltung sie verstanden hat und verstanden wissen wollte33. Dies kann jedoch nicht uneingeschränkt gelten, soweit die Verwaltungsvorschriften amtlich (insb. im BStBl. I) publiziert wurden und ihnen mittelbar über Art. 3 I GG Außenwirkung zugunsten des Bürgers (s. Rz. 35) bzw. die Be-
29 30 31 32 33
Dazu Martens, Verwaltungsvorschriften zur Beschränkung der Sachverhaltsermittlung, 1980. Vgl. BVerfG v. 31.5.1988 – 1 BvR 520/83, BVerfGE 78, 214 (228 f.); § 3 Rz. 145 ff. S. BFH v. 16.12.1981 – VI R 227/80, BStBl. II 1982, 302. S. BFH v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393, insbes. Rz. 113 u. 118 (Sanierungserlass). BFH v. 24.11.2005 – V R 37/04, BStBl. II 2006, 467; BFH v. 7.11.2013 – X R 22/11, BFH/NV 2014, 817, Rz. 18.
Englisch 211
§ 5 Rz. 32
Rechtsanwendung im Steuerrecht
deutung einer Vertrauensschutz begründenden Dispositionsgrundlage (s. § 3 Rz. 282, § 21 Rz. 12; s. auch § 176 II AO) zukommt. Insoweit ist primär eine objektivierende Auslegung geboten. 32
Finanzministerien und OFD pflegen jährlich mehrere tausend Verwaltungsvorschriften zu erlassen. Insgesamt existieren mehrere zehntausend solcher Verwaltungsvorschriften. Verwaltungsvorschriften sind aus folgenden Gründen für den Gesetzesvollzug in der steuerlichen Massenverwaltung unentbehrlich: – Verwaltungsvorschriften tragen wesentlich zur Gleichmäßigkeit der Besteuerung bei (BVerfGE 78, 214 [228]). – Verwaltungsvorschriften haben Entlastungswirkung für Verwaltungsbeamte und Steuerberater. Sie kommentieren das Gesetz unter Berücksichtigung von BFH-Urteilen oder enthalten Tabellen oder Pauschbeträge und ermöglichen es auf diese Weise, das „Veranlagungsgeschäft“ zu beschleunigen. Zugleich nehmen sie den mit der juristischen Gesetzesanwendungsmethode nicht vertrauten Gesetzesanwendern die Schwierigkeiten der Anwendungsarbeit ab. Das mag erklären, warum das Gros der Steuerberater sich an den Steuerrichtlinien wie an Rechtsnormen orientiert. Auch in der Steuerberaterprüfung wird in erster Linie Richtlinienwissen verlangt; – Verwaltungsvorschriften erhöhen die Rechtssicherheit. Das Verhalten der Verwaltungsbehörden wird voraussehbar.
33
Norminterpretierende Vorschriften der Verwaltung haben für Gerichte prinzipiell kein größeres Gewicht als Äußerungen in der Literatur. Das Gericht darf eine Verwaltungsvorschrift grds. auch nicht unter dem Aspekt der Rechtsanwendungsgleichheit (Art. 3 I GG) zugunsten des Stpfl. anwenden, wenn sie nach der Rechtsauffassung des Gerichts keine zutreffende Gesetzesauslegung beinhaltet („keine Gleichbehandlung im Unrecht“34). Eine dadurch entstehende etwaige Verletzung des Gleichheitssatzes gegenüber dem Betroffenen kann die Verwaltung bis zur gebotenen Aufhebung der Verwaltungsvorschrift durch eine Billigkeitsmaßnahme nach § 227 AO ausgleichen (s. § 21 Rz. 337). I.Ü. ist die gesetzliche Vertrauensschutzregelung des § 176 II AO zu beachten.
34 Besondere Probleme ergeben sich bei Bewertungsrichtlinien und Typisierungsvorschriften (AfA-
Tabellen, Richtsätzen, Pauschbeträgen). An sie sind die Gerichte zwar auch nicht gebunden. Da richterliche Erfahrung i.d.R. aber nicht ausreicht, solche Richtlinien zu „widerlegen“, setzt die Abweichung von ihnen aufwendige Sachverständigenarbeit voraus. Die Gerichte wenden solche Richtlinien jedenfalls insoweit an, als ihnen die Größen vertretbar erscheinen und nicht offensichtlich unzutreffend sind35. 35
Ermessensanordnungen betreffen einen Bereich, in dem die Verwaltung einen gewissen Spielraum hat (§ 5 AO, s. Rz. 146 ff.) und nur einer eingeschränkten finanzgerichtlichen Kontrolle unterliegt (§ 102 FGO). Legt sich die Verwaltung durch Ermessensanordnung zulässigerweise hinsichtlich der Ausübung ihres Ermessens in bestimmten, typischen Fallkonstellationen fest, so tritt eine sog. Selbstbindung der Verwaltung ein36. Der Stpfl. kann dann kraft des Art. 3 I GG inhärenten Gebots der 34 Dazu m.w.N. Isensee/Kirchhof/Ossenbühl, Autonome Rechtsetzung der Verwaltung, HStR V3, § 104 Rz. 67; und angemessen differenzierend Isensee/Kirchhof, Gleichheit in der Funktionenordnung, HStR V2, § 125 Rz. 66 ff. S. auch BFH v. 13.1.2011 – V R 12/08, BStBl. II 2012, 61 (68); v. 4.7.2012 – II R 38/10, BStBl. II 2012, 782, Rz. 56; v. 28.5.2013 – XI R 32/11, BStBl. II 2014, 411, Rz. 60. 35 S. etwa BFH v. 13.1.1995 – VI R 82/94, BStBl. II 1995, 324; v. 2.4.2008 – II R 59/06 NV, BStBl. II, 2009, 983 (984). Dazu Jaehnike, StuW 1979, 293 (300 ff.); Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 84; Martens, DStJG 5 (1982), 165 (193 ff.); Osterloh, Gesetzesbindung und Typisierungsspielräume, 451 ff.; Tipke, StRO III2, 1441 f.; Vogel, FS Thieme, 1993, 605; Jachmann, StuW 1994, 347; BVerfG (K) v. 28.6.1993 – 1 BvR 390/89, StuW 1994, 354. 36 S. bspw. BFH v. 10.6.1992 – I R 142/90, BStBl. II 1992, 784 (785); v. 14.5.2009 – IV R 27/06, BStBl. II 2009, 881 (883); BFH v. 18.4.2013 – V R 48/11, BStBl. II 2013, 697 (698). Dazu Isensee/Kirchhof/Ossenbühl, HStR V3, § 104 Rz. 53 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht18, § 24 Rz. 21 ff.; Di Fabio, VerwArch. 1995, 214 (223 ff.); Tipke/Kruse/Drüen, § 5 AO Rz. 50.
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7. Keine Rechtsnormen
Rz. 38 § 5
Rechtsanwendungsgleichheit verlangen, dass die Finanzverwaltung ihre Anordnung allgemein und damit auch in seinem Fall anwendet, sofern dieser nicht atypisch gelagert ist. Über den Gleichheitssatz können auch die Gerichte die Beachtung fehlerfreier Ermessensanordnungen durchsetzen. Einstweilen frei.
36
7.2 Entscheidungen der Steuergerichte Literatur: Fischer, Innere Unabhängigkeit und Fiskalinteresse, StuW 1992, 121; Tipke, StRO, Bd. III, 1993, 1177 ff.; Weber-Grellet, Tendenzen der BFH-Rspr., StuW 1993, 195; Pelka, Die Steuerrechtsprechung als unerwünschte Rechtsquelle für die Vertragsgestaltung, in FS Tipke, 1995, 251; FS Offerhaus, 1999: List, Die Rspr. des BFH als Spiegel der Zeit, 255, und Wolff-Diepenbrock, Der Beitrag der Finanzrechtsprechung zur Kompliziertheit und zur Vereinfachung des Steuerrechts, 299; Spindler, Steuerrecht im Spannungsverhältnis zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, Stbg. 2006, 1; Spindler, Der Bundesfinanzhof und das Bundesverfassungsgericht im Zusammenwirken für ein verfassungskonformes Steuerrecht, in FS Schaumburg, 2009, 169; Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung – Bedingungen und Grenzen für Nichtanwendungserlasse, 2011
Die Urteile der Finanzgerichte einschließlich des BFH binden nur die am jeweiligen Verfahren Betei- 37 ligten u.a. in § 110 I FGO genannte Personen (s. § 22 Rz. 264 ff.). Sie erzeugen – vom Sonderfall des § 176 I AO abgesehen – keine allgemeine rechtliche Bindung37. Deshalb ist auch die Finanzverwaltung an die von der Rspr. entwickelten Auslegungsansätze und Rechtssätze nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus gebunden. Dessen ungeachtet entfalten finanzgerichtliche Entscheidungen für die Finanzverwaltung wie für die steuerberatende Praxis eine erhebliche Orientierungsfunktion und begründen zumindest faktisch38 eine Argumentationslast für von ihnen abweichende Rechtsansichten. Speziell höchstrichterliche Entscheidungen, d.h. solche des BFH haben darüber hinaus idR grundsätzliche Bedeutung (vgl. auch § 115 II Nr. 1 FGO). Sie dienen Finanzgerichten, Stpfl. und Steuerrechtswissenschaft als richtungsweisende – obschon nicht bindende39 – Präjudizien und gewinnen auch für die Vollzugspraxis der Finanzverwaltung eine hohe Breitenwirkung, soweit diese sie in ihre Richtlinien und Anwendungserlasse (s. Rz. 31 ff.) einarbeitet40. Auch die unkommentierte Veröffentlichung einer Entscheidung des BFH im BStBl. II verdeutlicht, dass sich die Finanzverwaltung den tragenden Rechtssätzen der Entscheidung anschließt41. Die Finanzverwaltung trägt allerdings nach dem Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 II 2 GG) eine ei- 38 genständige Verantwortung für die zutreffende Rechtsfindung. Deshalb hat sie eigenverantwortlich darüber zu entscheiden, ob sie ein Judikat zu ihrer Verwaltungspraxis macht oder ihm die Gefolgschaft versagt. Bei der Änderung einer langjährigen Rechtsprechungspraxis kann sich dabei unter rechtsstaatlich fundierten Vertrauensschutzaspekten die Notwendigkeit ergeben, den Stpfl. noch einen Übergangszeitraum bis zur Anwendung der besseren Rechtserkenntnis zuzugestehen42. Eine divergierende Rechtsauffassung der Finanzverwaltung wird mit den sog. Nichtanwendungserlassen43 zum Ausdruck gebracht, mit denen einzelne Urteile explizit aus der allgemeinen Anwendung höchst37 Dazu Jachmann, FS Spindler, 2011, 115 (119 ff.); Pezzer, DStR 2004, 525 (530); Tipke, StRO III2, 1629; a.A. Leisner, Die allgemeine Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, 1980. 38 Weitergehend für BFH-Judikate Desens, 309 ff.: Rechtspflicht der Verwaltung. 39 Das unterscheidet sie von höchstrichterlichem „case law“ im Common Law-Rechtskreis; s. dazu und zu den sich hieraus ergebenden Folgewirkungen insbes. für die Ausrichtung der Steuerrechtswissenschaft Schön, in: Rosenbloom (Hrsg.), ITP@20 [1996 – 2016], NYU School of Law – International Program, 2016, 349 (352 ff.). 40 S. dazu auch BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 (618). 41 S. auch OFD Karlsruhe, DB 2005, 419 (420), zur online-Vorabveröffentlichung. 42 S. BVerfG v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248 (277 f.). 43 Dazu ausf. Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, 2011. S. ferner Jakob/Jüptner, StuW 1984, 148; Lang, StuW 1992, 14; Pezzer, DStR 2004, 525 (531 f.); Kessler/Eicke, DStR 2006, 1913
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§ 5 Rz. 39
Rechtsanwendung im Steuerrecht
richterlicher Rspr. ausgeschieden werden. Der BFH hat die Möglichkeit, in neuen Prozessen die inhaltliche Richtigkeit seiner Rspr. zu überprüfen und mit neuen Fallerkenntnissen die Finanzverwaltung zu überzeugen oder ihr Recht zu geben. 39
Die rechtsstaatlich grds. akzeptable Praxis der Nichtanwendungserlasse44 ist zu unterscheiden von den Methoden der Finanzministerialbürokratie gegen fiskalisch missliebige Judikatur. So missbraucht das BMF seine redaktionelle Verantwortung für das Bundessteuerblatt, wenn es BFH-Entscheidungen mitunter um Jahre verspätet veröffentlicht oder gänzlich unterdrückt45. Auch das Instrument des Nichtanwendungserlasses kann missbraucht werden, wenn die Finanzverwaltung keine die fachliche Auseinandersetzung fördernde Begründung für ihre abweichende Haltung gibt oder trotz fundierter Zurückweisung ihrer Argumente auf ihrem Rechtsstandpunkt beharrt46. Es ist daher zu begrüßen, dass die Finanzverwaltung in jüngerer Zeit deutliche Zurückhaltung übt47 und Nichtanwendungserlasse auf wenige aus ihrer Sicht nicht tragfähige Entscheidungen beschränkt.
40
Die Finanzministerialbürokratie vermag ihre Funktion als Ratgeber des Gesetzgebers auch dazu zu nutzen, BFH-Entscheidungen durch sog. Nichtanwendungsgesetze auszuhebeln48. Beispiele rechtsprechungsbrechender Gesetzgebung sind u.a.: Gesetz v. 25.7.1984 (BGBl. I 1984, 1006) über Steuerabzugsverbote für Geldstrafen und Geldbußen (dazu § 8 Rz. 294); Gesetz v. 25.2.1992 (BGBl. I 1992, 297) zur doppelstöckigen Personengesellschaft (dazu § 10 Rz. 143) und Gesetz v. 15.12.2003 (BGBl. I 2003, 2645) zum anschaffungsnahen Herstellungsaufwand (dazu § 9 Rz. 256). Die antijustizielle Gesetzgebung ist sachlich gerechtfertigt, wenn sie rechtsdogmatische Fehlurteile korrigieren soll. Besitzt sie dagegen lediglich eine rein fiskalische Motivation, so erweist sie sich meist als systemzersetzend bis hin zur möglichen Verfassungswidrigkeit49.
41–45
Einstweilen frei.
B. Methoden der Rechtsanwendung Allgemeine Literatur: Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, 5 Bände, 1975–1977; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 1991; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 1991; Honsell, Staudinger, BGB15, 2013, Einleitung VI, VII (betr. Auslegung, Richterrecht); Hillgruber, Richterliche Rechtsfortbildung als Verfassungsproblem, JZ 1996, 118; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil5, 1996, § 17; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 1995; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, Eine Einführung5, 2011; Hassemer, Gesetzesbindung und Methodenlehre, ZRP 2007, 213; Hillgruber, „Neue Me-
44 45 46 47 48 49
(Staatshaftung für Nichtanwendungserlasse); Weber-Grellet, FS Lang, 2010, 927; FS Spindler, 2011: Gosch, 379; Herden, 445; Vinken, 549. S. dazu Lang, StuW 1992, 14 sowie zu den Grenzen grundl. Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, 2011, 216 ff. Dazu insb. Lange, NJW 2002, 3657, mit quantitativem Nachweis der unterdrückten BFH-Entscheidungen; Pezzer, DStR 2004, 525 (531 f.); Vinken, FS Spindler, 2011, 549 (550 f.). Zur Veröffentlichungspraxis Jörißen, SteuerStud 2008, 81. Exemplarisch BFH v. 20.11.2007 – I R 85/05, BStBl. II 2013, 287. So auch Pezzer, DStR 2004, 525 (530); tendenziell auch Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, 2011, 319 ff. und 371 ff.; noch strenger Spindler, DStR 2007, 1061 (1064); Herden, FS Spindler, 2011, 445 (453 f.); Jachmann, FS Spindler, 2011, 115 (124 ff.). In den fünf Jahren 2003 bis 2009 ergingen noch 33 Nichtanwendungserlasse, in den fünf Folgejahren bis Ende 2014 nur noch 11, d.h. nur noch ein Drittel; s. BT-Drucks. 17/8279, S. 35 ff. und BT-Drucks. 18/4908, S. 44 f. Dazu insb. Lang, StuW 1992, 14; Scholtz, FS Klein, 1994, 1041; Offerhaus, StbJb. 1995/96; Pezzer, DStR 2004, 525; Huber, FS Offerhaus, 1999, 241; Völker/Ardizzoni, NJW 2004, 2413; Herden, FS Spindler, 2011, 445 (446 ff.). Zu diesen und weiteren Kritikpunkten Höng/Baumgartner, Ubg. 2016, 751 (754 ff.). Speziell zur rückwirkenden Rechtsprechungsbrechung Drüen, StuW 2015, 210.
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B. Methoden der Rechtsanwendung
Rz. 46 § 5
thodik“ – Ein Beitrag zur Geschichte der richterlichen Rechtsfortbildung in Deutschland, JZ 2008, 745; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, 2009; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I11 (Grundlegung), 2013; Zippelius, Juristische Methodenlehre11, 2012; Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre2, 2012; Kramer, Juristische Methodenlehre5, 2016; Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre3, 2015. Steuerrechtliche Literatur: Hensel, Gesetz und Gesetzesanwendung im Steuerrecht, VJSchrStFR 1931, 115; Fischer, Steuergesetz und richterliche Wertung, StuW 1979, 347; Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, 1980, insb. 211 ff.; Tipke, Grenzen der Rechtsfortbildung durch Rspr. und Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht, DStJG 5 (1982); Locher, Grenzen der Rechtsfindung im Steuerrecht, Bern 1983; Kruse, Über Rechtsgefühl, Rechtsfortbildung und Richterrecht im Steuerrecht, BB 1985, 1077; Tipke, Über teleologische Auslegung, Lückenfeststellung und Lückenausfüllung im Steuerrecht, in FS von Wallis, 1985, 133 ff.; HHR/G. Kirchhof, Einf. ESt Anm. 150 ff.; Weber-Grellet, Auf den Schultern von Larenz: Demokratisch-rechtsstaatliche Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung im Steuerrecht, DStR 1991, 438; Fischer, Grundlagen und Grenzen der Rechts(fort)bildung im Steuerrecht, StVj 1992, 3; Fischer, Überlegungen zur Lückenhaftigkeit des Steuergesetzes, StuW 1995, 303; Höhn, Zweck(e) des Steuerrechts und Auslegung, in FS Tipke, 1995, 213; Lang, Die Ausfüllung von Lücken in Steuergesetzen, in FS Höhn, 1995, 159; Ahrens, Auslegung von Gesetzestexten im Steuerrecht, SteuerStud 1996, 247; Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, 1996; Woerner, Spielraum der Rechtsanwendung im steuerlichen Eingriffsrecht, Theorie und Praxis, in GS Knobbe-Keuk, 1997, 967; Grammer, Zur Rechtsanwendung im Steuerrecht, SteuerStud 1998, 201; Drüen, Zur Rechtsnatur des Steuerrechts und ihrem Einfluß auf die Rechtsanwendung, in FS H. W. Kruse, 2001, 191; Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, 187 ff.; Beger, Methodenlehre und Klausurtechnik im Steuerrecht5, 2004; Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 200 ff.; Crezelius, Zur Methodologie des gegenwärtigen Steuerrechts, Stbg. 2007, 449; Crezelius, Analogieanweisungen in Steuergesetzen, FR 2008, 889; Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007; Schenke, Kritik der steuerrechtlichen Methodenlehre, StuW 2008, 206 (dazu krit. Tipke, StuW 2008, 377); Osterloh, Methodenprobleme im Steuerrecht, JöR 56 (2008), 141; Drüen, Verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung durch die Finanzgerichte, StuW 2012, 269; Tipke, StRO III2, 2012, 1586 ff.; Weckerle, Zur teleologischen Begrenzung von Rechtsinstituten richterlicher Rechtsfortbildung im Steuerrecht, StuW 2012, 281; Brandis, Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit als Mitgestalter der Steuerrechtsordnung, StuW 2013, 88; Jochum, Grundfragen des Steuerrechts, 2012, 75.
1. Struktur von Rechtsnormen, Syllogismus der Rechtsfolgebestimmung und Primat teleologischer Auslegung a) Eine vollständige Rechtsnorm besteht als Rechtssatz aus einem Tatbestand und der Rechtsfolgean- 46 ordnung. Bei der Anwendung dieses abstrakt formulierten Rechtssatzes wird ein konkreter Sachverhalt dem Tatbestand zugeordnet (Subsumtion) oder nicht zugeordnet und je nach dem Ausgang dieses Subsumtionsversuchs eine Entscheidung über den Eintritt der Rechtsfolge getroffen. Diese Subsumtionstechnik basiert auf dem seit der Scholastik sog. modus barbara, bestehend aus dem Syllogismus eines Obersatzes (praemissa major), eines Untersatzes (praemissa minor) und einer conclusio50. Dieser Syllogismus sei anhand der folgenden Steuerrechtsnorm exemplifiziert: „Die Gemeinde erhebt von dem Gemeindeeinwohner für jeden ihm gehörenden Hund jährlich eine Steuer von 50 Euro“. Diese Rechtsnorm lässt sich in folgenden Obersatz umformulieren: „Wenn einem Gemeindeeinwohner ein oder mehrere Hunde gehören (Tatbestand), hat er je Hund jährlich Hundesteuer von 50 Euro an die Gemeinde zu entrichten (Rechtsfolge).“ E ist ein in der Gemeinde wohnender Eigentümer eines Hundes. Dieser Sachverhalt lässt sich unter den Tatbestand des Obersatzes subsumieren (= Untersatz). Folglich gilt, dass E eine jährliche Hundesteuer von 50 Euro an die Gemeinde zu entrichten hat (= conclusio).
50 Dazu Klug, Juristische Logik4, 1982, 48 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 91 ff.; Tipke, StRO III2, 1591 f.
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§ 5 Rz. 47
Rechtsanwendung im Steuerrecht
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Die meisten Normen des Steuerrechts sind unvollständige Rechtssätze51, die die Rechtsfolge nur in Verbindung mit anderen Rechtssätzen anordnen. Der exemplarisch zitierte Hundesteuertatbestand ordnet nicht an, wann die Hundesteuer entsteht, zu Beginn oder mit Ablauf des Jahres. Er lässt die Veränderung der relevanten Verhältnisse während des Jahres (Wegzug, Zuzug, Erwerb/Veräußerung von Hunden) ungeregelt. Bereits dieses schlichte Beispiel zeigt, dass der sog. Entstehungstatbestand (§ 38 AO) der Steuerschuld (Rechtsfolge) regelmäßig nicht in einem einzigen Rechtssatz normiert werden kann; vielmehr besteht er aus einer Vielzahl von Normen, die das Steuersubjekt, Steuerobjekt, die Bemessungsgrundlage, den Steuersatz und den Zeitpunkt des Entstehens regeln. In diesem komplexen Rechtssatzgefüge geht es stets nur um die Zuordnung von Sachverhalten zu einzelnen unvollständigen Rechtssätzen (z.B. Zuordnung einer Betätigung zu einem Gewerbebetrieb i.S.d. § 15 II 1 EStG). Ist die Subsumtion unter den steuerbegründenden Tatbestand zu bejahen, so ist die Auswirkung auf die Steuerschuld in Verbindung mit der Vielzahl anderer Tatbestandsnormen zu ermitteln bzw. zu errechnen.
48
b) Die Anwendung des Tatbestands einer Rechtsnorm auf einen bestimmten Sachverhalt kann problematisch sein, weil den im Tatbestand verwendeten Begrifflichkeiten sprachliche Unschärfen inhärent sind. Alle Begriffe sind mehr oder weniger vieldeutig; sie haben neben einem Begriffskern, dem bestimmte Sachverhaltskonstellationen nach dem allgemeinen Sprachgebrauch zweifellos zugeordnet werden können, auch einen Begriffshof, der mehrere Bedeutungsvarianten zulässt und darum interpretationsbedürftig ist52. Ziel der Gesetzesauslegung ist es, den Sinngehalt von Rechtsnormen zu ermitteln, um aus dem Gesetz die Rechtsfolge für den problematischen Fall gewinnen zu können. Daneben bedarf aber auch der grammatisch-philologisch scheinbar eindeutig gelagerte Fall einer Kontrolle dahingehend, ob seine tatbestandliche Erfassung dem Gesetzeszweck entspricht, oder ob dem Normgeber dessen sprachliche Umsetzung missglückt und der Wortlaut insofern überschießend ist (s. Rz. 85). Denn entgegen der inzwischen überwundenen Begriffsjurisprudenz53 sind Rechtsbegriffe kein Selbstzweck, es lassen sich aus ihnen nicht im Wege vermeintlicher Begriffslogik „begriffsnotwendige“ Ergebnisse erzielen, sondern sie sind Mittel zum Zweck der Übermittlung gesetzgeberischer Vorgaben.
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Es geht daher bei der Auslegung u. Rechtsfortbildung letztlich darum, die Wertungen des Gesetzgebers und in deren Rahmen auch die Wertentscheidungen der Verfassung konsequent zu verwirklichen. Dieser grundl. von Karl Larenz54 entwickelte wertungsjuristische Methodenansatz55 betont den Primat der sog. teleologischen (griech. telos = Zweck) Gesetzesinterpretation56. Nach diesem methodischen Grundansatz ist die Rechtswissenschaft wert- und wertungsgebunden, nicht wertneutral konzipiert57. Diesem Ansatz haben sich zu Recht auch alle Senate des BFH angeschlossen58.
51 Dazu ausf. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 257 ff. 52 Dazu Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 118 f. 53 Näheres zur Begriffsjurisprudenz und einigen ihrer prominenten Vertreter im 19. Jahrhundert bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 19 ff.; Staudinger/Honsell15, BGB, Einl. Rz. 177. 54 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 312 ff. 55 Die Wertungsjurisprudenz beruht auf einer Fortentwicklung der Interessenjurisprudenz (Hauptvertreter: Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932); s. dazu die Habilitationsschrift von Petersen, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz, 2001. 56 Staudinger/Honsell15, BGB, Einl. Rz. 149 ff. 57 Ganz anders die positivistischen, wertneutral konzipierten Lehren der Weimarer Zeit, insb. die „Reine Rechtslehre“ von Hans Kelsen, nach der „jeder beliebige Inhalt Recht sein“ könne (so Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, 201). 58 Dazu Woerner, Die Steuerrechtsprechung zwischen Gesetzeskonkretisierung, Gesetzesfortbildung und Gesetzeskorrektur, DStJG 5 (1982), 23 (26 f., 28 ff.); Weber-Grellet, DStR 1991, 438.
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B. Methoden der Rechtsanwendung
Rz. 52 § 5
Das teleologische Rechtsverständnis59 unterscheidet subjektiv-teleologische60 und objektiv-teleologi- 50 sche61 Kriterien. Subjektiv-teleologische Kriterien sind die Regelungsabsicht und die Normvorstellungen, die zur Verabschiedung der nunmehr auszulegenden Rechtsnorm geführt haben. Hier ist nach dem „Willen des historischen Gesetzgebers“ zu fragen: Welche Wertentscheidung traf der Gesetzgeber mit dem anzuwendenden Gesetz? Welchen Zweck verfolgte er? Der demokratische Gesetzgebungsprozess erlaubt dabei keine Personalisierung des Gesetzgebers; stattdessen ist aus den Gesetzgebungsmaterialien und ggf. vorbereitenden Arbeiten auf die Wertungen zu schließen, die der Formulierung der auszulegenden Rechtsnorm zugrunde liegen. Die objektiv-teleologische Auslegung orientiert sich am Ziel der Vermeidung von Wertungswidersprüchen durch gleichmäßige Entfaltung verallgemeinerungsfähiger gesetzgeberischer Wertungen. Diese „objektiven Zwecke“62 des Gesetzes werden hauptsächlich aus den je einschlägigen Prinzipien sachgerechter Lastenzuteilung gewonnen, die der anzuwendenden Steuerrechtsnorm zugrunde liegen und die das „innere System“ des Rechts bilden (s. § 3 Rz. 9 ff.), oder aber ggf. anhand einer davon abweichenden steuerpolitischen Zielsetzung, insb. bei lenkungspolitisch motivierten Regelungen anhand des Lenkungszwecks. Diese Prinzipien bzw. Zwecksetzungen wiederum können regelmäßig sowohl induktiv aus dem vorhandenen Normenbestand als auch deduktiv unter Berücksichtigung übergeordneter verfassungsrechtlicher Vorgaben sowie ggf. auch aus historischen Materialien – d.h. subjektiv-teleologisch – hergeleitet werden63. Mitunter werden sie auch im Gesetz selbst oder seiner Präambel zum Ausdruck gebracht, wie etwa das bilanzsteuerrechtliche Vorsichtsprinzip in § 252 I Nr. 4 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG. c) Auch der wertungsjuristische, an sich für subjektiv-teleologische wie für objektiv-teleologische Ar- 51 gumente offene Methodenansatz sieht sich mit der Streitfrage konfrontiert, ob nicht richtigerweise einzig auf das vom historischen Gesetzgeber mit dem Gesetz Bezweckte (subjektive Theorie) oder aber allein auf einen davon losgelösten objektiven Zweck des Gesetzes (objektive Theorie) abzustellen ist64. Einerseits gebietet es das Demokratieprinzip, die für die Willensbildung in der Volksvertretung maßgeblichen Vorstellungen und Erwägungen bei der Gesetzesinterpretation soweit erkennbar zu berücksichtigen. Andererseits verlangt die formal-rechtsstaatliche Komponente der Rechtssicherheit (s. § 3 Rz. 93), dass in den Gesetzesmaterialien dokumentierte Überlegungen auch im verkündeten Gesetz, also im Gesetzestext, zum Ausdruck gebracht worden sind. Ansonsten könnte der Rechtsanwender nicht sicher feststellen, ob eine parlamentarische Meinungsäußerung tatsächlich zum subjektiv-teleologischen Kriterium (s. Rz. 50) geworden ist. Schließlich sind die Motive für eine bestimmte Einzelregelung in den öffentlich zugänglichen Materialien vielfach auch nicht offengelegt. Das darf in Zweifelsfällen aber keinen Anlass zur Rechtsverweigerung durch den Rechtsanwender geben, so dass eine objektivierende Betrachtung geboten ist. Nicht zuletzt dient die Berücksichtigung der dem Gesetz selbst zu entnehmenden Wertungen als Auslegungsmaxime auch dem gleichheitsrechtlich unterlegten Gebot der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Somit ist weder die subjektive noch die objektive Theorie ganz richtig oder ganz falsch. Das BVerfG 52 hat das Spannungsverhältnis zwischen subjektiver und objektiver Theorie zutreffend mit der Formel aufgelöst, wonach für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift der in ihr zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend ist, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzes-
59 Dazu umfassend Mittenzwei, Teleologisches Rechtsverständnis, Wissenschaftstheoretische und geistesgeschichtliche Grundlagen einer zweckorientierten Rechtswissenschaft, 1988. Zur teleologischen Methode auch Tipke, StRO III2, 1597 ff. 60 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 328 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 449 ff. 61 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 333 ff. (334); Bydlinski, Juristische Methodenlehre2, 453 ff. 62 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 333 ff. 63 Ismer, FS List, 2015, 108 ff. (109 ff.). 64 Dazu Müller/Christensen, Juristische Methodik I11, 493 f.: weder „objektive“ noch „subjektive“ Auslegungstheorie; Zippelius, Juristische Methodenlehre11, 2012, 21.
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§ 5 Rz. 53
Rechtsanwendung im Steuerrecht
bestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist65. Demnach sind die Gesetzesmaterialien grds. nicht allein für die Auslegung einer Vorschrift maßgeblich, sondern regelmäßig lediglich ergänzend hinzuzuziehen und nur in Zweifelsfällen von ausschlaggebender Bedeutung66. Jedenfalls kann der Wille des Gesetzgebers nur insoweit berücksichtigt werden, als er in dem Gesetz selbst einen hinreichend klaren Ausdruck gefunden hat67. 53
d) Auszulegen sind in entwickelten Rechtsordnungen regelmäßig sog. klassifikatorische Begriffe. Es handelt sich bei ihnen um abstrakt-deskriptive Begriffe, die das Begriffsobjekt mit einem abschließenden Katalog unabdingbarer Merkmale umschreiben. Verwendet der Gesetzgeber einen klassifikatorischen Begriff (z.B. den Teilbetriebsbegriff des § 16 I 1 Nr. 1 EStG, s. § 8 Rz. 420), müssen also dessen sämtliche konstituierenden Merkmale erfüllt sein, damit der begriffliche Tatbestand verwirklicht ist. Es ist dementsprechend unter jedes einzelne Tatbestandsmerkmal zu subsumieren. Im Gegensatz dazu stehen Typusbegriffe68, die sowohl im tradierten deutschen Steuerrecht (z.B. der „stehende Gewerbebetrieb“ i.S.d. § 1 I GewStG) wie auch unionsrechtlich harmonisierten Steuerrecht (z.B. der Unternehmerbegriff des § 2 UStG bzw. des Art. 9 MwStRL) nach wie vor eine gewisse Bedeutung haben. Der Typus ist nicht im strengen Sinne abschließend definiert. Für die Bestimmung derjenigen Merkmale, die insgesamt als typisch, als für die rechtliche Erfassung des Typus charakteristisch angesehen werden, ist auf empirische Kriterien wie z.B. die Verkehrsauffassung zurückzugreifen. Bei der Subsumtion ist sodann zu beachten, dass im Einzelfall das eine oder andere Merkmal fehlen oder schwächer ausgeprägt sein kann. Es kommt nur darauf an, ob im Rahmen einer Gesamtschau die „typischen“ Merkmale in solcher Zahl und Stärke vorhanden sind, dass der Sachverhalt „im Ganzen“ dem Typus entspricht69. Der Typusbegriff ist merkmalsoffen wie eine Karikatur, die mitunter nur ein einziges Merkmal verwendet, um den Typus mit einem Werturteil verknüpft abzubilden.
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Die Merkmalsoffenheit von Typusbegriffen bereitet der Rspr. immer wieder insoweit erhebliche Schwierigkeiten, als die Gesetzesinterpretation nicht durch objektiv-teleologische Kriterien angeleitet werden kann. Diese Problematik tritt zwar nicht stets und auch nicht nur, aber doch gehäuft bei Typusbegriffen auf. Insb. die vollkommen ausgeuferte Abgrenzungskasuistik des Einkunftsartenrechts leidet unter den empirischen Typusbegriffen, s. z.B. die Begriffe „Land- und Forstwirtschaft“ (s. § 8 Rz. 404), „Gewerbebetrieb“ (s. § 8 Rz. 415), „selbständige Arbeit“, namentlich die historisch überlieferten Berufsbilder freier Berufstätigkeit (s. § 8 Rz. 425), und „nichtselbständige Arbeit“ mit dem Ty65 BVerfG v. 21.5.1952 – 2 BvH 2/52, BVerfGE 1, 299 (312); v. 12.11.1958 – 2 BvL 4/56 u.a., BVerfGE 8, 274 (307); v. 15.12.1959 – 1 BvL 10/55, BVerfGE 10, 234 (244); v. 17.5.1960 – 2 BvL 11/59 und 11/60, BVerfGE 11, 126 (130 f.); v. 21.5.1968 – 2 BvL 10/66 und 3/67, BVerfGE 24, 1 (15); v. 5.7.1972 – 2 BvL 6/66 u.a., BVerfGE 33, 265 (294); v. 19.6.1973 – 1 BvL 39/69 und 14/72, BVerfGE 35, 263 (278); v. 5.11.1974 – 2 BvL 6/71, BVerfGE 38, 154 (163); v. 9.5.1978 – 2 BvR 952/75, BVerfGE 48, 246 (256); BFH v. 25.9.2013 – XI R 41/12, BStBl. II 2014, 135 (138). 66 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 165; ähnlich BVerfG v. 21.5.1952 – 2 BvH 2/52, BVerfGE 1, 299 (312); BFH v. 18.4.2012 – X R 5/10, BStBl. II 2013, 785, Rz. 27; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 562 f. Tendenziell a.A. Tipke, StRO III2, 1593 f. 67 S. BVerfG v. 1.7.1980 – 1 BvR 349/75 und 378/76, BVerfGE 54, 251 (268); v. 16.2.1983 – 2 BvE 1/83 u.a., BVerfGE 62, 1 (45). So im Ansatz etwa auch BFH v. 28.7.2011 – VI R 5/10, BStBl. II 2012, 553 (555), allerdings mit überspannten Anforderungen an die Erkennbarkeit der den Normgebungsprozess prägenden Vorstellungen in Gesetzessystematik und –wortlaut; sowie BFH v. 9.11.2016 – II R 12/15, BStBl. II 2017, 211, Rz. 15; OVG NRW v. 11.12.2013 – 14 A 1948/13, KStZ 2014, 93 (95). 68 Dazu allgemein insb. Hassemer, Tatbestand und Typus, 1968; Leenen, Typus und Rechtsfindung, 1971; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 218 ff., 461 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 543 ff.; Kokert, Der Begriff des Typus bei Karl Larenz, 1995. Aus dem Steuerrecht: Strahl, Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht, 1996; Fischer, DStZ 2000, 885; Mössner, FS Kruse, 2001, 161; Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 212 f.; Schmidt-Liebig, FR 2003, 276 f.; Florstedt, StuW 2007, 314; Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 160 ff.; Osterloh, JöR 56 (2008), 141 (142 f., 145 f., 147 f.). 69 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 221; s. auch BFH v. 28.10.2008 – VII R 32/07, BFH/NV 2009, 355 (356).
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2. Traditionelle Auslegungsmethoden
Rz. 57 § 5
pusbegriff „Arbeitnehmer“ (s. § 8 Rz. 472). Der Steuergesetzgeber verschwendet die intellektuellen Kapazitäten der Rechtsanwender in erheblichem Umfang, wenn die typologischen Differenzierungen steuerliche Ungleichheit pflegen. 2. Der Kanon der traditionellen Auslegungsmethoden Gesetzmäßigkeit der Besteuerung (s. § 3 Rz. 230 ff.), Rechtssicherheit, insb. Gesetzesbestimmtheit (s. 55 § 3 Rz. 243 ff.) und Gleichmäßigkeit der Besteuerung (s. § 3 Rz. 110 ff.) werden nur dann voll entfaltet, wenn sich der Rechtsanwender zur Ermittlung der maßgeblichen Wertungen disziplinierender Methoden bedient. Diese sollen seine Rechtsentscheidung einsichtig und rational nachvollziehbar machen. Darüber hinaus wird so sichergestellt, dass die Gesetzesanwendung sich am objektivierten Willen des Gesetzgebers orientiert. Spiegelbildlich dazu wird eine Ausrichtung am subjektiven Rechtsgefühl des Verwaltungsbeamten bzw. Richters sowie an zeitgenössischen Moralvorstellungen oder steuer-, wirtschafts- oder gesellschaftspolitischen Idealen70, die für die Normanwendung im Lichte der maßgeblichen gesetzgeberischen Wertungen nicht oder nur modifiziert von Bedeutung sein sollen, weitestgehend vermieden. Mindestens wird anderenfalls eine damit einhergehende Methodeninkongruenz für jedermann erkennbar und damit der Kritik im rechtswissenschaftlichen Diskurs und der Korrektur in der Rechtsanwendungspraxis zugänglich. Allerdings enthalten weder die Abgabenordnung 1977 noch die Einzelsteuergesetze Vorgaben zu den maßgeblichen Auslegungsregeln. Es ist daher auf die allgemeine juristische Methodenlehre zurückzugreifen. Die anerkannt wertungsjuristische Zielsetzung der Auslegung macht es erforderlich, den klassischen, aus vier „Elementen“ (grammatische, logische, historische und systematische Auslegung) bestehenden Auslegungskanon71 von Friedrich Carl von Savigny72 wie folgt neu zu bestimmen: a) Der Tatbestand wird durch sprachliche Begrifflichkeiten festgelegt, Rechtsfolgen werden durch 56 Sprache angeordnet. Daher wird jede Auslegung eines Rechtssatzes zunächst mit dem Wortsinn beginnen73. Ausgangspunkt der Sinnerschließung einer Norm ist damit regelmäßig die grammatische bzw. Wortlautauslegung. aa) Die sprachliche Zuordnung des Sachverhalts zum Tatbestand kann dabei im Rahmen des Be- 57 griffskerns der jeweiligen Tatbestandsmerkmale so eindeutig sein, dass der verbalen Gesetzesauslegung für sich genommen klare Vorgaben zur Normanwendung auf den zu entscheidenden Sachverhalt zu entnehmen sind. Jedoch muss die Richtigkeit einer sich daraus ergebenden Rechtsentscheidung stets noch mit Blick auf teleologische Kriterien überprüft werden. Auch eine verbal eindeutige Subsumtion kann den Gesetzeszweck verfehlen. Dem ist im Rahmen des möglichen Wortsinns durch eine teleologisch modifizierte (insb. fachsprachliche) Auslegung Rechnung zu tragen, ansonsten evtl. durch eine teleologische Reduktion (Rz. 48). So ist z.B. die Zuordnung von dauerhaft verlustträchtigen Erwerbstätigkeiten zum Einkünftekatalog des § 2 I EStG sprachlich eindeutig. Sie wird rechtlich zweifelhaft durch das objektiv-teleologische Kriterium der Einkünfteerzielungsabsicht, das letztlich im Prinzip der Besteuerung nach der (Einkommens-) Leistungsfähigkeit wurzelt (s. § 8 Rz. 125). Nach längerer Befassung mit einer bestimmten Sachmaterie und den ihr zugrunde liegenden Leitprinzipien und ggf. Zielkonflikten bildet sich beim Rechtsanwender für die Wertungskongruenz oder -inkongruenz
70 So die Freirechtslehre zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Überreaktion auf die Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts (dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 59 ff.; Tipke, StRO III2, 1596) und diverse Strömungen des sog. Rechtsrealismus („legal realism“, dazu Martin, Legal Realism, 1997; Rea-Frauchiger, Der amerikanische Rechtsrealismus: Karl N. Llewellyn, Jerome Frank, Underhill Moore, 2006), der seine Ursprünge in einer Gegenbewegung zum strikt präjudizienbasierten case law-Ansatz des US-amerikanischen common law hat. 71 S. auch BFH v. 25.9.2013 – XI R 41/12, BStBl. II 2014, 135 (138). 72 von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts I, 1840, § 33. Dazu ausf. Zippelius, Juristische Methodenlehre11, 2012, 42 ff. 73 So Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 320, und die ganz h.M.
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§ 5 Rz. 58
Rechtsanwendung im Steuerrecht
des nach der Wortlautanalyse gewonnenen ersten Eindrucks vom möglichen Sinngehalt der Norm ein gewisses Judiz heraus, das aber in Zweifelsfällen stets der methodengerechten Reflektion bedarf. 58
Auf der anderen Seite bildet der mögliche Wortsinn die Grenze der Auslegung und damit der Subsumtion eines Sachverhaltes unter die maßgebliche Rechtsnorm74. Ein Normverständnis, das nicht mehr innerhalb des den „Begriffshof“ kennzeichnenden sprachlichen Interpretationsspielraumes angesiedelt ist, kann und darf nicht mehr im Wege der Ausdeutung des Gesetzestextes gewonnen werden, mag es auch durch teleologische Erwägungen gestützt oder gar im Lichte gleichheitsrechtlicher Vorgaben gefordert sein. Jenseits des möglichen Wortsinns kommt vielmehr nur noch die Ausfüllung von Gesetzeslücken durch Rechtsfortbildung in Betracht (s. dazu Rz. 74).
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bb) Bei der Heranziehung grammatischer Kriterien der Auslegung ist zu beachten, dass Gesetze fachsprachliche Zweckschöpfungen sind. Der Bau und die Regeln der Sprache (Grammatik) sind auf den sprachlich formulierten Gesetzeszweck bezogen75. Der Rückgriff auf allgemeinsprachliche Hilfsmittel wie Wörterbücher ist nur zulässig, wenn der Rechtsanwender davon ausgehen kann, dass das Gesetz einen Begriff mit seinem allgemeinsprachlichen Inhalt verwendet. Bspw. rezipiert der hundesteuerliche Begriff „Hund“ entsprechend dem allgemeinen Sprachverständnis den zoologischen Terminus in das Steuerrecht. Bei der Entscheidung zwischen fach- und allgemeinsprachlichem Verständnis ist auch der Adressatenkreis des jeweiligen Gesetzes zu berücksichtigen, da sich die Wortwahl regelmäßig an dessen Verständnishorizont orientiert76. So werden etwa im Einkommensteuerrecht verwendete Begrifflichkeiten tendenziell eher dem allgemeinen Sprachgebrauch entlehnt sein als solche in einer vornehmlich an den juristischen Berater gerichteten unternehmensteuerlichen Spezialmaterie wie dem Umwandlungsteuerrecht.
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b) Mit der historischen Methode77 werden subjektiv-teleologisch die im Normentstehungsprozess für die gesetzliche Begriffsverwendung maßgeblichen Zweckvorstellungen und Wertungen eruiert. Zu diesem Zweck ist primär auf die veröffentlichten Gesetzgebungsmaterialien zurückzugreifen78. Die Gesetzesbegründungen sind in den allermeisten Fällen in Regierungs- oder Fraktionsentwürfen niedergelegt. Sie sollten zuerst gelesen und es sollte dann geprüft werden, ob und inwieweit die Entwürfe Gesetz geworden sind. Ist die Vorschrift eines Regierungs- oder Fraktionsentwurfs ohne textliche Veränderung Gesetz geworden, so kann die Entwurfsbegründung in aller Regel herangezogen werden. Jedoch können auch in diesen Fällen andere Materialien des Gesetzgebungsverfahrens Aufschluss darüber geben, warum der Gesetzgeber den Regierungs- oder Fraktionsentwurf unverändert verabschiedet hat. Dazu sind vornehmlich die Berichte des Finanzausschusses, Stellungnahmen des Bundesrats und Gegenäußerungen der Bundesregierung heranzuziehen, die auch i.Ü. zu berücksichtigen sind. Nicht selten kommt das Steuergesetz auch erst in einem Vermittlungsverfahren nach Art. 77 GG zustande. In derartigen Fällen kann es erforderlich sein, alle Drucksachen sorgfältig zu prüfen, um die letztlich
74 S. BFH v. 11.4.2013 – III R 11/12, BStBl. II 2013, 666 (667), m.w.N. So bereits Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, 1914, 33. Im Weiteren Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, 42 (Wortlaut stecke die Grenzen richterlicher Auslegungstätigkeit ab); Tipke, StRO III2, 1624 f.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 322: „Was jenseits des sprachlich möglichen Wortsinns liegt“, könne nicht mehr „im Wege der Auslegung“ verstanden werden. Ausf. zur Funktion des Wortlauts als Grenze zulässiger Normkonkretisierung Müller/Christensen, Juristische Methodik11, 304 ff. 75 Grundl. zur juristischen Hermeneutik (Verstehenslehre) Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 204 ff., im Anschluss an Gadamer, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik5, 1986. Zur grammatischen Methode s. auch Tipke, StRO III2, 1606 ff. 76 Dazu näher Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 438 f. S. dazu bspw. OVG NRW v. 11.12.2013 – 14 A 1948/13, KStZ 2014, 93 (94). 77 Dazu Fikentscher, Methoden des Rechts IV, 674 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 328 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 449 ff.; Redeker/Karpenstein, NJW 2001, 2825; Kanzler, FR 2007, 525; Kirchhof, FS Spindler, 2011, 641 (650 f.); Tipke, StRO III2, 1613 f. 78 Tendenziell a.A. Hohmann, StuW 2017, 177.
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2. Traditionelle Auslegungsmethoden
Rz. 64 § 5
ausschlaggebenden Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten feststellen zu können79; die Protokolle der Sitzungen des Vermittlungsausschusses selbst werden üblicherweise (erst) in der jeweils übernächsten Legislaturperiode zur Einsicht freigegeben. Zu eruieren ist die gesamte Entstehungsgeschichte eines Gesetzes. Daher können auch Äußerungen 61 von Parteien oder von einzelnen Abgeordneten für die historische Auslegung relevant sein. Sie müssen aber sorgfältig daraufhin überprüft werden, ob und inwieweit sie den Normgebungsprozess tatsächlich beeinflusst haben. Dasselbe gilt ggf. für vorbereitende Arbeiten außerhalb des eigentlichen Gesetzgebungsverfahrens (vgl. Art. 76 ff. GG), wie etwa Referentenentwürfe des Ministeriums und Stellungnahmen des wissenschaftlichen Beirats beim BMF. Zur auslegungsrelevanten Entstehungsgeschichte gehören ferner Kommissionsentwürfe, soweit sie die Gesetzgebung beeinflusst haben, Rspr., soweit sie der Gesetzgeber übernommen oder verworfen (zu Nichtanwendungsgesetzen s. Rz. 40) hat, und den Gesetzgeber erkennbar inspirierende wissenschaftliche Erkenntnisse. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die historische Methode vornehmlich ergänzend zu den 62 übrigen Auslegungsmethoden heranzuziehen ist (s. Rz. 52), um deren Ergebnisse zu untermauern oder in Zweifelsfällen den Ausschlag für eine im Lichte der übrigen Methoden mögliche Interpretationsvariante zu geben. Eine Sperrwirkung speziell gegenüber gegenläufigen systematisch-teleologischen Erwägungen (s. Rz. 63 ff.) vermag der „Wille des Gesetzgebers“ hingegen allenfalls dann zu entfalten, wenn er sich aus der Entstehungsgeschichte eindeutig ergibt und zudem auch im Gesetzestext einen hinreichend klaren Ausdruck gefunden hat (s. Rz. 52)80. Bei wertausfüllungsbedürftigen unbestimmten Gesetzesbegriffen verliert die historische Methode mit dem Zeitablauf an Bedeutung. Dazu zählen Begrifflichkeiten wie die „Angemessenheit“, „Billigkeit“, „sittliche Verpflichtung“ oder „Ordnungsmäßigkeit der Buchführung“. Die für die Konkretisierung solcher Konzepte erforderlichen Wertungen sind regelmäßig einem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, technischen etc. Wandel unterworfen; gerade der demokratisch legitimierte Gesetzgeber erwartet daher keine „Versteinerung“ der zunächst einschlägigen historischen Maßstäbe. Soweit die Rspr. solche unbestimmten Begriffe regelmäßig in Orientierung am Gesetzeszweck fallgruppenbildend und fallvergleichend konkretisiert hat81, bedarf es daher stets der Reflektion, ob die jeweilige Konkretisierung noch angemessen ist. c) Die systematische Methode82 ist eine teleologisch-systematische. Sie gewinnt Erkenntnisse zu dem 63 Gesetzeszweck sowohl aus dem äußeren (s. § 3 Rz. 5 ff.) als auch aus dem inneren (s. § 3 Rz. 9 ff.) System, aus äußeren wie inneren Bedeutungszusammenhängen. aa) Bei einer Auslegung anhand des äußeren Systems orientiert sich der Rechtsanwender vornehm- 64 lich an der Stellung des Rechtssatzes im Gesetz (z.B. EStG) oder in bestimmten Gesetzesabschnitten sowie an der Paragraphenfolge und dem inneren Aufbau des jeweiligen Paragraphen. Insb. aus den amtlichen Abschnittsvorschriften lassen sich häufig Rückschlüsse auf den Bedeutungsgehalt einer Rechtsnorm ziehen. Allerdings darf die Stellung der Rechtsnorm im äußeren System als Auslegungskriterium nicht überbewertet werden83. Sie kann im Einzelfall auch verfehlt sein, etwa wenn es dem 79 Exemplarisch BFH v. 29.11.2012 – IV R 47/09, BStBl. II 2013, 324 (326). 80 S. bspw. BFH v. 23.10.2013 – X R 3/12, BStBl. II 2014, 58, Rz. 23-25; v. 12.11.2013 – VIII R 36/10, BStBl. II 2014, 168, Rz. 17 f.; v. 19.11.2013 – IV B 86/13, BFH/NV 2014, 336. Dementsprechend kann eine nachträgliche „authentische Interpretation“ des Gesetzgebers von bereits in Kraft getretenen Vorschriften für den Rechtsanwender keine Verbindlichkeit beanspruchen, vgl. BVerfG v. 21.7.2010 – 1 BvL 11/06 u.a., BVerfGE 126, 369 (392); BVerfG (K) v. 16.2.2012 – 1 BvR 127/10, HFR 2012, 545 (547). 81 Dazu Tipke, Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, in Leffson/Rückle/Großfeld (Hrsg.), Handwörterbuch unbestimmter Rechtsbegriffe im Bilanzrecht des HGB, 1986, 1 ff. 82 Dazu Fikentscher, Methoden des Rechts IV, 676 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 324 ff. (Bedeutungszusammenhang des Gesetzes); Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 453 ff. 83 S. auch BFH v. 15.12.2010 – VIII R 50/09, BStBl. II 2011, 506, Rz. 32.
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§ 5 Rz. 65
Rechtsanwendung im Steuerrecht
Gesetzgeber bzw. den mit der Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs befassten Ministerialbeamten bei punktuellen Ergänzungen des Gesetzestextes an Überblick mangelte oder wenn bestimmte Zuordnungen historisch überholt sind. Überlegungen auf Basis der Stellung der Norm im äußeren System sind daher vor allem ergänzend zur Verifizierung oder Infragestellung anderweitig gefundener Auslegungsergebnisse anzustellen; sie werden nur ausnahmsweise bei anderweitig nicht auszuräumenden Zweifeln ausschlaggebende Bedeutung erlangen84. Bspw. könnte die Verortung der Regelungen betr. den Abzug der Aufwendungen für außergewöhnliche Belastungen (§ 33 EStG) im Abschnitt über den „Tarif“ zu der Annahme verleiten, das Tatbestandsmerkmal des Anfalls „größerer Aufwendungen als [bei] der überwiegenden Mehrzahl der Stpfl. gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes“ im Sinne der Maßgeblichkeit einer klassen- bzw. schichtenspezifischen Betrachtung sowie einer nur vereinzelt angefallenen Sonderbelastung auszulegen. Denn die Stellung im Abschnitt über den Tarif reflektiert den ursprünglichen Billigkeitscharakter der Vorschrift (vgl. § 8 Rz. 85), der eine solche Betrachtung nahelegt. Indes ist diese historisch überkommene Charakterisierung des Abzugs außergewöhnlicher Belastungen im Lichte verfassungsrechtlicher Vorgaben zur steuerlichen Verschonung des Existenzminimums (vgl. BVerfGE 125, 175 [222], m.w.N.) seit Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht mehr aufrechtzuerhalten. Stattdessen ist im Rahmen des möglichen Wortsinns einer objektiv-teleologischen, verfassungskonformen Auslegung (vgl. Rz. 92) der Vorzug zu geben, wonach es darauf ankommt, ob die entsprechenden Aufwendungen (etwa im Grundfreibetrag nach § 32a I 1 Nr. 1 EStG) bereits anderweitig typisierend berücksichtigt sind. 65
Darüber hinaus kann aus dem normlogischen Kontext mit anderen Einzelvorschriften argumentiert werden. Als systematisch verfehlt sind regelmäßig solche Interpretationsvarianten zu verwerfen, die dazu führen würden, dass eine andere Norm ihren Anwendungsbereich verliert85. Zur Kategorie kontextbezogener normlogischer Argumentation gehört vordergründig auch der Umkehrschluss (argumentum e contrario), der darauf abstellt, dass in anderen Normkomplexen mit vergleichbarer übergeordneter Zielsetzung ausdrücklich vorgesehene Einschränkungen, Bedingungen etc. im Text der auszulegenden Vorschrift nicht enthalten sind86. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass dieses Argument juristischer Logik nicht ohne eine teleologisch fundierte Wertung dahingehend auskommt, dass durch die unterschiedliche Handhabung keine Wertungswidersprüche auftreten oder selbige jedenfalls vom Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen wurden. Ansonsten nämlich ist gerade umgekehrt angezeigt, über eine extensive Auslegung im Rahmen des möglichen Wortsinns oder aber durch eine Analogiebildung (s. Rz. 80) einen Gleichklang zwischen den beiden in Bezug gesetzten Normenkomplexen herzustellen.
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Schon normlogisch nicht begründbar ist schließlich der gelegentlich – insb. vom EuGH87 – postulierte Standpunkt, Ausnahmeregelungen seien eng bzw. restriktiv auszulegen. Dies kann vielmehr nur aufgrund einer teleologisch angeleiteten Normanalyse festgestellt werden. In Betracht kommt eine enge Auslegung insb. im Lichte höherrangigen Rechts, namentlich bei gleichheitsrechtlich problematischen Ausnahmeregelungen, soweit diese (evtl. gerade infolge der restriktiven Interpretation) überhaupt verfassungsrechtlich Bestand haben können88.
84 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 443. 85 S. Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 306a. 86 In einer simpleren Variante des Umkehrschlusses wird schon aus der bloßen Nichterfassung eines Sachverhalts in der auszulegenden Rechtsnorm gefolgert, dass für diesen die darin vorgesehene Rechtsfolge nicht eintreten soll; dazu Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 476 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 209 f. Bsp.: Argumentum e contrario sind die im Hundesteuertatbestand nicht erfassten Katzen nicht hundesteuerpflichtig. 87 S. EuGH v. 19.7.2012 – C-33/11, ECLI:EU:C:2012:482, Rz. 49 – A Oy, m.w.N.; v. 16.5.2013 – C-169/12, ECLI:EU:C:2013:314, Rz. 24 – TNT, m.w.N.; Riesenhuber, Europäische Methodenlehre3, § 10 Rz. 62 ff. 88 S. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 400, m.w.N.
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2. Traditionelle Auslegungsmethoden
Rz. 69 § 5
bb) Die systematische Methode arbeitet mit dem inneren System, wenn Prinzipien, Richtwerte oder ei- 67 ner Regelung zugrunde liegende politische Zielsetzungen89 effektuiert werden. Dies entspricht einer objektiv-teleologischen Vorgehensweise. Leitziel ist die Vermeidung von Wertungswidersprüchen im Steuersystem oder mindestens innerhalb ein und derselben Steuerart. Dies geschieht durch die gleichmäßige Entfaltung sowohl gesetzgeberischer Grundwertungen (Fundamentalprinzipien der Besteuerung, z.B. das objektive Nettoprinzip im Einkommensteuerrecht) als auch ggf. der gesetzlichen Vorrangwertungen zugunsten gegenläufiger Prinzipien oder Zielsetzungen, die etwaigen Durchbrechungen der Fundamentalprinzipien zugrunde liegen (bspw. umweltpolitisch motivierte Steuervergünstigungen). Aus der gleichheitsrechtlichen Fundierung ergeben sich zugleich die inhärenten Grenzen einer Argumentation aus dem inneren System: Stützt sie sich auf steuerspezifische Fundamentalprinzipien oder deren Subprinzipien (vgl. § 3 Rz. 40 ff.), so kann sie nicht weiterreichen als deren jeweiliger Geltungsbereich. So können bspw. aus dem im Steuerbilanzrecht wirkmächtigen Realisationsprinzip keine Rückschlüsse auf die Auslegung des Zuflussbegriffs (§ 11 I EStG) im Rahmen der Einnahmen-Überschuss-Rechnung gezogen werden. Zudem muss der Rechtsanwender auch die Relativierbarkeit solcher Leitmaximen durch gegenläufige Prinzipien oder politische Zielsetzungen beachten; er kann sie daher im Wege systematisch-teleologischer Auslegung nur entfalten, soweit sie im Gesetz nicht erkennbar durchbrochen werden90. Bei der Anwendung der systematisch-teleologischen Auslegung anhand des inneren Systems ist es im 68 Steuerrecht wichtig, zwischen Fiskalzwecknormen, Sozialzwecknormen und Vereinfachungsnormen zu unterscheiden (s. § 3 Rz. 19 ff.). Objektiv-teleologischer Maßstab für Fiskalzwecknormen ist regelmäßig das Leistungsfähigkeitsprinzip mit seinen steuerartspezifischen Subprinzipien91. Bei Sozialzwecknormen (s. § 3 Rz. 21) muss sich von Verfassungs wegen ein subjektiv-teleologischer Lenkungszweck oder Umverteilungszweck feststellen lassen92, der die Auslegung anzuleiten hat. Bei Vereinfachungsnormen kommen vor allem die Praktikabilität und die typisierende Rechtsanwendung zum Zuge. Das Praktikabilitätsprinzip (s. § 3 Rz. 145) ist jedoch für alle Normen ein objektiv-teleologischer Maßstab: Gesetze sollen praktikabel, d.h. durchführbar, nicht lebensfremd ausgelegt werden93. Das entspricht ganz allgemein der Gesetzesvernunft (s. auch Tipke, StRO III2, 1615 f.)94. In diesem Zusammenhang hat der Rechtsanwender Spielräume der Typisierung. d) Zumindest auf unionsrechtlich harmonisierten Gebieten des Steuerrechts (s. dazu § 4 Rz. 66) ist 69 darüber hinaus die Rechtsvergleichung als weitere „Auslegungsmethode“95 in Betracht zu ziehen. Vor allem bei der Auslegung optionaler, unionsrechtlich nicht voll vereinheitlichter Besteuerungsregime trägt die Rechtsvergleichung zur unionsweiten Entscheidungsharmonie bei96, da eine unitarische Wirkung von EuGH-Entscheidungen insoweit nicht in Betracht kommt. Sie sichert damit das binnenmarktbezogene Ziel internationaler Wettbewerbsneutralität und ggf. einer kollisionsfreien zwischenstaatlichen Aufteilung von Besteuerungsbefugnissen ab, das nahezu alle EU-Rechtsakte auf dem Gebiet des Steuerrechts prägt. Bei der Anwendung von Steuerrechtsnormen, die zwingende EU89 Zur Unterscheidung zwischen den verschiedenen Kategorien s. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, 43 ff. 90 Dazu auch Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 291; Tipke, StRO III2, 1615. 91 Dazu statt aller Desens, StuW 2016, 240, mit ausführlicher Analyse der Rspr. des BVerfG. 92 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (147 f.) hat ein dahingehendes Begründungsgebot für das Leistungsfähigkeitsprinzip durchbrechende Steuervergünstigungen aufgestellt; seither st. Rspr., s. auch Englisch, FS Lang, 2010, 167 (206 ff.), m.w.N.; sowie § 3 Rz. 21. Krit. mit gewichtigen Argumenten Tappe, Die Begründung von Steuergesetzen, Habil. 2012. 93 S. BVerfG v. 14.3.1967 – 1 BvR 334/61, BVerfGE 21, 209 (Rz. 30). 94 Vgl. auch EuGH v. 26.1.2012 – C-218/10, ECLI:EU:C:2012:35, Rz. 31 – ADV Allround Vermittlungs AG; BFH v. 11.4.2013 – III R 11/12, BStBl. II 2013, 666 (667); GA Kokott, Schlussanträge v. 4.9.2014 – C-144/13 u.a., ECLI:EU:C:2014:2163, Rz. 60 – VDP Dental Laboratory u.a. 95 Grundl. Häberle, JZ 1989, 913 (916 ff.). 96 Dazu Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung3, 1996, 19 f.; s. zur Parallele im internationalen Steuerrecht Vogel/Lehner, DBA6, Grundlagen Rz. 114 ff.
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§ 5 Rz. 70
Rechtsanwendung im Steuerrecht
Richtlinienvorgaben umsetzen, wiederum ist zumindest der BFH zur Vorlage an den EuGH verpflichtet, wenn ein nach dem traditionellen Methodenkanon gefundenes Auslegungsergebnis Zweifel an der Vereinbarkeit mit den zugrundeliegenden Richtlinienbestimmungen aufwirft (s. § 4 Rz. 49). Die Feststellung entsprechender Zweifel kann eine Befassung mit der Umsetzung der Richtlinienvorgaben in den Steuerrechtsordnungen der übrigen EU-Mitgliedstaaten erforderlich machen (s. § 4 Rz. 31). Jenseits harmonisierter Steuerarten bzw. Steuerregime kann ein Vergleich mit ausländischer Judikatur zu vergleichbaren Regelungskomplexen immerhin die für eine systematisch-teleologische Auslegung maßgeblichen Wertungen erhellen97. Als sprachlich wie organisatorisch problematisch erweist sich freilich stets der Zugang zu ausländischen Rechtsquellen; hier sind in Zukunft weitere Verbesserungen zu erwarten98. 3. Wirtschaftliche Interpretation der Steuergesetze (wirtschaftliche Betrachtungsweise) 70
Steuerrechtsnormen, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erfassen sollen (Fiskalzwecknormen, s. § 3 Rz. 20), knüpfen an wirtschaftliche Vorgänge und Zustände an (s. bereits § 1 Rz. 32). Sofern sich aus Normkontext und -genese nichts anderes ergibt, bedürfen sie deshalb grds. einer am wirtschaftlichen Gehalt des Sachverhalts orientierten Interpretation, die als wirtschaftliche Betrachtungsweise99 bezeichnet wird. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise ist keine Sondermethode des Steuerrechts, sondern überall dort anzutreffen, wo der Gesetzgeber ökonomische Sachverhalte zu regeln hat. Sie ist Teil systematisch-teleologischer Gesetzesinterpretation100, da sie der gleichmäßigen Belastung von wirtschaftlich vergleichbaren Vorgängen und Zuständen dient. So lassen sich die meisten zivilrechtlich nicht vorgeprägten steuerrechtlichen Begriffe wie z.B. das Wirtschaftsgut (§§ 39 AO; 4 I EStG), die Bereicherung (§ 10 I 1 ErbStG), der Teilbetrieb (§ 16 I 1 Nr. 1 Satz 1 EStG) oder die Lieferung (§ 3 I UStG) a priori nur wirtschaftlich auslegen. Aber auch die vom Steuergesetzgeber verwandten Begriffe des Zivilrechts sind teleologisch an dem Zweck des Steuergesetzes auszurichten und damit vielfach in Abweichung vom zivilrechtlichen Verständnis nach ihrem im Lichte der spezifisch steuerrechtlichen Wertungen maßgeblichen wirtschaftlichen Gehalt zu interpretieren:
71
Weder eine freischwebende „wirtschaftliche Betrachtungsweise“ noch eine zivilrechtshörige Interpretation der Steuergesetze führen zu steuerrechtlich adäquaten Auslegungsergebnissen. Bei der Auslegung steuergesetzlicher Begriffe ist zunächst davon auszugehen, dass es keine teleologische Prävalenz des Zivilrechts gibt (s. bereits § 1 Rz. 34)101. Vielmehr ist auf Grund der Teleologie der Steuerrechtsnorm zu prüfen, ob und inwieweit ein zivilrechtlicher Regelungsinhalt auch die Rechtsfolge des Steuergesetzes mitbestimmt. 97 S. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung3, 1996, 16 ff.; von Bogdandy, JZ 2011, 1. 98 So arbeiten etwa EU und auch IBFD (International Bureau of Fiscal Documentation) am Aufbau einer Datenbank von Entscheidungen nationaler Obergerichte u.a. zum Mehrwertsteuerrecht; europäische bzw. globale Vereinigungen von mit Steuerrecht befassten Wissenschaftlern (z.B. EATLP, GREIT), Richtern (IATJ) und Beratern (CFE, IFA) fördern die Rechtsvergleichung auch jenseits des Internationalen Steuerrechts u.a. durch Kongresse und Publikationen, und internationale Zeitschriften drucken mit zunehmender Tendenz auch nationale Entscheidungen zum je thematisch einschlägigen Steuerrechtsgebiet ab. 99 Dazu Groh, StuW 1989, 227; Tipke, StRO III2, 1629 ff.; Lehner, FS Tipke, 1995, 237; Eibelshäuser, DStR 2002, 1426; Breidert/Moxter, WPg. 2007, 912 (Bilanzrechtsprechung). 100 Lehner, FS Tipke, 1995, 237; Tipke, StRO III2, 1630. 101 Anders noch die Rspr. der Nachkriegszeit; exemplarisch BFH v. 29.3.1962 – VI 105/61 U, BStBl. III 1962, 304 (305) (zur Leibrente: „Wenn in Steuergesetzen Begriffe verwendet werden, die im bürgerlichen Recht einen bestimmten festen Inhalt haben, so sind sie im Steuerrecht nach dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung im Interesse der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit in demselben Sinn auszulegen, sofern sie nicht erkennbar nach dem Willen des Gesetzgebers im Steuerrecht einen anderen Sinn haben sollen“). Zur Tendenzwende ab 1965 Beisse, StuW 1981, 1 (5 ff.); Tipke, StRO III2, 1634 ff. Ausführlich Meyer, Steuerliches Leistungsfähigkeitsprinzip und zivilrechtliches Ausgleichssystem, 2013, S. 15 ff.; Vogel, Die Auslegung privatrechtlich geprägter Begriffe im Ertragsteuerrecht, 2015, S. 179 ff.
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4. Ausfüllung von Gesetzeslücken
Rz. 74 § 5
Ergibt die Auslegung eines Tatbestandsmerkmals der Steuerrechtsnorm, dass es unmodifiziert an zi- 72 vilrechtliche Konzepte anknüpft, hat seine fallbezogene Konkretisierung auch für die Zwecke des Steuerrechts nach den zivilrechtlich maßgeblichen Kriterien zu erfolgen. Die Qualifikation des Sachverhalts nach dem zivilrechtlichen Begriffsverständnis schlägt dann unmittelbar auch auf die Subsumtion unter die deckungsgleiche steuerrechtliche Begrifflichkeit durch102. Das ist etwa charakteristisch für die Regeltatbestände des steuerbaren Grundstückserwerbs nach § 1 I GrEStG (s. § 18 Rz. 10 ff.). Führt indessen die teleologische Auslegung der Steuerrechtsnorm zu einem vom Zivilrecht abwei- 73 chenden steuerrechtlichen Begriffsverständnis, so ist zu prüfen, ob die zivilrechtliche Qualifikation des Sachverhalts den Kriterien der wirtschaftlich-teleologisch interpretierten Steuerrechtsnorm genügt. Meist wird die steuerrechtliche Norm dann sämtliche Fallkonstellationen erfassen, die im Zivilrecht unter dieselbe Begrifflichkeit zu subsumieren sind, aber darüber hinaus noch weitere, hinsichtlich ihres steuergesetzlich relevanten wirtschaftlichen Gehalts vergleichbare Zivilrechtsgestaltungen. Bspw. zählen zu den Einkünften aus „Vermietung und Verpachtung“ i.S.d. § 21 I 1 Nr. 1 und 2 EStG nicht nur Einkünfte aus schuldrechtlichen Miet- und Pachtverhältnissen, sondern auch eine vergleichbare dingliche Nutzungsüberlassung (s. § 8 Rz. 509). Mitunter weicht das steuerrechtliche Begriffsverständnis aber auch vollständig von der zivilrechtlichen Begriffsprägung ab. So hat z.B. der Begriff „Veräußerung“ i.S.d. § 23 EStG teleologisch an das obligatorische und nicht wie im Zivilrecht an das dingliche Rechtsgeschäft anzuknüpfen (s. § 8 Rz. 555)103. Schließlich ist eine zivilrechtskonforme Auslegung auch dann nicht stets geboten, wenn das Steuergesetz ausdrücklich auf zivilrechtliche Begriffe und Vorschriften verweist. So umfassen etwa die Verweisungen auf deutsches Erbrecht in § 3 ErbStG auch wirtschaftlich vergleichbare Vorgänge, für die ausländisches Erbrecht gilt104. 4. Ausfüllung von Gesetzeslücken a) Von der Auslegung ist die jenseits des möglichen Wortverständnisses beginnende Ausfüllung von 74 Gesetzeslücken durch Rechtsfortbildung105 zu unterscheiden. Die Grenze der Auslegung in Gestalt der Subsumtion als die Grundform des juristischen Schlusses (s. Rz. 46) ist der mögliche Wortsinn (Rz. 58). Damit endet jedoch nicht notwendig die rechtliche Würdigung des Sachverhalts. Ist eine Rechtsnorm gar nicht anwendbar, ohne dass ihr jenseits des Wortlauts des Gesetzes eine weitere Bestimmung hinzugefügt wird, ist sie also schon „normlogisch“ lückenhaft106, so darf der Rechtsanwender das Recht nicht verweigern. Er hat eine teleologisch adäquate Ergänzung vorzunehmen (Beispiel: § 4 I 2 EStG sieht die außerbilanzielle Korrektur auch bei der Nutzungs- und Leistungsentnahme vor; § 6 I Nr. 4 Satz 1 EStG enthält aber eine Bewertungsregelung nur für den Fall der Entnahme von Wirtschaftsgütern i.e.S. Es bedarf einer richterrechtlichen Rechtsfortbildung, s. dazu § 9 Rz. 371). Darüber hinaus sind jedoch auch teleologische Lücken zu schließen, die durch eine Diskrepanz von Wortlaut und gesetzgeberischem Regelungsanliegen gekennzeichnet sind. Wenn der Eintritt der Rechtsfolge einer tatbestandlich nicht einschlägigen Vorschrift auch in dem von ihrem Wortlaut nicht mehr erfassten Fall dem Gesetzeszweck entspricht, ist deren Anwendung kraft Analogie oder verwandter Argumente juristisch wertender Logik in Betracht zu ziehen. Umgekehrt verhält es sich bei der teleolo102 S. Tipke, StRO III2, 1636 f. 103 Bereits die das Primat des Zivilrechts verfolgende Rspr. des BFH (s. Rz. 71) erkannte mit BFH v. 13.12.1961 – VI 133/60 U, BStBl. III 1962, 127 (128), dass § 23 EStG an das obligatorische Geschäft anknüpft. 104 S. BFH v. 4.7.2012 – II R 38/10, BStBl. II 2012, 782, Rz. 22 ff., m.w.N. 105 Dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 366 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 472 ff.; Tipke (Hrsg.), Grenzen der Rechtsfortbildung durch Rspr. und Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht, DStJG 5 (1982); Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht; Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, 204 ff.; Tipke/Kruse/Drüen, § 4 AO Rz. 344 ff. 106 Dazu Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 473 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 193 und 220 f.; Zippelius, Juristische Methodenlehre11, 2012, 64.
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§ 5 Rz. 75
Rechtsanwendung im Steuerrecht
gischen Reduktion, wenn der Wortlaut der Norm nicht zu eng, sondern gemessen am Normzweck zu weit geraten ist (s. Rz. 85). 75
b) Hauptanwendungsfall der Lückenschließung durch Rechtsfortbildung ist die teleologisch ermittelte Unvollständigkeit des Gesetzes. Ist der Rechtsanwender zu dem Ergebnis gelangt, dass der rechtlich zu würdigende Sachverhalt nicht mehr vom Wortlaut der nach ihrem Gesetzeszweck als anwendbar in Betracht zu ziehenden Rechtsnormen erfasst ist, so hat er zunächst sorgfältig zu prüfen, ob der Gesetzestext im Hinblick auf den Gesetzeszweck eine Lücke enthält. Hierzu definiert Claus-Wilhelm Canaris107 die Gesetzeslücke als „planwidrige Unvollständigkeit“: Der Gesetzgeber hat einen bestimmten Plan gehabt, er wollte bestimmte Grundwertungen (Fundamentalprinzipien der Besteuerung) durch gesetzliche Anordnungen entfalten oder einen Zielkonflikt durch eine bestimmte gesetzliche Vorrangwertung auflösen; es ist ihm dies aber nicht vollständig gelungen. Das Gesetz ist, gemessen an dem zu Grunde liegenden Plan bzw. den zugrundeliegenden Wertungen, lückenhaft, d.h. unvollständig bzw. fehlerhaft formuliert.
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In zeitlicher Hinsicht ist zwischen anfänglichen, dem Gesetzgeber an sich erkennbaren, und nachträglichen Lücken zu unterscheiden108. Nachträgliche Lücken können sich zum einen durch nicht vorhersehbare wirtschaftliche oder technische Entwicklungen ergeben (s. etwa BFH BStBl. II 2000, 467 [468], zur analogen Anwendung des § 21 I 1 Nr. 1 EStG auf in die Luftfahrzeugrolle eingetragene Flugzeuge). Sie können aber auch aus rechtsdogmatischen Erkenntnisfortschritten insb. in der höchstrichterlichen Rspr. resultieren, wenn der Gesetzgeber den Regelungsbedarf noch anhand des traditionellen Rechtsprechungsansatzes abgeschätzt hat (Beispiele: BFH BStBl. III 1964, 122 f.; BStBl. II 2001, 575 [577]; 2011, 233 [235]), oder aufgrund punktuellen Anwendungsvorrangs von EU-Recht entstehen (Beispiel: BFH BStBl. II 2000, 334).
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Dieser teleologisch adäquate Lückenbegriff ist inzwischen im Steuerrecht allgemein anerkannt109. Im Falle einer solchen Lücke ist der Rechtsanwender grundsätzlich zur Rechtsfortbildung befugt. Die planwidrige Unvollständigkeit ist scharf vom bewussten Regelungsverzicht zu unterscheiden110. Das ist der Bereich, der vom Gesetzgeber absichtlich von bestimmten Rechtsfolgen ausgenommen wurde (z.B. die Beschränkung von Steuervergünstigungen auf bestimmte Investitionen111). Der Richter darf hier nicht im Wege der Rechtsfortbildung seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen; anderenfalls liegt unzulässige Rechtsschöpfung contra legem vor112. Stattdessen kann die planmäßige Lücke einen Gleichheitssatzverstoß und damit die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung begründen, die jedoch nur vom BVerfG festgestellt werden darf113.
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c) Allerdings wird für das Steuerrecht teilweise einschränkend ein Verbot steuerverschärfender Rechtsfortbildung angenommen. Vertreter dieser Ansicht führen vor allem das Demokratieprinzip sowie die rechtsstaatlichen Grundsätze der Gewaltenteilung und der Rechtssicherheit als Begründung 107 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, Eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem2, 1983. 108 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 199 f. 109 Tipke, FS von Wallis, 1985, 133; Fischer, StuW 1995, 303; Lang, FS Höhn, 1995, 159; Tipke/Kruse/ Drüen, § 4 AO Rz. 345 ff. 110 S. dazu BFH v. 18.1.2012 – II R 31/10, BStBl. II 2012, 519; Tipke, StRO III2, 1641; Wendt, FS Wadle, 2008, 1203 (1205). 111 S. auch BFH v. 19.3.2013 – VII R 57/11, BFHE 240, 480, Rz. 9–12, zum umgekehrten Fall eines bewussten Absehens von Ausnahmebestimmungen zu Steuervergünstigungen. S. ferner Brandis, StuW 2013, 88 (90 f.), zum bewussten Systembruch. 112 S. BVerfG (K) v. 16.2.2012 – 1 BvR 127/10, HFR 2012, 545 (546); BFH v. 28.8.1986 – V R 20/79, BStBl. II 1987, 162, (164); sowie allgem. BVerfG v. 3.4.1990 – 1 BvR 1186/89, BVerfGE 82, 6 (12); v. 14.6.2017 – 2 BvR 1447/05 u.a., BVerfGE 118, 212 (243); v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193. 113 S. zu diesem Zusammenhang exemplarisch BFH v. 10.4.2013 – I R 80/12, BStBl. II 2013, 1004.
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4. Ausfüllung von Gesetzeslücken
Rz. 79 § 5
an. Hierfür steht exemplarisch der Vorwurf von Friauf, es handele sich bei der steuerverschärfenden Rechtsfortbildung um eine „administrative oder judizielle Selbstermächtigung zu freiheitsbeschränkenden Eingriffen über den gesetzlichen Rahmen hinaus“114. Seit der Jahrestagung der DStJG von 1982115 wird ein Verbot steuerverschärfender Rechtsfortbildung jedoch in der Steuerrechtslehre zunehmend als verfehlter Sonderweg des Abgabenrechts116 abgelehnt117. Auch das BVerfG hat sich inzwischen davon distanziert118. Der Bundesfinanzhof allerdings hat sich in dieser Frage nach wie vor nicht zu einer einheitlichen Haltung durchringen können119. b) Richtigerweise entspricht die Rechtsfortbildung zwecks Schließung teleologischer Lücken im 79 Normtext, d.h. zwecks Vermeidung von Wertungswidersprüchen, den Vorgaben des allgemeinen Gleichheitssatzes120. Sie gewährleistet durch Analogie und verwandte Schlussverfahren, dass die nicht von einer Regelung erfassten Fälle gleich behandelt werden, sofern und soweit sie im Lichte der je maßgeblichen gesetzgeberischen Wertung – der ratio legis – vergleichbar sind. Im Falle der teleologischen Reduktion wird umgekehrt die Gleichbehandlung von nicht Vergleichbarem durch Einfügung einer im Gesetzestext nicht vorgesehenen Ausnahmeregelung vermieden. Zu einem dahingehenden Schließen planwidriger Regelungslücken sind Verwaltung und Rspr. auch in hinreichendem Maße funktionell wie personell demokratisch legitimiert; eine hinreichende sachliche demokratische Legitimation der Rechtsfortbildung ist durch die erforderliche Rückbindung an erkennbare gesetzgeberische Wertungen und Zielsetzungen sicherzustellen. Damit steht auch der im Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip wurzelnde Gesetzesvorbehalt bloßen „Randkorrekturen des geschriebenen Steuerrechts“121, sei es zugunsten oder zulasten des Stpfl., nicht entgegen122. Vielmehr entspricht das folgerichtige Zu-Ende-Denken steuergesetzlicher Normzwecke für planwidrig nicht berücksichtigte Fallkonstellationen im Wege administrativer oder judizieller Rechtsfortbildung gerade dem Demokratieprinzip123. Der Gesetzgeber selbst hat seine dahingehende Erwartungshaltung zumindest für die höchstrichterliche Rspr. im Steuerrecht in den §§ 11 Abs. 4, 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO denn auch explizit zum Ausdruck gebracht. Generell ausgeschlossen ist hingegen eine gesetzesübersteigende
114 K.-H. Friauf, DStJG 5 (1982), 53 (63 f.); zustimmend G. Crezelius, Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, 1983, 155. 115 Tipke (Hrsg.), Grenzen der Rechtsfortbildung durch Rspr. und Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht, DStJG 5 (1982). 116 S. zur Akzeptenz belastender Rechtsfortbildung im öffentlichen Eingriffsrecht grundlegend BVerfG v. 24.2.2015 – 1 BvR 472/14, BVerfGE 138, 377, Rz. 41 (lediglich „enger gesteckte Grenzen“ der Rechtsfortbildung); s. ferner etwa BVerwG v. 18.6.2015 – 4 C 4/14, BVerwGE 152, 219; HoffmannRiem u.a./F. Reimer, Grundlagen des Verwaltungsrechts I2, 2012, § 9 Rz. 29, m.w.N.; Sachs/Sachs8, Art. 20 GG Rz. 121. Die Gegenansicht wird nur noch von wenigen vertreten, bspw. OVG Lüneburg v. 18.1.2011 – 10 LC 286/08, AUR 2011, 151; Caspar, AöR 2000, 131 (148). 117 Dazu umfassend mit Historie und gegenwärtigem Meinungsstand inkl. ausländischer Lit. und Rspr. Tipke, StRO I2, 177–204; Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 172 ff. Gegen ein Analogieverbot bspw. Tipke, DStJG 5 (1982), 3; J. Lang, FS Höhn, 1995, 168; Müller-Franken, DStZ 2004, 606 (609); Schenke, StuW 2008, 206 (214 f.); Englisch, StuW 2015, 302. Differenzierend Doralt/Ruppe/Ehrke-Rabel, Steuerrecht II6, Wien 2011, Rz. 99. Nach wie vor befürwortend zB Wendt, FS Wadle, 2008, 1203 (1207); Schön, DStJG 33 (2010), 29 (55); Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1148). 118 BVerfG (K) v. 16.2.2012 – 1 BvR 127/10, HFR 2012, 545; v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13 u.a., HFR 2017, 172. 119 Ausführliche Analyse bei Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, 220 ff. 120 Becker, StuW 1931, Sp. 945 (948 f.); P. Kirchhof, FS RFH/BFH, 1993, 285 (289); Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, 1996, 75 f.; Tipke, StRO III2, 1643. 121 Fischer, StVj 1992, 3 (14). 122 S. auch Woerner in GS Knobbe-Keuk, 1997, 967 (980); Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, 206; wohl auch Drüen, StuW 2012, 269 (279): keine „steuerlastschaffende“ Rechtsfortbildung, aber zulässige „Modifikation“ von Steuertatbeständen. 123 S. Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981, 127; Fischer, StuW 1979, 347 (363). A.A. Offerhaus, BB 1984, 993 (996).
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§ 5 Rz. 80
Rechtsanwendung im Steuerrecht
Rechtsfortbildung (extra legem) zu Lasten des Stpfl.124. Insbesondere ist es untersagt, in der Zusammenschau der bisherigen Steuerwürdigkeitsentscheidungen des Gesetzgebers oder unter Rückgriff auf das Leistungsfähigkeitsprinzip neuartige Steuern bzw. Steuerbelastungen zu kreieren125. Insoweit nämlich lebt das Steuerrecht tatsächlich nur aus dem „Diktum des Gesetzgebers“126, der alle dahingehenden – wesentlichen – Festlegungen selbst zu treffen hat (Beispiele: Katzen unterliegen nicht der Hundesteuer; Gewinne aus der Veräußerung von privat verwaltetem Erwerbsvermögen sind jenseits der §§ 20 II; 23 I EStG nicht einkommensteuerbar). 80
Das rechtsstaatliche Prinzip der Rechtssicherheit bzw. der Vorhersehbarkeit der mit der Besteuerung verbundenen Grundrechtseingriffe legt allerdings unbeschadet der obigen Feststellungen zur grundsätzlichen Zulässigkeit auch der steuerverschärfenden Rechtsfortbildung nahe, an selbige erhöhte Anforderungen zu stellen. Ein vom Wortlaut des Gesetzes gedeckter Eingriff in seine Freiheitsrechte ist für den Stpfl. wie auch ggf. für seinen Berater typischerweise in höherem Maße vorhersehbar als eine Rechtsanwendung praeter legem jenseits des Wortlauts der Norm127. Auch wenn die Übergänge an den Wortlautgrenzen fließend sein können und die Einbuße an Rechtssicherheit damit eher gradueller als kategorialer Natur ist128, so überzeugt es doch auch im Steuerrecht nicht, dem Wortlaut jegliche Orientierungsfunktion für die absehbare Rechtsanwendung abzusprechen129. Daher muss sich um der Wahrung rechtsstaatlicher Anforderungen an Normenklarheit und steuerliche Planungssicherheit willen die Lückenhaftigkeit des geltenden Rechts schon anhand des Gesetzestextes für den Rechtsanwender aufdrängen. Eine Regelung muss also entweder schon normlogisch lückenhaft sein oder die mangelnde ausdrückliche Erstreckung einer Norm auf eine davon nicht erfasste Fallkonstellation (bzw. das Fehlen einer ausdrücklichen Ausnahmeregelung bei der teleologischen Reduktion) muss im systematischen Gesamtzusammenhang des Steuertatbestandes als wertungswidersprüchlich erscheinen130. Es kann mithin bei der Rechtsfortbildung „in malam partem“ für die Lückenfeststellung nicht allein auf die subjektiven Vorstellungen des historischen Gesetzgebers ankommen131. Darüber hinaus muss auch dann von einer steuerverschärfenden Rechtsfortbildung abgesehen werden, wenn dem unvollständigen Normenkomplex kein eindeutig zu bestimmender, von verallgemeinerungsfähigen Wertungen getragener Normzweck zugrunde liegt. Dies kann insb. der Fall sein, wenn es der fraglichen Norm an jeglicher Orientierung an übergeordneten Regelungszielen oder Strukturprinzipien fehlt, was häufig bei rein fiskalpolitisch motivierten Reparaturnormen der Fall ist. Dasselbe gilt, wenn der Normenbestand hinsichtlich des Regelungsanliegens ambivalent ist und damit ein etwaiger Wertungswiderspruch zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht mit hinreichender Überzeugungskraft begründet werden kann132. Durch diese Einschränkungen ist dem Prinzip der Rechtssicherheit dann aber auch in angemessenem Umfang Rechnung getragen133. Zwar reicht die rechtsstaatlich ge124 S. Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1974, 176; Weber-Grellet, DStR 1991, 438 (443); Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, 1996, 518. 125 S. BVerfG v. 19.12.1961 – 2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 261 (268); v. 27.12.1991 – 2 BvR 72/90, NJW 1992, 1219; Koenig/Koenig3, § 4 AO Rz. 117; Tanzer, StuW 1981, 201 (217 f.); Vogel/Waldhoff, BK-GG, Vorbem. z. Art. 104a-115 Rz. 484. 126 Grundlegend Bühler/Strickrodt, Steuerrecht3, 1960, Bd. 1, S. 659; BVerfG v. 24.1.1962 – I BvR 232/60, BVerfGE 13, 318 (329). 127 S. dazu H.-J. Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1974, S. 178; G. Beaucamp, AöR 134 (2009), 83 (88 ff.), mit zahlreichen w.N. 128 S. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, 568 f. 129 So aber Tipke, StuW 1981, 189 (193); wie hier a.A. Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, 1996, 547 f. 130 S. Lang, StuW 1981, 223 (225 f.). 131 S. auch BVerfG v. 14.6.2007 – 2 BvR 1447/05 u.a., BVerfGE 118, 212 (224); v. 23.10.2013 – 1 BvR 1842/11 u.a., BVerfGE 134, 204 (238 f.): Die Rechtsfortbildung muss ihren „Widerhall im Gesetz finden“. Ebenso Woerner, DStJG 5 (1982), 23 (43). 132 S. bspw. BFH v. 11.4.2013 – III R 11/12, BStBl. II 2013, 665 (668). 133 S. Matteotti, Steuergerechtigkeit und Rechtsfortbildung, 2007, 316 ff. und 334 ff.
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4. Ausfüllung von Gesetzeslücken
Rz. 82 § 5
botene Orientierungsfunktion des geschriebenen Steuerrechts auch in den verbleibenden Konstellationen zulässiger, weil hinreichend vorhersehbarer Rechtsfortbildung noch nicht ganz an diejenige einer Rechtsanwendung im Rahmen des Wortsinns heran. Die verbleibende, relativ geringe Einbuße an Normenklarheit ist aber um der Verwirklichung einer gleichheitssatzkonformen Besteuerung willen hinzunehmen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass das BVerfG generell keine hohen Anforderungen an die Wahrung des Bestimmtheitsgrundsatzes im Steuerrecht stellt134. d) Im Lichte der obigen Erwägungen ist der Rahmen zulässiger Rechtsfortbildung im Steuerrecht 81 stets – auch bei der steuerbegünstigenden Rechtsfortbildung – unter Berücksichtigung sowohl subjektiv-teleologischer als auch objektiv-teleologischer Kriterien festzustellen135. Namentlich kann eine planwidrige Regelungslücke einerseits (aufgrund subjektiv-teleologischer Analyse) in Erwägung zu ziehen sein, wenn die im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich geäußerten Vorstellungen zum Anwendungsbereich einer Norm oder zur Umsetzung bzw. Einschränkung eines Rechtsprinzips im Gesetzeswortlaut keinen hinreichenden Niederschlag gefunden haben. Sie kann andererseits auch (nach objektiv-teleologischen Kriterien) naheliegen, wenn die Vermeidung von Wertungswidersprüchen eine Gleichbehandlung von gesetzlich geregelten Fallkonstellationen und dem ungeregeltem Sachverhalt erfordert136. Abschließend bejaht werden kann das Vorliegen einer vom Rechtsanwender auszufüllenden Regelungslücke jedoch nur dann, wenn sich aus der je komplementären Betrachtungsweise keine gegenteiligen Anhaltspunkte betreffend die Planwidrigkeit der Lücke ergeben137: Würde die Umsetzung des im Gesetzeswortlaut nicht zum Ausdruck gekommenen „Willens des Gesetzgebers“ Wertungswidersprüche erst erzeugen oder vertiefen und damit gleichheitsrechtlich bedenkliche Ergebnisse zeitigen, ist mangels objektiv verstandener Planwidrigkeit der Rechtslage von einer Lückenfüllung abzusehen. Das Gesetz ist dann klüger als sein Schöpfer. Umgekehrt darf der vom Gesetzgeber ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien gewollte Systembruch nicht durch die Annahme einer planwidrigen Lücke vom Rechtsanwender korrigiert werden138. Beispiel: § 4 V 1 Nr. 7 EStG schließt den Betriebsausgabenabzug aus, wenn Aufwendungen die Lebensführung des Stpfl. oder anderer Personen berühren, soweit sie nach allgemeiner Verkehrsauffassung als unangemessen anzusehen sind. Dieses Angemessenheitsprinzip konkretisiert das objektive Nettoprinzip (s. § 8 Rz. 54 f.) in bestimmten Konstellationen privater Mitveranlassung von Aufwendungen. BFH BStBl. II 1990, 423, hatte für ein Jahr vor Einführung des § 9 V EStG zu entscheiden, ob das in § 4 V 1 Nr. 7 EStG positivierte Angemessenheitsprinzip analog auf Werbungskosten i.S.d. § 9 I EStG, d.h. auf Erwerbsaufwendungen im Rahmen nichtbetrieblicher Einkünfte anzuwenden ist. Der BFH legte dar, dass der Gesetzgeber absichtlich – wenn auch auf Basis fragwürdiger empirischer Vermutungen – von einer Erstreckung des Abzugsverbotes auf das Werbungskostenrecht abgesehen hatte, und lehnte dementsprechend die Annahme einer planwidrigen Regelungslücke ab. Argumentum e contrario (s. Rz. 65) folgerte er aus dem Fehlen einer dem § 4 V 1 Nr. 7 EStG entsprechenden Einschränkung des Werbungskostentatbestandes in § 9 EStG, dass auch unangemessene Aufwendungen unter den Werbungskostenbegriff des § 9 I EStG fallen. Instruktiv ist ferner der Streit zwischen erstem Senat (vgl. BFH BStBl. II 2010, 471 [475]) und viertem Senat (vgl. BFH BStBl. II 2010, 971 [972 f.]) zur Möglichkeit einer analogen Anwendung von § 6 V EStG auf den Transfer von Wirtschaftsgütern zwischen Schwesterpersonengesellschaften; im Lichte der obigen Erwägungen dürfte der erste Senat die besseren Argumente für seinen Standpunkt haben.
e) Im vorstehenden Sinne planwidrige Unvollständigkeiten des Steuergesetzes sind möglichst durch 82 Argumente juristisch wertender Logik zu beseitigen:
134 S. etwa BVerfG v. 14.3.1967 – 1 BvR 334/61, BVerfGE 21, 209 (215); v. 12.10.2010 – 2 BvL 59/06, BVerfGE 127, 335 (355 ff.), m.w.N. 135 S. dazu auch Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 194; BFH v. 11.2.2010 – V R 38/08, BStBl. 2010, 873 (874 f.). 136 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 374 f.; strenger BFH v. 18.4.2012 – X R 7/10, BFH/ NV 2012, 1363: „sinnwidriges Ergebnis“. 137 S. auch BFH v. 11.2.1010 – V R 38/08, BStBl. II 2010, 873. 138 Insoweit a.A. wohl Drüen, StuW 2012, 269 (274); Brandis, StuW 2013, 88 (90 f.).
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§ 5 Rz. 83
Rechtsanwendung im Steuerrecht
83
aa) Die Grundform der wortlautergänzenden Rechtsanwendung ist der Analogieschluss139, das argumentum a simile: In einer bestimmten Rechtsnorm (sog. Gesetzes- oder Einzelanalogie) oder in einer Kombination von Rechtsnormen (sog. Rechts- oder Gesamtanalogie) manifestiert sich eine gesetzgeberische Wertung, in deren Lichte der nicht wortlautgedeckte Sachverhalt dem geregelten Fall so ähnlich erscheint, dass die gesetzlich vorgesehene Rechtsfolge auch auf den ungeregelten Fall erstreckt wird. Bei der maßgeblichen Wertung kann es sich um eine steuerartspezifische Grundwertung gerechter Lastenausteilung, d.h. um ein Fundamentalprinzip der Besteuerung bzw. um dessen kontextspezifische Konkretisierung handeln (z.B. BFH v. 3.3.2011 – V R 23/10, BStBl. II 2012, 74 [76]: analoge Anwendung einer gesetzlichen Konkretisierung des dem umsatzsteuerlichen Vorsteuerabzug innewohnenden Neutralitätsprinzips bei gemischt veranlassten Aufwendungen). In Betracht kommt aber bei Sozialzwecknormen (s. § 3 Rz. 21) auch eine Vorrangwertung zugunsten von Lenkungszielen u.ä. Durchbrechungen fundamentaler Lastenausteilungsmaßstäbe (z.B. BFH BStBl. III 1964, 122 f., gesetzliche Privilegierung des Sanierungsgewinns – nur – im KStG), eine Vorrangwertung zwischen gegenläufigen Prinzipien (etwa zwischen dem Legalitätsprinzip und dem Prinzip der Rechtssicherheit im Besteuerungsverfahren; vgl. BFH BStBl. II 2011, 233 [235]), oder eine der Verwaltungspraktikabilität geschuldete Wertung (z.B. BFH BStBl. II 2011, 30 [31 f.]). Stets kommt es darauf an, ob der vom Wortlaut nicht erfasste Sachverhalt mit dem gesetzlich geregelten wertungsmäßig vergleichbar ist. Auch i.Ü. setzt die gleichheitsrechtliche Fundierung des argumentum a simile dem Analogieschluss inhärente Grenzen: Er darf nicht zur Vertiefung im Gesetz bereits angelegter Gleichheitssatzverstöße führen. Namentlich ungerechtfertigte, nicht durch hinlängliche Gemeinwohlerwägungen legitimierte Steuerprivilegien sind nicht analogiefähig140.
84
bb) Normlogisch mit der Analogie eng verwandt sind Erst-Recht-Schlüsse (argumenta a fortiori). Sie lauten: Wenn für Tatbestand A die Rechtsfolge eintritt, muss sie erst recht für Tatbestand B gelten. Hierfür gibt es zwei Varianten: der Schluss vom Größeren auf das Kleinere (argumentum a maiore ad minus) und der Schluss vom Kleineren auf das Größere (argumentum a minore ad maius). Diese Varianten zeigen deutlich, dass die Auswahl der argumenta nicht beliebig sein kann, sondern teleologisch zu fundieren ist. Beispiele: Im Wege des argumentum a maiore ad minus ist der auf unwirksame Rechtsgeschäfte anwendbare § 41 I AO auch bei unvollkommenen Verbindlichkeiten i.S.d. §§ 762 f. BGB einschlägig, vgl. BFH BStBl. II 2009, 735 (738): Lotteriesteuer bei nicht genehmigter Lotterie. Benötigt ein Waffenhändler ein Kreuzfahrtschiff, um die Vertragsbeziehungen mit seinen Vertragspartnern angemessen pflegen zu können, so kommt mit Blick auf das Abzugsverbot für Motorjachten (§ 4 V 1 Nr. 4 EStG) das argumentum a minore ad maius zum Zuge: auch für das Schiff gilt ein Abzugsverbot.
85
cc) Die teleologische Reduktion ist ebenfalls eine Form teleologisch angeleiteter Lückenschließung141. Sie kommt zur Anwendung, wenn der Wortlaut der Rechtsnorm zu weit geraten ist und das Fehlen einer teleologisch gebotenen Einschränkung des Anwendungsbereichs „verdeckt“142. Die Lückenfeststellung erfolgt anhand der Rz. 77 beschriebenen subjektiv- wie objektiv-teleologischen Analyse, wobei die teleologische Reduktion auf die Vermeidung von Wertungswidersprüchen durch Ungleichbehandlung von wertungsmäßig Verschiedenem gerichtet ist. Beispiele: Reduktion des Anwendungsbereichs der Absetzungen für Substanzverringerung (AfS, § 7 I, VI EStG) bei Zuführung eines im Privatvermögen entdeckten Bodenschatzes zum Betriebsvermögen, um die nach der Gesetzessystematik vorgesehene Besteuerung des Abbauertrages sicherzustellen (BFH GrS BStBl. II 2007, 508 [510 f.]). Reduktion des § 40 AO bei Steuervergünstigungen (s. Rz. 109). 139 Dazu Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, 78 ff.; Hemke, Methodik der Analogiebildung im öffentlichen Recht, 2006; Würdinger, Jura 2007, 15; Beaucamp, AöR 2009, 83 (84 ff.), m.w.N. Zu Analogieanweisungen in Steuergesetzen Crezelius, FR 2008, 889. 140 Vgl. auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 440. 141 S. BFH v. 29.6.2011 – XI R 15/10, BStBl. II 2011, 839 (Anwendung auch zu Lasten des Stpfl.); BFH v. 27.3.2012 – I R 62/08, BStBl. II 2012, 745. 142 Grundl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 391 ff.
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5. Verfassungskonforme Rechtsanwendung
Rz. 92 § 5
Das Gegenstück, die teleologische Extension, steht nach ihrer Zielrichtung wie die argumenta a for- 86 tiori der Analogie nahe. Der im Lichte teleologischer Erwägungen zu eng geratene bzw. unvollständige Wortlaut einer Rechtsnorm wird im Wege der Rechtsfortbildung erweitert bzw. ergänzt, allerdings mangels analogiefähigen Rechtssatzes nicht durch ein argumentum a simile, sondern unter unmittelbarem Rückgriff auf die der Regelungsmaterie zugrundeliegenden Rechtsprinzipien bzw. Grundwertungen143. Beispiel für teleologische Extension ist die höchstrichterliche Anerkennung einer sog. „Aufwandseinlage“ jenseits des Wortlauts des § 4 I 8 EStG, weil anderenfalls das objektive Nettoprinzip (s. § 8 Rz. 54 f.) gleichheitssatzwidrig durchbrochen würde (s. BFH BStBl. II 1988, 348 [353]): Ist die Nutzung privater Wirtschaftsgüter betrieblich veranlasst, muss der dadurch entstehende Aufwand den einkommensteuerpflichtigen Gewinn mindern, was im Rahmen der Gewinnermittlung durch periodischen Vergleich des Bestands an Betriebsvermögen (vgl. § 4 I 1 EStG) nur außerbilanziell durch Ansatz einer Einlage möglich ist. Normlogische Lücken (s. Rz. 74) lassen sich meist ebenfalls nur im Wege teleologischer Extension lösen144. Einstweilen frei.
87–91
5. Verfassungskonforme Rechtsanwendung Ergeben sich bei Anwendung der oben (Rz. 55 ff.) erörterten Auslegungsmethoden mehrere Mög- 92 lichkeiten der Gesetzesinterpretation und lässt sich nicht bei allen Auslegungsergebnissen die Verfassungswidrigkeit der Norm ausschließen, so gebührt einer verfassungskonformen Auslegung der Vorzug, die mit dem Grundgesetz vereinbar ist145. Zum einen kann im Zweifel davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber die Verfassungskonformität des Gesetzes gewollt hat. Zum anderen gebietet es der Respekt vor dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber, seine Vorgaben im Zweifel so zu verstehen, dass sie einer verfassungsrechtlichen Kontrolle standhalten und damit keiner Verwerfung durch das BVerfG unterliegen146. Die verfassungskonforme Auslegung ist jedoch keine eigenständige Auslegungsmethode, sondern eine Vorrangregel bei der Anwendung der traditionellen Auslegungskriterien147. Nach st. Rspr. des BVerfG148 findet die verfassungskonforme Auslegung daher „ihre Grenze dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem [anhand der anerkannten Auslegungsmethoden zu ermittelnden] klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde“149. Entsprechendes
143 Dazu näher Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 216 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2, 481 ff.; s. auch BFH v. 2.12.2015 – V R 25/13, BStBl. II 2017, 547. 144 Dazu auch Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 220 f. 145 Prägnant BVerfG v. 11.1.2005 – 2 BvR 167/02, BVerfGE 112, 164 (182 f.); BFH v. 20.9.2012 – IV R 36/10, BStBl. II 2013, 498 (504). S. ferner allgemein: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 339 ff.; Zippelius, Festgabe für das BVerfG, Bd. II, 1976, 108 ff.; Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung – Grenzen und Gefahren, 1986; Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177; Lüdemann, JuS 2004, 27; Sachs/Sachs8, Einf. Rz. 52 ff. m.w.N. besonders zur Rspr. des BVerfG. Zum Steuerrecht: Birk, StuW 1990, 300; Kotschnigg, ÖStZ 1997, 38; Lembke, Einheit aus Erkenntnis?, 2009 (krit. Analyse der verfassungskonformen Auslegung); Drüen, StuW 2012, 269 (270 ff.). 146 Vgl. BVerfG v. 25.3.1992 – 1 BvR 298/86, BVerfGE 86, 28 (320), m.w.N.; HHSp/Wernsmann, § 4 AO Rz. 280; zu weiteren Begründungsansätzen und Kritik in Teilen der Lit. s. Drüen, StuW 2012, 269 (271). 147 Deutlich z.B. in BFH v. 15.12.2010 – VIII R 50/09, BStBl. II 2011, 506; s. auch Drüen, StuW 2012, 269 (271). 148 BVerfG v. 1.7.1953 – 1 BvL 23/51, BVerfGE 2, 380 (398); v. 13.6.1958 – 1 BvR 346/57, BVerfGE 8, 28 (41); v. 20.6.1964 – 1 BvL 16/62, BVerfGE 18, 97 (111); v. 1.3.1978 – 1 BvL 20/77, BVerfGE 48, 40 (46); v. 14.5.1986 – 2 BvL 19/84, BVerfGE 72, 278 (295); v. 27.11.1990 – 1 BvR 402/87, BVerfGE 83, 130 (144); v. 11.1.2005 – 2 BvR 167/02, BVerfGE 112, 164 (183); sowie m.w.N. Sachs/Sachs8, Einf. Rz. 54. 149 S. auch BFH v. 28.1.2015 – VIII R 13/13, BStBl. II 2015, 393, Rz. 21 ff.
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§ 5 Rz. 93
Rechtsanwendung im Steuerrecht
gilt für das dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes zu entnehmende Gebot völkerrechtskonformer Auslegung insbes. des deutschen Außensteuerrechts150. Z.B. verfassungskonforme Auslegung des nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Systematik mehrdeutigen § 32 IV 2 EStG a.F.: Zwecks gleichmäßiger Erfassung der Minderung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit nach dem subjektiven Nettoprinzip (s. § 8 Rz. 71) fließen nicht nur Bezüge, sondern auch Einkünfte des Kindes nur dann in den Jahresgrenzbetrag des § 32 IV 2 EStG a.F. ein, wenn sie zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind (BVerfGE 112, 164 [182 ff.]). 93 Über die verfassungskonforme Auslegung hinaus dürfen auch die Methoden der Lückenausfüllung
(s. Rz. 74 ff.) uneingeschränkt eingesetzt werden, um einer verfassungswidrigen Rechtsanwendung entgegenzuwirken151. Der Rechtsanwender kann auf alle zulässigen argumenta zurückgreifen, um planwidrige Unvollständigkeiten des Gesetzestextes verfassungskonform zu beseitigen. Freilich gilt auch insofern, dass deren oben erörterte allgemeine Voraussetzungen vorliegen müssen; das Bemühen um Verfassungskonformität rechtfertigt keine methodisch freischwebende Ergänzung des Gesetzestextes152. 6. Richtlinienkonforme Gesetzesinterpretation 94 Vorschriften, die auf der Umsetzung von EU-Richtlinien (s. Rz. 24) beruhen, wie insb. Vorschriften
des Umsatzsteuer- und Verbrauchsteuerrechts, sind richtlinienkonform zu interpretieren153. Analog zur verfassungskonformen Gesetzesinterpretation ist im Zweifel davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die EU-Richtlinie umsetzen wollte154. Auf dieser Grundlage wird auch die EuGH-Rspr. für den Rechtsanwender verbindlich. Das Argument richtlinienkonformer Auslegung darf aber nicht dazu missbraucht werden, ein anhand der traditionellen Auslegungskriterien gewonnenes eindeutiges – richtlinienwidriges – Auslegungsergebnis zu überspielen155. Der EuGH betont zu Recht, dass die Verpflichtung, das nationale Recht möglichst richtlinienkonform anzuwenden, keine Grundlage für dessen Auslegung contra legem bietet156 (zu Einzelheiten s. § 4 Rz. 32 ff.). Zu beachten ist ferner, dass der EuGH rechtsfortbildende Methoden der Lückenausfüllung (s. Rz. 74 ff.) vielfach als unzureichend für die Herstellung eines unionsrechtskonformen Rechtszustandes im jeweiligen Mitgliedstaat ansieht157. In der Konsequenz besteht die Gefahr von Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 AEUV) trotz Erzielens richtlinienkonformer Ergebnisse. Der Gerichtshof neigt hier (wie auch bei seiner Interpretation des EU-Sekundärrechts158) zu einer Überbetonung des Wortlauts als Grenze hinreichend rechtssicherer Gesetzesanwendung; es steht zu hoffen, dass insoweit noch ein methodologischer Reifungsprozess einsetzt159.
150 BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1, Rz. 71 f. 151 Exemplarisch BFH v. 27.3.2012 – I R 62/08, BStBl. II 2012, 745; v. 15.2.2012 – I B 7/11, BStBl. II 2012, 751, Rz. 13 f. 152 S. auch BFH v. 15.2.2012 – I B 7/11, BFH/NV 2012, 879; Drüen, StuW 2012, 269 (278 f.). 153 Dazu ausf. Roth/Jopen in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre3, § 13. S. ferner die Nachweise in § 4 Rz. 31. 154 Dazu ausf. Brennecke, EuR 2015, 440 (446 ff.). 155 Zutr. BFH v. 8.3.2012 – V R 14/11, BStBl. II 2012, 630, Rz. 20. 156 EuGH v. 15.4.2008 – C-268/06, ECLI:EU:C:2008:223 Rz. 100 – Impact, m.w.N.; st. Rspr. 157 S. bspw. EuGH v. 19.9.1996 – C-236/95, ECLI:EU:C:1996:341 Rz. 12-14 – Kommission/Griechenland; v. 10.5.2011 – C-144/99, ECLI:EU:C:2001:257 Rz. 21 – Kommission/Niederlande. 158 Dazu die ausf. und differenzierte Analyse von Lasok/Millett, Judicial Control in the EU, Oxford 2004, Rz. 656 ff. 159 S. etwa jüngst die Entscheidung der Großen Kammer des EuGH v. 23.10.2012 – C-581/10 u.a., ECLI:EU:C:2012:657 – Nelson; der EuGH praktizierte hier mit ausführlicher Begründung geradezu lehrbuchartig einen (nicht als solchen bezeichneten) Analogieschluss.
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C. Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
Rz. 98 § 5
C. Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise 1. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei Divergenz zwischen wirtschaftlichem Verhalten und juristischem Zustand (§ 41 AO) § 41 AO regelt die Divergenz zwischen wirtschaftlichem Verhalten und (außersteuer-)rechtlicher Be- 95 wertung des Vorgangs: Das Steuerrecht knüpft nicht ohne weiteres an die zivilrechtliche Bezeichnung oder Gültigkeit des Rechtsgeschäfts an; steuerlich maßgeblich ist nach der wirtschaftlichen Betrachtungsweise der Sachverhalt vielmehr grds. so, wie ihn die Beteiligten tatsächlich gewollt und gestaltet haben160. Auch hier ist die wirtschaftliche Betrachtungsweise vornehmlich ein Reflex der Anknüpfung der Besteuerung an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. 1.1 Unwirksame (nichtige) Rechtsgeschäfte lösen gleichwohl steuerliche Folgen aus, soweit und so- 96 lange die Beteiligten das wirtschaftliche Ergebnis des unwirksamen Rechtsgeschäfts, trotz der Unwirksamkeit, eintreten und bestehen lassen (§ 41 I AO), das Rechtsgeschäft also durchführen. Wird ein Rechtsgeschäft erst nachträglich unwirksam, etwa durch Anfechtung, Eintritt einer auflösenden Bedingung oder Wegfall der Geschäftsgrundlage, so gilt ebenfalls das wirtschaftliche „Ist“. Beispiele: Entstehen der Erbschaftsteuer mit Erfüllung eines formunwirksamen Vermächtnisses161; Erwerb wirtschaftlichen Eigentums (s. Rz. 143) an einem Wirtschaftsgut bei Vollzug eines formunwirksamen Kaufvertrags162.
§ 41 I 1 AO will den durch das unwirksame Rechtsgeschäft geschaffenen wirtschaftlichen Vorgang 97 oder Zustand erfassen. Die faktische Durchführung des Rechtsgeschäfts beeinflusst nämlich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der am Rechtsgeschäft Beteiligten163. Gem. § 41 I 2 AO gilt jedoch § 41 I 1 AO nicht, „soweit sich aus den Steuergesetzen etwas anderes ergibt“. So können z.B. Stpfl. nur nach § 26 EStG zusammenveranlagt werden, wenn sie in einer nach deutschem Zivilrecht gültigen Ehe leben164.
Negativ gewendet lässt sich § 41 I 1 AO der Grundsatz entnehmen, dass die Rückgängigmachung 98 eines unwirksamen oder nachträglich unwirksam gewordenen, aber zunächst vollzogenen Rechtsgeschäfts das Erlöschen des zuvor entstandenen Steueranspruchs zur Folge hat165. Das verfahrensrechtliche Pendant zu § 41 I 1 AO findet sich in § 175 I 1 Nr. 2 AO (dazu s. § 21 Rz. 439); die Rückgängigmachung i.S.d. § 41 I 1 AO ist – ungeachtet ihrer zivilrechtlichen Wirkungen166 – ein Ereignis mit steuerlicher Wirkung für die Vergangenheit167. Dies gilt jedoch gem. § 41 I 2 AO nicht, soweit sich aus den Steuergesetzen etwas anderes ergibt. Daher ist zu prüfen, ob spezielle Vorschriften in den einzelnen Steuergesetzen eine von § 41 I 1 AO abweichende Steuerfolge ergeben168. Insb. bei laufend veranlagten Steuern sind die materiell-rechtlich erforderlichen steuerlichen Anpassungen regelmäßig
160 BFH v. 9.3.1983 – I R 182/78, BStBl. II 1983, 744 (746); v. 6.4.1993 – VIII R 68/90, BStBl. II 1993, 825 (827); v. 15.12.1993 – X R 49/91, BStBl. II 1994, 687 (689); v. 22.7.1997 – VIII R 57/95, BStBl. II 1997, 755 (760); v. 22.7.1997 – VIII R 12/96, BStBl. II 1997, 761 (766). 161 BFH v. 28.3.2007 – II R 25/05, BStBl. II 2007, 461. 162 BFH v. 17.2.2004 – VIII R 26/01, BStBl. II 2004, 651. 163 Tipke, StRO III2, 1649. 164 BFH v. 17.4.1998 – VI R 16/97, BStBl. II 1998, 473 (474). 165 Dazu BFH v. 19.7.1989 – II R 83/85, BStBl. II 1989, 989 (990); HHSp/Fischer, § 41 AO Rz. 40; Jakob, Abgabenordnung5, Rz. 641; Tipke, StRO III2, 1653. S. auch BFH v. 19.7.1993 – GrS 2/92, BStBl. II 1993, 897 (901). 166 Dazu HHSp/Fischer, § 41 AO Rz. 42 und Rz. 99 ff.; BFH v. 19.7.1993 – GrS 2/92, BStBl. II 1993, 897 (901). 167 S. BFH v. 29.3.2012 – IV R 18/08, BFH/NV 2012, 1095 (1097 f.); v. 16.5.2013 – IV R 6/10, BFH/NV 2013, 1584 (1585), m.w.N. 168 Grundl. und umfassend HHSp/Fischer, § 41 AO Rz. 43–61.
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§ 5 Rz. 99
Rechtsanwendung im Steuerrecht
nicht rückwirkend vorzunehmen169. Speziell für die Einkommensteuer ergibt sich dies aus dem Zuund Abflussprinzip des § 11 EStG (s. § 8 Rz. 58) bzw. – bei Gewinnermittlung durch Bilanzierung – aus den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung (s. § 8 Rz. 59), für die Umsatzsteuer aus § 17 I 7, II UStG. Faktisch gelangt § 41 I 1 AO in seiner negativen Ausprägung daher nur ausnahmsweise zur Anwendung. 99
Da Scheingeschäfte und Scheinhandlungen keinen wirtschaftlichen Effekt auslösen, Scheingeschäfte nicht durchgeführt werden, sind sie steuerrechtlich unerheblich (§ 41 II AO)170. Ein Scheingeschäft liegt nur vor, wenn es den Parteien am ernsthaften Geschäftswillen fehlt, wenn sie die Rechtsfolgen, die das Geschäft gewöhnlich auslöst, nicht wollen171. Steuerlich unbeachtliche Scheinhandlungen sind Handlungen, die einen bestimmten tatsächlichen Erfolg nur vortäuschen.
100 Im Steuerrecht geht es nicht um den Gegensatz zwischen scheinbarem und ernsthaftem Geschäftswillen, sondern um den Gegensatz zwischen vorgespiegeltem und tatsächlichem wirtschaftlichen Ergebnis. Daher ist auch gem. § 41 II 2 AO ein verdecktes, tatsächlich anstelle des Scheingeschäfts durchgeführtes Rechtsgeschäft steuerlich zu erfassen, und zwar gem. § 41 I 1 AO unbeschadet seiner etwaigen zivilrechtlichen Unwirksamkeit172. Von Bedeutung ist das insb. für den sog. Schwarzkauf. 101 Problematisch kann sich die Abgrenzung zwischen Scheingeschäften und Umgehungsgeschäften (s. zu letzteren Rz. 116 ff.) gestalten. Im theoretischen Ansatz schließen sich die Anwendung des § 41 II AO und des § 42 AO wechselseitig aus: Das Umgehungsgeschäft ist gerade dadurch charakterisiert ist, dass die missbräuchliche (insb. die zirkuläre und die über ein komplexes Transaktionsbündel und/oder Personengeflecht abgewickelte) zivilrechtliche Gestaltung tatsächlich wie vereinbart durchgeführt wird, während die Parteien aus dem Scheingeschäft gerade nicht die notwendigen Folgerungen aus dem Vertrag ziehen wollen. In der Praxis erschwert die Rspr. des BFH aber eine klare Unterscheidung. So wird bspw. die Rückzahlung von zunächst zugeflossenen Beträgen „in Verwirklichung eines gemeinsamen Gesamtplans“ undifferenziert als mögliche Scheinhandlung i.S.d. § 41 II AO qualifiziert173. Richtigerweise kommt es hier darauf an, ob die Rückzahlung verdeckt ohne Rechtsgrund (Scheinhandlung) oder offen aufgrund eines zusätzlich in die Gestaltung eingebauten zivilrechtlichen Rechtsverhältnisses (evtl. Umgehungsgeschäft) erfolgte. Die korrekte Qualifizierung ist auch nicht bedeutungslos; so wirkt etwa nur § 41 II AO auch zugunsten des Stpfl.
1.2 Ergänzende Ableitungen 102 §§ 39 II Nr. 1; 41; 42 AO enthalten lückenhafte Ausführungen des Prinzips, dass es unter dem Aspekt
der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auf die Erfassung des wirtschaftlichen oder des sonstigen tatsächlichen Verhaltens ankommt. Denkt man dieses lückenhaft ausgeführte Prinzip weiter, so ergibt sich: 103 a) Ist ein Rechtsgeschäft zwar wirksam, wird es aber nicht tatsächlich durchgeführt, so ist es steuer-
rechtlich grds. irrelevant. Dieser Ausfluss des Prinzips, dass es auf das wirtschaftliche „Ist“ ankommt, ist im Gesetz nicht artikuliert; § 41 AO ist insoweit lückenhaft. Soweit die Verkehrsteuergesetze wie etwa im Recht der GrESt an obligatorische Rechtsgeschäfte anknüpfen, wird dieses Prinzip allerdings grds. nicht angewendet, sondern es löst schon der Abschluss des Rechtsgeschäfts die Steuerfolge aus (s. aber auch die Korrekturnorm des § 16 GrEStG). 104 b) Da es auf das wirtschaftliche „Ist“ ankommt, ist die Rückdatierung von Verträgen (= Einsetzen
eines falschen Datums) und die Rückbeziehung von Verträgen (= Inkraftsetzen mit Rückwirkung)
169 170 171 172
BFH v. 19.7.1993 – GrS 2/92, BStBl. II 1993, 897 (901). Dazu Hahn, DStZ 2000, 433; HHSp/Fischer, § 41 AO Rz. 151 ff.; Heuermann, DB 2007, 416. BVerfG v. 26.6.2008 – 2 BvR 2067/07, NJW 2008, 3346 (3347). S. bspw. BFH v. 7.11.2006 – IX R 4/06, BStBl. II 2007, 372; FG Niedersachsen v. 18.3.2015 – 3 K 174/14, EFG 2016, 1096. 173 Vgl. BFH v. 28.1.1997 – IX R 23/94, BStBl. II 1997, 655 (656).
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C. Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
Rz. 108 § 5
steuerrechtlich irrelevant. Es fehlt in der Zeit der Rückdatierung/Rückbeziehung an wirtschaftlicher Durchführung. Aus der Rspr.: Keine rückwirkende Inkraftsetzung von Arbeitsverträgen (BFH BStBl. III 1959, 172 f.) oder speziell von Gehaltsvereinbarungen (BFH BStBl. III 1956, 17); keine rückwirkende Inkraftsetzung von Gesellschaftsverträgen (BFH BStBl. III 1960, 157 f.; 1961, 94 f.; II 1973, 389); keine rückwirkende Pachtzinserhöhung (BFH BStBl. III 1960, 513); keine rückwirkende Änderung der Gewinnverteilung (BFH BStBl. II 1980, 723).
c) Für die Bestimmung des Inhalts des Rechtsgeschäfts ist maßgeblich, wie die Beteiligten das 105 Rechtsgeschäft tatsächlich durchführen174. Auch dieser Grundgedanke hätte durch § 41 AO erfasst werden sollen. 2. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei gesetzwidrigem oder sittenwidrigem Verhalten (§ 40 AO) Für die Besteuerung ist es unerheblich, ob ein Verhalten, das den Tatbestand eines Steuergesetzes ganz 106 oder zum Teil erfüllt, gegen ein gesetzliches Gebot oder Verbot oder gegen die guten Sitten verstößt (§ 40 AO)175. Zum Verstoß gegen gesetzliches Verbot s. § 134 BGB, zum Verstoß gegen die guten Sitten s. § 138 BGB. Beispiele: Biersteuerpflicht trotz verbotenen Wasserzusatzes; Umsatzsteuerpflicht auch bei illegalem Glücksspiel; Einkommensteuerpflicht auch bei unerlaubter Steuerberatung oder sonstiger Rechtsberatung, bei Verstoß gegen Mietpreisrecht, bei erpressten Einnahmen176.
Damit soll nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass das Steuerrecht wertfrei sei. Das Steuerrecht 107 ist nicht wertfrei, sonst wäre es kein Recht. § 40 AO will in erster Linie dem Stpfl. den Einwand abschneiden, der Vorgang dürfe nicht besteuert werden, weil der Staat sonst Verbotenes oder Anstößiges legalisiere. Durch die Anknüpfung an das wirtschaftliche „Ist“ auch in Fällen gesetzwidriger oder sittenwidriger Handlungsweise soll erreicht werden, dass illegales oder unanständiges Verhalten gegenüber legalem, anständigem Verhalten nicht begünstigt und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gleichmäßig belastet wird. Ein Wertungswiderspruch zum Zivil- oder Strafrecht ist darin nicht zu erblicken177. Auch Rückzahlungs- oder Herausgabeverpflichtungen können nur bei wirtschaftlicher Belastung (entsprechend der Systematik des jeweiligen Steuergesetzes) berücksichtigt werden. Allerdings kann sich § 40 AO im Einzelfall auch zugunsten des Stpfl. auswirken. Ausgaben oder Schulden, die mit sitten- oder gesetzeswidrigem Verhalten zusammenhängen, sind im Rahmen von Abzugstatbeständen bzw. gewinnmindernd zu berücksichtigen (Beispiele: BFH BStBl. II 1993, 152: gewinnmindernde Rückstellung für betriebliche Schadensersatzpflichten wegen strafbaren Verhaltens; FG Düsseldorf v. 29.10.2010 – 1 K 4206/08 U, EFG 2011, 927 [930]: Vorsteuerabzug eines im Profifußball tätigen Spielervermittlers trotz evtl. strafbaren Parteiverrats; s. aber auch BFH BStBl. II 2014, 278, mit fragwürdiger Begründung: Übernahme von Bußgeldern durch den Arbeitgeber). § 40 AO ist nicht einseitig. Denn auch insoweit greift das Gebot gleichmäßiger Besteuerung nach der (geminderten) wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit; anderenfalls bekäme die Besteuerung einen ihr wesensfremden Strafcharakter.
174 St. Rspr., s. bspw. RFH v. 30.1.1919 – II A 14/18, RFHE 1, 1; BFH v. 1.2.1961 – II 269/58 U, BStBl. II 1961, 133; v. 15.2.1963 – VI 166/61 U, BStBl. II 1963, 239; v. 14.10.1966 – IV 61/64, BStBl. II 1967, 175. 175 Dazu grundl. Popitz, AöR 40 (1921), 129. Im Weiteren Claßen, Besteuerung des Unrechts, Das Wirklichkeitsprinzip des § 40 AO im Licht der Einheit der Rechtsordnung, 1981; HHSp/Fischer, § 40 AO; Tipke/Kruse/Drüen, § 40 AO. 176 FG Münster v. 12.9.2008 – 6 K 676/04 E, EFG 2009, 466 (467). 177 So auch BVerfG v. 12.4.1996 – 2 BvL 18/93, HFR 1996, 597, (600); Tipke/Kruse/Drüen, § 40 AO Rz. 2 f., m.w.N.
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108
§ 5 Rz. 109
Rechtsanwendung im Steuerrecht
109 § 40 AO ist insoweit teleologisch zu reduzieren, als es um Steuervergünstigungen geht178. Auf Grund
illegalen oder sittenwidrigen Verhaltens kann niemand Steuervergünstigungen beanspruchen. Steuervergünstigungen wollen Gemeinwohlverhalten fördern oder prämieren. Gemeinwohl- und Verdienstprinzip (s. § 3 Rz. 133 ff.) schließen die Förderung von illegalem, sittenwidrigem oder gar strafbarem Verhalten aus. Dementsprechend sind auch die einzelnen Steuervergünstigungen zu interpretieren. So versagte BFH BStBl. II 1985, 106; 1995, 134, einer gesetzwidrig handelnden Körperschaft die Gemeinnützigkeit. BFH BStBl. II 1995, 875, versagte baurechtswidrigen Objekten die damalige steuerliche Eigenheimbegünstigung. 110 Der Anwendungsbereich des § 40 AO wird ferner spezialgesetzlich eingeschränkt durch Abzugsverbote zum Schutze der Gesamtrechtsordnung, insb. durch die Abzugsverbote für Geldstrafen, Geldbußen u.a. Sanktionen sowie für Schmier- und Bestechungsgelder (s. § 8 Rz. 294 f.). Schließlich besteht in der Umsatzsteuer die Notwendigkeit einer teleologischen Reduktion des § 40 AO, soweit per se illegale Umsätze in Rede stehen. Eine Steuerbelastung würde hier absehbar zu keinem Zeitpunkt auf den Verbraucher als intendierten Steuerträger abgewälzt (s. § 17 Rz. 93). Aus diesem Grund greift hier umgekehrt auch keine teleologische Reduktion für die Inanspruchnahme von Steuerbefreiungen durch illegal tätige Konkurrenzunternehmen179. 111–115
Einstweilen frei.
3. Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei Gestaltungsmissbrauch (§ 42 AO) Literatur: Hensel, Zur Dogmatik des Begriffs „Steuerumgehung“, in Bonner Festgabe für Zitelmann, 1923, 217 ff.; Tipke, An den Grenzen der Steuerberatung: Steuervermeidung, Steuerumgehung, Steuerhinterziehung, StbJb. 1972/73, 510; Kruse, Steuerumgehung zwischen Steuervermeidung und Steuerhinterziehung, StbJb. 1978/79, 443 ff.; Danzer, Steuerumgehung, 1981; Kirchhof, Steuerumgehung und Auslegungsmethoden, StuW 1983, 173; HHSp/Fischer, § 42 AO; Tipke, StRO III2, 2012, 1661 ff.; Flick, Mißbrauchsgesetzgebung contra Steuerumgehung, in FS F. Klein, 1994, 309; M. Klein, Die nicht „angemessene rechtliche Gestaltung“ im Steuerumgehungstatbestand des § 42 AO, 1994; Fischer, Die Umgehung des Steuergesetzes, DB 1996, 644; Lee, Methoden zur Verhinderung der Steuerumgehung und ihr Verhältnis zueinander, 1999; Neuhausen, § 42 AO und das Erbschaft- und Schenkungssteuerrecht, 1999; Gosch, § 42 AO – Anwendungsbereich und Regelungsreichweite, Harzburger Steuer-Protokolle 1999, 2000, 225; Sieker, Umgehungsgeschäfte, Typische Strukturen und Mechanismen ihrer Bekämpfung, 2001; Gassner, Das allgemeine und das besondere Umgehungsproblem im Steuerrecht, in FS H. W. Kruse, 2001, 183; Rödder, Good Business Reasons – Theorie des Gestaltungsmissbrauchs und praktische Vorgaben für die Steuergestaltungsberatung, in FS Gocke, 2002, 235; Clausen, Struktur und Rechtsfolgen des § 42 AO, DB 2003, 1589; Tipke/Kruse/ Drüen, § 42 AO; Glorius-Rose, Gestaltungsmissbrauch und Steuerberatung, 2005; Hahn, „Gestaltungsmissbrauch“ i.S.d. § 42 AO, DStZ 2006, 431; Haas, Der Missbrauchstatbestand des § 42 AO, in FS Raupach, 2006, 13; Drüen, Unternehmerfreiheit u. Steuerumgehung, StuW 2008, 154; Hüttemann (Hrsg.), Gestaltungsfreiheit und Gestaltungsmissbrauch im Steuerrecht, DStJG 33 (2010), insb.: Kirchhof, 9, und Schön, 29 (Gestaltungsfreiheit und Belastungsgleichheit), Rödder, 93 (Steuergestaltung), Wendt, 117 (§ 42 AO n.F.), Hey, 139 (spezialgesetzliche Missbrauchsvorschriften), Tanzer, 189 (Gesamtplan); Then, Der Gestaltungsmissbrauch i.S.d. § 42 AO im Rahmen von Vermietungseinkünften, 2009; Osterloh-Konrad, Die Steuerumgehung, Habil. 2017. Zur Neufassung des § 42 AO s. auch die 20. Aufl. Internationale Literatur: Gassner, Wirtschaftliche Betrachtungsweise und Gestaltungsmißbrauch im Steuerrecht, Rechtsvergleichende Betrachtungen zum schweizerischen, deutschen und österreichischen Recht, in FS Höhn, 1995, 65; IFA, Form and substance in tax law, CDFI vol. LXXXVIIa, 2002; Lutz, Abkommensmissbrauch, 2005; Sasseville in FS Loukota, 2005 (Tax Treaties); Lampe, Missbrauchsvorbehalte in völkerrechtlichen Abkommen am Beispiel der Doppelbesteuerungsabkommen, 2006; Locher, Rechtsmissbrauchs178 Dazu Tipke, StRO III2, 1659 f. und ausf. HHSp/Fischer, § 40 AO Rz. 17 ff. Grds. a.A. Tipke/Kruse/ Drüen, § 40 AO Rz. 6; BFH v. 7.11.1989 – VII R 115/87, BStBl. II 1990, 251. Zur Unanwendbarkeit des § 40 AO bei § 33 EStG s. § 8 Rz. 722. 179 S. EuGH v. 11.6.1998 – C-283/95, ECLI:EU:C:1998:276 – Fischer, zur Erweiterung der Umsatzsteuerbefreiung des § 4 Nr. 9b UStG a.F. auf unerlaubte Glücksspiele.
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C. Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
Rz. 118 § 5
überlegungen im Recht der direkten Steuern der Schweiz, ASA 2007, 675; Freedman, Interpreting Tax Statutes: Tax Avoidance and the Intention of Parliament, 123 Law Quarterly Review (2007), 5 (UK); Freedman, Beyond Boundaries: Developing Approaches to Tax Avoidance and Tax Risk Management, 2008 (Länderberichte, insb. zu Commonwealth-Staaten); Avery Jones u.a., Comparative Perspectives on Revenue Law, Cambridge 2008: Gammie, 25 (UK), McMahon, 40 (Rechtsvergleich USA/UK); Cooper, The design and structure of general anti-tax avoidance regimes, Bull. for Int. Taxation 2009, 26; de Monès u.a., Abuse of Tax Law across Europe, EC Tax Review 2010, 85 und 123.
3.1 Zweck und Anwendungsbereich des § 42 AO a) Die Umgehung von Steuergesetzen durch Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten ist ein 116 Unterfall der Gesetzesumgehung180: Der Normadressat gestaltet einen Sachverhalt so, dass eine ungünstige Steuerrechtsfolge nicht eintritt, obwohl sie nach dem Zweck des Gesetzes den von ihm letztlich angestrebten und verwirklichten wirtschaftlichen Zustand erfassen sollte (Steuerumgehung i.e.S.), oder er erwirkt gegen den Zweck des Gesetzes eine für ihn günstige Rechtsfolge wie bspw. eine Steuervergünstigung („Erschleichung“ von Steuervorteilen bzw. Tatbestands„ergehung“). § 42 AO soll derartigen Gestaltungen durch eine zweckentsprechende, i.d.R. wirtschaftliche Gesamtbetrachtung des maßgeblichen Geschehens entgegenwirken und so eine gleichmäßige Steuerbelastung entsprechend der ratio legis des Steuergesetzes sicherstellen. Soweit sich letzteres Ziel bereits mit den Mitteln der teleologischen Auslegung (s. Rz. 48) und Rechtsfortbildung durch Ausfüllung von Gesetzeslücken (s. Rz. 74 ff.) erreichen lässt, bedarf es keines Rückgriffs auf § 42 AO. § 42 AO regelt als Generalklausel die Steuerumgehung im Allgemeinen und gilt daher für das gesamte 117 Steuerrecht, auch für das Steuerverfahrensrecht und grds. auch für das internationale Steuerrecht181. Hier wird allerdings der Anwendungsbereich des § 42 AO durch spezielle Regelungen völkerrechtlicher Verträge, besonders der DBA, begrenzt. Das deutsche Verständnis von Steuerumgehung muss bilateral angepasst werden. Ebenso modifiziert das europäische Steuerrecht die Anwendbarkeit des § 42 AO182 (s. auch § 4 Rz. 99). Das gilt namentlich im Körperschaftsteuerrecht, wo Art. 6 der sog. Anti-Missbrauchs-Richtlinie 2016/1164 unter Überdehnung der Kompetenzen der Union die Mitgliedstaaten auf die Implementierung einer allgemeinen Missbrauchsbekämpfungsnorm europäischer Prägung selbst für rein innerstaatliche Sachverhalte verpflichtet. Außerhalb des Steuerrechts fehlen generelle Umgehungsvorschriften, so dass die Umgehung dort im 118 Wege der Rechtsanwendung zu bewältigen ist183. Zudem wird die Steuerumgehung in einigen ausländischen Rechtsordnungen auch ohne Umgehungsnorm bekämpft, z.B. in den USA mit verschiedenen richterrechtlichen „doctrines“184, deren bekannteste die substance over form doctrine ist. Vor diesem Hintergrund wird die Frage kontrovers diskutiert, ob § 42 AO neben den Methoden teleologischer Interpretation von Steuergesetzen überhaupt eine eigenständige Bedeutung entfalten kann. Dabei stehen sich insofern Innen- und Außentheorie gegenüber, als die Steuerumgehung von innen 180 Teichmann, JZ 2003, 761; Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, 2004. 181 Dazu m.w.N. BFH v. 29.10.1997 – I R 35/96, BStBl. II 1998, 235; v. 20.3.2002 – I R 38/00, BStBl. II 2002, 819; v. 20.3.2002 – I R 63/99, BStBl. II 2003, 50; v. 25.2.2004 – I R 42/02, BStBl. II 2005, 14; Vogel, FS Höhn, 1995, 461; Hundt, FS Debatin, 1997, 153; Schaumburg, FS 50 Jahre Fachanwälte, 1999, 467; Paschen, Steuerumgehung im nationalen und internationalen Recht, 2001. 182 Dazu BFH v. 11.4.2013 – V R 28/12, BFH/NV 2013, 1638, Rz. 28; Schön, IStR-Beihefter 2/1996; Höppner, FS Rädler, 1999, 305; Bauschatz, IStR 2002, 291; Kärgel, Steuerrechtliche Anti-Missbrauchs-Regeln in Konflikt mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003; Böing, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch in Europa, 2006; Hahn, IStR 2007, 323; Hey, StuW 2008, 167; Englisch, StuW 2009, 3. S. ferner grundl. zum europäischen Konzept der missbräuchlichen Steuerumgehung pars pro toto die Beiträge in de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, Oxford 2011; sowie Englisch, Curbing ‚Abusive‘ International Tax Planning under EU Law, 2012, 35 ff. 183 Vgl. Teichmann, JZ 2003, 761 (765 f.). 184 S. McMahon, Comparative Perspectives on Revenue Law, 2008, 44 ff.
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§ 5 Rz. 119
Rechtsanwendung im Steuerrecht
durch teleologische Interpretation der umgangenen Norm oder von außen durch die Anwendung des § 42 AO abgewehrt werden kann185. 119
Den innentheoretischen Standpunkt186 scheinen die Steuerrechtsordnungen derjenigen Staaten zu bestätigen, in denen eine allgemeine Steuerumgehungsvorschrift fehlt. Allerdings sinkt deren Zahl nicht nur; es ist vielmehr auch zu berücksichtigen, dass sich die Notwendigkeit einer gesonderten Normierung der Kriterien und Instrumente der Missbrauchsbekämpfung auch nur vor dem Hintergrund der jeweiligen länderspezifischen verfassungsrechtlichen und rechtsmethodischen Vorgaben für die Steuerrechtsanwendung sachgerecht beurteilen lässt. Hierzulande dient § 42 AO dem Legalitätsprinzip und der Steuerplanungssicherheit. Die Steuerumgehungsregelung ist unselbständiger Rechtssatz (Rz. 47) in Gestalt einer teleologischen Hilfsnorm; sie unterstützt den Zweck der steuergesetzlichen Tatbestandsnorm positivrechtlich. In den Fällen des § 42 AO vermeidet der Stpfl. den Tatbestand so, dass die Methoden der Auslegung und Rechtsfortbildung bei Beachtung rechtsstaatlicher Anforderungen an Normenklarheit und Rechtssicherheit nicht mehr ausreichen, um den Stpfl. einer nach dem Zweck des Gesetzes zutreffenden Besteuerung zuzuführen187. Das ist bei der Steuerumgehung i.e.S. namentlich dann anzunehmen, wenn die in Rede stehende Rechtsnorm einen besteuerungsrelevanten wirtschaftlichen Vorgang oder Zustand tatbestandlich vertypt durch Anknüpfung der Steuerfolge an bestimmte rechtliche Gestaltungen oder Transaktionen zu erfassen sucht, der Stpfl. im Wesentlichen dasselbe wirtschaftliche Ergebnis aber durch eine Kombination andersartiger Rechtsgeschäfte – evtl. unter Zwischenschaltung weiterer Personen – erreicht. Weder dem solcherart umgangenen Tatbestand selbst noch dem argumentum a simile (s. Rz. 80) lassen sich hier nämlich Kriterien dazu entnehmen, unter welchen Bedingungen diese komplexe Ausweichgestaltung als ein zusammenhängender Vorgang mit Blick auf das erreichte Endergebnis beurteilt werden darf. Ähnlich verhält es sich, wenn der Stpfl. bei der Steuererschleichung auf die genannte Art und Weise über komplexe Gestaltungen die wirtschaftlichen oder sonstigen Folgen neutralisiert oder modifiziert, die nach dem Gesetzeszweck eine steuerliche Entlastung rechtfertigen. Beispiel (BFH BStBl. II 1991, 205): V überträgt die Immobilie, in der er seine Freiberufler-Praxis betreibt, im Wege der Schenkung auf seine Ehefrau M. In derselben notariellen Urkunde räumen die Eheleute dem gemeinsamen 16jährigen Sohn S einen auf elf Jahre befristeten Zuwendungsnießbrauch an der Immobilie ein. S, der später wie vorgesehen studiert, vermietet die Praxisräume wie geplant an den V. Dieser macht in entsprechender Höhe Betriebsausgaben geltend. Der BFH nahm zu Recht eine missbräuchliche Umgehung des Abzugsverbots für Unterhaltszahlungen (§ 12 Nr. 2 EStG) an.
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Damit korrespondierend lässt sich auch die Rechtsfolge des § 42 I 2 AO – die Besteuerung entsprechend einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen Gestaltung – nicht mehr in das Konzept 185 Zur Diskussion Innen- vs. Außentheorie HHSp/Fischer, § 42 AO Rz. 71 ff., 87 ff.; Gassner, FS Kruse, 2001, 187 f. („Innentheorie“ in Österreich); Kontroverse von Rose, FR 2003, 1274 ff. (Innentheorie beeinträchtigt Steuerplanungssicherheit) und Fischer, FR 2003, 1277 ff.; Clausen, DB 2003, 1589; Heuermann, StuW 2004, 124 ff. (methodenkritische Bemerkungen über den Sinn der Unterscheidung von Innen- und Außentheorie); Fischer, FR 2005, 585 (zum österr. VwGH). 186 Insb. vertreten von HHSp/Fischer, § 42 AO Rz. 71 ff., 77 ff. (2009); Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, 222 ff. („Bei Licht betrachtet ist der Missbrauchstatbestand unter der Herrschaft einer teleologischen Auslegung entbehrlich“); Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, 409 ff. Auch Tipke, StRO III2, 1667 ff., neigt auf Basis des hier vertretenen wertungsjuristischen Methodenansatzes der Innentheorie zu. Vgl. auch Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001, 58 ff.; sowie zur Diskussion in den USA: Hariton, 60 Tax Law Review (2006), 29; und im Vereinigten Königreich Freedman, 123 Law Quarterly Review (2007), 5; s. auch die Urteilsbegründung durch Lord Walker of Gestingthorpe zur Entscheidung des UK Supreme Court, Rs. Tower MCashback [2011] 2 W.L.R. 1131, Rz. 43, m.w.N. 187 So bereits Hensel, VJSchrStFR 1931, 115 (244): „Die echte Steuerumgehung fängt genau dort an, wo die Auslegungskunst zu versagen beginnt.“ Für eine eigenständige Bedeutung des § 42 AO Gosch in Harzburger Steuer-Protokolle 1999, 225; Rose, FR 2003, 1274 ff.; Clausen, DB 2003, 1589; Heuermann, StuW 2004, 124 ff.
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C. Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
Rz. 123 § 5
der Subsumtion eines tatsächlichen Geschehens unter den Tatbestand einbetten. Nach § 42 I 2 AO wird zunächst ein angemessener Sachverhalt hypothetisiert und dann dem Tatbestand zugeordnet, um hieraus die Rechtsfolge auch für die missbräuchliche Gestaltung zu gewinnen. b) Der Anwendungsbereich des § 42 AO wird also zum einen durch den normativen Ansatz des Ge- 121 setzgebers und zum anderen durch den vom Rechtsanwender eingenommenen Standpunkt in der steuerrechtlichen Methodendiskussion beeinflusst: Verwendet der Gesetzgeber zur tatbestandlichen Vertypung des besteuerungs- oder entlastungswürdigen Geschehens Rechtsbegriffe, die unmittelbar auf in der Person des Stpfl. eintretende wirtschaftliche Folgen abstellen, können diese Tatbestände eher so ausgelegt werden, dass sie eine Subsumtion verbundener Rechtsgeschäfte im Wege einer auf deren wirtschaftliches Endergebnis rekurrierenden Gesamtwürdigung erlauben. Einer Anwendung des § 42 AO bedarf es dann nicht. Beispiel: Gestaltung zwecks Kumulierung von ErbSt-Kinderfreibeträgen für vom Vater der Tochter zugedachtes Vermögen durch sog. Kettenschenkung: ein Teil des Vermögens wird zunächst der Ehefrau und Mutter geschenkt (Inanspruchnahme des Ehegattenfreibetrages, § 16 I Nr. 1 ErbStG) verbunden mit der Verpflichtung, es an die Tochter weiterzuschenken (Inanspruchnahme eines zweiten Freibetrags für Schenkungen an Kinder, § 16 I Nr. 2 ErbStG). Der BFH (BStBl. II 1994, 128) urteilte, (auch) hinsichtlich des formal der Mutter zugewendeten Vermögensteils sei wegen der Verpflichtung zur Weiterschenkung von vornherein nur die Tochter auf Kosten des Vaters als Zuwendendem (§ 7 I Nr. 1 ErbStG) „bereichert“ i.S.d. § 10 I 1 ErbStG188.
Anders als im Rahmen des § 42 AO kann bei einem solchen gesetzgeberischen Regelungsansatz außerdem auch eine Besteuerung entsprechend dem angestrebten wirtschaftlichen Endergebnis einzelner Transaktionen zugunsten des Stpfl. erfolgen189. Der Anwendungsbereich des § 42 AO schrumpft ferner umso mehr, je stärker sich die Anwendung 122 von Steuergesetzen an teleologischen Kriterien orientiert. So kann etwa zahlreichen Gestaltungen, die auf einer Kombination von einander neutralisierenden Transaktionen beruhen und außer Steuervorteilen keinen wirtschaftlichen Ertrag versprechen, wegen der mit ihnen regelmäßig verbundenen Transaktionskosten schon unter Verweis auf das objektiv-teleologisch hergeleitete Merkmal der Gewinnerzielungsabsicht (s. Rz. 50 und § 8 Rz. 125) die steuerliche Anerkennung versagt werden. Die bloß formale Zwischenschaltung von Personen zwischen den Stpfl. und eine Einkunftsquelle wiederum kann vielfach durch eine ausgereifte Zurechnungsdogmatik überwunden werden. S. dazu bspw. FG München v. 25.3.2010 – 5 V 312/10, DStRE 2011, 344 (345): Zwischenschaltung eines ausländischen Trust.
c) In einer methodologisch ausgereiften Steuerrechtsordnung bedarf es des Rückgriffs auf eine Ge- 123 neralklausel wie § 42 AO zur Bekämpfung von Steuerumgehung i.e.S. vornehmlich bei Gestaltungen, in denen durch einen Gesamtplan190 Rechtsgeschäfte oder Handlungen miteinander verbunden wer188 Dazu auch Spiegelberger, FS Spindler, 2011, 809 (881 ff.); krit. Kempelmann, StuW 2016, 385 (390). Vgl. demgegenüber BFH v. 18.7.2013 – II R 37/11, BStBl. II 2013, 934: Fehlt es an einer vertraglichen Verpflichtung zur Weiterschenkung, kommt allenfalls § 42 AO in Betracht. 189 Methodisch fragwürdig ist hingegen die „interpolierende Betrachtung“ von Steuerbefreiungen im stärker an zivilrechtlichen Verkehrsakten orientierten GrESt-Recht durch BFH v. 16.12.2015 – II R 49/14, BStBl. II 2016, 292. 190 Dazu z.B. bspw. BFH v. 18.1.2001 – IV R 58/99, BStBl. II 2001, 393 (395); v. 18.3.2004 – III R 25/02, BStBl. II 2004, 787 (792); und zusammenfassend BFH v. 19.1.2011 – X B 43/10, BFH/NV 2011, 636 f. Der BFH tendiert allerdings dazu, Festlegung zur dogmatischen Verortung der Rechtsfigur des Gesamtplans im Verhältnis zu § 42 AO zu vermeiden, s. BFH v. 9.11.2011 – X R 60/09, BStBl. II 2012, 638 (643), m.w.N. Zur Gesamtplan-Rspr. des BFH s. auch HHSp/Fischer, § 42 AO Rz. 199 ff.; Crezelius, FR 2003, 537; Spindler, DStR 2005, 1; Förster, FS Korn, 2005, 3; Fischer, FR 2006, 297; KugelmüllerPugh, Der steuerrechtliche „Gesamtplan“, 2006; Osterloh, JöR 56 (2008), 141 (143, 149); Tanzer, DStJG 33 (2010), 189 (205 ff.); Offerhaus, FR 2011, 878; Kempelmann, Der Gesamtplan im Steuerrecht, 2016;
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§ 5 Rz. 123
Rechtsanwendung im Steuerrecht
den, die bei isolierter Betrachtung den gesetzlichen Tatbestand weder dem Wortlaut noch dem Sinn und Zweck nach erfüllen würden191. Zeigt sich bei einer Gesamtschau der Geschäfte und Handlungen, die nach dem Plan des Stpfl. in einem sachlichen Gestaltungszusammenhang stehen (inkl. der Ausweich-, Korrektur-, und Nebengeschäfte), dass die Nichtanwendung der umgangenen Bestimmung den Gesetzeszweck verfehlt, ermöglicht § 42 I 3 AO grds. eine normzweckadäquate steuerrechtliche Behandlung des Vorgangs. Ebenso verhält es sich bei der Erschleichung von Steuervorteilen, wenn erst eine einzelaktübergreifende Betrachtung die Zweckwidrigkeit der Gewährung des Vorteils zutage fördert. Richtigerweise kann die erforderliche Gesamtschau immer dann vorgenommen werden, wenn und soweit der Stpfl. oder ein in seinem Interesse handelnder Dritter die einzelnen Geschäfte oder Handlungen entsprechend einem vorgefassten Plan ausführt, kontrolliert (bei Ein-/Zwischenschaltung weiterer Personen192) oder als mit hoher Wahrscheinlich auch ohne eigenes Zutun eintretende Entwicklung einkalkuliert193. Ein bestimmter zeitlicher Zusammenhang ist nicht erforderlich, da Gestaltungsmissbrauch auch dann vorliegen kann, wenn der Stpfl. zwischen Ausweich- und Korrekturgeschäft längere Zeit verstreichen lässt, um den Gestaltungszusammenhang zu verschleiern. Maßgeblich ist also grds. nur die sachliche Verknüpfung der Geschäfte. Die Kürze der zwischen den Geschäften liegenden Zeit kann aber ein Indiz für die sachliche Verknüpfung sein194 (s. auch § 32d II Nr. 1c Satz 3 und 4 EStG). Beispiele aus der Rspr.: Gestaltungsmissbrauch bei Grundstückskaufvertrag zwischen Angehörigen mit Rückschenkung des Kaufpreises zur Erlangung der Eigenheimzulage (BFH BStBl. II 2006, 359); Vorschaltung nahe stehender Personen zur Erreichung des Vorsteuerabzuges (BFH BStBl. II 1984, 388; 1989, 376, 399; 1992, 446 [448]); Vermeidung von gewerblichem Grundstückshandel durch Zwischenschaltung von keinen eigenen Wertschöpfungsbeitrag erbringenden Gesellschaften (BFH BStBl. II 1998, 667; u.E. überzeugender über eine extensive Interpretation der Zurechnungsregeln zu lösen); Zwischenschaltung sog. Basisgesellschaften im niedrig besteuerten Ausland ohne außersteuerliche Rechtfertigung (BFH BStBl. II 1975, 553; 1992, 1029; 1998, 163; 2002, 819); Zwischenschaltung naher Angehöriger zwecks Vermeidung von GrESt (FG München v. 28.8.2013 – 4 K 1975/11, EFG 2013, 952). Grenzfälle: Anteilsrotation195; Vermieten durch gegenläufige Geschäfte196; Einschaltung von nahen Angehörigen in einen gewerblichen Grundstückshandel (BFH BStBl. II 2005, 817 [821 f.]).197
191 192 193 194 195 196
197
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krit. Krüger, DStZ 2014, 194; Osterloh-Konrad, Die Steuerumgehung, B.II.2.b. Vgl. auch zur US-amerikanischen step transaction-doctrine McMahon, Comparative Perspectives on Revenue Law, 2008, 49 ff. Wie hier Hey, Beihefter zu DStR 3/2014, 9 (10). S. dazu BFH v. 22.1.2013 – IX R 18/12, BFH/NV 2013, 1094, Rz. 20: Kontrolle insb. durch vertragliche, gesellschaftliche oder verwandtschaftliche Verflechtungen. Näher dazu Englisch in Dourado (Hrsg.), Movement of Persons and Tax Mobility in the EU, 2013, 213 (251 ff.); s. auch Tanzer, DStJG 33 (2010), 189 (190 einerseits und 209 andererseits). S. bspw. BFH v. 23.1.2002 – VIII R 48/98, BStBl. II 2001, 395; BMF v. 1.12.1992 – IV B 2-S 2144-76/92, BStBl. I 1992, 729.S. aber etwa auch BFH v. 18.7.2013 – II R 37/11, BStBl. II 2013, 934. Zu unterschiedlichen Sachverhalten Gestaltungsmissbrauch bejahend: BFH v. 8.5.2003 – IV R 54/01, BStBl. II 2003, 854; FG Rheinland-Pfalz v. 5.2.2009 – 4 K 1394/09, EFG 2009, 729; verneinend: BFH v. 18.7.2001 – I R 48/97, BFH/NV 2001, 1636; BFH v. 19.8.2003 – VIII R 44/01, BFH/NV 2004, 925. BFH v. 17.12.2003 – IX R 56/03, BStBl. II 2004, 648 (649); v. 29.8.2007 – IX R 17/07, BStBl. II 2008, 502 (503): rechtsmissbräuchlich, wenn die Beteiligten wechselseitige Verpflichtungen begründen, damit aber ihre jeweilige Position weder tatsächlich noch wirtschaftlich verändern. Gestaltungsmissbrauch sind Überkreuzvermietungen (dazu m.w.N. v. 20.2.2003 – III R 10/01, BStBl. II 2003, 510; v. 9.10.2013 – IX R 2/13, BFHE 244, 247). Kein Gestaltungsmissbrauch: Vermietung eines Hauses durch Kind an Eltern bei gleichzeitiger unentgeltlicher Nutzung eines Hauses der Eltern (BFH v. 14.1.2003 – IX R 5/00, BStBl. II 2003, 509); Wohnungsvermietung an unterhaltsberechtigtes Kind: BFH v. 17.12.2002 – IX R 58/00, BFH/NV 2003, 750. S. dazu auch Heuermann, BB 2003, 1465; StuW 2004, 124; Schießl, SteuerStud 2007, 403. Zur Kasuistik s. ferner HHSp/Fischer, § 42 AO Rz. 201 ff.; Tipke/Kruse/Drüen, § 42 AO Rz. 55 f.; Tanzer, DStJG 33 (2010), 189 (195 ff.).
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C. Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
Rz. 127 § 5
d) Der Generalklausel des § 42 AO gehen Spezialklauseln198 zur Bekämpfung der Steuerumgehung 124 vor, z.B. §§ 2b (Verlustzuweisungsgesellschaften), 6 V 4–6; 50d EStG; § 8a KStG (s. § 11 Rz. 49 ff.); § 8b III 4–7 KStG (s. § 11 Rz. 41 ff.); § 8c KStG (s. § 11 Rz. 58 ff.) KStG; §§ 1 I Nrn. 5–7, IIa, III; 6 IV; 7 III GrEStG; §§ 22; 24 V UmwStG, sowie Spezialklauseln des internationalen Steuerrechts. Verwirklicht ein Sachverhalt den Tatbestand einer speziellen Vorschrift, die der Verhinderung von Steuerumgehungen dient, so bestimmen sich die Rechtsfolgen nach dieser Vorschrift (§ 42 I 2, 3 AO); „anderenfalls“ beim Vorliegen eines Missbrauchs nach § 42 I 3 AO. Mit dieser durch JStG 2008 eingefügten Neuregelung ist die Rechtsfolgenabgrenzung zwischen General- und Spezialnorm nicht klarer geworden. Nach zutr. Ansicht199 ist daran festzuhalten, dass eine Gestaltung jenseits der tatbestandlichen Grenzen einer „echten“, nicht nur als Regelbeispiel gefassten Spezialklausel nach deren immanenter gesetzgeberischer Wertung auch im Kontext des § 42 II 1 AO nicht mehr als missbräuchlich eingestuft werden kann200 (z.B. Entnahme eines nach § 6 V 3 EStG übertragenen Wirtschaftsguts einen Tag nach Ablauf der Sperrfrist des § 6 V 4 EStG). Ist eine ihrem sachlichen Anwendungsbereich nach einschlägige Spezialklausel tatbestandlich nicht verwirklicht, bleibt für § 42 AO damit nur ein schmaler Anwendungsbereich, namentlich bei Umgehung der Tatbestandsmerkmale der Spezialnorm201. 3.2 Tatbestand des Gestaltungsmissbrauchs Nach § 42 I 1 AO kann das Steuergesetz durch Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts 125 nicht umgangen werden. Nach § 42 II 1 AO liegt ein Missbrauch vor, wenn eine unangemessene rechtliche Gestaltung gewählt wird, die beim Stpfl. oder einem Dritten im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt. Die seit dem 29.12.2007 geltende Fassung des § 42 AO202 ist dogmatisch und terminologisch nicht durchdacht, könnte aber im Rahmen ihres Wortlauts wie nachfolgend ersichtlich im Wesentlichen zweckadäquat interpretiert werden. a) Ob eine Gestaltung unangemessen ist, kann nur in Bezug auf den durch sie herbeigeführten 126 wirtschaftlichen Erfolg beurteilt werden, wobei auf diejenigen wirtschaftlichen Ergebnisse abzustellen ist, die nach dem Be- oder Entlastungsgrund der potenziell umgangenen Norm besteuerungsrelevant sind. Das kommt in § 42 I 1 AO nicht hinreichend zum Ausdruck, klingt aber in § 42 I 3 AO an. Bei gesamtplanmäßig verbundenen Einzelakten (s. Rz. 123) dürfen deren jeweilige Einzelauswirkungen kumuliert bzw. saldiert werden, um den als Bezugspunkt der Angemessenheit letztlich maßgeblichen wirtschaftlichen Zustand zu ermitteln. Das wirtschaftliche Verhalten selbst ist hingegen nicht auf seine Angemessenheit hin zu prüfen. Die Unangemessenheit der Gestaltung ist grds. zu bejahen, wenn das wirtschaftliche Ziel nicht auf 127 einem von der Rechtsordnung eröffneten direkten Weg, sondern über rechtsgeschäftliche Umwege erreicht werden soll. Denn das Tatbestandsmerkmal stellt gleichsam einen ersten „Grobfilter“ für das letztlich maßgebliche Kriterium dar, ob ein mit der Gestaltung einhergehender steuerlicher Vorteil dem Zweck der um- oder ergangenen Norm widerspricht (s. Rz. 116): Hat nämlich der Gesetzgeber sehenden Auges eine mögliche Steuerarbitrage in Kauf genommen, kann ihre Ausnutzung dem Stpfl. nicht als „missbräuchlich“ entgegengehalten werden. Potenziell missbräuchlich ist hingegen die Ausnutzung des Umstandes, dass der Gesetzgeber regelmäßig nur typische und naheliegende Gestaltun198 Dazu umfassend Hey, StuW 2008, 167. 199 Tipke/Kruse/Drüen, Vor § 42 AO Rz. 13 ff., m.w.N. 200 S. die st. Rspr. des BFH zur sog. Abschirmwirkung spezialgesetzlicher Missbrauchsverhinderungsnormen, z.B. BFH v. 20.3.3.2002 – I R 63/99, BStBl. II 2003, 50 (53); BFH v. 20.11.2007 – I R 85/05, BFH/ NV 2008, 551 (553). S. auch Drüen, Ubg. 2008, 31 (34); Hey, Beihefter zu DStR 3/2014, 9 (11); relativierend Tipke, StRO III, 1688. 201 S. Hey, DStJG 33 (2010), 139 (145 f.); Hey, Beihefter zu DStR 3/2014, 9 (12). 202 Art. 14 Nr. 2 JStG 2008 v. 20.12.2007, BGBl. I 2007, 3150 (3171). Zur Neufassung des § 42 AO BMF v. 17.7.2008 – IV A 3, BStBl. I 2008, 694; HHSp/Fischer, § 42 AO Rz. 61 ff.; Drüen, StuW 2008, 154 (161 ff.); Hahn, DStZ 2008, 483; Hey, BB 2009, 1044; Hey in Brandt (Hrsg.), Neue Lösungsansätze für Dauerbrennpunkte der Besteuerung, 2011, 27; Spindler, StbJb. 08/09, 39.
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§ 5 Rz. 128
Rechtsanwendung im Steuerrecht
gen zur Erreichung eines bestimmten wirtschaftlichen Ergebnisses in den gesetzlichen Tatbestand aufnimmt, nicht aber fernliegende und künstliche Gestaltungen203. Deshalb hat es die Rspr. zutreffend als Indiz für die Unangemessenheit der gewählten Gestaltung angesehen, wenn diese angesichts des letztlich erreichten wirtschaftlichen Ergebnisses „umständlich, schwerfällig, kompliziert, unvernünftig, überflüssig, intransparent oder ineffizient“ ist204. Ist eine Gestaltung unüblich und ungewöhnlich, kann das ebenfalls ihre Unangemessenheit indizieren205. In aller Regel unangemessen ist eine Gestaltung schließlich dann, wenn sich die wirtschaftlichen Wirkungen gesamtplanmäßig (s. Rz. 123) verbundener Einzelakte vollständig neutralisieren, also gar kein wirtschaftliches Ergebnis außer der Steuerersparnis erreicht werden soll206. 128 b) Der Stpfl. muss sodann aufgrund der unangemessenen Gestaltung einen „gesetzlich nicht vor-
gesehenen Steuervorteil“ erlangen. Dieses Tatbestandsmerkmal ist missverständlich207; bei zutreffender Charakterisierung des § 42 AO als teleologische Hilfsnorm (s. Rz. 119) ist es zu bejahen, wenn der vom Stpfl. auf unangemessene Weise bewirkte wirtschaftliche Zustand im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung eine dem Gesetzeszweck widersprechende steuerlich vorteilhafte Behandlung erfährt. Ein solcher Vorteil kann sich sowohl aus der Vermeidung des Tatbestands einer steuerbegründenden oder steuererhöhenden Norm ergeben, als auch aus der formalen Erfüllung des Tatbestands einer dem Stpfl. günstigen steuerlichen Regelung208. Er liegt hingegen nicht vor, wenn die Gestaltung steuerliche Wirkungen zeitigt, die im Einklang mit systemtragenden Prinzipien stehen, die vom Gesetzgeber insoweit auch nicht eingeschränkt worden sind. Beispiel (BFH BStBl. II 2001, 43): Die Herbeiführung eines dem objektiven Nettoprinzip entsprechenden, in § 10d EStG positivierten Verlustabzugs (s. § 8 Rz. 62) durch inkongruente Gewinnausschüttung verschafft dem begünstigten Anteilseigner keinen gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil. 129 Die Feststellung der Zweckwidrigkeit des Vorteils (d.h. bei versuchter Umgehung lastenausteilender
Normen die Zweckadäquanz der Belastung) setzt voraus, dass die ratio legis der Norm klar erkennbar ist. Bei echten, das Leistungsfähigkeitsprinzip durchbrechenden Steuervergünstigungen kann dies wegen des richterrechtlich entwickelten Begründungsgebotes209 i.d.R. festgestellt werden. Bei begünstigenden wie belastenden Fiskalzwecknormen (s. Rz. 68) bedarf es einer eingehenden subjektivwie objektiv-teleologischen Analyse. Lässt sich – wie häufig bei rein fiskalisch motivierten Nichtanwendungsgesetzen (s. Rz. 40) – kein die Regelung tragendes Rechtsprinzip feststellen, geht grds. auch § 42 AO ins Leere210. Des Weiteren darf der Stpfl. grds. vom Gesetzgeber bewusst hingenommene Besteuerungslücken und Systembrüche ebenso ausnutzen wie die einer gesetzlichen Typisierung oder pragmatischen Konkretisierungen fundamentaler Entlastungsprinzipien immanenten „überschießenden“ Wirkungen. Das Anliegen einer gleichmäßigen, optimal leistungsfähigkeitsgerechten steuerlichen Belastung ist in diesen Fällen bereits vom Gesetzgeber preisgegeben worden und kann daher al-
203 S. BFH v. 12.7.2012 – I R 23/11, BFHE 238, 344, Rz. 29 ff. 204 BFH v. 17.1.1991 – IV R 132/85, BStBl. II 1991, 607 (610); v. 19.8.1999 – I R 77/96, BStBl. II 2001, 43; v. 1.2.2001 – IV R 3/00, BStBl. II 2001, 520 (523); ebenso Abschn. 2.2. AEAO zu § 42 AO. 205 BFH v. 17.12.2003 – IX R 56/03, BStBl. II 2004, 648; v. 29.5.2008 – IX R 77/06, BStBl. II 2008, 789. Die Neufassung des § 42 AO durch das JStG 2008 hat an dieser Indizwirkung nichts geändert; vgl. Tipke/Kruse/Drüen, Vor § 42 AO Rz. 19; Hey, BB 2009, 1044 (1046); a.A. Schön, DStJG 33 (2010), 29 (60); Wendt, DStJG 33 (2010), 117 (127 f.). 206 BFH v. 17.12.2003 – IX R 56/03, BStBl. II 2004, 648 (649); BFH v. 21.8.2012 – VIII R 32/09, BStBl. II 2013, 16 (18); s. auch FG Niedersachsen v. 1.11.2012 – 6 K 382/10, EFG 2013, 328; Tipke, StRO III2, 1677; Kempelmann, StuW 2016, 385 (389). 207 S. zum breiten Meinungsspektrum Tipke/Kruse/Drüen, Vor § 42 AO Rz. 20 ff., m.w.N. 208 S. Hey in Brandt (Hrsg.), Neue Lösungsansätze für Dauerbrennpunkte der Besteuerung, 2009, 27 (34). 209 S. die Fußnotennachweise bei Rz. 68. 210 Wendt, DStJG 33 (2010), 117 (130 f.); krit. Drüen, Ubg. 2008, 31 (36).
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C. Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
Rz. 132 § 5
lenfalls vom BVerfG, nicht aber vom Rechtsanwender über § 42 AO rehabilitiert werden211. Darum dürfte auch die Aufforderung des BVerfG ins Leere gehen212, die Finanzgerichte sollten durch die Anwendung des § 42 AO „nach Möglichkeit […] solchen Gestaltungspraktiken entgegen […] wirken, die sonst zur Verfassungswidrigkeit einer Norm führen“, weil sie sich nicht auf atypische Fälle beschränken und darum die Gleichmäßigkeit der Besteuerung unterminieren213. Denn es sind gerade diese Fälle einer – i.d.R. für den Gesetzgeber absehbaren – erheblichen Breitenwirkung von Umgehungsmöglichkeiten, in denen aus den o.g. Gründen eine unangemessene Gestaltung bzw. ein gesetzlich nicht vorgesehener Steuervorteil nicht angenommen werden können. Beispiele: Es ist legitim, eine privat vermietete Immobilie erst 10 Jahre und einen Tag nach ihrer Anschaffung zu veräußern und dadurch einer nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip an sich gebotenen, in § 23 I 1 Nr. 1 EStG aber nur unvollkommen verwirklichten Besteuerung als privates Veräußerungsgeschäft zu entgehen214. Entgegen der Rspr215. war der gesetzlichen Regelung des Abflussprinzips in § 11 II EStG a.F. vor Einfügung der Sätze 3–5 bei Vorauszahlungen auch keine Begrenzung auf marktübliche Entgelte zu entnehmen; das Abflussprinzip als pragmatische, gegenüber der Gewinnermittlung durch Bilanzierung bewusst vereinfachend wirkende zeitliche Konkretisierung des Nettoprinzips durfte für Steuerstundungseffekte ausgenutzt werden216.
Eine Ausnahme besteht nur insoweit, als sich gesamtplanmäßig verbundene Rechtsgeschäfte des 130 Stpfl. vollständig neutralisieren und darum keine wirtschaftlich ins Gewicht fallenden Auswirkungen hervorrufen. Es kann regelmäßig unterstellt werden, dass der Gesetzgeber solche Vorgänge nicht zum Anlass für eine steuerliche Entlastung bzw. zur Verschonung von einer steuerlichen Belastung nehmen will217. c) Gem. § 42 II 2 AO ist kein Gestaltungsmissbrauch anzunehmen, wenn der Stpfl. die Gestaltung – 131 zumindest auch – aus beachtlichen außersteuerlichen Gründen gewählt hat. Durch diese Formulierung soll zugleich die objektive Beweislast für die einzelnen Kriterien einer Steuerumgehung i.S.d. § 42 AO verteilt werden218. Die h.M. versteht den Verweis des § 42 II 2 AO im Sinne eines – auch international üblichen – Mo- 132 tivtests, der in erster Linie nach wirtschaftlichen Gründen („good business reasons“), aber auch nach einem privaten oder sonstigen Anlass für die Wahl einer komplexen, ungewöhnlichen etc. Gestaltung fragt (vgl. auch die Spezialnorm des § 50d III 1 Nr. 1 EStG)219. Diese wirtschaftlichen oder auch privaten Beweggründe werden überwiegend dann als „beachtlich“ anerkannt, wenn sie im Verhältnis zur Höhe des erlangten Steuervorteils als hinreichend gewichtig erscheinen220. Insb. soll dann anstelle eines Gesamtplans, der die steuerrechtliche Würdigung des wirtschaftlichen Endergebnisses der vom Stpfl. aufeinander abgestimmten Einzelschritte erlaubt, ein „Plan in Einzelakten“ vorliegen, die nur je für sich unter die maßgeblichen steuerrechtlichen Bestimmungen subsumiert werden
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S. dazu auch BFH v. 27.9.2012 – II R 9/11, BStBl. II 2012, 899, Rz. 116 u. 120. Skeptisch auch Tipke/Kruse/Drüen, Vor § 42 AO Rz. 38a; Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1150 f.). BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, Rz. 255 (ErbSt-Beschluss). S. dazu BFH v. 11.10.2000 – I R 99/96, BStBl. II 2001, 22 (24). Vgl. BFH v. 23.9.1986 – IX R 113/82, BStBl. II 1987, 219, m.w.N. S. ferner Rödder, DStJG 33 (2010), 93 (97 ff.). S. bspw. BFH v. 8.3.2017 – IX R 5/16, BFHE 257, 211 in Abgrenzung zu BFH v. 25.8.2009 – IX R 60/07, BStBl. II 2009, 999. 218 So sinngemäß BT-Drucks. 16/6290, 115. 219 Dazu Tipke/Kruse/Drüen, Vor § 42 AO Rz. 34, m.w.N.; Wendt, DStJG 33 (2010), 117 (131); Koenig/ Koenig3, § 42 AO Rz. 26; Gosch/Schmieszek, § 42 AO Rz. 112ee. 220 Dazu Drüen, Ubg. 2008, 31 (38); Hey, BB 2009, 1044 (1047); Wendt, DStJG 33 (2010), 117 (132); Abschn. 2.6 AEAO zu § 42 AO. S. auch die Begründung im Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucks. 16/7036, 24.
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§ 5 Rz. 133
Rechtsanwendung im Steuerrecht
dürften221. Die Rechtsprechungspraxis nahm dabei bislang (zu § 42 AO a.F.) tendenziell einen großzügigen Standpunkt ein, weshalb ein gut beratener Stpfl. fast immer beachtliche außersteuerliche Gründe für seine Gestaltung finden wird. Beispiele aus der Rspr.222: aufsichtsrechtliche Gründe; Wunsch nach Haftungsbeschränkung (BFH BStBl. II 2010, 622 [626]); Struktur- und Strategiekonzepte im Konzern (BFH BStBl. II 2006, 118 [119]; Nichtanwendungserlass BMF v. 30.1.2006, BStBl. I 2006, 166). 133 Indes kommt es im Steuerrecht generell nicht darauf an, welche Beweggründe oder Begleitmotive
ein Stpfl. für die Herbeiführung eines bestimmten nach dem Gesetzeszweck belastungswürdigen bzw. nicht entlastungswürdigen Vorgangs hatte. Die gleichmäßige Verwirklichung des gesetzgeberischen Be- oder Entlastungskonzepts hat sich allein an den gesetzlich konkretisierten Maßstäben wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit bzw. bei Steuervergünstigungen an den ihnen zugrunde liegenden Gemeinwohlzielen zu orientieren. Dem Prinzip der Rechtssicherheit wiederum, das die Vorhersehbarkeit steuerlicher Belastungen verlangt (s. Rz. 11), wird bereits hinreichend durch eine methodengerechte Bestimmung des Gesetzeszwecks und durch die Gesamtplandogmatik (s. Rz. 123) Rechnung getragen. „Außersteuerliche Gründe“ sollten darum im Kontext des § 42 AO nur ausnahmsweise beachtlich sein, um das Vorliegen eines vom Stpfl. kontrollierten Geschehens entsprechend einem vorgefassten Plan zu widerlegen. Bei Steuervergünstigungen wird dann meist schon die Zweckwidrigkeit der Gewährung des Steuervorteils entfallen, weil sie nur eine reale Anreizwirkung, aber keine Garantie dauernden Erfolges voraussetzen. Im Übrigen müssen solche Gründe jedenfalls unter dem Aspekt der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit der Besteuerung beachtlich sein. 3.3 Rechtsfolge 134 Liegt ein Gestaltungsmissbrauch vor, so entsteht der Steueranspruch so, wie er bei einer den wirt-
schaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entsteht (§ 42 I 3 AO), es sei denn, eine spezialgesetzliche Missbrauchsklausel i.S.d. § 42 I 2 AO geht vor (s. Rz. 124). Das bedeutet, dass an die Stelle des wirklichen Sachverhalts ein hypothetischer angemessener Sachverhalt zu setzen und dann dieser Sachverhalt steuerrechtlich zu würdigen ist223. Steuerumgehung ist nicht strafbar. Steuerhinterziehung kommt aber in Betracht, wenn der Stpfl. den für die Anwendung des § 42 AO relevanten Sachverhalt verschleiert oder verheimlicht. 135–139
Einstweilen frei.
4. Wirtschaftliche Zurechnung statt Maßgeblichkeit der zivilrechtlichen Berechtigung (§ 39 AO) Literatur: Ahlbäumer, Treuhandverhältnisse im Steuerrecht, 1935; Schmidt, Das Treuhandeigentum, 1940; Seeliger, Der Begriff des wirtschaftlichen Eigentums im Steuerrecht, 1962; Gädeke, Die Behandlung der Sicherungsübertragung im Steuerrecht, 1972; Werndl, Wirtschaftliches Eigentum, 1983; Walz, Wirtschaftsgüter und wirtschaftliches Eigentum, Rechtsvergleichende Überlegungen zur Gegenstandswelt von Zivilrecht und Steuerrecht, in FS L. Fischer, 1999, 463; Herff, Wirtschaftliches Eigentum im Ertrag- und Erbschaftsteuerrecht, KÖSDI 2001, 12885; Mayer, Wirtschaftliches Eigentum an Kapitalgesellschaftsanteilen, 2003; Kolbinger, Das wirtschaftliche Eigentum an Aktien, 2008; Lüdenbach/Hoffmann, Wirtschaftliches Eigentum und bilanzielle Ertragsrealisierung bei rechtsunwirksamen Geschäften, DB 2009, 861; Warth/ Plenk, Eigentum im Zivil- und Steuerrecht, SteuerStud 2009, 61; Tipke, StRO III2, 1689 ff.
221 S. BFH v. 9.11.2011 – X R 60/09, BStBl. II 2012, 638, Rz. 51; s. auch BFH v. 22.10.2013 – X R 14/11, BStBl. II 2014, 158, Rz. 35 ff., zu einer Konstellation, in der eine (außerhalb des § 42 AO vorgenommene) Gesamtplanbetrachtung für den Stpfl. günstig gewesen wäre. 222 Zur Kasuistik eingehend HHSp/Fischer, § 42 AO Rz. 283 ff. 223 Exemplarisch BFH v. 2.3.2016 – I R 73/14, BStBl. II 2016, 887.
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C. Steuergesetzliche Vorschriften zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise
Rz. 143 § 5
Im Steuerrecht kommt es vielfach auf die Zurechnung von Gegenständen bzw. Wirtschaftsgütern zum 140 Vermögen eines Stpfl. an. Diese personelle Zuordnung bzw. diesbezügliche Veränderungen sind oft – nicht stets – Anknüpfungspunkt für die Indikation von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und für die Bestimmung des Steuersubjekts. Beispiele: Versteuerung von Dividendeneinkünften durch den (wirtschaftlichen) Eigentümer der Aktien (§ 20 V EStG); steuerbilanzieller Ausweis von Wirtschaftsgütern (§ 246 I 2 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG); Entstehung eines nach § 17 I 1 EStG steuerbaren Veräußerungsgewinns mit Übertragung des (wirtschaftlichen) Eigentums an den Anteilen (s. BFH BStBl. II 2007, 296 [297]); Realisation eines Warenumsatzes mit Verschaffung der Verfügungsmacht an dem gelieferten Gegenstand (§ 3 I UStG). Gegenbeispiele: Bauten auf fremdem Grund und Boden sind nach BFH (GrS BStBl. II 1995, 281; BStBl. II 2010, 670) dem Hersteller für Zwecke der steuerlichen Berücksichtigung der Herstellungskosten „wie ein materielles Wirtschaftsgut“ zuzurechnen, auch wenn jener nicht der (zivilrechtliche oder wirtschaftliche) Eigentümer ist (s. auch § 9 Rz. 151); Zurechnung von Einkünften i.S.d. § 21 I 1 Nr. 1 EStG aus Untervermietung an den Mieter.
Eine Generalklausel für die Zurechnung von Wirtschaftsgütern enthält § 39 AO. Die Vorschrift gilt 141 für alle Steuerarten, soweit sich aus der Systematik einzelner Vorschriften nichts Gegenteiliges ergibt224. Nicht unmittelbar geregelt wird durch § 39 AO die Zurechnung von Einkünften, Erwerbsaufwendungen, Umsätzen, etc. Ob es hierfür auf die personelle Zurechnung der für die maßgeblichen Aktivitäten genutzten Wirtschaftsgüter ankommt, muss durch Auslegung im jeweiligen Regelungszusammenhang geklärt werden. Dabei kann ggf. auf den in § 39 AO positivierten Rechtsgedanken wirtschaftlicher Dispositionsbefugnis zurückgegriffen werden225 (§ 9 Rz. 145). a) Allgemein schließt die umfassende Dispositionsbefugnis des zivilrechtlichen Eigentümers die wirt- 142 schaftliche Verfügungsmacht mit ein. Daher knüpft § 39 AO für die Zurechnung von Wirtschaftsgütern zunächst an das zivilrechtliche Eigentum an: Nach § 39 I AO sind Wirtschaftsgüter grds. dem Eigentümer zuzurechnen. Allerdings kann der Begriff des Eigentümers in § 39 I AO nicht ausschließlich zivilrechtlich gedeutet werden, weil der Begriff des Wirtschaftsguts nicht rein zivilrechtlich determiniert ist (s. § 9 Rz. 125). b) § 39 II AO regelt die Abweichungen vom Zivilrecht.
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aa) Nach § 39 II Nr. 1 Satz 1 AO ist das Wirtschaftsgut einem anderen als dem zivilrechtlichen Eigentümer zuzurechnen, wenn er die tatsächliche Herrschaft über ein Wirtschaftsgut in einer Weise ausübt, dass er den Eigentümer im Regelfall für die gewöhnliche Nutzungsdauer von der Einwirkung auf das Wirtschaftsgut wirtschaftlich ausschließen kann. Mit dieser Formulierung bringt der Gesetzgeber den analogiefähigen Rechtsgedanken des sog. wirtschaftlichen Eigentums zum Ausdruck, der keinen eigenen steuerrechtlichen Eigentumsbegriff schafft, sondern lediglich die wirtschaftliche Betrachtungsweise in Bezug auf die Zurechnung von Wirtschaftsgütern spezifiziert226. So ist z.B. bei der Übertragung von Wirtschaftsgütern grds. auf den Übergang des wirtschaftlichen Eigentums abzustellen und dementsprechend das Wirtschaftsgut nach § 39 II Nr. 1 Satz 1 AO dem wirtschaftlichen Eigentümer zuzurechnen227. Maßgeblich für die Annahme eines von der zivilrechtlichen Zu224 Dazu eingehend HHSp/Fischer, § 39 AO Rz. 13 ff. 225 Lang/Seer, FR 1992, 637. 226 Grundl. Seeliger, Der Begriff des wirtschaftlichen Eigentums im Steuerrecht: In § 39 II Nr. 1 AO ist die sog. Seeliger-Formel positiviert. Grds. zu § 39 II Nr. 1 AO insb. HHSp/Fischer, § 39 AO Rz. 39 ff.; BFH v. 27.11.1996 – X R 92/92, BStBl. II 1998, 97 (98 f.); v. 26.11.1998 – IV R 39/98, BStBl. II 1999, 263 (264); v. 26.1.2011 – IX R 7/09, BStBl. II 2011, 540 (542). 227 So z.B. bei Veräußerungen i.S.d. § 17 EStG (dazu BFH v. 11.7.2006 – VIII R 32/04, BStBl. II 2007, 296; v. 4.7.2007 – VIII R 68/05, BStBl. II 2007, 937; v. 22.7.2008 – IX R 74/06, BStBl. II 2009, 124; v. 24.1.2012 – IX R 51/10, BStBl. II 2012, 308; Mayer, DStR 2009, 674), Übertragungen unter Nießbrauchsvorbehalt (BFH v. 26.11.1998 – IV R 39/98, BStBl. II 1999, 263) oder Übertragungen im Wege vorweggenommener Erbfolge mit Rückfallklausel (BFH v. 17.6.1998 – XI R 55/97, BFH/NV 1999, 9). Gegenbeispiel: Für Zwecke der GrESt genügt nach Gesetzesbegründung und -systematik der Übergang
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§ 5 Rz. 144
Rechtsanwendung im Steuerrecht
ordnung abweichenden wirtschaftlichen Eigentums ist stets das Gesamtbild der Verhältnisse (s. BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10, BStBl. II 2012, 407); die Rspr. hat das Konzept für praxisrelevante Fallgruppen konkretisiert. Von erheblicher praktischer Bedeutung ist die Zurechnung von Wirtschaftsgütern in den Fällen des Leasing (s. § 9 Rz. 148 und § 17 Rz. 99). Nießbrauchern228, Mietern und Pächtern sind die ihnen überlassenen Wirtschaftsgüter regelmäßig nicht zuzurechnen (u.U. aber die damit erzielten Einkünfte, s. § 8 Rz. 153). So verneint BFH BStBl. II 2001, 440, wirtschaftliches Eigentum beim Dauernutzungsvertrag mit Wohnungsgenossenschaft. Zu typischen Kriterien für wirtschaftliches Eigentum an Kapitalgesellschaftsanteilen s. BFH BStBl. II 2011, 540 (542); BStBl. II 2012, 318 (320 f.). 144 bb) Bei Treuhandverhältnissen229 – kennzeichnend für sie ist eine die Innenbindung überschießen-
de Zuständigkeit nach außen – sind die Wirtschaftsgüter dem Treugeber, beim Sicherungseigentum (Unterart der Treuhand) sind sie dem Sicherungsgeber230 (wirtschaftlich ist der Sicherungsgeber „Eigentümer“, der Sicherungsnehmer Pfandgläubiger) und beim Eigenbesitz (§ 872 BGB) sind sie dem Eigenbesitzer zuzurechnen (§ 39 II Nr. 1 Satz 2 AO). 145 cc) Wirtschaftsgüter, die mehreren zur gesamten Hand zustehen, werden den Beteiligten anteilig zu-
gerechnet, soweit eine getrennte Zurechnung für die Besteuerung erforderlich ist (§ 39 II Nr. 2 AO).
D. Ermessensausübung (§ 5 AO) Literatur: Kommentare zu § 5 AO; Lohmann, Die Zweckmäßigkeit der Ermessensausübung als verwaltungsrechtliches Rechtsprinzip, 1972; Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensermächtigungen im Verwaltungsrecht, 1979; Bullinger, Verwaltungsermessen im modernen Staat, 1986; Herdegen, Beurteilungsspielraum und Ermessen im strukturellen Vergleich, JZ 1991, 747; Starck, Das Verwaltungsermessen und dessen gerichtliche Kontrolle, in FS Sendler, 1991, 167 ff.; Di Fabio, Die Ermessensreduzierung – Fallgruppen, Systemüberlegungen und Prüfprogramm, VerwArch. 1995, 214; Held-Daab, Das freie Ermessen, Von den vorkonstitutionellen Wurzeln zur positivistischen Auflösung der Ermessenslehre, 1996; Volkmann, Das „intendierte“ Verwaltungsermessen, DÖV 1996, 282; Dauven, Ermessensentscheidungen und ihre (gerichtliche) Überprüfung im Steuerrecht, SteuerStud 2009, 254; Merz, Tatbestandsmäßigkeit und Verwaltungsermessen im Steuerrecht, 2009. 146 a) Das Ermessen verschafft den Finanzbehörden eine gewisse Flexibilität bei der Rechtsanwendung.
Die eigentlichen Steuertatbestände231 enthalten deshalb grds. keine Ermessensermächtigungen, weil sich dies nicht mit dem steuerlichen Legalitätsprinzip und dem Gebot gleichmäßiger Besteuerung vertrüge. Tatbestand i.e.S. und Rechtsfolge werden durchweg vom Gesetzgeber bestimmt. I.Ü. ist dem Steuerrecht die Einräumung von Ermessen aber nicht unbekannt. Es kann z.B. eine Steuer gestundet (§ 222 AO) oder erlassen (§ 227 AO) werden. Es kann ein Verspätungszuschlag festgesetzt werden (§ 152 AO). Es können Zwangsmittel angewendet werden (§ 328 I 1 AO). Auch im Verfahrensrecht
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zivilrechtlichen Eigentums (s. bspw. BFH v. 22.10.1952 – II 67/52 U, BStBl. III 1952, 310; FG Hamburg v. 28.10.1996 – II 82/95, EFG 1997, 552). Dazu Fendt, Der Nießbrauch in betriebswirtschaftlicher und steuerrechtlicher Sicht, 1966, 84 ff.; Meyer, Einkommensteuerliche Behandlung des Nießbrauchs und anderer Nutzungsüberlassungen, 1984, 128 ff.; Stengel, Die persönliche Zurechnung von Wirtschaftsgütern im Einkommensteuerrecht, 1990. Dazu Blaurock, Unterbeteiligung und Treuhand an Gesellschaftsanteilen, 1981; Heidner, Treuhandverhältnisse im Steuerrecht, 1994; Stahl, KÖSDI 1995, 10159; Lang/Seer, FR 1992, 637; Heidner, DB 1996, 1203; Wachter, DStR 2005, 1844 (ErbSt/Vermögensgegenstände); Fuhrmann, KÖSDI 2006, 15293; Micker, Gesamthandsgemeinschaften und Treuhandverhältnisse bei privaten Anteilsveräußerungen, 2006; Rödl, BB 2006, 20 (ErbSt/Treuhandverhältnisse); Benz/Grundke, StuW 2009, 151. S. auch Kubik, Der Trust im Steuerrecht, 2011. Speziell zu sicherungsübereigneten Wertpapieren s. FG Nürnberg v. 7.6.2016 – 1 K 904/14, EFG 2017, 59. Vgl. § 6 Rz. 11.
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D. Ermessensausübung (§ 5 AO)
Rz. 150 § 5
spielt das Ermessen eine erhebliche Rolle (s. § 21 Rz. 56, 137b, 170, 226 ff.). Der Gesetzgeber pflegt Ermessen durch Vokabeln wie: die Finanzbehörde „kann“, „darf“, „ist berechtigt“, „ist befugt“ einzuräumen. Das „soll“ (s. etwa § 222 Satz 2; § 361 II 2 AO) verstärkt die Ermessensbindung. „Soll“ drückt aus: i.d.R., also außer in atypischen Fällen, besteht ein Anspruch des Bürgers bzw. eine Verpflichtung der Behörde. b) Ermessen wird i.d.R. nicht auf der Tatbestandsseite, sondern auf der Rechtsfolgenseite einer 147 Rechtsnorm eingeräumt. Die Rechtsfolge wird in das Ermessen der Behörde gestellt. Von der Ermessensermächtigung ist der regelmäßig im Tatbestand angesiedelte unbestimmte Rechtsbegriff zu unterscheiden232. Der Begriff ist insofern irreführend, als nahezu alle Rechtsbegriffe mehr oder minder unbestimmt sind und durch Auslegung präzisiert werden müssen (s. Rz. 48)233. Die Besonderheit bei unbestimmten Rechtsbegriffen i.e.S. besteht darin, dass ihre Konkretisierung im Einzelfall von Wertungen oder Prognosen der Finanzverwaltung abhängt, die nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle zugänglich sind234. Ob ganz ausnahmsweise (vgl. Art. 19 IV GG; BVerfGE 84, 34 [50]; BVerwGE 130, 39 [48]) ein solcher Beurteilungsspielraum der Verwaltung anzuerkennen ist, muss durch Auslegung ermittelt werden. Mitunter koppelt das Gesetz einen „unbestimmten Rechtsbegriff“ mit einer Ermessensermächtigung. Im 148 Falle des § 227 AO hat der BFH BStBl. III 1962, 290, angenommen, dass das Ermessen („kann“) durch den unbestimmten Rechtsbegriff „unbillig“ nicht eingeschränkt werde; die Unbilligkeit sei lediglich Ermessensrichtmaß. Diese Auffassung ist i.Erg. vom Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes bestätigt worden235; dazu auch § 21 Rz. 331.
c) Durch die Ermessensermächtigung wird der Behörde ein Entscheidungsspielraum eingeräumt. 149 Dieser kann sich zunächst darauf beziehen, ob die vom Gesetz angeordnete Rechtsfolge überhaupt vollzogen werden soll (sog. Entschließungsermessen). So kann die Finanzbehörde von der ihr durch § 152 I AO eingeräumten Möglichkeit, einen Verspätungszuschlag festzusetzen, gänzlich absehen. Zusätzlich oder stattdessen kann der Finanzbehörde die Befugnis eingeräumt werden, eine Auswahl zwischen verschiedenen Rechtsfolgen zu treffen (sog. Auswahlermessen)236. Auswahlermessen kann in sachlicher Hinsicht bestehen, indem die Verwaltung in der Person eines Normadressaten unterschiedliche Rechtsfolgen vollziehen kann, z.B. einen Verspätungszuschlag in unterschiedlicher Höhe festsetzen kann. Es kann auch in persönlicher Hinsicht zugestanden werden, indem sie zwischen mehreren Normadressaten auswählt, z.B. zwischen mehreren Gesamtschuldnern (§ 44 AO, s. § 6 Rz. 59) auswählt, oder bestimmte Personen für die Außenprüfung herausgreift (s. § 21 Rz. 232). d) Die Einräumung von Ermessen unterliegt im Steuerrecht zunächst insofern verfassungsrecht- 150 lichen Grenzen, als das Ideal gleichmäßiger Besteuerung aller Bürger (Art. 3 I GG) grds. die unausweichliche Entstehung der Steuerschuld bei Verwirklichung des Steuertatbestands verlangt. Daher kennt der materiell-rechtliche Teil des besonderen Steuerschuldrechts (s. § 1 Rz. 78 ff.) praktisch keine Ermessensvorschriften. Doch auch i.Ü. und insb. im Steuerverfahren sind Ermessensspielräume der Verwaltung problematisch, weil damit der Eingriff in Grundrechtspositionen des Bürgers aus der strikten Bindung an das Gesetz entlassen wird. Der Gesetzgeber darf daher Ermessen nur zwecks situationsspezifischer Bewältigung von Ziel- und Interessenkonflikten einräumen, die nach vertretbarer Einschätzung wegen ihrer Vielschichtigkeit nicht schon abstrakt und damit schematisch ab232 Dazu ausf. Stoll, Ermessen im Steuerrecht2, 2001. 233 Dazu etwa BFH v. 23.3.1999 – VII R 19/98, BStBl. II 1999, 370 (373); v. 26.1.2011 – IX R 20/10, BFH/ NV 2011, 1056 (1057). 234 Dazu ausf. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht18, § 7 Rz. 26 ff.; s. auch HHSp/Wernsmann, § 5 AO Rz. 66 ff.; Tipke/Kruse/Drüen, § 5 AO Rz. 22 ff. 235 BFH v. 19.10.1971 – GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101; s. auch BFH v. 30.9.2010 – III R 39/08, BStBl. II 2011, 11 (17). 236 S. BFH v. 28.8.2012 – I R 10/12, BStBl. II 2013, 266, Rz. 16; v. 24.4.2014 – IV R 25/11, BStBl. II 2014, 819, Rz. 47.
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§ 5 Rz. 151
Rechtsanwendung im Steuerrecht
wägend im Gesetz selbst, sondern angemessen nur von beruflich vorgebildeten Beamten unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles aufzulösen sind. Unverzichtbar ist das Ermessen bei Billigkeitsmaßnahmen, da dort die Einzelfallgerechtigkeit gegenüber der abstrakten, die besonderen Umstände des Einzelfalls nicht erfassenden Gesetzesgerechtigkeit zu berücksichtigen ist (s. § 21 Rz. 329 f.). Stets muss das Gesetz hinreichend klare Maßstäbe für die Ermessensausübung bereitstellen237; ein freies Ermessen der Verwaltung wäre rechtsstaatswidrig. Das setzt voraus, dass der Ermessenszweck feststellbar ist; anderenfalls ist die Ermächtigung unwirksam. Beispiele: Festlegung ermessensleitender Gesichtspunkte für die Festsetzung eines Verspätungszuschlages in § 152 II 2 AO (bis 31.12.2018; dazu § 21 Rz. 188) und für die Festsetzung eines „Strafzuschlags“ in § 162 IV 4 AO. Zweck des Billigkeitserlasses ist es, die Einziehung einer Steuer zu vermeiden, wenn dies nach Lage des Falles unbillig wäre (s. § 227 I AO; dazu § 21 Rz. 333 ff.). Aus § 122 I 3 AO über die Bekanntgabe an den Bevollmächtigten lässt sich kein Zweck entnehmen; die Ermächtigung ist daher unwirksam. 151 e) Die Finanzbehörde muss ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermessensermächtigung aus-
üben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einhalten (§ 5 AO). Dazu muss sie im konkreten Einzelfall diejenige Rechtsfolgen-Alternative wählen, die am besten geeignet ist, den Zweck der Ermessensvorschrift zu verwirklichen. Aus der Zweckbindung ergibt sich, dass nach sachlichen Kriterien entschieden werden muss. Willkürliche Ermessensentscheidungen sind gesetzeswidrig. 152 §§ 5 AO, 102 FGO lässt sich folgende – auch verwaltungsrechtsdogmatisch übliche – Dreiteilung der
Ermessensfehler238 entnehmen, die finanzgerichtlicher Kontrolle unterliegen: – Ermessensnichtgebrauch/Ermessensunterschreitung: Die Ausübung des Ermessens entsprechend dem Zweck der Ermächtigung nach § 5 AO setzt voraus, dass die Finanzbehörde überhaupt Ermessenserwägungen anstellt. Erkennt die Finanzbehörde nicht, dass sie eine Ermessensentscheidung zu treffen hat, oder wägt sie die Gründe für ein Ermessen nicht ausreichend ab, so liegt im ersten Fall ein Ermessensnichtgebrauch und im zweiten Fall eine Ermessensunterschreitung vor. – Ermessensüberschreitung: Nach § 5 AO muss die Finanzbehörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einhalten. Beispiel: Überschreitung der 10 %-Grenze bzw. der Höchstgrenze von 1 000 000 Euro in § 162 IV AO. – Ermessensfehlgebrauch: Lässt sich die Finanzbehörde nicht ausschließlich vom Zweck der Ermessensvorschrift leiten, so liegt Ermessensfehlgebrauch (auch bezeichnet als Ermessensmissbrauch) vor. Ermessensfehlerhaft in diesem Sinne sind sachfremde Erwägungen wie persönliche oder parteipolitische Rücksichtnahmen (Beispiele: Billigkeitserlass gegenüber einem Parteifreund oder Ablehnung einer Billigkeitsmaßnahme gegenüber dem unliebsamen Nachbarn)239, Verknüpfen der Amtshandlung mit einer Gegenleistung (dies verletzt das sog. Koppelungsverbot; Beispiel: Absehen vom Verspätungszuschlag gegenüber einer Sängerin, nachdem diese an der Dienststelle vier Konzert-Freikarten hinterlassen hat), Verletzung des Grundsatzes von Treu und Glauben sowie Verfehlungen des konkreten Gesetzeszwecks, z.B. Benennungsverlangen nach § 160 AO, wenn bekannt ist, dass der Empfänger die Einnahme versteuert hat (s. § 21 Rz. 202). 153 Umstritten ist, ob die Überschreitung verfassungsrechtlicher Grenzen der Ermessensüberschreitung
oder dem Ermessensfehlgebrauch zuzuordnen ist240. U.E. liegt Ermessensüberschreitung vor: Wenn die Finanzbehörde die „gesetzlichen Grenzen des Ermessens“ (§ 5 AO) einzuhalten hat, so gilt dies erst recht (s. Rz. 84) für die grundgesetzlichen Grenzen. Ermessensakte der Finanzbehörde sind vor allem daraufhin zu überprüfen, ob sie den Gleichheitssatz (s. § 3 Rz. 40 ff.) und das Übermaßverbot (s. § 3 Rz. 180 ff.) beachten. 237 BVerfG v. 27.7.2005 – 1 BvR 668/04, BVerfGE 113, 348 (376). 238 Dazu ausf. m.w.N. HHSp/Wernsmann, § 5 AO Rz. 150 ff.; s. auch BFH v. 28.8.2012 – I R 10/12, BStBl. II 2013, 266, Rz. 17. 239 S. dazu auch BFH v. 28.9.2011 – VIII R 8/09, BStBl. II 2012, 395. 240 Vgl. m.w.N. HHSp/Wernsmann, § 5 AO Rz. 154, 157 ff.
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§6 Allgemeines Steuerschuldrecht Literatur: Schranil, Besteuerungsrecht und Steueranspruch, 1925; Merk, Steuerschuldrecht, 1926; Mirbt, Beiträge zur Lehre vom Steuerschuldverhältnis, FinArch. Bd. 44 (1927), 1; Stoll, Das Steuerschuldverhältnis, 1972; Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I (Allgemeiner Teil), 1991, 91 ff.; Kruse, Zum Entstehen und Erlöschen von Steueransprüchen, in FS Tipke, 1995, 277; von Groll in GS Trzaskalik, 2005, 19 (zur Tatbestandsverwirklichung); Heuermann, Was ist eigentlich eine Entrichtungssteuerschuld?, StuW 2006, 332; Kemmler, Geldschulden im öffentlichen Recht, Habil., 2015.
1. Inhalt des Steuerschuldverhältnisses 1.1 Steuerschuldverhältnis als materiell-rechtlicher Teil des Steuerrechtsverhältnisses a) Das Steuerrechtsverhältnis besteht aus dem in der AO zuerst (§§ 33–77 AO: Steuerschuldrecht) 1 geregelten Steuerschuldverhältnis (materielles Steuerrechtsverhältnis) und dem anschließend (§§ 78 ff. AO) normierten Steuerverfahrensverhältnis (formelles Steuerrechtsverhältnis; zu den Verwaltungsverfahren s. § 21 Rz. 150 ff.). Richten sich gegen den Stpfl. mehrere Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (z.B. Haftung als Arbeitgeber und Schuldner von ESt, USt, GewSt), so werden für jeden Anspruch gesonderte formelle und materielle Steuerrechtsverhältnisse begründet, die sich unterschiedlich entwickeln können. Werden mehrere Steuern wie z.B. die ESt und KiSt in einem Bescheid festgesetzt (sog. Sammelbescheid, s. § 21 Rz. 54), liegen mehrere Steuerrechtsverhältnisse und mehrere getrennt anfechtbare Steuerfestsetzungen vor. Das Steuerschuldverhältnis umgrenzt § 37 AO, der eine abschließende Aufzählung der Ansprüche 2 aus dem Steuerschuldverhältnis enthält (s. Rz. 4). Das Steuerverfahrensverhältnis beinhaltet dagegen die Durchführung der Besteuerung, nicht allein die Durchsetzung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis durch die Finanzbehörden, sondern auch die Verfahrensteilhabe des Stpfl., seine Pflichten und Rechte in den Steuerverfahren (s. § 21 Rz. 9 f.). Die verfahrensrechtlichen Pflichten zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen ergeben sich für die Finanzbehörden und den Stpfl. zunächst unmittelbar aus dem Gesetz. Der Stpfl. kann aber auch durch einen Verwaltungsakt verpflichtet (z.B. zu einer Auskunft aufgefordert) werden (s. § 21 Rz. 50 ff.). b) Beteiligt am Steuerrechtsverhältnis sind die Steuerberechtigten (Bund, Länder, Gemeinden, Religi- 3 onsgemeinschaften) und die Stpfl. Der Begriff des Stpfl. ist in § 33 AO definiert. Dort werden als Stpfl. die Steuer- u. Haftungsschuldner (Rz. 6, 8), Steuerentrichtungs- (Rz. 7), Steuererklärungs-, Buchführungs- (s. § 21 Rz. 182 ff., 177 ff.) und auf andere Weise in eigenen Angelegenheiten (s. Umkehrschluss aus § 33 II AO, s. Rz. 10) Mitwirkungspflichtigen genannt. Der Begriff des Stpfl. bringt nicht hinreichend zum Ausdruck, dass er die Gesamtheit von Rechten und Pflichten umfasst, und zwar zum einen als Beteiligter des Steuerverfahrens (s. § 78 AO, dazu § 21 Rz. 153 ff.) und zum anderen als Beteiligter des Steuerschuldverhältnisses. Als Letztgenannter kann er insb. auch Gläubiger einer Steuervergütung (s. Rz. 86 ff.) oder einer Erstattung (s. Rz. 89 f.) sein. 1.2 Kanon der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis a) Nach § 37 AO umfasst das einzelne Steuerschuldverhältnis folgende „Ansprüche aus dem Steuer- 4 schuldverhältnis“ (so die Überschrift zu § 37 AO): (1) Steueranspruch = steuerschuldverhältnisbegründender Hauptanspruch (§ 37 I AO); (2) Haftungsanspruch (§§ 37 I; 69 ff.; 191 AO, s. Rz. 62 ff.); (3) Steuervergütungsanspruch (§ 37 I AO, s. Rz. 86 ff.); (4) Erstattungsanspruch (§ 37 I, II AO, s. Rz. 89 f.); Seer 249
§ 6 Rz. 5
Allgemeines Steuerschuldrecht
(5) Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen (§ 37 I AO), das sind nach § 3 IV AO das Verzögerungsgelder (§ 146 IIb AO, s. § 21 Rz. 181), Verspätungszuschläge (§ 152 AO, s. § 21 Rz. 188 ff.), Verspätungsgelder bei nicht rechtzeitiger Übermittlung von Rentenbezugsmitteilungen (§ 22a V EStG), Zuschläge bei Verletzung der Dokumentationspflichten für Verrechnungspreise (§ 162 IV AO, s. § 21 Rz. 174), Zinsen (§§ 233–237 AO, s. § 21 Rz. 347 ff.), Säumniszuschläge (§ 240 AO, s. § 21 Rz. 363 ff.), Zwangsgelder (§ 329 AO, s. § 21 Rz. 377) und Kosten (z.B. die Auskunftsgebühr nach § 89 III–VII AO, s. § 21 Rz. 142; s. auch §§ 178; 178a; 337–345 AO). 5 b) Der Begriff „Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis“ wird z.B. verwendet in den §§ 38, 47,
218, 220, 222, 226, 227, 228 AO. Jedes Steuerschuldverhältnis wird konkretisiert und abgegrenzt durch den einzelnen Anspruch mit bestimmten Beteiligten (Gläubiger/Schuldner). Verschiedene Steuern begründen verschiedene Steuerschuldverhältnisse; bei periodischen Steuern wird für jedes Jahr ein neues Schuldverhältnis begründet. Auf der Pflichtenseite sind folgende Beteiligte der Steuerschuldverhältnisse zu unterscheiden: 6 (1) Steuerschuldner: Gegen ihn richtet sich der Steueranspruch, der Hauptanspruch des Steuer-
schuldverhältnisses. Während der Steuergläubiger verfassungsrechtlich (s. § 2 Rz. 5) normiert ist (zu Art. 106; 107 GG s. § 2 Rz. 57 ff.), ist der Steuerschuldner in den einzelnen Steuergesetzen (§ 43 AO) bestimmt (s. Rz. 19). 7 (2) Steuerentrichtungspflichtiger: Er hat die Steuer einzubehalten und abzuführen (zu entrichten,
§ 43 Satz 2 AO)1. Der Steuerentrichtungspflichtige ist Stpfl. i.S.d. § 33 I AO. Er schuldet die Steuer aber nicht; er handelt als Dritter für Rechnung des Steuerschuldners: Arbeitgeber hinsichtlich der Lohnsteuer (§ 38 III EStG, s. § 8 Rz. 904); Schuldner von Kapitalerträgen und inländische Zahlstellen (z.B. Kreditinstitute, s. § 44 V 1 EStG) hinsichtlich der Kapitalertragsteuer; Versicherer hinsichtlich der Versicherungsteuer (§ 7 I VersStG). 8 (3) Haftungsschuldner: Er haftet für eine fremde Schuld aus dem Steuerschuldverhältnis (s.
Rz. 62 ff.). 9 Kein Stpfl. i.S.d. § 33 I AO und Beteiligter des Steuerschuldverhältnisses ist der Steuerträger; er trägt
die Steuer wirtschaftlich. Wird die Steuer vom Steuerschuldner auf einen anderen überwälzt, so sind Steuerschuldner und Steuerträger nicht identisch, wie dies insb. bei den indirekten Steuern (s. § 7 Rz. 20) der Fall ist. Soll der mit der Steuer wirtschaftlich Belastete nach dem Zweck des Gesetzes die Steuer nicht tragen, so wird sie ihm vergütet (s. Rz. 87: Schaubild). Der Steuervergütungsgläubiger, der nicht Steuerträger sein soll, ist Beteiligter des Steuerschuldverhältnisses. 10
Wer in einer fremden Steuersache lediglich bei der Sachaufklärung mitzuwirken hat (sog. Dritter oder andere Person i.S.d. § 93 AO), ist weder Steuerschuldner noch Stpfl. (s. § 33 II AO). Durch seine Inanspruchnahme wird er aber nach § 78 Nr. 2 AO Beteiligter eines eigenen Verwaltungsverfahrens (s. § 21 Rz. 154). 2. Entstehung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis
11
Die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis entstehen, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft (§ 38 AO); über die Rechtswirkungen der Anspruchsentstehung s. Rz. 22; über die Entstehung des Steueranspruchs s. Rz. 20 ff. Das Steuerschuldverhältnis ist damit grds. ein gesetzliches Rechtsverhältnis (obligatio ex lege). Es entsteht kraft Gesetzes2; das Gesetz ersetzt das private Willensmoment, die Parteivereinbarung. § 38 AO ist lückenhaft; er erfasst Ermessensentscheidungen nicht. Bei Ermessensentscheidungen wird die Leistungspflicht nicht allein 1 Eingehend Drüen, Die Indienstnahme Privater für den Vollzug von Steuergesetzen, Habil., 2012, 107 ff.; Drüen, DStR-Beihefter 2012, 85. 2 Eingehend Kemmler, Geldschulden im öffentlichen Recht, Habil., 2015, 30 ff.
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Seer
3. Gläubiger- und Schuldnerwechsel, Verpfändung, Pfändung
Rz. 14 § 6
an das Gesetz geknüpft, nicht allein durch das Gesetz, sondern erst durch die Ermessensentscheidung ausgelöst. Ermessensabhängige Ansprüche (auf Verspätungszuschlag, Zwangsgeld und Kosten nach § 178 I AO) entstehen daher erst mit der (positiven) Ausübung des Ermessens und der Bekanntgabe der Entscheidung. Über die Entstehung des Haftungsanspruchs s. Rz. 65; über die Entstehung des Erstattungsanspruchs s. Rz. 89. 3. Gläubiger- und Schuldnerwechsel, Verpfändung, Pfändung 3.1 Vorgänge kraft Gesetzes Literatur: Schulze-Osterloh (Hrsg.), Rechtsnachfolge im Steuerrecht, DStJG 10 (1987), mit Beiträgen von Kruse, Meincke, Ruppe, Heinicke, Groh, Pöllath, Brenner, Brezing; Reiß, Rechtsnachfolge im Umsatzsteuerrecht, StVj 1989, 103; Gassner, Die Bedeutung der Rechtsnachfolge im Steuerrecht, in FS Stoll, 1990, 317.
Bei Gesamtrechtsnachfolge (= Übergang des gesamten Vermögens kraft Gesetzes, insb. durch Erb- 12 folge, Verschmelzung oder Umwandlung von Gesellschaften) gehen die Forderungen und Schulden aus dem Steuerschuldverhältnis auf den Rechtsnachfolger über (§ 45 I 1 AO)3. Im Falle der Erbfolge gilt dies jedoch nicht für Zwangsgelder (§ 45 I 2 AO). Erben haben für auf sie übergegangene, aus dem Nachlass zu erfüllende Schulden des Erblassers (aus dem Steuerschuldverhältnis) nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts über die Haftung der Erben für Nachlassverbindlichkeiten (§§ 1967 ff.; 2058 ff. BGB) einzustehen, d.h. Haftungsbeschränkung auf den Nachlass ist möglich4. Vorschriften, durch die eine steuerrechtliche Haftung der Erben begründet wird, bleiben unberührt (§ 45 II 2 AO; s. etwa die Fälle §§ 69; 71 AO). Bei Einzelrechtsnachfolge gehen die Forderungen und Schulden aus dem Steuerschuldverhältnis 13 grds. nicht auf den Rechtsnachfolger über (Umkehrschluss aus § 45 I 1 AO). Die Einzelrechtsnachfolge ist zivilrechtlich der Regelfall. Der Rechtsakt, insb. jedes Rechtsgeschäft bezieht sich auf die Übertragung einzelner Rechtspositionen, auch wenn eine Mehrheit von Rechtspositionen übertragen wird. Daher gilt § 45 I 1 AO z.B. nicht für den Erbschaftskauf (§ 2371 BGB) und den Erwerb eines Unternehmens oder Betriebes. Zu beachten sind aber spezielle Vorschriften wie insb. die Haftung des Betriebsübernehmers (§ 75 AO), die Sachhaftung (§ 76 AO) und der Übergang der bedingten Verbrauchsteuerschuld nach § 50 II AO.
3.2 Vorgänge kraft Rechtsgeschäft, Pfändung Privatpersonen können nach § 46 I AO bestimmte Ansprüche, nämlich Ansprüche auf Erstattung 14 von Steuern, von Haftungsbeträgen und von steuerlichen Nebenleistungen (§ 37 II AO) sowie Ansprüche auf Steuervergütungen abtreten (§ 398 BGB), verpfänden (§ 1273 BGB) und pfänden (§§ 829; 835 ZPO). Die Abtretung wird erst wirksam, wenn der Gläubiger sie formgerecht der Finanzbehörde anzeigt (s. § 46 II, III AO; s. auch § 46 V AO)5. Der geschäftsmäßige Erwerb von Erstattungs- und Ver-
3 Zur fehlenden Gesamtrechtsnachfolge bei Ausgliederung oder Abspaltung nach § 123 II Nr. 2 UmwG s. BFH v. 7.8.2002 – I R 99/00, BStBl. II 2003, 835 (836); BFH v. 23.3.2005 – III R 20/03, BStBl. II 2006, 432 (433); BFH v. 5.11.2009 – IV R 29/08, BFHE 226, 492 (497 ff.); a.A. Leitzen, DStR 2009, 1853 (1855 f.); Podewils, GmbHR 2010, 163 (166 ff.); zur Erstreckung der Gesamtrechtsnachfolge im Erbfall auf die umsatzsteuerliche Unternehmereigenschaft s. BFH v. 13.1.2010 – V R 24/07, BStBl. II 2011, 241 (242 f.), m. Anm. Michel, DB 2010, 1275; von Cölln, BB 2010, 2032. 4 Halaczinsky, DStR 2006, 828; A. Müller, AO-StB 2006, 18; Vogt, DStR 2007, 1373; Hartman, ZEV 2009, 324. 5 Die Abtretungsanzeige soll Zweifeln darüber begegnen, an wen die Finanzbehörde schuldbefreiend leisten kann (s. BFH v. 13.11.2001 – VII R 107/00, BStBl. II 2002, 402; BFH v. 28.1.2014 – VII R 10/12, BStBl. II 2014, 507). Die Anzeige ist von der Abtretung zu unterscheiden (s. BFH v. 4.2.2005 – VII R 54/04, BStBl. II 2006, 348).
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§ 6 Rz. 15
Allgemeines Steuerschuldrecht
gütungsansprüchen zum Zwecke der Verwertung auf eigene Rechnung ist grds. nicht zulässig (§ 46 IV AO). Zur Pfändung s. auch § 46 VI, VII AO6. Leistungen aus dem Steuerschuldverhältnis gegenüber der Finanzbehörde können auch durch Dritte bewirkt werden (§ 48 I AO). Dritte können sich vertraglich verpflichten, für solche Leistungen einzustehen (§ 48 II AO), etwa um ein eigenes Recht oder den Besitz an Gegenständen nicht zu verlieren. In Betracht kommen kumulative (nicht private) Schuldübernahme7, Schuldversprechen, Garantievertrag, Bürgschaft8. 15 Wer sich vertraglich verpflichtet hat (§ 48 II AO), kann nur nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts in Anspruch genommen werden (§ 192 AO). Bei Nichterfüllung muss die Finanzbehörde vor dem Zivilgericht klagen. Erfüllt der Dritte in Ausübung eines Ablösungsrechts die Schuld, so geht der Anspruch als privatrechtlicher auf ihn über (s. §§ 268 III 1; 774; 1143 I 1; 1150; 1225 Satz 1; 1249 Satz 2 BGB)9.
4. Erlöschen 16 Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 I AO) erlöschen nach § 47 AO insb. durch Zahlung
(§§ 224; 224a; 225 AO, s. § 21 Rz. 320 f.), Aufrechnung (§ 226 AO, s. § 21 Rz. 322 ff.), Erlass (§§ 163; 227 AO, s. § 21 Rz. 329 ff.) und Verjährung (§§ 169–171 AO, s. § 21 Rz. 296 ff.; §§ 228–232 AO, s. § 21 Rz. 343 ff.), ferner durch Eintritt der Bedingung bei auflösend bedingten Ansprüchen (§ 50 AO)10. Von den steuerlichen Nebenleistungen i.S.d. § 3 IV AO (s. Rz. 4) existiert nur für Zinsen eine Festsetzungsverjährung (s. § 239 I AO); die Zahlungsverjährung der §§ 228 ff. AO ist dagegen auf alle Anspruche aus dem Steuerschuldverhältnis anwendbar (s. § 21 Rz. 343). § 47 AO regelt das Erlöschen nicht abschließend11. Ein weiterer Erlöschungsgrund ist die Rückgängigmachung von steuerlich relevanten Rechtsgeschäften mit dinglicher Wirkung (s. Rz. 25). Leistungen aus dem Steuerschuldverhältnis gegenüber der Finanzbehörde können auch dadurch erlöschen, dass sie durch Dritte bewirkt werden (§ 48 I AO). Dritte können sich vertraglich verpflichten, für solche Leistungen einzustehen (§ 48 II AO). Von dem Erlöschen eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis ist dessen Verwirkung (s. § 21 Rz. 14 ff.) zu unterscheiden. Ein verwirkter Anspruch ist zwar nicht erloschen, kann aber nach Treu und Glauben nicht mehr geltend gemacht werden.
5. Steueranspruch und Steuerschuld 17 Das Steuerschuldverhältnis umfasst alle in Rz. 4 aufgeführten „Ansprüche aus dem Steuerschuldver-
hältnis“ (§ 37 AO). Hauptanspruch des Steuerschuldverhältnisses ist der Steueranspruch als Kehrseite der Steuerschuld. 5.1 Steuergläubiger und Steuerschuldner 18 a) Steuergläubiger ist der Inhaber der Ertragshoheit (s. § 2 Rz. 5, 57 ff.). Im Falle von Gemeinschaft-
steuern liegt eine Mehrheit von Gläubigern (eine Gläubigergemeinschaft) vor. Die Regelung der Gläubigerseite im Grundgesetz hat zur Folge, dass der Steuergesetzgeber bei der Begründung eines 6 Zur zivilprozessualen Zwangsvollstreckung in Steuererstattungsansprüche Privater Fest, WM 2012, 1565; zur Pfändungs u. (Sicherungs-)Zession steuerlicher Erstattungs- u. Vergütungsansprüche Clausnitzer/Stumpf, BB 2015, 1377. 7 Durch (kumulative) Schuldübernahme eines Dritten wird der gesetzliche Steuerschuldner nicht frei. 8 Zur Bürgschaft Friedrich, StuW 1979, 259; Hogrefe, BB 2009, 27 (Anspruch des Steuerbürgen). 9 Dazu Stolterfoht, JZ 1975, 658. 10 Spielt im Verbrauchsteuerrecht eine Rolle (s. § 50 AO). 11 Zum Erlöschen eingehend mit Vergleichen zum anderen Sachbereichen des öffentlichen Rechts Kemmler, Geldschulden im öffentlichen Recht, 2015, 158 ff.
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5. Steueranspruch und Steuerschuld
Rz. 22 § 6
Steueranspruchs notwendig an eine ertragshoheitliche Verfassungsnorm anknüpfen muss; dadurch wird sein Steuererfindungsrecht begrenzt (s. § 2 Rz. 5). Für die Aufrechnung gilt als Gläubiger (oder – bei Steuervergütungen/-erstattungen – Schuldner) auch die Körperschaft, die die Steuer verwaltet (§ 226 IV AO), also die Inhaberin der Steuerverwaltungshoheit (Art. 108 GG, s. § 2 Rz. 73 ff.; § 21 Rz. 324). b) Steuerschuldner ist, wer durch Einzelsteuergesetz dazu bestimmt wird (s. auch § 43 Satz 1 AO). 19 Prinzipiell wird in den Steuergesetzen zum Steuerschuldner bestimmt, wer den Tatbestand verwirklicht, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft (s. auch § 38 AO). Jedoch gibt es Ausnahmen12. Dadurch wird es notwendig, den Steuerschuldner wie folgt zu bestimmen: „Steuerschuldner ist das Rechtssubjekt eines Steuergesetzes (Steuersubjekt), dem das Steuerobjekt (Steuergegenstand) dieses Gesetzes kraft gesetzlicher Anordnung zugerechnet wird.“ Idealiter sollte es ein Träger steuerlicher Leistungsfähigkeit (dazu § 3 Rz. 40 ff.) sein. Kein Steuerschuldner ist, wer die Steuer für Rechnung des Steuerschuldners einzubehalten und an das Finanzamt abzuführen (zu entrichten) hat; er ist Entrichtungspflichtiger (s. Rz. 7). 5.2 Entstehung des Steueranspruchs a) Der Steueranspruch entsteht, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leis- 20 tungspflicht knüpft (s. Rz. 11). Der Entstehungszeitpunkt wird i.d.R. durch die Einzelsteuergesetze konkretisiert (s. §§ 36 I; 37 I 2; 38 II 2; 44 I 2 EStG; § 30 KStG; §§ 18; 21 GewStG; § 9 II GrStG; § 9 ErbStG; § 13 UStG). Die Höhe des Steueranspruchs kann nicht nur durch die Gestaltung des realen Lebenssachverhalts, sondern auch durch Rechtsgestaltung, insb. durch Anträge oder Ausübung von Wahlrechten13, etwa bei Aufstellung der Bilanz, beeinflusst werden14. Auf den Willen, einen bestimmten Lebenssachverhalt zu gestalten, kommt es grds. nicht an; auch der Irrtum über steuerliche Folgen ist grds. unbeachtlich (s. aber Rz. 25 f.).
b) Dass der Steueranspruch kraft Gesetzes entsteht, bedeutet auch, dass er nicht kraft Verwaltungs- 21 akts oder kraft Vertrags entsteht15. Dadurch wird sichergestellt, dass für die Entstehungsfolgen (s. Rz. 22) der gleiche Stichtag für alle Stpfl. maßgeblich ist und der ganz unterschiedliche Zeitpunkt der Steuerfestsetzung keine Rolle spielt. Der Steuerbescheid, durch den die Steuer festgesetzt wird, ist deklaratorisch (rechtsfeststellend), soweit er lediglich dem Gesetz entsprechend den Steueranspruch konkretisiert. Er wirkt allerdings konstitutiv (rechtserzeugend – auf Grund der Wirkungen der Bestandskraft), soweit die festgesetzte Steuer über die gesetzliche Steuerschuld hinausgeht (s. § 21 Rz. 114). c) Rechtswirkungen der Anspruchsentstehung sind:
22
(1) Gehaftet wird prinzipiell nur für entstandene Steueransprüche (Akzessorietät der Haftung). Ausnahme: § 76 II AO; danach Haftung mit Beginn der Herstellung statt mit Entfernung aus dem Betrieb (= Anspruchsentstehung). (2) Die Festsetzungsfrist beginnt grds. mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist (§ 170 I AO, s. § 21 Rz. 299). (3) Der Anspruch, gegen den aufgerechnet (dazu § 21 Rz. 322 ff.) wird, muss entstanden sein (§ 226 I AO i.V.m. § 387 BGB). 12 Vgl. etwa die Lohnsteuerpauschalierung (§§ 40 ff. EStG): Steuerschuldner ist der Arbeitgeber (§§ 40 III 2; 40a V; 40b IV EStG), den Steuertatbestand verwirklicht aber der Arbeitnehmer (§ 19 I Nr. 1 EStG). 13 Dazu Gluth, Der Einfluß von Wahlrechten auf die Entstehung des Steueranspruchs, 1997; Kemmler, Geldschulden im öffentlichen Recht, Habil., 2015, 33 ff. 14 Dazu Klemp, Öffentlich-rechtliche Willenserklärungen Privater im Steuerrecht, Diss. Köln, 1971. 15 S. BFH v. 29.2.2012 – II R 19/10, BStBl. II 2012, 489 Rz. 19.
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§ 6 Rz. 23
Allgemeines Steuerschuldrecht
(4) Nur entstandene Steuerschulden gehen auf den Gesamtrechtsnachfolger über (§ 45 I AO). (5) Dinglicher Arrest ist ab Anspruchsentstehung zulässig, nicht erst ab Fälligkeit (§ 324 I AO). (6) Im Falle einer Insolvenz kann die Entstehung für die Zuordnung des Steueranspruchs als eine zur Insolvenztabelle anzumeldende (nur mit der Insolvenzquote zu befriedigende) Insolvenzforderung (§ 38 InsO) oder als später begründete, vorweg zu befriedigende Masseforderung (§§ 53; 55 InsO) relevant sein16. (7) Soweit keine Sondervorschriften bestehen, wird die Steuerschuld mit der Entstehung fällig (§ 220 II AO). (8) Entstehung der Steuerschuld beeinflusst die bilanzielle Behandlung. 23
d) Die Steuerschuld entsteht unabhängig von der Fälligkeit (zur Fälligkeit s. § 220 AO; s. § 21 Rz. 311).
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e) Der Steueranspruch entsteht durch Tatbestandserfüllung grds. unabänderlich. Ein realer Lebenssachverhalt (tatsächliches Geschehen) lässt sich nach seiner Verwirklichung ohnehin nicht mehr rückwirkend ändern. Tatsächliche Vorgänge sind z.B. Beförderung, Einfuhr, Inverkehrbringen.
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Von der Unabänderlichkeit gibt es jedoch Ausnahmen: (1) Die Steuergesetze knüpfen nicht nur unmittelbar an reale Lebenssachverhalte an, sondern häufig auch an Rechtsgeschäfte, Verwaltungsakte oder Rechtsverhältnisse des privaten oder öffentlichen Rechts. Solche Vorgänge lassen sich jedoch mit rückwirkender Kraft aufheben oder ändern, etwa durch Verwaltungsakt oder Gesetz, durch Anfechtung, Wegfall (Störung) der Geschäftsgrundlage, Gerichtsentscheidung. Soweit es sich um Fälle dinglicher Rückwirkung oder um ex tuncBeseitigung von Rechtsgeschäften handelt, greift § 41 AO („wird es unwirksam“) i.V.m. § 175 I 1 Nr. 2 AO (dazu § 21 Rz. 436) ein. Die Rückwirkung wird berücksichtigt. Sie wird jedoch nicht berücksichtigt, wenn es sich um eine Einwirkung nur durch schuldrechtliche Verträge handelt, denen rückwirkende Kraft beigelegt wird17. Von der „Rückgängigmachung“ durch schuldrechtlichen Vertrag ist die bloße Rückdatierung des Vertrages (= Einsetzen eines falschen Datums) und die Rückbeziehung des Vertrages (= Inkraftsetzen mit Rückwirkung) zu unterscheiden. In diesen Fällen entspricht die formelle Behandlung nicht der wirtschaftlichen Durchführung; auf die wirtschaftliche Durchführung kommt es aber an. Stornieren ist Aufheben einer Fehlbuchung durch Gegenbuchung (erforderlich, da Durchstreichen und Radieren unzulässig); es betrifft nur den Buchungsvorgang, nicht den rechtlichen oder wirtschaftlichen Vorgang, der der Buchung zugrunde liegt. Ausnahme: § 41 I AO ist nicht anzuwenden, „soweit sich aus den Steuergesetzen etwas anderes ergibt“ (§ 41 I 2 AO). Die h.M.18 nimmt unter Bezug auf § 41 I 2 AO an, dass § 41 I 1 2. Alt. AO („wird es unwirksam“) keinen Einfluss hat auf die Einkünfteermittlung durch Ertrag/Einnahmen oder Aufwand/Ausgaben. (2) Sonderfälle der Berücksichtigung rückgängig gemachter Rechtsgeschäfte regeln § 29 ErbStG; § 17 UStG; § 16 GrEStG; § 9 VersStG. 16 Allerdings fordert § 38 InsO für die Eigenschaft als Insolvenzforderung nur, dass der Vermögensanspruch zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens „begründet“ sein muss. Die Begründung kann schon vor der Entstehung des jeweiligen Steueranspruchs liegen, s. näher Sonnleitner, Insolvenzsteuerrecht, 2017, Kap. 3, Rz. 55 ff. 17 Dazu Beker, Die Einwirkung der Rückgängigmachung von Rechtsgeschäften auf Steueransprüche, Diss., 1965, wesentlicher Inhalt veröffentlicht unter dem Titel „Hinfällige Rechtsgeschäfte im Steuerrecht“, 1969. 18 Dazu Tipke/Kruse/Loose, § 175 AO Rz. 33 ff.
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5. Steueranspruch und Steuerschuld
Rz. 28 § 6
f) Ob sog. Steuerklauseln geeignet sind, die Steuerschuld rückwirkend zu beeinflussen, ist umstrit- 26 ten19. U.E. sind Steuerklauseln unechte Gegenwartsedingungen, die einem bürgerlich-rechtlichen Vertrag hinzugefügt werden; die Gültigkeit des Vertrags wird davon abhängig gemacht, dass die steuerlichen Folgen, von denen die Parteien ausgehen, – gemessen an der Steuerfestsetzung des Finanzamts – zutreffen. Treffen sie nicht zu, folgt das Finanzamt der Rechtsauffassung des Stpfl. nicht, so ist der Vertrag von vornherein unwirksam. Wird er nicht durchgeführt, so ergeben sich aus ihm keine steuerlichen Folgen (arg. § 41 I AO). Der Bescheid ist dann nach § 175 I 1 Nr. 2 AO zu korrigieren (s. § 21 Rz. 436). Allerdings hat der BFH eine Steuerklausel nur dann für wirksam gehalten, wenn sie dem Finanzamt vor dessen Entscheidung bekannt gegeben worden ist20. 5.3 Der Entstehungstatbestand des Steueranspruchs (Steuertatbestand) Literatur: Hensel, Steuerrecht3, 1933, 56 ff.; J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, Ein Beitrag zur Lehre vom Steuertatbestand, 1974; Hahn, Die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung in rechtsvergleichender Sicht, Diss., 1984; Tipke, Von der formalen zur materialen Tatbestandslehre, StuW 1993, 105; Burmester, Begriff und Funktion des Steuergutes im Steuerrecht, StuW 1993, 221; von Groll, Zur mittelbaren Tatbestandsverwirklichung im Steuerrecht, StuW 1995, 326; Tipke, Das Steuerrechtsverhältnis und seine Elemente, in FS Höhn, 1995, 401; Waldhoff, Struktur und Funktion des Steuertatbestandes, in FS Spindler, 2011, 853; Tipke, StRO III2, 1316 ff.
5.3.1 Begriff Der Steuertatbestand ist der Inbegriff der Tatbestandsmerkmale, die das Entstehen des Steuer- 27 anspruchs begründen. Die Steuertatbestände sind durchweg überaus kompliziert (s. § 5 Rz. 46 ff.) und pflegen sich aus zahlreichen positiven (steuerbegründenden, steuererhöhenden) und negativen (steuermindernden) Elementen zusammenzusetzen. Während der strafrechtliche Tatbestand sich meist in einem oder wenigen Paragraphen ausdrücken lässt, benötigt das Steuerrecht für einen Tatbestand durchweg ein ganzes Gesetz (Beispiel: Einkommen-, Umsatzsteuergesetz). Alle Gesetze sind von zahlreichen Ausnahmebestimmungen durchsetzt. 28
Folgende Ausnahmebestimmungen sind zu unterscheiden: a) Formelle oder technische: Sie betreffen Fälle, in denen der Wortlaut des Grund- oder Regeltatbestands, gemessen am Steuerwürdigkeitsprinzip, das der Gesetzgeber gesetzlich realisieren möchte, zu weit ist, so dass weitere Vorschriften erforderlich sind, die den Grundtatbestand auf das Prinzip reduzieren (sog. „Ausgrenzungs“-Befreiungen); b) scheinbare: Sie ordnen nichts an, was vom Grundtatbestand differiert oder ihm gar zuwiderläuft. Vielmehr detaillieren, präzisieren, differenzieren oder deklarieren sie den prinzipiellen Grundtatbestand (der meist eine Steuerwürdigkeitsentscheidung enthält), ohne dessen Rahmen zu sprengen; c) echte oder inhaltliche: Sie weichen inhaltlich von der Regelvorschrift des Grundtatbestands und dem darin statuierten Prinzip ab oder laufen ihm gar zuwider. Häufig handelt es sich um Interventionsnormen oder um Vereinfachungsnormen. 19 Zum Streitstand Piltz, FS Spindler, 2011, 693 (699 ff.); Haase, StuW 2012, 148: tripolares Rechtsverhältnis sui generis; Endert, StuW 2014, 106 (111 f.); Kamchen/Kling, NWB 2017, 1355; BFH v. 20.8.2008 – I R 29/07, BStBl. II 2010, 142 (145) setzt die Zulässigkeit einer Steuerklausel immerhin inzident voraus (wohl auch BFH v. 28.10.2009 – IX R 17/09, BStBl. II 2010, 539 [540]); ausf. zum Problem Kober, Steuer- und Satzungsklauseln, Diss., 2006. 20 BFH v. 24.11.1992 – IX R 30/88, BStBl. 1993, 296 (297); Bsp. für eine Steuerklausel: Teilbetriebsveräußerung unter der auflösenden Bedingung, dass die Finanzbehörde die ermäßigte Besteuerung nach den §§ 16 I 1 Nr. 1; 34 EStG anerkennt (vgl. BFH v. 19.8.2003 – VIII R 67/02, BStBl. II 2004, 107); zum Unternehmenskauf s. Hülsmann, DStR 2008, 2402; Ott, DStZ 2009, 90; Heinrichshofen, FS Spiegelberger, 2009, 198 (zur USt); Dietrich, Ubg. 2010, 712; zu Gesellschaftsverträgen Carlé/Demuth, KÖSDI 2008, 15979; Eßers/Sirchich von Kis-Sira, StbJb. 2009/2010, 89; Querschnittsdarstellung: Wollweber, FS Streck, 2011, 275; Wollweber, AG 2013, 796.
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§ 6 Rz. 29 29
Allgemeines Steuerschuldrecht
Werden die Merkmale des gesetzlichen Steuertatbestands bewusst nicht erfüllt, so werden sie vermieden; man spricht von Steuervermeidung, sie ist legal. Eine systematisch betriebene Steuervermeidung oder Steuerverminderung verlangt Steuerplanung. Von der Steuervermeidung ist die Steuerumgehung (§ 42 AO) zu unterscheiden; die Umgehung wird so behandelt, als sei das Gesetz nicht umgangen worden (s. § 5 Rz. 116 ff.). Werden die Merkmale des Steuertatbestands zwar erfüllt, der Finanzbehörde aber vorsätzlich verschwiegen oder leichtfertig vorenthalten, so liegt Steuerhinterziehung oder leichtfertige Steuerverkürzung (§§ 370; 378 AO, dazu § 23 Rz. 20 ff., 90 ff.) vor. Sie ist illegal. Steuerflucht21 ist dagegen kein präziser Begriff. Steuerflucht besteht in einem Verhalten, das bewirkt, dass das Steuerfluchtland den Zugriff auf das Steuergut verliert, das Steuerzufluchtland (i.d.R. ein Niedrigsteuerland) ihn erhält. Steuerflucht kann Steuervermeidung, Steuerumgehung oder Steuerhinterziehung sein.
5.3.2 Das Steuersubjekt und die Steuerrechtsfähigkeit 30
Steuersubjekt (hier i.S.v. Steuerschuldner) ist das Rechtssubjekt eines Steuergesetzes, dem ein Steuerobjekt und die damit verbundene Steuerschuld zugerechnet wird (s. Rz. 42). Als Steuersubjekte kommen in Betracht: Einzelpersonen, Haushalte (nicht nach deutschem Recht), Personen-, Kapitalgesellschaften, Genossenschaften22, nicht rechtsfähige Personenvereinigungen, Unternehmen beliebiger Rechtsform, überhaupt alle Gebilde, die etwas erwirtschaften und/oder über Wirtschaftsgüter verfügen, die m.a.W. wirtschaftlich leistungsfähig sind.
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Die Eigenschaft als Steuersubjekt führt zur Steuerrechtsfähigkeit. Die AO verwendet diesen Begriff nicht. Da im Steuerrechtsverhältnis die Pflichten gänzlich überwiegen, spricht sie vom „Steuerpflichtigen“ (§ 33 AO). Der Stpfl. ist zugleich steuerrechtsfähig. Die Steuerrechtsfähigkeit ist eine von der BGB-Rechtsfähigkeit unabhängige Sonder-Rechtsfähigkeit. Steuerperson kann jedes Subjekt sein, das sich dazu eignet, steuergesetzliche Rechte und Pflichten zu übernehmen. Im Steuerrecht geht es darum, solche Gebilde zu Steuerrechtssubjekten zu deklarieren, in denen sich wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verkörpert (Beispiele: EStG, KStG) oder über die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erfasst werden kann (Beispiele: UStG, besondere Verbrauchsteuergesetze).
32
Im Steuerrecht sind die steuerrechtsfähigen Subjekte23 nicht allgemein bestimmt, ihr Kreis ist je nach Einzelsteuergesetz (Steuerart) verschieden. Je nach Einzelsteuergesetz können auch (bürgerlichrechtlich) nichtrechtsfähige Personenvereinigungen und Vermögensmassen steuerrechtsfähig sein (s. etwa § 34 AO; § 1 I Nr. 5 KStG; § 2 I UStG). Beispiele: Steuerrechtsfähig sind z.B. bei der Einkommensteuer: natürliche Personen (§ 1 EStG, s. § 8 Rz. 20); Körperschaftsteuer: insb. juristische Personen, auch nichtrechtsfähige Vereine, Anstalten, Stiftungen und andere Zweckvermögen (§ 1 KStG, s. § 11 Rz. 23 ff.); Umsatzsteuer: Unternehmer, gleich in welcher Rechtsform das Unternehmen betrieben wird, z.B. auch BGB-Gesellschaften und Personengesellschaften des Handelsrechts (s. § 2 I UStG, s. § 17 Rz. 33 ff.).
33
Aus Gründen prinzipieller Wettbewerbsneutralität des Steuerrechts sind die gewerblichen Betriebe von Körperschaften des öffentlichen Rechts zu steuerrechtsfähigen Personen erhoben und den privaten Gewerbebetrieben gleichgestellt worden (s. § 11 Rz. 28).
34
Bei natürlichen Personen beginnt die Steuerrechtsfähigkeit mit der Geburt; sie endet mit dem Tode (bei Verschollenheit s. die Todestagsfiktion des § 49 AO). Bei juristischen Personen ist im Einzelfall zu prüfen, wann die Steuerrechtsfähigkeit beginnt und endet. Das Steuerrecht kann hier vom Zivil21 Dazu Bürger, Steuerflucht, Diss., 2006. 22 Dazu P. Kirchhof, Die Eigenständigkeit der Genossenschaft als Steuerrechtssubjekt, 1980. 23 Eingehend Palm, Person im Ertragsteuerrecht, Habil., 2013, 152 ff.; Palm, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 157.
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Seer
5. Steueranspruch und Steuerschuld
Rz. 40 § 6
recht abweichen. So kann z.B. die Steuerrechtsfähigkeit vor dem zivilrechtlichen Entstehen der juristischen Person beginnen (s. § 11 Rz. 26). Werden aus der allgemeinen Bestimmung des Kreises der Steuerschuldner bestimmte Steuerschuld- 35 ner eliminiert, so dass ihnen das Steuerobjekt nicht zugerechnet wird und folglich die angeordnete Rechtsfolge für sie (ausnahmsweise) nicht eintritt, so spricht man von subjektiver oder persönlicher Steuerbefreiung (Beispiele: § 5 KStG; § 3 GewStG). 5.3.3 Das Steuerobjekt Das Steuerobjekt (= Steuergegenstand) erfasst das Steuergut24 (oder Besteuerungsgut), das der Ge- 36 setzgeber als besteuerungswürdig erkannt und rechtlich normiert hat. Durch die rechtliche Normierung wird das Steuergut zum Steuerobjekt. Steuerobjekt ist das Steuergut mit dem Inhalt und Umfang der Tatbestandsverwirklichung. Zum Steuerobjekt gehören auch Bestimmungen, die bei periodischen Steuern das Steuergut zeitlich abgrenzen (zum Periodizitätsprinzip s. § 3 Rz. 80). Die Steuergesetze pflegen die Begriffe „Steuergegenstand“ (z.B. Überschriften zu §§ 1 ff. UStG; § 2 GewStG; § 2 GrStG; §§ 1; 2 GrEStG; § 1 KraftStG), „steuerbar“ (z.B. Überschrift zu § 1 UStG), aber auch „steuerpflichtig“ (z.B. Überschrift zu § 1 ErbStG) zu verwenden. Tatbestandstechnisch wird das Steuergut in ganz unterschiedlicher Weise erfasst, als Vorgänge wie z.B. das Einkommen, der Erwerb von Todes wegen, die Schenkung, der Umsatz oder als körperliche Gegenstände wie das Vermögen, der Grundbesitz, Güter des Verbrauchs wie Mineralöle, Tabakwaren, Bier etc. oder als Handlungen wie das Halten eines Kraftfahrzeugs, eines Hundes, einer Zweitwohnung, die Benutzung von Spielautomaten, Tanzveranstaltungen, Schönheitstänze und andere Vergnügungen. Diese unterschiedliche tatbestandliche Anknüpfung darf indessen nicht den Blick dafür verstellen, dass die Steuer stets einen Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit belasten will, entweder Einkommen, Vermögen oder Konsum (s. § 3 Rz. 55 ff.). Unter diesem Aspekt der Steuergerechtigkeit sind die einzelnen Steuerobjekte unbeschadet ihrer tatbestandstechnischen Anknüpfung zu beurteilen25. Deswegen ist es verfehlt, eine „steuerbare Handlung“ dogmatisch in den Mittelpunkt der Lehre vom Steuergegenstand stellen zu wollen26. Stpfl. werden nicht wegen ihrer Handlungen besteuert, sondern wegen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, über die sie, aus welchem Grunde auch immer, verfügen.
37
Das Steuerobjekt erfasst nicht selten, etwa aus technischen Gründen, das Steuergut nicht zur Gänze. So 38 bleibt das auf sieben Einkunftsarten (§ 2 I EStG) begrenzte Steuerobjekt „Einkommen“ hinter dem Steuergut „Einkommen“ zurück. Steuerobjekt und Steuergut können aus technischen Gründen auch ganz auseinander fallen27. So ist Steuergut der Umsatzsteuer der Verbrauch oder Aufwand durch Nichtunternehmer. Steuerobjekt ist aber der Umsatz der Unternehmer (dazu § 17 Rz. 84 ff.). – Juristen neigen dazu, die steuertechnische Anknüpfung für das Wesentliche zu halten oder sie mit dem steuerwirtschaftlichen Tatbestand oder Steuergut zu identifizieren oder zu vermengen.
Der Gesetzgeber muss solche Steuergüter erfassen, die wirkliche Indikatoren der steuerlichen Leis- 39 tungsfähigkeit (dazu § 3 Rz. 52 ff.) sind, und zwar muss er sie im Interesse einer gleichmäßigen Besteuerung möglichst voll erfassen. Das quantifizierte Steuerobjekt ist die Steuerbemessungsgrundlage (s. Rz. 44 f.). Quantifizierte Be- 40 rechnungsgrundlagen von Teilen des Steuerobjekts bezeichnet man auch als Besteuerungsgrundlagen (Beispiele: Einkünfte bei der Einkommensteuer, aber auch Einnahmen, Werbungskosten, Sonderausgaben; Gewerbeertrag bei der Gewerbesteuer). 24 Dazu ausf. Burmester, StuW 1993, 221. 25 Dazu Tipke, StuW 1993, 105; Tipke, FS Höhn, 1995, 401. 26 So etwa die Lehre von Bayer, Steuerlehre, 1998, Rz. 503 f.; dagegen etwa Hey, StuW 1998, 285 (286 f.); Waldhoff, FS Spindler, 2011, 853 (862 f.): Die Handlung kann nur für die Zurechnung des Steuerobjekts (s. Rz. 42) relevant sein. 27 Dazu Haaser, Die wirtschaftliche und juristische Bedeutung der Lehre vom Steuertatbestand, Diss., 1937.
Seer 257
§ 6 Rz. 41
Allgemeines Steuerschuldrecht
Die Terminologie ist jedoch nicht gesichert. Auch die Steuerbemessungsgrundlage (s. Rz. 44 f.) wird nicht selten als Besteuerungsgrundlage bezeichnet. § 199 I AO enthält für das Besteuerungsverfahren eine eigenständige Definition des Begriffs der Besteuerungsgrundlage (s. § 21 Rz. 118 f.). Statt von „Besteuerungsgrundlage“ wird in der Literatur auch von „Steuermerkmal“ oder „Steuerfaktor“ gesprochen. 41
Werden aus dem Grundtatbestand i.e.S. besondere Tatbestände eliminiert, so dass die angeordnete Rechtsfolge für einen Teil des Steuerobjekts (ausnahmsweise) nicht eintritt, so spricht man von objektiver oder sachlicher Steuerbefreiung. Beispiele: §§ 3 ff. EStG; §§ 4 ff. UStG; § 18 RennwLottG; § 4 VersStG; § 3 KraftStG; § 23 BierStG; § 23 SchaumwZwStG. Eine Steuerbefreiung kann aus Gründen fehlender steuerlicher Leistungsfähigkeit ausgesprochen sein, sie kann aber auch Vereinfachungsbefreiung oder Sozial-/Lenkungszweckbefreiung (s. § 3 Rz. 21) sein. Eine Befreiung eigener Art, die in mehreren Steuergesetzen wiederkehrt, ist die Befreiung wegen ausschließlicher und unmittelbarer Verfolgung gemeinnütziger, mildtätiger oder kirchlicher Zwecke durch Körperschaften (z.B. § 5 I Nr. 9 KStG; § 3 Nr. 6 GewStG; § 3 I Nr. 3b GrStG; § 4 Nr. 18 UStG; s. dazu § 20).
5.3.4 Die Zurechnung 42
Durch sie wird festgelegt, welchem Steuerschuldner das Steuerobjekt zuzurechnen (zuzuordnen) ist. Durchweg ergibt sich die Zurechnung aus dem oder in Zusammenhang mit der Bestimmung des Steuerschuldners selbst; die Bestimmung des Steuerschuldners wiederum orientiert sich i.d.R. am Steuerobjekt. Das Einkommensteuergesetz schreibt inhaltlich vor: Natürliche Personen haben das von ihnen erzielte Einkommen zu versteuern. Die Zurechnung wird hier durch den Tatbestand des Erzielens (s. § 8 Rz. 121 ff.) hergestellt. Der Einkommensbezieher ist Steuerschuldner, ihm wird das Einkommen zugerechnet. Bei Einkommensverlagerungen kann sich die Zurechnung komplizieren (s. § 8 Rz. 150 ff.).
Allgemeine Zurechnungsnormen sind § 39 AO und bestimmte Vorschriften des Bewertungsgesetzes28. Zahlreich sind die Spezialnormen, die die Zurechnung für Teile des Steuerobjekts (z.B. §§ 22 Nr. 1 Satz 2; 24 EStG; § 14 KStG; § 7 AStG) oder für eine bestimmte Steuerperiode (z.B. § 11 EStG) bestimmen. 5.3.5 Die abstrakten Merkmale des inländischen Steuerschuldverhältnisses 43
Sie bestimmen die Grenzen der Zugehörigkeit zur inländischen Steuergewalt. Allgemein wird unterschieden zwischen unbeschränkter Steuerpflicht (s. §§ 1 I, II EStG; 1 KStG), die an den Wohnsitz (§ 8 AO) oder gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO), die Geschäftsleitung (§ 10 AO) oder den Sitz (§ 11 AO) anknüpft (persönliche Zugehörigkeit) und in einer Zurechnung des vollen Steuerobjekts besteht, gleich, ob es inlands- oder auslandsradiziert ist, und der beschränkten Steuerpflicht (§§ 1 IV; 49 ff. EStG; 2 KStG), die nur das inlandsradizierte Steuerobjekt erfasst (wirtschaftliche Zugehörigkeit). Zum Ganzen s. § 1 Rz. 87 f. 5.3.6 Die Steuerbemessungsgrundlage
44
Die Steuerbemessungsgrundlage29 bilden diejenigen Normen, die das Steuerobjekt als Ganzes quantifizieren. Der numerische Charakter der Steuer setzt voraus, dass das, was zu besteuern ist, in einer Zahl ausgedrückt wird. Das geschieht durch die Steuerbemessungsgrundlage (Besteuerungsgrundlage, Steuermaßstab, maßgeblicher Wert). Die Steuergesetze verwenden unterschiedliche Begriffe. Mehrere Steuergesetze sehen überhaupt von der Verwendung eines besonderen Begriffs für die Quantifizierung des Steuertatbestands ab.
28 §§ 3 Satz 1; 26; 34 IV–VI; 70 II; 94 I; 97 Ia BewG sowie verfahrensrechtlich die Zurechnungsfortschreibung (§ 22 II BewG). 29 Dazu Drüen, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 158.
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Seer
5. Steueranspruch und Steuerschuld
Rz. 49 § 6
Der Begriff „Besteuerungsgrundlage“ für Steuerbemessungsgrundlage sollte vermieden werden; seine Bedeutung ist auch in der Abgabenordnung nicht gesichert (s. Rz. 40; §§ 157 II; 162 I; 163 I; 199 I AO).
Zu unterscheiden sind Steuerbemessungsgrundlagen, die an den Wert des Merkmals eines Steuer- 45 objekts anknüpfen (Wert, Entgelt, Gegenleistung), und technische Bemessungsgrundlagen (Stückzahl, Menge, Gewicht, Hohlmaß, Flächenmaß). Die Bemessungsgrundlage setzt sich aus einzelnen Faktoren, die die Grundlage erhöhen oder mindern, zusammen. Lückenhafte oder durch Steuervergünstigungen geminderte Bemessungsgrundlagen können die tarifliche Belastungsentscheidung verzerren, so z.B. die Nichterfassung privater Veräußerungseinkünfte außerhalb der Fristen des § 23 I 1 EStG oder erhöhte Absetzungen und Sonderabschreibungen (§§ 7a ff. EStG). Umgekehrt kann die Nichtberücksichtigung leistungsfähigkeitsmindernder Umstände eine u.U. verfassungswidrig zu hohe Besteuerung bewirken wie im Falle der Verletzung des Nettoprinzips (s. § 8 Rz. 42 f.). Ohne eine leistungsfähigkeitsgerechte Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer kann ein Einkommensteuertarif nicht fair sein (zu den Reformvorschlägen s. § 7 Rz. 70 ff.). 5.3.7 Der Steuersatz Das ist diejenige Größe, aus der sich der Steuerbetrag in Bezug auf die Steuerbemessungsgrundlage 46 ergibt. Er ist die funktionelle Beziehung zwischen Steuerbemessungsgrundlage und Steuerbetrag. Der Steuersatz ist entweder – meist bei technischen Steuereinheiten – ein fester Geldbetrag, bezogen auf eine bestimmte Größe der Bemessungsgrundlage, oder – bei der Mehrheit der Steuern – ein Prozent- bzw. Promillesatz. Die Steuergesetze bezeichnen eine Mehrheit von Steuersätzen als Steuertarif. So die Überschriften zu Abschnitt IV EStG, III KStG. Die Bezeichnung ist allerdings nicht konsequent durchgeführt (vgl. z.B. § 19 ErbStG).
Der Tarif kann sein: proportional (Steuersatz bleibt gleich), progressiv (Steuersatz steigt mit wach- 47 sender Bemessungsgrundlage) oder regressiv (Steuersatz fällt mit wachsender Bemessungsgrundlage). Diese Tariftypen können auch kombiniert werden. Die aktuellen Steuern sind unterschiedlich angelegt. Die Einkommensteuer ist progressiv (s. § 8 Rz. 800 ff.), die Körperschaftsteuer proportional (s. § 11 Rz. 110), die Erbschaftsteuer progressiv (s. § 15 Rz. 136 ff.; sie nimmt aber auch Rücksicht auf den Verwandtschaftsgrad). Ein regressiver Tarif widerspricht der vertikalen Steuergerechtigkeit30. Trotz ihrer proportionalen Ausgestaltung ist den verfassungskonformen indirekten Verbrauchsteuern eine regressive Wirkung immanent. Aus der Anwendung des Steuersatzes ergibt sich die Steuerschuld, die durch zwei Arten von Steu- 48 erermäßigungen modifiziert wird: Tarifermäßigungen sehen für besondere Fälle einen milderen Steuersatz vor31 und Steuerbetragsermäßigungen sind Abzüge von der Steuerschuld32. 5.3.8 Die Steuervergünstigungen Die Steuervergünstigungen33 gehören zu den Sozialzwecknormen (s. § 3 Rz. 21 f.: Lenkungs-/Um- 49 verteilungsnormen). Begriffe wie „Steuervergünstigung“, „-vorteil“ oder „-erleichterung“ werden irreführend oft als Sammel- oder Oberbegriffe für alle die Steuerbemessungsgrundlage und/oder die 30 BVerfG v. 15.1.2014 – 1 BvR 1656/09, BVerfGE 135, 126 Rz. 55 zu einer regressiv ausgestalteten Zweitwohnungsteuer (s. § 2 Rz. 48). 31 Z.B. der ermäßigte Umsatzsteuersatz (§ 12 II UStG; dazu § 17 Rz. 277). Zur Ermäßigungstechnik des § 34 EStG s. § 8 Rz. 820 ff. 32 Z.B. § 34g EStG: Ermäßigung der tariflichen Einkommensteuer um 50 % der Spenden an politische Parteien/Wählervereinigungen bis 825 Euro/Ehegatten: 1 650 Euro (s. § 20 Rz. 21); z.B. § 35a EStG: Ermäßigungen für haushaltsnahe Beschäftigungsverhältnisse, Dienst- u. Handwerkerleistungen. 33 Dazu J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, Diss., 1974; Jochum, Die Steuervergünstigung, Diss., 2006; Reinke, Die Identifikation der Steuervergünstigung, Diss., 2006; Fann, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Steuervergünstigung, Diss., 2009; zu den europarechtlichen Grenzen s.
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§ 6 Rz. 50
Allgemeines Steuerschuldrecht
Steuerschuld mindernden Normen mit Ausnahmecharakter verwendet. Terminologisch sind die folgenden Typen zu unterscheiden: Steuerbefreiungen nehmen bestimmte Steuersubjekte (s. Rz. 35, persönliche Steuerbefreiung) oder Teile des Steuerguts (s. Rz. 36, sachliche Steuerbefreiung) zur Lenkung oder Umverteilung vom weiterreichenden Ausgangstatbestand aus34. Steuerermäßigungen wirken auf der Tarifebene oder durch Abzug von der Steuerschuld (s. Rz. 48). Bewertungsfreiheiten und Sonderabschreibungen gestehen dem Stpfl. für Wirtschaftsgüter einen von der Grundregel des § 7 EStG abweichenden niedrigeren Bewertungsansatz zu (s. § 9 Rz. 335 ff.). Freibeträge klammern einen (festen oder abschmelzenden) Betrag von der Bemessungsgrundlage aus35. Freigrenzen statuieren jeweils eine Obergrenze, bis zu der bestimmte Bezüge nicht angesetzt werden (z.B. § 22 Nr. 3 Satz 2, § 23 III 5 EStG) oder ein bestimmter Aufwand abgezogen wird (s. § 4 V Satz 1 Nr. 1 Satz 2 EStG); wird die Freigrenze auch nur um 1 Euro überschritten, fällt die Erleichterung in vollem Umfang weg36. 50
Tatsächlich ist es nicht gerechtfertigt, Abzüge, die die Bemessungsgrundlage wegen verminderter Leistungsfähigkeit mindern (wie Betriebsausgaben/Werbungskosten, Sonderausgaben, persönliche Freibeträge), als Vergünstigungen zu bezeichnen. Auch die Einordnung der Steuervergütungen (s. Rz. 86 ff.) als Vergünstigungen durch § 178 II Nr. 3 Buchst. a AO erscheint verfehlt. Der Begriff „Steuervergünstigung“ sollte auf solche Vorschriften beschränkt werden, die den Stpfl. in Durchbrechung des steuerartbegründenden Prinzips, insb. in Durchbrechung des Leistungsfähigkeitsprinzips, bevorzugen wollen und bevorzugen. Unerheblich für die Qualifizierung als Vergünstigung ist die angewendete Technik; unerheblich ist auch, wie hoch die Zahl der Begünstigten ist. Setzt etwa der Deutsche Gewerkschaftsbund für alle Arbeitnehmer einen durch das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht gerechtfertigten Freibetrag durch, so ist trotz der hohen Zahl der Begünstigten eine Vergünstigung gegeben. Geschieht die Vergünstigung ohne zureichende Rechtfertigung, so handelt es sich um ein Privileg oder Steuergeschenk. Nicht gerechtfertigt sind Steuervergünstigungen, die einer Gruppe von Stpfl. nur um der Vorteile dieser Gruppe willen gewährt werden, nicht aber (mittelbar) aus Gemeinwohlgründen37. Was nicht (be-)steuerbar ist, kann verdeckte Begünstigung oder Privilegierung sein.
51
Danach sind insb. die aus sozialen, wirtschaftlichen oder aus anderen Gemeinwohlgründen gewährten Steuervorteile Steuervergünstigungen. Insb. werden auch die aus Gründen der Gemeinnützigkeit gewährten Steuervorteile (§§ 51 ff. AO; dazu § 20 Rz. 1 ff.) mit Recht als Steuervergünstigungen bezeichnet38.
52
Steuervergünstigungen haben mit der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit nichts zu tun. Durch sie wird keine Steuerwürdigkeitsentscheidung getroffen, sondern ein sozialer oder wirtschaftlicher Lenkungszweck,
34
35 36 37 38
Kemper, Nationale Steuervergünstigungshoheit und Europarecht, Diss., 2009; sowie § 4 Rz. 115 ff. und im Besonderen §§ 19, 20. Dagegen schränken Fiskalzweck-/Ausgrenzungsbefreiungen den Steuertatbestand nur scheinbar ein; sie führen vielmehr einen (überschießenden) Ausgangstatbestand auf den eigentlichen materiellen Belastungsgrund zurück (s. auch Rz. 28). Von Sozialzweckbefreiungen sind außerdem Vereinfachungszweckbefreiungen zu unterscheiden (s. auch § 3 Rz. 23 f.); sie machen den Steuertatbestand in den steuerlichen Massenverfahren überhaupt erst operabel und dienen damit der Verwirklichung des Fiskalzwecks in der Realität. Bsp.: §§ 3 Nr. 26; 13 III; 16 IV; 17 III; 32 VI EStG; zum Kinderfreibetrag s. § 8 Rz. 91 ff.; allg. Knief, Steuerfreibeträge als Instrumente der Finanzpolitik, 1968; Traxel, Die Freibeträge des Einkommensteuerrechts, Diss., 1986. S. Luck, Alles oder Nichts – Die Freigrenze im Steuerrecht, Diss., 2014, 36. Tipke, StuW 1980, 286 (288). Dazu ausf. J. Lang, StuW 1987, 221 ff.; zum Stand u. zu Reformfragen des Gemeinnützigkeitsrechts als „organisationsbezogener Förderungstatbestand“ s. Hüttemann, FR 2016, 969 ff.; zur davon zu unterscheidenden steuerlichen Begünstigung von Religionsgemeinschaften s. Clasen, Steuervergünstigungen von Religionsgemeinschaften, Diss., 2014.
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5. Steueranspruch und Steuerschuld
Rz. 57 § 6
kein Besteuerungszweck verfolgt. Da die in die Steuergesetze eingestreuten Lenkungsvorschriften innerlich nichts mit der Besteuerung zu tun haben, können sie auch nicht an Prinzipien der Steuergerechtigkeit gemessen werden (s. daher das Sonderkapitel § 19). Von Steuervergünstigungen zu sprechen, ist nur deshalb gerechtfertigt, weil es sich um Vergünstigungen handelt, die in Steuergesetze eingestreut sind. Da sie mangels Offenlegung im Haushaltsplan nach Tendenz und Effekt für die Öffentlichkeit und selbst für viele Parlamentarier nicht klar erkennbar, der Erfolgskontrolle im Rahmen der jährlichen Haushaltsberatungen entzogen sind, nennt man diese Vergünstigungen auch verschleierte, verdeckte, unsichtbare oder indirekte Subventionen39.
Das Pendant zu den Steuervergünstigungen sind die Steuerbenachteiligungen; das sind steuerbelas- 53 tende Ausnahmevorschriften, sie wirken wie Prohibitivabgaben. Ungerechtfertigte Steuerbenachteiligungen sind Steuerdiskriminierungen. 5.4 Konkurrenz der Steuertatbestände oder Steueransprüche Wird ein Steuersubjekt im gleichen Zeitraum mit demselben Steuerobjekt mehrfach zu einer Steuer 54 herangezogen, so liegt eine Doppelbesteuerung (Mehrfachbesteuerung) vor. Die Doppelbesteuerung ist mit der strafrechtlichen Idealkonkurrenz vergleichbar. Dementsprechend ist Doppelbesteuerung die mehrfache Erfassung ein und desselben Steuergutes durch die Steuerobjekte verschiedener Steuergesetze oder durch das Steuerobjekt eines Gesetzes40. Die h.L. spricht von Doppelbesteuerung nur bei Schuldneridentität. Sie spricht von Doppelbelastung, wenn ein und dasselbe wirtschaftliche Substrat belastet wird, ohne dass die Schuldner identisch sind.
Die Krux der Untersuchungen über die Frage, ob eine Doppelbesteuerung vorliegt, besteht darin, 55 dass unter Vernachlässigung des Vergleichszwecks bloße Steuertechniken hauptsächlich ins Auge gefasst, die Steuerwirkungen aber vernachlässigt oder nur sekundär berücksichtigt wurden (etwa weil Juristen irrtümlich annahmen, sonst die Grenze zur Finanzwissenschaft zu überschreiten). Auf formaljuristische oder tatbestandstechnische Übereinstimmungen (auf die Steuerobjekte) kann es aber nicht ankommen. Da die Belastungswirkungen sich aus dem Steuergut ergeben, sind die Steuergüter zu vergleichen. Sie verkörpern den besteuerungswürdigen, eine bestimmte Steuerkraft repräsentierenden Sachverhalt, die Quelle der Leistungsfähigkeit. Geprüft werden muss, ob die Steuer die gleiche Quelle steuerlicher Leistungsfähigkeit (erzieltes oder verwendetes Einkommen, Vermögen, Bereicherung durch Erbschaft/Schenkung) „anzapft“ und ob sie die gleiche Wirkung auf Konsum, Investition, Sparen hat. Beispiele für Belastung durch mehrere Steuergesetze: Mehrfachbesteuerung des Verbrauchs oder Aufwands mit Umsatzsteuer und speziellen Verbrauchsteuern41; Doppelbelastung des Kfz-Aufwands durch Kraftfahrzeugsteuer und Energiesteuer.
Die Mehrfacherfassung führt zur Mehrfachbelastung des nämlichen Steuerguts. Auf die Identität des Steuerschuldners und der Steuerperiode kommt es nicht an. Damit entfällt die übliche Unterscheidung zwischen Doppelbesteuerung und Doppelbelastung. Dasselbe Steuergut belasten auch Steuern, die das BVerfG als ungleichartig i.S.d. Art. 105 IIa GG beurteilt. Der vom BVerfG angestellte Vergleich der steuerbegründenden Tatbestände ist so spezifisch, dass vor allem Doppelbelastungen durch die Umsatzsteuer und die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern durchgängig in Kauf genommen werden (s. § 2 Rz. 51).
56
Die Doppelbesteuerung kann demselben Steuergläubiger, sie kann auch verschiedenen Steuergläubi- 57 gern zugute kommen (Bund, Ländern, Gemeinden; verschiedenen Völkerrechtssubjekten), sog.
39 Dazu Bayer, StuW 1972, 149 ff. 40 J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, Diss., 1974, 36 ff. 41 Dazu Seer, ZfZ 2013, 146.
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§ 6 Rz. 58
Allgemeines Steuerschuldrecht
mehrfachberechtigte Doppelbesteuerung. Ist ein anderes Völkerrechtssubjekt beteiligt, so spricht man von internationaler Doppelbesteuerung42. 6. Die Gesamtschuldnerschaft Literatur: Lauter, Gesamtschuld im Steuerrecht, Diss., 1966; Preißer, Die Gesamtschuld im Steuerrecht nach der AO 1977, Diss., 1985; Bartone, Die Gesamtschuld im Steuerrecht, AO-StB 2003, 13; Krumm, Die Gesamtschuld für öffentlich-rechtliche Geldleistungsverpflichtungen, Die Verwaltung 2013, 59. 58
Der Sicherung des Steuereingangs dient auch die Gesamtschuldnerschaft. § 44 AO erklärt zu Gesamtschuldnern: a) Personen, die nebeneinander dieselbe Steuer schulden (= Mehrheit von Steuerschuldnern, z.B.: § 10 III GrStG – mehrere Grundstückseigentümer, § 20 I ErbStG – Schenker und Beschenkter, § 13 I Nrn. 1, 2 GrEStG – Veräußerer und Erwerber), b) Personen, die nebeneinander für dieselbe Steuer haften (= Mehrheit von Haftungsschuldnern, z.B.: § 69 u. § 71 AO: Haftung des Geschäftsführers und des Steuerhinterziehers für dieselbe Steuer), c) Personen, die nebeneinander (für) dieselbe Steuer schulden und haften (= Mehrheit von Steuerund Haftungsschuldner, z.B.: § 42d III 1 EStG – Arbeitnehmer und Arbeitgeber für die Lohnsteuer, s. § 8 Rz. 904 f.), d) Personen, die zu einer Steuer zusammen zu veranlagen sind (z.B.: § 26 EStG – Ehegatten zur Einkommensteuer; s. § 8 Rz. 843 ff.).
59
Soweit nichts anderes bestimmt ist, schuldet jeder Gesamtschuldner die gesamte Leistung. Welcher Gesamtschuldner in welcher Höhe in Anspruch zu nehmen ist, entscheidet die Finanzbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 5 AO, s. § 5 Rz. 146 ff.). Es handelt sich um ein Auswahlermessen; das gilt insb. im Verhältnis der Steuerschuldner zu Haftungsschuldnern (Beispiel: nach § 42d III 2 EStG zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber). Zwar kann ein Haftungsbescheid neben einem Steuerbescheid oder gar bereits vor Festsetzung der Steuer ergehen (s. § 21 Rz. 137 f.). Zur Zahlung darf der Haftungsschuldner gem. § 219 Satz 1 AO jedoch regelmäßig (aber praktisch wichtige Ausnahmen: § 219 Satz 2 AO!) durch Leistungsgebot (§ 254 AO) nur aufgefordert werden, soweit die Vollstreckung in das bewegliche Vermögen des Steuerschuldners ohne Erfolg geblieben ist oder die Vollstreckung aussichtslos erscheint (Subsidiaritätsprinzip, s. Rz. 85). War die Inanspruchnahme des Steuerschuldners erfolglos, so muss der Haftungsschuldner in Anspruch genommen werden; das Legalitätsprinzip gestattet kein Entschließungsermessen (s. Rz. 84 und § 21 Rz. 135, m.w.N.).
60
Erfüllung, Aufrechnung und Sicherheitsleistung durch einen Gesamtschuldner wirken auch für die übrigen Schuldner; andere Tatsachen – wie Erlass, Verjährung (s. aber § 191 V AO; § 21 Rz. 137 f.), Stundung, Verwirkung, Niederschlagung – wirken nur in persona (§ 44 II 3 AO). Ein Gesamtschuldner kann nicht mit der Forderung eines anderen Gesamtschuldners aufrechnen. Säumniszuschläge entstehen nur gegenüber säumigen Gesamtschuldnern (s. § 240 IV 1 AO). Das Gleiche gilt für Zinsen. Erfüllt ein Gesamtschuldner die Steuerschuld, richtet sich der interne Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 BGB und ist auf dem ordentlichen Rechtsweg geltend zu machen43.
42 Zur Beseitigung der internationalen Doppelbesteuerung s. § 1 Rz. 92 ff. 43 Zum internen Gesamtschuldnerausgleich bei zusammen veranlagten Ehegatten s. BGH v. 31.5.2006 – XII ZR 111/03, MDR 2006, 1411; dazu Witt, DStR 2007, 56; Schulenburg, FR 2008, 668; umfassend A. Meyer, Steuerliches Leistungsfähigkeitsprinzip und zivilrechtliches Ausgleichssystem, Habil., 2013, 241 ff., 335 ff.; zum Gesamtschuldnerausgleich zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer beim Lohnsteuerabzug s. Kloubert, FR 2001, 465.
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7. Der Haftungsanspruch
Rz. 64 § 6
Im Vollstreckungsverfahren kann nach Maßgabe der §§ 268 ff. AO die Aufteilung der Gesamtschuld 61 beantragt werden, wenn Gesamtschuldner zusammenveranlagt werden44. Jeder Gesamtschuldner kann beantragen, dass die Vollstreckung auf den Betrag beschränkt wird, der sich bei getrennter Veranlagung ergeben würde. Die Entscheidung über den Antrag trifft das Finanzamt durch sog. Aufteilungsbescheid. 7. Der Haftungsanspruch Literatur: Brune, Die steuerliche Haftung beim Unternehmenserwerb, Diss., 1990; Mösbauer, Die Haftung für Steuerschulden, 1990; Bax, Die Haftung nach allgemeinem Abgabenrecht aus steuer- und verfassungsrechtlicher Sicht, Diss., 1992; Brodersen, Haftung und Schuld im Steuerrecht, in FS Thieme, 1993, 895; Blesinger, Haftung und Duldung im Steuerrecht, 2005; Kruse, Über Dienstleistungspflichten und Haftung, in GS Trzaskalik, 2005, 169; Marosek, Die Haftung im Einkommensteuerrecht, Diss., 2005; Krumm, Die Drittwirkung eines Rechtserkenntnisaktes gegenüber dem Haftungsschuldner, StuW 2012, 329; Nacke, Ungeklärte Rechtsfragen des steuerlichen Haftungsrechts, DStR 2013, 335; Halaczinsky, Die Haftung im Steuerrecht4, 2013; Günther, Die Haftungstatbestände der Abgabenordnung, AO-StB 2015, 239 (Teil 1), 267 (Teil 2); Nacke, Die Haftung für Steuerschulden4, 2017.
7.1 Allgemeines Das Schulden besteht in einem „Leistenmüssen“. Wer leisten muss, haftet, d.h. er muss einstehen für 62 die Erfüllung der eigenen Schuld und sich für den Fall, dass er nicht leistet, den Zugriff des Gläubigers auf den Haftungsgegenstand – prinzipiell das gesamte Vermögen – gefallen lassen (Eigenhaftung). Naturalobligationen kennt das Steuerrecht nicht. Es gilt: Wer schuldet, haftet; keine Steuerschuld ohne Haftung. Soweit eine Person eine Steuer bereits (originär) schuldet, bedarf es daher keiner ausdrücklichen Anordnung ihrer Haftung. Steuergesetze pflegen die Erfüllung der Steuerschuld (und evtl. auch anderer Ansprüche aus dem Steu- 63 erschuldverhältnis) zusätzlich dadurch zu sichern, dass sie besondere Haftungs- (haftungsbegründende) Tatbestände schaffen, die Dritte für die Steuerschuld haften lassen (Fremdhaftung). Schuld und Haftung schließen sich daher grundsätzlich bereits begrifflich aus45. Die Steuergesetze lassen denjenigen, der den Haftungstatbestand erfüllt, für eine fremde Steuerschuld einstehen und gewähren dem Steuergläubiger den Zugriff auf Vermögensgegenstände des Haftenden oder Haftungsschuldners (Fremdhaftung). Solche Haftungstatbestände finden sich in §§ 69–76 AO, aber auch in Einzelsteuergesetzen. Das Haftungsrecht regelt,
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(1) wer wegen welcher Handlungen oder Zustände für die Erfüllung welcher Schulden (Haftungstatbestand) haften soll (Rz. 66 ff.); (2) womit gehaftet werden soll: unbeschränkte, beschränkte Haftung, Sachhaftung (Rz. 80); (3) in welchem Umfang die Haftung akzessorisch sein soll (Rz. 81 ff.); (4) ob für die Inanspruchnahme von Haftungsschuldnern das Legalitäts- oder das Opportunitätsprinzip gelten soll (Rz. 84); (5) ob primär oder subsidiär gehaftet werden soll (Rz. 85). 44 Dazu Eich, AO-StB 2004, 335. 45 BFH v. 19.10.1976 – VII R 63/73, BStBl. II 1977, 255; v. 15.4.1987 – VII R 160/83, BStBl. II 1988, 167; v. 7.3.2006 – X R 8/05, BStBl. II 2007, 594. Von diesem Grundsatz will das FG Hamburg v. 18.11.2016 – 4 V 142/16, EFG 2017, 182 m. Anm. Bender, aber im Falle einer Tabaksteuerhinterziehung aus Beweisgründen (nicht nachweisbar, wer den Steuertatbestand erfüllt hat) eine Ausnahme machen, damit es für die Haftung n. § 71 (s. Rz. 68) offenbleiben kann, ob der Steuerhinterzieher gleichzeitig auch Steuerschuldner ist.
Seer 263
§ 6 Rz. 65 65
Allgemeines Steuerschuldrecht
Der Haftungsanspruch entsteht, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Haftung knüpft (§ 38 AO i.V.m. § 37 I AO), jedoch entsteht der Haftungsanspruch nicht vor Entstehung des Hauptanspruchs, für den gehaftet wird; insoweit ist der Haftungsanspruch akzessorisch (s. Rz. 81 ff.). Steuerschuldner und Haftungsschuldner sind Gesamtschuldner (§ 44 I 1 AO; s. Rz. 58). Für die Entstehung des Haftungsanspruchs ist ein Haftungsbescheid nicht erforderlich46. Demnach sind die Entstehung des Haftungsanspruchs und der Erlass des Haftungsbescheids nach § 191 AO sowie die subsidiäre Inanspruchnahme nach § 219 AO (s. Rz. 85) auf Grund des Haftungsbescheids als Titel zu unterscheiden (s. § 21 Rz. 135 ff.). Jede Prüfung von Haftungsfällen muss folgende Paragraphenkette berücksichtigen: §§ 69 ff.; 44; 191; 219 AO. Ist die Hauptschuld erloschen, so sind §§ 44 II; 191 V AO besonders zu beachten. 7.2 Haftungstatbestände
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a) Die Haftungstatbestände knüpfen zum einen daran an, dass Dritte – i.d.R. durch Pflichtverletzungen – Ursachen dafür setzen, dass die Möglichkeit der Realisierung des Anspruchs sich verschlechtert, der Anspruch gefährdet wird. Insb. wer Ursachen dafür setzt, dass Steuern verkürzt werden, oder wer gar Mittäter oder Teilnehmer der Steuerhinterziehung ist, gefährdet den Anspruch; denn es ist fraglich, ob sich der Anspruch bei Aufdeckung der Tat noch realisieren lässt.
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aa) Gesetzliche Vertreter und Geschäftsführer47, Vermögensverwalter und als Verfügungsberechtigte Auftretende haften nach § 69 AO i.V.m. §§ 34; 35 AO insoweit, als Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt werden oder soweit infolgedessen Steuervergütungen oder Steuererstattungen ohne rechtlichen Grund gezahlt werden. Die gesetzlichen Vertreter und Geschäftsführer haben die steuerlichen Pflichten der Vertretenen zu erfüllen (§ 34 I AO)48. Die Haftung umfasst alle Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis einschließlich der Nebenleistungen49. Die Kausalität zwischen Pflichtverletzung und dem nach § 69 AO geltend gemachten Schaden ist nach der Adäquanztheorie zu beurteilen; hypothetische Kausalverläufe sind dabei nicht zu berücksichtigen50. 46 BFH v. 15.10.1996 – VII R 46/96, BStBl. II 1997, 171. 47 S. dazu Steeger, Die steuerliche Haftung des Geschäftsführers, Diss. 1998; Britz, Die Haftung des Geschäftsführers für Steuerschulden der GmbH2, 2002; Mösbauer, DB 2005, 1816 (Haftungsumfang); Schießl/Küpperfahrenberg, DStR 2006, 445 (Vorstände von Vereinen u. Verbänden); Beckmann, DB 2007, 994 (neuere finanzgerichtliche Rspr.); Jochum, DStZ 2007, 561 (Grundsätze); Blesinger, DStZ 2008, 747 (Haftungsquote); Peetz, GmbHR 2009, 186 (Mitwirkungspflichten); Möllmann, DStR 2009, 2125 (Haftungsfalle Ehrenamt); Berninghaus, DStR 2012, 1001 (Mitwirkungspflichten, Haftungsquote); Hannig, SteuerStud 2016, 338 (Überlick). 48 Zu den Pflichten in Insolvenzfällen BFH v. 11.8.2005 – VII B 244/04, BStBl. II 2006, 201 (LSt); BFH v. 22.11.2005 – VII R 21/05, BStBl. II 2006, 397 (LSt-Abzugspflicht auch dann, wenn Geschäftsführer Löhne aus seinem Privatvermögen zahlt); BFH v. 23.9.2008 – VII R 27/07, BStBl. II 2009, 129 (LSt-Abzugspflicht besteht bis zum Entzug der Verfügungsbefugnis); BFH v. 27.2.2007 – VII R 67/05, BStBl. II 2009, 348 (zur Pflichtenkollision zwischen Insolvenz- u. Steuerrecht); BFH v. 27.2.2007 – VII R 60/05, BStBl. II 2008, 508 (zur Nichtberücksichtigung der LSt bei der Berechnung der Haftungsquote für die USt); v. 14.6.2016 – VII R 20/14 (zur Berechnung der Haftungsquote). Literatur: Frotscher, BB 2006, 351; Stahlschmidt/Laws, GmbHR 2006, 410; Heeg, DStR 2007, 2134; Arends/Möller, GmbHR 2008, 169 (aktuelle Rspr.); Tiedtke/Peterek, GmbHR 2008, 617 (Sozialabgaben u. LSt); Kahlert, ZIP 2009, 2368; Nacke, DB 2013, 1628; A. Meyer, DStZ 2014, 228. 49 BFH v. 22.2.1980 – VI R 185/79, BStBl. II 1980, 375; v. 1.8.2000 – VII R 110/99, BStBl. II 2001, 271. 50 BFH v. 5.6.2007 – VII R 65/05, BStBl. II 2008, 273 (274 ff.); BFH v. 23.9.2008 – VII R 27/07, BStBl. II 2009, 129 (131); v. 11.11.2008 – VII R 19/08, BStBl. II 2009, 342 (344); BFH v. 26.1.2016 – VII R 3/15.
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Seer
7. Der Haftungsanspruch
Rz. 72 § 6
bb) § 71 AO begründet eine Haftung des Steuerhinterziehers, des Steuerhehlers oder des Teilneh- 68 mers an einer solchen Tat für die verkürzten Steuern und die zu Unrecht gewährten Steuervorteile sowie für die Zinsen nach § 235 AO und die Zinsen nach § 233a AO, soweit diese nach § 235 Abs. 4 AO auf die Hinterziehungszinsen angerechnet werden (s. § 21 Rz. 360)51. Voraussetzung für die Haftung ist, dass der Täter oder Teilnehmer den objektiven und subjektiven Tatbestand einer vollendeten Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei verwirklicht hat (dazu § 23 Rz. 23 ff., 41 ff., 82 f.)52. cc) § 72 AO begründet eine Haftung dessen, der vorsätzlich oder fahrlässig nach Verletzung der 69 Kontenwahrheit Guthaben, Wertsachen oder Stahlkammerinhalt herausgibt (Zuwiderhandlung nach § 154 III AO; s. § 21 Rz. 199), und zwar insoweit, als durch die Handlung die Verwirklichung von Steueransprüchen beeinträchtigt wird. Im Zusammenhang mit der zum 1.1.2017 weiter ausgebauten Elektronifizierung des Steuerverwaltungsverfahrens (s. § 21 Rz. 5 ff., 183 ff.) enthält § 72a AO53 mehrere Haftungstatbestände. Nach § 72a I AO haftet der Hersteller von Datenverarbeitungsprogrammen für eine Steuerverkürzung, die durch unrichtige oder unvollständige Datenverarbeitung entsteht54. Unter Anwendung deselben Sorgfaltsmaßstabs haftet der Beauftragte einer Datenübertragung nach § 72a II AO für Steuerverkürzungen, die auf einer unrichtigen oder unvollständigen Datenübermittlung oder mangelnden Identifizierung des Auftraggebers beruhen. dd) Haftungstatbestände außerhalb der AO: Steuerentrichtungspflichtige (s. Rz. 7) haften für die 70 einzubehaltenden und abzuführenden Steuern (§ 42d EStG betr. Arbeitgeber55; §§ 44 V 1; 45a VII EStG betr. Schuldner und die auszahlende Stelle der Kapitalerträge; § 7 II VersStG betr. Versicherer; § 50a V 4, 5 EStG betr. Schuldner der Aufsichtsratsvergütung). Hat der Erbschaftsteuerschuldner die Erbschaft vor Entrichtung der Erbschaftsteuer einem anderen unentgeltlich zugewendet, so haftet dieser andere für die Erbschaftsteuer (§ 20 V ErbStG). b) Haftung Vertretener: Ein anderer Gedanke liegt dem § 70 I AO zugrunde56. Er lässt diejenigen 71 haften, deren steuerliche Rechte und Pflichten durch solche Dritte (s. §§ 34; 35 AO) wahrgenommen werden, die sich der Steuerhinterziehung schuldig machen, und zwar für die durch die Tat verkürzten Steuern und die zu Unrecht gewährten Steuervorteile. Die Vorschrift läuft leer, wenn der Vertretene bereits originär Schuldner der hinterzogenen Steuer ist. Darüber hinaus ist eine verschuldensunabhängige Haftung des Vertretenen (z.B. nach § 42d I EStG als Arbeitgeber, s. Rz. 70) vorrangig. Die Haftung des Vertretenen für die von dem Vertreter mindestens leichtfertig verkürzten Steuern kommt dem zwar nahe; jedoch besitzt der Vertretene nach § 70 II 2 AO noch die Möglichkeit der Exkulpation. c) Eine letzte Gruppe von Haftungsvorschriften knüpft daran an, dass die Haftungssubstanz, auf 72 die normalerweise zurückgegriffen werden kann (und mit deren Hilfe die Umsätze und Erträge meist erzielt werden), sich in fremder Hand befindet (befunden hat).
51 Dazu Buß, Die Haftung des Steuerhinterziehers nach § 71 AO, Diss., 1991; Merkt, AO-StB 2009, 81; Pflaum, wistra 2010, 368; Zugmaier, SteuerStud 2012, 73; Gehm, NZWiSt 2014, 93. § 71 AO ist durch BestVModG v. 18.7.2016, BGBl. I 2016, 1679 (1680), durch den Hinweis auf § 235 IV AO ergänzt worden. 52 Zu den verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Feststellung einer Steuerhinterziehung und Beihilfehandlung s. BFH v. 15.1.2013 – VIII R 22/10, BStBl. II 2013, 526 (527). 53 Eingeführt durch BestVModG v. 18.7.2016, BGBl. I 2016, 1679 (1680). 54 Dabei wird sein Verschulden vermutet. § 72a I 2 AO gibt ihm nur die Möglichkeit eines Entlastungsbeweises, dass ihm nicht mehr als bloß einfache Fahrlässigkeit vorwerfbar ist. 55 Schäfer, Die Dreiecksbeziehung zwischen Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Finanzamt beim Lohnsteuerabzug, Diss., 1990, 220 ff.; Heuermann, Systematik und Struktur der Leistungspflichten im Lohnsteuerabzugsverfahren, Diss., 1998, 272 ff.; Winter, Der Arbeitgeber im Lohnsteuerrecht, Diss., 1998, 19 ff.; G. Kirchhof, Die Erfüllungspflicht des Arbeitgebers im Lohnsteuerverfahren, Diss., 2006, 120 ff.; Drüen, Die Indienstnahme Privater für den Vollzug von Steuergesetzen, Habil., 2012, 133 ff., 278 ff., 314 ff. 56 Dazu Bruschke, StB 2012, 359.
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§ 6 Rz. 73
Allgemeines Steuerschuldrecht
73 aa) Nach § 73 AO haftet eine Organgesellschaft für solche Steuern des Organträgers, für welche die
Organschaft zwischen ihnen steuerlich von Bedeutung ist (also nicht nur für die Beträge, die auf die Organgesellschaft entfallen)57. In Betracht kommen: Körperschaft-, Umsatz- und Gewerbesteuer. Die Haftung der Organgesellschaft erstreckt sich nicht auf Nebenleistungen58. Zu den Merkmalen einer Organschaft s. § 14 Rz. 1 ff.; § 17 Rz. 61 ff. 74 bb) Nach § 74 AO haftet der Eigentümer von Gegenständen, die einem Unternehmen dienen59,
für betriebliche Steuern, wenn der Eigentümer am Unternehmen wesentlich beteiligt (§ 74 II AO: unmittelbare oder mittelbare Beteiligung von mehr als einem Viertel am Grund- oder Stammkapital oder am Vermögen des Unternehmens) ist. Die Haftung erstreckt sich auf Steuern des Unternehmens, bei denen sich die Steuerpflicht auf den Betrieb des Unternehmens gründet (z.B. Umsatzsteuer, Gewerbesteuer, Verbrauchsteuern) und die während des Bestehens der wesentlichen Beteiligung entstanden sind (§ 74 I AO). 75 cc) Nach § 75 AO haftet, wer ein Unternehmen oder einen in der Gliederung des Unternehmens ge-
sondert geführten Betrieb im Ganzen60 übereignet erhält (gilt nicht für Erwerbe aus einer Insolvenzmasse oder für Erwerbe im Vollstreckungsverfahren, s. § 75 II AO), und zwar für betriebliche Steuern (Umsatz-, Gewerbe-, Verbrauchsteuern)61 und für Steuerabzugsbeträge (Lohn-, Kapitalertragsteuer)62. Die Steuerschuld muss seit dem Beginn des letzten, vor der Übereignung liegenden Kalenderjahres entstanden sein und bis zum Ablauf von einem Jahr (beginnend mit der Anmeldung des Betriebs durch den Erwerber) festgesetzt (§ 155 AO) oder angemeldet (§§ 167; 168 AO) werden. Die Haftung beschränkt sich auf den Bestand des übernommenen Vermögens (§ 75 I 2 AO). 76 dd) Nach den §§ 113; 120 RAO 1931 bestand eine Haftung für Steuerschulden auch auf Grund zi-
vilrechtlicher Vorschriften. Zwar sind diese Vorschriften nicht in die Abgabenordnung 1977 übernommen worden. Wie sich aus § 191 I 1 AO („kraft Gesetzes“) i.V.m. § 191 IV AO („Ergibt sich die Haftung nicht aus den Steuergesetzen …“) und der Gesetzesbegründung (s. BT-Drucks. VI/1982, 159, zu § 172 AO) ergibt, sollte nach Vorstellung des Gesetzgebers die Haftung für Steuerschulden nach Zivilrecht gleichwohl weiter bestehen. Dementsprechend wenden Rspr. und h.M. die zivilrechtlichen Haftungsvorschriften auch innerhalb der Abgabenordnung 1977 an63. Als zivilrechtliche Haftungsvorschriften kommen insb. in Betracht: §§ 31; 421; 427 (i.V.m. 714); 2382 BGB; §§ 25; 27; 28;
57 Dazu M. Schmidt, Die Inanspruchnahme der Organgesellschaft für Steuerschulden des Organträgers, Diss., 2014, 92 ff. Zur Haftung der Organgesellschaft bei mehrstufiger Organschaft s. BFH v. 31.5.2017 – I R 54/15, BStBl. II 2018, 54 f.; Hölzle, ZIP 2016, 103. 58 BFH v. 5.10.2004 – VII R 76/03, BStBl. II 2006, 3 ff.; zur Anwendung der Subsidiaritätsklausel des § 219 Satz 1 AO s. BFH v. 23.9.2009 – VII R 43/08, BStBl. II 2010, 215 (217 f.). 59 Die Haftung ist nicht nur auf körperliche Gegenstände beschränkt, sondern erfasst auch Rechte und Forderungen (z.B. auf ein Erbbaurecht), s. BFH v. 23.5.2012 – VII R 28/10, BStBl. II 2012, 763 Rz. 14. Darüber hinaus erstreckt sie sich auch auf ein etwaiges Surrogat (z.B. einen Veräußerungserlös oder Schadensersatz), s. BFH v. 22.11.2011 – VII R 63/10, BStBl. II 2012, 223 Rz. 18 ff. 60 Der Erwerb „im Ganzen“ bedeutet, dass das Unternehmen mit seinen wesentlichen Betriebsgrundlagen übergehen muss und der Erwerber dieses ohne nennenswerte Investitionen fortführen kann, s. BFH v. 12.1.2011 – XI R 11/08, BStBl. II 2011, 477 (478); zur Abgrenzung und Konkurrenz zu § 25 HGB s. Heeg, DStR 2012, 2159. 61 Dazu zählt BFH v. 6.4.2016 – I R 19/14 nicht die Körperschaftsteuer einer GmbH. 62 Dazu Dietz, Die Abgrenzung der Begriffe „Teilbetrieb“ und „ein in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführter Betrieb“ im Steuerrecht, Diss., 1980; Brune, Die steuerliche Haftung beim Unternehmenserwerb, Diss., 1990; Commandeur, Betriebs-, Firmen- und Vermögensübernahme, Diss., 1990, 232 ff. 63 BFH v. 23.10.1985 – VII R 187/82, BStBl. II 1986, 156; BFH v. 27.3.1990 – VII R 26/89, BStBl. II 1990, 939; Schick, Haftung für Steuerschulden aufgrund Privatrechts, 1993; Frei, Die Erbenhaftung für Forderungen aus dem Steuerrechtsverhältnis, 1995; Els, Die außensteuergesetzliche Haftung für Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, Diss., 2004; Heintzen, DStZ 2010, 199.
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7. Der Haftungsanspruch
Rz. 81 § 6
128; 161; 171 ff. HGB; §§ 93; 116; 117; 278; 309; 317; 318 AktG; §§ 9; 11; 24; 30–32 GmbHG; § 34 GenG. Die allenfalls rudimentär im Gesetz verankerte Verweisung ist rechtsstaatlich wegen ihrer Unbe- 77 stimmtheit (zum Bestimmtheitsgebot s. § 3 Rz. 243 ff.) mangelhaft. Als eine Art dynamische Verweisung erhält sie den Charakter eines konturenlosen Globaltitels, der die grundrechtsrelevante Inhaftungnahme durch einseitigen Hoheitsakt (Haftungsbescheid, dazu § 21 Rz. 135 ff.) nicht zu rechtfertigen vermag. Die mit den zivilrechtlichen Haftungsvorschriften verfolgten Schutzzwecke bedürfen zudem der Abstimmung mit dem durch die steuerrechtliche Haftung verfolgten Sicherungszweck. Dieser Reflektion wäre es dienlich, wenn der Gesetzgeber die Haftung für Steuerschulden allein durch spezifisch steuerrechtliche Haftungstatbestände zu verwirklichen suchen würde. Erben haften für die aus dem Nachlass zu entrichtenden Schulden aus dem Steuerschuldverhältnis nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts über die Haftung des Erben für Nachlassverbindlichkeiten (§ 45 II AO).
ee) Mit Waren, die einer Verbrauchsteuer oder einem Zoll unterliegen, wird – ohne Rücksicht da- 78 rauf, wem sie gehören – für die darauf ruhenden Verbrauchsteuern und den Zoll gehaftet (§ 76 AO). ff) Vgl. auch noch die außerhalb der Abgabenordnung geregelten Haftungsfälle: § 7 II VersStG; § 12 79 GrStG; § 20 V, VI ErbStG. 7.3 Haftungsumfang Wenn nicht ausdrücklich etwas anderes angeordnet ist, richtet sich der Umfang der Haftung nach 80 dem Umfang der Steuerschuld. Für diese Steuerschuld wird i.d.R. unbeschränkt, d.h. mit dem ganzen Vermögen, gehaftet. Die Sachhaftung besteht in dem Recht, sich aus einer Sache zu befriedigen. Jedoch bestehen auch Haftungsbeschränkungen. Der wesentlich Beteiligte (§ 74 AO) haftet nur mit den eingebrachten Gegenständen. Nach § 75 AO haftet der Betriebsübernehmer nur mit dem Bestand des übernommenen Vermögens. Die Sachhaftung des § 76 AO erstreckt sich nur auf die Waren, auf denen die Steuer ruht. §§ 69; 72 AO erstrecken die Haftung auf alle Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO); §§ 73 Satz 2; 74 I 3 AO erfassen neben den Steuern nur Ansprüche auf Erstattung von Steuervergütungen. § 76 AO ist antiquiert gefasst. Waren (Sachen) können nicht steuerpflichtig sein oder sonst Pflichten haben. Es gibt auch keinen Leistungsanspruch gegen Sachen. Nur Personen können Pflichten haben und Schuldner sein.
7.4 Akzessorietät der Haftung Der Haftungsanspruch ist insofern akzessorisch, als er nur entstehen kann, wenn (mindestens gleich- 81 zeitig) der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis, für den gehaftet werden soll, entstanden ist. Die Entstehung des Haftungsanspruchs setzt die Verwirklichung des Schuldtatbestands und des Haftungstatbestands (s. Rz. 66 ff.) voraus (Ausnahme: § 76 II AO). Beispiel: Der Arbeitgeber haftet nach § 42d EStG nur für die gesetzlich einzubehaltende Lohnsteuer und nicht für gesetzwidrig zu hoch einbehaltene Lohnsteuer64. Dies folgt aus dem Akzessorietätsprinzip: Der Haftungsanspruch hängt von der endgültig entstandenen Einkommensteuerschuld des Arbeitnehmers ab65.
64 BFH v. 22.7.1993 – VI R 116/90, BStBl. II 1993, 775. 65 BFH v. 7.12.1984 – VI R 164/79, BStBl. II 1985, 164 (169); J. Lang, StuW 1975, 130; Gast-de Haan, DStJG 9 (1986), 141 (158 f.); Blümich/Wagner, § 42d EStG Rz. 28 ff.; Schmidt/Krüger36, § 42d EStG Rz. 2; HHR/Gersch, § 42d EStG Anm. 74 ff.
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§ 6 Rz. 82
Allgemeines Steuerschuldrecht
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Indessen ist die Akzessorietät limitiert. Zunächst wirken nach § 44 II AO nur Erfüllung, Aufrechnung und Sicherheitsleistung des Steuerschuldners für den Haftungsschuldner; andere Tatsachen wirken auch im Verhältnis des Steuerschuldners zum Haftungsschuldner nur in persona (§ 44 II 3 AO, s. Rz. 60). Jedoch wird § 44 II 3 AO wesentlich durch die Akzessoritätsregelung in § 191 V AO eingeschränkt: Nach § 191 V AO kann ein Haftungsbescheid in den Fällen der Verjährung und des Erlasses nicht mehr ergehen (s. § 21 Rz. 137 f.). § 191 V AO ist lex specialis gegenüber § 44 II 3 AO. § 191 V AO ist im Steuerverfahren fehlplatziert; seine Regelung gehört in das materielle Steuerschuldrecht, d.h. in den § 44 AO.
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Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Drittwirkung der Steuerfestsetzung (§ 166 AO), wenn der Haftende als Vertreter für die Steuer des Vertretenen in Anspruch genommen wird (z.B. nach § 69 AO; s. Rz. 67). § 166 AO bewirkt in diesen Fällen einen Einwendungsausschluss des Haftungsschuldners im Interesse der Straffung des Verwaltungsverfahrens66. Dies gilt allerdings nur, wenn und soweit der Steuerbescheid bereits unanfechtbar geworden ist67. 7.5 Legalitätsprinzip oder Opportunitätsprinzip
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Das „kann“ in § 191 I 1 AO will u.E. nur dem Umstand Rechnung tragen, dass Steuerschuldner und Haftender Gesamtschuldner (§ 44 I AO) sind und die Finanzbehörde nach ihrem Ermessen entscheiden kann, welchen Gesamtschuldner sie in Anspruch nehmen will (Auswahlermessen)68. Es will hingegen nicht besagen, dass die Finanzbehörde, wenn beim Schuldner „nichts zu holen ist“, auch darauf verzichten könne, den Haftenden in Anspruch zu nehmen. Das widerspräche dem Zweck der Haftungsvorschriften und dem Legalitätsprinzip. 7.6 Subsidiarität der Haftung
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Nach § 219 Satz 1 AO darf ein Haftungsschuldner, wenn nichts anderes bestimmt ist, auf Grund eines Haftungsbescheids (durch ein Leistungsgebot i.S.d. § 254 AO) auf Zahlung nur in Anspruch genommen werden, soweit die Vollstreckung in das bewegliche Vermögen des Steuerschuldners ohne Erfolg geblieben oder anzunehmen ist, dass die Vollstreckung aussichtslos sein würde (s. bereits Rz. 59). § 219 Satz 2 AO hebt die Subsidiarität allerdings für die in der Praxis am häufigsten vorkommenden Massenfälle der Haftung für den Steuerabzug (insb. Lohn-, Kapitalertragsteuer, s. § 8 Rz. 904 f., 907 ff.) wieder vollständig auf. 8. Der Steuervergütungsanspruch
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Einen Anspruch auf Steuervergütung räumt der Gesetzgeber ein, wenn er eine bestimmte Steuerbelastung beseitigen will. Im Unterschied zur Steuererstattung (s. Rz. 89 ff.) entsteht der Steuervergütungsanspruch nicht infolge einer rechtsgrundlosen Zahlung; der Steuervergütungsanspruch ist vielmehr Teil der vom Gesetzgeber konzipierten tatbestandsmäßigen Belastungsregelung. Daher bestimmen die Steuergesetze den Gläubiger einer Steuervergütung ebenso wie den Steuerschuldner (§ 43 Satz 1 AO). Die AO enthält keine Legaldefinition der Steuervergütung; sie setzt den Begriff der Steuervergütung vielmehr voraus (s. etwa §§ 1 I; 37; 43; 46; 155 AO). Der Steuervergütungsanspruch ist ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 I AO); dementsprechend gelten für ihn die Regeln der AO und FGO.
66 Eingehend Krumm, StuW 2012, 329; s. auch Nacke, DStR 2013, 335 (338 ff.). 67 Dazu: BFH v. 22.4.2015 – XI R 43/11, BStBl. II 2015, 755 Rz. 23 ff. (keine Präklusion bei einem Vorbehalt der Nachprüfung i.S. des § 164 AO); s.a. Anm. D. Rose, DStR 2016, 1152. 68 Dazu Gressel, KStZ 1999, 201; Nacke, GmbHR 2006, 846 (Ermessensfehler).
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8. Der Steuervergütungsanspruch
Rz. 88 § 6
a) Die Regelung der Steuervergütung dient hauptsächlich und herkömmlicherweise dem Zweck, eine 87 Person zu entlasten, die nicht Steuerschuldner ist. Hierzu sind folgende zwei Fallgruppen zu unterscheiden: (1) Beseitigung der Steuerbelastung bei Überwälzung: Steuerschuldner pflegen indirekte Steuern im Preis auf die Empfänger von Waren zu überwälzen (s. § 7 Rz. 20, 106). Nun gibt es Fälle, in denen Anlass besteht, die überwälzte Steuer zurückzugewähren. Der wichtigste Fall dieser Art von Steuervergütung ist der (prinzipiell durch Verrechnung mit der Umsatzsteuerschuld gewährte) Vorsteuerabzug (s. § 17 Rz. 15, 307 ff.). Entsprechend der Intention des Umsatzsteuergesetzes, den Endverbraucher zu belasten, soll der vorsteuerabzugsberechtigte Unternehmer mit Umsatzsteuer nicht belastet, also kein Steuerträger sein. Mithin ist auf den Steuervergütungsgläubiger die Steuer zwar überwälzt worden. Die Steuervergütung beseitigt jedoch hier die Steuerbelastung, die durch Überwälzung entstanden ist. Weitere wichtige Fälle sind die Verbrauchsteuervergütungen, die bei Ausfuhr der verbrauchsteuerbelasteten Waren dem exportierenden Händler gewährt werden, auf den die Verbrauchsteuer überwälzt worden ist (vgl. z.B. § 46 EnergieStG; § 23 TabakStG). (2) Beseitigung der Steuerbelastung bei Mehrfachbesteuerung: Eine Steuervergütung gewährt das Gesetz auch dann, wenn es eine Mehrfachbesteuerung beseitigen will, so z.B. die Vergütung der KSt im (früher gegoltenen) Vollanrechnungssystem (s. § 11 Rz. 6 f., 8).
Schema zum Steuervergütungsanspruch bei Überwälzung Steueranspruch
Steuerschuldner
Steuervergütungsgläubiger
e hn go un tung älz ü erw erg Üb uerv Ste
gstun rgü rve ruch ue Ste ansp
Üb e Ste rwäl z ue rve ung rgü mit tun g
Finanzamt
Steuerträger
b) Mit dem Familienleistungsausgleich (dazu § 8 Rz. 91 ff., 746 ff.) hat das JStG 1996 eine neue Art 88 von Steuervergütung eingeführt, die dem Steuerschuldner zusteht. § 31 Satz 3 EStG behandelt das Kindergeld als Steuervergütung mit der Folge, dass für die Direktsubvention des Kindergeldes die AO und FGO anzuwenden sind. Während ansonsten bisher lediglich die analoge Anwendung der für Steuervergütungen geltenden Vorschriften vorkam (z.B. § 6 I 1 InvZulG 1999), wird hier die Direktsubvention selbst als Steuervergütung statuiert: Das Kindergeld ist (partiell, s. § 31 Satz 2 EStG) die Vergütung der das Existenzminimum des Kindes belastenden Steuer bzw. eine monatliche kindesunterhaltsbedingte Vorab-Entlastung der Einkommensteuer (s. § 8 Rz. 92 ff.), die bei letztendlicher Gewährung des Kinder- u. Betreuungsfreibetrages nach § 31 Satz 4 EStG aber negativ anzurechnen (d.h. der Einkommensteuer hinzuzurechnen) ist. Soweit das Kindergeld die steuerliche Wirkung des Kinder- und Betreuungsfreibetrages übersteigt, besitzt es den Charakter einer Direktsubvention. Damit folgt der Gesetzgeber der bedenklichen Rspr. des BVerfG, nach der das Kindergeld in einen fiktiven Kinderfreibetrag umgerechnet werden darf (zur Kritik s. § 8 Rz. 94 ff.).
Seer 269
§ 6 Rz. 89
Allgemeines Steuerschuldrecht
9. Der Steuererstattungsanspruch 89
Ist eine Steuer, eine Steuervergütung, ein Haftungsbetrag oder eine steuerliche Nebenleistung ohne rechtlichen Grund gezahlt oder zurückgezahlt worden, so entsteht für den, auf (gemeint ist: für) dessen Rechnung gezahlt worden ist (das ist i.d.R. der, dessen – vermeintliche – Schuld getilgt werden sollte), ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch69 gegen den Leistungsempfänger, den § 37 II AO allgemein umschreibt. § 37 II 1 AO gilt sowohl für den Erstattungsanspruch des Stpfl. gegen die Finanzbehörde70 als auch für den umgekehrten Fall der Rückforderung einer an den Stpfl. oder an einen Dritten rechtsgrundlos geleisteten Steuererstattung durch die Finanzbehörde71 und erfasst damit folgende Fälle: (1) Zahlung einer Steuer durch den Stpfl. oder Entrichtungspflichtigen; (2) Rückzahlung einer Steuer durch das Finanzamt; (3) Zahlung einer Steuervergütung durch das Finanzamt; (4) Rückzahlung einer Steuervergütung durch den Vergütungsgläubiger; jeweils ohne rechtlichen Grund; (5) Zahlung eines Haftungsbetrags durch einen Haftenden; (6) Rückzahlung eines Haftungsbetrags durch das Finanzamt; (7) Zahlung einer steuerlichen Nebenleistung (s. Rz. 4) durch den Leistungspflichtigen; (8) Rückzahlung einer steuerlichen Nebenleistung (s. Rz. 4) durch das Finanzamt.
90
Zahlung ohne rechtlichen Grund liegt nach h.M. vor, wenn mehr gezahlt worden ist als nach dem Verwaltungsakt, der die Leistung festsetzt, geschuldet wird. Ist der Verwaltungsakt nichtig, ist unstreitig ohne rechtlichen Grund gezahlt worden. Ist der Verwaltungsakt zwar rechtswidrig, aber rechtswirksam (s. § 21 Rz. 106 ff.), so bildet die Rechtswirksamkeit des Verwaltungsakts den rechtlichen Grund72. Ein Erstattungsanspruch entsteht erst, wenn der rechtswidrige Verwaltungsakt aufgehoben oder geändert worden ist. Das Vorliegen oder Fehlen eines rechtlichen Grundes ist unmittelbar aus dem Gesetz zu entnehmen, wenn ein Verwaltungsakt zur Festsetzung der Leistung nicht vorgesehen ist. Auch ein verfassungswidriges Gesetz liefert einen rechtlichen Grund, wenn das BVerfG die Weitergeltung des Gesetzes zugelassen hat (dazu § 22 Rz. 285 ff.)73.
69 Dazu Drenseck, Das Erstattungsrecht der AO 1977, Diss., 1977; Seer/Drüen, StuW 1998, 208 (§ 37 II AO u. Sicherungszession); Kemmler, Geldschulden im öffentlichen Recht, Habil., 2015, 122 ff.; zu Erstattungsansprüchen bei Ehegatten: Grönwoldt, DStR 2007, 1058 (Abtretung von Erstattungsansprüchen); Jüptner, UVR 2008, 180 (Erbschaftsteuer). 70 Davon zu unterscheiden sind von Insolvenzverwaltern gegen den Fiskus geltend gemachte (bürgerlichrechtliche) Ansprüche auf Rückgewähr insolvenzrechtlich angefochtener Steuerzahlungen; s. BFH v. 5.9.2012 – VII B 95/12, BStBl. II 2012, 854 Rz. 11; v. 27.9.2012 – VII B 190/11, BStBl. II 2013, 109 Rz. 9 ff.; v. 12.11.2013 – VII R 15/13, BStBl. II 2014, 359 (360); Krumm, ZIP 2012, 959 (961 f.). 71 BFH v. 22.3.2011 – VII R 42/10, BStBl. II 2011, 607 f. Der Rückforderungsanspruch richtet sich nicht gegen das Kreditinstitut, das lediglich als „Zahlstelle“ fungiert, s. BFH v. 22.11.2011 – VII R 27/11, BStBl. II 2012, 167 Rz. 8 ff.; BFH v. 18.9.2012 – VII R 53/11, BStBl. II 2013, 270 Rz. 15 ff. 72 So die wohl herrschende formelle Rechtsgrundtheorie (s. BFH v. 29.10.2002 – VII R 2/02, BStBl. II 2003, 43; HHSp/Boeker, § 37 AO Rz. 35 ff.; Kühn/v. Wedelstädt/Blesinger21, § 37 AO Rz. 10). A.A. die insb. von Tipke/Kruse/Drüen, § 37 AO Rz. 27 ff., vertretene materielle Rechtsgrundtheorie, nach der sich der rechtliche Grund i.S.d. § 37 II AO allein aus dem materiellen Recht ergibt. Allerdings könne der Erstattungsanspruch erst nach Änderung bzw. Aufhebung des rechtswidrigen Verwaltungsakts geltend gemacht werden. Drenseck, Das Erstattungsrecht nach der AO 1977, 64 f., begründet dies mit einem formellen Behaltensrecht. Damit hat der Theorienstreit i.Erg. geringe praktische Bedeutung, da beide Theorien die Wirksamkeit des fehlerhaften Verwaltungsakts respektieren. 73 Gegen diese unbefriedigende Rechtslage Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, Diss., 2003 (dazu Tipke, StuW 2004, 187).
270
Seer
9. Der Steuererstattungsanspruch
Rz. 91 § 6
Erstattungsberechtigt ist derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung geleistet worden ist. Es 91 kommt nicht darauf an, von wem oder mit wessen Mitteln gezahlt worden ist. Maßgeblich ist vielmehr, wessen Steuerschuld nach dem Willen des Zahlenden, wie er im Zeitpunkt der Zahlung der Finanzbehörde erkennbar hervorgetreten ist, getilgt werden sollte74. Hinsichtlich eines Erstattungsanspruchs sind Gesamtschuldner (z.B. zusammenveranlagte Ehegatten, s. Rz. 58) weder Gesamtgläubiger i.S.d. § 428 BGB noch Mitgläubiger i.S.d. § 432 BGB. Übersteigen die Steuerabzugsbeträge (z.B. Lohn-, Kapitalertragsteuer) und Vorauszahlungen die gemeinsame Steuerschuld, richtet sich der Erstattungsanspruch des einzelnen Ehegatten (z.B. nach einer zwischenzeitlichen Trennung) danach, auf wessen Rechnung die Zahlungen erfolgt sind. Bei Vorauszahlungen ohne besondere Tilgungsbestimmung kann davon ausgegangen werden, dass der leistende Ehegatte nicht nur auf seine, sondern auf die gemeinsame Steuerschuld geleistet hat75.
74 BFH v. 30.9.2008 – VII R 18/08, BStBl. II 2009, 38 (40); BFH v. 22.3.2011 – VII R 42/10, BStBl. II 2011, 607 (608); BFH v. 12.5.2016 - VII R 50/14, BStBl. II 2016, 730 (732); es existiert auch kein unionsrechtliches Gebot, dem Empfänger einer umsatzsteuerlichen Leistung aus § 37 II AO einen Anspruch auf Erstattung zu Unrecht vom Leistenden in Rechnung gestellter USt gegen den Fiskus anzuerkennen, wenn eine Erstattung vom Leistenden wegen dessen Insolvenz nicht mehr erreicht werden kann, s. BFH v. 30.6.2015 – VII R 30/14, BFHE 250, 34 (37 f.). 75 S. i.E. BFH v. 22.3.2011 – VII R 42/10, BStBl. II 2011, 607 (609 f.); BFH v. 20.2.2017 – VII R 22/15, Rz. 9; ausf. BMF v. 14.1.2015 – IV A 3 - S 0160/11/10001, BStBl. I 2015, 83, mit Fallgruppen. Zum internen Ausgleich bei Ehegatten ausf. A. Meyer, Steuerliches Leistungsfähigkeitsprinzip und zivilrechtliches Ausgleichsystem, Habil., 2013, 427 ff., 452 ff.
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Besonderes Steuerschuldrecht §7 Einführung in das besondere Steuerschuldrecht A. Grundsätze der Gestaltung von Steuerarten Literatur: Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, 1970; Neumark (Hrsg.), Hdb. der Finanzwissenschaft3, Bd. I–IV, 1977–1983; Schmölders/Hansmeyer, Allgemeine Steuerlehre5, 1980; Haller, Die Steuern, Grundlinien eines rationalen Systems öffentlicher Abgaben3, 1981; Stiglitz/ Schönfelder, Finanzwissenschaft2, 1989 (3. Nachdruck 2000), 408 ff.; J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, BMF-Schriftenreihe, Heft 49, 1993; Musgrave/Musgrave/Kullmer, Die öffentlichen Finanzen in Theorie und Praxis, Bd. 25, 1993; Thuronyi, Tax Law Design and Drafting, 1996/98 (rechtsvergleichend); Tipke, StRO II2, 2003; Homburg, Allgemeine Steuerlehre7, 2015; Institute for Fiscal Studies, Dimensions of Tax Design, The Mirrlees Review, Oxford 2010; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011. S. auch die in § 1 Rz. 17 zitierten Klassiker sowie das § 3 vor Rz. 52 zitierte Schrifttum zur Konsumorientierung des Steuersystems.
Das besondere Steuerschuldrecht, d.h. die Gesamtheit der einzelnen Steueransprüche und ihrer Ent- 1 stehungsgründe, bestimmt die materiell-rechtsstaatliche Qualität der Steuerrechtsordnung sowie die ökonomischen Wirkungen der Verteilung von Steuerlasten. Ob die Verteilungswirkungen gerecht oder ungerecht sind, ob die Wirtschaft schonend behandelt oder geschröpft wird, ob die Bildung privaten Wohlstands gefördert oder gehemmt wird, dies alles hängt davon ab, welche Steueransprüche der Steuerstaat statuiert, wie er ihre Tatbestandsvoraussetzungen gestaltet, welches Steueraufkommen er mit der Verwirklichung welcher Steueransprüche schöpft, kurzum: für welches System von Steueransprüchen sich der Steuerstaat entscheidet. Deshalb führt das besondere Steuerschuldrecht zu materiellen Grundfragen der Besteuerung, die Ökonomen und Juristen gleichermaßen interessieren und diskutieren. Ein „gutes“ Steuersystem kann nur ein interdisziplinär durchdachtes sein. Die Finanzwissenschaft reflektiert seit jeher über die optimale, ökonomisch rationale Gestaltung von Steuern, über ein sog. „gutes“ oder „rationales“ Steuersystem1. Adam Smith entwickelte in seinem 1776 publizierten Werk „Wohlstand der Nationen“2 folgende vier Besteuerungsgrundsätze: – Gleichheit der Besteuerung: Die Bürger sollen Steuern im Verhältnis zu ihren Fähigkeiten zahlen, und zwar besonders im Verhältnis zum Einkommen, das sie unter dem Schutze des Staates genießen. – Bestimmtheit der Besteuerung: Zahlungstermin, Zahlungsart und Zahlungsbetrag sollen jedermann klar und deutlich sein. – Bequemlichkeit der Besteuerung: Die Steuer soll zu der Zeit und in der Weise erhoben werden, die dem Bürger am bequemsten ist. – Wohlfeilheit der Besteuerung: Die Kosten der Steuererhebung sollten möglichst gering sein.
1 Demgegenüber befasst sich die Rechtswissenschaft erst in jüngster Zeit mit der juristisch rationalen Gestaltung von Steuerarten, die über die Dogmatisierung des vorgefundenen Steuerartenrechts hinausgeht. Band II der StRO von Tipke ist der erste, umfassende u. detaillierte Entwurf zu einem juristisch rationalen System von Steuerarten. Das 2011 erschienene Bundessteuergesetzbuch von P. Kirchhof zielt ebenfalls auf ein verfassungsrechtlich legitimiertes, rationales Gesamtsteuersystem ab. 2 An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations in der dt. Ausgabe von Recktenwald: Der Wohlstand der Nationen5, 1990, 703 ff.
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2
§ 7 Rz. 3
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
3 Bis heute haben diese, von John Stuart Mill3 sog. klassischen Steuermaximen nichts von ihrer Richtigkeit eingebüßt und lassen sich auch verfassungsrechtlich im Grundgesetz verankern. Die beiden ersten Steuermaximen beinhalten die Steuergleichheit (s. § 3 Rz. 110 ff.) und die Bestimmtheit von Steuergesetzen (s. § 3 Rz. 243 ff.). Das Bequemlichkeitspostulat enthält die rechtsstaatliche Komponente des Übermaßverbots (s. § 3 Rz. 180 ff.) und die Komponente der Effizienz und Entscheidungsneutralität der Besteuerung. Wird nämlich die Steuer in einer dem Stpfl. „unbequemen“ Weise und zum „unbequemen“ Zeitpunkt erhoben, dann aktiviert sie den Steuerwiderstand und das Ausweichverhalten des Bürgers. Schließlich fordert die vierte Steuermaxime die Praktikabilität und Einfachheit der Besteuerung. Die vierte Steuermaxime scheint der Gesetzgeber völlig aus den Augen verloren zu haben. 4 Während die Vertreter der klassischen nationalökonomischen Lehre (s. § 1 Rz. 17) den normativ-ethischen Besteuerungsgrundsätzen wie Adam Smith stets einen hohen Stellenwert eingeräumt haben4, ist die moderne finanzwissenschaftliche und betriebswirtschaftliche Steuerlehre stark quantitativ-empirisch ausgerichtet und scheut sich, normativ-ethische Anforderungen an das Steuersystem aufzustellen. Effizienz steht dabei an erster Stelle; gegenüber normativen Aussagen zur Steuergerechtigkeit übt man dagegen Zurückhaltung5. 5 Mit dem Blick auf die vorgenannten „klassischen“ und „modernen“ Steuermaximen lassen sich an
die Gestaltung von Steuerarten folgende vier Grundanforderungen ökonomischer und rechtsstaatlicher Rationalität stellen6: – Gerechtigkeit (einschließlich wirtschaftlicher Effizienz); – Ergiebigkeit (einschließlich Flexibilität); – Unmerklichkeit (einschließlich Bequemlichkeit); – Praktikabilität (einschließlich Bestimmtheit, Transparenz, Einfachheit und Wohlfeilheit). 6 1. Gerechtigkeit (einschließlich wirtschaftlicher Effizienz): Erste Voraussetzung für die Rationalität
und Akzeptanz einer Steuer ist ihre Gerechtigkeit. In einem Rechtsstaat gilt der Primat der Gerechtigkeit; eine ungerechte Steuer ist in einem Rechtsstaat unhaltbar, auch wenn sie i.Ü. alle Steuermaximen optimal erfüllt7.
3 Grundsätze der politischen Ökonomie, dt. Ausgabe von Soetbeer, 1869, 3. Bd., 4. Buch, 2. Kap. 4 In dieser Tradition insb. Musgrave/Musgrave/Kullmer, Öffentliche Finanzen, 9 f. (an 1. Stelle: „Die Verteilung der Steuerlast soll gerecht sein. Jeder soll seinen ‚gerechten Anteil‘ zahlen müssen“). Neumark, Steuerpolitik, unterscheidet: I. Fiskalisch-budgetäre Besteuerungsgrundsätze; II. Ethisch-sozialpolitische Besteuerungsgrundsätze (1. Gerechtigkeitspostulate: Allgemeinheit, Gleichmäßigkeit der Besteuerung, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder Prinzip der Besteuerung nach der persönlich-individuellen Leistungsfähigkeit; 2. Grundsatz der steuerlichen Umverteilung von Einkommen und Vermögen); III. Wirtschaftspolitische Besteuerungsgrundsätze; IV. Steuerrechtliche und steuertechnische Grundsätze (1. Grundsatz der Widerspruchslosigkeit und Systemhaftigkeit der Steuermaßnahmen; 2. Grundsatz der Steuertransparenz; 3. Grundsatz der Praktikabilität der Steuermaßnahmen; 4. Grundsatz der Stetigkeit des Steuerrechts; 5. Grundsatz der Wohlfeilheit der Besteuerung; 6. Grundsatz der Bequemlichkeit der Besteuerung); etwas anders die Gewichtung von Stiglitz/Schönfelder, Finanzwissenschaft, 408: 1. Effizienz, 2. Einfachheit, 3. Flexibilität, 4. Transparenz, 5. Gerechtigkeit. 5 Z.B. Homburg, Steuerlehre, 141 ff.; 195 ff., der allerdings die Beschäftigung mit Gerechtigkeitsfragen durchaus auch für die Finanzwissenschaft als sinnvoll erachtet. Zum möglichen Beitrag der Finanzwissenschaft zur Diskussion über Steuergerechtigkeit s. auch Stiglitz/Schönfelder, Finanzwissenschaft, 408 ff., 427. Zur erfahrungswissenschaftlichen Dimension der Gleichmäßigkeit der Besteuerung Schmiel, ORDO Bd. 64 (2013), 137. Zur Entwicklung der Diskussion in der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre: F.W. Wagner, StuW 2014, 200; Kußmaul/Licht, Ubg 2017, 471. 6 Dazu ausf. J. Lang, Steuergesetzbuch, 93 ff. 7 Tipke, StRO II, 593 f.
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A. Grundsätze der Gestaltung von Steuerarten
Rz. 9 § 7
Die Maxime der Steuergerechtigkeit ist in das rechtsstaatliche Postulat der Steuergleichheit ein- 7 gebunden und beinhaltet gleichmäßige Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (s. § 3 Rz. 110 ff., 40 ff.). Steuergerechtigkeit im Rechtssinne ist die systemkonsequente Verwirklichung der Steuergleichheit und der Prinzipien, die den Gleichheitssatz konkretisieren8. Wie bereits ausgeführt (§ 3 Rz. 42), zielt die rechtliche Dogmatisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips auf ein von Sozialzwecknormen möglichst entlastetes Steuersystem ab, in dem wirtschaftlich gleiche Sachverhalte möglichst gleich mit gleicher Belastungswirkung besteuert werden; das rechtliche Verständnis von Steuergleichheit kann umso besser mit dem ökonomischen Effizienzpostulat vereinbart werden, je strenger es gehandhabt wird. Auf diese Weise treffen sich das juristische Ziel der Steuergerechtigkeit im Sinne von Steuergleichheit und das ökonomische Ziel der Effizienz in dem Postulat der Besteuerungsneutralität, das die Entscheidungsneutralität der Besteuerung fordert9. Indessen verflüchtigt sich die Zielharmonie von Steuergerechtigkeit und ökonomischer Effizienz, wenn die 8 sozialstaatliche, auf den Ausgleich sozialer Ungleichheiten (s. § 3 Rz. 212) gerichtete Steuergerechtigkeit in Gestalt der Umverteilungsgerechtigkeit ins Spiel gebracht wird. In der ökonomischen Literatur ist es üblich geworden, das Postulat der Steuergerechtigkeit mit dem sozialethischen Postulat der Umverteilung zu identifizieren und sodann hinter das erstrangige Ziel der Effizienz zu setzen10. Die Wohlstandskorrektur durch Umverteilung ist jedoch ein sozialstaatlich fundierter Sozialzweck der Besteuerung (zu Umverteilungsnormen s. § 3 Rz. 21, 212), der von der gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit abzuschichten ist11. So ergibt sich insb. die Progressivität des Einkommensteuerrechts nicht aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip (s. § 3 Rz. 212). Hohe Umverteilungsintensität stört nicht nur die Effizienz, sondern wegen der Substanzsteuer- und Steuerwiderstandseffekte auch die gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit (s. § 3 Rz. 59 ff.). Angesichts der sozialpolitischen Überfrachtung des Steuerrechts (s. § 1 Rz. 8) vermag man auch als Jurist das Effizienzpostulat als Komponente der Steuergerechtigkeit zu verstehen und die sozialschädlichen Effekte einer zu umverteilungsintensiven Besteuerung zu erkennen12.
2. Ergiebigkeit (einschließlich Flexibilität13): Eine Steuer dient der Deckung des Finanzbedarfs. Also 9 sollte sie ergiebig sein. Indessen verhindert ein Fiskalismus, der auf die Leistungskraft der Wirtschaft keine Rücksicht nimmt und die ökonomischen Eigenschaften und Wirkungen eines Steuersystems negiert, das Wachstum der Wirtschaft und richtet sich letztlich gegen sich selbst, weil der Staat nur an dem teilhaben kann, was erwirtschaftet worden ist14. Deshalb sollte das Steuersystem flexibel sein, d.h. 8 Der von Neumark, Steuerpolitik, 172, aufgestellte „steuerrechtliche“ Grundsatz der Widerspruchslosigkeit und Systemhaftigkeit der Steuermaßnahmen konkretisiert also das Gerechtigkeitspostulat der Gleichheit (II.1). Vgl. auch Tipke, StRO II, 592. 9 Dazu Elschen, StuW 1991, 99, u. F.W. Wagner, StuW 1992, 2, sowie Osterloh, FS Selmer, 2004, 875; Schmiel, ORDO Bd. 64 (2013), 137; Fuest, DStJG 37 (2014), 65 (66 ff.). Zur Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung s. § 13 Rz. 168 ff. (m.w.N.). Dabei hat aus ökonomischer Sicht das Postulat der Finanzierungsneutralität Vorrang vor Rechtsformneutralität, Spengel/Zinn, FS J. Lang, 2010, 399 (420); Schreiber/Spengel, BFuP 2006, 275; krit. hinsichtlich der realpolitischen Bedeutung des Postulats der Finanzierungsneutralität Broer, StuW 2010, 57; zur Abgrenzung zwischen Fremd- und Eigenkapital grundl. Schrecker, Mezzanine-Kapital im Handels- und Steuerrecht, Diss., 2012. 10 So z.B. Schneider, StuW 1989, 328 (329): 1. Effizienz; 2. Gleichmäßigkeit als Aufgabe einer Verteilungspolitik; 3. Einfachheit der Besteuerung; zum Zielkonflikt auch Homburg, Steuerlehre, 202 ff.; Raskolnikov, 98 Cornell Law Review (2013), 523 (544 ff.). 11 P. Kirchhof, Die Steuern, HStR V3, § 118 Rz. 23 ff., ist sogar der Meinung, dass das derzeitige Steuerrecht überhaupt nicht mit dem Ziel der Umverteilung gerechtfertigt werden könne. S. auch § 3 Rz. 212. 12 Prägnant Schneider, StuW 1989, 328 (329): „Das Steuerrecht unter den Vorrang der Effizienz zu stellen, heißt zugleich, einer ersten Stufe von Gerechtigkeit zu genügen; denn ein Wachstum des Kuchens Volkseinkommen erlaubt, den Ärmsten mehr zu geben, ohne den anderen ihr Bisheriges zu nehmen“. 13 Dazu Neumark, Steuerpolitik, 283 ff. (Grundsatz der aktiven Flexibilität), 295 ff. (Grundsatz der passiven [„eingebauten“] Flexibilität); Stiglitz/Schönfelder, Finanzwissenschaft, 413 ff. 14 Zu diesen Zusammenhängen Fuest/Wildgruber, Steuerpolitik und Wirtschaftswachstum, Wirtschaftsdienst 2017, Sonderheft, 4; Arnold u.a., Tax Policy for Economic Recovery and Growth, The Economic Journal Bd. 121.
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§ 7 Rz. 10
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
möglichst ohne die mittlerweile gefürchtete Steueränderungsgesetzgebung auf Veränderungen der wirtschaftlichen Lage reagieren können, zumal es wegen politischer Kontroversen häufig unmöglich ist, per Änderung von Steuergesetzen zur rechten Zeit das ökonomisch Richtige zu tun. Im Idealfall ist also die Flexibilität im Steuertatbestand eingebaut (sog. built-in-flexibility), d.h. das Steueraufkommen entwickelt sich ohne Steueränderungsgesetzgebung konjunkturgerecht; die Steuer wirkt konjunkturstabilisierend. Übertrifft die Ergiebigkeit des Steuersystems die Erwartungen mit der Folge von steigender Staatsquote und Haushaltsüberschüssen (s. Rz. 19), sind die Einnahmen nach unten anzupassen. Die Ergiebigkeit des Steuersystems ist kein Selbstzweck. 10 Die beste built-in-flexibility haben die Steuern auf die konjunkturabhängigen Einkommen (ESt/
KSt). In einer Periode der Stagflation (Stagnation + Inflation)15 verschlechtert sich die Flexibilitätseigenschaft der ESt/KSt, weil deren Belastung infolge nominaler Erhöhung der Einkommen steigt, obwohl die Senkung der Ertragsteuerbelastung konjunkturgerecht wäre. Die built-in-flexibility von Einkommensteuern wird gestört durch ertragsunabhängige Besteuerungselemente (insb. Zins- und Verlustabzugsverbote). Die Vorstellung, auf diese Weise das Steueraufkommen von Konjunkturverlauf und unternehmerischen Risiken abzukoppeln, ist trügerisch. Vielmehr besteht die Gefahr, Unternehmen, die sich bereits in einer wirtschaftlich prekären Situation befinden, durch den Steuerzugriff in die Insolvenz zu treiben. Auch ertragsunabhängige Steuern auf den Vermögensbestand (Grundsteuer und früher Vermögensteuer, Gewerbekapitalsteuer) reagieren relativ wenig auf die Konjunktur und werden daher besonders in der Rezession unerträglich. Die indirekten Steuern auf den Konsum wie insb. die Umsatzsteuer vermögen besonders in Bezug auf den notwendigen Konsum nicht konjunkturgerecht zu reagieren. 11
3. Unmerklichkeit16 (einschließlich Bequemlichkeit): Unmerklich ist eine Steuer, wenn ihre Belastung vom Bürger nicht oder kaum bemerkt wird. Als unmerklich gelten indirekte Steuern; sie werden im Preis versteckt und überwälzt (s. Rz. 20). Für den Bürger sind sie insofern „bequeme“ Steuern, als er die Steuerlasten durch sein Konsumverhalten steuern kann. Durch endgültigen oder vorübergehenden Konsumverzicht kann er die für ihn „unbequeme“ Steuer vermeiden oder zu einem späteren, für ihn „bequemen“ Zeitpunkt tragen. Als merklich und unbequem gelten direkte Steuern, namentlich die progressive Einkommensteuer. Bei dieser Steuer ist der circulus vitiosus von Merklichkeit und Steuerwiderstand am deutlichsten zu beobachten: Merklichkeit aktiviert den Steuerwiderstand. Je mehr die Stpfl. der Belastung auszuweichen, desto eher sieht sich der Gesetzgeber gezwungen, die Steuersätze (weiter) zu erhöhen, was wiederum neuen Steuerwiderstand und steuerminimierende Rechtsgestaltungen provoziert, denen der Gesetzgeber dann mit Missbrauchsvorschriften zu begegnen versucht; sie sind eine der Hauptursachen der Kompliziertheit der Einkommensteuer. Durch die in § 3 Rz. 76 ff. dargelegte Sparbereinigung der Einkommensteuer wird deren Bequemlichkeit bedeutend verbessert: Durch Konsumverzicht kann die Besteuerung aufgeschoben werden; entsprechend dem klassischen Bequemlichkeitspostulat entsteht die Einkommensteuer zum ökonomisch „richtigen“ Zeitpunkt. Dies ist sowohl aus traditioneller opfertheoretischer Sicht (s. § 8 Rz. 801) als auch aus moderner optimalsteuertheoretischer Sicht der Zeitpunkt, in dem das Einkommen für den Konsum verfügbar ist und das Konsumopfer erbracht werden kann, und nicht ein Zeitpunkt während der Phase des Sparens und der Sicherung des zukünftigen Konsums.
12
4. Praktikabilität (einschließlich Bestimmtheit, Transparenz, Einfachheit und Wohlfeilheit): Steuern müssen sowohl im Interesse des Staates als auch der Bürger praktikabel sein. Ihre gesetzlichen Tatbestände müssen einfach und verständlich, die Steuerbelastung transparent und die Kosten der Steuererhebung gering sein. Die Praktikabilität der Besteuerung hängt also von mehreren Bedingungen „klassischer“ und „moderner“ Steuermaximen ab17: 15 Stiglitz/Schönfelder, Finanzwissenschaft, 413. 16 Zur Ambivalenz des Postulats der Unmerklichkeit aus demokratischer Sicht Hey, FS Stern, 2012, 25 (29 ff.). 17 Zu den verschiedenen Aspekten der Praktikabilität insb. Neumark, Steuerpolitik, 368 ff.; Arndt, Praktikabilität und Effizienz, Zur Problematik gesetzesvereinfachenden Verwaltungsvollzuges und der „Effek-
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A. Grundsätze der Gestaltung von Steuerarten
Rz. 16 § 7
(1) Praktikabilität setzt zunächst rechtsstaatliche Bestimmtheit voraus: Unklare, unverständlich formulierte Steuergesetze verunsichern die Steuerpraxis, werfen überflüssige Zweifelsfragen auf, verzögern Entscheidungsprozesse, erschweren die Vorhersehbarkeit von Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen.
13
(2) Eng verknüpft mit dem klassischen (rechtsstaatlich fundierten) Bestimmtheitspostulat ist die moderne 14 Forderung nach Transparenz und Verständlichkeit18: In einem rechtstechnisch schwierigen Gebiet wie dem Steuerrecht sind dem Bemühen um einfache Gesetze mit bürgernaher Sprache Grenzen gesetzt. Aber Steuergesetze müssen nicht so kompliziert formuliert und verklausuliert sein, dass ihre Texte selbst von Steuerexperten nicht mehr verstanden werden. Das rechtsstaatliche Gebot der Normenklarheit ist verletzt, wenn das Zusammenspiel der einzelnen Tatbestände und Gesetze nicht mehr verständlich ist (Hyperlexie)19. Dabei ist die Kompliziertheit und Undurchschaubarkeit der Steuergesetze auch der Zerklüftung des Steuerrechts durch Gruppeninteressen zuzuschreiben (s. § 3 Rz. 1). Komplizierte Steuergesetze mindern die Gerechtigkeitsqualität einer Steuer, weil nur der Wohlinformierte, der gut Beratene die vom komplizierten Gesetz gewährten Möglichkeiten der Steuervermeidung ausschöpfen kann (sog. Dummensteuereffekt, s. § 1 Rz. 23). Insofern gilt die Devise: „Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung“ (s. § 3 Rz. 145 ff.). (3) Komplizierte Steuergesetze vereiteln schließlich die Wohlfeilheit der Besteuerung, nach der die Kosten 15 der Steuererhebung möglichst gering sein sollen, denn der Staat muss zu viele Finanzbeamte und Richter beschäftigen, um Steueransprüche mit komplizierten Tatbestandsvoraussetzungen durchzusetzen; für den Stpfl. ist der Beratungsaufwand zu hoch. Im Allgemeinen verursachen indirekte Steuern (s. Rz. 20) weniger Verwaltungsaufwand als direkte Steuern, weil indirekte Steuern wegen ihrer Unmerklichkeit weniger Steuerwiderstand erzeugen und von relativ wenigen Steuerschuldnern, z.B. nur von den Herstellern und Importeuren verbrauchsteuerpflichtiger Waren (s. § 18 Rz. 109 ff.) erhoben werden. Die Relation von Aufkommen und Verwaltungsaufwand ist besonders günstig bei der Mineralölsteuer und Tabaksteuer, weil nur sehr wenige Unternehmen Steuerschuldner sind und die Bürger infolge ihrer Gewohnheiten bereit sind, einen hohen Preis für Autofahren und Rauchen zu bezahlen. Demgegenüber verursacht die Erhebung der direkten Steuern einen fragwürdig hohen Verwaltungsaufwand; dieser könnte verringert werden, wenn die Steuertatbestände um Ausnahme- und Sondertatbestände bereinigt und auf Grundstrukturen gleichmäßiger Lastenausteilung zurückgeschnitten werden würden20. Besonders ungünstig ist die Relation von Verwaltungsaufwand und Aufkommen bei den Substanzsteuern, wo der Verwaltungsaufwand zudem noch für die Ungleichheiten der Bewertung verschwendet wird (s. § 16 Rz. 6 u. 62).
5. Gerechtigkeit und Ergiebigkeit einer Steuer sind Eigenschaften, welche die materielle Rationalität 16 einer Steuer bestimmen. Unmerklichkeit und Praktikabilität bestimmen die formelle Rationalität. Die direkten Steuern auf das Einkommen haben prinzipiell eine hohe materielle Rationalität; sie sind am besten geeignet, die gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu verwirklichen und sie sind ergiebig. Indessen entfaltet sich die materielle Rationalität zulasten der formellen Rationalität, zulasten der Unmerklichkeit und Praktikabilität. Hingegen sind die indirekten Steuern auf die Verwendung von Einkommen wohl unmerklich, praktikabel und ergiebig, allerdings zulasten der Gerechtigkeit. In einem Rechtsstaat ist aber auch bei den indirekten Steuern darauf zu achten, dass die Grundanforderung der Steuergerechtigkeit nicht ausgehöhlt wird (vgl. § 3 Rz. 70 f.). Rechtsstaatlich inakzeptabel ist die Vernachlässigung der Gerechtigkeit dort, wo sie im Steuersystem am besten verwirklicht werden könnte: Traditionell wird die Einkommensteuer wegen ihrer Gerechtigkeit und Ergiebigkeit als „Königin“ der Steuern bezeichnet21. Der desolate Zustand des heutigen
18 19 20 21
tuierung“ subjektiver Rechte, Habil., 1983; Locher, FS Höhn, 1995, 189; Herzig, BB 2000, 1863 (aus betriebswirtschaftlicher Sicht). Zur Steuervereinfachung s. § 3 Rz. 145 ff. (m.w.N.). Vgl. Stiglitz/Schönfelder, Finanzwissenschaft, 416 ff.; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 6 f. Towfigh, Der Staat Bd. 48 (2009), 29 (31 f.); am Beispiel der §§ 13a–c, 28–28a ErbStG exemplifiziert von Seer, GmbHR 2017, 609 (615 ff.). Vgl. dazu J. Lang, Steuergesetzbuch; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch. Popitz, Einkommensteuer, in Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 3. Bd.4, 1926, 400, 402; Raupach/Tipke/Uelner, Niedergang oder Neuordnung des deutschen Einkommensteuerrechts?, 1985, 18.
Hey 277
§ 7 Rz. 17
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
Einkommensteuerrechts (s. § 3 Rz. 1 f.) hat die Ergiebigkeit der Einkommensteuer nicht beeinträchtigt (s. Rz. 19)22, wohl aber hat die Einkommensteuer ihre Krone verloren: die Gerechtigkeit. 17
6. Zusammenfassend ist festzustellen, dass es keine Steuerart gibt, welche die Grundanforderungen materieller und formeller Rationalität optimal zu erfüllen vermag. Deshalb ist das Vielsteuersystem das theoretisch richtige System (s. § 3 Rz. 54), weil in einem solchen System die unterschiedlich strukturierten Steuerarten in ihren Eigenschaften ergänzt und Rationalitätsdefizite einzelner Steuerarten im ganzen Steuersystem aufgefangen und ausgeglichen werden können23. Das Rationalitätsdefizit des sog. Steuerchaos, der Steuerrechtsunordnung (s. § 3 Rz. 1) beruht indessen nicht auf dem Syllogismus von Gerechtigkeit, Ergiebigkeit und damit notwendig verknüpfter Merklichkeit und Inpraktikabilität; es bringt vielmehr Ungerechtigkeit um den Preis von Merklichkeit und Inpraktikabilität hervor. Schema der Steuerartenbewertung
materielle Rationalität der Steuer
18
Gerechtigkeit
Unmerklichkeit
Ergiebigkeit
Praktikabilität
formelle Rationalität der Steuer
Einstweilen frei.
B. Steueraufkommen, Steuerquote und Steuerarten in Deutschland 19
Im Jahre 2016 betrug in Deutschland das Steueraufkommen insgesamt 705,8 Mrd. Euro (exkl. KiSt.); die Steuerquote24 lag bei 23,3 %. Für 2021 wird ein Anstieg des Gesamtsteueraufkommens auf 852 Mrd. Euro (Steuerquote 23,28 %) erwartet, was die Frage nach Steuerentlastungen aufwirft. Das Aufkommen wird im Wesentlichen über einige wenige große Steuern generiert. Allein die Einkommensteuer deckte 37,4 % des gesamten Steueraufkommens ab. Die Umsatzsteuer liegt allerdings mittlerweile nahezu gleichauf mit der Einkommensteuer. Die sechs aufkommenstärksten Steuern (ESt, USt, GewSt, EnergieSt, KSt, SolZ) erbrachten 87,2 % des Steueraufkommens. I.E. verteilte sich das Steueraufkommen 2016 auf die einzelnen Steuerarten wie folgt (Beträge in Mio. Euro):
22 So schon Raupach/Tipke/Uelner, Niedergang oder Neuordnung des deutschen Einkommensteuerrechts?, 1985, 183. 23 Aus finanzwissenschaftlicher Sicht Homburg, Steuerlehre, 144 f. 24 Die Steuerquote ist der prozentuale Anteil des gesamten Steueraufkommens am Bruttoinlandsprodukt (BIP), d.i. der Geldwert aller in der Periode von den Wirtschaftseinheiten im Inland produzierten Waren und Dienstleistungen nach Abzug des Wertes der im Produktionsprozess als Vorleistungen verbrauchten Güter (so das Statistische Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.3). Von der Steuerquote zu unterscheiden sind die Staatsquote (Anteil der öffentlichen Ausgaben am BIP) und die Sozialbeitragsquote (Anteil der Sozialversicherungsbeiträge am BIP); diese ergibt zusammen mit der Steuerquote die Abgabenquote. Ausf. zu diesen Quoten Stern, Die Entwicklung der Steuer- und Abgabenbelastung, 2006, und die vom BMF jährlich hrsg. Finanzberichte.
278
Hey
B. Steueraufkommen, Steuerquote und Steuerarten in Deutschland
Rz. 21 § 7
Einkommensteuer25:
264 051 Grunderwerbsteuer:
12 408
Umsatzsteuer26:
217 089 Kraftfahrzeugsteuer:
8 952
Gemeindesteuern27:
65 313 Erbschaft- und Schenkungsteuer:
7 006
Energiesteuer:
40 091 Stromsteuer:
6 569
Körperschaftsteuer:
27 442 Branntweinsteuer:
2 070
Solidaritätszuschlag:
16 855 Rennwett- und Lotteriesteuer:
1 809
Tabaksteuer:
14 186 Kaffeesteuer:
1 040
Versicherungsteuer:
12 763 Sonstige Steuern28:
8 148
Kirchensteuer:
11 390 (2015)
Es werden folgende Steuerarten unterschieden: 1. Direkte und indirekte Steuern: Bei direkten Steuern sind Steuerschuldner und Steuerträger iden- 20 tisch. Indirekte Steuern werden vom Steuerschuldner auf einen anderen, den Steuerträger, überwälzt; Steuerschuldner und Steuerträger sind also verschiedene Personen oder Subjekte. Im Allgemeinen gilt, dass Steuern auf das Einkommen und Vermögen direkte Steuern sind, also nicht überwälzt werden, während Steuern auf die Verwendung von Einkommen und Vermögen (Umsatzsteuer, Verbrauch- und Verkehrsteuern) im Preis der umsatz-, verbrauch-, verkehrsteuerbelasteten Ware offen oder verdeckt überwälzt werden, was sie zu indirekten Steuern macht. So enthält z.B. der Benzinpreis die überwälzte Umsatzsteuer und Mineralölsteuer. Allerdings kann je nach Marktlage jede Steuer „überwälzt“ werden29. Insbesondere Unternehmensteuern werden voll überwälzt, da Unternehmen keine Steuern tragen, sondern nur natürliche Personen (s. § 11 Rz. 36). Die Unternehmensteuerlast trifft Arbeitnehmer in Form niedrigerer Löhne und Gehälter, Konsumenten in Form höherer Preise und Anteilseigner in Form niedriger Ausschüttungen. Beispiele für die Überwälzung direkter Steuern: Überwälzung der Gewerbesteuer auf die Löhne; Nettolohnvereinbarung des Arbeitnehmers; Überwälzung der Grundsteuer auf den Mieter in den Betriebskosten. 2. Personal- und Realsteuern: Personal- oder Subjektsteuern sind auf die Person zugeschnitten; sie 21 berücksichtigen die persönlichen Verhältnisse des Steuerschuldners (wie Familienstand, Anzahl der Kinder, Alter, Krankheit). Beispiel: Einkommensteuer. Real- oder Objektsteuern belasten Steuergüter losgelöst von den persönlichen Verhältnissen des Steuerschuldners. Der Gesetzgeber verwendet den Begriff der Realsteuern nur für zwei Gemeindesteuern: die Grundsteuer und die Gewerbesteuer (§ 3 II AO). Die Unterscheidung zwischen Personal- und Realsteuern ist für eine Systematisierung der Steuerarten nur begrenzt tauglich, da selbst Subjektsteuern wie die Einkommensteuer in bestimmten Fällen
25 Veranlagte ESt: 53 833; LSt: 184 826; nicht veranlagt: 19 452; Abgeltungsteuer einschließlich ehem. Zinsabschlag: 5 940 Mio. Euro. Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamts (Lohn- und Einkommensteuerstatistik 2013) tragen die oberen 10 % der Stpfl. (Einkünfte ab 72 967 Euro) 56,8 % und die obere Hälfte der Stpfl. (Einkünfte ab 25 411 Euro) 95,3 % des Einkommensteueraufkommens. 26 USt: 165 932; Einfuhrumsatzsteuer: 51 157 Mio. Euro. 27 GewSt: 50 097; GrSt: 13 654; sonstige Gemeindesteuern: 1 562 Mio. Euro. 28 Zölle: 5 113; Kernbrennstoffsteuer: 422; Luftverkehrsteuer: 1 074; Biersteuer: 678; Schaumweinsteuer: 401; Feuerschutzsteuer: 442; Zwischenerzeugnissteuer: 15; Pauschalierte Eingangsabgaben: 2; Alcopopsteuer: 1 Mio. Euro. 29 Zur Theorie der Steuerüberwälzung Homburg, Steuerlehre, Kap. 4, 89–140.
Hey 279
§ 7 Rz. 22
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
objektsteuerartigen Charakter annehmen können. Beispiel: Beschränkte Einkommensteuerpflicht (s. § 8 Rz. 27). 22
3. Ertrag- und Substanzsteuern: Ertragsteuern knüpfen an Einkünfte an. Der Begriff „Ertragsteuer“ rekurriert auf den historischen Begriff des Reinertrages, zu verstehen als Gewinn30. Die betriebswirtschaftliche Steuerlehre31 hat diesen historischen Inhalt des Ertragsteuerbegriffs übernommen und bezeichnet Steuern, die an den erwirtschafteten Gewinn eines Betriebes anknüpfen, als Ertragsteuern, so die Einkommensteuer, die Kirchensteuer als Annex zur Einkommensteuer, die Körperschaftsteuer und die Gewerbeertragsteuer. Während sich die ältere finanzwissenschaftliche Literatur32 im Wesentlichen darauf beschränkte, den Gegensatz der Ertragsteuer zur Einkommensteuer als einer Steuer auf mehrere Einkunftsarten herauszustellen, differenziert die betriebswirtschaftliche Steuerlehre zwischen Ertragsteuern und Substanzsteuern, um die Belastungswirkungen der Steuern zu verdeutlichen33. Gemeinsam ist den Substanzsteuerarten die Anknüpfung an Roh- und Reinvermögensgrößen; diese Anknüpfung kann Steuern zur Folge haben, die nicht aus den Vermögenserträgen entrichtet werden können. In diesem Falle schöpft die Steuerlast Vermögenssubstanz ab (s. § 3 Rz. 59 ff.). Substanzsteuern i.S.d. betriebswirtschaftlichen Steuerlehre sind die Grundsteuer, die frühere Vermögensteuer und Gewerbekapitalsteuer, die Erbschaft- und Schenkungsteuer.
23
4. Generelle und spezielle Steuern: Generelle Steuern erfassen das Gesamteinkommen, das Gesamtvermögen, den Gesamtumsatz. Spezielle Steuern erfassen nur Teile des Einkommens (z.B. Gewerbeertragsteuer), des Vermögens (z.B. Grundsteuer) oder einzelne Verkehrsvorgänge (z.B. spezielle Verkehrsteuern). Spezielle Verbrauch- und Aufwandsteuern belasten speziellen Konsum (z.B. das Rauchen, Biertrinken, Halten eines Hundes). Häufig konkurriert eine generelle Steuer mit speziellen Steuern. Es gilt aber nicht der Satz „tributum speciale derogat tributo generali“. Vielmehr belastet die spezielle Steuer das Steuergut i.d.R. zusätzlich zur Steuerbelastung durch die allgemeine Steuer. Beispiele: Belastung des Benzinverbrauchs durch Energiesteuer und Umsatzsteuer; Belastung des Rauchens durch Tabaksteuer und Umsatzsteuer. In Einzelfällen hat der Gesetzgeber indessen Doppelbelastungen beseitigt (vgl. z.B. § 4 Nr. 9, 10 UStG). Steuersystematisch ist zu bedenken, dass Sonderbelastungen durch spezielle Steuern besonderer Rechtfertigung durch zusätzliche Leistungsfähigkeit oder durch Sozialzwecke bedürfen.
24
5. Gleichartige und nicht gleichartige Steuern: Die Unterscheidung zwischen gleichartigen und nicht gleichartigen Steuern hat für die Frage Bedeutung, ob die Länder nach Art. 105 IIa GG die Gesetzgebungskompetenz für örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern haben (s. § 2 Rz. 50 f.) sowie für die Gleichartigkeit mit der harmonisierten Mehrwertsteuer (Art. 401 MwStSyst-RL. s. § 17 Rz. 21).
25
6. Periodische Steuern (z.B. Einkommensteuer, Umsatzsteuer) und nichtperiodische Steuern (z.B. Erbschaftsteuer, Grunderwerbsteuer).
26
7. Proportionale und progressive Steuern, je nachdem, ob der Steuersatz proportional oder progressiv ist.
27
8. Verwaltungstechnische Unterscheidungen: – Die Organisation der Finanzverwaltung unterscheidet die Besitz- und Verkehrsteuerverwaltung einerseits sowie die Zoll- und Verbrauchsteuerverwaltung andererseits (Beispiel: § 8a II 1 FVG). Im verwaltungsorganisatorischen Sinne sind Besitzsteuern die Steuern vom Einkommen, vom 30 Vgl. Bräuer, Ertragsteuern, in Hdb. der Finanzwissenschaft, Bd. II1, 1927, 3. 31 Vgl. z.B. den Titel „Ertragsteuern“ im Lehrwerk Betrieb und Steuer von Rose/Watrin oder den Titel „Besteuerung von Erträgen“ des Lehrbuchs von Wellisch. 32 Vgl. Bräuer, Ertragsteuern, in Hdb. der Finanzwissenschaft, Bd. II1, 1927, 3. 33 Grundl. Rose, Die Steuerbelastung der Unternehmung, Grundzüge der Teilsteuerrechnung, 1973.
280
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B. Steueraufkommen, Steuerquote und Steuerarten in Deutschland
Rz. 29 § 7
Ertrag, vom Vermögen sowie die Erbschaft- und Schenkungsteuer, Verkehrsteuern die Umsatzsteuer sowie die speziellen Verkehrsteuern. Nach dieser verwaltungsorganisatorischen Terminologie differenzieren steuerschuldrechtliche (z.B. § 169 II AO) und verfahrensrechtliche (z.B. § 172 I AO) Vorschriften. – Zu unterscheiden sind die Steuerart und die Erhebungsform. Insb. sind die Lohnsteuer und die Kapitalertragsteuer keine eigenen Steuerarten, sondern lediglich Erhebungsformen der Einkommensteuer. Statistisch werden das Lohnsteuer- und das Kapitalertragsteueraufkommen gesondert von dem Aufkommen aus der veranlagten Einkommensteuer ausgewiesen. Das Lohnsteueraufkommen dominiert das übrige Einkommensteueraufkommen. Schon von daher wird verständlich, dass die Besteuerung des Arbeitnehmers in einem Massenverfahren abgewickelt werden muss. – Die Steuererhebung schöpft häufig an der Quelle wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, so die Lohnsteuer in Gestalt eines Abzuges vom Arbeitslohn, den der Arbeitgeber einzubehalten und an das Finanzamt abzuführen hat (vgl. §§ 38 ff. EStG). Eine solche Form der Steuererhebung bezeichnet man als Quellensteuer. Auch die Kapitalertragsteuer (vgl. §§ 43 ff. EStG) ist eine Quellensteuer. – Die Unterscheidung zwischen Veranlagungs- und Fälligkeitssteuern ist steuerstrafrechtlich relevant (s. § 23 Rz. 30 ff.). 9. Die jährlich vom Bundesfinanzministerium herausgegebenen Finanzberichte unterscheiden
28
– Steuern auf das Einkommen und Vermögen, unterteilt in Steuern vom Einkommen (Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Ergänzungsabgabe zur ESt und zur KSt/Solidaritätszuschlag), Steuern vom Vermögensbesitz (Vermögensteuer [letztmalig erhoben für VZ 1996], Grundsteuer und Steuern vom Gewerbebetrieb (Gewerbesteuer); – Steuern auf den Vermögensverkehr (Erbschaft- und Schenkungsteuer, Grunderwerbsteuer); – Steuern auf die Einkommensverwendung, unterteilt in Steuern vom Umsatz (Umsatzsteuer, Versicherungsteuer, Kraftfahrzeugsteuer, Energiesteuer, Stromsteuer, Zölle sowie sonstige Steuern vom Verbrauch und Aufwand (u.a. Tabaksteuer, Branntweinabgaben). 10. Entsprechend der in § 3 Rz. 56 ff. dargelegten Einwirkung der Steuern auf Einkommen, Ver- 29 mögen und Konsum lassen sich die Steuern in Deutschland nach dem Zeitpunkt des steuerlichen Zugriffs in folgende zwei Hauptgruppen einteilen: – Steuern auf das Einkommen und Vermögen: Im Zeitpunkt der Entstehung von Vermögen (s. § 3 Rz. 56) setzen die Einkommensteuer, die Körperschaftsteuer, die Kirchensteuer sowie die Annexsteuern zur Einkommensteuer/Körperschaftsteuer an (Art. 106 I Nr. 6 GG: Ergänzungsabgabe, z.B. in Gestalt eines Stabilitäts- bzw. Solidaritätszuschlages, s. Rz. 36). Steuern auf den Vermögensbestand (sog. Substanzsteuern, s. Rz. 42 f.; § 3 Rz. 59 ff.) sind Grundsteuer (s. § 16 Rz. 1 ff.), die frühere Vermögensteuer und Gewerbekapitalsteuer, schließlich auch die Erbschaft- und Schenkungsteuer, die den Vermögenstransfer besteuert (s. Rz. 38 ff.). – Steuern auf die Verwendung von Einkommen und Vermögen: Diese Steuern setzen nach der Entstehung von Vermögen an (s. Schaubild in: § 3 Rz. 56); sie belasten grds. den Verbrauch (Privatkonsum)34 wie die Umsatzsteuer als allgemeine Verbrauchsteuer (s. § 17 Rz. 10 ff.) sowie die speziellen Verbrauch- und Aufwandsteuern (s. § 18 Rz. 105 ff.). Die speziellen Verkehrsteuern belasten auch die nicht konsumtive Vermögensumschichtung.
34 BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, ECLI:DE:BVerfG:2017:ls20170413.2bvl000613, Rz. 119.
Hey 281
§ 7 Rz. 30
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
Steuern (§ 31 AO)*
Steuern auf das Einkommen und Vermögen
Markteinkommen
ESt
Vermögenstransfer
Steuern auf die Verwendung von Einkommen und Vermögen
Vermögen
ErbSt KSt GewSt SchenkSt VSt**
GrSt
USt
besondere Verkehrsteuern
KiSt
am erwirtschafteten Vermögenszuwachs
am Vermögensbestand
besondere Verbrauchund Aufwandsteuern
am Konsum
Teilhabe des Staates * Ohne Zölle u. Abschöpfungen (Rz. 108 ff.). ** Die VSt kann gegenwärtig nicht erhoben werden (s. Rz. 43).
C. Steuern auf das Einkommen und Vermögen 1. Steuern auf das Erwerbseinkommen a) Universelle Erfassung der Erwerbseinkommen durch die Einkommensteuer und Körperschaftsteuer 30
Dem Charakter der Einkommensteuer als Leistungsfähigkeitssteuer scheint die sog. Reinvermögenszugangstheorie (genauer: Reinvermögenszuwachstheorie) am besten zu entsprechen. Nach dieser Theorie ist Einkommen der „Zugang von Reinvermögen in einer Wirtschaft während einer gegebenen Periode“ (von Schanz35). Dem entspricht die „net accretion theory“ der Amerikaner Haig und Simons: „Income is the money value of the net accretion of one’s economic power between two points of time“ (Haig36). Das Haig-Simons-Schanz-Konzept (so der internationale Sprachgebrauch) zielt darauf ab, die steuerliche Leistungsfähigkeit am gesamten Bedürfnisbefriedigungspotential des Stpfl. zu messen37. Mithin erfasst die Reinvermögenszugangstheorie nicht nur Vermögenszugän35 Von Schanz, Der Einkommensbegriff und die Einkommensteuergesetze, FinArch. 13. Jg. (1896), 1; von Schanz, Der privatwirtschaftliche Einkommensbegriff, FinArch. 39. Jg. (1922), 505. 36 The Concept of Income: Economic and Legal Aspects in Haig, The Federal Income Tax, 1921, 7. Simons, Personal Income Taxation, 1938. 37 Grundl. für die Schanz’sche Lehre Schmoller, Die Lehre vom Einkommen in ihrem Zusammenhang mit den Grundprincipien der Steuerlehre, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 19. Jg. (1863),
282
Hey
C. Steuern auf das Einkommen und Vermögen
Rz. 31 § 7
ge und -abgänge im juristischen Sinne einschließlich unrealisierter Wertsteigerungen und Zuwendungen (insb. Geschenke und Erbschaften), sondern darüber hinaus auch private Nutzungen und Wertschöpfungen (sog. imputed income)38. Dem Haig-Simons-Schanz-Konzept liegt also ein extensiver ökonomischer Güterbegriff zugrunde, der alle für die Bedürfnisbefriedigung geeigneten Vorteile erfasst. Die reale Einkommensteuer knüpft indes nicht an den Reinvermögenszugang an. Der Gesetzgeber des EStG 1925 hat die von von Schanz entwickelte Theorie zugunsten eines pragmatischen, aus einem enumerativen Katalog von zunächst acht (EStG 1925), sodann sieben (ab EStG 1934) Einkunftsarten bestehenden Einkommensbegriffs verworfen39. Besteuert werden nur Einkünfte, die der Stpfl. durch eine mit Gewinnabsicht ausgeübte Erwerbstätigkeit erwirtschaftet hat. Diesen Begriff des Erwerbseinkommens40 (s. § 3 Rz. 68; § 8 Rz. 52) hat im Ansatz bereits der Nationalökonom Wilhelm Roscher41 formuliert. Die Rspr. des Preußischen OVG42 definierte den Begriff des Gewerbebetriebs als „Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr“ und legte damit eine erste Grundlage für die sog. Markteinkommenstheorie, nach der die Einkommensteuer grds. nur am Markt erwirtschaftete Einkünfte erfasst43. Jedoch erweist sich der Begriff „Markteinkommen“ bei genauerer rechtlicher Betrachtung als zu eng44: 31 Nach der Dogmatik des geltenden Rechts ist es gleichgültig, ob Einkünfte am Markt, außerhalb des Marktes, privatwirtschaftlich oder hoheitlich erwirtschaftet werden. Das geltende Recht beschränkt die Objekte der Einkommen- und Körperschaftsteuer auf das Erwerbseinkommen und prägt dadurch den Charakter der Steuern auf das Einkommen, was aber entgegen der Auffassung von P. Kirchhof nicht verfassungsrechtlich vorgegeben ist. Vielmehr verliert die Einkommensteuer ihren Charakter als reine Leistungsfähigkeitssteuer, wenn sie mit dem Nutzen der Teilhabe am Markt45 gerechtfertigt wird.
38
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44 45
1 (50): Einkommen sei die „Summe von Mitteln, welche der Einzelne, ohne in seinem Vermögen zurückzukommen, für sich und seine Familie, für seine geistigen und körperlichen Bedürfnisse, für seine Genüsse und Zwecke, kurz für die Steigerung seiner Persönlichkeit in einer Wirtschaftsperiode verwenden kann.“ Zum Einfluss von Schmoller auf die Reinvermögenszugangstheorie s. Hansen in Strümpel, Beiträge zur Wirtschaftswissenschaft, 1990, 1. Zur rechtlichen Würdigung des Haig-Simons-SchanzKonzepts m.w.N. J. Lang in Rose, Integriertes Steuer- u. Sozialsystem, 2003, 83 (97 ff.); Tipke, StRO II, 624 ff. Von Schanz, FinArch. 13. Jg. (1896), 1 (24): „Wir rechnen also zum Einkommen alle Reinerträge und Nutzungen, geldwerte Leistungen Dritter, alle Geschenke, Erbschaften, Legate, Lotteriegewinne, Versicherungskapitalien, Versicherungsrenten, Konjunkturengewinne jeder Art, wir rechnen ab alle Schuldzinsen und Vermögensverluste …“. Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 39 ff. Hierzu grdl. P. Kirchhof, FS J. Lang, 2010, 451. System der Volkswirtschaft, Bd. 1: Grundlagen der Nationalökonomie5, 1864, 292: Der Begriff „Einkommen“ umfasse „nur solche Einnahmen, die aus einer wirtschaftlichen Tätigkeit herrühren.“ Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 235 ff.; Schön, FS Vogel, 2000, 661 (663). Grundl. Ruppe, DStJG 1 (1978), 7 (16): Definition der Einkunftsquelle als „entgeltliche Verwertung von Leistungen (Wirtschaftsgütern oder Dienstleistungen) am Markt“. Dazu ausf. Wittmann, Das Markteinkommen – einfachgesetzlicher Strukturbegriff und verfassungsdirigierter Anknüpfungsgegenstand der Einkommensteuer?, Diss., 1992; Wittmann, StuW 1993, 35; Elicker, DStZ 2005, 564; Pannen, Grundfragen zur Einkommensteuerpflicht, Markteinkommenstheorie kontra Wohnsitz- und Welteinkommensbesteuerung, Diss., 2005. Dazu die Kritik in FS Tipke, 1995, von Söhn, 343, u. Steichen, 365. Im Weiteren Schön, FS Offerhaus, 1999, 385 (395 ff.); Tipke, StRO II, 629 f. (die Markteinkommenstheorie bleibe „hinter dem nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip zu Erfassenden zurück“). So die äquivalenztheoretische Rechtfertigung der ESt von P. Kirchhof, Gutachten F zum 57. DJT, 1988, 16 f.; P. Kirchhof, DStJG 24 (2001), 14 ff.; P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, 53; P. Kirchhof, FS J. Lang, 2010, 451 (462): Nicht der Zuwachs an Leistungsfähigkeit allein, sondern erst deren Ermöglichung durch den Staat rechtfertigt die staatliche Teilhabe. „Mitwirkung der Rechtsgemeinschaft am individuellen Einkommen“ als rechtfertigender Gedanke der Einkommensteuer.
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§ 7 Rz. 32
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
Die Beschränkung auf das Erwerbseinkommen bestimmt lediglich einfachgesetzlich die Struktur des nach deutschem Recht zu versteuernden Einkommen (dazu näher § 8 Rz. 52). 32
Während Erbschaften und Schenkungen der von der Einkommensteuer abgesonderten Erbschaftund Schenkungsteuer unterworfen sind (s. Rz. 38 ff.), bleibt das sog. imputed income nach der Markteinkommenstheorie allgemein unversteuert46. Eine Ausnahme bilden die Immobiliennutzungswerte, deren Besteuerung in Deutschland allerdings 198647 abgeschafft wurde (s. § 8 Rz. 520). Imputed income kann nicht gleichheitskonform besteuert werden: Es können nicht alle Nutzungen von privaten Konsumgütern und alle Wertschöpfungen in der privaten Konsumsphäre einschließlich des Werts eigener Leistungen (z.B. Hausarbeit) erfasst werden. Die gegenwärtige Rechtspraxis gewährleistet nicht einmal die vollständige Besteuerung der Erwerbseinkommen. Sie leidet unter Vollzugsdefiziten besonders in den Bereichen der Schattenwirtschaft und der Privatvermögen.
33
Zudem erfasst der markteinkommenstheoretisch fundierte Begriff des Erwerbseinkommens im Unterschied zur Reinvermögenszugangstheorie grds. nur die realisierten, am Markt bestätigten Einkommen und vermeidet dadurch die bereits oben (§ 3 Rz. 60 ff., 67) bemängelten Substanzsteuereffekte. Anders als der nicht realisierte Wertzuwachs ist das realisierte Einkommen ein sicherer Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit.
34
Die Körperschaftsteuer ist die Einkommensteuer der juristischen Person (insb. Kapitalgesellschaften) und anderer Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen i.S.d. § 1 KStG. Das Körperschaftsteuerrecht basiert darauf, dass juristische Personen als solche (unabhängig von ihren Mitgliedern) im Wirtschaftsverkehr auftreten und Gewinne erzielen, die sich vom Einkommen der Teilhaber unterscheiden. Das Körperschaftsteuerrecht knüpft prinzipiell an die juristische und wirtschaftliche Selbständigkeit der juristischen Personen und sonstigen Körperschaften an und erfasst auf diese Weise deren nicht ausgeschütteten Gewinn. Sie legt der Besteuerung über § 8 I KStG das Erwerbseinkommen zugrunde und ist damit wie die Einkommensteuer der natürlichen Person im Wesentlichen eine Steuer auf den erwirtschafteten und realisierten Vermögenszuwachs.
35
Dualismus Einkommensteuer/Körperschaftsteuer: Erst das Nebeneinander von Einkommensteuer und Körperschaftsteuer gewährleistet die totale Besteuerung aller Erwerbseinkommen. Dies gebietet die Wettbewerbsgleichheit besonders bei Körperschaftsteuersubjekten, die Einkommen nicht für bestimmte natürliche Personen erwirtschaften, das sind insb. Betriebe gewerblicher Art von juristischen Personen des öffentlichen Rechts, Vereine, Anstalten und Stiftungen. Allerdings wirft die steuerliche Verselbständigung der Körperschaft auch das Problem der wirtschaftlichen Doppelbelastung ausgeschütteter Gewinne auf, die bei einkommen-/körperschaftsteuerpflichtigen Anteilseignern nochmals erfasst werden. Während die Doppelbelastung bis 2001 durch ein Vollanrechnungssystem vollständig beseitigt wurde, mildert das seither geltende Teileinkünfteverfahren bzw. die Anwendung der Abgeltungsteuer die Belastung mit Körperschaft- und Einkommensteuer lediglich ab (s. § 11 Rz. 8). Da der Dualismus Einkommensteuer/Körperschaftsteuer an bestimmte Rechtsformen anknüpft (s. § 11 Rz. 3), bewirkt er eine rechtsformabhängige Besteuerung, die eine ungleiche Belastung wirtschaftlich gleich gelagerter Sachverhalte zur Folge hat (s. § 13 Rz. 168 ff.). b) Annexsteuern zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer
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Die Erwerbseinkommen von Einkommen- und Körperschaftsteuersubjekten werden zusätzlich durch die sog. Annexsteuern belastet. Annexsteuern sind Steuern, die nach der Einkommensteuer46 S. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 251 ff. Zum sog. imputed income grundl. Marsh, Political Science Quarterly, Vol. LVIII (1943), 514. Zu den Wertschöpfungen in der Privatsphäre J. Lang, Bemessungsgrundlage, 251 ff.; zur Wertschöpfung der Hausfrau Böckli, Steuer-Revue 1978, 98 (105 ff.). 47 Zur Besteuerung der Nutzungswerte von Immobilien in der Schweiz grundl. Weisflog, Eigenmietwertbesteuerung und Abzüge (insb. Schuldzinsenabzug), ASA 63 (1995), 517; Gurtner/Locher, Theoretische Aspekte der Eigenmietwertbesteuerung, ASA 69 (2001), 597.
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C. Steuern auf das Einkommen und Vermögen
Rz. 38 § 7
bzw. Körperschaftsteuerschuld bemessen werden, so die Kirchensteuer (s. § 10) und die Ergänzungsabgaben i.S.d. Art. 106 I Nr. 6 GG: 1968–1976 Ergänzungsabgabe; 1973/74: Stabilitätszuschlag; 1991/92 Solidaritätszuschlag von 3,75 % (Vorauszahlungen/Lohnsteuer/Kapitalertragsteuer ab 1.7.1991: 7,5 %), und ab 1998: SolZ v. 5,5 %48. Der SolZ dient nach Auslaufen des Solidarpaktes II49 nicht mehr der Förderung der neuen Länder, sondern der Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs. Entgegen der Auffassung des BVerfG, das keine grundlegenden Zweifel an der auf Art. 106 I Nr. 6 GG gestützten alleinigen Ertragskompetenz des Bundes zu haben scheint50, ist die Einordnung des SolZ als (außerordentliche) Ergänzungsabgabe angesichts der weitgehenden Entkoppelung vom ursprünglichen Erhebungszweck und der langen Dauer seiner Erhebung finanzverfassungsrechtlich nicht länger haltbar (s. hierzu § 2 Rz. 6). Ein dauerhafter Bundeseinkommenszuschlag würde das Gefüge der Gemeinschaftsteuern maßgeblich verändern und bedürfte einer Verfassungsänderung. Die gute Einnahmesituation des Staates erlaubt die ersatzlose Streichung51. c) Zusatzbelastung der gewerblichen Gewinne durch die Gewerbesteuer Die Gewerbesteuer soll nach dem Äquivalenzprinzip dem Zweck dienen, durch Gewerbebetriebe ver- 37 ursachte Infrastrukturlasten der Gemeinden zu finanzieren52. Bis 1997 knüpfte sie an zwei völlig verschiedene Maßgrößen steuerlicher Leistungsfähigkeit an, erstens an den Gewinn i.S.d. EStG/KStG (§ 7 GewStG) und zweitens an das Gewerbekapital, zuvor (bis 1979) auch noch an die Lohnsumme. Die Gewerbekapitalsteuer wurde zum 1.1.1998 abgeschafft. Die Ausrichtung der Gewerbesteuer am Äquivalenzprinzip hat zur Folge, dass die Gewerbesteuer auch steuerlich nicht leistungsfähige Unternehmen belastet. Durch Hinzurechnungen (§ 8 GewStG) wird die Maßgröße des erwirtschafteten Gewinns verfälscht, indem Aufwand negiert wird. Das Ergebnis ist eine Gewerbeertragsteuer mit erheblichem Substanzsteuereffekt. Die Einordnung als Real- oder Objektsteuer ist ungeeignet, die Hinzurechnungen zu rechtfertigen53. Ein Steuertypus unklaren Inhalts liefert keine Begründung für Abweichungen vom Leistungsfähigkeitsprinzip. I.Ü. ist die Gewerbesteuer, spätestens seitdem sie pauschal auf die Einkommensteuer angerechnet wird (§ 35 EStG54) und nicht mehr als Betriebsausgabe abziehbar ist (§ 4 Vb EStG55), vollends zu einer (kommunalen) Ertragsteuer mutiert. Entgegen BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1, entbehrt die auf Bezieher gewerblicher Einkünfte i.S.v. § 15 EStG beschränkte Gewerbesteuer heutiger Fassung jeglicher Legitimation. 2. Besteuerung des Vermögenstransfers durch die Erbschaft- und Schenkungsteuer Nach der Reinvermögenszugangstheorie sind Erbschaften und Schenkungen Einkommen. Danach ist 38 die Erbschaft- und Schenkungsteuer eine Steuer auf das Einkommen56, nämlich im Gegensatz zu den Steuern auf das erwirtschaftete Einkommen eine Steuer auf das zugewendete Einkommen. Ein Fun48 § 4 Satz 1 SolZG 1995. 49 Befristet bis Ende 2019, s. Solidarpaktfortführungsgesetz v. 20.12.2001, BGBl. I 2001, 3955. 50 BVerfG v. 8.9.2010 – 2 BvL 3/10, BFH/NV 2010, 2217; auch BFH v. 21.7.2011 – II R 52/10, BStBl. II 2012, 43; dagegen Vorlagebeschluss des FG Niedersachsen v. 21.8.2013 – 7 K 143/08, DStRE 2014, 534-544 (Az. beim BVerfG 2 BvL 6/14). 51 Zur Alternative der Integration in den Einkommensteuertarif Broer, Wirtschaftsdienst 2015, 269; Fuest u.a., Wirtschaftsdienst 2015, 319. 52 Bestätigt durch BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (33, 37 f.); krit. Tipke, StRO II, 1139 ff.; Hey, StuW 2002, 314. Vgl. auch Conradi, Die Legitimation der Gewerbesteuer. Eine wirtschaftspolitische, rechtshistorische u. steuersystematische Analyse, Diss., 2001. 53 Sehr deutlich Selder, FR 2014, 174 (177 f.); a.A. BFH v. 16.10.2012 – I B 128/12, BStBl. II 2013, 30; BVerfG v. 15.2.2016 – 1 BvL 8/12, BStBl. II 2016, 557. 54 Eingeführt durch StSenkG v. 23.10.2000, BGBl. I 2000, 1433. 55 Eingeführt durch UntStRefG 2008 v. 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912. 56 Dazu ausf. Tipke, StRO II, 872 ff.
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§ 7 Rz. 39
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
damentalprinzip der Erbschaft- und Schenkungsteuer ist das Bereicherungsprinzip (§ 10 ErbStG)57. Der Qualifikation der Erbschaft- und Schenkungsteuer als Steuer auf das Einkommen entspricht die technische Anknüpfung an den Erbanfall beim einzelnen Erben (sog. Erbanfallsteuer, s. § 15 Rz. 2). Eine Erbschaftsteuer kann technisch aber auch an den Nachlass anknüpfen, und zwar unabhängig davon, wie viele Erben daran teilhaben und in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis sie zum Erblasser standen (sog. Nachlasssteuer, s. § 15 Rz. 2). In diesem Falle wäre die Erbschaftsteuer aus der Sicht des Erblassers zu klassifizieren. Sie wäre eine Steuer auf das Vermögen des Erblassers. 39
Indessen wird auch die geltende Erbschaft- und Schenkungsteuer nicht allein aus dem Blickwinkel der Reinvermögenszugangstheorie und der Bereicherung beurteilt. Dieser Blickwinkel erweist sich für die ökonomische und juristische Beurteilung der Erbschaft- und Schenkungsteuer als zu eng. Der Staat beteiligt sich mit der Erbschaft- und Schenkungsteuer nicht am Bruttosozialprodukt, sondern an dem bereits produzierten Vermögen. Mithin schöpft die Erbschaft- und Schenkungsteuer von einem Vermögensbestand ab, und zwar mit dem Substanzsteuereffekt58, dass dem Stpfl. zusätzlich zur Steuerlast weitere Vermögensnachteile infolge Illiquidität oder Fehlbewertung des Vermögens entstehen können. Diesen Umstand berücksichtigt z.B. § 28 I ErbStG, der eine Stundung der auf Betriebsvermögen i.S.v. §§ 13b II, 13d III ErbStG entfallenden Erbschaftsteuer vorsieht. Die Betriebswirtschaftslehre beurteilt die Erbschaft- und Schenkungsteuer aus der Sicht des Betriebs als Substanzsteuer59. Der Finanzbericht klassifiziert die Erbschaft- und Schenkungsteuer als eine Steuer auf den Vermögensverkehr (s. Rz. 28). Der BFH wertet sie gelegentlich als Bereicherungsteuer60, in der Regel aber als Verkehrsteuer (s. § 15 Rz. 3)61. Der Gesetzgeber bestätigt diese Betrachtungsweise, indem er eine Grunderwerbsteuerbefreiung für den Grundstückserwerb von Todes wegen und für Grundstücksschenkungen unter Lebenden i.S.d. Erbschaft- und Schenkungsteuergesetzes gewährt (§ 3 Nr. 2 GrEStG).
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U.E. kann die Vielzahl der Klassifikationsmöglichkeiten nur dann auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden, wenn die Erbschaft- und Schenkungsteuer weder einseitig aus der Sicht des Zuwendenden noch einseitig aus der Sicht des Zuwendungsempfängers qualifiziert und damit auch nicht von der technischen Anknüpfung abhängig gemacht wird. Steuersystematisch gesehen liegt bei Zuwendungen (z.B. auch bei Unterhaltsleistungen, s. § 8 Rz. 75) ein Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit vor. Der Bereicherung des Zuwendungsempfängers entspricht die Entreicherung des Zuwendenden. Demnach ist die Maßgröße steuerlicher Leistungsfähigkeit, die durch die Erbschaft- und Schenkungsteuer belastet wird, ein transferierter Vermögensbestand. Nach Auffassung des BVerfG will der Gesetzgeber „den wirtschaftlichen Vorgang des Substanzübergangs“62, den „Substanzzugewinn“63 besteuern. Anders als die Vermögensteuer lässt sich die Erbschaftsteuer nicht als Steuer auf den Sollertrag des erworbenen Vermögens rechtfertigen, auch wenn sie sich ökonomisch in eine Belastung der zukünftigen Erträge umrechnen lässt.
57 Dazu ausf. Tipke, StRO II, 879 ff. 58 Oberhauser, Erbschaft- und Schenkungsteuern, in Hdb. der Finanzwissenschaft, Bd. II3, 1980, 487 (488): „Steuersystematisch kann die Erbschaftsteuer als eine Vermögenssubstanzsteuer angesehen werden, da sie einen Teil des Vermögensüberganges … abschöpft und im allgemeinen aus der Vermögenssubstanz getragen werden muß“. Vgl. auch Northmann, FS 50 Jahre Fachanwälte, 1999, 89. 59 Z.B. Kußmaul, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre7, 2014, 411: Die ErbSt besteuere „den Transfer von Vermögenssubstanz zwischen zwei Steuersubjekten (Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit)“. 60 BFH v. 18.12.1972 – II R 87/70, BStBl. II 1973, 329 (349); v. 9.8.1983 – VIII R 35/80, BStBl. II 1984, 27 (28); v. 1.7.2008 – II R 2/07, BStBl. II 2008, 897 (898); v. 15.6.2016 – II R 51/14, BFHE 255, 85, Rz. 10; BFH v. 8.3.2017 – II R 31/15, BFHE 257, 353, Rz. 12. 61 BFH v. 22.9.1982 – II R 61/80, BStBl. II 1983, 179 (180). 62 BVerfG v. 15.5.1984 – 1 BvR 464/81, BVerfGE 67, 70 (86). 63 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (34).
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C. Steuern auf das Einkommen und Vermögen
Rz. 42 § 7
Mithin ist die Erbschaft- und Schenkungsteuer zwischen den Steuern auf das Einkommen und den 41 Steuern auf das Vermögen anzusiedeln64. Sie erfasst den Vermögenstransfer65, auf den sich insb. die Erbrechtsgarantie in Art. 14 I GG bezieht66 (s. § 3 Rz. 189 ff.). Der Staat nimmt den Vermögenstransfer zum Anlass, den Vermögensbestand umzuverteilen. Die Erbschaft- und Schenkungsteuer hat also neben ihrer Fiskalzweckfunktion auch Umverteilungsfunktion67. Angesichts großzügiger Freibeträge und Verschonungsregeln wird allerdings nur eine geringe Anzahl großer Vermögen in nennenswertem Umfang zur Umverteilung herangezogen68. 3. Besteuerung des Vermögensbestandes durch Substanzsteuern Der Vermögensbestand wird derzeit laufend lediglich durch die Grundsteuer belastet. Als Substanz- 42 steuer ist die Grundsteuer aus den bereits aufgeführten Gründen (s. § 3 Rz. 60 ff.) nicht mit der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu vereinbaren69. Die nun auch seitens des BFH per Normenkontrollantrag70 gerügte verfassungswidrige Bewertungsungleichheit der Bemessung anhand veralteter Einheitswerte71 macht die Grundsteuer zum Gegenstand von Reformüberlegungen. Die Diskussion verläuft zwischen wertbezogener und flächenbezogener Bemessung bzw. einer Kombination beider Maßstäbe (s. § 16 Rz. 38)72. Eine wertunabhängige Anknüpfung an die Grundstücksfläche mag den Vorteil der Einfachheit haben, würde sich aber weitgehend vom Ziel gleichheitsgerechter Erfassung steuerlicher Leistungsfähigkeit verabschieden (s. auch Rz. 42)73. Im Hinblick auf die Schwierigkeiten, die Grundsteuer nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip oder nach dem Äquivalenzprinzip zu rechtfertigen (s. § 16 Rz. 2 ff.), bietet sich auch eine Ausgestaltung als Sozialzwecksteuer mit ökologischer Rechtfertigung an74. Dies würde es erlauben, einen verwaltungseffizienten Flächenmaßstab zugrunde zu legen. Wertmaßstäbe mit unklarem Belastungsgrund wie der aktuell vorgeschlagene Kostenwert75 (s. dazu § 16 Rz. 39) sind dagegen auch aus Vereinfachungsgründen nicht zu rechtfertigen.
64 Ausf. zum Streit um die Rechtsnatur der Erbschaftsteuer insb. auch im Verhältnis zur ESt. Ritter, BB 1994, 2265; Crezelius, FS Tipke, 1995, 403; Meincke, FS Tipke, 1995, 391; Huber/Reimer, DStR 2007, 2042. 65 Zum Transfersteuergedanken Timm, FinArch. Bd. 42 (1984), 571 ff.; Kußmaul, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre7, 2014, 411. 66 S. BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165 (173 ff.). 67 Dazu Crezelius, FS Tipke, 1995, 403 (407 f.); Tipke, StRO II2, 2003, 875 f. (umf. N.: StRO II1, 1993, 748 f.); Birk, StuW 2005, 346 (347 f.). 68 Wiss. Beirat beim BMF, Die Begünstigung des Unternehmensvermögens in der Erbschaftsteuer, 2012, 13 ff.: In 2015 belief sich die Zahl der zur ErbSt veranlagten Fälle auf 142 000, die ein Aufkommen von 5,5 Mrd. Euro generierten. 1,2 % der Fälle erbrachten 31,42 % des Aufkommens. Hieran wird auch die Erbschaftsteuerreform 2016 (G. v. 4.11.2016, BGBl. I 2016, 2464) nicht substantiell etwas ändern (s. § 15 Rz. 106). 69 Überzeugend Tipke, StRO II, 916 ff. (Vermögensteuer), 953 ff. (Grundsteuer), 1134 ff. (Gewerbesteuer). 70 BFH v. 22.10.2014 – II R 16/13, BStBl. II 2014, 957. 71 Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung in Österreich s. Daxkobler/Kerschner, ÖStZ 2012, 517. 72 Darstellung in Karl-Bräuer-Institut, Reform der Grundsteuer, Heft 109 (2011), das sich für einen Flächenbezug ausspricht (sog. Süd-Modell); ebenso J. Lang, DStJG 35 (2012), 307 ff.; a.A. sog. Nord-Modell (Orientierung an Verkehrswerten); in dieselbe Richtung Stellungnahme zur Reform der Grundsteuer des Wiss. Beirats beim BMF, Dez. 2010, mit Kritik Löhr, Wirtschaftsdienst 2011, 333. 73 Becker, BB 2011, 535; Becker, BB 2011, 2391 (2396); a.A. Zachert, BB 2011, 3105; Schulemann, BB 2012, 813. 74 Dazu die interdisziplinäre Studie im Auftrag des Umweltbundesamtes von Bizer/Lang, Ansätze für ökonomische Anreize zum sparsamen und schonenden Umgang mit Bodenflächen, 1998; Rezension Jachmann, StuW 2001, 379. 75 Vgl. § 230 BewG-E in der Fassung des Gesetzentwurfs, BR-Drucks. 515/16; zu dessen widersprüchlichen Belastungswirkungen s. Houben, StuW 2017, 184; Löhr, Wirtschaftsdienst 2016, 732.
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§ 7 Rz. 43 43
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
Eine (allgemeine) Vermögensteuer kann gegenwärtig nicht erhoben werden, weil das BVerfG in seiner Entscheidung v. 22.6.199576 in der Anwendung eines einheitlichen Steuersatzes für einheitswertgebundenes und nicht einheitswertgebundenes Vermögen eine Verletzung von Art. 3 I GG erkannte. Der Verpflichtung, eine Neuregelung spätestens zum 31.12.1996 zu treffen, ist der Gesetzgeber nicht nachgekommen. Legt man die neuere Rspr. des BVerfG zur Erforderlichkeit bundeseinheitlicher Regelungen (Art. 72 II i.V.m. Art 105 II 3. Alt. GG) zugrunde, ist zweifelhaft, ob der Bund für die notwendige konzeptionelle Erneuerung des VStG, die auch nicht von Art. 125a II 1 GG gedeckt ist, überhaupt noch zuständig (s. § 2 Rz. 32 ff.) wäre. Indessen haben die Länder bisher keine Anstalten unternommen, die Vermögensteuer wiederzubeleben, wohl weil sie die Abwanderung von Kapital in vermögensteuerfreie Länder nicht riskieren wollen; zu den rechtlichen Problemen einer allgemeinen Vermögensteuer s. § 16 Rz. 61 ff.
44–69
Einstweilen frei.
4. Reform der Besteuerung von Einkommen a) Einflussfaktor Steuerwettbewerb 70
Die Steuern auf das Einkommen (und Vermögen) sind seit Jahrzehnten einem erheblichen Reformdruck ausgesetzt. Das allseits beklagte Steuerchaos (s. § 3 Rz. 1) hat Politik77 und Wissenschaft (hierzu ausf. Rz. 82 ff.) eine Zeitlang zu umfassenden Entwürfen einer Reform der Besteuerung von Einkommen herausgefordert. Zentrale Zielsetzungen waren die Verwirklichung von Steuergerechtigkeit und Steuervereinfachung. Die reale Entwicklung der Einkommensbesteuerung ist indes weniger von der Erkenntnis beseelt, dass nur ein systemgerecht und folgerichtig ausgestaltetes Steuersystem gerecht sein kann. Sie erschöpft sich überwiegend in kleinteiliger, oftmals rein fiskalisch motivierter Reparaturund Antimissbrauchsgesetzgebung. An einem inneren Antrieb des Gesetzgebers zu grundlegenden Steuerreformen fehlt es; dies hat auch die Reformdiskussion in der Wissenschaft weitgehend zum Erliegen gebracht.
71
Politischer Handlungsdruck entsteht aber durch den Wettbewerb der Staaten um Steuersubstrat. Der sog. Wettbewerb der Steuersysteme78 ist mittlerweile zentraler Bestimmungsgrund der Ausgestaltung der nationalen Steuerrechtsordnungen. Als Teil des Staatenwettbewerbs um mobile Produktionsfaktoren hat sich der Steuerwettbewerb infolge der Globalisierung der Weltwirtschaft ganz erheblich verschärft. In der EU wird dieser Wettbewerb rechtlich durch die grenzöffnende Wirkung der Grundfreiheiten beflügelt; die gegen selektive Steuervergünstigungen gerichteten Beihilfevorschriften (Art. 107 ff. AEUV) lassen sich nur eingeschränkt entgegenhalten (s. § 4 Rz. 119 u. § 19 Rz. 80).
76 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121. 77 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Für eine durchgreifende Einkommensteuerreform: Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung, BT-Drucks. 13/3874 v. 27.2.1996; BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Einkommensteuerreform für Gerechtigkeit und Transparenz, BT-Drucks. 13/7895 v. 10.6.1997; SPD, Für eine gerechte und einfache Einkommensbesteuerung, BT-Drucks. 13/3701 v. 6.2.1996; CDU/CSU, Ein modernes Steuerrecht für Deutschland – Konzept 21, BT-Drucks. 15/2745 v. 23.3.2004; FDP, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer neuen Einkommensteuer und zur Abschaffung der Gewerbesteuer, BTDrucks. 15/2349 v. 14.1.2004; FDP, Entwurf eines Gesetzes zur Reform der direkten Steuern, BTDrucks. 16/679 v. 15.2.2006; sowie die zwei gescheiterten Gemeindefinanzreformkommissionen (s. Rz. 93). Zur aktuellen Reformdebatte s. Zeitgespräch: Wie soll das Steuersystem in Deutschland reformiert werden, Wirtschaftsdienst 2017, 383; Hey, DStZ 2017, 632. 78 Literatur bis 2012 s. 22. Aufl. § 7 Rz. 71 Fn. 3. Grundl. OECD, Harmful Tax Competion. An Emerging Global Issue, 1998; aktuell Endres/Heckemeyer/Spengel/Finke/Richter, DB 2013, 896; Spengel/Bräutigam/ Evers, DB 2014, 1096; Schaumburg, ISR 2016, 371; Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, Kap. 5; Piantavigna, World Tax Journal 2017 (Volume 9), No 4. Markle/Shackelford, National Tax Journal 2012, 493, weisen für den Zeitraum 1988–2009 einen signifikanten Rückgang der effektiven Steuerbelastungen nach, aber kaum Veränderungen in der Rangfolge der Staaten.
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C. Steuern auf das Einkommen und Vermögen
Rz. 74 § 7
Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes bestimmen eine Vielzahl von Standortfaktoren, u.a. Infrastruktur, 72 Qualität von Arbeitskräften und Bildungsniveau, gesellschaftliche und wirtschaftliche Stabilität, Marktnähe der Produktion, Marktgröße und Absatzchancen. Die Abgabenbelastung wird in Relation zu den anderen Standortfaktoren akzeptiert. Je günstiger diese Relation ausfällt, desto wettbewerbsfähiger ist die Abgabenbelastung, die nicht nur aus Steuern, sondern auch aus Sozialabgaben u.a. nichtsteuerlichen Abgaben resultiert. Ungeachtet dessen, dass erst das Zusammenspiel aller Faktoren die Standortqualität definiert, kommt Steuern, insb. Steuersätzen insofern eine Signalwirkung im Staatenwettbewerb zu, als sie einen vermeintlich leicht ermittel- und vergleichbaren Preis staatlicher Leistung darstellen. Der Vergleich anderer Standortfaktoren ist ungleich schwieriger, so dass Hochsteuerländer, selbst wenn der Belastung ein herausragendes staatliches Infrastrukturangebot gegenübersteht, Schwierigkeiten haben, sich im Wettbewerb zu behaupten. Wettbewerbsrelevant sind nicht nur Standortbedingungen für Unternehmen, sondern auch für ortsungebundene Personen (Manager, Wissenschaftler, Sportler, Künstler etc.). Personenbezogene Standortbedingungen beeinflussen häufig unternehmerische Standortentscheidungen: In Unternehmen werden solche Standorte bevorzugt, wo die Führungskräfte mit ihren Familien Lebensqualität und maßvolle Besteuerung genießen. Der Wettbewerb um Kapital erfordert dagegen häufig nur einen sicheren Finanzplatz und ein verlässliches Rechtssystem. Dies erklärt, warum kleine Länder, die für Realinvestitionen nicht in Betracht kommen, sich so erfolgreich als Steueroasen etablieren können.
Es sind fairer und unfairer Wettbewerb zu unterscheiden. Steuerwettbewerb ist fair, wenn günstige 73 Steuerbedingungen allen Steuerzahlern eingeräumt sind. Der faire Wettbewerb fördert die Steuergerechtigkeit, soweit der Staat niedrige Steuersätze durch den Abbau von Subventionen und Steuervergünstigungen finanziert. Dadurch werden die Steuerlasten verringert und gleichmäßiger verteilt. Das Streben der Nationen nach Wohlstand in einem fairen Wettbewerb miteinander ist staatsethisch gerechtfertigt. Er hält die Staaten dazu an, den Leviathan zu bändigen und Abgabenlasten und staatliches Leistungsangebot in ein attraktives Verhältnis zueinander zu setzen. Zunehmend wird die Steuergerechtigkeit jedoch durch „Mogelpackungen“ gefährdet, die vordergründig attraktive niedrige Steuersätze durch Verletzungen des objektiven Nettoprinzips (z.B. restriktive Verlustverrechnungsbestimmungen) erkaufen. Die ausschließliche Betrachtung einzelner Steuerarten verkennt zudem, dass es in der Regel nur zur Verlagerung der Steuerlast auf weniger mobile Einnahmequellen kommt, insb. Grund und Boden, Konsum, (niedrig qualifizierte) Arbeit. Die Steuerquote bleibt weitgehend konstant, auch wenn die Steuersätze für besonders mobile Einkunftsquellen sinken. Der Steuerwettbewerb ist unfair, wenn Steuervorteile gezielt an gebietsfremde Unternehmen und 74 Personen gerichtet sind. Vor allem der Wettbewerb um Kapital war in der Vergangenheit häufig unfair, weil im Quellenstaat die Zinsen von Devisenausländern nicht besteuert und die Behörden des Wohnsitzstaats nicht informiert wurden. Es wurden bewusst Möglichkeiten zur Steuerhinterziehung geschaffen. Der seit Mitte 2017 eingreifende automatische Informationsaustausch zwischen mehr als 90 Staaten im Rahmen des MCAA (§ 21 Rz. 275) schließt diese Besteuerungslücke. Schwarze Listen, auf denen nicht kooperative Staaten geführt werden79, verstärken den Druck auf Steueroasen. Daneben umwerben die Staaten gezielt besonders mobile Einkommen, etwa durch Vergünstigungen für die Handelsschifffahrt (vgl. § 5a EStG) oder sog. Patent- und Lizenzboxen80, die eine niedrige Sonderbesteuerung für Lizenzeinnahmen vorsehen und vor allem deshalb als unfaire „beggar-myneighbor-policy“ eingestuft werden müssen, weil sie jedenfalls in der Vergangenheit nicht darauf abzielten, den Forschungsstandort des jeweiligen Landes zu stärken, sondern auf die Verlagerung von Buchgewinnen gerichtet waren.81 79 Rat der Europäischen Union v. 7.7.2017, EU-BEPS-Roadmap, Dok. 10998/17; Pagels, SWI 2016, 256. 80 Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung8, 2016, 150 ff. Patentboxen in 13 europäischen Ländern, u.a. in Belgien, Niederlande, Frankreich, Luxemburg und Großbritannien, Übersicht BT-Drucks. 18/1238, 2. Deutschland ist stattdessen den Weg der Abwehrgesetzgebung durch Einführung einer Lizenzschranke gegangen, § 4j EStG, s. § 8 Rz. 302. 81 Englisch, Wirtschaftsdienst 2017, 577 (578, 581); Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung8, 2016, 152. Derartige Praktiken werden jetzt im Rahmen des sog. nexus approach (s. OECD, Wirksamere Bekämpfung schädlicher Steuerpraktiken unter Berücksichtigung von Transparenz und Substanz, Akti-
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§ 7 Rz. 74
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
Gegen unfairen Steuerwettbewerb kämpfen sowohl G20 und OECD82 als auch EU83. Die von G20 und OECD mit hohem Aufwand betriebene BEPS-Initiative84, die sich gegen „Base Erosion and Profit Shifting“ richtet, adressiert neben „aggressiven“ Steuergestaltungen der Stpfl. auch das Verhalten der Staaten, die derartige Gestaltungen überhaupt erst ermöglichen85. Allerdings steht das völkerrechtliche Interventionsverbot der unmittelbaren Einwirkung der Völkergemeinschaft auf nationale Steuersysteme entgegen. Abgesehen von den europarechtlichen Beihilfevorschriften (s. § 4 Rz. 115 ff.) und der WTO-Rahmenordnung des GATT waren internationale Organisationen bisher vorwiegend auf das rechtlich unverbindliche „soft law“ von Empfehlungen und Verhaltenskodizes beschränkt. Im Zuge der BEPS-Kampagne werden jedoch zunehmend multilaterale Abkommen geschlossen mit dem Ziel des Informationsaustausches86 und der Vermeidung doppelter Nichtbesteuerung87. Daneben begegnen die Steuerstaaten den Steueroasen im Wege der Selbsthilfe mit sog. Defensivmaßnahmen, z.B. Verweigerung von Maßnahmen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, Steuerabzugsverbote, Nachversteuerung von Kapitalflüssen aus dem niedrig besteuerten Gebiet (s. zum Außensteuergesetz § 1 Rz. 89); auch außersteuerliche Maßnahmen werden zur Bekämpfung von Steuerflucht eingesetzt, z.B. Maßnahmen gegen Geldwäsche und Maßnahmen gegen Oasenbanken, wenn sie im nationalen Zugriffsbereich tätig werden. Einseitige nationale Maßnahmen88 sind allerdings auf der einen Seite nicht hinreichend effizient, auf der anderen Seite schießen sie über das Ziel hinaus, wenn sie, statt lediglich ein angemessenes Steuerniveau herzustellen, Doppelbelastungen verursachen. Eine sehr aktive Rolle nimmt inzwischen die EU ein. Mit den sog. Anti-Tax-Avoidance-Directives (ATAD I u. II)89 macht der Richtliniengeber rechtsverbindliche Vorgaben für die Missbrauchsbekämpfung und Aufteilung der Besteuerungsrechte durch die Mitgliedstaaten (i.E. s. § 13 Rz. 148).
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onspunkt 5 – Abschlussbericht 2015, Kapitel 4) sanktioniert (hierzu Englisch, StuW 2017, 331); dagegen Beihilfeeigenschaft von Patentboxen u.E. zu Unrecht verneint s. EU-Kommission, IP/08/216; krit. Valta, StuW 2015, 257. Z.B. OECD, Harmful Tax Competition, An Emerging Global Issue, 1998; OECD, 2000 Progress Report: Towards Global Tax Co-operation: Progress in Identifying and Eliminating harmful Tax Practices, 2000; OECD, Tax Co-operation 2010: Towards a Level Playing Field – Assessment by the Global Forum on Transparency and Exchange of Information, 2010. EU-Kommission, Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung, KOM (1997) 495, ABl. EG 1998 C 210, 227; s. im Weiteren auch § 4 Rz. 12. OECD, Erläuterung, OECD/G20 Projekt Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung, 2015; dazu Fuest u.a., StuW 2015, 90; Benz/Böhmer, DB 2015, 2535; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rz. 5.18 ff.; zu Konsequenzen für den deutschen Gesetzgeber Watrin/Thomsen/Weiß, IStR 2016, 397; Benz/Eilers, IStR 2016, 1; Fehling, IWB 2016, 160; zum sog. BEPS-Umsetzungsgesetz v. 20.12.2016, BGBl. I 2016, 3000 s. Blumenberg/Kring, BB 2017, 151; Ditz/Quilitzsch, DStR 2017, 281; Bärtsch/Böhmer, DB 2017, 567; Schnitger, IStR 2017, 214. OECD, Wirksamere Bekämpfung schädlicher Steuerpraktiken unter Berücksichtigung von Transparenz und Substanz, Aktionspunkt 5 – Abschlussbericht 2015; zur Umsetzung: OECD, Harmful Tax Practices – 2017 Progress Report on Preferential Regimes: Inclusive Framework on BEPS: Action 5. Zum OECDForum gegen schädlichen Steuerwettbewerb Hoeck/Schmid, IWB 2017, 734; zur parallel arbeitenden EU-Gruppe Verhaltenskodex Hoeck/Schmid, IWB 2017, 758. Zum Foreign Account Tax Compliance Act (FATCA) der USA Hartrott/Heinemann, BB 2012, 671; Eimermann, IStR 2013, 774 als Initial dieser Entwicklung; zu den aktuellen Entwicklungen im Bereich des Informationsaustausches Seer, FS Mössner, 2016, 453; Dölker, BB 2017, 279; Lang/Hauold (Hrsg.), Transparenz und Informationsaustausch, 2017. S. insb. das innovative Multilaterale Instrument v. 7.6.2017, unterzeichnet von mehr als 70 Staaten, mit dem in die bestehenden DBA eingegriffen wird, dazu Reimer, IStR 2015, 1; Schön, IStR 2017, 881; Jirousek/Zöhrer, ÖStZ 2017, 237; M. Lang, SWI 2017, 624; Benz/Böhmer, DB 2017, 2308 (Auswirkungen auf deutsche DBA). Für weitreichende Abzugsverbote und Quellensteuern Jarass, IStR 2014, 741; krit. dazu NeumannTomm, IStR 2015, 436. ATAD I: Richtlinie (EU) 2016/1164 v. 12.7.2016, ABl. L 193/1; ATAD II: Richtlinie (EU) 2017/952 v. 29.5.2017, ABl. L 144/1.
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Hey
C. Steuern auf das Einkommen und Vermögen
Rz. 76 § 7
Die eigentlichen Probleme des Steuerwettbewerbs als Kampf um die Verteilung des weltweiten Steuerkuchens und die Herausforderungen der Digitalisierung der Wirtschaft sind jedoch ungelöst90. Die derzeitigen Maßnahmen halten an tradierten Prinzipien territorialer Aufteilung der Besteuerungsgegenstände fest, laufen aber gleichzeitig durch einseitige Fokussierung auf die Vermeidung doppelter Nichtbesteuerung Gefahr, in das Gegenteil steuerlicher Diskriminierung grenzüberschreitender Sachverhalte umzuschlagen. Der Versuch, die internationale Steuerzuordnung im Steuerwettbewerb einseitig neu zu definieren, führt zu schwerwiegenden Verwerfungen wie das Beispiel der in den USA diskutierten Destination Based Cash Flow Tax91 mit Border Adjustment zeigt. Diese basiert auf der Grundidee, Exporte von der Körperschaftsteuer zu entlasten, Importe zu belasten. Damit würden sich die zwischenstaatlichen Verteilungswirkungen der Ertragsbesteuerung denen der Umsatzsteuer annähern, freilich mit gravierenden Doppelbelastungen, wenn die übrigen Staaten nicht mitziehen. Dies mag mit einer der Gründe sein, warum die Trump’sche Steuerreform von diesen Plänen abgerückt ist92. Der Steuerwettbewerb und seine Bekämpfung hinterlässt nicht nur im Internationalen Steuerrecht 75 seine Spuren, sondern führt zu einem grundlegenden Umbau der nationalen Steuersysteme. Mittlerweile haben sich die Staaten auf den Steuerwettbewerb eingestellt und suchen nach Konzepten, sich erfolgreich am Markt mobiler Faktoren gesellschaftlichen Wohlstandes zu behaupten. Dabei hat sich herausgestellt, dass eine Strategie der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage zur Finanzierung eines allgemein niedrigen Einkommensteuersatzes, wie sie weltweit durch die amerikanische Steuerreform von 1986 angestoßen wurde, nicht ausreicht, um die Wettbewerbsfähigkeit langfristig zu gewährleisten. Zwar sind international niedrigere Steuersätze und breitere Bemessungsgrundlagen zu beobachten. Gesenkt wird aber in erster Linie nur der besonders wettbewerbsrelevante Körperschaftsteuersatz. Einkommensteuerrechtliche Flat Tax Modelle, wie von Paul Kirchhof vorgeschlagen93, konnten sich nicht durchsetzen (dazu Rz. 86). Stattdessen folgen viele Staaten mittlerweile – mehr oder weniger konsequent – dem Modell der 76 dualen Einkommensteuer94. Es geht davon aus, dass der Staat gegenüber der sozial ortsgebundenen Arbeitskraft erheblich höhere Steuerbelastungen durchsetzen kann als gegenüber dem flüchtigen 90 Zu Aktionspunkt 1 „Addressing the Tax Challenges of the Digital Economy“ des BEPS-Projekts hat die OECD keine Empfehlungen gemacht. Zum Problem s. auch Mitteilung der Kommission zu einem fairen und effizienten Steuersystem für den Binnenmarkt COM(2017) 547 final. Der Vorschlag einer Ausgleichsteuer auf digitale Produkte (Kofler/Mayr/Schlager, BB 2017, 1815 [1818]) ist unausgereift. Zu diesen Herausforderungen Turley/Chamberlain/Petriccione, A New Dawn for the International Tax System, 2017, Teil 2, Kap. 4.2. Hervorragender Überblick über die steuerlichen Aspekte der Digitalisierung Pinkernell, Internationale Steuergestaltung im Electronic Commerce, ifst-Schrift 494 (2014); aktuell Kofler/Mayr/Schlager, ET 2017, 523; zu steuerpolitischen Optionen Becker/Englisch, Wirtschaftsdienst 2017, 801. 91 Dazu Auerbach/Devereux/Keen/Vella, Destination Based Cash Flow Tax, Oxford University, Working Papers series WP 17/01; Bärtsch/Olbert/Spengel, DB 2017, 1676; Becker/Englisch, Ubg 2017, 69; Becker/ Englisch, Wirtschaftsdienst 2017, 103; Richter, Wirtschaftsdienst 2017, 279; zur Vereinbarkeit mit WTORecht Schön, FS Mössner, 2016, 429. 92 Watrin, Ubg 2018, 1; Avi-Yonah/Clausing, University of Michigan Law & Econ Research Paper No. 16-029, https://ssrn.com/abstract=2884903; Überblick über die U.S. Steuerreform Narotzki/McCoskey, Tax Notes 2017, 1263. 93 Aktuell P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 43 Rz. 32 ff. 94 Lit. (ab 2000): F.W. Wagner, StuW 2000, 431; Schreiber/Rüggeberg, DB 2004, 2767; Seer, BB 2004, 2272 (Flat Tax oder Dual Income Tax?); Wiss. Beirat beim BMF, Flat Tax oder Duale Einkommensteuer?, BMFSchriftenreihe, Bd. 76, 2004; Englisch, Die Duale Einkommensteuer – Reformmodell für Deutschland?, ifst-Schrift Nr. 432 (2005); Gjems-Onstad, StuW 2006, 90 (Erfahrungsbericht); Hey, JZ 2006, 851 (854 f.); Spengel, Gutachten G zum 66. DJT, 52 ff.; Seer, Besteuerung von Einkommen, 66. DJT (2006), 127 (142); Liekenbrock, DStZ 2007, 279 (duale ESt des Sachverständigenrats); Meyer-Sandberg, Die Duale Einkommensteuer als Modell ungleicher Besteuerung von Arbeit und Kapital, Diss., 2008; C. Wagner, Steuer-
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§ 7 Rz. 77
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
Geld- und Sachkapital. Daher besteuert die duale Einkommensteuer nur noch Arbeitseinkommen progressiv. Hingegen werden Kapitaleinkommen mit einem Proportionalsteuersatz endbesteuert, der wesentlich unter dem Spitzensatz der Arbeitseinkommensteuer liegen muss, um das Ziel der Steuerwettbewerbsfähigkeit erreichen zu können. Auch in Deutschland findet die duale Einkommensteuer u.a. mit dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung prominente Befürworter. Sowohl das Jahresgutachten 2003/200495 als auch eine gemeinsam mit MPI und ZEW erstellte Studie96 haben eine Differenzierung zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen empfohlen. 77 Ein Paradigmenwechsel von der synthetischen zur dualen Einkommensteuer ist als grundlegende
Belastungsentscheidung verfassungsrechtlich zulässig. Allerdings bedarf die Abkehr vom Ideal der synthetischen Einkommensteuer97 besonderer Rechtfertigung98. Diese kann entweder konsumtheoretisch (hierzu § 3 Rz. 79) oder wettbewerbspolitisch hergeleitet werden99. Wettbewerbspolitische Effizienz und Praktikabilität der dualen Einkommensteuer hängen indes zentral von ihrer konkreten Ausgestaltung, insb. vom Ausmaß der Spreizung der Steuersätze ab. Die Grundannahme der dualen Einkommensteuer, mobiler Faktor gesellschaftlichen Wohlstandes sei allein das Kapital, verkennt, dass gerade gesellschaftspolitisch besonders wertvolle hochqualifizierte Arbeitskraft ebenfalls mobil und damit in der Lage ist, einer hohen Progression auszuweichen. Die Standorte von Unternehmen, Forschungsabteilungen etc. werden auch im Interesse der Führungskräfte entschieden. Damit sind auch der Bestimmung der Progression auf das Arbeitseinkommen wettbewerbliche Grenzen gesetzt. Praktisch schwer zu lösende Probleme wirft die Abgrenzung von Arbeits- und Kapitaleinkommen bei gemischten Einkommen auf100. Fällt der Kapitaleinkommen-
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gleichheit unter Standortvorbehalt, Verfassungsrechtliche Grenzen einer ungleichen Einkommensbesteuerung von Kapital und Arbeit, Diss., 2010; Staringer, DStJG 37 (2014), 137 (140). Jahresgutachten 2003/2004: Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren, Rz. 570 ff. (Steuerreformoption I: Integration von Körperschaftsteuer und Einkommensteuer), Rz. 584 ff., Rz. 600 ff. (Vereinbarkeit mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip u. Steuergerechtigkeit nach dem Lebenseinkommen), 614 ff.: (Steuerreformoption II: Duale Einkommensteuer). Sachverständigenrat/Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht/Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Reform der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung durch die Duale Einkommensteuer, BMF-Schriftenreihe, Bd. 79, 2006. Insgesamt überwiegt eine eher kritische Haltung gegenüber einer Privilegierung von Kapitaleinkünften. s. Beschlüsse des 66. DJT (2006), 168 (Nr. 8: Gleichbehandlung der Einkunftsarten bei der Ausgestaltung der Bemessungsgrundlage), 169 (Nr. 15: duale ESt „widerspricht der Steuergerechtigkeit und wirft erhebliche steuertechnische Probleme auf“). So die h.M. der Steuerrechtswissenschaft, insb. Tipke, StRO II, 668 ff.; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 218 ff.; J. Lang, StuW 2006, 22 (28 ff.) (synthetische vs. duale ESt); P. Kirchhof, BB 2006, 71; P. Kirchhof, Die staatsrechtliche Bedeutung der Steuerreform, in Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, n.F., Bd. 54 (2006), 33 (gegen „Duales System“); Mellinghoff, Besteuerung von Einkommen, 66. DJT (2006), 102 (Die ESt sei an der Idee der synthetischen ESt auszurichten), 113 (gegen duale ESt, jedoch Vereinbarkeit mit dem GG offen gelassen). Vgl. auch BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (181) (Tarifbegrenzung bei gewerblichen Einkünften nach § 32c EStG 1994), allerdings als singuläre Ausnahme einer grds. synthetischen Einkommensteuer. Zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der dualen ESt Sachverständigenrat u.a., BMF-Schriftenreihe Bd. 79, 2006, 17 ff.; Englisch, ifst-Schrift Nr. 432 (2005), 93 ff., 133 ff. (konsumsteuertheoretisch), ihm folgend Hey, JZ 2006, 851; Seer, Besteuerung von Einkommen, 66. DJT (2006 in Stuttgart), 139 ff. (Steuerwettbewerb), 147 (typisierte Berücksichtigung der Inflation); Lehner, DStJG 30 (2007), 61 (81 f.) (Art. 109 II GG: gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht); C. Wagner, Steuergleichheit unter Standortvorbehalt, Diss., 2010, 113–213 (verfassungswidrig); Konrad, Gleichheit und Differentiation – Die Duale Einkommensteuer und der Gleichheitssatz, Diss., 2016. Vgl. das Konzept der Gewinnspaltung im Bereich der Personenunternehmen in der Expertise zur dualen Einkommensteuer, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren/Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht/Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Reform der
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C. Steuern auf das Einkommen und Vermögen
Rz. 78 § 7
steuersatz nicht niedrig genug aus, leidet die Wettbewerbsfähigkeit der dualen Einkommensteuer; bei starker Spreizung werden massive Anreize für steueroptimierende Gestaltungen gesetzt. b) Entwicklung in Deutschland seit den 1990er Jahren Mit Beginn der 1990er Jahre setzte in Deutschland ein massiver Trend zur Absenkung sowohl des 78 progressiven Einkommensteuertarifs als auch der Belastung unternehmerischer Gewinne durch Einkommen-/Körperschaft- und Gewerbesteuer ein. In der Steuerreform 1990 wurde zunächst der linearprogressive Tarif (s. § 8 Rz. 800) eingeführt. Nachdem verschiedene politische Anläufe zu einer weiteren Tarifreform der damaligen konservativen Regierungsparteien gescheitert waren101, zeichnete die von 1998 bis 2005 regierende Koalition aus SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002102, mit der Absenkung des Einkommensteuerspitzensatzes auf 42 % ab 2002 für die größte Einkommensteuertarifreduktion der Nachkriegsgeschichte verantwortlich. Parallel sollte die Unternehmensteuerreform 2001103 durch signifikante Absenkung des Körperschaftsteuersatzes (von 40 % auf 25 %) und pauschale Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer (§ 35 EStG) die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland verbessern. Die Reform blieb hinter den Erwartungen zurück. Verfehlt wurde das Ziel einer rechtsformneutralen Unternehmensbesteuerung (dazu § 13 Rz. 168 ff.), mit deren Entwicklung die zur Vorbereitung der Reform eingesetzte Brühler Kommission betraut worden war104. Auch zeigte sich sehr schnell, dass die 2001 erreichte Gesamtbelastung unternehmerischer Gewinne von knapp unter 40 % nach wie vor nicht konkurrenzfähig war. Erst mit der Unternehmensteuerreform 2008105 wurde die Belastung von Kapitalgesellschaftsgewinnen auf zum damaligen Zeitpunkt wettbewerbstaugliche 30 % gesenkt. Zwischenzeitlich hat sich die Wettbewerbsposition wieder verschlechtert. Zum einen ist das internationale Belastungsniveau weiter abgesunken106; zum anderen liegt die Gesamtbelastung aufgrund schleichender Gewerbesteuerhebesatzerhöhungen107 vielerorts wieder über 30 %. Erneut verfehlt wurde in der Unternehmensteuerreform 2008 zudem das im Koalitionsvertrag der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD propagierte Ziel „weitgehender Rechtsform- und Finanzierungsneutralität“ (s. § 13 Rz. 177 ff.). Zwar wurde
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Einkommens- und Unternehmensbesteuerung durch die Duale Einkommensteuer, BMF-Schriftenreihe, Bd. 79, 2006, 99 f. S. insb. den Vorschlag des wirtschaftspolitischen Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Gunnar Uldall eines Stufentarifs von 8–28 % (Uldall, Modell einer radikalen Reform der Einkommensteuer, in Baron/Handschuch, Wege aus dem Steuerchaos, 1996, 189) sowie die Petersberger Steuervorschläge (entwickelt in der Waigel-Kommission, Reform der Einkommensbesteuerung, BMF-Schriftenreihe, Heft 61, 1997) als Grundlage für die politisch gescheiterte Steuerreform 1999 mit einem Einkommensteuertarif von 15–39 % und Körperschaftsteuersätzen von 35/25 % für thesaurierte/ausgeschüttete Gewinne (Regierungsentwürfe, BT-Drucks. 13/7775 u. BT-Drucks. 13/7480 v. 22.4.1997 mit einer Neufassung des EStG); dazu Dziadkowski, FR 1996, 653; Homburg, Stbg. 1996, 529; Beichelt, StuW 1997, 176; Kaltenborn, Streit um die Einkommensteuer, Die Reformvorschläge der Parteien im Vergleich, 1999. Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 v. 24.3.1999, BGBl. I 1999, 402. Steuersenkungsgesetz (StSenkG) v. 23.10.2000, BGBl. I 2000, 1433; s. hierzu ifst, Steuerreform-Konzeptionen im Vergleich – Die Konzeptionen des StSenkG und der CDU/CSU-Fraktion, Schrift Nr. 388, 2000; Schaumburg/Rödder, Unternehmenssteuerreform 2001, 2000 (mit ausf. Darstellung der Entstehungsgeschichte); Vogt, Neutralität und Leistungsfähigkeit, Eine verfassungs- und europarechtliche Untersuchung der Unternehmensbesteuerung nach dem StSenkG, Diss., 2003. Vgl. Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung, Bericht der Kommission zur Reform der Unternehmensbesteuerung (sog. Brühler Kommission), BMF-Schriftenreihe, Heft 66, 1999. UntStRefG 2008 v. 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912; Entwurf eines UntStRefG der Fraktionen der CDU/ CSU und SPD, BT-Drucks. 16/4841 v. 27.3.2007. Lit. zur Unternehmensteuerreform 2008 s. 20. Aufl., § 8 Rz. 92 Fn. 95. Spengel/Bräutigam/Evers, DB 2014, 1096. Wagschal/von Wolfersdorff/Andrae, ifst-Schrift Nr. 508, 2016.
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§ 7 Rz. 79
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
parallel zur Senkung des Körperschaftsteuersteuersatzes für Personenunternehmen in § 34a EStG eine Tarifbegünstigung für einbehaltene Gewinneinkünfte eingeführt. Die Sondertarifierung nach § 34a EStG 2008 (dazu § 8 Rz. 828 ff.; Mitunternehmer: § 10 Rz. 220 ff.) ist als Fiskalzwecknorm des Steuersubstratwettbewerbs zu qualifizieren und dem Grunde nach zu rechtfertigen (Rz. 88). Jedoch ist das Ziel tariflicher Belastungsgleichheit im Dualismus separater Besteuerung von Kapitalgesellschaftsgewinnen und transparenter Besteuerung von Personenunternehmensgewinnen schwerlich zu erreichen108. Die mit dem Nebeneinander von Transparenz- und Trennungsprinzip verknüpfte Vielfalt steuerlicher Vergleichskriterien erschwert weiterhin die Rechtsformwahl (s. § 13 Rz. 182 ff.). 79
Seit 2009 ist der Gesetzgeber mit der Einführung einer Abgeltungsteuer von 25 % für Kapitaleinkünfte bei gleichzeitiger Aufhebung der Steuerfreiheit privater Aktienveräußerungsgeschäfte endgültig in eine steuerwettbewerbsorientierte Schedulenbesteuerung eingetreten, die das deutsche Einkommensteuerrecht mit Elementen einer dualen Einkommensteuer durchsetzt, ohne sich allerdings für eine konsequente und systematische Differenzierung zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen zu entscheiden. Lediglich Zinseinkünfte werden dauerhaft niedrig besteuert. Die niedrige Belastung unternehmerischer Gewinne durch die niedrige Körperschaftsteuer bzw. § 34a EStG wirkt dagegen aufgrund der Nachbelastung im Ausschüttungs-/Entnahmefall nur temporär. Folge sind neben den der dualen Einkommensteuer inhärenten Abgrenzungsschwierigkeiten schwere Neutralitätseinbußen (hierzu § 8 Rz. 505).
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Die neuerliche Senkung des Körperschaftsteuersatzes und die Einführung der Abgeltungsteuer wurden unter Inkaufnahme erheblicher Verletzungen fundamentaler Besteuerungsprinzipien finanziert. Vermeintliche Missbrauchsregeln wie die Zinsschranke (§§ 4h EStG; 8a I KStG) zur Beschränkung des Abzugs von Finanzierungsaufwand im Konzern (s. § 11 Rz. 49 ff.) und der Verlustuntergang bei Anteilseignerwechsel gemäß § 8c KStG (s. § 11 Rz. 58) erodieren das objektive Nettoprinzip. Mit der Besteuerung von Funktionsverlagerungen nach § 1 AStG 2008 wird die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. AEUV) verletzt (s. § 1 Rz. 90).
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Letztlich sind die Gegenfinanzierungsmaßnahmen der Unternehmenssteuerreform 2008 nur ein weiterer Beleg dafür, dass die seit der Jahrtausendwende vorgenommenen Tarifsenkungen durch systemzerstörende Verbreiterungen der Bemessungsgrundlage teuer erkauft109 sind. Der Gesetzgeber nimmt erhebliche verfassungsrechtliche Risiken in Kauf. Die Gegenfinanzierungsmaßnahmen im Bereich der Entfernungspauschale (§ 8 Rz. 261 f.) oder der Abzugsfähigkeit von Arbeitszimmerkosten (s. § 8 Rz. 254 f.) hat das BVerfG ebenso für verfassungswidrig erklärt wie den partiellen Verlustuntergang nach § 8c KStG (s. § 11 Rz. 59). Aufgegriffen werden aber nur Einzelfälle. Das Abzugsverbot für Ausbildungskosten (§ 12 Nr. 5 EStG), die Streichung des Abzugs privater Steuerberatungskosten, die Bruttobesteuerung im Rahmen der Abgeltungsteuer (§ 20 IX 1 Hs. 2 EStG) oder die rein fiskalisch begründete Mindestbesteuerung des § 10d II EStG illustrieren, dass die Gegenfinanzierungsanstrengungen längst über die Abschaffung von Steuervergünstigungen und die Schließung von Besteuerungslücken hinausgegangen sind. Im Fadenkreuz von Verfassungsrecht und Europarecht ist der Gesetzgeber zu permanenten Nachbesserungen gezwungen. Von selbst wird er allerdings nicht tätig. Selbst Haushaltsüberschüsse führen nicht dazu, dass die Gegenfinanzierungsmaßnahmen zurückgedreht werden, solange das BVerfG nicht interveniert. c) Reformvorschläge und Reformperspektiven
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Der Reformbedarf des real existierenden Steuersystems ist immens. Zu nahezu jeder Steuerart existieren grundlegende Reformforderungen, zum Teil ist dieser Reformbedarf verfassungsrechtlich begründet. Dennoch fehlt es aktuell an einem kraftvollen Reformimpuls. 108 Zur Berechnung der Thesaurierungs- und Gesamtsteuerbelastung s. § 8 Rz. 829. 109 J. Lang, StuW 2011, 144 (150); zu den negativen Effekten für Unternehmen mit geringen Gewinnen/ Verlusten bzw. hoher Verschuldung Finke/Heckemeyer/Reister/Spengel, FinArch. 69 (2013), 72.
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C. Steuern auf das Einkommen und Vermögen
Rz. 82 § 7
Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war von regelrechter Reformeuphorie110 geprägt. Die Vielzahl der Reformvorschläge111 dokumentierte und dokumentiert das Bedürfnis nach einer Fundamentalreform, insbesondere der Besteuerung von Einkommen112. Indes hat sich mittlerweile auch in der Wissenschaft Ernüchterung verbreitet. Hiervon zeugt etwa die Jahrestagung 2013 der DStJG zur „Erneuerung des Steuerrechts“113. Zwar wird die Reformnotwendigkeit nicht grds. in Frage gestellt114, wohl aber besteht tiefgreifende Skepsis gegenüber Reformbereitschaft und Reformfähigkeit des Steuergesetzgebers115. Die Politik hat seit der Erzberger’schen Steuerreform von 1920 (s. § 8 Rz. 7) bis heute nicht die Kraft aufgebracht, ein besseres Steuerrecht gegen die Vielfalt von Fiskal- und Gruppeninteressen durchzusetzen. Steuervereinfachung wird zwar in Gesetzestiteln versprochen (s. Steuerverein-
110 Drüen, DStJG 37 (2014), 9 (62) spricht von der „fachwissenschaftlichen Sehnsucht nach einem ‚Jahrhundertsteuergesetz‘ statt zahlloser Jahressteuergesetze“. 111 S. Raupach/Tipke/Uelner, Niedergang oder Neuordnung des deutschen Einkommensteuerrechts?, 1985; J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, 1985; Loritz, Die systemgerechte Einkommensteuer – ein unerreichbares Ziel?, StuW 1986, 9; Gaddum, Einkommensteuerreform: Einfach und gerecht!, 1986; Tipke, StuW 1986, 150; J. Lang, Die einfache und gerechte Einkommensteuer, Ziele, Chancen und Aufgaben einer Fundamentalreform, 1987; 57. DJT: Empfiehlt es sich, das Einkommensteuerrecht zur Beseitigung von Ungleichbehandlungen und zur Vereinfachung neu zu ordnen?: Gutachten von P. Kirchhof, 1988; J. Lang, Steuergesetzbuch; J. Lang, FR 1993, 661; Bareis-Kommission, Thesen zur Steuerfreistellung des Existenzminimums ab 1996 und zur Reform der Einkommensteuer, BMF-Schriftenreihe, Heft 55, 1995; Baron/Handschuch, Wege aus dem Steuerchaos, 1996; Arbeitsgruppe für Steuerreform der DStJG, Beschlüsse zur Reform des Steuerrechts, StuW 1996, 203; Uldall, Modell einer radikalen Reform der Einkommensteuer, in Baron/ Handschuch, Wege aus dem Steuerchaos, 1996, 189; J. Lang, Zur Lage des Steuerrechts, Plädoyer für eine Rechtsreform, Bitburger Gespräche 1997, 1999; Tipke, StuW 2000, 309; Kirchhof/Lambsdorff/ Pinkwart, Perspektiven des modernen Steuerrechts, FS Solms, 2005; Kußmaul/Zabel, ZSteu 2005, 274 ff., 292 ff., 310 ff. (Aufarbeitung der Reformvorschläge); Reif, Reform der Besteuerung des Einkommens, Diss., 2005; Bareis, FS Wacker, 2006, 27; Siegel, FS Wacker, 2006, 3; P. Kirchhof, BB 2006, 71; Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuerwirrwarr!?, Rechtsreform statt Stimmenfangpolitik, 2006; 66. DJT (2006): Besteuerung von Einkommen – Aufgaben, Wirkungen und europäische Herausforderungen: Gutachten F von Seiler; Gutachten G von Spengel, sowie Sitzungsbericht Bd. II/1, Teil Q, 2006, zum 66. DJT; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011 (hierzu P. Kirchhof (Hrsg.), Das Bundesteuergesetzbuch in der Diskussion, 2013; ferner Anm. Tipke, StuW 2013, 212 [Allgem. Teil]; Pelka, StuW 2013, 26 [Einkommensteuer]; Seer, StuW 2013, 239 [Erbschaftsteuer]; Hennrichs, StuW 2013, 249 [Bilanzordnung]; Finke/Spengel, StuW 2013, 256 [ökonomische Sicht]); zuvor P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch 2003; Lang/Eilfort (Hrsg.), Strukturreform der deutschen Ertragsteuern. Bericht über die Arbeit und Entwürfe der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, 2013; Jachmann (Hrsg.), Erneuerung des Steuerrechts, DStJG 37 (2014). 112 Dieses lässt sich weit zurückverfolgenden, vgl. wichtige Literatur bis 1971: Wiss. Beirat beim BMF, Zur organischen Steuerreform, 1953; Troeger, Diskussionsbeiträge des Arbeitsausschusses für die Große Steuerreform, 1954; Troeger, Denkschrift zur Verbesserung der Einkommensbesteuerung, 1958; FalkKommission (sog. Durchforstungskommission), Untersuchungen zum Einkommensteuerrecht unter besonderer Berücksichtigung textkritischer, rechtssystematischer und verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte, BMF-Schriftenreihe, Heft 7, 1964; Wiss. Beirat beim BMF, Gutachten zur Reform der direkten Steuern, BMF-Schriftenreihe, Heft 9, 1967; Eberhard-Kommission, Gutachten der Steuerreformkommission 1971, BMF-Schriftenreihe, Heft 17, 1971. I.Ü. s. Nachweise Rz. 85. 113 Tagungsband hrsg. v. Jachmann, DStJG 37 (2014). 114 S. aber F.W. Wagner, FR 2012, 653: „Großer Wurf weder möglich noch nötig“; zurückhaltend auch Schön, FR 2014, 93: „gesunde Skepsis gegenüber Fundamentalreformen“. 115 S. Tipke, Hütet das Nettoprinzip, FS Raupach, 2006, 177; Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuerwirrwarr!?, Rechtsreform statt Stimmenfangpolitik, 2006, 150 ff.; Bareis, „Steuerreform“, in Leitgedanken des Rechts, Band II, 2013, § 166; Wagschal, Steuerpolitik und Steuerreformen im internationalen Vergleich, 2005; aus rechtshistorischer Sicht Thier, StuW 2014, 77.
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§ 7 Rz. 83
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
fachungsgesetz 2011 v. 1.11.2011, BGBl. 2011, 2131), indes nicht eingelöst116. Wissenschaftlich fundierte Steuerpolitikberatung117 trifft bestenfalls auf höfliches Desinteresse und scheitert regelmäßig an der Realität einer allein aufkommenszentrierten Steuergesetzgebung. Fanden sich noch bis Mitte der 2000er Jahre zumindest verbale Bekenntnisse der Politik zu grundlegenden Steuerreformen118, so beschränkt sich die politische Diskussion seither in erster Linie auf den Einkommensteuertarif. Auch aus dem 2017 neu gewählten Bundestag ist keine Steuerreformpolitik zu erwarten119. 83
Falsch ist vor allem die Fokussierung der Steuerpolitik auf Steuersätze und Steuertarife. Auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit eines Steuersystems lebt nicht nur von einer niedrigen Tarifbelastung der Unternehmen. Ebenso bedeutend ist ein wohlstrukturiertes, d.h. ein möglichst einfaches, nicht streitanfälliges Steuerrecht, das wirtschaftliche Entscheidungen möglichst wenig verzerrt, Steuerplanungssicherheit bietet und beim Vollzug der Steuergesetze eine im Wesentlichen störungsfreie Zusammenarbeit der Unternehmen mit den Finanzbehörden gewährleistet120. Diese Kriterien erfüllt das deutsche Ertragsteuerrecht gegenwärtig nicht. Es ist unverständlich kompliziert und verzerrt wirtschaftliche Entscheidungen mehr als andere Steuersysteme121. Das Verhältnis zwischen Steuerzahlern und Finanzbehörden ist tiefgreifend gestört.
84
Von Bedeutung bleibt – der mangelnden Reformbereitschaft zum Trotz – vor allem die Forderung nach einer die strukturellen Defizite des Einkommensteuerrechts beseitigenden Rechtsreform, wie sie etwa der „Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes“122 verfolgt123. In einem Steuersystem trägt hauptsächlich die Einkommensteuer die Verwirklichung des Leistungsfähigkeitsprinzips. Der progressive Einkommensteuertarif ist aber nur dann leistungsfähigkeitsgerecht, wenn die Leistungsfähigkeit richtig gemessen wird. Daher muss die Leistungsfähigkeitsgerechtigkeit der Bemessungsgrundlage Vorrang vor der Tarifgestaltung haben124. Verbreiterungen der Bemessungsgrundlage zulasten des Nettoprinzips sind abzulehnen125. Davon ausgehend sollte der Schwerpunkt einer Einkommensteuerreform bei der Bemessungsgrundlage gesetzt werden, die leistungsfähigkeitsgerechter auszugestalten und grundlegend zu vereinfachen ist. Breite Einigkeit besteht hinsichtlich der Forderung, das Einkom116 Konkret zum Steuervereinfachungsgesetz 2011 Eichfelder/Evers, StuW 2011, 224; Reimer, FR 2011, 929; allgemein J. Lang, FS Spindler, 2011, 139 („Unfähigkeit der deutschen Politik zur Steuervereinfachung“); Merz, FS J. Lang, 2010, 367 ff. 117 Programmatisch Tipke, Warum Steuerrechtswissenschaft und Steuerpolitik nicht harmonieren, StuW 2013, 97; ferner Eilfort, FS J. Lang, 2010, 375; Jochum, FS J. Lang, 2010, 391; Hey, StuW 2013, 107. 118 Nachweise s. 21. Aufl., § 7 Rz. 84 Fn. 5. 119 Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 19. Legislaturperiode, 66 ff., enthält im Wesentlichen Allgemeinplätze und Pläne zur Verausgabung der reichlich sprudelnden Steuereinnahmen. 120 Zu sog. Cooperative Compliance z.B. van der Hel – van Dijk/Siglé, Intertax 2016, 642. 121 Zum Abschneiden des deutschen Unternehmensteuerrechts im internationalen Vergleich s. die PWCStudie, Paying Taxes – the compliance burden, 2017: Rang 74 gegenüber Rang 68 in 2015. Zu den Gründen der Komplexität s. befragungsbasierte Analyse von Hoppe u.a., WPg 2017, 1026. 122 Lang (Sprecher)/Herzig/Hey/Horlemann/Pelka/Pezzer/Seer/Tipke (beratend), KEStGE, 2005, ausgehend von J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, 1985, und fortgeführt von der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, Steuerpolitisches Programm, 2006, 46 ff.; Lang/Eilfort (Hrsg.), Strukturreform der deutschen Ertragsteuern. Bericht über die Arbeit und Entwürfe der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, 2013. 123 Zum fortbestehenden Bedarf nach Grundlagenreform auch P. Kirchhof, FR 2012, 701. Zum Stand der Reformdiskussion auch Kühn, FR 2012, 543; Müller-Gatermann, Ubg 2013, 510 (511 ff.). 124 Tipke, StRO II, 838: „Ein gerechtes Steuerrecht muss auf einer gerechten Bemessungsgrundlage aufbauen. Da jeder Tarif durch eine Bemessungsgrundlage fundiert werden muss, zäumt der Gesetzgeber das Pferd am Schwanz auf, wenn er auf der Grundlage einer ungerechten Bemessungsgrundlage eine ‚Tarifreform‘ durchführt. Bemessungsgrundlage geht vor Tarif.“ S. auch J. Lang, StuW 2006, 22 (31 f.). 125 Dazu Drenseck, FR 2006, 1; Tipke, FS Raupach, 2006, 177; Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuerwirrwarr!?, Rechtsreform statt Stimmenfangpolitik, 2006, 150 ff. S. im Weiteren § 8 Rz. 54 f.
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C. Steuern auf das Einkommen und Vermögen
Rz. 86 § 7
mensteuerrecht von Sozialzwecknormen und Steuerprivilegien zu säubern und freizuhalten126. Die Möglichkeiten einer systemkonformen Verbreiterung der Bemessungsgrundlage dürfen freilich nicht überschätzt werden, nachdem der Einkommensteuergesetzgeber in der Vergangenheit durch Abschaffung von Sonderabschreibungstatbeständen und Vergünstigungen wie z.B. der Eigenheimzulage weit vorangeschritten ist. Ambivalent ist die Forderung nach Steuervereinfachung. Sie kann nicht allein auf den Steuervollzug und den Einsatz neuer Kommunikationstechniken beschränkt werden127, sondern muss sich auch auf das materielle Recht erstrecken. Allerdings wird auch ein reformiertes Einkommensteuerrecht nicht ohne unbestimmte Rechtsbegriffe etwa zur Abgrenzung zwischen Privat-und Erwerbsphäre auskommen. Die der Einkommensteuer unterliegende Lebenswirklichkeit ist zu vielgestaltig, als dass sich das hieraus entstehende Konfliktpotential durch Typisierungen signifikant reduzieren ließe128. Weitgehend einig sind sich die Reformentwürfe hinsichtlich der Bedeutung des objektiven Netto- 85 prinzips, der Notwendigkeit, überkommene streitanfällige Einkunftsartenabgrenzungen zu beseitigen und der Unabdingbarkeit des subjektiven Nettoprinzips. Ungelöst ist dagegen das historische Problem des Nebeneinanders von Einkommen- und Körperschaftsteuer sowie der Ermittlung und Durchsetzung des Steueranspruchs auf (mobile) Kapitaleinkommen129. So unbestritten das Ideal der synthetischen Einkommensteuer ist, so schwierig ist seine Umsetzung in der heutigen Besteuerungsrealität. Dem synthetischen Prinzip trägt idealiter die Einheitssteuer von P. Kirchhof130 Rechnung, da sie die 86 Besteuerung der Einkommen von „steuerjuristischen Personen“ mit einbezieht. Unternehmerische Gewinne werden rechtsformneutral abschließend auf Unternehmensebene besteuert und bei Ausschüttung/Entnahme von weiterer Besteuerung freigestellt. Diese Lösung setzt ganz allgemein einen wettbewerbsfähig niedrigen sog. „flachen Steuersatz“, also eine Flat Tax131 voraus. Ein Proportionaltarif verbessert die gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit: Die gleichmäßige Anwendung des Leistungsfähigkeitsprinzips „führt zur Proportion, nicht zur Progression“132, wobei Freibeträge zur verfassungsrechtlich gebotenen Verschonung des notwendigen Lebensbedarfs weiterhin indirekt für Progression sorgen. Der Verzicht auf einen progressiven Einkommensteuertarif vereinfacht die An-
126 S. z.B. Seer, BB 2004, 2272 (2275); Drüen, DStJG 37 (2014), 9 (55 ff.); P. Kirchhof, DStJG 21 (1998), 9 (23). Sozialzwecknormen sind grds. nur zum Ausgleich von Marktversagen tolerabel, auch dann sind aber hohe Anforderungen an ihre zweckgerechte Ausgestaltung zu stellen, Hey, DStJG 39 (2016), 11 (39 ff.). 127 So aber Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD v. 27.11.2013, 64. Besorgniserregend ist das durch die Möglichkeiten elektronischer Datenerhebung begünstigte Anschwellen der Informationspflichten, die letztlich zum Gegenteil von Steuervereinfachung führen, s. Kühn, FR 2012, 543 (547). Umgekehrt muss das materielle Recht vollzugstauglich sein, s. Drüen, DStJG 37 (2014), 9 (50 ff.). 128 Sehr zutreffend F.W. Wagner, FR 2012, 653 (657 ff.). 129 Vgl. F.W. Wagner, FS J. Lang, 2010, 345 (350): Kapitaleinkommensbesteuerung als „konzeptionell schwierigstes Problem aller Steuersysteme der Welt“. 130 Einkommensteuergesetzbuch, 2003, u. Bundessteuergesetzbuch, 2011. 131 Grundl. Hall/Rabushka, The Flat Tax2, Hoover Institution Press, 1995. Im Weiteren Elicker, StuW 2000, 3; Seer, BB 2004, 2272; Seer, 66. DJT (2006), 140 f.; Wiss. Beirat beim BMF, Flat Tax oder Duale Einkommensteuer?, BMF-Schriftenreihe, Bd. 76, 2004; Fuest/Peichl/Schäfer, StuW 2007, 22 (empirische Analyse zu Gewinnern und Verlierern); Suttmann, Die Flat Tax, Diss., 2007; Owens, Bull. International Taxation 2013, 679 (pro und contra). Das Konzept der Flat Tax liegt auch dem „Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer“ (2004) von Elicker zugrunde, ohne sich allerdings auf einen bestimmten Steuersatz festzulegen; krit. aus der Sicht der Optimal Tax Theory Jacobs, Finanzarchiv Vol. 69 (2013), 338. 132 So grundl. Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981, 97 (s. § 3 Rz. 212, u. § 8 Rz. 802). S. im Weiteren Seer, Besteuerung von Einkommen, 66. DJT (2006), 140 f.; Birk, Gastkommentar, DB v. 2.9.2011, M 1.
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§ 7 Rz. 87
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
wendung der Einkommensteuer und reduziert Steuerwiderstand133. Auch gleichheitsrechtlich überzeugt die Flat Tax134. Ein niedriger, international wettbewerbsfähiger135 Proportionalsatz ist jedoch, abgesehen davon, dass eine solche Forderung keine politischen Mehrheiten finden würde, aufgrund der hiermit einhergehenden Steuerausfälle haushaltspolitisch unrealistisch136. 87 Bei der Reform der Besteuerung von Einkommen ist davon auszugehen, dass die Lasten des Sozial-
staats zur Beibehaltung der progressiven Einkommensteuer zwingen. Allerdings fordert der Steuerwettbewerb eine Mäßigung der Progression, die auch aus den vorgenannten rechtlichen Gründen angezeigt ist. Die Progression sollte im internationalen Vergleich so maßvoll sein, dass sie auch von den mobilen Führungskräften akzeptiert wird137. 88 Den Vertretern der dualen Einkommensteuer ist insofern zuzustimmen, als auch eine Mäßigung der
Progression die Steuerwettbewerbsfähigkeit noch nicht herstellt. Daraus folgt jedoch nicht zwingend der Paradigmenwechsel zu einer globalen Niedrigbesteuerung oder gar Freistellung der Kapitaleinkommen. Ohnehin haben konsumsteuertheoretische (s. § 3 Rz. 79) Radikalentwürfe138, wie sie von Elicker, Mitschke und Rose vorgelegt wurden, wenig Aussicht, von der deutschen Steuerpolitik wahrgenommen zu werden. Vielmehr genügt es, investierte Unternehmensgewinne mittels eines niedrigen Körperschaftsteuersatzes partiell nachgelagert zu besteuern. Idealerweise würden auch private Kapitaleinkünfte durch partiell nachgelagerte Besteuerung in dieses System der Sparbereinigung139 einbezogen. Auf diese Weise entsteht ein System von Fiskalzwecknormen, das die Tarifbelastung gezielt dort zurückführt, wo sie sich im internationalen Steuersubstratwettbewerb140 nicht durchzusetzen vermag. Es handelt sich um ein System, das die synthetische Einkommensteuer im Grundsatz beibehält, diese jedoch in ein System der Steuerwettbewerbsfähigkeit überführt. 89 Der ersten Schedule der Besteuerung von Unternehmen liegt die separate Besteuerung der Unter-
nehmensgewinne nach dem Trennungsprinzip zugrunde: Der vom Körperschaftsteuersubjekt erwirtschaftete Gewinn wird zunächst proportional auf der Ebene des Unternehmens und sodann progressiv auf der Ebene des Anteilseigners besteuert (s. § 11 Rz. 1). Die Gesamtbelastung hängt davon ab, in welchem Umfange das Körperschaftsteuersystem die körperschaftsteuerliche Vorbelastung auf der Ebene progressiver Besteuerung des Anteilseigners berücksichtigt. Das Spektrum (s. § 11 Rz. 6 ff.) reicht von der Nichtberücksichtigung (klassisches System: volle Doppelbelastung) bis zur Vollanrechnung der Körperschaftsteuer (s. § 11 Rz. 8). Auf die Progression wird ganz verzichtet, wenn die Besteuerung auf
133 Zu den Effekten eines Übergangs von einem Progressiv- zu einem Proportionalsteuersystem auf die Steuerehrlichkeit Heinemann/Kocher, Tax Compliance Under Tax Regime Changes, ZEW Discussion Paper No. 10–020. 134 Beschluss Nr. 14 des 66. DJT (2006), 169: „Ein einheitlicher Steuersatz (flat rate) bildet den Schlüssel zur Gleichheit und Vereinfachung des Steuerrechts …“; so auch Seiler, Gutachten F zum 66. DJT (2006) in Stuttgart, 26 ff.; Seer, Besteuerung von Einkommen, 66. DJT (2006), 140 ff. 135 Hierzu Hey, JZ 2006, 851 (853 f.); Spengel, Ubg 2012, 256. 136 Zu den Haushaltswirkungen des Vorschlags von P. Kirchhof s. 21. Aufl., § 7 Rz. 86 Fn. 4 und Kühn, FR 2012, 543 (548). 137 S. auch BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (116). 138 Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, 2004, § 2 I, 124 ff., und Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, 2004, § 6, 47 ff. (s. dazu die empirische Analyse von Fuest, FR 2011, 9), empfehlen die Cash-Flow-Ermittlung der Einkünfte. Für die Zinsbereinigung plädieren Rose (S. 15 [19 f.]) und Feist/Krimmer/Raffelhüschen (S. 122 [125]) in Rose, Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland, 2002. 139 Dorenkamp, Nachgelagerte Besteuerung von Einkommen, Diss., 2004, 358; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (109). 140 S. Hey, JZ 2006, 851 (853 f.); Fuest in Lüdicke, Wo steht das deutsche Internationale Steuerrecht?, 2009, 1 (6).
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C. Steuern auf das Einkommen und Vermögen
Rz. 90 § 7
Unternehmensebene abschließend ist141, d.h. Gewinnausschüttungen an Anteilseigner einkommensteuerbefreit sind. International vorherrschend sind die variantenreichen Teilentlastungssysteme mit teilweiser Befreiung (z.B. Teileinkünfteverfahren, s. § 11 Rz. 12), partieller oder pauschaler Anrechnung bzw. Ermäßigung (zu diesen sog. Shareholder-Relief-Systemen s. § 11 Rz. 7). Zwar nimmt die Anzahl an (wettbewerbsrelevanten) Personenunternehmen ab142, historisch bedingt 90 gibt es in Deutschland aber immer noch einen verhältnismäßig hohen Anteil großer Personenunternehmen. Dies wirft die Grundfrage auf, wie Personenunternehmen in die niedrige Besteuerung thesaurierter Gewinne integriert werden können143. Vorschläge einer allgemeinen Unternehmensteuer, wie sie etwa von der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft144 vorgelegt wurden, laufen Gefahr, kleinen Unternehmen und Einzelunternehmern nicht gerecht zu werden, da diese mit ihrem persönlichen Einkommensteuersatz häufig noch unter dem niedrigen Unternehmensteuersatz liegen werden. Mithin sollte der Dualismus von Einkommensteuer und Körperschaftsteuer beibehalten145 und die Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung durch Integration von Personenunternehmen in die Körperschaftsteuer verbessert werden. Die meisten Probleme lassen sich lösen, indem Personen(handels)gesellschaften – verpflichtend oder optional – in die Körperschaftsteuer einbezogen werden146. Zumindest die wirtschaftlich der GmbH entsprechende GmbH & Co. KG könnte (zwingend) der Körperschaftsteuer zugeordnet, Personenunternehmen i.Ü. eine Option zur Körperschaftsteuer eröffnet werden147. Diese wird im Zweifel nur von größeren Personenunternehmen wahrgenommen, die von einem niedrigen Körperschaftsteuersatz profitieren würden. Zwar begegnen Optionsmodelle dem Vorwurf der Besteuerung nach Wahl. Eine steuerliche Option zur Körperschaftsteuer wäre aber allemal vorzugwürdig gegenüber einem indirekten Zwang zur Umwandlung. Die Wahl der Rechtsform sollte gesellschaftsrechtlichen Überlegungen folgen und frei von den hiermit verbundenen Steuerfolgen getroffen werden. Das Sonderrecht der Niedrigbesteuerung unternehmerischer Gewinne durch § 34a EStG würde obsolet. Die Aufnahme von Personengesellschaften in die Körperschaftsteuerpflicht erweitert allerdings das der Zwei-Ebenen-Besteuerung immanente Problem der Definitivbelastung auf Unternehmensebene, der durch eine Regelung unmittelbarer Einkommensteuerbelastung begegnet werden muss. So muss u.a. die Steuerfrei-
141 So der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren, Jahresgutachten 2003/2004, 2003, Rz. 570 ff. (Steuerreformoption I: Integration von Körperschaftsteuer und Einkommensteuer), und P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, 2003, § 1: „Natürliche Personen und steuerjuristische Personen sind einkommensteuerpflichtig.“ 142 Laut Statistischem Bundesamt betrug der Anteil von Personenunternehmen an der Anzahl aller Unternehmen 2014 ca. 75 % vs. 85 % in 2010; s. ferner die detaillierte Untersuchung von Kornblum, GmbHR 2017, 739; nach Anteilen am Gesamtumsatz und Gesellschaftsstrukturen differenzierend Seer, FS J. Lang, 2010, 655 (657 f.). 143 Dazu Hey, FS Raupach, 2006, 479. 144 Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, Steuerpolitisches Programm, Januar 2006, 16 ff. („einheitliche Unternehmensteuer“). Dazu Herzig, FS Solms, 2005, 115; Homburg, BB 2005, 2382; Herzig/Bohn, DB 2006, 1; Hey, StuB 2006, 267; Hey, FS Raupach, 2006, 479 (488 f.); Kußmaul/Hilmer, StuB 2006, 795 (Verhältnis zum Regierungsprogramm); Wilk, BB 2006, 245; Wilk, DStZ 2006, 290 (abl.). 145 So auch Beschluss Nr. 18 des 66. DJT (2006), 170: „Die dualistische Struktur der Unternehmensbesteuerung – Trennungsprinzip bei juristischen Personen und Transparenzprinzip bei Personenunternehmen – hat sich bewährt. Sie entspricht – bei typisierter Betrachtung – zivilrechtlichen Rechtsformunterschieden und sollte daher beibehalten werden.“ 146 In vielen Ländern sind Personenhandelsgesellschaften, insb. die OHG KSt-pflichtig (s. die Übersicht in Erle/Sauter3, § 1 KStG Rz. 77). Zur Erweiterung der Körperschaftsteuerpflicht s. Hey, FS Raupach, 2006, 479 (492 f.); Müller-Gatermann, Stbg. 2007, 145 (155 ff.); Woerz, Körperschaftsteuer für Personenunternehmen, Diss., 2009; J. Lang, StuW 2011, 144 (156). 147 So nachdrücklich Hennrichs, FR 2010, 721 (727 ff.); kontrovers diskutiert auf dem 35. Berliner Steuergespräch am 14.6.2010, s. Dokumentation der Vorträge und Redebeiträge, FR 2010, 731–756.
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Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
heit des Existenzminimums bei Familienunternehmen mit vielen zu versorgenden Personen gewährleistet sein. Möglich wäre dies durch eine transparente Entnahme rechtsformneutral sowohl für Personengesellschaften als auch für personenbezogene Kapitalgesellschaften: Dadurch werden sämtliche offenen und verdeckten Ausschüttungen/Entnahmen unmittelbar bei den Gesellschaftern im Zeitpunkt des Zuflusses besteuert; kongruent hierzu sind die Ausschüttungen/Entnahmen aus der körperschaftsteuerlichen Bemessungsgrundlage auszuscheiden. Damit würde sich u.a. die schwierige Praxis der verdeckten Gewinnausschüttung bei der personenbezogenen GmbH weitgehend erübrigen, weil die Angemessenheit der Ausschüttung, z.B. die Angemessenheit von Geschäftsführerbezügen nicht mehr zu prüfen ist. Es kommt allein auf den Vorteilszufluss beim Gesellschafter an148. 91
Die zweite Schedule ermäßigter Besteuerung privater Kapitaleinkünfte wird derzeit durch die Abgeltungsteuer verwirklicht. Ihre Rechtfertigung zur Durchsetzung des Steueranspruchs auf mobile Kapitaleinkünfte schwindet in dem Maße, wie ein weltweiter automatischer Informationsaustausch den Vollzug gewährleistet. In jedem Fall bedürfte es grundlegender Vereinfachung und Neustrukturierung der geltenden Abgeltungsteuer. Eine ungemindert progressive Besteuerung von Kapitaleinkünften scheidet auch für nicht mit Körperschaftsteuer vorbelastete Zinseinkünfte im Hinblick auf deren Inflationsanfälligkeit aus (s. zu den Reformfragen der Abgeltungsteuer i.E. § 8 Rz. 505).
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Die Reform der Kommunalsteuern149, ohne die eine Reform der Unternehmensbesteuerung nicht zustande kommen kann, bildet den schwierigsten Teil einer „großen Steuerreform“, da sie Veränderungen der finanzverfassungsrechtlichen Kompetenzordnung erfordert. Die Sonderbelastung der gewerblichen Gewinne durch die Gewerbesteuer ist weder nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip noch nach dem Äquivalenzprinzip (s. § 3 Rz. 44; § 12 Rz. 1 ff.) zu rechtfertigen und verletzt daher den Gleichheitssatz150. Eine ersatzlose Kassation der Gewerbesteuer kommt dennoch nicht in Betracht. Bei der Diskussion des Surrogats stehen sich Kommunen und Wirtschaft unversöhnlich gegenüber. Die Kommunen suchen das Steueraufkommen nach dem Äquivalenzprinzip zu optimieren151. Hin-
148 S. den Vorschlag der Kommission Steuergesetzbuch der Stiftung Marktwirtschaft, hrsg. von J. Lang/ Eilfort, Strukturreform der deutschen Ertragsteuer, 2013. 149 Lit. (ab 2000): Jachmann, BB 2000, 1432 (gleichheitsgerechte Ersetzung der GewSt); Homburg, Reform der Gewerbesteuer, Archiv für Kommunalwissenschaften, 2000, 42; Broer, DStZ 2001, 622 (kommunales Zuschlagsrecht zur ESt u. KSt); Conradi, Die Legitimation der Gewerbesteuer. Eine wirtschaftspolitische, rechtshistorische u. steuersystematische Analyse, Diss., 2001; Keß, FR 2000, 695 (UntStReform ohne GewStReform?); Hey, StuW 2002, 314; P. Kirchhof, NJW 2002, 1549 (Reform der kommunalen Finanzausstattung); Schemmel, Kommunale Steuerautonomie und Gewerbesteuerabbau, 2002; Jachmann, DStJG 25 (2002), 195 (GewSt im System der Besteuerung von Einkommen); Jachmann, Gewerbesteuerreform, 2003; Fuest/Huber, Wirtschaftsdienst 2003, 555 (Gemeindefinanzreform); Tipke, StRO II, 1139 ff., 1158 ff.; Stöhr/Stange, Reform der Gewerbesteuer, 2003; Otten, Die Grundmodelle der Alternativen zur Gewerbesteuer: Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz und Europarecht, Diss., 2005; Knirsch/Niemann, StuW 2006, 278 (Abschaffung der österreichischen Gewerbesteuer); Müller-Gatermann, FS Raupach, 2006, 81; Beiträge von Kirchhof, Oestreicher, Farenschon, Jonas u. Kuban sowie Diskussionsbericht von Richter/Welling zum 36. Berliner Steuergespräch zur Reform der kommunalen Steuerfinanzierung, FR 2010, 961 ff.; Solms, FS J. Lang, 2010, 439; Deubel, FS J. Lang, 2010, 423; Schön, DStJG 37 (2014), 217 (255 ff.). 150 Überzeugend Niedersächs. FG v. 23.7.1997 – IV 317/91, EFG 1997, 1456; v. 24.6.1998 – IV 317/91, EFG 1998, 1428. Hingegen bejaht BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1, 29 ff., entgegen der h.M. im Schrifttum (insb. Jachmann, DStJG 25 [2002], 195 [231 ff.]; Tipke, StRO II, 1139 ff.) die Vereinbarkeit der GewSt mit dem Gleichheitssatz: Unterschiede in der Typik von Gewerbebetrieben einerseits und den freien Berufen, Land- und Forstwirtschaft andererseits (BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 [32 f.]) sowie äquivalenztheoretische Rechtfertigung (BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 [39 f.]). 151 In der Vergangenheit konnten sie sich dabei auf von Ökonomen favorisierte Wertschöpfungskonzepte berufen, s. grundl. Wiss. Beirat beim BMF, Gutachten zur Reform der Gemeindesteuern, BMF-Schriftenreihe, Heft 31, 1982, 52 ff. (kommunale Wertschöpfungssteuer als Ersatz der Gewerbesteuer); die allerdings auch unter Finanzwissenschaftlern zunehmen Gefolgschaft verlieren, s. Feld/Fritz, DStJG
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gegen lehnt die Wirtschaft eine ertragsunabhängige Besteuerung strikt ab und beruft sich auf das Leistungsfähigkeitsprinzip. Nach zwei gescheiterten Gemeindefinanzreformkommissionen (2002 und 2010) scheint die Situation ver- 93 fahrener denn je152. Auch die Chance der 2017 verabschiedeten Föderalismusreform III153 wurde erneut vertan. An Vorschlägen zur Reform mangelt es nicht154. Breite Zustimmung hat insb. das im Januar 2006 vorgestellte Vier-Säulen-Modell der Kommission „Steuergesetzbuch“155 erfahren, das aus einer Grundsteuer (1. Säule), einer Bürgersteuer (2. Säule), einer streng ertragsabhängigen Unternehmensteuer (3. Säule) und einer Beteiligung der Betriebstättengemeinden am Lohnsteueraufkommen (4. Säule) besteht. Die Bürgersteuer als kommunaler Zuschlag auf die Einkommensteuer würde ein Interessenband zwischen Gemeindeeinwohnern und Kommunalparlamenten begründen. Die vierte Säule löst den Konflikt zwischen Leistungsfähigkeitsprinzip und Äquivalenzprinzip, denn die Beteiligung am Lohnsteueraufkommen wirkt für die Gemeinde äquivalenztheoretisch: Die Kosten kommunaler Infrastruktur für Arbeitsplätze werden ohne Verletzung des Leistungsfähigkeitsprinzips berücksichtigt, weil die Beteiligungen am Lohnsteueraufkommen die Steuerlast für Arbeitnehmer und Arbeitgeber anders als bei der Lohnsummensteuer nicht erhöht. Berechnungen des Landes Niedersachsen zeigen, dass 75 % aller Kommunen von einem derartigen Modell profitieren würden156. Allerdings birgt auch eine geringe Anzahl „Verlierergemeinden“ die Gefahr unüberwindbaren Widerstandes gegen jede Reform157. Zudem erlischt die in Wirtschaftskrisenzeiten aktivierte Reformbereitschaft der Kommunen, sobald sich die Gewerbesteuereinnahmen infolge Konjunkturbelebung erholen. Die Gewerbesteuer mag hochvolatil sein, doch sie verspricht die größten Wachstumsraten158. Dies erklärt die geringe Bereitschaft der Kommunen, die Gewerbesteuer aufzugeben, zumal in Zeiten schwacher Wirtschaftskraft und damit einbrechender Gewerbesteuereinnahmen in der Regel der Bund bzw. die Länder mit finanziellen Hilfen für die Kommunen einspringen.
Einstweilen frei.
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35 (2012), 61 ff. Zur Sicht der Kommunen s. Deutscher Städtetag, Die Gewerbesteuer – eine gute Gemeindesteuer, Heft 94 (2010). Zu den Gründen des Scheiterns s. Hey, FS Stern, 2012, 25 ff. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 13.7.2017, BGBl. I, 2347. Wiss. Beirat beim BMF, Gutachten zur Reform der Gemeindesteuern, BMF-Schriftenreihe, Heft 31, 1982, 52 ff. (kommunale Wertschöpfungssteuer als Ersatz der Gewerbesteuer); BDI/VCI, Verfassungskonforme Reform der Gewerbesteuer, Konzept einer kommunalen Einkommen- und Gewinnsteuer, 2001; J. Lang, Systeme und Prinzipien der Besteuerung von Einkommen, DStJG 24 (2001), 124 f.: kommunale Unternehmensteuer als Gewinnsteuer mit Freistellung des Existenzminimums; Ritter, FS Kruse, 2001, 457; Bertelsmann Stiftung, Reform der Gemeindefinanzen, 2003; DWS, Gemeindefinanzreform durch kommunale Zuschlagsteuer, 2003; Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform der Gewerbesteuer v. 13.8.2003, BT-Drucks. 15/1517 (Gemeindewirtschaftssteuer); dazu Jachmann, Wirtschaftsdienst 2003, 568; Keß, FR 2003, 959; Schulze zur Wiesche, BB 2003, 2158); FDP-Fraktion, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des GG (Gemeindefinanzreform), BT-Drucks. 15/3232 v. 26.5.2004; FDP-Fraktion, Reform der Gewerbesteuer, BT-Drucks. 16/2295 v. 21.7.2006; Vier-Säulen-Modell der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, Steuerpolitisches Programm, 2006; mit historischen Bezügen für eine kommunale Einkommensteuer Gehm, ZRP 2011, 143. Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, Steuerpolitisches Programm, 2006, 40 ff. Dazu Jachmann, StuW 2006, 115; Hey in Lange, Reform der Gemeindesteuern, Loccumer Protokolle 59/05, 79. http://www.stiftung-marktwirtschaft.de/fileadmin/user_upload/Sonstige-Publikationen/20110125_Be richt_Kurzfassung.pdf. S. hierzu die Berechnungen von Broer, KStZ 2011, 221 zum sog. Prüfmodell der Bundesregierung, das der Gemeindefinanzkommission 2012 zugrunde gelegen hat. Zur derzeitigen sehr ungleichen Verteilung des Gewerbesteueraufkommens Geißler/Boettcher, Wirtschaftsdienst 2016, 212. Deutscher Städtetag, Die Gewerbesteuer – eine gute Gemeindesteuer. Fakten und Analysen, Heft 94 (2010).
Hey 301
§ 7 Rz. 101
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
D. Steuern auf die Verwendung von Einkommen und Vermögen 101 1. Die Verwendung von Einkommen und Vermögen wird besteuert
– durch die Umsatzsteuer als allgemeine Verbrauchsteuer (s. § 17 Rz. 10 f.), – durch spezielle Verkehrsteuern (s. § 18 Rz. 1 ff.) und – durch spezielle Verbrauch- und Aufwandsteuern (s. § 18 Rz. 105 ff.). 102 2. Spezielle Verkehrsteuern sind nach der gebräuchlichen Terminologie
– die Rechtsverkehrsteuern: Sie knüpfen an Vorgänge des Rechtsverkehrs an, also an vertragliche oder gesetzliche Beziehungen, aufgrund welcher Personen Lieferungen oder sonstige Leistungen oder Rechtsansprüche erhalten. Rechtsverkehrsteuern sind die Grunderwerbsteuer (s. § 18 Rz. 1 ff.), die Versicherungsteuer (s. § 18 Rz. 67 ff.), die Feuerschutzsteuer (s. § 18 Rz. 75 ff.) sowie die Rennwett- und Lotteriesteuer (s. § 18 Rz. 80 ff.). Es handelt sich im Wesentlichen um Steuern mit Länderertragshoheit gem. Art. 106 II Nr. 3 GG; lediglich das Aufkommen der Versicherungsteuer steht gem. Art. 106 I Nr. 4 GG dem Bund zu. Die Finanzverfassung würde darüber hinaus auch Kapitalverkehrsteuern erlauben; diskutiert wird derzeit die unionsrechtlich harmonisierte Einführung einer Finanztransaktionssteuer (§ 4 Rz. 66). – die Realverkehrsteuern: Sie knüpfen an einen Akt des technischen Verkehrs an. Realverkehrsteuern sind die Kraftfahrzeugsteuer (s. § 18 Rz. 85 ff.) und die 1969 bis 1971 erhobene Straßengüterverkehrsteuer. Seit dem 1.1.2011 wird außerdem die Luftverkehrsteuer erhoben, die – entgegen der Einschätzung des Gesetzgebers – ebenfalls als Realverkehr – und nicht als Rechtsverkehrsteuer zu qualifizieren ist (s. § 18 Rz. 99; a.A. BVerfGE 137, 350, Rz. 30). Es handelt sich jeweils um auf motorisierte Verkehrsmittel bezogene Verkehrsteuern mit Bundesertragshoheit i.S.d. Art. 106 I Nr. 3 GG; – die Spielbankabgabe (Art. 106 II Nr. 5 GG): Sie knüpft an den Spielumsatz an. 103 Im Anschluss an Mirre159 hat man Rechtsverkehrsteuern mit der sog. Bewertungsdifferenztheorie
zu rechtfertigen versucht: Der Erwerber eines Gegenstandes bewerte diesen regelmäßig höher als der Veräußerer; diese Bewertungsdifferenz könne der Staat für sich ausnutzen. Damit wird letztlich aber nur die Wirkung einer Konsumsteuer beschrieben, die je nach Marktverhältnissen und individuellen Präferenzen die Konsumenten- und die Produzentenrente ganz oder teilweise abschöpft, allerdings infolge damit regelmäßig einhergehender Preiserhöhungen auch zu einem insgesamt verminderten Konsum führt. Man könnte daher auch formulieren: Soweit die Marktverhältnisse die Steuererhebung erlauben, darf sie auch erfolgen. Ein solcher Legitimationsansatz stellt jedoch in einem Steuersystem, das sich von Verfassungs wegen an Erwägungen gleichmäßiger und sozialstaatlich verträglicher Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu orientieren hat, einen historisch überkommenen Fremdkörper dar160. Er missachtet zudem auch ökonomische Anforderungen an ein möglichst neutrales und effizientes Steuersystem, die insb. eine Belastung auch von Zwischenprodukten in der Wertschöpfungskette als grds. verfehlt erscheinen lassen161. Die Belastung mit Rechtsverkehrsteuern lässt sich gleichheitsrechtlich vielmehr nur legitimieren, soweit sie als Fiskalzwecksteuern auf eine umsatzsteuerrechtlich noch nicht (ausreichend) erfasste Indikation von Konsumleistungsfähigkeit Zugriff nehmen162, oder aber als Lenkungsteuern gerechtfertigt werden können. Durch den bloßen Rechts- oder Realverkehrsakt wird jedenfalls keine steuerliche Leistungsfähigkeit indiziert. 159 Mirre, Allgemeine Steuer-Rundschau 1922, 296; Mirre, Hdb. der Finanzwissenschaft, Bd. 2, 1927, 274, 279 f., 287. 160 Krit. zur Bewertungsdifferenztheorie Tipke, StRO II2, 1014. 161 Grundlegend Diamond/Mirrlees, 61 The American Economic Review 1971, 8 (24 f.). 162 S. dazu die generalisierende Aussage des BVerfG im Urteil zur Luftverkehrsteuer, BVerfG v. 5.11.2014 – 1 BvF 3/11, BVerfGE 137, 350, Rz. 43: „Die Belastung mit Finanzzwecksteuern ist an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen auszurichten.“
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Englisch
D. Steuern auf die Verwendung von Einkommen und Vermögen
Rz. 107 § 7
Die Umsatzsteuerbefreiungen des § 4 Nr. 9, 10 UStG verstehen die Grunderwerbsteuer, die Renn- 104 wett- und Lotteriesteuer und die Versicherungsteuer als besondere Umsatzsteuern. Daran wird erkennbar, dass an sich auch insoweit nur Konsumaufwendungen belastungswürdig sind. Nicht sachgerecht ist insb. die Belastung von unternehmerischen Investitionen und von Betriebsvermögen durch GrESt und VersSt infolge der fehlenden Einbeziehung dieser Steuern in das Mehrwertsteuersystem mit Vorsteuerabzug. Wertungswidersprüchlich ist ferner die Belastung bestimmter Versicherungsaufwendungen, die nach einkommensteuerrechtlichen und grundgesetzlichen Maßstäben als existenzieller Vorsorgeaufwand zu qualifizieren sind (s. § 18 Rz. 67). Letztlich wäre eine Integration sämtlicher der vorerwähnten speziellen Verkehrsteuern in die Umsatzsteuer geboten163, wofür es allerdings teilweise einer Änderung der EU-MwStSystRL und jedenfalls Anpassungen im Bund-Länder-Finanzausgleich bedürfte. Die Grunderwerbsteuer könnte bei entsprechender Ausgestaltung alternativ auch ähnlich wie eine Vorteilsabschöpfungsabgabe für wertsteigernde Gemeindeleistungen äquivalenztheoretisch gerechtfertigt werden und dann gesondert bestehen bleiben164. Zur Spielbankabgabe s. § 18 Rz. 81. Die Realverkehrsteuern (Kfz-Steuer und Luftverkehrsteuer) werden zusätzlich zur Umsatzsteuer er- 105 hoben. Die zusätzliche Belastung der entsprechenden Einkommens- und Vermögensverwendung lässt sich nur lenkungsteuerlich legitimieren; der Gesetzgeber versucht diese Steuern daher auch zunehmend als Ökosteuern zu rechtfertigen (s. § 18 Rz. 86 u. Rz. 99). Unter dieser Prämisse kann dann auch die Ausgestaltung als Produktionsmittelsteuer, die auch betrieblichen Aufwand für die geschäftliche Nutzung von Fahrzeugen und Flugzeugen belastet, jedenfalls ansatzweise hingenommen werden. 3. Spezielle Verbrauchsteuern (s. § 18 Rz. 111 ff.) sind Warensteuern auf den Verbrauch von Konsum- 106 gütern. Sie sind regelmäßig als indirekte Steuern auf Überwälzung angelegt165. Es verletzt die Steuergleichheit, wenn Waren wie derzeit Kaffee willkürlich für eine Sonderbelastung ausgewählt werden166. Zwar ließen sich die meisten Verbrauchsteuern im Rahmen der europäischen Harmonisierung (s. § 4 Rz. 66 f.) ansatzweise als Sozialzwecksteuern rechtfertigen. Insb. Alkohol und Tabak sind potenziell gesundheits- und sozialschädliche (z.B. passives Rauchen, Belastung des Gesundheitswesens) Genussmittel. Ihre negativen Wirkungen zeigen sich vor allem bei übermäßigem Genuss. Daher darf der Staat ihren Konsum durch Sonderbelastung eindämmen. Die Steuer müsste allerdings dieses Lenkungsziel auch folgerichtig umsetzen (s. auch die Kritik in § 18 Rz. 128 f.). Unter diesem Aspekt ist bspw. die mangelnde Besteuerung von Wein im Verhältnis zu besteuerten Alkoholika gleichheitssatzwidrig. Im Bereich der Verbrauchsbesteuerung von Energie und Energieträgern sind die Strom- und Energiesteuer Sozialzwecksteuern zum Schutze der Umwelt (s. § 18 Rz. 116). 4. Aufwandsteuern sind indirekte und auch direkte Steuern auf den privaten Gebrauch von Gütern 107 und Dienstleistungen (s. bereits § 2 Rz. 48). Aufwandsteuern sind vor allem kommunale Steuern, so z.B. die Hundesteuer, die Jagdsteuer, die Vergnügungssteuer in ihren diversen Varianten, die Fremdenverkehrsteuern und die Zweitwohnungsteuer. Diese nach Art. 105 IIa GG in die Kompetenz der Landesgesetzgebung fallenden kommunalen Aufwandsteuern sind entweder in Gemeindesatzungen nach Maßgabe von Landesgesetzen (Kommunalabgabengesetzen, speziellen Ermächtigungsgesetzen) oder abschließend in Landesgesetzen (z.B. Vergnügungssteuergesetzen) normiert. Die nicht dem europäischen Harmonisierungsgebot unterworfenen örtlichen Aufwandsteuern bilden ein Konglomerat, dessen Willkür nicht zu rechtfertigen ist (s. § 18 Rz. 125 ff.).
163 S. auch P. Kirchhof, Umsatzsteuergesetzbuch, 2008, 22 ff. 164 Vgl. J. Lang, Steuergesetzbuch, 765, §§ 720 ff. (Annexsteuer zur Grundsteuer). 165 Dazu eingehend Jatzke, ZfZ 2011, 109. Zum finanzverfassungsrechtlichen Verbrauchsteuerbegriff s. § 2 Rz. 47. 166 Dazu ausf. Tipke, StRO II2, 1037 ff.
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§ 7 Rz. 108
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
E. Besondere Sozialzwecksteuern 1. Zölle und Abschöpfungen Literatur (s. auch § 4 Rz. 67): Loseblattwerke: Dorsch, Kommentar Zollrecht; Koch/Lefévre, Zollrecht, Textsammlung; Müller-Eiselt, EG-Zollrecht, Zollkodex/Zollwert, Erläuterungen der neuen zollrechtlichen Bestimmungen; Schwarz/Wockenfoth/Rahn, Zollrecht, Kommentar. Gebundene Werke: Kruse (Hrsg.), Zölle, Verbrauchsteuern, europäisches Marktordnungsrecht, DStJG 11 (1988); Holler, Zollrecht und Zollabwicklung3, 2014; Witte/Wolffgang (Hrsg.), Lehrbuch des Europäischen Zollrechts7, 2012; Kock, Allgemeines Zollrecht3, 2013; Rüsken, Zollrecht – Recht des grenzüberschreitenden Warenverkehrs, 2010; Salder/Menzel, Grundzüge des Zoll- und Verbrauchsteuerrechts, SteuerStud 2013, 94 und 169; Witte, Zollkodex6, 2013; Lux, Einführung in den Zollkodex der Union (UZK), ZfZ 2014, 178, 243 und 270. 108 Zölle sind Steuern (§ 3 III AO). Sie sind entweder als Finanzzoll eine Fiskalzwecksteuer oder – inzwi-
schen dominierend – als Schutz- bzw. Strafzoll eine Sozialzwecksteuer, bei der die Einnahmeerzielung Nebenzweck ist (§ 3 I 1 Hs. 2 AO)167. Als Schutzzoll dürfen sie lediglich der Warenstromregulierung dienen (vgl. § 1 Rz. 85); die Warenstromerdrosselung durch prohibitive Schutzzölle ist nach dem Verbot der Erdrosselungsteuer (§ 3 Rz. 184) an sich nicht zulässig (s. auch § 1 Rz. 85). Allerdings beurteilt sich die Vereinbarkeit der Zollerhebung mit höherrangigem Recht infolge ihrer unionsrechtlichen Verankerung grds. nicht länger anhand der Vorgaben des Grundgesetzes (s. § 4 Rz. 49). 109 Charakteristikum des Zolls ist es, dass diese Steuer nach Maßgabe eines Zolltarifs anlässlich der Wa-
renbewegung über die Zollgrenze erhoben wird168. Die deutsche Zollgrenze ist dabei grds. identisch mit den deutschen Außengrenzen der EU; infolge der Europäischen Zollunion (s. § 4 Rz. 6) sind Zölle auf den Warenverkehr zwischen den EU-Mitgliedstaaten abgeschafft. Dementsprechend werden die auf Waren aus Drittstaaten erhobenen Einfuhrzölle nach Maßgabe eines Gemeinsamen EU-Zolltarifs (s. § 4 Rz. 67) erhoben. Das allgemeine nationale Zollrecht ist durch den Unionszollkodex169 ebenfalls weitgehend verdrängt (s. § 4 Rz. 67). Die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes für Zölle (Art. 105 I GG) ist damit durch die Ausschöpfung der supranationalen Kompetenz der EU zurückgedrängt. 110 Abschöpfungen regulieren die Differenz zwischen Weltmarktpreis landwirtschaftlicher Waren und
Preis innerhalb der EU. Ist der Weltmarktpreis niedriger (was die Regel ist), so wird die Differenz bei der Einfuhr – teilweise zusätzlich zu einem Einfuhrzoll – als Abschöpfung erhoben und bei der Ausfuhr dem Exporteur erstattet. Es handelt sich um protektionistische Abgaben zum Schutz der heimischen Landwirtschaft, freilich auf Kosten der Verbraucher und der landwirtschaftlichen Produktion in den Entwicklungsländern. 2. Umweltsteuern Literatur (Auswahl; bis 1995 s. 20. Auflage): Müller-Franken, Verfassungs- und europarechtliche Fragen der Einführung nationaler Öko-Steuern, JuS 1997, 872; FS Ritter, 1997, mit Beiträgen von Fischer, Walter, Zeitler, Di Fabio; Wiss. Beirat beim BMF, Umweltsteuern aus finanzwissenschaftlicher Sicht, BMF-Schriftenreihe, Heft 63, 1997; Hey, Rechtliche Zulässigkeit von Umweltabgaben unter dem Vorbehalt ihrer ökologischen und ökonomischen Wirksamkeit, StuW 1998, 32; Kruse, Öko-Steuern und Öko-Abgaben, BB 1998, 167 Dänzer-Vanotti, DStJG 11 (1988), 77: „Die ausschließlich wirtschaftspolitische Zielsetzung der Zollerhebung ist ein Grundsatz, der das Zollrecht prägt und ausschlaggebend für seine Konzipierung und Auslegung ist […]“. Zur geschichtlichen Entwicklung der wirtschaftspolitischen Instrumentalisierung der Zölle besonders in Gestalt von Schutzzöllen s. Knies, Steuerzweck und Steuerbegriff, 1976, 5 ff. Zu Anti-Dumpingzöllen s. BFH v. 18.8.2015 – VII R 41/13, Rz. 16. 168 BVerfG v. 29.10.1958 – 2 BvL 19/56, BVerfGE 8, 260 (269); BFH v. 12.2.1970 – u.a. V B 33/69, BStBl. II 1970, 246 (250); EuGH v. 5.2.1976 – C-87/75, ECLI:EU:C:1976:18 Rz. 8 f. – Conceria Bresciani; ausf. Lux, DStJG 11 (1988), 162 ff. 169 VO (EU) 952/2013; s. dazu Zeilinger, ZfZ 2013, 141.
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E. Besondere Sozialzwecksteuern
Rz. 113 § 7
2285; Vallender/Jacobs, Ökologische Steuerreform, Rechtliche Grundlagen, Bern 2000; Ahlheim, Ökosteuern – Idee und Wirklichkeit, FS Rose, 2003, 242; Jachmann, Die Rechtfertigung der ökologisch motivierten Steuer, in FS Selmer, 2004, 707; Bakker (Hrsg.), Tax and the Environment, Amsterdam 2009; Schomerus, Abgaben als Instrument des Klimaschutzes, ZfZ 2010, 141; Copenhagen Economics, Innovation of Energy Technologies: The Role of Taxes, 2010; Stein, Die CO2-Steuer, ZfZ 2010, 149; Gawel, Klimaschutz durch Kfz-Besteuerung, StuW 2011, 250; Moritz, Energiesteuern als Maßnahme zur Erreichung der Effizienzziele der EU, Energiewirtschaftliche Tagesfragen 2011, 80; Mirrlees u.a. (Hrsg.), The Mirrlees Review, Vol. 1: Dimensions of Tax Design, Oxford 2010, Kap. 5 (Environmental Taxes); Vol. 2: Tax by Design, Oxford 2011, Kap. 10 (Environmental Taxation) und Kap. 11 (Tax and Climate Change); Kreiser u.a. (Hrsg.), Environmental Taxation and Climate Change, Cheltenham 2011; McLure, Could VAT Techniques Be Used To Implement Border Carbon Adjustments?, BIT 2012, 436; Milne/Andersen (Hrsg.), Handbook of Research on Environmental Taxation, Cheltenham 2012; Castellucci/Markandya (Hrsg.), Environmental Taxes and Fiscal Reform, 2012; Estrada/Pistone, Global CO2 Taxes, Intertax 2013, 2; Kreiser u.a. (Hrsg.), Environmental Taxation and Green Fiscal Reform, Cheltenham 2014; Marron/Toder, Tax Policy Issues in Designing a Carbon Tax, 104 The American Economic Review 2014, 563; Falcao, Is a Carbon Tax Compatible with the WTO Treaties, Intertax 2015, 571; Rodi u.a., Energiebesteuerung und die Förderziele der Energiewende, StuW 2016, 187; EU, Capacity building, programmatic development and communication in the field of environmental taxation and budgetary reform, Final Report 2017. Für weitere Literatur zu Spezialthemen s. auch die Fn. im Text.
a) Überblick: Die Gefahren, die der Menschheit aus der Verschmutzung der Umwelt und dem Kli- 111 mawandel erwachsen, treten immer klarer und dramatischer zutage. Das Ringen um die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen wirft auch die Frage nach einer Instrumentalisierung des Steuerrechts zum Schutze der Umwelt und zur Eindämmung des Klimawandels auf. Hierbei sind folgende Alternativen zu unterscheiden: aa) Primär zuständig und geeignet für den Umweltschutz ist das Ordnungsrecht, mit dessen Mitteln 112 der Staat Umweltstandards präzise verwirklichen kann170. Die ordnungsrechtlichen Instrumente (engl. plastisch mit „command and control“ umschrieben) sind Gebote, Auflagen, Verbote, Vereinbarungen, Empfehlungen, die Haftung für Umweltschäden und aktive staatliche Maßnahmen der Planung, Aufsicht und Sicherung der Umwelt. bb) Diesem vielfältigen ordnungsrechtlichen Instrumentarium steht das sog. marktwirtschaftliche 113 Instrumentarium gegenüber. Es dient dem Zweck, umweltschädliches Verhalten zu verteuern bzw. umweltfreundliches Verhalten zu prämieren und so das Verhalten des Marktteilnehmers zu beeinflussen. Auf diese Weise kann das Ausmaß des unerwünschten Verhaltens reduziert und/oder die Nachfrage in den Einsatz umweltfreundlicher Technologien umgelenkt werden, um diese wettbewerbsfähiger zu machen und ihre Innovation zu fördern. Marktwirtschaftliche Instrumente des Umweltschutzes sind: (1) handelbare Verschmutzungszertifikate171, d.h. staatliche Lizenzen für bestimmte umweltschädliche Emissionen, deren Preis von der ordnungsrechtlich zugelassenen Gesamtemissionsmenge abhängt. Die schrittweise Reduktion der Emissionsmenge bewirkt einen zunehmenden Kostendruck, der die emissionsarme Produktion rentabel macht und Anreize für ihre (Weiter-)Entwicklung setzt. Der Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten ist unionsrechtlich harmonisiert; nach Art. 1 der
170 So grds. im Verhältnis zu Umweltabgaben P. Kirchhof, Verfassungsrechtliche Grenzen durch Umweltabgaben, DStJG 15 (1993), 3 ff. Im Weiteren Franke, StuW 1990, 217 (219 f.); Trzaskalik, StuW 1992, 135 ff.; Gawel/Ewringmann, StuW 1994, 295; Balmes, Verfassungsmäßigkeit und rechtliche Systematisierung von Umweltsteuern, 1997, 27 ff.; Trzaskalik, Gutachten E zum 63. DJT, 2000, 16 f. 171 Dazu Bonus in Mackscheidt/Ewringmann/Gawel, Umweltpolitik mit hoheitlichen Zwangsabgaben, 1994, 287; Enders, DÖV 1998, 184; Desens, DVBl. 2010, 228 (Finanzierung des Emissionshandels); Seiler, EuR 2010, 67 (Regelungskompetenz der EU); Helbig, Windfall Profits im europäischen Emissionshandel, 2010.
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§ 7 Rz. 114
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
Zertifikate-RL172 schafft diese ein „System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft …, um auf kosteneffiziente und wirtschaftlich effiziente Weise auf eine Verringerung von Treibhausgasemissionen hinzuwirken“; (2) direkte Subventionen in Gestalt von Zweckzuwendungen für umweltschützende Investitionen sowie (3) abgabenrechtliche Instrumente173, das sind Umweltsonderabgaben, Umweltgebühren/-beiträge174 und Umweltsteuern (sog. Öko-Steuern). Im Weiteren wird das Steuerrecht auch durch Öko-Steuervergünstigungen175 und Öko-Steuerverschärfungen instrumentalisiert176. Begünstigend wirken bspw. Sonderabschreibungen für Investitionen in umweltfreundliche Technologien. Die einkommensteuerliche Pauschalierung des Abzugs von Fahrtkosten zwischen Wohnung und Arbeit durch die sog. Entfernungspauschale begünstigt Autofahrgemeinschaften und benachteiligt alleinfahrende Autofahrer (s. § 8 Rz. 261 f.). Ein Unterschied zwischen ökologisch motivierten steuerlichen Entlastungen und Subventionen einerseits und Zusatzbelastungen andererseits als Instrumente umweltpolitischer Lenkung besteht vor allem auch in der Frage, wer für die Kosten des Umweltschutzes aufkommt: die (potenziellen) Verursacher von Umweltschäden oder aber die Allgemeinheit177. 114 b) Ordnungsrecht versus Steuerrecht: Die äußerste verfassungsrechtliche Grenze der Umweltsteuer
wird durch das Verbot der Erdrosselungssteuer (s. § 3 Rz. 184) bestimmt178: Eine Umweltsteuer, deren Zweck auf ein Null-Aufkommen ausgerichtet ist, muss als abgabenrechtlicher Formenmissbrauch gewertet werden. Wenn ein bestimmtes Verhalten nicht zu akzeptieren ist, dann ist das verfassungsrechtlich zulässige Mittel das ordnungsrechtliche Gebot bzw. Verbot. Der Lenkungszweck darf also schon von Verfassungs wegen den Fiskalzweck nicht völlig verdrängen. 115 I.Ü. bedarf es einer sorgfältigen Abwägung der Vorzüge und der Nachteile von Umweltsteuern im
Verhältnis zu ordnungsrechtlichen Instrumentarien. In diesem Zusammenhang haben sich vor allem die folgenden Kriterien herauskristallisiert179: Umweltsteuern gewährleisten weitaus eher, die jeweilige umweltpolitische Zielsetzung (z.B. Verringerung von Emissionen, Verringerung der Inanspruch172 S. Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.10.2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates, ABl. L 275 v. 25.10.2003, 32. 173 Dazu Meßerschmidt, Umweltabgaben als Rechtsproblem, 1986; Hansjürgens, Umweltabgaben im Steuersystem, 1992; Franke, StuW 1990, 217 (220 ff.); Trzaskalik, StuW 1992, 135; Köck, JZ 1993, 59; Dickertmann, DStJG 15 (1993), 33; Mackscheidt/Ewringmann/Gawel, Umweltpolitik mit hoheitlichen Zwangsabgaben, 1994, 287 (23 Beiträge); Wasmeier, Umweltabgaben und Europarecht, 1995; Jakob/ Zugmaier (Hrsg.), Rechtliche Probleme von Umweltabgaben, 1996 (dazu Jachmann, StuW 1997, 278); Franke, StuW 1998, 25; Gawel, Umweltabgaben zwischen Steuer- und Gebührenlösung, 1999; Gawel, NuR 2000, 669; Hendler, NuR 2000, 661; Sacksofsky, Umweltschutz durch nicht-steuerliche Abgaben, 2000; Freytag, Europarechtliche Anforderungen an Umweltabgaben, 2001; F. Kirchhof in Rengeling (Hrsg.), Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht2, Bd. I, 2002; Keß, SteuerStud 2004, 307 (Ökologisierung von Abgaben); Koch, FS Selmer, 2004, 769; Mastellone, ET 2014, 478. 174 S. insb. Cicek, Ökologische Komponenten im Abfallgebührenrecht, 2011. 175 Dazu ausf. Rodi, StuW 1994, 204 ff. 176 Ausf. zur Verwirklichung von Umweltschutzzwecken im Steuerrecht Dickertmann in Schmidt (Hrsg.), Öffentliche Finanzen und Umweltpolitik I, 1988, 91; J. Lang, DStJG 15 (1993), 119. 177 S. Homburg, Allgemeine Steuerlehre6, 2010, S. 181 f. 178 Dazu Meßerschmidt, Umweltabgaben als Rechtsproblem, 1986, 113 ff.; Köck, JZ 1991, 695; Selmer und J. Lang in Breuer u.a., Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, 15 (32 f.) bzw. 59 (68 f.); J. Lang, DStJG 15 (1993), 119 (125); Gawel, Umweltabgaben zwischen Steuer- und Gebührenlösung, 1999, 24 ff., 39 ff.; Gawel, StuW 2001, 27. 179 S. bspw. Fullerton/Leicester/Smith, Enviromental Taxes, in Mirrlees u.a. (Hrsg.), The Mirrlees Review, Vol. 1, 423 (424, 429 ff.); Copenhagen Economics, Innovation of Energy Technologies, 2010; Faure/ Weishaar in Milne/Andersen, Handbook of Research on Environmental Taxation, S. 399 (406 ff.); Kosonen in Milne/Andersen, Handbook of Research on Environmental Taxation, S. 161 (163 ff.); Weis-
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E. Besondere Sozialzwecksteuern
Rz. 115 § 7
nahme natürlicher Ressourcen, etc.) zu den geringstmöglichen volkswirtschaftlichen Kosten zu erreichen: Sie setzen bei jedem Marktteilnehmer umso weitergehende Signale zu umweltfreundlichem Verhalten (als Alternative zur Steuerzahlung), je geringere Kosten bzw. Nutzeneinbußen ihm dies verursacht180. Ordnungsrechtlich würde eine solche Feinsteuerung regelmäßig an Informationsdefiziten und Lobbyeinflüssen scheitern181. Ferner fördern Umweltsteuern die Innovation neuer, umweltfreundlicher Technologien: Ordnungsrechtliche Gebote, Auflagen, etc. vermögen im Wesentlichen nur die Beachtung des gegenwärtig erreichten Stands der Technik zu sichern. Hingegen bieten abgabenrechtliche Instrumente einen Anreiz, den Stand der Technik zu verbessern, weil für den Stpfl. jede steuerliche Maßeinheit umweltschädlichen Verhaltens (z.B. Emissionen) mit Kosten belastet ist, die evtl. über den entsprechenden (Grenz-)Kosten neuer Technologien liegen. Andererseits ist die Lenkung durch Umweltsteuern insb. bei Produktionsmittelsteuern oftmals nur erfolgversprechend, wenn sie global oder zumindest regional (insb. innerhalb der EU) koordiniert ist. Ansonsten drohen internationale Wettbewerbsverzerrungen und Ausweichreaktionen mit der Konsequenz, dass für die Umwelt wenig gewonnen, aber für den Standort viel verloren ist182. Vor allem die unmittelbar auf den Endverbraucher abzielenden Umweltsteuern wiederum haben gemessen am Haushaltseinkommen oftmals eine regressive Wirkung, tragen also wenig oder nichts zu sozialem Ausgleich durch steuerliche Umverteilung bei183. Schließlich arbeitet das Instrument der Umweltsteuer insofern nicht zielgenau184, als bei der gesetzgeberischen Beschlussfassung über die Steuerbelastung noch nicht exakt absehbar ist, in welchem Maße umweltschädliches Verhalten aufgrund seiner steuerlichen Verteuerung tatsächlich reduziert wird. Es bedarf also womöglich einer Nachjustierung, die sich im vielfältigen Einflüssen unterliegenden parlamentarischen Willensbildungsprozess u.U. nicht ohne Weiteres erreichen lässt. Möglicherweise stellen sich Angebots- oder Nachfragepreiselastizitäten auch als so gering heraus, dass die Steuererhebung kaum Einfluss auf den Verbrauch des steuerbelasteten umweltschädlichen Gutes hat; in diesem Fall muss auf ordnungsrechtliche Maßnahmen zurückgegriffen werden185. I.Ü. müssen stets auch die Vollzugskosten für die Verwaltung mit berücksichtigt werden. Tendenziell werden Steuern hier dann besser abschneiden, wenn flächendeckende und signifikante Verhaltensänderungen bei einer Vielzahl von Stpfl. angestrebt werden, die als ordnungsrechtliche Verhaltensstandards kaum zu kontrollieren wären.
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haar, Emissions Trading Design, Cheltenham 2014, S. 10 ff. Ausf. m.zahlr.N. Hansjürgens, Umweltabgaben im Steuersystem, 1992, 23 ff. Sog. „Least-cost abatement“-Ansatz, vgl. Bakker in Bakker (Hrsg.), Tax and the Environment, S. 3 (11). S. Fullerton/Leicester/Smith in Mirrlees u.a. (Hrsg.), The Mirrlees Review, Vol. 1, 423 (430 f.); Copenhagen Economics, Innovation of Energy Technologies, 2010, 6; C. Vidar/S. Smith, The Scandinavian Journal of Economics 2012, 358 f. Dazu Jacobs/Spengel/Wünsche, Veränderung der Steuer- und Abgabenbelastung auf Unternehmensebene durch eine ökologische Steuerreform, 1997; Jacobs/Spengel/Wünsche, DBW 1999, 7; Wünsche, Umweltabgaben und Unternehmensbesteuerung, Eine nationale und internationale Analyse der Belastungs- und Entscheidungswirkungen, 1999; Fullerton/Leicester/Smith in Mirrlees u.a. (Hrsg.), The Mirrlees Review, Vol. 1, 423 (434); Copenhagen Economics, Innovation of Energy Technologies, 7. S. EEA, Environmental tax reform in Europe: implications for income distribution, 2011; sowie generell zu Verbrauchsteuern OECD, The Distributional Effects of Consumption Taxes in OECD Countries, 2014, 43. S. aber auch S. Speck/D. Gee in Kreiser u.a. (Hrsg.), Environmental Taxation and Climate Change, 19 (27 ff.); Kosonen in Milne/Andersen, Handbook of Research on Environmental Taxation, 161 (163 ff.); Vandyck/Van Regemorter, Energy Policy 2014, 190: Die Gesamtbeurteilung muss auch die Verwendung des Steueraufkommens berücksichtigen (sog. Netto-Verteilungseffekte). So P. Kirchhof, DStJG 15 (1993), 7: „Das Abgabenrecht ist als Instrument der Umweltpolitik auch deshalb nur bedingt tauglich, weil die Zielgenauigkeit des Schutzes unter dem Abgabentatbestand leidet“. S. auch Rodi u.a., StuW 2016, 187 (195).
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§ 7 Rz. 116
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
Aus ökonomischer Sicht rechtfertigt sich die steuerliche Verteuerung der Ressourcennutzung zur Korrektur eines Marktversagens, wenn und soweit bei der marktmäßigen Preisbildung negative externe Effekte (Umweltverschmutzung; Klimawandel, etc.) nicht berücksichtigt werden. In dieser Weise rechtfertigte bereits der britische Nationalökonom Arthur Cecil Pigou186 Umweltsteuern. Er plädierte dafür, dass Kosten, die der Gemeinschaft durch individuelle Güternutzung und -verbrauch entstehen und die deshalb für das Individuum externe Kosten sind, mittels Besteuerung internalisiert, d.h. zu internen Kosten des Individuums werden. Das ursprüngliche Konzept der Pigou-Steuer scheitert jedoch daran, dass sich die tatsächlichen gegenwärtigen und zukünftigen Folgekosten umweltschädlichen Verhaltens kaum quantifizieren, geschweige denn individuell zurechnen lassen187. Da i.Ü. die Pigou-Rechtfertigung auf dem Verursacherprinzip basiert, kommt sie für Steuern im Rechtssinne ohnehin nicht in Betracht. Demgegenüber verzichtet der moderne, auch für die juristische Rechtfertigung taugliche „Standard-Preis-Ansatz“ von Baumol/Oates bewusst auf eine individuelle Verantwortlichkeit für Umweltkosten188. Er stellt darauf ab, welchen Umweltstandard der Steuergesetzgeber anstrebt, und bemisst danach die Höhe der Steuer. Ob bspw. die Energiesteuer einen Benzinpreis von einem oder drei Euro bewirken soll, ist Frage der über den Preismechanismus angestrebten Verbrauchsminderung und nicht der vom Mineralölverbraucher verursachten externen Kosten. 116
Eine zwar ebenfalls ordnungsrechtlich überformte, aber zugleich marktwirtschaftlich unterlegte Alternative zur Umweltsteuer ist im Bereich der Emissionsreduzierung bzw. des Klimaschutzes die Festlegung globaler Emissionsobergrenzen in Verbindung mit der Zuteilung handelbarer Emissionszertifikate (Rz. 113). Beide Instrumente haben unter der – realistischen – Annahme unzureichender Informationen des Staates über die Kosten der Emissionsreduzierung ebenfalls gegenläufige Stärken und Schwächen. Der Emissionszertifikatehandel stellt die Erreichung einer verbindlichen Zielgröße sicher, allerdings zu ungewissen Kosten für die betroffenen Unternehmen. Umweltsteuern wiederum gewährleisten, dass die Unternehmen je „Verschmutzungseinheit“ nicht über eine bestimmte Höhe hinaus mit Kosten (= Steuer oder Kosten der Emissionsreduzierung) belastet werden; dafür mangelt es ihnen wie schon dargelegt an Zielgenauigkeit189.
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Daneben hat das abgabenrechtliche Instrumentarium dort einen Anwendungsbereich, wo das Ordnungsrecht ein bestimmtes Verhalten (ggf.: noch) nicht vorschreiben soll oder kann, weil das rechtsstaatliche Übermaßverbot (s. § 3 Rz. 180 ff.) entgegensteht. Umweltsteuern können in diesem Sinne freiheitsschonend wirken. Die dem Ordnungsrecht immanenten Schranken lassen Spielraum für die abgabenrechtliche Instrumentalisierung des Umweltschutzes, solange ein allgemeingültiges ordnungsrechtliches Verhaltensgebot oder Verbot den Normadressaten nicht zugemutet werden kann und eine ordnungsrechtliche Feinsteuerung des Verhaltens nicht administrierbar ist. Demnach kann sich die steuerinterventionistische Maßnahme im Verhältnis zum Ordnungsrecht unter Umständen auch als eine bloße Übergangslösung darstellen.
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Beispiele: Emissionen können nicht ganz verboten werden, wenn der Stand der Technik dies nicht zulässt; demgegenüber stimuliert die Emissionsabgabe die Verbesserung der Filtertechnik. Nicht zulässig wäre es, von heute auf morgen den Katalysator als Voraussetzung für die Zulassung von Kraftfahrzeugen anzuordnen. Hier vermag die Kraftfahrzeugsteuerbefreiung für Katalysatorfahrzeuge oder eine besonders hohe Kraftfahrzeugsteuer für Fahrzeuge ohne Katalysator darauf hinzuwirken, dass sich der Markt rasch auf Katalysatorfahrzeuge umstellt.
186 Pigou, The Economics of Welfare, London 1920 (4. Aufl.: London 1932). Zur Pigou-Steuer Hansmeyer/Ewringmann, Das Steuer- und Abgabesystem unter der ökologischen Herausforderung, in Staatswissenschaft und Staatspraxis, 1990, 34; Dickertmann, DStJG 15 (1993), 33 (36 ff.); Hansjürgens, Umweltabgaben im Steuersystem, 1992, 27 ff.; Heine, StuW 2007, 336; Milne/Andersen, Handbook of Research on Environmental Taxation, 15 ff. 187 S. Milne in Kreiser u.a. (Hrsg.), Environmental Taxation and Green Fiscal Reform, S. 5 (6), m.w.N. 188 Baumol/Oates, Swedish Journal of Economics, 1971, 42. Zum „Standard-Preis-Ansatz“ insb. Hansmeyer, ZfU 1987, 251 (253 ff.); Hansjürgens, Umweltabgaben im Steuersystem, 1992, 31 ff., 137 ff.; Dickertmann, DStJG 15 (1993), 33 (38 ff.). 189 S. Fullerton/Leicester/Smith in Mirrlees u.a. (Hrsg.), The Mirrlees Review, Vol. 1, 423 (424 u. 437).
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E. Besondere Sozialzwecksteuern
Rz. 120 § 7
c) Rechtfertigung von Umweltsteuern: Die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen liegt im 119 überragenden Interesse der Allgemeinheit, so dass umweltschützende Sozialzwecksteuern grds. durch Gemeinwohlerwägungen legitimiert sind (s. § 3 Rz. 131 ff.)190. Als marktinterventionistische Sozialzwecksteuern sind Umweltsteuern nicht am sozialstaatlich inspirierten Leistungsfähigkeitsprinzip auszurichten, sondern am jeweiligen Lenkungsziel191. Insofern können sie mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip, verstanden als Maßgröße solidarischer Lastentragungsfähigkeit zwecks sozialstaatlich gerechter Austeilung der Steuerlasten, nicht in Konflikt geraten192. Als problematisch erweist sich jedoch die Wahrung des Grundrechts auf Schutz eines menschenwürdigen Existenzminimums193. Prinzipiell muss dies durch Verschonungsregeln im jeweiligen Steuergesetz selbst sichergestellt werden, entsprechend dem Grundsatz: „Steuerverschonung geht vor Sozialleistung“194. Soweit sich dies nicht praktikabel verwirklichen lässt, insb. weil Steuerbefreiungen nicht hinreichend zielgenau ausgeformt werden können und eine überschießende Entlastungswirkung den Lenkungszweck unterminieren würde, darf aber auf Transferzahlungen195 und ergänzend auf einkommensteuerliche Entlastungen (z.B. Erhöhung der „Pendlerpauschale“) als „second best“-Lösung zurückgegriffen werden. Des Weiteren hat der Gesetzgeber bei der Entscheidung über die Belastungshöhe stets auch wirtschaftsund sozialpolitische Folgen der Verteuerung des umwelt- oder klimaschädlichen Verhaltens mitzubedenken, einschließlich der vorerwähnten regressiven Verteilungseffekte. Seine dahingehenden Abwägungen sind aber grds. nicht justiziabel. Da sich die Folgen umweltschädlichen Verhaltens meist nicht ohne Weiteres bestimmten Individuen 120 oder bestimmten Gruppen zuordnen lassen, ist eine Umweltsteuer regelmäßig leichter zu rechtfertigen als Umweltvorzugslasten (Gebühren und Beiträge)196 oder Umweltsonderabgaben. Letztere parafiskalische Abgabenart ist besonders dafür anfällig, dass der hohe Gemeinwohlwert des Umweltschutzes abgabenpolitisch missbraucht wird197. Während Vorzugslasten und Sonderabgaben andere Abgaben nicht kompensieren können, eignen sich Steuern für Umschichtungen im Abgabensystem nach dem von der EU-Kommission aufgestellten Grundsatz der „fiskalischen Neutralität“. So könnten z.B. notwendige ertragsteuerliche Entlastungen durch Umweltsteuern gegenfinanziert werden (s. § 2 Rz. 11). Gerade das Programm eines „ökologischen Umbaus“ des Abgabensystems will den Bürgern nicht Mehrbelastungen zumuten; es will Abgabenlasten umschichten. 190 S. auch Schröder, Der Umweltschutz in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der EU, JöR 2010, 195. 191 Dazu Gawel, StuW 1999, 374; Jachmann, StuW 2000, 239; Söhn, FS Stern, 1997, 587 (593 ff.); Vallender/Jacobs, Ökologische Steuerreform, Bern 2000, 29 ff., 48 ff. 192 S. Selmer in Breuer u.a., Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, 15 (30); Osterloh, NVwZ 1991, 823 (826 f.); Köck, JZ 1991, 692 (697). A.A. Jachmann, StuW 2000, 239 (241 f.); Söhn, FS Stern, 1997, 587; Vallender/Jacobs, Ökologische Steuerreform, Bern 2000; anders auch die 20. Auflage. 193 Dazu grundl. und die vorherige Rspr. zusammenfassend BVerfG v. 9.2.2010 – 1 BvL 1, 3, 4/09, BVerfGE 125, 175 (222). A.A. Gawel, Umweltabgaben zwischen Steuer- und Gebührenlösung, 1999, 381: Die Forderung nach Steuerfreiheit des Existenzminimums verkenne „völlig die wirtschaftlichen Zusammenhänge der Umweltgüterbesteuerung.“ 194 Vgl. BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (154): „Grundgedanke der Subsidiarität, wonach Eigenversorgung Vorrang vor staatlicher Fürsorge hat“; s. dazu ferner Friauf, DStJG 12 (1989), 3 (30 f.); J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, Rz. 551; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993, 344 f.; Mellinghoff in Brandt (Hrsg.), Für ein gerechteres Steuerrecht, 31 (38); Pezzer, FS Zeidler, 1987, 757 (765). 195 S. auch J. Lang, DStJG 15 (1993), 119 (159): existenzminimumschützende Steuervergütung. Die österreichische beim BMF eingerichtete Steuerreformkommission empfiehlt in ihrem Bericht v. 25.11.1998 (Beilage ÖStZ), 16, die Auszahlung eines „Ökobonus“. 196 Dazu m.w.N. J. Lang in Breuer u.a., Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, 59 ff. Der Wasserpfennig-Beschluss des BVerfG von 1995 (s. § 2 Rz. 22) erleichtert allerdings die Kreation neuer Umweltgebühren erheblich. Zu den Umweltgebühren s. Gawel, Umweltabgaben zwischen Steuer und Gebührenlösung, 1999. 197 Dazu J. Lang in Breuer u.a., Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, 59 (63 ff.) m.w.N.
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§ 7 Rz. 121
Einführung in das besondere Steuerschuldrecht
121 d) Die Steuerpolitik seit der Jahrtausendwende verlagerte die Abgabenlast von Unternehmensteuern
und Sozialversicherungsbeiträgen auf die Steuerbelastung von Energie und CO2-Emissionen, um zweierlei zu erreichen: Zum einen soll die steuerliche Verteuerung von umweltschädlichem Konsum zum sparsamen und effizienten Einsatz ökologisch sensibler Ressourcen anreizen und zum anderen sollen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gestärkt und Arbeitsplätze geschaffen werden198. Demnach versprechen sich die Befürworter dieser Politik Nutzen sowohl für die Umwelt als auch für Wirtschaft und Arbeitsmarkt (sog. „doppelte Dividende“)199. Davon war insb. die ökologische Steuerreform der Jahre 1999–2002 getragen200. Mit dem Mehraufkommen sollte der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung gesenkt werden. Dazu ist der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung in Relation zu dem Mehraufkommen erhöht worden. BVerfGE 110, 274201, hat die Verfassungsmäßigkeit der ökologischen Steuerreform in vollem Umfang bestätigt. Dessen ungeachtet ist festzustellen, dass ihre konkrete Ausgestaltung nicht hinreichend zielgenau ist und optimiert werden könnte202. 122 Kritik: Die These einer „doppelten Dividende“ ist umstritten; sie ist jedenfalls bei nationalen „Al-
leingängen“ stark geschmälert203: Strom- und Energiesteuer sowie sonstige Umweltabgaben belasten nicht nur den Privatkonsum, sondern in erheblichem Umfange auch Unternehmen, deren internationale Wettbewerbsfähigkeit wie oben dargelegt durch unabgestimmt hohe Energiepreise beeinträchtigt wird204. Die zur Abmilderung vorgesehenen Steuervergünstigungen berücksichtigen die Wettbewerbssituation nur bei bestimmten Unternehmen; hierdurch wird der Gleichheitssatz verletzt205. Darüber hinaus stellt der schiere Umfang der Befreiungen (dazu näher § 18 Rz. 117) die Belastungsgerechtigkeit insgesamt in Frage206. Zudem treibt die nationale Begrenzung der Steuerbelastung umweltschädliche 198 S. Rodi u.a., StuW 2016, 187 ff. (auch zur seitherigen Auffächerung des Zielkanons). 199 Grundl. war das Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Ökosteuer – Sackgasse oder Königsweg?, Wirtschaftliche Auswirkungen einer ökologischen Steuerreform, 1994 (dazu Bach, StuW 1995, 264). Zum Konzept der „doppelten Dividende“ ausf. Kirchgässer in Krause-Junk (Hrsg.), Steuersysteme der Zukunft, 1998, 279; Jarass/Obermair, IStR 1998, 289; Braun, Ökologische Steuerreform, Wohlfahrt und Beschäftigung, Eine dynamische Simulationsanalyse unter besonderer Berücksichtigung unvollkommener Arbeitsmärkte, 1999. 200 S. den Entwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eines Gesetzes zum Einstieg in die ökologische Steuerreform v. 17.11.1998, BT-Drucks. 14/40. Literatur: Arndt, Rechtsfragen einer deutschen CO2-/Energiesteuer entwickelt am Beispiel des DIW-Vorschlages, 1995; Bach/Kohlhaas/Linscheid/Seidel/Truger, Ökologische Steuerreform, Wie die Steuerpolitik Umwelt und Marktwirtschaft versöhnen kann, Umweltbundesamt, 1999; Herdegen/Schön, Ökologische Steuerreform, Verfassungsrecht und Verkehrsgewerbe, 2000; Hey, NJW 2000, 640; Löwer, Wen oder was steuert die Öko-Steuer?, Gemeinschaftsrechtliche und verfassungsrechtliche Überlegungen zum Einstiegsgesetz in eine ökologische Steuerreform, 2000. 201 Dazu Bongartz, NJW 2004, 2281; Wernsmann, NVwZ 2004, 819; Haas, FS Mußgnug, 2005, 205; Selmer, GS Trzaskalik, 2005, 411. 202 S. Rodi u.a., StuW 2016, 187 (189 f. und 198). Dabei handelt es sich um ein international weit verbreitetes Phänomen, s. OECD, Taxing Energy Use, 2015. 203 Hiergegen insb. Wissenschaftlicher Beirat beim BMF, Umweltsteuern aus finanzwissenschaftlicher Sicht, BMF-Schriftenreihe, Heft 63, 1997, 35 ff.; Karl-Bräuer-Institut, Kein geeigneter Weg aus der Beschäftigungs- und Umweltmisere, 1998; Kronberger Kreis, Ökologische Steuerreform: Zu viele Illusionen, Frankfurter Institut 1999; Bareis/Elser, DVBl. 2000, 1176, und die Vertreter der Wirtschaft, z.B. Ritter, BB 1996, 1961; Zitzelsberger, DB 1996, 1791. Differenzierend Fullerton/Leicester/Smith, Enviromental Taxes, in Mirrlees u.a. (Hrsg.), The Mirrlees Review, Vol. 1, 423 (442 ff.). 204 Zur Energiebesteuerung im Ausland Arndt, StromStG, 1999, 275 ff. (8 Länder); Schweiz: Vallender/Jakobs, Ökologische Steuerreform, Bern 2000. S. auch Jenzen, Energiesteuern im nationalen und internationalen Recht, Eine verfassungs-, europa- und welthandelsrechtliche Untersuchung, 1998. 205 Dazu i.E. insb. die Monographien von Arndt, StromStG, 1999, und Herdegen/Schön, Ökologische Steuerreform, Verfassungsrecht und Verkehrsgewerbe, 2000. Zur Rechtfertigung und Kritik der energiesteuerlichen Vergünstigungen s. § 18 Rz. 117 und 131 f. 206 Lesenswert ist die Entscheidung des franz. Conseil Constitutionelle, der aus vergleichbaren Erwägungen heraus die franz. CO2-Abgabe für gleichheitssatz- und verfassungswidrig erklärt hat, s. Conseil
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E. Besondere Sozialzwecksteuern
Rz. 123 § 7
Unternehmen dorthin, wo ihre Umweltschädlichkeit nicht beanstandet wird; dadurch wird global betrachtet auch die „grüne“ Dividende geschmälert. Produktionssteuern strapazieren den verfassungsrechtlichen Verbrauchsteuerbegriff (s. § 2 Rz. 47). Schließlich kehren die Protagonisten der ökologischen Steuerreform die Defizite sozialer Gerechtigkeit geflissentlich unter den Teppich. Die Energiesteuerbelastung trifft besonders hart Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Geringverdiener und Familien mit vielen Kindern. e) Gleichwohl widerlegen die Mängel der bisherigen Ökosteuerpolitik die Notwendigkeit einer öko- 123 logischen Steuerreform nicht. Vielmehr geht es im Kern darum, den Konflikt ökologischer Anforderungen an das Steuersystem mit Prinzipien des Steuerrechts so weit wie möglich zu vermeiden. Grds. gibt es zwei Wege, die ökologische Umgestaltung bestehender Steuern207 und die Ergänzung des Steuersystems durch neue Steuern. Entsprechend der Canard’schen Steuerregel „Alte Steuern sind gute Steuern“208 sollten zuerst die bestehenden Steuern ökologisch angepasst werden. So könnten Steuern wie die Grundsteuer, die mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip nicht vereinbar sind, ökologisch umgewidmet werden209. Neue Steuern, die einen umweltgerechten Preis herstellen sollen, bedürfen vor allem der internationalen Harmonisierung.
Constitutionelle v. 29.12.2009, Nr. 2009–599 DC, ZfZ 2010, 54. Anders aber im Kontext des Erbschaftsteuerrechts BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, Rz. 169. 207 Dazu insb. die Bestandsaufnahme von Dickertmann, DStJG 15 (1993), 33. Ausf. zur Anpassung Schweizer Steuern Vallender/Jakobs, Ökologische Steuerreform, Bern 2000, 150 ff. 208 Canard, Principes d’économie politique, Paris 1801, 197: „Que tout vieil impót est bon, et tout novel impót est mauvais“. 209 Dazu Ewringmann, Ökologische Steuerreform: Steuern in der Flächennutzung, 1995, sowie der Reformvorschlag einer Öko-Grundsteuer von Bitzer und Lang, Ansätze für ökonomische Anreize zum sparsamen und schonenden Umgang mit Bodenflächen, 1998 (veröffentlicht vom Umweltbundesamt in Texte 21/00, 2000).
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§8 Einkommensteuer Rechtsgrundlagen: EStG, EStDV, LStDV u.a. einkommensteuerlich relevante Gesetze u. Verordnungen sind zusammen mit Verwaltungsvorschriften (insb. EStR, LStR) in den periodisch erscheinenden amtlichen Handbüchern zur Einkommensteuer und zur Lohnsteuer abgedruckt. Das amtliche EinkommensteuerHandbuch (EStH) und das amtliche Lohnsteuer-Handbuch (LStH) enthalten jeweils einen Hinweisteil mit der von der Finanzverwaltung anzuwendenden höchstrichterlichen Rspr. und speziellen Verwaltungsvorschriften (insb. BMF-Schreiben). Kommentare: Loseblatt-Kommentare von Bordewin/Brandt (EStG), Blümich (EStG, KStG, GewStG), Herrmann/Heuer/Raupach (EStG, KStG, Nebengesetze), Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (EStG), Korn (EStG), Lademann (EStG) u. Littmann/Bitz/Pust (Einkommensteuerrecht). Gebundene Kommentare: P. Kirchhof, EStG17, 2018; Schmidt, EStG36, 2017. Monographien/Sammelwerke: Becker, Die Grundlagen der Einkommensteuer, 1940 (Nachdruck 1982); J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993; Tipke/Bozza, Besteuerung von Einkommen, Rechtsvergleich Italien, Deutschland und Spanien als Beitrag zur Harmonisierung des Steuerrechts in Europa, 2000; Ebling (Hrsg.), Besteuerung von Einkommen, DStJG 24 (2001); Tipke, StRO II2, 2003, 601 ff.; Hey (Hrsg.), Einkünfteermittlung, DStJG 34 (2011); J. Lang in Leitgedanken des Rechts II, 2013, § 168: Einkommensteuer. Lehr-/Lernbücher: Jakob, Einkommensteuer4, 2008; Wehrheim, Einkommensteuer und Steuerwirkungslehre3, 2009; Niemeier/Schlierenkämper/Schnitter/Wendt, Einkommensteuer23, 2014; Zenthöfer, Einkommensteuer12, 2016; Hottmann/Beckers/Schustek, Einkommensteuer21, 2015; von Sicherer/Sandner Einkommensteuer2, 2014; Günther, Einkommensteuer/Lohnsteuer. 87 praktische Fälle16, 2014; Kreft, Einkommensteuerrecht16, 2017; Rick/Gierschmann/Gunsenheimer/Schneider/Kremer, Lehrbuch Einkommensteuer23, 2017. Historische Literatur: Popitz, Art. „Einkommensteuer“, in Handwörterbuch der Staatswissenschaften4, Bd. III, 1926, 400 ff.; Schumpeter, Ökonomie und Soziologie der Einkommensteuer, Der deutsche Volkswirt IV, 1929, 380. Rechtsvergleich: Ault/Arnold, Comparative Income Taxation3. A Structural Analysis, 2010 Reformliteratur: s. § 7 Rz. 70 ff.
A. Allgemeine Charakterisierung Idealiter hat die Einkommensteuer von allen Steuern die höchste Gerechtigkeitsqualität1. Sie ist am 1 besten geeignet, nicht nur die objektive, sondern auch die subjektive Leistungsfähigkeit des Stpfl. zu berücksichtigen. Der hohe Gerechtigkeitswert in Gestalt einer gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit wird allerdings nur erreicht, wenn ausnahmslos alle natürlichen Personen (Universalitätsprinzip) ihr gesamtes disponibles Einkommen versteuern müssen (Totalitätsprinzip)2. Theoretisch ist die deutsche Einkommensteuer am Universalitäts- und am Totalitätsprinzip ausgerichtet. Es gibt keine persönlichen Steuerbefreiungen von der Einkommensteuer, wie sie Fürsten, Monarchen und Diktatoren (z.B. Hitler) gewährt worden sind. Traditionell gehört die deutsche Einkommensteuer zur Gruppe der „global income taxes“3. Diese Steuern sind dadurch gekennzeichnet, 1 Schumpeter, Ökonomie und Soziologie der Einkommensteuer, Der deutsche Volkswirt IV, 1929, 380, bezeichnete sie als die reinste, technisch und juristisch schönste Gestalt des Steuergedankens, als den „Höhepunkt der Steuerkunst des liberalen Bürgertums“. 2 Zur gleichmäßigen Erfassung des Erwerbseinkommens nach dem Universalitätsprinzip u. dem Totalitätsprinzip J. Lang, Bemessungsgrundlage, 167 ff.; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (61 ff.). 3 Oldman/Bird, The Transition to a Global Income Tax: A Comparative Analysis, IFA-Bulletin 1977, 439.
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§ 8 Rz. 2
Einkommensteuer
dass sie synthetisch die Gesamtheit der Einkünfte einem einheitlichen Einkommensteuertarif unterwerfen (synthetische Gesamteinkommensteuer). Im Gegensatz dazu steht die analytische Schedulensteuer. Sie besteuert Einkünfte nach der Art ihrer Einkunftsquellen (gewerbliche Einkünfte, Grundbesitz-, Arbeitseinkünfte etc.). Die Einkunftsarten werden auf gesonderten Listen (schedules) erfasst und dann jeweils einem gesonderten Schedulentarif unterworfen. Der in § 7 Rz. 71 ff. dargelegte Wettbewerb der Steuersysteme bewirkt international eine Abkehr vom synthetischen System der Besteuerung von Einkommen4. Folge dieses Wettbewerbs ist insb. die duale Einkommensteuer (s. § 7 Rz. 76); diese Steuer schont Einkünfte aus flüchtigem Geld- und Sachkapital, indem sie die sog. Kapitaleinkommen proportional niedrig besteuert, während die sog. Arbeitseinkommen, die ganz überwiegend von sozial ortsgebundenen Personen erwirtschaftet werden, weiterhin progressiv besteuert werden. Mit der seit 2009 geltenden Abgeltungsteuer auf Kapitaleinkünfte (s. Rz. 492 ff.) folgt der deutsche Gesetzgeber rudimentär dem Konzept der dualen Einkommensteuer als einer Sonderform der Schedulensteuer. Auch sonst ist der Grundsatz der synthetischen Einkommensteuer im deutschen Einkommensteuerrecht vielfach durchbrochen5, indem einzelne Einkunftsarten mit Sondervorschriften verknüpft werden (s. Rz. 402 f.). 2 Politisches Kernstück der Einkommensteuer ist der progressive Steuertarif. Die Bemessungsgrund-
lage „Einkommen“ ist rechtsdogmatisch bestimmbar, der Tarif hingegen hauptsächlich Ausdruck einer bestimmten Gesellschaftspolitik. Die Progression der Einkommensteuer verwirklicht sozialstaatliche Umverteilungsgerechtigkeit (s. § 3 Rz. 212). 3 Die Einkommensteuer ist neben der Umsatzsteuer die ergiebigste Steuer (s. § 7 Rz. 19) mit hoher au-
tomatischer Anpassungsfähigkeit (built-in-flexibility) an die jeweilige wirtschaftliche Lage (s. § 7 Rz. 10). Ihre konjunkturstabilisierende Wirkung könnte gestützt auf Art. 106 I Nr. 6 GG durch antizyklische Zu- und Abschläge von der Einkommensteuerschuld verstärkt werden. Ergänzungsabgaben zur Einkommensteuer haben konjunkturdämpfende Wirkung. Deshalb ist es verfehlt, sie während einer Rezession zu erheben. Der seit 1991 auf der Grundlage von Art. 106 I Nr. 6 GG dauerhaft erhobene Solidaritätszuschlag (§ 2 Rz. 5 f.) dient nicht der Konjunkturbeeinflussung, sondern der Finanzierung der Lasten der Wiedervereinigung durch den Bund. 4 Die Achillesferse der Einkommensteuer ist ihre formelle Rationalität (s. § 7 Rz. 17): Als die merklichs-
te Steuer provoziert die Einkommensteuer erheblichen Steuerwiderstand. Dadurch wird sie nicht nur zur verwaltungsaufwendigsten Steuer. Der Steuerwiderstand durch Lobbyismus und steuerminimierende Gestaltungen verschlechtert auch die Gerechtigkeitsqualität der Einkommensteuer. Die einstige „Königin“ der Steuern (s. § 7 Rz. 16) ist aufgrund von Kompliziertheit und Regelfülle zu einer Dummensteuer degeneriert, die jene am stärksten trifft, die am schlechtesten informiert oder beraten sind oder die der Besteuerung, wie z.B. die Lohnsteuerzahler, am wenigsten ausweichen können. 5 Zur Geschichte der Einkommensteuer6: Ihre Herkunft verdankt die Einkommensteuer nicht der
Gerechtigkeit, sondern der Ergiebigkeit. An der Wiege der Einkommensteuer stand der Krieg Groß4 Bavila, Moving Away from Global Taxation: Dual Income Tax and other Forms of Taxation, ET 2001, 211; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (50 f., 73 f.). 5 Zur Durchbrechung des Grundsatzes der synthetischen ESt BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (181), zu § 32c EStG 1994 (Ungleichbehandlung durch Schedulenbesteuerung muss besonderen Rechtfertigungsanforderungen genügen); BFH v. 6.9.2006 – XI R 26/04, BStBl. II 2007, 167 (169 f., 175) (Mindestbesteuerung); Kanzler, FR 1999, 363; Thiel, FS 50 Jahre Fachanwälte, 1999, 75. Auch international finden sich nirgendwo vollkommen synthetische Einkommensteuern Ault/Arnold, Comparative Income Taxation3, 2010, 197 ff. 6 Zur Geschichte der deutschen Einkommensteuer Fuisting, Die geschichtliche Entwicklung des Preußischen Steuersystems und die systematische Darstellung der Einkommensteuer2, 1984; Mathiak, Zwischen Kopfsteuer und Einkommensteuer, Die preußische Klassensteuer von 1820, 1999; und Thier, Steuergesetzgebung und Verfassung in der konstitutionellen Monarchie, Staatssteuerreformen in Preußen 1871–1893, Diss., 1999; im Weiteren Dieterici, Zur Geschichte der Steuer-Reform in Preußen von 1810
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Hey
A. Allgemeine Charakterisierung
Rz. 6 § 8
britanniens gegen Napoleon. Die erste, von William Pitt geforderte und 1799 in Kraft getretene Steuer auf das Gesamteinkommen war eine Kriegssteuer (bis 1982 hieß die Einkommensteuer der Schweiz „Wehrsteuer“). Sie wurde die Steuer, die Napoleon schlug7. Auch die Anfänge der Einkommensbesteuerung auf deutschem Boden waren von der Finanznot durch Krieg geprägt. Karl Freiherr vom Stein propagierte 1806 als Kriegssteuer eine progressive Steuer auf das Gesamteinkommen mit Selbstdeklaration; er erkannte sie als die „gleichförmigste und einträglichste Abgabe“8. Unter seinem Einfluss wurde sie 1808 in Preußen, Litauen und Königsberg eingeführt9. Steuern auf Einkommen (zunächst nur auf bestimmte Einkünfte) wurden auch in den Königreichen Sachsen (ab 1834) und Württemberg (ab 1820) sowie in Nassau (1848), Bayern (1848), Hessen (1869) und Baden (1884) eingeführt. Allerdings wurde nach dem Sieg über Napoleon 1814 die erste, unter dem Einfluss der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 (s. § 3 Rz. 40) rechtsethisch fundierte preußische Einkommensteuer wegen des großen Steuerwiderstands und der verbreiteten Unehrlichkeit bei der Selbstdeklaration wieder abgeschafft. 1820 wurde in Preußen die Klassensteuer eingeführt, welche die Stpfl. in fünf Klassen nach äußeren Wohlstandsmerkmalen einteilte10, was die verhasste Selbstdeklaration erübrigte. Ab 1851 wurde der Steuermaßstab auf das öffentlich eingeschätzte Einkommen umgestellt (klassifizierte Einkommensteuer). Den Durchbruch zur modernen Einkommensteuer leisteten das sächsische EStG v. 2.7.187811 und 6 das preußische EStG v. 24.6.189112. Das EStG von 1891 war Teil der epochalen Steuerreform unter dem Finanzminister Johannes von Miquel13, der sein Reformprogramm einer progressiven Einkommensteuer vornehmlich mit der Steuergerechtigkeit begründete14. Mit der Miquelschen Steuerreform war das Konzept der progressiven Gesamteinkommensteuer (die Grundsubstanz der geltenden Ein-
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bis 1820, Archiv-Studien, 1875; Teschemacher, Die Einkommensteuer und die Revolution in Preußen, 1912; Popitz, Einkommensteuer, in Handwörterbuch der Staatswissenschaften III4, 400; Strutz, Kommentar zum EStG 1925, 1927, Einl. Rz. 55 ff.; Großfeld, Die Einkommensteuer, Geschichtliche Grundlage und rechtsvergleichender Ansatz, 1981, 26 ff.; Schremmer, Steuern und Staatsfinanzen während der Industrialisierung Europas, 1994, 110 ff. (Preußen), 176 ff. (Deutsches Reich); Dziadkowski, FR 1995, 46 (Sachsen); Mathiak, StuW 1995, 352 (Ostpreußen); Hansen, Die praktischen Konsequenzen des Methodenstreits, Eine Aufarbeitung der Einkommensbesteuerung, Diss., 1996, 47 ff., 179 ff. (Preußen/Sachsen); Schremmer, Warum die württembergischen Ertragsteuern von 1821 und die sächsische ESt von 1874/78 so interessant sind, 2002; Mathiak, Das sächsische EStG von 1874/78, 2005; Mathiak, FR 2007, 544 (Preußen); Gehm, SteuerStud 2008, 188 (200 Jahre ESt in Deutschland); Steuerhistorisches Symposium der DStJG, Beiträge abgedruckt in StuW 2014, 16–87. Vgl. Großfeld, Die Einkommensteuer, Geschichtliche Grundlage und rechtsvergleichender Ansatz, 1981, 8; zur Einkommensteuerentwicklung in Großbritannien auch Piltz, StuW 2014, 39 (40–45). Vgl. Großfeld, Die Einkommensteuer, Geschichtliche Grundlage und rechtsvergleichender Ansatz, 1981, 31. Vgl. Pausch, Von der Einkommensteuer zur Deklarationsberatung, FR 1979, 441; Heuer, Karl Freiherr vom Stein als Wegbereiter des deutschen Einkommensteuerrechts, 1988. Gesetz v. 30.5.1820, Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, 1820, 140, V.: Lohnarbeiter, gemeines Gesinde und Tagelöhner; IV.: geringere Bürger und Bauernstand; III.: wohlhabende Bürger; II.: vorzüglich wohlhabende Einwohner; I.: reiche Einwohner. Der Steuersatz bewegte sich zwischen 0,5 (V) u. 48 (I) Talern. Dazu Mathiak, Die preußische Klassensteuer von 1820, 1999. Gesetz- und Verordnungsblatt für Sachsen, 1878, 129; vgl. Großfeld, Die Einkommensteuer, Geschichtliche Grundlage und rechtsvergleichender Ansatz, 1981, 43 f.; Schremmer, Einfach und gerecht?, Die erste deutsche Einkommensteuer von 1874/78 in Sachsen als Lösung eines Reformstaus in dem frühindustriellen Land, in M. Rose, Integriertes Steuer- und Sozialsystem, 2003, 191. Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, 1891, 175. Dazu Wagner, Die Reform der direkten Staatsbesteuerung in Preußen im Jahre 1891, FinArch. 2 (1891), 71; Pausch, Johannes von Miquel, 1964; Kassner, Der Steuerreformer Johannes von Miquel, Ein Beitrag zur Entwicklung des Steuerrechts, Diss., 2001. Im April 1889 stützte von Miquel im Preußischen Herrenhaus sein Reformprogramm auf die Annahme, dass die gleichmäßigere Verteilung der Steuerlasten vom ganzen Volke begrüßt werde: „Diese günstige Stimmung liegt vor allem in unserem deutschen Gerechtigkeitsgefühl. Man beschwert sich nicht so sehr
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§ 8 Rz. 7
Einkommensteuer
kommensteuer) und das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit15 in der Steuerrechtsordnung fest installiert, allerdings mit einer noch sehr bescheidenen Progression von 0,67–4 %; durch unterschiedliche Kommunalzuschläge reichte die Spitzenbelastung bis zu 12 %. 7 Eine völlig neue Qualität erhielt die Einkommensteuer mit dem EStG v. 29.3.192016. Die Lasten des
verlorenen Ersten Weltkriegs zwangen dazu, das Steueraufkommen um das Fünffache zu steigern. Der im preußischen EStG von 1891 an der Quellentheorie (s. Rz. 50) ausgerichtete Einkünftekatalog wurde nach der Reinvermögenszugangstheorie (s. Rz. 50) erweitert17 und der Einkommensteuertarif drastisch auf 10–60 % angehoben. Mit dem EStG v. 10.8.1925 (RGBl. I 1925, 189) wurde im Prinzip der heute geltende, sowohl auf der Quellen- als auch auf der Reinvermögenszugangstheorie beruhende Einkünftekatalog eingeführt. Schließlich begründete das EStG v. 16.10.1934 (RGBl. I 1934, 1005) die Gesetzesstruktur des geltenden EStG. Seitdem gab es keine große Rechtsreform der Einkommensteuer mehr18. Daher hat sich der rechtliche Zustand des EStG seit 1934 durch die Steueränderungsgesetzgebung kontinuierlich verschlechtert. 8 Zur Entstehungsgeschichte empfiehlt es sich, auf folgende historische Kommentare und Materialien
zurückzugreifen: Zum Preuß. Gesetz von 1891: Komm. von Fuisting, 1892; Fuisting/Strutz8, 1915. Zum Gesetz von 1920: Amtl. Begr. in Verfassungsgebende Deutsche Nationalversammlung 1920, Drucks. 1624; Komm. von Strutz2, 1920/22. Zum Gesetz von 1925: Amtl. Begr. in Reichstag-Drucks. III Nr. 795 (1924/25); Komm. von Blümich/Schachian, 1925; Mrozek, 1926; Strutz, 1927; Pißel/Koppe, 1932; Beker, 1933. Zum Gesetz von 1934: Amtl. Begr. in RStBl. 1935, 33 ff.; Komm. von Vangerow, 1936; Blümich2, 1937. 9–19
Einstweilen frei.
B. Steuerpflicht 1. Natürliche Personen als Steuersubjekte 20 Steuersubjekt und Schuldnerin der Einkommensteuer ist nach § 1 EStG die natürliche Person. Das
System gerechter Lastenausteilung bezieht sich auf den Menschen als Grundrechtsträger, auf den finanziell leistungsfähigen Staatsbürger. Das Einkommensteuerschuldverhältnis beginnt mit der Vollendung der Geburt und endet mit dem Tode19. Geschäftsfähigkeit, Staatsangehörigkeit und Wohnsitz/gewöhnlicher Aufenthalt sind für das Bestehen des Einkommensteuerschuldverhältnisses irrelevant. Wohnsitz/
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über hohe Steuern, wenn man sie nur gerecht findet, wohl aber, wenn sie ungleich sind …“ (zit. nach Pausch, Johannes von Miquel, 1964, 33). Dazu Pohmer/Jurke, Zur Geschichte und Bedeutung des Leistungsfähigkeitsprinzips, FinArch. 42 (1984), 445. RGBl. 1920, 359. Das EStG 1920 war Teil der Reform von 1919/1920 unter dem Reichsfinanzminister Matthias Erzberger. Diese letzte große Steuerreform führte innerhalb von neun Monaten zur Verkündung von 16 Einzelsteuergesetzen, darunter die Becker’sche Reichsabgabenordnung (s. § 1 Rz. 53). Zu Erzberger u. seiner Reform Pausch, Johannes von Miquel, 1964, 32 ff.; Pausch, SteuerStud 1989, 341; Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I (Allgemeiner Teil), 1991, 9 ff. Zum Einfluss der Einkommenstheorien auf die Rechtsentwicklung ausf. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 36 ff. Zu Einkommensteuerreformbedingungen aus historischer Sicht Thier, StuW 2014, 77. § 1 EStG knüpft insoweit an die zivilrechtliche Rechtsfähigkeit an. Nach § 1 BGB beginnt die Rechtsfähigkeit des Menschen mit der Vollendung der Geburt. Im BGB ist nicht ausdrücklich geregelt, dass die zivilrechtliche Rechtsfähigkeit mit dem Tode endet. Im Falle der Verschollenheit regelt § 49 AO den Todestag.
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Hey
B. Steuerpflicht
Rz. 24 § 8
gewöhnlicher Aufenthalt und Staatsangehörigkeit (§ 1 II EStG) sind lediglich Kriterien für die Art der Einkommensteuerpflicht (unbeschränkte/beschränkte Einkommensteuerpflicht). Auch zusammenzuveranlagende Ehegatten sind jeder für sich Steuersubjekt20. § 26b EStG ist inso- 21 fern irreführend formuliert21. Kapitalgesellschaften, Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften und sonstige Körperschaften sind Subjekte der Körperschaftsteuer (s. § 1 KStG). Das gilt auch für die Einpersonen-GmbH. Personengesellschaften (z.B. OHG, KG, BGB-Gesellschaft) oder Gemeinschaften sind weder Einkommensteuer- noch Körperschaftsteuerschuldner. Die von ihnen erzielten Gewinne werden den Gesellschaftern (Gemeinschaftern) zugerechnet und bei diesen einkommensteuerlich oder körperschaftsteuerlich erfasst (§ 15 I 1 Nr. 2 EStG; dazu § 10 Rz. 10). Technisch geschieht das im Verfahren der gesonderten und einheitlichen Gewinnfeststellung (§§ 179; 180 AO; dazu § 21 Rz. 123 ff.). Das Einkommensteuerrecht negiert die Personengesellschaft oder Gemeinschaft aber nicht. Die Bündelung von Leistungsbeziehungen in der Rechtszuständigkeit der Gesellschaft oder Gemeinschaft lässt zwar die Steuersubjekteigenschaft unberührt, hat jedoch Konsequenzen bei der Qualifikation, Zurechnung und Ermittlung von Einkünften (s. § 10 Rz. 10 ff.).
Nach dem Grundsatz der Individualbesteuerung22 sind Bemessungsgrundlage und progressiver Ta- 22 rif der Einkommensteuer auf die einzelne natürliche Person zu beziehen. Der Einkommensteuertarif ist für die einzelne natürliche Person festgelegt; dies schließt eine Haushaltsbesteuerung von Ehegatten und Familien aus (s. Rz. 846). Im Weiteren folgt aus dem Grundsatz der Individualbesteuerung, dass jede Person die von ihr erwirtschafteten Einkünfte zu versteuern hat. Die Übertragung von Einkünften betrifft die Einkommensverwendung und ist grds. unbeachtlich; ein Subjektwechsel setzt die Übertragung von Einkunftsquellen voraus. Dabei geht es um die persönliche Zurechnung von Einkünften. Die Verlagerung von Einkünften zwischen Angehörigen ist nach Zurechnungsregeln zu beurteilen, denen der Grundsatz der Individualbesteuerung zugrundeliegt (s. Rz. 162 ff.). Der Grundsatz, dass die Einkünfte von dem zu versteuern sind, der sie erwirtschaftet hat, kann nicht 23 ausnahmslos durchgehalten werden. Vielmehr begründet die sachgerechte Verwirklichung des Leistungsfähigkeitsprinzips folgende Ausnahmen: So verlangt das Totalitätsprinzip, dass Einkünfte nach dem Tode der Person, die die Einkünfte erwirtschaftet hat, von dem Rechtsnachfolger (Erben, Witwe) zu versteuern sind (vgl. § 24 Nr. 2 EStG); dementsprechend ist entgegen dem BFH23 auch ein Verlustabzug (§ 10d EStG) durch den Erben zu rechtfertigen, wenn der Erbe den übernommenen Verlust tatsächlich trägt (s. Rz. 63). Die in § 3 Rz. 66 dargelegten Schwierigkeiten bei der Bewertung ruhenden Vermögens zwingen zudem zu einer intersubjektiven Übertragung stiller Reserven und zum Aufschub der Besteuerung von stillen Reserven im Fall der unentgeltlichen Übertragung von Wirtschaftsgütern (s. § 9 Rz. 421 ff., 430 ff.). Mit dem Grundsatz der Individualbesteuerung ist eine intersubjektive Korrespondenz steuer- 24 abzugsfähiger Ausgaben und zu versteuernder Einnahmen grds. nicht zu vereinbaren, weil die Steuerpflicht von Einnahmen und die Abzugsfähigkeit von Ausgaben allein bei der Person zu beurteilen sind, die den Einkommensteuertatbestand verwirklicht: Wer eine Privatwohnung mietet, ein Privatdarlehen aufnimmt oder eine Haushaltshilfe beschäftigt, kann die Miete, die Zinsen oder den Arbeitslohn (vorbehaltlich § 35a EStG) nicht abziehen, obgleich der Vermieter, der Darlehensgeber 20 Dazu ausf. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 620 ff., 624 f. (m.w.N.); Kirchhof/Seiler17, § 26b EStG Rz. 3. 21 Vgl. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 624 f. 22 Dazu Becker, Der „Grundsatz der Individualbesteuerung“ im deutschen Einkommensteuerrecht, Diss., 1970; Könemann, Der Grundsatz der Individualbesteuerung im Einkommensteuerrecht, Diss., 2001; Hey, GS Trzaskalik, 2005, 219; Schmitt-Homann, Die Vererbung einkommensteuerrechtlicher Rechtspositionen, Diss., 2005; Ratschow, DStJG 34 (2011), 35; HHR/Hey, Einf. ESt Anm. 46 (2014); dogmengeschichtlich Reimer, StuW 2014, 29 (34). 23 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608.
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§ 8 Rz. 25
Einkommensteuer
und die Haushaltshilfe Einnahmen zu versteuern haben. In diesem Sinne gibt es keine Korrespondenz zwischen verschiedenen Steuersubjekten24. Es gibt aber vom Gesetz ausdrücklich angeordnete Ausnahmen, so die in den §§ 9 I 3 Nr. 1 Satz 2; 10 Ia; 22 Nr. 1a EStG niedergelegten Korrespondenzen. Ein Realsplitting, das wie die §§ 10 Ia Nr. 1; 22 Nr. 1a EStG den Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit durch Unterhaltsleistungen berücksichtigt, verletzt weder das Leistungsfähigkeitsprinzip noch den Grundsatz der Individualbesteuerung, weil die Minderung der Leistungsfähigkeit beim Verpflichteten mit der Erhöhung der Leistungsfähigkeit beim Berechtigten korrespondiert (s. Rz. 98, 103). 2. Internationale Abgrenzung der Steuerpflicht durch die unbeschränkte und beschränkte Steuerpflicht 25
Die Einkommensteuerpflicht wird nach dem international üblichen Wohnsitzprinzip abgegrenzt: Hat die natürliche Person ihren Wohnsitz (§ 8 AO) oder gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO) im Inland25, so ist sie unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Hat sie im Inland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt, so ist sie beschränkt einkommensteuerpflichtig26. Die Begründung eines steuerlichen Wohnsitzes setzt das „Innehaben“ einer Wohnung unter Umständen voraus, die darauf schließen lassen, dass der Stpfl. die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Entscheidend ist die tatsächliche Verfügungsmacht über zum Wohnen geeignete Räumlichkeiten. Ein Stpfl. kann über mehrere Wohnsitze verfügen mit der Folge mehrfacher unbeschränkter Steuerpflicht (sog. Doppelansässigkeit). Der in § 9 AO definierte gewöhnliche Aufenthalt ist durch ein Zeitmoment charakterisiert (vgl. gesetzliche Vermutung gem. § 9 Satz 2 AO: sechs Monate).
26 Im Falle unbeschränkter Einkommensteuerpflicht wird das sog. Welteinkommen (s. § 1 Rz. 88) be-
steuert, d.i. die Summe der Einkünfte (s. Rz. 40), gleichgültig, wo die Einkünfte erwirtschaftet worden sind. Die persönlichen Verhältnisse werden durch private Abzüge i.S.d. § 2 IV, V EStG (s. Rz. 70 ff.) und Steuerfreistellung des Existenzminimums (§ 32a I 2 Nr. 1 EStG) berücksichtigt. Es gilt der Normaltarif (§ 32a I EStG) und Eheleuten wird das Splitting (§§ 26 I, III; 26b; 32a V EStG) eingeräumt. 27 Demgegenüber hat die beschränkte Einkommensteuerpflicht Objektsteuercharakter27: Es werden
nach dem international üblichen Territorialitätsprinzip nur die inländischen Einkünfte (§§ 1 IV; 49 EStG) ohne private Abzüge (§ 50 I 3 EStG) und ohne Ehegattensplitting besteuert. Der Objektsteuercharakter wird besonders durch den Steuerabzug mit Abgeltungswirkung (§ 50 II 1 EStG) beim Arbeitslohn (§§ 38 ff. EStG), bei Kapitalerträgen (§§ 43 ff. EStG) u. bei Einkünften i.S.d. § 50a EStG (u.a. Aufsichtsratsvergütungen u. Einkünfte von Sportlern u. Künstlern) konkretisiert. Ausländische Steuern können nur sehr eingeschränkt angerechnet werden (§ 34c I, VI; 50 III EStG). 28
Soweit beschränkt Stpfl. (insb. durch abgeltend wirkende Steuerabzüge sowie die Versagung privater Abzüge) steuerlich schlechter gestellt sind als unbeschränkt Stpfl., stellt sich die Frage der Vereinbar24 Vgl. Tipke, StuW 1980, 8; Söhn, StuW 1985, 405 f.; HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 62 (2012); Kirchhof/ Kirchhof17, § 8 EStG Rz. 11; Schmidt/Krüger36, § 8 EStG Rz. 7; und z.B. BFH v. 29.3.2005 – IX B 174/03, BStBl. II 2006, 368, Rz. 2; v. 3.9.2015 – VI R 27/14, BStBl. II 2016, 174, Rz. 18; v. 30.3.2017 – IV R 13/14, BStBl. II 2017, 892, Rz. 30. 25 Erweiterter Inlandsbegriffs (Festlandsockel) umfasst auch Offshore Windparks in der ausschließlichen Wirtschaftszone (§ 1 I 2 Nr. 2 EStG). Zur Definition des Inlands Maciejewski/Theilen, IStR 2013, 846; Waldhoff/Engler, FR 2012, 254. 26 Dazu Gassner/Lang/Lechner/Schuch/Staringer, Die beschränkte Steuerpflicht im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, 2004; Hey, IWB Fach 3 Gr. 1 S. 2003 (2004); Liebing, Beschränkte Einkommensteuerpflicht in der Europäischen Union, Diss., 2004; Lüdicke, DStR-Beihefter zu Heft 17/2008, 25; Kußmaul/Ruiner, StuW 2009, 80 (verfassungsrechtl. Grundlagen, Vergleich zu den USA); Kortz, Die Rspr. des EuGH zur beschränkten Einkommensteuerpflicht – Gefahr der Inländerdiskriminierung, Diss., 2010; Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017, Rz. 6.122 ff. 27 Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017, Rz. 6.129 ff.
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B. Steuerpflicht
Rz. 28 § 8
keit mit dem Europarecht28. Nach der 1995 entwickelten sog. Schumacker-Doktrin29 geht der EuGH zunächst davon aus, Gebietsansässige und Gebietsfremde seien nicht in einer vergleichbaren Situation, da das im Quellenstaat erwirtschaftete Einkommen des Gebietsfremden i.d.R. nur einen Teil seiner Gesamteinkünfte darstellt und die Beurteilung und Berücksichtigung seiner persönlichen Verhältnisse dem Wohnsitzstaat obliegt. Damit bleibt die Versagung von Abzügen zur Berücksichtigung des subjektiven Nettoprinzips im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht grds. gerechtfertigt. Eine Pflicht zur Verwirklichung des subjektiven Nettoprinzips trifft den Tätigkeitsstaat aber dann, wenn der Gebietsfremde den wesentlichen Teil seiner Einkünfte im Inland bezieht. Dies hat zu den Regelungen §§ 1 III; 1a EStG geführt (s. Rz. 30), wonach subjektive Merkmale berücksichtigt werden, wenn mind. 90 % der Einkünfte der dt. Steuerpflicht unterliegen (Grundfall). Diese Grenze war in der Rs. Gschwind30 europarechtlich akzeptiert worden. Nunmehr verpflichtet die Rs. „X“31 den Tätigkeitsstaat (zur Besteuerung befugter Quellenstaat) grds. immer zur anteiligen Gewährung subjektiver Abzüge, wenn der Stpfl. im Wohnsitzstaat keine Einkünfte erzielt, die es ihm ermöglichten, ein gleichwertiges Abzugsrecht geltend zu machen. Zwar bleibt es bei der vorrangigen Zuständigkeit des Wohnsitzstaates, soweit die Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse durch diesen vollumfänglich gewährleistet werden kann. Durch den anteiligen Abzug wird jetzt aber sichergestellt, dass einerseits Stpfl., die ihre Einkünfte über mehrere Mitgliedstaaten verteilt erwirtschaften (Dreiund Mehrstaatenkonstellationen), keine Nachteile erleiden, andererseits die persönlichen Verhältnisse insgesamt nur einmal (nach den jeweiligen Regeln des Quellenstaates) berücksichtigt werden. Diese Weiterentwicklung der Schumacker-Rspr. vermeidet die Benachteiligung grenzüberschreitend tätiger Stpfl. in der EU konsequent, erfordert aber den verwaltungstechnisch aufwendigen Nachweis sowohl der im Wohnsitzstaat als auch der in anderen Tätigkeitsstaaten steuerpflichtigen Einkünfte. Akzeptiert hat der EuGH zur Sicherung des Steuervollzugs Quellenabzüge gegenüber Steuerausländern32. Die Verwirklichung des objektiven Nettoprinzips muss indes gewährleistet sein33. Entscheidend ist dabei nicht die vom nationalen Gesetzgeber gewählte Tatbestandstechnik (Sonderausgabenabzug), sondern nur, ob es sich um Aufwendungen handelt, die materiell in unmittelbarem Zusammenhang mit der Einkommenserwirtschaftung stehen. Deshalb ermöglicht § 50 I 3 EStG nunmehr in Umsetzung der EuGH Rs. Grünewald34 auch den Abzug von Versorgungsleistungen im Zusammenhang mit Vermögensübertragungen i.S.v. § 10 Ia Nr. 2 EStG. Das FG Köln geht zu Recht auch von der Europarechtswidrigkeit der Versagung des Sonderausgabenabzugs für Vorsorgeaufwendungen aus35. Zudem dürfen besondere Quellensteuersätze nicht zu einer höheren Belastung führen, als sie sich aus der Anwendung des progressiven Tarifs ohne Grundfreibetrag ergeben würde36. Den Beanstandungen des EuGH ist Rechnung getragen durch Herabsetzung des Quellensteuersatzes in
28 HHR/Tiede, § 1 EStG Anm. 7 f. und § 1a EStG Anm. 5 (2016); HHR/Ismer, Einf. ESt Anm. 490 f. (2017). 29 EuGH v. 14.2.1995 – C-279/93, ECLI:EU:C:1995:31 Rz. 31 f. – Schumacker; aktuelle Einordnung nach der Rs. Imfeld und Garcet v. 12.12.2013 – C-303/12, ECLI:EU:C:2013:822, s. Niesten, EC Tax Rev. 2015, 185; zur Rs. „X“ HHR/Ismer, Einf. ESt Anm. 490 (2017); Henze, IStR 2017, 127. 30 EuGH v. 14.9.1999 – C-391/97, ECLI:EU:C:1999:409 Rz. 32 – Gschwind. 31 EuGH v. 9.2.2017 – C-283/15, ECLI:EU:C:2017:102 Rz. 43 – „X“; hierzu Henze, ISR 2017, 127 ff.; de Groot, Intertax 2017, 567; Niesten, EC Tax Review 2017, 201; Schmidt-Heß, IStR 2017, 549. 32 EuGH v. 3.10.2006 – C-290/04, ECLI:EU:C:2006:630 Rz. 61 – FKP Scorpio; v. 18.10.2012 – C-498/10, ECLI:EU:C:2012:635 Rz. 53 – „X“; v. 19.11.2015 – C-632/13, ECLI:EU:C:2015:765 Rz. 46 f.– Hirvonen. 33 EuGH v. 12.6.2003 – C-234/01, ECLI:EU:C:2003:340, Rz. 27 – Gerritse; v. 15.2.2007 – C-345/04, ECLI:EU:C:2007:96 – Centro Equestre. 34 EuGH v. 24.2.2015 – C-559/13, ECLI:EU:C:2015:109 – Grünewald; s. auch schon EuGH v. 31.3.2011 – C-450/09, ECLI:EU:C:2011:198, Schröder. 35 FG Köln v. 3.8.2017 – 15 K 950/13, EFG 2017, 1656 (EuGH-Az. C-480/17). 36 EuGH v. 12.6.2003 – C-234/01, ECLI:EU:C:2003:340, Rz. 53 – Gerritse.
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§ 8 Rz. 29
Einkommensteuer
§ 50a II 1, VII EStG und die Möglichkeit der Geltendmachung von Aufwendungen im Abzugsverfahren für EU-/EWR-Angehörige (§ 50a III, IV EStG)37. 29
Erweiterte unbeschränkte Steuerpflicht: § 1 II EStG erweitert die unbeschränkte Steuerpflicht auf deutsche Auslandsbeschäftigte mit Dienstverhältnis zu einer inländischen juristischen Person des öffentlichen Rechts sowie auf deren deutsche Haushaltsangehörige. Diese Regelung gilt insb. für Mitglieder von diplomatischen Missionen und konsularischen Vertretungen, Auslandskorrespondenten öffentlich-rechtlicher Rundfunk-/Fernsehanstalten und für Auslandslehrkräfte38. Zahlungen aus öffentlichen Kassen allein begründen keine unbeschränkte Steuerpflicht39.
30 Unbeschränkte Steuerpflicht bei wesentlich inlandsbesteuerten Einkünften (§§ 1 III; 1a EStG):
Wird das „Welteinkommen“ (nahezu) ausschließlich im Inland erwirtschaftet, so erwächst daraus das Bedürfnis, die persönliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Stpfl. uneingeschränkt zu berücksichtigen. Dieses Bedürfnis bestand seit jeher bei den im Inland arbeitenden, jedoch nicht im Inland wohnenden Grenzpendlern; es wurde durch bilaterale Grenzgängerregelungen befriedigt40. Nachdem jedoch der EuGH in derartigen Fällen die Verletzung von Diskriminierungsverboten gerügt hatte, die sich aus der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 45 AEUV) und der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) ergeben (s. § 4 Rz. 87), musste die Einkommensteuerpflicht grds. neu geregelt werden. Insb. nach dem Schumacker-Urteil41 sind EU-Angehörige mit unbeschränkt steuerpflichtigen Arbeitnehmern steuerlich gleichzustellen, d.h. ihnen ist u.a. das Ehegattensplitting zu gewähren, wenn das Einkommen ganz oder fast ausschließlich in Deutschland erwirtschaftet wird. Nach § 1 III 1 Hs. 1EStG werden ausländische natürliche Personen mit inländischen Einkünften i.S.d. § 49 EStG auf Antrag als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt, wenn ihre nach deutschem Recht ermittelten42 Jahreseinkünfte zu mindestens 90 % der deutschen Einkommensteuer unterliegen oder wenn die Auslandseinkünfte den Grundfreibetrag (§ 32a I 2 Nr. 1 EStG) nicht überschreiten; dieser Betrag ist zu kürzen, soweit es nach den Verhältnissen im Wohnsitzstaat notwendig und angemessen ist (§ 1 III 2 Hs. 2 EStG). Inländische Einkünfte gelten als nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegend, wenn sie nach einem DBA nur beschränkt besteuert werden dürfen (§ 1 III 3 EStG). Einkünfte, die nicht der deutschen ESt unterliegen und auch nicht im Ausland besteuert werden, bleiben bei der Ermittlung der 90 %-Grenze unberücksichtigt, soweit vergleichbare Einkünfte im Inland steuerfrei sind (§ 1 III 4 EStG). Die Höhe der nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte ist durch Bescheinigung der zuständigen ausländischen Behörde nachzuweisen (§ 1 III 5 EStG). Liegen diese allgemeinen Voraussetzungen (§ 1 III 1–5 EStG) vor, so sind folgende zwei Regelungen zu unterscheiden: 31
(1) Natürliche Personen, die im Inland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, werden auf Antrag nach § 1 III 1 EStG unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit als
37 Dazu Köhler/Goebel/Schmidt, DStR 2010, 8; Dahle/Sureth/Stamm, StuB 2011, 138 (Analyse der Belastungswirkungen); HHR/Maßbaum, § 50a EStG Anm. 2 (2011). 38 BMF v. 8.10.1996 – IV B 4-S 2102-59/96, BStBl. I 1996, 1191 (Diplomaten); v. 13.3.1998 – IV B 4-S 2303-28/98, BStBl. I 1998, 351 (Auslandskorrespondenten); v. 9.7.1990 – IV B 4-S 2102-12/90, BStBl. I 1990, 324 (Auslandslehrkräfte fallen mangels völkerrechtlichen Vorrechten i.S.v. § 1 II 2 EStG regelmäßig nicht unter Abs. 2; Ausnahmen sind USA (v. 10.11.1994 – IV B 4-S 2102-27/94, BStBl. I 1994, 853) sowie Kolumbien und Ecuador (v. 17.6.1996 – IV B 4-S 2102-35/96, BStBl. I 1996, 688). Völkervertraglich sind die Bediensteten von diplomatischen u. konsularischen Vertretungen im Wohnsitzstaat steuerbefreit. S. HHR/Tiede, § 1 EStG Anm. 37 (2016); einfachgesetzlich § 3 Nr. 29 EStG; 39 BFH v. 22.2.2006 – I R 60/05, BStBl. II 2007, 106 (107) betr. Mitarbeiter des Goethe-Instituts. 40 Die Grenzgängerregelungen sind Doppelbesteuerungsnormen, die u.a. auch den Besteuerungsverzicht des Wohnsitzstaates regeln; hierzu Lusche, DStR 2010, 914. Sie sind durch die §§ 1 III; 1a EStG nur z.T. obsolet. 41 EuGH v. 14.2.1995 – C-279/93, ECLI:EU:C:1995:31 – Schumacker. 42 BFH v. 1.10.2014 – I R 18/13, BStBl. II 2015, 474, Rz. 19–21.
320
Hey
B. Steuerpflicht
Rz. 34 § 8
unbeschränkt steuerpflichtig behandelt. Ihnen steht allerdings weder ein tarifliches Ehegattensplitting (§§ 26; 32a V EStG) noch ein Realsplitting nach den §§ 10 Ia Nr. 1; 22 Nr. 1a EStG zu. (2) Natürlichen Personen mit Staatsangehörigkeit eines EU-/EWR-Staates räumt § 1a EStG einen 32 familienbezogenen Sonderstatus43 ein, der sich aus der Anwendung von Europarecht ergibt und daher gleichheitsrechtlich gerechtfertigt ist. Nach der EuGH-Rs. Ettwein44 ist die Regelung auch Schweizer Grenzpendlern zu gewähren45. Begünstigt sind unbeschränkt Stpfl. i.S.d. § 1 I EStG und Stpfl., die nach § 1 III EStG als unbeschränkt steuerpflichtig zu behandeln sind, sowie nach § 1a II EStG Angehörige des öffentlichen Dienstes mit Dienstort im Ausland. I.E. gilt: – Das tarifliche Ehegattensplitting (§§ 26; 32a V EStG) und das Realsplitting zwischen geschiedenen oder dauernd getrennt lebenden Ehegatten (§§ 10 Ia Nr. 1; 22 Nr. 1a EStG) greifen auch dann Platz, wenn der Partner nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist (§ 1a I Nr. 1, 2 EStG). Für die Anwendung des § 26 I 1 EStG wird der Partner auf Antrag als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt (§ 1a I Nr. 2 EStG) und bei der Anwendung des § 1 III 2 EStG auf die Einkünfte beider Ehegatten abgestellt und der Grundfreibetrag (§ 32a I 2 Nr. 1 EStG) verdoppelt (§ 1a I Nr. 2 Satz 3 EStG)46. Die Realsplitting-Regelung verlangt, dass der Empfänger seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem EU- oder EWR-Staat hat und die Besteuerung der Unterhaltszahlungen nachgewiesen werden kann (§ 1a I Nr. 1 Satz 2 Buchst. a, b EStG). – Auf besonderen Verpflichtungsgründen beruhende Versorgungsleistungen i.S.d. § 10 Ia Nr. 2 EStG sowie Ausgleichszahlungen im Rahmen des Versorgungsausgleichs (§ 10 Ia Nr. 4 EStG) bzw. zu seiner Vermeidung (§ 10 Ia Nr. 3 EStG) sind auch dann als Sonderausgaben abziehbar, wenn der Empfänger nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist (§ 1a I Nr. 1 EStG), jedoch in einem EU- oder EWR-Staat wohnt und die Besteuerung der Versorgungsleistungen nachweisen kann (§ 1a I Nr. 1 Satz 2 Buchst. a, b).
(3) Anteilige Gewährung subjektiver Abzüge bei beschränkter Steuerpflicht: Von der unbe- 33 schränkten Stpfl. auf Antrag (§ 1 III EStG) zu unterscheiden ist die in der Rs. X (s. Rz. 28) geforderte anteilige Berücksichtigung von persönlichen Verhältnissen und Familienstand im Rahmen beschränkter Stpfl. Eine Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber steht noch aus. Erweiterte beschränkte Steuerpflicht nach Außensteuergesetz (s. § 1 Rz. 89): Verlegt eine natürli- 34 che Person ihren Wohnsitz in ein Land mit niedriger Besteuerung (z.B. Schweiz), so erweitert § 2 AStG die beschränkte Steuerpflicht für 10 Jahre nach dem Wegzug auf alle Einkünfte i.S.d. § 2 I 1 EStG, die nicht ausländische Einkünfte i.S.d. § 34d EStG sind (gegenüber § 49 I EStG erweiterte Inlandseinkünfte), wenn die Person in den letzten 10 Jahren vor dem Wegzug mindestens 5 Jahre als Deutscher (Staatsangehörigkeit!) unbeschränkt steuerpflichtig war und weiterhin wesentliche wirtschaftliche Interessen in Deutschland aufrechterhält. § 2 AStG wird ergänzt durch § 5 AStG, der die Fälle erfasst, in denen die wesentlichen wirtschaftlichen Inlandsinteressen mittelbar über zwischengeschaltete Auslandsgesellschaften (§ 7 AStG) ausgeübt werden. Nach § 5 AStG sind die erweiterten Inlandseinkünfte der zwischengeschalteten Auslandsgesellschaft dem Anteilseigner zuzurechnen; ausgenommen sind die Einkünfte aus aktiver Tätigkeit i.S.d. § 8 I AStG. § 6 AStG (sog. „lex Horten“) erfasst schließlich den Wertzuwachs einer Beteiligung i.S.d. § 17 EStG bei Wegzug einer Person, die mindestens zehn Jahre unbeschränkt einkommensteuerpflichtig war. Bei Wegzug in einen EU-/EWRStaat wird die Steuer bis zur Realisierung der stillen Reserven zinslos gestundet (§ 6 V AStG)47.
43 Dazu Schneider, SteuerStud 2001, 294; M. Lang, RIW 2005, 336. 44 EuGH v. 28.2.2013 – C-425/11, ECLI:EU:C:2013:121 – Ettwein. 45 Auf der Grundlage des Freizügigkeitsabkommens zwischen der EU und der Schweiz v. 21.6.1999, ABl. EG L 114 v. 30.4.2002, 6; BGBl. II 2001, 810; dazu Cloer/Vogel, DB 2013, 1141. 46 BFH v. 6.5.2015 – I R 16/14, BStBl. II 2015, 957. 47 Infolge EuGH v. 11.3.2004 – C-9/02, ECLI:EU:C:2004:138 – Hughes de Lasteyrie du Saillant; v. 7.9.2006 – C-470/04, ECLI:EU:C:2006:525 – „N“. Zur verbleibenden europarechtlichen Kritik an Einzelregelungen s. Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, § 6 AStG Rz. 24 ff. (2014).
Hey 321
§ 8 Rz. 35 35
Einkommensteuer
Wechselt die Steuerpflicht während des Kalenderjahrs (= Veranlagungszeitraum, s. § 25 I EStG) infolge Zuzugs oder Wegzugs, so wird nur eine Veranlagung durchgeführt; die während der beschränkten Einkommensteuerpflicht erzielten inländischen Einkünfte sind in eine Veranlagung zur unbeschränkten Einkommensteuerpflicht einzubeziehen (§ 2 VII 3 EStG).
36 Durch das Nebeneinander von unbeschränkter und beschränkter Steuerpflicht überschneiden
sich die Steueransprüche von Wohnsitz- und Quellenstaat (s. § 1 Rz. 87 ff.). Die Kollision der Steuertatbestände wird entweder bilateral durch DBA oder unilateral durch Steueranrechnung (§ 34c I EStG; §§ 68a; 68b EStDV) beseitigt (s. § 1 Rz. 92 ff.). 37–39
Einstweilen frei.
C. Objekt und Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer Literatur: Kommentare zu § 2 EStG; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88; Dziadkowski, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer als Zielgröße von Reformansätzen, in FS Offerhaus, 1999, 1091; Bernhardt, Einkünfte versus Income, Diss., 2000 (Rechtsvergleich USA); Tipke, StRO II2, 2003, 619 ff.; von Groll, Zur Bedeutung des § 2 EStG für die Systematik des Steuerrechts, in FS Raupach, 2006, 131; P. Kirchhof, Leistungsfähigkeit und Erwerbseinkommen, in FS J. Lang, 2010, 451; Drüen, Prinzipien und konzeptionelle Leitbilder einer Einkommensteuerreform, DStJG 37 (2014), 9; Desens, Einkommensbegriffe und Einkunftsarten. Wie kann eine Reform gelingen?, DStJG 37 (2014), 95.
1. Grundelemente des § 2 EStG 1.1 Bedeutung des § 2 EStG für den Einkommensteuertatbestand 40
§ 2 EStG ist durch das EStRG 197448 als Zentralvorschrift geschaffen worden, welche die „Elemente der Steuerbemessungsgrundlage, ihr Verhältnis zueinander und den Weg für die Ermittlung der Jahreseinkommensteuerschuld normiert“ (BT-Drucks. 7/1470, 238). § 2 EStG bestimmt zunächst das Objekt der Einkommensteuer, indem er das Besteuerungsgut, den ökonomischen Einkommensbegriff, in § 2 I–II EStG grundlegend rechtlich erfasst49. Dem ökonomischen Einkommensbegriff entspricht der Rechtsbegriff „Summe der Einkünfte“ (§ 2 III EStG). In diesem Rechtsbegriff entfalten sich die ökonomischen Einkommenstheorien (Reinvermögenszugangs-, Quellen-, Markteinkommenstheorie). Das Einkommensteuerobjekt ist deshalb auch nicht die Erwerbstätigkeit selbst50, sondern die „Summe der Einkünfte“ als das Ergebnis von Erwerbstätigkeit(en).
41
Jedoch eignet sich als Bemessungsgrundlage nicht das Erwerbseinkommen als solches (s. § 7 Rz. 30 ff.), sondern nur das für die Steuerzahlung disponible Einkommen. Deshalb ist die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer zweistufig aufgebaut (s. bereits § 3 Rz. 72 ff.): § 2 I, II EStG erfasst zunächst im Tatbestand „Summe der Einkünfte“ (§ 2 III EStG) das Erwerbseinkommen. Die „Summe der Einkünfte“, vermindert um drei Steuervergünstigungen (§§ 13 III; 24a; 24b EStG), ergibt den „Gesamtbetrag der Einkünfte“ (§ 2 III EStG). Der „Gesamtbetrag der Einkünfte“ bildet die Ausgangsgröße für die privaten Abzüge (§ 2 IV, V EStG); diese dienen dem Zweck, die indisponible Einkommensverwendung auszuscheiden.
48 Gesetz zur Reform der Einkommensteuer, des Familienlastenausgleichs und der Sparförderung v. 5.8.1974, BGBl. I 1974, 1545. 49 Dazu näher J. Lang, Bemessungsgrundlage, 34 ff.; zum Zusammenhang zwischen Steuerobjekt und Bemessungsgrundlage Eisgruber in Leitgedanken des Rechts II, 2013, § 169. 50 Die sog. Erwerbstätigkeitstheorie von Bayer, Steuerlehre, 1997, Rz. 503 ff., 524 ff. (dazu Oechsle, StuW 1999, 120) ist mit der eindeutigen Geltungsanordnung des Gesetzes nicht zu vereinbaren. Vgl. auch Hey, StuW 1998, 285 (287).
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Hey
1. Grundelemente des § 2 EStG
Rz. 43 § 8
Das Konzept zweistufiger Messung steuerlicher Leistungsfähigkeit ist allerdings nicht konsequent verwirklicht. Der Stufenaufbau des § 2 EStG ist von Sozialzwecknormen durchsetzt. Die Stufe „Gesamtbetrag der Einkünfte“ (§ 2 III EStG) wird für drei Sozialzwecknormen verbraucht51. Die Struktur der Bemessungsgrundlage müsste verkürzt, vereinfacht und systematisch bereinigt werden, damit sie ihre Funktion, steuerliche Leistungsfähigkeit zu messen, konsequent zu erfüllen vermag52. 1.2 Disponibles Einkommen als Maßstab objektiver und subjektiver Leistungsfähigkeit Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer hat die steuerliche Leistungsfähigkeit der natürli- 42 chen Person möglichst richtig zu messen und soll das für die Steuerzahlung disponible Einkommen möglichst richtig ausweisen. Das dualistische Konzept „Erwerbseinkommen ./. private Abzüge“ verwirklicht die beiden Aufgaben, die objektive und die subjektive Leistungsfähigkeit zu messen (s. bereits § 3 Rz. 72 ff.). Die „Summe der Einkünfte“ misst die objektive Leistungsfähigkeit. Sie beinhaltet im Idealfall die Gesamtheit des erwirtschafteten Einkommens. Gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit bedeutet hier, dass sich der Staat möglichst an allen erwirtschafteten Einkommen beteiligt (s. § 3 Rz. 40 ff.). Für die Steuerzahlung nicht disponibel ist der Teil der erwirtschafteten Bezüge (Erwerbsbezüge), der im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit ausgegeben werden muss. Daher mindern Erwerbsaufwendungen (Betriebsausgaben/Werbungskosten) die zu versteuernden Einkünfte. Es gilt das Prinzip der Reineinkünfte und der Berücksichtigung von Verlusten (sog. objektives Nettoprinzip, s. Rz. 54 f.). Private Abzüge berücksichtigen die subjektive, d.h. die durch die persönlichen Verhältnisse des Stpfl. begründete Leistungsfähigkeit. Für die Steuerzahlung nicht disponibel ist das, was der Stpfl. für seine eigene Existenz oder für die Existenz seiner Familie aufwenden muss. Daher müssen das Existenzminimum (s. Rz. 81 ff.) und Unterhaltsverpflichtungen (s. Rz. 88 ff.) die Bemessungsgrundlage mindern. Es gilt das Prinzip der Abziehbarkeit unvermeidbarer Privatausgaben (sog. privates oder subjektives Nettoprinzip, s. Rz. 70 ff.). Die richtige Messung steuerlicher Leistungsfähigkeit ist wesentliche Voraussetzung für die Entschei- 43 dung des Gesetzgebers über die Steuerlast, die durch den Steuertarif getroffen wird. Der Steuertarif teilt dem Bürger die Steuerlast abhängig von der Höhe des zu versteuernden Einkommens zu. Diese Zuteilung wird verfälscht, wenn und soweit die Bemessungsgrundlage Faktoren steuerlicher Leistungsfähigkeit nicht oder realitätsfremd berücksichtigt oder wenn Sozialzwecknormen (z.B. Sonderabschreibungen) das Maß, das für alle Bürger gleich geeicht sein sollte, interventionistisch verändern. Normen der Bemessungsgrundlage wirken durch den progressiven Steuertarif auf die Steuerschuld unterschiedlich ein. Wenn die prozentuale Belastung infolge des progressiven Tarifs mit steigendem Einkommen zunimmt, so nimmt sie mit abnehmendem Einkommen degressiv ab. Diese sog. Degressionswirkung von Normen der Bemessungsgrundlage ist ein Reflex der progressiven Belastung bei zunehmendem Einkommen. Die Degressionswirkung ergibt sich aus dem sog. Grenzsteuersatz (prozentuale Belastung des zuletzt hinzuaddierten Euro des zu versteuernden Einkommens). Bei der Beurteilung der Degressionswirkung müssen Fiskalzwecke und Sozialzwecke streng auseinander gehalten werden. Dienen Normen der Bemessungsgrundlage dem Zweck, steuerliche Leistungsfähigkeit zu messen (Betriebsausgaben, Werbungskosten oder existenzsichernder Aufwand), so ergibt die Degressionswirkung den Betrag der Übermaß- oder Untermaßbelastung, wenn steuerliche Leistungsfähigkeit falsch gemessen wird. Diese Bedeutung der Degressionswirkung verkennen offenbar diejenigen, die behaupten, die Reichen hätten durch existenzsichernde Unterhaltsabzüge, wie z.B. Kinderfreibeträge, einen sozial ungerechten größeren Steuervorteil oder eine größere
51 Krit. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 65 ff. Vgl. auch Klein, Der Gesamtbetrag der Einkünfte, Diss., 1997. 52 Vgl. dazu pars pro toto Kölner EStGE u. P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, 2003; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, 359 ff.
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§ 8 Rz. 44
Einkommensteuer
Steuervergünstigung als andere53. Nur bei Sozialzwecknormen kann eine solche Argumentation zutreffen. Ist eine Förderung wie z.B. die Wohneigentumsförderung an dem Bedürfnisprinzip auszurichten, so ist die Degressionswirkung, dass Stpfl. mit geringem Einkommen weniger Steuersubventionen erhalten als Stpfl. mit hohem Einkommen, sachlich nicht zu rechtfertigen54.
1.3 Periodizität der Einkommensteuer und Jahressteuerprinzip (§ 2 VII EStG) 44
Die Einkommensteuer erfasst nicht das Totaleinkommen einer natürlichen Person am Lebensende, sondern periodisch und sukzessiv das Jahreseinkommen. Die Einkommensteuer ist eine periodische Steuer in Gestalt einer Jahressteuer (§ 2 VII 1 EStG). Der in § 32a EStG bestimmte Tarif ist ein Jahrestarif. Das Jahressteuerprinzip (§ 2 VII 1 EStG) konkretisiert das sog. Periodizitätsprinzip55. Das Periodizitätsprinzip ist kein Wertungsprinzip, sondern ein technisches Prinzip, das die ideale Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einschränkt56, denn steuerliche Leistungsfähigkeit müsste idealiter nach dem Lebenseinkommen bemessen werden57. Indessen ist der Fiskus auf den sukzessiven Eingang von Steuern angewiesen. Da das Periodizitätsprinzip ein technisches Prinzip ist, können sich aus ihm unbillige Härten ergeben, die einen Billigkeitserlass erfordern (s. § 21 Rz. 329 ff.). Wenn die Advokaten einer abschnittsbezogenen Besteuerung meinen, die lebenszeitliche Betrachtung sei nicht mit Art. 3 I GG vereinbar, weil sie dem Stpfl. keine hinreichende Rechtssicherheit biete (z.B. Kube, DStR 2011, 1781 [1783, 1784]), verkennen sie, dass zwischen materiell-rechtlichen Belastungswirkungen und verfahrensrechtlicher Umsetzung zu unterscheiden ist. Niemand verlangt eine Steuerfestsetzung erst am Lebensende. Ebensowenig lässt sich das Abschnittsprinzip einem unbegrenzten Verlustvortrag entgegenhalten (ausf. Rz. 68); die zeitnahe gesonderte Feststellung des Verlustvortrags (§ 10d IV EStG) reduziert etwaige Unsicherheiten bezüglich des Bestehens eines Verlustvortrags.
53 Bareis, DStR 1991, 1434 (1435); Ross, DStZ 2004, 437 (437 f.); von Proff zu Irnich, DStR 2004, 1904 (1905); 54 Dazu Wieland, FS Zeidler, 1987, 735 (Wohneigentumsförderung); Tipke, StRO I2, 343 (m. zahlr. N. in Fn. 369); Osterloh, DStJG 24 (2001), 402. 55 Dogmengeschichtlich basiert das Periodizitätsprinzip auf der Reinvermögenszugangstheorie (s. § 7 Rz. 30). Lit.: Schmidlin, Das Prinzip der Periodizität in der Gewinnbesteuerung, Diss., 1956; Gottschalk, Der Grundsatz der periodengerechten Gewinnabgrenzung im Steuerrecht, Diss., 1972; Schick, Der Verlustrücktrag, 1976, 12 ff.; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 186 ff.; Birtel, Die Zeit im Einkommensteuerrecht, 1985; P. Kirchhof, Gutachten zum 57. DJT, 1988, 75 ff.; Loritz, Einkommensteuerrecht, 1988, 48 ff.; Drüen, Periodengewinn u. Totalgewinn, Diss., 1999, 85 ff., 126 ff.; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (63 ff.); Tipke, StRO II2, 754 ff.; Dorenkamp, Nachgelagerte Besteuerung von Einkommen, Diss., 2004, 32 ff., 118 ff.; Eckhoff, DStJG 28 (2005), 11 (30 ff.); Wendt, DStJG 28 (2005), 41 (47 f., 68 f.); Kube, DStR 2011, 1781 (1783 ff.); Kirchhof/Kirchhof13, § 2 EStG Rz. 18 ff.; Mentzel, Das Periodizitätsprinzip und alternative Besteuerungsmodelle, Diss., 2017. 56 So Tipke, StuW 1971, 16; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (63 ff.); Tipke, StRO II2, 754 ff.; u. Wendt DStJG 28 (2005), 41 (47 f., 68 f.). A.A. P. Kirchhof, Gutachten zum 57. DJT, 1988, 75 ff.; P. Kirchhof, FS J. Lang, 2010, 451 (475 f.); Drüen, Periodengewinn u. Totalgewinn, Diss., 1999, 85 ff., 126 ff.; Eckhoff, DStJG 28 (2005), 11 (30 ff.); Kube, DStR 2011, 1781 (1784 f.): materielles Prinzip der Einkommensbesteuerung (zust. BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 (613) und Kammerbeschluss des BVerfG v. 20.12.1989 – 1 BvR 1269/89, HFR 1990, 517); Drüen, FR 2014, 393 (400), hebt zu Recht hervor, dass die prinzipientheoretische Kontroverse zwischen Abschnitts- und Lebenseinkommensprinzip zur Lösung konkreter Rechtsfragen wenig beiträgt. Zur intertemporalen Neutralität s. § 3 Rz. 80 f. 57 Dazu insb. Hackmann, FinArch. 34 (1975), 1 ff.; Hackmann, Die Besteuerung des Lebenseinkommens, Ein Vergleich von Besteuerungsverfahren, Habil., 1979; Hackmann, StuW 1980, 318; Mitschke, StuW 1980, 122 ff.; Mitschke, StuW 1980, 252; Mitschke, StuW 1988, 111; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (63 ff.); J. Lang, FS Rose, 2003, 325 (333 ff.). A.A. D. Schneider, FS Bareis, 2005, 275 (284 ff.); s. auch § 3 Rz. 80.
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Hey
2. Einkommensteuerobjekt: Summe der Einkünfte
Rz. 49 § 8
Entsprechend dem Jahressteuerprinzip ist das Kalenderjahr Ermittlungszeitraum für das zu versteu- 45 ernde Einkommen (§ 2 VII 2 EStG). Besteht die unbeschränkte oder beschränkte Einkommensteuerpflicht wegen Geburt, Tod, Zuzug aus dem Ausland oder Wegzug in das Ausland nicht während eines ganzen Kalenderjahrs, so sind die während der beschränkten Steuerpflicht erzielten inländischen Einkünfte den während der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht erzielten Einkünften hinzuzurechnen (§ 2 VII 3 EStG). Von dem materiell-rechtlichen Ermittlungszeitraum ist der verfahrensrechtliche Veranlagungszeit- 46 raum zu unterscheiden. Veranlagungszeitraum ist kraft Legaldefinition in § 25 I EStG das Kalenderjahr. Von dem Ermittlungszeitraum für das zu versteuernde Einkommen (§ 2 VII 2 EStG) sind schließlich 47 noch die Einkünfte-Ermittlungszeiträume zu unterscheiden. § 2 VII 2 EStG regelt zwar grds. auch die Einkünfteermittlung. Jedoch kann insb. der Gewinnermittlungszeitraum vom Ermittlungszeitraum nach § 2 VII 2 EStG abweichen, so in den Fällen eines vom Kalenderjahr abweichenden Wirtschaftsjahrs (§ 4a EStG) und eines Rumpfwirtschaftsjahrs (§ 6 EStDV). In derartigen Fällen müssen die Einkünfte eines Einkünfte-Ermittlungszeitraumes entweder aufgeteilt (§ 4a II Nr. 1 EStG) oder dem Kalenderjahr, in dem das Wirtschaftsjahr endet, zugeordnet werden (§ 4a II Nr. 2 EStG). Kraft Verlustvortrags und -rücktrags (§ 10d EStG) können schließlich Verluste abgezogen werden, die vor bzw. nach dem Zeitraum i.S.d. §§ 2 VII 2; 25 I EStG ermittelt worden sind58. 1.4 Periodischer Entstehungszeitpunkt der Einkommensteuer Die Einkommensteuer entsteht jährlich mit Ablauf des Veranlagungszeitraums, sofern nichts anderes 48 bestimmt ist (§ 36 I EStG). Vor Ablauf des Veranlagungszeitraums entstehen insb. ESt-Vorauszahlungen (§ 37 I 2 EStG), die Lohnsteuer (§ 38 II 2 EStG) und die Kapitalertragsteuer (§ 44 I 2 EStG). Bei Ehegatten wird der Einkommensteuertatbestand materiell durch die Art der Veranlagung mitbestimmt (§§ 26 ff.; 32a V, VI EStG). Daher kann die Einkommensteuer von Ehegatten erst auf Grund des Einkommensteuerbescheids entstehen59. 2. Das Einkommensteuerobjekt: Summe der Einkünfte (§ 2 I-III EStG) 2.1 Zur rechtlichen Bestimmung des Steuerguts „Einkommen“ 2.1.1 Das Einkommen als zentraler Begriff des öffentlichen Schuldrechts „Einkommen“ ist ein ursprünglich ökonomischer Begriff. Seine rechtliche Relevanz erhält er da- 49 durch, dass mit dem Einkommen als Indikator wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit Pflichten und Rechte verknüpft werden. Einkommen ist ein zentraler Begriff des öffentlichen Schuldrechts60. Er ist relevant nicht nur für das Einkommensteuerrecht, sondern auch für das Sozialrecht61, Strafrecht62, Prozessrecht (einkommensabhängige Prozesskostenhilfe/Grenzen der Unpfändbarkeit) und für die Bemessung des Unterhalts nach § 1610 BGB. Die Einkommensbegriffe der vorgenannten Rechtsgebiete sind sehr unterschiedlich verfasst; innerhalb des Sozialrechts operieren die verschiedenen Sozialleistungsgesetze mit verschiedenen Einkommensbegriffen, knüpfen mit unterschiedlichen Modi-
58 Dazu näher J. Lang, Bemessungsgrundlage, 342 ff. 59 Schmidt/Weber-Grellet36, § 2 EStG Rz. 69. 60 Dazu Tipke, Das Einkommen als zentraler Begriff des öffentlichen Schuldrechts, JuS 1985, 345; Brandis, Einkommen als Rechtsbegriff, StuW 1987, 289; Burger, Der Einkommensbegriff im öffentlichen Schuldrecht, 1991. 61 Dazu Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993, 137 ff.; S. auch § 1 Rz. 41. 62 Dazu Brandis, Geldstrafe und Nettoeinkommen, Zugleich ein Beitrag zur Ausgestaltung eines Einkommensbegriffs im Öffentlichen Schuldrecht, Diss., 1987.
Hey 325
§ 8 Rz. 50
Einkommensteuer
fikationen an den Einkommensbegriff des EStG an63. Die „Einheit der Rechtsordnung“ gebietet die rechtseinheitliche Bemessung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Bedürftigkeit sowohl im Verhältnis des Steuerrechts zum Sozialrecht (s. § 1 Rz. 41) als auch im Verhältnis des Steuerrechts zum Unterhaltsrecht (s. § 1 Rz. 46). Da die vorgenannten Rechtsgebiete einschließlich des Steuerrechts in die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit/Bedürftigkeit den Lebensbedarf miteinbeziehen, kommt rechtseinheitlich nur eine bedarfsorientierte Maßgröße in Betracht; der pure Rückgriff auf das Markteinkommen erfordert Modifikationen und führt zwangsläufig zur Zersplitterung der Einkommensbegriffe (s. § 1 Rz. 41; § 3 Rz. 72 ff.). 2.1.2 Reinvermögenszugangs-, Quellen- und Markteinkommenstheorie 50 Das Einkommensteuerobjekt „Summe der Einkünfte“ erfasst das Einkommen im ökonomischen Sin-
ne64. Das Einkommensteuerobjekt hat sich zunächst unter den Einflüssen der Quellentheorie65 und der bereits in § 7 Rz. 30 f. behandelten Reinvermögenszugangstheorie entwickelt. Die Quellentheorie macht die Frage, ob etwas Einkommen ist, vom Vorhandensein einer ständig fließenden Einkommensquelle abhängig. Einkommen ist danach die „Gesamtheit der Sachgüter, welche in einer bestimmten Periode (Jahr) dem einzelnen als Erträge dauernder Quellen der Gütererzeugung zur Bestreitung der persönlichen Bedürfnisse für sich und für die auf den Bezug ihres Lebensunterhalts von ihm gesetzlich angewiesenen Personen (Familie) zur Verfügung stehen“66. Hingegen sollen Vermögensveränderungen „im Zustande einer Quelle, welche nicht in ihrer bestimmungsmäßigen Verwendung zur Ertragserzielung ihren Ursprung haben“, nicht zum Einkommen gehören67. Die Quellentheorie unterscheidet also im Wesentlichen zwischen den als Einkommen zu qualifizierenden laufenden Einkünften und den nicht zum Einkommen gehörenden Wertveränderungen im sog. Stammvermögen (Quellenvermögen) einschließlich der Wertrealisation durch Veräußerung. Demgegenüber erfasst die Reinvermögenszugangstheorie den gesamten periodischen Zuwachs an Gütern, die für die Befriedigung von Bedürfnissen geeignet sind (s. § 7 Rz. 30). Mit diesem weitgesteckten Anspruch hat sich die Reinvermögenszugangstheorie nicht durchgesetzt. Sie ist vielmehr auf das Markteinkommen zurückgeschnitten worden (s. § 7 Rz. 33). I.Ü. teilt der Dualismus der Gewinneinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 1 EStG) und Überschusseinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG) die Einflussphären von Reinvermögenszugangstheorie und Quellentheorie auf. Historisch sind die Gewinneinkünfte cum grano salis an der Reinvermögenszugangstheorie und die Überschusseinkünfte an der Quellentheorie ausgerichtet (s. Rz. 181 ff.). 51 Demnach haben sich weder die Quellentheorie noch die Reinvermögenszugangstheorie als rechtsdog-
matisches Konzept für alle Einkunftsarten durchsetzen können. Das Preuß. EStG v. 24.6.1891 folgte prinzipiell der Quellentheorie; ihr Hauptvertreter Fuisting hatte als Referent im Finanzministerium die Miquelsche Steuerreform maßgeblich mitgestaltet. Das Reichseinkommensteuergesetz v. 29.3.1920 lehnte sich an die von Schanzsche Reinvermögenszugangstheorie an. Von diesem Konzept wich das Reichseinkommensteuergesetz v. 10.8.1925 wieder ab; es begründete das Konzept des geltenden EStG, indem es acht Einkunftsarten abschließend aufzählte.
63 Dazu Franz, StuW 1988, 17; Burger, VSSR 1991, 205; Wenner, DStJG 29 (2006), 73; Brandis, DStJG 29 (2006), 93. 64 Dazu Holmes, The Concept of Income, IBFD Publication, 2001; Tipke, StRO II2, 623 ff.; Elicker, Fortentwicklung der Theorie vom Einkommen, DStZ 2005, 564. 65 Grundl. Fuisting, Die Preußischen direkten Steuern, 4. Bd.: Grundzüge der Steuerlehre, 1902, 110, 147 ff.; s. zur Quellentheorie ferner Beiser, ÖStZ 2000, 390; KSM/Schneider, § 17 EStG Rz. A 150 ff. (2000); HHR/Hey, Einf. ESt Anm. 11 (2014). 66 Fuisting, Die Preußischen direkten Steuern, 4. Bd., 1902, 110. 67 Fuisting, Die Preußischen direkten Steuern, 4. Bd., 1902, 147.
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2. Einkommensteuerobjekt: Summe der Einkünfte
Rz. 53 § 8
Weder die Quellentheorie noch die Reinvermögenszugangstheorie liefern ein rechtsdogmatisch überzeugendes Konzept. Die Quellentheorie begründet einen zu engen Einkommensbegriff. Die Ausgrenzung der Wertveränderungen im sog. Stammvermögen ist mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip nicht zu vereinbaren und daher gesetzgeberisch durch Einbeziehung privater Veräußerungsgeschäfte in die Steuerpflicht zunehmend zurückgedrängt (s. Rz. 546 ff.). Hingegen lässt sich die Reinvermögenszugangstheorie rechtspraktisch nicht umsetzen (s. bereits § 7 Rz. 30). Das Einkommensteuerobjekt „Summe der Einkünfte“ erfasst nur das Erwerbseinkommen, d.h. die 52 Gesamtheit der Einkünfte, die der Stpfl. durch eine mit Gewinnabsicht ausgeübte Erwerbstätigkeit erwirtschaftet hat. Erste Grundlagen zu dieser Konkretisierung des Einkommensteuerobjekts legte die RFH-/BFH-Rspr. zur Liebhaberei68. Die Dogmatik der Rspr. wurde mit Hilfe der sog. Markteinkommenstheorie69 weiterentwickelt. Diese Theorie leidet allerdings unter dem Mangel, dass der Begriff „Markteinkommen“ nicht die Gesamtheit der steuerbaren Einkünfte abdeckt (s. bereits § 7 Rz. 31), da Einkünfte auch außerhalb des Marktes mit Gewinnabsicht erwirtschaftet werden können70. Richtigerweise ist statt von Markteinkommen von Erwerbseinkommen zu sprechen. Gleichwohl bestimmt die Markteinkommenstheorie die Einkünftedogmatik wie folgt: (1) Sie bestimmt zunächst die Steuerbarkeit der Einkünfte (s. Rz. 121 ff.), grenzt den Einkünftetatbestand zur Konsumsphäre, u.a. zu den Liebhabereieinkünften (s. Rz. 133) und auch zum Tatbestand der Erbschaft- und Schenkungsteuer ab, indem Erbschaften und Schenkungen ausgeschieden werden (s. Rz. 124). Im Weiteren zieht die Markteinkommenstheorie im dualen Aufbau der Bemessungsgrundlage (s. Rz. 41 f.) die Grenze zur Stufe subjektiver Leistungsfähigkeit. Unterhaltsbezüge und staatliche Transferleistungen sind nicht erwirtschaftet. Sie sollten de lege ferenda auf der Stufe subjektiver Leistungsfähigkeit in einem Familienrealsplitting (s. Rz. 103 f.) bzw. bei der Regelung des existenznotwendigen Lebensbedarfs (s. Rz. 87) angesetzt werden. (2) Nach der Markteinkommenstheorie sind die Einkünfte demjenigen persönlich zuzurechnen, der den Tatbestand der Einkünfteerzielung erfüllt, der sie erwirtschaftet hat (s. Rz. 150 ff.). (3) Bei der Ermittlung von Einkünften sind Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen zu bestimmen, indem sie kausalrechtlich einer bestimmten Erwerbstätigkeit zugeordnet werden (s. Rz. 206 ff.). (4) Schließlich sind nur die realisierten Einkünfte zu versteuern. Das Realisationsprinzip (s. § 9 Rz. 89, 400 ff.) ist markteinkommenstheoretisch fundiert (s. bereits § 7 Rz. 33). 2.1.3 Pragmatische Legaldefinition des Einkommens durch den Einkünftekatalog Da den Gesetzgeber weder die Quellentheorie noch die Reinvermögenszugangstheorie überzeugten, 53 bestimmte er das Einkommensteuerobjekt pragmatisch71. Nach § 2 I 1 EStG unterliegen der Einkommensteuer 68 Dazu näher J. Lang, StuW 1981, 223; HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 345 ff. (2015). 69 Grundl. Ruppe, DStJG 1 (1978), 7; HHR/Hey, Einf. ESt Anm. 13 (2014), sowie verfassungsdogmatisch P. Kirchhof, Gutachten F zum 57. DJT, 1988, 16 f.; P. Kirchhof, DStJG 24 (2001), 9 (14 ff.) (zur Kritik s. § 7 Rz. 31). Im Weiteren J. Lang, StuW 1981, 223; J. Lang, DStJG 4 (1981), 54 f. (Rezeption des wirtschaftswissenschaftlich gebräuchlichen Begriffs „Markteinkommen“ in den juristischen Sprachgebrauch); J. Lang, Bemessungsgrundlage, 18 ff., 235 ff.; Wittmann, Das Markteinkommen, Diss., 1992; Wittmann, StuW 1993, 35; Kölner EStGE, Begr. Rz. 133 ff. 70 Deshalb wurde in § 2 I Kölner EStGE auf markteinkommenstheoretische Merkmale verzichtet (vgl. Kölner EStGE, Begr. Rz. 145 f.). Anders P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, 2003, § 2 II (Einkünfte des Stpfl. „aus Erwerbshandeln“), III 2 („Erwerbshandeln ist die Nutzung von Arbeitskraft und von Erwerbsgrundlagen zur Erzielung von Einkünften am Markt“); P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 43 Rz. 8 („am allgemeinen Markt erwirtschaftetes Einkommen“). 71 Begr. zuletzt in BT-Drucks. 7/1470, 211: „Der vorliegende Entwurf macht sich – ebensowenig wie frühere Einkommensteuergesetze – keine der zahlreichen Lehrmeinungen zum Begriff des Einkommens zu eigen, sondern umgrenzt den Einkommensbegriff wie bisher pragmatisch allein für die Zwecke der
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§ 8 Rz. 54
Einkommensteuer
1.
Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft,
2.
Einkünfte aus Gewerbebetrieb,
3.
Einkünfte aus selbständiger Arbeit,
4.
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit,
5.
Einkünfte aus Kapitalvermögen,
6.
Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung,
7.
sonstige Einkünfte (nur) i.S.d. § 22 EStG,
g
g
Gewinneinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 1 EStG)
Überschusseinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG)
die der Stpfl. erzielt (= erwirtschaftet). 2.2 Bestimmung der Einkünfte nach dem objektiven Nettoprinzip 54
Nach § 2 II EStG unterliegen der Einkommensteuer nur Reineinkünfte, nämlich 1. bei den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb und selbständiger Arbeit der Gewinn (§§ 4–7k; 13a EStG), das sind die sog. Gewinneinkünfte, und 2. bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung sowie sonstigen Einkünften i.S.d. § 22 EStG der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten (§§ 8–9a EStG), das sind die sog. Überschusseinkünfte. Die Definition der Einkünfte in § 2 II EStG als Rein- oder Nettoeinkünfte positiviert das objektive Nettoprinzip72. Ausdruck steuerlicher Leistungsfähigkeit sind nicht die erwirtschafteten Vermögenszugänge; steuerlich belastbar ist vielmehr nur das wirtschaftliche Ergebnis einer Erwerbstätigkeit. In diesem Sinne sind Einkünfte Unterschiedsbeträge zwischen Erwerbsbezügen und Erwerbsaufwendungen (s. Rz. 205 ff.). Das objektive Nettoprinzip gebietet die uneingeschränkte Berücksichtigung der Erwerbsaufwendungen, folglich auch der Verluste (s. Rz. 60 ff.). Auch zur Erreichung wirtschaftswissenschaftlich formulierter Neutralitätspostulate ist das objektive Nettoprinzip unerlässlich73. 1988 hat der Deutsche Juristentag beschlossen: „Das Nettoprinzip gehört zu den identitätskonstituierenden Merkmalen der Einkommensteuer. Als solches steht es nicht zur Disposition des Gesetzgebers“ (Sitzungsbericht N, 1988, 214). Der Deutsche Juristentag 2006 bekräfigte und verteidigte das Nettoprinzip auch gegen den internationalen Steuerwettbewerb und die Tendenz zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlagen: Steuerbar sei „nur das für die Steuerzahlung disponible Einkommen. Danach sind existenzsichernde und Besteuerung als Ergebnis ganz bestimmter, mit den gegenwärtigen Einkunftsarten übereinstimmender Einkünfte“. 72 Dazu Ruppe, DStJG 3 (1980), 103 (105 ff., 144 ff.); Söhn, DStJG 3 (1980), 13 (18); J. Lang, StuW 1985, 16; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 60 ff., 183 ff.; Arndt/Schumacher, AöR 118 (1993), 513 (520 ff.); Uelner, FS Schmidt, 1993, 21 (25); Klein, DStZ 1995, 630; Knepper, FS Haas, 1996, 201; Wolff-Diepenbrock, DStZ 1999, 717; Tipke, StRO II2, 762 ff.; Jachmann, DFGT 2 (2005), 59; Loschelder, DFGT 2 (2005), 185 ff. (steuerpolitische Vorschläge); Wendt, Prinzipien der Verlustberücksichtigung, DStJG 28 (2005), 41 (50 ff.); Bergkemper, StuW 2006, 311; Drenseck, FR 2006, 1; Tipke, FS Raupach, 2006, 177; J. Lang, StuW 2007, 3; Tipke, BB 2007, 1525; Drüen, StuW 2008, 3; Tipke, DB 2008, 263; Lehner, DStR 2009, 185; 2. Steuerwissenschaftliches Symposium im BFH, Beihefter zu DStR 2009, Heft 34 mit Beiträgen von Paetsch u.a. (Tagungsbericht), Schneider u. Englisch (verfassungsrechtliche Herleitung), Wernsmann u. Görke (Umsetzung im EStG), Hey u. Heger (Geltung in KStG/GewStG), Reimer (EU-/DBA-Recht), Jachmann (Gestaltungsgrenze der Steuerpolitik); Frye, FR 2010, 603; Schaumburg, FS J. Lang, 2010, 1099 (Nettoprinzip im Internationalen Steuerrecht); Seiler, DStJG 34 (2011), 61; Staringer, DStJG 37 (2014), 137; Knöller, Die Besteuerung von Sollertrag und Istertrag, Diss., 2015; Bowitz, Das objektive Nettoprinzip als Rechtfertigungsmaßstab im Einkommensteuerrecht, Diss., 2016. 73 Hierzu F.W. Wagner, Warum haben Ökonomen das objektive Nettoprinzip erfunden, aber nicht erforscht?, StuW 2010, 24.
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2. Einkommensteuerobjekt: Summe der Einkünfte
Rz. 55 § 8
erwerbssichernde Aufwendungen aus der Bemessungsgrundlage auszuscheiden. Einschränkungen sind auch nicht durch Absenkungen des Steuersatzes zu rechtfertigen“ (Sitzungsbericht Q, 2006, 168).
Das BVerfG hat die Frage nach dem Verfassungsrang des objektiven Nettoprinzips bisher offen gelas- 55 sen74. Es bewertet das objektive Nettoprinzip als gesetzgeberische Grundentscheidung, die nach dem gleichheitsrechtlichen Folgerichtigkeitsgebot (s. § 3 Rz. 118 ff.) zu verwirklichen ist. Ausnahmen von der folgerichtigen Umsetzung der mit dem objektiven Nettoprinzip getroffenen Belastungsentscheidung bedürfen eines besonderen, sachlich rechtfertigenden Grundes75; sie müssen folgerichtig ausgestaltet und zur Zweckerreichung geeignet, erforderlich und angemessen sein (Verhältnismäßigkeitskontrolle). Anerkannte Rechtfertigungsgründe sind neben Vereinfachungszwecken insb. außerfiskalische Förderungs- und Lenkungsziele aus Gründen des Gemeinwohls (s. § 3 Rz. 132). So kann z.B. ein Steuerabzugsverbot umweltpolitisch gerechtfertigt werden. Nicht entschieden hat das BVerfG bisher, ob der Einkommensteuergesetzgeber berechtigt wäre, im Rahmen eines Systemwechsels (s. hierzu § 3 Rz. 120) von einer Netto- zu einer Bruttoeinkommensteuer überzugehen. Diese Frage stellt sich insb. im Hinblick auf die Bruttobesteuerung durch die Abgeltungsteuer (§ 20 IX EStG, s. Rz. 494)76. Ein solcher Systemwechsel wäre m.E. nicht zulässig, weil sachgerechter Maßstab zur Messung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit nur das Nettoeinkommen sein kann. Das objektive Nettoprinzip ist nicht disponibel!77 Andernfalls würde die Einkommensteuer in die Nähe einer Umsatzsteuer gerückt (freilich ohne Vorsteuerabzug und mit progressivem Steuertarif). Nachdrücklich weist das BVerfG78 die rein fiskalisch begründete Durchbrechung der gesetzgeberischen Grundentscheidung für das objektive Nettoprinzip zurück (s. auch § 3 Rz. 130): Der „rein fiskalische Zweck staatlicher Einnahmenerhöhung“ rechtfertige keine Ausnahme von der gesetzgeberischen Grundentscheidung. Dem Ziel der Einnahmenvermehrung diene „jede, auch eine willkürliche steuerliche Mehrbelastung“. Gestaltungsspielräume bestehen am ehesten dort, wo es um den Abzug privat mitveranlasster gemischter Aufwendungen geht und der Gesetzgeber sich zur Vermeidung von Einzelfallabgrenzungen der gesetzlichen Typisierung bedient. Man kann die privat mitveranlassten Aufwendungen (s. Rz. 239 ff.) als „Achillesferse“ des objektiven Nettoprinzips bezeichnen79. P. Kirchhof empfiehlt sogar, gemischt veranlasste Aufwendungen ganz vom Steuerabzug auszuschließen80. Freilich kann der Umstand privater Mitveranlassung das Nettoprinzip nicht vollständig außer Kraft setzen, sondern erlaubt Einschränkungen nur dort, wo dies zur Erreichung eines gleichheitsgerechten Gesamtvollzugs erforderlich ist (allgemein zu Zulässigkeit und Grenzen von Vereinfachungszwecknormen s. § 3 Rz. 23 f.). Auch muss der Vereinfachungszweck folgerichtig umgesetzt sein. Die bloße Behauptung von Vereinfachung zur Verschleierung fiskalischer Interessen lässt das BVerfG nicht gelten. Deshalb war sowohl 74 Zuletzt BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (234); v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 (280); v. 15.2.2016 – 1 BvL 8/15, BStBl. II 2016, 557 (562); zur Rspr. des BVerfG zum objektiven Nettoprinzip insb. Jachmann, DFGT 2 (2005), 59 (62 ff.); J. Lang, StuW 2007, 3 (4 f.); Lehner, DStR 2009, 185; Tipke, JZ 2009, 533; Breinersdorfer, DStR 2010, 2492; Hennrichs, FS J. Lang, 2010, 237. 75 BVerfG v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 (290); v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, BVerfGE 107, 27 (48); v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (235); v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 (280); v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, HFR 2017, 636, Rz. 104. 76 Verfassungsmäßigkeit grds. bejahend Jachmann, DStJG 34 (2011), 251 (258 ff.). 77 H.M. im Schrifttum, vgl. z.B. Englisch, Beihefter zu DStR 2009, Heft 34, 92 (92 f. m.w.N.); Lehner, DStR 2009, 185 (189 ff.); Frye, FR 2010, 603; Eckhoff, FS Steiner, 2009, 118 (129); zurückhaltender Seiler, DStJG 34 (2011), 61 (66 f.); jetzt sehr grundlegend Bowitz, Das objektive Nettoprinzip als Rechtfertigungsmaßstab im Einkommensteuerrecht, Diss. 2016, 93, dessen Einschränkung („verfassungsrechtlich angebunden, ohne sich zum strikten Verfassungsgrundsatz zu verfestigen“) wohl im Wesentlichen indiziert, dass Ausnahmen gerechtfertigt werden können, was jedem Prinzip imanent ist. 78 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (237); zuletzt v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, HFR 2017, 636, Rz. 104. 79 S. J. Lang, 20. Aufl., § 9 Rz. 55; dazu G. Kirchhof, FS J. Lang, 2010, 451 (463 ff.). 80 P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 45 Satz 2 BStGB, Begr. 417 ff.
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§ 8 Rz. 56
Einkommensteuer
die Einschränkung der Entfernungspauschale81 als auch der Aufwendungen für das häusliche Arbeitszimmer82 verfassungswidrig. Auch der fortgesetzte Widerstand des Gesetzgebers, dem objektiven Nettoprinzip im Bereich der Bildungsaufwendungen Rechnung zu tragen (s. §§ 4 IX; 9 VI EStG; dazu Rz. 263 ff.), schielt lediglich auf die Haushaltswirkungen. Derartigen Aufwand zu verhindern, kann dagegen wohl nicht Ziel einer „Bildungsrepublik“ sein. Im Wettbewerb der Steuersysteme geht es ohnehin längst nicht mehr nur um Einschränkungen des Abzugs gemischt veranlasster Aufwendungen, sondern der Gesetzgeber beschneidet auch die Abzugsmöglichkeiten ausschließlich und eindeutig erwerbswirtschaftlich veranlasster Aufwendungen. Von rüdem Fiskalismus zeugen die Verlustverrechnungsbeschränkungen der Mindestgewinnbesteuerung des § 10d II EStG oder der Verlustuntergang bei Anteilseignerwechsel (§ 8c KStG, s. hierzu § 11 Rz. 58) sowie die Bruttobesteuerung durch Aufwendungsabzugs- und Verlustverrechnungsverbote im Bereich der Abgeltungsteuer (§ 20 VI u. IX EStG). Das Ziel der Gegenfinanzierung niedriger Steuersätze durch Verbreiterung der Bemessungsgrundlagen (s. hierzu J. Lang, StuW 2007, 3 [7 f.]) ist reines Fiskalinteresse. Die Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips lässt sich auf diese Weise nicht rechtfertigen. 2.3 Ermittlung der Einkünfte nach dem Nominalwertprinzip 56
Die Ermittlung der Einkünfte ist eine Geldrechnung. Systemtragendes Prinzip der Geldordnung ist das Nominalwertprinzip (Grundsatz: 1 Euro = 1 Euro). Dieses Geldordnungsprinzip kollidiert insofern mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip, als dieses ein Realwertprinzip ist (s. § 3 Rz. 65). Es verlangt, dass die Einkünfteermittlung die wirkliche Leistungsfähigkeit erfasst, was durch die Nominalwertrechnung nur bei absoluter Geldwertstabilität gewährleistet ist. Geldentwertung verfälscht die EuroRechnungsgrößen und damit auch die Maßgrößen steuerlicher Leistungsfähigkeit83: Nominelle Vermögenswertsteigerungen bewirken bei der Veräußerung Scheingewinne, d.h. der Nominalgewinn ist nur zum Teil Realgewinn oder er verdeckt gar einen Realverlust84. Demgegenüber entstehen auf der Schuldnerseite Realgewinne, die eine Nominalwertrechnung nicht erfasst. Besonders steuergünstig ist die hohe Fremdfinanzierung von Immobilien in Inflationszeiten. Die Rückzahlung der Kredite ist mit nicht besteuerten Realgewinnen verknüpft, und die Immobilien-Wertsteigerungen werden bei Veräußerung außerhalb der Frist nach § 23 I 1 Nr. 1 EStG ebenfalls nicht besteuert. Bilanzierende Unternehmer können durch Fremdfinanzierung von Investitionen die Scheingewinne auf der Aktivseite mit nominell nicht erfassten Realgewinnen auf der Passivseite ausgleichen.
57
Die Ermittlung der Einkünfte nach dem Nominalwertprinzip rechtfertigt das BVerfG85 hauptsächlich steuertechnisch und währungspolitisch: Die Inflationsbereinigung der Einkünfteermittlung durch 81 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210. 82 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268. 83 Zu diesem Thema insb. IFA-Kongress 1977: Inflation und Besteuerung, Cahiers de droit fiscal international, Vol. XIIa, 1977; F.W. Wagner, Kapitalerhaltung, Geldentwertung und Gewinnbesteuerung, 1978; Gurtner, Inflation, Nominalwertprinzip und Einkommensteuerrecht unter besonderer Berücksichtigung des Gewinnsteuerrechts, 1980; Pohmer, FS Brandt, 1983, 383; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 176 ff.; Rose, StuW 1985, 342 f. (m.w.N. der betriebswirtschaftl. Lit.); P. Kirchhof, Gutachten zum 57. DJT, 1988, 37 f.; Läufer u. Reiner, Inflationssteuer, DStZ 1999, 764 ff., 810 ff.; Tipke, StRO I2, 2000, 512 ff. (Leistungsfähigkeitsprinzip und Inflation); Maurer, WISU 2009, 979 ff.; Kleinmanns, Besteuerung inflationärer Scheingewinne im System des deutschen Einkommensteuerrechts und ihre verfassungsrechtliche Rechtfertigung, Diss., 2009; Weber, Inflationsberücksichtigung in der Einkommensteuer, Diss., 2012; HHR/Hey, Einf. ESt Anm. 47 (2014). 84 Zur Gewinnermittlung nach dem Nominalwertprinzip F.W. Wagner, Kapitalerhaltung, Geldentwertung und Gewinnbesteuerung, Habil., 1978; Gurtner, Inflation, Nominalwertprinzip und Einkommensteuerrecht unter besonderer Berücksichtigung des Gewinnsteuerrechts, 1980; Esser, Ertragsbesteuerung und Geldentwertung – das Problem des „Scheingewinns“, ifst-Schrift Nr. 374 (1999); Seicht, FS Fischer, 1999, 207; Weber, Inflationsberücksichtigung in der Einkommensteuer, Diss., 2012. 85 BVerfG v. 19.12.1978 – 1 BvR 335/76, BVerfGE 50, 57; dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 177 f.; Arndt/ Schumacher, AöR 118 (1993), 542 ff.; Tipke, StRO I2, 2000, 459 f. (dort Fn. 173: Literatur vor 1978).
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2. Einkommensteuerobjekt: Summe der Einkünfte
Rz. 59 § 8
Verwendung von Indexwerten sei unter Praktikabilitätsgesichtspunkten abzulehnen und habe unabsehbare Auswirkungen auf das gesamte Wirtschaftssystem. In der Tat lässt sich – dies legen die Erfahrungen in südamerikanischen Staaten nahe – nicht ausschließen, dass Indexierungen der bilanziellen Rechnungslegung die Inflation beschleunigen. Jedoch gibt es nach heutiger Erkenntnis relativ einfache Methoden der Eliminierung von Scheingewinnen wie die Aufstockung der historischen Anschaffungs-/Herstellungskosten. Jedenfalls kann bei einer umfassenden Einkommensteuerreform, die sämtliche Veräußerungseinkünfte ohne zeitliche Begrenzung in die Besteuerung einbezieht, von einer Inflationsbereinigung nicht abgesehen werden86. 2.4 Zeitliche Zuordnung der Einkünfte Einkünfte müssen dem in Rz. 45 dargelegten Ermittlungszeitraum (§ 2 VII 2 EStG) zugeordnet wer- 58 den. Dabei sind zwei Systeme zeitlicher Zuordnung zu unterscheiden: – Grds. gilt das in § 11 EStG verankerte System der Vereinnahmung und Verausgabung. Dieses System ist beherrscht vom Zuflussprinzip und vom Abflussprinzip. Danach kommt es grds. auf das Zufließen (Erlangen der wirtschaftlichen Verfügungsmacht über Wirtschaftsgüter) und Abfließen von Wirtschaftsgütern (Verlust der wirtschaftlichen Verfügungsmacht über Wirtschaftsgüter) an87. Hierfür werden die Begriffe „Einnahmen“ und „Ausgaben“ verwendet. Die Beschränkung der Rechnungslegung auf „Einnahmen“ und „Ausgaben“ nach dem Prinzip der Kassenrechnung ist nicht nur technisch einfach. Eine Zahlungsstrom-Rechnung (sog. Cash Flow) weist auch die Liquidität zur Steuerzahlung am besten aus. Nachteilhaft ist, dass das System der Vereinnahmung und Verausgabung Zahlungsstrom-Schwankungen nicht auffangen kann. Dadurch kann das Periodizitätsprinzip zu Härten führen. Deshalb sind die Einnahmen-/Ausgaben-Rechnungen (sog. Überschussrechnungen) des EStG keine reinen Zahlungsstrom-Rechnungen. Insb. sind Anschaffungsund Herstellungskosten für Wirtschaftsgüter nicht im Zeitpunkt der Verausgabung abzusetzen (vgl. §§ 4 III 3, 4; 9 I 3 Nr. 6 Satz 2, Nr. 7 EStG). Weitere Ausnahmen regelt § 11 I 2 u. 3, II 2 u. 3 EStG. Überschusseinkünfte werden ausnahmslos durch Überschussrechnung (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG: Einnahmen-/Werbungskosten-Überschussrechnung, s. Rz. 350 ff.), Gewinneinkünfte ausnahmsweise durch Überschussrechnung (§ 4 III EStG, s. § 9 Rz. 550 ff.) ermittelt (s. zunächst Rz. 191 ff.). – Demgegenüber haben Bilanzierungspflichtige und freiwillig bilanzierende Unternehmer auch für 59 die Besteuerung Bücher zu führen und Jahresabschlüsse (§ 242 III HGB: Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung) zu erstellen. Sie haben einen Betriebsvermögensvergleich (§§ 4 I; 5 EStG) durchzuführen (s. § 9 Rz. 12 ff.). Die im Prinzip noch für den Betriebsvermögensvergleich nach § 5 I 1 EStG maßgeblichen (s. § 9 Rz. 40 ff.) handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (s. § 9 Rz. 50 ff.) sorgen dafür, dass die Ergebnisse des Wirtschaftens periodengerecht nach ihrer wirtschaftlichen Verursachung zugeordnet werden. Das Zu- und Abflussprinzip gilt nicht (§ 252 I Nr. 5 HGB). Die einzelnen Perioden stehen nicht separat da. Durch Bilanz-, Bewertungs- und Unternehmenskontinuität ist für Anschluss gesorgt. Zahlungsstrom-Schwankungen und Härten des Periodizitätsprinzips werden ausgeglichen.
86 Dazu Eggesiecker/Ellerbeck, Scheingewinneliminierung als notwendige Bedingung einer rationalen Einkommensteuerreform, DB 2004, 839; Weber, Inflationsberücksichtigung in der Einkommensteuer, Diss., 2012, 83–155; s. auch § 28 I Kölner EStGE. 87 Dazu ausf. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 275 ff., 290 ff., 298 ff., 320 ff.; vgl. auch Giloy, Zum Zeitpunkt der steuerlichen Erfassung von Einnahmen u. Ausgaben als technisches u. wertendes Prinzip, GS Trzaskalik, 2005, 311.
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§ 8 Rz. 60
Einkommensteuer
2.5 Verluste Literatur: Schulze-Osterloh, Gute Verluste – Böse Verluste, Ausschluß und Beschränkung des Verlustausgleichs und -abzugs, JbFSt. 1984/85, 267; Kröner, Verrechnungsbeschränkte Verluste im Ertragsteuerrecht, Diss., 1986; Buchheister, Ist die steuerliche Berücksichtigung von Verlusten ein notwendiger Bestandteil des Einkommensteuerrechts?, DStZ 1997, 556; Wollseiffen, Steuerplanung bei Verlusten, Diss., 1998; Herzig/ Briesemeister, Systematische und grundsätzliche Anmerkungen zur Einschränkung der steuerlichen Verlustnutzung, DStR 1999, 1377; Roser/Tesch, Verlustnutzung im internationalen Vergleich, IStR 1999, 385; Haarmann, Die Einschränkung der Berücksichtigung von Verlusten im Einkommensteuerrecht, Stbg. 2001, 145; Stapperfend, Verluste im Einkommensteuerrecht, DStJG 24 (2001), 329; Reil, Leistungs- und Verlustfähigkeit, Diss., 2003; Lehner, Verluste im nationalen und internationalen Recht, 2004; von Groll (Hrsg.), Verluste im Steuerrecht, DStJG 28 (2005); Prechtl, Verlustausgleichsbeschränkungen im Einkommensteuerrecht, Wien 2005; Eisgruber, Aktuelle Fragen der Verlustnutzung im Unternehmensbereich, DStZ 2007, 630; Dorenkamp, Systemgerechte Neuordnung der Verlustverrechnung – Haushaltsverträglicher Ausstieg aus der Mindestbesteuerung, ifst-Schrift 461 (2010); Lüdicke, Der Verlust im Steuerrecht, JbFfSt 2010/2011, 11 u. DStZ 2010, 434; Lüdicke/Kempf/Brink, Verluste im Steuerrecht, 2010; Röder, Das System der Verlustverrechnung im deutschen Steuerrecht, Diss., 2010; Kube, Die intertemporale Verlustverrechnung, DStR 2011, 1781 u. 1829; BT-Drucks 17/4653: Verlustverrechnung und Mindestbesteuerung in der Unternehmensbesteuerung; BMF, Bericht der Facharbeitsgruppe „Verlustverrechnung und Gruppenbesteuerung“, 2011 (zu Reformmöglichkeiten); Berliner Steuergespräche zu Einschränkungen der Verlustverrechnung, FR 2011, 733–759 (Beiträge von Dorenkamp, Rennings, Desens, Wassermeyer); Seewald, Der Verlust als Gegenstand der Steuerpolitik aus Sicht der steuerberatenden Berufe, in FS Spindler, 2011, 775; Wiss. Beirat Steuern Ernst & Young, Notwendige Reform der Verlustverrechnung, DB 2012, 1706; Heuermann, System- und Prinzipienfragen beim Verlustabzug, FR 2012, 435; Drüen, Verfassungsrechtliche Positionen zur Mindestbesteuerung, FR 2013, 393; Bareis, Ist die Mindestbesteuerung verfassungsgemäß?, DB 2013, 144; Gens, Unternehmensverluste. Verlustabzug und Mindestbesteuerung, Diss. 2014; Hey, Finale Verluste im nationalen und europäischen Recht, in FS Gosch, 2016, 161; Lachmayer, Verluste sind nicht gleich Verluste, ÖStZ 2017, 495; Thiemann, Verluste im Steuerrecht, Habil. 2018. Ausland/Rechtsvergleichend: Lindinger in FS Ruppe, Wien 2007, 433 (österreichisch-verfassungsrechtliche Sicht); Mörtl/Oberhuber in FS Rödler, 2010, 649; Ault/Arnold, Comparative Income Taxation3, 2010, 288 ff. Jansen, IWB 2012, 162 (Frankreich).
2.5.1 Verlustausgleich und Verlustabzug (Verlustrücktrag/-vortrag) 60
Nach dem objektiven Nettoprinzip haben Verluste die Bemessungsgrundlage zu mindern. Verluste sind Bilanzverluste, Überschüsse der Betriebsausgaben über die Betriebseinnahmen (vgl. § 4 III 1 EStG) und Überschüsse der Werbungskosten über die Einnahmen (vgl. § 2 II 1 Nr. 2 EStG). Der Verlustbegriff ist in der Terminologie des EStG unzulänglich eingebettet. Allgemein definiert sind Verluste negative Einkünfte, nämlich Überschüsse der Erwerbsaufwendungen über die Erwerbsbezüge.
61
In der „Summe der Einkünfte“ (§ 2 I–III EStG) sind zunächst positive und negative Einkünfte zu saldieren. Die Saldierung der negativen mit den positiven Einkünften innerhalb der Steuerperiode des Kalenderjahrs (s. Rz. 44 ff.) heißt Verlustausgleich. Zu unterscheiden sind horizontaler Verlustausgleich (Verrechnung von negativen und positiven Einkünften innerhalb einer Einkunftsart) und vertikaler Verlustausgleich (Verrechnung von negativen und positiven Einkünften aus verschiedenen Einkunftsarten). Der Verlustausgleich ist keine Steuervergünstigung, sondern ein Akt richtiger Leistungfähigkeitsbemessung nach dem objektiven Nettoprinzip! Wird der Verlustausgleich eingeschränkt, so muss die Durchbrechung des Nettoprinzips überzeugend gerechtfertigt werden (s. Rz. 68). Systemimmanent und damit nicht gesondert rechtfertigungsbedürftig sind Einschränkungen des Verlustausgleichs dagegen im Rahmen einer Schedulenbesteuerung zwischen unterschiedlich tarifierten Schedulen88. Verluste aus einer niedrig besteuerten Schedule können nicht ohne weiteres mit positiven Einkünfte einer höher besteuerten Schedule verrechnet werden. Dem entspricht für die Abgeltungsteuer § 20 VI 2 EStG.
88 Wendt, DStJG 28 (2005), 41 (43).
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2. Einkommensteuerobjekt: Summe der Einkünfte
Rz. 63 § 8
Durch das Nettoprinzip geboten ist auch der Verlustabzug89, der die Verlustverrechnung überperio- 62 disch fortführt, und zwar zunächst durch Verlustrücktrag, indem negative Einkünfte, die bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte (§ 2 III EStG) nicht ausgeglichen werden können (Vorrang des Verlustausgleichs vor dem Verlustabzug!), in dem unmittelbar vorangegangenen Veranlagungszeitraum abzuziehen sind (§ 10d I 1 EStG). Soweit negative Einkünfte weder durch Verlustausgleich noch durch Verlustrücktrag verrechnet wurden, sind sie durch Verlustvortrag zeitlich unbegrenzt in den folgenden Veranlagungszeiträumen vom Gesamtbetrag der Einkünfte abzuziehen. Der Verlustabzug stellt keine Wirtschaftssubvention dar. Die Regelung überperiodischer Verlustverrechnung ist ebenso wie die des Verlustausgleichs Fiskalzwecknorm, die der Gesetzgeber nicht beliebig verändern kann: Das technische Prinzip der Periodizität (s. Rz. 44 ff.) muss durch den überperiodischen Verlustabzug eingeschränkt werden, um die Verwirklichung des objektiven Nettoprinzips nicht abzuschneiden90. Verlustabzugsberechtigung: Der Verlustabzug steht grds. nur demjenigen Stpfl. zu, der den Verlust 63 erlitten und ihn wirtschaftlich getragen hat91. Daher ist der Verlustabzug rechtsgeschäftlich nicht disponsibel und übertragbar. Ein nicht ausgenutzter Verlustabzug geht nur dann auf den Rechtsnachfolger über, wenn dies ausdrücklich gesetzlich angeordnet ist92. Innerhalb des BFH war umstritten, ob der Erbe Verluste des Erblassers abziehen kann93. Der GrS des BFH94, hat den Streit gegen die Vererblichkeit des Verlustes entschieden, weil der Stpfl. nach dem Grundsatz der Individualbesteuerung (s. Rz. 22) Verluste eines Dritten nicht abziehen könne95. Nicht sachgerecht ist dieses Abschneiden des
89 Dazu von Groll, FS Haas, 1996, 149; Eckhoff, DStJG 28 (2005), 11 (27 ff.); Wendt, DStJG 28 (2005), 41 (47 f.): Intertemporaler Verlustabzug zur Sicherung der Leistungsfähigkeitsbesteuerung bei periodisierter Besteuerung, 68 f.: Beschränkung der intertemporalen Verlustberücksichtigung); Röder, System der Verlustverrechnung, 230 ff.; eher restriktiv Kube, DStR 2011, 1781; KSM/Heuermann, § 10d EStG Rz. A 70 ff. (2012). 90 So insb. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 188 ff.; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (63 ff.); Tipke, StRO II2, 2003, 759 ff.; Wendt, DStJG 28 (2005), 41 (47 f.); KSM/Heuermann, § 10d EStG Rz. A 11 (2012), der dem Periodenprinzip gleichwohl auch materielle Bedeutung beimisst. Restriktiver wird die Notwendigkeit des Verlustvortrags regelmäßig dann gesehen, wenn der Jährlichkeit materiell-rechtliche Bedeutung beigemessen wird, vgl. Drüen, Periodengewinn und Totalgewinn, Diss., 1999, 90; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 50 Rz. 4; Eckhoff, DStJG 28 (2005), 11 (30 ff.); Kube, DStR 2011, 1781 (1785 ff.). 91 RFH v. 12.5.1936 – I A 84/36, RStBl. 1936, 790; v. 2.7.1941 – VI 433/40, RStBl. 1941, 658; BFH v. 22.6.1962 – VI 49/61 S, BStBl. III 1962, 386; v. 17.5.1972 – I R 126/70, BStBl. II 1972, 621; v. 10.4.1973 – VIII R 132/70, BStBl. II 1973, 679; v. 13.11.1979 – VIII R 193/77, BStBl. II 1980, 188; v. 29.10.1986 – I R 202/82, BStBl. II 1987, 308; v. 29.10.1986 – I R 318/83, BStBl. II 1987, 310; v. 4.12.1991 – I R 74/89, BStBl. II 1992, 432; v. 5.5.1999 – XI R 1/97, BStBl. II 1999, 653; BMF v. 22.7.2002 – IV A 5 - S 2225 - 2/02, BStBl. I 2002, 667. Ausf. zur Verlustabzugsberechtigung KSM/Heuermann, § 10d EStG Rz. A 112, A 180 (2012); Röder, System der Verlustverrechnung, 283–313; bei Zusammenveranlagung s. Moog, DStR 2010, 1122. 92 BFH v. 12.1.2011 – I R 112/09, BFH/NV 2011, 1194. 93 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608; Vererblichkeit des Verlusts bejaht insb. BFH v. 17.5.1972 – I R 126/70, BStBl. II 1972, 621; v. 16.5.2001 – I R 76/99, BStBl. II 2002, 487; v. 22.10.2003 – XI R 54/99, BStBl. II 2004, 414. Verneinend hingegen BFH v. 29.3.2000 – I R 76/99, BStBl. II 2000, 622; v. 10.4.2003 – XI R 54/99, BStBl. II 2004, 400, sowie Vorlagebeschluss des XI. Senats v. 28.7.2004 – XI R 54/99, BStBl. II 2005, 262 (dazu Rudisch, DB 2006, 976; Strnad, BB 2006, 1774). 94 Dazu BMF v. 24.7.2008 – IV C 4 - S 2225/07/0006, BStBl. I 2008, 809; Bilsdorfer, SteuerStud 2008, 355; Birnbaum, DB 2008, 778; Dötsch, DStR 2008, 641; Feick/Henn, DStR 2008, 1905; P. Fischer, NWB 2008 Fach 3, 15045; Hallerbach, StuB 2008, 353; Wälzholz, DStR 2008, 1769; Witt, BB 2008, 1199; Rauch/ Haug, SteuK 2011, 382 (Schlussfolgerungen für andere Verlustverrechnungskonstellationen). Zur gegenteiligen Position des österreichischen VwGH s. Stückler, ÖStZ 2013, 487 u. 513. 95 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 (612); jedoch gewährte der GrS Vertrauensschutz im Wege einer richterlichen Übergangsregel, derzufolge die bisherige gegenteilige Rspr. auf alle bis zum Ablauf des 12.3.2008 (Tag der Veröffentlichung des Beschlusses auf der Internetseite des BFH) ein-
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§ 8 Rz. 64
Einkommensteuer
Verlustvortrags des Erblassers jedoch, soweit die verlustverursachenden Aufwendungen stille Reserven finanziert haben, die gem. § 6 III EStG auf den Erben übergehen und von diesem versteuert werden müssen. 64
Durchführung des Verlustabzuges: Die negativen Einkünfte sind nach dem Gesamtbetrag der Einkünfte und „vorrangig vor Sonderausgaben96, außergewöhnlichen Belastungen und sonstigen Abzugsbeträgen“ abzuziehen (§ 10d I 1, II 1 EStG), und zwar zuerst durch Verlustrücktrag bis zu einem Betrag von 1 Mio. Euro (§ 10d I 1 EStG), sodann durch Verlustvortrag (§ 10d II 1 EStG). Der Stpfl. kann auf den Verlustrücktrag ganz oder teilweise verzichten (§ 10d I 5 EStG)97. Im Antrag ist die Höhe des Verlustrücktrags anzugeben (§ 10d I 6 EStG). Das Rücktragswahlrecht kann nur bis zum Eintritt der Bestandskraft des Bescheids über die gesonderte Feststellung ausgeübt bzw. ganz oder teilweise widerrufen werden98. Ein Rücktrag in noch nicht festsetzungsverjährte VZ ist auch dann möglich, wenn für das Verlustentstehungsjahr selbst bereits Festsetzungsverjährung eingetreten war. Nach der Ausübung des Verlustrücktrages sind bereits erlassene, auch bestandskräftige Steuerbescheide zu ändern (§ 10d I 3, 4 EStG). Der nach Verlustausgleich und Verlustrücktrag Platz greifende Verlustvortrag muss frühestmöglich ausgeschöpft werden; der Verlustvortrag ist nur insoweit zulässig, als die Verluste in den vorangegangenen VZ nicht abgezogen werden konnten (§ 10d II 3 EStG). Er ist betragsmäßig durch die Regelung der Mindestgewinnbesteuerung begrenzt (s. Rz. 67). Der am Schluss eines VZ verbleibende Verlustvortrag ist nach § 10d IV EStG gesondert festzustellen99. 2.5.2 Beschränkungen des Verlustausgleichs und Verlustabzugs
65
Die Möglichkeiten des Verlustausgleichs und Verlustabzugs sind erheblich eingeschränkt. Es sind folgende Beschränkungen zu unterscheiden: (1) Spezielle Verlustverrechnungsbeschränkungen:
66
– Verluste sind nicht zu berücksichtigen, wenn sie außerhalb des steuerbaren Einkünftebereichs angefallen sind, z.B. Liebhabereiverluste, Verluste aus der Veräußerung von Privatvermögen (s. Rz. 121), oder wenn sie mit steuerfreien Einnahmen in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang stehen (§ 3c I EStG). Dies betrifft insb. nach DBA-Freistellungsmethode steuerfrei zu stellende Gewinne ausländischer Betriebsstätten. Diese sog. Kehrseitentheorie bedarf jedoch im Einzelfall einer unionsrechtlichen Einschränkung, soweit es sich um finale EU-/EWR-Auslandsverluste handelt, die im Quellenstaat keine Berücksichtigung finden (dazu § 4 Rz. 98 u. § 13 Rz. 153). – Sodann wird die Verlustverrechnung durch spezielle Vorschriften zu einzelnen Einkünften beschränkt, bevor diese in der „Summe der Einkünfte“ (§ 2 III EStG) saldiert werden: Abzugsverbote für Erwerbsaufwendungen (§§ 4 V; 12 Nr. 1 Satz 2 EStG), Steuerbilanznormen wie z.B. Passivierungsverbote für Rückstellungen (s. § 9 Rz. 188 ff.); Beschränkungen der Verlustverrechnung bei Auslandseinkünften (§ 2a EStG)100, gewerblicher Tierzucht u. Tierhaltung (§ 15 IV 1 EStG), Termingeschäften (§ 15 IV 3–5 EStG), Kommanditbeteiligungen (§ 15a EStG), Einkünften aus Kapi-
96 97 98 99 100
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getretenen Erbfälle weiterhin anzuwenden ist. Zu dieser seltenen Ausnahme von Vertrauensschutz gegenüber einer Verschärfung der Rspr. s. Fischer, DStR 2008, 697. Verfassungswidrigkeit des Abzugs vor Sonderausgaben s. Oberloskamp, EStB 2009, 109 u. 2010, 312 u. 2012, 347; a.A. BFH v. 9.4.2010 – IX B 191/09, BFH/NV 2010, 1270. Einzelheiten zu diesem Wahlrecht s. R 10d III EStR 2012. BFH v. 17.9.2008 – IX R 72/06, BStBl. II 2009, 639. Heuermann, DStR 2011, 1489. Zur Novellierung von § 10d IV EStG durch JStG 2010 infolge von BFH v. 17.9.2008 – IX R 70/06, BStBl. II 2009, 897, s. Sikorski, NWB 2011, 2191. Zur (früheren) Europarechtswidrigkeit des § 2a EStG s. EuGH v. 21.2.2006 – C-152/03, ECLI:EU:C:2006:123 – Ritter-Coulais und v. 29.3.2007 – C-347/04, ECLI:EU:C:2007:194 – Rewe Zentralfinanz. § 2a EStG ist durch JStG 2009 europarechtlich angepasst worden; die Vorschrift gilt nur noch für Verluste aus Staaten, die nicht der EU oder dem EWR angehören; hierzu Schaumburg in Schaumburg/Englisch (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht, Köln 2015, Rz. 8.9 ff.
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2. Einkommensteuerobjekt: Summe der Einkünfte
Rz. 67 § 8
talvermögen (§ 20 VI 2 EStG), Aktiengeschäften (§ 20 VI 4 EStG), Einkünften aus sonstigen Leistungen (§ 22 Nr. 3 Satz 3 EStG, s. Rz. 545), privaten Veräußerungsgeschäften (§ 23 III 7, 8 EStG, s. Rz. 559). – Schließlich bekämpft der Steuergesetzgeber steuerminimierende Gestaltungen mit Verlustverrechnungsverboten für Verlustzuweisungsmodelle. § 15b EStG regelt ein Verlustverrechnungsverbot im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen101: Verluste können nur noch mit zukünftigen Gewinnen aus derselben Einkunftsquelle verrechnet werden (§ 15b I 2 EStG). Voraussetzung ist gem. § 15b II, III EStG, dass dem Stpfl. auf Grund eines vorgefertigten Konzepts zumindest in der Anfangsphase verrechenbare Verluste zugewiesen werden sollen. § 15b EStG erfasst nach zutr. Auffassung des BFH nicht jedwede rechtliche Gestaltung, die auf steuerliche Vorteile durch Verlustabzug/-verrechnung ausgelegt ist, sondern nur solche vorgefertigten Konzepte, auf deren Ausgestaltung der Anleger keinen Einfluss nimmt. Nicht erfasst werden individuell zugeschnittene Gestaltungen102. § 15b IIIa EStG verzichtet auf diese Voraussetzungen zur Bekämpfung von Steuersparmodellen, die auf dem Handel mit Wirtschaftsgütern des Umlaufvermögens in Verbindung mit der Begründung eines Besitzkonstituts basieren (sog. „Goldfingermodelle“; s. auch § 32b I 3 EStG)103. Gegen Verlustzuweisungsgesellschaften ist auch § 15a EStG gerichtet (s. § 10 Rz. 72 f.). Dieses Verlustverrechnungsverbot für negative Kapitalkonten von Kommanditisten trifft jedoch auch die normale Kommanditgesellschaft. Es handelt sich folglich nicht um eine Missbrauchsvermeidungsnorm. § 15a EStG kann aber als Ausdruck eines durch das Leistungsfähigkeitsprinzip legitimierten allgemeinen Grundsatzes gerechtfertigt werden, wonach Verlustverrechnung Verlusttragung voraussetzt. (2) Allgemeine Verlustverrechnungsbeschränkung durch die Mindestbesteuerung: Soweit die Verlustverrechnung durch die vorgenannten Vorschriften nicht beschränkt wird, greift die 67 Mindestbesteuerung104 (§ 10d II EStG) Platz105, die dazu führt, dass Verlustvorträge nur noch zeitlich gestreckt genutzt werden können. Der seit 2004 geltende § 10d I 1 EStG begrenzt den in das erste Vorjahr zulässigen Verlustrücktrag auf den Betrag von 1 Mio. Euro (Ehegatten: 2 Mio. Euro). Sodann können Verluste, die weder innerperiodisch noch durch Verlustrücktrag verrechnet werden konnten, durch Verlustvortrag im jeweils folgenden VZ bis zu einem Gesamtbetrag der Einkünfte von 1 Mio./Ehegatten: 2 Mio. Euro (sog. Mittelstandskomponente) unbeschränkt, darüber hinaus nur i.H.v. 60 % des periodischen Gesamt101 Die Umsetzung der dem Grunde nach berechtigten Intention, eine rein steuerlich motivierte, missbräuchliche Vorverlagerung von Aufwand zu unterbinden, ist gesetzgeberisch allerdings missglückt; krit. z.B. Kirchhof/Reiß17, § 15b EStG Rz. 6 f.; BFH v. 6.2.2014 – IV R 59/10, BStBl. II 2014, 465 (467 ff.); v. 17.1.2017 – VIII R 7/13, BStBl. II 2017, 700 Rz. 25 hält die Vorschrift, insb. das Tatbestandsmerkmal der „modellhaften Gestaltung“ zwar für mit dem Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar, legt sie aber zutreffend restriktiv aus; ausf. verfassungsrechtliche Analyse Schuska, DStR 2014, 825; 102 BFH v. 17.1.2017 – VIII R 7/13, BStBl. II 2017, 700 (703); dagegen hält Schmidt/Seeger36, § 15b EstG Rz. 5 die Einbeziehung von Einzelinvestoren im Wege der verfassungskonformen Auslegung geboten. 103 Inzwischen durch § 32b II 1 Nr. 2 S. 2 Buchst. c EStG ergänzt, der das Abflussprinzip des § 4 III; 11 EStG modifiziert; dazu Salzmann, DStR 2015, 1725. 104 Dazu Werner, Die Mindestbesteuerung im deutschen und US-amerikanischen Einkommensteuerrecht, Diss., 2001; Djanani/Brähler/Lösel, Konzepte der Mindestbesteuerung, eine vergleichende Darstellung für Deutschland, Österreich u. die USA, IWB Fach 10, Gr. 2, S. 761 (2002); Kroniger, BB 2003, 1987 (Vorbild USA?); Djanani/Pummerer, StuW 2004, 158 (Risikoverteilung zwischen Stpfl. u. Fiskus); Herzig/ Wagner, WPg 2004, 53; Ewald, DStR 2005, 1556 (steuersystematische Analyse); Krawitz, FS Bareis, 2005, 153 (kritische Betrachtung); Wendt, DStJG 28 (2005), 41 (74 ff.) (verfassungskonforme Auslegung); Krengel, Mindestbesteuerung u. Effizienz, Diss., 2006; Hahne, FR 2008, 897; Watrin/Wittkowski/Ullmann, StuW 2008, 238 (europäischer Vergleich); Phan, SteuerStud 2011, 65 (68 ff. zur Verfassungsmäßigkeit); Klomp, GmbHR 2012, 675 (verfassungskonforme Auslegung); Gens, Unternehmensverluste, Diss. 2014, 134 ff. 105 Zur Vorläuferregelung des § 2 III 2–8 EStG idF des StEntlG 1999/2000/2002 s. 22. Aufl., § 8 Rz. 67.
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§ 8 Rz. 68
Einkommensteuer
betrags der Einkünfte verrechnet wurden (§ 10d II EStG). Damit werden der Besteuerung stets 40 % der Einkünfte unabhängig von Verlusten unterworfen. Hauptstoßrichtung der Mindestbesteuerung sind Kapitalgesellschaften mit zum Teil hohen Verlustvorträgen, getroffen werden aber durchaus auch Einzelpersonen. Die Mindestbesteuerung führt bei allen betroffenen Stpfl. zu einer aktuellen, die Liquidität beeinträchtigenden Übermaßbesteuerung. Während Gewinne sofort besteuert werden, können Verluste, auch wenn sie auf sofortigen Liquiditätsabflüssen beruhen, zwar grds. nach wie vor zeitlich unbegrenzt, aber nur noch verzögert geltend gemacht werden. Bei Unternehmen mit zyklisch stark schwankenden Ergebnissen kann die Mindestbesteuerung existenzgefährdend wirken, weil es nie zur vollständigen Nutzung der Verlustvorträge kommt. Besonders betroffen sind zeitlich begrenzt bestehende Projektgesellschaften und Arbeitsgemeinschaften, Leasing-Objektgesellschaften, langfristige Fertigung, Existenzgründungen, Branchen mit hoher Kapitalintensität (Wohnungswirtschaft, Luft-, Raum-, Schiffs- und Anlagenbau) und Sanierungsfälle106. Hier besteht ein erhöhtes Risiko, dass es nicht nur zur Streckung von Verlustvorträgen kommt, sondern dass die Verrechnung in Kombination mit Vorgängen, die zum Untergang von Verlustvorträgen führen, insb. Liquidation, Verschmelzung (§ 12 III UmwStG), Anteilseignerwechsel (§ 8c KStG), Wegzug in das Ausland, Tod des Stpfl., endgültig scheitert (finaler Verlust). Die Mindestbesteuerung verschärft zudem die Problematik von Sanierungsgewinnen infolge insolvenzabwendender Forderungsverzichte, weil bestehende Verlustvorträge nur beschränkt zur Neutralisierung genutzt werden können. (3) Verfassungsrechtliche Beurteilung von Verlustverrechnungsbeschränkungen: 68 Das BVerfG107 (zu § 22 Nr. 3 EStG), hat den „völligen Ausschluss der Verlustverrechnung“ als gleich-
heitswidrig erkannt und Einschränkungen nur für zulässig erachtet, soweit Einkünfte „typischerweise für unerwünschte Steuergestaltungen genutzt werden“108. Die Intention, Steuermehreinnahmen zu erwirtschaften bzw. Steuermindereinnahmen zu verhindern, ist dagegen zur Rechtfertigung der Durchbrechung des Nettoprinzips per se ungeeignet109. Etwas anderes gilt aus Gründen der Vorhersehbarkeit der Haushaltsführung und der Praktikabilität nur für die Begrenzung des Verlustrücktrags. Der Verlustvortrag muss dagegen grds. uneingeschränkt gewährt werden. Anders als die besonderen Verlustverrechnungsbeschränkungen, die sich zumindest ihrer Grundidee nach als Vorschriften der Missbrauchsbekämpfung oder Kehrseite von fehlender Steuerbarkeit/Steuerfreiheit rechtfertigen lassen und damit grds. gerade auf eine systemgerechte und leistungsfähigkeitskonforme Besteuerung abzielen110, ist die Mindestbesteuerung des § 10d II EStG rein fiskalisch motiviert. Daran ändern auch die zur Begründung der Mindestbesteuerung herangezogenen Verlustvortragsberge von 500–700 Mrd. Euro nichts, zumal sie nicht mit Haushaltsrisiken gleichgesetzt werden dürfen111. Eine andere Rechtfertigung existiert nicht. Nach Überzeugung des I. Senats des BFH (Vorlagebeschluss vom 26.2.2014)112 ist 106 Dazu ausf. Lang/Englisch, StuW 2005, 3 (21 ff.); Küspert, BB 2013, 1949; vgl. auch Gilz/Kuth, DStR 2005, 184 (Situation im Insolvenzverfahren); Kretz/Heine, KStZ 2009, 141; Braun/Geist, BB 2013, 351; Farle/Schmitt, DB 2013, 1746. 107 BVerfG v. 30.9.1998 – 2 BvR 1818/91, BVerfGE 99, 88. 108 Daraufhin ist durch Art. 1 Nr. 30b StEntlG 1999/2000/2002 § 22 Nr. 3 Satz 4 EStG angefügt worden, damit die Verlustverrechnung entsprechend BVerf v. 30.9.1998 – 2 BvR 1818/91, BVerfGE 99, 88 nicht „völlig“ ausgeschlossen ist. Es handelt sich um ein für den Steuergesetzgeber typisches Grenzverhalten gegenüber der Rspr. des BVerfG. M.E. reicht § 22 Nr. 3 Satz 4 EStG für die verfassungsrechtliche Sanierung des § 22 Nr. 3 EStG nicht aus; a.A. BFH v. 18.10.2006 – IX R 28/05, BStBl. II 2007, 259 (260 f.); bestätigt durch Urteil v. 12.7.2016 – IX R 11/14, BFH/NV 2016, 1691, Rz. 30, 31 und 33. 109 S. auch BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (236 f.). 110 S. Dorenkamp, ifst-Schrift Nr. 461 (2010), 14 ff. 111 Das BMF (Prüfbericht, zit. vor Rz. 60) selbst gibt den Steuerausfall bei sofortigem vollständigem Verzicht auf die Mindestbesteueurng mit maximal 3 Mrd. Euro an. Hierzu ausf. auch Dorenkamp, ifstSchrift Nr. 461 (2010), 35 ff. 112 BFH v. 26.2.2014 – I R 59/12, BStBl. II 2014, 1016 (BVerfG-Az.: 2 BvL 19/14). Zuvor schon für Fälle, in denen eine Verlustverrechnung aufgrund des Zusammentreffens von § 10d II EStG mit anderen
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2. Einkommensteuerobjekt: Summe der Einkünfte
Rz. 68 § 8
die Mindestbesteuerung, und zwar auch im Rahmen der Gewerbesteuer (§ 10a Satz 2 GewStG i.V.m. § 10d I 1 EStG), gleichheitssatzwidrig, soweit es zur endgültigen Nichtberücksichtigung von Verlusten (Definitiveffekt) kommt113. Eine Korrektur im Wege von Billigkeitsentscheidungen wird zutreffend für nicht möglich erachtet. Hieran schließt sich dann aber die – aus der europarechtlichen Beurteilung grenzüberschreitender Verluste bekannte (s. Rz. 66) – schwierige Frage an, wann ein Verlust final wird114. Rechtfertigungsbedürftig ist i.Ü. nicht nur der Untergang von Verlustvorträgen, sondern auch die bloße Streckung der Verlustverrechnung115. Dass die Streckung weniger schwer wiegt als der Untergang von Verlusten, ist erst auf der Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen, hilft aber nicht darüber hinweg, dass es bereits für die Streckung an einem legitimen Regelungsinteresse fehlt. Die Annahme eines Gestaltungsspielraums, innerhalb dessen der Gesetzgeber berechtigt wäre, Abschnittsprinzip und Nettoprinzip zum Ausgleich zu bringen116, verkennt nicht nur, dass Ersteres ein lediglich technisches Prinzip ist und damit nicht die gleiche Wertigkeit hat wie das Nettoprinzip, sondern führt, solange Gewinne weiterhin im Zeitpunkt ihrer Entstehung versteuert werden, zu einer wertungsinkonsistenten Asymmetrie. Unterstellt man ein Prinzip „gegenwartsnaher Besteuerung“117, so darf dieses nicht einseitig nur für positive Erfolgsbeiträge zur Anwendung gebracht werden. Das objektive Nettoprinzip muss in jedem Veranlagungszeitraum erfüllt sein118. Dem kann auch, soweit die Mindestbesteuerung zur Erreichung dieses Ziels überhaupt geeignet ist, das Interesse an einer Verstetigung des Steueraufkommens nicht entgegengehalten werden. Es bleibt reiner Fiskalzweck119. Das Wesen der Einkommensteuer ist ihre built-in-flexibility (s. § 7 Rz. 9 f.). Die Einkommensteuer ist die falsche Steuer, um das Steueraufkommen vom Konjunkturverlauf abzukoppeln. § 10d II EStG verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz und die Freiheitsrechte120 und ist damit verfassungswidrig121.
113 114 115 116 117 118 119 120 121
Verlustverrechnungsbeschränkungen aus rechtlichen Gründen endgültig ausgeschlossen ist, s. AdVVerfahren BFH v. 26.8.2010 – I B 49/10, BStBl. II 2011, 826; zur Gewährung von AdV in Fällen definitiven Verlustuntergangs BMF v. 19.10.2011 – IV C 2 - S 2741/10/10002, BStBl. I 2011, 974 (krit. Anm. Gragert, NWB 2011, 4007; Sistermann/Brinkmann, DStR 2011, 2230); zur Möglichkeit eines Billigkeitserlasses zur Vermeidung endgültigen Verlustuntergangs s. Niedersächs. FG v. 2.1.2012 – 6 K 63/11, EFG 2012, 1015, (rkr.); a.A. für die gewerbesteuerliche Mindestbesteuerung (§ 10a Satz 1 u. 2 GewStG) BFH v. 20.9.2012 – IV R 36/10, BStBl. II 2013, 498; v. 20.9.2012 – IV R 29/10, BStBl. II 2013, 505. Vollends zur Dummensteuer degeneriert die Verlustversagung, wenn Billigkeitsmaßnahmen zur Vermeidung eines etwaigen verfassungswidrigen Besteuerungsergebnisses wegen „Eigenverschuldens“ des Stpfl. am Verlustuntergang versagt werden, so BFH v. 20.9.2012 – IV R 29/10, BStBl. II 2013, 505 (508), m. Anm. Farle/Schmitt, DB 2013, 1746; zu Recht krit. Küspert, BB 2013, 1949 (1953). Zum Problem der Annahme der Finalität BFH v. 22.8.2012 – I R 9/11, BStBl. II 2013, 512 (516), Verfassungsbeschwerde eingelegt (Az. 2 BvR 2998/12). Dies entspricht der h.M. im Schrifttum Wendt, DStJG 28 (2005), 41 (76 f.); Desens, FR 2011, 745 (747 f.); Schaumburg/Schaumburg, StuW 2013, 61 (64); Drüen, FR 2013, 393 (402); a.A. Heuermann, FR 2012, 435 (440). BFH v. 22.8.2012 – I R 9/11, BStBl. II 2013, 512 (516), macht das Streitpotential deutlich. A.A. BT-Drucks. 14/23, 167; dazu s. auch bereits BFH v. 6.3.2003 – XI B 7/02, BStBl. II 2003, 516 (517) und v. 6.3.2003 – XI B 76/02, BStBl. II 2003, 523; v. 6.9.2006 – XI R 26/04, BStBl. II 2007, 167 (170) zu § 2 III 2–8 EStG a.F. So scheinbar BVerfG v. 22.7.1991 – 1 BvR 313/88, NJW 1992, 169. S. P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, Leitgedanken, Rz. 28 ff. A.A. BFH v. 9.5.2001 – XI B 151/00, BStBl. II 2001, 552 (554); v. 20.9.2012 – IV R 36/10, BStBl. II 2013, 498 (502 f.); v. 22.8.2012 – I R 9/11, BStBl. II 2013, 512 (514 f.); v. 22.8.2012 – I R 9/11, BStBl. II 2013, 512 (513 ff.); daran festhaltend zuletzt v. 21.9.2016 – I R 65/14, BFH/NV 2017, 267, Rz. 21 f. A.A. Kube, DStR 2011, 1781 (1789) mit Verweis auf Desens, FR 2011, 745 (749) (qualifizierter Fiskalzweck). Dazu Hergarten, DStR 2001, 1876; Holdorf, BB 2001, 2085; Palm, DStR 2002, 152; Kohlhaas, DStR 2003, 1142; Kohlhaas, DStR 2004, 1250; Karrenbrock, DB 2004, 559; Lang/Englisch, StuW 2005, 3. Ebenso Lang/Englisch, StuW 2005, 3; Fischer, FR 2007, 281; Röder, System der Verlustverrechnung, 258 ff., 355 ff.; Röder, StuW 2012, 18 (21 ff.); Bareis, DB 2013, 144.
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§ 8 Rz. 69
Einkommensteuer
(4) Neuordnung der Verlustverrechnung: 69
Angesichts der mannigfaltigen Verlustverrechnungsbeschränkungen des geltenden Rechts bedarf es dringend der im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP vom 26.10.2009 zur Diskussion gestellten Neuordnung der Verlustverrechnung mit dem Ziel der Wiederherstellung des objektiven Nettoprinzips122. Abzuschaffen ist, wie bereits vom Deutschen Juristentag 2006 gefordert123, die Mindestbesteuerung. Ein schrittweises Vorgehen könnte die Haushaltswirkungen abfedern124. Verlustverrechnungsbeschränkungen zur Missbrauchsabwehr sind dagegen zulässig, allerdings nur insoweit, als sie typisierend eine Verlustverrechnung bei fehlender wirtschaftlicher Belastung ausschließen. „Echte“, wirtschaftlich tatsächlich erlittene Verluste müssen stets voll horizontal und vertikal ausgleichsfähig125 sowie intertemporal abzugsfähig sein. Auch Verrechnungsbeschränkungen „unechter“ Verluste sind unzulässig, wenn die Verluste infolge der Inanspruchnahme von Steuervergünstigungen entstanden sind. Ein Stpfl., der dem gesetzlichen Lenkungsanreiz folgt, handelt nicht missbräuchlich. Ihm darf die zunächst gewährte Subvention nicht im Nachhinein durch ein Verlustverrechnungsverbot entzogen werden. Auslandsverluste sind jedenfalls in den Grenzen der Rspr. des EuGH (s. Rz. 66) anzuerkennen. Der in Ausführung des Koalitionsvertrages erarbeitete Prüfbericht des BMF (zit. vor Rz. 60) verweigert sich diesen Einsichten aus rein fiskalischen Gründen. In der Tat ist die Wiederherstellung des Nettoprinzips zwangsläufig mit Mindereinnahmen verbunden. Dies ändert indes nichts am verfassungsrechtlichen Reformbedarf. Entschieden entgegenzutreten ist dem Ansinnen, die Verlustverrechnung noch weiter einzuschränken als bisher und zur Beseitigung der bestehenden Verlustberge eine zeitliche Begrenzung des Verlustvortrags auf 5, 7 oder 10 Jahre vorzusehen126. Dies gilt erst recht, soweit eine derartige Maßnahme unter Aufrechterhaltung der Mindestbesteuerung bzw. auf Altverluste erstreckt würde. Das BVerfG hat die frühere Beschränkung des Verlustvortrags auf 5 Jahre in einem Nichtannahmebeschluss aus dem Jahr 1991 zwar nicht beanstandet127. Die Bedeutung dieser nur summarisch begründeten Aussage darf indes angesichts der zwischenzeitlichen Aufwertung des objektiven Nettoprinzips durch die Rspr. des BVerfG nicht überschätzt werden. Das Ziel eines Abbaus der „Verlustvortragsberge“ ist zur Rechtfertigung einer zeitlichen Begrenzung des Verlustvortrags schon deshalb nicht geeignet, weil diese nicht mit entsprechend hohen Haushaltsrisiken korrespondieren (s. Rz. 68)128. Der Prüfbericht des BMF hat daher zu Recht von entsprechenden Empfehlungen abgesehen.
122 „Wachstum.Bildung.Zusammenhalt“, S. 132 f., abrufbar unter: http://www.csu.de/common/_migra ted/csucontent/091026_koalitionsvertrag.pdf. 123 DJT, Sitzungsbericht Q, 2006, 168: „Sowohl der Verlustausgleich als auch der Verlustabzug sind als Ausprägungen des Nettoprinzips systemgerechte Folgerungen der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und keine Steuervergünstigungen. Zumindest eine zukunftsbezogene interperiodische Verlustverrechnung ist unbeschränkt zuzulassen. Die in § 10d II EStG niedergelegte ‚Mindestbesteuerung‘ muss vom Gesetzgeber zurückgenommen werden“. 124 S. hierzu den Vorschlag von Dorenkamp, ifst-Schrift Nr. 461 (2010), 47 ff.; s. alternativ den ebenfalls um Interessenausgleich bemühten Vorschlag von Voß, FR 2010, 878, Verlustvorträge zu kapitalisieren. 125 BFH v. 9.3.2011 – IX R 56/05, BStBl. II 2011, 649. 126 Für Neuverluste für zulässig erachtet von Dötsch, DStR 2008, 641 (643); Witt, BB 2008, 1199 (1201); Kube, DStR 2011, 1781; Klemt, DStR 2011, 1686 (1688); Kube, DStR 2011, 1829 (auch unter Einbeziehung von Altverlusten); a.A. Berg/Schmich, DStR 2002, 346 (348); Eckhoff, DStJG 28 (2005), 11 (34); Lang/Englisch, StuW 2005, 3 (6 ff.); Dorenkamp, ifst-Schrift Nr. 461 (2010), 58 ff.; Röder, System der Verlustverrechnung, 259. 127 BVerfG v. 22.7.1991 – 1 BvR 313/88, HFR 1992, 423. 128 Dies verkennt Kube, DStR 2011, 1829 (1834), wenn er für die Einbeziehung von Altverlusten in eine entsprechende Regelung plädiert.
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3. Bemessungsgrundlage: das zu versteuernde Einkommen
Rz. 71 § 8
3. Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer: das zu versteuernde Einkommen i.S.d. § 2 V EStG 3.1 Private Abzüge i.S.d. § 2 IV, V EStG Literatur: (zur Familienbesteuerung s. § 3 vor Rz. 162): J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, 517 ff.; Uelner, Zur Konkretisierung des subjektiven Nettoprinzips im Einkommensteuerrecht, in FS Schmidt, 1993, 21; Tipke, StRO II2, 2003, 784 ff.; Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem BVerfG. Eine ökonomische, steuersystematische und grundrechtsdogmatische Kritik des subjektiven Nettoprinzips, Diss., 2011; G. Kirchhof, Drei Bereiche privaten Aufwands im Einkommensteuerrecht, DStR 2013, 1867; Mellinghoff, § 174: Privataufwendungen, in Leitgedanken des Rechts II, 2013; Englisch, Subjektives Nettoprinzip und Familienbesteuerung, DStJG 37 (2014), 159; Modrzejewski, Existenzsicherung in Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht. Eine Neuausrichtung des subjektiven Nettoprinzips, Diss., 2018. Weitere Lit.: vor Rz. 81 (Existenzminimum), vor Rz. 88 (Unterhaltsleistungen); Reform der Familienbesteuerung und speziell zum Kindesunterhalt Rz. 91 ff., vor Rz. 742.
3.1.1 Das subjektive Nettoprinzip als Grundlage der Berücksichtigung existenznotwendiger Privatausgaben und die Lehre vom indisponiblen Einkommen Wie bereits in Rz. 41 u. § 3 Rz. 72 ausgeführt, ist die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer 70 dualistisch aufgebaut: Bis zum Gesamtbetrag der Einkünfte (§ 2 I–III EStG) wird die objektive Leistungsfähigkeit berücksichtigt, ab dem Gesamtbetrag der Einkünfte die subjektive Leistungsfähigkeit durch private Abzüge (§ 2 IV, V EStG). Die Berücksichtigung persönlicher Verhältnisse durch private Abzüge wird durch folgende zwei Postulate (s. bereits § 3 Rz. 72) bestimmt: Allgemeines subjektives Nettoprinzip: Das systemtragende Prinzip der Abziehbarkeit von privaten 71 Abzügen ist das subjektive Nettoprinzip; nach diesem Prinzip ist der für den notwendigen Lebensbedarf verwendete und demnach für die Steuerzahlung nicht verfügbare Teil des Erwerbseinkommens aus der Bemessungsgrundlage auszuscheiden. Diese bereits oben (§ 3 Rz. 72) angesprochene Lehre hat sich in der Steuerrechtswissenschaft allg. durchgesetzt129. Infolgedessen fasste der Deutsche Juristentag (57. DJT, Sitzungsbericht N, 214) 1988 folgenden Beschluss: „Der Einkommensteuer unterliegt nur der Teil des Erwerbseinkommens, der für den Stpfl. disponibel ist. Die unvermeidbaren Aufwendungen für die eigene Existenzsicherung und den Unterhalt der Familienangehörigen müssen deshalb von der Besteuerung freigestellt sein. Erst auf das sich danach ergebende zu versteuernde Einkommen ist der Tarif anzuwenden. Die Degressionswirkung bei steuermindernden Abzügen ist keine Steuervergünstigung, sondern die systemnotwendige Kehrseite der Progression bei den steuerbegründenden Zuflüssen“.
Diesen Konsens der Juristen hat der Erste Senat des BVerfG im Jahr 1990 nachdrücklich bestätigt130. Ausgangspunkt dieser Entscheidung ist der aus Art. 1 I GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip abgeleitete Grundsatz, „dass der Staat dem Stpfl. sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen muss, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird“. Sodann stellt das BVerfG fest: „Ebenso wie der Staat nach diesen Verfassungsnormen verpflichtet ist, dem mittellosen Bürger diese Mindestvoraussetzungen erforderlichenfalls durch Sozialleistungen zu sichern …, darf er dem Bürger das selbst erzielte Einkommen bis zu diesem Betrag … nicht entziehen. 129 Dazu das vor § 3 Rz. 68 zit. Schrifttum u. 57. DJT, Sitzungsbericht N, 1988, 214. Nach Tipke, StRO II2, 788 f., hängt dieser Konsens „nicht nur mit einem entsprechenden Verständnis des Leistungsfähigkeitsprinzips zusammen, sondern auch mit dem Einfluss verfassungsrechtlicher Grundwertungen (Schutz der Menschenwürde, Sozialstaatsprinzip)“. Zur Entwicklung des subjektiven Nettoprinzips in Lehre u. Rspr. des BVerfG insb. Arndt/Schumacher, AöR 118 (1993), 525 ff.; Uelner, FS Schmidt, 1993, 21 (25 ff.). In Frage gestellt wird das subjektive Nettoprinzip durch Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums, Diss., 2011; Bareis, DStR 2010, 565; gegen Moes s. Modrzejewski, Existenzsicherung in Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht. Diss., 2018, 1. Kap., C.I.2. 130 BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60 ff. (Kindergeld); ebenso v. 12.6.1990 – 1 BvL 72/86, BVerfGE 82, 198 ff. (Kinderfreibetragsbeschluss).
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§ 8 Rz. 72
Einkommensteuer
Aus den genannten Verfassungsnormen, zusätzlich aber auch aus Art. 6 I GG, folgt ferner, dass bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muss …“. 72
Zur Bemessung des steuerfrei zu belassenden Erwerbseinkommens rekurriert der Erste Senat auf das Sozialhilferecht131. Der Zweite Senat des BVerfG bekräftigte die Maßgeblichkeit des Sozialhilferechts für das Einkommensteuerrecht zum Grundfreibetrag132: Der Steuergesetzgeber müsse dem Einkommensbezieher von seinen Erwerbsbezügen zumindest das belassen, was er dem Bedürftigen zur Befriedigung seines existenznotwendigen Bedarfs aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellt (Leitsatz 2). Die Maßgröße für das einkommensteuerliche Existenzminimum sei „demnach der im Sozialhilferecht jeweils anerkannte Mindestbedarf, der allgemein durch Hilfen zum notwendigen Lebensunterhalt an jeden Bedürftigen befriedigt wird“133. Dabei sei das steuerlich zu verschonende Existenzminimum im Rahmen einer Typisierung grds. so zu bemessen, „dass es in möglichst allen Fällen den existenznotwendigen Bedarf abdeckt, kein Stpfl. also infolge einer Besteuerung seines Einkommens darauf verwiesen wird, seinen existenznotwendigen Bedarf durch Inanspruchnahme von Staatsleistungen zu decken“ (Leitsatz 3).
73
In seinen Entscheidungen zur doppelte Haushaltsführung134 und zum Kindergeld135 wiederholt der Zweite Senat, dass für den „Bereich des subjektiven Nettoprinzips“ das „Verfassungsgebot der steuerlichen Verschonung des Existenzminimums des Stpfl. und seiner unterhaltsberechtigten Familie zu beachten“ sei. Das GG fordere, „dass existenznotwendiger Aufwand in angemessener, realitätsgerecht bestimmter Höhe von der Einkommensteuer freigestellt“ werde. Nach der Rspr. des BVerfG136 kann der Schutzanspruch über das Existenzminimum hinausgehen, auch wenn die Frage „wie weit über den Schutz des Existenzminimums hinaus auch sonstige unvermeidbare oder zwangsläufige private Aufwendungen zu berücksichtigen sind, … verfassungsgerichtlich bislang noch nicht abschließend geklärt“ sei. Dieser Satz weist deutlich auf die weitere Konkretisierungsbedürftigkeit des subjektiven Nettoprinzips hin. Aus dem Zusammenhang mit der Abzugsfähigkeit von Aufwendungen für doppelte Haushaltsführung erschließt sich freilich, dass es richtigerweise gar nicht um die Ebene des subjektiven Nettoprinzips geht. Vielmehr ist die Kategorie des sonstigen zwangsläufigen, pflichtbestimmten Aufwands im Bereich gemischter Veranlassung angesiedelt: Der Umstand einer privaten (Mit-)Veranlassung von Erwerbsaufwand kann von verfassungswegen unbeachtlich sein, so dass der Gesetzgeber sie nicht zum Anknüpfungspunkt von Abzugsverboten nehmen darf (s. auch Rz. 220).
74
Verfassungsrechtliche Maßstäbe des allgemeinen subjektiven Nettoprinzips sind der Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip als Vergleichsmaßstab (s. § 3 Rz. 43), die Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 I GG, s. § 3 Rz. 160), das freiheitsrechtlich (Art. 2 I; 12 I; 14 I GG) begründete Verbot der Erdrosselungssteuer137 und das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I; 28 I 1 GG, s. § 3 Rz. 210 ff.). 131 BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60 (94 ff.). Dazu bereits § 1 Rz. 39 ff.; P. Kirchhof, VVDStRL 39 (1981), 221, 420; P. Kirchhof, JZ 1982, 305 (309 f.); J. Lang, Bemessungsgrundlage, 191 ff., 202 ff.; J. Lang, StuW 1983, 119; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993; Lingemann, Das rechtliche Konzept der Familienbesteuerung, Diss., 1994, 105 ff. 132 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, BVerfGE 87, 153.; dazu Tipke, StRO II2, 802 ff. 133 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, BVerfGE 87, 153 (171); Grundlage eines aktuellen Vorlagebeschlusses des Nieders. FG, Vorlagebeschluss v. 2.12.2016 – 7 K 83/16, EFG 2017, 668 (BVerfG-Az. 2 BvL 3/17) zur Auskömmlichkeit der Kinderfreibeträge. 134 BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, BVerfGE 107, 27 (48). 135 BVerfG v. 8.6.2004 – 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412 (433). 136 BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, BVerfGE 107, 27 (48). 137 So grundl. BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, BVerfGE 87, 153, zit. in § 3 Rz. 184. Zur freiheitsrechtlichen Begr. der Steuerfreiheit des Existenzminimums auch Lehner, DStR 1992, 1642 f.; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993, 337 ff., 364 ff.
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3. Bemessungsgrundlage: das zu versteuernde Einkommen
Rz. 75 § 8
Die Eliminierung indisponiblen Einkommens aus der Bemessungsgrundlage ist, solange sie auf den existenznotwendigen Bedarf beschränkt ist, keine Steuervergünstigung oder Steuersubvention, sondern realisierte Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Wenn aber der indisponible Teil des Erwerbseinkommens aus der Bemessungsgrundlage eliminiert ist, dann erübrigt sich ein tariflicher Grundfreibetrag. Messfunktion der Bemessungsgrundlage und Belastungsfunktion des Tarifs müssen klar gegeneinander abgegrenzt werden138: nicht disponibel
disponibel
existenznotwendiger Lebensbedarf in Höhe des Sozialhilferechts139
Die Bemessungsgrundlage legt das für die Steuerzahlung disponible Einkommen fest. Disponibel ist insb. der Teil des Einkommens, der für disponiblen Konsum (insb. Freizeit- und Luxuskonsum) zur Verfügung steht. Der Tarif legt fest, welchen Anteil des disponiblen Einkommens der Stpfl. als Steuer abführen soll (Belastungsentscheidung des Gesetzgebers).
Dem subjektiven Nettoprinzip entspricht im Wesentlichen die Lehre vom indisponiblen Einkom- 75 men140, soweit sie (nur) existenzsichernde Privatausgaben als indisponibel definiert. Unterschiede ergeben sich hinsichtlich des Familien-Nettoprinzip: Hat ein Stpfl. nicht nur sich selbst, sondern auch andere zu unterhalten, für das Existenzminimum anderer zu sorgen, so vermindert sich dadurch seine steuerliche Leistungsfähigkeit, der Unterhaltsbezieher hingegen wird leistungsfähiger141. Soweit Unterhaltsleistungen auf den existenznotwendigen Bedarf beschränkt sind, ist ihre steuerliche Berücksichtigung verfassungsrechtlich geboten. Die Lehre vom indisponiblen Einkommen fordert darüber hinaus zur Verwirklichung des Familien-Nettoprinzips einen Gleichlauf mit dem Transfer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit durch zivilrechtlich zwangsläufige Unterhaltsleistungen142. Die Rechtsordnung sei widersprüchlich, wenn sie einerseits rechtliche Unterhaltspflichten statuiere und diesen Unterhaltspflichten andererseits die steuerrechtliche Beachtlichkeit versage143. Was der Unterhaltspflichtige an den Unterhaltsberechtigten abführen muss, könne er nicht an den Staat abführen. Zivilrechtlich zwangsläufige Unterhaltsleistungen dürften daher nicht auf eine Ebene mit dem dis138 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 212 ff.; Lingemann, Das rechtliche Konzept der Familienbesteuerung, Diss., 1994, 131 ff.; Tipke, StRO II2, 801 ff.; a.A. Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums, Diss., 2011. 139 BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60 (90 ff.); v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, BVerfGE 87, 153 (171 ff.). Zur Quantifizierung des existenznotwendigen Lebensbedarfs im Steuerrecht J. Lang, StuW 1990, 344; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993, 71 ff.; Lingemann, Das rechtliche Konzept der Familienbesteuerung, Diss., 1994, 112 ff. 140 Grundlegend J. Lang, Bemessungsgrundlage, S. 67 ff.; D. Birk, DStZ 1998, S. 74 (75); zur Abgrenzung gegenüber dem subj. Nettoprinzip grundlegend Modrzejewski, Existenzsicherung in Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht, Diss., 2018, 1. Kap. C.I.2; sehr instruktiv auch Englisch, DStJG 37 (2014), 159 (167 ff.); bezüglich des Familienexistensminimums in Anlehnung an Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, 2003, 237. 141 Tipke, StRO II2, 807. 142 Insb. J. Lang, StuW 1983, 103 ff.; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Habil., 1988, 196 ff., 558 ff., 650 ff.; Im Weiteren hierzu Tipke, StuW 1971, 16 f.; Vogel, NJW 1974, 2105; Vogel, DStR 1977, 31; Tipke, ZRP 1983, 25; Vogel, StuW 1984, 197; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 558 ff., 650 ff.; Zeidler, StuW 1985, 1; Böckenförde, StuW 1986, 335 (336); P. Kirchhof, Der Schutz von Ehe und Familie, 1986, 7 ff.; Pezzer, FS Zeidler, 1987, 757 ff.; Söhn, FinArch. 46 (1988), 154; Pezzer, StuW 1989, 219; aktuell: P. Kirchhof, Standpunkte, DB Heft 9/2016, 1; Kube, StuW 2016, 332 (339 f.); a.A. BFH v. 28.5.2009 – III B 30/08, BFH/NV 2009, 1637; v. 28.2.2012 – III B 115/10, BFH/NV 2012, 942; Nieders. FG, Vorlagebeschluss v. 2.12.2016 – 7 K 83/16, EFG 2017, 668 (669); krit. auch Modrzejewski, Existenzsicherung in Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht, Diss., 2018, 1. Kap. C.I.2; Englisch, DStJG 37 (2014), 159 (172). 143 So eindringlich der frühere Präsident des BVerfG Zeidler, Ehe und Familie, in Benda/Maihofer/Vogel, Hdb. des Verfassungsrechts der BRD2, 1995, 555 (604).
Hey 341
§ 8 Rz. 76
Einkommensteuer
poniblen Konsum gestellt werden144. Allerdings ist die durch das Zivilrecht vorgegebene Unterhaltsverpflichtung nicht auf den existenznotwendigen Bedarf als absoluter verfassungsrechtlicher Untergrenze steuerlicher Berücksichtigung beschränkt145, deshalb verfügt der Gesetzgeber bei der Abbildung von hierüber hinausgehenden Unterhaltspflichten über größere Spielräume. 76
Eindeutig ist auch die Rspr. des BVerfG nur bezüglich der verfassungsrechtlichen Pflicht einer realitätsgerechten Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtungen zur steuerlichen Abbildung des Familienexistenzminimums146. Der 57. Deutsche Juristentag fasste indes im Jahr 1988 einstimmig den weitergehenden Beschluss, dass die realitätsgerechte Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtungen keine Steuervergünstigung, sondern ein zwingendes Gebot der einkommensteuerrechtlichen Belastungsgleichheit sei; realitätsgerechte Berücksichtigung bedeute Abzug in Höhe der gesetzlichen Unterhaltspflichten von der Bemessungsgrundlage, Unterhaltsbezüge sollten „im tatbestandlichen Rahmen der Einkunftsarten“ versteuert werden147. Damit setzte sich der Deutsche Juristentag dafür ein, den Transfer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit durch Unterhaltsleistungen steuerrechtlich zu berücksichtigen. Auch der österreichische VGH judiziert das Familien-Nettoprinzip: Die Einkommensteuer dürfe grds. nur das disponible Einkommen belasten. Unterhaltsleistungen minderten die Leistungsfähigkeit der Eltern und seien zumindest so zu berücksichtigen, dass nicht der größere Teil des Unterhaltsaufwands der Einkommensteuer unterworfen werde148.
77 Verwirklichung des subjektiven Nettoprinzips: Der Gesetzgeber tut sich schwer, aus diesen Vor-
gaben ein in sich geschlossenes widerspruchsfreies System der privaten Abzüge und der Familienbesteuerung abzuleiten. De lege lata besteht ein Konglomerat privater Abzüge, in dem steuerliche Leistungsfähigkeit nach unterschiedlichen Konzepten berücksichtigt wird (s. Rz. 700), in dem Steuervergünstigungen (z.B. § 10b EStG) mit Fiskalzwecknormen vermischt sind und Fiskalzwecknormen wie z.B. der Abzug von Vorsorgeaufwendungen zu Steuerprivilegien werden, weil nur bestimmte Vorsorgeformen in den Steuerabzug fallen (s. Rz. 711 f.). Zudem kommt es zu einem unabgestimmten Zusammentreffen aus Kinderfreibeträgen und Unterhaltsabzügen beim Geber, fehlender Steuerbarkeit und eigenem Grundfreibetrag beim Empfänger. 78 Die Schwierigkeiten, das subjektive Nettoprinzip mit allen seinen Konsequenzen zu erkennen und
anzuerkennen, beruhen auf der bereits in § 3 Rz. 73 kritisierten Annahme, das Markteinkommen sei der „richtige“ Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit. Hingegen sollen private und familiäre Umstände für die Messung steuerlicher Leistungsfähigkeit entgegen der fundamentalen Erkenntnis von Adolph Wagner (§ 3 Rz. 72) irrelevant sein. Die Prämisse ist für die verfassungsrechtlich vorgegebene Bestimmung steuerlicher Leistungsfähigkeit schlichtweg falsch!
144 Dazu nachdrücklich Böckenförde, StuW 1986, 335 (336): Die Zuweisung der Erziehungs- und Unterhaltskosten für Kinder in den Bereich privater Lebenshaltung und individuellen Konsums sei höchst bedenklich. Sie stelle „die Ausgaben für Kinder auf eine Ebene mit denen für Auto, Segelboot, Surfbrett oder Yacht“. 145 Sehr klar Englisch, DStJG 37 (2014), 159 (168 ff.). 146 BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20, 26/84 u. 4/86, BVerfGE 82, 60 (86); v. 12.6.990 – 1 BvL 72/86, BVerfGE 82, 198 (207); v. 26.1.1994 – 1 BvL 12/86, BVerfGE 89, 346 (352 f.); v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246 (262); ohne Beschränkung auf den existenzsichernden Unterhalt: BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvR 620/78, BVerfGE 61, 319 (344) (dazu J. Lang, StuW 1983, 103; Tipke, StbKongrRep. 1983, 39); BVerfG v. 22.2.1984 – 1 BvL 10/80, BVerfGE 66, 214 (223) (dazu Vogel, StuW 1984, 197); BVerfG v. 4.10.1984 – 1 BvR 789/79, BVerfGE 67, 290 (dazu Tipke, StuW 1985, 78); BVerfG v. 17.10.1984 – 1 BvR 527/80, BVerfGE 68, 143 (152 f.). 147 Beschluss des 57. DJT, Sitzungsbericht N, 1988, 213. 148 Dazu Sturn, ÖStZ 1996, 497; Zorn in Thöni/Winner, Die Familie im Sozialstaat, 1996, 135; Kristen, ÖStZ 1997, 233; Quantschnigg, ÖStZ 1997, 453, u. Mack, ÖStZ 1998, 32; Ruppe, ÖStZ 2003, 148; Haring u.a., ÖStZ 2012, 132 (Verteilungswirkungen); Kresbach, ÖStZ 2014, 395.
342
Hey
3. Bemessungsgrundlage: das zu versteuernde Einkommen
Rz. 80 § 8
Private Abzüge, die den für die Steuerzahlung nicht verfügbaren Teil des Einkommens von der Be- 79 steuerung ausnehmen, sind keine Sozialzwecknormen, sind nicht Bestandteil eines bevölkerungspolitisch oder sonstwie konzipierten Fördersystems, ebenso wenig wie der Betriebsausgabenabzug von Pkw-Aufwendungen die Automobilindustrie fördern soll. Niemand kommt auf die Idee, den Abzug von Werbungskosten oder Betriebsausgaben als Steuervergünstigung zu bewerten. Dabei lassen sich private Abzüge im Hinblick auf ihre verfassungsrechtliche Fundierung (s. Rz. 74) sogar noch zwingender rechtfertigen als Abzüge von Erwerbsaufwendungen. Private Abzüge dienen der sog. horizontalen Steuergerechtigkeit: Bei gleicher Leistungsfähigkeit 80 müssen Stpfl. auch gleich hoch besteuert werden149. Das Maß der Einkommensteuer muss auf allen Einkommensebenen richtig geeicht sein. Auch der Einkommensmillionär hat indisponibles Einkommen, das für die Steuerzahlung nicht zur Verfügung steht. Ein Einkommensmillionär mit Kindern ist weniger leistungsfähig als ein kinderloser Einkommensmillionär. Wer ein Markteinkommen von 100 000 Euro und 50 000 Euro nicht versicherte Krankheitskosten aufzubringen hat, ist steuerlich so leistungsfähig wie der gesunde Bezieher eines Markteinkommens von 50 000 Euro. Die Bemessung steuerlicher Leistungsfähigkeit ist nur dann richtig, wenn sie frei von allen Sozialzwecknormen alle positiven und negativen Faktoren steuerlicher Leistungsfähigkeit erfasst, und zwar auf der Stufe objektiver Leistungsfähigkeit alle Erwerbseinnahmen und Erwerbsausgaben und auf der Stufe subjektiver Leistungsfähigkeit nicht nur alle unvermeidbaren oder zwangsläufigen Privatausgaben, sondern auch die entsprechenden Privateinnahmen (z.B. Sozialhilfe, Leistungen einer Krankenversicherung)150. 3.1.2 Berücksichtigung des existenznotwendigen Lebensbedarfs Literatur: P. Kirchhof, Steuergerechtigkeit und sozialstaatliche Geldleistungen, JZ 1982, 305; Dziadkowski, Plädoyer für einen transparenten und realitätsbezogenen („bürgernahen“) Einkommensteuertarif, BBBeil. 9/1985; Dziadkowski, Zur Besteuerung des Existenzminimums, DStZ 1987, 131; P. Kirchhof, Gutachten F zum 57. Deutschen Juristentag, 1988, 51 ff.; Söhn, Verfassungsrechtliche Aspekte der Besteuerung nach der subjektiven Leistungsfähigkeit im Einkommensteuerrecht: Zum persönlichen Existenzminimum, FinArch. Bd. 46 (1988), 154; J. Lang, Verfassungsrechtliche Gewährleistung des Familienexistenzminimums im Steuer- und Kindergeldrecht, StuW 1990, 331; Arndt, Die Sicherung des Existenzminimums im Einkommensteuerrecht, BB 1993, 977; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993; Schemmel, Das einkommensteuerliche Existenzminimum: Berücksichtigung der Menschenwürde im Steuerrecht oder politisch gestaltbare Steuervergünstigung?, StuW 1993, 70; Arndt/Schumacher, Die Minimierung des Existenzminimums im Einkommensteuerrecht – Anmerkung zum BVerfG-Beschluß vom 14.6.1994, 1 BvR 1022/88 –, DStR 1994, 1219; Söhn, Einkommensteuer und subjektive Leistungsfähigkeit, Die Rspr. des Bundesverfassungsgerichts zu Kinderfreibetrag/Kindergeld und persönlichem Existenzminimum, FinArch. Bd. 51 (1994), 372; Einkommensteuer-Kommission151, Thesen zur Steuerfreistellung des Existenzminimums ab 1996 und zur Reform der Einkommensteuer, BMF-Schriftenreihe, Heft 55, 1995; Homburg, Zur Steuerfreiheit des Existenzminimums: Grundfreibetrag oder Abzug von der Bemessungsgrundlage?, FinArch. Bd. 52 (1995), 182; Richter, Einkommensteuerliche Freistellung unvermeidbarer Privatausgaben, in FS Schneider, 1995, 455; Seidl, Die steuerliche Berücksichtigung des Existenzminimums: tarifliche Nullzone, Freibetrag oder Steuerabsetzbetrag?, StuW 1997, 142; Tipke, StRO II2, 2003, 797 ff.; Lehner, Freiheitsrechtliche Vorgaben für die Sicherung des familiären Existenzminimums durch Erwerbsu. Sozialeinkommen, in FS Badura, 2004, 331; Liesenfeld, Das steuerfreie Existenzminimum und der progressive Tarif als Bausteine eines freiheitsrechtlichen Verständnisses des Leistungsfähigkeitsprinzips, Diss., 2005; DStJG 29 (2006): Die Familie zwischen Privatrecht, Sozialrecht und Steuerrecht, Referate von Felix, 149 BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60 (89) mit Hinweis auf Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, 165 (170). 150 So §§ 2 II; 9 ff.; 35 ff. Kölner EStGE. Die offene Flanke des subjektiven Nettoprinzips, was unter unvermeidbaren oder zwangsläufigen privaten Aufwendungen zu verstehen ist (vgl. BVerfG, Rz. 73), kann eigentlich nur der Gesetzgeber selbst mit einem konsistenten Regelungssystem subjektiver Leistungsfähigkeit schließen. Ein Streit um die verfassungsrechtlichen Grenzen des subjektiven Nettoprinzips dürfte sich als endlos erweisen. 151 Mitglieder: Bareis (Vorsitzender), Offerhaus (stv. Vorsitzender), Altehoefer, Dziadkowski, Körner, Maydell, Pohmer, Reinhardt.
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§ 8 Rz. 81
Einkommensteuer
149, u. Axer, 175; Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem BVerfG, Diss., 2011; Schilling, Zwangsläufiger, pflichtbestimmter Aufwand in Ehe und Familie, Diss., 2013; Haupt/Becker, Verfassungskonforme Besteuerung von Eltern – Realität oder Trugbild?, DStR 2015, 1529; Modrzejewski, Existenzsicherung in Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht. Eine Neuausrichtung des subjektiven Nettoprinzips, Diss., 2018. 81
Tariflicher Grundfreibetrag: Die vom Gesetz als Grundfreibetrag bezeichnete Nullzone des § 32a I 2 Nr. 1 EStG soll den existenznotwendigen Grundbedarf des Stpfl., im Falle des Ehegattensplittings auch den des Ehegatten (s. Rz. 848 ff.) steuerfrei stellen. Bis 1995 war der Grundfreibetrag mit 2 871 Euro (Eheleute: 5 742 Euro) eklatant zu niedrig angesetzt. Das BVerfG verpflichtete den Steuergesetzgeber, dem Einkommensbezieher von seinen Erwerbsbezügen den sozialhilferechtlich bestimmten existenznotwendigen Lebensbedarf zu belassen152. Mittlerweile passt der Gesetzgeber den Grundfreibetrag auf der Grundlage des Existenzminimumsberichts153 regelmäßig, allerdings nicht automatisch, an die Geldentwertung an.
82
Problematisch bleibt die bundeseinheitliche Typisierung. Der grds. zulässige bundeseinheitliche Grundfreibetrag muss so hoch angesetzt sein, dass „in möglichst allen Fällen“ das Existenzminimum steuerfrei belassen wird154. Bei regional sehr unterschiedlichen Kosten wie z.B. Wohnungsaufwendungen dürfe sich der Gesetzgeber nur an einem unteren Wert orientieren, wenn er zur ergänzenden Deckung des Grundbedarfs Sozialleistungen (wie z.B. Wohngeld) zur Verfügung stelle. Da derartige Sozialleistungen aber nur einem sehr begrenzten Personenkreis gewährt werden, besteht, soweit der steuerliche Grundfreibetrag nicht deutlich über dem durchschnittlichen sozialhilferechtlichen Existenzminimum liegt, die Gefahr, dass einer zu hohen Zahl von Stpfl., besonders den Einwohnern von München, Hamburg, Stuttgart u. anderen Hochpreisregionen die Steuerfreiheit des existenznotwendigen Grundbedarfs verwehrt wird155.
83
Privatabzüge: Der existenznotwendige Lebensbedarf wird in der Bemessungsgrundlage durch verschiedene Privatabzüge berücksichtigt: – Den Grundbedarf von Kindern berücksichtigt der Kinderfreibetrag (§ 32 VI EStG), der als eine sozialhilferechtlich zu bestimmende Pauschale für das Existenzminimum zu qualifizieren ist156. Die Funktion des Kinderfreibetrages wird durch seine Verknüpfung mit dem Kindergeld und dem Freibetrag für Betreuungs-/Erziehungs-/Ausbildungsbedarf gestört (dazu Rz. 91 ff.). – Der Grundbedarf Unterhaltsberechtigter, für die weder Kinderfreibetrag noch Kindergeld gewährt wird, kann durch den allgemeinen Unterhaltsabzug (§ 33a I EStG) von dem durch den Unterhalt Verpflichteten geltend gemacht werden (s. im Weiteren Rz. 89, 90).
84 – Abzüge für den regelmäßigen Mehrbedarf: Stpfl. können nach § 10 I Nr. 7 EStG ihren eigenen Ausbildungs-/Weiterbildungsmehrbedarf bis zu 6 000 Euro abziehen (s. Rz. 715). Der existenznotwendige Ausbildungsbedarf des Kindes, das am Familienleistungsausgleich teilnimmt, wird nach § 33a II EStG durch den Sonderbedarfbetrag von 924 Euro abgegolten (s. Rz. 752). Regelmäßiger Mehrbedarf entsteht auch infolge Körperbehinderung; dem tragen die Pauschbeträge für Behinderte und Pflegepersonen (§ 33b EStG) Rechnung (s. Rz. 732). Bezüglich der pauschalen Berücksichtigung des Mehrbedarfs infolge Ausbildung, Alter, Krankheit und Körperbehinderung weist das Steuerrecht Gemeinsamkeiten mit dem
152 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, BVerfGE 87, 153. 153 S. zuletzt 11. Existenzminimumbericht v. 21.11.2016 über die Höhe des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern für das Jahr 2018, BT-Drucks. 18/10220. 154 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, BVerfGE 87, 153 (172). 155 Zur Berechnung des existenznotwendigen Lebensbedarfs s. BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, BVerfGE 87, 153 (173 ff.); v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246 (259 ff.); BT-Drucks. 13/9561; 14/1926; 14/6230, 4 ff. und aktuell BT-Drucks. 18/10220 11. Existenzminimiumbericht; s. die ausführliche Kritik an der Orienterung am unteren Wert bei Modrzejewski, Existenzsicherung in Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht, Diss., 2018, 1. Kap. D.I.3b. 156 S. BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246 (259 ff.).
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3. Bemessungsgrundlage: das zu versteuernde Einkommen
Rz. 87 § 8
Sozialhilferecht auf157. Das BVerfG158 hat Beiträge zu privaten Kranken- u. Pflegeversicherungen dem einkommensteuerrechtlich zu verschonenden Existenzminimum zugeordnet, soweit die Kosten der Krankheit oder Pflege sozialhilferechtlich gewährleistet sind; zur Berücksichtigung durch Sonderausgabenabzug s. Rz. 711. – Außergewöhnliche Belastungen (§ 33 EStG) sind bei der Angleichung privater Abzüge vergleichbar mit der Sozialhilfe in besonderen Lebenslagen159. Dementsprechend deckt § 33 EStG im System der privaten Abzüge (s. Rz. 700 ff.) den existenznotwendigen Lebensbedarf ab, der infolge außergewöhnlicher Umstände über dem regelmäßig gegebenen Lebensbedarf liegt (s. Rz. 717 ff.).
85
Kritik: Die Steuerfreiheit des Existenzminimums verlangt nach klaren Regeln. Das derzeitige Kon- 86 glomerat von tariflichem Grundfreibetrag und Abzügen in der Bemessungsgrundlage wird diesem Anspruch nicht gerecht. Es birgt einerseits die Gefahr unzureichender Berücksichtigung, andererseits kommt es infolge der fehlenden Wechselbezüglichkeit von Privatabzügen und Privatbezügen zu ungleich wirkenden Begünstigungseffekten und Gestaltungsmöglichkeiten: Säuglinge, denen die Eltern eigene Einkünfte verschaffen, haben nicht nur das Erwachsenen-Existenzminimum; für sie wird den Eltern zusätzlich das Kinderexistenzminimum gewährt. In der ökonomischen Literatur ist debattiert worden, ob das Existenzminimum im Tarif oder in der 87 Bemessungsgrundlage zu regeln ist160. Richtigerweise handelt es sich um eine Frage der Bemessungsgrundlage, weshalb mit Ausnahme des Grundfreibetrags alle subjektiven Abzüge für existenznotwendigen Bedarf in der Bemessungsgrundlage geregelt sind. Auch der heute in der Tarifnorm des § 32a angesiedelte Grundfreibetrag (ein Begriff der Bemessungsgrundlage!) gehört hierhin161. Die Auffassung von P. Kirchhof, dass der „existenzsichernde Aufwand logisch und systematisch dem erwerbssichernden Aufwand“ vorgehe162, ist nicht tatbestandstechnisch zu verstehen. Vielmehr weist P. Kirchhof dem subjektiven Nettoprinzip eine höhere verfassungsrechtliche Wertigkeit zu als dem objektiven Nettoprinzip. Kurzum: Das bestehende Konglomerat der privaten Abzüge verlangt nach einer Fundamental-Reform, die das Recht ordnet und zugleich durchgreifend vereinfacht163. 3.1.3 Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen Literatur: Tipke, Unterhalt u. sachgerechte Einkommensteuerbemessungsgrundlage, ZRP 1983, 25; Vogel, Zwangsläufige Aufwendungen – besonders Unterhaltsaufwendungen – müssen realitätsgerecht abziehbar sein, StuW 1984, 197; Arndt/Schumacher, Unterhaltslast und Einkommensteuerrecht, Widersprüchliche Rspr. der Senate des BVerfG?, NJW 1994, 961; J. Lang, Reform der Familienbesteuerung, in FS Klein, 1994, 437; J. Lang, Welche Maßnahmen empfehlen sich, um die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie zu verbessern?, Steuerrechtliches Referat, Verhandlungen des 60. DJT, Bd. II/1, 1994, O 61; Pechstein, Familiengerechtigkeit als Gestaltungsgebot für die staatliche Ordnung, Zur Abgrenzung von Eingriff und Leistung bei Maßnahmen des sog. Familienlastenausgleichs, Habil., 1994; Wosnitza, Die Besteuerung von Ehegatten und Familien – Zur ökonomischen Rechtfertigung eines Realsplittings, StuW 1996, 123; Klein, Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht, DStZ 1997, 105; Dziadkowski, Zur Berücksichtigung des Familienstandes bei der ESt 50 Jahre nach Verkündung des GG, DStZ 1999, 273; Bosshard, Familienbesteuerung im Um157 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 205 f., 549 ff.; Lehner Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993, 169 ff., 271 ff. 158 BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (156 ff.). 159 Dazu ausf. rechtsvergleichend Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993, 198 ff. 160 Vgl. hierzu Esser, DStZ 1994, 517; Hackmann, BB-Beilage 19/1994; Bareis, DStR 2010, 565 ff.; dagegen entspricht die Sicht der Finanzwissenschaft eher der steuerjuristischen, s. Richter, FS Schneider, 1995, 455 (457 f.); A. Prinz, FR 2010, 105 (106 mit Fn. 14). 161 Schlick, Wirtschaftsdienst 2013, 841. 162 So P. Kirchhof, Gutachten F zum 57. DJT, 1988, 52. S. auch P. Kirchhof, Stbg. 1993, 509. 163 Vgl. dazu die Regelung von Privatausgaben und Privateinnahmen in den §§ 35, 36 Kölner EStGE. Ein derartiges konsistentes Regelungssystem erscheint für die Konkretisierung des subjektiven Leistungsfähigkeitsprinzips erforderlich, um Streitigkeiten vor dem BVerfG zu vermeiden.
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§ 8 Rz. 88
Einkommensteuer
bruch, ASA 2001, 757; Kanzler, Die Zukunft der Familienbesteuerung – Familienbesteuerung der Zukunft, FR 2001, 921; Kulmsee, Die Berücksichtigung von Kindern im Einkommensteuergesetz, Diss., 2002; Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, 2003, 221 ff.; Tipke, StRO II2, 2003, 806 ff.; Pfab, Familiengerechte Besteuerung – Ein Plädoyer für ein Familiensplitting, ZRP 2006, 212; Jachmann, Reformbedarf bei der Familienbesteuerung?, BB 2008, 591; Jachmann, Berücksichtigung von Kindern im Focus der Gesetzgebung, FR 2010, 123; Sacksofsky, Familienbesteuerung in der steuerpolitischen Diskussion, FR 2010, 119; Leisner-Egensperger, § 175: Besteuerung von Ehe und Familie, in Leitgedanken des Rechts II, 2013; Haupt/Becker, Verfassungskonforme Besteuerung von Eltern - Realität oder Trugbild?, DStR 2015, 1529; Kube, Stand und Perspektiven der Ehegatten- und Familienbesteuerung, StuW 2016, 332; Prenzyna, Familiäre Verantwortung versus Gemeinwohlverantwortung beim Kindes- und Elternunterhalt, Diss. 2017; Modrzejewski, Existenzsicherung in Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht. Eine Neuausrichtung des subjektiven Nettoprinzips, Diss., 2018. 88
Im geltenden Einkommensteuerrecht sind Unterhaltsleistungen folgenden Regeln unterworfen: § 12 Nr. 2 EStG scheidet zunächst Unterhaltsaufwendungen systemgerecht aus dem Einkommensteuerobjekt „Summe der Einkünfte“, der Maßgröße objektiver Leistungsfähigkeit (s. Rz. 54) aus. § 12 Nr. 2 EStG konkretisiert und erweitert den Rechtssatz des § 12 Nr. 1 Satz 1 EStG, dass Aufwendungen für den Unterhalt der Familienangehörigen nicht als Erwerbsaufwendungen abzugsfähig sind (dazu Rz. 241).
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Abzugsregeln in der Maßgröße subjektiver Leistungsfähigkeit auf den Stufen des § 2 IV, V EStG (s. Rz. 70 ff.): (1) Allgemeiner Unterhaltsabzug: Nach § 33a I 1 EStG werden Aufwendungen auf Grund einer gesetzlichen Unterhaltspflicht des Stpfl. oder seines Ehegatten auf Antrag bis zu 9 000 Euro164 im Kalenderjahr vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen. Dieser Betrag wird nach § 33a I 5 EStG durch eigene Einkünfte oder Bezüge der unterhaltenen Person (Bezüge aus öffentlichen Mitteln u.a. Bezüge ab 624 Euro) gemindert (s. Rz. 736).
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Der allgemeine Unterhaltsabzug dient dem Zweck, den existenznotwendigen Grundbedarf abzudecken. Daher greift er grds. nicht Platz, soweit das EStG den Grundbedarf der unterhaltenen Person an anderer Stelle berücksichtigt. So darf für die unterhaltene Person weder Anspruch auf Kindergeld noch auf den Kinderfreibetrag bestehen (§ 33a I 4 EStG). Ferner konsumieren Ehegattensplitting (§ 32a V EStG)165 und Realsplitting für geschiedene oder dauernd getrennt lebende Ehegatten (§§ 10 Ia Nr. 1; 22 Nr. 1a i.V.m. § 33 II 2 EStG) den allgemeinen Unterhaltsabzug (s. Rz. 740). Nicht zu rechtfertigen ist die Voraussetzung, dass die unterhaltene Person kein oder nur ein geringes Vermögen besitzt (§ 33a I 4 EStG), und die Verkürzung des Höchstbetrages bei eigenen Bezügen des Kindes (§ 33a I 5 EStG). Es verletzt den Grundsatz der Individualbesteuerung (s. Rz. 22), wenn die Höhe des Unterhaltsabzuges nicht ausschließlich nach der Belastung des Stpfl., sondern auch nach der Leistungsfähigkeit der unterhaltenen Person bemessen wird, wobei die Vermögensleistungsfähigkeit überhaupt aus dem System der Einkommensbesteuerung herausfällt. Bezüge und Vermögen der unterhaltenen Person sind relevant für das Bestehen des gesetzlichen Unterhaltsanspruchs; allein diese Voraussetzung in § 33a I 1 EStG mindert die steuerliche Leistungsfähigkeit des Verpflichteten, nicht die wirtschaftliche Situation des Berechtigten.
91
(2) Der Unterhalt für Kinder166 wird primär durch die Abgeltung des existenznotwendigen Grundbedarfs im vom Gesetz sog. Familienleistungsausgleich167 (§ 31 EStG) berücksichtigt; daneben enthält 164 Der Unterhaltshöchstbetrag ist realitätsgerecht am sozialhilferechtlichen Mindestbedarf zu orientieren (so BVerfG v. 13.12.1996 – 1 BvR 1474/88, FR 1997, 156 m. Anm. Kanzler). 165 BFH v. 28.11.1988 – GrS 1/87, BStBl. II 1989, 164; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 565. 166 Dazu insb. Söhn, FS Klein, 1994, 421; Vogel, FS Offerhaus, 1999, 47; Birk, FS Kruse, 2001, 339; Kulmsee, Die Berücksichtigung von Kindern im EStG, Diss., 2002; Jachmann, FR 2010, 123. 167 Dazu Pechstein, Familiengerechtigkeit als Gestaltungsgebot für die staatliche Ordnung, Habil., 1994; Heuermann, FR 2000, 248; Heuermann, DStR 2000, 1546; Lange, ZRP 2000, 415; Renner, Familienlasten- oder Familienleistungsausgleich?, Diss., 2000; Goebbels, Die familiengerechte Besteuerung, dargestellt am Beispiel des einkommensteuerlichen Familienleistungsausgleichs, Diss., 2001; Kanzler,
346
Hey
3. Bemessungsgrundlage: das zu versteuernde Einkommen
Rz. 93 § 8
der Einkommensteuertatbestand ein Konglomerat sog. kindbedingter Erleichterungen in den §§ 10 I Nr. 5 (Kinderbetreuungskosten, s. Rz. 713), 10 I Nr. 9 (Schulgeld, s. Rz. 716), 24b (Entlastungsbetrag für Alleinerziehende, s. Rz. 751), 33 III (geringere Verkürzung der zumutbaren Belastung), 33a II (Ausbildungsfreibetrag, s. Rz. 752), 33b V (Behinderung, s. Rz. 753), 51a II, IIa EStG (Bemessungsgrundlage für Zuschlagsteuern) sowie die Kinderzulage im Rahmen der Förderung der Altersvorsorge (§ 85 EStG). Kinderfreibetrag und Kindergeld sind seit 1983 in einem dualen System miteinander verknüpft. Das 92 BVerfG billigte grds. das Konzept des dualen Systems und stellte dazu fest, dass das Kindergeld in diesem System sowohl „steuerliche Entlastungsfunktion“ als auch die Funktion einer „allgemeinen Sozialleistung“ habe168. Infolgedessen gestattete es die Umrechnung des Kindergeldes in einen fiktiven Kinderfreibetrag169. Diesen Ansatz baute der Gesetzgeber im JStG 1996 zu dem Familienleistungsausgleich in § 31 EStG aus, wonach zunächst monatlich Kindergeld bezahlt wird (§ 31 Satz 3 EStG). Dieses Kindergeld ist als Steuervergütung (s. § 6 Rz. 88) zu behandeln, soweit die Steuerbelastung des für das Existenzminimum des Kindes benötigten Einkommens zurückgenommen wird. Ergibt sich nach Abzug der fiktiven Freibeträge ein zu versteuerndes Einkommen unterhalb des Eingangssatzes des Tarifs, ist der Stpfl. wirtschaftlich nicht mit Einkommensteuer belastet, das Existenzminimum des Stpfl. und seiner Kinder also von der Besteuerung ausgenommen170. Soweit die Jahressumme des Kindergeldes die Steuerbelastung des existenznotwendigen Einkommens überschreitet, hat das Kindergeld die Funktion einer Subvention. Reicht die Jahressumme des Kindergeldes für die Rückgewähr der verfassungswidrigen Steuerbelastung nicht aus, was bei den hohen Einkommen der Fall ist, so greifen die Freibeträge nach § 32 VI EStG Platz: Kinderfreibetrag und zusätzlich der Freibetrag für Betreuungs-/Erziehungs-/Ausbildungsbedarf. BVerfG v. 10.11.1998171 quantifiziert den Kinderfreibetrag genau172 und qualifiziert zugleich den Be- 93 treuungsbedarf der Eltern als notwendigen Bestandteil des familiären Existenzminimums, „ohne dass danach unterschieden werden dürfte, in welcher Weise dieser Bedarf gedeckt wird“ (2. LS). Die Leistungsfähigkeit von Eltern werde über den „existentiellen Sachbedarf“ (Kinderfreibetrag) und den „erwerbsbedingten Betreuungsbedarf“ (Erwerbsaufwendungen) hinaus durch einen (nicht monetären) Betreuungsbedarf gemindert. Das EStG habe „den Betreuungsbedarf eines Kindes stets zu verschonen, mögen die Eltern das Kind persönlich betreuen, mögen sie eine zeitweilige Fremdbetreuung des Kindes, z.B. im Kindergarten, pädagogisch für richtig halten oder mögen sich beide Eltern für eine Erwerbstätigkeit entscheiden und deshalb eine Fremdbetreuung in Anspruch nehmen“ (BVerfGE 99, 234). Diese Judikatur hat das Gesetz zur Familienförderung v. 22.12.1999173 umgesetzt und dem Kinderfreibetrag einen Betreuungsfreibetrag hinzugefügt, den der Gesetzgeber174 ab 2002 um eine Er-
168 169 170 171
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173 174
DStJG 24 (2001), 417 (444 ff.); Tünnemann, Der verfassungsrechtliche Schutz der Familie und die Förderung der Kindererziehung im Rahmen des staatlichen Kinderleistungsausgleichs, Diss., 2002. Weitere Lit. vor Rz. 743. BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60 (78 ff.). BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60 (92 ff.). BFH v. 19.5.2004 – III R 55/03, BStBl. II 2006, 291. BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvR 1057/91, BVerfGE 99, 216 (Betreuungsbedarf); v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246 (Grundsatzbeschluss zum Kinderfreibetrag); v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 268 (Kinderexistenzminimum 1985); v. 10.11.1998 – 2 BvR 1852/97, BVerfGE 99, 273 (Kinderexistenzminimum 1987 u. 1988). Nach BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246 (259 ff.) darf das „sozialrechtlich definierte Existenzminimum“ über-, jedoch nicht unterschritten werden (LS Buchstabe a). LS Buchstabe c: „Der Wohnbedarf ist nicht nach der Pro-Kopf-Methode, sondern nach dem Mehrbedarf zu ermitteln“. Dazu Dziadkowski, BB 1999, 1409; Horlemann, DStR 1999, 397, und zu § 53 EStG: Kanzler, FR 2000, 581; Roos, DStZ 2000, 205. BGBl. I 1999, 2552. Dazu grds. Schön, Die Kinderbetreuung, das BVerfG u. der Entwurf eines Gesetzes zur Familienförderung, DStR 1999, 1677; Seer/Wendt, Die Familienbesteuerung nach dem sog. „Gesetz zur Familienförderung“ v. 22.12.1999, NJW 2000, 1904. Zweites Gesetz zur Familienförderung v. 16.8.2001, BGBl. I 2001, 2074.
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§ 8 Rz. 94
Einkommensteuer
ziehungskomponente ergänzte: § 32 VI EStG gewährt einen Kinderfreibetrag für das „sächliche Existenzminimum“ von 4 788 Euro und einen Freibetrag „für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf“ von 2 640 Euro, zusammen also 7 428 Euro. 94
Kritik175: Mit diesem Betrag rückt der Kindergrundbedarf in die Nähe des Existenzminimums für Erwachsene (Grundfreibetrag: 9 000 Euro). Mangels Korrespondenz zwischen Kinderfreibetrag der Eltern und eigenem Grundfreibetrag des Kindes kommt es bei Kindern mit eigenen Einkünften sogar zur Steuerfreiheit i.H.v. 16 428 Euro (s. Rz. 86). Gegen den Ansatz des Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarfs ist zunächst einzuwenden, dass die Steuerfreistellung von Einkommensteilen nur den monetären Bedarf erfassen darf176. Die Anerkennung nicht monetärer Betreuungs- und Erziehungsleistungen liegt außerhalb des Einkommensteuertatbestandes und führt zu einem vollkommen neuartigen Leistungsfähigkeitsbegriff177, der gleichheitsrechtlich nicht nur auf Kinderbetreuung, sondern auch auf andere Betreuungsarten, z.B. pflegebedürftiger alter Familienangehöriger, erstreckt werden müsste. Das BVerfG versteht sich als Hüter der Neutralität des Staates gegenüber unterschiedlichen Familienformen. Neutralität ist aber nur dann gewährleistet, wenn das Steuerrecht Unterschieden der steuerlichen Leistungsfähigkeit Rechnung trägt. Behandelt es unterschiedliche wirtschaftliche Sachverhalte gleich, ist es gerade nicht neutral, sondern wirkt verzerrend auf bestimmte Familienentwürfe178. Mit der Berücksichtigung außersteuertatbestandlicher Betreuungs- und Erziehungskomponenten wird das Kindhaben in bestimmten Familienmodellen subventioniert und damit die Gemengelage von Fiskalzweck- und Sozialzwecknormen im Familienleistungsausgleich vertieft. Stattdessen müssen Kinderbetreuungskosten in angemessenem realitätsgerechtem Umfang dann abzugsfähig sein, wenn sie eine Erwerbstätigkeit ermöglichen179. Die unbefriedigende Lösung des § 10 I Nr. 5 EStG (dazu Rz. 713) ist auch auf das ungeklärte Zusammenspiel mit der Betreuungskomponente des § 32 VI EStG zurückzuführen.
175 Zur verfehlten Umrechnung des Kindergeldes in einen fiktiven Kinderfreibetrag insb. Pezzer, StuW 1989, 222/223; J. Lang, StuW 1990, 340; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993, 266 ff.; Söhn, FS Klein, 1994, 421 (434); Vogel, FS Offerhaus, 1999, 47 (57 f.). Zur Neuregelung des Familienleistungsausgleichs durch §§ 31; 32; 62 ff. EStG insb. Wendt, FS Tipke, 1995, 47 (60 ff.); Lieber, DStZ 1997, 207; Schön, DStR 1999, 1677; Seer/Wendt, NJW 2000, 1904; Kanzler, DStJG 24 (2001), 417 (447 ff.). 176 Gegen die einkommensteuerrechtliche Berücksichtigung des nicht monetären Aufwands wendet sich geradezu einhellig das juristische Schrifttum, so insb. Schön, DStR 1999, 1677 (1680); Seer/Wendt, NJW 2000, 1904 (1907); Tipke, StRO I2, 2000, 396; Lange, ZRP 2000, 415 (417 f.); Sacksofsky, NJW 2000, 1896 (1899, 1902); Birk/Wernsmann, JZ 2001, 218 (221 f.); Kanzler, DStJG 24 (2001), 417 (453 f.). Demgegenüber rechtfertigt P. Kirchhof, NJW 2000, 2792 (2795) den Betreuungsfreibetrag mit dem Einkommensverzicht des betreuenden Elternteils. 177 Dazu ausf. Birk/Wernsmann, JZ 2001, 218 (221): Nur finanzieller Aufwand könne die verfassungsrechtlich maßgebliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mindern (mit Hinweis auf BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvR 620/78, BVerfGE 61, 319 [344]). Demgegenüber orientiert Jachmann, Steuerrechtfertigung aus der Gemeinwohlverantwortung, DStZ 2001, 225; KSM/Jachmann, § 32 EStG Rz. A 81a (2004), das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht nur an der Zahlungsfähigkeit, sondern zudem an der Gemeinwohlverantwortung des Bürgers. Folgerichtig möchte KSM/Jachmann auch die nicht monetären Betreuungsleistungen steuerlich berücksichtigt wissen, weil Eltern ihrer Gemeinwohlverantwortung bereits mit der Kinderbetreuung nachkommen würden. Derjenige, der wegen Kinderbetreuung sein Erwerbspotenzial nicht ausnutze (wohl im Anschluss an P. Kirchhof, NJW 2000, 2792) könne „nicht demjenigen gleichgestellt werden, der Freizeitgestaltung der wirtschaftlichen Ertragserzielung vorzieht, deshalb weniger zahlungsfähig ist und vom Staat nicht zur Besteuerung herangezogen werden kann“. Diese Argumentation läuft letztlich auf eine Besteuerung des Freizeitnutzens hinaus, die nicht nur dem Verständnis des Leistungsfähigkeitsprinzips als Zahlungsfähigkeitsprinzip entgegensteht, sondern auch den Boden einer Besteuerung von Einkommen verlässt. 178 Englisch, DStJG 37 (2014), 159 (192 ff.). 179 Ebenso Jachmann, FR 2010, 123 (126); aus ökonomischer Sicht Bünnagel, Wirtschaftsdienst 2013, 846; a.A. BFH v. 23.4.2009 – VI R 60/06, BStBl. II 2010, 267.
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3. Bemessungsgrundlage: das zu versteuernde Einkommen
Rz. 96 § 8
Diese Vermengung von Steuer- und Sozialrecht180 bewirkt ganz erhebliche verfassungsrechtliche, 95 rechtssystematische und auch sozialpolitische Mängel181: Das Verfassungsrecht gebietet, dass indisponibles Einkommen a priori von verfassungswidriger Belastung verschont wird182. Das Kindergeld ist eigentlich keine Steuervergütung; es erstattet vielmehr eine verfassungswidrig zu Unrecht erhobene Steuer. Soweit das Kindergeld die verfassungswidrige Belastung nicht ausgleicht, begründet die Regelung des § 31 EStG einen temporär verfassungswidrigen Zustand. Soweit jedoch die steuerliche Freistellung des Kindbedarfs die sozialhilferechtliche Marke überschreitet, schlägt der Familienleistungsausgleich in eine nicht zu rechtfertigende Begünstigung der höheren Einkommen um. Auf den Prüfstand gestellt ist das gesamte System durch den Normenkontrollantrag des Nds. FG vom 2.12.2016183, in dem zum einen die Unterschreitung der im Existenzminimumbericht für 2014 angesetzten Beträge durch den Freibetrag für das sächliche Existenzminimum, zum anderen eine systematische Untererfassung des Bedarfs volljähriger Kinder gerügt wird. Die Typisierungskompetenz des Steuergesetzgebers erlaubt zwar die Festlegung eines einheitlichen Kinderfreibetrags, setzt aber für dessen Ermittlung ein folgerichtiges Verfahren voraus. Zu Recht schließt das FG eine Verrechnung eines verfassungswidrig zu niedrigen sächlichen Existenzminimums mit Betreuungs-, Erziehungs- oder Ausbildungsfreibetrag aus184. Die m.E. verfassungswidrigen Benachteiligungs- und Begünstigungswirkungen lassen sich nur besei- 96 tigen, wenn Steuerrecht und Sozialrecht normativ getrennt werden: Das Existenzminimum des Kindes ist durch einen sozialhilferechtlich bestimmten Kinderfreibetrag steuerfrei zu stellen. Erwerbsbedingter Betreuungsbedarf begründet den Steuerabzug von Erwerbsaufwendungen (s. Rz. 754). I.Ü. ist eine Subventionierung des Kindhabens im Steuerrecht fehlplatziert: Das Kindergeld sollte wieder als eine am Bedürfnisprinzip orientierte Sozialsubvention ausgestaltet werden, die Eltern mit niedrigen Einkommen zusätzlich zum Kinderfreibetrag gewährt wird. Das Kindergeldrecht gehört nicht in das EStG, sondern in das Bundeskindergeldgesetz!185 Die nicht monetäre Kinderbetreuung/-erziehung kann nach dem Verdienstprinzip (s. § 3 Rz. 135 f.) einkommensunabhängig durch ein angemessenes Erziehungsgeld subventioniert werden, wenn dies politisch gewollt ist. 180 Der Familienpolitik gilt der Kinderfreibetrag als frei disponible Variante in einem sog. Fördersystem des sog. Familienlastenausgleichs, vgl. pars pro toto Albers, Familienlastenausgleich in der BRD, FinArch. 49 (1991/92), 407; Willeke/Onken, Allgemeiner Familienlastenausgleich in der BRD, Eine empirische Analyse zu drei Jahrzehnten monetärer Familienpolitik, 1990; Willeke/Onken, Familienlastenausgleich mit variablem Kindergeld, StuW 1991, 3; Willeke, Profile des Familienlastenausgleichs, in Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 1993, 193; P. Kirchhof u.a., Karlsruher Entwurf zur Reform des EStG, 2001, empfiehlt die vollständige Streichung des Kinderfreibetrags zugunsten eines „angemessenen Kindergeldes“. 181 Dazu insb. Lieber, DStZ 1997, 207; Schön, DStR 1999, 1677; Seer/Wendt, NJW 2000, 1904; Kanzler, DStJG 24 (2001), 417; Prenzyna, Familiäre Verantwortung versus Gemeinwohlvernatwortung beim Kindes- und Elternunterhalt, Diss. 2017, ins. 85 ff. 2006 hat der Deutsche Juristentag beschlossen: „Die Regelung sozialstaatlicher Leistungen im Einkommensteuerrecht missachtet den grundlegenden Unterschied zwischen einem vom Leistungsfähigkeitsprinzip geprägten Steuerrecht und dem vom Bedürfnisprinzip geprägten Sozialrecht, widerspricht dem verfassungsrechtlichen Gebot der Normenklarheit und überfordert auf Dauer den Sozialstaat“ (Sitzungsbericht Q, 2006, 167). 182 Wendt, FS Tipke, 1995, 47 (62); Lieber, DStZ 1997, 207; Kanzler, DStJG 24 (2001), 417 (448 f. m.w.N. in Fn. 198); KSM/Jachmann, § 31 EStG Rz. A 49, A 55a (2004): Der Staat gäbe als Sozialleistung, was er via Steuer zu Unrecht genommen habe; HHR/Kanzler, § 31 EStG Anm. 10 (2014). 183 S. Vorlagebeschluss Niedersächsisches FG v. 2.12.2016 – 7 K 83/16, EFG 2017, 668 (Az. BVerfG 2 BvL 3/17) sowohl wegen der Unterschreitung der Beträge des Existenzminimumberichts für Kinder von 6 bis 14 als auch von 14 bis 18 sowie für volljährige Kinder. 184 Niedersächsisches FG v. 2.12.2016 – 7 K 83/16, EFG 2017, 668 (676); ebenso, allerdings mit anderer Begründung Modrzejewski, Existenzsicherung in Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht, Diss., 2018, 2. Kap., A.II.2. 185 Zur (auch verfahrensrechtlichen) Unvereinbarkeit von Steuer- und Kindergeldrecht Kanzler, DStJG 24 (2001), 417 (449). Vgl. auch Heuermann, FR 2000, 248 ff.
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§ 8 Rz. 97 97
Einkommensteuer
(3) Der Ehegattenunterhalt wird bei intakter Ehe von Personen, die nach Maßgabe der §§ 1 I, II; 1a EStG (s. Rz. 25 f., 29 ff.) unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind (s. § 26 EStG), durch ein tarifliches Splitting berücksichtigt: Nach § 32a V EStG beträgt die tarifliche Einkommensteuer das Zweifache des Steuerbetrages, der sich für die Hälfte des von den Ehegatten gemeinsam zu versteuernden Einkommens (§ 26b EStG) ergibt. Nach der Rspr. des BVerfG186 berücksichtigt das Ehegattensplitting die Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft der intakten Durchschnittsehe und ist insofern keine Steuervergünstigung (s. § 3 Rz. 163). Es bildet vielmehr die Verteilung des Einkommens in der intakten Durchschnittsehe ab. Eine derartige Regelung gehört nicht in den Tarif, sondern in die Bemessungsgrundlage. Diese zulässige verfassungsrechtliche Wertung legt den Gesetzgeber freilich nicht auf das Ehegattensplitting fest; er könnte es abschaffen oder beschränken (s. Rz. 164).
98 Für den Unterhalt geschiedener oder dauernd getrennt lebender und unbeschränkt einkommen-
steuerpflichtiger Ehegatten sehen §§ 10 Ia Nr. 1; 22 Nr. 1a EStG187 ein begrenztes Realsplitting vor: Der Geber kann jährlich Unterhaltsleistungen bis zu 13 805 Euro als Sonderausgaben abziehen, wenn der Empfänger zustimmt. Der Empfänger hat die Unterhaltsleistungen zu versteuern, soweit sie nach § 10 Ia Nr. 1 EStG vom Geber abgezogen werden können (§ 22 Nr. 1a EStG). Grenzüberschreitende Unterhaltszahlungen an beschränkt Stpfl. können nicht abgezogen werden188, müssen allerdings auch nach § 22 Nr. 1 EStG nicht versteuert werden, wenn der Geber im Ausland wohnt. § 22 Nr. 1a EStG ist lex specialis gegenüber § 22 Nr. 1 EStG und setzt den Steuerabzug der Unterhaltsleistungen voraus189. Der Gesetzgeber wollte mit diesem Realsplitting den Wegfall des Ehegattensplittings nach dem Scheitern der Ehe abfedern190. Durch das Realsplitting wird der Transfer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit durch zwangsläufige Unterhaltsleistungen (s. Rz. 75) zulässigerweise berücksichtigt. Die Geschiedenen und Getrenntlebenden werden jedoch insofern privilegiert, als die Regelung des Realsplittings für alle Unterhaltsgemeinschaften gelten müsste. Andererseits ist gegen § 10 Ia Nr. 1 EStG einzuwenden, dass eine Begrenzung auf 13 805 Euro nicht gerechtfertigt ist, wenn ein Rechtstitel über einen höheren Betrag vorliegt. Umgekehrt fehlt die Tatbestandsvoraussetzung der Zwangsläufigkeit: Ein Realsplitting in Höhe von 13 805 Euro ist nicht zu rechtfertigen, wenn die Verpflichtung den Betrag von 13 805 Euro unterschreitet. Gänzlich verfehlt ist es, den Abzug als Sonderausgaben von der Zustimmung des Empfängers abhängig zu machen (ebensogut könnte man den Abzug als Betriebsausgaben von der Zustimmung des Geschäftspartners abhängig machen). 99
(4) Der Tatbestand der wiederkehrenden Bezüge (§ 22 Nr. 1 EStG) erfasst auch Unterhaltsbezüge. § 22 Nr. 1 Satz 2 EStG schließt die Besteuerung beim Empfänger jedoch mit der wenig glücklichen Formulierung „sind dem Empfänger nicht zuzurechnen“ grds. aus, es sei denn, es handelt sich um Leistungen steuerbefreiter Körperschaften außerhalb ihrer steuerbegünstigten Zwecke. Der Verzicht auf die Erfassung beim Empfänger lässt sich mit dem fehlenden Unterhaltsabzug beim Geber (§ 12 Nr. 2 EStG) zur Vermeidung von Doppelbesteuerung rechtfertigen191. Dabei werden Doppelentlastungen in Kauf genommen, weil die Unterhaltsbezüge mangels ausdrücklicher Verknüpfung mit der steuerlichen Behandlung beim Geber dem Empfänger auch dann nicht „zugerechnet“ werden, wenn sie als Sonderausgaben oder außergewöhnliche Belastung abzugsfähig waren. Mangels eines allgemeinen Tatbestandes der „Privatbezüge“ scheidet in diesem Fall eine anderweitige Erfassung aus.
186 BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvR 620/78, BVerfGE 61, 319 (345 f.). 187 Ausf. Stiller, DStZ 2011, 154, zu Wirkungen und Optimierungspotential. Höchstbetrag verfassungsrechtlich unbedenklich auch bei deutlich höherer zivilrechtlicher Unterhaltsverpflichtung BFH v. 26.10.2011 – X B 4/11, BFH/NV 2012, 214. 188 Art. 18 I; 21 I AEUV sind nicht verletzt, wenn Unterhaltsleistungen an einen im EU-Ausland wohnenden geschiedenen Ehegatten nicht abzugsfähig und dort nicht zu versteuern sind. So EuGH v. 12.7.2005 – C-403/03, ECLI:EU:C:2005:446 Rz. 39, 47 – Schempp; dazu Kofler, ÖStZ 2005, 538; M. Lang, SWI 2005, 411; Panayi, ET 2005, 482. 189 BFH v. 31.3.2004 – X R 18/03, BStBl. II 2004, 1047. 190 BT-Drucks. 8/2100, 60. Dazu Uelner, StbKongrRep. 1979, 99 (115 ff.). 191 KSM/Fischer, § 22 EStG Rz. B 351 ff. (1995); HHR/Killat, § 22 EStG Anm. 225 ff. (2012).
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3. Bemessungsgrundlage: das zu versteuernde Einkommen
Rz. 103 § 8
3.2 Reform der Familienbesteuerung Nach Tipke192 ist die Regelung des „Unterhalts-Steuerrechts“ konzeptionslos, unsystematisch-in- 100 konsequent, verworren und unübersichtlich. In der Tat ist das Bedürfnis nach einer Strukturreform der Familienbesteuerung unabweisbar. Die Vielfalt der Diskriminierungen, auch Privilegierungen bestimmter Gruppen von Stpfl. in dem verworrenen Konglomerat von Unterhaltsabzügen und Splitting-Regelungen ist nur durch eine Reform zu beseitigen, die von dem überholten, mit dem verfassungsrechtlichen Wertsystem (vgl. Rz. 74) unvereinbaren Konzept Abschied nimmt, nur das Markteinkommen oder gar nur Erwerbsbezüge würden abschließend die steuerliche Leistungsfähigkeit messen (s. Rz. 78). Als Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit ist nur eine bedarfsorientierte Maßgröße des für die Steuerzahlung wirklich verfügbaren Einkommens tauglich; es gilt nichts anderes als im Sozialrecht, wo wirtschaftliche Bedürftigkeit zu messen ist (s. § 1 Rz. 41), und es gilt die Werteinheit der Rechtsordnung193 (s. § 1 Rz. 45). Die Reform hat zweierlei zu leisten: – Zunächst muss zur Bemessung der individuellen Leistungsfähigkeit sowohl der Verpflichteten als 101 auch der Berechtigten der Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit durch zwangsläufige Unterhaltsleistungen in der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer abgebildet werden. Im verfassungsrechtlichen Sinne ist Zwangsläufigkeit dabei auf den existenznotwendigen Unterhalt zu begrenzen. Sachgerechte Regelung für die individuelle Leistungsfähigkeit ist das Realsplitting194, das zu einem Familien-Realsplitting ausgebaut werden müsste195 – Sodann ist bei jedem Individuum der existenznotwendige Lebensbedarf durch private Abzüge 102 nach den Maßstäben des Sozialhilferechts zu berücksichtigen; dabei sind die rohe, alle Stpfl. über einen Leisten spannende tarifliche Nullzone (sog. Grundfreibetrag, § 32a I 2 Nr. 1 EStG) sowie die Vorschriften des Familienleistungsausgleichs (§§ 31 ff.; 62 ff. EStG) und der außergewöhnlichen Belastung (§§ 33 ff. EStG) durch ein mit dem Sozialhilferecht kompatibles System von Lebensbedarfabzügen zu ersetzen. Verfassungsrechtlich zwingend ist die Berücksichtigung des Familienexistenzminimums. Inwieweit 103 darüber hinausgehende Unterhaltsleistungen zum Abzug zugelassen werden, hängt maßgeblich davon ab, welches Verständnis von subjektiver Leistungsfähigkeit und indisponiblem Einkommen zugrundegelegt wird (s. Rz. 75). Ein weitergehendes Familien-Realsplitting wäre aber ebenso mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Familienbesteuerung vereinbar: Es bildet den Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit durch zwangsläufige Unterhaltsleistungen realitätsgerecht ab und bettet das Ehegattensplitting 192 Tipke, StRO II2, 809. 193 BVerfG v. 7.1.2003 – 1 BvR 246/93, BVerfGE 108, 351, hat zur Bemessung des an den ehemaligen Ehegatten zu leistenden Unterhalts entschieden, dass die Gerichte die steuerlichen Vorteile aus dem Splitting für die Zweitehe nicht durch eine Unterhaltsberechnung entziehen dürften, die an das Nettoeinkommen anknüpft und damit zu einem höheren Unterhaltsanspruch des ehemaligen Ehegatten führt. Diese Korrektur der Zivilrechtsprechung zeigt, dass die unterschiedliche Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen im geltenden Steuerrecht allgemeine zivilrechtliche Maßstäbe der Unterhaltsberechnung vereitelt. Eine steuerneutrale Bruttoberechnung des Unterhalts wird erst allgemein möglich, wenn das Unterhaltsrecht im Steuerrecht ausnahmslos durch ein umfassendes Realsplitting nachvollzogen wird (s. § 37 Kölner EStGE) und dementsprechend die Leistungsfähigkeit von Verpflichtetem und Berechtigtem zutreffend bestimmt ist. Die Unterhaltsberechnung kann dann daran anknüpfen, dass Unterhaltsausgaben steuerlich stets abziehbar und Unterhaltseinnahmen stets zu versteuern sind. 194 Tipke, StRO II2, 808 zu dem in Rz. 98 f. erörterten Realsplitting der §§ 10 Ia Nr. 1; 22 Nr. 1a EStG: „Warum diese Aufnahme nicht zum allgemeinen, dem Leistungsfähigkeitsprinzip entsprechenden Unterprinzip erhoben wird, ist nicht erfindlich“. 195 S. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 650 ff.; Kölner EStGE, §§ 106 (Summe der Privatbezüge und Privatabzüge), 134 (Unterhaltsabzüge), 1003/1004 (Familiensteuerbescheide); J. Lang, Verhandlungen des 60. DJT, Bd. II/1, 1994, O 61, O 79 ff.
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§ 8 Rz. 103
Einkommensteuer
in ein für alle Unterhaltsgemeinschaften geltendes System ein196. Damit würde auch den rechtspolitischen Forderungen197 Rechnung getragen, die ein Splitting für Alleinerziehende fordern, auf das allerdings kein verfassungsrechtlicher Anspruch besteht198, Dabei geht es nicht primär nur um den Steuerabzug in voller Höhe des zivilrechtlichen Unterhaltsanspruchs199, sondern entscheidend ist die Kombination von Steuerabzug und Steuerpflicht der Unterhaltsbezüge. Die dadurch bewirkte steuerliche Verteilung von Einkommen auf die Mitglieder der Unterhaltsgemeinschaft liefert die Grundlage für eine streng am Grundsatz der Individualbesteuerung ausgerichtete Bestimmung steuerlicher Leistungsfähigkeit. Dabei können besonders die Existenzminima realitätsgerecht in Übereinstimmung mit dem Sozialhilferecht angesetzt und ein überhöhter bzw. mehrfacher Ansatz des Existenzminimums ausgeschlossen werden. Ein gesetzliches Familien-Realsplitting200 würde zudem Gestaltungen vorbeugen, die derzeit vor allem von Stpfl. mit höheren Einkommen genutzt werden und deshalb sozial ungerecht sind. Durch Übertragung von Einkunftsquellen für Familien mit Unternehmen und Vermögen lässt sich nämlich schon heute die Realsplittingwirkung herstellen. Dabei werden die Existenzminima für Kinder überhöht (Erwachsenen-Existenzminimum für Kinder mit eigenen Einkünften) und doppelt (16.428 Euro [VZ 2018] = Grundfreibetrag + Kinderfreibeträge, s. Rz. 86, 94) angesetzt. Die Einwände der Praktikabilität gegen das Familien-Realsplitting haben angesichts des dynamisch weiter wuchernden Konglomerats von Unterhalts- und Existenzminimumabzügen keine Überzeugungskraft. Eine einheitliche Regelungsstruktur für alle Unterhaltsgemeinschaften und Existenzminima mit realitätsgerechten Pauschalierungen des existenznotwendigen Lebensbedarfs und der Unterhaltsabzüge/-bezüge würde das Steuerrecht durchgreifend vereinfachen.
Seit langem genießt das Familien-Realsplitting breite Zustimmung201. Der 60. Deutsche Juristentag202 hat bereits 1994 mit überwältigender Mehrheit (106:1:12) beschlossen: „Das Ehegattensplitting ist in eine Form der Familienbesteuerung umzugestalten, welche das Familienexistenzminimum in
196 Dazu insb. Vogel, StuW 1999, 201 (208 f.) (zum Einbau der Ehegattenbesteuerung in ein Familien-Realsplitting); Seer, Das Ehegattensplitting als typisiertes Realsplitting, FS Kruse, 2001, 357 (366 ff.). S. auch § 3 Rz. 164. 197 Bundestagswahlprogramm Bündnis 90/DIE GRÜNEN 2017, 130, 212, 230. 198 BFH v. 29.9.2016 – III R 62/13, BStBl. II 2017, 259 (261), Verfassungsbeschwerde eingeleggt (Az.: 2 BvR 221/17). 199 Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung hierzu verneint BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60 (91); v. 13.10.2009 – 2 BvR 3/05, BVerfGE 124, 282 (296), ohne jedoch die Versteuerung von Unterhaltsbezügen anzusprechen! Ebenso Birk/Wernsmann, JZ 2001, 218 (220, dort Fn. 30). 200 Dies verkennt Sacksofsky, FR 2010, 119 (122). 201 Zust. insb. Pohmer, FinArch. 46 (1988), 135 (152); Martens, StVj 1989, 214; Moderegger, Der verfassungsrechtliche Familienschutz und das System des Einkommensteuerrechts, Diss., 1991, 164, 176 ff.; Vorwold, FR 1992, 789 ff.; Arndt/Schuhmacher, AöR 118 (1993), 576 ff.; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993, 166 f.; Lingemann, Das rechtliche Konzept der Familienbesteuerung, Diss., 1994, 156 ff.; Pechstein, Familiengerechtigkeit als Gestaltungsgebot für die staatliche Ordnung, Habil., 1994, 301 ff.; Schlee, Einkommensteuerliche Behandlung von Transferzahlungen, Diss., 1994, 200 ff.; Söhn, FS Klein, 1994, 421 (433 f.); Wosnitza, StuW 1996, 123 (ökonomische Rechtfertigung); Wendt, FS Tipke, 1995, 47 (67 f.), 1995; Treisch, Existenzminimum und Einkommensbesteuerung, Diss., 1999, 435 f.; Seer/Wendt, NJW 2000, 1904 (1907); Kanzler, DStJG 24 (2001), 417 (459 ff.); KSM/Jachmann, § 31 EStG Rz. A 55 (2004); Kube, StuW 2016, 332 (339 ff.). Der von Jachmann, FR 2010, 123 (124), befürchtete verfahrensrechtliche Mehraufwand wird durch die Zusammenveranlagung der Familienangehörigen (§ 51 Kölner EStGE) vermieden. Unterhaltsberechtigte mit eigenen Einkünften werden nur dann getrennt veranlagt, wenn sie getrennte Veranlagung beantragen (§ 51 III Kölner EStGE). Dabei ist die Veranlagungsart vom materiellen Recht abgekoppelt, so dass sie die Höhe der ESt nicht wie beim geltenden Ehegattensplitting (§ 32a V i.V.m. §§ 26; 26b EStG) u. beim tariflichen Familiensplitting mitbestimmt. 202 Verhandlungen, Bd. II/1, 1994, O 201. Ein Realsplitting für Unterhaltsgemeinschaften empfahlen bereits der 57. DJT, zit. in Rz. 75, und die Familienverbände in Bad Boll, StuW 1992, 195.
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4. Aufbau des zu versteuernden Einkommens
Rz. 105 § 8
Übereinstimmung mit dem Sozialhilferecht steuerfrei stellt und die familienrechtlich vorgegebene Einkommensverteilung in Ehe und Familie nachvollzieht“. Allerdings hat auch das Familiensplitting als reines Faktorverfahren ähnlich dem Ehegattensplitting, 104 nur mit anderen Divisoren für die Kinder, Befürworter203. Es ist indes aus gleichheitsrechtlichen Gründen abzulehnen204. Eltern und Kinder bilden anders als Ehegatten typischerweise gerade keine Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft. Das Familiendivisorensplitting (auch „Familientarifsplitting“) ist damit auch als Typisierung ungeeignet, den wirtschaftlichen Sachverhalt der Familie abzubilden. In die Diskussion um die Reform der Familienbesteuerung wird zunehmend auch wieder das Ehegattensplitting einbezogen. Ungeachtet dessen, dass das BVerfG die Ehegattenbesteuerung vom Vorhandensein von Kindern separiert (s. § 3 Rz. 163), wird aus der Ineffizienz des Ehegattensplittings im Hinblick auf die Förderung von Familien mit Kindern205 dessen Abschaffung bzw. Kappung und Einbeziehung in eine Besserstellung speziell von Familien mit Kindern gefolgert. Am weitesten gehen das Konzept des übertragbaren Grundfreibetrags bei ansonsten strenger Einzelveranlagung206. Da eine Abschaffung des Ehegattensplitting in der Bevölkerung auf erheblichen Widerstand stößt, plädieren Bündnis 90/Die Grünen mittlerweile für ein Wahlrecht für verheiratete/verpartnerte Stpfl. mit Kindern zwischen Ehegattensplitting und einen neuen Familientarif, in den Kindergeld und Kinderfreibetrag einfließen. 4. Tatbestandstechnischer Aufbau des zu versteuernden Einkommens Tatbestandstechnisch ist die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer wie folgt aufgebaut (s. R 2 105 EStR 2012): Summe der Einkünfte (§ 2 I, II EStG) – Altersentlastungsbetrag § 24a EStG: Steuervergünstigung für Alterseinkünfte (s. Rz. 149) – Entlastungsbetrag gem. § 24b EStG: Steuervergünstigung für Alleinerziehende (s. Rz. 751) – Freibetrag gem. § 13 III EStG: privilegierender Freibetrag für Land- und Forstwirte (s. Rz. 406) + Hinzurechnungsbetrag Gem. § 52 II 3 EStG; § 8 V 2 AIG
203 Für ein elternbezogenes tarifliches Familiensplitting der 66. DJT: „Die Familie ist als Gemeinschaft zu behandeln, in welche das Erwerbshandeln der Eltern eingebunden ist. Folgerichtige Konsequenz ist eine Familienbesteuerung mit Splittingeffekt“ (Sitzungsbericht Q, 2006, 168); Seiler, Gutachten F, 2006, 34 ff., 41; Merkt, DStR 2009, 2221; Seiler, FR 2010, 113 (118); Leisner-Egensperger, FR 2010, 865 (873); Leisner-Egensperger in Leitgedanken des Rechts II, 2013, § 175 Rz. 22 ff.; dezidiert gegen ein Familiensplitting Bareis, DStR 2010, 565 (572 ff.). 204 Bünnagel, Otto-Wolff-Institut Discussion Paper, 2/2006, 6 ff. mit Hinweis auf den vorrangig interventionistisch familienpolitischen Zweck des Familientarifsplittings, dessen Eignung zur Steigerung der Geburtenrate allerdings nicht erwiesen ist; Jachmann, BB 2008, 591 (593); Jachmann, FR 2010, 123 (124); krit. auch Kube, StuW 2016, 332 (341); offener Englisch, DStJG 37 (2014), 159 (199 ff.): vertretbare Alternative. 205 Zu den negativen Anreizwirkungen für den Zweitverdiener SVR-Gutachten 2013/14 Rz. 640 ff.; differenziert FFP/ZEW, Evaluation zentraler ehe- und familienbezogener Leistungen in Deutschland, Gutachten für die Prognos AG v. 20.6.2013: Einerseits profitieren vom Splitting auch Kinderlose, andererseits bewirkt das Splitting den stärksten Rückgang des Armutsrisikos bei kinderreichen Ehepaaren (S. 107). 206 Hierzu Bach u.a., DIW Wochenbericht 13/2017, 247 (auch zum erzielbaren Mehraufkommen). Verfassungswidrig nach Auffassung von Vogel, StuW 1999, 201 (220 ff.); Jachmann, BB 2008, 591; J. Lang, DB 2010, Beilage Standpunkte zu Heft 5, 9.
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§ 8 Rz. 106
Einkommensteuer
Gesamtbetrag der Einkünfte (§ 2 III EStG) – Verlustabzug § 10d EStG: Verlustrücktrag/-vortrag mit Mindestbesteuerung (s. Rz. 67) – Sonderausgaben Private Abzüge nach den §§ 10; 10a; 10b; 10c EStG außergewöhnliche Private Abzüge nach den §§ 33–33b EStG Belastungen – Steuerbegünstigungen für Wohngebäude, Denkmäler, Kulturgüter (§§ 10e-i; 52 XXI 6 EStG) + Erstattungsüberhänge § 10 IVb 3 EStG: Rückzahlung von Versicherungsbeiträgen + Hinzurechnungsbeträge gem. § 15 I AStG Einkommen (§ 2 IV EStG) – Freibeträge für Kinder – Härteausgleich
§§ 31; 32 VI EStG (s. Rz. 746 f.) §§ 46 III EStG; 70 EStDV
zu versteuerndes Einkommen (§ 2 V EStG) 106 Hinweise zur Falllösung: Die Lösung eines Einkommensteuerfalles hat von dem einzelnen Einkommensteuerschuldverhältnis auszugehen. Das zu versteuernde Einkommen i.S.d. § 2 V EStG ist einer natürlichen Person als Steuersubjekt und Schuldnerin der Einkommensteuer zuzuordnen. Bei mehreren natürlichen Personen ist die Falllösung grds. nach den Steuersubjekten zu gliedern. Bei Ehegatten ist zu Beginn der Fallösung zu prüfen, welche Veranlagungsart nach § 26 EStG gewählt worden ist: Zusammenveranlagung (§ 26b EStG) oder Einzelveranlagung (§ 26a EStG). Nach Feststellung des Steuersubjekts ist die Art der Steuerpflicht (unbeschränkte/beschränkte Steuerpflicht) zu prüfen. Von dem Ergebnis der Prüfung hängt ab, in welchem Umfange das Einkommen der deutschen Besteuerung unterliegt. Im Falle unbeschränkter Steuerpflicht erfährt die in § 2 EStG niedergelegte Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer keine Einschränkungen, im Falle beschränkter Steuerpflicht sind die Vorschriften der §§ 49; 50 EStG anzuwenden. Nach Feststellung der Einkommensteuerpflicht ist das zu versteuernde Einkommen der unbeschränkt/beschränkt einkommensteuerpflichtigen natürlichen Person bzw. zusammenveranlagter Ehegatten zu ermitteln. 107–119
Einstweilen frei.
D. Bestimmung steuerpflichtiger Einkünfte 1. Einführung 120 Die Ermittlung des zu versteuernden Einkommens beginnt mit der Prüfung, welche Einkünfte die
natürliche Person erzielt hat. Auch bei zusammenveranlagten Ehegatten sind die Einkünfte zunächst getrennt zu qualifizieren und zu quantifizieren. Erst nachdem alle steuerpflichtigen Einkünfte der zusammenveranlagten Ehegatten festgestellt sind, werden sie nach § 26b EStG in einer „Summe der Einkünfte“ saldiert. Die „Summe der Einkünfte“ bildet die Gesamtheit der unter den Einkünftekatalog des § 2 I EStG subsumierbaren steuerpflichtigen positiven Einkünfte und negativen Einkünfte. Bei der Feststellung von Einkünften, die in der „Summe der Einkünfte“ zu berücksichtigen sind, ist zunächst zu prüfen, ob der Stpfl., indem er mit Einkünfteerzielungsabsicht erwerbswirtschaftlich tätig geworden ist, den Tatbestand einer Einkunftsart i.S.d. § 2 I 1 Nr. 1–7 EStG verwirklicht hat. Bejaht man dies, so liegen steuerbare Einkünfte vor. Sodann ist zu prüfen, ob Einkünfte (insb. nach §§ 3–3c EStG) sachlich steuerbefreit sind. Verneint man dies, so liegen dem Grunde nach steuerpflichtige Einkünfte vor; diese Einkünfte sind zu quantifizieren. Die sog. Ermittlung der Einkünfte geschieht nach §§ 2 II; 4 ff.; 8 ff. EStG (s. Rz. 188 ff.). Auf der Quantifikationsebene wird die Steuerpflicht einzelner Einkunftsarten partiell durch Freibeträge und Freigrenzen eingeschränkt (s. Rz. 144 ff.). 354
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D. Bestimmung steuerpflichtiger Einkünfte
Rz. 123 § 8
2. Steuerbare Einkünfte 2.1 Objektiver Tatbestand: Erzielen von Einkünften Steuerbare Einkünfte werden durch zwei Merkmalgruppen bestimmt. Die erste Merkmalgruppe gilt 121 für alle Einkunftsarten: Einkünfte sind allgemein nur dann steuerbar, wenn sie durch eine Erwerbstätigkeit erwirtschaftet worden sind (s. Rz. 52). Die zweite Merkmalgruppe umschreibt die einzelnen Einkunftsarten (dazu Rz. 400 ff.). Beide Merkmalgruppen bestimmen auch die Ausgleichs- und Abzugsfähigkeit von Verlusten (s. Rz. 60 ff.). Die erste Merkmalgruppe ist in § 2 I 1 EStG verankert, und zwar in dem Begriff des Erzielens. Mit 122 diesem Begriff positiviert das Gesetz den Kausalzusammenhang zwischen Einkünften und einer Erwerbstätigkeit207. Einkünfte beruhen auf zielgerichteten Handlungen. Durch diese Handlungen werden sie erwirtschaftet. Rechtsdogmatisch kann man davon ausgehen, dass die Erwerbstätigkeit auf vorsatzgesteuertem, zweckgerichtetem, finalem Handeln beruht. Die kausalrechtliche Maßgeblichkeit zweckgerichteten Tuns entspricht der Idee selbstbestimmten planvollen Wirtschaftens. Sie erkennt einerseits die individuellen Entscheidungen des wirtschaftenden Bürgers an208, negiert aber andererseits nicht die willensunabhängige Risikosphäre der Einkunftserzielung. Zur risikobehafteten Erwerbstätigkeit gehört auch ein ungeplanter, negativer Verlauf der Einkünfteerzielung. Dazu hat Hans Welzel209 herausgearbeitet, dass jedes zweckgerichtete, finale Handeln von Nebenfolgen begleitet ist, die vom Willen des Handelnden nicht beherrscht sind. Diese finale Handlungslehre kann dazu dienen, die Steuerbarkeit von Einkünften und die negativen Folgen einer Erwerbstätigkeit wie Verluste und Erwerbsaufwendungen (s. Rz. 231 f.) näher zu bestimmen. Die einkünfteerzielende Person ist stets tätig, so dass steuerbare Einkünfte, Erwerbseinnahmen und Erwerbsaufwendungen kausalrechtlich einer Tätigkeit, nämlich der Erwerbstätigkeit, zuzuordnen sind. Nicht nur Arbeits-, auch Kapitaleinkünfte beruhen auf einer Tätigkeit des Stpfl. Auch Sparer und Vermieter müssen tätig sein, um nach Möglichkeit die günstigsten Finanzanlagen zu erwerben bzw. Wohnungen zu vermieten. Die Überlassung von Kapital, die Vermietung und Verpachtung sind vorsatzgesteuerte Erwerbstätigkeiten. Objektiver Tatbestand ist damit das Erzielen von Einkünften, d.i. die Erwerbstätigkeit. Der Tat- 123 bestand des Gewerbebetriebs (§ 15 II 1 EStG) umschreibt die Erwerbstätigkeit als „Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr“ und ist damit markteinkommenstheoretisch210 begründet (s. § 7 Rz. 30). Tatsächlich hängt aber die Steuerbarkeit von Einkünften nicht davon ab, ob Einkünfte „am Markt“ erwirtschaftet werden (s. § 7 Rz. 31). Der Stpfl. kann auch dann gewerbliche Einkünfte erwirtschaften, wenn er nur gegenüber einer Person oder einem Angehörigen erwerbstätig ist211. Grds. erfasst aber die Einkommensteuer nur erwirtschaftete objektive Leistungsfähigkeit212.
207 Dazu KSM/P. Kirchhof, § 2 EStG Rz. A 37 f. und 363 ff.; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 229 ff.; HHR/ Musil, § 2 EStG Anm. 50 ff. (2015). 208 P. Kirchhof, VVDStRL 39 (1981), 231 ff.; P. Kirchhof, Gutachten F zum 57. DJT, 1988, 14 ff. 209 Um die finale Handlungslehre, 1949. Zur dogmatischen Bewältigung der Risikosphäre durch die verschiedenen Zurechnungslehren Hübner, Die Entwicklung der objektiven Zurechnung, Diss., 2004, u. zur steuerrechtlichen Verwertbarkeit der Welzel’schen Handlungslehre mit Zitaten J. Lang, Bemessungsgrundlage, 307 f. 210 Zur markteinkommenstheoretischen Funktion u. Kasuistik Schön, Zum Merkmal der „Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr“ i.S.v. § 15 Abs. 2 EStG, FS Vogel, 2000, 661 (663); Kirchhof/ Reiß17, § 15 EStG Rz. 28 ff.; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 20 f. 211 BFH v. 13.12.1995 – XI R 43-45/89, BStBl. II 1996, 232 (Geschäft gegenüber Dritten, der sich am Markt beteiligt); v. 15.12.1999 – I R 16/99, BStBl. II 2000, 404 (ein Kunde); v. 28.6.2001 – IV R 10/00, BStBl. II 2002, 338 (Tätigkeit gegenüber Vater); v. 22.1.2003 – X R 37/00, BStBl. II 2003, 464 (ein Abnehmer); zuletzt BFH v. 4.9.2014 – VIII B 135/13, BFH/NV 2015, 19 (20). 212 So BFH v. 25.10.1994 – VIII R 79/91, BStBl. II 1995, 121 (124).
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§ 8 Rz. 124
Einkommensteuer
124 Zu den steuerbaren, durch eine Erwerbstätigkeit erzielten Einkünften gehören nicht:
– Erbschaften und Schenkungen (sie werden vom ErbStG erfasst) sowie Stipendien, die nicht einer konkreten Erwerbstätigkeit zugeordnet werden können; insoweit ist in § 3 Nr. 44 EStG eine klarstellende Steuerbefreiung normiert (s. Rz. 138). Der Stipendiat darf nicht zu einer Gegenleistung verpflichtet werden. Nach dieser Voraussetzung des § 3 Nr. 44 Satz 3 Buchst. b EStG wird das Stipendium nicht erwirtschaftet213; – Preisgelder, soweit sie nicht durch eine Erwerbstätigkeit erwirtschaftet sind (s. Rz. 135, 215); – Vermögensmehrungen durch private und staatliche Unterhaltsbezüge. § 22 Nr. 1, 1a EStG erfassen allerdings ausnahmsweise auch nicht erwirtschaftete Bezüge. Diesen Systembruch gleicht ein umfangreicher Katalog von Steuerbefreiungen staatlicher Zuwendungen (§ 3 Nr. 2, 4–8, 11, 19–25, 42–44, 48, 58–61 EStG) aus; – Eigenleistungen (sog. Schatteneinkommen oder imputed income), das sind die Wertvermehrungen für eigene private Zwecke ohne Beteiligung am wirtschaftlichen Verkehr, z.B. durch Arbeit der Hausfrau, Gemüseanbau für die Familie, Reparatur des eigenen Autos, Bau eines eigenen Hauses. Nicht steuerbar sind Zahlungen für die Betreuung und Pflege von Angehörigen in der familiären Lebensgemeinschaft214. Hingegen sind steuerbar Vergütungen von Tagesmüttern für die Betreuung fremder Kinder215; sie gehören zu den freiberuflichen Einkünften. Bezüge aus öffentlichen Mitteln sind allerdings nach § 3 Nr. 9, 11 EStG steuerfrei gestellt (s. Rz. 140). Mit der Nichterfassung des sog. imputed income unterscheidet sich der Einkünfteerzielungstatbestand grundlegend von der Reinvermögenszugangstheorie (s. § 7 Rz. 30); – Entschädigungen außerhalb der Beteiligung am wirtschaftlichen Verkehr, dies stellt u.a. § 24 Nr. 1 EStG klar; zu Schadensersatzrenten s. Rz. 524; – sonst nicht erwirtschaftete Bezüge, z.B. Aussteuern, Ausstattungen und andere Bezüge im Bereich der Lebensführung. 2.2 Subjektiver Tatbestand: Einkünfteerzielungsabsicht 125 Subjektiver Tatbestand ist die Absicht, durch die Erwerbstätigkeit einen Überschuss der Bezüge über
die Aufwendungen zu erzielen (Einkünfteerzielungsabsicht)216. § 15 II 1 EStG verlangt ausdrücklich „die Absicht, Gewinn zu erzielen“; es reicht, wenn sie Nebenzweck ist (§ 15 II 3 EStG). § 15 II 1 EStG ist ebenfalls Ausdruck eines allgemeinen, alle erwirtschafteten Einkünfte beherrschenden Prinzips. Für die land- und forstwirtschaftlichen Einkünfte, die freiberuflichen Einkünfte und die Einkünfte aus anderer selbständiger Arbeit ergibt sich das schon daraus, dass sie alle Merkmale der gewerblichen Einkünfte erfüllen, weswegen § 15 II 1 EStG diese Einkünfte ausklammert. § 9 EStG unterstellt ebenfalls das Streben, Einnahmen zu erzielen, die die Werbungskosten übersteigen.
213 Ausf. zur einkommensteuerlichen Behandlung von Stipendien BFH v. 24.2.2015 – VIII R 43/12, BStBl. II 2015, 691; Ernst/Schill, DStR 2008, 1461; Betz/Stiegler, IStR 2016, 850. 214 BFH v. 14.9.1999 – IX R 88/95, BStBl. II 1999, 776. 215 Im Einzelnen zur Besteuerung der Pflegepersonen BMF v. 11.11.2016 – IV C 6-S 2246/07/10002:005, BStBl. I 2016, 1236; zu § 3 Nr. 9, 11 EStG s. Rz. 140. 216 Dazu grds. BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (765 ff.); Habl, Einkünfteerzielungsabsicht versus Liebhaberei im Einkommensteuerrecht, Diss., 2006; Schell, Subjektive Besteuerungsmerkmale im Einkommensteuerrecht, Diss., 2006, 98 ff.; Dötsch, FR 2007, 589; BFH-Symposium „Subjektive Tatbestandsmerkmale im Steuerrecht“, Beihefter DStR 39/2007 mit Beiträgen von P. Kirchhof, Pezzer, Sieker, u. Weber-Grellet; Falkner, Die Einkünfteerzielungsabsicht als subjektives Besteuerungsmerkmal, Diss., 2009; Urban, Die Einkünfteerzielungsabsicht in der Systematik des Einkommensteuergesetzes, Diss., 2010; Toifl, Der subjektive Tatbestand im Steuer- und Steuerstrafrecht, Wien 2010, 301–444; Urbach, Funktion und Erfordernis subjektiver Besteuerungsmerkmale im Einkommensteuerrecht, Diss., 2013. Speziell zu Vermietung u. Verpachtung s. Fn. zu Rz. 132.
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D. Bestimmung steuerpflichtiger Einkünfte
Rz. 127 § 8
Fehlende Einkünfteerzielungsabsicht führt zur Nichtsteuerbarkeit. Dabei geht es in der Praxis in erster Linie um den Ausschluss der steuerlichen Anerkennung negativer Einkünfte. Über die Einkünfterzielungsabsicht werden Betätigungen, deren wirtschaftlicher Sinn allein in der Steuerersparnis liegt, sowie Betätigungen, die der Konsumsphäre (Einkommensverwendung) zuzuordnen sind (sog. Liebhaberei, s. Rz. 133 ff.) aus dem Einkommensteuertatbestand ausgeschieden. Einkünfteerzielungsabsicht ist zu verneinen, wenn mit einer z.B. ehrenamtlichen Tätigkeit nur der Ersatz von Aufwendungen angestrebt wird. Für die Prüfung der Steuerbarkeit sind die steuerlichen Pauschbeträge irrelevant: Liegen die tatsächlichen und erstatteten Kosten über den Pauschbeträgen (Beispiel: Erstattung von Restaurantkosten, die die Pauschalen des § 4 V 1 Nr. 5 EStG überschreiten), so fehlt es an steuerbaren Einkünften. Umgekehrt sind steuerbare Einkünfte anzunehmen, wenn der Stpfl. lediglich Kostenersatz in Höhe der Pauschbeträge anstrebt, seine tatsächlichen Kosten dabei jedoch unter den Pauschbeträgen liegen217. Die Einkünfteerzielungsabsicht ist für jede Tätigkeit einzeln zu ermitteln. Sie muss nach dem Grundsatz der Individualbesteuerung für jeden Stpfl. einzeln bejaht werden218. Unschädlich ist ein Wechsel der Einkunftsart. Zu beurteilende Tätigkeit ist demnach bspw. die Nutzung einer (einzelnen) Immobilie. Eine isolierende Betrachtung der Zeiträume, in denen die Vermietungseinkünfte unter § 21 EStG fallen und jenen, in denen § 15 EStG eingreift, ist abzulehnen. (1) Bei der Beurteilung des subjektiven Tatbestandes kommt es grds. darauf an, welchen Plan der 126 Stpfl. für die gesamte Dauer der Erwerbstätigkeit verfolgt. Maßgeblich für die Einkünfteerzielungsabsicht ist das Ergebnis der sog. Totalperiode vom Beginn bis zum Ende einer Erwerbstätigkeit219, im Falle von Gewinneinkünften die Summe aller periodisch erwirtschafteten Ergebnisse eines Betriebs von der Gründung bis zur Veräußerung, Aufgabe oder Liquidation. Die Absicht, ein positives Gesamtergebnis, den sog. Totalgewinn, zu erwirtschaften, überschreitet bei sog. Generationenbetrieben regelmäßig sogar die eigene Lebensdauer220. Bei Forstbetrieben kann die Zeit zwischen Aufforstung (Verlustperioden) und Holzernte (Gewinnperioden) mehr als 100 Jahre betragen221. Die maßgebliche Totalperiode ist hier objektbezogen zu ermitteln. Allerdings muss nach dem Grundsatz der Individualbesteuerung jeder Inhaber eines Generationenbetriebs dessen Wertschöpfung betreiben; ansonsten wirtschaftet er nicht mit der Absicht eines erst nach seinem Tode verwirklichten Totalgewinns. Nicht ausreichend ist die Unterhaltung eines Betriebs, allein um ihn an die nächste Generation zu übertragen222. (2) Steuerbare Überschusseinkünfte sind durch die Absicht gekennzeichnet, einen Totalüberschuss 127 der Einnahmen über die Werbungskosten zu erwirtschaften223. Im Unterschied zu den Gewinneinkünften kann bei Überschusseinkünften nicht die gesamte Vermögensvermehrung berücksichtigt werden. Vielmehr hat der Dualismus der Einkünfteermittlung (s. Rz. 181 f.) zur Folge, dass die Ein217 Vgl. m.w.N. BFH v. 9.8.2007 – X B 218/06, BFH/NV 2007, 2273. 218 Hierzu Söffing, FS Herzig, 2010, 406; Valentin, DStR 2001, 505; zur Frage subjektübergreifender Einkünfteeerzielungsabsicht zwischen objekt- und subjektbezogenen Einkunftsquellen differenzierend Stöber, FR 2017, 801. 219 Grds. BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (766 f.). Im Weiteren BFH v. 31.3.1987– IX R 112/83, BStBl. II 1987, 774 (776); v. 5.5.1988 – III R 41/85, BStBl. II 1988, 778 (779); v. 30.9.1997 – IX R 80/94, BStBl. II 1998, 771; v. 17.6.1998 – XI R 64/97, BStBl. II 1998, 727; v. 15.12.1999 – X R 23/95, BStBl. II 2000, 267 (270); v. 24.8.2000 – IV R 46/99, BStBl. II 2000, 674 (675); v. 31.7.2002 – X R 48/99, BStBl. II 2003, 282; v. 6.3.2003 – IV R 26/01, BStBl. II 2003, 702. Lit.: Pferdmenges, StuW 1990, 240; Drüen, Periodengewinn und Totalgewinn, Diss., 1999; Drüen, FR 1999, 1097; HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 387 ff. (2015). 220 BFH v. 7.4.2016 – IV R 38/13, BStBl. II 2016, 765; v. 9.3.2017 – VI R 88/14, BStBl. II 2017, 981. 221 BFH v. 7.4.2016 – IV R 38/13, BStBl. II 2016, 765, Rz. 24. Vgl. BFH v. 26.6.1985 – IV R 149/83, BStBl. II 1985, 549. 222 BFH v. 31.5.2001 – IV R 81/99, BStBl. II 2002, 276. 223 Grds. BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (766).
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künfteerzielungsabsicht auf den Tatbestand von Quelleneinkünften zu begrenzen ist224. Demnach sind Stammvermögensmehrungen, soweit sie nicht gem. §§ 20 II; 22 Nr. 2; 23 EStG steuerbar sind, bei der Frage, ob ein Totalüberschuss im Rahmen der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG) erzielt werden soll, auszugrenzen. Im Rahmen der Abgeltungsteuer wird die Einkünfteerzielungsabsicht als Folge der umfassenden Erfassung sämtlicher Kapitalanlagen tatsächlich vermutet225. 128 Maßgeblicher Zeitraum ist die Gesamtdauer der Betätigung oder der Vermögensnutzung, die u.a. von
der Gesamtdauer des Nutzungsvertrages oder der Lebensdauer des genutzten Wirtschaftsguts abhängen kann. Bei Leibrentenversicherungen legt der BFH die statistische Lebenserwartung zugrunde226. Jahrzehntelange Verluste aus der Vermietung fremdfinanzierter Immobilien schließen Einkünfteerzielungsabsicht bei einer 100jährigen Lebensdauer von Immobilien nicht aus (i. E. zur Einkünfteerzielungsabsicht bei Vermietung u. Verpachtung s. Rz. 132). Bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit sind das zu erwartende Ruhegehalt u. die Hinterbliebenenversorgung in die Totalüberschussprognose einzubeziehen227. 129 (3) Die Einkünfteerzielungsabsicht muss gem. §§ 88; 90 AO von Amts wegen ermittelt werden. Das
ist häufig schwierig. Der Stpfl. neigt dazu, die für ihn steuergünstige Absicht geltend zu machen. Daher ist eine objektivierende Beurteilung unerlässlich: Die Einkünfteerzielungsabsicht ist eine innere Tatsache, die „wie alle sich in der Vorstellung von Menschen abspielenden Vorgänge nur anhand äußerlicher Vorgänge beurteilt werden kann“228. Die objektiven äußeren Merkmale müssen prognostisch beurteilt werden. Es ist bei jeder Veranlagung mit einem mehr oder weniger weiten Blick in die Zukunft zu prüfen, ob ein Totalüberschuss der Erwerbsbezüge über die Erwerbsaufwendungen zu erwarten ist229. Soweit die objektiv und gegenwärtig erwarteten Rahmenbedingungen nicht eintreten, muss die Prognosebeurteilung angepasst und Steuerbescheide früherer Veranlagungszeiträume nach § 174 IV AO geändert werden230. 224 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751; v. 30.3.1999 – VIII R 70/96, BFH/NV 1999, 1323 (Kapitaleinkünfte); v. 29.3.2001 – IV R 88/99, BStBl. II 2002, 791 (792): Der Dualismus der Einkunftsarten mache „es erforderlich, zunächst die Einkunftsart zu klären, bevor die Frage der Liebhaberei zu prüfen ist“. Dazu J. Lang, FR 1997, 201 (202, 205 f.); Pezzer, StuW 2000, 457. Zu den Auswirkungen der Erweiterung der Steuerpflicht nach Einführung der Abgeltungsteuer Haisch/Krampe, DStR 2011, 2178. 225 BFH v. 14.3.2017 – VIII R 38/15, BStBl. II 1040 Rz. 19; Jachmann-Michel, DStR 2017, 1849. 226 BFH v. 15.12.1999 – X R 23/95, BStBl. II 2000, 267; v. 17.8.2005 – IX R 23/03, BStBl. II 2006, 248; v. 22.11.2006 – X R 15/05, BStBl. II 2007, 390; v. 19.1.2010 – X R 2/07, BFH/NV 2010, 1251. 227 BFH v. 16.9.2004 – X R 29/02, BStBl. II 2006, 234; v. 28.8.2008 – VI R 50/06, BStBl. II 2009, 243. 228 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (767), seither st. Rspr., z.B. v. 15.12.1999 – X R 23/95, BStBl. II 2000, 267 (271). Dazu Hutter, DStZ 1998, 344; Braun, BB 2000, 283; Heuermann, DStZ 2004, 9; Heuermann, DStZ 2005, 12 (Objektivierung bei Vermietung u. Verpachtung); Heuermann, StuW 2009, 356; Mindermann/Lukas, NWB 2012, 182 (betriebswirtschaftliche Methoden der Objektivierung). Gefordert wird deshalb z.T. eine Objektivierung dergestalt, dass das subjektive Tatbestandsmerkmal der Einkünfteerzielungsabsicht durch das objektive Tatbestandsmerkmal einer „auf positive Einkünfte ausgerichteten Tätigkeit“ ersetzt wird; so KSM/Kirchhof, § 2 EStG Rz. A 119, 122, B 125 (1992); Plücker, FS Spindler, 2011, 703; Falkner, DStR 2010, 316 (322 f.); Falkner, DStZ 2010, 788 (792 f.); Urban, Die Einkünfteerzielungsabsicht in der Systematik des EStG, Diss., 2010, 247 ff.; Schmidt/Weber-Grellet36, § 2 EStG Rz. 23; dagegen Heuermann, DStZ 2010, 824; für eine Beibehaltung der Einkünfteerzielungsabsicht als Korrektiv bei gleichzeitiger stärkerer Objektivierung Ismer/Riemer, FR 2011, 455 (457 ff.). 229 Zur prognostischen Beurteilung durch die Rspr. s. die Nachweise bei Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 30 f.; ferner Pezzer, StuW 2000, 457 (459 ff.); Pezzer, GS Trzaskalik, 2005, 239 (249 f.); Wotschofsky/ Cischek, Die Prognose des Totalerfolgs im Einkommensteuerrecht, StuB 2004, 254; Leisner-Egensperger, DStZ 2010, 790; allgemein Drüen, Prognosen im Steuerrecht, AG 2006, 707. 230 So BFH v. 18.2.1997 – VIII R 54/95, BStBl. II 1997, 647. Bsp.: Ein nebenberuflich tätiger Schriftsteller schreibt einen Bestseller über Tibet. Die Kosten der Tibetreise müssen nachträglich als Betriebsaus-
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Die Rspr. hat zutr. erkannt, dass Prognosezeiträume von 50 Jahren oder gar von 100 Jahren „zu viele 130 spekulative Elemente“ enthalten231. Daher geht die Rspr. bei Vermietung und Verpachtung von einem 30-jährigen Prognosezeitraum aus232. Längerfristige Totalperioden nimmt die Rspr. vor allem bei Generationenbetrieben (s. Rz. 126), Leibrentenversicherungen an. Eine Prognose darf auch nicht dazu führen, dass die Einkünfteerzielungsabsicht mehr oder weniger spekulativ beurteilt wird. Somit kommt es für die gegenwärtige Einkünfteerzielungsabsicht darauf an, ob nach den gegenwärtigen äußeren Umständen ein Totalüberschuss wahrscheinlich ist. (4) Die Einkünfteerzielungsabsicht kann einem Beurteilungswandel unterliegen233: Erkennt der 131 Stpfl., dass sich mit seiner Erwerbstätigkeit, die er in der Vergangenheit gewinnbringend ausgeübt hatte, keine Gewinne mehr erwirtschaften lassen, so verneint die Rspr. pro futuro die Gewinnerzielungsabsicht234. Am Ende einer Berufstätigkeit umfasse der anzustrebende Totalgewinn nur die verbleibenden Jahre. In derartigen Fällen ist jedoch sorgfältig zu prüfen, ob der Stpfl. seine Erwerbstätigkeit aus privaten Gründen fortführt235. Die rigide Ausblendung vergangener Gewinnjahre vermag nicht zu überzeugen. Bspw. kann einem bis dato erfolgreichen Maler, der aus der Mode gekommen ist und deshalb keine positiven Einkünfte mehr erzielt, die Verlustverrechnung nicht wegen mangelnder Professionalität versagt werden236. Übt ein Arzt aus Leidenschaft seinen Beruf rein beruflich zweckgerichtet (s. Rz. 122) bis in das hohe Alter aus und erleidet er in der Endphase nurmehr Verluste, so darf m.E. nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Staat in der Vergangenheit an den Gewinnen partizipiert hat. Die Entscheidung des Stpfl., die ehemals erfolgreiche Erwerbstätigkeit weiterzuführen, ist zu respektieren, wenn seit Beginn der Erwerbstätigkeit gerechnet insgesamt ein Totalgewinn verbleibt. Dies liegt nur dann anders, wenn die Tätigkeit aus rein privaten Gründen aufrechterhalten wird, etwa um auch im Alter soziale Kontakte zu pflegen. Ein Übergang zur Liebhaberei führt nicht zu einer gewinnrealisierenden Betriebsaufgabe; bei vorheriger Gewinnermittlung nach § 4 III EStG besteht im Zeitpunkt des Wegfalls der Gewinnerzielungsabsicht kein Zwang zum Übergang zu § 4 I 1 EStG237. (5) Tritt bei einer Erwerbstätigkeit der Kapitaleinsatz in den Hintergrund, so lässt sich die Erwerbs- 132 tätigkeit vergleichsweise einfach von einer privaten Betätigung, insb. von der Liebhaberei, abgrenzen. Bei hohem Kapitaleinsatz kann die kausalrechtliche Beurteilung dagegen sehr kompliziert werden. Die Erscheinungsform der Liebhaberei leistet keine Hilfe mehr, da Stpfl., die mit sog. Steuersparmodellen dauerhaft Verluste erwirtschaften, nach Steuern gerechnet eine Vermögensmehrung anstreben. Die Problematik zur Steuerbarkeit der sog. Vermögenseinkünfte besteht besonders bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung238: Hier ist die Einkünfteerzielung zunächst nach Quellen-
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gaben anerkannt und dementsprechend der Steuerbescheid für das Jahr der Tibetreise geändert werden. BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726 (729 f.); unter Bezug auf v. 27.7.1999 – IX R 64/96, BStBl. II 1999, 826 (827). BFH v. 7.9.2006 – IV B 13/05, BFH/NV 2007, 27. Dazu m.w.N. Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 37. BFH v. 26.2.2004 – IV R 43/02, BStBl. II 2004, 455 (457). In dem von BFH v. 26.2.2004 – IV R 43/02, BStBl. II 2004, 455, entschiedenen Fall hatte ein niedergelassener Arzt, der 1964 mit vierzig Jahren seine Praxis eröffnet hatte, ab 1991 nur noch Verluste erwirtschaftet und schließlich im Alter von 84 Jahren den Praxisbetrieb eingestellt. Großzügiger die Rspr. des öVwGH: Hohes Alter rechtfertige trotz beträchtlichen Gesamtverlustes nicht schon vorweg die Annahme von Liebhaberei (dazu Renner, ÖStZ 2006, 280). Vgl. BFH v. 6.3.2003 – XI R 46/01, BStBl. II 2003, 602. BFH v. 11.5.2016 – X R 61/14, BStBl. II 2016, 939, Rz. 22, 24, 25, 36; v. 11.5.2016, X R 15/15, BStBl. II 2017, 112, Rz. 15, 17; steuerwirksam gebildet stille Reserven werden aber bei späterer Realisierung (Veräußerung/Entnahme) erfasst. Zur Einkünfteerzielungsabsicht bei Vermietung und Verpachtung BFH v. 30.9.1997 – IX R 80/94, BStBl. II 1998, 771; v. 21.11.2000 – IX R 37/98, BStBl. II 2001, 705; v. 12.7.2006 – IX R 47/05, BFH/NV 2007, 658; (Fn. 3); BMF v. 8.10.2004 – IV C 3 - S 2253-91/04, BStBl. I 2004, 933; Pezzer, StuW 2000,
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und Veräußerungseinkünften zu differenzieren. Sodann ist der Tatbestand des § 21 I 1 Nr. 1 EStG für jede einzelne vermietete Immobilie gesondert zu prüfen239. Anhand der in der Praxis auftretenden Fallgestaltungen hat sich eine umfangreiche Kasuistik240 entwickelt: – Bei einer auf Dauer angelegten Vermietung zu Wohnzwecken wird die Einkünfteerzielungsabsicht grds. unterstellt, selbst wenn sich über längere Zeiträume Werbungskostenüberschüsse ergeben, es sei denn, besondere Umstände sprechen gegen das Vorliegen einer Einkünfteerzielungsabsicht241. Demgegenüber soll bei der Vermietung von Gewerbeimmobilien den Stpfl. die objektive Feststellungslast treffen242. Diese vom BFH vorgenommene Differenzierung ist abzulehnen. – Bei der Vermietung von Ferienwohnungen ist Einkünfteerzielungsabsicht ohne weiteres anzunehmen, wenn die Ferienwohnung ausschließlich an Feriengäste vermietet wird. Nutzt der Stpfl. die Ferienwohnung zeitweise selbst, so obliegt ihm die Feststellungslast eines Totalüberschusses243. – Bei Mietkaufmodellen, Immobilienerwerb mit Rück- oder Verkaufsgarantie wird Einkünfteerzielungsabsicht verneint, wenn im Rahmen des § 21 EStG kein Totalüberschuss entsteht und die Vermögensmehrung erst mit einem nicht steuerbaren Veräußerungsgewinn eintritt244. – Subventions- und Lenkungsnormen sind bei einer kurzfristig angelegten Vermietungstätigkeit in die entsprechend befristete Totalüberschussprognose einzubeziehen, wenn dies Normzweck und Art der Förderung gebieten245. – Bei verbilligter Vermietung verzichtet § 21 II EStG auf die konkrete Feststellung der Einkünfteerzielungsabsicht (s. Rz. 510). 133 (6) Einkünfte, die nicht mit Einkünfteerzielungsabsicht erwirtschaftet worden sind, sind keine ein-
kommensteuerbaren positiven oder negativen Einkünfte. Daher sind nicht einkommensteuerbar
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457; Heuermann, StuW 2003, 101; Heuermann, DStZ 2005, 12; Heuermann, DStR 2005, 1338; Pezzer, GS Trzaskalik, 2005, 239; Spindler, FS Korn, 2005, 165; Schießl, SteuerStud 2006, 529; Kastner, INF 2007, 109; Spindler, DB 2007, 185; Renner, DStZ 2008, 601; Renner, ÖStZ 2009, 148 (Österreich); Brehm, SteuerStud 2009, 127; Leisner-Egensperger, DStZ 2010, 790 (verneint Voraussetzung der Einkünfteerzielungsabsicht de lege lata); dagegen Heuermann, DStZ 2010, 825; Korn, KÖSDI 2011, 17397; Stein, DStZ 2013, 33 u. 114; Stein, Verluste oder Liebhaberei bei der Vermietung von Immobilien17, 2014; s. ferner Nachweise in Rz. 130. BFH v. 26.11.2008 – IX R 67/07, BStBl. II 2009, 370; v. 9.10.2013 – IX R 2/13, BStBl. II 2014, 527. Gute Darstellung bei Schmidt/Kulosa36, § 21 EStG Rz. 30 ff. BFH v. 19.4.2005 – IX R 15/04, BStBl. II 2005, 754; v. 19.4.2005 – IX R 10/04, BStBl. II 2005, 692; v. 10.5.2007 – IX R 7/07, BStBl. II 2007, 873; v. 31.1.2017 – IX R 17/16, BStBl. II 2017, 633 (nicht überzeugend; langjähriger Leerstand aufgrund fehlender Vermietbarkeit lässt die Einkünfteerzielungsabsicht nicht entfallen). BFH v. 20.7.2010 – IX R 49/09, BStBl. II 2010, 1038; v. 16.9.2015 – IX R 31/14, BFH/NV 2016, 188. BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726; v. 26.10.2004 – IX R 57/02, BStBl. II 2005, 388 (wonach die Eigennutzung vermutet wird, wenn die ortsübliche Vermietungszeit erheblich unterschritten wird); v. 19.8.2008 – IX R 39/07, BStBl. II 2009, 138 (Prognose auch dann erforderlich, wenn ortsübliche Vermietungszeit nicht ermittelt werden kann); v. 16.4.2013 – IX R 26/11, BStBl. II 2013, 613 (es genügt der bloße Vorbehalt zur Selbstnutzung); BMF v. 8.10.2004 – IV C 3-S 2253-91/04, BStBl. I 2004, 933 (Tz. 18); Stein, StBp. 2010, 101; Ritzrow, EStB 2010, 19 u. 64; Thürmer, FS Spindler, 2011, 833. Zu Mietkauf- u. ähnlichen Modellen BFH v. 25.6.1991 – IX R 163/84, BStBl. II 1992, 23; v. 8.11.1993 – IX R 42/92, BStBl. II 1995, 102; v. 13.8.1996 – IX R 48/94, BStBl. II 1997, 42; v. 22.4.1997 – IX R 17/96, BStBl. II 1997, 650; v. 30.9.1997 – IX R 80/94, BStBl. II 1998, 771; v. 14.9.1999 – IX R 59/96, BStBl. II 2000, 67; v. 10.10.2000 – IX R 52/97, BFH/NV 2001, 587; Immobilienfonds: BFH v. 8.12.1998 – IX R 49/95, BStBl. II 1999, 468; v. 5.9.2000 – IX R 33/97, BStBl. II 2000, 676; Spindler, DB 1995, 894 (Rück-/Verkaufsgarantien); J. Lang, FR 1997, 201 (Rück-/Verkaufsgarantien); Spindler, FS Korn, 2005, 165, (174 f.: Rück-/Verkaufsgarantien; 183 ff.: Immobilienfonds). BFH v. 23.9.2009 – IV R 24/07, BStBl. II 2010, 127 (129).
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D. Bestimmung steuerpflichtiger Einkünfte
Rz. 134 § 8
die Einkünfte aus Liebhaberei246. Liebhaberei ist eine Tätigkeit aus privater Hingabe oder Neigung (Hobby) ohne Einkünfteerzielungsabsicht. Der „Liebhaber“ ist im Ergebnis Konsument; Liebhabereiverluste sind Konsumeinkünfte247. Die Aufwendungen für eine ideelle Tätigkeit werden nur zum Teil mit Einnahmen finanziert (Beispiel: Verchartern einer Yacht, die man überwiegend selbst in der Freizeit nutzt). Maßgeblich sind der Gesamtplan und das prognostizierte Ergebnis der Totalperiode. Die Annahme von Liebhaberei kommt in erster Linie bei solchen Tätigkeiten in Betracht, die typischerweise dazu bestimmt und geeignet sind, der Befriedigung persönlicher Neigungen zu dienen248, insb. Ausgleichsbeschäftigungen zu einem Beruf wie Sport, Musizieren, Pferde züchten, Wein anbauen etc. Beispiele: Aus der Rspr.: BFH v. 15.11.1984 – IV R 139/81, BStBl. II 1985, 205 (Reitschule); v. 21.3.1985 – IV R 25/82, BStBl. II 1985, 399 (Gestüt); v. 19.7.1990 – IV R 82/89, BStBl. II 1991, 333 (Trabrennstall); v. 13.12.1990 – IV R 1/89, BStBl. II 1991, 452 (LuF); v. 23.10.1992 – VI R 59/91, BStBl. II 1993, 303 (Amateurfußball); v. 21.1.1999 – IV R 27/97, BStBl. II 1999, 638 (645 f.) (LuF); v. 27.1.2000 – IV R 33/99, BStBl. II 2000, 227 (Pferdezucht); v. 14.7.2003 – IV B 81/01, BStBl. II 2003, 804 (Weinbau); v. 31.3.1992 – IX R 11/87, BFH/NV 1993, 8 (Märchenwald); v. 24.2.1999 – X R 106/95, BFH/NV 1999, 1081 (Motorboot); v. 16.3.2000 – IV R 53/98, BFH/NV 2000, 1090 (Traberhaltung); v. 18.5.2000 – IV R 28/98, BFH/NV 2000, 1458 (Galerie); v. 1.3.2005 – IX B 170/04, BFH/NV 2005, 1066 (Segelyacht).
Aber auch bei beruflichen Tätigkeiten nimmt die Rspr. „Liebhaberei“ an, wenn Anlaufverluste bzw. 134 eine länger andauernde Verlustperiode zu der Erkenntnis führen, dass die Tätigkeit bei objektiver Betrachtung zur Erzielung eines Totalgewinns/-überschusses ungeeignet ist249. Die Rspr. erkennt zunächst an, dass bei dem Beginn einer insb. risikobehafteten unternehmerischen Erwerbstätigkeit Anlaufverluste entstehen können. Reagiert jedoch der Stpfl. auf eine anhaltende Verlustperiode nicht mit Umstrukturierungsmaßnahmen, so erblickt die Rspr. darin ein gewichtiges äußeres Beweisanzeichen gegen das Vorliegen einer mit Gewinnerzielungsabsicht ausgeübten Tätigkeit250. Im Unterschied zu privattypischen Tätigkeiten müssen aber „zusätzliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Verluste aus persönlichen Gründen oder Neigungen hingenommen werden“251. Allerdings sind an die Feststellung persönlicher Gründe oder Motive keine hohen Anforderungen zu stellen, wenn der Stpfl. das verlustbringende Geschäftskonzept unverändert beibehält252. Diese Grundsätze praktiziert die Rspr. auch bei berufstypischen Tätigkeiten wie den in § 18 I Nr. 1 EStG aufgeführten sog. Katalogberufen (s. Rz. 427). Ist der Betrieb zur Erzielung von Gewinnen objektiv ungeeignet, so schließt der BFH auch bei berufstypischen Tätigkeiten auf Liebhaberei253. 246 Bayer, Die Liebhaberei im Steuerrecht, 1981; J. Lang, StuW 1981, 223; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 267 ff.; Tipke, StRO II2, 663 ff.; Escher, Steuerliche Liebhaberei und Subjektbezug der Einkünfteerzielungsabsicht, Diss., 2005; Kanzler, DStZ 2005, 766; Westerfelhaus, DStZ 2005, 585; Anzinger, Anscheinsbeweis u. tatsächliche Vermutung im Ertragsteuerrecht, Diss., 2006 (u.a. zur Liebhaberei-Rspr. des BFH); Kruse, FS Raupach, 2006, 143; Renner, DStZ 2008, 601 (Österreich); Ritzow, SteuerStud 2009, 66 (Abgrenzung zur selbständigen Arbeit); Birk, BB 2009, 860; Hübner, DStR 2013, 1520; Kraft/ Schaz, DStR 2016, 2936. Zur verfahrensrechtlichen Feststellung einer Liebhaberei Nöcker, AO-StB 2008, 249; BFH v. 4.9.2008 – IV R 1/07, BStBl. II 2009, 335. 247 J. Lang, Bemessungsgrundlage, 258, 267 ff.; Tipke, StRO II2, 665. 248 So BFH v. 12.9.2002 – IV R 60/01, BStBl. II 2003, 85 (87). 249 Z.B. BFH v. 17.11.2004 – X R 62/01, BStBl. II 2005, 336 (Möbelgeschäft); v. 31.3.1992 – IX R 11/87, BFH/NV 1993, 8 (Märchenwald); v. 19.1.1998 – XI B 23/97, BFH/NV 1998, 845 (Boutique); v. 22.4.1998 – I R 135/97, BFH/NV 1999, 23 (Blumenladen); v. 15.11.2006 – XI R 58/04, BFH/NV 2007, 434 (Heilfasten-Haus eines Arztes). 250 BFH v. 15.11.1984 – IV R 139/81, BStBl. II 1985, 205; v. 17.11.2004 – X R 62/01, BStBl. II 2005, 336; v. 23.5.2007 – X R 33/04, BStBl. II 2007, 874 (schlüssiges Betriebskonzept). 251 BFH v. 12.9.2002 – IV R 60/01, BStBl. II 2003, 85 (87). 252 BFH v. 17.11.2004 – X R 62/01, BStBl. II 2005, 336 (339). 253 Dazu BFH v. 23.5.1985 – IV R 84/82, BStBl. II 1985, 515 (Schriftsteller); v. 31.5.2001 – IV R 81/99, BStBl. II 2002, 276 (Steuerberater); v. 12.9.2002 – IV R 60/01, BStBl. II 2003, 85 (Architekt); v. 14.12.2004 – XI R 6/02, BStBl. II 2005, 392 (Rechtsanwalt); v. 20.3.2001 – XI S 10/00, BFH/NV
Hey 361
§ 8 Rz. 135
Einkommensteuer
135 (7) Schließlich gibt es Einkünfte, die mit Einkünfteerzielungsabsicht erwirtschaftet werden und den-
noch nicht steuerbar sind; dazu gehören insb. Einkünfte aus Spiel, Lotterien und Wetten254. Bei derartigen Tätigkeiten soll bereits der objektive Tatbestand (s. Rz. 123) mangels Leistungsaustausch, der eine Subsumtion unter § 22 Nr. 3 EStG ermöglichen würde, nicht verwirklicht sein255. Dies ist zweifelhaft, da Spiel-/Wettverträge nach h.M.256 synallagmatischen Charakter haben. Entscheidend ist auch hier, ob eine Erwerbstätigkeit mit Einkünfteerzielungsabsicht ausgeübt wird oder allein der der privaten Konsumsphäre zuzuordnende Spieltrieb befriedigt wird. Objektivieren lässt sich dies an der Wahrscheinlichkeit des Gewinns. Die Lotto-Tippgemeinschaft mag hoch professionell daher kommen, die Gewinnchancen sind verschwindend gering, anders dagegen die Erfolgsaussichten eines professionellen Pokerspielers257. Preisgelder für die Teilnahme an Fernsehshows („Big Brother“) sind nach § 22 Nr. 3 EStG steuerbar, wobei es auch hier sehr auf die konkreten Umstände des Einzelfalls ankommt258. Private Devisentermingeschäfte beurteilte der BFH zunächst als nicht steuerbare Spielgeschäfte259. Seit 1999 sind Termingeschäfte jedoch steuerpflichtig (§ 20 II 1 Nr. 3 EStG; vor 2009: § 23 I 1 Nr. 4 EStG). Ihre Verlustträchtigkeit wird durch die Begrenzung der Verlustverrechnung aufgefangen (§ 20 VI EStG). Betriebliche Termingeschäfte sind unzweifelhaft steuerbar. Bei nicht notwendig betrieblich veranlassten Termingeschäften greift das Verlustausgleichs- und Abzugsverbot des § 15 IV 3–5 EStG Platz (s. Rz. 418)260.
254 255 256 257 258
259 260
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2001, 1024 (Dozententätigkeit); v. 3.6.2005 – XI S 7/04 (PKH), BFH/NV 2005, 1556 (Erfinder: Gewinnerzielungsabsicht muss bereits zu Beginn der Tätigkeit vorliegen). Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 258, 267 ff.; Schmidt-Liebig, StuW 1995, 162; Tipke, StRO II2, 666 ff.; Koch, Gewinnspiele im Steuerrecht, Diss., 2006; Ismer, FR 2007, 235; Binnewies, FS Streck, 2011, 31 („Spaßfaktor“ im Steuerrecht); Theisen/Raßhofer, FS Spindler, 2011, 819. So bereits anhand des Begriffs „Tätigkeit“ RFH v. 30.6.1927 – VI A 261/27, RFHE 21, 244 (Rennwetten); v. 14.3.1928 – VI A 737/27, RStBl. 1928, 181 (Spielgewinne). Im Weiteren BFH v. 24.10.1969 – IV R 139/68, BStBl. II 1970, 411; Schmidt-Liebig, StuW 1995, 162 (168 ff.). S. Ismer, FR 2007, 235 (236). BFH v. 16.9.2015 – X R 43/12, BStBl. II 2016, 48 mit Anm. Nöcker, FR 2016, 140; Ebner, NWB 2016, 1584. BFH v. 28.11.2007 – IX R 39/06, BStBl. II 2008, 469; v. 24.4.2012 – IX R 6/10, BStBl. II 2012, 581; zustimmend Ismer, FR 2012, 1057; Replik Gebhardt, FR 2013, 65; Duplik Ismer, FR 2013, 66; krit. Binnewies, FR 2012, 931 f.; Binnewies, DStR 2012, 1586; s. ferner M. Rust, Spielgewinne im Einkommensteuerrecht und im Umsatzsteuerrecht. Insbesondere aus Fernsehveranstaltungen, Diss., 2013; Pülzl, ÖStZ 2005, 154 (Steuerbarkeit von Gewinnen aus Millionenshows bejaht); differenzierend Theisen/ Raßhofer, FS Spindler, 2011, 819. BMF v. 30.5.2008 – IV C 3 - S 2257/08/10001, BStBl. I 2008, 645, stellt Kautelen auf, die die Steuerbarkeit stark einschränken und es den Fernsehanstalten leicht machen, die Steuerbarkeit von Preisgeldern aus sog. Millionenshows zu vermeiden. BMF v. 27.4.2006 – IV B 2-S 2246-6/06, BStBl. I 2006, 342 verneint den Zufluss von Einnahmen, wenn sich prominente Kandidaten von vornherein verpflichten, die „Spielgewinne“ gemeinnützigen Organisationen zuzuwenden. Zu Praxisproblemen Jörißen, StBW 2013, 125. BFH v. 25.8.1987 – IX R 65/86, BStBl. II 1988, 248 (249). Das Verlustausgleichs- u. Abzugsverbot (§ 15 IV 3 EStG) gilt nicht für Geschäfte, die zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb von Kreditinstituten u.a. Finanzunternehmen i.S.d. Kreditwesengesetzes gehören oder die der Absicherung von Geschäften des gewöhnlichen Geschäftsbetriebs dienen (§ 15 IV 4 EStG). Es gilt im Wesentlichen für den Bereich des gewillkürten Betriebsvermögens branchenfremder Unternehmen (s. BFH v. 20.4.1999 – VIII R 63/96, BStBl. II 1999, 466), wo ein überhöhtes Verlustrisiko schwerlich ausgeschlossen werden kann. Ausf. zu § 15 IV 3–5 EStG HHR/Intemann, § 15 EStG Anm. 1541 ff. (2013); Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 418 ff.; Ebel, DB 2013, 2112. Nach BFH v. 28.4.2016 – IV R 20/13, BStBl. II 2016, 739 (741 f.) verfassungskonform.
Hey
D. Bestimmung steuerpflichtiger Einkünfte
Rz. 138 § 8
Nicht steuerbare Konsumeinkünfte sind zudem zu unterscheiden von steuerbaren Einkünften aus hochriskanten Geschäften, wie z.B. der Beteiligung an betrügerischen Schneeballsystemen261. Einstweilen frei.
136
3. Steuerfreie Einkünfte Literatur: Ruppe, Die Ausnahmebestimmungen des Einkommensteuergesetzes, Habil., 1971, 217 ff.; Koether, Die Steuerbefreiungen von Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit, Diss., 1972; Kirchner, Objektive Befreiungen von der Einkommensteuer in den EG-Ländern Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg, Diss., 1974; Traxel, Die Freibeträge des Einkommensteuergesetzes, Diss., 1986; Bergkemper, § 3 EStG: Ein Waisenkind der Steuergesetzgebung, Ein Beitrag zur juristischen Qualität des Befreiungskatalogs und zu verfassungsrechtlich zweifelhaften Befreiungsvorschriften, FR 1996, 509; Tipke, StRO II2, 2003, 844 ff.; Tipke, Rechtsschutz gegen Privilegien Dritter, FR 2006, 949; Luck, „Alles oder Nichts“ – Die Freigrenze im Steuerrecht, Diss. 2014; grundl. Kommentierungen des § 3 EStG von KSM/v. Beckerath (2016); HHR/Bergkemper u.a.
3.1 Objektive Befreiungen § 3 EStG erklärt einen langen Katalog von Einnahmen für steuerfrei. Die Steuerbefreiung von Ein- 137 nahmen greift in Verbindung mit § 3c EStG Platz: Soweit Ausgaben mit steuerfreien Einnahmen „in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang stehen“, dürfen sie nicht als Betriebsausgaben oder Werbungskosten abgezogen werden (s. Rz. 290). Die Befreiungen in den §§ 3; 3a; 3b EStG sind nicht systematisch geordnet. Sozialzwecknormen (s. § 3 Rz. 21 f.) sind vermengt mit Fiskalzwecknormen (s. § 3 Rz. 20) und Vereinfachungszwecknormen (§ 3 Rz. 23 f.). Eine eindeutige Zuordnung zu den vorgenannten Normkategorien ist nicht immer möglich. (1) Fiskalzweckbefreiungen (also keine Steuervergünstigungen) sind Befreiungen, die den Einkom- 138 mensteuertatbestand völkerrechtlich abgrenzen wie die in DBA geregelten Befreiungen zur Vermeidung der internationalen Doppelbesteuerung. Auch § 3 Nr. 29 EStG beruht auf völkervertraglich festgelegten Befreiungen für Angehörige diplomatischer und konsularischer Vertretungen. Die Regelung des sog. Teileinkünfteverfahrens (s. § 11 Rz. 12) in § 3 Nr. 40 EStG mildert die Doppelbelastung durch Körperschaftsteuer und Einkommensteuer im Wege einer Teilentlastung des Anteilseigners (s. § 11 Rz. 7). § 3 Nr. 41 EStG vermeidet die zweifache Besteuerung von Gewinnen durch Hinzurechnungsbesteuerung nach den §§ 7 ff. AStG und eine nachfolgende Besteuerung von Gewinnausschüttungen und Veräußerungsgewinnen. Fiskalzweckbefreiungen sind auch Befreiungen zur Vermeidung einer Übermaßbesteuerung. So ist die Steuerbefreiung für Sanierungsgewinne, das sind Gewinne aufgrund eines Forderungsverzichts zur Abwendung einer Insolvenz, richtigerweise als Fiskalzwecknom und nicht als Subvention einzuordnen. Folglich stellt der neu in § 3a EStG eingefügte Befreiungstatbestand262 auch keine verbotene 261 Derartige Geschäfte sind aus der Sicht des Kapitalanlegers zu beurteilen (BFH v. 14.12.2004 – VIII R 5/02, BStBl. II 2005, 739; v. 14.12.2004 – VIII R 81/03, BStBl. II 2005, 746) und führen grds. zu steuerpflichtigen Kapitaleinkünften i.S.v. § 20 EStG (BFH v. 14.12.2004 – VIII R 5/02, BStBl. II 2005, 739 [746]; v. 16.3.2010 – VIII R 4/07, BStBl. II 2014, 147 [149]; v. 11.2.2014 – VIII R 25/12, BStBl. II 2014, 461), ohne dass es darauf ankommt, ob die Erträge tatsächlich erwirtschaftet wurden und ein zivilrechtlich durchsetzbarer Anspruch des Anlegers besteht (BFH v. 22.7.1997 – VIII R 13/96, BStBl. II 1997, 767 (768)). Krit. Marx, FR 2009, 515; Wolff-Diepenbrock, FS Spindler, 2011, 897; Karla, FR 2013, 545; Schmittmann, StuB 2014, 381; Podewils, StBW 2014, 552; Levedag, NWB 2015, 914. 262 Durch Gesetz v. 27.6.2017, BGBl. I, 2074. Die gesetzgeberische Maßnahme war erforderlich geworden, nachdem der GrS des BFH (v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393) den sog. Sanierungserlass (BMF v. 27.3.2003 – IV A 6 - S 2140-8/03, BStBl. I 2003, 240), der zuvor die Steuerbefreiung auf Verwaltungsebene regelte, für mit dem Rechtstaatsprinzip unvereinbar erklärt hatte; dazu Beutel/Eilers, FR 2017, 266; Geerling/Hartmann, DStR 2017, 752; Roll/Völkner, BB 2017, 643; Sistermann, DStR
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§ 8 Rz. 139
Einkommensteuer
Beihilfe dar263. Unzweifelhaft ist dies jedenfalls insoweit, als der Stpfl. über Verlustvorträge verfügt, diese aber aufgrund der Mindestbesteuerung ders § 10d II EStG nicht voll zur Neutralisierung des Sanierungsgewinns nutzen kann. Im Übrigen dient die Steuerbefreiung der Verschonung nicht leistungsfähiger Unternehmen. Zu den Fiskalzweckbefreiungen gehören auch die klarstellenden Befreiungen, die nicht steuerbare Einnahmen ausscheiden (s. Rz. 124): § 3 Nr. 1 (Versicherungsleistungen), 11 (insb. Sozialhilfe), 14 (Versicherungszuschüsse an Rentner), 23 (Häftlingshilfe, Rehabilitation), 42, 44 (Stipendien), 55a, 55b (Versorgungsausgleich), 58, 59 (Wohnen), 67 (Erziehung), 69 (Zuwendungen an HIV-Infizierte/ AIDS-Kranke) EStG. Teils sind diese Bezüge aber durch die Erwerbstätigkeit veranlasst wie die Beihilfe für Beamte (§ 3 Nr. 11 EStG) oder für beruflich veranlasste Stipendien (§ 3 Nr. 44 EStG), so dass ihre Befreiung mit dem Hinweis auf den Zuwendungscharakter nicht gerechtfertigt werden kann. Fiskalzwecknormen sind auch insofern gegeben, als die befreiten Bezüge die steuerliche Leistungsfähigkeit nicht erhöhen, wie z.B. Leistungen zum Ausgleich von Kosten, die durch Krankheit oder Unfall verursacht sind. § 3 Nr. 4 Buchst. d, 5, 11 EStG können mit dem Gedanken des § 33 EStG gerechtfertigt werden. 139 (2) Vereinfachungsbefreiungen sind insb. die Befreiungen, die Auslagenersatz und Aufwandsentschä-
digungen betreffen: § 3 Nr. 4 Buchst. a–c (Dienstkleidung/-verpflegung), 12 (Aufwandsentschädigungen), 13/16 (Reise-/Umzugskosten), 32 (Sammelbeförderung), 50 (durchlaufende Posten), 64 (Kaufkraftausgleich) EStG. Sie verkürzen die Überschussrechnung um den Ansatz von Einnahmen und von Werbungskosten in typisierender Weise. Diese Typisierung muss aber gleichmäßig vollzogen werden und darf nicht bestimmte Gruppen (z.B. Arbeitnehmer oder öffentlich Bedienstete) gleichheitssatzwidrig privilegieren264. Im Weiteren kann die überhöhte Abgeltung von Aufwand zur verdeckten Sozialzwecknorm werden; dies verletzt das Gebot der Normenklarheit (s. § 3 Rz. 243 ff.). Daher sind die Befreiungen von Aufwandsentschädigungen, Reise-/Umzugskostenvergütungen, Trennungsgeldern (§ 3 Nr. 12, 13 EStG) verfassungskonform auf die Erstattung tatsächlich entstandener oder zumindest realitätsgerecht typisierter Erwerbsaufwendungen zu beschränken265; das gilt auch für die steuerfreien Aufwandsentschädigungen von Abgeordneten (s. Rz. 541). Die gesetzgeberische Beschränkung auf Ausweisung als Aufwandsentschädigung in dem entsprechenden Haushaltsplan in § 3 Nr. 12 EStG erhöht zwar die öffentliche Kontrolle, ohne jedoch die aus steuersystematischen Gründen erforderliche Eingrenzung zu leisten. Die Steuerbefreiung von Vorteilen des Arbeitnehmers aus der privaten Nutzung von betrieblichen Personalcomputern und Telekommunikationsgeräten und vom Arbeitgeber überlassenen System- und Anwendungsprogrammen (§ 3 Nr. 45 EStG) ist als Vereinfachungsbefreiung insoweit gerechtfertigt, als eine gleichmäßige Erfassung der privaten Nutzungen nur mit unverhältnismäßigem Aufwand möglich ist. Nach der Rspr. des
2017, 689; Sonnleitner/Strotkemper, BB 2017, 668; Weiss, StuB 2017, 264; Kahlert/Schmidt, DStR 2017, 1897. 263 Der Gesetzgeber hat das Inkraftreten von § 3a EStG unter den Vorbehalt erfolgreicher Notifizierung durch die EU-Kommission gestellt (vgl. Art. 6 des Gesetzes v. 27.6.2017, BGBl. I, 2074); dazu Kußmaul/Licht, DB 2017, 1797; Förster/Hechtner, DB 2017, 1536. Dieses Notifizierungsverfahren kann Rückwirkungen auch auf die Einordnung des Sanierungserlasses haben; zu Letzterem Seer, FR 2010, 306. Grundl. zur steuerlichen Behandlung von Sanierungsfällen Eilers/Bühring, Sanierungssteuerrecht, 2012; Tschersich, Ertragsbesteuerung der Unternehmenssanierung, Diss., 2014, mit Reformvorschlägen, 239 ff. 264 So bevorzugt die Steuerbefreiung von Aufwandsentschädigungen nach § 3 Nr. 12 Satz 1 EStG gleichheitssatzwidrig Bundes- u. Landesbedienstete gegenüber anderen Arbeitnehmern (Bergkemper, FR 1999, 517). BVerfG v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280, beanstandete die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift für Zulagen an Besoldungsempfänger im Beitrittsgebiet. Der Gesetzgeber hat bisher nicht die Konsequenz gezogen, § 3 Nr. 12 Satz 1 insgesamt zu streichen (so die Forderung z.B. von HHR/Bergkemper, § 3 Nr. 12 EStG Anm. 4 [2013]). 265 BFH v. 29.11.2006 – VI R 3/04, BStBl. II 2007, 308; v. 12.4.2007 – VI R 53/04, BStBl. II 2007, 536.
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D. Bestimmung steuerpflichtiger Einkünfte
Rz. 141 § 8
BFH266 verletzt die Beschränkung des § 3 Nr. 45 EStG auf Arbeitnehmer nicht den Gleichheitssatz, weil typischerweise davon auszugehen sei, dass Arbeitnehmer betriebliche Geräte nur begrenzt nutzen würden, während Unternehmer eher geneigt seien, betriebliche Einrichtungen zu Lasten des steuerlichen Gewinns privat zu nutzen. Ähnlich begründet ist die Befreiung von Trinkgeldern durch § 3 Nr. 51 EStG267. Freilich sind Ermittlungsschwierigkeiten nicht geeignet, eine unbegrenzte Steuerbefreiung zu rechtfertigen, erst recht nicht ihre Beschränkung auf Arbeitnehmer268;
(3) Sozialzweckbefreiungen sind nach dem Gemeinwohlprinzip (s. § 3 Rz. 133) und dem Verdienst- 140 prinzip (§ 3 Rz. 135 f.) zu rechtfertigen oder sie lassen sich überhaupt nicht rechtfertigen. Der Gleichheitssatz kann auch verletzt sein, wenn Steuervergünstigungen in nicht zu rechtfertigender Weise nur bestimmten Gruppen von Stpfl., z.B. Arbeitnehmern (s. Rz. 143), gewährt werden. Steuerfreiheit für die Vergütung von Tätigkeiten im Gemeinwohlinteresse269: Die Steuerfreiheit von Bezügen wg. Kinderpflege (§ 3 Nr. 9; Nr. 34a EStG), Behindertenpflege (§ 3 Nr. 9), Hilfsbedürftigkeit (§ 3 Nr. 11 EStG) und wg. bürgerschaftlichen Engagements (§ 3 Nr. 26, 26a, 26b EStG) zielt darauf ab, Stpfl. zu (altruistischen) Tätigkeiten im Gemeinwohlinteresse anzuhalten. Ehrenamtliche Tätigkeiten270 sollen durch den Übungsleiterfreibetrag (§ 3 Nr. 26 EStG) i.H.v. 2 400 Euro und einen Ehrenamtsfreibetrag (§ 3 Nr. 26a EStG271) von 720 Euro angeregt werden, die europarechtskonform auch für aus dem EU-/EWR-Raum empfangene Einnahmen gelten272. § 3 Nr. 26b EStG stellt Aufwandsentschädigungen ehrenamtlicher Betreuer, Vormünder und Pfleger frei. Wirtschafts- und Investitionsförderung bezweckt § 3 Nr. 71, indem staatliche Zuschüsse zum Erwerb von Wagniskapitalgesellschaften bis zu 50 000 Euro freigestellt werden (sog. INVEST-Zuschuss); zur Steuerbarkeit staatlicher Zuschüsse s. Rz. 215. Steuerfreiheit von Versorgungs-, Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen (§ 3 Nr. 6–8a, 18, 19, 141 20, 54 EStG): Das Gemeinwohlprinzip rechtfertigt die Steuerfreiheit von Leistungen, die Beeinträchtigungen durch den Staat ausgleichen: Leistungen für Kriegsfolgen, Kriegsopfer, Vertriebene und Verfolgte (§ 3 Nr. 6–8, 18, 19,
266 BFH v. 21.6.2006 – XI R 50/05, BStBl. II 2006, 715 (717). 267 BT-Drucks. 14/9428, 4; BFH v. 18.12.2008 – VI R 49/06, BStBl. II 2009, 820; zum Erfordernis der Begebung durch einen Dritten BFH v. 18.6.2015 – VI R 37/14, BStBl. II 2016, 751 (752); zur aktuellen Rspr. Geserich, SteuK 2015, 501. 268 Erhebungsschwierigkeiten bestehen auch bei Unternehmern, z.B. bei selbständigen Taxifahrern u. Friseuren (vgl. Kirchhof/von Beckerath17, § 3 EStG Rz. 132). Nicht beseitigen lässt sich der Gleichheitsverstoß durch den Ausschluss von Trinkgeldern, die an Arbeitnehmer in trinkgelduntypischen Berufen (Notarassessor) gezahlt werden (so BFH v. 10.3.2015 – VI R 6/14, BStBl. II 2015, 767). 269 J. Lang, Bemessungsgrundlage, 272, verneint bereits mangels Einkünfterzielungsabsicht die Steuerbarkeit der Einkünfte aus gemeinnütziger und ehrenamtlicher Tätigkeit; a.A. BFH v. 17.10.2012 – VIII R 57/09, BStBl. II 2013, 799 (800); Tegelkamp/Krüger, FR 2013, 490; Myssen, INF 2000, 129 ff., 168 ff. 270 Hierzu BMF v. 21.11.2014 – IV C 4 – S 2121/07/0010:032, BStBl. I 2014, 1581; Bender, DStR 2015, 2257. Statt der Abschaffung des „Übungsleiterprivilegs“ (hierfür insb. Gutachten der Unabhängigen Sachverständigenkommission zur Prüfung des Gemeinnützigkeits- u. Spendenrechts, BMF-Schriftenreihe 40, 1988, 217 ff.; Wiss. Beirat beim BMF, Die abgabenrechtliche Privilegierung gemeinnütziger Zwecke auf dem Prüfstand, BMF-Schriftenreihe 80, 2006, 45 f.) hat der Gesetzgeber die Vergünstigungen permanent ausgeweitet, zuletzt durch Ehrenamtsstärkungsgesetz v. 1.3.2013, BGBl. I 2013, 556). 271 Dazu BMF v. 21.11.2014 – IV C 4-S 2121/07/0010:032, BStBl. I 2014, 1581. 272 Aufgrund von EuGH v. 18.12.2007 – C-281/06, ECLI:EU:C:2007:816 – Jundt; dazu Hüttemann/Helios, IStR 2008, 200. Aufgrund Freizügigkeitsabkommen v. 21.6.1999 (Abl. 2002, L 114 6) erweitert auf die Schweiz s. EuGH v. 21.9.2016 – C-78/15, ECLI:EU:C:2016:705 – Radgen.
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§ 8 Rz. 142
Einkommensteuer
54 EStG), auch Entschädigungen nach dem Bundesseuchengesetz (§ 3 Nr. 25 EStG). Das Verdienstprinzip rechtfertigt Steuerbefreiungen für Vergütungen an besonders verdiente Personen (§ 3 Nr. 20 EStG). 142 Steuerfreiheit von Leistungen der Zukunftsvorsorge (§ 3 Nr. 17, 47, 57, 62, 63, 63a, 65, 66 EStG): § 3 Nr. 3 EStG stellt Kapitalabfindungen gesetzlicher Altersversorgung u. § 3 Nr. 62 EStG stellt bestimmte Leistungen des Arbeitgebers zur Zukunftssicherung des Arbeitnehmers steuerfrei. Mit dem Altersvermögensgesetz v. 26.6.2001 (BGBl. I 2001, 1310) ist die Steuerfreiheit von Leistungen der Zukunftsvorsorge erheblich ausgeweitet worden: § 3 Nr. 63, 63a, 66 EStG befreit bestimmte Leistungen an Pensionskassen/-fonds und im Rahmen betrieblicher Altersvorsorge. Diese Befreiungen sind Teil des Einstiegs in eine nachgelagerte Besteuerung von Alterseinkünften (s. Rz. 480 f.) und insoweit keine Sozialzweck-, sondern Fiskalzweckbefreiungen, als die Altersbezüge nach § 22 Nr. 5 EStG besteuert werden. Soweit die Befreiungen nicht mit einer entsprechenden Besteuerung verknüpft sind, liegen gleichheitswidrige Steuerprivilegien vor, deren Abbau im Zuge eines systematischen Ausbaus der nachgelagerten Besteuerung geboten ist. 143 I.Ü. ist die Steuerfreiheit diverser erwirtschafteter Bezüge bevorzugten Gruppen, besonders Arbeit-
nehmern273, so willkürlich zugewiesen, dass nur die konsequente Beseitigung der Steuerbefreiungen Steuergleichheit herstellt274. Es werden folgende Bezüge steuerfrei gestellt: – Lohnersatzleistungen275: Leistungen der Arbeitsförderung (§ 3 Nr. 2 Buchst. a–e EStG); Überlassung von Dienstkleidung, Verpflegung u. Heilfürsorge für Angehörige der Bundeswehr, Polizei, Feuerwehr etc. (§ 3 Nr. 4 EStG), Bezüge von Wehr-, Zivildienstleistenden und Dienstleistenden nach dem Bundesfreiwilligengesetz (§ 3 Nr. 5 EStG); – Produktionsaufgaberente u. Ausgleichsgeld für Landwirte bis 18 407 Euro (§ 3 Nr. 27 EStG); – Aufwandsentschädigungen (§ 3 Nr. 12, 13 EStG, s. Rz. 541), Auslandszuschläge u. Kaufkraftausgleich (§ 3 Nr. 64 EStG)276. § 3 Nr. 13, 16, 35 EStG sind gleichheitskonform Angehörige des öffentlichen und nichtöffentlichen Dienstes gleichbehandelnde Vereinfachungsbefreiungen (s. Rz. 139); – freiwillige Arbeitgeberleistungen für Gesundheitsvorsorge bis 500 Euro pro Jahr (§ 3 Nr. 34 EStG) und Kinderbetreuung (§ 3 Nr. 33, 34a EStG), die zusätzlich277 zum ohnehin geschuldeten Arbeitslohn erbracht werden; – Vergütungen für familiäre Pflege (§ 3 Nr. 36 EStG278); – Sachprämien zur Kundenbindung (§ 3 Nr. 38 EStG279), Nutzung von Personalcomputern u. Telekommunikationsgeräten (§ 3 Nr. 45 EStG; s. Rz. 139), Aufladen von Elektrofahrzeugen (§ 3 273 Dazu Koether, Die Steuerbefreiungen von Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit, Diss., 1972; Fischer/Hoberg, DB 2006, 1333. 274 Hierfür dezidiert u.a. Thesen der Einkommensteuer-Kommission, BMF-Schriftenreihe 55, 1995, 37 ff.; Tipke, StRO II2, 844 ff., 854 (gänzliche Abschaffung der Steuervergünstigungen u. dementsprechende Steuersenkung für alle); P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, 2003; Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, Habil., 2004; Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, 2004; Kölner EStGE (2005). 275 Diese stehen immerhin unter dem Progressionsvorbehalt des § 32b I 1 Nr. 1 EStG (s. Rz. 810). 276 Europarechtlich ist die Beschränkung auf Zahlungen inländischer Stellen nicht zu beanstanden, s. EuGH v. 15.11.2011 – C-240/10, ECLI:EU:C:2011:591 – Schulz-Delzers und Schulz. 277 BMF v. 22.5.2013 – IV C 5 - S 2388/11/10001-02, BStBl. I 2013, 728: grds. zu bejahen außer in Fällen der Gehaltsumwandlung; restriktiver BFH v. 19.9.2012 – VI R 54/11, BStBl. II 2013, 395 u. 398; dazu Thomas, DStR 2013, 233; Geserich, SteuK 2013, 269; Seifert, StuB 2013, 530; Plenker, DB 2013, 1202; Connemann, NWB 2014, 1357. 278 HHR/Bergkemper, § 3 Nr. 36 EStG (2017). 279 § 3 Nr. 38 EStG betrifft hauptsächlich Vielfliegerprogramme („Miles and More“ etc.). Der Wert der Prämien darf 1 080 Euro im Kalenderjahr nicht übersteigen. Soweit dieser Betrag überschritten wird, können die Sachprämien vom leistenden Unternehmen nach § 37a EStG (sog. lex Lufthansa) pauschal mit 2,25 % versteuert werden (s. Rz. 901).
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Hey
D. Bestimmung steuerpflichtiger Einkünfte
Rz. 146 § 8
Nr. 46 EStG), Trinkgelder (§ 3 Nr. 51 EStG; s. Rz. 139), Leistungen aus öffentlichen Mitteln an Arbeitnehmer der Bergwerks- u. Schwerindustrie (§ 3 Nr. 60 EStG) u. an Entwicklungshelfer (§ 3 Nr. 61 EStG), Beamtenbeihilfen (§ 3 Nr. 11 EStG; s. Rz. 138, 140) u. Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- oder Nachtarbeit (§ 3b EStG; s. Rz. 140). – Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- oder Nachtarbeit (§ 3b EStG): Die Sozialzwecknorm des § 3b EStG verletzt den Gleichheitssatz, zum einen, weil die Vorschrift auf Arbeitnehmer beschränkt ist, zum anderen, weil bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern privilegiert werden280. 3.2 Freibeträge/Freigrenzen Die Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft werden bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der 144 Einkünfte nur berücksichtigt, soweit sie den Betrag von 900 Euro (bei Ehegatten: 1 800 Euro, auch wenn nur einer der beiden Eheleute in der Landwirtschaft arbeitet) übersteigen. Dieser Freibetrag entfällt, wenn die Summe der Einkünfte ohne Berücksichtigung des Freibetrags 30 700/61 400 Euro übersteigt (§ 13 III 2 EStG). Es handelt sich um einen Subventionsfreibetrag281. Ein Betrieb, der mit Verlust arbeitet, erhält allerdings keine Subvention. Begünstigt werden Landwirte ferner durch die Steuerbefreiung für Produktionsaufgaberente und Ausgleichsgeld bis 18 407 Euro (§ 3 Nr. 27 EStG). Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§§ 19; 3 Nr. 39): § 19 II EStG begünstigt Versorgungsbezü- 145 ge durch einen Versorgungsfreibetrag und einen Zuschlag zum Versorgungsfreibetrag. Versorgungsfreibetrag und Zuschlag werden im Übergang zur voll nachgelagerten Besteuerung von den Beträgen 3 000/900 Euro (2005) bis zum Jahre 2040 vollständig abgeschmolzen (s. Tabelle in § 19 II 3 EStG). § 3 Nr. 39 EStG (vormals § 19a EStG) fördert die freiwillig und zusätzlich oder durch Entgeltumwandlung erbrachte unentgeltliche oder verbilligte Überlassung von Mitarbeiterkapitalbeteiligungen nach dem Vermögensbildungsgesetz mit einem Betrag von bis zu 360 Euro282. Gruppenprivilegien sind auch der Arbeitnehmer-Pauschbetrag von 1 000 Euro gem. § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG und der Personalrabatt-Freibetrag von 1 080 Euro gem. § 8 III 2 EStG. Freibeträge werden auch bei Betriebsveräußerungen zugestanden (§§ 14 Satz 2; 14a; 16 IV; 18 III 2 146 EStG), ferner bei der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften (§ 17 III EStG). Die Freibeträge der teleologisch gleich gelagerten Vorschriften sind unterschiedlich ausgestaltet: § 16 IV EStG gewährt einmalig283 einen Freibetrag von 45 000 Euro für Stpfl., die das 55. Lebensjahr vollendet haben oder dauernd berufsunfähig sind. Demgegenüber räumt § 17 III EStG einen Freibetrag in Höhe des Teils von 9 060 Euro ein, der dem veräußerten Anteil entspricht. Die Aufzehrungsgrenze setzt in § 16 IV 3
280 Nach BVerfG v. 8.6.1993 – 1 BvL 20/85, BVerfGE 89, 15, war § 3b EStG 1975 aber nur insoweit mit Art. 3 I GG unvereinbar, als die Steuerfreiheit auf höchstens 15 % des Grundlohns begrenzt war. M.E. verletzt aber § 3b EStG im Ganzen den Gleichheitssatz. Hieran ändert auch die restriktive Rspr. des BFH (s. z.B. BFH v. 27.5.2009 – VI B 69/08, BStBl. II 2009, 730; v. 16.12.2010 – VI R 27/10, BStBl. II 2012, 288; v. 8.12.2011 – VI R 18/11, BStBl. II 2012, 291 (nur für tatsächlich geleistete Arbeit); v. 29.11.2016 – VI R 61/14, BStBl. II 2017, 718 (nicht bei pauschaler Erhöhung der Vergütung) zu der streitanfälligen Vorschrift nichts. Ausf. zu § 3b EStG Tipke, StRO II1, 1993, 714 ff. (s. auch Tipke, StRO II2, 753 f.); Tipke, FR 2006, 950 ff.; Wernsmann, ZRP 2010, 124 ff. Der Ausweitung auf andere gemeinwohlförderliche Tätigkeiten (Kampfmittelräumung) steht bereits der unklare Gesetzeszweck der Norm entgegen BFH v. 15.9.2011 – VI R 6/09, BStBl. II 2012, 144. 281 Zur Entstehungsgeschichte des § 13 III EStG: Blümich, EStG 19342, 1937; HHR/Gmach, § 13 EStG Anm. 360 (2004) abrufbar im elektronischen HHR-Archiv unter www.ertragsteuerrecht.de/hhr_ archiv.htm; Felsmann/Pape, Die Einkommensbesteuerung der Land- und Forstwirte, Abschn. A, Rz. 386 ff. (2015); Bericht der Einkommensteuerkommission (sog. Durchforstungskommission), Schriftenreihe des BdF 7, 173 ff. 282 Dazu BMF v. 8.12.2009 – IV C 5 - S 2347/09/10002, BStBl. I 2009, 1513, mit Anm. Wünnemann, DStR 2010, 31. 283 BFH v. 21.7.2009 – X R 2/09, BStBl. II 2009, 963.
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§ 8 Rz. 147
Einkommensteuer
EStG ab 136 000 Euro Veräußerungsgewinn, in § 17 III 2 EStG ab 36 100 Euro Veräußerungsgewinn ein. Diese Unterschiede sind willkürlich festgelegt. 147 Bei den Einkünften aus Kapitalvermögen ist anstelle von Werbungskosten gem. § 20 IX EStG der
Sparer-Pauschbetrag von 801 Euro (Ehegatten: 1 602 Euro) abzuziehen (s. Rz. 494), was in dem Umfang, in dem keine Werbungskosten vorliegen, zu einer Steuerbefreiung der Kapitaleinkünfte führt. 148 Sonstige Einkünfte (§§ 22; 23 EStG): Gewinne aus privaten Veräußerungsgeschäften (§§ 22 Nr. 2; 23
EStG) bleiben steuerfrei, wenn der aus den privaten Veräußerungsgeschäften erzielte Gesamtgewinn im Kalenderjahr weniger als 600 Euro betragen hat (Vereinfachungsfreigrenze nach § 23 III 5 EStG). Einkünfte aus sonstigen Leistungen (s. Rz. 542 ff.) sind nicht einkommensteuerpflichtig, wenn sie weniger als 256 Euro betragen haben (Vereinfachungsfreigrenze nach § 22 Nr. 3 Satz 2 EStG). 149 Stpfl. wird ab dem 65. Lebensjahr (s. § 24a Satz 3 EStG) der Altersentlastungsbetrag (§ 24a EStG)
gewährt. Der Altersentlastungsbetrag wurde 1975 eingeführt und soll einen Ausgleich für solche Alterseinkünfte schaffen, die nicht durch den Versorgungsfreibetrag (s. Rz. 145) oder die Besteuerung nur des Ertragsanteils von Renten (§ 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG; s. Rz. 532, 565) begünstigt sind284. Mit der Neuordnung der Besteuerung von Alterseinkünften durch das Alterseinkünftegesetz von 2004 (s. Rz. 570) wird der Altersentlastungsbetrag bis zum Jahre 2040 abgeschmolzen285.
E. Die persönliche Zurechnung von Einkünften Literatur: Tipke, Übertragung von Einkunftsquellen, StuW 1977, 293; Tipke, Übertragung von Einkunftsquellen im Steuerrecht, DStJG 1 (1978); L. Schmidt, Subjektive Zurechnung von Einkünften, StbJb. 1980/81, 115; Stadie, Die persönliche Zurechnung von Einkünften, 1983; Schulze-Osterloh, Rechtsnachfolge im Steuerrecht, DStJG 10 (1987); Steinberg, Zur Frage der Einkunftsquelle und ihrer Zurechnung, DStZ 1988, 315; Wassermeyer, Zum Besteuerungsgegenstand der Einkünfte aus Kapitalvermögen, StuW 1988, 283; Herrmann, Die Zurechnung von Vermietungseinkünften und deren Verlagerung auf Angehörige und Gesellschafter – Möglichkeiten und Grenzen, DB 1992, 2104; Biergans, Zur personellen Zurechnung latenter Einkünfte, in FS L. Schmidt, 1993, 75; Raupach, Die Frage der Zurechnung im Steuerrecht als Problem der Tatbestandsverwirklichung, in FS Beisse, 1997, 403; Fischer, „Faktisches“, „Verdecktes“ und die subjektive Zurechnung von Einkünften, FR 1998, 813; Fischer, Zurechnung, Zugriff, Durchgriff – Aspekte einer Grundfrage des Steuerrechts, FR 2001, 1; Verhandlungen des 15. Österreichischen Juristentages: Einkünftezurechnung im Einkommen- u. Körperschaftsteuerrecht, Gutachten von Tanzer, 2003, Referate von Fischer, Gassner, Loukota u. Zorn, 2004; HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 100–340 (2015); Grünwald, Das Verhältnis von Steuersubjekt und Steuerobjekt im Einkommensteuerrecht, Diss., 2015 (insb. zur subjektiven Zuordnung stiller Reserven).
1. Allgemeine Zurechnungsregeln 150 Nach § 2 I 1 EStG sind die Einkünfte der Person zuzurechnen, die sie „erzielt“. Das Merkmal des Er-
zielens wird im Kontext mit dem Einkünftekatalog des § 2 I EStG wie folgt konkretisiert: Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung (s. § 3 Rz. 230 ff.) und die pragmatische Legaldefinition des Einkommens durch den Einkünftekatalog (s. Rz. 53) begründen die Regel, dass Einkünfte demjenigen persönlich zuzurechnen sind, der den konkreten Tatbestand der Einkunftserzielung erfüllt286. Danach wird das Merkmal des Erzielens durch die einzelnen Einkünftetatbestände konkreti-
284 BT-Drucks. 7/1470, 279. 285 S. BT-Drucks. 15/2150, 43, u. Tabelle in § 24a Satz 5 EStG. 286 Grundl. Tipke, StuW 1977, 293 (298); Ruppe, DStJG 1 (1978), 7; umfassend HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 100 ff. (2015).
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E. Die persönliche Zurechnung von Einkünften
Rz. 154 § 8
siert. Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten treten Normen des Internationalen Steuerrechts hinzu287. Die Einkünftetatbestände der §§ 13–24 EStG erfassen prinzipiell nur das Erwerbseinkommen (s. 151 Rz. 52). Folglich sind die Einkünfte grds. dem zuzurechnen, der sie erwirtschaftet. Erwirtschaftet werden Einkünfte von dem, der die Einkünfte auf Grund seiner Betätigung, d.h. auf Grund seiner Arbeit und (oder) seines Vermögenseinsatzes unter Beteiligung am wirtschaftlichen Verkehr (s. Rz. 122 ff.), erzielt. Die eingesetzte Arbeitskraft und das genutzte Vermögen lassen sich auch als Einkunftsquellen bezeichnen. Man kann die geleistete Arbeit als persönliche Einkunftsquelle und das zur Nutzung überlassene Vermögen als sachliche Einkunftsquelle bezeichnen. Der Begriff des Erwirtschaftens bezieht sich auf Tätigkeiten: Arbeitseinkünfte sind grds. dem zu- 152 zurechnen, der die entgeltliche, selbständige oder nichtselbständige Tätigkeit ausgeübt hat. Auch Vermögenseinkünfte werden durch Tätigkeiten erzielt, nämlich durch Tätigkeiten der Vermietung, Verpachtung und anderer Überlassung von Vermögen zur Nutzung (Tätigkeiten sog. privater Vermögensverwaltung). Die Einkünfte i.S.d. §§ 20; 21 EStG werden sowohl durch verwaltende Tätigkeit als auch durch Vermögenseinsatz erzielt. Der Beitrag der Arbeit zu den Vermögenseinkünften kann jedoch gering und im Extremfall überhaupt nicht vorhanden sein. In solchen Fällen lässt sich aus dem Begriff des Erwirtschaftens für das Merkmal des Erzielens keine aussagekräftige Konkretisierung mehr ableiten. Dies gilt besonders bei reinen Vermögenseinkünften wie z.B. wiederkehrenden Bezügen (§ 22 Nr. 1, 1a EStG), bei denen das Recht auf wiederkehrende Bezüge (z.B. das Rentenstammrecht oder der Unterhaltsanspruch) die alleinige Quelle der Einkünfte ist. Somit entsteht bei Vermögenseinkünften das Bedürfnis nach weiteren Zurechnungsregeln, die das 153 Merkmal des Erzielens konkretisieren. Bei Vermögenseinkünften ist die Frage, wer die einkünfterelevante Erwerbstätigkeit, die Überlassung von Vermögen zur Nutzung, ausübt, untrennbar mit der zivilrechtlichen Dispositionsbefugnis verknüpft288. Die Dispositionsbefugnis wird im Steuerrecht auch durch Kriterien wirtschaftlicher Zurechnung bestimmt (s. § 5 Rz. 140 ff.). § 39 AO regelt nicht unmittelbar die Zurechnung von Einkünften, sondern die Zurechnung von Wirtschaftsgütern. Bei den Vermögenseinkünften kann jedoch § 39 AO bei der Frage, wer Vermögen zur Nutzung überlässt, die Einkünftezurechnung mitbestimmen289. Bei reinen Vermögenseinkünften kann die Dispositionsbefugnis allein maßgeblich für die Einkünftezurechnung werden. So erzielt z.B. der Inhaber des Rentenstammrechts die Renteneinkünfte. 2. Konkretisierung der Zurechnungsregeln bei einzelnen Einkunftsarten Die dargelegten allgemeinen Zurechnungsregeln konkretisieren sich bei den einzelnen Einkunfts- 154 arten wie folgt: (1) Bezüge aus einem landwirtschaftlichen oder gewerblichen Betrieb sind dem zuzurechnen, der diese Bezüge als Unternehmer mit eigener Initiative und eigenem Risiko erwirtschaftet290. Nach Rspr. 287 Dazu Schaumburg in Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, Rz. 6.103, 2017; Ziehr, Einkünftezurechnung im internationalen Einheitsunternehmen, Diss., 2008; IFA-cahiers Vol. 92b (2007), Conflicts in the attribution of income to a person. 288 BFH v. 29.11.1982 – GrS 1/81, BStBl. II 1983, 272 (274); v. 9.3.1982 – VIII R 160/81, BStBl. II 1982, 540 (541); v. 18.12.1986 – I R 52/83, BStBl. II 1988, 521 (524); ausf. Robertz, Die persönliche Zurechnung von Vermögenseinkünften, Auswirkungen zivilrechtlicher Sachverhaltsgestaltungen, Diss., 2004. 289 Vgl. HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 144 (2015). § 39 AO beeinflusst auch über die Bilanzierung von Wirtschaftsgütern (s. § 9 Rz. 145 ff.) die Einkünfteerzielung zwischen zivilrechtlichem Eigentümer (z.B. Leasing-Geber) u. wirtschaftlichem Eigentümer (z.B. Leasing-Nehmer). Zu Treuhandverhältnissen Lang/Seer, FR 1992, 637, u. zu § 39 AO als Zurechnungskriterium auch Wüst, Die persönliche Zurechnung der Einkünfte beim Nießbrauch, Diss., 1995. 290 BFH v. 13.2.1980 – I R 17/78, BStBl. II 1980, 303; v. 6.12.1995 – I R 40/95, BStBl. II 1997, 118 (120).
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§ 8 Rz. 155
Einkommensteuer
des BFH ist Zurechnungssubjekt der Urheber des Handels, der Produktion oder der Dienstleistungen, mithin des Inbegriffs derjenigen Tätigkeiten, die den Betrieb bilden291. Auch der Pächter oder Nießbraucher eines Betriebs kann Unternehmer sein. Beispiele: a) Gewerbetreibender G tritt eine Kaufpreisforderung an seinen studierenden Sohn ab. – b) Gewerbetreibender G beteiligt seinen Sohn als Kommanditisten an seinem Unternehmen. – c) Landwirt L verpachtet seinen Betrieb an seinen Sohn; dieser bewirtschaftet den Betrieb. Im Fall a sind die Bezüge dem G zuzurechnen. Er, nicht sein Sohn, hat sie als Unternehmer erwirtschaftet, dem Sohn fließen lediglich von G erwirtschaftete Bezüge kraft Abtretung zu. Im Fall b ist dem Sohn der angemessene Gewinnanteil als eigener Bezug zuzurechnen, wenn der Sohn Kommanditist und Mitunternehmer ist (§ 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG). Im Fall c erwirtschaftet der Sohn als Pächter eigene Bezüge aus Landwirtschaft. Dass er nicht Hofeigentümer ist, ist unerheblich. Ob L noch Bezüge aus Landwirtschaft hat, hängt davon ab, ob er den Betrieb endgültig aufgegeben hat oder nicht. 155 (2) Bezüge aus selbständiger und nichtselbständiger Arbeit sind dem zuzurechnen, der sie durch
seine eigene Arbeit erwirtschaftet hat. Die Einkunftsquelle „Arbeit“ ist nicht übertragbar. Abtretung (auch Vorausabtretung) oder Pfändung der Bezüge ist Einkommensverwendung. § 24 Nr. 2 EStG enthält eine Ausnahme für Einkünfte aus einer ehemaligen Tätigkeit, die dem Rechtsnachfolger zufließen. 156 (3) Bezüge aus Kapitalvermögen292 und aus Vermietung/Verpachtung293 sind dem zuzurechnen,
der die Bezüge durch die Überlassung des Vermögens zur Nutzung erwirtschaftet. Beispiele: a) V schenkt seinem Sohn S Geld und kauft dafür Wertpapiere, die sodann V verwaltet. – b) E vermietet ein Haus an M, der mehrere Zimmer untervermietet. Im Fall a) sind dem Sohn S nur dann die Zinseinkünfte zuzurechnen, wenn der Vater das Wertpapiervermögen auf Dauer wie fremdes Vermögen verwaltet294. – Im Fall b) erwirtschaften sowohl E als auch M Mietzinsen. Beide überlassen Vermögen zur Nutzung. Dass dem M das überlassene Vermögen nicht selbst gehört, ist unerheblich. Vermögen kann anderen derjenige zur Nutzung überlassen, der daran dinglich (als Eigentümer, Nießbraucher i.S.d. §§ 1030 ff. BGB, Wohnberechtigter i.S.d. § 1093 BGB) oder schuldrechtlich (insb. als Mieter, Pächter) beteiligt ist.
Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 20 EStG) erzielt der Inhaber, nach wirtschaftlicher Betrachtungsweise auch der wirtschaftliche Inhaber. Inhaber von Kapitalgesellschaften u.a. Körperschaften und Personenvereinigungen i.S.d. § 20 I Nr. 1, 2 EStG sind die Anteilseigner; sie erzielen die Quelleneinkünfte (s. § 20 V EStG) und auch die Veräußerungseinkünfte i.S.d. § 20 II 1 Nr. 1, 2 EStG; Voraussetzung ist das wirtschaftliche Eigentum des Anteilseigners im Zeitpunkt des Gewinnverteilungsbeschlusses295. 291 BFH v. 15.3.2005 – X R 39/03, BStBl. II 2005, 817 (822). 292 Robertz, Die persönliche Zurechnung von Vermögenseinkünften, Auswirkungen zivilrechtlicher Sachverhaltsgestaltungen, Diss., 2004, 79 ff.; KSM/Jochum, § 20 EStG Rz. B 76 ff. (2017); HHR/Buge, § 20 EStG Anm. 19 ff. (2014); Schmidt/Weber-Grellet36, § 20 EStG Rz. 165 ff.; Kirchhof/von Beckerath17, § 20 EStG Rz. 17; I. Osterloh, DStR 2014, 393. Zurechnung von Kapitalerträgen nach Geldschenkung: BFH v. 24.4.1990 – VIII R 170/83, BStBl. II 1990, 539 (Sparguthaben); v. 26.11.1997 – X R 114/94 BStBl. II 1998, 190 (Investmentfonds); v. 30.3.1999 – VIII R 19/98, BFH/NV 1999, 1325 (Sparkassenbrief); v. 26.1.2011 – VIII R 14/10, BFH/NV 2011, 1512. 293 Robertz, Die persönliche Zurechnung von Vermögenseinkünften, Auswirkungen zivilrechtlicher Sachverhaltsgestaltungen, Diss., 2004, 76 ff.; Schmidt/Kulosa36, § 21 EStG Rz. 61 ff.; Kirchhof/Mellinghoff17, § 21 EStG Rz. 26 ff. Maßgeblich ist nicht, ob der Stpfl. rechtlicher oder wirtschaftlicher Eigentümer ist; es kommt auf die dingliche oder obligatorische Dispositionsbefugnis an (BFH v. 26.10.1971 – VIII R 137/70, BStBl. II 1972, 215; v. 24.10.2012 – IX R 24/11, BFH/NV 2013, 1228). 294 So BFH v. 30.3.1999 – VIII R 19/98, BFH/NV 1999, 1325. 295 BFH v. 16.4.2014 – I R 2/12, BFHE 246, 15 (cum ex; zur Veröffentlichung im BStBl. II vorgesehen).
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E. Die persönliche Zurechnung von Einkünften
Rz. 160 § 8
(4) Wiederkehrende Bezüge (Renten, Unterhaltsbezüge) sind demjenigen zuzurechnen, der sie er- 157 wirtschaftet hat, d.i. der Inhaber des Rechts auf die wiederkehrenden Bezüge, besonders derjenige, der ein Rentenstammrecht erwirtschaftet hat. (5) Nießbrauch296 ist das unbeschränkte (dingliche) Recht auf Nutzung von Sachen (§§ 1030 ff. 158 BGB), Rechten (§§ 1068 ff. BGB) oder an einem Vermögen (§§ 1085 ff. BGB). Unterschieden werden Zuwendungsnießbrauch, Vorbehaltsnießbrauch und Vermächtnisnießbrauch. Die Verlagerung von Einkünften durch Nießbrauchsbestellung ist ein beliebtes Steuersparmittel unter Angehörigen, zumal der Nießbrauchsbesteller das Nießbrauchsobjekt nicht verliert und es sich wirtschaftlich bloß um die dingliche Sicherung der Abtretung künftiger Forderungen handelt. Daher bereitet die Zurechnung von Einkünften in den Fällen des unentgeltlichen Nießbrauchs besondere Schwierigkeiten, auch Beweisschwierigkeiten. Das seit Jahrzehnten umfängliche Schrifttum belegt, dass die Nießbrauchsgestaltungen unter Angehörigen praktisch und rechtsdogmatisch kaum in den Griff zu bekommen sind. Sie würden weitgehend unterbleiben, wenn die zwangsläufigen Unterhaltsaufwendungen realitätsgerecht, d.h. durch Familien-Realsplitting berücksichtigt werden würden (s. Rz. 103). Exemplarische Bedeutung haben folgende Nießbrauchsfälle, in denen sich stets auch die mit der Zurechnung der Einkunftsquelle eng verbundene Frage der Abziehbarkeit von Drittaufwand (dazu auch Rz. 223 ff.) stellt: In den Fällen des Grundstücksnießbrauchs297 hat der BFH die in Rz. 150 dargelegte Tatbestands- 159 regel in seine Rspr. übernommen298. Den Tatbestand des § 21 I 1 Nr. 1 EStG verwirklicht der Nießbraucher, wenn er ein Grundstück anderen entgeltlich überlässt und dadurch Einkünfte erwirtschaftet. Im Falle des unentgeltlichen Zuwendungsnießbrauchs erwirtschaftet der Grundstückseigentümer und Nießbrauchsbesteller keine Einkünfte. Verpflichtet er sich, die dem Nießbraucher nach §§ 1041; 1045 und 1047 BGB obliegenden Kosten und Lasten zu tragen (sog. Bruttonießbrauch), so sind dieser Teil der Zuwendung und Privatausgaben. Der zuwendende Eigentümer kann demnach keine Werbungskosten, insb. keine AfA (§ 9 I 3 Nr. 7 EStG), geltend machen. Der Nießbraucher kann nur die von ihm selbst getragenen Aufwendungen und nicht die des Nießbrauchsbestellers absetzen. Die AfA steht nur demjenigen zu, der die Herstellungs- bzw. Anschaffungskosten getragen hat. AfA-berechtigt ist zumeist der Nießbraucher und nicht der Eigentümer, wenn ein Grundstück unter dem Vorbehalt des Nießbrauchs übereignet wird. In dem Falle des sog. Vorbehaltsnießbrauchs299 hat der Nießbraucher und frühere Eigentümer die Herstellungs-/Anschaffungskosten des Gebäudes getragen. Der Eigentümer kann auch mit dem Nießbraucher ein Entgelt in Höhe seiner Selbstkosten (inkl. AfA) vereinbaren. In diesem Falle des sog. Nettonießbrauchs hat der Eigentümer keine Einkünfteerzielungsabsicht und der Nießbraucher in Höhe des Entgelts Werbungskosten. Im Falle des unentgeltlichen Zuwendungsnießbrauchs an Wertpapieren300 hat die Rspr. die Ein- 160 künfte ursprünglich dem Nießbrauchsbesteller und nicht dem Nießbraucher zugerechnet301. Diese Rspr. ist durch die Judikatur zum Grundstücksnießbrauch überholt. Den Tatbestand der Erzielung 296 Dazu m. zahlr. Nachw. HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 201–315 (2015); Ley, Besteuerung des Nießbrauchs an Betriebsgrundstücken, Privatgrundstücken und an Wertpapieren, 1986; Wüst, Die persönliche Zurechnung der Einkünfte beim Nießbrauch, Diss., 1995; Korn, Nießbrauchgestaltungen auf dem Prüfstand, DStR 1999, 1461 ff. (1512 ff.); Doralt, Unentgeltlicher Nießbrauch – Zurechnung der Einkunftsquelle, FS Kruse, 2001, 395; Götz/Hülsmann, Der Nießbrauch im Zivil- und Steuerrecht11, 2017. 297 Hierzu BMF v. 30.9.2013 – IV C 1-S 2253/07/10004, BStBl. I 2013, 1184. 298 BFH v. 13.5.1980 – VIII R 63/79, BStBl. II 1981, 295; v. 13.5.1980 – VIII R 75/79, BStBl. II 1981, 297; v. 13.5.1980 – VIII R 128/78, BStBl. II 1981, 299. 299 Dazu Korn/Carlé, KÖSDI 2009, 16514. 300 Witte, Zur einkommensteuerlichen Behandlung des Nießbrauchs an Wertpapieren, Diss., 1985; Ley, Besteuerung des Nießbrauchs an Betriebsgrundstücken, Privatgrundstücken und an Wertpapieren, 1986; Binninger, Der Vorbehaltsfolgenießbrauch an Kapitalvermögen, DStR 1995, 1049; HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 259 ff. (2015); Schmidt/Weber-Grellet36, § 20 EStG Rz. 174 ff. 301 BFH v. 14.12.1976 – VIII R 146/73, BStBl. II 1977, 115.
Hey 371
§ 8 Rz. 161
Einkommensteuer
von Kapitaleinkünften verwirklicht im Falle des Wertpapiernießbrauchs der Nießbraucher, wenn er in die Lage versetzt wird, Marktchancen durch eine Verwaltung des Vermögens zu nutzen, die über das bloße Empfangen der Kapitalerträge hinausgeht302; § 20 V 3 EStG fingiert in diesem Fall den Nießbraucher als Anteilseigner. 161 Der (zivilrechtlich mögliche303) Unternehmensnießbrauch304 begründet nur dann Einkünfte des
Nießbrauchers, wenn dieser die unternehmerische Tätigkeit ausübt und die unternehmerischen Tatbestände der Einkunftserzielung verwirklicht, also Unternehmerinitiative entfalten kann und Unternehmerrisiko trägt. Der Nießbraucher hat über das Gewinnbezugsrecht hinaus die Merkmale des Mitunternehmerbegriffs zu erfüllen305. Bestellt beispielsweise ein Unternehmer seinem studierenden Sohn schenkweise einen Quoten-Nießbrauch an seinem Einzelunternehmen, der lediglich eine Gewinnbeteiligung von 1/3 enthält und den Sohn weder zur Mitarbeit im Unternehmen verpflichtet noch in die Haftung für das Unternehmen einbezieht, so sind die Einkünfte aus Gewerbebetrieb allein dem Unternehmer zuzurechnen. Der Sohn verwirklicht nicht den Tatbestand eines Mitunternehmers. Er hat Unterhaltsbezüge. Hat die unternehmerische Tätigkeit eine besonders typische Eigenart, so erleichtert diese die Zurechnung. Bestellt ein Bauer seinem Sohn einen unentgeltlichen Nießbrauch am Hof, so sind dem Sohn die Einkünfte aus Landwirtschaft (§ 13 I Nr. 1 EStG) nur zuzurechnen, wenn er den Hof bewirtschaftet und sich der Bauer aufs Altenteil zurückzieht. Bestellt ein Rechtsanwalt seinem Sohn einen Quotennießbrauch an seiner Praxis, so sind dem Sohn nur dann Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit (§ 18 I Nr. 1 EStG) zuzurechnen, wenn er in der Anwaltspraxis auf Grund eigener Zulassung leitend und eigenverantwortlich tätig sein kann. 3. Zurechnung von Einkünften unter Familienangehörigen Literatur: Schmidt, „Väter und Söhne“ – Möglichkeiten u. Grenzen der Einkommensverlagerung zwischen Eltern u. Kindern, StbJb. 1975/76, 149; Görlich, Die steuerliche Behandlung von Vertragsgestaltungen zwischen Angehörigen, Verfassungsrechtliche, methodische und steuerrechtliche Grundlagen, 1979; Marx, Steuerliche Vorteilhaftigkeit von Verträgen mit nahen Angehörigen, SteuerStud 1998, 294; Seeger, Verträge zwischen nahestehenden Personen – Grundsätzliche Überlegungen und Voraussetzungen ihrer steuerlichen Anerkennung, DStR 1998, 1339; Kupfer, Einkünfteverlagerung auf Angehörige, KÖSDI 2001, 12777; Fuhrmann, Verträge zwischen nahen Angehörigen – Grenzfälle der Gestaltungspraxis, KÖSDI 2005, 14784; Schulze zur Wiesche, Vereinbarungen unter Familienangehörigen und ihre steuerlichen Folgen9, 2006; Gemeinhardt, Verträge unter Angehörigen – steuerliche Anerkennung, BB 2012, 739; Kulosa, Verträge zwischen nahen Angehörigen, DB 2014, 972; I. Osterloh, Darlehensverträge zwischen nahen Angehörigen, DStR 2014, 393; Rehn, Verträge zwischen nahen Angehörigen bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung, Diss., 2016; BMF v. 23.12.2010 – IV C 6-S 2144/07/10004, BStBl. I 2011, 37. S. auch die vor Rz. 150 zit. Lit.
302 BFH v. 29.3.2001 – IV R 71/99, BFH/NV 2001, 1251; s. auch Schön, StbJb. 1996/97, 45 (77): Teilhabe am Rechtsverhältnis der Kapitalüberlassung als Zurechnungsgrund. 303 Zu den zivilrechtlichen Vorgaben des Nießbrauchs an Gesellschaftsanteilen Schön, StbJb. 1996/97, 45; Milatz/Sonneborn, DStR 1999, 137. 304 Dazu Schön, StbJb. 1996/97, 45; Reichert/Schlitt, FS Flick, 1997, 217 (GmbH); Janßen/Nickel, Unternehmensnießbrauch, 1998; Milatz/Sonneborn, DStR 1999, 137; Fricke, GmbHR 2008, 739 (GmbH-Anteil). Personengesellschaft: Schulze zur Wiesche, FR 1999, 281; Suffel, FS 50 Jahre Fachanwälte, 1999, 375; Carlé/Bauschatz, KÖSDI 2001, 12872; Götz/Jorde, FR 2003, 998; Schulze zur Wiesche, BB 2004, 355 (KG-Anteil); Wälzholz, DStR 2010, 1786 u. 1930; von Oertzen/Stein, Ubg 2012, 285; Küspert, FR 2014, 397. 305 Dazu m.w.N. Suffel, FS 50 Jahre Fachanwälte, 1999, 375 (387 f.); Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 306 f.
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E. Die persönliche Zurechnung von Einkünften
Rz. 164 § 8
Die Nießbrauchsfälle zeigen, dass die persönliche Zurechnung von Einkünften besonders dann zum 162 Problem wird, wenn eine Übertragung von Einkunftsquellen zwischen Familienangehörigen bezweckt wird. Art. 3 I; 6 I GG gebieten allerdings auch, dass Verträge zwischen Familienangehörigen steuerlich an- 163 zuerkennen sind306. Vertragsbeziehungen zwischen Familienangehörigen dürfen nicht gegenüber Vertragsbeziehungen zwischen fremden Dritten diskriminiert werden. Familiäre Vertragsbeziehungen werden aber insoweit nicht diskriminiert, als an die Gestaltung der Vertragsbeziehungen Anforderungen gestellt werden, die es ausschließen sollen, dass durch Verträge des Leistungsaustausches Unterhaltszahlungen und andere private Einkommensverwendungen verdeckt werden. Die OderKonto-Beschlüsse des BVerfG307 bestätigen grds. die BFH-Rspr., wonach Verträge zwischen Familienangehörigen ernstlich vereinbart und auch durchgeführt sein müssen. Es dürften an den Beweis dieser Anforderungen auch strenge Anforderungen gestellt werden. Allerdings müssten die Beweisanzeichen und -mittel ausgewogen gewürdigt werden. So dürfe die steuerliche Anerkennung eines Ehegattenvertrages nicht allein deshalb versagt werden, weil das Entgelt auf ein Gemeinschaftskonto der Ehegatten geflossen ist, über das jeder der Ehegatten verfügen darf (sog. Oder-Konto), also auch der Arbeitgeberbzw. der Vermieter-Ehegatte. Die Oder-Konto-Beschlüsse haben beweisrechtliche Bedeutung: Das BVerfG hat zu Recht gerügt, dass der BFH die steuerliche Anerkennung der Ehegatten an einem einzigen Indizmerkmal scheitern ließ und damit auf eine Gesamtwürdigung der Beweislage auch zu Gunsten einer Anerkennung verzichtete308. Nach diesen Vorgaben erkennt der BFH Verträge zwischen nahen Angehörigen an, wenn die Verein- 164 barungen zivilrechtlich wirksam, klar und eindeutig sind, ihre Gestaltung dem zwischen Fremden Üblichen entspricht und sie auch tatsächlich durchgeführt werden309. Maßgebend für die Beurteilung, ob ein zwischen nahen Angehörigen abgeschlossener Vertrag trotz gewisser Abweichungen vom Fremdüblichen bzw. vertraglich Vereinbarten der Besteuerung zugrunde zu legen ist, ist die Gesamtheit der objektiven Gegebenheiten310. Danach sind folgende Voraussetzungen zu prüfen: – Das Rechtsgeschäft sollte zivilrechtlich wirksam geschlossen werden. Die zivilrechtliche Unwirksamkeit von Verträgen zwischen Angehörigen indiziert das Fehlen eines ernsthaften Bindungswillens311. Die Anforderung zivilrechtlicher Wirksamkeit basiert auf der Überlegung, dass innerhalb eines Familienverbundes typischerweise ein Interessengegensatz fehlt und somit zivilrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten steuerrechtlich missbraucht werden können312. So kann z.B. ein unterhaltsberechtigtes Kind zivilrechtlich unwirksam an einem Unternehmen beteiligt werden, damit sich der Unternehmer nach der Beendigung der Unterhaltspflicht auf die zivilrechtliche Unwirksamkeit der Beteiligung berufen kann. Entscheidend ist u.a., ob die Beteiligten die zivilrechtliche Unwirksamkeit erkennen konnten. Bei klarer Zivilrechtslage ist ein formunwirksamer Vertrag grds. nicht anzuerkennen313. Ergibt jedoch die Gesamtwürdigung der Beweislage, dass die Familienangehörigen das wirtschaftliche Ergebnis eines unwirksamen
306 BVerfG v. 24.1.1962 – 1 BvL 32/57, BVerfGE 13, 290 (303 ff.); v. 8.7.1963 – 1 BvR 319/60, BVerfGE 16, 241; v. 22.7.1970 – 1 BvR 285/66, BVerfGE 29, 104 (113 ff.); Tipke, StRO I2, 2000, 370 f. 307 Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats v. 7.11.1995 – 2 BvR 802/90, BStBl. II 1996, 34 u. Parallelentscheidung v. 19.12.1995 – 2 BvR 1791/92, NJW 1996, 834 f. Im Weiteren Pezzer, Ausstrahlung der Rspr. des BVerfG zu Ehegattenarbeitsverhältnissen auf andere Rechtsverhältnisse, StbJb. 1996/97, 25; Fichtelmann, Konsequenzen des Oder-Kontos für das Steuerrecht, EStB 2004, 452. 308 BFH v. 27.11.1989 – GrS 1/88, BStBl. II 1990, 160. 309 BFH v. 17.2.1998 – IX R 30/96, BStBl. II 1998, 349; v. 3.3.2004 – X R 14/01, BStBl. II 2004, 826 (827); v. 22.10.2013 – X R 26/11, BStBl. II 2014, 374 (377). 310 BFH v. 7.5.1996 – IX R 69/94, BStBl. II 1997, 196; v. 3.3.2004 – X R 12/02, BStBl. II 2004, 722 (724); v. 12.5.2009 – IX R 46/08, BStBl. II 2011, 24 (25 f.). 311 BFH v. 22.2.2007 – IX R 45/06, BStBl. II 2011, 20. 312 BFH v. 7.6.2006 – IX R 4/04, BStBl. II 2007, 294 (295). 313 BFH v. 22.2.2007 – IX R 45/06, BStBl. II 2011, 20 (21); v. 23.4.2009 – IV R 24/08, BFH/NV 2009, 1427; v. 12.5.2016 – IV R 27/13, BFH/NV 2016, 1559, Rz. 24.
Hey 373
§ 8 Rz. 165
Einkommensteuer
Vertrags ernstlich eintreten und bestehen lassen, so ist der Vertrag nach § 41 I 1 AO steuerlich anzuerkennen. (s. bereits Rz. 95 ff.)314. – Das Rechtsgeschäft muss wirklich durchgeführt worden sein315. Leistung und Gegenleistung müssen tatsächlich erbracht worden sein. Werden allerdings einzelne Vertragsklauseln nicht angewendet, so kann noch nicht auf das Fehlen eines Rechtsbindungswillens geschlossen werden; entscheidend ist eine Gesamtwürdigung316. – Der Vertrag muss nach Inhalt und Ausführung dem entsprechen, was unter Fremden üblich ist. Dieser sog. Fremdvergleich317 entspricht insofern Art. 3 I; 6 I GG, als die Familienangehörigen mit fremden Dritten gleichgestellt, gegenüber diesen also weder benachteiligt noch bevorzugt werden. Der Fremdvergleich ist erforderlich für die Frage, ob ein Leistungsaustauschverhältnis wirklich gewollt ist oder ob der Vertrag auf familiären bzw. familienrechtlichen Beziehungen beruht. – Schriftform ist zwar nicht zwingend erforderlich318, jedoch dringend zu empfehlen. Insb. müssen einzelne Leistungen ausdrücklich vereinbart sein, um als betrieblich veranlasst anerkannt werden zu können319. Schon deshalb sollte der Vertragsinhalt schriftlich dokumentiert werden. 165 Verträge zwischen Ehegatten320 haben unterschiedliche steuerliche Auswirkungen, je nachdem, ob
die Ehegatten die Zusammenveranlagung (§ 26b EStG) oder Einzelveranlagung (§ 26a EStG) wählen (§ 26 EStG). Im Falle von Einzelveranlagung haben die Ehegatten Interesse daran, durch Übertragung von Einkunftsquellen ihre getrennt zu versteuernden Einkommen zu egalisieren. Im Falle der Zusammenveranlagung leistet bereits das Splitting des § 32a V EStG diese Egalisierung, indem eine paritätische Gemeinschaft des Erwerbs und Verbrauchs angenommenen bzw. typisierend unterstellt wird (s. Rz. 97). Jedoch sind auch im Falle der Zusammenveranlagung die von den Ehegatten erziel314 BFH v. 13.7.1999 – VIII R 29/97, BStBl. II 2000, 386 (387 ff.); v. 7.6.2006 – IX R 4/04, BStBl. II 2007, 294 (295 f.); v. 22.2.2007 – IX R 45/06, BStBl. II 2011, 20 (21); v. 12.5.2009 – IX R 46/08, BStBl. II 2011, 24 (25), hat den Wandel der Rspr. bekräftigt, dass der zivilrechtlichen Unwirksamkeit des Vertragsschlusses nur indizielle Bedeutung beizumessen ist; mittlerweile auch von der FinVerw. anerkannt, s. BMF v. 23.12.2010 – IV C 6-S 2144/07, BStBl. I 2011, 37, Tz. 9. 315 Durch die Rspr. insb. zum Ehegatten-Arbeitsverhältnis entschieden: BFH v. 27.11.1989 – GrS 1/88, BStBl. II 1990, 160; v. 12.10.1988 – X R 2/86, BStBl. II 1989, 354 (wechselseitiger Ehegattenarbeitsvertrag); v. 7.5.1996 – IX R 69/94, BStBl. II 1997, 196 (geringfügige Abweichung unschädlich); v. 26.6.1996 – X R 155/94, BFH/NV 1997, 182 (unregelmäßige Gehaltszahlung); v. 11.5.2010 – IX R 19/09, BStBl. II 2010, 823 (Nachweisanforderungen); v. 14.3.2012 – IX R 37/11, BStBl. II 2012, 487 (Treuhandvertrag). 316 BFH v. 3.3.2004 – X R 14/01, BStBl. II 2004, 826 (828 f.), betr. Wertsicherungsklausel. 317 Dazu BFH v. 17.2.1998 – IX R 30/96, BStBl. II 1998, 349 (Würdigung aller Umstände); v. 28.6.2002 – IX R 68/99, BStBl. II 2002, 699 (unklare Vereinbarung u. tatsächliche Übung); v. 15.10.2002 – IX R 46/01, BStBl. II 2003, 243; v. 17.7.2013 – X R 31/12, BStBl. II 2013, 1015 (Mehrarbeit); v. 22.10.2013 – X R 26/11, BStBl. II 2014, 374 (differenzierende Fremdvergleichsmaßstäbe für Darlehen; dazu Osterloh, DStR 2014, 393); Bilsdorfer, Der steuerliche Fremdvergleich bei Vereinbarungen unter nahestehenden Personen, Diss., 1996; Bilsdorfer, StuW 1997, 51 (Rspr. zu Ehegattenarbeitsverhältnissen); Fischer, DStZ 1997, 357 (Üblichkeit); Gosch, DStZ 1997, 1 (6 ff.: BFH u. Fremdvergleich); Wolff-Diepenbrock, FS Beisse, 1997, 581; Wassermeyer, StbJb. 1998/99, 581; Wassermeyer, FS Offerhaus, 1999, 405; Pezzer, DStZ 2002, 850 (Fremdvergleich: Sachverhaltswürdigung oder rechtliche Subsumtion?). 318 Die Umstände müssen aber auf eine klare u. eindeutige Vereinbarung schließen lassen. So BFH v. 24.3.1983 – IV R 240/80, BStBl. II 1983, 663; v. 10.8.1988 – IX R 220/84, BStBl. II 1989, 137. Im Weiteren BFH v. 20.4.1999 – VIII R 81/94, BFH/NV 1999, 1457 (mündliche Lohnvereinbarung); v. 31.7.2007 – IX R 8/07, BFH/NV 2008, 350 (fehlende Schriftform kein Kriterium des Fremdvergleichs). 319 BFH v. 23.9.1998 – XI R 1/98, BFH/NV 1999, 760. 320 Dazu Schmidt-Liebig, Eheliche Güterstände in ertragsteuerlicher Sicht, 1989; Schmidt-Liebig, StuW 1989, 110; Bilsdorfer, StuW 1997, 51 (Fremdvergleich); von Oertzen/Straub, BB 2007, 1473; EhegattenArbeitsverhältnisse: Schoor, INF 1996, 267 ff., 301 ff.; Kottke, DStR 1998, 1706; Langohr-Plato, StuB 1999, 301. Nach BFH v. 26.9.2007 – IX B 115/07, BFH/NV 2007, 2235, sind die Grundsätze für Angehörigenverträge auch auf Beteiligte einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft anwendbar.
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E. Die persönliche Zurechnung von Einkünften
Rz. 168 § 8
ten Einkünfte getrennt zu ermitteln und erst dann nach § 26b EStG zusammenzurechnen. Steuerlich vorteilhaft im Falle der Zusammenveranlagung ist besonders der Arbeitsvertrag mit einem gewerbetreibenden Ehegatten. Die Lohnkosten einschließlich steuerfreier Anteile des Arbeitgebers mindern nicht nur die Einkommensteuer, sondern auch die Gewerbeertragsteuer. Ferner kann der Arbeitnehmer-Ehegatte den Arbeitnehmer-Pauschbetrag von 1 000 Euro (§ 9a Satz 1 Nr. 1 EStG) absetzen. Besonders vorteilhaft sind auch die Pauschalierungen nach den §§ 40; 40a; 40b EStG. Bestehen zwischen Ehegatten keine besonderen Verträge, so ist die Zurechnung der Einkünfte nach 166 den allgemeinen Zurechnungsregeln zu beurteilen. Bewirtschaftet z.B. ein Bauer den seiner Ehefrau gehörenden Hof, so sind ihm zumindest ein Teil der Einkünfte aus Landwirtschaft zuzurechnen. Die Auffassung, dass die Einkünfte allein der Ehefrau als Eigentümerin zuzurechnen seien321, überzeugt nicht. Die Eheleute bilden vielmehr hier eine konkrete Erwerbsgemeinschaft, bei der die Frau Kapital und der Mann Arbeitskraft einsetzt. Dementsprechend sind die Einkünfte anteilig zuzurechnen. Realsplittingeffekt haben insb. Verträge zwischen Eltern und Kindern322. Bei dem Abschluss von 167 Verträgen mit minderjährigen Kindern ist darauf zu achten, dass für nicht lediglich rechtlich vorteilhafte Rechtsgeschäfte (§ 107 BGB) gem. § 1909 BGB ein Ergänzungspfleger bestellt werden muss. Bei Arbeits- oder Ausbildungsverträgen ist dies nicht erforderlich (R 4.8 III 1 EStR 2012). Ein Nießbrauch ist ohne Mitwirkung eines Ergänzungspflegers anzuerkennen, wenn das Vormundschaftsgericht die Mitwirkung für entbehrlich erachtet323. Die häufigsten Verträge zwischen Eltern und Kindern sind neben den bereits behandelten Nießbrauchbestellungen Gesellschaftsverträge324, Arbeitsverträge325, Darlehensverträge326 u.a. Verträge über Kapitalvermögen327 sowie Verträge über Immobilien328. 4. Zurechnung von Einkünften im Erbfall Bezüge aus der (ehemaligen) Betätigung (Arbeit, Vermögensüberlassung) eines Verstorbenen sind 168 dem Erben (Rechtsnachfolger) zuzurechnen, wenn sie diesem zufließen (§§ 19 I 1 Nr. 2; 24 Nr. 2 EStG)329. Beispiel: Die Witwe des verstorbenen Arbeitnehmers A erhält Witwengeld. Dieses Witwengeld ist ihr als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit zuzurechnen, obwohl sie es nicht selbst erwirtschaftet hat. Das ergibt sich aus §§ 19 I 1 Nr. 2; 24 Nr. 2 EStG ist insoweit deklaratorisch.
321 BFH v. 2.2.1989 – IV R 96/87, BStBl. II 1989, 504; v. 26.6.2002 – IV R 55/01, BStBl. II 2003, 13 (15) („ständige Rspr.“). 322 Dazu grundl. Schmidt, StbJb. 1975/76, 149 ff.; im Weiteren Dischinger, Typisierung steuersparender Sachverhaltsgestaltungen zwischen Eltern und Kindern im Einkommensteuerrecht, Diss., 1997. 323 BMF v. 30.9.2013 – IV C 1 - S 2253/07/10004, BStBl. I 2013, 1184, Tz. 5. 324 Dazu Märkle, Angehörige als Darlehensgeber, stille Gesellschafter, Kommanditisten, BB-Beil. 2/1993. 325 BFH v. 17.3.1988 – IV R 188/85, BStBl. II 1988, 632 (Hilfeleistungen, die üblicherweise auf familienrechtlicher Grundlage erbracht werden, eignen sich nicht als Inhalt eines mit einem Dritten zu begründenden Arbeitsverhältnisses); v. 25.1.1989 – X R 168/87, BStBl. II 1989, 453; v. 6.3.1995 – VI R 86/94, BStBl. II 1995, 394; v. 17.7.2013 – X R 31/12, BStBl. II 2013, 1015; R 4.8 EStR 2012; Schön, Mitarbeit und Mithilfe von Familienangehörigen im Steuerrecht als verfassungsrechtliches Problem, FS Klein, 1994, 467; Koller/Ludwig, SteuerStud 1997, 245. 326 BMF v. 23.12.2010 – IV C 6 - S 2144/07/10004, BStBl. I 2011, 37; hierzu Paus, StBW 2011, 125. 327 Dazu allgemein: Apel, StuB 2005, 1045; Schoor, DStZ 2005, 696; stille Gesellschaft: Märkle, BBBeil. 2/1993; Blümich/Ratschow, § 20 EStG Rz. 222 ff. (2015); GmbH: Binnewies, GmbH-StB 2005, 274. 328 Zu Mietverträgen s. Schmidt/Kulosa36, § 21 EStG Rz. 45. Zur Übertragung von Immobilien Paus, NWB Fach 3, 14121 (2006); Stuttgarter Modell: Mayer/Geck, DStR 2005, 1425. 329 Grds. Schmitt-Homann, Die Vererbung einkommensteuerrechtlicher Rechtspositionen, Diss., 2005. Dazu Trzaskalik, StuW 1979, 108 ff.; Meincke, Ruppe, Heinicke, Groh, DStJG 10 (1987).
Hey 375
§ 8 Rz. 180
Einkommensteuer
Beispiel: Bei der Witwe des Rechtsanwalts R gehen rückständige Honorare ein. Das Honorar hat R durch seine Arbeit erwirtschaftet. Ihm kann das Honorar aber nach seinem Tode nicht mehr zugerechnet werden. Obwohl die Witwe die Honorare nicht erwirtschaftet hat, muss sie sie versteuern; denn § 24 Nr. 2 EStG (der Wortlaut ist nicht klar) rechnet die Einkünfte der Witwe in diesem Sonderfall entgegen der allgemeinen Regel (die bei Tod eines Steuersubjekts versagt) zu. Trotz der Zurechnung zur Witwe bleiben die Einkünfte solche aus freiberuflicher Tätigkeit. 169–179
Einstweilen frei.
F. Ermittlung der Einkünfte Literatur: Tipke, Die dualistische Einkünfteermittlung nach dem Einkommensteuergesetz – Entstehung, Motivation und Berechtigung, in FS Paulick, 1973, 391 ff.; Merkenich, Die unterschiedlichen Arten der Einkünfteermittlung im deutschen Einkommensteuerrecht, Diss., 1982; Jehner, Der gesetzliche Gegensatz als systematische Grundlage der Einkommensbesteuerung in Deutschland, DStR 1988, 267; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, 273 ff.; Durchlaub, Zur Steuerpflicht der Gewinne aus der Veräußerung von Privatvermögen, Diss., 1993; Tipke, StRO II2, 2003, 619 ff.; Schneider, Der Tatbestand der privaten Vermögensverwaltung im Einkommensteuerrecht, Diss., 1995; Uhländer, Vermögensverluste im Privatvermögen. Der Einkünftedualismus als Januskopf der Einkommensteuer, Diss., 1996; Kanzler, Die steuerliche Gewinnermittlung zwischen Einheit und Vielfalt, FR 1998, 233; Tipke, Steuerliche Ungleichbelastung durch einkunfts- und vermögensartdifferente Bemessungsgrundlagenermittlung und Sachverhaltsverifizierung, in FS Kruse, 2001, 215; Daniels, Das System der Einkünfteermittlung im EStG, SteuerStud 2008, 175; Prinz, Der bilanzielle Betriebsvermögensvergleich als Grundform leistungsfähigkeitsentsprecher Gewinnermittlung, FR 2010, 917; Hey (Hrsg.), Einkünfteermittlung, DStJG 34 (2011); Bauer, Das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit als Grundlage der Gewinnermittlungsarten im Einkommensteuerrecht, Diss., 2011; Lambrecht, § 170: Ermittlung der Einkünfte, in Leitgedanken des Rechts II, 2013.
I. Unterschiedliche Ermittlung der Einkünfte 1. Einführung 180 Wenn das (disponible) Einkommen ein geeigneter Indikator der steuerlichen Leistungsfähigkeit ist,
so muss das Gesetz sicherstellen, dass bei allen Steuersubjekten das gesamte Einkommen erfasst und ermittelt wird. Das geltende Recht ist von diesem Anspruch weit entfernt. Die definitorische Ausklammerung eines Teils der Einkünfte aus dem Einkommensbegriff, Befreiungen, Freibeträge, Freigrenzen und unterschiedliche Vorschriften über die Einkünfteermittlung führen dazu, dass das Einkommen nur partiell erfasst wird. Auch sonst sorgt ein Pluralismus der Einkünfteermittlungen dafür, dass die Steuerbelastungen der Einkünfte durch verschiedene Methoden der Einkünfteermittlung verzerrt werden330; das gilt besonders für Methoden der Einkünfteermittlung, die bestimmte Einkünfte gezielt privilegieren wie die Ermittlung land- und forstwirtschaftlicher Gewinne nach Durchschnittssätzen (§ 13a EStG) und die Tonnagebesteuerung nach § 5a EStG (s. Rz. 202). Der Einkommensteuertarif, der – außerhalb des Anwendungsbereichs der Abgeltungsteuer (§ 32d EStG) – als Einheitstarif nicht zwischen einzelnen Einkunftsarten differenziert, wird durch den Pluralismus der Einkünfteermittlungen verfälscht; er belastet Einkünfte, je nachdem, ob sie nicht, partiell oder gänzlich erfasst sind, realiter von null Prozent bis zum vollen Steuersatz. Für Einkünfte gelten also jeweils ermittlungsbedingt besondere Realtarife331.
330 Dazu insb. F.W. Wagner, DStR 1997, 517; Kanzler, FR 1998, 233; Kanzler, FR 1999, 363; Thiel, FS 50 Jahre Fachanwälte, 1999, 75; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (50 ff.); Tipke, FS Kruse, 2001, 215 (218 ff.). 331 Dazu Tipke, StuW 1986, 152.
376
Hey
I. Unterschiedliche Ermittlung der Einkünfte
Rz. 184 § 8
2. Der Dualismus der Einkünfteermittlung Den wesentlichsten Belastungsunterschied bewirkt der Dualismus der Einkünfteermittlung. § 2 II 181 EStG spaltet den Einkünftekatalog in folgende zwei Einkünftebegriffe auf: Gewinneinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 1 EStG): Die unternehmerischen Einkünfte (Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb und selbständiger Arbeit) werden identifiziert mit dem Gewinn (§§ 4–7k; 13a EStG). Der Gewinnbegriff (§ 4 I 1 EStG) beruht auf der Reinvermögenszugangstheorie (s. Rz. 50). Nach dieser Theorie erfasst der Gewinnbegriff i.S.d. §§ 2 II 1 Nr. 1; 4 I 1 EStG das Gesamtergebnis einer unternehmerischen Betätigung einschließlich Gewinne und Verluste aus der Veräußerung von Wirtschaftsgütern des Betriebsvermögens. Überschusseinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG): Die übrigen (nichtunternehmerischen) Einkünfte (Ein- 182 künfte aus nichtselbständiger Arbeit, aus Kapitalvermögen, aus Vermietung und Verpachtung und sonstige Einkünfte i.S.d. § 22 EStG) werden identifiziert mit dem Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten (§§ 8; 9; 9a EStG). Das zugrundeliegende Konzept ist die Quellentheorie (s. Rz. 50). Nach dieser Theorie sollen nur die „Erträge ständig fließender Quellen“, nicht hingegen die Quellen selbst wirtschaftliche Leistungsfähigkeit indizieren. Das sog. Stammvermögen, das der Erzielung dauerhafter Einkünfte zu dienen hat und deshalb nicht dazu bestimmt ist, veräußert zu werden, soll nicht zur Einkommenssphäre gehören. Diese quellentheoretische Konzeption der Einkünfte hat grds. zur Folge, dass Veräußerungseinkünfte sowie Substanz- und Wertverluste des Stammvermögens, insb. Substanzverluste privat verwalteten Vermietungs- und Kapitalvermögens, ausgegrenzt werden. Folglich kann es auch keine Einlagen, Entnahmen und Teilwertabschreibungen geben. Der Dualismus der Einkünfteermittlung entspricht also dem theoretischen Gegensatz zwischen Rein- 183 vermögenszugangs- und Quellentheorie. Diesen Theoriengegensatz berücksichtigt die Rspr.- und Verwaltungspraxis durchaus. Sie grenzt bspw. private Vermögensverwaltung vom Gewerbebetrieb danach ab, ob Wertsteigerungen des Stammvermögens laufend durch Veräußerungen realisiert werden. Einkünfte sind grds. nur dann Quelleneinkünfte (und damit keine Einkünfte aus Gewerbebetrieb), wenn die Ausnutzung der substantiellen Vermögenswerte durch Anschaffungs- und Veräußerungsgeschäfte gegenüber der reinen Fruchtziehung nicht in den Vordergrund tritt (Abgrenzung gewerblicher Grundstücks- bzw. Wertpapierhandel, s. Rz. 417, 516 ff.). Historische Begründung332: Praktikabilitätserwägungen haben den Dualismus der Einkünfteermittlung 184 begründet. Gegen die quellentheoretisch konzipierte Überschussrechnung, die der Hauptvertreter der Quellentheorie, Referent im preußischen Finanzministerium und Mitverfasser des pr. EStG 1891 Fuisting, auch für das „Einkommen aus Handel und Gewerbe“ (§ 14 pr. EStG 1891) durchsetzen wollte, wehrte sich die Unternehmer-Lobby; sie drängte erfolgreich (wie § 14 pr. EStG 1891 zeigt) darauf, den Gewinn mit dem Ergebnis der kaufmännischen (handelsrechtlichen) Buchführung zu identifizieren, wie dies bereits in § 21 des sächsischen EStG von 1874/78 geschehen war. Die volle Tragweite der Lobby-Forderung war allerdings damals insofern nicht zu erkennen, als der sehr bescheidene progressive Tarif (0,67–4 %) des pr. EStG 1891 dem Argument der steuerlichen Mehrbelastung noch keine Durchschlagskraft vermittelte. Den Dualismus hielten § 33 II EStG 1920 und §§ 7 II; 13 EStG 1925 aufrecht. Der Gesetzgeber des EStG 1925 rechtfertigte den Dualismus freilich nicht nur mit Praktikabilitätserwägungen zu Gunsten der Unternehmer; er hat auch versucht, eine adäquate Beziehung zwischen Einkunftsart und Einkünfteermittlung herzustellen: Anders als bei den unternehmerischen Einkünften handelt es sich bei den Überschusseinkunftsarten entweder um Einkünfte ohne nennenswerten Kapitaleinsatz (so bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit) oder um Einkünfte aus privater Vermögensverwaltung, wo es auf „die Veränderung der Vermögensgegenstände“ nicht ankomme, „sondern lediglich auf die Erträge, die sie abwerfen“333. Mit der Übernahme in das EStG 1934 ist der Dualismus der Einkünfteermittlung endgültig zum strukturellen Bestandteil des deutschen Einkommensteuerrechts geworden. 332 Dazu Tipke, FS Paulick, 1973; Widmann, FS Klein, 1994, 870 ff.; Schneider, Tatbestand der privaten Vermögensverwaltung, Diss., 1994, 10 ff.; Uhländer, Vermögensverluste im Privatvermögen, Diss., 1996, 72 ff.; KSM/Schneider, § 17 EStG Rz. A 150 ff. (2000). 333 Volles Zitat der amtl. Begr. bei Tipke, FS Paulick, 1973, 391 (395 f.).
Hey 377
§ 8 Rz. 185
Einkommensteuer
185 Das BVerfG hat 1969/1970 in drei Entscheidungen334 den Einkünftedualismus gebilligt. Dieser verletzt
jedoch nicht nur den Gleichheitssatz335. Er ist Hauptursache für komplizierte Steuervermeidungsgestaltungen und zahllose Streitigkeiten zur Abgrenzung von Einkunftsarten, so dass die Überwindung des Dualismus der Einkommensbegriffe zu den wichtigsten Aufgaben einer Einkommensteuerreform gehört; dabei sind die Ziele von Steuergerechtigkeit und Steuervereinfachung gleichgerichtet (s. § 3 Rz. 146). Im Kern geht es um die vollständige Besteuerung aller Einkünfte aus der Veräußerung von Wirtschaftsgütern des Erwerbsvermögens336. Weitere Voraussetzung ist freilich, dass Veräußerungseinkünfte nicht nur vollständig, sondern auch gleich besteuert werden. Seit dem StEntlG 1999/2000/2002 hat der Gesetzgeber die Besteuerung privater Veräußerungsgewinne kontinuierlich erweitert, zuletzt durch die Besteuerung der Kapitalveräußerungseinkünfte (s. Rz. 497). Dass dies nicht zu einer strukturellen Vereinfachung geführt, sondern im Gegenteil das Besteuerungschaos noch weiter vertieft hat, liegt an der gleichzeitigen Einführung der Abgeltungsteuer, die erneut systematisch zwischen privaten und betrieblichen Veräußerungseinkünften differenziert (s. Rz. 546). 186 Einstweilen frei.
II. System der Einkünfteermittlung 1. Typen der Einkünfteermittlung 187 Im Wesentlichen ist das System der Einkünfteermittlung durch zwei Hauptgegensätze gekennzeich-
net, – erstens den Gegensatz zwischen der ermittlungstechnisch komplizierten Bilanzierung und der ermittlungstechnisch einfachen Überschussrechnung nach den Grundsätzen der Kassenrechnung, und – zweitens den Gegensatz zwischen der Totalerfassung der Einkünfte nach der Reinvermögenszugangstheorie und der Teilerfassung der Einkünfte nach der Quellentheorie. Dabei darf der Dualismus der Einkünfteermittlung nicht gleichgesetzt werden mit dem Dualismus der Einkommensbegriffe. Auch im Rahmen einer Überschussrechnung lässt sich die Reinvermögensmehrung erfassen, wie bereits an der betrieblichen Überschussrechnung des § 4 III EStG deutlich wird. Seit Ende der 1990er Jahre ist es zudem durch deutliche Ausweitung der Erfassung von Wertsteigerungen im Privatvermögen (§§ 17; 20 II; 22 Nr. 2; 23 EStG) zu einer Annäherung der Einkommensbegriffe bekommen. Der in § 2 II EStG angelegte Dualismus der Einkünfteermittlung bedingt dann nur noch Unterschiede in der zeitlichen Erfassung, der Frage des Wann der Besteuerung, nicht jedoch des Ob der Besteuerung. Auch diese Unterschiede sind jedoch im Hinblick auf Zins- und Li334 BVerfG v. 9.7.1969 – 2 BvL 20/65, BVerfGE 26, 302 (zu § 23 EStG); v. 7.10.1969 – 2 BvL 3/66, BVerfGE 27, 111 (zu § 17 EStG); v. 11.5.1970 – 1 BvL 17/67, BVerfGE 28, 227 (LuF). Dazu krit. Tipke, StRO II2, 718 ff. (mit Zitaten der wichtigsten Passagen). 335 Merkenich, Die unterschiedlichen Arten der Einkünfteermittlung im deutschen Einkommensteuerrecht, Diss., 1982; Tipke, StRO II2, 723 f. A.A. Durchlaub, Steuerpflicht der Gewinne, Diss., 1993, 30 ff.; KSM/Schneider, § 17 EStG Rz. A 150 ff. (2000); Uhländer, Vermögensverluste im Privatvermögen, 72 ff.; Bode in Leitgedanken des Rechts II, 2013, § 172 Rz. 9. 336 P. Kirchhof, Gutachten F zum 57. DJT, 1988, 29 f.; Beschluss des 57. DJT, Sitzungsbericht N, 1988, 198: „Gewinne und Verluste aus der Veräußerung von vermieteten und verpachteten Grundstücken sowie von Kapitalvermögen sind unter Einführung großzügiger Freigrenzen einkommensteuerlich zu berücksichtigen“; J. Lang, Steuergesetzbuch, § 109 I Nr. 2, IV, Rz. 582; Herbst, FR 2003, 1006 (krit. Bestandsaufnahme); Kanzler, FR 2003, 1 (Grundfragen); P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, § 3 II (alle Einkünfte des Stpfl. „aus Erwerbshandeln“) und P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, § 43; Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, Habil., 2004, § 2 (Entnahmen aus dem Erwerbsvermögen in das Privatvermögen), jedoch § 4 (Veräußerung „hochwertiger“ privater Wirtschaftsgüter), 117 ff. (einheitlicher Einkommensbegriff); § 7 EStGE, Begr. Rz. 243 ff.
378
Hey
1. Typen der Einkünfteermittlung
Rz. 191 § 8
quiditätseffekte nicht trivial (zu den Belastungswirkungen unterschiedlicher Besteuerungszeitpunkte s. auch § 3 Rz. 57). 1.1 Ermittlung der Einkünfte durch Bilanzierung Der Betriebsvermögensvergleich (dazu i.E. § 9 Rz. 12 ff.) ist im allgemeinen Gewinnbegriff (§ 4 I 1 188 EStG) normiert, der die Reinvermögenszugangstheorie verwirklicht. Der allgemeine Gewinnbegriff normiert den Vergleich zweier Schlussbilanzen (Unterschiedsbetrag zwischen dem Betriebsvermögen am Schluss des Wirtschaftsjahrs und dem Betriebsvermögen am Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahrs), ergänzt durch eine spezifisch steuerliche Wertabgrenzung des Betriebsvermögens (vermehrt um den Wert der Entnahmen und vermindert um den Wert der Einlagen). Demnach erfordert der allgemeine Gewinnbegriff die Ermittlung der Einkünfte durch Bilanzierung. Eine solche basiert auf dem Normensystem der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (GoB); s. § 9 Rz. 50 ff. Zwar rezipiert nur § 5 I 1 EStG für den speziellen Betriebsvermögensvergleich der Gewerbetreibenden die handelsrechtlichen GoB, jedoch benötigt auch der Betriebsvermögensvergleich nach § 4 I EStG die handelsrechtlichen GoB. Ohne das HGB-Normensystem der Buchführung und des Jahresabschlusses ist ein Vergleich zweier Schlussbilanzen nicht möglich. Daher beruht der allgemeine Betriebsvermögensvergleich (§ 4 I EStG) ebenso wie der spezielle Betriebsvermögensvergleich für Gewerbetreibende (§ 5 EStG) auf den „Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung“ (§ 4 II EStG); diese sind bis auf wenige Bewertungsregeln handelsrechtliche GoB. Grds. ist der Betriebsvermögensvergleich nach den §§ 4 I; 5 EStG für Unternehmer (Gewerbetreiben- 189 de, Land- und Forstwirte, Selbständige i.S.d. § 18 EStG) vorgesehen, die entweder gesetzlich verpflichtet sind, Bücher zu führen und regelmäßig Jahresabschlüsse (§ 242 III HGB: Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung) zu machen (§§ 140; 141 AO), oder die dies freiwillig tun (§§ 5 I 1; 4 III 1 EStG). Zur Gewinnermittlungsmethode im Fall der Schätzung s. Rz. 204. Das Wesen des Bilanzvergleichs nach den §§ 4 I; 5 EStG ist die Periodisierung der Erfolgsrechnung. 190 Der Bilanzvergleich weist nicht die Differenz zwischen Vermögenszuflüssen (Betriebseinnahmen) und -abflüssen (Betriebsausgaben) aus, wie man bei dem Hinweis auf die Vorschriften über die Betriebsausgaben (§ 4 I 9 EStG) annehmen könnte. Die in § 11 EStG verankerten Prinzipien des Zuund Abflusses gelten beim Bilanzvergleich nicht (§ 11 I 5, II 6 EStG). Vielmehr wird der Gewinn oder Verlust i.S.d. §§ 4 I; 5 EStG durch die Aufwendungen und die Erträge bestimmt, die dem Wirtschaftsjahr „unabhängig von den Zeitpunkten der entsprechenden Zahlungen“ (§ 252 I Nr. 5 HGB) zuzuordnen sind. Diese genaue Ermittlung des Periodenerfolgs erfordert die komplizierte Rechnungslegung nach den GoB, die eben nur solchen Stpfl. zugemutet werden kann, die ohnehin bilanzierungspflichtig sind oder freiwillig bilanzieren. Andererseits birgt die Bilanzierung eine Reihe von Vorzügen, die den Rechnungslegungsaufwand belohnen. Die periodengerechte Gegenüberstellung von Aufwand und Ertrag ist zunächst unerlässlich für die betriebswirtschaftliche Aussagefähigkeit der Rechnungslegung. Die steuerliche Vorteilhaftigkeit der Bilanzierung gegenüber der Überschussrechnung ergibt sich aus dem Glättungseffekt der Periodisierung bei starken Einnahmen-/Ausgabenschwankungen, die im Falle der Überschussrechnung eine überhöhte progressive Steuerbelastung bewirken. 1.2 Überschussrechnungen nach dem Zufluss- und dem Abflussprinzip (§§ 4 III; 8 ff.; 11 EStG) Eine Rechnungslegung, welche die positiven und negativen Erfolgsbeiträge periodisch genau zu- 191 zuordnen vermag, ist so schwierig, dass sie nur von Fachleuten praktiziert werden kann. Umfangreiche Literatur belegt die Verwissenschaftlichung einer Materie, die ursprünglich einmal von nicht akademisch ausgebildeten Buchhaltern relativ routinemäßig bewältigt worden ist. Daher muss das ohnehin viel zu komplizierte Einkommensteuergesetz eine Art der Einkünfteermittlung bereithalten, die auch ein buchführungsfachlich nicht vorgebildeter Stpfl. vollziehen kann.
Hey 379
§ 8 Rz. 192
Einkommensteuer
192 Die Überschussrechnungen nach den §§ 4 III; 8 ff.; 11 EStG dienen grds. dem Zweck einer möglichst
einfachen, den Stpfl. nicht übermäßig strapazierenden Einkünfteermittlung. Die Vereinfachungstechnik ist die sog. Kassenrechnung, die lediglich einen Unterschiedsbetrag der Einnahmen und Ausgaben festhält. Grundvorschrift der Kassenrechnung ist § 11 EStG. Diese Vorschrift erfasst Einnahmen und Ausgaben nach dem Zuflussprinzip und dem Abflussprinzip337: Nach § 11 I 1 EStG sind Einnahmen innerhalb des Kalenderjahrs bezogen, in dem sie dem Stpfl. zugeflossen sind, und nach § 11 II 1 EStG sind Ausgaben für das Kalenderjahr abzusetzen, in dem sie geleistet worden sind (so die Normierung des Abflussprinzips); zu Einzelheiten s. § 9 Rz. 570 ff. Einfachheit wird dadurch erreicht, dass die Kassenrechnung vorrangig eine Geldrechnung ist. Im Unterschied zur Bilanzierung bleiben Vermögensumschichtungen grds. außer Ansatz. So wird z.B. nur der Zahlungseingang und nicht schon der Zugang einer Forderung angesetzt. Verbindlichkeiten bzw. Rückstellungen stellen keine Vermögensabflüsse im Sinne einer Überschussrechnung dar. Es gibt jedoch Vermögenszu- und -abgänge, die nicht in Geld bestehen, wie insb. Sachbezüge (§ 8 II EStG). Hier muss das Prinzip der Geldrechnung zu Gunsten der Vollständigkeit der Einkünfteermittlung aufgegeben werden. 193 Die Überschussrechnung nach den §§ 8–9a EStG ergibt nur den Überschuss der Einnahmen über die
Werbungskosten im Sinne der quellentheoretisch konzipierten Überschusseinkünfte (s. Rz. 182), während die Überschussrechnung nach § 4 III EStG (s. § 9 Rz. 550 ff.) das erwirtschaftete Ergebnis einer Erwerbstätigkeit vollständig, d.h. inkl. Veräußerungsgewinne/-verluste, erfasst. Infolge der vereinfachten Kassenrechnung fallen die Periodenergebnisse gegenüber dem Betriebsvermögensvergleich unterschiedlich aus. Nach dem Grundsatz der Gesamtgewinngleichheit338 sollte jedoch der Gewinn in der Summe aller Perioden gleich sein. Der Grundsatz der Gesamtgewinngleichheit darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass unterschiedliche Besteuerungszeitpunkte unweigerlich zu unterschiedlichen Gesamtsteuerlasten führen. 194 Die Überschussrechnungen nach den §§ 4 III; 8–9a EStG enthalten Einschränkungen des Zufluss-/
Abflussprinzips, damit das periodisch ermittelte Ergebnis nicht allzu sehr verfälscht wird. Bereits § 11 EStG statuiert Ausnahmen: Regelmäßig wiederkehrende Einnahmen und Ausgaben sind dem Jahr, zu dem sie wirtschaftlich gehören, zuzuordnen, wenn sie kurze Zeit vor Beginn oder kurze Zeit nach Beendigung des Jahres zu-/abgeflossen sind (§ 11 I 2, II 2 EStG). Vorauszahlungen für eine Nutzungsüberlassung von mehr als fünf Jahren sind gleichmäßig auf den Nutzungszeitraum zu verteilen (§ 11 II 3 EStG)339. Entsprechende Einnahmen können periodisch gleichmäßig verteilt werden (§ 11 I 3 EStG). Sie können auch sofort bei Zufluss versteuert werden. Schließlich gelten Abschreibungsvorschriften auch für Überschussrechnungen (§§ 4 III 3; 9 I 3 Nr. 7 EStG), da das Periodenergebnis untragbar mit der Folge falscher Tarifbelastung verzerrt werden würde, wenn Anschaffungs- und Herstellungskosten im Zeitpunkt des Abflusses abzusetzen wären. Zu den Abweichungen in § 4 III 3, 4 EStG s. § 9 Rz. 580 ff. 195 Reformüberlegungen: Gelegentlich wird gefordert, die Cash-Flow-Rechnung mit uneingeschränkter Verwirklichung des Zufluss- und Abflussprinzips zur allgemeinen Gewinnermittlungsmethode zu machen340,
337 Dazu Trzaskalik, StuW 1985, 222; Schürmann, SteuerStud 1992, 83; Beater, StuW 1996, 12; Dusowski, Zu- und Abfluß bei einkommensteuerlichen Einmaltatbeständen, Diss., 2004; Dusowski, DStZ 2004, 716; Offerhaus, StuW 2006, 317; Fritz, SteuerStud 2008, 324; zur Rechtslage in Österreich Brugger, Einnahmenrealisation im außerbetrieblichen Bereich, Diss., Wien 2011. 338 BFH v. 6.3.2003 – IV R 26/01, BStBl. II 2003, 702; v. 13.2.2002 – IV R 12/01, BStBl. II 2003, 837; v. 2.10.2003 – IV R 13/03, BStBl. II 2004, 985 (987). 339 2004 eingefügt mit unbegrenzter Rückwirkung (s. dazu Vorlage an das BVerfG (2 BvL 1/11): BFH v. 7.12.2010 – IX R 70/07, BStBl. II 2011, 346) als Nichtanwendungsgesetz zu BFH v. 23.9.2003 – IX R 65/02, BStBl. II 2005, 159 (Abziehbarkeit der Vorauszahlung von Erbbauzinsen). 340 S. die Cash-Flow-Steuer-Modelle von Elicker, Proportionale Netto-Einkommensteuer, 2004, § 2 I, Begr. 200 ff.; Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, 2004, § 6, Begr. 47 f.; Eisele/Knobloch, FS Bareis, 2005, 51; ferner Ehrhardt-Rauch, Die Einnahmen-Überschuß-Rechnung als
380
Hey
1. Typen der Einkünfteermittlung
Rz. 197 § 8
d.h. auch Investitionen zum sofortigen Abzug zuzulassen. Dies entspräche einer konsumorientierten, nachgelagerten Besteuerung341 (s. § 3 Rz. 76 f.), wie sie im geltenden Einkommensteuerrecht nur für die nachgelagert besteuerten Alterseinkünfte gilt. Angesichts der durch einen Sofortabzug von Investitionen bewirkten periodischen Schwankungen käme als allgemeine Art der Einkünfteermittlung jedoch nur eine Überschussrechnung mit Anlageverzeichnis (s. § 9 I Kölner EStGE, Begr. Rz. 300) in Betracht. Diese nach dem Vorbild des § 4 III EStG ausgestaltete Überschussrechnung schränkt das Zufluss- und Abflussprinzip dort ein, wo es erforderlich ist.
1.3 Ergänzende Ermittlung von Veräußerungseinkünften (§§ 16; 17; 23 EStG) Die Vorschriften der bilanziellen Gewinnermittlung und der Überschussrechnungen nach dem Zu- 196 fluss- und dem Abflussprinzip werden ergänzt durch spezielle Vorschriften über die Ermittlung bestimmter Veräußerungseinkünfte. a) Im Bereich der Gewinneinkünfte sichert der Gewinnbegriff des § 4 I 1 EStG die vollständige Erfassung aller Veräußerungseinkünfte sowie die Wertabgrenzung des Betriebsvermögens durch Einlagen und Entnahmen. Somit wären die Gewinne oder Verluste aus der Veräußerung von ganzen Betrieben, Teilbetrieben, Mitunternehmeranteilen sowie die sog. Totalentnahme der Betriebsaufgabe auch ohne die Regelungen der §§ 14; 16; 18 III EStG zu versteuern342. Die konstitutive Bedeutung dieser Vorschriften besteht darin, den Gewinn aus der Abrechnung stiller Reserven am Ende eines (mit)unternehmerischen Engagements partiell freizustellen (§ 16 IV EStG) und sodann nur mit einem ermäßigten Steuersatz nach § 34 EStG zu belasten. Damit verfolgen die §§ 14; 16; 18 III EStG zwei Normzwecke, zum einen den Fiskalzweck, einer übermäßigen Steuerprogression entgegenzuwirken, die durch die Aufdeckung von mitunter langfristig entstandenen stillen Reserven ausgelöst werden kann, zum anderen den Sozialzweck, kleinere Veräußerungsgewinne steuerlich zu verschonen343. § 14a EStG dient zudem dem Sozialzweck, kleinere bäuerliche Familienbetriebe zu fördern. Die erwähnten Normzwecke der §§ 14; 14a; 16; 18 III EStG gebieten eine exakte Abgrenzung des laufenden Gewinns bis zum Zeitpunkt der Betriebs-, Teilbetriebs-, Anteilsveräußerung oder der Betriebsaufgabe von dem Veräußerungsgewinn, der an eine Steuerbilanz zum Veräußerungs- bzw. Aufgabezeitpunkt anknüpft. b) Im Bereich der Überschusseinkünfte durchbrechen die Tatbestände, die Veräußerungseinkünfte 197 erfassen, die quellentheoretische Ausgestaltung des Einkünftekatalogs. Daher konstituieren die §§ 17; 20 II; 22 Nr. 2 i.V.m. § 23 EStG die Steuerbarkeit der Veräußerungseinkünfte (s. Rz. 546 ff.). Die Gewinne und Verluste aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften rechnet § 17 I 1 EStG zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb. Tatsächlich hat aber die Beteiligung i.S.d. § 17 EStG keine Betriebsvermögensqualität. Sie gehört vielmehr zum privaten Stammvermögen. Demzufolge gehören die §§ 17; 20 II; 23 EStG systematisch zusammen344. Überhaupt bedarf die Ermittlung von Veräußerungseinkünften eigenständiger Normen, um die ermittlungstechnischen Besonderheiten (z.B. einer Inflationsbereinigung) sachgerecht regeln zu können. Eine einheitliche Regelung ist nach Einführung
341 342
343 344
einheitliche Gewinnermittlungsart?, DStZ 2001, 423; Küpper, Cash Flow und/oder Vermögen als Basis von Unternehmensrechnung und Besteuerung, in FS F. Wagner, 2004, 101. Zu Unterschieden zwischen der § 4 III-Rechnung und einer Cash-Flow-Steuer s. von Campenhausen, SteuerStud 2004, 641. BFH v. 26.5.1993 – X R 101/90, BStBl. II 1993, 710 (714); Lademann/Sieker, § 16 EStG Rz. 28 (2012); Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz. 3 (2015); Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 6.; a.A. KSM/Reiß, § 16 EStG Rz. A 31 f. (1991); Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993, 777 ff.; Kirchhof/Reiß17, § 16 EStG Rz. 6. BT-Drucks. VI/1901, 12. Dies bringen die §§ 30, 31 öEStG im Gesetzesaufbau zum Ausdruck. S. ferner den Reformvorschlag der §§ 27–29 Kölner EStGE.
Hey 381
§ 8 Rz. 198
Einkommensteuer
der vollen Steuerpflicht sämtlicher Wertsteigerungen des Kapitalvermögens (§ 20 II EStG) im Zuge der Abgeltungsteuer dringlicher denn je345. Der Gewinn oder Verlust i.S.d. §§ 17 II 1; 20 II; 23 III 1 EStG ist wie folgt zu ermitteln: Veräußerungspreis ./. Veräußerungskosten (§§ 17 II 1; 20 IV 1 EStG) oder ./. Werbungskosten (§ 23 III 1 EStG) Nettoerlös ./. Anschaffungs-/Herstellungskosten Veräußerungsgewinn oder -verlust 198 Veräußerungspreis ist der Wert der Gegenleistung, die der Veräußerer durch den Abschluss des Ver-
äußerungsgeschäfts am maßgebenden Stichtag erlangt346. Nachträgliche Veränderungen des Kaufpreises sind rückwirkend gem. § 175 I 1 Nr. 2 AO zu berücksichtigen, und zwar auch dann, wenn das Ereignis nicht seine Ursache im Veräußerungsgeschäft hatte, z.B. ein gestundeter Kaufpreis nicht bezahlt wird347. In bestimmten Fällen wird der Veräußerungspreis durch den gemeinen Wert (§§ 17 II 2; 20 IV 2; 23 III 2 EStG) u.a. Werte (§§ 20 IV 3; 23 III 2, 3 EStG) ersetzt. Der Begriff der Werbungskosten in § 23 III 1 EStG reicht insofern weiter als der Begriff der Veräußerungskosten in § 17 II 1 EStG, als § 23 III 1 EStG nicht nur Aufwendungen erfasst, die im Zusammenhang mit der Veräußerung angefallen sind (z.B. Makler-, Notar- und Grundbuchgebühren), sondern alle durch ein Veräußerungsgeschäft i.S.d. § 23 EStG veranlassten Aufwendungen, die nicht zu den Anschaffungs- oder Herstellungskosten gehören348. Die Umschreibung des in § 17 II 1 EStG verwendeten Begriffs der Veräußerungskosten als „Aufwendungen in unmittelbarem sachlichem Zusammenhang mit dem Veräußerungsgeschäft“ in § 20 IV 1 EStG begründet keine inhaltliche Differenzierung. Die Veräußerungskosten i.S.d. § 17 II 1 EStG bzw. die Werbungskosten i.S.d. § 23 III 1 EStG sind abzugrenzen von den Werbungskosten der Quelleneinkünfte i.S.d. §§ 20; 21 EStG, das sind insb. die Absetzungen i.S.d. § 9 I 3 Nr. 7 EStG, welche die gem. § 23 III 1 EStG anzusetzenden Anschaffungsoder Herstellungskosten mindern. Der Einkünftedualismus verhindert ein geschlossenes System der Abzugsfähigkeit: Kosten einer gescheiterten Veräußerung i.S.d. § 17 EStG sind weder nach § 17 II 1 EStG noch nach §§ 9 I 1, 2; 20 IX EStG abziehbar349. Sie sind tatbestandsmäßig nicht erfasste Stammvermögensaufwendungen. Weber-Grellet fordert, derartige Aufwendungen als Beteiligungskosten im Rahmen von § 17 II EStG zum Abzug zuzulassen350. Der BFH hilft stattdessen z.T. mit einem weiten Verständnis (nachträglicher) Anschaffungskosten351.
345 Hey, DStJG 34 (2011), 379 (395). 346 So zu § 17 EStG RFH v. 30.5.1933 – VI A 2102/31, RStBl. 1933, 1010; BFH v. 13.12.1961 – I 209/60 U, BStBl. III 1962, 85; v. 25.11.1965 – IV 216/64 S, BStBl. III, 1966, 110; v. 17.10.1974 – IV R 223/72, BStBl. II, 1975, 58 (60); Zinsen für die Stundung des Kaufpreises gehören zu den Einnahmen aus Kapitalvermögen. 347 BFH v. 19.7.1993 – GrS 2/92, BStBl. II 1993, 897; v. 21.12.1993 – VIII R 69/88, BStBl. II 1994, 648; BFH v. 6.12.2016 – IX R 49/15, BStBl. II 2017, 673. 348 So grds. BFH v. 12.12.1996 – X R 65/95, BStBl. II 1997, 603, zu Baugenehmigungsgebühren u. Architektenhonoraren, wenn ein Grundstück unbebaut weiterveräußert wird, unter Hinweis auf BFH v. 17.7.1991 – X R 6/91, BStBl. II 1991, 916; v. 28.11.1990 – X R 197/87, BStBl. II 1991, 300 (304); v. 3.6.1992 – X R 91/90, BStBl. II 1992, 1017 (1018). 349 BFH v. 17.4.1997 – VIII R 47/95, BStBl. II 1998, 102. 350 Weber-Grellet, DStR 1998, 1617 (1620); Schmidt/Weber-Grellet36, § 17 EStG Rz. 132: „gesetzesergänzende Lückenfüllung“; grds. zust. Musil, DStJG 34 (2011), 237 (245 f.). 351 BFH v. 16.4.1991 – VIII R 100/87, BStBl. II 1992, 234.
382
Hey
1. Typen der Einkünfteermittlung
Rz. 200 § 8
Der Schuldzinsenabzug verdeutlicht exemplarisch die Zuordnungsproblematik zwischen Veräußerungs- 199 und Quelleneinkünften. Nach § 9 I 3 Nr. 1 EStG kommt es auf den „wirtschaftlichen Zusammenhang“ mit einer Einkunftsart an. Die Rspr. des BFH352 stellt auf den Zweck der Erwerbstätigkeit ab. Kann „auf Dauer gesehen ein Überschuss der Einnahmen über die Ausgaben erwartet werden“353, so lässt der BFH den Abzug bei den Einkünften i.S.d. §§ 20; 21 EStG zu. Die Erwerbstätigkeit ist auf die Erzielung von Quelleneinkünften gerichtet. Sind hingegen positive Quelleneinkünfte nicht zu erwarten, so ist nach dem BFH davon auszugehen, dass der fremdfinanzierte Erwerb der Realisierung von Wertsteigerungen dient. Die Schuldzinsen sind den Veräußerungseinkünften zuzuordnen und daher nur im Rahmen des § 23 III 1 EStG zu berücksichtigen. Der BFH ließ bisher Zinsen, die ein Stpfl. zum Erwerb einer wesentlichen Beteiligung i.S.d. § 17 EStG aufwendet, nur bis zur Veräußerung der Beteiligung bzw. bis zur Liquidation der Gesellschaft zum Abzug zu. Nachträgliche Schuldzinsen wurden als steuerlich irrelevante Stammvermögensaufwendungen vom Abzug ausgeschlossen354. Nunmehr gewährt der BFH im Hinblick auf die Ausweitung der Steuerpflicht von Wertveränderungen im privaten Kapitalstammvermögen zutr. den Abzug im Rahmen von § 20 EStG355. Die längst überfällige Rechtsprechungsänderung356 wird sich allerdings aufgrund des für abgeltungsbesteuerte Kapitaleinkünfte geltenden Werbungskostenabzugsverbots (§ 20 IX EStG) kaum auswirken357 (evtl. im Rahmen von § 32d II Nr. 3 EStG). Mittlerweile lässt der BFH den Abzug von Schuldzinsen auch nach Veräußerungen von im Privatvermögen gehaltenen Immobilien zu, ohne dass es darauf ankommt, ob die Veräußerung gem. § 23 I 1 Nr. 1 EStG steuerbar358 oder nicht steuerbar359 ist. Der Abzug wird nicht durch einen Veranlassungszusammenhang mit dem Veräußerungsgeschäft, sondern mit der vorherigen Vermietungstätigkeit begründet360. Unentgeltliche und teilentgeltliche Übertragungen (Schenkungen/Erbschaften) erfordern Sonderregelun- 200 gen, da die Komponente des Veräußerungspreises bzw. der Anschaffungskosten fehlt. Nach §§ 17 II 5; 20 IV 6 EStG sind die Anschaffungskosten des letzten entgeltlichen Anteilserwerbs maßgebend für die Ermittlung des Gewinns/Verlusts aus der nächsten entgeltlichen Veräußerung. Gemischte Schenkungen sind in voll entgeltliche und in voll unentgeltliche Anteils-Übertragungen aufzuspalten. Bei privaten Veräußerungsgeschäften ist der unentgeltliche Erwerb keine Anschaffung i.S.d. § 23 I EStG; maßgeblich ist die Frist zwischen Anschaffung durch den Erblasser (Schenker) und Verkauf durch den Erben/Beschenkten. Bei gemischter Schenkung sind Veräußerungseinkünfte nach § 23 III 1 EStG nur bezüglich des entgeltlich erworbenen Teils zu ermitteln361.
352 BFH v. 21.7.1981 – VIII R 128/76, BStBl. II 1982, 36; v. 21.7.1981 – VIII R 154/76, BStBl. II 1982, 37; v. 21.7.1987 – VIII R 200/78, BStBl. II 1982, 40; v. 23.3.1982 – VIII R 132/80, BStBl. II 1982, 463; v. 23.5.1985 – IV R 198/83, BStBl. II 1985, 517 (519); v. 8.10.1985 – VIII R 234/84, BStBl. II 1986, 596. 353 BFH v. 21.7.1981 – VIII R 154/76, BStBl. II 1982, 37 (40); v. 8.10.1985 – VIII R 234/84, BStBl. II 1986, 596. 354 BFH v. 9.8.1983 – VIII R 276/82, BStBl. II 1984, 29; BFH v. 2.5.2001 – VIII R 32/00, BStBl. II 2001, 668; v. 21.1.2004 – VIII R 2/02, BStBl. II 2004, 551 (553). 355 BFH v. 16.3.2010 – VIII R 20/08, BStBl. II 2010, 787; v. 8.9.2010 – VIII R 1/10, BFH/NV 2011, 223; v. 5.2.2014 – X R 5/11, BFH/NV 2014, 1018. 356 Zust. z.B. Fuhrmann, NWB 2010, 2942; Dornheim, DStZ 2011, 763, der allerdings für eine Zuordnung zu § 17 EStG plädiert; Ott, StuB 2013, 454; Dornheim, DStZ 2012, 554. 357 BFH v. 21.10.2014 – VIII R 48/12, BStBl. II 2015, 270: Auch eine nachträgliche Option gem. § 32d II Nr. 3 EStG ist nicht möglich. 358 BFH v. 20.6.2012 – IX R 67/10, BStBl. II 2013, 275. 359 BFH v. 8.4.2014 – IX R 45/13, BStBl. II 2015, 635. 360 Dazu BMF v. 27.7.2015 – IV C 1-S 2211/11/10001, BStBl. I 2015, 581; Schmidt/Loschelder36, § 9 EStG Rz. 40; Dornheim, DStZ 2012, 553; Schallmoser, SteuK 2013, 115; Lipp, SteuerStud 2014, 138; Meyer/ Ball, DStR 2012, 2260; Jochum, DStZ 2012, 728; Schmitz-Herscheidt, FR 2014, 625; Hilbertz, NWB 2014, 1934; Paus, DStZ 2014, 580. 361 Zu unentgeltlichen und gemischten Erwerben s. Schmidt/Weber-Grellet36, § 23 EStG Rz. 40 ff.
Hey 383
§ 8 Rz. 201
Einkommensteuer
1.4 Privilegierende Einkünfteermittlungen 201 Das System der Einkünfteermittlung wird durchbrochen durch Methoden der Einkünfteermittlung,
die bestimmte Einkünfte gezielt privilegieren. Dazu gehört die land- und forstwirtschaftliche Gewinnermittlung nach Durchschnittssätzen (§ 13a EStG), die unter dem Vorwand der Steuervereinfachung den Realgewinn nur partiell erfasst (s. Rz. 409 ff.). 202 Unter dem Deckmantel der Schiffssicherheit führte der Gesetzgeber ab 1999 die nach der Tonnage
von Schiffen bemessene Gewinnermittlung nach § 5a EStG für Handelsschiffe im internationalen Verkehr ein362. Da Schifffahrtsunternehmen besonders mobil sind und andere Staaten mit ähnlichen Vergünstigungen locken, nötigte der unfaire Wettbewerb der Steuersysteme den Gesetzgeber, mit Einführung der sog. Tonnagesteuer auf die Erfassung des wirklichen Gewinns von Betrieben der Handelsschifffahrt weitgehend zu verzichten363. Richtigerweise gehörte diese Art der Sonderbesteuerung von Schifffahrtsbetrieben nicht in das Einkommensteuergesetz, weil sie an eine vom Ertrag völlig unabhängige Größe anknüpft. Innerhalb der Einkommensteuer verletzt sie den Gleichheitssatz. Als von der Einkommensteuer abgeschichtete Sonderunternehmensteuer mag sie zu rechtfertigen sein, weil Gewinne, die außerhalb des nationalen Zugriffsbereichs erwirtschaftet werden, nicht voll besteuert werden können und nach dem Quellenprinzip auch nicht besteuert werden sollen. Übersicht über die Typen der Einkünfteermittlung Typenart
Gewinneinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 1 EStG)
Überschusseinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG)
Bilanzvergleich
Betriebsvermögensvergleich nach §§ 4 I; 5 EStG (periodengerechte Erfolgsrechnung nach der Reinvermögenszugangstheorie)
Kassenrechnung
Einnahmen/Werbungskosten-ÜberschussBetriebseinnahmen/-ausgabenrechnung nach §§ 8 ff. EStG (Vereinfachte Überschussrechnung nach § 4 III EStG (Vereinfachte Erfolgsrechnung Erfolgsrechnung nach der Quellentheorie) nach der Reinvermögenszugangstheorie)
Ergänzende Erfolgsrechnungen
Ermittlung der Einkünfte aus Betriebsveräußerung und -aufgabe nach §§ 14; 16; 18 III EStG (Ergänzende Erfolgsrechnung zum Zwecke der Steuerermäßigung)
– Ermittlung der Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften nach §§ 20 IV; 23 EStG – Ermittlung der Einkünfte aus der Veräußerung wesentlicher Beteiligungen nach § 17 EStG (Ergänzende Erfolgsrechnungen nach der Reinvermögenszugangstheorie)
362 Art. 6 Nr. 1 Seeschifffahrtsanpassungsgesetz v. 9.9.1998, BGBl. I 1998, 2860. Dazu BMF v. 10.9.2013 – IV C 6-S 2133-a/09/10001:00, BStBl. I 2013, 1152; KSM/Hennrichs/Kuntschik, § 5a EStG (2007); Dißars, NWB 2014, 1793; Rolf, Die Einkommensbesteuerung von Gewinnen aus dem Betrieb von Handelsschiffen im internationalen Verkehr, Diss., 2014. Zur steuerlichen Vorteilhaftigkeit von Schiffsfonds im Vergleich zu abgeltend besteuerten Kapitalanlagen Taetzner/Lange, BB 2008, 2771; Blum/Götzenberger, BB 2009, 1111. In Zeiten der Gewinnlosigkeit kann sich die Tonnagebesteuerung jedoch als Falle darstellen, Dißars/Hinsch, DStR 2013, 2092. 363 Vgl. BT-Drucks. 13/10271, 8.
384
Hey
1. Typen der Einkünfteermittlung
Rz. 204 § 8
Typenart
Gewinneinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 1 EStG)
Überschusseinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG)
Systemwidrige Einkünfteermittlungen
– Privilegierende Ermittlung des land- und forstwirtschaftlichen Gewinns nach Durchschnittssätzen (§ 13a EStG) – Privilegierende Gewinnermittlung nach der Tonnage von Schiffen (§ 5a EStG)
Letztmals 1986: Pauschalierung des Nutzungswerts der selbstgenutzten Wohnung im eigenen Haus nach § 21a EStG (systemwidrige Sollertragsrechnung für eine systemwidrige Einkunftsart)
1.5 Personelle Zuordnung der Gewinnermittlungsarten Während im Bereich der Überschusseinkünfte (§ 2 I 1 Nr. 4–7, II 1 Nr. 2 EStG) für einen Einkünfte- 203 tatbestand jeweils nur eine Ermittlungsart angeordnet ist, kommen im Bereich der Gewinneinkünfte (§ 2 I 1 Nr. 1–3, II 1 Nr. 1 EStG) für jede Einkunftsart mehrere Gewinnermittlungsarten in Betracht. Deshalb bestimmt sich die anzuwendende Gewinnermittlungsart nicht nur nach der Zuordnung der Einkünfte zu einer Gewinneinkunftsart, sondern im Weiteren auch danach, ob der Stpfl. gesetzlich buchführungspflichtig ist oder freiwillig Bücher führt. Daraus ergibt sich folgende personelle Zuordnung der Gewinnermittlungsarten: Personenkreis
Gewinnermittlungsart
– Land- und Forstwirte, gesetzlich buchführungspflichtig (insb. nach § 141 AO) oder freiwillig buchführend – Freiberufler, freiwillig buchführend
Allgemeiner Betriebsvermögensvergleich (§ 4 I EStG)
Gewerbetreibende, gesetzlich buchführungspflichtig (insb. Vollkaufleute/Handelsgesellschaften/Buchführungspflichtige nach § 141 AO) oder freiwillig buchführend
Betriebsvermögensvergleich für Gewerbetreibende (§ 5 EStG)
– Freiberufler, nicht buchführend – Gewerbetreibende, weder gesetzlich buchführungspflichtig (insb. Kleingewerbetreibende, vgl. § 241a HGB) noch freiwillig buchführend
Betriebseinnahmen/-ausgaben Überschussrechnung nach § 4 III EStG
Land- und Forstwirte, weder gesetzlich buchführungspflichtig noch freiwillig buchführend und die Überschussrechnung nach § 13a II EStG beantragend
Betriebseinnahmen/-ausgaben Überschussrechnung nach § 4 III EStG
Land- und Forstwirte, welche die Voraussetzungen des § 13a I EStG erfüllen und nach § 13a II EStG keine andere Gewinnermittlungsart wählen
Gewinnermittlung nach Durchschnittssätzen (§ 13a EStG)
1.6 Schätzung Soweit die Besteuerungsgrundlagen – zumal deshalb, weil der Stpfl. keine Bücher oder Aufzeichnun- 204 gen geführt hat – nicht ermittelt oder berechnet werden können, sind sie gem. § 162 AO zu schätzen. § 162 AO begründet keinen eigenständigen Typus der Einkünfteermittlung. Der Schätzung sind vielmehr die Vorschriften der jeweils einschlägigen Ermittlungsart zugrunde zu legen. Diese ist bei den Gewinneinkünften der Betriebsvermögensvergleich nach § 4 I EStG, weil in dieser Vorschrift der allge-
Hey 385
§ 8 Rz. 205
Einkommensteuer
meine Gewinnbegriff niedergelegt ist, der auch dann anzuwenden ist, wenn sich der Stpfl. nicht für die vereinfachte Gewinnermittlung entschieden hat364. 2. Grundbegriffe der Einkünfteermittlung 2.1 Das terminologische System der Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen Literatur: Tipke, Zur Abgrenzung der Betriebs- oder Berufssphäre von der Privatsphäre, StuW 1979, 193; Söhn, Die Abgrenzung der Betriebs- oder Berufssphäre von der Privatsphäre im Einkommensteuerrecht, DStJG 3 (1980); Tipke, Bezüge und Abzüge im Einkommensteuerrecht. Ein kritischer Beitrag zum Aufbau und zur Terminologie des Einkommensteuergesetzes, StuW 1980, 1; Wassermeyer, Das Erfordernis objektiver und subjektiver Tatbestandsmerkmale in der ertragsteuerlichen Rspr. des BFH, StuW 1982, 352; KSM/P. Kirchhof, § 2 EStG Rz. A 30 ff., A 51 ff.; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, 299 ff., 318 ff.; Jüptner, Leistungsfähigkeit und Veranlassung, Diss., 1989; Hundsdoerfer, Die einkommensteuerliche Abgrenzung von Einkommenserzielung und Konsum, Habil., 2002. 205 Die zu ermittelnden Einkünfte bestehen aus positiven und negativen Faktoren. Die Einkünfte sind
Salden aus solchen positiven und negativen Faktoren. Die positiven Faktoren der Einkünfte (Erträge, Betriebseinnahmen, Einnahmen) lassen sich terminologisch zusammenfassen zum Begriff Erwerbsbezüge; die negativen Faktoren (Aufwendungen, Betriebsausgaben, Werbungskosten) lassen sich zusammenfassen zum Begriff Erwerbsaufwendungen. Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen sind als Bestandteile einkommensteuerbarer Einkünfte durch eine konkrete Erwerbstätigkeit veranlasst. Im Mittelpunkt steht also das Veranlassungsprinzip, nach dem die Begriffe der Betriebsausgaben und der Werbungskosten inhaltsgleich zu interpretieren sind (s. Rz. 230 ff.). Dem Veranlassungsprinzip liegt die steuerrechtliche Kausallehre zugrunde, so dass das Veranlassungsprinzip nicht nur für die Bestimmung von Erwerbsaufwendungen, sondern allgemein für die Abgrenzung der Erwerbssphäre zur Privatsphäre maßgeblich ist. 2.1.1 Die Abgrenzung der Erwerbssphäre zur Privatsphäre 2.1.1.1 Finalität und Kausalität des Handelns 206 Die Qualifikation von Erwerbsbezügen und Erwerbsaufwendungen nach dem Veranlassungsprinzip
geht von der Erkenntnis aus, dass die Erwerbstätigkeit auf finalem Handeln beruht, das auf die Erzielung eines Überschusses der Erwerbsbezüge über die Erwerbsaufwendungen gerichtet ist365. Dieses finale Erwerbshandeln ist von dem finalen Handeln privater Lebensführung zu unterscheiden. Somit dient das finale Handeln entweder Erwerbszwecken oder Privatzwecken oder beidem in den Fällen gemischter Veranlassung (s. Rz. 220). Die Problematik der Zuordnung von Bezügen und Aufwendungen ist kausalrechtlicher Art: Das Handeln zu Erwerbszwecken (erwirtschaftendes Handeln mit Einkünfteerzielungsabsicht) verursacht Erwerbsbezüge/-aufwendungen und das Handeln zu Privatzwecken verursacht private Bezüge/Aufwendungen. Ziel der Rechtsdogmatik muss es sein, einheitliche Kausalitätskriterien für die Abgrenzung von Vermögensvorgängen der Erwerbs- und Privatsphäre zu entwickeln und diese der Interpretation steuergesetzlicher Kausalitätsformulierungen zugrundezulegen.
364 So BFH v. 30.9.1980 – VIII R 201/78, BStBl. II 1981, 301; v. 13.10.1989 – III R 30-31/85, BStBl. II 1990, 287 (289); v. 13.7.2000 – IV R 55/99, BFH/NV 2001, 3. Im Weiteren zur Schätzung § 21 Rz. 207 ff. 365 Zu dieser Erkenntnis u. zur finalen Handlungslehre von Welzel s. bereits Rz. 122 sowie umfassend Hübner, Die Entwicklung der objektiven Zurechnung, Diss., 2004. Vgl. auch Röckrath, Kausalität, Wahrscheinlichkeit u. Haftung, Diss., 2004.
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2.1 Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen
Rz. 209 § 8
Kausalität
zu Privatzwecken
Kausalität
zu Erwerbszwecken
ät lit na Fi
Fi na lit ät
Finale Handlung
verursacht Erwerbsbezüge und -aufwendungen
verursacht Privatbezüge und -aufwendungen
Kausalitätsformulierungen: § 8 I EStG: „Einnahmen sind alle Güter, die … im Rahmen einer der Einkunftsarten … zufließen“; § 4 IV EStG: „Betriebsausgaben sind die Aufwendungen, die durch den Betrieb veranlasst sind“; § 9 I 1 EStG: „Werbungskosten sind Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen“; § 3c I EStG: „Ausgaben dürfen, soweit sie mit steuerfreien Einnahmen in unmittelbarem wirtschaftlichem Zusammenhang stehen, nicht als Betriebsausgaben oder Werbungskosten abgezogen werden“; § 9 I 3 Nr. 1 Satz 1 EStG: „Schuldzinsen …, soweit sie mit einer Einkunftsart in wirtschaftlichem Zusammenhang stehen“.
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2.1.1.2 Bestimmung der Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen durch das Veranlassungsprinzip Der Begriff der Veranlassung kennzeichnet die Kausalbeziehung zwischen einer finalen Handlung 208 und dem Erfolg von Bezügen und Aufwendungen. Das daraus resultierende sog. Veranlassungsprinzip366 wird dem Betriebsausgabentatbestand entnommen: Nach § 4 IV EStG sind Betriebsausgaben Aufwendungen, die durch den Betrieb veranlasst sind. Dabei ist Betrieb nach § 15 II 1 EStG eine selbständige, nachhaltige, mit Gewinnerzielungsabsicht ausgeübte Betätigung. Nach dem Veranlassungsprinzip sind Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen als das zweckgerichtet mit Einkunftserzielungsabsicht erwirtschaftete Ergebnis einer Erwerbstätigkeit zu bestimmen. Das Veranlassungsprinzip prägt das System und die Grundbegriffe der Einkünfteermittlung; es verwirklicht jene kausalrechtliche Symmetrie, die für eine Gleichbehandlung von Einkunftsarten in einem synthetischen Einkommensteuersystem (s. Rz. 1) benötigt wird. Die aus dem Betriebsausgabenbegriff in § 4 IV EStG abgeleitete Basisdefinition lautet: Erwerbsauf- 209 wendungen sind Aufwendungen, die durch eine Erwerbstätigkeit mit Einkünfteerzielungsabsicht veranlasst sind. Dementsprechend interpretiert die Rspr. den Werbungskostenbegriff (s. Rz. 230 ff.). Auf der Grundlage eines einheitlich entfalteten Veranlassungsprinzips sind Erwerbsbezüge Bezüge, die durch eine Erwerbstätigkeit mit Einkünfteerzielungsabsicht erwirtschaftet worden sind. Nach st. Rspr. des BFH367 sind Betriebseinnahmen in Anlehnung an § 4 IV EStG alle durch den Betrieb veranlassten 366 Dazu Kröger, StuW 1978, 289; Wassermeyer, StuW 1982, 352; Jüptner, Leistungsfähigkeit und Veranlassung, Diss., 1989; Langohr, Das Veranlassungsprinzip im Einkommensteuerrecht, Diss., 1990; Hundsdoerfer, Abgrenzung von Einkommenserzielung und Konsum, Habil., 2002, 181 ff.; Weber, StuW 2009, 184; HHR/Stapperfend, § 4 EStG Anm. 790 ff. (2016); Schilling, Zwangsläufiger, pflichtbestimmter Aufwand in Ehe und Familie. Ein Beitrag zur einkommensteuerrechtlichen Veranlassungstheorie, Diss., 2013, 117–147. 367 BFH v. 27.5.1998 – X R 17/95, BStBl. II 1998, 618; v. 27.5.1998 – X R 94/96, BStBl. II 1998, 619 (620 f.); v. 18.6.1998 – IV R 61/97, BStBl. II 1998, 621.
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§ 8 Rz. 210
Einkommensteuer
Einnahmen und Einnahmen i.S.d. § 8 I EStG sind alle Einnahmen, die durch eine Erwerbshandlung i.S.v. Überschusseinkünften veranlasst sind (s. Rz. 474 zur unverständlichen Ausnahme bei Arbeitnehmern). 210 Beispiele für Erwerbsbezüge: erwirtschaftete Preisgelder368, betrieblich veranlasste Zuwendungen369, Lose370 und Schadensersatzleistungen371. Provisionen, die für den Abschluss eigener privater Versicherungen an Versicherungsvertreter gezahlt werden, behandelt der BFH als Erwerbsbezüge, die durch die gewerbliche372 oder i.S.d. § 22 Nr. 3 EStG gelegentliche373 Erwerbstätigkeit veranlasst sind. Zahlungen einer Praxisausfallversicherung, die das persönliche Krankheitsrisiko absichert, sind dagegen nicht steuerbar, ebenso wie die Beiträge keine Erwerbsaufwendungen darstellen374.
2.1.1.3 Subjektiv-finale und objektive Ursachen 211 Die juristisch relevante Kausalität baut zwar auf dem Kausalitätsbegriff der philosophischen Logik
und der Naturwissenschaften auf (conditio sine qua non), ist jedoch sodann nur durch wertende, teleologische Auswahl näher zu bestimmen. Hier geht es darum, das leistungsfähigkeitsindizierende Ergebnis einer Erwerbstätigkeit möglichst exakt zu erfassen. Dazu sind folgende Ursachen relevant bzw. nicht relevant: 212 Subjektiv-finale Ursachen (Motive und Zwecke): Die besondere Qualität der Veranlassung wird in
der finalen (zweckbestimmten) Verursachung gesehen, denn nur der Mensch kann etwas „veranlassen“. Wie bereits in Rz. 122 festgestellt, entstehen Einkünfte durch planmäßiges Wirtschaften. Daher lassen sich Vermögenszugänge und -abgänge in aller Regel auf ein konkretes Erwerbs- oder Privat368 BFH v. 1.10.1964 – IV 183/62 U, BStBl. III 1964, 629 (Ausstellungspreis an Kunsthandwerker); v. 16.1.1975 – IV R 75/74, BStBl. II 1975, 558 (Architekturpreis); v. 14.3.1989 – I R 83/85, BStBl. II 1989, 650 (Preis für Meisterprüfung); v. 23.4.2009 – VI R 39/08, BStBl. II 2009, 668 (Nachwuchsförderpreis für Arbeitnehmer). Als privat veranlasst beurteilt der BFH Preise für das Lebenswerk, Gesamtschaffen und die Persönlichkeit des Preisträgers (BFH v. 1.10.1964 – IV 183/62 U, BStBl. III 1964, 629; v. 9.5.1985 – IV R 184/82, BStBl. II 1985, 427). S. auch BMF v. 5.9.1996 – IV B 1 - S 2121-34/96, BStBl. I 1996, 1150; geändert mit Schreiben v. 23.12.2002 – IV A 5-S 2121-8/02 I, BStBl. I 2003, 76. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 264 f.; Wübbelsmann, DStR 2009, 1744; grundl. aus markteinkommenstheoretischer Sicht Marx, DStZ 2014, 282. Zu Wissenschaftspreisen: Grotherr/Hardeck, StuW 2014, 3; Krumm, FR 2015, 639; aus österreichischer Sicht Kerschner, ÖStZ 2014, 166; Daxkobler/ Kerschner, ÖStZ 2014, 166. 369 Dazu § 6 IV EStG; Geschenke: RFH v. 9.10.1935 – VI A 84/35, RStBl. 1936, 139 (140); BFH v. 6.9.1990 – IV R 125/89, BStBl. II 1990, 1028; Zuwendung von Reisen: BFH v. 22.7.1988 – III R 175/85, BStBl. II 1988, 995; v. 20.4.1989 – IV R 106/87, BStBl. II 1989, 641; v. 26.9.1995 – VIII R 35/93, BStBl. II 1996, 273; Altgold (Zahnarzt): v. 17.4.1986 – IV R 115/84, BStBl. II 1986, 607; Sozialleistungen: v. 26.10.1977 – I R 110/76, BStBl. II 1978, 137; v. 1.10.1993 – III R 32/92, BStBl. II 1994, 179; v. 27.2.1991 – XI R 24/88, BFH/NV 1991, 453; Zuschüsse zur Förderung von Existenzhilfen: BFH v. 9.10.1996 – XI R 35/96, BStBl. II 1997, 125; Freiexemplare für Autoren u. Richter: Grootens, StW 2007, 181. 370 BFH v. 2.9.2008 – X R 25/07, BStBl. II 2010, 550 (Zuteilung von Losen als Erfolgsprämie); Betriebseinnahmen verneint bei Bezahlung von Losen aus Provisionsansprüchen BFH v. 2.9.2008 – X R 8/06, BStBl. II 2010, 548 (Einkommensverwendung). Zur Rspr. betr. betrieblicher Verlosungen J. Förster, DStR 2009, 249. 371 Z.B. eines Haftpflichtversicherers wegen fehlerhafter Steuerberatung BFH v. 8.12.1971 – I R 80/70, BStBl. II 1972, 292; v. 15.12.1976 – I R 4/75, BStBl. II 1977, 220; v. 4.12.1991 – I R 26/91, BStBl. II 1992, 686 (betrieblich veranlasste Steuerberatung). Allgemein zur Behandlung von Schadenersatzleistungen: Klein, SteuerStud 2010, 209; Grube, FR 2013, 433. 372 BFH v. 27.5.1998 – X R 17/95, BStBl. II 1998, 618. 373 BFH v. 27.5.1998 – X R 94/96, BStBl. II 1998, 619. 374 BFH v. 19.5.2009 – VIII R 6/07, BStBl. II 2010, 168; v. 18.8.2009 – X R 21/07, BFH/NV 2010, 192; ebenso v. 23.4.2013 – VIII R 4/10, BStBl. II 2013, 615 (616): entscheidend für die Abzugsfähigkeit ist nicht die Verwendung der Versicherungsleistung im Betrieb, sondern ob die versicherte Gefahr durch den Betrieb veranlasst ist.
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2.1 Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen
Rz. 216 § 8
motiv bzw. einen konkreten Erwerbs- oder Privatzweck zurückführen. Mithin erscheint es sachgerecht, das Ergebnis einer wirtschaftlichen Betätigung in erster Linie subjektiv-final zu bestimmen375. Daraus, dass es ursächlich auf die Motivation des Stpfl., auf den von ihm verfolgten Zweck, ankommt, ergibt sich, dass Erwerbshandlungen nicht nur solche sind, die objektiv der Erwerbstätigkeit dienen, sondern auch solche, die ihr vom Standpunkt des Handelnden aus dienen. So hat der Handelnde insb. bei Aufwendungen einen Beurteilungsspielraum. Auf die betriebliche/berufliche Notwendigkeit, Üblichkeit oder Zweckmäßigkeit der Handlung kommt es grds. nicht an. Willensunabhängige Bezüge und Aufwendungen: Allerdings ist eine bestimmte Vorstellung des 213 Stpfl., eine subjektive Zweckbestimmung nicht Voraussetzung der einkommensteuerrechtlichen Berücksichtigung. Zweckgerichtetes, finales Handeln ist oftmals von Nebenfolgen begleitet, die vom Willen des Handelnden nicht beherrscht sind. In diesem Sinne handelt der Erwerbstätige grds. mit Risiko und nimmt dieses Risiko in sein Kalkül auf. Die Nebenfolgen des risikobehafteten Handelns sind bei der Ermittlung von Einkünften mit zu berücksichtigen. Das gilt für willensunabhängige Bezüge (sog. windfall profits) wie für willensunabhängige, unfreiwillige, planwidrige Aufwendungen. Derartige Aufwendungen können dem Stpfl. durch Blitzschlag u.a. Naturereignisse, durch Schädigungen Dritter, durch Unfälle, verlorene Prozesse etc. entstehen, wie überhaupt Verluste gegen den Plan der Gewinnerzielung zu entstehen pflegen. Schwierigkeiten bereitet die Zurechnung von Risikofolgen beim Verlust von Wirtschaftsgütern: Bei 214 privaten Wirtschaftsgütern wie Schmuck und Kleidung wird häufig schon aus der Zugehörigkeit des Wirtschaftsguts zum Privatvermögen gefolgert, die Aufwendungen seien der privaten Risikosphäre zuzuordnen376. Dem kann nicht zugestimmt werden, soweit sich ein berufstypisches Risiko verwirklicht. Rächt sich ein Krimineller an einem Polizisten, indem er dessen privaten Pkw in Brand setzt, so sind Werbungskosten anzunehmen377, weil das Schadensereignis in der Risikosphäre des Polizistenberufs angesiedelt ist. Ein Umzug oder eine Dienstreise erhöhen das Risiko, etwas zu verlieren oder bestohlen zu werden. Geht Hausrat bei einem beruflich veranlassten Umzug verloren oder wird einem Reporter in Bagdad alles weggenommen, was er am Leibe trägt, so ist der Verlust „privater“ Wirtschaftsgüter berufliche Risikofolge. Umgekehrt führt allein die Zugehörigkeit von Wirtschaftsgütern zum Erwerbsvermögen noch nicht 215 zu Erwerbsaufwendungen. Die Zerstörung eines betrieblichen Pkw während einer privaten Urlaubsfahrt fällt in die private Risikosphäre378. Auch der Verlust von Arbeitsmitteln kann in der privaten Risikosphäre geschehen. Der BFH hat den Diebstahl einer Violine durch den Ehemann als beruflich veranlassten Verlust und damit Erwerbsaufwendungen anerkannt.379 Der Diebstahl kann indes auch als Risikofolge einer gescheiterten Ehe und damit als Privatverlust angesehen werden380. Objektive Ursachen: Die Rspr. fordert auch einen objektiven Zusammenhang mit der Erwerbstätig- 216 keit. Allerdings folgt die Rspr. nicht der streng objektiven Theorie von Söhn381, wonach Aufwendungen nur dann Erwerbsaufwendungen sind, wenn sie „in einem objektiven (wirtschaftlichen) Zusam375 So insb. Tipke, StuW 1979, 199 ff.; Wassermeyer, StuW 1982, 352 ff. 376 So z.B. Schmidt/Heinicke33, § 4 EStG Rz. 520 (Verlust): Verluste privater WG führten „nach wohl zutr. h.M. grds. nicht zu betriebl. Aufwand, selbst wenn die auslösende Verwendung bei fortbestehender privater Mitveranlassung auch im betriebl. Interesse erfolgte“, mit Hinweis auf BFH v. 26.1.1968 – VI R 131/66, BStBl. II 1968, 342 (Verlust von Schmuck auf einer Geschäftsreise); v. 4.7.1986 – VI R 227/83, BStBl. II 1986, 771 (Verlust einer Geldbörse auf Vortragsreise). Hingegen Verlust eines privaten Pkw als Werbungskosten: v. 25.5.1992 – VI R 171/88, BStBl. II 1993, 44 (Dienstreise). 377 BFH v. 19.3.1982 – VI R 25/80, BStBl. II 1982, 442. 378 Zur bilanziellen Behandlung s. BFH v. 24.5.1989 – I R 213/85, BStBl. II 1990, 8; R. 4.7 I 3–5 EStR 2012. 379 BFH v. 9.12.2003 – VI R 185/97, BStBl. II 2004, 491. 380 S. Thomas, DStR 2004, 1273. 381 StuW 1983, 193 ff. (196, Zitat), und umfassend KSM/Söhn, § 4 EStG Rz. E 60 ff. (2012).
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§ 8 Rz. 217
Einkommensteuer
menhang mit der beruflichen (betrieblichen) Tätigkeit stehen“. Vielmehr bestimmt die Rspr. den Begriff der Erwerbsaufwendungen subjektiv und objektiv: Danach sind Aufwendungen Betriebsausgaben, d.h. „durch den Betrieb veranlasst“ (§ 4 IV EStG), wenn sie objektiv mit dem Betrieb zusammenhängen und subjektiv dem Betrieb zu dienen bestimmt sind382. Diesen Inhalt des Veranlassungsbegriffs hat der BFH auf den Werbungskostenbegriff übertragen: Danach liegen Werbungskosten vor, wenn ein objektiver Zusammenhang mit dem Beruf besteht und wenn die Aufwendungen subjektiv zur Förderung des Berufs getätigt werden383. Entfällt das subjektive Element (willensunabhängige Bezüge und Aufwendunge, s. Rz. 214 f.), so kommt allein der objektive Veranlassungszusammenhang zum Tragen, z.B. wenn der Stpfl. durch Naturereignisse oder durch das Verhalten eines Dritten geschädigt wird. 217 Keine Durchbrechung des Veranlassungszusammenhangs durch Vorwerfbarkeit der Handlung:
Keine Bedeutung komt der Sozialadäquanz des Verhaltens zu. Das gilt sowohl für die Fälle willensunabhängiger Bezüge/Aufwendungen als auch für vorsätzliches sozial unerwünschtes oder rechtlich missbilligtes Verhalten. Anders als im Strafrecht, wo fahrlässiges Handeln nur bei Verletzung einer Sorgfaltsnorm zur Strafbarkeit führt, ist im Steuerrecht allein der Handlungserfolg entscheidend. Unerheblich ist, ob sich ein missbilligtes Risiko verwirklicht hat384. Mithin können die finalen Handlungslehren385 für die steuerrechtliche Zurechnung auch von willensunbhängigen Risikofolgen uneingeschränkt eingesetzt werden386. 218 Zugerechnet wird steuerrechtlich unabhängig von Vorwerfbarkeitskriterien387. Auf ein Verschulden
kommt es grds. nicht an. Das Leistungsfähigkeitsprinzip gebietet, Einkünfte auch aus einer illegalen, sittenwidrigen oder sonst vorwerfbaren Betätigung zu besteuern (§ 40 AO). Daher sind die Folgen strafwürdigen oder verbotenen Verhaltens nicht ohne weiteres der privaten Sphäre zuzuordnen388. Wenn ein Gewerbetreibender seine alte Werkstatt in Brand steckt, um mit Hilfe der Versicherungssumme eine moderne Werkstatt zu bauen, hat er die Versicherungssumme zu versteuern. Die Werkstatt bleibt Betriebsgebäude. Die Vergütung eines Berufskillers für die Beseitigung eines Konkurrenten ist Erwerbsausgabe des Auftraggebers und Erwerbseinnahme des Berufskillers. Wer mit weit überhöhter Geschwindigkeit fährt, das Rotlicht von Verkehrsampeln missachtet, um einen beruflichen Termin nicht zu versäumen, handelt erwerbstätig. Unfallkosten sind der Erwerbstätigkeit zuzuordnen und damit Erwerbsaufwendungen. Allerdings kann Alkoholgenuss als Privathandlung der Annahme von Erwerbsaufwendungen entgegenstehen. Es liegt ein Fall gemischter Veranlassung vor (s. Rz. 220).
382 BFH v. 21.11.1983 – GrS 2/82, BStBl. II 1984, 160; HHR/Stapperfend, § 4 EStG Anm. 793 (2016). 383 St. Rspr., z.B. BFH v. 11.7.1986 – VI R 39/83, BStBl. II 1986, 866 (867); v. 6.11.1992 – VI R 12/90, BStBl. II 1993, 108; v. 17.12.2002 – VI R 137/01, BStBl. II 2003, 407 (410); v. 19.2.2004 – VI R 135/01, BStBl. II 2004, 958 (959); v. 6.10.2004 – VI R 27/01, BStBl. II 2004, 1071 (1072). 384 Hübner, Die Entwicklung der objektiven Zurechnung, Diss., 2004, 177 ff. 385 Dazu ausf. Hübner, Die Entwicklung der objektiven Zurechnung, Diss., 2004, 29 ff. (philosophische Grundlagen von Pufendorf, Kant u. Hegel), 47 ff. (voluntative Zurechnungslehren, insb. von Larenz), 73 ff. (finale Handlungslehren), 125 ff. (normative Zurechnung von Risikofolgen). 386 Dazu ausf. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 306 ff. (insb. Auswertung der Lehren von Welzel u. Kaufmann). 387 Grundl. BFH v. 28.11.1977 – GrS 2/77, 3/77, BStBl. II 1978, 105 (109): „Auf das Verschulden, die Strafbarkeit oder das moralische Verhalten des Stpfl. abzielende Wertungen“ seien für die steuerrechtliche Qualifikation von Unfallkosten „ungeeignet“. Unfallkosten seien nicht deshalb keine Erwerbsaufwendungen, „weil der Unfall darauf beruht, daß der Stpfl. bewußt und leichtfertig gegen Verkehrsvorschriften verstoßen hat“. Im Weiteren J. Lange, BB 1971, 405; Barwitz, Verschulden im Steuerrecht. Eine Untersuchung zu Vorsatz u. Fahrlässigkeit im formellen u. materiellen Steuerrecht, Diss., 1987. Grds. a.A. Schweizerisches Bundesgericht v. 25.1.2002, AJP/PJA 2003, 1232 (dort mit Anm. Koller), das die steuerliche Abzugsfähigkeit von Schadensersatzleistungen von der Schwere des Verschuldens abhängig macht. 388 So BFH v. 6.4.1984 – VI R 103/79, BStBl. II 1984, 434 (435).
390
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2.1 Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen
Rz. 221 § 8
2.1.1.4 Zusammentreffen mehrerer Ursachen Ausgangspunkt für die Beurteilung der juristischen Kausalität ist die sog. Bedingungslehre (Äquiva- 219 lenztheorie): Ursache ist jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non)389. Dieser logisch-naturwissenschaftliche Ausgangspunkt juristischer Ursachenlehre erfasst eine unendliche Zahl von Ursachen in Ursachenketten (z.B. ist die Geburt des Stpfl. ursächlich für seine Erwerbsaufwendungen), so dass eine auf die Teleologie des jeweiligen Rechtsgebiets zugeschnittene juristisch-normative Ursachenauslese unerlässlich ist390. Hier geht es darum, Bezüge und Aufwendungen auf Privat- und Erwerbsursachen zurückzuführen. Die steuerrechtliche Qualifikation von Bezügen und Aufwendungen ist relativ einfach, wenn die juristisch-normativ bestimmten Ursachen ausschließlich Privat- oder Erwerbsursachen sind, wie z.B. die Aufwendungen für ein ausschließlich betrieblich genutztes Wirtschaftsgut. Die Qualifikation von Bezügen und Aufwendungen wird kompliziert, wenn im juristisch-normativ 220 bestimmten Ursachenkreis Privat- und Erwerbsursachen zusammentreffen, also Fälle gemischter Veranlassung zu beurteilen sind. Hier ist danach zu fragen, welche Art von Handlung welche Ursachen gesetzt hat und ob diese Ursachen für die Qualifikation der Erwerbsbezüge oder Erwerbsaufwendungen juristisch-normativ wesentlich sind. Der BFH knüpfte an die im Unfallversicherungsrecht entwickelte Theorie der wesentlichen Bedingung an391. Diese Theorie hat Söhn392 überzeugend für das Steuerrecht fundiert. Danach sind zunächst unwesentliche Ursachen auszuscheiden. Sind aber Bezüge oder Aufwendungen sowohl durch Erwerbs- als auch durch Privathandlungen wesentlich mitveranlasst, so verlangt die exakte Messung steuerlicher Leistungsfähigkeit die quantitative Aufteilung von Bezügen und Aufwendungen. Die Theorie der wesentlichen Bedingung hat der BFH zur steuerrechtlichen Qualifikation von Unfallkos- 221 ten393 herangezogen, wo die Kausalitätsproblematik dem Unfallversicherungsrecht besonders nahe ist. Wie bereits in Rz. 210 dargelegt, sind im Steuerrecht die Vorwerfbarkeitskriterien auszuscheiden394. Setzt sich aber der Stpfl. nach dem Genuss von Alkohol an das Steuer, um einen Kunden zu besuchen, so ist der Unfall wegen des Trinkens von Alkohol durch eine Privathandlung wesentlich mitveranlasst. Während im Falle des zu schnellen Fahrens zum Berufstermin nur eine Handlung, die Erwerbshandlung des Fahrens, vorliegt, lässt sich das Trinken als Privathandlung vom Autofahren separieren. Es überschneiden sich zwei Risikosphären, die private des Trinkens und die berufliche der Kundenfahrt. Privat- und Erwerbshandlung haben beide den Unfall wesentlich mitveranlasst, so dass an sich die Aufteilung der Unfallkosten begründet 389 Zu diesem Ausgangspunkt m.w.N. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 301 f. 390 Dazu aus strafrechtsdogmatischer Sicht Safos, Mehrfachkausalität beim Tun und Unterlassen, Diss., 1999; für das Steuerrecht Schilling, Zwangsläufiger, pflichtbestimmter Aufwand in Ehe und Familie, Diss., 2013, 124 ff., der durch die Unterscheidung zwischen symmetrischen und asymmetrischen Veranlassungskonkurrenzen, einer unterschiedlichen (verfassungsrechtlichen) Wertigkeit von Ursachen Rechnung tragen will. 391 BFH v. 28.11.1977 – GrS 2/77, 3/77, BStBl. II. 1978, 105 (108 f.). Die Theorie der wesentlichen Bedingung (rechtlich relevante Ursachen sind nur diejenigen Bedingungen, die zu dem Erfolg wesentlich beigetragen haben) wurde vom Reichsversicherungsamt für das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung entwickelt u. liegt der st. Rspr. des BSG zugrunde. Vgl. hierzu Haueisen, JZ 1961, 9; Barta, Kausalität im Sozialrecht – Entstehung und Funktion der sog. Theorie der wesentlichen Bedingung, 1983; Krasney, Vierteljahresschrift für Sozialrecht 1993, 81; Köhler, Kausalität, Finalität und Beweis, 2001; Kater/Leube, Gesetzliche Unfallversicherung, Kommentar, 1997, Vor §§ 7–13 SBG VII Rz. 11 ff., 30 ff.; Schmitt4, 2009, § 8 SGB VII Rz. 106; Becker/Franke/Molkentin/Eberhard/Ziegler4, 2014, § 8 SGB VII Rz. 155. 392 Betriebsausgaben, Privatausgaben, gemischte Aufwendungen, DStJG 3 (1980), 13 (69 ff.). Im Weiteren Tiedtke, FR 1978, 495; Tipke, StuW 1979, 198; Ruppe, DStJG 3 (1980), 136 ff.; Schilling, Zwangsläufiger, pflichtbestimmter Aufwand in Ehe und Familie, Diss., 2013, 117 ff. 393 BFH v. 28.11.1977 – GrS 2/77, 3/77, BStBl. II. 1978, 105 (108 f.); dazu Offerhaus, BB 1979, 670 ff.; Tiedtke, FR 1978, 493; Tipke, StuW 1979, 200 ff.; Söhn, DStJG 3 (1980), 13 (78 ff.); KSM/von Bornhaupt, § 9 EStG Rz. B 441 ff. (1999). 394 BFH v. 28.11.1977 – GrS 2/77, 3/77, BStBl. II. 1978, 105 (109).
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§ 8 Rz. 222
Einkommensteuer
wäre. Nicht entscheidend ist, ob die Aufwendungen auslösenden Handlungen strafbar sind, da der betriebliche oder berufliche Zusammenhang durch die Unrechtswertung des Strafrechts nicht aufgehoben wird395. 222 Gleichwohl kann der Steuerabzug der Unfallkosten ganz versagt werden396, weil die Kundenfahrt nur im nüchternen Zustand beruflich angezeigt ist; somit ist das Trinken als allein wesentlich zu bewerten. Dementsprechend hat ein Arbeitnehmer Arbeitslohn zu versteuern, wenn der Arbeitgeber auf Ersatz des durch Trunkenheit verursachten Schadens am Firmenfahrzeug verzichtet397. Die Unfallkosten sind dagegen beruflich veranlasst, wenn ein dienstfreier Arzt von einer Stammtischrunde zu einem Notfall gerufen wird. Die lebensnotwendige Versorgung eines Patienten während der vorgeplanten Freizeit rechtfertigt es, die Unfallkosten als allein beruflich veranlasst zu bewerten und damit den Steuerabzug der Unfallkosten voll anzuerkennen. Raucht der Stpfl. während der Berufsfahrt und verursacht er einen Unfall, weil ihm die Zigarette herunterfällt, so ist der Unfall durch das Rauchen als Privathandlung privat mitveranlasst. Der BFH bewertet die Ursache privater Bedürfnisbefriedigung jedoch als unwesentlich und erkennt den Steuerabzug der Unfallkosten an398. Die ungleiche Bewertung des Trinkens und Rauchens zeigt, dass die Theorie der wesentlichen Bedingung die normative Ursachenauswahl in den Fällen gemischter Veranlassung wohl zu konkretisieren vermag, jedoch dem Richter einen nicht unbeachtlichen Bewertungsspielraum belässt, in dem letztlich subjektive Überzeugungen ausschlaggebend werden.
2.1.2 Die persönliche Zurechnung von Erwerbsbezügen, Erwerbsaufwendungen und von sog. Drittaufwand 223 Aus dem Veranlassungszusammenhang zwischen Erwerbstätigkeit und Einkünften ergibt sich auch für
die einzelnen Einkünfte-Faktoren die Zurechnungsregel, dass nur derjenige Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen hat, der den Tatbestand der Einkunftserzielung verwirklicht (s. Rz. 150 ff.). Dabei kann der Einkünfteerzieler nur eigene Aufwendungen absetzen, d.h. er muss den Aufwendungstatbestand verwirklichen. Die eigenen Aufwendungen sind vom sog. Drittaufwand399 abzugrenzen. Maßstab hierfür ist das sog. Kostentragungsprinzip400: Der Einkünfteerzieler hat nur dann eigene und von ihm absetzbare Aufwendungen, wenn und soweit er sie wirtschaftlich getragen hat. Das mittlerweile gefestigte Bekenntnis des BFH zum Kostentragungsprinzip stützt sich folgerichtig auf das Leistungsfähigkeitsprinzip, konkretisiert durch das Nettoprinzip401. In der Tat kann nur derjenige den Aufwendungstatbestand verwirklichen, dessen wirtschaftliche Leistungsfähigkeit durch die Aufwendung gemindert ist. 224 Wenngleich die Beschlüsse des BFH GrS v. 1995 und 1999402 die rechtsdogmatischen Grundlagen
für die Ausgrenzung des sog. Drittaufwands aus dem Aufwendungstatbestand geklärt zu haben scheinen, ist das sog. Kostentragungsprinzip weiterhin in den Fällen schwierig zu handhaben, in de395 BFH v. 9.12.2003 – VI R 35/96, BStBl. II 2004, 641 (642); v. 20.10.2016 – VI R 27/15, BFHE 255, 529 (532 f.). 396 So BFH v. 6.4.1984 – VI R 103/79, BStBl. II 1984, 434 (435 f.). 397 BFH v. 24.5.2007 – VI R 73/05, BStBl. II 2007, 766. 398 BFH v. 28.11.1977 – GrS 2/77, 3/77, BStBl. II 1978, 105 (108). 399 Lit.: Biergans, FR 1984, 297; Ruppe, DStJG 10 (1987), 71 f.; Brandis, StuW 1990, 57; Adamik, Die einkommensteuerrechtliche Behandlung des Drittaufwands, Diss., 1993; Trzaskalik, FS Schmidt, 1993, 51; Fischer, StbJb. 1999/2000, 35; Bahramsari, Zur persönlichen Zuordnung von Betriebsausgaben und Werbungskosten im Einkommensteuerrecht, Diss., 2010; Küffner/Haberstock, DStR 2000, 1672; Gröpl, DStZ 2001, 65; Ritzow, StWa 2003, 222 (BFH-Rspr.); Schnorr, StuW 2003, 222; Haenicke, DStZ 2006, 793; Seitz, FR 2006, 201; Schießl, StuB 2007, 182; Paus, EStB 2012, 378. Drittaufwand bei Kapitalgesellschaften: Kestler, DStR 2015, 2465. 400 Dazu insb. Biergans, FR 1984, 297 (298); Ruppe, DStJG 10 (1987), 71; Brandis, StuW 1990, 57 (59 f.). 401 BFH v. 23.8.1999 – GrS 2/97, BStBl. II 1999, 782 (785). 402 BFH v. 30.1.1995 – GrS 4/92, BStBl. II 1995, 281, sowie vier Beschlüsse v. 23.8.1999 – GrS 5/97, BStBl. II 1999, 774; v. 23.8.1999 – GrS 1/97, BStBl. II 1999, 778; v. 23.8.1999 – GrS 2/97, BStBl. II 1999, 782; v. 23.8.1999 – GrS 3/97, BStBl. II 1999, 787. Zu diesen Beschlüssen Drenseck, DStR 1995, 509; Fischer, NWB Fach 3, 9331 (1995); Weber-Grellet, DB 1995, 2550; Fischer, NWB Fach 3, 10925 (1999);
392
Hey
2.1 Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen
Rz. 226 § 8
nen der Einkünfteerzieler zugewendete Mittel verwendet. Grds. ist die Herkunft der Mittel gleichgültig. Unerheblich ist, ob die Aufwendungen aus Eigen- oder Fremdmitteln bestritten werden. Wer Arbeitslöhne mit einem Bankdarlehen finanziert, verwirklicht den Aufwendungstatbestand im Zeitpunkt der Lohnzahlung. Ebenso liegt in vollem Umfange Lohnaufwand vor, wenn der Arbeitgeber von einem Verwandten ein Darlehen aufnimmt oder der Vater dem Sohn Geld schenkt, damit dieser seine Mitarbeiter bezahlen kann. Wer also mit geschenktem Geld oder sonst mit zugewendeten Mitteln Erwerbsaufwendungen bestreitet, verwirklicht den Aufwendungstatbestand. Im Weiteren konkretisiert der BFH den Zuwendungsgedanken403 wie folgt: In den Fällen einer sog. 225 Abkürzung des Zahlungswegs (Zahlung eines Dritten auf eine Schuld des Einkünfteerzielers) verwirklicht der Einkünfteerzieler den Aufwendungstatbestand404: Bezahlt der Vater Arbeitnehmer des Sohnes und tilgt er damit die Arbeitslohnschulden des Sohnes, statt ihm Geld zu schenken, so bleibt der Sohn nicht nur arbeits-, sondern auch steuerrechtlich Arbeitgeber: Der Sohn hat die Lohnsteuer nach § 38 III 1 EStG einzubehalten und er verwirklicht den Tatbestand des Lohnaufwandes. Besondere Schwierigkeiten bereiten die von BFH GrS offen gelassenen Fälle eines sog. abgekürzten Vertragswegs405. Inzwischen hat der BFH den Zuwendungsgedanken gestärkt, indem er den Abzug von Werbungskosten auch dann zuließ, wenn der Dritte im eigenen Namen für den Stpfl. einen Vertrag abschließt und auch selbst die geschuldete Zahlung leistet406. Auch in diesem Fall wende der Dritte dem Stpfl. Geld zu und bewirke dadurch zugleich seine Entreicherung. Damit die Direktzahlung des Dritten, auch dann, wenn nur er Vertragspartner ist, dem Zahlungsumweg im Rahmen zweiseitiger Rechtsbeziehungen, d.h. dem abgekürzten Zahlungsweg, gleichgestellt. Bei einer gleichmäßigen Verwirklichung des Nettoprinzips dürfte es eigentlich keinen Unterschied ma- 226 chen, ob der Vater dem Sohn Geld schenkt, ob er Vertragsschulden des Sohnes begleicht (abgekürzter Zahlungsweg) oder ob er einen Vertrag zu Gunsten des Sohnes schließt (abgekürzter Vertragsweg). Indessen kann die strikte Gleichbehandlung aller Zuwendungsformen zu Unverträglichkeiten im Zusammenhang der Steuerabzugstatbestände mit anderen Steuernormen führen: So müsste z.B. bei der unentgeltlichen Überlassung von Wirtschaftsgütern die vom BFH vehement abgelehnte Einlagefähigkeit von Nutzungen bejaht werden407, und bei der unentgeltlichen Überlassung von Dienstleistungen ergäben sich nicht nur bilanzsteuerrechtliche, sondern auch lohnsteuerrechtliche Friktionen. So wäre z.B. der Vater Arbeitgeber und zum Lohnsteuerabzug verpflichtet, während der Sohn den Lohnaufwand geltend machen könnte. Insofern ist es verständlich, wenn die Rspr. dem Zuwendungsgedanken mit dem Blick auf Normzusammenhänge zurückhaltend Rechnung trägt. Indessen ist das Nettoprinzip überall dort zu verwirklichen, wo sich Zuwendungen durch abgekürzten Zahlungsweg/Vertragsweg wirtschaftlich nicht von der Direktschenkung eines Wirtschaftsgutes unterscheiden lassen, wo die
403
404 405 406 407
Wassermeyer, DB 1999, 2486; Wolff-Diepenbrock, DStR 1999, 1642; Hamacher/Balmes, FR 2000, 600; Söffing, BB 2000, 381; Weber-Grellet, BB 2000, 1024; Heubeck, SteuerStud 2001, 401. Dazu insb. BFH v. 9.7.1992 – IV R 115/90, BStBl. II 1992, 948 (950 f. m.w.N.); v. 16.7.2015 – III R 33/14, BStBl. II 2016, 44 (44 ff.); v. 23.8.1999 – GrS 2/97, BStBl. II 1999, 782 (786); Biergans, FR 1984, 297 (298 f.); Ruppe, DStJG 10 (1987), 71 (71: Es käme nicht „darauf an, wer die Aufwendung finanziert hat“; 72: Die Zurechnung nach dem Kostentragungsprinzip sei „sicherlich zu eng“); Brandis, StuW 1990, 57 (60 ff.); Fischer, StbJb. 1999/2000, 35 (51: Der Zuwendungsgedanke sei „rechtlich nicht tragfähig“). BFH v. 23.8.1999 – GrS 2/97, BStBl. II 1999, 782 (785). Haenicke, DStZ 2006, 793 (798 ff.); Seitz, FR 2006, 201; Schießl, StuB 2007, 182; Schmidt/Heinicke36, § 4 EStG Rz. 504; Kirchhof/Bode17, § 4 EStG Rz. 178; Schmidt/Loschelder36, § 9 EStG Rz. 19. Grdl. BFH v. 15.11.2005 – IX R 25/03, BStBl. II 2006, 623; ferner v. 15.1.2008 – IX R 45/07, BStBl. II 2008, 572; v. 25.6.2008 – X R 36/05, BFHE 222, 373 (379 f.); v. 11.11.2008 – IX R 27/08, BFH/NV 2009, 901; zur Umsetzung BMF v. 7.7.2008 – IV C 1 - S 2211/07/10007, BStBl. I 2008, 717. Dazu Frye, Nutzungseinlage u. Drittaufwand, FR 1998, 973; BFH v. 24.2.2000 – IV R 75/98, BStBl. II 2000, 314 (315) (Darlehenszinsen); zuletzt v. 16.7.2015 – III R 33/14, BStBl. II 2016, 44 (PKW-Kosten): Nutzungsrecht, das nicht wie ein Wirtschaftsgut aktiviert und abgeschrieben werden kann.
Hey 393
§ 8 Rz. 227
Einkommensteuer
Steuerabzugsfähigkeit von Aufwendungen zum Thema geschickter Rechtsgestaltung wird. Danach stellt sich die Drittaufwandskasuistik wie folgt dar: – Dem Einkünfteerzieler steht der Steuerabzug zu, wenn er aufwendungswirksame Verträge selbst schließt und diese mit geschenktem Geld erfüllt. Erzielt er mit geschenkten Wirtschaftsgütern Einkünfte, so kann er die daraus entstehenden Kosten (z.B. die AfA nach § 11d I EStDV) absetzen. Hingegen vermittelt die unentgeltliche Überlassung von Wirtschaftsgütern zur Nutzung grds. keine Abziehbarkeit von Erwerbsaufwendungen (s. Rz. 227). – Tilgt der Dritte Schulden, die durch Verträge des Einkünfteerzielers begründet worden sind, so wendet der Dritte den Schuldbetrag dem Einkünfteerzieler zu; es handelt sich um eine Schenkung durch abgekürzten Zahlungsweg (Beispiel: Der Vater bezahlt die Prämie der betrieblichen Haftpflichtversicherung des Sohnes). Der Einkünfteerzieler kann den geschenkten Geldbetrag als Erwerbsaufwendung abziehen. – Schließt der Dritte den aufwendungswirksamen Vertrag für die Erwerbstätigkeit des Einkünfteerzielers (abgekürzter Vertragsweg) und leistet er auch die vereinbarte Vergütung, so kann der Einkünfteerzieler den Vergütungsbetrag als eigene Erwerbsaufwendung abziehen, wenn der Dritte den Vergütungsbetrag dem Einkünfteerzieler zugewendet hat (Vater lässt an dem Mietgebäude des Sohnes Erhaltungsarbeiten durchführen und bezahlt die Handwerkerrechnungen). 227
Überlassung von Wirtschaftsgütern: In den bereits (Rz. 159) erörterten Fällen des Grundstücksnießbrauchs gilt uneingeschränkt das Kostentragungsprinzip408. Überlässt der Vater dem Sohn unentgeltlich eine Wohnung und trägt er die Kosten u. Lasten (sog. Bruttonießbrauch), so liegen nicht abziehbare Privatausgaben des Vaters vor, die der Sohn bei der Vermietung der Wohnung nicht als Werbungskosten geltend machen kann. Daher ist zu empfehlen, einen entgeltlichen Nießbrauch in Höhe der Kosten und Lasten zu vereinbaren (s. Rz. 159). Gleiches gilt bei der unentgeltlichen Überlassung einer vom Vater gemieteten Wohnung. Man schließe einen kostenerstattenden Untermietvertrag! Nur demjenigen steht die AfA zu, der die Anschaffungs- und Herstellungskosten getragen hat409. So kann auch ein Nicht-Eigentümer AfA-berechtigt sein, z.B. der Vorbehaltsnießbraucher (s. Rz. 159). Derjenige, der Anschaffungs- oder Herstellungskosten für ein von ihm betrieblich genutztes Gebäude auf einem fremden Grundstück trägt410, hat ein abzuschreibendes Wirtschaftsgut zu aktivieren. Bei Ehegatten411 geht der BFH auf Grund des Eherechts zunächst von einem gemeinsamen Ziel der ehelichen Gemeinschaft (§ 1353 I BGB) aus412, das u.a. durch die jeweilige berufliche Tätigkeit der Ehegatten verwirklicht wird, und gelangt dadurch zu einer günstigen Anwendung des Kostentragungsprinzips. Er lässt die auf das beruflich genutzte Arbeitszimmer entfallende AfA im Umfange der Kostenbeteiligung des berufstätigen Ehegatten zu, auch wenn das Gebäude dem nicht berufstätigen Ehegatten gehört. Somit steht dem berufstätigen Ehegatten die volle anteilige AfA zu, wenn seine Beteiligung an den Anschaffungs-/Herstellungskosten dem Gebäudenutzungsanteil des Arbeitszimmers entspricht. Ehegatten, die gemeinsam die Herstellungskosten für ein Gebäude getragen haben, können jeweils die auf die von ihnen betrieblich bzw.
408 BFH v. 9.7.1992 – IV R 115/90, BStBl. II 1992, 948; v. 28.9.1995 – IV R 7/94, BStBl. II 1996, 440 (441); v. 29.10.1997 – IV B 164/96, BStBl. II 1998, 431. 409 BFH v. 30.1.1995 – GrS 4/92, BStBl. II 1995, 281; v. 23.8.1999 – GrS 5/97, BStBl. II 1999, 774; v. 23.8.1999 – GrS 1/97, BStBl. II 1999, 778; v. 23.8.1999 – GrS 2/97, BStBl. II 1999, 782; v. 23.8.1999 – GrS 3/97, BStBl. II 1999, 787. 410 Zu Drittaufwand bei Bauten auf fremden Grundstücken BFH v. 19.12.2012 – IV R 29/09, BStBl. II 2013, 387 (390); v. 9.3.2016 – X R 46/14, BStBl. II 2016, 976: Ansatz als Wirtschaftsgut nur ausnahmsweise bei wirtschaftlichem Eigentum des Einkünteerzieler-Ehegattens, sonst lediglich Aufwandsverteilungsposten (mit krit. Anm. Weber-Grellet, BB 2016, 2222 u. Kanzler, FR 2016, 907; zustimmend Levedag, GmbHR 2016, 659); s. § 9 Rz. 365; Obermeier/Weinberger, DStR 1998, 913 (insb. Ehegatteneigentum); Heißenberg, StuB 1999, 1241 (Ehegatten-Grundstücke); Paus, INF 1999, 705 (Baukostenzuschüsse und Miteigentum); Schoor, INF 1999, 556 (Ehegatten-Grundstücke); Strahl, KÖSDI 2000, 12300. 411 Dazu Heubeck, SteuerStud 2001, 401; Franckenstein, Der Einfluß der Ehegattenbesteuerung auf den Drittaufwand zwischen Ehegatten, Diss., 2004; Paus, EStB 2013, 149. 412 BFH v. 23.8.1999 – GrS 1/97, BStBl. II 1999, 778 (780 f.).
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Hey
2.1 Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen
Rz. 229 § 8
beruflich genutzten Räume entfallenden Herstellungskosten als AfA geltend machen413. Der BFH geht davon aus, dass jeder Ehegatte die Herstellungskosten entspr. seinem Miteigentumsanteil getragen hat414. Soweit nach diesen eherechtlich fundierten Grundsätzen eine Kostenbeteiligung zu verneinen ist, entfällt die AfA415. Dementsprechend ist ein Schuldzinsenabzug nur im Umfange der Kostentragung eines Ehegatten möglich416. Ein im eigenen Namen aufgenommenes Darlehen für die Finanzierung einer dem anderen Ehegatten allein gehörenden Immobilie führt zu nichtabziehbarem Drittaufwand, es sei denn, die Mieteinnahmen aus der Immobilie werden zur Finanzierung der vom Nichteigentümer-Ehegatten geschuldeten Zinsund Tilgungsverpflichtungen verwendet417. Bei einem gemeinsamen Darlehen der Eheleute zur Finanzierung eines vermieteten Gebäudes, das einem Ehegatten allein gehört, rechnet der BFH die vom Nichteigentümer geleisteten Zins- und Tilgungsleistungen mit der Folge zu, dass ihm auch der Wert dieser Leistungen zufließt418. Nimmt ein Ehegatte ein Bankdarlehen auf, um dem anderen Ehegatten die Mittel zum Erwerb einer Rentenversicherung gegen Einmalzahlung zuzuwenden, so bejaht der BFH eigenen Aufwand des anderen Ehegatten, wenn dieser den Kreditnehmer im Innenverhältnis von der Verpflichtung zur Zins- und Tilgungszahlung freistellt419.
2.1.3 Die zeitliche Zuordnung von Erwerbsbezügen und Erwerbsaufwendungen Die zeitliche Zuordnung von Erwerbsbezügen und Erwerbsaufwendungen zum Ermittlungszeitraum 228 i.S.d. § 2 VII EStG hängt davon ab, ob der Stpfl. bilanziert oder einen Unterschiedsbetrag von Einnahmen und Ausgaben nach dem Zufluss- und dem Abflussprinzip ermittelt. Im Falle der Bilanzierung wird das Jahresergebnis durch den in der Gewinn- und Verlustrechnung (vgl. § 275 HGB) ausgewiesenen Unterschiedsbetrag der Erträge und Aufwendungen nach Maßgabe der „Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung“ (GoB) bestimmt. Aus dem Normensystem der GoB, namentlich den Erfolgsausweisgrundsätzen, modifiziert durch steuergesetzliche Vorschriften (vgl. § 5 VI EStG), ergibt sich die zeitliche Zuordnung von Vermögensveränderungen in Gestalt von Aufwendungen und Erträgen, die „unabhängig von den Zeitpunkten der entsprechenden Zahlungen im Jahresabschluss zu berücksichtigen“ (§ 252 I Nr. 5 HGB) sind. Demgegenüber knüpfen die Einnahmen/Ausgaben-Überschussrechnungen nach § 11 EStG an den Zufluss und den Abfluss von Zahlungen an. 2.1.4 Zusammenfassung Nach alledem ist festzustellen, dass Erwerbsbezüge (Erträge/Einnahmen) und Erwerbsaufwendungen 229 (Aufwand/Ausgaben) allgemein durch den Veranlassungszusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit, die mit Einkünfteerzielungsabsicht ausgeübt wird, determiniert werden. Somit sind Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen Vermögensveränderungen, die durch Erwerbstätigkeit mit Einkünfteerzielungsabsicht veranlasst sind. Der Terminus der betrieblichen Veranlassung meint die Veranlassung durch eine selbständige, nachhaltige Erwerbstätigkeit (vgl. § 15 II 1 EStG), das ist eine Erwerbstätigkeit i.S.d. Gewinneinkunftsarten (§ 2 II 1 Nr. 1 EStG). Die verschiedene zeitliche Zuordnung von Vermögensveränderungen kennzeichnet die Wesensverschiedenheit der Begriffspaare Erträge/Aufwendungen und Einnahmen/Ausgaben. Die zeitliche Zuordnung von Vermögensänderungen in Gestalt von Erträgen und Aufwendungen geschieht durch eine Vielheit bilanzrechtlicher und bilanzsteuerrechtlicher Normen. Hingegen schafft § 11 EStG im Vergleich zur Gewinn- und Verlustrechnung (§ 275 HGB) eine einfache Rechtslage: Geht man von 413 BFH v. 23.8.1999 – GrS 5/97, BStBl. II 1999, 774; v. 23.9.2009 – IV R 21/08, BStBl. II 2010, 337 (339). 414 BFH v. 23.8.1999 – GrS 2/97, BStBl. II 1999, 782 (784). 415 BFH v. 23.8.1999 – GrS 2/97, BStBl. II 1999, 782 (784); v. 23.8.1999 – GrS 3/97, BStBl. II 1999, 787 (788). 416 BFH v. 2.12.1999 – IX R 45/95, BStBl. II 2000, 310 (311 f.); v. 2.12.1999 – IX R 21/96, BStBl. II 2000, 312 (313 f.). 417 BFH v. 4.9.2000 – IX R 22/97, BStBl. II 2001, 785 (786 f.); v. 21.10.2010 – IX B 61/10, BFH/NV 2011, 40 (40 f.); v. 3.2.2016 – X R 25/12, BStBl. II 2016, 391, Rz. 34. 418 BFH v. 19.8.2008 – IX R 78/07, BStBl. II 2009, 299 (300). 419 BFH v. 25.6.2008 – X R 36/05, BFHE 222, 373 (379 f.).
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§ 8 Rz. 229
Einkommensteuer
der steuerlich definierten kleinsten Vermögenseinheit, dem Wirtschaftsgut, aus, so sind nach dem Zuflussprinzip Erwerbseinnahmen (Betriebseinnahmen/Einnahmen i.S.d. § 8 EStG) Zuflüsse von Wirtschaftsgütern, die durch Erwerbstätigkeit mit Einkünfteerzielungsabsicht veranlasst sind. Nach dem Abflussprinzip sind Erwerbsausgaben (Betriebsausgaben/Werbungskosten) Abflüsse von Wirtschaftsgütern (Ausnahme: Abschreibungen nach §§ 4 III 3; 9 I 3 Nr. 7 EStG), die durch Erwerbstätigkeit mit Einkünfteerzielungsabsicht veranlasst sind. Der Begriff „Aufwendung“ ist in einem engeren und einem weiteren Sinne zu verstehen, in einem engeren bilanzrechtlichen Sinne als Aufwand (vgl. § 252 I Nr. 5 HGB) und in einem weiteren steuerrechtlichen Sinne als Oberbegriff für Aufwand (kraft steuerrechtlicher Geltung des GoB-Normensystems) und Ausgaben (vgl. §§ 4 IV; 9 I 1; 12 Nr. 1 Satz 2 EStG). Den Begriff „Kosten“ (Anschaffungs-/Herstellungs-/Werbungskosten) verwendet das EStG als Synonym für „Ausgaben“. Übersicht über die Erwerbsbezüge und Erwerbsaufwendungen Art der Einkünfteermittlung
Erwerbsbezüge
Erwerbsaufwendungen
Betriebsvermögensvergleich (§§ 4 I; 5 EStG)
Erträge = Erhöhungen des Jahresüberschusses/ Minderungen des Jahresfehlbetrages nach Maßgabe der GoB und unabhängig von den Zeitpunkten der entsprechenden Zahlungen (§ 252 I Nr. 5 HGB) Das Zuflussprinzip gilt also nicht (s. § 11 I 5 EStG) Steuerlich zu erfassen sind betrieblich veranlasste Erträge, ausgenommen steuerfreie Betriebserträge
Aufwendungen = Minderungen des Jahresüberschusses/ Erhöhungen des Jahresfehlbetrages nach Maßgabe der GoB und unabhängig von den Zeitpunkten der entsprechenden Zahlungen (§ 252 I Nr. 5 HGB) Das Abflussprinzip gilt also nicht (s. § 11 II 6 EStG) Steuerlich zu erfassen sind betrieblich veranlasste Aufwendungen, ausgenommen nicht abziehbare Betriebsaufwendungen (vgl. z.B. § 4 V EStG)
Betriebseinnahmen-/-ausgaben-Überschussrechnung
Betriebseinnahmen = betrieblich veranlasste Zuflüsse von Wirtschaftsgütern (§§ 4 IV; 8 I EStG analog; § 11 I 1 EStG)
Betriebsausgaben = betrieblich veranlasste Abflüsse von Wirtschaftsgütern (§§ 4 IV; 11 II 1 EStG)
Einnahmen-/Werbungskosten-Überschussrechnung nach §§ 8 ff. EStG
Einnahmen = durch Erwerbstätigkeit i.S.d. Überschusseinkunftsarten (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG) veranlasste Zuflüsse von Wirtschaftsgütern (§§ 8 I; 11 I 1 EStG)
Werbungskosten = durch Erwerbstätigkeit i.S.d. Überschusseinkunftsarten (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG) veranlasste Abflüsse von Wirtschaftsgütern (§§ 9 I 1, 2; 11 II 1 EStG)
2.2 Abgrenzung der Betriebsausgaben/Werbungskosten zu den Privatausgaben Literatur: Bauer, Der Dualismus Betriebsausgaben – Werbungskosten, Diss., 1974; Tanzer, Die Kausalität im Betriebsausgabenbegriff, ÖStZ 1975, 50; Görlich, Zur Systematik der Begriffe Betriebsausgaben, Werbungskosten und Aufwendungen für die Lebensführung, DB 1979, 711; Kröger, Zur steuerrechtlichen Abgrenzung zwischen betrieblich (beruflich) veranlaßten und durch die Lebensführung veranlaßten Aufwendungen, BB 1979, 1284; Offerhaus, Zur steuerrechtlichen Abgrenzung zwischen betrieblich (beruflich) veranlaßten und durch die Lebensführung veranlaßten Aufwendungen, BB 1979, 617 f., 667 ff.; von Bornhaupt, Der Begriff der Werbungskosten unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zum Betriebsausgabenbegriff, DStJG 3 (1980), 149; Ruppe, Die Abgrenzung der Betriebsausgaben/Werbungskosten von den Privatausgaben, DStJG 3 (1980), 103; Söhn, Betriebsausgaben, Privatausgaben, gemischte Aufwendungen, DStJG 3 (1980), 13; Söhn, Bürgerliche Kleidung, typische Berufskleidung und Werbungskosten,
396
Hey
2.2 Abgrenzung der Betriebsausgaben/Werbungskosten – Privatausgaben
Rz. 230 § 8
FR 1980, 301; Kruse, Über Werbungskosten, FR 1981, 473; Wassermeyer, Rechtssystematische Überlegungen zum Werbungskostenbegriff, StuW 1981, 245; von Bornhaupt, Zur Problematik des Werbungskostenbegriffs, FR 1982, 313; von Bornhaupt, Ermittlung des Werbungskostenbegriffs nach dem Veranlassungsprinzip im Wege der Rechtsfortbildung, DStR 1983, 11; Söhn, Werbungskosten wegen doppelter Haushaltsführung (§ 9 Abs. 1 Nr. 5 EStG) und allgemeiner Werbungskostenbegriff (§ 9 Abs. 1 Satz 1 EStG), StuW 1983, 193; Drenseck, Die Abgrenzung der Betriebsausgaben und Werbungskosten von den Lebenshaltungskosten, DB 1987, 2483; Kammergruber, Die teleologische Struktur des Betriebsausgabenabzugs, Diss., 1988; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, 299 ff., 318 ff.; Jüptner, Leistungsfähigkeit und Veranlassung, Diss., 1989; Prinz, Grundfragen und Anwendungsbereiche des Veranlassungsprinzips im Ertragsteuerrecht, StuW 1996, 267; Stapperfend, Über Betriebsausgaben und Werbungskosten, in FS Kruse, 2001, 553; Fuhrmann, KÖSDI 2002, 13213 (Werbungskosten); Wolf/Schäfer, Abgrenzung der beruflichen von der privaten Sphäre im Wandel, DB 2004, 775; G. Kirchhof, Nettoprinzip und gemischte Aufwendungen, in FS J. Lang, 2010, 563; Raupach, § 173: Erwerbsaufwand und Privataufwand, in Leitgedanken des Rechts II, 2013; Schilling, Zwangsläufiger, pflichtbestimmter Aufwand in Ehe und Familie, Diss., 2013. S. auch die vor Rz. 205 angegebene Lit.420.
2.2.1 Inhaltsgleiche Interpretation des Betriebsausgaben- und des Werbungskostenbegriffs nach dem Veranlassungsprinzip Rspr. und h.M. im Schrifttum interpretieren den Betriebsausgaben- und den Werbungskostenbegriff 230 trotz unterschiedlichen Gesetzeswortlauts (§§ 4 IV; 9 I 1 EStG) inhaltsgleich nach dem Veranlassungsprinzip421. Mit dem Gleichheitssatz ist es nicht zu vereinbaren, dass der Grundbegriff der Erwerbsaufwendung unterschiedlich definiert ist, je nachdem, ob Gewinn- oder Überschusseinkünfte vorliegen422. Daher hat die Rspr. zunächst die Legaldefinition des Betriebsausgabenbegriffs (§ 4 IV EStG) auf den Werbungskostenbegriff gleichheitskonform übertragen; im Anschluss daran vereinheitlicht sie den Betriebsausgaben- und Werbungskostenbegriff subjektiv und objektiv (s. bereits Rz. 211 ff.). Ein Unterschied zwischen der Interpretation von Betriebsausgaben und Werbungskosten ergibt sich entgegen früherer Rspr.423 auch nicht danach, ob Aufwendungen die Höhe der Einnahmen beeinflussen können. Versagte die Rspr. früher bei Geschenken leitender Angestellter oder Beamter an Mitarbeiter den Werbungskostenabzug mit der Begründung, dass solche Geschenke die Höhe der Einkünfte nicht beeinflussen würden, wurde zu Unrecht auf die Kausalbeziehung zwischen Aufwendungen und Einnahmen (nicht zwi-
420 Zur Rechtsvergleichung s. Gerhards, Der Begriff der Betriebsausgaben nach deutschem und schweizerischem Einkommensteuerrecht, Diss., 1964; Böckli, Mennel, Cagianut, Walter, Vogel, DStJG 3 (1980), 339–392; Michielse, StuW 1987, 216 (Niederlande); von Bornhaupt, StVj 1989, 311 (Österreich); Funk, Der Begriff der Gewinnungskosten nach schweizerischem Einkommensteuerrecht, 1989; Alarcón Garcia, StuW 1997, 333 (Spanien); Hohaus, Notwendige Erwerbsaufwendungen im britischen, US-amerikanischen und deutschen Steuerrecht, Diss., 1998; Doralt/Ruppe, Grundriss des österreichischen Steuerrechts, Bd. I11, 2013, Rz. 261 ff. (m.w.N. der österr. Lit.). 421 Wegweisend für die Rspr. insb. von Bornhaupt, DStJG 3 (1980), 149; Offerhaus, BB 1979, 621. Ausf. m.w.N. KSM/von Bornhaupt, § 9 EStG Rz. B 160 ff. (2003); Söffing, DB 1990, 2086; Schmidt/Loschelder36, § 9 EStG Rz. 11. Krit. auch Stapperfend, FS Kruse, 2001, 534 ff. 422 Vgl. hierzu die einkunftsartunabhängigen Terminologien von P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, 2003, § 3 II 2 (Vermögensminderungen, die der Stpfl. durch sein Erwerbshandeln veranlasst); Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, 2004, § 2 I (Cash-Flow von Einlagen in das Erwerbsvermögen u. Entnahmen aus dem Erwerbsvermögen); Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, 2004, § 8 (Erwerbsabzüge); § 10 I 2 Kölner EStGE (Wirtschaftsgüter, die durch eine Erwerbstätigkeit veranlasst abfließen). 423 BFH v. 8.11.1984 – IV R 186/82, BStBl. II 1985, 286 (287 f.). Dazu krit. Söffing, FR 1985, 275; J. Lang, DStJG 9 (1986), 75 f. Zu Unterschieden, die aus dem Einkünftedualismus resultieren, s. HHR/Kreft, § 9 EStG Anm. 23 (2014). Die zum Teil engeren Anforderungen in BFH v. 29.11.1983 – VIII R 160/82, BStBl. II 1984, 307 (308 m.w.N.); v. 4.7.1990 – GrS 1/89, BStBl. II 1990, 830 (836: Aufwendungen, „um Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung zu erzielen“); v. 11.5.1993 – IX R 25/89, BStBl. II 1993, 751 (752: Rückgriff auf den Wortlaut des § 9 I 1 EStG), spielen heute dagegen keine Rolle mehr.
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§ 8 Rz. 231
Einkommensteuer
schen Aufwendungen und Tätigkeit) abgestellt424. Inzwischen werden Aufwendungen für die beruflich veranlasste Bewirtung von Mitarbeitern auch im Rahmen der Einkünfte gem. § 19 EStG anerkannt, auch wenn sie die Höhe der Einnahmen nicht beeinflussen (i.E. Rz. 257). 231 Im Wesentlichen stimmt das Konzept des BFH, die Veranlassung subjektiv und objektiv zu determi-
nieren, mit der hier vertretenen finalen Handlungslehre, die auch objektive Umstände verwertet, überein. I.E. gilt Folgendes: Selbstbestimmung der Aufwendungen: Der Stpfl. kann grds. frei entscheiden, welche Aufwendungen er für Erwerbszwecke leisten will. Die Höhe der Aufwendungen, ihre Notwendigkeit, ihre Üblichkeit und ihre Zweckmäßigkeit sind für die Anerkennung von Erwerbsausgaben grds. ohne Bedeutung425. Fehlende Notwendigkeit, Unüblichkeit, Unzweckmäßigkeit können aber darauf hinweisen, dass Aufwendungen privat mitveranlasst sind. Daher ordnet der Gesetzgeber in Grenzbereichen zur Privatsphäre die Notwendigkeit von Aufwendungen, z.B. im Falle doppelter Haushaltsführung (§ 9 I 3 Nr. 5 EStG), ausdrücklich an426. In § 4 V 1 Nr. 7 EStG ist klargestellt, dass Aufwendungen, die die Lebensführung berühren, den Gewinn nicht mindern dürfen, soweit sie nach allgemeiner Verkehrsauffassung als unangemessen anzusehen sind. Bei mehren Erwerbstätigkeiten, die unterschiedlichen Regeln (Einkunftsarten) unterfallen, muss eine Zuordnung nach dem engeren und wirtschaftlich vorrangigen Veranlassungszusammenhang vorgenommen werden. Dies ist insbesondere relevant, um abzugsfähige Erwerbsaufwendungen von nicht abzugsfähigen vergeblichen Aufwendungen auf das private Stammvermögen abzugrenzen427, s. auch Rz. 236. 232 Vergeblichkeit der Aufwendungen: Misserfolg macht die Erwerbshandlung nicht zu einer Privat-
handlung. Vielmehr ist das Erwerbshandeln risikobehaftet, so dass vergebliche Aufwendungen als Erwerbsaufwendungen zu qualifizieren sind, wenn sie in der Risikosphäre der Erwerbstätigkeit (dazu Rz. 213 f.) anfallen. Das gilt auch für eine Erwerbstätigkeit, die nicht in ein Ertragsstadium gelangt ist („Außer Spesen nichts gewesen“). Hier kommt es darauf an, ob der Stpfl. subjektiv Gewinn erwirtschaften wollte (Einkünfteerzielungsabsicht, s. Rz. 125 ff.), obwohl ihm dies objektiv nicht geglückt ist. Im Falle von Werbungskosten ist zu prüfen, ob die vergeblichen Aufwendungen der nicht steuerbaren Sphäre des Stammvermögens zuzuordnen sind. Beispiele: Zwei Bauunternehmer schließen sich zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammen, um einen öffentlichen Großauftrag zu erhalten. Den Auftrag erhält die Konkurrenz. Sämtliche Kosten der Arbeitsgemeinschaft sind Betriebsausgaben. – Ein Stpfl. schließt einen Vorvertrag über den Erwerb einer Wäscherei und verpflichtet sich zu einer Vertragsstrafe von 10 000 Euro, wenn er die Gewerbelizenz für die Wäscherei nicht erwirbt. Nach Abschluss des Vorvertrages erkennt der Stpfl. die Unwirtschaftlichkeit des Objekts und zieht die Vertragsstrafe der endgültigen Übernahme der Wäscherei vor. Es handelt sich m.E. um Betriebsausgaben, denn der Abschluss des Vorvertrages ist Erwerbshandlung mit der Absicht, gewerbliche Gewinne zu erwirtschaften. – Vertragsstrafen im Zusammenhang mit dem Nichterwerb eines Immobilienobjekts i.S.d. § 21 EStG sollen hingegen nach BFH keine Werbungskosten sein, weil die Vertragsstrafe durch eine Handlung ausgelöst worden sei, welche die Aufnahme einer auf Erzielung von Einkünften aus Vermietung
424 Krit. J. Lang, DStJG 9 (1986), 75 f. 425 So st. Rspr., z.B. BFH v. 29.10.1991 – VIII R 148/85, BStBl. II 1992, 647 (648); v. 19.1.2017 – VI R 37/15, BStBl. II 2017, 526, Rz. 16. Zu Aufwendungen, die zwar subjektiv durch die Erwerbstätigkeit veranlasst sind, aber objektiv keinen feststellbaren Effekt haben, abl. FG Münster v. 22.1.2014 – 12 K 759/13 G,F, EFG 2014, 630 rkr. (Gebetskosten). Ausf. und rechtsvergleichend hierzu Hohaus, Notwendige Erwerbsaufwendungen im britischen, US-amerikanischen und deutschen Steuerrecht, Diss., 1998, 251 ff., 266 ff. 426 S. Hohaus, Notwendige Erwerbsaufwendungen im britischen, US-amerikanischen und deutschen Steuerrecht, Diss., 1998, 225 ff. 427 BFH v. 17.5.2017 – VI R 1/16, BFHE 258, 365, Rz. 27 (zur Veröffentlichung im BStBl. II vorgesehen).
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2.2 Abgrenzung der Betriebsausgaben/Werbungskosten – Privatausgaben
Rz. 233 § 8
und Verpachtung gerichteten Tätigkeit verhindern sollte428. Richtigerweise ist die Vertragsstrafe einer gescheiterten Erwerbshandlung mit Einkünfteerzielungsabsicht i.S.d. § 21 EStG zuzuordnen und der Werbungskostenabzug zu bejahen. Es erscheint nicht sachgerecht, das Risiko des Scheiterns hier nicht anzuerkennen. Hingegen werden Reisekosten zur Besichtigung eines Hauses, das man nicht erwirbt, zutr. als Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung berücksichtigt429. – Reisekosten eines Arbeitnehmers im Rahmen einer erfolglosen Bewerbung sind unzweifelhaft Werbungskosten. – Aufwendungen zur Veräußerung einer Immobilie innerhalb der Veräußerungsfrist des § 23 I 1 Nr. 1 EStG sind entgegen der Auffassung des BFH Werbungskosten im Rahmen von § 23 EStG, auch wenn es nicht zur Veräußerung innerhalb der Frist kommt430. – Aufwendungen für eine leer stehende Wohnung sind abziehbar, solange sich der Stpfl. ernsthaft um die Vermietung bemüht und damit zum Ausdruck bringt, dass er die Erzielung von Einkünften noch nicht aufgegeben hat431. Vergebliche Anschaffungs-/Herstellungskosten sind nur als verlorene Aufwendungen sofort abziehbar, wenn davon auszugehen ist, dass die Gegenleistung ausbleibt u. eine Rückzahlung nicht zu erlangen sein wird432. Zu beachten ist der Dualismus der Einkünfteermittlung: Nach dem Konzept der Überschusseinkünfte (s. Rz. 182) sind die Kosten der fehlgeschlagenen Gründung einer Kapitalgesellschaft nicht abziehbar433. Nachdem Veräußerungsgewinne steuerlich voll erfasst werden (§§ 17; 20 II EStG), ist die Einschränkung m.E. nicht mehr haltbar434.
Bei vorab entstandenen und nachträglichen Erwerbsaufwendungen435 ist der Veranlassungszusam- 233 menhang zwischen Aufwendung und Erwerbstätigkeit zu prüfen: (1) Vorab entstandene Erwerbsaufwendungen436 sind anzunehmen, wenn die Aufwendung in einem hinreichend konkreten, objektiv feststellbaren Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit steht, die mit dem Aufwenden beginnt. Der Erwerbstätige muss häufig etwas „vorab“ aufwenden, bevor er die Früchte seiner Tätigkeit und seiner Investitionen ernten kann. Der Wortlaut des § 9 I 1 EStG bestätigt dies. Vorweggenommene Erwerbsaufwendungen sind nach st. BFH-Rspr. insb. Bildungsaufwendungen437, wenn sie in einem hinreichend konkreten, objektiv feststellbaren Zusammenhang mit späteren Einnahmen stehen (s. hierzu Rz. 263 ff.). Damit rekurriert der BFH auf den Wortlaut des § 9 I 1 EStG und knüpft zugleich an den Veranlassungszusammenhang mit dem Beruf an438. Die vorgenannte Rspr. 428 BFH v. 29.11.1983 – VIII R 160/82, BStBl. II 1984, 307 (309). 429 BFH v. 10.3.1981 – VIII R 195/77, BStBl. II 1981, 470; v. 29.11.1983 – VIII R 160/82, BStBl. II 1984, 307. 430 BFH v. 1.8.2012 – IX R 8/12, BStBl. II 2012, 781. 431 Zur notwendigen Ernsthaftigkeit von Vermietungsbemühungen bei Leerständen BFH v. 11.12.2012 – IX R 14/12, BStBl. II 2013, 279; v. 11.12.2012 – IX R 68/10, BStBl. II 2013, 367; v. 22.1.2013 – IX R 19/11, BStBl. II 2013, 376; v. 9.7.2013 – IX R 48/12, BStBl. II 2013, 693; v. 12.6.2013 – IX R 38/12, BStBl. II 2013, 1013; v. 9.7.2013 – IX R 21/12, BFH/NV 2013, 1778; Systematisierung der Rspr. bei Schallmoser, SteuK 2013, 353. 432 BFH v. 4.7.1990 – GrS 1/89, BStBl. II 1990, 830; v. 28.6.2002 – IX R 51/01, BStBl. II 2002, 758; v. 9.5.2017 – IX R 24/16, BFHE 257, 429. 433 BFH v. 20.4.2004 – VIII R 4/02, BStBl. II 2004, 597; v. 7.5.2009 – IX B 221/08, BFH/NV 2009, 1265. 434 S. insofern auch die geänderte Rspr. bzgl. nachträglicher Schuldzinsen in Rz. 199. 435 Dazu KSM/von Bornhaupt, § 9 EStG Rz. B 124 ff. (2003); LBP/Stark, § 9 EStG Rz. 91, 99 ff. (2015); HHR/Kreft, § 9 EStG Anm. 164 ff. (2014); Blümich/Thürmer, § 9 EStG Rz. 160 ff. (2016); Schmidt/ Loschelder36, § 9 EStG Rz. 94 ff. 436 Kreft, Vorab veranlaßte Erwerbsaufwendungen im Einkommensteuerrecht, Diss., 2000; Stapperfend, FS Kruse, 2001, 533 (544 ff.); Kreft, FR 2002, 657 (zu Studienkosten); Baltromejus, SteuerStud 2017, 622 (mit Tipps für Studierende); verneint durch FG Nürnberg v. 2.5.2016 – 4 K 15/14, EFG 2016, 1008 rkr., bei mehreren parallel betriebenen Berufsausbildungen, bei denen private Motive nicht ausgeschlossen werden konnten (Skilehrer). 437 Abzug von Aufwendungen auch für die erste Berufsausbildung/Erststudium, s. BFH v. 27.5.2003 – VI R 33/01, BStBl. II 2004, 884; bestätigt v. 28.7.2011 – VI R 38/10, BStBl. II 2012, 561, entgegen der Nichtanwendungsgesetzgebung in § 12 Nr. 5 EStG a.F.; ausf., auch zu §§ 9 VI; 4 IX EStG, s. Rz. 263. 438 Z.B. BFH v. 17.12.2002 – VI R 137/01, BStBl. II 2003, 407.
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§ 8 Rz. 234
Einkommensteuer
verlangt die Teilnahme an einer berufsbezogenen Bildungsmaßnahme. Mit dieser Teilnahme beginnt der Stpfl. bereits seine Erwerbstätigkeit, der die Aufwendung zuzuordnen ist. Aufwendungen für den künftigen Beruf sind unabhängig von den Aufwendungen für einen gegenwärtig ausgeübten Beruf zu ermitteln439; s. i.E. hierzu Rz. 263 ff. Unter den Wortlaut des § 9 I 1 EStG fallen Ausgleichszahlungen eines Beamten an den geschiedenen Ehegatten „zur Erhaltung“ seiner späteren Pension440. Sie sind aber auch Werbungskosten, weil sie durch die Erwerbstätigkeit des Beamten veranlasst sind. Der Wortlaut des § 9 I 1 EStG versagt, wenn keine Einnahmen erzielt werden, z.B. beim Scheitern eines Immobilienprojekts. Gleichwohl erkennt die Rspr. zutr. vorab entstandene, vergebliche Werbungskosten an441. 234 (2) Nachträgliche Erwerbsaufwendungen442 sind die Folgekosten einer beendeten Erwerbstätigkeit.
Setzt aber ein pensionierter Beamter, Richter, Emeritus seine Berufstätigkeit fort, so hat er weiterhin Werbungskosten im Rahmen laufender Einkünfte443. Bei nachträglichen Betriebsausgaben ist der Tatbestand des Veräußerungs- bzw. Aufgabegewinns (§ 16 EStG) zu beachten. Die Aufwendungen können Veräußerungs- bzw. Aufgabekosten sein. Nach der Betriebsveräußerung/-aufgabe kann die betriebliche Veranlassung abgeschnitten sein. In derartigen Fällen erkennt die Rspr. Schuldzinsen nur dann als nachträgliche Betriebsausgaben an, wenn die Verbindlichkeiten bereits während des Bestehens des Betriebs begründet wurden und nicht durch den Veräußerungserlös oder durch eine Verwertung von Aktivvermögen getilgt werden konnten444. Nach Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung anfallende Zinsen können seit der Rechtssprechungsänderung bei den Einkünften aus Kapitalvermögen abgezogen werden445 (i.E. Rz. 199). Dies gilt auch für Schuldzinsen nach Veräußerung einer zur Einkünfteerzielung genutzen Immobilie (§§ 22 Nr. 2; 23 1 Nr. 1 EStG)446. 235 Willensunabhängige Aufwendungen447 sind ebenso wie vergebliche Aufwendungen Nebenfolgen ri-
sikobehafteter Tätigkeit (dazu Rz. 213). In der Risikosphäre der Erwerbstätigkeit können folgende
439 BFH v. 29.4.2003 – VI R 86/99, BStBl. II 2003, 749. 440 S. BFH v. 8.3.2006 – IX R 107/00, BStBl. II 2006, 446 (447); v. 8.3.2006 – IX R 78/01, BStBl. II 2006, 448; v. 23.11.2016 – X R 41/14, BStBl. II 2017, 773. 441 BFH v. 4.3.1997 – IX R 29/93, BStBl. II 1997, 610: Scheitern einer Bauherrengemeinschaft; v. 5.11.2001 – IX B 92/01, BStBl. II 2002, 144 (Mittellosigkeit des Bauträgers); v. 28.6.2002 – IX R 51/01, BStBl. II 2002, 758 (verlorene Vorauszahlungen auf den Kaufpreis); v. 15.11.2005 – IX R 3/04, BStBl. II 2006, 258 (Vergleichszahlung u. Prozesskosten); v. 16.2.2016 – IX R 1/15, BFH/NV 2016, 1261; Grube, SteuerConsultant 2007, 28 (Rücktritt vom Immobilienkauf). 442 Lamminger/Traxel, DStZ 1995, 429; Rauch, Nachträgliche Werbungskosten – Zu späte Aufwendungen?, Diss., 1996; Schallmoser, DStR 2013, 501. 443 BFH v. 5.11.1993 – VI R 24/93, BStBl. II 1994, 238 (dazu Vogel, StuW 1994, 176) versagt einer emeritierten Professorin den Werbungskostenabzug, weil sie Einkünfte aus früheren Dienstleistungen beziehe. Dieses Urteil ist rechtsdogmatisch überholt, weil es nicht auf den Veranlassungszusammenhang zwischen dem weiterhin ausgeübten Beruf des Hochschullehrers und seinen Aufwendungen für Forschung und Lehre abstellt. Trotzdem wie BFH FG Hamburg v. 6.4.2017 – 2 K 77/16, juris (n.v.) m.w.N.; Schmidt/Loschelder36, § 9 EStG Rz. 101. 444 BFH v. 7.7.1998 – VIII R 5/96, BStBl. II 1999, 209; v. 19.8.1998 – X R 96/95, BStBl. II 1999, 353; v. 25.1.2001 – IX R 27/97, BStBl. II 2001, 573; v. 28.3.2007 – X R 15/04, BStBl. II 2007, 642; Bartone, Zur Abgrenzung von laufenden Betriebsausgaben, Kosten der Betriebsaufgabe u. nachträglichen Betriebsausgaben, INF 2002, 105. 445 BFH v. 16.3.2010 – VIII R 20/08, BStBl. II 2010, 787. 446 BFH v. 20.6.2012 – IX R 67/10, BStBl. II 2013, 275 (Veräußerung innerhalb § 23 I 1 Nr. 1 EStG); v. 8.4.2015 – IX R 45/13, BStBl. II 2015, 635 (nichtsteuerbare Veräußerung); auch schon Jachmann/ Schallmoser, DStR 2011, 1245; Schallmoser, FS Spindler, 2011, 739. 447 Grds. dazu Tipke, StuW 1979, 201 f.; Söhn, DStJG 3 (1980), 13 (28); Wassermeyer, StuW 1981, 252; Wassermeyer, StuW 1982, 360; Söhn, StuW 1983, 196; Kröner, StuW 1985, 121 ff. (m.w.N.).
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2.2 Abgrenzung der Betriebsausgaben/Werbungskosten – Privatausgaben
Rz. 241 § 8
Erwerbsaufwendungen anfallen: Verlust von Wirtschaftsgütern (s. Rz. 214), Unfallkosten (s. Rz. 221), Prozesskosten, Vertragsstrafen wegen unpünktlicher Warenlieferung. Aufwendungen des nicht steuerbaren Privatvermögens: Die kausalrechtliche Grundfigur des Ver- 236 anlassungszusammenhangs zwischen einer bestimmten Erwerbstätigkeit und Aufwendungen bedarf der quellentheoretischen Ergänzung bei der Abgrenzung der Werbungskosten zu den Aufwendungen des nicht steuerbaren Privatvermögens. Derartige Aufwendungen sind zwar durch eine Erwerbstätigkeit im Rahmen privater Vermögensverwaltung veranlasst. Sie sind aber nach der quellentheoretischen Konzeption der Überschusseinkünfte auszuscheiden, da Überschusseinkünfte Mehrungen und Minderungen des sog. Stammvermögens nicht erfassen (s. Rz. 182). Die ursprünglich steuersystematisch richtige Unbeachtlichkeit von Aufwendungen im Bereich des privaten Stammvermögens ist allerdings in dem Maße zurückzunehmen, wie der Gesetzgeber die Steuerpflicht von Wertsteigerungen desselben auch innerhalb der Quelleneinkünfte ausdehnt. Einstweilen frei.
237–238
2.2.2 Gemischt veranlasste Aufwendungen Die gemischt veranlassten Aufwendungen liefern die „Nagelprobe“448 der steuerrechtlichen Kausali- 239 tätstheorie. Dabei ist der Rechtsanwender in der Bewertung der Kausalverhältnisse relativ frei, soweit er die Generalklauseln des Betriebsausgaben- und des Werbungskostenbegriffs (§§ 4 IV; 9 I 1 EStG) anwendet. Den Bereich gemischter Kausalität regeln jedoch zahlreiche spezielle Abzugsverbote (insb. § 4 V EStG, s. Rz. 286 ff.). Sie sollen der Vereinfachung dienen, erzeugen allerdings vielfach nur zusätzlichen dogmatischen Klärungsbedarf oder sind extrem streitanfällig. Bei Kinderbetreuungskosten will der Gesetzgeber die Veranlassung durch die Erwerbstätigkeit erst gar nicht anerkennen (s. Rz. 754 f.). Nachdem er sie zunächst „wie“ Betriebsausgaben/Werbungskosten (§ 9c EStG a.F.) behandelt hat, sind sie ab 2012 in § 10 I Nr. 5 EStG der Privatsphäre zugeordnet. M.E. handelt es sich bei Erwerbstätigkeit beider Elternteile um beruflichen Mehraufwand, der ausschließlich beruflich veranlasst ist und daher voll abziehbar sein sollte (s. Rz. 755). Beharrlich widersetzt sich der Gesetzgeber auch der Einsicht der Qualifikation von Bildungsaufwendungen als vorweggenommene Erwerbsaufwendungen (Abzugsverbot in §§ 4 IX; 9 VI EStG, s. Rz. 263 ff.). 2.2.2.1 Bedeutung des § 12 EStG Aufwendungen, die nicht wesentlich durch eine konkrete Erwerbshandlung i.S. einer Einkunftsart 240 des § 2 I EStG veranlasst sind, können weder Betriebsausgaben noch Werbungskosten sein. Kann eine Aufwendung auch nicht unter einen Abzugstatbestand i.S.d. § 2 IV, V EStG subsumiert werden, so ist sie in der Einkommensteuerbemessungsgrundlage (§ 2 I–V EStG) überhaupt nicht abziehbar. Vor diesem Hintergrund muss die Bedeutung des § 12 EStG erkannt werden: Diese Grundvorschrift 241 liefert zunächst eine wichtige Interpretationshilfe zur näheren Bestimmung des objektiven Nettoprinzips449, indem sie der positiven Umschreibung der Erwerbsaufwendungen in den §§ 4 IV; 9 I 1 EStG die negative Umschreibung „Aufwendungen für die Lebensführung“ (§ 12 Nr. 1 Satz 2 EStG) gegenüberstellt. § 12 EStG hat in zwei Richtungen klarstellende Bedeutung: § 12 EStG stellt erstens klar, dass Aufwendungen für die Lebensführung (die Lebensführung bildet die Gesamtheit der Privathandlungen) grds. aus der Maßgröße objektiver Leistungsfähigkeit (der Summe der Einkünfte, s. Rz. 42) auszuscheiden sind, und § 12 EStG stellt zweitens klar, dass die Aufwendungen für die Lebensführung nur dann abziehbar sind, wenn sie ein besonderer Abzugstatbestand in der Maßgröße subjektiver Leistungsfähigkeit erfasst. § 12 Hs. 1 EStG erwähnt §§ 10 I Nr. 2–5, 7, 9 und Ia Nr. 1; 448 Söhn, DStJG 3 (1980), 13 (32). Grds. zur gemischten Veranlassung Weber, StuW 2009, 184 (191 ff.); G. Kirchhof, FS J. Lang, 2010, 563; rechtsvergleichend: Ault/Arnold, Comparative Income Taxation3, 2010, 250 ff. 449 So Ruppe, DStJG 3 (1980), 103 (121).
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§ 8 Rz. 242
Einkommensteuer
10a; 10b; 33–33b EStG. § 12 EStG fixiert damit auch die Grenze zwischen dem Erwirtschaften (§ 2 I 1 EStG: Erzielen) und dem Verwenden der Einkünfte. Diese klarstellenden Bedeutungen des § 12 EStG erstrecken sich expressis verbis auf folgende Privataufwendungen: Aufwendungen für den Haushalt (§ 12 Nr. 1 Satz 1 EStG), Zuwendungen (§ 12 Nr. 2 EStG)450, insb. Unterhaltsleistungen (§ 12 Nr. 1 Satz 1, Nr. 2 EStG, s. Rz. 88). Ferner stellt § 12 Nr. 3 EStG klar, dass Personensteuern (insb. Einkommen-, Kirchen-, Erbschaft- und Schenkungsteuer451) sowie die privat veranlasste Umsatzsteuer452 einschließlich der Nebenleistungen i.S.d. § 3 IV AO das disponible Einkommen belasten und deshalb nicht abziehbar sein sollen453. Systemwidrig ist dagegen das in § 4 Vb EStG angeordnete Abzugsverbot für die Gewerbesteuer (s. i.E. Rz. 288). Schließlich weist § 12 Nr. 4 EStG Geldstrafen u.a. Kriminalsanktionen klarstellend der privaten Opfersphäre zu (s. Rz. 294). 2.2.2.2 Aufteilungsgebot bei gemischter Veranlassung 242 Streitig war in der Vergangenheit die Bedeutung von § 12 EStG in Fällen gemischter Veranlassung von
Aufwendungen. Hier ist zunächst nach der Wesentlichkeitstheorie (dazu Rz. 220 f.) zu entscheiden, ob die private bzw. beruflich/betriebliche Veranlassung unwesentlich ist, so dass es entweder zum vollständigen Abzug oder zum Ausschluss des Abzugs kommt454. So sollten im Falle des zu einem Notfall gerufenen Arztes (Rz. 222) die unteilbaren Unfallkosten in vollem Umfange als Erwerbsaufwendungen anerkannt werden. Der physische Zustand des Stpfl. stellt eine unwesentliche, und zudem nicht quantifizierbare, private Ursache dar. Übermüdung455 und Schwächeanfälle456 sollten dem vollen Steuerabzug der Unfallkosten nicht entgegenstehen, besonders dort, wo die berufliche Belastung dazu zwingt, auf körperliches Befinden keine Rücksicht zu nehmen.
Ist dies nicht der Fall, ging der BFH457 entgegen der überwiegenden Auffassung im Schrifttum458 davon aus, § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG normiere ein Aufteilungs- und Abzugsverbot; gemischt veranlasste Aufwendungen waren grds. vom Abzug ausgeschlossen. Der GrS des BFH hat diese Rspr.459 im Jahr 2009 aufgegeben460 und richtig erkannt, dass § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG lediglich klarstellende Funktion hat und sich ausschließlich auf sog. Repräsentationsaufwendungen461 bezieht. Diesen wird im Einklang mit der Wesentlichkeitstheorie (s. Rz. 220) der Abzug versagt: Sie sind trotz betrieblicher bzw. beruflicher Mitveranlassung wesentlich privat veranlasst. I.Ü. interpretiert der GrS § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG nun zutr. als 450 Vgl. dazu Heister, Die nicht abzugsfähigen Ausgaben der Vorschrift des § 12 Nr. 2 EStG, Diss., 1970; Weber-Grellet, DStR 1993, 1010; BFH v. 28.7.1983 – IV R 174/80, BStBl. II 1984, 97 (100): „Zuwendungen i.S.d. § 12 Nr. 2 EStG sind Leistungen, denen keine oder nur eine geringfügige Gegenleistung gegenübersteht …“. Dies bedeutet nach der Wesentlichkeitstheorie: Eine unwesentliche Gegenleistung macht die Zuwendungshandlung nicht zur relevanten Erwerbshandlung. 451 So BFH v. 9.8.1983 – VIII R 35/80, BStBl. II 1984, 27 (28). 452 USt auf Entnahmen sowie die Vorsteuerbeträge auf Aufwendungen i.S.d. § 4 V 1 Nr. 1–5, 7, VII EStG. 453 § 12 Nr. 3 EStG verfassungsrechtlich unbedenklich (BFH v. 2.9.2008 – VIII R 2/07, BStBl. II 2010, 25 [27 f.]). Zu den Schlussfolgerungen für die Steuerbarkeit von Erstattungszinsen s. Rz. 496. 454 St. Rspr. im Anschluss an BFH v. 28.11.1977 – GrS 2/77, 3/77, BStBl. II 1978, 105. 455 Vgl. Tiedtke, FR 1978, 496; Offerhaus, BB 1979, 670; KSM/von Bornhaupt, § 9 EStG Rz. B 471 (2000). 456 Vgl. BFH v. 10.3.1978 – VI R 239/74, BStBl. II 1978, 381; Offerhaus, BB 1979, 671. 457 Früher st. Rspr., insb. BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BStBl. II 1971, 17; v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BStBl. II 1979, 213. 458 Insb. Tipke, StuW 1979, 203 f.; Ruppe, DStJG 3 (1980), 103 (124); Söhn, DStJG 3 (1980), 13 (49 ff.); Kottke, Zur Irrlehre vom Aufteilungs- und Abzugsverbot im Einkommensteuerrecht, DStR 1992, 129, u. aus praktischer Sicht Wiss. Beirat Ernst & Young, BB 2004, 1024. 459 Grundl. BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BStBl. II 1971, 17; v. 19.10.1970 – GrS 3/70, BStBl. II 1971, 21; v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BStBl. II 1979, 213. Nachweis der Kritik s. 20. Aufl., § 9 Rz. 242 Fn. 75. 460 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672; dazu BMF v. 6.7.2010 – IV C 3-S 2227/07/10003:002, BStBl. I 2010, 614. 461 So die amtl. Begr. in RStBl. 1935, 41 (Zitat in StuW 1979, 204).
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2.2 Abgrenzung der Betriebsausgaben/Werbungskosten – Privatausgaben
Rz. 243 § 8
Aufteilungsgebot für gemischt veranlasste Aufwendungen462. Damit hat die bisherige Kasuistik463, innerhalb derer Rspr. und FinVerw. mehr oder weniger willkürlich Ausnahmen vom Aufteilungs- und Abzugsverbot festlegten, ein Ende. Aufwendungen, die wesentlich durch eine Erwerbshandlung und zugleich wesentlich durch die Lebensführung veranlasst sind, dürfen bei konsequentem Vollzug des objektiven Nettoprinzips weder in vollem Umfange der Erwerbssphäre noch in vollem Umfange der Privatsphäre zugeordnet werden. Sie sind aufzuteilen. In dem vom GrS 2009 entschiedenen Fall gemischt veranlasster Reisekosten bietet sich eine zeitanteilige Aufteilung an (nach Tagen, gegebenenfalls Stunden). Weitere bereits aus der bisherigen Rspr. bekannte Aufteilungskriterien sind Fläche oder Personenanzahl464. Gegebenenfalls ist die Aufteilung im Wege der Schätzung vorzunehmen. Auch wesentlich erwerbstätiger Mehraufwand ist, wenn er sich quantitativ abschichten lässt, als Erwerbsaufwand abzuziehen. Abzulehnen ist die Festlegung einer Untergrenze von 10 % betrieblicher/beruflicher Veranlassung, unterhalb derer der Abzug ausgeschlossen wird465. Derartige Bagatellgrenzen haben keine Vereinfachungswirkung, da sie die genaue Ermittlung der Veranlassungsanteile nicht erübrigen. Aufteilung und Abzug scheiden nur dann aus, wenn eine Trennung tatsächlich nicht möglich ist, 243 weil es an objektiv nachprüfbaren Kriterien der Aufteilung fehlt und diese damit schlichtweg willkürlich wäre466. In diesem Fall verfügt der Richter über einen Bewertungsspielraum, die quantitativ unteilbare Aufwendung ganz der Erwerbs- oder ganz der Privatsphäre zuzuordnen. Damit werden z.B. die Aufwendungen für eine regionale Tageszeitung oder ein allgemeinbildendes Lexikon ebenso weiterhin vom Abzug ausgeschlossen bleiben (s. Rz. 252) wie Aufwendungen für die allgemeine Schulbildung (zu Bildungsaufwendungen auch Rz. 263 ff.).
Für die private Lebensführung unverzichtbare Aufwendungen bleiben ebenfalls grds. vom Abzug ausgeschlossen. Diese Aufwendungen werden i.d.R. bereits durch die Regelungen zur Freistellung des Existenzminimums (Grundfreibetrag, Sonderausgaben, außergewöhnliche Belastungen) erfasst467. Dies gilt z.B. für beruflich genutzte bürgerliche Kleidung. Daher beschränkt § 9 I 3 Nr. 6 Satz 1 EStG den Werbungskostenabzug zutreffend auf die typische Berufskleidung (s. Rz. 270). Allerdings können 462 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 (680 ff.); ebenso v. 21.4.2010 – VI R 66/04, BStBl. II 2010, 685; v. 21.4.2010 – VI R 5/07, BStBl. II 2010, 687. Die Rspr.-Änderung stößt auf breite Zustimmung, vgl. ausf. Fischer, NWB 2010, 412; Albert, FR 2010, 220; G. Kirchhof, FS J. Lang, 2010, 563 (567); Leisner-Egensperger, DStZ 2010, 185; Pezzer, DStR 2010, 93; Spindler, FS J. Lang, 2010, 589 ff.; Söhn, FS Spindler, 2011, 795 ff. Zur Judikatur des österr. VwGH, der inzwischen ebenfalls vom Aufteilungsverbot abrückt, s. Renner, ÖStZ 2010, 123; Daxkobler/Kerschner, ÖStZ 2011, 413; Kühbacher, ÖStZ 2011, 441; Lachmayer, ÖStZ 2011, 181; Zorn, ÖStZ 2011, 123; Söhn, FS R. Wendt, 2015, 1001. Zu Praxisfolgen (insb. Anwendung auf andere Fälle gemischter Veranlassung) und der Umsetzung durch BMF v. 6.7.2010 – IV C 3 - S 2227/07/10003:002, BStBl. I 2010, 614, vgl. Jochum, DStZ 2010, 665; Neufang, BB 2010, 2409; Streck, FR 2010, 896; Steck, DStZ 2010, 191; von Glasenapp, BB 2011, 160; Korn, KÖSDI 2011, 17566; Schwenke, FR 2011, 1051. Angwendet z.B. für Feiern aus beruflichem und privatem Anlass, s. BFH v. 8.7.2015 – VI R 46/14, BStBl. II 2015, 1013 (1014 f.): Dienstjubiläum als berufsbezogenes Ereignis, so dass Aufwendungen einer betriebsinternen Feier nahezu ausschließlich beruflich veranlasst sind (mit Anm. Krüger, DStR 2015, 2820; Bergkemper, FR 2016, 40; Geserich, NWB 2016, 2500); BFH v. 18.8.2016 – VI R 52/15, BFH/NV 2017, 151 (Habilitationsfeier); ausf. zu Feiern aus beruflichem und privatem Anlass Renner, DStZ 2016, 121 (mit Rechtsvergleich Österreich); s. ferner Schmidt/Krüger36 § 19 EStG Rz. 110 „Bewirtung“ m.w.N. der Rspr.; zu einer etwaigen Aufteilung s. Rz. 242. 463 J. Lang, Bemessungsgrundlage, 328 ff. 464 BFH v. 25.6.2009 – IX R 49/08, BStBl. II 2010, 122. 465 So aber BMF v. 6.7.2010 – IV C 3 - S 2227/07/10003:002, BStBl. I 2010, 614, unter Berufung auf BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 (680), wonach ein Abzug beruflich veranlasster Kosten von „untergeordneter Bedeutung“ ausscheiden soll. 466 Söhn, FS Spindler, 2011, 795 (801); Schmidt/Loschelder36, § 12 EStG Rz. 12. Zu den Anforderungen an die Nachweisobliegenheit des Stpfl. BFH v. 25.5.2011 – VIII R 25/09, BFH/NV 2011, 1346. 467 S. BFH GrS v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 (684); dazu Steck, DStZ 2011, 191 (194 ff.) u. 320.
Hey 403
§ 8 Rz. 244
Einkommensteuer
die Aufwendungen betrieblich/beruflich veranlasst höher ausfallen. Hier verfügt der Gesetzgeber über einen gewissen Gestaltungsspielraum, innerhalb dessen er den Abzug zulassen kann, z.B. pauschalierte Berücksichtigung von Verpflegungsmehraufwendungen (§ 4 V 1 Nr. 5 i.V.m. § 9 IVa EStG). Damit ergibt sich im Fall nicht ausschließlich privat oder betrieblich/beruflich veranlasster Aufwendungen folgendes Prüfungsschema: 1. Ist die betriebliche/berufliche bzw. private Veranlassung unwesentlich, dann sind die Aufwendungen voll bzw. nicht abziehbar468. 2. Sind beide Anteile wesentlich, müssen die Kosten grds. aufgeteilt werden und der betrieblich/beruflich veranlasste Anteil zum Abzug zugelassen werden. 3. Eine Aufteilung unterbleibt, wenn eine Trennung mangels objektivierbarer Aufteilungskriterien nicht möglich ist469. 4. Ein Abzug scheidet ferner dann aus, wenn es sich um unverzichtbare Aufwendungen der Lebensführung handelt470. Abziehbar ist aber ein betrieblich/beruflich veranlasster Mehraufwand, soweit er sich quantitativ abschichten lässt. Die Entscheidung des GrS v. 27.7.2015 zu den Konsequenzen für gemischt genutzte häusliche Arbeitszimmer471 schränkt diese Grundsätze nicht ein, sondern ist wohl der Sondersituation verfassungsrechtlich beschränkter Objektivierbarkeit und Überprüfbarkeit der tatsächlichen Nutzung von in die Wohnung eingebundenen Räumen geschuldet (s. auch Rz. 255). 244 Die Höhe des Abzugs gemischt veranlasster Aufwendungen richtet sich nach ihrer Angemessenheit.
Grundsätzlich kommt es auf die betriebliche/berufliche Notwendigkeit, Üblichkeit oder Zweckmäßigkeit des Handelns nicht an472. Wirtschaftlich unangemessene Aufwendungen sind in vollem Umfange Betriebsausgaben/Werbungskosten. Wirtschaftlich unangemessene Aufwendungen sind jedoch nur dann uneingeschränkt abziehbar, wenn die Lebensführung nicht berührt ist. Ist eine wirtschaftlich unangemessene Aufwendung auch privat mitveranlasst, so ist sie nur in wirtschaftlich angemessener Höhe Erwerbsaufwendung, i.Ü. Privataufwendung. § 4 V 1 Nr. 7 EStG, der sinngemäß auch bei Werbungskosten gilt (§ 9 V 1 EStG), ist Ausdruck eines allgemeinen Aufteilungsgrundsatzes (s. Rz. 287). 245–249
Einstweilen frei.
468 Überlagerung der privaten Veranlassung bei Auswärtstätigkeiten s. BFH v. 28.3.2012 – VI R 48/11, BStBl. II 2012, 926; v. 5.7.2012 – VI R 50/10, BStBl. II 2013, 282; v. 19.9.2012 – VI R 78/10, BStBl. II 2013, 284; dazu Schmitt/Meyen, DB 2013, 1578. 469 Beispiele: BFH v. 17.10.2013 – III R 27/12, BStBl. II 2014, 372 (keine anteilige Gebäude-Afa bei gewerblich genutzter Photovoltaikanlage auf Dach eines privat genutzten Gebäudes); v. 7.5.2013 – VIII R 51/10, BStBl. II 2013, 808 (Reise an ausländischen Ferienort zur Anfertigung eines Lehrbuchs); FG Münster v. 15.1.2016 – 4 K 2091/13 E, EFG 2016, 551 (rkr.): Übernahme der Studienkosten eines im Unternehmen der Eltern beschäftigten Kindes. 470 Beispiele: Miete für eigenes Wohnen keine Werbungskosten im Rahmen der Einkünfte aus Fremdvermietung des Eigenheims Schleswig-Holsteinisches FG v. 21.6.2013 – 3 K 148/09, EFG 2013, 1393 mit Anm. Trossen; bestätigt durch BFH v. 11.2.2014 – IX R 24/13, BFH/NV 2014, 1197. 471 BFH v. 27.7.2015 – GrS 1/14, BStBl. II 2016, 265. 472 Tipke, StRO II2, 620; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 328. Zu dieser Selbstbestimmung der Aufwendungen bereits Rz. 231.
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2.3 Besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen
Rz. 252 § 8
2.3 Praktisch besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen 2.3.1 Gesetzgeberische Typisierungen Die rechtsdogmatisch einheitliche Abgrenzung der Erwerbsaufwendungen (Betriebsausgaben/Wer- 250 bungskosten) wird gestört durch Sondervorschriften über die Abziehbarkeit bzw. Nichtabziehbarkeit von Aufwendungen. Sie gehen den allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsregeln vor. Mit den historisch gewachsenen Katalogen der §§ 4 V, VI; 9 I 3 EStG versucht der Gesetzgeber, den Rechtsanwender von schwierigen Handhabungen der allgemeinen Regeln zu entlasten. Teils dienen die speziellen Abzugsregeln der Klarstellung wie der in § 4 V 1 Nr. 7 EStG normierte Grundsatz angemessener Aufteilung (s. Rz. 287) oder die Konkretisierungen des allgemeinen Werbungskostenbegriffs (§ 9 I 1 EStG) durch § 9 I 3 Nr. 1–3, 6 EStG. Die Neufassung des § 9 V EStG durch das StÄndG 1992 hat den Streit erledigt, ob die Abzugsverbote für Betriebsausgaben in § 4 V EStG auch für Werbungskosten sinngemäß gelten. Teils typisiert der Gesetzgeber verdeckte private (Mit-)Veranlassungen durch nichtabziehbare Betriebsausgaben (s. Rz. 287). Durch das punktuelle, typisierende Vorgehen des Gesetzgebers wird aber die Rechtsanwendung nicht stets vereinfacht. Vielmehr entwickeln sich auf Grund der Sondervorschriften umfängliche Spezialmaterien wie etwa das kaum mehr durchschaubare Recht der doppelten Haushaltsführung (§ 9 I 3 Nr. 5 EStG) oder der Abzugsfähigkeit der Kosten häuslicher Arbeitszimmer, so dass hier die Rückkehr zu den allgemeinen Regeln durch Streichen der Sondervorschrift wohl vereinfachend wirken würde. Teils weicht der Gesetzgeber aber auch gezielt von den allgemeinen Regeln ab, indem er besondere Abzugsverbote zum Schutze der Gesamtrechtsordnung konstituiert (s. Rz. 294 ff.) oder den Abzug von Kfz-Aufwendungen aus verkehrs- und umweltpolitischen Gründen begrenzt (s. Rz. 271 ff.). Praktisch besonders bedeutsam sind folgende Erwerbsaufwendungen: 2.3.2 Arbeitsmittel § 9 I 3 Nr. 6 EStG regelt eine spezielle Gruppe von Aufwendungen für beruflich genutzte Wirtschafts- 251 güter, die Arbeitsmittel473, z.B. Werkzeuge und typische Berufskleidung (s. Kleidung, Rz. 270). Ob ein Arbeitsmittel in der Privatwohnung beruflich genutzt wird, ist oft schwer zu beurteilen. Daher pflegt die Rspr. die Art der Nutzung typisierend festzustellen474. Auch nach Aufgabe der Rspr. zum Aufteilungsverbot (s. Rz. 242) dürfte es vielfach an objektivierbaren Aufteilungskriterien fehlen, so dass es beim Abzugsverbot bleibt. Das Nettoprinzip ist nur beachtet, wenn die wesentliche erwerbstätige Nutzung stets berücksichtigt wird. 252 In diesem Sinne hatte der BFH bereits die Anwendung des § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG bei der gemischten Nutzung häuslicher Computer aufgegeben und die Aufteilung der Kosten zugelassen; eine private Nutzung sei unschädlich, wenn sie einen Nutzungsanteil von 10 % nicht übersteige (Wesentlichkeitsgrenze)475. Ebenso muss die wesentlich erwerbstätige Nutzung bei anderen Arbeitsmitteln berücksichtigt werden. Aufwendungen für Tageszeitungen, Wochenzeitschriften, Nachschlagewerke und Allgemeinliteratur ordnet der BFH dagegen grds. der Privatsphäre zu476. Hieran ändert auch die neue Rspr. zum Aufteilungsgebot (s. Rz. 242)
473 Dazu Geserich, NWB 2011, 1247; Schmidt/Loschelder36, § 9 EStG Rz. 265–270. 474 Vgl. z.B. BFH v. 5.7.1957 – VI 39/56 U, BStBl. III 1957, 328 (329): „Die Bfin. (Beschwerdeführerin) mag das Nachschlagewerk tatsächlich für ihren Beruf benutzen. Ihr Anerbieten, notfalls darüber Buch zu führen, zeigt aber, wohin es käme, wollte man für die Beurteilung auf die Verhältnisse des jeweiligen Falles und nicht auf das Typische abstellen …“. Dazu m.w.N. Birkenfeld, DStJG 9 (1986), 245 ff.; J. Lang, DStJG 9 (1986), 15 (80 ff.); J. Lang, Bemessungsgrundlage, 148 f. 475 BFH v. 19.2.2004 – VI R 135/01, BStBl. II 2004, 958 (960). 476 Dazu Ritzow, StWa 1998, 163. Erwerbsaufwendungen: BFH v. 16.10.1981 – VI R 180/79, BStBl. II 1982, 67 („Encyclopaedia Britannica“ bei Englischlehrer); Handelsblatt: BFH v. 12.11.1982 – VI R 193/79, DB 1983, 372 (Fachzeitschrift ähnlich); v. 19.1.1996 – VI R 64/95, BFH/NV 1996, 402 (nahezu ausschließliche berufliche Nutzung erforderlich); v. 20.5.2010 – VI R 53/09, BStBl. II 2011, 723: Würdigung für jeden einzelnen Gegenstand (Bücher eines Lehrers).
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§ 8 Rz. 253
Einkommensteuer
nichts477. Musikinstrumente478 erkennt die Rspr. als Arbeitsmittel an, wenn die Beherrschung des Instruments die Grundlage der wirtschaftlichen Existenz darstellt479, wie z.B. bei Konzertpianisten, Orchestermusikern480 und Dozenten an Musikhochschulen481. 253 Für die einkunftsartneutrale Behandlung der Nutzung von Wirtschaftsgütern ist im Bereich der Überschusseinkünfte ein sog. Einkunftserzielungsvermögen anzunehmen482. Bei Umwidmung eines Wirtschaftsguts von der privaten zur beruflichen Nutzung (Beispiel: Umstellen eines Bücherschrankes vom Wohnzimmer in das Arbeitszimmer) sind nach der Rspr. des BFH483 die Anschaffungs-/Herstellungskosten linear nach § 7 I i.V.m. § 9 I 3 Nr. 7 Satz 1 EStG auf die gesamte Nutzungsdauer zu verteilen. Diese Lösung ist wohl praktikabel, weil sie die Bewertung des Wirtschaftsguts zu Beginn der beruflichen Nutzung entbehrlich macht. Eine Gleichstellung mit der betrieblichen AfA wird indessen nur erreicht, wenn das Wirtschaftsgut zu Beginn der beruflichen Nutzung bewertet wird und dann nicht nur linear, sondern auch degressiv nach § 7 II i.V.m. § 9 I 3 Nr. 7 Satz 1 EStG (dazu § 9 Rz. 311 f.) abgeschrieben werden kann484. Hat das Arbeitsmittel nicht mehr als 800 Euro gekostet, so können die Aufwendungen in voller Höhe im Beschaffungsjahr abgesetzt werden (§ 9 I 3 Nr. 7 Satz 2 i.V.m. § 6 II EStG); zwischen 250 und 1000 Euro kann die Poolabschreibung des § 6 IIa EStG genutzt werden. Bei geschenkten Arbeitsmitteln gilt nach BFH der auf den Zeitraum vor der Schenkung entfallende Teil der Anschaffungs-/Herstellungskosten als abgesetzt485. Ist für ein Arbeitsmittel nichts aufgewendet worden, so kann auch nichts abgeschrieben werden486.
2.3.3 Arbeitszimmer 254 § 4 V 1 Nr. 6b EStG regelt den Abzug von Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer487.
Nachdem der Gesetzgeber den Abzug erstmals 1996 in § 4 V 1 Nr. 6b EStG beschränkt hatte, war das Arbeitszimmer bereits zweimal Gegenstand verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. 1999 hat das BVerfG die beschränkte Abziehbarkeit von Arbeitszimmerkosten nach § 4 V 1 Nr. 6b EStG 1996 477 478 479 480 481
482 483 484
485 486
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FG Münster v. 30.9.2010 – 5 K 3976/08 E, EFG 2011, 228. Dazu Wolf, FR 1999, 841. BFH v. 30.4.1993 – VI R 99/89, BFH/NV 1993, 722. BFH v. 26.1.2001 – VI R 26/98, BStBl. II 2001, 194. BFH v. 21.10.1988 – VI R 18/86, BStBl. II 1989, 356. Entgegen BFH v. 10.3.1978 – VI R 111/76, BStBl. II 1978, 459; v. 30.4.1993 – VI R 99/89, BFH/NV 1993, 722; FG Baden-Württemberg v. 18.12.1997 – 14 K 21/93, EFG 1998, 643 (m.w.N.), ist auch bei Musiklehrern an allgemeinbildenden Schulen wesentlich erwerbstätige Nutzung anzunehmen, so dass zumindest ein angemessener Kostenanteil als Erwerbsaufwendungen anzuerkennen ist (so jetzt auch FG München v. 27.5.2009 – 9 K 859/08, EFG 2009, 1447 rkr.). J. Lang, DStJG 9 (1986), 15 (53 ff.); Alt, Das Überschußvermögen im Einkommensteuerrecht, Diss., 1994; Rademacher-Gottwald, FR 2003, 336; Schmidt/Loschelder36, § 9 EStG Rz. 277 f.; zurückhaltend Tappe, DStJG 40 (2017), 333 (359 f.). BFH v. 2.2.1990 – VI R 22/86, BStBl. II 1990, 684, im Anschluss an v. 14.2.1989 – IX R 109/84, BStBl. II 1989, 922. Zum sofortigen Werbungskostenabzug bei Umwidmung bisher privat genutzter Wirtschaftsgüter Kottke, DB 1998, 1255. M.E. führt die analoge Anwendung des § 7 EStG durch § 9 I 3 Nr. 7 Satz 1 EStG zum Ansatz fiktiver AfA in Gestalt des gemeinen Werts (§ 9 BewG), da ein anderer Wert i.S.d. § 1 II BewG nicht eingreift. Insb. verneint BFH v. 14.2.1989 – IX R 109/84, BStBl. II 1989, 922, zu Recht analoge Anwendung des § 6 I Nr. 5 Satz 1 EStG u. Ansatz des Teilwerts, der per definitionem betrieblich genutzten Wirtschaftsgütern vorbehalten ist. Demnach kann bei anfänglich privat genutzten Wirtschaftsgütern nur der gemeine Wert Bemessungsgrundlage der AfA i.S.d. § 9 I 3 Nr. 7 Satz 1 EStG sein. BFH v. 16.2.1990 – VI R 85/87, BStBl. II 1990, 883. Zutr. FG München v. 5.5.2004 – 10 K 5214/02, EFG 2004, 1354: keine fiktive Abschreibung eines in Verlosung gewonnenen Fertighauses, zumal schon die verlosende Fertighausfirma den Aufwand für das verloste Fertighaus steuerlich geltend gemacht hat, so dass § 11d EStDV keine Abschreibung zu begründen vermag; bestätigt durch BFH v. 26.4.2006 – IX R 24/04, BStBl. II 2006, 754. Einzelheiten s. BMF v. 6.10.2017 – IV C 6 - S 2145/07/10002, BStBl. I 2017, 1320; aktuelle Kommentierungen HHR/Paul, § 4 EStG Anm. 1490 ff. (2016); Schmidt/Heinicke36, § 4 EStG Rz. 590 ff.; aktueller Rspr.-Überblick Seifert, StuB 2017, 313; Gehm, SteuerStud 2016, 691.
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2.3 Besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen
Rz. 255 § 8
gleichheitsrechtlich nicht beanstandet, weil die Nachprüfung der Arbeitszimmernutzung wegen des dazu erforderlichen Eindringens in die Privatsphäre und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) „wesentlich eingeschränkt oder gar unmöglich“ sei488. Vor allem haushalterische Gründe veranlassten den Gesetzgeber dazu, den Abzug durch das StÄndG 2007 v. 19.7.2006, BGBl. I 2006, 1652, noch weiter einzuschränken. Abzugsfähig waren die Aufwendungen nur noch, wenn das Arbeitszimmer den Mittelpunkt der gesamten betrieblichen und beruflichen Betätigung darstellte489. I.Ü. war der Abzug auch dann ausgeschlossen, wenn dem Stpfl. kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung stand.Das BVerfG zwang den Gesetzgeber zu einer partiellen Wiederherstellung der bisherigen Rechtslage.490 Ein ausschließlich beruflich genutztes Arbeitszimmer führt jedenfalls dem Grunde nach zu beruflich veranlasstem Aufwand, der als „typischer“ Erwerbsaufwand nach dem objektiven Nettoprinzip abziehbar sein müsse491. Auch die Typisierungskompetenz des Gesetzgebers und das Ziel der Missbrauchsvermeidung rechtfertigten es in den Fällen, in denen kein anderer Arbeitsplatz existiert, nicht, den Abzug ganz auszuschließen, weil hier die ausschließlich betrieblich/berufliche Veranlassung objektiv nachprüfbar ist. Die Höhe des Abzugs liege dagegen weitgehend in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers und könne auch die Möglichkeit privater Mitbenutzung des Arbeitszimmers reflektieren. Dementsprechend lässt JStG 2010 v. 8.12.2010, BGBl. I 2010, 1768, den Abzug der Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer sowie die Kosten der Ausstattung492 wieder zu, wenn für die betriebliche oder berufliche Tätigkeit kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung steht493. Der Abzug ist der Höhe nach begrenzt auf 1 250 Euro (§ 4 V 1 Nr. 6b Satz 3 EStG)494, es sei denn, das Arbeitszimmer bildet den Mittelpunkt der gesamten betrieblichen oder beruflichen Betätigung. Auch wenn damit nun wieder ein verfassungskonformer Zustand erreicht ist495, bleibt die Vereinfachungswirkung von § 4 V 1 Nr. 6b EStG zweifelhaft. Das Tatbestandsmerkmal des häuslichen Arbeitszimmers ist extrem streitanfällig und hat eine überbordende Kasuistik hervorgerufen, da die Frage, ob ein Raum dem Typus nach Arbeitszimmer ist496 und ob das Arbeitszimmer in die häusliche Wohnsphäre eingebunden ist (Abgrenzung häusliches/außerhäusliches Arbeitszimmer)497, nur durch Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls möglich ist. Ebenso streitanfällig ist die Voraussetzung „Mittelpunkt der gesamten betriebli488 BVerfG v. 7.12.1999 – 2 BvR 301/98, BVerfGE 101, 297 (311). 489 Krit. Drenseck, FR 2006, 1; J. Lang, StuW 2007, 3 (13 f.); Leisner-Egensperger, FR 2006, 1018 (1023 ff.); Schmidt/Krüger32, § 19 EStG Rz. 110 (Arbeitszimmer). 490 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268. 491 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 (280). 492 Nach BFH v. 21.11.1997 – VI R 4/97, BStBl. II 1998, 351, ist § 9 I 3 Nr. 6 EStG (Arbeitsmittel) lex specialis gegenüber § 4 V 1 Nr. 6b EStG (Ausstattungskosten), so dass Arbeitsmittel i.S.d. § 9 I Nr. 6 EStG nicht unter das Abzugsverbot fallen (vgl. BMF v. 6.10.2017 – IV C 6 - S 2145/07/10002, BStBl. I 2017, 1320, Rz. 8.). Dazu Flies, DStZ 1998, 474; Söhn, FR 1998, 637. 493 Zur Frage des anderen Arbeitsplatzes bei Tele- und Poolarbeitsplätzen BFH v. 26.2.2014 – VI R 40/12, BStBl. II 2014, 568; v. 26.2.2014 – VI R 37/13, BStBl. II 2014, 570; Anm. Schneider, NWB 2014, 1860; Geserich, DStR 2014, 1316; Kanzler, FR 2014, 656. Aktuell BFH v. 22.2.2017 – III R 9/16, BStBl. II 2017, 698 (699), Rz. 16–18 (Arztpraxis). 494 Bei gemeinsamer Nutzung durch Ehegatten kann in konsequenter Anwendung des Individualsteuerprinzips jeder Ehegatte den Höchstbetrag von 1 250 Euro geltend machen, wenn bei beiden die Voraussetzungen des § 4 V 1 Nr. 6b Satz 2 EStG vorliegen, vgl. BFH v. 15.12.2016 – VI R 53/12, BStBl. II 2017, 938. Abzugssgrenze kann auch bei Nutzung von mehreren Arbeitszimmern in verschiedenen Haushalten nur einmal zur Anwendung gebracht werden s. BFH v. 9.5.2017 – VIII R 15/15, BStBl. II 2017, 956. 495 BFH v. 28.2.2013 – VI R 58/11, BStBl. II 2013, 642 (645). 496 Raum muss typischerweise büromäßigen Tätigkeiten dienen, verneint für häusliches Tonstudio (BFH v. 28.8.2003 – IV R 53/01, BStBl. II 2004, 55) und Notfallspraxis eines Arztes (BFH v. 5.12.2002 – IV R 7/01, BStBl. II 2003, 463); bejaht für Übungszimmer einer Musikerin (BFH v. 10.10.2012 – VIII R 44/10, BFH/NV 2013, 359). 497 Hierzu im Einzelnen BFH v. 27.7.2015 – GrS 1/14, BStBl. II 2016, 265. Mehrere in die häusliche Sphäre eingebundene Räume können als ein häusliches Arbeitszimmer anzusehen sein (BFH v. 26.3.2009 – VI R 15/07, BStBl. II 2009, 598), wenn die Räume eine funktionale Einheit bilden.
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§ 8 Rz. 256
Einkommensteuer
chen und beruflichen Betätigung“498, nach der sich bei Bejahung der Arbeitszimmereigenschaft die Höhe des Abzugs richtet. Zur Abzugsfähigkeit von Arbeitszimmer-Drittaufwand s. Rz. 227. Geklärt ist nach ist nach der Entscheidung BFH GrS 1/14499, dass auch nach Aufgabe des Aufteilungs- und Abzugsverbots durch BFH GrS 1/06 (s. Rz. 242 ff.) Voraussetzung für den Abzug die ausschließliche oder nahezu ausschließliche betriebliche oder berufliche Nutzung des Arbeitszimmers ist. Der GrS begründet, gemischt genutzte bzw. nur zeitweise genutzte Räume („Arbeitsecke“) seien keine häuslichen Arbeitszimmer i.S.v. § 4 V 1 Nr. 6b EStG; ein Rückgriff auf allgemeine Grundsätze des Abzugs von Betriebsausgaben/Werbungskosten scheide aus. Dagegen ist einzuwenden, dass Anteile privater und erwerbswirtschaftlicher Nutzung anhand objektiver Krierien abgrenzbar sind. Eine enge Auslegung des Begriffs des häuslichen Arbeitszimmers führt unter dem Gesichtspunkt des objektiven Nettoprinzips zu willkürlichen Ergebnissen. Stpfl. werden bei gleicher erwerbswirtschaftlicher Veranlassung je nach der baulichen Situation ihrer Wohnung unterschieldich behandelt. Problematisch ist allein, dass entsprechende Abgaben des Stpfl. schwer nachprüfbar sind, so dass sie insofern als im Sinne von BFH 1/06 nicht objektivierbar angesehen werden könnten. Möglich ist aber die Aufteilung im Wege der Schätzung unter Berücksichtigung des Umfangs beruflicher Tätigkeit. Die Entscheidung ist ersichtlich vom Missbrauchsvemeidungszweck des § 4 V 1 Nr. 6b EStG getragen. Allerdings ist diesem bereits durch die Beschränkung des Aufwands auf Fälle, in denen kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung steht, Rechnung getragen500. Ohne weiteres mit BFH GrS 1/06 vereinbar ist dagegen der Ausschluss eines anteiligen Abzugs gemischt genutzter Nebenräume (Küche, Bad) des häuslichen Arbeitszimmers, da diese untrennbar mit der privaten Lebensführung verbunden sind501.
2.3.4 Berufsverbände 256 Beiträge an Berufsverbände sind als Betriebsausgaben/Werbungskosten abziehbar, wenn der Berufs-
verband nach seiner Satzung Ziele verfolgt, welche die Erhaltung und Fortentwicklung des Betriebes/ der Erwerbstätigkeit betreffen und die tatsächliche Geschäftsführung des Verbandes mit den satzungs-
498 Der Mittelpunkt i.S.d. § 4 V 1 Nr. 6b Satz 2 EStG bestimmt sich nach dem qualitativen Schwerpunkt der Erwerbstätigkeit (BFH v. 6.7.2005 – XI R 87/03, BStBl. II 2006, 18 [19]; v. 15.3.2007 – VI R 65/05, BFH/NV 2007, 1133 [1134]). Wo er liegt, kann nur im Wege einer umfassenden Wertung der Gesamttätigkeit festgestellt werden (BFH v. 16.12.2004 – IV R 19/03, BStBl. II 2005, 212 [214]; v. 15.3.2007 – VI R 65/05, BFH/NV 2007, 1133 [1134]). Qualitativ liegt der Schwerpunkt einer Betätigung dort, wo der Stpfl. die Handlungen vornimmt u. Leistungen erbringt, die für den konkret ausgeübten Beruf wesentlich u. prägend sind. Der zeitliche Umfang der Arbeitszimmernutzung hat nur indizielle Bedeutung. Daher kann das Arbeitszimmer selbst dann noch Mittelpunkt sein, wenn die außerhäusliche Tätigkeit überwiegt (BFH v. 6.7.2005 – XI R 87/03, BStBl. II 2006, 18 [19] m.w.N.). Übt der Stpfl. mehrere Tätigkeiten aus, so muss die Gesamtheit aller Tätigkeiten ihren qualitativen Schwerpunkt im häuslichen Arbeitszimmer haben (BFH v. 13.10.2003 – VI R 27/02, BStBl. II 2004, 771; v. 1.7.2004 – V R 33/01, BStBl. II 2004, 861); Noch enger fasst der BFH im Fall eines Richters (BFH v. 8.12.2011 – VI R 13/11, BStBl. II 2012, 236) oder eines Hochschullehrers (BFH v. 27.10.2011 – VI R 71/10, BStBl. II 2012, 234), dass es darauf ankommt, wo die das Berufsbild prägende Tätigkeit ausgeübt wird. Beim Hochschullehrer sei dies die Lehre, die in der Hochschule stattfinde, beim Richter das Gericht. 499 BFH v. 27.7.2015 – GrS 1/14, BStBl. II 2016, 265; im Anschluss BFH v. 13.12.2016 – X R 18/12, BStBl. II 2017, 450; grds. zustimmend Heger, DB 2016, 249; krit. Kempermann, FR 2016, 317; Spilker, NJW 2016, 842; Georg, DStR 2016, 1353; Kanzler, NWB 2016, 1071; zur willkürlichen Wirkung der Entscheidung Urban, DStZ 2016, 747. Rechtsvergleichend (Österreich) Renner, SWI 2016, 321; Kühbacher, SWI 2016, 316. 500 Dies wird deutlich anhand der im Anschluss negativ entschiedenen Fälle BFH v. 17.2.2016 – X R 32/11, BStBl. II 2016, 708; v. 22.3.2016 – VIII R 10/12, BStBl. II 2016, 881; v. 22.3.2016 – VIII R 24/12, BStBl. II 2016, 884; v. 8.9.2016 – III R 62/11, BStBl. II 2017, 163. In Betracht kommt ein vollständiger Ausschluss lediglich, wenn die erwerbswirtschaftliche Nutzung von ganz untergeordneter Bedeutung (unwesentlich) ist, was häufig bei Nutzung für die Verwaltung privater Vermietungsobjekte der Fall sein dürfte; in diese Richtung auch Heger, DB 2016, 249 (250). 501 Deshalb zutreffend BFH v. 17.2.2016 – X R 26/13, BStBl. II 2016, 611.
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2.3 Besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen
Rz. 258 § 8
mäßigen Zielen übereinstimmt502. Die wesentliche Veranlassung der Beiträge durch die Berufstätigkeit des Stpfl. ist notwendiger Inhalt der Begriffe „Berufsstände“ und „Berufsverbände“ in § 9 I 3 Nr. 3 EStG, so dass diese Vorschrift keine unterschiedliche Rechtslage bei Überschuss- und Gewinneinkünften schafft. Berufsverbände (oder allg. ausgedrückt: Erwerbsverbände) sind z.B. Handwerks-, Steuerberater-, Rechtsanwaltskammern, Beamtenbund, Hochschulverband, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Gewerkschaften, Haus- und Grundbesitzerverein. Beiträge an parteinahe Berufsverbände sind nur dann als Erwerbsaufwendungen abziehbar, wenn der Verband spezifisch berufliche Interessen nicht nur nach seiner Satzung vertritt, sondern wenn der Verband die beruflichen Interessen der Beitragszahler auch tatsächlich wahrnimmt503. Werden hingegen im Wesentlichen tatsächlich allgemeinpolitische Ziele verfolgt, so sind die Beiträge als Aufwendungen zur Förderung staatspolitischer Zwecke zu qualifizieren, die nach den §§ 4 VI; 9 V 1 EStG weder Betriebsausgaben noch Werbungskosten sind504.
2.3.5 Bewirtung Die §§ 4 V 1 Nr. 2; 9 V EStG begrenzen den Betriebsausgaben-/Werbungskostenabzug von Aufwen- 257 dungen für die Bewirtung von Personen aus geschäftlichem Anlass auf einen angemessenen Betrag und schließen davon 30 % vom Steuerabzug aus505. Die Bewirtung von Arbeitnehmern ist nicht geschäftlich, sondern allgemein betrieblich veranlasst (R 4.10 VII EStR 2012). In diesem Fall unterliegen die Bewirtungskosten nicht der Abzugsbeschränkung des § 4 V 1 Nr. 2 i.V.m. § 9 V EStG. Der Steuerabzug von Bewirtungskosten kann auch nicht variabel erfolgsabhängig entlohnten (leitenden) Arbeitnehmern zustehen, wenn diese Mitarbeiter bewirten506. Der BFH erkennt mittlerweile richtig, dass es ausreicht, wenn die Aufwendungen durch die Tätigkeit veranlasst sind, ohne dass sie erfolgswirksam werden müssen (s. auch Rz. 230). 2.3.6 Doppelte Haushaltsführung: Abziehbar sind notwendige Mehraufwendungen, die einem Arbeitnehmer wegen einer aus berufli- 258 chem Anlass begründeten doppelten Haushaltsführung507 entstehen, und zwar unabhängig davon, aus welchen Gründen die doppelte Haushaltsführung beibehalten wird508 (§ 9 I 3 Nr. 5 Satz 1 EStG).
502 BFH v. 18.9.1984 – VIII R 324/82, BStBl. II 1985, 92; v. 7.6.1988 – VIII R 76/85, BStBl. II 1989, 97. 503 So BFH v. 13.8.1993 – VI R 51/92, BStBl. II 1994, 33 (Wirtschaftsrat der CDU), im Anschluss an BFH v. 7.6.1988 – VIII R 76/85, BStBl. II 1989, 97; v. 21.9.1989 – IV R 28/89, BFH/NV 1990, 360. 504 Dabei mag dahinstehen, ob sie der Erwerbssphäre zuzurechnen sind (dies verneint BFH v. 13.8.1993 – VI R 51/92, BStBl. II 1994, 33 [34]). 505 Dazu R 4.10 V–IX EStR 2012; Leisner-Egensperger, FR 2006, 705; Leisner-Egensperger, FR 2010, 673 (Folgerungen aus der Aufgabe des Aufteilungsverbots); HHR/Stapperfend, § 4 EStG Anm. 1180 ff. (2016). 506 Grds. BFH v. 11.1.2007 – VI R 52/03, BStBl. II 2007, 317 (Kommandoübergabe/Verabschiedung in den Ruhestand); v. 24.5.2007 – VI R 78/04, BStBl. II 2007, 721 (Außendienstmitarbeiter). Im Weiteren: v. 1.2.2007 – VI R 25/03, BStBl. II 2007, 459 (Gartenfest eines angestellten Geschäftsführers; ausf. zur Anwendung des § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG); v. 12.4.2007 – VI R 77/04, BFH/NV 2007, 1643; v. 19.6.2008 – VI R 33/07, BStBl. II 2009, 11 (Forschungsleiter, wo zu Unrecht dem Umstand, dass die Bezüge variabel waren, Bedeutung beigemessen wird); weitere Nachw. unter dem Gesichtspunkt gemischter Veranlassung s. Rz. 242 Fn. 462 a.E. 507 Dazu grds. Söhn, StuW 1983, 193; Söhn, FR 1984, 25 (Wegverlegung des Familienwohnsitzes). Einzelheiten: HHR/Bergkemper, § 9 EStG Anm. 489 ff. (2014); Gunsenheimer, SteuerStud 2010, 12; Blümich/ Thürmer, § 9 EStG Rz. 325 ff. (2016); Schmidt/Loschelder36, § 9 EStG Rz. 220 ff.; Kirchhof/Oertel17, § 9 EStG Rz. 99 ff. 508 Nachdem BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, BVerfGE 107, 27 (51 f.: Kettenabordnung; 53 f.: Doppelverdienerehe), die Befristung des Steuerabzugs auf zwei Jahre als unvereinbar mit Art. 3 I; 6 I GG erkannte, hat der Gesetzgeber durch StÄndG 2003 die mit JStG 1996 eingeführte Zweijahresfrist gestrichen und den bis 1995 geltenden Rechtszustand wieder hergestellt.
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§ 8 Rz. 259
Einkommensteuer
Eine privat veranlasste Wegverlegung des Wohnsitzes vom Beschäftigungsort steht der beruflichen Veranlassung der doppelten Haushaltsführung nicht entgegen509. § 9 I 3 Nr. 5 EStG ist nicht nur bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, sondern auch bei den übrigen Überschusseinkünften (§ 9 III EStG) sowie gem. § 4 V 1 Nr. 6a EStG bei den Gewinneinkünften anwendbar. Die Erstattung von Mehraufwendungen wegen doppelter Haushaltsführung ist nach § 3 Nr. 13, 16 EStG nur im Rahmen des § 9 I 3 Nr. 5 EStG steuerfrei. Die auf Arbeitnehmer bezogenen Steuerbefreiungen des § 3 Nr. 13, 16 EStG lassen die Erstattungen außerhalb der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit ungeregelt510. 259 Eine doppelte Haushaltsführung i.S.d. § 9 I 3 Nr. 5 Satz 2 EStG liegt vor, wenn der Stpfl. außerhalb
des Ortes seiner ersten Tätigkeitsstätte (§ 9 IV EStG) einen eigenen Hausstand unterhält und am Ort der ersten Tätigkeitsstätte eine Zweitwohnung innehat. Entscheidend ist, ob der Stpfl. bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen an einem vom Beschäftigungsort abweichenden Ort unterhält511. Voraussetzung eines eigenen Hausstandes ist ab dem VZ 2014 sowohl das Innehaben der Wohnung als auch die finanzielle Beteiligung an den Kosten der Lebensführung. Einen „eigenen Hausstand“ i.S.d. § 9 I 3 Nr. 5 Satz 2 EStG können entgegen früherer Rspr.512 auch Unverheiratete begründen, wenn sie einen Haushalt gemeinsam führen513. Kinder können mit ihren Eltern einen gemeinsamen eigenen Hausstand begründen (Mehrgenerationenhaushalt514), soweit sie nachweislich mehr als 10 % zu den laufenden Kosten der Haushaltsführung beitragen515. Bei verheirateten Arbeitnehmern bejaht der BFH für jeden Ehegatten doppelte Haushaltsführung, wenn beide Ehegatten auswärts beschäftigt sind516. 260 I.E. abziehbar sind Verpflegungsmehraufwendungen für die ersten drei Monate (§ 4 V Satz 1 Nr. 5 Satz 2 i.V.m. § 9 IVa Sätze 6, 7 EStG, Begrenzung verfassungsgemäß517); Fahrtkosten wegen Wohnungswechsels zu Beginn und am Ende der doppelten Haushaltsführung (R 9.11 VI Nr. 1 LStR 2015); Umzugskosten (R 9.9 LStR 2015); Telefonkosten (s. Rz. 275). Der Abzug der nachgewiesenen tatsächlichen Kosten einer Unterkunft im Inland ist ab 2014 auf 1 000 Euro pro Monat begrenzt (§ 9 I 3 Nr. 5 Satz 4 EStG). Eingeschlossen sind Nebenkosten der Unterkunft wie Reinigung, Garage, Zweitwohnungsteuer etc.; eine Angemessenheitsprüfung findet innerhalb des Höchstbetrages nicht mehr statt. Aufwendungen für eine Familienheimfahrt wöchentlich können nach § 9 I 3 Nr. 5 Sätze 5–8 EStG (s. Rz. 271) abgezogen werden; nicht dagegen für die Fahrt zum Beschäftigungsort des anderen Ehegatten518.
509 So zunächst BFH v. 30.10.2008 – VI R 10/07, BStBl. II 2009, 153 (beiderseits berufstätige Ehegatten) u. sodann grds. v. 5.3.2009 – VI R 58/06, BStBl. II 2009, 1012 u. v. 5.3.2009 – VI R 23/07, BStBl. II 2009, 1016 (dazu krit. Paus, DStZ 2009, 472) entgegen der bisherigen st. Rspr. (BFH v. 14.2.1975 – VI R 125/74, BStBl. II 1975, 607; v. 2.12.1981 – VI R 167/79, BStBl. II 1982, 297). 510 S. aber BFH v. 8.10.2008 – VIII R 58/06, BStBl. II 2009, 405 für einen Kreistagsabgeordneten. 511 BFH v. 8.10.2014 – VI R 16/14, BStBl. II 2015, 511 mit Anm. Geserich, NWB 2015, 400. 512 BFH v. 10.10.1991 – VI R 44/90, BStBl. II 1992, 237. 513 Dazu BFH v. 5.10.1994 – VI R 62/90, BStBl. II 1995, 180; v. 15.3.2007 – VI R 31/05, BStBl. II 2007, 533; v. 9.8.2007 – VI R 10/06, BStBl. II 2007, 820. Allerdings gelten strengere Maßstäbe für die Annahme eines eigenen Hausstandes in der Wohnung des nichtehelichen Partners. 514 BFH v. 16.1.2013 – VI R 46/12, BStBl. II 2013, 627; v. 26.7.2012 – VI R 10/12, BStBl. II 2013, 208. 515 BMF v. 24.10.2014 – IV C 5-S 2353/14/10002, BStBl. I 2014, 1412, Rz. 100. 516 BFH v. 6.10.1994 – VI R 136/89, BStBl. II 1995, 184; Lebenspartner: v. 8.10.2014 – VI R 16/14, BStBl. II 2015, 511. 517 BFH v. 8.7.2010 – VI R 10/08, BStBl. II 2011, 32; v. 8.7.2010 – VI R 15/09, BStBl. II 2011, 47 m. Anm. Paus, FR 2011, 519. 518 BFH v. 2.2.2011 – VI R 15/10, BStBl. II 2011, 456; zuletzt v. 22.10.2015 – VI R 22/14, BStBl. II 2016, 179.
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2.3 Besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen
Rz. 262 § 8
2.3.7 Fahrten zwischen Wohnung und Erwerbsstätte Fahrten zwischen Wohnung und Tätigkeitsstätte werden nach deutschem Rechtsverständnis der Er- 261 werbssphäre zugeordnet519. Zwar räumt das BVerfG dem Gesetzgeber im Hinblick auf die gemischte Veranlassung dieser Aufwendungen Gestaltungsspielraum ein520. Solange der Gesetzgeber die Fahrtkosten zum Abzug zulässt, muss die Regelung jedoch folgerichtig ausgestaltet sein. Nicht sachlich begründete Einschränkungen, wie sie durch StÄndG 2007 in Form des Ausschlusses der Kosten für die ersten 20 Entfernungskilometer angeordnet wurden, sind mit dem allgemeinen Gleichheitssatz unvereinbar und können auch nicht durch Einführung eines „Werkstorprinzips“ gerechtfertigt werden521. Daraufhin hat der Gesetzgeber die vor dem StÄndG 2007 geltende Rechtslage restituiert522, so dass Aufwendungen wieder ab dem 1. Entfernungskilometer geltend gemacht werden können. Hieran hält auch die zum VZ 2014 in Kraft getretene Reform des steuerlichen Reisekostenrechts523 262 fest. Die Reform soll in erster Linie Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen begrenzt abzugsfähigen Pendleraufwendungen und voll abzugsfähigen Reisekosten beseitigen, die sich in der Vergangenheit am Tatbestandsmerkmal der regelmäßigen Arbeitsstätte entzündeten. Hierzu hat der Gesetzgeber das Tatbestandsmerkmal der „ersten Tätigkeitsstätte“524 eingeführt, um die Rechtsanwendung bei mehreren bzw. wechselnden Einsatzorten und der Abordnung von Arbeitnehmern zu vereinfachen525. Unterschieden wird ab VZ 2014 zwischen erster Tätigkeitsstätte und weiteren Tätigkeitsstätten. § 9 IV EStG definiert die erste Tätigkeitsstätte als ortsfeste betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers oder eines Dritten, welcher der Arbeitnehmer dauerhaft (unbefristet oder über einen Zeitraum von 48 Monaten hinaus) zugeordnet ist. Mit der Entfernungspauschale abgegolten sind nur Aufwendungen für die Wege zur ersten Tätigkeitsstätte (s. § 9 I 3 Nr. 4 Satz 1, Nr. 4a i.V.m. § 9 IV EStG). Bei mehreren Tätigkeitsstätten (z.B. tageweiser Einsatz in verschiedenen Filialen) bestimmt der Arbeitgeber frei, welche betriebliche Einrichtung erste Tätigkeitsstätte ist bzw. es gilt der der Wohnung nächstgelegene Einsatzort als erste Tätigkeitsstätte (§ 9 IV 6, 7 EStG). § 9 IV 8 EStG fingiert mit der Folge beschränkter Abzugsfähigkeit als erste Tätigkeitsstätte auch Bildungseinrichtungen, die für ein Vollzeitstudium aufgesucht werden. § 9 I 3 Nr. 4 EStG räumt pro Arbeitstag, an dem die erste Tätigkeitsstätte aufgesucht wird, den Steuerabzug einer Entfernungspauschale von 0,30 Euro für jeden vollen Kilometer ein. Maßgeblich ist die kürzeste Straßenverbindung; eine längere Straßenverbindung kann zugrundegelegt werden, wenn sie offensichtlich verkehrsgünstiger ist (§ 9 I 3 Nr. 4 Satz 4 EStG). Die Entfernungspauschale wird verkehrsmittelunabhängig, also nicht nur Kfz-Nutzern, sondern auch Nutzern öffentlicher Verkehrsmittel gewährt. § 9 I 3 Nr. 4 Satz 2 Hs. 1 EStG begrenzt den pauschalen Steuerabzug auf einen Höchst519 Dazu Hans, ZRP 2003, 385; Hennrichs, BB 2004, 584; Wesselbaum-Neugebauer, FR 2004, 385; Tipke, BB 2007, 1525; Wesselbaum-Neugebauer, FR 2009, 746 (Typisierungsmöglichkeiten); dagegen aus österreichischer Sicht Molterer, ÖStZ 2014, 478. Zur Rechtslage in den USA Beck, StuW 2007, 78. 520 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (242). 521 Dazu 21. Aufl. Rz. 261 f.; ferner Lehner, DStR 2009, 185; Odenthal/Seifert, DStR 2009, 201; Tipke, JZ 2009, 533; Weber-Grellet, DStR 2009, 349; Morgenthaler/Fritzen, JZ 2010, 287. 522 Gesetz zur Fortführung der Gesetzeslage 2006 bei der Entfernungspauschale v. 20.4.2009, BGBl. I 2009, 774; dazu BMF v. 31.10.2013 – IV C 5 - S 2351/09/10002:002, BStBl. I 2013, 1376 (1376 ff.). 523 Gesetz zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts v. 20.2.2013, BGBl. I 2013, 285 (dazu Niermann, DB 2013, 1015; Scheeler, Die Reform des steuerlichen Reisekostenrechts 2014) mit Anwendungsschreiben BMF v. 30.9.2013 – IV C 5 - S 2353/13/10004, BStBl. I 2013, 1279 (dazu Niermann DB 2013, 2357; Bergkemper, FR 2013, 1017; Seifert, DStZ 2014, 13; Rolfes, StuB 2014, 103; Wirfler, DStR 2013, 2660); ersetzt durch BMF v. 24.10.2014 – IV C 5 - S 2353/14/10002, BStBl. I 2014, 1412 (dazu Niermann, DB 2014, 2793). Speziell zu den Auswirkungen im Rahmen der Entfernungspauschale Rolfes, StuB 2014, 103; sehr krit. Thomas, DStR 2014, 497. Zu aktuellen Entwicklungen Seifert, NWB 2016, 3253. 524 Hierzu Schramm/Harder-Buschner, NWB 2014, 26. 525 Das umfangreiche Anwendungsschreibens BMF v. 24.10.2014 – IV C 5-S 2353/14/10002, BStBl. I 2014, 1412, begründet Zweifel, ob die Vereinfachung gelungen ist.
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§ 8 Rz. 263
Einkommensteuer
betrag von 4 500 Euro pro Kalenderjahr; dieser gilt nicht für Kfz-Nutzer (§ 9 I 3 Nr. 4 Satz 2 Hs. 2 EStG). Die Entfernungspauschale gilt nicht für Flugstrecken (verfassungskonform526) und Strecken mit steuerfreier Sammelbeförderung nach § 3 Nr. 32 EStG; in diesen Fällen sind die tatsächlichen Kosten anzusetzen (§ 9 I 3 Nr. 4 Satz 3 EStG). Ebenso können Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel und Schwerbehinderte die tatsächlichen Kosten absetzen (§ 9 II 3 EStG). Die verkehrsmittelabhängige Differenzierung von Pausch- und Höchstbeträgen mag gleichheitsrechtlich hinnehmbar sein527, macht die Vorschrift aber unnötig unübersichtlich. Durch die Entfernungspauschale sind sämtliche Aufwendungen abgegolten (§ 9 II 1 EStG). Abzulehnen ist allerdings eine Auslegung, nach der auch außergewöhnliche Kosten (Unfallkosten, Motorschaden infolge einer Falschbetankung) von der Abgeltungswirkung erfasst sind. Da es sich hierbei gerade nicht um Massenerscheinungen handelt, ist eine Abgeltung durch den Vereinfachungszweck nicht geboten528. Für Gewinneinkünfte ist § 9 I 3 Nr. 4 EStG entsprechend anzuwenden (§ 4 V 1 Nr. 6 Satz 2 EStG)529; an die Stelle der Tätigkeitsstelle tritt bei Unternehmern die Betriebsstätte530. 2.3.8 Fort- und Ausbildung 263 Während Fortbildungskosten531 grds. voll abzugsfähig sind, können notwendige Ausbildungskosten
gem. §§ 10 I Nr. 7; 12 Nr. 5; 4 IX; 9 VI EStG nur eingeschränkt geltend gemacht werden. Allen politischen Bekenntnissen zur Bildungsrepublik zum Trotz weigert sich der Steuergesetzgeber beharrlich, Bildungsaufwendungen als vorab entstandene Erwerbsaufwendungen anzuerkennen. Dabei hat sich das Thema mittlerweile zu einem Zankapfel par excellence zwischen Rspr. und Gesetzgebung entwickelt. Eine Entscheidung durch das BVerfG ist unausweichlich. Nachdem RFH und BFH die Aufwendungen der Berufsausbildung zunächst im Rahmen der sog. Lebenskampfthese der Privatsphäre zugeordnet hatten532, machte der BFH 2003 inspiriert von Drenseck533 eine Kehrtwende534. Seither geht der BFH von vorab entstandenen Erwerbsaufwendungen aus, wenn Bildungs526 BFH v. 26.3.2009 – VI R 42/07, BStBl. II 2009, 724 (725 f.). 527 BFH v. 15.11.2016 – VI R 4/15, BStBl. II 2017, 228 (229 f.); zur Berechnung je nach Verkehrsmittel v. 31.10.2013 – IV C 5-S 2351/09/10002:002, BStBl. I 2013, 1376, Rz. 1.6. 528 Wie hier Schmidt/Loschelder36, § 9 EStG Rz. 290; a.A. BFH v. 20.3.2014 – VI R 29/13, BStBl. II 2014, 849 (m. Anm. Schneider, NWB 2014, 2078). 529 Hierzu BMF v. 23.12.2014 – IV C-6-S2145/10/10005, BStBl. I 2015, 26; dazu Seifert, StuB 2015, 294. 530 Zum Betriebsstättenbegriff in § 4 V 1 Nr. 6 BFH v. 22.10.2014 – X R 13/13, BStBl. II 2015, 273; v. 23.10.2014 – III R 19/13, BStBl. II 2015, 323. 531 Lit.: Söhn, StuW 2002, 97 (Berufsausbildungs-/Fortbildungskosten); Müller, Aufwendungen für Ausu. Fortbildung, Diss., 2003; Drenseck, DStR 2004, 1766; Ismer, Bildungsaufwand im Steuerrecht, Diss., 2006; Ortmann, Die Steuerabzugsfähigkeit von Ausbildungsaufwendungen, Diss., 2006; Fehr, DStR 2007, 882 (Aufwendungen für ein Studium); Müller-Franken, DStZ 2007, 59 (Bildungsaufwand); Seitz, FR 2007, 688 (postgraduales Studium); Steck, DStZ 2008, 365 (Dienstverhältnis); Johenning, Bildungsaufwendungen im Einkommensteuerrecht, Diss., 2009; Weitemeyer/Süß, NJW 2011, 2844 (Studiengebühren); Lampert/Betzinger/Kepper, SteuerStud 2012, 707; Herrler, SteuerStud 2014, 21; Kreft, SteuerStud 2014, 599. 532 RFH v. 24.6.1937 – IV A 20/36, RStBl. 1937, 1089 (1090); BFH v. 6.3.1952 – IV 28/52, BStBl. III 1952, 280. 533 Drenseck, StuW 1999, 3 (grundl. zu Bildungsaufwendungen im Einkommensteuerrecht). 534 BFH v. 4.12.2002 – VI R 120/01, BStBl. II 2003, 403; v. 17.12.2002 – VI R 137/01, BStBl. II 2003, 407; v. 13.2.2003 – IV R 44/01, BStBl. II 2003, 698; v. 29.4.2003 – VI R 86/99, BStBl. II 2003, 749; v. 27.5.2003 – VI R 33/01, BStBl. II 2004, 884; v. 22.7.2003 – VI R 137/99, BStBl. II 2004, 888; v. 22.7.2003 – VI R 50/02, BStBl. II 2004, 889; v. 13.10.2003 – VI R 71/02, BStBl. II 2004, 890; v. 27.5.2003 – VI R 85/02, BStBl. II 2005, 202 und v. 30.9.2008 – VI R 4/07, BStBl. II 2009, 111 (Verkehrsflugzeugführerschein); v. 20.7.2006 – VI R 26/05, BStBl. II 2006, 764 (Studium nach Abitur). Der BFH stellt auf einen „hinreichend konkreten, objektiv feststellbaren Zusammenhang mit künftigen steuerbaren Einnahmen aus einer beruflichen Tätigkeit“ ab (BFH v. 4.12.2002 – VI R 120/01, BStBl. II 2003, 403; v. 27.5.2003 – VI R 33/01, BStBl. II 2004, 884; v. 20.7.2006 – VI R 26/05, BStBl. II
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2.3 Besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen
Rz. 264 § 8
aufwendungen in einem hinreichend konkreten, objektiv feststellbaren Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit stehen (s. Rz. 233). Damit können auch Kosten einer ersten Berufsausbildung/eines Erststudiums abzugsfähig sein. Der Gesetzgeber reagierte prompt mit einem Nichtanwendungsgesetz535, indem er ab 2004 Aufwendungen des Stpfl. für seine erstmalige Berufsausbildung und für ein Erststudium in § 12 Nr. 5 EStG a.F. den nichtabziehbaren Privataufwendungen zuordnete, so dass derartige Aufwendungen nur noch als Sonderausgaben für die eigene Berufsausbildung nach § 10 I Nr. 7 EStG (s. Rz. 715) abgezogen werden konnten. Liegen im Ausbildungsjahr keine eigenen stpfl. Einkünfte vor, läuft der Abzug leer. Der BFH beugte sich nicht und interpretierte § 12 Nr. 5 a.F. EStG dahingehend, dass die Vorschrift bei Einordnung der Aufwendungen als Erwerbsaufwendungen nicht eingreife, da der Einleitungssatz zu § 12 EStG dessen Subsidiarität anordne536. § 12 Nr. 5 EStG a.F. enthalte kein Abzugsverbot für Erwerbsaufwendungen. § 12 Nr. 5 EStG komme nur dann Bedeutung zu, wenn Bildungsaufwendungen nicht in hinreichend konkretem Veranlassungszusammenhang mit einer gegenwärtigen oder zukünftigen Erwerbstätigkeit stehen. Ein entgegenstehender Wille des Gesetzgebers bilde sich nicht hinreichend im Gesetzestext ab. Um dieser dem Nettoprinzip verpflichteten Interpretation den Boden zu entziehen, ordnete der Gesetzgeber wortgleich mit § 12 Nr. 5 EStG a.F. in §§ 4 IX; 9 VI EStG ausdrückliche Abzugsverbote für die Aufwendungen für eine erste Berufsausbildung/Erststudium an, soweit diese nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses getätigt werden537. Gefolgt ist der Gesetzgeber dem BFH538 insofern als Aufwendungen für ein Erststudium oder eine weitere Berufsausbildung nach einer abgeschlossenen nichtakademischen Berufsausbildung abzugsfähig sind, ohne, dass es darauf ankommt, ob das Studium der Weiterqualifikation in dem erlernten Beruf dient539. Zunichte gemacht hat der Gesetzgeber die Versuche der Rspr.540 durch extensive Interpretation des Begriffs der Erstausbildung den Anwendungsbereich des Abzugsverbots einzuschränken, indem er ab VZ 2015 zur Voraussetzung einer Erstausbildung eine geordnete Ausbildung mit einer Mindestdauer von 12 Monaten macht (§ 9 VI 2–5 EStG). Die Anhebung des Sonderausgabenabzugs in § 10 I Nr. 7 EStG für VZ ab 2012 von 4 000 auf 6 000 Euro stellt keine Kompensation dar, da sie sich nur bei eigenem steuerpflichtigem Einkommen auswirkt und ein Vortrag in Folgejahre nicht möglich ist541.
Es stellt sich die Frage nach der Verfassungskonformität der nunmehr in §§ 4 IX; 9 VI EStG angeord- 264 neten expliziten Abzugsverbote. Der BFH ist uneins in dieser Frage. Nach Auffassung des VIII. Senats542 handelt es sich um eine realitätsgerechte Typisierung, deren rückwirkende Anwendung mit dem Vertrauensschutzprinzip vereinbar ist. Der VI. Senat543 hat dagegen zu Recht erhebliche gleichheitsrechtliche Bedenken und hat das BVerfG angerufen544. Ein inhaltlicher Grund für die erneute
535 536
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2006, 764) u. knüpft damit an den Wortlaut des § 9 I 1 EStG an. Indessen fordert die inhaltgleiche Interpretation des Betriebsausgaben- u. Werbungskostenbegriffs den Veranlassungszusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit (s. Rz. 233). Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und weiterer Gesetze v. 21.7.2004, BGBl. I 2004, 1753. BFH v. 18.6.2009 – VI R 14/07, BStBl. II 2010, 816; v. 28.7.2011 – VI R 8/09, BFH/NV 2011, 2038; v. 28.7.2011 – VI R 59/09, BFH/NV 2012, 19; v. 15.9.2011 – VI R 22/09, BFH/NV 2012, 26; v. 15.9.2011 – VI R 15/11, BFH/NV 2012, 27; v. 28.7.2011 – VI R 5/10, BStBl. II 2012, 553; v. 28.7.2011 – VI R 38/10, BStBl. II 2012, 561; v. 28.7.2011 – VI R 7/10, BStBl. II 2012, 557. Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2592. BFH v. 18.6.2009 – VI R 14/07, BStBl. II 2010, 816 (Buchhändlerin studiert Lehramt); v. 18.6.2009 – VI R 6/07, BFH/NV 2009, 1796 (Hotelfachfrau studiert Tourismus); v. 18.6.2009 – VI R 49/07, BFH/ NV 2009, 1799 (Koch studiert Hotelmanagement); dazu Paus, EStB 2009, 434; Steck, DStZ 2010, 194. So schon BMF v. 22.9.2010 – IV C 4-S 2227/07/10002:002, BStBl. I 2010, 721. BFH v. 27.10.2011 – VI R 52/10, BStBl. II 2012, 825 (Rettungssanitäter); v. 28.2.2013 – VI R 6/12, BStBl. II 2015, 180 (Flugbegleiterin). Abzugsfähigkeit nachlaufender gestundeter Studiengebühren R 10.9. II EStR 2012. Zur willkürlichen Wirkung des Sonderausgabenabzugs Neugebauer, FR 2015, 307 für Ausbildungskosten. BFH v. 5.11.2013 – VIII R 22/12, BStBl. II 2014, 165. BFH v. 17.7.2014 – VI R 2/12, BFHE 247, 25. Zustimmende Anm. Bergkemper, DB 2014, 2626 (2628); s. ferner Anzinger, DB 2011, Heft Nr. 35 M 10; Geserich, SteuK 2011, 513 (516 ff.) „Befugnis erscheint jedenfalls nicht schrankenlos“; Braun, Stbg.
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§ 8 Rz. 265
Einkommensteuer
Nichtanwendungsgesetzgebung wird nicht gegeben545. Es ging dem Gesetzgeber lediglich darum, das bereits 2004 mit Einführung von § 12 Nr. 5 EStG a.F. bezweckte Abzugsverbot gegen den BFH durchzusetzen. Auf ein legitimes Klarstellungsinteresse kann sich der Gesetzgeber aber nur dann berufen, wenn die Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips gerechtfertigt wäre. Die kategorische Zuordnung von Bildungsaufwendungen zur Privatsphäre ist willkürlich546. Insbesondere der vom BFH entschiedene Erwerb berufsspezifischer, im Alltag nicht einsetzbarer Fertigkeiten (Ausbildung zum Verkehrspiloten, Medizinstudium) lässt sich nicht als „Privatvergnügen“ abstempeln. Der Veranlassungszusammenhang zwischen Bildungsaufwendung und zukünftiger Erwerbstätigkeit ist hinreichend konkret; es handelt sich hierbei auch nicht um im Rahmen einer Typisierung zu vernachlässigende Einzelfälle. Vereinfachungsinteressen, die letztlich dem Abzug jedweder Erwerbsaufwendungen entgegen gehalten werden könnten, rechtfertigen das Abzugsverbot nicht. Die Abgrenzung zwischen betrieblich/beruflicher und privater Veranlassung ist nicht schwieriger als in vielen anderen Fällen. Ebenso wenig ist die Privilegierung im Rahmen eines Dienstverhältnisses getätigter Bildungsaufwendungen, z.B. verwaltungsinterner Studiengänge (§ 9 VI EStG), gerechtfertigt. 265 Die gesetzgeberische Bekräftigung des Abzugsverbots ist nicht nur steuersystematisch nicht zu rechtfertigen, sondern auch bildungspolitisch verfehlt. Den Bedürfnissen einer Wissensgesellschaft wird die Zuordnung zur Privatsphäre nicht gerecht. Wenn der Staat nicht für eine auskömmliche Bildungsfinanzierung Sorge trägt, und damit zunehmend (private) kostenpflichtige Bildungsangebote in Anspruch genommen werden müssen547, muss zumindest eine steuerliche Entlastung gewährt werden. Der BFH548 sieht daher zutr. den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bzgl. der Zuordnung dadurch begrenzt, dass es sich bei den Aufwendungen für den ersten Beruf/das Erststudium um zwangsläufigen Aufwand i.S.v. der Rspr. des BVerfG549 handelt, dem sich der Stpfl. nicht entziehen kann550. 266 Jenseits der vom Gesetzgeber willkürlich aus der Dogmatik vorweggenommener Erwerbsaufwendungen herausgeschnittenen Fälle erstmaliger Berufsausbildung und Erststudium gilt weiterhin die seit 2003 begründete Rspr. Danach sind Promotionskosten551 ebenso wie bisher Habilitationskosten552 regelmäßig als Erwerbsaufwendungen anzuerkennen. Auch Unterbringungskosten können als vorweggenommene Werbungskosten geltend gemacht werden, wenn der Studienort nicht der Lebensmittelpunkt ist553. Der BFH erkennt auch den Werbungskostenabzug von Kursen zur Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit554 und Seminaren zur Persönlichkeitsentfaltung555 im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalles an.
545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555
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2012, 65 (67 ff.); Wenzel, StB 2012, 278; Fuchsen, Stbg. 2013, 481; s. ausf. auch Johenning, Bildungsaufwendungen im Einkommensteuerrecht, Diss., 2009, 201–258; Holthaus, Die Berücksichtigung von Bildungskosten im Einkommensteuerrecht, Diss., 2011, 99–205; Meindl-Ringler, DStZ 2016, 308; dagegen D. Klein, DStR 2014, 776 (781): verfassungskonform. BT-Drucks. 17/7524. Ähnlich Geserich, SteuK 2011, 513 (516); a.A. J. Förster, DStR 2012, 486 (490 f.); Tappe, DStJG 40 (2017), 333 (345 f.). Zu unterschiedlichen Studienfinanzierungsmodellen (insb. nachgelagerte Studiengebühren) und ihren steuerlichen Auswirkungen Weitemeyer/Süß, NJW 2011, 2844. BFH v. 28.7.2011 – VI R 7/10, BStBl. II 2012, 557 (560). BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (234). Schneider, NWB 2011, 2841; Cropp/Schober, FR 2016, 837 (gute Gegenüberstellung der verschiedenen Positionen zur Figur des zwangsläufigen, pflichtbestimmten Aufwands). BFH v. 17.12.2002 – VI R 137/01, BStBl. II 2003, 407; v. 4.11.2003 – VI R 96/01, BStBl. II 2004, 891; Theisen/Zeller, DB 2003, 1753; Schießl, DStZ 2004, 119; Wulff, DStR 2004, 799; so auch BMF v. 22.9.2010 – IV C 4-S 2227/07/10002:002, BStBl. I 2010, 721, Rz. 26. BFH v. 7.8.1967 – VI R 25/67, BStBl. II 1967, 778. BFH v. 19.12.2012 – VI R 78/10, BStBl. II 2013, 284 (285). BFH v. 28.8.2008 – VI R 44/04, BStBl. II 2009, 106. BFH v. 28.8.2008 – VI R 35/05, BStBl. II 2009, 108.
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2.3 Besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen
Rz. 269 § 8
Im Grenzbereich zur Lebensführung bewegen sich Sprachkurse556 und der von Tipke557 dargelegte Bildungstourismus in Gestalt von Fachkongressen und Fortbildungsreisen558. Bei Sprachkursen im Ausland559 differenziert der BFH zwischen den Kursgebühren, die auch bei Erwerb lediglich allgemeinsprachlicher Kenntnisse bei entsprechender betrieblicher/beruflicher Veranlassung voll abzugsfähig sein können560 und den aufzuteilenden Reisekosten. I.Ü. ist im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls zu bestimmen, ob die Reise wesentlich durch die Erwerbstätigkeit veranlasst ist561. Ist dies z.B. bei einem Fachkongress grds. zu bejahen, so ist eine Aufteilung vorzunehmen, falls der Stpfl. zugleich auch touristische Zwecke verfolgt562.
267
Einstweilen frei.
268
2.3.9 Geschenke Geschenke563 sind nur im Rahmen der §§ 4 V 1 Nr. 1; 9 V 1 EStG abziehbar. Danach sind Geschenke 269 an Personen, die keine Arbeitnehmer des Stpfl. sind, nicht abziehbar, wenn die Anschaffungs-/Herstellungskosten aller Geschenke, die ein Empfänger im Wirtschaftsjahr erhalten hat, den Betrag von 35 Euro übersteigen (Abzugsgrenze)564. Voraussetzung des Abzugs von Geschenken bis zu 35 Euro ist die gesonderte Aufzeichnung nach § 4 VII EStG, s. Rz. 293. Die sinngemäße Anwendung des § 4 V 1 Nr. 1 EStG auf Werbungskosten nach § 9 V EStG stellt den leitenden Arbeitnehmer und den Unternehmer gleich, so dass Geschenke angestellter Chefärzte, Direktoren etc. an Mitarbeiter als Werbungskosten anzuerkennen sind, soweit sie zumindest teilweise beruflich veranlasst sind. Die Kosten von Incentive-Reisen für Geschäftspartner sind nach § 4 V 1 Nr. 1 EStG nicht abziehbar565. Aufwendungen des sog. Sponsoring sind regelmäßig keine Geschenke i.S.d. § 4 V 1 Nr. 1 EStG, da eine Gegenleistung vereinbart ist566. Schmiergelder: Rz. 299. Von der Abzugsfähigkeit beim Zuwendenden zu unterscheiden ist die nach allgemeinen Grundsätzen der Veranlassung zu beurteilende Frage, ob 556 Dazu BFH v. 10.4.2002 – VI R 46/01, BStBl. II 2002, 579: Ob zwischen dem Erwerb von Fremdsprachenkenntnissen und der beruflichen Tätigkeit ein konkreter Zusammenhang besteht, ist auf Grund einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls festzustellen. Zu unteilbaren Aufwendungen der Lebensführung: BFH v. 15.3.2007 – VI R 14/04, BStBl. II 2007, 814 (Deutschkurs einer mit einem deutschen Ehemann verheirateten Thailänderin; s. Beiser, DB 2007, 1720); BFH v. 23.11.2000 – VI R 38/97, BStBl. II 2001, 132 (Kosten eines in Deutschland arbeitenden Amerikaners für die englischsprachige Schule der Kinder); FG Nürnberg v. 23.4.2015 – 6 K 1542/14 (rkr.), EFG 2015, 2052 (Deutschvorkurs für Aufnahme eines Studiums). 557 StRO II2, 774 f. 558 Zu Fachkongressen in St. Anton (Arlberg) u. Mayrhofen (Zillertal) BFH v. 11.1.2007 – VI R 8/05, BStBl. II 2007, 457 (dazu Macher, DStZ 2007, 253); v. 29.11.2006 – VI R 36/02, BFH/NV 2007, 681 (Studienreise nach Israel); v. 22.7.2008 – VI R 2/07, BFH/NV 2008, 1837 (Werbungskosten bejaht für Kongress in Meran). 559 Hierzu BFH v. 19.12.2005 – VI R 63/01, BFH/NV 2006, 730; v. 19.12.2005 – VI R 89/02, BFH/NV 2006, 934; v. 19.12.2005 – VI R 65/04, BFH/NV 2006, 1075; v. 24.2.2011 – VI R 12/10, BStBl. II 2011, 796. Bei Aufwendungen für Sprachkurse im EU-Ausland (EuGH v. 28.10.1999 – C-55/98, ECLI:EU:C: 1999:533 – Vestergaard) bzw. den Besuch einer Universität im EU-Ausland (EuGH v. 20.5.2010 – C-56/09, ECLI:EU:C:2010:288 – Commissione tributaria provinciale die Roma) ist die Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EGV) zu beachten. 560 BFH v. 24.2.2011 – VI R 12/10, BStBl. II 2011, 796. 561 Vgl. z.B. BFH v. 9.1.2013 – VI B 133/12, BFH/NV 2013, 552. 562 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672; s. Rz. 243. 563 Abzugrenzen von Zugaben BFH v. 12.10.2010 – I R 99/09, BFH/NV 2011, 650. 564 Einzelheiten: R 4.10 II–IV EStR 2012. Zu Reformbedarf, insb. in der praktischen Handhabung, s. v. Wolfersdorff, Besteuerung von Sachzuwendungen im Geschäftsleben. Eine Reform tut not!, ifstSchrift Nr. 522 (2018). 565 BFH v. 23.6.1993 – I R 14/93, BStBl. II 1993, 806; BMF v. 14.10.1996 – IV B 2-S 2143-23/96, BStBl. I 1996, 1192. 566 Dazu BMF v. 18.2.1998 – IV B 2 - S 2144-40/98, BStBl. I 1998, 212; Thiel, DB 1998, 842 (844); s. ferner § 20 Rz. 9, 16.
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§ 8 Rz. 270
Einkommensteuer
das Geschenk beim Empfänger zu steuerbaren Einnahmen führt. In diesem Fall kann der Zuwendende gem. § 37b I 1 Nr. 2 EStG die Versteuerung durch den Empfänger mit diesen befreiender Wirkung (§ 37b III 1 EStG) pauschal übernehmen, s. auch Rz. 901. Allerdings soll nach BFH die übernommene Steuer die 35-Euro-Freigrenze reduzieren567. 2.3.10 Kleidung 270 Kleidung gehört zum existentiell unvermeidbaren Privatbedarf568. Daher sind Erwerbsaufwendungen
grds. nur Aufwendungen für typische Berufskleidung (vgl. § 9 I 3 Nr. 6 Satz 1 EStG), wie z.B. Aufwendungen für eine Uniform, eine Amtstracht, einen Schutzhelm569. Ausnahmsweise können jedoch auch die Mehraufwendungen für bürgerliche Kleidung als Betriebsausgaben/Werbungskosten berücksichtigt werden, wenn der Mehraufwand (insb. besonders hoher Verschleiß) nach objektiven Maßstäben zutreffend und in leicht nachprüfbarer Weise abgegrenzt werden kann570. 2.3.11 Kraftfahrzeugkosten 271 Kraftfahrzeugkosten sind bei gemischter Nutzung aufzuteilen, wobei unangemessene Kfz-Aufwendun-
gen nach Maßgabe der §§ 4 V 1 Nr. 7; 9 V 1 EStG auszuscheiden sind (s. Rz. 287 f.). Die gemischte Nutzung von Betriebs-/Dienstfahrzeugen ist in § 6 I Nr. 4 Sätze 2 und 3 EStG in Gestalt einer Pauschalierung der Privatnutzung geregelt571: Im Fall der privaten Nutzung von Betriebsfahrzeugen ist die Entnahme mit monatlich 1 % des inländischen Listenpreises im Zeitpunkt der Erstzulassung zuzüglich der Kosten für Sonderausstattungen inkl. der nach umsatzsteuerrechtlichen Maßstäben ermittelten USt572 anzusetzen, wenn das Kfz zu mehr als 50 % betrieblich genutzt wird (§ 6 I Nr. 4 Satz 2 EStG). Zur Förderung der Elektromobilität wird der Listenpreis von Elektro- und Hybridfahrzeugen um die Kosten des Batteriesystems gemindert angesetzt (§ 6 I Nr. 4 Satz 2 Hs. 2 EStG)573. Die 1 %-Regelung gilt auch für Dienstfahrzeuge, die Arbeitnehmer privat nutzen dürfen (§ 8 II 2 EStG)574. Dabei regeln 567 BFH v. 30.3.2017 – IV R 13/14, BStBl. II 2017, 892 (von der Finverw. zu Recht nicht angewendet). 568 Dazu grds. Tipke, StuW 1979, 202; Söhn, FR 1980, 301. 569 BFH v. 3.7.1959 – VI 60/57 U, BStBl. III 1959, 328 (Amtstracht); v. 4.2.1972 – VI R 256/68, BStBl. II 1972, 379 (Uniform); v. 9.3.1979 – V R 171/77, BStBl. II 1979, 519 (schwarzer Anzug des Oberkellners); v. 10.11.1989 – VI R 159/86, BFH/NV 1990, 288 (schwarzer Anzug eines Geistlichen). Keine typische Berufskleidung: BFH v. 6.12.1990 – IV R 65/90, BStBl. II 1991, 348; v. 6.12.1990 – IV R 133/88, BFH/NV 1991, 377 (Arztkleidung nur dann Berufskleidung, wenn außerberufliche Verwendung wegen funktionalen Charakters ausgeschlossen); v. 18.4.1991 – IV R 13/90, BStBl. II 1991, 751 (Konzertkleid); v. 20.3.1992 – VI R 55/89, BStBl. II 1993, 192 (klimabedingte Kleidung wegen Umzug in das Ausland); v. 23.10.1992 – VI R 31/92, BStBl. II 1993, 193 (Brille für Bildschirmtätigkeit); v. 19.1.1996 – VI R 73/94, BStBl. II 1996, 202 (Lodenmantel); FG Hamburg v. 26.3.2014 – 6 K 231/12, EFG 2014, 1377 (Business-Kleidung eines Rechtsanwalts, rkr.); zur Reinigung von Berufskleidung FG Nürnberg v. 24.10.2014 – 7 K 1704/13, EFG 2015, 1162 (rkr.). 570 Dazu insb. BFH v. 6.7.1989 – IV R 91-92/87, BStBl. II 1990, 49; a.A. für Kosten der Wäsche der Dienstkleidung Niedersächs. FG v. 10.12.2008 – 7 K 166/08, EFG 2010, 707; s. ferner Söhn, FR 1980, 301; KSM/Arndt, § 12 EStG Rz. B 150 (2002) (Kleidung); Schmidt/Loschelder36, § 9 EStG Rz. 268. 571 Dazu BMF v. 1.4.2011 – IV C 5 - S 2334/08/10010, BStBl. I 2011, 301; Kracht, SteuerConsultant 2009, 24; Balmes, BB 2011, 2263; Becker, StBp. 2011, 218 ff., 254 ff., 285 ff.; Moorkamp, SteuerStud 2011, 580; Thomas, DStR 2011, 1341; Urban, NJW 2011, 2465; Balmes, BB 2013, 2459. Die Nutzung eines betrieblichen Kfz ist durch die 1 %-Regelung nicht abgegolten, wenn das Kfz zur Erzielung von Überschusseinkünften genutzt wird (BFH v. 26.4.2006 – X R 35/05, BStBl. II 2007, 445; dazu Stahlschmidt, FR 2007, 457). 572 BFH v. 7.12.2010 – VIII R 54/07, BStBl. II 2011, 451; pauschaler Abschlag i.H.v. 20 % für die nicht mit Vorsteuer belasteten Ausgaben gem. A. 15.23 V 4 Nr. 1 Satz 3 UStAE. 573 BT-Drucks. 17/12375, 36 zum Gesetz v. 26.6.2013 BGBl. I 2013, 1809; hierzu Balmes, BB 2013, 215; krit. Schmidt/Kulosa36, § 6 EstG Rz. 520. 574 Die 1 %-Regelung ist nicht anzuwenden, wenn der Firmenwagen nicht privat genutzt wird (BFH v. 7.11.2006 – VI R 19/05, BStBl. II 2007, 116; v. 4.12.2012 – VIII R 42/09, BStBl. II 2013, 365) bzw.
416
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2.3 Besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen
Rz. 272 § 8
die Sätze 2–5 von § 8 II EStG lediglich die Bewertung, nicht dagegen die nach allgemeinen Grundsätzen vorzunehmende Abgrenzung zwischen privatem und erwerbswirtschaftlichem Aufwand575. Die 1 %-Regelung wird um vom Arbeitnehmer an den Arbeitgeber gezahlte Nutzungsentgelte sowie selbst getragene Treibstoffkosten gemindert576. Sie wird aufgestockt pro Entfernungskilometer bei Fahrten zwischen Wohnung und Erwerbsstätte um monatlich 0,03 % und bei Familienheimfahrten um 0,002 % des Listenpreises (§§ 4 V Nr. 6 Satz 3; 8 II 3 u. 5 EStG). Der Zuschlag von 0,03 % hängt von der tatsächlichen Nutzung des Dienstwagens für Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte ab577 und ist mit 0,002 % des Listenpreises pro Fahrt zu ermitteln578. Zudem beschränkt sich der Zuschlag auf eine Teilstrecke, wenn der Dienstwagen nur auf einem Teil des Weges zwischen Wohnung u. erster Tätigkeitsstätte eingesetzt wird579. Der Pauschalierung kann durch die sog. Escape-Klausel eines Fahrtenbuch-Nachweises entgangen werden (§§ 6 I Nr. 4 Satz 3; 8 II 4 EStG). In BMF-Schreiben v. 18.11.2009 ist niedergelegt, wie das Fahrtenbuch zu führen ist, dabei wird ein elektronisches Fahrtenbuch zugelassen580. Die Aufzeichnungen im Fahrtenbuch müssen eine hinreichende Gewähr für ihre Vollständigkeit u. Richtigkeit bieten. Kleinere Mängel sind unschädlich, wenn die Angaben insgesamt plausibel sind581. Die Rspr. bejaht eine verfassungsrechtlich zulässige Typisierung582 selbst für voll abgeschriebene Ge- 272 brauchtfahrzeuge. Die Regelung gilt nicht nur für eigene Neu- u. Gebrauchtfahrzeuge, sondern auch für gemietete (geleaste) Kfz, jedoch nicht für Kfz, die typischerweise nicht privat genutzt werden wie z.B. Zugmaschinen/LKW583. Wird das Kfz von mehreren Stpfl. genutzt, so ist die 1 %-Nutzung aufzuteilen584. Werden in einem Betrieb mehrere Kfz privat genutzt, so unterliegen grds. sämtliche Fahrzeuge der 1 %-Regelung585. Nach Verwaltungsauffassung ist der Nutzungswert höchstens mit den Kfz-Gesamtaufwendungen
575 576 577 578 579 580 581 582 583
584 585
die Privatnutzung unbefugt geschieht (BFH v. 6.10.2011 – VI R 56/10, BStBl. II 2012, 362; v. 21.3.2013 – VI R 42/12, BStBl. II 2013, 918; v. 18.4.2013 – VI R 23/12, BStBl. II 2013, 920; v. 21.3.2013 – VI R 46/11, BStBl. II 2013, 1044; Seifert, StuB 2012, 934: Beachtlichkeit von Privatnutzungsverboten). Steht fest, dass der Arbeitnehmer ausdrücklich oder konkludent zur Nutzung befugt ist, lässt BFH v. 21.3.2013 – VI R 31/10, BStBl. II 2013, 700; v. 6.2.2014 – VI R 39/13, BStBl. II 2014, 641, entgegen früherer Rspr. den Nachweis eines atypischen, eine tatsächliche Privatnutzung ausschließenden Falles nicht mehr zu (dazu Eismann, DStR 2013, 2740; Strohner, DB 2013, 1986; Geserich, NWB 2013, 2376; Schmitz-Herscheidt, NWB 2014, 907). Die Überlassung für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte (ab VZ 2014 erster Tätigkeitsstätte) ist keine Überlassung zur privaten Nutzung, s. BFH v. 6.10.2011 – VI R 56/10, BStBl. II 2012, 362. Zutr. Thomas, DStR 2011, 1341 (1342); a.A. Urban, NJW 2011, 2465. BFH v. 30.11.2016 – VI R 49/14, BFHE 256, 107, Rz. 26–27; v. 30.11.2016 – VI R 2/15, BFHE 256, 116, Rz. 12–13. Vgl. BFH v. 4.4.2008 – VI R 85/04, BStBl. II 2008, 887; BMF v. 1.4.2011 – IV C 5 - S 2334/08/10010, BStBl. I 2011, 301. BMF v. 1.4.2011 – IV C 5 - S 2334/08/10010, BStBl. I 2011, 301 (Tz. 2). BFH v. 4.4.2008 – VI R 68/05, BStBl. II 2008, 890; s. dazu aber BMF v. 1.4.2011 – IV C 5 - S 2334/08/10010, BStBl. I 2011, 301 (Tz. 17). BMF v. 18.11.2009 – IV C 6-S 2177/07/10004, BStBl. I 2009, 1326, Tz. 24. BFH v. 10.4.2008 – VI R 38/06, BStBl. II 2008, 768. Zum Fahrtenbuch Bilsdorfer, DStR 2012, 1477; Bingel/Göttsching, DStR 2013, 690 (krit. gegenüber den insgesamt [zu] hohen Anforderungen an das Fahrtenbuch). BVerfG v. 29.10.2002 – 2 BvR 434/01, HFR 2003, 178 (VB nicht zur Entscheidung angenommen); BFH v. 24.2.2000 – III R 59/98, BStBl. II 2000, 273; v. 1.3.2001 – IV R 27/00, BStBl. II 2001, 403; v. 13.12.2012 – VI R 51/11, BStBl. II 2013, 385; zustimmend Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 527. BMF v. 18.11.2009 – IV C 6 - S 2177/07/10004, BStBl. I 2009, 1326, Tz. 1; BFH v. 13.2.2003 – X R 23/01, BStBl. II 2003, 472 (473 ff.) (Geländewagen unterfallen der 1 %-Regelung). Wird ein typischerweise nur betrieblich nutzbares Fahrzeug auch privat genutzt, so obliegt die Feststellungslast dem FA (BFH v. 18.12.2008 – VI R 34/07, BStBl. II 2009, 381 – betr. Kastenwagen). BFH v. 15.5.2002 – VI R 132/00, BStBl. II 2003, 311. BFH v. 9.3.2010 – VIII R 24/08, BStBl. II 2010, 903; v. 13.6.2013 – VI R 17/12, BStBl. II 2014, 340; BMF v. 15.11.2012 – IV C 6-S 2177/10002, BStBl. I 2012, 1099, Rz. 12.
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§ 8 Rz. 273
Einkommensteuer
anzusetzen (sog. Kostendeckelung)586. Diese Deckelungsregelung ist als Billigkeitsmaßnahme zu beurteilen, auf die der Stpfl. kraft Selbstbindung der Verwaltung (s. § 5 Rz. 35) Anspruch hat587. Arbeitnehmer, die ihr privates Kraftfahrzeug für Dienstfahrten benutzen, können zunächst die tatsächlichen anteiligen Gesamtkosten (AfA sowie Aufwendungen für Benzin, Wartung, Reparatur, Garage, Versicherungen, Kfz-Steuer) ansetzen (§ 9 I 3 Nr. 4a Satz 1 EStG; s. auch R 9.5 I 3–4 LStR 2015; H 9.5 LStH 2017). Nach H 9.5 LStH 2017 (unter „Einzelnachweis“) ist der AfA für Pkw und Kombifahrzeuge (ab 2001) regelmäßig eine 6-jährige Nutzungsdauer zugrunde zu legen588. Ohne Einzelnachweis der tatsächlichen Gesamtkosten können gem. § 9 I 3 Nr. 4a Satz 2 EStG die Fahrtkosten mit den pauschalen Kilometersätzen angesetzt werden, die für das jeweils benutzte Beförderungsmittel (Fahrzeug) als höchste Wegstreckenentschädigung nach dem Bundesreisekostengesetz festgesetzt sind: 0,30 Euro Pkw; 0,20 Euro für jedes andere motorbetriebene Fahrzeug (z.B. Motorrad)589. 273 Außergewöhnliche Kosten590 fallen nicht in die Pauschalierung und sind auch nicht durch die 1 %-Regelung abgedeckt. Ist somit ein Unfall privat veranlasst, so sind die Unfallkosten kausalrechtlich direkt zuzuordnen und nicht abgegolten591. Im Falle eines Totalschadens liegt Substanzentnahme des Betriebsfahrzeugs vor (s. Rz. 279).
2.3.12 Reisekosten 274 Reisekosten592 sind voll abzugsfähige Betriebsausgaben/Werbungskosten, wenn die Reise ausschließ-
lich betrieblich/beruflich veranlasst ist (Beispiele: Geschäftsreisen, Dienstreisen, Dienstantrittsreisen, Bewerbungsreisen, Umzugsreisen). Der im Zuge der Reform des steuerlichen Reisekostenrechts eingefügte § 9 I 3 Nr. 4a EStG stellt klar, dass Fahrten, die weder zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte stattfinden, noch Familienheimfahrten sind, nicht den Beschränkungen der Entfernungspauschale unterliegen, sondern voll abzugsfähige Reisekosten sind. Bei gemischt veranlassten Reisen hat der BFH das bisherige Verständnis von § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG als Aufteilungs- und Abzugsverbot aufgegeben und lässt nunmehr einen Abzug zu, wenn die Aufwendungen quantitativ aufteilbar sind593 (s. auch Rz. 243). Die privat veranlassten Reisekosten, z.B. bei einem touristischen Zusatzprogramm, müssen dann entsprechend herausgerechnet werden (s. bereits Rz. 267). Sachgerechter Aufteilungsmaßstab ist das Verhältnis der beruflichen und privaten Zeitanteile594. Sind die Aufwendungen quantitativ unteilbar und ist die Reise wesentlich privat mitveranlasst, werden die Aufwendungen dagegen weiterhin vollständig der Lebensführung zugeordnet.
586 587 588 589 590 591 592
593 594
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BMF v. 18.11.2009 – IV C 6-S 2177/07/10004, BStBl. I 2009, 1326, Rz. 18. BFH v. 14.3.2007 – XI R 59/04, BFH/NV 2007, 1838 (1839). BFH v. 26.7.1991 – VI R 82/89, BStBl. II 1992, 1000: 8-jährige Nutzungsdauer. BMF v. 24.10.2014 – IV C 5-S 2353/14/10002, BStBl. I 2014, 1412, Rz. 36. Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 525; Blümich/Ehmcke, § 6 EStG Rz. 1013j (2016). Zutr. BFH v. 14.9.2005 – VI R 37/03, BStBl. II 2006, 72: Vignetten, Mautgebühren, ADAC-Schutzbrief von der Abgeltungswirkung der 1 %-Regelung nicht erfasst. BFH v. 24.5.2007 – VI R 73/05, BStBl. II 2007, 766. Dazu i.E. insb. die R 9.4 LStR 2015. Zu Auslandsreisen s. BMF v. 8.11.2017 – IV C 5 - S 2353/08/10006:008, BStBl. I 2017, 1457; zur Ermittlung der Veranlassung BFH v. 21.4.2010 – VI R 5/07, BStBl. II 2010, 687 (Anwendung der bisherigen Grundsätze zur Klärung der Veranlassungsbeiträge); v. 9.12.2010 – VI R 42/09, BStBl. II 2011, 522 (dienstlich angeordnete Gruppenreise eines Geistlichen); v. 19.1.2012 – VI R 3/11, BStBl. II 2012, 416 (Bildungsreise); v. 9.12.2010 – VIII R 32/07, BFHE 229, 129 (Begleitung eines Politikers auf Auslandsreise). Lit. zu BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672; v. 21.4.2010 – VI R 66/04, BStBl. II 2010, 685 (Auslandsreisen); Grützner, StuB 2010, 616; Neufang/Schmid, StB 2010, 15; Seifert, StuB 2010, 227; Geserich, NWB 2011, 2452 (Auslandsdienst- u -fortbildungsreisen). BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672. BFH v. 21.4.2010 – VI R 5/07, BStBl. II 2010, 687.
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2.3 Besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen
Rz. 278 § 8
2.3.13 Telefonkosten Telefonkosten sind im Falle gemischter Veranlassung grds. schätzweise wie Pkw-Kosten aufteilbar. 275 Dies gilt nicht nur bei Betriebstelefonen, sondern auch bei privaten Telefonanschlüssen in der Wohnung eines Arbeitnehmers595. Die schätzweise Aufteilung der Grund- und Gesprächsgebühren ist selbst dann zulässig, wenn keine Aufzeichnungen über die dienstlichen und privaten Gespräche geführt werden. Die private Nutzung betrieblicher Telekommunikationseinrichtungen durch Arbeitnehmer ist nach § 3 Nr. 45 EStG steuerfrei gestellt. Hierdurch werden Unternehmer gleichheitswidrig diskriminiert. Während einer beruflichen Auswärtstätigkeit können auch die Kosten privater Telefonate voll abzugsfähig sein596. 2.3.14 Umzugskosten Umzugskosten sind Erwerbsaufwendungen, wenn der Umzug betrieblich oder beruflich veranlasst 276 ist (s. R 9.9 LStR 2015). Nach Aufgabe des Aufteilungsverbots (s. Rz. 242) müssen auch bei einem privat veranlassten Umzug die anteiligen Kosten für Arbeitszimmereinrichtung, Fachbibliothek zum Abzug zugelassen werden. Nicht abzugsfähig sind dagegen bei einem beruflich veranlassten Umzug die Kosten der Renovierung privat genutzter Räume in der neuen Wohnung597. R 9.9 II LStR 2015 erkennt die nach Bundesumzugskostenrecht erstattungsfähigen Kosten598 als Werbungskosten an; bei tatsächlich nachgewiesenen höheren Kosten erfolgt eine Einzelfallprüfung. Richtigerweise muss zwischen öffentlichem Umzugskostenrecht und der steuerrechtlichen Abzugsfähigkeit deutlich unterschieden werden599. Aufwendungen, die den Betriebsausgaben- oder Werbungskostenbegriff erfüllen, können auch dann abgezogen werden, wenn sie beamtenrechtlich nicht erstattungsfähig sind bzw. wären; sie sind unbeschränkt abzugsfähig600. Umgekehrt muss die Steuerbefreiung für aus öffentlichen Kassen gezahlte Reisekostenvergütungen als Vereinfachungszwecknorm auf solche Vergütungen begrenzt werden, die als Werbungskosten abgezogen werden können; die Begrenzung des § 3 Nr. 13 EStG auf den Werbungskostenabzug gebietet der Gleichheitssatz601. 2.3.15 Verlust von Wirtschaftsgütern Verluste von Wirtschaftsgütern602 durch höhere Gewalt, Diebstahl, Unfall und dergl. gehören grds. 277 zu den Nebenfolgen risikobehafteten ökonomischen Handelns (s. bereits Rz. 214 f.). Nach dem objektiven Nettoprinzip ist die Risikosphäre der Erwerbstätigkeit vollständig zu berücksichtigen (s. Rz. 208 ff.). Bei den Gewinneinkünften gilt Folgendes: Wird ein zum Betriebsvermögen gehörendes Wirtschaftsgut durch ein betriebliches oder neutrales Ereignis zerstört (Unfall während der Betriebsfahrt, neutral: Zerstörung von Pkw in der Betriebsgarage durch Brand, Blitzschlag etc.), so ist der Buchwert Aufwand und eine Versicherungsleistung Ertrag. Nach h.M. soll dies auch für gemischt genutzte Wirtschaftsgüter gelten603.
595 BFH v. 21.11.1980 – VI R 202/79, BStBl. II 1981, 131; v. 25.10.1985 – VI R 15/81, BStBl. II 1986, 200 (206). 596 BFH v. 5.7.2012 – VI R 50/10, BStBl. II 2013, 282 (284): Bei Überlagerung der privaten durch die berufliche Veranlassung. 597 BFH v. 3.8.2012 – X B 153/11, BFH/NV 2012, 1956 (1957). 598 Für Auslandsumzüge s. Auslandsumzugskostenverordnung, BGBl. I 2012, 2349; geändert durch Art. 1 V v. 28.6.2016, BGBl. I 2016, 1561. 599 KSM/von Bornhaupt, § 9 EStG Rz. B 613 f. (2000); HHR/Bergkemper, § 9 EStG Anm. 315 (2014). 600 BFH v. 1.12.1993 – I R 61/93, BStBl. II 1994, 323; v. 13.7.2011 – VI R 2/11, BStBl. II 2012, 104. 601 BFH v. 12.4.2007 – VI R 53/04, BStBl. II 2007, 536; ebenso Völlmeke, DB 1993, 1590. 602 Dazu Tipke, StuW 1979, 201 f.; Söhn, DStJG 3 (1980), 13 (32 f.); Wassermeyer, DStJG 3 (1980), 315 (324 f.); KSM/Söhn, § 4 EStG Rz. E 755 ff. (2012); Schmidt/Heinicke36, § 4 EStG Rz. 520 (Verlust). 603 Schmidt/Heinicke36, § 4 EStG Rz. 520 (Verlust) u. auch KSM/Söhn, § 4 EStG Rz. E 658, E 762 (2012), wenngleich eine Aufteilung des Verlustes entspr. den Nutzungsanteilen „systematisch folgerichtig und sachgerechter“ wäre.
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278
§ 8 Rz. 279
Einkommensteuer
Umstritten ist die Rechtslage, wenn der Verlust eines zum Betriebsvermögen gehörenden Wirtschaftsguts privat veranlasst ist, z.B. ein Betriebs-Pkw während einer Urlaubsfahrt total zerstört oder gestohlen wird604: Der I. BFH-Senat605 bejaht Nutzungsentnahme, die einerseits lediglich mit dem Buchwertverlust zu bewerten sei; andererseits sei die Versicherungsleistung auch als Betriebseinnahme zu erfassen. Demgegenüber bewertet der VIII. Senat606 die Entnahme mit dem Teilwert (Differenz zwischen den tatsächlichen Werten vor und nach dem Unfall) und behandelte die Versicherungsleistung als privat veranlasst607. Der XI. Senat608 rechnete den Diebstahl eines betrieblichen Pkw während einer privaten Umwegfahrt der Privatsphäre zu, ohne sich zu der Divergenz zwischen I. und VIII. Senat zu äußern609. 279 M.E. liegt bei völliger Zerstörung Substanzentnahme vor, weil das Wirtschaftsgut infolge eines privaten Ereignisses aus dem Betriebsvermögen endgültig ausscheidet. Mit dem Ansatz des Teilwerts im Zeitpunkt der Zerstörung werden die stillen Reserven voll abgerechnet. Die Versicherungsleistungen sind nicht als Ertrag zu behandeln, sondern der Privatsphäre zuzuordnen. Ebenso gehört der Erlös aus der Veräußerung eines betrieblich nicht mehr nutzbaren Wirtschaftsguts zu den Privatbezügen. Wird hingegen das Fahrzeug nach der Urlaubsfahrt repariert, so kann eine Substanzentnahme nicht angenommen werden, weil das Fahrzeug betrieblich nutzbar bleibt. Reparaturkosten und Minderung des Buchwerts sind privater, durch die Urlaubsfahrt veranlasster Aufwand. 280 Bei dem betrieblichen Verlust privater Wirtschaftsgüter ist die vorangegangene Wertminderung durch Privatnutzung zu beachten. Wird z.B. ein Privat-Pkw während einer Betriebsfahrt beschädigt und nicht repariert, so kann die AfaA (§ 7 I 7 EStG) abzüglich einer bis zur Beschädigung fiktiv anzusetzenden Normal-AfA angesetzt werden610. 281 Bei den Überschusseinkünften ist zunächst im Interesse einer einheitlichen kausalrechtlichen Beurteilung von einem sog. Einkunftserzielungsvermögen auszugehen (s. bereits Rz. 253). Wirtschaftsgüter des Privatvermögens, die zur Einkünfteerzielung genutzt werden, berechtigen bei Zerstörung zur Inanspruchnahme von AfaA nach § 7 I 7 EStG (z.B. Zerstörung eines Miethauses durch Brand)611. Auch die die bereits oben (Rz. 214) aufgeführten Verluste privater Wirtschaftsgüter infolge einer Erwerbstätigkeit, etwa die (Total-)Beschädigung des privaten Pkw während einer Dienstreise des Arbeitnehmers führen zum Werbungskostenabzug. Während der BFH den Werbungskostenabzug von Verlusten eines arbeitsplatzsichernden Darlehens zu Recht anerkennt612, fiel der Darlehensverlust bei Vermögenseinkünften bisher grds. in die Stammvermögenssphäre, wo Verluste von Wirtschaftsgütern keine Werbungskosten sind613. Nach Einführung der vol604 Dazu Paus, FR 2001, 1045; Meurer, BB 2002, 503; Jüptner, DStZ 2001, 811; Kontroverse: Beiser, DB 2005, 15 ff., 2200 ff., u. Ismer, DB 2003, 2197; Schmidt/Heinicke36, § 4 EStG Rz. 520 (Verlust). 605 BFH v. 24.5.1989 – I R 213/85, BStBl. II 1990, 8. 606 BFH Vorlagebeschluss v. 23.1.2001 – VIII R 48/98, BStBl. II 2001, 395; aufgehoben v. 14.10.2003 – VIII R 48/98, BFH/NV 2004, 331; v. 16.3.2004 – VIII R 48/98, BStBl. II 2004, 725 (obiter dictum). 607 Vgl. auch BFH v. 20.11.2003 – IV R 31/02, BStBl. II 2006, 7, zur Behandlung einer Versicherungsleistung nach Diebstahl eines Pkw. Der IV. Senat neigte wohl der Auffassung des I. Senats zu, qualifizierte jedoch schließlich das Parken vor dem Privathaus nicht als private Nutzung, so dass die Divergenz zwischen I. und VIII. Senat nicht entschieden werden musste. 608 BFH v. 18.4.2007 – XI R 60/04, BStBl. II 2007, 762. 609 Dazu gab es keinen entscheidungserheblichen Anlass, weil der Kläger lediglich den Buchwertverlust gewinnmindernd geltend machte und die Kaskoversicherung den Schaden wegen Verletzung einer Obliegenheitspflicht nicht regulieren musste. 610 BFH v. 24.11.1994 – IV R 25/94, BStBl. II 1995, 318. 611 HHR/Anzinger, § 7 EStG Anm. 224 (2017). 612 BFH v. 7.5.1993 – VI R 38/91, BStBl. II 1993, 663; vgl. auch v. 7.2.1997 – VI R 33/96, BFH/NV 1997, 400; v. 25.11.2010 – VI R 34/08, BStBl. II 2012, 24; J. Lang, DStJG 9 (1986), 15; Grube, FS Klein, 1994, 913 (916 f.). 613 BFH v. 9.11.1993 – IX R 81/90, BStBl. II 1994, 289; v. 30.11.2010 –VIII R 58/07, BStBl. II 2011, 491 (Fremdwährungsdarlehen); v. 22.7.1997 – VIII R 57/95, BStBl. II 1997, 755 (761: Ambros-Forderungsausfall); v. 17.4.1997 – VIII R 47/95, BStBl. II 1998, 102 (Veräußerungskosten); v. 20.6.2000 – VIII R 37/99, BFH/NV 2000, 1342 (Darlehensvermittlungsgebühren); zuletzt bestätigt BFH v. 23.11.2016 – IX B 42/16, BFH/NV 2017, 287; s. auch Grube, FS Klein, 1994, 913; Wellmann, DStZ 2001, 318 (Fremdwährungskredite).
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2.3 Besonders bedeutsame Erwerbsaufwendungen
Rz. 283 § 8
len Steuerpflicht in § 20 II EStG kann indes an der Unbeachtlichkeit von Verlusten von Wirtschaftsgütern zur Erzielung von Kapitaleinkünften (Aktien, GmbH-Anteile, Darlehensforderungen) nicht mehr festgehalten werden; sie sind in den Grenzen von § 20 VI EStG abzusetzen.
2.3.16 Verpflegungsmehraufwendungen Durch die Reform des steuerlichen Reisekostenrechts614 ist auch der Abzug für Verpflegungsmehr- 282 aufwendungen neu gestaltet worden615. Abzugsfähig sind gem. § 9 IVa EStG folgende Pauschalen: 24 Euro bei 24-stündiger Abwesenheit, 12 Euro bei mehr als 8-stündiger Abwesenheit sowie bei mehrtägiger Abwesenheit für An- und Abreisetag (zur Vereinbarkeit mit dem Nettoprinzip s. Rz. 243, 303). Bei höheren Erstattungen des Arbeitgebers können diese mit 25 % pauschalversteuert werden, soweit die Pauschbeträge des § 9 IVa 3, 5 und 6 EStG um nicht mehr als 100 % überschritten werden (§ 40 II 1 Nr. 4 EStG). Bei Auslandsreisen gelten spezielle Pauschbeträge, die das BMF regelmäßig nach Maßgabe des Bundesreisekostengesetzes festsetzt616. 2.3.17 Zinsen Zinsen gehören zu den unerschöpflichen Themen des Steuerrechts. Der permanente Strom von Rspr. 283 und Literatur ist enorm617. Die Komplexität des Themas ergibt sich aus den Schwierigkeiten kausalrechtlicher Abgrenzungen sowie aus Steuerabzugsstrategien, die der Gesetzgeber mit Sondervorschriften zu bewältigen versucht, so mit § 4 IVa EStG (s. Rz. 284) und mit der Beschränkung des Abzugs von Finanzierungsaufwand im Konzern, u.a. mit der Zinsschranke des § 4h EStG (s. § 11 Rz. 49 ff.). Überblick: Bei den Gewinneinkünften korrigiert der Gesetzgeber die Zuordnungsentscheidung des Stpfl., dem es grds. freisteht, betriebliche Aufwendungen durch Fremd- oder Eigenkapital zu finanzieren, durch die in § 4 IVa EStG geregelte Figur der Überentnahme. Bei den Überschusseinkünften sind die Quelleneinkünfte von den Veräußerungseinkünften i.S.d. §§ 17; 23 EStG zu unterscheiden (s. Rz. 199). Im Weiteren sind Zinsen der Vermietung oder Selbstnutzung zuzuordnen (s. Rz. 285) oder zwischen Ehegatten aufzuteilen618. Zinsen auf Steuern i.S.d. § 12 Nr. 3 EStG sind nach dem Aschenputtelprinzip (Eggesiecker/Ellerbeck, BB 2004, 745) geregelt: Nicht abziehbar sind bei Personensteuern Nachforderungszinsen (Nebenleistungen i.S.d. § 3 IV AO; § 12 Nr. 3 letzter Hs. EStG) u. Zinsen für Steuerzahlungskredite (ESt619; ErbSt620), bei Betriebsteuern Zinsen auf hinterzogene Steuern (§ 4 V 1 Nr. 8a EStG, s. Rz. 298). Hingegen sind Erstattungszinsen als Erträge zu versteuern. Dies hat der Gesetzgeber in § 20 I 1 Nr. 7 Satz 3 EStG angeordnet621 (s. auch Rz. 496).
614 Gesetz v. 20.2.2013, BGBl. I 2013, 285. 615 Seifert, DStZ 2013, 903; Harder-Buschner/Schramm, NWB 2014, 175. 616 Pauschbeträge ab 1.1.2016: BMF v. 9.12.2015 – IV C 5-S 2353/08/10006:006, BStBl. I 2015, 1058; ab 1.1.2017: v. 14.12.2016 – IV C 5-S 2353/08/10006:007, BStBl. I 2016, 1438. 617 Dazu Schmidt, DStR 1990, 115 (Streichung des Sonderausgabenabzugs für Schuldzinsen sichert Vollbeschäftigung der Finanzgerichtsbarkeit); Drenseck, DStR 1998, 1326 (kaum eine andere gesetzgeberische Maßnahme hat eine ähnliche Prozessflut ausgelöst); Meyer/Ball, DStR 1999, 781; Söffing, Schuldzinsenabzug – Ein Beispiel für die permanente Verkomplizierung unseres Steuerrechts, FS Offerhaus, 1999, 581; Prinz, Steuerlicher Schuldzinsenabzug – Labyrinth oder Steuerfalle, StbJb. 1999/2000, 293; Eggesiecker/Ellerbeck, Zinsen auf Steuern – Guthabenzinsen versteuern, Schuldzinsen nicht absetzen?, BB 2004, 745; Prinz, Finanzierungsfreiheit im Steuerrecht – Plädoyer für einen wichtigen Systemgrundsatz, FR 2009, 593; Goebel/Eilinghoff/Busenius, DStZ 2010, 742; Prinz, FS Herzig, 2010, 147 ff.; Paus, Gibt es einen zweiten, in sich schlüssigen Begriff der betrieblichen bzw. privaten Veranlassung von Schuldzinsen?, DStZ 2011, 688. 618 BFH v. 4.9.2000 – IX R 22/97, BStBl. II 2001, 785. 619 BFH v. 21.2.1991 – IV R 46/86, BStBl. II 1991, 514 (515). 620 Niedersächsisches FG v. 14.3.2002 – 14 K 369/01, EFG 2003, 297, rkr.; zur Erbschaftsteuer als Personensteuer s. Fn. 488. 621 JStG 2010 v. 8.12.2010, BGBl. I 2010, 1768; gegen BFH v. 15.6.2010 – VIII R 33/07, BStBl. II 2011, 503.
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§ 8 Rz. 284
Einkommensteuer
284
Gewinneinkünfte: Zinsen sind Betriebsausgaben, wenn das Darlehen für betriebliche Zwecke verwendet wird. Die betriebliche Veranlassung von Schuldzinsen suchte der Stpfl. mit sog. Mehrkontenmodellen zu optimieren, indem er kontentechnisch getrennt betriebliche Aufwendungen fremdfinanzierte und die betrieblichen Erträge für Privatinvestitionen entnahm. Diese Steuergestaltung erkannte der BFH622 mit dem Blick auf die Finanzierungsfreiheit an. Der Gesetzgeber reagierte mit einem Nichtanwendungsgesetz und damit einen neuen Typus nicht abziehbarer Betriebsausgaben geschaffen623: Nach § 4 IVa EStG624 sind Schuldzinsen nicht abziehbar, wenn Überentnahmen getätigt worden sind. § 4 IVa 2 EStG definiert die Überentnahme als den Betrag, um den die Entnahmen die Summe des Gewinns und der Einlagen des Wirtschaftsjahrs übersteigen. Die Ermittlung erfolgt betriebsbezogen. Die nichtabziehbaren Schuldzinsen sind mit 6 % typisiert anzusetzen (§ 4 IVa 3 EStG). Der sich dabei ergebende Betrag, höchstens jedoch der um 2 050 Euro verminderte Betrag der im Wirtschaftsjahr angefallenen Schuldzinsen, ist dem Gewinn hinzuzurechnen (§ 4 IVa 4 EStG). Bei Mitunternehmerschaften sind die Schuldzinsen zwar gesellschafterbezogen hinzuzurechnen. Gleichwohl steht der Mindestabzug nach § 4 IVa 4 EStG nicht jedem Mitunternehmer in voller Höhe zu; er ist vielmehr entsprechend den Schuldzinsenanteilen der einzelnen Mitunternehmer aufzuteilen625. § 4 IVa EStG findet keine Anwendung für Gesellschafterdarlehen, weil diese als Sondervergütungen den Gewinn der Personengesellschaft nicht mindern626. Unberührt bleiben Schuldzinsen für die Finanzierung von Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens (§ 4 IVa 5 EStG). § 41 IVa 1–5 EStG ist auch bei einer Gewinnermittlung nach § 4 III EStG anzuwenden (§ 4 IVa 6 EStG).
285
Überschusseinkünfte: Die frühere kausalrechtliche Zuordung von Zinsen als Werbungskosten bei den Quelleneinkünften aus Kapitalvermögen zwischen der Finanzierung steuerbarer laufender Einkünfte und nichtsteuerbarer Stammvermögensmehrungen ist mit Einführung der vollen Steuerpflicht gem. § 20 II EStG ab 2009 obsolet. Grds. müssten Zinsen voll abzugsfähig sein, indes gilt die Begrenzung auf den SparerPauschbetrag von 801 Euro (§ 20 IX 1 EStG). Bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung geht es hauptsächlich darum, Zinsen u.a. Kreditkosten, z.B. Notargebühren627, Gebühren für den Abschluss eines Bausparvertrages628, Kosten einer Kapitallebensversicherung für die Rückzahlung eines Immobilienkredits629, der Vermietung oder Selbstnutzung von Immobilien zuzuordnen630. Den Ausgangspunkt bildet die Aufspaltung eines teils vermieteten und teils selbstgenutzten Gebäudes in zwei selbständige Wirtschaftsgüter. Diesen Wirtschaftsgütern sind sodann die Anschaffungs-/Herstellungskosten sowie die Zinsen zuzuordnen. Im Anschluss an die vom BFH entwickelten Grundsätze der Finanzierungsfreiheit631 überlässt es der BFH dem Stpfl. die Zuordnungsentscheidung, soweit die Aufteilung der Zinsen nicht zu einer unangemessenen wertmäßigen Berücksichtigung der einzel622 BFH v. 4.7.1990 – GrS 2–3/88, BStBl. II 1990, 817 u. v. 8.12.1997 – GrS 1–2/95, BStBl. II 1998, 193. Im Weiteren v. 19.3.1998 – IV R 110/94, BStBl. II 1998, 513; v. 4.3.1998 – XI R 34/93, BFH/NV 1998, 1090; v. 11.11.1998 – XI R 80/95, BFH/NV 1999, 770; v. 16.12.1998 – IV B 94/98, BFH/NV 1999, 774; Bader, FR 1998, 449; Bilsdorfer, NJW 1998, 1686; Drenseck, DStZ 1998, 182; Olbertz, BB 1998, 2186. Gegen das Mehrkontenmodell im Wege einer saldierenden Betrachtungsweise österr. VGH v. 27.1.1998 – 94/14/0017, FR 1998, 467 (m. Anm. Fischer). Dazu Beiser, ÖStZ 1998, 370; Pircher/Pülzl, ÖStZ 1998, 570; Wacker, DStR 1999, 1001; Buschmann/Mayerhofer, ÖStZ 2000, 675. 623 Dieser soll nach BFH v. 12.7.2016 – IX R 29/15, BFH/NV 2016, 1698, auch den Abzug im Rahmen anderer Einkunftsarten ausschließen. Nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift, die Verlagerung privaten Finanzierungsaufwands in den betrieblichen Bereich auszuschließen, ist dies m.E. nicht geboten. 624 Zur Rechtsentwicklung der durch StEntlG 1999/2000/2002 eingeführten Vorschrift und zu Rückwirkungsproblemen s. 20. Aufl., § 9 Rz. 284 Fn. 154. Überblick s. Stoewer, SteuerStud 2011, 118. 625 BFH v. 29.3.2007 – IV R 72/02, BStBl. II 2008, 420; dazu BMF v. 7.5.2008 – IV B 2 - S 2144/07/0001, BStBl. I 2008, 588; v. 4.11.2008 – IV C 6 - S 2144/07/10001, BStBl. I 2008, 957. 626 BFH v. 12.2.2014 – IV R 22/10, BStBl. II 2014, 621. 627 BFH v. 1.10.2002 – IX R 72/99, BStBl. II 2003, 399. 628 BFH v. 1.10.2002 – IX R 12/00, BStBl. II 2003, 398. 629 BFH v. 25.2.2009 – IX R 62/07, BStBl. II 2009, 459. 630 Spindler, DStZ 1999, 706; Pezzer, FR 2000, 650; Risthaus, DB 2000, 293; Schoor, INF 2003, 26; Söffing, Stbg. 2005, 112; Schießl, SteuerStud 2008, 422; Heuermann, DB 2009, 1558; Hilbertz, NWB 2009, 2884. Grds. zur Zuordnung von Zinsen s. auch BFH v. 24.5.2011 – VIII R 3/09, BStBl. II 2012, 254. 631 BFH v. 4.7.1990 – GrS 2–3/88, BStBl. II 1990, 817; v. 8.12.1997 – GrS 1–2/95, BStBl. II 1998, 193.
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2.4 Nichtabziehbare Erwerbsaufwendungen
Rz. 287 § 8
nen Grundstücksteile führt632. Trifft der Stpfl. keine nach außen hin erkennbare Zuordnungsentscheidung, sind die Anschaffungs-/Herstellungskosten nach den Wohn-/Nutzflächen des Gebäudes aufzuteilen633. Der BFH erkennt den Werbungskostenabzug an, wenn ein betrieblicher Kredit in einen Vermietungskredit umgewidmet634 oder wenn ein betrieblicher Kredit abgelöst wird635. Auch sind Schuldzinsen nach Aufgabe der Vermietungstätigkeit abziehbar, wenn mit dem Kredit Kosten während der Vermietung finanziert wurden; s. auch Rz. 199636. Möchte der Stpfl. ein Mietobjekt lastenfrei übertragen und leistet er deswegen eine Vorfälligkeitsentschädigung, so ordnet der BFH diese zutr. der Stammvermögenssphäre zu637; auch bei sonstigen Einkünften gem. § 22 Nr. 1 EStG ist zwischen Anschaffungskosten und Werbungskosten zu differenzieren638; s. auch Rz. 359.
2.4 Nichtabziehbare Erwerbsaufwendungen 2.4.1 Allgemeine Regeln Unter nichtabziehbaren Betriebsausgaben und Werbungskosten versteht man Aufwendungen, die 286 zwar durch die Erwerbstätigkeit veranlasst sind, die jedoch kraft eines gesetzlichen Abzugsverbots nicht abziehbar sind. Derartige Aufwendungen können auch nicht in Privatabzügen berücksichtigt werden, weil diese grds. Betriebsausgaben oder Werbungskosten nicht erfassen (§§ 10 Einleitungssatz; 33 II 2 EStG). Indessen regeln gesetzliche Abzugsverbote häufig Aufwendungen, die nicht ausschließlich durch die Erwerbstätigkeit, sondern auch (offensichtlich oder versteckt) privat mitveranlasst sind. (1) Nach § 4 V 1 Nr. 7 EStG dürfen Aufwendungen, die die Lebensführung des Stpfl. oder anderer 287 Personen berühren, den Gewinn nicht mindern, soweit sie nach allgemeiner Verkehrsauffassung als unangemessen anzusehen sind639. Diese Vorschrift formuliert ein allgemeines Angemessenheitsprinzip. Damit ist § 4 V 1 Nr. 7 EStG eine Grundvorschrift, die den unangemessenen Teil der Aufwendungen vom Steuerabzug ausschließt, weil dieser Teil verdeckt privat veranlasst ist640. § 4 V 1 Nr. 7 EStG ist insofern fehlplaziert, als er eigentlich den § 4 V 1 EStG einleiten müsste, weil er einen allgemeinen Grundsatz postuliert, der durch die speziellen Abzugsverbote in § 4 V EStG konkretisiert wird. Dies zeigt exemplarisch die Bewirtung von Geschäftsfreunden in Nachtlokalen, deren Kosten der BFH als nach § 4 V 1 Nr. 7 EStG nicht abziehbar beurteilt hat641. In derartigen Fällen tritt der betriebliche Anlass gegenüber dem Privatvergnügen in den Hintergrund. § 4 V 1 Nr. 7 EStG begrenzt den Abzug folglich nicht nur der Höhe, sondern auch dem Grunde nach. Gem. § 9 V 1 EStG gilt die Grundvorschrift des § 4 V 1 Nr. 7 EStG auch für Werbungskosten. Abzugrenzen ist der Anwendungsbereich von § 4 V 1 Nr. 7 EStG gegenüber der Aufteilung gemischt veranlasster Aufwendungen gem. § 12 Nr. 1 EStG. § 4 V 1 Nr. 7 EStG regelt einen Fall ausschließlich 632 633 634 635 636 637 638 639 640
641
BFH v. 9.7.2002 – IX R 65/00, BStBl. II 2003, 389; v. 25.3.2003 – IX R 22/01, BStBl. II 2004, 348. BFH v. 27.10.1998 – IX R 44/95, BStBl. II 1999, 676; v. 1.4.2009 – IX R 35/08, BStBl. II 2009, 663. BFH v. 19.8.1998 – X R 96/95, BStBl. II 1999, 353. BFH v. 25.1.2001 – IX R 27/97, BStBl. II 2001, 573. BFH v. 16.9.1999 – IX R 42/97, BStBl. II 2001, 528. Im Fall der Vorfälligkeitsentschädigung versagt BFH v. 23.9.2003 – IX R 20/02, BStBl. II 2004, 57 (58) den Werbungskostenabzug, weil die Entschädigung „der nicht einkommensteuerbaren Veräußerung zuzurechnen“ sei. BFH v. 23.9.2003 – IX R 20/02, BStBl. II 2004, 57 (58); v. 11.2.2014 – IX R 42/13, BStBl. II 2015, 633. Grds. zu kreditfinanzierten Rentenversicherungen: BFH v. 30.10.2001 – VIII R 29/00, BStBl. II 2006, 223. Dazu Helkenberg, Die Unangemessenheit von Betriebsausgaben nach § 4 Abs. 5 Nr. 7 EStG, Diss., 1994. Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 328 f.; Tipke, StRO II2, 772 f. (rechtsvergleichend). Vgl. § 15 I Kölner EStGE (Begr. Rz. 333: Übernahme des in § 4 V 1 Nr. 7 EStG normierten Rechtsgedankens in die Grundvorschrift zur Abgrenzung der Erwerbsaufwendungen zu den Kosten der Lebensführung). BFH v. 16.1.1990 – III R 21/86, BStBl. II 1990, 575.
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§ 8 Rz. 288
Einkommensteuer
betrieblicher Veranlassung; Art und Umfang der Aufwendungen berühren aber die privaten Neigungen und Bedürfnisse. Betriebsausgaben, die keinen Bezug zur Lebensführung aufweisen, sind dagegen ohne Angemessenheitskontrolle stets in vollem Umfang abziehbar (s. Rz. 231). Deshalb lässt sich die politische Diskussion um eine Abzugsbegrenzung für überhöhte Managergehälter642 nicht de lege lata über § 4 V 1 Nr. 7 EStG führen. 288 Der Umfang des nichtabziehbaren (verdeckt privat veranlassten) Teils der Aufwendungen ergibt sich
aus der allgemeinen Verkehrsauffassung (§ 4 V 1 Nr. 7 a.E. EStG). Bei der Feststellung der Unangemessenheit stellt der BFH643 auf die Umstände des Einzelfalles ab. So werden z.B. Kfz-Anschaffungskosten nicht bereits dann als unangemessen beurteilt, wenn bestimmte Betragsgrenzen überschritten werden. Vielmehr kommt es nach Auffassung des BFH auf die gegebenen betrieblichen (Größe des Unternehmens, Bedeutung des Aufwands für den Geschäftserfolg) und privaten Umstände (Umfang und Häufigkeit der privaten Nutzung, Dominanz der privaten Motivation, z.B. bei motorsporttauglichen Fahrzeugen) an644. Es geht nicht darum, „den Mercedes vom Volkswagen abzugrenzen, sondern ein übliches Betriebsfahrzeug von einem Sportwagen, Rennwagen oder Sportflugzeug“645. Diese Abwägung trägt sachgerecht dem Zweck des § 4 V 1 Nr. 7 EStG Rechnung, gemischt veranlasste Aufwendungen aufzuteilen. (2) § 4 Vb EStG schließt kraft Fiktion („sind keine Betriebsausgaben“) den Betriebsausgabenabzug der Gewerbesteuer und der darauf entfallenden Nebenleistungen aus. Die Regelung mag zur Transparenz der Berechnung der Gewerbesteuer beitragen646 (§ 12 Rz. 20). Systematisch ist sie verfehlt, aber nach zutr. Ansicht des BFH647 noch verfassungskonform. Solange die Gewerbesteuer als Objektsteuer qualifiziert wird, ist sie Betriebsausgabe. Sollte der Gesetzgeber eine Annäherung an die Personensteuern intendieren, hätte die Gewerbesteuer in § 12 Nr. 3 EStG aufgenommen werden müssen (s. hierzu auch Rz. 241). 289
(3) Nach § 160 AO sind Betriebsausgaben und Werbungskosten regelmäßig nicht zu berücksichtigen, wenn der Stpfl. den Empfänger nicht benennt (dazu § 21 Rz. 201 ff.).
290
(4) Nach § 3c I EStG dürfen Ausgaben, die mit steuerfreien Einnahmen in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang stehen, nicht als Betriebsausgaben oder Werbungskosten abgezogen werden. Auf einen zeitlichen Zusammenhang von Aufwendung und Einnahme innerhalb eines Veranlagungszeitraums kommt es nicht an, wohl aber muss bereits im Veranlagungszeitraum des Abzugs die Steuerfreiheit korrespondierender Einnahmen bestehen648. Der Höhe nach ist das Abzugsverbot begrenzt auf die steuerfreien Einnahmen, darüber hinausgehender Aufwand muss abzugsfähig bleiben, da der Normzweck von § 3c EStG darauf begrenzt ist Doppelbegünstigung zu verhindern649. Nach
642 BT-Drucks. 17/14214 u. 18/1176; dazu Hey/Hey, FR 2017, 309 m.w.N. 643 BFH v. 20.8.1986 – I R 80/83, BStBl. II 1986, 904; v. 20.8.1986 – I R 29/85, BStBl. II 1987, 108; v. 8.10.1987 – IV R 5/85, BStBl. II 1987, 853; v. 26.1.1988 – VIII R 139/86, BStBl. II 1988, 629; v. 16.2.1990 – III R 21/86, BStBl. II 1990, 575; v. 29.4.2014 – VIII R 20/12, BStBl. II 2014, 679. 644 BFH v. 8.10.1987 – IV R 5/85, BStBl. II 1987, 853; v. 19.1.2017 – VI R 37/15, BStBl. II 2017, 526, Rz. 16. 645 Schmidt/Heinicke36, § 4 EStG Rz. 602; aber auch BFH v. 19.1.2017 – VI R 37/15, BStBl. II 2017, 526 (Privatflugzeug: Einzelfallbetrachtung). 646 BT-Drucks. 16/4841, 47. 647 BFH v. 16.1.2014 – I R 21/12, BStBl. II 2014, 531, Rz. 21 ff.; v. 10.9.2015 – IV R 8/13, BStBl. II 2015, 1046, Rz. 24. 648 BFH v. 13.12.2012 – IV R 51/09, BStBl. II 2013, 203 (206). 649 HHR/Desens, § 3c EStG Anm. 42 (2016); Schmidt/Levedag36, § 3c EStG Rz. 7 in Bezug auf Ausgaben, die steuerfreie Einnahmen unterhalb des Freibetrags des § 3 Nr. 26 EStG übersteigen; so jetzt auch Thüringer FG v. 30.9.2015 – 3 K 480/15, EFG 2015, 2163 [Rev. III R 23/15]; a.A. Obermair, DStR 2016, 1583 (1586).
424
Hey
2.4 Nichtabziehbare Erwerbsaufwendungen
Rz. 292 § 8
st. Rspr. enthält § 3c I EStG einen allgemeinen Rechtsgrundsatz650. Die Formulierung des § 3c I EStG stimmt indessen mit der Veranlassungstheorie ebenso wenig überein wie § 9 I 1 EStG. Bei der Abgrenzung von Nettoeinkünften (als Unterschiedsbeträge von Erwerbsbezügen und -aufwendungen) kommt es auf den Kausalzusammenhang zwischen Tätigkeit und Bezügen/Aufwendungen, nicht zwischen Bezügen und Aufwendungen an. Zu § 3c II EStG vgl. § 11 Rz. 15. 2.4.2 Besondere Regeln für privat mitveranlasste Erwerbsaufwendungen Die Vorschriften in §§ 4 V 1 Nr. 1–6b; 9 V EStG regeln privat mitveranlasste Erwerbsaufwendun- 291 gen651. Der Gesetzgeber behandelt sie als nichtabziehbare Erwerbsaufwendungen, um den Streit um die private Veranlassung typisierend zu erledigen652. Im Einzelfall kann also die Erwerbsaufwendung in vollem Umfang durch die Erwerbstätigkeit veranlasst sein; gleichwohl versagt der Gesetzgeber den Steuerabzug, weil der Aufwendungstypus die Lebensführung berührt. § 4 V 1 Nr. 1–6b EStG sind spezielle Regeln zur Grundvorschrift des § 4 V 1 Nr. 7 EStG (s. Rz. 287 f.). Der Gesetzgeber kann jedoch das Nettoprinzip nicht beliebig einschränken. Der Typisierungsspiel- 292 raum ist dann verfassungswidrig überschritten, wenn und soweit eine private Mitveranlassung nicht typisierend angenommen werden kann. Danach sind die Vorschriften in § 4 V 1 Nr. 1–6b EStG wie folgt zu beurteilen: § 4 V 1 Nr. 1 EStG: Zulässig ist die Begrenzung des Abzugs für Geschenke der Höhe nach (s. Rz. 269). Ein Geschenk berührt typischerweise die Lebensführung. Allerdings bedarf es der Abgrenzung zu Maßnahmen der Unternehmens- oder Produktwerbung. Eine Ausnahme muss daher z.B. für Streuwerbung und ausschließlich betrieblich nutzbare Gegenstände gemacht werden. Schmiergelder: Rz. 299. § 4 V 1 Nr. 2 EStG: Die Begrenzung des Steuerabzuges auf 70 % der angemessenen und nachgewiesenen Aufwendungen (s. Rz. 257) trägt typisierend dem Umstand Rechnung, dass durch die Bewirtung die Lebensführung der daran teilnehmenden Personen berührt ist653. § 4 V 1 Nr. 3, 4 EStG: Aufwendungen für Gästehäuser, Jagd, Fischerei, Segel-/Motoryachten und ähnliche Zwecke (z.B. Golfturniere654) dienen hauptsächlich der Freizeitgestaltung. Das Abzugsverbot greift auch dann Platz, wenn die Wirtschaftsgüter nicht der Unterhaltung von Geschäftsfreunden dienen655. § 4 V 1 Nr. 5 EStG: Die Pauschalierung des Steuerabzugs für Verpflegungsmehraufwendungen betrifft betrieblich/beruflich veranlasste, nämlich zusätzlich zum privaten Ernährungsaufwand entstandene Aufwendungen. Sind die Pauschbeträge nicht angemessen, werden Außendienstler (Vertreter, Monteure etc.) gleichheitssatzwidrig diskriminiert.
650 BFH v. 4.3.1977 – VI R 213/75, BStBl. II 1977, 507; v. 30.1.1986 – IV R 247/84, BStBl. II 1986, 401; v. 14.11.1986 – VI R 209/82, BStBl. II 1989, 351. Dies führt allerdings nicht zur analogen Anwendung auf Ausgaben im Zusammenhang mit nichtsteuerbaren Einnahmen s. BFH v. 23.11.2000 – VI R 93/98, BStBl. II 2001, 199; Schmidt/Levedag36, § 3c EStG Rz. 3. 651 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 335 ff.; Tipke, StuW 1988, 274 ff.; Tipke, StRO II2, 772 ff.; BareisKommission, BMF-Schriftenreihe 55, 1995; Klein, Zur Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Einschränkungen des objektiven Nettoprinzips, dargestellt an § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 EStG, DStZ 1995, 630. 652 Beschluss des 57. DJT, Sitzungsbericht N, 1988, 214: „Belastende Typisierungen bei einzelnen Arten der Erwerbsaufwendungen sind nur in engen Grenzen rechtfertigungsfähig; sinnvoll ist Typisierung im Grenzgebiet zur privaten Lebensführung“. 653 BT-Drucks. 11/2157, 139 (amtl. Begr.); BT-Drucks. 11/2536, 14 (Anhörung); Tipke, StuW 1988, 274 f. 654 BFH v. 14.10.2015 – I R 74/13, BStBl. II 2017, 222; v. 16.12.2015 – IV R 24/13, BStBl. II 2017, 224 mit Anm. Wendt, FR 2016, 627; hierzu und zu Kundenveranstaltungen allgemein Schiffers/Feldgen, DStZ 2016, 325. Ähnlich BFH v. 13.7.2016 – VIII R 26/14, BStBl. II 2017, 161: „Herrenabende“; krit. Levedag, NWB 2016, 3767. 655 BFH v. 7.2.2007 – I R 27-29/05, BFHE 216, 536; dazu Hoffmann, GmbHR 2007, 660; Pezzer, FR 2007, 888.
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§ 8 Rz. 293
Einkommensteuer
§ 4 V 1 Nr. 6b EStG beschränkt den Steuerabzug von Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer. Dies ist zur Eindämmung eines schwer kontrollierbaren Missbrauchs zu rechtfertigen656. Soweit jedoch für die betriebliche oder berufliche Tätigkeit kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung steht, entbehrt das Abzugsverbot der Rechtfertigung; es verletzt den Gleichheitssatz (s. Rz. 254). §§ 4 IX; 9 VI EStG schließen den Abzug von Aufwendungen für eine erstmalige Berufsausbildung/ein Erststudium aus (s. Rz. 263 ff.). 293 Aufwendungen i.S.d. § 4 V 1 Nr. 1–4, 6b, 7 EStG sind einzeln und getrennt von den sonstigen Be-
triebsausgaben aufzuzeichnen (§ 4 VII EStG – nicht in § 9 V EStG erfasst!). Die Abzugsverbote berühren nicht die Zugehörigkeit eines Wirtschaftsguts zum Betriebsvermögen657. Gästehäuser, Yachten und insb. die häuslichen Arbeitszimmer von Unternehmern gehören zum Betriebsvermögen. 2.4.3 Besondere Regeln zum Schutz der Gesamtrechtsordnung 294 (1) Geldstrafen/Geldbußen658: Die §§ 4 V 1 Nr. 8; 12 Nr. 4 EStG regeln zum Schutze der Gesamt-
rechtsordnung folgende Sanktionsabzugsverbote: Nach § 12 Nr. 4 EStG dürfen in einem Strafverfahren festgesetzte Geldstrafen, sonstige Rechtsfolgen vermögensrechtlicher Art, bei denen der Strafcharakter überwiegt, und Leistungen zur Erfüllung von Auflagen und/oder Weisungen (z.B. solche nach § 153a StPO) nicht abgezogen werden; Ausgleichszahlungen zur Wiedergutmachung werden dagegen nicht erfasst659. § 12 Nr. 4 EStG regelt klarstellend Aufwendungen der privaten Opfersphäre. Nach § 4 V 1 Nr. 8 EStG dürfen von einem Gericht, einer Behörde oder von EG-Organen festgesetzte Geldbußen, Ordnungsgelder, berufsrechtliche Leistungen zur Erfüllung von Auflagen und/oder Weisungen nicht als Betriebsausgaben (§ 9 V EStG: Werbungskosten) abgezogen werden. Mit § 4 V 1 Nr. 8 EStG reagierte der Gesetzgeber auf einen Beschluss des GrS, der abweichend von einer jahrzehntelangen Praxis Geldbußen zum Abzug als Betriebsausgaben zuließ660. Die Abzugsverbote tragen dem Postulat „Einheit der Rechtsordnung“ Rechnung (s. § 1 Rz. 46); deshalb greift das Abzugsverbot des § 12 Nr. 4 EStG nicht Platz, wenn die von einem ausländischen Gericht festgesetzte Geldstrafe dem sog. ordre public, d.h. wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung, widerspricht661. 295 Übernimmt der Arbeitgeber die Zahlung einer Geldbuße, so liegt Arbeitslohn vor, es sei denn, die
Übernahme der Geldbuße liegt im ganz überwiegenden eigenbetrieblichen Interesse. Nach geänderter Rspr. durchbricht die Rechtswidrigkeit des Tuns die betriebsfunktionale Zielsetzung, so dass das ganz überwiegend eigenbetriebliche Interesse des Arbeitgebers grds. zu verneinen und Arbeitslohn anzunehmen ist662. 296 Das Abzugsverbot erstreckt sich nach § 4 V 1 Nr. 8 Satz 4 EStG nicht auf die Abschöpfung des wirt-
schaftlichen Vorteils vor Steuern663. Hat das Gericht oder die Behörde bei der Bemessung der Geldbuße deren Nichtabziehbarkeit nicht berücksichtigt und zusätzlich zur Sanktion den wirtschaftlichen 656 S. BVerfG v. 7.12.1999 – 2 BvR 301/98, BVerfGE 101, 297 (310 f.). 657 Grds.: BFH v. 12.12.1973 – VIII R 40/69, BStBl. II 1974, 207. 658 Dazu grdl. Tanzer, DStJG 3 (1980), 227; Tanzer, Die gewinnmindernde Abzugsfähigkeit von Geldstrafen im Abgabenrecht. Eine rechtsvergleichende Untersuchung über die Methoden und Grenzen der steuerlichen Rechtsfindung, 1983; ferner Bruschke, DStZ 2009, 489; Roth, DStR 2011, 1410 (Anwendung auf Strafzuschlag nach § 398a Nr. 2 AO); Drüen, DB 2013, 1138. 659 BFH v. 15.1.2009 – VI R 37/06, BStBl. II 2010, 111. 660 BFH v. 21.11.1983 – GrS 2/82, BStBl. II 1984, 160 (166). 661 BFH v. 31.7.1991 – VIII R 89/86, BStBl. II 1992, 85. 662 BFH v. 14.11.2013 – VI R 36/12, BStBl. II 2014, 278 (279); anders noch v. 7.7.2004 – VI R 29/00, BStBl. II 2005, 367; dazu Schneider, NWB 2014, 441; grundlegend Fellmeth, Das lohnsteuerrechtliche Abgrenzungsmerkmal des ganz überwiegend eigenbetrieblichen Arbeitgeberinteresses, Diss., 2016. 663 Dazu R 4.13 III EStR 2012; Meurer, Die Abschöpfung des wirtschaftlichen Vorteils durch eine Geldbuße, BB 1998, 1236; HHR/Kruschke, § 4 EStG Anm. 1730 ff. (2016).
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2.4 Nichtabziehbare Erwerbsaufwendungen
Rz. 299 § 8
Vorteil abgeschöpft, so ist die Geldbuße in einen Sanktions- und Abschöpfungsteil aufzuteilen. Besonders bei Kartellbußen ist problematisch, ob und ggf. in welcher Höhe wirtschaftliche Vorteile abgeschöpft worden sind664. Strafverteidigungskosten sind Erwerbsaufwendungen, wenn der strafrechtliche Vorwurf auf berufli- 297 chem Verhalten beruht665. Disziplinarrechtliche Folgen einer außerdienstlich begangenen Straftat begründen keine Werbungskosten eines Beamten666. Die betriebliche Veranlassung der Strafverteidigungskosten verneinte der BFH im Falle einer Altenpflegerin, die Patienten aus Habgier ermordet hat667. Der Steuerabzug der Strafverteidigungskosten wurde zu Recht versagt, weil das kriminelle Verhalten privat zu verantworten ist. Hat jedoch der Stpfl. keine Straftat begangen, so kann erwerbstätiger Veranlassungszusammenhang angenommen werden. Die nicht infolge eines Freispruchs erstatteten Strafverteidigungskosten sind als Betriebsausgaben/Werbungskosten anzuerkennen (s. auch Rz. 231). (2) Zinsen auf hinterzogene Betriebsteuern sind nach § 4 V 1 Nr. 8a EStG nicht abziehbar; wie 298 durch § 4 V 1 Nr. 8 EStG soll Unrechtsverhalten sanktioniert werden668. (3) Schmier- und Bestechungsgelder sind nach den §§ 4 V 1 Nr. 10; 9 V EStG nicht abziehbar669. 299 § 4 V 1 Nr. 10 EStG greift Platz, wenn die Zuwendung der Vorteile eine rechtswidrige Handlung darstellt, die den objektiven Straf- oder Geldbußentatbestand verwirklicht. Schuldhaftes Verhalten ist nicht erforderlich; auch kommt es nicht auf die Verfolgbarkeit der Tat an670. Die Rspr. legt das Abzugsverbot weit aus und erstreckt es auch auf Kosten der Strafverteidigung und den Verfall671. Der Schutz der Rechtsordnung rechtfertigt grds. die Durchbrechung des Nettoprinzips. § 4 V 1 Nr. 10 EStG dient dem Schutz der deutschen Rechtsordnung. Daher muss sich die Rechtswidrigkeit der Handlung aus dem deutschen Recht ergeben. Das gilt besonders bei Bestechungen mit Auslandsbezug672. § 4 V 1 Nr. 10 Sätze 2–4 EStG verpflichten zum Informationsaustausch zwischen den Strafgerichten, Staatsanwaltschaften, Verwaltungsbehörden und den Finanzbehörden673.
664 BFH v. 9.6.1999 – I R 64/97, BStBl. II 1999, 656; v. 9.6.1999 – I R 100/97, BStBl. II 1999, 658; Achenbach, BB 2000, 1116; EU-Kartellbußen: BFH v. 7.11.2013 – IV R 4/12, BStBl. II 2014, 306; hierzu Eilers/Schneider, DStR 2007, 1507; Grützner, StuB 2014, 285; Schönfeld/Haus/Bergmann, DStR 2014, 2323; Haus, DB 2014, 2066; Rogge, DB 2017, 1112; Haase/Geils, BB 2015, 2583. 665 BFH v. 18.10.2007 – VI R 42/04, BStBl. II 2008, 223; Bode, NWB 2008, Fach 6, 4885; Olgemüller, Steuer-Journal 2008, 495; Thiele, ÖStZ 2008, 364; Mack, Steuer-Journal 2009, 365 (Werbungskosten u. Kostenübernahme durch Arbeitgeber). 666 BFH v. 8.9.2003 – VI B 109/03, BFH/NV 2004, 42. 667 BFH v. 12.6.2002 – XI R 35/01, BFH/NV 2002, 1441. 668 BT-Drucks. 11/2536, 77. 669 BMF v. 10.10.2002 – IV A 6 - S 2145-35/02, BStBl. I 2002, 1031 (dazu Burchert, INF 2003, 260; Stahl, KÖSDI 2003, 13874). Lit.: J. Lang, FS Geppaart, 1996, 117; Offerhaus, FS Haas, 1996, 237; MüllerFranken, StuW 1997, 3; Günzler, Steuerrecht u. Korruption, Diss., 1999; Dörn, DStZ 2001, 736; Bürger, DStR 2003, 1421; Bernhard, Steuerliche Maßnahmen gegen Korruption u. andere illegale Verhaltensweisen im internationalen Vergleich, Diss., 2004; Gotzens, DStR 2005, 673; Preissing/Kiesel, DStR 2006, 118; Spatscheck, NJW 2006, 641; Gröhs, Steuerliche Aspekte der Korruption im Vertrieb, in Gröhs/ Kotschnigg, Wirtschafts- und Finanzstrafrecht in der Praxis, Wien 2009, 95 (Österreich); Rieble, BB 2009, 1612 (Anwendbarkeit auf Betriebsratsbegünstigung); Schauf/Idler, Ubg 2010, 111; Pelz, DStR 2014, 449. 670 S. BMF v. 10.10.2002 – IV A 6 - S 2145-35/02, BStBl. I 2002, 1031, Tz. 1, 9, 12 f. 671 BFH v. 14.5.2014 – X R 23/12, BStBl. II 2014, 684; dazu Hermenns/Sendke, FR 2014, 550; Schneider/ Perrar, DB 2014, 2428. 672 S. BMF v. 10.10.2002 – IV A 6 - S 2145-35/02, BStBl. I 2002, 1031, Tz. 17 ff. 673 Zur Mitteilungspflicht der Finanzbehörde gegenüber der Staatsanwaltschaft BFH v. 14.7.2008 – VII B 92/08, BStBl. II 2008, 850; Bilsdorfer, SteuerStud 2008, 590; Schmidt/Leyh, NWB Fach 13, 1199 (2008) (zwingender Informationsaustausch zwischen FA und Strafverfolgungsbehörden).
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§ 8 Rz. 300
Einkommensteuer
300 (4) Aufwendungen zur Förderung staatspolitischer Zwecke (Mitgliedsbeiträge und Spenden i.S.d.
§ 10b II EStG) sind keine Erwerbsaufwendungen674. Dies stellt der auch für Werbungskosten (§ 9 V 1 EStG) geltende § 4 VI EStG aus Anlass der Parteienfinanzierung mittels vorgetäuschter Erwerbsaufwendungen klar und schützt damit die Chancengleichheit der Parteien. 301 Resümee: Wie die §§ 4 V 1 Nr. 8, 8a, 10, VI; 9 V EStG zeigen, ist der aus § 40 AO abgeleitete Satz
von der Wertneutralität des Steuerrechts nicht durchgängig richtig. Vielmehr darf das Steuerrecht Grundwertungen des Verfassungsrechts (z.B. Chancengleichheit der Parteien), des Strafrechts und anderer Teile der Rechtsordnung nicht durchkreuzen. 2.4.4 Besondere Regeln zum Schutz des Steueraufkommens gegen Steuerverlagerung 302 Neuern Datums sind Abzugsverbote, die sich gegen die Verlagerung von Steuersubstrat richten, wie
die 2008 eingeführte Zinsschranke (§ 4h EStG; s. i.E. § 11 Rz. 48 ff.) und die 2017 eingeführte Lizenzschranke (4j EStG), mittels derer der Gesetzgeber der Verlagerung von Lizenzeinkünften in sog. niedrig besteuerte Patentboxen entgegenwirken will, die nicht den OECD BEPS-Standards entsprechen675. In beiden Fällen handelt es sich um Abzugsverbote für ausschließlich betrieblich veranlasste Erwerbsaufwendungen. Gesetzgeberische Motivation ist die Bekämpfung von Steuergestaltungen; allerdings sind die Vorschriften nicht auf die Typisierung missbräuchlicher Gestaltungen i.S.v. § 42 AO beschränkt. 2.5 Pauschalierung von Erwerbsaufwendungen 303 Gesetz und Verwaltungsvorschriften erzeugen erhebliche Ungleichheit, indem sie für bestimmte Ar-
ten von Erwerbsaufwendungen Pauschalierungen vorsehen676. Die wichtigsten Pauschalierungen, insb. Jahrespauschbeträge, sind folgende: a) Gesetzliche Pauschalierungen: – § 9 I 3 Nr. 4, II EStG: Entfernungspauschale (s. Rz. 262). – § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG: Arbeitnehmer-Pauschbetrag von 1 000 Euro. Der Nachweis höherer Aufwendungen ist zugelassen. Das BVerfGE sieht eine zulässige Typisierung und hat eine Verletzung des Gleichheitssatzes verneint677. – § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG: Pensionären wird nur noch ein Pauschbetrag von 102 Euro zugestanden, der die steuerpflichtigen Einnahmen nicht überschreiten darf (s. § 9a Satz 2 EStG). – § 9a Satz 1 Nr. 3 EStG: Werbungskosten-Pauschbetrag von 102 Euro bei den sonstigen Einkünften i.S.d. § 22 Nr. 1, 1a, 1b, 1c u. 5 EStG. – § 20 IX EStG: Sparer-Pauschbetrag von 801 Euro, der bei den Einkünften aus Kapitalvermögen einen weiteren Werbungskostenabzug ausschließt (s. Rz. 494). – § 51 I Nr. 1 Buchst. c EStG (eingeführt durch JStG 1996) ermächtigt den Verordnungsgeber zur (widerlegbaren) Pauschalierung von Betriebsausgaben für Gruppen von Betrieben i.S.d. §§ 15; 18 674 Dazu BFH v. 25.11.1987 – I R 126/85, BStBl. II 1988, 220. 675 Eingeführt durch Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen v. 27.6.2017, BGBl. I 2017, 2074. Zu Einzelheiten Schneider/Junior, DStR 2017, 417; Geurts/Staccioli, IStR 2017, 514; Jochimsen/Zinowsky/Schraud, IStR 2017, 593; Ditz/Quilitzsch, DStR 2017, 1561; zum Gesetzeszweck Jürgen Lüdicke, DB 2017, 1482; Replik Brandt, DB 2017, 1483; Link, DB 2017, 2372; Kritik und verfassungs- und europarechtliche Fragen: van Lück, IStR 2017, 388; Titgemeyer, DStZ 2017, 745. 676 Auflistung der verschiedenen Freibeträge/Pauschalen und Kritik bei Reimer, FR 2011, 929 (930 f.). Zu Lohnsteuerpauschalierungen durch die LStR Plenker, DB 2014, 1103. 677 BVerfG v. 10.4.1997 – 2 BvL 77/92, BVerfGE 96, 1 (9 f.).
428
Hey
III. Ermittlung der Überschusseinkünfte
Rz. 351 § 8
EStG, bei denen annähernd gleiche Verhältnisse vorliegen und deren Gewinn durch Überschussrechnung nach § 4 III EStG (s. Rz. 192 ff.) ermittelt wird. Dass der Verordnungsgeber bisher keinen Gebrauch gemacht hat von dieser Möglichkeit einer nach Wirtschaftszweigen klassifizierten Richtsatzregelung, dürfte auf die Schwierigkeiten einer auch nur einigermaßen realitätsgerechten Typisierung zurückzuführen sein. – § 51 EStDV: Betriebsausgaben-Pauschsätze von 55 % bzw. 20 % der Einnahmen aus Holzverwertungen für forstwirtschaftliche Betriebe, die ihre Einkünfte nicht nach § 4 I EStG ermitteln bzw. zu ermitteln haben. b) Pauschalierung durch Verwaltungsvorschriften: Die Pauschalierung von Erwerbsaufwendungen 304 ist grds. Sache des Gesetzgebers, wie das Beispiel der Verpflegungsmehraufwendungen (s. Rz. 282) zeigt. Indessen erlaubt das Prinzip des „maßvollen“ Gesetzesvollzugs (s. § 21 Rz. 5 ff.) die Pauschalierung durch Verwaltungsvorschriften, wenn dadurch unzumutbarer Belegaufwand vermieden wird und der Pauschbetrag realitätsgerecht bemessen ist. Die Pauschalierung von Erwerbsaufwendungen für bestimmte Berufsgruppen ist grds. nicht zu rechtfertigen, so dass die Pauschsätze für angestellte Artisten, Künstler u. Journalisten nach R 47 LStR a.F. zu Recht abgeschafft worden sind. Im freiberuflichen Bereich bestehen noch vereinzelt gleichheitswidrige Pauschalierungen678. Die exakte Erfassung von Erwerbsbezügen und Erwerbsaufwendungen gehört grds. zu den unver- 305 zichtbaren Bedingungen einer gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, denn nur die exakte Einkünfteermittlung gewährleistet die Vergleichbarkeit der Einkommen als Voraussetzung einer gerechten Belastung durch den Tarif. Pauschalierungen haben Begünstigungs- und Sonderbelastungseffekte, wenn sie im Einzelfall zu hoch oder zu niedrig angesetzt sind. Indessen lassen sich Pauschalierungen als Vereinfachungszwecknormen rechtfertigen: Die Überkompliziertheit und Undurchführbarkeit des Gesetzes gilt es dort zu vermeiden, wo ein bestimmter durchschnittlicher Aufwand angenommen werden kann und es dem Stpfl. nicht zuzumuten ist, ihn i.E. zu belegen (Beispiel Rz. 282: Verpflegungsmehraufwendungen). Freilich wird Vereinfachungswirkung nur dann erzielt, wenn die Pauschalen hinreichend übersichtlich geregelt sind. Eine generelle Typisierung von Erwerbsaufwendungen hat der Deutsche Juristentag 1988 zu Recht abgelehnt679. Einstweilen frei.
306–349
III. Ermittlung der Überschusseinkünfte (§§ 8–9a EStG) 1. Allgemeine Regeln Überschusseinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG) sind die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, aus Ka- 350 pitalvermögen, aus Vermietung und Verpachtung sowie die sonstigen Einkünfte i.S.d. § 22 EStG (§ 2 I 1 Nr. 4–7 EStG). Bei diesen Einkunftsarten wird nach § 2 II 1 Nr. 2 EStG der Unterschiedsbetrag der Einnahmen i.S.d. § 8 EStG und der Werbungskosten i.S.d. § 9 EStG ermittelt. Die Ermittlung der Überschusseinkünfte ist ebenso wie die Überschussrechnung nach § 4 III EStG 351 ausgerichtet an den Prinzipien des Zuflusses und Abflusses (§ 11 EStG); sie ist eine Kassenrechnung, die vorrangig eine Geldrechnung ist (s. Rz. 191 ff.). Auch die Einnahmen-/Werbungskosten-Über678 Bsp. 30 % der Betriebseinnahmen, höchstens 2.455 Euro p. a. für hauptberuflich selbständige schriftstellerische oder journalistische Tätigkeit und 25 % der Betriebseinnahmen, höchstens 614 Euro bei wissenschaftlicher, künstlerischer oder schriftstellerischer Nebentätigkeit, BMF v. 21.1.1994 – IV B 4-S 2246-5/94, BStBl. I 1994, 112, aktualisierte Werte s. H 18.2 EStH 2016 „Betriebsausgabenpauschale“; Ertragsteuerliche Behandlung der Kindertagespflege: pauschaler Abzug von 300 Euro je Kind/Monat bei Einkünften aus Kindertagespflege BMF v. 11.11.2016 – IV C 6-S 2246/07/10002:005, BStBl. I 2016, 1236, Tz. 3 Buchst. a. 679 57. DJT, Sitzungsbericht N, 1988, 214.
Hey 429
§ 8 Rz. 352
Einkommensteuer
schussrechnung verwirklicht das Zufluss- und das Abflussprinzip (dazu Rz. 192 ff., 195) nicht puristisch, denn es gelten i.V.m. § 9 I 3 Nr. 7 EStG680 die Abschreibungsvorschriften sowie die in Rz. 194 dargelegten Einschränkungen des Zufluss-/Abflussprinzips in § 11 EStG. Insoweit stimmen die Überschussrechnungen nach § 4 III EStG (s. § 9 Rz. 550 ff.) und nach §§ 8 ff. EStG überein. 352
Im Unterschied zu § 4 III i.V.m. I EStG erfasst jedoch die Überschussrechnung nach den §§ 8 ff. EStG historisch nicht den erwirtschafteten Reinvermögenszugang, sondern nur die Quelleneinkünfte. Allerdings ist von dem früheren Grundsatz, dass Veräußerungseinkünfte, Substanz- und Wertverluste im Bereich des sog. Stammvermögens (s. Rz. 182) nicht in die Überschussrechnung nach den §§ 8 ff. EStG einbezogen sind, durch die Ausweitung der Steuerbarkeit von Veräußerungseinkünften (vgl. §§ 17; 20 II; 22 Nr. 2; 23 EStG, s. Rz. 197 ff.) nicht viel übrig geblieben681. 2. Einnahmen
353
Einnahmen i.S.d. § 8 EStG: Einnahmen sind nach § 8 I EStG alle Güter, die in Geld oder Geldeswert (= Wirtschaftsgüter) bestehen und dem Stpfl. im Rahmen einer der Einkunftsarten zufließen. Diese Kausalitätsformulierung wird nach dem Veranlassungsprinzip interpretiert (s. Rz. 208 ff.). Demnach liegen Einnahmen i.S.d. § 8 I EStG vor, wenn sie durch das Dienstverhältnis (s. Rz. 474), durch die Überlassung von Kapitalvermögen, durch Vermietung und Verpachtung oder eine andere vermögensverwaltende Tätigkeit veranlasst sind.
354
Einnahmen i.S.d. § 8 EStG sind zugeflossen, sobald der Stpfl. über sie wirtschaftlich verfügen kann682, d.h. bei Überweisungen der Zeitpunkt der Gutschrift auf dem Bankkonto683; bei der Zahlung durch Scheck mit Entgegennahme des Schecks684. Ausschüttungen einer GmbH an den beherrschenden Gesellschafter sind im Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Gewinn zugeflossen685. Gewährt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer eine Aktienoption, so fließt der geldwerte Vorteil erst zu, wenn der Anspruch auf Verschaffung der wirtschaftlichen Verfügungsmacht über die Aktien erfüllt wird oder wenn die Option mit dem Wert über dem Übernahmepreis ausgeübt wird686; vorher besteht lediglich die Chance eines Vorteils687. Das gilt auch für „stock options“ (Lit. zu Mitarbeiterbeteiligungen: Rz. 478). Wird einem Arbeitnehmer durch Übertragung einer nicht handelbaren Wandelschuldverschreibung ein Anspruch auf die Verschaffung von Aktien eingeräumt, so fließt der Arbeitslohn zu, wenn dem Arbeitnehmer das wirtschaftliche Eigentum an den Aktien verschafft wird688. Besondere Abweichungen vom Zuflussprinzip erfordert der Lohnsteuerabzug: Laufender Arbeitslohn gilt in dem Kalenderjahr als bezogen, in dem der Lohnzahlungs- bzw. Lohnabrechnungszeitraum endet (§§ 11 I 4; 38a I 2; 40 III 2 EStG). Dabei wird der Zufluss von Arbeitslohn nicht bereits durch die Einräumung des Anspruchs, sondern erst durch seine Erfüllung begründet689. Lohnnachzahlungen, die ein Arbeitnehmer für frühere Jahre erhält (z.B. nach Arbeitsgerichtsprozess), sind als sonstiger Bezug im Zuflussjahr zu erfas680 Dazu Hirsch, Die Einordnung des § 9 I 3 Nr. 7 EStG in das System der Überschussrechnung, DStR 1988, 197 (m.w.N.). 681 Dazu ausf. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 493 ff. 682 BFH v. 11.11.2009 – IX R 1/09, BStBl. II 2010, 746. 683 BFH v. 5.11.1970 – IV 210/65, BStBl. II 1971, 97. 684 BFH v. 20.3.2001 – IX R 97/97, BStBl. II 2001, 482. 685 BFH v. 17.11.1998 – VIII R 24/98, BStBl. II 1999, 223; v. 3.2.2011 – VI R 4/10, BStBl. II 2014, 493; die Vereinbarung späterer Fälligkeit ist irrelevant: BFH v. 2.12.2014 – VIII R 2/12, BStBl. II 2015, 334; rechtsvergleichend Deutschland – Österreich Raab/Renner, DStZ 2013, 275. 686 BFH v. 30.9.2008 – VI R 67/05, BStBl. II 2009, 282; v. 18.9.2012 – VI R 90/10, BStBl. II 2013, 289 (Übertragung der Option auf einen Dritten als anderweitige Verwertung); dazu Marquart, FR 2013, 980; Thomas, DStR 2015, 263. 687 Dazu m.w.N. BFH v. 20.11.2008 – VI R 25/05, BStBl. II 2009, 382 (384). 688 BFH v. 23.6.2005 – VI R 124/99, BStBl. II 2005, 766; v. 23.6.2005 – VI R 10/03, BStBl. II 2005, 770; zu sonstigen verfügungsbeschränkten Aktien („restricted shares“) s. v. 30.6.2011 – VI R 37/09, BStBl. II 2011, 923. 689 BFH v. 23.7.1999 – VI B 116/99, BStBl. II 1999, 684.
430
Hey
III. Ermittlung der Überschusseinkünfte
Rz. 357 § 8
sen690. Eine Lohnrückzahlung ist kein rückwirkendes Ereignis, das zur Änderung des Einkommensteuerbescheids nach § 175 I 1 Nr. 2 AO berechtigt691. Es ist im Abflussjahr eine negative Einnahme anzusetzen692. Einnahmen, die nicht in Geld bestehen, bezeichnet das Gesetz als Sachbezüge (§ 8 II EStG)693. Sachbezüge des Arbeitnehmers sind alle vermögenswerten Vorteile, die durch das Dienstverhältnis veranlasst sind, also nur den Arbeitnehmern des Gebers (der sich dabei Institutionen wie Einkaufsringe, Wohnungsgesellschaften etc. bedienen kann) gewährt werden. Sachbezüge sind dabei insb. der freie oder verbilligte Bezug von Kleidung, Wohnung, Heizung, Beleuchtung, Kost, Deputaten, und die in § 8 III EStG geregelten Personalrabatte. Bei Sachzuwendungen i.S.d. §§ 37a, 37b EStG kann der Leistende die ESt pauschaliert übernehmen (s. Rz. 901 f.). Die Rspr.694 ordnet auch Tankkarten und Geschenkgutscheine als Sachbezüge ein (zuvor R 31 Abs. 1 Satz 7 LStR 2004: zweckgebundene Geldzuwendung).
355
Sachbezüge sind mit den um übliche Preisnachlässe geminderten üblichen Endpreisen am Abgabeort („günstigster Preis am Markt“) anzusetzen (§ 8 II 1 EStG). Damit soll deutlich werden, „dass nicht etwa ein Durchschnittsbetrag ermittelt werden muss, sondern der tatsächliche Preis, der üblicherweise im Allgemeinen Geschäftsverkehr vom Letztverbraucher gefordert wird“695. Maßgebend ist nicht der Verbrauchsort, sondern der Abgabeort. Damit ist sichergestellt, dass Sachbezüge aus einem Dienstverhältnis einheitlich nach den Verhältnissen an dem Ort bewertet werden können, an dem der Arbeitgeber diese Sachbezüge seinen Arbeitnehmern verschafft. § 8 II 2–5 EStG sehen für die private Nutzung von Dienstfahrzeugen eine am Listenpreis orientierte Sachbezugspauschalierung vor (s. Rz. 271). § 8 II 11 EStG gewährt eine monatliche Freigrenze von 44 Euro, die nicht auf einen Jahresbetrag hochgerechnet werden darf.
356
Belegschaftsrabatte für Waren oder Dienstleistungen des Arbeitgebers werden nach § 8 III EStG besteuert. 357 Die Vorschrift normiert keinen eigenständigen Einkünftetatbestand und darf nicht zu einer Erweiterung des Lohnbegriffs führen (vgl. Rz. 474), sondern enthält eine besondere Bewertungsvorschrift mit Begünstigungscharakter (Bewertungsabschlag, Freibetrag). § 8 III EStG ist anzuwenden, wenn die Personalrabatte nicht pauschal nach § 40 EStG versteuert werden. Abweichend von § 8 II EStG werden die Personalrabatte mit den um 4 % geminderten Endpreisen bewertet, zu denen der Arbeitgeber oder der nächstansässige Abnehmer die Waren oder Dienstleistungen fremden Letztverbrauchern im allgemeinen Geschäftsverkehr am Ende von Verkaufsverhandlungen anbietet (§ 8 III 1 EStG696); dabei wird ein Personalrabatt-Freibetrag von 1 080 Euro pro Jahr gewährt (§ 8 III 2 EStG). Neben diesem Freibetrag sieht § 3 Nr. 38 EStG einen weiteren Freibetrag von 1 080 Euro für Prämien aus Kundenbindungsprogrammen vor (s. Rz. 143). Zwischen § 8 II EStG und § 8 III EStG besteht ein Wahlrecht697.
690 691 692 693
694 695 696
697
BFH v. 29.5.1998 – VI B 275/97, BFH/NV 1998, 1477. BFH v. 4.5.2006 – VI R 33/03, BStBl. II 2006, 911. BFH v. 17.9.2009 – VI R 17/08, BStBl. II 2010, 299. Dazu Kuhlmann, Die Besteuerung der geldwerten Güter im Rahmen der Überschußeinkünfte, Diss., 1993; J. Lang, FS Offerhaus, 1999, 433; J. Lang, StuW 2004, 227 (Belegschaftsrabatt von Versicherungen); Kimpel, Sachbezüge im Lohnsteuerrecht, Diss., 2009; HHR/Kister, § 8 EStG Anm. 55–147 (2012); Schmidt/Krüger36, § 8 EStG Rz. 15. Zu aktuellen Fragen: Breinersdorfer, FR 2015, 779; BFH v. 11.11.2010 – VI R 21/09, BStBl. II 2011, 383; v. 11.11.2010 – VI R 27/09, BStBl. II 2011, 386; v. 11.11.2010 – VI R 41/10, BStBl. II 2011, 389; zust. Koller/Renn, DStR 2011, 555. BT-Drucks. 11/2157, 141. Dabei sind in vollem Umfang auch übliche Rabatte zu berücksichtigen (BFH v. 17.6.2009 – VI R 18/07, BStBl. II 2010, 67; v. 26.7.2012 – VI R 30/09, BStBl. II 2013, 400; v. 26.7.2012 – VI R 27/11, BStBl. II 2013, 402; BMF v. 16.5.2013 – IV C 5 - S 2334/07/0011, BStBl. I 2013, 729), so dass der Endpreis bei im allgemeinen Geschäftsverkehr üblichen Preisnachlässen (Kfz-Handel) unterhalb der unverbindlichen Preisempfehlung des Herstellers liegen kann. Zur Bewertung von Belegschaftsrabatten von Luftfahrtunternehmen s. gleichlautende Erlasse der Länder v. 10.9.2015, BStBl. I 2015, 735. BFH v. 5.9.2006 – VI R 41/02, BStBl. II 2007, 309; v. 26.7.2012 – VI R 27/11, BStBl. II 2013, 402. § 8 II EStG kann günstiger sein, wenn Rabatte nicht beim Arbeitgeber, aber am allgemeinen Markt ausgehandelt werden können, s. Schmidt/Krüger36, § 8 EStG Rz. 70.
Hey 431
§ 8 Rz. 358
Einkommensteuer
3. Werbungskosten 358 Werbungskosten i.S.d. § 9 EStG: Werbungskosten sind nach dem in Rz. 230 ff. dargelegten Veranlas-
sungsprinzip Aufwendungen, die durch Einkünfte i.S.d. § 2 I 1 Nr. 4–7 EStG erwirtschaftende Tätigkeiten (nichtselbständige Arbeit, Vermietung, Verpachtung u.a. vermögensverwaltende Tätigkeiten) veranlasst sind. Es kommt also grds. nicht darauf an, ob die Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung von Einnahmen (§ 9 I 1 EStG) geleistet wurden. Entgegen dem Wortlaut des § 9 I 1 EStG können Aufwendungen trotz gesicherter Einnahmen Werbungskosten sein. 359 Wie bereits ausgeführt (Rz. 182) ist bei der Ermittlung der Überschusseinkünfte deren quellentheoretischer Charakter zu beachten. Vermögensstammaufwendungen begründen grds. keinen Werbungskostenabzug698. Mithin ist bei der Anwendung des § 9 I 2 EStG zu prüfen, ob Aufwendungen nach dem Veranlassungsprinzip dem Stammvermögen und seiner Risikosphäre zuzuordnen sind. Die Ausweitung der Steuerpflicht von Wertsteigerungen durch die Verlängerung der Veräußerungsfrist in § 23 I 1 Nr. 1 EStG, die Absenkung der Beteiligungsgrenze in § 17 I 1 EStG und schließlich die volle Steuerpflicht privater Kapitalanlagen nach § 20 II EStG erfordert allerdings ein Umdenken. Laufende Kosten der Vermögensverwaltung werden wie bisher i.d.R. als Werbungskosten bei den Quelleneinkünften berücksichtigt, sofern die Zuordnung zur Stammvermögenssphäre nicht auf der Hand liegt699. Bis zur Einführung der Vollversteuerung von Aktiengewinnen (ab 1.1.2009) waren auf den Erhalt bzw. die Wertsteigerung des verwalteten Kapitalvermögens gerichtete Aufwendungen nicht zu berücksichtigen700. Kosten im Zusammenhang mit der Veräußerung von Stammvermögen waren mit Ausnahme der §§ 23 III 1; 17 II 1 EStG keine Werbungskosten; sie wurden dem nicht steuerbaren Stammvermögensbereich zugeordnet701. Ab 2009 müssen Stammvermögensverluste dagegen innerhalb der Grenzen von § 20 VI EStG berücksichtigt werden. Freilich wirken sich Aufwendungen auf das Stammvermögen (z.B. Verwaltungsgebühren) wegen § 20 IX EStG grds. nicht aus702.
698 Dazu Jonas, Fehlgeschlagene Aufwendungen als Werbungskosten (Die Vermögenssphäre bei den Überschußeinkünften), Diss., 1993; Alt, Das Überschußvermögen im Einkommensteuerrecht. Eine Untersuchung zur Rolle des Vermögens bei den Überschußeinkünften, Diss., 1994; Alt, StuW 1994, 138; Flies, Vermögensverluste bei den Überschußeinkünften, Diss., 1995; Uhländer, Vermögensverluste im Privatvermögen; Uhländer, FR 1996, 301. 699 BFH v. 15.12.1987 – VIII R 281/83, BStBl. II 1989, 16: Erfolgsunabhängiges Verwalterentgelt, das auf Wertsteigerung des verwalteten Vermögens entfällt, gehört nicht zu den Werbungskosten (dazu Pöllath/Wenzel, DB 1989, 2448). Zum Werbungskostenabzug von Verwaltungskosten eines Kapitalvermögens Kessler, FR 1991, 342; Delp, BB 2004, 2553; Wengenroth/Maier, EStB 2004, 468; Lohr, DStR 2005, 321. 700 Kapitalverluste durch Insolvenz und Absinken des Marktpreises sind keine Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen, vgl. BFH v. 16.4.1991 – VIII R 100/87, BStBl. II 1992, 234 (Konkurs); v. 19.5.1992 – VIII R 16/88, BStBl. II 1992, 902 (Darlehensverlust); v. 9.11.1993 – IX R 81/90, BStBl. II 1994, 289 (Kursverluste), m. Anm. Heuermann, DStZ 1994, 229, u. allgemein: BFH v. 2.3.1993 – VIII R 13/91, BStBl. II 1993, 602 (Wertveränderungen der Kapitalanlage werden nicht berücksichtigt); Grube, FS Klein, 1994, 913; Feldhofer, Die einkommensteuerliche Behandlung von Forderungsverlusten im Haushaltseinkünftebereich, Diss., 1995. In diesem schwierigen Abgrenzungsbereich judizierte der BFH nicht widerspruchsfrei: Er ließ in Grenzfällen auch Stammvermögensaufwendungen zum Steuerabzug zu, so in vollem Umfange Kosten eines Wertpapierdepots, obgleich neben den steuerpflichtigen Einnahmen auch steuerfreie Vermögensvorteile erzielt werden (BFH v. 4.5.1993 – VIII R 7/91, BStBl. II 1993, 832) und nach Auffassung des BFH kausalrechtlich auf das einzelne Wertpapier abzustellen ist. 701 Zur Veräußerung von vermieteten Grundstücken BFH v. 23.1.1990 – IX R 8/85, BStBl. II 1990, 464; v. 23.1.1990 – IX R 17/85, BStBl. II 1990, 465; v. 20.2.1990 – IX R 13/87, BStBl. II 1990, 775; v. 19.12.1995 – IX R 48/92, BStBl. II 1996, 198; v. 23.4.1996 – IX R 5/94, BStBl. II 1996, 595 (Grenzfall der Vorfälligkeitsentschädigung, dazu Grube, INF 1997, 294; Velm, BB 1997, 972); Eigenheim: BFH v. 24.5.2000 – VI R 28/97, BStBl. II 2000, 474; v. 24.5.2000 – VI R 147/99, BStBl. II 2000, 476; Kapitalvermögen: BFH v. 27.6.1989 – VIII R 30/88, BStBl. II 1989, 934; v. 1.10.1996 – VIII R 68/94, BStBl. II 1997, 454; v. 24.4.1997 – VIII R 53/95, BStBl. II 1997, 682. Zur Aufteilung von Verwaltungskosten bei Kapitalvermögen und privaten Veräußerungsgeschäften Rieck, DStR 2003, 1958; Lohr, DStR 2005, 321. 702 Es kann sich aber um Anschaffungskosten handeln vgl. BFH v. 28.10.2009 – VIII R 22/07, BStBl. II 2010, 469, Rz. 24 f.: Strategieentgelt.
432
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III. Ermittlung der Überschusseinkünfte
Rz. 363 § 8
Erweiterungen des Werbungskostenbegriffs hat die Rspr. schon in der Vergangenheit bei Verlusten stiller Gesellschafter zugelassen. Die laufenden Verlustbeteiligungen des stillen Gesellschafters bis zur Höhe der Einlage (§ 232 II 1 HGB) sind den Quelleneinkünften zuzuordnen; die Aufwendungen des stillen Gesellschafters sind Werbungskosten i.S.d. § 9 I 2 i.V.m. § 20 I Nr. 4 EStG703. Geht die Einlage des stillen Gesellschafters infolge Konkurs oder Liquidation verloren, so liegt ein an sich einkommensteuerlich irrelevanter Vermögensverlust vor. Da jedoch § 20 I Nr. 4 Satz 2 EStG ein negatives Kapitalkonto zulässt, hat der Gesetzgeber das Quellenprinzip bei der stillen Beteiligung durchbrochen. Diese Prinzipdurchbrechung erweitert den Werbungskostenbegriff auf Einlageverluste und Nachschüsse des stillen Gesellschafters. Außerhalb des privaten Kapitalvermögens verbleibt es bei den quellentheoretisch begründeten Abgren- 360 zungsschwierigkeiten. So versagt der BFH den Werbungskostenabzug widersprüchlich: Während die Rspr. den Schuldzinsenabzug bei Erbfall- und Zugewinnausgleichsschulden verneint704, bejaht er den Steuerabzug von Zinsen eines Kredits zur Finanzierung eines scheidungsbedingten Versorgungsausgleichs bei den Einkünften i.S.d. § 22 Nr. 1a EStG705. Abgesehen davon, dass der Einkünftedualismus dogmatisch überhaupt schwerlich in den Griff zu bekommen ist, hängt die dogmatische Unsicherheit der Rspr. auch damit zusammen, dass die Kriterien für Werbungskosten im Bereich des sog. Einkunftserzielungsvermögens706 ungeklärt sind.
§ 9 EStG stellt der allgemeinen Definition des § 9 I 1 EStG durch § 9 I 3 Nr. 1–7, II EStG besondere 361 Tatbestände an die Seite („Werbungskosten sind auch“). Das „auch“ lässt offen, ob die Tatbestände des § 9 I 3 Nr. 1–7 EStG als (illustrative) Unterfälle des allgemeinen Werbungskostenbegriffs (§ 9 I 1 EStG) aufgefasst werden sollen oder ob selbständige Tatbestände anzunehmen sind. Legt man § 9 EStG verfassungskonform (dem Gleichheitssatz entsprechend) in der Weise aus, dass er dem § 4 IV EStG entspricht, so müssen die Tatbestände des § 9 I 3 Nr. 1–7 EStG so interpretiert werden, dass sie dem allgemeinen Werbungskostenbegriff entsprechen. Da § 4 IV EStG nämlich keine dem § 9 I 3 Nr. 1–7 EStG entsprechenden Tatbestände aufführt, müssen diese Tatbestände gleichheitssatzkonform auch aus dem § 4 IV EStG herausinterpretiert werden können. Im Falle des § 9 EStG kann dann nicht anders verfahren werden, d.h., die Einzeltatbestände des § 9 I 3 Nr. 1–7 EStG müssen möglichst aus § 9 I 1 EStG heraus interpretiert werden können. Die einzelnen Tatbestände in § 9 I 3 EStG:
362
(1) Schuldzinsen, Renten und dauernde Lasten, soweit sie durch eine Einkunftsart-Tätigkeit veranlasst sind (§ 9 I 3 Nr. 1 EStG). Die Einordnung von Zinsen wirft in mehrfacher Hinsicht Qualifikationsprobleme auf. Es sind Quelleneinkünfte von den Veräußerungseinkünften abzugrenzen und Zinsen zur Finanzierung von nicht steuerbarem Vermögen (Stammvermögen, privates Konsumvermögen, insb. selbstgenutzte Immobilien) auszugrenzen bzw. anteilig zuzuordnen (s. Rz. 285). (2) Abgaben vom Grundbesitz, soweit der Grundbesitz der Erwerbstätigkeit dient.
363
(3) Beiträge zu Berufsständen und sonstigen Berufsverbänden (s. Rz. 256). (4) Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte (s. Rz. 261 f.) und sonstige beruflich veranlasste Fahrtkosten (4a) (5) Notwendige Mehraufwendungen wegen einer aus beruflichem Anlass begründeten doppelten Haushaltsführung (s. Rz. 258 ff.). (5a) Übernachtungskosten (6) Aufwendungen für Arbeitsmittel (s. Rz. 251).
703 704 705 706
BFH v. 10.11.1987 – VIII R 53/84, BStBl. II 1988, 186. BFH v. 2.3.1995 – IV R 62/93, BStBl. II 1995, 413. BFH v. 5.5.1993 – X R 128/90, BStBl. II 1993, 867. S. Krüger, FR 1995, 633.
Hey 433
§ 8 Rz. 364
Einkommensteuer
364 (7) Absetzungen für Abnutzung und für Substanzverringerung (§ 9 I 3 Nr. 7 Satz 1 EStG) und Ab-
schreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter (Anschaffungs-/Herstellungskosten bis 800 Euro) im Jahr der Anschaffung/Herstellung bzw. des Nutzungsbeginns (§ 9 I 3 Nr. 7 Satz 2 i.V.m. § 6 II 1–3 EStG). 365 Nach st. Rspr. des BFH707 enthält § 9 I 3 Nr. 7 EStG eine rechtsbegründende Ausnahme von der quel-
lentheoretischen Ausgrenzung des Stammvermögens. Demgegenüber wird im Schrifttum708 überwiegend die Auffassung vertreten, die Anschaffungs-/Herstellungskosten seien ohne § 9 I 3 Nr. 7 EStG in vollem Umfange im Zeitpunkt der Verausgabung abziehbar. In der Tat verwirklicht diese Ansicht konsequent das Ideal der Überschussrechnung und wäre dann richtig, wenn das Stammvermögen nicht auszugrenzen wäre, sondern wenn entsprechend dem Werbungskostenabzug der Anschaffungs-/Herstellungskosten alle Veräußerungsentgelte in der Überschussrechnung anzusetzen wären709. Da eine derart umfassende Überschussrechnung aber im quellentheoretischen Konzept der Überschusseinkünfte nicht vorgesehen ist, bedarf es der Regelung in § 9 I 3 Nr. 7 EStG; sie begründet mit der Modifikation der Quelleneinkünfte insoweit ein Steuerprivileg, als dem Werbungskostenabzug keine Versteuerung von Veräußerungsentgelten gegenübersteht. Das bedeutet, dass Abschreibungen bei den Überschusseinkünften im Unterschied zu den Gewinneinkünften, soweit die Veräußerung außerhalb der Fristen des § 23 EStG erfolgt, nicht durch spätere Versteuerung der stillen Reserven rückgängig gemacht werden. 366 Die Begriffe Anschaffungs-/Herstellungskosten sind einheitlich für alle Einkunftsarten, insb. inhalts-
gleich für Gewinn- wie für Überschusseinkünfte zu interpretieren. Das gilt vor allem für die Abgrenzung des Anschaffungs-/Herstellungsaufwandes (besonders des anschaffungsnahen Herstellungsaufwandes, vgl. § 6 I Nr. 1a i.V.m. § 9 V 2 EStG; hierzu § 9 Rz. 256) zu den nicht substanzwirksamen Aufwendungen, die sofort als Werbungskosten abgezogen werden können. Nach st. Rspr.710 gilt § 255 HGB auch für Überschusseinkünfte, insb. für Einkünfte aus Vermietung, so dass die steuerbilanziellen Abgrenzungskriterien (s. § 9 Rz. 230 ff., 250 ff.) auch bei den Überschusseinkünften gelten, zumal § 9 I 3 Nr. 7 EStG auf das Steuerbilanzrecht verweist. 367 Zur Gleichstellung mit der betrieblichen AfA im Falle der Umwidmung eines Wirtschaftsguts von
der privaten zur beruflichen Nutzung s. Rz. 253. 368–399
Einstweilen frei.
G. Die einzelnen Einkunftsarten Literatur: (bis 1980 s. 14. Aufl., § 9 Rz. 477 Fn. 1) Merkenich, Die unterschiedlichen Arten der Einkünfteermittlung im deutschen Einkommensteuerrecht, Diss., 1982; Koller, Abgrenzung von Einkunftstatbeständen im Einkommensteuerrecht, Diss., 1993; Trzaskalik, Vom Einkommen bis zu den Einkunftsarten, Marginalien zum steuertheoretischen Grundansatz von Tipke, in FS Tipke, 1995, 321; Nickel, Abgrenzung und Konkurrenz von Einkünftetatbeständen im Einkommensteuerrecht. Methodische Grundlagen, Fallgruppen, Auslegungsfragen, Diss., 1998; Zugmaier, Einkünftequalifikation im Einkommensteuerrecht, Diss., 1998; Zugmaier, Einkünftequalifikation im Einkommensteuerrecht bei Einzelpersonen, StuW 1998, 334; Kanzler, Steuerreform: Von der synthetischen Einkommensteuer zur Schedulenbesteuerung?, FR 1999, 363; Tipke, Steuerliche Ungleichbehandlung durch einkunfts- und vermögensartdifferente Bemessungsgrundlagenermittlung und Sachverhaltsverifizierung, in FS Kruse, 2001, 215; von Beckerath, § 171: Einkunftsarten, in Leitgedanken des Rechts II, 2013. 707 BFH v. 12.6.1978 – GrS 1/77, BStBl. II 1978, 620; v. 14.2.1978 – VIII R 9/76, BStBl. II 1978, 455; v. 27.6.1978 – VIII R 12/72, BStBl. II 1979, 38; v. 6.3.1979 – VIII R 110/74, BStBl. II 1979, 551; v. 21.12.1982 – VIII R 215/78, BStBl. II 1983, 410; KSM/von Bornhaupt, § 9 EStG Rz. B 97 ff. (2003). 708 HHR/Bergkemper, § 9 EStG Anm. 588 ff. (2014); Schmidt/Loschelder36, § 9 EStG Rz. 176 f. 709 So das Konzept der nachgelagerten Besteuerung oder der Cash-Flow-Steuern (s. § 3 Rz. 76 f.). 710 BFH v. 4.7.1990 – GrS 1/89, BStBl. II 1990, 830.
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Hey
I. Einführung in das Einkunftsartenrecht
Rz. 402 § 8
I. Einführung in das Einkunftsartenrecht Zu welcher Einkunftsart die Einkünfte im einzelnen Fall gehören bestimmt sich nach den §§ 13–24 400 EStG (§ 2 I 2 EStG). Betrachtet man das in den §§ 13–24 EStG näher umschriebene Spektrum der Einkunftsarten, so hat man, jedenfalls prima facie, den Eindruck, es mit einem empirischen, lebensnahen, der sozialen und wirtschaftlichen Realität entnommenen Einkünfte-Katalog zu tun zu haben, der dazu gedacht ist, den Einkommensbegriff praktikabel zu illustrieren. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn diese illustrierende Typologie der sieben Einkunftsarten die gleichmäßige und vollständige Erfassung der Einkünfte sowie deren gleichmäßige steuerliche Belastung nicht beeinträchtigte. Realiter haben wir es jedoch mit einem zerklüfteten Einkunftsartenrecht zu tun, das die einzelnen Einkünfte unvollständig erfasst, unterschiedlich quantifiziert und unterschiedlich steuerlich belastet711. Die Zuordnung von Einkünften zu einer Einkunftsart ist von höchster Relevanz, und zwar
401
a) wegen unterschiedlicher Einkünfteermittlungsarten (Einkünftedualismus gem. § 2 II EStG, Sonderformen gem. §§ 5a; 13a EStG) und Steuererhebungsarten (§§ 37; 38 ff.; 43 ff.; 50a EStG) und ab 2009 wegen der Abgeltungsteuer für Kapitaleinkünfte (s. Rz. 492 ff.); b) wegen einkünftespezifischer Beschränkungen des Verlustausgleichs und Verlustabzugs (s. Rz. 66); c) wegen einkünftespezifischer Befreiungen (§§ 3; 3b EStG), Freibeträgen und Freigrenzen (§§ 13 III; 14a; 16 IV; 17 III; 18 III 2; 19 II; 20 IX; 22 Nr. 3 Satz 2; 23 III 5; 24a EStG) und unterschiedlicher Behandlung von Veräußerungseinkünften (s. Rz. 560 ff.) und von Alterseinkünften (s. Rz. 564 ff.); d) wegen der Pauschalierung bestimmter Erwerbsaufwendungen (s. Rz. 302 ff.); e) wegen einkünftespezifischer Steuerermäßigungen (§§ 34; 34b; 34c; 35 EStG); f) wegen Zusatzbelastung durch andere Steuern, insb. durch die Gewerbesteuer. Die Zusatzbelastung der gewerblichen Einkünfte wird durch die typisierte Anrechnung der Gewerbesteuer nach § 35 EStG rückgängig gemacht; dadurch entstehen neue Ungleichheiten (s. Rz. 840 ff.); g) wegen der Notwendigkeit, die beschränkt steuerpflichtigen Einkünfte richtig zuzuordnen (s. § 49 EStG). Die Frage, ob Einkünfte Inlandseinkünfte sind, hängt von der Einkunftsart ab.
Die Differenzierungen sind zum Teil verdächtig, dem Gleichheitssatz zu widersprechen712. Die Kompliziertheit des deutschen Einkommensteuerrechts erwächst wesentlich daraus, dass an die einzel- 402 nen Einkunftsarten je besondere Vergünstigungen oder Belastungen angehängt werden, Einkommen also nicht gleich Einkommen ist, Einkommen nicht als qualitativ gleichwertig behandelt wird. Die einkunftsartabhängigen Steuerfolgen produzieren eine Flut von Aufsätzen, Monographien, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsvorschriften zur Abgrenzung der Einkunftsarten. Den historischen Fortschritt von der Schedulensteuer zur Gesamteinkommensteuer (s. Rz. 1) macht das zersplitterte Einkunftsartenrecht rückgängig. Das schert die Politiker offensichtlich nicht, denn nach ihrer Auffassung ist der Grundsatz der synthetischen Einkommensteuer „kein Wert an sich“713. Es wird nach Berufsbildern schematisiert (Unternehmer, Arbeitnehmer, Rentner, Nichtrentner). So bekommt ein Arbeitnehmer eine Werbungskostenpauschale von 1 000 Euro (§ 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG) und einen Personalrabatt-Freibetrag von 1 080 Euro (§ 8 III 2 EStG). Der Unternehmer, z.B. ein Kioskbetreiber, muss die Erträge penibel aufzeichnen und sämtlich versteuern. Der Fortschritt, der darin liegt, dass man die Leistungsfähigkeit am Einkommen misst, wird durch lobbyistisch geförderte Sozialklassifikationen zurückgenommen. Das synthetische Konzept der Einkommensteuer wird preisgegeben zugunsten sozialideologischer Klischees. Neuerdings gefährdet der Wettbewerb der Steuersysteme das synthetische Einkommensteuersystem. Wie bereits in Rz. 1 dargelegt, werden Einkünfte aus flüchtigem Geld- und Sachkapital (die sog. Kapitaleinkommen) einem zunehmend niedri711 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 218 ff.; Jehner, DStR 1990, 6; Richter/Richter, BB 1994, 621; Tipke, StRO II2, 668 ff.; Kanzler, FR 1999, 363. 712 Dazu umfassend Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981, 65 ff.; Tipke, FS Kruse, 2001, 215; Tipke, StRO II2, 668 ff. 713 So BT-Drucks. 12/5016, 79, zur Tarifbegrenzung bei gewerblichen Einkünften.
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§ 8 Rz. 403
Einkommensteuer
geren Proportionalsteuersatz unterworfen, während die sog. Arbeitseinkommen weiterhin progressiv besteuert werden. Die Abgeltungsteuer auf Kapitaleinkünfte schreitet in die Richtung einer dualen Einkommensteuer (s. § 7 Rz. 76). Aus der unterschiedlichen Besteuerung von Einkunftsarten ergeben sich zahlreiche Zweifelsfragen bei gemischter Tätigkeit714, namentlich bei der dualen Einkommensteuer, wenn unternehmerische Tätigkeit mit Kapitaleinsatz verbunden ist (s. § 7 Rz. 77). 403 Einen einheitlichen, am Erwerbseinkommen (s. § 7 Rz. 30) ausgerichteten Einkünftetatbestand for-
dern nicht nur Wissenschaftler715, sondern auch Entwürfe politischer Parteien716, die sich allerdings bisher nicht haben durchsetzen können und auch nicht aktiv weiterverfolgt werden. Nach dem Prinzip des Erwerbseinkommens ist es irrelevant, ob der Stpfl. seine Einkünfte unter mehr oder weniger Aktivität, Anstrengung, Begabung, Intelligenz, Vitalität, Willenskraft, Gestaltungskraft, Phantasie oder Risikobereitschaft erzielt. Der für die Einkommenserzielung benötigte Zeitaufwand und die Zeit, zu der die Arbeit geleistet wird, dürfen grds. nicht berücksichtigt werden. § 3b EStG durchbricht diesen Grundsatz mit der Privilegierung von Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit systemwidrig. Nur innerhalb einer einheitlichen Einkommensteuer ist auch ein voller Ausgleich von Verlusten und Gewinnen aus den verschiedenen Einkunftsarten möglich (s. aber Rz. 65 ff.).
II. Gewinneinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 1 EStG) 1. Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft (§§ 13–14a EStG) Literatur: Jachmann, Die Einkommensbesteuerung der Land- und Forstwirtschaft und ihre Zukunft, Agrarrecht 1999, 1; Parsche/Haug/Marcelo/Nam/Reichl, Internationaler Vergleich zur Besteuerung der Systeme der Land- und Forstwirtschaft, 2001; Weitl, Die Rechtsformwahl in der Land- u. Forstwirtschaft unter steuerlichen Gesichtspunkten, Diss., 2003; Agatha/Eisele/Fichtelmann/Schmitz/Walter, Besteuerung der Landund Forstwirtschaft8, 2017; Felsmann/Pape/Giere, Einkommensbesteuerung der Land- und Forstwirte, 3 Bde. (2016); Wiegand, Das Steuervereinfachungsgesetz aus der Sicht der Land- und Forstwirtschaft, NWB 2011, 3606; Wiegand, Abgrenzung der Land- und Forstwirtschaft vom Gewerbe, NWB 2012, 460; Hiller, Die erhöhte Privilegierung der Forstwirtschaft, StWa. 2012, 107; Märkle/Hiller, Die Einkommensteuer bei Land- und Forstwirten11, 2014; Leingärtner, Die Besteuerung der Landwirte (2017); Koss, Besonderheiten bei der Besteuerung forstwirtschaftlicher Betriebe, DStZ 2015, 326.
1.1 Bestimmung und Privilegierung der Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft 404 Die Land- und Forstwirtschaft erfüllt zunächst die Merkmale eines Gewerbebetriebs (§ 15 II EStG).
Was die Land- und Forstwirtschaft von der gewerblichen Bodenbewirtschaftung abhebt, ist die sog. Urproduktion, die natürliche (nicht bauliche, industrielle, spekulative) Bewirtschaftung des Bodens und die Verwertung der dadurch gewonnenen Erzeugnisse pflanzlicher oder tierischer Art717. Können die Einkünfte nicht mehr wesentlich auf die Bodenbewirtschaftung zurückgeführt werden, so 714 Dazu Rose, DB 1980, 2464; Zugmaier, Einkünftequalifikation im Einkommensteuerrecht, Diss., 1998, 56 ff.; Zugmaier, StuW 1998, 334, 335 ff.; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 88, 97, 100, 107 u. § 18 EStG Rz. 50. 715 Einen am Erwerbseinkommen ausgerichteten Einkünftetatbestand empfehlen insb. Rose, Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland, 2002, 150 (§ 2 I); P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, 1 (§ 2 III); Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, Habil., 2004, 7 (§ 2 II); § 2 I Kölner EStGE. 716 So insb. Fraktion der FDP, Gesetzentwurf zur Einführung einer neuen Einkommensteuer u. zur Abschaffung der Gewerbesteuer, BT-Drucks. 15/2349, § 7; Fraktion der CDU/CSU, Ein modernes Steuerrecht für Deutschland – Konzept 21, BT-Drucks. 15/2349, 4 (Ausrichtung am Markteinkommen). 717 Zum Begriff der Land- und Forstwirtschaft s. BFH v. 16.11.1978 – IV R 191/74, BStBl. II 1979, 246 (247); v. 23.1.1992 – IV R 19/90, BStBl. II 1992, 651 (652); v. 29.11.2001 – IV R 91/99, BStBl. II 2002, 221; v. 8.5.2008 – VI R 76/04, BStBl. II 2009, 40 (Spargelschälen keine typische land- u. forstwirtschaftliche Arbeit); Blümich/Nacke, § 13 EStG Rz. 64 ff. (2016); Kirchhof/Kube17, § 13 EStG Rz. 2 ff.
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II. Gewinneinkünfte
Rz. 405 § 8
sind gewerbliche Einkünfte (z.B. Ferien- und Sporthotelbetrieb, Fuhrbetrieb, gewerbliche Tierhaltung und Tierzucht) oder Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung (z.B. Vermietung von Ferienwohnungen im Bauernhaus, Verpachtung eines Bauernhofs durch einen Erwerber, der den Hof nicht bewirtschaftet hat) anzunehmen718. § 13 I Nr. 1 Sätze 4, 5 EStG grenzt i.V.m. §§ 51 II-V; 51a BewG die im Verhältnis zur landwirtschaftlichen Nutzfläche übermäßige Tierzucht und Tierhaltung aus der Landwirtschaft aus (Einzelheiten: R 13.2 EStR 2012). Das Verlustausgleichs- und -abzugsverbot für die gewerbliche Tierhaltung (§ 15 IV 1–2 EStG) soll die traditionelle, mit der Bodenwirtschaft verbundene Tierhaltung schützen719. Forstwirtschaft ist Bodenbewirtschaftung zur Gewinnung von Walderzeugnissen, vor allem Holz, soweit sie nicht einem landwirtschaftlichen oder gewerblichen Betrieb angehört720. Land- und Forstwirtschaft lieferten der Rspr. seit jeher die klassischen Beispiele für Liebhaberei721. Die Land- und Forstwirtschaft kann auch in der Form der Mitunternehmerschaft (§ 13 VII i.V.m. § 15 I 1 Nr. 2 EStG) betrieben werden. Ehegatten können auch ohne ausdrücklichen Gesellschaftsvertrag eine Mitunternehmerschaft bilden, wenn jeder der Ehegatten einen erheblichen (mehr als 10 %) Teil der selbstbewirtschafteten land- und forstwirtschaftlichen Grundstücke zur Verfügung stellt722. Zu den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft gehören auch Gewinne, die bei der Veräußerung oder Aufgabe723 eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebs oder Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils erzielt werden (§ 14 i.V.m. § 16 EStG). Wegen des Zusammenhangs mit der Landwirtschaft sind auch Einkünfte aus einem landwirtschaftli- 405 chen Nebenbetrieb landwirtschaftliche Einkünfte (§ 13 II Nr. 1 Satz 1 EStG). Als Nebenbetrieb gilt ein Betrieb, der dem land- und forstwirtschaftlichen Hauptbetrieb zu dienen bestimmt ist (§ 13 II Nr. 1 Satz 2 EStG). Dies trifft in folgenden beiden Fällen zu (s. R 15.5 III EStR 2012): 1. Vermarktungsbetriebe724: Der Betrieb be- oder verarbeitet Rohstoffe, die überwiegend im eigenen Hauptbetrieb erzeugt worden sind, und verkauft die dabei gewonnenen Erzeugnisse. Bsp.: Substanzbetriebe (Sand-/Kiesgruben, Steinbrüche, Torfstiche), Molkereien, Käsereien, Herstellung u. Vertrieb von Sekt725. Nach Auffassung der Verwaltung muss es sich um eine erste Stufe der Be- oder Verarbeitung handeln, die noch dem land- und forstwirtschaftlichen Bereich zuzuordnen ist (R 15.5 III EStR 2012). Diese „Stufen-
718 Zur Abgrenzung der Land- und Forstwirtschaft zum Gewerbebetrieb BFH v. 8.9.2005 – IV R 38/03, BStBl. II 2006, 166 (Parzellierung u. Veräußerung land- u. forstwirtschaftlich genutzter Grundstücke ist kein gewerblicher Grundstückshandel, sondern LuF-Hilfsgeschäft); v. 8.11.2007 – IV R 24/05, BStBl. II 2008, 356 (Klärschlammtransporte); v. 8.11.2007 – IV R 43/05, BStBl. II 2008, 231 u. v. 8.11.2007 – IV R 35/06, BStBl. II 2008, 359 (kein LuF-Hilfsgeschäft, wenn der zu veräußernde Grundbesitz zu einem Objekt „anderer Marktgängigkeit“ gemacht wird); v. 17.12.2008 – IV R 34/06, BStBl. II 2009, 453 (Zu- u. Weiterverkauf von Reitpferden); v. 19.2.2009 – IV R 18/06, BStBl. II 2009, 654 (Strukturwandel); Märkle, Brennpunkte der Abgrenzung zwischen land- und forstwirtschaftlicher und gewerblicher Tätigkeit, DStR 1998, 1369; Lüschen/Willenborg, INF 1999, 577 (Pferdezucht/-haltung); Blümich/Nacke, § 13 EStG Rz. 146 ff. (2016); Kirchhof/Kube17, § 13 EStG Rz. 4 ff. Abgrenzung zum gewerblichen Grundstückshandel von Schönberg, DStZ 2005, 61; Kanzler, DStZ 2013, 822. 719 BT-Drucks. VI/1934; VI/2315; BFH v. 14.9.1989 – IV R 88/88, BStBl. II 1990, 152. 720 Dazu BFH v. 11.2.1999 – V R 27/97, BStBl. II 1999, 378 (379) (zur forstwirtschaftlichen Urproduktion bei Be- und Verarbeitung von Holz); Blümich/Nacke, § 13 EStG Rz. 65 ff. (2016); Kirchhof/Kube17, § 13 EStG Rz. 12. 721 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 267 f.; Bolin/Butke, INF 2000, 70; Blümich/Nacke, § 13 EStG Rz. 137 ff. (2016); Ritzrow, SteuerStud 2011, 364; Kirchhof/Kube17, § 13 EStG Rz. 8 f.; Schmidt/Kulosa36, § 13 EStG Rz. 96 ff.; zum forstwirtschaftlichen Generationsbetrieb s. Rz. 126. Die Annahme eines forstwirtschaftlichen Betriebs i.S.d. § 13 I Nr. 1 Satz 1 EStG setzt für die Erzielung eines Totalgewinns eine gewisse Größe voraus (s. BFH v. 20.1.2005 – IV R 6/03, BFH/NV 2005, 1511: 90 Hektar Forstbetrieb als Liebhaberei). Zur Liebhaberei bei Gewinnermittlung nach Durchschnittssätzen BFH v. 6.3.2003 – IV R 26/01, BStBl. II 2003, 702. 722 BFH v. 25.9.2008 – IV R 16/07, BStBl. II 2009, 989. 723 BFH v. 16.12.2009 – IV R 7/07, BStBl. II 2010, 431. 724 Dazu Zugmaier, INF 1997, 579. 725 Grenzfall, s. BMF v. 18.11.1996 – IV B 9-S 2233-14/96, BStBl. I 1996, 1434.
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§ 8 Rz. 406
Einkommensteuer
theorie“ lehnt der BFH ab726. Der BFH stellt zu Recht darauf ab, ob der Betrieb einem üblichen Handwerksund Gewerbebetrieb so sehr ähnelt, dass er aus Wettbewerbsgründen als selbständiger gewerblicher Betrieb zu besteuern ist. Demnach sind keine land- oder forstwirtschaftlichen Nebenbetriebe: Metzgereien, Gastwirtschaften, Brauereien, Bäckereien. Die Praxis hält aus Gründen der Rechtssicherheit an den starreren Grenzen der Verwaltung fest727. I.Ü. stellen BFH und BMF für die Annahme eines eigenständigen Handelsgeschäftes darauf ab, ob es sich um einen Hofladen oder eine separate Verkaufsstelle handelt. Zudem zieht er das Verhältnis des Nettoumsatzes aus zugekauften zu selbstproduzierten Produkten heran728. Von einem Gewerbebetrieb ist danach auszugehen, wenn der Nettoumsatz aus zugekauften Produkten ein Drittel des Gesamtumsatzes oder 51 500 Euro im Wirtschaftsjahr nachhaltig übersteigt. 2. Verwertungsbetriebe: Der Betrieb übernimmt Rohstoffe, be- oder verarbeitet diese und verwertet die dabei gewonnenen Erzeugnisse nahezu ausschließlich im eigenen Betrieb der Land- und Forstwirtschaft. Beispiel: Verwertung organischer Abfälle, z.B. Klärschlamm (s. R 15.5 IV EStR 2012). 406 Die traditionelle Privilegierung der Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft gegenüber den ande-
ren unternehmerischen Einkunftsarten i.S.d. §§ 15; 18 EStG ist kontinuierlich zurückgeführt worden. Die Gewinnermittlung nach Durchschnittssätzen (§ 13a EStG) wurde zielgenauer auf kleinere Betriebe zugeschnitten (s. Rz. 408 ff.) und die Steuerermäßigung nach § 34e EStG gegen das sprunghafte Ansteigen der Steuerbelastung beim Ausscheiden aus der Gewinnermittlung nach § 13a EStG ab 2001 gestrichen. Schließlich kassierte der Gesetzgeber die Steuervergünstigungen gem. § 14a EStG für Veräußerungen bäuerlicher Familienbetriebe. 407 Nach wie vor sieht § 13 III EStG aber einen zuletzt durch Zollkodexgesetz v. 22.12.2014 wieder leicht
angehobenen Freibetrag i.H.v. 900 Euro/1 800 Euro vor. Dieser Freibetrag ist bis zu einer Summe der Einkünfte von 30 700 Euro anwendbar (§ 13 III 2 EStG). Weiterhin bestehen folgende Steuervergünstigungen: § 13 IV, V EStG stellen Entnahmegewinne für Wohnungen/Grund und Boden steuerfrei, die bisher in die Nutzungswertbesteuerung nach § 13 II Nr. 2 EStG fielen. Die Nutzungswertbesteuerung ist ab 1999 grds. weggefallen und gilt nur noch für Baudenkmäler fort (§ 13 II Nr. 2 Hs. 2 EStG). Werden einzelne Wirtschaftsgüter des land- und forstwirtschaftlichen Betriebsvermögens gegen Gewährung von Mitgliedsrechten auf einen Betrieb der Tierhaltungskooperation in der Rechtsform einer Erwerbs-/Wirtschaftsgenossenschaft oder eines Vereins übertragen, so kann die ESt auf den Realisationsgewinn nach § 13 VI EStG auf bis zu 5 Jahre verteilt entrichtet werden. § 3 Nr. 17 EStG stellt Zuschüsse zum Beitrag nach § 32 des Gesetzes über die Alterssicherung der Landwirte und § 3 Nr. 27 EStG stellt den Grundbetrag der nach § 13 II Nr. 3 EStG zu versteuernden Produktionsaufgaberente und das Ausgleichsgeld nach dem Gesetz zur Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit bis 18 407 Euro steuerfrei. § 34b EStG gewährt Steuerermäßigungen bei Einkünften aus außerordentlichen Holznutzungen (s. Rz. 812 f.). 1.2 Gewinnermittlung nach Durchschnittssätzen (§ 13a EStG) 408 Land- und Forstwirte, die insb. nach § 141 I AO nicht buchführungspflichtig sind (§ 13a I 1 Nr. 1
EStG) und i.Ü. die in § 13a I 1 Nr. 2–5 EStG niedergelegten Voraussetzungen für Kleinbetriebe erfüllen, haben nach § 13a II EStG die Wahl729 zwischen Betriebsvermögensvergleich (§ 4 I EStG) auf Grund freiwilliger Buchführung, Überschussrechnung nach § 4 III EStG und der Gewinnermittlung nach Durchschnittssätzen (§ 13a III–VII EStG). Hierzu ist ein schriftlicher, nach § 13a II 3 EStG fristgebundener Antrag erforderlich, der den Stpfl. vier Wirtschaftsjahre bindet (§ 13a II 1 EStG).
726 BFH v. 12.12.1996 – IV R 78/95, BStBl. II 1997, 427; s. jedoch Nichtanwendungserlass BMF v. 3.6.1997 – IV B 9-S 2230-77/97, BStBl. I 1997, 629. 727 Schmidt/Kulosa36, § 13 EStG Rz. 66 aE; krit. dagegen Paul/HHR, § 13 EStG Anm. 107 (2012). 728 BFH v. 25.3.2009 – IV R 21/06, BStBl. II 2010, 113; Wiegand, NWB 2012, 460. 729 Dazu M. Ritzow, StBp. 2008, 348.
438
Hey
II. Gewinneinkünfte
Rz. 413 § 8
Seit langem wird gegen die Gewinnermittlung nach § 13a EStG eingewendet, dass sie gleichheitswid- 409 rig nur einen Teil des wirklichen Gewinns erfasse730. Zuletzt hat der Bundesrechungshof 2012 die mangelnde Zielgenauigkeit kritisiert731. Gleichwohl hält der Gesetzgeber an § 13a EStG fest. Nachdem er den Anwendungsbereich bereits durch das StEntlG 1999/2000/2002 deutlich zurückgeschnitten hatte, soll die Neufassung durch das Zollkodexgesetz vom 22.12.2014 vor allem zu einer umfassenderen Berücksichtigung von Sondernutzungen und Sondergewinnen führen732. Die Neufassung des § 13a EStG reduziert die Verletzung des Gleichheitssatzes weiter, beseitigt sie jedoch nicht. Insb. kann § 13a EStG schon im Hinblick auf die Kompliziertheit der Regelung in § 13a III–VII EStG nicht als Vereinfachungsnorm gerechtfertigt werden733. Der Mythos von der steuerlichen Unerfahrenheit des Landwirts734 wird auch durch das Wahlrecht in § 13a II EStG widerlegt, dessen Ausübung steuerminimierende Vergleichsrechnungen zwischen mehreren Gewinnermittlungsarten erfordert. Nach § 13a III EStG besteht der Durchschnittssatzgewinn aus der Summe des Gewinns aus land- 410 und forstwirtschaftlicher Nutzung, Zuschlägen für Sondernutzungen, Sondergewinnen, vereinnahmten Miet- und Pachtzinsen sowie den zu § 13 EStG gehörenden Kapitaleinkünften. Der Gewinn aus der landwirtschaftlichen Nutzung wird nach den Grundsätzen von § 4 I EStG als Summe aus dem Grundbetrag (Hektarwerte, die nach den Vorschriften des BewG zu bestimmen sind, vgl. §§ 13a IV 2 EStG; 160 II 1 Nr. 1a BewG) und Zuschlägen für Tierzucht und Tierhaltung ermittelt. Sondernutzungen sind in § 13a VI EStG definiert. Sondergewinne sind die in § 13a VII EStG näher bestimmten Gewinne aus Veräußerung/Entnahme, Dienstleistungen/vergleichbaren Tätigkeiten, Auflösung von Rücklagen. Einstweilen frei.
411–412
2. Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§§ 15; 16 EStG) 2.1 Allgemeine Begriffsbestimmung Die Legaldefinition des Gewerbebetriebs735 in § 15 II EStG geht auf § 1 I 1 GewStDV 1983 zurück; 413 den dort niedergelegten gewerbesteuerlichen Begriff des Gewerbebetriebs entwickelte bereits die Rspr. des preußischen OVG und des RFH736. § 15 II EStG bestimmt den Begriff „Gewerbebetrieb“ durch folgende Merkmale: a) eine Betätigung (Tätigkeit), die ursächlich ist für den wirtschaftlichen Erfolg; b) Selbständigkeit der Tätigkeit (Handeln auf eigene Rechnung und Gefahr); der Begriff stimmt mit dem des Umsatzsteuerrechts überein (s. § 17 Rz. 37 ff.); Gegensatz: Unselbständigkeit der Tätigkeit (s. Rz. 472); 730 FG Nds. v. 13.10.1978 – I 290/77, EFG 1979, 28; v. 30.6.1980 – VII 18/77, EFG 1981, 136 (rkr.); FG Schleswig-Holstein v. 7.5.1981 – II 352/80, EFG 1981, 571; BFH v. 13.10.1983 – IV R 217/80, BStBl. II 1984, 198 (200); Bundesrechnungshof, BT-Drucks. 13/2600, 106; Kanzler, FR 1998, 233 (237); Kanzler, FR 1999, 423 f.; Kanzler, DStZ 1999, 682; Tipke, StRO II2, 682 f. 731 BT-Drucks. 17/8428, 10 ff. 732 BT-Drucks. 18/3017, 46 f.; zu den Neuerungen krit. Kanzler, DStZ 2015, 375; ferner Wiegand, NWB 2015, 250 u. NWB 2016, 103. 733 Kanzler, FR 1998, 233 (247); Kanzler, DStZ 2015, 375 (391). 734 Kanzler, FR 1998, 233 (240). 735 Dazu Schmidt-Liebig, BB-Beil. 14/1984; Steisslinger, Der Gewerbebetrieb im Handels- und Steuerrecht, 1989; Fischer, FR 2002, 597; Ritzow, StWA 2006, 143. 736 PrOVG v. 1.4.1880 – Rep. II C. 45/80, PrOVGE 6, 385; v. 30.9.1882 – Rep. I. C. 127/82, PrOVGE 9, 128; v. 11.10.1882 – Rep. I. C. 142/82, PrOVG 9, 131; v. 13.6.1883 – Rep. I. A. 32/82, PrOVGE 10, 382 ff.; RFH v. 14.5.1924 – VI v A 5/24, RFHE 14, 19; v. 9.1.1925 – I A 79/24, RFHE 15, 347 (351); v. 4.2.1931 – VI A 176/30, RFHE 28, 21 (26). Das StEntlG 1984 v. 22.12.1983, BGBl. I 1983, 1583, übernahm den damals geltenden § 7 I 1 GewStDV in den § 15 II EStG. Zur Rechtsentwicklung s. Schmidt-Liebig, „Gewerbe“ im Steuerrecht, Diss., 1977, 4 ff.; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 235 ff. (m.w.N.).
Hey 439
§ 8 Rz. 414
Einkommensteuer
c) Nachhaltigkeit der Tätigkeit (berufsmäßige oder länger dauernde, also fortgesetzte Tätigkeit oder Tätigkeit mindestens mit Wiederholungsabsicht); der Begriff der Nachhaltigkeit stammt aus dem Umsatzsteuerrecht (§ 2 I 3 UStG; s. § 17 Rz. 41 ff.); Gegensatz: gelegentlich (s. § 22 Nr. 3 EStG); d) Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr; dieses Merkmal kennzeichnet den objektiven Tatbestand gewerblicher Einkünfte (s. Rz. 123); 414
e) Gewinnerzielungsabsicht; dieses Merkmal des subjektiven Tatbestandes grenzt insb. die gewerblichen Einkünfte von nicht steuerbaren Einkünften aus Liebhaberei, und auf Aufwendungsersatz beschränkten Einnahmen aus gemeinnütziger und ehrenamtlicher Tätigkeit ab; Die Gewinnerzielungsabsicht kann Nebenzweck sein (§ 15 II 3 EStG); die Absicht muss sich auf die Erzielung einer Vermögensmehrung durch gewerbliche Betätigung beziehen; eine Minderung der Einkommensteuer ist keine solche Vermögensmehrung (§ 15 II 2 EStG), da sie nicht wesentlich auf der gewerblichen Betätigung beruht. f) negativ: keine Land- und Forstwirtschaft (§ 13 EStG) oder selbständige Arbeit (§ 18 EStG). I.Ü. wird die sog. private Vermögensverwaltung ohne positive Grundlage in § 15 II 1 EStG (s. aber § 14 AO) von dem Gewerbebetrieb unterschieden737.
415
§ 15 II EStG enthält einen Merkmalkatalog, der den Begriff des Gewerbebetriebs klassifikatorisch festzulegen scheint. Gleichwohl wird der Begriff des Gewerbebetriebs zutreffend als Typusbegriff interpretiert738. Die Abgrenzung der Einkunftsarten determinieren nämlich hauptsächlich historisch vorfixierte Tätigkeitsbilder; dies zwingt zu einer typologischen Interpretation des § 15 II EStG. Demnach kann die Rechtsfolge nicht allein durch formallogische Subsumtion unter die Begriffsmerkmale des § 15 II EStG gewonnen werden. Die typologisch operierende Rspr. stellt auf das „Gesamtbild der Betätigung“ und die „Verkehrsauffassung“ ab739.
416
Gewerbliche Einkünfte können von anderen Gewinneinkünften hauptsächlich nur nach Berufsbildern des Einkünftehistorismus (Land-, Forstwirt, Händler, Kaufmann, Arzt, Rechtsanwalt u.a. sog. Katalogberufe i.S.d. § 18 I Nr. 1 Satz 2 EStG, s. Rz. 426 ff.) unterschieden werden740. Bei der Abgrenzung der gewerblichen Einkünfte zu den Überschusseinkünften dominiert der Typus des Unternehmers: Unternehmer ist nach der st. Rspr., wer Unternehmerrisiko trägt und Unternehmerinitiative entfalten kann741. Mit diesem Ty-
737 Dazu J. Lang, StbKongrRep. 1988, 49; Führer, Die Abgrenzung der privaten Vermögensverwaltung vom Gewerbebetrieb bei natürlichen Personen und Personengesellschaften, Diss., 1996; Bloehs, Die Abgrenzung privater Vermögensverwaltung von gewerblichen Grundstücks- und Wertpapiergeschäften, Diss., 2001; Elicker, DStJG 30 (2007), 97; Hartrott, FR 2008, 1095; Fischer, DStR 2009, 398. Zur Abgrenzung des Grundstückshandels zur Vermietung und Verpachtung s. Rz. 516 f.; Wertpapierverwaltung: Rz. 417. 738 S. insb. BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (754); Strahl, Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht, Diss., 1996, 25 ff.; Drüen, StuW 1997, 261; Brockmeyer, FS Offerhaus, 1999, 13 (27 f.); Zugmaier, Einkünftequalifikation im Einkommensteuerrecht, Diss., 1998, 114 ff.; Zugmaier, FR 1999, 997; Altfelder, FR 2000, 349 (354 f.); Fischer, DStZ 2000, 885; Mössner, FS Kruse, 2001, 161 (172 ff.); Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 8. Dezidiert gegen die typisierende Judikatur Weber-Grellet, FS Beisse, 1997, 551. 739 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (763); v. 10.12.2001 – GrS 1/98, BStBl. II 2002, 291 (292); v. 22.2.2012 – X R 14/10, BStBl. II 2012, 511 (514). 740 Dazu Schmidt-Liebig, StuW 1977, 302 (304 ff.); J. Lang, Bemessungsgrundlage, 222 ff. (m.w.N.). 741 Schön, Unternehmerrisiko und Unternehmerinitiative im Lichte der Einkommenstheorien, FS Offerhaus, 1999, 385; ferner insb. die Rspr. zur Mitunternehmerschaft, s. BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (768 f.), im Weiteren § 10 Rz. 35 ff. Abgrenzung zur nichtselbständigen Arbeit s. BFH v. 14.12.1978 – I R 121/76, BStBl. II 1979, 188; v. 20.2.1979 – VIII R 52/77, BStBl. II 1979, 414; v. 10.12.1987 – IV R 176/85, BStBl. II 1988, 273; v. 22.1.1988 – III R 43-44/85, BStBl. II 1988, 497; v. 12.10.1989 – IV R 118-119/87, BStBl. II 1990, 64; v. 24.7.1992 – VI R 126/88, BStBl. II 1993, 155;
440
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II. Gewinneinkünfte
Rz. 418 § 8
pus färbt die Rspr. die Legaldefinition des § 15 II 1 EStG, die mit dem Merkmal „Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr“ markteinkommenstheoretisch begründet ist (s. § 7 Rz. 30). Erwirtschaftet der Stpfl. Einkünfte nur gegenüber einem Kunden oder gegenüber einem Angehörigen (s. Rz. 123), so stellt der BFH auf das „Bild einer unternehmerischen Marktteilnahme“ ab742. Zur Ausgrenzung der sog. privaten Vermögensverwaltung stellt die Rspr. zutr. auf die quellentheoretische 417 Konzeption der Überschusseinkünfte (s. Rz. 182) ab: Vermögensverwaltung nimmt die Rspr. an, wenn das Vermögen zu einer regelmäßig längerfristigen Erhaltung und Fruchtziehung angelegt wird (s. auch § 14 Satz 3 AO). Tritt hingegen die Umschichtung von Vermögen, z.B. durch Grundstücks- und Wertpapierhandel in den Vordergrund, so bejaht die Rspr. Gewerbebetrieb. Dabei praktiziert die Rspr. im Verhältnis zur Vermietung und Verpachtung die „Drei-Objekt-Grenze“ (s. Rz. 517). Während danach die Rspr. den Begriff des Gewerbebetriebs mittels Annahme eines Grundstückshandels extensiv interpretiert, erkennt sie die permanente Umschichtung von Wertpapierbeständen als Pflege des Stammvermögens an, so dass selbst bei einem häufigen Umschlag von Wertpapieren der Bereich privater Wertpapierverwaltung noch nicht verlassen wird. Wertpapierhandel und Gewerbebetrieb liegen nach st. Rspr. erst vor, wenn sich der Stpfl. „wie ein Händler“ verhält. Das „Bild des Wertpapierhandels“ wird geprägt durch den Geschäftsumfang, das Unterhalten eines Büros und die professionelle Marktteilnahme wie das öffentliche Anbieten von Wertpapiergeschäften auf Grund beruflicher Erfahrung und Eignung743. Vor dem Hintergrund der Werbungskostenabzugs- und Verlustverrechnungsbeschränkungen im Rahmen der Abgeltungsteuer (§ 20 VI, IX EStG) wird der Zuordnung weiterhin erhebliche Bedeutung zukommen.
§ 15 IV EStG enthält ein Ausgleichs- und Abzugsverbot für Verluste aus gewerblicher Tierzucht oder 418 Tierhaltung, aus Termingeschäften (§ 15 IV 3–5 EStG)744, stillen Gesellschaften und Unterbeteiligungen (§ 15 IV 6–8 EStG); Letzteres diente „zur Absicherung der Abschaffung der sog. Mehrmütterorganschaft“745. Die Regelung für Termingeschäfte soll verhindern, dass Termingeschäfte aus dem privaten Bereich in den gewerblichen Bereich verlagert werden, um Verluste besser verrechnen zu können746. Mit dem objektiven Nettoprinzip ist § 15 IV 3–5 EStG unvereinbar und verletzt Art. 3 I GG. Eine Rechtfertigung zur Missbrauchsvermeidung scheidet aus747.
742 743
744 745 746 747
v. 17.10.1996 – V R 63/94, BStBl. II 1997, 188; v. 29.5.2008 – VI R 11/07, BStBl. II 2008, 933; v. 14.6.2007 – VI R 5/06, BStBl. II 2009, 931. BFH v. 15.12.1999 – I R 16/99, BStBl. II 2000, 404 (405). Zur Abgrenzung der Wertpapierverwaltung zum Gewerbebetrieb BFH v. 29.10.1998 – XI R 80/97, BStBl. II 1999, 448; v. 20.12.2000 – X R 1/97, BStBl. II 2001, 706 (Optionskontrakte); v. 25.7.2001 – X R 55/97, BStBl. II 2001, 809 (Handel mit GmbH-Anteilen); v. 19.9.2002 – X R 51/98, BStBl. II 2003, 394; v. 22.1.2003 – X R 37/00, BStBl. II 2003, 464; v. 30.7.2003 – X R 7/99, BStBl. II 2004, 408; v. 1.6.2004 – IX R 35/01, BStBl. II 2005, 26; v. 11.10.2012 – IV R 32/10, BStBl. II 2013, 538 („gebrauchte“ Lebensversicherungen, m. Anm. Egner/Kohl, NWB 2013, 2546); v. 18.8.1999 – IX B 47/99, BFH/ NV 2000, 185 (Devisengeschäfte); v. 10.4.2006 – X B 209/05, BFH/NV 2006, 1461 („Bild des Wertpapierhändlers“); v. 28.11.2007 – X R 24/06, BFH/NV 2008, 774 (Optionsgeschäfte einer angestellten Börsenmaklerin); v. 2.9.2008 – X R 14/07, BFH/NV 2008, 2012; v. 16.9.2008 – X B 158/07, BFH/NV 2008, 2024 (Gesamtheit der Verhältnisse u. Verkehrsanschauung). Lit. ab 2004: Ritzow, SteuerStud 2006, 81; Schuhmann, StBp. 2008, 141; zur Rspr. des BFH: J. Förster, SteuerStud 2009, 348; Wagner, StuB 2009, 875; zu Venture Capital u. Private Equity Fonds: BFH v. 24.8.2011 – I R 46/10, BStBl. II 2014, 764 (dazu Süß/Mayer, DStR 2011, 2276); ferner BMF v. 16.12.2003 – IV A 6-S 2240-153/03, BStBl. I 2004, 40; Tz. 20 geändert mit Schreiben v. 21.3.2007 – IV B 7-G 1421/0, BStBl. I 2007, 302. Dazu BT-Drucks. VI/1934; VI/2315; HHR/Intemann, § 15 EStG Anm. 1504 f. (2013); Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 409 ff.; nach BFH v. 28.4.2016 – IV R 20/13, BStBl. II 2016, 739 (740 f.) verfassungskonform, solange es nicht zu einer Definitivbelastung kommt. BT-Drucks. 15/119, 38; verfassungsrechtliche Bedenken HHR/Intemann, § 15 EStG Anm. 1507 (2013). Zu den Verlustabzugsbeschränkungen für atypisch stille Gesellschaften BMF v. 19.11.2008 – IV C 6 S 2119/07/10001, BStBl. I 2008, 970. BT-Drucks. 14/443, 27. Detailliert HHR/Intemann, § 15 EStG Anm. 1506 (2013).
Hey 441
§ 8 Rz. 419
Einkommensteuer
2.2 Überblick über die Arten der gewerblichen Einkünfte 419 § 15 I EStG differenziert die Einkünfte aus Gewerbebetrieb in
a) Einkünfte aus gewerblichen Einzelunternehmen (§ 15 I 1 Nr. 1 EStG); b) Einkünfte aus Mitunternehmerschaften (dazu § 10 Rz. 10 ff.), das sind Gewinnanteile und Sondervergütungen (s. § 15 I 1 Nr. 2 EStG) der Gesellschafter einer OHG, KG (inkl. GmbH & Co. KG) oder einer anderen Gesellschaft, bei der der Gesellschafter als Mitunternehmer anzusehen ist. Der Wortlaut des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG ist unvollständig: Mitunternehmer sind nicht nur Gesellschafter, sondern auch Beteiligte anderer Erwerbsgemeinschaften, z.B. an Gesamthandsgemeinschaften in Form von Erben-, Güter- und Bruchteilsgemeinschaften748; c) Einkünfte der persönlich haftenden Gesellschafter einer KG auf Aktien (§ 15 I 1 Nr. 3 EStG); d) nachträgliche Einkünfte von Mitunternehmern i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2, 3 EStG (§ 15 I 2 EStG). 420 § 16 EStG regelt die Beendigung der gewerblichen Tätigkeit durch Betriebsveräußerung oder -auf-
gabe und erfasst i.E. – Einkünfte aus der Veräußerung eines ganzen Gewerbebetriebs oder eines Teilbetriebs (§ 16 I 1 Nr. 1 Satz 1 EStG). Teilbetrieb ist ein organisatorisch geschlossener, mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestatteter, selbständig lebensfähiger Teil eines Gesamtbetriebs749. Als Teilbetrieb gilt auch die das gesamte Nennkapital umfassende Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft (§ 16 I 1 Nr. 1 Satz 2 EStG); – Einkünfte aus der Veräußerung des gesamten Mitunternehmeranteils (§ 16 I 1 Nr. 2 EStG) und des gesamten Komplementäranteils an einer KGaA (§ 16 I 1 Nr. 3 EStG); – Einkünfte aus der Aufgabe des Gewerbebetriebs oder eines Anteils i.S.d. § 16 I 1 Nr. 2, 3 EStG. Die Realteilung einer Mitunternehmerschaft (s. § 10 Rz. 201 f.) gilt als Anteilsaufgabe (§ 16 III 2 EStG). Die Aufgabe eines Teilbetriebs fällt nach st. Rspr.750 auch unter § 16 III 1 EStG, obgleich dort der Teilbetrieb nicht aufgeführt ist (teleologische Extension des § 16 III 1 EStG!). Unverständlich ist, warum diese Lücke bei der Neufassung des § 16 III EStG durch das StEntlG 1999/2000/2002 nicht geschlossen worden ist. § 16 IIIa EStG stellt parallel zu § 4 I 3 EStG den Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts in Deutschland hinsichtlich der Veräußerung sämtlicher Wirtschaftsgüter der Betriebsaufgabe gleich. § 16 IIIb EStG regelt, wann in den Fällen der Betriebsunterbrechung und Betriebsverpachtung von Betriebsaufgabe auszugehen ist (s. auch § 9 Rz. 465). 421 Durch § 16 EStG wird die Steuerbarkeit gewerblicher Einkünfte nicht erweitert751 (Rz. 196). Sie
ergibt sich bereits aus dem an der Reinvermögenszugangstheorie orientierten Tatbestand der §§ 2 II 1 Nr. 1; 15 EStG, den die §§ 4 ff. EStG zu quantifizieren haben; dementsprechend ist auch die Legaldefinition des allgemeinen Gewinnbegriffs in § 4 I EStG zu interpretieren. Ohne § 16 EStG würde der Gewinn des letzten Wirtschaftsjahrs den Veräußerungsgewinn einschließen. Die konstitutive Bedeutung des § 16 EStG besteht darin, zusammengeballte stille Reserven gem. §§ 16 IV; 34 EStG ermäßigt zu besteuern, um einer überhöhten progressiven Belastung des Veräußerungs- bzw. Auf-
748 S. BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (768). 749 Dazu ausf. Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 140 ff.; grdl. Greil, StuW 2011, 84; Feldgen, Ubg 2012, 459. 750 Z.B. BFH v. 19.4.1994 – VIII R 2/93, BStBl. II 1995, 705; v. 11.9.1997 – VIII B 101/96, BFH/NV 1998, 452 (453). 751 So die h.M., z.B. Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz. 3 (2015); Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 5. A.A. KSM/Reiß, § 16 EStG Rz. A 31 f. (1991); Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993, 777; HHR/Geissler, § 16 EStG Anm. 3 (2013); Kirchhof/Reiß17, § 16 EStG Rz. 5 f.
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Hey
II. Gewinneinkünfte
Rz. 425 § 8
gabengewinns entgegenzuwirken sowie Umstrukturierungen (Realteilung) ohne Aufdeckung stiller Reserven durchzuführen. Die ermäßigte Besteuerung der Veräußerungsgewinne i.S.d. § 16 EStG bestand bis 1996 allgemein in zwei Komponenten, einem Freibetrag (§ 16 IV EStG) und einer Halbierung des Steuersatzes nach § 34 EStG. Diese beiden Komponenten reduzierte der Gesetzgeber für Veräußerungen nach 1995: Zunächst schränkte das JStG 1996 § 16 IV EStG subjektiv ein, indem der Freibetrag nur noch Personen gewährt wird, die das 55. Lebensjahr vollendet haben oder im sozialversicherungsrechtlichen Sinne dauernd berufsunfähig geworden sind. Sodann ersetzte das StEntlG 1999/2000/2002 die Halbierung des Steuersatzes durch die rechnerische Gewinnverteilung auf fünf Jahre (§ 34 I i.V.m. II Nr. 1 EStG). Nach heftigem Parteienstreit um eine „mittelstandsfreundliche“ Steuerpolitik wurde die Halbierung des Steuersatzes für den durch § 16 IV EStG begünstigten Personenkreis mit dem StSenkG wieder eingeführt. Mithin genießen nurmehr die älteren oder berufsunfähigen Personen einen Freibetrag von 45 000 Euro, der durch Veräußerungsgewinne ab 136 000 Euro reduziert wird (§ 16 IV EStG), sowie den ermäßigten Steuersatz von 56 % des durchschnittlichen Steuersatzes, mindestens jedoch 14 % nach § 34 III EStG (s. Rz. 825).
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3. Einkünfte aus selbständiger Arbeit (§ 18 EStG) Literatur: Schick, Die freien Berufe im Steuerrecht, 1973; Wolff-Diepenbrock, Zur Begriffsbestimmung der ‚Katalogberufe‘ und der ihnen ähnlichen Berufe in § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG, DStZA 1981, 333; Korn, Allgemeine Besteuerungsprobleme im Freien Beruf, berufsspezifische Besteuerungsprobleme in den Freien Berufen, StKongrRep. 1995, 143; Freier, Der Tatbestand der freien Berufe als Anknüpfungspunkt für Steuerrechtsdifferenzierungen, Diss., 1996; Caspers, Die Besteuerung freiberuflicher Einkünfte. Steuerrecht als Folge der Berufs- und Standesordnungen, Diss., 1999; Möckershoff, Hdb. Freie Berufe im Steuerrecht, 1999; Pezzer, Die Besteuerung der freien Berufe gem. § 18 EStG – eine der abenteuerlichsten Kletterwände des Einkommensteuerrechts, in FS J. Lang, 2010, 491; Zaumseil, Abgrenzungsmerkmale der den Katalogberufen ähnlichen freien Berufe nach jüngster Rechtsprechung, FR 2010, 353; Schmittmann, Aktuelle Entwicklungen bei der Abgrenzung von gewerblicher und freiberuflicher Tätigkeit, StuB 2010, 153; Hallerbach, Aktuelle Probleme bei der Besteuerung von Freiberuflern, StuB 2011, 250; Korn, Steuerbrennpunkte bei Freiberufler-Kooperationen, in FS Streck, 2011, 71; Gragert, Einkünfte aus selbständiger Arbeit, NWB 2011, 2534; Korn, Erweiterung des Anwendungsbereichs von § 18 EStG durch die Rechtsprechung, KÖSDI 2012, 17755; Jahn, Steuerliche Abgrenzung gewerblicher Tätigkeit von freiberuflicher und sonstiger Tätigkeit, DB 2012, 1947; Korn, Neues zur Ertragsbesteuerung von Freiberuflern, KÖSDI 2014, 18695; Rieger, Kunst und Künstler als Gegenstand des Einkommen- und Erbschaftsteuerrechts, Diss., 2015.
Die Zuordnung zu § 18 EStG bedeutet zugleich: Gewinnermittlung nach § 4 III (oder § 4 I) EStG; 423 keine Gewerbesteuerpflicht; s. auch § 96 BewG. § 18 EStG unterscheidet vier Gruppen von selbständiger Arbeit (s. Rz. 431). Davon ist die freiberufliche Tätigkeit die wichtigste. Die freiberufliche Tätigkeit (§ 18 I Nr. 1 EStG) erfüllt alle Merkmale der gewerblichen Tätigkeit, wird 424 aber durch § 15 II EStG ausdrücklich aus der gewerblichen Tätigkeit ausgeklammert. Die vorübergehende Tätigkeit i.S.d. § 18 II EStG ist auch nachhaltige Tätigkeit. Gelegentliche Tätigkeit fällt unter § 22 Nr. 3 EStG. Die Abgrenzung der freiberuflichen zur gewerblichen Tätigkeit752 wird dadurch erschwert, dass der 425 Gesetzgeber dem Typusbegriff des Gewerbebetriebs (s. Rz. 415) keinen allgemeinen Typusbegriff des freien Berufs gegenüberstellt, sondern die freiberufliche Tätigkeit in drei Kategorien aufsplittert, zu-
752 Dazu Hummes, Die rechtliche Sonderstellung der freien Berufe im Vergleich zum Gewerbe, Diss., 1979; Kellersmann, Die Abgrenzung der Einkünfte aus selbständiger Arbeit von den Einkünften aus Gewerbebetrieb, Diss., 1994; Caspers, Die Besteuerung freiberuflicher Einkünfte, 8 ff.; Kempermann, Abgrenzung zwischen freiberuflicher u. gewerblicher Tätigkeit unter besonderer Berücksichtigung von Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern, StbJb. 2003/2004, 379 (380); Jahn, DB
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§ 8 Rz. 426
Einkommensteuer
nächst in die Kategorie bestimmter intellektueller (wissenschaftliche, künstlerische, schriftstellerische, pädagogische) Tätigkeiten, sodann in die Kategorien der Katalogberufe und der den Katalogberufen ähnlichen Berufe. 426 Dem Gesetz lässt sich kein Kriterium entnehmen, das es rechtfertigen würde, Freiberufler anders zu
besteuern als Gewerbetreibende, besonders im Hinblick auf die Gewerbesteuer. Es kann weder auf ein historisches Verständnis von „artes liberales“753, das für eine Differenzierung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip oder kommunalsteuerlich nach dem Äquivalenzprinzip ohnehin völlig untauglich wäre, noch auf berufsrechtliche Rahmenbedingungen zurückgegriffen werden. So spielt zwar das Berufsrecht eine Rolle, um Katalogberufe wie den des Arztes, Rechtsanwalts, Notars, Architekten und Steuerberaters zu fixieren. Gleichwohl schützt das Berufsrecht nicht vor Gewerblichkeit. So kann z.B. die insolvenzverwaltende Tätigkeit eines Rechtsanwalts als gewerblich zu qualifizieren sein754. Besonders willkürlich fällt die Anwendung von Berufsrecht in der Kategorie ähnlicher Berufe aus. Soll die Freiberuflichkeit eines Heilhilfsberufs von seiner staatlichen Genehmigung abhängen, wenn der Heilhilfsberuf nur in einigen Bundesländern einer staatlichen Genehmigung bedarf755? 427 Hierzu stellt sich zunächst die Frage, wie lange es noch der Rspr. zugemutet werden soll, sich mit steu-
errechtsfremden Themen zu befassen, weil das Gesetz gewerbliche und freiberufliche Unternehmer ungleich behandelt und dabei den Gleichheitssatz evident verletzt. Allerdings will sich das BVerfG mit dem heiklen Thema nicht befassen756. Letztlich lässt sich der gleichheitswidrige Zustand nur de lege ferenda beseitigen, indem alle unternehmerischen Einkünfte in einer Einkunftsart zusammengezogen werden (so § 4 I Nr. 1, II Kölner EStGE). Allerdings tendiert der BFH zunehmend zu einem weiten Verständnis von § 18 EStG. Nach den drei Tätigkeitskategorien des § 18 I Nr. 1 EStG sind als freiberuflich zu qualifizieren:
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2007, 2613 (Abgrenzung zur freiberuflichen u. sonstigen Tätigkeit). Österreich: Jolik-Fürst/Tröszter, ÖStZ 2005, 315 ff., 377 ff. Dazu Hermann, Die freien Berufe, Diss., 1973, 36 ff.; Hummes, Die rechtliche Sonderstellung der freien Berufe im Vergleich zum Gewerbe, Diss., 1979, 31 ff.; Caspers, Besteuerung freiberuflicher Einkünfte, 14 f., 49 f. (Kulturgüterproduktion), 53 f. (geistiges Vermögen); zweifelhafter Ansatz von Zaumseil, FR 2010, 353 ff., mittels des Leistungsfähigkeits- und Äquivalenzprinzips zu einer trennscharfen Abgrenzung zu gelangen. BFH v. 12.12.2001 – XI R 56/00, BStBl. II 2002, 202 (basierend auf Vervielfältigungstheorie). Bei Einsatz qualifzierter Mitarbeiter grds. aber § 18 I Nr. 3 EStG, vgl. BFH v. 26.1.2011 – VIII R 3/10, BStBl. II 2011, 498; v. 15.12.2010 – VIII R 50/09, BStBl. II 2011, 506. Vgl. m.w.N. BFH v. 20.3.2003 – IV R 69/00, BStBl. II 2003, 480 (Anfrage des IV. Senats an den XI. Senat); v. 28.8.2003 – IV R 69/00, BStBl. II 2004, 954 (Änderung der Rspr.: berufsständische Erlaubnis genügt); BMF v. 22.10.2004 – IV B 2-S 2246-3/04, BStBl. I 2004, 1030; Kempermann, StbJb. 2003/2004, 379 (381). Nach BFH v. 29.11.2001 – IV R 65/00, BStBl. II 2002, 149, war ein nach niedersächsischem Landesrecht ausgebildeter und anerkannter medizinischer Fußpfleger in Nordrhein-Westfalen gewerblich tätig, weil dort der Beruf des Podologen mit gesundheitsamtlicher Überwachung noch nicht gesetzlich geregelt war (zur bundeseinheitlichen Regelung ab 2002 s. BMF v. 1.10.2002 – IV A 6-S 2246-35/02, BStBl. I 2002, 962. Nach BFH v. 19.9.2002 – IV R 45/00, BStBl. II 2003, 21, ist ein Fußreflexzonenmasseur mangels gesetzlicher Berufsregelungen nicht freiberuflich, sondern gewerblich tätig. Ebenso BFH v. 13.2.2003 – IV R 49/01, BStBl. II 2003, 721, für Sprachheilpädagogin, die jedoch unterrichtend oder erzieherisch tätig sein kann. BVerfG hat die Verfassungsbeschwerden gegen BFH v. 12.12.2001 – XI R 56/00, BStBl. II 2002, 202 (Insolvenzanwalt) mit Kammerbeschluss v. 5.3.2003 – 1 BvR 437/02 und gegen BFH v. 19.9.2002 – IV R 45/00, BStBl. II 2003, 21 (Fußreflexzonenmasseur) mit Kammerbeschluss v. 9.7.2003 – 1 BvR 2317/02 nicht zur Entscheidung angenommen.
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II. Gewinneinkünfte
Rz. 427 § 8
– wissenschaftliche, künstlerische, schriftstellerische, unterrichtende und erzieherische Tätigkeiten757. Der BFH hat sich steuerrechtlich unsinnig mit den Begriffen der Wissenschaft758, Kunst759, Schriftstellerei760 und Pädogogik761 zu befassen; – Katalogberufe: Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Heilpraktiker, Dentisten, Krankengymnasten; rechtsund wirtschaftsberatende Berufe, nämlich Rechtsanwälte, Notare, Patentanwälte, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, beratende Volks- und Betriebswirte, vereidigte Buchprüfer und Bücherrevisoren, Steuerbevollmächtigte; naturwissenschaftlich-technisch orientierte Berufe, nämlich Vermessungsingenieure, Ingenieure, Handelschemiker, Architekten; Journalisten und Bildberichterstatter; Dolmetscher und Übersetzer; Lotsen (Abgrenzung von Berufsgruppen nach Berufsinhalten); – den Katalogberufen ähnliche Berufe. In Betracht kommt die Ähnlichkeit mit einem einzeln aufgeführten Beruf oder mit mehreren aufgeführten Berufen. Gruppenähnlichkeit, also die Ähnlichkeit zum „Freiberufler an sich“, reicht nicht aus762. Ähnlichkeit liegt vor, wenn der Beruf in we-
757 Zu diesen Tätigkeiten Caspers, Besteuerung freiberuflicher Einkünfte, 108 ff.; HHR/Brandt, § 18 EStG Anm. 91 ff. (2015); Kirchhof/Pfirrmann17, § 18 EStG Rz. 41 ff.; Schmidt/Wacker36, § 18 EStG Rz. 62 ff. 758 Dazu z.B. BFH v. 23.11.2000 – IV R 48/99, BStBl. II 2001, 241 (243): hoch qualifizierte, methodische Arbeit zur Lösung schwieriger Probleme. Dabei sei der Begriff der Wissenschaftlichkeit in besonderem Maße mit den an Hochschulen gelehrten Disziplinen verbunden. Nach BFH v. 8.10.2008 – VIII R 74/05, BStBl. II 2009, 238, ist ein Promotionsberater nicht wissenschaftlich i.S.d. § 18 I Nr. 1 Satz 2 EStG tätig. Praxisorientierte Kenntnisvermittlung oder Beratung (Politikberatung) ist nicht wissenschaftlich BFH v. 14.5.2014 – VIII R 18/11, BStBl. II 2015, 128 (129 f.). 759 Nach st. Rspr. (BFH v. 7.10.1971 – IV R 139/66, BStBl. II 1972, 335; v. 14.12.1976 – VIII R 76/75, BStBl. II 1977, 474; v. 2.12.1980 – VIII R 32/75, BStBl. II 1981, 170; v. 22.3.1990 – IV R 145/88, BStBl. II 1990, 643; v. 11.7.1991 – IV R 33/90, BStBl. II 1992, 353; v. 11.7.1991 – IV R 15/90, BStBl. II 1991, 889; v. 11.7.1991 – IV R 102/90, BStBl. II 1992, 413; v. 30.3.1994 – I R 54/93, BStBl. II 1994, 864 [865]) übt ein Stpfl. eine künstlerische Tätigkeit aus, wenn er eine eigenschöpferische Leistung vollbringt, in der seine individuelle Anschauungsweise und Gestaltungskraft zum Ausdruck kommt, und die über eine hinreichende Beherrschung der Technik hinaus grds. eine gewisse künstlerische Gestaltungshöhe erreicht. Dieser Kunstbegriff berücksichtigt nach BFH v. 23.9.1998 – XI R 71/97, BFH/ NV 1999, 460 (462), die Rspr. des BVerfG zu Art. 5 III GG (BVerfG v. 24.2.1971 – 1 BvR 435/68, BVerfGE 30, 173 [188 f.]; v. 17.7.1984 – 1 BvR 816/82, BVerfGE 67, 213 [226]; v. 3.6.1987 – 1 BvR 313/85, BVerfGE 75, 369 [377]; v. 27.11.1990 – 1 BvR 402/87, BVerfGE 83, 130 [139]). 760 Schriftstellerisch ist tätig, wer eigene Gedanken mit den Mitteln der Sprache schriftlich für die Öffentlichkeit niederlegt (BFH v. 30.10.1975 – IV R 142/72, BStBl. II 1976, 192 [193]: Übersetzung). An die Qualität der Gedankenäußerung sind keine besonderen Anforderungen zu stellen (BFH v. 25.4.2002 – IV R 4/01, BStBl. II 2002, 475 (477): Bedienungsanleitungen). Das Schriftliche steht im Gegensatz zum Mündlichen, zum Vortrag bzw. zur Rede. Die Gedanken müssen nicht zu Papier gebracht werden. BFH v. 10.9.1998 – IV R 16/97, BStBl. II 1999, 215 (216) lässt jedes körperliche Medium, also auch elektronische Medien (Abspeichern u. Download) zu. Dazu Wendt, FR 1999, 128; Trachte/Helios, BB 2001, 909. 761 Unterrichtende Tätigkeit ist die Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten u. Einstellungen durch Lehrer an Schüler in organisierter u. institutionalisierter Form (BFH v. 13.1.1994 – IV R 79/92, BStBl. II 1994, 362; v. 2.2.2000 – XI R 38/98, BFH/NV 2000, 839). Erziehung ist die planmäßige Tätigkeit zur körperlichen, geistigen u. charakterlichen Formung junger Menschen (BFH v. 21.12.1965 – V 24/62 U, BStBl. III 1966, 182; v. 21.11.1974 – II R 107/68, BStBl. II 1975, 389; v. 17.5.1990 – IV R 14/87, BStBl. II 1990, 1018; v. 19.6.1997 – IV R 26/96, BStBl. II 1997, 652 [653]). Die Erziehung muss der Betreuungsleistung das Gepräge geben. 762 BFH v. 26.11.1992 – IV R 109/90, BStBl. II 1993, 235; v. 14.2.2013 – III B 67/12, BFH/NV 2013, 920.
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§ 8 Rz. 428
Einkommensteuer
sentlichen Punkten einem Katalogberuf in Bezug auf Ausbildung und berufliche Tätigkeit vergleichbar ist763. Die Fertigkeiten kann sich der Stpfl. auch autodidaktisch aneignen764. 428 Dementsprechend geht es bei der Abgrenzung der freiberuflichen Tätigkeit i.S.d. § 18 I Nr. 1 EStG zur
gewerblichen Tätigkeit um die Zuordnung zu einem bestimmten Tätigkeitsinhalt oder zu einem Katalogberuf oder zu dem einem Katalogberuf ähnlichen Beruf. Danach üben ein Gewerbe aus z.B. Berufssportler765, Makler, Werbefachleute, Gebrauchsgraphiker, Fotografen, die nicht künstlerisch tätig (z.B. Mode- und Werbefotografen) und auch keine Journalisten766 oder Bildberichterstatter767 sind, Fotomodelle, Detektive und Versicherungsberater768. Katalogberufler können gewerblich tätig sein769. Dauerproblematisch ist die Gewerblichkeit von Heilberufen770 sowie die Tätigkeiten der Ingenieure und Architekten771 und der beratenden Volks- und Betriebswirte772. Besondere Schwierigkeiten be-
763 BFH v. 12.10.1989 – IV R 118-119/87, BStBl. II 1990, 64; v. 5.10.1989 – IV R 154/86, BStBl. II 1990, 73; v. 9.7.1992 – IV R 116/90, BStBl. II 1993, 100; v. 18.5.2000 – IV R 89/99, BStBl. II 2000, 625; v. 16.5.2002 – IV R 94/99, BStBl. II 2002, 565; v. 19.9.2002 – IV R 45/00, BStBl. II 2003, 721. 764 Autodidakten: BFH v. 28.8.2003 – IV R 21/02, BStBl. II 2003, 919; v. 1.3.2000 – VI R 162/98, BStBl. II 2000, 459; v. 22.9.2009 – VIII R 79/06, BStBl. II 2010, 404. 765 Zur Abgrenzung gegenüber § 19er Einkünften BFH v. 22.2.2012 – X R 14/10, BStBl. II 2012, 511; Anm. Becker/Figura, BB 2012, 3046. 766 BFH v. 19.2.1998 – IV R 50/96, BStBl. II 1998, 441. 767 BFH v. 10.9.1998 – IV R 70/97, BFH/NV 1999, 456. 768 BFH v. 16.10.1997 – IV R 19/97, BStBl. II 1998, 139. 769 Kempermann, Katalogberufler als Gewerbetreibende, Zur leitenden und eigenverantwortlichen Tätigkeit, FR 1996, 514. Einzelfälle der Gewerblichkeit: Betreuung von Bauherrenmodellen/-gemeinschaften durch Rechtsanwälte/Steuerberater (BFH v. 9.8.1983 – VIII R 92/83, BStBl. II 1984, 129; v. 11.5.1989 – IV R 43/88, BStBl. II 1989, 797; v. 1.2.1990 – IV R 42/89, BStBl. II 1990, 534; v. 21.4.1994 – IV R 99/93, BStBl. II 1994, 650); Insolvenzverwaltertätigkeit (BFH v. 11.8.1994 – IV R 126/91, BStBl. II 1994, 936; v. 12.12.2001 – XI R 56/00, BStBl. II 2002, 202; Frystatzki, EStB 2005, 308; Siemon, ZInsO 2009, 305); Subunternehmer (BFH v. 28.4.2005 – IV R 41/03, BStBl. II 2005, 611; Gewerblichkeit von freien Mitarbeitern: Gebhardt, EStB 2006, 222); Treuhänder von Immobilienfonds (BFH v. 18.10.2006 – XI R 9/06, BStBl. II 2007, 266); Sterzinger, Der angestellte Rechtsanwalt als Gewerbesteuerfalle?, NJW 2008, 20. 770 Gewerbliche Heilberufe: Zahnersatzhersteller; Krankenhauspfleger: BFH v. 5.6.1997 – IV R 43/96, BStBl. II 1997, 681; Apotheker: v. 14.1.1998 – IV B 48/97, BFH/NV 1998, 706; Krankenhausberater: v. 16.9.1999 – XI B 63/98, BFH/NV 2000, 424; Hypnosetherapeut: v. 2.2.2000 – XI R 38/98, BFH/NV 2000, 839; Laborarztpraxen (besonders schwierige Grenzfälle): v. 1.2.1990 – IV R 140/88, BStBl. II 1990, 507; v. 21.3.1995 – XI R 85/93, BStBl. II 1995, 732; v. 29.4.2002 – IV B 29/01, BStBl. II 2002, 581; BMF v. 12.2.2009 – IV C 6-S 2246/08/10001, BStBl. I 2009, 398. Zu gewerblichen u. freiberuflichen Einkünften eines Arztes als Betreiber einer Privatklinik: BFH v. 2.10.2003 – IV R 48/01, BStBl. II 2004, 363. Zur Trennung verschiedener Tätigkeiten als Allgemeinmediziner und Arbeitsmediziner v. 4.11.2004 – IV R 17/03, BStBl. II 2005, 208. Tätigkeit eines Fachkrankenpflegers als eine dem Krankengymnasten ähnliche Tätigkeit: v. 6.9.2006 – XI R 64/05, BStBl. II 2007, 177. 771 BFH v. 10.11.1988 – IV R 63/86, BStBl. II 1989, 198 (Kfz-Sachverständiger); v. 11.8.1999 – XI R 47/98, BStBl. II 2000, 31 (architektenähnliche Tätigkeit); v. 16.5.2002 – IV R 94/99, BStBl. II 2002, 565 (Verkehrsflugzeugführer übt gewerbliche Tätigkeit aus); v. 5.6.2003 – IV R 34/01, BStBl. II 2003, 761 Datenschutzbeauftragter übt weder den Beruf eines Ingenieurs noch eines beratenden Betriebswirts aus. BFH v. 28.2.2005 – XI B 223/03, BFH/NV 2005, 1284; v. 9.2.2006 – IV R 27/05, BFH/NV 2006, 1270; v. 18.4.2007 – XI R 57/05, BFH/NV 2007, 1854 (EDV-Berater); v. 21.6.2007 – XI B 9/07, BFH/NV 2007, 1652 (Blitzschutzsachverständiger); v. 6.9.2006 – XI R 3/06, BStBl. II 2007, 118; v. 18.10.2006 – XI R 10/06, BStBl. II 2008, 54: Baubetreuung eines Architekten. 772 BFH v. 26.11.1998 – IV R 59/97, BStBl. II 1999, 167 (Berufsfußballberater); v. 4.5.2000 – IV R 51/99, BStBl. II 2000, 616 (fehlende Diplomprüfung); v. 26.6.2002 – IV R 56/00, BStBl. II 2002, 768 (Unternehmensberater); v. 19.9.2002 – IV R 70/00, BStBl. II 2003, 25 (Personalberater gewerblich); v. 19.9.2002 – IV R 74/00, BStBl. II 2003, 27 (Marketingberatung freiberuflich); v. 28.8.2003 – IV R 21/02, BStBl. II 2003, 919 (Wirtschaftsingenieur); beratendem Betriebswirt ähnlich: v. 31.8.2005 – XI
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II. Gewinneinkünfte
Rz. 431 § 8
reiten neue Berufsfelder773, wie sie im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung entstanden sind774. Probleme ergeben sich auch bei gemischter Tätigkeit775. Der enorme Rspr.-Aufwand dient nicht der Steuergerechtigkeit; das Gesetz zwingt vielmehr den Richter dazu, seine intellektuelle Kapazität für Steuerungleichheit zu verschwenden. An der freien Berufstätigkeit ändert sich nichts durch die Mithilfe fachlich vorgebildeter Arbeits- 429 kräfte776; Voraussetzung ist allerdings, dass der Freiberufler gegenüber den Mithelfenden auf Grund eigener Fachkenntnisse leitend und eigenverantwortlich tätig wird; eine Vertretung im Falle vorübergehender Verhinderung steht dem nicht entgegen (§ 18 I Nr. 1 Sätze 3 u. 4 EStG). Die selbständige, insb. freiberufliche Tätigkeit kann auch von Mitunternehmern ausgeübt werden, 430 die sich in einer GbR, OHG, KG oder in einer Partnerschaftsgesellschaft nach dem PartGG777 zusammengeschlossen haben (§ 18 IV 2 i.V.m. § 15 I 1 Nr. 2 EStG)778. Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass die Beteiligung von Personen, welche die Merkmale des § 18 I EStG nicht erfüllen, eine gewerbliche Mitunternehmerschaft begründet (hierzu § 10 Rz. 62); etwa auch im Fall der Freiberufler-GmbH & Co. KG779. Der freiberufliche Charakter der Mitunternehmerschaft wird nicht beeinträchtigt, wenn eine Personengesellschaft aus Angehörigen unterschiedlicher freier Berufe besteht780. § 18 EStG erfasst neben der freiberuflichen Tätigkeit (§ 18 I Nr. 1 EStG) die Einkünfte der Einneh- 431 mer einer staatlichen Lotterie, wenn sie nicht Einkünfte aus Gewerbebetrieb sind (§ 18 I Nr. 2 EStG), Leistungsvergütungen bei Wagniskapitalgesellschaften, sog. „carried interest“ (§ 18 I Nr. 4 EStG)781 und Einkünfte aus sonstiger selbständiger Arbeit, z.B. Vergütungen für die Vollstreckung
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R 62/04, BFH/NV 2006, 505; v. 18.4.2007 – XI R 34/06, BFH/NV 2007, 1495; v. 26.1.2011 – VIII R 3/10, BStBl. II 2011, 498 (Betriebswirt als Insolvenzverwalter: § 18 I Nr. 3 EStG). Dazu Demuth, EStB 2010, 187. BFH v. 19.7.1985 – III R 175/80, BStBl. II 1986, 15 (EDV-Entwickler ingenieurähnlich); v. 4.5.2004 – XI R 9/03, BStBl. II 2004, 989 (Diplominformatiker ingenieurähnlich); dagegen v. 7.12.1989 – IV R 115/87, BStBl. II 1990, 337 (Entwicklung von Anwendungssoftware: gewerblich). Beratende Tätigkeit hat der BFH v. 24.8.1995 – IV R 60-61/94, BStBl. II 1995, 888; v. 18.4.2007 – XI R 29/06, BStBl. II 2007, 781 zunächst als gewerblich eingeordnet, jetzt freiberuflich (v. 22.9.2009 – VIII R 79/06, BStBl. II 2010, 404; v. 22.9.2009 – VIII R 63/06, BStBl. II 2010, 466; v. 22.9.2009 – VIII R 31/07, BStBl. II 2010, 467); dazu Pezzer, FS J. Lang, 2010, 491 (505 ff.); Steinhauff, NWB 2010, 819; Pfirrmann, FR 2014, 162. Dazu Schoor, Gestaltungsmöglichkeiten zur Vermeidung der Gewerblichkeit bei gemischten Tätigkeiten von Freiberuflern, INF 1997, 269. BFH v. 16.7.2014 – VIII R 41/12, BStBl. II 2015, 216; v. 15.12.2010 – VIII R 50/09, BStBl. II 2011, 506: partielle Aufgabe der sog. Vervielfältigungstheorie; dazu und allgemein zu § 18 I Nr. 3 EStG Ritzrow, EStB 2011, 227. Gesetz zur Schaffung von Partnerschaftsgesellschaften v. 25.7.1994, BGBl. I 1994, 1744. Dazu Demuth, Der einkommensteuerliche Mitunternehmerbegriff bei den freiberuflichen Einkünften, Diss., 2004; Demuth, DStZ 2005, 112; Kempermann, FR 2007, 577 (Freiberufler-Personengesellschaft i. d. Rspr.); Schnittker, Gesellschafts- und steuerrechtliche Behandlung einer englischen Limited Liability Partnership, Diss., 2007. Zu dieser Gesellschaft auch Henssler/Mansel, NJW 2007, 1393; HHR/ Brandt, § 18 EStG Anm. 412 ff. (2015); Henssler, 71. DJT 2016, Band II/1, 0 53 (57) „Darüber hinaus ist bei ausländischen Gesellschaftsformen, die im Wege eines Typenvergleichs in das deutsche Steuerrechtssystem eingebunden werden, für eine transparente Besteuerung nicht einmal mehr erforderlich, dass überhaupt ein Gesellschafter persönlich haftet, so dass auch […] die englische Limited Liability Partnership (LLP) jedenfalls bei personalistischer Ausgestaltung des Innenverhältnis in den Genuss dieses Regime kommen kann.“ Zweifelhaft FG Düsseldorf v. 12.8.2010 – 12 K 2384/08 G, DStRE 2011, 99; offen gelassen durch BFH v. 10.10.2012 – VIII R 42/10, BStBl. II 2013, 79, Rz. 31. BFH v. 23.11.2000 – IV R 48/99, BStBl. II 2001, 241. § 18 I Nr. 4 EStG ist mit Gesetz zur Förderung von Wagniskapital v. 30.7.2004, BGBl. I 2004, 2013, eingeführt worden und klärt die Rechtslage zu den Einkünften der Initiatoren von Wagniskapitalge-
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§ 8 Rz. 432
Einkommensteuer
von Testamenten, für Vermögensverwaltung, für die Tätigkeit als Aufsichtsratmitglied (§ 18 I Nr. 3 EStG) oder für die Tätigkeit als Berufsbetreuer gem. §§ 1896 ff. BGB782. Nach der Rspr. des BFH sind auch Tätigkeiten, die den Beispielen des § 18 I Nr. 3 EStG ähnlich sind, als sonstige selbständige Arbeit zu qualifizieren783. Die Beteiligung qualifizierter Mitarbeiter ist auch im Rahmen von § 18 I Nr. 3 EStG unschädlich, solange der Berufsträger leitend und eigenverantwortlich tätig ist (s. Rz. 429). 432 Zu den Einkünften aus selbständiger Arbeit gehört auch der Gewinn, der bei der Veräußerung des
Vermögens oder eines Teils des Vermögens oder eines Anteils am Vermögen erzielt wird, das der Arbeit dient; der Veräußerung steht die Aufgabe gleich (§ 18 III EStG). 433 Die Rspr. verlangt im Hinblick auf die analoge Anwendung des § 16 EStG (§ 18 III 2 EStG), dass der Stpfl. alle wesentlichen vermögensmäßigen Grundlagen (inkl. Patienten-/Mandantenstamm) überträgt und seine Tätigkeit nicht nur vorübergehend beendet784. Der GrS interpretiert „selbständiger Teil des Vermögens“ als Teilbetrieb, so dass er die entgeltliche Aufnahme eines Partners in eine Einzelpraxis nicht als steuerbegünstigte Veräußerung i.S.d. §§ 18 III; 34 II Nr. 1 EStG beurteilt785. 434–469
Einstweilen frei.
III. Überschusseinkünfte (§ 2 II 1 Nr. 2 EStG) 1. Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 EStG) Literatur: Allgemein zum Lohnsteuerrecht: Loseblattwerke von Hartz/Meeßen/Wolf (ABC-Führer Lohnsteuer); Heuermann/Wagner (Handbuch); Horowski/Altehoefer (Kommentar). Gebundene Werke: Stolterfoht, Grundfragen des Lohnsteuerrechts, DStJG 9 (1986); Meyer/Schmidt, Lohnsteuer, 2009; Kirschbaum/ Beckers, Lohnsteuer15, 2011; DStZ 2014, 837; Drüen (Hrsg.), Besteuerung von Arbeitnehmern, DStJG 40 (2017); Seifert, Aktuelle Entwicklungen bei der Lohnsteuer, DStZ 2017, 147. Besondere: J. Lang, Die Einkünfte des Arbeitnehmers – Steuerrechtssystematische Grundlegung, DStJG 9 (1986), 15; Offerhaus, Gesetzlose Steuerbefreiungen im Lohnsteuerrecht?, DStJG 9 (1986), 117; Weiss, Die Besteuerung der Arbeitnehmer, in FS FHF Baden-Württemberg, 1989, 63; Ehret, Besteuerung von Einkünften aus nichtselbständiger Tätigkeit, Ein Vergleich Deutschland-Schweiz, Diss., 1999; J. Lang, Arbeitsrecht und Steuerrecht, RdA 1999, 64; Seer, Bochumer Lohnsteuertag, 2006; Festheft Drenseck, Entwicklung der Lohnsteuerrechtsprechung im vergangenen Jahrzehnt, DB-Beilage Nr. 6/2006; Gunsenheimer, Umfang u. Besteuerung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, SteuerStud 2008, 228; Drenseck, Ist Werbungskostenersatz Arbeitslohn?, in FS J. Lang, 2010, 477.
1.1 Der Begriff des Arbeitnehmers 470 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit erzielen Arbeitnehmer. Nach § 1 I 1 LStDV sind Arbeitneh-
mer Personen, die in öffentlichem oder privatem Dienst angestellt oder beschäftigt sind oder waren und die aus diesem Dienstverhältnis oder einem früheren Dienstverhältnis Arbeitslohn beziehen. Zu
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sellschaften (s. BMF v. 16.12.2003 – IV A 6-S 2240-153/03, BStBl. I 2004, 40, Tz. 3, 24), indem die erhöhten Gewinnanteile der Initiatoren den Einkünften aus selbständiger Arbeit zugeordnet und dem Halbeinkünfteverfahren (§ 3 Nr. 40a EStG) unterworfen werden. Umfassend zu § 18 I Nr. 4 EStG HHR/Brandt, § 18 EStG Anm. 276 ff. (2015); steuersystematische Analyse: Desens/Kathstede, FR 2005, 863; Rechtsvergleich Deutschland, Großbritannien, USA: Anzinger/Jekerle, IStR 2008, 821. BFH v. 15.6.2010 – VIII R 10/09, BStBl. II 2010, 906; v. 15.6.2010 – VIII R 14/09, BStBl. II 2010, 909; v. 17.10.2012 – VIII R 57/09, BStBl. II 2013, 799; a.A. noch v. 4.11.2004 – IV R 26/03, BStBl. II 2005, 288. BFH v. 28.8.2003 – IV R 1/03, BStBl. II 2004, 112; v. 31.1.2017 – IX R 10/16, BFHE 256, 250, Rz. 12–14 („vermögensverwaltende Tätigkeiten in fremdem Vermögensinteresse“). BFH v. 18.5.1994 – I R 109/93, BStBl. II 1994, 925, v. 23.1.1997 – IV R 36/95, BStBl. II 1997, 498, v. 10.6.1999 – IV R 11/99, BFH/NV 1999, 1594; v. 22.9.1999 – IV B 104/98, BFH/NV 2000, 317. BFH v. 18.10.1999 – GrS 2/98, BStBl. II 2000, 123.
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1. Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit
Rz. 473 § 8
den Arbeitnehmern gehören also auch die Pensionäre, insb. beamtete Pensionäre mit Versorgungsbezügen i.S.d. § 19 I 1 Nr. 2, II EStG, ferner nach § 1 I 2 LStDV die Rechtsnachfolger von Arbeitnehmern, insb. die Witwen. Nach fiskalischer Bedeutung und der Vielzahl der Arbeitnehmer sind die Einkünfte aus nichtselbstän- 471 diger Arbeit die praktisch wichtigste Einkunftsart. Die Einkommensteuer wird durch Quellenabzug vom Arbeitslohn erhoben (§§ 38 ff. EStG). Diese Quellensteuer heißt Lohnsteuer (§ 38 I EStG). Von dem Einkommensteueraufkommen 2016 i.H.v. 251,78 Mrd. Euro entfallen auf das Lohnsteueraufkommen 184,83 Mrd. Euro (s. § 7 Rz. 19). Mehr als 90 % der Einkommensteuerpflichtigen beziehen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Der Begriff des Arbeitnehmers786 ist vom Begriff des Unternehmers abzugrenzen; beide Begriffe 472 sind Typusbegriffe787, in deren Zentrum der Gegensatz von Selbständigkeit und Nichtselbständigkeit steht. Der steuerrechtliche Begriff des Arbeitnehmers deckt sich nicht mit dem Arbeits- und Sozialrecht, so dass die frühere sozialrechtliche Regelung der sog. Scheinselbständigkeit (§ 7 IV SGB IV) für das Steuerrecht nicht maßgeblich ist788. Arbeitnehmer im steuerrechtlichen Sinne ist die natürliche Person, die in einem Dienstverhältnis weisungsgebunden ist (§ 1 II 2 LStDV: Person steht in der Betätigung ihres geschäftlichen Willens unter der Leitung des Arbeitgebers) und/oder organisatorisch eingegliedert ihre Arbeitskraft schuldet und dabei ganz im Unterschied zum Unternehmer vom Vermögensrisiko der Erwerbstätigkeit grds. freigestellt ist. Vorstände und Geschäftsführer von Kapitalgesellschaften sind arbeitsrechtlich Unternehmer, hingegen steuerrechtlich i.d.R. Arbeitnehmer, weil sie organisatorisch in ein fremdes Unternehmen eingegliedert sind und kein Vermögensrisiko tragen789. Im Unterschied zum Arbeitsrecht begründen steuerrechtlich nach § 40 AO (s. § 5 Rz. 106 ff.) auch gesetzu. sittenwidrige Abhängigkeitsverhältnisse die Arbeitnehmer-Eigenschaft, wenn die Voraussetzungen der § 19 I EStG; § 1 LStDV vorliegen790.
786 Grundl. zum Arbeitnehmerbegriff BFH v. 2.12.1998 – X R 83/96, BStBl. II 1999, 534 (Rundfunkermittler). Lit.: Brenne, Der Begriff „Arbeitnehmer“ im Steuerrecht – insbesondere sein Verhältnis zu dem Begriff „Arbeitnehmer“ im Arbeitsrecht, Diss., 1969; Prange, Zur Identität der Grundtatbestände des Arbeits-, Beschäftigungs- und Dienstverhältnisses im Arbeits-, Sozialversicherungs- und Lohnsteuerrecht, Diss., 1975; J. Lang, DStJG 9 (1986), 22 ff.; List, NWB Fach 6, S. 3919 (1998); J. Lang, KSzW 2012, 77; Müller, SteuK 2013, 140. 787 Dazu BFH v. 29.5.2008 – VI R 11/07, BStBl. II 2008, 933 (934: offener Typusbegriff, der nur durch eine größere und unbestimmte Zahl von Merkmalen beschrieben werden kann); v. 22.7.2008 – VI R 51/05, BStBl. II 2008, 981 (AStA-Mitglieder als Arbeitnehmer); v. 20.11.2008 – VI R 4/06, BStBl. II 2009, 374 (375); J. Lang, DStJG 9 (1986), 15 (22 ff.); Kirchhof/Eisgruber17, § 19 EStG Rz. 40; Schmidt/ Krüger36, § 19 EStG Rz. 21. Zum Typusbegriff des Unternehmers s. Rz. 415. 788 Gesetz zur Förderung der Selbständigkeit vom 20.12.1999 (BGBl. I 2000, 2); s. dazu BFH v. 2.12.1998 – X R 83/96, BStBl. II 1999, 534 (537 ff.); v. 23.4.2009 – VI R 81/06, BStBl. II 2012, 262 (264). 789 BFH v. 9.10.1996 – XI R 47/96, BStBl. II 1997, 255; v. 19.2.2004 – VI R 122/00, BStBl. II 2004, 620; v. 23.4.2009 – VI R 81/06, BStBl. II 2012, 262; dazu Schmidt/Krüger36, § 19 EStG Rz. 35 („Gesellschafter einer KapGes“ und „gesetzlicher Vertreter einer Kapitalgesellschaft“); zu Recht krit. Seer, FS J. Lang, 2010, 655 (674 ff.); Seer, GmbHR 2011, 225. Frühere Rspr. gelockert durch BFH v. 6.6.2002 – V R 43/01, BStBl. II 2003, 36; v. 2.12.2005 – VI R 16/03, BFH/NV 2006, 544; v. 20.10.2010 – VIII R 34/08, BFH/NV 2011, 585 (selbständige Geschäftsführungs- u. Vertretungsleistungen eines Gesellschafters). 790 Dazu HHSp/Fischer, § 40 AO Rz. 53 (2012); Tipke/Kruse/Drüen, § 40 AO Rz. 24 (2016) (Prostituierte); Lang/Bozza, Lohnsteuer und Roulette, JuS 2000, 161; FG Köln v. 30.1.1985 – I (VI) 589 - 593/80 U, E, G, H -, EFG 1985, 524 (rkr.): Bardamen; FG Baden-Württemberg v. 15.1.1998 – 10 K 55/94, EFG 1998, 821 (rkr.): Peep-Show-Modelle.
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§ 8 Rz. 474
Einkommensteuer
1.2 Arbeitslohn 1.2.1 Durch die nichtselbständige Beschäftigung veranlasste Einnahmen 474 Arbeitslohn791 sind Bezüge, die aus einem Dienstverhältnis zufließen (§ 2 I 1 LStDV): laufende
oder einmalige Bezüge, Barbezüge oder Sachbezüge, die „für“ eine Beschäftigung im öffentlichen oder privaten Dienst gewährt werden, unabhängig davon, ob ein Rechtsanspruch auf sie besteht. Abzugrenzen ist von Zuwendung wegen anderer Rechtsbeziehungen oder wegen sonstiger, nicht auf dem Dienstverhältnis beruhender Beziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber792. Dogmatisch ungeklärt ist, ob und inwieweit Drittleistungen793 wie z.B. Trinkgelder, Streikgelder, Schmierund Bestechungsgelder Bezüge i.S.d. § 19 EStG sind. Richtigerweise ist dabei unterscheiden zwischen der Frage, ob sich der Bezug aus Sicht des Arbeitnehmers als Arbeitslohn darstellt und dem Eingreifen des Lohnsteuerabzugs, für den es auf die Perspektive des Arbeitgebers ankommt. Von Dritten (insb. anderen Konzerngesellschaften) auf Vermittlung des Arbeitgebers gewährte Preisvorteile und Rabatte können Arbeitslohn sein. Allerdings ist, auch wenn der Arbeitgeber an der Verschaffung des Vorteils mitgewirkt hat, stets zu prüfen, ob dieser sich für den Arbeitnehmer als Frucht seiner Arbeit für den Arbeitgeber im Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis darstellt794. Die Lohnsteuerpflicht ist beschränkt auf Drittleistungen, bei denen der Arbeitgeber weiß oder erkennen kann, dass sie erbracht werden. Dies ist nach § 38 I 3 letzter Hs. EStG insb. bei Drittleistungen verbundener Unternehmen anzunehmen (§ 38 I 3, IIIa, IV 3 EStG). Die st. Rspr. und Verwaltungspraxis (R 19.3 LStR 2015) hält daran fest, dass ausschließlich Arbeitslohn den Tatbestand des § 19 I 1 Nr. 1 EStG verwirklicht und Drittleistungen nur als Arbeitslohn steuerbar sind, d.h. die Drittzuwendung muss sich für den Arbeitnehmer als Vergütung der seinem Arbeitgeber erbrachten Leistung darstellen. Die Bezüge müssen durch das individuelle Dienstverhältnis veranlasst sein und nicht im eigenwirtschaftlichen Interesse des Dritten, sondern im Interesse des Arbeitgebers gewährt werden. Damit wird § 19 I 1 791 Dazu Boeck, Der Arbeitslohn im Lohnsteuerrecht, Diss., 1968; Haberkorn, Der Arbeitsentgeltbegriff nach Sozialversicherungs- und Lohnsteuerrecht, 1971; Zach, Die Besteuerung des Arbeitslohns, Diss., 1975; Temminghoff, Lohnsteuerpflichtige Zuwendungen an Arbeitnehmer, Diss., 1989; Kloubert, Was ist Arbeitslohn?, FR 2000, 46; Breinersdorfer, DStJG 40 (2017), 105 ff. Einzelfragen: ohne Rechtsgrund gezahlter Arbeitslohn: BFH v. 4.5.2006 – VI R 17/03, BStBl. II 2006, 830; v. 4.5.2006 – VI R 19/03, BStBl. II 2006, 832; v. 14.4.2016 – VI R 13/14, BStBl. II 2016, 778 (780); Arbeitgeberdarlehen: BFH v. 4.5.2006 – VI R 28/05, BStBl. II 2006, 781; BMF v. 19.5.2015 – IV C 5 – S 2334/07/0009, BStBl. I 2015, 484; Übernahme von Kammer- u. Berufshaftpflichtbeiträgen: BFH v. 17.1.2008 – VI R 26/06, BStBl. II 2008, 378; v. 19.11.2015 – VI R 74/14, BStBl. II 2016, 303; v. 10.3.2016 – VI R 58/14, BStBl. II 2016, 621 (dazu Geserich, DStR 2016, 441; Schneider, NWB 2016, 842); Übernahme von Geldbußen u. Geldauflagen als Arbeitslohn: Rechtsprechungswechsel BFH v. 14.11.2013 – VI R 36/12, BStBl. II 2014, 278 (dazu Schneider, NWB 2014, 441); kein Arbeitslohn bei durch den Arbeitnehmer veruntreuten Beträgen: BFH v. 13.11.2012 – VI R 38/11, BStBl. II 2013, 929; Arbeitslohn bei Gehaltsverzicht: BFH v. 15.6.2016 – VI R 6/13, BStBl. II 2016, 903. Zur BFH-Rspr. betr. betriebliche Verlosungen J. Förster, DStR 2009, 249. 792 Zur Abgrenzung zu Zuwendungen auf Grund anderer Rechtsbeziehungen vgl. z.B. BFH v. 22.3.1985 – VI R 170/82, BStBl. II 1985, 529; v. 17.6.2009 – VI R 69/06, BStBl. II 2010, 69 (71); v. 20.5.2010 – VI R 12/08, BStBl. II 2010, 1069 (1071); v. 10.8.2010 – VI R 1/08, BStBl. II 2010, 1074 (1075); v. 4.10.2016 – IX R 43/15, BStBl. II 2017, 790 (Veräußerungsgewinn Managementbeteiligung führt nicht zu Arbeitslohn; hierzu Thiele BB 2017, 983). 793 Aktuell BFH v. 28.2.2013 – VI R 58/11, BStBl. II 2013, 642; v. 14.2.2013 – VI R 69/13, BStBl. II 2015, 41; v. 1.9.2016 – VI R 67/14, BStBl. II 2017, 69; Schrifttum: Crezelius, DStJG 9 (1986), 85; Brick, Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit außerhalb des Dienstverhältnisses?, Diss., 1992; Albert/Hahn, FR 1995, 334; von Bornhaupt, BB 1999, 1532; Braune, Arbeitslohn durch Dritte, Diss., 1999; Wobst, Lohn vom Dritten (Arbeits-, Steuer- und Sozialversichungsrecht), Diss., 2015.; Strohner, DStJG 40 (2017), 501 (510 ff.: Gestaltungsfragen). 794 BFH v. 18.10.2012, BStBl. II 2012 – VI R 64/11, BStBl. II 2015, 184; v. 10.4.2014 – VI R 62/11, BStBl. II 2015, 191; dagegen geht BMF v. 20.1.2015 – IV C 5 – S 2360/12/1002, BStBl. I 2015, 143 bei Mitwirkung des Arbeitgebers an der Vorteilsverschaffung üblicherweise von Arbeitslohn aus; dazu Geserich, NWB 2015, 1610; Wengerofsky, DStR 2015, 806.
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1. Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit
Rz. 477 § 8
Nr. 1 EStG mit dem Lohnsteuerabzugsverfahren (§§ 38 ff. EStG) in Übereinstimmung gebracht, jedoch eine positivrechtlich nicht zwingende Besteuerungslücke in den Tatbestand des § 19 I 1 Nr. 1 EStG geschlagen: „Bezüge und Vorteile für eine Beschäftigung im … Dienst“ kann auch an dem für die Einkünfteermittlung grundlegenden Veranlassungsprinzip ausgerichtet werden795. Die Verknüpfung des § 19 I 1 Nr. 1 EStG mit dem Lohnsteuerabzug vermengt die verfahrensrechtliche Verpflichtung des Arbeitgebers, die sich nur auf das erstrecken kann, was der Arbeitgeber weiß oder erkennen kann (§ 38 I 3 EStG), von dem materiellrechtlichen Tatbestand des § 19 I 1 Nr. 1 EStG, der gleichheitskonform auszulegen ist: Danach sind Bezüge und Vorteile i.S.d. § 19 I 1 Nr. 1 EStG alle durch die nichtselbständige Beschäftigung veranlassten Einnahmen. Die Beschränkung des § 19 I 1 Nr. 1 EStG auf den Arbeitslohn produziert dogmatische Unklarheit und Un- 475 gleichheit: Trinkgelder796, die „anlässlich einer Arbeitsleistung“ (Veranlassungstheorie!) freiwillig vom Gast bezahlt werden, sind als Arbeitslohn zu qualifizieren. Die auf Arbeitnehmer beschränkte Steuerbefreiung des § 3 Nr. 51 EStG wird wenig überzeugend mit der Schwierigkeit des Arbeitgebers, diese Beträge der Lohnsteuer zu unterwerfen, gerechtfertigt. Die Steuerfreiheit der Streikgelder797 zeigt exemplarisch die Ungleichheit: Der Streikende ist besser gestellt als der Arbeitende und der Arbeitgeber hat seine Bezüge aus Streikabwehrfonds zu versteuern798. Bestechungsgelder799 an einen Arbeitnehmer werden statt § 19 I 1 Nr. 1 EStG den sonstigen Einkünften nach § 22 Nr. 3 EStG zugeordnet.
Sachbezüge sind nach § 8 II EStG alle Einnahmen, die nicht in Geld bestehen; sie sind mit den übli- 476 chen Endpreisen am Abgabeort anzusetzen (s. Rz. 356). Für Arbeitnehmer gelten amtliche Sachbezugswerte (§ 8 II 6–10 EStG; R 8.1 IV–VI LStR 2015 für Verpflegung, Unterkunft und Wohnung (§ 2 Sozialversicherungsentgeltverordnung); Gestellung von Kfz: R 8.1 IX–X LStR 2015; Waren u. Dienstleistungen: R 8.2 LStR 2015. Für Personalrabatte gilt § 8 III EStG mit einem Freibetrag von 1 080 Euro (s. Rz. 357). Grds. qualifiziert die Rspr. jeden durch das individuelle Dienstverhältnis veranlassten geldwerten Vor- 477 teil als Arbeitslohn800. Wird jedoch der Vorteil im ganz überwiegenden eigenbetrieblichen Interesse des 795 So insb. J. Lang, DStJG 9 (1986), 15 (50 ff.); Brick, Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit außerhalb des Dienstverhältnisses?, Diss., 1992, 22 ff., 67 ff. Zust. Tipke, StRO II2, 2003, 698 (kausalrechtlich konsequent); Drenseck, FS J. Lang, 2010, 477 (479). De lege ferenda ebenso § 5 II Kölner EStGE: „… alle durch die nichtselbständige Tätigkeit veranlasste, auch von dritter Seite gewährte Einnahmen wie z.B. Streikgelder, Trinkgelder und Bestechungsgelder“. 796 Trinkgelder sind Arbeitslohn (BFH v. 23.10.1992 – VI R 62/88, BStBl. II 1993, 117), jedoch gem. § 3 Nr. 51 EStG befreit (s. Rz. 143). 797 BFH v. 30.10.1970 – VI R 273/67, BStBl. II 1971, 138; v. 30.3.1982 – III R 150/80, BStBl. II 1982, 552, bejahte die Steuerbarkeit, v. 24.10.1990 – X R 161/88, BStBl. II 1991, 337, verneinte sie. Dazu krit. Knobbe-Keuk, DB-Beil. 6/1992. 798 FG Köln v. 1.3.2001 – 5 K 3372/96, EFG 2001, 1230. 799 BFH v. 26.1.2000 – IX R 87/95, BStBl. II 2000, 396; v. 16.6.2015 – IX R 26/14, BStBl. II 2015, 1019. 800 Grundl. BFH v. 17.9.1982 – VI R 75/79, BStBl. II 1983, 39 (41); im Weiteren v. 7.12.1984 – VI R 164/79, BStBl. II 1985, 164 (Essensfreibetrag); v. 22.3.1985 – VI R 170/82, BStBl. II 1985, 529; v. 22.3.1985 – VI R 82/83, BStBl. II 1985, 532 (Betriebsveranstaltungen); v. 22.3.1985 – VI R 26/82, BStBl. II 1985, 641 (Gelegenheitsgeschenke; s. aber R 19.6 LStR 2015 „Aufmerksamkeiten“); v. 15.5.1992 – VI R 106/88, BStBl. II 1993, 840 (Übernahme von Rotary-/Tennis-Club-Beiträgen); v. 25.11.1993 – VI R 45/93, BStBl. II 1994, 254 (Verlosung); v. 30.11.1993 – VI R 21/92, BStBl. II 1994, 256 (Ersatz von Schäden während einer Dienstreise); zu Gruppenunfall-/-krankenversicherungen BFH v. 11.12.2008 – VI R 9/05, BStBl. II 2009, 385; v. 14.4.2011 – VI R 24/10, BStBl. II 2011, 767; v. 11.12.2008 – VI R 20/05, BFH/NV 2009, 905; v. 11.12.2008 – VI R 3/08, BFH/NV 2009, 907 (zu dieser Rspr. Breinersdorfer, DB 2009, 1264; Thomas, DStR 2009, 2349; Hilbert/Sperandio, NWB 2011, 3032). Lit.: J. Lang, DStJG 9 (1986), 15 (61 f.); Offerhaus, DStJG 9 (1986), 117; J. Lang, FS Offerhaus, 1999, 433; Albert, FR 2002, 712 (Incentivereisen); Tipke, StRO II2, 2000, 699 ff.; Hermann, Die einkommensteuerliche Relevanz von Sachzuwendungen an Arbeitnehmer, Diss., 2004; J. Lang, StuW 2004, 227 (Belegschaftsgeschäft von Versicherungen); Fahr, Die steuerliche Behandlung des Belegschaftsgeschäfts von Versicherungen, Diss., 2008; Albert, FR 2010, 267 (Mahlzeiten).
Hey 451
§ 8 Rz. 478
Einkommensteuer
Arbeitgebers gewährt oder gar (wie z.B. bei Vorsorgeuntersuchungen) als unerwünschter Vorteil aufgedrängt, so verneint die Rspr. Arbeitslohn801. Arbeitslohn liegt auch dann nicht vor, wenn sich ein Vorteil lediglich als notwendige Begleiterscheinung betriebsfunktionaler Zielsetzungen darstellt. Im Bereich der das eigenbetriebliche Interesse berührenden Sachbezüge (sog. betriebsnahe Sachbezüge) hat sich eine Kasuistik802 entwickelt, die praktisch schwer in den Griff zu bekommen ist. Mitunter kapituliert der Gesetzgeber, indem er angesichts der Vollzugsschwierigkeiten die Besteuerung (partiell) zurücknimmt. Den Einzelfall der Zuwendung im Rahmen einer Betriebsveranstaltung803 regelt ab 2015 § 19 I 1 Nr. 1a EStG. Danach führen Zuwendungen anlässlich von Betriebsveranstaltungen grds. zu Arbeitslohn. Ausgenommen sind zwei Betriebsveranstaltungen pro Jahr, wenn die Teilnahme allen Betriebsangehörigen offensteht und soweit die Aufwendungen des Arbeitgebers je Arbeitnehmer 110 Euro (Ermittlung unter Einbeziehung der Gemeinkosten der Betriebsveranstaltung!) nicht übersteigen. Diese Arbeitslohnfiktion überlastet das Gesetz mit Detailregelungen im Stil einer Verwaltungsvorschrift, ohne dass ein nennenswerter Vereinfachungseffekt zu erwarten ist. 478 (1) Beispiele für steuerbare betriebsnahe Sachbezüge: Incentives wie Mitarbeiterbeteiligungen (z.B. stock options, insb. Aktienoptionen)804, Reisen805, Tagungen an Urlaubsorten806; Dienstwagen mit
801 BFH v. 22.6.2008 – VI R 47/06, BStBl. II 2009, 151, zur Übernahme von Geldbußen (s. Rz. 295); v. 12.2.2009 – VI R 32/08, BStBl. II 2009, 462 (463) (Beiträge an den Deutschen Anwaltsverein; zur Erstattung von Berufshaftpflicht- u. Kammerbeiträgen Werner, NWB Fach 6, 4903). Aufteilung bei gemischt veranlassten Aufwendungen: BFH v. 18.8.2005 – VI R 32/03, BStBl. II 2006, 30; kein überwiegend eigenbetriebliches Interesse bei Überlassung hochwertiger Bekleidung an Mitglieder der Geschäftsleitung: BFH v. 11.4.2006 – VI R 60/02, BStBl. II 2006, 691. Übernahme von Steuerberatungskosten des Arbeitnehmers bei Nettolohnvereinbarung: BFH v. 21.1.2010 – VI R 2/08, BStBl. II 2010, 639. Abtretung von Rückdeckungsversicherungsansprüchen BFH v. 5.7.2012 – VI R 11/11, BStBl. II 2013, 190; Zuschüsse zu einem Versorgungswerk zur Absicherung der Versorgungslasten des Arbeitgebers als steuerpflichtiger Arbeitslohn s. BFH v. 24.9.2013 – VI R 8/11, BStBl. II 2014, 124. Lit.: J. Lang, DStJG 9 (1986), 15 (62 f.); J. Lang, FS Offerhaus, 1993, 433 (443 f.); Gersch, FS Klein, 1994, 889; Heger, DB 2014, 1277 (Fallgruppen). 802 Dazu Temminghoff, Lohnsteuerpflichtige Zuwendungen an Arbeitnehmer, Diss., 1989, 55 ff.; von Bornhaupt, BB 1996, 1909 (Mahlzeiten); Wittenbrink, Der Einfluß der Besteuerung freiwilliger betrieblicher Sozialleistungen auf Arbeitsvertragsgestaltungen, Diss., 1996; Flies, FR 1997, 630 (Zuwendungen); Grube, DStR 1997, 1956 (Gestaltungsmöglichkeiten); Schmidt, BB 1997, 610 (Kreditkartengebühren); Leichtle, DB 1998, 277 (Arbeitnehmerverpflegung); Starke, FR 1998, 874 (Handy-Kosten); Albert, FR 2001, 516 (Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen); Kettler, DStZ 2001, 667 (Firmenparkplätze); Albert, FR 2003, 1153 (Teambildungsmaßnahmen). 803 Dazu BMF v. 14.10.2015 – IV C 5 – S 2332/15/10001, BStBl. I 2015, 832; Überblick über die Neuregelung Eismann, DStR 2015, 1429; Seifert, DStZ 2016, 104; Reiling/Brucker/Looser, DB 2017, 2436; im Vergleich zur bisherigen BFH-Rspr. Dürr, SteuerStud 2015, 83; s. auch den sinnvollen Vereinfachungsvorschlag von Albert, FR 2017, 329. 804 Lit.: bis 2001 s. 18. Aufl. Rz. 467, dort Fn. 147; Rz. 554, dort Fn. 113; ab 2002: Knoll, IStR 2002, 325; Portner, DB 2002, 235; Hartmann, INF 2003, 625; Haunhorst, DB 2003, 1864 (Lohnzufluss bei handelbaren Aktienoptionen); Portner, Besteuerung von Stock Options, Diss., 2003; Jacobs/Portner, FR 2003, 757; Zitzewitz, Stock Options, Diss., 2003; Harrer, Mitarbeiterbeteiligungen u. Stock-Option-Pläne2, 2004; Lochmann, Besteuerung aktienkursorientierter Vergütungsinstrumente, Diss., 2004; Lüke, Stock Options, Diss., 2004; Vater, Stock Options: Bewertung, steuerrechtliche Aspekte u. Rechnungslegung sowie Alternativen, Diss., 2004; Bogumil, Mitarbeiteraktienoptionen (stock options) im Einkommensteuerrecht, Diss., 2005; Knoll, IStR 2005, 325; Lochmann, StuW 2005, 71; Portner, BB 2014, 2523; Möllmann, DStJG 40 (2017), 401. Zum Zuflusszeitpunkt: s. Rz. 354. 805 BFH v. 9.3.1990 – VI R 48/87, BStBl. II 1990, 711; v. 5.9.2006 – VI R 65/03, BStBl. II 2007, 312; Lück, DStZ 1989, 216; Thomas, DStR 1996, 1678; Hartmann, DStR 1997, 1061; Albert, FR 2010, 1032. 806 BFH v. 9.8.1996 – VI R 88/93, BStBl. II 1997, 97.
452
Hey
1. Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit
Rz. 480 § 8
Fahrer zur Nutzung für Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte807; Sporteinrichtungen808; Beitragsermäßigung für AOK-Angestellte809. (2) Beispiele für steuerbare, aber (partiell) steuerbefreite Sachbezüge: Sachprämien aus sog. Kundenbindungsprogrammen sind nach § 3 Nr. 38 EStG bis zu 1 080 Euro sachlich steuerbefreit (s. Rz. 143). § 37a EStG gestattet dem prämiengewährenden Unternehmen, die Sachprämien mit 2,25 % des Prämienwerts pauschal zu versteuern. Gänzlich steuerbefreit (§ 3 Nr. 45 EStG) sind die Vorteile des Arbeitnehmers aus der privaten Nutzung von betrieblichen Personalcomputern und Telekommunikationsgeräten sowie das elektrische Aufladen von Elektroautos (s. Rz. 143). (3) Beispiele für nicht steuerbare Vorteile: Zuwendungen bei Betriebsveranstaltungen (Zuwendungsfreibetrag 110 Euro; zwei Veranstaltungen pro Jahr; § 19 I 1 Nr. 1a Satz 3 EStG810); Aufmerksamkeiten, das sind Sachzuwendungen bis 60 Euro (ab 2015)811, berufliche Fort- oder Weiterbildungsleistungen des Arbeitgebers (R 19.7 LStR 2015), Leistungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen, z.B. die Bereitstellung von Aufenthalts- und Erholungsräumen sowie von betriebseigenen Dusch- und Badeanlagen (H 19.3 LStH 2017), Vorsorgeuntersuchungen (§ 3 Nr. 34 EStG), Massagen zur Vorbeugung berufsbedingter Gesundheitsschäden812, Arbeitsessen (R 19.6 II LStR 2015). Fahrten zwischen Wohnung und dem Ort des Arbeitseinsatzes mit einem Firmenfahrzeug können ausnahmsweise als „notwendige Begleiterscheinung betriebsfunktionaler Zielsetzungen“813 steuerfrei sein; Überlassung einer Garage für das Firmenfahrzeug814; Führerscheinkosten815.
Einstweilen frei.
479
1.2.2 Versorgungsbezüge Zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit gehören auch die Versorgungsbezüge aus früheren 480 Dienstverhältnissen (§ 19 I 1 Nr. 2, II EStG; § 2 II Nr. 2 LStDV), z.B. Pensionen (Ruhegelder), Witwengelder und „gleichartige“ Bezüge816. Nach § 19 I 1 Nr. 3 EStG gehören zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit laufende Beiträge/Zuwendungen des Arbeitgebers aus einem bestehenden Dienstverhältnis an einen Pensionsfonds, eine Pensionskasse oder an eine Direktversicherung für eine betriebliche Altersversorgung (zu Sonderzahlungen s. Rz. 483). § 19 I 1 Nr. 2, II EStG verwirklicht bei Beamten und Arbeitnehmern mit Versorgungszusage des Arbeitgebers das Prinzip nachgelagerter Besteuerung (s. § 3 Rz. 76): Die Zukunftssicherung während der Erwerbstätigkeit bewirkt keinen gegenwärtigen Arbeitslohn. Durch das Alterseinkünftegesetz v. 5.7.2004, BGBl. I 2004, 1427, hat der Gesetzgeber einen Systemwechsel hin zur nachgelagerten Besteuerung vollzogen (s. Rz. 570 ff.). Dem entspricht es, dass der Versorgungsfreibetrag (§ 19 II EStG) schrittweise bis 2040 abgebaut wird (s. Tabelle in § 19 II 3 EStG). Der Anwendungsbereich des § 19 I 1 Nr. 2, II EStG erstreckt sich auf die staatliche (Beamtenpensionen u.a. Versorgungsbezüge des öffentlichen Dienstes) und die arbeitsrechtliche betriebliche Altersversorgung817. Bei dieser sind Aus807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
BFH v. 15.5.2013 – VI R 44/11, BStBl. II 2014, 589 (571); R 8.1 X LStR 2015. BFH v. 27.9.1996 – VI R 44/96, BStBl. II 1997, 146. BFH v. 1.12.1995 – VI R 76/91, BStBl. II 1996, 239. I.d.F. des Zollkodexgesetzes v. 22.12.2014, BGBl. I 2014, 2417. S. LStÄR 2015, BStBl. I 2014, 1344. BFH v. 30.5.2001 – VI R 177/99, BStBl. II 2001, 671. BFH v. 4.6.1993 – VI R 95/92, BStBl. II 1993, 687 (689); v. 25.5.2000 – VI R 195/98, BStBl. II 2000, 690 (691); v. 30.5.2001 – VI R 177/99, BStBl. II 2001, 671 (672). BFH v. 7.6.2002 – VI R 145/99, BStBl. II 2002, 829. BFH v. 26.6.2003 – VI R 112/98, BStBl. II 2003, 886. BFH v. 21.3.2013 – VI R 5/12, BStBl. II 2013, 611. Nach der Legaldefinition in § 1 I 1 Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (Betriebsrentengesetz – BetrAVG) v. 19.12.1974 liegt eine betriebliche Altersversorgung vor, wenn dem Arbeitnehmer aus Anlass seines Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber Leistungen zur Absicherung mindestens eines biometrischen Risikos (Alter, Tod, Invalidität) zugesagt werden u. Ansprüche auf diese Leistungen erst mit Eintritt des biologischen Ereignisses fällig werden. Verwaltungsanweisung
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§ 8 Rz. 481
Einkommensteuer
gaben des Arbeitgebers für die Zukunftssicherung des Arbeitnehmers grds. als Arbeitslohn anzusetzen, wenn der Arbeitnehmer zustimmt und einen Versorgungsanspruch erwirbt (§ 2 II Nr. 3 LStDV)818. Dies soll unabhängig davon gelten, ob der Versicherungsfall eintritt und sich der Versorgungsanspruch später realisieren lässt819. Zu einer stärkeren Verbreitung der betrieblichen Altersversorgung soll das Betriebsrentenstärkungsgesetz v. 17.8.2017820 auch durch steuerliche Erleichterungen beitragen, insb. indem die Steuerbefreiung des § 3 Nr. 63 EStG für Beiträge des Arbeitgebers an Penisonsfonds/Pensionskassen/Direktversicherungen von bisher 4 % der rentenversicherungsrechtlichen Beitragsbemessungsgrenze auf 8 % angehoben wird. Darüber hinaus sieht § 100 EStG einen Abzug von zusätzlich zum geschuldeten Arbeitslohn geleisten Arbeitgeberbeiträgen zur kapitalgedeckten betrieblichen Altersversorgung von der Lohnsteuerschuld vor (BAV-Förderbetrag). Auf diese Weise soll die betriebliche Altersversorgung für Gringverdiener (monatliches Arbeitsentgelt bis 2 200 Euro) attraktiver gemacht werden. Im Einzelnen sind folgende Durchführungswege zu unterscheiden: 481
– Bei einer Direktzusage (§ 1b I BetrAVG) fließt kein Arbeitslohn beim Entstehen der Anwartschaft auf Versorgungsleistungen zu, wenn der Arbeitgeber die Versorgungsleistung betriebsintern zusagt und hierfür eine Pensionsrückstellung (§ 6a EStG) bildet. Arbeitslohn fließt nach § 2 II Nr. 3 Satz 4 LStDV auch dann nicht zu, wenn der Arbeitgeber für seine Versorgungsverpflichtung eine Rückdeckungsversicherung abschließt.
482
– Bei einer Direktversicherungszusage (§ 1b II BetrAVG) sind Beiträge des Arbeitgebers für eine Direktversicherung zum Aufbau einer kapitalgedeckten betrieblichen Altersversorgung nach § 3 Nr. 63 EStG steuerfrei, soweit die Beiträge 8 % (ab 2018) der rentenversicherungsrechtlichen Beitragsbemessungsgrenze nicht übersteigen821.
483
– § 3 Nr. 63 EStG greift auch Platz, wenn der Arbeitgeber nach § 1b III BetrAVG Beiträge an einen Pensionsfonds822 oder an eine Pensionskasse leistet. Bei den nicht steuerbefreiten Beiträgen des Arbeitgebers an die Pensionskasse zum Aufbau einer nicht kapitalgedeckten, sondern im Umlageverfahren finanzierten Altersversorgung kann der Arbeitgeber die Lohnsteuer nach § 40b I, II EStG bis zu einem Zuwendungsbetrag von 1 752 Euro pro Arbeitnehmer mit einem Pauschsteuersatz von 20 % erheben. § 3 Nr. 63a EStG stellt sog. Sicherungsbeiträge des Arbeitgebers i.S. v. § 23 I
818 819
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822
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zur privaten Altersvorsorge u. betrieblichen Altersversorgung BMF v. 24.7.2013 – IV C 3-S 2015/11/10002, BStBl. I 2013, 1022; dazu Killat, DB 2013, 1925; Killat, DStZ 2013, 616; Ulbrich/Schwebe, BB 2013, 2973; Dürr, SteuerStud 2014, 512 (instruktiver Überblick); zu Reformperspektiven Horlemann, DStJG 40 (2017), 465. BFH v. 16.4.1999 – VI R 60/96, BStBl. II 2000, 406. Keine Rückzahlung von Arbeitslohn BFH v. 7.5.2009 – VI R 5/08, BStBl. II 2010, 133; v. 7.5.2009 – VI R 37/08, BStBl. II 2010, 135; v. 7.5.2009 – VI R 37/08, BStBl. II 2010, 194; vgl. ferner BFH v. 7.5.2009 – VI R 16/07, BStBl. II 2010, 130 (Auszahlung eines Versorgungsguthabens als Arbeitslohn); hierzu zu Recht krit. Schmidt/Krüger36, § 19 EStG Rz. 60. BGBl. I 2017, 3214; zu den steuerlichen Inhalten Dommermuth, FR 2017, 745; Emser/Roth, NWB 2017, 2490. Der bisherige starre Höchstbetrag von 1 800 Euro wurde durch durch Betriebsrentenstärkungsgesetz v. 17.8.2017 aufgehoben. Für Abfindungen ist in § 3 Nr. 66 Satz 3 EStG n.F. jetzt eine flexible Höchstgrenze vorgesehen. Dabei kann zusätzlich zu § 3 Nr. 63 EStG die Förderung nach den §§ 10a; 79 ff. EStG in Anspruch genommen werden. S. auch § 3 Nr. 65 (Insolvenzsicherung), Nr. 66 (Übernahme von Versorgungsverpflichtungen/-anwartschaften) EStG. Einzelheiten zu § 3 Nr. 63, 65, 66 EStG: BMF v. 24.7.2013 – IV C 3 - S 2015/11/10002, BStBl. I 2013, 1022, ab Rz. 301; teilweise geändert durch Schreiben v. 13.1.2014 – IV C 3-S 2015/11/10002:018, BStBl. I 2014, 97. Blank, Der Pensionsfonds im Steuerrecht, Diss. 2014; Zur Auslagerung von Versorgungsleistungen auf Pensionsfonds Friedrich/Weigel, DB 2004, 2282; Meier/Bätzel, DB 2004, 1437; Briese, BB 2009, 2733.
Hey
1. Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit
Rz. 489 § 8
BetrAVG zur Absicherung der nach dem Betriebsrentenstärkungsgesetz vorgesehenen reinen Beitragszusage von der Einkommensteuer frei. – Wird die betriebliche Altersversorgung von einer Unterstützungskasse durchgeführt, die dem 484 Arbeitnehmer keinen Versorgungsanspruch einräumt (§ 1b IV BetrAVG), so fließt Arbeitslohn erst mit den Leistungen der Unterstützungskasse zu. – Wird die betriebliche Altersversorgung durch Entgeltumwandlung823 (sog. deferred compensa- 485 tion: aufgeschobene Vergütung) finanziert (§§ 1a; 1b V BetrAVG), so richtet sich der Zufluss von Arbeitslohn nach dem Durchführungsweg. Z.B. fließt der Arbeitslohn im Falle einer arbeitnehmerfinanzierten Direktzusage erst im Ruhestand zu. Bei einer Übertragung der Altersversorgung nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses vom ehema- 486 ligen auf den neuen Arbeitgeber nach § 4 BetrAVG stellt § 3 Nr. 55 EStG den Übertragungswert steuerfrei824. Die Leistungen des Arbeitgebers zur betrieblichen Altersversorgung sind von seinen Leistungen zu gesetzlichen Pflichtversicherungen zu unterscheiden. Bei diesen Leistungen verneint der BFH Arbeitslohn, weil die Leistungspflicht des Arbeitgebers nicht arbeitsrechtlich, sondern sozialgesetzlich begründet sei825. Insofern habe § 3 Nr. 62 EStG deklaratorische Bedeutung826. Durch das Alterseinkünftegesetz sind die Unterschiede vor- und nachgelagerter Besteuerung von 487 Einkünften aus betrieblicher Altersversorgung und gesetzlichen Pflichtversicherungen wesentlich verringert worden. Gleichwohl bleibt die Besteuerung der Alterseinkünfte noch weit entfernt von einem konsequent am Prinzip nachgelagerter Besteuerung ausgerichteten System der Besteuerung von Alterseinkünften (zum Reformbedarf Rz. 580). 1.2.3 Lohnsteuerpauschalierungen, insb. geringfügige Beschäftigung Die Lohnsteuerpauschalierungen der §§ 40; 40a; 40b EStG außerhalb der individuell veranlagten 488 Einkommensteuer haben erhebliche materielle Bedeutung. § 40 II EStG sieht Pauschalierungsmöglichkeiten für bestimmte, besonders häufig vorkommende Sachbezüge vor. Von großer praktischer Bedeutung sind ferner die Pauschalierungsvorschriften des § 40a EStG, die dem arbeitsmarktpolitisch gerechtfertigten Zweck dienen, für kurzfristig (§ 40a I EStG), geringfügig (§ 40a II EStG) Beschäftigte, sog. Mini-Jobber, und Aushilfskräfte in der Land- und Forstwirtschaft (§ 40a III EStG), nicht nur das Verfahren zu vereinfachen, sondern auch die Belastung des Arbeitsentgelts durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zu reduzieren. Zu diesem Zweck hat der Gesetzgeber die Vorschriften des Steuerrechts und des Sozialversicherungsrechts miteinander verknüpft. Bei geringfügig Beschäftigten, das sind Beschäftigte, deren monatliches Arbeitsentgelt regelmäßig 489 450 Euro nicht übersteigt (sog. 450-Euro-Jobs)827, zahlt der Arbeitgeber lediglich eine monatliche
823 Dazu BMF v. 24.7.2013 – IV C 3 - S 2015/11/10002, BStBl. I 2013, 1022, Rz. 292 ff.; Hanau/Arteaga, Gehaltsumwandlung zur betrieblichen Altersversorgung, 1999; Bode/Grabner, Pensionsfonds und Entgeltumwandlung, 2002; Clemens, Entgeltumwandlung zur betrieblichen Altersversorgung, Diss., 2005; Otto, DStJG 29 (2006), 301. 824 S. BMF v. 24.7.2013 – IV C 3 - S 2015/11/10002, BStBl. I 2013, 1022, Rz. 323 ff. 825 BFH v. 30.5.2011 – VI R 159/99, BStBl. II 2001, 815 (Bundeszuschuss an Bahnversicherungsanstalt); v. 6.6.2002 – VI R 178/97, BStBl. II 2003, 34 (Arbeitgeberanteile zur gesetzlichen Sozialversicherung); v. 21.1.2010 – VI R 52/08, BStBl. II 2010, 703 (Entscheidungen des Sozialversicherungsträgers bzgl. Beitragspflicht insofern bindend). 826 BFH v. 6.6.2002 – VI R 178/97, BStBl. II 2003, 34. 827 Legaldefinition in § 8 I Nr. 1 SGB IV i.V.m. § 40a II EStG. Zur steuerlichen Behandlung der geringfügigen Beschäftigungen Günther, EStB 2003, 99; Hardner-Buschner, INF 2003, 218; Merker, SteuerStud 2003, 248; Niermann/Plenker, DB 2003, 304.
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§ 8 Rz. 490
Einkommensteuer
Pauschalabgabe von 30 % des Arbeitsentgelts828. Einzugsstelle für die Pauschalabgabe ist die „Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See“ (s. § 40a VI EStG). 490 Das Gesetz verbietet es nicht ausdrücklich, dass die Beschäftigung bei einem Arbeitgeber in eine Hauptbeschäftigung und eine geringfügige Nebenbeschäftigung oder in mehrere geringfügige Nebenbeschäftigungen aufgespalten werden kann829. Mehrere geringfügige Beschäftigungen werden nach § 8 II 1 SGB IV zunächst nur mit sozialversicherungsrechtlichen Konsequenzen zusammengerechnet830. Hat jedoch der Arbeitgeber infolge der Zusammenrechnung die vollen Sozialabgaben zu entrichten, so kann er nur noch die Pauschalbesteuerung nach § 40a IIa EStG (20 % Lohnsteuer, SolZ, KiSt) wählen. Liegt eine geringfügige Beschäftigung i.S.d. § 8 I Nr. 1 SGB IV nicht mehr vor, so unterliegt das Arbeitsentgelt dem normalen Lohnsteuerabzug. 491 Sonderregeln gelten bei geringfügiger Beschäftigung ausschließlich in Privathaushalten831. In diesem
Fall beträgt die Pauschalabgabe 12 %832. Die Beschäftigung in Privathaushalten wird zusätzlich durch die Steuerermäßigungen nach § 35a EStG gefördert (dazu Rz. 818). Auf Antrag ermäßigt sich die Einkommensteuer des Arbeitgebers nach § 35a I 1 EStG bei geringfügiger Beschäftigung um 20 %, höchstens 510 Euro, und bei anderen haushaltsnahen Beschäftigungen, für die Sozialversicherungsbeiträge entrichtet werden, um 20 %, höchstens 4 000 Euro der Aufwendungen (§ 35a II EStG), die keine Erwerbsaufwendungen darstellen und soweit sie nicht als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt worden sind. 2. Einkünfte aus Kapitalvermögen mit Abgeltungsteuer (§§ 20; 32d; 43 V 1 EStG) 2.1 Überblick 492 Über Jahrzehnte hat die Kreditwirtschaft die Einführung einer Abgeltungsteuer gefordert, um die
Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes Deutschland zu stärken und die Administration privater Kapitalanlagen grundl. zu vereinfachen. Zum 1.1.2009 ist der Gesetzgeber dieser Forderung im Zuge des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 v. 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912, nachgekommen.
828 Neben 2 % Pauschalsteuer, in der ESt, SolZ und KiSt zusammengefasst sind (§ 40a II EStG), 15 % Rentenversicherung u. 13 % Krankenversicherung. Zur Sozialversicherungspflicht s. §§ 168; 172 SGB VI; Brenner/Bals, BB-Beil. 2/2005. 829 In § 40a IV Nr. 2 EStG ist der Grundsatz niedergelegt, dass das Beschäftigungsverhältnis mit einem Arbeitgeber nicht in ein Pauschalierungsverhältnis und ein Beschäftigungsverhältnis mit normalem Lohnsteuerabzug aufgespalten werden kann (BFH v. 27.7.1990 – VI R 20/89, BStBl. II 1990, 931). § 40a IV EStG gilt jedoch ausdrücklich nicht für geringfügige Beschäftigungen (dazu ausf. HHR/K.J. Wagner, § 40a EStG Anm. 6, 56 [2015]). 830 Im Falle einer Zusammenrechnung werden die Sozialversicherungsbeiträge nach den § 20 II SGB IV; § 163 X SGB VI in einer sog. Gleitzone (450 bis 850 Euro Arbeitsentgelt) nach der in § 163 X SGB VI niedergelegten Formel auf die volle Höhe angehoben. Dazu mit Bsp. Merker, SteuerStud 2003, 248 f. 831 § 8a Satz 1 SGB IV i.V.m. § 8 SGB IV; § 40a II EStG. Legaldefinition in § 8a Satz 2 SGB IV: „Eine geringfügige Beschäftigung im Privathaushalt liegt vor, wenn diese durch einen privaten Haushalt begründet ist und die Tätigkeit sonst gewöhnlich durch Mitglieder des privaten Haushalts erledigt wird.“ 832 Neben 2 % Pauschalsteuer, 5 % Rentenversicherung u. 5 % Krankenversicherung. S. §§ 168 I Nr. 1c; 172 IIIa SGB VI; Brenner/Bals, BB-Beil. 2/2005.
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2. Einkünfte aus Kapitalvermögen mit Abgeltungsteuer
Rz. 494 § 8
Mit Einführung der Abgeltungsteuer833 sind die Kapitaleinkünfte ab 2009834 schedulenhaft nach fol- 493 gendem Konzept neu gestaltet worden: – Der Gesetzgeber hat die Trennung von Quellen- und Veräußerungseinkünften aufgegeben. § 20 II EStG weist die Kapitalveräußerungseinkünfte (s. Rz. 497) den Einkünften aus Kapitalvermögen und damit dem Anwendungsbereich der Abgeltungsteuer zu. Die Verbindung von Quelleneinkünften und Veräußerungseinkünften bewirkt eine grundlegende Vereinfachung: Es muss nicht mehr differenziert werden, ob steuerpflichtige Quellenerträge (§ 20 EStG), nach § 23 I EStG steuerbare oder nicht steuerbare Stammvermögenserträge vorliegen. Der Anreiz für die Entwicklung steueroptimierender Finanzinnovationen (s. Rz. 497) ist beseitigt. Auch muss nicht mehr verwaltungsaufwendig nachgehalten werden, bei welchen Wertpapieren eines Depots die Jahresfrist des § 23 I 1 Nr. 2 EStG abgelaufen ist835. Es macht ferner keinen Unterschied mehr, ob Erträge ausgeschüttet werden oder nicht. Dies verbessert die Steuerneutralität von Kapitalanlageprodukten ganz erheblich. – Der Werbungskostenabzug und das objektive Nettoprinzip werden stark eingeschränkt. An die Stelle 494 des uneingeschränkten Werbungskostenabzugs tritt im Anwendungsbereich abgeltend besteuerter Kapitaleinkünfte836 der Sparer-Pauschbetrag von 801 Euro und 1 602 Euro für Ehegatten (§§ 2 II 2; 20 IX EStG). Darüber hinaus ist ein Steuerabzug der tatsächlichen Werbungskosten ausgeschlossen. – Die nach den §§ 32d I; 43 V 1 EStG abgeltende Besteuerung der Kapitaleinkünfte bewirkt eine sondertarifierte Schedule. Der Steuersatz beträgt 25 % (§ 32d I 1 EStG 2008). Die daraus sich ergebende Steuer vermindert sich um die anrechenbaren ausländischen Steuern (§ 32d I 2, V). Im Falle der Kirchensteuerpflicht ermäßigt sich die Abgeltungsteuer nach Maßgabe des § 32d I 3–5 EStG. Damit sind die Kapitaleinkünfte mit 25 % zzgl. 1,375 % SolZ zzgl. 2,2 % KiSt (s. auch Rz. 966), also mit insgesamt 28,575 % abgeltend besteuert. Die Sondertarifierung ist Teil eines Systems von Fiskalzwecknormen, das die Progression gezielt dort kappt, wo sie sich im internationalen Steuersubstratwettbewerb nicht durchzusetzen vermag (s. § 7 Rz. 88).
833 Strohm, Abgeltungsteuer. Systematische Darstellung und ausgewählte Zweifelsfragen, Diss., 2010; Jachman-Michel/Strohm, Abgeltungssteuer5, 2016. Grds. zu den verfassungsrechtlichen und systematischen Aspekten Eckhoff, FR 2007, 989; Englisch, StuW 2007, 221; Jachmann, DStJG 34 (2011), 251 (258–265); Recnik, Die Besteuerung privater Kapitaleinkünfte durch die Abgeltungsteuer. Verfassungsrechtliche Aspekte des Systemwechsels, Diss., 2011; Worgulla, Die Bruttobesteuerung in der Schedule der Einkünfte aus Kapitalvermögen, Diss., 2013; Cropp, FR 2015, 878; Klotz, Die Abgeltungsteuer, Diss., 2016; Englisch, Die Abgeltungsteuer für private Kapitalerträge - ein verfassungswidriger Sondertarif, 2016; Groten, Integration einer Abgeltungsteuer auf Kapitaleinkünfte in ein Steuersystem mit progessivem Tarif, Diss., 2016 (mit Vergleich Deutschland – Österreich); Klotz, Die Abgeltungsteuer, Diss., 2017 (verfassungsrechtliche Analyse). Zum österr. Vorbild Korn, ÖStZ 2007, 222. Überblicksaufsätze: Ferdinand/Hallebach, SteuerStud 2010, 115; Schalburg, StWa 2010, 117 u. 139. Anwendungsschreiben (51 Seiten!) BMF v. 18.1.2016 – IV C – S 2252/08/10004:017, BStBl. I 2016, 85–136; zur aktuellen Rechtsprechungsentwicklung Weiss, BB 2017, 2071; zum Reformbedarf s. Literaturnachweise in Rz. 504 ff. 834 S. i.E. die komplexe Übergangsregelung in § 52a EStG 2008. Grds. werden mit abgeltender Wirkung Kapitalerträge besteuert, die dem Gläubiger nach dem 31.12.2008 zufließen (§ 52a I EStG 2008). Die abgeltende Besteuerung von Veräußerungsgewinnen gilt grds. erst für Erwerbe nach dem 31.12.2008 (s. § 52a X EStG 2008). Für Erwerbe davor gilt grds. die bisherige Regelung des § 23 EStG. 835 S. dazu m.w.N. Schmidt/Weber-Grellet26, § 20 EStG Rz. 22. 836 Keine Anwendung auf Kapitaleinkünfte i.S.v. § 32d II Nr. 1 EStG, für die die Abgeltungsteuer von vornherein ausgeschlossen ist, s. BFH v. 30.11.2016 – VIII R 11/14, BStBl. II 2017, 443.
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§ 8 Rz. 495
Einkommensteuer
2.2 Arten der Kapitaleinkünfte 495 Quelleneinkünfte aus Kapitalvermögen erzielt, wer Kapitalvermögen gegen Entgelt zur Nutzung
überlässt837. Der Katalog des § 20 I EStG bestimmt folgende Einnahmen aus Kapitalvermögen: – § 20 I Nr. 1 u. 2 EStG: Bezüge aus Kapitalgesellschaften u.a. Körperschaften838, d.s. insb. Gewinnanteile (Dividenden), offene und verdeckte Gewinnausschüttungen (§ 20 I Nr. 1 Satz 2 EStG), Genussrechte, besondere Entgelte und Vorteile i.S.v. § 20 III EStG, Bezüge auf Grund von Kapitalherabsetzung und Liquidationen (§ 20 I Nr. 2 EStG). Einkünfte i.S.d. § 20 I Nr. 1 u. 2 EStG sind dem Anteilseigner zuzurechnen (§ 20 V EStG). Zahlt der Verkäufer dafür, dass Aktien ohne den zwischenzeitlich entstandenen Dividendenanspruch geliefert werden, so hat der Erwerber nach § 20 I Nr. 1 Satz 4 EStG839 sonstige Bezüge zu versteuern. § 20 I Nr. 1 EStG ist nach dem Veranlassungsprinzip extensiv auszulegen. Auch Vorteile von dritter Seite, z.B. die Zuteilung von Telekom-Bonusaktien als Entgelt des Bundes für die Dauerhaftigkeit der Kapitalüberlassung unterfallen dem § 20 II 1 Nr. 1 EStG840. 496
Seit 2007 können Einkünfte aus Immobilien steuergünstig als Kapitaleinkünfte i.S.d. § 20 I Nr. 1 u. 2 EStG gestaltet werden, indem sich der Stpfl. an einem sog. REIT (Real Estate Investment Trust) beteiligt. REITs sind börsennotierte Aktiengesellschaften nach dem sog. REIT-Gesetz841. Mit dem REIT-Gesetz folgte der Gesetzgeber einer internationalen Entwicklung. REITs gibt es in über 20 Ländern, vor allem im amerikanischen und asiatischen Raum. Der deutsche Immobilienmarkt ist der größte in Europa, so dass das Bedürfnis nach deutschen REITs unabweisbar ist, insb. als Alternative zu den steuerlich problematischen842 Immobilienfonds mit Einkünften aus Vermietung und Verpachtung oder gewerblichen Einkünften der Anleger. Die Anteile an einem REIT müssen sich im Zeitpunkt der Börsenzulassung zu mindestens 25 % im Streubesitz befinden (§ 11 I 2 REIT-G). Die REIT-AG ist von der Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer befreit (§ 16 I REIT-G). Die Steuerbefreiung der REIT-AG wird damit gerechtfertigt, dass der überwiegende Teil der Gewinne ausgeschüttet und dort besteuert wird. Daher schreibt § 13 I REIT-Gesetz eine Mindestausschüttung von 90 %. vor. Das Teileinkünfteverfahren ist nicht anzuwenden (§ 19 III REIT-G). Steuerlich attraktiv ist der REIT vor allem wegen der Abgeltungsteuer: Steuerbelastung inkl. SolZ 26,37 % statt 48,33 %843. 837 BFH v. 31.10.1989 – VIII R 210/83, BStBl. II 1990, 532; v. 8.10.1991 – VIII R 48/88, BStBl. II 1992, 174 (175); v. 2.3.1993 – VIII R 13/91, BStBl. II 1993, 602 (603). Grundl. Wassermeyer, StuW 1988, 283; Schön (Hrsg.), Einkommen aus Kapital, DStJG 30 (2007). 838 AG, KGaA, GmbH, Genossenschaft, Verein u.a. Körperschaftsteuersubjekte i.S.d. § 1 KStG, auch wenn diese nach § 5 KStG befreit sind. S. Schmidt/Weber-Grellet36, § 20 EStG Rz. 31; Beck, Die Besteuerung von Beteiligungen an körperschaftsteuerpflichtigen Steuersubjekten im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, Diss., 2004. 839 Diese Vorschrift wurde durch JStG 2007 eingeführt. Sie soll die Besteuerung um den Ausschüttungstermin regeln und die mehrfache Anrechnung von Kapitalertragsteuer verhindern. Dazu Hahne, DStR 2007, 605; S. Wagner, Der Konzern 2007, 127; Bruns, DStR 2010, 2061; Englisch, FR 2010, 1023; Podewils, FR 2011, 69; Rau, FR 2011, 366; Desens, FR 2012, 142. 840 BFH v. 7.12.2004 – VIII R 70/02, BStBl. II 2005, 468. 841 Gesetz zur Schaffung deutscher Immobilien-Aktiengesellschaften mit börsennotierten Anteilen v. 28.5.2007, BGBl. I 2007, 914. Lit, zu Einzelfragen s. 20. Aufl. § 9 Rz. 496, Fn. 79. Kommentare und Monographien: Kerner, Die Besteuerung der Immobilien-AG, Diss., 2006; Seibt/Conradi, Hdb. REITAktiengesellschaft, 2008; Helios/Wewel/Wiesenbrock, REIT-Gesetz, 2008; Böhmer, Börsennotierte Immobilienaktiengesellschaften (REITs) in Deutschland: Einführung und Umsetzung nach dem REITGesetz, Diss., 2010; G. Wagner, Die Besteuerung des deutschen REIT, Diss., 2010 (rechtsvergleichend, abkommens- u europarechtlich); Zumwinkel, Das deutsche REIT-Gesetz: Steuerrechtsgesetzgebung im Spannungsfeld von Europa- und Verfassungsrecht, Diss., 2011. 842 BMF v. 20.10.2003 – IV C 3-S 2253a-48/03, BStBl I 2003, 546. 843 S. Wimmer, StuB 2007, 494 (499).
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2. Einkünfte aus Kapitalvermögen mit Abgeltungsteuer
Rz. 496 § 8
– § 20 I Nr. 3 u. 3a EStG: Investmenterträge i.S.v. § 16 InvStG und Spezial-Investmenterträge i.S.v. § 34 InvStG. Mit Investmentsteuerreformgesetz v. 19.7.2016844 hat der Gesetzgeber das Investmentsteuerrecht zum 1.1.2018 komplett neu geregelt, um europarechtswidrige Diskrimnierungen zwischen in- und ausländischen Fonds zu beseitigen und die Rechtsanwendung zu vereinfachen. Zukünftig wird zwischen (Publikums-)Investmentfonds und Spezial-Investmentfonds (§ 26 Nr. 8 InvStG n.F.: nicht mehr als 100 Anleger, grds. natürliche Personen nur bei Beteiligung im Betriebsvermögen) unterschieden. Für Publikums-Investmentfonds wird die bisherige semi-transparente Besteuerung durch eine zweistufige Erfassung von Fondserträgen ersetzt. Auf der Ebene des Fonds unterliegen inländische Beteiligungserträge, inländische Immobilienerträge und sonstige inländische Einkünfte der Körperschaftsteuer (§ 6 II InvStG n.F.). Zinsen, Veräußerungsgewinne aus Wertpapieren, ausländische Beteiligungs- und Immobilienerträge sind nicht steuerpflichtig. Die Einkünfte des Anlegers (§ 16 InvStG n.F.) setzen sich zusammen aus den Ausschüttungen des Fonds, der sog. Vorabpauschale (§ 18 InvStG n.F.), die an die Stelle der früheren ausschüttungsgleichen Erträge tritt, sowie Gewinnen aus der Veräußerung von Investmentanteilen. Sie unterliegen der Abgeltungsteuer. Um der Vorbelastung auf Fondsebene Rechnung zu tragen, gelten nach Zusammensetzung des Fonds (Aktien-, Immobilien- und Mischfonds) differenzierende Teilfreistellungen (§ 20 InvStG n.F.). Die ursprünglich intendierte Gleichstellung von Fonds- und Direktanlage wird damit für die private Fondsanlage nur noch annäherungsweise erreicht, tendentiell kommt es zu, in der Regel aber geringfügigen Mehrbelastungen845. Für Spezial-Investmentfonds, die der unternehmerischen Kapitalanlage dienen, besteht dagegen weiterhin die Möglichkeit semi-transparenter Besteuerung (Wahlrecht, § 30 InvStG n.F.). § 20 I Nr. 3a EStG, der die Spezial-Investmenterträge, hat nur Bedeutung, wenn an dem Spezialfonds ausnahmsweise eine natürliche Person beteiligt ist und die Erträeg nicht bereits nach § 15 EStG erfasst werden. Der Wegfall der komplizierten Ermittlung der Besteueurngsgrundlagen (§ 5 InvStG a.F.) und der Bekanntmachungspflichten des Fonds, die nach bisher geltendem Recht für die Herstellung der steuerlichen Transparenz erforderlich waren, senkt den administrativen Aufwand der Fondsbesteuerung. An ihre Stelle tritt jedoch ein nicht minder komplexes System von Differenzierungen je nach Ausgestaltung des Fonds. – § 20 I Nr. 4 EStG846: Einnahmen aus der Beteiligung an einem Handelsgewerbe als typischer stiller Gesellschafter und aus partiarischen Darlehen. Der atypisch stille Gesellschafter (s. § 10 Rz. 70) ist Mitunternehmer (§ 15 I 1 Nr. 2 EStG). – § 20 I Nr. 5 EStG: Zinsen aus Hypotheken/Grundschulden und Renten aus Rentenschulden. – § 20 I Nr. 6 EStG847: Erträge aus Lebensversicherungen. Steuerpflichtig ist der Unterschiedsbetrag zwischen dem Gesamtbetrag der Versicherungsleistungen und der Summe der auf Grund des Versicherungsvertrages erbrachten Geldleistungen (Beiträge, Gebühren, Versicherungsteuer, Provisionen)848. § 20 I Nr. 6 EStG gilt nur, wenn das Kapitalwahlrecht ausgeübt wird. Wird die 844 BGBl. I 2016, 1730. Darstellungen der neuen Rechtslage: Stadler/Bindl, DStR 2016, 1953; Böcker, NWB 2016, 2789; Kußmaul u.a., Ubg 2016, 596; Kußmaul/Kloster, Ubg 2016, 672. 845 Elser, Corporate Finance 2016, 141 (143 ff.). 846 Zu den Auswirkungen der Abgeltungsteuer Czisz/Krane, DStR 2010, 226. 847 Neuregelung des § 20 I Nr. 6 EStG durch das Alterseinkünftegesetz v. 5.7.2004, BGBl. I 2004, 1427 (s. Rz. 570). Ausf. BMF v. 22.12.2005 – IV C 1 - S 2252-343/05, BStBl. I 2006, 92 (dazu Goverts/Knoll, DStR 2006, 589; Risthaus, DB 2006, 232); geändert durch BMF v. 1.10.2009 – IV C 1 - S 2252/07/0001, BStBl. I 2009, 1172 (dazu Jörißen, SteuerStud 2010, 75; Goverts, DB 2009, 2455) und durch BMF v. 11.11.2016 – IV C 1-S 2401/08/10001:015, BStBl. I 2016, 1238. 848 Zur Berechnung des Unterschiedsbetrages BMF v. 1.10.2009 – IV C 1-S 2252/07/0001, BStBl. I 2009, 1172, Rz. 54 ff.; geändert durch BMF v. 18.6.2013 – IV C 1-S 2252/07/0001:023, BStBl. I 2013, 768. Bei entgeltlichem Erwerb der Versicherung treten die Anschaffungskosten an die Stelle der vor dem Erwerb entrichteten Beiträge (§ 20 I Nr. 6 Satz 3 EStG).
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§ 8 Rz. 496
Einkommensteuer
Rentenzahlung gewählt, so ist die Rente mit dem Ertragsanteil nach § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. bb EStG zu versteuern. Kapitalleistungen im Todesfall sind nicht zu besteuern. Wird die Versicherungsleistung nach dem 60. Lebensjahr des Stpfl. und nach 12 Jahren seit Vertragsabschluss ausgezahlt, so ist die Hälfte des Unterschiedsbetrages anzusetzen (§ 20 I Nr. 6 Satz 2 EStG). Durch JStG 2009 sind folgende Missbrauchsklauseln gegen die Umgehung von Abgeltungsteuer eingeführt worden: § 20 I Nr. 6 Satz 5 EStG nimmt vermögensverwaltende Versicherungsverträge von der privilegierten Besteuerung von Lebensversicherungen aus, rechnet die Erträge unmittelbar dem Versicherungsnehmer zu und unterwirft sie der Abgeltungsteuer. § 20 I Nr. 6 Satz 6 EStG schließt Kapitallebensversicherungen von der Begünstigung nach § 20 I Nr. 6 Satz 2 EStG aus, wenn sie nicht bestimmte Mindeststandards erfüllen. § 20 I Nr. 6 Satz 7 EStG schließt die Steuerbefreiung von Kapitalleistungen bei entgeltlichem Versicherungserwerb aus, um dem Handel mit „gebrauchten“ Lebensversicherungen vorzubeugen. – § 20 I Nr. 7 EStG: Erträge aus sonstigen Kapitalforderungen849 jeder Art. § 20 I Nr. 7 EStG erfasst Kapitalnutzungsentgelte wie insb. Zinsen850 und alle laufenden Erträge aus reinen Spekulationsanlagen (sog. Vollrisikozertifikate)851 und setzt demnach voraus, dass die Rückzahlung des Kapitalvermögens oder ein Entgelt für die Überlassung des Kapitalvermögens zugesagt oder geleistet worden ist. Es ist unerheblich, ob die Höhe der Rückzahlung oder des Entgelts von einem ungewissen Ereignis abhängt. In § 20 I Nr. 7 Satz 3 EStG hat der Gesetzgeber gegen die Rechtsprechung des BFH rückwirkend (§ 52a VIII 2 EStG 2008) die Steuerpflicht von Erstattungszinsen i.S.v. § 233a AO angeordnet852. Der BFH hatte systemkonform aus der Nichtabziehbarkeit von Nachzahlungszinsen (§ 12 Nr. 3 EStG) auf die Nichtsteuerbarkeit von Erstattungszinsen geschlossen. JStG 2010 bezeichnet die systemwidrige Nichtanwendungsgesetzgebung als Wiederherstellung der bisherigen Rechtslage und „Klarstellung“ (BT-Drucks. 17/3549, 17 f.). § 20 I Nr. 7 Satz 3 EStG verstößt gegen das Gebot folgerichtiger Umsetzung der von § 12 Nr. 3 EStG getroffenen Entscheidung der Zuordnung von Einkommen-/Personensteuern und der hierauf entfallenden Nebenleistungen zur steuerlich unbeachtlichen Einkommensverwendung und verletzt mit der rückwirkenden Anwendung auf alle noch offenen Fälle zudem das rechtsstaatliche Vertrauensschutzprinzip853. Nimmt man die Steuerpflicht als gegeben, dann muss Zinsaufwand für ein zur Finanzierung der später erstatteten Steuerzahlung aufgenommenes Darlehen als Werbungskosten abzugsfähig sein854. Negative Einlagezinsen behandelt die Finanzverwaltung nicht als Zinsen, sondern als Verwahrund Einlagegebühr, die vom Sparerpauschbetrag des § 20 IX 1 EStG erfasst sind855.
849 Die Forderung muss auf Geldleistungen gerichtet sein (BFH v. 12.5.2015 – V III R 35/14, BStBl. II 2015, 834: Nicht Xetra-Gold-Inhaberschuldverschreibungen); zum Begriff der sonstigen Kapitalforderung Weißbrodt/Michalke, DStR 2012, 1533. 850 Neben der Verzinsung von Bankguthaben z.B. Prozess- und Verzugszinsen (BFH v. 25.10.1994 – VIII R 79/91, BStBl. II 1995, 121; v. 24.5.2011 – VIII R 3/09, BStBl. II 2012, 254). § 20 I Nr. 7 EStG soll ferner wie bisher § 20 II 1 Nr. 3 EStG auch gezahlte Stückzinsen aus Alt-Anleihen erfassen; klargestellt durch § 52 XXVIII 16 EStG (hierzu Hechtner/Sielaff, NWB 2011, 519). 851 Dazu hat der Gesetzgeber in § 20 I Nr. 7 Satz 1 EStG 2008 das Wort „gewährt“ durch das Wort „geleistet“ ersetzt (s. BT-Drucks. 16/4841, 54. Zur Besteuerung von Zertifikaten s. Haisch/Danz, DStR 2005, 2108. 852 BFH v. 15.6.2010 – VIII R 33/07, BStBl. II 2011, 503; dazu Rublack, FR 2011, 173; Panzer/Gebert, DStR 2011, 741 (Gesetzesänderung zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels untauglich). 853 A. A. BFH v. 12.11.2013 – VIII R 36/10, BStBl. II 2014, 168; v. 12.11.2013 – VIII R 1/11, BFH/NV 2014, 830 (verfassungsrechtlich unbedenklich); ebenso Thiemann, FR 2012, 673. 854 Inkonsequent FG München v. 15.10.2014 – 1 K 1006/14, EFG 2015, 119 (120) (rkr.), wo die Einkünfteerzielungsabsicht verneint wird, was freilich grds. gegen die Steuerbarkeit der Erstattungszinsen spricht. 855 BMF v. 18.1.2016 – IV C 1-S 2252/08/10004:017, BStBl. I 2016, 85, Tz. 129a.
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2. Einkünfte aus Kapitalvermögen mit Abgeltungsteuer
Rz. 497 § 8
– § 20 I Nr. 8 EStG: Diskontbeträge von Wechseln und Anweisungen einschließlich der Schatzwechsel. – § 20 I Nr. 9 EStG: Quasi-Gewinnausschüttungen von nicht befreiten KSt-Subjekten i.S.d. § 1 I Nr. 3–5 KStG (u.a. Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, Vereine, Stiftungen). Z.B. unterliegen § 20 I Nr. 9 EStG Leistungen, die aus den Erträgen einer Stiftung an den Stifter, seine Angehörigen oder deren Abkömmlinge ausgekehrt werden856. Auf diese Weise wird eine Nachbesteuerung hergestellt und Wettbewerbsvorteile vermieden, die sich andernfalls durch den niedrigen Körperschaftsteuersatz ergeben würden857. – § 20 I Nr. 10 EStG: Leistungen, Gewinn, verdeckte Gewinnausschüttungen von Betrieben gewerblicher Art und wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben. – § 20 I Nr. 11 EStG858: Stillhalterprämien, die für die Einräumung von Optionen vereinnahmt werden. Bei Glattstellungsgeschäften vermindern sich die steuerpflichtigen Einnahmen um die im Glattstellungsgeschäft gezahlten Prämien. Verluste des Stillhalters in Form eines Barausgleichs bei Optionsausübung können nicht mit der Stillhalterprämie verrechnet werden, sind aber als Verluste aus Termingeschäften im Rahmen von § 20 II 1 Nr. 3a EStG zu berücksichtigen (s. Rz. 497)859. Kapitalveräußerungseinkünfte: § 20 II 1 Nr. 2–4 EStG a.F. besteuerte bisher schon die Veräußerung 497 von Erträgen (sog. Einnahmesurrogate) aus den sog. Finanzinnovationen860, die im Grenzbereich des quellentheoretischen Stammvermögens (s. Rz. 50) liegen. Mit den Finanzinnovationen wurde die Steuerstrategie verfolgt, Kapitalerträge in die nicht steuerbare Sphäre des Stammvermögens zu verlagern. Mit Einführung der Abgeltungsteuer erweiterte der Gesetzgeber § 20 II EStG auf alle Einkünfte aus der Veräußerung von Kapitalanlagen, mit denen laufende Erträge i.S.d. § 20 I EStG erwirtschaftet werden oder die sonst mit Kapitaleinkünften i.S.d. § 20 I EStG zusammenhängen. Das neue Recht erweitert die Besteuerung von Kapitalveräußerungseinkünften auch insoweit, als die Steuerbarkeit von Kapitalveräußerungseinkünften nicht mehr von einer Jahresfrist (§ 23 I 1 Nr. 2 EStG) abhängt. Besteuert wird der „Gewinn“ (§ 20 II 1 Nr. 1–8 EStG). Als Veräußerungen gelten nach § 20 II 2 EStG auch die Einlösung, Rückzahlung, Abtretung von Forderungen oder die verdeckte Einlage in eine Kapitalgesellschaft. § 43 I 4–6 EStG stellt ferner für Zwecke des Kapitalertragsteuerabzugs die Depotübertragung der Veräußerung gleich, wenn der Stpfl. nicht mitteilt, dass es sich um eine unentgeltliche Übertragung handelt. Die Anschaffung oder Veräußerung von Beteiligungen gilt als Anschaffung oder Veräußerung der anteiligen Wirtschaftsgüter (§ 20 II 3 EStG); dies entspricht dem Transparenzprinzip. I.E. regelt § 20 II EStG folgende Veräußerungstatbestände: – § 20 II 1 Nr. 1 EStG: Gewinn aus der Veräußerung von Anteilen an einer Körperschaft i.S.d. § 20 II 1 Nr. 1 EStG (zur restriktiven Berücksichtigung von Verlusten vgl. Rz. 500). – § 20 II 1 Nr. 2 a u. b EStG: Gewinn aus der Veräußerung von Dividendenscheinen und sonstigen Ansprüchen ohne Mitveräußerung der dazugehörigen Aktien oder sonstigen Anteile (Buchst. a) sowie Gewinn aus der Veräußerung von Zinsscheinen/-forderungen ohne Mitveräußerung der dazugehörigen Schuldverschreibungen (Buchst. b). 856 Zur Abgrenzung zu § 22 EStG vgl. BFH v. 3.11.2010 – I R 98/09, BStBl. II 2011, 417 (dazu Kessler/Müller, DStR 2011, 614). 857 HHR/Intemann, § 20 EStG Anm. 340 (2014). 858 Eingeführt durch UntStRefG 2008. Die Stillhalterprämie entschädigt den Stillhalter für die Bindung und Risiken, die er durch die Begebung des Optionsrechts eingeht (zu Stillhaltergeschäften Philipowski, DStR 2009, 353). Die Prämie wird unabhängig vom Zustandekommen des Wertpapiergeschäfts gezahlt (s. BT-Drucks. 16/4841, 54). 859 BFH v. 20.10.2016 – VIII R 55/13, BStBl. II 2017, 264, Rz. 11, 28 und 30. 860 Dazu grundl. Jachmann, DStJG 30 (2007), 153; zur Dogmatik der Rspr.: Jachmann, BB 2007, 1137 ff., 1198 ff.
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§ 8 Rz. 498
Einkommensteuer
– § 20 II 1 Nr. 3 a u. b EStG861: Veräußerungsgewinn bei Termingeschäften (Buchst. a) und Gewinn aus der der Veräußerung eines als Termingeschäft ausgestalteten Finanzinstruments862 (Buchst. b). Der Begriff des Termingeschäfts umfasst sämtliche als Options- oder Festgeschäft ausgestalteten Finanzinstrumente sowie Kombinationen zwischen Options- und Festgeschäften (BTDrucks. 16/4841, 55), folglich auch das Verfallenlassen von Optionen, das ebenso wie ein Barausgleich des Stillhalters zu ausgleichsfähigen Verlusten führt, da die Anschaffung der Option und der Ausgang des Optionsgeschäfts (Eröffnungs- und Basisgeschäft) wirtschaftlich als Einheit betrachtet werden müssen863. – § 20 II 1 Nr. 4 EStG: Gewinne aus der Veräußerung und Auflösung von stillen Beteiligungen sowie Verwertungserträge aus partiarischen Darlehen durch Abtretung von Forderungen oder bei Beendigung der Laufzeit (BT-Drucks. 16/4841, 55). – § 20 II 1 Nr. 5 EStG: Gewinne aus der Übertragung von Hypotheken, Grundschulden und Rentenschulden. – § 20 II 1 Nr. 6 EStG: Gewinne aus der Abtretung von Ansprüchen auf eine Versicherungsleistung i.S.d. § 20 I Nr. 6 EStG. – § 20 II 1 Nr. 7 EStG864: Gewinne aus der Abtretung von Kapitalforderungen i.S.d. § 20 I Nr. 7 EStG. – § 20 II 1 Nr. 8 EStG: Gewinne aus der Übertragung oder Aufgabe einer Rechtsposition, die Einnahmen aus einem Körperschaftsteuersubjekt i.S.d. § 20 I Nr. 9 EStG (s. Rz. 496) vermittelt. 498 § 20 IVa EStG bezweckt die Vereinfachung des Steuerabzuges bei sog. Kapitalmaßnahmen, bei denen
die Erträge nicht als Geldzahlungen, sondern insb. in Form von Anteilen an Kapitalgesellschaften zufließen865. § 20 IVa EStG regelt den Anteilstausch (Sätze 1 u. 2), den Erwerb von Wertpapieren anstelle der Rückzahlung von Kapitalforderungen (Satz 3), Bezugsrechte (Satz 4), Bonusaktien u. Freianteile (Satz 5) sowie die Abspaltung (Satz 7). In diesen Fällen tritt das erworbene Kapital an die Stelle des hingegebenen Kapitals, indem die Anschaffungskosten erfolgsneutral fortgeführt und stille Reserven steuerverstrickt bleiben. Die Veräußerungseinkünfte werden erst bei einer Veräußerung gegen Geldzahlung besteuert.
861 Diese Vorschrift ersetzt § 23 I 1 Nr. 4 EStG a.F. und regelt die Besteuerung der Termingeschäftsgewinne neben § 20 I Nr. 11 EStG 2008; dazu BMF v. 18.1.2016 – IV C 1-S 2252/08/10004:017, BStBl. I 2016, 85, Rz. 9 ff.; Dahm/Hamacher, DStR 2008, 1910 (Termingeschäfte); Optionsgeschäfte: Kobarg, SteuerStud 2008, 124; Helios/Philipp, BB 2010, 95; Schalburg, StWa 2013, 169 u. 183. Grundsatzkritik („Besteuerungsruine“) Dahm/Hamacher, DStR 2014, 455. Zur Berücksichtigung vergeblicher Aufwendungen/Verluste: BFH v. 26.9.2012 – IX R 50/09, BStBl. II 2013, 231; Meinert/Helios, DStR 2013, 508; Knoblauch, DStR 2013, 798; Heuermann, DB 2013, 718 (719 f.: Übertragung auf die Abgeltungsteuer). 862 Zu Begrifflichkeit, Arten und Besteuerung von Finanzinstrumenten Haisch/Helios, Rechtshdb. Finanzinstrumente, 2011. 863 BFH v. 12.1.2016 – IX R 50/14, BStBl. II 2016, 462 (463); v. 20.10.2016 – VIII R 55/13, BStBl. II 2017, 264. 864 Diese Vorschrift ersetzt nicht nur § 20 II 1 Nr. 4 EStG a.F.; sie erfasst zudem Wertzuwächse auf der Vermögensebene (BT-Drucks. 16/4841, 56). Lit. hierzu: Pross, Swap, Zins und Derivat, Finanzinnovationen im nationalen und internationalen Steuerrecht unter besonderer Berücksichtigung des Zinsbegriffs, Diss., 1998; Sturm, Innovative Zinspapiere und zinsähnliche Anlageprodukte, Diss., 1999; Jachmann, BB 2007, 1137 ff., 1198 ff.; Twardosz, Besteuerung von Zinseinkünften, Abgrenzung von Substanz und Ertrag bei Kapitalanlageprodukten, Diss., 2007. 865 BT-Drucks. 16/10189, 66. Dazu Bron/Seidel, BB 2010, 2599; Haritz, FR 2010, 589; zur Neufassung durch AmtshilfeRLUmsG Bron, DStR 2014, 353; Moldenhauer, Die Besteuerung von Kapitalmaßnahmen nach § 20 IV EStG, Diss., 2015 (insb. zur verfassungsrechtlichen Rückwirkungsfragen).
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2. Einkünfte aus Kapitalvermögen mit Abgeltungsteuer
Rz. 500 § 8
§ 43a III 7 EStG erleichtert i.V.m. § 20 IIIa EStG das Kapitalertragsteuerverfahren dadurch, dass die auszahlende Stelle materielle Fehler des Kapitalertragsteuerabzugs erst im Zeitpunkt der Kenntniserlangung korrigieren muss und die Änderung der Kapitalerträge erst im Jahr der Korrektur erfasst wird. Nach § 20 VIII EStG (bisher § 20 III EStG a.F.) sind Kapitaleinkünfte vorrangig den Einkünften aus 499 Land- und Forstwirtschaft (§§ 13–14a EStG), Gewerbebetrieb866 (§§ 15–17 EStG, also insb. Gewinne aus der Veräußerung von Kapitalgesellschaftsanteilen i.S.d. § 17!), selbständiger Arbeit (§ 18 EStG) und aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG) zuzuordnen. Damit bestimmt § 20 VIII EStG auch den Anwendungsbereich der Abgeltungsteuer. Das Verhältnis des § 20 EStG zu § 19 EStG regelt § 20 VIII EStG nicht, so dass die kausalrechtliche Zuordnung im Einzelfall zu prüfen ist867. 2.3 Ermittlung der Einkünfte Die Einkünfte aus Kapitalvermögen werden schedulenhaft ermittelt. Der Werbungskostenabzug wird 500 durch den Sparer-Pauschbetrag (s. bereits Rz. 494) ersetzt (§§ 2 II 2; 20 IX EStG)868. § 2 Vb EStG eliminiert die abgeltend besteuerten Kapitalerträge (§§ 32d; 43 V EStG) weitgehend aus der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer und führt sie der Sonderbesteuerung nach den §§ 20; 32d EStG zu. Kapitalveräußerungseinkünfte sind nach den Vorschriften des § 20 IV EStG zu ermitteln: Gewinn ist der Unterschiedsbetrag zwischen den Veräußerungseinnahmen abzüglich der Veräußerungsaufwendungen und den Anschaffungskosten (§ 20 IV 1 EStG)869. Verluste aus Kapitalvermögen dürfen grds. nur innerhalb der Kapitaleinkünfteschedule verrechnet werden (§ 20 VI 1 u. 2 EStG)870, Verluste aus der Veräußerung von Aktien nur innerhalb der Aktienschedule (§ 20 VI 4 EStG). Diese zusätzliche Beschränkung der Verlustverrechnung verfolgt eine rein fiskalische Zielsetzung871 und lässt sich verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen872. Verluste werden nach § 20 VI EStG auf folgenden Stufen verrechnet: 866 Zu den Voraussetzungen für die Annahme eines gewerblichen Wertpapierhandels s. Rz. 417. 867 Dazu grds. BFH v. 31.10.1989 – VIII R 210/83, BStBl. II 1990, 532 (s. Rz. 590); s. Schmidt/Krüger36, § 19 EStG Rz. 100 (Zinsen). Darlehenszinsen, die der Arbeitgeber an den Arbeitnehmer (z.B. auf nicht ausgezahlten Lohn) zahlt, sind Einnahmen aus Kapitalvermögen. 868 Auswirkungen auf die Berücksichtigung von Verlusten aus typisch stiller Gesellschaft Rockoff/Weber, DStR 2010, 363; Kämmerer, DStR 2010, 27 (fremdfinanzierte Lebensversicherungen). 869 Der Gewinnbegriff ist den §§ 17 II; 23 III EStG nachgebildet. Ansonsten enthält § 20 IV EStG spezifische Vorschriften für verdeckte Einlagen (Satz 2; vgl. § 17 II 2 EStG), Entnahmen (Satz 3; §§ 6 I Nr. 4; 16 III EStG), Versicherungen (Satz 4), Termingeschäfte (Satz 5), unentgeltliche Erwerbe (Satz 6: die Aufwendungen des Rechtsvorgängers sind anzusetzen) und für Wertpapiersammelverwahrung first-in-first out (Satz 7) und Bond-Stripping (Sätze 8 und 9). 870 Kleinmanns, DStR 2009, 2359. Die Schedule eingeschränkter Verlustnutzung aktiviert die Gestaltungsberatung, vgl. Gratz, BB 2008, 1105; Lothmann, DStR 2008, 945; Paus, NWB Fach 3, 14957 (2008); Spengel/Ernst, DStR 2008, 835; Kleinmanns, DStR 2009, 2359; Korn, DStR 2009, 2509; Lappas, Stbg. 2009, 446; zur Berücksichtigung von Kapitalvermögenseinbußen außerhalb von Veräußerungsgeschäften Kellersmann, FR 2012, 57; zum Einfluss auf die Anlageentscheidung Engelhard, Aspekte der generellen Veräußerungsgewinnbesteuerung im Abgeltungsteuersystem, Diss. 2016. Zur Rechtslage im Rahmen der österreichischen Abgeltungsteuer Brauneis/Schuschnig, ÖStZ 2012, 426. 871 BT-Drucks. 16/5491, 19. 872 Englisch, StuW 2007, 221 (237 f.); Jochum, DStZ 2010, 309 (311 ff.); Loos, DStZ 2010, 78; Jachmann, DStJG 34 (2011), 251 (264 f.); HHR/Buge, § 20 EStG Anm. 620 (2014) m.w.N.; KSM/Jochum, § 20 EStG Rz. H 52–68 (2017).; a.A. FG Saarland v. 23.4.2014 – 2 K 1157/11, EFG 2014, 1592 (rkr.). Nur übergangsweise durften positive Einkünfte aus Kapitalvermögen zwischen 2009 und 2013 mit Verlusten aus privaten Veräußerungsgeschäften, die bis zum 31.12.2008 entstanden sind, verrechnet werden (§§ 20 VI 2; 23 III 9 u. 10 EStG i.V.m. § 52a XI 11 EStG 2008). Dieser Übergangsregelung bedurfte es infolge des Wechsels der Veräußerungseinkünfte aus der Einkunftsart sonstige Einkünfte in die Einkunftsart Kapitalvermögen. Das Abschneiden der Altverluste ab 2013 lässt sich indes entgegen BFH v. 6.12.2016 – IX R 48/15, BStBl. II 2017, 313, weder durch die Systemumstellung noch unter Verein-
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§ 8 Rz. 501
Einkommensteuer
– Es ist zunächst der innerperiodische Verlustausgleich (s. Rz. 61) innerhalb der Kapitaleinkünfteschedule (§ 2 II 2, Vb EStG) durchzuführen; dabei ist ein Verlustausgleich im Rahmen eines Antrags auf Günstigerprüfung nach § 32d VI 1 EStG auch zwischen regelbesteuerten und abgeltungsbesteuerten Kapitaleinkünften zulässig873. – Sodann sind verbleibende positive Einkünfte aus Kapitalvermögen auf Kapitalertragsteuerebene innerhalb des allgemeinen Verlustverrechnungstopfes und des speziellen Verlustverrechnungstopfes für Aktien (§ 43a III 2 EStG) zu verrechnen. – Schließlich sind die noch verbleibenden Verluste nach den §§ 20 VI 3 und 4; 10d IV EStG vorzutragen (kein Verlustrücktrag!). 2.4 Reichweite der Abgeltungsteuer 501 Die Abgeltungsteuer setzt den Kapitalertragsteuerabzug874 voraus. Die abgeltende Wirkung des Ka-
pitalertragsteuerabzuges ordnet § 43 V 1 EStG an. § 43 i.V.m. § 32d II EStG bestimmen den vielfach durchbrochenen Anwendungsbereich der Abgeltungsteuer. Nach § 43 V 2 EStG greift die Abgeltungsteuer nicht Platz bei Kapitalerträgen – aus Gewinneinkünften und Einkünften aus Vermietung und Verpachtung (§§ 20 VIII; 43 V 2 EStG; s. auch Rz. 499); – aus stillen Beteiligungen und Darlehen, die nach § 32d II Nr. 1 EStG von der Abgeltungsteuer ausgeschlossen sind (§ 43 V 2 EStG). Ausschlussgründe: Gläubiger und Schuldner sind einander nahestehende Personen, soweit die den Kapitalerträgen gegenüberstehenden Aufwendungen die (inländische) Bemessungsgrundlage gemindert haben (§ 32d II Nr. 1 a EStG); Zahlungen einer Kapitalgesellschaft/Genossenschaft an Anteilseigner mit Beteiligung von mindestens 10 % oder an eine dem Anteilseigner nahestehende Person (§ 32d II Nr. 1 Buchst. b EStG); Back-to-back-Finanzierungen (§ 32d II Nr. 1 Buchst. c EStG)875. Der BFH hält die Einschränkungen aus Gründen typisierender Missbrauchsvermeidung und der Vermeidung von Verzerrungen durch die Abgeltungsteuer für gerechtfertigt, legt den Begriff der nahestehenden Person in § 32d II Nr. 1 Buchst. a EStG aber abweichend von § 15 AO so aus, dass die Vorschrift auf Fälle missbräuchlicher steuerlicher Gestaltung beschränkt werden kann876. Darlehen zwischen Ehegatten sind nur dann von der Abgeltungsteuer ausgenommen, wenn der Darlehensnehmer vom Darlehensgeber finanziell abhängig ist und dieser einen beherrschenden Einfluss ausüben kann877; – aus 12-Jahres-Lebensversicherungen (§§ 32d II Nr. 2; 43 V 2 EStG). Diese Leistungen sind von der Abgeltungsteuer ausgeschlossen worden, da der nach § 20 I Nr. 6 Satz 2 EStG nur zur Hälfte anzusetzende Wertzuwachs eine abgeltende Besteuerung der Leistungen nur von 12,5 % ergeben würde878;
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fachungsgesichtspunkten legitimieren; ausf. Hey, FR 2014, 349; ferner Pelka, DStJG 34 (2011), 286; zweifelnd auch Jachmann, DStJG 34 (2011), 289; Lohse, DStR 2017, 641. Zutr. BFH v. 30.11.2016 – VIII R 11/14, BStBl. II 2017, 443. Zur Funktion der Kapitalertragsteuer im System der Abgeltungsteuer Weber-Grellet, DStR 2013, 1357 u. 1412. Zielgenauer gefasst durch JStG 2008; dazu überzeugend Breinersdorfer, StuW 2008, 216. S. BFH v. 29.4.2014 – VIII R 9/13, BStBl. II 2014, 986; v. 29.4.2014 – VIII R 35/13, BStBl. II 2014, 990; v. 29.4.2014 – VIII R 44/13, BStBl. II 2014, 992; zu § 32d II Nr. 1 Satz 1 Buchst. b EStG: v. 29.4.2014 – VIII R 23/13, BStBl. II 2014, 884; dazu Moritz/Strohm, DB 2014, 2306; Werth, DStZ 2014, 67; Gläser/ Zöller, DStR 2015, 497. Für eine am Gesetzeszweck orientierte Auslegung auch Stollenwerk, Geschäfte zwischen nahestehenden Personen, Diss, 2014, 170–196. BFH v. 28.1.2015 – VIII R 8/14, BStBl. II 2015, 397; jetzt auch BMF v. 18.1.2016 – IV C 1-S 2252/08/10004:017, BStBl. I 2016, 85, Rz. 136. S. BT-Drucks. 16/4841, 61.
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2. Einkünfte aus Kapitalvermögen mit Abgeltungsteuer
Rz. 503 § 8
– aus Beteiligungen an Kapitalgesellschaften, wenn der Stpfl. dies beantragt. Der Antrag ist spätestens in der Einkommensteuererklärung des jeweiligen Veranlagungszeitraums zu stellen. Der Stpfl. muss zu mindestens 25 % beteiligt sein oder zu mindestens 1 % beteiligt sein und durch seine berufliche Tätigkeit für die Kapitalgesellschaft maßgeblichen unternehmerischen Einfluss nehmen können (§ 32d II Nr. 3 Satz 1 EStG). Infolge der Option gilt der persönliche Einkommensteuersatz inkl. Teileinkünfteverfahren (s. § 11 Rz. 12). Auf diese Weise besteht die Möglichkeit, Aufwendungen im Rahmen von § 3c II EStG ohne die Begrenzung des Sparer-Pauschbetrags des § 20 IX 1 EStG geltend zu machen; – gem. § 32d II Nr. 4 EStG bei verdeckten Gewinnausschüttungen, soweit diese das Einkommen der Körperschaft gemindert haben (Übertragung der sog. materiellen Korrespondenz [§ 3 Nr. 40 Satz 1 Buchst. d Satz 2], s. § 11 Rz. 90, auf die Abgeltungsteuer); – § 43 V 1 Hs. 2 EStG schließt die Abgeltungsteuer ferner insoweit aus, als der Gläubiger nach § 44 I 8–11, V EStG (keine ausreichende Gelddeckung bei Sachbezügen; Pflichtverletzungen) in Anspruch genommen werden kann; der Gläubiger kann die Anwendung des § 32d EStG beantragen (§ 43 V 3 EStG). Im Weiteren ist der Anwendungsbereich der Abgeltungsteuer wie folgt eingeschränkt:
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– Die Kapitalertragsteuer wird nicht erhoben, wenn das Depot bei einem ausländischen Finanzdienstleister eingerichtet ist. Nach § 44 I EStG sind nur inländische Institute kapitalertragsteuerpflichtig. – Die Kapitalertragsteuer wird nicht erhoben, wenn der Gläubiger ein inländisches Kredit-/Finanzdienstleistungsinstitut ist (sog. Bankenprivileg, § 43 II 2 EStG). – Vom Steuerabzug wird nach § 44a IV, VI, VII EStG Abstand genommen, weil der Gläubiger eine von der Körperschaftsteuer befreite Körperschaft oder eine inländische juristische Person des öffentlichen Rechts ist. – Vom Steuerabzug wird nach § 44a I 1 Nr. 1, II 1 Nr. 1 EStG Abstand genommen, soweit die Kapitalerträge den Sparer-Pauschbetrag (s. Rz. 494) nicht überschreiten und ein Freistellungsauftrag des Gläubigers vorliegt. – Vom Steuerabzug wird nach § 44a I 1 Nr. 2, II 1 Nr. 2 EStG Abstand genommen, wenn eine Einkommensteuerveranlagung nicht in Betracht kommt und eine Nichtveranlagungs-Bescheinigung des Wohnsitzfinanzamts vorliegt. Bei den Kapitalerträgen sind vier Arten von Veranlagungen zu unterscheiden:
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– Kapitalerträge werden in die verpflichtende Veranlagung zum individuellen Steuersatz einbezogen, soweit die Abgeltungsteuer nach § 43 V 2 EStG nicht Platz greift (s. Rz. 501), das sind Kapitalerträge, die nach § 20 VIII EStG 2008 nicht den Einkünften aus Kapitalvermögen zuzuordnen sind (s. Rz. 499) und Kapitalerträge, die nach § 32d II EStG von der Abgeltungsteuer ausgeschlossen sind (s. Rz. 501). § 32d II EStG dient der Bekämpfung von Steuergestaltungen zur Ausnutzung des Abgeltungsteuersatzes. – Die verpflichtende Veranlagung zum Abgeltungsteuersatz nach § 32d III EStG ist durchzuführen, soweit Kapitalerträge i.S.d. § 20 EStG nicht der Kapitalertragsteuer unterlegen haben. Für diese nach § 32d III 1 EStG zu deklarierenden Kapitalerträge erhöht sich die tarifliche Einkommensteuer um den Abgeltungsteuersatz (§ 32d I, III 2 EStG). Die Veranlagung nach § 32d III EStG betrifft z.B. Gewinne aus der Veräußerung von GmbH-Anteilen bei nicht wesentlicher Beteiligung (s. Rz. 499), aus der Veräußerung von Lebensversicherungen (§§ 32d II Nr. 2; 43 V 2 EStG; s. Rz. 501), Zinsen auf Grund eines Privatdarlehens und Kapitalerträge, die von einem ausländischen Institut ausgezahlt werden. Ausländische Quellensteuer wird nach Maßgabe des § 32d V
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Einkommensteuer
EStG berücksichtigt: keine per-country-limitation u. keine Erstattung ausländischer Quellensteuer. § 32d V EStG ist lex specialis gegenüber § 34c EStG (§ 34c I 1 u. 3, VI 2 EStG)879. – Die optionale Veranlagung zum Abgeltungsteuersatz nach § 32d IV EStG auf Antrag des Stpfl. dient dem Zweck, steuermindernde Tatbestände der Kapitaleinkünfteschedule, soweit sie beim Kapitalertragsteuerabzug nicht berücksichtigt wurden, geltend zu machen880, z.B. wenn der Sparer-Pauschbetrag (s. Rz. 494) nicht vollständig ausgeschöpft worden ist, Anschaffungsdaten anstelle der Ersatzbemessungsgrundlage nach § 43a II 2 EStG, Verluste und die Kirchensteuer zu berücksichtigen sind. Auf der Grundlage der nacherklärten Tatbestände erhöht sich die tarifliche Einkommensteuer um den Abgeltungsteuersatz (§ 32d III 2, IV EStG). Ausländische Quellensteuer wird nach Maßgabe des § 32d V EStG berücksichtigt (s. oben). – Die optionale Veranlagung zum individuellen Steuersatz nach § 32d VI EStG ist angezeigt, wenn der persönliche Durchschnittssteuersatz auf die Kapitalerträge (Gesamtsteuerschuld einschließlich Zuschlagssteuern) niedriger ist als der Abgeltungsteuersatz. Auf Antrag des Stpfl. wird § 32d I–V EStG nicht angewendet; stattdessen wird die nach § 20 EStG ermittelte Einkünfteschedule den übrigen Einkünften hinzugerechnet und der tariflichen Einkommensteuer unterworfen, wenn diese Alternative nach einer amtlichen Günstigerprüfung881 zur Festsetzung einer niedrigeren Einkommensteuer führt. Der Antrag kann pro Veranlagungszeitraum nur einheitlich für sämtliche Kapitalerträge, bei zusammenveranlagten Ehegatten nur für sämtliche Kapitalerträge beider Ehegatten gestellt werden (§ 32d VI 3 u. 4 EStG). Ausländische Quellensteuer wird gem. § 32d V EStG (s. oben) i.V.m. § 32d VI 2 EStG berücksichtigt. § 32d II 1 Nr. 3 EStG bietet darüberhinaus im Fall unternehmerischer Beteiliung eine Option zur Veranlagung zum individuellen Steuersatz (s. Rz. 501). 2.5 Kritik und Reformbedarf 504 Das Abgeltungsteuerrecht ist seit seiner Einführung Gegenstand permanenter Korrekturen. Es wird
reformbedürftig bleiben, solange der Gesetzgeber seine überflüssige Komplexität nicht abbaut und die gegenwärtigen Unterschiede der Besteuerung von Kapitalanlagen beibehält882. Die Vereinigung von Quellen- und Veräußerungseinkünften und die Entlastung von Erklärungspflichten bilden die wesentlichen Verbesserungen gegenüber dem bisherigen Recht der Besteuerung von Kapitaleinkünften. Ob es der Abgeltungsteuer zur Beseitigung der zu ihrer Begründung angeführten Vollzugsdefizite noch bedarf, ist dagegen mehr als fraglich. Bereits mit dem 2005 eingeführten Kontenabruf nach § 93 VII AO (s. § 21 Rz. 198) sind die verfassungswidrigen Vollzugsdefizite beseitigt worden, die das Zinssteuerurteil von 1991 gerügt hat883. Durch Gesetz zur Bekämpfung der 879 880 881 882
Dazu Hechtner, BB 2009, 76; Micker, IWB 2010, 480. S. BT-Drucks. 16/4841, 61. BT-Drucks. 16/4841, 62. Grundl. Reformbedarf: Arbeitskreis Quantitative Steuerlehre, DB 2008, 957. Zur verzerrenden Wirkung der Abgeltungsteuer und notwendigen Verbesserung der Neutralitätswirkungen Rumpf, StuW 2009, 333; Rose/Scholz/Zöller, StuW 2009, 232; F. Wagner, FS J. Lang, 2010, 345 (349 ff.); Scheffler/ Krebs, IStR 2010, 859 (rechtsvergleichend); Conrad, Wirtschaftsdienst 2012, 399; Engelhard, Aspekte der generellen Veräußerungsgewinnbesteuerung im Abgeltungsteuersystem, Diss. 2016. Zu weiterem Korrekturbedarf vgl. Haarmann, FS Herzig, 2010, 423; Graf/Paukstadt, FR 2011, 249; Dahm/Hamacher, Export der Abgeltungsteuer? Zur Vereinfachung und grenzüberschreitenden Anwendung der Abgeltungsteuer, ifst-Schrift Nr. 478 (2012); Delp, StBW 2012, 411; Hänsch, SteuerStud 2012, 275; Hirte/ Mertz, DStR 2013, 331, machen einen Vorschlag zur Vermeidung individueller Veranlagungen im Fall von Musterprozessen zu ungeklärten Rechtsfragen der Abgeltungsteuer. 883 BVerfG v. 27.7.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (dazu § 3 Rz. 113). Grundl. Tipke, Die rechtliche Misere der Zinsbesteuerung, BB 1989, 157; Verfassungswidrigkeit der Zinsbesteuerung seit 1993 verneinen BFH v. 7.9.2005 – VIII R 90/04, BStBl. II 2006, 61; v. 10.1.2007 – VIII B 221/05, BFH/NV 2007, 1079. Den gegen die Möglichkeit strafbefreiender Nacherklärung nach dem Strafbefreiungs-
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2. Einkünfte aus Kapitalvermögen mit Abgeltungsteuer
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Steuerumgehung v. 23.6.2017 ist endlich auch § 30a AO als Hauptursache des früheren Vollzugsdefizits aufgehoben worden (s. § 21 Rz. 198). Von besonderer Bedeutung ist der Abschluss des Mehrseitigen Abkommens über den automatischen Austausch von Informationen über Finanzkonten in Steuersachen (hierzu § 21 Rz. 275), der anders als die Abgeltungsteuer der Kapitalflucht ins Ausland den Boden entziehen wird. Bereits das gestiegene Entdeckungsrisiko durch den – rechtsstaatlich allerdings zweifelhaften – Ankauf von Steuerdaten-CDs (s. § 21 Rz. 219) hatte zu massiven Nacherklärungen geführt. Zwar entspricht die schedulenhafte Niedrigbesteuerung mobiler Einkommen einem internationalen 505 Trend (s. § 7 Rz. 85). Die Ungleichbehandlung muss aber besonderen Rechtfertigungsanforderungen genügen884. Der internationale Wettbewerbsdruck und die Sorge, dass sich die Stpfl. der regulären progressiven Besteuerung entziehen, taugt als Rechtfertigungsgrund einer Sonderbehandlung jedoch zunehmend weniger, wenn die Vollzugsdefizite durch einen mehr oder weniger weltumspannenden Informationsaustausch beseitigt werden885. Die dann nur noch bestehende Gefahr legaler Steuerflucht ist bei privaten Kapitaleinkünften gering, weil sie die Wohnsitzverlegung des Anlegers erfordert. War die Abgeltungsteuer von Anfang an gleichheitsrechtlich umstritten886, so verbleibt mittlerweile als Rechtfertigungsgrund im Wesentlichen nur noch das Argument der Vereinfachung, dem jedoch die komplizierte und streitanfällige Ausgestaltung der Abgeltungsteuer die Überzeugungskraft nimmt. An den Übergängen zwischen Abgeltungs- und Normalbesteuerung entstehen aufgrund verzerrender Regelungen erhebliche Gestaltungsanreize887. Zudem begründet die konkrete Ausgestaltung der Abgeltungsteuer eigenständige Gleichheitssatzver- 506 stöße, weil sie das objektive Nettoprinzip in stärkerem Maße einschränkt, als dies durch die Systematik eines abgeltenden Quellenabzugs geboten ist. Zu beanstanden ist zunächst, dass die langfristigen Kapitalveräußerungsgewinne und Zinseinkünfte ohne Maßnahmen der Inflationsbereinigung in die Besteuerung einbezogen worden sind (s. Rz. 498). Ein niedriger Sondertarif für Kapitaleinkünfte mag im Hinblick auf die Komplexität inflationsberei-
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erklärungsgesetz v. 23.12.2003 gerichteten Vorlagebeschluss des FG Köln v. 22.9.2005 – 10 K 1880/05, EFG 2005, 1878, hat BVerfG v. 25.2.2008 – 2 BvL 14/05, BStBl. II 2008, 651, als unzulässig zurückgewiesen. Hierzu Klein, DStR 2005, 1833; Ratschow, DStR 2005, 2006; Levedag, FR 2006, 491; Mack, DStR 2006, 394; Musil, DÖV 2006, 505. S. auch Hoppe, Das Erhebungsdefizit im Bereich der Besteuerung von Zinseinkünften, Diss, 1998. BVerfG v. 21.7.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 181, ausdrücklich zur „sog. Schedulenbesteuerung“. Unter Berücksichtigung der internationalen Entwicklung auf dem Gebiet des Informationsaustausches s. z.B. Tipke/Kruse/Seer, § 85 AO Rz. 16 (2017). Tipke, StuW 2007, 201 (209): „Der Gesetzgeber wird sich sehr anstrengen müssen, diesen Bruch mit der Folgerichtigkeit der Gleichbelastung der Einkunftsarten überzeugend zu rechtfertigen. Eine Teilrechtfertigung ist die zu berücksichtigende Inflation. Aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip folgt kein Nominalwertprinzip, sondern das Realwertprinzip.“ Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Abgeltungsteuer bejaht FG Nürnberg FG Nürnberg v. 7.3.2012 – 3 K 1045/11, EFG 2012, 1054, m. Anm. Trossen; Mellinghoff, Referat 66. DJT, 2006, Teil Q, 85 (115: Für die Abgeltungsteuer sprechen „die erhebliche Vereinfachung und die außerordentlich hohe Mobilität des Finanzkapitals“). Für die Abgeltungsteuer auch das Referat von Seer auf dem 66. DJT, Teil Q, 127 (147 f.); Beschluss Nr. 17 des 66. DJT, Teil Q, 170; Hey, JZ 2006, 851 (858: Vereinfachungseffekt und Steigerung der Vollzugseffizienz müssen den Systembruch wettmachen). Insgesamt gegen die Schedulenbesteuerung Englisch, Die Duale Einkommensteuer – Reformmodell für Deutschland, ifst-Schrift Nr. 432 (2005), 99 ff.; Englisch, StuW 2007, 221; Englisch, Die Abgeltungsteuer für private Kapitalerträge – ein verfassungswidriger Sondertarif, 2016. Der Abgeltungsteuer fehle eine tragfähige Rechtfertigung für den Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Einkunftsarten. Krit. auch Eckhoff, FR 2007, 898 ff.; Eckhoff, FS Steiner, 2009, 118 (130); Bowitz, Das objektive Nettoprinzip als Rechtfertigungsmaßstab im Einkommensteuerrecht, Diss., 2016, 197, 224 ff. Rose/Scholz/Zöller, StuW 2009, 232 (233 ff.).
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nigter Besteuerung als typisierte Inflationsbereinigung hinzunehmen sein888. Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass auch eine 25 %-Besteuerung Gefahr läuft, Realgewinne ganz abzuschöpfen und in die Substanz des Kapitalvermögens zu greifen889. Ein weiteres Grundproblem der Abgeltungsteuer liegt in der Einbeziehung von mit Körperschaftsteuer vorbelasteten Dividenden einerseits, bei gleichzeitigem Nebeneinander von Abgeltungsteuer und Teileinkünfteverfahren andererseits in Abhängigkeit davon, ob die Anteile im Privat- oder Betriebsvermögen gehalten werden890. Dieses Nebeneinander erlaubt es, die Zuordnung der Kapitaleinkünfte zu beeinflussen, insb. um die Berücksichtigung von Aufwendungen im Rahmen von § 3c II EStG zu erreichen. Zudem verzerrt die Abgeltungsteuer die Finanzierungsentscheidung. Die Bevorzugung von Fremd- gegenüber Eigenkapital zieht komplexe Missbrauchsvorschriften in § 32d II Nr. 1 EStG nach sich. Nicht hinnehmbar sind die vermeidbaren Verletzungen des Prinzips der synthetischen Einkommensteuer und des objektiven Nettoprinzips891: Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Bruttobesteuerung im Bereich abgeltender Besteuerung der Kapitaleinkünfte; sie lässt sich möglicherweise noch rechtfertigen892. Werden jedoch Kapitaleinkünfte in eine Veranlagung einbezogen, so sind diese Kapitaleinkünfte ebenso wie andere Einkünfte zu besteuern. Die Bruttobesteuerung lässt sich dann nicht mehr auf das Vereinfachungsargument stützen. Dies hat zur Folge, dass die abgeltende Berücksichtigung von Werbungskosten durch den SparerPauschbetrag (Rz. 494), eine Verrechnung von Verlusten nur innerhalb der Kapitaleinkünfteschedule und die Typisierung der Kirchensteuerlast ohne Sonderausgabenabzug (§§ 32d I 3–5; 10 I Nr. 4 Hs. 2 EStG) verfassungsrechtlich nur im Rahmen abgeltender Besteuerung hinnehmbar ist. In den Fällen verpflichtender und auch optionaler Veranlagungen (s. Rz. 503) sind ein Werbungskostenabzug zusätzlich zum Sparer-Pauschbetrag, eine vertikale Verlustverrechnung (s. Rz. 61) und ein Sonderausgabenabzug gezahlter Kirchensteuer gleichheitsrechtlich geboten893. Die Einrichtung eines Verlustverrechnungstopfes (§ 43a III EStG) trägt dem objektiven Nettoprinzip im Kapitalertragsteuerverfahren ausreichend Rechnung. Die rein fiskalisch begründete Aktienschedule (s. Rz. 500) ist dagegen nicht ausreichend gerechtfertigt und verletzt daher den Gleichheitssatz. Bei Kapitalerträgen, die der Kapitalertragsteuer unterlegen haben, sollte eine einzige Art der Antragsveranlagung mit amtlicher Günstigerprüfung dem Niedrigverdiener das Tor zur synthetischen Ein888 S. Tipke, StuW 2007, 201 (209); a.A. Englisch, StuW 2007, 221 (239 f.). 889 Empirischer Befund der realen Steuerlast auf private Kapitaleinkünfte Djanani/Krenzin/Großmann, StuW 2014, 145; Sparerpauschbetrag als unzureichendes Instrument der Inflationsbereinigung Haas, DStR 2014, 567. Die Begünstigungswirkung entsteht zudem unabhängig vom Tarifverlauf und ist damit per se auch als Instrument eines typisierenden Inflationsausgleichs ungeeignet, s. Englisch, StuW 2007, 221 (228 f.); Weber, Inflationsberücksichtigung in der Einkommensteuer, Diss., 2012, 153 ff. 890 Nach Jachmann, DStJG 34 (2011), 251 (261) verfassungswidrig; s. hierzu i.E. § 11 Rz. 20 f. 891 Hey, JZ 2006, 851 (858 f.); Englisch, StuW 2007, 221 (234 ff., 238 f.); Hey, BB 2007, 1303 (1307: Verletzung fundamentaler Besteuerungsprinzipien); Kämmerer, DStR 2010, 27; Worgulla, FR 2013, 921; Worgulla, Die Bruttobesteuerung in der Schedule der Einkünfte aus Kapitalvermögen, Diss., 2013; Mertens/Karrenbrock, DStR 2013, 950; a.A. Musil, FR 2010, 149 (152 ff.): noch hinnehmbar; WeberGrellet, DStR 2013, 1357 (1359 f.). 892 Ausf. BFH v. 1.7.2014 – VIII R 53/12, BStBl. II 2014, 975 (977 f.). Andererseits würde ein allgemeines Antragsrecht auf Nettobesteuerung den Vereinfachungseffekt nicht grds. in Frage stellen zutr. KSM/Jochum, § 20 Rz. K 60 (2017). 893 A.A. BFH v. 2.12.2014 – VIII R 34/13, BStBl. II 2015, 387; v. 28.1.2015 – VIII R 13/13, BStBl. II 2015, 393: Anwendung von § 20 IX EStG auf Aufwendungen, die zwar erst in 2009 abgeflossen sind, aber in Zusammenhang mit vor 2009 zugeflossenen Kapitalerträgen stehen (dagegen Meinert, DB 2015, 890), sowie im Rahmen der Günstigerprüfung. Überblick über die Rspr. zum Werbungskostenabzug in der Abgeltungsteuer Karrenbrock, NWB 2015, 1310. Gleichzeitig lehnt BFH v. 30.11.2016 – VIII R 11/14, BStBl. II 2017, 443, für Fälle, in denen die tatsächlichen Werbungskosten niedriger sind, ein Gebot gleichheitssatzkonformer Gewährung des Sparerpauschbetrages auf alle Kapitaleinkünfte ab.
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3. Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung
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kommensteuer öffnen. Bei dieser Veranlagung sind von Verfassungs wegen sämtliche Kapitaleinkünfte bezüglich des Werbungskostenabzugs, des Teileinkünfteverfahrens (s. § 11 Rz. 19 f.) und der Verlustverrechnung wie andere Einkunftsarten zu behandeln. Dabei sind die kapitalertragsteuerlich nach § 43a III EStG berücksichtigten Verluste einzubeziehen. Es mehren sich Stimmen, die mit Blick auf die entfallene Rechtfertigung des internationalen Voll- 507 zugsdefizits die Abschaffung der Abgeltungsteuer fordern894; im politischen Raum stehen Gerechtigkeitserwägungen im Hinblick auf die privilegierende Wirkung des Abgeltungsteuersatzes im Vordergrund. Diese Diskussion greift zu kurz. Die Reintegration der Kapitaleinkünfte in den allgemeinen Tarif würde die Nachteile der Schedulenbesteuerung beseitigen, die insb. im Werbungskostenabzugsverbot und den Verlustverrechnungsrestriktionen liegen. Die Lösung895 liegt allerdings nicht darin, § 32d EStG zu streichen. Vielmehr müssten alle mit Körperschaftsteuer vorbelasteten Kapitaleinkünfte (insb. Dividenden und Veräußerungsgewinne) in das Teileinkünfteverfahren überführt werden; sie machen Dreiviertel des Volumens der Abgeltungsteuer aus. Dies entspräche der Rechtslage vor Einführung der Abgeltungsteuer. Zinsen wären grds. wieder progressiv zu besteuern, allerdings bedürfte es einer Inflationsbereinigung. Vor dem Hintergrund der Niedrigzinsphase und der seit 2014 zu beobachtenden negativen Realverzinsung müssten Zinseinkünfte demnach eigentlich steuerfrei gestellt werden, jedenfalls aber durch deutliche Anhebung des Sparerpauschbetrages steuerlich verschont werden. Staatliche Mehreinnahmen und Mehrbelastungen wären damit im Zweifel nicht mit der Abschaffung der Abgeltungsteuer verbunden. 3. Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG) Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung i.S.d. § 21 EStG sind Quelleneinkünfte aus der zeitlich 508 begrenzten (so ausdrücklich § 21 I 1 Nr. 3 EStG), entgeltlichen Überlassung von Sach- und Realvermögen i.S.d. § 21 I 1 EStG (unbewegliches Vermögen, Sachinbegriffe, Rechte) zur Nutzung896. Auch Substanzausbeuteverträge können zeitlich begrenzte Nutzungsüberlassungen i.S.v. § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG beinhalten897. Soweit der Katalog des § 21 I 1 EStG Nutzungsüberlassungen nicht erfasst, können Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 20 EStG) oder Einkünfte aus sonstigen Leistungen (§ 22 Nr. 3 EStG) vorliegen. So unterfällt die Überlassung einzelner beweglicher Sachen § 22 Nr. 3 EStG. Der Gesamttatbestand „Vermietung und Verpachtung“ (§ 21 I EStG) erfasst auch die entgeltliche 509 Einräumung eines Nießbrauchs oder dinglichen Wohnrechts898 sowie die Einkünfte aus der Veräußerung von Miet- und Pachtzinsforderungen. Zu den Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung ge894 Cropp, FR 2015, 878; Körner, DB 2015, 397 (Vorschlag eines Alternativmodells); krit. gegenüber diesen Forderungen Fuest/Spengel, Wirtschaftsdienst 2016, 83. Zu Folgewirkungen auf die Unternehmensbesteuerung Scheffler/Christ, Ubg 2016, 157. 895 Zu den Folgen einer Abschaffung der Abgeltungsteuer und Alternativkonzepten s. Körner, DB 2015, 397; Scheffler/Christ, Ubg 2016, 157; Groten, Integration einer Abgeltungsteuer auf Kapitaleinkünfte in ein Steuersystem mit progressivem Tarif. Ein Vorschlag unter Einbeziehung von Beurteilungen der deutschen und österreichischen Abgeltungsteuer sowie des Einkommensteuerentwurfs der Kommission Steuergesetzbuch, Diss. 2015. 896 Dazu Trzaskalik, FS Tipke, 1995, 321 (334 ff.); Schimmele, Nutzungsüberlassung versus Vermögensveräußerung, Diss., 1997; KSM/Drüen, § 21 EStG Rz. B 46 ff. (2012) (Typen der Nutzungsüberlassung), Rz. B 47 (2012) (jede ökonomisch sinnvolle Verwertung, die nicht in ein Übertragungsgeschäft einmündet, sollte unter § 21 I 1 Nr. 1 EStG subsumiert werden); Rasenack, Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung2, 2002, 17 ff. 897 Zur Abgrenzung zu unter §§ 22 Nr. 2; 23 I 1 Nr. 1 EStG fallenden Veräußerungsvorgängen BFH v. 11.2.2014 – IX R 25/13, BStBl. II 2014, 566. 898 Dazu BMF v. 30.9.2013 – IV C 1 - S 2253/07/10004, BStBl. I 2013, 1184; Brandenberg, FS 50 Jahre Fachanwälte, 1999, 277 (Nutzungsrechte an Privat- und Betriebsgrundstücken); Kirchhof/Mellinghoff17, § 21 EStG Rz. 33 ff.; Schmidt/Kulosa36, § 21 EStG Rz. 71 ff.
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hören nicht nur die Miete und die Pacht, sondern alle durch die Vermietungs-/Verpachtungstätigkeit veranlassten Einnahmen wie z.B. verlorene Zuschüsse, der Ersatz von Aufwendungen, Umlagen/Neben-/Betriebskostenentgelte899 und öffentliche Fördermittel, soweit sie Gegenleistung für die Gebrauchsüberlassung oder Nutzung sind900. Wird ein Grundstück durch nachbarliche Bebauung beeinträchtigt und erhält der Eigentümer hierfür eine Entschädigung, so unterfällt diese nach der Rechtsprechung dem Tatbestand des § 21 I EStG901. Hierbei handelt es sich um einen Grenzfall, da die Entschädigung nicht steuerbar ist, wenn mit ihr eine Wertminderung des Grundstücks ausgeglichen wird und sie damit der Stammvermögenssphäre (s. Rz. 182) zuzuordnen ist902. 510 § 21 II EStG enthält eine Regelung zur Abziehbarkeit von Werbungskosten in den Fällen nicht orts-
üblicher Miete. Nach § 21 II 1 EStG ist eine Wohnungsmiete in einen entgeltlichen und einen unentgeltlichen Teil aufzuteilen, wenn sie weniger als 66 % der ortsüblichen Marktmiete beträgt. Der BFH schränkte die Abziehbarkeit von Aufwendungen in der Vergangenheit zusätzlich ein, wenn bei einem Mietzins unterhalb von 75 % der ortsüblichen Miete keine positive Überschussprognose nachweisbar war903. Seit 2012 fingiert § 21 II 2 EStG bei auf Dauer angelegter Wohnraumvermietung die Entgeltlichkeit, wenn der Mietzins mindestens 66 % der ortsüblichen (Brutto)miete beträgt. In diesem Fall sollen Werbungskosten ohne weitere Prüfung der Totalüberschussprognose voll abziehbar sein904. 511 § 21 II EStG enthält ein systemfremdes Element einer Sollbesteuerung. Die Regelung lässt sich allen-
falls partiell als Vereinfachungszwecknorm zur Missbrauchstypisierung rechtfertigen905; vermieden werden sollen Steuergestaltungen mittels nicht marktgerechter Mietverhältnisse (insb. unter Angehörigen). Dabei entfaltet § 21 II 1 EStG insofern eine Begünstigungswirkung, als es beim vollen Werbungskostenabzug bleibt, wenn die 66 %-Grenze eingehalten wird. Andererseits werden auch Mietverhältnisse unter fremden Dritten getroffen, bei denen das Unterschreiten der ortsüblichen Miete kein Steuerminderungsziel verfolgt. In § 21 I 1 Nr. 1–3 EStG sind folgende Einzeltatbestände normiert: 512 – Vermietung/Verpachtung von unbeweglichem Vermögen = zeitlich begrenzte Überlassung von unbeweglichem Vermögen zur Nutzung (s. § 21 I 1 Nr. 1 EStG), insb. von Grundstücken, Gebäuden, Gebäudeteilen, registrierten Schiffen und Flugzeugen906, Rechten, die den Vorschriften des Bürgerlichen Rechts über Grundstücke unterliegen (z.B. Erbbaurecht907, Erbpachtrecht, Mineralgewinnungsrecht). Der Tatbestand des § 21 I 1 Nr. 1 EStG ist objektbezogen für jede einzelne vermietete Immobilie zu ermitteln908. 513 – Vermietung/Verpachtung von Sachinbegriffen, insb. von beweglichem Betriebsvermögen (§ 21 I 1 Nr. 2 EStG). Sachinbegriff ist eine Vielheit beweglicher Sachen, die nach ihrer wirtschaftlichen oder technischen Zweckbestimmung zusammengehören (s. auch § 260 BGB). Beispiele: Landwirtschaftliches In899 BFH v. 14.12.1999 – IX R 69/98, BStBl. II 2000, 197. 900 BFH v. 14.10.2003 – IX R 60/02, BStBl. II 2004, 14; v. 12.7.2016 – IX R 56/13, BStBl. II 2017, 253 (Mietzuschüsse); nicht dagegen städtebauliche Fördermittel (BFH v. 7.12.2010 – IX R 46/09, BStBl. II 2012, 310). 901 BFH v. 2.3.2004 – IX R 43/03, BStBl. II 2004, 507. 902 Vgl. Fischer, FR 2004, 714. 903 BFH v. 5.11.2002 – IX R 48/01, BStBl. II 2003, 646; hierzu ausf. Stein, DStZ 2011, 80. 904 Im Hinblick auf den Vereinfachungseffekt zust. Heuermann, DStR 2011, 2082 (2083 ff.); zu den Konsequenzen für die Rechtsanwendung ausf. Hilbertz, NWB 2011, 4002; Stein, DStZ 2012, 19. 905 S. hierzu insb. Müller, Einnahmeverzicht im Einkommensteuerrecht – insbesondere durch verbilligte Wohnungsüberlassung an nahe Angehörige, Diss., 2009. Zur Verfassungsmäßigkeit (im Hinblick auf die Begünstigungswirkung von § 21 II EStG) HHR/Pfirrmann, § 21 EStG Anm. 202 (2013); Krauß, DStZ 2017, 477. 906 BFH v. 2.5.2000 – IX R 71/96, BStBl. II 2000, 467; v. 26.6.2007 – IV R 49/04, BStBl. II 2009, 289 (dazu BMF v. 1.4.2009 – IV C 6 - S 2240/08/10008, BStBl. I 2009, 515). 907 BFH v. 20.9.2006 – IX R 17/04, BStBl. II 2007, 112. 908 BFH v. 12.5.2209 – IX R 18/08, BFH/NV 2009, 1627.
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Hey
3. Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung
Rz. 517 § 8
ventar, Büroeinrichtung des Freiberuflers, Instrumentarium eines Arztes, Wohnungseinrichtung, Bibliothek, Mobiliar eines Zimmers. Die Erwähnung des Betriebsvermögens ist irreführend; gemeint ist wohl die Vermietung/Verpachtung von Sachgesamtheiten (des früheren Betriebsvermögens) nach Aufgabe des Betriebs. – Zeitlich begrenzte Überlassung von Rechten (§ 21 I 1 Nr. 3 EStG). Die zeitlich unbegrenzte Überlassung 514 ist wirtschaftlich Übertragung (Abtretung) des Rechts; sie wird nicht erfasst. Erfasst werden sollen insb. Einkünfte aus der Verwertung des durch Rechtsgeschäft oder im Erbgang erworbenen (kulturellen) Urheberrechts, aus der Lizenz gewerblicher Schutzrechte (Patente, Gebrauchs-, Geschmacksmuster, Warenzeichen), aus der Überlassung von nicht geschütztem technischen Erfahrungswissen (Know-how)909. Die Einkünfte aus der Verwertung des Urheber- oder Schutzrechts durch den Urheber oder Erfinder selbst sind freiberufliche Einkünfte. Soweit gewerbliche Schutzrechte und Know-how Wirtschaftsgüter eines Betriebsvermögens sind (dies ist regelmäßig der Fall), sind die Einkünfte aus der Nutzungsüberlassung Einkünfte aus Gewerbebetrieb (s. § 21 III EStG)910.
Der Tatbestand der Vermietung/Verpachtung kann auch von mehreren Personen gemeinsam erfüllt 515 werden911. Auch Personengesellschaften, die sich auf Vermietung/Verpachtung beschränken, haben Miet-/Pachteinkünfte, nicht gewerbliche Einkünfte, es sei denn, es läge ein Sonderfall des § 15 III EStG vor. Abgrenzung zum Gewerbebetrieb: Die Abgrenzung der Vermietung/Verpachtung zum Gewerbe- 516 betrieb ist schwierig, weil auch die Vermietungs-/Verpachtungstätigkeit eine selbständige und nachhaltige Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr darstellt, mithin die Merkmale des § 15 II 1 EStG erfüllt. Maßgeblich ist zunächst, ob der Vermietungsgegenstand zu einem Betriebsvermögen gehört (§ 21 III EStG). Ist dies nicht der Fall, so ist § 21 EStG grds. unabhängig vom Umfang des vermieteten Immobilienvermögens anzunehmen; auch objekttypische Sonderleistungen begründen für sich genommen keinen Fall des § 15 II 1 EStG912. Gewerblichkeit kann aber durch auf kurzfristigen Mieterwechsel angelegte Vermietungstätigkeit oder das Angebot umfangreicher Zusatzleistungen begründet werden913. Gewerblichkeit der Vermietungseinkünfte kann ferner auch bei langfristiger Vermietung im Rahmen 517 eines gewerblichen Grundstückshandels914 eingreifen. Wesentlich für die Abgrenzung ist die quellentheoretische Natur der Überschusseinkünfte: Nach st. Rspr. des BFH915 ist private Vermögensverwaltung anzunehmen, solange sich die Tätigkeit noch als Nutzung von Grundbesitz durch Fruchtziehung aus zu erhaltender Substanz darstellt; hingegen liegt ein Gewerbebetrieb vor, wenn nach dem Gesamtbild der Betätigung die Umschichtung von Vermögenswerten und deren Verwertung als Ver909 Dazu Gerlach, Besteuerung des Know-how, Diss., 1966; Böhme, Die Besteuerung des Know-how, 1967; Knoppe, Die Besteuerung der Lizenz- und Know-how-Verträge2, 1972. 910 Mohr, Die Besteuerung der Erfinder und Erfindungen, 1985; zur Abgrenzung zu nichtsteuerbaren Zufallserfindungen s. BFH v. 10.9.2003 – XI R 26/02, BStBl. II 2004, 218; FG Münster v. 3.5.2011 – 1 K 2214/08, EFG 2011, 1877 (rkr.); Marx/Kilincsoy, DB 2017, 2313. 911 Verwirklichung des Vermietungstatbestands bei Miteigentümern: Schoor, StBp. 2010, 143. 912 Instruktiv BFH v. 14.7.2016 – IV R 34/13, BStBl. II 2017, 175: Infrastruktureinrichtungen eines Einkaufszentrums. 913 HHR/Pfirrmann, § 21 EStG Anm. 253 (2013); z.B. BFH v. 17.3.2009 – IV B 52/08, BFH/NV 2009, 1114 (Ferienwohnung). 914 Dazu BMF v. 26.3.2004 – IV A 6 - S 2240-46/04, BStBl. I 2004, 434 (dazu Engelsing/Wassermeyer, StuB 2004, 433; Lüdicke/Naujok, DB 2004, 1796; Söffing, DStR 2004, 793; Vogelgesang, Stbg. 2005, 116). Lit. bis 2000 s. 18. Aufl., Rz. 571; bis 2008 s. 20. Aufl., Rz. 516 Fn. 109. Fischer, DStR 2009, 398; Rechtsprechungstendenzen: Carlé, DStZ 2009, 278; Hartrott, BB 2010, 2271; Kempermann, DStR 2009, 1725; Sommer, DStR 2010, 1405; Ritzrow, StBp. 2012, 284 u. 322. Abgrenzung zum land- u. forstwirtschaftlichen Betrieb s. Rz. 404. Zum Umfang des gewerblichen Grundstückshandels BFH v. 10.12.2008 – X R 14/05, BFH/NV 2009, 1244. 915 Insb. m.w.N. BFH v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl. II 1995, 617; v. 10.12.2001 – GrS 1/98, BStBl. II 2002, 291; v. 20.2.2003 – III R 10/01, BStBl. II 2003, 510.
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§ 8 Rz. 517
Einkommensteuer
mögenssubstanz in den Vordergrund tritt. Hierzu bedient sich der BFH einer – im Gesetz nicht enthaltenen – Drei-Objekt-Grenze916. Danach verneint der BFH gewerblichen Grundstückshandel, wenn weniger als vier Objekte917 veräußert werden. Werden hingegen innerhalb eines engen zeitlichen Zusammenhangs (i.d.R. fünf Jahre) mindestens vier Objekte angeschafft/hergestellt und veräußert, so bejaht der BFH gewerblichen Grundstückshandel, weil die äußeren Umstände den Schluss zuließen, dass es dem Stpfl. auf die „Ausnutzung substantieller Vermögenswerte durch Umschichtung ankommt“918. Die Praxis orientiert sich an dieser Drei-Objekt-Grenze; für den BFH hat sie indes lediglich die indizielle Bedeutung eines Anscheinsbeweises919, der den Schluss auf das Vorliegen einer bedingten Veräußerungsabsicht beim Erwerb des Grundstücks zulässt. Wird die Grenze unterschritten, so gestattet ein enger zeitlicher Zusammenhang für sich genommen nicht den Schluss auf eine Veräußerungsabsicht920. Ist aber eine von Anfang an bestehende Veräußerungsabsicht indiziert, so ist gewerbliche Betätigung auch bei der Veräußerung von weniger als vier Objekten anzunehmen921. Gewerblicher 916 BFH v. 3.7.1995 – 1/93 GrS, BStBl. II 1995, 617; v. 10.12.2001 – GrS 1/98, BStBl. II 2002, 291; v. 18.9.2002 – X R 183/96, BStBl. II 2003, 238; v. 28.11.2002 – III R 1/01, BStBl. II 2003, 250; v. 3.8.2004 – X R 40/03, BStBl. II 2005, 35; v. 20.4.2006 – III R 1/05, BStBl. II 2007, 375 (Zählobjekte); v. 5.12.2002 – IV R 57/01, BStBl. II 2003, 291 (Fristbeginn); v. 12.7.2007 – X R 4/04, BStBl. II 2007, 885 (Zählobjekt); v. 24.2.2005 – X B 183/03, BFH/NV 2005, 1274; v. 15.3.2005 – X R 36/04, BFH/NV 2005, 1535; v. 18.4.2006 – VIII B 141/05, BFH/NV 2006, 1465; v. 15.9.2006 – IV B 96/05, BFH/NV 2007, 30; v. 8.11.2006 – X B 183/05, BFH/NV 2007, 232 (Veräußerungsabsicht); v. 13.11.2006 – IV B 47/06, BFH/NV 2007, 234 (Anforderungen an Indizwirkung); v. 30.9.2010 – IV R 44/08, BStBl. II 2011, 645 (Aufteilung im Kaufvertrag); v. 5.5.2011 – IV R 34/08, BStBl. II 2011, 787 (Orientierung am zivilrechtlichen Grundstücksbegriff). Lit.: Engelsing, StuB 2002, 494; Paus, DStZ 2002, 715; Söffing, DB 2002, 964; Lammersen, DStZ 2004, 549 ff., 595 ff.; Vogelgesang, BB 2004, 183; Obermeier, NWB 2007, Fach 3, 14379; Söffing/Seitz, DStR 2007, 1841 (verfassungskonforme Auslegung). 917 Objekt i.S.d. Drei-Objekt-Grenze sind Grundstücke jeglicher Art. Auf die Größe, den Wert oder die Nutzungsart des einzelnen Objekts kommt es nicht an (BFH v. 18.5.1999 – I R 118/97, BStBl. II 2000, 28; v. 15.3.2000 – X R 130/97, BStBl. II 2001, 530; zur Objektdefinition BMF v. 26.3.2004 – IV A 6 - S 2240-46/04, BStBl. I 2004, 434). Objekt ist auch der nur im Teileigentum stehende Garagenabstellplatz und jedes zivilrechtliche Wohnungseigentum (BFH v. 16.5.2002 – III R 9/98, BStBl. II 2002, 571). Nach BFH v. 15.7.2004 – III R 37/02, BStBl. II 2004, 950 wird der Gleichheitssatz gegenüber der Veräußerung ungeteilter Mehrfamilienhäuser nicht verletzt. Einzubeziehen sind zugewendete Grundstücke, bei denen auf die Anschaffung/Herstellung durch den Rechtsvorgänger abzustellen ist (BMF v. 26.3.2004 – IV A 6 - S 2240-46/04, BStBl. I 2004, 435 f. [Tz. 9], nicht jedoch selbstbewohnte Objekte, die zum notwendigen Privatvermögen gehören [Tz. 10]). Bei der Veräußerung von Anteilen an vermögensverwaltenden Personengesellschaften werden die Objekte der Gesellschaft gezählt (BFH v. 28.11.2002 – III R 1/01, BStBl. II 2003, 250; dazu Götz, FR 2005, 137). Ein gewerblicher Grundstückshandel kann allein durch Zurechnung der Grundstücksverkäufe von Personengesellschaften begründet werden, ohne dass der Stpfl. in eigener Person Grundstücke veräußern muss, s. BFH v. 22.8.2010 – X R 24/11, BStBl. II 2012, 865 (zust. Hartrott, FR 2013, 126 f.); v. 22.4.2015 – X R 35/13, BStBl. II 2015, 897; v. 28.10.2015 – X R 22/13, BStBl. II 2016, 95; zu Gestaltungsmöglichkeiten Figgener/von der Tann, DStR 2012, 2579. Die Einbringung eines Grundstücks in eine Kapitalgesellschaft wird als Grundstücksveräußerung angesehen (BFH v. 19.9.2002 – X R 51/98, BStBl. II 2003, 394; v. 24.6.2009 – X R 36/06, BStBl. II 2010, 171). Mehrere Häuser einer Häuserzeile bleiben mehrere Objekte, auch wenn sie zivilrechtlich vereinigt werden können (BFH v. 3.8.2004 – X R 40/03, BStBl. II 2005, 35). Kein Objekt i.S.d. Drei-Objekt-Grenze ist die Bestellung eines Erbbaurechts (BFH v. 12.7.2007 – X R 4/04, BStBl. II 2007, 885). Zwischenschaltung einer nicht funktionslosen GmbH grds. nicht rechtsmissbräuchlich (BFH v. 17.3.2010 – IV R 25/08, BStBl. II 2010, 622). 918 BFH v. 10.12.2001 – GrS 1/98, BStBl. II 2002, 291 (293). 919 BFH v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl. II 1995, 617; v. 10.12.2001 – GrS 1/98, BStBl. II 2002, 291 (294). 920 BFH v. 27.11.2008 – IV R 38/06, BStBl. II 2009, 278. 921 BFH v. 10.12.2001 – GrS 1/98, BStBl. II 2002, 291 (294) widerspricht ausdrücklich der Auffassung, dass die Drei-Objektgrenze „wie eine Freigrenze“ wirke. Der GrS erwähnt zwei Fälle: Verkauf vor der Bebauung u. Bebauung nach den Wünschen des Erwerbers. Im Weiteren: BFH v. 13.8.2002 – VIII R 14/99, BStBl. II 2002, 811; v. 18.9.2002 – X R 183/96, BStBl. II 2003, 238; v. 18.9.2002 – X R 183/96, BStBl. II 2003, 286; v. 9.12.2002 – VII R 40/01, BStBl. II 2003, 294; v. 1.12.2005 – IV R 65/04, BStBl. II
472
Hey
3. Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung
Rz. 520 § 8
Grundstückshandel liegt auch bei der Veräußerung nur eines Objekts vor, wenn das Geschäft einem Gewerbebetrieb zuzuordnen ist922. Umgekehrt begründet das Überschreiten der Drei-Objekt-Grenze keinen Gewerbebetrieb, wenn ein- 518 deutige Anhaltspunkte „gegen eine von Anfang an bestehende Veräußerungsabsicht sprechen“923. Dies wird besonders dann angenommen, wenn der Stpfl. das Objekt vor der Veräußerung länger als fünf Jahre vermietet hat, so dass kein zeitlicher Zusammenhang mehr zwischen Anschaffung/Herstellung des Objekts und seiner Veräußerung besteht924. Entgegen Rspr./Verw.925 sind jedoch auch Verkaufsanlässe wie unvorhergesehene Notlagen, schlechte Vermietbarkeit, Finanzierungsschwierigkeiten, Scheidung etc. geeignet, eine anfängliche Veräußerungsabsicht zu widerlegen. Fazit: Die Kasuistik rund um die Drei-Objekt-Grenze zeigt, dass diese nur sehr eingeschränkt geeig- 519 net ist, die Streitanfälligkeit der Abgrenzung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung zu den gewerblichen Einkünften zu verringern. Derartige Abgrenzungen haben mit unterschiedlicher steuerlicher Leistungsfähigkeit nichts zu tun; sie provozieren Aufsatzflut und Hunderte von Gerichtsentscheidungen, ohne dass damit die juristische Qualität des Steuerrechts verbessert würde. Es wird höchste Zeit, dieser Verschwendung juristischer Kapazität mit einem neuen EStG Einhalt zu gebieten926. Zudem ist bereits de lege lata nach der Ausweitung der Steuerpflicht privater Grundstücksveräußerungen durch § 23 I 1 Nr. 1 EStG die Berechtigung des ursprünglich durch Lückenfüllung legitimierten richterrechtlichen Rechtsinstituts in Frage gestellt927. Mietwertbesteuerung: Zu den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung gehörte bis 1987 der 520 Nutzungswert der selbstgenutzten Wohnung928. Diese Art von imputed income (s. § 7 Rz. 30) greift das Altersvermögensgesetz auf, indem es im Rahmen der nachgelagerten Besteuerung die Verwendung von begünstigtem Kapital für die Anschaffung oder Herstellung eines Eigenheims zulässt (§§ 92a; 92b
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2006, 259; v. 19.2.2009 – IV R 10/06, BStBl. II 2009, 533; v. 17.12.2008 – IV R 77/06, BStBl. II 2009, 791 (Nachhaltigkeit auf der Beschaffungsseite). Kempermann, DStR 2006, 265 (Nachhaltigkeit in „EinObjekt-Fällen“); Lüdicke/Rode, BB 2008, 2552 (Ein-Objekt-Leasingfonds-Gesellschaft); Indizien für Veräußerungsabsicht: Kempermann, DStR 2009, 1725; Sommer, DStR 2010, 1405. BFH v. 7.5.2008 – X R 49/04, BStBl. II 2008, 711: Errichtung u. Veräußerung eines Einkaufsmarkts durch einen Immobilienmakler. So BFH v. 10.12.2001 – GrS 1/98, BStBl. II 2002, 291 (294). Dazu BMF v. 26.3.2004 – IV A 6 – S 2240-46/04, BStBl. I 2004, 434, Tz. 30; Jacobsen/Tietjen, FR 2003, 907 (langfristige Mietverträge). Zum engen zeitlichen Zusammenhang BFH v. 27.11.2008 – IV R 38/06, BStBl. II 2009, 278. Entscheidend sind die objektiven Umstände BFH v. 18.8.2009 – X R 25/06, BStBl. II 2009, 965. BMF v. 26.3.2004 – IV A 6 – S 2240-46/04, BStBl. I 2004, 434, Tz. 30; BFH v. 11.4.1989 – VIII R 266/84, BStBl. II 1989, 621 (Notsituation); v. 23.4.1996 – VIII R 27/94, BFH/NV 1997, 170 (Krankheit u. Eheprobleme); v. 29.10.1998 – XI R 58/97, BFH/NV 1999, 766 (Krankheit); v. 16.3.1990 – IV B 2/98, BFH/NV 1999, 1320 (schlechte Vermietbarkeit); v. 18.9.1991 – XI R 23/90, BStBl. II 1992, 135; v. 18.9.2002 – X R 28/00, BStBl. II 2003, 133 (135); v. 20.2.2003 – III R 10/01, BStBl. II 2003, 510; v. 17.12.2009 – III R 101/06, BStBl. II 2010, 541; v. 27.9.2012 – III R 19/11, BStBl. II 2013, 433: Die konkreten Anlässe u. Beweggründe seien „im Regelfall nicht geeignet“, eine anfängliche Veräußerungsabsicht auszuschließen. Immerhin bezieht BFH v. 18.9.2002 – X R 28/00, BStBl. II 2003, 133, ein selbst bewohntes Immobilienobjekt nicht in einen gewerblichen Grundstückshandel ein, wenn dieses innerhalb von fünf Jahren wegen finanzieller Notlage veräußert worden ist. Dazu empfiehlt § 4 I Nr. 1, II Kölner EStGE, alle Einkünfte aus selbständigen und nachhaltigen Erwerbstätigkeiten in einem Einkünftetatbestand zusammenzufassen. Zutreffend Weckerle, StuW 2012, 281 (289). Materialien: BT-Drucks. 10/3633; 10/5208. Lit.: Graf, Einkommensteuer und Wohneigentum, Diss., 1984; Nieskens, Die Konsumgutlösung im Bereich der Immobilienbesteuerung, Diss., 1989; Hackmann, FS Oberhauser, 2000, 387; Gurtner/Locher, ASA 2001, 597; Peffekoven, GS Trzaskalik, 2005, 255.
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§ 8 Rz. 523
Einkommensteuer
EStG; s. Rz. 575); diese Kapitalverwendung rechtfertigt im System der nachgelagerten Besteuerung eine entsprechende Besteuerung des Nutzungswerts. 521–522
Einstweilen frei.
4. Wiederkehrende Bezüge (§ 22 Nr. 1–1a EStG) Literatur: Fischer, Über Renten und Rentenbesteuerung, StuW 1988, 335; Niepoth, Renten und rentenähnliche Leistungen im Einkommensteuerrecht, Diss., 1992; Fischer, Wiederkehrende Bezüge und Leistungen. Kommentierte Fallsammlung zur Besteuerung von Renten und dauernden Lasten, 1994; Stoll, Rentenbesteuerung4, 1997; Wendt, Renten, Raten, dauernde Lasten, Harzburger Steuerprotokoll 1996, 1997, 205; Hils-Seewöster, Besteuerung des Einkommens aus wiederkehrenden Vermögensleistungen, Diss., 1998; Stephan, Renten, Raten und dauernde Lasten im Ertragsteuerrecht, StbKongrRep., 1998, 155; Schmitz, Besteuerung wiederkehrender Bezüge, Diss., 1999; Meyering, Die Rente als Variante der wiederkehrenden Zahlungen, StuB 2008, 675; Meyering, Systematisierung wiederkehrender Zahlungen nach dem wirtschaftlichen Zusammenhang u. nach dem Rechtsgrund, StuB 2009, 26; Neufang, Übertragung von Vermögen gegen wiederkehrende Leistungen, StB 2010, 234 u. 275; Schuster, Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen, in FS Spindler, 2011, 749; Krumm, Die Übertragung von unternehmerischen Einheiten gegen Versorgungsleistungen: Überschreitung gleichheitsrechtlicher Gestaltungsspielräume anlässlich einer legitimen gesetzlichen Neukonzeption, StuW 2011, 159; Myßen/Killat, Renten, Raten, Dauernde Lasten16, 2017. 523 Wiederkehrende Bezüge sind Einnahmen in Geld oder Geldeswert inkl. Zuschüsse und Vorteile
i.S.d. § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. b EStG, die einer Person auf Grund eines bestimmten Verpflichtungsgrundes (Gesetz, Vertrag, Testament) oder wenigstens auf Grund eines einheitlichen Entschlusses mit einer gewissen Regelmäßigkeit, wenn auch nicht immer in gleicher Höhe zufließen929. Kaufpreisraten u.a. Kapitalzahlungen bzw. Kapitalrückzahlungen im Vermögensbereich, die in wiederkehrende Leistungen zerlegt werden, sind keine wiederkehrenden Bezüge930. Der Tatbestand der wiederkehrenden Bezüge ist dogmatisch schwer in den Griff zu bekommen, weil sein historischer, quellentheoretisch fundierter Inhalt931 die fundamentale Abgrenzung zwischen Erwerbs- und Konsumsphäre und damit die Zweistufigkeit der Bemessungsgrundlage (s. Rz. 42) durchbricht. Er verwischt auch die Grenze zwischen Einkommensteuer- und Erbschaft-/Schenkungsteuerobjekt, indem erbschaft- und schenkungsteuerpflichtige Zuwendungen in die Einkommensteuerpflicht gezogen werden. Der BFH leistete den wegweisenden Beitrag, den Tatbestand der wiederkehrenden Bezüge auf erwirtschaftete Bezüge zu begrenzen932. 524 Danach erfasst der Tatbestand des § 22 Nr. 1 EStG keine nicht erwirtschafteten Bezüge wie freiwillig
gewährte Bezüge oder Unterhaltsbezüge i.S.d. § 22 Nr. 1 Satz 2 EStG. So sind Schadensersatzrenten für die Verletzung privater Rechtsgüter außerhalb der Erwerbssphäre nicht steuerbar933. Nicht steuerbar sind nach der Rspr. wiederkehrende Bezüge eines Erben, die diesem für den Erbverzicht an Stel929 Z.B. BFH v. 25.10.1994 – VIII R 79/91, BStBl. II 1995, 121 (123). Zur Terminologie der wiederkehrenden Bezüge insb. HHR/Killat, § 22 EStG Anm. 100 ff. (2016); KSM/Wernsmann/Neudenberger, § 22 EStG Rz. B 70 ff. (2017); Schmitz, Besteuerung wiederkehrender Bezüge, 50 ff. 930 Dazu HHR/Killat, § 22 EStG Anm. 100 (2016); Schmidt/Weber-Grellet36, § 22 EStG Rz. 14, u. krit. Schmitz, Besteuerung wiederkehrender Bezüge, 77 ff. 931 Dazu ausf. KSM/Wernsmann/Neudenberger, § 22 EStG Rz. B 20 ff. (2017). Die Systemwidrigkeit des historischen Tatbestands gipfelt in dem von Fischer in der Vorauflage [KSM, § 22 Rz. B 42 (1994)] erkannten „Paradoxon eines unentgeltlichen Vorganges mit Gegenleistung“. 932 BFH v. 25.10.1994 – VIII R 79/91, BStBl. II 1995, 121; ebenso v. 14.12.1994 – X R 106/92, BStBl. II 1995, 410; v. 20.10.1999 – X R 132/95, BStBl. II 2000, 82 (84). S. bereits m.w.N. Rz. 99. 933 BFH v. 25.10.1994 – VIII R 79/91, BStBl. II 1995, 121; v. 26.11.2008 – X R 31/07, BStBl. II 2009, 651; BMF v. 15.7.2009 – IV C 3 - S 2255/08/10012, BStBl. I 2009, 836. Grdl. BFH v. 25.10.1994 – VIII R 79/91, BStBl. II 1995, 121 (124: Mehrbedarfsrente; hierzu klarstellend v. 12.4.2011 – X B 132/10, BFH/ NV 2011, 1136): „Die Einkommensteuer erfasst grds. nur die erwirtschaftete objektive Leistungsfähigkeit … Nicht ersichtlich ist, wodurch allein die Wiederkehr von Leistungen eine erhöhte wirtschaftli-
474
Hey
4. Wiederkehrende Bezüge
Rz. 527 § 8
le eines Einmalbetrages gezahlt werden, da „einkommensteuerlich nur erwirtschaftetes Einkommen erfasst“ werde934. Zu unterscheiden sind Renten, Bezüge auf Grund dauernder Lasten und sonstige wiederkehrende 525 Bezüge. Der Tatbestand des § 22 Nr. 1 EStG ist subsidiär gegenüber den Einkünftetatbeständen des § 2 I 1 Nr. 1–6 EStG (§ 22 Nr. 1 Satz 1 EStG), so dass § 22 Nr. 1 EStG grds. nur private wiederkehrende Bezüge erfasst, die weder als betriebliche Erträge, noch als Arbeitslohn, noch als Bezüge i.S.d. §§ 20; 21 EStG zu qualifizieren sind. Dauernde Lasten sind wiederkehrende Geld- oder Sachleistungen, die ein Stpfl. auf Grund einer rechtlichen Verpflichtung für längere Zeit einem anderen gegenüber zu erbringen hat935 und abänderbar936 sind. Von dauernden Lasten unterscheiden sich Renten dadurch, dass sie gleichbleibend hoch und in gleichmäßigen Zeitabständen fällig sind937. Daher liegen keine Renten vor, wenn Höhe und Dauer der Bezüge von der Bedürftigkeit des Empfän- 526 gers oder Leistungsfähigkeit des Gebers, von variablen Größen wie Gewinn oder Umsatz938, Pachtoder Mieteinnahmen abhängen. Die Abänderbarkeit wiederkehrender Leistungen kann sich aus einer Änderungsklausel, die eine Abänderungsklage nach § 323 ZPO begründet, ergeben. Danach sind folgende Arten wiederkehrender Bezüge zu unterscheiden: – Gegenleistungsrenten/Versorgungsleistungen: Nachdem der BFH in st. Rspr.939 das Sonderrecht 527 der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen entwickelt hat, sind Renten im Austausch mit einer Gegenleistung (Gegenleistungsrenten) von den privaten Versorgungsleistungen zu unterscheiden. Während Gegenleistungsrenten über die Laufzeit hinweg in einen Ertragsanteil und einen Anteil der Kapitalrückzahlung zu zerlegen sind, behandelt der BFH die Versorgungsleistung als unentgeltlichen Vorgang940, den das BVerfG als „Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit“ charakterisiert hat941. Von der Rente unterscheidet sich die Versorgungsleistung durch eine Abänderbarkeit, die sich aus der Rechtsnatur des Versorgungsvertrags ergibt942. Werden Leistungen unregelmäßig und willkürlich zeitweise nicht erbracht, kann dies jedoch gegen einen auf Versorgungsleistungen gerichteten Rechtsbindungswillen sprechen943. Diese st. Rspr. ist mittlerweile in §§ 10 Ia; 22 Nr. 1a EStG gesetzlich geregelt.
934 935 936 937 938 939 940
941 942 943
che Leistungsfähigkeit indizieren soll …“, im Anschluss an KSM/Fischer, § 22 EStG Rz. B 29 (1994); J. Lang, Bemessungsgrundlage, 49 f.; J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, 1985, 41; HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 80 (2015) (Schadensersatz). Grds. a.A. Söhn, FS Tipke, 1995, 352 ff.; Söhn, FR 1996, 81. BFH v. 20.10.1999 – X R 132/95, BStBl. II 2000, 82 (84); v. 20.11.2012 – VIII R 57/10, BStBl. II 2014, 56. BFH v. 4.4.1989 – X R 14/85, BStBl. II 1989, 779 (780). BFH v. 3.5.2017 – X R 9/14, BFH/NV 2017, 1164. BFH v. 15.7.1991 – GrS 1/90, BStBl. II 1992, 78 (81 ff.); v. 15.7.1991 – X R 152/97, BStBl. II 2007, 749. BFH v. 30.5.1980 – VI R 153/77, BStBl. II 1980, 575. Grdl. BFH v. 5.7.1990 – GrS 4–6/89, BStBl. II 1990, 847; v. 15.7.1991 – GrS 1/90, BStBl. II 1992, 78 (84): Typus des Übergabevertrags; v. 12.5.2003 – GrS 1/00, BStBl. II 2004, 95; v. 12.5.2003 – GrS 2/00, BStBl. II 2004, 100. BFH v. 5.7.1990 – GrS 4–6/89, BStBl. II 1990, 847 (853): „Aus steuerrechtlicher Sicht erwirbt der Übernehmer unentgeltlich, wenn er Teile des übertragenen Vermögens Angehörigen zu überlassen hat. Diese Verpflichtung ist keine Gegenleistung des Übernehmers für die Übertragung des Vermögens; sie mindert vielmehr von vornherein das übertragene Vermögen.“ Zur Kritik dieses Ansatzes m.w.N. 17. Aufl., Rz. 586. BVerfG v. 17.12.1992 – 1 BvR 4/87, FR 1993, 157 (159). Das BVerfG hat das Sonderrecht der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen gleichheitsrechtlich nicht beanstandet. BFH v. 15.7.1991 – GrS 1/90, BStBl. II 1992, 78 (83); v. 11.3.1992 – X R 141/88, BStBl. II 1992, 499. BFH v. 15.9.2010 – X R 13/09, BStBl. II 2011, 641.
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§ 8 Rz. 528
Einkommensteuer
528 – Leibrenten werden auf Lebensdauer eines Berechtigten, Verpflichteten oder eines Dritten gewährt.
Abgekürzte Leibrenten (§ 55 II EStDV) sind Renten auf Lebenszeit, die jedoch höchstens eine bestimmte Zahl von Jahren gezahlt werden944. Bei Rentenlaufzeiten von weniger als zehn Jahren945 ist im Einzelfall zu prüfen, ob Kaufpreisraten u. andere Kapitalzahlungen im Vermögensbereich vorliegen. Zeitrenten (Renten für eine bestimmte längere Zeit) behandelt die Rspr. bei einem privaten Veräußerungsgeschäft nicht als wiederkehrende Bezüge, sondern als Kaufpreisraten946. Nach Neufassung durch das AltEinkG erfasst § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG unter dem Tatbestandsmerkmal Leibrenten und andere Leistungen auch Einmalzahlungen (z.B. Kapitalabfindungen), die nicht die Merkmale wiederkehrender Bezüge aufweisen. Der Begriff der anderen Leistung ist autonom auszulegen947. Die hiermit einhergehende Erweiterung der Steuerbarkeit von Einmalzahlungen soll mit dem Vertrauensschutzgrundsatz vereinbar sein948. 529 Die Einkünfte aus Unterhaltsleistungen (§ 22 Nr. 1a EStG) sind i.V.m. § 10 Ia Nr. 1 EStG Teil des
Realsplittings für geschiedene/dauernd getrennt lebende Ehegatten (s. Rz. 98). Dieses Realsplitting verdeutlicht die Durchbrechung des Prinzips, dass das Einkommensteuerobjekt nur erwirtschaftete Einkünfte erfasst. Der „Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit“ durch Unterhalts- und Versorgungsleistungen gehört auf die Stufe subjektiver Leistungsfähigkeit949. 530 Die Steuerfolgen sind höchst unterschiedlich. So wird zunächst die allgemeine, aus dem Grundsatz
der Individualbesteuerung (s. Rz. 22, 24) abgeleitete Regel, dass wiederkehrende Bezüge unabhängig von dem Steuerabzug beim Empfänger zu versteuern sind, durch Sonderregeln zurückgedrängt, die eine Korrespondenz zwischen Versteuerung und Steuerabzug herstellen950: 531 JStG 2008 hat das bisherige Richterrecht der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen in
Form einer Korrespondenz gesetzlich geregelt (zunächst § 10 I Nr. 1a, 1b EStG, mittlerweile § 10 Ia EStG i.V.m. § 22 Nr. 1a EStG)951. Dabei hat der Gesetzgeber dieses Rechtsinstitut auf seinen „Kern944 Z.B. Erwerbsunfähigkeitsrenten (BFH v. 4.10.1990 – X R 60/90, BStBl. II 1991, 89; v. 22.1.1991 – X R 97/89, BStBl. II 1991, 686; v. 22.1.1991 – X R 56/90, BStBl. II 1991, 688); Witwenrente, die nur für eine bestimmte Anzahl von Jahren gezahlt wird (BFH v. 14.6.2000 – X R 33/97, BStBl. II 2000, 672); übergeleitete DDR-Invalidenrente (BFH v. 5.9.2001 – X R 40/98, BStBl. II 2002, 6, m.w.N. zum Begriff der abgekürzten Leibrente). 945 Überholt ist die Rspr. (BFH v. 7.8.1959 – VI 284/58 U, BStBl. III 1959, 463; v. 10.10.1963 – VI 12/62 U, BStBl. III 1963, 563), wonach Renten und dauernde Lasten eine Mindestlaufzeit von zehn Jahren haben müssen. So bejaht BFH v. 22.1.1991 – X R 97/89, BStBl. II 1991, 686; v. 22.1.1991 – X R 56/90, BStBl. II 1991, 688, Erwerbsunfähigkeitsrenten auch bei einer Laufzeit von weniger als zehn Jahren. BFH v. 26.1.1994 – X R 54/92, BStBl. II 1994, 633 (635), stellt auf den Einzelfall ab. Gegen eine Mindestlaufzeit Schmitz, Besteuerung wiederkehrender Bezüge, Diss., 1999, 184 f. (m.w.N.); KSM/Söhn, § 10 EStG Rz. D 46, 90 (2008). 946 BFH v. 31.8.1994 – X R 44/93, BStBl. II 1996, 676. 947 BFH v. 23.10.2013 – X R 3/12, BStBl. II 2014, 58 (60); v. 23.10.2013 – X R 11/12, BFH/NV 2014, 328 (329). 948 BFH v. 23.10.2013 – X R 33/10, BStBl. II 2014, 103 (104 ff.). 949 S. Rz. 42, 98, 101 ff. Dies ist allerdings nur de lege ferenda möglich, weil die geltende Bemessungsgrundlage nur private Abzüge (§ 2 IV-V EStG), nicht auch private Bezüge regelt. Diese Regelungslücke füllen die §§ 2 II; 35–37 Kölner EStGE mit dem Ansatz von Privatausgaben und Privateinnahmen. Grds. zu § 22 Nr. 1a EStG Söhn, StuW 2005, 109 (116): „Unterhaltsleistungen werden zwar nicht am Markt erwirtschaftet, gehören aber in einer an der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit orientierten Einkommensteuer zu den steuerbaren Einkünften.“ 950 Nach BFH v. 4.4.1989 – X R 14/85, BStBl. II 1989, 779 (780 f. m.w.N.); BFH v. 27.4.2015 – X B 47/15, BFH/NV 2015, 1356, stellt diese Normverknüpfung eine Ausnahmeregelung dar, auf die sich kein allgemeines Korrespondenzprinzip (s. Rz. 24) stützen lässt. 951 Durch JStG 2008 v. 20.12.2007, BGBl. I 2007, 3150 (in § 10 Ia EStG überführt durch Gesetz v. 22.12.2014, BGBl. I 2014, 2417). Zur Überführung der Rspr. ins Gesetz Streck/Horst, DStR 2010, 959; Krumm, StuW 2011, 159; Reddig, FS Streck, 2011, 157. IV. Rentenerlass, BMF v. 11.3.2010 – IV
476
Hey
4. Wiederkehrende Bezüge
Rz. 534 § 8
bereich“ reduziert952, indem der Sonderausgabenabzug nur noch bei Übertragung unternehmerischen Vermögens in Betracht kommt. Hierdurch soll die Regelung zielgenauer als die bisherige wirken und Mitnahmeeffekte sowie missbräuchliche Gestaltungen verhindern953. Zudem wollte der Gesetzgeber mit der Neuregelung die Erhaltung und Sicherung von Arbeitsplätzen fördern; demzufolge hat er die Übergabe von Privatvermögen954 ausgeschieden. Es sind als Sonderausgaben abzugsfähig955 und korrespondierend als wiederkehrende Bezüge zu versteuern: – auf besonderen Verpflichtungsgründen beruhende, lebenslange und wiederkehrende Versor- 532 gungsleistungen gegen die Übertragung von Betrieben/Teilbetrieben i.S.d. §§ 13; 15; 18 EStG als Einzelunternehmen oder Mitunternehmerschaften und von GmbH-Anteilen, wenn eine Beteiligung von mindestens 50 %956 übertragen wird, der Übergeber als Geschäftsführer tätig war und der Übernehmer diese Tätigkeit nach der Übertragung übernimmt (§§ 10 Ia Nr. 2; 22 Nr. 1a EStG), sowie – Leistungen auf Grund eines schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs (§§ 10 Ia Nr. 4; 22 Nr. 1a 533 EStG)957 sowie Ausgleichszahlungen zur Vermeidung eines Versorgungsausgleichs (§§ 10 Ia Nr. 3; 22 Nr. 1a, soweit die ihnen zugrundeliegenden Einnahmen bei Ausgleichsverpflichteten der Besteuerung unterliegen Dauernde Lasten, die keine Renten sind, hat der Empfänger nach § 22 Nr. 1 EStG zu versteuern, 534 wenn keine andere Einkunftsart Platz greift. Der Geber kann dauernde Lasten als Betriebsausgaben oder Werbungskosten (§ 9 I 3 Nr. 1 Satz 1 EStG) abziehen, wenn die dauernden Lasten durch eine Erwerbstätigkeit veranlasst sind und nicht im Austausch mit Vermögenswerten erbracht werden (Beispiel: dauernde Last als Vergütung für eine Dienstleistung, die durch den Beruf des Gebers veranlasst ist). § 9 I 3 Nr. 1 EStG geht § 10 Ia EStG vor. Werden dauernde Lasten im Austausch mit Vermögenswerten erbracht (Regelfall: Erwerb eines Wirtschaftsguts gegen dauernde Last), so liegt in Höhe des versicherungsmathematisch ermittelten Barwerts eine Vermögensumschichtung vor, die Anschaffungskosten begründet; sofort abziehbar ist nur der Zinsanteil, den der Empfänger nach § 20 I Nr. 7 EStG zu versteuern hat958.
952 953 954 955 956 957 958
C 3 - S 2221/09/10004, BStBl. I 2010, 227. Ausweich- und Gestaltungsempfehlungen: Kratzsch, NWB 2010, 1964; von Oertzen/Stein, BB 2009, 2227 (Vorbehaltsnießbrauch); Spiegelberger, DStR 2010, 1822 u. 1880; Wälzholz, DStR 2010, 850; Djanani/Krenzin/Zehetmair, DStZ 2012, 389; Baumann/Seer/ Krumm, Fachberater für Unternehmensnachfolge, 2011, Rz. 2019 ff.; 2117 ff.; Hecht, Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen, Diss., 2012; Überblick: Urbach, KÖSDI 2017, 20373. Zu den europarechtlichen Implikationen des Korrespondenzprinzips s. EuGH v. 24.2.2015 – C-559/13, ECLI:EU:C:2015:109 – Grünewald; zur Umsetzung in § 50 I 3 EStG s. Rz. 28. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung v. 4.9.2007, BT-Drucks. 16/6290, 7553, versteht unter Kernbereich die Übertragung von Betrieben. BT-Drucks. 16/6290, 53. Hierzu Paus, NWB 2014, 992. Ausreichend ist seit JStG 2010, dass die Voraussetzungen des Sonderausgabenabzugs vorliegen. Auf den tatsächlichen Sonderausgabenabzug kommt es nicht an. Zu den Auswirkungen auf ausländische Leistungserbringer Stein, DStR 2011, 1165. Berechtigte Kritik an dieser rechtsformspezifischen Differenzierung Krumm, StuW 2011, 159 (162 ff., 168 ff.). Hierzu BFH v. 22.8.2012 – X R 36/09, BStBl. II 2014, 109 (schuldrechtliche Rententeilung). Zur steuerlichen Behandlung des Versorgungsausgleichs nach dessen zivilrechtlicher Neuregelung (dazu Wälzholz, DStR 2010, 383) ausf. Risthaus, DStZ 2010, 269; Wälzholz, DStR 2010, 465. S. BFH v. 9.2.1994 – IX R 110/90, BStBl. II 1995, 47; BMF v. 11.3.2010 – IV C 3 - S 2221/09/10004, BStBl. I 2010, 227, Rz. 77 f.
Hey 477
§ 8 Rz. 535
Einkommensteuer
535 Ebenso sind Gegenleistungsrenten in einen Ertragsanteil und in eine Vermögensumschichtung (Til-
gungsanteil, Kapitalrückzahlung) zu zerlegen959. Bei Zeitrenten versagt der BFH den Sonderausgabenabzug, weil er Zeitrenten als Kaufpreisraten qualifiziert (s. Rz. 528). In der Erwerbssphäre ist der Zinsanteil abziehbar. I.Ü. hat der Geber Anschaffungskosten (s. R 6.2 EStR 2012). Der Empfänger hat den Zinsanteil nach § 20 I Nr. 7 EStG zu versteuern und genießt dabei den Sparer-Pauschbetrag (§ 20 IX EStG), der dem nach § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. bb EStG ertragsanteilbesteuerten Stpfl. gleichheitswidrig vorenthalten wird960. Bei den privaten Leibrenten i.S.d. § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. bb EStG ist der in der Tabelle typisiert festgelegte Ertragsanteil vom Empfänger zu versteuern und korrespondierend vom Geber als Sonderausgabe (§ 10 Ia Nr. 2 EStG) oder Erwerbsaufwendung abzuziehen. Bei privaten abgekürzten Leibrenten ergibt sich der Ertragsanteil aus der Tabelle in § 55 II EStDV i.V.m. § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. bb Satz 5 EStG. 536 Gesetzliche u. andere nachgelagert besteuerte Renteneinkünfte werden nach § 22 Nr. 1 Satz 3
Buchst. a Doppelbuchst. aa EStG mit einem aufsteigenden Besteuerungsanteil besteuert; dieser richtet sich nach dem Jahr des Rentenbeginns. Er beträgt 50 % der Bezüge, wenn die Rente in 2005 beginnt, und steigt kontinuierlich bis 100 % bei Rentenbeginn in 2040. Somit wird die voll nachgelagerte Besteuerung in einem 35-jährigen Übergangszeitraum verwirklicht (zum Problem der Doppelbesteuerung in der Übergangsphase s. Rz. 570). 537–538
Einstweilen frei.
5. Abgeordnetenbezüge (§ 22 Nr. 4 EStG) 539 Die Tätigkeit von Abgeordneten lässt sich in den Einkünftekatalog bestimmter Berufsbilder schwer-
lich einordnen. Abgeordnete sind mit ihrem verfassungsrechtlichen Status961 als freie, weisungsungebundene Mandatsträger (Art. 38 I 2 GG) weder Unternehmer noch Arbeitnehmer. Sie haben nach Art. 48 III 1 GG Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung, was die Auffassung begründete, Abgeordnete seien nicht entgeltlich tätig und erwirtschafteten daher kein Einkommen. Die daraus resultierende Steuerfreiheit der Abgeordnetenbezüge hat das Diäten-Urteil des BVerfG für verfassungswidrig erklärt962. § 22 Nr. 4 EStG wurde dem Einkünftekatalog durch das Abgeordnetengesetz v. 18.2.1977, BGBl. I 1977, 297, angefügt und die in § 22 Nr. 4 EStG festgelegten Bezüge wurden besteuert. 540 § 22 Nr. 4 EStG umfasst nur solche Leistungen, die auf Grund von Abgeordnetengesetzen (§ 22 Nr. 4 Satz 1 EStG) inkl. Abgeordnetengesetz der DDR-Volkskammer (§ 57 V EStG) gewährt werden. Für Leistungen außerhalb dieser Gesetze gilt das übrige Einkunftsartenrecht (R 22.9 EStR 2012). Bezüge der Abgeordneten für politische Ämter (z.B. parlamentarischer Geschäftsführer, Fraktionsvorsitzender) können den §§ 18 I Nr. 3; 19; 22 Nr. 1, 3 EStG unterfallen. I.Ü. besteht Steuerfreiheit nach § 3 Nr. 11, 12, 13 EStG. § 3 Nr. 62 EStG gilt entsprechend für Nachversicherungsbeiträge auf Grund des Abgeordnetengesetzes und für Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge (§ 22 Nr. 4 Satz 4 Buchst. a EStG). Der Versorgungsfreibetrag (§ 19 II EStG) wird ohne Zuschlag und beim Zusammentreffen mehrerer Altersbezüge nur einmal gewährt (§ 22 Nr. 4 Satz 4 Buchst. b EStG). § 34 I EStG gilt entsprechend für das in einer Summe gezahlte Übergangsgeld und für die Versorgungsabfindung (§ 22 Nr. 4 Satz 4 Buchst. c EStG). 959 Kirchhof/Fischer17, § 22 EStG Rz. 4. Die gesetzliche Typisierung des Ertragsanteils in § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. bb EStG ist verfassungsrechtlich unbedenklich (BFH v. 16.12.1997 – VIII R 38/94, BStBl. II 1998, 339). 960 BVerfG v. 22.9.2009 – 2 BvL 3/02, BVerfGE 124, 251, hat allerdings 2009 nach knapp 10 Jahren (!) den diesbezüglichen Vorlagebeschluss BFH v. 14.11.2001 – X R 32-33/01, BStBl. II 2002, 183, als unzulässig (fehlende Entscheidungserheblichkeit) zurückgewiesen; vgl. auch Schmitz, Besteuerung wiederkehrender Bezüge, Diss., 1999, 165 ff. 961 Dazu Linck, Verfestigung des Leitbilds von Berufsabgeordneten durch das BVerfG, NJW 2008, 24; von Arnim, Nebeneinkünfte von Bundestagsabgeordneten, DÖV 2007, 897. 962 BVerfG v. 5.11.1975 – 2 BvR 193/74, BVerfGE 40, 296.
478
Hey
6. Einkünfte aus sonstigen Leistungen
Rz. 542 § 8
Echte Aufwandsentschädigungen werden nach wie vor steuerfrei ausgezahlt und dürfen daher nicht als 541 Werbungskosten abgezogen werden (§ 22 Nr. 4 Satz 2 EStG). Wahlkampfkosten dürfen ebenfalls nicht als Werbungskosten abgezogen werden (§ 22 Nr. 4 Satz 3 EStG), weil ein Anspruch auf steuerfreie Erstattung der Wahlkampfkosten besteht963. Gegen die Steuerbefreiung der Aufwandsentschädigungen im Umfange der Kostenpauschale für Abgeordnete (§ 12 II Abgeordnetengesetz) nach § 3 Nr. 12 EStG sind durchgreifende gleichheitsrechtliche Einwände erhoben worden964. Die gleichheitssatzwidrigen Steuerprivilegien der Abgeordneten blieben auf die nicht zur Entscheidung angenommene Verfassungsbeschwerde eines Finanzrichters hin unbeanstandet965. Das BVerfG sah eine ausreichende Rechtfertigung in der besonderen Stellung parlamentarischer Mandatsträger. M.E. lässt sich das Problem de lege lata lösen, indem § 12 II AbgG aus dem Anwendungsbereich des § 3 Nr. 12 EStG durch verfassungskonforme teleologische Reduktion ausgeschieden wird, weil die Kostenpauschale die tatsächlichen Kosten des Abgeordneten nicht in verfassungsrechtlich zulässiger Weise typisiert966. Dementsprechend ist das Abzugsverbot für Werbungskosten (§ 22 Nr. 4 Satz 2 EStG) zu beschränken. Soweit danach die Kostenpauschale die tatsächlichen Werbungskosten überschreitet, ist sie als Einnahme zu versteuern, und Werbungskosten, die höher sind als die Kostenpauschale, können abgezogen werden.
6. Einkünfte aus sonstigen Leistungen (§ 22 Nr. 3 EStG) § 22 Nr. 3 Satz 1 EStG erfasst Einkünfte aus Leistungen, soweit sie keiner anderen Einkunftsart un- 542 terfallen967. § 22 Nr. 3 EStG enthält einen allen anderen Einkunftsarten nachrangigen subsidiären Einkünftetatbestand. Er bildet aber keinen Auffangtatbestand in dem Sinne, dass er alle erwirtschafteten Einkünfte erfasst, die sonst keinem Einkünftetatbestand zugeordnet werden können. Hieran zeigen sich die Grundentscheidungen des Gesetzgebers für die pragmatische Legaldefinition des Einkommens durch lückenträchtige Einkünfteenumeration (s. Rz. 53). Als letzter Einkünftetatbestand setzt § 22 Nr. 3 EStG negativ voraus, dass kein anderer Einkünftetatbestand verwirklicht ist, und verlangt positiv Einkünfte aus einem bestimmten Leistungsaustausch. Nach st. Rspr. des BFH968 ist Leistung i.S.d. § 22 Nr. 3 EStG jedes Tun, Dulden oder Unterlassen969, das Gegenstand eines entgeltlichen Vertrages sein kann und das eine Gegenleistung auslöst. Kein Merkmal der Steuerbarkeit ist, dass die Leistung um des Entgelts willen erbracht sein muss970. Es komme entscheidend darauf an, ob die Gegenleistung durch
963 Vgl. BVerfG v. 9.3.1976 – 2 BvR 89/74, BVerfGE 41, 399. 964 Insb. Stalbold, Die steuerfreie Kostenpauschale der Abgeordneten, Diss., 2004; Tipke, FR 2006, 949 (953 f., 954: mandatsbezogene Aufwendungen nicht typisierbar); Drysch, DStR 2008, 1217 (verfassungswidriges Privileg). BFH v. 11.9.2008 – VI R 13/06, BStBl. II 2008, 928 (dazu krit. Neufang, SteuerConsultant 2008, 30; Desens, Steuerprivilegien für Abgeordnete verfassungsrechtlich nicht angreifbar?, DStR 2009, 727; Englisch, NJW 2009, 894) hat dem BVerfG die Regelung mangels Entscheidungserheblichkeit nicht vorgelegt. Das Plädoyer für die Verfassungsmäßigkeit der steuerfreien Kostenpauschale von Waldhoff, FR 2007, 225, kann nicht überzeugen. 965 BVerfG v. 26.7.2010 – 2 BvR 2227/08, BFH/NV 2010, 1983, m. Anm. Bode, FR 2010, 994. Die Beschwerde vor dem EGMR (dazu Nebe, Stbg. 2011, 385) war unzulässig. 966 A.A. wohl BFH v. 11.9.2008 – VI R 13/06, BStBl. II 2008, 928 (930 f.). 967 Dazu Becker, StuW 1936, Sp. 1669 ff.; Knobbe-Keuk, DB 1972, 1130; Waterkamp-Faupel, FR 1995, 41; Spaniol, StWa 2002, 190; Binnewies, FS Streck, 2011, 31; Krey, Besteuerung sonstiger Leistungen: Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Einkommensteuerpflicht von privaten Spielgewinnen, Diss., 2011; Wenk, Die Einkünfte aus Leistungen nach § 22 Nr. 3 EStG, Diss., 2017. 968 BFH v. 21.11.1997 – X R 124/94, BStBl. II 1998, 133 (134 m.w.N.); v. 27.5.1998 – X R 94/96, BStBl. II 1998, 619 (620); v. 26.1.2000 – IX R 87/95, BStBl. II 2000, 396 (397); v. 2.3.2004 – IX R 68/02, BStBl. II 2004, 506; v. 18.5.2004 – IX R 63/02, BStBl. II 2004, 874; v. 21.9.2004 – IX R 13/02, BStBl. II 2005, 44 (45); v. 8.5.2008 – VI R 50/05, BStBl. II 2008, 868 (870). 969 Dazu umfassend Reimer, Der Ort des Unterlassens, Diss., 2004, 49 f., 164 ff., 181 ff., 186 ff. 970 BFH v. 21.9.2004 – IX R 13/02, BStBl. II 2005, 44; so noch z.B. v. 2.3.2004 – IX R 68/02, BStBl. II 2004, 506.
Hey 479
§ 8 Rz. 543
Einkommensteuer
das Verhalten des Stpfl. veranlasst ist971. Mit diesem Verständnis des Veranlassungsprinzips wird die Steuerbarkeitslücke im Verhältnis zu den betrieblichen Einkunftsarten weitgehend geschlossen. 543 Beispiele: § 22 Nr. 3 EStG erwähnt gelegentliche, d.h. nicht i.S.v. § 15 II 1 EStG nachhaltige Vermittlungen972 und die Vermietung beweglicher Gegenstände973. Im Weiteren erfasst der Tatbestand des § 22 Nr. 3 EStG Schmier-/Bestechungsgelder974, Mitfahrervergütungen975, Optionsprämien976, Preisgelder für die Teilnahme an Fernsehshows (s. Rz. 135), die Erfolgsbeteiligung an einem Schadensersatzprozess977 und Entgelte für Gefälligkeiten und Freundschaftsdienste. Selbständig ausgeübte Prostitution ist entgegen früherer Auffassung nicht unter § 22 Nr. 3 EStG, sondern unter § 15 EStG zu subsumieren978. 544 § 22 Nr. 3 EStG erfasst nur den Nutzungsbereich und nicht den Bereich privater Veräußerungsgeschäfte979, die durch die in Rz. 546 aufgeführten Tatbestände erfasst werden. Bei der Veräußerung vermieteter beweglicher Wirtschaftsgüter stellt sich analog zum gewerblichen Grundstückshandel (s. Rz. 517) die Frage, ob ein Gewerbebetrieb vorliegt. Wird hier der Bereich privater Vermögensverwaltung nicht verlassen, so liegen lediglich Einkünfte aus der Vermietung beweglicher Wirtschaftsgüter (§ 22 Nr. 3 Satz 1 EStG) vor980. Maßgeblich für die Abgrenzung der Nutzung zur Veräußerung ist die endgültige Aufgabe eines Vermögenswerts in seiner Substanz, so z.B. der entgeltliche Verzicht auf ein Wohnrecht981, auf Nachbarrechte982 oder das Reuegeld für den Rücktritt vom Kaufvertrag983. So behandelt die Rspr. die Abfindung des Mieters für die
971 BFH v. 21.9.2004 – IX R 13/02, BStBl. II 2005, 44 (Provision für Freundschaftsdienst), erachtet das auf ein synallagmatisches Verständnis des Leistungsbegriffs hindeutende Merkmal „um des Entgelts willen erbracht“ als „zumindest missverständlich und mithin verzichtbar“. Diese Änderung der Rspr. lässt bereits BFH v. 20.4.2004 – IX R 39/01, BStBl. II 2004, 1072 (Betreuungshonorar „in reiner Spielerlaune“) erkennen. 972 Z.B. für die Vermittlung von Lebensversicherungen. Dazu BFH v. 27.5.1998 – X R 94/96, BStBl. II 1998, 619 (Eigenprovisionen); v. 20.1.2009 – IX R 34/07, BStBl. II 2009, 532; v. 27.6.2006 – IX R 25/05, BFH/NV 2007, 657; v. 17.7.2007 – IX R 1/06, BFH/NV 2007, 2263. Eigenprovision als Teil der gewerblichen Einkünfte eines selbständigen Vermittlers BFH v. 14.3.2012 – X R 24/10, BStBl. II 2012, 498. Hingegen verneint BFH v. 2.3.2004 – IX R 68/02, BStBl. II 2004, 506, steuerbare Einnahmen des Versicherungsnehmers, wenn der Versicherungsvertreter einen Teil seiner Provision an den Versicherungsnehmer weiterleitet. 973 Z.B. die Vermietung einer Segelyacht, die kein Registerschiff (§ 21 I 1 Nr. 1 EStG) ist (BFH v. 16.12.1998 – X R 125/97, BFH/NV 1999, 917), oder eines Wohnmobils (BFH v. 12.11.1997 – XI R 44/95, BStBl. II 1998, 774), das kein Sachinbegriff ist (§ 21 I 1 Nr. 2 EStG). 974 BFH v. 20.7.2007 – XI B 193/06, BFH/NV 2007, 1887; v. 16.6.2015 – IX R 26/14, BStBl. II 2015, 1019. 975 BFH v. 15.3.1994 – X R 58/91, BStBl. II 1994, 516. 976 Dazu BFH v. 17.4.2007 – IX R 40/06, BStBl. II 2007, 608 (kein Termingeschäft); v. 18.9.2007 – IX R 48/05, BStBl. II 2008, 26: Verwendung von Mieteinnahmen für Optionsgeschäfte unterfällt § 22 Nr. 3 EStG mit beschränkter Verlustverrechnung, ebenso die im Gegengeschäft gezahlten Prämien (BFH v. 17.4.2007 – IX R 23/06, BStBl. II 2007, 606); v. 11.2.2014 – IX R 10/12, BFH/NV 2014, 1020; v. 11.2.2014 – IX R 46/12, BFH/NV 2014, 1025; Harenberg, NWB 2007, Fach 3, 14529; S. Wagner, NWB 2007, Fach 3, 14041; S. Wagner, DStZ 2007, 748 (Lösung durch die Abgeltungsteuer?). 977 BFH v. 10.7.2008 – IX R 47/07, BFH/NV 2008, 2001. 978 BFH v. 20.2.2013 – GrS 1/12, BStBl. II 2013, 441; Aufgabe der Rspr. v. 23.6.1964 – GrS 1/64 S, BStBl. III 1964, 500. 979 So die st. Rspr., z.B. BFH v. 21.11.1997 – X R 124/94, BStBl. II 1998, 133 (134 m.w.N.); v. 14.9.1999 – IX R 88/95, BStBl. II 1999, 776; v. 20.10.1999 – X R 132/95, BStBl. II 2000, 82; v. 10.9.2003 – XI R 26/02, BStBl. II 2004, 218; v. 18.5.2004 – IX R 63/02, BStBl. II 2004, 874; v. 19.2.2013 – IX R 35/12, BStBl. II 2013, 578 (579); v. 19.3.2013 – IX R 65/10, BFH/NV 2013, 1085: Nicht erfasst werden „Veräußerungsvorgänge oder veräußerungsähnliche Vorgänge im privaten Bereich, durch die ein Vermögenswert in seiner Substanz endgültig aufgegeben wird“. 980 Dazu BFH v. 31.5.2007 – IV R 17/05, BStBl. II 2007, 768. 981 BFH v. 9.8.1990 – X R 140/88, BStBl. II 1990, 1026. 982 BFH v. 19.12.2000 – IX R 96/97, BStBl. II 2001, 391; v. 18.5.2004 – IX R 63/02, BStBl. II 2004, 874. 983 BFH v. 24.8.2006 – IX R 32/04, BStBl. II 2007, 44.
480
Hey
7. Einkünfte aus der Veräußerung von Privatvermögen
Rz. 547 § 8
vorzeitige Räumung der Wohnung als nicht steuerbares Entgelt für Vermögensverzicht984, hingegen das Entgelt für die Duldung eines Spielsalonbetriebs als steuerbar, weil kein Vermögensverzicht geleistet werde985. Die Willkür des Einkünftedualismus wird auch hier mit hohem Rechtsprechungsaufwand gepflegt.
In § 22 Nr. 3 Satz 2 EStG ist eine Vereinfachungsfreigrenze von 256 Euro normiert. § 22 Nr. 3 Satz 3 545 EStG verbietet die Verlustverrechnung mit anderen Einkünften. Dieser „völlige Ausschluss“ der Verlustverrechnung verletzt nach Rspr. des BVerfG den Gleichheitssatz986. § 22 Nr. 3 Satz 4 EStG sieht mittlerweile zwar die Möglichkeit des Verlustabzugs innerhalb der Einkünfte aus sonstigen Leistungen vor. Der Verfassungsverstoß wird hierdurch m.E. jedoch nicht geheilt. Es fehlt an einem rechtfertigenden Grund für die Beschränkung der Verlustverechnung auf die (Teil-)Einkunftsart § 22 Nr. 3 EStG987. 7. Einkünfte aus der Veräußerung von Privatvermögen 7.1 Ungleiche Erfassung von Veräußerungseinkünften Seit dem StEntlG 1999/2000/2002 ist die Nichtsteuerbarkeit privater Veräußerungseinkünfte erheb- 546 lich eingeschränkt und damit der gleichheitswidrige Einkünftedualismus (s. Rz. 185) ein gutes Stück abgebaut worden. Gleichwohl hat der Gesetzgeber die Steuerungleichheit vertieft, indem er ein Chaos der Besteuerung von Veräußerungseinkünften geschaffen hat, deren Differenzierungen gleichheitsrechtlich nicht zu rechtfertigen sind. Veräußerungseinkünfte werden – voll und unprivilegiert im Rahmen laufender Gewinneinkünfte besteuert; – ermäßigt nach § 34 EStG als Einkünfte aus Betriebsveräußerung/-aufgabe (§ 16 EStG) besteuert. Die älteren (ab 55 Jahre) und berufsunfähigen Stpfl. genießen bis 5 Mio. Euro den ermäßigten Steuersatz i.H.v. 56 % des durchschnittlichen Steuersatzes (§ 34 III EStG) und den Freibetrag von 45 000 Euro (§ 16 IV EStG), ansonsten werden die Veräußerungsgewinne rechnerisch auf 5 Jahre verteilt (§ 34 I EStG); – zu 60 % nach § 3 Nr. 40 Satz 1 Buchst. c–h EStG i.V.m. §§ 17; 20 EStG als Einkünfte aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften u. anderen KSt-Subjekten besteuert, soweit die Beteiligung im Betriebsvermögen gehalten wird oder als Beteiligung im Privatvermögen 1 % und mehr beträgt. § 17 III EStG gewährt einen Freibetrag von 9 060 Euro (s. Rz. 146); – abgeltend als Kapitalveräußerungseinkünfte von Beteiligungen im Privatvermögen (§ 20 II EStG; s. Rz. 497 ff.) besteuert; – steuerfrei gestellt als private Veräußerungsgeschäfte i.S.d. subsidiären (s. § 23 II EStG) § 23 EStG, wenn bei Immobilien die Besitzzeit von 10 Jahren (§ 23 I 1 Nr. 1 EStG) oder bei Mobilien die Besitzzeit von 1 Jahr (§ 23 I 1 Nr. 2 EStG) überschritten wird.
7.2 Einkünfte aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften (§ 17 EStG) § 17 EStG erfasst ebenso wie §§ 22 Nr. 2; 23 EStG Einkünfte aus der Veräußerung von privatem 547 Stammvermögen, und zwar Gewinne/Verluste aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, das sind Aktien, GmbH-Anteile, Genussscheine oder ähnliche Beteiligungen und Anwartschaften (§ 17 I 3 EStG) sowie Anteile einer Genossenschaft inkl. der Europäischen Genossenschaft (§ 17 VII EStG). Gehört die Beteiligung zu einem Betriebsvermögen, fällt sie nicht unter § 17 EStG. Die Zuordnung des § 17 EStG zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb ist verfehlt; sie ist darauf zurückzuführen, dass § 17 EStG bis 1998 nur wesentliche Beteiligungen, d.h. Beteiligungen von mehr
984 985 986 987
BFH v. 14.9.1999 – IX R 89/95, BFH/NV 2000, 423. BFH v. 21.11.1997 – X R 124/94, BStBl. II 1998, 133. BVerfG v. 30.9.1998 – 2 BvR 1818/91, BVerfGE 99, 88. A.A. BFH v. 18.9.2007 – IX R 42/05, BStBl. II 2008, 26 (27 f.); v. 11.2.2014 – IX R 46/12, BFH/NV 2014, 1025 (1028); v. 12.7.2016 – IX R 11/14, BFH/NV 2016, 1691 (Rz. 30–34).
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§ 8 Rz. 548
Einkommensteuer
als einem Viertel (§ 17 I 4 EStG 1997) erfasste988. Eine derart wesentliche Beteiligung wertete der Gesetzgeber des EStG 1925 als mitunternehmerähnlich und bezweckte somit die Gleichstellung mit den Einkünften aus der Veräußerung von Mitunternehmer-Anteilen i.S.d. § 16 I 1 Nr. 2 EStG. Mit der Absenkung der Beteiligungsgrenze auf 1 % (§ 17 I 1 EStG) ab 2002 tritt die Fehlplatzierung des § 17 EStG offen zutage. Noch gravierender ist, dass der Gesetzgeber es versäumt hat, § 17 im Zuge der Einführung der vollen Steuerpflicht von Beteiligungsveräußerungen im Rahmen der Abgeltungsteuer (§ 20 II EStG) zu streichen. Die Vorschrift hat jeden eigenständigen Zweck verloren. Seer, DStJG 34 (2011), 278, spricht plakativ vom „Appendix des Einkommensteuerrechts“. 548 Seit dem EStG 1997 wurde § 17 EStG grundlegend umgestaltet: Zunächst schleuste das StEntlG 1999/2000/2002 die 25 %-Grenze mit Geltung ab 1999 auf 10 % herab; sodann reduzierte das StSenkG die 10 %-Grenze ab 2002 auf 1 %989. Nach der ab 2002 geltenden Fassung des § 17 EStG gehört zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb der Gewinn aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, wenn der Veräußerer innerhalb der letzten 5 Jahre am Kapital der Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar zu mindestens 1 % beteiligt war (§ 17 I 1 EStG)990. Die verdeckte Einlage von Anteilen steht der Veräußerung gleich (§ 17 I 2 EStG). Maßgeblich ist grds. der nominelle Anteil am Grund- oder Stammkapital991. Bei unentgeltlich erworbenen Anteilen erstreckt sich die Fünfjahresfrist auf den oder im Falle der Kettenschenkung auf die Rechtsvorgänger (§ 17 I 4 EStG). Der Veräußerung gleichgestellt sind die Auflösung einer Kapitalgesellschaft sowie die Herabsetzung und Rückzahlung von Kapital (§ 17 IV EStG). 549 Der Gesetzgeber hatte die Beteiligungsgrenze von 25 % ohne Übergangsregelung auf zunächst 10 %
und sodann auf 1 % abgesenkt. Das BVerfG sah hierin eine unzulässige unechte Rückwirkung (s. § 3 Rz. 266 ff.), soweit Wertzuwächse erfasst werden, die bis zum Zeitpunkt der Verkündung des StEntlG 1999/2000/2002 am 31.3.1999 entstanden sind und die ohne die Gesetzesänderung hätten steuerfrei realisiert werden können992. Das BMF ordnet zur Umsetzung für Beteiligungen i.H.v. mind. 10 %, aber höchstens 25 % an, dass bis zum 31.3.1999 realisierte Gewinne steuerfrei bleiben993. Bei Veräußerung nach dem 1.4.1999 ist der Gewinn entsprechend der Besitzzeiten aufzuteilen und, soweit er auf den Wertzuwachs bis 31.3.1999 entfällt, als nicht steuerbar zu behandeln. Die Übergangsregelung ist in entsprechender Weise auf die Absenkung der Beteiligungsgrenze von 10 auf 1 % durch StSenkG v. 23.10.2000 anzuwenden994. 550 Veräußerungsgewinn ist der Betrag, um den der Veräußerungspreis (s. bereits Rz. 198) nach Abzug
der Veräußerungskosten die Anschaffungskosten übersteigt (§ 17 II 1 EStG). Der gemeine Wert tritt an die Stelle des Veräußerungspreises in den Fällen der verdeckten Einlage (§ 17 I 2 EStG), der Gesell988 Zur Entstehungsgeschichte und Systematik des § 17 EStG Strutz, EStG 1925, 1929, § 30 Anm. 1 ff.; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 218 ff.; Heinemann, Die Besteuerung von Gewinnen aus der Veräußerung privater Beteiligungen an Kapitalgesellschaften nach § 17 EStG i.d.F. des StSenkG, Diss., 2002; Weirich, Ähnliche Beteiligungen i.S.v. § 17 I 3 EStG, Diss., 2004; Micker, Gesamthandsgemeinschaften und Treuhandverhältnisse bei privaten Anteilsveräußerungen, Diss., 2006; HHR/Eilers/R. Schmidt, § 17 EStG Anm. 1 ff. (2017). 989 Nach BFH v. 24.10.2012 – IX R 36/11, BStBl. II 2013, 164, 1 %-Grenze verfassungsrechtlich zulässig im Rahmen der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit; krit. Intemann, NWB 2013, 828. 990 Veranlagungszeitraumbezogene Bestimmung nach der jeweils gültigen Wesentlichkeitsgrenze BFH v. 11.12.2012 – IX R 7/12, BStBl. II 2013, 372; dagegen Dornheim, FR 2013, 599. 991 BFH v. 25.11.1997 – VIII R 29/94, BStBl. II 1998, 257. 992 BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvR 748/05, BVerfGE 127, 61 (75 ff.); dazu und zur Umsetzung der Entscheidung BFH v. 24.2.2012 – IX B 146/11, BStBl. II 2012, 335; v. 11.12.2012 – IX R 7/12, BStBl. II 2013, 372; Intemann, NWB 2010, 3529; Milatz/Herbst, GmbHR 2010, 574; G. Förster, DB 2011, 259; Gelsheimer/Meyen, DStR 2011, 193 (195 ff.); Gragert, StuB 2011, 43; Musil/Lammers, BB 2011, 155; Schmidt/ Renger, DStR 2011, 693; R. Wagner, NWB 2011, 881. 993 BMF v. 20.12.2010 – IV C 6-S 2244/10/10001, BStBl. I 2011, 16. 994 Zu kurz greift diesbezüglich BFH v. 24.10.2012 – IX R 36/11, BStBl. II 2013, 164, für Wertsteigerungen zwischen Verkündung und erstmaliger Anwendung der Neuregelung; Verfassungsbeschwerde eingelegt (Az. des BVerfG: 2 BvR 364/13); s. Thomer/Schulz, BB 2013, 604; Strüber, DStR 2013, 626.
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Hey
7. Einkünfte aus der Veräußerung von Privatvermögen
Rz. 552 § 8
schaftsauflösung, Kapitalherabsetzung und -rückzahlung sowie des Anteilstausches995. Bei unentgeltlichem Erwerb sind die Anschaffungskosten des Rechtsvorgängers maßgeblich (§ 17 II 5 EStG). Der Gewinn entsteht grds. im Zeitpunkt der Veräußerung, d.h. mit Übergang des rechtlichen oder wirtschaftlichen Eigentums996, allerdings mit Wahlrecht für Zuflussbesteuerung bei Vereinbarung einer Versorgungsrente997. Veräußerungsverluste sind grds. unbeschränkt ausgleichs- und abzugsfähig. § 17 II 6 EStG enthält jedoch 551 eine Missbrauchsregelung, welche die Verlustverrechnung nach Hinzuschenken oder kurzfristigem Hinzuerwerb von Anteilen einschränkt998: Ein Verlust ist nicht abziehbar, soweit er auf Anteile entfällt, die innerhalb der letzten 5 Jahre vor Veräußerung unentgeltlich erworben worden sind, es sei denn, die Verlustverrechnung ist auch beim Rechtsvorgänger möglich (§ 17 II 6 Buchst. a EStG). Bei entgeltlichem Erwerb ist eine Verlustverrechnung nur zulässig, wenn die veräußerten Anteile fünf Jahre lang Teil einer relevanten Beteiligung waren (§ 17 II 6 Buchst. b EStG)999. Problematisch ist die Behandlung der Fremdfinanzierung1000: Allgemein sind Darlehen u. andere Maß- 552 nahmen der Fremdfinanzierung auf Grund des Trennungsprinzips (s. § 11 Rz. 1 u. 45) als gesonderte Kapitalüberlassungen i.S.d. § 20 EStG zu behandeln, die den Tatbestand des § 17 EStG nicht berühren. Nach bisheriger ständiger Rechtsprechung konnten Leistungen des Gesellschafters (insb. Darlehen und Bürgschaft), wenn sie durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst waren, hiervon abweichend als nachträgliche Anschaffungskosten und Verlustfaktoren i.S.v. § 17 II EStG behandelt werden1001. Diese Rechtsprechung, wonach insb. eigenkapitalersetzende Darlehen und Bürgschaften grds. zu nachträglichen Anschaffungskosten führten, hat der BFH 2017 aufgegeben1002. Mit der Abschaffung des Eigenkapitalersatzrechts durch das MoMiG v. 1.11.2008 sei die Grundlage dieser Einordnung entfallen. Nur wenn das Darlehen/Bürgschaft wirtschaftlich wie eine Einlage ausgestaltet sei, könne noch von nachträglichen Anschaffungskosten ausgegangen werden, ansonsten handele es sich um einen einkommensteuerrechtlich unbeachtlichen Vermögensverlust. Zu nachträglichen Schuldzinsen für die Anschaffung der Beteiligung s. Rz. 199.
995 BFH v. 28.10.2008 – IX R 96/07, BStBl. II 2009, 45. 996 BFH v. 7.3.1995 – VIII R 29/93, BStBl. II 1995, 693; v. 20.7.2010 – IX R 45/09, BStBl. II 2010, 969; v. 5.10.2011 – IX R 57/10, BStBl. II 2012, 318; v. 14.3.2012 – IX R 37/11, BStBl. II 2012, 487; Heuermann, DB 2013, 718 (722 ff.). 997 BFH v. 20.7.2010 – IX R 45/09, BStBl. II 2010, 969 (970). 998 S. BT-Drucks. 14/23. Verfassungsmäßigkeit bejaht BFH v. 14.6.2005 – VIII R 20/04, BFH/NV 2005, 2202 (2203 ff.). Krit. zur Berechtigung auch nach vollständiger Erfassung von Wertsteigerungen von Wertpapieren im Privatvermögen s. Ott, BB 2012, 2666. 999 Systemkonform eingeschränkt durch BFH v. 1.4.2009 – IX R 31/08, BStBl. II 2009, 810, für denn Fall, dass der Stpfl. von vornherein eine Beteiligung i.S.v. § 17 EStG erwirbt, und die Beteiligung später unter die relevante Beteiligungsgrenze absinkt; ebenso BFH v. 21.8.2012 – IX R 39/10, BFH/NV 2013, 11. 1000 Ausf. zu Darlehensverlusten der Gesellschafter nach bisheriger Rspr. HHR/Eilers/Schmidt, § 17 EStG Anm. 201 (2017); Gschwendtner, DStR-Beihefter 32/1999. 1001 St. Rspr., z.B. BFH v. 27.10.1992 – VIII R 87/89, BStBl. II 1993, 340; v. 10.11.1998 – VIII R 6/96, BStBl. II 1999, 348; v. 26.1.1999 – VIII R 50/98, BStBl. II 1999, 559; v. 4.3.2008 – IX R 78/06, BStBl. II 2008, 575; v. 19.8.2008 – IX R 63/05, BStBl. II 2009, 5; v. 22.7.2008 – IX R 79/06, BStBl. II 2009, 227. 1002 Mit ausf. Nachweis des Schrifttums BFH v. 11.07.2017 - IX R 36/15, BFHE 258, 427, Rz. 40 ff.: Vertrauensschutz: anzuwenden erst ab Veröffentlichung des Urteils! Im Schrifttum, insb. Graw, Ubg 2014, 251 (255 ff.), war z.T. dafür plädiert worden, ungeachtet der neuen Gesellschaftsrechtslage an der Rspr. festzuhalten. Zu den Gründen (Ratschow, GmbHR 2017, 1204; Kahlert, DStR 2017, 2305) und Konsequenzen der neuen Rspr. Fuhrmann, NWB 2017, 4003; Förster/von Cölln, DB 2017, 2886; Schießl, StuB 2017, 765.
Hey 483
§ 8 Rz. 553
Einkommensteuer
7.3 Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften (§§ 22 Nr. 2; 23 EStG) 553 §§ 22 Nr. 2; 23 EStG1003 bilden ebenso wie § 17 EStG eine Ausnahme von der historischen Ausgren-
zung privaten Stammvermögens durch die Quellentheorie, indem Einkünfte aus der Veräußerung von Wirtschaftsgütern besteuert werden, die vor der Veräußerung innerhalb einer bestimmten Frist angeschafft worden sind. Bis 1999 betrugen die Fristen zwischen Anschaffung und Veräußerung zwei Jahre für Immobilien (§ 23 I 1 Nr. 1a EStG a.F.) und sechs Monate für Mobilien (§ 23 I 1 Nr. 1b EStG a.F.). Diese Fristen waren so kurz, dass der Gesetzgeber den Begriff „Spekulationsgeschäft“ verwendete. Mit dem StEntlG 1999/2000/2002 wurden §§ 22 Nr. 2; 23 EStG neugefasst1004: In der Perspektive einer vollständigen Besteuerung der privaten Veräußerungseinkünfte ersetzte der Gesetzgeber den Begriff „Spekulationsgeschäft“ durch den Terminus „privates Veräußerungsgeschäft“ und verlängerte die Fristen auf zehn Jahre für Immobilien1005 (§ 23 I 1 Nr. 1 EStG) und auf ein Jahr für Mobilien (§ 23 I 1 Nr. 2 EStG). Erfasst werden durch – § 23 I 1 Nr. 1 EStG: Veräußerungsgeschäfte bei Grundstücken und grundstücksgleiche Rechten, bei denen der Zeitraum zwischen Anschaffung und Veräußerung nicht mehr als 10 Jahre beträgt. Nicht steuerbar sind selbstgenutzte Immobilien1006 (§ 23 I 1 Nr. 1 Satz 3 EStG) – § 23 I 1 Nr. 2 EStG: Veräußerungsgeschäfte bei anderen Wirtschaftsgütern innerhalb eiens zeitraums von nicht mehr als einem Jahr. Mit der vollen Steuerbarkeit von Wertpapieren und Kapitalbeteiligungen ist der Anwendungsbereich von § 23 I 1 Nr. 2 EStG deutlich zusammengeschrumpft, erfasst werden neben privaten Wertgegenständen (Schmuck, Antiquitäten, Kunst, Gold1007) aber weiterhin Gewinne aus Fremdwährungsguthaben1008 oder auch Bitcoin-Verkäufe1009, soweit sie nicht gewerblich sind. Den Streit, ob Wirtschaftsgüter des täglichen Gebrauchs steuerbar sind1010, hat der Gesetzgeber in § 23 I 1 Nr. 2 Satz 2 EStG1011 durch explizite Ausnahme derartiger Konsumgüter entschieden, um die Berücksichtigung von Veräußerungsverlusten in diesem Bereich zu verhindern. Der Änderung ist zuzustimmen, auch wenn der Begriff der Wirtschaftsgüter des täglichen Gebrauchs Abgrenzungsschwierigkeiten mit sich bringt. Es ist jedoch nicht einzusehen, warum ein selbst genutztes Haus anders behandelt werden soll, als die darin untergebrachten Einrichtungsgegenstände inkl. Kunst und Antiquitäten1012. Die Erfahrungen mit der an der Reinvermögenszugangstheorie ausgerichteten Be1003 Allgemein zu § 23 EStG Neeb, StuW 1991, 52; Kanzler, FR 2000, 1245 (1252 f.); Prinz/Ommerborn, FR 2001, 977 (§§ 17; 23 EStG bei privater Vermögensverwaltung); von Bornhaupt, BB 2003, 125 (System u. Verfassungsverstöße); Carlé, KÖSDI 2003, 13983; Eggert/Genser/Schindler, FS Rose, 2003, 465; Höhmann, NWB 2004, Fach 3, 12925. 1004 Dazu BT-Drucks. 14/23, 179 f.; Herzig/Lutterbach, DStR 1999, 521; Urban, INF 1999, 319; Wendt, FR 1999, 333 (349 ff.); Strahl, StbJb. 1999/2000, 327; Demuth/Strunk, DStR 2001, 57. Der Plan der Bundesregierung (BT-Drucks. 15/119, 4 f., Begr.: 38 f.), mit dem StVergAbG die Fristen zu streichen (dazu von Bornhaupt, BB 2003, 125; Korezkij, SteuerStud 2003, 119; Watrin/Lühn, DB 2003, 168), ist gescheitert. 1005 Dazu BMF v. 5.10.2000 – IV C 3 - S 2256-263/00, BStBl. I 2000, 1383; geändert durch Schreiben v. 7.2.2007 – IV C 8 - S 2221-128/06, BStBl. I 2007, 262; Meyer/Ball, FR 1999, 925 (Neubauten); Korn, KÖSDI 2000, 12479; Kupfer, KÖSDI 2000, 12271; Risthaus, DB-Beil. 13/2000; Seitz, DStR 2001, 277. 1006 Dazu HHR/Musil, § 23 EStG Anm. 128 ff. (2016); Schmidt/Weber-Grellet36, § 23 EStG Rz. 18. 1007 BFH v. 12.5.2015 – VIII R 35/14, BStBl. II 2015, 834 (835): Xetra-Gold als auf Sachlieferung gerichtete Inhaberschuldverschreibung. 1008 BMF v. 18.1.2016 – IV C 1-S 2252/08/10004:017, BStBl. I 2016, 85, Tz. 39. 1009 Zur steuerlichen Behandlung von Bitcoins (auch USt) ausf. Pinkernell, Ubg 2015, 19; Lutz/Augel, FR 2017, 937. 1010 Bejaht von BFH v. 22.4.2008 – IX R 29/06, BStBl. II 2009, 296, gegen die Auffassung der Finanzverwaltung. 1011 JStG 2010 v. 8.12.2010, BGBl. I 2010, 1768. 1012 S. Döring, DB 2003, 576.
484
Hey
7. Einkünfte aus der Veräußerung von Privatvermögen
Rz. 557 § 8
steuerung von „capital gains“ (s. Rz. 51) belegen enorme Vollzugsdefizite bei der Erfassung privater Konsumgüter. Zudem wird das private Konsumgut häufig seiner Bestimmung entsprechend verbraucht; es birgt daher nur in Ausnahmefällen Wertsteigerungspotenzial1013. Jedenfalls lässt sich der Privatkonsum vom „Reinvermögenszugang“ schwerlich abgrenzen.
– § 23 I 1 Nr. 3 EStG (eingeführt durch BEPS-UmsG v. 20.12.2016, BGBl. I 2016, 3000) erfasst Veräußerungsgeschäfte, bei denen die Veräußerung der Wirtschaftsgüter früher als der Erwerb erfolgt (sog. Leerverkäufe) und die nicht bereits durch § 20 EStG (Wertpapiere) erfasst werden, also insb. Fremdwährungen, Gold, sonstige Edelmetalle). Nach § 23 II EStG ist § 23 I EStG subsidiär gegenüber anderen Einkunftsarten, so gegenüber den be- 554 trieblichen Veräußerungseinkünften, den Einkünften i.S.d. §§ 16; 17 EStG sowie ab 2009 gegenüber den Kapitalveräußerungseinkünften (§ 20 II EStG); dazu gehören die bisher durch § 23 I 1 Nr. 4 EStG a.F. erfassten privaten Termingeschäfte1014 (s. Rz. 559). Abw. vom Zivilrecht sind für die Begriffe „Anschaffung“ und „Veräußerung“ maßgeblich die wirtschaftlich den Anschaffungs-/Veräußerungsakt konstituierenden Verpflichtungsgeschäfte und nicht die dinglichen Erfüllungsgeschäfte1015, also z.B. bei einem Grundstückskauf der Kaufvertrag, nicht die Auflassung (§ 925 BGB) und die Eintragung im Grundbuch (§ 873 I BGB). Gem. § 41 I AO ist für die Fristenberechnung maßgeblich auch der Zeitpunkt eines unwirksamen, jedoch durchgeführten Kaufvertrags1016. Wird allerdings der von einem vollmachtslosen Vertreter geschlossene Kaufvertrag außerhalb der Frist genehmigt, so ist die zivilrechtliche Rückwirkung unbeachtlich, weil der Vertretene erst im Zeitpunkt der Genehmigung disponiert1017.
555
Der Anschaffung gleichgestellt ist die Überführung eines Wirtschaftsguts vom Betriebsvermögen in das Privatvermögen (§ 23 I 2 EStG). Bei unentgeltlichem Erwerb kommt es auf die Anschaffung durch den Rechtsvorgänger an (§ 23 I 3 EStG). Die Anschaffung oder Veräußerung der Beteiligung an einer Personengesellschaft ist der Anschaffung oder Veräußerung der anteiligen Wirtschaftsgüter gleichgestellt (§ 23 I 4 EStG). Als Veräußerung gilt auch die Einlage, wenn das Wirtschaftsgut aus dem Betriebsvermögen innerhalb von zehn Jahren nach seiner Anschaffung veräußert wird, und die verdeckte Einlage in eine Kapitalgesellschaft (§ 23 I 5 EStG)1018.
556
Mit der Verlängerung der „Spekulationsfristen“ von zwei Jahren bzw. sechs Monaten auf zehn Jahre bzw. ein Jahr hat der Gesetzgeber rückwirkend Wirtschaftsgüter des nicht steuerbaren Stammvermögens ohne eine Übergangsregelung mit Wertaufstockung steuerverstrickt; dies verletzt ebenso wie die rückwirkende Steuerverhaftung von Beteiligungen i.S.d. § 17 EStG (s. Rz. 549) das dispositionsschützende Rückwirkungsverbot1019. Entsprechend der Regelung zu § 17 EStG hat das BMF eine Übergangsregelung für die Wertzuwächse erlassen, die bis zum Zeitpunkt der Verkündung der Gesetzesänderung am 31.3.1999 eingetreten waren und nach bisheriger Rechtslage hätten steuerfrei realisiert werden können, d.h. bei bereits abgelaufener Spekulationsfrist1020.
557
1013 So entschied FG Schlesw.-Holst. v. 2.10.2003 – 5 K 429/02, EFG 2004, 265 (266 f.) (rkr.), der privat genutzte Pkw sei kein Wirtschaftsgut i.S.d. § 23 I 1 Nr. 2 EStG, weil für Gebrauchsgegenstände eine Wertsteigerung nicht typisch sei. 1014 Zu § 23 I 1 Nr. 4 EStG a.F.: BMF v. 27.11.2001 – IV C 3-S 2256-265/01, BStBl. I 2001, 986. 1015 BFH v. 26.8.1975 – VIII R 61/72, BStBl. II 1976, 64. 1016 BFH v. 15.12.1993 – X R 49/91, BStBl. II 1994, 687. 1017 BFH v. 2.10.2001 – IX R 45/99, BStBl. II 2002, 10; hingegen ist der Eintrittszeitpunkt einer außerhalb der Frist liegenden aufschiebenden Bedingung unerheblich v. 10.2.2015 – IX R 23/13, BStBl. II 2015, 487. 1018 Zur Kapitalerhöhung gegen Einlage BMF v. 20.12.2005 – IV C 3 - S 2256-255/05, BStBl. I 2006, 8; Patek, BB 2006, 1142. Die Ausübung von Bezugsrechten ist als Veräußerung der Bezugsrechte anzusehen (BFH v. 21.9.2004 – IX R 36/901, BStBl. II 2006, 12). 1019 BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1. 1020 BMF v. 20.12.2010 – IV C 1-S 2256/07/10001:006, BStBl. I 2011, 14 und v. 18.5.2015 – IV C 1-S 2256/07/10001:009, BStBl. I 2015, 464.
Hey 485
§ 8 Rz. 558
Einkommensteuer
Die vom BVerfG (s. § 3 Rz. 113) beanstandeten verfassungswidrigen Vollzugsdefizite bei der Erfassung von Einkünften aus Wertpapierveräußerungsgeschäften waren bereits vor Einführung der Abgeltungsteuer beseitigt1021. Das BVerfG bejahte wie der BFH die Verfassungsmäßigkeit des § 23 EStG ab 19991022. Seit 2009 wird der Vollzug durch Einbeziehung in die abgeltungsteuerpflichtigen Kapitaleinkünfte (§ 20 II EStG) sichergestellt. 558 § 23 III 1 EStG definiert den Gewinn oder den Verlust (s. bereits Rz. 197 f.) aus dem privaten Ver-
äußerungsgeschäft als den Unterschied von Veräußerungspreis einerseits und den um die Abschreibungen (s. § 23 III 4 EStG) verminderten Anschaffungs- oder Herstellungskosten sowie den im Weiteren durch das Veräußerungsgeschäft veranlassten Werbungskosten1023 andererseits. In den Fällen der Einlagen i.S.d. § 23 I 5 EStG ist an Stelle des Veräußerungspreises der Einlagewert bzw. gemeine Wert anzusetzen (§ 23 III 2 EStG). Bei der Überführung eines Wirtschaftsguts in das Privatvermögen (§ 23 I 2 EStG) tritt an die Stelle der Anschaffungs-/Herstellungskosten der Entnahmewert (§ 23 III 3 EStG). § 23 III 5 EStG gewährt eine Freigrenze von 600 Euro. 559 Einstweilen frei.
7.4 Zur gleichmäßigen Besteuerung von Veräußerungseinkünften Literatur (bis 1992 s. 16. Aufl.; bis 2000 s. 20. Aufl.): Reimer, Die steuerliche Erfassung privater Veräußerungsgewinne, Diss., 2001; Herbst, Ist die Besteuerung von Veräußerungsgewinnen noch zeitgemäß?, FR 2003, 1006; Kanzler, Grundfragen der Besteuerung betrieblicher Veräußerungsgewinne, FR 2003, 1; Reutershan, Die Besteuerung der Gewinne aus privaten Beteiligungsveräußerungen, Diss., 2004; Bäuml, System u. Reform der Besteuerung privater Veräußerungsgeschäfte, Diss., 2005; Müller-Franken, in GS Trzaskalik, 2005, 195; Dechant, Die Besteuerung privater Veräußerungsgeschäfte in systematischer u. verfassungsrechtlicher Hinsicht, Diss., 2006. 560 Wie bereits in Rz. 185 ausgeführt, hat das BVerfG 1969/1970 das duale System prinzipieller Erfas-
sung betrieblicher Veräußerungseinkünfte und prinzipieller Nichterfassung privater Veräußerungseinkünfte bisher nicht beanstandet. Nichtsdestotrotz ist die gleichmäßige Besteuerung aller Veräußerungseinkünfte für die Verwirklichung der Steuergleichheit unabdingbar. Der 57. Deutsche Juristentag hat mit beachtlicher Mehrheit folgenden Beschluss gefasst: „Gewinne und Verluste aus der Veräußerung von vermieteten und verpachteten Grundstücken sowie von Kapitalvermögen sind unter Einführung großzügiger Freigrenzen einkommensteuerlich zu berücksichtigen. Die Regelung über Spekulationsgewinne entfällt. Persönlich genutzte Wirtschaftsgüter bleiben von der Besteuerung ausgenommen“ (Sitzungsbericht N, 1988, 212). 561 Die gleichmäßige Besteuerung der Veräußerungseinkünfte lässt sich nicht durch das Streichen der
Fristen in § 23 EStG bei Herausnahme der selbstgenutzten Immobilien (§ 23 I 1 Nr. 1 Satz 3 EStG) und der „Gegenstände des täglichen Gebrauchs“ erledigen. Das Chaos der Veräußerungsgewinnbesteuerung bei seit 1999 stark ausgeweiteter Erfassung von Wertsteigerungen im Privatvermögen belegt dies überdeutlich (s. Rz. 556). Vielmehr bedarf eine einheitliche Besteuerung von Veräußerungseinkünften einer grundlegenden Reform. So bedürfen die Veräußerungseinkünfte zunächst aus ermittlungstechnischen Gründen einer eigenen Einkunftsart1024; diese Einkunftsart ist in das Kon-
1021 BVerfG v. 9.3.2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94. 1022 BVerfG v. 10.1.2008 – 2 BvR 294/06, DStR 2008, 197; BFH v. 29.11.2005 – IX R 49/04, BStBl. II 2006, 178. 1023 Grds. BFH v. 12.12.1996 – X R 65/95, BStBl. II 1997, 603. 1024 So § 7 Kölner EStGE (Einkünfte aus der Veräußerung von Wirtschaftsgütern, Unternehmen, Unternehmensteilen u. Anteilen an Erwerbsgemeinschaften); Ermittlungsvorschriften: §§ 27–29 Kölner EStGE. Vgl. auch den Lösungsansatz von Herbst, FR 2003, 1006 (1012: selbständige Einkunftsart), sowie die Überlegungen von Kraft/Bäuml, FR 2004, 443 (Auswirkungen der Rspr. des BVerfG u. des BFH auf das System kapitalorientierter Einkommensteuer).
486
Hey
8. Alterseinkünfte
Rz. 563 § 8
zept des deutschen EStG, nur das Erwerbseinkommen zu erfassen, einzubetten1025. Demnach ist allgemein die Veräußerung von Wirtschaftsgütern des Erwerbsvermögens (vgl. § 7 II Kölner EStGE) vom nicht steuerbaren Bereich des privaten Konsumvermögens abzugrenzen. Im Weiteren sind in einem System der Besteuerung von Veräußerungseinkünften die Veräußerungs- 562 ersatztatbestände1026 zu regeln, die allerdings europarechtlich durch das Verbot der Sofortbesteuerung bei Wegzug eingeschränkt werden (s. § 4 Rz. 97; § 13 Rz. 156). Ein am Leistungsfähigkeitsprinzip orientiertes System gebietet zudem die Vermeidung wirtschaftli- 563 cher Doppelbelastungen1027 und die Ausgrenzung von Scheingewinnen1028. 8. Alterseinkünfte Literatur: P. Kirchhof, Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Besteuerung der Alterssicherung, 2002; Abschlussbericht der Sachverständigenkommission (sog. Rürup-Kommission) zur Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen, BMF-Schriftenreihe, Bd. 74, 2003; Fuest/Brügelmann, Rentenbesteuerung: Einstieg in ein konsumbasiertes System, StuW 2003, 338; Lautenschläger, Optimale Planung der betrieblichen und privaten Altersvorsorge, in FS Rose, 2003, 543; Schröder, Vergangenheit und Zukunft der Renten- und Pensionsbesteuerung, DStZ 2003, 610; Tipke, StRO II2, 2003, 743 ff.; Tremel, Generationengerechtigkeit und Rentenbesteuerung, in Rose, Integriertes Steueru. Sozialsystem, 2003, 421; Winkler, Besteuerung der Altersvorsorge in Deutschland – Kritik u. Zukunftsperspektiven, StWa 2003, 123; Dorenkamp, Nachgelagerte Besteuerung von Einkommen, Besteuerungsaufschub für investierte Reinvermögensmehrungen, Diss., 2004; Jachmann, Generationengerechtigkeit und Steuersystem, DVR-Schriften, Bd. 51, 2004, 125; Mittelsten Scheid, Reform der Altersbesteuerung, Verfassungsrechtliche Vorgaben und Grenzen, Diss., 2004; Ruland, Zur Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen, in FS Selmer, 2004, 889; Bareis, Neuregelung der Rentenbesteuerung, StbJb. 2004/2005, 25; BMF, Steuerliche Förderung der privaten Altersvorsorge und betrieblichen Altersversorgung, BStBl. I 2009, 273 (dazu Fischer, DStR 2009, 722); Geringhoff, Die nachgelagerte Besteuerung der Zukunftssicherung in den USA und in Deutschland, Diss., 2009; Hopf, Das Verbot der doppelten Besteuerung bei Alterseinkünften, Diss., 2009; Glaser, Besteuerungszeitpunkte in der Zusatzversorgung, Diss., 2009; Richter, Die Besteuerung grenzüberschreitender Altersversorgung in der EU, Diss., 2010; Seckelmann, Ist das Alterseinkünftegesetz mit dem Grundgesetz vereinbar?, DStR 2013, 69; Scholtz, Werden die Renten der gesetzlichen Rentenversicherung sachgerecht besteuert?, DStR 2013, 75; Musil, Die Besteuerung der Renten mobiler Arbeitnehmer, FR 2014, 45; Jörißen, Besteuerung der Alterseinkünfte, StBW 2014, 586 u. 947.
1025 So bereits J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des EStG, 1985, § 13 II (Betriebsvermögen); § 26 (Einkünfte aus der Veräußerung von Wirtschaftsgütern des privaten Erwerbsvermögens); P. Kirchhof, Gutachten F zum 57. DJT, 1988, 31 (Einkünfte aus der Veräußerung von Erwerbsvermögen); P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, 2003, 1, 57 ff.: Die Veräußerungseinkünfte sind in der Generalklausel des § 2 II (Einkünfte aus Erwerbshandeln), § 2 III (Erwerbserlöse abzüglich Erwerbskosten) erfasst. Für die Veräußerung von Anteilen an „steuerjuristischen Personen“ gilt § 13. Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, Habil., 2004, unterscheidet CashFlow-besteuerte Einkünfte aus Erwerbsvermögen (§ 2) und Veräußerungseinkommen aus Privatvermögen (§ 4). 1026 Vgl. § 7 III Kölner EStGE (Überführung von Wirtschaftsgütern aus dem Erwerbsvermögen in ein nicht steuerverstricktes Vermögen, unentgeltliche Übertragungen, Aufgabe von Unternehmen u. Realteilung). 1027 Wirtschaftliche Doppelbelastung entsteht bei der Veräußerung von Vermögen, in dem versteuerte Erträge gespeichert sind. Dazu Rose, BB 2000, 1062; Wenger, StuW 2000, 177, sowie die Begr. zu § 8b II KStG (s. § 11 Rz. 40). 1028 Dazu Watrin/Lühn, DB 2003, 168; Eggesiecker/Ellerbeck, DB 2004, 839. Der Kölner EStGE empfiehlt zum einen die Aufstockung der historischen Anschaffungs-/Herstellungskosten (§ 28 II) und zum anderen den Ausbau der nachgelagerten Besteuerung (s. Kölner EStGE, Begr. Rz. 243 ff.).
Hey 487
§ 8 Rz. 564
Einkommensteuer
8.1 Überblick 564 In Deutschland ruht die Alterssicherung auf drei Säulen: Der staatlichen Altersversorgung (gesetzli-
che Rentenversicherung, Beamtenpensionen, Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst), der betrieblichen Altersversorgung (s. Rz. 480 ff.) und der privaten Zukunftsvorsorge. Diese Vorsorgeformen wurden einst höchst unterschiedlich belastet. Mittlerweile werden die Systeme der Alterssicherung zunehmend der nachgelagerten Besteuerung unterworfen und damit einheitlicher besteuert. Seit 1980 hat das BVerfG den Gesetzgeber mehrfach aufgefordert, Steuergleichheit herzustellen1029, allerdings erst mit Urteil v. 6.3.2002 definitiv entschieden, dass die unterschiedliche Besteuerung der Sozialversicherungsrenten und der Beamtenpensionen mit dem Gleichheitssatz unvereinbar ist. Es gab dem Gesetzgeber auf, bis zum 1.1.2005 eine Neuregelung zu treffen; dabei sei eine doppelte Besteuerung zu vermeiden1030. 565 Die Besteuerung der Beamten hat das BVerfG nur marginal beanstandet, sich allerdings nicht zur
Methode nachgelagerter Besteuerung (s. § 3 Rz. 76) geäußert. Hauptsächlich erkannte das BVerfG die Verletzung des Gleichheitssatzes darin, dass die Ertragsanteilsbesteuerung von Sozialversicherungsrenten nicht dem ihr zu Grunde liegenden Leitbild entspräche1031, weil das „Rentenstammrecht“ überwiegend aus unversteuertem Einkommen gebildet werde. Das BVerfG verweist nicht nur auf die Steuerfreiheit der Arbeitgeberbeiträge zur Rentenversicherung (§ 3 Nr. 62 EStG) und den Sonderausgabenabzug (§ 10 I Nr. 2 Buchst. a EStG)1032, sondern auch auf den Bundeszuschuss, der grds. „einkommensteuerbares Einkommen“ darstelle1033. 8.2 Rürup-Kommission und geltende Rechtslage nach dem Alterseinkünftegesetz 566 Die vom Bundesminister der Finanzen eingesetzte Sachverständigenkommission (sog. Rürup-Kom-
mission)1034 hatte einen Lösungsvorschlag auszuarbeiten, der den Anforderungen des BVerfG an die Reform der Alterseinkünfte genügt. Hierzu entwickelte die Rürup-Kommission folgendes „DreiSchichten-Modell“: 567 – Die erste Schicht besteht aus der Basisversorgung, das sind die weder beleihbaren noch vererb-
lichen, veräußerbaren, übertragbaren, kapitalisierbaren Anwartschaften aus gesetzlichen Rentenversicherungen, berufsständischen Versorgungen, Alterssicherung der Landwirte und aus neu einzuführenden privaten kapitalgedeckten Leibrentenversicherungen. Die Einkünfte aus der Basisversorgung sollten nach einer Übergangszeit voll nachgelagert besteuert werden (S. 18 f., 21 f., 35 ff.); 568 – Die zweite Schicht umfasst die Zusatzversorgung im Alter, die Förderung der privaten kapitalge-
deckten Altersvorsorge nach den §§ 10a; 79 ff. EStG (sog. Riester-Rente)1035 und die betriebliche 1029 BVerfG v. 26.3.1980 – 1 BvR 121/76, BVerfGE 54, 11, sodann v. 24.6.1992 – 1 BvR 459/87, BVerfGE 86, 369: Die dem Gesetzgeber für die Reform zur Verfügung stehende Zeit sei wegen der Kompliziertheit der Materie und besonders wegen der eminenten Auswirkungen durch die deutsche Einheit (v. 24.6.1992 – 1 BvR 459/87, BVerfGE 86, 369 [380 f.]) noch nicht abgelaufen. 1030 Zu BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73; bestätigt durch BVerfG v. 29.9.2015 – 2 BvR 2683/11, BStBl. II 2016, 310, Rz. 32: Höreth/Schiegl/Zipfel, BB 2002, 1565; Liesenfeld, DStR 2002, 1833; Schneider/Hofmann, INF 2002, 289; Becker, NJW 2003, 3103; Heger, BB 2003, 130; Briese, DStZ 2004, 833 (Divergenzen in der Rspr. des BVerfG, des BFH u. des BSG); Broer, BB 2004, 527. 1031 BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (124). 1032 BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (94 ff.). 1033 BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (131). 1034 Abschlussbericht der Rürup-Kommission, BMF-Schriftenreihe 74, 2003. Dazu Fleischmann, DB 2003, 1195; Fischer, BB 2003, 873 (mehr Schatten als Licht; Replik v. Söhn, StuW 2003, 332); Hermann, SteuerStud 2008, 290; Salzer, StWa 2009, 79; Parkstein/Risthaus, DB 2009, 812. 1035 Eingeführt durch Altersvermögensgesetz v. 26.6.2001, BGBl. I 2001, 1310. Dazu grds. Dorenkamp, StuW 2001, 253; krit. Wellisch/Näth, BB 2003, 333; Gunsenheimer, SteuerStud 2008, 470. S. auch Gruber/Rünger/Schönemann, SWI 2010, 383 (Rechtsvergleich Österreich).
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8. Alterseinkünfte
Rz. 572 § 8
Altersversorgung (s. Rz. 480 ff.). Für den Bereich der zweiten Schicht empfiehlt die Rürup-Kommission eine limitiert nachgelagerte Besteuerung (S. 26 ff.); – Der dritten Schicht ordnet die Rürup-Kommission Kapitalanlageprodukte zu, die nicht notwen- 569 dig der Altersvorsorge dienen; sie sollen nach Ansicht der Kommission vorgelagert besteuert werden (S. 15 f.). Der Gesetzgeber ist mit dem Alterseinkünftegesetz v. 5.7.20041036 im Wesentlichen den Empfeh- 570 lungen der Rürup-Kommission gefolgt. Die Rspr. hat die Verfassungsmäßigkeit des Alterseinkünftegesetzes sowie der diesbezüglichen Übergangsregelungen bestätigt1037, sofern das Verbot der Doppelbesteuerung1038 beachtet wird. Das Problem der Doppelbesteuerung, das insb. durch die Vollversteuerung der Renten ab 2040 bei Erreichen des Vollabzugs erst 2025 entsteht, stelle sich erst in der Auszahlungsphase1039. Obwohl die Beitragszahlungen richtigerweise als vorweggenommene Werbungskosten einzuordnen sind, hält das BVerfG die gesetzgeberische Zuordnung zu den nur begrenzt abziehbaren Sonderausgaben für von Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers gedeckt1040. Das ist zweifelhaft, in Bezug auf die unterschiedlichen Rechtsfolgen von Werbungskosten und Sonderausgaben. Es ergibt sich folgendes Bild der Besteuerung von Alterseinkünften1041: – Die staatliche Altersversorgung wird in einem Übergangszeitraum von 2005 bis 2040 in eine voll 571 nachgelagerte Besteuerung überführt. Dabei muss bei den bereits voll nachgelagert besteuerten Beamten nur der Versorgungsfreibetrag und der Zuschlag zum Versorgungsfreibetrag abgeschmolzen werden (s. § 19 II EStG)1042. Bei den Bezügen aus gesetzlichen Rentenversicherungen u. anderen Pflichtversicherungen1043 wird der Besteuerungsanteil von 50 % bei Rentenbeginn bis 2005 auf 100 % bei Rentenbeginn ab 2040 erhöht (§ 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a, aa EStG). – Alle fünf Durchführungswege der betrieblichen Altersversorgung (s. Rz. 481 ff.) sind nunmehr 572 einheitlich am Prinzip der nachgelagerten Besteuerung ausgerichtet. Gleichwohl wird dieses Prin-
1036 BGBl. I 2004, 1427. Materialien: BT-Drucks. 15/2150 (Entwurf); 15/3004 (Bericht des Finanzausschusses). Lit. zum Alterseinkünftegesetz s. auch 20. Aufl., § 9 Rz. 570 Fn. 175. 1037 BVerfG v. 29.9.2015 – 2 BvR 2683/11, BStBl. II 2016, 310, Rz. 34 ff.; BFH v. 26.11.2008 – X R 15/07, BStBl. II 2009, 710 (zust. J. Förster, DStR 2009, 141; Manz, NWB 2010, 492; Risthaus, DB 2010, 139; krit. Paus, EStB 2010, 74 (76 ff.); Stützel, DStR 2010, 1545); aktuell BFH v. 6.4.2016 – X R 2/15, BStBl. II 2016, 733. S. aber auch BFH v. 21.6.2016 – X R 44/14, BFH/NV 2016, 1791, wonach die Doppelbesteuerung in jedem – vom Stpfl. nachzuweisenden – Einzelfall vermieden werden muss. 1038 Hierzu grundl. Hopf, Das Verbot der doppelten Besteuerung bei Alterseinkünften, Diss., 2009; Seckelmann, DStR 2013, 69: Anforderungen von BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73, nicht erfüllt; ebenso für Leistungen berufsständischer (verfassungswidrige Doppelbesteuerung) Wernsmann/Neudenberger, FR 2017, 853. 1039 BVerfG v. 14.6.2016 – 2 BvR 290/10, BStBl. II 2016, 801 Rz. 57 ff.; dann allerdings vom Beginn der Auszahlung an BFH v. 21.6.2016 – X R 44/14, BFHE 254, 545, Rz. 34; zur Ermittlung der Doppelbesteuerung BFH v. 23.8.2017 – X R 33/15, DStR 2017, 2596. 1040 BVerfG v. 14.6.2016 – 2 BvR 290/10, BStBl. II 2016, 801, Rz. 48. 1041 BMF v. 24.7.2013 – IV C 3 - S 2015/11/10002, BStBl. I 2013, 1022, zur steuerlichen Förderung der privaten u. betrieblichen Altersvorsorge; v. 24.5.2017, IV C 3-S 2221/16/10001:004, BStBl. I 2017, 820, zur Behandlung von Vorsorgeaufwendungen; und v. 19.8.2013 – IV C 3 - S 2221/12/10010:004, BStBl. I 2013, 1087 zu Altersbezügen. 1042 Verfassungsmäßigkeit im Vergleich zur Besteuerung gesetzlicher Renten bejaht FG Nürnberg v. 24.10.2012 – 3 K 792/11, EFG 2013, 214 und bestätigt durch BFH v. 16.9.2013 – VI R 67/12, BFH/ NV 2014, 37 unter Verweis auf BFH v. 7.2.2013 – VI R 83/10, BStBl. II 2013, 573. 1043 Zur Abgrenzung der Pflichtversicherten zum nicht begünstigten Personenkreis s. BMF v. 24.7.2013 – IV C 3 - S 2015/11/10002, BStBl. I 2013, 1022 (1082 f.; Anlage 1).
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§ 8 Rz. 573
Einkommensteuer
zip durch Limitierungen und Lohnzuflussfiktionen1044 so häufig durchbrochen, dass die Besteuerung der betrieblichen Alterseinkünfte noch weit von einem System nachgelagerter Besteuerung entfernt ist (s. Rz. 487). 573 – Besonders verzerrend wirkt das Steuerrecht im Bereich der privaten Zukunftsvorsorge1045 auf
die Wahl der Zukunftssicherung ein. 574 Die bereits erwähnte (s. Rz. 568) Riester-Rente wurde durch das Altersvermögensgesetz von 2001 ein-
geführt. Es handelt sich um eine kapitalgedeckte private Zusatzversorgung, die durch Sonderausgabenabzug nach § 10a EStG und Versteuerung der Bezüge nach § 22 Nr. 5 EStG nachgelagert besteuert wird. Alternativ zu dem Sonderausgabenabzug wird eine Altersvorsorgezulage nach den §§ 79 ff. EStG gewährt. Danach wird der Sonderausgabenabzug nur gewährt, wenn er günstiger ist als die Zulage, was von Amts wegen zu prüfen ist (sog. Günstigerprüfung nach § 10a II EStG). 575 Der Sonderausgabenabzug nach § 10a EStG erfasst Altersvorsorgebeiträge, die auf der Grundlage eines zertifizierten Altersvorsorgevertrages (§ 82 I EStG) geleistet oder in Pensionsfonds, Pensionskassen, Direktversicherungen mit Garantie lebenslanger Versorgung (§ 82 II EStG) eingezahlt werden. Begünstigt sind Pflichtversicherte, Besoldungsempfänger und gleichgestellte Personen (s. § 10a I EStG)1046. Abziehbar sind seit 2008 2 100 Euro. Die Altersvorsorgezulage besteht aus einer jährlichen Grundzulage (§ 84 EStG: 175 Euro ab 2018) und einer jährlichen Kinderzulage (§ 85 I EStG: 185 Euro bzw. für ab 2008 geborene Kinder 300 Euro). Die Altersvorsorgezulage muss EU-/EWR-Ausländern grds. unter gleichen Bedingungen gewährt werden wie Inländern; der Wegzug ins EU-/EWR-Ausland darf nicht durch die Rückzahlung der Zulage sanktioniert werden, vgl. §§ 79 Satz 2; 85 II 1; 95 I Nr. 1 EStG1047.
Mit dem Eigenheimrentengesetz1048 ist das System der Riester-Rente um den sog. Wohn-Riester (§§ 92a; 92b EStG) erweitert worden: Der Zulageberechtigte kann das in einem zertifizierten Altersvorsorgevertrag gebildete Kapital als Altersvorsorge-Eigenheimbetrag für die Anschaffung, Herstellung oder Entschuldung einer Wohnung, für den Erwerb von Genossenschaftsanteilen zur Selbstnutzung einer Genossenschaftswohnung verwenden (§ 92a I EStG)1049. Der Anbieter, bei dem der Zulageberechtige den Altersvorsorgevertrag abgeschlossen hat, hat den Altersvorsorge-Eigenheimbetrag, die 1044 Kern des Übels ist § 2 II Nr. 3 LStDV, der Ausgaben des Arbeitgebers für die Zukunftssicherung als Zufluss von Arbeitslohn fingiert. Tatsächlich fließt dem Arbeitnehmer ein Arbeitslohn erst mit den Altersbezügen zu (zutr. Birk, BB 2004, 974). Eine den Anforderungen des Art. 80 I GG genügende Ermächtigung fehlt. § 2 II Nr. 3 LStDV kann insb. nicht auf § 51 I Nr. 1 EStG gestützt werden, da die Fiktion keine „unwesentliche“ Einzelheit ist (s. Kirchhof/Kirchhof17, § 51 EStG Rz. 20 und 94). Sodann führen die Limitierungen des § 3 Nr. 63 EStG zu einer vorgelagerten Besteuerung des noch nicht zugeflossenen Arbeitslohns, die durch § 40b I, II EStG abgemildert wird (s. Rz. 483). Die vorgelagerte Besteuerung der Einkünfte aus der Zusatzversorgung des öffentlichen und kirchlichen Dienstes verletzt den Gleichheitssatz (s. Birk, DStZ 2004, 777). 1045 Dazu BMF v. 24.7.2013 – IV C 3 - S 2015/11/10002, BStBl. I 2013, 1022; Killat, DStZ 2013, 616. 1046 Zur Verfassungsmäßigkeit des Ausschlusses von Rechtsanwälten s. BVerfG v. 18.12.2002 – 2 BvR 367/02, HFR 2003, 409. 1047 I.d.F. des EU-UmsG v. 8.4.2010, BGBl. I 2010, 386, als Reaktion auf EuGH v. 10.9.2009 – C-269/07, ECLI:EU:C:2009:527 – Kommission/Deutschland; dazu Myßen/Fischer, FR 2010, 462. 1048 Gesetz zur verbesserten Einbeziehung der selbstgenutzen Wohnimmobilie in die geförderte Altersvorsorge v. 29.7.2008, BGBl. 2008, 1509. Zu Einzelheiten des Wohn-Riesters BMF v. 24.7.2013 – IV C 3 - S 2015/11/10002, BStBl. I 2013, 1022 (1056, Rz. 232 ff.: Altersvorsorge-Eigenheimbetrag u. Tilgungsforderung für eine wohnungswirtschaftliche Verwendung) und v. 13.1.2014 – IV C 3-S 2015/11/10002:018, BStBl. I 2014, 97, Rz. 161 ff.: Wohnförderkonto u.a; Hegemann, Stbg. 2008, 373; Myßen/Fischer, NWB 2011, 4304. Das Eigenheimrentenmodell beurteilen ökonomisch positiv Schönemann/Dietrich/Kiesewetter, StuW 2009, 107; Dommermuth, DStR 2010, 1816; Weißflog, SteuerStud 2010, 628. 1049 Für EU-/EWR-Grenzarbeitnehmer unabhängig davon, ob die Wohnung in Deutschland belegen ist, Erweiterung von § 92a I 2 EStG durch EU-UmsG v. 8.4.2010, BGBl. I 2010, 386, als Reaktion auf EuGH v. 10.9.2009 – C-269/07, ECLI:EU:C:2009:527 – Kommission/Deutschland.
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8. Alterseinkünfte
Rz. 580 § 8
Tilgungsleistungen für ein zu wohnungswirtschaftlichen Verwendung aufgenommenes Darlehen sowie die hierfür gewährten Zulagen auf einem Wohnförderkonto gesondert zu erfassen (§ 92a II EStG). Die sog. Rürup-Rente wurde durch das Alterseinkünftegesetz von 2004 (s. Rz. 570) eingeführt; sie 576 betrifft kapitalgedeckte Altersvorsorgeprodukte der Basisversorgung, deren Ansprüche weder vererblich noch übertragbar, beleihbar, veräußerbar und kapitalisierbar sein dürfen (s. Rz. 567). Die Einkünfte aus dieser Kategorie werden nach den §§ 10 I Nr. 2 Buchst. b, III; 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a, aa EStG limitiert1050 nachgelagert besteuert. Altersvorsorgeverträge i.S.d. § 10 I Nr. 2 Buchst. b EStG müssen wie Riester-Renten zertifiziert werden1051. Der Vertragsinhalt ist zudem stark eingeschränkt: § 10 I Nr. 2 Buchst. b EStG setzt eine auf das Leben des Stpfl. bezogene monatliche Leibrente voraus, die nicht vor Vollendung des 62. Lebensjahrs gezahlt werden darf. Ergänzende Absicherungen (Berufsunfähigkeits-/Erwerbsminderungs-/Hinterbliebenenrente) sind zulässig.
577
Das Sonderrecht der Lebensversicherungen ist für nach dem 31.12.2004 geschlossene Neuverträge 578 abgeschafft worden1052. An die Stelle des Sonderausgabenabzugs für Lebensversicherung ist der Sonderausgabenabzug für die Rürup-Rente (s. Rz. 576) getreten. Im Weiteren hat der Gesetzgeber die Steuerfreiheit der außerrechnungsmäßigen und rechnungsmäßigen Zinsen (§ 20 I Nr. 6 EStG 2004) beseitigt. Zu dem gesetzlichen Sonderrecht der Riester-Rente und der Rürup-Rente tritt das nunmehr gesetz- 579 lich geregelte (s. Rz. 527) Sonderrecht der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen hinzu (s. Rz. 531 ff.). Sachgerecht wäre hier die Ertragsanteilbesteuerung, die dem Leitbild des Leibrentenkaufs aus versteuertem Einkommen entspricht1053. Bei Veräußerungsleibrenten bleibt die versicherungsmathematisch exakt ermittelte Ertragsanteilsbesteuerung die zutreffende Alternative zur nachgelagerten Besteuerung; das gilt i.Ü. für alle eigenfinanzierten Renten, wenn der versteuerte Kapitalanteil genau bestimmt ist1054. 8.3 Kritik und Reformüberlegungen Der Umbau der Zukunftssicherung vom demographisch gefährdeten Umlageverfahren in kapitalge- 580 deckte Vorsorgeformen war seit längerem überfällig, so dass die Maßnahmen des Altersvermögensgesetzes von 2001 (BGBl. I 2001, 1310) und des Alterseinkünftegesetzes von 2004 (s. Rz. 570) schon verspätet erscheinen. Beide Gesetze weisen in die richtige Richtung. Jedoch sind die Instrumente der Riester-Rente und auch der Rürup-Rente so abschreckend kompliziert geregelt, dass sich selbst Fachleute nicht mehr zurecht finden1055. Eine grundlegende Bereinigung des Normenchaos ist unbedingt erforderlich, um dem Bürger das Prinzip der nachgelagerten Besteuerung transparenter zu vermit1050 Die Limitierung ergibt sich aus den Höchstbeträgen für Vorsorgeaufwendungen i.S.d. § 10 I Nr. 2 EStG nach § 10 III EStG. Die dort niedergelegten Höchstbeträge von 20 000 Euro/Ehegatten: 40 000 Euro (ab 2015 Höchstbetrag zur knappschaftlichen Rentenversicherung, aufgerundet auf einen vollen Betrag in Euro; 2017: 23 362 Euro/Ehegatten 46 724) werden 2005 nur zu 60 % angesetzt. Der Prozentsatz wird jährlich um 2 % erhöht, so dass der volle Betrag im Jahr 2025 abziehbar ist. Zur Ermittlung des Abzugsbetrags BMF v. 24.5.2017 – IV C 3-S 2221/16/10001:004, BStBl. I 2017, 820; Risthaus, DB 2004, 1329 (1331 f.). 1051 Dazu Wißborn, NWB 2010, 2531. 1052 Kirchhof/von Beckerath17, § 20 EStG Rz. 98 ff. Zum Übergang s. BMF v. 22.8.2002 – IV C 4 - S 2221-211/02, BStBl. I 2002, 827; v. 25.11.2004 – IV C 1 - S 2252-405/04, BStBl. I 2004, 1096. 1053 Zu diesem Leitbild Fischer, Altersvorsorge und Altersbezüge, DStJG 24 (2001), 463 (469). Vgl. dazu BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (123). 1054 Vgl. dazu Kiesewetter/Niemann, StuW 2002, 48; Kiesewetter/Niemann, BB 2002, 857. 1055 Vgl. hierzu die Kontroverse zwischen Dommermuth/Hauer, Ist die neue „Rürup“-Versicherung steuerlich u. wirtschaftlich wirklich sinnvoll?, FR 2005, 57, und Risthaus, Besteuerung der „Rürup-Rente“
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§ 8 Rz. 581
Einkommensteuer
teln. Dies kann am Besten durch die Regelung einer eigenen Einkunftsart geleistet werden, die den Besonderheiten der nachgelagerten Besteuerung Rechnung trägt1056. 581 Der Bürger sollte selbst entscheiden können, welche Form der Zukunftssicherung für ihn die richti-
ge ist. Daher ist die stark regulierende Unterscheidung von Produkten der Basisversorgung und Kapitalanlageprodukten (s. Rz. 567/569) mit den Folgen nach- und vorgelagerter Besteuerung verfehlt. Auch immer neue Schichten steuerlicher Förderung (neu ab 2018: Förderbetrag zur betrieblichen Altersvorsorge gem. § 100 EStG; dazu Rz. 480) führen zu erheblicher Intransparenz. Zusätzliche Altersvorsorge von Geringverdienern sollte grds. unabhängig von bestimmten Produkten gefördert werden. 582–584
Einstweilen frei.
IV. Gemeinsame Vorschriften zu allen Einkunftsarten 585 Gemeinsame Vorschriften zu allen Einkunftsarten enthält § 24 EStG. Er ergänzt die §§ 13–23 EStG.
§ 24 Nr. 1 EStG erfasst Entschädigungen, die als Ersatz für entgangene oder entgehende Einnahmen1057 (Buchst. a), für die Aufgabe oder Nichtausübung einer Tätigkeit, für die Aufgabe einer Gewinnbeteiligung1058 oder einer Anwartschaft (Buchst. b) gewährt worden sind sowie Ausgleichszahlungen an Handelsvertreter nach § 89b HGB (Buchst. c). 586 § 24 Nr. 2 EStG erfasst Einkünfte aus einer ehemaligen steuerbaren Einkunftsquelle; auch solche, die
dem Rechtsnachfolger zufließen. Die Vorschrift hat (soweit sie nicht den Rechtsnachfolger betrifft) nur klarstellende Bedeutung. Hinsichtlich des Rechtsnachfolgers wirkt sie wie eine konstitutive Zurechnungsvorschrift. Die vom Rechtsvorgänger erwirtschafteten Einkünfte werden dem Rechtsnachfolger zugerechnet. 587 § 24 Nr. 3 EStG erfasst Nutzungsvergütungen für die erzwungene Inanspruchnahme von Grundstü-
cken für öffentliche Zwecke und einschlägige Entschädigungen; er ergänzt § 21 EStG. Die Vergütungen und Entschädigungen i.S.d. § 24 Nr. 3 EStG sind tarifbegünstigt nach § 34 I, II Nr. 3 EStG, soweit sie für einen Zeitraum von mehr als drei Jahren nachgezahlt werden.
V. Konkurrenzen mehrerer Einkunftsarten 588 Der Begriff „Gewerbebetrieb“ (§ 15 II EStG) ist so weit gefasst, dass die Land- und Forstwirtschaft
(§ 13 EStG) und die selbständige Tätigkeit (§ 18 EStG) wieder ausgegrenzt werden mussten. Daraus ergibt sich: §§ 13; 18 EStG gehen § 15 EStG vor. Ein Gewerbebetrieb liegt auch nicht vor, wenn lediglich Vermögen zum Zwecke der Nutzung verwaltet wird.
– auch für Experten nur schwer durchschaubar?, FR 2005, 295 (hiergegen Dommermuth/Hauer, FR 2005, 297); ferner Suttner/Wiegard, StuW 2012, 3. 1056 S. hierzu §§ 8; 30; 31 Kölner EStGE und Vorauflage, § 8 Rz. 581 f. 1057 Ein Surrogat i.S.d. § 24 Nr. 1 Buchst. a EStG liegt nur vor, wenn die Entschädigung auf einer neuen Rechtsgrundlage oder Billigkeitsgrundlage beruht. Dazu BFH v. 24.1.2002 – XI R 43/99, BStBl. II 2004, 442; v. 24.1.2002 – XI R 2/01, BStBl. II 2004, 444; v. 6.3.2002 – XI R 16/01, BStBl. II 2004, 446; v. 3.7.2002 – XI R 80/00, BStBl. II 2004, 447; v. 14.5.2003 – XI R 12/00, BStBl. II 2004, 449; v. 14.5.2003 – XI R 23/02, BStBl. II 2004, 451; v. 24.10.2007 – XI R 33/06, BFH/NV 2008, 361; v. 29.5.2008 – IX R 55/05, BFH/NV 2008, 1666; v. 10.7.2008 – IX R 84/07, BFH/NV 2009, 130; v. 18.10.2011 – IX R 58/10, BStBl. II 2012, 286; BMF v. 1.11.2013 – IV C 4 - S 2290/13/10002, BStBl. I 2013, 1326, Rz. 8, geändert v. 4.3.2016 – IV C 4 - S 2290/07/10007:031, BStBl. I 2016, 277. 1058 S. BFH v. 10.10.2001 – XI R 50/99, BStBl. II 2002, 347 (348).
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V. Konkurrenzen mehrerer Einkunftsarten
Rz. 593 § 8
Betätigt sich eine Personengesellschaft nicht nur, aber auch gewerblich, so wird ihre Tätigkeit insgesamt als gewerbliche behandelt (s. § 15 III Nr. 1 EStG). §§ 20 VIII; 21 III; 22 Nr. 1 Satz 1, Nr. 3 Satz 1; 23 II EStG bezwecken, dass die Einkunftsarten des 589 § 2 I 1 Nr. 1–3 EStG den übrigen Einkunftsarten in gewisser Hinsicht vorgehen. Erfasst werden sollen insb. die Fälle, in denen zum Betriebsvermögen gehörige Wirtschaftsgüter Dritten zur Nutzung überlassen werden. Die Verwertung von Betriebsvermögen durch Nutzungsüberlassung führt also zu Einkünften nach § 2 I 1 Nr. 1–3 EStG. I.E. ergibt sich aus §§ 20 VIII; 21 III; 22 Nr. 1 Satz 1, Nr. 3 Satz 1; 23 II EStG Folgendes: (1) Einkünfte sind nicht als solche aus Kapitalvermögen zu qualifizieren, wenn sie bereits den Ein- 590 künften aus Land- und Forstwirtschaft, aus Gewerbebetrieb, aus selbständiger Arbeit oder aus Vermietung und Verpachtung zugehören (§ 20 VIII EStG). Beispiele: Landwirt L erhält Zinsen aus betrieblichem Bankguthaben: Die Zinsen sind Einnahmen aus Landwirtschaft, nicht aus Kapitalvermögen. Zugleich hat L ein privates Sparguthaben: Die Zinsen daraus sind Einnahmen aus Kapitalvermögen. – Gewerbetreibender G hält im Betriebsvermögen Aktien: Die Dividenden daraus sind Einnahmen aus Gewerbebetrieb, nicht aus Kapitalvermögen. § 20 VIII EStG regelt nicht ausdrücklich das Verhältnis der Einkünfte aus Kapitalvermögen zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit. Nach der Rspr. gibt es keine Subsidiarität der Kapitaleinkünfte gegenüber den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit. Vielmehr sei maßgebend, welche Einkunftsart im Einzelfall im Vordergrund stehe1059.
(2) Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sind anderen Einkunftsarten zuzurechnen, soweit 591 sie zu diesen gehören (§ 21 III EStG). Beispiele: Ein Gewerbetreibender vermietet ein zum Betriebsvermögen gehörendes Gebäude oder eine Sachgesamtheit des Betriebsvermögens: Der Mietzins gehört zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb (§§ 5 I; 15 I; 21 III EStG). § 21 I 1 Nr. 2 EStG mit seinem Hinweis auf das Betriebsvermögen ist irreführend. Wird einer Haushälterin dienstvertraglich eine Wohnung neben dem Barlohn überlassen, so liegt nach der Rspr. des BFH eine Vermietung i.S.d. § 21 I 1 Nr. 1 EStG vor1060. Die Einnahme besteht in dem geldwerten Vorteil der anteiligen Dienstleistung.
(3) Einkünfte aus wiederkehrenden Bezügen und aus Leistungen sind den anderen Einkunftsarten 592 zuzurechnen, soweit sie zu diesen gehören (§ 22 Nr. 1 Satz 1, Nr. 3 Satz 1 EStG). Beispiele: Ein Kaufmann veräußert ein Betriebsgrundstück gegen eine Leibrente: Einkünfte aus Gewerbebetrieb, kein Fall des § 22 Nr. 1 EStG (s. § 22 Nr. 1 Satz 1: „soweit“). Dazu auch Rz. 579. Das Kapitalkonto des Gesellschafters einer OHG ist bei dessen Ausscheiden aus Altersgründen 0, so dass er keinen Abfindungsanspruch hat. Die verbleibenden Gesellschafter gewähren ihm jedoch, um das Ansehen des Betriebs (betriebliche Veranlassung) nicht zu gefährden, eine lebenslange Versorgungsrente. Es handelt sich um nachträgliche gewerbliche Betriebseinnahmen (§ 15 I 2 EStG). Ein Rechtsanwalt gestattet, dass die EDV-Anlage seines Büros von einem benachbarten Büro entgeltlich mitbenutzt wird: Einnahmen aus selbständiger Arbeit, kein Fall des § 22 Nr. 3 EStG. Ein Pensionär schreibt nachhaltig (nicht bloß gelegentlich) gegen Honorar Zeitungsartikel: Einnahmen aus freier Berufstätigkeit (§ 18 I Nr. 1 EStG), kein Fall des § 22 Nr. 3 EStG (kein Konkurrenzfall).
(4) Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften (§§ 22 Nr. 2; 23 EStG) sind nach § 23 II EStG 593 subsidiär gegenüber anderen Einkunftsarten. Einstweilen frei.
594–699
1059 BFH v. 31.10.1989 – VIII R 210/83, BStBl. II 1990, 532 (533); v. 5.11.2013 – VIII R 20/11, BStBl. II 2014, 275 (277 f.). 1060 BFH v. 1.9.1998 – VIII R 3/97, BStBl. II 1999, 213.
Hey 493
§ 8 Rz. 700
Einkommensteuer
H. Private Abzüge 1. Allgemeines zu den privaten Abzügen 700 Zweck der privaten Abzüge: Private Abzüge mindern die Bemessungsgrundlage der Einkommen-
steuer auf den Stufen des § 2 IV, V EStG und dienen grds. dem Zweck, den indisponiblen Teil des Markteinkommens aus der Besteuerungsgrundlage zu eliminieren (dazu bereits Rz. 41, 42, 70 ff.; § 3 Rz. 72). Diesen Zweck verwirklicht das geltende Einkommensteuergesetz nicht systematisch, sondern durch ein Konglomerat privater Abzüge. Außerdem ist die Maßgröße subjektiver Leistungsfähigkeit von Sozialzwecknormen durchsetzt. Das gilt insb. für den Bereich der Sonderausgaben (§§ 10–10d EStG). Grds. sind Sonderausgaben unvermeidbare Privatausgaben und daher die diesen Abzug zulassenden Vorschriften Fiskalzwecknormen zur Eliminierung des indisponiblen Einkommens1061. § 10 EStG verfolgt unterschiedlichste Zwecke und regelt insb. die richtigerweise als vorweggenommene Werbungskosten (s. Rz. 233) einzuordnenden Altersvorsorgeabzüge (§ 10 I Nr. 2 EStG). § 10b EStG regelt das Spendenrecht (s. § 20 Rz. 15 ff.), enthält also durchweg Sozialzwecknormen. § 10d EStG gehört in die Maßgröße objektiver Leistungsfähigkeit. 701 Auf den Stufen des § 2 IV, V EStG dürfen keine Erwerbsaufwendungen abgezogen werden. Die Fra-
ge der Abzugsfähigkeit von Erwerbsaufwendungen entscheidet das Gesetz grds. bei der Ermittlung von Einkünften. §§ 10 I Einleitungssatz; 33 II 2 EStG stellen klar, dass Aufwendungen, die begrifflich zu den Betriebsausgaben oder Werbungskosten gehören, weder als Sonderausgaben noch als außergewöhnliche Belastungen abgezogen werden können. Das Abzugsverbot des § 12 EStG gilt grds. nur für die Maßgröße objektiver Leistungsfähigkeit1062. Dies ergibt sich aus dem Einleitungssatz des § 12 EStG. Bei gemischter Veranlassung sind die Aufwendungen aufteilbar. Beispiel: Wird ein häusliches Arbeitszimmer teils beruflich, teils zu Ausbildungszwecken i.S.d. § 10 I Nr. 7 EStG genutzt, können die Aufwendungen entsprechend aufgeteilt abgezogen werden1063. Jedoch sind nach der Rspr. des BFH die Promotionskosten einer wissenschaftlichen Assistentin in voller Höhe als Werbungskosten abziehbar, weil sich Werbungskosten und Ausbildungsaufwendungen i.S.d. § 10 I Nr. 7 EStG nicht unterscheiden lassen, so dass der Vorrang des Werbungskostenabzugs (§ 10 I Einleitungssatz EStG) gilt1064. 702 Der Zeitpunkt des Abzugs richtet sich nach der Zahlung. Es gilt § 11 II EStG1065. Indessen besteht
im Bereich der persönlichen Abzüge insofern eine Lücke, als die Erstattung und Rückzahlung von Aufwendungen nicht geregelt ist1066: Negative Sonderausgaben und negative außergewöhnliche Belastungen kennt das Gesetz nicht. § 11 I EStG ist auf die Erstattung und Rückzahlung von Aufwendungen, die nach den §§ 10; 33 ff. EStG abgezogen worden sind, nicht anwendbar. § 10 IVb EStG schafft ab 2012 lediglich partiell eine Regelung für den Rückfluss bestimmter Sonderausgaben (s. i.E. Rz. 705). 703 Grds. lässt sich das Erstattungs- und Rückzahlungsproblem de lege lata nur über den Aufwendungs-
begriff lösen: Aufwendungen i.S.d. §§ 10; 33 ff. EStG liegen nur vor, wenn der Stpfl. wirtschaftlich 1061 1062 1063 1064 1065
Dazu grds. KSM/Söhn, § 10 EStG Rz. A 17 (2008). J. Lang, Bemessungsgrundlage, 77 ff.; KSM/Söhn, § 10 EStG Rz. A 18 (2008). BFH v. 22.6.1990 – VI R 2/87, BStBl. II 1990, 901. BFH v. 18.4.1996 – VI R 54/95, BFH/NV 1996, 740. BFH v. 24.9.1985 – IX R 2/80, BStBl. II 1986, 284; v. 22.1.1992 – I R 50/90, BStBl. II 1992, 550 (551) für Sonderausgaben; BFH v. 30.7.1982 – VI R 67/79, BStBl. II 1982, 744; v. 10.6.1988 – III R 248/83, BStBl. II 1988, 814 (816) für außergewöhnliche Belastungen. 1066 Dazu Wüllenkemper, Rückfluß von Aufwendungen im Einkommensteuerrecht, Diss., 1987, 113 ff. Der Kölner EStGE schließt die Lücke durch den Ansatz von „Privateinnahmen“. Die nach § 2 II Kölner EStGE zu versteuernden Privateinnahmen sind u.a. die „Erstattung oder Rückzahlung abgezogener Privatausgaben“ (§ 35 III Nr. 3 Kölner EStGE).
494
Hey
H. Private Abzüge
Rz. 707 § 8
belastet ist, d.h. der Aufwendung keine Gegenleistung bzw. kein Gegenwert gegenübersteht; es gilt abweichend von § 11 EStG das Belastungsprinzip1067. Allerdings wird der Aufwendungsbegriff unterschiedlich praktiziert: Bei den außergewöhnlichen Belastungen werden die Erstattung und Rückzahlung im Abflussjahr der Aufwendung aufwendungsmindernd berücksichtigt; das Belastungsprinzip bestimmt lediglich die Höhe des Abzugsbetrags, nicht hingegen den Abzugszeitpunkt, der nach § 11 II EStG anzusetzen ist1068. Erstattungen und Rückzahlungen sind rückwirkende Ereignisse i.S.d. § 175 I 1 Nr. 2 AO, so dass eine Korrektur bestandskräftiger Steuerbescheide möglich ist, wenn die Aufwendung i.S.d. § 33 EStG sehr viel später erstattet/zurückgezahlt wird. Der Sonderausgabenabzug setzt voraus, dass der Stpfl. tatsächlich und endgültig wirtschaftlich belas- 704 tet ist1069. Bei Rückzahlungen und Erstattungen wurde bisher nach der Qualität der Sonderausgaben differenziert und eine Verrechnung in späteren Veranlagungszeiträumen nur mit gleichartigen1070 Sonderausgaben zugelassen. War eine Verrechnung mit gleichartigen Sonderausgaben im Erstattungsjahr nicht oder nicht in voller Höhe möglich, wurde der Sonderausgabenabzug rückwirkend gem. § 175 I 1 Nr. 2 AO gemindert. § 10 IVb EStG i.d.F. des Steuervereinfachungsgesetzes 2011 EStG regelt nunmehr Zuschüsse und Er- 705 stattungen von Sonderausgaben dergestalt, dass zunächst eine Verrechnung innerhalb der Nr. 2 bis 3a des § 10 I EStG vorzunehmen ist. Für die Nr. 3 (Kranken- und Pflegeversicherung) und 4 (Kirchensteuer) ist vorgesehen, dass ein übersteigender Betrag dem Gesamtbetrag der Einkünfte zugerechnet und somit im Erstattungsjahr zu berücksichtigen ist. Im Umkehrschluss sind dann in allen übrigen Fällen Rückzahlungen und Erstattungen als rückwirkende Ereignisse durch Reduktion des Sonderausgabenabzugs im Jahr der Verausgabung zu berücksichtigen. § 10 IVb EStG beseitigt zwar die bisherige Rechtsunsicherheit, wann Sonderausgaben als gleichartig anzusehen sind, enthält jedoch lediglich eine (unnötig komplizierte) punktuelle Regelung für einzelne Kategorien von Sonderausgaben, anstatt einen allgemeinen Tatbestand vorzusehen, der den Ansatz von Privateinnahmen ermöglicht (s. § 35 III Kölner EStGE). Die persönliche Abzugsberechtigung ergibt sich aus dem Aufwendungsbegriff: Abzugsberechtigt ist 706 derjenige, der durch die Aufwendung wirtschaftlich belastet ist, also den Aufwendungstatbestand subjektiv verwirklicht. Bei Zahlungen Dritter verhält es sich wie bei Erwerbsaufwendungen (s. Rz. 223 ff.). Es müssen die Fragen, wer den Aufwendungstatbestand verwirklicht und wer Mittel zuwendet für Aufwendungen eines Zuwendungsempfängers, geklärt werden. So ist im Falle von Haftpflichtversicherungen i.S.d. § 10 I Nr. 2 Buchst. a EStG danach zu fragen, wer gegenüber der Versicherungsgesellschaft zur Beitragszahlung verpflichtet ist. Dies ist regelmäßig der Versicherungsnehmer (s. Rz. 225 f.), so dass dieser wirtschaftlich belastet ist und demzufolge den Aufwendungstatbestand verwirklicht. Deshalb ist nach der Rspr. des BFH allein der die Beiträge schuldende Versicherungsnehmer abzugsberechtigt1071. 2. Abzugsfähigkeit sog. Sonderausgaben Die nach § 2 IV EStG vom Gesamtbetrag der Einkünfte abzuziehenden Sonderausgaben1072 (s. 707 Rz. 105) sind Privatausgaben. Gleichwohl regelt der Abschnitt „Sonderausgaben“ (§§ 10–10i EStG) auch Abzüge, die steuersystematisch dem Einkünftebereich zuzuordnen sind, wie insb. der Verlust1067 Dazu m.w.N. J. Lang, Bemessungsgrundlage, 518 ff.; Wüllenkemper, Rückfluß von Aufwendungen im Einkommensteuerrecht, Diss., 1987, 115 ff.; Kirchhof/Mellinghoff17, § 33 EStG Rz. 9. 1068 BFH v. 30.6.1982 – VI R 67/79, BStBl. II 1982, 744; v. 10.6.1988 – III R 248/83, BStBl. II 1988, 814 (816). 1069 BFH v. 1.6.2016 – X R 17/15, BStBl. II 2016, 989, Rz. 22. 1070 So z.B. BFH v. 7.7.2004 – XI R 10/04, BStBl. II 2004, 1058. 1071 BFH v. 19.4.1989 – X R 28/86, BStBl. II 1989, 862; v. 8.3.1995 – X R 80/91, BStBl. II 1995, 637. 1072 Überblick Haag, SteuerStud 2015, 24.
Hey 495
§ 8 Rz. 708
Einkommensteuer
abzug1073. Im Weiteren korrespondieren Sonderausgaben mit Einkünften (§§ 10 Ia; 10a; 9 I 3 Nr. 1 Satz 2; 22 Nr. 1, 1a, 5 EStG). 708 Nur wenige Sonderausgaben können der indisponiblen Einkommensverwendung (s. Rz. 41 f.) zu-
geordnet werden1074. Sozialzwecknormen sind der Spendenabzug nach § 10b EStG (s. § 3 Rz. 21; § 20 Rz. 15) sowie die Abzüge nach den §§ 10e-10g EStG zur Eigenheim-, Baudenkmal- und Kulturgutförderung. Demnach kann das Konglomerat der „Sonderausgaben“ in einer systematisch bereinigten Neufassung des Einkommensteuergesetzes ohne Steuervergünstigungen keinen Platz mehr haben. Die Grundvorschrift des § 10 EStG regelt folgende Sonderausgaben: 709 (1) Der Abzug von Unterhaltsleistungen an den geschiedenen oder getrennt lebenden Ehegatten
ist Teil des in den §§ 10 Ia Nr. 1; 22 Nr. 1a EStG normierten Realsplittings (s. Rz. 98, 529); es handelt sich um indisponible Einkommensverwendung auf der Stufe subjektiver Leistungsfähigkeit (s. Rz. 529). 710 (2) Der Abzug von Versorgungsleistungen gegen die Übertragung von Betrieben/Teilbetrieben und
von GmbH-Anteilen (§ 10 Ia Nr. 2 EStG), der Abzug von Ausgleichszahlungen zur Vermeidung eines Versorgungsausgleichs (§ 10 Ia Nr. 3 EStG) und von Leistungen aufgrund eines schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs (§ 10 Ia Nr. 4 EStG) korrespondieren mit der Versteuerung der Leistungen nach § 22 Nr. 1a EStG (s. hierzu Rz. 531 ff.). 711 (3) Der Abzug von Vorsorgeaufwendungen1075 nach § 10 I Nr. 2, 3; II, IIa und III EStG ist weitgehend
Teil der bereits dargelegten nachgelagerten Besteuerung (s. Rz. 570 ff.). Steuersystematisch liegen Erwerbsaufwendungen bei nachgelagert besteuerten Alterseinkünften vor. Hingegen sind die nach § 10 I Nr. 3 Buchst. a, b und Nr. 3a EStG abziehbaren Beiträge zu Kranken- und Pflegeversicherungen sowie zu Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit, Erwerbs- und Berufsunfähigkeit, Unfall-, Haftpflicht- und Todesfallversicherungen der indisponiblen Einkommensverwendung zuzuordnen, weil sie der Existenzsicherung dienen1076. Das BVerfG hat hieraus gefolgert, dass Beiträge zu Kranken- und Pflegeversicherung, soweit diese auf ein sozialhilferechtliches Versorgungsniveau beschränkt sind, der Garantie der Steuerfreiheit existenznotwendiger Aufwendungen unterfallen1077. In § 10 IV 4 EStG wurde daraufhin durch Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung v. 16.7.2009, BGBl. I 2009, 1959, die Höchstbetragsregelung für Beiträge zu Kranken- und Pflegeversicherung (§ 10 I Nr. 3 EStG) außer Kraft gesetzt1078. Abziehbar sind nunmehr unter Abzug steuerfreier Arbeitgeberzuschüsse zur Kranken- und Pflegeversicherung in voller Höhe die Beiträge, die für ein sozialhilfegleiches Versorgungsniveau er-
1073 Zu § 10d EStG s. Rz. 67 ff. Aus dem „vorrangig vor Sonderausgaben“ (§ 10 I 1, II 1 EStG) abzuziehenden Verlustabzug ergibt sich, dass die Regelung im Abschnitt „Sonderausgaben“ fehlplatziert ist; hierzu Rz. 64 mit Fn. 96. Der Verlustabzug gehört zum Maßstab objektiver Leistungsfähigkeit (§ 2 II Kölner EStGE: Summe der Einkünfte, vermindert um den Verlustabzug), für den das objektive Nettoprinzip gilt (s. Rz. 42). 1074 Systematisierung aus ökonomischer Sicht Scheffler/Kandel, StuW 2011, 236. 1075 I.E. BMF v. 19.8.2013 – IV C 3 - S 2221/12/10010:004, BStBl. I 2013, 1087. Grds. Englisch, NJW 2006, 1025; Horlemann, FR 2006, 1075 (dogmatische Einordnung nachgelagerter Besteuerung); Söhn, FR 2006, 905 (Werbungskosten oder Sonderausgaben?); Fischer, FR 2007, 76; Wesselbaum-Neugebauer, FR 2007, 683 (Altersvorsorgeaufwendungen); Wesselbaum-Neugebauer, FR 2007, 911 (Sozialversicherungsbeiträge); F. Fischer, SteuerStud 2009, 354. BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvR 1220/04, BVerfGE 120, 169, hat Verfassungsbeschwerden wg. zu niedriger Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen, insb. von Beiträgen zu berufsständischen Versorgungseinrichtungen, nicht zur Entscheidung angenommen. 1076 BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (154 f.). 1077 BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (161 f.). 1078 Dazu Fischer/Merker, SteuerStud 2010, 201; Söhn, FS J. Lang, 2010, 549 (verfassungs- und steuersystematische Aspekte); Risthaus, DStZ 2009, 669; Dommermuth/Hauer, DB 2009, 2512; Myßen/Wolter, NWB 2009, 2313; Grün, NWB 2013, 2914.
496
Hey
H. Private Abzüge
Rz. 715 § 8
forderlich sind1079. Europarechtswidrig ist die Beschränkung des § 10 II EStG, wonach der Abzug ausgeschlossen ist, wenn die Vorsorgeaufwendungen der § 10 I Nr. 2, 3 u. 3a EStG in unmittelbarem wirtschaftlichem Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen stehen1080 (4) Gezahlte Kirchensteuer (§ 10 I Nr. 4 EStG)1081: Europarechtskonform ist auch an in anderen 712 EU-/EWR-Staaten ansässige Religionsgemeinschaften gezahlte ausländische Kirchensteuer abziehbar1082. Gleichheitsrechtlich nicht zu rechtfertigen ist die Beschränkung des Steuerabzuges auf Kirchensteuern und Kirchenbeiträge (R 10.7 EStR 2012), die von Körperschaften des öffentlichen Rechts erhoben werden. Es kommt nicht auf den Status der Religionsgemeinschaft an, sondern darauf, ob die Aufwendung in das sozial-kulturelle Existenzminimum fällt. Dies ist bei allen Pflichtabgaben an Religionsgemeinschaften zu bejahen, da sie die Religionsausübung ermöglichen. Zur Kirchensteuererhebung im Rahmen der Abgeltungsteuer s. Rz. 965 f. (5) Kinderbetreuungskosten (§ 10 I Nr. 5 EStG): Kinderbetreuungskosten sind in Höhe von 2/3 der 713 tatsächlichen Kosten (maximal 4 000 Euro) als Sonderausgaben abziehbar. Sie sind abzugrenzen von nicht begünstigten Unterrichtsleistungen1083. Ab 2012 wird der Abzug unabhängig von der Situation der Eltern (Erwerbstätigkeit/Berufsausbildung/Krankheit) von Geburt bis zum 13. Lebensjahr des Kindes gewährt (s. hierzu auch Rz. 239, 755), so dass in § 10 I Nr. 5 EStG familienpolitische Förderung und Erwerbsausgabenabzug systemwidrig vermengt werden1084. (6) Der Sonderausgabenabzug für Steuerberatungskosten (§ 10 I Nr. 6 EStG) ist durch Gesetz 714 v. 22.12.2005, BGBl. I 2005, 3682, aus rein fiskalischen Gründen mit Wirkung ab 2006 abgeschafft worden1085. Dies ist in Anbetracht der anhaltenden weiteren Verkomplizierung des Steuerrechts vollkommen unverständlich und kann auch nicht im Interesse des Steuerstaates liegen, da die Fehlerhaftigkeit von Steuererklärungen zunimmt, wenn der Stpfl. professionellen Rat nicht mehr in Anspruch nimmt. (7) Bildungsaufwendungen i.S.d. § 10 I Nr. 7 EStG sind eigentlich vorweggenommene Erwerbsauf- 715 wendungen (s. bereits Rz. 233, 263 ff.), werden aber durch §§ 4 IX; 9 VI EStG vom Erwerbsausgabenabzug ausgeschlossen. Stattdessen sind Aufwendungen für die eigene Berufsausbildung nach § 10 I Nr. 7 EStG bis zu 6 000 Euro pro Jahr und bei zusammenveranlagten Ehegatten pro Ehegatte abzugsfähig. Abziehbar sind gem. § 10 I Nr. 7 Sätze 3, 4 EStG auch Aufwendungen für eine auswärtige Unterbringung, Mehraufwendungen für Verpflegung (§ 9 IVa EStG), Arbeitszimmeraufwendungen (§ 4 V 1 Nr. 6b EStG), Aufwendungen für doppelte Haushaltsführung (§ 9 I 3 Nr. 5 EStG) und für Fahrten zwischen Wohnung und Ausbildungsstätte (s. Rz. 261 f.).
1079 Nicht dagegen ein Selbstbehalt bei einer privaten Krankenversicherung s. BFH v. 1.6.2016 – X R 43/13, BStBl. II 2017, 55. 1080 EuGH v. 22.6.2017 – Rs. C-20/16, ECLI:EU:C:2017:488 – Bechtel. 1081 Schön, DStZ 1997, 385 (verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen); Tipke, StRO II2, 2003, 828 f. 1082 Zutreffend BMF v. 16.11.2010 – IV C 4-S 2221/07/0004:001, BStBl. I 2010, 1311; verneint noch von BFH v. 4.6.1975 – I R 250/73, BStBl. II 1975, 708. 1083 BFH v. 19.4.2012 – III R 29/11, BStBl. II 2012, 862. 1084 Zu den Rückwirkungen auf die Festsetzung der Elternbeiträge für kommunale Kinderbetreuungseinrichtungen Jörißen, StBW 2014, 192. 1085 Zur Zuordnung der Steuerberatungskosten BMF v. 21.12.2007 – IV B 2 - S 2144/07, BStBl. I 2008, 256 (dazu Schmidt, NWB Fach 3, 14969); Querbach/Hegemann, Stbg. 2006, 173 (zeitliche Zuordnung); Heinrich, SteuerStud 2008, 284 (Betriebsausgaben, Werbungskosten oder Kosten der Lebensführung). Kritik: Tipke, Steuerberatung tut not – auch verfassungsrechtlich, BB 2009, 636; Schroen, NWB 2010, 1706; Schoor, StBp. 2012, 212; ferner Kanzler, FS J. Lang, 2010, 601, u. Weber-Grellet, NWB 2010, 1670, die allerdings keine verfassungsrechtliche Abzugsnotwendigkeit sehen; ebenso BFH v. 4.2.2010 – X R 10/08, BStBl. II 2010, 617 (619 f.); v. 16.2.2011 – X R 10/10, BFH/NV 2011, 977.
Hey 497
§ 8 Rz. 716
Einkommensteuer
716 (8) Nach § 10 I Nr. 9 EStG können kinderfreibetrags-/kindergeldberechtigte Stpfl. 30 % des Schul-
gelds1086, höchstens 5 000 Euro für den Besuch einer Schule in freier Trägerschaft oder überwiegend privat finanzierten, jedoch staatlich anerkannten Schule abziehen. Entgelte für Beherbergung, Betreuung und Verpflegung können nicht abgezogen werden. Nachdem der EuGH1087 die Europarechtswidrigkeit der Beschränkung auf inländische Schulen bzw. deutsche Schulen im Ausland erkannt hat, ist der Sonderausgabenabzug auf Privatschulen im EU-/EWR-Ausland durch JStG 2009 erweitert worden1088. § 10c Satz 1 EStG sieht für Sonderausgaben i.S.d. §§ 10 I Nr. 4, 5, 7, 9, Ia; 10b EStG einen bescheidenen Sonderausgaben-Pauschbetrag i.H.v. 36 Euro (72 Euro für Ehegatten, § 10c Satz 2) vor, wenn keine höheren Ausgaben nachgewiesen werden. Die zuvor kompliziert in § 10c II, III EStG geregelte Vorsorgepauschale ist ab VZ 2010 entfallen. 3. Außergewöhnliche Belastungen (§§ 33; 33a; 33b EStG) Literatur: Jakob/Jüptner, Zur Zwangsläufigkeit außergewöhnlicher Belastungen, StuW 1983, 206; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, 579 ff.; Wolf, Der Aufwendungsbegriff in § 33 EStG, Diss., 1990; Kanzler, Grundfragen zum Abzug außergewöhnlicher Belastungen, FR 1993, 691; Pülzl, Wann ist eine Belastung außergewöhnlich?, ÖStZ 2001, 223; Tipke, StRO II2, 2003, 830 ff.; Steger, Die außergewöhnliche Belastung im Steuerrecht, Diss., 2008; Schild, Die Zwangsläufigkeit von außergewöhnlichen Belastungen i.S. des § 33 II EStG, SteuerStud 2010, 104; Gunsenheimer, Außergewöhnliche Belastungen, SteuerStud 2011, 692; Haupt, Die außergewöhnliche Belastung in der Krise, DStR 2010, 960; Geserich, Privataufwendungen im Einkommensteuerrecht am Beispiel der außergewöhnlichen Belastung, DStR 2013, 1861; Grever, Außergewöhnliche Belastungen im Steuerrecht, Diss., 2016; Bareis, § 33 Abs. 3 EStG – eine verfassungswidrige Zumutung?, DStR 2017, 823; rechtsvergleichend mit Österreich: Renner, DStZ 2015, 934. 717 Nach § 33 EStG können auf Antrag zwangsläufige außergewöhnliche Aufwendungen vom Gesamt-
betrag der Einkünfte abgezogen werden, soweit sie die in § 33 III EStG bestimmte zumutbare Belastung übersteigen. Die zumutbare Belastung ist nach der Höhe des Gesamtbetrags der Einkünfte gestaffelt1089. Die Berücksichtigung erfolgt im Jahr des Abflusses der Aufwendungen (§ 11 II EStG)1090. § 33 EStG ist keine Tarifvorschrift; sie gehört vielmehr in das System der privaten Abzüge und ist daher tatbestandstechnisch richtig auf einer Stufe mit den Sonderausgaben geregelt (§ 2 IV EStG, s. Rz. 105). Im System der privaten Abzüge deckt sie den existenznotwendigen außergewöhnlichen Lebensbedarf ab1091.
1086 Ebner, DStZ 2009, 645 (aus steuersystematischer, verfassungs- und europarechtlicher Sicht). 1087 EuGH v. 11.9.2007 – C-76/05, ECLI:EU:C:2007:492 – Schwarz u. Gootjes-Schwarz; v. 11.9.2007 – C-318/05, ECLI:EU:C:2007:495 – Kommission ./. Deutschland. Dazu Gosch, DStR 2007, 1895; Meilicke, DStR 2007, 1892; Thömmes, IWB Fach 11A (2007), 31155; Biehle, DStZ 2008, 495. Zur europarechtskonformen Neuregelung des § 10 I Nr. 9 EStG BMF v. 9.3.2009 – IV C 4 - S 2221/07/0007, BStBl. I 2009, 487; Schaffhausen/Plenker, DStR 2009, 1123. 1088 S. BMF v. 9.3.2009 – IV C 4 - S 2221/07/0007, BStBl. I 2009, 487. Nicht anwendbar auf schweizerische Privatschulen, BFH v. 9.5.2012 – X R 3/11, BStBl. II 2012, 585. 1089 BFH v. 19.1.2017 – VI R 75/14, BStBl. II 2017, 684 hat die Abzugsmöglichkeit insofern erweitert, als nur der Teil des Gesamtbetrags der Einkünfte, der den im Gesetz genannten Grenzbetrag übersteigt, mit dem jeweils höheren Prozentsatz belastet wird (stufenweise Ermittlung der zumutbaren Belastung). Zuvor richtete sich die Zumutbarkeit bei Überschreiten der Grenzwerte insgesamt insgesamt nach dem höheren Prozentsatz. 1090 Eine Verteilung hoher Aufwendungen auf mehrere Jahre ist auch aus Billigkeitsgründen grds. nicht möglich, sondern atypischen Ausnahmefällen vorbehalten s. BFH v. 12.7.2017 – VI R 36/15, BFHE 258, 151, Rz. 24 (zur Veröffentlichung im BStBl. II vorgesehen). 1091 J. Lang, Bemessungsgrundlage, 579 ff.
498
Hey
H. Private Abzüge
Rz. 721 § 8
§ 33 EStG ist auch keine Billigkeitsvorschrift1092. Der historische Zweck des § 33 EStG ist insofern 718 überholt, als § 33 EStG nach heutigem Verständnis keine atypischen Einzelfälle regelt, die das EStG abstrakt nicht berücksichtigt (s. § 21 Rz. 329 f.). § 33 EStG ist vielmehr Teil des gesetzlich abstrakt normierten Einkommensteuersystems, nämlich Grundvorschrift zur Berücksichtigung subjektiver Leistungfähigkeit. So ist es nach der Rspr. des BFH Ziel des § 33 EStG, „zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Entlastungsbeträgen entziehen“1093. Aus dem Konnex zwischen Steuerrecht und Sozialhilferecht (s. § 1 Rz. 39 ff.) folgt die dogmatische Unter- 719 scheidung eines regelmäßigen Grundbedarfs, der durch den Grundfreibetrag (§ 32a I 2 Nr. 1 EStG) abgegolten wird, eines regelmäßigen Mehrbedarfs, der durch zusätzliche Mehrbedarfpauschalen (z.B. für Behinderte nach § 33b EStG) berücksichtigt wird, und eines Sonderbedarfs „in besonderen Lebenslagen“, der durch § 33 EStG abgedeckt wird. Dementsprechend empfiehlt der Kölner EStGE neben dem Grundfreibetrag (§ 36 I Nr. 1 Kölner EStGE) und Mehrbedarfpauschalen (§ 36 III 1 Kölner EStGE) den Steuerabzug von Sonderbedarfausgaben (§ 36 IV Kölner EStGE), das sind in Anlehnung an das Sozialhilferecht größere Aufwendungen, die in einer besonderen Lebenslage anfallen.
Mit dem Normzweck, existenznotwendigen Sonderbedarf zu berücksichtigen, ist die historisch dem 720 Billigkeitsgedanken folgende Kürzung des abziehbaren Betrags um eine zumutbare Belastung (§ 33 III EStG) ebenso wenig gerechtfertigt wie bei anderen privaten Abzügen1094. Auch hat die Definition außergewöhnlicher Aufwendungen (= größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Stpfl. gleicher Einkommens- und Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands erwachsen) ihren Ursprung im verfehlten Billigkeitsgedanken. Sie ist nicht praktikabel und wird von der Rspr. auch nicht exakt praktiziert. Die Bedeutung dieses Tatbestandsmerkmals ist allein darin zu sehen, dass es sich um Aufwendungen handeln muss, die nicht durch den Grundfreibetrag abgegolten sind; weitergehende Einschränkungen können aus dem Gruppenvergleich nicht gewonnen werden. Nach § 33 II 1 EStG erwachsen dem Stpfl. die Aufwendungen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus 721 rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann. Zudem verlangt § 33 II 1 EStG, dass die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen. Ob Aufwendungen zwangsläufig sind, hängt nach st. Rspr.1095 davon ab, ob die in § 33 II 1 1092 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 581 ff.; Tipke, StRO II2, 2003, 830; Karrenbrock/Petrak, DStR 2011, 552 (553 ff.); Kirchhof/Mellinghoff17, § 33 EStG Rz. 1 (Norm soll nicht Unbilligkeiten, sondern Ungleichheiten vermeiden); Schmidt/Loschelder36, § 33 EStG Rz. 1; HHR/Kanzler, § 33 EStG Anm. 8 (2016). 1093 BFH v. 18.3.2004 – III R 31/02, BStBl. II 2004, 867; v. 2.6.2015 – VI R 30/14, BStBl. II 2015, 775 (776). 1094 So J. Lang, Bemessungsgrundlage, 617 f.; Tipke, StRO II2, 2003, 831. Von Verfassungswidrigkeit gehen aus Kosfeld, FR 2009, 366; Kosfeld, FR 2012, 969; Kosfeld, FR 2013, 359; Karrenbrock/Petrak, DStR 2011, 552; KSM/Arndt, § 33 EStG Rz. A 6, B 44 (2001), und auch BVerfG v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 (279 ff.), zu der bis 1999 geltenden Fassung des § 33c EStG, nach der § 33 III EStG zu einer (verfassungswidrigen) Kürzung von Kinderbetreuungskosten Alleinerziehender um die zumutbare Belastung führte. Von der Verfassungsmäßigkeit gehen aus Blümich/Heger, § 33 EStG Rz. 134; HHR/Kanzler, § 33 EStG Anm. 216 (2016); Lademann/Stöcker, § 33 EStG Rz. 257; Steger, Die außergewöhnliche Belastung im Steuerrecht, 2008, S. 190 ff. Aktuell s. die Kotroverse zwischen Haupt, DStR 2016, 902 (verfassungswidrig) und Bareis, DStR 2017, 823 (im Grundsatz verfassungskonform, Kritik an den konkreten Belastungswirkungen); Duplik Haupt, DStR 2017, 831. Der BFH geht dagegen grds. von der Verfassungsmäßigkeit von § 33 III EStG vgl. BFH v. 2.9.2015 – VI R 32/13, BStBl. II 2016, 151, Rz. 9, 13 und 15; v. 19.1.2017 – VI R 75/14, BStBl. II 2017, 684, Rz. 30 und 32, schränkt allerdings ein, dass die Kürzung nicht zu einer Belastung des sozialhilferechtlichen Existenzminimums führen darf. 1095 BFH v. 9.5.1996 – III R 224/94, BStBl. II 1996, 596; v. 18.3.2004 – III R 31/02, BStBl. II 2004, 867 (868); v. 4.8.2016 – VI R 47/13, BStBl. II 2017, 276 (Ausschluss selbstverschuldeter Insolvenzkosten).
Hey 499
§ 8 Rz. 722
Einkommensteuer
EStG genannten Gründe auf die Entschließung des Stpfl. so einwirken, dass er ihnen nach einem objektiven Maßstab nicht ausweichen kann. 722 Der Maßstab des sozial-kulturellen Existenzminimums gebietet sozial adäquates Verhalten, so dass § 40 AO unanwendbar ist (vgl. § 5 Rz. 108 ff.). Der BFH hat die Zwangsläufigkeit im Falle von Erpressungsgeldern verneint, die der Kläger gezahlt hatte, damit die herzkranke Ehefrau von einem außerehelichen Verhältnis nichts erfährt. Der BFH hat zutr. auf die Sozialwidrigkeit des Verhaltens abgestellt. Dies sei der „ohne Zwang geschaffene Erpressungsgrund“1096, welcher der Zahlung der Erpressungsgelder die Zwangsläufigkeit i.S.d. § 33 II 1 EStG nehme. 723 Auf sozial erwartetes Verhalten kommt es besonders bei der Bestimmung einer sittlichen Verpflichtung i.S.d. § 33 II 1 EStG an. Zwangsläufigkeit aus sittlichen Gründen ist nach st. Rspr. nur anzunehmen, wenn sich der Stpfl. nach dem mehrheitlichen Urteil „billig und gerecht denkender Bürger“ zum Handeln verpflichtet sehen kann, das Unterlassen „als moralisch anstößig empfunden wird“1097. Der BFH verneint die sittliche Verpflichtung von Eltern, die Strafverteidigung ihres volljährigen Kindes zu übernehmen, wenn dieses eine unabhängige Lebensstellung erreicht hat1098 (anders bei innerlich nicht gefestigten Kindern1099. Der BFH verneint bzgl. der Heimkosten des gesunden Ehegatten eine sittliche Verpflichtung, mit dem pflegebedürftigen Ehepartner in ein Pflegeheim zu ziehen1100. 724 Entsprechend dem Zweck des § 33 EStG erkennt der BFH für Zahlungen außerhalb des existenznotwendigen Lebensbedarf keine sittliche Verpflichtung an, so z.B. für Rentennachzahlungen zur elterlichen Rentenversicherung1101. Eine sittliche Verpflichtung für die Übernahme der Kosten medizinischer Behandlung kann bestehen, wenn der Angehörige nicht krankenversichert ist1102. Der fehlende Versicherungsschutz kann dem Stpfl. nur vorgehalten werden, wenn er für die Versicherung des Angehörigen rechtlich oder sittlich verantwortlich war. 725 Es muss eine Belastung eingetreten sein. Nach dem Belastungsprinzip (s. Rz. 703) ist außergewöhn-
liche Belastung grds. zu verneinen, wenn durch die Aufwendungen ein Gegenwert oder nicht nur vorübergehende Vorteile erlangt werden1103. Den Belastungstatbestand können auch Vermögensschäden verwirklichen1104. Es ist zu prüfen, ob „verlorener Aufwand“ vorliegt1105. In diesem Fall bleibt der Abzug möglich. Die Gegenwertlehre ist vielfach durchbrochen und zu Recht mittlerweile kaum noch entscheidungsrelevant1106. Beispiele: Wasserschaden am selbstbewohnten Einfamilienhaus1107; Mietzahlungen für Ersatzwohnung bei unbewohnbarem Eigenheim1108; Anschaffung medizinischer Hilfsmittel (z.B. Brillen, Hörapparate, Rollstühle), weil der „Gegenwert“ durch den existenznotwendigen Lebensbedarf verbraucht wird. Das muss, wie jetzt auch die Rspr. erkennt, grds. auch bei behindertengerechter Ausstattung eines Einfamilienhau-
1096 BFH v. 18.3.2004 – III R 31/02, BStBl. II 2004, 867 (868). 1097 BFH v. 22.10.1996 – III R 165/94, BStBl. II 1997, 558; v. 7.3.2002 – III R 42/99, BStBl. II 2002, 473 (475); v. 30.10.2003 – III R 23/02, BStBl. II 2004, 267 (269). 1098 BFH v. 30.10.2003 – III R 23/02, BStBl. II 2004, 267. 1099 BFH v. 23.5.1990 – III R 145/85, BStBl. II 1990, 895; v. 30.10.2003 – III R 23/02, BStBl. II 2004, 267 (269). 1100 BFH v. 15.4.2010 – VI R 51/09, BStBl. II 2010, 794. 1101 BFH v. 7.3.2002 – III R 42/99, BStBl. II 2002, 473. 1102 BFH v. 12.12.2002 – III R 25/01, BStBl. II 2003, 299. 1103 Zu dieser sog. Gegenwerttheorie, HHR/Kanzler, § 33 EStG Anm. 37 ff. (2016); Brockmeyer, DStZ 1998, 215; Pülzl, ÖStZ 2003, 519; Loschelder, EStB 2010, 255; Kirchhof/Mellinghoff17, § 33 EStG Rz. 15–17; Schmidt/Loschelder36, § 33 EStG Rz. 9–11. 1104 Grundl. BFH v. 6.5.1994 – III R 27/92, BStBl. II 1995, 104, s. Sunder-Plassmann, DStZ 1995, 193. 1105 BFH v. 10.10.1996 – III R 209/94, BStBl. II 1997, 491. 1106 Geserich, DStR 2013, 1861 (1866); HHR/Kanzler, § 33 EStG Anm. 39 (2016). 1107 BFH v. 6.5.1994 – III R 27/92, BStBl. II 1995, 104. 1108 BFH v. 21.4.2010 – VI R 62/08, BStBl. II 2010, 965.
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H. Private Abzüge
Rz. 726 § 8
ses gelten1109. Entgegen seiner bisherigen Rspr.1110 fragt der BFH nicht mehr nach etwaigen Wertsteigerungen1111, da die Zwangsläufigkeit infolge der Behinderung die Erlangung eines Vorteils in den Hintergrund treten lässt. BFH bejaht außergewöhnliche Belastung bei Aufwendungen zur Beseitigung konkreter Gesundheitsgefährdungen1112. Vermögensauseinandersetzungen stellen i.d.R. keine außergewöhnlichen Belastungen dar, so z.B. in Verbindung mit Ehescheidungen1113 oder im Rahmen eines Erbausgleichs1114. Grds. zur Vorteilsanrechnung BFH v. 30.6.1999 – III R 8/95, BStBl. II 1999, 766 (Hausratsversicherung); Haushaltsersparnis bei Heimunterbringung: BFH v. 15.4.2010 – VI R 51/09, BStBl. II 2010, 794; v. 4.10.2017 – VI R 22/16, DStR 2017, 2650.
Hauptanwendungsfälle des § 33 EStG: Der außergewöhnliche Lebensbedarf ist i.E. schwierig ab- 726 zugrenzen, so dass sich eine umfangreiche Kasuistik entwickelt hat1115. Zum außergewöhnlichen Lebensbedarf gehören vor allem die Krankheitskosten, das sind die Aufwendungen einer Heilbehandlung1116. Erfasst wird nicht nur eine medizinisch notwendige Mindestversorgung, sondern, unabhängig von wissenschaftlicher Anerkennung1117, jedwede Behandlung, deren Anwendung hinreichend gerechtfertigt ist. Die Folgekosten von Krankheiten und körperlichen Defekten werden wertend mit Einzelfalljudiz entschieden: Die Kosten künstlicher Befruchtung werden mittlerweile unabhängig von Ursache und Familienstand allgemein anerkannt1118, nicht dagegen die Kosten einer Adoption1119. Wie
1109 Dabei keine analoge Anwendung von § 64 EStDV, s. BFH v. 6.2.2014 – VI R 61/12, BStBl. II 2014, 458. Übersicht Adomat, Beilage zu NWB/13/2016; zu den Nachweisanforderungen Geserich, NWB 2014, 2004. 1110 BFH v. 10.10.1996 – III R 209/94, BStBl. II 1997, 491; v. 6.2.1997 – III R 72/96, BStBl. II 1997, 607. 1111 BFH v. 22.10.2009 – VI R 7/09, BStBl. II 2010, 280; v. 24.2.2011 – VI R 16/10, BStBl. II 2011, 1012; v. 25.5.2011 – VI B 35/11, BFH/NV 2011, 1691; dazu Geserich, NWB 2011, 1526; Ritzrow, SteuerStud 2012, 209. 1112 Z.B. Asbestsanierung: BFH v. 9.8.2001 – III R 6/01, BStBl. II 2002, 240; v. 8.2.2007 – III B 11/06, BFH/NV 2007, 1108; Formaldehydemission: v. 23.5.2002 – III R 52/99, BStBl. II 2002, 592; verneinend BFH v. 29.1.2007 – III B 137/06, BFH/NV 2007, 893, zu Schutzmaßnahmen gegen Mobilfunkwellen; v. 29.3.2012 – VI R 21/11, BStBl. II 2012, 574: vorher erstelltes technisches Gutachten nicht erforderlich; keine analoge Anwendung von § 64 EStDV. Zum Ganzen Ritzrow, SteuerStud 2012, 581; Geserich, SteuK 2012, 283. 1113 BFH v. 30.6.2005 – III R 36/03, BStBl. II 2006, 491; v. 30.6.2005 – III R 27/04, BStBl. II 2006, 492; v. 16.3.2007 – III B 99/06, BFH/NV 2007, 1304; v. 20.1.2016 – VI R 66/12, BFH/NV 2016, 998; v. 1.8.2016 – VI B 18/16, BFH/NV 2016, 1708. 1114 BFH v. 8.12.1988 – IX R 157/83, BStBl. II 1989, 282; v. 12.12.1993 – III R 11/93, BStBl. II 1994, 240. 1115 Dazu die aktuellen ABC-Kommentierungen von Kirchhof/Mellinghoff17, § 33 EStG Rz. 54; Schmidt/ Loschelder36, § 33 EStG Rz. 35. 1116 Anerkennung einer alternativen Therapie bei unheilbarer Krebserkrankung (v. 2.9.2010 – VI R 11/09, BStBl. II 2011, 119; dazu Haupt, DStR 2010, 960). Zu den Krankheitskosten gehören nicht: Trinkgelder (BFH v. 30.10.2003 – III R 32/01, BStBl. II 2004, 270); medizinische Fachliteratur: BFH v. 24.10.1995 – III R 106/93, BStBl. II 1996, 88; Sportstudio: v. 14.8.1997 – III R 67/96, BStBl. II 1997, 732; Diätkosten (s. § 33 II 3 EStG), wohl aber während einer Diät verordnete Arzneimittel s. BFH v. 14.4.2015 VI R 89/13, BStBl. II 2015, 703 (705). Zur Rspr. s. Bilsdorfer, SteuerStud 2011, 269; Geserich, FR 2011, 1067; Schneider, NWB 2016, 96. 1117 Zum Begriff der wissenschaftlich nicht anerkannter Behandlungsmethoden BFH v. 26.6.2014 – VI R 51/13, BFH/NV 2014, 1936. 1118 Eheleute: BFH v. 18.6.1997 – III R 84/96, BStBl. II 1997, 805; anonyme Samenspende zur Überwindung der Zeugungsunfähigkeit des Mannes: BFH v. 16.12.2010 – VI R 43/10, BStBl. II 2011, 414; a.A. noch BFH v. 18.5.1999 – III R 46/97, BStBl. II 1999, 761; nichteheliche Lebensgemeinschaft: BFH v. 10.5.2007 – III R 47/05, BStBl. II 2007, 871; abl. zunächst BFH v. 28.7.2005 – III R 30/03, BStBl. II 2006, 495; nur unter der Vorauss. in Deutschland zu befolgender ärztlicher Standards: BFH v. 17.5.2017 – VI R 34/15, BFHE 258, 358; gleichgeschlechtliche Partnerschaften: Hermenns/Modrzejewski/Rüsch, FR 2017, 270. Zur Rechtslage in Österreich Lattner, ÖStZ 2013, 317. 1119 BFH v. 10.3.2015 – VI R 60/11, BStBl. II 2015, 695; krit. Anm. Endert, DStR 2015, 2472.
Hey 501
§ 8 Rz. 727
Einkommensteuer
„Krankheitskosten“ werden Entbindungskosten (Arzt, Krankenhaus, Medikamente etc.) behandelt, und zwar ohne die Erstlingsausstattung des Kindes1120. Die Kosten einer krankheitsbedingten Unterbringung in einem (Pflege-)Heim kann eine außerordentliche Belastung darstellen1121, ebenso Internatskosten bei Hochbegabung oder Legasthenie1122. Voraussetzung der Geltendmachung ist gem. § 33 IV EStG i.V.m. § 64 EStDV i.d.F. des Steuervereinfachungsgesetzes 2011, dass der Stpfl. eine im Vorhinein erteilte ärztliche Verordnung bzw. ein vor Beginn der Maßnahme eingeholtes amtsärztliches Attest vorlegt1123. Der Gesetzgeber wendet sich damit rückwirkend für alle noch nicht bestandskräftigen Steuerfestsetzungen gegen den BFH, der von der Anwendung der allgemeinen Beweisregeln ausgegangen war1124. 727 Im Weiteren erfasst § 33 I EStG Aufwendungen für die Wiederbeschaffung bzw. Instandsetzung exis-
tenznotwendiger Güter nach unabwendbaren Ereignissen wie Brand, Hochwasser, Kriegseinwirkung, Schadstoffeinwirkung etc. (s. R 33.2 EStR 2012). Ansonsten sind die Beschaffung von Kleidung, Hausrat u.a. Vermögensgegenständen nach der Gegenwertlehre keine außergewöhnlichen Belastungen. Im Falle des Verlustes existenznotwendiger Güter durch unabwendbare Ereignisse versagt der BFH den Steuerabzug, wenn der Geschädigte es unterlassen hat, eine „allgemein übliche und zumutbare Versicherung“ abzuschließen1125. Diese Auffassung lässt sich m.E. nur vertreten, soweit die Versicherungsbeiträge als Sonderausgaben abgezogen werden können (s. Rz. 711). 728 Prozesskosten1126 exemplifizieren besonders deutlich die Schwierigkeiten, den existenznotwendigen
Bereich abzugrenzen. Abziehbar sind Kosten eines Strafverfahrens, wenn der Stpfl. freigesprochen wird oder vor dem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens stirbt1127. Hingegen verneint der BFH außergewöhnliche Belastung bei Einstellung des Strafverfahrens nach § 153a II StPO1128. Bei Zivilprozessen ist die Rspr. einen bemerkenswerten Zickzackkurs gefahren. Ging die Rspr. ursprünglich von einer Vermutung gegen die Zwangsläufigkeit aus, es sei denn, der Rechtsstreit berührte einen existentiell wichtigen Bereich1129, so hatte der BFH die Abzugsfähigkeit 2011 deutlich erweitert, weil der Stpfl. un-
1120 BFH v. 19.12.1969 – VI R 125/69, BStBl. II 1970, 242. 1121 BFH v. 13.10.2010 – VI R 38/09, BStBl. II 2011, 1010; v. 9.12.2010 – VI R 14/09, BStBl. II 2011, 1011; v. 30.6.2011 – VI R 14/10, BStBl. II 2012, 876; v. 14.11.2013 – VI R 20/12, BStBl. II 2014, 456. 1122 BFH v. 7.6.2000 – III R 54/98, BStBl. II 2001, 94 (Legasthenie); v. 12.5.2011 – VI R 37/10, BStBl. II 2013, 783 (Verhaltensauffälligkeit bei Hochbegabung). 1123 Verkomplizierung zulasten des Stpfl. Haupt, DStR 2011, 2443. Zulässigkeit der rückwirkenden Anwendung bejahend FG Münster v. 18.1.2012 – 11 K 317/09 E, EFG 2012, 702 (rkr.), m. Anm. Rosenke. Zu den Anforderungen BFH v. 15.1.2015 – VI R 85/13, BStBl. II 2015, 586; v. 26.6.2014 – VI R 51/13, BStBl. II 2015 zu § 64 I Nr. 2 S. 1 Buchst. f EStG: wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethoden). 1124 BFH v. 9.12.2010 – VI R 14/09, BStBl. II 2011, 1011; v. 19.4.2012 – VI R 74/10, BStBl. II 2012, 577, akzeptiert die neue Rechtslage, auch ihre echt rückwirkende Anwendung (§ 84 IIIf EStDV); bekräftigend Geserich, DStR 2012, 1490 ff.; dagegen zu Recht krit. Bergkemper, FR 2012, 1172; Bilsdorfer, SteuerStud 2012, 608; Haupt, DStR 2012, 1541; Schmitz-Herscheidt, NWB 2012, 2917. 1125 BFH v. 26.6.2003 – III R 36/01, BStBl. II 2004, 47 (Hausratversicherung). 1126 Nach st. Rspr. (s. zuletzt BFH v. 30.1.2006 – III B 133/04, BFH/NV 2006, 938; v. 14.8.2006 – III B 177/05, BFH/NV 2006, 2251; v. 14.8.2006 – III B 177/05, BFH/NV 2006, 2252) sind Kosten eines Zivilprozesses nur in Ausnahmefällen als außergewöhnliche Belastung abziehbar, wenn das Ereignis, durch das der Rechtsstreit veranlasst worden war, für den Stpfl. zwangsläufig war und er deshalb dem Prozess nicht ausweichen konnte. 1127 BFH v. 22.6.1989 – X R 20/88, BStBl. II 1989, 831 m.w.N.; nicht dagegen bei vorsätzlich begangener Tat: BFH v. 16.4.2013 – IX R 5/12, BStBl. II 2013, 806. 1128 BFH v. 19.12.1995 – III R 177/94, BStBl. II 1996, 197; zuletzt BFH v. 21.9.2016 – VI B 34/16, BFH/ NV 2017, 26. 1129 BFH v. 9.5.1996 – III R 224/94, BStBl. II 1996, 596; v. 4.12.2001 – III R 31/00, BStBl. II 2002, 382 (Familienrechtsstreit wg. Umgangsrecht).
502
Hey
H. Private Abzüge
Rz. 731 § 8
abhängig vom Gegenstand der Klage, im Rechtstaat gezwungen sei, sich zur Durchsetzung seiner Ansprüche der Gerichte zu bedienen. Klagt er nicht mutwillig und leichtfertig, so sollten Prozesskosten in angemessenem Umfang als außergewöhnliche Belastung anzuerkennen sein1130. Zu Recht griff daraufhin der Gesetzgeber ein, indem er in § 33 II 4 EStG mit Wirkung ab dem VZ 2013 die Abzugsfähigkeit von Prozesskosten auf die zur Existenzsicherung notwendige Rechtsverfolgung zurückschnitt (Aufwendungen, ohne die der Stpfl. Gefahr liefe, „seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können“)1131. Ungeachtet dessen, dass die Verwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe wenig zur Rechtsvereinfachung beitragen wird, führt der Gesetzgeber die außergewöhnliche Belastung hier auf den verfassungsfesten und notwendigen Kern der Existenzsicherung zurück. Zwischenzeitlich hat dies auch der BFH erkannt und erneut seine Rspr. im Wesentlichen in Übereinstimmung mit der neuen Gesetzeslage geändert (anwendbar auch für VZ vor 2013)1132. Ausgehend von einem rein materiellen Begriff der Existenzsicherung sollen nunmehr auch die früher anerkannten Kosten einer Ehescheidung durch § 33 II 4 EStG vom Abzug ausgeschlossen sein1133. Vom Wortlaut des § 33 II 4 EStG mag dieses Ergebnis gedeckt sein („Prozesskosten“, „Existenzgrundlage“). Allerdings sind die Kosten zur Auflösung einer Ehe m.E. nicht weniger zwangsläufig und existentiell als manche zum Zwecke der Heilbehandlung anerkannten Aufwendungen.Vorzugswürdig gegenüber der Regelung eines einzelnen Spezialfalls, dessen anleitende Funktion auch für andere Fallgruppen noch nicht klar ist, wäre es gewesen, den Tatbestand des § 33 EStG insgesamt neu zu fassen, um Widersprüche zwischen einzelnen Fallgruppen zu vermeiden. Die §§ 33a–33b EStG sind tatbestandstechnisch außergewöhnliche Belastungen. Sie berücksichtigen 729 indessen keinen außergewöhnlichen Lebensbedarf, sondern regelmäßig Aufwendungen des Grundund Mehrbedarfs. Bezüglich der pauschalen Berücksichtigung des Mehrbedarfs infolge Ausbildung, Alter und Körperbehinderung weist das Steuerrecht Gemeinsamkeiten mit dem Sozialhilferecht auf1134. Systematisch sind folgende Tatbestände zu unterscheiden: (1) § 33a I EStG regelt den allgemeinen Unterhaltsabzug, der dann Platz greift, wenn für die unterhalte- 730 ne Person kein Anspruch auf Kinderfreibetrag besteht (s. Rz. 736). § 33a I EStG hängt rechtssystematisch nicht nur mit der Kinder-Grundbedarfvorschrift des § 32 VI EStG (s. Rz. 93), sondern auch mit dem Grundfreibetrag (§ 32a I 2 Nr. 1 EStG) zusammen, der den existenznotwendigen Grundbedarf im Allgemeinen berücksichtigt (s. Rz. 81 f.). Der Zweck des § 33a I EStG, den regelmäßigen Grundbedarf (BFH: die üblichen Aufwendungen für den laufenden Unterhalt) abzudecken, gestattet es, daneben außergewöhnlichen Unterhaltsbedarf geltend zu machen1135. (2) § 33a II EStG gewährt einen den Kinderfreibetrag aufstockenden Ausbildungsfreibetrag und berück- 731 sichtigt dadurch regelmäßigen Ausbildungsmehrbedarf für die auswärtige Unterbringung des Kindes.
1130 BFH v. 12.5.2011 – VI R 42/10, BStBl. II 2011, 1015. 1131 Zustimmend Blümich/Heger, § 33 EStG Rz. 223 (2014); G. Kirchhof, DStR 2013, 1867 (1870 ff.); krit. Kanzler, FR 2014, 209 (217 f.); Grever, Außergewöhnliche Belastungen im Steuerrecht, Diss, 2017, 131 ff. 1132 BFH v. 18.6.2015 – VI R 17/14, BStBl. II 2015, 800, Rz. 17; zu dem Zickzackkurs der Rechtsprechung und der aktuellen Rechtslage Geserich, NWB 2015, 2634; Kindler, DStR 2015, 2644; Endert, FR 2016, 66; Luttermann, FR 2016, 402. 1133 BFH v. 18.5.2017 – VI R 9/16, BStBl. II 2017, 988 (mit ausf. Nachweis der früheren Rspr.); Anm. Urban, NJW 2017, 3189; Nieuwenhuis, DStR 2017, 2373. 1134 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 205 f., 549 ff.; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, Habil., 1993, 169 ff., 271 ff. 1135 Grds. BFH v. 11.7.1990 – III R 111/86, BStBl. II 1991, 62 (Krankheit); Behinderung: v. 30.10.2008 – III R 97/06, BFH/NV 2009, 728; Heimunterbringung: BFH v. 21.4.2005 – III R 45/03, BStBl. II 2005, 602; v. 22.9.2005 – IX R 52/03, BFH/NV 2006, 281; BMF v. 2.12.2002 – IV C 4 - S 2284-108/02, BStBl. I 2002, 1389.
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§ 8 Rz. 732
Einkommensteuer
Sonstiger Ausbildungsbedarf ist im Rahmen des Familienleistungsausgleichs (§ 32 VI EStG) berücksichtigt, und rechtfertigt daher keinen Abzug nach § 33 EStG1136. 732 (3) § 33b I–III EStG gewährt Körperbehinderten einen nach dem Grade der Behinderung ansteigenden Pauschbetrag (310–3 700 Euro)1137. Auch hier handelt es sich um einen Steuerabzug für laufenden und typischen Mehrbedarf, so dass neben dem Pauschbetrag Kosten des außergewöhnlichen Lebensbedarfs abgezogen werden können, so z.B. Krankheitskosten, Aufwendungen für die behinderungsbedingte Unterbringung in einer Wohngemeinschaft1138, für eine notwendige Urlaubsbegleitung1139, Kfz-Kosten in Höhe der Werbungskostenpauschbeträge1140. Allerdings entfällt der Behinderten-Pauschbetrag von 3 700 Euro (§ 33b III 3 EStG), wenn die Aufwendungen für die Unterbringung in einem Altenwohnheim als außergewöhnliche Belastung nach § 33 EStG berücksichtigt werden1141. 733 (4) Der Hinterbliebenen-Pauschbetrag (§ 33b IV EStG) deckt keinen Mehrbedarf ab. Er ist als Sozialzwecknorm zu beurteilen. Mit der Übertragung des Behinderten-Pauschbetrages und des Hinterbliebenen-Pauschbetrages von Kindern auf Eltern (§ 33b V EStG) und mit dem Pflege-Pauschbetrag (§ 33b VI EStG) werden Unterhaltsaufwendungen berücksichtigt. 734 Konkurrenzen Sonderausgaben/außergewöhnliche Belastungen: § 33 II 2 EStG schließt Sonder-
ausgaben auch dann von Abzügen nach den §§ 33–33b EStG aus, wenn sie sich steuerlich nicht ausgewirkt haben1142. Eine Ausnahme gilt nach Hs. 2 des § 33 II 2 EStG für Sonderausgaben i.S.d. § 10 I Nr. 7, 9 EStG (Berufsausbildung; Schulgeld). In diesen Fällen greift zuerst der Sonderausgabenabzug Platz. Soweit die Aufwendungen wegen der Grenzen in § 10 I Nr. 7, 9 EStG nicht als Sonderausgaben abziehbar sind, können sie nach den §§ 33–33b EStG abgezogen werden. 4. Unterhaltsabzüge 735 Das geltende Steuerrecht berücksichtigt Unterhaltsleistungen zwischen Ehegatten durch Splitting,
i.Ü. durch Unterhaltsabzüge1143, durch den allgemeinen Unterhaltsabzug (s. Rz. 736 ff.) und besondere Abzüge für den Kindesunterhalt (s. Rz. 742 f.). 4.1 Allgemeiner Unterhaltsabzug (§ 33a I EStG) 736 Dem bereits erwähnten (Rz. 730) Zweck des § 33a I EStG, nur den regelmäßigen Grundbedarf ab-
zudecken, entspricht es, dass nach dieser Vorschrift als allgemeiner Unterhaltsabzug1144 nur Aufwendungen für den typischen Unterhaltsbedarf (insb. Ernährung, Kleidung, Wohnung, Hausrat, Versicherungen) abgezogen werden können, während § 33 EStG bei Unterhaltsleistungen, mit denen ein besonderer und außergewöhnlicher Bedarf (z.B. Krankheits- oder Pflegekosten) abgedeckt wird, Platz greift. Nach § 33a I 1 EStG sind abzugsfähig nur Leistungen an eine gegenüber dem Stpfl. oder seinem Ehegatten gesetzlich unterhaltsberechtigte Person. Nach der Rspr. des BFH ist das Vorliegen der zivilrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen konkret zu prüfen1145. Damit ist Voraussetzung insb. auch, dass der Unterhaltsberechtigte seiner – allerdings nicht für Ehegatten geltenden – Erwerbsobliegen1136 BFH v. 17.12.2009 – VI R 63/08, BStBl. II 2010, 341. Auch bei der Beurteilung der verfassungsrechtlichen Angemessenheit des Ausbildungsfreibetrags wird § 32 VI EStG mit herangezogen (BFH v. 25.11.2010 – III R 111/07, BStBl. II 2011, 281); dazu Hölscheidt, NWB 2011, 1782. 1137 Dziadkowski, FR 2011, 224: keine verfassungskonforme Vereinfachungsregelung. 1138 BFH v. 23.5.2002 – III R 24/01, BStBl. II 2002, 567. 1139 BFH v. 4.7.2002 – III R 58/98, BStBl. II 2002, 765. 1140 BFH v. 19.5.2004 – III R 16/02, BStBl. II 2005, 23; v. 26.10.2010 – VI B 52/10, BFH/NV 2011, 253. 1141 BFH v. 4.11.2004 – III R 38/02, BStBl. II 2005, 271. 1142 So die h.M. (dazu m.w.N. HHR/Kanzler, § 33 EStG Anm. 202 ff. [2016]). 1143 Gesamtüberblick Brost, SteuerStud 2015, 555. 1144 Dazu Kluth, SteuerStud 2010, 433; Geserich, DStR 2011, 294; Loschelder, EStB 2011, 151. 1145 BFH v. 5.5.2010 – VI R 29/09, BStBl. II 2011, 116.
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H. Private Abzüge
Rz. 738 § 8
heit nachkommt1146. Dem gesetzlich Unterhaltsberechtigten gleichgestellt sind Personen, denen inländische öffentliche Mittel (z.B. Sozialhilfe) mit Rücksicht auf Unterhaltsleistungen des Stpfl. gekürzt werden (§ 33a I 3 EStG). § 33a I EStG greift grds. nicht Platz, soweit das EStG an anderer Stelle den existenznotwendigen Grundbedarf des Berechtigten berücksichtigt. So setzt § 33a I EStG voraus, dass für den Berechtigten kein Anspruch auf einen Kinderfreibetrag oder Kindergeld besteht (§ 33a I 4 EStG). Ferner konsumiert das Ehegattensplitting in § 32a V EStG den allgemeinen Unterhaltsabzug1147. Liegen die Voraussetzungen der §§ 26–26b; 32a V EStG nicht vor, so ist der allgemeine Unterhaltsabzug nach § 33a I EStG nicht ausgeschlossen. Daher können z.B. Unterhaltsleistungen an einen im Ausland lebenden Ehegatten nach § 33a I EStG abgezogen werden1148. Unterhaltsleistungen an den geschiedenen oder dauernd getrennt lebenden Ehegatten können nach § 33a I EStG berücksichtigt werden, wenn sich die Ehegatten auf das Realsplitting nach den §§ 10 Ia Nr. 1; 22 Nr. 1a EStG nicht einigen können1149. Liegen die Voraussetzungen des § 10 Ia Nr. 1 EStG vor, so entfällt § 33a I EStG gem. § 33 II 2 EStG. Gesetzlich unterhaltspflichtig sind neben den Ehegatten (§§ 1360 ff. BGB) Verwandte in gerader Li- 737 nie (§ 1601 BGB i.V.m. § 1589 I 1 BGB: Kinder, Eltern, Großeltern, Urgroßeltern) und Lebenspartner nach § 5 LPartG. Der Steuerabzug von Aufwendungen für Personen, die gesetzlich Unterhaltsberechtigten nach § 33a I 3 EStG gleichgestellt sind1150, kommt vor allem bei eheähnlichen Gemeinschaften in Betracht, bei denen die Sozialhilfe nach § 20 SGB XII gekürzt wird. Entfällt die Sozialhilfe, weil eine nicht gesetzlich verpflichtete Person Unterhalt leistet, so versagt der BFH den Steuerabzug der Unterhaltsleistungen; dies zeigt die Unabgestimmtheit des § 33a I EStG.1151 § 33a I 6 EStG beschränkt den Abzug des an im Ausland lebende Unterhaltsempfänger gezahlten 738 Unterhalts der Höhe nach auf das nach den Verhältnissen des Wohnsitzstaates Notwendige und Angemessene1152. Die gesetzliche Unterhaltspflicht ist nach inländischen Maßstäben zu beurteilen (§ 33a I 6 letzter Hs. EStG). Demzufolge verneint der BFH1153, den Steuerabzug von Unterhaltsleistungen an Verwandte der Seitenlinie (vgl. § 1589 I 2 BGB; z.B. Schwester), die nach türkischem und internationalem Privatrecht gesetzlich unterhaltberechtigt sind. Indes ist § 33a I 6 letzter Hs. EStG verfassungskonform zu interpretieren. Die Rspr. des BVerfG zu § 33a I EStG ist nur beachtet, wenn alle „zwingenden Unterhaltsverpflichtungen“1154 berücksichtigt werden. Dies ist gleichheitsrechtlich geboten, so dass dahinstehen kann, ob sich der Schutzbereich des Art. 6 I GG auf alle Unterhaltsberechtigten erstreckt1155. Daher unterfallen nach der Rspr. des BVerfG auch solche Unterhaltsverpflichtungen dem § 33a I EStG, die vor deutschen Gerichten nach Internationalem Privatrecht eingeklagt werden können.1156
1146 BFH v. 5.5.2010 – VI R 5/09, BStBl. II 2011, 115; v. 15.4.2015 – VI R 5/14, BStBl. II 2016, 148 (Angehörige im Ausland). 1147 BFH GrS v. 28.11.1988 – GrS 1/87, BStBl. II 1989, 164. 1148 BFH GrS v. 28.11.1988 – GrS 1/87, BStBl. II 1989, 164. 1149 Für ein solches „Wahlrecht“ Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucks. 8/2201, 23. 1150 S. BMF v. 7.6.2010 – IV C 4 - S 2285/07/0006:001, BStBl. I 2010, 582; ergänzt v. 27.5.2015 – IV C 4 S 2285/07/0003:006, BStBl. I 2015, 474. 1151 BFH v. 23.10.2002 – III R 57/99, BStBl. II 2003, 187. 1152 Ermittlung anhand des Pro-Kopf-Einkommens im Ausland, BMF v. 20.10.2016 – IV C 8-S 2285/07/10005:016, BStBl. I 2016, 1183; s. BFH v. 25.11.2010 – VI R 28/10, BStBl. II 2011, 283. 1153 BFH v. 4.7.2002 – III R 8/01, BStBl. II 2002, 760; zustimmend HHR/Pfirrmann, § 33a EStG Anm. 109 (2016); a. A. (verfassungswidrig) Paus, DStZ 2003, 306; Gebauer/Hufeld, Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts, 2004, 329. 1154 BVerfG v. 22.2.1984 – 1 BvL 10/80, BVerfGE 66, 214 (223). 1155 Vgl. BFH v. 4.7.2002 – III R 8/01, BStBl. II 2002, 760 (762 f.). 1156 BVerfG v. 22.2.1984 – 1 BvL 10/80, BVerfGE 66, 214 (223).
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§ 8 Rz. 739
Einkommensteuer
739 Die unterhaltene Person darf nach § 33a I 4 EStG kein oder nur geringes Vermögen haben1157. Hierzu setzt R 33a.1 II EStR 2012 eine seit 1975 unverändert geltende Wertgrenze von 15 500 Euro an (jedenfalls für VZ bis 2005 bestätigt durch BFH1158). Dabei bleiben gem. R 33a.1 II 4 EStR 2012 außer Ansatz unverkäufliche und persönlich gebundene Vermögensgegenstände, z.B. ein selbstbewohntes angemessenes Einfamilienhaus i.S.d. § 90 II Nr. 8 SGB XII. Die vollständige Orientierung am Sozialhilferecht (§ 90 SGB XII) erscheint geboten. Auch kann der unterhaltsrechtliche Selbstbehalt (§ 1603 I BGB) nicht durch eine steuerliche Opfergrenze1159 ersetzt werden. Unterhaltsleistungen an eine mit dem Stpfl. in Haushaltsgemeinschaft lebende, mittellose Lebenspartnerin sind ohne Berücksichtigung der sog. Opfergrenze nach § 33a I 2 EStG abziehbar1160. 740 Der allgemeine Unterhaltsabzug ist auf einen Höchstbetrag von 9 000 Euro begrenzt (§ 33a I 1
EStG). Hat die unterhaltene Person eigene Einkünfte oder Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts bestimmt oder geeignet sind, so vermindert sich der Betrag von 9 000 Euro um den Betrag, um den diese Einkünfte oder Bezüge den Betrag von 624 Euro übersteigen; zudem verkürzen öffentliche Ausbildungshilfen (ohne Freigrenze) den Unterhaltsabzug (§ 33a I 5 EStG). 741–742
Einstweilen frei.
4.2 Unterhalt für Kinder Literatur: (Allgemeine) Schneider, Kinder in der Einkommensteuer, SteuerStud-Beil. 1/1998; Kanzler, Die Zukunft der Familienbesteuerung – Familienbesteuerung der Zukunft, FR 2001, 921; Kulmsee, Die Berücksichtigung von Kindern im Einkommensteuergesetz, Diss., 2002. – S. auch die vor § 3 Rz. 162 und § 8 Rz. 88 zit. Lit. Familienleistungsausgleich/-politik: BZSt v. 21.8.2017 – St II 2 – S 2280-DA/17/00001, BStBl. I 2017, 1006. Lit. bis 2005 s. 20. Aufl., vor Rz. 742. Jochum, Das auszubildende Kind im Familienleistungsausgleich, FR 2006, 677; Seer/Wendt, Kindergeld/Kinderfreibetrag u. wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Kindes, NJW 2006, 1; Hechtner/Hundsdoerfer, Belastungsverschiebungen durch das Familienleistungsgesetz, FR 2009, 55; Jachmann/Liebl, Wesentliche Aspekte zur Familienbesteuerung, DStR 2010, 2009; Jachmann, Berücksichtigung von Kindern im Focus der Gesetzgebung, FR 2010, 123; Dornbusch, Zur Struktur familienpolitischer Maßnahmen in Deutschland, ifst-Schrift Nr. 460 (2010); Bering/Friedenberger, Aktuelle Entwicklungen beim Kindergeld und Kinderfreibetrag, NWB 2015, 3161. 743 Der Unterhalt für Kinder wird durch den bereits in Rz. 91 ff. behandelten Familienleistungsaus-
gleich sowie durch ein Konglomerat sog. kindbedingter Erleichterungen (s. Rz. 91), insb. durch die Unterhaltsabzüge nach den §§ 24b; 33a II; 33a III; 33b V, VI EStG berücksichtigt (s. Rz. 736). 4.2.1 Allgemeine Voraussetzungen (§ 32 I-V EStG) 744 § 32 I–V EStG regelt allgemein die Berücksichtigung von Kindern beim Familienleistungsausgleich
(s. Rz. 746 ff.) und bei zusätzlichen Abzügen für den Kindesunterhalt (s. Rz. 751 ff.). Berücksichtigungsfähig sind nach § 32 I Nr. 1 EStG leibliche Kinder und Adoptivkinder, nicht jedoch Stiefkinder, und nach § 32 I Nr. 2 EStG die dort definierten Pflegekinder. Im Falle der Konkurrenz von Kindschaftsverhältnissen ordnet § 32 II die Rangfolge Pflege-, Adoptiv- und leibliches Kind an. Ein Kind wird grds. von der Geburt bis zum Eintritt der Volljährigkeit berücksichtigt (§ 32 III EStG). 1157 M.E. ist das Zivilrecht für das Vorliegen und den Umfang der gesetzlichen Unterhaltspflicht maßgeblich. Für die weitere Tatbestandsvoraussetzung des steuerlich nicht zu berücksichtigenden Vermögens ist das Sozialhilferecht, insb. § 90 SGB XII, heranzuziehen. Daran sollte das Steuerrecht nicht nur punktuell (vgl. zum Hausgrundstück R 33a.1 II 4 Nr. 2 EStR 2012), sondern vollständig ausgerichtet werden. 1158 BFH v. 30.6.2010 – VI R 35/09, BStBl. II 2011, 267. 1159 BFH v. 11.12.1997 – III R 214/94, BStBl. II 1998, 292; R 33a.1 IV EStR 2012. 1160 So BFH v. 29.5.2008 – III R 23/07, BStBl. II 2009, 363; v. 17.12.2009 – VI R 64/08, BStBl. II 2010, 343; gegen: BMF v. 28.3.2003 – IV C 4-S 2285-16/03, BStBl. I 2003, 243.
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H. Private Abzüge
Rz. 746 § 8
Volljährige Kinder werden nach den komplizierten und streitanfälligen Vorschriften in § 32 IV, V 745 EStG nur noch eingeschränkt wie folgt berücksichtigt: (1) Kinder bis 21 Jahre, die arbeitslos sind (§ 32 IV 1 Nr. 1 EStG), und Kinder bis 25 Jahre1161, die ausgebildet werden1162, die vor einem weiteren Ausbildungsabschnitt stehen, auf einen Ausbildungsplatz warten oder ein freiwilliges soziales Jahr/ökologisches Jahr/EU-Freiwilligendienst/internationalen Freiwilligendienst oder Bundesfreiwilligendienst (§ 32 IV 1 Nr. 2 EStG) bzw. Zivildienst/Wehrdienst (§ 32 V EStG) leisten1163. Diese Kinder durften früher nach Maßgabe des § 32 IV 2–10 EStG jährliche Einkünfte und Bezüge von nicht mehr als 8 004 Euro haben. Steuervereinfachungsgesetz 2011 hat die Erwerbsgrenze aufgehoben. Bis zum Abschluss einer Erstausbildung1164 (erstmalige Berufsausbildung/Erststudium) werden Kinder unabhängig davon berücksichtigt, ob sie eigene Einkünfte oder Bezüge haben. Nach dessen Abschluss bleiben sie berücksichtigungsfähig, wenn sie keiner eigenen Erwerbstätigkeit nachgehen, wobei Teilzeitbeschäftigungen (bis 20 Stunden pro Woche), Ausbildungsdienstverhältnisse und geringfügige Beschäftigungen i.S.v. §§ 8; 8a SGB IV unschädlich sind. Auf die Höhe des Verdienstes kommt es nicht mehr an. Damit scheidet auch der frühere Ausschluss verheirateter Kinder aus.1165 Mit dem Verzicht des Gesetzgebers auf die Schädlichkeit eigener Einkünfte ergibt sich für vermögende Eltern die Möglichkeit, durch den Transfer von Einkunftsquellen ein Familienrealsplitting zu erreichen1166. Die Kumulierung von Freibeträgen ist mit dem Prinzip gleichmäßiger Erfassung der Familienleistungsfähigkeit nicht vereinbar und begünstigt einkommens- und vermögensstarke Familien. Ein nennenswerter Vereinfachungseffekt gegenüber der bisherigen Rechtslage ist nicht erkennbar1167. Die Reformbedürftigkeit der Familienbesteuerung wird umso augenfälliger. (2) Körperlich, geistig oder seelisch behinderte Kinder, die deswegen außer Stande sind, sich selbst zu unterhalten1168, wenn die Behinderung vor dem 25. Lebensjahr eingetreten ist (§ 32 IV 1 Nr. 3 EStG).
4.2.2 Familienleistungsausgleich (§§ 31; 32 VI EStG) Der existenznotwendige Grundbedarf des Kindes inkl. Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungs- 746 bedarf wird zunächst durch die monatliche Auszahlung von Kindergeld als Steuervergütung (s. § 6 Rz. 88) gesichert (§ 31 Satz 3 EStG). Das monatliche Kindergeld beträgt für erste und zweite Kinder jeweils 184 Euro, für dritte Kinder 190 Euro und für das vierte und jedes weitere Kind jeweils 215 Euro (§ 66 I EStG i.d.F. des FamLeistG). Der Kinderfreibetrag beläuft sich ab VZ 2018 für das sächliche Existenzminimum auf 2 394 Euro für jeden Elternteil (Elternpaar: 4 788 Euro); der zusätzli1161 Die Altersgrenze ist durch StÄndG 2007 von dem 27. auf das 25. Lebensjahr herabgesetzt worden. Nach BFH v. 17.6.2010 – III R 35/09, BStBl. II 2011, 176; v. 24.2.2014 – XI B 15/13, BFH/NV 2014, 839, verfassungskonform (Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers; kein Vertrauensschutz); a.A. Horlemann, FR 2010, 597; Horlemann, DStR 2011, 503 (verfassungswidrige unechte Rückwirkung); Greite, FR 2011, 138 (Verstoß gegen Folgerichtigkeitsgebot). 1162 Zum Begriff der Berufsausbildung s. die Rspr.-Beispiele bei Schmidt/Loschelder36, § 32 EStG Rz. 27. Die Berufsausbildung endet spätestens mit der Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses bzw. Aufnahme der Vollzeiterwerbstätigkeit (BFH v. 24.5.2000 – VI R 143/99, BStBl. II 2000, 473). 1163 Eltern erhalten in dieser Zeit i.d.R. kein Kindergeld; zum Ausgleich werden sie auch über das 21 bzw. 25. Lebensjahr hinaus berücksichtigt; s. Schmidt/Loschelder36, § 32 EStG Rz. 68. 1164 Hierzu BMF v. 8.2.2016 – IV C 4 – S2282/07/0001-01, BStBl. I 2016, 226; mit Anm. Bering/Friedenberger, FR 2016, 265; zu mehraktigen Ausbildungen BFH v. 3.7.2014 – III R 52/13, BStBl. II 2015, 152; bejaht z.B. für konsekutives Masterstudium (BFH v. 3.9.2015 – VI R 9/15, BStBl. II 2016, 166. 1165 BFH v. 17.10.2013 – III R 22/13, BStBl. II 2014, 257; zuvor unter Aufgabe der sog. „Mangelfallrechtsprechung“ schon BFH v. 17.6.2010 – III R 34/09, BStBl. II 2010, 982. 1166 Königer/Ziegler, FR 2011, 937 (unter Berücksichtigung von ErbStG-Konsequenzen); zu Recht krit. aus steuersytematischer und verfassungsrechtlicher Sicht Reiß, FR 2011, 462; a.A. Wendl, FR 2014, 167 (173): weitgehend sachgerechte Typisierung der elterlichen Unterhaltspflichten. 1167 Ebenfalls sehr krit. Reimer, FR 2011, 932. 1168 Grds. hierzu BFH v. 15.10.1999 – VI R 183/97, BStBl. II 2000, 72; v. 15.10.1999 – VI R 40/98, BStBl. II 2000, 75; v. 15.10.1999 – VI R 182/98, BStBl. II 2000, 79; v. 15.3.2012 – III R 29/09, BStBl. II 2012, 892. Bei Zusammentreffen von Behinderung und Kindergeld ausschließender strafrechtlicher Verurteilung mit Unterbringung bzw. Inhaftierung besteht kein Anspruch auf Kindergeld (BFH v. 30.4.2014 – XI R 24/13, BStBl. II 2014, 1014; v. 25.2.2009 – III B 47/08, BFH/NV 2009, 929).
Hey 507
§ 8 Rz. 747
Einkommensteuer
che Freibetrag für den Betreuungs-, Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf beträgt 1 320 Euro (Elternpaar: 2 640 Euro). Somit berücksichtigt § 32 VI 1 u. 2 EStG das Kinderexistenzminimum in Höhe von insgesamt 7 428 Euro pro Elternpaar. Ist die steuerliche Auswirkung von Kinder- und Betreuungsfreibetrag (§ 32 VI EStG) günstiger als das Kindergeld, so sind die Freibeträge anzusetzen und die tarifliche Einkommensteuer um den Anspruch auf Kindergeld zu erhöhen (§ 31 Satz 4 EStG). 747
Ausländisches Kindergeld und vergleichbare Leistungen (§ 65 EStG) erhöhen die tarifliche Einkommensteuer ebenfalls bis zur Höhe des deutschen Kindergeldes (§ 31 Satz 5, 6 EStG). Für Auslandskinder1169 können nur die nach den Verhältnissen des Wohnsitzstaates notwendigen und angemessenen Beträge abgezogen werden (§ 32 VI 4 EStG). Kinderfreibetrag und Betreuungsfreibetrag sind separat übertragbar (§ 32 VI 6-11 EStG)1170, und zwar ab 2012 auch auf einen zur Leistung von Unterhalt nicht verpflichteten Elternteil, wenn dieser tatsächlich für den Unterhalt aufkommt. Die Freibeträge können auch auf einen Stiefeltern- oder Großelternteil übertragen werden, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 32 VI 10 EStG).
748 Kindergeldanspruch und -verfahren1171 sind für unbeschränkt Stpfl. in den §§ 62–78 EStG ge-
regelt1172. Das Bundeskindergeldgesetz i.d.F. v. 28.1.2009, BGBl. I 2009, 142, regelt die Kindergeldansprüche der nicht unbeschränkt Stpfl. (s. § 1 I BKGG), sowie der Personen, die wie z.B. Vollwaisen Kindergeld für sich selbst erhalten. Ab 2018 beträgt die Höhe des Kindergeldes für das erste und zweite Kind 194 Euro, für das dritte Kind 200 Euro und für das vierte sowie jedes weitere Kind 225 Euro pro Monat. 749
Die Anspruchsvoraussetzungen für unbeschränkt Stpfl. sind in den §§ 62–65 EStG normiert. Persönlich anspruchsberechtigt nach § 62 EStG sind in erster Linie deutsche Staatsangehörige. Allerdings sind hier die europarechtlichen Vorgaben zu beachten. So wird die Anspruchsberechtigung nur für die nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländer eingeschränkt1173; sie erhalten Kindergeld nach § 62 II EStG nur mit Niederlassungs-/Aufenthaltserlaubnis. EU-/EWR-Staatsangehörige und nach dem Freizügigkeitsabkommen v. 21.6.1999, ABl. EG Nr. L 114 v. 30.4.2002, auch Schweizer haben grds. unter denselben Voraussetzungen wie deutsche Staatsangehörige Anspruch auf Kindergeld1174. Wohnen sie in Deutschland und arbeiten sie in einem EU-/EWR-Mitgliedstaat oder in der Schweiz, so haben sie Anspruch auf Kindergeld, wenn das Recht des Beschäftigungsstaates weder Kindergeld noch eine vergleichbare Leistung vorsieht1175.
1169 Umfassend zur einkommensteuerlichen Berücksichtigung von Auslandskindern und zur Unionsrechtskonformität Reimer/Weimar, ISR 2012, 37; M. Vogel, EWS 2012, 226 (rechtsvergleichend). 1170 Übertragung des Betreuungsfreibetrags auf den Elternteil, bei dem das Kind gemeldet ist, ist verfassungskonform (BFH v. 27.10.2011 – III R 42/07, BStBl. II 2013, 194 [195]); s. jetzt § 32 VI 8–9 EStG, insb. Widerspruchsrecht. 1171 Zur aktuellen Rechtslage Günther, EStB 2012, 262; Bering/Friedenberger, NWB 2013, 1560. 1172 Dazu BZSt v. 21.8.2017 – St II 2 – S 2280-DA/17/00001, BStBl. I 2017, 1006 (1026 ff.). 1173 BFH v. 15.3.2007 – III R 93/03, BStBl. II 2009, 905 (geduldeter Ausländer); v. 22.11.2007 – III R 54/02, BStBl. II 2009, 913; v. 28.4.2010 – III R 1/08, BStBl. II 2010, 980. 1174 BFH v. 16.5.2013 – III R 8/11, BStBl. II 2013, 1040. 1175 BZSt v. 21.8.2017 – St II 2 – S 2280-DA/17/00001, BStBl. I 2017, 1006 (1071); EuGH v. 20.5.2008 – C-352/06, ECLI:EU:C:2008:290 – Bosmann; zur Klärung der Anspruchsvoraussetzungen im Hinblick auf die EU-rechtlichen Kollisionsregeln für die sozialen Sicherungssysteme s. EuGH v. 12.6.2012 – C-611/10 und C-612/10, ECLI:EU:C:2012:339 – Hudzinski und Wawrzyniak; dazu Wendl, DStR 2012, 1894. Umgesetzt in BFH v. 20.3.2014 – V R 45/11, BFH/NV 2014, 1205; v. 16.5.2013 – III R 8/11, BStBl. II 2013, 1040.
508
Hey
H. Private Abzüge
Rz. 754 § 8
§ 63 I EStG bestimmt, für welche Kinder Anspruch auf Kindergeld besteht. Daraus ergibt sich die Kindergeldberechtigung für Eltern, Adoptiv-, Pflege-, Großeltern, Ehegattenkinder und Kinder eingetragener Lebenspartner1176. Die nach § 63 I EStG bestimmten, bei der Bemessung des Kindergeldes (§ 66 EStG) berücksichtigten 750 sog. Zählkinder werden zu sog. Zahlkindern, wenn das Kindergeld nach § 64 EStG einem bestimmten Berechtigten zugewiesen wird. Das Kindergeld steht nach dem sog. Obhutsprinzip1177 demjenigen zu, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 II 1 EStG). Lebt das Kind nicht im Haushalt eines Berechtigten i.S.d. §§ 62; 63 I EStG, so erhält das Kindergeld derjenige, der dem Kind eine Unterhaltsrente zahlt (§ 64 III 1 EStG). Das BVerfG verlangt die Gleichbehandlung der verschiedenen Familienformen1178. § 65 EStG schließt das Kindergeld aus, wenn für das Kind vergleichbare andere Leistungen gezahlt werden. Im Ausland gewährte Leistungen dürfen nicht zu einem vollständigen Ausschluss, sondern nur zu einer entsprechenden Kürzung des Anspruchs führen1179. 4.2.3 Zusätzliche Abzüge für den Kindesunterhalt § 24b EStG sieht einen Entlastungsbetrag für Alleinerziehende in Höhe von 1 908 Euro (§ 24b EStG) 751 vor, der anders als der Grundfreibetrag von der Summe der Einkünfte abzuziehen ist. § 24b EStG will typisierend den Mehraufwand der Alleinerziehenden berücksichtigen1180 und begegnet daher keinen verfassungsrechtlichen Bedenken1181. Ein verfassungsrechtlicher Anspruch Alleinerziehender auf Besteuerung nach dem Splitting- statt nach dem Grundtarif besteht nicht1182. Der Ausbildungsfreibetrag (§ 33a II EStG) ist wegen der Berücksichtigung von Ausbildungsbedarf in 752 § 32 VI EStG auf die Abgeltung von Sonderbedarf eines auswärtig untergebrachten, volljährigen Kindes beschränkt. Er beträgt 924 Euro, die der Stpfl. vom Gesamtbetrag der Einkünfte abziehen kann1183. Regelmäßiger Mehrbedarf entsteht auch infolge Krankheit und Körperbehinderung des Kindes. 753 Diesen Mehrbedarf berücksichtigt § 33b V, VI EStG (s. Rz. 732). Kinderbetreuungskosten sind nach § 10 I Nr. 5 EStG abziehbar1184. Nachdem der Gesetzgeber zu- 754 nächst (§§ 4f; 9c EStG a.F.) vorrangig erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten „wie“ Betriebsaus1176 1177 1178 1179
1180 1181 1182 1183
1184
BFH v. 8.8.2013 – VI R 76/12, BStBl. II 2014, 36. BT-Drucks. 13/1558, 165. BVerfG v. 29.10.2002 – 1 BvL 16/95, BVerfGE 106, 166. EuGH v. 12.6.2012 – C-611/10 und 612/10, ECLI:EU:C:2012:339 Rz. 75 ff. – Hudzinski und Wawrzyniak; BFH v. 12.9.2013 – III R 60/11, BFH/NV 2014, 674. Zu im Ausland gewährten Leistungen s. BZSt v. 1.7.2014 – St II 2-S 2280-DA/14/00004, BStBl. I 2014, 918 (976). Zur Konkurrenz der Kindergeldansprüche verschiedener Mitgliedstaaten s. EuGH v. 6.11.2014 – C-4/13, ECLI:EU:C:2014:2344 – Fassbender-Firman; nachgehend: BFH v. 5.2.2015 – III R 40/09, BStBl. II 2017, 118. BT-Drucks. 15/3339, 21. BVerfG v. 22.5.2009 – 2 BvR 310/07, BStBl. II 2009, 884; krit. dagegen Kirchhof/Seiler17, § 24b EStG Rz. 1: Sozialzwecknorm, die progressionsabhängig Besserverdienende stärker fördert als Geringverdiener und Einkommenslose. BFH v. 29.9.2016 – III R 62/13, BStBl. II 2017, 259; VB anhängig: Az. 2 BvR 221/17. Im Hinblick auf die bei der Beurteilung einzubeziehenden Freibeträge des § 32 VI EStG der Höhe nach verfassungskonform BFH v. 17.12.2009 – VI R 63/08, BStBl. II 2010, 341; v. 25.11.2010 – III R 111/07, BStBl. II 2011, 281; v. 9.2.2012 – III R 67/09, BStBl. II 2012, 567; v. 5.7.2012 – III R 80/09, BStBl. II 2012, 816; Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen; a.A. Hölscheidt, NWB 2011, 1782; Greite, FR 2012, 973. Dazu BMF v. 14.3.2012 – IV C 4 - S 2221/07/0012:012, BStBl. I 2012, 307; Nolte, NWB 2012, 1508; Merker, SteuerStud 2013, 9; ferner grds. zum Abzug von Kinderbetreuungskosten Hey, NJW 2006, 2001; Hillmoth, INF 2006, 377; Brosius-Gersdorf, JZ 2007, 326; Gunsenheimer, SteuerStud 2007, 476; Seiler, DStR 2007, 1631. BFH v. 19.4.2012 – III R 29/11, BStBl. II 2012, 862 zur Abgrenzung zwischen abzugsfähigen Betreuungs- und nicht abzugsfähigen Unterrichtsaufwendungen.
Hey 509
§ 8 Rz. 755
Einkommensteuer
gaben/Werbungskosten zum Abzug zugelassen hatte1185, ordnet das Steuervereinfachungsgesetz 2011 den Abzug einheitlich den Sonderausgaben zu. Abziehbar sind zwei Drittel der Aufwendungen, jedoch höchstens 4 000 Euro pro Kind. 755 Kritik: Zu begrüßen ist zwar, dass damit die komplizierte Differenzierung nach Kindesalter und Erwerbssituation der Eltern entfällt. In seiner jetzigen Ausgestaltung vermischt § 10 I Nr. 5 EStG jedoch Aspekte des subjektiven Nettoprinzips (zwangsläufiger Betreuungsaufwand aufgrund Krankheit/Behinderung der Eltern) mit familienpolitischen Förderzwecken (Abzugsmöglichkeit unabhängig von einem durch die Erwerbstätigkeit veranlassten Förderbedarf). Ist der Betreuungsaufwand durch die Erwerbstätigkeit beider Elternteile veranlasst, handelt es sich um eine Fehlplatzierung von Erwerbsaufwand in den Sonderausgaben. Kinderbetreuungskosten sind zunächst gemischt veranlasste Aufwendungen, die zum einen durch das Kindhaben und zum anderen durch die Erwerbstätigkeit verursacht sind. Fallen jedoch die Aufwendungen „wegen einer Erwerbstätigkeit“ an, so liegt beruflicher Mehraufwand vor, der als Mehraufwand ausschließlich beruflich veranlasst ist1186. In diesem Sinne hatte das FG Köln1187 zutr. die volle Abziehbarkeit von Kosten einer Kindertagesstätte als Werbungskosten bejaht. Nur die volle Abziehbarkeit des beruflichen Mehraufwandes wird dem Ziel der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie gerecht, wofür sich 1994 der 60. DJT ausgesprochen hat. 756–799
Einstweilen frei.
J. Einkommensteuertarif Literatur: von Wiese, Das Prinzip der Progression in der Einkommensteuer, in Festgabe von Schanz II, 1928, 261; Kipke, Beiträge zur Lehre vom Steuertarif, Diss., 1931; Föhl, Kritik der progressiven Einkommensbesteuerung, FinArch. Bd. 14 (1953/54), 88; Krelle, Zur Wirkung der progressiven Einkommensbesteuerung, FinArch. Bd. 16 (1955/56), 22; K. Schmidt, Die Steuerprogression, Habil., 1960; Pollak, Steuertarife, in Hdb. der Finanzwissenschaft3, Bd. II, 1980, 239; Hinterberger/Müller/Petersen, „Gerechte“ Tariftypen bei alternativen Opfertheorien und Nutzenfunktionen, FinArch. Bd. 45 (1987), 45; Lieb, Direkte Steuerprogression, Geschichtliche Entwicklung und kritische Würdigung ihrer Begründungen, Diss., 1992; Becker, Steuerprogression und Steuergerechtigkeit, in FS Klein, 1994, 379; Klett, Progressive Einkommenssteuer und Leistungsfähigkeitsgrundsatz in der Schweiz, in FS Tipke, 1995, 599; Wiss. Beirat beim BMF, Zur Reform des Einkommensteuertarifs, Heft 60, 1996; Elicker, Kritik der direkt progressiven Einkommensbesteuerung, Plädoyer für die „flache Steuer“, StuW 2000, 3; Elicker, Die Ungerechtigkeit der direkten Steuerprogression, ÖStZ 2001, 166; Knaupp, Der Einkommensteuertarif als Ausdruck der Steuergerechtigkeit, Diss., 2004; Liesenfeld, Das steuerfreie Existenzminimum und der progressive Tarif als Bausteine eines frei1185 Das Hin und Her des Gesetzgebers ist beispiellos. Seit Einführung der Abzugsmöglichkeit für VZ 2006 wurde die Regelung drei Mal umplatziert (zunächst § 4f EStG [VZ 2006–2008], dann § 9c EStG [VZ 2009–2011], ab 2012 § 10 I Nr. 5 EStG). 1186 Dazu Hey, NJW 2006, 2001 (2002 f.), sowie bereits J. Lang, StuW 1983, 108; J. Lang, Vermeidung von Schlechterstellung der Ehe gegenüber nichtehelichen Lebensgemeinschaften im Einkommensteuerrecht, 1999; J. Lang, 60. DJT, Sitzungsbericht, Teil O, O 61 ff. (O 82 f.); Degenhard, DStZ 1995, 611; Schön, DStR 1999, 1677 (1680); Tiedchen, BB 1999, 1681; Locher, ASA 68 (1999/2000), 375; Seer/ Wendt, NJW 2000, 1904 (1907 f.); Gröpl, StuW 2001, 150 (161); Jachmann/Liebl, DStR 2010, 2009 (2011); BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvR 1057/91, BVerfGE 99, 216 (233) unterscheidet von dem durch § 32 VI EStG abgegoltenen generellen Betreuungsbedarf den „erwerbsbedingten Betreuungsbedarf“, ohne daraus Konsequenzen für §§ 4 IV; 9 I EStG zu ziehen (s. Seer/Wendt, NJW 2000, 1904 [1907]). Nach § 15 II Nr. 1 Kölner EStGE sind als Erwerbsausgaben abziehbar „Ausgaben für die Unterbringung und Betreuung von Personen, die minderjährig oder infolge Krankheit oder Behinderung betreuungsbedürftig sind, soweit die Unterbringung oder Betreuung die Erwerbstätigkeit ermöglicht.“ In ausländischen Steuerrechtsordnungen werden Kinderbetreuungskosten dagegen auch bei Berufstätigkeit grds. als privat veranlasst eingestuft, z.T gibt es beschränkte Abzugsmöglichkeiten, s. Ault/ Arnold, Comparative Income Taxation3, 2010, 263 ff. 1187 FG Köln v. 1.8.2006 – 8 K 4006/03, EFG 2006, 1900; a.A. BFH v. 23.4.2009 – VI R 60/06, BStBl. II 2010, 267; offen gelassen BFH v. 9.2.2012 – III R 67/09, BStBl. II 2012, 567 (569).
510
Hey
J. Einkommensteuertarif
Rz. 801 § 8
heitlichen Verständnisses des Leistungsfähigkeitsprinzips, Diss., 2005; Reich, Verfassungsrechtliche Beurteilung der partiellen Steuerdegression, ASA 2006, 689; Berger, Steuerprogression als verfassungsrechtliches Gebot?, ASA 2008/2009, 577; Bareis, Zur Problematik steuerjuristischer Vorgaben für die Einkommensteuer-Tarifstruktur und Familiensplitting als Musterbeispiele, DStR 2010, 565; Houben/Baumgarten, Haushalts- und Verteilungswirkungen einer Tarifreform, ifst-Schrift Nr. 476 (2011); Müller/Maiterth, Aufkommens- und Verteilungswirkungen des Einkommensteuertarifs in Deutschland von 1988 bis 2008, StuW 2011, 28; Houben/Baumgarten, Krankt das deutsche Steuerrecht am Mittelstandsbach und der kalten Progression?, StuW 2011, 341; M. Rose, Vorschlag für eine Reform des Einkommensteuertarifs, Wirtschaftsdienst 2011, 323; Broer, Optionen zur Umsetzung des Kabinettsbeschlusses zur Steuerentlastung „kleiner und mittlerer Einkommen“, DStZ 2011, 641; Bareis, Einkommensteuertarif und Sozialsteuerprinzip – Ein Konzeptvergleich, DB 2012, 994; Broer, Kalte Progression wegen fehlender Inflationsanpassung steuerlicher Abzugsbeträge, DStZ 2012; Haase/Leisner, Kalte Progression und Mittelstandsbauch und ihr Einfluss auf die Leistungsfähigkeit des Handwerks, 2013; Hechtner, Das Gesetz zum Abbau der kalten Progression: Baut die Anhebung des Grundfreibetrags die kalte Progression vollständig ab?, StuW 2014, 132; Fuest u.a., Möglichkeiten der Integration des SolZ in den Einkommensteuertarif, Wirtschaftsdienst 2015, 319; Djanani/ Grossmann, Kalte Progression aufgrund fehlender Inflationskorrektur außertariflicher Abzüge und Höchstbeträge bei der Einkommensteuer, StuW 2015, 33; Beznoska/Fuest/Schaefer, Wirkungen einer Beseitigung des „Mittelstandsbauchs“ im Einkommensteuertarif, Wirtschaftsdienst 2016, 655; Houben/Chirvi, Reformnotwendigkeit und Reformalternativen für den Einkommensteuertarif, ifst-Schrift Nr. 517 (2017); Kucsera/ Lorenz, Möglichkeiten zur Kompensation der kalten Progression, Wirtschaftsdienst 2016, 10 (rechtsvergleichend).
1. Der linear-progressive Tarif Das zu versteuernde Einkommen bildet die Bemessungsgrundlage (§ 2 V 1 Hs. 2 EStG) für den in 800 § 32a I EStG geregelten progressiven (s. § 6 Rz. 47) Einkommensteuertarif. Hierzu lassen sich unterschiedliche Tarifformen1188 unterscheiden: Bei Stufentarifen wird die Bemessungsgrundlage in Teilmengen zerlegt und diese Teilmengen ansteigenden Tarifprozentsätzen zugeordnet. Stufentarife werden auch als Teilmengentarife bezeichnet; ihnen wird u.a. der Vorzug der Belastungstransparenz zugeschrieben1189. Bei wenigen Stufen ergeben sich allerdings Belastungssprünge, die Formeltarife vermeiden. Durch das Steuerreformgesetz 1990 v. 25.7.1988, BGBl. I 1988, 1093, ist ein linear-progressiver Formeltarif mit linear verlaufender Grenzbelastung (s. Schaubild Rz. 805) eingeführt worden. Weiter unterschieden werden kann zwischen direkter und indirekter Progression. Letztere entsteht durch die Freistellung des Existenzminimums. Auch Tarife mit einheitlichem Steuersatz (sog. Flat Taxes) wirken durch den existenznotwendigen Bedarf berücksichtigende Abzüge in der Bemessungsgrundlage indirekt-progressiv1190. Es lässt sich weder wirtschaftswissenschaftlich noch rechtswissenschaftlich beweisen, welcher Tarif „richtig“ 801 ist. Der progressive Tarif ist bereits 1891 in Preußen eingeführt worden (0,67 bis 4 %). Die Überzeugung, dass die Besteuerung progressiv zu sein habe, reicht in das 18. Jahrhundert zurück und hat vor allem durch die sozialen Konflikte des 19. Jahrhunderts im Wandel von der feudalistischen Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft Auftrieb erfahren. Grundlage der Rechtfertigung war die sog. Opfertheorie, die Jean-Jacques Rousseau 1755 wegweisend in seinem „Discours sur l’économie politique“ entworfen hat. Er legte dar, dass die Steuer nach der Größe des Vermögens abgestuft werden müsste. Je größer das Vermögen sei, desto entbehrlicher werde es für die Befriedigung der Lebensbedürfnisse. Das Lebensnotwendige müsste steuerfrei bleiben, der Luxus könnte hoch und das Überflüssige könnte ganz weggesteuert werden.
1188 Dazu Pollak, Steuertarife, Hdb. der Finanzwissenschaft II3, 239; Wiss. Beirat beim BMF, Zur Reform des Einkommensteuertarifs, Heft 60, 1996; Bohley, Die Öffentliche Finanzierung, 2003, 86 ff.; HHR/ Siegel, § 32a EStG Anm. 4 f. (2015); Houben/Baumgarten, ifst-Schrift Nr. 476 (2011), 16 ff.; S. Homburg, Allgemeine Steuerlehre7, 2015, § 17 Steuerprogression. 1189 M. Rose, Wirtschaftsdienst 2011, 323; skeptisch gegenüber den Transparenzgewinnen eines Stufentarifs im Hinblick auf die notwendige Inflationsanpassung der einzelnen Stufen Houben/Baumgarten, ifst-Schrift Nr. 476 (2011), 67. 1190 S. P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, 14 f.; Suttmann, Die Flat Tax, Diss., 2007, 58 f.
Hey 511
§ 8 Rz. 802
Einkommensteuer
802 Das BVerfG hat im Parteispendenurteil v. 24.6.1958 noch gemeint, die „formale Gleichbehandlung von Reich und Arm durch Anwendung desselben Steuersatzes“ würde dem Gleichheitssatz widersprechen. Die Gerechtigkeit verlange, „dass im Sinne der verhältnismäßigen Gleichheit der wirtschaftlich Leistungsfähigere einen höheren Prozentsatz seines Einkommens zu zahlen“ habe als der „wirtschaftlich Schwächere“1191. Mittlerweile hat ein steuerwissenschaftliches Umdenken eingesetzt: Die Steuergleichheit gebietet den proportionalen Fiskalzwecksteuersatz. Der progressive Tarif ist ein Instrument sozialstaatlicher Umverteilung (s. bereits § 3 Rz. 212) und Erfahrungen mit dem durch hohe Spitzensätze verursachten Ausweichverhalten haben sogar die soziale Gerechtigkeit der Steuerprogression erschüttert. 803 Die Steuerprogression wirkt nämlich leistungshemmend (Verzerrung der Entscheidung zwischen Freizeit und Arbeit), verfälscht die Lohn- und Preisgerechtigkeit, verlockt zu unwirtschaftlichen Investitionen, verkompliziert das Einkommensteuerrecht infolge Steuerwiderstands, den die gut beratenen und international agierenden Stpfl. am besten ausüben können, und birgt die Gefahr einer Kompensation durch Durchlöcherung der Bemessungsgrundlage. Die Steuerprogression führt zwangsläufig dazu, dass durch Erhöhung persönlicher Freibeträge (Grundfreibeträge/Kinderfreibeträge) Spitzenverdiener stärker entlastet werden als Geringverdiener; dies ergibt sich folgerichtig aus der Systematik der Progression1192, führt aber zu politischen Diskussionen1193. Die Steuerprogression trifft die unkundigen, ortsgebundenen Besserverdiener, vor allem Arbeitnehmer am härtesten (sog. Dummensteuereffekt, s. § 7 Rz. 14) und wird von denen am wenigsten getragen, die sie eigentlich treffen soll. 804 Nicht ableiten lässt sich anhand der Datenlage jedoch, dass Spitzenverdiener der Einkommensteuer systematisch ausweichen und nicht zum Einkommensteueraufkommen beitragen würden, auch wenn die steuerpolitische Debatte, wie sie insb. bei Einführung der sog. Reichensteuer (s. Rz. 805) geführt wurde, suggeriert, dass die „Reichen“ zu wenig Steuern zahlen. Nach der BMF-Datensammlung zur Steuerpolitik 2016/2017 tragen die obersten 5 % der Einkommensbezieher mit Einkünften ab 108 261 Euro 42,2 % des Einkommensteueraufkommens und die untere Hälfte der Stpfl. nur 5,5 %. Hieraus ergibt sich kein unmittelbarer Bedarf für eine Anhebung des Einkommensteuerspitzensatzes. Auch wenn es sich hierbei letztlich um eine gesellschaftspolitisch zu entscheidende Frage handelt, werden die Spielräume maßgeblich durch den internationalen Steuerwettbewerb (s. § 7 Rz. 70 ff.) determiniert. Dieser übt erheblichen Druck auf die Ertragsteuerbelastungen aus. Demzufolge wurde der Spitzensatz der deutschen Einkommensteuer seit Beginn der 1990er Jahre1194 von 56 % auf 42 % abgesenkt (s. Rz. 805). In der Schweiz wurde gar ein degressiver Steuertarif eingeführt, mit dem der Tarif wettbewerbspolitisch optimiert wurde1195. Das Bundesgericht der Schweiz hat allerdings am 20071196 entschieden, dass die ab einer bestimmten Höhe des steuerbaren Einkommens bzw. Vermögens eintretende Degressivität des Tarifs gegen das allgemeine Rechtsgleichheitsgebot (Art. 8 I BV) und gegen das ausdrücklich in Art. 127 II BV verankerte Leistungsfähigkeitsprinzip verstoße (dazu ausf. Berger, ASA 2008/2009, 577). Eine Absenkung des Einkommensteuertarifs in die Richtung einer „flat tax“ mit niedrigem Einheitssteuersatz (s. § 7 Rz. 86) ist für Sozialstaaten fiskalisch nicht verkraftbar, da die Spitzenverdiener die Hauptlast der Einkommensteuer tragen. Eine Verlagerung der Steuerkraft auf indirekte Steuern ist sozialstaatlich inadäquat. Die meisten Steuerstaaten bedienen sich einer Schedularisierungsstrategie (s. Rz. 1): Die Tarifbelastungen werden gezielt dort abgesenkt, wo der Steuerwettbewerb den stärksten Druck ausübt (s. § 7 Rz. 88). Auf diese Weise entstehen starke Spreizungen von Körperschaftsteuersatz und Spitzensatz der Einkommensteuer als Erscheinungsform einer partiell nachgelagerten Besteuerung von Unternehmensgewinnen1197. Die Abgeltungsteuer (s. Rz. 492 ff.) ist eine flat tax auf Kapitaleinkünfte.
1191 1192 1193 1194 1195 1196 1197
BVerfG v. 24.6.1958 – 2 BvF 1/57, BVerfGE 8, 51 (68 f.). A.A. Bareis, DStR 2010, 565 (567). Birk, DB 2011, Gastkommentar zu Heft 35. Beginnend mit Steuerreformgesetz 1990 v. 25.7.1988, BGBl. I 1988, 1093. S. Reich, ASA 2006, 689. Schweizerisches Bundesgericht v. 1.6.2007, BGE 133 I 206. Dazu Dorenkamp, Spreizung zwischen Körperschaftsteuer- und Spitzensatz der Einkommensteuer, in Pelka, Unternehmenssteuerreform 2001, 61. S. auch § 3 Rz. 77. Der Körperschaftsteuersatz ist unter dem Druck des Steuerwettbewerbs von 56 % (1977) auf 15 % (ab 2008) abgesenkt worden (s. § 11 Rz. 110). Somit beträgt die Spreizung gegenwärtig 30 Prozentpunkte.
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Hey
Rz. 806 § 8
J. Einkommensteuertarif
Mit Einführung des linear-progressiven Tarifs ab 1990 wurde der Spitzensatz von 56 % auf 53 % ge- 805 senkt. Dieser Spitzensatz wurde ab 2000 unter dem Druck des Steuerwettbewerbs (s. Rz. 804) in vier Stufen auf 42 % herabgeführt, und zwar 2000 auf 51 %, sodann 2001 auf 48,5 %, 2003 auf 47 % und ab 2005 auf 42 %. Ab 2007 wurde der Spitzensatz von 42 % für zu versteuernde Einkommen ab 250 000 Euro auf 45 % angehoben (sog. Reichensteuer). Nicht außer Betracht gelassen werden darf, dass zur Einkommensteuerbelastung der Solidaritätszuschlag hinzutritt, so dass der Einkommensteuerspitzensatz real bei 44,3 % bzw. 47,5 % liegt. Es ergibt sich ab 2018 folgender Einkommensteuertarif (Ehegattensplitting s. Rz. 825 ff.): – Grundfreibetrag (§ 32a I 2 Nr. 1 EStG): Nullzone bis 9 000 Euro; der im Gesetz sog. Grundfreibetrag gehört in die Bemessungsgrundlage (s. Rz. 87); – Übergangszone bis zur linear-progressiven Zone (§ 32a I 2 Nr. 2 EStG): 9 001 Euro bis 13 996 Euro; – linear-progressive Zone (§ 32a I 2 Nr. 3 EStG): 13 997 bis 54 949 Euro; – obere Proportionalzone (§ 32a I 2 Nr. 4 EStG): 54 950 bis 260 532 Euro: 42 %; – Reichensteuer (§ 32a I 2 Nr. 5 EStG): ab 260 533 Euro Spitzensatz von 45 %.
Grenz- und Durchschnittsbelastung bis 65 000 Euro
Einkommensbelastung in %
60 50 40 Grenzbelastung 30 20
Durchschnittsbelastung
10 0 0
10
20
30
40
50
60
Zu versteuerndes Einkommen in Tausend Euro
Die Graphiklinien der Durchschnittsbelastung zeigen die prozentuale Belastung des gesamten zu versteu- 806 ernden Einkommens i.S.d. § 32a I 1 EStG und die der Grenzbelastung zeigen die prozentuale Belastung des Mehrbetrags. Die steuerliche Auswirkung eines Geschäftsvorfalls wird nach der Grenzbelastung, dem sog. Grenzsteuersatz oder Marginalsteuersatz (margo = Rand) gerechnet. Eine Besonderheit des Tarifverlaufs liegt in dem steileren Anstieg des Grenzsteuersatzes in der ersten Tarifzone (aktuell 9 001 bis 13 996 Euro), dem sog. „Mittelstandsbauch“, dessen Beseitigung politisch gefordert wird, allerdings mit erheblichen Aufkommensausfällen verbunden wäre1198. 1198 Ca. 28 Mrd. Euro, vgl. BT-Drucks. 17/6541, 32 f. Dazu Houben/Baumgarten, StuW 2011, 341 (347 ff.). Dorn/Fuest u.a., ifo Schnelldienst 9/2017, 31 (33), gehen bei vollständiger Tarifbegradigung von Mindereinnahmen i.H.v. 31,4 Mrd. Euro aus; ausf. s. auch Houben/Chirvi, ifst-Schrift Nr. 517 (2017), 35 ff.; 39 ff.
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§ 8 Rz. 807
Einkommensteuer
807 Soweit der Tarif der Geldentwertung nicht angepasst wird, findet eine „kalte Progression“ eine
„heimliche Steuererhöhung“ statt, d.h. es wachsen infolge der zum Ausgleich der Geldentwertung vorgenommenen Einkommens- und Lohnerhöhungen immer mehr Stpfl. in den höheren Tarif hinein, ohne dass der Gesetzgeber eine entsprechende Entscheidung trifft1199. Theoretisch kann der Tarif der inflationären Entwicklung auf verschiedene Weise angepasst werden: – durch eine gesetzliche Indexierung, d.h. durch eine gesetzlich angeordnete, automatische Anpassung des Tarifs und der persönlichen Freibeträge (Grundfreibetrag, familiäre Freibeträge) bei bestimmten Mindesterhöhungen des Lebenshaltungskostenindexes (so verfahren z.B. Schweden, Kanada und die USA); – durch eine Verpflichtung der Regierung, ab bestimmten Mindesterhöhungen des Lebenshaltungskostenindex der „kalten Progression“ durch Anpassung des Tarifs und der persönlichen Freibeträge Rechnung zu tragen; – durch eine Überprüfung des Tarifs und der persönlichen Freibeträge entweder jährlich oder in Mehrjahreszeiträumen, ohne dass bindende Regeln aufgestellt werden (Beispiel Großbritannien). Zwar werden Grund- und Kinderfreibeträge regelmäßig an die Geldentwertung angepasst; seit 2015 veröffentlicht die Bundesregierung parallel zum Existenzminimumbericht einen Steuerprogressionsbericht1200. Die Anpassung ist aber nicht automatisiert, weshalb sie nicht immer synchron zu den Feststellungen des Existenzminimumberichts erfolgt1201, und bezieht sich nicht auf alle Freibeträge. Grundsätzlich müssten auch alle sonstigen Freibeträge, jedenfalls wenn sie der pauschalierten Abbildung der objektiven Leistungsfähigkeit dienen, infolge des Gebots realitätsgerechter Typisierung an die Geldentwertung angepasst werden1202. Einen verfassungsrechtlichen Anpassungszwang gibt es nicht bei (widerlegbaren) Vereinfachungspauschalen und Steuerbefreiungen. Indes sollten auch sie regelmäßig an die Geldentwertung angepasst werden, weil sie ansonsten Gefahr laufen, ihre Zwecke zu verfehlen. 808 Progressionsvorbehalt (§ 32b EStG)1203: Wenn bestimmte Einkünfte aus der Bemessungsgrundlage
herausgenommen sind, dann bewirkt das nicht nur den Steuerausfall für diese Einkünfte, sondern darüber hinaus die Anwendung eines niedrigeren Steuersatzes bei den übrigen Einkünften. Diesem letzteren Effekt wirkt die Regelung des Progressionsvorbehalts entgegen: Sie lässt die Steuerfreiheit der ausgenommenen Einkünfte unangetastet, bezieht jedoch diese Einkünfte bei der Ermittlung des Steuersatzes in die Bemessungsgrundlage ein, indem das nach § 32a I EStG zu versteuernde Einkommen vermehrt (positiver Progressionsvorbehalt bei positiven Einkünften) oder vermindert (negativer Progressionsvorbehalt bei negativen Einkünften) wird (§ 32b II EStG). 809 Der Progressionsvorbehalt ist in erster Linie eine Institution des Internationalen Steuerrechts (s.
§ 32b I 1 Nr. 2–5, Ia EStG). Nach § 32b I 1 Nr. 3 EStG unterliegen ausländische Einkünfte dem Progressionsvorbehalt, wenn sie nach einem DBA im Quellenstaat besteuert werden und im Inland steuerfrei gestellt sind. Nach der Rspr. des BFH braucht das DBA ein Besteuerungsrecht mit Progressi1199 Die laufende Anpassung des Tarifs an die Geldentwertung fordert insb. der Bund der Steuerzahler. S. Stern, Der Tarif muss auf die Räder, Heimliche Steuererhöhungen vermeiden, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, 2002; Stern, DStZ 2003, 294. Der Kölner EStGE empfiehlt die jährliche Anpassung des Tarifs sowie der privaten Abzüge durch eine Lebensbedarfsverordnung (§§ 3 II 2; 36 III 2); Fuest u.a., Heimliche Steuererhöhungen – Belastungswirkungen der Kalten Progression und Entlastungswirkungen eines Einkommensteuertarifs ifo-Forschungsberichte Nr. 76 (2016). Zur Diskussion in Österreich Loser, ÖStZ 2014, 295; Rainer, ÖStZ 2014, 297. 1200 2. Steuerprogressionsbericht, Bericht über die Wirkung der kalten Progression im Verlauf des Einkommensteuertarifs für die Jahre 2016 und 2017, BT-Drs. 18/10221 auf der Grundlage von BTDrucks. 17/9201. 1201 Niedersächsisches FG v. 2.12.2016 – 7 K 83/16, EFG 2017, 668 (Az. des BVerfG: 2 BvL 3/17). 1202 Zu den Progressionswirkungen unangepasster Freibeträge Djanani/Grossmann, StuW 2015, 33. 1203 Dazu Wotschofsky, Der Progressionsvorbehalt, 1998; Wotschofsky/Pasch, StuB 2000, 932 (Systemwidrigkeit); Wassermeyer, IStR 2002, 289 (BFH-Rspr.); Kudert/Husmann, StuW 2006, 165; Holthaus, DStZ 2009, 188; Schaumburg/Häck, Internationales Steuerrecht4, 2017, § 19 Rz. 534 ff.
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J. Einkommensteuertarif
Rz. 813 § 8
onsvorbehalt nicht ausdrücklich einzuräumen1204. In der Tat wird durch die Zuweisung von Einkünften dem Quellenstaat das Recht des Wohnsitzstaats, wie er die verbleibenden steuerpflichtigen Einkünfte besteuert, nicht berührt, es sei denn, das DBA verbietet ausdrücklich den Progressionsvorbehalt. Ein „treaty overriding“ lässt sich dem § 32b I 1 Nr. 3 EStG ebenso wenig entnehmen wie ein Verstoß gegen Unionsrecht1205. § 32b I 1 Nr. 1 EStG erweitert den klassischen Bereich des Progressionsvorbehalts um einen umfäng- 810 lichen Katalog steuerfreier Lohnersatzleistungen und Sozialleistungen. Dazu gehören u.a. Ersatzleistungen gesetzlicher Krankenkassen, die einem freiwillig Versicherten gewährt werden (§ 32b I 1 Nr. 1 Buchst. b EStG; R 32b I EStR 2012). Diese Ausweitung des Progressionsvorbehalts ist eine fiskalische Fehlentwicklung, die sogar nicht erwirtschaftete Bezüge wie das als Sozialtransferleistung gewährte Elterngeld erfasst (§ 32b I 1 Nr. 1 Buchst. j EStG). Die Extension auf Bezüge außerhalb des Einkommensteuerobjekts (s. Rz. 52) begegnet verfassungs- und völkerrechtlichen Bedenken1206. Das Zusammentreffen des Progressionsvorbehalts mit Steuerermäßigungen1207 bereitet besondere Schwierigkeiten der Tarifberechnung (§ 32b II EStG). 2. Steuerermäßigungen 2.1 Überblick Steuerermäßigungen (s. § 6 Rz. 48) sind entweder Milderungen des Steuersatzes (Tarifermäßigungen) 811 oder Abzüge von der Steuerschuld (Steuerbetragsermäßigungen). Bei näherer Betrachtung sind viele Einkommensteuerermäßigungen Fiskalzwecknormen, die den Steuertatbestand auf die Steuerwürdigkeitsentscheidung zuschneiden (s. § 3 Rz. 20): 2.1.1 Fiskalzweckermäßigungen (1) §§ 34; 34b EStG sehen für außerordentliche Einkünfte Steuerermäßigungen vor, die der erhöh- 812 ten Progressivbelastung bei der Zusammenballung von Einkünften entgegenwirken sollen1208. Daher sind in den §§ 34; 34b EStG Fiskalzweckermäßigungen zur Vermeidung einer Übermaßbesteuerung (s. § 3 Rz. 20) geregelt. Der Gesetzgeber bedient sich dabei zweier Techniken: Zum einen verteilt er die außerordentlichen Einkünfte rechnerisch auf fünf Jahre (s. Rz. 823). Damit wird die tarifliche Entlastung nur sehr bedingt erreicht und der Gesetzeszweck häufig verfehlt. Es können sogar verfassungswidrige Übermaßbesteuerungen entstehen (s. Rz. 826). Die Ermäßigung des Steuersatzes wird nur noch sehr eingeschränkt gewährt (§ 34 III EStG, s. Rz. 825). (2) Die Begünstigung nicht entnommener Gewinne nach § 34a EStG (s. Rz. 828 ff.) ist Teil der 813 UntStRef 2008 und gehört zu dem oben (§ 7 Rz. 88) dargelegten System von Fiskalzwecknormen, das die Tarifbelastung gezielt dort zurückführt, wo sie sich im internationalen Steuerwettbewerb nicht durchzusetzen vermag. § 34a EStG soll die tariflichen Belastungen der Gewinne von Kapitalgesellschaf1204 BFH v. 19.12.2001 – I R 63/00, BStBl. II 2003, 302. 1205 BFH v. 19.7.2010 – I B 10/10, BFH/NV 2011, 17. 1206 Dazu Mössner, IStR 1997, 225; Apel/Oltmanns, DB 1998, 2560; Lüdicke, IStR 1999, 470; Achter, IStR 2002, 73; Winhard, Verfassungswidrige Einbeziehung des als Sozialtransferleistung gewährten Elterngeldes in den Progressionsvorbehalt, DStR 2008, 2144. BVerfG v. 3.5.1995 – 1 BvR 1176/88, BStBl. II 1995, 758; BFH v. 9.8.2001 – III R 50/00, BStBl. II 2001, 778 (779 f.); v. 19.12.2001 – I R 63/00, BStBl. II 2003, 302 (305 f.); v. 26.11.2008 – X R 53/06, BStBl. II 2009, 376 (379 f.: Krankengeld); v. 21.9.2009 – VI B 31/09, BStBl. II 2011, 382 (Elterngeld) teilt die Bedenken des Schrifttums nicht. 1207 Zur Berücksichtigung des § 34 EStG s. BFH v. 15.11.2007 – VI R 66/03, BStBl. II 2008, 375 (Steuerbelastung ist nach dem Günstigkeitsprinzip zu berechnen); Eggesiecker/Ellerbeck, DStR 2007, 1281; Brückner, StWa 2008, 98; Heidenreich, NWB Fach 6, 4967 (2008); Siegel/Diller, DStR 2008, 178; Siegel, FR 2008, 389. 1208 StRspr. z.B. BFH v. 26.1.2011 – IX R 20/10, BStBl. II 2012, 659 Rz. 10; Blümich/Nacke, § 34b EStG Rz. 2 (2016); Blümich/Lindberg, § 34 EStG Rz. 5 (2014); Kirchhof/Mellinghoff17, § 34 EStG Rz. 8.
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§ 8 Rz. 814
Einkommensteuer
ten und Personenunternehmen annähern (s. § 7 Rz. 88 ff.). Dabei ist die pauschale Anrechnung der Gewerbesteuer nach § 35 EStG (s. Rz. 840 f.) in das System einer angenäherten Ertragsteuerbelastung von Kapitalgesellschaften und Personenunternehmen integriert. Die Nichtabzugsfähigkeit der Gewerbesteuer (§ 4 Vb EStG; Rz. 288) ab 2008 wird durch die Erhöhung des Anrechnungsfaktors (§ 35 I EStG) von 1,8 auf 3,8 ausgeglichen. § 35 EStG ist als Ausgleich zur Senkung des Körperschaftsteuersatzes durch die UntStRef 2000 (s. § 7 Rz. 37) eingeführt worden. Er folgt aus der Unfähigkeit des Gesetzgebers zur Gewerbesteuerreform (s. § 7 Rz. 92 f.). Die gewählte Technik führt ferner zu einer gleichheitssatzwidrigen Begünstigung der Gewerbetreibenden, weil sich die Bemessungsgrundlage für den Solidaritätszuschlag reduziert1209. 814 (3) Die gegenüber den Doppelbesteuerungsabkommen subsidiäre (§ 34c VI EStG) Anrechnung der
ausländischen ESt nach § 34c I EStG (s. Rz. 839 f.) dient dem Zweck, internationale Doppelbesteuerung zu beseitigen. Nur die Technik einer Steuerbetragsermäßigung gewährleistet die exakte Beseitigung der Mehrfachbelastung. Der Normzweck wird verfehlt, wenn die ausländische Steuer bei der Ermittlung der Einkünfte abgezogen wird (§ 34c II, III EStG). 815 (4) Durch das Erbschaftsteuerreformgesetz v. 24.12.2008, BGBl. I 2008, 3018, ist die Steuerermäßi-
gung bei Belastung mit Erbschaftsteuer (§ 35b EStG) nach zehn Jahren wieder eingeführt worden1210. Die Vorschrift soll Doppelbelastungen stiller Reserven mit Erbschaft- und Einkommensteuer abmildern, indem sie die erbsteuerliche Nichtabziehbarkeit latenter Einkommensteuerlasten substituiert. Die zu beantragende Steuerermäßigung greift Platz bei erbschaftsteuerbelasteten Einkünften des laufenden VZ oder der vorangegangenen vier VZ (§ 35b Satz 1 EStG). Die Steuerermäßigung bestimmt sich nach dem Verhältnis, in dem die festgesetzte ErbSt zu dem Betrag steht, der sich ergibt, wenn dem steuerpflichtigen Erwerb i.S.d. § 10 I ErbStG die steuerfreien Beträge der §§ 5; 16; 17 ErbStG hinzugerechnet werden (§ 35b Satz 2 EStG). 816 (5) Die Tarifbegrenzung nach § 32c EStG ermäßigte von 1994 bis 20001211 den Spitzensteuersatz
für gewerbliche Einkünfte und verhinderte im VZ 2007 die Anwendung der sog. Reichensteuer auf die Gewinneinkunftsarten (§§ 13; 15 u. 18 EStG). Die Verfolgung „wirtschaftspolitischer Förderungs- und Lenkungszwecke“ sowie der Kompensation der Gewerbesteuer für gewerbliche Einkünfte durch § 32c EStG 1994 wurde von BVerfG gebilligt1212. Für die Fassung des VZ 2007, durch die sämtliche Gewinneinkunftsarten privilegiert wurden, kann diese Rechtfertigung allerdings nicht herangezogen werden1213. Mit Einführung von § 35 EStG und ab VZ 2008 § 34a EStG wurde die Vorschrift obsolet. § 32c EStG i.d.F. 20.12.2016 (BGBl. I 2016, 3045) sieht befristet bis 2022 zum Ausgleich schwankender Einkünfte bei Einkünften aus Land und Forstwirtschaft eine Tarifglättung vor1214; die Tarifglättung auf eine einzelne Einkunftsart zu begrenzen, lässt sich gleichheitsrechtlich nicht mit Besonderheiten der Land- und Forstwirtschaft rechtfertigen1215. 1209 A.A. BFH v. 21.7.2011 – II R 50/09, BFH/NV 2011, 1685. 1210 Ursprünglich § 35 EStG 1975, abgeschafft durch StEntlG 1999/2000/2002 v. 24.3.1999, BGBl. I 1999, 402 (zur Systematik J. Lang, Bemessungsgrundlage, 160 f.). Lit. zu § 35b EStG: Hechtner, BB 2009, 486 (ökonomische Belastungsanalyse); Thonemann, DB 2008, 2616; Herzig/Joisten/Vossel, DB 2009, 584; KSM/Keß, § 35b EStG Rz. A 38 ff. (2011); Schmidt/Kulosa36, § 35b EStG. 1211 Eingeführt durch StandOG v. 13.9.1993, BGBl. I 1993, 1569; abgeschafft im Zuge der Unternehmensteuerreform 2000 durch Steuersenkungsgesetz (StSenkG) v. 23.10.2000, BGBl. I 2000, 1433. 1212 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (184, 191 f.); dazu Kanzler, NWB Fach 3 (2006), 14189 (BVerfG macht Weg für Schedulenbesteuerung frei); Wendt, FR 2008, 775. Das BVerfG ist der Vorlage des BFH v. 24.2.1999 – X R 171/96, BStBl. II 1999, 450, und der dort zit. h.M. (455 f.) nicht gefolgt. 1213 S. Vorlage des FG Düsseldorf v. 14.12.2012 – 1 K 2309/09 E, EFG 2013, 692 an BVerfG (Az. 2 BvL 1/13). 1214 Unter dem Vorbehalt behilferechtlicher Genehmigung Schmidt/Kulosa36, § 32c EStG Rz. 2. 1215 Schmidt/Kulosa36, § 32c EStG Rz. 2. Von der Gleichheitssatzwidrigkeit gehen aus Kanzler, DStZ 2017, 210 (212); Lammers, DStR 2017, 1576 (1577 f.).
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J. Einkommensteuertarif
Rz. 820 § 8
2.1.2 Sozialzweckermäßigungen (1) Gem. § 34g EStG ermäßigt sich die Einkommensteuer bei Zuwendungen an politische Parteien 817 und Wählervereinigungen um 50 % der Ausgaben (maximal 825 Euro). Für die Förderung politischer Parteien und Wählervereinigungen ist eine Steuerbetragsermäßigung sachgerecht. Der Betrag der Steuersubvention soll nämlich nicht von der Höhe des Einkommens abhängen, wie dies bei einem Spendenabzug nach § 10b EStG der Fall ist (s. m.w.N. § 20 Rz. 15). Besonders gebietet das demokratische Prinzip egalitärer Teilhabe an der politischen Willensbildung eine einkommensunabhängige Förderung von politischen Parteien und Wählervereinigungen; dies beachtet nur die Kleinspendenregelung des § 34g EStG, nicht der Parteispendenabzug nach § 10b II EStG (s. § 20 Rz. 21 f.). (2) Seit dem VZ 2003 werden haushaltsnahe Dienstleistungen durch die arbeitsmarktpolitisch moti- 818 vierte1216 Steuerbetragsermäßigung des § 35a EStG1217 gefördert: nach § 35a I EStG die geringfügige Beschäftigung i.S.d. § 8a SGB IV (s. Rz. 491), nach § 35a II EStG andere haushaltsnahe Dienstleistungen und nach § 35a III EStG die Inanspruchnahme von Handwerkerleistungen für Renovierungs-, Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen mit Ausnahme der durch das CO2-Gebäudesanierungsprogramm der KfW Förderbank geförderten Maßnahmen. § 35a V 3 EStG verlangt, dass der Stpfl. eine Rechnung erhalten hat und die Zahlung auf das Konto des Erbringers der Leistung erfolgt ist1218. Auf diese Weise soll Schwarzarbeit bekämpft werden. Auf Antrag ermäßigt sich die um andere Steuerermäßigungen verminderte tarifliche ESt um 20 % der Aufwendungen, limitiert durch unterschiedliche Höchstbeträge: 510 Euro (§ 35a I EStG), 4 000 Euro (§ 35a II EStG) und 1 200 Euro (§ 35a III EStG). Die Steuerermäßigung erstreckt sich nicht nur auf inländische Haushalte, sondern auch auf Haushalte im EU-/EWR-Ausland (§ 35a IV EStG). Die Steuerermäßigungen nach § 35a EStG können nicht für Erwerbsaufwendungen, Kinderbetreuungskosten i.S.d. § 10 I Nr. 5 EStG und als außergewöhnliche Belastung berücksichtigte Aufwendungen in Anspruch genommen werden (§ 35a V EStG). § 35a EStG ist klassisches Beispiel für den wahlstimmenpolitischen Impetus der Lenkung durch Steuern. Die kontinuierliche Extension der Vorschrift1219 widerlegt das politische Lippenbekenntnis zum Abbau von Steuervergünstigungen.
(3) In den letzten beiden Jahrzehnten hat der Gesetzgeber allerdings auch einige Sozialzweckermäßi- 819 gungen abgebaut: So war die Steuerermäßigung des § 34e EStG für Land- und Forstwirte letztmals 2000 anzuwenden. Das sog. Baukindergeld (§ 34f EStG) wird i.V.m. Steuervergünstigungen (§ 10e EStG; §§ 15; 15b BerlinFG) gewährt, die nur noch für Altobjekte in Anspruch genommen werden können. 2.2 Steuerermäßigungen für außerordentliche Einkünfte (§§ 34; 34b EStG) (1) Außerordentliche Einkünfte sind Veräußerungsgewinne, einschließlich Aufgabegewinne1220 820 i.S.d. §§ 14; 14a; 16; 18 III EStG ohne die im Halbeinkünfteverfahren besteuerten Gewinnteile (§ 34 II Nr. 1 EStG), Entschädigungen (§§ 24 Nr. 1; 34 II Nr. 2 EStG), Nutzungsvergütungen/Zinsen (§ 24 Nr. 3 EStG), soweit sie für einen Zeitraum von mehr als drei Jahren nachgezahlt werden (§ 34 II Nr. 3 EStG), Vergütungen für mehrjährige Tätigkeiten (§ 34 II Nr. 4 EStG), bei denen es zu einer
1216 S. BT-Drucks. 15/77, 5. 1217 Zu den zahlreichen Anwendungsfragen BMF v. 9.11.2016 – IV C 8-S 2296-b/07/10003:008, BStBl. I 2016, 1213. 1218 Grds. zur bankmäßigen Dokumentation BFH v. 20.11.2008 – VI R 14/08, BStBl. II 2009, 307. 1219 S. HHR/Apitz, § 35a EStG Anm. 2 (2011). 1220 Da § 34 EStG nur die zusammengeballte Realisation stiller Reserven begünstigen soll, ist stets zur laufenden Geschäftstätigkeit abzugrenzen, z.B. BFH v. 1.8.2013 – IV R 18/11, BStBl. II 2013, 910.
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§ 8 Rz. 821
Einkommensteuer
atypischen Zusammenballung von Einkünften kommt1221. Für die Annahme einer Zusammenballung fordert die Rspr. grds. Zufluss/Realisierung in einem Veranlagungszeitraum, so dass bei Teilzahlungen über mehrere Jahre § 34 EStG i.d.R. ausscheidet1222. § 34b EStG (neugefasst durch Steuervereinfachungsgesetz 2011) enthält eine Sondervorschrift für Einkünfte aus außerordentlichen Holznutzungen aus volks- und staatswirtschaftlichen Gründen (§ 34b I Nr. 1 EStG) oder infolge höherer Gewalt (sog. Kalamitätsnutzungen, § 34b I Nr. 2 EStG). 821 (2) Während in den §§ 34; 34b EStG vor dem StEntlG 1999/2000/2002 allgemein die Steuerermäßi-
gung angeordnet war, ist nun die rechnerische Verteilung der Einkünfte auf fünf Jahre (§ 34 I EStG) die Generalnorm. Die Hälfte des durchschnittlichen Steuersatzes ist nur noch ausnahmsweise vorgesehen für Stpfl. ab 55 Jahre, berufsunfähige Stpfl. (s. Rz. 825) und für Kalamitätsnutzungen (§ 34b III EStG), das sind Holznutzungen infolge von Naturereignissen wie z.B. Windbruch, Insektenfraß, Brand (§ 34b I Nr. 2 EStG). Die Anwendung der §§ 6b; 6c; 3 Nr. 40 Buchst. b EStG schließt die Steuerermäßigung nach § 34 EStG aus (s. § 34 I 4, II Nr. 1 EStG). 822 Die ESt nach § 34 I EStG ist nach folgendem Grundschema in vier Schritten zu berechnen1223. Schritt 1: Das zu versteuernde Einkommen wird mit den dem Progressionsvorbehalt (§ 32b EStG) unterliegenden Einkünften, jedoch ohne die außerordentlichen Einkünfte ermittelt. Schritt 2: Die Bemessungsgrundlage des ersten Schritts wird um ein Fünftel der außerordentlichen Einkünfte erhöht. Schritt 3: Die Differenz der ESt auf die Bemessungsgrundlagen der Schritte 1 und 2 wird mit fünf multipliziert und ergibt die ESt auf die außerordentlichen Einkünfte. Schritt 4: Die ESt auf die Schritt-1-Bemessungsgrundlage und die Schritt-3-ESt ergeben die gesamte ESt. 823 § 34 I EStG verteilt nicht einfach die außerordentlichen Einkünfte auf fünf Jahre; vielmehr simuliert die Regelung mit verzerrenden Wirkungen1224 die rechnerische Verteilung. § 34 I 3 EStG verhindert, dass bei negativem verbleibendem zu versteuerndem Einkommen eine Besteuerung des positiven zu versteuernden Einkommens unterbleibt. Dies wurde so ausgedacht, weil die „Begünstigung“ von Spitzenverdienern abgebaut werden sollte und das Bisherige als zu kompliziert empfunden worden ist1225. Indes ist die Regelung abgesehen von den Steuerlastverfälschungen weder einfach noch praktikabel. 824 Die Reform hätte durchaus anders ansetzen können: Schritt 1: Die auf die außerordentlichen positiven Einkünfte entfallende Grenzbelastung ist zu ermitteln; Schritt 2: Reduktion des Grenzbelastungsbetrages. Der Umfang der Reduktion muss politisch entschieden werden. Bei außerordentlichen negativen Einkünften fällt ein zu reduzierender Betrag nicht an. Die Verluste können entsprechend dem Nettoprinzip nach den allgemeinen Regeln verrechnet werden. 825 (3) Die Steuersatzermäßigung für Stpfl. ab 55 Jahre und für sozialversicherungsrechtlich dauernd
berufsunfähige Stpfl. (§ 34 III EStG) ist als sog. Mittelstandskomponente mit dem StSenkErgG v. 19.12.2000, BGBl. I 2000, 1812, wieder eingeführt worden1226. Die Steuersatzermäßigung kann für Veräußerungsgewinne i.S.d. § 34 II Nr. 1 EStG bis 5 Mio. Euro an Stelle der Anwendung des § 34 I 1221 BFH v. 30.1.2013 – III R 84/11, BFHE 240, 156, Rz. 19; Nr. 4 ist auch bei durch Betriebsvermögensvergleich ermittelten Gewinneinkünften anwendbar s. BFH v. 25.2.2014 – X R 10/12, BStBl. II 2014, 668, Rz. 16, 37–38; zust. Wendt, FR 2014, 798; 1222 Z.B. BFH v. 2.8.2016 – VIII R 37/14, BStBl. II 2017, 258; zu Teilzahlungen: BFH v. 13.10.2015 – IX R 46/14, BStBl. II 2016, 214; BMF v. 4.3.2016 – IV C 4 – S 2290/07/10007:031, BStBl. I 2016, 277 (Entlassungsentschädigungen). 1223 Dazu Stahl, KÖSDI 2000, 12338; Korn/Schiffers, § 34 EStG Rz. 24 f. (2016). 1224 Dazu Henning/Hundsdoerfer/Schult, DStR 1999, 131 (Steuersätze bis zu 265 v.H.); hieraus leiten Jahndorf/Lorscheider, FR 2000, 433, u. Siegel, DStR 2007, 978 (mit Alternativvorschlag), die Verfassungswidrigkeit von § 34 I EStG ab. Zum Zusammentreffen von § 34 u. § 32b EStG BFH v. 17.1.2008 – VI R 44/07, BStBl. II 2011, 21; hierzu Hechtner/Siegel, DStR 2010, 1593; Siegel, FR 2010, 445 (verfassungswidrige Verzerrungen). 1225 BT-Drucks. 14/23, 183. 1226 Keine Pflicht zur rückwirkenden Wiedereinführung für die VZ 1999/2000, BFH v. 15.9.2010 – X R 55/03, BFH/NV 2011, 231; Ausnahme von Veräußerungsgewinnen nach § 17 EStG verfassungskon-
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J. Einkommensteuertarif
Rz. 829 § 8
EStG beantragt werden. Der ermäßigte Steuersatz beträgt 56 % des durchschnittlichen Steuersatzes, der sich ergäbe, wenn die ESt nach dem zu versteuernden Einkommen zuzüglich der dem Progressionsvorbehalt unterliegenden Einkünfte zu bemessen wäre, mindestens jedoch 14 % (sog. Mindeststeuer). (4) § 34 EStG begegnet in seiner konkreten Ausgestaltung verschiedenen verfassungsrechtlichen 826 Bedenken1227; sie richten sich hauptsächlich gegen die Fünftelregelung, die verfassungswidrige Übermaßbesteuerungen zusätzlicher nicht begünstigter Einkünfte bewirken kann1228. Der am Leistungsfähigkeitsprinzip ausgerichtete Fiskalzweck gebietet eine tarifliche Entlastung besonders bei Veräußerungsgewinnen, in denen langfristig gebildete stille Reserven zusammengeballt sind. Die Rspr. hat bisher die Verfehlung dieses Fiskalzwecks durch die Fünftelregelung nicht beanstandet1229. Einstweilen frei.
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2.3 Begünstigung nicht entnommener Gewinne (§ 34a EStG) Der nicht entnommene Gewinn aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb oder selbständiger 828 Arbeit (§ 2 I 1 Nr. 1–3 EStG) ist auf Antrag des Stpfl. mit einem Steuersatz von 28,25 % zu versteuern (§ 34a I 1 EStG)1230. Dieser Steuersatz hat im Hinblick auf die konstante Nachversteuerung von Entnahmen i. H. von 25 % nur für eine kleine Minderheit von Unternehmen eine ermäßigende Wirkung1231, so dass § 34a EStG nur die Elite der besonders ertragstarken Personenunternehmen begünstigt. Bemessungsgrundlage der Sondertarifierung ist der nach § 4 I 1 bzw. § 5 EStG ermittelte Gewinn, 829 vermindert um den positiven Saldo der Entnahmen und Einlagen (§ 34a II EStG). Maßgeblich für die Ermittlung des Saldos ist das Steuerbilanzrecht, nicht das Handelsbilanzrecht. Nichtabzugsfähige Betriebsausgaben sind nicht begünstigungsfähig1232. Sind Entnahmen und Einlagen gleich hoch oder übersteigen die Einlagen die Entnahmen, so kann die Sondertarifierung für den vollen Gewinn be-
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1231 1232
form, obwohl im VZ 2001 das Halbeinkünfteverfahren für Einkünfte nach § 17 EStG noch nicht galt, BFH v. 20.10.2010 – IX R 56/09, BStBl. II 2011, 409. Dazu Kirchhof/Mellinghoff17, § 34 EStG Rz. 4; Korezkij, DStR 2006, 452 (Überblick über Rspr.). So Jahndorf/Lorscheider, FR 2000, 433; Siegel, DStR 2007, 978, Bareis, FR 2015, 577; a.A. BFH v. 28.4.2010 – III R 86/07, BStBl. II 2011, 259; KSM/Sieker, § 34 EStG Rz. A 102, A 105 (2016); HHR/ Horn, § 34 EStG Anm. 4 (2015). S. BFH v. 10.7.2002 – XI B 68/02, BStBl. II 2003, 341; v. 25.2.2003 – VIII B 253/02, BFH/NV 2003, 624; v. 7.3.2003 – IV B 163/02, BFH/NV 2003, 777 (Billigkeitsmaßnahme im Ausnahmefall). Anwendungsschreiben BMF v. 11.8.2008 – IV C 6 - S 2290-a/07/10001, BStBl. I 2008, 838 (dazu Schiffers, DStR 2008, 1805). Durch JStG 2009 wurde § 34a EStG verfahrenstechnisch ergänzt (s. § 34a I 4 u. 5, X, XI EStG). Grundsatzkritik: Hey, DStR 2007, 925. Rechtsformwahl/Vergleich Personenunternehmen mit Kapitalgesellschaften: Cordes, WPg 2007, 526; Lühn/Lühn, StuB 2007, 253; Schiffers, GmbHR 2007, 505 ff., 841 ff.; Schultes-Schnitzlein/Keese, NWB Fach 3 (2007), 14683; Schulze zur Wiesche, DB 2007, 1610; Thiel/Sterner, DB 2007, 1099; Wilk, DStZ 2007, 216; Bareis, FR 2008, 537. Belastungswirkungen: Houben/Maiterth, StuW 2008, 228; Schiemann, Stbg. 2008, 141 (Teilsteuerrechnung); Klipstein, DStZ 2009, 805; Bodden, FR 2011, 829 (verfahrensrechtliche Umsetzung); Bodden, FR 2012, 68 (§ 34a EStG im Gesamtgefüge der Einkommensbesteuerung); Bareis, FR 2014, 581; und umfangreicher Literaturnachweis bei HHR/Stein, § 34a EStG Vor Anm. 1 (2010). Zur Anwendung in der Verwaltungspraxis s. BT-Drucks. 17/10355. Zu aktuellen Anwendungsfragen Bodden, FR 2014, 920; Blöchle/Menninger, DStR 2016, 1974. Nach der BMF-Statistik (s. Anlage zu den Eckpunkten der Unternehmensteuerreform v. 12.7.2006) liegen 96,6 % der Einzelunternehmen u. 92,3 % der Personengesellschaften unterhalb einer steuerlichen Belastung des Gewinns von 30 %. Trotz der hieraus resultierenden Ungleichbehandlung mit Kapitalgesellschaften bestätigt von FG Münster v. 19.2.2014 – 9 K 511/14 F, EFG 2014, 1201 (rkr.).
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§ 8 Rz. 830
Einkommensteuer
ansprucht werden. Steuerzahlungen sind Entnahmen. Mithin ergibt sich für den Fall, dass der Saldo der Entnahmen und Einlagen nur in Höhe der Steuerzahlungen positiv ist, folgende Belastung1233: Gewinn GewSt (Hebesatz 400) ESt-Spitzensatz 45 %
100,00 – 14,00 – 16,27
nachzuversteuernde Entnahme darauf gezahlte ESt darauf gezahlter SolZ
63,84 – 18,03 – 0,99
§ 34a EStG: 28,25 % GewSt-Anrechnung SolZ
– 18,03 + 13,30 – 1,16
Nachversteuerungsbetrag ESt auf Nachversteuerungsbetrag SolZ auf Nachversteuerungsbetrag
44,82 – 11,21 – 0,62
Gewinn nach Steuern entnommene Steuerbelastung 830
63,84 36,16
Steuerbelastung Entnahme Gesamtsteuerbelastung
11,83 47,99
Voraussetzung für Inanspruchnahme der Thesaurierungsbegünstigung des § 34a EStG ist, unabhängig davon, ob begünstigungsfähige Einkünfte vorliegen, ein positives zu versteuerndes Einkommen1234; dies folgt aus der Logik der Tarifermäßigung. Die Thesaurierungsbegünstigung ist für jeden Betrieb eines Einzelunternehmers und für jeden Mitunternehmeranteil (s. § 9 Rz. 220 ff.) zu beantragen. Der Stpfl. hat das Wahlrecht, in welchem Umfange der nicht entnommene Gewinn dem Steuersatz von 28,25 % unterworfen sein soll. Er kann die Sondertarifierung nur für einen Teil des nicht entnommenen Gewinns beantragen, wenn sein individueller Grenzsteuersatz die Limitierung nahelegt. Der Antrag ist für jeden Veranlagungszeitraum zu stellen und kann vom Stpfl. bis zur Unanfechtbarkeit des Einkommensteuerbescheids für den nächsten Veranlagungszeitraum ganz oder teilweise zurückgenommen werden (§ 34a I 4 EStG). Dies ist vor allem angezeigt, wenn im Folgejahr unvorhergesehene Verluste erwirtschaftet werden1235. Verluste dürfen nämlich nicht mit den ermäßigt besteuerten Gewinnen ausgeglichen oder nach § 10d EStG abgezogen werden (§ 34a VIII EStG).
831 Ausgenommen von der Thesaurierungsbegünstigung sind die durch Überschussrechnung (§ 4 III
EStG) oder pauschaliert (§§ 5a; 13a EStG) ermittelten Gewinne. Steuerfreie Gewinnanteile (z.B. Auslandsgewinnanteile1236, steuerfreie Teileinkünfte) sind nicht Gegenstand der Thesaurierungsbegünstigung1237. Sie sind jedoch in dem nicht entnommenen Gewinn enthalten und erhöhen mittelbar das Begünstigungsvolumen, weil Entnahmen vorrangig von den steuerfreien Gewinnanteilen abgezogen werden1238. § 34a I 1 Hs. 2 EStG schließt Gewinne aus Wagniskapitalgesellschaften (§ 18 I Nr. 4 EStG; s. Rz. 431) und Gewinne, für die der Freibetrag nach § 16 IV EStG oder die Steuerermäßigung nach § 34 III EStG in Anspruch genommen wird, ausdrücklich aus. 832 Wird der begünstigt thesaurierte Gewinn (§ 34a III 1 EStG: Begünstigungsbetrag) in späteren Wirt-
schaftsjahren entnommen, so ist er nach § 34a IV EStG mit einem Steuersatz von 25 % nachzuversteuern. Die Nachversteuerung knüpft zunächst an einen Nachversteuerungsbetrag an; ein solcher ergibt sich, wenn und soweit der positive Saldo der Entnahmen und Einlagen den Gewinn des Wirtschaftsjahrs übersteigt (§ 34a IV 1 EStG). Die Nachversteuerung wird sodann auf den zum Ende des
1233 Vgl. HHR/Stein, § 34a EStG Anm. 8 (2010); Berechnungen ferner Herzig/Lochmann, DB 2007, 1037 (1039); Homburg/Houben/Maiterth, WPg 2007, 376 (377); zur Berücksichtigung der GewSt bei der Ermittlung des Begünstigungsbetrags Bareis, FR 2014, 581. 1234 BFH v. 20.3.2017 – X R 65/14, BStBl. II 2017, 958 Rz. 22 und 26. 1235 S. BT-Drucks. 16/4841, 63. 1236 Dazu Fischer in Schaumburg/Piltz, Grenzüberschreitende Gesellschaftsstrukturen im Internationalen Steuerrecht, 2010, 55. 1237 S. BT-Drucks. 16/4841, 63. 1238 S. BT-Drucks. 16/4841, 63.
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J. Einkommensteuertarif
Rz. 838 § 8
vorangegangenen VZ festgestellten nachversteuerungspflichtigen Betrag begrenzt. Der nachversteuerungspflichtige Betrag wird nach § 34a III EStG jährlich für jeden Betrieb oder Mitunternehmeranteil wie folgt ermittelt und gesondert festgestellt: – von dem Begünstigungsbetrag des VZ wird zunächst die Steuerbelastung (ESt, SolZ) abgezogen 833 (§ 34a III 2 EStG); – sodann werden der nachversteuerungspflichtige Betrag des Vorjahres sowie der sich aus dem Zugang von Wirtschaftsgütern nach § 34a V EStG (Rz. 835) ergebende nachversteuerungspflichtige Betrag hinzugerechnet, und – der zu versteuernde Nachversteuerungsbetrag sowie der durch den Abgang von Wirtschaftsgütern nach § 34a V EStG übertragene nachversteuerungspflichtige Betrag abgezogen; – schließlich wird der Saldo als nachversteuerungspflichtiger Betrag zum Ende des VZ gesondert durch Feststellungsbescheid (§ 34a III 3, IX EStG) festgestellt. Auf diese Weise wird das begünstigte Thesaurierungsvolumen bis zu dem Wirtschaftsjahr fort- 834 geschrieben, in dem die Entnahmen nicht aus den laufenden, auch steuerfreien Gewinnen gespeist werden. Der Stpfl. kann jedoch jederzeit die Besteuerung des gesondert festgestellten nachversteuerungspflichtigen Betrages beantragen (§ 34a VI 1 Nr. 4 EStG). Übersteigt der positive Saldo der Entnahmen und Einlagen den laufenden Gewinn und ist zum Ende des Vorjahres kein nachversteuerungspflichtiger Betrag festgestellt worden, so hat der Stpfl. die Begünstigung des § 34a EStG bisher nicht in Anspruch genommen. Eine Nachversteuerung nach § 34a IV EStG greift nicht Platz. Besondere Nachversteuerungsfälle: § 34a V 1 EStG ordnet die Nachversteuerung an, wenn Wirt- 835 schaftsgüter nach § 6 V EStG in ein anderes Betriebsvermögen desselben Stpfl.1239 zu Buchwerten transferiert werden. Die Nachversteuerung kann jedoch auf Antrag des Stpfl. aufgeschoben werden, indem der nachversteuerungspflichtige Betrag in Höhe des Buchwerts, höchstens jedoch in Höhe des Nachversteuerungsbetrages, den der Wirtschaftsguttransfer ausgelöst hätte, auf den anderen Betrieb/ Mitunternehmeranteil übertragen wird (§ 34a V 2 EStG). Eine Nachversteuerung ist auch durchzuführen in den Fällen der Betriebsveräußerung/-aufgabe 836 (§ 34a VI 1 Nr. 1 EStG), der Einbringung eines Betriebs/Mitunternehmeranteils in eine Kapitalgesellschaft/Genossenschaft oder des Formwechsels einer Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft/ Genossenschaft (§ 34a VI 1 Nr. 2 EStG). Schließlich ist eine Nachversteuerung auch durchzuführen, wenn der Gewinn nicht mehr bilanziell nach den §§ 4 I 1; 5 EStG ermittelt wird (§ 34a VI 1 Nr. 3 EStG). In den Fällen der unentgeltlichen Übertragung eines Betriebs/Mitunternehmeranteils nach § 6 III 837 EStG hat der Rechtsnachfolger den nachversteuerungspflichtigen Betrag fortzuführen (§ 34a VII 1 EStG). Der nachversteuerungspflichtige Betrag geht über, wenn ein Betrieb/Mitunternehmeranteil zu Buchwerten nach § 24 UmwStG eingebracht wird (§ 34a VII 2 EStG). Kritik: Der Zweck des § 34a EStG, die tarifliche Belastung von Kapitalgesellschaften und Personen- 838 unternehmen anzunähern, ist mit einer hochkomplexen Regelung erreicht worden, die den Personenunternehmen viel Gestaltungsspielraum lässt, dementsprechend beratungsintensiv angelegt ist und nur in geringem Ausmaß in Anspruch genommen wird1240. Die begünstigte Elite der ertragstarken Personenunternehmen dürfte das kaum stören, denn die steuerlichen Auswirkungen lohnen den Beratungsaufwand. Hingegen wird das Ziel „weitgehender Rechtsform- und Finanzierungsneutralität“ (s.
1239 Zur Rechtslage bei Mitunternehmern s. § 10 Rz. 222. 1240 Brähler/Guttzeit/Scholz, StuW 2012, 119 (128).
Hey 521
§ 8 Rz. 839
Einkommensteuer
§ 7 Rz. 78; § 13 Rz. 177 ff.) verfehlt1241. Die Sondertarifierung1242 in der Einkommensteuer schreibt den status quo des Dualismus der Unternehmensbesteuerung nicht nur fort, sondern fügt noch ein weiteres Element rechtsformspezifischer Belastungsunterschiede hinzu (zu Alternativen § 13 Rz. 177 ff.). 2.4 Steuerermäßigung bei Auslandseinkünften (§§ 34c; 34d EStG) 839 Unbeschränkt Stpfl. genießen nach § 34c EStG die Anrechnung der Steuer auf die ausländischen
Einkünfte i.S.d. § 34d EStG1243. Die ausländische Steuer muss der deutschen ESt entsprechen. Anrechenbar sind nur die ausländischen Steuern auf die im Veranlagungszeitraum bezogenen Einkünfte im Umfange der auf diese Einkünfte entfallenden deutschen ESt (sog. Anrechnungshöchstbetrag), so dass die Einkünfte mit einer höheren ausländischen Steuer belastet bleiben. Nach der Rspr. des EuGH sind bei der Berechnung des Anrechnungshöchstbetrags Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen1244. Deshalb wird ab 2015 wird für die Berechnung des Anrechnungshöchstbetrags nicht mehr auf das Verhältnis zwischen der Summe der Einkünfte und den ausländischen Einkünften abgestellt, sondern die Anrechnung wird durch Anwendung des sich nach deutschem EStG ergebenden Durchschnittssteuersatzes auf die ausländischen Einkünfte begrenzt (§ 34c I 2 EStG)1245. Der Anrechnungshöchstbetrag wird gem. § 34c I 2 EStG ermittelt, indem die unter Einbezug der ausländischen Einkünfte ermittelte deutsche ESt im Verhältnis der ausländischen Einkünfte zur Summe der Einkünfte aufgeteilt wird. Die Maßnahmen zur Beseitigung steuerlicher Mehrfachbelastungen in Doppelbesteuerungsabkommen verdrängen grds. die Steuerermäßigungen nach § 34c EStG (s. § 34c VI EStG). Die Fiskalzweckermäßigung des § 34c I EStG flankieren Normen mit Subventions-, auch Vereinfachungszweck: Die deutsche ESt auf ausländische Einkünfte kann bei unbeschränkt Stpfl. nach § 34c V EStG ganz oder zum Teil erlassen oder in einem Pauschbetrag festgesetzt werden, wenn es aus volkswirtschaftlichen Gründen zweckmäßig oder die Anwendung des § 34c I EStG besonders schwierig ist. Eine entsprechende Regelung enthält § 50 IV EStG für beschränkt Stpfl.
1241 Hierzu grundl. die Kritik von Hey, DStR 2007, 925 (Konzept der Sondertarifierung des § 34a EStG). Die Abschaffung des § 34a EStG fordern Knirsch/Maiterth/Hundsdoerfer, DB 2008, 1405 (Replik von Fechner/Bäuml, DB 2008, 1652). Vorschläge zur Verbesserung des § 34a EStG: Fechner/Bäuml, DB 2008, 1652 und Dörfler/Fellinger/Reichl, Beihefter zu DStR Heft 29/2009, 69 (moderate Modifikation); Bindl, DB 2008, 949 (Umwandlungen); Kavcic, FR 2008, 404; Siegel, FR 2008, 557; Schneider/ Wesselbaum-Neugebauer, FR 2011, 166 (Weiterentwicklung zu einem „virtuellen Trennungsprinzip“). 1242 Das Modell einer Sondertarifierung nicht entnommener Gewinne hat die Brühler Kommission (s. § 7 Rz. 78) grundl. 1999 erarbeitet (s. BMF-Schriftenreihe 66, 1999, 82 ff., sowie Modellvergleich im Planspiel: BMF-Schriftenreihe 67, 1999). Es ist von dem wiss. Beirat des Fachbereichs Steuern bei Ernst & Young weiterentwickelt worden (sog. T-Modell, BB 2005, 1653). Die Kommission „Steuergesetzbuch“ (s. § 7 Rz. 82) hat das Modell nach einer Expertentagung am 15.6.2005 (Stiftung Marktwirtschaft, Tagungsbericht, 2005) verworfen. Die Vertreter ertragstarker Personenunternehmen (Fechner/Lethaus, Die Tarifrücklage, Ifst-Schrift Nr. 437 [2006]) haben sich beim Gesetzgeber durchgesetzt. Vorschläge zur Fortentwicklung des § 34a EStG von Dörfler/Fellinger/Reichl, DStR-Beihefter 29/2009, 69. Zu den einkommensteuerlichen Integrationsmodellen s. § 13 Rz. 182 ff. 1243 Dazu m.w.N. Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017, Rz. 18.49 ff. 1244 EuGH v. 28.2.2013 – C-168/11, ECLI:EU:C:2013:117 – Beker und Beker; dazu Ismer, IStR 2013, 297. 1245 Fortbestehende unions- und verfassungsrechtliche Bedenken s. Desens, IStR 2015, 77.
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Hey
J. Einkommensteuertarif
Rz. 842 § 8
2.5 Pauschale Anrechnung der Gewerbesteuer (§ 35 EStG) Die pauschale Anrechnung der Gewerbesteuer in Gestalt einer Steuerbetragsermäßigung (§ 35 840 EStG)1246 ist durch die UntStRef 2000 ab dem VZ 2001 eingeführt worden und ist nunmehr integraler Bestandteil einer angenäherten Ertragsteuerbelastung von Personenunternehmen und Kapitalgesellschaften (s. Rz. 813). § 35 EStG begünstigt Einzelunternehmer und Mitunternehmer inkl. persönlich haftende Gesellschafter 841 einer KGaA (§ 15 I 1 Nr. 3 EStG). § 35 I EStG ermäßigt die um die anderen Steuerermäßigungen mit Ausnahme der §§ 34f; 34g; 35a EStG verminderte tarifliche ESt, soweit sie anteilig auf im zu versteuernden Einkommen enthaltenen gewerblichen Einkünfte entfällt (sog. Ermäßigungshöchstbetrag1247), ab 2008 (s. Rz. 815) um das 3,8fache des Gewerbesteuer-Messbetrags; dies entspricht der typisierten Belastung durch die ab 2008 nicht mehr abziehbare GewSt bei einem Hebesatz von 4001248. Der Abzug des Ermäßigungsbetrages ist auf die tatsächlich zu zahlende GewSt beschränkt (§ 35 I 5 EStG). Bei Mitunternehmern ist der anteilige Gewerbesteuer-Messbetrag zugrunde zu legen (§ 35 I 1 Nr. 2 EStG). Maßgeblich ist der Gewinnverteilungsschlüssel; Vorabgewinnanteile sind nicht zu berücksichtigen (§ 35 II 2 EStG). Anrechnungsüberhänge können entstehen, wenn der Gewinn infolge von Sondervergütungen unterschiedlich zwischen den Mitunternehmern verteilt wird und einzelne Mitunternehmer nur einen geringen Gewinnanteil zugerechnet bekommen. Dann kann die anteilige Gewerbesteuer nicht bei dem Mitunternehmer angerechnet werden kann, dem die anteiligen Einkünfte zugerechnet werden; Gewerbesteuer-Anrechnungsvolumen geht endgültig verloren1249. Unterliegen Mitunternehmer nach einem DBA nicht der deutschen GewSt, so sind deren Anteile in voller Höhe auf die gewerbesteuerpflichtigen Mitunternehmer entsprechend ihrem Anteil am Gewerbeertrag aufzuteilen (§ 35 II 3 EStG). Kritik: Zwar bestehen gegen die Privilegierung der gewerblichen Einkünfte durch die Tarifermäßi- 842 gung des § 35 EStG keine grds. verfassungsrechtlichen Bedenken1250. Schließlich kompensiert § 35 EStG die Zusatzbelastung der gewerblichen Einkünfte durch die GewSt sehr viel präziser als der vom BVerfG akzeptierte § 32c EStG 1994 (s. Rz. 816). Gleichwohl ist § 35 EStG ungeeignet, die Steuerstrukturprobleme der Gewerbesteuer zu lösen. Die Zusatzbelastung mit Gewerbesteuer wird nicht zuverlässig kompensiert. Dies liegt nicht nur an der Begrenzung des Anrechnungsfaktors auf einen unterdurchschnittlichen Gewerbesteuerhebesatz, sondern insb. an Anrechnungsüberhängen, die dadurch entstehen, dass der Gewerbesteuer keine tarifliche Einkommensteuer gegenübersteht. Hauptursache sind die divergierenden Besteuerungsgegenstände der Einkommensteuer als Personensteuer und der Gewerbesteuer als Objektsteuer1251. Nach der Rspr. des BFH sind Anrechnungsüberhänge indes nicht zu beanstanden, da § 35 EStG nicht dem Ziel der Kompensation der Gewerbesteuer, son1246 Materialien zu § 35 EStG: UnStRef 2000: BT-Drucks. 14/2683, 97 (allgemeine Begr.); BT-Drucks. 14/3366 (endgültige Gesetzesfassung); BT-Drucks. 14/3074; 14/3760; UnStRef 2008: BT-Drucks. 16/4841, 65. Zu Entstehungsgeschichte und Konzeption des § 35 EStG insb. Thiel, StuW 2000, 413; Hey, FR 2001, 870 (Verlegenheitslösung zur Reform der GewSt); Korezkij, Steuerermäßigung für gewerbliche Einkünfte nach § 35 EStG, Diss., 2003; Zuschlag, Die pauschalierte Gewerbesteueranrechnung nach § 35 EStG, Diss., 2008. Anwendungsschreiben des BMF v. 3.11.2016 – IV C 6-S 2296-a/08/10002:003, BStBl. I 2016, 1187 (dazu Grützner, StuB 2017, 18). 1247 Zur Ermittlung des Ermäßigungshöchstbetrags bei Ehegatten BFH v. 23.6.2015 – III R 7/14BStBl. II 2016, 871: keine Saldierung positiver und negativer Einkünfte aus Gewerbebetrieb bei Ehegatten. 1248 Mit steigenden Hebesätze müsste der Anrechnungsfaktor grds. angehoben werden, zutreffend Broer, DStZ 2016, 208. 1249 BFH v. 5.6.2014 – IV R 43/11, BStBl. II 2014, 695; hierzu Wendt, FR 2014, 896. Zu dem hierdurch begründeten Steuergestaltungsbedarf Schröder/Patek, DStZ 2009, 922. Zu Gesellschafterwechsel BFH v. 14.1.2016 – IV R 5/14, BStBl. II 2016, 875; Gläser/Zöller, BB 2017, 987; Dreßler/Oenings, DStR 2017, 625. 1250 Hierzu ausf. auch aus finanzverfassungsrechtlicher Sicht HHR/Levedag, § 35 EStG Anm. 8 (2008). 1251 Berechtigte Kritik Cordes, DStR 2010, 1416; a.A. Michel, DStR 2011, 611.
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§ 8 Rz. 843
Einkommensteuer
dern der Vermeidung einer Doppelbelastung mit Einkommen- und Gewerbesteuer diene1252. Es verbleiben jedoch, selbst wenn man den Gesetzeszweck allein in der Vermeidung von Doppelbelastungen sieht, jedenfalls bei Mitunternehmern durch die Anknüpfung des Ermäßigungsbetrags an den allgemeinen gesetzlichen Gewinnverteilungsschlüssel im Fall von Vorabgewinnen und Sondervergütungen, nicht zu rechtfertigende Doppelbelastungen1253. 3. Veranlagung von Ehegatten 843 Ehegatten, die beide unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind und nicht dauernd getrennt leben
und bei denen diese Voraussetzungen zu Beginn des Veranlagungszeitraumes vorgelegen haben oder im Laufe des Veranlagungszeitraumes eingetreten sind, räumt § 26 I 1 EStG ein Wahlrecht zwischen Zusammenveranlagung (§ 26b EStG) und Einzelveranlagung (§ 26a EStG) ein. Durch Steuervereinfachungsgesetz 2011 wurden die §§ 26; 26a EStG mit Wirkung ab VZ 2013 neu gefasst1254. Die frühere getrennte Veranlagung des § 26a EStG entfällt. Stattdessen ist nur noch eine „Einzelveranlagung“ vorgesehen. Gestrichen wurde die besondere Veranlagung für den VZ der Eheschließung (§ 26c EStG a.F.). Die Anzahl der Veranlagungsarten wurde damit auf vier reduziert: (1.) Einzelveranlagung mit Grundtarif gem. § 26a EStG, (2.) Verwitwetensplitting gem. § 32a VI 1 Nr. 1 EStG, (3.) Splitting im Trennungsjahr gem. § 32a VI 2 Nr. 2 EStG und (4.) Zusammenveranlagung mit Splittingtarif gem. §§ 26b; 32a V EStG. In § 26 II EStG wurden die Möglichkeiten des Wechsels zwischen den Veranlagungsarten beschränkt. Während die Ehegatten das Wahlrecht bisher bis zur Bestandskraft des ESt-Bescheids ausüben konnten1255, kann die Veranlagungsart nach Eintritt der Unanfechtbarkeit nur noch im Rahmen der Aufhebung, Änderung oder Berichtigung des Bescheides geändert werden, wenn sich dadurch für beide Ehegatten zusammen betrachtet, die Einkommensteuerfestsetzung reduziert (§ 26 II 4 EStG). Geben die Ehegatten keine Erklärung ab, so wird unterstellt, dass sie Zusammenveranlagung wählen (§ 26 III EStG). Entfallen ist das besondere Wahlrecht bei Auflösung der Ehe durch Tod eines Ehegatten und Wiederheirat im selben Veranlagungszeitraum (§ 26 I 3 EStG a.F.). 844 Die Zustimmung zur Zusammenveranlagung kann nur zivilrechtlich1256, nicht steuerrechtlich durch-
gesetzt werden, da steuerrechtlich keine Verpflichtung zur Veranlagung besteht1257. Wird ein Ehegatte antragsgemäß einzeln veranlagt, so ist der andere Ehegatte zwingend einzeln zu veranlagen. Die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) verbietet es, die Zusammenveranlagung von Ehegatten zu versagen, die nicht dauernd getrennt leben, jedoch ihre Wohnsitze in verschiedenen EG-Staaten haben1258.
1252 BFH v. 23.4.2008 – X R 32/06, BStBl. II 2009, 7 (11); v. 7.4.2009 – IV B 109/08, BStBl. II 2010, 116 (120). 1253 Dagegen BFH v. 7.4.2009 – IV B 109/08, BStBl. II 2010, 116. 1254 Gesetz v. 1.1.2011, BGBl. I 2011, 2131; dazu Egner/Quinten/Kohl, NWB 2013, 273. 1255 BFH v. 7.2.2005 – III B 101/04, BFH/NV 2005, 1083. 1256 Eine zivilrechtliche Verpflichtung ergibt sich aus der ehelichen Verpflichtung, die finanziellen Lasten des Anderen möglichst zu vermindern (st. Rspr., z.B. BGH v. 13.10.1976 – IV ZR 104/74, FamRZ 1977, 38 [40]; v. 4.11.1987 – IVb ZR 83/86, NJW 1988, 2032; v. 12.6.2002 – XII ZR 288/00, FamRZ 2002, 1024 [1025]; v. 3.11.2004 – XII ZR 128/02, NJW 2005, 1196). Eine Abrede getrennter Veranlagung ist zulässig und wirkt erst recht nach dem Scheitern der Ehe (BGH v. 23.5.2007 – XII ZR 250/04, DStR 2007, 1408). Im Falle der Insolvenz eines Ehegatten wird das Ehegattenwahlrecht durch den Insolvenzverwalter ausgeübt (BGH v. 24.5.2007 – IX ZR 8/06, DStR 2007, 1411). Zur insolvenzbehafteten Zusammenveranlagung Farr, BB 2006, 1302. ESt ist auch bei Insolvenz eines Ehegatten hälftig zu erstatten (BFH v. 30.9.2008 – VII R 18/08, BStBl. II 2009, 38). 1257 BFH v. 7.2.2005 – III B 101/04, BFH/NV 2005, 1083. 1258 EuGH v. 25.1.2007 – C-329/05, ECLI:EU:C:2007:57 – Meindl.
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Hey
J. Einkommensteuertarif
Rz. 850 § 8
Zusammenveranlagung1259: Nach § 26b EStG werden die zusammenveranlagten Ehegatten „ge- 845 meinsam als Stpfl.“ behandelt. Diese Formulierung des Gesetzes ist insofern verunglückt, als die Steuersubjekteigenschaft nicht partiell aufgehoben werden kann. Entweder ist der Ehegatte Einkommensteuersubjekt oder er ist es nicht. Der einzelne Ehegatte ist und bleibt auch im Falle der Zusammenveranlagung Einkommensteuersubjekt und -schuldner, denn es werden die Einkünfte eines jeden Ehegatten auch bei der Zusammenveranlagung getrennt ermittelt und zugerechnet (s. Rz. 165). Nach § 44 I AO ist jeder einzelne Ehegatte Gesamtschuldner der Einkommensteuer, zu der die Ehegatten zusammenveranlagt werden. Die Gesamtschuld kann nach §§ 268 ff. AO aufgeteilt werden. Jeder zusammenveranlagte Ehegatte kann gegen den Einkommensteuerbescheid Einspruch einlegen und klagen; der andere Ehegatte ist nach h.M. notwendig beizuladen (§ 60 III FGO). Nach § 32a V EStG beträgt die tarifliche Einkommensteuer das Zweifache des Steuerbetrags, der sich 846 für die Hälfte ihres gemeinsam zu versteuernden Einkommens ergibt (sog. Splitting)1260. Bis 1957 wurden die Einkünfte der Ehegatten so zusammengerechnet, als handle es sich um die Einkünfte einer Person. Auf diese Weise wurden Eheleute durch den progressiven Tarif gegenüber (zwei) Alleinstehenden benachteiligt1261. Diese die Eheleute diskriminierende Art der Zusammenveranlagung hatte das BVerfG wegen Verstoßes gegen Art. 6 GG für verfassungswidrig erklärt1262 (s. § 3 Rz. 163 f.).
Das Ehegattensplitting berücksichtigt die Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft der intakten Durch- 847 schnittsehe und ist daher keine Steuervergünstigung1263. Allerdings typisiert der Steuergesetzgeber die eheliche Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft relativ großzügig, da auf die einzelnen Güterstände keine Rücksicht genommen wird. Das Splittingverfahren nach § 32a V EStG verdoppelt den Grundfreibetrag (§ 32a I 2 Nr. 1 EStG). Die 848 Verdoppelung ist wegen der Haushaltsersparnis nicht zu rechtfertigen1264. Die Kosten zusammenlebender Personen sind pro Person gerechnet geringer als die Alleinstehender. Die Haushaltsersparnis wird im Sozialhilferecht durch einen niedrigeren Regelsatz für die Haushaltsangehörigen berücksichtigt. Dementsprechend müsste auch der zweite Grundfreibetrag niedriger angesetzt werden. Unsystematisch ist auch das sog. Gnadensplitting, das bei Verwitweten über das Bestehen der Ehe 849 hinaus noch eine Zeit lang weitergewährt wird (§ 32a VI 1 Nr. 1 EStG), ohne dass mehrere Personen am Einkommen partizipieren. Einzelveranlagung: Im Falle der Einzelveranlagung (früher: getrennte Veranlagung) unterliegt das 850 Einkommen eines jeden Ehegatten dem Grundtarif (§ 32a I EStG). Jeder Ehegatte hat die von ihm erwirtschafteten Einkünfte selbst zu versteuern (§ 26a I EStG). Sonderausgaben, außergewöhnliche Belastungen und die Steuerermäßigung gem. § 35a EStG werden bei dem Ehegatten abgezogen, der sie wirtschaftlich getragen hat (§ 26a II 1 EStG); bei der Ermittlung der Zumutbarkeit der Belastung wer-
1259 Monographien zu Verfahrensfragen: Vogt, Verfahrensrechtliche Probleme bei zusammenveranlagten Ehegatten, Diss., 2004; Dyckmann, Ehegattenveranlagung in Krisenzeiten, Diss., 2009. 1260 Zu den Wirkungen der Splittingbesteuerung Brüninghaus/Kühn, DStR 1995, 967; Krause-Junk/von Oehsen, DStR 1995, 1739 (Erwiderung: Brüninghaus/Kühn, DStR 1995, 1741). Zur Berücksichtigung des Ehegattensplittings bei der Bemessung des an den ehemaligen Ehegatten zu leistenden Unterhalts BVerfG v. 7.10.2003 – 1 BvR 246/93, BVerfGE 108, 351. 1261 Ausf. zur Entwicklung der Haushaltsbesteuerung in Deutschland Becker, Der „Grundsatz der Individualbesteuerung“ im deutschen Einkommensteuerrecht, Diss., 1970. 1262 BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55. 1263 So BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvR 620/78, BVerfGE 61, 347. 1264 Dazu Böckli, StRev 1978, 98; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, 631 ff. (m.w.N.); Buob, DStZ 1992, 422; Broer, BB 2013, 2208, mit einem hieran anknüpfenden Reformvorschlag.
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§ 8 Rz. 900
Einkommensteuer
den die Einkünfte beider Ehegatten zusammengerechnet1265. Die Ehegatten können eine andere Aufteilung beantragen. 851–899
Einstweilen frei.
K. Zum Verfahren 900 Die Einkommensteuer ist eine Veranlagungssteuer, d.h. die Steuer wird durch schriftlichen Bescheid
festgesetzt (§ 25 EStG; §§ 155 ff. AO). Das Ermittlungsverfahren1266 ist in §§ 78 ff.; 134 ff.; 140 ff. AO geregelt. Die Veranlagung geschieht nach Ablauf des Veranlagungszeitraums, d.h. des Kalenderjahrs (s. § 25 EStG). Die Stpfl. haben vierteljährlich (10.3.; 10.6.; 10.9.; 10.12.) Vorauszahlungen zu leisten, die prinzipiell nach den Verhältnissen der Vergangenheit bemessen werden (§ 37 EStG). 901 §§ 37a; 37b EStG regeln ähnlich gelagerte Fälle von Sachzuwendungen, die pauschal mit Abgeltungs-
wirkung (§ 37a II 1 i.V.m. §§ 40 III 3; 37b III 1 EStG) besteuert werden können. Dabei übernimmt der Leistende die Steuer; davon hat er den Leistungsempfänger zu unterrichten (§§ 37a II 2; 37b III 3 EStG). Die Pauschalsteuer gilt als Lohnsteuer. Dementsprechend ist sie anzumelden und abzuführen (§§ 37a IV; 37b IV EStG). § 37a EStG ist durch JStG 1997 ab 1997 als sog. lex Lufthansa eingeführt worden: Das Finanzamt kann auf Antrag zulassen, dass Unternehmen, die Sachprämien zum Zwecke der Kundenbindung (§ 3 Nr. 38 EStG) gewähren, den Prämienwert mit 2,25 % pauschal versteuern. 902 Durch JStG 2007 folgte die lex Fußballweltmeisterschaft: Die Probleme der steuerlichen Behandlung
von Zuwendungen anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2006 (Hospitality, VIP-Logen etc.) veranlassten den Gesetzgeber zur Regelung des § 37b EStG, nach der die Leistenden betrieblich veranlasste Sachzuwendungen, die zusätzlich zu einer Leistung/Gegenleistung erbracht werden, und Geschenke i.S.d. § 4 V Satz 1 Nr. 1 EStG, nach Rspr. des BFH einschließlich der Geschenke unter 35 Euro1267, pauschal mit 30 % der Aufwendungen inkl. USt bis zu einem Zuwendungswert von 10 000 Euro versteuern können (§ 37b I EStG)1268. Es handelt sich bei § 37b EStG nicht um die Normierung einer eigenen Einkunftsart, sondern lediglich um eine besondere pauschalierende Erhebungsform, welche richtigerweise die Steuerpflicht beim Empfänger voraussetzt1269, so dass Zuwendungen an in Deutschland nicht steuerpflichtige Arbeitnehmer und Geschäftspartner ausgenommen sind, ebenso wie Geschenke z.B. Streuwerbung, die beim Empfänger nicht in die Erwerbsphäre fällt. Allerdings stellt die hieraus folgende Notwendigkeit der Differenzierung aus Sicht der zuwendenden Unternehmer den Vereinfachungszweck der Regelung deutlich in Frage. Zur Auswirkung auf die Freigrenze des § 4 V 1 Nr. 1 EStG s. Rz. 269.
1265 1266 1267 1268
BFH v. 26.3.2009 – VI R 59/08, BStBl. II 2009, 808, m. Anm. Kanzler, FR 2009, 920 (921). Überblick über die verschiedenen Erhebungsformen Holzner/Dürr, Beilage zu NWB 13/2017, 24. BFH v. 16.10.2013 – VI R 52/11, BStBl. II 2015, 455. Überblick Meyer, SteuerStud 2010, 157; aktuelle Entwicklungen Niermann, DB 2017, 868; Kritik Haupt, DStR 2017, 2526. 1269 BFH v. 16.10.2013 – VI R 57/11, BStBl. II 2015, 457; ebenso v. 16.10.2013 – VI R 52/11, BStBl. II 2015, 455; v. 16.10.2013 – VI R 78/12, BStBl. II 2015, 495; v. 12.12.2013 – VI R 47/12, BStBl. II 2015, 490; dazu Riegler/Riegler, IStR 2016, 291 (Steuerausländer als Empfänger). Einzelheiten: BMF v. 19.5.2015 – IV C 6 – S 2297-b/14/10001, BStBl. I 2015, 468. Zur Abzugsfähigkeit der Pauschalbesteuerung als Betriebsausgabe des leistenden Unternehmers BFH v. 30.3.2017 – IV R 13/14, BStBl. II 2017, 892. Zu Anwendungsfragen s. von Wolfersdorff/Hey, DB 2015, 153.
526
Hey
K. Zum Verfahren
Rz. 906 § 8
In folgenden Fällen wird ein Quellenabzug durchgeführt:
903
(1) Bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit wird die ESt nach den §§ 38 ff. EStG durch Ab- 904 zug vom Arbeitslohn erhoben (Lohnsteuer)1270, soweit der Arbeitslohn von einem inländischen Arbeitgeber1271 (§ 38 I 1 Nr. 1 EStG) oder von einem ausländischen Verleiher, der dem Entleiher gewerbsmäßig Arbeitnehmer zur Arbeitsleistung im Inland überlässt (§ 38 I 1 Nr. 2 EStG), gezahlt wird. Unter den Voraussetzungen des § 38 I 3, IIIa EStG unterliegen auch Zahlungen durch Dritte der Lohnsteuer1272. Schuldner der Lohnsteuer ist der Arbeitnehmer (§ 38 II 1 EStG). Demnach hat der Arbeitgeber die Lohnsteuer für Rechnung des Arbeitnehmers bei jeder Lohnzahlung einzubehalten (§ 38 III 1 EStG) und sodann nach § 41a EStG spätestens am 10. Tag nach Ablauf des Lohnsteuer-Anmeldungszeitraums (§ 41a II EStG: grds. der Monat) anzumelden und an das Betriebsstättenfinanzamt abzuführen. Der Lohnsteuerabzug wird auf der Grundlage von Lohnsteuerklassen (§ 38b EStG) durchgeführt. Davon abweichend sehen die §§ 40–40b Pauschalierungen vor, insb. für Teilzeitbeschäftigte, geringfügig Beschäftigte (§ 40a) und für Zukunftssicherungsleistungen (§ 40b EStG). Seit 2010 können Ehegatten zum Zwecke eines genaueren Steuerabzugs anstelle der Steuerklassenkombination III/V das Faktorverfahren nach § 39f EStG beantragen. Bei jedem Ehegatten wird die Steuerklasse IV i.V.m. einem vom Finanzamt nach § 39f I EStG berechneten Faktor eingetragen. Seit 2013 werden alle für den Lohnsteuerabzug relevanten Besteuerungsmerkmale elektronisch vom Bundeszentralamt für Steuern verwaltetet, sog. ELStAM-Verfahren), s. § 39e EStG1273. Das Lohnsteuerabzugsverfahren wird mit dem Lohnsteuer-Jahresausgleich durch den Arbeitgeber 905 (§ 42b EStG) abgeschlossen. Hierzu ist der Arbeitgeber verpflichtet, wenn er zum Ende des Ausgleichsjahres mindestens 10 Arbeitnehmer beschäftigt. Der Arbeitgeber haftet für die Lohnsteuer nach § 42d EStG. Das Betriebsstättenfinanzamt gibt nach § 42e EStG auf Anfrage Auskunft über die Rechtslage (Lohnsteuer-Anrufungsauskunft, s. § 21 Rz. 15) und führt nach § 42f EStG Lohnsteuer-Außenprüfungen durch. § 42g EStG ermöglicht zur zeitnahen Aufklärung eine Lohnsteuernachschau. Unter den Voraussetzungen des § 46 II EStG sind Arbeitnehmer zu veranlagen1274; ansonsten hat der Lohnsteuerabzug abgeltende Wirkung. § 41a IV EStG regelt eine systemwidrig über die Lohnsteuer abgewickelte Steuersubvention für die Seeschifffahrt. Arbeitgeber, die eigene oder gecharterte Handelsschiffe betreiben. § 41a IV EStG ist zusammen mit § 5a EStG (s. Rz. 202) eingeführt worden. Statt die gleichheitssatzwidrige1275 Begünstigung einer einzelnen Branche des Transportgewerbes abzuschaffen, hat der Gesetzgeber sie 2016 noch ausgeweitet. Da1270 Zur Systematik der Lohnsteuer grundl. BFH v. 14.11.2013 – VI R 49/12, BFHE 243, 524 (Vorlagebeschluss zur pauschalen Lohnsteuer auf Gegenwertzahlungen gem. §§ 19 I Satz 1 Nr. 3 Satz 2; 40b IV, V EStG; Az. BVerfG: 2 BvL 7/14); Heuermann, Systematik und Struktur der Leistungspflichten im Lohnsteuerabzugsverfahren, Diss., 1998; Heuermann, StuW 1998, 219; Heuermann, StuW 1999, 349; Ramb, Überblick über die Grundzüge des Lohnsteuerrechts, SteuerStud 2002, 72; Heuermann in Leitgedanken des Rechts II, 2013, § 179: Lohnsteuer; Drüen (Hrsg.), Besteuerung von Arbeitnehmern, BStJG 40 (2017) mit Beiträgen speziell zum Lohnsteuerrecht von Krüger, 145 ff. (Verfahren und Rechtsschutz); Meyer, 177 ff. (Rolle des Arbeitgebers); Haslehner, 221 ff. (Europäischer Rechtsvergleich). Zur Indienstnahme des Arbeitgebers für Zwecke des Steuervollzugs Wiss. Beirat Ernst & Young, DB 2013, 139. 1271 Zur Inanspruchnahme des Arbeitgebers Geißler, Der Unternehmer im Dienste des Steuerstaats, Diss., 2001 (dazu Hey, StuW 2002, 91); Drüen, FR 2004, 1134 (verfassungsrechtliche Bestandsaufnahme); G. Kirchhof, Die Erfüllungspflichten des Arbeitgebers im Lohnsteuerverfahren, Diss., 2005; Ellers, Die gesetzliche Verpflichtung privater Arbeitgeber zum Lohnsteuereinbehalt, Diss., 2010. 1272 Ab 2004 ist mit § 38 I 3, IIIa EStG der sog. wirtschaftliche Arbeitgeberbegriff eingeführt worden (s. Rz. 474). 1273 Zu praktischen Auswirkungen Foerster, GmbH-Steuerpraxis 2013, 69. 1274 Die frühere Zweijahresfrist für den Antrag auf Veranlagung wurde durch JStG 2008 rückwirkend ab 2005 gestrichen (§§ 46 II Nr. 8 Satz 2; 52 Abs. 55j Satz 3 EStG). Die frühere gleichheitssatzwidrige Benachteiligung von Arbeitnehmern ist damit weitgehend beseitigt. 1275 Gesetz zur Erhöhung des LSt.-Einbehalts in der Seeschifffahrt v. 1.6.2016, BGBl. I 2016 S. 310.
Hey 527
906
§ 8 Rz. 907
Einkommensteuer
nach darf vom Gesamtbetrag der anzumeldenden und abzuführenden Lohnsteuer die gesamte auf Besatzungsmitglieder entfallende Lohnsteuer abgezogen werden1276. 907
(2) Bei Kapitalerträgen wird die ESt nach den §§ 43 ff. EStG durch Abzug vom Kapitalertrag erhoben (Kapitalertragsteuer)1277. § 43 I 1 Nr. 1–12 EStG unterwirft i.V.m. § 20 I, II EStG (s. Rz. 495 f., 497 ff.) der KapESt:
908
– Nr. 1: Bezüge i.S.d. § 20 I Nr. 1, 2 EStG, insb. Dividenden; entspr. Veräußerungserträge (§ 20 II 1 Nr. 2a Satz 2 EStG); – Nr. 1a: Bezüge i.S.d. § 20 I Nr. 1 EStG aus bei sammel- und streifbandverwahrten Aktien u. Genussscheinen; – Nr. 2: Zinsen aus bestimmten Teilschuldverschreibungen; – Nr. 3: Einnahmen aus stillen Beteiligungen und aus partiarischen Darlehen (§ 20 I Nr. 4 EStG); – Nr. 4: Erträge aus Lebensversicherungen (§ 20 I Nr. 6 EStG); – Nr. 6: ausnahmsweise Erfassung ausländischer Kapitalerträge bei inländischer Zahlstelle; – Nr. 7: bestimmte Erträge aus Kapitalforderungen jeder Art (§ 20 I Nr. 7 EStG); – Nr. 7a: Erträge aus KSt-Subjekten i.S.d. § 1 I Nr. 3–5 KStG (u.a. Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, Vereine, Stiftungen); – Nr. 7b, 7c: Erträge aus Betrieben gewerblicher Art/wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben; – Nr. 8 (Stillhalterprämien); Nr. 9–12 (Veräußerungserträge i.S.d. § 20 II 1 Nr. 1 Satz 1, 2, Nr. 2b, 3, 7, 8).
909
Der KapESt unterliegen grds. nur Kapitalerträge, wenn der Schuldner Wohnsitz, Geschäftsleitung oder Sitz im Inland hat (§ 43 I 1, III 1 EStG). Ausnahmsweise unterliegen der KapESt auch ausländische Kapitalerträge, soweit es einen inländischen Anknüpfungspunkt gibt (§ 43 III EStG): Dividenden etc. (§ 43 I 1 Nr. 1, 6), Zinsen aus besonders registrierten Anleihen und Forderungen (Nr. 7a), Stillhalterprämien/Veräußerungserträge (Nr. 8–12).
910
§§ 43 I Nr, 1a; 44 I 4 Nr. 3; 44 Ia; 45a II 1 EStG sehen in den Fällen des Leerverkaufs von Aktien vor, dass die ausländische Depotbank die Kapitalerträge einschließlich Kapitalertragsteuer an die inländische Wertpapiersammelbank weiterleitet, die dann die Kapitalertragsteuer abführt. Auf diese Weise soll der zuvor unzureichend durch § 20 I Nr. 1 Satz 4 EStG bekämpften Gefahr mehrfacher Anrechnung der nur einmal abgeführten Kapitalertragsteuer im Zuge sog. Cum-Ex-Geschäfte (s. § 9 Rz. 155) begegnet werden1278. 1276 Zu § 41a IV EStG s. Voß/Unbescheid, DB 1998, 2341. 1277 Dazu BMF v. 18.1.2016 – IV C 1-S 2252/08/10004:017, BStBl. I 2016, 85, Rz. 151a–183. 1278 BFH v. 16.4.2014 – I R 2/12, BFHE 246, 15; zu zivil- und steuerrechtlichen Grundlagen und zur Reichweite der Entscheidung ausf. Schön, Recht der Finanzinstrumente 2015, 115. Die Aufarbeitung des cum-ex Skandals mit Doppelerstattungen in zweistelliger Milliardenhöhe (s. Spengel, Wirtschaftsdienst 2017, 454, zum Abschlussbreicht des zur Aufarbeitung eingesetzten Untersuchungsausschusses) bleibt weiterhin heftig umstritten, s. z.B. die Auseinandersetzungen zwischen Desens, DStZ 2012, 142; Replik Rau, DStZ 2012, 241; Duplik Desens, DStZ 2012, 246; Desens, DStZ 2014, 154; Desens, FR 2014, 265 u. 305, und Spatscheck/Spilker, DB 2016, 2920; Replik Spengel/Eisgruber, DB 2017, 750; Duplik Spatscheck/Spilker, DB 2017, 752; mit starker Betonung von Gesetzeswortlaut und Rechtsstaatsprinzip geht Loritz, WM 2017, 309 u. 353 von der Legalität aus; dagegen Florstedt, NZG 2017, 601. Gute Darstellung der zugrunde liegenden Gestaltungen bei Seer/Krumm, DStR 2013, 1757. Auch die richterrechtliche Aufarbeitung ist insb. im Hinblick auf Fragen des wirtschaftlichen Eigentums, der Anrechnungsberechtigung und etwaiger strafrechtlicher Konsequenzen nicht abgeschlossen, s. aktuell FG Düsseldorf v. 12.12.2016 – 6 K 1544/11 K, EFG 2017, 602 (rkr.); Hess. FG v. 10.3.2017 – 4 K 977/14, EFG 2017, 656 (rkr.), Anm. Spengel, FR 2017, 545; Rau, DStR 2017, 1852; krit. Müller/Schade, BB 2017, 1239.
528
Hey
L. Kirchensteuer
Rz. 913 § 8
Sog. Cum-Cum-Geschäfte, bei denen von nicht zur Einkommensteuer veranlagten und damit nicht anrechnungsberechtigten Anteilseignern gehaltene Aktien kurz den Dividendenstichtag an anrechnungsberechtigte Anteilseigner übertragen werden (sog. Dividendenstripping), bekämpft der Gesetzgeber mit dem Erfordernis einer Mindesthaltedauer von 45 Tagen vor und 45 Tagen nach der Fälligkeit der Kapitalerträge (§ 36a EStG) für die Kapitalertragsteueranrechnung1279. Mit Einführung der Abgeltungsteuer (s. Rz. 492 ff.) sind die bisherigen Steuersätze von 20, 25 und 30 % durch einen einheitlichen Steuersatz von 25 % (§ 43a I 1 Nr. 1 EStG) ersetzt worden. Nur bei Erträgen aus Betrieben gewerblicher Art (§ 43 I 1 Nr. 7b, 7c EStG) gilt ein Steuersatz von 15 %. Im Fall einer Kirchensteuerpflicht ermäßigt sich die KapESt um 25 % der auf die Kapitalerträge entfallenden Kirchensteuer (§ 43a I 2, s. Rz. 973). Lohnsteuer und Kapitalertragsteuer sind Arten der Einkommensteuer, keine eigenen Steuerarten1280. 911 Ob über den Quellenabzug hinaus eine Veranlagung durchzuführen ist oder auf Antrag durchgeführt werden kann, ergibt sich aus § 46 EStG. Bei einer Veranlagung werden die einbehaltenen Abzugsbeträge angerechnet (§ 36 II Nr. 2 EStG). Im Allgemeinen kontrolliert das Finanzamt den Quellenabzug durch Außenprüfungen an Ort und Stelle (§ 42f EStG; §§ 193 ff. AO). (3) Zum Steuerabzug bei beschränkt Einkommensteuerpflichtigen s. §§ 50a; 50d EStG1281.
912
(4) Mit dem Gesetz zur Eindämmung illegaler Betätigung im Baugewerbe v. 30.8.2001, BGBl. I 2001, 913 2267, wurde der Steuerabzug bei Bauleistungen (§§ 48–48d EStG) eingeführt1282. Der Empfänger von Bauleistungen hat einen Steuerabzug von 15 % der Gegenleistung für Rechnung des Leistenden vorzunehmen, wenn er Unternehmer i.S.d. § 2 UStG oder eine juristische Person des öffentlichen Rechts ist (§ 48 I EStG). Der Steuerabzug muss nicht vorgenommen werden, wenn der Leistende eine Freistellungsbescheinigung vorlegt oder wenn die Gegenleistung die Bagatellgrenze von 5 000 Euro nicht überschreitet; diese Bagatellgrenze erhöht sich auf 15 000 Euro, wenn der Leistungsempfänger ausschließlich umsatzsteuerfreie Umsätze i.S.d. § 4 Nr. 12 Satz 1 UStG ausführt (§ 48 II EStG). Die Freistellungsbescheinigung wird erteilt, wenn der zu sichernde Steueranspruch nicht gefährdet erscheint und ein inländischer Empfangsbevollmächtigter bestellt ist (s. § 48b EStG). Einstweilen frei.
914–949
L. Annexsteuer: Kirchensteuer Literatur: Giese, Deutsches Kirchensteuerrecht, Habil., 1910; Marré, Das kirchliche Besteuerungsrecht, in Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland2, Bd. 1, 1994, 1101; Fahr (Hrsg.), Kirchensteuer – Notwendigkeit und Problematik, 1996; Suhrbier-Hahn, Das Kirchensteuerrecht, 1999; Martin (Hrsg.), Abschied von der Kirchensteuer – Plädoyer für ein demokratisches Zukunftsmodell, 2002; Motschmann (Hrsg.), Macht und Mißbrauch der Kirchensteuer, 2002; Hammer, Rechtsfragen der Kirchensteuer, Habil., 2002; Rüfner, Bundes- und Landeskompetenzen im Bereich der Kirchensteuern, in FS Link, 2003, 432; Axer, Die Kirchensteuer als gemeinsame Angelegenheit von Staat und Kirche, in FS Rüfner, 2003, 13; Seer/Kämper (Hrsg.), Bochumer Kirchensteuertag, 2004; R. Meier, Rechtsfragen der Kirchensteuer im Wandel der Gesellschaft seit der Wiedervereinigung Deutschlands, Diss., 2005; 1279 Eingeführt durch InvStRefG v. 19.7.2016, BGBl. I 2016, 1730; dazu BMF v. 11.11.2016 – IV C 6-S 2134/10/10003-02, BStBl. I 2016, 1324 und v. 17.7.2017 – IV C 1-S 2252/15/10030:005, BStBl. I 2017, 986. Dazu Ebner, NWB 2017, 2110. 1280 Scheinbar a.A. Weber-Grellet, DStR 2013, 1357 (1360), für die Kapitalertagsteuer als Teil der Abgeltungsteuer („Steuer eigener Art“). 1281 Dazu Lang/Schuch/Staringer, Quellensteuern. Der Steuerabzug bei Zahlungen an ausländische Empfänger, 2010; zur EU-Rechtskonformität der aktuellen Regelung Holthaus, IStR 2014, 628. 1282 Dazu BMF v. 27.12.2002 – IV A 5-S 2272-1/02, BStBl. I 2002, 1399; v. 4.9.2003 – IV A 5 - S 2272b-20/03, BStBl. I 2003, 431; Apitz, FR 2002, 10; Diebold, DStZ 2002, 252.
Hey/Seer 529
§ 8 Rz. 950
Einkommensteuer
Marré/Jurina, Die Kirchenfinanzierung in Kirche und Staat der Gegenwart4, 2006; Müller-Franken, Kirchenfinanzierung im freiheitlichen Staat des Grundgesetzes, BayVBl. 2007, 33; Schoppe, Die Kirchensteuer versus Trennung von Staat und Kirche, Diss., 2008; Hammer, Aspekte der Sachgerechtigkeit der Kirchensteuer, DÖV 2008, 975; Hammer, Zur Kirchlichkeit der Kirchensteuer, StuW 2009, 120; C. Arndt, Analyse und Prognose des Kirchensteueraufkommens der EKD in Deutschland, Diss., 2009; Hammer, Neue Gerichtsentscheidungen zu Verfassungsfragen des Kirchensteuerrechts, KuR 2011, 108; Korioth, Kirchensteuern als verfassungsrechtliches Problem, in Will (Hrsg.), Die Privilegien der Kirchen und das Grundgesetz, 2011, 13; Wasmuth, Zur Problematik des Kirchenlohnsteuerabzugsverfahrens, in Will (Hrsg.), Die Privilegien der Kirchen und das Grundgesetz, 2011, 33; Birk/Ehlers (Hrsg.), Aktuelle Rechtsfragen der Kirchensteuer, 2012; F. Kirchhof, Grundlagen und Legitimation der deutschen Kirchenfinanzierung, in Kämper/ Thönnes (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 47, 2013, 7; Kämper, Kirchensteuer, in FS P. Kirchhof, 2013, Bd, II, § 192; Pospischil, Kirchensteuer im 21. Jahrhundert – Rechtliche Grundlagen verschiedener Erhebungsformen, 2013; Höfer (Hrsg.), Kirchenfinanzierung in Europa – Modelle u. Trends, 2014; Krumm, Einführung in die Verfassungsrechtsfragen der Kirchensteuer, AL 2015, 12; Hartmann/Holtkamp, Die Kirche und das liebe Geld – Fakten und Hintergründe, 2015; Uhle (Hrsg.), Kirchenfinanzierung in der Diskussion, 2015; Mückl, Kirchensteuer und Kirchenbeitrag, in Haering/Rees/Schmitz (Hrsg.), Hdb. des katholischen Kirchenrechts3, 2015, 1532; Rausch, 50 Jahre Judikatur des BVerfG zur Kirchensteuer, KuR 2016, 69; Lehner, Voraussetzungen der steuerpflichtbegründenden Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft, in FS Gosch, 2016, 249; Hünermund, Kirchensteuer und Kapitalertragsteuer – Die Auswirkungen des UntStRefG 2008 im System der Kirchensteuererhebung, Diss., 2016; de Wall/Muckel, Kirchenrecht5, 2017; Petersen, Kirchensteuer kompakt3, 2017.
1. Arten der Kirchenfinanzierung 950 Im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirche bildeten sich in
den einzelnen Ländern Europas sowie in den USA unterschiedliche Ausgestaltungen der Kirchenfinanzierung1283. Man kann zwei Grundformen unterscheiden, zum einen die mehr oder weniger vollständige Finanzierung der Kirche durch den Staat, wie das in Belgien, Luxemburg und Griechenland der Fall ist, und zum anderen die Finanzierung der Kirche durch ihre Mitglieder. 951 Es gibt vier Arten der Mitgliederfinanzierung:
1. das Spenden- und Kollektensystem (USA, Frankreich1284, Portugal, Großbritannien, Irland, Niederlande), 2. das privatrechtliche Kirchenbeitragssystem (Österreich), 3. das Kirchensteuersystem (Deutschland, fast alle Kantone der Schweiz, Skandinavien), und 4. das optionale Steuersystem, nach dem jeder Einkommensteuerpflichtige einen bestimmten Prozentsatz seiner Einkommensteuer entweder der Kirche oder dem Staat für bestimmte Zwecke zuweisen kann (Spanien 0,7 %, Italien 0,8 %, Ungarn 1 %, Slowakei 2 %). 952 Das Kirchensteuerrecht der als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfassten Religionsge-
meinschaften ist durch Art. 140 GG i.V.m. Art 137 VI WRV verfassungsrechtlich verbürgt (s. Rz. 953 ff.)1285. Nach Art. 17 I AEUV hat die EU den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, zu respektieren. Dadurch ist die
1283 Dazu Marré in Seer/Kämper (Hrsg.), 2004, 43; Marré/Jurina, 2006, 13 ff.; Böttcher, ZevKR 52 (2007), 415 f.; Hammer in Birk/Ehlers (Hrsg.), 2012, 65 (68 ff.). 1284 Zu den Wirkungen des Art. 9 EMRK auf die Besteuerung sog. Opfergaben an die Zeugen Jehovas durch den französischen Fiskus s. EGMR v. 30.6.2011 – 8916/05, NVwZ 2012, 1609. 1285 Zur Kritik an der Kirchensteuer s. etwa Martin, Abschied von der Kirchensteuer, Reformvorschlag des Dietrich-Bonhoeffer-Vereins, 2002; Wasmuth in Will, 2011, 33 ff.; Teuffel, Rettet die Kirche – schafft die Kirchensteuer ab, 2014.
530
Seer
L. Kirchensteuer
Rz. 955 § 8
Kirchensteuer gegenüber dem Unionsrecht institutionell immunisiert1286. Verstoßen allerdings einzelne Vorschriften der Einkommensteuer als Maßstabsteuer (s. Rz. 962) gegen das Europarecht (s. § 4 Rz. 26), schlägt dies auch auf die Kirchensteuer als Annexsteuer (Rz. 962) durch1287. 2. Das Besteuerungsrecht der Religionsgemeinschaften nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 VI WRV Das Besteuerungsrecht der Religionsgemeinschaften1288 ist in Art. 137 VI WRV i.V.m. Art. 140 GG 953 verankert. Gemäß Art. 137 VI WRV sind die „Religionsgemeinschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechts sind“, berechtigt, „auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben.“ Nach Art. 137 VI WRV haben nur Körperschaften des öffentlichen Rechts1289 das Besteuerungsrecht. Diesen Status besitzen die Evangelischen Landeskirchen, die Diözesen der Katholischen Kirche sowie die jüdische Religionsgemeinschaft als sog. altkorporierte Religionsgemeinschaften (Art. 137 V 1 WRV), die bereits bei Inkrafttreten der WRV am 11.8.1919 bestanden. Anderen (neukorporierten) Religionsgemeinschaften1290 ist der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts vom Staat (dem Land) zu verleihen, wenn „sie durch ihre Verfassung und die Zahl der Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten“ (Art. 137 V 2 WRV)1291. Zudem muss die Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts rechtstreu sein1292: 954 Die Religionsgemeinschaft die „Gewähr dafür bieten, dass sie das geltende Recht beachten, insbesondere die ihr übertragene Hoheitsgewalt nur in Einklang mit den verfassungsrechtlichen und sonstigen gesetzlichen Bindungen ausüben wird“1293. Außerdem müsse die Religionsgemeinschaft die Gewähr dafür bieten, dass ihr künftiges Verhalten die in Art. 79 III GG umschriebenen „fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts“ nicht gefährdet1294. Eine darüber hinausgehende Loyalität zum Staat ist nicht zu fordern1295. Vor allem kann es nicht auf die gesellschaftliche Bedeutung der jeweiligen Religionsgemeinschaft ankommen. Für die Differenzierung zwischen einer privilegierten Gruppe von kirchensteuerberechtigten „Verfassungsreligionsgemeinschaften“ ei1286 Droege in Birk/Ehlers (Hrsg.), 2012, 23 (44). Zum Verhältnis Staat-Kirche aus dem Blickwinkel des Europarechts s. Kämper/Schlagbeck (Hrsg.), Zwischen nationaler Identität und europäischer Harmonisierung, 2002; Hammer, DÖV 2006, 542. 1287 S. Marré/Jurina, 2006, 77. 1288 Dazu insb. von Campenhausen/Unruh in von Mangoldt/Klein/Starck, Bd. III6, Art. 140 GG/137 WRV, Rz. 242 ff.; P. Kirchhof in Seer/Kämper (Hrsg.), 2004, 11; Korioth in Will (Hrsg.), 2011, 13 (18 ff.); F. Kirchhof, Essener Gespräche, Bd. 47, 2013, 7 (23 ff.). Zur Geschichte des Kirchensteuerrechts s. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung LXXXV (1999): Marré, Die Kirchenfinanzierung in Deutschland vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, 448; Schlief, Die Entwicklung der Kirchensteuer seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, 465; s. auch Gutmann, Entstehung und Entwicklung der Kirchensteuer in der Diözese Rottenburg, 2007. 1289 Dazu Tillmanns, DÖV 1999, 441; Muckel, Der Staat 38 (1999), 569; Thüsing, GS H. Krüger, 2001, 351; Wilms, NJW 2003, 1083; Magen, Körperschaftsstatus und Religionsfreiheit, 2004. 1290 Dazu die Übersicht bei Suhrbier-Hahn, 1999, 27 ff., 45 ff.; s. auch Jurina, FS Rüfner, 2003, 381 (383 ff.). Derzeit genießen etwa 3 Dutzend Religionsgemeinschaften den Status einer öffentlichrechtlichen Religionskörperschaft, s. Quaas, NVwZ 2009, 1400. 1291 Zum anzulegenden Maßstab s. BVerfG v. 30.6.2015 – 2 BvR 1282/11, BVerfGE 139, 321 Rz. 90 ff. – Zeugen Jehovas. 1292 Dazu Hammer, Rechtsfragen der Kirchensteuer, 2002, 259 f. 1293 So Leitsatz 1 Buchst. a des BVerfG v. 19.12.2000 – 2 BvR 1500/97, BVerfGE 102, 370 (Zeugen Jehovas). 1294 Leitsatz 1 Buchst. b des BVerfG v. 19.12.2000 – 2 BvR 1500/97, BVerfGE 102, 370 (Zeugen Jehovas). 1295 BVerfG v. 19.12.2000 – 2 BvR 1500/97, BVerfGE 102, 370 (Leitsatz 2, 395 ff.); BVerfG v. 30.6.2015 – 2 BvR 1282/11, BVerfGE 139, 321 Rz. 94 f.: Entscheidend für die Beurteilung der Rechtstreue ist nicht der Glauben, sondern das tatsächliche Verhalten der Organisation.
Seer 531
955
§ 8 Rz. 956
Einkommensteuer
nerseits und sonstigen (nicht kirchensteuerberechtigten) Religionsgemeinschaften gibt weder Art. 137 WRV noch das GG etwas her. Zur Rechtfertigung des besonderen Status öffentlich-rechtlicher Religionsgemeinschaften taugt nur die Grundrechtsthese, wonach der Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Religionsgemeinschaften zum Zwecke der Ausübung der Religionsfreiheit (Art. 4 II GG) gewährleisten und stärken soll1296. Dies erfordert gem. Art. 137 V 2 WRV eine Öffnung des öffentlich-rechtlichen Status auch für andere Religionsgemeinschaften, die ihren Platz in einer nicht geschlossenen, pluralistischen Gesellschaft finden wollen. Daher können auch muslimische Religionsgemeinschaften den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhalten1297. Soweit allerdings Religionsgemeinschaften den Gottesstaat fordern und sich dem demokratischen Rechtsstaat verweigern, fehlt es am Merkmal der Rechtstreue. Ihnen kann der Staat das Privileg einer Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht verleihen. Das gilt besonders für Sekten, die wie der sog. Kalifatstaat nach Abschaffung des vereinsrechtlichen Religionsprivilegs verboten worden sind1298. 956 Die Kirchensteuerberechtigung einer Religionsgemeinschaft wird allerdings nicht bereits durch den
ihr verliehenen Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (s. Rz. 953 ff.) begründet. Vielmehr bedarf es darüber hinaus eines speziellen konstitutiven Verleihungsakts durch die Länder im Rahmen ihrer Kirchensteuergesetzgebung1299. Aus Art. 137 VI WRV ergibt sich, dass die Länder in Ergänzung zu Art. 105 GG (s. § 2 Rz. 46) die Gesetzgebungshoheit für die Kirchensteuer haben. Demnach ist das staatliche Kirchensteuerrecht im Landesverfassungsrecht und in den Kirchensteuergesetzen der Länder niedergelegt. Ohne entsprechende staatliche Regelungen kann eine Kirchensteuer als res mixtae ebenso wenig erhoben werden wie bei Fehlen kirchlicher Vorschriften1300. Gemeinsame staatlich-kirchliche Rechtsquellen finden sich in Staatskirchenverträgen auf Bundes- und Landesebene. Kirchliche Rechtsquellen sind vor allem die den Rahmen der Kirchensteuergesetze ausfüllenden Kirchensteuerordnungen und Kirchensteuer-Hebesatzbeschlüsse der steuerberechtigten Religionsgemeinschaften1301. Die die Höhe der Kirchensteuer fixierenden Hebesatzbeschlüsse werden von den nach den Kirchensteuerordnungen zuständigen (und überwiegend gewählten) Beschlussgremien gefasst. Kirchensteuerordnungen und Kirchensteuer-Hebesatzbeschlüsse erwerben durch die staatliche Anerkennung bzw. Genehmigung und ihre Bekanntmachung in den kirchlichen Amtsblättern die Qualität von auch für den staatlichen Bereich verbindlichen Sätzen öffentlichen Rechts1302. 957 Im Rahmen der Kirchensteuergesetze bleibt es den Religionsgemeinschaften überlassen, durch ihre
eigenen Kirchensteuerordnungen zu bestimmen, welche kirchlichen Körperschaften in concreto Kirchensteuergläubiger sein sollen. Im Regelfall haben die Kirchen die Wahl, ob die Kirchengemeinde (Ortskirchensteuersystem) oder die katholischen Diözesen bzw. evangelischen Landeskirchen (Diözesan- bzw. Landeskirchensteuersystem) oder die Kirchengemeinden und die Diözesen bzw. Landeskirchen nebeneinander Gläubiger der Kirchensteuer sein sollen. Während bis in die Zeit nach 1945 (wie heute noch in fast allen Kantonen der Schweiz) das dezentralisierende Ortskirchensteuersystem weithin vorherrschte, ist es heute das zentralisierende Diözesan- bzw. Landeskirchensteuersystem.
1296 BVerfG v. 19.12.2000 – 2 BvR 1500/97, BVerfGE 102, 370 (387); von Campenhausen/Unruh in von Mangoldt/Klein/Starck, Bd. III6, Art. 137 WRV Rz. 202. 1297 Muckel, Der Staat 38 (1999), 569 (587); von Campenhausen/Unruh in von Mangoldt/Klein/Starck, Bd. III6, Art. 137 WRV Rz. 214; a.A. Hillgruber, JZ 1999, 538 (546 f.). Die Zahl der in Deutschland lebenden Muslime wird für 2015 auf 4,4-4,7 Millionen geschätzt, s. Aufstellung bei de.statista.com. 1298 S. BVerwG v. 27.11.2002 – 6 A 4/02 (dazu Sachs, JuS 2004, 12). 1299 Rausch, KuR 2016, 69 (74). 1300 Jurina in Seer/Kämper (Hrsg.), 2004, 27 (29); Krumm, AL 2015, 12 (14). 1301 Die kirchlichen KiSt-Normen sind zweigeteilt: Die KiSt-Ordnungen sind auf einen dauerhaften Bestand ausgerichtet, während KiSt-Beschlüsse periodisch erlassen werden, s. Hünermund, Kirchensteuer und Kapitalertragsteuer, Diss., 2016, 39. 1302 Dazu Marré in Hdb. des Staatskirchenrechts2, 1994, 1101 (1115 ff.); Jurina in Seer/Kämper (Hrsg.), 2004, 27 (34 ff.).
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Seer
L. Kirchensteuer
Rz. 959 § 8
3. Die Kirchensteuerpflicht Die Kirchensteuer ist nach h.M. eine Mitgliedsteuer1303. Sie lässt sich nach § 3 I 1 AO unter den Steu- 958 erbegriff subsumieren (s. § 2 Rz. 9 ff.), da die jeweilige Religionsgemeinschaft aufgrund ihres Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts (s. Rz. 953) auch als „öffentlich-rechtliches Gemeinwesen“ begriffen werden kann. Sie ist zugleich eine Verbandslast (s. § 2 Rz. 24)1304. Voraussetzung für die Entstehung der Kirchensteuerpflicht ist die mitgliedschaftliche Zugehörigkeit zu einer steuererhebenden Kirche oder sonstigen Religionsgemeinschaft. Diese wird nach dem Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität nicht vom Staat, sondern von der Religionsgemeinschaft selbständig nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 III WRV als eigene Angelegenheit geordnet. Der Staat erkennt diese kirchenrechtlichen Mitgliedschaftsregelungen innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze auch für den staatlichen Rechtsbereich als verbindlich an1305. Juristische Personen sind mangels Mitgliedschaft keine tauglichen Kirchensteuersubjekte1306. Dies gilt für Kapitalgesellschaften selbst dann, wenn alle Gesellschafter Mitglieder einer Kirche sind. Die Kirchensteuerpflicht beginnt mit dem ersten Tag des Monats, der auf die Aufnahme in die Kir- 959 che1307 und auf die Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts im Gebiet des Kirchensteuergläubigers folgt. Sie endet durch Tod, durch Aufhebung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts und bei einem nach Maßgabe der geltenden staatlichen Vorschriften erklärten Kirchenaustritt1308 mit dem Beginn oder erst mit dem Ablauf des Kalendermonats, der auf die Erklärung des Kirchenaustritts folgt. Ein modifizierter Kirchenaustritt des Inhalts, nur gegenüber dem Staat aus der Kirche auszutreten, im Übrigen aber in der Kirche „als Glaubensgemeinschaft“ zu verbleiben, führt nicht zur Beendigung der Kirchensteuerpflicht1309. Art. 4 I GG verbietet, als Grundlage für die 1303 Grundl. BVerfG v. 14.12.1965 – 1 BvR 413/60 u.a., BVerfGE 19, 206 (217) – Unzulässigkeit der Besteuerung juristischer Personen; BVerfG v. 14.12.1965 – 1 BvR 606/60, BVerfGE 19, 268 (274 ff.) – Halbteilungsgrundsatz bei glaubensverschiedener Ehe; eingehend auch Kammerbeschluss des BVerfG v. 19.8.2002 – 2 BvR 443/01, Rz. 65 ff. 1304 F. Kirchhof, Essener Gespräche, Bd. 47 (2013), 7 (23 ff.), ordnet die Kirchensteuer dagegen nur als Verbandslast (im Sinne eine öffentlich-rechtlichen Mitgliedsbeitrages) ein (ihm folgt nun auch P. Kirchhof in Kirchhof17, § 51a EStG Rz. 4). Er vertritt damit eine gegenseitige Ausschließlichkeit zwischen Steuer und Verbandslast, die u.E. aber so nicht existiert. Es ist vorstellbar, dass sich ein körperschaftlich strukturiertes öffentlich-rechtliches Gemeinwesen (bei unterstelltem Besteuerungsrecht, s. Rz. 953) durch eine seinen Mitgliedern auferlegte Steuer finanziert. 1305 BVerfG v. 31.3.1971 – 1 BvR 744/67, BVerfGE 30, 415. 1306 BVerfG v. 14.12.1965 – 1 BvR 413/60 u.a., BVerfGE 19, 206 (221 ff.); die Einbeziehung juristischer Personen in die Kirchensteuerpflicht erwägt P. Kirchhof in Seer/Kämper (Hrsg.), 2004, 11 (22); Kirchhof/Kirchhof17, § 51a EStG Rz. 4 m. Hinw. auf Schweizer und Finnische Vorbilder. 1307 Zur rechtlichen Bedeutung der Taufe eines Erwachsenen s. FG Hamburg v. 13.5.2008 – 3 K 35/08, EFG 2009, 285; FG Münster v. 25.11.2011 – 4 K 597/10 Ki, EFG 2012, 390 m. Anm. Kühnen; zum Nachweis der Kirchenmitgliedschaft durch die Kirchensteuerbehörde restriktiv FG München v. 17.12.2014 – 1 K 1107/11, EFG 2015, 759 m. Anm. K. Wagner; dagegen weiter: stattgebender Kammerbeschluss des BVerfG v. 17.12.2014 – 2 BvR 278/11, Rz. 57 ff. (bei einem freiwlligen Bekenntnis des Erwachsenen gegenüber den Meldebehörden); ausf. zu den Zuzugsfällen Lehner, FS Gosch, 2016, 249 (255 ff.) unter historischer Darlegung des sog. Parochialrechts der Religionsgemeinschaften. 1308 Dazu Kühne, FS Rüping, 2008, 173; Muckel, JZ 2009, 174; Stuhlfauth, DÖV 2009, 225. Ein Steuerberater ist nicht verpflichtet, dem Mandanten den Austritt aus der Kirche zu empfehlen (BGH v. 18.5.2006 – IX ZR 53/05, DStR 2006, 2278 m. Anm. Meixner/Schröder; s. aber zur KiSt-Belehrungspflicht bei einem ausländischen Einkommensmillionär: OLG München v. 23.12.2015 – 15 U 2063/14, DStR 2016, 1237 m. Anm. Weitze-Scholl [NZB: IX ZR 24/16]). Die Gebührenpflicht des staatlichen Kirchenaustrittsverfahrens ist mit Art. 4 I GG zu vereinbaren (BVerfG v. 2.7.2008 – 1 BvR 3006/07, Rz. 35 ff. [Kammerbeschluss]). 1309 BVerwG v. 26.9.2012 – 6 C 7/12, BVerwGE 144, 171 (176 ff.): keine Mitgliedschaft ohne Steuerpflicht und kein bloßer „Körperschaftsaustritt“ als „Kirchenaustritt“; Muckel, JZ 2009, 174; Muckel, KuR 2010, 188; Hammer, KuR 2011, 108 (111 f.); Muckel, JA 2013, 314; Gehm, StBW 2013, 82; a.A. Zapp,
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§ 8 Rz. 960
Einkommensteuer
Kirchensteuerpflicht eine kirchliche Mitgliedschaftsregelung heranzuziehen, die eine Person einseitig und ohne Rücksicht auf ihren Willen der Kirchengewalt unterwirft1310. Allerdings ist beim Glaubensübertritt (Konversion) zu beachten, dass die kirchliche Mitgliedschaft durch Kirchenrecht begründet wird. Daher wird die Kirchensteuerpflicht nicht allein durch das Bekenntnis des Stpfl., sondern erst durch die kirchenrechtlich gültige Aufnahme des Stpfl. in die neue Religionsgemeinschaft begründet1311. 960 Weil nur Kirchenmitglieder durch staatliches Gesetz zur Kirchensteuerzahlung verpflichtet werden
dürfen, beruht die gesetzliche Regelung der Kirchensteuererhebung in sog. glaubensverschiedenen Ehen auf dem Prinzip der uneingeschränkten Individualbesteuerung: der nichtkirchenangehörige Ehegatte ist von jeder Kirchensteuerpflicht freigestellt; der kirchenangehörige Ehegatte wird nur nach der in seiner Person gegebenen Steuerbemessungsgrundlage zur Kirchensteuer herangezogen1312. Einwendungen gegen die verhältnismäßige Aufteilung der Einkommensteuerbeträge sind im Rechtsbehelfsverfahren gegenüber der Kirchenbehörde (nicht gegenüber dem Finanzamt) geltend zu machen1313. 961 Bei sog. konfessionsverschiedenen Ehen (die Eheleute gehören verschiedenen kirchensteuerberechtig-
ten Religionsgemeinschaften an) wird die Kirchensteuer mit Ausnahme Bayerns im Zweifel nach dem sog. Halbteilungs- und dem sog. Haftungsgrundsatz erhoben. Nach dem Halbteilungsgrundsatz wird jedem Ehegatten die Hälfte des ehelichen Gesamteinkommens zugerechnet, was auch bei glaubensverschiedenen Ehen für richtig erachtet wird, da auch diese Ehen von der durch Art. 6 GG geschützten Einkommens-, Aufwands- und Leistungsfähigkeitsgemeinschaft geprägt seien, die eine hälftige Zurechnung des Eheeinkommens rechtfertige und fordere1314. 4. Ausgestaltung der Kirchensteuer 962 a) Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 VI WRV1315 ermöglicht es den Religionsgemeinschaften, die Kirchen-
steuer als Zuschlagsteuer zu bestimmten staatlichen oder kommunalen Maßstabsteuern – der Einkommensteuer, der Vermögensteuer und den Grundsteuermessbeträgen – zu erheben. Die beiden großen Kirchen haben sich für die – in Höhe von 8 % bzw. 9 % der Einkommensteuerschuld (s. Rz. 964) erhobene – Kircheneinkommensteuer als ergiebige Haupteinnahmequelle (Aufkommen ca. 12 Mrd.
1310
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KuR 2007, 66 (77 ff.); kontrovers Muckel u. Zapp in Birk/Ehlers (Hrsg.), 2012, 229 u. 237. Nach BVerfG v. 17.12.2014 – 2 BvR 278/11, Rz. 37 ff. (Kammerbeschluss) dürfen aber keine erhöhten Anforderungen an den Nachweis der Zugehörigkeit zu der Religionsgemeinschaft gestellt werden. BVerfG v. 31.3.1971 – 1 BvR 744/67, BVerfGE 30, 415 (425); BFH v. 24.3.1999 – I R 124/97, BStBl. II 1999, 499; zur Beendigung der Kirchensteuerpflicht bedarf es aber einer förmlichen Austrittserklärung, s. VerfGH Berlin v. 15.4.2011 – 131/10: daran ändert auch eine unbewusste Kirchenmitgliedschaft (nach frühkindlicher Taufe und DDR-Zeit) nichts. BFH v. 3.8.2005 – I R 85/03, BStBl. II 2006, 139 (140 f.); zur kirchensteuerpflichtigen Mitgliedschaft in der katholischen Kirche s. Löhnig/Preisner, NVwZ 2013, 39. BVerfG v. 14.12.1965 – 1 BvL 31/62 u.a., BVerfGE 19, 226 (237 ff.); BVerfG v. 14.12.1965 – 1 BvR 606/60, BVerfGE 19, 268 (273 ff.); BVerfG v. 14.12.1965 – 1 BvL 16/58 u.a., BVerfGE 19, 282 (287). BFH v. 28.11.2007 – I R 7/07, Rz. 21; BFH v. 15.9.2011 – I R 53/10, Rz. 16 f. Gebilligt durch BVerfG v. 20.4.1966 – 1 BvR 16/66, BVerfGE 20, 40 (42 f.); BVerfG v. 28.10.2010 – 2 BvR 591/06 u.a.; ausf. zur Kirchensteuererhebung bei konfessions- und glaubensverschiedenen Ehen Hammer, Rechtsfragen der Kirchensteuer, 2002, 322 ff. Die in Art. 137 VI WRV erwähnten Steuerlisten werden schon lange nicht mehr geführt; die Kirchen erhalten die zur Besteuerung erforderlichen Informationen auf der Grundlage von § 42 Bundesmeldegesetz (BMG), BGBl. I 2013, 1084 (1096 f.), zuletzt geändert durch Ges. v. 11.10.2016, BGBl. I 2016, 2218 (2219).
Seer
L. Kirchensteuer
Rz. 963 § 8
Euro1316) entschieden. Maßgebend dafür war außerdem das Bemühen um möglichst weit gehende Herstellung von (Steuer-)Gerechtigkeit. Durch die Wahl der staatlichen Einkommensteuer als Maßstab für die Kirchensteuer gilt für beide Steuern das rechtsethische Prinzip der Besteuerung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit1317, das auf gemeinsamen Grundsatzwertungen moderner Steuerlehre und christlicher Sozialethik beruht. Dieser ethischen Verklammerung von Einkommensteuer (Maßstabsteuer) und Kirchensteuer (Annexsteuer) entspricht die Ausrichtung des Kirchensteuermaßstabs an der wirklichen Leistungsfähigkeit1318. Dies ist allerdings nicht der Fall, soweit die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer durch Sozialzwecknormen verfälscht oder sonst Leistungsfähigkeit (z.B. durch Befreiungen des § 3 EStG) nicht vollständig erfasst wird. Aus dem Gebot der Rechtstreue für Körperschaften des öffentlichen Rechts (s. Rz. 954) ergibt sich die Bindung der Religionsgemeinschaft an die verfassungsmäßige Ordnung, insb. an die Grundrechte1319. Danach ist das steuerrechtliche Legalitätsprinzip (s. § 3 Rz. 230 ff.) zu beachten; ebenso gebietet der Gleichheitssatz die erwähnte gleichmäßige Bemessung der Kirchensteuer nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip. Somit besteht auch aus kirchensteuerlicher Sicht ein starkes Interesse an einer von Ausnahmen möglichst freien einkommensteuerrechtlichen Indikation steuerlicher Leistungsfähigkeit (zu Reformvorschlägen bei der Einkommensteuer s. § 7 Rz. 70 ff.). b) Bemessungsgrundlage der Kirchensteuer ist nach § 51a II EStG die Einkommensteuer. Sie wird 963 allerdings nach § 51a II EStG abweichend berechnet (sog. fiktive Einkommensteuer)1320. Zur Verwirklichung des subjektiven Nettoprinzips werden die Kinderfreibeträge i.S.d. § 32 VI EStG nach § 51a II 1 EStG auch dann abgezogen, wenn stattdessen nach der Günstigerprüfung Kindergeld gezahlt worden ist (dazu Rz. 92 ff.). Um die Einkünfte für die Kirchensteuer voll zu erfassen, negiert § 51a II 2 EStG das Teileinkünfteverfahren i.S.d. §§ 3 Nr. 40; 3c II EStG (dazu Rz. 138)1321 und belastet nach § 51a IIb–IIe EStG1322 auch die sondertarifierende Abgeltungsteuer auf Einkünfte aus Kapitalvermögen (s. Rz. 492 ff.). Schließlich bleibt die Steuerermäßigung des § 35 EStG, welche der Gewerbe-
1316 Im Jahr 2016 nahmen die evangelische Kirche ca. 5,5 Mrd. Euro und die katholische Kirche ca. 6,2 Mrd. Euro an Kirchensteuern ein, s. https://de.statista.com. 1317 Aufgrund des Verbandslast-Charakters der Kirchensteuer (s. Rz. 958) will F. Kirchhof, Essener Gespräche, Bd. 47 (2013), 7 (25 f.), diesen Bezug einschränken. 1318 Dazu Marré in Hdb. des Staatskirchenrechts I2, 1131; P. Kirchhof, FS Rüfner, 2003, 443 (448 ff.). 1319 BVerfG v. 31.3.1971 –1 BvR 744/67, BVerfGE 30, 415 (422); BVerfG v. 19.12.2000 – 2 BvR 1500/97, BVerfGE 102, 370 (392 f.); BVerfG v. 19.8.2002 – 2 BvR 443/01 (Kammerbeschluss, dazu Gehm, NVwZ 2002, 1475; de Wall, FS Rüfner, 2003, 945). 1320 Zu § 51a EStG: Schlief, FS Listl, 1999, 679; Petersen in Seer/Kämper (Hrsg.), 101. Einwendungen gegen die Ermittlung der kirchensteuerlich modifizierten Bemessungsgrundlage nach § 51a II EStG sind wie im Falle der Aufteilung von Einkommensteuerbeträgen bei glaubensverschiedenen Ehen (s. Rz. 960) gegenüber der Kirchenbehörde geltend zu machen (BFH v. 28.11.2007 – I R 99/06, BStBl. II 2011, 40 [42]). Dagegen sind Einwendung gegen die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage bei den Finanzämtern zu erheben, auch wenn sie praktisch nur kirchensteuerliche Relevanz besitzen (zur Abgrenzung s. BFH v. 15.9.2011 – I R 53/10, Rz. 16 ff.; zum Grundlagen-Folgebescheid-Verhältnis s. § 21 Rz. 83 ff.). 1321 Zu § 51a II 2 EStG s. Homburg, FR 2008, 153 u. DStR 2009, 2179; Weber in Birk/Ehlers (Hrsg.), 2012, 149 (154 ff.). Nach BFH v. 1.7.2009 – I R 76/08, BStBl. II 2010, 1061 (1063 f.); BVerwG v. 20.8.2008 – 9 C 9/07, ist es mit Art. 3 I GG noch vereinbar, dass bei der Hinzurechnung des nach dem Teileinkünfteverfahren einkommensteuerfreien Teils der Einkünfte (§ 51a II 2 EStG) für kirchensteuerliche Zwecke keine Verlustverrechnungsmöglichkeit vorgesehen ist. 1322 § 51a IIb bis IIe EStG regeln ausschließlich Fragen der Kirchensteuer, obwohl der Bund insoweit keine Gesetzgebungskompetenz hat (s. § 2 Rz. 46). Immerhin lässt § 51a VI EStG erkennen, dass der Bund letztlich den Ländern im Bereich der Kirchensteuer keine Vorgaben machen kann und will. In Anbetracht der engen Verzahnung mit der Abgeltungsteuer (Bundeskompetenz) und dem Sachzusammenhang ist die Regelung daher kompetenziell noch tolerabel, so auch Hünermund, Kirchensteuer und Kapitalertragsteuer, Diss., 2016, 86; Blümich/Treiber, § 51a EStG Rz. 22 f., 37 u. 115 f.; a.A. Pospischil, Kirchensteuer im 21. Jahrhundert, 2013, 46 f.
Seer 535
§ 8 Rz. 964
Einkommensteuer
steuervorbelastung der Einkünfte aus Gewerbebetrieb Rechnung tragen soll (s. Rz. 840 ff.), für den kirchensteuerlichen Maßstab unberücksichtigt (s. § 51a II 3 EStG). 964 c) Der Kirchensteuerhebesatz (Zuschlag zur Einkommen-, Lohn- und Kapitalertragsteuer) beträgt
nach Beschlüssen der Landeskirchen in Baden-Württemberg und Bayern 8 %, in den übrigen Bundesländern 9 % der Steuerschuld. Zwar kennt keine Religionsgemeinschaft einen KiSt-Höchstbetrag.1323 Bis auf die Religionsgemeinschaften in Bayern sehen alle Kirchen aber immerhin eine teils von Amts wegen, teils auf Antrag vorzunehmende Kappung der Progression der Annexsteuer auf max. 2,75 % bis 4 % des zu versteuernden Einkommens vor1324. Die effektive Steuerbelastung der Kirchensteuer mindert sich darüber hinaus, indem sie im Jahr ihres Abflusses bei der maßstabbildenden Einkommensteuer als Sonderausgaben gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 4 EStG abzugsfähig ist (s. Rz. 712). 965 d) Die Kirchensteuer wird nach § 51a IIb EStG auch auf die zum 1.1.2009 eingeführte Abgeltungsteu-
er für Kapitaleinkünfte (§ 32d I 1 EStG; s. Rz. 492 ff.) erhoben1325. Die Einbeziehung der Kirchensteuer verkompliziert das auf Anonymität angelegte Abgeltungsteuersystem nicht unerheblich (zur Kritik s. auch Rz. 506 f.). Im Fall einer Kirchensteuerpflicht ermäßigt sich die um die anrechenbaren ausländischen Steuern verminderte Abgeltungsteuer zudem um 25 % der auf die Kapitalerträge entfallenden Kirchensteuer (§ 32d I 3 EStG). Dadurch wird der die Einkommensteuer als Maßstab reduzierende Sonderausgabenabzug (s. § 10 I Nr. 4 Hs. 2 EStG) in die Bemessung der Kirchensteuer pauschal integriert1326. 966 Die Regelung des § 32d I 3 EStG wird durch folgende Formel (§ 32d I 4 u. 5 EStG)1327 konkretisiert: e – 4q/4 + k (e = Kapitaleinkünfte; q = anrechenbare ausländische Steuer; k = Kirchensteuersatz). Danach beträgt die Abgeltungsteuer bei 100 Euro Kapitaleinkünften und 9 % KiSt: 100 Euro/(4 + 0,09) = 24,45 Euro, davon 9 % KiSt = 2,20 Euro, Belastung also insg. 26,65 Euro; bei Anrechnung von 10 Euro ausländischer Steuer: 60 : 4,09 = 14,67, davon 9 % KiSt = 1,32 Euro. 967 e) Eine weitere Kirchensteuerart ist das in den Kirchensteuergesetzen und konkretisierend in Kir-
chensteuer-/Kirchgeldordnungen (mit festen oder gestaffelten Beträgen) vorgesehene (allgemeine) Kirchgeld. Es ist an keine Maßstabsteuern gebunden und wird von bestimmten Kirchengemeinden ergänzend auch von denen erhoben, die keine Einkommensteuer und damit auch keine Kircheneinkommensteuer zahlen. Das allgemeine Kirchgeld belastet damit gerade das finanzielle Existenzminimum von Kirchenmitgliedern und verstößt daher gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip. Es besitzt aber eher symbolischen Charakter und beträgt je nach Religionsgemeinschaft nur zwischen 1,50 Euro und 150 Euro pro Jahr1328. Aufgrund der aufkommensmäßigen Irrelevanz sollten die Religionsgemeinschaften ihre nicht zahlungsfähigen Mitglieder besser zu einer gemeinnützigen Kirchenarbeit bewegen. 968 f) Hat der kirchenangehörige Ehegatte, der in glaubensverschiedener Ehe lebt, kein oder nur gerin-
ges eigenes steuerpflichtiges Einkommen, besteht die Möglichkeit, ihn bei einem (anteilig) höheren 1323 Hünermund, Kirchensteuer und Kapitalertragsteuer, Diss., 2016, 44, hält einen absoluten KiStHöchstbetrag wegen eines Verstoßes gegen das Leistungsfähigkeitsprinzips für rechtswidrig. Allerdings vernachlässigt er dabei den besonderen Charakter einer Mitgliedsteuer. 1324 Einen aktuellen Überblick über die KiSt-Sätze in den Bundesländern sowie den jeweils dort geltenden Kappungssätzen geben Stier, NWB-Datenbank „Lohn und Gehalt digital“ v. 15.8.2017, S. 8; Petersen, Kirchensteuer kompakt3, 2017, 257 f. 1325 Dazu Kußmaul/Meyering, DStR 2008, 2298; Hechtner/Hundsdörfer, StuW 2009, 23, 36 f. (Günstigerprüfung u. Kirchensteuer); Hünermund, Kirchensteuer und Kapitalertragsteuer, Diss., 2016, 67 ff. 1326 BT-Drucks. 16/4841, 60. 1327 Dazu Rüd, IStR 2017, 139, mit besonderem Blick auf die Anrechnung ausländ. Steuern n. § 32d V EStG. 1328 Petersen, Kirchensteuer kompakt3, 2017, 49 (dort mit einer tabellarischen Übersicht auf S. 50). Aufgrund dessen geringen Höhe hält etwa Hammer, Rechtsfragen der Kirchensteuer, 2002, Habil., 361, das allgemeine Kirchgeld nach dem Grundsatz „minima non curat praetor“ für noch tolerabel.
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Seer
L. Kirchensteuer
Rz. 970 § 8
Gesamteinkommen der Ehegatten nach einer eigenen Kirchgeldtabelle zum sog. besonderen Kirchgeld heranzuziehen. Zwar darf das Einkommen seines der jeweiligen Kirche nicht angehörenden Ehegatten aufgrund der mitgliedschaftlichen Bindung der Kirchensteuer (s. Rz. 958) nicht besteuert werden. Davon unterscheidet die Rspr. aber als Ausdruck wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit den sog. Lebensführungsaufwand, den der einkommensschwächere Ehegatte aus seinem Unterhaltsanspruch bestreiten kann1329. Die rechtliche Grundlage hierfür ist in den Kirchensteuergesetzen mittlerweile vorhanden1330. Alle evangelischen Kirchen und viele katholische Diözesen haben sich für die Erhebung des besonderen Kirchgelds entschieden. Ihre aufeinander abgestimmten Kirchensteuerbeschlüsse sehen einen 13stufigen Tarif vor, der bei einem gemeinsam zu versteuernden Einkommen von 30 000 Euro beginnt und bis 300 000 Euro mit einer progressiven Steuer von 96 Euro bis zu 3 600 Euro jährlich steigt (dies entspricht einer Steuerbelastung von 0,32 % bis 1,2 % des zu versteuernden Einkommens)1331. 5. Verwaltung der Kirchensteuer, Verfahren a) Die Kirchensteuer wird auf Antrag der Kirchen durch die Finanzämter verwaltet. In Bayern verwal- 969 ten die Kirchen die Kircheneinkommensteuer selbst mit Ausnahme der Kirchenlohnsteuer, die von den Arbeitgebern einbehalten und an das Finanzamt abgeführt wird. Die Kirchensteuergesetze behalten den Kirchen allerdings regelmäßig die Zuständigkeit für Billigkeitsmaßnahmen (Stundung und Erlass, s. § 21 Rz. 329 ff.) vor1332. b) Nach den Kirchensteuergesetzen wird die Kirchensteuer auch auf die Lohnsteuer als Quellensteu- 970 er erhoben, zusammen mit dieser einbehalten und abgeführt (Kirchenlohnsteuer). Obwohl damit auch nicht konfessionszugehörige Arbeitgeber für die Einbehaltung der Kirchensteuer in den Dienst genommen werden, ist diese Indienstnahme einschließlich der damit verbundenen Arbeitgeberhaftung (entsprechend § 42d EStG) verfassungsrechtlich zulässig1333. Der Arbeitgeber wird nicht auf kirchliche, sondern auf staatliche Anordnung hin tätig. Er leistet seine Dienste nicht den Kirchen, sondern dem Staat, der damit seinerseits seiner Verfassungspflicht nachkommt, den Kirchen die Steuererhebung „auf Grund bürgerlicher Steuerlisten“ zu ermöglichen. Wie beim Lohnsteuerabzug handelt der Arbeitgeber bei der Einbehaltung und Abführung der Kirchenlohnsteuer seiner kirchenangehörigen Arbeitnehmer als „Beauftragter des Steuerfiskus“ und als „Hilfsorgan der staatlichen Finanzverwaltung“. Diese vom Arbeitgeber dem Staat geleisteten Dienste sind insofern neutral, als die Kirchensteuern nicht speziell einer bestimmten Religionsgemeinschaft, sondern mehreren, ja virtuell allen Religi-
1329 So BVerfG v. 14.12.1965 – 1 BvR 606/60, BVerfGE 19, 268 (282); BVerfG v. 23.10.1986 – 2 BvL 7/84 u.a., BVerfGE 73, 388 (399); BVerfG v. 28.10.2010 – 2 BvR 591/06 u.a. (Nichtannahmebeschluss); BFH v. 19.10.2005 – I R 76/04, BStBl. II 2006, 274; dazu Petersen, ZevKR 56 (2011), 188. Allerdings soll die Besteuerung des Lebensführungsaufwandes auf die Fälle der Zusammenveranlagung beschränkt sein, dazu mit Recht krit. J. Lang in Birk/Ehlers (Hrsg.), 2012, 169. Nach dem EGMR v. 6.4.2017 – 10138/11 u.a. (Rs. Klein u.a./Germany), Rz. 101, https://hudoc.echr.coe.int., verstößt dies aber nicht gegen die EMRK, s. dazu Kobus, NWB 2017, 2835. 1330 So wurde etwa in NRW die Erhebung eines Kirchgelds bei glaubensverschiedener Ehe nach § 4 I Nr. 5 KiStG durch Gesetz v. 6.3.2001, GVNW 2001, 103, ab 2001 zugelassen. 1331 Ausf. zum besonderen Kirchgeld Schoppe, Diss., 2008, 73 ff.; s. auch im Überblick bei Petersen, Kirchensteuer kompakt3, 2017, 48 ff.; Kobus, NWB 2017, 2835. 1332 Dazu mit Angabe der einschlägigen landesgesetzlichen Vorschriften HHSp/von Groll, § 227 AO Rz. 100 f.; BFH v. 1.7.2009 – I R 81/08, BStBl. II 2011, 379 (380 ff.): kein Erlass der auf Veräußerungs- u. Übergangsgewinne entfallenden KiSt; s. dazu auch Petersen, Kirchensteuer kompakt3, 2017, 183 ff. 1333 BVerfG v. 17.2.1977 – 1 BvR 33/76, BVerfGE 44, 103 (104); ausf. Hammer, Rechtsfragen der Kirchensteuer, Habil., 2002, 309 ff.; Hünermund, Kirchensteuer und Kapitalertragsteuer, Diss., 2016, 89 f.; krit. Wasmuth in Will (Hrsg.), 2011, 33 ff., insb. 40 ff.; mit erheblichen Bedenken auch Korioth, ebenda, 13 (24 ff.).
Seer 537
§ 8 Rz. 971
Einkommensteuer
ons- und Weltanschauungsgemeinschaften zufließen, soweit bei ihnen die Voraussetzungen für das Besteuerungsrecht vorliegen. 971 Zur Durchführung des Kirchenlohnsteuerabzugs bedarf der Arbeitgeber Kenntnis über die Konfessi-
onszugehörigkeit des Arbeitnehmers. Dies geschah früher durch Eintragung des Konfessionsmerkmals auf der Lohnsteuerkarte und wird heute im elektronischen Lohnsteuerabzugsverfahren nach § 39e II Nr. 1 EStG durch Datenübermittlung des BZSt ersetzt1334. Der darin liegende Eingriff in die positive oder negative Bekenntnisfreiheit i.S.d. Art. 4 I GG und Art. 9 I EMRK ist verhältnismäßig und in Abwägung mit den verfassungsrechtlich geschützten Rechten der Religionsgemeinschaften gerechtfertigt1335. 972 c) Wird die Lohnsteuer nach den §§ 37a/b, 40 ff. EStG pauschaliert, so ist auch die Kirchensteuer nach
einem Pauschsteuersatz zu erheben. Im Verfahren der Pauschalierung ist der Nachweis der Religionszugehörigkeit schwierig. Da die Lohnsteuerpauschalierung die persönliche Kirchensteuerpflicht von Arbeitnehmern nicht erweitert, muss dem Arbeitgeber die Möglichkeit des Nachweises, dass bestimmte Arbeitnehmer nicht Mitglieder der Kirche sind, eingeräumt sein1336. Die Verwaltung lässt dem Arbeitgeber die Wahl zwischen einem typisierten Verfahren mit einem länderspezifischen Schlüssel der prozentualen Aufteilung der pauschalierten Lohnsteuer auf die evangelische und die katholische Kirche und einem Nachweisverfahren1337. Entscheidet sich der Arbeitgeber für das typisierte Verfahren, so ist ein ermäßigter Steuersatz anzuwenden, der in pauschaler Weise dem Umstand Rechnung trägt, dass nicht alle Arbeitnehmer einer steuerberechtigten Religionsgemeinschaft angehören. Dieser Steuersatz liegt landesverschieden zwischen 4 % und 7 % der Lohnsteuer1338. 973 d) Die auf die Abgeltungsteuer auf Kapitalvermögen zu erhebende Kirchensteuer (s. Rz. 965 f.) wird
seit dem 1.1.2015 im Wege eines elektronischen Datenübermittlungsverfahrens erhoben1339. Nach § 51a IIc Nr. 1 EStG speichert das BZSt neben der Religionszugehörigkeit des Stpfl. (s. bereits Rz. 971) auch den jeweiligen Kirchensteuersatz der steuererhebenden Religionsgemeinschaft sowie die zum Steuerabzug erforderlichen ortsbezogenen Daten. Nach § 51a IIc Nr. 3 EStG hat der Kirchensteuerabzugsverpflichtete unter Angabe der Steuer-Identifikationsnummer (s. § 21 Rz. 183) und des Geburtsdatums des Kirchensteuerpflichtigen einmal jährlich beim BZSt die persönliche Kirchensteuerpflicht abzufragen. Auf dieser Basis haben die Kirchensteuerabzugsverpflichteten die Kirchensteuern im Zuflusszeitpunkt einzubehalten und in entsprechender Anwendung des § 45a EStG, s. § 21 Rz. 187, anzumelden und abzuführen (s. § 51a IIc Nr. 4 EStG). Missbilligt der Stpfl. die Übermittlung dieser konfessionellen Daten an das einbehaltungspflichtige Kreditinstitut, kann er die Weitergabe durch einen beim BZSt einmalig nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck schriftlich zu stellenden Antrag un-
1334 Das elektronische Lohnsteuerabzugsverfahren ist durch das BeitrRLUmsG v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2592 (2601 ff.) neu geregelt worden (s. Rz. 904). 1335 BVerfG v. 23.10.1978 – 1 BvR 439/75, BVerfGE 49, 375; EGMR v. 17.2.2011 – 12884/03, Rz. 52 ff.; BFH v. 18.1.2012 – II R 49/10, BStBl. II 2012, 168 (181 f.); Hammer, KuR 2011, 108; Heinig in Birk/ Ehlers (Hrsg.), 2012, 113 (116 ff.); a.A. Wasmuth in Birk/Ehlers (Hrsg.), 2012, 91 ff. 1336 BFH v. 7.12.1994 – I R 24/93, BStBl. II 1995, 507; Birk/Jahndorf, BB 1995, 1443; a.A. Lang/Lemaire, StuW 1994, 257; Lang in Birk/Ehlers (Hrsg.), 2012, 169 (176 ff.). 1337 Gleich lautende Länderlasse v. 8.8.2016 – 3 – S 244.4/27 u.a., BStBl. I 2016, 773. 1338 Siehe Petersen, Kirchensteuer kompakt3, 2017, 163 ff., 257 f.; Stier, Lohn und Gehalt digital Nr. 5 v. 15.7.2017, NWB-Datenbank (mit einer tabellarischen Übersicht). 1339 Eingeführt durch BeitrRLUmsG v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2592 (2609 f.) u. AmtshilfeRLUmsG v. 26.6.2013, BGBl. I 2013, 1809 (1820 ff.); zuletzt geändert durch das Bürokratieentlastungsgesetz v. 28.7.2015, BGBl. I 2015, 1400 (1401); ausf. zum Verfahren Petersen, Kirchensteuer kompakt3, 2017, 55 ff.; s.a. Hünermund, Kirchensteuer und Kapitalertragsteuer, Diss., 2016, 67 ff. (zur früheren Übergangsregelung S. 61 ff.).
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L. Kirchensteuer
Rz. 974 § 8
terbinden (§ 51a IIe EStG: Erteilung eines sog. Sperrvermerks)1340. Auf dieses gegenüber dem BZSt. bestehende Widerspruchsrecht hat der KiSt-Abzugsverpflichtete den Stpfl. gem. § 51a IIc Nr. 3 Satz 5, 9 EStG zumindest einmal während der Dauer der Geschäftsbeziehung rechtzeitig vor der Regel- oder Anlassanfrage beim BZSt hinzuweisen. Macht der Stpfl. von seinem Widerspruchsrecht Gebrauch, muss er für jeden Veranlagungszeitraum, in dem Kapitalertragsteuer einbehalten worden ist, eine Steuererklärung zwecks Veranlagung abgeben1341; das Wohnsitz-FA wird hierüber vom BZSt informiert (vgl. § 51a IIe Satz 3–5 EStG). e) Für Kirchensteuerprozesse sind grds. die Verwaltungsgerichte zuständig (§ 40 I VwGO), es sei 974 denn, der Landesgesetzgeber hat die Kirchensteuersachen nach § 33 I Nr. 4 FGO den Finanzgerichten zugewiesen (s. § 22 Rz. 991342).
1340 Daher sieht BFH v. 18.1.2012 – II R 49/10, BStBl. II 2012, 168 (181 f.) in der Datenspeicherung und -abfrage auch keinen Grundrechtsverstoß; ebenso Hünermund, Kirchensteuer und Kapitalertragsteuer, Diss., 2016, 85 ff. 1341 Zur Strafbarkeit einer Kirchensteuerhinterziehung s. § 23 Rz. 28. 1342 I.E. Tipke/Kruse/Seer, § 33 FGO Rz. 87 ff.
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§9 Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht) A. Überblick über das System betrieblicher Gewinnermittlung I. Gewinnermittlungsarten Im Zentrum der Ermittlung des steuerrechtlichen Ergebnisses für Zwecke der Gewinneinkunfts- 1 arten des EStG (§ 2 I Nr. 1–3, II Nr. 1 EStG) steht der Betriebsvermögensvergleich nach §§ 4; 5 EStG mit seinen komplexen Beziehungen zwischen handelsrechtlicher Rechnungslegung und steuerrechtlichen Spezialvorschriften in §§ 4–7k EStG. Das Gesetz unterscheidet zwischen dem Betriebsvermögensvergleich nach § 4 I EStG und dem nach § 5 I EStG. § 5 I 1 EStG ordnet für Gewerbetreibende, die auf Grund gesetzlicher Verpflichtung (§§ 238 ff. HGB; §§ 140; 141 AO) oder freiwillig Bücher führen und regelmäßig Abschlüsse machen, die Befolgung der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) an (§ 5 I 1 EStG). § 4 I 1 EStG enthält für die übrigen Gewinneinkunftsarten keinen ausdrücklichen Hinweis auf ein spezielles Rechnungslegungssystem, gleichwohl werden die handelsrechtlichen GoB auch dem allgemeinen Betriebsvermögensvergleich zugrunde gelegt1. Alternativ zum Betriebsvermögensvergleich nach § 4 I EStG sieht § 4 III EStG für Stpfl., die weder auf 2 Grund gesetzlicher Verpflichtung noch freiwillig Bücher führen, die Ermittlung des Gewinns durch Überschussrechnung (Überschuss der Betriebseinnahmen/-ausgaben über die Betriebsausgaben/-einnahmen) vor (Rz. 550 ff.). Es handelt sich um eine vereinfachte Gewinnermittlung nach Art der in §§ 8 ff. EStG normierten Kassenrechnung, deren Leitbild aber der Betriebsvermögensvergleich ist (Grundsatz der Gesamtgewinngleichheit, Rz. 552). Privilegierend wirken die pauschalierende Gewinnermittlung für Einkünfte aus Land- und Forstwirt- 3 schaft gem. § 13a EStG (§ 8 Rz. 201, 409 ff.) und die sog. Tonnagebesteuerung für Betriebe der Handelsschifffahrt gem. § 5a EStG (§ 8 Rz. 202). Die Gewinnermittlung nach dem EStG gilt mit Modifikationen auch für die Körperschaftsteuer (§ 8 4 I 1 KStG, Rz. 360 ff.) und die Gewerbesteuer (§ 7 Satz 1 GewStG). Gemäß § 5b EStG ist in den Fällen der Gewinnermittlung nach §§ 4 I; 5 oder 5a EStG der Inhalt der 5 Bilanz und der GuV nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz durch Datenfernübertragung zu übermitteln (sog. E-Bilanz)2. Nach § 51b IV Nr. 1b EStG ist das BMF ermächtigt, den Mindestumfang dieser E-Bilanz zu bestimmen. Die Finanzverwaltung gibt hierbei Taxonomien (Datenschemata für Jahresabschlussdaten) vor3. Die Verpflichtung zur Abgabe einer sog. E-Bilanz nach amtlicher Taxonomie gilt grundsätzlich für alle 5a Unternehmen, die ihren Gewinn nach §§ 4 I, 5 oder 5a EStG ermitteln, unabhängig von der Rechtsform und der Größe4. Auch etwaige Sonderbilanzen (anlässlich einer Betriebsveräußerung, Betriebs1 BFH v. 8.11.1979 – IV R 145/77, BStBl. II 1980, BFH v. 20.11.1980, IV R 126/78, BStBl. II 146; 1981, 398. 2 Dazu insb. BMF BStBl. I 2011, 855; 2012, 598; 2010, 47; OFD NRW, FR 2015, 958; OFD Frankfurt a.M. v. 7.1.2014, S 2133b A-2-St 210; OFD Frankfurt a.M., DStR 2016, 1163; Herzig/Briesemeister/ Schäperclaus, DB 2011, 1; 1651; 2509; Birk/Mühleis, StuW 2011, 988; Arnold/Schumann, DStZ 2011, 812; Arnold/Schumann, DStZ 2011, 740; Hüttemann, DStZ 2011, 507; Ley, StbJb. 2011/12, 261; Hülshoff, StbJb. 2011/12, 283; Kowallik, DB 2016, 133; Hülshoff, DB-Beil. 4/2016, S. 2; Kowallik/Bongaerts, DB-Beil. 4/2016, S. 8. Zur E-Bilanz bei Personengesellschaften s. Riepolt/Steinegger, StuB 2015, 667; Ley, kösdi 2015, 19317. 3 Abrufbar unter www.esteuer.de. 4 Blümich/Hofmeister, § 5b EStG Rz. 11.
Hennrichs 541
§ 9 Rz. 6
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
aufgabe oder in Umwandlungsfällen; Zwischenbilanzen anlässlich eines Gesellschafterwechsels; Liquidationsbilanzen nach § 11 KStG) sind elektronisch zu übermitteln5. Der sachliche Anwendungsbereich der neuen Vorschrift erfasst darüber hinaus auch inländische Betriebsstätten ausländischer Unternehmen (in diesen Fällen beschränkt sich die Verpflichtung auf die inländische Betriebsstätte) und BgA von juristischen Personen des öffentlichen Rechts6. Grundsätzlich keine Anwendung findet § 5b EStG auf steuerbefreite Körperschaften. Unterhält eine Körperschaft dagegen einen steuerpflichtigen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb (wGB) und überschreiten die Einnahmen oder Gewinne die Grenzen des § 141 AO, so sind die Daten für den wGB wiederum elektronisch zu übertragen7. Dasselbe gilt, wenn zwar die Grenzen des § 141 AO nicht überschritten werden, aber die Einnahmen aus dem steuerpflichtigen wGB über 35.000 Euro betragen und die steuerbegünstigte Körperschaft entweder als Formkaufmann (Körperschaften i.S. des § 1 I Nr. 1-3 KStG) oder nach außersteuerrechtlichen Vorschriften buchführungspflichtig ist oder freiwillig nach handelsrechtlichen Grundsätzen bilanziert8. 6 § 5b EStG ist zwar gesetzessystematisch bei den Gewinnermittlungsvorschriften eingeordnet, der Sa-
che nach handelt es sich jedoch um eine reine Verfahrensvorschrift ohne materiell-rechtliche Wirkungen, die § 25 EStG und § 31 Ia KStG ergänzt9. Vordergründig und erklärtes Ziel der Vorschrift ist Bürokratieabbau und Einsatz moderner technischer Mittel10. Die auf den ersten Blick unscheinbare und harmlos wirkende Vorschrift könnte freilich die Ablösung der steuerlichen Gewinnermittlung von der Handelsbilanz beschleunigen11. Die zugrunde gelegten Taxonomien sind naturgemäß steuerlich geprägt. Es könnte auch eine neue „umgekehrte formelle Maßgeblichkeit“ entstehen, also ein Rückschlag der Steuertaxonomien in die Handelsbilanz, denn durch die Definition des Mindestumfangs wirken die Taxonomien auf die inhaltliche, prozessuale und technische Ausgestaltung des Rechnungswesens zurück12. Zudem geht der Mindestumfang der Taxonomien deutlich über die Gliederungsschemata der §§ 266; 275 HGB hinaus. Manche kritisieren die Vorschrift deshalb als „Bürokratiemonster“13. Jedenfalls erhält die Finanzverwaltung einen umfassenden Datenpool, der weitreichend ausgewertet werden kann (Abgleich und Plausibilisierung)14.
II. Subjektiver Anwendungsbereich der Gewinnermittlungsarten 7 Der Anwendungsbereich der einzelnen Gewinnermittlungsarten ist mit der Buchführungspflicht
verknüpft. § 4 III 1 EStG eröffnet Stpfl., die weder auf Grund gesetzlicher Vorschriften zur Führung von Büchern und regelmäßigen Abschlüssen verpflichtet sind noch freiwillig Bücher führen, ein Wahlrecht zwischen betrieblicher Überschussrechnung und Bestandsvergleich. Wer buchführungspflichtig ist, regeln §§ 140; 141 AO (dazu § 21 Rz. 178 ff.). § 140 AO verweist insb. auf die Buchführungspflicht nach dem HGB. § 238 I 1 HGB verpflichtet Kaufleute (§§ 1–6 HGB) zur Buchfüh5 Vgl. OFD Frankfurt a.M. v. 7.1.2014 – S 2133b A-2-St 210, Rz. 1; a.A. Blümich/Hofmeister, § 5b EStG Rz. 27 m.w.N. zum Streitstand. 6 OFD Frankfurt a.M. v. 7.1.2014 – S 2133b A-2-St 210, Rz. 4, 6; Blümich/Hofmeister, § 5b EStG Rz. 10. 7 S. BMF-Schreiben v. 19.12.2013 – IV C 6-S 2133-b/11/10009 :004 (mit tabellarischer Übersicht in der Anlage); OFD Frankfurt a.M. v. 7.1.2014 – S 2133b A-2-St 210, Rz. 5; Zwirner, BB 2014, 242. 8 S. die tabellarische Übersicht des BMF, Pflicht zur Übermittlung einer E-Bilanz bei steuerbegünstigten Körperschaften, als Anlage zum BMF-Schreiben v. 19.12.2013 (s. Vornote), abrufbar unter http:// www.bundesfinanzministerium.de/. 9 Herzig/Briesemeister/Schäperclaus, DB 2011, 1 (4). 10 Vgl. BT-Drucks. 16/10188, 13. 11 Schmidt/Weber-Grellet36, § 5b EStG Rz. 1; Herzig/Briesemeister/Schäperclaus, DB 2011, 1 (8): „faktischer Zwang, eine standardisierte und differenzierte Steuerbilanz zu erstellen“. 12 Herzig, DB 2012, 1 (8). 13 Arens, BRAK Magazin 2012, 11. 14 Vgl. auch Herzig/Briesemeister/Schäperclaus, DB 2011, 1 (4), die zu Recht kritisieren, dass der Schluss naheliege, dass die vorgebliche „Nebenbedingung“ des effizienten Steuervollzugs das eigentliche Hauptziel der Regelung sei; s. auch U. Prinz, DStJG 34 (2011), 135 (148 f.).
542
Hennrichs
A. Überblick über das System betrieblicher Gewinnermittlung
Rz. 10 § 9
rung. Personenhandelsgesellschaften und Kapitalgesellschaften sind als Handelsgesellschaften gem. §§ 6; 238 HGB stets handelsrechtlich zur Buchführung verpflichtet (zu Besonderheiten der Kapitalgesellschaft s. Rz. 500 ff.). Kleine Einzelkaufleute, deren Umsatzerlöse 600 000 Euro bzw. Jahresüberschuss 60 000 Euro an den Abschlussstichtagen von zwei aufeinander folgenden Geschäftsjahren nicht überschreitet, sind nach §§ 241a; 242 IV HGB von der Pflicht zur Buchführung und Aufstellung eines Inventars befreit; bei Neugründung wird auf den ersten Abschlussstichtag abgestellt (§ 241a Satz 2 HGB). Eine Ausdehnung dieser durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz vom 25.5.2009, BGBl. I, 1102, eingeführten Erleichterung auf Personengesellschaften ist vorerst wegen der ungeklärten Auswirkungen auf die gesellschaftsrechtliche Gewinnverteilung unterblieben15. § 141 AO ordnet daneben umsatz- bzw. gewinnabhängig für gewerbliche Unternehmer und Land- 8 und Forstwirte originär steuerrechtliche Buchführungspflichten an. Bisher hatte § 141 AO vor allem für Land- und Forstwirte sowie Kleingewerbetreibende, deren Unternehmen keinen nach Art oder Umfang in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb erfordert (§ 1 II HGB), Bedeutung, weil Kaufleute gem. § 140 AO i.V.m. §§ 1 ff.; 238 I 1 HGB grds. unabhängig von Umsatz- oder Gewinngrenzen buchführungspflichtig waren. Aufgrund des durch das BilMoG eingefügten §§ 241a; 242 IV HGB kommt es jetzt aber für Einzelkaufleute zu einem weitgehenden Gleichlauf mit § 141 AO. Nach § 141 I 1 Nr. 1, 4 AO wie nach § 241a HGB sind gewerbliche Unternehmer nur dann buchführungspflichtig, wenn der einzelne Betrieb einen Umsatz von 600 000 Euro oder einen Gewinn von 60 000 Euro im Kalenderjahr überschreitet. Das bewirkt eine durchgreifende Vereinfachung für Kleingewerbetreibende gem. § 15 I 1 Nr. 1 EStG, die auch dann das Wahlrecht nach § 4 III EStG für die vereinfachte Gewinnermittlung nutzen können, wenn sie einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb unterhalten. Selbständige i.S.d. § 18 EStG sind weder nach § 140 AO noch nach § 141 AO buchführungspflich- 9 tig. Sie haben folglich ein freies Wahlrecht zwischen Bestandsvergleich nach § 4 I EStG und Überschussrechnung nach § 4 III EStG. Damit ergibt sich folgende personelle Zuordnung betrieblicher Gewinnermittlung:
10
Betriebsvermögensvergleich nach handelsrechtlichen GoB § 5 I EStG
Gewerbetreibende
gesetzlich buchführungspflichtig oder freiwillig buchführend
allgemeiner Betriebsvermögensvergleich gem. § 4 I EStG
Land- und Forstwirte
gesetzlich buchführungspflichtig gem. § 141 AO oder freiwillig buchführend
Selbständige
freiwillig buchführend
(Klein-)Gewerbetreibende
weder gesetzlich (§§ 238; 241a HGB; § 141 AO) buchführungspflichtig noch freiwillig buchführend
Land- und Forstwirte
weder gesetzlich buchführungspflichtig gem. § 141 AO noch freiwillig buchführend
Selbständige
wenn sie nicht freiwillig Bücher führen
wahlweise Überschussrechnung gem. § 4 III EStG
Einstweilen frei.
11
15 Kersting, BB 2008, 790.
Hennrichs 543
§ 9 Rz. 12
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
B. Betriebsvermögensvergleich nach §§ 4 I; 5 I EStG Literatur: Doralt (Hrsg.), Probleme des Steuerbilanzrechts, DStJG 14 (1991); Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, Loseblatt; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993; Moxter, Grundsätze ordnungsgemäßer Rechnungslegung, 2003; Schulze-Osterloh/Hennrichs/ Wüstemann (Hrsg.), Hdb. des Jahresabschlusses, Loseblatt; U. Prinz, Arten der Einkünfteermittlung – Bestandsaufnahme – Betriebsvermögensvergleich, DStJG 34 (2011), 135; MünchKomm. BilanzR, 2013; Prinz/Kanzler (Hrsg.), NWB Praxishdb. Bilanzsteuerrecht2, 2014; Graf Kanitz, Bilanzkunde für Juristen3, 2014; Beck’scher Bilanz-Komm.11, 2018.
I. Grundlagen 1. Gewinn i.S.d. § 4 I 1 EStG 12
Gem. § 4 I 1 EStG, der durch Verweisung auch für die Gewinnermittlung nach § 5 I EStG gilt, ist Gewinn der Unterschiedsbetrag zwischen zwei Betriebsvermögensständen, nämlich zwischen dem Betriebsvermögen am Schluss des Wirtschaftsjahres und dem Betriebsvermögen am Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahres. Betriebsvermögen meint dabei das Betriebsreinvermögen (= Eigenkapital). Das ist die nach Abzug der Passiva (Schulden) von den Aktiva (Vermögen) verbleibende Größe. Zu bereinigen sind außerdem privat veranlasste Vermögensänderungen, denn der Gewinnbesteuerung soll nur die betrieblich veranlasste Vermögensmehrung unterliegen. Daher sind privat veranlasste Entnahmen (die das Betriebsvermögen gemindert haben) wieder hinzuzurechnen, privat veranlasste Einlagen (die das Betriebsvermögen erhöht haben, aber nicht betrieblich veranlasst sind) demgegenüber zu kürzen (§ 4 I 1 a.E. EStG; dazu Rz. 360 ff.).
13
Der gesetzliche Gewinnbegriff gem. § 4 I 1 EStG umfasst sowohl den positiven Unterschiedsbetrag zwischen den beiden Betriebsvermögensständen als auch den negativen16. Im letzteren Fall sprechen wir üblicherweise aber nicht von „negativem Gewinn“, sondern von Verlust. Es kann sich auch ergeben, dass die Schulden die aktiviertern Vermögensgegenstände des Kaufmanns übersteigen. Dann ist das bilanzielle Eigenkapital negativ und auf der Aktivseite der Bilanz ein nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag auszuweisen (§ 268 III HGB; s. auch Rz. 505). Man spricht auch von „buchmäßiger Überschuldung“. Von dieser buchmäßigen (rein bilanziellen) Überschuldung abzugrenzen ist eine Überschuldung im insolvenzrechtlichen Sinne (§ 19 II 1 InsO). Bei der Prüfung der insolvenzrechtlichen Überschuldung werden die Vermögenswerte und Schulden zu Zeitwerten bewertet (Verkehrs- oder Liquidationswerte), also unter Berücksichtigung sog. stiller Reserven und etwaiger stiller Lasten. Der handelsrechtliche Jahresabschluss hat wegen des Anschaffungswert- und Realisationsprinzips (§ 253 I 1; § 252 I Nr. 4 HGB) insoweit nur (aber immerhin) indizielle Bedeutung17. Von der bilanziellen (und insolvenzrechtlichen) Überschuldung ebenfalls abzugrenzen ist der Begriff der Unterbilanz. Darunter versteht man die Unterdeckung des gezeichneten Kapitals bei Kapitalgesellschaften. Eine Unterbilanz ist schon gegeben, wenn das Vermögen zwar noch die Schulden, aber nicht mehr das gezeichnete Kapital deckt. Dies kann gesellschaftsrechtliche Sanktionen auslösen (s. § 92 I AktG; §§ 30 I 1, 31, 49 III GmbHG).
16 Dagegen spricht § 268 I 1 HGB neutral von Jahresergebnis (= Jahreserfolg) und unterscheidet Jahresüberschuss (= Gewinn) und Jahresfehlbetrag (= Verlust). 17 Vgl. BGH v. 19.11.2013 – II ZR 229/11, DStR 2014, 219; BGH v. 24.9.2013 – II ZR 39/12, NZG 2013, 1385 (Rz. 28); BGH v. 8.3.2012 – IX ZR 102/11, WM 2012, 665; BGH v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, BGHZ 146, 264, 267 f.
544
Hennrichs
2. Bestandteile des Betriebsvermögensvergleichs
Rz. 18 § 9
Bilanzbeispiel:
14 Bilanz zum 31.12.01
Aktiva = Vermögen 1 000 000
Betriebsreinvermögen = Eigenkapital 400 000 Passiva = Schulden 600 000
Bilanz zum 13.12.02
Aktiva = Vermögen 1 000 000
Betriebsreinvermögen = Eigenkapital 600 000 Passiva = Schulden 400 000
In dem skizzierten Beispiel ergibt der Vergleich: Das Betriebsreinvermögen hat sich im Laufe des Jahres 01 von 400 000 Euro auf 600 000 Euro vermehrt. Der Gewinn beträgt also 200 000 Euro. Dabei wird unterstellt, dass es keine Entnahmen und keine Einlagen gegeben hat.
Einstweilen frei.
15
2. Bestandteile des Betriebsvermögensvergleichs 2.1 Bilanz Der Betriebsvermögensvergleich nach §§ 4 I; 5 I EStG – Vergleich zweier Betriebsreinvermögen – setzt 16 voraus, dass das Betriebsreinvermögen am Anfang und am Schluss des Gewinnermittlungszeitraums festgestellt wird. Die Ermittlung des Betriebsreinvermögens oder Eigenkapitals geschieht durch eine Bilanz. Regulär ist die Bilanz eine Jahresbilanz. Neben den Jahresbilanzen gibt es besondere Bilanzen: die 17 Eröffnungsbilanz am Beginn eines Handelsgewerbes (§ 242 I 1 HGB), Bilanzen für Rumpfwirtschaftsjahre, wenn ein Betrieb eröffnet, erworben, aufgegeben, veräußert oder wenn das Wirtschaftsjahr umgestellt wird (§ 8b EStDV), ferner Bilanzen für besondere Vorgänge wie Umwandlungen, Auseinandersetzung oder Liquidation. Die Bilanz ist eine strukturierte Übersicht über Vermögen und Schulden (s. § 242 I 1 HGB; § 4 II 2 18 EStG). Nach § 246 I 1 HGB muss die Bilanz insb. sämtliche Vermögensgegenstände und sämtliche Schulden enthalten (Vollständigkeitsgebot). Das Eigenkapital ist die Residualgröße von Vermögen abzüglich Schulden. Es gilt also folgende bilanzielle Grundgleichung: Eigenkapital = Vermögen ./. Schulden Die Bilanz wird üblicherweise in T-Form erstellt. Das Vermögen steht dabei auf der linken Seite, der sog. Aktivseite der Bilanz. Die Schulden (im bilanzrechtlichen Sinne sind das die Verbindlichkeiten i.e.S. und die sog. Rückstellungen, dazu unten Rz. 160 ff.) werden auf der rechten Seite der Bilanz erfasst, der sog. Passivseite. Übersteigt das Vermögen die Schulden, steht das Eigenkapital als Residualgröße ebenfalls auf der Passivseite der Bilanz, damit beide Seiten ausgeglichen sind. Sowohl das Vermögen als auch die Schulden und das Eigenkapital können unter verschiedenen Aspekten (Art der Vermögensgegenstände, Art der Schulden, Herkunft und gesellschaftsrechtliche Bindung des Eigenkapitals) weiter untergliedert werden. So lassen sich beim Vermögen das sog. Anlage(§ 247 II HGB) und das Umlaufvermögen unterscheiden, bei den Schulden die Verbindlichkeiten (§ 266 III Buchst. C HGB) und die Rückstellungen (§ 249 HGB). Beim Eigenkapital kann man danach gliedern, ob das Eigenkapital bei der Gründung gezeichnet, im Zuge weiterer Kapitalmaßnahmen gewährt oder aus früheren thesaurierten Gewinnen gebildet wird und welcher Teil des EigenHennrichs 545
§ 9 Rz. 19
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
kapitals aus der Mehrung oder Minderung des Wirtschaftsjahres stammt. Zusätzlich bilanziell zu erfassen sind ggf. noch sog. Rechnungsabgrenzungsposten (§ 250 HGB; § 5 V EStG), latente Steuern (§ 274 HGB) und im Einzelfall auch weitere Gliederungsposten (s. § 246 II 2, 3; § 253 I 4 HGB). Für Kapitalgesellschaften sieht § 266 HGB in Abhängigkeit von ihrer Größe (§ 267 HGB) ein verbindliches Gliederungsschema vor. Personenunternehmen sind in der Gliederung grds. frei (s. aber §§ 264a; 264c HGB); die Praxis orientiert sich aber auch insoweit am Schema des § 266 HGB. All diese Untergliederungen ändern aber an der o.g. bilanziellen Grundgleichung (EK = V ./. S) und an der Gewinnformel des § 4 I 1 EStG nichts. Beispiel einer Bilanzgliederung: Aktiva
Passiva
A. Anlagevermögen I. Immaterielle Vermögensgegenstände II. Sachanlagen III. Finanzanlagen B. Umlaufvermögen I. Vorräte II. Forderungen und sonstige Vermögensgegenstände III. Wertpapiere IV. Kassenbestand C. Rechnungsabgrenzungsposten
A. Eigenkapital
B. Rückstellungen C. Verbindlichkeiten
D. Rechnungsabgrenzungsposten
Bilanzsumme
Die Bilanz als strukturierte Übersicht über Vermögen und Schulden lässt sich auch für bilanzanalytische Zwecke verwenden. Beispielsweise kann man aus der Bilanz ersehen, welche Mittel wie im Unternehmen verwendet werden und woher die verwendeten Mittel stammen: Die Mittelverwendung im Betrieb lässt sich aus der Aktivseite ablesen. Die Passivseite gibt Aufschluss über die Mittelherkunft. Sie zeigt an, wie die Aktiva finanziert worden sind, ob durch Eigenmittel (Eigenkapital) oder durch Fremdkapital (Schulden). Die Summe beider Seiten der Bilanz muss sich rechnerisch stets entsprechen (Prinzip der Ausgeglichenheit der Bilanz). 19
Die Gewinnermittlung durch BV-Vergleich hängt von dem jeweiligen Wertansatz der einzelnen Bilanzposten ab. Dabei sind zwei Ebenen auseinander zu halten: Zunächst stellt sich die Frage, was als Vermögensgegenstand (Wirtschaftsgut, WG) in der Bilanz zu aktivieren oder zu passivieren ist (Ob der Bilanzierung; Ansatz). Sodann ist zu klären, wie ein zu bilanzierender Vermögensgegenstand (WG) zu bewerten ist (Wie der Bilanzierung; Bewertung). Im Einzelnen sind folgende Fragen zu beantworten: (1) Was ist von wem als Vermögensgegenstand (WG) des Betriebsvermögens in der Bilanz anzusetzen? (2) Wie sind die Vermögensgegenstände (WG) zu bewerten? 2.2 Gewinn- und Verlustrechnung
20
§ 242 HGB schreibt vor, dass der Kaufmann für den Schluss eines jeden Geschäftsjahres neben der Bilanz (§ 242 I HGB) eine Gewinn- und Verlustrechnung, d.h. eine Gegenüberstellung der Erträge und Aufwendungen (§ 242 II HGB) aufzustellen hat, soweit er die Umsatz-/Gewinngrenze des § 241a HGB überschreitet (§ 242 IV HGB). 546
Hennrichs
3. Technik der Bilanzierung und doppelten Buchführung
Rz. 24 § 9
Da Erträge die betrieblich veranlassten Betriebsvermögensmehrungen sind, Aufwendungen die betrieblich veranlassten Betriebsvermögensminderungen (Rz. 24), muss der Saldo von Erträgen und Aufwendungen in der Gewinn- und Verlustrechnung zu dem gleichen Ergebnis führen wie der bilanzielle Betriebsvermögensvergleich. Ist die Summe aller Ertragsposten des Jahres höher als die Summe aller Aufwandsposten, so ergibt sich ein Gewinn. Ist die Summe aller Aufwandsposten des Jahres höher als die Summe aller Ertragsposten, so ergibt sich ein Verlust. Die Gewinn- und Verlustrechnung zeigt die Ursachen des Ergebnisses. 3. Technik der Bilanzierung und doppelten Buchführung a) Inventar: Die Bilanz ist aus dem Inventar zu entwickeln. Zu Beginn seines Handelsgewerbes und 21 für den Schluss eines jeden Geschäftsjahres hat der Kaufmann ein Inventar (§ 240 I, II HGB) sowie eine Bilanz (§ 242 I HGB) aufzustellen. Das Inventar enthält alle zum Betrieb gehörenden Vermögensgegenstände (Wirtschaftsgüter) mit genauer Bezeichnung und Wertangabe. Es wird durch Bestandsaufnahme der körperlichen und unkörperlichen Vermögensgegenstände und Schulden (Inventur) ermittelt („zählen, wiegen, messen“). Das Inventar ist Grundlage für die Erstellung der Eröffnungsbilanz bei Beginn des Handelsgewerbes18. b) Veränderung der Bilanz durch Geschäftsvorfälle: Die Bilanz ist im Prinzip statisch angelegt. Sie 22 ist eine Momentaufnahme des am Bilanzstichtag vorhandenen Vermögens. Zwischen den Bilanzstichtagen verändern sich die einzelnen Bilanzposten jedoch auf Grund einzelner Geschäftsvorfälle. Sie werden in der laufenden Buchführung festgehalten. Zu unterscheiden sind vermögenswirksame Geschäftsvorfälle, die das Betriebsreinvermögen verändern, und vermögensneutrale Geschäftsvorfälle. Vermögensneutrale Geschäftsvorfälle führen lediglich zu einer Umschichtung des Betriebsver- 23 mögens und wirken sich nicht auf die (Residual-)Größe Eigenkapital aus. Je nachdem, welche Seiten der Bilanz angesprochen wird, unterscheidet man: – Aktivtausch: Zu- und korrespondierende Abnahme auf der Aktivseite (z.B. Kaufmann schafft mit Eigenmitteln ein Grundstück an; „Grundstück an Bank“); – Passivtausch: Zu- und Abnahme auf der Passivseite (z.B. Kaufmann schuldet um und löst ein Darlehen durch ein anderes ab); – Aktiv-/Passivtausch: Aktiv- und Passivposten erhöhen bzw. vermindern sich in gleichem Umfang (z.B. Kaufmann schafft ein Grundstück auf Kredit an; bezahlt eine Verbindlichkeit aus der Kasse). Der Aktiv-/Passivtausch führt zwar zu einer Veränderung der Bilanzsumme (Wert aller Aktiva), hat aber keine Auswirkungen auf das Eigenkapital. In allen drei Fällen entsprechen sich Zu- und Abnahme wertmäßig. Vermögenswirksame Geschäftsvorfälle verändern das Eigenkapital. Sie sind weiter zu unterschei- 24 den in ergebniswirksame und ergebnisneutrale Vorfälle. aa) Ergebnisneutral sind Einlagen und Entnahmen (Rz. 360 ff.). Sie erhöhen bzw. mindern das Eigenkapital, sind jedoch privat veranlasst und dürfen deshalb das wirtschaftliche Ergebnis einer Periode (Gewinn/Verlust) nicht beeinflussen. Daher ordnet § 4 I 1 EStG für die Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich die Hinzurechnung von Entnahmen und den Abzug von Einlagen an. bb) Ergebniswirksame Wertzugänge einer Periode, die betrieblich veranlasst sind, bezeichnet man als Erträge; Wertabgänge, die betrieblich veranlasst sind, bezeichnet man als Aufwendungen. Ge18 Zur Technik der doppelten Buchführung s. z.B. Horschitz/Groß/Fanck/Kirschbaum, Bilanzsteuerrecht und Buchführung13, 2013, Teil B; Weber-Grellet, Bilanzsteuerrecht12, 2014, Rz. 94 ff.; Wuttke/Weidner/ Fanck, Buchführungstechnik und Bilanzsteuerrecht16, 2012; ferner anschauliches Bsp. eines Buchungskreislaufs bei Jakob, Einkommensteuerrecht4, 2008, Rz. 644 ff.
Hennrichs 547
§ 9 Rz. 25
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
winn lässt sich danach auch definieren als der Unterschied zwischen Erträgen und Aufwendungen einer Periode (eines Wirtschaftsjahres). Beispiel: Der Kaufmann zahlt Löhne; erhält Lizenzgebühren für die Einräumung der Nutzungsbefugnis an einem Patent. 25
c) Doppelte Buchführung: Aus Gründen der Praktikabilität werden die einzelnen Geschäftsvorfälle während des Geschäftsjahres nicht in der Bilanz verbucht, sondern im Wege der Kontentechnik (Buchführung) erfasst. Dazu wird die Eröffnungs-/Anfangsbilanz in aktive und passive Bestandskonten aufgelöst und für jeden Bilanzposten ein eigenes Konto in T-Form (sog. T-Konto) eingerichtet. Der jeweilige Wertansatz des Bilanzpostens geht dabei als Anfangsbestand auf dieselbe Seite des Kontos ein, auf dem der Wert in der Bilanz steht, d.h. die Aktivseite der Bilanz geht in die (linke) Sollseite der aktiven Bestandskonten ein, die Passivseite der Bilanz in die (rechte) Habenseite der passiven Bestandskonten. Neben den Bestandskonten werden Erfolgskonten geführt, auf denen Ertrag und Aufwand gebucht werden. Erst beim Jahresabschluss werden die einzelnen Konten über das Schlussbilanzkonto wieder zur Bilanz zusammengeführt. Beispiel: Aktiva
Anfangsbilanz
Grundstücke Waren Kasse
100 000 30 000 50 000
Bilanzsumme
180 000
S
Grundstücke
H
Passiva
Eigenkapital Verbindlichkeiten
50 000 130 000 180 000
S
Eigenkapital
100 000 S
H 50 000
Waren
H
30 000
S
Verbindlichkeiten
H 130 000
S
Kasse
H
50 000 26
Das (Eigen-)Kapitalkonto ist kein Bestandskonto, sondern ein Erfolgskonto, da es bei den erfolgswirksamen Geschäftsvorfällen die Gegenbuchung aufnimmt. Auf Grund der Vielzahl erfolgswirksamer Geschäftsvorfälle, wird das Eigenkapitalkonto weiter unterteilt in Aufwandskonten (z.B. Gehälter, Fertigungskosten, Mietaufwendungen) und Ertragskonten (z.B. Verkaufserlöse, Mieterträge). Während des Jahres wird nur auf diesen Unterkonten gebucht. Das Kapitalkonto ruht und wird erst wieder beim Jahresabschluss angesprochen, indem es über ein Gewinn- und Verlustkonto abgeschlossen wird. Weitere Unterkonten des Eigenkapitalkontos sind die sog. Privatkonten, auf denen Entnahmen und Einlagen verbucht werden, die sich ebenfalls auf die Höhe des Eigenkapitals auswirken, nicht aber auf den Erfolg (Rz. 24).
27
Neben reinen Bestands- und reinen Erfolgskonten gibt es sog. gemischte Konten. Sie dienen der Vereinfachung, indem sie unterjährig als Bestandskonten geführt werden, d.h. ohne Berücksichtigung einer Gewinnauswirkung. So werden auf dem Warenkonto Zugänge mit Einkaufspreisen, Abgänge mit Verkaufspreisen gebucht. Die Gewinnauswirkung aus der Differenz zwischen Verkaufs- und Einkaufspreis wird erst beim Jahresabschluss ermittelt, indem der Bestand zum Jahresende durch Inventur festgestellt und ein entsprechender Ertrag/Aufwand gebucht wird. 548
Hennrichs
II. Maßgeblichkeitsgrundsatz
Rz. 30 § 9
Jeder Geschäftsvorfall wird doppelt verbucht, berührt also mindestens zwei Konten („keine Bu- 28 chung ohne Gegenbuchung“). Auf diese Weise wird die Ausgeglichenheit der Bilanz sichergestellt. Hierzu wird ein Buchungssatz gebildet, der stets ein Konto auf der Sollseite und ein Konto auf der Habenseite ansprechen muss. Begonnen wird mit dem Konto, dessen Sollseite angesprochen wird. Auf Aktivkonten werden Zugänge im Soll, Abgänge im Haben, auf Passivkonten Zugänge im Haben, Abgänge im Soll gebucht. Beispiel: für Buchungen auf Bestandskonten: Der Kaufmann schafft ein Grundstück zum Kaufpreis von 100 000 Euro (1.) mit Eigenmitteln, (2.) durch Aufnahme eines Bankdarlehens an: (1.) per Grundstück (Zugang) an Bankkonto (Abgang) (2.) per Grundstück (Zugang) an Verbindlichkeiten (Zugang)
100 000 100 000
Der Kaufmann tilgt eine Lieferantenverbindlichkeit in Höhe von 500 Euro mit Barmitteln: per Lieferantenverbindlichkeiten (Abgang) an Kasse (Abgang)
500
Ein Geschäftsvorfall kann mehrere Konten berühren. Die Summe der Soll- und Haben-Buchungen muss sich wiederum entsprechen. Beispiel: Der Kaufmann entnimmt einen Pkw (Buchwert: 10 000; Teilwert: 15 000 Euro): per Privatentnahme 15 000
an Ertrag an Fuhrpark
5 000 10 000
d) Beim Jahresabschluss werden zunächst die Endbestände der einzelnen Bestands- und Erfolgs- 29 konten ermittelt. Die Bestandskonten werden unmittelbar in das Schlussbilanzkonto, die Erfolgskonten (Ertrags- und Aufwandskonten) zunächst in das Gewinn- und Verlustkonto und sodann in das Schlussbilanzkonto gebucht. Das Schlussbilanzkonto entspricht der Schlussbilanz. Bevor die Konten endgültig abgeschlossen werden können, müssen eine Reihe vorbereitender Bu- 30 chungen vorgenommen werden. Auf diese Weise werden Veränderungen des Betriebsvermögens erfasst, denen keine Geschäftsvorfälle zugrunde liegen. Hier werden u.a. Abschreibungen (per Aufwand an Anlagevermögen), Rückstellungen (per Aufwand an Rückstellung) und Rechnungsabgrenzungen (per aktive Rechnungsabgrenzungsposten an Aufwand bzw. per Ertrag an passive Rechnungsabgrenzungsposten) gebucht. Zudem werden gemischte Konten und Bestandskonten den durch Inventur ermittelten tatsächlichen Endbeständen angepasst und in Höhe der Differenz als Aufwand bzw. Ertrag gebucht. Der Jahresabschluss besteht aus Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung (§ 242 III HGB). Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung sind der Steuererklärung beizufügen (§ 60 EStDV). Zur elektronischen Übermittlung (sog. E-Bilanz) Rz. 5 f. Einstweilen frei.
31–39
II. Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (§ 5 I 1 EStG) 1. Prinzipielle Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen GoB für die Steuerbilanz - Überblick Literatur (bis 2010 s. Voraufl.): Buchmüller, Das Maßgeblichkeitsprinzip vor dem Hintergrund des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes (BilMoG), 2010; Bauer, Das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit als Grundlage der Gewinnermittlungsarten, Diss., Hannover, 2011; Ballwieser, Möglichkeiten und Grenzen der Erstellung einer Einheitsbilanz – Zur Rolle und Entwicklung des Maßgeblichkeitsprinzips, in FS Spindler 2011, 577; Hennrichs, GoB im Spannungsfeld von BilMoG und IFRS, WPg. 2011, 861 (863); Scheffler, Das Maßgeblichkeitsprinzip nach dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, 2011; Schmiel, Entspricht eine steuerliche Gewinnermittlung nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Bilanzierung dem Leistungsfähigkeitsprinzip?, ZSteu 2011, 119; Schulze-Osterloh, Handelsrechtliche GoB und steuerliche Ge-
Hennrichs 549
§ 9 Rz. 40
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
winnermittlung – Das Beispiel der Teilwertabschreibung, DStR 2011, 534; Endriss, Plädoyer für die Stärkung der Maßgeblichkeit, BBK 2011, 19; Mayr, Zukunftskonzepte der Einkünfteermittlung: BilMoG, Maßgeblichkeitsgrundsatz und CCCTB, DStJG 34 (2011), 327; Kahle/Schulz/Vogel, Auswirkungen des BilMoG auf die Besteuerung der Unternehmen, Ubg 2011, 178; Herzig, Erfahrungen mit dem BilMoG aus steuerlicher Sicht, DB 2012, 1343; Hüttemann, Die Zukunft der Steuerbilanz, DStZ 2011, 507; Hüttemann, Das Passivierungsverbot für Jubiläumsrückstellungen zwischen Folgerichtigkeitsgrundsatz und Willkürverbot, FS Spindler, 2011, 627; Schulze-Osterloh, Handelsrechtliche GoB und steuerliche Gewinnermittlung – Das Beispiel der Teilwertabschreibung, DStR 2011, 534; Buchholz, Die Reichweite der Maßgeblichkeit handelsrechtlicher Bilanzwerte bei Bewertung von Rückstellungen in der Steuerbilanz, Ubg 2012, 777; Kahle/Günter, Fortentwicklung des Handels- und Steuerbilanzrechts nach dem BilMoG, StuW 2012, 43; Marx, Aktuelle Entwicklungen in der steuerrechtlichen Gewinnermittlung, StuB 2012, 291; Velte, Entwicklung der Zeitwertbilanzierung im Handels- und Steuerrecht, StuW 2012, 56; Oser/Kropp, Eigene Anteile im Gesellschafts-, Bilanz- und Steuerrecht, DK 2012, 185; M. Wendt, Entwicklungstendenzen auf dem Gebiet des Bilanzsteuerrechts in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, ÖStZ 2012, 297; Wüstemann/Wüstemann, Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Zurechnung für die Steuerbilanz, BB 2012, 3127; Breuninger, Gilt im Steuerrecht die Maßgeblichkeit bei der Bilanzierung von Genussrechten?, JbFfSt 2012/2013, 308; Scheffler/Binder, Der Einfluss des Maßgeblichkeitsprinzips auf den Stetigkeitsgrundsatz in der Handelsbilanz, StuB 2012, 771; Titz, Das Bilanzsteuerrecht in Gegenwart und Zukunft, Diss., Wien, 2013; Krengel, Der Maßgeblichkeitsgrundsatz nach dem BilMoG, Diss. Bonn, 2013/4; Adrian, Maßgeblichkeitsprinzip bei Rückstellungen für Aufbewahrungspflichten, WPg. 2013, 463; Marx, Fehlabbildungen in der steuerrechtlichen Gewinnermittlung, Ubg 2013, 354; Amort, Die Einzelbewertung im Lichte des europäischen Bilanzrechts - ein Plädoyer für eine europarechtsfördernde Auslegung, WM 2013, 1250; Künkele/Zwirner, Maßgeblichkeit im Fokus der Finanzverwaltung, StuB 2013, 3; Drüen, Der Große Senat des BFH und die objektiv richtige Bilanz, GmbHR 2013, 505; Hennrichs, Zum Fehlerbegriff im Bilanzrecht, NZG 2013, 681; Hennrichs, Bilanzordnung (Besprechung des Teils „Bilanzordnung“ des sog. BStGB von P. Kirchhof), StuW 2013, 249; Eckert, Bewertungsobergrenzen der Rückstellungsbildung für zukünftige Bp bei Großbetrieben, DB 2013, 901; M. Wendt, Bilanzrecht, in FS Kirchhof, 2013, 1961; Schumann, 79 Jahre steuerliche Herstellungskosten, DStZ 2013, 474; Meger, Reichweite des Maßgeblichkeitsprinzips nach BilMoG. Abschaffung der Einheitsbilanz?, 2014; Krengel, Der Maßgeblichkeitsgrundsatz nach dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, Diss., 2014; Prinz in Prinz/Kanzler, NWB Praxishdb. Bilanzsteuerrecht2, 2014, Rz. 331 ff.; Höng, Der Debt-Mezzanine-Swap in Handels- und Steuerbilanz, Ubg 2014, 27; Moxter/Engel-Ciric, Erosion des bilanzrechtlichen Vorsichtsprinzips?, BB 2014, 489; Rätke, Beschränkung von Rückstellungen durch die EStR 2012, BBK 2014, 20; Kahle, Entwicklung der Steuerbilanz, DB 2014, Beil. 4; Eggert, Die Gewinnermittlung nach dem Richtlinienvorschlag über eine Gemeinsame Konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage, 2015; Adrian, Lifo und Maßgeblichkeitsprinzip – Zugleich Anmerkungen zum BMF-Entwurfsschreiben, WPg. 2015, 167; Marx/Juds, Gewinnrealisierung bei Werkverträgen – Zum BMF-Schreiben v. 13.5.2015, DStR 2015, 1462; Wichmann, Die sog. Handelsbilanz – aus Sicht des EStG, Stbg. 2015, 307; Velte, Entwicklung und Perspektiven des Maßgeblichkeitsprinzips, Ubg 2015, 265; Fross, Handelsrechtliche Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung und steuerrechtliches Maßgeblichkeitsprinzip, 2016; Gack, Der Komponentenansatz nach dem IDW Rechnungslegungshinweis – Maßgeblichkeit für die Steuerbilanz?, 2016; Hiller/Baschnagel/Eichholz, Reformbedarf des Maßgeblichkeitsprinzips, StuB 2016, 694; Wacker, Zum steuerbianziellen Ausweis von Rückstellungen und Verbindlichkeiten, in FS Gosch, 2016, 413; Weber-Grellet, Entwicklungstendenzen und Zukunftsperspektiven des Maßgeblichkeitsgrundsatzes, DB 2016, 1279; Scheffler, Bestandsaufnahme zur Reichweite des Maßgeblichkeitsprinzips, Der Konzern 2016, 482; Hennrichs/Schlotter, Körperschaftsteuerliche Behandlung von Genussrechten, DB 2016, 2072; Kahlenberg, Aufweichung des Maßgeblichkeitsprinzips durch die Anti-BEPS-Richtlinie?, WPg. 2016, 1151; Marx, Bedeutung der Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung im geltenden Steuerbilanzrecht, FR 2016, 389; Hennrichs, Blick ins Bilanz(steuer)recht, NZG 2016, 1255; Prinz, Entwicklungsperspektiven im BilanzStRecht, DB 2016, 9; Weber-Grellet, Bilanzsteuerrechtsprechung im Wandel, Beil. DStR 9/2016, 20; Wichmann, Fragen zu der Buchführungspflicht für Sonderbetriebsvermögen und deren Begründung - zugleich Würdigung des BFHUrteils vom 23.10.1990 – VIII R 142/85, DStZ 2017, 254; Weber-Grellet, BFH-Rechtsprechung zum Bilanzsteuerrecht, BB 2017, 43; Hennrichs, Neuere Entwicklungen im Bilanzrecht, NZG 2017, 618; Schiffers/Köster, Bestandsaufnahme und Gestaltungshinweise zum Jahresende 2017: Aktuelle Entwicklungen im Bereich der steuerlichen Gewinnermittlung – Bilanzsteuerrecht und Gewerbesteuer, DStZ 2017, 794. 40
Gemäß § 5 I 1 EStG ist das Betriebsvermögen anzusetzen, das nach den „handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung“ auszuweisen ist. Obgleich § 5 I 1 EStG nicht an die Handels550
Hennrichs
2. Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung
Rz. 50 § 9
bilanz schlechthin anknüpft, pflegt man ungenau von der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz zu sprechen. Das in § 5 I 1 EStG verankerte Maßgeblichkeitsprinzip bezieht sich jedoch nicht auf die konkrete Handelsbilanz (eine formelle oder konkrete Maßgeblichkeit der Handels- für die Steuerbilanz gibt es nicht19) und nicht auf jedwede Ansätze der Handelsbilanz, sondern auf die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (s. Rz. 50 ff.)20. Namentlich werden den GoB widersprechende Ansätze der konkreten Handelsbilanz nicht maßgeblich für die steuerliche Gewinnermittlung21. Die Maßgeblichkeit handelsrechtlicher GoB wird allerdings von zahlreichen steuergesetzlichen Son- 41 dervorschriften durchbrochen (sog. Steuervorbehalte, Rz. 93 ff.): So können steuerliche Wahlrechte nach Maßgabe des § 5 I 1 Hs. 2 EStG i.d.F. durch das BilMoG nunmehr grundsätzlich eigenständig, dh. unabhängig von der Handelsbilanz ausgeübt werden (dazu näher Rz. 98 ff.; Ausnahme: § 6 I Nr. 1b EStG); ferner bestehen für den Ansatz zahlreiche Sondervorschriften (z.B. § 5 Ia 1, II–V; § 4f, § 5 VII EStG); die Bewertung unterliegt dem sog. Bewertungsvorbehalt (§ 5 VI EStG) und ist in steuerrechtlichen Bewertungsvorschriften weitgehend eigenständig geregelt (insb. §§ 6 I Nr. 1–3a; 6a; 7 I 3, V; 7a ff. EStG; zur umstr. Bedeutung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes bei der Rückstellungsbewertung s. unten Rz. 288 ff.). Auch andere Steuergesetze können Sondervorschriften zur steuerlichen Gewinnermittlung normieren (s. für Genussrechte § 8 III 2 KStG; Rz. 168). Diese speziellen Steuervorschriften drängen die allgemeine Fiskalzwecknorm des § 5 I 1 EStG zurück (lex specialis derogat legi generali). Damit zeichnet sich immer deutlicher ein Paradigmenwechsel zu einem von den handelsrechtlichen GoB zunehmend emanzipierten, eigenständigen Steuerbilanzrecht (Rz. 116 ff.) ab22. Zur früheren allgemeinen sog. umgekehrten Maßgeblichkeit (Ausübung steuerlicher Wahlrechte nach 42 Maßgabe der Ausübung in der Handelsbilanz), die mit dem BilMoG zu Recht23 abgeschafft worden ist, s. 20. Aufl. Eine punktuelle Bindung der steuerlichen Wahlrechtsausübung an die Vorgehensweise in der Handelsbilanz ordnet neuerdings aber wieder § 6 I Nr. 1b HGB an. Dazu unten Rz. 252. Einstweilen frei.
43–49
2. Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung und Bilanzierung 2.1 Rechtsnatur und Ermittlung Anknüpfungspunkt des Maßgeblichkeitsprinzips sind die „handelsrechtlichen Grundsätze ordnungs- 50 mäßiger Buchführung“. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff24 hat auch nach Kodifizierung zahlreicher GoB in §§ 238–263 HGB seine Bedeutung nicht ganz verloren. Denn zum einen nehmen die §§ 238 ff. HGB selbst vielfach auf die GoB Bezug (§§ 238 I 1; 239 IV 1; 241; 243 I; 256; 257 III HGB), zum anderen kodifiziert das HGB das Recht der Buchführung und Bilanzierung (Buchführung i.w.S.) nicht abschließend, sondern lässt Raum für ungeschriebene GoB (z.B. Wesentlichkeit, s. Rz. 83). Wo allerdings das Gesetz (HGB) die GoB kodifiziert hat (s. insb. §§ 240 f., 246–256a HGB),
Zutr. Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 EStG Rz. 26. BFH v. 13.2.2008 – I R 44/07, BStBl. II 2008, 673. Zutr. Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 EStG Rz. 26; ebenso KSM/Waldhoff, § 7 EStG Rz. A 187 (2009). S. insb. Versin, Derogation, 2002; Crezelius, Maßgeblichkeit in Liquidation?, DB 1994, 689; Thiel, Objektivierung der Gewinnermittlung, StbJb. 1997/98, 309. Diese Entwicklung wurde durch das BilMoG und zuvor schon durch das StEntlG 1999/2000/2002 v. 24.3.1999 (BGBl. I 1999, 402) massiv beschleunigt; vgl. dazu insb. Stobbe/Loose, FR 1999, 405; Herzig, Neuorientierung im Bilanzsteuerrecht, Harzburger Steuerprotokoll 1999, 2000, 127. 23 Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, DStR 2008, 1057; Dziadkowski, DB 1989, 437; DStJG, BB 1988, 1089 (1090 f.); Kirsch, Stbg. 2008, 185; zurückhaltender Stobbe, DStR 2008, 2432 (2434 f.). 24 Pöschke in Großkomm. HGB5, § 238 Rz. 42.
19 20 21 22
Hennrichs 551
§ 9 Rz. 51
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
ist die Bestimmung des maßgebenden Norminhalts hier wie sonst ein Rechtsproblem25 und eine Frage der Auslegung der einschlägigen Vorschriften nach Maßgabe der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre26. Der Rechtsanwender, insb. der Richter, wendet gesetzliche Vorschriften an und legt diese nach den anerkannten juristischen Methoden zur Gesetzesauslegung aus. Dies schließt die wertende Konkretisierung von Prinzipien ein (deduktive Methode). Dieser Aufgabe nimmt sich primär der BFH an, da Bilanzierungsfragen im rein handelsrechtlichen Kontext selten vor den ordentlichen Gerichten ausgetragen werden27. 51 Die vor allem früher vertretene Lehre, die (ungeschriebenen) GoB seien induktiv durch Feststellung
der tatsächlichen Übungen und Gebräuche ehrenwerter Kaufleute festzustellen, ist durch die Lehre abgelöst worden, wonach die GoB deduktiv (durch Nachdenken) abzuleiten sind28. Der Gegensatz zwischen induktiver und deduktiver Methode darf freilich ohnehin nicht überschätzt werden. Zum einen sind wesentliche GoB zwischenzeitlich in den §§ 238–263 HGB kodifiziert, ergänzt – für die Zwecke der steuerlichen Gewinnermittlung – durch steuergesetzliche Bestimmungen. Zum anderen fließen empirische Kenntnisse zur guten Praxis der Kaufleute (bspw. zur Bildung von sog. Bewertungseinheiten, § 254 HGB; § 5 Ia 2 EStG) sowie theoretische Erkenntnisse der Betriebswirtschaftslehre durchaus in die Rechtsfindung mit ein29. Auch spätere „bessere Rechtserkenntnis“ durch einen Wandel der Auffassungen ist hier ebensowenig wie in anderen Rechtsbereichen ausgeschlossen. Das Recht der Buchführung/Bilanzierung ist somit insgesamt ein offenes System, das es ermöglicht, das Recht an die Vielgestaltigkeit und Veränderlichkeit des Wirtschaftslebens anzupassen. Verlautbarungen privater Rechnungslegungsgremien (IDW; Deutsches Rechnungslegungs Standards Committee, DRSC, dazu s. §§ 342; 342a HGB) haben keinen Rechtsnormcharakter, sondern sind sachverständige Meinungsäußerungen zu Bilanzierungsfragen30. An sie ist die Rspr. ebenso wenig gebunden wie an Erlasse der Finanzverwaltung. 52 Soweit die handelsrechtlichen GoB gem. § 5 I 1 EStG für die steuerliche Gewinnermittlung maßgeblich
werden, werden sie dies so, wie sie handelsrechtlich normiert und zu interpretieren sind31. Im Umfang der Verweisung gem. § 5 I 1 EStG wird Handelsrecht für das Steuerrecht vorgreiflich. Diese handelsrechtlichen GoB werden entgegen einer in der Literatur vertretenen Auffassung32 nicht in „steuerrechtliche GoB“ transformiert und sind deshalb auch nicht allein durch eine „steuerrechtliche Brille“ auszulegen, sondern sie bleiben ihrer Rechtsnatur nach Handelsrecht und sind ebenso auszulegen.33 Eine eigenständige Interpretation des Steuerbilanzrechts nach spezifisch steuerrechtlichen Gesichtspunkten und Zusammenhängen ist nur (aber immerhin) dort geboten, wo das Steuerrecht selbst die Vorschriften normiert34. 25 Zutr. Pöschke in Großkomm. HGB5, § 238 Rz. 37; ferner Kirchhof/Crezelius17, § 5 EStG Rz. 36. 26 Pöschke in Großkomm. HGB5, § 238 Rz. 42; Schulze-Osterloh in HdJ, Abt. I/1 (2016), Rz. 53, 55; Hennrichs, WPg. 2011, 861 (863); Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 209; je m.w.N. 27 Eingehend Pöschke in Großkomm. HGB5, § 238 Rz. 35 ff. 28 Dazu nach wie vor grundl. Döllerer, BB 1959, 1217; Leffson, Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung7, 1989, 28 ff.; Moxter, Grundsätze ordnungsgemäßer Rechnungslegung, 2003. S. auch J. Lang, Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung I, Begriff, Bedeutung, Rechtsnatur, in Leffson/Rückle/ Großfeld, Handwörterbuch unbestimmter Rechtsbegriffe im Bilanzrecht des HGB, 1986, 234 ff.; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 41 ff.; Beisse, GS Knobbe-Keuk, 1997, 385 (393 ff.). 29 Vgl. auch BFH I R 208/63, BFHE 89, 191 (194); Pöschke in Großkomm. HGB5, § 238 Rz. 36 f., 41 ff., 44. 30 Pöschke in Großkomm. HGB5, § 238 Rz. 45; Schulze-Osterloh in HdJ, Abt. I/1 (2016), Rz. 22, 24. 31 Groh, DStR 1996, 1206 (1209); Hennrichs, StuW 1999, 138 (143 f.); Schön, FS Flick, 1997, S. 573 (580); Schulze-Osterloh, DStZ 1997, 281 (286). 32 Weber-Grellet, StuW 1995, 336 (349); Weber-Grellet, DStR 2013, 729 (730 f.). 33 Zutr. z.B. HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 250; Crezelius, DB 1994, 689 (691); Drüen/Mundfortz, DB 2014, 2245 (2246); Kahle, DB Beil. 4/2014, 8. 34 Vgl. dazu zuletzt nochmals BFH v. 31.1.2013 – GrS 1/10, BStBl. 2013, 317 (Rz. 74) m.w.N.
552
Hennrichs
2. Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung
Rz. 55 § 9
Die handelsrechtlichen GoB sind auch nach der Modernisierung des HGB-Bilanzrechts durch das Bil- 53 MoG gemäß den Methoden der Rechtswissenschaft für die Auslegung von Gesetzen autonom auszulegen und nicht etwa „im Lichte“ der IFRS neu zu justieren. Eine unidifferenzierte interpretatorische Einstrahlung der IFRS in die handelsrechtlichen GoB ist vom Gesetz nicht gewollt35. Die IFRS sind für die Bilanzierung im Jahresabschluss und in der Steuerbilanz nach geltendem deutschen Recht keine Rechtsquelle und setzen auch keine verbindlichen Interpretationsleitlinien. Zwar ist es damit nicht ausgeschlossen, die IFRS i.S. einer Erkenntnisquelle des Rechtsvergleichs bei der Anwendung der GoB mit zu berücksichtigen. Denn die Bilanzrechtsfragen sind ja hier wie dort dieselben. Daher ist es rechtsvergleichend interessant zu analysieren, welche Antworten die IFRS auf die jeweilige Frage geben. Aber es ist doch stets sorgfältig zu erörtern, ob die jeweilige Auslegungsalternative im Kontext des GoB-Systems und der steuerrechtlichen Prinzipien passt und überzeugend ist. Ein interpretatorischer Rückgriff auf die IFRS scheidet dort ganz aus, wo das HGB und das EStG bewusst eigenständige Wege gehen und sich von den IFRS gerade abgrenzen wollen (bspw. bei der Definition des Begriffs „Vermögensgegenstand“/„Wirtschaftsgut“)36. Zu einer anderen Beurteilung gibt auch die oft missverstandene Entscheidung des EuGH37 in der 54 Rechtssache BIAO keinen Anlass38. Dort meinte der EuGH zwar beiläufig, konkrete Bilanzierungsfragen seien in Ermangelung von Detailregelungen der Bilanzrichtlinie nach dem nationalen Recht, „gegebenenfalls unter Berücksichtigung internationaler Rechnungslegungsstandards (IAS)“, zu beurteilen, wobei stets die in der Bilanzrichtlinie aufgestellten allgemeinen Grundsätze uneingeschränkt zu beachten seien. Das bedeutet aber, anders als das FG Hamburg gemeint hat, nicht etwa, dass die IFRS bei der Auslegung der Bilanzrichtlinie heranzuziehen wären und von dort dann zwangsläufig in das nationale Recht einstrahlen würden. Vielmehr deutet der EuGH lediglich eine Berücksichtigung der IFRS bei der Auslegung des nationalen Rechts an, und auch das nur „gegebenenfalls“, was wohl heißen soll, dass die IFRS zu berücksichtigen sind, wenn und soweit das nationale Recht auf sie Bezug nimmt. Das ist aber in Deutschland gerade nicht der Fall. Das modernisierte Handelsbilanzrecht will keine unmittelbare Einstrahlung der IFRS in die Auslegung und zur Lückenfüllung, sondern die GoB sollen, wie dargelegt, weiterhin eigenständig verstanden und fortentwickelt werden39. Erst recht ist keine direkte interpretatorische Einwirkung in das EStG gewollt. Freilich verliert die Kontroverse für die Steuerbilanz mit der Normierung eigener Bilanzierungsregeln im EStG ohnehin an Bedeutung. 2.2 Reichweite der Verweisung gemäß § 5 I 1 EStG Der Verweis in § 5 I 1 EStG erfasst geschriebene und ungeschriebene GoB, d.h. im Grundsatz sämtli- 55 che Gewinnermittlungsregeln des HGB40. Die gesetzlichen Normen sind im unbestimmten Rechtsbegriff der handelsrechtlichen GoB i.S.d. § 5 I EStG enthalten, weil eine dem Gesetz entsprechende
35 Deutlich BT-Drucks. 16/10067, 35; ferner HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 46; Hennrichs, FS K. Schmidt, 2009, 581 (595 ff.); Hennrichs, WPg. 2011, 861 (867 ff.); Hennrichs/Pöschke, Der Konzern 2009, 532 (536 ff.); Moxter, WPg. 2009, 7; Schulze-Osterloh in HdJ, Abt. I/1 (2016) Rz. 17; Stibi/Fuchs, DB 2009, Beil. 5, 11 f.; je m.w.N. 36 Zu einer Fallgruppenbildung für die Bedeutung der IFRS bei der Auslegung des modernisierten Handelsbilanzrechts s. Hennrichs/Pöschke, Der Konzern 2009, 532 (537 ff.). 37 EuGH C-306/99, BIAO, EuGHE 2003, I-1 ff., Rz. 118. Missverstanden und unrichtig insb. FG Hamburg v. 28.11.2003 – III 1/01, EFG 2004, 746 (749 ff.); dagegen zu Recht BFH v. 15.9.2004 – I R 5/04, BStBl. II 2009, 100; dazu Anm. Schulze-Osterloh, BB 2005, 488. 38 Näher Moxter, WPg. 2009, 7; Hennrichs, NZG 2005, 783 (784 ff.). 39 BT-Drucks. 16/10067, 35. 40 Kirchhof/Crezelius17, § 5 EStG Rz. 28; Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 204 ff.; Mathiak, FS Beisse, 1997, 323 (325 ff.); Hennrichs, StuW 1999, 138 (139 ff.); je m.w.N.; a.A. (der Verweis beziehe sich nicht auf die einzelnen Vorschriften des Dritten Buches des HGB, sondern nur auf solche, die Ausdruck der GoB seien) Schulze-Osterloh, DStR 2011, 534 (535).
Hennrichs 553
§ 9 Rz. 56
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Rechnungslegung ohne weiteres als ordnungsmäßig anzuerkennen ist41. Der Begriff „Grundsätze“ meint nicht nur Prinzipien i.S. einer „oberen Normschicht“42, sondern umfasst alle, auch begrifflich konkretisierende (z.B. § 255 HGB: Anschaffungs- und Herstellungskosten, s. Rz. 232 ff.) und technisch-vollziehende Normen ordnungsmäßiger Rechnungslegung. Soweit nicht Wahlrechte zugelassen sind, enthalten die GoB als öffentliches Recht43 zwingende Regeln44. Widerspricht eine Vorschrift Zwecken der steuerlichen Gewinnermittlung, so kann dieser Widerspruch nur (aber immerhin) durch teleologische Reduktion des § 5 I EStG aufgelöst werden45 (s. Rz. 102 ff. zur Unmaßgeblichkeit von handelsrechtlichen Bilanzierungs- und Bewertungswahlrechten). 56
Nach wohl h.M. umfasst die Verweisung gem. § 5 I 1 EStG grds. auch rechtsform- und branchenspezifische Vorschriften (§§ 264 ff. HGB)46. Hierfür wird angeführt, eine Bilanzierung, die den einschlägigen gesetzlichen Vorschriften entspreche, entspreche stets auch den GoB, wenn es um ein Rechtssubjekt und eine Fallgestaltung gehe, auf die sich die gesetzlichen Regelungen beziehen47. Richtigerweise sollte aber jedenfalls das „true and fair view-Prinzip“ gem. § 264 II 1 HGB nicht maßgeblich werden (Rz. 62 und Rz. 84 ff.). Auch die nach § 315a HGB für den Konzernabschluss anzuwendenden IFRS sind keine GoB i.S. des § 5 I EStG48.
57–59
Einstweilen frei.
2.3 Insbesondere: GoB und Europäische Bilanzrichtlinien, Unzuständigkeit des EuGH in Steuerstreitigkeiten 60
Umstritten ist die Bedeutung der europarechtlichen Bilanzrichtlinie für das Steuerbilanzrecht. Fraglich ist insb., ob das in Art. 4 III der Richtlinie 2013/34/EU49 verankerte True and Fair ViewPrinzip aufgrund des GoB-Verweises gem. § 5 I 1 EStG auch für das Steuerbilanzrecht gilt50 und dieses damit gleichsam „durch die Hintertür“ europäisiert ist. Verfahrensrechtlich ist str., ob der EuGH zuständig ist, über Fragen des Steuerbilanzrechts zu entscheiden.
41 Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 207; Hennrichs, StuW 1999, 138 (141); a.A. insb. Schulze-Osterloh, DStJG 14 (1991), 127 ff.; Schulze-Osterloh in HdJ, Abt. I/1 (2016) Rz. 18; Schulze-Osterloh, DStR 2011, 534 (535). 42 So aber Weber-Grellet, DB 1994, 2405 f.; Weber-Grellet, DB 1997, 385 f. 43 Schulze-Osterloh in HdJ, Abt. I/1 (2016) Rz. 28; eingehend Icking, Die Rechtsnatur des Handelsbilanzrechts. Zugleich ein Beitrag zur Abgrenzung von öffentlichem und privatem Recht, Diss., 2000. 44 Dazu W. Müller, FS Moxter, 1994, 75; Crezelius, ZIP 2003, 461. 45 Vgl. Hennrichs, StuW 1999, 138 (143 ff.) m.w.N. 46 Befürwortend BFH v. 12.12.2012 – I R 69/11, BFHE 240, 34 (Rz. 22); H 5.2 EStH 2012; HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 251; Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 207; a.A. Beisse, FS Döllerer, 1988, S. 25 ff.; Beisse, DStZ 1998, 310 (314); Ballwieser, FS Budde, 1995, S. 43 (48 f.); Schulze-Osterloh, DStJG 14 (1991), 123 (129); Hennrichs, StuW 1999, 138 (150). 47 Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 207. 48 Tipke/Kruse/Drüen, § 145 AO Rz. 10 (2010); Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 208. 49 Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates, s. Amtsblatt der EU v. 29.6.2013 – L 182, S. 19 ff. Dazu Blöink, KSzW 2013, 318; Velte, GmbHR 2013, 1125. 50 Befürwortend Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 89: das true and fair view-Prinzip sei zwar kein GoB i.S. des § 5 I EStG, sei aber „zur Klärung von Auslegungsfragen – auch im Zusammenhang mit GoB – und zur Schließung von Gesetzeslücken“ heranzuziehen; s. auch Kirchhof/Crezelius17, § 5 EStG Rz. 38 f.; de Weerth, RIW 2003, 460 (462); Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 EStG Rz. 59, 83; zu Recht abl. dagegen KSM/Kempermann, § 5 EStG Rz. B61; Beisse, FS Döllerer, 1988, S. 25 ff.; Knobbe-Keuk, Bilanzund Unternehmenssteuerrecht9, 43.
554
Hennrichs
2. Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung
Rz. 63 § 9
Der BFH lehnt es grds. ab, den EuGH in steuerbilanzrechtlichen Fragen anzurufen und zur Bilanz- 61 richtlinie ergangene Entscheidungen auf den Steuerbilanzansatz zu übertragen51. Anders beurteilen einige FG das Vorlageerfordernis52. Ungeachtet dieses Streits hat der EuGH die ihm seitens der FG vorgelegten Fragen des Bilanzsteuerrechts stets entschieden53, zieht sich dabei allerdings darauf zurück, dass es bis zur Grenze einer missbräuchlichen Anrufung Sache des vorlegenden Gerichts sei, das Vorlageerfordernis zu beurteilen. Damit ist die umstr. Frage, ob der Verweis in § 5 I 1 EStG eine Vorlagepflicht in Steuerbilanzfragen begründet, nach wie vor nicht eindeutig beantwortet. Richtigerweise besteht in Steuerbilanzstreitigkeiten kein Gebot zur richtlinienkonformen Aus- 62 legung des nationalen Rechts im Lichte der gesellschaftsrechtlichen Bilanzrichtlinie und mithin auch keine Vorlagepflicht54. Unionsrechtlich ist eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Steuerbilanzrechts nicht gefordert. Denn die Bilanzrichtlinie ist eine gesellschaftsrechtliche, keine steuerrechtliche Richtlinie. Aber auch aus nationalem Recht ergibt sich keine Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung des Steuerbilanzrechts. Eine zwingende interpretatorische Verknüpfung von Steuerbilanz- und Handelsbilanzrecht ist ungeachtet des geltenden Maßgeblichkeitsgrundsatzes nämlich nicht gewollt. Im Gegenteil wurde die Generalnorm des Art. 4 III der Bilanzrichtlinie (ex. Art. 2 III der 4. EG-Richtlinie), das sog. True and Fair View-Gebot, ganz bewusst nicht, wie in den ersten Entwürfen vorgesehen, als Generalnorm für alle Kaufleute vor die Klammer gezogen, sondern mit Blick auf die gewollte Steuerneutralität erst in dem Abschnitt „Ergänzende Vorschriften für Kapitalgesellschaften“ umgesetzt55. Der Gesetzgeber misstraute der Dynamik des True and Fair View-Gebots und wollte dieses für die Steuerbilanz gerade nicht übernehmen (s. auch Rz. 84 ff.). Diese gesetzgeberische Grundentscheidung darf nicht dadurch unterlaufen werden, dass die Gerichte in Steuerbilanzrechtsstreitigkeiten undifferenziert auf die Bilanzrichtlinie zurückgreifen. Besteht mithin in Steuerbilanzrechtsstreitigkeiten materiell-rechtlich kein Gebot zur richtlinienkon- 63 formen Auslegung, so hat dies verfahrensrechtlich zur Konsequenz, dass dann auch keine Zuständigkeit des EuGH für das Steuerbilanzrecht besteht56. Die zurückhaltende Vorlagepraxis des BFH ist daher zu begrüßen. Einstweilen frei.
64–69
51 BFH v. 7.8.2000 – GrS 2/99, BStBl. II 2000, 632 (637), kam entgegen der auf Vorlage des BGH ergangenen Tomberger-Entscheidung (EuGH v. 27.6.1996 – C-234/94, EuGHE 1996, I-3133) zur phasengleichen Aktivierung „allein unter steuerrechtlichen Gesichtspunkten zu einem anderen Ergebnis“; ebenso BFH v. 9.9.1998 – I R 6/98, BStBl. II 1999, 129; BFH v. 26.11.1998 – IV R 52/96, BStBl. II 1999, 547 (551); BFH v. 28.3.2000 – VIII R 77/96, BStBl. II 2002, 227; BFH v. 7.2.2007 – I R 15/06, BStBl. II 2008, 340; vgl. aber auch BFH v. 8.11.2000 – I R 6/96, BStBl. II 2001, 570 (572); BFH v. 18.12.2002 – I R 11/02, BStBl. II 2003, 400 (402/403) (keine Vorlagebedürftigkeit mangels Divergenz von nationalem Handels- und Steuerbilanzrecht und EU-Bilanzrichtlinie). 52 FG Köln v. 16.7.1997 – 13 K 812/97, EFG 1997, 1166; FG Hamburg v. 22.4.1999 – II 23/97, EFG 1999, 1022; zust. Kirchhof/Crezelius17, § 5 EStG Rz. 8 ff. 53 EuGH v. 14.9.1999 – C-275/97, DE + ES Bauunternehmung, EuGHE 1999, I-5331, auf Vorlage des FG Köln; EuGH v. 7.1.2003 – C-306/99, BIAO, EuGHE 2003, I-1 (insb. Rz. 70) = BStBl. II 2004, 144, auf Vorlage des FG Hamburg; EuGH v. 3.10.2013 – C-322/12, GIMLE (insb. Rz. 28); aus der Lit. Dziadkowski, IStR 2004, 323; de Weerth, RIW 2003, 460; Hennrichs, NZG 2005, 783 u. ausf. Bärenz, Zum Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das Steuerbilanzrecht, Diss., 2004. 54 Schlussanträge des GA Jacobs v. 15.11.2001 – Rs. C-366/99 (BIAO), EuGHE 2003, I-5 ff. (Rz. 40 ff.); Bärenz, DStR 2003, 492; Christiansen, DStR 2007, 1178; Hennrichs, StuW 1999, 138 (149 ff.); S. Wagner, INF 2003, 301; je m.w.N. 55 Vgl. Biener/Berneke, Bilanzrichtlinien-Gesetz, 1986, S. 7, 10. 56 Schlussanträge des GA Jacobs v. 15.11.2001 – Rs. C-366/99 (BIAO), EuGHE 2003, I-5 ff. (Rz. 40 ff.); Hennrichs, StuW 1999, 138 (150 f.); a.A. Kirchhof/Crezelius17, § 5 EStG Rz. 10.
Hennrichs 555
§ 9 Rz. 70
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
2.4 Formelle Grundsätze 70 Die folgenden anerkannten Einzelgrundsätze sind über § 5 I 1 EStG und § 141 I 2 AO auch im Steu-
errecht zu beachten, soweit nicht Spezialvorschriften des Steuerrechts entgegenstehen. Dabei kann zwischen formellen und materiellen Grundsätzen unterschieden werden: a) Formelle GoB beinhalten Ordnungsvorschriften der äußeren Form der Buchführung. Aus ihnen leitet sich die Darstellung, nicht der Inhalt der Buchführung ab. Die Grundanforderungen ergeben sich aus § 238 I 2, 3 HGB, entspr. § 145 I AO57: „Die Buchführung muss so beschaffen sein, dass sie einem sachverständigen Dritten innerhalb angemessener Zeit einen Überblick über die Geschäftsvorfälle und über die Lage des Unternehmens vermitteln kann. Die Geschäftsvorfälle müssen sich in ihrer Entstehung und Abwicklung verfolgen lassen.“ 71 Die Buchungen sind vollständig, richtig, zeitgerecht und geordnet vorzunehmen (§§ 239 II; 243 III
HGB; § 146 I 1 AO). Jeder zu verbuchende Geschäftsvorfall verlangt einen Beleg; keine Buchung ohne Beleg, sog. Belegprinzip (s. § 257 I Nr. 4 HGB). Elektronische Buchführung und Aufbewahrung in geeigneter Form ist zulässig (§ 257 III HGB; § 146 V AO;58 s. auch § 21 Rz. 181)59. Bei Verwendung elektronischer Aufzeichnungssysteme sind ab 1.1.2020 außerdem die neuen Vorschriften des § 146a AO zu beachten60. Zu bilanzieren ist in Euro (§ 244 HGB); Fremdwährungsverbindlichkeiten sind zum Devisenkassamittelkurs umzurechnen (§ 256a HGB). 72 b) Der Jahresabschluss (die Bilanz) ist klar und übersichtlich aufzustellen (§ 243 II HGB; Art. 4 II
Richtlinie 2013/34/EU). Die Form der Darstellung, insb. die Gliederung der aufeinander folgenden Bilanzen und Gewinn- und Verlustrechnungen, ist nach dem Grundsatz formeller Bilanzkontinuität prinzipiell beizubehalten (§ 265 I HGB betr. Kapitalgesellschaften; allgemeiner GoB i.S.d. § 243 I HGB; ferner § 252 I Nr. 1 HGB). Verschiedene Posten der Bilanz sowie Aufwendungen und Erträge der Gewinn- und Verlustrechnung dürfen nicht miteinander verrechnet werden (§ 246 II 1 HGB), sog. Bruttoprinzip. Die Vermögensgegenstände und Schulden sind grds. einzeln, nicht saldiert zu bewerten (§ 252 I Nr. 3 HGB); Ausnahme in § 246 II 2 HGB für Pensionssicherungsgeschäfte. 73 Formell ordnungsmäßige Bücher und Bilanzen begründen eine widerlegbare Vermutung der Rich-
tigkeit der Buchführung als Gesamtwerk (s. § 158 AO). Das Ergebnis einer formell ordnungsmäßigen Buchführung kann aber ganz oder teilweise verworfen werden, soweit die Buchführung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit materiell unrichtig ist61. 74 Einstweilen frei.
57 Die Vorschriften der AO gelten für Stpfl., die nicht nach Handelsrecht zur Buchführung u. Bilanzierung verpflichtet sind. I. Ü. ergänzen sie die handelsrechtlichen Vorschriften. 58 Zu den GoBD (Grundsätze zur ordnungsmäßigen Führung und Aufbewahrung von Büchern, Aufzeichnungen und Unterlagen in elektronischer Form sowie zum Datenzugriff) s. BMF BStBl. I 2014, 1450; dazu Herrfurth, StuB 2015, 250; Herold/Volkenborn, NWB 2017, 922; Dißars, NWB 2015, 405; Goldshteyn/Thelen, DStR 2015, 326; Goldshteyn/Thelen, FR 2015, 268; Goldshteyn/Thelen, DB 2015, 1126. 59 Dazu Tipke/Kruse/Drüen, § 145 AO Rz. 26–47 (2015). 60 Eingefügt durch das Gesetz zum Schutz vor Manipulationen an digitalen Grundaufzeichnungen v. 22.12.2016 (BGBl. I 2016, 3152). 61 BFH v. 9.8.1991 – III R 129/85, BStBl. II 1992, 55.
556
Hennrichs
2. Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung
Rz. 76 § 9
2.5 Materielle Grundsätze 2.5.1 Prinzipien der Richtigkeit und Vollständigkeit; GoB der Nichtbilanzierung schwebender Geschäfte Die Buchungen müssen sachlich richtig sein (§ 239 II HGB; § 146 I 1 AO). Das wird mitunter als 75 Prinzip der Wahrheit bezeichnet. Bilanzwahrheit ist aber ein zu vielversprechender Begriff. Gemeint ist lediglich sachliche Übereinstimmung mit dem Normensystem des Handelsbilanzrechts (deshalb hier Prinzip der Richtigkeit genannt)62. Die Buchungen müssen vollständig sein (§ 239 II HGB; § 146 I 1 AO). In die Bilanz sind die bilanzierungsfähigen Vermögensgegenstände, Schulden und Rückstellungen sowie die Rechnungsabgrenzungsposten grds. vollständig aufzunehmen (§ 246 I HGB); sie dürfen einerseits nicht weggelassen, andererseits aber auch nicht fingiert werden (Art. 4 III 1 Richtlinie 2013/34/EU). Bei vollständiger Abschreibung ist ein Erinnerungswert anzusetzen. Grds. dürfen Posten auch nicht saldiert werden (Verrechnungs- oder Saldierungsverbot, § 5 Ia 1 EStG; § 246 II HGB; Art. 6 I lit. g, II Richtlinie 2013/34/EU). Die handelsbilanzrechtlich erlaubte Saldierung von sog. Planvermögen zur Deckung von Altersversorgungsverpflichtungen (§ 246 II 2 HGB) ist steuerbilanzrechtlich in Durchbrechung der Maßgeblichkeit untersagt (§ 5 Ia 1 EStG). Das Vollständigkeitsprinzip gilt gem. § 246 I 1 HGB nur, „soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt 76 ist“. Eine solche Ausnahme vom Vollständigkeitsgebot ist der GoB der Nichtbilanzierung schwebender Geschäfte63, der auch in § 252 I Nr. 4 und in § 249 I 1 Alt. 2 HGB angedeutet ist. Danach sind Forderungen und Verbindlichkeiten aus schwebenden Geschäften zunächst nicht zu bilanzieren64. Solche Forderungen und Verbindlichkeiten aus gegenseitigen Verträgen sind zwar an sich Wirtschaftsgüter (s. Rz. 125 ff., 140) und damit abstrakt aktivierungs- und passivierungsfähig. Solange ein Geschäft aber noch in dem Sinne schwebt, dass der zur Sach- oder Dienstleistung Verpflichtete seine den Vertrag kennzeichnende Hauptleistung noch nicht erbracht hat (z.B. der Verkäufer die Sache noch nicht geliefert hat), werden die vertraglichen Forderungen und Verbindlichkeiten dennoch nicht bilanziert. Denn gemäß dem Realisationsprinzip (§ 252 I Nr. 4 HGB) dürfte der Verkäufer seine Forderung zunächst ohnehin nicht höher ansetzen als seine Verbindlichkeit. Da sich infolgedessen Aktiv- und Passivposten aufheben würden und der Ansatz lediglich eine Bilanzverlängerung zur Folge hätte, verzichtet man auf die Erfassung des schwebenden Geschäfts in der Bilanz. Geleistete bzw. erhaltene Anzahlungen sind entsprechend erfolgsneutral zu verbuchen (§ 266 II Buchst. B Nr. I. 4, III Buchst. C. Nr. 3 HGB; Rz. 160, 413)65. Die Rechte und Pflichten aus dem schwebenden Vertrag werden erst bilanzwirksam, wenn und soweit das Gleichgewicht der beiderseitigen Leistungsverpflichtungen gestört ist (z.B. durch einen Erfüllungsrückstand66 oder einen Verpflichtungsüberschuss; im letzteren Fall ist handelsrechtlich eine Drohverlustrückstellung gem. § 249 I 1 Alt. 2 HGB zu bilden, die steuerrechtlich gem. § 5 IVa 1 EStG verboten ist; dazu Rz. 188). Sobald die Sach- oder Dienstleistung erbracht ist, z.B. die gekaufte Sache vom Verkäufer an den Käufer geliefert worden ist, schwebt das Geschäft nicht mehr67. Dann hat der Verkäufer die gelieferte Sache aus- und statt dessen die Kaufpreisforderung einzubuchen. Erst dadurch kommt es zur Gewinnrealisierung (s. auch Rz. 78 f. und Rz. 413).
62 Zutr. KSM/Kempermann, § 5 EStG Rz. B60 ff. (B62); s. ferner Kirchhof/Crezelius17, § 5 EStG Rz. 39. 63 BFH v. 8.12.1982, I R 142/81, BStBl. II 1983, 369; Friederich, Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung für schwebende Geschäfte2, 1976; Bieg, Schwebende Geschäfte in Handels- und Steuerbilanz, Diss., 1977; Sturm, Rechnungslegung über schwebende Geschäfte, 2013; Crezelius, FS Döllerer, 1988, 81; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 133 ff. 64 HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 540; Kolbe, StuB 2017, 12; s. auch BFH v. 9.1.2013 – I R 33/11, BFHE 240, 226 (Rz. 44). 65 HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 572 f.; Roos, DStR 2017, 1282. 66 Dazu Tiedchen, NZG 2017, 1007. 67 BFH BStBl. II 2003, 279 (280).
Hennrichs 557
§ 9 Rz. 77
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
2.5.2 Prinzip der Bilanzidentität und Stetigkeit 77 Das Prinzip der Bilanzidentität (formelle Bilanzkontinuität68) verlangt die Übereinstimmung der
Wertansätze in der Eröffnungsbilanz des Geschäftsjahres mit denen in der Schlussbilanz des vorhergehenden Geschäftsjahres (§ 252 I Nr. 1 HGB; Art. 6 I lit. e Richtlinie 2013/34/EU). Nach dem Prinzip der Stetigkeit (oder materielle Bilanzkontinuität) sind die auf den vorhergehenden Jahresabschluss angewandten Ansatz- und Bewertungsmethoden beizubehalten (§§ 246 III; 252 I Nr. 6 HGB; Art. 6 I lit. b Richtlinie 2013/34/EU)69. Namentlich sind Ansatz- und Bewertungswahlrechte im Zeitablauf stetig auszuüben. Aus beiden miteinander verwandten GoB ergibt sich die sog. Zweischneidigkeit der Bilanz mit der Folge, dass sich eine zu niedrige oder zu hohe Bewertung in den Folgejahren ausgleicht. Von diesen materiellen GoB ist der von der Rspr. des BFH zur Korrektur fehlerhafter Bilanzansätze entwickelte formelle Bilanzenzusammenhang (dazu Rz. 486) zu unterscheiden. 2.5.3 Vorsichts-, Realisations- und Imparitätsprinzip; Anschaffungswertprinzip 78 a) Nach der allg. Bewertungsvorschrift des § 252 I Nr. 4 HGB (Art. 6 I lit. c Richtlinie 2013/34/EU) ist
vorsichtig zu bewerten, namentlich sind alle vorhersehbaren Risiken und Verluste, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, zu berücksichtigen, selbst wenn diese erst zwischen dem Abschlussstichtag und dem Tag der Aufstellung des Jahresabschlusses bekannt geworden sind; Gewinne sind grds. erst und nur zu berücksichtigen, wenn sie am Abschlussstichtag realisiert sind (Rz. 79). Das Vorsichtsprinzip gilt insb. für die Bewertung (etwa bei der Vornahme von Schätzungen70; s. ferner § 253 V 2 HGB: Beibehaltung des niedrigeren Wertansatzes eines entgeltlich erworbenen Geschäftsund Firmenwertes). Aber auch Ansatzvorschriften sind vom Gedanken der vorsichtigen Bilanzierung getragen (z.B. das Aktivierungsverbot gem. § 5 II EStG; zum Begriff des Wirtschaftsguts Rz. 125 ff.). Das Vorsichtsprinzip dient handelsrechtlich dem Zweck, die Haftungssubstanz zu erhalten und überhöhte Gewinnausschüttungen zu vermeiden. Da der Steuerstaat am Gewinn des Unternehmens ebenfalls partizipiert, soll er grds. nicht besser stehen als der Stpfl. (Gedanke Steuerstaat als stiller Teilhaber)71. Das Vorsichtsprinzip lässt sich steuerlich außerdem mit dem Gedanken rechtfertigen, dass eine eher konservative steuerliche Gewinnermittlung der Vermeidung einer Übermaßbesteuerung dient (Rz. 111). Ausfluss des Vorsichtsgedankens sind das Anschaffungswert- und Realisationsprinzip sowie das Imparitätsprinzip. 79 b) Nach dem Realisationsprinzip (§ 252 I Nr. 4 letzter Hs. HGB; Art. 6 I lit. c, i) Richtlinie
2013/34/EU)72 darf ein Gewinn grds. erst ausgewiesen werden, wenn er durch Umsatz (Veräußerung oder sonstigen Leistungsaustausch) verwirklicht ist (Einzelheiten unten Rz. 400 ff.). D.h.: Die bloße Wertsteigerung ruhender Wirtschaftsgüter wird (noch) nicht im bilanziellen Gewinn erfasst. Zweck
68 Kleindiek in Großkomm. HGB5, § 252 Rz. 8. 69 Dazu Kleindiek in Großkomm. HGB5, § 252 Rz. 46 ff.; ausf. Hennrichs, Wahlrechte im Bilanzrecht der Kapitalgesellschaften, Habil., 1999, 251 ff.; Kalabuch, Der Stetigkeitsgrundsatz in der Einzelbilanz nach Handels- und Ertragsteuerrecht, 1994; J. Müller, Das Stetigkeitsprinzip im neuen Bilanzrecht, 1989; Rümele, Die Bedeutung der Bewertungsstetigkeit für die Bilanzierung, 1991; Velte, StuW 2014, 240. 70 Vgl. Hennrichs, Ubg 2011, 788 (792 ff.) m.w.N. 71 Insb. Schön, StuW 1995, 366 (374, 377); Schön, Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, 51 f.; gegen die Teilhaberthese dezidiert Wagner, BB 2002, 1885. 72 Eingehend Dauber, Das Realisationsprinzip als Grundprinzip der steuerrechtlichen Gewinnermittlung, Diss., 2003; Euler, Grundsätze ordnungsgemäßer Gewinnrealisierung, 1989; Gelhausen, Das Realisationsprinzip im Handels- und Steuerbilanzrecht, Diss., 1985; Sessar, Grundsätze ordnungsmäßiger Gewinnrealisierung im deutschen Bilanzrecht, 2007; ferner Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (315 ff.); Schulze-Osterloh, FS Forster, 1992, 653; je m.w.N.
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Hennrichs
2. Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung
Rz. 81 § 9
des Realisationsprinzips ist es zu verhindern, dass bereits vage Gewinnchancen und bloße Gewinnhoffnungen zu einer Gewinnerhöhung führen73. Realisation setzt grds. eine Markttransaktion voraus (dazu Rz. 410). Gewinnrealisierung tritt (erst) dann ein, wenn der Leistungsverpflichtete die von ihm geschuldeten Erfüllungshandlungen in der Weise erbracht hat, dass ihm die Forderung auf die Gegenleistung (z.B. die Zahlung) – von den mit jeder Forderung verbundenen Risiken abgesehen – so gut wie sicher ist (Topos der „Quasi-Sicherheit“, s. auch Rz. 412). Zur Bilanzierung schwebender Geschäfte bereits Rz. 76 u. Rz. 413. c) Nach dem sog. Imparitätsprinzip74 sind Wertminderungen, insb. Zeitwertminderungen unter die 80 historischen Anschaffungs- oder Herstellungskosten, dagegen grds. bereits vor Realisierung durch außerplanmäßige Abschreibungen (§ 253 III 5, IV 2 HGB) zu erfassen. Ebenso sind alle vorhersehbaren Risiken und Verluste, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, zu berücksichtigen (§ 252 I Nr. 4, 1. Halbs. HGB; Art. 6 I lit. c, ii) Richtlinie 2013/34/EU). Handelsrechtlich sind folgerichtig auch Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften zu bilden (§ 249 I 1, 2. Alt. HGB). Die steuerrechtliche Legitimation des Imparitätsprinzips ist umstritten75. Es wird vom Steuergesetzgeber zunehmend eingeschränkt. Namentlich gilt für die Drohverlustrückstellungen i.S. des § 249 I 1, 2. Alt. HGB in Durchbrechung des Imparitätsprinzips steuerrechtlich ein Ansatzverbot, § 5 IVa 1 EStG (Rz. 188). Und auch die Möglichkeit zu sog. Teilwertabschreibungen ist selbst im Umlaufvermögen nur bei voraussichtlich dauernder Wertminderung eröffnet (§ 6 I Nr. 1 Satz 2, Nr. 2 Satz 2 EStG; dazu näher Rz. 320 ff.). d) Dem Realisationsprinzip zuzuordnen ist ferner das sog. Anschaffungswertprinzip (§ 6 I Nr. 1 81 Satz 1, Nr. 2 Satz 1 EStG; Art. 6 I lit. i Richtlinie 2013/34/EU). Vermögensgegenstände sind hiernach höchstens mit ihren Anschaffungs- oder Herstellungskosten anzusetzen (Obergrenze der Bewertung). Wertsteigerungen des Vermögens sind grds. erst bei ihrer Realisation bilanziell zu erfassen (§§ 252 I Nr. 4; 253 I; 255 I HGB). Maßgebend sind die tatsächlichen Anschaffungskosten (Prinzip der Maßgeblichkeit der Gegenleistung76, Rz. 234), und zwar bei at arm’s length-Transaktionen zwischen unverbundenen Dritten ohne Rücksicht auf deren Angemessenheit oder Nützlichkeit77. Bei Geschäften zwischen Gesellschaft und ihren Gesellschaftern können allerdings Vermögensverschiebungen causa societatis verdeckt sein. „Verkauft“ beispielsweise ein Gesellschafter seiner Gesellschaft wertvolle Wirtschaftsgüter zu einem symbolischen Preis von 1 Euro, so ist dies nicht als Verkauf zu würdigen, sondern es liegt eine gesellschaftsrechtlich veranlasste verdeckte Einlage vor78. Dazu unten Rz. 366. Eine singuläre Ausnahme79 zum Anschaffungswertprinzip in der Steuerbilanz ordnet § 6 I Nr. 2b EStG; § 340e III HGB i.d.F. des BilMoG für bestimmte Finanzanlagen von Kreditinstituten und Fi73 Vgl. Gelhausen, Das Realisationsprinzip im Handels- und Steuerbilanzrecht, Diss., 1985, 64 ff.; KnobbeKeuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, § 6 I 1. 74 Vgl. dazu z.B. Schulze-Osterloh, FS Forster, 1992, 653; Kessler, DStR 1994, 1289; U. Müller, DB 1996, 689; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (317 ff.). 75 Befürwortend HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 55; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (317 ff.); J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 367 ff.; ablehnend (gleichheitsrechtlich gebe es für ein Imparitätsprinzip bei der steuerlichen Gewinnermittlung keinen Grund) Wendt, FS Kirchhof, Bd. II, 2013, § 180 Rz. 20; je m.w.N. 76 Kahle/Hiller, DStZ 2013, 462 (464); Kahle/Hiller, WPg. 2013, 403 (404); MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 255 HGB Rz. 13. 77 Vgl. Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 41; MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 255 HGB Rz. 16. 78 Hennrichs, WPg. 2015, 315; Schön, ZHR 178 (2014), 373; Schulze-Osterloh, NZG 2014, 1; a.A. EuGH v. 3.10.2013 – C-322/12, GIMLE (dazu auch unten im Text Rz. 88). 79 Nur handelsbilanzrechtlich gibt es eine weitere Durchbrechung des Anschaffungswertprinzips bei der Zeitwertbewertung von sog. Planvermögen (§ 246 II 2 i.V.m. § 253 I 4 HGB i.d.F. durch das BilMoG). Steuerbilanziell bleibt es insoweit bei dem strikten Anschaffungswertprinzip (s. auch § 5 Ia 1 EStG, wo-
Hennrichs 559
§ 9 Rz. 82
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
nanzdienstleistern an; sie sind mit dem beizulegenden Zeitwert (§ 255 IV HGB) abzüglich eines Risikoabschlags (§ 340e III HGB) anzusetzen, § 6 I Nr. 2b EStG. 2.5.4 Wirtschaftliche Betrachtungsweise 82
Der Grundsatz der wirtschaftlichen Betrachtungsweise bei der Bilanzierung ist steuerrechtlich u.a. in § 39 AO und handelsbilanzrechtlich in § 246 I 2 HGB (Art. 6 I lit. h Richtlinie 2013/34/EU) ausgedrückt. Aber ganz allgemein ist bei der steuerlichen Gewinnermittlung eine wirtschaftliche Betrachtungsweise anzustellen. Das ergibt sich als Folge der gebotenen Auslegung des (Steuer-)Bilanzrechts nach dem Sinn und Zweck der Norm (teleologische Auslegung, § 5 Rz. 70 f.): Da es der grundlegende Sinn und Zweck des (Steuer-)Bilanzrechts ist, die wirtschaftliche Lage des Kaufmanns sachgerecht zu erfassen, gehört eine wirtschaftliche Betrachtungsweise nach deutschem Rechtsverständnis zum methodischen Grundinstrumentarium80. Freilich bedeutet wirtschaftliche Betrachtungsweise bei der Auslegung und Anwendung des Bilanzsteuerrechts nicht, die rechtlichen Grundlagen des jeweiligen Geschäftsvorfalles zu vernachlässigen oder allgemein den (vermeintlichen) wirtschaftlichen Gehalt über die rechtliche Form zu stellen (§ 5 Rz. 71)81. Geboten ist vielmehr eine wirtschaftliche Betrachtungsweise auf der Grundlage der rechtlichen Strukturen82. Zu Fragen der subjektiven Zurechnung von WG unten Rz. 145 ff. 2.5.5 Wesentlichkeit
83
Der Grundsatz der Wesentlichkeit (Art. 6 I lit. j, IV Richtlinie 2013/34/EU) ist ebenfalls teilweise in besonderen Einzelvorschriften ausgedrückt. Mit dem Gedanken der Wesentlichkeit wird z.B. die Sofortabschreibung für geringwertige Wirtschaftsgüter legitimiert83 (s. § 6 II, IIa EStG, Rz. 314 f.; s. außerdem z.B. § 6 I Nr. 2a EStG i.V.m. § 256 HGB [Rz. 283 f.], §§ 240 III, IV HGB [Rz. 270], § 296 II HGB). Demgegenüber kommt dem Gesichtspunkt der (Un-)Wesentlichkeit auf der Passivseite der Bilanz keine ansatzbegrenzende Wirkung zu. Auch unwesentliche Verbindlichkeiten und Rückstellungen sind zwingend anzusetzen (Rz. 187)84. 2.5.6 True and Fair View
84
Umstr. ist, ob das in § 264 II 1 HGB (in Umsetzung des Art. 4 III Bilanzrichtlinie85, ex Art. 2 III der 4. EG-Bilanzrichtlinie) normierte Gebot, wonach der Jahresabschluss einer Kapitalgesellschaft ein
80
81 82 83 84 85
nach die Saldierungsmöglichkeit des § 246 II HGB für sog. Planvermögen steuerbilanziell nicht eröffnet ist). Arbeitskreis Bilanzrecht Hochschullehrer Rechtswissenschaft, NZG 2014, 892 (894); Arbeitskreis Bilanzrecht Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2008, 152 (155 f.); grdl. bereits Döllerer, JbFStR 1979/80, 195, 201 ff.; ferner zB Breidert/Moxter, WPg. 2007, 912 (913 ff.); Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 209; Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374; je m.w.N. S. auch Kirchhof/Crezelius16, § 5 EStG Rz. 36; Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 209 („wirtschaftliche – nicht: betriebswirtschaftliche – Betrachtungsweise“); Hoffmann, StuB 2013, 557: „substance over form“ bedeutet nicht „substance without form“. Arbeitskreis Bilanzrecht Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2008, 152 (155 f.); Kirchhof/Crezelius17, § 5 EStG Rz. 36. Streng an der formalen Einkleidung orientiert ist dagegen die Würdigung des Sachverhalts durch EuGH v. 3.10.2012 – C-322/12, GIMLE; dagegen unten Rz. 88 m.w.N. Zum Handelsrecht s. MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 139; Kleindiek in Großkomm. HGB5, § 252 HGB Rz. 59; je m.w.N. BFHE 234, 239; BFH/NV 2012, 217; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 23; Wendt, FS Herzig, 2010, S. 517 ff.; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 690. Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates, s. Amtsblatt der EU vom 29.6.2013, L 182, S. 19 ff.
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2. Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung
Rz. 87 § 9
den tatsächlichen Verhältnissen entspr. Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft zu vermitteln hat („True and Fair View“-Prinzip), als GoB gem. § 5 I 1 EStG maßgeblich wird (s. bereits Rz. 60 ff.)86. Richtigerweise ist das zu verneinen: Der EuGH hat zwar die übergeordnete Bedeutung von „True and Fair View“ als „Hauptzielsetzung“ 85 der Richtlinie herausgestellt87. Danach fließt der Grundsatz des „True and Fair View“ als Argumentationstopos in die Interpretation der Einzelvorschriften der Bilanzrichtlinie (sog. interpretative Funktion88) und in die Schließung von Regelungslücken ein89. Dies ist sodann im Wege der richtlinienkonformen Auslegung auch bei der Interpretation des angeglichenen nationalen Handelsbilanzrechts zu berücksichtigen. Das gilt uneingeschränkt aber nur für die Rechtsformen, die dem Geltungsbereich der Bilanzrichtlinie unterliegen, also für Kapitalgesellschaften und gemäß § 264a HGB gleichgestellte Personenhandelsgesellschaften ohne natürliche Person als Vollhafter (z.B. GmbH & Co. KG)90. Für andere Rechtsformen normiert die Bilanzrichtlinie demgegenüber keine Vorgaben und gibt es daher unionsrechtlich auch kein Gebot zur richtlinienkonformen Auslegung (s. bereits Rz. 60 ff.). Ausweislich der Materialien zum BilRiG soll der Grundsatz des True and Fair View in das Steuer- 86 bilanzrecht nicht einwirken91. Es war ein besonderes Anliegen des Gesetzgebers, die Richtlinie steuerneutral umzusetzen92. Der Gesetzgeber misstraute der Dynamik des True and Fair View-Prinzips und wollte im Allgemeinen Teil, der für alle Kaufleute gilt, allein die tradierten GoB normieren. Durch die systematische Verortung des Einblicksgebots in § 264 II 1 HGB, also in der Eingangsvorschrift des Besonderen Teils, der nur für Kapitalgesellschaften (und gleichgestellte Personenhandelsgesellschaften) gilt, hat der deutsche Gesetzgeber deutlich gemacht, dass das unionsrechtliche Prinzip des True and Fair View für Nicht-Kapitalgesellschaften und für die steuerliche Gewinnermittlung nicht gelten soll. Auch im BilMoG hat der Gesetzgeber zu Recht davon abgesehen, das True and Fair View-Prinzip syste- 87 matisch umzustellen oder einen allgemeinen Grundsatz der Fair Presentation zu normieren. Die Normierung der zentralen GoB des § 252 HGB ist nahezu unverändert geblieben. Namentlich sind das Vollständigkeits-, das Anschaffungswert- und Realisationsprinzip, die der Gesetzgeber zutreffend als „Eckpfeiler“ des bisherigen GoB-Systems bezeichnet, unverändert geblieben93. Stattdessen gibt es einzelne Objektivierungen, z.B. durch Einschränkung von Wahlrechten und Einführung von Wertaufholungsgeboten (§ 253 V 1 HGB). Eine Fair Value-Bewertung nach beizulegenden Zeitwerten (= Marktpreisen, § 255 IV 1 HGB) wird nicht flächendeckend, sondern nur bezogen auf einzelne, besondere Vermögensgegenstände (insbesondere Finanzinstrumente des Handelsbestands von Kreditinstituten, § 340e III HGB) angeordnet94. Hieraus lässt sich schließen, dass der Gesetzgeber trotz Stär86 Bejahend de Weerth, RIW 2003, 460 (462); Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 EStG Rz. 59, 83; Blümich/ Krumm, § 5 EStG Rz. 89. Verneinend Hennrichs, StuW 1999, 138 (149 f.); KSM/Kempermann, § 5 Rz. B61 i.Erg. ebenso Moxter, DStZ 2002, 243 (244). Offenlassend BFH v. 7.8.2000, GrS 2/99, BStBl. II 2000, 632 (Rz. 51, juris). 87 Grundl. EuGH v. 27.6.1996 – C-234/94, Tomberger, EuGHE 1996, I-3133 Rz. 17; ferner zum Steuerbilanzrecht: EuGH v. 14.9.1999 – C-275/97, DE + ES Bauunternehmung, EuGHE 1999, I-5331 Rz. 26; EuGH v. 7.1.2003 – C-306/99, BIAO, EuGHE 2003, I-1 Rz. 70 ff. = BStBl. 2004, 144; EuGH v. 3.10.2013 – C-322/12, GIMLE (Rz. 30). 88 van Hulle, FS Budde, 1995, 313 (321 f.). 89 Hennrichs, Wahlrechte im Bilanzrecht der Kapitalgesellschaften, 1999, 133 ff. 90 Hennrichs, ZGR 1997, 66. 91 Hennrichs, StuW 1999, 138 (149 f.); i.Erg. wie hier Moxter, DStZ 2002, 243 (244); wohl auch HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 45 (der „in § 264 II HGB übernommene Grundsatz des true and fair view gehört nicht zu d[ies]em Kernbestand der […] GoB“). 92 Biener/Berneke, Bilanzrichtlinien-Gesetz, 1986, S. 4 f., 7, 17, 19, 22 und passim. 93 Vgl. Hennrichs, FS K. Schmidt, 2009, 581 (583 ff., 593 f.); Hennrichs, WPg. 2011, 861 ff. 94 Krit. Arbeitskreis „Steuern und Revision“ im BWA, DStR 2008, 2509; Schildbach, DStR 2008, 2381 (Finanzmarktkrise); Gemeinhardt/Bode, StuB 2008, 170 u. 460; Scharpf/Schaber, DB 2008, 2552.
Hennrichs 561
§ 9 Rz. 88
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
kung der Informationsfunktion der Handelsbilanz auch mit dem BilMoG True and Fair View nicht zum allgemein gültigen GoB erheben wollte. Gläubigerschutz und Informationsfunktion werden auf die gleiche Ebene gestellt (BR-Drucks. 344/08, 128). Die Deduktionsbasis für die Auslegung der handelsrechtlichen Bilanzierungsvorschriften und für die Fortentwicklung der GoB hat sich durch das BilMoG daher nicht grundlegend verändert95. 88
Freilich sind die interpretative Funktion (Rz. 85) und die Abweichungsfunktion (Art. 4 IV RL 2013/34/EU) des True and Fair View-Prinzips nach der neueren Rspr. des EuGH96 ohnehin zu relativieren (womit die praktische Bedeutung des Streits, ob § 264 II 1 HGB einen GoB darstellt und für die steuerliche Gewinnermittlung maßgeblich wird oder nicht, sich ebenfalls relativiert). Der EuGH betont, dass sich die Anwendung des Grundsatzes der sog. Bilanzwahrheit „möglichst weitgehend an den in Art. 31 der Vierten Richtlinie (jetzt Art. 6 RL 2013/34/EU) enthaltenen allgemeinen Grundsätzen zu orientieren hat, wobei dem in Art. 31 I Buchst. c dieser Richtlinie (jetzt Art. 6 I Buchst. c RL 2013/34/EU) vorgesehenen Grundsatz der Vorsicht besondere Bedeutung zukommt“.97 Außerdem sei der Grundsatz der Bilanzwahrheit „auch im Licht des in Art. 32 der Vierten Richtlinie (jetzt Art. 6 I Buchst. i RL 2013/34/EU) genannten Grundsatzes zu verstehen, wonach der Bewertung der Posten im Jahresabschlus die Anschaffungs- und Herstellungskosten der Vermögensgegenstände zugrunde gelegt werden“98. Danach „stützt sich das den tatsächlichen Verhältnissen entsprechende Bild, das der Jahresabschluss einer Gesellschaft vermitteln muss, auf eine Bewertung der Vermögensgegenstände nicht aufgrund ihres tatsächlichen Werts, sondern aufgrund ihrer ursprünglichen Kosten“.99 Im Fall einer Anschaffung von Vermögensgegenständen unter ihrem Verkehrswert sollen deshalb die vereinbarten Anschaffungskosten maßgeblich sein. Selbst in einem Fall, in dem der Anschaffungspreis eines Vermögensgegenstands den Verkehrswert um den Faktor 3.400 (!) unterschreitet (und damit ganz erhebliche stille Reserven in die Gesellschaft „eingelegt“ werden), erfordert das true and fair view-Prinzip nach der Lesart des EuGH keine Durchbrechung des Anschaffungspreisprinzips100. Vielmehr stellt der EuGH fest, „dass die Unterbewertung von Vermögensgegenständen in den Büchern der Gesellschaften an sich keinen ‚Ausnahmefall‘ i.S.d. Art. 2 V der Vierten Richtlinie (jetzt Art. 4 IV RL 2013/34/EU) darstellt“ und „nur die notwendige Folge der Entscheidung des Unionsgesetzgebers in Art. 32 der Vierten Richtlinie (jetzt Art. 6 I Buchst. i RL 2013/34/EU) für eine Bewertungsmethdoe [ist], die sich nicht auf den tatsächlichen Wert der Vermögensgegenstände, sondern auf deren ursprüngliche Kosten stützt“.101 So verstanden entfaltet das True and Fair View-Prinzip der RL wohl kaum eine nennenswerte Abweichungsfunktion oder eine (vom deutschen Gesetzgeber nicht gewollte) „Dynamisierungen“ der GoB. Vielmehr gehen nach der Entscheidung des EuGH in der Rs. GIMLE das Anschaffungswert- und Realisationsprinzip dem Grundsatz der sog. Bilanzwahrheit vor102.
89
Einstweilen frei.
95 Zutr. Baetge/Kirsch/Solmecke, WPg. 2009, 1211; Hennrichs, WPg. 2011, 861; Kirsch, StuB 2008, 453; Wüstemann/Wüstemann, FS Krawitz, 2010, 751; umfassend Solmecke, Auswirkungen des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes (BilMoG) auf die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, 2009, 123 ff. 96 EuGH v. 3.10.2013 – C-322/12, GIMLE; dazu krit. Hennrichs, WPg. 2015, 315; Schulze-Osterloh, NZG 2014, 1; Hoffmann, StuB 2014, 277; Schön, ZHR 178 (2014), 373; s. auch EuGH v. 15.6.2017, C-444/16, NZG 2017, 915 mit Anm. Hennrichs/Pöschke, NZG 2017, 917 f. 97 EuGH v. 3.10.2013 – C-322/12, GIMLE (Rz. 32). 98 EuGH v. 3.10.2013 – C-322/12, GIMLE (Rz. 34). 99 EuGH v. 3.10.2013 – C-322/12, GIMLE (Rz. 35). 100 Dasselbe gilt nach EuGH v. 6.3.2014 – C-510/12, Bloomsbury, bei einem unentgeltlichen Erwerb (im Streitfall: vom Gesellschafter), in diesem Fall seien die Anschaffungskosten von 0 Euro maßgeblich; dagegen wiederum zu Recht Schön, ZHR 178 (2014), 373 (375 f.). 101 EuGH v. 3.10.2013 – C-322/12, GIMLE (Rz. 38 f.). 102 So auch die Interpretation von Schön, ZHR 178 (2014), 373 (375).
562
Hennrichs
2. Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung
Rz. 91 § 9
2.5.7 Nominalwertprinzip Handelsbilanz und Steuerbilanz beruhen auf einer am Nennwert orientierten Geldrechnung. Es gilt 90 das Nominalwertprinzip (dazu § 8 Rz. 56 ff.). Das Nominalwertprinzip ist eine der Ursachen für die Entstehung stiller Reserven (Differenz zwischen Buchwert und Verkehrs- oder Teilwert). Sie entstehen jedenfalls z.T. wegen inflationärer Effekte. Werden verbrauchte Güter nur in Höhe ihrer tatsächlichen AK zu Aufwand, obwohl die Wiederbeschaffungskosten infolge Preissteigerungen gestiegen sind, so entstehen in Höhe der Differenz (Wiederbeschaffungspreise ./. Anschaffungspreise der verbrauchten Güter) Scheingewinne103. Eine Besteuerung solcher Scheingewinne führt zum Substanzverzehr, wenn die Erträge nach Abzug der Steuern auf den Gewinn nicht mehr ausreichen, die Ersatzbeschaffung zu finanzieren. Gemildert wird die Scheingewinnbesteuerung durch das Lifo-Verfahren bei der Bewertung des Umlaufvermögens (s. Rz. 282) und § 6b EStG für das Anlagevermögen (s. Rz. 425 ff.). 2.5.8 Stichtagsprinzip Nach dem Stichtagsprinzip104 kommt es für die Bilanzierung auf die Verhältnisse am Abschlussstich- 91 tag an (§ 252 I Nr. 3 HGB), wie sie für den ordentlichen und gewissenhaften Kaufmann bei der Aufstellung des Abschlusses erkennbar sind (§ 252 I Nr. 4 HGB). Bis zum Abschlussstichtag entstandene Risiken und Verluste sind auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erst zwischen Abschlussstichtag und dem Tag der Bilanzaufstellung bekannt geworden sind (§ 252 I Nr. 4 HGB: sog. Wertaufhellung105). Zu berücksichtigen sind nur solche Umstände, die am Bilanzstichtag bereits objektiv eingetreten waren und nur erst später bekannt geworden sind (sog. wertaufhellende Ereignisse)106. Später eintretende, sog. wertbegründende (oder wertändernde) Ereignisse sind erst in der Bilanz des Folgejahres zu berücksichtigen. Beispiele: Eine Rückstellung wegen eines im Klagewege gegen den Kaufmann geltend gemachten Anspruchs ist erst zum Schluss des Wirtschaftsjahres aufzulösen, in dem über den Anspruch endgültig und rechtskräftig entschieden ist107. Die gerichtliche Entscheidung ist kein bloß wertaufhellender Umstand und wirkt nicht zurück, sondern wertbegründend108. Das Gleiche gilt für gerichtliche Entscheidungen, die dem Gläubiger eine bis dahin bestrittene Forderung zusprechen. Auch sie können auf deren Aktivierung nach den Grundsätzen des Vorsichtsprinzips nicht werterhellend, sondern nur wertbegründend einwirken109. Auch ein nach dem Bilanzstichtag, aber vor dem Tage der Bilanzerstellung erfolgter Verzicht des Prozessgegners auf ein Rechtsmittel „erhellt“ nicht rückwirkend die Verhältnisse zum Bilanzstichtag110. Ebenfalls keine Wertaufhellung bei Abschluss eines Vergleichs nach dem Bilanzstichtag, weil ein Vergleich konstitutiv
103 Zur Besteuerung von Scheingewinnen allgemein § 8 Rz. 56. Speziell zur Bilanzierung: Rützel, Handelsund Steuerbilanz in Zeiten schleichender Inflation, dargestellt am Beispiel von Deutschland, den Niederlanden und der Europäischen Gemeinschaft, Diss., 1995; Schildbach, FS D. Schneider, 1995, 585; Siepe, FS Budde, 1995, 615; Seicht, FS L. Fischer, 1999, 207. 104 Dazu Kammann, Stichtagsprinzip und zukunftsorientierte Bilanzierung, 1988; Rose, DB 1994, 851; Strahl, FR 2005, 361. 105 Dazu W.-D. Hoffmann, BB 1996, 1157; Korn/Strahl, KÖSDI 2003, 13678; Moxter, BB 2003, 2559; Drüen/Stiewe, StuB 2004, 489; Assmann, StBp. 2005, 1; Moxter, DStR 2008, 469; Weber-Grellet, FS Reiß, 2008, 483; Herzig, FS Meilicke, 2010, 179. 106 BFH v. 30.1.2002 – I R 68/00, BStBl. II 2002, 688; BFH v. 19.10.2005 – XI R 64/04, BStBl. II 2006, 371. 107 BFH v. 27.11.1997 – IV R 95/96, BStBl. II 1998, 375; zum Stichtagsprinzip bei der Bewertung von sog. Ansammlungsrückstellungen s. BFH v. 2.7.2014 – I R 46/12, BStBl II 2014, 979 und Rz. 289. 108 BFH v. 26.4.1989 – I R 147/84, BStBl. II 1991, 213; Bertram im Haufe, HGB Bilanz-Komm., § 249 Rz. 338; Tiedchen in MünchKomm. BilanzR, § 252 HGB Rz. 43. 109 BFH v. 26.2.2014 – I R 12/14, BFH/NV 2014, 1544. 110 BFH v. 30.1.2002 – I R 68/00, BStBl. II 2002, 688.
Hennrichs 563
§ 9 Rz. 92
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
eine vorher gegebene Unsicherheit beendet111. Demgegenüber soll die Rückzahlung einer auf Grund des Länderrisikos als unsicher eingestuften Kreditforderung nach dem Bilanzstichtag bei der Beurteilung der Risikolage für § 249 I 1, 2. Alt. HGB wertaufhellend zu berücksichtigen sein112. 92
Gem. § 252 I Nr. 4 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG ist für die Beurteilung der Verhältnisse, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, auf die Erkenntnismöglichkeiten des Stpfl. bei der „Aufstellung“ der Bilanz abzustellen. Der Wertaufhellungszeitraum wird durch die gesetzlichen Fristen für die Aufstellung des Abschlusses begrenzt und endet an dem Tag, an dem der Bilanzierende spätestens eine Bilanz hätte erstellen müssen113. Der Jahresabschluss ist nach § 243 III HGB innerhalb der einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang entspr. Zeit (spätestens 1 Jahr nach dem Abschlussstichtag114) aufzustellen; für Kapitalgesellschaften ist nach § 264 I 3 HGB der 31. März des jeweiligen (Folge-)Jahres der Stichtag115. 3. Grenzen der Maßgeblichkeit handelsrechtlicher Bilanzierungsregeln für das Steuerrecht 3.1 Vorrang expliziter steuerrechtlicher Ansatz- und Bewertungsvorschriften (§ 4 I 9; § 5 VI EStG)
93
Das EStG normiert zahlreiche steuerrechtliche Sondervorschriften zur Bilanzierung, die dem Grundsatz der Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen GoB vorgehen (vgl. §§ 4 I 9; 5 VI EStG vgl. bereits Rz. 41). Die Regel des § 5 I 1 Hs. 1 EStG wird vielfach durchbrochen. Unvermeidbar ist die Abkehr von der Einheitsbilanz dort, wo steuergesetzliche Sondervorschriften einen von zwingenden handelsrechtlichen Vorschriften abw. Ansatz verbindlich vorschreiben. Dagegen hat der Stpfl. im Fall steuergesetzlicher Wahlrechte durch GoB-konforme Ausübung die Möglichkeit, das Auseinanderfallen der Bilanzen zu verhindern; steuerbilanzielle Wahlrechte können gem. § 5 I 1 Hs. 2 EStG eigenständig ausgeübt werden (dazu sogleich Rz. 98 f.), zwingend ist das aber nicht. Handelsbilanziell begründen Differenzen zwischen steuer- und handelsbilanziellem Ansatz die Notwendigkeit des Ausweises latenter Steuern (§ 274 HGB).
94
Dabei kann zwischen den beiden Ebenen der Bilanzierung unterschieden werden: Das Ob der Bilanzierung (Bilanzansatz), d.h. die Frage, was als Wirtschaftsgut in der Bilanz aufzunehmen ist, richtet sich grds. nach Handelsrecht. Ausnahmsweise modifizieren steuerrechtliche Vorschriften den Ansatz, so § 5 II EStG für den Ansatz entgeltlich erworbener immaterieller Anlagegüter (abw. von § 248 II HGB), § 5 IIa–IVb und § 6a EStG für den den Ansatz von Verbindlichkeiten und Rückstellungen (dazu Rz. 170 ff., 188 ff.) sowie § 5 V EStG für Rechnungsabgrenzungsposten (s. Rz. 200 ff.).
95
Demgegenüber wird das Wie der Bilanzierung, d.h. die Bewertung der Bilanzpositionen, relativ detailliert durch die steuerrechtlichen Bewertungsvorschriften in den §§ 6; 6a III–V; 7; 7a–7g EStG festgelegt. Diese steuergesetzlichen Bewertungsvorschriften sind vorrangig anzuwenden (§ 5 VI EStG), so dass für die handelsrechtlichen Bewertungsregeln im Steuerrecht wenig Raum bleibt.
111 Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 EStG Rz. 81. Zu weitgehend FG Münster v. 17.8.2010 – 1 K 3969/07F, EFG 2011, 468 = BB 2011, 303 (m. krit. Anm. Schmid). 112 BFH v. 15.9.2004 – I R 5/04, BStBl. II 2009, 100 m. Anm. Weber-Grellet, StuB 2005, 306; a.A. EuGH v. 7.1.2003 – C-306/99, BIAO, EuGHE 2003, I-1. 113 BFH v. 12.12.2012 – I B 27/12, BFH/NV 2013, 545; a.A. Weber-Grellet, FS Reiß, 2008, 483 (492); Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 EStG Rz. 81, der handels- und steuerrechtlich differenzieren und steuerbilanzrechtlich auf den Zeitpunkt der Veranlagung abstellen will. Ebenso wohl Herrfurth, StuB 2014, 123 (126). 114 Vgl. BFH v. 6.12.1983 – VIII R 110/79, BStBl. 1984, 227. 115 Für kleine Kapitalgesellschaften (§ 267 I HGB) gilt eine sechs monatige Aufstellungsfrist, § 264 I 4 HGB. Für große Einzelkaufleute u. Personenhandelsgesellschaften gilt die 3-Monats-Frist gem. § 5 I PublG.
564
Hennrichs
3. Grenzen der Maßgeblichkeit handelsrechtlicher Bilanzierungsregeln
Rz. 99 § 9
Die vom Handelsrecht abweichenden Steuerbilanzvorschriften und Durchbrechungen des Maßgeb- 96 lichkeitsprinzips sind insb. Resultat der sukzessiven Einschränkung des Vorsichts- und Imparitätsprinzips durch den Steuergesetzgeber. So ist bereits seit 1997 die Bildung von Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften in der Steuerbilanz durch § 5 IVa EStG verboten, obwohl handelsrechtlich ein Passivierungsgebot (§ 249 I 1 Alt. 2 HGB) besteht (dazu krit. Rz. 188). Noch weiter eingeschränkt wurde das Imparitätsprinzip ab 1999 durch das StEntlG 1999/2000/2002, z.B. steuerrechtliches Verbot von Teilwertabschreibungen bei nur vorübergehender Wertminderung im Umlaufvermögen (§ 6 I Nr. 2 Satz 2 u. 3 EStG, dazu Rz. 322) entgegen strengem handelsrechtlichem Niederstwertprinzip (§ 253 IV 1 HGB; seit BilMoG allerdings mit Wertaufholungspflicht gem. § 253 V 1 HGB) sowie weitere Einschränkungen bei der Bildung von Rückstellungen (Rz. 188 ff.). Der Gesetzgeber begründet die Steuervorbehalte damit, das Imparitätsprinzip sei mit dem Leistungs- 97 fähigkeitsprinzip unvereinbar116. Das BVerfG117 geht davon aus, dass die Durchbrechungen des Vorsichtsprinzips weder gegen das objektive Nettoprinzip verstoßen, noch am Maßstab der Folgerichtigkeit zu messen sind118. Dies ist jedoch so pauschal nicht richtig (s. auch unten Rz. 113), zumal die punktuellen Durchbrechungen des Imparitätsprinzips durch den Steuergesetzgeber als Gegenfinanzierungsmaßnahmen vorwiegend fiskalisch motiviert sind. Die Berücksichtigung von Wertminderungen vor ihrer Realisierung ist, vor allem angesichts des nach § 10d I 1 EStG nur eingeschränkt zulässigen Verlustrücktrags, mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip vereinbar und im Hinblick auf das Übermaßverbot geboten, wenn die Wertminderung hinreichend wahrscheinlich ist119. 3.2 Insbesondere: Steuerrechtliche Wahlrechte (§ 5 I 1 Hs. 2 EStG) Für steuerrechtliche Wahlrechte bei der Gewinnermittlung bestimmt § 5 I 1 Hs. 2 EStG, dass diese 98 unabhängig von der Handelsbilanz ausgeübt werden können, sofern die WG, die nicht mit dem handelsrechtlich maßgeblichen Wert in der steuerlichen Gewinnermittlung ausgewiesen werden, in einem gesonderten Verzeichnis fortlaufend geführt werden. Die ordnungsgemäße Verzeichnisführung ist Tatbestandsvoraussetzung der Wahlrechtsausübung (§ 5 I 2, 3 EStG). Die sog. umgekehrte Maßgeblichkeit, die früher eine übereinstimmende Wahlrechtsausübung in Handels- und Steuerbilanz verlangte, ist durch das BilMoG abgeschafft worden. Die genaue Reichweite des Wahlrechtsvorbehalts gem. § 5 I 1 Hs. 2 EStG ist umstr. Unstreitig er- 99 laubt das Gesetz weiterhin die freie steuerbilanzielle Ausübung der von der früheren umgekehrten Maßgeblichkeit erfassten Steuerbegünstigungswahlrechte, so bspw. §§ 6b; 7g EStG. Der Wortlaut des neuen § 5 I 1 Hs. 2 EStG geht allerdings noch weiter. Er beschränkt sich nicht auf GoB-inkonforme steuerliche Wahlrechte, sondern erlaubt eine von der Handelsbilanz abweichende Wahlrechtsausübung für alle steuerlichen Wahlrechte, also auch dort, wo sowohl die GoB als auch das Steuerrecht 116 BT-Drucks. 14/23, 171. Ebenso Wendt, FS Kirchhof, Bd. II, 2013, § 180 Rz. 20, der meint, gleichheitsrechtlich gebe es für ein Imparitätsprinzip bei der steuerlichen Gewinnermittlung keinen Grund. 117 BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111. 118 Krit. u.a. HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 54; Hennrichs, FS J. Lang, 2010, 237; Hey, DStR 2009, 2561; Hüttemann, FS Spindler, 2011, 627; Hüttemann, DStZ 2011, 507; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 249 HGB Rz. 15 ff.; Schulze-Osterloh, FS J. Lang, 2010, 255. 119 Vgl. zur Vereinbarkeit des Imparitätsprinzips mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 54 f.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (317 ff.) m.w.N.; ferner Kessler, DB 1997, 1; KrausGrünewald, FS Beisse, 1997, 285; Groh, DB 1999, 978; Weilbach, BB 1999, 564 (Erwiderung von Thiel, BB 1999, 828); Küting/Kessler, StuB 2000, 21 (gegen Siegel, StuB 1999, 195 [196 ff.], der für die Aufgabe des Imparitätsprinzips bei Ausweitung des Verlustabzugs eintritt), und Erwiderung von Siegel, StuB 2000, 29; Hüttemann, StbJb. 2002/03, 37 (42 ff.); F.W. Wagner, BB 2002, 1885 (1887 ff.) (aus ökonomischer Sicht). Vgl. auch Kahle/Günter, StuW 2012, 43 (54), sowie Kahle, DB 2014, Beil. 4, S. 18 ff., die zutr. darauf hinweisen, dass Voraussetzung für ein Abweichen vom Imparitätsprinzip in der Steuerbilanz ein uneingeschränkter Verlustausgleich wäre. Solange das nicht gewährleistet ist, haben Rückstellungen und Teilwertabschreibungen auch in der Steuerbilanz ihre Berechtigung.
Hennrichs 565
§ 9 Rz. 100
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
ein Wahlrecht enthalten oder wo ein steuerliches Wahlrecht GoB-konform ausgeübt werden könnte oder nach den handelsrechtlichen GoB ein bestimmter, steuerlich erlaubter Wertansatz zwingend ist (insb. § 6 I Nr. 1 Satz 2 u. Nr. 2 Satz 2 EStG; § 253 III 3, IV HGB; s. Rz. 320). Ausweislich der Materialien zum BilMoG wollte der Gesetzgeber die materielle Maßgeblichkeit so weitgehend nicht preisgeben120. Die h.M.121 meint dagegen, der Wortlaut des § 5 I 1 Hs. 2 EStG sei eindeutig und gestattet den Stpfl. demzufolge in weitem Umfang eine von der Handelsbilanz losgelöste, eigenständige Steuerbilanzpolitik. Das ist weder methodisch noch rechtspolitisch überzeugend122. Ein vermeintlich eindeutiger Wortlaut steht einer teleologisch begründeten Restriktion nicht im Wege123. Im Gegenteil beginnt die teleologische Reduktion (wie ihr Gegenstück, die Analogie) gerade dort, wo der Wortlaut aufhört. Teleologisch wäre eine weitreichende, eigenständige Steuerbilanzpolitik mit dem Gedanken der gleichmäßigen Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit kaum vereinbar. Daher sollte der Wahlrechtsvorbehalt des § 5 I 1 Hs. 2 EStG grds. eng angewendet und auf Steuerbegünstigungswahlrechte beschränkt werden. Jedenfalls gehören die steuerlichen Wahlrechte rechtspolitisch auf den Prüfstand124. Betreffend einen Sonderfall, nämlich die Wahlrechtsausübung bei Inanspruchnahme der Steuerfreiheit für Sanierungserträge, hat der Gesetzgeber die Verwaltungsauffassung in § 3a I 2, 3 EStG-E mittlerweile implizit bestätigt125. Danach sind, wenn die Steuerfreiheit von Sanierungserträgen beantragt wird, steuerliche Wahlrechte in dem Jahr, in dem ein Sanierungsertrag erzielt wird (Sanierungsjahr) und im Folgejahr im zu sanierenden Unternehmen gewinnmindernd auszuüben. Insbesondere ist dann gem. § 3a I 3 EStG der niedrigere Teilwert nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 und Nr. 2 Satz 2 im Sanierungsjahr und im Folgejahr anzusetzen. Diese Vorschrift impliziert, dass das Wahlrecht zu Teilwertabschreibungen sonst frei und unabhängig vom handelsrechtlichen Niederstwertprinzip ausübbar ist. 100 Keine Wahlrechte i.S.d. § 5 I 1 Hs. 2 EStG sind Schätzungsspielräume, die bei der Bilanzierung er-
öffnet sind, beispielsweise die Schätzung der Nutzungsdauer von Wirtschaftsgütern und die tatsächlichen Beurteilungen bei Ansatz und Bewertung von Rückstellungen. Insoweit gilt streng genommen keine Maßgeblichkeit126, denn diese bezieht sich nur auf die handelsrechtlichen GoB. Die Nutzungsdauerschätzung als solche ist aber kein GoB, sondern eine Tatfrage. Auch eine formelle oder konkrete Maßgeblichkeit i.S. einer Bindung der Steuerbilanz an den konkreten Ansatz in der vom Kauf120 Vgl. die Gegenäußerung der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/10067, 124; Freidank/Velte, StuW 2010, 185 (189 f.); Hennrichs, Ubg 2009, 533 (538); Hennrichs, StbJb. 2009/2010, 261 (269); Schulze-Osterloh, DStR 2011, 534 (535); Wehrheim/Fross, StuW 2010, 195 (202). 121 S. BMF BStBl. I 2010, 239; Günkel, FS Herzig, 2010, 509 (513 f.); Günkel, StbJb. 2009/2010, 331 (336 f.); Herzig/Briesemeister, DB 2009, 926 (929 f.); Herzig/Briesemeister, DB 2009, 976 (978); Herzig/ Briesemeister, WPg. 2010, 63 (71 f.); Herzig/Briesemeister, DB 2010, 917 (918 f.); Hey in 20. Aufl., § 17 Rz. 42; U. Prinz, DB 2010, 2069 (2071); U. Prinz, DStJG 34 (2011), 135, 155; Thiel, FS Meilicke, 2010, 733 (741 ff.). 122 Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, DB 2009, 2570 (2571 f.); Anzinger/ Schleiter, DStR 2010, 395 (396 ff.); Freidank/Velte, StuW 2010, 185 (189 f.); Hennrichs, Ubg 2009, 533 (540 f.); Hennrichs, StbJb 2009/2010, 261 (267 ff.); W.-D. Hoffmann, StuB 2009, 515 f., 787 f.; Hüttemann, DStZ 2011, 507 (509); Kahle, DB 2014, Beil. 4 S. 8; Schenke/Risse, DB 2009, 1957 (1958 f.); Schulze-Osterloh, DStR 2011, 534 (536 ff.); Mayr, DStJG 34 (2011), 327 (331 f.); HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 273, 280; Kirchhof/Crezelius17, § 5 EStG Rz. 54. 123 Ebenso namentlich Schulze-Osterloh, DStR 2011, 534 (536) m.w.N. 124 Ebenso Thiel, FS Meilicke, 2010, 733 (737 f.). 125 § 3a EStG idF. durch das Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen v. 27.7.2017, BGBl. I 2017, 2074; vgl. BT-Drucks. 18/12128. Das Inkrafttreten der neuen Vorschrift steht noch unter dem Vorbehalt der Notifizierung durch die EU Kommission (Art. 6 II des Gesetzes). 126 Möglicherweise anders BFH v. 30.11.2005 – I R 26/04, BFH/NV 2006, 616, wonach „zumindest in entsprechender Heranziehung des Grundsatzes der Maßgeblichkeit … in der Steuerbilanz einer handelsrechtlich zulässigen Ermessensausübung zu folgen“ sei.
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Hennrichs
3. Grenzen der Maßgeblichkeit handelsrechtlicher Bilanzierungsregeln
Rz. 103 § 9
mann aufgestellten Handelsbilanz gibt es jedenfalls seit Abschaffung der umgekehrten Maßgeblichkeit durch das BilMoG nicht mehr127. Allerdings muss der Stpfl. eine in der Handelsbilanz zugrunde gelegte Schätzung grds. auch steuerlich gegen sich gelten lassen128. Denn da HGB und EStG insoweit auf denselben konzeptionellen Grundlagen beruhen und namentlich das allgemeine Vorsichtsprinzip nach wie vor gleichermaßen für Handels- wie Steuerbilanz gilt, wären unterschiedliche Schätzungen in Handels- und Steuerbilanz nicht plausibel. Bei gleicher konzeptioneller Basis kann eine Schätzung nur einheitlich ausfallen. Insoweit wirkt sich in die Tat die nach wie vor bestehende Maßgeblichkeit gem. § 5 I 1 EStG aus, weil sie zur Folge hat, dass die bei der Schätzung zu berücksichtigenden Rechtsgrundsätze dieselben sind. Freilich kann im Einzelfall eine in der Handelsbilanz zugrunde gelegte Schätzung tatsächlich nicht 101 den GoB entsprechen und ist dann deshalb steuerlich nicht maßgeblich129. Namentlich entspricht eine im IFRS-Konzernabschluss vorgenommene Nutzungsdauerschätzung nicht ohne weiteres den GoB, weil sie auf einer anderen Gewichtung des Vorsichtsprinzips beruhen kann130. Legen IFRS-Bilanzierer eine längere IFRS-Nutzungsdauerschätzung zur Vermeidung von handelsrechtlichen Überleitungen gleichwohl auch im Jahresabschluss zugrunde, so kann bereits die Schätzung im Jahresabschluss objektiv fehlerhaft und deshalb steuerlich unmaßgeblich sein. Bewegt sich die Schätzung dagegen in der Bandbreite des vertretbaren Rahmens, setzt sich der Stpfl. dem Risiko aus, dass die Steuerbehörden ihn an der längeren Nutzungsdauerschätzung auch für die Steuerbilanz festhalten. 3.3 Handelsrechtliche Wahlrechte Nach dem Grundsatz der Maßgeblichkeit gem. § 5 I 1 EStG gilt zunächst unstreitig eine Bindung 102 der steuerlichen Gewinnermittlung an handelsrechtliche Bilanzierungsgebote und Bilanzierungsverbote, wenn keine abweichenden steuerrechtlichen Vorschriften bestehen. Wo das Handelsrecht das Ob und/oder das Wie der Bilanzierung zwingend vorschreibt und eine steuerrechtliche Vorschrift nicht entgegensteht, gilt die handelsrechtliche Bilanzierung für die Steuerbilanz. Fraglich und umstritten ist, ob der Maßgeblichkeitsgrundsatz auch dort gilt, wo das Handelsrecht ein Wahlrecht131 gewährt. Nach einer Ansicht gebietet der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, dass die Maßgeb- 103 lichkeit handelsrechtlicher GoB gem. § 5 I 1 EStG immer dort Platz greift, d.h. nicht begrenzt wird, wo das Steuergesetz das Handelsrecht nicht ausdrücklich außer Kraft setzt132. Daher werde auch ein in der Handelsbilanz ausgeübtes Wahlrecht für die Steuerbilanz maßgeblich, sofern steuerrechtliche
127 Zutr. Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 EStG Rz. 26; ebenso Korn/Schiffers, § 5 EStG Rz. 2.2, 78, 113 (2010); Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 183: mit der Aufgabe der umgekehrten Maßgeblichkeit ist „der Gedanke der ‚formellen Maßgeblichkeit‘ in seiner ursprünglichen Form … ebenfalls überholt“. 128 Hennrichs, Ubg 2011, 788; ebenso HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 284; ferner Blümich/Brandis, § 7 EStG Rz. 327, nach dem „Beurteilungsspielräume des Stpfl in tatsächlicher Hinsicht … in beiden Bilanzen entsprechend auszufüllen“ sind und „die für den Abschreibungsplan … notwendige Fixierung des Nutzungszeitraums grds. auch für die Schätzung der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer verbindlich“ ist. Ebenso Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 192; KSM/Kempermann, § 5 EStG Rz. B 138 (1996); KSM/Waldhoff, § 7 EStG Rz. A 186 (2009); Frotscher/Schnitter, § 7 EStG Rz. 51 ff.; Thiel, FS Meilicke, 2010, 733 (749). 129 Vgl. Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 EStG Rz. 26, der zutr. hervorhebt, dass GoB-widrige Ansätze selbstverständlich nicht maßgeblich werden. Ebenso KSM/Waldhoff, § 7 EStG Rz. A 187 (2009). 130 Hennrichs, Ubg 2011, 788 ff. m.w.N. auch zur Gegenansicht. 131 Dazu Weber-Grellet, DB 1994, 2405; Weber-Grellet, StbJb. 1994/95, 97; Hennrichs, StuW 1999, 143 ff.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 304. Eingehend zu handelsrechtlichen Wahlrechten bei der Bilanzierung Hennrichs, Wahlrechte im Bilanzrecht der Kapitalgesellschaften, 1999. 132 So namentlich Crezelius, DB 1994, 689; H.W. Kruse, StbJb. 1976/77, 113; Kammann, StuW 1978, 108; HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 258.
Hennrichs 567
§ 9 Rz. 104
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Vorschriften nicht entgegenstehen bzw. der Stpfl. nicht ein steuerliches Wahlrecht abweichend ausübt (§ 5 I 1 Hs. 2 EStG). 104 Dieser Auffassung widersprach in Bezug auf Ansatzwahlrechte bereits der Beschluss des GrS
v. 3.2.1969133 und in Bezug auf Bewertungswahlrechte BFH v. 21.10.1993134. Danach gilt, dass (1) einem handelsrechtlichen Aktivierungswahlrecht ein steuerrechtliches Aktivierungsgebot entspricht, soweit keine steuerrechtlichen Sondervorschriften gelten (z.B. § 5 II EStG vs. § 248 II HGB n.F.). Daher muss beispielsweise in der Steuerbilanz das Disagio einer Verbindlichkeit (handelsrechtlich Aktivierungswahlrecht nach § 250 III HGB) aktiviert werden (s. auch § 5 V EStG). (2) ein handelsrechtliches Passivierungswahlrecht zu einem steuerrechtlichen Passivierungsverbot führt, soweit nicht auch das Steuerrecht ein Wahlrecht zulässt. Nach Streichung der handelsbilanziellen Rückstellungswahlrechte gem. § 249 I 3 HGB a.F. (Instandhaltungsrückstellung) und § 249 II HGB a.F. (Aufwandsrückstellung) durch das BilMoG ist der Hauptanwendungsfall eines handelsrechtlichen Passivierungswahlrechts allerdings entfallen. Relevant bleibt die Rspr. aber insb. für das handelsrechtliche Passivierungswahlrecht gem. Art. 28 EGHGB für mittelbare Pensionsverpflichtungen, für die steuerlich ein Passivierungsverbot bestehen soll135. 105 Diese Rspr. ist im methodischen Ausgangspunkt zu billigen136. Die in der rechtswissenschaftlichen
Methodenlehre entwickelten Methoden der teleologisch begründeten restriktiven Auslegung sowie der teleologischen Reduktion gelten auch für die Rechtsanwendung des § 5 I EStG. Nach Sinn und Zweck der Norm, nämlich gleichmäßig und möglichst willkürfrei die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Kaufmanns zu erfassen, bezieht sich der Verweis auf die handelsrechtlichen GoB grds. nicht auf handelsrechtliche Vorschriften, die dem Kaufmann Wahlrechte bei der Bilanzierung gewähren. Das Problem hat sich freilich nach dem BilMoG reduziert, weil damit die Zahl der handelsrechtlichen Wahlrechte deutlich reduziert worden ist137. 106 Ob die (verbliebenen) handelsrechtlichen Wahlrechte auch bei der steuerlichen Gewinnermittlung
akzeptabel sind, hängt mithin von ihrer Vereinbarkeit mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip ab. Grds. stehen handelsrechtliche Wahlrechte in einem Spannungsverhältnis mit dem Gebot gleichmäßiger Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit138, denn die Besteuerung sollte nicht davon abhängen, wie der Stpfl. einen Sachverhalt bilanziell abbilden möchte. Durchaus mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip vereinbar sind aber solche Wahlrechte, die der Vereinfachung dienen (namentlich § 255 II 3 HGB, Rz. 252). Vereinfachung ist ein auch steuerrechtlich legitimer Zweck von Wahlrechten139. 107–109
Einstweilen frei.
133 BFH v. 3.2.1969 – GrS 2/68, BStBl. II 1969, 291; BFH v. 28.4.1971 – I R 39/70, 40/70, BStBl. II 1971, 601 (603); u. öfter. 134 BFH v. 21.10.1993 – IV R 87/92, BStBl. II 1994, 176. 135 Vgl. Schmidt/Weber-Grellet36, § 6a EStG Rz. 5. 136 Vgl. auch BFH 31.1.2013 – GrS 1/10, BStBl. I I 2013, 317; BFH 15.5.2013 – I R 77/10, BStBl. I I 2013, 730; Wacker, FS Gosch 2016, 413 (415); Hennrichs, StuW 1999, 138 (143 ff.); Wendt, FS Kirchhof, Bd. II, 2013, § 180 Rz. 22; je m.w.N. 137 HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 501. 138 Dazu J. Lang, DStJG 4 (1981), 83 ff.; Weber-Grellet, DB 1994, 2405; Weber-Grellet, StbJb. 1994/95, 97. Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Wahlrechten allgemein s. § 3 Rz. 236. 139 HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 262.
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Hennrichs
4. Rechtfertigung des Maßgeblichkeitsprinzips
Rz. 110 § 9
4. Rechtfertigung des Maßgeblichkeitsprinzips Historisch ist die Anknüpfung der steuerlichen Gewinnermittlung von Kaufleuten an die Handels- 110 bilanz durch Praktikabilitäts- und Vereinfachungserwägungen begründet140. Dem Kaufmann sollte erspart werden, den Gewinn zweifach ermitteln zu müssen. Dieser Vereinfachungszweck ist im Kern nach wie vor berechtigt und überzeugend141, tritt auf Grund der zahlreichen steuergesetzlichen Durchbrechungen des Maßgeblichkeitsgrundsatzes (s. Rz. 41 f., 98 ff.) und der dadurch erzwungenen Abkehr von der Einheitsbilanz rechtspraktisch aber zunehmend in den Hintergrund. Bis heute umstr. ist, ob die Anknüpfung an den handelsrechtlichen Gewinn geeignet ist, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sachgerecht abzubilden. Die Tauglichkeit der in Bezug genommenen handelsrechtlichen Vorschriften für die Steuerbilanz hängt von der Ausgestaltung der jeweiligen Ansatz- und Bewertungsregeln ab, wofür wiederum das Verständnis der maßgeblichen Bilanzzwecke vorgreiflich wird. Dazu stehen sich im Wesentlichen zwei Grundpositionen gegenüber142: Die eine Grundposition geht von einer grundsätzlichen Übereinstimmung der Bilanzzwecke von Handels- und Steuerbilanz aus und tritt folglich für die Beibehaltung von § 5 I 1 EStG ein143. Die Gewinnermittlung nach dem HGB ziele darauf ab, den dem Unternehmen „entziehbaren“ Gewinn zu ermitteln. Gleiches habe auch für die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu gelten: Der Steuerstaat nimmt am Gewinn des Unternehmens teil und soll daher nicht besser gestellt werden als der Inhaber oder Anteilseigner des Unternehmens („Steuerstaat als stiller Teilhaber“, Teilhaberthese)144. Zudem erhofft man sich von der Anknüpfung an den handelsrechtlichen Gewinn Schutz vor fiskalischen Übergriffen. Nach der anderen Grundposition145 sind die Zwecke von Handels- und Steuerbilanz dagegen grundlegend verschieden. Namentlich hätten der Gesichtspunkt des Gläubigerschutzes (durch kapitalschützende, vorsichtige Gewinnermittlung) und damit auch das handelsrechtliche Vorsichtsprinzip im Steuerrecht keine Berechtigung. Gegen den Maßgeblichkeitsgrundsatz wird außerdem eingewendet, die Orientierung an den handelsrechtlichen GoB mache die steuerrechtliche Gewinnermittlung von dem Wandel der GoB insb. im Zuge der Internationalisierung der Rechnungslegung abhängig. Die steuerrechtliche Zwecksetzung unterliege aber keinem entsprechenden Wandel. Ein im Umbruch be-
140 Tipke, StRO II2, 688. Zur Entwicklung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes s. insb. KSM/Mathiak, § 5 EStG Rz. A 85 ff.; HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 2 ff., 150 ff.; Pfahl, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz, ein dem Steuerbilanzrecht vorgegebenes Grundprinzip?, 1999, 35–102; Broer, Maßgeblichkeitsprinzip, 2001, 35 ff.; Schütz, Der Maßgeblichkeitsgrundsatz des § 5 I EStG – Ein Fossil?, Diss., 2002, 24 ff.; S. Mayer in Schön, Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, § 2. – Zum Verhältnis zwischen Handels- und Steuerbilanz im Ausland Schön, Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005; Burkhalter, Maßgeblichkeitsgrundsatz (Schweiz); Broer, Maßgeblichkeitsprinzip, 2001, 127 ff. (Frankreich), 135 ff. (Schweiz), 142 ff. (Großbritannien), 148 ff. (Niederlande), 151 ff. (USA); Maier-Frischmuth, StuB 2003, 7 (EU mit Kurzvergleich Gewinnermittlungsvorschriften); Essers, StuW 2005, 331 (Niederlande); Novacek, ÖStZ 2007, 250 (neue Entwicklungen in Österreich); Sopp/Richter/Meyering, StuW 2017, 234 (Österreich). 141 HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 172 f. m.w.N. 142 Eingehend HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 160 ff. m. umfangr. w.N. 143 Döllerer, BB 1971, 1333 (1334); Schön, StuW 1995, 366 (377); Schön, Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, 1 ff.; Gassner/Lang, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Einkommenund Körperschaftsteuerrecht, Wien 2000, 84 ff.; Schulze-Osterloh, DStJG 23 (2000), 74 f.; Hüttemann, StbJb. 2002/03, 37 (45). 144 Insb. Schön, StuW 1995, 366 (374, 377); Schön, Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, 51 f.; gegen die Teilhaberthese dezidiert Wagner, BB 2002, 1885. 145 Vgl. Weber-Grellet, DB 1994, 288 (289) („Handelsbilanz und Steuerbilanz sind inkompatibel“); WeberGrellet, ZRP 2008, 146 (148); u. öfter; ferner namentlich Bareis, WPg. 1972, 498 (501 f.); Drescher, Zur Zukunft des deutschen Maßgeblichkeitsgrundsatzes, 2002, 74 f.; Schneider, FS Krawitz, 2010, 705 (714 f.).
Hennrichs 569
§ 9 Rz. 111
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
findliches Rechtsgebiet wie das Handelsbilanzrecht könne keinen rechtssicheren Maßstab für die Besteuerung bieten. 111 Richtig ist, dass die Zwecke von Handels- und Steuerbilanz nicht völlig deckungsgleich sind. Na-
mentlich spielt der Gesichtspunkt des Gläubigerschutzes, der für die Handelsbilanz nach wie vor wesentlich ist146, für die steuerliche Gewinnermittlung keine Rolle. Daraus folgt aber nicht, dass die handelsrechtlichen GoB als Anknüpfungspunkt für die steuerliche Gewinnermittlung schlechthin ungeeignet wären. Entscheidend ist nicht die Divergenz oder Übereinstimmung der grundsätzlichen Zwecke auf Metaebene, sondern die Tauglichkeit des jeweiligen einzelnen GoB (Objektebene) für die jeweilige Bilanzierung. Derselbe GoB kann durchaus in verschiedenen normativen Zusammenhängen sachgerecht sein. Beispielsweise und insb. haben das Realisations- und das Vorsichtsprinzip (unten Rz. 78 ff.) sowohl handels- als auch steuerrechtlich ihre Berechtigung. Zwar ist der handelsrechtliche Erklärungsansatz, eine vorsichtige Bewertung sei aus Gründen des Gläubigerschutzes notwendig, steuerrechtlich nicht tragfähig, weil es steuerrechtlich eben nicht um Gläubigerschutz geht. Gleichwohl ist der Grundsatz der vorsichtigen Bewertung und das Abstellen auf realisierte Gewinne auch steuerrechtlich begründet, nämlich durch den Gesichtspunkt der auf Objektivierung (Verlässlichkeit) angelegten gleichmäßigen Besteuerung (Art. 3 I GG), als Ausprägung des Übermaßverbots (Art. 20 III GG) und des Grundsatzes der Unternehmensschonung (Art. 14 GG)147. Das Realisationsund das Vorsichtsprinzip stehen steuerrechtlich im Dienste der Objektivierung und des Übermaßverbots, indem sie dafür sorgen, dass nicht ein ungewisser Gewinn als tatsächlicher Gewinn angesetzt und der Besteuerung unterworfen wird148. Unterschiedliche Zwecke können mithin durchaus zum gleichen GoB führen. 112 Für den Gesetzgeber (zum Richter sogleich Rz. 115) stellt sich damit das Problem, für jede Norm
des Handelsbilanzrechts zu prüfen, ob sie in das System einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit eingebettet werden kann149. Steuergesetzliche Durchbrechungen der Maßgeblichkeit sind nicht per se zu verurteilen. Es gibt namentlich kein verfassungsrechtliches Gebot für eine Anknüpfung der steuerlichen Gewinnermittlung an die handelsrechtlichen GoB150. Die gesetzgeberische Grundentscheidung der Anknüpfung an den handelsrechtlichen Gewinn begründet bei sachlich gerechtfertigten Abweichungen vom handelsrechtlichen Ansatz auch keinen Verstoß gegen das Folgerichtigkeitsgebot (§ 3 Rz. 9, 118 ff.), wenn die Durchbrechung der Herstellung steuerlicher Systemgerechtigkeit dient151. 113 Zu weitgehend relativiert indes die sog. Jubiläumsrückstellungs-Entscheidung des BVerfG152 die
verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Gesetzgeber im Bereich des Steuerbilanzrechts153. Zwar ist der Verweis auf die handelsrechtlichen GoB selbst keine Belastungsentscheidung des Gesetzgebers i.S. der Rspr. zum sog. Folgerichtigkeitsgebot. Eine folgerichtig umzusetzende Belastungsentscheidung ist aber die Entscheidung des Gesetzgebers für eine steuerliche Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich154. In einem Betriebsvermögensvergleich sind insb. Schulden system146 S. Baetge/Kirsch/Solmecke, WPg. 2009, 1211 ff.; Hennrichs, WPg. 2011, 861. 147 HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 50 ff.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (308 ff., 313 f., 324 ff.); insoweit auch Wendt, FS Kirchhof, Bd. II, 2013, § 180 Rz. 19. 148 HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 54 f.; Jachmann, DStJG 23 (2000), 9 [56]. 149 Insb. Pezzer, DStJG 14 (1991), 3, 17 ff.; Weber-Grellet, StuW 1999, 315; Broer, Maßgeblichkeitsprinzip, 2001, 314 ff.; Schlotter, FR 2007, 951 (insb. auch zur Bedeutung des verfassungsrechtlichen Folgerichtigkeitsgebots für die Gewinnermittlung). 150 Zutr. Wendt, FS Kirchhof, Bd. II, 2013, § 180 Rz. 5. 151 Ausf. Schlotter, FR 2007, 951. 152 BVerfG v. 12.5.2009, 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111. 153 Kri. u.a. Hennrichs, FS J. Lang, 2010, 237; Hey, DStR 2009, 2561; Hüttemann, FS Spindler, 2011, 627; Hüttemann, DStZ 2011, 507; Schulze-Osterloh, FS J. Lang, 2010, 255; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 249 HGB Rz. 15 f. 154 Ebenso HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 54; Wendt, FS Kirchhof, Bd. II, 2013, § 180 Rz. 21.
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Hennrichs
5. Zur Zukunft des Maßgeblichkeitsprinzips
Rz. 116 § 9
immanent155. Punktuelle Einschränkungen der in einem Betriebsvermögensvergleich gebotenen Bildung einzelner Rückstellungen lassen sich nicht mit Hinweis auf das in der Überschussrechnung geltende Zu- und Abflussprinzip rechtfertigen. Zwar ist es dem Gesetzgeber unbenommen, beide Systeme der Einkünfteermittlung einander anzunähern, er kann aber nicht unter Aufrechterhaltung des Dualismus zum Nachteil der Stpfl. beliebig auf systemfremde Prinzipien zurückgreifen156. Solange er Verbindlichkeitsrückstellungen grds. weiterhin zulässt, bedarf der Ausschluss einzelner Rückstellungen (wie im Fall des BVerfG der Jubiläumsrückstellung) einer besonderen Rechtfertigung157. Einzelne steuerrechtliche Sondervorschriften, die aus Gründen der besonderen steuerrechtlichen Te- 114 leologie von den handelsrechtlichen GoB abweichen, ändern freilich nichts daran, dass der Maßgeblichkeitsgrundsatz im Ausgangspunkt gerechtfertigt bleibt158. Der hinter dem Maßgeblichkeitsprinzip stehende Vereinfachungsgedanke ist im Kern nach wie vor überzeugend (Rz. 110). Nachdem durch das BilMoG die Mehrzahl der (in der Tat kritikwürdigen) handelsbilanziellen Wahlrechte abgeschafft worden ist, entfällt ein Grund für steuerrechtliche Sonderwege und könnten sich Handelsund Steuerbilanz nun wieder näher aufeinander zubewegen. Nach BilMoG liegt die Ursache für Durchbrechungen des Maßgeblichkeitsgrundsatzes weniger im Handelsbilanzrecht, sondern im Steuerrecht. Viele steuerrechtliche Sondervorschriften sind schlicht fiskalisch motiviert, aber steuerbilanzsystematisch nicht gerechtfertigt. Hier zu nennen ist insb. § 6a EStG, der die wirtschaftliche Belastungslage des Kaufmanns nicht sachgerecht abbildet und zu einer systematischen Unterbewertung der Pensionsrückstellungen in der Steuerbilanz führt (Rz. 189, 290). Steuersystematisch ist dies nicht begründbar. Wenn man den Unternehmen Aufwand ersparen und der Idee der Einheitsbilanz wieder nähertreten will, dann ist bei der Steuerbilanz anzusetzen. Es gilt, die überbordenden und systematisch angreifbaren steuerlichen Sondervorschriften wieder auf ein Mindestmaß zurückzuschneiden. Das Bilanzsteuerrecht sollte wieder näher an das (modernisierte) Handelsbilanzrecht rücken159. Umstr. ist, ob auch der Richter befugt ist, den Maßgeblichkeitsgrundsatz im Wege der teleologischen 115 Auslegung oder Rechtsfortbildung (teleologische Reduktion) zu beschneiden und einzelne handelsrechtliche Vorschriften steuerrechtlich für unmaßgeblich zu beurteilen. Die Rspr. des BFH hat dies seit BFH GrS BStBl. 1969, 291160 bejaht, m.E. zu Recht (s. oben Rz. 104 f.). Die in der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre entwickelten Methoden der teleologisch begründeten restriktiven Auslegung sowie der teleologischen Reduktion gelten auch für die Rechtsanwendung des § 5 I EStG. 5. Zur Zukunft des Maßgeblichkeitsprinzips und Überlegungen de lege ferenda (einschließlich GKB) Die Zukunft des Maßgeblichkeitsprinzips ist mehr denn je offen161. Zum einen dürfte die sog. 116 E-Bilanz gem. § 5b EStG den Weg zur selbständigen Steuerbilanz beschleunigen (Rz. 5 f.)162. Zum anderen durchbricht der Gesetzgeber den Maßgeblichkeitsgrundsatz zunehmend (vgl. §§ 4f; 5 Ia 1, II–VII; 6 EStG). Die Ausnahmen vom Maßgeblichkeitsprinzip sind mittlerweile so zahlreich und so schwerwiegend, dass eine Einheitsbilanz kaum noch möglich erscheint; jedenfalls auf der Passivseite
155 Zur Legitimation von Rückstellungen auch in der Steuerbilanz s. HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 54 f.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301, 310 ff.; Schlotter, BB 2009, 1408 (1411). 156 Insoweit wie hier Wendt, FS Kirchhof, Bd. II, 2013, § 180 Rz. 21. 157 HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 51. 158 Vgl. auch Mayr, DStJG 34 (2011), 327 (333 ff.). 159 Hennrichs, FS K. Schmidt, 2009, 581 (592); Kahle/Günter, StuW 2012, 43 (54); Kahle, DB 2014, Beil. 4, S. 19 f.; HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 172. 160 BFH v. 3.2.1969, GrS 2/68, BStBl. II 1969, 291. 161 Hennrichs, Ubg 2009, 533 (542); U. Prinz, DStJG 34 (2011), 135 (160 ff.); Mayr, DStJG 34 (2011), 327; Kahle, DB 2014, Beil. 4, S. 3 f. 162 Ebenso die Einschätzung von Kahle, DB 2014, Sonderbeil. 4, S. 3.
Hennrichs 571
§ 9 Rz. 118
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
der Bilanz bleibt von der Maßgeblichkeit nicht mehr viel übrig163. De lege ferenda werden daher ein eigenständiges Steuerbilanzrecht164 sowie die Einführung einer Gemeinsamen (konsolidierten) KStBemessungsgrundlage (GK[K]B) diskutiert. Die weitere Entwicklung dürfte ferner von der Frage abhängen, ob die Internationalisierung der handelsrechtlichen Rechnungslegung in die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung einstrahlen wird oder ob die GoB gegenüber den IFRS selbständig bleiben können. Mit dem BilMoG hat der Gesetzgeber letzteres gewollt165 und einer befreienden Anwendung der IFRS im handelsrechtlichen Jahresabschluss vorerst eine Absage erteilt166. Die Internationalisierung der Konzernrechnungslegung (vgl. § 315a HGB i.V.m. der IAS-VO) hat mangels Konzernsteuerbilanz (§ 14 Rz. 1 ff., 9; § 11 Rz. 25) keine unmittelbaren steuerlichen Konsequenzen. Die weitere Entwicklung wird aber zu beobachten sein. Zum einen gibt es Bestrebungen, die IFRS mittelfristig doch auch befreiend für den handelsrechtlichen Jahresabschluss zuzulassen167. Dann würde es einer eigenständigen steuergesetzlichen Kodifikation des Steuerbilanzrechts bedürfen168. Zum anderen ist nicht auszuschließen, dass die IFRS zunehmend im Wege der Interpretation in die GoB einstrahlen. Das ist vom Gesetzgeber zwar nicht gewollt (oben Rz. 53 f.), aber die Praxis geht dessen ungeachtet möglicherweise eigene Wege. Auch eine solche interpretatorische Einstrahlung der IFRS in die handelsrechtlichen GoB könnte dem Maßgeblichkeitsgrundsatz endgültig das Fundament entziehen. 118 De lege ferenda wird verschiedentlich ein eigenständiges und steuergesetzlich geschlossen nor-
miertes Steuerbilanzrecht gefordert169, das steuerliche Leistungsfähigkeit möglichst objektiv richtig bestimmt. In der Tat würde das mit den vielen Streitfragen, die sich um das Maßgeblichkeitsprinzip ranken, aufräumen und damit insoweit größere Rechtssicherheit gewährleisten. Denn die Unsicherheiten haben ihren Grund in der geltenden Verweisung des § 5 I 1 EStG auf die handelsrechtlichen 163 Weber-Grellet, ZRP 2008, 146 (147): „Restmaßgeblichkeit“; Theile/Hartmann, DStR 2008, 2031; Thiel, FS Meilicke, 2010, 733 (736); U. Prinz, DStJG 34 (2011), 135 (160); Kirsch, DStZ 2008, 561; Herzig/ Briesemeister, DB 2009, 1. 164 Vgl. den unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft entwickelten Entwurf eines Gesetzes zur Steuerlichen Gewinnermittlung (StGEG); ferner Herzig, IAS/IFRS und steuerliche Gewinnermittlung, Eigenständige Steuerbilanz und modifizierte Überschussrechnung – Gutachten für das BMF, 2004; Spengel, FR 2009, 101 ff.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (307 ff.). 165 Vgl. BR-Drucks. 344/08, 70. 166 S. die diesbezüglichen Vorschläge der Schmalenbach-Gesellschaft, DB 2003, 1585 ff.; krit. Hennrichs, GmbHR 2011, 1065. 167 Vgl. Schmid, DB 2017, 377 m.w.N. 168 Zur Untauglichkeit der IFRS als Grundlage für die steuerliche Gewinnermittlung Arbeitskreis Bilanzrecht Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2002, 2373 (2378 ff.); Arnold, StuW 2005, 148 (150); Hennrichs, StuW 2005, 256 (262 f.); Herzig, IStR 2006, 557; Herzig, StuW 2006, 156; Hüttemann, BB 2004, 203 (205 f.); Kirchhof, ZGR 2000, 681 ff.; Kuntschik, Steuerliche Gewinnermittlung und IAS/ IFRS am Beispiel immaterieller Vermögenswerte, Diss., 2004; s. auch Wojcik, Die internationalen Rechnungslegungsstandards IAS/IFRS als europäisches Recht, Diss., 2008; Hohl, Private Standardsetzung im Gesellschafts- und Bilanzrecht – Verfassungsrechtliche Grenzen kooperativer Standardsetzung im europäischen Mehrebenensystem an den Beispielen des Deutschen Corporate Governance Kodexes und der International Financial Reporting Standards, Diss., 2007. S. auch Wendt, FS Kirchhof, Bd. II, 2013, § 180 Rz. 25. 169 Vgl. Stiftung Marktwirtschaft, Entwurf eines Gesetzes zur Steuerlichen Gewinnermittlung, 2006; ferner bereits ausf. Gutachten der Steuerreformkommission 1971, BMF-Schriftenreihe 17, 1971, 428 ff.; ferner J. Lang in Brühler Empfehlungen, BMF-Schriftenreihe 66, 1999, Anh. Nr. 1, 67 ff.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 ff. (verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen); Herzig/Bär, DB 2003, 1; Herzig/ Hausen, DB 2004, 1; Herzig, IAS/IFRS und steuerliche Gewinnermittlung, 2004 (dazu Bohl, DB 2004, 2381); Kölner EStGE, Rz. 400 ff.; Hennrichs, StuW 2005, 256 (264); U. Prinz, FS Raupach, 2006, 279 (295 ff.); U. Prinz, DStJG 34 (2011), 135 (164 ff.). Vor dem Hintergrund des BilMoG: Weber-Grellet, DB 2008, 2451; Thiel, FS Meilicke, 2010, 733 (736 f.). Für ein System europäischer Grundsätze Kuhr, Grundsätze Europäischer Unternehmensbesteuerung, Diss., Köln 2013.
572
Hennrichs
5. Zur Zukunft des Maßgeblichkeitsprinzips
Rz. 120 § 9
GoB. Wären Handels- und Steuerbilanz formell voneinander abgekoppelt, stellte sich das Problem so nicht170. Wichtiger als die rechtstechnische Frage einer förmlichen Loslösung des Steuerbilanzrechts von den handelsrechtlichen GoB ist freilich die inhaltliche Ausgestaltung der steuerrechtlichen Gewinnermittlungsregeln. Hierbei sollte der Gesetzgeber namentlich am Realisationsprinzip, aber auch am Vorsichtsprinzip für die Steuerbilanz festhalten171. Die alleinige Berufung auf das Leistungsfähigkeitsprinzip und die Besteuerung des „vollen Gewinns“ bietet keinen hinreichend verlässlichen Maßstab. Der Weg hin zu einem eigenständigen, von den handelsrechtlichen GoB förmlich entkoppelten Steu- 119 erbilanzrecht scheint auch im Hinblick auf die Pläne der EU-Kommission zur Einführung einer gemeinsamen Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKB = CCTB für Common Corporate Tax Base) auf EU-Ebene vorgezeichnet. Dazu liegt mittlerweile ein zweiter, überarbeiteter Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission vor172. Das ehrgeizige Projekt sieht harmonisierte, eigenständige steuerliche Gewinnermittlungsregeln für Körperschaften vor. Die in dem ursprünglichen Entwurf von 2011 zunächst ebenfalls vorgesehene EU-weite Konsolidierung zur Ermittlung eines EU-Konzernergebnisses nebst formelhafter Aufteilung auf die betroffenen Mitgliedstaaten wird einstweilen zurückgestellt (stufenweiser Ansatz der Kommission), um die politischen Durchsetzungschancen des Projekts zu erhöhen. Zum Körperschaftsteuersatz enthält der Vorschlag keine Vorgaben. Die steuerliche Gewinnermittlung soll nach dem Entwurf eigenständig geregelt werden. Weder gibt 120 es eine Maßgeblichkeit des Handelsbilanzrechts der EU oder der Mitgliedstaaten noch eine Indienstnahme der IFRS173. Auch die früher diskutierte Bezugnahme auf die „IFRS/IAS als starting point“, die ohnehin immer mehr ein politisches Argument zur besseren „Verkäuflichkeit“ des Projekts war und weniger eine inhaltliche Präjudizierung sein wollte, findet sich im aktuellen Richtlinienentwurf nicht mehr. Das ist grds. zu begrüßen. Allerdings ist in konzeptioneller Hinsicht zu kritisieren, dass auch dem Richtlinienentwurf 2016 nach wie vor weitgehend der systematisch-dogmatische Unterbau fehlt. Es dominieren, wie Herzig zum ursprünglichen Entwurf 2011 anschaulich formuliert hat, „Best Practice-Lösungen“174. Man hat sich in vielen Fällen offenbar schlicht daran orientiert, was in den einzelnen Mitgliedstaaten gilt. Hier wäre eine stärkere Prinzipienorientierung wünschenswert, um die Deduktionsbasis für eine konsistente Anwendung und Fortentwicklung der Gewinnermittlungsregeln zu gewährleisten175. Zwar enthält Art. 6 des RL-Entwurfs einige allgemeine Grundsätze (Realisationsprinzip, Einzelermittlungsgrundsatz, Stetigkeit und Jährlichkeitsprinzip). Aber ein in sich geschlossenes System ist das einstweilen nicht176. Hier wäre bei Einführung der GKB der EuGH gefordert, was über Jahre erhebliche Rechtsunsicherheit bedeuten dürfte. Die Definition der Steuerbemessungsgrundlage in Art. 7 des RL-Entwurf (Gewinnbegriff) stellt auf den Unterschiedsbetrag zwischen steuerpflichtigen Erträgen und abziehbaren Aufwendungen ab. 170 Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (306) m.w.N. 171 Grundl. Hennrichs DStJG 24 (2001), 301 (314 ff.) u. Schön, Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, 4 ff.; s. auch Mayr, DStJG 34 (2011), 327, 334 ff. (341 f.); Kahle, DB 2014, Beil. 4 S. 19 f.; HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 50 ff., 54 f. 172 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame Körperschaftsteuer- Bemessungsgrundlage, KOM(2016) 685 v. 25.10.2016. Dazu eingehend Scheffler/Köstler, Richtlinie über eine Gemeinsame Körperschaftsteuer- Bemessungsgrundlage – mehr als eine Harmonisierung der steuerlichen Gewinnermittlung, ifst-Schrift 518 (2017); ferner Velte/Mock, StuW 2017, 126; Benz/Böhmer, DB 2016, 2800; Jakob/Fehling, ISR 2017, 290. – Zum Vorentwurf vom 16.3.2011 s. Voraufl. sowie Evers/Köstler/ Meier/Nicolay/Scheffler/Spengel, StuW 2015, 359; ausf. Eggert, Die Gewinnermittlung nach dem Richtlinienvorschlag über eine Gemeinsame Konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage – Vergleich mit der Gewinnermittlung nach dem HGB, EStG und den IFRS, 2015. 173 Scheffler/Köstler, ifst-Schrift 518 (2017), S. 29 f. 174 Herzig, DB 2012, 1 (2). 175 Herzig, DB 2012, 1 (2); Scheffler/Krebs, DStR-Beih. 2011, 13 (16). 176 Scheffler/Köstler, ifst-Schrift 518 (2017), S. 36.
Hennrichs 573
§ 9 Rz. 120
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Das ist ein GuV-orientierter Ansatz.177 Freilich müssen auch nach der GKB die Geschäftsvorfälle periodisiert (Art. 6 I, 15 ff. RL-Entwurf) und erforderliche Bestandsveränderungen festgehalten werden (vgl. die „steuerlichen Werte“ nach Art. 4 Nr. 17 sowie das Anlageregister nach Art. 30 RL-Entwurf). Damit besteht zwischen der GKB und dem deutschen BV-Vergleich konzeptionlle Übereinstimmung178 und ist auch nach GKB letztlich eine Art Schattenbilanz erforderlich179. Sowohl die Definition der Erträge (Art. 4 Nr. 5 RL-Entwurf) als auch der Aufwendungen (Art. 4 Nr. 6 RL-Entwurf) zielt auf die betrieblich veranlassten Geschäftsvorfälle (s. auch Art. 9 I RL-Entwurf). Vom Anteilsinhaber aufgebrachtes Eigenkapital zählt hiernach nicht zu den Erträgen, Ausschüttungen an Anteilsinhaber sind keine Aufwendungen (Art. 4 Nr. 6 i.V.m. Art. 12 lit. a RL-Entwurf). Die Problematik der verdeckten Gewinnausschüttung ist in Art. 14 RL-Entwurf erfasst. Ob diese vergleichsweise schlanke Vorschrift die Problematik ausreichend abdeckt, mag angesichts der „höchst nuancenreichen vGA-Dogmatik in Deutschland“ allerdings bezweifelt werden180. Inhaltlich ist das grundsätzliche Bekenntnis zum Anschaffungswert- und Realisationsprinzip zu begrüßen (Art. 6 Nr. 1, 15 ff. RL-Entwurf). Eine erfolgswirksame Fair Value Bewertung ist allerdings gem. Art. 21 i.V.m. Art. 20 I lit. d, 4 Nr. 18, 20 RL-Entwurf für Finanzanlagen und finanzielle Verbindlichkeiten vorgesehen, die zu Handelszwecken gehalten werden. Das geht weiter als der derzeitige § 6 I Nr. 2b EStG181. Die vorgesehene anteilige Gewinnrealisierung nach Fertigungsfortschritt bei langfristiger Fertigung (Art. 22 RL-Entwurf) würde in Deutschland ebenfalls ein Umdenken erfordern. Ferner weichen die Abschreibungsregeln (Art. 10; 30 ff. RL-Entwurf) von den bisherigen steuerbilanzrechtlichen Vorschriften ab182, was ebenfalls krit. gesehen werden kann. Insb. sollen abnutzbare bewegliche WG des Anlagevermögens mit einer Nutzungsdauer von weniger als acht Jahren nicht einzeln bewertet, sondern in einen Sammelposten eingestellt und abgeschrieben werden (Poolabschreibung, Art. 37 i.V.m Art. 33 RL-Entwurf). Außerplanmäßige Abschreibungen auf abnutzbare Anlagegüter sind nicht vorgesehen. Erst bei Entsorgung oder Wegfall der Nutzbarkeit ist der steuerliche Wert des WG abziehbar (Art. 34 II RL-Entwurf). Auch Forderungen sind nicht schon bei Zweifelhaftigkeit abzuschreiben, sondern erst bei Uneinbringlichkeit i.S. des Art. 25 RL-Entwurf abziehbar. Die Grundvorschriften zu den Rückstellungen finden sich in Art. 23 RL-Entwurf. Danach sind Verbindlichkeitsrückstellungen abzugsfähig183. Rückstellungen mit einer Laufzeit von mindestens 12 Monaten sind abzuzinsen, und zwar mit dem durchschnittlichen jährlichen EURIBOR-Zinssatz für kurzfristige Schuldtitel (was gegenüber dem derzeitigen Zinssatz von 5,5 % eine deutliche Änderung wäre). Dabei nicht berücksichtigt werden dürfen freilich künftige Kostensteigerungen (Art. 23 III lit. b RL-Entwurf). Nicht abzugsfähig sind Rückstellungen für Drohverluste (Art. 23 III lit. a RLEntwurf). Das entspricht dem geltenden § 5 IVa EStG. Auch die derzeitigen Sondervorschriften der § 5 IIa, III und IVb 1 EStG dürften mit der GKB vereinbar sein (für § 5 IIa und IVb 1 EStG vgl. Art. 4 Nr. 6 RL-Entwurf; für § 5 III EStG s. Art. 17 lit. a, b, Art. 23 I 1 RL-Entwurf)184. Für den praktisch und betragsmäßig besonders bedeutsamen Bereich der Pensionsrückstellungen gewährt Art. 24 RL-Entwurf ein Mitgliedstaatenwahlrecht, was die angestrebte Harmonisierungskraft der Richtlinie deutlich beeinträchtigt.
177 Scheffler/Köstler, ifst-Schrift 518 (2017), S. 30 ff. 178 Scheffler/Köstler, ifst-Schrift 518 (2017), S. 32 f. 179 Herzig, DB 2012, 1 (2); U. Prinz, StuB 2011, 461 (462 f.); Scheffler/Köstler, ifst-Schrift 518 (2017), S. 34. 180 U. Prinz, StuB 2011, 461 (463). 181 Scheffler/Krebs, DStR-Beih. 2011, 13 (16); Scheffler/Köstler, ifst-Schrift 518 (2017), S. 39. 182 Scheffler/Köstler, ifst-Schrift 518 (2017), S. 47 ff. 183 Ausgenommen sind nach der GKB allerdings Kulanzrückstellungen gem. § 249 I 2 Nr. 2 HGB, weil bei diesen keine rechtliche Verpflichtung besteht, so Scheffler/Köstler, ifst-Schrift 518 (2017), S. 72 f. 184 Scheffler/Köstler, ifst-Schrift 518 (2017), S. 73 f.
574
Hennrichs
5. Zur Zukunft des Maßgeblichkeitsprinzips
Rz. 121 § 9
Auch sonst lässt der Entwurf manche wichtige Frage offen: Beispielsweise wird der zentrale Begriff des Wirtschaftsguts nicht näher definiert185. Hier ist nicht gesichert, dass das bisherige Verständnis (auch zur Abgrenzung der Wirtschaftsgüter untereinander) nach Umsetzung der Richtlinie fortgeführt werden könnte186. Auch zur genauen Abgrenzung des Fremdkapitals (beispielsweise bei stillen Einlagen oder Genussrechten) enthält die GKB keine Kriterien187. Ebenso fehlen explizite Regelungen zum Geschäfts- oder Firmenwert. Die Vorschriften zur Zurechnung beim sog. wirtschaftlichen Eigentümer (Art. 4 Nr. 28; Art. 32 RL-Entwurf) bleiben vor dem Hintergrund der wirtschaftlich großen Bedeutung etwa des Leasings ebenfalls eher rudimentär. Der neue Entwurf räumt der Kommission diesbezüglich die Befugnis ein, weitere Bestimmungen durch delegierte Rechtsakte zu erlassen (Art. 32 VI i.V.m. Art. 66 RL-Entwurf), was rechtsstaatlich ohne bestimmte Vorgaben durch den Unionsgesetzgeber zweifelhaft erscheint. Der GKB-Entwurf 2016 enthält darüber hinaus einige neue Vorschläge zur Ermittlung der Bemes- 121 sungsgrundlage, die in dem Papier von 2011 noch nicht enthalten waren: So sieht Art. 13 RL-Entwurf für die GKB nun ebenfalls eine Zinsschranke vor. Die deutsche Regelung des § 4h EStG, § 8a KStG erweist sich damit zunehmend als „Exportschlager“. Gleichsam im Gegenzug sollen nach dem GKB-Entwurf andererseits künftig in begrenztem Umfang fiktive EK-Zinsen abzugsfähig sein (Art. 11 RL-Entwurf, sog. Freibetrag für Wachstum und Investitionen (FWI)). Vorgeschlagen wird, fiktive Zinsen auf den Eigenkapitalzuwachs der Periode, d.h. für das nach erstmaliger Anwendung der GKB-Richtlinie im Unternehmen neu gebildete Eigenkapital, von der steuerlichen Bemessungsgrundlage abzuziehen (sog. Allowance for Growth and Investment, AGI)188. Das ist eine Spielart der zinsbereinigten Gewinnsteuer, bei der fiktive Zinsen auf das Eigenkapital wie Betriebsausgaben zum Abzug zugelassen werden (Allowance for Corporate Equity). Der Abzug fiktiver EK-Zinsen von der steuerlichen Bemessungsgrundlage zielt darauf, die steuerliche Bevorzugung der Fremdfinanzierung gegenüber der EK-Finanzierung abzumildern. Dieser sog. Debt Bias resultiert daraus, dass Zinsen auf Fremdkapital (z.B. auf Bankkredite oder Gesellschafterdarlehen) den steuerlichen Gewinn grds. (nämlich vorbehaltlich der Zinsschranke) mindern und daher nur beim Kapitalgeber als Zinseinkünfte besteuert werden, während Dividenden auf das Eigenkapital die steuerliche Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer nicht mindern (§ 8 III 1 KStG) und damit sowohl auf Ebene der Körperschaft als auch beim Anteilseigner besteuert werden. Dadurch werden steuerliche Anreize zu einer höheren Verschuldung durch FK-Finanzierung gesetzt. Die zinsbereinigte Gewinnsteuer setzt hier an und zielt auf eine Verbesserung der Finanzierungsneutralität des Steuerrechts. Freilich dürfte die Einführung einer solchen Regelung erhebliche Mindereinnahmen für den Fiskus zur Folge haben, selbst wenn man sie (wie in der GKB vorgeschlagen) auf den Eigenkapitalzuwachs ab Geltung der GKB beschränkt und das „Alt-EK“ nicht einbezieht. Unter dem Diktat der Aufkommensneutralität würden Minderungen des Steueraufkommens wahrscheinlich anderweitig ausgeglichen. Neu ist weiter der Vorschlag einer besonderen steuerlichen F&E-Förderung (Art. 9 II, III i.V.m. Art. 4 Nr. 11 RL-Entwurf). Gem. Art. 9 II RL-Entwurf können zunächst F&E-Kosten in dem Jahr, in dem sie angefallen sind, vollständig abgeschrieben werden. Das entspricht unserem § 5 II EStG. Zusätzlich soll nach Maßgabe des Art. 9 III RL-Entwurf aber noch ein erhöhter BA-Abzug i.H.v. grds. 50 % der tatsächlich entstandenen Kosten gewährt werden, d.h. es sollen mehr BA gewinnmindernd abgezogen werden können, als tatsächlich anfallen (Gewinnminderung um 150 % der tatsächlich angefallenen Ausgaben!)189. Für Start-Ups soll der erhöhte BA-Abzug sogar 100 % betragen (also Gewinnminderung um 200 % der tatsächlich angefallenen Kosten, Art. 9 III UAbs. 2 RL-Entwurf). Diese F&E-Förderung hat an sich wenig mit der angestrebten Harmonisierung der Gewinnermittlungsregeln
185 186 187 188 189
Scheffler/Köstler, ifst-Schrift 518 (2017), S. 41; Kahle/Schulz, StuB 2011, 296 (298). Scheffler/Krebs, DStR-Beih. 2011, 13 (17). Scheffler/Köstler, ifst-Schrift 518 (2017), S. 34. Dazu Rose, StuW 2017, 217 ff. (mit Verbesserungsvorschlägen im Detail). Scheffler/Köstler, ifst-Schrift 518 (2017), S. 101.
Hennrichs 575
§ 9 Rz. 122
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
zu tun, weshalb bspw. der Bundesrat der Ansicht ist, dass diese Regelung nicht in die GKB aufgenommen werden, sondern weiterhin den Mitgliedstaaten überlassen bleiben sollte190. Ebenfalls neu gefasst sind die Vorschriften über Verluste. Art. 41 III RL-Entwurf sieht dabei eine Art Mantelkaufregelung vor, die konzeptionell eher § 8 IV KStG a.F. als dem gegenwärtigen § 8c KStG entspricht191. Art. 42 I des Entwurfs sieht übergangsweise (bis zur Verwirklichung der zweiten Stufe des GKKB-Projekts, zu dem dann auch die Konsolidierung der Bemessungsgrundlage zählen soll) unter engen Voraussetzungen einen grenzüberschreitenden Verlustausgleich vor192. 122 Der vorgeschlagene Anwendungsbereich der GKB ist gem. Art. 2 RL-Entwurf in mehrfacher Hin-
sicht begrenzt193: Zum einen werden nur bestimmte Rechtsformen erfasst, nämlich allein Körperschaftsteuersubjekte (Art. 2 I lit. a i.V.m. Anh. I RL-Entwurf). Dabei ist die Anwendung zudem nur für größere Gruppen (Gesamtumsatz der konsolidierten Gruppe von mehr als 750 Mio. Euro im Vorjahr; Art. 2 I lit. c RL-Entwurf) verpflichtend; Unternehmen kleinerer Gruppen können optieren (Art. 2 III RL-Entwurf). Reedereien sind außerdem ganz ausgenommen (Art. 2 IV RL-Entwurf). Zum anderen soll die GKB auch nur für die Körperschaftsteuer (und nicht beispielsweise auch für die GewSt) gelten (Art. 2 I lit. b i.V.m. Anh. II RL-Entwurf). Für Personenunternehmen würde die GKB damit unionsrechtlich nicht verbindlich anwendbar sein. Allerdings wäre eine überschießende RLUmsetzung durch die Mitgliedstaaten denkbar, d.h. Deutschland könnte die GKB als Modell auch für Personenunternehmen und für die ESt sowie GewSt übernehmen194. 123 Die politischen Umsetzungschancen des Richtlinienentwurfs sind weiterhin eher skeptisch ein-
zuschätzen. Zwar erhöht die Aufteilung des umfassenden Projekts in zwei Stufen – zunächst GKB und später GKKB – die Umsetzungschancen, weil die Entscheidungen über die besonders problematische Verteilung des Steueraufkommens zunächst vertagt werden. Gleichwohl dürfte angesichts des für den Bereich der direkten Steuern geltenden Einstimmigkeitsprinzips sowie angesichts neuer Umstellungskosten für die Unternehmen eher mit langwierigen Verhandlungen und jedenfalls kurz- bis mittelfristig nicht mit einer Umsetzung der Richtlinie zu rechnen sein. Ob es einer EU-Regulierung dieses Bereiches überhaupt wirklich bedarf, ist ebenfalls nicht zweifelsfrei. Aus Sicht der Stpfl. sind die Pläne zu einer GK(K)B ohnehin skeptisch zu betrachten195. Zwar enthält der neue Entwurf von 2016 einige aus Unternehmenssicht beachtenswerte Vorschläge, insb. den vorgesehenen Freibetrag für Wachstum und Investitionen sowie die F&E-Förderung (oben Rz. 121). Ob diese Regelungen, die eine Minderung des Steueraufkommens zur Folge hätten, aber wirklich den Weg in die endgültige RL finden und in Deutschland kompensationslos umgesetzt würden, erscheint eher zweifelhaft. Der Bundesrat hat jedenfalls ausgerechnet gegen diese für Unternehmen günstigen Vorschläge wegen der befürchteten Mindereinnahmen Einwände erhoben196. Zudem kämen auf die Stpfl. wohl beträchtliche Umstellungskosten und jahrelange Rechtsunsicherheiten zu. Bei Rechtsstreitigkeiten über die richtige Anwendung der neuen RL müsste der EuGH angerufen werden. Das würde die Verfahrensdauer weiter verlängern. Ob das Recht der steuerlichen Gewinnermittlung beim EuGH in seiner derzeitigen Struktur fachlich gut aufgehoben wäre, mag man ebenfalls bezweifeln. 124 Alternativ wird eine völlige Abkehr vom bilanziellen Betriebsvermögensvergleich diskutiert. Eine
unternehmerische Überschussrechnung würde den Prinzipien der von F.W. Wagner präferierten Cash-Flow-Steuer (hierzu § 3 Rz. 77) entsprechen. Eine wachsende Zahl von Autoren sieht im Übergang vom Betriebsvermögensvergleich zu einer unternehmerischen Überschussrechnung einen Beitrag
190 191 192 193 194 195 196
576
BR-Drucks. 641/16, Rz. 6. Scheffler/Köstler, ifst-Schrift 518 (2017), S. 90 f. Dazu Scheffler/Köstler, ifst-Schrift 518 (2017), S. 106 ff. Scheffler/Köstler, ifst-Schrift 518 (2017), S. 25 ff. Vgl. auch BR-Drucks. 641/16, Rz. 4; Oestreicher/Scheffler/Spengel u.a., StuW 2014, 326. So auch Scheffler/Köstler, DStR 2013, 2235 (2239 f.). BR-Drucks. 641/16, Rz. 6 ff.
Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 126 § 9
zur Vereinfachung und einer zutr. Erfassung steuerlicher Leistungsfähigkeit197. Eine völlige Abkehr vom Bestandsvergleich erscheint jedoch einstweilen kaum realistisch, da viele Unternehmen auf eine bilanzielle Risikovorsorge (insb. in Gestalt von Rückstellungen) bestehen. Sinnvoll wäre es aber, die Überschussrechnung unabhängig von den Grenzen des § 141 AO wahlweise auch für handelsrechtlich buchführungspflichtige Kaufleute zu öffnen198.
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern des Betriebsvermögens und sonstigen Bilanzposten (Bilanzierung dem Grunde nach) 1. Der steuerrechtliche Begriff des Wirtschaftsguts 1.1 Vermögensgegenstand – Wirtschaftsgut Bilanzsteuerrechtliche Grundeinheit ist das Wirtschaftsgut. Von der Reichweite des Wirtschaftsgut- 125 begriffs hängt ab, ob Aufwendungen sofort abziehbar sind oder ob sie zu AK/HK eines zu aktivierenden Wirtschaftsguts führen. Mit der Aktivierung von Wirtschaftsgütern (und entsprechend mit der Passivierung von Schulden) wird zugleich die Gewinnrealisierung gesteuert. Die Aktivierung führt zu einem Zugang an Vermögen (die Passivierung entsprechend zu einem Zugang an Schulden). Wenn der Geschäftsvorfall keine anderen Bestandspositionen anspricht, ist er erfolgswirksam über die GuV zu erfassen. Die Kriterien der Aktivierung sind insoweit – neben anderen, insb. neben den Bewertungsregeln – zugleich Kriterien der Gewinnrealisierung199. Der steuerrechtliche Begriff des Wirtschaftsguts spielt zudem nicht nur im Betriebsvermögensvergleich nach §§ 5 I; 4 I EStG eine Rolle, sondern hat als Grundbegriff der Einkünfteermittlung und des Bewertungsrechts eine weit über das Steuerbilanzrecht hinausreichende Bedeutung. Nach st. Rspr. des BFH ist der Begriff des Wirtschaftsguts weit zu verstehen200. Wirtschaftsgüter sind 126 hiernach nicht nur Sachen und Rechte im Sinne des BGB, sondern auch tatsächliche Zustände und konkrete Möglichkeiten, d.h. sämtliche Vorteile für den Betrieb, deren Erlangung sich der Kaufmann etwas kosten lässt, die also aus der Sicht eines potentiellen Betriebserwerbers einen eigenständigen Wert haben201. Der Vermögenswert muss als Einzelheit ins Gewicht fallen („Greifbarkeit“) und es muss sich „um eine objektiv werthaltige Position handeln“202. Entscheidend kommt es hiernach auf die Greifbarkeit i.S. eines selbständigen Werts an. Demgegenüber soll die selbständige Verwertbarkeit kein Kriterium sein; insoweit genüge die Verwertbarkeit zusammen mit dem Betrieb als Ganzes203. Danach ist der derivative Geschäfts- oder Firmenwert steuerrechtlich ein Wirtschaftsgut (s. auch § 7 I 3 EStG)204.
197 Insb. Weber-Grellet, BB 1999, 2666; ferner Kanzler, FR 1998, 247; Dziadkowski, BB 2000, 399; Elicker, StuW 2002, 217; Schreiber, StuW 2002, 105; Dicken, Gewinnermittlungsrecht. Steuerrechtliches Plädoyer für eine Einnahmen-Ausgaben-Rechnung, 2003; Tipke, StRO II2, 861 ff.; Fritz-Schmied, Die steuerbilanzielle Gewinnermittlung, 2005, 282 ff.; Knirsch, StuB 2006, 465 (zu den Zinseffekten); abl. Ehrhardt-Rauch, DStZ 2001, 423; D. Schneider, StuW 2004, 293. 198 Kölner EStGE, Rz. 301, 400; s. auch den Vorschlag von Herzig, IAS/IFRS und steuerliche Gewinnermittlung, 2004, 370 ff.; ferner Kahle/Günter, StuW 2012, 43 (52). 199 Zutr. Wassermeyer DB 2001, 1053 (1054). 200 Grundl. BFH v. 7.8.2000 – GrS 2/99, BStBl. II 2000, 632 (635) m.w.N.; ferner BFH v. 2.3.1970 – GrS 1/69, BStBl. II 1970, 382. 201 BFH v. 12.2.2015 – IV R 29/12, BStBl. II 2017, 668 (Rz. 14); BFH v. 21.10.2015 – IV R 6/12, BStBl. II 2017, 45 (Rz. 17); BFH v. 7.8.2000 – GrS 2/99, BStBl. II 2000, 632. 202 BFH v. 7.8.2000 – GrS 2/99, BStBl. II 2000, 632 (Rz. 46). 203 BFH v. 5.10.2011 – I R 94/10, BStBl. II 2012, 244 (Rz. 10); BFH v. 9.8.2011 – VIII R 13/08, BStBl. II 2011, 875. 204 So explizit BFH v. 9.8.2011 – VIII R 13/08, BStBl. II 2011, 875; a.A. Söffing, FS Döllerer, 1988, 493; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 95 ff. (Charakter einer Bilanzierungshilfe).
Hennrichs 577
§ 9 Rz. 127
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Die (bisher) h.M. geht davon aus, dass aufgrund des Maßgeblichkeitsgrundsatzes der steuerrechtliche Begriff des (aktiven) Wirtschaftsguts und der handelsrechtliche Begriff des Vermögensgegenstands inhaltlich übereinstimmen205. Daran wird man jedenfalls seit Inkrafttreten des BilMoG kaum noch festhalten können206. Der handelsrechtliche Begriff des Vermögensgegenstandes setzt nämlich ausweislich der Materialien zum BilMoG207 die selbständige Verwertbarkeit voraus208. Das Gut muss bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise und „nach der Verkehrsauffassung einzeln verwertbar“ sein, „sei es durch Veräußerung oder anderweitig, beispielsweise durch Verarbeitung, Verbrauch oder Nutzungsüberlassung“209. Handelsrechtlich ist mithin die Einzelverwertbarkeit des mit dem Gut verbundenen wirtschaftlichen Potentials das zentrale Merkmal des Vermögensgegenstands. Dies bestätigt die Vorschrift des § 246 I 4 HGB, wonach ein derivativ erworbener Geschäfts- oder Firmenwert kein Vermögensgegenstand i.S.d. HGB ist, sondern als solcher lediglich fingiert wird („gilt als … Vermögensgegenstand“). Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der steuerrechtliche Begriff des Wirtschaftsguts auch passive Wirtschaftsgüter umfasst210, während der handelsrechtliche Begriff des Vermögensgegenstands allein auf die Aktivseite der Bilanz bezogen ist. Passive Wirtschaftsgüter sind Verbindlichkeiten und Rückstellungen (§ 249 HGB; §§ 5 III, IV, IVa, IVb; 6 I Nr. 3, 3a EStG). Demgegenüber keine Wirtschaftsgüter, sondern Posten eigener Art sind die Rechnungsabgrenzungsposten (§ 5 V EStG). 127 Die Definition des Begriffs „Wirtschaftsgut“ grenzt die sog. abstrakte Bilanzierungsfähigkeit ab.
Davon zu unterscheiden ist die konkrete Bilanzierungsfähigkeit, bei der Fragen der Zurechnung (s. § 39 AO; § 246 I 2, 3 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG) und mögliche Ansatzverbote (z.B. § 5 II EStG, dazu sogleich) oder Wahlrechte zu berücksichtigen sind. 1.2 Besonderheiten einzelner Wirtschaftsgüter 1.2.1 Immaterielle Wirtschaftsgüter 128 Gemäß dem Vollständigkeitsgebot (§ 246 I 1 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG) sind grds. sämtliche WG an-
zusetzen. Ausnahmsweise bestehen allerdings Bilanzierungsverbote. Ein solches Ansatzverbot normiert § 5 II EStG für selbst geschaffene immaterielle Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens211. 205 Vgl. BFH v. 7.8.2000 – GrS 2/99, BStBl. II 2000, 632; BFH v. 2.3.1970 – GrS 1/69, BStBl. II 1970, 382; BFH v. 26.2.1975 – I R 72/73, BStBl. II 1976, 13 (14); st. Rspr.; aus der Lit. z.B. HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 555; krit. aber z.B. Großkomm. HGB/Kleindiek5, § 246 HGB Rz. 10. Eingehend Roland, Der Begriff des Vermögensgegenstandes i.S.d. handels- und aktienrechtlichen Rechnungslegungsvorschriften, Diss., 1980; Ley, Der Begriff „Wirtschaftsgut“ und seine Bedeutung für die Aktivierung2, 1987. 206 Für eine eigenständige steuerrechtliche Definition bereits früher Costede, StuW 1995, 115 (116); KSM/ Plückebaum, § 4 EStG Rz. B 50 (1987); Weber-Grellet, Steuerbilanzrecht, 1996, § 8 Rz. 3. 207 Vgl. BT-Drucks. 16/10067, 50 u. 60. 208 Großkomm. HGB/Kleindiek5, § 246 HGB Rz. 8; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 21 ff. 209 Vgl. BT-Drucks. 16/10067, 50 u. 60; s. außerdem Hennrichs, DB 2008, 537 (539). 210 So regelt § 6 EStG die Bewertung von Wirtschaftsgütern, darunter auch die von Verbindlichkeiten und Rückstellungen (§ 6 I Nr. 3, 3a EStG). 211 Dazu Glade, Immaterielle Anlagewerte in Handelsbilanz, Steuerbilanz und Vermögensaufstellung, Diss., 1991; Stieler, Die Abgrenzung materieller und immaterieller Wirtschaftsgüter, 1999; Niemann, Immaterielle Wirtschaftsgüter im Handels- und Steuerrecht, 2. Aufl. 2006; Haase, Geistiges Eigentum: Nationales und Internationales Steuerrecht der immateriellen Wirtschaftsgüter, 2011; Staschewski, Vertragsarztzulassung und Besteuerung: Steuerfolgen der „Übertragung“ bei Einzelpraxen und Medizinischen Versorgungszentren, 2011; Wehrum, Ansatz und Bewertung immaterieller Wirtschaftsgüter beim Unternehmenserwerb, 2011; Vögele, Geistiges Eigentum – Intellectual Property, 2014; Schwarz, Das wirtschaftliche Eigentum an Rechten: Eine Untersuchung der wirtschaftlichen Zurechnung immaterieller Wirtschaftsgüter nach dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz am Beispiel der bilanziellen Behandlung von Medienfonds, 2016; Monferrini, Immaterielle Werte in der Rechnungslegung, 2016;
578
Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 130 § 9
Die Werthaltigkeit von eigenen Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen ist häufig sehr schwer zu bestimmen. Bereits die Zuordnung der Herstellungskosten gelingt vielfach nicht eindeutig. Überdies ist der innere Wert von selbst geschaffenen immateriellen Anlagegütern besonders unsicher, weil es für solche Wertträger meistens keine aktiven Märkte gibt und der Kaufmann vielleicht auch dazu neigt, den Wert etwa der eigenen Erfindung zu überschätzen. Deshalb sollen solche Anlagewerte, die noch keinen Markttest bestanden haben, nach dem Gedanken der Objektivierung und dem Realisationsprinzip steuerlich nicht als aktive WG erfasst werden212. § 5 II EStG wirkt im Ergebnis wie eine Sofortabschreibung der Aufwendungen für selbst erstellte immaterielle Anlagewerte. Das ist durchaus eine beachtliche steuerliche F&E-Förderung. De lege ferenda wird gleichwohl darüber hinaus eine weitergehende F&E- und Start Up-Förderung diskutiert, bei der insb. Lohnaufwendungen sogar zu mehr als 100 % bei der steuerlichen Gewinnermittlung abgezogen werden dürften (s. bereits oben Rz. 121 zur GKB). Das Gesetz enthält keine abstrakte Definition des immateriellen Wirtschaftsguts. § 266 II A I HGB 129 listet die „immateriellen Vermögensgegenstände“ lediglich auf und nennt beispielhaft insb. (1.) gewerbliche Schutzrechte und ähnliche Rechte und Werte sowie Lizenzen an solchen Rechten und Werten sowie (2.) Konzessionen213. Die in Rz. 126 genannten Kriterien für ein Wirtschaftsgut müssen erfüllt sein. An dieser Stelle, also bei den immateriellen Wirtschaftsgütern, entfalten diese Kriterien sogar ihre eigentliche (Abgrenzungs-) Bedeutung (denn Gegenstände i.S. des bürgerlichen Rechts [Sachen und Rechte] sind unproblematisch Wirtschaftsgüter). Nach der (allerdings nicht immer einheitlichen und teilweise auch umstr.) Rspr. können insb. folgende 130 Werte als Wirtschaftsgüter zu erfassen sein: Immaterialgüterrechte wie Patente, Marken u. Warenzeichen, Urheber-, Verlags- und Filmrechte214; darüber hinaus aber auch ungeschützte Erfindungen, Fabrikationsverfahren und sonstiges Know-how; ferner: konzessionsähnliche Belieferungsrechte, die auf einer vereinbarten oder sonst rechtlich begründeten Absatzmöglichkeit beruhen215; Mineralgewinnungsrechte, Güterfernverkehrsgenehmigungen216, Emissionsberechtigungen217; Spielerlaubnisse im Lizenzfußball218; Beteiligung eines Wohnungseigentümers an einer Instandhaltungsrückstellung219; Rezeptur eines Pflanzenschutzmittels220; Aufwendungen für die Übertragung eines Domain-Namens an den bisherigen Domain-Inhaber221 (aber str. und richtigerweise zu verneinen, wenn die Domain, wie regelmäßig, wirtschaftlich vom Unternehmen nicht getrennt werden kann222); eine Ver-
212 213 214 215 216 217
218 219 220 221 222
Moser, Bewertung immaterieller Vermögenswerte: Grundlagen, Anwendung anhand eines Fallbeispiels, Bilanzierung, Goodwill, 2017. S. auch DRS 24 Immaterielle Vermögensgegenstände im Konzernabschluss. J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, 293 ff. m.w.N. Krit. und de lege ferenda für eine Ansatzpflicht in Handels- und Steuerbilanz Mayr, DStJG 34 (2011), 327 (336 ff.) m.w.N. Ausf. HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 1680 ff. BFH v. 20.9.1995 – X R 225/93, BStBl. II 1997, 320. BFH v. 3.9.2002 – 1 B 144/01, BFH/NV 2003, 154. BFH v. 10.8.1989 – X R 176-177/87, BStBl. II 1990, 15. BMF BStBl. I 2005, 1047; dazu auch Röster, Bilanzierung und Besteuerung von Emissionszertifikaten, Wien 2006; Völker-Lehmkuhl, Praxis der Bilanzierung und Besteuerung von CO2-Emissionsrechten, 2006; Herzig/Jensen-Nissen/Koch, FR 2006, 109; Redeker/Scholze/Wielenberg, StuW 2007, 251; Altenschmidt/Lohmann, IStR 2007, 574. BFH v. 26.8.1992 – I R 24/91, BStBl. II 1992, 977; bestätigt von BFH v. 14.12.2011 – I R 108/10, BStBl. II 2012, 238. Dazu krit. Hüttemann, DStR 1994, 490; Jansen, FR 2007, 837. BFH v. 5.10.2011 – I R 94/10, BStBl. II 2012, 244. BFH v. 8.9.2011 – IV R 5/09, BStBl. II 2012, 122. BFH v. 19.10.2006 – III R 6/05, BStBl. II 2007, 301; vgl. dazu außerdem Kessler, DB 1998, 1341; Schick/ Nolte, DB 2002, 541; Thiele, ÖStZ 2005, 473 u. 2006, 334; Wübbelsmann, DStR 2005, 1659; Schmittmann, StuB 2007, 217. Zutr. Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh18, § 42 GmbHG Rz. 78.
Hennrichs 579
§ 9 Rz. 131
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
tragsarztzulassung im Fall der gesonderten Übertragung ohne Praxis223; Abstandszahlungen zur Ablösung von obligatorischen Nutzungsrechten zwecks Erlangung der vorzeitigen Nutzbarkeit224. Bei Software225 ist zu unterscheiden: Individualsoftware ist ein immaterielles Wirtschaftsgut. Ob es entgeltlich erworben oder selbst hergestellt wird, beurteilt sich danach, wer Hersteller ist, nämlich wer die Gesamtverantwortung (Initiative) hat und das wirtschaftliche Risiko trägt (s. auch Rz. 135)226. Trägt es der Lieferant, liegt beim Unternehmen ein entgeltlicher Erwerb vor, trägt es dagegen das Unternehmen, stellt es selbst her227. Ebenso den immateriellen WG zuzuordnen ist Standardsoftware228. Sie wird regelmäßig angeschafft (und nicht selbst hergestellt), selbst wenn umfangreichere Maßnahmen zur Herstellung der Betriebsbereitschaft sowie zum Einbau zusätzlicher Funktionalitäten (sog. Customizing) vorgenommen werden229. Ausnahmsweise ist von einer Selbstherstellung auszugehen, wenn das Programm so umfangreich modifiziert wird, dass von einer Wesensänderung auszugehen ist; die vermeintliche Standardsoftware ist dann in Wahrheit selbst hergestellte Individualsoftware230. Trivialprogramme (AK unterhalb der Schwelle der GWG) werden demgegenüber von der FinVerw. als materielle, bewegliche WG eingeordnet (R 5.5 Abs. 1 EStR). Sog. Firmware schließlich ist integraler Bestandteil der jeweiligen Hardware und damit unselbständiger Teil eines materiellen Wirtschaftsguts231. Problematisch ist die WG-Eigenschaft von Auftragsbeständen232. An sich handelt es sich dabei letztlich um bloße Gewinnchancen aus schwebenden Geschäften233. Die Praxis nimmt gleichwohl an, ein bei Erwerb eines Unternehmens übernommener Auftragsbestand sei ein selbständig bewertungsfähiges abschreibbares WG und nicht Bestandteil des Geschäftswerts234. Gleiches soll für einen übernommenen Kundenstamm gelten235. 131 Keine (selbständigen) Wirtschaftsgüter (sondern unselbständiger Teil des Geschäfts- oder Firmen-
werts) sind demgegenüber: Aufwendungen für einen Reklamefeldzug; Faktoren wie ein günstiger Standort, Mitarbeiterfähigkeiten, Aus- und Weiterbildungskosten, günstige Miet- oder Leasingverträge, bloße Nutzungsvorteile (BFH GrS BStBl. II 1988, 348), die Vertragsarztzulassung beim Erwerb einer Arztpraxis (unselbständiger Teil des Praxiswerts236). 132 Dingliche Nutzungsrechte (z.B. Nießbrauch, §§ 1030 ff. BGB) und obligatorische Forderungen auf
Nutzungsüberlassung (etwa aus Miete, Pacht oder Leasing) sind als solche zwar Gegenstände im 223 BFH v. 21.2.1017 – VIII R 56/14, BStBl. II 2017, 694. Wird die Vertragsarztzulassung dagegen zusammen mit der Arztpraxis erworben, ist die Zulassung unselbständiger Teil des Praxiswerts, BFH v. 9.8.2011 – VIII R 13/08, BStBl. II 2011, 875. 224 BFH v. 2.3.1970 – GrS 1/69, BStBl. II 1970, 382. 225 Dazu ausf. Stapperfend, Die steuer- und bilanzrechtliche Behandlung von Software, Diss., 1991; ferner IDW RS HFA 11; Küting/Pilshofer/Kirchhof, WPg. 2002, 73 (US-GAAP u. IAS); zu ERP-Software BMF BStBl. 2005, 1025; Groß/Georgius/Matheis, DStR 2006, 339. 226 BFH v. 20.9.1995 – X R 225/93, BStBl. II 1997, 320 (für Filmrechte). 227 IDW RS HFA 11; Beck’scher Bilanz-Komm./Schubert/Gadek11, § 255 HGB Rz. 38. 228 BFH v. 28.7.1994 – III R 47/92, BStBl. II 1994, 873; BFH v. 18.5.2011 – X R 26/09, BStBl. II 2011, 865. 229 BMF BStBl. 2005, 1025 (zu ERP-Software). S. auch DRS 24.32 ff.; IDW RS HFA 11 Rz. 16 ff. 230 IDW RS HFA 11 Rz. 14; Beck’scher Bilanz-Komm./Schubert/Gadek11, § 255 HGB Rz. 38. 231 IDW RS HFA 11 Rz. 4. 232 Eingehend Klostermann, Der Auftragsbestand als Wirtschaftsgut, Diss., 2000. 233 Zutr. Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh18, § 42 GmbHG Rz. 73, 78; Siegel, DB 1997, 941 (943). 234 BFH v. 5.8.1970, I R 180/66, BStBl. II 1970, 804 (805); FG Münster v. 1.2.2008 – 9 K 2367/03, EFG 2008, 1449; zust. HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 1700. 235 BFH v. 26.11.2009, BStBl. II 2010, 609; a.A. zu Recht Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh18, § 42 GmbHG Rz. 78, weil die Kundenloyalität nicht genügend sicher ist. 236 BFH v. 9.8.2011 – VIII R 13/08, BStBl. II 2011, 875 – Anders dagegen bei isolierter Anschaffung nur der Vertragsarztzulassung ohne Praxis, s. BFH v. 21.2.1017 – VIII R 56/14, BStBl. II 2017, 694.
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Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 134 § 9
Sinne des bürgerlichen Rechts (denn dieser Begriff umfasst auch Rechte und Forderungen) und damit an sich abstrakt aktivierbar237. Soweit sie Teil eines noch schwebenden Geschäfts sind, werden sie nach dem GoB der Nichtbilanzierung schwebender Geschäfte gleichwohl nicht bilanziert238. Ein auf die Nutzung entfallendes Entgelt (laufende Mietzahlungen) kann nach h.M. daher nicht als AK eines immateriellen WG „Nutzungsrecht“ aktiviert werden239. Mangels Anschaffungskosten sind folgerichtig auch keine Anschaffungsnebenkosten gegeben, so dass namentlich Maklerprovisionen, die im Zusammenhang mit dem Abschluss eines Miet- oder Pachtvertrags gezahlt werden, nicht aktivierbar sind240. Vorauszahlungen auf das laufende Nutzungsentgelt (Mietzinsvorauszahlungen) sind abzugrenzen (§ 5 V EStG). Abstandszahlungen zur Ablösung von obligatorischen Nutzungsrechten (z.B. Zahlungen, die der Erwerber eines Grundstücks an den Pächter eines auf diesem Grundstück befindlichen Gewerbebetriebs leistet, um ihn zur Räumung des Grundstücks vor Ablauf der vertraglich festgelegten Pachtzeit zu veranlassen) sollen dagegen AK eines selbständig bewertbaren WG „vorzeitige Nutzbarkeit“ sein241. Zu Abstandszahlungen an dinglich Nutzungsberechtigte (nachträgliche AK auf das Grundstück!) s. unten Rz. 237. Mitunter kann die Frage, ob ein Vorteil nach den oben Rz. 126 dargestellten Kriterien als WG einzuordnen ist, dahingestellt bleiben, wenn es jedenfalls den immateriellen Anlagegütern zuzuordnen wäre und nicht entgeltlich angeschafft wurde (zu diesen Merkmalen sogleich). Denn dann bestünde für das fragliche WG ohnehin das Aktivierungsverbot gem. § 5 II EStG. Haben Aufwendungen zu einem immateriellen WG geführt, d.h. liegen die o.g. Kriterien für ein WG 133 (Rz. 126, 130 ff.) vor, ist weiter eine Zuordnung zum Anlage- oder Umlaufvermögen erforderlich. Denn die Sondervorschrift des § 5 II EStG gilt nur für immaterielle Anlagegüter. Im Übrigen bleibt es bei dem Vollständigkeitsgebot gem. § 246 I 1 HGB; § 5 I 1 EStG. Gehört das selbst geschaffene Wirtschaftsgut also dem Umlaufvermögen an, ist es mit den Herstellungskosten zu aktivieren242. Die Abgrenzung des Anlage- vom Umlaufvermögens richtet sich gem. § 247 II HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG nach der Zweckbestimmung. Dem AV sind nur solche WG zuzuordnen, die bestimmt sind, dauernd dem Betrieb zu dienen. Immaterielle WG des AV sind gem. § 5 II EStG nur anzusetzen, wenn sie „entgeltlich erworben“, also 134 (gegen Entgelt) angeschafft wurden. Das macht eine Abgrenzung der Anschaffung von der Herstellung erforderlich. Ein Erwerb (Anschaffung) setzt voraus, dass gerade der immaterielle Wert als solcher Gegenstand des Erwerbsvorgangs ist243. Bloße Dienstleistungen Dritter oder Zulieferungen, die lediglich zur Selbstherstellung durch den Kaufmann beitragen, genügen nicht244. Ebenfalls kein Erwerbsentgelt sind Gebühren bei der Anmeldung von Immaterialgüterrechten (z.B. Patentgebühren oder Kosten des Patentanwalts).
237 Kußmaul/Ollinger, StuW 2011, 282 (286 f.); eingehend S. Koch, Bilanzierung von Nutzungsrechten nach GoB und IFRS, Diss., 2011, 104 ff. 238 Vgl. D. Meyer, Einkommensteuerliche Behandlung des Nießbrauchs und anderer Nutzungsüberlassungen, 1984; Fabri, Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung entgeltlicher Nutzungsverhältnisse, Diss., 1987; Kußmaul, Nutzungsrechte an Grundstücken in Handels- und Steuerbilanz, 1987; Mathiak, FS Döllerer, 1988, 397; Kußmaul/Ollinger, StuW 2011, 282; krit. HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 1687; Bieg, Schwebende Geschäfte in Handels- und Steuerbilanz, 1977, S. 346 ff. 239 A.A. HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 1687 a.E. für durch einmalige Zahlungen erworbene zeitlich bestimmte Nutzungsrechte. Anders auch neuerdings IFRS 16 (right-of-use-approach); dazu s. auch Völk, Bilanzierung von Leasingverhältnissen - wirtschaftliches Eigentum oder Nutzungsrecht?, 2016. 240 BFH v. 19.6.1997 – IV R 16/95, BStBl. II 1997, 808. 241 S. BFH v. 2.3.1970 – GrS 1/69, BStBl. II 1970, 382. 242 Zur bes. umstr. Abgrenzung bei Medienfonds s. BFH v. 20.9.1995 – X R 225/93, BStBl. II 1997, 320; ferner sog. Medienerlass, BMF BStBl. I 2001, 175 u. 2003, 406; Wassermeyer, DB 2010, 354. 243 MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 248 HGB Rz. 43 ff. m.w.N. 244 HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 1733.
Hennrichs 581
§ 9 Rz. 135
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
135 Bei Filmrechten, Fernsehproduktionen, Individualsoftware u.ä. Immaterialgütern wird zwischen
echter und unechter Auftragsproduktion unterschieden245: Bei der sog. echten Auftragsproduktion vergibt der Auftraggeber (z.B. eine Fernsehanstalt) einen Auftrag zur Herstellung an den Auftragnehmer, der als Produzent die Einzelheiten der Auftragsdurchführung bestimmt und das Risiko der Produktion trägt. Dann ist der Auftragnehmer Hersteller eines Immaterialguts246, das bei ihm allerdings zum UV zählt und daher zu aktivieren ist. Der Auftraggeber erwirbt das Produkt, d.h. bei ihm liegt ein Anschaffungsvorgang an, was ebenfalls zur Aktivierung führt. Bei der sog. unechten Auftragsproduktion dagegen liegen Initiative, Gestaltung und wirtschaftliches Risiko gemäß den vertraglichen Absprachen beim Auftraggeber, er stellt selbst her, der Auftragnehmer ist nur Dienstleister im Rahmen der Selbstherstellung durch den Auftraggeber. Bei dieser Sachlage greift für den Auftraggeber das Aktivierungsverbot gem. § 5 II EStG. Maßgebend für die Abgrenzung im Einzelfall ist die jeweilige Vertragsgestaltung247. Maßgebend ist u.a., für wessen Rechnung die Verträge zum Erwerb von Leistungsschutzrechten beispielsweise von Künstlern, Verlegern und Autoren abgeschlossen werden, wer die Einzelheiten der Produktion bestimmt und wer das wirtschaftliche Risiko trägt. 136 Das Entgelt braucht nicht in Geld zu bestehen, der Erwerb kann auch in der Übernahme von
Schulden bestehen oder auf einem Tauschvorgang beruhen. Vergütungen für Arbeitnehmererfindungen sind (aktivierungspflichtiges) Entgelt, soweit es sich um sog. freie Erfindungen handelt; dagegen sind Vergütungen gem. §§ 9, 10 ArbnErfG für sog. Diensterfindungen (§ 4 ArbnErfG) nach wohl h.M. HK und nicht Entgelt248. Werden immaterielle Anlagewerte zusammen mit anderen Gegenständen oder im Rahmen eines Unternehmenserwerbs angeschafft, sind sie entgeltlich erworben und damit gesondert anzusetzen. Bei Übertragung von Betrieben ist daher zu prüfen, ob neben dem Geschäftswert eigenständige immaterielle Wirtschaftsgüter übertragen werden249. Für die Zuordnung der Anschaffungskosten gelten die allgemeinen Grundsätze. 137 § 5 II EStG gilt nicht, wenn ein selbst geschaffenes immaterielles Wirtschaftsgut unentgeltlich aus
dem Privat- in ein Betriebsvermögen eingelegt wird. §§ 4 I 8; 6 I Nr. 5 EStG haben gegenüber § 5 II EStG Vorrang250. Zwar fehlt es dann an einem wertkonkretisierenden Transaktionsakt am Markt, doch ist der Ansatz hier erforderlich, um die Abgrenzung zwischen betrieblicher und außerbetrieblicher Sphäre zu gewährleisten (hierzu Rz. 360). 1.2.2 Selbständige Vermögensgegenstände und unselbständige Teile, insb.: Grundstücke und Gebäude, selbständige Gebäudeteile und selbständige bewegliche Wirtschaftsgüter 138 Bei bebauten Grundstücken stellen Grund und Boden einerseits, Gebäude andererseits stets eigen-
ständige Wirtschaftsgüter dar. Der Grund und Boden gehört i.d.R. zum nicht abnutzbaren Anlagevermögen (§ 247 II HGB), das (von Teilwertabschreibungen abgesehen) mit den Anschaffungskosten zu bilanzieren ist (vgl § 6 I Nr. 2 EStG). Demgegenüber sind Gebäude abnutzbare WG (regelmäßig des AV), deren Nutzung zeitlich begrenzt ist und deren Anschaffungs- oder Herstellungskosten deshalb um AfA zu vermindern sind (§ 6 I Nr. 1 i.V.m. § 7 IV, V EStG). Auch innerhalb eines Gebäudes können bilanzrechtlich je nach Nutzungs- und Funktionszusammenhang selbständige Gebäudetei245 BFH v. 20.9.1995 – X R 225/93, BStBl. II 1997, 320; BMF BStBl. I 2001, 175; 2003, 406; Beck’scher Bilanz-Komm./Schubert/Gadek11, § 255 HGB Rz. 38. 246 Vgl. BFH v. 5.3.1992 – IV B 178/90, BStBl. II 1992, 725; FG München v. 26.4.2010 – 7 K 3217/07, juris (rkr.). 247 MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 248 HGB Rz. 49; Beck’scher Bilanz-Komm./Schubert/Gadek11, § 255 HGB Rz. 38. 248 HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 1834; MünchKomm. HGB/Ballwieser, 3. Aufl. 2013, § 248 Rz. 36; Beck’scher Bilanz-Komm./Schubert/F.Huber11, § 247 HGB Rz. 391; Rehfeldt, JbFStR 2015/2016, 904 ff.; a.A. MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 248 HGB Rz. 56; Kleindiek in Staub5, § 248 HGB Rz. 44; Wolffgang in K/S/M, § 5 Rz C 200. 249 Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 118 f. 250 HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 1672.
582
Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 141 § 9
le anzunehmen sein (§ 7 Va EStG)251. Wird ein Gebäude teils eigenbetrieblich (1), teils fremdbetrieblich genutzt (2), teils vermietet (3) und teils selbst bewohnt (4), so werden vier selbständige Gebäudeteile als steuerlich eigenständige WG angenommen. Dagegen sind Bestandteile, die mit dem Gebäude in einem einheitlichen Nutzungs- und Funktionszusammenhang stehen (z.B. Heizungsanlage, sanitäre Anlagen), unselbständige Gebäudebestandteile und einheitlich mit dem Gebäude zu bilanzieren und abzuschreiben. Selbständige bewegliche Wirtschaftsgüter sind Zubehör (z.B. Mülltonnen), Scheinbestandteile i.S.d. 139 § 95 BGB sowie ferner Betriebsvorrichtungen i.S.d. § 68 II 1 Nr. 2 BewG, selbst wenn letztere zivilrechtlich zu den wesentlichen Bestandteilen des Gebäudes i.S.d. §§ 93; 94 II BGB zählen (z.B. Lastenaufzüge, Hochregallager, Fertigungsstraßen, Kühlanlagen252). Ebenfalls selbständige Wirtschaftsgüter, aber unbewegliche, sind Ladeneinbauten (z.B. Schaufensteranlagen und Gaststätteneinbauten, s. R 4.2 EStR) sowie Bodenschätze (z.B. Kies- und Sandvorkommen), sobald sie entdeckt sind und mit ihrer Aufschließung begonnen wird oder alsbald damit zu rechnen ist253. Die Abgrenzung erfolgt teils sehr kasuistisch. Bei einem Windpark stellt jede Windkraftanlage mit dem dazugehörigen Transformator nebst der verbindenden Verkabelung ein zusammengesetztes Wirtschaftsgut dar. Daneben ist die Verkabelung von den Transformatoren bis zum Stromnetz des Energieversorgers zusammen mit der Übergabestation als weiteres zusammengesetztes Wirtschaftsgut zu behandeln, soweit dadurch mehrere Windkraftanlagen miteinander verbunden werden. Auch die Zuwegung stellt ein eigenständiges Wirtschaftsgut dar254. 1.2.3 Forderungen Forderungen sind ohne weiteres Wirtschaftsgüter i.S. der o.g. Definition (nämlich Gegenstände i.S.d. 140 Bürgerlichen Rechts) und damit abstrakt aktivierbar255. Problematisch kann bei Forderungen aber die konkrete Aktivierbarkeit sein, namentlich der Zeitpunkt der Aktivierung. Forderungen aus schwebenden Umsatzgeschäften werden nach dem GoB der Nichtbilanzierung schwebender Geschäfte (Rz. 76) zunächst nicht bilanziert. Die Aktivierung etwa einer Kaufpreisforderung setzt gemäß dem Realisationsprinzip (Rz. 78) das Bewirken der Leistung durch den Verkäufer (grds. durch Lieferung) voraus (näher Rz. 413). Für bestrittene Forderungen, die nicht auf gegenseitigen Verträgen beruhen, darf wegen des Vor- 141 sichts- und Realisationsprinzips (Rz. 78) ein Aktivposten erst angesetzt werden, wenn die Forderung entweder anerkannt oder durch rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zuerkannt ist256. Das gilt auch für die Aktivierung streitiger Steuerforderungen257. Bestritten sind beispielsweise Umsatzsteuer-Erstattungsansprüche aber dann nicht mehr, wenn sie vorbehaltlos im BStBl. veröffentlicht sind (BFH BStBl. II 2012, 190). Zinslos gestundete (sog. betagte) Forderungen sind anzusetzen. Der Umstand, dass die Leistung nicht sofort fällig ist, ist ökonomisch betrachtet an sich bewertungsrelevant, denn ein gedachter Er251 BFH v. 26.11.1973 – GrS 5/71, BStBl. II 1974, 132; BFH v. 7.7.1998 – IX R 16/96, BStBl. II 1998, 625; BFH v. 22.9.2005 – IX R 26/04, BStBl. II 2006, 169; Kahle/Heinstein, DStZ 2006, 825. 252 Abgrenzung zum Grundvermögen BFH v. 15.6.2005 – II R 67/04, BStBl. II 2005, 688; BMF BStBl. I 2006, 314. 253 BFH v. 4.12.2006 – GrS 1/05, BStBl. II 2007, 508 (514); s. auch BFH IV R 36/06 (juris). 254 BFH v. 14.4.2011 – IV R 46/09, BStBl. II 2011, 696; BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10, BStBl. II 2012, 407. 255 Zur Bilanzierung von Forderungen s. ausf. U. Scholz, Die Aktivierung einseitiger Forderungen in Handels- und Steuerbilanz, Diss., 2003; ferner Ehmcke, DStZ 1995, 691; Weber-Grellet, StuB 2004, 217. 256 BFH v. 26.4.1989 – I R 147/84, BStBl. II 1991, 213; BFH v. 31.8.2011 – X R 19/10, BStBl. II 2012, 190; BFH v. 15.11.2011 – I R 96/10, BFH/NV 2012, 991; BFH v. 26.2.2014 – I R 12/14, BFH/NV 2014, 1544; Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 EStG Rz. 270 „Forderungen“; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 52; Großkomm. HGB/Kleindiek5, § 246 HGB Rz. 20; Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh18, § 42 GmbHG Rz. 82. 257 BFH v. 15.11.2011 – I R 96/10, BFH/NV 2012, 991.
Hennrichs 583
§ 9 Rz. 142
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
werber würde für solche Forderungen nicht den Nennbetrag, sondern nur den Barwert (abgezinst mit dem Marktzins) bezahlen258. Gleichwohl kommt steuerrechtlich nach der Rspr. des I. Senats des BFH keine TWA in Betracht, da die Unverzinslichkeit keine voraussichtl dauernde Wertminderung bewirke259. 142 Für die Aktivierung von Dividendenforderungen hat der Große Senat des BFH sich nach einigem
Hin und Her260 schließlich richtigerweise für einen Grundsatz der phasenverschobenen Aktivierung entschieden261, d.h. die Forderung des Anteilseigners auf den Gewinn betreffend das Wirtschaftsjahr 01 ist in der (Steuer-)Bilanz262 des Anteilseigners nicht bereits per 31.12.01, sondern erst im Folgejahr 02 zu aktivieren, wenn der Gewinnverwendungsbeschluss gefasst wird. Vor Fassung des Gewinnverwendungsbeschlusses ist die Forderung noch nicht von der ihr zugrundeliegenden Beteiligung abgespalten und daher noch nicht als selbständiges Wirtschaftsgut aktivierbar. Der Gewinnverwendungsbeschluss hellt auch die am Bilanzstichtag gegebene Situation nicht lediglich auf, sondern wirkt konstitutiv (wertbegründend). Die abweichende handelsrechtliche Praxis hat faktisch eine wahlrechtsähnliche Situation zur Folge (weil es auf die zeitliche Reihenfolge der Jahresabschlüsse bei Mutter- und Tochterunternehmen ankommen soll), was mit vorrangigen steuerrechtlichen Prinzipien (Gleichheit der Besteuerung) unvereinbar ist263. Steuerliche Vorschriften, die eine anteilige (z.B. § 3 Nr. 40 EStG) oder 95 %ige-Steuerfreiheit (z.B. § 8b KStG) der Dividende gewähren, sind auf der zweiten Einkünfteermittlungsstufe durch Korrekturen außerhalb der Steuerbilanz zu berücksichtigen264. 143–144
Einstweilen frei.
1.3 Subjektive Zurechnung von Wirtschaftsgütern 145 Bilanzieren muss das Wirtschaftsgut derjenige, dem es zuzurechnen ist. Nach wohl h.M.265 ergeben
sich die Zurechnungsregeln für die steuerrechtliche Gewinnermittlung durchgängig aus § 39 AO (dazu oben § 5 Rz. 140 ff.). Nach § 39 I AO sind Vermögensgegenstände grds. in der Bilanz des Eigentümers aufzunehmen (Regelzurechnung beim rechtlichen Eigentümer/Inhaber); gem. § 39 II Nr. 1 AO kann der Vermögensgegenstand ausnahmsweise aber auch einem anderen als dem Eigentümer wirtschaftlich zuzurechnen sein, wenn dieser Andere die tatsächliche Herrschaft über das WG in der Weise ausübt, dass er den Eigentümer im Regelfall für die gewöhnliche Nutzungsdauer von der
258 259 260 261 262 263 264 265
584
Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 296 m.w.N. BFH v. 24.10.2012 – I R 43/11, BStBl. II 2013, 162 (Rz. 14 ff.); BMF BStBl. I 2016, 995 (Rz. 15). Früher BFH v. 8.3.1989 – X R 9/86, BStBl. II 1989, 714 in Reaktion auf BGHZ 65, 230. BFH v. 7.8.2000 – GrS 2/99, BStBl. II 2000, 632; zust. z.B. Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 492c; Wassermeyer, DB 2001, 1053 (1054); MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 42 ff., 45 ff. Anders soll es nach h.M. in der Handelsbilanz sein, wo grds. phasengleich zu aktivieren sein soll, s. BGH 137, 378 und EuGH EuGHE 1996, I-3133 = DB 1996, 1400 (Tomberger); dagegen aber z.B. MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 42 ff., 45 ff. m.w.N. Zutr. BFH v. 16.12.1998 – I R 50/95, BStBl. II 1999, 551 (554 f.); BFH v. 7.8.2000 – GrS 2/99, BStBl. II 2000, 632. Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 491. Vgl. BFH v. 13.10.2016 – IV R 33/13, BFHE 255, 386; Prinz/Keller, StuB 2017, 211 (215 f.); Schmidt/ Weber-Grellet36, § 5 EStG Rz. 151; Wendt, FR 2017, 531; a.A. (bei bilanzierenden Kaufleuten Vorrang des § 5 I 1 EStG i.V.m. § 246 I 2 HGB) BFH v. 10.7.1980 – IV R 136/77, BStBl. II 1981, 84 (unter 1.2. der Gründe); HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 516; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 75 ff.; Tipke/Kruse/Drüen, § 39 AO Rz. 11; Wüstemann/Backes/Schober, BB 2017, 1963 f. Die Streitfrage ist allerdings eher dogmatischer Natur, weil die Zurechnungskriterien sachlich übereinstimmen, vgl. auch BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10, BStBl. II 2012, 407, Rz. 15; Brandis, StbJb 2016/2017, 299 (300); S. Mayer, WPg. 2003, 925; Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 EStG Rz. 151 ff.; NWB Praxishdb./Briesemeister2, Rz. 664; Stengel, Die persönliche Zurechnung von Wirtschaftsgütern im Einkommensteuerrecht, 1999, 106; a.A. auch insoweit Wüstemann/Backes/Schober, BB 2017, 1963 f.
Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 149 § 9
Einwirkung auf das WG wirtschaftlich ausschließen kann. Dem Gesetz liegt dabei die Vorstellung zugrunde, dass ein WG nur einem Stpfl. zuzurechnen ist (keine Zurechnungsdopplungen)266. Eine Ausschließungsmacht hat nur, wer gegenüber dem bürgerlich-rechtlichen Eigentümer eine 146 rechtlich abgesicherte, auf den Erwerb des Rechts gerichtete Position hat, die ihm gegen seinen Willen nicht mehr entzogen werden kann; dem Herausgabeanspruch des rechtlichen Eigentümers darf bei typischem Verlauf zumindest tatsächlich keine nennenswerte praktische Bedeutung zukommen267. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist nach dem Gesamtbild der Verhältnisse im jeweiligen Einzelfall zu beurteilen268. Weitere Topoi für die vorzunehmende Fallgruppenbildung269 (zu Einzelfällen auch sogleich) sind,
147
– wem auf Dauer, d.h. für die wirtschaftliche Nutzungsdauer des Gegenstands, die Nutzungsmöglichkeit zusteht, – bei wem Besitz, Gefahr, Nutzungen und Lasten (insb. Versicherungsbeiträge) liegen270, – wer die Chancen und Risiken des Wirtschaftsguts (die Chancen und Risiken, die aus dem zu bilanzierenden Wirtschaftsgut erwachsen) trägt271 und – für wessen Rechnung die Verwertung geschieht. Leasing begründet je nach Gestaltung einen der Hauptfälle einer vom Zivilrecht abweichenden Zu- 148 ordnung und ist in der Praxis von eminenter wirtschaftlicher Bedeutung. Zivilrechtlicher Eigentümer des Wirtschaftsguts ist meist der Leasinggeber (kann aber auch bspw. eine Bank sein, wenn der Leasinggegenstand ihr zur Sicherheit übereignet ist). Ist das Leasinggut (ausnahmsweise) wirtschaftlich dem Leasingnehmer zuzurechnen, muss er es in seiner Bilanz aktivieren und in der Folgezeit abschreiben. Dabei ist das Wirtschaftsgut mit den Anschaffungskosten des Leasingnehmers anzusetzen. Diese entsprechen dem über die Gesamtlaufzeit zu entrichtenden Entgelt für die Nutzungsüberlassung. Nicht zu den Anschaffungskosten gehört der in den Leasingraten enthaltene Zinsanteil. Zur Ermittlung der Anschaffungskosten sind die Leasingraten deshalb auf den Barwert abzuzinsen. Korrespondierend hat der Leasingnehmer (bei Zurechnung des Wirtschaftsguts zu ihm) auf der Passivseite eine Verbindlichkeit auszuweisen. Die Leasingraten sind sodann aufzuteilen in einen erfolgsneutralen Tilgungsanteil und einen als Betriebsausgabe abziehbaren Zins- und Kostenanteil. Ist das Wirtschaftsgut dagegen (wie regelmäßig) dem Leasinggeber zuzurechnen und von ihm zu aktivieren, kann der Leasingnehmer die Leasingraten mit sofortiger steuerlicher Wirkung in voller Höhe als Aufwand geltend machen. Für die Frage, unter welchen Voraussetzungen das Leasinggut ausnahmsweise dem Leasingnehmer 149 wirtschaftlich zuzurechnen ist, unterscheidet die Praxis u.a. das Operating- und das in der Praxis bes. bedeutsame Finanzierungsleasing sowie Mobilien- und Immobilienleasing. Die Finanzverwaltung hat
266 Brandis, FS Gosch, 2016, 37 (45); Tipke/Kruse/Drüen, § 39 AO Rz. 15, 24; Schön, RdF 2015, 115 (121); je m.w.N. 267 BFH v. 26.1.1970 – IV R 144/66, BStBl. II 1970, 264; vgl. auch BGH v. 6.11.1995 – II ZR 164/94, NJW 1996, 458; Brandis, FS Gosch, 2016, 37 (44). 268 Vgl. BFH v. 5.10.2011 – IX R 57/10, BStBl. II 2012, 318; BFH v. 13.10.2016 – IV R 33/13, BFHE 255, 386. 269 Zur Fallgruppenbildung bei der Anwendung des § 39 II Nr. 1 AO s. z.B. BFH v. 24.6.2004 – III R 42/02, BFH/NV 2005, 164; BFH v. 13.10.2016 – IV R 33/13, BFHE 255, 386 (Rz. 27, 29). 270 BFH v. 2.9.1988 – III R 53/84, BStBl. II 1988, 1009; BFH v. 7.11.1991 – IV R 43/90, BStBl. II 1992, 398; BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10, BStBl. II 2012, 407 (Rz. 20); HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 515. 271 Vgl. zu diesem Kriterium BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10, BStBl. II 2012, 407 (Rz. 20 ff.); BT-Drucks. 16/10067, 47 (zu § 246 I 2 HGB n.F.).
Hennrichs 585
§ 9 Rz. 149
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
in den sog. Leasing-Erlassen die aus ihrer Sicht maßgeblichen Zurechnungskriterien typisiert272. Dabei handelt es sich um sog. norminterpretierende Verwaltungsvorschriften, denen keine Rechtsnormqualität zukommt und die für die Gerichte nicht bindend sind273. Die Vereinbarkeit der dort aufgestellten Abgrenzungskriterien mit den handelsrechtlichen GoB wird teilweise bezweifelt274. Das Nutzungsrecht genügt für eine Zurechnung des Gegenstands beim Nutzenden für sich genommen nicht. Richtigerweise kommt eine Zurechnung des Leasingguts zum Leasingnehmer nur in Betracht, wenn der Leasingvertrag auf Grund der getroffenen Abreden wirtschaftlich im Wesentlichen einem Ratenkauf entspricht275. Das sollte nur angenommen werden, wenn eine der folgenden Gestaltungen (Fallgruppen) vorliegt276: – Der Leasingnehmer kann den Gegenstand über die gesamte betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer nutzen (Nutzung bis zur Wertlosigkeit des Gegenstands; dann hat der Leasingnehmer den Substanz- und Ertragswert des Wirtschaftsguts „ausgezehrt“). – Die Leasingdauer ist zwar kürzer bemessen als die gesamte Nutzungsdauer, aber dem Leasingnehmer steht bei Ablauf der Grundmietzeit eine „Verlängerungsoption“ zu, die er wahrscheinlich für die gesamte restliche Nutzungsdauer des Gegenstands ausüben wird. Der erforderliche Grad an Wahrscheinlichkeit ist gegeben, wenn die Verlängerungsmiete unter dem Restnutzungswert des Gegenstandes liegt. Ist die Option demgegenüber nicht dem Leasingnehmer eingeräumt, sondern hat der Leasinggeber ein Andienungsrecht, kommt eine Zurechnung des WG zum Leasingnehmer nicht in Betracht277. Denn dann hat der Leasingnehmer keine rechtlich abgesicherte Ausschließungsbefugnis. Bei dieser Sachlage kommt es nach Ansicht des IV. Senats des BFH (anders als bei der Verlängerungsoption) auch nicht darauf an, ob die Ausübung des Andienungsrechts für den Rechtsinhaber (Leasinggeber) wirtschaftlich vorteilhaft und deshalb wahrscheinlich ist. Für Wahrscheinlichkeitserwägungen sei in diesen Fällen kein Raum, weil der Leasingnehmer rechtlich eben nicht in der Lage ist, den Leasinggeber i.S. des § 39 II Nr. 1 Satz 1 AO für die gesamte Nutzungsdauer von der Einwirkung auf das Wirtschaftsgut wirtschaftlich auszuschließen278. – Die Leasingdauer ist zwar kürzer bemessen als die gesamte Nutzungsdauer, aber dem Leasingnehmer ist zum Ablauf der Grundmietzeit unter Anrechnung der bis dahin gezahlten Raten eine Kaufoption auf Übernahme des Leasinggegenstands eingeräumt und es ist wahrscheinlich, dass der Leasingnehmer die Option ausüben wird (Mietkauf). Die Möglichkeit der Ausübung der Kaufoption allein begründet aber noch keine Zurechnung zum Leasingnehmer; hinzu kommen muss vielmehr, dass mit der Ausübung der Option wahrscheinlich zu rechnen ist279. Die Wahrscheinlichkeit der
272 BMF BStBl. 1971, 264; 1972, 188; 1992, 13; 1996, 9; zurückgehend auf BFH v. 26.1.1970 – IV R 144/66, BStBl. II 1970, 264. 273 BFH v. 26.4.1995 – XI R 81/93, BStBl. II 1995, 754, unter II.3. der Gründe. 274 Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh18, § 42 GmbH Rz. 94 m.w.N.; eingehend Völk, Bilanzierung von Leasingverhältnissen – wirtschaftliches Eigentum oder Nutzungsrecht?, 2016. 275 Vgl. BFH v. 12.9.1991 – III R 233/90, BStBl. II 1992, 182; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 78; Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 EStG Rz. 724. 276 Vgl. BFH v. 9.12.1999 – III R 74/97, BStBl. II 2001, 311 (unter II.1b der Gründe); BFH v. 13.10.2016 – IV R 33/13, BFHE 255, 386 (Rz. 29); MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 210; je m.w.N. 277 So BFH v. 13.10.2016 – IV R 33/13, BFHE 255, 386; dazu (teils krit.) Hoffmann/Lüdenbach/Freiberg, BB 2017, 874; Pöschke, DB 2017, 625; Wendt, BFH/PR 2017, 162; Wendt, FR 2017, 531; Prinz/Keller, StuB 2017, 211; a.A. Wüstemann/Backes/Schober, BB 2017, 1963 (1965 f.). 278 So BFH v. 13.10.2016 – IV R 33/13, BFHE 255, 386; a.A. (Wahrscheinlichkeitserwägungen seien auch bei einem Andienungsrecht auf Seiten des Leasinggebers relevant, weil dies im Einzelfall wirtschaftlich einer Verlängerungsoption des Leasingnehmers gleichstehen könne) Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 EStG Rz. 725; Kleinmanns, BB 2012, 3198; Gelhausen/Henneberger, HdJ, Abt. VI/1 Rz. 253; Wüstemann/Backes/Schober, BB 2017, 1963 (1965 f.). 279 BFH v. 9.12.1999 – III R 74/97, BStBl. II 2001, 311 (unter II.1b der Gründe).
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Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 150 § 9
Ausübung der Option ist namentlich anzunehmen, wenn der Übernahmepreis unter dem Zeitwert des Gegenstands liegt. – Der Leasinggegenstand ist nach Ablauf der Leasingzeit überwiegend (zu mehr als 50 %280) für Rechnung des Leasingnehmers zu verwerten oder der Leasingnehmer erhält bei Rückgabe des Gegenstands dessen Zeitwert ersetzt (denn dann steht ihm letztlich der Wert des Gegenstands dauerhaft zur Verfügung). – Der Leasinggegenstand ist ausschließlich für Zwecke des Leasingnehmers geeignet und für den Leasinggeber wirtschaftlich nicht anderweitig nutzbar oder verwertbar (Spezial-Leasing)281. Ein alternativer Ansatz zur Bilanzierung von Leasingverhältnissen nimmt nicht das geleaste Wirtschaftsgut selbst, sondern das Nutzungsrecht aus dem gegenseitigen Vertrag in den Blick (namentlich IFRS 16, sog. Right-of-use-approach). In der Tat kann man den Anspruch des Leasingnehmers auf Nutzungsüberlassung als an sich abstrakt aktivierungsfähiges Wirtschaftsgut einordnen (dazu oben Rz. 132). Nach h.M. steht der Aktivierung aber der tradierte GoB der Nichtbilanzierung schwebender Geschäfte entgegen (oben Rz. 76, 132). Für Bauten auf fremden Grundstücken282 eröffnet § 266 II A II Nr. 1 HGB einen eigenen Bilanz- 150 posten. Die Vorschrift sagt freilich nichts dazu, unter welchen Voraussetzungen Bauten auf fremden Grundstücken beim Stpfl. auszuweisen sind283. Eine Zurechnung zum bilanzierenden Bauherrn ist dann unproblematisch, wenn die Bauten als Scheinbestandteile (§ 95 BGB) oder aufgrund eines Erbbaurechts im zivilrechtlichen Eigentum des Bauenden stehen284. Gehört das Gebäude dagegen zivilrechtlich gem. §§ 93; 94; 946 BGB dem Grundstückseigentümer, kann eine Zurechnung zum Bauenden nur ausnahmsweise unter dem Aspekt des sog. wirtschaftlichen Eigentums gem. § 39 II Nr. 1 Satz 1 AO gerechtfertigt sein. Das ist zu bejahen, wenn das Nutzungsrecht vertraglich abgesichert285 für die gesamte voraussichtliche Nutzungsdauer der Baulichkeit eingeräumt ist; oder ein Herausgabeanspruch des zivilrechtlichen Eigentümers nicht besteht, weil z.B. der Nutzende berechtigt oder verpflichtet ist, das Gebäude nach Ablauf der Nutzungszeit zu beseitigen286; oder der Bauende bei Beendigung der Nutzung an dem bis dahin noch nicht verbrauchten Restwert (Substanz) in Form eines Wertersatzanspruchs teilhat287; oder ihm eine Kaufoption zu so günstigen Konditionen eingeräumt ist, dass er bei typischem Geschehensablauf davon Gebrauch machen wird. Ist das Gebäude oder der Gebäudeteil dem Bauherrn nach den vorgenannten Grundsätzen weder zivilrechtlich noch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zuzurechnen (insb. dann, wenn das Gebäude nach den Vereinbarungen bei Vertragsende ohne Wertersatz beim Grundstückseigentümer verbleibt), hat der Stpfl., der die Herstellungskosten getragen hat, nach der Rspr. des BFH und hL gleichwohl einen Aufwandverteilungsposten zu aktivieren („wie ein materielles Wirtschaftsgut“) und nach den für Gebäude geltenden AfA-Regeln abzuschreiben288 (s. bereits § 5 Rz. 143, § 8 Rz. 223; ferner unten Rz. 341 f.). Dergestalt erlangt der Stpfl., der die Kosten getragen hat, die AfA-Berechtigung und kann 280 Zutr. Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh18, § 42 GmbH Rz. 95. 281 So BFH v. 13.10.2016 – IV R 33/13, BFHE 255, 386 (Rz. 43). 282 BFH v. 9.3.2016 – X R 46/14, BStBl. II 2016, 976 m.w.N. zur Rspr.-Entwicklung; krit. Weber-Grellet, BB 2016, 2220; s. auch BMF BStBl. I 2016, 1431 und H 4.7 EStR; eingehend Schilling, Bauten auf fremden Grundstücken im Einkommensteuerrecht, 1997; s. auch § 8 Rz. 224. 283 Beck’scher Bilanz-Komm./Schubert/Waubke11, § 247 HGB Rz. 459; a.A. offenbar Weber-Grellet, BB 2016, 2220 (2223 f.). 284 MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 198; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 99; Beck’scher Bilanz-Komm./Schubert/Waubke11, § 247 HGB Rz. 459. 285 BGH v. 6.11.1995 – II ZR 164/94, NJW 1996, 458. 286 Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 323. 287 Beck’scher Bilanz-Komm./Schubert/Waubke11, § 247 HGB Rz. 451, 459. 288 Vgl. BFH v. 30.1.1995 – GrS 4/92, BStBl. II 1995, 281; BFH v. 21.2.2017 – VIII R 10/14, BStBl. II 2017, 819; BFH v. 9.3.2016 – X R 46/14, BStBl. II 2016, 976 – Für die Handelsbilanz hat dieser Aufwandsverteilungsposten keine Entsprechung, in Betracht kommt handelsrechtlich nur die Aktivierung als Nut-
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§ 9 Rz. 151
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
damit seine Erwerbsaufwendungen auch dann steuerlich abziehen, wenn sie auf fremdes Eigentum erbracht wurden. Beispiel: Errichtet z.B. der Unternehmer-Ehegatte mit eigenen Mitteln ein betrieblich genutztes Gebäude auf einem auch dem Nichtunternehmer-Ehegatten gehörenden Grundstück, wird zwar, sofern keine abweichenden Vereinbarungen getroffen werden, der Unternehmer-Ehegatte weder zivilrechtlicher noch wirtschaftlicher Eigentümer des auf den Nichtunternehmer-Ehegatten entfallenden Gebäudemiteigentumsanteil; dieser Gebäudeteil gehört vielmehr zum Privatvermögen des Nichtunternehmer-Ehegatten. Gleichwohl hat der Unternehmer-Ehegatte für seine Aufwendungen eine Bilanzposition zu aktivieren und wie ein Gebäude abzuschreiben289.
Diese für das „Wie-Wirtschaftsgut“ gebildete Bilanzposition dient der typisierten Verteilung seines eigenen betrieblich bedingten Aufwands. Sie ist allerdings kein WG und einem solchen auch nicht gleichzusetzen. Daher kann der Aufwandsverteilungsposten nicht Sitz stiller Reserven sein. Bezogen auf diese Bilanzposition kommt deshalb weder die Bildung einer § 6b-Rücklage noch die Zurechnung von Wertsteigerungen, die bei dem im Privatvermögen des Nichtunternehmer-Ehegatten befindlichen Wirtschaftsgut eingetreten sind, in Betracht290. Auch die Inanspruchnahme von anderen Steuersubventionen, die der Gesetzgeber nur für Wirtschaftsgüter des Betriebsvermögens, nicht aber für Wirtschaftsgüter des Privatvermögens vorgesehen hat (s. z.B. §§ 7 IV 1 Nr. 1, V 1 Nr. 1; 7e, 7f EStG a.F., § 3 II ZRFG, § 3 Satz 2 Nr. 2 FördGebietsG), ist ausgeschlossen. Demgegenüber können solche Subventionsvorschriften, die der Gesetzgeber unterschiedslos sowohl für Gebäude des Betriebsvermögens als auch für solche des Privatvermögens gewährt, auch für Zwecke der typisierten Verteilung des dem Unternehmer-Ehegatten für betriebliche Zwecke entstandenen Aufwands auf Wirtschaftsgüter des Nichtunternehmer-Ehegatten in Anspruch genommen werden (s. z.B. §§ 7h, 7i EStG)291. 151 Die gleichen Grundsätze gelten für Mietereinbauten/-umbauten292. Sie sind als materielle, beweg-
liche Wirtschaftsgüter in der Bilanz des Mieters zu aktivieren, wenn der Mieter sachenrechtlich Eigentümer ist, also Scheinbestandteile nach § 95 BGB (= nur zu einem vorübergehenden Zweck in das Gebäude eingefügte Sachen) vorliegen, oder wenn die Ein-/Umbauten als Betriebsvorrichtungen i.S.d. § 68 II Nr. 2 BewG zu behandeln sind. Darüber hinaus können Mietereinbauten/-umbauten als unbewegliche Wirtschaftsgüter beim Mieter aktiviert und abgeschrieben werden, wenn die durch die Ein-/ Umbauten geschaffenen Gebäudebestandteile in einem von der eigentlichen Gebäudenutzung verschiedenen Nutzungs- und Funktionszusammenhang stehen293 und der Mieter entsprechend dem oben Gesagten zumindest wirtschaftlicher Eigentümer ist. Ist auch wirtschaftliches Eigentum des Mieters zu verneinen, ist für die betrieblich veranlassten eigenen Um- oder Einbauaufwendungen steuerrechtlich nach h.M. wieder der o.g. Aufwandsverteilungsposten zu bilden. 152 Das wirtschaftliche Eigentum an einem gekauften Grundstück geht i.d.R. mit Übergang von Besitz,
Nutzungen und Lasten (z.B. Hypothekenzinsen und Grundsteuer) auf den Erwerber über294. Der Abschluss des Kaufvertrags oder die Auflassung (§ 925 BGB) genügen nicht. Auch die Kaufpreiszah-
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zungsrecht, s. MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 199; Beck’scher Bilanz-Komm./Schubert/Waubke11, § 247 HGB Rz. 459. BFH v. 21.2.2017 – VIII R 10/14, BStBl. II 2017, 819; BFH v. 9.3.2016 – X R 46/14, BStBl. II 2016, 976. BFH v. 13.10.2016 – IV R 33/13, BFHE 255, 386 (Rz. 40 ff.). BFH v. 13.10.2016 – IV R 33/13, BFHE 255, 386 (Rz. 42 f.). Dazu HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 521; Gschwendtner, FS Beisse, 1997, 215; Rometsch, FS Flick, 1997, 555; krit. Niehues, DB 2006, 1234; Nürnberg, DStR 2017, 1719. BFH v. 26.11.1973 – GrS 5/71, BStBl. II 1974, 132; BFH v. 26.2.1975 – I R 32/73, BStBl. II 1975, 443; BFH v. 26.2.1975 – I R 184/73, BStBl. II 1975, 443; BFH v. 28.7.1993 – I R 88/92, BStBl. II 1994, 164; BFH v. 15.10.1996 – VIII R 44/94, BStBl. II 1997, 533. BFH v. 20.10.2011 – IV R 35/08, BFH/NV 2012, 377; BFH v. 12.9.1991 – III R 233/90, BStBl. II 1992, 182; BFH v. 7.11.1991 – IV R 43/90, BStBl. II 1992, 398; ferner BFH v. 20.10.2011 – IV R 35/08, BFH/ NV 2012, 377.
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III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 155 § 9
lung vor Übergang von Besitz, Nutzungen und Lasten bewirkt noch keinen Übergang des wirtschaftlichen Eigentums; vielmehr liegt eine Vorauszahlung vor, die beim Erwerber zu aktivieren und beim Veräußerer zu passivieren ist (§ 266 II A. II 4. III C. 3. HGB). Allerdings ist der Übergang von Besitz, Gefahr, Nutzen und Lasten für die Annahme sog. wirtschaftlichen Eigentums an Grundstücken im Vorstadium des Eigentumserwerbs zwar eine notwendige, aber allein nicht hinreichende Bedingung. Hinzukommen muss außerdem, dass spätestens bis zur Bilanzaufstellung erforderliche behördliche Bescheinigungen und Genehmigungen vorliegen und der Erwerber den Eintragungsantrag gestellt hat295. Vorher hat der potentielle Erwerber noch keine hinreichend rechtlich abgesicherte Position, die für die Annahme des sog. wirtschaftlichen Eigentums erforderlich ist (Rz. 146). Gekaufte Waren gehören wirtschaftlich grds. bereits, aber auch erst mit Erlangung der Verfügungs- 153 macht darüber zum Vermögen des Kaufmanns296. Verfügungsmacht über Sachen bedeutet grds. unmittelbaren oder mittelbaren Besitz an ihnen297. Beim Versendungskauf genügt allein der Gefahrübergang gem. § 447 BGB oder Incoterms noch nicht (str.). Zwar ist damit das Schweben des Verkaufsgeschäfts für den Verkäufer beendet und der Gewinn i.S.d. § 252 I Nr. 4 HGB bei ihm realisiert (Rz. 412 f.), so dass der Verkäufer die Kaufpreisforderung gewinnerhöhend ansetzen kann. Daraus allein folgt indes noch nicht die Zugehörigkeit der Kaufsache zum Vermögen des Käufers298. Wenn auch zwischen der personellen Zuordnung als Voraussetzung der Aktivierung von WG und der Gewinnrealisation ein enger Zusammenhang besteht (Rz. 125)299, so sind doch die subjektive Zurechnung der Wirtschaftsgüter beim Käufer und die Realisation des Veräußerungsgewinns beim Verkäufer systematisch zu trennen300. Im Einzelfall kann sich die Verfügungsmacht des Käufers auch anders ausdrücken als in der Besitzerlangung. Entscheidend ist, ob und wann der Erwerber nach dem Willen beider Vertragsparteien über das Wirtschaftsgut wirtschaftlich verfügen kann301. Bei technischen Anlagen (z.B. einer Maschine oder einer Windkraftanlage), die erst nach erfolgrei- 154 chem Abschluss eines Probebetriebs abgenommen werden sollen, setzt die Erlangung des wirtschaftlichen Eigentums durch den Erwerber zusätzlich zur Besitzerlangung den Übergang der Gefahr des zufälligen Untergangs voraus. Ist beispielsweise vereinbart, dass die Gefahr erst bei Beendigung des Probebetriebs und der Hauptinspektion auf den Erwerber übergehen soll, erlangt der Käufer vorher selbst dann kein wirtschaftliches Eigentum, wenn er bereits vorher Kaufpreiszahlungen geleistet hat302. Kaufpreisvorauszahlungen berechtigen für sich genommen nicht zur Annahme einer vorzeitigen Erlangung der wirtschaftlichen Verfügungsmacht über das Wirtschaftsgut (s. bereits Rz. 152); vielmehr ist die geleistete Anzahlung beim Käufer zu aktivieren und beim Verkäufer zu passivieren (§ 266 II A. II 4. III C. 3. HGB303). Bezogen auf Aktien und GmbH-Anteile304 hat die Rspr. die skizzierten allgemeinen Grundsätze wie 155 folgt konkretisiert: Das wirtschaftliche Eigentum an den Anteilen geht auf einen Erwerbsanwärter (erst) über, wenn der Käufer des Anteils
295 Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen6, § 246 HGB Rz. 204, 206; IDW, WPH Edition15, Kap. F Rz. 47; Kleindiek in Staub5, § 246 HGB Rz. 49 a.E. 296 Vgl. auch Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 35. 297 BFH v. 3.8.1988 – I R 157/84, BStBl. II 1989, 21. 298 BFH v. 3.8.1988 – I R 157/84, BStBl. II 1989, 21; a.A. Baumeister/Knobloch, WPg. 2016, 556. 299 Beck’scher Bilanz-Komm./Schmidt/Ries11, § 246 HGB Rz. 7. 300 Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 247; NWB Praxishdb./Briesemeister2, Rz. 666; Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen6, § 246 HGB Rz. 192. 301 Beck’scher Bilanz-Komm./Schubert/Gadek11, § 255 HGB Rz. 31. 302 BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10, BStBl. II 2012, 407 (Rz. 21). 303 BFH v. 1.2.2012, I R 57/10 [Rz. 21] u. BFH BStBl. II 1992, 398. 304 St. Mayer, Wirtschaftliches Eigentum an Kapitalgesellschaftsanteilen, Diss., 2003; Kolbinger, Das wirtschaftliche Eigentum an Aktien, 2008; Anzinger, Recht der Finanzinstrumente, 2012.
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§ 9 Rz. 155a
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
– eine rechtlich geschützte, auf den Erwerb des Anteils gerichtete Rechtsposition erlangt hat, die ihm (sc. dem Erwerbsanwärter) gegen seinen Willen nicht mehr entzogen werden kann305; – die mit dem Anteil verbundenen wesentlichen Gesellschaftsrechte (insb. Gewinnbezugsrecht und Stimmrechte) bereits dem Erwerbsanwärter zustehen306; und – das Risiko einer Wertminderung sowie die Chance einer Wertsteigerung bereits auf den Erwerbsanwärter übergegangen sind307. 155a Bei sog. Cum-cum-Geschäften308 (früher sog. Dividendenstripping309 = schuldrechtliches Verpflich-
tungsgeschäft „mit [cum] Dividendenberechtigung“ und dingliche Lieferung der Aktien ebenfalls „mit [cum] Dividendenberechtigung“ vor dem Dividendenstichtag nebst von vornherein vereinbarter Rückveräußerung nach dem Dividendenstichtag) erlangt der Erwerber zwar das zivilrechtliche Eigentum an der Aktie vor dem Dividendenstichtag. Das wirtschaftliche Eigentum kann aber je nach den Umständen des Einzelfalls beim Veräußerer (= Rückerwerber) verbleiben. Eine Zurechnung der Aktien zum Erwerber scheidet insbesondere aus, wenn der Erwerb der Aktien nach einem Gesamtvertragskonzept so ausgestaltet ist, dass der „Erwerber“ im wirtschftlichen Ergebnis die mit den Aktien verbundenen Rechte nicht in nennenswertem Umfang in Anspruch nimmt und die Chancen und Risiken der Papiere letztlich nicht trägt (weil z.B. die Kursrisiken und Kurschancen von der finanzierenden Bank getragen werden und diese auch den wesentlichen Teil der Dividende erhält).310 Es liegt dann ein bloßer Durchgangserwerb vor. Der Gesetzgeber hat zwischenzeitlich mit § 36a EStG311 auf solche Gestaltungen reagiert und verlangt nunmehr als zusätzliche Voraussetzungen für die Anrechnung einen Mindesthaltezeitraum und ein Mindestmaß an wirtschaftlichem Risiko des Erwerbers. Der Anwendungsbereich der neuen Vorschrift hängt davon ab, wie man das sog. wirtschaftliche Eigentum an der Aktie beurteilt312. Sind die Aktien weiterhin dem „Veräußerer“ und nicht dem „Erwerber“ zuzurechnen, kann der Erwerber die Kapitalertragsteuer bereits deshalb nicht anrechnen313. Auf § 36a EStG kommt es dann nicht mehr an. 155b Bei einer Wertpapierleihe (Sachdarlehensvertrag, aufgrund dessen der Verleiher verpflichtet ist, dem
Entleiher das Eigentum an den Aktien zu übertragen und der Entleiher Papiere gleicher Art und Ausstattung nach Ablauf der Vertragslaufzeit zurück zu übereignen hat) werden die Erträge aus den „verliehenen“ Wertpapieren grds. dem Entleiher zugerechnet, weil er zivilrechtlicher Eigentümer der
305 Brandis, FS Gosch, 2016, 37 (44). 306 Vgl. BFH v. 15.12.1999 – I R 29/97, BStBl. II 2000, 527; BFH v. 20.11.2007 – I R 85/05, BStBl. II 2013, 287; s. auch BMF BStBl. I 2000, 1392; IDW ERS HFA 13 Rz. 8. 307 Vgl. BFH v. 11.7.2006 – VIII R 32/03, BStBl. II 2007, 296; BFH v. 4.7.2007 – VIII R 68/05, BStBl. II 2007, 937; BFH v. 22.7.2008 – IX R 74/06, BStBl. II 2009, 124; BFH v. 5.10.2011 – IX R 57/10, BStBl. II 2012, 318; Tipke/Kruse/Drüen, § 39 AO Rz. 24a; eingehend St. Mayer, Wirtschaftliches Eigentum an Kapitalgesellschaftsanteilen, Diss., 2003; Kolbinger, Das wirtschaftliche Eigentum an Aktien, 2008; Anzinger, Recht der Finanzinstrumente, 2012 (insb. S. 394, 400 ff.). 308 Dazu BMF BStBl. I 2017, 986 (Gestaltungsmissbrauch gem. § 42 AO); aus der Lit. Helios/Lenz, DB 2017, 1738; Brühl/Holle/Weiss, DStR 2017, 2093; Salzmann/Heufelder, IStR 2017, 125. 309 BFH v. 15.12.1999 – I R 29/97, BStBl. II 2000, 527; Brandis, StbJb 2016/2017, 299 (307 f., 309 f.). 310 BFH v. 16.4.2014 – I R 2/12, BFHE 246, 15 (Rz. 31 ff.) m.w.N. (zu Cum-ex, dazu sogleich im Text Rz. 155c; dürfte aber gleichermaßen für Cum-cum-Gestaltungen gelten; ebenso Fiand, NWB 2016, 344); möglicherweise a.A. BMF BStBl. I 2017, 986 (Rz. 11), wonach bei Cum-cum-Transaktionen „vom Übergang des zivilrechtlichen und grundsätzlich auch des wirtschaftlichen Eigentums auszugehen“ sein soll. Das BMF will sodann aber § 42 AO anwenden. 311 Eingeführt durch Gesetz zur Reform der Investmentbesteuerung v. 19.7.2016, BGBl. I 2016, 1730 (dort Art. 3). 312 Zutr. Brandis, StbJb 2016/2017, 299 (310). 313 Höring, DStZ 2016, 727 (731).
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Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 157 § 9
Wertpapiere wird314. Wiederum kann die Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalles allerdings ergeben, dass dem Entleiher lediglich eine formale zivilrechtliche Rechtsposition verschafft werden sollte und das wirtschaftliche Eigentum deshalb ausnahmsweise beim Verleiher verbleibt315. Bei den o.g. Cum-cum-Geschäften verpflichtet der Anteilseigner von Aktien sich nicht nur schuld- 155c rechtlich dazu, die Aktien vor dem Dividendenstichtag zu liefern, sondern es erfolgt auch die (dinglich wirksame) Übertragung der Aktien vor dem Dividendenstichtag. Davon zu unterscheiden sind sog. Cum-ex-(Leer-)Geschäfte316, bei denen am Dividendenstichtag lediglich eine schuldrechtliche Verpflichtung zur Aktienübertragung mit Dividendenanspruch („cum“ Dividende) besteht, die (dingliche) Übertragung aber erst nach dem Dividendenstichtag (und dann „ex“ Dividende) erfolgt. Möglich werden solche Gestaltungen durch Leerverkäufe, d.h. der Verkauf der Aktie erfolgt nicht durch den tatsächlichen Inhaber, sondern durch einen (Leer-)Verkäufer, der die Aktie erst nach dem Dividendentermin tatsächlich erwirbt und an den Leerkäufer liefert. Dadurch konnte es in der Praxis zu mehrfachen Steuerbescheinigungen (nämlich zugunsten des tatsächlichen Inhabers und zugunsten des Leerkäufers) und auf dieser Grundlage zu mehrfachen Anrechnungen oder Erstattungen der nur einmal einbehaltenen Kapitalertragsteuer kommen. Solche Gestaltungen hinterlassen ein beträchtliches Störgefühl; der Schaden für den Fiskus wird auf einen zweistelligen Milliardenbetrag geschätzt317, was schließlich sogar zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages geführt hat. Sind solche Cum-ex-Transaktionen (wie regelmäßig) in ein Gesamtvertragskonzept eingebettet, demzufolge der „Erwerber“ im wirtschftlichen Ergebnis die mit den Aktien verbundenen Rechte nicht in nennenswertem Umfang in Anspruch nimmt und die Chancen und Risiken der Papiere letztlich nicht trägt, so erlangt der Leerkäufer richtigerweise kein wirtschaftliches Eigentum an der Aktie318, mit der Folge, dass er keine Einkünfte aus Kapitalvermögen erzielt und damit auch nicht gem. § 36 II 2 Nr. 2 EStG anrechnungsberechtigt ist. Bei Treuhandverhältnissen sind die WG dem Treugeber zuzurechnen (§ 39 II Nr. 1 Satz 2 AO, oben 156 § 5 Rz. 144). Ein steuerlich anzuerkennendes Treuhandverhältnis liegt nur dann vor, wenn die mit der rechtlichen Eigentümer- bzw. Inhaberstellung verbundene Verfügungsmacht des Treuhänders in solchem Umfang zu Gunsten des Treugebers eingeschränkt ist, dass das rechtliche Eigentum bzw. die rechtliche Inhaberschaft als „leere Hülle“ erscheint319. Der Treugeber muss das Treuhandverhältnis beherrschen, und zwar nicht nur nach den mit dem Treuhänder getroffenen Absprachen, sondern auch bei deren tatsächlichem Vollzug. Der Treuhänder muss ausschließlich für Rechnung des Treugebers handeln. Wesentliche Merkmale sind die Weisungsbefugnis des Treugebers (korrespondierend: die Weisungsgebundenheit des Treuhänders) in Bezug auf die Behandlung des Treuguts sowie das Recht des Treugebers, jederzeit die Rückgabe des Treuguts zu verlangen, wobei die Vereinbarung einer angemessenen Kündigungsfrist unschädlich ist. Bei Pfandgut ist zu unterscheiden:320 Individualleergut, das eindeutig einem bestimmten Hersteller 157 zuzuordnen ist, bleibt rechtlich und wirtschaftlich im Eigentum des jeweiligen Herstellers. Einheitsleergut, das keine besonderen Merkmale aufweist und von einer unbestimmten Anzahl von Herstellern verwendet wird, wird im Wirtschaftskreislauf übereignet (vom Hersteller an den Händler und 314 BFH v. 17.10.2001 – I R 97/00, BFHE 197, 63; zur Wertpapierleihe außerdem Schmich/Schnabelrauch, GmbHR 2017, 224. 315 BFH v. 18.8.2015 – I R 88/13, BStBl. II 2016, 961; BMF BStBl. I 2016, 1324; krit. Ditz/Tcherveniachki, DB 2016, 615; Ditz/Tcherveniachki, DB 2016, 2995; Haisch, DK 2016, 278. 316 Dazu die Nachweise in BFH v. 16.4.2014 – I R 2/12, BFHE 246, 15 (Rz. 31 ff.); ferner Brandis, FS Gosch, 2016, 37; Eisgruber/Spengel, DB 2017, 750; Florstedt, FR 2016, 641; Schön, RdF 2015, 115. 317 Spengel/Eisgruber, DStR 2015, 785 m.w.N. 318 BFH v. 16.4.2014 – I R 2/12, BFHE 246, 15; ausf. und gründlich auch FG Düsseldorf v. 12.12.2016 – 6 K 1544/11 K, AO, DStRE 2017, 1424; Schön, RdF 2015, 115 (119 ff.); Spengel/Eisgruber, DStR 2015, 785 (788 ff.); Brandis, StbJb 2016/2017, 299 (320 f., 326). 319 BFH v. 24.11.2009 – I R 12/09, BStBl II 2010, 590; BFH I R 12/14, BFH/NV 2014, 1544. 320 HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 523 m.w.N.
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§ 9 Rz. 158
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
von diesem an den Endabnehmer). Die bilanzielle Zurechnung folgt der rechtlichen Eigentumsübertragung. Demgegenüber entsteht bei sog. Brunneneinheitsleergut (Leergut, das einer bestimmten Gruppe von Herstellern zugeordnet ist), für die Mitglieder des Pools Miteigentum gem. §§ 948 I, 947 I 1 BGB, das durch die Übergabe auf den einzelnen Handelsstufen nicht wechselt. Auch das für sog. Mehrrücknahmen gezahlte Pfand führt nicht zu Anschaffungskosten oder zu Forderungen gegen die Kunden, weil die Händler die angenommenen Flaschen/Kästen wieder in den Mehrwegkreislauf einbringen müssen321. Möglich sein soll allerdings die Aktivierung von Nutzungsrechten (deren Anschaffungskosten das gezahlte Pfand sei)322. 158 Wirtschaftsgüter, die mehreren zur gesamten Hand zustehen, werden den Beteiligten nach § 39 II
Nr. 2 AO anteilig zugerechnet (oben § 5 Rz. 145)323. Der Gesellschaftsanteil an einer Personengesellschaft ist kein (eigenständiges) Wirtschaftsgut (§ 10 Rz. 181). Die Beteiligung verkörpert vielmehr nach § 39 II Nr. 2 AO die quotale Berechtigung des Gesellschafters an den zum Gesamthandsvermögen gehörenden Wirtschaftsgütern324. 159 Schulden (Verbindlichkeiten und Rückstellungen, dazu sogleich) sind gem. § 246 I 3 HGB i.V.m.
§ 5 I 1 EStG in der Bilanz des Schuldners aufzunehmen (Zurechnung nach der rechtlichen Schuldnerschaft), und zwar auch dann, wenn die Verpflichtung für fremde Rechnung eingegangen sein sollte325. Zu Verpflichtungen aus Haftungsverhältnisse i.S. des § 251 HGB u.ä. Haftungsschulden sowie zu Gesamtschulden s. Rz. 163. 2. Passivierung von Verbindlichkeiten und Rückstellungen Literatur: (Lit. vor 2010 s. Voraufl.) Christiansen, „Weißer Rauch“ für die Passivierung rechtlich bestehender Verbindlichkeiten?, DStR 2011, 2483; Zaremba, Rückstellungen in der Jahresabchlusspolitik, 2011; Dziadkowski, Zur Nicht-Passivierung rechtlich entstandener ungewisser Verbindlichkeiten in der Steuerbilanz, WPg. 2012, 500; Bareis, „Angeschaffte“ Drohverlustrückstellungen – Eine contradictio in adiecto, FR 2012, 385; Siegel, „Angeschaffte“ Drohverluste als neuer Steuersparmarkt?, FR 2012, 388; Buchholz, Die Reichweite der Maßgeblichkeit handelsrechtlicher Bilanzwerte bei Bewertung von Rückstellungen in der Steuerbilanz, Ubg 2012, 777; Fugger, Die Bewertung von Rückstellungen nach EStG – de lege lata et ferenda, 2012; Heim, Rückstellungen in der Steuerbilanz, 2012; Kroener/Momen, Debt-Mezzanine-Swap – OFD Rheinland auf dem Irrweg?, DB 2012, 829; Beyer, Die handels- und steuerrechtliche Behandlung eines Debt-Equity-Swap mit Genussrechten bei Kapitalgesellschaften, DStR 2012, 2199; Zwirner/Endert/Sepetanz, Zur Maßgeblichkeit bei der steuerlichen Rückstellungsberechnung, DStR 2012, 2094; Schrecker, MezzanineKapital in Handels- und Steuerrecht, 2012; Günkel, Aktuelle Fragen des Bilanzsteuerrechts, StbJB 2012/13, 385; Markus Prinz, Lex generalis derogat legii specialii – ein neues steuerbilanzielles Auslegungsprinzip?, FR 2013, 506; Rätke, Beschränkung von Rückstellungen durch die EStR 2012, BBK 2014, 20; Höng, DebtMezzanine Swap in Handels- und Steuerbilanz, Ubg 2014, 27; U. Prinz, Leitlinien steuerbilanzieller Rückstellungsbildung: Eine besteuerungspraktische Bestandsaufnahme, DB 2015, 147; Hennrichs/Schlotter, Körperschaftsteuerliche Behandlung von Genussrechten – Zugleich kritische Anm. zur Verfügung der OFD NRW v. 12.05.2016, DB 2016 S. 1407 -, DB 2016, 2072; Wacker, Zum steuerbilanziellen Ausweis von Rückstellungen und Verbindlichkeiten – ein Streifzug durch die jüngere Rechtsprechung des 1. BFH-Senats, in FS Gosch, 2016, 413; Petersen/Künkele/Wirner, Rückstellungen in der Bilanzierungspraxis2, 2016; Oser/ Wirtz, Rückstellungsreport 2016, StuB 2017, 3; Doralt, Rückstellungen steuerpolitisch gerechtfertigt?, FR 2017, 377; Hageböke, Rückstellungen für öffentlich-rechtliche Verpflichtungen am Beispiel der Netzbetrei321 BFH v. 9.1.2013 – I R 33/11, BFH/NV 2013, 1009. Dort (Rz. 43 ff.) auch ausf. zur Frage der Passivierung der Verpflichtung, bei Rückgabe des Leerguts die erhaltenen Pfandgelder an die Kunden zurückzuzahlen (dazu s. auch Rz. 163, 284). 322 BFH v. 9.1.2013 – I R 33/11, BFH/NV 2013, 1009 (Rz. 36 ff.); zweifelnd Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 Rz. 270 „Leergut“. 323 BFH v. 26.4.2012 – IV R 44/09, BStBl. II 2013, 142 (Rz. 17). 324 BFH v. 26.4.2012 – IV R 44/09, BStBl. II 2013, 142 (Rz. 18) m.w.N. 325 MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 227; Kleindiek in Großkomm. HGB5, § 246 Rz. 42; Beck’scher Bilanz-Komm./Schmidt/Ries11, § 246 HGB Rz. 51.
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Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 163 § 9
berpflichten nach §§ 11 ff., 49 EnWG; FR 2017, 357; Wacker, Zu den steuerbilanziellen Folgen eines Rangrücktritts nach der jüngeren Rechtsprechung des I. BFH-Senats, DB 2017, 26; Prinz, Rückstellungen: aktuelles Praxis-Knowhow, WPg. 2017, 1316.
2.1 Voraussetzungen der Passivierung Spiegelbildlich zu der Aktivierung von Wirtschaftsgütern ist auch auf der Passivseite der Bilanz zu- 160 nächst die Frage nach dem Ob der Bilanzierung aufgeworfen. Ansatzfähige Passiva sind Schulden (Verbindlichkeiten und Rückstellungen, § 266 III B, C HGB), ferner passive Rechnungsabgrenzungsposten (Rz. 201) und erhaltene Anzahlungen (s. § 266 III Buchst. C Nr. 3 HGB; Rz. 86, 156, 413). Das ebenfalls auf der Passivseite ausgewiesene Eigenkapital (s. Rz. 12, 18) stellt als Differenz zwischen Aktiva und Passiva eine (rechnerische) Residualgröße dar (zu mezzaninen Finanzierungsinstrumenten Rz. 168). Die steuerliche Berücksichtigung von Schulden setzt zum einen voraus, dass die Schuld betrieblich ver- 161 anlasst ist (§ 4 IV EStG). Sie darf zum anderen nicht unter ein explizites Ansatzverbot (z.B. § 5 IVa EStG; unten Rz. 191) oder ein Abzugsverbot für Betriebsausgaben (§ 4 V EStG; ausf. § 8 Rz. 286 ff.) fallen (im zuletzt genannten Fall wird der steuerbilanzielle Passivposten durch außerbilanzielle Hinzurechnung neutralisiert326). Bei Rückstellungen für ungewisse Verbinlichkeiten (§ 249 I 1 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG) muss die Verpflichtung zudem zum Bilanzstichtag entweder rechtlich entstanden oder zumindest in der Vergangenheit wirtschaftlich verursacht sein (dazu näher Rz. 178). Grds. richtet sich auch die Bildung von Passiva nach handelsrechtlichen GoB (§ 5 I 1 EStG). Maßgeb- 162 lich werden insb. § 249 I 1 Alt. 1 HGB sowie § 249 I 2, II HGB. Indes hat der Gesetzgeber auf der Passivseite den Konnex zwischen Handels- und Steuerbilanz (s. Rz. 40 ff.) durch steuerrechtliche Sonderregeln zum Ansatz (§ 5 IIa – IVb, VII EStG) sowie zur Bewertung (§§ 4f, 5 VII; § 6 I Nr. 3, Nr. 3a; § 6a EStG) weit stärker zerstört als auf der Aktivseite. Daher bleibt von der Idee der Einheitsbilanz auf der Passivseite kaum noch etwas übrig. Auch körperschaftsteuerliche Sondervorschriften sind vorrangig zu beachten und können eine eigenständige steuerliche Abgrenzung rechtfertigen (s. für Genussrechte § 8 III 2 KStG; Rz. 168). 2.2 Verbindlichkeiten Bei den Verbindlichkeiten (§ 266 III C. HGB) sind Schulden anzusetzen, die am Bilanzstichtag dem 163 Grunde und der Höhe nach gewiss und quantifizierbar sind327, namentlich Bankkredite, Gesellschafterdarlehen, Verpflichtungen aus Schuldverschreibungen usw. Durch die Gewissheit dem Grunde und der Höhe nach unterscheiden sich die Verbindlichkeiten (i.e.S.) von den Rückstellungen (§ 249 HGB), die (unter bestimmten Voraussetzungen, s. sogleich Rz. 170 ff.) für nach Grund und/oder Höhe ungewisse Verbindlichkeiten gebildet werden müssen. Verpflichtungen aus schwebenden Geschäften werden nach dem GoB der Nichtpassivierung schwebender Geschäfte (oben Rz. 76) grds. nicht passiviert. Erst, wenn ein Vertragsteil in Erfüllungsrückstand gerät328, ist dieser zu passivieren (Rz. 183). Verpflichtungen aus Haftungsverhältnissen i.S. des § 251 HGB (z.B. Bürgschaften, Schuldbeitritt zu Sicherungszwecken, harte Patronatserklärungen) und sonstige finanzielle Verpflichtungen i.S. des § 285 Nr. 3a HGB, die nicht in der Bilanz enthalten sind (z.B. Mithaftung der Gesellschafter einer 326 BFH v. 9.6.1999 – I R 64/97, BStBl. II 1999, 656; BFH v. 7.11.2013 – IV R 4/12, DB 2014, 395; BFH v. 14.5.2014 – X R 23/12, BStBl. II 2014, 684 (Rz. 31, 62); R 5.7 I 2 EStÄR 2012 (für § 4 Vb EStG). S. auch unten Rz. 171. 327 BFH v. 17.11.2010 – I R 83/09, BStBl. II 2011, 812 (Passivierung einer Verpflichtung aus einer Rückverkaufsoption losgelöst von dem nachfolgenden Rückübertragungsgeschäft; insoweit gegen BMF BStBl. I 2009, 890). 328 Dazu Tiedchen, NZG 2017, 1007.
Hennrichs 593
§ 9 Rz. 164
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Personengesellschaft für Gesellschaftsverbindlichkeiten aus § 128 HGB; ferner 133 UmwG), sind zwar zivilrechtlich entstandene Verpflichtungen, zählen bilanzrechtlich aber nicht zu den Verbindlichkeiten i.e.S., sondern sind bloße Eventualverbindlichkeiten („Haftungsschulden“)329. Sie sind gem. § 251 HGB grds. zunächst nur „unter dem Strich“ vermerk- oder im Anhang berichtspflichtig (§§ 268 VII, 285 Nr. 3a HGB) und müssen erst dann (als Rückstellungen) passiviert werden, wenn eine Inanspruchnahme wahrscheinlich ist330. Bei Gesamtschulden (§ 421 BGB) ist zu unterscheiden: (a) Grds. sind Gesamtschulden bei jedem Gesamtschuldner in voller Höhe (brutto) zu bilanzieren331. Erfüllung und Erfüllungssurrogate durch einen Gesamtschuldner wirken auch für die übrigen Schuldner (§ 422 BGB), so dass z.B. bei Tilgung durch einen Gesamtschuldner die Schuld bei allen auszubuchen ist (Rz. 166). (b) Besteht die Gesamtschuld dagegen zu Sicherungszwecken (z.B. Schuldbeitritt zu Sicherungszwecken), liegt bilanzrechtlich nur eine (bürgschaftsähnliche) sog. Eventualverbindlichkeit i.S. des § 251 HGB vor332. Diese ist, wie dargelegt, grds. nur unter dem Strich zu vermerken und erst dann (als Rückstellung) zu passivieren, wenn eine Inanspruchnahme wahrscheinlich ist. (c) Wird die Gesamtschuld schließlich zu freistellenden Zwecken vereinbart (z.B. freistellender Schuldbeitritt), ist dies steuerbilanzrechtlich333 gem. § 4f II, § 5 VII 2 EStG der Schuldübernahme gleichzustellen und gelten die Vorschriften für die Verpflichtungsübernahme (dazu unten Rz. 190 ff.). 164 Für Verpflichtungen, die nur zu erfüllen sind, soweit künftig Einnahmen oder Gewinne anfallen, be-
steht nach § 5 IIa EStG ein Passivierungsverbot bis zum Anfall der Einnahmen oder Gewinne334. Solche von zukünftigen Einnahmen oder Gewinnen abhängigen Verbindlichkeiten müssen nicht aus dem zum Stichtag vorhandenen Vermögen bedient werden und belasten nach der Vorstellung des Gesetzgebers deshalb das Vermögen des Kaufmanns zum Bilanzstichtag noch nicht. Sie sollen daher bei dem stichtagsbezogenen Betriebsvermögensvergleich einstweilen unberücksichtigt bleiben. Sie werden erst passiviert, wenn die Einnahmen oder Gewinne, aus denen sie zu bedienen sind, erzielt werden. 165 Der Begriff „Gewinn“ i.S. des § 5 IIa EStG stellt nach der Rspr. des BFH nicht nur auf den Steuer-
bilanzgewinn ab, sondern erfasst auch solche Sachverhalte, bei denen die betroffenen Verbindlichkeiten nur aus künftigen (handelsrechtlichen) Jahresüberschüssen zu erfüllen sind335. Dasselbe soll außerdem für Vereinbarungen gelten, die auf künftige „Bilanzgewinne“ abstellen (obwohl in dessen Berechnung auch Rücklagen einfließen, § 158 AktG), jedenfalls dann, wenn sich nach den Verhältnissen des Bilanzstichtags selbst im Falle der Auflösung einer etwaigen Kapitalrücklage kein Bilanz329 Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen6, § 246 HGB Rz. 108; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 100. 330 BFH v. 25.10.2006 – I R 6/05, BStBl. II 2007, 384; vgl. auch BFH v. 16.2.1996 – I R 73/95, BStBl. II 1996, 592; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 99 f. 331 Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen6, § 246 HGB Rz. 419; Beck’scher Bilanz-Komm./Schmidt/Ries11, § 246 HGB Rz. 52; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 228. 332 Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen6, § 246 HGB Rz. 421; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 229. 333 Zur Bilanzierung in der HB s. IDW RS HFA 30; Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen6, § 246 HGB Rz. 418, 421 f.; dazu (teilw. krit.) Klein, DB 2017, 1789. 334 Dieses durch StBereinG v. 22.12.1999 (BGBl. I 1999, 2601) eingeführte Passivierungsverbot entspricht den handelsrechtlichen GoB, soweit es Verpflichtungen betrifft, die von künftigen Gewinnen abhängig sind. Soweit § 5 IIa EStG dies allerdings auch auf Verbindlichkeiten ausdehnt, die von künftigen Einnahmen abhängig sind (einnahmeabhängige Verpflichtungen), ist die GoB-Konformität streitig. Zum Ganzen s. BFH v. 30.11.2011 – I R 100/10, BStBl. II 2012, 332; BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. II 2013, 954 (Rz. 23 ff.); MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 69 f.; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 249 HGB Rz. 26 ff.; Wendt, StbJb. 2003/04, 247; Wacker, FS Gosch 2016, 413 (415 ff.); Wacker, DB 2017, 26 (27 f.); Briese, DStR 2017, 799. 335 BFH v. 15.4.2015 – I R 44/14, BStBl. II 2015, 769 (Rz. 12).
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Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 167 § 9
gewinn hätte einstellen können336. Schließlich ist eine Passivierung nach der Rspr. des BFH auch nicht deshalb geboten, weil die Verpflichtung außerdem aus einem etwaigen Liquidationsüberschuss zu tilgen ist. Zahlungspflichten aus einem Liquidationsüberschuss belasteten nämlich das gegenwärtige Vermögen ebenfalls (noch) nicht, da nach dem Grundsatz der Unternehmensfortführung (§ 252 I Nr. 2 HGB) der Liquidationsfall noch nicht berücksichtigt zu werden braucht und etwaige Rücklagen des Schuldners bis dahin noch in vollem Umfang zur Verlustdeckung und Befriedigung der anderen Gläubiger zur Verfügung stehen337. Verbindlichkeiten sind auszubuchen, wenn sie erloschen sind. Erlöschensgründe sind die Erfüllung 166 (§ 362 BGB) und die zivilrechtlichen Erfüllungssurrogate (insb. Erlass/Forderungsverzicht, § 397 BGB; befreiende Schuldübernahme, §§ 414, 415 BGB; zur Verpflichtungsübernahme gem. §§ 4f, 5 VII EStG s. unten Rz. 190). Ansonsten dürfen bestehende echte Verbindlichkeiten unter dem Gesichtspunkt der fehlenden wirtschaftlichen Belastung nur ganz ausnahmsweise ausgebucht werden, nämlich nur, wenn nach den Umständen des Einzelfalles ausnahmsweise mit einer Inanspruchnahme durch den Gläubiger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (99 %) nicht mehr zu rechnen ist338. Erlässt ein Gläubiger eine Verbindlichkeit mit der Maßgabe, dass die Forderung wiederaufleben soll, wenn künftige Jahresüberschüsse oder ein Liquidationsüberschuss erzielt werden, ist die durch einen solchen Besserungsschein (aufschiebend bedingt) begründete Leistungspflicht beim Schuldner gem. § 5 IIa EStG (oben Rz. 164) zunächst weder als Verbindlichkeit noch als Rückstellung zu passivieren339. Zu passivieren ist dann erst, wenn die so beschriebene Besserung eintritt. Demgegenüber berührt die Zahlungs(un)fähigkeit oder Vermögenslosigkeit des Schuldners für sich 166.1 genommen die Passivierungspflicht der gegen ihn gerichteten Verbindlichkeiten nicht340. Eine rechtlich bestehende Verbindlichkeit ist also nicht etwas deshalb ergebniswirksam auszubuchen, weil sie aus der Perspektive des Schuldners gesehen wahrscheinlich nicht mehr beglichen werden kann, solange der Gläubiger nach wie vor an seiner Forderung festhält. Ebenso spielt die Fälligkeit der Verpflichtung keine Rolle341. Auch ein unspezifiziert vereinbarter Rangrücktritt (§ 39 II InsO) führt nicht zur Ausbuchung der 167 Verbindlichkeit in der Handels- und Steuerbilanz342. Zwar ist eine solche Verpflichtung im sog. Überschuldungsstatus zur Feststellung der insolvenzrechtlichen Überschuldung gem. § 19 II 2 InsO 336 BFH v. 15.4.2015 – I R 44/14, BStBl. II 2015, 769 (Rz. 12 f.); Wacker, DB 2017, 26 (28). 337 BFH v. 15.4.2015 – I R 44/14, BStBl. II 2015, 769 (Rz. 14 f.); Wacker, FS Gosch 2016, 413 (417); Wacker, DB 2017, 26 (28); ebenso Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen6, § 246 HGB Rz. 152; krit. Oser, BB 2015, 1906. 338 BFH v. 22.11.1988 – VIII R 62/85, BStBl. II 1989, 359 (Gutmünzen); BFH v. 27.3.1996 – I R 3/95, BStBl. II 1996, 470 (unbewegte Sparkonten); Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen6, § 246 HGB Rz. 127. Krit. D. Schubert, Der Ansatz von gewissen und ungewissen Verbindlichkeiten in der HGB-Bilanz: Insbesondere zur wirtschaftlichen Belastung und zu faktischen Verpflichtungen, 2007, 125 ff. – Zu den unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsschwellen bei Schulden s. MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 81 f. 339 BFH v. 30.11.2011 – I R 100/10, BStBl. II 2012, 332 (Rz. 19); Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 957; Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen6, § 246 HGB 148 ff. (150), dort auch zu abweichenden Vereinbarungen, bei denen im Einzelfall weiterhin eine Passivierung geboten sein kann; zum Ganzen Briese, DStR 2017, 799 ff.; je m.w.N. 340 BFH v. 10.8.2016 – I R 25/15, BStBl. II 2017, 670 (Rz. 15 f.); Wacker, DB 2017, 26 (27); je m.w.N. 341 Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 758. 342 BFH v. 30.3.1993 – IV R 57/91, BStBl. II 1993, 502; BFH v. 20.10.2004 – I R 11/03, BStBl. II 2005, 581; BFH v. 10.11.2005 – IV R 13/04, BStBl. II 2006, 618; BMF BStBl. I 2006, 497; hierzu K. Schmidt, DB 2006, 2503; K. Schmidt, FS Raupach, 2006, 405; Groh, DB 2006, 1286; D. Schubert, Der Ansatz von gewissen und ungewissen Verbindlichkeiten in der HGB-Bilanz, 2007, 224 ff. (227 f.); HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 675 „Rangrücktritt“; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 106; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 249 HGB Rz. 34 ff.; eingehend Pöschke, NZG 2017, 1408.
Hennrichs 595
§ 9 Rz. 168
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
nicht mehr zu berücksichtigen. In der Handels- und Steuerbilanz bleibt die fragliche Verbindlichkeit aber grds. passiviert. Denn ein Rangrücktritt führt nicht zum Erlöschen der Schuld, sondern lediglich zu einer veränderten Rangordnung343. Anderes gilt allerdings, wenn die Rangrücktrittsvereinbarung klar344 i.S. des § 5 IIa EStG (oben Rz. 164) spezifiziert ist, also die Nachrangverpflichtung nur aus künftigen Einnahmen oder Gewinnen oder einem etwaigen Liquidationsüberschuss zu erfüllen ist. In diesem Fall gilt § 5 IIa EStG und ist die Verbindlichkeit deshalb auszubuchen345. Bei Gesellschafterdarlehen ist der ausbuchungsbedingte Wegfallgewinn, sofern er auf dem Gesellschaftsverhältnis beruht, durch den Ansatz einer (verdeckten) Einlage der betroffenen Forderungen zu neutralisieren346. Die Einlage ist nach h.M. freilich nur in Höhe des werthaltigen Teils der Forderung zu bewerten (§ 6 I Nr. 5 EStG), im Übrigen (in der Praxis also meist zum überwiegenden Teil) sei der Vorgang erfolgswirksam zu erfassen347. Für diesen ertragswirksamen Teil des Wegfallgewinns gem. § 5 IIa EStG dürften allerdings bei spezifiziertem Rangrücktritt zum Zwecke einer unternehmensbezogenen Sanierung die neuen Vorschriften zur Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen (§ 3a EStG-E, § 7b GewStG-E, oben Rz. 99) gelten348. 168 Bei mezzaninen Finanzierungsinstrumenten (insb. Genussrechten,349 aber auch bei stillen Ein-
lagen350) kann die EK-FK-Abgrenzung im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten. Das Eigenkapital ist an sich nur eine Residualgröße (Rz. 160). Die Abgrenzung bestimmt sich demzufolge grds. nach den allgemeinen bilanzsteuerrechtlichen Passivierungskriterien, d.h. entscheidend ist, ob die Voraussetzungen für die Passivierung als Schuld (Verbindlichkeiten i.e.S. und Rückstellungen), als pRAP (Rz. 200 ff.) oder als erhaltene Anzahlungen (s. § 266 III Buchst. C Nr. 3 HGB) erfüllt sind (dann FK) oder nicht (dann EK). Allerdings sind vorrangig steuerrechtliche Sondervorschriften zu beachten. (Nur) Genussrechte, mit denen das Recht auf Beteiligung am Gewinn und am Liquidationserlös der Kapitalgesellschaft verbunden ist (beteiligungsähnliche oder qualifizierte Genussrechte), zählen gemäß dem in § 8 III 2 KStG zum Ausdruck gekommenen Regelungsanliegen des Gesetzgebers in der Steuerbilanz der Körperschaften zum Eigenkapital351. Im Umkehrschluss sind Verpflichtungen zur Rückzahlung von Genussrechtskapital, das keine Beteiligung am Gewinn und Liquidationserlös ver343 OFD Frankfurt a.M., DB 2017, 1937 (1938); IDW Life 2016, 1000 (1001); Schulze-Osterloh, BB 2017, 427 (428); Kahlert, BB 2016, 878; a.A. W. Müller, BB 2016, 491; Hoffmann, StuB 2016, 286; Oser, DStR 2017, 1889. 344 Sind die Rückzahlungsmodalitäten nicht klar geregelt, ist im Zweifel von einer Erfüllungspflicht auch aus dem sonstigen Vermögen auszugehen und daher Passivierung geboten, s. BFH v. 10.11.2005 – IV R 13/04, BStBl. II 2006, 618 (621); Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 957d; MünchKomm. BilanzR/ Schlotter, Anh. zu § 249 HGB Rz. 38; Wacker, DB 2017, 26 (30). 345 BFH v. 30.11.2011 – I R 100/10, BStBl. II 2012, 332 (Rz. 17) m.w.N. zum Streitstand; BFH v. 10.8.2016 – I R 25/15, BStBl. II 2017, 670; s. auch Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 762c, 957a ff.; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 485 „Besserungsvereinbarung“; Schulze-Osterloh, WPg. 1996, 97 ff.; Wacker, FS Gosch, 2016, 413 (415 ff.); Briese, DStR 2017, 799; Pöschke, NZG 2017, 1408 (1412, 1415, 1418). 346 BFH v. 15.4.2015 – I R 44/14, BStBl. II 2015, 769; BFH v. 10.8.2016 – I R 25/15, BStBl. II 2017, 670; Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 957c und 957e; Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 Rz. 315. 347 BFH v. 15.4.2015 – I R 44/14, BStBl. II 2015, 769; BFH v. 10.8.2016 – I R 25/15, BStBl. II 2017, 670; BFH v. 9.6.1997 – GrS 1/94, BStBl. II 1998, 307; a.A. (Einlage i.H. des gesamten auszubuchenden Betrags) mit beachtlichen Gründen W. Müller, BB 2016, 491 (494); Altrichter-Herzberg, GmbHR 2017, 185 f.; Schulze-Osterloh, NZG 2017, 641; Pöschke, NZG 2017, 1408 (1414). 348 Zutr. Förster/Hechtner, DB 2017, 1536 (1538); Pöschke, NZG 2017, 1408 (1415 f.). 349 Lühn, Bilanzierung und Besteuerung von Genussrechten, 2006; Lotz, Finanzierung von Genossenschaften durch Genussrechte: Finanzierungswahl und Bilanzierung, 2014. 350 Dazu Wolf, StuB 2017, 276 und unten § 10 Rz. 36, 70. 351 Zutr. Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 920 „Genussrechte“; Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 Rz. 550 „Genussrechte“; Briesemeister, Hybride Finanzierung im Ertragsteuerrecht, 2006, S. 112; Schrecker, Mezzanine-Kapital in Handels- und Steuerrecht, 2012, S. 111 ff.; Hennrichs/Schlotter, DB 2016, 2072.
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III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 170 § 9
mittelt („einfache“ Genussrechte), in der Steuerbilanz als Verbindlichkeiten zu passivieren. Eine möglicherweise anders vorgenommene handelsrechtliche Abgrenzung352 ist entgegen der Ansicht der FinVerw.353 richtigerweise nicht maßgeblich354. Wird eine Verbindlichkeit (z.B. aus einem Gesellschafterdarlehen) in ein „einfaches“ Genussrecht umgewandelt (Debt-Mezzanine-Swap), findet steuerlich deshalb nur ein erfolgsneutraler Passivtausch innerhalb des steuerlichen Fremdkapitals statt355. Bei Einräumung einer Option sind die Verpflichtung aus der Option und das nachfolgende, aus der 169 Ausübung der Option resultierende Geschäft zu unterscheiden. Für die Verpflichtung aus dem Optionsrecht (z.B. Verpflichtung eines Kfz.-Händlers, verkaufte Kraftfahrzeuge auf Verlangen des Käufers zurückzukaufen) ist eine Verbindlichkeit in Höhe des dafür vereinnahmten (ggf. zu schätzenden) Entgelts auszuweisen356. Davon zu trennen ist die Ausübung des Optionsrechts. Droht daraus ein Verlust, gilt insoweit steuerbilanziell § 5 IVa EStG. 2.3 Rückstellungen 2.3.1 Überblick über die Passivierungsvoraussetzungen Gem. § 249 I 1 HGB sind Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten zu bilden. Die Vor- 170 schrift wird als GoB gem. § 5 I 1 EStG (§ 8 I KStG) auch für die steuerliche Gewinnermittlung maßgeblich. Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten setzen hiernach voraus357: (1) Entweder das Bestehen einer ihrer Höhe nach ungewissen Verbindlichkeit oder die überwiegende Wahrscheinlichkeit des Entstehens einer Verbindlichkeit dem Grunde nach, deren Höhe zudem ungewiss sein kann. Es muss sich um eine Leistungsverpflichtung gegenüber einem Dritten im Sinne einer Außenverpflichtung handeln. (2) Besteht die Verbindlichkeit am Bilanzstichtag rechtlich noch nicht, ist ein wirtschaftlicher Bezug zum Zeitraum vor dem jeweiligen Bilanzstichtag erforderlich. Für solche künftigen Verpflichtungen kann eine Rückstellung nur unter der weiteren Voraussetzung gebildet werden, dass sie wirtschaftlich in den bis zum Bilanzstichtag abgelaufenen Wirtschaftsjahren verursacht ist (vgl. dazu ausf. Rz. 177 ff., 183). (3) Zudem muss die Inanspruchnahme des Schuldners wahrscheinlich sein. (4) Schließlich dürfen Rückstellungen nur für Verbindlichkeiten gebildet werden, die bei Erfüllung zu sofort abziehbaren BA führen. Rückstellen für Aufwendungen, die in künftigen Wirtschafts-
352 Vgl. dazu IDW HFA 1/1994. – S. aber auch § 330 HGB i.V.m. RechKredV (Formblatt 1, Passivseite Nr. 10.)/RechVersV (Formblatt 1, Passivseite Position B.), wonach Genussrechte in einer besonderen Position des Fremdkapitals (!) einzuordnen sind. 353 OFD Rheinland v. 14.12.2011, DStR 2012, 189; OFD NRW v. 12.5.2016, DB 2016, 1407. 354 Hennrichs/Schlotter, DB 2016, 2072; Kleinmanns, BB 2016, 2543; Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 920 „Genussrechte“ und Rz. 957 f.; Blümich/Rengers, § 8 KStG Rz. 194, 200 ff.; Höng, Ubg 2014, 27. 355 Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 957 f.; Blümich/Rengers, § 8 KStG Rz. 216. 356 BFH v. 17.11.2010 – I R 83/09, BStBl. II 2011, 812; BFH v. 11.10.2007 – IV R 52/04, BStBl. II 2009, 705. S. auch BMF v. 12.10.2011 – IV C 6 - S 2137/09/10003, DStR 2011, 2000; LfSt Bayern, Vfg. v. 13.8.2014 – S 2137.1.14/5 St32, DStR 2014, 2077; E. Klein, DStR 2011, 1981. 357 Vgl. BFH v. 5.4.2017 – X R 30/15, BStBl. II 2017, 900; BFH v. 15.3.2017 – I R 11/15, BSTBL. II 2017, 1043; BFH v. 9.11.2016 – I R 43/15, BStBl. 2017, 379; BFH v. 8.11.2016 – I R 35/15, BStBl. II 2017, 768; BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, BStBl. II 2014, 302; BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. II 2013, 954; BFH v. 6.6.2012 – I R 99/10, BStBl. II 2013, 196; BFH v. 8.9.2011 – IV R 5/09, BStBl. II 2012, 122; BFH v. 27.1.2010 – I R 103/08, BFHE 228, 91, BStBl. II 2010, 614; BFH v. 20.8.2008 – I R 19/07, BFHE 222, 494; BFH BStBl. II 2011, 60; BFH v. 27.6.2001 – I R 45/97, BStBl. II 2003, 121; auch MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 21 f.; Beck’scher Bilanz-Komm./W. Schubert11, § 249 HGB Rz. 24; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 490, 502. Ferner z.B. R 5.7 (2) EStR.
Hennrichs 597
§ 9 Rz. 171
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
jahren als Anschaffungs- oder Herstellungskosten eines WG zu aktivieren sind, dürfen deshalb nicht gebildet werden (§ 5 IVb 1 EStG)358. Unter diesen Voraussetzungen stellt das Gesetz diese Lasten für die Beurteilung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit den gewissen Verbindlichkeiten gleich359. 171 Unterliegen BA steuerrechtlichen Abzugsverboten (s. § 4 V; ausf. § 8 Rz. 286 ff.; insb. GewSt-Rück-
stellung gem. § 4 Vb EStG), ist ein etwaiger handelsrechtlicher Passivposten bei der steuerlichen Gewinnermittlung durch außerbilanzielle Hinzurechnung zu neutralisieren360. 2.3.2 Außenverpflichtung 172 Die Bildung von Rückstellungen setzt eine Außenverpflichtung voraus. Der Verbindlichkeit muss ein
Anspruch eines Dritten i.S.d. § 194 I BGB korrespondieren, d.h. ein Dritter muss von der Gesellschaft ein bestimmtes Tun oder Unterlassen verlangen können (subjektives Gläubigerrecht eines Dritten). Aufwandsrückstellungen sind nur ganz ausnahmsweise zu bilden, nämlich gem. § 249 I 2 Nr. 1 HGB; § 5 I 1 EStG für unterlassene Instandhaltung, wenn die Aufwendung im Geschäftsjahr unterlassen wurde und im folgenden Geschäftsjahr innerhalb von drei Monaten nachgeholt wird361. 173 Schuldgrund kann ein privat- oder öffentlich-rechtlicher Vertrag oder ein gesetzliches privates oder
öffentlich-rechtliches einseitiges Schuldverhältnis (vgl. § 241 BGB) sein. Bestehen nebeneinander mehrere Schuldgründe, sind sie jeweils für sich genommen daraufhin zu prüfen, ob eine Rückstellung geboten ist. Beispielsweise besteht für Flugzeuge eine öffentlich-rechltiche Wartungsverpflichtung nach § 6 LuftBO. Gleichwohl ist der Halter des Flugzeugs nach h.M. nicht berechtigt, vor Ablauf der zulässigen Betriebszeit Rückstellungen für diese Verpflichtung zu bilden. Die Wartungsverpflichtung nach § 6 LuftBO sei wirtschaftlich nicht in der Vergangenheit verursacht, weil wesentliches Merkmal der Überholungsverpflichtung das Erreichen der zulässigen Betriebszeit sei, die den typischerweise auftretenden Ermüdungs- und Abnützungserscheinungen des Luftfahrtgeräts Rechnung trage. Vor Erreichen der zulässigen Betriebszeit könne nicht von einer wesentlichen Verursachung der Verbindlichkeit gesprochen werden362. Ist das Flugzeug allerdings geleast und besteht nach dem Leasingvertrag neben der öffentlich-rechtlichen Verpflichtung noch eine privatrechtliche Verpflichtung auf Zahlung von Wartungsrücklagen-Garantiebeträgen, ist hierfür eine Rückstellung geboten, wenn bei Beendigung des Vertrages kein Anspruch auf Rückerstattung der Beträge besteht und der Steuerpflichtige deshalb stets mit den vereinbarten Beträgen belastet bleibt363. Denn dieser Verpflichtung kann sich der Stpf. nicht entziehen, nicht einmal duch Einstellung des Flugbetriebs vor Durchführung der nächsten Wartung (weil auch dann offene Wartungsrücklagen-Garantiebeträge zu zahlen sind). Die Unentziehbarkeit der Verpflichtung begründet den ausreichenden Vergangenheitsbezug (s. Rz. 179). Neben gesetzlichen oder vertraglichen Verpflichtungsgründen soll die Bildung einer Rückstellung nach h.M. auch für sog. faktische Verbindlichkeiten in Betracht kommen, denen sich der Kauf-
358 Vgl. BFH v. 27.6.2001 – I R 45/97, BStBl. II 2003, 121. – § 5 IVb 1 EStG entspricht den handelsrechtlichen GoB (vgl. MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 67) und der st. Rspr. des BFH (s. m.w.N. BFH v. 19.8.1998 – XI R 8/96, BStBl. II 1999, 18 [19]). 359 Zur Legitimation von Rückstellungen in der Steuerbilanz s. HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 54 f.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301, 310 ff.; Schlotter, BB 2009, 1408 (1411); a.A. Doralt, FR 2017, 377, der meint, Rückstellungen seien steuerpolitisch nicht zu rechtfertigen. 360 Vgl. BFH v. 7.11.2013 – IV R 4/12, DB 2014, 395 (Rz. 23); BFH v. 14.5.2014 – X R 23/12 (Rz. 31, 62); R 5.7 I 2 EStÄR 2012 (für eine GewSt-Rückstellung und § 4 Vb EStG). 361 Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 899; Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 EStG Rz. 463. 362 BFH v. 19.5.1987 – VIII R 327/83, BStBl. II 1987, 848; BFH v. 9.11.2016 – I R 43/15, BStBl. II 2017, 379. 363 BFH v. 9.11.2016 – I R 43/15, BStBl. II 2017, 379.
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Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 175 § 9
mann aus sittlichen, tatsächlichen oder wirtschaftlichen Gründen nicht entziehen könne364. Dagegen spricht, dass die Anerkennung von sog. „faktischen Lasten“ die Unterscheidung zwischen Verbindlichkeits- und Aufwandsrückstellungen verwischt sowie gegen § 249 II 1 HGB verstößt. Im Übrigen spricht der Umstand, dass § 249 I 2 Nr. 2 HGB die Gewährleistungen „ohne rechtliche Verpflichtung“ eigens erwähnt, für einen (Umkehr-)Schluss dahingehend, dass andere rein faktische Lasten nicht schon nach § 249 I 1 HGB rückstellungsfähig sein sollen365. Bei Verbindlichkeiten auf öffentlich-rechtlicher Grundlage, insb. Umweltschutzverpflichtungen366, 174 lässt der BFH Rückstellungen nur zu, wenn die Verpflichtung „hinreichend konkretisiert ist“367. Diese Voraussetzung ist erfüllt bei Erlass einer behördlichen Verfügung oder bei Abschluss eines entsprechenden verwaltungsrechtlichen Vertrags. Gründet die öffentlich-rechtliche Verpflichtung dagegen allein auf gesetzlichen Bestimmungen, kann eine Rückstellung gebildet werden, wenn der Gesetzesbefehl hinsichtlich des Inhalts der Pflicht entsprechend konkret ist und an die Verletzung der Pflicht Sanktionen geknüpft sind, so dass der Kaufmann sich der Verpflichtung im Ergebnis nicht entziehen kann368. Fraglich ist, ob in Fällen eine Rückstellung gebildet werden darf, in denen die Erfüllung einer (öf- 175 fentlich-rechtlichen oder zivilrechtlichen) Rechtspflicht zugleich im eigenbetrieblichen Interesse des Kaufmanns liegt. Der I. Senat des BFH hat unter Hinweis auf die Argumentationsfigur des sog. eigenbetrieblichen Aufwands für die Verpflichtung zur Entsorgung eigenen Abfalls nach dem AbfG keine Rückstellung zugelassen369, weil sich das Erfordernis der Abfallentsorgung selbst bereits aus betrieblichen Notwendigkeiten ergebe und damit gleichsam eine „Verpflichtung gegen sich selbst“ vorliege. Mit ähnlicher Begründung hat der IV. Senat des BFH eine Rückstellung für die Verpflichtung zur Prüfung des Jahresabschlusses einer Personenhandelsgesellschaft verneint, wenn die Prüfungspflicht ausschließlich durch den Gesellschaftsvertrag begründet ist370. Eine solche ausschließlich gesell364 BFH v. 10.1.2007 – I R 53/05, BFH/NV 2007, 1102. 365 I.E. MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 33 f. Eingehend D. Schubert, Der Ansatz von gewissen und ungewissen Verbindlichkeiten in der HGB-Bilanz, 2007, 236 ff., die zugleich aufzeigt, dass die im Schrifttum aufgeführten Fallgruppen für angebliche faktische Leistungspflichten (u.a. verjährte Verbindlichkeiten, nichtige Verträge, Verpflichtungen aus fehlerhafter Gesellschaft, Kaufmannsübung u. ä.) sich bei Lichte besehen alle sachgerecht auch auf dem Boden einer rechtlichen Betrachtungsweise lösen lassen. 366 Vgl. BFH v. 25.3.2004 – IV R 35/02, BStBl. II 2006, 644 u. BFH v. 21.9.2005 – X R 29/03, BStBl. II 2006, 647; BFH v. 19.11.2003 – I R 77/01, BStBl. II 2010, 482. Zum Ganzen Crezelius, Rückstellungen bei Umweltmaßnahmen, 1993; Eilers, Rückstellungen für Altlasten und Umweltschutzverpflichtungen, 1993; Loose, Rückstellungen für Umweltverbindlichkeiten, 1993; Herzig (Hrsg.), Bilanzierung von Umweltlasten und Umweltschutzverpflichtungen, 1994; Herzig/Köster, BB-Beil. 23/1994; Gotthardt, Rückstellungen und Umweltschutz, Diss., 1995; R. Möller, Das kontaminierte Betriebsgrundstück. Rückstellungen wegen Altlastenhaftung und ihre Konsequenzen bei der handelsrechtlichen und steuerrechtlichen Gewinnermittlung, Diss., 1997; G. Söffing, FS Ritter, 1997, 257; Tiedchen, NZG, 2005, 801; Christiansen, DStR 2008, 735. Zu Auswirkungen des UmweltHG auf die Rückstellungsbilanzierung s. Schubert, WPg. 2008, 505 m.w.N. 367 Vgl. BFH v. 9.11.2016 – I R 43/15, BStBl. 2017, 379; BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, BStBl. II 2014, 302; BFH v. 6.2.2013 – I R 8/12, BStBl. II 2013, 686; BFH v. 12.12.1991 – IV R 28/91, BStBl. II 1992, 600; BFH v. 25.3.1992 – I R 69/91, BStBl. II 1992, 1010; BFH v. 19.10.1993 – VIII R 14/92, BStBl. II 1993, 891; BFH v. 27.6.2001 – I R 45/97, BStBl. II 2003, 121; zum Merkmal der hinreichenden Konkretisierung s. Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 793b ff. 368 BFH v. 25.8.1989 – III R 95/87, BStBl. II 1989, 893 (894); BFH v. 25.3.1992 – I R 69/91, BStBl. II 1992, 1010 (1011); HHR/Tiedchen, § 5 EStG Anm. 506 (Dez. 2010); R 5.7 (4) EStR 2008; vgl. auch Hageböke, FR 2017, 357 (für öffentlich-rechtliche Verpflichtungen am Beispiel der Netzbetreiberpflichten nach §§ 11 ff., 49 EnWG). 369 BFH v. 8.11.2000 – I R 6/96, BStBl. II 2001, 570. 370 BFH v. 5.6.2014 – IV R 26/11, BStBl. II 2014, 886; dagegen Hennrichs, StuW 2015, 65; Prinz, DB 2014, 2188; Riedel, FR 2015, 371; ferner sogleich im Text.
Hennrichs 599
§ 9 Rz. 176
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
schaftsvertraglich begründete Pflicht zur Prüfung sei keine Außenverbindlichkeit, sondern lediglich eine im Innenverhältnis der Gesellschaft begründete Pflicht. Richtigerweise kommt dem Topos des eigenbetrieblichen Aufwands dagegen keine rückstellungsbegrenzende Wirkung zu371. Die Rückstellungspflicht gründet auf der Außenverbindlichkeit. Der Umstand, dass die Erfüllung einer Außenverbindlichkeit zugleich im wohlverstandenen eigenbetrieblichen Interesse des Kaufmanns liegt, kann die Rückstellung nicht ausschließen. Anderenfalls wären kaum je mehr Rückstellungen geboten, weil naturgemäß die Erfüllung jeder Verbindlichkeit im betrieblichen Eigeninteresse des Kaufmanns liegt (weil er sonst eine Kreditschädigung riskiert)372. Entsprechend wurde denn auch in jüngerer Zeit beispielsweise eine Rückstellung für die Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen (die ebenfalls im eigenbetrieblichen Interesse liegt) wiederholt anerkannt373. Entgegen der Rspr. des IV. Senats des BFH374 stellt auch eine gesellschaftsvertraglich begründete Pflicht zur Prüfung des Jahresabschlusses einer Personengesellschaft eine Außenverbindlichkeit dar375. Der Schuldgrund einer Verbindlichkeit ist nicht ausschlaggebend (Rz. 173). Das Gesellschaftsvermögen ist durch eine gesellschaftsvertraglich begründete Prüfungspflicht ebenso wirtschaftlich belastet wie durch eine gesetzlich oder in einem Kreditvertrag begründete Prüfungspflicht. 2.3.3 Rechtliche Entstehung und wirtschaftliche Verursachung 176 Für die Beurteilung der weiteren Voraussetzungen für eine Rückstellungspassivierung ist sodann da-
nach zu unterscheiden, ob – Fall 1 – die ungewisse Verbindlichkeit am Bilanzstichtag rechtlich schon entstanden ist (oder zumindest wahrscheinlich am Bilanzstichtag besteht; Beispiel: Rückstellung bei gerichtlich geltend gemachter, aber bestr. Schadensersatzforderung376; Kosten eines am Bilanzstichtag schwebenden Prozesses377); oder ob – Fall 2 – die ungewisse Verbindlichkeit rechtlich erst künftig entsteht, ihr Entstehen aber wahrscheinlich ist und sie am Bilanzstichtag wirtschaftlich verursacht ist. Das Kriterium der wirtschaftlichen Verursachung erlangt nach zwar umstrittener, aber zutr. Auffassung nur im letztgenannten Fall 2, d.h. bezogen auf künftige Verbindlichkeiten, eigenständige Bedeutung378. Es dient dabei dem Stichtagsprinzip und der zutreffenden Abschnittsbesteuerung. Nicht sämtliche 371 Zutr. Tiedchen, NZG 2005, 801 ff.; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 31 f.; krit. auch Moxter, BB 2001, 569. I.Erg. auch BFH (IV. Senat) BStBl. II 2006, 644; und BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, DStR 2013, 2745, Rz. 27: jedenfalls wenn das öffentliche Interesse an der Durchführung der Maßnahme, die der Verpflichtung zugrunde liegt, ein eigenbetriebliches Interesse überwiegt, steht das „mitlaufende“ eigenbetriebliche Interesse der Rückstellung nicht entgegen; ähnlich Riedel, FR 2015, 371 (374). 372 Riedel, FR 2015, 371 (374). 373 BFH v. 19.8.2002 – VIII R 30/01, BStBl. II 2003, 131; BFH v. 18.1.2011 – X R 14/09, BStBl. II 2011, 496; BFH v. 11.10.2012 – I R 66/11, BStBl. 2013, 676. 374 BFH v. 5.6.2014 – IV R 26/11, BStBl. II 2014, 886. 375 IDW RH HFA 1.009, Rz. 6; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 72 „Jahresabschlusskosten“; Hoffmann/Lüdenbach, NWB Komm. Bilanzierung5, § 249 Rz. 118; Beck’scher Bilanz-Komm./ Schubert11, § 249 HGB Rz. 100 „Jahresabschluss“; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 704 „Jahresabschluss, Buchführung“; U. Prinz, DB 2014, 2188; Hennrichs, StuW 2015, 65; Riedel, FR 2015, 371. 376 BFH v. 16.12.2014 – VIII R 45/12, BStBl. II 2015, 759; dazu Hennrichs, BB 2015, 1841; Günkel, BB 2015, 2091; Moritz, DB 2015, 1803; Prinz, FR 2015, 750; Hennrichs, StbJB 2015/16, 255; Rätke, StuB 2015, 658. 377 Zur Auflösung der Rückstellung erst bei Rechtskraft des klageabweisenden Urteils BFH v. 30.1.2002 – I R 68/00, BStBl. II 2002, 688; umfassend Osterloh-Konrad, Rückstellungen für Prozessrisiken in Handels- und Steuerbilanz (Teil I u. II), DStR 2003, 1631 u. 1675. 378 Vgl. BFH v. 27.6.2001 – I R 45/97, BStBl. II 2003, 121; BFH v. 5.6.2002 – I R 96/00, BStBl. II 2005, 736 (Rz. 23); BFH v. 6.2.2013 – I R 8/12, BStBl. II 2013, 686 (Rz. 11); BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. II 2013, 954 (Rz. 11); i.Erg. ebenso BFH BStBl. II 2012, 122; BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, BStBl. II 2014, 302 (Rz. 24 f.); aus der Lit. namentlich Osterloh-Konrad, DStR 2003, 1675; Schulze-Osterloh, FS Siegel, 2005, 185 (189); MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 21, 35, 39, 52 ff.; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 693, 702; je m.w.N.
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Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 177 § 9
künftigen, irgendwann wahrscheinlich entstehenden Verbindlichkeiten sind rückstellungsfähig, sondern nur solche, die einen wirtschaftlichen Bezug zum Zeitraum vor dem jeweiligen Bilanzstichtag haben. Am Bilanzstichtag rechtlich entstandene, nur der Höhe nach ungewisse Verbindlichkeiten sind demgegenüber nach zwar umstr., aber zutr. Auffassung des I. Senats des BFH379, der sich mittlerweile der IV. Senat des BFH angeschlossen hat380, unabhängig vom Zeitpunkt der wirtschaftlichen Verursachung stets zu passivieren381. Die rechtliche Entstehung allein begründet die wirtschaftliche Belastung. Bei Auseinanderfallen von rechtlicher Entstehung und wirtschaftlicher Verursachung ist folglich stets der frühere Zeitpunkt maßgeblich. Damit setzen sich der I. und der IV. Senat des BFH zutr. von der sog. Alimentationsthese ab382. Insb. kommt dem sog. Realisationsprinzip (§ 252 I Nr. 4 Hs. 2 HGB) keine „rückstellungsbegrenzende Wirkung“ zu. Das Prinzip, Gewinne erst zu berücksichtigen, wenn sie realisiert sind, betrifft allein die Aktivseite. Auf der Passivseite gilt demgegenüber das Imparitätsprinzip (§ 252 I Nr. 4 Hs. 1 HGB; Rz. 90). Dieses und – insoweit mit gleicher Zielrichtung – das Gebot des vollständigen und richtigen Vermögensausweises (§ 242 I i.V.m. § 246 I HGB)383 verlangen, eine rechtlich entstandene Schuld zu passivieren. Rechtlich begründete Verbindlichkeiten sind Wirtschaftslasten, die ein gedachter Erwerber berücksichtigen würde und die Leistungsfähigkeit bereits aktuell mindern. Denn das für die Erfüllung der Verpflichtung erforderliche Vermögen ist nicht frei disponibel. – Das Gesagte (Passivierung unabhängig von der wirtschaftlichen Verursachung) gilt nicht nur dann, wenn die Verbindlichkeit dem Grunde nach unstreitig ist und die Ungewissheit allein die Höhe betrifft, sondern richtigerweise auch in Fällen gegenwärtiger Verbindlichkeiten, die dem Grunde nach zwar umstritten sind, die aber, wenn sie bestehen, bereits am Bilanzstichtag begründet sind384 (beispielsweise streitige Produkthaftung, über die ein Rechtsstreit anhängig ist). Das Kriterium der wirtschaftlichen Verursachung wird nur für künftige, erst nach dem Bilanzstichtag (wahrscheinlich) entstehende ungewisse Verbindlichkeiten relevant. Die danach relevante Grenze zwischen den am Bilanzstichtag rechtlich schon entstandenen (der 177 Höhe nach ungewissen) Verbindlichkeiten und solchen Schulden, die erst künftig (wahrscheinlich) entstehen, ist nicht immer einfach zu ziehen. Nach allgemeinen Grundsätzen entstehen Ansprüche und Verbindlichkeiten zu dem Zeitpunkt, zu dem die sie begründenden Tatbestandselemente erfüllt sind385. Die relevante Tatbestandsverwirklichung kann sich daraus ergeben, dass der Stpfl. die Merkmale eines gesetzlichen Tatbestands verwirklicht.
379 BFH v. 27.6.2001 – I R 45/97, BFHE 196, 216, 221, BStBl. II 2003, 121, 123; BFH v. 19.12.2007 – IV R 85/05, BStBl. II 2008, 516; BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. II 2013, 954 (Rz. 11); BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, BStBl. II 2014, 302. 380 BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, DStR 2013, 2745 = BB 2014, 175 m. Anm. Behrens. 381 Dazu Gosch, DStR 2002, 977 (979 ff.); Christiansen, DStR 2007, 127; zust. Kirchhof/Crezelius17, § 5 EStG Rz. 109, 124; Dziadkowski, WPg. 2012, 500 (505); Günkel, StbJb. 2001/92, 343 (351 ff.); MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 39; Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 241b; Kessler, DStR 2001, 1903 (1906); Mayer-Wegelin, DB 1995, 1241 (1243 f.); Beck’scher Bilanzkomm./Schmidt/Usinger11, § 243 HGB Rz. 35; Schön, BB Beil. 9/1994, 4; Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh18, § 42 GmbHG Rz. 237; Schulze-Osterloh, DStJG 23 (2000), 67 (83); Schulze-Osterloh, FS Forster, 1992, 654 (666 ff.); Siegel BB 1993, 326 (335); HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 693, 702. a.A. Euler, DB 2002, 707 m. Replik Koths; Weber-Grellet, DB 2002, 2180; Moxter, DStR 2003, 1586 (1589); Moxter, DStR 2004, 1098 ff.; G. Mayr, Rückstellungen, Wien 2004, 41–69 (mit ausf. zwischen Handels- u. Steuerbilanz differenzierender Begr.); U. Prinz, DStJG 34 (2011), 135 (175). 382 Moxter, FS Döllerer, 1988, 447 ff.; Moxter, ZfbF 1995, 311 ff.; Herzig, DB 1990, 1341 (1344). 383 Zutr. Woerner, FS Moxter, 1994, 483 (490): „Tragende Prinzipien für die Ermittlung des Passivierungszeitpunktes von Verbindlichkeiten sind das Vollständigkeitsgebot und das Vorsichtsprinzip“. 384 Zutr. Schulze-Osterloh, FS Siegel, 2005, 185 (189); ferner Adler/Düring/Schmaltz6, § 249 HGB Rz. 72; Osterloh-Konrad, DStR 2003, 1675. 385 BFH v. 6.2.2013 – I R 8/12, BStBl. II 2013, 686 (Rz. 13); BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, DStR 2013, 2745 (Rz. 20).
Hennrichs 601
§ 9 Rz. 178
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Bei öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen, die auf einem Verwaltungsakt beruhen, ist nach der neueren Rspr. auf die sog. innere Wirksamkeit des Verwaltungsaktes abzustellen, d.h. darauf, zu welchem Zeitpunkt die in dem Verwaltungsakt enthaltenen materiellen Rechtsfolgen ausgelöst werden (vgl. § 43 Abs. 1 Satz 2 VwVfG); auf den Umstand, dass der Stpfl. aufgrund der Bestandskraft des Verwaltungsakts zur Erfüllung verpflichtet ist (äußere Wirksamkeit), soll es nicht ankommen. Enthält der Verwaltungsakt eine aufschiebende Bedingung oder Befristung, entsteht die Verpflichtung rechtlich erst im Zeitpunkt des Bedingungseintritts oder Fristablaufs386. Die gesetzliche Verpflichtung, dass eine technische Altanlage (erst) ab einem bestimmten Zeitpunkt festgelegten Emissionswerten genüge müsse, berechtige deshalb vor Ablauf dieses Zeitpunkts trotz Konkretisierung in einem behördlichen Verwaltungsakt noch nicht zur Rückstellungsbildung387. 178
Besteht die Verbindlichkeit am Bilanzstichtag rechtlich noch nicht, ist ein wirtschaftlicher Bezug zum Zeitraum vor dem jeweiligen Bilanzstichtag erforderlich. (Nur) Für solche künftigen Verpflichtungen kann eine Rückstellung nur unter der weiteren Voraussetzung gebildet werden, dass sie wirtschaftlich in den bis zum Bilanzstichtag abgelaufenen Wirtschaftsjahren verursacht ist388. Die (nicht immer einheitliche) Rspr. des BFH bejaht das dann, wenn „die ungewisse Verbindlichkeit so eng mit dem betrieblichen Geschehen des abgelaufenen Geschäftsjahres verknüpft ist, dass es gerechtfertigt erscheint, sie wirtschaftlich als eine bereits am Bilanzstichtag bestehende Verbindlichkeit anzusehen“; das sei dann der Fall, wenn „die wirtschaftlich wesentlichen Tatbestandsmerkmale der Verpflichtung erfüllt sind“ und das Entstehen der Verbindlichkeit – ungeachtet der rechtlichen Gleichwertigkeit aller Tatbestandsmerkmale – nur noch von wirtschaftlich unwesentlichen Merkmalen abhänge389. Formuliert wird auch, die Verpflichtung dürfe nicht nur an Vergangenes anknüpfen, sondern müsse auch Vergangenes abgelten390. Im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung391 sei zu beurteilen, ob die in Frage stehende Verbindlichkeit sich am Bilanzstichtag schon so weit konkretisiert habe, dass eine Belastung vergleichbar einer entstandenen Verbindlichkeit gegeben sei. „Wirtschaftlich verursacht“ wird hier verstanden i.S.v. „wirtschaftlich entstanden“392.
179
Zur Konkretisierung des unsicheren Merkmals der wirtschaftlichen Verursachung greift der BFH zunehmend auf den Topos der Unentziehbarkeit zurück393. Eine Verbindlichkeit ist danach jedenfalls dann im Wesentlichen vergangenheitsorientiert, wenn die Pflicht unabhängig davon zu erfüllen ist,
386 BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, BStBl. II 2014, 302 (Rz. 20); BFH v. 6.2.2013 – I R 8/12, BStBl. II 2013, 686 (Rz. 13, 18); BFH v. 13.12.2007 – IV R 85/05, BStBl II 2008, 516; a.A. HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 702. 387 BFH v. 6.2.2013 – I R 8/12, BStBl. II 2013, 686 (Rz. 13, 18; „TA Luft II“) im Anschluss an BFH v. 13.12.2007 – IV R 85/05, BStBl II 2008, 516 und insoweit in Abweichung von BFH v. 27.6.2001 – I R 45/97, BStBl. II 2003, 121 („TA Luft I“). Dazu U. Prinz, DB 2013, 1815; M. Prinz, FR 2013, 802; Christiansen, DStR 2013, 1347. 388 Mittlerweile st. Rspr., vgl. BFH v. 5.4.2017 – X R 30/15, BStBl. II 2017, 900; BFH v. 15.3.2017 – I R 11/15, BStBl. II 2017, 1043; BFH v. 9.11.2016 – I R 43/15, BStBl. II 2017, 379; je m.w.N. 389 Vgl. z.B. BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, DStR 2013, 2745 (Rz. 23); BFH v. 6.2.2013 – I R 8/12, BStBl. II 2013, 686 (Rz. 21); BFH v. 1.8.1984 – I R 88/80, BStBl. II 1985, 44; und öfter; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 701. 390 Vgl. BFH v. 5.4.2017 – X R 30/15, BStBl. II 2017, 900; BFH v. 25.8.1989 – III R 95/87, BStBl. II 1989, 893; und öfter; R 5.7 V EStR. 391 BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, BStBl. II 2014, 302 (Rz. 23); BFH v. 6.2.2013 – I R 8/12, BStBl. II 2013, 686 (Rz. 21); BFH v. 19.5.1987 – VIII R 327/83, BStBl. II 1987, 848; BFH v. 25.1.2017 – I R 70/15, BStBl. II 2017, 780. 392 So Schön, Beil 9/1994, 4; Woerner, FS Moxter, 1994, 483 (496, 504 f.). 393 BFH v. 9.11.2016 – I R 43/15, BStBl. II 2017, 379; BFH v. 5.4.2017 – X R 30/15, BStBl. II 2017, 900; BFH v. 8.9.2011 – IV R 5/98, BStBl. II 2012, 122: Rückstellungen für Zulassungskosten eines Pflanzenschutzmittels; dazu ferner Christiansen, DStR 2011, 2483; M. Prinz, FR 2012, 136; Engel-Ciric/Moxter, BB 2012, 1143 (1144 ff.); krit. HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 701.
602
Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 180 § 9
ob der Unternehmer seine Tätigkeit in Zukunft fortführt oder den Betrieb zum jeweiligen Bilanzstichtag beendet. Daher kann der Vergangenheitsbezug der Verpflichtung zur Zahlung von Zulassungskosten für ein Pflanzenschutzmittel nicht allein deshalb verneint werden, weil mit den Aufwendungen erst in der Zukunft Erträge erzielt werden394. Entscheidend ist, dass die Verbindlichkeit auch zu erfüllen wäre, wenn der Betrieb am Bilanzstichtag eingestellt würde. Gleiches gilt für eine privatrechtliche Verpflichtung zur Zahlung von Wartungsrücklagen-Garantiebeträgen für die Wartung von geleasten Flugzeugen (s. bereits Rz. 173), wenn bei Beendigung des Vertrags kein Anspruch auf Rückerstattung der Beträge besteht und der Stpfl. selbst bei Einstellung des Flugbetriebs vor Durchführung der nächsten Wartung mit den vereinbarten Beträgen belastet bleibt395. Andererseits ist keine Rückstellung für Kammerbeiträge eines künftigen Beitragsjahres zu bilden, weil diese entscheidend an die Kammerzugehörigkeit im künftigen Beitragsjahr anknüpft und sich der Stpfl. dieser Verpflichtung daher entziehen könnte, wenn er den Geschäftsbetrieb vorher einstellen würde396. Für die Konkretisierung kann außerdem ein gedanklicher Teilwerttest hilfreich sein, also die Frage, ob ein gedachter Erwerber des ganzen Unternehmens die fragliche Belastung bereits als aktuelle Vermögensminderung ansehen würde397. Verbindlichkeitsrückstellungen wurde beispielsweise in folgenden Fällen bejaht: Abbruchkosten auf 180 Grund vertraglicher oder gesetzlicher Verpflichtung zur Beseitigung von Gebäuden auf fremdem Grund und Boden398; Deponie-Rekultivierung (Ansammelrückstellung)399; Kosten der Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen gem. §§ 257 HGB; 147 AO400; Gewährleistungspflichten wegen Mängeln der erbrachten Leistung und Garantiearbeiten wegen Material- und Funktionsfehlern der verkauften Waren401; Rückstellung wegen der öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen zur Durchführung von luftverkehrstechnischen Maßnahmen, für deren Durchführung die Umsetzungsfristen am Bilanzstichtag bereits abgelaufen waren402; privatrechtliche Verpflichtung zur Zahlung von Wartungsrücklagen-Garantiebeträgen für die Wartung von geleasten Flugzeugen (Rz. 173, 179); Verpflichtungen aus Produkthaftung403 oder wegen anderer unerlaubter Handlungen (zB wegen Verletzung von Patent- oder ähnlichen Rechten)404; Prozesskosten für einen am Bilanzstichtag anhängigen Rechtsstreit (nicht aber für künftigen Rechtsstreit oder noch nicht eingelegte Rechtsmittel)405; Nachbetreuungsverpflichtung eines Versicherungsvertreters für bereits abgeschlossene Versicherungsverträge406;
394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406
BFH v. 8.9.2011 – IV R 5/98, BStBl. II 2012, 122. BFH v. 9.11.2016 – I R 43/15, BStBl. II 2017, 379. BFH v. 5.4.2017 – X R 30/15, BStBl. II 2017, 900. Engel-Ciric/Moxter, BB 2012, 1143 (1145); a.A. HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 701 („wenig praktikabel und justiziabel“). BFH v. 28.3.2000 – VIII R 13/99, BStBl. II 2000, 612; BFH v. 19.2.1975 – I R 28/73, BStBl. II 1975, 480. BFH v. 5.5.2011 – IV R 32/07, BStBl. II 2012, 98. BFH v. 19.8.2002 – VIII R 30/01, BStBl. II 2003, 131; BFH v. 18.1.2011 – X R 14/09, BStBl. II 2011, 496. BFH v. 7.10.1982 – IV R 39/80, BStBl. II 1983, 104; BFH v. 30.6.1983 – IV R 41/81, BStBl. II 1984, 263; BFH v. 17.2.1993 – X R 60/89, BStBl. II 1993, 437. BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, DStR 2013, 2745 (Rz. 19 ff.). Demgegenüber keine Rückstellung für diejenigen luftverkehrstechnischen Verpflichtungen, für deren Durchführung die Umsetzungsfristen zum Bilanzstichtag noch nicht abgelaufen sind (ebda., Rz. 40 ff.). Vgl. BFH v. 1.8.1984 – I R 88/80, BStBl. II 1985, 44, 46. BFH v. 2.10.1992 – III R 54/91, BStBl. II 1993, 153. BFH v. 6.12.1995 – I R 14/95, BStBl. II 1996, 406. BFH v. 28.7.2004 – XI R 63/03, BStBl. II 2006, 866; BFH v. 19.7.2011 – X R 26/10, BStBl. II 2012, 856; BFH v. 27.2.2014 – III R 14/11, BStBl. II 2014, 675; BMF BStBl. I 2012, 1100; s. auch Tiedchen, FR 2012, 22, die statt einer Rückstellung einen passiven Rechnungsabgrenzungsposten befürwortet.
Hennrichs 603
§ 9 Rz. 181
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Nachbetreuungskosten eines Hörgeräte-Akustikers407; für Zulassungskosten eines Pflanzenschutzmittels (weil unabhängig von der Unternehmensfortführung oder Betriebseinstellung geschuldet und damit unentziehbar; insoweit steht auch § 5 IVb 1 EStG nicht entgegen, weil die Kosten für die Zulassung des Pflanzenschutzmittels wegen § 5 II EStG nicht aktivierungsfähig sind)408; für zukünftige Betriebsprüfung bei Großbetrieben (§ 200 AO), soweit diese die am jeweiligen Bilanzstichtag bereits abgelaufenen Wirtschaftsjahre (Prüfungsjahre) betreffen409. Richtigerweise zu bejahen sind außerdem Rückstellungen für die Verpflichtung zur Prüfung des Jahresabschlusses, und zwar auch bei gesellschaftsvertraglich begründeter Prüfungspflicht410. 181 Ebenfalls zu bejahen sind Rückstellungen für Ausgleichspflichten bei sog. Kostenüberdeckung
nach Maßgabe öffentlich-rechtlicher Vorschriften (kommunaler Zweckverband)411 sowie für Mehrerlösabschöpfungen bei Energieunternehmen412. Die Verpflichtung des kommunalen Zweckverbands oder der Energieunternehmen, in früheren Geschäftsjahren zu viel erhobene Entgelte durch Verrechnung mit künftigen Entgelten periodenübergreifend auszugleichen413, ist mit der Vereinnahmung der Mehrerlöse rechtlich entstanden und außerdem jedenfalls in der Vergangenheit wirtschaftlich verursacht. Denn die überhöht angesetzten Entgelte (auszugleichenden Mehrerlöse) wurden in der Vergangenheit für damals erbrachte Leistungen vereinnahmt; der Mehrerlös hat seine Grundlage in der vergangenen Kalkulationsperiode, für die er vereinnahmt wurde414. Damit knüpft die Verpflichtung zur Mehrerlösabschöpfung an Vergangenes an und gilt Vergangenes ab (zu viel vereinnahmte Entgelte). Die Verpflichtung ist außerdem unentziehbar415. Entgegen der Ansicht der Finanzverwaltung416 ist die Verpflichtung zur Mehrerlösabschöpfung auch nicht etwa Bestandteil des schwebenden Geschäfts, sondern sie tritt als zusätzliche Verpflichtung neben den Vertrag417. Die periodenübergreifende Abrechnung ist lediglich eine aus Gründen der Verfahrensökonomie erlaubte Technik zum Ausgleich des rechtsgrundlos erhaltenen Mehrerlöses, den der Netzbetreiber nicht behalten darf (Erfüllungsmodalität418), ändert aber an dem Charakter einer selbständigen, neben dem schwebenden Vertrag stehenden Verpflichtung nichts. Für die Rückstellungsfähigkeit kann es keinen Unterschied machen, ob die spätere Erfüllung einer bestehenden Verbindlichkeit zu einer Erhöhung des Aufwands oder zu einer Verminderung der Einnahmen führt419. Es liegt hier nicht anders als in sonstigen Fällen des Bereicherungsausgleichs von rechtsgrundlos zu viel vereinnahmten Entgelten. Die Gegenauffassung 407 BFH v. 5.6.2002 – I R 96/00, BStBl. II 2005, 736. 408 BFH v. 8.9.2011 – IV R 5/09, BStBl. II 2012, 122; Christiansen, DStR 2011, 2483; krit. HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 701. 409 BFH v. 6.6.2012 – I R 99/10, BStBl. II 2013, 196. 410 IDW RH HFA 1.009, Rz. 6; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 72 „Jahresabschlusskosten“; Hoffmann/Lüdenbach, NWB Komm. Bilanzierung9, § 249 HGB Rz. 118; Beck’scher BilanzKomm./Schubert11, § 249 HGB Rz. 100 „Jahresabschluss“; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 704 „Jahresabschluss, Buchführung“; U. Prinz, DB 2014, 2188; a.A. BFH v. 5.6.2014 – IV R 26/11, BStBl. II 2014, 886. S. auch oben Rz. 176. 411 BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. II 2013, 954; dazu Hageböke, DK 2013, 384; Oser, BB 2013, 1522; Welter/P. Ballwieser, DStR 2013, 1492. 412 Zutr. Hageböke, DB 2011, 1480 ff. (Teil 1); 1543 ff. (Teil 2); Hruby, DStR 2010, 128; Schmidt/WeberGrellet36, § 5 EStG Rz. 381, 550 „Mehrerlösabschöpfung“; je m.w.N. 413 BGH v. 14.8.2008 – KVR 39/07, RdE 2008, 323; und BGH v. 14.8.2008 – KVR 27/07, RdE 2008, 334. 414 Vgl. BGH v. 14.8.2008 – KVR 27/07, RdE 2008, 334 u. v. 14.8.2008 – KVR 39/07, RdE 2008, 323, insb. KVR 39/07, Rz. 30 (juris). 415 BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. II 2013, 954 (Rz. 20, 26). 416 OFD Karlsruhe v. 1.11.2010 – S 2137, FMNR4c8070010 (juris); OFD Rheinland v. 3.11.2010 – S 2137-2010/0003-St 14, FMNR4c8390010 (juris). 417 BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. II 2013, 954 (Rz. 22). 418 BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. II 2013, 954 (Rz. 26). 419 BFH v. 29.11.2000 – I R 87/99, BStBl. II 2002, 655; BFH v. 6.2.2013 – I R 62/11, BStBl. II 2013, 954 (Rz. 21); Hageböke, DB 2011, 1543 (1547).
604
Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 182 § 9
der Finanzverwaltung führt zudem zu einer nicht leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung. Würde nämlich die Rückstellung für die Verpflichtung zur Mehrerlösabschöpfung nicht angesetzt, so müssten die Netzbetreiber die Mehrerlöse kompensationslos als Ertrag erfassen, obwohl feststeht, dass ihnen die Mehrerlöse rechtlich nicht zustehen und sie die Beträge nicht behalten dürfen, sondern abrechnen müssen. Damit würde eine Vermögensmehrung ausgewiesen, die rechtlich und wirtschaftlich betrachtet gar keine ist. Verneint wurde eine Rückstellung mangels wirtschaftlicher Verursachung aber z.B. für: zukünftige 182 Abfindungen nach dem KSchG420 und für künftige Verpflichtungen zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall421; für Verbindlichkeiten aus einem Aktienoptionsprogramm zugunsten von leitenden Mitarbeitern, wenn die Optionen nur ausgeübt werden können, falls der Verkehrswert der Aktien zum Ausübungszeitpunkt einen bestimmten Betrag (hier: 10 % des Ausübungspreises) übersteigt und/oder wenn das Ausübungsrecht davon abhängt, dass es in der Zukunft zu einem Verkauf des Unternehmens oder einem Börsengang kommt422; Kosten für die Durchführung künftiger Hauptversammlungen, weil die Hauptversammlung im Wesentlichen Aufgaben wahrzunehmen hat, die wirtschaftlich erst dem Jahr ihres Zusammentritts und der Beschlussfassung zuzuordnen sind (vgl. § 119 AktG)423; wegen der Ausgabe von Frisör-Gutscheinen, die einen Anspruch auf Preisermäßigung von Frisör-Dienstleistungen im Folgejahr gewähren (weil der Anspruch auf Preisermäßigung wirtschaftlich nicht früher verursacht sein könne als das Geschäft, auf das er sich bezieht)424; künftige Instandhaltungsaufwendungen eines Vermieters, weil die Verpflichtung zur Erhaltung der vermieteten Sache nach § 536 BGB Ausfluss eines regelmäßig in Leistung und Gegenleistung ausgeglichenen Vertragsverhältnisses ist, das grds. nicht bilanziert wird; Passivierung erst bei Erfüllungsrückstand425; für umweltschutzbezogene öffentlich-rechtliche Anpassungsverpflichtungen nach der TA Luft trotz behördlicher Anweisung, nach der Altanlagen einen festgelegten Emissionswert ab einem bestimmten Zeitpunkt einhalten sollen, vor Ablauf dieses Zeitpunktes426 (s. auch oben Rz. 177); keine Rückstellung für luftverkehrstechnische Verpflichtungen, für deren Durchführung die Umsetzungsfristen zum Bilanzstichtag noch nicht abgelaufen sind427 (für Verpflichtungen, für deren Durchführung die Umsetzungsfristen am Bilanzstichtag bereits abgelaufen waren, s. oben Rz. 180); künftige Nachbetreuungsleistungen an Hör- und Sehhilfen, die ihren Grund nicht in Mängeln der erbrachten Leistung haben, sondern spätere Schäden betreffen, die sich aus der Benutzung der Geräte durch den Kunden ergeben428; für die Ausgleichsansprüche eines Handelsvertreters nach § 89b HGB (weil der Ausgleichsanspruch „zivilrechtlich nicht nur an die Beendigung des Vertragsverhältnisses, sondern auch daran geknüpft [sei], dass der Unternehmer aus der Geschäftsverbindung mit den vom Handelsvertreter geworbenen Kunden nach Beendigung des Vertragsverhältnisses erhebliche Vorteile hat“)429; Rückstellungen für Verpflichtungen, ab dem 13. August 2005 in Verkehr gebrachte Energiesparlampen zu entsorgen,
420 BFH v. 9.5.1995 – IV B 97/94, BFH/NV 1995, 970. 421 BFH v. 7.6.1988 – VIII R 296/82, BStBl. II 1988, 886; vgl. auch BFH v. 27.6.2001 – I R 11/00, BStBl. II 2001, 758. 422 BFH v. 15.3.2017 – I R 11/15, BStBl. II 2017, 1043; s. auch BFH v. 25.8.2010 – I R 103/09, BStBl. II 2011, 215; Kolbe, StuB 2017, 729. 423 BFH v. 23.7.1980 – I R 28/77, BStBl. II 1981, 62 (63). 424 BFH v. 19.9.2012 – IV R 45/09, BStBl. II 2013, 123. 425 BFH v. 26.5.1976 – I R 80/74, BStBl. II 1976, 622. 426 BFH v. 6.2.2013 – I R 8/12, BStBl. II 2013, 686 (Rz. 13, 18; „TA Luft II“) im Anschluss an BFH v. 13.12.2007 – IV R 85/05, BStBl II 2008, 516 und insoweit in Abweichung von BFH v. 27.6.2001 – I R 45/97, BStBl. II 2003, 121 („TA Luft I“). Dazu U. Prinz, DB 2013, 1815; M. Prinz, FR 2013, 802. 427 BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, DStR 2013, 2745 (Rz. 40 ff.). 428 BFH v. 10.12.1992 – XI R 34/91, BStBl. II 1994, 158 (str.). 429 BFH v. 24.6.1969 – I R 15/68, BStBl. II 1969, 581; BFH v. 4.12.1980 – IV B 35/80, BStBl. II 1981, 266; a.A. insoweit aber BGH 11.7.1966 – II ZR 134/65, NJW 1966, 2055.
Hennrichs 605
§ 9 Rz. 183
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
können erst gebildet werden, wenn sich diese Pflichten durch den Erlass einer Abholanordnung nach § 16 Abs. 5 ElektroG hinreichend konkretisiert haben430. 183 Nach dem Grundsatz der Nichtbilanzierung schwebender Geschäfte (s. Rz. 76, 413) ist im Rahmen
gegenseitiger Verträge eine Verbindlichkeitsrückstellung nur zulässig, wenn der Stpfl. sich im Erfüllungsrückstand befindet431, d.h. wenn der Verpflichtete sich mit seinen Leistungen gegenüber dem Vertragspartner im Rückstand befindet, also weniger geleistet hat, als er nach dem Vertrag für die bis dahin vom Vertragspartner erbrachte Leistung insgesamt zu leisten hatte (Beispiel: rückständiger Lohn, rückständige Miete). Demgegenüber ist ein drohender Verlust aus einem Verpflichtungsüberhang bei gegenseitigen Verträgen steuerbilanziell seit Einfügung des (rechtspolitisch verfehlten und auch verfassungsrechtlich zweifelhaften, sogleich Rz. 188) Rückstellungsverbots gem. § 5 IVa EStG nicht mehr rückstellungsfähig. 184, 185
Einstweilen frei.
2.3.4 Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme 186 Rückstellungen dürfen schließlich nur gebildet werden, wenn die Inanspruchnahme hinreichend
wahrscheinlich ist. Für das Bestehen der Verbindlichkeit und die Inanspruchnahme müssen mehr Gründe sprechen als dagegen („51 %-Wahrscheinlichkeit). Gefordert ist hierbei kein Abzählen, sondern eine Gewichtung der in Betracht kommenden Umstände432. Rückstellung für Schadenersatz wegen unerlaubter Handlung oder für Geldbußen wegen Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten (beachte insoweit aber § 4 V 1 Nr. 8 S. 1 EStG433) sind hiernach regelmäßig erst dann zu bilden, wenn das rechtswidrige Verhalten entdeckt ist434. Rückstellungen für Pensionsverpflichtungen sind nicht mehr zu bilden (sondern aufzulösen), wenn eine Inanspruchnahme am maßgeblichen Stichtag infolge eines Schuldbeitritts mit Erfüllungsübernahme nicht (mehr) wahrscheinlich ist435. Andererseits ist, wenn gegen den Stpfl. eine Klage erhoben ist, die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme gegeben436. Freilich ist bei Passivprozessen nicht stets eine Rückstellung
430 BFH v. 25.1.2017 – I R 70/15, BStBl II 2017, 780; dazu auch Oser/Philippsen/Wirtz, StuB 2017, 569. 431 BFH v. 27.6.2001 – I R 11/00, BStBl. II 2001, 758 (759); BFH v. 30.1.2002 – I R 71/00, BStBl. II 2003, 279; BFH v. 29.11.2000 – I R 31/00, BStBl. II 2004, 41; BFH v. 5.4.2006 – I R 43/05, BStBl. II 2006, 593 (dazu Wüstemann, BB 2006, 1625;); BFH v. 21.9.2011 – I R 50/10, BStBl. II 2012, 197 (Rückstellung für Mietrückzahlungen aus der Vermietung von Kfz.); BFH v. 28.7.2004 – XI R 63/03, BStBl. II 2006, 866 (Nachbetreuungsverpflichtung eines Versicherungsvertreters für bereits abgeschlossene Lebensversicherungen); BFH v. 19.7.2011 – X R 26/10, BStBl. II 2012, 856 (dazu Tiedchen, FR 2012, 22, die statt einer Rückstellung einen passiven Rechnungsabgrenzungspostens befürwortet); BFH v. 27.2.2014 – III R 14/11, BStBl. II 2014, 675 (Nachbetreuung von Versicherungsverträgen); grdl. zum Ganzen Tiedchen, NZG 2017, 1007. 432 HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 694 m.w.N. 433 Dazu BFH v. 7.11.2013 – IV R 4/12, BStBl II 2014, 306. S. auch Rz. 171. 434 Vgl. BFH v. 24.3.2004 – I B 203/03, BFH/NV 2004, 959: Rückstellung für eine befürchtete Geldbuße der EU-Kommission wegen wettbewerbswidrigen Verhaltens; BFH v. 6.4.2000 – IV R 31/99, BStBl. II 2001, 536: Rückstellung für Verfall des Gewinns aus einer Straftat; BFH v. 22.8.2012 – X R 23/10, BStBl II 2013, 76: Rückstellung für hinterzogene Mehrsteuern erst zu dem Bilanzstichtag, zu dem der Stpfl. mit der Aufdeckung der Steuerhinterziehung rechnen musste. Vgl. auch Schmidt/WeberGrellet36, § 5 EStG Rz. 379, Rz. 550 „Geldbuße“ und „Schadenersatz“; Drüen, FS Gosch, 2016, 57; krit. HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 694 (drohende Aufdeckung genüge). Ferner BFH v. 19.11.2003 – I R 77/01, BStBl. II 2010, 482 (Rückstellung für Sanierungsverpflichtung nach Kenntniserlangung der zuständigen Behörde von der Schadstoffbelastung; dazu auch BMF BStBl. I 2010, 495). Zu Auswirkungen des UmweltHG auf die Rückstellungsbilanzierung s. D. Schubert, WPg. 2008, 505; Eilers, DStR 1991, 101; je m.w.N. 435 BFH v. 26.4.2012 – IV R 43/09, BFHE 237, 215. 436 HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 694.
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Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 188 § 9
in Höhe des eingeklagten Betrages veranlasst. Denn bei der Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten ist zwischen der Wahrscheinlichkeit des Bestehens der Verbindlichkeit und der Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Inanspruchnahme hieraus zu unterscheiden; die beiden Voraussetzungen innewohnenden Risiken können unterschiedlich hoch zu bewerten sein437. Besteht Streit über das Bestehen der Verantwortlichkeit, sind deshalb die Erfolgsaussichten der Klage zu würdigen und ist eine Rückstellung nur geboten, wenn eine Verurteilung wahrscheinlich ist438. Kann der Stpfl. aufgrund eines von fachkundiger dritter Seite erstellten Gutachten plausibel machen, dass nach den Umständen des Einzelfalls sein Unterliegen im Prozess am Bilanzstichtag nicht überwiegend wahrscheinlich ist, ist keine Rückstellung zu bilden439. 2.3.5 Wesentlichkeit kein Kriterium In der Steuerbilanz zurückzustellen sind auch betragsmäßig unwesentliche ungewisse Verbindlichkei- 187 ten. Der Gesichtspunkt der angeblichen Unwesentlichkeit rechtfertigt entgegen BMF (R 5.7 III 2, 3 EStR, BStBl. I 2006, 765) keine Nicht-Passivierung (Rz. 83). Den GoB und den Regelungen des EStG lässt sich keine Beschränkung der Pflicht zur Bildung von Rückstellungen auf wesentliche Verpflichtungen entnehmen440. Bei der steuerlichen Gewinnermittlung geht es um die möglichst gleichheitsgerechte und zutreffende Erfassung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Dabei sind sämtliche Rückstellungen anzusetzen. 2.3.6 Steuerrechtliche Sondervorschriften: § 5 III-IVb, § 6a EStG Für folgende Verbindlichkeitsrückstellungen gelten gem. § 5 III – IVb steuerrechtliche Sondervor- 188 schriften441: – § 5 III EStG konkretisiert die Voraussetzungen für die Bildung von Rückstellungen für Verletzungen fremder Patent-, Urheber- oder ähnlicher Schutzrechte442: Rückstellungen dürfen erst gebildet werden, wenn der Rechtsinhaber Ansprüche wegen der Rechtsverletzung geltend gemacht hat oder mit einer Inanspruchnahme wegen der Rechtsverletzung ernsthaft zu rechnen ist. In der einschränkenden Auslegung durch den BFH443 (Kenntnis des Rechtsinhabers von der Schutzrechtsverletzung nicht erforderlich), enthält die Vorschrift eine zulässige Typisierung der Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme. – § 5 IV EStG stellt die Bildung von Rückstellungen für Zuwendungen anlässlich eines Dienstjubiläums444 unter die Voraussetzung, dass das Dienstverhältnis mind. 10 Jahre bestanden hat, das Dienstjubiläum ein Dienstverhältnis von mind. 15 Jahren voraussetzt und die Zuwendungen schriftlich zugesagt wurden. Die Vorschrift ist eine gesetzgeberische Reaktion auf eine als zu großzügig empfundene BFH-Rspr. (§ 5 Rz. 40) und vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes verfas-
437 So zu Recht BFH v. 16.12.2014 – VIII R 45/12, BStBl. II 2015, 759; dazu Hennrichs, BB 2015, 1841; Günkel, BB 2015, 2091; Moritz, DB 2015, 1803; Prinz, FR 2015, 750; Hennrichs, StbJB 2015/16, 255; Rätke, StuB 2015, 658. 438 MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 36, 50. 439 BFH v. 16.12.2014 – VIII R 45/12, BStBl. II 2015, 759. 440 BFH v. 19.7.2011 – X R 26/10, BFHE 234, 239; BFH v. 8.11.2011 – X B 221/10, BFH/NV 2012, 217; BFH v. 6.6.2012 – I R 99/10, BStBl II 2013, 196 (Rz. 34); BFH v. 27.2.2014 – III R 14/11, BStBl. II 2014, 675; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 690. 441 Ausf. zu § 5 III–IVb EStG auch MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 249 HGB Rz. 43 ff. 442 Schulze-Osterloh, FS Friauf, 1996, 833 (§ 5 III, IV EStG); Schulze-Osterloh, FS J. Lang, 2010, 255; Grützner, StuB 2006, 469; ausf. HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 1800 ff. 443 BFH v. 9.2.2006 – IV R 33/05, BStBl. 2006, 517. 444 Hierzu BMF BStBl. II 2008, 1013, m. Anm. Veit, StuB 2009, 102; ausf. Niemann, Zur steuerrechtlichen Anerkennung von Rückstellungen für Dienstjubiläen, Inst. FuSt Nr. 442, 2007.
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§ 9 Rz. 188
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
sungsrechtlich zweifelhaft445. Das BVerfG hat die Norm allerdings akzeptiert446. Der BFH legt § 5 IV EStG als Ausnahmevorschrift zu Recht restriktiv aus447. – § 5 IVa EStG durchbricht mit dem Verbot der Bildung von Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften das Maßgeblichkeitsprinzip an zentraler Stelle und verletzt das Imparitätsprinzip (dazu Rz. 80)448. Die Vorschrift ist rechtspolitisch verfehlt und verfassungsrechtlich zweifelhaft449, weil Drohverlustrückstellungen richtig verstanden nur ein Unterfall der Verbindlichkeitsrückstellungen sind450. Passiviert wird die Verbindlichkeit aus dem schwebenden Geschäft, wenn und soweit ihr Wert den Wert des eigenen Anspruchs übersteigt. Die Verlustrückstellung drückt den Verpflichtungsüberschuss aus451 und in Gestalt der Verbindlichkeit aus dem Vertrag liegt eine bilanzielle Schuld vor. Warum die Verlustrückstellungen steuerrechtlich anders behandelt werden als andere Verbindlichkeitsrückstellungen ist nicht einzusehen. Für die Praxis stellt sich die schwierige Frage der Abgrenzung zur weiterhin zulässigen Verbindlichkeitsrückstellung452 und zur Teilwertabschreibung (dazu unten Rz. 321). § 5 IVa EStG begrenzt eine mögliche Teilwertabschreibung nicht453. – § 5 IVa 1 EStG gilt gem. § 5 IVa 2 EStG nicht in den Fällen einer Bewertungseinheit nach § 5 Ia 2 EStG (dazu unten Rz. 271 ff.). Ein nach der Bildung von Bewertungseinheiten verbleibendes negatives Ergebnis ist deshalb gem. § 5 Ia 2 EStG auch dann bei der steuerlichen Gewinnermittlung zu übernehmen, wenn es sich in der Handelsbilanz als Verlustrückstellung darstellt454. Schließt also z.B. der Stpfl. zur Absicherung einer Fremdwährungsforderung ein Devisentermingeschäft ab und droht später aus diesem schwebenden Absicherungsgeschäft ein Verlust, so ist dieser rechtssystematisch ein Drohverlust, der aber im Rahmen einer Bewertungseinheit berücksichtigt werden muss, um den gegenläufigen nicht realisierten Gewinn zu kompensieren. § 5 IVb 1 EStG normiert ein Verbot der Rückstellungsbildung für künftige Anschaffungs- oder Herstellungskosten. AK oder HK von künftig anzuschaffenden WG sollen als Aufwand erst den späteren Perioden zugeordnet werden. Die Vorschrift gilt nach Wortlaut und Zweck auch dann, wenn das künftige WG zu keinem Ertrag führen kann („wertlose“ WG)455. Andererseits gilt das Verbot nur, wenn die 445 Überzeugend m.w.N. Vorlagebeschl. BFH v. 10.11.1999 – X R 60/95, BStBl. II 2000, 131; s. auch HHR/ Anzinger, § 5 EStG Rz. 51, 1833; Drüen, JZ 2010, 91; Hennrichs, FS J. Lang, 2010, 238; Hey, BB 2000, 1453; Hüttemann, FS Spindler, 2011, 627; Schulze-Osterloh, FS J. Lang, 2010, 255. – § 5 IV EStG wurde durch StRG 1990 aus fiskalischen Gründen eingeführt (s. BFH v. 10.11.1999 – X R 60/95, BStBl. II 2000, 131 [134 ff.]). 446 BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111. 447 BFH v. 18.1.2007 – IV R 42/04, BStBl. II 2008, 956. 448 Speziell zur Rechtfertigung von Drohverlustrückstellungen unter Leistungsfähigkeitsaspekten: J. Lang, Bemessungsgrundlage, 367 ff.; Pezzer, DStJG 14 (1991), 24 ff.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 321; G. Mayr, Rückstellungen, Wien 2004, 219 ff., sowie die Kontroverse zwischen Kessler, StuB 2000, 1091; Hoffmann, StuB 2000, 248 u. 568; Ott, StuB 2000, 569, und Siegel, StuB 2000, 564 u. 1096. Im Weiteren Wiesbrock, Die Verlustrückstellung im Steuer- und Verfassungsrecht, Diss., 1999; Arndt/Wiesbrock, DStR 2000, 718; Krüger, FR 2008, 625 (Verfassungskonformität). 449 Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (319 f., 415 f.); s. auch Kahle/Günter, StuW 2012, 43 (54); Kahle, DB 2014, Beil. 4 S. 19; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 249 HGB Rz. 70 ff. 450 BFH v. 19.7.1983 – VIII R 160/79, BStBl. II 1984, 56; BFH v. 25.8.1989 – III R 95/87, BStBl. II 1989, 893; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 249 HGB Rz. 87 f. m.w.N. 451 BFH v. 23.6.1997 – GrS 2/93, BStBl. II 1997, 735. 452 Hierzu Piltz, StbJb. 1999/2000, 221; Hofer, DB 2003, 1069; Hahne/Sievert, DStR 2003, 1992; Wulf/Petzold, DStR 2004, 2116 (am Bsp. Leasing-Rücknahmeverpflichtung). 453 Vgl. auch BFH v. 25.11.2009 – X R 27/05, BFH/NV 2010, 1090. 454 Vgl. Blümich/Krumm139, § 5 EStG Rz. 866. m.w.N. 455 BFH v. 8.11.2016 – I R 35/15, BStBl. II 2017, 768 (im Streitfall: Aufwendungen für Anlagen zur Ableitung oder Aufbereitung von Sickerwasser oder Deponiegasen); dazu Schulze-Osterloh, BB 2017, 1136 m.w.N. zum Streitstand; ebenso HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 2107; a.A. Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 EStG Rz. 369; Farwick, StuB 2017, 495.
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Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 189 § 9
künftigen Ausgaben auch konkret aktivierungsfähig sind. Bei Aufwendungen für die Herstellung eines selbst geschaffenen immateriellen Wirtschaftsguts des Anlagevermögens (z.B. Zulassungskosten eines Pflanzenschutzmittels, die Bestandteil der Herstellungskosten für die Rezeptur des Pflanzenschutzmittels sind) ist das wegen § 5 II EStG nicht der Fall. Für solche Aufwendungen kann bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen eine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten gebildet werden456. Schließlich gilt § 5 IVb 1 EStG nicht bei bereits angeschafften Wirtschaftsgütern, wenn ausnahmsweise die Höhe der Zahlungsverpflichtung noch ungewiss ist (beispielsweise bei abgenommenen Bauwerken, wenn dem Werkvertrag lediglich ein Kostenvoranschlag zu Grunde lag und eine Rechnung noch nicht erstellt ist). In diesem Fall ist ebenfalls eine Rückstellung geboten457. – Nach § 5 IVb 2 EStG dürfen Rückstellungen für Aufwendungen im Zusammenhang mit der Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen nicht gebildet werden. Aus der Stellung hinter § 5 IVb 1 EStG ergibt sich, dass der Gesetzgeber die nach § 5 IVb 2 EStG nicht rückstellungsfähigen Aufwendungen den AK/HK zurechnet458. Soweit danach die AK/HK den Marktwert der Brennelemente überschreiten, besteht die Möglichkeit der Teilwertabschreibung nach § 6 I Nr. 1 Satz 2 EStG (s. Rz. 321). Eine weitere steuerrechtliche Sondervorschrift gilt für Pensionsrückstellungen, § 6a EStG459: Han- 189 delsrechtlich muss für Pensionszusagen als ungewisse Verbindlichkeiten eine Rückstellung nach § 249 I 1 HGB gebildet werden. Über den Maßgeblichkeitsgrundsatz besteht steuerrechtlich ebenfalls Passivierungspflicht460. Hieran ändert auch die Neufassung von § 5 I 1 EStG nichts. Das „darf“ in § 6a I 1 EStG begründet kein stl. Wahlrecht, sondern eine Einschränkung („darf … nur“). § 6a EStG enthält einschränkende Voraussetzungen sowohl dem Grunde (§ 6a I–II EStG) als auch der Höhe (§ 6a III–IV EStG; abw. von § 253 II 2 HGB461) nach und ist damit zugleich Ansatz- und Bewertungsvorschrift. Hinzuweisen ist insb. auf das steuerliche Erfordernis einer schriftlich erteilten Zusage (Schriftformerfordernis), die „eindeutige Angaben“ u.a. zu den Voraussetzungen und zur Höhe der Leistungen enthalten muss (§ 6a I Nr. 3 EStG). Das kann insb. bei älteren sog. Gesamtversorgungsordnungen (Zusage eines Gesamtversorgungsgrades aus gesetzlicher Rente und Betriebsrente) Probleme aufwerfen, wenn die Zusagen dem Wortlaut nach auf die Vollendung des 65. Lebensjahres Bezug nimmt. Zwar sind solche Gesamtzusagen nach der Rspr. des BAG462 i.d.R. dahin auszulegen, dass damit dynamisch auf die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen RV Bezug genommen sein soll. Das BMF463 fordert aber für die weitere steuerliche Anerkennung solcher Zusagen zur Wahrung des steuerlichen Schriftformerfordernisses gleichwohl eine „schriftliche Änderung“ der betreffenden Zusagen (bis spätestens zum Ende des Wirtschaftsjahres, das nach dem 9.12.2016 beginnt). Anderenfalls könnten betroffene Pensionsrückstellungen steuerlich nicht mehr anerkannt werden, sondern wären gewinnerhöhend aufzulösen. Diese Rechtsansicht führt zu möglicherweise drakonischen Rechtsfol456 BFH v. 8.9.2011 – IV R 5/09, BStBl. II 2012, 122. 457 Vgl. OFD München v. 19.7.2000 – DStR 2000, 1348 f.; i.E. auch Beck’scher Bilanz-Komm./W. Schubert11, § 249 HGB Rz. 2, 100 „Anschaffungs- und Herstellungskosten“. 458 Vgl. BT-Drucks. 14/23, 170; dazu Heintzen, StuW 2001, 71; Führich, WPg. 2006, 1271 u. 1349; Kirchhof/Crezelius17, § 5 EStG Rz. 148; zur Behandlung überhöhter Versorgungsanwartschaften s. BFH v. 31.3.2004 – I R 79/03, BStBl. II 2004, 940; dazu BMF BStBl. I 2004, 1045. 459 Dazu BMF BStBl. I 1999, 436; 2005, 1054; 2007, 290; 2008, 569; BFH v. 14.1.2009 – I R 5/08, BStBl. II 2009, 457 (Nachholverbot). 460 Hennrichs, Ubg 2009, 533 (541 f.); Schmidt/Weber-Grellet36, § 6a EStG Rz. 2; Weber-Grellet, DB 2009, 2402; a.A. (steuerliches Passivierungswahlrecht) NWB Praxishdb./Günkel/Bongaerts, Rz. 5669 (unter Hinweis auf sich dadurch eröffnende „Gestaltungschancen“); ebenso Herzig/Briesemeister, DB 2009, 976 (977); Thiel, FS Meilicke, 2010, 733 (746). 461 Zur Bewertung von Pensionsrückstellungen durch BilMoG Rhiel/Veit, DB 2008, 193 u. 1509; Küting/ Kessler/Keßler, WPg. 2008, 494; Heger/Weppler, BB 2008, 1283; Heger/Weppler, DStR 2009, 239. 462 BAG v. 15.5.2012 – 3 AZR 11/10, BAGE 141, 259; BAG v. 13.1.2015 – 3 AZR 897/12, BAGE 150, 262. 463 BMF BStBl. I 2016, 1427.
Hennrichs 609
§ 9 Rz. 190
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
gen464. Sie ist zudem fragwürdig, weil zivilrechtlich eine „Änderung“ der Zusagen weder veranlasst noch auch nur möglich ist, denn die ausgelegte Zusage hat bereits den Inhalt der vermeintlichen Änderung; in Betracht käme nur eine schriftliche Klarstellung des Gewollten. Für das steuerliche Schriftformerfordernis sollte es genügen, wenn sich die erforderlichen Angaben eindeutig durch Auslegung feststellen lassen465. Zur Bewertung s. Rz. 290. Zu Pensionsrückstellungen zu Gunsten eines Mitunternehmers s. § 10 Rz. 108, 145; zu Gunsten eines Gesellschafter-Geschäftsführers einer Kapitalgesellschaft s. § 11 Rz. 83. 2.3.7 Insb.: angeschaffte Rückstellungen (Verpflichtungsübernahme, §§ 4f; 5 VII EStG) 190 Die steuerlichen Sondervorschriften für Rückstellungen, namentlich § 5 IVa 1 und § 6a EStG, kön-
nen zur Folge haben, dass die wirtschaftlichen Belastungen des Stpfl. durch (ungewisse) Verbindlichkeiten in der Steuerbilanz nicht realitätsgerecht abgebildet werden (stille Lasten). Nach der zutr. früheren Rspr. des BFH sollten die Ansatzverbote des § 5 IV, IVa sowie die steuerliche Sondervorschrift zur Bewertung von Pensionsrückstellungen gem. § 6a EStG allerdings nicht anwendbar sein, wenn die fraglichen Verbindlichkeiten einzeln oder im Rahmen eines Betriebserwerbs angeschafft wurden466. Wird beispielsweise die Zahlungsverbindlichkeit aus einem Mietvertrag für Geschäftsräume, die der Stpfl. nicht mehr nutzt (Fehlmaßnahme), von einem neuen Schuldner gegen Gewährung von Deckungsvermögen als Gegenleistung für die Schuldübernahme übernommen (§§ 414, 415 BGB), so blieb dieser Geschäftsvorfall nach der Rspr. des BFH auf Seiten des Erwerbers aus Gründen des Realisationsprinzips (§ 252 I Nr. 4 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG) erfolgsneutral. Denn aus Sicht des Erwerbers liegt ein Anschaffungsvorgang vor (Erwerb des Deckungsvermögens gegen Schuldübernahme), für den der Grundsatz der erfolgsneutralen Behandlung von Anschaffungsvorgängen gilt. Auch die Restriktionen des § 6a EStG waren nach der bisherigen Rspr. des BFH in den Fällen angeschaffter Pensionsverbindlichkeiten nicht anwendbar. Vielmehr führten beispielsweise die Schuldübernahme und die Erfüllungsübernahme mit Schuldfreistellung nach Ansicht des BFH beim bisherigen Verpflichteten zur steuerwirksamen Realisation der stillen Last467, während die (wirtschaftliche) Übernahme der Schuld gegen Deckungsvermögen beim Erwerber als Anschaffungsgeschäft erfolgsneutral zu behandeln war. Die Auffassung der Finanzverwaltung, wonach im Fall der Schuldübernahme zwar der Anschaffungsvorgang erfolgsneutral zu behandeln sei, in der ersten steuerlichen Schlussbilanz des Erwerbers sodann aber wieder § 6a EStG anzuwenden sei (so dass es beim Erwerber durch Abwertung der übernommenen Verbindlichkeit vom Übernahmewert auf den § 6a-Wert zum Ausweis eines „Erwerbsgewinns“ käme), wurde vom BFH explizit verworfen. Der eigentliche Anschaffungsvorgang könne nicht von der nachfolgenden Bilanzierung auf den Bilanzstichtag getrennt werden468. Von diesem erfolgsneutral erworbenen Teil war allerdings bereits nach bisheriger Rechtslage der Teil der Verpflichtung zu unterscheiden, der beim Erwerber erst neu entsteht. Auf diesen fanden die steuerbilanziellen Passivierungsbeschränkungen auch nach der bisherigen Rspr. Anwendung.469 464 Krit. Prinz, BA 2017, 334 (337): „überbordende Rechtsfolgenanordnung“; s. auch Veit, BB 2017, 682: „bei Fehlen einer schriftlichen Anpassung sachgerechter, die Pensionsrückstellungen auf das in der Versorgungszusage benannte Pensionierungsalter zu bilden“. 465 FG Schleswig-Holstein v. 24.6.2004 – 1 V 428/03, EFG 2004, 1756 unter Hinweis auf BFH v. 24.3.1999 – I R 20/98, BStBl. II 2001, 612. 466 Vgl. BFH v. 16.12.2009 – I R 102/08, BStBl. II 2011, 566; BFH v. 14.12.2011 – I R 72/10, BFHE 236, 101 = DStR 2012, 452; BFH v. 12.12.2012 – I R 69/11, BFHE 240, 34 = DStR 2013, 570; und BFH v. 12.12.2012 – I R 28/11, BFHE 240, 22 = DStR 2013, 575; eingehend zum Ganzen MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 249 HGB Rz. 18 ff. Ferner Hötzel, FS Schaumburg, 2009, 387; Ley, DStR 2007, 589; Oser, BB 2011, 2802; U. Prinz, FR 2011, 1015; U. Prinz, DStJG 34 (2011), 135 (170); Schlotter/Pinkernell, FR 2011, 689; Schlotter, Ubg 2010, 635; Wacker, BAV 2013, 63. 467 Zuletzt BFH v. 26.4.2012 – IV R 43/09, BFHE 237, 215 = DStR 2012, 1128. 468 BFH v. 14.12.2001 – I R 72/10, BFHE 236, 101 = DStR 2012, 452. 469 BFH v. 12.12.2012 – I R 69/11, BFHE 240, 34 = DStR 2013, 570; und BFH v. 12.12.2012 – I R 28/11, BFHE 240, 22 = DStR 2013, 575.
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Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 194 § 9
Durch das AIFM-StAnpG v. 18.12.2013470 hat der Gesetzgeber diese Rspr. (rückwirkend, dazu so- 191 gleich Rz. 194) korrigiert, weil Steuerausfälle befürchtet wurden. Nach § 5 VII 1 EStG sind übernommene Verpflichtungen, die beim ursprünglich Verpflichteten Ansatzverboten, -beschränkungen oder Bewertungsvorbehalten unterlegen haben, beim Übernehmer zu den auf die Übernahme folgenden Abschlussstichtagen so zu bilanzieren, wie sie beim ursprünglich Verpflichteten ohne Übernahme zu bilanzieren wären. Dadurch werden die fiskalisch motivierten steuerlichen Ansatz- oder Bewertungsvorbehalte (namentlich § 5 IVa; § 6a EStG) perpetuiert, sie gelten ungeachtet des Anschaffungsvorgangs und ungeachtet zivilrechtlicher Strukturen beim Übernehmer weiter. In der ersten Schlussbilanz, die auf die Übernahme folgt, entsteht beim Erwerber dadurch ein (Erwerbs-) Gewinn. Beispiel: Der Stpfl. V hat Geschäftsräume angemietet, die er nicht mehr nutzen kann. Der Mietvertrag läuft noch zwei Jahre. E übernimmt von V die Zahlungsverpflichtung gegen Gewährung eines Entgelts in Höhe des Zeitwerts der übernommenen Verbindlichkeit (100 GE). – Bei E sind die erworbenen Zahlungsmittel (100 GE) einzubuchen. Dem korrespondiert zunächst, d.h. bei der buchmäßigen Verarbeitung des Geschäftsvorfalls, die übernommene Verbindlichkeit. In der ersten Schlussbilanz, die auf die Übernahme folgt, gilt beim Erwerber aber wiederum § 5 IVa 1 EStG, weil diese Vorschrift bislang beim Veräußerer anwendbar war. Danach ist die übernommene Verbindlichkeit bei E in der ersten steuerlichen Schlussbilanz nach Übernahme erfolgswirksam auszubuchen. Es entsteht ein Erwerbsgewinn.
Für den Gewinn, der sich aus der Anwendung des § 5 VII 1 EStG ergibt, kann gem. § 5 VII 5 EStG 192 in Höhe von 14/15 in eine gewinnmindernde Rücklage gebildet werden (1. Wahlrecht: Verteilungswahlrecht), die in den folgenden 14 Wirtschaftsjahren jeweils mit mindestens (2. Wahlrecht: Auflösungswahlrecht) 1/14 gewinnerhöhend aufzulösen ist471. Dadurch kann der Erwerbsgewinn über maximal 15 Jahre verteilt werden.472 Zu beachten ist, dass § 5 VII EStG keine Konzernklausel o.ä. enthält. Auch die Ausnahmefälle des § 4f 193 I 3 EStG (dazu sogleich Rz. 196) haben in § 5 VII EStG keine Entsprechung473. Die Neuregelung zu den steuerlichen Auswirkungen einer Verpflichtungsübernahme bei der steuerlichen Gewinnermittlung des Erwerbers gelten daher nicht etwa nur für Gestaltungen in Konzernen, sondern auch für fremdübliche Drittgeschäfte.474 Die Neuregelung gilt für die Fälle des Schuldbeitritts oder der Erfüllungsübernahme mit Schuldfrei- 194 stellung sinngemäß (§ 5 VII 2 EStG). Damit sollen alle Fälle, die rechtlich oder wirtschaftlich betrachtet zu einer Schuldübernahme führen, steuerbilanziell gleichgestellt werden475.
470 BGBl. I 2013, 4318. – Zu §§ 4f; 5 VII EStG n.F. s. Benz/Placke, DStR 2013, 2653; Förster/Staaden, Ubg 2014, 1; Fuhrmann, DB 2014, 9; Riedel, FR 2014, 6; Riedel, Ubg 2014, 421; Adrian/Fey, StuB 2014, 53; Schultz/Debnar, BB 2014, 107; Veit/Heinz, BB 2014, 1323; Hörhammer/Pitzke, NWB 2014, 426; Schindler, GmbHR 2014, 561; 768; Dannecker/Rudolf, BB 2014, 2539; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 2500 ff.; Adrian/Heinemann, StbJb. 2014/15, 307; Huth/Wittenstein, DStR 2015, 1088; 1153; Prinz, DB 2017, Beil. zu Heft 26, M28; Nielsen/Schulenburg, FR 2017, 623; Klein, DB 2017, 1789; Bolik/Selig-Kraft, DStR 2017, 169; Riedel, Ubg 2017, 580. 471 Vgl. Adrian/Fey, StuB 2014, 53 (59); Lüdenbach/Hoffmann, GmbHR 2014, 123 (128); Benz/Placke, DStR 2013, 2653 (2658); Schindler, GmbHR 2014, 786 (789). 472 Zur Frage, wie sich § 5 VII EStG n.F. auf die steuerbilanzielle Behandlung eines erworbenen negativen Geschäfts- oder Firmenwerts auswirkt, s. Dannecker/Rudolf, BB 2014, 2539 (2542). 473 Adrian/Fey, StuB 2014, 53 (58); Riedel, FR 2014, 6 (9). 474 Die gesetzliche Ausgestaltung ist verwunderlich, da in der Gesetzesbegründung ausdrücklich als Ziel des Gesetzes formuliert ist, die Verschiebung stiller Lasten zwischen verbundenen Unternehmen zu verhindern (BR-Drucks. 740/23, S. 115); vgl. Riedel, FR 2014, 6 (9); Riedel DStR 2013, 1047 (1051); Gebert/Höhn, DB 2013, 1192 (1194). 475 Anders IDW RS HFA 30 für die Handelsbilanz, wonach bei sog. isolierter Erfüllungsübernahme (d.h. Erfüllungsübernahme allein im Innenverhältnis ohne Schuldbeitritt im Außenverhältnis) der „AltSchuldner“ die Verbindlichkeit weiterhin zu passivieren habe und korrespondierend ein Freistellungs-
Hennrichs 611
§ 9 Rz. 195
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Das geht im Ergebnis sogar über die frühere Auffassung der FinVerw. hinaus: Bei einer Erfüllungsübernahme mit Schuldfreistellung geht der Erwerber eine Freistellungsverpflichtung ein, für die § 5 IVa 1 EStG dem Wortlaut nach gar nicht gelten würde; ebenso stellt eine Freistellungsverpflichtung bezogen auf eine Pensionszusage selbst keine Pensionsverpflichtung i.S. des § 6a EStG dar. Deshalb ging das BMF früher davon aus, dass § 5 IVa 1; § 6a EStG in diesen Fällen beim Erwerber nicht anwendbar seien476. Nach der Neuregelung des § 5 VII 1, 2 EStG gelten nunmehr die einschlägigen Steuervorbehalte aber ungeachtet der unterschiedlichen zivilrechtlichen Strukturen in allen Fällen der Schuldübernahme, des Schuldbeitritts und der Erfüllungsübernahme weiter. Die Neuregelung ist gem. § 52 XIV 1 EStG erstmals für Wirtschaftsjahre anzuwenden, die nach dem 28.11.2013 enden. Die Übergangsvorschrift ist wirtschaftsjahrbezogen (statt vertragsbezogen) formuliert, d.h. es ist unerheblich, wann die Transaktion stattgefunden hat. Auch ältere Übertragungen werden rückwirkend erfasst. Für Übertragungen, die vor dem 14.12.2011 vereinbart wurden, gilt gem. § 52 XIVa 3 EStG statt des 15jährigen Verteilungszeitraums ein 20jähriger Zeitraum für die Bildung und Auflösung der gewinnmindernden Rücklage. 195 Hinsichtlich der Steuerfolgen beim ursprünglich Verpflichteten (Veräußerer) schreibt die neue477
Vorschrift des § 4f I 1 EStG nunmehr eine grundsätzliche Aufwandsverteilung vor: die realisierte stille Last ist beim ursprünglich Verpflichteten grundsätzlich nicht mehr sofort als BA abziehbar, sondern nur noch zeitlich verteilt über 15 Jahre. Der bei der steuerbilanziellen Gewinnermittlung entstehende Aufwand ist außerbilanziell zu korrigieren478. Das gilt wiederum für die Fälle der rechtlichen Schuldübernahme (§ 4f I 1, 2 EStG) und der wirtschaftlichen Übernahme durch Schuldbeitritt oder Erfüllungsübernahme mit Freistellung gleichermaßen (§ 4f II EStG). Die Neuregelung gilt gem. § 52 XIIc EStG erstmals für Wirtschaftsjahre, die nach dem 28.11.2013 enden. Wiederum ist das wirtschaftsjahrbezogen und nicht transaktionsbezogen formuliert. 196 Immerhin sieht das Gesetz für die Seite des ursprünglich Verpflichteten recht großzügig bemessene
Ausnahmen vor: Gem. § 4f I 3 EStG unterbleibt eine Verteilung und können daher die BA aus der Realisation der stillen Last wie bisher sofort abgezogen werden: bei kleinen Betrieben i.S. der Größenmerkmale des § 7g EStG; bei Betriebsveräußerung und -aufgabe; sowie in den Fällen eines Arbeitgeberwechsels unter Mitnahme der Pensionszusage. Auf Veräußererseite sind daher (anders als auf Erwerberseite, für die § 5 VII EStG keine entsprechenden Ausnahmen enthält, Rz. 191) mittelständische M&A-Transaktionen im Ergebnis nicht betroffen. Richtigerweise gelten die Ausnahmen auch bei Schuldbeitritt und Erfüllungsübernahme mit Freistellung479. Dass § 4f II EStG nicht auf § 4f I 3 EStG verweist, ist ein Redaktionsversehen. Ein rechtfertigender Grund dafür, warum beispielsweise kleine Betriebe i.S. des § 7g EStG bei einem Schuldbeitritt (anders als bei einer rechtlichen Schuldübernahme) nicht von der Ausnahmeregelung profitieren sollten (und bei einem Schuldbeitritt also stets eine Verteilung des Aufwands verpflichtend wäre), ist nicht erkennbar. Ein noch nicht voll verrechneter Betriebsausgabenabzugsbetrag i.S.d. § 4f I 1 EStG geht gem. § 4f I 7 EStG auf den Rechtsnachfolger über. 197 Zusammenfassend gilt damit nunmehr in den Fällen der Verpflichtungsübernahme, des gleichgestell-
ten Schuldbeitritts oder der Erfüllungsübernahme mit Freistellung Folgendes: Beim Veräußerer ist
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anspruch gegen den Übernehmer zu aktivieren sei (sog. Bruttobilanzierung); dagegen zu Recht Klein, DB 2017, 1789. BMF BStBl. I 2005, 1052 (Rz. 6) und BMF BStBl. I 2011, 627 (Rz. 6). Zur früheren Rechtslage s. BFH v. 17.10.2007 – I R 61/06, BStBl. II 2008, 555; BFH v. 26.4.2012 – IV R 43/09, BFHE 237, 215 = DStR 2012, 1128; ferner BMF BStBl. I 2005, 1052. BR-Drucks. 740/13, 75; für einen innerbilanziellen Ausgleichsposten Schultz/Debnar, BB 2014, 107 (108); HHR/Schober, § 4f EStG Rz. J 13-13. Ebenso Hörhammer, StbJb. 2013/14, S. 308; ebenso wohl Fuhrmann, DB 2014, 9 (13); a.A. OFD Magdeburg DStR 2014, 1546; Förster/Staaden, Ubg 2014, 1 (7 f.); Adrian/Fey, StuB 2014, 53 (56). Nach Blümich/Krumm, § 4f EStG Rz. 36 lassen sich die Ausnahmetatbestände in § 4f I 3–6 EStG auch unter II subsumieren, da in II nur Regelbeispiele des I normiert seien.
Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 198 § 9
die realisierte stille Last, also die Differenz zwischen dem Buchwert der (auszubuchenden) Rückstellung und dem Wert des als Gegenleistung für die Schuldübernahme gewährten (und ebenfalls auszubuchenden) Deckungsvermögens, grundsätzlich nur auf 15 Jahre verteilt abzugsfähig (§ 4f I 2, II EStG). Kleine Betriebe i.S. des § 7g EStG sowie Betriebsveräußerung oder Betriebsaufgabe und Arbeitgeberwechsel sind von der Verteilungspflicht ausgenommen, insoweit bleibt es beim Sofortabzug der realisierten stillen Last (§ 4f I 3 EStG). Auf Erwerberseite ist die rechtlich oder wirtschaftlich übernommene Verpflichtung in der ersten steuerlichen Schlussbilanz nach der Übernahme gem. § 5 VII 1, 2 EStG wieder nach den einschlägigen steuerlichen Sondervorschriften (insb.: § 5 IV; IVa 1; § 6a EStG) zu bewerten, und zwar selbst dann, wenn es sich zivilrechtlich um eine Freistellungsverpflichtung handelt, die eigentlich nicht unter § 5 IVa („schwebendes Geschäft“) oder § 6a EStG (Pensionsverpflichtung) subsumiert werden kann. Die beim Veräußerer aufgedeckte stille Last wird hierdurch beim Erwerber als Erwerbsgewinn fingiert. Dieser Gewinn kann gem. § 5 VII 5 EStG zu 14/15 in eine gewinnmindernde Rücklage eingestellt und im Ergebnis über 15 verteilt werden (für Altfälle, d.h. Vereinbarung der Übertragung vor dem 14.12.2011: Verteilung über 20 Jahre, § 52 XIV 3 EStG). Die Neuregelungen der §§ 4f; 5 VII EStG sind systemwidrig und rechtspolitisch verfehlt480. § 4f 198 EStG schafft eine neue Asymmetrie, indem realisierte stille Lasten steuerlich verteilt werden müssen, während realisierte stille Reserven grundsätzlich sofort besteuert werden481. Die Rechtsnachfolgeregelung des § 4f I 7 EStG widerspricht zudem dem Grundsatz der Individualbesteuerung.482 Besonders problematisch ist § 5 VII EStG. Diese Vorschrift durchbricht einmal mehr aus rein fiskalischen Erwägungen grundlegende Prinzipien der Steuerbilanz, nämlich das Realisationsprinzip483. Der Gewinn, der sich aus der Anwendung des § 5 VII EStG ergibt, ist ein „rein normkreierter Gewinn ohne Realisationsakt“484. Die neuen Sondervorschriften sind ein „Fluch der bösen Tat“485, nämlich eine Frucht der ihrerseits rechtspolitisch verfehlten Sondervorschriften des § 5 IVa und § 6a EStG, die dazu führen, dass in den Steuerbilanzen der Stpfl. stille Lasten gelegt werden. Zwar mag man es als zulässig ansehen, die Geltung von Ansatz- und Bewertungsvorbehalten gegen Transaktionen zwischen Konzernunternehmen absichern zu wollen, wenn man annimmt, dass solche Gestaltungen „jedenfalls strukturell nicht als marktoffen angesehen werden müssen“486. Aber § 5 VII EStG ist, wie gezeigt, nicht auf Konzerngestaltungen begrenzt, sondern gilt auch für normale, fremdübliche Drittgeschäfte (Rz. 193). Jedenfalls bei fremdüblichen Drittgeschäften gerät die Fiktion eines Erwerbsgewinns in Konflikt mit dem Leistungsfähigkeitsprinzips487. Schließlich ist auch die rückwirkende Anwendung des § 5 VII EStG gem. § 52 XIV EStG problematisch. Damit greift der Gesetzgeber in ggf. schon länger zurückliegende, abgeschlossene Transaktionen ein. 480 Ebenso U. Prinz, DB 2013, Heft 45 S. I: „systematische Verunstaltung“ und „Zersetzung“ des Steuerbilanzrechts „wider alle Leistungsfähigkeitsprinzipien“; Förster/Staaden, Ubg 2014, 1 (12): „fiskalisch motivierte Durchbrechung zentraler Bilanzierungsgrundsätze“; Adrian/Fey, StuB 2014, 53 (56): „Verstoß gegen das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit“; krit. auch Fuhrmann, DB 2014, 9 (15 f.). Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung der Neuregelung s. einerseits Kirchof/Gosch16, § 4f Rz. 3; Riedel, Ubg 2014, 421 (423); Hörhammer, StbJb. 2013/14, S. 311; andererseits Blümich/Krumm, § 4f EStG Rz. 2; Schindler, GmbHR 2014, 561 (567); Lüdenbach/Hoffmann, GmbHR 2014, 123 (125). Vom BVerfG ist freilich insoweit einstweilen keine Verwerfung zu erwarten, da die Regelung grds. nur eine temporäre Verschiebung der Verlustverrechnung bewirkt (s. BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 = BStBl. II 2009, 685 [krit. dazu Rz. 50, 104]; s. ferner BFH v. 1.7.2009 – I R 76/08, BStBl. II 2010, 1061; v. 26.8.2010 – I B 49/10, BStBl. II 2011, 826; v. 22.8.2012 – I R 9/11, BStBl. II 2013; v. 26.2.2014 – I R 59/12, DStR 2014, 1761). 481 Schlotter, StbJb. 2013/14, S. 305; Riedel, FR 2014, 6 (10); Schindler, GmbHR 2014, 561 (568). 482 Riedel, FR 2014, 6, (10); Riedel, Ubg 2014, 421 (423); Schlotter, StbJb. 2013/14, S. 307. 483 Fuhrmann, DB 2014, 9 (15). 484 Schlotter, StbJb. 2013/14, 319. 485 Fr. Schiller, Wallenstein, Die Piccolomini, V/1, spricht Octavio: „Das eben ist der Fluch der bösen Tat, daß sie, fortzeugend, immer Böses muß gebären“. 486 Wacker, BAV 2013, 63 (69 f., 74). 487 So auch Wacker, BAV 2013, 63 (69 f., 74).
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§ 9 Rz. 199
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
2.3.8 Auflösung von Rückstellungen 199 Die Auflösung von Rückstellungen bestimmt sich nach § 5 I 1 EStG i.V.m. § 249 II 2 HGB. Entgegen
dem missverständlichen Wortlaut („dürfen“) besteht handels- und steuerrechtlich ein Auflösungsgebot, wenn der Grund für ihre Bildung entfallen ist488. Maßgeblich ist nach dem Stichtagsprinzip (s. Rz. 91 f.) das am Bilanzstichtag bestehende Risiko der Inanspruchnahme489 (vgl. Rz. 186). Wertaufhellende Tatsachen, die eine andere Risikoprognose erfordern, sind bei der Bilanzaufstellung nur heranzuziehen, wenn sie bereits am Bilanzstichtag objektiv vorlagen490. Eine Rückstellung wegen eines im Klagewege gegen den Kaufmann geltend gemachten Anspruchs ist erst zum Schluss des Wirtschaftsjahres aufzulösen, in dem über den Anspruch endgültig und rechtskräftig entschieden ist491; die gerichtliche Entscheidung wirkt nicht bloß wertaufhellend und damit nicht zurück492. 3. Rechnungsabgrenzungsposten 200 Rechnungsabgrenzungsposten (§ 5 V EStG)493 dienen der periodengerechten Gewinnabgrenzung.
Als aktive und passive Bilanzposten bewirken sie, dass Ausgaben in die Periode ihrer wirtschaftlichen Zugehörigkeit transferiert werden (transitorische Rechnungsabgrenzung) und damit jeder Periode nur die in ihr verursachten Aufwendungen und Erträge zugeordnet werden. Sie neutralisieren in der Bilanz die jeweiligen Ausgaben, die ohne Abgrenzung aufwands- oder ertragswirksam würden. 201 § 5 V EStG schränkt die Zulässigkeit von Rechnungsabgrenzungsposten dahingehend ein, dass nur
angesetzt werden dürfen und müssen: (1) auf der Aktivseite: Ausgaben vor dem Abschlussstichtag, soweit sie Aufwand für eine bestimmte Zeit nach diesem Tag darstellen (transitorische Aktiva; „Ausgabe heute, Aufwand morgen“); es wird im Voraus ausgegeben, was wirtschaftlich in das nächste Jahr gehört, weil dann erst die Gegenleistung empfangen wird (transitorisch = hinübergehend = die Auswirkung der Ausgabe wird in das nächste Jahr transferiert), z.B. Mietvorauszahlung des Mieters im Dezember für Januar des Folgejahres; vorausbezahlte Kfz.-Steuern494. (2) auf der Passivseite: Einnahmen vor dem Abschlussstichtag, soweit sie Ertrag für eine bestimmte Zeit nach diesem Tag darstellen (transitorische Passiva; „Einnahme heute, Ertrag morgen“); es wird im Voraus vereinnahmt, was wirtschaftlich in das nächste Jahr gehört, weil erst dann die Gegenleistung erbracht wird (Beispiele: Mieteinnahme auf Seiten des Vermieters im Dezember für Januar des Folgejahres; ferner private Zuschüsse, s. Rz. 239). 202 Für das Merkmal „bestimmte Zeit“ reicht Bestimmbarkeit aus (kalendarische Festlegung nicht erfor-
derlich)495. Auch eine „immerwährende Zeit“ ist „bestimmt“; deshalb ist ein vereinnahmtes Entgelt 488 489 490 491 492
BFH v. 27.11.1997 – IV R 95/96, BStBl. II 1998, 375. BFH v. 26.4.2012 – IV R 43/09, BFHE 237, 215 = BFH/NV 2012, 1248. BFH v. 30.1.2002 – I R 68/00, BStBl. II 2002, 688 (689). BFH v. 27.11.1997 – IV R 95/96, BStBl. II 1998, 375; HHR/Tiedchen, § 5 EStG Rz. 703. BFH v. 26.4.1989 – I R 147/84, BStBl. II 1991, 213; Bertram im Haufe, HGB Bilanz-Komm., § 249 Rz. 338; Tiedchen in MünchKomm. BilanzR, § 252 HGB Rz. 43. 493 Dazu Tiedchen in HdJ II/9, III/8; Hartung, FS Moxter, 1994, 213; Beisse, FS Budde, 1995, 67; Stobbe, FR 1995, 399; Bertl/Egger/Gassner/Lang (Hrsg.), Erfolgsabgrenzungen in Handels- und Steuerbilanz, Wien 2001; Köhle, Rechnungsabgrenzung in Bilanztheorie und Bilanzrecht, Diss., 2003; Scheel, Rechnungsabgrenzungsposten und steuerliche Gewinnermittlung, 2010; Schiefelbein, Transitorische Rechnungsabgrenzung nach Handels-/Steuerbilanz und IAS/IFRS, 2016. 494 BFH v. 19.5.2010 – I R 65/09, BStBl. II 2010, 967. Zur Rechnungsabgrenzung bei einem vom Darlehensnehmer zu zahlenden „Bearbeitungsentgelt“, BFH v. 22.6.2011 – I R 7/10, BStBl. II 2011, 870; dazu Hageböke, Ubg 2012, 34; bei Darlehen mit fallenden Zinssätzen BFH v. 27.7.2011 – I R 77/10, BStBl. II 2012, 284 = FR 2011, 1162 m. Anm. U. Prinz. 495 Dazu BFH v. 5.4.1984 – IV R 96/82, BStBl. II 1984, 552 (554); BFH v. 9.12.1993 – IV R 130/91, BStBl. II 1995, 202 (204 ff.).
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Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 205 § 9
für die zeitlich nicht begrenzte Verpflichtung, den Betrieb nicht über den bisherigen Umfang hinaus zu erweitern, zur Wahrung des Realisationsprinzips passiv abzugrenzen (und über 25 Jahre zu verteilen)496. Andererseits muss zur passiven Abgrenzung eines bezogenen Entgelts eine Verpflichtung zu einer nach diesem Bilanzstichtag (zumindest zeitanteilig) noch zu erbringenden Gegenleistung bestehen. Im Hinblick auf eine bereits vollzogene Leistung kann eine Rechnungsabgrenzung nicht erfolgen497. Ferner sind nach § 5 V 2 EStG auf der Aktivseite – wie Rechnungsabgrenzungsposten – anzusetzen: als 203 Aufwand berücksichtigte Zölle und Verbrauchsteuern, soweit sie auf am Abschlussstichtag auszuweisende Wirtschaftsgüter (Vermögensgegenstände) des Vorratsvermögens entfallen, sowie als Aufwand berücksichtigte Umsatzsteuern auf am Abschlussstichtag auszuweisende Anzahlungen. Den transitorischen Rechnungsabgrenzungsposten liegen Geschäftsvorfälle zugrunde, die in dem 204 abgelaufenen Wirtschaftsjahr einen Finanzvorgang (Ausgabe/Einnahme) ausgelöst haben, der als Aufwand/Ertrag künftigen Perioden zuzurechnen ist. Die Ausgabe oder Einnahme muss also dem Wirtschaftsjahr, in dem der Aufwand/Ertrag entsteht, vorausgehen498. Rechnungsabgrenzungsposten dienen also der Abgrenzung von Vorausleistungen des zur Gegenleistung Verpflichteten im Hinblick auf die den Vertrag kennzeichnende Hauptleistung, sie betreffen Fälle vorausbezahlten Entgelts (Abgrenzung einer Vorabentgeltentrichtung)499. Davon zu unterscheiden sind antizipative Posten. Im Gegensatz zu den transitorischen Rechnungsabgrenzungsposten betreffen die antizipativen Posten Geschäftsvorfälle, die erst in den kommenden Geschäftsjahren zu einer Einnahme oder Ausgabe führen, bei denen der Ertrag oder der Aufwand aber dem laufenden Wirtschaftsjahr zuzurechnen ist. Aufwand und Ertrag werden in das laufende Jahr vorweggenommen (antizipiert)500. Bei ihnen lautet die Formel also „Ertrag heute, Einnahme morgen“ (bzw. „Aufwand heute, Ausgabe morgen“). Antizipative Posten sind nicht als Rechnungsabgrenzungsposten zulässig (R 5.6 Abs. 1 u. 3 EStR501); stattdessen sind Forderungen oder Verbindlichkeiten anzusetzen502. Entgegen der Rspr. des I. Senats des BFH503 und der Ansicht des BMF504 ist deshalb für sog. Handy- 205 subventionen der Mobilfunkunternehmen kein aktiver Rechnungsabgrenzungsposten zu bilden505. Es geht im Fall einer Handysubvention durch ein Mobilfunkunternehmen nämlich nicht um eine Vorleistung des zur Geldzahlung verpflichteten Teils. Vielmehr liegt es genau umgekehrt: Auf Seiten des Mobilfunkunternehmens ist eine aus mehreren rechtlich selbständigen Verträgen (Komponenten) bestehende gemischte Leistungspflicht gegeben (subventionierter Handyverkauf einerseits und Mobilfunkdienstleistung andererseits, jeweils gegen Entgelt; sog. Mehrkomponentengeschäft, dazu auch unten Rz. 416), von denen ein Teil, nämlich der Handyverkauf, bereits voll erfüllt ist und die andere Komponente, die Mobilfunkdienstleistung, abschnittsweise noch zu erbringen ist. Die Vorleistung liegt also auf Seiten des Teils, der zur Sach- und Dienstleistung verpflichtet ist, die die (kombinierten) Verträge kennzeichnent. Das ist kein Fall der transitorischen Rechnungsabgrenzungsposten506, sondern die Frage ist, ob und in welcher Höhe das Mobilfunkunternehmen im Hinblick auf seine Teilerfüllung (Handylieferung) das vom Kunden noch nicht geleistete (künftige) Entgelt für die Mobilfunkdienst496 497 498 499 500 501 502 503
BFH v. 15.2.2017 – VI R 96/13, BStBl. II 2017, 884 (Rz. 37 f.). BFH v. 28.5.2015 – IV R 3/13, BFH/NV 2015, 1577 (Werkzeugkostenzuschüsse). KSM/Bauer, § 5 EStG Rz. F 30. Weitergehend BFH v. 15.5.2013 – I R 77/08, BStBl. II 2013, 730 (Rz. 16). Vgl. KSM/Bauer, § 5 EStG Rz. F 40. KSM/Bauer, § 5 EStG Rz. F 43; Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 EStG Rz. 244. Vgl. BFH v. 20.5.1992 – X R 49/89, BStBl. II 1992, 904. BFH v. 7.4.2010 – I R 77/08, BStBl. II 2010, 739; bestätigt durch BFH v. 15.5.2013 – I R 77/08, BStBl. II 2013, 730 m. Anm. Weber-Grellet, FR 2013, 853; Schulze-Osterloh, BB 2013, 2099. 504 BMF BStBl. I 2005, 801 (Rz. 6). 505 Wie hier HdJ/Tiedchen, II/9 Rz. 77 (57. Lfg. August 2013); Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 EStG Rz. 241, 255; Marten/Köhler/Schlereth, DB 2003, 2713 (2715). Eingehend dazu auch Coenenberg, Die bilanzielle Behandlung von Handy-Subventionen bei Mobilfunkunternehmen, 2007. 506 A.A. BFH v. 15.5.2013 – I R 77/08, BStBl. II 2013, 730 (Rz. 16).
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§ 9 Rz. 210
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
leistung bereits am Bilanzstichtag teilweise als realisiert beurteilen muss507. Das ist nicht an § 5 Abs. 5 EStG, sondern am Realisationsprinzip zu messen, und danach scheidet eine vorgezogene, anteilige Realisation noch nicht vereinnahmter Mobilfunkentgelte aus508, weil das Mobilfunkunternehmen seine Dienstleistung insoweit noch nicht erbracht hat. Namentlich ist mit Lieferung des Mobiltelefons noch in keiner Weise die Preisgefahr in Bezug auf die Mobilfunkdienstleistung übergegangen. 206–209
Einstweilen frei.
4. Zugehörigkeit zum Betriebsvermögen Literatur: Schoor, Abgrenzung des notwendigen und gewillkürten Betriebsvermögens vom Privatvermögen, StBp. 2005, 102; Arnold, Geschäfts- und Privatvermögen im schweizerischen Einkommensteuerrecht, ASA 2006, 265; Eichfelder/Neugebauer, Gemischt genutzte Kraftfahrzeuge bei Gewinneinkünften: Steuerlich optimale Ausübung von Pauschalierungs- und Zuordnungswahlrechten, StuW 2016, 134. 210 Da der Betriebsvermögensvergleich nur im Betrieb erwirtschaftete Vermögensmehrungen/Vermö-
gensminderungen erfassen soll, dürfen in der Bilanz nur Wirtschaftsgüter des Betriebsvermögens angesetzt werden (s. auch § 6 I 1 EStG). Die st. Rspr. des BFH unterscheidet bei Personenunternehmen notwendiges und gewillkürtes Betriebsvermögen einerseits und notwendiges Privatvermögen andererseits (vgl. R. 4.2 EStR; zu Mitunternehmerschaften Rz. 219, zu Kapitalgesellschaften Rz. 220). Danach werden Wirtschaftsgüter wie folgt zugeordnet: 211 Wirtschaftsgüter, die ausschließlich und unmittelbar für eigenbetriebliche Zwecke des Stpfl. genutzt
werden oder dazu bestimmt sind, sind notwendiges Betriebsvermögen (R 4.2 I EStR 2012). Sie brauchen zwar nicht unentbehrlich oder notwendig i.S. von „erforderlich“ zu sein, müssen sich aber doch auf den Betriebsablauf beziehen und ihm in dem Sinne zu dienen bestimmt sein, dass sie objektiv erkennbar zum unmittelbaren Einsatz im Betrieb selbst bestimmt sind509; dabei ist auf die tatsächliche konkrete Zweckbestimmung im Betrieb abzustellen510. Wirtschaftsgüter, die aus betrieblicher Veranlassung angeschafft, hergestellt oder eingelegt werden, gehören zum Betriebsvermögen; eine betriebliche Veranlassung liegt vor, wenn ein objektiver wirtschaftlicher oder tatsächlicher Zusammenhang mit dem Betrieb besteht511. Die Zuordnung von eigenbetrieblich genutzen WG zum notwendigen BV ist unabhängig davon, ob die WG in der Buchführung und in den Bilanzen ausgewiesen sind (R 4.2 I 2 EStR). Ggf. ist die Rechnungslegung zu berichtigen. Auch die Zuordnung zum notwendigen Betriebsvermögen setzt nach neuerer Rspr. neben der objektiven Eignung einen nach außen erkennbaren Nutzungswillen des Stpfl. (subjektives Element) voraus512. Eine lediglich potentielle, geplante Funktionszuweisung genügt nicht; dem Wirtschaftsgut muss definitiv eine betriebliche Funktion zugewiesen sein (sog. endgültige Funktionszuweisung513). 212 Zum notwendigen Privatvermögen gehören Wirtschaftsgüter, deren tatsächliche konkrete Funktion
nur eine Zuordnung zum Privatvermögen zulässt (Beispiele: selbstbewohnte Wohnung, Wohnungseinrichtung, Schmuck, Kleidung, soweit nicht typische Berufskleidung). 213 Wirtschaftsgüter, die in einem gewissen objektiven Zusammenhang mit dem Betrieb stehen und ihn
zu fördern bestimmt und geeignet sind, aber kein notwendiges BV sind, können bei der Gewinn507 Ebenso HdJ/Tiedchen – II/9 Rz. 77 (57. Lfg. August 2013). 508 Insoweit wie hier BFH v. 15.5.2013 – I R 77/08, BStBl. II 2013, 730 (Rz. 17); a.A. Schulze-Osterloh, BB 2013, 2099. 509 St. Rspr., z.B. BFH v. 19.2.1997 – XI R 1/96, BStBl. II 1997, 399 (402). 510 BFH v. 6.3.1991 – X R 57/88, BFH BStBl. II 1991, 829 (830) m.w.N. 511 BFH v. 9.8.1989 – X R 20/86, BStBl. II 1990, 128 (129). 512 BFH v. 5.3.2002 – IV B 22/01, BStBl. II 2002, 690; BFH v. 25.11.1997 – VIII R 4/94, BFH BStBl. II 1998, 461. 513 BFH v. 6.3.1991 – X R 57/88, BStBl. II 1991, 829.
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Hennrichs
III. Ansatz von Wirtschaftsgütern
Rz. 217 § 9
ermittlung durch BV-Vergleich (§§ 4 I, 5 EStG) und nach § 4 III EStG (dazu Rz. 553) als gewillkürtes Betriebsvermögen behandelt werden (R 4.2 I 3 EStR). Das Wirtschaftsgut wird durch Widmungsakt gewillkürtes Betriebsvermögen; dabei muss der Unternehmer die Zuordnungsentscheidung unmissverständlich bekunden514. Die Kategorie des gewillkürten Betriebsvermögens spielt vor allem bei sog. „neutralem Vermögen“, dem eine betriebliche Bestimmung nicht von vornherein immanent ist, eine Rolle. Auf diese Weise können dem Betriebsvermögen insb. Mietgrundstücke, Bankguthaben, Bargeld, Beteiligungen und Wertpapiere durch Widmungsakt (insb. Aktivierung in der Bilanz) zugeordnet werden. Allein die Aufnahme des Wirtschaftsguts in die Buchführung und Bilanz, der buchmäßige Widmungsakt also, begründet allerdings kein gewillkürtes Betriebsvermögen. Buchführung und Bilanz müssen die betrieblich veranlassten Geschäftsvorfälle erfassen; umgekehrt geht es nicht. Für die Annahme gewillkürten Betriebsvermögens muss eine betriebliche Veranlassung gegeben sein, die Wirtschaftsgüter müssen objektiv betriebsdienlich sein515. Gemischt genutzte bewegliche Wirtschaftsgüter sind entweder Betriebsvermögen oder Privatver- 214 mögen516. Sie werden dem Betriebsvermögen zugeordnet, wenn sie zu mehr als 50 % betrieblich genutzt werden; dem Privatvermögen werden sie zugeordnet, wenn sie zu mehr als 90 % privat (und damit zu weniger als 10 % betrieblich) genutzt; bei einem betrieblichen Nutzungsanteil von 10–50 % wird dem Stpfl. ein Wahlrecht zugebilligt (s. R 4.2 I 4–6 EStR). Hingegen werden gemischt genutzte Immobilien entspr. ihren verschiedenen Nutzungs- und Funktionszusammenhängen in mehrere selbständige Wirtschaftsgüter aufgeteilt (s. Rz. 138; R 4.2 III–X EStR). Ob ein Wirtschaftsgut zum Betriebsvermögen gehört, kann nur unter Berücksichtigung der kon- 215 kreten Verhältnisse beurteilt werden. Jedes Wirtschaftsgut kann nämlich je nach Situation zum Betriebs- oder zum Privatvermögen gehören. So kann z.B. ein Unternehmer mit Wirtschaftsgütern handeln, die typischerweise zum Privatvermögen gehören, etwa mit Schmuck. In der Frage, ob ein Wirtschaftsgut eine betriebliche Funktion haben kann, hat der Unternehmer zwar einen Beurteilungsspielraum, er darf aber nicht willkürlich entscheiden. Die Zuordnungskriterien können letztlich keine anderen sein als die für die Abgrenzung der Er- 216 werbsaufwendungen von den Privataufwendungen (dazu § 8 Rz. 206 ff.)517. Danach ist der betriebliche Veranlassungszusammenhang maßgeblich, d.h. ob das Wirtschaftsgut betrieblich veranlasst angeschafft, hergestellt oder eingelegt wird518. Das ist anzunehmen, wenn es im konkreten Fall betrieblichen Zwecken zu dienen bestimmt ist und für den Betrieb verwendet oder genutzt wird, d.h. wenn mit ihm im Betrieb – in Gewinnerzielungsabsicht – gewirtschaftet wird519. Die betriebliche Verwendung ist allerdings weit zu verstehen. Betrieblichen Zwecken dienen können 217 Wirtschaftsgüter zum einen dadurch, dass sie unmittelbar bei der Produktion, im Handel oder im Dienstleistungsbetrieb u.s.w. eingesetzt werden, zum anderen aber auch dadurch, dass ihre Nutzung (insb. durch Kapitalanlage, Vermietung) dem Betriebserfolg dient. Wirtschaftsgüter können einem Betrieb auch als Reservevermögen oder zur Sicherheit dienen. Auch §§ 20 VIII, 21 III EStG gehen davon aus, dass Vermögen durch seine Anlage oder Vermietung zu Betriebsvermögen werden kann, wenn 514 BFH v. 22.9.1993 – X R 37/91, BStBl. II 1994, 172 (173); BFH v. 27.8.1998 – IV R 77/97, BStBl. II 1999, 279 (280); BFH v. 20.4.1999 – VIII R 63/96, BStBl. II 1999, 466; u. öfter. 515 BFH v. 24.2.2000 – IV R 6/99, BStBl. II 2000, 297. 516 BFH v. 13.5.2014 – III B 152/13, BFH/NV 2014, 1364. 517 Dazu Merten, FR 1979, 367; Wassermeyer, DStJG 3 (1980), 315; Leingärtner, FR 1983, 214; Wacker, FS Scherpf, 1983, 88; Schmidt/Heinicke36, § 4 EStG Rz. 108; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 63 ff. 518 BFH v. 9.8.1989 – X R 20/86, BStBl. II 1990, 128 (129) m.w.N. 519 Zum objektiven betrieblichen Zusammenhang bei gewillkürtem Betriebsvermögen s. Schmidt/Heinicke36, § 4 EStG Rz. 150 ff. m.w.N. Die Rspr. unterwirft zunehmend auch den Begriff des gewillkürten Betriebsvermögens den allgemeinen Kausalitätskriterien.
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§ 9 Rz. 218
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
die Nutzung betrieblichen Zwecken dient. Wirtschaftsgüter gehören allerdings nicht zum Betriebsvermögen, wenn lediglich deren Wertminderung im Betriebsvermögen berücksichtigt werden soll. Deshalb ist bei Risikogeschäften520 der betriebliche Förderzusammenhang bes. sorgfältig zu prüfen521. Die Einlage von Wirtschaftsgütern als gewillkürtes Betriebsvermögen ist nicht zulässig, wenn erkennbar ist, dass die betreffenden Wirtschaftsgüter dem Betrieb keinen Nutzen, sondern nur Verluste bringen werden522. 218 Wird ein Wirtschaftsgut nicht mehr betrieblich verwendet oder genutzt, so ist es damit dem Betrieb
entnommen (Entnahmehandlung durch Unterlassen der Verwendung oder Nutzung für den Betrieb). Wird ein Wirtschaftsgut, das bisher dem Privatvermögen zugehörte, für den Betrieb verwendet oder genutzt, so ist es damit eingelegt (dazu Rz. 360 ff.). Die Einlagehandlung stellt einen tatsächlichen Vorgang dar; sie erfordert kein Rechtsfolgebewusstsein und kann darin bestehen, dass der Steuerpflichtige dem Wirtschaftsgut durch eine Nutzungsänderung eine betriebliche Funktion zuweist523. 219 Dieselben Kategorien (notwendiges und gewillkürtes Betriebsvermögen sowie notwendiges Privatver-
mögen) gelten nach h.M. bei Mitunternehmerschaften (vgl. auch R 4.2 II, XI, XII EStR). Insb. sollen Gebäude(teile), die von einem oder mehreren Mitunternehmern oder deren Familie zu privaten Wohnzwecken genutzt werden, steuerrechtlich selbst dann zum notwendigen Privatvermögen der Gesellschafter zählen, wenn sie zivilrechtlich zum Gesellschaftsvermögen (§ 124 HGB) gehören524 (H 4.2 XI EStH; s. auch § 10 Rz. 122). Zum sog. Sonderbetriebsvermögen bei Mitunternehmerschaften näher § 10 Rz. 131 ff. 220 Demgegenüber haben Kapitalgesellschaften nach der Rspr. des BFH auch steuerrechtlich keine au-
ßerbetriebliche Sphäre525. Daher gehören alle Wirtschaftsgüter und Schulden, die der Kapitalgesellschaft subjektiv zuzurechnen sind, auch zu ihrem Betriebsvermögen, das in der Bilanz abgebildet werden muss. 221–229
Einstweilen frei.
IV. Bewertung von Wirtschaftsgütern und sonstigen Bilanzposten (Bilanzierung der Höhe nach) 230 Das Ergebnis des Betriebsvermögensvergleichs i.S.d. §§ 4 I; 5 I EStG hängt nicht nur davon ab, was
als Bilanzposten aktiviert oder passiviert wird. Ebenso entscheidend ist, wie die Bilanzposten bewertet werden (Bilanzierung der Höhe nach). Auch für die Bewertung werden die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung prinzipiell maßgeblich (§ 5 I 1 EStG). Im Bereich der Bewertung gelten aber weitgehend detaillierte besondere Vorschriften des EStG, die vorrangig zu beachten sind (s. § 5 VI EStG i.V.m. §§ 6; 7 EStG; § 4 I 9 EStG). Soweit weder das EStG noch die handelsrechtlichen GoB Bewertungsvorschriften enthalten, ist hilfsweise auf die Vorschriften des Bewertungsgesetzes zurückzugreifen (s. § 1 BewG).
Schmidt/Heinicke36, § 4 EStG Rz. 151, 157 f.; Kuhsel, Stbg. 2002, 273. BFH v. 20.4.1999 – VIII R 63/96, BStBl. II 1999, 466 (Devisentermingeschäfte). BFH v. 19.2.1997 – XI R 1/96, BStBl. II 1997, 399. BFH v. 13.5.2014 – III B 152/13, BFH/NV 2014, 1364. BFH v. 6.6.1973 – I R 194/71, BStBl II 1973, 705; BFH v. 16.3.1983 – IV R 36/79, BStBl. II 1983, 459. 525 BFH v. 4.12.1996 – I R 54/95, BFHE 182, 123; BFH v. 17.11.2004 – I R 56/03, BFHE 208, 519; BFH v. 22.8.2007 – I R 32/06, BStBl. II 2007, 961; krit. § 11 Rz. 37; Hüttemann, DStJG 34 (2011), 291 (312 f.). 520 521 522 523 524
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IV. Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 234 § 9
1. Wertbegriffe des § 6 EStG § 6 EStG operiert mit den Wertbegriffen Anschaffungs- und Herstellungskosten (Rz. 232 ff., 250 ff.), 231 Teilwert (Rz. 260 ff.), gemeiner Wert (Rz. 265), beizulegender Zeitwert (Rz. 266) und Buchwert (Rz. 267). 1.1 Anschaffungskosten (§ 6 I Nr. 1 Satz 1, Nr. 2 Satz 1 EStG) § 6 EStG enthält keine eigenständige Definition der Anschaffungskosten526. Deshalb ist auf § 255 I 232 HGB zurückzugreifen527, der über § 5 I 1 EStG auch für die Steuerbilanz gilt (s. Rz. 40 ff., 70). Danach sind Anschaffungskosten – die Aufwendungen, die geleistet werden, um einen Vermögensgegenstand zu erwerben (Erwerbskosten) und – ihn in einen betriebsbereiten Zustand zu versetzen (Kosten zur Herstellung der Betriebsbereitschaft), soweit sie dem Vermögensgegenstand einzeln zugeordnet werden können (also unter Ausschluss der Gemeinkosten)528. Zu den Anschaffungskosten gehören auch die Nebenkosten sowie – die nachträglichen Anschaffungskosten. – Anschaffungskostenminderungen sind abzusetzen. Die Aktivierung bewirkt, dass Anschaffungsvorgänge erfolgsneutral bleiben. Dieses Prinzip der Er- 233 folgsneutralität von Anschaffungsgeschäften529 folgt aus dem Realisationsprinzip (§ 252 I Nr. 4 HGB): Der Ausweis eines anschaffungsbedingten Gewinns soll vermieden werden. Die Anschaffung führt lediglich zu einer erfolgsneutralen Vermögensumschichtung, d.h. zu einer Änderung der Vermögenszusammensetzung. Hinsichtlich der Erwerbskosten sind bei Geschäften zwischen fremden Dritten die tatsächlich ge- 234 leisteten Entgelte maßgebend (Prinzip der Maßgeblichkeit der Gegenleistung530), selbst wenn diese unter oder über dem Zeitwert des WG liegen531. Bei Geschäften zwischen nahestehenden Personen oder zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern können unangemessene Preise allerdings als verdeckte Einlagen/Entnahmen zu beurteilen sein532. Zu den AK gehören auch übernommene oder aus Anlass des Erwerbs begründete Verbindlichkeiten (z.B. übernommene Pensions- oder Sozialplanverbindlichkeiten)533. Diese sind zu ihrem Wegschaffungswert, Rentenverbindlichkeiten und dauernde Lasten
526 Dazu BFH v. 21.1.1999 – IV R 27/97, BStBl. II 1999, 638 (640); BFH v. 17.11.2004 – I R 96/02, BStBl. II 2008, 296; Mathiak, DStJG 7 (1984), 97; Söhn, StuW 1991, 270; Wichmann, FR 1997, 589; Blümich/Ehmcke, § 6 EStG Rz. 90 ff.; Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 31 ff.; Meyering, StuW 2009, 42; Wohlgemuth in HdJ Abt. I/9 (2011). 527 S. BFH v. 20.7.2010 – IX R 4/10, BStBl. II 2011, 35; BFH v. 14.4.2011 – IV R 8/10, BStBl. II 2011, 709. 528 BFH v. 18.5.2004 – IX R 57/01, BStBl. II 2004, 872 (873 ff.); bei Grund und Boden s. BFH v. 20.7.2010 – IX R 4/10, BStBl. II 2011, 35; BFH v. 20.4.2011 – I R 2/10, BStBl. II 2011, 761. 529 BFH v. 16.12.2009 – I R 102/08, BStBl. II 2011, S. 566 (Rz. 9); ferner BFH v. 12.12.2012 – I R 69/11, BFHE 240, 34 (Rz. 27); aus dem Schrifttum z.B. MünchKomm.HGB/Ballwieser3, § 253 HGB Rz. 1, 8, § 255 HGB Rz. 2, 29; Moxter, Grundsätze ordnungsgemäßer Rechnungslegung, Düsseldorf 2003, § 17 I; Wohlgemuth in HdJ, Abt. I/9, Rz. 3 (2011). 530 Kahle/Hiller, DStZ 2013, 462 (464); Kahle/Hiller, WPg. 2013, 403 (404); MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 255 HGB Rz. 13. 531 Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 41; MünchKomm.BilanzR/Tiedchen, § 255 HGB Rz. 16. 532 Hennrichs, WPg. 2015, 315; Schön, ZHR 178 (2014), 373; Schulze-Osterloh, NZG 2014, 1 ff. 533 Vgl. BFH v. 18.10.2011 – IX R 15/11, BStBl. II 2012, 205; Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 41, 81 ff.
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§ 9 Rz. 235
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
zu ihrem finanzmathematischen Barwert im Erwerbszeitpunkt anzusetzen534; spätere Wertänderungen der Verbindlichkeit haben keinen Einfluss mehr auf die Höhe der AK des erworbenen WG, weil die Verbindlichkeit ein eigenes WG darstellt535. Anschaffungskosten eines Wirtschaftsguts können nur solche Kosten sein, die nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten dessen Beschaffung tatsächlich zuzuordnen sind. Die bloße Ursächlichkeit des Erwerbs für die Entstehung der Aufwendungen reicht zur Charakterisierung als Anschaffungs(neben)kosten nicht aus. Zusätzlich ist ein innerer, finaler Zweckzusammenhang zwischen Anschaffungsvorgang und Aufwendung erforderlich. Daher sind die infolge einer Sacheinlage von Gesellschaftsanteilen aufgrund Anteilsvereinigung ausgelösten Grunderwerbsteuern von der aufnehmenden Gesellschaft nicht als Anschaffungs(neben)kosten der eingebrachten Anteile zu aktivieren536. 235 AK sind nur solche Kosten, die dem angeschafften WG einzeln zugeordnet werden können. Anders
als bei der HK sind Gemeinkosten bei den AK also nicht einzubeziehen. Das macht es notwendig, AK und HK abzugrenzen. S. Rz. 134 f. Anleger in einem Bauherrenmodell beurteilt der BFH nicht als Hersteller/Bauherren, sondern als Erwerber des bebauten Grundstücks. Dabei stellen „sämtliche Aufwendungen, die sie (sc. die Anleger) an die Projektanbieter zahlen, um das Grundstück mit dem bezugsfertigen Gebäude zu erhalten, Anschaffungskosten“ des bebauten Grundstücks dar537. Denn „erst die Verbindung der Verträge des Modells (Vertragsgeflecht) [führe] zu dem von den Beteiligten angestrebten Ziel […], nämlich dem Anleger ein bebautes Grundstück zu verschaffen.“ Diese Rspr. hat der BFH auf Immobilienfonds in der Rechtsform einer gewerblich geprägten KG538 und kürzlich auf geschlossene Schiffsfonds539 sowie Windkraftfonds übertragen540. Begründet wird dies damit, „dass die steuerliche Beurteilung der Aufwendungen für den Erwerb eines Grundstücks [resp. Schiffs, Windparks] nicht davon abhängen [könne], ob die Gegenleistung für den Erwerb aufgrund eines Vertrages in einer Summe gezahlt wird oder aufgrund mehrerer Verträge, in die der einheitliche Vorgang aus steuerlichen Gründen aufgespalten wird, in Teilbeträgen zu zahlen [sei].“ Bei der Organisation des Fonds in der Form einer Personengesellschaft müsse daher die gesellschaftsbezogene Betrachtung nach § 42 AO zurücktreten und müssten die einzelnen Teilverträge der Gesellschafter zusammengefasst werden. Erst so werde eine zutreffende Besteuerung erreicht, wie sie bei einer angemessenen Gestaltung durch einen Gesamtvertrag erfolgt wäre. 236 Anschaffungsnebenkosten541 sind ohne Rücksicht auf Wertsteigerung542 alle Aufwendungen, die
neben dem Anschaffungspreis geleistet werden, um das Wirtschaftsgut zu erwerben und in einen betriebsbereiten Zustand zu versetzen543. Zahlungsempfänger solcher Nebenkosten ist häufig nicht der Verkäufer, sondern ein Dritter (z.B. bei Maklerprovisionen). Nicht entscheidend ist, wann die Nebenkosten anfallen. Auch sog. Vorlaufkosten, z.B. Besichtigungs-, Reise- und Begutachtungskosten)
534 Adler/Düring/Schmaltz6, § 255 HGB Rz. 65, 67; HHR/Stobbe, § 6 EStG Rz. 210, 211; MünchKomm.BilanzR/Tiedchen, § 255 HGB Rz. 47. 535 Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 81. 536 BFH v. 20.4.2011 – I R 2/10, BStBl. II 2011, 761. 537 BFH v. 14.11.1989 – IX R 197/84, BStBl. II 1990, 299. 538 BFH v. 11.1.1994 – IX R 82/91, BStBl. 1995, 166. 539 BFH v. 14.4.2011 – IV R 8/10, BStBl. 2011, 709. 540 BFH v. 14.4.2011 – IV R 15/09, BStBl. 2011, 706; vgl. auch Grützner, StuB 2011, 655; Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 54; Wit, DStR 2011, 1023; krit. Bode, DB 2011, 1306; Hoffmann, StuB 2011, 641 (642); Peetz, DStZ 2011, 904 (905 ff., 910). 541 S. Höwer, Zur Dogmatik der Anschaffungsnebenkosten – Unter besonderer Berücksichtigung der Bilanzierung von ERP-Software, 2012; Kahle/Hiller, Anschaffungsnebenkosten beim Erwerb von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften, IFSt-Schrift Nr. 495, 2014. 542 BFH v. 4.6.1991 – X R 136/87, BStBl. II 1992, 70 (72); Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 50. 543 BFH v. 29.4.1999 – IV R 40/97, BStBl. II 1999, 828 (831).
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IV. Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 237 § 9
sind anzusetzen544, ebenso andererseits erst im Anschluss getätigte Folgekosten des Erwerbsvorgangs545 (z.B. Erschließungskosten, s. auch Rz. 237). Maßgeblich ist die Zweckbestimmung der Aufwendungen (finaler Zweckzusammenhang zwischen Anschaffungsvorgang und Aufwendung), ein bloß kausaler oder zeitlicher Zusammenhang ist nicht ausreichend546. Sie müssen einzelnen Wirtschaftsgütern konkret zugeordnet werden können (kein Ansatz von Gemeinkosten bei den Anschaffungskosten). Nebenkosten sind insb. Provisionen, Lade- und Transportkosten, Transportversicherungskosten, Eingangsfrachten, Zölle, grds. auch die Grunderwerbsteuer (letztere aber nicht bei Vereinigung von Gesellschaftsanteilen, weil in diesem Fall nicht final mit dem Anschaffungsvorgang zusammenhängend547), Gerichts- und Notarkosten. Bei Beratungskosten stellt die h.M. darauf ab, ob sie nach der grundsätzlich gefassten Erwerbsentscheidung des Stpfl. anfallen (dann aktivierungspflichtige Nebenkosten) oder ob sie noch der Vorbereitung einer unbestimmten, erst später zu treffenden Entscheidung zuzuordnen sind (dann Sofortaufwand)548. Richtigerweise regelmäßig noch der Entscheidungsfindung zuzuordnen und deshalb keine Anschaffungsnebenkosten (sondern sofort abzugsfähig) sind Kosten für die Durchführung einer Due Diligence bei einem Unternehmens- oder Anteilskauf, weil durch die Due Diligence die Entscheidungsgrundlagen erst geschaffen oder bestätigt werden sollen549. Besonders weit legt BMF BStBl. 2005, 1025, den Begriff der Anschaffungsnebenkosten aus, wonach grds. sämtliche Implementierungskosten sog. ERP-Software zu aktivieren sein sollen, selbst wenn sie deren Kaufpreis um ein Vielfaches übersteigen550. Nebenkosten bei Eingehung von Dauerschuldverhältnissen (z.B. Maklerprovision bei einem Mietvertrag) führen mangels aktivierungsfähigem Wirtschaftsgut nicht zu aktivierungsfähigen Anschaffungsnebenkosten551. Demgegenüber sind Anschaffungsnebenkosten bei unentgeltlichem Erwerb denkbar552. Die Anschaffung ist abgeschlossen, wenn das WG dem Erwerber zuzurechnen ist553 (dazu Rz. 145 ff.). 237 Danach anfallende, funktional554 aber noch mit der Anschaffung verknüpfte Kosten sind als nachträgliche AK zu aktivieren (§ 255 I 2 HGB)555. Sie können auch noch Jahre nach der Anschaffung anfallen (z.B. Erschließungskosten bei Grundstücken, s. Rz. 235). 544 Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 51. 545 BFH v. 9.7.2013 – IX R 43/11, BStBl. II 2014, 878 (Rz. 13). 546 BFH v. 17.10.2001 – I R 32/00, BStBl. II 2002, 349; BFH v. 3.8.2005 – I R 36/04, BStBl. II 2006, 369; BFH v. 20.4.2011, I R 2/10, BStBl. II 2011, 761. 547 BFH v. 20.4.2011 – I R 2/10, BStBl. II 2011, 761; krit. Weber-Grellet, BB 2012, 43 (44 f.). 548 BFH v. 27.3.2007 – VIII R 62/05, BStBl. II 2010, 159 im Anschluss an BFH v. 20.4.2004 – VIII R 4/02, BStBl. II 2004, 597. 549 Kahle, DB 2014, Beil. 4 S. 10 m.w.N. Eingehend Kahle/Hiller, Anschaffungsnebenkosten beim Erwerb von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften, ifst-Schrift 495, 2014; Kahle/Hiller, DB 2014, 500; Ditz/ Tcherveniachki, DB 2011, 2676; ebenso IFRS 3.53, wonach aquisition-related costs stets als Aufwand zu behandeln sind; a.A. (Kosten einer Due Diligence seien regelmäßig aktivierungspflichtige Nebenkosten der Anschaffung der Beteiligung) FG Köln v. 6.10.2010, 13 K 4188/07, EFG 2011, 264 (rkr.); vgl. auch Ettinger, Ubg 2017, 41 (interne Personalkosten als Anschaffungsnebenkosten beim Beteiligungserwerb). 550 Krit. Hoffmann, StuB 2006, 56. Ausf. Höwer, Zur Dogmatik der Anschaffungsnebenkosten – Unter besonderer Berücksichtigung der Bilanzierung von ERP-Software, 2012; zum Ganzen s. außerdem DRS 24 (insb. Rz. 32 ff.) und IDW HFA 11 (insb. Rz. 16 ff.). 551 BFH v. 19.6.1997 – IV R 16/95, BStBl. II 1997, 808; Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 52. 552 BFH v. 9.7.2013 – IX R 43/11, BStBl. II 2014, 878; Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 53; a.A. für den Fall der Schenkung BMF BStBl. I 1993, 80 (Rz. 13: weder Anschaffungsnebenkosten noch sofort abziehbare BA/WK), aber Verstoß gegen Nettoprinzip. 553 Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 35. 554 HHR/Stobbe, § 6 EStG Rz. 206. 555 Vgl. dazu Neufang, StuB 2017, 93.
Hennrichs 621
§ 9 Rz. 237
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Zu nachträglichen AK (auf die Beteiligung i.S.d. des § 17 EStG) führen insb. offene und verdeckte Einlagen in Kapitalgesellschaften wie Nachschüsse i.S.d. §§ 26 ff. GmbHG und Zahlungen in die Kapitalrücklage von Kapitalgesellschaften (§ 272 II Nr. 4 HGB). Aufwendungen des Gesellschafters aus sog. eigenkapitalersetzenden Gesellschafterhilfen (z.B. Aufwendungen aus der Inanspruchnahme als Bürge für Verbindlichkeiten der Gesellschaft oder der Ausfall eines Gesellschafterdarlehens) führen dagegen nach neuerer Rspr. nicht mehr zu nachträglichen Anschaffungskosten auf die Beteiligung i.S. des § 17 EStG556. Gesellschafterdarlehen unterfallen vielmehr künftig allein dem Anwendungsbereich des § 20 EStG. Beispiel: Die A-GmbH ist in einer Krise. Mehrheitsgesellschafter A gewährt eine Bürgschaft, weil die D-Bank der GmbH sonst keinen Kredit mehr gewährt hätte. A wird aus der Bürgschaft in Anspruch genommen. Die Gesellschaft wird schließlich liquidiert. A macht bei seiner ESt-Erklärung einen Auflösungsverlust gem. § 17 EStG i.H.v. 100 Tt geltend (25 Tt ausgefallene Stammeinlage und 75 Tt als nachträgliche AK aus der Inanspruchnahme der Bürgschaft). Nach § 17 I, II, IV EStG errechnet sich der Auflösungsgewinn/-verlust i.S. von § 17 I, II, IV EStG nach folgender Gleichung: Gemeiner Wert des zugeteilten/zurückgezahlten Vermögens ./. Auflösungskosten (§ 17 II EStG) und ./. Anschaffungskosten. Nach der neuen Rspr. des BFH stellen die Aufwendungen des A aus der Inanspruchnahme der Bürgschaft keine nachträglichen AK der Beteiligung mehr dar. Sie erhöhen deshalb den Auflösungsverlust des A i.S. des § 17 EStG (den A bei seiner ESt-Erklärung geltend machen könnte) nicht.
Unterfällt das Gesellschafterdarlehen damit künfig allein dem Anwendungsbereich des § 20 EStG, stellt sich die Folgefrage, ob der Forderungsausfall als Verlust gem. § 20 II Nr. 7 EStG steuerlich geltend gemacht werden kann. Die früher h.M.557 verneinte das, weil die Vorschrift nur den Gewinn oder Verlust aus der Veräußerung von sonstigen Kapitalforderungen erfasse; der Forderungsausfall sei im System des Dualismus der Einkunftsarten (§ 8 Rz. 50, 182) ein unbeachtlicher privater Vermögensstammverlust. Richtigerweise erfasst § 20 II Nr. 7 EStG dagegen auch den Fall des endgültigen Forderungsausfalls558. Das folgt aus der Gleichstellung der Rückzahlung mit dem Tatbestand der Veräußerung einer Kapitalforderung in § 20 II 2 EStG sowie aus dem Gebot der Folgerichtigkeit folgt. Wirtschaftlich betrachtet macht es nämlich keinen Unterschied, ob der Stpfl. die Forderung noch kurz vor dem Ausfall zu Null veräußert, oder ob er sie – weil er keinen Käufer findet oder auf eine Quote hofft – behält. In beiden Fällen erleidet der Stpfl. eine Einbuße seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, die die gleiche steuerliche Berücksichtigung finden muss. Von einem Forderungsausfall i.d.S. ist erst dann auszugehen, wenn endgültig feststeht, dass keine weiteren Rückzahlungen mehr erfolgen werden. Die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners reicht hierfür in der Regel nicht aus, wohl aber die Ablehnung der Eröffnung mangels Masse. S. auch § 8 Rz. 497. Aus Gründen des Vertrauensschutzes räumt der BFH für die „Geltung“ seiner neuen Rspr. immerhin eine Übergangsfrist ein: Die bisherigen Grundsätze zur Berücksichtigung von nachträglichen Anschaffungskosten aus eigenkapitalersetzenden Finanzierungshilfen seien weiter anzuwenden, wenn der Gesellschafter eine eigenkapitalersetzende Finanzierungshilfe bis zum Tag der Veröffentlichung des Urteils (11.7.2017) geleistet habe oder wenn eine Finanzierungshilfe des Gesellschafters bis zu diesem Tag eigenkapitalersetzend geworden sei559. Eine solche richterlich angeordnete „Übergangs556 So BFH v. 11.7.2017 – IX R 36/15, BFHE 258, 427, in Abkehr von der bisherigen st. Rspr.; dazu Kahlert, DStR 2017, 2305; Ratschow, GmbHR 2017, 1204; Schießl, StuB 2017, 765. 557 BMF BStBl. I 2012, 953 Rz. 60; FG Düsseldorf v. 11.3.2015 – 7 K 3661/14E, BB 2015, 1639; FG Brandenburg-Berlin v. 20.1.2016 – 14 K 14040/13, BB 2016, 2405 (Rev. BFH VIII R 18/16). 558 So zu Recht jetzt BGH v. 24.10.2017, VIII R 13/15, DStR 2017, 2801 m.w.N.; ferner Aigner, DStR 2016, 345; Moritz, DStR 2014, 1636 (1643 f.). 559 BFH v. 11.7.2017 – IX R 36/15, BFHE 258, 427 (LS 3).
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Hennrichs
IV. Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 239 § 9
frist“ für die erstmalige Anwendung der neuen Rspr.-Grundsätze ist zwar im Interesse der Stpfl. zu begrüßen, dogmatisch aber durchaus ein Novum. Zahlungen zur Ablösung dinglicher Nutzungsrechte (z.B. Erbbaurecht) sollen nachträgliche AK des angeschafften Grundstücks darstellen, wenn dadurch die Beschränkung der Eigentümerbefugnis beseitigt werden soll560. Abstandszahlungen an obligatorische Nutzungsberechtigte beurteilt die Rpsr. dagegen als AK eines immateriellen WG „vorzeitige Nutzbarkeit“, s. oben Rz. 132. Nachträgliche AK erhöhen die AK (und damit die AfA) erst mit ihrer Entstehung, sie wirken also 238 nicht auf den Zeitpunkt der Anschaffung zurück561. Anschaffungspreisminderungen sind von den AK abzusetzen (§ 255 I 3 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG). 239 Die Vorschrift beruht auf dem actus contrarius-Gedanken562 und auf dem Prinzip der Erfolgsneutralität von Anschaffungsvorgängen (Rz. 233). Maßgebender Zeitpunkt für die Berücksichtigung der AKMinderungen ist der Eintritt der Minderung; dh die AK sind erst bei Eintritt des maßgebl Ereignisses zu mindern; kein Rückbezug auf den Zeitpunkt der Anschaffung563. Zu den Anschaffungspreisminderungen zählen Skonti und Rabatte, darüber hinaus aber ganz allgemein Vorgänge, die mit dem Anschaffungsgeschäft in Zusammenhang stehen und sich als (teilweise) Ermäßigung (Rückführung) von Anschaffungs- oder Herstellungskosten darstellen564. Hier einzuordnen sind etwa: die mängelbedingte Minderung des Kaufpreises oder Werklohns (§§ 441, 638 BGB); Verzicht auf einen Teil des Anschaffungspreises565; Schadenersatzzahlungen oder Konventionalstrafen, wenn sie ausnahmsweise einen verdeckten Preisnachlass bezwecken, nämlich einen beim Empfänger verbleibenden Minderwert der erhaltenen Leistung abdecken sollen (was bei einem Schadenersatz statt der Leistung wegen Mängeln des Werkes der Fall sein kann). Keine Anschaffungspreisminderung ist dagegen bei Schadenersatzzahlungen anzunehmen, die nicht einen mängelbedingten Minderwert, sondern andere Interessen ausgleichen sollen und neben die unverändert fortbestehende Leistungspflicht des Verkäufers oder Werkunternehmens treten. Dementsprechend ist Schadenersatz wegen Verzugs (§ 634 Nr. 4 i.V.m. § 280 Abs. 2, § 286 BGB) nicht als Minderung der AK zu beurteilen566. Auch Schadenersatzzahlungen des Steuerberaters für schlechte steuerliche Beratung im Zusammenhang mit dem Anschaffungsgeschäft sind nicht als erfolgsneutrale Anschaffungspreisminderung, sondern als steuerpflichtige Einnahme zu beurteilen567. Ebenfalls nicht von den AK abzusetzen sind Schadenersatzleistungen für die Beseitigung versteckter Mängel oder Ersatz für Aufwendungen für die Selbstvornahme der Mängelbeseitigung (§ 637 BGB), die vom Grundsatz her als Erhaltungsaufwand zu beurteilen wären568. Bei Zuschüssen569 ist nach h.M. zu unterscheiden: Für sog. Investitionszuschüsse (Zuschüsse für die Anschaffung oder Herstellung von Wirtschaftsgütern) soll steuerbilanzrechtlich ein Wahlrecht 560 561 562 563 564
565 566 567 568 569
Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 86 m.w.N. Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 57. So explizit BFH v. 26.2.2002 – IX R 20/98, BStBl II 2002, 796 (Rz. 21 und 24). Beck’scher Bilanz-Komm./Schubert/Gadek11, § 255 HGB Rz. 61; Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 66. BFH v. 26.2.2002 – IX R 20/98, BStBl II 2002, 796 (Rz. 15); BFH v. 16.3.2004 – IX R 46/03, BStBl II 2004, 1046 (für eine Provision, die der Grundstückserwerber vom Vermittler des Kaufvertrags erhält und die keine besonderen, über die Anschaffung hinausgehenden Leistungen abgelten soll); BFH v. 22.4.2008 – X B 125/07, BFH/NV 2008, 1155. Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 67. Vgl. FG Niedersachsen, EFG 1994, 871, rkr.; Blümich/Ehmcke, § 6 EStG Rz. 322; KSM/Werndl, § 6 EStG Rz. B125; Korn/Strahl, § 6 EStG Rz. 75. BFH v. 26.3.1992 – IV R 74/90, BStBl II 1993, 96; s. außerdem BFH v. 16.3.2004 – IX R 46/03, BStBl II 2004, 1046; MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 255 HGB Rz. 35. BFH v. 20.8.2013 – IX R 5/13, BFH/NV 2014, 312. S. dazu BFH v. 5.4.1984 – IV R 96/82, BStBl. II 1984, 552; ferner BFH v. 17.9.1987 – IV R 49/86, BStBl. II 1988, 327; BFH v. 23.3.1995 – IV R 58/94, BStBl. II 1995, 702; BFH v. 19.7.1995 – I R 56/94,
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§ 9 Rz. 240
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
gelten, diese entweder sofort erfolgswirksam zu vereinnahmen oder erfolgsneutral von den AK/HK des bezuschussten WG abzusetzen570. Demgegenüber sollen sog. Aufwandszuschüsse (kein Zusammenhang mit AK/HK; auch Ertragszuschüsse genannt) grundsätzlich erfolgswirksam zu vereinnahmen sein, doch kann die Gewinnrealisierung auch in diesen Fällen durch RAP oder sonstige Passivposten gestreckt sein, wenn die Voraussetzungen für eine solche Passivierung im Einzelfall gegeben sind571. Insb. zeitbezogene private Zuschüsse (z.B. Vermieterzuschüsse zur Sicherung des weiteren Betriebs des Mieters an den vermieteten Standorten) beruhen auf einem wirtschaftlichen Austauschverhältnis und sind gem. § 250 II HGB, § 5 V 1 Nr. 2 EStG passiv abzugrenzen und nach Maßgabe der Erfüllung der Gegenleistungsverpflichtung ratierlich erfolgswirksam zu vereinnahmen572. Gleiches (also Abgrenzungspflicht) gilt richtigerweise für Baukostenzuschüsse bei Energieversorgungsunternehmen573. 240 Das Prinzip der Erfolgsneutralität von Anschaffungsvorgängen (Rz. 233) gilt auch, wenn der Kauf-
preis ausnahmsweise negativ ist (z.B. Zuzahlungen des Verkäufers an den Erwerber beim Erwerb eines überschuldeten Unternehmens). Das Realisationsprinzip verbietet den Ausweis eines „Anschaffungsgewinns“. Ggf. ist zur Gewährleistung der Erfolgsneutralität ein passiver Ausgleichsposten zu bilden574. 241 Umsatzsteuer: Nach § 15 UStG abziehbare Vorsteuerbeträge gehören nicht zu den AK/HK eines
Wirtschaftsguts (§ 9b I EStG)575. Umgekehrt ist die nicht abziehbare Vorsteuer als Teil der AK/HK zu behandeln576. Soweit das Abzugsverbot des § 12 Nr. 3 EStG Platz greift (s. § 8 Rz. 241), darf die Vorsteuer auch nicht den AK/HK zugeordnet werden, so z.B. die nach § 15 Ia 1 UStG nicht abziehbaren Vorsteuerbeträge. 242 Werden mehrere Wirtschaftsgüter zu einem einheitlichen Gesamtkaufpreis erworben, insb. Grund-
stück mit Gebäude (= zwei Wirtschaftsgüter, s. Rz. 138) oder Unternehmen, so ist der Kaufpreis nach dem Grundsatz der Einzelbewertung (s. Rz. 270) nach dem Verhältnis der Teilwerte aufzuteilen577. 243 Auch ein Windpark besteht nach BFH aus mehreren Wirtschaftsgütern (s. BFH v. 14.4.2011 – IV R
46/09; BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10; Rz. 139, 235), auf die die Anschaffungskosten verteilt werden müssen. Dabei ist nach BStBl. 2011, 929, zweistufig vorzugehen: auf einer ersten Stufe ist zu ermit-
570
571 572 573 574 575 576 577
624
BStBl. II 1996, 28; BFH v. 5.6.2003 – IV R 56/01, BStBl. II 2003, 801; BFH v. 24.6.2009 – IV R 26/06, BStBl. II 2009, 781; BFH v. 29.11.2000 – I R 87/99, BStBl. II 2002, 655; und öfter; aus der Lit.: Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 71 ff.; MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 255 HGB Rz. 40 ff.; HdJ/ Wohlgemuth, Abt. I/9 Rz. 75 ff.; Küting, DStR 1996, 276 ff.; 313 ff.; eingehend S. Wolf, Bilanzierung von Zuschüssen nach HGB und IFRS, 2010. Zu privaten Zuschüssen s. eingehend HFA 2/1996 i.d.F. 2013. Vgl. R 6.5 II EStR. Zust. Weber-Grellet, DB 1994, 2405 (2408); L. Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 73 (der sogar von einer „nahezu gewohnheitsrechtlichen Gewährung des Wahlrechts“ spricht); Rätke, StuB 2004, 122; MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 255 HGB Rz. 41; für grds. Pflicht zur Kürzung der AK/HK Blümich/Ehmcke, § 6 EStG Rz. 331; umgekehrt gegen Minderung der AK Baumbach/ Hueck/Schulze-Osterloh18, § 42 GmbHG Rz. 358. L. Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 79; Küting, DStR 1996, 313 (314); HFA 2/1996 i.d.F. 2013, unter 2.1.2. HFA 2/1996 i.d.F. 2013 (unter 2.1.2.); zust. Küting, DStR 1996, 313 (314). IDW WPg. 2004, 374; WPg. 2005, 122; a.A. (Behandlung als Investitionszuschuss, d.h. Wahlrecht zur erfolgswirksamen Erfassung oder erfolgsneutrale Absetzung von den AK/HK des Versorgungsanschlusses) BMF BStBl. I 2003, 361. BFH v. 26.4.2006 – I R 49, 50/04, BStBl. II 2006, 656; zust. Hoffmann, DStR 2006, 1315; Roser/Haupt, GmbHR 2007, 78; Schiffers, WPg. 2006, 1279; Ernsting, GmbHR 2007, 135. Dazu Krollmann, DB 1999, 2079; Simon, DStR 1999, 1516; Lohse/Zeiler, Stbg. 2000, 197. BFH v. 3.3.2005 – III R 72/03, BStBl. II 2005, 567. BFH v. 15.2.1989 – X R 97/87, BStBl. II 1989, 604 (605) m.w.N.
Hennrichs
IV. Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 250 § 9
teln, welche Aufwendungen unmittelbar einem Wirtschaftsgut zugeordnet werden können, und auf einer zweiten Stufe sind die übrigen Aufwendungen „entsprechend dem Verhältnis der auf der ersten Stufe ermittelten Anschaffungskosten auf alle Wirtschaftsgüter zu verteilen“. Beim Erwerb eines Grundstücks mit Abbruchgebäude differenzieren Rspr. und Verwaltung wie 244 folgt578: Wird das Gebäude innerhalb von 3 Jahren nach Anschaffung abgebrochen und ein neues Gebäude errichtet, wird (widerleglich) vermutet, dass im Zeitpunkt der Anschaffung die Absicht bestand, das alte Gebäude durch ein neues zu ersetzen: Restbuchwert und Abbruchkosten gehören zu den HK des neuen Gebäudes. Bei Erwerb des Grundstücks mit Abbruchabsicht ohne Neubebauung gehören Restbuchwert und Abbruchkosten zu den AK des Grundstücks. Bei Erwerb ohne Abbruchabsicht sind Restbuchwert und Abbruchkosten sofort abziehbare Betriebsausgaben. Beim Tausch579 bestehen die AK im gemeinen Wert des hingegebenen Wirtschaftsguts (§ 6 VI 1 245 EStG). Dem Tausch gleichgestellt ist die verdeckte Einlage von Wirtschaftsgütern aus einem Betriebsvermögen in eine im Betriebsvermögen gehaltene Kapitalgesellschaft mit der Folge, dass sich die AK der Beteiligung an der Kapitalgesellschaft um den Teilwert des eingelegten Wirtschaftsguts erhöhen (§ 6 VI 2 EStG); s. auch § 6 VI 3 EStG: Einlagewert, wenn das Wirtschaftsgut innerhalb der letzten 3 Jahre angeschafft/hergestellt worden ist580. Im abgebenden Betriebsvermögen kommt es zu einer Gewinnrealisierung in Höhe der Differenz zwischen dem Buchwert und dem Teilwert des verdeckt eingelegten Wirtschaftsguts. Im Fall der Einlage bisher privat genutzter Wirtschaftsgüter bildet der Einlagewert (§ 6 I Nr. 5 EStG: 246 Teilwert oder AK/HK, s. Rz. 375) die zukünftige AfA-Bemessungsgrundlage581; zur Berücksichtigung bereits vorgenommener Abschreibungen (§ 7 I 5 EStG) s. Rz. 301. Bei der unentgeltlichen Übertragung eines Wirtschaftsguts in das Betriebsvermögen eines anderen 247 Stpfl. ist beim Übernehmer der gemeine Wert anzusetzen (§ 6 IV EStG). Bei der Überführung eines Wirtschaftsguts zwischen verschiedenen Betriebsvermögen desselben Stpfl. ist der Buchwert anzusetzen, sofern die Besteuerung der stillen Reserven sichergestellt ist (§ 6 V 1 EStG). Zur Übertragung betrieblicher Einheiten s. § 6 III EStG. Einstweilen frei.
248, 249
1.2 Herstellungskosten (§ 6 I Nr. 1 Satz 1, Nr. 1a, Nr. 2 Satz 1 EStG) § 6 EStG enthält keine eigene Definition der Herstellungskosten582. Gem. § 5 I 1 EStG ist insoweit 250 auf den in § 255 II-III HGB normierten handelsrechtlichen Herstellungskostenbegriff zurückzugreifen583 (s. auch Rz. 70). Danach sind HK i.S.d. § 6 EStG i.V.m. § 255 II 1 HGB „die Aufwendungen, die durch den Verbrauch von Gütern und die Inanspruchnahme von Diensten für die Herstellung eines Vermögensgegenstands, seine Erweiterung oder für eine über seinen ursprünglichen Zustand hinausgehende wesentliche Verbesserung entstehen“. Zu den HK gehören die Einzelkosten und – an578 Dazu BFH v. 12.6.1978 – GrS 1/77, BStBl. II 1978, 620; BFH v. 15.2.1989 – X R 97/87, BStBl. II 1989, 604; BFH v. 18.5.2004 – IX R 57/01, BStBl. II 2004, 872 (Kosten der Zwangsräumung eines besetzten Grundstücks); BFH v. 12.12.2005 – IX R 24/03, BStBl. II 2006, 461; H 6.4 EStH 2005; Blümich/Ehmcke, § 6 EStG Rz. 352 ff.; IDW, WP-Hdb15, F Rz. 109. 579 Adam, Einlage, Tausch und tauschähnlicher Vorgang im Zivilrecht und im Steuerrecht, Diss., 2005. 580 Dazu Füger/Rieger, DStR 2003, 628. 581 S. BFH v. 9.11.2000 – IV R 45/99, BStBl. II 2001, 190 (191); BFH v. 18.5.2010 – X R 7/08, BStBl. II 2014, 13. 582 Dazu R 6.3 EStR; aus der Lit. z.B. Moxter, FS D. Schneider, 1995, 445; Mellwig, FS Budde, 1995, 397; HHR/Stobbe/Rade, § 6 EStG Anm. 454 ff.; Wohlgemuth/Ständer, WPg. 2003, 203; zu den Änderungen durch BilMoG Lengsfeld/Wielenberg, WPg. 2008, 321. 583 Vgl. BT-Drucks. 10/317, 88; so auch BFH v. 4.7.1990, GrS 1/89, BStBl. II 1990, 830 (833).
Hennrichs 625
§ 9 Rz. 251
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
ders als bei den AK – bestimmte Gemeinkosten. Herstellungspreisminderungen sind wie bei den AK abzusetzen; der Rechtsgedanke des § 255 I 3 HGB gilt auch für HK584. 251 Einzelkosten sind die Materialkosten, die Fertigungskosten und die Sonderkosten der Fertigung, z.B.
Kosten für Entwürfe, Modelle, Spezialwerkzeuge (§ 255 II 2 HGB). Forschungs- und Vertriebskosten dürfen nicht in die HK einbezogen werden (§ 255 II 4 HGB). Ebenfalls nicht zu den HK gehören die nach § 15 UStG abziehbaren Vorsteuerbeträge (zu § 9b EStG s. Rz. 241). 252 Bezüglich der einzubeziehenden Gemeinkosten ist zu unterscheiden: Nach § 255 II 2 HGB müssen
(Einbeziehungspflicht) bei der Berechnung der Herstellungskosten auch angemessene Teile der Materialgemeinkosten (z.B. Kosten der Lagerhaltung, der Materialprüfung und des Transports), der Fertigungsgemeinkosten585 und des Wertverzehrs des Anlagevermögens, soweit dieser durch die Fertigung veranlasst ist, eingerechnet werden. Demgegenüber besteht bezüglich der angemessenen Teile der Kosten der allgemeinen Verwaltung sowie der angemessenen Aufwendungen für soziale Einrichtungen des Betriebs, für freiwillige soziale Leistungen und für die betriebliche Altersversorgung im Sinne des § 255 II 3 HGB ein Einbeziehungswahlrecht (§ 6 I Nr. 1b EStG586). Bei Gewinnermittlung gem. § 5 EStG ist das Wahlrecht in Übereinstimmung mit der Handelsbilanz auszuüben, wodurch insoweit punktuell eine neue umgekehrte (formelle) Maßgeblichkeit eingeführt wird587. 253 Ebenfalls ein Einbeziehungswahlrecht besteht gem. § 255 III 2 HGB bezüglich Fremdkapitalzinsen,
die aktiviert werden dürfen, soweit sie auf den Zeitraum der Herstellung entfallen. Sind handelsrechtlich Fremdkapitalzinsen in die Herstellungskosten einbezogen worden, sind sie gem. § 5 I 1 Halbs. 1 EStG auch in der steuerlichen Gewinnermittlung als Herstellungskosten zu beurteilen588. 254 HK sind nach § 255 II 1 HGB nicht nur die Aufwendungen für die Herstellung, sondern auch für
die Erweiterung eines Wirtschaftsguts (z.B. Gebäudeanbau; auch Aufstockung oder Umbau eines Flachdaches zu einem Satteldach589) sowie für eine über seinen ursprünglichen Zustand hinausgehende wesentliche Verbesserung (s. Rz. 250f). Davon abzugrenzen ist zum einen der Fall, dass durch den Aufwand ein neues Wirtschaftsgut geschaffen wird, was insb. bei nachträglichen Baumaßnahmen an Gebäuden zur Schaffung einer anderen Nutzungsmöglichkeit590 sowie bei wesensändernden Anpassungen von Software an spezifische betriebliche Bedürfnisse591 der Fall sein kann. Zum anderen sind die HK von sofort abziehbaren sog. verlorenen Aufwendungen592 und sog. Erhaltungs584 BFH v. 7.12.2010 – IX R 46/09, BStBl II 2012, 310; BFH v. 19.7.1995 – I R 56/94, BStBl II 1996, 28. 585 Z.B. Kosten der Fertigungsvorbereitung, Raumkosten, Energiekosten, Kosten der Hilfs- u. Betriebsstoffe, Reparaturkosten im Fertigungsbereich, Grundsteuer auf die Fertigungsanlagen, Versicherungsprämien u. Kosten der Betriebsführung, der Unfallfürsorge u. des Lohnbüros im Fertigungsbereich. 586 Eingefügt durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens v. 18.7.2016, BGBl. I 2016, 1679; zur Anwendung s. § 52 XII 1 EStG. Zur Neuregelung s. Prinz, StbJb. 2016/17, S. 343 (346 ff.); Schumann, DStZ 2016, 660; Velte, StuB 2016, 407. – Zur wechselvollen früheren Handhabung durch die Finanzverwaltung (zunächst R 6.3 IV EStR 2008; dann BMF BStBl. 2010, 239, Rz. 8; R 6.3 I EStÄR 2012; BMF BStBl. I 2013, 296) s. Voraufl. m.w.N. 587 Prinz, StbJb. 2016/17, S. 343 (350). 588 BMF BStBl. I 2010, 239, Rz. 6. 589 BFH v. 15.5.2013 – IX R 36/12, BStBl. II 2013, 732. 590 Dazu BFH v. 31.3.1992 – IX R 175/87, BStBl. II 1992, 808; BFH v. 7.7.1998 – IX R 16/96, BStBl. II 1998, 625; BFH v. 14.7.2004 – IX R 52/02, BStBl. II 2004, 949; BFH v. 25.1.2006 – I R 58/04, BStBl. II 2006, 707; BFH v. 16.1.2007 – IX R 39/05, BStBl. II 2007, 922; Paus, DStR 1994, 1633. 591 IDW RS HFA 11 Rz. 14. 592 Bsp.: Vorauszahlungen für Bauleistungen, die wegen Konkurses des Bauunternehmers nicht erbracht werden (BFH v. 4.7.1990 – GrS 1/89, BStBl. II 1990, 830); nachträgliche Erschließungskosten, z.B. Beiträge zum Bau von Straßenschwellen, die den Erschließungszustand des Grundstücks nicht verbessern, u.U. sogar verschlechtern (vgl. BFH v. 7.11.1995 – IX R 99/93, BStBl. II 1996, 89; BFH v. 11.12.2003 – IV R 40/02, BStBl. II 2004, 282, u. ausf. Spindler, DB 1996, 444). Zur Bilanzierung von Erschließungsbeiträgen s. auch Schoor, StBp. 1997, 239.
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Hennrichs
IV. Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 256 § 9
aufwand593 zu unterscheiden. Liegen weder HK zur Erweiterung oder Verbesserung eines bestehenden WG noch HK eines neuen WG vor, so sind die Aufwendungen sofort als Betriebsausgaben abzugsfähig. Bei Gebäuden erfordert die Annahme von HK zur wesentlichen Verbesserung eine Betrachtung des 255 gesamten Gebäudes. Werden nur einzelne Teile ersetzt oder modernisiert (z.B. Heizungserneuerung oder Außenverkleidung mit besserer Isolierung), so genügt das für § 255 II 1 HGB nicht und liegt regelmäßig Erhaltungsaufwand vor. Eine wesentliche Verbesserung bei Wohngebäuden ist gegeben, wenn das Objekt in seinem Standard angehoben wird (von einfach auf mittel oder gehoben; z.B. Ersatz von Kohleöfen durch eine moderne Heizung, BFH BStBl. II 2003, 590; dagegen nicht bei Umstellung von Öl- auf Gasheizung; eine Standardanhebung wurde auch bejaht bei Ersatz einfachverglaster durch isolierverglaste Fenster, BFH BStBl. II 2003, 596; dagegen wiederum keine ausreichende Standardanhebung, wenn lediglich die vorhandenen Badezimmereinrichtungen und Fliesen ersetzt werden, s. BFH BStBl. II 2003, 569). Die Rspr. ist kasuistisch594. Ein Sonderproblem der Abgrenzung zwischen sofort abziehbarem Erhaltungsaufwand und zu akti- 256 vierenden HK stellt die Figur des sog. anschaffungsnahen Herstellungsaufwands eines Gebäudes dar595. Gem. § 6 I Nr. 1a S. 1 EStG596 sind innerhalb von 3 Jahren nach Anschaffung des Gebäudes durchgeführte Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen den HK zuzuordnen, wenn sie (ohne USt) 15 % der AK des Gebäudes übersteigen. Gemäß S. 2 der Vorschrift gehören zu den fraglichen „Aufwendungen“ nicht Kosten für Erweiterungen i.S.d. § 255 II 1 HGB sowie für üblicherweise jährlich anfallende Erhaltungsarbeiten (z.B. Heizungswartung). Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen i.S. des § 6 I Nr. 1a Satz 1 EStG sind bauliche Maßnahmen, durch die (offene oder verdeckte597) Mängel oder Schäden an vorhandenen Einrichtungen eines bestehenden Gebäudes oder am Gebäude selbst beseitigt werden oder das Gebäude durch Erneuerung in einen zeitgemäßen Zustand versetzt wird. Dazu gehören insb. Aufwendungen für die Instandsetzung oder Erneuerung vorhandener Sanitär-, Elektro- und Heizungsanlagen, der Fußbodenbeläge, der Fenster und der Dacheindeckung, die – ohne die Regelung des § 6 I Nr. 1a Satz 1 EStG – vom Grundsatz her als sofort abziehbare Erhaltungsaufwendungen zu beurteilen wären. Einbezogen sind auch sog. Schönheitsreparaturen wie das Tapezieren, Anstreichen oder Kalken der Wände und Decken, das Streichen der Fußböden, Heizkörper, der Innen- und Außentüren sowie der Fenster, wenn sie innerhalb von drei Jahren nach der Anschaffung durchgeführt werden und die hierfür angefallenen Aufwendungen – gegebenenfalls zusammen mit weiteren Aufwendungen für bauliche Maßnahmen – ohne Umsatzsteuer 15 % der Anschaffungskosten übersteigen598. Einheitliche Baumaßnahmen sind dabei einheitlich zu beurteilen. Daher sind alle Aufwendungen, die im Rahmen einer umfassenden Instandsetzung und Modernisierung anfallen, insgesamt als HK i.S. des § 6 I Nr. 1a EStG zu behandeln599, selbst Kosten für eine über den ursprünglichen Zustand hinausgehende wesentliche Verbes593 Funnemann, Herstellungs- und Erhaltungsaufwendungen im Lichte nationaler und internationaler Rechnungslegungsgrundsätze, Diss., 2002; rechtsvergleichend Renner, ÖStZ 2008, 96 u. 282; A. Bauer, ÖStZ 2008, 168. 594 Vgl. Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 183 ff. 595 Dazu Märkle, Anschaffungs-, Herstellungs- und Erhaltungskosten bei Gebäuden8, 2011; Neufang, BB 2004, 78; Blümich/Ehmcke, § 6 EStG Rz. 410 ff.; Scheffler/Glaschke, StuB 2006, 491; Wendt, FS Spindler, 2011, 879 ff.; KSM/Werndl, § 6 EStG Rz. B 1 ff. 596 Krit. zu dieser Vorschrift Spindler, DB 2004, 507; G. Söffing, DB 2004, 946; Pezzer, DStR 2004, 525 (526 ff.); Carlé, FS Korn, 2005, 41; Wendt, FS Spindler, 2011, 879 ff. 597 Vgl. BFH v. 9.5.2017 – IX R 6/16, DB 2017, 2335; FG Düsseldorf v. 30.8.2016 – 10 K 398/15 F, EFG 2016, 1774 (rkr.). 598 BFH v. 14.6.2016 – IX R 25/14, BStBl. II 2016, 992; BFH v. 14.6.2016 – IX R 22/15, BStBl. II 2016, 999; dazu Neufang, StuB 2017, 93. 599 BFH v. 25.8.2009 – IX R 20/08, BStBl. II 2010, 125; BFH v. 27.5.2013 – IX B 3/13, BFH/NV 2013, 1408; dazu Wendt, FS Spindler, 2011, 879 ff.; Günther, StuW 2011, 267; krit. Fahlenbach, DStR 2010, 2066; Fahlenbach, DStR 2014, 1902 (1904).
Hennrichs 627
§ 9 Rz. 260
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
serung des Gebäudes i.S. von § 255 II 1 HGB, wenn sie im Rahmen einer Renovierung und Modernisierung i.S. des § 6 I Nr. 1a EStG im Zusammenhang mit dem Erwerb des Gebäudes anfallen600. Nicht erfasst sind dagegen Kosten für Instandsetzungsmaßnahmen zur Beseitigung eines Schadens, der nachweislich erst nach Erwerb des Gebäudes eingetreten und auf das schuldhafte Verhalten Dritter zurückzuführen ist601. 257–259
Einstweilen frei.
1.3 Teilwert (§ 6 I Nr. 1 Satz 2 u. 3, Nr. 2 Satz 2, Nr. 4 Satz 1 Hs. 1, 5, 7 EStG) 260 Der Teilwert602 ist ein originär steuerrechtlicher Wertbegriff ohne unmittelbare handelsrechtliche
Entsprechung. § 6 I Nr. 1 Satz 3 EStG definiert den Teilwert als den Betrag, den ein Erwerber des ganzen Betriebs im Rahmen des Gesamtkaufpreises für das einzelne Wirtschaftsgut ansetzen würde; dabei ist davon auszugehen, dass der Erwerber den Betrieb fortführt (s. auch § 10 BewG). Der Teilwert ist nach der Vorstellung des Gesetzes eine bestimmte Größe, keine Bandbreite603. Damit enthält die Teilwert-Definition eine Fortführungsannahme (Going-Concern-Prämisse), die Fiktion des Erwerbers des ganzen Betriebs und die Fiktion der Verteilung des Gesamtkaufpreises auf die einzelnen Wirtschaftsgüter. Die Bewertung mit dem Teilwert beruht auf der Vorstellung, dass der Wert der Wirtschaftsgüter des Betriebsvermögens wesentlich von der Ertragskraft des Betriebs abhängt und in einem arbeitenden, rentablen Betrieb höher liegt als der Liquidationswert. 261 Die Praxis hat den Teilwertbegriff mittels (widerlegbarer) Teilwertvermutungen handhabbar ge-
macht: Oberes Richtmaß des Teilwerts ist der Wiederbeschaffungswert (= was zur Wiederbeschaffung aufgewendet werden muss); er gilt insb. für Wirtschaftsgüter des Umlaufvermögens. Unteres Richtmaß ist der Einzelveräußerungspreis (= was sich bei der Veräußerung des einzelnen Wirtschaftsguts erzielen lässt): er kommt in Betracht für überflüssige Güter. Die Rspr. hat die Vermutung aufgestellt, dass der Teilwert im Zeitpunkt der Anschaffung den AK entspreche604; diese Vermutung ist widerleglich bei Fehlmaßnahmen605. 262 Einzelfälle: Rz. 320 ff. und BMF BStBl. I 2016, 995. 263–264
Einstweilen frei.
600 BFH v. 14.6.2016 – IX R 25/14, BStBl. II 2016, 992; BFH v. 14.6.2016 – IX R 22/15, BStBl. II 2016, 999 m.w.N. zum Streitstand. 601 Vgl. BFH v. 9.5.2017 – IX R 6/16, DB 2017, 2335; Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 382. 602 BMF BStBl. I 2016, 995; R 6.7 ff. EStR mit Hinweisen. Aus der Lit. z.B. Bellin, Der Teilwert bei uneinbringlichen und zweifelhaften Geldforderungen im Bilanzsteuerrecht, Diss., 1997; Rief-Drewes, Der Teilwert, Diss., 2004; Kauba, Die Teilwertabschreibung von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften, 2004; Kadel, Außerplanmäßige Abschreibungen und Zeitwert in der deutschen und US-amerikanischen Handels- und Steuerbilanz, Diss., 2005; Schlotter, Teilwertabschreibung und Wertaufholung zwischen Steuerbilanz und Verfassungsrecht, Diss., 2005; Ch. Lange, 75 Jahre Teilwert, Diss., 2011; I. Gabert, Der Bewertungsmaßstab des Teilwerts im Bilanzsteuerrecht, Diss. 2011; Hiller, Bewertungsmaßstäbe im Bilanzsteuerrecht, 2015; Mellwig, FS Moxter, 1994, 1069; Moxter, FS F. Klein, 1994, 827; Müller-Dott, FS Ritter, 1997, 215; Meussen, StuW 1998, 174; Beiser, DStR 2002, 1777; Hommel/Berndt, FR 2000, 1305. Zum TW-Erlass des BMF (s.o.) Adrian/Helios, Ubg 2014, 489; Hannig, BB 2014, 752; Hörhammer, BB 2014, 497; Hörhammer/Schumann, StuB 2014, 551; Förster, DK 2014, 256; U. Prinz, DB 2014, 1825; Hiller, Ubg 2016, 341; Hiller, DStZ 2016, 813; U. Prinz, DB 2016, 2142; Förster, DB 2016, 2257; Meyering/Brodersen/Gröne, DStR 2017, 1175; Kowanda, DStR 2017, 2403. 603 BFH v. 9.1.2013 – IV B 8/12, BFH/NV 2013, 551; BFH v. 20.12.2012 – IV B 12/12, BFH/NV 2013, 547. 604 BFH v. 14.4.2011 – IV R 8/10, BStBl. 2011, 709 (Rz. 32); BFH v. 27.7.1988 – I R 104/84, BStBl. II 1989, 274. 605 BFH v. 20.5.1988 – III R 151/86, BStBl. 1989, 269.
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Hennrichs
IV. Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 270 § 9
1.4 Gemeiner Wert (§ 6 I Nr. 4 Satz 1 Hs. 2, Nr. 5a, IV, VI 1 EStG) Bei der unentgeltlichen Übertragung von Wirtschaftsgütern vom Betriebsvermögen eines Stpfl. in das 265 Betriebsvermögen eines anderen (§ 6 IV EStG), beim Tausch (§ 6 VI 1 EStG) sowie bei Ausschluss oder Beschränkung bzw. Begründung des deutschen Besteuerungsrechts (§ 6 I Nr. 4 Satz 1 Hs. 2 u. Nr. 5a EStG) wird der gemeine Wert angesetzt. Mangels eigener Definition im EStG ist auf § 9 II BewG zurückzugreifen (§ 1 II BewG). Der gemeine Wert ist der Wert, den das Wirtschaftsgut bei Veräußerung im gewöhnlichen Geschäftsverkehr erzielen würde (= Verkehrswert). Zur Ermittlung des gemeinen Wertes von Anteilen an Kapitalgesellschaften, für die ein Börsenkurs nicht besteht, s. § 11 II 2 BewG606. 1.5 Beizulegender Zeitwert (§ 6 I Nr. 2b EStG i.V.m. § 255 IV HGB) Auf den beizulegenden Zeitwert i.S.d. § 255 IV HGB wird in § 6 I Nr. 2b EStG Bezug genommen. 266 Die Vorschrift betrifft nur Stpfl., die in den Anwendungsbereich des § 340 HGB fallen (im Wesentlichen Kreditinstitute), und auch dort nur Finanzinstrumente des Handelsbestands, die nicht in einer Bewertungseinheit i.S.d. § 5 Ia 2 EStG abgebildet werden. Für diese besondere Gruppe von Stpfl. und Wirtschaftsgütern sieht das Gesetz nunmehr (grds. ab Wj. 2010, s. § 52 XVI 10 EStG) auch steuerrechtlich eine erfolgswirksame sog. Fair Value Bewertung selbst oberhalb der historischen AK oder HK vor. Der Wertansatz dieser Finanzinstrumente „atmet“ also in der Steuerbilanz je nach Zeitwert nach oben und nach unten, ohne dass es auf die Dauerhaftigkeit der Wertsteigerung oder Wertminderung ankäme607. Das ist mit dem allgemeinen Anschaffungswert- und Realisationsprinzip nicht vereinbar. Zweck der (rechtspolitisch zweifelhaften608) Regelung ist es, den Kreditinstituten an dieser Stelle den Gleichlauf von Handels- und Steuerbilanz zu ermöglichen609. 1.6 Buchwert (§ 6 III 1, V 1 EStG) Sollen Wirtschaftsgüter erfolgsneutral, d.h. ohne Gewinnrealisierung (s. Rz. 430), in das Betriebsver- 267 mögen eines anderen Stpfl. übertragen werden, so sind die Buchwerte fortzuführen (§ 6 III 1, V 1 EStG). Das Gesetz selbst verwendet den in der Praxis geläufigen Begriff des Buchwerts in § 6 EStG nicht (wohl aber § 1 V Nr. 4 UmwStG), sondern spricht von dem Wert, „der sich nach den Grundsätzen über die Gewinnermittlung ergibt“; gemeint sind die fortgeschriebenen AK/HK (s. auch § 1 V Nr. 4 UmwStG). Einstweilen frei.
268–269
2. Bewertung einzelner Wirtschaftsgüter 2.1 Einzelbewertungsgrundsatz und Ausnahmen (insb. Bewertungseinheiten, § 5 Ia 2 EStG) 2.1.1 Überblick Gem. § 6 I EStG; § 252 I Nr. 3 HGB; sind die WG einzeln zu bewerten (Grundsatz der Einzelbewer- 270 tung)610. Wertminderungen bei einem Wirtschaftsgut und Wertsteigerungen bei einem anderen Wirtschaftsgut dürfen also grds. nicht kompensierend ausgeglichen werden. Zulässige Ausnahmen dazu sind u.a. die Festbewertung (§ 240 III HGB), die Gruppenbewertung (§ 240 IV HGB, R 6.8 606 Hierzu BFH v. 22.6.2010 – II R 40/08, BStBl. II 2010, 843; BFH v. 29.7.2010 – VI R 30/07, BStBl. II 2011, 68. 607 Zu der Neuregelung s. HHR/Helios, § 6 EStG Rz. 1124a ff.; Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 427 f.; Helios/Schlotter, DStR 2009, 547; Helios/Schlotter, FR 2010, 874; Velte, StuW 2012, 56. 608 NWB Praxishdb./Kahle/Hiller2, Rz. 962; Velte, StuW 2012, 56 (68 f.). 609 HHR/Helios, § 6 EStG Rz. 1124g; Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 429 m.w.N. 610 Dazu Wiedmann, FS Moxter, 1994, 453; Glanegger, FS L. Schmidt, 1993, 145; Christiansen, DStZ 1995, 385; Christiansen, DStR 2003, 264; Moxter, Grundsätze ordnungsmäßiger Rechnungslegung, 2003, 23 ff.; Amort, WM 2013, 1250; MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 252 HGB Rz. 30 ff.
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§ 9 Rz. 271
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
IV EStR) und die Durchschnittsbewertung (R 6.8 III 3 EStR). Gemäß § 252 II HGB ist außerdem ausnahmsweise eine pauschale Bewertung (z.B. Pauschalrückstellungen für Gewährleistungsverpflichtungen; Cluster-Bewertung bei Großimmobilienbeständen611) zulässig, wenn eine strikte Einzelbewertung nur mit unvertretbarem (unwirtschaftlichem) Zeit- und Kostenaufwand möglich wäre612. S. außerdem § 6 I Nr. 3a Buchst. a und c EStG (dazu Rz. 289). 2.1.2 Insb.: Bewertungseinheiten gem. § 5 Ia 2 EStG 271 Eine weitere Ausnahme vom Grundsatz der Einzelbewertung regelt § 5 Ia 2 EStG613 i.V.m. § 254
HGB für sog. Bewertungseinheiten614. Sie können zur Absicherung von finanzwirtschaftlichen Risiken (insb. Währungs- und Zinsrisiken) gebildet werden. Beispiel: Hat der Stpfl. beispielsweise aus einem in US-$ fakturierten Geschäft eine $-Forderung, so hat er damit ein Währungsrisiko in seinen Büchern. Dies kann er neutralisieren, indem er eine gleich hohe Fremdwährungsposition mit gegenläufigem Vorzeichen (im Beispiel: eine Fremdwährungsverbindlichkeit) eingeht (oder ein entsprechendes Devisentermingeschäft abschließt).
In einem solchen Fall eines sog. Hedging heben sich die Effekte aus den Fremdwährungspositionen unabhängig von der weiteren Währungsentwicklung wirtschaftlich betrachtet auf: einem (unrealisierten) Währungsverlust aus der einen Position steht ein (unrealisierter) Währungsgewinn aus der anderen Position gegenüber (und vice versa). Eine strikt imparitätische (Rz. 80) Einzelbewertung (erfolgswirksame Erfassung des Währungsverlusts, aber noch keine Erfassung des unrealiserten Währungsgewinns) würde dann zum Ausweis von Verlusten führen, die wirtschaftlich betrachtet gar nicht bestehen, weil das Währungsrisiko im Beispiel abgesichert ist. Daher werden bei Bestehen einer Bewertungseinheit das Imparitäts-, das Realisations- und das Einzelbewertungsprinzip eingeschränkt und nicht realisierte Verluste nicht ausgewiesen, wenn, soweit und solange diesen in gleicher Höhe nicht realisierte Gewinne gegenüberstehen615.
611 OLG Frankfurt a.M. v. 16.5.2012, 23 Kap 1/06, NZG (Rz. 773); Sigloch/Schmidt/Hageböke, DB 2005, 2589 (2591). 612 EuGH v. 14.9.1999, Rs. C-275/97, Slg. 1999, I-5331 (DE+ES); EuGH v. 7.1.2003 – Rs. C-306/99, Slg. 2003, I-1 (BIAO); OLG Frankfurt a.M. v. 16.5.2012, 23 Kap 1/06, NZG (Rz. 773); BFH v. 9.1.2013 – I R 33/11, BFHE 240, 226 (Rz. 54); Baumbach/Hopt/Merkt35, § 252 HGB Rz. 9; MünchKomm. BilanzR/ Tiedchen, § 252 HGB Rz. 34; Schmidt/Weber-Grellet36, § 5 EStG Rz. 69. 613 Eingefügt durch Gesetz v. 28.4.2006, BGBl. I 2006, 1095. – Die Bestimmungen sind nicht rückwirkend auf Zeiträume vor ihrem Inkrafttreten anzuwenden. Vorher kam die Bildung und steuerliche Anerkennung von bilanziellen Bewertungseinheiten nur in Betracht, wenn die strikte Beachtung des Einzelbewertungsgrundsatzes in Verbindung mit dem Imparitätsprinzip dazu führen würde, dass ein den tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnissen des Unternehmens widersprechendes Bild entsteht (BFH v. 2.12.2015 – I R 83/13, BStBl. II 2016, 831; zust. Meinert, DStR 2017, 1401 [1402]). Grdl. Meinert, Die Bildung objektübergreifender Bewertungseinheiten nach Handels- und Steuerrecht, Köln, 2000; Christiansen, DStR 2003, 264; Hahne, BB 2003, 1943; Hahne, DStR 2005, 843. 614 Dazu Hahne, StuB 2007, 18; Pfitzer/Scharpf/Schaber, WPg. 2007, 675 u. 721; M. Schmidt, BB 2009, 882; Herzig/Briesemeister, Ubg 2009, 158; M. Schmidt, BB 2009, 882; Hennrichs, WPg. 2010, 1185 ff.; Miksch/Mattern, DB 2010, 579; Drewes, DStR 2011, 1967; Helios/Meinert, Ubg 2011, 592; U. Prinz, DStJG 34 (2011), 135 (157 ff.); Scharpf, DB 2012, 357; Wulf, DStZ 2012, 534; Schnittger, DStR 2013, 1771; Velte/Haaker, StuW 2013, 182; Freiberg, StuB 2014, 264; Teiche, DStR 2014, 1737; Schwabauer/ Mujkanovic, StuB 2015, 163; Rau, DStR 2017, 737; Meinert, DStR 2017, 1401; 1447. – Zu § 254 HGB eingehend IDW RS HFA 35; Gelhausen/Fey/Kämpfer, Rechnungslegung und Prüfung nach dem BilMoG, Rz. H 3 ff. 615 Vgl. BT-Drucks. 16/10067, 58; Gelhausen/Fey/Kämpfer, Rechnungslegung und Prüfung nach dem BilMoG, Rz. H 2.
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IV. Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 274 § 9
Sicherungsfähig sind nicht nur schwebende Geschäfte, sondern alle Arten von Vermögensgegen- 272 ständen (Wirtschaftsgütern), aus denen ein finanzwirtschaftliches Risiko resultieren kann, auch z.B. Auslandsbeteiligungen616 oder Dividendenforderungen aus Auslandsbeteiligungen. Der Terminus „finanzwirtschaftliche Risiken“ ist weit zu verstehen. Umfasst ist richtigerweise der gesamte Anwendungsbereich des § 254 HGB.617 Der Absicherung finanzwirtschaftlicher Risiken können auch Warentermingeschäfte (§ 254 S. 2 HGB) dienen, z.B. über Rohstoffe oder Energie618. Zwar liegen diesen Termingeschäften realwirtschaftliche Güter zugrunde; das sog. Underlying ist realwirtschaftlicher Natur. Das aus dem Termingeschäft resultierende Marktpreisrisiko, um dessen Absicherung es geht, ist aber dennoch ein finanzwirtschaftliches Risiko. Taugliche Sicherungsinstrumente sind u.a. Devisentermin- oder -optionsgeschäfte. Zulässige Siche- 273 rungsformen sind nach § 254 HGB nicht nur das Micro-Hedging, bei dem ein Risiko durch ein einzelnes Gegenrisiko neutralisiert wird, sondern auch das sog. Macro- und das Portfolio-Hedging (Absicherung mehrerer gleichartiger Risiken durch ein oder mehrere Sicherungsinstrumente). Auch eine antizipative Absicherung von mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarteten Transaktionen ist möglich. Vorausgesetzt wird aber stets eine entsprechende Sicherungsabsicht und Designation der Sicherungsbeziehung619. § 254 HGB ordnet als Rechtsfolge an, dass § 249 I (Verlustrückstellungen), § 252 I Nr. 3 (Einzel- 274 bewertungsgrundsatz) und Nr. 4 (Vorsichts-, Realisations- und Imparitätsprinzip), § 253 I 1 (Anschaffungswertprinzip) sowie § 256a HGB (Währungsumrechnung) in dem Umfang und für den Zeitraum nicht anzuwenden sind, in dem die gegenläufigen Wertänderungen sich ausgleichen. Im Ergebnis wird damit eine kompensatorische Bewertung erreicht. Entsprechend dem Zweck des § 254 HGB wird das gesicherte Risiko nicht ergebniswirksam, weil sich die gegenläufigen Risiken aus Grund- und Sicherungsgeschäft im Ergebnis gegenseitig aufheben. Buchungstechnisch gelten handelsrechtlich die sog. Einfrierungsmethode (bei der die Werte der gesicherten Positionen eingefroren und nicht entsprechend der Währungskursänderung angepasst werden) und die sog. Bruttomethode (bei der die Wertänderungen beiderseits durchgebucht werden, wodurch sie sich im Ergebnis saldieren) als zulässig620. Der beschriebenen Zwecksetzung des § 254 HGB, wonach das gesicherte Risiko nicht ergebniswirksam werden soll, entspricht es am besten, wenn die Effekte ohne Berührung der GuV verarbeitet werden621.
616 Hennrichs, WPg. 2010, 1185 ff.; Teiche, DStR 2014, 1737; Kämpfer/Fey, FS Streim, 2008, 187 ff.; Miksch/Mattern, DB 2010, 579; IDW RS HFA 35 Rz. 28. 617 Herzig/Briesemeister, Ubg 2009, 157 (158); Haisch/Helios, Rechtshandbuch Finanzinstrumente, 2011, § 4 Rz. 14; Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 237; Frotscher, § 5 EStG Rz. 144a2; Günkel, RdF 2011, 59 (64); MünchKomm.BilanzR/Tiedchen, § 254 HGB Rz. 91; Hennrichs, StbJb. 2016/17, S. 327 (340 f.); a.A. (nur Teilbereich des § 254 HGB sei erfasst) Hörhammer, StbJb. 2016/17, S. 327 (339 f.); Meinert, DStR 2017, 1401 (1405); je m.w.N. zum Streitstand. 618 Zur Zulässigkeit vgl. Bertram/Brinkmann/Kessler/Müller in Haufe, HGB Bilanz-Komm.8, § 254 HGB Rz. 11, 21; Drüen in Großkomm. HGB5, § 254 Rz. 18, 21, 24; Schmidt/Usinger in Beck’scher Bilanzkomm.11, § 254 HGB Rz. 24 f. Ebenso i.E. NWB Praxishdb. BilStR/Hick2, Rz. 1053 a.E.; Herzig/Briesemeister, Ubg 2009, 157 (158). Zu Besonderheiten von aus Energiebeschaffungs- und Energieabsatzverträgen bestehenden Bewertungseinheiten bei Energieversorgungsunternehmen vgl. auch IDW RS ÖFA 3 Tz. 67 f. 619 Einzelheiten bei IDW RS HFA 35. 620 Vgl. BT-Drucks. 16/10067, 95; IDW RS HFA 35 Rz. 75 ff.; Gelhausen/Fey/Kämpfer, Rechnungslegung und Prüfung nach dem BilMoG, 2009, Rz. H 103 ff., 121 ff.; Beck’scher Bilanz-Komm./Schmidt/Usinger11, § 254 HGB Rz. 52 f. 621 Vgl. IDW RS HFA 35 Tz. 81; Hennrichs, WPg. 2010, 1185 (1188 f.) m.w.N.
Hennrichs 631
§ 9 Rz. 275
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Das gilt handelsrechtlich richtigerweise nicht nur während der Dauer der Sicherungsbeziehung, sondern auch noch bei deren Beendigung622. Anderenfalls, also bei erfolgswirksamer Abrechnung der Bewertungseinheit, würde deren Zweck (Erfolgsneutralität der gegenläufigen Wertänderungen) am Ende doch verfehlt. § 254 HGB ist bis zum Ende, d.h. einschließlich der Schlussrechnung, noch einschlägig623. Erst auf die aus der Bewertungseinheit entlassenen Teile finden wieder die allgemeinen Vorschriften Anwendung. 275 Für die steuerliche Gewinnermittlung werden gem. § 5 Ia 2 EStG die Ergebnisse der handelsrecht-
lich gebildeten Bewertungseinheiten maßgeblich. Es gilt insoweit eine konkrete (formelle) Maßgeblichkeit624. Die handelsrechtliche Erfolgsneutralität ist daher auch steuerrechtlich anzuerkennen, und zwar wiederum nicht nur während der Dauer der Sicherungsbeziehung, sondern richtigerweise auch noch bei Beendigung der Bewertungseinheit625. Die in § 5 Ia 2 EStG angeordnete Bindung an die handelsrechtliche Rechnungslegung gilt nicht nur hinsichtlich des „Ob“ einer Bewertungseinheit, sondern gerade auch bzgl. der Ergebnisauswirkung der Bildung, Fortführung und Auflösung der Bewertungseinheit626. Denn der Gesetzgeber wollte mit der Einführung des § 5 Abs. 1a EStG eine Differenzierung von Handels- und Steuerrecht im Bereich der Bewertungseinheiten gerade vermeiden627. Zudem will der Gesetzgeber mit den Vorschriften der § 254 HGB; § 5 Ia 2 EStG wirtschaftlich vernünftige Absicherungsstrategien anerkennen. Die Effizienz der wirtschaftlichen Absicherung wäre aber ganz erheblich beeinträchtigt, würde man die Ergebnisbeiträge aus Grund- und Sicherungsgeschäft am Ende doch getrennt und asymmetrisch besteuern628 (zum Verhältnis des § 5 Ia 2 EStG zu § 8b KStG auch sogleich Rz. 276 f.). Die Gegenauffassung629, die bei Beendiugng einer Bewertungseinheit wieder uneingeschränkt die allgemeinen Vorschriften anwenden will, beruht auf einem unzutreffenden handelsrechtlichen Verständnis; sie unterstellt fälschlich, handelsrechtlich sei die Bewertungseinheit für die Schlussrechnung wieder aufzuspalten. Wie dargelegt (Rz. 273), gilt § 254 HGB nach zutr. Ansicht aber auch noch für die Schlussrechnung bei Beendigung der Bewertungseinheit. Damit ist das nach § 5 Ia 2 EStG formell maßgebliche „Ergebnis der in der handelsrechtlichen Rechnungslegung zur Absicherung finanzwirtschaftlicher Risiken gebildeten Bewertungseinheit(en)“ ein Nullergebnis, soweit die Sicherungsbeziehung effektiv ist. Auch bei der steuerlichen Gewinnermittlung kommt es deshalb insoweit von vornherein nicht zum Ausweis eines Ertrags. Das ist auch nach dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit geboten. Denn „aufgrund des bestehenden Sicherungszusammenhangs steht für den Stpfl. von vornherein fest, dass ein Gewinn oder Verlust aus dem Grundgeschäft durch
622 IDW RS HFA 35 Rz. 86; IDW, WP-Hdb15, F Rz. 227 ff.; Naumann, Bewertungseinheiten im Gewinnermittlungsrecht der Banken, 1995, 180 ff.; Hennrichs, WPg. 2010, 1185 (1191 f.); KölnKomm. Rechnungslegungsrecht/Prinz, § 254 HGB Rz. 14; MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 254 HGB Rz. 88. 623 Hennrichs, WPg. 2010, 1187 (1191); HHR/Hick, § 5 EStG Anm. 1649; NWB Praxishdb. BilStR/Hick2, Rz. 1086. 624 Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 236, 238; KölnKomm. Rechnungslegungsrecht/Prinz, § 254 HGB Rz. 8; Korn/Schiffers, § 5 EStG Rz. 450. 625 Wie hier HHR/Hick, § 5 EStG Anm. 1646 f., 1649; NWB Praxishdb. BilStR/Hick2, Rz. 1056, 1085 f.; Hahne, StuB 2008, 181 (183 ff.); Micksch/Mattern, DB 2010, 579 (581 ff.); U. Prinz, DStJG 34 (2011), 135 (159); MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 254 HGB Rz. 88; Helios/Meinert, Ubg 2011, 592 (595); Weitbrecht/Helios, RdF 2012, 141 (142); Teiche, DStR 2014, 1737 (1739, 1743); Glaser/Kahle, Ubg 2015, 113 (117); Hennrichs, StbJb. 2016/17, S. 327 (336 f.). Zur Gegenansicht sogleich im Text. 626 Zutr. HHR/Hick, § 5 EStG Anm. 1646. 627 BT-Drucks. 16/634, 10. 628 Zutr. Micksch/Mattern, DB 2010, 579 (584). 629 OFD Rheinland, DB 2011, 737; OFD Frankfurt a.M. v. 22.3.2012, DStR 2012, 1389; Hörhammer, StbJb. 2016/17, S. 327 (334 f.); s. auch FG Berlin-Brandenburg v. 10.2.2016 – 11 K 12212/13, EFG 2016, 1629 (Rev. BFH I R 20/16); FG Düsseldorf v. 13.12.2011 – 6 K 1209/09F, DStR 2012, 1331 (1333); Herzig/Briesemeister, Ubg 2009, 157 (160); Meinert, Die Bildung objektübergreifender Bewertungseinheiten nach Handels- und Steuerrecht, 2010, 245 ff., 365; Meinert, DStR 2017, 1447 (1451 ff.).
632
Hennrichs
IV. Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 280 § 9
ein korrespondierendes negatives (oder positives) Ergebnis aus dem Sicherungsgeschäft neutralisiert wird, sich seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mithin weder erhöht noch vermindert“630. Umstr. ist, wie sich die konkrete Maßgeblichkeit gem. § 5 Ia 2 EStG zu steuerrechtlichen Vorschriften 276 über die Gewinn- und Einkommensermittlung sowie die Verlustverrechnung (insb. § 3 Nr. 40, § 3c und § 15 Abs. 4 EStG; § 8b KStG) verhält. Nach Auffassung der Finanzverwaltung sollen die Regelungsbereiche „strikt zu trennen“ sein631. Würden Ergebnisse aus Grund- und Sicherungsgeschäft realisiert, seien diese Vorgänge nicht mehr unter dem Aspekt der Bewertungseinheit zu beurteilen, sondern nach Realisationsgesichtspunkten. Folglich sollen Ergebnisse aus der Realisation von Komponenten der Bewertungseinheit für die steuerrechtliche Beurteilung nach ihren Bestandteilen aufzuteilen und z.B. von § 8b KStG erfasste Teile separiert zu beurteilen sein. Das FG Düsseldorf632 und das FG Berlin-Brandenburg633 haben sich dieser Sichtweise angeschlossen. Der skizzierten Auffassung ist nicht zuzustimmen. Wie dargelegt (Rz. 274 f.), sind die Sondervorschriften über Bewertungseinheiten auch noch auf deren Beendigung anzuwenden. Die Beendigung bleibt damit handelsrechtlich ebenfalls erfolgsneutral. Das gilt gem. § 5 Ia 2 EStG sodann ebneso bei der steuerlichen Gewinnermittlung. Dabei folgt die steuerliche Erfolgsneutralität daraus, dass die Beendigung der Bewertungseinheit gem. § 254 HGB i.V.m. § 5 Ia 2 EStG nicht GuV-wirksam wird, weil das Ergebnis aus der Realisation des Sicherungsinstruments gegen das gesicherte Grundgeschäft zu verbuchen ist. Hiernach ist das Abwicklungsergebnis von vornherein nicht Teil des handels- und wegen der formellen Maßgeblichkeit gem. § 5 Ia 2 EStG ebenso nicht Teil des steuerrechtlichen Ergebnisses. Für eine Korrektur auf der zweiten, außerbilanziellen Stufe fehlt damit der Ansatzpunkt634. Für die steuerrechtliche Beurteilung nach § 8b KStG folgt daraus weiter, dass die gesicherte Beteiligung gem. § 5 Ia 2 EStG i.V.m. § 254 HGB mit einem gegenüber den ursprünglichen Anschaffungskosten veränderten Buchwert aus der Bewertungseinheit entlassen wird. Da § 8b II 2 KStG für die Bemessung des Veräußerungsgewinns auf den Buchwert nach den Vorschriften über die steuerliche Gewinnermittlung verweist, zu diesen Vorschriften aber auch § 5 Ia 2 EStG i.V.m. § 254 HGB gehören, ist der relevante Buchwert derjenige, der sich nach Verrechnung um den Betrag der Realisation des Sicherungsinstruments ergibt. Einstweilen frei.
277–279
2.2 Abnutzbares Anlagevermögen (§ 6 I Nr. 1 EStG) I.E. bestimmt § 6 EStG für die einzelnen Wirtschaftsgüter Folgendes: Abnutzbare Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens sind grds. mit den Anschaffungs- oder Herstel- 280 lungskosten vermindert um die Absetzungen für Abnutzung (§ 7 EStG; dazu unten Rz. 300 ff.), erhöhte Absetzungen (§ 7a EStG), Sonderabschreibungen, Abzüge nach § 6b und ähnliche Abzüge anzusetzen (§ 6 I Nr. 1 Satz 1 EStG). Ist der Teilwert auf Grund einer voraussichtlich dauernden Wertminderung niedriger, so kann dieser angesetzt werden (§ 6 I Nr. 1 Satz 2 EStG, s. Rz. 322). An die Stelle der Anschaffungs- und Herstellungskosten kann ein Ersatzwert treten (Einlagewert nach 630 Zutr. Micksch/Mattern, DB 2010, 579 (583 f.). 631 OFD Frankfurt a.M. v. 22.3.2012 – DStR 2012, 1389; gleichlautend OFD Rheinland v. 11.3.2011 – DB 2011, 737 f.; s. auch BMF v. 25.8.2010 – DB 2010, 2024; zust. Herzig/Briesemeister, Ubg 2009, 157 (160); Hörhammer, StbJb. 2016/17, S. 327 (334). 632 FG Düsseldorf v. 13.12.2011 – 6 K 1209/09F, DStR 2012, 1331. – Die Revisionsentscheidung dazu (BFH v. 6.3.2013, I R 18/12, BStBl. II 2013, 588) hat die Streitfrage nicht abschließend geklärt, vgl. NWB Praxishdb. BilStR/Hick2, Rz. 1068; s. auch Schnittger, DStR 2013, 1771 (1773), der allerdings meint, dass „die Erwägungen des BFH den Schluss nahe[legen], dass das FG […] mit seinem Urteil insoweit in der Sache richtig lag“. 633 FG Berlin-Brandenburg v. 10.2.2016 – 11 K 12212/13, EFG 2016, 1629 (Rev. BFH I R 20/16). 634 Micksch/Mattern, DB 2010, 579 (582).
Hennrichs 633
§ 9 Rz. 281
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
§ 6 I Nr. 5 EStG; gemeiner Wert oder Buchwert nach § 6 III–VI EStG in den Fällen des Tausches und der unentgeltlichen Übertragung). Der Begriff des Anlagevermögens und seine Abgrenzung zum Begriff des Umlaufvermögens bestimmen sich nach Handelsrecht635. Nach § 247 II HGB gehören zum Anlagevermögen Wirtschaftsgüter, „die bestimmt sind, dauernd dem Geschäftsbetrieb zu dienen“ (funktionales Verständnis der dauernden Nutzung636). 2.3 Andere aktive Wirtschaftsgüter (§ 6 I Nr. 2 EStG) 281 Wirtschaftsgüter des nicht abnutzbaren Anlagevermögens (insb. Grund und Boden, Beteiligun-
gen637) sowie solche des Umlaufvermögens (arg. e § 247 II HGB, namentlich Vorräte und Forderungen) sind ebenfalls mit den Anschaffungs- oder Herstellungskosten638 oder einem Ersatzwert anzusetzen (§ 6 I Nr. 2 Satz 1 EStG); ausnahmsweise Zeitwert (§ 6 I Nr. 2b EStG i.V.m. § 340e III HGB; Rz. 266). Wiederum kann der Teilwert angesetzt werden, wenn dieser auf Grund einer voraussichtlich dauernden Wertminderung niedriger ist (§ 6 I Nr. 2 Satz 2, 3 EStG, unten Rz. 326). Im Unterschied zu § 6 I Nr. 1 EStG sind reguläre AfA nach § 7 EStG und erhöhte Absetzungen i.S.d. § 7a EStG bei nicht abnutzbaren Wirtschaftsgütern und Wirtschaftsgütern des Umlaufvermögens nicht zulässig. Abzüge nach § 6b EStG sind auf Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens beschränkt. 2.4 Lifo (§ 6 I Nr. 2a EStG) 282 Zur Vereinfachung der Bewertung erlaubt § 6 I Nr. 2a EStG für die Bewertung gleichartiger Wirt-
schaftsgüter des Vorratsvermögens das sog. Lifo-Verfahren (Last-in-first-out).639 Dabei wird für die Vorratsbewertung unterstellt, dass die zuletzt angeschafften oder hergestellten Wirtschaftsgüter zuerst verbraucht oder veräußert worden und damit die Altbestände nach wie vor auf Lager sind (§ 6 I Nr. 2a EStG). Eine übereinstimmende Ausübung des Wahlrechts in Handels- und Steuerbilanz ist nach h.M. nicht mehr erforderlich640 (oben Rz. 98 ff.). 283 Voraussetzung der Lifo-Bewertung ist auch nach BilMoG weiterhin, dass sie den GoB entspricht.
Die Zwecksetzung des § 256 Satz 1 HGB ist durch das BilMoG nicht verändert worden. Nach wie vor geht es dem Gesetz, wie in der amtlichen Überschrift zum Ausdruck kommt, um Vereinfachung der Bewertung. Substanzerhaltung ist nicht eigentlicher Gesetzeszweck, sondern bloß rechnerischer Reflex des Lifo-Verfahrens641. Lifo ist deshalb nach den handelsrechtlichen GoB und damit wegen 635 BFH v. 2.2.1990 – III R 165/85, BStBl. 1990, 706 (707) m.w.N. 636 BFH v. 10.8.2005 – VIII R 78/02, BStBl. 2006, 58 m. Anm. Weber-Grellet, StuB 2006, 274. 637 Dazu BFH v. 7.5.2014 – X R 19/11 (TW-Abschreibung auf GmbH-Beteiligung); E. Weber, Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung für Beteiligungen, Diss., 1980; Knobbe-Keuk, AG 1979, 293. Zur Beschränkung der Teilwertabschreibung auf Beteiligungen durch § 3c II EStG; § 8b III KStG, s. § 11 Rz. 41. 638 Krit. zu AK als Aktivierungskriterium bei Forderungen Tiedchen, StuW 2015, 281 (gegen BFH v. 12.2.2015 – IV R 29/12, BStBl. II 2017, 668; BFH v. 12.2.2015 – IV R 63/11, BFH/NV 2015, 832); dazu Replik von Meyering/Gröne/Richter, StuW 2016, 91 mit Duplik von Tiedchen, StuW 2016, 94. 639 Dazu BMF BStBl. I 2015, 462; eingehend Hüttemann/Meinert, Die Lifo-Methode in Handels- und Steuerbilanz, 2013 (ifst-Schrift Nr. 486); Hüttemann/Meinert, DB 2013, 1865; Hennrichs, Ubg 2011, 705; Herzig, DB 2014, 1756; Hildebrandt, DB 2011, 1999; Drüen/Mundfortz, DB 2014, 2245. Aus der älteren Lit. Schneider/Siegel, WPg. 1995, 261; Hölscher, SteuerStud 1998, 394 u. 465 (didaktisch gelungene Darstellung des Lifo-Verfahrens); Mayer-Wegelin, DB 2001, 554. 640 BMF BStBl. I 2010, 239 (Rz. 17); BMF BStBl. I 2015, 462 (Rz. 10); Herzig, DB 2014, 1756 (1758 f.); krit. Drüen/Mundfortz, DB 2014, 2245 (2249 f.). 641 BFH v. 20.6.2000 – VIII R 32/98, BStBl. II 2001, 636; Drüen/Mundfortz, DB 2014, 2245 ff.; Hüttemann/ Meinert, Die Lifo-Methode in Handels- und Steuerbilanz, 2013 (ifst-Schrift Nr. 486), S. 35, 42 ff., 53 ff.; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 256 HGB Rz. 10; a.A. BMF BStBl. I 2015, 462 (Vor Rz. 1); Herzig/Gasper, DB 1992, 1301 (1302, 1306); Herzig, DB 2014, 1756 (1757 f.).
634
Hennrichs
IV. Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 285 § 9
des GoB-Verweises in § 6 I Nr. 2a EStG auch steuerrechtlich unzulässig, wenn die unterstellte Verbrauchsfolge absolut undenkbar ist (wie bei leicht verderblichen Vorräten642 oder Saisonbetrieben) oder wenn im Einzelfall keine Bewertungsvereinfachung erreicht wird643. Eine moderne, computergestützte Lagerhaltung darf die Zulässigkeit des Verfahrens allerdings nicht beschränken. Lifo bleibt daher möglich, wenn hinsichtlich der in Rede stehenden Vorräte bei nicht-computergestützter Lagerführung eine Vereinfachung erreicht würde644. De lege ferenda sollte der Verweis auf die handelsrechtlichen GoB in § 6 I Nr. 2a EStG gestrichen werden. Nach der Aufgabe der umgekehrten Maßgeblichkeit kann es auf die GoB-Verträglichkeit des Lifo-Verfahrens nicht mehr ankommen. 2.5 Passive Wirtschaftsgüter (§ 6 I Nr. 3, 3a EStG) a) Verbindlichkeiten sind gem. § 6 I Nr. 3 EStG unter „sinngemäßer Anwendung der Vorschriften der 284 Nr. 2 anzusetzen“. Bei „sinngemäßer Anwendung“ entsprechen den Anschaffungskosten, auf die § 6 I Nr. 2 EStG für aktive Wirtschaftsgut Bezug nimmt, hier die „Wegschaffungskosten“645. Maßgebend ist der Erfüllungsbetrag der Verpflichtung (Rückzahlungsbetrag i.S.d. § 253 I 2 HGB) zum maßgeblichen Bilanzstichtag. Das ist i.d.R. der Nennbetrag der Verbindlichkeit646, weil die Schuld regelmäßig zu diesem Betrag getilgt werden muss. Die „sinngemäße Anwendung“ der Vorschriften der Nr. 2 bedeutet weiter, dass bei Verbindlichkeiten wahlweise der höhere Teilwert angesetzt werden kann, wenn dieser auf Grund einer voraussichtlich dauernden Wertänderung höher ist. Für Verbindlichkeiten gilt danach bei der Folgebewertung das sog. Höchstwertprinzip.647 Der Erfüllungsbetrag einer Sachleistungsverpflichtung ist regelmäßig zu schätzen. Besteht wegen einer Schadstoffbelastung eines Grundstücks eine Sanierungsverpflichtung, hindert eine deshalb erfolgte Teilwertberichtigung eines Grundstücks nicht die Bewertung der bestehenden Sanierungsverpflichtung mit dem Erfüllungsbetrag. Dieser ist allerdings um den bei der Erfüllung der Verpflichtung anfallenden und als Anschaffungs- oder Herstellungskosten zu aktivierenden Aufwand zu mindern648. – Für die Verpflichtung, bei Rückgabe von Individualleergut oder sog. Brunneneinheitsleergut (Rz. 157) die erhaltenen Pfandgelder an die Kunden zurückzuzahlen, ist eine Verbindlichkeit zu passivieren. Die Verbindlichkeit kann aber wegen Bruch oder Schwund des Leerguts, bei den Brunneneinheitsleergut darüber hinaus aber auch der Höhe nach zu mindern sein, wenn aufgrund der eigentumsunabhängigen Zirkulation des Leerguts erfahrungsgemäß davon auszugehen ist, dass ein bestimmter Teil an andere Poolmitglieder zurückgegeben wird649. Sowohl für unverzinsliche Geldschulden (zinslose Darlehen, auch Gesellschafterdarlehen650; gesetzli- 285 che Verbindlichkeiten, z.B. Schadenersatzverpflichtungen gem. § 823 BGB, enthalten ebenfalls keinen 642 BMF BStBl. I 2015, 462 (Rz. 9). 643 BFH v. 20.6.2000 – VIII R 32/98, BStBl. II 2001, 636: Lifo-Verfahren entspricht bei WG mit hohen AK, die individuell zugeordnet werden können, nicht den GoB; großzügiger Herzig/Gasper, DB 1992, 1301 (1302, 1306), nach denen Lifo uneingeschränkt stets zulässig sei, selbst wenn die tatsächliche Verbrauchsfolge nachweislich eine andere sein sollte oder wenn im Einzelfall keine Vereinfachung erreicht wird. 644 Drüen/Mundfortz, DB 2014, 2245 (2250 f.); Hennrichs, Ubg 2011, 705 (707 ff.); MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 256 HGB Rz. 13; Herzig, DB 2014, 1756 (1760); Hüttemann/Meinert, Die Lifo-Methode in Handels- und Steuerbilanz, 2013 (ifst-Schrift Nr. 486), S. 63 ff.; diff. BMF BStBl. I 2015, 462 (Rz. 6 f.). 645 Groh, DB 2007, 2275. 646 Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 441. 647 MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 253 HGB Rz. 24 f.; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh § 253 HGB Rz. 86; Moxter, BB 1989, 945 f. 648 BFH v. 19.11.2003 – I R 77/01, BStBl. II 2010, 482. 649 BFH v. 9.1.2013 – I R 33/11, BFHE 240, 226 (Rz. 54, 56). 650 BFH v. 6.10.2009 – I R 4/08, BStBl. II 2010, 177; BFH v. 7.1.2010 – I R 35/09, BStBl. II 2010, 478.
Hennrichs 635
§ 9 Rz. 286
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Zinsanteil651) als auch für Sachleistungsverpflichtungen besteht seit dem Wirtschaftsjahr 1999 (vgl. § 56 XVI 2 EStG) steuerlich ein Abzinsungsgebot652 mit einem Zinssatz von 5,5 %. Durch die Abzinsung gem. § 6 I Nr. 3 EStG entsteht ein Abzinsungsgewinn, der bei der steuerrechtlichen Gewinnermittlung erfolgswirksam zu erfassen (a.o. Ertrag), also nicht abzugrenzen ist653. Das Gebot der Abzinsung von Verbindlichkeiten beruht auf der typisierenden Vorstellung des Gesetzgebers, dass eine erst in der Zukunft zu erfüllende Verpflichtung den Schuldner weniger belaste als eine sofortige Leistungspflicht654. Bei der Folgebewertung in den nachfolgenden Wirtschaftsjahren sind die zum abgezinsten Betrag erfassten Verbindlichkeiten grundsätzlich ratierlich aufzuzinsen655. Dies stellt einen a.o. Aufwand dar. Die Voraussetzungen für die Abzinsung (nebst ratierlicher Aufzinsung) sind an jedem Bilanzstichtag neu zu beurteilen (arg. „am Bilanzstichtag“, § 6 I Nr. 3 S. 2 EStG). Eine Abzinsung ist so lange beizubehalten, wie die Voraussetzungen des § 6 I Nr. 3 EStG weiter vorliegen. Wird eine abgezinste Verbindlichkeit zum steuerlichen Barwert vorzeitig abgelöst, entsteht in der Steuerbilanz kein Tilgungsgewinn. Die vorzeitige Tilgung zum steuerlichen Barwert ist vielmehr steuerbilanziell erfolgsneutral (Aktiv-Passiv-Tausch). Das ist anders in der Handelsbilanz, in der zinslose Verbindlichkeiten gem. § 253 I 2 HGB nicht abzuzinsen, sondern zum Nennbetrag auszuweisen sind656. Daher ist in der Handelsbilanz bei vorzeitiger Tilgung eines zinslosen Darlehens zum Barwert ein Tilgungsgewinn auszuweisen (und nach § 250 II HGB passiv abzugrenzen, wenn der Ertrag wirtschaftlich betrachtet als auf die restliche Laufzeit des Darlehens bezogen zu beurteilen ist). Diese Abweichungen zwischen Handels- und Steuerbilanz sind Folge der steuergesetzlichen Sondervorschriften über die allein steuerbilanziell vorzunehmende erfolgswirksame Abzinsung von zinslosen Verbindlichkeiten bei der Zugangsbewertung (§ 5 VI; § 6 I Nr. 3 EStG). 286 Ausgenommen von dem Abzinsungsgebot sind Verbindlichkeiten, deren Laufzeit am Bilanzstichtag
weniger als 12 Monate beträgt, sowie Verbindlichkeiten, die verzinslich sind oder auf einer Anzahlung oder Vorauszahlung beruhen (§ 6 I Nr. 3 Satz 2 EStG). Auch ein niedriger Zinssatz begründet eine verzinsliche Verbindlichkeit657. Zu beachten ist ferner, dass eine Verzinslichkeit auch verdeckt gegeben sein kann. Zum einen kann in einem nominellen Rückzahlungsbetrag verdeckt ein Zinsanteil enthalten sein658, beispielsweise bei einem Rückzahlungs-Agio (Rückzahlungsbetrag ist größer als der Nennbetrag, z.B. sog. Zero-Bonds659) oder bei einem Auszahlungs-Disagio (Rückzahlungsbetrag ist größer als der Auszahlungsbetrag)660. In diesen Fällen zahlt der Schuldner mit dem Rückzahlungsbetrag ein Entgelt für die Kapitalüberlassung661. Auch bei formal zinsloser Stundung kann
651 MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 253 HGB Rz. 21 a.E. 652 Das steuerrechtliche Abzinsungsgebot wurde durch das sog. Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 (Gesetz v. 24.3.1999, BGBl. I S. 402) eingeführt. Zur (problematischen) Vereinbarkeit mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip Beiser, DB 2001, 296, Erwiderung v. Knoll und Replik v. Beiser, DB 2001, 779; s. ferner Feld, WPg. 1999, 861; Schulze-Osterloh, BB 2003, 351; grundl. Konezny, Die Abzinsung von Schulden, Diss., Wien 2004. Zu Einzelfragen BMF BStBl. 2005, 699; Viskorf, DB 2006, 1231; Groh, DB 2007, 2275; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 253 HGB Rz. 90 ff. 653 BMF BStBl. I 2005, 699 (Rz. 41); Groh, DB 2007, 2275 (2276). 654 BFH v. 6.10.2009 – I R 4/08, BStBl. II 2010, 177 (Rz. 14); krit. Schulze-Osterloh, BB 2003, 351. 655 BMF BStBl. I 2005, 699 (Rz. 41). 656 Das handelsrechtliche Abzinsungsgebot gem. § 253 II HGB gilt nur für Rückstellungen, nicht für Verbindlichkeiten im engeren Sinne. Vgl. MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 253 HGB Rz. 22 a.E.; Schulze-Osterloh, BB 2003, 351 (353); E. Strobl, FS Döllerer, 1988, 615 (618, 620 f.). 657 BMF BStBl. I 2005, 699 (Rz. 13); Groh, DB 2007, 2275 (2277); MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. § 253 HGB Rz. 109 m.w.N. 658 Groh, DB 2007, 2275; E. Strobl, FS Döllerer, 1988, 615 (622 ff.). 659 Dazu Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, S. 230; MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 253 HGB Rz. 26 m.w.N. 660 Instruktiv E. Strobl, FS Döllerer, 1988, 615 (622 ff.). 661 Schulze-Osterloh, BB 2003, 351 (353); E. Strobl, FS Döllerer, 1988, 615 (618 f., 624).
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Hennrichs
IV. Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 287 § 9
von einem verdeckten Zinsanteil auszugehen sein662. Entscheidend ist die Auslegung des zugrunde liegenden Rechtsgeschäfts663. Zum anderen können verdeckte Zinsen auch außerhalb des Rückzahlungsbetrages vereinbart sein, wenn der (nominal unverzinslichen) Schuld anderweitige, nicht in Geldzahlungen bestehende wirtschaftliche Nachteile gegenüber stehen664. Beispielsweise kann eine mit der Gewährung von Darlehen zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus verbundene Belegbindung oder sonstige Zweckbindung dem wirtschaftlichen Gehalt nach einer Zinsvereinbarung entsprechen665. Entscheidend ist, ob bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise eine Verzinslichkeit i.S. einer Gegenleistung für die Kapitalüberlassung gewollt ist666. Enthält eine Verbindlichkeit nach diesen Maßstäben offen oder verdeckt einen Zinsanteil, ist sie gem. § 6 I Nr. 3 S. 2, 2. Alt. EStG von der Abzinsung ausgenommen. Allerdings muss in solchen Fällen bilanziell zwischen der Kapital- und der verdeckten Zinsschuld unterschieden werden. Der maßgebende Rückzahlungsbetrag der Verbindlichkeit ist dann nämlich nicht der nominelle, sondern der materielle, d.h. allein der Kapitalrückzahlungsbetrag667. Nur mit diesem ist die Verbindlichkeit anzusetzen, der Zinsaufwand ist zu verteilen. Dafür ist der nominelle „Rückzahlungsbetrag“ um den enthaltenen Zinsanteil zu kürzen, d.h. in den materiellen Kapitalrückzahlungsbetrag und den (verdeckten) Zinsanteil aufzuteilen668 („Abzinsung“ zur Verteilung von Zinsaufwand669). b) Rückstellungen sind nach § 253 I 2 HGB handelsrechtlich in Höhe des Erfüllungsbetrags an- 287 zusetzen, der nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung notwendig ist. Indem das modernisierte HGB auf den Erfüllungsbetrag abstellt, macht es deutlich, dass handelsrechtlich bei der Rückstellungsbewertung künftige Preis- und Lohnentwicklungen zu berücksichtigen sind670. Steuerrechtlich gilt dagegen in Durchbrechung der Maßgeblichkeit das strikte Stichtagsprinzip (§ 6 I Nr. 3a Buchst. f EStG), d.h., künftige Preis- und Kostensteigungen dürfen nicht berücksichtigt werden. Gleichwohl sind auch Rückstellungen mit dem spezifisch steuerlichen Zinssatz von 5,5 % abzuzinsen (§ 6 I Nr. 3a Buchst. e EStG). Das ist systematisch eine Schieflage671. Die Abzinsung führt einen zukünftigen Erfüllungsbetrag auf den Gegenwartswert zurück. Das ist nur sachgerecht, wenn in dem Betrag, der abgezinst wird, die künftigen Preisentwicklungen berücksichtigt sind. Strenges Stichtagsprinzip und Abzinsung führt dagegen zu einer systematischen Unterbewertung von Rückstellungen. Besonders krit. wird es, wenn auch noch strenge Stichtagsbetrachtung, Abzinsung und Ansammlung (vgl. § 6 I Nr. 3a Buchst. d EStG und dazu sogleich) miteinander kombiniert werden. So sind beispielsweise Rückstellungen für Deponie-Rekultivierung nach der tatsächlichen Inanspruchnahme und Rückbauverpflichtungen linear anzusammeln, gleichwohl aber abzuzinsen. Dadurch kumulieren sich die Effekte derart, dass der Steuerbilanzansatz die wirtschaftliche Belastungssituation nicht mehr realitätsgerecht abbildet. Mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip ist das nur schwerlich vereinbar672. Der IV. Senat BFH sieht in
662 MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 253 HGB Rz. 21. 663 MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 253 HGB Rz. 21. 664 E. Strobl, FS Döllerer, 1988, 615 (622 ff.); MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. § 253 HGB Rz. 110. 665 BMF BStBl. I 2005, 699 (Rz. 15); MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. § 253 HGB Rz. 110; s. aber auch BFH v. 27.1.2010, I R 35/09, BStBl. II 2010, 478 (Rz. 16): „Die bloße Zweckbindung eines Darlehens begründet keine ‚Verzinslichkeit‘“. 666 BMF BStBl. I 2005, 699 (Rz. 16). 667 Beck’scher Bilanzkomm./Schubert/Andrejewski11, § 253 HGB Rz. 53. 668 Schulze-Osterloh, BB 2003, 351 (353); MünchKomm. BilanzR/Tiedchen, § 253 HGB Rz. 21 f. 669 So Groh, DB 2007, 2275. 670 Statt aller z.B. Baumbach/Hopt/Merkt37, § 253 HGB Rz. 3; Herzig, DB 2008, 1 (8); zur Rechtslage vor dem BilMoG s. Schulze-Osterloh, BB 2003, 351; Schulze-Osterloh, DStR 2008, 63 (70). 671 Zutr. Kahle/Günter, StuW 2012, 43 (54); Kahle, DB 2014, Beil. 4 S. 19; Mayr, DStJG 34 (2011), 327 (340 f.). 672 Zutr. MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 253 HGB Rz. 154 ff. m.w.N.
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§ 9 Rz. 288
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
diesen Kumulationseffekten gleichwohl kein Verfassungsproblem673 und beruft sich dafür u.a. auf den Beschluss des BVerfG zu den Jubiläumsrückstellungen (BVerfGE 123, 111; der ist aber ebenfalls ganz fragwürdig, zur Kritik s. Rz. 113). 288 Nach Inkrafttreten des BilMoG ist die Frage streitig geworden, welche Restbedeutung dem Grundsatz
der Maßgeblichkeit für die Rückstellungsbewertung zukommt. Das BMF674 und wohl auch der I. Senat des BFH675 wollen aus dem Einleitungssatz des § 6 I Nr. 3a EStG, wonach Rückstellungen „höchstens insbesondere“ unter Berücksichtigung der in Nr. 3a normierten Grundsätze anzusetzen sind, sowie aus der Entstehungsgeschichte des sog. Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 ableiten, dass die Höhe von Rückstellungen in der Steuerbilanz – mit Ausnahme der Pensionsrückstellungen – den zulässigen Ansatz in der Handelsbilanz (Höchstwert) nicht überschreiten dürfe. Daraus wird eine Art 2-Stufen-Theorie gefolgert: Auf einer ersten Stufe sei die Rückstellung nach den besonderen Vorschriften des EStG zu bewerten. Der so gefundene Wert sei sodann auf einer zweiten Stufe mit dem handelsrechtlichen Wertansatz zu vergleichen. Ist dieser Handelsbilanzwert (ausnahmsweise) niedriger als der steuerliche Wertansatz, sei der niedrigere handelsrechtliche Ansatz auch für das Steuerrecht maßgebend. Beispiel: Praktisch relevant wird die Frage insb. für die Bewertung von Rückstellungen für Sachleistungsverpflichtungen (§ 6 I Nr. 3a Buchst. e EStG), beispielsweise Rückstellungen für bergrechtliche Verpflichtungen oder für die Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen. Während der Abzinsungszeitraum bei diesen Rückstellungen handelsrechtlich nämlich nach Auffassung des Berufsstands der Wirtschaftsprüfer bis zum Ende der Erfüllung reichen soll676, ist nach § 6 I Nr. 3a Buchst. e Satz 2 EStG steuerrechtlich nur bis zum Beginn der Erfüllung abzuzinsen. Orientiert man sich für die Handelsbilanz an den Verlautbarungen des IDW, kann es aufgrund des handelsrechtlich dann längeren Abzinsungszeitraums zu niedrigeren handelsrechtlichen Wertansätzen kommen, die sodann nach Ansicht der FinVerw. für die steuerliche Gewinnermittlung maßgeblich werden sollen. – Die Problematik stellt sich erstmals nach Inkrafttreten des BilMoG, weil Rückstellungen vorher handelsrechtlich gar nicht abzuzinsen waren. Immerhin erlaubt das BMF, den sich auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung ergebenden Gewinn durch Bildung einer gewinnmindernden Rücklage über 15 Jahre zu verteilen677.
Dem ist nicht zu folgen. Richtigerweise gehen die Grundsätze des § 6 I Nr. 3a EStG dem allgemeinen Maßgeblichkeitsgrundsatz als lex specialis und nach dem Bewertungsvorbehalt gem. § 5 VI EStG vor678. Steuerrechtlich ist die Abzinsung detailreich und nach einem eigenständigen Konzept normiert: Sämtliche für die Abzinsung relevanten Parameter, nämlich der abzuzinsende Betrag, der Abzinsungszeitraum und der Abzinungssatz, sind steuergesetzlich besonders geregelt, s. § 6 I Nr. 3a Buchst. f (für den abzuzinsenden Betrag), Buchst. e S. 2 (für den Abzinsungszeitraum) und S. 1 (für den Abzinsungssatz). Daneben ist kein Raum für einen Rückgriff auf die handelsrechtlichen GoB. Der Wortlaut des Einleitungssatzes („höchstens insbesondere“) steht nicht entgegen, denn er verlangt nicht einen Vergleich mit dem Wertansatz nach Handelsrecht, sondern ist als deklaratorischer Hinweis darauf zu verstehen, dass der steuerliche Wertansatz nach Maßgabe der folgenden Grundsätze zu ermitteln ist. Die von der Gegenansicht vertretene Rechtsauffassung führt zu einer Art „Meistbegünstigungsmaß673 BFH v. 5.5.2011 – IV R 32/07, BStBl. II 2012, 98. Dazu mit Recht krit. Schulze-Osterloh, BB 2011, 1969. 674 S. R 6.11 III EStÄR 2012; zuvor bereits OFD Münster v. 13.7.2012 – BB 2012, 2174; zust. Meurer, BB 2012, 2807. 675 BFH v. 11.10.2012 – I R 66/11, BStBl II 2013, 676 (Rz. 14); BFH v. 2.7.2014 – I R 46/12, DStR 2014, 1961 (Rz. 17); ebenso dezidiert FG Rheinland-Pfalz v. 7.12.2016 – 1 K 1912/14, EFG 2017, 693 (Rev. BFH I R 18/17). 676 IDW HFA 34 Rz. 40; IDW RH HFA 1.009 Rz. 9. 677 R 6.11 III 2 EStÄR 2012. 678 Ebenso MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 253 HGB Rz. 117; M. Prinz, DB 2012, Heft 35/M1; M. Prinz, FR 2013, 506 (508 f.); U. Prinz/Hütig, StuB 2012, 798 f.; Günkel, StbJb. 2012/13, S. 385 (391 f.); Briesemeister/Joisten/Vossel, FR 2013, 164 ff.; Buchholz, Ubg 2012, 777 (780 ff.); Zwirner/Endert/Sepetauz, DStR 2012, 2094 (2097 f.); U. Prinz, WPg. 2016, 957 (960 f.); Hainz, BB 2016, 1194.
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Hennrichs
IV. Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 289 § 9
geblichkeit“ (Restmaßgeblichkeit pro fisco), die vom Gesetzgeber nicht gewollt war und auch nicht sachgerecht wäre. Im Übrigen wird nicht formell der konkrete (möglicherweise falsche) Handelsbilanzwertansatz als Höchstwert maßgeblich, sondern der objektiv richtige. In den hier streitigen Fällen wird deshalb die handelsrechtliche Vorfrage vorgreiflich, wie der Abzinsungszeitraum bei Sachleistungsrückstellungen handelsrechtlich zu bemessen ist. Das Gesetz enthält dazu in § 253 II HGB keine klare Regelung. Wie angedeutet, soll der Abzinsungszeitraum nach Ansicht des IDW handelsrechtlich bis zum Ende der Erfüllung reichen679. Demgegenüber ist für die steuerliche Gewinnermittlung explizit geregelt, dass für die Abzinung nur der Zeitraum bis zum Beginn der Erfüllung der Sachleistungsverpflichtung maßgebend ist (§ 6 I Nr. 3a Buchst. e S. 2 EStG). Tragend für die Einfügung dieser Vorschrift waren der Gedanke der Objektivierung der Gewinnermittlung und der Gesichtspunkt des zutreffenden, vorsichtig bemessenen Schuldenausweises680. Beides sind Aspekte, die auch und gerade für den kapitalschützenden Jahresabschluss überzeugend sind. Daher spricht viel dafür, die handelsrechtlichen GoB dahin zu konkretisieren, dass für die Abzinsung von Sachleistungsrückstellungen auch in der Handelsbilanz nur der Zeitraum bis zum Beginn der Erfüllung maßgebend ist681. § 6 I Nr. 3a EStG (eingeführt durch StEntlG 1999/2000/2002) begrenzt die Bildung von Rückstellun- 289 gen682 auf folgende Höchstwerte683: – Bei Rückstellungen für gleichartige Verpflichtungen (z.B. Schadensersatz-, Garantieverpflichtungen) ist in Übereinstimmung mit der bisherigen Rspr. (z.B. BFH BStBl. 1998, 249) die Wahrscheinlichkeit einer nur teilweisen Inanspruchnahme zu berücksichtigen (§ 6 I Nr. 3a Buchst. a EStG)684. – § 6 I Nr. 3a Buchst. b EStG stellt klar, dass Rückstellungen für Sachleistungsverpflichtungen mit den Einzelkosten und angemessenen Teilen der notwendigen Gemeinkosten zu bewerten sind685. – § 6 I Nr. 3a Buchst. c EStG verlangt die Kompensation mit künftigen Vorteilen. Die Vorschrift ist vor dem Hintergrund des Einzelbewertungsgrundsatzes (Rz. 270) und des Saldierungsverbots (Rz. 75) rechtspolitisch zweifelhaft und eng auszulegen686. Kompensationsfähig sind nur konkete „vermögensmäßig verdichtete“ Vorteile, die in Zukunft zu aktivierungspflichtigen Wirtschaftsgütern führen können687; allgemeine Gewinnchancen, erhoffte Erhöungen von Marktanteilen, innerbetriebliche Aufwandsersparnisse oder anderweitigen Effizienzvorteile reichen nicht aus688. Daher sind Restrukturierungsrückstellungen weiterhin zulässig und scheiden nicht etwa deshalb aus, weil durch die Restrukturierung Effizienzvorteile angestrebt werden689. Voraussetzung ist ferner, dass zwischen der zu erfüllenden Verpflichtung und dem wirtschaftlichen Vorteil ein spezifischer sachlicher Zusammenhang besteht690. Daher kann beispielsweise eine Rückstellung wegen der öf679 IDW HFA 34 Rz. 40; IDW RH HFA 1.009 Rz. 9. 680 Vgl. BT-Drucks. 14/443, S. 24; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 253 HGB Rz. 163; Kirchhof/Schindler17, § 6 EStG Rz. 159; Reuter, Die Bewertung von Rückstellungen in der Handels- und Steuerbilanz nach dem Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002, Lohmar 2006, S. 224. 681 Hennrichs, NZG 2017, 618 (621). 682 Keine Anwendung auf Verbindlichkeiten, BFH v. 9.1.2013, I R 33/11, BFHE 240, 226 (Rz. 58). 683 Eingehend MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 253 HGB Rz. 117 ff. 684 Dazu Kemper/Konold, DStR 2003, 1686; Rätke, StuB 2004, 858. 685 Bzgl. einer Rückstellung für Aufbewahrungspflichten nach § 147 AO s. BFH v. 18.1.2011, X R 14/09, BStBl. 2011, 496. 686 Ebenso Prinz/Keller, DB 2015, 2224 (2225). 687 Autenrieth, DStR 2015, 1937 (1940 f.): „Anwartschaftsrecht“ auf ein aktivierungsfähiges Wirtschaftsgut. 688 Zutr. Prinz/Keller, DB 2015, 2224; Autenrieth, DStR 2015, 1937; a.A. Ziegler/Renner, DStR 2015, 1264. 689 So zu Recht Prinz/Keller, DB 2015, 2224; Autenrieth, DStR 2015, 1937; a.A. Ziegler/Renner, DStR 2015, 1264. 690 BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, BStBl. II 2014, 302 (Rz. 31, 33 f.).
Hennrichs 639
§ 9 Rz. 290
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
fentlich-rechtlichen Verpflichtungen zur Durchführung von luftverkehrstechnischen Maßnahmen, für deren Durchführung die Umsetzungsfristen am Bilanzstichtag bereits abgelaufen waren, nicht mit dem Argument abgelehnt werden, dem stünden künftige Vorteile (Betriebseinnahmen) aus der Vercharterung der Flugzeuge gegenüber. Zwischen dem künftigen Vorteil aus der allgemeinen Aufrechterhaltung des Betriebs und der Verpflichtung zur Durchführung der Maßnahmen besteht kein hinreichender sachlicher Zusammenhang. Die künftigen Betriebseinnahmen stehen nur im allgemeinen Zusammenhang mit dem laufenden Betrieb691. Zum anderen muss der künftige Vorteil wahrscheinlich sein, d.h. es müssen mehr Gründe für als gegen den Vorteilseintritt sprechen692. Der Abschluss schuldrechtlicher Verträge ist für eine Kompensation mit künftigen Vorteilen nach der Rspr. des BFH nicht erforderlich693. – § 6 I Nr. 3a Buchst. d EStG ordnet an, dass für Verpflichtungen, deren Verpflichtungsumfang am Bilanzstichtag zwar bereits rechtlich vollständig feststeht, für deren Entstehen im wirtschaftlichen Sinn aber der laufende Betrieb ursächlich ist (sog. echte Ansammlungsrückstellungen, z.B. Rückstellungen für Abbruch- oder Entfernungsverpflichtungen)694, Rückstellungen zeitanteilig in gleichen Raten anzusammeln sind (mit Sonderregelungen in § 6 I Nr. 3a Buchst. d Satz 2 EStG für die Entsorgung von Altfahrzeugen; und in § 6 I Nr. 3a Buchst. d Satz 3 EStG für die Stillegung von Kernkraftwerken: Verteilung über 25 Jahre). Hinsichtlich der Bemessung des Ansammlungszeitraums gilt dabei das Stichtagsprinzip (Rz. 91 f.); bei späterer Verlängerung des ursprünglichen Zeitraums ist der Bewertung der Rückstellung zum Stichtag der verlängerte Zeitraum zugrunde zu legen695. Von den echten Ansammlungsrückstellungen zu unterscheiden sind sog. unechten Ansammlungsrückstellungen, bei denen sich der Verpflichtungsumfang mit dem Fortschritt der Tätigkeit nicht nur im wirtschaftlichen Sinn, sondern tatsächlich in jedem Wirtschaftsjahr ändert. Beispiele sind Rekultivierungsrückstellungen im Tagebau, bei denen mit dem Fortschritt der Bodenbearbeitung das Ausmaß der Rekultivierungsverpflichtung tatsächlich zunimmt. Für sie gilt § 6 I Nr. 3a Buchst. d EStG nicht. Sie sind gemäß tatsächlicher Inanspruchnahme anzusammeln696. – Schließlich sind Rückstellungen für Geld- und Sachleistungsverpflichtungen entgegen bisheriger Rspr. (BFH BStBl. 1998, 728) stets mit 5,5 % abzuzinsen, vgl. § 6 I Nr. 3a Buchst. e EStG697; dazu (insb. zum Abzinsungszeitraum, (s. oben Rz. 287)). Ausgenommen von der Abzinsung sind nach § 6 I Nr. 3a Buchst. e Satz 1 Hs. 2 EStG i.V.m. § 6 I Nr. 3 Satz 2 EStG Verbindlichkeiten, deren Laufzeit am Bilanzstichtag weniger als zwölf Monate beträgt, und solche, die verzinslich sind oder auf einer Anzahlung oder Vorausleistung beruhen698 (oben Rz. 286). 290 Für Pensionsrückstellungen gelten die Sondervorschriften des § 6a EStG (dazu Rz. 189). Gemäß
§ 6a III 1 EStG sind sie höchstens mit dem Teilwert anzusetzen; dieser wird in § 6a III 2 EStG näher bestimmt. Problematisch ist vor allem der Ansatz eines Rechnungszinsfußes von 6 % für die Barwertermittlung (§ 6a III 3 EStG). Dieser Zinssatz ist jedenfalls im derzeitigen Niedrigzinsumfeld699
691 Zutr. BFH v. 17.10.2013 – IV R 7/11, DStR 2013, 2745 (Rz. 34); s. aber auch BFH v. 21.8.2013 – I B 60/12, BFH/NV 2014, 28 (betreffend sog. Kippentgelte im Zusammenhang mit einer Rekultivierungsverpflichtung). 692 BFH v. 31.5.2017 – X R 29/15, Rz. 26 (juris). 693 BFH v. 21.8.2013 – I B 60/12, BFH/NV 2014, 28; a.A. IDW RS HFA 34 Rz. 31 für die Handelsbilanz. 694 S. dazu BFH v. 2.7.2014 – I R 46/12, DStR 2014, 1961 (Beseitigungspflicht für Bauten auf fremdem Grund und Boden); ferner BFH BStBl. II 1993, 89 (Erneuerung einer Restauranteinrichtung); BFH BStBl. II 1983, 104 (Garantieverpflichtungen). 695 BFH v. 2.7.2014 – I R 46/12, DStR 2014, 1961 (Rz. 16 ff., 20 ff.) m.w.N. zum Streitstand. 696 BFH v. 5.5.2011 – IV R 32/07, BStBl. II 2012, 98; krit. Weber-Grellet, BB 2012, 43 (46). 697 Dazu Rz. 288; s. ferner Ernsting, StuB 1999, 457 (Sachleistungsverpflichtungen); Feld, WPg. 1999, 861; Siegel, StuB 1999, 195 (197 ff.); Rogall/Spengel, BB 2000, 1234. 698 BFH v. 27.1.2010 – I R 35/09, BStBl. II 2010, 478; BFH v. 5.5.2011 – IV R 32/07, BStBl. II 2012, 98. 699 Dazu auch Spengel/Meier, FR 2016, 496.
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Hennrichs
IV. Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 300 § 9
gemessen am Marktzins700 deutlich zu hoch angesetzt. Die Vorschrift führt dazu, dass die wirtschaftliche Belastungssituation des Kaufmanns steuerlich nicht sachgerecht erfasst wird und die Pensionsrückstellungen in der Steuerbilanz systematisch unterbewertet sind (stille Lasten)701. Das ist rechtspolitisch fragwürdig und mittlerweile702 auch verfassungsrechtlich zweifelhaft, weil damit im Ergebnis eine Übermaßbesteuerung bewirkt wird703 (s. auch Rz. 114). Auch sonst weist die Vorschrift des § 6a EStG konzeptionelle Schwachpunkte auf (z.B. die Nichtberücksichtigung absehbarer Rentenanpassungen)704. Sie gehört insgesamt auf den steuerpolitischen Prüfstand705. Einstweilen frei.
291–299
3. Abschreibungen und Zuschreibungen Literatur: (Vor 2010 s. Voraufl.) Hennrichs, AfA und Abschreibung bei Sachanlagen – Insbesondere AfATabellen und Bestimmung der Nutzungsdauern in Handels- und Steuerbilanz sowie IFRS-Abschluss nach BilMoG, Ubg 2011, 788; Grube, Zur Absetzung wegen wirtschaftlicher Abnutzung insbesondere von Gebäuden, FR 2011, 633; Streun/Finckh, Abschreibungsrecht in der betrieblichen Praxis, 2016.
3.1 Absetzung für Abnutzung (AfA) und Substanzverringerung (AfS) Bei der Gewinnermittlung sind die Vorschriften über die Absetzung für Abnutzung oder Substanz- 300 verringerung (§§ 7 ff. EStG) zu befolgen (§§ 4 I 9, III 3; 5 VI EStG). a) Abzuschreiben sind abnutzbare Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens mit einer betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer von mehr als einem Jahr. Nach statischer Bilanzauffassung bezweckt die AfA, den Wertverzehr zu berücksichtigen706. Doch setzt AfA nicht unbedingt einen Wertverzehr voraus (z.B. AfA auf genutzte Antiquitäten), und die steuerlich relevanten AfA-Sätze sind auch nicht notwendig am Wertverzehr des jeweiligen WG orientiert. Richtigerweise geht es bei der AfA daher um die Verteilung des Aufwands für das Wirtschaftsgut auf die Perioden der wirtschaftlichen Nutzung707. Abschreibbar sind steuerlich einheitlich nur (einzelne) Wirtschaftsgüter, nicht wirtschaft700 Nach der Gesetzesbegründung zu § 6a EStG soll ein Orientierungspunkt zur Bemessung des Zinssatzes dagegen die (überbetriebliche) Gesamtkapitalrendite der Unternehmen sein, s. BT-Drucks. 3/1811, S. 9; BT-Drucks. 9/795, S. 66; so auch Weckerle, DB 2017, 1284 (1286 ff.); dagegen Prinz/Keller, DB 2016, 1033 (1040). 701 Kahle, DB 2014, Beil. 4 S. 20; Prinz/Keller, DB 2016, 1033. 702 Zur früheren Beurteilung (bei damals allerdings ganz anderem Zinsumfeld) BVerfG v. 28.11.1984 – 1 BvR 1157/82, BVerfGE 68, 287. 703 Vgl. den Vorlagebeschluss FG Köln v. 12.10.2017 – 10 K 977/17, FR 2018, 24. Grundlegend und ausführlich Hey/Steffen, Steuergesetzliche Zinstypisierungen und Niedrigzinsumfeld – insbesondere zur Gleichheitsatzwidrigkeit der Abzinsung von Pensionsrückstellungen gemäß § 6a Abs. 3 Satz 3 EStG, ifst-Schrift Nr. 511 (2016); Hey, FR 2016, 485; ferner Anzinger, DStR 2016, 1766 (1771 f.); 1829 (1832 f.); Prinz/Keller, DB 2016, 1033 (1040): „leistungsfähigkeitswidrige Besteuerung von Scheingewinnen“; Prinz, WPg. 2015, 1223 (1226); a.A. (orientiert an der überbetrieblich ermittelten Gesamtkapitalrentabilität der Unternehmen liege der hohe Zinssatz noch im Rahmen des gesetzgeberischen Typisierungsspielraums) Weckerle, DB 2017, 1284. Allerdings dürften 6 % selbst gemessen an einer Gesamtkapitalrendite gegenwärtig zu hoch sein (vgl. Anzinger, DStR 2016, 1829 (1833)). Überhaupt gegen (Pensions-)Rückstellungen in der Steuerbilanz Doralt, FR 2017, 377. 704 Prinz/Keller, DB 2016, 1033 (1038 f.). 705 Zu Reformvorschlägen s. z.B. Anzinger, DStR 2016, 1829 (1832 ff.); Geberth, Eine Norm mit „Langlebigkeitsrisiko“ – über den zunehmenden Reformbedarf des § 6a EStG, ifst-Schrift Nr. 507 (2015), S. 19 ff. 706 Zum Zweck der AfA m.w.N. Blümich/Brandis, § 7 EStG Rz. 30 ff.; Schmidt/Kulosa36, § 7 EStG Rz. 2 f.; Grube, FR 2011, 633 f. 707 Zutr. Schmidt/Kulosa36, § 7 EStG Rz. 2 f. m.w.N.
Hennrichs 641
§ 9 Rz. 301
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
lich separierbare Komponenten davon; der sog. Komponentenansatz nach dem Vorbild des IAS 16 ist kein handelsrechtlicher GoB708. Gem. § 7 I 1, IV EStG „ist“ AfA vorzunehmen, d.h. es besteht eine Pflicht zur Absetzung. Unterlassene AfA kann grds. nachgeholt werden. Dabei ist in den Fällen der § 7 I, II und IV 2 EStG der Restbuchwert auf die neu zu schätzende Restnutzungsdauer nach der bisher angewendeten Methode (Rz. 308 ff.) zu verteilen. In den gesetzlichen typisierten Fällen der § 7 IV 1, V EStG sind hingegen weiterhin die gesetzlich vorgeschriebenen AfA-Sätze anzusetzen, so dass sich im Ergebnis die AfA-Dauer verlängert709. Spiegelbildlich ist eine Korrektur überhöhter AfA vorzunehmen710. 301 Bemessungsgrundlage der AfA sind die Anschaffungs- oder Herstellungskosten einschließlich fikti-
ver Anschaffungskosten u.a. Ersatzwerte (s. Rz. 250). Abgeschrieben wird grds. auf Null (wobei ein Erinnerungswert von 1 Euro kaufmännischer Übung entspricht). Ist mit Sicherheit ein Rest- oder Schrottwert zu erwarten und ist dieser wesentlich (z.B. bei Schiffen), so ist die Bemessungsgrundlage allerdings von vornherein um diesen Wert zu kürzen711. Bei unentgeltl Erwerb eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils sind die Buchwerte und damit die AfA des Rechtsvorgängers fortzuführen (§ 6 III EStG)712. Bei unentgeltlichem Erwerb einzelner WG aus betrieblichem Anlass gilt gem. § 6 IV EStG der gemeine Wert als AK und AfA-Bemessungsgrundlage. Unentgeltlicher Erwerb aus privatem Anlass ist hingegen eine Einlage (d.h. Ansatz grds mit dem Teilwert, § 6 I Nr 5 EStG). Bei Wirtschaftsgütern, die aus einem Einkünfteerzielungsvermögen der Überschusseinkünfte in ein Betriebsvermögen eingelegt worden sind, mindert sich der Einlagewert (i.S.d. § 6 I Nr. 5 EStG) zur Ermittlung der AfA-Bemessungsgrundlage um die bisher vorgenommenen AfA oder Substanzverringerungen, SonderAfA oder erhöhte Absetzungen (§ 7 I 5 EStG); die Vorschrift verhindert eine doppelte Abschreibung713. In den Fällen des § 6 V EStG wird auch die AfA fortgeführt714. – Zum unentgeltlichen Erwerb in das Privatvermögen s. § 11d EStDV (Fortführung der AfA des Rechtsvorgängers)715. 302 Abnutzbar und damit abschreibungsfähig sind insb. Gebrauchsgegenstände wie z.B. die Büroein-
richtung oder ein Pkw. Nicht abschreibungsfähig (weil nicht abnutzbar) sind Kunstwerke anerkannter Meister716. Demgegenüber können auch antike Gebrauchsgegenstände wie z.B. ein mehr als 100 Jahre alter Schreibtisch717 oder gar eine mehr als 300 Jahre alte Meistergeige718 einem technischen Verschleiß unterliegen, der eine AfA rechtfertigt, auch wenn es wirtschaftlich zu keinem Wertverzehr, sondern sogar zu einem Wertzuwachs kommt. Grundstücke sind zunächst in den nicht abschreibungsfähigen Grund und Boden und in das abnutzbare Gebäude aufzugliedern. Gebäudeteile verschiedener Nutzungs- und Funktionszusammenhänge sind selbständige Wirtschaftsgüter und jeweils für sich abschreibungsfähig (vgl. § 7 Va EStG). Selbständig abschreibungsfähig sind auch Mietereinbauten/ 708 Vgl. BFH v. 14.4.2011 – IV R 46/09, BStBl. II 2011, 696 (Rz. 24). Weitergehend IDW RH HFA 1.016; dazu auch Husemann, WPg. 2010, 507; Hommel/Rößler, BB 2009, 2526; eingehend zum Ganzen Gack, Der Komponentenansatz nach dem IDW Rechnungslegungshinweis – Maßgeblichkeit für die Steuerbilanz?, 2016. 709 Schmidt/Kulosa36, § 7 EStG Rz. 7 f. 710 BFH v. 21.11.2013 – IX R 12/13, BStBl. II 2014, 563; Schmidt/Kulosa36, § 7 EStG Rz. 11. 711 BFH v. 1.10.1992 – IV R 97/91, BStBl. II 1993, 284. 712 Schmidt/Kulosa36, § 7 EStG Rz. 110. 713 Änderung der Vorschrift durch das JStG 2010 v. 8.12.2010, BGBl. I 2010, 1768 (1769), s. Schmidt/Kulosa36, § 7 EStG Rz. 80. Zur Fassung vor dem JStG 2010 s. BFH BStBl. II 2005, 698; 2010, 961; 2010, 964; Wendt, Das Verhältnis von Entnahme/Einlage zur Anschaffung und Veräußerung im Einkommensteuerrecht, Diss., 2003, 111 ff. 714 Schmidt/Kulosa36, § 7 EStG Rz. 110. 715 Schmidt/Kulosa36, § 7 EStG Rz. 111. 716 Schmidt/Kulosa36, § 7 EStG Rz. 107, „Kunstgegenstände“. 717 BFH v. 31.1.1986 – VI R 78/82, BStBl. II 1986, 355. 718 BFH v. 26.1.2001 – VI R 26/98, BStBl. II 2001, 194.
642
Hennrichs
IV. Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 305 § 9
-umbauten (s. Rz. 151). Immaterielle Wirtschaftsgüter, darunter der Geschäfts- oder Firmenwert719 (zu § 7 I 3 EStG s. Rz. 318) sowie Nutzungsrechte720 (Nießbrauch, dingliches Wohnrecht, Erbbaurecht, obligatorisches Nutzungsrecht), sind abschreibungsfähig, wenn ihre Verwertbarkeit aus rechtlichen oder wirtschaftlichen Gründen zeitlich begrenzt ist; maßgebend ist, ob sich der Wert dieser Wirtschaftsgüter in einer bestimmten oder bestimmbaren Zeit rechtlich oder faktisch erschöpft721. Dies ist jeweils im Einzelfall zu prüfen. Warenzeichen, Marken, Arzneimittelzulassungen u.ä. können gemäß BMF722 in Anlehnung an § 7 I 3 EStG grds. über 15 Jahre abgeschrieben werden. Dagegen sollen Domains nicht abnutzbar sein723, ebenso der wirtschaftliche Vorteil aus einer unbefristet erteilten Vertragsarztzulassung724. Zur Problematik der subjektiven AfA-Berechtigung s. Rz. 340. Die AfA beginnt mit der Anschaffung (Erlangung des sog. wirtschaftlichen Eigentums725, Rz. 145 ff.) 303 oder Herstellung (Fertigstellung, § 9a EStDV)726. Bei unterjähriger Anschaffung oder Herstellung des Wirtschaftsguts ist die AfA nach Maßgabe des § 7 I 4 EStG aufzuteilen, d.h. der Absetzbetrag für dieses Jahr vermindert sich um jeweils ein Zwölftel für jeden vollen der Anschaffung/Herstellung vorausgehenden Monat. b) § 7 I 1 EStG setzt für die AfA voraus, dass sich die Verwendung oder Nutzung des Wirtschaftsguts 304 erfahrungsgemäß auf einen Zeitraum von mehr als einem Jahr erstreckt. Diese betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer (§ 7 I 2 EStG) ist nach BFH BStBl. 1998, 59; BStBl. 2011, 709, der Zeitraum der Nutzbarkeit eines Wirtschaftsguts unter Berücksichtigung der betriebstypischen Beanspruchung (bei einem Taxi kann sie anders sein als bei dem Firmenwagen eines Anwalts). Die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer wird nicht dadurch vermindert, dass der Stpfl. das Wirtschaftsgut vor Beendigung seines technischen oder wirtschaftlichen Wertverzehrs veräußert (wie im Fall von Autovermietungsunternehmen, BFH BStBl. 1998, 59)727. Die Nutzungsdauer ist zu schätzen. Bei der Schätzung ist in der HGB- und Steuerbilanz das Vorsichtsprinzip gem. § 252 I Nr. 4 HGB (i.V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG) zu berücksichtigen. Eine im IFRS-Konzernabschluss angenommene Nutzungsdauerschätzung kann nicht ohne weiteres für die HGB- und Steuerbilanz übernommen werden, weil sie auf einer anderen Gewichtung des Vorsichtsprinzips beruhen kann728. Hilfsmittel der Schätzung729 sind die AfA-Tabellen des BMF. Sie dienen der Beweiserleichterung im 305 Bereich der Sachverhaltsermittlung und der Verfahrensökonomie. Nach der Finanzrechtsprechung haben sie im Rahmen der steuerlichen Gewinnermittlung zunächst die „Vermutung der Richtigkeit“ für sich, „da sie ein zusammengefasstes Fachwissen zur durchschnittlichen betriebsgewöhnlichen Nut-
719 Dazu BFH v. 24.2.1994 – IV R 33/93, BStBl. II 1994, 590; BFH v. 28.5.1998 – IV R 48/97, BStBl. II 1998, 775; Groh, FS F. Klein, 1994, 815; Hartung, FS Beisse, 1997, 235; Thiel, FS Flick, 1997, 1005; Kienzle, Bilanzierung und Bewertung des Goodwills nach internationalen Rechnungslegungsstandards, 2006; Velte, StuW 2008, 280; Hennrichs, FS Schaumburg, 2009, 367 ff. 720 BFH v. 2.3.1979 – GrS 1/69, BStBl. II 1970, 382 (Abstandszahlung eines Mieters); BFH v. 28.2.1974 – IV R 60/69, BStBl. II 1974, 481 (Nießbrauch); Schmidt/Kulosa36, § 7 EStG Rz. 44. 721 BFH v. 21.2.2017 – VIII R 56/14, BStBl. II 2017, 694; BFH v. 21.10.2015 – IV R 6/12, BStBl II 2017, 45 (Zahlungsansprüche nach der GAP-Reform 2003). 722 BMF BStBl. I 1999, 686 (entgegen BFH BStBl. II 1996, 586). 723 BFH v. 19.10.2000 – III R 6/05, BStBl. II 2007, 301; a.A. Mank, DStR 2005, 1294; Schmidt/Kulosa36, § 7 EStG Rz. 29. 724 BFH v. 21.2.2017 – VIII R 56/14, BStBl. II 2017, 694. 725 BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10, BStBl. 2012, 407 (Rz. 20); BFH v. 22.9.2016 – IV R 1/14, BStBl. II 2017, 171. 726 Für den Abschreibungsbeginn irrelevant ist nach BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10, die tatsächliche Inbetriebnahme des Wirtschaftsguts. 727 S. zur Nutzungsdauer ausf. Grube, FR 2011, 633 (634 ff.). 728 S. Hennrichs, Ubg 2011, 788 (790 ff.) m.w.N. zum Streitstand. 729 Schmidt/Kulosa36, § 7 EStG Rz. 105; Kirchhof/Pfirrmann17, § 7 EStG Rz. 54.
Hennrichs 643
§ 9 Rz. 306
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
zungsdauer von Wirtschaftsgütern enthalten“730 und „umfassende praktische Erfahrungen“731 widerspiegeln732. Die Gerichte sind an die AfA-Tabellen allerdings nicht gebunden733. 306 Auch der Stpfl. hat keinen Rechtsanspruch auf Anwendung der AfA-Tabellen734. Maßgebend ist ei-
ne einzelfallbezogene Schätzung nach den Gegebenheiten des konkreten Betriebs bzw. nach den tatsächlichen Verhältnissen beim einzelnen Stpfl. Es ist damit auf die spezifischen Verhältnisse (Art und Grad der Nutzung) des jeweiligen Wirtschaftsguts im jeweiligen Betrieb abzustellen735. Will der Stpfl. eine gegenüber den AfA-Tabellen kürzere Nutzungsdauer zugrunde legen, muss er eine solche besonders glaubhaft machen736. Dass in der Handelsbilanz tatsächlich mit einer kürzeren Nutzungsdauer gerechnet wird, genügt für sich allein nicht. Ist eine kürzere Nutzungsdauer als nach den AfA-Tabellen aber aufgrund des Vorsichtsprinzips nach den betriebsindividuellen Umständen gerechtfertigt, ist dies auch für die Steuerbilanz maßgebend737. Legt der Kaufmann im handelsrechtlichen Jahresabschluss eine Nutzungsdauer zugrunde, die länger ist als nach den AfA-Tabellen, muss er sich dies im Zweifel auch bei der steuerbilanziellen Gewinnermittlung entgegenhalten lassen738. Zwar gilt für Schätzungen, die als solche auf tatsächlichem Gebiet liegt (Tatfrage), nicht der Maßgeblichkeitsgrundsatz. Maßgeblich werden aber die bei der Schätzung zu beachtenden handelsrechtlichen GoB, namentlich das Vorsichtsprinzip. Da Handels- und Steuerbilanz insoweit auf denselben konzeptionellen Grundlagen beruhen, wären Abweichungen hinsichtlich der Nutzungsdauerschätzung nicht plausibel739. 307 In Bezug auf Windparks hat der BFH entschieden, dass diese zwar aus verschiedenen einzelnen Wirt-
schaftsgütern bestehen740, deren betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer aber aufgrund der besonderen technischen und baulichen Einheit grds. einheitlich zu schätzen ist741. Dagegen ist der Beginn der AfA für jedes Wirtschaftsgut eigenständig zu beurteilen (Grundsatz der Einzelbewertung, Rz. 270)742. 308 c) § 7 EStG regelt verschiedene AfA-Methoden, die der Stpfl. wählen kann. Dieses steuerrechtliche
Methodenwahlrecht kann nach der Aufgabe der umgekehrten Maßgeblichkeit (s. Rz. 42 f.) zukünftig unabhängig von der handelsrechtlichen Jahresbilanz ausgeübt werden743. Zu unterscheiden sind folgende AfA-Methoden: 309 aa) AfA in gleichen Jahresbeträgen (lineare AfA); die Anschaffungs- oder Herstellungskosten werden
gleichmäßig auf die voraussichtliche Nutzungsdauer verteilt (§ 7 I 1, 2 EStG). Für Gebäude gilt die Sonderregel des § 7 IV EStG.
730 FG Schleswig-Holstein EFG 1980, 174; FG Niedersachsen v. 9.7.2014 – 9 K 98/14, BB 2014, 2226. 731 Vgl. Hommel, BB 2001, 247 (248). 732 Vgl. z.B. BFH v. 29.4.2009 – I R 74/08, BStBl. II 2009, 899; Schmidt/Kulosa36, § 7 EStG Rz. 105 m.w.N. 733 BFH v. 26.7.1991 – VI R 82/89, BStBl. II 1992, 1000; BFH v. 14.4.2011 – IV R 46/09, BStBl. II 2011, 696; BFH v. 14.4.2011 – IV R 8/10, BStBl. II 2011, 709. 734 KSM/Waldhoff, § 7 EStG Rz. B 298a. 735 BFH v. 19.11.1997 – X R 78/94, BStBl. II 1998, 59. 736 BMF BStBl. I 2001, 860 (unter 2.); vgl. auch Schmidt/Kulosa36, § 7 EStG Rz. 102: „anhand konkreter Umstände glaubhaft machen“; Kirchhof/Pfirrmann17, § 7 EStG Rz. 54. 737 Hennrichs, Ubg 2011, 788 (795). 738 Zutr. Hoffmann, PiR 2011, 148. 739 S. i.E. Hennrichs, Ubg 2011, 788 (795 f.). 740 BFH v. 14.4.2011 – IV R 46/09, BStBl. II 2011, 696; BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10, BStBl. II 2012, 407. Hierzu Urbahns, StuB 2011, 537; teilweise krit. Hoffmann, StuB 2011, 641 (642). 741 BFH v. 14.4.2011 – IV R 46/09, BStBl. II 2011, 696; zust. Peetz, DStZ 2011, 904 (910). 742 BFH v. 1.2.2012 – I R 57/10, BStBl. II 2012, 407; BFH v. 22.9.2016 – IV R 1/14, BStBl. II 2017, 171. 743 Hennrichs, Ubg 2011, 788 (789); Hennrichs, Ubg 2009, 533 (540); s. auch Rz. 106.
644
Hennrichs
IV. Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 314 § 9
bb) Nur für bewegliche Güter: AfA nach Maßgabe der Leistung (z.B. km-Leistung eines Lkw; Ar- 310 beitsstunden einer Maschine), wenn der Umfang der auf einzelne Jahre entfallenden Leistung nachgewiesen wird (§ 7 I 6 EStG). Beispiel: Voraussichtliche Gesamtleistung eines Kfz.: 100 000 km. Stpfl. fährt im ersten Jahr 15 000 km, im zweiten Jahr 25 000 km, im dritten Jahr 30 000 km. – Absetzen kann er im ersten Jahr 15 %, im zweiten Jahr 25 %, im dritten Jahr 30 % der AK etc.
cc) AfA in fallenden Jahresbeträgen (degressive AfA) gem. § 7 II EStG (nur noch) für nach dem 311 31.12.2008 und vor dem 1.1.2011 angeschaffte oder hergestellte bewegliche WG des AV. Die degressive AfA beruht auf der Überlegung, dass manche Wirtschaftsgüter in den ersten Jahren der Nutzung schneller veralten als in den folgenden. Allerdings setzt die Wahl der degressiven AfA steuerlich nicht einen solchen degressiven Nutzungsverlauf tatsächlich voraus. Vielmehr kann das Methodenwahlrecht frei ausgeübt werden744. Ein Wechsel der Methode von der degressiven zur linearen AfA ist für den im Zeitpunkt des Übergangs noch vorhandenen Restwert möglich (§ 7 III 1 u. 2 EStG), nicht umgekehrt (§ 7 III 3 EStG). Die Inanspruchnahme einer Sonderabschreibung bleibt möglich745. Der Gesetzgeber behandelt die degressive AfA je nach Bedarf mal als Instrument der Investitionsför- 312 derung, mal als Mittel der Gegenfinanzierung: Mit dem Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung v. 26.4.2006 (BGBl. I 2006, 1091) war der Höchstsatz befristet für zwischen dem 31.12.2005 und dem 1.1.2008 angeschaffte oder hergestellte Wirtschaftsgüter zunächst von 20 % auf 30 % und maximal das Dreifache der linearen AfA angehoben worden746, nur um die degressive AfA durch UntStRefG 2008 für nach dem 1.1.2008 angeschaffte Wirtschaftsgüter vollständig abzuschaffen, sie dann aber als Maßnahme der Konjunkturbelebung durch Gesetz v. 21.12.2008 (BGBl. I 2008, 2896) auf zwei Jahre befristet für nach dem 31.12.2008 und vor dem 1.1.2011 angeschaffte Wirtschaftsgüter mit einem Höchstsatz von 25 % wieder einzuführen. Für seit dem 1.1.2011 angeschaffte oder hergestellte Wirtschaftsgüter ist die degressive AfA in der Steuerbilanz sodann wieder nicht mehr zulässig. Für die Investitionsentscheidungen der Unternehmen ist dieser Zickzackkurs des Gesetzgebers nicht förderlich. dd) Absetzung wegen außergewöhnlicher Abnutzung (AfaA, § 7 I 7 EStG) mit der Folge eines er- 313 höhten Wertverzehrs747. Unterschieden werden kann zwischen außergewöhnlicher technischer Abnutzung (z.B. durch mehrschichtige Nutzung, Beschädigung, Zerstörung, etwa durch Brand, Hochwasser) und wirtschaftlicher Abnutzung (z.B. durch neue Erfindungen, Modewechsel, neues Modell). Für das Konkurrenzverhältnis zur Teilwertabschreibung gilt Folgendes: Einerseits ist für die Absetzung wegen außergewöhnlicher Abnutzung unerheblich, ob und inwieweit der Teilwert gesunken ist. Andererseits rechtfertigt eine bloße Wertminderung ohne Auswirkung auf die betriebsgewöhnliche Nutzung keine AfaA (BFH BStBl. 2004, 592). In Betracht kommt dann eine Teilwertabschreibung (s. Rz. 321). AfaA ist nach dem Wert zu bestimmen, um den der im Jahr des Ereignisses (Schadenseintritts) vorhandene Restbuchwert des Wirtschaftsguts durch das Ereignis gemindert wird. Für ein bereits voll abgeschriebenes Wirtschaftsgut kommt danach AfaA nicht in Betracht748. d) Sofortabschreibung und Sammelabschreibung für geringwertige Wirtschaftsgüter (GWG): AK/ 314 HK von abnutzbaren beweglichen und selbständig nutzbaren749 WG des AV können (Wahlrecht750) Vgl. NWB Praxishdb./Adrian2, Rz. 3528 f.; Hennrichs, Ubg 2011, 788 f. BFH v. 14.3.2006 – I R 83/05, BStBl. II 2006, 799. Dazu Fischer/Hoberg, BB 2006, 484. Hierzu ausf. Grube, FR 2011, 633 (636 ff.); Grube, FR 2011, 987. BFH v. 21.8.2012 – VIII R 33/09, BStBl. II 2013, 171 (Rz. 23). S. BFH v. 9.5.2012 – III B 198/11, BFH/NV 2012, 1433: maßgeblich ist die konkrete betriebliche Zweckbestimmung des Wirtschaftsguts in dem konkreten Betrieb. 750 Das Wahlrecht kann gem. § 5 I 2 EStG nach h.M. unabhängig von der Handelsbilanz ausgeübt werden, oben Rz. 98 ff.
744 745 746 747 748 749
Hennrichs 645
§ 9 Rz. 315
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
gem. § 6 II 1 EStG im Jahr der Anschaffung/Herstellung oder Einlage des Wirtschaftsguts oder der Eröffnung des Betriebs sofort als Betriebsausgaben abgezogen werden, wenn die Kosten 800 Euro751 (bei AK/HK vermindert um den darin enthaltenen Vorsteuerbetrag) nicht übersteigen752. Übersteigt der Wert der Wirtschaftsgüter i.S.d. Satzes 1 den Betrag von 250 Euro753, sind sie gem. § 6 II 4 EStG in ein besonderes, laufend zu führendes Verzeichnis aufzunehmen, es sei denn, dass die Angaben über den Tag der Anschaffung/Herstellung und der AK/HK aus der Buchführung ersichtlich sind (§ 6 II 5 EStG). 315 Übersteigen die AK/HK 250 Euro, aber nicht 1000 Euro, ermöglicht § 6 IIa 1 EStG im Jahr der An-
schaffung/Herstellung oder Einlage des Wirtschaftsguts oder der Eröffnung des Betriebs die Bildung eines Sammelpostens. Dieses Wahlrecht kann der Stpfl. aber nur für alle in einem Wirtschaftsjahr angeschafften/hergestellten/eingelegten Wirtschaftsgüter einheitlich ausüben754. Der Sammelposten ist im Wirtschaftsjahr der Bildung und den darauf folgenden 4 Wirtschaftsjahren um je ein Fünftel gewinnmindernd aufzulösen (§ 6 IIa 2 EStG). Die Vorschrift normiert damit der Sache nach abweichend von § 7 I 2 EStG die Fiktion einer 5-jährigen Nutzungsdauer. § 6 IIa EStG gilt allerdings auch für Wirtschaftsgüter mit einer Nutzungsdauer von unter 5 Jahren. Auch das Ausscheiden eines Wirtschaftsguts aus dem Betriebsvermögen hat keine Auswirkungen auf die Höhe des Sammelpostens (§ 6 IIa 3 EStG). Wird ein Sammelposten gebildet, ist die Sofortabschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter mit einem Wert von höchstens 250 Euro zulässig (§ 6 IIa 4 EStG). Der Sammelposten soll zur Vermeidung eines Auseinanderfallens von Handels- und Steuerbilanz auch in der Handelsbilanz gebildet werden können (BT-Drucks. 16/5491, 14)755. Zwingend ist eine einheitliche Wahlrechtsausübung allerdings nicht, vielmehr kann das steuerrechtliche Wahlrecht gem. § 5 I 2 EStG nach h.M. unabhängig von der Handelsbilanz ausgeübt werden (oben Rz. 98 ff.). 316 e) Für Gebäude756 und selbständige Gebäudeteile sind Sonderregeln zu beachten (§ 7 IV, V, Va EStG).
Hier werden bestimmte AfA-Sätze fest typisiert (§ 7 Abs. 4 EStG für die lineare Gebäude-AfA, § 7 Abs. 5 EStG für die degressive Gebäude-AfA). 317 Degressive AfA für den Mietwohnungsbau wird letztmalig gewährt, wenn das Gebäude vor dem
1.1.2006 angeschafft bzw. mit der Herstellung begonnen wurde (Bauantrag); vgl. § 7 V 1 Nr. 3c EStG. 318 f) Die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer eines entgeltlich erworbenen Geschäfts- oder Firmen-
werts ist durch § 7 I 3 EStG auf 15 Jahre festgesetzt. Der Praxiswert757 einer Freiberuflerpraxis kann dagegen nach BFH BStBl. 1994, 590, auch weiterhin auf Grund des Individualbezugs zum ehemaligen Inhaber in einem kürzeren Zeitraum (in der Regel 3–5 Jahre) abgeschrieben werden. 319 g) Absetzung für Substanzverringerung (AfS): Bei Bergbauunternehmen, Steinbrüchen und ande-
ren abbau- oder ausbeutungsfähigen Betrieben, bei denen die Substanz verbraucht wird, kann auf der Grundlage der AK linear abgesetzt werden; zulässig sind aber auch Absetzungen entspr. dem Substanzverzehr (§ 7 VI EStG).
751 Die GWG-Grenze wurde von 410 auf 800 Euro angehoben durch Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen v. 27.6.2017, BGBl. I S. 2074. Die neue Grenze ist erstmals anwendbar auf WG, die nach dem 31.12.2017 angeschafft, hergestellt oder in das BV eingelegt werden. 752 R 6.13 EStR; Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 592. 753 Anhebung der „aufzeichnungslosen“ GWG-Untergrenze von 150 auf 250 Euro durch Zweites Bürokratieentlastungsgesetz v. 30.6.2017, BGBl. I S. 2143. 754 Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 604. 755 IDW Life, 7/2017, 848; Beck’scher Bilanzkomm./Schubert/Andrejewski11, § 253 HGB Rz. 275; krit. Köplin, StuB 2007, 526; Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 608. 756 Umfassend Kahle/Heinstein, DStZ 2007, 93 u. 141. 757 Dazu Schmidt/Wacker36, § 18 EStG Rz. 200 ff.; Blümich/Hutter, § 18 EStG Rz. 243 ff.
646
Hennrichs
IV. Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 322 § 9
3.2 Teilwertabschreibungen und Wertaufholungen § 6 I Nr. 1 Satz 2, Nr. 2 Satz 2 EStG erlaubt („kann“) statt der AK/HK den Ansatz des niedrigeren 320 Teilwerts (dazu oben Rz. 260 f.). Nach h.M. soll dies ein steuerliches Wahlrecht i.S.d. § 5 I 1 Hs. 2 EStG n.F. sein, das unabhängig von dem handelsrechtlichen Niederstwertprinzip (§ 253 III 3, IV HGB) in der Steuerbilanz frei ausgeübt werden könne758. Die Vorschrift hat Bedeutung vor allem für nichtabnutzbare Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens (Grundstücke, Beteiligungen, Forderungen) sowie für Wirtschaftsgüter des Umlaufvermögens, da in beiden Fällen eine reguläre Abschreibung (AfA) ausscheidet. Hinsichtlich des Verhältnisses von Rückstellungen und Teilwertabschreibungen geht die h.M.759 zu 321 Recht vom Vorrang der Teilwertabschreibung aus. Für sanierungsbedürftige WG ist eine Teilwertabschreibung grds. unabhängig von der Bildung einer Rückstellung für die Sanierungsverpflichtung zu beurteilen760, allerdings kann es wegen der Sanierungsverpflichtung an der dauernden Wertminderung fehlen. § 6 I Nr. 1 Satz 2, Nr. 2 Satz 2 EStG macht in Durchbrechung des Imparitätsprinzips (s. Rz. 90) zur 322 Voraussetzung der Teilwertabschreibung, dass es sich um eine voraussichtlich dauernde Wertminderung handelt761. Das Erfordernis der voraussichtlich dauernden Wertminderung gilt steuerbilanzrechtlich auch bei Finanzanlagen und für das Umlaufvermögen (Letzteres ist rechtspolitisch fragwürdig, weil Umlaufvermögen definitionsgemäß ja schnell umgeschlagen werden soll762, arg. e § 247 II HGB). Eine voraussichtlich dauernde Wertminderung liegt nach BFH-Rspr. vor, „wenn der Teilwert nachhaltig unter den maßgeblichen Buchwert gesunken ist und deshalb aus Sicht des Bilanzstichtags aufgrund objektiver Anzeichen ernstlich mit einem langfristigen Anhalten der Wertminderung gerechnet werden muss. Hierfür [bedürfe] es einer an der Eigenart des Wirtschaftsgutes ausgerichteten Prognose.“763 Die Nachweispflicht liegt beim Stpfl.764 Die Rspr. hat sich einem vermögenswertorientierten Teilwertverständnis angeschlossen und bejaht bei abnutzbaren Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens die Teilwertabschreibung, wenn der Teilwert am Bilanzstichtag mindestens für die halbe objektive Restnutzungsdauer (nicht: individuelle Verbleibensdauer beim betreffenden Stpfl.) unter dem planmäßigen Restbuchwert liegt765. 758 BMF BStBl. I 2010, 239; Günkel, FS Herzig, 2010, 509 (513 f.); Günkel, StbJb. 2009/2010, 331 (336 f.); Herzig/Briesemeister, DB 2009, 926 (929 f.); Herzig/Briesemeister, DB 2009, 976 (978); Herzig/Briesemeister, WPg. 2010, 63 (71 f.); Herzig/Briesemeister, DB 2010, 917 (918 f.); U. Prinz, DB 2010, 2069 (2071); ferner Dietel, DB 2012, 483 (steuerliches Wahlrecht und Stetigkeitsgebot); MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 253 HGB Rz. 13; a.A. Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, DB 2009, 2570 (2571 f.); Anzinger/Schleiter, DStR 2010, 395 (396 ff.); Hennrichs, Ubg 2009, 533 (540 f.); Hennrichs, StbJb. 2009/2010, 261 (267 ff.); Hoffmann, StuB 2009, 515 f., 787 f.; Schenke/ Risse, DB 2009, 1957 (1958 f.); Schulze-Osterloh, DStR 2011, 534 (536 ff.). 759 BFH v. 7.9.2005 – VIII R 1/03, BStBl. II 2006, 298; BFH v. 2.12.2015 – I R 83/13, BStBl. II 2016, 831; H 5.7 (1) EStR; Herzig/Teschke, DB 2006, 576; Hoffmann, DStR 2005, 1981; Hüttemann, BB 2005, 2808; MünchKomm. BilanzR/Schlotter, Anh. zu § 253 HGB Rz. 6; HHR/Anzinger, § 5 EStG Rz. 1857; Prinz, WPg. 2016, 957 (961 f.). 760 BFH v. 19.11.2003 – I R 77/01, BStBl. 2010, 482 (dazu auch oben Rz. 284); BMF BStBl. I 2016, 995 (Rz. 12). Zur Teilwertabschreibung trotz Verbot der Bildung einer Verlustrückstellung s. BFH v. 25.11.2009 – X R 27/05, BFH/NV 2010, 1090. 761 Dazu Velte, StuW 2016, 33. 762 Zutr. Velte, StuW 2016, 33 (41). 763 BFH v. 21.9.2011 – I R 89/10, BStBl. II 2014, 612; BFH v. 21.9.2011 – I R 7/11, BStBl. II 2014, 616. 764 BMF BStBl. I 2016, 995 (Rz. 4). 765 BFH v. 14.3.2006 – I R 22/05, BStBl. 2006, 680; bestätigt durch BFH v. 23.4.2009 – IV R 62/06, BStBl. II 2009, 778; BFH v. 29.4.2009 – I R 74/08, BStBl. II 2009, 899. Krit. Schlotter, BB 2006, 1738 (ausschüttungsorientiertes Teilwertverständnis); Weber-Grellet, BB 2012, 43 (48).
Hennrichs 647
§ 9 Rz. 323
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Beispiel: Der Stpfl. hat eine Maschine in 01 zu Anschaffungskosten von 10.0000 Euro erworben. Die Nutzungsdauer beträgt zehn Jahre, die jährliche AfA beträgt 10.000 Euro. Im Jahre 02 beträgt der Teilwert nur noch 30.000 Euro bei einer Restnutzungsdauer von acht Jahren. – Eine Teilwertabschreibung auf 30.000 Euro ist zulässig. Die Minderung ist voraussichtlich von Dauer, da der Wert des Wirtschaftsgutes zum Bilanzstichtag bei planmäßiger Abschreibung erst nach fünf Jahren (Ende Jahr 07), das heißt, erst nach mehr als der Hälfte der Restnutzungsdauer, erreicht wird.766 323 Bei WG des Umlaufvermögens genügt es, wenn die Wertminderung bei Aufstellung der Handels-
bilanz noch vorliegt oder voraussichtlich bis zum Verbrauch oder Verkauf anhält767. 324 Bei börsennotierten Aktien ist nach heute h.M.768 eine Teilwertabschreibung zulässig, wenn der Bör-
senkurs der Aktie zum Bilanzstichtag unter den Buchwert gesunken ist, der Kursverlust eine Bagatellgrenze von 5 % überschreitet und keine konkreten Anhaltspunkte für eine alsbaldige Wertaufholung vorliegen. Relevant ist dabei allein der Kurs am Bilanzstichtag; nach dem Bilanzstichtag und bis zum Tag der Bilanzaufstellung möglicherweise eintretende Kursänderungen berühren als wertbegründende (und nicht werterhellende) Umstände die Bewertung der Aktien zum Bilanzstichtag nicht769. Die steuerrechtliche Beurteilung folgt damit der im Börsenkurs zum Ausdruck kommenden Prognose durch den Kapitalmarkt770 und vermeidet somit eine aufwändige und mit Unsicherheit behaftete eigene Prognose. Entsprechend ist bei Anteilen an Investmentfonds zu entscheiden, „wenn das Vermögen des Investmentfonds überwiegend in an Börsen gehaltenen Aktien angelegt ist.“771 Bei festverzinslichen Wertpapieren ist dagegen eine Teilwertabschreibung nicht alleine wegen eines unter den Nominalwert gesunkenen Kurswertes zulässig772. Das ist zutreffend. Denn die festverzinslichen Wertpapiere zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine Forderung in Höhe des Nominalwertes verbriefen. Am Fälligkeitstag erhält der Gläubiger daher (Bonität des Schuldners vorausgesetzt) in jedem Fall den Nennbetrag des Papiers. Eine Teilwertabschreibung kommt daher bei diesen Papieren nur in Betracht, wenn das Absinken des Kurswertes ein Bonitäts- oder Liquiditätsrisiko in Bezug auf die Rückzahlung ausdrückt773. 325 Weitere Einzelfälle: Bei Geldforderungen kommt der Ansatz des niedrigeren Teilwerts insb. bei For-
derungsausfall774 und bei Forderungen in ausländischer Währung in Betracht (§ 256a HGB)775, nach h.M. dagegen nicht allein wegen Unverzinslichkeit oder niedriger Verzinslichkeit der Forderun-
766 Beispiel nach BMF v. 2.9.2016, BStBl. I 2016, 995 (Rz. 9). 767 Vgl. BMF v. 2.9.2016, BStBl. I 2016, 995 (Rz. 16); Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 368 m.w.N. 768 BFH v. 26.9.2007 – I R 58/06, BStBl. II 2009, 294; BFH v. 21.9.2011 – I R 89/10, BStBl. II 2014, 612; BFH v. 21.9.2011 – I R 7/11, BB 2012, 248; nun auch BMF v. 2.9.2016, BStBl. I 2016, 995 (Rz. 17 ff.); grundl. Schön, FS Raupach, 2006, 299: Schlotter, Teilwertabschreibung und Wertaufholung zwischen Steuerbilanz und Verfassungsrecht, 2005, 370 ff. 769 BFH v. 21.9.2011 – I R 89/10, BStBl. II 2014, 612; so schon Schlotter, BB 2011, 171 (173); nun auch BMF v. 2.9.2016, BStBl. I 2016, 995 (Rz. 19). 770 Im Anschluss an Schön, FS Raupach, 2006, 299; Schlotter, Teilwertabschreibung und Wertaufholung zwischen Steuerbilanz und Verfassungsrecht, 2005, 370 ff.; krit. Jochum, FR 2009, 423 (425 ff.). 771 BFH v. 21.9.2011 – I R 7/11, BStBl. II 2014, 616; nun auch BMF v. 2.9.2016, BStBl. I 2016, 995 (Rz. 24 ff.). – Zu Aktienanleihen s. Kowanda, DStR 2017, 2403. 772 BFH v. 8.6.2011 – I R 98/10, BStBl. II 2012, 716; BMF v. 2.9.2016, BStBl. I 2016, 995 (Rz. 21 ff.); krit. Rätke, StuB 2011, 858 (860 f.); A. Schmid, BB 2011, 2475 (2477 f.). 773 BFH v. 8.6.2011 – I R 98/10, BStBl. II 2012, 716; BMF v. 2.9.2016, BStBl. I 2016, 995 (Rz. 21). 774 BMF v. 2.9.2016, BStBl. I 2016, 995 (Rz. 14); ausf. Bellin, Der Teilwert bei uneinbringlichen und zweifelhaften Geldforderungen im Bilanzsteuerrecht, Diss., 1997. 775 Einschränkend aber BFH v. 23.4.2009 – IV R 62/06, BStBl. II 2009, 778: Bei Fremdwährungsverbindlichkeiten mit einer Restlaufzeit von ca. zehn Jahren begründe ein Kursanstieg der Fremdwährung grundsätzlich keine voraussichtlich dauernde Teilwerterhöhung, weil davon auszugehen sei, dass sich Währungsschwankungen in der Regel ausgleichen.
648
Hennrichs
IV. Bewertung von Wirtschaftsgütern
Rz. 335 § 9
gen776. Bestrittene Forderungen sind überhaupt erst zu bilanzieren, wenn sie rechtskräftig zuerkannt oder anerkannt werden (Rz. 141). – Für bewusst nicht kostendeckend kalkulierte sog. Verlustprodukte ist eine Teilwertabschreibung nicht zulässig, wenn der Betrieb insgesamt rentabel geführt wird777. – Bei Grundstücken lässt die FinVerw. TW-Abschreibungen allein wegen gesunkener Preis oder Bodenrichtwerte nicht zu, weil Immobilienpreise Schwankungen unterlägen und nicht auszuschließen sei, dass eine Preisschwankung eine nur vorübergehende Wertminderung darstelle778. Das ist zu eng. Richtigerweise indizieren gesunkene Bodenrichtwerte eine dauerhafte Wertminderung779. – Bei einem Lebensversicherungsanspruch rechtfertigt sich nach BFH BStBl. II 2011, 552, die Teilwertabschreibung nicht alleine dadurch, „dass der Rückkaufswert [der] Versicherung das angesammelte Deckungskapital regelmäßig unterschreitet, […] solange der Rückkauf nicht ernstlich beabsichtigt“ sei. – Bei einer Betriebsaufspaltung ist nach BFH BStBl. II 2010, 274, die Teilwertabschreibung einer Forderung des Besitzunternehmens gegen die Betriebsgesellschaft nach denselben Kriterien zu beurteilen, die für die Teilwertberichtigung der Beteiligung am Betriebsunternehmen durch das Besitzunternehmen bestehen; es sei daher eine Gesamtbetrachtung der Ertragsaussichten von Besitz- und Betriebsunternehmen vorzunehmen. Die Voraussetzungen einer TWA sind für jeden Bilanzstichtag neu zu prüfen und vom Stpfl. nach- 326 zuweisen. Hat sich der Wert des WG nach einer vorangegangenen TWA wieder erhöht oder kann der Stpfl. den niedrigeren Teilwert nicht erneut nachweisen, besteht ein Wertaufholungsgebot780, höchstens jedoch auf die fortgeführten Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten (§ 6 I Nr. 1 Satz 4, Nr. 2 Satz 3 EStG)781. Die Zuschreibungspflicht ist nicht auf den Wegfall der Gründe für die ursprüngliche außerplanmäßige Abschreibung begrenzt, sondern erfasst jede auch auf anderen Gründen beruhende Werterholung782. TWA sind auch auf einen erworbenen Geschäfts- oder Firmenwert denkbar783. Anders als im Handelsrecht (dort gilt gem. § 253 V 2 HGB insoweit ausnahmsweise ein Wertaufholungsverbot) gilt steuerrechtlich das Wertaufholungsgebot auch bezogen auf einen Geschäfts- oder Firmenwert, wenn der niedrigere Teilwert nicht weiter nachgewiesen werden kann784. – Das Wertaufholungsgebot gilt ferner, wenn der Grund für eine Abschreibung wegen außergewöhnlicher technischer oder wirtschaftlicher Abnutzung (s. Rz. 313) entfallen ist, s. § 7 I 7 Hs. 2 EStG. Einstweilen frei.
327–334
3.3 Sonderabschreibungen und erhöhte Absetzungen Wird dem Stpfl. abw. von den Grundregeln des § 7 EStG ein niedrigerer Ansatz zugestanden, so 335 spricht man von Sonderabschreibung und erhöhter Absetzung (dazu § 19 Rz. 17). Sie werden vor allem aus wirtschaftspolitischen Gründen gewährt.
776 777 778 779 780 781 782 783 784
BFH v. 24.10.2012 – I R 43/11, BStBl. II 2013, 162. BFH v. 29.4.1999 – IV R 14/98, BStBl II 1999, 681; BMF BStBl. I 2014, 1162 (Rz. 3). BMF v. 2.9.2016, BStBl. I 2016, 995 (Rz. 13). So zu Recht U. Prinz, DB 2014, 1825 (1828); Förster, DB 2014, 382 (383); Velte, StuW 2016, 33 (40). Dazu Leplow, Das Wertaufholungsgebot in der Handels- und Steuerbilanz, Diss., 2002; Schlotter, Teilwertabschreibung und Wertaufholung zwischen Steuerbilanz und Verfassungsrecht, 2005. BMF v. 2.9.2016, BStBl. I 2016, 995 (Rz. 27 f.). Zur Zuschreibung nach ausschüttungsbedingter Teilwertabschreibung von Beteiligungen s. BFH v. 19.8.2009 – I R 1/09, BStBl. II 2010, 225; krit. Weber-Grellet, BB 2010, 43 (46). Dazu BFH v. 16.5.2002 – III R 45/98, BStBl. II 2003, 10; HHR/Anzinger, § 7 EStG Rz. 201; Hennrichs, FS Schaumburg, 2009, 367 ff. Dazu auch Hennrichs, FS Schaumburg, 2009, 367 ff.
Hennrichs 649
§ 9 Rz. 336
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
336 Bei den allgemein in § 7a EStG geregelten Sonderabschreibungen und erhöhten Absetzungen – in
erster Linie ist dies die Sonderabschreibung zur Förderung kleiner und mittlerer Betriebe (§ 7g V, VI EStG), ferner §§ 7h und 7i EStG – handelt es sich um wirtschaftslenkende Steuervergünstigungen (s. § 19 Rz. 16 ff.). 337 Mit § 7g EStG785 verfolgt der Gesetzgeber den Zweck, die Liquiditätssituation und Eigenkapitalaus-
stattung kleiner und mittlerer Unternehmen zu verbessern. Die Vorschrift erlaubt zum einen nach Maßgabe der Absätze 1 bis 4 im Vorgriff auf künftige Investitionen einen sog. Investitionsabzug. Dieser zieht einen großen Teil der späteren AfA zeitlich vor786. Zum anderen gewährt § 7g V, VI EStG eine Sonderabschreibung. Das StÄndG 2015 hat die Vorschrift mit Wirkung für Wj, die nach dem 31.12.15 enden (§ 52 XVI 1 EStG), vereinfacht. Insb. ist nun weder eine Investitionsabsicht erforderlich, noch braucht der Stpfl. das begünstigte WG vorab seiner Funktion nach zu benennen787. Die Vorschrift ist sowohl EU-beihilferechtlich788 als auch vor dem Hintergrund der EU-Grundfreiheiten nicht über jeden Zweifel erhaben. Insb. die Beschränkung auf inländische Betriebsstätten wirft europarechtliche Bedenken auf789. 338 Der Investitionsabzugsbetrag i.H.v. bis zu 40 % der voraussichtlichen AK/HK für bewegliche abnutz-
bare Wirtschaftsgüter ist bei Betrieben mit einem Betriebsvermögen von nicht mehr als 235 000 Euro bzw. einem gem. § 4 III EStG ermittelten Gewinn von nicht mehr als 100 000 Euro möglich (§ 7g I 1, 2 EStG). Maximal abzugsfähig sind 200 000 Euro (§ 7g I 4 EStG). Der Investitionsabzug wird außerbilanziell vorgenommen. Im Wirtschaftsjahr der Anschaffung kann der für das jeweilige Wirtschaftsgut vorgenommene Investitionsbetrag gewinnerhöhend hinzugerechnet werden (§ 7g II 1 EStG). Gleichzeitig können – begrenzt durch den Hinzurechnungsbetrag – 40 % der (tatsächlichen) AK/HK des Wirtschaftsguts wieder abgesetzt werden, wodurch sich dann freilich auch die AfA-Bemessungsgrundlage entsprechend verringert (§ 7g II 2 EStG). Wird der Investitionsabzugsbetrag mangels Anschaffung des Wirtschaftsguts nicht bis zum Ende des dritten auf das Wirtschaftsjahr des Abzugs folgenden Wirtschaftsjahrs hinzugerechnet, muss der Abzug rückgängig gemacht werden (§ 7g III EStG). 339 § 7g V, VI EStG sieht eine Sonderabschreibung für das Jahr der Anschaffung/Herstellung und die
vier folgenden Jahre in Höhe von maximal 20 % der AK/HK vor. Die Sonderabschreibung kann neben der regulären AfA in Anspruch genommen werden. Die vorherige Wahrnehmung des Investitionsabzugsbetrags ist nicht (mehr) Voraussetzung für die Sonderabschreibung790. Bei Personengesellschaften und Gemeinschaften tritt an die Stelle des Stpfl. die Gesellschaft/Gemeinschaft (§ 7g VII EStG)791. 3.4 Subjektive Abschreibungsberechtigung 340 Abschreibungsberechtigt ist, wer das Wirtschaftsgut zur Erzielung von Einkünften einsetzt (§ 2 I;
§ 7 I EStG: „durch den Stpfl. zur Erzielung von Einkünften“) und die Anschaffungs- und Herstellungskosten selbst getragen hat („Eigenaufwand“)792. Das wird regelmäßig der rechtliche oder zumindest wirtschaftliche Eigentümer des Wirtschaftsguts sein.
785 786 787 788 789 790 791 792
650
Dazu BMF BStBl. I 2013, 1493; Kulosa, DStR 2008, 131; M. Wendt, FR 2008, 598. Schmidt/Kulosa36, § 7g EStG Rz. 4. Schmidt/Kulosa36, § 7g EStG Rz. 1. Dazu Schmidt/Kulosa36, § 7g EStG Rz. 1 m.w.N. Gosch, DStR 2007, 1895 (1896); Schmidt/Kulosa36, § 7g EStG Rz. 9 m.w.N. Schmidt/Kulosa36, § 7g EStG Rz. 41. Schmidt/Kulosa36, § 7g EStG Rz. 9; B. Meyer/Ball, FR 2009, 641 (642). Anschaulich Jakob, Einkommensteuer4, Rz. 807 ff.
Hennrichs
V. Entnahmen und Einlagen
Rz. 360 § 9
Diese subjektive Abschreibungsberechtigung setzt aber nicht unbedingt zivilrechtliches oder wirt- 341 schaftliches Eigentum am fraglichen Wirtschaftsgut voraus. Auch eigene Erwerbsaufwendungen auf ein fremdes Wirtschaftsgut, das der Stpfl. zur Einkünfteerzielung nutzt, müssen nach dem Leistungsfähigkeits- und Nettoprinzip steuerlich abzugsfähig sein793. Beispiel: Trägt z.B. der Unternehmer-Ehegatte die Herstellungskosten des Betriebsgebäudes, das auf dem Grundstück des anderen Ehegatten errichtet wird, so hat der Unternehmer die durch die Baumaßnahmen geschaffenen Nutzungsmöglichkeiten selbst dann zu aktivieren und diese wie ein Gebäude abzuschreiben, wenn die Voraussetzungen für das sog. wirtschaftliche Eigentum am Gebäude(teil) im Einzelfall nicht gegeben sein sollten794 (Rz. 150).
Dergestalt erlangt der Stpfl., der das fremde Wirtschaftsgut zur Einkünfteerzielung nutzt und die Kosten getragen hat, die AfA-Berechtigung und kann damit seine Erwerbsaufwendungen auch dann steuerlich abziehen, wenn sie auf fremdes Eigentum erbracht wurden. Voraussetzung hierfür ist freilich, dass der Unternehmer-Ehegatte die Aufwendungen im betriebli- 342 chen Interesse auch selbst getragen hat. Für die Frage, wer die Kosten getragen hat, kommt es darauf an, für wessen Rechnung die Zahlungen erfolgen. Beispiel: Werden Zahlungen von einem gemeinsamen Oder-Konto der Ehegatten geleistet, ist Schuldner des Darlehens aber allein der Nichtunternehmer-Ehegatte, sind die Zahlungen grds. diesem (und nicht dem Unternehmer-Ehegatten) zuzurechnen. Denn Zahlungen von einem gemeinsamen Konto der Ehegatten werden, sofern keine besonderen Vereinbarungen getroffen wurden, jeweils für Rechnung desjenigen geleistet, der den Betrag schuldet.; dabei ist gleichgültig, aus welchen Mitteln das Guthaben auf dem Konto stammt795. Im Beispiel hat deshalb der Unternehmer-Ehegatte die AK nicht getragen, weshalb er auch nicht AfA-berechtigt ist.
Demgegenüber ist die AfA-Befugnis bei Nutzung eines fremden WG ohne eigene Aufwendungen 343 („Dritt-AfA“) nach h.M. nicht anzuerkennen (zum sog. Drittaufwand s. § 8 Rz. 223 ff.)796. Beispiel: Hat beispielsweise der Vater das Gebäude angeschafft, in dem sein Sohn eine Arztpraxis betreibt, so sind die AK/HK steuerlich in Gefahr: Der Vater kann sie nicht abziehen, weil er nicht steuerbar agiert; und der Sohn ist zwar steuerbar tätig, hat aber die Aufwendungen nicht selbst getragen und soll daher nicht AfA-berechtigt sein797. Wenn der Vater die AK dagegen zuerst dem Sohn zuwendet und anschließend der Sohn die Praxisräume anschafft, wäre er AfA-berechtigt; die Herkunft der AK ist grds. gleichgültig (§ 8 Rz. 224). Zudem kann in solchen Konstellationen durch Abschluss von Mietverträgen leicht steuerlich abzugsfähiger Aufwand gestaltet werden: Denn bei einem Mietverhältnis bezieht der Vermieter Einkünfte und bleibt damit selbst AfA-befugt; der Mieter kann zwar keine AfA, wohl aber den Mietzins als BA absetzen798.
Einstweilen frei.
344–359
V. Entnahmen und Einlagen 1. Entnahme- und Einlagefähigkeit von Wirtschaftsgütern, Nutzungen und Leistungen Dem Unterschiedsbetrag zwischen den zu vergleichenden Betriebsvermögen ist der Wert der Entnah- 360 men hinzuzurechnen, der Wert der Einlagen ist abzurechnen (§§ 4 I 1; 5 VI EStG). Das ist deshalb 793 BFH v. 30.1.1995 – GrS 4/92, BStBl. II 1995, 281; BFH v. 21.2.2017 – VIII R 10/14, BStBl. II 2017, 819; BFH v. 9.3.2016 – X R 46/14, BStBl. II 2016, 976; dazu auch BMF v. 16.12.2016, BStBl. I 2016, 1431. 794 BFH v. 21.2.2017 – VIII R 10/14, BStBl. II 2017, 819; Schmidt/Kulosa36, § 7 EStG Rz. 51. 795 BFH v. 21.2.2017 – VIII R 10/14, BStBl. II 2017, 819. 796 Vgl. BFH v. 23.8.1999 – GrS 2/97, BStBl. II 1999, 782; Schnorr, StuW 2003, 222; Schmidt/Kulosa36, § 7 EStG Rz. 57. 797 Jakob, Einkommensteuer4, Rz. 811; Schmidt/Kulosa36, § 7 EStG Rz. 57. 798 So denn auch die Empfehlung bei Schmidt/Kulosa36, § 7 EStG Rz. 58.
Hennrichs 651
§ 9 Rz. 361
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
erforderlich, weil Gewinn nur ist, was durch den Betrieb erwirtschaftet worden ist. Einlagen und Entnahmen grenzen die betriebliche von der außerbetrieblichen Sphäre ab. Was entnommen wird, ist im Betrieb erwirtschaftet worden, folglich zu erfassen. Was eingelegt wird, kommt von außen in den Betrieb, ist nicht im Betrieb erwirtschaftet worden, folglich nicht zu erfassen799. 361 Entnahmen sind gem. § 4 I 2 EStG alle Wirtschaftsgüter (Barentnahmen, Waren, Erzeugnisse, Nut-
zungen und Leistungen), die der Stpfl. dem Betrieb für sich, für seinen Haushalt oder für andere betriebsfremde Zwecke im Laufe des Jahres entnommen hat. Nach dem Gesetzeswortlaut von § 4 I 2 EStG setzen Einlage und Entnahme einen Wertzugang bzw. Wertabgang zu betriebsfremden Zwecken voraus. Dies ist zunächst eine Frage nach der Auslegung des Begriffs „Betrieb“800 i.S.d. § 4 I 2 EStG, die der Gesetzgeber inzwischen inzident in § 6 V 1 EStG zu Gunsten eines engen Betriebsbegriffs entschieden hat801. § 4 I 3 EStG (eingefügt durch SEStEG v. 7.12.2006, BGBl. I 2006, 2782) kodifiziert zudem ein allgemeines Entstrickungsprinzip, indem der Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts der Entnahme für betriebsfremde Zwecke gleichgestellt wird (dazu ausf. Rz. 450). 362 Zu unterscheiden ist zwischen Substanzentnahmen (Entnahmen von Wirtschaftsgütern) und Ent-
nahmen von Nutzungen und Leistungen. Wer ein Wirtschaftsgut nutzt, entnimmt nicht das Wirtschaftsgut selbst. Wer eine Dienstleistung erbringen lässt, entnimmt kein Wirtschaftsgut. Somit besteht der gewinnerhöhende „Wert der Entnahme“ (§ 4 I 1 EStG) nicht in einem Substanzwert, sondern in den für betriebsfremde Zwecke aufgewendeten Kosten; diese müssen dem zu versteuernden Gewinn hinzugerechnet werden. Demnach bildet § 4 I 2 EStG bezüglich der Entnahmen von Nutzungen und Leistungen802 einen Kostenkorrekturtatbestand. Beispiel: Beispiele für Entnahmen: Ein Möbelhändler gibt seiner Ehefrau aus der Ladenkasse Geld für den Haushalt (Barentnahme); er schenkt seiner Tochter eine Möbelgarnitur aus dem Laden (Sachentnahme); er benutzt einen zum Betriebsvermögen gehörenden Pkw privat (Nutzungsentnahme); er lässt einen im Betrieb angestellten Boten in seinem Privatgarten arbeiten (Leistungsentnahme). Nicht entnahmefähig ist die eigene Arbeitskraft des Stpfl., z.B. Rechtsanwalt berät Familienangehörigen. 363 Die Entnahme muss durch ein Handeln (Tun, Dulden, Unterlassen) verursacht sein, das betriebs-
fremden Zwecken dient. Schlüssiges Verhalten genügt (z.B. ein Wirtschaftsgut wird nicht mehr für den Betrieb verwendet oder genutzt). Das Verhalten muss aber eindeutig auf eine Entnahmehandlung schließen lassen803. 364 Umgekehrt liegen Einlagen vor, wenn Wirtschaftsgüter dem Betrieb im Laufe des Wirtschaftsjahres
von außen zugeführt werden (§ 4 I 8 Hs. 1 EStG). § 4 I 8 Hs. 2 EStG stellt spiegelbildlich zur Entstrickung die Begründung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik an dem Gewinn aus der Veräußerung des Wirtschaftsguts (Verstrickung) einer Einlage gleich. Eine (offene oder verdeckte) Einlage i.S. des Steuerrechts setzt voraus, dass ein Gesellschafter der Gesellschaft einen bilanzierungsfähigen Vermögensvorteil (ein einlagefähiges Wirtschaftsgut) zuwendet804 (s. auch § 11 Rz. 92). Die Vorteilszuführung muss sich im Neuzugang oder der Erhöhung 799 V. Wendt, Das Verhältnis von Entnahme/Einlage zur Anschaffung/Veräußerung im Einkommensteuerrecht, Diss., 2003; Adam, Einlage, Tausch und tauschähnlicher Vorgang im Zivilrecht und im Steuerrecht, Diss., 2005. 800 Zu den unterschiedlichen Auffassungen zwischen engem, weitem u. vermittelndem Betriebsbegriff KSM/Plückebaum, § 4 EStG Rz. B 9 ff., 228 ff. m.w.N. 801 Zutr. Kirchhof/Crezelius17, § 4 EStG Rz. 94; a.A. noch Kirchhof/P. Fischer13, § 6 EStG Rz. 186, der in der Regelung eine Bestätigung des weiten Betriebsbegriffs des BFH sieht. 802 Dazu ausf. KSM/Plückebaum, § 4 EStG Rz. B 300. 803 Dazu näher m.w.N. BFH v. 9.8.1989 – X R 20/86, BStBl. II 1990, 128 (130); BFH v. 22.9.2004 – III R 9/03, BFH/NV 2005, 126 (Bewusstsein der Aufdeckung stiller Reserven nicht erforderlich). 804 BFH v. 9.6.1997 – GrS 1/94, BStBl. II 1998, 307 (Rz. 40); BFH v. 21.9.1989 – IV R 115/88, BStBl. II 1990, 86; R 8.9 Abs. 1 KStR 2015.
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Hennrichs
V. Entnahmen und Einlagen
Rz. 366 § 9
eines Aktivpostens oder dem Wegfall oder der Verminderung eines Passivpostens verkörpern805. Maßgeblich ist insoweit das Bilanzrecht; entscheidend ist, inwieweit Bilanzposten in eine Bilanz hätten eingestellt werden müssen806. Hiernach genügt die Überlassung von Gegenständen zur Nutzung ohne oder gegen verbilligtes Entgelt allein nicht, da dies nur mittelbar (geringere Kosten der Gesellschaft) zu einer Vermögensmehrung führt; schlichte Nutzungen, die nicht den Tatbestand des WG erfüllen, sind deshalb nicht (verdeckt) einlagefähig807. Steuerlich nicht einlagefähig ist deshalb namentlich die unentgeltliche oder verbilligte Darlehensgewährung. Der von einem Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft gewährte Vorteil, ein Darlehen zinslos nutzen zu können, ist steuerrechtlich kein einlagefähiges Wirtschaftsgut808. Allerdings sind vorrangig die allgemeinen Wertungen des Einkommensteuerrechts zu beachten809. 365 Die Einlagefähigkeit von Nutzungen und sonstigen Leistungen muss von der Korrekturfunktion der Einlage als Abgrenzung der betrieblichen zur außerbetrieblichen Sphäre her bestimmt werden. Hat der Stpfl. im Zusammenhang mit der betrieblich veranlassten Nutzung von eigenem betriebsfremden Vermögen Aufwendungen gehabt (z.B. bei betrieblicher Mitbenutzung privater Wirtschaftsgüter), müssen diese Aufwendungen nach dem Nettoprinzip gewinnmindernd berücksichtigt werden810. Da betriebsfremdes Vermögen nicht in den Vermögensvergleich einbezogen ist, lassen sich solche Aufwendungen innerhalb des BV-Vergleichs nur berücksichtigen, wenn hierfür eine Einlage abgesetzt wird („Nutzungseinlage“)811. Beispiel: Betriebliche Nutzung eines nicht bilanzierten Pkw im Umfang von 20 %. In diesem Umfang sind die Pkw-Aufwendungen einschließlich AfA als Einlage absetzbar. Diese Kostenkorrektureinlage hat der GrS trotz des von ihm statuierten Grundsatzes, dass prinzipiell nur Wirtschaftsgüter einlagefähig seien, bestätigt812. Gehört der Pkw nicht dem Unternehmer, sondern einem Dritten (z.B. der Ehefrau), und überlässt der Dritte das Fahrzeug unentgeltlich zur Nutzung, dann liegt sog. Drittaufwand vor (s. § 8 Rz. 223 ff.).
Entnahmen oder Einlagen können auch verdeckt erfolgen, wenn Vermögenszuweisungen zwar in 366 den Mantel von Austauschverträgen gekleidet werden, in Wahrheit aber privat oder durch ein Gesellschaftsverhältnis veranlasst sind (unangemessene Rechtsgestaltungen). Das kommt insb. bei Geschäften zwischen Gesellschaftern und „ihrer“ Gesellschaft vor: Beispiele für verdeckte Entnahmen sind sog. verdeckte Gewinnausschüttungen i.S. des § 8 III 2 KStG (dazu § 11 Rz. 70 ff.)813, nämlich Minderungen des Gesellschaftsvermögens, die durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst sind, aber nicht als offene Gewinnausschüttungen erfolgen (z.B. sachlich unangemessene, überhöhte Gehälter für Gesellschafter-Geschäftsführer). Gleichsam umgekehrt liegt eine verdeckte Einlage vor, wenn ein Gesellschafter der Gesellschaft einen bilanzierungsfähigen Vermögensvorteil (ein einlagefähiges Wirt805 BFH v. 26.10.1987 – GrS 2/86, BStBl. II 1988, 348 (Rz. 72); BFH v. 27.1.2010 – I R 35/09, BStBl. II 2010, 478; BFH 15.5.2013 – VI R 24/12, BStBl II 2014, 495; Blümich/Ehmcke, § 6 EStG Rz. 1416; Gosch/Roser3, § 8 KStG Rz. 105a. 806 BFH v. 15.5.2013 – VI R 24/12, BStBl. II 2014, 495; Gosch/Roser3, § 8 KStG Rz. 105a. 807 BFH v. 26.10.1987 – GrS 2/86, BStBl. II 1988, 348; Blümich/Ehmcke, § 6 EStG Rz. 1416; Blümich/Rengers, § 8 KStG Rz. 177; Gosch/Roser3, § 8 KStG Rz. 106. 808 BFH v. 26.10.1987 – GrS 2/86, BStBl. II 1988, 348 (LS 1); s. außerdem BFH v. 27.1.2010 – I R 35/09, BStBl. II 2010, 478; BFH v. 22.10.2015 – I B 122/14, BFH/NV 2016, 405. 809 Überzeugend Schmidt/Heinicke36, § 4 EStG Rz. 305, 307; ebenso letztlich BFH v. 26.10.1987 – GrS 2/86, BStBl. II 1988, 348 (Rz. 73, 76). 810 BFH v. 26.10.1987 – GrS 2/86, BStBl. II 1988, 348 (Rz. 76) unter Hinweis darauf, dass Betriebsausgaben i.S. des § 4 IV EStG auch an Vermögen entstehen können, das nicht in den BV-Vergleich einbezogen ist. 811 BFH v. 26.10.1987 – GrS 2/86, BStBl. II 1988, 348. 812 BFH v. 26.10.1987 – GrS 2/86, BStBl. II 1988, 348 (Rz. 76). 813 Hellwig, FS Döllerer, 1988, 205. Weitere Bsp. für verdeckte Entnahmen liefern insb. Angehörigenverträge (s. § 8 Rz. 162 ff.): Unterhaltszahlungen werden z.B. als Arbeitslohn kaschiert.
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§ 9 Rz. 367
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
schaftsgut) zuwendet (oben Rz. 364) und die Zuwendung im Gesellschaftsverhältnis veranlasst ist (s. § 11 Rz. 92)814. Eine gesellschaftsrechtliche Veranlassung wird angenommen, wenn ein fremder Dritter bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns das Geschäft zu den fraglichen Bedingungen nicht vorgenommen hätte (Fremdvergleich), namentlich wenn die Zuwendung ohne adäquate Gegenleistung erfolgt815. 367
Keine Entnahme liegt vor, wenn ein zu Unrecht bilanziertes WG des notwendigen Privatvermögens ausgebucht wird. Die Bilanz ist erfolgsneutral zu berichtigen (BFH BStBl. 1976, 378). Umgekehrt sind zu Unrecht nicht bilanzierte Wirtschaftsgüter mit dem Wert einzubuchen, mit dem sie bei von Anfang an richtiger Bilanzierung zu Buche stehen würden (BFH BStBl. 1978, 191) (s. auch Rz. 230 ff.).
368–369
Einstweilen frei.
2. Bewertung von Entnahmen und Einlagen 370
Entnahmen und Einlagen i.S.v. § 4 I 2, 8 Hs. 1 EStG sind prinzipiell mit dem Teilwert zu bewerten (§ 6 I Nr. 4 Satz 1 Hs. 1, Nr. 5 Satz 1 Hs. 1 EStG). Das gilt nach h.M.816 auch für einen auf § 5 IIa EStG beruhenden „Wegfallgewinn“ bei spezifiziertem Rangrücktritt bei Gesellschafterdarlehen (Rz. 167). Dagegen gilt für die durch das SEStEG eingeführte Entstrickungsentnahme (§ 4 I 3 EStG) bzw. Verstrickungseinlage (§ 4 I 8 Hs. 2 EStG) der gemeine Wert als Bewertungsmaßstab (§ 6 I 4 Satz 1 Hs. 2, Va EStG). Die Bewertung wird wie folgt konkretisiert und modifiziert:
371 a) Entnahmen: Entnommene WG sind zu deren Teilwert zu bewerten. Entnahmen von Nutzungen
und Leistungen sind mit den tatsächlichen Selbstkosten des Stpfl. zu bewerten817. Beispiel: Bei privater Nutzung eines zum BV gehörenden Flugzeugs ist der Wert der Nutzungsentnahme durch Aufteilung der jährlichen Gesamtaufwendungen für das Flugzeug in einen betrieblichen und einen privaten Anteil zu errechnen; Teilungsmaßstab sind die betrieblich und privat zurückgelegten Flugstunden bzw. Flugminuten818.
Im Falle der privaten Nutzung von Betriebsfahrzeugen ist als Entnahme (wenn kein ordnungsgemäßes Fahrtenbuch geführt wird) monatlich 1 % des inländischen Listenpreises anzusetzen, wenn das Fahrzeug zu mehr als 50 % betrieblich genutzt wird (§ 6 I Nr. 4 Satz 2, 3 EStG, s. § 8 Rz. 271), andernfalls sind die Kfz.-Kosten nutzungsentsprechend aufzuteilen819. 372
§ 6 I Nr. 4 Satz 4 EStG gestattet für Sachspenden (nicht: Nutzungen und Leistungen) an gemeinnützige Körperschaften Entnahmen zum Buchwert und stellt damit stille Reserven aus subventionellen Gründen steuerfrei (sog. Buchwertprivileg)820.
373
Besondere Vorschriften enthält § 16 III 6, 7 EStG für die Betriebsaufgabe (= Totalentnahme): Bei Veräußerung einzelner Wirtschaftsgüter sind die Veräußerungspreise, ansonsten gemeine Werte anzusetzen. 814 BFH v. 9.6.1997 – GrS 1/94, BStBl. II 1998, 307 (Rz. 40); BFH v. 21.9.1989 – IV R 115/88, BStBl. II 1990, 86; R 8.9 Abs. 1 KStR 2015; Weber-Grellet, DB 1998, 1532; Groh, StbJb. 1997/98, 7. 815 R 8.9 Abs. 3 KStR. 816 BFH v. 15.4.2015 – I R 44/14, BStBl. II 2015, 769; BFH v. 10.8.2016 – I R 25/15, BStBl. II 2017, 670; BFH v. 9.6.1997 – GrS 1/94, BStBl. II 1998, 307; a.A. (Einlage i.H. des gesamten auszubuchenden Betrags) mit beachtlichen Gründen W. Müller, BB 2016, 491 (494); Altrichter-Herzberg, GmbHR 2017, 185 f.; Schulze-Osterloh, NZG 2017, 641. 817 BFH v. 24.5.1989 – I R 213/85, BStBl. II 1990, 8. 818 BFH v. 26.7.1979 – IV R 170/74, BStBl. II 1980, 176. 819 Vgl. Eichfelder/Neugebauer, StuW 2016, 134. 820 Dazu Hüttemann, DB 2008, 1590; Seer, GmbHR 2008, 785.
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VI. Gewinn- und Verlustrealisierung
Rz. 376.1 § 9
Der Entnahmewert ist bei Wirtschaftsgütern, die der Stpfl. aus einem Betriebsvermögen in das Pri- 374 vatvermögen überführt, maßgeblich für die weitere AfA821. b) Einlagen: Einlagen sind grundätzlich mit dem Teilwert bei Zuführung anzusetzen (§ 6 I Nr. 5 1, 375 1. Teils. EStG). Für bestimmte WG bilden dagegen gem. § 6 I Nr. 5 Satz 1 Hs. 2, Satz 2 EStG die (fortgeführten) AK/HK die Wertobergrenze, nämlich für WG, die – innerhalb von drei Jahren vor dem Einlagezeitpunkt angeschafft/hergestellt worden sind, – die eine wesentliche Beteiligung i.S.d. § 17 EStG oder – ein Wirtschaftsgut i.S.d. § 20 II EStG sind. Durch diese Regelung sollen stille Reserven, die sich vor der Einlage gebildet haben, mit ins Betriebsvermögen übernommen werden822. Liegt der Teilwert dagegen unter den AK/HK, bleibt es bei der Grundregel des § 6 I Nr. 5 Satz 1 EStG und ist dieser anzusetzen. § 6 I Nr. 5 Satz 1 Hs. 2 Buchst. a EStG gilt auch für GWG. Waren diese innerhalb der letzten drei Jahre vor der Einlage angeschafft oder hergestellt und gem. § 6 II EStG voll abgeschrieben, beträgt ihr Einlagewert folglich 0823. S. auch § 6 I Nr. 5 Satz 3 EStG für den Fall der Einlage eines zuvor entnommenen WG (dann Verknüpfung von Einlagenbewertung und Entnahme). Bei der Eröffnung eines Betriebs (= Totaleinlage) ist § 6 I Nr. 5 EStG entspr. anzuwenden (§ 6 I 376 Nr. 6 EStG). Für die Bewertung spielt es keine Rolle, ob die Einlage offen oder verdeckt vorgenommen wird. § 6 376.1 VI 2, 3 EStG stellt den Spezialfall einer verdeckten Einlage (Rz. 366 und § 11 Rz. 92 ff.) von Wirtschaftsgütern in das Betriebsvermögen einer Kapitalgesellschaft dem Tausch gleich und ordnet an, dass die AK der Beteiligung um den Teilwert bzw. Einlagewert des eingelegten Wirtschaftsguts zu erhöhen sind. Im abgebenden Betriebsvermögen wird ein Gewinn realisiert. Einstweilen frei.
377–399
VI. Gewinn- und Verlustrealisierung Literatur (bis 2000 s. Voraufl.): Beiser, Die Gewinnrealisierung im Steuerrecht und Handelsrecht, ÖStZ 2001, 335; G. Mayr, Gewinnrealisierung im Steuerrecht und Handelsrecht, Wien 2001; Pilhofer, Umsatzund Gewinnrealisierung im internationalen Vergleich, Diss., 2002; Weber-Grellet, Realisationsprinzip und Belastungsprinzip – Zum zeitlichen Ausweis von Ertrag und Aufwand, DB 2002, 2180; Dauber, Das Realisationsprinzip als Grundprinzip der steuerrechtlichen Gewinnermittlung, Diss., 2003; Kessler/Huck, Grenzüberschreitende Transfers von Betriebsvermögen, StuW 2005, 193; Hoffmann/Lüdenbach, Das Realisationsprinzip – 1884 und heute, DStR 2004, 1758; Carlé, Entstrickung im Ertragsteuerrecht, KÖSDI 2007, 15401; Kaeser, Entstrickung und Verstrickung, in Lüdicke (Hrsg.), Besteuerung von Unternehmen im Wandel, 2007, 131; Sessar, Grundsätze ordnungsgemäßer Gewinnrealisierung im deutschen Bilanzrecht – Objektivierung des Realisationszeitpunkts in wirtschaftlicher Betrachtungsweise, Diss., 2007; von der Laage, Besteuerungsbedürfnis versus Europarechtskonformität beim Wegzug einer Europäischen Aktiengesellschaft – Anm. zum Beschl. des FG Rheinland-Pfalz v. 7.1.2011 – 1 V 1217/10, StuW 2012, 182.
821 H 7.3 EStH; BFH v. 14.12.1999 – IX R 62/96, BStBl. II 2000, 656; anders V. Wendt, Das Verhältnis von Entnahme/Einlage zur Anschaffung/Veräußerung im Einkommensteuerrecht, Diss., 2003, 101 ff. (nachträgliche AK in Höhe der aufgedeckten stillen Reserven). 822 S. BT-Drucks. 16/4841, 50; Blümich/Ehmcke, § 6 EStG Rz. 1053. 823 BFH v. 27.1.1994 – IV R 101/92, BStBl. II 1994, 638.
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§ 9 Rz. 400
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
1. Prinzipien der Gewinn- und Verlustrealisierung 400 Gem. § 6 I Nr. 1, Nr. 2 EStG sind WG des AV und des UV grds. (höchstens) mit ihren AK/HK anzuset-
zen (sog. Anschaffungswertprinzip). Etwaige Wertsteigerungen des „ruhenden“ BV über die historischen AK/HK hinaus (z.B. bei Grundstücken infolge steigender Grundstückspreise) werden hiernach zunächst nicht steuerrelevant. Erst wenn solche Wertsteigerungen (durch Markttransaktionen) realisiert werden, entstehen steuerbare Gewinne (§ 252 I Nr. 4 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG, sog. Realisationsprinzip, Rz. 79; zur Auslegung des maßgeblichen Realisationszeitpunkts sogleich Rz. 411 ff.). 401 Aufgrund des Anschaffungswert- und Realisationsprinzips können sich sog. stille Reserven (auch
„stille Rücklagen“ im Unterschied zu „offenen Rücklagen“) bilden. Stille Reserve ist der Unterschiedsbetrag zwischen Buchwert und höherem gemeinen Wert (Verkehrswert) oder Teilwert eines (aktiven) Wirtschaftsguts. Stille Reserven können insb. entstehen durch: – Nichtberücksichtigung von „ruhenden“ Wertzuwächsen infolge des Anschaffungs- oder Herstellungskostenprinzips des § 6 I Nr. 1, 2 EStG; aber auch durch – erhöhte Absetzungen oder Sonderabschreibungen (s. § 19 Rz. 17); – Sofortabschreibung von geringwertigen Wirtschaftsgütern (s. Rz. 314); – inflationäre Erhöhungen des Preises für Wirtschaftsgüter. 402 Das Anschaffungswert- und das Realisationsprinzip gehören zu den Fundamentalkonkretisierungen
des Markteinkommensprinzips (§ 7 Rz. 33). Die Markteinkommensteuer erfasst grds. nur das erwirtschaftete Einkommen. Die Gefahr falscher Bewertung nicht realisierten Vermögenszuwachses wird vermieden. Es ist auch verfassungsrechtlich geboten, die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit wirtschaftlich maßvoll zu gestalten und bei der Besteuerung auf möglichst sichere Werte abzustellen824. 403 Im Interesse der vollständigen Erfassung steuerlicher Leistungsfähigkeit wird das Realisationsprinzip
allerdings teilweise ergänzt durch sog. Ersatzrealisationstatbestände: Wenn ein WG aus dem BV ausscheidet (insb. durch Entnahme, Betriebsaufgabe) oder aus der nationalen Besteuerungshoheit heraus verlagert wird (insb. durch Überführung in eine Auslandsbetriebsstätte, Sitzverlegung) besteht ein Bedürfnis nach Abrechnung der stillen Reserven, die in der Erwerbssphäre unter deutscher Steuerhoheit bisher erwirtschaftet worden sind, auch wenn eine Realisation durch Verkauf o.ä. Markttransaktionen (noch) nicht eingetreten ist. Diesen Zweck verfolgen die Vorschriften über die Entnahme (§ 4 I 2 u. 3 EStG) und die Betriebsaufgabe (§ 16 III u. IIIa EStG), die §§ 11; 12; 13 KStG sowie die Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG. 404
Gleichsam umgekehrt erlaubt das Gesetz in manchen Fällen einen Aufschub der Besteuerung stiller Reserven, obwohl diese realisiert worden sind. Man spricht in diesen Fällen vom Prinzip der Buchwertverknüpfung825. Es greift in folgenden Fällen: – Das stille Reserven enthaltende Vermögen wird unentgeltlich übertragen. Eine Wertaufdeckung durch Leistungsaustausch findet hier nicht statt, so dass es das durch das Markteinkommensprinzip konkretisierte Übermaßverbot rechtfertigt, die Buchwerte selbst beim Übergang stiller Reserven auf andere Steuerrechtssubjekte beizubehalten (s. § 6 III EStG; § 11d EStDV). – Überführung einzelner Wirtschaftsgüter zwischen verschiedenen (Sonder-)Betriebsvermögen desselben Stpfl. (§ 6 V 1, 2 EStG) sowie in bestimmten Fällen selbst zwischen (Sonder-)Betriebsver-
824 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 344 ff.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (307 ff., 312 ff.). 825 Dazu Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 786 ff.; J. Lang, Bemessungsgrundlage, 353 ff.; Troost, Die Buchwertfortführung im Steuerrecht auf dem Weg zu einem allgemeinen Rechtsprinzip, Diss., 1996; Fasold, Die einkommensteuerliche Problematik der Buchwertfortführung, Diss., 2005; Kredig, Besteuerung stiller Reserven bei Unternehmensumstrukturierungen, Diss., 2013.
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Hennrichs
VI. Gewinn- und Verlustrealisierung
Rz. 413 § 9
mögen und Gesellschaftsvermögen und zwischen den jeweiligen Sonderbetriebsvermögen verschiedener Mitunternehmer derselben Mitunternehmerschaft (§ 6 V 3 EStG). – Das stille Reserven enthaltende Vermögen wird nach den Vorschriften des UmwStG umstrukturiert. In diesen Fällen könnte der Steuerzugriff den Effekt haben, dass der Umstrukturierungsprozess gestört oder gar verhindert würde. Eine solche Besteuerung zur Unzeit rechtfertigt ihren Aufschub und auch den Übergang stiller Reserven auf andere Steuerrechtssubjekte, sofern die spätere Besteuerung gesichert ist (s. § 14 Rz. 40 ff.). Das Prinzip der Buchwertfortführung bei Übergang stiller Reserven auf einen anderen Stpfl. steht in 405 einem rechtfertigungsbedürftigen Spannungsverhältnis mit dem Grundsatz der Individualbesteuerung (§ 8 Rz. 22 ff.; § 10 Rz. 150; § 14 Rz. 44). Einstweilen frei.
406–409
2. Gewinnrealisierung bei Umsatzgeschäften (Lieferung und Leistung) Gem. § 252 I Nr. 4 HGB i.V.m. § 5 I 1 EStG ist der Besteuerung die realisierte Vermögensmehrung 410 zugrunde zu legen. Angeknüft wird damit grds. an eine Markttransaktion durch Leistungsaustausch (Umsatzakt). Zur Bestimmung des genauen Realisationszeitpunkts kommen theoretisch drei Zeitpunkte in Be- 411 tracht: der Zeitpunkt des Vertragsabschlusses, der Vornahme der Leistungshandlung und schließlich der Bezahlung des Entgelts. Beispiel: Autohändler verkauft im März ein Auto. Im Juli wird das Auto geliefert. Im August überweist der Kunde den Kaufpreis. Frage: Wann ist der Verkaufsgewinn realisiert? Im März, Juli oder August?
Der sicherste Zeitpunkt wäre die Bezahlung des Entgelts. Bei der Bilanzierung gilt aber nicht das Zu- 412 flussprinzip (s. § 11 I 5 EStG), sondern erfasst werden Wirtschaftsgüter. Daher ist die Frage, wann die Forderung auf den Kaufpreis (§ 433 II BGB) oder Werklohn (§ 631 I BGB) als WG angesetzt werden darf. Rechtlich entsteht die Forderung an sich bereits mit dem Vertragsschluss, so dass man daran denken könnte, für die Aktivierung auf diesen Zeitpunkt abzustellen. Allerdings ist die Forderung dann i.d.R. noch einredebehaftet (s. § 320 BGB). Daher hat sich als h.M. entwickelt, den Gewinn (erst, aber auch bereits) dann als realisiert zu beurteilen, wenn der Schuldner seine Leistung erbracht hat und die Forderung einredefrei ist. Angeknüpft wird an die zugrundeliegenden Zivilrechtsstrukturen; maßgeblich ist grds. der Übergang der Preisgefahr826. Denn dann behält der Schuldner selbst dann seinen Anspruch auf das Entgelt, wenn die Sache zufällig untergehen sollte. Der Anspruch auf die Gegenleistung ist somit „quasi sicher“827 und nur noch mit dem allgemeinen Ausfallrisiko von Forderungen behaftet. Dieses Risiko ist ggf. durch Wertberichtigung des Erfüllungsanspruchs zu berücksichtigen. Beispiel: Im Beispielsfall wird also im Zeitpunkt der Lieferung die Kaufpreisforderung aktiviert, das gelieferte Auto zum Buchwert ausgebucht und die Differenz als Ertrag erfasst („per Forderungen aus Lieferungen und Leistungen und Ertrag an Waren“). Damit ist im Juli der Gewinn realisiert.
Bis zum Zeitpunkt der Leistung als dem Realisationszeitpunkt ist ein schwebendes Geschäft an- 413 zunehmen. Solange ein Geschäft schwebt, d.h. der zur Sach- oder Dienstleistung Verpflichtete seine den Vertrag kennzeichnende Hauptleistung noch nicht erbracht hat, sind die aus ihm resultierenden Forderungen und Verbindlichkeiten grds. nicht zu bilanzieren828 (GoB der Nichtbilanzierung schwe826 S. z.B. BFH v. 3.8.2005 – I R 94/03, BStBl. II 2006, 20; BFH v. 8.9.2005 – IV R 40/04, BStBl. II 2006, 26 (27 ff.). 827 Vgl. BFH v. 3.8.2005 – I R 94/03, BStBl. II 2006, 20; Marx, StuB 2016, 327. 828 BFH v. 8.12.1982 – I R 142/81, BStBl. II 1983, 369.
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§ 9 Rz. 414
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
bender Geschäfte, Rz. 76). Ein Gewinnausweis ist noch nicht zulässig. Vorleistungen durch Zahlungen in Form erhaltener Anzahlungen sind durch Passivierung zu neutralisieren (§ 266 III Bucht. C. Nr. 3. HGB). Für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften müssen handelsrechtlich Rückstellungen gebildet werden (§ 249 I 1 Alt. 2 HGB). Für die Steuerbilanz verbietet dies § 5 IVa 1 EStG (s. Rz. 80, 188). Befindet sich der Stpfl. in einem (Dauer-)Schuldverhältnis mit seiner Leistung dagegen im Erfüllungsrückstand, ist das Geschäft insoweit nicht mehr schwebend (Rz. 183). Ein Erfüllungsrückstand liegt vor, wenn der eine Teil für einen bestimmten Zeitraum die Leistung des Vertragspartners bereits erhalten, seinerseits aber die Gegenleistung noch nicht oder noch nicht vollständig erbracht hat (z.B. Mietrückstand des Mieters). Es ist dann – auch für Zwecke der Steuerbilanz – eine Verbindlichkeitsrückstellung zu bilden. 414
Mitunter kann die Beurteilung, ob der Gewinn am Bilanzstichtag realisiert ist, Schwierigkeiten bereiten. Problematisch kann die Gewinnrealisation insb. sein, wenn beispielsweise zwar die Preisgefahr schon übergegangen ist, aber dennoch einzelne wesentliche Teilleistungen (z.B. Aufstellung und Montage oder Einweisung) am Bilanzstichtag noch nicht erbracht worden sind829, dem Kunden Rücktrittsrechte830 gewährt sind oder sale-and-lease-back- oder sale-and-buy-back-Gestaltungen gegeben sind831. Die entscheidende Frage ist stets, ob der Anspruch des Stpfl. „so gut wie sicher“832 („quasi-sicher“833) ist. Das erfordert eine wertende Beurteilung der Risikolage auf der Grundlage der vertraglichen oder dispositiven gesetzlichen Bestimmungen834. Schuldrechtliche Ereignisse wie Übergabe der Ware, Übergang der Preisgefahr u.s.w. sind Indikatoren, die auf ihre Bedeutung für den Eintritt einer Mehrung disponiblen Vermögens untersucht werden müssen835. Im Einzelfall kann der Anspruch gleichsam umgekehrt selbst dann „so gut wie sicher“ und damit zu aktivieren sein, wenn die Preisgefahr noch nicht übergegangen ist, z.B. bei selbständig abrechenbaren und vergütungsfähigen Teilleistungen/Teilerfüllung836 (s. auch sogleich Rz. 415 f.); auch denkbar bei bereits bezahlter Ware, zu der eine Vorabnahme stattgefunden hat und die uneingeschränkt zur Lieferung bereit steht837.
415
Bei Werkverträgen geht die Preisgefahr erst mit der Abnahme über (§ 640 BGB). Abschlagzahlungen gem. § 632a BGB bewirken für sich genommen noch keine Gewinnrealisierung838, weil sie nur vorläufige Anzahlungen im Sinne eines Liquiditätsvoraus auf den eigentlichen Entgeltanspruch sind; 829 Vgl. dazu Beck’scher Bilanz-Komm./Schubert/Waubke11, § 247 HGB Rz. 83; Gelhausen, Das Realisationsprinzip im Handels- und Steuerbilanzrecht, 1985, 210 ff.; MünchKomm. BilanzR/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 57. 830 Dazu BFH v. 25.1.1996 – IV R 114/94, BStBl. II 1997, 382 (383 f.): grds. Realisation trotz Rücktrittsrechts; der drohenden Ausübung des Rücktrittsrechts ist ggf. durch Bildung einer Rückstellung Rechnung zu tragen; differenzierend MünchKomm. Bilanzrecht/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 55 f. m.w.N. 831 Vgl. dazu IDW ERS HFA 13. Allerdings ist dieser Standard nach wie vor nicht offiziell verlautbart worden, weil die Details der Gewinnrealisierung in solchen Fällen weiterhin umstr. sind. 832 BFH v. 3.8.2005 – I R 94/03, BStBl. II 2006, 20. 833 Dauber, Das Realisationsprinzip als Grundprinzip der steuerrechtlichen Gewinnermittlung, 2003, 144; Euler, Grundsätze ordnungsmäßiger Gewinnrealisierung, 1989, 69 f.; Gelhausen, Das Realisationsprinzip im Handels- und im Steuerbilanzrecht, 1985, 68, 72; Moxter, Bilanzrechtsprechung6, § 5 I 1. 834 Zutr. Woerner, FR 1984, 489 (494). 835 Woerner, BB 1988, 769 (774). 836 BFH v. 8.12.1982 – I R 142/81, BStBl. II 1983, 369; BFH v. 29.11.2007 – IV R 62/05, BStBl. II 2008, 557; s. auch BFH v. 14.5.2014 – VIII R 25/11, BStBl. II 2014, 968 für Abschlagszahlungen gem. § 8 I HOAI a.F. 837 RFHE 29, 276 (281, 289); BFH v. 8.5.1952 – IV 403/51 U, BFHE 56, 449 (452) = BStBl. III 1952, 173; Leffson, GoB6, 1982, 258 ff.; zurückhaltend aber z.B. BFH v. 27.2.1986 – IV R 52/83, BStBl. II 1986, 552: keine Realisation, wenn Ware am Bilanzstichtag zwar getrennt gelagert, aber noch nicht ausgeliefert worden ist. 838 IDW-FN 2015 S. 257 f.; IDW Life 2015 S. 616–618; Oser/Bolik/Wirtz, DB 2016, 421; Prinz, DB 2016, 371; Marx/Juds, DStR 2015, 1462; Velte/Stawinoga, StuW 2016, 118; Müller, WPg. 2016, 474. – Das
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Hennrichs
VI. Gewinn- und Verlustrealisierung
Rz. 416 § 9
sie haben insb. nicht die Wirkung einer Teilabnahme, sondern sind zu erstatten, wenn und soweit das Werk letztlich nicht mangelfrei geleistet wird. Bei langfristiger Auftragsfertigung839 (z.B. Herstellung von Kraftwerken, Infrastrukturgroßprojekten), die sich über mehrere Steuerperioden hinzieht, ist ein Gewinnausweis grds. ebenfalls erst am Ende des Auftrags mit Abnahme der Leistung zulässig, weil prinzipiell erst dann die Gefahr übergeht (§ 644 BGB). Zuvor gilt der GoB der Nichtbilanzierung schwebender Geschäfte. Auf diese Weise können nichtaktivierbarer Aufwand und Gewinn in verschiedene Perioden fallen. Dies führt zu Progressionsschwankungen und birgt auf Grund der Mindestbesteuerung des § 10d II 1 EStG das Risiko unvollständiger Verlustnutzung840. Eine Teilgewinnrealisierung ist nach der Rspr. nur zulässig, wenn Teilleistungen selbständig abgrenzbar, zum Bilanzstichtag fertig gestellt und vom Empfänger abgenommen sind841. Der Gewinnausweis bei solcherart qualifizierten Teilleistungen steht in Einklang mit dem Realisationsprinzip (vgl. § 641 I 2 BGB). Problematisch und noch nicht abschließend geklärt ist die Gewinnrealisierung bei sog. Mehrkom- 416 ponentengeschäften842. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass entweder in einem einzigen Vertrag mehrere unterschiedliche Leistungen geregelt sind oder mehrere Einzelverträge aufgrund ihres engen Zusammenhangs bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise als ein Geschäft zu beurteilen sind. Beispiele: Abschluss von Mobilfunkdienstleistungsverträgen über 24 Monate mit subventioniertem Verkauf eines Mobiltelefons; Abschluss eines PayTV-Vertrags mit Mindestlaufzeit und Bezug eines Receivers; Lieferung von Kopierern mit Nutzungskontingenten und Wartungsverpflichtungen; Verkauf von Standardsoftware mit Customizing, Implementierung, Wartung und Schulung; Gerüstbauverträge mit Einheitspreisen für Lieferung, Aufbau, Vorhalte während der Grundeinsatzzeit sowie den Abbau der Gerüste; Nachbetreuungsverpflichtungen eines Hörgeräte-Akustikers.
Nach wohl h.M.843 ist zu unterscheiden: – Sind die beizulegenden Zeitwerte der jeweiligen Einzelleistungen verlässlich bestimmbar und könnten die Einzelleistungen auch unabhängig voneinander bezogen und genutzt werden, so sollen die Erlöse aus den einzelnen Komponenten gesondert zu erfassen sein. Der Gesamtpreis sei dann nach dem Verhältnis der beizulegenden Zeitwerte der Komponenten auf diese aufzuteilen.
839
840 841 842
843
zwischenzeitlich anderslautende Schreiben BMF BStBl, I 2015, 542 wurde später wieder aufgehoben (BMF BStBl. I 2016, 279; dazu Prinz, DB 2016, 684). Dazu Paal, Realisierung sog. Teilgewinne aus langfristigen, auftragsbezogenen Leistungen im Jahresabschluss der AG, 1977; Kohler, Mehrjährig schwebende Geschäfte des Industrieanlagenbaus – Bilanzielle Behandlung in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Japan und den USA unter Berücksichtigung steuerlicher Auswirkungen, 1989; Döll, Bilanzierung langfristiger Fertigung, 1984; Zieger, Gewinnrealisierung bei langfristiger Fertigung, 1990; Schröer, Das Realisationsprinzip in Deutschland und Großbritannien. Eine systematische Untersuchung und ihre Anwendung auf langfristige Auftragsfertigung und Währungsumrechnung, Diss., 1998, 213 ff.; Küting/Bauer/Hess/Reuter, DStR 2008, Beihefter 47, 81; Kranz, Aspekte der Immobilienbilanzierung: IFRS vs. HGB und Steuerrecht, 2012; Oppl, Gewinnrealisierung bei langfristiger Auftragsfertigung, 2015; Velte/Stawinoga, StuW 2016, 118. Dazu Lang/Englisch, StuW 2005, 3 (21 ff.). BFH v. 5.5.1976 – I R 121/74, BStBl. II 1976, 541; s. auch BFH v. 8.12.1982 – I R 142/81, BStBl. II 1983, 369; Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 946 f.; Herzig, WPg. 2000, 104 (114); MünchKomm. Bilanzrecht/Tiedchen, § 252 HGB Rz. 74 f.; Wüstemann/Wüstemann, ZfB 79 (2009), 31. Dazu Lüdenbach/Hoffmann, DStR 2006, 153; Wüstemann/Kierzek, zfbf 2007, 882; Wirth, Die Bilanzierung von Mehrkomponentengeschäften nach HGB, IFRS und US-GAAP, 2009; Joisten, Mehrkomponentengeschäftre im Handels- und Steuerbilanzrecht, 2012; Schuster, Bilanzierungsfragen bei Mehrkomponentengeschäften, Ubg 2013, 312; Prinz, DB 2016, 1897; Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 943. Vgl. E-DRS 17.41 ff.; IDW, WPH Edition15, F Rz. 94; Beck’scher Bilanzkomm./Winkeljohann/Büssow11, § 252 HGB Rz. 44; Haufe HGB Bilanz Kommentar/Bertram8, § 252 HGB Rz. 111.
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§ 9 Rz. 417
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
– Sind die Zeitwerte der Einzelkomponenten dagegen nicht verlässlich bestimmbar oder die Einzelleistungen nicht unabhängig voneinander nutzbar, sei der gesamte Erlös aus dem Geschäft erst zu erfassen, wenn sämtliche wesentlichen Einzelleistungen erbracht sind. Beispiel: Im Beispiel der Handysubvention bei gleichzeitigem Abschluss eines Mobilfunkdienstleistungsvertrags mit 24-monatiger Laufzeit hielt der BFH es für geboten, den Aufwand aus der verbilligten Abgabe der Mobiltelefone über einen aktiven RAP zu verteilen844. Die Voraussetzungen für einen aktiven RAP liegen aber richtigerweise nicht vor (oben Rz. 205). Der HFA des IDW und Teile des Schrifttums sind deshalb der Auffassung, in diesen Fällen sei der Gesamterlös aufzuteilen und für die realisierte Mobiltelefon-Komponente eine Forderung anzusetzen, da das Telekommunikationsunternehmen mit der Lieferung des Mobiltelefons eine (Teil-)Leistung bereits erbracht habe, für die es (über die erhöhte Grundgebühr) einen künftigen Anspruch auf Geldzahlung habe845. Auch das ist aber nicht restlos überzeugend, weil das Entgelt aus der Mobilfunkdienstleistungskomponente erst mit abschnittsweiser Erbringingung der Mobilfunkdienstleistung realisiert ist (oben Rz. 205). Wieder andere sehen in der Handysubvention ein Entgelt für ein immaterielles WG „Kundenbindung“ oder „Kundengewinnung“ (oder „Belieferungsrecht“), das, weil entgeltlich erworben, trotz § 5 II EStG aktivierungsfähig sei846. Auch diese Ansicht ist freilich nicht über jeden Zweifel erhaben, weil die Kunden das verbilligt erworbene Mobiltelefon selbst dann behalten dürfen, wenn der Mobilfunkdienstleistungsvertrag vorzeitig aus wichtigem Grund (z.B. wegen nachhaltiger Netzstörungen oder wegen Zahlungsverzugs des Kunden) beendet werden sollte. Eine vierte Meinung schließlich nimmt deshalb an, dass die verbilligte Abgabe der Mobiltelefone bei den Telekommunikationsunternehmen zu Aufwand in der Periode der Abgabe führt. Bei Gerüstbauverträgen werden häufig nach Gerüstaufbau Abschläge angefordert, die die anteiligen Auf-, Um- und Abbaukosten sowie die nach Ablauf der Grundeinsatzzeit angefallenen Entgelte beinhalten. Eine Schlussrechnung wird erst nach Abbau sämtlicher Gerüste erstellt. Hier ist fraglich, ob mehrere abgrenzbare und trennbare Teilleistungen (Aufbau, Vorhalte, Abbau) anzunehmen sind, die gesondert auf ihre Realisation hin zu beurteilen sind, oder ob ein untrennbares einheitliches Ganzes vorliegt. Im ersteren Fall käme es zu einer anteiligen vorgezogenen Gewinnrealisierung, im letzteren Fall wären die Abschläge als erhaltene Anzahlungen im Rahmen schwebender Geschäfte zu behandeln. Das FG Baden-Württemberg hat sich zu Recht für die zuletzt genannte Beurteilung (einheitliche Leistung mit einheitlicher Realisation erst am Schluss mit der letzten geschuldeten wesentlichen Erfüllungshandlung) entschieden847. Verpflichtet sich ein Hörgeräte-Akustiker beim Verkauf einer Hörhilfe für einen bestimmten Zeitraum zur kostenlosen Nachbetreuung des Gerätes und des Hörgeschädigten in technischer und medizinischer Hinsicht, hat er für diese Verpflichtung eine Rückstellung zu bilden848 (oben Rz. 176, 180). 417 Dividendenansprüche sind in der Bilanz des Gesellschafters richtigerweise grds. erst nach Fassung
des Gewinnverwendungsbeschlusses bei der ausschüttenden Kapitalgesellschaft und damit phasenverschoben zu aktivieren849. 418 Gewinnrealisierung ist grds. auch dann anzunehmen, wenn ein Tausch oder tauschähnlicher Vor-
gang vorliegt, das Veräußerungsentgelt also nicht in Geld, sondern in Sachwerten oder in Dienstleistungen besteht. In diesen Fällen bemessen sich die Anschaffungskosten des eingetauschten Gegenstands nach dem gemeinen Wert des hingegebenen Wirtschaftsguts (§ 6 VI 1 EStG). § 6 VI 1 EStG erfasst nach h.M. auch den tauschähnlichen Vorgang der Einbringung eines Wirtschaftsguts in das Betriebsvermögen einer Personengesellschaft oder Kapitalgesellschaft gegen Gewährung von Gesell844 Dazu BFH v. 15.5.2013 – I R 77/08, BStBl. II 2013, 730. 845 IDW-FN 2015, 388; ebenso Schulze-Osterloh, BB 2013, 2099; s. auch Oser/Bellert/König, IRZ 2017, 49 (50 f.). 846 Haufe HGB Bilanz Kommentar/Bertram8, § 248 HGB Rz. 31; MünchKomm. HGB/Ballwieser3, § 248 HGB Rz. 27. 847 FG Baden-Württemberg v. 3.3.2016 – 3 K 1603/14, EFG 2016, 1071 (Gerüstbauverträge); zust. Prinz, DB 2016, 1897; s. auch Hoffmann, StuB 2016, 717. 848 BFH v. 5.6.2002 – I R 96/00, BStBl. II 2005, 736. 849 BFH v. 7.8.2000 – GrS 2/99, BStBl. II 2000, 632; MünchKomm. Bilanzrecht/Hennrichs, § 246 HGB Rz. 42 ff.; je m.w.N. zum Streitstand.
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VI. Gewinn- und Verlustrealisierung
Rz. 423 § 9
schafterrechten850 (dagegen § 10 Rz. 151 ff.), wenn nicht §§ 20; 24 UmwStG (s. § 10 Rz. 152 ff.) oder § 6 V 3 EStG (s. § 10 Rz. 151, 156 ff.) eingreifen. Einstweilen frei.
419–420
3. Aufgeschobene Gewinnrealisierung 3.1 Aufschub der Besteuerung stiller Reserven bei demselben Stpfl. (RfE; §§ 6b, 6c; § 6 V 1, 2 EStG) In bestimmten Fällen wird die Besteuerung der stillen Reserven trotz Realisationsaktes aufgeschoben, 421 um Umstrukturierungen des Anlagevermögens steuerlich nicht zu stören oder zu verhindern. Dies betrifft Fälle der sog. Ersatzbeschaffung, die §§ 6b, 6c EStG sowie Umstrukturierungen des BV bei Mitunternehmerschaften nach Maßgabe des § 6 V EStG. Der Besteuerungsaufschub verändert den Zeitpunkt der Besteuerung. Dies dient im Rahmen wirtschaftlich maßvoller Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit der Erhaltung der Erwerbsgrundlagen851. Hierdurch entstehen Liquiditäts- und Zinsvorteile. a) Ersatzbeschaffung: Scheidet ein Wirtschaftsgut infolge höherer Gewalt (z.B. Brand, Diebstahl) 422 oder infolge bzw. zur Vermeidung eines behördlichen Eingriffs (z.B. Enteignung) gegen Entschädigung aus dem Betriebsvermögen aus und wird im Laufe desselben Wirtschaftsjahres ein Ersatzwirtschaftsgut852 angeschafft, so gewährt die FinVerw. ein Wahlrecht, die stillen Reserve auf das Ersatzwirtschaftsgut zu übertragen (s. R 6.6 EStR). Beispiel: Bei einem Gewerbetreibenden verbrennt eine Maschine, die mit 5 000 Euro zu Buche steht. Die Feuerversicherung zahlt eine Entschädigung von 10 000 Euro. Damit ist an sich ein Gewinn von 5 000 Euro realisiert. Im gleichen Jahr wird als Ersatz eine neue Maschine für 15 000 Euro angeschafft. Die Ersatzmaschine kann mit den AK abzgl. der die verbrannte Maschine betr. stillen Reserve aktiviert werden (15 000 – 5 000 = 10 000 Euro). Damit ist die stille Reserve von 5 000 Euro wieder hergestellt, eine Gewinnrealisierung in der Schlussbilanz vermieden.
Das WG ist wegen der Abweichung von der Handelsbilanz gem. § 5 I 2 EStG in ein besonderes laufend zu führendes Verzeichnis aufzunehmen (R 6.6 I 2 Nr. 3 EStR). Wird die Ersatzbeschaffung nicht in demselben Jahr durchgeführt, ist sie aber ernstlich geplant, so 423 darf als Passivposten eine „steuerfreie Rücklage für Ersatzbeschaffung“ in Höhe der stillen Reserve gebildet werden (R 6.6 IV EStR)853. Im Zeitpunkt der Ersatzbeschaffung ist die Rücklage durch Übertragung auf das Ersatzwirtschaftsgut aufzulösen; dessen Buchwert wird entspr. niedriger als die AK angesetzt. Die Ersatzbeschaffung ist grds. innerhalb des auf das Ausscheiden folgenden Wirtschaftsjahres vorzunehmen, andernfalls ist die Rücklage gewinnerhöhend aufzulösen (nach Art des Wirtschaftsguts differenzierende Regelung in R 6.6 IV EStR).
850 Vgl. BFH v. 15.7.1976 – I R 17/74, BStBl. II 1976, 748; BFH v. 19.10.1998 – VIII R 69/95, BStBl. II 2000, 230; BFH v. 11.12.2001 – VIII R 58/98, BStBl. II 2002, 420; BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464; BMF BStBl. I 2011, 1279 (Rz. 8); Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 698; a.A. Niehus, StuW 2017, 27. 851 J. Lang, DStJG 4 (1981), 94; s. auch BT-Drucks. IV/2400, 62: Das Anlagevermögen sei „seinem Wesen nach nicht zur Gewinnerzielung durch Veräußerung bestimmt“. 852 Dazu BFH v. 22.1.2004 – IV R 65/02, BStBl. II 2004, 421 m. Anm. Weber-Grellet, StuB 2004, 459. 853 St. Rspr., s. BFH v. 29.4.1982 – IV R 10/79, BStBl. II 1982, 568 (569); BFH v. 9.12.1982 – IV R 54/80, BStBl. II 1983, 371; BFH v. 29.4.1999 – IV R 7/98, BStBl. II 1999, 488 (Übergang zu § 4 III EStG); BFH v. 4.2.1999 – IV R 57/97, BStBl. II 1999, 602 (Rücklage unzulässig bei Schätzung); BFH v. 14.10.1999 – IV R 15/99, BStBl. II 2001, 130 (Rücklage bei Verkehrsunfall); BFH v. 12.6.2001 – XI R 5/00, BStBl. II 2001, 830 (behördliches Nutzungsverbot).
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§ 9 Rz. 424
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
424 Die Legitimation dieses im Erlasswege gewährten Besteuerungsaufschubs ist nach dem Beschluss
des Großen Senats des BFH zum Sanierungserlass854 zweifelhaft855. Der BFH hat darin den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung betont: Auch im Wege von Verwaltungserlassen dürfen die Finanzbehörden Ausnahmen von der gesetzlich vorgeschriebenen Besteuerung nicht zulassen, denn auch der Verzicht auf den Steuereingriff bedarf einer gesetzlichen Grundlage. Das dürfte für einen zeitweisen Verzicht (Besteuerungsaufschub, Rz. 421) ebenso gelten. 425 b) Reinvestitionsrücklage856: §§ 6b; 6c EStG gestatten die Übertragung stiller Reserven bei Veräuße-
rung bestimmter Anlagegüter. Der früher umfangreiche Katalog der begünstigten Anlagegüter umfasst nur noch Grund und Boden, Aufwuchs auf land- und forstwirtschaftlichem Grund und Boden, Gebäude sowie Binnenschiffe (§ 6b I 1, 2 EStG) und in begrenztem Umfang Anteile an Kapitalgesellschaften (§ 6b X EStG). Voraussetzung ist u.a., dass das Wirtschaftsgut mindestens 6 Jahre zum AV einer inländischen Betriebsstätte gehört hat (§ 6b IV 1 Nr. 2 EStG); die angeschafften oder hergestellten Reinvestitionswirtschaftsgüter müssen außerdem ebenfalls wieder zum AV einer inländischen Betriebsstätte gehören (§ 6b IV 1 Nr. 3 EStG). Diesen Inlandsbezug hat der EuGH als einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV beurteilt857. Der Gesetzgeber hat darauf mit § 6b IIa EStG reagiert858: Im Fall der Zuordnung eines Ersatzwirtschaftsguts zu einem BV des Stpfl. im EU-/EWR-Ausland räumt diese Regelung ein Wahlrecht zwischen einer Sofortbesteuerung und einer Verteilung der Steuer über fünf Jahre ein. Dies ist unionsrechtlich nicht (mehr) zu beanstanden859. 426 Die Übertragung ist limitiert auf die Anschaffung artgleicher Wirtschaftsgüter, d.h. der Gewinn aus
der Veräußerung von Grund und Boden kann nur auf die AK/HK von Grund und Boden übertragen werden u.s.w. Lediglich der Gewinn aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften kann bis zu einem Betrag von 500 000 Euro auch auf andere Wirtschaftsgüter übertragen werden (§ 6b X 1 EStG). Die Technik entspricht der bei Ersatzbeschaffung (s. Rz. 422 f.). Findet die Anschaffung nicht im Jahr der Veräußerung statt, kann eine gewinnmindernde Rücklage gebildet werden (§ 6b III, X 5–10 EStG), die grds. spätestens am Schluss des vierten auf ihre Bildung folgenden Wirtschaftsjahres aufzulösen ist. 427 Die Rechtfertigung der Reinvestitionsrücklage ist umstritten. Die Vorschrift steht zwischen Fiskal-
und Sozialzwecknorm. Soweit sie die Besteuerung von lediglich inflationsbedingten Scheingewinnen vermeidet und damit die steuerneutrale Wiederbeschaffung gleichwertiger Wirtschaftsgüter ermöglicht, ist sie unvollkommene Fiskalzwecknorm. Unvollkommen, weil der Gesetzgeber den Katalog der begünstigten Anlagegüter stark eingeschränkt hat. Werden darüber hinaus auch nicht inflationsbedingte stille Reserven verschont, handelt es sich um eine wirtschaftspolitisch sinnvolle Vergünstigung. Der Gesetzgeber versteht die Reinvestitionsrücklage dagegen seit jeher ausschließlich als Steuervergünstigung860. Diese Sicht erlaubt es, §§ 6b; 6c EStG nach Kassenlage einzuschränken. 428 § 6b X EStG861 verfolgt einen zusätzlichen Zweck: Indem Personenunternehmen eine Kompensation
für die auf Körperschaften beschränkte Steuerfreiheit der Gewinne aus der Veräußerung von Betei854 BFH v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393; BFH v. 23.8.2017 – I R 52/14, DStR 2017, 2322; BFH v. 23.8.2017 – X R 38/15, DStR 2017, 2326; dazu Förster, FR 2017, 1002. 855 Vorher schon krit. Marchal, Die steuerrechtlichen Grundlagen der Rücklage für Ersatzbeschaffung, Diss., 2005, 108 ff., 129 ff., 154 ff. (unzulässige Rechtsfortbildung). 856 Grundl. Thiel, DStJG 4 (1981), 183; Schön, Gewinnübertragungen bei Personengesellschaften nach § 6b EStG, Diss., 1986; ferner Dötsch, GS Knobbe-Keuk, 1997, 411 (Betriebsveräußerung; Betriebsaufgabe); Kanzler, FS Beisse, 1997, 251 (Landwirte); Selbmann, Die Übertragung stiller Reserven bei Personengesellschaften nach § 6b EstG – Eine Norm zwischen Konstanz und Wandel, 2003. 857 EuGH v. 16.4.2015 – C-591/13, DStR 2015, 870. 858 Eingefügt durch StÄndG 2015 v. 2.11.15, BGBl. I 2015, 1834. 859 BFH v. 22.6.2017 – VI R 84/14, BFHE 258, 413; dazu Adrian, StuB 2017, 739. 860 BT-Drucks. IV/2400, 62 ff.; BR-Drucks. 193/64, 46. 861 BT-Drucks. 14/7344, 7.
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VI. Gewinn- und Verlustrealisierung
Rz. 431 § 9
ligungen an anderen Körperschaften (§ 8b II KStG) gewährt wird, sollen Rechtsformunterschiede gemildert werden. Die Vorschrift basiert einerseits auf einem krassen Missverständnis der Funktion von § 8b II KStG, der Doppelbelastungen im Hinblick auf die körperschaftsteuerrechtliche Vorbelastung im Kaufpreis realisierter offener Rücklagen vermeiden soll (dazu § 11 Rz. 39 ff.), ist aber andererseits § 8b II KStG weder in den Voraussetzungen noch in der Rechtsfolge äquivalent und daher insgesamt rechtspolitisch zweifelhaft. c) Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern zwischen verschiedenen BV: Gem. § 6 V 1 EStG sind 429 (kein Wahlrecht!) die Buchwerte steuerneutral fortzuführen, wenn ein einzelnes WG von einem BV in ein anderes BV desselben Stpfl. überführt wird und die Besteuerung der stillen Reserven sichergestellt ist. Zur Überführung von WG bei Mitunternehmerschaften s. § 6 V 2, 3 EStG und dazu § 10 Rz. 155 ff. 3.2 Übergang stiller Reserven auf andere Steuerrechtssubjekte Die Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit gebietet es grds., dass jede natürliche Per- 430 son ihr eigenes Einkommen versteuert (Grundsatz der Individualbesteuerung, § 8 Rz. 22 ff.). Mit diesem Gebot ist die Übertragung stiller Reserven auf andere Steuersubjekte an sich nicht zu vereinbaren. Gleichwohl lassen § 6 III, V EStG und das UmwStG in bestimmten Fällen die intersubjektive Übertragung stiller Reserven zu (s. auch § 10 Rz. 152 ff., § 14 Rz. 40 ff.). Technisch wird die spätere Erfassung der stillen Reserven beim Empfänger durch die Fortführung der Buchwerte sichergestellt. Diese Einschränkung der Besteuerung nach der persönlichen Leistungsfähigkeit ist durch das Markteinkommensprinzip und das Übermaßverbot gerechtfertigt862. Der Unterschied zur Entnahmebesteuerung, die als ultima ratio-Besteuerung auch ohne Realisationsakt am Markt und Zufluss liquider Mittel auf die stillen Reserven zugreift, besteht darin, dass die stillen Reserven steuerverstrickt bleiben, wenngleich bei einem anderen Steuersubjekt863. a) Im Fall der unentgeltlichen Übertragung von Betrieben, Teilbetrieben und Mitunternehmer- 431 anteilen schreibt § 6 III EStG864 eine Buchwertverknüpfung vor: Der Schenker realisiert keinen Gewinn, der Beschenkte hat keine AK, sondern führt die Buchwerte des Schenkers fort865. Diese Vorschrift grenzt unentgeltliche Zuwendungsvorgänge von Betriebsgesamtheiten (insb. Schenkungen z.B. im Rahmen vorweggenommener Erbfolge866) systemgerecht aus dem Markteinkommenstatbestand aus. Die Schenkung von Betrieben, Teilbetrieben und MU-Anteilen bleibt auch dann voll unentgeltlich i.S. des § 6 III EStG, wenn zum BV Schulden gehören, die mit übernommen werden867. Zwar zählt die Übernahme von Schulden gegen Anrechnung auf den Kaufpreis beim entgeltlichen Erwerb zu den AK (Rz. 234). Die Übernahme von Verbindlichkeiten und dinglichen Belastungen anlässlich der
862 Dazu J. Lang, Bemessungsgrundlage, 362 ff. 863 Dazu Hey, GS Trzaskalik, 2005, 219 ff.; Hüttemann, DStJG 25 (2002), 123 (135)). 864 Zuvor § 7 I EStDV, durch StEntlG 1999/2000/2002 in § 6 III EStG übernommen; zu Einzelheiten s. BMF BStBl. I 2005, 458; dazu Kai, DB 2005, 794; Carlé/Fuhrmann, FR 2006, 749. 865 Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 37. 866 Heyeres, Zusammenwirken von Einkommensteuer und Erbschaftsteuer als Gestaltungsproblem der Unternehmernachfolge, Diss., 1996; Holdorf-Habetha, Der Übergang von gewerblich genutztem Vermögen im Wege der Erbfolge im Einkommensteuerrecht, Diss., 1996; Seidler, Anschaffungskosten und Gewinnrealisierung bei Rechtsnachfolge im Erbgang, Diss., 1996; Pohl, Unternehmensnachfolge durch Teilungsanordnung und Sondererbfolge im Einkommensteuerrecht, Diss., 1997; s. ferner Seer, SteuerStud 1992, 414; Märkle, DStR 1994, 769 u. 812; Brandenberg, StbJb. 1995/96, 287; Kappe, StbJb. 1995/96, 295; Stuhrmann, StbJb. 1995/96, 273; Esser, DStZ 1997, 439; Däinghaus/Reichel, DStZ 1998, 34; Schulze zur Wiesche, BB 1999, 2223 (StEntlG 1999/2000/2002); Schoor, DStZ 2002, 55; Klein/Langen, Vorweggenommene Erbfolge und neuer Rentenerlass, 2005; Hallerbach, StuB 2006, 572. Eingehend Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 604 ff. 867 BFH v. 5.7.1990 – GrS 4-6/89, BStBl. II 1990, 847; Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 38.
Hennrichs 663
§ 9 Rz. 432
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Übertragung eines Betriebes oder eines Grundstücks im Wege vorweggenommener Erbfolge ist aber keine Gegenleistung, sondern eine Einschränkung der Schenkung. Bei teilentgeltlicher Übertragung von Betriebsgesamtheiten (Betrieb, Teilbetrieb und MU-Anteile)868, z.B. der Betriebsveräußerung zu einem besonders günstigen Preis, wendet die h.M.869 die sog. Einheitstheorie an: Der Vorgang ist einheitlich entweder § 16 I 1 oder § 6 III EStG zuzuordnen. Liegt das Entgelt unter den Buchwerten des übertragenen Betriebsvermögens, so wird insgesamt ein unentgeltliches Geschäft angenommen und sind die Buchwerte nach § 6 III EStG fortzuführen. Beim Übertragenden ist der Unterschiedsbetrag zwischen dem niedrigeren Veräußerungserlös und dem Buchwert Zuwendung, kein erwirtschafteter Verlust. Liegt das Entgelt dagegen über den Buchwerten, liegt ein entgeltliches Geschäft vor. Allerdings ergibt sich ein Veräußerungsgewinn nach § 16 II EStG (nur) in Höhe des ermäßigten Entgelts. § 6 III EStG greift auch auf Erwerberseite nicht, statt der Buchwerte setzt der Erwerber die ermäßigten AK an. Bei der Übertragung mehrerer Wirtschaftsgüter ist grds. die von den Vertragsparteien zugrunde gelegte Aufteilung des Kaufpreises auf einzelne Wirtschaftsgüter maßgeblich870. 432 Erbfall und Erbauseinandersetzung sind zivil- und steuerrechtlich selbständig zu beurteilende
Rechtsvorgänge.871 Der Erbfall ist der nicht einkommensteuerbare Zuwendungsakt. Folgen dem Erblasser mehrere Erben nach und gehört zum Nachlass ein Gewerbebetrieb, ist die Erbengemeinschaft insoweit „geborene Mitunternehmerschaft“; die Miterben werden mit dem Erbfall ertragsteuerlich Mitunternehmer und bleiben dies bis zur Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft.872 Die Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft ist sodann ertragsteuerlich eine Auseinandersetzung der Mitunternehmerschaft nach den dafür geltenden Grundsätzen (s. § 10 Rz. 155 ff., 200 ff.)873. Je nach Gestaltung können entgeltliche Rechtsgeschäfte (Veräußerungen und Anschaffungsgeschäfte) anzunehmen sein, die bei dem Veräußernden zu Gewinnrealisierung und bei dem Erwerbenden zu (abschreibungsfähigen) Anschaffungskosten führen, oder es können § 6 III, V, VI, § 16 III EStG einschlägig sein: Übernimmt beispielsweise ein Miterbe den Gewerbebetrieb gegen Ausgleichszahlungen an die Miterben, die dadurch aus der Miterbengemeinschaft ausscheiden, so ist der Fall ebenso zu beurteilen wie die sonstigen Fälle des Ausscheidens aus einer Personengesellschaft gegen Abfindung874 (§ 10 Rz. 182 f.): die weichenden Miterben veräußern ihre Mitunternehmeranteile entgeltlich an den Erwerber; der übernehmende Miterbe hat AK i.H.d. Abfindung und erwirbt i.Ü. (i.H. seiner Erbquote) unentgeltlich875. Wird die Erbengemeinschaft dagegen dergestalt auseinandergesetzt, dass das Betriebsvermögen des Gewerbebetriebs auf die Miterben gleichmäßig nach Erbquoten verteilt wird, liegt eine Realteilung ohne Ausgleichszahlung vor, die gem. § 16 III 2-4 EStG (dazu § 10 Rz. 201 ff.) zu beurteilen ist876. Gehören zum Nachlass mehrere selbständige Betriebe und werden diese aufgeteilt, gilt ebenfalls Buchwertfortführung (§ 16 III 2; nach a.A. [aber mit demselben Ergebnis] § 6 III 1
868 Dazu Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 39 ff., 57 ff.; Kemmer, Teilentgeltliche Rechtsgeschäfte in der Einkommensteuer, Diss. 1987; Brinkmann, Teilentgeltliche Unternehmensnachfolge im Mittelstand, Diss. 2005, 111 ff.; Felix, FR 1987, 601; Groh, StuW 1984, 217. 869 BFH v. 10.7.1986 – IV R 12/81, BStBl. II 1986, 811; BFH v. 22.9.1994 – IV R 61/93, BStBl. II 1995, 367; BFH v. 7.2.1995 – VIII R 36/93, BStBl. II 1995, 770; BFH v. 7.11.2000 – VIII R 27/98, BFH/NV 2001, 262. 870 BFH v. 27.7.2004 – IX R 54/02, BStBl. II 2006, 9; BMF BStBl. I 2007, 269. 871 BFH v. 5.7.1990 – GrS 2/89, BStBl. 1990, 837; BMF BStBl. I 1993, 62; BMF BStBl. I 2006, 253; BMF BStBl. I 2007, 269. A. Müller, Wirtschaftliche Konsequenzen des Wandels der Rspr. zur ertragsteuerlichen Behandlung der Erbauseinandersetzung und der vorweggenommenen Erbfolge, Diss., 1993. 872 Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 606. 873 Eingehend Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 608 ff. m.w.N. 874 Zutr. Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 610. 875 Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 610. 876 Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 614 f.
664
Hennrichs
VI. Gewinn- und Verlustrealisierung
Rz. 450 § 9
EStG)877. Zur Realteilung mit Ausgleichszahlungen878 s. § 10 Rz. 203. Findet eine gegenständliche Teilauseinandersetzung bezogen auf einzelne Wirtschaftsgüter statt, ist § 6 V 3 Nr. 1 EStG zu beachten.879 Beispiel zum sog. Mischnachlass: Erben sind A und B je zur Hälfte. Zum Nachlass880 gehört ein Betrieb (Wert 1 Mio. Euro) und privater Grundbesitz (Wert 1 Mio. Euro). Wenn A den Betrieb und B den privaten Grundbesitz erhalten, wird lediglich das Zugewendete aufgeteilt. A führt die Werte nach § 6 III EStG und B die Werte nach § 11d EStDV fort.
b) Zur Einbringung von Betrieben, Teilbetrieben und Mitunternehmeranteilen nach dem 433 UmwStG s. § 14 Rz. 40 ff. Zu den steuerrechtlichen Folgen der Umwandlung von Kapitalgesellschaften s. § 10 Rz. 152 ff. und § 14 Rz. 42 ff. c) Die Einbringung einzelner Wirtschaftsgüter in eine Kapitalgesellschaft begründet einen gewinn- 434 realisierenden Vorgang. Dagegen ordnet § 6 V 3 EStG bei Einbringung in eine Personengesellschaft zwingend eine Buchwertverknüpfung an. Einstweilen frei.
435–449
4. Besteuerung stiller Reserven ohne Realisationsakt als ultima ratio 4.1 Entstrickungsprinzip Nach den verfassungsrechtlich geprägten Inhalten des Markteinkommens- und des Realisationsprin- 450 zips ist das Abwarten der Realisierung eine eigentumsschonende Maßnahme. Dies darf aber nicht dazu führen, dass die im Betriebsvermögen gespeicherten stillen Reserven gar nicht versteuert werden. Daraus resultiert das Entstrickungsprinzip:881 Spätestens im Zeitpunkt des Ausscheidens aus der Steuerverstrickung werden als ultima ratio die bis dahin nicht versteuerten Vermögensmehrungen abgerechnet. So erklären sich die Vorschriften über Entnahme und Betriebsaufgabe sowie für grenzüberschreitende Sachverhalte die allgemeinen Entstrickungstatbestände882 der § 4 I 3; § 16 IIIa EStG; § 12 KStG; s. außerdem §§ 11; 13 VI KStG (dazu § 11 Rz. 100 ff.); § 21 II 2 UmwStG; § 6 AStG. Einstweilen frei.
451–459
Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 617. S. dazu außerdem Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 618 f. und 549 m.w.N. Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 622. Als Mischnachlass bezeichnet man Fälle, in denen einzelnen Erben ausschließlich Wirtschaftsgüter des Privatvermögens, anderen Erben ein Betrieb/Betriebe zugewiesen werden; dazu BMF BStBl. I 2007, 269; Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 636 ff. 881 Gsödl, Entstrickungstatbestände des Einkommen- und Körperschaftsteuergesetzes – Eine Analyse unter dem Aspekt der Gerechtigkeit, 2011; Herbst, Die Entstrickung stiller Reserven – Unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften (SEStEG), 2011; Sejdija, Asymmetrien grenzüberschreitender Ver- und Entstrickung von Wirtschaftsgütern im Einheitsunternehmen innerhalb der Europäischen Union – Ein Modell im Spannungsfeld zwischen Abkommens- und Unionsrecht, 2016; Brauksiepe, Das Besteuerungsrecht der Bundesrepublik Deutschland als Tatbestandsmerkmal der Entstrickung nach § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG, 2017. 882 Eingefügt durch SEStEG v. 7.12.2006 (BGBl. I 2006, 2782; geändert durch das JStG 2010, BGBl. I 2010, 1768).
877 878 879 880
Hennrichs 665
§ 9 Rz. 460
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
4.2 Gesetzliche Ersatzrealisationstatbestände 4.2.1 Entnahme i.S.d. § 4 I 2 EStG 460 Die Aufdeckung der stillen Reserven durch Entnahme (§ 4 I 2 EStG; oben Rz. 361) ist berechtigt,
weil das WG seine Betriebsvermögenseigenschaft verliert und damit zu steuerlich nicht mehr verstricktem Privatvermögen wird. Die steuerliche Ersatzrealisation wird dadurch bewirkt, dass die Entnahme zum Teilwert bewertet wird (§ 6 I Nr. 4 Satz 1 Hs. 1 EStG). In Höhe der Differenz zum steuerlichen Buchwert des entnommenen WG wird dadurch ein steuerlicher Gewinn realisiert. 461 Ein Zugriff auf die stillen Reserven ist indes noch nicht geboten und eine Entnahme i.S. des § 4 I 2
EStG liegt nicht vor, wenn das Wirtschaftsgut in anderer Form steuerverstrickt bleibt:883 – Gem. § 4 I 6 EStG wird ein Wirtschaftsgut nicht dadurch entnommen, dass der Stpfl. von der Gewinnermittlung nach § 4 I EStG zur Gewinnermittlung nach § 13a EStG übergeht; dasselbe gilt für den Wechsel zur Gewinnermittlung nach § 4 III EStG. – Ebenso lehnt die Rspr. Betriebsaufgabe (Totalentnahme) ab bei Strukturwandel884 (z.B. vom Gewerbebetrieb zum landwirtschaftlichen Betrieb/vom freiberuflichen Betrieb zum Gewerbebetrieb; Rz. 466). Die Rspr. lässt sich davon leiten, dass der Stpfl. bei Strukturwandel einerseits keinen Veräußerungserlös erzielt, aus dem er die Steuern zahlen könnte, andererseits aber die stillen Reserven unter steuerlicher Kontrolle bleiben, so dass sie bei einer späteren Veräußerung erfasst werden können. – Wenn ein Wirtschaftsgut von einem Betriebsvermögen in ein anderes desselben Stpfl. überführt wird, ist gem. § 6 V 1 EStG zwingend der Buchwert fortzuführen, so dass es nicht zu Aufdeckung der stillen Reserven kommt, sofern die Besteuerung der stillen Reserven sichergestellt ist. 462 Die Besteuerung der stillen Reserven ist nur zulässig auf Grund einer gesetzlichen Regelung. Recht-
sprechungsänderungen bewirken keine Entnahmen. Ändert sich eine bisher st. Rspr. (beispielsweise zur sog. Betriebsaufspaltung) und war ein Wirtschaftsgut nach neuer Rspr. an sich nie dem Betriebsvermögen zuzuordnen, so führt diese „rückwirkende“ Klarstellung der Rechtslage durch die Rspr. zu einer Ausbuchung zum Buchwert885. 4.2.2 Betriebsaufgabe als Totalentnahme (§§ 14; 14a III; 16 III; 18 III EStG); Betriebsunterbrechung und Betriebsverpachtung (§ 16 IIIb EStG) 463 Veräußert der Stpfl. seinen ganzen Gewerbebetrieb (Betriebsveräußerung) oder selbständige organi-
satorische Einheiten (Teilbetriebsveräußerung, § 8 Rz. 420), so ergibt sich die Steuerbarkeit der daraus erzielten gewerblichen Einkünfte bereits aus den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften (§§ 2 II Nr. 1, 15; 4 I 1, 5 I 1 EStG). § 16 I 1 Nr. 1 EStG ist insoweit nur klarstellend (§ 8 Rz. 421). Ein steuerpflichtiger Veräußerungsgewinn entsteht gem. § 16 II EStG in der Höhe, um den der Veräußerungspreis nach Abzug der Veräußerungskosten den Buchwert des Betriebsvermögens übersteigt. Die konstitutive Bedeutung des § 16 I 1 Nr. 1 EStG liegt darin, Aufgriffstatbestand für die Begünstigungen gem. § 16 IV; § 34 EStG zu sein. Wegen der geballten Aufdeckung stiller Reserven bei Betriebsveräußerung wird die Besteuerung des Veräußerungsgewinns durch einen Freibetrag (§ 16 IV EStG) und einen ermäßigten Steuersatz (§ 34 EStG) privilegiert (§ 8 Rz. 421 f.). 464 Wird der Betrieb nicht veräußert, sondern aufgegeben (Betriebsaufgabe886) und werden dabei alle
wesentlichen Betriebsgrundlagen in ein anderes Vermögen überführt, so liegt gleichsam eine „Total883 884 885 886
666
Schmidt/Heinicke36, § 4 EStG Rz. 321. BFH v. 7.10.1974 – GrS 1/73, BStBl. II 1975, 168. Schmidt/Heinicke36, § 4 EStG Rz. 324 (mit Beispielen). Wendt, FR 1998, 264; Glanegger, DStR 1998, 1329; Schulze zur Wiesche, Betriebsveräußerung, Gesellschafterwechsel und Betriebsaufgabe im Steuerrecht8, 2001; Stopper, Die Betriebsaufgabe als Gewinnausweistatbestand, Diss., 2005; Kanzler, DStR 2009, 400.
Hennrichs
VI. Gewinn- und Verlustrealisierung
Rz. 466 § 9
entnahme“ vor, bei der die Abrechnung der bislang unversteuerten stillen Reserven wie bei der allgemeinen Entnahme gewährleistet sein muss. Wegen der geballten Aufdeckung stiller Reserven normiert § 16 III EStG auch für die Betriebsaufgabe den Aufgriffstatbestand für die Begünstigungen gem. § 16 IV; § 34 EStG. Eine Betriebsaufgabe liegt vor, wenn alle wesentlichen Betriebsgrundlagen eines ganzen Betriebs (oder eines Teilbetriebs) in einem einheitlichen Vorgang und zeitlich konzentriert (sonst allmähliche Betriebsauflösung, die zu laufendem, nicht privilegiertem Gewinn führt) einzeln an verschiedene Erwerber veräußert (bei Veräußerung an einen Erwerber Betriebsveräußerung gem. § 16 I 1 Nr. 1 EStG, die allerdings gleichwertig ist, nämlich zu denselben Rechtsfolgen führt887) und/oder ganz oder z.T. in ein anderes Vermögen überführt werden, so dass dadurch der Betrieb als selbständiger Organismus des Wirtschaftslebens zu bestehen aufhört888. Die Einheitlichkeit des Vorgangs innerhalb absehbarer Zeit kennzeichnet die Betriebsaufgabe und grenzt sie zu Entnahmen und Veräußerungen während des lebenden Betriebs ab. Veräußerungen im laufenden Betrieb sowie die allmähliche Betriebsabwicklung sind nicht privilegiert889. Dies schließt aber nicht aus, dass die Aufgabe sich über mehrere Veranlagungszeiträume erstreckt890. Die Betriebsaufgabe kann auf freiem Entschluss oder auf Zwang (z.B. auf einem Berufsverbot) beruhen. Die bloße Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist allerdings noch keine Betriebsaufgabe, weil der (Teil-)Betrieb auch während des Insolvenzverfahrens und darüber hinaus fortgeführt werden kann891. Parallel zu § 4 I 3, 4 EStG stellt § 16 IIIa EStG die Erfassung inländischer stiller Reserven bei Betriebsverlagerung ins Ausland sicher (s. Rz. 470). Die Betriebsaufgabe ist abzugrenzen von der Betriebsunterbrechung, bei der die WG weder ver- 465 äußert noch in das PV überführt werden, sondern die werbende Tätigkeit innerhalb eines angemessenen Zeitraums wieder aufgenommen werden soll892. Für diese Fälle regelt § 16 IIIb EStG n.F.893 nunmehr eine Fortführungsfiktion: Der (Teil-) Betrieb gilt nicht als aufgegeben, bis entweder der Stpfl die Aufgabe ausdrücklich gegenüber dem FA erklärt oder dem FA Tatsachen bekannt werden, aus denen sich die Betriebsaufgabe ergibt894. Die Aufgabeerklärung bindet den Stpfl., auch wenn er sich über die steuerlichen Folgen der Versteuerung der stillen Reserven nicht bewusst war895. Gleiches gilt bei Betriebsverpachtung896 (= Verpachtung der wesentlichen Betriebsgrundlagen im Ganzen). Ebenfalls keine Betriebsaufgabe ist die bloße Strukturänderung (z.B. die Umstellung eines bisheri- 466 gen Produktions- zu einem Handelsbetrieb)897. Dasselbe soll sogar bei Übergang zur Liebhaberei gelten.
887 Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 173 f. 888 BFH v. 29.11.1988 – VIII R 316/82, BStBl. II 1989, 602 (604); Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 173 ff. 889 Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 184. 890 BFH v. 19.5.2005 – IV R 17/02, BStBl. II 2005, 637. 891 Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 184. 892 Dazu BFH v. 28.9.1995 – IV R 39/94, BStBl. II 1996, 276; BFH v. 26.2.1997 – X R 31/95, BStBl. II 1997, 561; BFH v. 14.3.2006 – VIII R 80/03, BStBl. II 2006, 591; Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz. 470 ff.; Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 181. 893 Eingef. durch Art. 1 Nr. 11 des Steuervereinfachungsgesetzes v. 1.11.2011, BGBl. I 2011, 2131; mit Wirkung vom 5.11.2011, s. § 52 XXXIV 9 EStG. 894 Zuvor schon BFH v. 16.12.1997 – VIII R 11/95, BStBl. II 1998, 379. 895 BFH v. 22.9.2004 – III R 9/03, BStBl. II 2005, 160. 896 Dazu BFH v. 13.11.1963 – GrS 1/63 S, BStBl. III 1964, 124; BFH v. 27.2.1985 – I R 235/80, BStBl. II 1985, 456; BFH v. 17.4.1997 – VIII R 2/95, BStBl. II 1998, 388; Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 690 ff.; Doralt, GS Trzaskalik, 2005, 273; S. Schuster, FR 2007, 584. 897 Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 177.
Hennrichs 667
§ 9 Rz. 467
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Beispiel: Ein ehedem einkommensteuerlich relevanter Betrieb der Land- und Forstwirtschaft wird von einem bestimmten Zeitpunkt an als Liebhaberei fortgeführt898. In diesem Fall bleibe das bisher dem Betrieb dienende Vermögen weiterhin Betriebsvermögen mit der Folge, dass eine Auflösung und Versteuerung der im Betriebsvermögen steckenden stillen Reserven zunächst nicht in Betracht komme. Vielmehr sei das Betriebsvermögen festzuschreiben, wie es im Zeitpunkt des Übergangs zur Liebhaberei vorhanden war. Mit den im Zeitpunkt des Übergangs vorhandenen Werten war und bleibt dieses hiernach noch (gleichsam „eingefrorerens“) Betriebsvermögen (ohne Betrieb), dessen stille Reserven noch der Auflösung harren.
Andererseits kann die Betriebsaufgabe auch darin bestehen, dass die wesentlichen Betriebsgrundlagen verdeckt (bei offener Einlage: § 20 UmwStG) in eine Kapitalgesellschaft eingebracht werden899. Der verdeckten Einlage geht eine (Total-) Entnahme zwangsläufig voraus. 467 Nach § 16 III EStG werden die stillen Reserven durch Ansatz der Veräußerungspreise und des gemei-
nen Werts der nicht veräußerten Wirtschaftsgüter im Zeitpunkt der Betriebsaufgabe aufgedeckt. 468–469
Einstweilen frei.
4.2.3 Ausschluss oder Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (§§ 4 I 3; 16 IIIa EStG; § 12 I KStG) 470 Die Vorschrift des § 4 I 3 EStG stellt den Ausschluss und die Beschränkung des Besteuerungsrechts
hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung und Nutzung eines Wirtschaftsguts einer Entnahme für betriebsfremde Zwecke i.S.v. § 4 I 2 EStG gleich. Dabei ordnet § 6 I Nr. 4 Satz 1 Hs. 2 EStG mit Rücksicht auf die international übliche Anwendung von Fremdvergleichspreisen die Bewertung zum gemeinen Wert statt zum Teilwert an. § 16 IIIa EStG bestimmt ergänzend, dass der Aufgabe des Gewerbebetriebs der Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung sämtlicher Wirtschaftsgüter des Betriebs oder eines Teilbetriebs gleichsteht900. 471 §§ 4 I 3; 16 IIIa EStG enthalten keinen Katalog von Entstrickungstatbeständen, sondern definiert die
Entstrickungsentnahme/-betriebsaufgabe von der Rechtsfolge des Ausschlusses bzw. der Beschränkung des inländischen Besteuerungsrechts her. Von § 4 I 3 EStG erfasst werden soll vor allem die Überführung einzelner Wirtschaftsgüter in eine ausländische Betriebsstätte in einem Anrechnungs- oder DBA-Freistellungsstaat. Beispiel: Unternehmer A verlagert ein Anlagegut (z.B. eine Maschine), das schon vollständig abgeschrieben ist, von seiner Betriebsstätte in Köln in eine Betriebsstätte in Frankreich. Dort wird das WG zwei Monate später für 2000 Euro verkauft. Nach dem DBA Deutschland-Frankreich sind Betriebsstättengewinne nur in Frankreich steuerbar. Um Gewinnverlagerungen ins Ausland zu verhindern, stellt § 4 I 3 EStG den Fall einer Entnahme gleich.
Die Verlegung des Betriebs/Teilbetriebs ist in § 16 IIIa EStG geregelt. Eine Beschränkung des inländischen Besteuerungsrechts soll ferner dann vorliegen, wenn mit dem Betriebsstättenstaat kein DBA besteht bzw. die Anrechnungsmethode vereinbart wurde901. 472 Gem. § 4 I 4 EStG (i.V.m. § 16 IIIa Hs. 2 EStG) liegt ein Ausschluss oder eine Beschränkung des Be-
steuerungsrechts insb. dann vor, wenn ein bisher einer inländischen Betriebsstätte zuzuordnendes 898 BFH v. 29.10.1981 – IV R 138/78, BStBl. II 1982, 381; zust. Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 177; Schmidt/Heinicke36, § 4 EStG Rz. 321, 670. 899 BFH v. 18.12.1990 – VIII R 17/85, BStBl. II 1991, 512 (513). 900 Dazu U. Prinz, GmbHR 2007, 966 (967 ff.); ferner Kessler/Huck, StuW 2005, 193; Wassermeyer, DB 2006, 1176; Wassermeyer, DB 2006, 2420; Wassermeyer, IStR 2008, 176; Bilitewski, FR 2007, 57; Strahl, FR 2007, 665 (Wegzug von Personengesellschaften); von der Laage, Handelsbilanzielle und körperschaftsteuerliche Aspekte der Sitzverlegung einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE), 2017. 901 BT-Drucks. 16/2710, 42; Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 487 m.w.N.
668
Hennrichs
VI. Gewinn- und Verlustrealisierung
Rz. 477 § 9
Wirtschaftsgut einer ausländischen Betriebsstätte zuzuordnen ist. Danach ist bei Überführung und Wegzug (vgl. § 16 IIIa Hs. 2 EStG) ins Ausland stets von einer Entstrickung und daran anknüpfenden Entstrickungsbesteuerung auszugehen902. Rechtsfolge von § 4 I 3; § 16 IIIa EStG ist grds. (s. aber sogleich und Rz. 474) die sofortige Besteue- 473 rung der stillen Reserven i.H. der Differenz zwischen Buchwert und gemeinem Wert (§ 6 I Nr. 4 EStG). Im Fall der Nutzungsüberlassung (vgl. § 4 I 3 Alt. 2 EStG) inländischer Wirtschaftsgüter an ausländische Betriebsstätten kommt es zu einer Nutzungsentnahme und nicht zur Entnahme des Wirtschaftsguts (s. § 1 IV 1 Nr. 2, V AStG)903. Ausgenommen von der Sofortbesteuerung sind wegen Art. 14 Fusions-RL Anteile an einer SE/SCE, auch wenn es infolge einer grenzüberschreitenden Sitzverlegung zur Entstrickung kommt (§ 4 I 5 EStG)904; der Gewinn aus einer späteren Veräußerung der Anteile wird jedoch ohne Rücksicht auf entgegenstehende DBA erfasst (§ 15 Ia EStG). Unbeschränkt Stpfl. (nicht beschränkt Stpfl.!) können bei Überführung in eine EU-Betriebsstätte 474 (nicht EWR!) für Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens (nicht Umlaufvermögen!) gem. § 4g EStG einen Ausgleichsposten in Höhe der Differenz zwischen Buchwert und gemeinem Wert bilden, der einschließlich des Jahres seiner Bildung innerhalb von 5 Jahren aufzulösen ist905. § 4g II 2 EStG normiert Fälle vorzeitiger Auflösung des Ausgleichspostens bei Ausscheiden des Wirtschaftsguts aus dem Betriebsvermögen bzw. aus der Besteuerungshoheit der EU-Mitgliedstaaten sowie bei Realisierung der stillen Reserven im Ausland, deren Eintreten der Stpfl. unverzüglich anzuzeigen hat. § 4 I 3 EStG ist an die Stelle entspr. Regelungen der Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätze (BMF 475 BStBl. 1999, 1076, Rz. 2.6) getreten, geht aber über diese hinaus. Andererseits bleibt § 4g EStG hinter der bisher von der FinVerw. eingeräumten Möglichkeit der Bildung eines Merkpostens über 10 Jahre zurück. Deshalb handelt es sich auch nicht um eine bloße Klarstellung der bisherigen Rechtslage. Die Rückwirkung auf nach dem 31.12.2005 endende Wirtschaftsjahre (§ 52 VIIIb EStG) ist vor dem Hintergrund des rechtsstaatlichen Vertrauensschutz zweifelhaft. Neben der Ausgleichspostenmethode des § 4g EStG hat der Gesetzgeber in § 36 V EStG allein für 476 die Entstrickungsfällen des § 16 IIIa EStG eine zinslose Steuerstreckung auf fünf Jahre eingeführt. Sie greift jedoch nur, wenn die Wirtschaftsgüter einem Betriebsvermögen des Stpfl. in einem anderen Mitgliedstaat der EU oder des EWR zuzuordnen sind und dieser Amtshilfe nach der Richtlinie 77/799/EWG; 2011/16/EU sowie gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen nach der Richtlinie 2008/55/EG leistet. Die Entstrickungsbesteuerung führt, verglichen mit dem Fall der Überführung eines Wirtschaftsguts 477 zwischen zwei im Inland belegenen Betriebsteilen oder dem Umzug des Stpfl. innerhalb Deutschlands, zwar zu einer Schlechterstellung und damit zu einer Beschränkung der EU-Grundfreiheiten (s. auch § 11 Rz. 102). Gleichwohl ist die Regelung nach der Rspr. des EuGH906 EU-rechtskonform. Einstweilen frei.
478–479
902 Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 175. 903 Zum Verhältnis der neuen Vorschriften des § 1 IV, V AStG zu den Entstrickungsregeln der §§ 4 I 3, 4; 16 IIIa EStG; § 12 I KStG s. Ditz/Quilitzsch, DStR 2013, 1917 (1919): Anwendungsvorrang der Entstrickungsregeln. 904 Dazu grdl. von der Laage, Handelsbilanzielle und körperschaftsteuerliche Aspekte der Sitzverlegung einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE), 2017. 905 Dazu Kessler/Winterhalter/Huck, DStR 2007, 133; Hoffmann, DB 2007, 652; Lange, GmbHR 2007, 966 (971 f.); Kramer, DB 2007, 2338. 906 EuGH v. 21.5.2015 – C-657/13, DStR 2015, 1166 (Verder LabTec); EuGH v. 23.1.2014 – C-164/12, DMC, DStR 2014, 193 (Rz. 44 ff., 56 f.); von der Laage, StuW 2012, 182 (188 ff.); Mitschke, DStR 2012, 629 ff.
Hennrichs 669
§ 9 Rz. 480
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
VII. Bilanzberichtigung und Bilanzänderung 480 § 4 II 1 Hs. 1 EStG erlaubt (Wahlrecht) dem Stpfl. auch noch nach Einreichung beim Finanzamt ei-
ne Bilanzberichtigung, wenn die Bilanz den GoB oder den steuerbilanziellen Vorschriften nicht entspricht (fehlerhafte Bilanz). Demgegenüber wird bei der Bilanzänderung i.S.v. § 4 II 2 EStG ein zulässiger, richtiger Bilanzansatz durch einen anderen ebenfalls zulässigen Bilanzansatz ersetzt907. 481 Wann ein Bilanzansatz „falsch“ ist, also die Bilanz einen „Fehler“ aufweist, ist im Einzelnen unsicher
und umstritten. Bei der Bilanzierung sind vielfach Einschätzungen und Prognosen zu Tatumständen erforderlich (z.B. für den Ansatz und die Bewertung von Rückstellungen, bei der Bemessung der Nutzungsdauer für die Vornahme der AfA, bei der Beurteilung von Teilwertabschreibungen usw.). In solchen Fällen gibt es in aller Regel keine einzig „richtige“ Einschätzung oder Prognose, sondern nur eine Bandbreite von vertretbaren Annahmen. Darüber hinaus ist auch das anzuwendende Bilanzrecht oft unklar und auslegungsbedürftig. Im Handels- und Gesellschaftsrecht gilt vor diesem Hintergrund nach h.M. ein normativ-subjektiver Fehlerbegriff: Ein Abschluss ist nur dann im Rechtssinne „fehlerhaft“, wenn der Bilanzansatz objektiv gegen Bilanzierungsvorschriften verstößt und der Kaufmann dies nach den im Zeitpunkt der Bilanzfeststellung bestehenden Erkenntnismöglichkeiten bei pflichtgemäßer und gewissenhafter Prüfung auch hätte erkennen können908. Bessere Erkenntnisse in der Rückschau machen einen Abschluss nicht rückwirkend fehlerhaft. Mehr als eine abgewogene Berücksichtigung aller im Zeitpunkt der Bilanzerstellung bei pflichtgemäßer und gewissenhafter Prüfung erkennbaren Tatumstände und rechtlichen Gesichtspunkte kann von dem Kaufmann redlicherweise nicht verlangt werden. Der sorgfältig handelnde Kaufmann soll vor Sanktionen wegen „Falschbilanzierung“ geschützt werden, wenn die „Falschbilanzierung“ sich erst aus späterer besserer Tatsachen- oder Rechtserkenntnis ergibt909. 482 Für die steuerliche Gewinnermittlung gilt nach h.M. demgegenüber bezogen auf bilanzrechtliche
Rechtsfragen ein objektiver Fehlerbegriff910: Maßgebend ist ausschließlich die objektive Rechtslage, wie sie im Streitfall (später) von den Gerichten erkannt wird. Selbst wenn die rechtliche Beurteilung des Stpfl. sich an einer im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung von Verwaltung und Rspr. praktizierten Rechtsauffassung orientiert hat, ist die steuerliche Gewinnermittlung danach dennoch „fehlerhaft“, wenn die Gerichte später zur „besseren Rechtserkenntnis“ gelangen. Der Große Senat begründet diesen Rechtsstandpunkt mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 I GG und dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III, 28 I 1 GG. Für die Praxis hat dies weitreichende Konsequenzen. Die eingereichte Steuerbilanz hat verfahrensrechtlich reine Erklärungsfunktion, sie erläutert den Gewinn, den der Steuerpflichtige im Rahmen der Steuererklärung angegeben hat911. Sie ist für die Veranlagung nur ein Hilfsmittel zur Feststellung 907 Dazu R 4.4 EStR; Stapperfend, Bilanzberichtigung und Bindung der Finanzverwaltung an die eingereichte Bilanz – Subjektiver Fehlerbegriff auf dem Prüfstand, 2010; Tiedchen in HdJ I/16 Rz. 86 ff. 908 Vgl. IDW RS HFA 6, Rz. 14; IDW-FN 2013, 356 (359); Adler/Düring/Schmaltz6, § 172 AktG Rz. 43; Balthasar, Die Bestandskraft handelsrechtlicher Jahresabschlüsse, 1999, 129 ff.; Bezzenberger in Großkomm. AktG4, § 256 Rz. 42 ff.; Beck’scher Bilanz-Komm./W. Schubert/Andrejewski11, § 253 HGB Rz. 805; Hennrichs, NZG 2013, 681; MünchKomm. AktG/Hennrichs/Pöschke4, § 172 Rz. 76 ff.; Kaiser, Berichtigung und Änderung des handelsrechtlichen Jahresabschlusses, 2000, 71 ff.; W. Müller, FS Quack, 1991, 359 (366 f.); U. Prinz, FS W. Müller, 2001, 687 (690, 693); U. Prinz, StbJb. 2007/2008, 203 (207); Schön in Canaris u.a. (Hrsg.), 50 Jahre BGH II, 2000, 153 (155 f.); a.A. namentlich SchulzeOsterloh, BB 2013, 1131 (1132); Schulze-Osterloh, ZHR 179 (2015), 9; Tiedchen in HdJ 1/16 Rz. 25 ff. 909 Vgl. Schön in Canaris u.a. (Hrsg.), 50 Jahre BGH II, 2000, 153 (157). 910 BFH v. 31.1.2013 – GrS 1/10, BStBl. II 2013, 317; BFH v. 15.5.2013 – I R 77/08, BStBl. II 2013, 730; zust. Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 984 f.; Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 219; Schulze-Osterloh, BB 2013, 1131; Tiedchen in HdJ I/16 Rz. 25, 27; s. ferner Drüen, GmbHR 2013, 505; Hennrichs, NZG 2013, 681; U. Prinz, WPg. 2013, 650; Rogall/Curdt, Ubg 2013, 345; Schlotter, FR 2013, 835; Schlotter, Ubg 2014, 22; Rödder/Hageböke, Ubg 2014, 13. 911 Schlotter, FR 2013, 835 (837 f.).
670
Hennrichs
VII. Bilanzberichtigung und Bilanzänderung
Rz. 484 § 9
der Bemessungsrundlage. Das Finanzamt ist verpflichtet und berechtigt, die Gewinnermittlung ausschließlich auf der Grundlage des für den Bilanzstichtag objektiv geltenden Rechts ohne Rücksicht auf Rechtsansichten des Stpfl. zu prüfen und ggf. zu korrigieren. Entsprechen Bilanzansätze nach Ansicht des Finanzamts objektiv nicht den jeweils maßgebenden speziellen steuerbilanzrechtlichen Vorschriften oder den maßgeblichen handelsrechtlichen GoB, kann es die Gewinnermittlung eigenständig berichtigen, und zwar unabhängig von einem Recht oder einer Pflicht des Steuerpflichtigen zur Berichtigung der Bilanz gem. § 4 II 1 EStG. Die Steuerbilanz ist selbst dann fehlerhaft und die steuerliche Gewinnermittlung wird bei der Veranlagung vom Finanzamt entsprechend korrigiert, wenn der Stpfl. sich bei ihrer Erstellung an der bisherigen st. Rspr. orientiert hat, diese aber später geändert wird. Die Finanzverwaltung kann in allen verfahrensrechtlich noch offenen Fällen, wenn also die entsprechenden Steuerbescheide verfahrensrechtlich noch zu ändern sind, eine spätere „bessere Rechtserkenntnis“ aufgreifen. Der Schutz des Stpfl. vor einer nachteiligen Rechtsprechungsänderung ist nicht mehr bilanzrechtlich über den subjektiven Fehlerbegriff, sondern nur noch verfahrensrechtlich über § 176 AO zu verwirklichen912. Andererseits kann auch der Stpfl. eine für ihn günstige Änderung der Rechtsprechung ebenfalls nachträglich durch entsprechende Änderung seiner Erklärung aufgreifen913. Die zeitlichen Grenzen ergeben sich hierbei wiederum aus dem Verfahrensrecht. Namentlich kann der Stpfl. auch noch im Einspruchs- oder Finanzgerichtsverfahren eine spätere „bessere Rechtserkenntnis“ nachschieben914. Vom Großen Senat ausdrücklich offengelassen wurde die Frage, ob für die Beurteilung von Sachver- 483 haltsfragen ebenfalls allein eine objektive Betrachtung maßgebend sein soll. Dies wird in der Literatur in der Tat befürwortet; die Feststellung des der Besteuerung zugrunde zu legenden Sachverhalts sei Sache der Finanzbehörden und nicht der subjektiven Einschätzung des Stpfl.915. Jedenfalls bei Prognosen und tatsächlichen Einschätzungen liegt aber ein Beurteilungsspielraum in der Natur der Sache, weil es hier kein einzig und allein „richtig“ oder „falsch“ gibt916. Diesen Beurteilungsspielraum auszuüben, ist gem. § 252 I Nr. 4 HGB (i.V.m. § 5 I 1 EStG) zunächst Sache des Stpfl.917. Die Finanzbehörde hat die Einschätzung des Stpfl. gem. § 88 AO daraufhin zu überprüfen, ob sie innerhalb des ihm eingeräumten Beurteilungsspielraums liegt. Als Konsequenz der Entscheidung des Großen Senats des BFH (GrS 1/10) ergibt sich, dass dem Stpfl. 484 eine Berichtigung der Bilanz gem. § 4 II 1 EStG wegen späterer „besserer Rechtserkenntnis“ nicht mehr mit dem Argument versagt werden kann, seine Bilanz sei bei Erstellung „subjektiv richtig“ gewesen918. Die Maßgeblichkeit des objektiven Fehlerbegriffs bezogen auf bilanzielle Rechtsfragen gilt auch im Rahmen des § 4 II 1 EStG. Andererseits ist der Stpfl. zu einer solchen rückwirkenden Korrektur nicht verpflichtet, vielmehr gewährt § 4 II 1 EStG insoweit ein Wahlrecht919. Eine Pflicht zur Korrektur folgt auch nicht aus § 153 AO (str.)920.
912 913 914 915 916
917 918 919 920
Rogall/Curdt, Ubg 2013, 345 (351 ff.); Schlotter, FR 2013, 835 (839 f.). Zutr. Rogall/Curdt, Ubg 2013, 345 (350, 353); Schlotter, FR 2013, 835 (842). Schlotter, FR 2013, 835 (842). Weber-Grellet, DStR 2013, 729 (732 f.); ihm folgend Herrfurth, StuB 2014, 123 (126); wohl ebenfalls Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 985. Hennrichs, NZG 2013, 681 (685); ebenso Drüen GmbHR 2013, 505 (512); Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 219; U. Prinz, WPg. 2013, 650 (654); Rogall/Curdt, Ubg 2013, 345 (349 f.); Schlotter, FR 2013, 835 (837); Schlotter, Ubg 2014, 22 (25); Schulze-Osterloh, BB 2013, 1131 (1132 f.); Tiedchen in HdJ I/16 Rz. 26, 95. Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 219; Rogall/Curdt, Ubg 2013, 345 (349 f.); Schlotter, FR 2013, 835 (837); Schulze-Osterloh, BB 2013, 1131 (1132 f.); Tiedchen in HdJ I/16 Rz. 26. Zutr. Schulze-Osterloh, BB 2013, 1131 (1134); ebenso Rogall/Curdt, Ubg 2013, 345 (349). Zutr. Schlotter, FR 2013, 835 (837 f., 842); Schlotter, Ubg 2014, 22; U. Prinz, WPg. 2013, 650 (654); HHR/Stapperfend, § 4 EStG Rz. 423. Dazu ausf. Schlotter, Ubg 2014, 22 ff. m.w.N. zum Meinungsstand; s. auch Drüen, GmbHR 2013, 505 (510 ff.); HHR/Stapperfend, § 4 EStG Rz. 423; a.A. Tiedchen in HdJ I/16 Rz. 124 m.w.N.
Hennrichs 671
§ 9 Rz. 485
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Beispiel: Bei einer Rechtsprechungsänderung zugunsten des Stpfl. genügt es deshalb, wenn sich der Stpfl. im Verlaufe des Verfahrens auf die ihm günstige neue Judikatur schlicht beruft und deren Berücksichtigung im Rahmen der Besteuerung verlangt, ohne dass er die eingereichte Bilanz förmlich berichtigen müsste921. 485 Eine Bilanzänderung gem. § 4 II 2 EStG kommt in Betracht, wenn ein zulässiger Bilanzansatz durch
einen anderen zulässigen ersetzt werden soll (z.B. infolge der Ausübung eines Wahlrechts). Die Bilanzänderung ist nach § 4 II 2 EStG nur zulässig, wenn sie in einem engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit einer Bilanzberichtigung steht und soweit die Auswirkung der Bilanzberichtigung auf den Gewinn reicht. Ausreichend ist der Zusammenhang mit der Berichtigung des Ansatzes von Entnahmen und Einlagen922; nicht aber mit (sonstigen) außerbilanziellen Gewinnerhöhungen923. Der vom Gesetz geforderte Zusammenhang setzt voraus, dass sich Bilanzberichtigung und Bilanzänderung auf dieselbe Bilanz beziehen. Der Antrag auf Änderung der Bilanz kann noch im finanzgerichtlichen Verfahren gestellt werden924. 486 Eine Berichtigung oder Änderung von Bilanzen ist gem. § 4 II 1, 2. Halbs. EStG nicht mehr zulässig,
wenn sich der Bilanzansatz auf Steueransprüche ausgewirkt hat, die bestandskräftig festgesetzt worden oder verjährt sind. In diesen Fällen ist ein fortwirkender unrichtiger Bilanzansatz nach h.M. in der ersten noch offenen Schlussbilanz richtig zu stellen (sog. formeller Bilanzenzusammenhang)925. Beispiel: In 01 wird eine Forderung von 50 000 Euro versehentlich nicht aktiviert. Die Änderung des Bescheids 01 ist wegen Verjährung nicht mehr zulässig; die Änderung des Bescheids 02 ist noch zulässig. In 06 wird der Fehler vom Außenprüfer aufgedeckt. Die Bilanzen 01, 02 bis 06 sind unrichtig. Die Forderung ist in der Schlussbilanz 02 zu aktivieren. 487 Diese Handhabung durchbricht die Regelungen zur Bestandskraft und Verjährung. Der Fehler wird
in ein Jahr transportiert, für das der Bescheid noch korrigiert werden kann oder dessen Anspruch noch nicht verjährt ist. Damit verschiebt die Rspr. den gesetzlich durch Korrektur- und Verjährungsvorschriften austarierten Ausgleich zwischen Rechtsrichtigkeit und Rechtssicherheit zu Lasten der Rechtssicherheit926. Andererseits ist die Korrektur eines noch fortwirkenden Fehlers im nächsten offenen Abschluss der Gewinnermittlung durch Bilanzierung immanent, weil es sonst zu fortwährend falschen Abschlüssen käme. Im Übrigen kann sich der formelle Bilanzzusammenhang auch zu Gunsten des Stpfl. auswirken. Einstweilen frei.
488–499
C. Besonderheiten der bilanziellen Gewinnermittlung bei Kapitalgesellschaften 1. Gewinnermittlung nach §§ 5 I, 4 I EStG 500 Steuerobjekt der Körperschaftsteuer ist das Einkommen der juristischen Person (§ 7 I KStG); § 8 I 1
KStG verweist für die Ermittlung der körperschaftsteuerrechtlichen Bemessungsgrundlage auf die Vorschriften des EStG. Gemäß § 8 II KStG gelten sämtliche Einkünfte von unbeschränkt steuerpflichtigen Körperschaftsteuersubjekten i.S.v. § 1 I Nr. 1–3 KStG als gewerblich. Inländische Kapitalgesell-
921 Zutr. Schlotter, FR 2013, 835 (837 f., 842). 922 BFH v. 31.5.2007 – IV R 54/05, BStBl. II 2008, 665 m. Anm. Wendt, FR 2008, 85; BMF BStBl. I 2008, 845. 923 BFH v. 23.1.2008 – I R 40/07, BStBl. II 2008, 669. 924 BFH v. 7.3.1996 – IV R 34/95, BStBl. II 1996, 568. 925 BFH v. 15.6.2010 – X B 40/10, BFH/NV 2010, 1632; Schmidt/Heinicke36, § 4 EStG Rz. 703; HHR/Stapperfend, § 4 EStG Rz. 429; Tiedchen in HdJ I/16 Rz. 103 ff.; je m.w.N. 926 Krit. deshalb KSM/Weber-Grellet, § 4 EStG Rz. C 33 ff. (1991); von Groll, FS Kruse, 2001, 445; Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil., 2002, 788 ff.
672
Hennrichs
C. Bilanzielle Gewinnermittlung bei Kapitalgesellschaften
Rz. 505 § 9
schaften927 ermitteln ihren Gewinn gem. § 5 I EStG. GmbH und Aktiengesellschaften sind als Handelsgesellschaften (§ 13 III GmbHG; § 3 I AktG) nach §§ 6; 238 HGB buchführungspflichtig. Für nach ausländischem Recht gegründete Körperschaften, die in Deutschland ansässig und deshalb unbeschränkt stpfl. sind, gilt nunmehr ebenfalls die Gewerblichkeitsfiktion (§§ 1 I Nr. 1; 8 II KStG i.d.F. des SEStEG). Mangels Buchführungspflicht nach HGB928 kommt indes nicht § 5 I EStG, sondern § 4 I EStG zur Anwendung929. Beschränkt steuerpflichtige Körperschaften i.S.v. § 1 I Nr. 1–3 KStG sowie andere Körperschaften können alle sieben Einkunftsarten verwirklichen und dementspr. ihr Einkommen auch nach § 4 I oder § 4 III bzw. §§ 8 ff. EStG ermitteln (s. § 8 Rz. 188 ff.)930. Auch für Kapitalgesellschaften gelten die allgemeinen GoB931. Das ergibt sich aus der Systematik 501 des Dritten Buches des HGB. Zur Maßgeblichkeit von rechtsform- oder branchenspezifischen ergänzende Vorschriften des Handelsrechts für die steuerliche Gewinnermittlung s. oben Rz. 56; zu § 264 II 1 HGB oben Rz. 86. Für Zwecke der Besteuerung ist das handelsbilanzielle Ergebnis der Kapitalgesellschaft auf einer zwei- 502 ten Stufe (außerbilanziell) zu korrigieren. Hier sind insb. verdeckte Gewinnausschüttungen (§§ 8 III 2; 8a KStG), nicht abzugsfähige Betriebsausgaben (§ 8 I KStG i.V.m. z.B. §§ 3c I; 4 V EStG) und nicht abzugsfähige Aufwendungen nach § 10 KStG hinzuzurechnen, steuerfreie Beteiligungserträge (§ 8b KStG) und verdeckte Einlagen abzuziehen; i.E. vgl. § 11 Rz. 38 ff. Einstweilen frei.
503
2. Formale Besonderheiten Der Jahresabschluss (§ 242 I HGB) der Kapitalgesellschaft besteht aus Bilanz sowie Gewinn- und 504 Verlustrechnung und ist gem. § 264 I 1 HGB um einen Anhang zu erweitern. Im Anhang sind insb. Angaben zur Ausübung von Wahlrechten aufzunehmen (§§ 284 ff. HGB). Die Gliederung der Bilanz gibt § 266 HGB vor (s. Rz. 18). Dieses Bilanzschema ist für Kapitalgesell- 505 schaften verpflichtend. Für kleine Kapitalgesellschaften (§ 267 I HGB) gelten Erleichterungen (§§ 264 I 4; 266 I 3; 274a; 276; 288 HGB), insb. besteht die Möglichkeit der Aufstellung einer verkürzten Bilanz. Am deutlichsten unterscheidet sich die Handelsbilanz der Kapitalgesellschaft von der eines Personenunternehmens durch die Gliederung des Eigenkapitals932. Das Eigenkapital der Kapitalgesellschaft setzt sich zusammen aus gezeichnetem Kapital, Rücklagen, Gewinnvortrag und Jahresüberschuss (§ 266 III A. HGB). Die erste Eigenkapitalposition ist das sog. gezeichnete Kapital i.S.d. § 272 I HGB (Nenn- oder Nominalkapital). Es handelt sich um das Grundkapital der Aktiengesellschaft (§§ 1 II; 6 AktG) bzw. das Stammkapital der GmbH (§§ 3 I Nr. 3; 5 GmbHG). Das gezeichnete Kapital ist von Gewinn und Verlust unabhängig. Veränderungen des Grund- oder Stammkapitals sind nur infolge eines förmlichen Beschlusses über Kapitalerhöhung oder -herabsetzung möglich. § 272 Ia, Ib HGB normieren Regeln für die Behandlung des Erwerbs eigener Anteile. In der Kapitalrücklage (§ 272 II HGB) sind insb. Einlagen enthalten, die nicht zum gezeichneten Kapital gehören sowie das Agio bei Ausgabe 927 Zur Buchführungspflicht ausländischer Kapitalgesellschaften mit Verwaltungssitz oder Zweigniederlassungen in Deutschland s. Hey, DK 2004, 577 (585); Hennrichs, FS Horn, 2006, S. 387 (390 ff.); Pöschke in Staub5, § 238 HGB Rz. 9, 26; Schulze-Osterloh in HdJ, I/1 Rz. 140 ff., 144. 928 Hennrichs, FS Horn, 2006, 387 (390 ff.); Pöschke in Staub5, § 238 HGB Rz. 9, 26; Schulze-Osterloh in HdJ, I/1 Rz. 150; a.A. Schumann, ZIP 2007, 1189 (1193). 929 Zutr. Schulze-Osterloh in HdJ, I/1 Rz. 150. 930 Schulze-Osterloh, DStJG 14 (1991), 123 (131 ff.); Hennrichs, Wahlrechte im Bilanzrecht der Kapitalgesellschaften, Habil., 1999; Drüen/Grundmann, SteuerStud 2005, 334; Hüttemann, DStJG 34 (2011), 291 (310 ff.). 931 Dazu Ballwieser, FS Budde, 1995, 43. 932 Dazu Singhof in HdJ, Abt. III/2; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 102 ff.; zum Eigenkapital der Personenunternehmen Hennrichs/Pöschke in HdJ, Abt. III/1.
Hennrichs 673
§ 9 Rz. 506
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
neuer Aktien. Die Gewinnrücklagen speisen sich aus nicht ausgeschütteten Gewinnen (§ 58 AktG); zur gesetzlichen Rücklage s. § 150 AktG; § 5a III GmbHG. Der Gewinnvortrag umfasst nicht ausgeschüttete und nicht in Rücklagen eingestellte Gewinne; im Verlustvortrag wird der noch nicht durch nachfolgende Gewinne oder die Auflösung von Gewinnrücklagen ausgeglichene Verlust (Jahresfehlbetrag) früherer Wirtschaftsjahre aufgezeichnet. Der Jahresüberschuss oder Jahresfehlbetrag ist das Ergebnis der jeweiligen Periode. Er leitet sich als Überschuss der Erträge über die Aufwendungen (oder der Aufwendungen über die Erträge) aus der Gewinn- und Verlustrechnung ab. Jahresfehlbetrag und Verlustvortrag stehen grds. auf der Passivseite der Bilanz. Nur wenn Jahresfehlbetrag und Verlustvortrag die Summe der einzelnen Eigenkapitalanteile (gezeichnetes Kapital, Kapital- und Gewinnrücklagen) übersteigen, wird auf der Aktivseite der Bilanz ein „nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag“ ausgewiesen (§ 268 III HGB). Aktiengesellschaften weisen gem. § 58 IV AktG in der Bilanz nicht den Jahresüberschuss, sondern den zur Verteilung an die Aktionäre bestimmten Bilanzgewinn aus. Der Bilanzgewinn ist gem. der Fortführungsrechnung des § 158 I 1 AktG aus dem Jahresüberschuss/-fehlbetrag zu entwickeln und umfasst insb. Entnahmen aus oder Einstellungen in die Gewinnrücklagen. Daher kann selbst bei einem Jahresfehlbetrag ein Bilanzgewinn ausgewiesen werden, wenn genügend Rücklagen zur Verfügung stehen. 3. Besondere Bilanzierungs- und Bewertungsvorschriften 506 Das Betriebsvermögen der Kapitalgesellschaft ist nach den allgemeinen handelsrechtlichen GoB an-
zusetzen und zu bewerten (Rz. 501). Das sog. Einblicksgebot (True and Fair View-Prinzip) gem. § 264 II 1 HGB ist steuerlich nicht maßgeblich (str., s. Rz. 86). Handelsrechtlich ist das gesamte Vermögen der Kapitalgesellschaft Betriebsvermögen. Die Frage nach gewillkürtem Betriebsvermögen stellt sich nicht. Ob dies auch steuerrechtlich gilt, hängt davon ab, ob man der Kapitalgesellschaft eine außerbetriebliche Sphäre zugesteht, was der BFH in st. Rspr. verneint (dazu bereits Rz. 220 und § 11 Rz. 37)933. 507 Infolge der generellen Einschränkung handelsbilanzieller Wahlrechte und der Aufgabe der Umkehr-
maßgeblichkeit durch das BilMoG (s. Rz. 42) sind die diesbzgl. Sonderregeln für Kapitalgesellschaften entfallen (Aufhebung von §§ 279; 280 HGB a.F.). 508–549
Einstweilen frei.
D. Vereinfachte Gewinnermittlung durch betriebliche Überschussrechnung nach § 4 III EStG Literatur: Anders, Die Überschussrechnung nach § 4 Abs. 3 EStG im System der steuerlichen Einkünfteermittlung Bochum 2007; Eisgruber, Arten der Einkünfteermittlung – Bestandsaufnahme und Kritik – „vereinfachte“ Gewinnermittlung (§ 4 Abs. 3 EStG), DStJG 34 (2011), 185; Klein, Die Einnahmen-/Überschussrechnung, 2011; Klocke/Kunow, Einnahmen-Überschussrechnung8, 2011; Schumann, Aktuelle Entwicklungen bei der Einnahme-Überschuss-Rechnung, EStB 2013, 182; Hennrichs, Zum Wahlrecht gem. § 4 Abs. 3 EStG bei mitunternehmerischer Beteiligung an einer ausländischen, bilanzierenden Gesellschaft, DStR 2015, 1420; Wacker, Brennpunkte der Besteuerung internationaler Personengesellschaften, in Aktuelle Problemfelder im Internationalen Steuerrecht, 2016, 77; Gunsenheimer, Die Einnahmen-Überschussrechnung nach § 4 Abs. 3 EStG15, 2017.
933 Zur diesbzgl. Rspr. des österr. VwGH s. Stangl, ÖStZ 2005, 39.
674
Hennrichs
D. Gewinnermittlung durch betriebliche Überschussrechnung
Rz. 550 § 9
1. Persönlicher Anwendungsbereich Steuerpflichtige Unternehmer, die nicht gesetzlich verpflichtet sind, Bücher zu führen und regelmäßig 550 Abschlüsse zu machen, und die dies auch nicht freiwillig tun, können (Wahlrecht) ihren Gewinn auch vereinfacht nach § 4 III EStG ermitteln. Das betrifft insb. sog. Kleingewerbetreibende unterhalb der Buchführungsgrenzen der §§ 140 AO i.V.m. §§ 238 ff., 241a HGB; § 141 AO; und Freiberufler (s. Rz. 8 ff.). Die Wahlentscheidung setzt das Bewusstsein zur Erzielung von (Gewinn-)Einkünften voraus934. Das Wahlrecht entfällt erst mit der Erstellung eines Abschlusses nach Beendigung des Wirtschaftsjahres. (und nicht bereits mit der Einrichtung einer Buchführung oder der Aufstellung einer Eröffnungsbilanz vor Beginn des Wirtschaftsjahres)935. Streitig ist, ob inländische Gesellschafter einer Auslandsgesellschaft, die im Inland über keine Betriebsstätte verfügt, aber aufgrund ausländischer gesetzlicher Vorschriften verpflichtet ist, Bücher zu führen und regelmäßig Abschlüsse zu machen und dies in Befolgung dieser Pflicht oder freiwillig tut, befugt sind, ihren Gewinn aus der Beteiligung nach Maßgabe des § 4 III EStG zu berechnen. Beispiel: A ist an einer engl. Partnership beteiligt, die nach britischem Recht verpflichtet ist, Bücher zu führen. Die Gesellschaft handelt mit Edelmetallen (weshalb die Gestaltung häufig auch „Goldfinger“-Modell genannt wird). Im Dezember 01 erwirbt sie Gold zum Preis von 1 Mio. In der Bilanz der Gesellschaft wird dies als erfolgsneutraler Anschaffungsvorgang verbucht. A macht demgegenüber bei seiner ESt-Erklärung einen Verlust aus seiner Beteiligung im Rahmen des sog. negativen Progressionsvorbehalts nach § 32b II 1 Nr. 2 EStG geltend. Er möchte seinen Gewinn/Verlust aus der Beteiligung nach § 4 III EStG berechnen. Im System der 4-III-Rechnung ist Umlaufvermögen nicht anzusetzen, sondern der Anschaffungspreis von UV führt zu sofort abzugsfähige Betriebsausgaben (Rz. 560 f., 584).
Der BFH verneint für solche Fälle die Möglichkeit zur § 4-III-Rechnung auf Gesellschafterebene936: Das Wahlrecht zur vereinfachten Gewinnermittlung sei für die Gesellschafter ausgeschlossen, wenn die Gesellschaft – als selbständiges Subjekt der Einkünftequalifikation und Einkünfteermittlung (§ 10 Rz. 12, 14, 115) – zur Buchführung und Bilanzierung verpflichtet sei oder freiwillig bilanziere. Dabei ließ der BFH es dahinstehen, ob auch eine allein nach ausländischem Recht begründete Buchführungsund Bilanzierungspflicht das Wahlrecht ausschließt. Denn jedenfalls dann, wenn die Gesellschaft in Befolgung einer solchen Pflicht tatsächlich Bücher führe und Abschlüsse erstelle, sei das Wahlrecht dem Wortlaut des § 4 III EStG gemäß ebenfalls ausgeschlossen. Ob aber wirklich ausländische Rechtspflichten und Abschlüsse das Wahlrecht nach § 4 III EStG ausschließen, erscheint durchaus zweifelhaft937. Der Sache nach erkennt auch der BFH die Problematik, denn inhaltlich sollen die ausländischen Abschlüsse für die Zwecke der inländischen Besteuerung doch nach deutschem (!) Handels- und Steuerrecht aufzustellen sein938.
934 BFH v. 9.2.1999 – VIII R 49/97, BFH/NV 1999, 1195; BFH v. 24.9.2008 – X R 58/06, BStBl. II 2009, 368; zur Ausübung des Wahlrechts auf Bestandsvergleich s. BFH v. 19.10.2005 – XI R 4/04, BStBl. II 2006, 509; s. auch Drüen, DStR 1999, 1589; Schulze-Osterloh, BB 2006, 434; HHR/Kanzler, § 4 EStG Rz. 550. 935 BFH v. 19.3.2009 – IV R 57/07, BStBl. II 2009, 659; HHR/Kanzler, § 4 EStG Rz. 550. 936 BFH v. 25.6.2014 – I R 24/13, BStBl. II 2015, 141; BFH v. 10.12.2014 – I R 3/13, DStR 2015, 629; FG Berlin-Brandenburg v. 13.9.2017 – 7 K 7270/14, juris; zust. HHR/Kanzler, § 4 EStG Rz. 11, 512; Krää, FR 2015, 928; Mann/Stahl, DStR 2015, 1425; vgl. auch BFH v. 19.1.2017 – IV R 50/14, BStBl. II 2017, 456. 937 Näher zur Kritik s. Müller, BB 2015, 2327; Hennrichs, DStR 2015, 1420; Sandleben/Hörtnagl, DStR 2017, 2298. 938 BFH v. 25.6.2014 – I R 24/13, BStBl. II 2015, 141, Tz. 13.
Hennrichs 675
§ 9 Rz. 551
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
2. Prinzipien der Gewinnermittlung nach § 4 III EStG 551 Nach § 4 III 1 EStG ist als Gewinn der Überschuss der Betriebseinnahmen über die Betriebsausgaben
anzusetzen (besteht ein Überschuss der BA über die BE, entsteht ein Verlust). Es gelten das Zufluss(§ 11 I EStG) und das Abflussprinzip (§ 11 II EStG; dazu § 8 Rz. 191 ff.). Die Überschussrechnung ist also im Kern eine Geldrechnung. Bestandsaufzeichnungen sind grds. nicht notwendig (s. aber zur Behandlung des Anlagevermögens und bestimmter Wirtschaftsgüter des Umlaufvermögens § 4 III 3–5 EStG und Rz. 580 ff.; außerdem § 4 VII und § 4 III 3 i.V.m. § 6 II 4 EStG). Namentlich Rückstellungen sind im System der 4-III-Rechnung nicht vorgesehen. Ausgaben für (ungewisse, aber wahrscheinliche) Verbindlichkeiten wirken sich daher in der Überschussrechnung erst im Zeitpunkt der Verausgabung aus. Auch für Rechnungsabgrenzungsposten und Teilwertabschreibungen ist in einer 4-III-Rechnung kein Raum939. Eine Kassenführung oder ein Inventar ist nicht notwendig940. Auf diese Weise wird die Gewinnermittlung gegenüber der Bilanzierung deutlich vereinfacht. 552 Jedoch gilt der Grundsatz der Gesamtgewinngleichheit941. Demnach dürfen sich allenfalls Perioden-
verschiebungen, also Unterschiede in der Höhe der jeweiligen jährlichen Gewinne und Verluste ergeben. Diese Unterschiede folgen zwangsläufig aus den Unterschieden zwischen grundsätzlicher Kassenrechnung und Bilanzierung nach dem Prinzip der Periodisierung (Periodenabgrenzung nach der wirtschaftlichen Verursachung, s. § 252 I Nr. 3 HGB; s. auch bereits § 8 Rz. 190). Abgesehen von der durch die technische Vereinfachung ausgelösten Periodenverschiebung muss § 4 III EStG aber den gleichen Totalgewinn (Gewinn von der Eröffnung bis zur Veräußerung oder Aufgabe des Betriebs) erfassen wie die in § 4 I EStG niedergelegte bilanzielle Gewinnermittlung. 553 Der Zweck der gleichen Totalgewinnermittlung (§ 4 III i.V.m. I EStG) ist bei der Auslegung zu berück-
sichtigen. Grundbegriffe der Gewinnermittlung sind identisch zu interpretieren. Das gilt insb. für den Begriff des Betriebsvermögens. Auch bei Einnahmen-Überschuss-Rechnung ist deshalb die Bildung von gewillkürtem Betriebsvermögen (Rz. 213) anzuerkennen942. Die betriebliche Widmung ist nicht von der Bilanzierung abhängig. Ausreichend ist eine unmissverständliche Dokumentation durch zeitnahe Aufzeichnungen943. Problematisch ist allerdings die Auffassung des BFH, Angehörige von freien Berufen könnten Betriebsvermögen nur entspr. den Erfordernissen ihres Berufs bilden944. Eine solche berufsspezifische Grenze hat im Gesetz keine Grundlage. Richtigerweise gehört deshalb beispielsweise Dentalgold eines Zahnarztes selbst dann zum Betriebsvermögen, wenn es für längere Zeit in der Praxis als Vorrat beschafft wird: Es handelt sich um Wirtschaftsgüter, die durch einen betrieblichen Vorgang angeschafft und dadurch Betriebsvermögen geworden sind (s. Rz. 211, 217 f.). Erst durch Entnahme verliert das Zahngold die Qualität von Betriebsvermögen. 554 Grundl. unterscheidet § 34a II EStG zwischen Einnahmen-Überschussrechnung und Bestandsver-
gleich, indem der Antrag auf Begünstigung des nicht entnommenen Gewinns auf den gem. §§ 4 I; 5 I EStG ermittelten Gewinn beschränkt wird. Die Differenzierung kann angesichts der komplexen Aufzeichnungspflichten im Rahmen von § 4 III EStG (s. Rz. 590) nicht mit Praktikabilitätserwägun-
939 Schmidt/Heinicke36, § 4 EStG Rz. 371; Eisgruber, DStJG 34 (2011), 185 (192 f.). 940 BFH v. 16.2.2006 – X B 57/05, BFH/NV 2006, 940. 941 BFH v. 4.7.1990 – GrS 1/89, BStBl. II 1990, 830 (834 ff.); BFH v. 21.6.2006 – XI R 49/05, BStBl. II 2006, 712 (714); J. Lang, Bemessungsgrundlage, 448 ff.; krit. Drüen, Periodengewinn und Totalgewinn, Diss., 1999, 61 ff.; Eisgruber, DStJG 34 (2011), 185 (195). 942 BFH v. 2.10.2003 – IV R 13/03, BStBl. II 2004, 985; Drüen, FR 2004, 94; Kanzler, FR 2004, 93. 943 BMF BStBl. I 2004, 1064. 944 So BFH v. 17.4.1986 – IV R 115/84, BStBl. II 1986, 607; BFH v. 12.7.1990 – IV R 137-138/89, BStBl. II 1991, 13, Rz. 11; BFH v. 26.5.1994 – IV R 101/93, BStBl. II 1994, 750.
676
Hennrichs
D. Gewinnermittlung durch betriebliche Überschussrechnung
Rz. 563 § 9
gen und wegen der Einschränkungen durch § 4 III 3, 4 EStG auch nicht mit den Vorteilen der CashFlow-Rechnung legitimiert werden945. Einstweilen frei.
555–559
3. Betriebseinnahmen und -ausgaben in der Kassenrechnung a) Prinzip der Geldrechnung: Während die Bilanz- und Buchführungstechnik die Vermögens- 560 umschichtungsketten des Wirtschaftens relativ genau nach den GoB verzeichnet, trifft die Überschussrechnung als grundsätzliche Kassenrechnung (s. § 8 Rz. 192) eine Auswahl, um den Vereinfachungszweck zu verwirklichen. Deshalb erfasst die Kassenrechnung nach § 11 EStG vorrangig Geldzugänge und -abgänge: Erträge und Aufwendungen des Unternehmens werden bereits oder erst mit Zufluss oder Abfluss der zugehörigen Geldmittel realisiert. Das gilt namentlich im Bereich des beweglichen Umlaufvermögens (zum Anlagevermögen und zu Immobilien sowie Finanz-Wirtschaftsgütern s. § 4 III 4, 5 EStG und dazu Rz. 582 ff.). Beispiel: Schafft der bilanzierende Kaufmann Ware auf Ziel an, so aktiviert er diese Ware mit den AK (Buchung 1: Wareneinkauf und Vorsteuer an Verbindlichkeiten). Bei Bezahlung ist die Verbindlichkeit auszubuchen (Buchung 2: Verbindlichkeiten an Bank). Bei Lieferung der Ware auf Ziel wird der Gewinn (Differenz zwischen AK und dem Nennwert der Forderung) realisiert (Buchung 3: Forderungen an Warenverkauf und Umsatzsteuer). Der Kunde bezahlt die Ware (Buchung 4: Bank an Forderungen), Banküberweisung lt. Umsatzsteuer-Voranmeldung (Buchung 5: Umsatzsteuer an Bank). Die doppelte Buchführung erfasst also fünf Geschäftsvorfälle mit zwölf Kontenbewegungen.
Anders die Überschussrechnung nach § 4 III EStG: Hier wird nicht die Ware selbst erfasst, sondern 561 der bei Anschaffung gezahlte Kaufpreis wird sofort in voller Höhe Betriebsausgabe946; bei Veräußerung ist der erhaltene Kaufpreis als Betriebseinnahme zu erfassen. Wurde allerdings der an sich gebotene sofortige Betriebsausgabenabzug für die Anschaffung von Um- 562 laufvermögen zunächst versäumt (z.B. vergessen), so kann dies, soweit eine Korrektur gem. §§ 172 ff. AO nicht möglich ist, nicht einfach in der ersten noch offenen Veranlagung nachgeholt werden947. Die Ausgaben wirken sich dann erst bei Veräußerung des betreffenden Wirtschaftsguts aus. § 4 II EStG ist auch unter dem Gesichtspunkt der Gesamtgewinngleichheit nicht anwendbar948. Forderungen und Verbindlichkeiten beeinflussen den Gewinn nach § 4 III EStG grds. nicht949. Bei- 563 spielsweise wirkt sich eine Honorarforderung grds. nicht auf den Gewinn i.S.d. § 4 III EStG aus. Erst die Zahlung auf die Forderung bewirkt eine Betriebseinnahme. Forderungen und Verbindlichkeiten werden aber dann berücksichtigt, wenn sich der Zu- und Abfluss von Wirtschaftsgütern nicht in der Vereinnahmung und Verausgabung von Geld niederschlägt. Erlässt beispielsweise ein 4-III-Rechner einem Schuldner aus privaten Gründen eine Honorarforderung, so ist dieser Vorgang als Entnahme der Honorarforderung zu werten; der Überschuss der Betriebseinnahmen über die Betriebsausgaben ist um den Wert der entnommenen Honorarforderung zu erhöhen950. Ein betrieblich veranlasster Erlass einer Honorarforderung führt dagegen bei der § 4-III-Rechnung weder zu einer Erhöhung des Gewinns des Stpfl. noch zu einer Minderung des Gewinns, denn eine Betriebseinnahme ist in diesem Falle nicht zugeflossen und eine Ausgabe ist nicht geleistet951. Das steuerliche Ergebnis ist das gleiche, wie wenn der Stpfl. seinen Gewinn nach § 4 I 945 946 947 948 949 950 951
Zur allgemeinen Kritik an § 34a EStG s. § 8 Rz. 838. BFH v. 12.7.1990 – IV R 137-138/89, BStBl. II 1991, 13; Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 174. BFH v. 30.6.2005 – IV R 20/04, BStBl. II 2005, 758. BFH v. 21.6.2006 – XI R 49/05, BStBl. II 2006, 712; a.A. Weber-Grellet, StuB 2006, 19 (21). Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 180. BFH v. 16.1.1975 – IV R 180/71, BStBl. II 1975, 526. Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 181.
Hennrichs 677
§ 9 Rz. 564
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
EStG ermitteln würde: In diesem Falle wäre zwar bereits die Honorarforderung im Jahr ihrer Entstehung gewinnerhöhend zu erfassen gewesen; umgekehrt hätte sich dann aber der Verlust der Honorarforderung als Betriebsvermögensverlust im Jahr seines Eintritts gewinnmindernd ausgewirkt Ferner ist eine unbare Betriebseinnahme etwa aufgrund Tausches oder Leistung an Erfüllungs statt (§ 364 BGB) mit dem Empfang der entgegengenommenen Sache bewirkt und zu berücksichtigen952. Dieser subsidiäre Rückgriff auf Vermögenszugänge und -abgänge, die nicht in Geld bestehen, verkompliziert die Überschussrechnung im Interesse der Vollständigkeit. Zu Darlehen sogleich Rz. 565. 564 b) Gemäß § 4 III 2 EStG werden Betriebseinnahmen/-ausgaben nicht erfasst, wenn es sich um durch-
laufende Posten handelt (z.B. Gerichtskostenvorschuss eines Rechtsanwalts; nicht dagegen Praxisgebühr953). Auf diese Weise soll eine Aufblähung des Zahlenwerks vermieden werden. Keine durchlaufenden Posten in diesem Sinne sind vereinnahmte und verausgabte Umsatzsteuerbeträge, da sie nicht für Rechnung des Finanzamts, sondern für eigene Rechnung vereinnahmt und verausgabt werden954. Die vereinnahmte USt ist damit Bestandteil der Betriebseinnahmen; die Vorsteuer umgekehrt Bestandteil der Betriebsausgaben. Umsatz- und Vorsteuerbeträge sind zusätzlich für die Umsatzsteuer-Voranmeldung aufzuzeichnen. 565 c) Darlehensgewährung und Darlehensaufnahme sowie Darlehensrückzahlungen werden, obwohl
sie sich in Geld niederschlagen, nicht als Betriebsausgaben/Betriebseinnahmen behandelt. Der Zufluss bei Darlehensaufnahme begründet wirtschaftlich keinen endgültigen Geldzugang955 (in der Diktion der Bilanzierung: kein erfolgswirksamer Vorgang956); entsprechend die Rückzahlung. Die Darlehensforderung aus der Hingabe von Darlehensmitteln zählt zum nicht abnutzbaren Anlagevermögen957, für die § 4 III 4 EStG gilt (dazu auch Rz. 582). Die Rückzahlung des Darlehens führt zu einer erfolgsneutralen Verrechnung mit der Forderung958. Bei der Darlehensaufnahme gilt spiegelbildlich dasselbe959. Fällt die Forderung des Darlehensgebers auf Rückzahlung des Darlehens aus, so ist dies allerdings konsequent in dem Zeitpunkt gewinnmindernd als Betriebsausgabe zu berücksichtigen, wenn feststeht, dass das Darlehen nicht zurückgezahlt wird960. 566–569
Einstweilen frei.
4. Zeitliche Erfassung von Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben nach dem Zu- und Abflussprinzip (§ 11 EStG) 570 In der Überschussrechnung werden Geschäftsvorfälle grds. erst mit Zu- und Abfluss erfasst (§ 11
EStG; s. § 8 Rz. 191 ff.). Wirtschaftliche Lasten werden nicht bereits im Zeitpunkt ihrer rechtlichen Entstehung oder wirtschaftlichen Verursachung, sondern erst bei tatsächlichem Abfluss als Betriebsausgaben steuerlich wirksam. Gleichsam umgekehrt sind Forderungen auf Zahlungen als solche irrelevant, besteuert werden die Betriebseinnahmen erst im Zeitpunkt des Zuflusses. Während der bilanzierende Kaufmann den Gewinn bei Lieferung der Ware, also unabhängig von der Bezahlung der 952 BFH v. 17.4.1986 – IV R 115/84, BStBl. II 1986, 607. Dazu grds. Groh, FR 1986, 393. 953 S. BMF BStBl. I 2004, 526. 954 S. BFH v. 19.2.1975 – I R 154/73, BStBl. II 1975, 441; BFH v. 29.5.2006 – IV S 6/06 (PKH), BFH/NV 2006, 1827; Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 189, 211. 955 BFH v. 8.10.1969 – I R 94/67, BStBl. II 1970, 44; BFH v. 2.9.1971 – IV 342/65, BStBl. II 1972, 334; Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 185. 956 Vgl. Kirchhof/Bode17, § 4 EStG Rz. 139: as BE erfasst „werden nur erfolgswirksame Zugänge“. 957 Vgl. BFH v. 6.12.1972 – IV R 4/72, BStBl. II 1973, 293; Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 185. 958 Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 185. 959 Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 186. 960 BFH v. 2.9.1971 – IV 342/65, BStBl. II 1972, 334; BFH v. 11.3.1976 – IV R 185/71, BStBl. II 1976, 380.
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Hennrichs
D. Gewinnermittlung durch betriebliche Überschussrechnung
Rz. 580 § 9
Ware, ausweisen muss (s. Rz. 412), vermeidet die Überschussrechnung Liquiditätsengpässe auf Grund schlechter Zahlungsbereitschaft/-fähigkeit des Schuldners, indem die Betriebseinnahme erst bei Zufluss, d.h. Eingang des Geldes, angesetzt wird. Maßgeblich für die Annahme von Zu- und Abfluss ist der Zeitpunkt, in dem der Stpfl. die wirt- 571 schaftliche Verfügungsmacht über das Wirtschaftsgut961 möglichst sicher erwirbt oder verliert. Beispiel: Bei Zahlung mit Scheck ist Zuflusszeitpunkt die Scheckübergabe, sofern der Scheck sofort eingelöst werden kann962. Bei Banküberweisung ist die Betriebseinnahme im Zeitpunkt der Gutschrift auf dem Bankkonto anzusetzen963. Die Verpflichtung zur Rückzahlung tangiert den Zufluss i.S.d. § 11 I 1 EStG nicht964. Abflusszeitpunkte gem. § 11 II 1 EStG sind bei Zahlung mit Scheck wie bei Einnahmen die Scheckübergabe965, bei Banküberweisung der Eingang des Überweisungsauftrags bei der Bank966. Kontokorrentzinsen gelten im Zeitpunkt der Buchung als abgeflossen, solange die Bank die weitere Kreditierung nicht verweigert, auch wenn die gebuchten Zinsen tatsächlich nicht mehr bezahlt werden können967.
Zu beachten sind die in § 11 I 2, II 2 EStG enthaltenen Modifikationen des Zufluss- und Abfluss- 572 prinzips (dazu § 8 Rz. 194) für regelmäßig wiederkehrende Einnahmen und Ausgaben; sie sind dem Wirtschaftsjahr zuzurechnen, zu dem sie wirtschaftlich gehören, wenn sie in engem zeitlichem Zusammenhang (bis zu zehn Tage vor Beginn oder nach Beendigung des betr. Kalenderjahres) zufließen bzw. abfließen. Beispiele: Zahlungen einer Kassenärztlichen Vereinigung an einen Kassenarzt sind regelmäßig wiederkehrende (Betriebs-)Einnahmen i.S.d. § 11 I 2 EStG. Leistet die Kassenärztliche Vereinigung im Januar für Dezember des Vorjahres Abschlagszahlungen, so sind diese als regelmäßig wiederkehrende Einnahmen dem Vorjahr zuzurechnen968. Umsatzsteuervorauszahlungen sind regelmäßig wiederkehrende Ausgaben969.
§ 11 I 3 EStG erlaubt die gleichmäßige Verteilung von Vorauszahlungen für Nutzungsüberlassun- 573 gen von mehr als 5 Jahren über den gesamten Nutzungszeitraum, § 11 II 3, 4 EStG. Ziel ist es, Vorauszahlungsgestaltungen entgegenzuwirken. Einstweilen frei.
574–579
5. Abweichungen vom Zu- und Abflussprinzip § 4 III 3, 4 EStG enthält Sonderregelungen, die eine übermäßige Verzerrung der Periodenergebnisse 580 unterbinden sollen (s. § 8 Rz. 194): a) Anlagevermögen: aa) § 4 III 3 EStG schließt mit dem Verweis auf die AfA-Vorschriften bei Anschaffung/Herstellung von abnutzbarem Anlagevermögen den sofortigen Abzug der Anschaffungsoder Herstellungskosten als Betriebsausgaben aus. Die Anschaffungs- oder Herstellungskosten für abnutzbare Anlagegüter, die sich länger als ein Jahr verwenden oder nutzen lassen (z.B. Einrichtungsgegenstände, Maschinen), sind vielmehr (wie bei der Bilanzierung) auf die Jahre der Verwendung oder Nutzung zu verteilen; als Betriebsausgaben ist jeweils nur die auf das Jahr entfallende AfA abzusetzen (§ 4 III 3 i.V.m. § 7 EStG; dazu Rz. 300 ff.). Gemäß § 4 III 3 EStG sind § 6 II, IIa EStG entspr. anzuwenden (Sofortabschreibung und Bildung von Sammelposten für geringwertige Wirtschaftsgüter [s. 961 BFH v. 10.7.2001 – VIII R 35/00, BStBl. II 2001, 646 (648) m.w.N. 962 BFH v. 30.10.1980, IV R 97/78, BStBl. II 1981, 305; Apitz, FR 1985, 290. 963 BFH v. 14.2.1984 – VIII R 221/80, BStBl. II 1984, 480 (482); Schmidt/Krüger36, § 11 EStG Rz. 50 „Überweisungen“. 964 BFH v. 13.10.1989 – III R 30-31/85, BStBl. II 1990, 287. 965 BFH v. 20.3.2001 – IX R 97/97, BStBl. II 2001, 482. 966 BFH v. 6.3.1997 – IV R 47/95, BStBl. II 1997, 509. 967 BFH v. 6.3.1997 – IV R 47/95, BStBl. II 1997, 509. 968 BFH v. 6.7.1995 – IV R 63/94, BStBl. II 1996, 266. 969 BFH v. 1.8.2007 – XI R 48/05, BStBl. II 2008, 282.
Hennrichs 679
§ 9 Rz. 581
Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)
Rz. 314 f.). Bei betrieblich veranlasstem „Verlust“ (z.B. Zerstörung, Diebstahl) eines abnutzbaren Anlageguts entstehen Betriebsausgaben in Höhe des Restbuchwerts. 581 Eine Teilwertabschreibung (Rz. 320 ff.) ist dagegen nicht zugelassen. Wird ein noch nicht voll abge-
schriebenes Wirtschaftsgut veräußert, so ist der Veräußerungserlös als Betriebseinnahme anzusetzen; der Restbuchwert ist wie eine Betriebsausgabe abzusetzen. Bei Tausch bemisst sich die Betriebseinnahme nach dem gemeinen Wert des hingegebenen Wirtschaftsguts (§ 6 VII Nr. 1/VI 1 EStG; dazu Rz. 245); bei Entnahme nach dem Teilwert (§ 6 VII Nr. 2/I Nr. 4 Satz 1 EStG; s. dazu Rz. 370). Bei sog. Entstrickungsentnahme i.S.v. § 4 I 3 EStG kann gem. § 4g IV EStG für Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens zur Vermeidung der Sofortversteuerung ein Ausgleichsposten gebildet werden. Das Aktivierungsverbot für nicht entgeltlich erworbene immaterielle Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens (§ 5 II EStG) gilt auch für die Gewinnermittlung nach § 4 III EStG. Aufwendungen für selbst geschaffene immaterielle Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens sind daher abweichend von § 4 III 4 EStG mit ihrem Abfluss (§ 11 II 1 EStG) als Betriebsausgaben abziehbar und nicht erst im Zeitpunkt ihrer Veräußerung oder Entnahme zu berücksichtigen970. 582 bb) Bei Wirtschaftsgütern des nicht abnutzbaren Anlagevermögens (z.B. GmbH-Beteiligungen,
Grund- und Boden, Darlehensforderungen, s. Rz. 281 u. Rz. 565) sorgt § 4 III 4 EStG für die Gleichstellung, indem Ausgaben für Anschaffung/Herstellung zunächst nicht zum Abzug zugelassen werden. AK oder HK für nicht abnutzbare Anlagegüter sind erst (dann aber in vollem Umfang) im Zeitpunkt des Abgangs (Veräußerung oder Entnahme) als Betriebsausgaben zu berücksichtigen (§ 4 III 4 EStG). 583 cc) Der in Rz. 421 ff. behandelte Aufschub der Besteuerung stiller Reserven ist auch im Fall der
Gewinnermittlung nach § 4 III EStG zulässig (§ 6c EStG; R 6c EStR). 584 b) Wirtschaftsgüter des Umlaufvermögens (s. Rz. 281) werden im System der § 4-III-Rechnung grds.
nicht aktiviert; die Zahlung des Kaufpreises bzw. der Material- und Fertigungskosten auf WG des UV führt deshalb grds. zu sofort abzugsfähigen Betriebsausgaben (Rz. 560). Diesen Grundsatz schränkt § 4 III 4 EStG mit Wirkung für nach dem 5.5.2006 angeschaffte/hergestellte Wirtschaftsgüter (§ 52 X 2 EStG) ein: Für Kapitalgesellschaftsanteile, Wertpapiere und vergleichbare nicht verbriefte Forderungen und Rechte, für Grund und Boden sowie Gebäude des Umlaufvermögens dürfen gem. § 4 III 4 EStG die Anschaffungs-/Herstellungskosten (wie bei nicht abnutzbaren Anlagen, Rz. 582) erst im Zeitpunkt des Zuflusses des Veräußerungserlöses bzw. der Entnahme als Betriebsausgaben abgezogen werden. Physische Goldbarren (im Goldfingermodell, oben Rz. 550) sind körperliche Gegenstände und deshalb keine Wertpapiere und auch keine diesen vergleichbare nicht verbriefte Forderungen oder Rechte i.S. des § 4 Abs. 3 Satz 4 Variante 3 EStG971. 585 c) Entnahmen/Einlagen (s. Rz. 360 ff.): § 4 III EStG enthält keine eigene Regelung von Entnahme
und Einlage, obwohl auch bei Kassenrechnung das Bedürfnis nach Abgrenzung von betrieblicher und außerbetrieblicher Sphäre besteht. Geldeinlagen sind keine Betriebseinnahmen, Geldentnahmen sind keine Betriebsausgaben. 586 Wie Betriebseinnahmen/-ausgaben werden folgende Vorgänge behandelt: Wird ein WG veräußert,
das zuvor eingelegt worden ist (Sacheinlage), so muss von der Betriebseinnahme „Veräußerungserlös“ der Wert der Sacheinlage abgezogen werden (wie eine Betriebsausgabe), da sonst ein z.T. nicht erwirtschafteter Gewinn erfasst würde. Wird ein für den Betrieb angeschafftes Wirtschaftsgut entnommen, nachdem die Anschaffungskosten als Betriebsausgabe behandelt worden sind, so muss der
970 BFH v. 19.10.2006 – III R 6/05, BStBl. II 2007, 301 (Rz. 29); BFH v. 8.11.1979 – IV R 145/77, BStBl. II 1980, 146; Schmidt/Heinicke36, § 4 EStG Rz. 398. 971 BFH v. 19.1.2017 – IV R 50/14, BStBl. II 2017, 456 (Rz. 81 ff.); vgl. auch Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 178.
680
Hennrichs
D. Gewinnermittlung durch betriebliche Überschussrechnung
Rz. 593 § 9
Wert der Sachentnahme als Betriebseinnahme behandelt werden, damit der volle Abzug der Anschaffungskosten rückgängig gemacht wird. Für die Bewertung gelten § 6 I Nr. 4, 5, 5a EStG entspr. Einstweilen frei.
587–589
6. Aufzeichnungspflichten § 4 III 5 EStG schreibt lediglich Verzeichnisse für die nicht abnutzbaren Wirtschaftsgüter des Anla- 590 gevermögens sowie die Wirtschaftsgüter des Umlaufvermögens i.S.d. § 4 III 4 EStG vor, also nicht die Aufzeichnung der Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben. Zwar sind für Umsatzsteuerzwecke die Einnahmen aufzuzeichnen (§ 22 UStG), hieraus ergibt sich aber keine Pflicht zur Führung eines gesonderten Kassenbuchs972. Die Aufzeichnung der Betriebsausgaben empfiehlt sich gleichwohl aus Beweisgründen zur Vermeidung der Schätzung. Außerdem bestehen Aufzeichnungspflichten nach anderen Vorschriften, insb.: § 4 III 3 i.V.m. § 6 II 4 EstG (Aufzeichnung von GWG mit Wert über 250 Euro); § 4 VII EStG (Aufwendungen i.S.d. § 4 V 1 Nr. 1–4, 6b, 7 EStG)973; § 4 IVa 6 EStG (Aufzeichnung von Einlagen und Entnahmen wg. Schuldzinsenabzug); § 4g IV EStG (Ausgleichsposten); § 6c II EStG (Übertragung stiller Reserven); § 7a VIII EStG (erhöhte Absetzungen/Sonderabschreibungen); § 7g EStG974. §§ 143, 144 AO: Aufzeichnung des Warenein- und -ausgangs bei Kleingewerbetreibenden. Für Veranlagungszeiträume ab 2005 muss der Steuererklärung gem. § 60 IV EStDV975 eine Gewinn- 591 ermittlung nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck beigefügt werden, die sog. Anlage EÜR976. 7. Wechsel der Gewinnermittlungsart Beim Übergang von der Ermittlung nach §§ 4 I, 5 I EStG zu der vereinfachten Gewinnermittlung 592 nach § 4 III EStG oder umgekehrt sind im Übergangszeitpunkt Hinzurechnungen bzw. Abrechnungen erforderlich, damit einerseits der gesamte Gewinn erfasst wird, andererseits Doppelerfassungen vermieden werden (R 4.6 EStR)977. Ein Stpfl., der freiwillig von der Einnahmenüberschussrechnung zum Bestandsvergleich übergegan- 593 gen ist und eine Verteilung des Übergangsgewinns auf drei Jahre beantragt hat, kann ohne besonderen wirtschaftlichen Grund nicht zwei Jahre nach dem Wechsel der Gewinnermittlungsart erneut zur Einnahmenüberschussrechnung übergehen978. Weitergehend geht die FinVerw. nach einem Wechsel der Gewinnermittlungsart von einer dreijährigen Bindungsfrist aus, bis ein erneuter Wechsel zugelassen wird979.
972 973 974 975 976
BFH v. 16.2.2006 – X B 57/05, BFH/NV 2006, 940. Vgl. hierzu BFH v. 10.3.1988 – IV R 207/85, BStBl. II 1988, 611. BFH v. 6.3.2003 – IV R 23/01, BStBl. II 2004, 187. Vgl. BGBl. I 2004, 3884. Dazu BFH v. 16.11.2011 – X R 18/09, BStBl. II 2012, 129; krit. im Hinblick auf bürokratischen Aufwand Weilbach, Stbg. 2006, 170; Schmidt/Heinicke36, § 4 EStG Rz. 374. 977 Dazu Holler, Der Wechsel der Gewinnermittlungsart im Einkommensteuerrecht, Diss., 1992; Kanzler, FR 1999, 225; Schoor, StuB 2007, 221; Ritzrow, StBp. 2007, 338 u. 362; HHR/Kanzler, § 4 EStG Rz. 64 ff. 978 BFH v. 9.11.2000 – IV R 18/00, BStBl. II 2001, 102. 979 H 4.6 EStH; zust. Blümich/Wied, § 4 EStG Rz. 137; krit. HHR/Kanzler, § 4 EStG Rz. 45, 549.
Hennrichs 681
§ 10 Besteuerung von Mitunternehmerschaften A. Dualismus der Unternehmensbesteuerung Das Unternehmenssteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland ist geprägt durch den Dualismus von 1 Einkommen- und Körperschaftsteuer. Eigene steuerjuristische Personen sind nur die in § 1 KStG aufgezählten Verbandsformen (dazu s. § 11). Personengesellschaften gehören nicht dazu. Bei Personengesellschaften wird folglich nicht diese als solche besteuert, sondern der von der Personengesellschaft erwirtschaftete Gewinn wird steuerlich den Gesellschaftern zugerechnet (Transparenzprinzip): Ist Gesellschafter der Personengesellschaft eine natürliche Person, sind die Gewinnanteile (und die Sondervergütungen) nach Maßgabe des § 15 I 1 Nr. 2 EStG Teil der einkommensteuerbaren Einkünfte des Gesellschafters. Ist Gesellschafter der Personengesellschaft eine steuerjuristische Person (z.B. eine Kapitalgesellschaft), geht deren Gewinnanteil in die Ermittlung ihres zu versteuernden Einkommens nach dem KStG ein1. Die Zuordnung zu Einkommen- oder Körperschaftsteuer orientiert sich an der tradierten Zweitei- 2 lung in natürliche und juristische Personen2 (zur Kritik s. Rz. 4 ff.). Steuersubjekt ist entweder eine natürliche Person (als Einzelunternehmer oder Mitunternehmer) oder eine juristische Person (insb. die Kapitalgesellschaften AG, KGaA und GmbH).3 Die Personengesellschaft hat der Gesetzgeber in § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG ungeachtet ihrer zivilrechtlichen Verselbständigung (§ 124 HGB) nicht als steuerjuristische Person eingeordnet. Der Gesellschafter einer Personengesellschaft wird steuerlich als sog. Mitunternehmer bezeichnet und konzeptionell grds. dem Einzelunternehmer gleichgestellt. Als Folge dieser Entscheidung beherrschen die Widersprüche zwischen zivilrechtlicher Verselbständigung und steuerrechtlicher Transparenz der Personengesellschaft das Richterrecht der Mitunternehmerschaft (Rz. 10 ff.). Dabei spielen Personenunternehmen – anders als im Ausland – im Wirtschaftsleben der Bundes- 3 republik zahlenmäßig eine große Rolle4. Dies erklärt die Bedeutung des Steuerrechts der Personengesellschaft für die Praxis. Die Rechtsformabhängigkeit der Unternehmensbesteuerung mit ihren vielfältigen Unterschieden (dazu s. § 13 Rz. 1 ff.) bietet durch geschickte Kombination steuerlicher Eigenschaften in aus unterschiedlichen Rechtsformen zusammengesetzten Unternehmen (dazu § 13 Rz. 70 ff.) zudem vielfältige Möglichkeiten der steuerlichen Gestaltung. Die verfassungsrechtliche Legitimation des Dualismus der Unternehmensbesteuerung ist umstrit- 4 ten. Das BVerfG erhebt gegen die rechtsformabhängig unterschiedliche Besteuerung der verschiedenen Unternehmensrechtsformen keine verfassungsrechtlichen Einwände5. Dem ist nicht zuzustim1 Grundl. und (mit Recht) krit. zum überkommenen Dualismus der Unternehmensbesteuerung Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2014. 2 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (759). Nach dem Entwurf von P. Kirchhof sollen Personen- und Kapitalgesellschaften als sog. steuerjuristische Personen einheitlich besteuert werden, s. P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch – Ein Reformentwurf zur Erneuerung des Steuerrechts, 2011, Erläuterungen zu § 12 Buch I Allgemeiner Teil. 3 Anders hingegen der Unternehmerbegriff gem. § 2 UStG (§ 17 Rz. 33 ff. [35]); s. auch § 5 I 3 GewStG (§ 12 Rz. 15) und § 1 I 2 AStG (§ 1 Rz. 89; dazu auch Ditz/Quilitzsch, DStR 2013, 1917 f.). 4 H. Hansen, GmbHR 2003, 22 (23); zur weiteren Entwicklung H. Hansen, GmbHR 2004, 39 (41). 5 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164; ebenso i.Erg. Hüttemann, DStJG 25 (2002), 123 (139 f.); Sieker, DStJG 25 (2002), 145 (151 ff., 168 ff.). Beide Autoren wollen rechtsformspezifische Unterschiede durch Detailkorrekturen innerhalb des dualen Systems der Unternehmensbesteuerung beseitigen oder abmildern. Großzügig hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine rechtsformneutrale Unternehmensbesteuerung namentlich auch Birk, StuW 2000, 328 (333); Drüen, GmbHR 2008, 393 (398 ff.); Pelka, StuW 2000, 389 (396).
Hennrichs 683
§ 10 Rz. 5
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
men (dazu auch § 13 Rz. 169 ff.)6. Zum einen beruht die verfassungsrechtliche Billigung einer transparenten Besteuerung bei Personengesellschaften durch das BVerfG auf unzutreffenden zivilrechtlichen Prämissen; denn zivilrechtlich gilt bei Personengesellschaften gem. § 124 HGB das Trennungsprinzip ebenso wie bei Kapitalgesellschaften7 (s. auch Rz. 14 f.). Zum anderen ist verfassungsrechtlich aus dem Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ein Gebot der Rechtsformneutralität abzuleiten (s. § 13 Rz. 169 ff.)8. Hiernach können zwar Rechtsformunterschiede durchaus besteuerungsrelevant sein. Das Verfassungsprinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung fordert nicht, bestehende und relevante Unterschiede einzuebnen. Aber die Unterschiede müssen doch im Hinblick auf das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit relevant sein, d.h., sie müssen eine unterschiedliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ausdrücken9. 5 Zwischen Kapital- und Personengesellschaften bestehen keine im Hinblick auf das Leistungsfähigkeits-
prinzip relevanten Unterschiede, die eine ungleiche Besteuerung rechtfertigen würden. Die den Leistungsfähigkeitsindikator „Gewinn“ (oder Verlust) prägenden Rechtsbeziehungen sind hier wie dort zivilrechtlich der Gesellschaft zugeordnet10. Die Personengesellschaft hat gem. § 124 HGB ebenso wie die Kapitalgesellschaft eigenes Vermögen und sie erzielt eigenes Einkommen, die Gesellschaft ist Inhaber des Gewerbebetriebs und damit Träger des Steuerobjekts (Rz. 14). Die Gesellschafter haben keine unmittelbare Berechtigung an den einzelnen Wirtschaftsgütern des Gesellschaftsvermögens11, sondern allein Gesellschafterrechte. Auch die Entnahmerechte der Personengesellschafter ergeben keinen steuerrechtlich relevanten Unterschied12. Zum einen liegt die Entscheidung über die Gewinnverwendung gesellschaftsrechtlich bei den Personengesellschaften letztlich ebenfalls in den Händen aller Gesellschafter, die nämlich im Rahmen der Feststellung des Jahresabschlusses auch über die Gewinnverwendung entscheiden können13. I.Ü. begründet allein das Entnahmerecht der persönlich haftenden Gesellschafter von Personengesellschaften noch keine Leistungsfähigkeitssteigerung auf ihrer Ebene, solange sie es nicht tatsächlich ausüben. Werden die Gewinnanteile nicht bis spätestens zur Feststellung des nächsten Jahresabschlusses zur Auszahlung verlangt, bleiben sie auf den Kapitalkonten stehen. Als Eigenkapital nehmen sie dann voll an etwaigen Verlusten der Gesellschaft teil. Erwirtschaftet also die Gesellschaft in der Folgezeit Verluste, werden diese von den Kapitalkonten abgeschrieben (§ 120 Abs. 2 HGB). Für die nicht entnommenen Gewinnanteile der Gesellschafter gilt dann: „wie gewonnen, so zerronnen!“. Von einer Leistungsfähigkeitssteigerung auf Ebene der Gesellschafter kann bei dieser
6 Dötsch in Dötsch/Herlinghaus/Hüttemann/Lüdicke/Schön (Hrsg.), Die Personengesellschaft im Steuerrecht – Gedächtnissymposion für Brigitte Knobbe-Keuk, 2011, 7 ff.; Schön, ebenda, 139 (145 ff.); Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16 ff.; Hey, DStR 2007, 925 (931); Hey, FS Herzig, 2010, 7 (15 ff.); Keß, FR 2006, 869 (870); Palm, FS P. Kirchhof, 2013, Bd. II, § 157 Rz. 4 ff.; Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2014, § 8; Schön, StuW 2005, 247. 7 Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (9) m.w.N. 8 S. namentlich Hey, DStG 24 (2001), 155 (161 ff.); J. Lang, StuW 1990, 107 (116); J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (98 ff.); J. Lang, FS Reiß, 2008, 379 (386 ff.); Schön, StuW 2000, 151 (152 f.); Hennrichs, StuW 2002, 201 ff.; Hennrichs, FR 2010, 721 (723 ff.); Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16 ff.; Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2014, insb. § 8 B; je m.w.N. 9 Hennrichs, StuW 2002, 201 (202), m.w.N. 10 Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (9 ff.); Hennrichs, StuW 2002, 201 ff.; Hennrichs, FR 2010, 721 (723 ff.); Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16 ff.; Palm, FS P. Kirchhof, 2013, Bd. II, § 157 Rz. 9, 11, 13 f., 16; Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2014, § 8 A. 11 Zivilrechtlich unzutreffend BFH v. 29.2.12 – II R 57/09, BStBl. II 2012, 917, wo der Senat (unter II.2.d) aa) meint, bei der Gesamthand sei eine unmittelbare dingliche Mitberechtigung der Gesamthänder am Gesellschaftsvermögen gegeben. 12 Hennrichs, FR 2010, 721 (724); Palm, FS P. Kirchhof, 2013, Bd. II, § 157 Rz. 12; Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2014, § 8 A II 1c (insb. S. 498 f.). 13 Vgl. Hennrichs, FR 2010, 721 (724); Hennrichs, WPg. 2009, 1066 (1070 f.); HdJ/Hennrichs/Pöschke, Abt. III/1 Rz. 79 ff.; Palm, FS P. Kirchhof, 2013, Bd. II, § 157 Rz. 12.
684
Hennrichs
A. Dualismus der Unternehmensbesteuerung
Rz. 8 § 10
Lage schlechterdings keine Rede sein14. Schließlich legitimiert auch die grds. persönliche Gesellschafterhaftung keine transparente Besteuerung15. Haftung hat mit der Leistungsfähigkeit nichts zu tun. Wieso der Umstand, dass ein Personengesellschafter für Gesellschaftsschulden persönlich haftbar gemacht werden kann und dies bei ihm eine „negative Soll-Leistungsfähigkeit“ bewirkt, die ihn „im Vergleich zum Kapitalgesellschafter in irgendeiner Weise besteuerungswürdig machen sollte, erschließt sich nicht“16. I.Ü. sollte für die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht das abstrakte Risiko der Haftung, sondern die tatsächliche Verlusttragung relevant sein17. Eine transparente Verlustzurechnung als Reaktion auf das abstrakte Risiko persönlicher Haftung ist nicht erforderlich. Erst tatsächlich getragene Verluste aus persönlicher Haftung, also die tatsächliche persönliche Inanspruchnahme, müssen gemäß dem Nettoprinzip steuerlich berücksichtigungsfähig sein18. Besonders augenfällig wird die Fragwürdigkeit des derzeitigen Dualismus der Unternehmensbesteue- 6 rung bei der GmbH & Co. KG. Diese Mischform steht wirtschaftlich betrachtet der GmbH gleich19, was im Gesellschafts- und Bilanzrecht auch längst anerkannt ist (vgl. §§ 125a I 2; 130a; 177a HGB; § 264a HGB). Dass das Ertragsteuerrecht diese wirtschaftliche Vergleichbarkeit beider Gesellschaftsformen ignoriert und sogar völlig unterschiedlich besteuert, ist ordnungspolitisch fragwürdig und vor dem Hintergrund der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht einzusehen. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besonders liegt nur der Einzelunternehmer, der 7 in der Tat jederzeit allein und unmittelbar über sein Betriebsvermögen verfügen kann. Besonders liegt außerdem die börsennotierte Gesellschaft, bei der eine transparente Besteuerung kaum praktikabel sein dürfte20. De lege ferenda wird deshalb vorgeschlagen, die Personengesellschaften zukünftig in die Körper- 8 schaftsteuer einzubeziehen21 (vgl. auch § 7 Rz. 90 f. und § 13 Rz. 185). Erwogen werden könnte auch, an die Stelle des bisherigen Dualismus der Unternehmensbesteuerung mit seiner scharfen Grenzziehung zwischen Personen- und Kapitalgesellschaften ein dreiteiliges Modell zu setzen: Für den Einzelunternehmer würde hiernach zwingend die transparente Besteuerung nach dem EStG gelten; börsennotierte Gesellschaften wären zwingend der Körperschaftsteuer unterworfen; für alle anderen Unternehmensformen, also für die nicht-börsennotierten Gesellschaften, könnte eine steuergesetzliche Option eingeräumt werden, für oder gegen die transparente oder selbständige Besteuerung zu optieren (ähnlich dem US-amerikanischen check-the-box-Verfahren)22. Danach könnten insbes. unternehme14 Flume, DB 1971, 692 (693); Hennrichs, StuW 2002, 201 (208); Hennrichs, FR 2010, 721 (724); KnobbeKeuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993, § 9 I 1; Kraus, Körperschaftsteuerliche Integration von Personenunternehmen, 2009, 123 ff. 15 Hennrichs, FR 2010, 721 (727); Palm, FS P. Kirchhof, 2013, Bd. II, § 157 Rz. 18; Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2014, § 8 A II 3; Schön, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 139 (147). 16 Zutreffend Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2014, § 8 A II 3 (S. 513). 17 Zutreffend Schulze-Osterloh, DStJG 2 (1979), 131 (161 ff.); DStJG 25 (2002), 178. 18 Hennrichs, FR 2010, 721 (727, 730 f.). 19 Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16 (21) m.w.N. 20 Schön, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 139 (141 ff., 147); vgl. auch Hennrichs, StuW 2002, 201 (215 ff.). 21 Vgl. Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (10 f.); Hennrichs, FR 2010, 721 (727 ff.); Hennrichs, StuW 2002, 201 (214 ff.); J. Lang, BB 2006, 1769 (1772); J. Lang, FS Reiß, 2008, 379 (388); J. Lang, FS Herzig, 2010, 323 (329); Müller-Gatermann, Stbg. 2007, 145 (155 ff.); je m.w.N. – Für eine Besteuerung der Personengesellschaften nach dem körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzip gibt es durchaus Vorbilder in ausländischen Steuerrechtsordnungen, vgl. Hey/Bauersfeld, IStR 2005, 649 ff.; Spengel/Schaden/Wehrße, StuW 2010, 44 ff.; Schön, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 139 (141 ff.). 22 Dafür namentlich Schön, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 139 (145 ff., 148); jüngst auch IDW Positionspapier, Einstieg in eine rechtsformneutrale Besteuerung (Optionsmodell), 2017 (abrufbar unter https://www.idw.de/idw/verlautbarungen/idw-positionspapiere/einstieg-in-eine-rechtsformneutra le-besteuerung—optionsmodell–idw-positionspapier-/103098).
Hennrichs 685
§ 10 Rz. 8
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
risch tätige (Außen-)Personengesellschaften zur Körperschaftsteuer optieren und damit die Thesaurierungsbegünstigung erlangen, ohne die formalen Hürden eines zivilrechtlichen Rechtsformwechsels überwinden zu müssen; der problematische § 34a EStG (dazu Rz. 220 ff.) würde damit entbehrlich. Die bei Personengesellschaften zivilrechtlich gewährte Privatautonomie, das Innenverhältnis der Gesellschaft grds. frei zu gestalten, würde so eine steuergesetzliche Entsprechung finden. Das könnte die Akzeptanz eines Modellwechsels erhöhen. Ob andererseits auch GmbH und nicht-börsennotierte AG zur transparenten Besteuerung optieren können sollten, wäre noch zu diskutieren. Sieht man in der KSt das international akzeptierte „Modell“ einer Unternehmenssteuer, erscheint eine Option für bisherige KSt-Subjekte „heraus“ aus der KSt nicht unbedingt zwingend23. 9 Einstweilen frei.
B. Besteuerung von Mitunternehmerschaften I. Besteuerung der laufenden Einkünfte von Mitunternehmern (§§ 15 I 1 Nr. 2, III; 15a; 13 VII; 18 IV 2 EStG) Literatur (bis 2003 s. 21. Aufl.): List, Personengesellschaften im Wandel zivil- und steuerrechtlicher Beurteilung, BB 2004, 1473; Sudhoff, Personengesellschaften8, 2005; Söffing, Besteuerung der Mitunternehmer5, 2005; Hennrichs/Lehmann, Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung – Kritische Anmerkungen zum Beschluss des BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, DStR 2006, 1316 = NJW 2006, 2757, StuW 2007, 16; Ley, Ausgewählte Neuerungen der Besteuerung der Mitunternehmerschaften, KÖSDI 2008, 16204; Lüdicke/ Sistermann, Unternehmensteuerrecht, 2008; Kuck, Steuerrechtssubjektivität mitunternehmerischer Innengesellschaften, 2009; Prinz, Besteuerung der Personengesellschaften – unpraktikabel und realitätsfremd?, FR 2010, 736; Hennrichs, Besteuerung von Personengesellschaften – Transparenz- oder Trennungsprinzip, FR 2010, 721; Dötsch/Herlinghaus/Hüttemann/Lüdicke/Schön (Hrsg.), Die Personengesellschaft im Steuerrecht – Gedächtnissymposion für Brigitte Knobbe-Keuk, 2011; Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften3, 2011; Hey, Einkünfteermittlung, DStJG 34 (2011); Ley, Steuerliche Transparenz von Personengesellschaften, Ubg 2011, 274; M. Wendt, Rechtsprechungs-Highlights zum Unternehmenssteuerrecht der Personengesellschaften, StbJb. 2011/12, 31; Seitz/Düll, Übertragung von Wirtschaftsgütern und betrieblichen Sachgesamtheiten in Mitunternehmerschaften, StbJb. 2011/12, 107; Th. Wagner, Das Treuhandmodell als Gestaltungsinstrument, StbJb. 2011/12, 133; J. Lange, Personengesellschaften im Steuerrecht8, 2012; Schwarz, Die Pensionszusage an den Mitunternehmer der Personengesellschaft im Einkommensteuerrecht, 2012; Rutemöller, Die Zuordnung von Sonderbetriebsvermögen im Rahmen einer mehrfachen Betriebsaufspaltung, DStZ 2012, 839; Prinz, Ertragsteuerliche Entwicklungen und Gestaltungen im Leben der Personengesellschaften, JbFSt. 2013/14, 389; Kahle, Die Steuerbilanz der Personengesellschaft, DStZ 2012, 61; Kahle, Steuerliche Gewinnermittlung bei doppelstöckigen Personengesellschaften, DStZ 2014, 273; Zimmermann/Hottmann/Kiebele/Schaeberle/Scheel, Die Personengesellschaft im Steuerrecht11, 2013; Hottmann/Fanck/Lahme, Besteuerung der Gesellschaften12, 2013, Teil I u. III; Niehus/Wilke, Die Besteuerung der Personengesellschaften6, 2013; Schiffers, Gestaltungshinweise zum Jahresende 2013: Hinweise zur Ertragsbesteuerung der Personengesellschaften, DStZ 2013, 850; Prinz/Hoffmann (Hrsg.), Beck’sches Handbuch der Personengesellschaften4, 2014; Schulze zur Wiesche, Gestaltungen innerhalb von Mitunternehmerschaften, DStZ 2014, 719; Florstedt, Stand und Entwicklung der steuerlichen Mitunternehmerdoktrin, 2015; Bresgen, Qualifikationskonflikte bei Personengesellschaften im Internationalen Steuerrecht, 2016; Blöchle/Menninger, Die Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG, DStR 2016, 1974; Kleinmanns, „Abgrenzung von Gesellschafterkonten wirft Fragen auf“, BB 2016, 1906; Dißars, Buchführung für das Sonderbetriebsvermögen?, StuB 2016, 452; Wichmann, Die Sonderbilanz – eine kritische Bestandsaufnahme, DStZ 2016, 414; Riedel, Das Umwandlungssteuerrecht der Mitunternehmerschaft - Eine Analyse der § 6 Abs. 5 EStG, § 24 UmwStG und der Realteilung anhand der Prinzipien der Umwandlungs- und Mitunternehmerbesteuerung, 2018. Rechtsvergleichend: Hey/Bauersfeld, Die Besteuerung der Personen(handels)gesellschaften in den Mitgliedstaaten der EU, der Schweiz und den USA, IStR 2005, 649; R.A. Hermann, Die Besteuerung von Personengesellschaften in den EU-Mitgliedstaaten und den USA, Diss., 2006; Schön, Die Personengesellschaft 23 So auch IDW Positionspapier, a.a.O. (s. Vornote).
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Hennrichs
1. Besteuerung nach dem Transparenzprinzip
Rz. 12 § 10
im Steuerrechtsvergleich, in Dötsch/Herlinghaus/Hüttemann/Lüdicke/Schön (Hrsg.), Die Personengesellschaft im Steuerrecht – Gedächtnissymposion für Brigitte Knobbe-Keuk, 2011, 139.
1. Besteuerung der Mitunternehmerschaft nach dem Transparenzprinzip Das Einkommensteuerrecht der Mitunternehmerschaft unterscheidet sich grundl. von dem der Ka- 10 pitalgesellschaft und ihrer Anteilseigner im Hinblick auf die Steuersubjektivität der Gesellschaft: Die Kapitalgesellschaft ist Körperschaftsteuersubjekt und damit als solche eine steuerjuristische Person. Dagegen ist die Personengesellschaft als solche weder Körperschaft- noch Einkommensteuersubjekt. Subjekte der Einkommensteuer sind vielmehr die natürlichen Personen (§ 1 EStG), demnach die Gesellschafter und Mitunternehmer einer Personengesellschaft i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG, nicht die Gesellschaft als solche. Nach dem Transparenzprinzip werden die Gewinne der Personengesellschaft unmittelbar den Gesellschaftern zugerechnet, entweder einer natürlichen Person als dem Einkommensteuersubjekt oder einer Körperschaft als Körperschaftsteuersubjekt24 (Rz. 1 f.), während die Gewinne der Kapitalgesellschaft nach dem Trennungsprinzip zunächst der Körperschaftsteuer und sodann erst in Gestalt von Gewinnausschüttungen (§ 20 I Nr. 1 EStG) der Einkommensteuer des Anteilseigners unterliegen (s. § 11 Rz. 1 f.). Die Rspr. des RFH und des BFH zur Besteuerung des Mitunternehmers war über Jahrzehnte ganz vom 11 Transparenzprinzip geleitet: Ziel war die Gleichstellung von Mit- und Einzelunternehmern. Die rechtliche Existenz der Personengesellschaft wurde mittels der Bilanzbündeltheorie hinweggedacht25. Die Besteuerung der Mitunternehmerschaft basierte auf dem Konzept der „Vielheit der Gesellschafter“. Dem lag die Vorstellung zugrunde, jeder Gesellschafter unterhalte durch die Teilhaberschaft in der Gesellschaft einen eigenen Gewerbebetrieb; nicht nur der Gewinn wurde anteilig zugerechnet, sondern auch das Betriebsvermögen der Personengesellschaft gedanklich aufgespalten. Dieses Konzept kollidiert indes mit der gesamthänderischen Bindung des Gesellschaftsvermögens und der zivilrechtlichen Subjektivität der Personengesellschaft, die dogmatisch auf der modernen Gesamthandslehre26 basiert und die der BGH mittlerweile selbst für die (Außen-)BGB-Gesellschaft bestätigt hat27. Auf die zivilrechtliche Verselbständigung der Gesellschaft („Einheit der Gesellschaft“) nimmt der 12 BFH seit Mitte der 1970er Jahre zunehmend mehr Rücksicht28, indem der Personengesellschaft immerhin partielle Steuerrechtsfähigkeit zugestanden wird: Zwar ist die Personengesellschaft nicht Einkommensteuersubjekt. Jedoch sei die Zivilrechtsfähigkeit der Personengesellschaft bei der Be24 Dazu Bippus, DStR 1998, 749; Groh, ZIP 1998, 89; Reiß, Stbg. 1999, 356; Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 62 ff. (Grundlagen des Transparenzprinzips), 130 ff. (dogmatische Konkretisierung des Transparenzprinzips); Reiß, StuW 2000, 399 f.; Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 163; Hennrichs, FR 2010, 721 ff. 25 Dazu grundl. E. Becker, Grundlagen der Einkommensteuer, 1940, 102 ff.; ferner Meßmer, StbJb. 1972/73, 127; Söffing, StbJb. 1976/77, 241; Kurth, StuW 1978, 1; Kurth, StuW 1978, 203; Haas, DStR 1997, 1706. 26 Grundl. Flume, ZHR 136 (1972), 177, und im Weiteren sehr instruktiv U. Huber, FS Lutter, 2000, 107; ferner Hadding, FS Kraft, 1998, 137 (141 f.); Hadding, ZGR 2001, 712 (717 ff.); Hennrichs, StuW 2002, 201 (206); Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16 (19); MünchKomm. BGB/Ulmer/Schäfer7, Vorbem. § 705 BGB Rz. 9 ff.; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht4, 2002, 196 ff.; Schön, StuW 1996, 275 (282). 27 BGH v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, BGHZ 146, 341 (343 ff.); v. 24.2.2003 – II ZR 385/99, BGHZ 154, 88 (94); v. 4.12.2008 – V ZB 74/08, BGHZ 179, 102. Dazu umf. K. Schmidt, NJW 2001, 993, u. im Weiteren Wiedemann, JZ 2001, 661; Dauner-Lieb, DStR 2001, 356; je m.w.N. 28 BFH v. 28.1.1976 – I R 84/74, BStBl. II 1976, 744; v. 15.7.1976 – I R 17/74, BStBl. II 1976, 748; v. 21.10.1976 – IV R 210/72, BStBl. II 1977, 145; v. 10.11.1980 – GrS 1/79, BStBl. II 1981, 164; v. 29.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (761 f.); v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. II 1991, 691 (699 ff.); v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl. II 1995, 617 (620 ff.); relativierend aber wieder BFH v. 3.2.2010 – IV R 26/07, BStBl. II 2010, 751; v. 6.5.2010 – IV R 52/08, BStBl. II 2011, 261; vgl. auch Ley, Ubg 2011, 274 (276 f.), die meint, dass nach der aktuellen Rspr. des BFH wieder die Vielheitsbetrachtung überwiege; zum Ganzen s. auch Schulze-Osterloh, FS L. Schmidt, 1993, 307.
Hennrichs 687
§ 10 Rz. 13
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
stimmung des Einkommensteuerobjekts zu beachten: Die Personengesellschaft sei „Steuerrechtssubjekt bei der Feststellung der Einkunftsart und der Einkünfteermittlung“29. Diese Qualifikation sei aber nicht abschließend, da bei Gefährdung der „sachlich richtigen Besteuerung der Gesellschafter“ das Prinzip der Einheit der Gesellschaft hinter dem der Vielheit der Gesellschafter zurücktreten müsse. Das klingt nach ergebnisorientierter Einzelfallbetrachtung, nicht aber nach einem in sich geschlossenen Konzept. Daher ist dem BFH vorgeworfen worden, er schwanke zwischen Einheits- und Vielheitsbetrachtung30, so dass die so gewonnenen Ergebnisse nicht immer zu überzeugen vermögen. Selbst zwischen den Senaten des BFH besteht zuweilen keine einheitliche Linie bezüglich Einheit versus Vielheit der Personengesellschaft, wie unterschiedliche Judikate zur Frage der Übertragung von Wirtschaftsgütern zwischen Schwesterpersonengesellschaften zeigen31. 13 Zur Erklärung wird u.a. die Vorstellung der gemeinschaftlichen Tatbestandsverwirklichung be-
müht32. Da eine einkommensteuerliche Subjektivität der Personengesellschaft dem EStG (unzweifelhaft) nicht entnommen werden kann33, sei im Grundsatz davon auszugehen, dass die Gesellschafter gemeinschaftlich den Einkommensteuertatbestand verwirklichten und die von der Personengesellschaft erwirtschafteten Einkünfte nach dem Transparenzprinzip originär eigene Einkünfte der Gesellschafter als den einzigen Rechtssubjekten der Einkommensteuer seien34. Das bedeute abweichend von der Bilanzbündeltheorie nicht, dass die rechtliche Existenz der Personengesellschaft einkommensteuerrechtlich hinwegzudenken sei. Vielmehr seien die Gemeinschaftlichkeit der Marktteilnahme und die gesamthänderischen Bindungen der Gesellschafter als einkommensteuerrechtlich beachtliche Determinanten wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen. 14 Auf dem Boden des modernen Verständnisses der Personengesellschaften sind diese Ausführungen,
wie Hüttemann zu Recht eingewendet hat, „nur schwer nachvollziehbar, denn es ist nun einmal allein die Gesellschaft, die als rechtsfähige (Außen-)Personengesellschaft eine unternehmerische Tätigkeit am Markt entfaltet“35. Träger des Gewerbebetriebs ist die Personengesellschaft (Rz. 5). Die Annahme, die Gesellschafter selbst übten die gewerbliche Tätigkeit am Markt aus, ist zivilrechtlich unzutreffend und wäre, wollte man steuerrechtlich an ihr festhalten, „letztlich rein fiktiv“36. Richtig verstanden bewirkt § 15 I 1 Nr. 2, 1. Fall EStG hinsichtlich des von der Gesellschaft erzielten Gewinns ein Auseinanderfallen von Steuersubjekt und Subjekt der Einkünfteerzielung sowie eine Zurechnung fremder Einkünfte37: Subjekt der Einkünfteerzielung ist die Gesellschaft selbst. Deren Gewinn wird sodann den einzelnen Mitunternehmern anteilig als Gewinnanteil zugerechnet (Zurechnungsthese). Hinsichtlich der von der Gesellschaft erhaltenen Sondervergütungen für eigene Dienstleistungen an die Gesellschaft, für die Hingabe von Darlehen oder für die Überlassung von WG (§ 15 I 1 Nr. 2, 29 So BFH v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl. II 1995, 617 (621). 30 Hennrichs, FR 2010, 721 (721 f.); Lüdicke/Sistermann, Unternehmensteuerrecht, 2008, § 1 Rz. 8, S. 4; Schön, StuW 1996, 275 (287 f.); Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 41 ff.; Hallerbach, Personengesellschaft, 1999, 136. 31 S. einerseits BFH v. 25.11.2009 – I R 72/08, BStBl. II 2010, 471 sowie die Vorlage v. 10.4.2014 – I R 80/12, BStBl. II 2013, 1004 (Az. beim BVerfG: 2 BvL 8/13); andererseits BFH v. 15.4.2010 – IV B 105/09, BStBl. II 2010, 971; näherRz. 158 m.w.N. 32 Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 85 ff., 98 f.; ihm folgend auch noch Hey in 20. Aufl., § 18 Rz. 12; ebenso Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 162 ff. Zur Dogmatik steuersubjektbezogener Tatbestandsverwirklichung auch Beierl, Die Einkünftequalifikation bei gemeinsamer wirtschaftlicher Betätigung im Einkommensteuerrecht, 1987; Bodden, Einkünftequalifikation, 2001, 57 ff. (u.a. zu Beierl u. Pinkernell). 33 Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 74 ff., 206. 34 So auch wieder BFH v. 3.2.2010 – IV R 26/07, BStBl. II 2010, 751 (Tz. 24); Wacker, FS Goette, 2011, 561 ff. 35 Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (43). 36 Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (45). 37 Zutreffend Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (45 f.) im Anschluss an Schön, StuW 1996, 275 (284 ff.).
688
Hennrichs
2. Zweistufigkeit der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 22 § 10
2. Fall EStG) und damit hinsichtlich der Figur des sog. Sonderbetriebsvermögens fingiert das Gesetz eigene Sondergewerbebetriebe der Gesellschafter.38 Die Besteuerung nach dem Transparenzprinzip bei Personengesellschaften ist rechtspolitisch nicht über- 15 zeugend39. Wie dargelegt (Rz. 4 ff.), ist der tradierte Dualismus der Unternehmensbesteuerung sogar verfassungsrechtlich zweifelhaft. Personengesellschaften stehen hinsichtlich der relevanten Leistungsfähigkeitsindikatoren (Gewinn/Verlust) den Kapitalgesellschaften näher als dem Einzelunternehmer40. Auch wenn man die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht teilt, so spricht doch jedenfalls steuersystematisch viel dafür, die Personengesellschaften (zumindest die Gesellschaften i.S.d. § 264a HGB) de lege ferenda in die KSt einzubeziehen41 (s. § 7 Rz. 90 f. und § 13 Rz. 185, sowie bereits Rz. 8 m.w.N. auch zu Optionsmodellen).
Einstweilen frei.
16–19
2. Zweistufigkeit der Einkünfte von Mitunternehmern Im geltenden Transparenzsystem stellt sich dogmatisch die Aufgabe, die sog. „Einheitsbetrachtung“ 20 (Rz. 12) in die Qualifikation, persönliche Zurechnung und Ermittlung von Einkünften der Gesellschafter zu integrieren. Dies geschieht durch ein sog. mehrstufiges System42: – Auf der ersten Stufe sind die Einkünfte der Personengesellschaft zu qualifizieren. Auf Gesellschaftsebene setzen auch die Sondertatbestände des § 15 III EStG an (s. Rz. 61 ff.). Die Gewerblichkeit der Gesellschaft ist besonders bedeutsam für die Gewerbesteuer, die nach § 5 I 3 GewStG von der Gesellschaft geschuldet wird (s. § 12 Rz. 15); s. aber auch Rz. 52 zum sog. Treuhandmodell.
21
Die erste Stufe der Gewinnermittlung ergibt den Gewinnanteil (§ 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 1 EStG), d.i. der Anteil des Gesellschafters und Einkommensteuersubjekts am Gewinn der Gesellschaft (s. Rz. 109: Schaubild); dabei sind die in sog. Ergänzungsbilanzen einzelner Mitunternehmer ausgewiesenen Wertkorrekturen der Gesellschaftsbilanz miterfasst (s. Rz. 105, 123). – Die zweite Stufe der Gewinnermittlung erfasst sodann die Sondervergütungen des jeweiligen Mit- 22 unternehmers (§ 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG) und sein Sonderbetriebsvermögen (s. Rz. 100 ff., 106, 131). Auf der zweiten Stufe werden außerdem Korrekturen vorgenommen, die dem Transparenzprinzip geschuldet sind und durch die der Umstand berücksichtigt wird, dass das EStG die Tatbestandsverwirklichung auf den einzelnen Gesellschafter und Einkommensteuerschuldner bezieht: Die Einkünfte eines Gesellschafters sollen hiernach nicht steuerbar sein, weil er persönlich auf Grund von Sonderaufwendungen keine Gewinnerzielungsabsicht hat (s. Rz. 41 f.), oder die Einkünfte aus der Gesellschaft sollen bei den
38 Schön, Gewinnübertragungen bei Personengesellschaften nach § 6b EStG, 1986, 81, 82, 95; Schön, StuW 1988, 253; zust. Hüttemann, DStJG 35 (2011), 291, 303; Riedel, Das Umwandlungssteuerrecht der Mitunternehmerschaft – Eine Analyse der § 6 Abs. 5 EStG, § 24 UmwStG und der Realteilung anhand der Prinzipien der Umwandlungs- und Mitunternehmerbesteuerung, 2018, 175 ff.; Hallerbach, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 1999, 137; je m.w.N. 39 Grundl. und eingehend Palm, Person im Ertragssteuerrecht, 2014 (insb. § 8); ferner Hennrichs, FR 2010, 721 ff.; Hennrichs, StuW 2002, 201 ff.; Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16 ff.; je m.w.N. 40 Zust. Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (10). 41 Vgl. Hennrichs, FR 2010, 721 (727 ff.); Hennrichs, StuW 2002, 201 (214 ff.); J. Lang, BB 2006, 1769 (1772); J. Lang, FS Reiß, 2008, 379 (388); J. Lang, FS Herzig, 2010, 323 (329); Müller-Gatermann, Stbg. 2007, 145 (155 ff.); je m.w.N. – Für eine Besteuerung der Personengesellschaften nach dem körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzip gibt es durchaus Vorbilder in ausländischen Steuerrechtsordnungen, vgl. Hey/Bauersfeld, IStR 2005, 649 ff.; Spengel/Schaden/Wehrße, StuW 2010, 44 ff. 42 Zum mehrstufigen System s. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 364 ff.; J. Lang, FS L. Schmidt, 1993, 291 (294 ff., 300); Bordewin, FS L. Schmidt, 1993, 421 ff.; Gosch, DStZ 1996, 417; Kempermann, DStZ 1995, 225 f.; Weber-Grellet, DStR 1995, 1341; Bodden, DStZ 1996, 73; Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 23 ff., 98 f.; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 163 ff.; HHR/Tiede, § 15 EStG Anm. 450; Kahle, DStZ 2012, 61 (62 ff.).
Hennrichs 689
§ 10 Rz. 25
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
einzelnen Gesellschaftern verschiedenen Einkunftsarten zuzurechnen sein können (zur sog. Zebragesellschaft s. Rz. 47). 23–24
Einstweilen frei.
3. Mitunternehmerschaft als Unterfall der Personengesellschaft 25
Das Steuerrecht der Personengesellschaft ist zweigeteilt. Nicht jede Personengesellschaft ist Mitunternehmerschaft, sondern nur, wenn ihre Gesellschafter als Mitunternehmer i.S.v. § 15 I 1 Nr. 2 EStG anzusehen sind. Dies trifft zu auf gewerblich tätige Personengesellschaften mit der Erweiterung des § 15 III EStG und kraft Verweisung gem. § 13 VII EStG auf land- und forstwirtschaftliche sowie gem. § 18 IV 2 EStG auf freiberufliche Personengesellschaften. Vermögensverwaltende Personengesellschaften43 und Personengesellschaften mit sonstigen Einkünften i.S.d. §§ 2 I 1 Nr. 7; 22 EStG sind dagegen keine Mitunternehmerschaften; § 15 I 1 Nr. 2 EStG ist nicht anwendbar, und zwar auch dann nicht, wenn die Gesellschaft qua Eintragung in das Handelsregister Personenhandelsgesellschaft ist (§ 105 II 1 HGB). Nicht die zivilrechtliche Gesellschaftsform ist entscheidend, sondern die steuerrechtliche Einkunftsartenabgrenzung.
26
I.E. unterscheiden sich vermögensverwaltende Personengesellschaften von Mitunternehmerschaften dadurch, dass sie kein Betriebsvermögen haben; der Personengesellschaft überlassene Wirtschaftsgüter werden nicht zu Sonderbetriebsvermögen. Wertsteigerungen der zur Einkünfteerzielung eingesetzten Vermögensgegenstände unterliegen der Besteuerung nur im Rahmen von §§ 22 Nr. 2; 23 EStG. Da vermögensverwaltende Personengesellschaften nicht der Gewerbesteuer unterliegen, besteht kein Bedürfnis der Umqualifizierung von Vergütungen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter in Sondervergütungen. Die Einkünfte werden als Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten ermittelt; §§ 4 I; 5 I EStG gelten nicht (zur Einkünfteermittlung der Zebragesellschaft als Sonderfall der vermögensverwaltenden Personengesellschaft s. Rz. 47; zur Diskontinuität der Einkünfteerzielungsabsicht bei Übergang einer Immobilie aus dem Bereich der Vermögensverwaltung in die Gewerblichkeit s. BFH v. 9.3.2011 – IX R 50/10, BStBl. II 2011, 704, und unten Rz. 42).
27–29
Einstweilen frei.
4. Qualifikation und Zurechnung der Einkünfte von Mitunternehmern 4.1 Der Begriff des Mitunternehmers Literatur: (bis 2003 s. 21. Aufl.): Ritzrow, Die Kriterien der Mitunternehmerschaft, StBp. 2009, 175; Dötsch, Mitunternehmer und Mitunternehmerschaft, in Dötsch/Herlinghaus/Hüttemann/Lüdicke/Schön (Hrsg.), Die Personengesellschaft im Steuerrecht – Gedächtnissymposion für Brigitte Knobbe-Keuk, 2011, 7; Kubata/Riegler/Straßen, Zur Gewerblichkeit freiberuflich tätiger Personengesellschaften, DStR 2014, 1949.
4.1.1 Funktion des Mitunternehmerbegriffs 30
Nach § 15 I 1 Nr. 2 EStG bezieht nur Einkünfte aus Gewerbebetrieb, wer Gesellschafter einer Personengesellschaft und zugleich Mitunternehmer ist. Der Mitunternehmerbegriff hat die Funktion, diejenigen Personen zu bestimmen, denen die im Rahmen der Mitunternehmerschaft erwirtschafteten Einkünfte anteilig unmittelbar zugerechnet werden (s. auch Rz. 1, 14)44. Zugleich grenzt der 43 Dazu Groh, JbFSt. 1979/80, 221; J. Lang, FS L. Schmidt, 1993, 304 f.; Krüger, Die vermögensverwaltende Personengesellschaft im Ertragsteuerrecht, Diss., 1995; Tulloch/Wellisch, DStR 1999, 1093; Engel, Vermögensverwaltende Personengesellschaft und ertragsteuerrechtliche Selbständigkeit, Diss., 2003; Drüen, SteuerStud 2004, 8; Mönkemöller, Die Zurechnung der Überschusseinkünfte bei Personengesellschaften, Diss., 2005; Kuhn, Die steuerrechtliche Behandlung vermögensverwaltender Gesamthandsgemeinschaften, Diss., 2006; Wacker, StbJb. 2006/07, 55. 44 Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (25) m.w.N.
690
Hennrichs
4. Qualifikation und Zurechnung der Einkünfte
Rz. 33 § 10
Mitunternehmerbegriff die Erwerbs- von der Privatsphäre, insb. die Mitunternehmerschaft von einem verdeckten Unterhaltsverhältnis (s. Rz. 79 ff.) ab. Schließlich unterscheidet er die Einkünfte i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG von anderen Einkunftsarten, z.B. von Einkünften eines typisch stillen Gesellschafters, der Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.d. § 20 I Nr. 4 EStG erzielt. Ist der Gesellschafter nicht zugleich Mitunternehmer, so kann er allenfalls – bei entsprechender Tatbestandsverwirklichung – Einkünfte im Rahmen einer nichtbetrieblichen Einkunftsart beziehen oder erzielen (Rz. 26). 4.1.2 Zivilrechtliche Gesellschafterstellung Die jüngere Rspr. des BFH45 knüpft an den Begriff des Gesellschafters in § 15 I 1 Nr. 2 EStG an und 31 leitet daraus einen grds. zivilrechtlich orientierten Begriffsinhalt des Mitunternehmers ab. So kann nach BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/8246 Mitunternehmer grds. nur sein, wer „zivilrechtlich Gesellschafter einer Personengesellschaft ist oder – in Ausnahmefällen – eine diesem wirtschaftlich vergleichbare Stellung innehat“. Dazu nennt der GrS beispielhaft Gesamthandsgemeinschaften in Form von (unternehmerisch tätigen) Erben- und Gütergemeinschaften47 sowie Bruchteilsgemeinschaften48. Bloße Büro- und Praxisgemeinschaften mit dem Zweck der Teilung der Betriebskosten begründen dagegen keine Mitunternehmerschaft49. Eine auch nur kurzfristige Gesellschafterstellung reicht aus50. Aus der Anknüpfung an die zivilrechtliche Gesellschafterstellung folgt, dass der BFH faktische (ver- 32 deckte) Mitunternehmerschaften nur dann anerkennt, wenn ihnen entweder ein (verdecktes) Gesellschaftsverhältnis oder ein wirtschaftlich vergleichbares Gemeinschaftsverhältnis zugrunde liegt (zu Treuhandverhältnissen s. Rz. 51 f.). Ob ein solches verdecktes Gesellschaftsverhältnis vorliegt, ist unabhängig von der formalen Bezeichnung der zwischen den Beteiligten bestehenden Rechtsbeziehungen nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu beurteilen51. Die bloße Bündelung von Austauschverträgen ist aber selbst bei gewinnabhängiger Vergütung nicht ausreichend52. Die Orientierung am zivilrechtlichen Gesellschafterbegriff wird von vielen kritisiert, weil sie den Blick 33 für die steuerrechtliche Teleologie verstelle53. Die zivilrechtliche Gesellschafterstellung könne letztlich nicht ausschlaggebend sein, sondern entscheidend sei ein steuerrechtlicher Mitunternehmerbegriff, nämlich ob der Stpfl. Mitunternehmerrisiko trage und Mitunternehmerinitiative entfalten könne
45 Grundl. BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II II 1984, 751 (Aufgabe der Gepräge-Rspr.); v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. II 1991, 691 (mehrstöckige Personengesellschaft); v. 13.7.1993 – VIII R 50/92, BStBl. II II 1994, 282 (verdeckte Mitunternehmerstellung); v. 22.6.2017 – IV R 42/13, BFHE 259, 258; zust. L. Woerner, BB 1986, 704 (706); HHR/Haep, § 15 EStG Anm. 336. Nach BFH v. 3.4.1998 – VIII B 62/97, BStBl. II 1998, 401 ist für die Annahme einer Mitunternehmerschaft allerdings nicht erforderlich, dass der Gesellschaftsvertrag allen formellen Anforderungen des Zivilrechts genügt. Auch bei einer fehlerhaft zustande gekommenen Gesellschaft handle es sich zivilrechtlich um ein Gesellschaftsverhältnis. Die zivilrechtliche Betrachtungsweise wird also durch die in § 41 I 1 AO positivierte wirtschaftliche Betrachtungsweise ergänzt. 46 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. 1984, 751 (768). 47 S. auch BFH v. 18.8.2005 – IV R 37/04, BStBl. II 2006, 165. 48 Vgl. auch Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (14 f.). 49 BFH v. 14.4.2005 – XI R 82/03, BStBl. II 2005, 752. 50 BFH v. 22.6.2017 – IV R 42/13, BFHE 259, 258. 51 Grundl. BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1994, 282. Im Weiteren BFH v. 2.9.1985 – IV B 51/85, BStBl. II 1986, 10; v. 21.9.1995 – IV R 65/94, BStBl. II 1996, 66; v. 8.11.1995 – XI R 14/95, BStBl. II 1996, 133 (Kriterien für die steuerliche Anerkennung von Verträgen zwischen Angehörigen sind bei der Beurteilung verdeckter Mitunternehmerschaften nicht heranzuziehen!); v. 7.7.1998 – IV B 62/67, BFH/NV 1999, 167; v. 16.5.2013 – IV R 35/10, BFH/NV 2013, 1945 (Treuhand); Knobbe-Keuk, Bilanzund Unternehmenssteuerrecht9, 384 ff.; Priester, FS L. Schmidt, 1993, 331 (353); Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 214 ff.; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 280 ff.; HHR/Haep, § 15 EStG Anm. 340 ff. 52 BFH v. 1.7.2003 – VIII R 2/03, BFH/NV 2003, 1564. 53 So Hey in 20. Aufl., § 18 Rz. 18, m.w.N.
Hennrichs 691
§ 10 Rz. 34
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
(Rz. 35 ff.54). Auf der einen Seite gebe es deshalb Gesellschafter, die keine Mitunternehmer seien (wobei auf § 20 I Nr. 4 EStG hingewiesen wird), auf der anderen Seite könnten auch Nichtgesellschafter, die am Erfolg des Unternehmens beteiligt sind und mindestens über einem Kommanditisten entsprechende Mitwirkungsrechte verfügen, (verdeckte) Mitunternehmer sein. 34
M.E. ist die grds. Orientierung am zivilrechtlichen Gesellschafterbegriff richtig. Sie entspricht dem Wortlaut des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG55 und verspricht Rechtssicherheit. Für die doppelstöckige Personengesellschaft (dazu Rz. 71, 143), für die der BFH56 dem Zivilrecht folgend nur die Obergesellschaft, nicht aber die Gesellschafter der Obergesellschaft als Gesellschafter und Mitunternehmer der Untergesellschaft angesehen hat, gilt mittlerweile die Sonderregelung des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 2 EStG. Der Streit ist allerdings meistens ohne praktische Auswirkungen. Denn bei Bejahung der Mitunternehmereigenschaft ist in aller Regel auch ein Gesellschaftsverhältnis (zumindest eine Innengesellschaft) gegeben. Voraussetzungen für das Vorliegen einer Gesellschaft ist nach § 705 BGB nur, dass sich mehrere Personen zur Erreichung eines gemeinsamen Zwecks vertraglich verbinden und sich verpflichten, diesen zu fördern; dabei bedarf der Vertrag keiner besonderen Form, sondern er kann auch stillschweigend geschlossen werden. Wer Mitunternehmer ist, erfüllt regelmäßig diese Voraussetzungen, weil der Begriff des Mitunternehmers auch gemeinsames Handeln zu einem gemeinsamen Zweck von einander gleichgeordneten Personen zum Inhalt hat (zutreffend BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751). In den Fällen der verdeckten Mitunternehmerschaft wird demgemäß i.d.R. eine (konkludent vereinbarte) Innengesellschaft vorliegen (zu Treuhandverhältnissen s. Rz. 51 f.). 4.1.3 Mitunternehmerrisiko und Mitunternehmerinitiative
35
Die zivilrechtliche Gesellschafterstellung ist zwar notwendige (Rz. 31 ff.), aber nicht hinreichende Bedingung für § 15 I 1 Nr. 2 EStG. Mitunternehmer ist nach st. Rspr. nicht bereits jeder Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft in der Rechtsform einer OHG oder KG, obwohl dies eine grammatikalische Auslegung des § 15 I 1 Nr. 2 EStG nahelegen könnte (der in seinem Relativsatz den Begriff des Mitunternehmers nur mit dem Gesellschafter einer „anderen Gesellschaft“ als der OHG und der KG verbindet). Mitunternehmer i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG ist vielmehr nur, wer als Gesellschafter einer Personengesellschaft oder (den Wortlaut des § 15 I 1 Nr. 2 EStG ergänzend) als Teilhaber einer wirtschaftlich vergleichbaren Gemeinschaft Mitunternehmerrisiko trägt und Mitunternehmerinitiative entfalten kann57. Das Gesellschafts-, Gemeinschafts-, Treuhand- oder sonstige Rechtsverhältnis muss also danach beurteilt werden, ob es dem Einkommensteuerschuldner als Grundvoraussetzungen des steuerlichen Mitunternehmertatbestands (1.) die rechtliche, nicht nur faktische Beteiligung an einer Gesellschaft oder Gemeinschaft58, und (2.) die Merkmale des Mitunternehmerrisikos und der Mitunternehmerinitiative vermittelt.
36
Mitunternehmerrisiko ist gegeben, wenn der Stpfl. unmittelbar an Erfolg/Misserfolg des Unternehmens beteiligt ist. Als Merkmale des Mitunternehmerrisikos werden angesehen: Beteiligung am laufenden Gewinn und Verlust; Beteiligung auch an den (realisierten) stillen Reserven des Anlagevermögens; Auseinandersetzungsanspruch (bei Ausscheiden oder Liquidation), der sich auch auf die 54 55 56 57
S. auch BFH v. 9.9.1999 – IV B 18/99, BFH/NV 2000, 313. Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (12). BFH v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. II 1991, 691 (698 f.). Grundl. BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (768 f.); verdeckte Mitunternehmerstellungen: BFH v. 13.7.1993 – VIII R 50/92, BStBl. II 1994, 282 (284 f.); v. 1.8.1996 – VIII R 12/94, BStBl. II 1997, 272 (275 f.); v. 4.11.1997 – VIII R 18/95, BStBl. II 1999, 384 (Gütergemeinschaft); v. 18.4.2000 – VIII R 68/98, BStBl. II 2001, 359 (Umsatzbeteiligung nicht ausreichend); v. 4.11.2004 – III R 21/02, BStBl. II 2005, 168 (Strohmann), m. Anm. Steinhauff, NWB 2005 F. 3, 13295; BFH v. 5.4.2006 – VIII R 74/03, BStBl. II 2006, 595, m. Anm. Wacker, NWB 2006 F. 3, 14199; ausf. HHR/Haep, § 15 EStG Anm. 300–326; s. auch Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (25 ff.). 58 BFH v. 13.7.1993 – VIII R 50/92, BStBl. II 1994, 282 ff.; v. 16.12.1997 – VIII R 32/90, BStBl. II 1998, 480.
692
Hennrichs
4. Qualifikation und Zurechnung der Einkünfte
Rz. 40 § 10
stillen Reserven des Anlagevermögens einschließlich des Firmenwerts erstreckt; persönliche Haftung für Gesellschaftsverbindlichkeiten.59 Daher trägt der typisch still Beteiligte, der nach §§ 230 ff. HGB bei Auseinandersetzung der Gesellschaft lediglich seine Einlage zurückerhält, kein Mitunternehmerrisiko; anders hingegen der atypisch still Beteiligte60. Mitunternehmerinitiative liegt in der Teilhabe an oder dem Einfluss auf Unternehmensentschei- 37 dungen. Ausreichend ist die Möglichkeit zur Ausübung von Gesellschafterrechten, die wenigstens den Stimm-, Kontroll- und Widerspruchsrechten angenähert sind, die einem Kommanditisten nach dem HGB zustehen61 oder die den gesellschaftsrechtlichen Kontrollrechten nach § 716 Abs. 1 BGB entsprechen.62 Bei einer Komplementär-GmbH soll die nicht abdingbare organschaftliche Vertretungsbefugnis ausreichen.63 Damit wird die relevante Schwelle der sog. Mitunternehmerinitiative allerdings so weit nach unten gelegt, dass man füglich am Sinn dieses Merkmals zweifeln kann. Namentlich KnobbeKeuk hat sich deshalb schon früh und mit beachtlichen Gründen dafür ausgesprochen, auf das Merkmal der Mitunternehmerinitiative zu verzichten64. Dafür spricht auch, dass die Vorstellung, ein Kommanditist übe (Mit-)Unternehmerinitiative aus, zivilrechtlich ohnehin kaum haltbar ist. Träger des Unternehmens ist die Personengesellschaft. Sie selbst entfaltet die Unternehmerinitiative65. Aus dem Wesen des Mitunternehmerbegriffs als Typusbegriff66 (hierzu § 5 Rz. 53 f.) folgt, dass Mit- 38 unternehmerrisiko und Mitunternehmerinitiative unterschiedlich stark ausgeprägt sein können und ein Mehr an Risiko ein Weniger an Initiative und umgekehrt kompensieren kann, ohne dass eines von beiden Merkmalen ganz fehlen darf67. Entscheidend ist das Gesamtbild. Einstweilen frei.
39
4.2 Zweistufige Qualifikation der Einkünfte von Mitunternehmern Wie bereits ausgeführt (Rz. 20 ff.), ist nach h.M. bei der Qualifikation der Einkünfte von Mitunter- 40 nehmern zweistufig zu verfahren: Zunächst ist zu prüfen, welche Tatbestandsmerkmale auf der Ebene der Gesellschaft erfüllt werden. Sodann ist auf der zweiten Stufe zusätzlich die Ebene des einzelnen Mitunternehmers zu würdigen. Erst auf der zweiten Stufe kann abschließend festgestellt werden, ob der einzelne Mitunternehmer steuerbare Einkünfte erwirtschaftet hat und welcher Einkunftsart seine Einkünfte zuzuordnen sind.
59 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751; v. 28.10.2008 – VIII R 32/07, BFH/NV 2009, 355; zum Mitunternehmerrisiko bei interner Haftungsfreistellung BFH v. 10.10.2012 – VIII R 42/10, BStBl. II 2013, 79; krit. dazu Karl, GmbHR 2013, 163; Karl, DStR 2011, 159 (160). 60 S. Rz. 70; Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht20, § 6 Rz. 1140; Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften5, 2017, 105. 61 BFH v. 29.4.1981 – IV R 131/78, BStBl. II 1981, 663; v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751; je m.w.N. 62 Zust. z.B. Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (31 f.), m.w.N. 63 BFH v. 25.4.2006 – VIII R 74/03, BStBl. II 2006, 595; v. 10.10.2012 – VIII R 42/10, BStBl. II 2013, 79; krit. dazu Karl, BB 2010, 1311 (1312); Karl, DStR 2011, 159 (160). 64 Knobbe-Keuk, StuW 1986, 106 (114). 65 Zutreffend Schön, StuW 1996, 275 (286). 66 Zugmaier, FR 1999, 997; Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (27); a.A. Weber-Grellet, FS Beisse, 1997, 551 (568). 67 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/751, BStBl. II 1984, 751 (769); v. 7.1.1994 – IV R 114/91, BStBl. II 1994, 635 (637); v. 4.11.2004 – III R 21/02, BStBl. II 2005, 168 (170); v. 10.5.2007 – IV R 2/05, BStBl. II 2007, 927 (929 f.); v. 10.10.2012 – VIII R 42/10, BStBl. II 2013, 79 (81); v. 3.11.2015 – VIII R 63/13, BStBl. II 2016, 383.
Hennrichs 693
§ 10 Rz. 41
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
4.2.1 Steuerbarkeit der Einkünfte 41
Betreffend die Steuerbarkeit der Einkünfte68 fordert die Rspr. als Konsequenz der partiellen Steuerrechtsfähigkeit der Personengesellschaft Gewinnerzielungsabsicht sowohl auf der Ebene der Gesellschaft als auch beim Gesellschafter69. Dabei bezieht sie (systematisch angreifbar) allerdings bereits auf Gesellschaftsebene den Bereich des Sonderbetriebsvermögens ein, obwohl dieser erst zur Gesellschafterebene gehört.70 Nach der Gegenansicht soll es von vornherein nur auf die Gewinnerzielungsabsicht des Gesellschafters ankommen, da Subjekt der Einkommensteuer nicht die Personengesellschaft, sondern allein die natürliche Person sei71.
42
Im Normalfall bedeutet Gewinnerzielungsabsicht der Gesellschaft zugleich Gewinnerzielungsabsicht aller Gesellschafter. Fehlt eine Gewinnerzielungsabsicht der Gesellschaft, so steht dies zunächst der Annahme steuerbarer Einkünfte bei jedem Gesellschafter entgegen. Jedoch können Sondererträge und Sonderaufwendungen (s. Rz. 100 ff., 138 ff.) einzelner Gesellschafter dazu führen, dass die Absicht des Gesellschafters abweichend von der Gesellschaftsabsicht zu beurteilen ist. Zu beachten ist, dass vor der Prüfung der Einkünfteerzielungsabsicht die Einkunftsart zu klären ist. Eine die Einkunftsarten übergreifende Einkünfteerzielungsabsicht kennt das Gesetz nicht. Das hat Konsequenzen bei Umstrukturierungen von Immobilienbeständen: Überträgt ein Gesellschafter vermietete Immobilien auf eine vermögensverwaltende Personengesellschaft (Rz. 25) und führt diese die Vermietung weiter, so hat der Gesellschafter kontinuierlich Einkünfteerzielungsabsicht (vor der Veräußerung allein und nach der Veräußerung zusammen mit anderen). Diese Kontinuität wird aber unterbrochen, wenn die Personengesellschaft, die das Grundstück weiterhin vermietet, gewerblich geprägt ist (§ 15 III Nr. 2 EStG, Rz. 65 ff.) und Einkünfte aus Gewerbebetrieb erzielt. Die nunmehr erforderliche Gewinnerzielungsabsicht ist gegenüber der früheren Überschusserzielungsabsicht ein „aliud“. Das führt dazu, dass beim übertragenden Gesellschafter die Einkünfteerzielungsabsicht zu versagen sein kann, weil seine Vermietungstätigkeit nicht auf Dauer angelegt war und sich in der Haltezeit nur Werbungskostenüberschüsse ergeben haben72.
43–44
Einstweilen frei.
4.2.2 Qualifikation der Einkunftsart 45
Die Einkunftsart ist zunächst auf der Ebene der Gesellschaft zu bestimmen73, wo die Gewerblichkeit der Personengesellschaft durch § 15 III EStG extensiv festgelegt ist (s. Rz. 61 ff.). Gemischte Tätigkeiten sind nach § 15 III Nr. 1 EStG insgesamt als gewerblich zu behandeln, auch wenn die Gesellschaft nur partiell gewerblich tätig ist (sog. Abfärberegelung, s. Rz. 61). Handelt die Gesellschaft teilweise ohne Gewinnerzielungsabsicht, so sind die Teilbereiche erst nach erfolgter Umqualifikation zu segmentieren und die nicht steuerbaren Einkünfte auszuscheiden74.
68 Dazu Reiß, Stbg. 1999, 356 (361 f.) (Einkünfteerzielungsabsicht); Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 170 ff.; Bodden, Einkünftequalifikation, 2001, 153 f.; zur Steuerbarkeit privater Veräußerungsgeschäfte nach § 23 Abs. 1 Satz 4 EStG beim Erwerb eines Personengesellschaftsanteils und anschließender Veräußerung gesamthänderisch gehaltener Grundstücke s. BFH v. 21.1.2014 – IX R 9/13, BStBl. II 2016, 515; zur Problematik der „Mischfälle“ vgl. Schießl, DStR 2014, 512, m.w.N. 69 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (765 ff.); v. 8.12.1998 – IX R 49/95, BStBl. II 1999, 468 (471); v. 5.9.2000 – IX R 33/97, 2000, 676 (681); v. 23.4.1999 – IV B 149/98, BFH/NV 1999, 1336; v. 2.7.2008 – IX B 46/08, BStBl. II 2008, 815; v. 9.3.2011 – IX R 50/10, BStBl. II 2011, 704; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 182 f. 70 BFH v. 25.7.1996 – VIII R 28/94, BStBl. II 1997, 202. 71 So namentlich Hey in 20. Aufl., § 18 Rz. 24, im Anschluss an Reiß, Stbg. 1999, 356; Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 172; Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 170 ff. 72 So BFH v. 9.3.2011 – IX R 50/10, BStBl. II 2011, 704. 73 Vgl. Hiller/Rogall, SteuerStud 2001, 478; Bodden, Einkünftequalifikation, 2001. 74 BFH v. 25.6.1996 – VIII R 27/94, BStBl. II 1997, 202.
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Hennrichs
4. Qualifikation und Zurechnung der Einkünfte
Rz. 47 § 10
Die Betätigung der Gesellschaft braucht nicht segmentiert zu werden, wenn die Gesellschaft diverse frei- 46 berufliche Tätigkeiten umfasst; dadurch wird nach BFH v. 23.11.2000 – IV R 48/9975 der freiberufliche Charakter der Mitunternehmerschaft nicht beeinträchtigt (s. Rz. 62). Bei der Vermögensverwaltung im Rahmen freiberuflicher oder land- und forstwirtschaftlicher Tätigkeit der Gesellschaft greifen die Subsidiaritätsklauseln der §§ 20 VIII; 21 III; 22 Nr. 1 Satz 1, Nr. 3 Satz 1; 23 II EStG Platz (s. § 8 Rz. 588 ff.). Freiberufliche sowie land- und forstwirtschaftliche Tätigkeiten einer Gesellschaft sind zu segmentieren, wenn die Gesellschaft nicht in den Anwendungsbereich des § 15 III EStG fällt.
Endgültig lässt sich die Einkunftsart freilich erst auf der Ebene der Gesellschafter bestimmen, weil 47 allein der Gesellschafter den Einkommensteuertatbestand verwirklicht. Der Große Senat des BFH76 hat formuliert, dass der „Einheitsgedanke“ zurückzutreten habe, „wenn andernfalls eine sachlich zutreffende Besteuerung des Gesellschafters nicht möglich wäre“. Das letzte Wort wird daher immer erst auf Gesellschafterebene gesprochen. So beziehen Gesellschafter einer vermögensverwaltenden Personengesellschaft, die ihre Beteiligung im Betriebsvermögen halten, gewerbliche Einkünfte, während die Einkünfte der Gesellschaft sowie der übrigen Gesellschafter vermögensverwaltend bleiben (sog. Zebragesellschaft77). Die Umqualifizierung findet außerhalb der Zebragesellschaft ausschließlich auf Gesellschafterebene statt78. Als alleinige Einkommensteuersubjekte können die Gesellschafter dogmatisch konsequent verschiedenartige Einkünfte aus der Gesellschaft beziehen, weil die gemeinschaftliche Tatbestandsverwirklichung die Einkunftsart des Gesellschafters nur partiell mitzubestimmen vermag; die Abfärberegelung des § 15 III Nr. 1 EStG (Rz. 61) ist nicht anwendbar, da sie sich allein auf die Gesellschafts-, nicht auf die Gesellschafterebene bezieht79. Wegen der Subsidiarität der Überschusseinkünfte gegenüber den Gewinneinkünften kommt jedoch lediglich eine Umqualifizierung von gemeinsam in der Personengesellschaft erzielten vermögensverwaltenden Einkünften in Gewinneinkünfte auf Gesellschafterebene in Frage, während eine Umqualifikation in vermögensverwaltende Einkünfte ausgeschlossen ist.80 Mangels Abschirmwirkung nimmt der BFH81 eine Zebragesellschaft auch dann an, wenn die Gesellschaft selbst vermögensverwaltend tätig ist, weil sie die Drei-ObjekteGrenze gewerblichen Grundstückshandels nicht überschreitet, an ihr jedoch ein Gesellschafter beteiligt ist, dessen Grundstücksgeschäfte zusammen mit seinem Anteil an den gesellschaftlichen Immobilienverkäufen gewerblichen Grundstückshandel begründen. Die Grundstücksgeschäfte der Gesellschaft sollen hiernach zugleich eigene des Gesellschafters sein (m.E. zweifelhaft)82. Überträgt 75 BFH v. 23.11.2000 – IV R 48/99, BStBl. II 2001, 241. 76 BFH v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl. II 1995, 617 (622); hierzu s. Weber-Grellet, DStR 1995, 1341 (zust.); Paus, DStZ 1996, 172; Schmidt-Liebig, FR 1996, 58; Schmidt-Liebig, BB 1996, 1799. 77 Vgl. BFH v. 30.10.2002 – IX R 80/98, BStBl. II 2003, 167 (172); v. 11.4.2005 – GrS 2/02, BStBl. II 2005, 679 (681). Ferner z.B. BFH v. 19.10.2010 – I R 67/09; BStBl. II 2011, 367. Aus der Lit. namentlich Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (17 f.); Kempermann, DStZ 1996, 685; Kohlhaas, Stbg. 1998, 557; Söffing, DB 1998, 896; Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 179 ff.; Schmidt/ Wacker36, § 15 EStG Rz. 200 ff.; Zähle, Die grundstücksverwaltende Zebragesellschaft in gesellschaftsund steuerrechtlicher Sicht, Diss., 2002; Schlagheck, StuB 2003, 846; Niehus, DStZ 2004, 143. 78 BFH v. 11.4.2005 – GrS 2/02, BStBl. II 2005, 679; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 202 ff., 205. 79 Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften4, 97. 80 Vgl. BFH v. 11.4.2005 – GrS 2/02, BStBl. II 2005, 679; v. 18.8.2005 – IV R 59/04, BStBl. II 2005, 830; v. 10.11.2005 – IV R 29/04, BStBl. II 2006, 173; v. 9.10.2008 – IX R 72/07, BStBl. II 2009, 231; zust. Reiß, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 177 Rz. 7. 81 BFH v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl. II 1995, 617. 82 Im Weiteren zur Anwendung der Drei-Objekte-Grenze bei Mitunternehmerschaften s. Kobor, FR 1999, 1155; Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 172 ff.; aus der Rspr. BFH v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl II 1995, 617; v. 7.3.1996 – IV R 2/92, BStBl. II 1996, 369; v. 11.12.1997 – III R 14/96, BStBl. II 1999, 401; v. 5.6.2008 – IV R 81/06, BStBl. II 2010, 974. BMF BStBl. II 2004, 434 Tz. 14, macht – wenig konsequent – den Durchgriff von einer Mindestbeteiligung abhängig. Bei Veräußerung der Beteiligung gilt § 39 II Nr. 2 AO, s. BFH v. 10.12.1998 – III R 61/97, BStBl. II 1999, 390; v. 28.11.2002 – III R 1/01, BStBl. II 2003, 250 (auch für gewerblich geprägte/tätige Personengesellschaften); v. 26.4.2012 – IV R44/09, BStBl. II 2013, 142 (keine Gewinnrealisierung beim Gesellschafter bei der Übertragung eines Wirtschaftsguts seines Betriebsvermögens in das Gesamthandsvermögen der vermögensverwaltenden Ge-
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§ 10 Rz. 50
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
ein gewerblich tätiger Gesellschafter einer Zebragesellschaft ein Wirtschaftsgut seines Betriebsvermögens in das Gesamthandsvermögen der Personengesellschaft, führt dies steuerlich nicht zur Aufdeckung der stillen Reserven bei dem Gesellschafter, soweit dieser an der Zebragesellschaft betrieblich beteiligt ist83. 48–49
Einstweilen frei.
4.3 Zurechnung der Einkünfte von Mitunternehmern 50 Da die endgültige Qualifikation der Einkünfte von Mitunternehmern erst auf Gesellschafterebene
stattfindet, ist sie untrennbar verbunden mit der Frage der Einkünftezurechnung84. Bezüge können innerhalb eines Personenverbands nicht isoliert beurteilt werden. Wem die Einkünfte zugerechnet werden, hängt davon ab, wer Mitunternehmer ist. Beispiel: Wird eine gewerbliche Personengesellschaft zwischen Vater und Kindern (zu Familienpersonengesellschaften auch Rz. 79) steuerlich nicht anerkannt, haben die Kinder keine Einkünfte, sondern Unterhaltsbezüge. Dem Vater sind als Alleinunternehmer die gesamten Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§ 15 I 1 Nr. 1 statt Nr. 2 EStG) zuzurechnen. Bei der Korrektur einer unangemessenen, Unterhaltsleistungen verdeckenden Gewinnverteilung wird auch die Zurechnung von Einkünften korrigiert. Wird der Treugeber nicht als Mitunternehmer einer Immobilienfonds-Gesellschaft mit Einkünften aus Vermietung und Verpachtung anerkannt, so werden ihm diese Einkünfte nicht zugerechnet; statt dessen kann er aber Einkünfte aus Kapitalvermögen als Darlehensgeber oder stiller Gesellschafter haben (BFH v. 27.1.1993 – IX R 269/87, BStBl. II 1994, 615). 51 Die Zweistufigkeit der Einkünfteprüfung exemplifizieren besonders die Fälle der persönlichen Zu-
rechnung von Einkünften bei Treuhandverhältnissen85: Es ist zunächst auf der ersten Stufe zu eruieren, welche Einkünfte die Gesellschaft hat. Sodann stellt sich auf der zweiten Stufe vorrangig die Frage, wem diese Einkünfte der Gesellschaft zuzurechnen sind. Da Einkünfte der Gesellschaft nur ihren Mitunternehmern zugerechnet werden können, hängt die Zurechnung der von der Gesellschaft erwirtschafteten Einkünfte von der Verwirklichung des Mitunternehmertatbestands ab. Dabei ist es nicht erforderlich, dass das Zurechnungssubjekt selbst am Markt teilnimmt. Vielmehr geht es um die mitunternehmerische Zuordnung der Betätigung, welche die Gesellschaft ausgeübt hat. Diese Zuordnung kann allein durch ein Innenverhältnis begründet werden, wie das Treuhandverhältnis zeigt: 52 Nach der Rspr. kann ein Treuhandverhältnis, das die Mitgliedschaft in einer Personengesellschaft zum Gegenstand hat, die Mitunternehmereigenschaft vermitteln86. Gesellschafter ist zivilrechtlich der Treuhänder
83 84
85 86
sellschaft, soweit dieser an einer Zebragesellschaft beteiligt ist). Nach BFH v. 22.8.2012 – X R 24/11, BStBl. II 2012, 865 erfolgt auch eine Zusammenrechnung der Grundstücksgeschäfte einer gewerblich tätigen Mitunternehmerschaft und einer vermögensverwaltend tätigen Grundstücksgemeinschaft. Beachte auch BFH v. 5.5.2011 – IV R 34/08, BStBl. II 2011, 787, wonach „ein ungeteiltes Grundstück mit fünf freistehenden Mehrfamilienhäusern […] nur ein Objekt im Sinne der […] Drei-Objekt-Grenze [sei]“ (Hervorhebungen durch Verf.); außerdem betont der BFH in diesem Urteil, dass „die Beteiligung eines oder mehrerer gewerblich tätiger Gesellschafter an einer vermögensverwaltenden Personengesellschaft […] nicht dazu [führe], dass die Tätigkeit dieser Gesellschaft insgesamt als gewerblich anzusehen [sei].“ BFH v. 26.4.2012 – IV R 44/09, BStBl. II 2013, 142; dazu Schulze zur Wiesche, DStZ 2012, 833; Levedag, GmbHR 2013, 243. Dazu Schmidt-Liebig, StuW 1989, 110 (Grenzbereiche der Einkunftszurechnung); Lang/Seer, FR 1992, 637 (Zurechnung von Treuhandverhältnissen); Wüllenkemper, FR 1993, 389 (Zurechnung bei Verteilungsstreitigkeiten); Raupach, FS Beisse, 1997, 403 (Zurechnung als Problem der Tatbestandsverwirklichung); P. Fischer, FR 1998, 813, und gründlich Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 81 ff. Dazu grundl. Lang/Seer, FR 1992, 637 f., m.w.N. BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (768 f.); ferner BFH v. 21.4.1988 – IV R 47/89, BStBl. II 1989, 722 (Publikumsgesellschaft); v. 10.12.1992 – XI R 45/88, BStBl. II 1993, 538 (Verlustzuweisungsgesellschaft); v. 27.1.1993 – IX R 269/87, BStBl. II 1994, 615 (Immobilienfonds); v. 4.11.2004 – III R
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4. Qualifikation und Zurechnung der Einkünfte
Rz. 55 § 10
und nicht der Treugeber. Gleichwohl ist der Treugeber Zurechnungssubjekt für die auf der ersten Stufe qualifizierten Einkünfte der Gesellschaft, wenn ihm das Treuhandverhältnis eine Rechtsstellung vermittelt, nach der er gesellschaftsrechtlich Risiko trägt und Initiative entfalten kann. Handelt der Treuhänder auf Rechnung und Weisung des Treugebers, dann sind nicht ihm als zivilrechtlichem Gesellschafter (s. Rz. 31 ff.), sondern dem Treugeber die Einkünfte zuzurechnen87. Ist nach Lage des Falles an der Personengesellschaft nur ein Gesellschafter mitunternehmerisch beteiligt (sog. Treuhandmodell), so sollen die Wirtschaftsgüter des Gesellschaftsvermögens nach Auffassung des IV. Senats steuerrechtlich allein dem einzelnen Mitunternehmer zuzurechnen und dieser steuerrechtlich wie ein Einzelunternehmer zu behandeln sein88 (m.E. zweifelhaft89).
Für die Beurteilung derartiger mitunternehmerkonstituierender Innenverhältnisse kann der Rechts- 53 gedanke des § 39 II Nr. 1 Satz 1 AO herangezogen werden. Dieser besagt, dass die subjektive Zurechnung nicht an die zivilrechtliche Rechtszuständigkeit, hier die zivilrechtliche Gesellschafterstellung des Treuhänders, sondern an das wirtschaftliche Herrschaftsverhältnis anzuknüpfen hat90. Demnach muss das Treuhandverhältnis als wirtschaftliches Herrschaftsverhältnis ausgestaltet sein, damit dem Treugeber auch tatsächlich die Mitunternehmereigenschaft vermittelt ist. Mitunternehmer ist auch derjenige, der an einem Mitunternehmeranteil eine atypisch stille (s. Rz. 70) 54 Unterbeteiligung91 hält, und zwar sowohl qua Innengesellschaft im Verhältnis zum Hauptbeteiligten als auch gem. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 2 EStG (s. Rz. 71) im Verhältnis zur Hauptgesellschaft92. Dem Unterbeteiligten sind, soweit er auf Grund der Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses zum Hauptbeteiligten Mitunternehmerrisiko und Mitunternehmerinitiative trägt93, die auf die Unterbeteiligung entfallenden Einkünfte aus der Hauptgesellschaft unmittelbar zuzurechnen. Der Besteller eines Nießbrauchs an einem Personengesellschaftsanteil bleibt Mitunternehmer, wenn 55 ihm ein hinreichender Bestand vermögensrechtlicher Substanz und gesellschaftsrechtlicher Mitwirkungsrechte verbleibt94. Der Nießbrauchnehmer wird nur dann Mitunternehmer, wenn er über die wirtschaftliche Nutzung des Anteils hinaus auf Grund gesonderter Absprachen Mitunternehmerinitiative entfalten kann. Einstweilen frei.
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56–59
21/02, BStBl. II 2005, 168 (verdeckte Treuhand); v. 16.5.2013 – IV R 35/10, BFH/NV 2013, 1945 (Klagebefugnis des Treugebers). BFH v. 10.12.1992 – XI R 45/88, BStBl. II 1993, 538 (540); v. 16.5.1995 – VIII R 18/93, BStBl. II 1995, 714 m.w.N.; einschränkend BFH v. 4.11.2004 – III R 21/02, BStBl. II 2005, 168 (170): Strohmann. So BFH v. 3.2.2010 – IV R 26/07, BStBl. II 2010, 751, m.w.N. Dazu zust. Wacker, FS Goette, 2011, 561 ff.; Ley, Ubg 2011, 274 (279); Benz/Goß, DStR 2010, 839. S. die berechtigte Kritik von Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (46); krit. auch namentlich Blümich/Gosch, § 5 GewStG Rz. 51 ff.; vgl. auch Th. Wagner, StbJb. 2011/12, 133 ff. (zu Gestaltungsmöglichkeiten). Vgl. BFH v. 27.9.1988 –VIII R 193/83, BStBl. II 1989, 414 (416); v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. II 1991, 691 (700); stärker auf das Außenverhältnis abstellend BFH v. 27.1.1993 – IX R 269/87, BStBl. II 1994, 615 (617 f.); dazu krit. Lang/Seer, FR 1992, 637 (642 ff.). Carlé, KÖSDI 2005, 14475, m.w.N.; Carlé, KÖSDI 2008, 16166; Weigl, Stille Gesellschaft und Unterbeteiligung3, 2004; Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften4, 105; Haack, NWB 2006 Fach 18, 4335; zur abkommensrechtlichen Behandlung Stegemann, IStR 2002, 329; zu den verfahrensrechtlichen Folgen § 21 Rz. 124. BFH v. 2.3.1995 – IV R 135/92, BStBl. II 1995, 531. BFH v. 2.10.1997 – IV R 75/96, BStBl. 1998, 137 (138). BFH v. 1.3.1994 – VIII R 35/92, BStBl. 1995, 241. Dazu Gschwendtner, NJW 1995, 1875; Gschwendtner, DStZ 1995, 708 (Treuhandlösung beim Nießbrauch u. bei der Testamentsvollstreckung an einem Kommanditanteil); Söffing/Jordan, BB 2004, 353; Schulze zur Wiesche, DB 2008, 2728; ausführlich Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften4, 107 ff.; Kubata/Riegler/Straßen, DStR 2014, 1949.
Hennrichs 697
§ 10 Rz. 60
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
5. Arten der Mitunternehmerschaft 60 a) § 15 I 1 Nr. 2 EStG erfasst nur die gewerbliche Mitunternehmerschaft; das ergibt sich auch aus
§ 15 III Nr. 1 EStG. Für land- und forstwirtschaftliche Mitunternehmerschaften verweist § 13 VII EStG auf § 15 I 1 Nr. 2 EStG, für freiberufliche Mitunternehmerschaften ist § 18 IV 2 EStG Verweisungsnorm. Unanwendbar ist § 15 I 1 Nr. 2 EStG für vermögensverwaltende Personengesellschaften (s. Rz. 25 f., s. auch Rz. 47). 61
b) Ist eine Personengesellschaft nur partiell gewerblich tätig, so gilt sie nach der Abfärberegelung des § 15 III Nr. 1 EStG in vollem Umfang als Gewerbebetrieb95. Dem Wortlaut nach kommt es auf die Tätigkeit der Gesellschaft an, so dass gewerbliche Einkünfte im Sonderbereich die Rechtsfolge des § 15 III Nr. 1 EStG nicht auslösen96. Die Vorschrift soll vereinfachen97 und die Entstehung unterschiedlicher Einkunftsarten in einer Personengesellschaft sowie die Einkünfteverlagerung in den nichtgewerblichen Bereich verhindern, führt aber – § 35 EStG außer Acht gelassen – zu durch den Vereinfachungszweck nicht gerechtfertigten Mehrbelastungen durch die Gewerbesteuer.
62 § 15 III Nr. 1 EStG soll u.a. zur Umqualifikation der Einkünfte von Freiberufler-Mitunternehmer-
schaften i.S.d. § 18 IV 2 i.V.m. § 15 I 1 Nr. 2 EStG führen, also bei einem Zusammenschluss von Freiberuflern in einer GbR oder in einer Partnerschaftsgesellschaft nach dem am 1.7.1995 in Kraft getretenen PartGG (BGBl. I 1994, 1744)98, wenn an dieser Berufsfremde beteiligt sind, die die Merkmale des § 18 I Nr. 1 EStG nicht erfüllen (sog. Durchsäuerungsthese)99. Dagegen ist einzuwenden, dass eine Beteiligung nicht-freiberuflicher Gesellschafter die Tätigkeit der Gesellschaft, auf die § 15 III Nr. 1 EStG abstellt (Rz. 61), nicht teilweise gewerblich macht. Die Beteiligung eines Berufsfremden verändert die Tätigkeit der Gesellschaft, die am Markt ausschließlich freiberufliche Leistungen anbietet, nicht. Es handelt sich gerade nicht um eine gemischte Tätigkeit. Erst auf Gesellschafterebene wirkt sich das Fehlen der Merkmale des § 18 I Nr. 1 EStG aus, indem es beim berufsfremden Gesell-
95 Dazu Grune, BB 1998, 1081; Seer/Drüen, BB 2000, 2176; Westerwald, StWa 2000, 105; Bodden, Einkünftequalifikation, 2001, 148 ff.; Pinkernell, Einkünftezurechnung, 2001, 183 ff.; Kempermann, DStR 2002, 664; Siegmund/Ungemach, DStZ 2009, 133. Zu Recht krit. Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (21 f.); zu § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG Nichtannahmebeschluss des BVerfG v. 5.6.2013 – 2 BvR 2677/11, HFR 2013/1534 aufgrund mangelnder Beschwerdebefugnis der Personengesellschaft im Verfassungsbeschwerdeverfahren. 96 Zutr. BFH v. 28.6.2006 – XI R 31/05, BStBl. II 2007, 378; ebenso Stapperfend, StuW 2006, 303 (309 f.); dazu ferner Schulze zur Wiesche, Stbg. 2007, 84. 97 Der angebliche Vereinfachungszweck wird allerdings ad absurdum geführt, wenn auch die gewerbesteuerbefreite gewerbliche Tätigkeit zur Infektion führt, mit der Folge, dass nunmehr gewerbesteuerbefreite von gewerblich infizierten Einkünften abgegrenzt werden müssen. I. Erg. erkennt dies BFH v. 30.8.2001 – IV R 43/00, BStBl. II 2002, 152, allerdings ohne auf die Anwendung von § 15 III Nr. 1 EStG zu verzichten. 98 Dazu HHR/Brandt, § 18 EStG Anm. 412 ff.; Demuth, Der einkommensteuerliche Mitunternehmerbegriff bei den freiberuflichen Einkünften, 2004; Demuth, DStZ 2005, 112; Kempermann, FR 2007, 577 (Freiberufler-Personengesellschaft i. d. Rspr.); Partnerschaftsgesellschaft: Kommentare von Henssler u. Ulmer; Schnittker, Gesellschafts- und steuerrechtliche Behandlung einer englischen Limited Liability Partnership, 2007. Zu dieser Gesellschaft auch Henssler/Mansel, NJW 2007, 1393. 99 BFH v. 11.6.1985 – VIII R 254/80, BStBl. II 1985, 584; v. 9.10.1986 – IV R 235/84, BStBl. II 1987, 124; v. 7.11.1991 – IV R 17/90, BStBl. II 1993, 324; v. 14.12.1993 – VIII R 13/93, BStBl. II 1994, 922; v. 30.1.1986 – IV R 23/84, BFH/NV 1987, 508; v. 28.10.2008 – VIII R 69/06, BStBl. II 2009, 642; zur Beteiligung einer Freiberufler-Kapitalgesellschaft BFH v. 3.12.2003 – IV B 192/03, BStBl. II 2004, 303, dazu Nichtannahmebeschluss des BVerfG v. 19.4.2004 – 1 BvR 594/04, BStBl. II 2008, 681; zur Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüfungs-GmbH & Co. KG BFH v. 10.10.2012 – VIII R 42/10, BStBl. II 2013, 79; Kempermann, FR 2007, 577; krit. Hild, DB 2005, 1875; Sarrazin, FS Raupach, 2006, 515 ff.; Karl, DStR 2011, 159; Karl, BB 2010, 1311.
698
Hennrichs
5. Arten der Mitunternehmerschaft
Rz. 64 § 10
schafter zur Umqualifikation in Einkünfte nach § 15 EStG kommt100. Dies entspricht der Dogmatik der Zebragesellschaft. Gem. § 15 III Nr. 1 2. Alt. EStG gilt als Gewerbebetrieb in vollem Umfang die mit Einkünfteerzielungs- 63 absicht unternommene Tätigkeit einer OHG oder KG, wenn die Gesellschaft gewerbliche Einkünfte i.S. des § 15 I 1 Nr. 2 EStG bezieht101. Für diese sog. Abfärbewirkung genügt danach allerdings die bloße Beteiligung an einer gewerblichen Personengesellschaft nicht. Vielmehr wird auch ein „Bezug“ von Gewinnanteilen i.S. des § 15 I 1 Nr. 2 EStG vorausgesetzt102. Die Anwendung dieser Nichtanwendungsgesetzgebung auch für Veranlagungszeiträume vor 2006 (§ 52 XXXIIa EStG a.F.) verletzt als echte Rückwirkung den rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgrundsatz103. Eine gewerbliche Tätigkeit von ganz untergeordneter Bedeutung, die kaum in Erscheinung tritt, ent- 64 faltet aus Gründen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes allerdings keine umqualifizierende Wirkung gem. § 15 III Nr. 1 1. Alt. EStG104. Dasselbe sollte richtigerweise auch für § 15 III Nr. 1 2. Alt. EStG im Falle einer ganz geringfügigen Beteiligung gelten105. Die Gewerblichkeit gem. § 15 III Nr. 1 EStG kann durch Ausgliederung der gewerblichen Tätigkeiten in eine zweite Personengesellschaft vermieden werden106. Gleichwohl verletzt § 15 III Nr. 1 EStG entgegen BVerfGE 120, 1, den Gleichheitssatz, weil der Personengesellschaft die bei Einzelunternehmen zulässige Trennung von gewerblichen und nichtgewerblichen Einkünften versagt wird107. Mit dem vom BVerfG zugrunde gelegten Vereinfachungsinteresse ist die Abfärbung nicht zu rechtfertigen. Die Rechtsfolge steht außer Verhältnis zum verfolgten Ziel.
100 Ebenso Korn, DStR 1995, 1249 (1255 f.); Korn, StbKongrRep. 1995, 143 (157 ff.); s. auch Demuth, Der einkommensteuerliche Mitunternehmerbegriff bei den freiberuflichen Einkünften, 2004, 144 ff., 175 ff.; Demuth, DStZ 2005, 112, der anhand eines eigenständigen Freiberufler-Mitunternehmerbegriffs dem nicht qualifizierten Mitunternehmer bereits die Mitunternehmereigenschaft absprechen will. 101 Dazu Müller/Funk/Müller, BB 2005, 2271; Ernst, BB 2005, 2213 (Private Equity Fonds); Wacker, JbFSt. 2005/06, 322. – Diese Gesetzesänderung korrigiert BFH v. 6.10.2004 – IX R 53/01, BStBl. II 2005, 383. Dazu Groh, DB 2005, 2430. 102 BFH v. 26.6.2014 – IV R 5/11, BStBl. II 2014, 972. 103 Dahingehend Blümich/Bode, § 15 EStG Rz. 282; a.A. Nds. FG v. 8.12.2010 – 2 K 295/08, EFG 2011, 870; nachgehend offen gelassen durch BFH v. 26.6.2014 – IV R 5/11, BStBl. II 2014, 972. 104 Keine gewerbliche Infektion bei max. 3 % des Nettoumsatzes und 24 500 Euro gewerblichem Umsatz, s. BFH v. 27.8.2014 – VIII R 6/12, BStBl. II 2015, 1002; v. 27.8.2014 – VIII R 16/11, BStBl. II 2015, 996; v. 27.8.2014 – VIII R 41/11, BStBl. II 2015, 999. Aus der Lit zum Ganzen Bordewin, NWB 1999 F. 3, 10703; Wendt, FR 1999, 1182; Neu, DStR 1999, 2109; Rose, DB 2000, 993; Schild, DStR 2000, 576; Wehrheim/Brodthage, DStR 2003, 485; Kantwill, SteuerStud 2004, 267; Demuth, KÖSDI 2005, 14491; krit. im Hinblick auf den Vereinfachungszweck von § 15 III Nr. 1 EStG Groh, DB 2005, 2430. 105 FG Münster v. 7.12.2000 – 3 K 4979/95 F, EFG 2002, 129 (zu § 15 III Nr. 1 2. Alt. EStG); dem zuneigend, letztlich aber offen gelassen Nds. FG v. 8.12.2010 – 2 K 295/08, EFG 2011, 870 m.w.N; ebenso offen gelassen durch BFH v. 26.6.2014 – IV R 5/11, BStBl. II 2014, 972. 106 BFH v. 19.2.1998 – IV R 11/97, BStBl. II 1998, 603, s. auch BFH v. 12.6.2002 – XI R 21/99, BFH/NV 2002, 1554; zum Ausgliederungsmodell Seer/Drüen, BB 2000, 2176; Schulze zur Wiesche, Stbg. 2006, 165; Schulze zur Wiesche, BB 2006, 75. 107 Zutreffend Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (21 ff.); ferner namentlich Stadie, FR 1989, 93; Schulze-Osterloh, GS Knobbe-Keuk, 1997, 531 (534 ff.); Gosch, StBp. 1998, 81; Grune, BB 1998, 1081; Habscheid, BB 1998, 1184; Grabowski, FS 50 Jahre Fachanwälte, 1999, 587; Jachmann, DStJG 23 (2000), 9 (52 ff.); Drüen, FR 2000, 177; Drüen, GmbHR 2008, 393 (402); Heuermann, DB 2004, 2548; a.A. BFH v. 10.8.1994 – I R 133/93, BStBl. II 1995, 171; v. 8.12.1994 – IV R 7/92, BStBl. II 1996, 264; v. 24.4.1997 – IV R 60/93, BStBl. II 1997, 567; v. 13.11.1997 – IV R 67/96, BStBl. II 1998, 254; v. 19.2.1998 – IV R 11/97, BStBl. II 1998, 603; v. 16.8.1998 – IV R 56/97, BStBl. II 1998, 735; v. 29.11.2001 – IV R 91/99, BStBl. II 2002, 221; v. 25.7.2000 – XI B 41/00, BFH/NV 2001, 204.
Hennrichs 699
§ 10 Rz. 65
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
65
c) § 15 III Nr. 2 EStG regelt u.E. ebenfalls nur für die Ebene der Gesellschaft die sog. gewerblich geprägte Personengesellschaft108. Sind bei einer tatsächlich land- und forstwirtschaftlich, freiberuflich oder vermögensverwaltend tätigen Personengesellschaft ausschließlich eine oder mehrere Kapitalgesellschaften persönlich haftende Gesellschafter und sind nur diese oder Nichtgesellschafter zur Geschäftsführung befugt, so gilt die Tätigkeit der Personengesellschaft voll als gewerblich. Eine gewerblich geprägte Personengesellschaft109 als persönlich haftender Gesellschafter steht einer Kapitalgesellschaft gleich; die gewerbliche Prägung wird also bis auf die „Enkel-Ebene“ durchgereicht. Hauptanwendungsfall ist die typische GmbH & Co. KG110. § 15 III Nr. 2 EStG ist ferner auch auf eine Schein-KG111, GmbH & atypisch stille Gesellschaft (s. Rz. 70) sowie ausländische Personengesellschaften112 anzuwenden.
66
§ 15 III Nr. 2 EStG knüpft an die frühere Gepräge-Rspr. des BFH an113. Diese Rspr. hatte der BFH dann aufgegeben114. Daraufhin hat jedoch der Gesetzgeber durch § 15 III Nr. 2 EStG die alte Sichtweise gesetzlich verankert und erweitert115.
67
§ 15 III Nr. 2 EStG enthält eine systemwidrige Ausnahme zu der Regel, dass es bei einer Personengesellschaft für die Einkünftequalifikation auf die Tätigkeit der Gesellschaft selbst ankommt116. Warum die Einkünftequalifikation auf Gesellschaftsebene von der Zusammensetzung des Gesellschafterkreises abhängen soll, ist nicht einzusehen117. Die Vorschrift erweist sich insb. hinsichtlich der Regelung der Geschäftsführungsbefugnis als praktisch beliebig einsetzbares Instrument der Gestaltung, das eine Einkünftequalifikation nach Wahl ermöglicht („Gewerbebetrieb auf Antrag“). Rechtspolitisch ist das zweifelhaft118.
68
d) Eine weitere von der Rspr. kreierte Ausnahme betrifft die Betriebsaufspaltung (dazu § 13 Rz. 80 ff.). Im Fall einer Betriebsaufspaltung wird die Vermietung/Verpachtung mindestens einer wesentlichen Betriebsgrundlage durch das sog. Besitzunternehmen statt als Vermietung/Verpachtung als 108 Dazu mit Recht krit. Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (19 f.); ferner Jakob, FS Felix, 1989, 111; Leuthe, Die gewerblich geprägte Gesellschaft bürgerlichen Rechts, Diss., 1993; Eisgruber, DStR 1995, 1569 (Erwiderung: Henkel/Jakob, DStR 1995, 1573); Felix, NJW 1997, 1040; Lüdemann, BB 1996, 2650 (Einkünfteerzielungsabsicht); Ritzrow, StBp. 1999, 177 u. 197 (Innengesellschaft); Söffing, DB 2003, 905 (zu § 15 III Nr. 2 Satz 2 EStG); Weßling/Romswinkel, Stbg. 2004, 501 (Beteiligung an ausländischen Personengesellschaften); zur Verfassungswidrigkeit des § 15 III Nr. 2 EStG Bodden, Einkünftequalifikation, 2001, 164 ff. m.w.N.; Niehus, StuW 2008, 359 (als Gestaltungsinstrument); BFH v. 25.9.2008 – IV R 80/05, BStBl. II 2009, 266 (Einkünfteerzielungsabsicht). 109 Dies gilt nach BFH v. 8.6.2000 – IV R 37/99, BStBl. II 2001, 162, „a maiore ad minus“ auch dann, wenn die Obergesellschaft mit einer Kapitalgesellschaft als Gesellschafterin nicht nur gewerblich geprägt ist, sondern selbst auch einer gewerblichen Tätigkeit nachgeht. 110 Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, Hdb. der GmbH & Co. KG21, 2009. Die KG erzielt nach BFH v. 10.10.2012 – VIII R 42/10, BStBl. II 2013, 79 auch dann gewerbliche Einkünfte, wenn die Komplementär-GmbH weder am Vermögen noch am Gewinn der Gesellschaft beteiligt ist und auch über keine Stimmrechte verfügt. 111 BFH v. 22.11.1994 – VIII R 63/93, BStBl. II 1996, 93. 112 BFH v. 14.3.2007 – XI R 15/05, BStBl. II 2007, 924; dazu Strunk, Stbg. 2007, 403. 113 S. BFH v. 3.8.1972 – IV R 235/67, BStBl. II 1972, 799; v. 22.11.1972 – I R 252/70, BStBl. II 1973, 405. 114 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (762); dem folgend BFH v. 17.1.1985 – IV R 106/81, BStBl. II 1985, 291; v. 7.2.1985 – IV R 31/83, BStBl. II 1985, 372; v. 30.4.1985 – VIII R 255/80, BStBl. II 1985, 434. 115 Vgl. BT-Drucks. 10/3663, 6; 10/4513, 64. Nach BFH v. 4.9.1997 – IV R 27/96, BStBl. II 1998, 286; v. 8.10.2001 – VIII B 22/01, BFH/NV 2002, 333, soll die rückwirkende Anwendung des § 15 III Nr. 2 EStG keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen. 116 Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (19); Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (48 f.) („systematisch nicht mehr einzuordnen“; „Fremdkörper“); je m.w.N. 117 Zutreffend Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (49). 118 Ebenso Dötsch, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 7 (19 f.).
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5. Arten der Mitunternehmerschaft
Rz. 71 § 10
gewerbliche Tätigkeit angesehen, wenn die Gesellschafter des sog. Besitzunternehmens in der Lage sind, ihren Willen auch in der Betriebsgesellschaft durchzusetzen (s. § 13 Rz. 84). Nach jüngerer Rspr. kann die Betriebsgesellschaft sowohl Kapitalgesellschaft als auch Personengesellschaft (sog. mitunternehmerische Betriebsaufspaltung, s. Rz. 135, § 13 Rz. 80) sein. Besitzgesellschaft soll durch konkludente Begründung einer Besitz-GbR auch die Bruchteilsgemeinschaft ohne Gesamthandsvermögen sein können119. e) Bei Anwendung des Mitunternehmerbegriffs ergeben sich Schwierigkeiten bei der Einordnung des 69 Kommanditisten. Der Kommanditist ist oft bloßer Kapitalgeber. Er ist zur Geschäftsführung nicht befugt (§ 164 HGB). Das Kontrollrecht des § 166 HGB gewährt ihm keine Unternehmerinitiative. Gleichwohl qualifiziert § 15 I 1 Nr. 2 EStG die Kommanditgesellschaft expressis verbis als Mitunternehmerschaft. Nach st. Rspr. sind Kommanditisten Mitunternehmer, wenn das Gesellschaftsverhältnis dem Regelstatut des HGB für die KG zumindest nahe kommt120. Allerdings ist ein Kommanditist, dem zwar die regulären Mitwirkungsrechte eingeräumt sind, der aber weder am laufenden Gewinn noch am Gesamtgewinn der KG beteiligt ist, kein Mitunternehmer121. Er ist einkommensteuerrechtlich dann wie ein Darlehensgeber oder stiller Gesellschafter zu behandeln. f) Bei der stillen Gesellschaft (s. § 230 HGB) wird zwischen typisch und atypisch stiller Betei- 70 ligung122 unterschieden. Der stille Gesellschafter erzielt nach § 20 I Nr. 4 EStG Einkünfte aus Kapitalvermögen, wenn er kein Mitunternehmer ist (typisch stiller Gesellschafter). Trägt der stille Gesellschafter dagegen i.S.d. o.g. Kriterien Mitunternehmerrisiko und hat er Mitunternehmerinitiative, ist er Mitunternehmer (atypisch stiller Gesellschafter). Leitbild für die Abgrenzung ist der Kommanditist. Voraussetzung für eine Klassifizierung als atypisch stiller Gesellschafter ist, dass seine vertraglich begründete Rechtsstellung derart vom Regelstatut des § 230 HGB abweicht, dass sie nach dem Gesamtbild mindestens dem Typus eines Kommanditisten entspricht123. Mitunternehmerrisiko trägt der stille Gesellschafter insb. dann, wenn er am Verlust124 und an den stillen Reserven des Anlagevermögens und dem Firmenwert beteiligt ist125. g) Auf der Grundlage einer zivilrechtlichen Betrachtung hatte der GrS126 auch die sog. mehrstöckige 71 Personengesellschaft anerkannt127. Danach sollten auch Personenhandelsgesellschaften und mitunternehmerisch tätige Gesellschaften bürgerlichen Rechts Gesellschafter und Mitunternehmer i.S.d. 119 BFH v. 18.8.2005 – IV R 59/04, BStBl. II 2005, 830; BMF v. 7.12.2006, BStBl. I 2006, 766. 120 Dazu m.w.N. Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 266 ff., Rz. 750 ff. Zu den diversen Formen aus steuersystematisch-betriebswirtschaftlicher Sicht Maurer, Die Besteuerung von Anleger-Kommanditgesellschaften, Diss., 1999. 121 BFH v. 28.10.1999 – VIII R 66-70/97, BStBl. II 2000, 183. 122 Dazu Troost, Die steuerliche Abgrenzung zwischen typischen und atypischen stillen Gesellschaften, Diss., 1997; Zacharias/Hebig/Rinnewitz, Die atypisch stille Gesellschaft2, 2000; Schulze-Osterloh u. Groh, FS H.W. Kruse, 2001, 377 u. 417; Blaurock, Hdb. Stille Gesellschaft8, 2016; Weigl, Stille Gesellschaft, Treuhand und Unterbeteiligung3, 2012; Schoor/Natschke, Die GmbH & Still im Steuerrecht4, 2005; Fleischer/Thierfeld, Stille Gesellschaft im Steuerrecht9, 2016; Crezelius, FS Schaumburg, 2009, 239; Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften4, 2011, 105. – Zur Anwendbarkeit des § 15 III Nr. 2 EStG BFH v. 26.11.1996 – VIII R 42/94, BStBl. II 1998, 328; BMF v. 28.4.1998, BStBl. I 1998, 583; Gschwendtner, DStZ 1998, 335; Lindwurm, DStR 2000, 53. 123 BFH v. 6.7.1995 – IV R 79/94, BStBl. II 1996, 269 (270). 124 BFH v. 27.6.2013 – IV R 53/10, BFH/NV 2013, 1920. 125 Hierzu i.E. BFH v. 25.6.1981 – IV R 61/78, BStBl. II 1982, 59; v. 27.5.1993 – IV R 1/92, BStBl. II 1994, 700; v. 22.8.2002 – IV R 6/01, BFH/NV 2003, 36; v. 16.12.2003 – VIII R 6/93, BFH/NV 2004, 1080; v. 17.7.2014 – IV R 52/11, FR 2015, 76. 126 BFH v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. II 1991, 691 (698). 127 Dazu Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 610 ff.; HHR/Rätke, § 15 EStG Anm. 600–645; NWB Praxishdb. BilStR/Kahle2, Rz. 1581 ff.; Schmidt/Heinz/Jung, GmbHR 2007, 628 (Bilanzierungspflichten); Mücke, DB 2009, 1088; Thiel, FS Spiegelberger, 2009, 504; Seitz, StbJb. 2009/2010, 107; Ley, KÖSDI 2010, 17148.
Hennrichs 701
§ 10 Rz. 72
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
§ 15 I 1 Nr. 2 EStG sein können. Damit verbunden war eine Abschirmwirkung der Obergesellschaft: Die Gesellschafter der Obergesellschaft waren nicht auch Mitunternehmer der Untergesellschaft128, so dass im Verhältnis der Untergesellschaft zu den Gesellschaftern der Obergesellschaft § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG unanwendbar war. Der Gesetzgeber korrigierte dies, um die massenhafte Umgestaltung schlichter Personengesellschaften in mehrstöckige Personengesellschaften zu verhindern: Die durch StÄndG 1992 eingeführte Regelung des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 2 EStG stellt den mittelbar über eine oder mehrere Personengesellschaften beteiligten Gesellschafter dem unmittelbar beteiligten Gesellschafter gleich, wenn er durch eine ununterbrochene Mitunternehmerkette mit der die Vergütung leistenden Gesellschaft verbunden ist (zu den Rechtsfolgen s. Rz. 143). 72
h) Die Anerkennung des negativen Kapitalkontos von Kommanditisten (Berücksichtigung der Verluste über die Einlage hinaus) durch die Rspr.129 prädestinierte die KG als Verlustzuweisungsgesellschaft. Auf solche Verlustzuweisungsgesellschaften reagierte der Gesetzgeber mit § 15a EStG130. Die Vorschrift trifft allerdings auch die normale KG. Nach § 15a EStG wird der Anteil am Verlust einer KG dem Kommanditisten zwar zugerechnet; soweit jedoch ein negatives Kapitalkonto des Kommanditisten entsteht oder sich erhöht, darf der Verlust weder mit anderen Einkünften ausgeglichen noch nach § 10d EStG abgezogen werden. Er kann als verrechenbarer Verlust lediglich mit zukünftigen Gewinnen aus der KG-Beteiligung ausgeglichen werden (§ 15a II EStG).
73
Den Begriff des Kapitalkontos definiert das Gesetz nicht. Nach zutr. h.M. ist das nach steuerrechtlichen Grundsätzen ermittelte Kapitalkonto in der Gesamthandsbilanz der Gesellschaft zuzüglich ggf. bestehender Ergänzungsbilanzen der Kommanditisten gemeint. Zum Kapitalkonto zählen dabei nur solche Gesellschafterkonten, die Eigenkapitalcharakter haben. Konten, auf denen Gesellschafterforderungen erfasst werden, die aus Sicht der KG Fremdkapital ausdrücken, sind nicht Teil des Kapitalkontos i.S.d. § 15a EStG. Gesellschafterdarlehen sind Fremdkapital. Das gilt auch für die früher sog. eigenkapitalersetzenden Darlehen131, sie zählen also nicht zum Eigenkapital der Gesellschaft und erhöhen daher das Kapitalkonto des Kommanditisten nicht; die frühere gesellschaftsrechtliche Sonderbehandlung solcher Darlehen wurde durch das MoMiG abgeschafft, so dass heute weniger denn je Anlass besteht, diese Darlehen dem Eigenkapital zuzurechnen132.
128 Krit. zu BFH v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. II 1991, 691, s. Raupach, StuW 1991, 278; Seer, StuW 1992, 35; Schulze-Osterloh, FS L. Schmidt, 1993, 307; L. Schmidt, FS Moxter, 1994, 1109; ferner Groh, DB 1991, 879; Crezelius, JZ 1991, 546; Meyer-Scharenberg, DStR 1991, 919; Hahn, DStZ 1992, 161; Söffing, FR 1991, 253; Söffing, FR 1992, 185; Söffing, FS F. Klein, 1994, 737. 129 BFH v. 10.11.1980 – GrS 1/79, BStBl. II 1981, 164. 130 S. insb. die Kritik von Knobbe-Keuk, NJW 1980, 2557; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 482 ff. Ferner grundl. Lüdemann, Verluste bei beschränkter Haftung, Eine steuer- und verfassungsrechtliche Studie am Beispiel des § 15a EStG, Diss., 1998; Helmreich, Verluste bei beschränkter Haftung und § 15a EStG, 1998; Huber, ZGR 1988, 1 ff.; Deffland, SteuerStud 2003, 27; Ley, DStR 2004, 1515; Kantwill, SteuerStud 2004, 439; Brandenberg, DB 2004, 1632; Paus, StWa 2006, 63; Höck, Stbg. 2006, 261; Kempermann, DStR 2008, 1917 (aktuelle Rspr.); Hüttemann/Meyer, DB 2009, 1613; Prinz, StuB 2009, 129; Kahle, DStZ 2010, 720; Wendt, Stbg. 2010, 145.; Dötsch, FS Spindler, 2011, 595. Handelsrechtlich s. HdJ/Hennrichs/Pöschke, Abt. III/1; Dörfler/Zerbe, DStR 2012, 1212; Sahrmann, DStR 2012, 1109; Kersten/Feldgen, FR 2013, 197; Jacobsen/Hildebrandt, DStR 2013, 433; Kußmaul/Delab/ Thomas, StB 2013, 273. 131 BFH v. 26.9.1996 – IV R 105/94, BStBl. II 1997, 277 (281); v. 13.10.1998 – VIII R 78/97, BStBl. II 1999, 163 (164); v. 28.3.2000 – VIII R 28/98, BStBl. II 2000, 347 (348); Schmidt/Wacker36, § 15a EStG Rz. 88; a.A. (Einbeziehung in das Kapitalkonto) L. Schmidt, DStZ 1992, 703. Ausf. zum Ganzen Nestler, Das Verhältnis zwischen steuerrechtlichem Verlustausgleich im Rahmen des § 15a EStG und zivilrechtlicher Haftung am Beispiel des Eigenkapitalersatzrechts, Diss., 2006, 144 ff. 132 Ebenso jetzt (für § 17 EStG) BFH v. 11.7.2017 – IX R 36/15, BFHE 258, 427; zuvor schon Kahle, FR 2010, 773 (779 f.), m.w.N.
702
Hennrichs
5. Arten der Mitunternehmerschaft
Rz. 76 § 10
Maßgebend für die Abgrenzung von Eigen- und Fremdkapitalkonten ist nicht die Bezeichnung durch die Parteien133, sondern die wahre zivilrechtliche Rechtsnatur der Konten. Entscheidend ist, ob das Konto durch seine Teilhabe an Verlusten der Gesellschaft der gesamthänderischen Bindung unterliegt134. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist in jedem Einzelfall zu prüfen. Von den Beteiligten verwendete Begriffe (wie „Finanzplandarlehen“ oder „gesplittete Einlage“) kommt nur die Funktion von Schlagwörtern zu135. Beispiel: Ein von einem Kommanditisten der KG gewährtes „Darlehen“, das während des Bestehens der Gesellschaft vom Kommanditisten nicht gekündigt werden kann und das im Falle des Ausscheidens des Gesellschafters oder der Liquidation der Gesellschaft mit Verlusten verrechnet wird, hat vereinbarungsgemäß (materiellen) EK-Charakter und erhöht deshalb das Kapitalkonto i.S. des § 15a Abs. 1 Satz 1 EStG136.
Der Wert des Kapitalkontos i.S.d. § 15a EStG bestimmt sich, wie angedeutet, anhand der steuerlichen 74 Gesellschaftsbilanz und der Ergänzungsbilanz, also der ersten Stufe der Gewinnermittlung137. Eine positive Ergänzungsbilanz erhöht, eine negative Ergänzungsbilanz mindert das Volumen für ausgleichsfähige Verlustanteile. Demgegenüber bleibt das Kapitalkonto aus den Sonderbilanzen, also der zweiten Stufe der Gewinnermittlung (s. Rz. 22), außer Ansatz138. Dies ist folgerichtig, weil der Kommanditist grds. nicht mit dem Sonderbetriebsvermögen für Gesellschaftsschulden haftet. § 15a EStG beschränkt auch die Verlustzuweisung der Unter- an die Obergesellschaft bei mehrstöcki- 75 gen Personengesellschafen139. § 15a EStG gilt ferner entspr. bei der stillen Beteiligung (§ 20 I Nr. 4 Satz 2 EStG)140 und bei Einkünften aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 I 2 EStG)141 sowie auch bei Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft (§ 13 VII EStG) und bei Einkünften aus selbständiger Arbeit (§ 18 IV 2 EStG). Das von § 15a EStG verfolgte Ziel, die steuerliche Verlustzuweisung der begrenzten gesellschaftsrecht- 76 lichen Haftung anzugleichen, ist unvollkommen umgesetzt. § 15a I 2 EStG erweitert (nach Wahl des Stpfl.) die Verlustverrechnung auf die Fälle der Außenhaftung nach § 171 I HGB, lässt aber andere Ver133 Zu den verschiedenen Konten-Modellen s. BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272; Ley, KÖSDI 1994, 9972; Ley, DStR 2003, 957; Ley, DStR 2009, 613; HdJ/Hennrichs/Pöschke, Abt. III/1 Rz. 52 ff., 92 ff.; Huber, ZGR 1988, 1 ff.; Kahle, DStZ 2010, 720. 134 BFH v. 7.4.2005 – IV R 24/03, BStBl. II 2005, 598; v. 15.2.2008 – IV R 46/05, BStBl. II 2008, 812; v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272; v. 27.6.1996 – IV R 80/95, BStBl. II 1997, 36; ferner BMF v. 30.5.1997, BStBl. I 1997, 627; aus der Lit.: Schmidt/Wacker36, § 15a EStG Rz. 87; Ley, DStR 2009, 613; Ley, KÖSDI 2014, 18844; Gocke/Rogall, FS Schaumburg, 2009, 345; Prinz, StuB 2009, 129; Kahle, DStZ 2010, 720; Kahle, FR 2010, 773 (774 ff.); Dötsch, FS Spindler, 2011, 595 ff.; Kersten/Feldgen, FR 2013, 197. 135 BFH v. 7.4.2005 – IV R 24/03, BStBl. II 2005, 598. 136 BFH v. 7.4.2005 – IV R 24/03, BStBl. II 2005, 598 m. Anm. Köplin, StuB 2005, 843; Kahle, FR 2010, 773 (780); Schmidt/Wacker36, § 15a EStG Rz. 91. 137 BFH v. 2.2.2017 – IV R 47/13, BStBl. II 2017, 391; v. 14.5.1991 – VIII R 31/88, BStBl. II 1992, 167 (170). 138 Vgl. auch R. 15a Abs. 2 EStR; dazu Schmidt/Wacker36, § 15a EStG Rz. 83; Blaurock/Berninger, JZ 1992, 614; Haas, DStZ 1992, 655; L. Schmidt, DStZ 1992, 702; Kahle, FR 2010, 773 (774). Zum Verbot der Verrechnung von Sonderbilanzgewinnen mit Verlustanteilen („Saldierungsverbot“) s. insb. Kreile, FS Ritter, 1997, 167 (179 f.); Pyszka, BB 1997, 2153; Theisen, DStR 1998, 1896. 139 BFH v. 18.12.2003 – IV B 201/03, BStBl. II 2004, 231 (233); i.E. hierzu Ley, DStR 2004, 1498; Ley, KÖSDI 2005, 14486. 140 BFH v. 23.7.2002 – VIII R 36/01, BStBl. II 2002, 858; hierzu Kuck, DStR 2003, 235; Groh, FS L. Schmidt, 1993, 439. Dabei läuft § 15a I 2 EStG mangels im Handelsregister eingetragener Hafteinlage bei der stillen Gesellschaft leer (BFH v. 11.3.2003 – VIII R 33/01, BStBl. II 2003, 705 [706]). 141 Zur Anwendung des § 15a EStG bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung Spindler, FR 1997, 147; zur Problematik der Reichweite der Verweisung s. BFH v. 2.9.2014 – IX R 52/13, BStBl. II 2015, 263.
Hennrichs 703
§ 10 Rz. 77
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
pflichtungstatbestände sowie die Haftung im Innenverhältnis unberücksichtigt. Nach § 15a III 1 EStG führt die Einlageminderung zu einer Nachversteuerung; eine Haftungserweiterung (z.B. auf Grund der Umwandlung der Gesellschafterstellung142) bewirkt dagegen keine Ausgleichsfähigkeit in der Vergangenheit entstandener verrechenbarer Verluste143. 77
§ 15a Ia EStG schließt die Ausgleichs- bzw. Abzugsfähigkeit von Verlusten aufgrund nachträglicher Einlagen aus144. Das ist eine Reaktion auf eine früher abw. Rspr.145 Folge ist der Ausschluss des Verlustausgleichs trotz wirtschaftlicher Belastung. Mit dem Vereinfachungsinteresse ist dies u.E. nicht zu rechtfertigen.
78
Außer durch § 15a EStG bekämpft der Gesetzgeber Verlustzuweisungsgesellschaften ferner durch §§ 15b; 13 VII; 18 IV 2; 20 VII; 21 I 2; 22 Nr. 1 Satz 1 Hs. 2 EStG (s. § 8 Rz. 66) und § 15 IV 6–8 EStG, der die Verlustverrechnung aus stillen Beteiligungen an einer Kapitalgesellschaft einschränkt146. § 15b EStG schränkt die Nutzung von Verlusten im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen („modellhaften Gestaltungen“) ein, wenn dem Stpfl. aufgrund eines vorgefertigten Konzepts die Möglichkeit geboten werden soll, zumindest in der Anfangsphase der Investition Verluste mit übrigen Einkünften zu verrechnen (§ 15b II 2 EStG). Dabei ist der Begriff der Verlustzuweisungsgesellschaft wenig trennscharf147. Sowohl § 15a EStG als auch § 15b EStG setzen Gewinnerzielungsabsicht auf Gesellschafts- wie auch auf Gesellschafterebene voraus (s. Rz. 20 ff., 41 f.). Insb. ist § 15 II 2 EStG zu beachten. Andernfalls kommt es von vornherein nicht zur Zurechnung von Verlusten. Soweit § 15a EStG den allg. Rechtsgedanken formuliert, dass Verluste einkommensteuerrechtlich nur insoweit geltend gemacht werden können, als sie gegenwärtig zu einer wirtschaftlichen Belastung führen, ist die Vorschrift Ausdruck des Prinzips der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Dies rechtfertigt die Anwendung auch auf normale Kommanditgesellschaften148. Kritikwürdig ist jedoch die wenig konsequente Umsetzung dieses Regelungszwecks149. § 15b EStG, der § 15a EStG verdrängt (§ 15b I 3 EStG), geht weiter, indem unabhängig von der Verlusthaftung Steuerstundungseffekte durch das Vorziehen von Aufwand verhindert werden (vgl. § 8 Rz. 66).
142 BFH v. 14.10.2003 – VIII R 38/02, BStBl. II 2004, 115; v. 12.2.2004 – IV R 70/02, BStBl. II 2004, 423. Dazu Söffing, DStZ 2008, 175. 143 Nach BVerfG v. 14.7.2006 – 2 BvR 375/00, BFH/NV 2007, Beil. 4, 235, verfassungsrechtlich unbedenklich; krit. dagegen HHR/Lüdemann, § 15a EStG Rz. 31; Watrin/Sievert/Nußmann, BB 2004, 1529; Wilke, INF 2004, 69. 144 Kritik Wendt, Stbg. 2009, 1 (4); Wacker, DStR 2009, 403; Kempermann, DStR 2008, 1917 (1920); Kempermann, NZG 2009, 321; Grützner, StuB 2009, 251. 145 Vgl. BFH v. 20.9.2007 – IV R 10/07, BStBl. II 2008, 118. Zum Einlagebegriff s. BFH v. 2.2.2017 – IV R 47/13, BStBl. II 2017, 391. 146 Eingeführt im Zusammenhang mit der Abschaffung der Mehrmütterorganschaft durch StVergAbG v. 16.5.2003 (BGBl. I 2003, 660); geändert durch Gesetz v. 16.12.2003 (BGBl. I 2003, 2840); ernstliche Zweifel bzgl. der Anwendung auf Altverluste BFH v. 3.2.2005 – I B 208/04, BStBl. II 2005, 351; ferner krit. Schulze zur Wiesche, BB 2003, 713; Wagner, INF 2003, 618; Groh, DB 2004, 668 (672). 147 Während BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (770); v. 21.6.2011 – IX R 2/96, BStBl. II 2001, 789 (793) eine Verlustzuweisungsgesellschaft annimmt, wenn der Gesellschaft die Einkünfteerzielungsabsicht fehlt, setzen §§ 15a; 15b EStG diese gerade voraus. Dabei ist die Begrifflichkeit des BFH irreführend, da eine Personengesellschaft ohne Einkünfteerzielungsabsicht zur Verlustzuweisung von vornherein ungeeignet ist; s. hierzu Kohlhaas, FR 1999, 504 (512); Kohlhaas, FR 2003, 598 (599); Seer/Schneider, BB 1999, 872. Zur Vermutung fehlender Gewinnerzielungsabsicht bei Verlustzuweisungsgesellschaften BFH v. 12.12.1995 – VIII R 59/92, BStBl. II 1996, 219; v. 5.9.2000 – BStBl. II 2000, 676; Loritz, BB 1997, 1281; Kohlhaas, BB 1998, 399; Kohlhaas, FR 1999, 1038. 148 Blümich/Heuermann, § 15a EStG Rz. 18 (2017); a.A. 17. Aufl., § 9 Rz. 522. 149 Nach BFH v. 14.12.1999 – IX R 7/95, BStBl. II 2000, 265; v. 14.10.2003 – VIII R 81/02, BStBl. II 2004, 118 (120), begegnet § 15a I 2 EStG gleichwohl keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
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Hennrichs
6. Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 81 § 10
i) Die Familienpersonengesellschaft150 ist geeignet, faktisch ein Familien-Realsplitting (s. § 8 79 Rz. 103 f.) herzustellen. Deshalb begegnen ihr Rspr. und Steuerverwaltung mit besonderem Misstrauen. Es gelten die allgemeinen Kriterien für die steuerliche Anerkennung von Verträgen zwischen Familienangehörigen (§ 8 Rz. 164 ff.). So muss zunächst der Gesellschaftsvertrag zivilrechtlich wirksam geschlossen sein. Die zivilrechtliche Wirksamkeit des Gesellschaftsvertrags gilt als Indiz für die Ernsthaftigkeit des Gesellschaftsverhältnisses. Bei dem Abschluss des Gesellschaftsvertrags mit Minderjährigen ist insb. darauf zu achten, dass nach § 1822 Nr. 3 BGB die familiengerichtliche Genehmigung erteilt und nach § 1909 BGB ein Ergänzungspfleger bestellt ist151. Ist der Gesellschaftsvertrag wirksam zustande gekommen, so kann die steuerliche Anerkennung der 80 Mitunternehmerschaft daran scheitern, dass die Ausgestaltung des Gesellschaftsverhältnisses dem sog. Fremdvergleich nicht standhält. Die Rspr. zum Kind-Kommanditisten neigt dazu, die Familienpersonengesellschaft zu diskriminieren, indem sie den Angehörigen die Gestaltung dispositiven Gesellschaftsrechts weitgehend versagt und ihnen ein bestimmtes Gesellschafterbild vorschreibt152. Das handelsgesetzliche Regelungsstatut des Kommanditisten wird vor allem bei der schenkweisen Aufnahme eines Angehörigen in die Gesellschaft zum Maßstab153. Der Gesellschaftsvertrag muss auch tatsächlich durchgeführt werden; dabei bedarf es keines Dauerpflegers154. Schließlich prüfen Rspr. und Verwaltung (R 15.9 III 1 EStR) auch bei Anerkennung der Familien- 81 gesellschaft als solcher, ob die Gewinnverteilung steuerlich zu übernehmen ist. Dabei begrenzt die Rspr.155 bei schenkweise begründeten Kommanditanteilen minderjähriger Kinder die anzuerkennende durchschnittliche Rendite auf nicht mehr als 15 % des gemeinen Werts der Beteiligung. Darüberhinausgehende Beträge werden als unangemessen beurteilt und dem Elternteil als Komplementär zugewiesen. Die 15 %-Grenze wird im Schrifttum156 zu Recht abgelehnt. Einstweilen frei.
82–99
6. Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern Literatur (bis 2003 s. 21. Aufl.): Drüen, Die Bilanzen der Personengesellschaft, SteuerStud 2005, 199; Jachmann, Sondervergütungen i.S.v. § 15 I 1 Nr. 2 EStG für Leistungen im Dienste der Gesellschaft, DStR 2005, 2019; Schoor, Aufstellung und Fortentwicklung von Ergänzungsbilanzen, StBp. 2006, 212 u. 255; Söffing, Für die Anwendung der Subsidiaritätsthese in Fällen der Bilanzierungskonkurrenz, DB 2007, 1994; Hüttemann, Gewinnermittlung bei Personengesellschaften, in Dötsch/Herlinghaus/Hüttemann/Lüdicke/Schön (Hrsg.), Die Personengesellschaft im Steuerrecht – Gedächtnissymposion für Brigitte Knobbe-Keuk, 2011, 39; Hüttemann, Einkünfteermittlung bei Gesellschaften, DStJG 34 (2011), 291; Kahle, Die Steuerbilanz der 150 Dazu Schütte, Die Familiengesellschaft im Einkommensteuerrecht, Diss., 1986 (rechtsvergleichende Untersuchung); Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 505 ff.; Kußmaul, StbKongrRep. 1995, 205; Schmid, DStZ 1995, 205 (KG); Bordewin, DB 1996, 1359; Meyer-Koppitz, DStZ 1996, 265 (KG); Kleine-Rosenstein, StuB 1999, 912 (Voraussetzungen der steuerlichen Anerkennung); KleineRosenstein, StuB 1999, 1027 (Gewinnverteilung); Kleine-Rosenstein, StuB 1999, 1310 (Sonderformen); Carlé/Halm, KÖSDI 2000, 12383; Seifert, Auswirkungen der Unternehmenssteuerreform auf Familienpersonengesellschaften, Diss., 2002; Ritzrow, StBp. 2003, 140 u. 173; Hohaus/Eickmann, BB 2004, 1707 (vermögensverwaltende Familien-KG); Blümich/Bode, § 15 EStG Rz. 371–440 (2017). 151 BFH v. 27.4.2005 – II R 52/02, BStBl. II 2005, 892. 152 Vgl. dazu die Kritik von Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 510 ff. 153 Dazu m.w.N. BFH v. 7.11.2000 – VIII R 16/97, BStBl. II 2001, 186 (188); Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 750 ff. 154 BFH v. 22.7.1980 – VIII R 114/78, BStBl. II 1981, 101. 155 BFH v. 29.9.1972 – GrS 4/71, BStBl. II 1973, 5; v. 13.3.1980 – IV R 59/76, BStBl. II 1980, 437; v. 24.7.1986 – IV R 103/83, BStBl. II 1987, 54 (56); anders BFH v. 9.10.2001 – VIII R 77/98, BStBl. II 2002, 460, für schenkweise Unterbeteiligung an KG-Anteil. 156 HHR/Musil, § 2 EStG Anm. 171; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 513 ff.; KleineRosenstein, StuB 1999, 1027; differenzierend Blümich/Bode, § 15 EStG Rz. 413 ff.
Hennrichs 705
§ 10 Rz. 100
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
Personengesellschaft, DStZ 2012, 61; Kahle, Die Sonderbilanz bei der Personengesellschaft, FR 2012, 109; Kortendick, § 6b EStG bei ein- und mehrstöckigen Mitunternehmerschaften, Ubg 2013, 425; Dreßler, Betriebsaufspaltung: Keine Abfärbewirkung auf transparente Gesellschaften, DStR 2013, 1818; Reiß, Personengesellschaften in FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, 1925; Kahle, Besonderheiten der steuerlichen Gewinnermittlung bei Personengesellschaften, in Prinz/Kanzler (Hrsg.), NWB Praxishdb. Bilanzsteuerrecht2, 2014, Rz. 1340 ff.; Dornheim, Die ertragsteuerliche Behandlung der GmbH & Co. GbR, DStR 2014, 13.
6.1 Zweistufige Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern 100 a) Rechtsgrundlagen der Ermittlung von Mitunternehmereinkünften sind die allgemeinen Gewinn-
ermittlungsvorschriften der §§ 4 ff. i.V.m. § 15 I 1 Nr. 2 EStG. Die §§ 4 ff. EStG sind insofern lückenhaft verfasst, als sie auf die Gewinnermittlung einzelner natürlicher Personen zugeschnitten sind. Daher werden die §§ 4 ff. EStG durch § 15 I 1 Nr. 2 EStG spezifiziert. Diese Vorschrift bestimmt zwei Komponenten der Mitunternehmereinkünfte, erstens den Gewinnanteil, d.i. der Anteil am Gewinn der Gesellschaft, also der von der Gesellschaft erwirtschaftete Teil der Mitunternehmereinkünfte157, und zweitens Sondervergütungen, das sind auf der Gesellschafterebene erwirtschaftete Bezüge des Mitunternehmers. Sie beruhen auf besonderen, neben dem Gesellschaftsvertrag bestehenden vertraglichen Beziehungen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter158. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG nennt Vergütungen für Tätigkeiten des Gesellschafters im Dienst der Gesellschaft, für Darlehen und die sonstige Überlassung von Wirtschaftsgütern. 101 Während die gewerbliche Mitunternehmerschaft als Handelsgesellschaft zu bilanzieren hat (§ 140 AO i.V.m. §§ 238 ff. HGB), besteht für die freiberufliche Mitunternehmerschaft ein Wahlrecht zur Gewinnermittlung durch Überschussrechnung nach Maßgabe des § 4 III EStG (s. § 9 Rz. 7, 550). Das Wahlrecht besteht auf Ebene der Mitunternehmerschaft, die als solche das Subjekt der Einkünfteerzielung und Gewinnermittlung ist (Rz. 12, 14, 100 ff.). Die Gewinnermittlung erfolgt also einheitlich nach der von der Gesellschaft angewendeten Gewinnermittlungsmethode. Bilanziert die Gesellschaft freiwillig, kommt eine isolierte 4-III-Rechnung allein auf Gesellschafterebene nicht in Betracht (Rz. 115). Im Fall einer Überschussrechnung nach § 4 III EStG gilt der Grundsatz der Gesamtgewinngleichheit (s. § 9 Rz. 552). Der Gewinn einer landund forstwirtschaftlichen Mitunternehmerschaft kann auch nach Durchschnittssätzen (§ 13a III–VI EStG) ermittelt werden. 102 Vermögensverwaltende Personengesellschaften (s. Rz. 25) haben den Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten (§§ 2 II 1 Nr. 2; 8–9a EStG) zu ermitteln. Sind an einer vermögensverwaltenden Personengesellschaft auch Gesellschafter beteiligt, welche die Beteiligung im Betriebsvermögen halten, entsteht eine sog. Zebragesellschaft (s. Rz. 47). Verfahrensrechtlich sind dabei nach zutreffender Auffassung des GrS (BFH v. 11.4.2005 – GrS 2/02, BStBl. II 2005, 679) im Grundlagenbescheid zunächst die Einkünfte sämtlicher Gesellschafter als Überschusseinkünfte zu ermitteln159. Die Umqualifizierung vollzieht sich erst im Einkommensteuerbescheid (Folgebescheid) des gewerblich beteiligten Gesellschafters. Zuständig ist das für die persönliche Besteuerung des Gesellschafters zuständige (Wohnsitz-)FA. Die Umqualifizierung sowie die Ermittlung der Höhe der gewerblichen Einkünfte durch das WohnsitzFA ist nicht nur praktikabler als die zuvor von Teilen der Rspr.160 favorisierte sog. Ping-Pong-Lösung, sondern entspricht auch insofern § 180 I
157 Dazu instruktiv Kahle, DStZ 2012, 61 ff. 158 BFH v. 30.9.2003 – III R 5/00, BStBl. II 2003, 947 (948); v. 24.1.2008 – IV R 87/06, BStBl. II 2008, 428 (Abgrenzung zu Entnahmen); Althoff/Engelsing, SteuerStud 1999, 302; Grützner, StuB 2000, 498; Schiffers, GmbHStB 2004, 334; Kahle, DStZ 2012, 62 (70 f.); Kahle, FR 2012, 109 (114 f.). 159 So schon zuvor BMF v. 29.4.1994, BStBl. I 1994, 282; zum Beschluss des GrS Dürrschmidt/FriedrichVache, DStR 2005, 1515; P. Fischer, NWB 2005 F. 2, 8813; Marchal, DStZ 2005, 861; Zähle, Stbg. 2005, 456; Bilsdorfer, SteuerStud 2006, 29; Schlagheck, StuB 2007, 730; krit. Lüdicke, DB 2005, 1813. 160 BFH v. 18.5.1995 – IV R 125/92, BStBl. II 1996, 5 (8); v. 11.7.1996 – IV R 103/94, BStBl. II 1997, 39; v. 10.12.1998 – BStBl. II 1999, 390 (398); v. 11.12.1997 – III R 14/96, BStBl. II 1999, 401; v. 13.12.1999 – III B 15/99, BFH/NV 2000, 827; einschränkend BFH v. 26.4.2001 – IV R 14/00, BStBl. II 2001, 798.
706
Hennrichs
6. Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 105 § 10
Nr. 2 Buchst. a AO, als die zur Umqualifizierung führenden persönlichen Verhältnisse anders als Vorgänge im Sonderbereich nicht im Zusammenhang mit der Beteiligung stehen161.
b) Der Sondervergütungstatbestand hat zunächst Qualifikationsfunktion: § 15 I 1 Nr. 2 EStG will 103 nämlich mit Blick auf die Gewerbesteuer die Schmälerung gewerblicher Einkünfte verhindern, indem die Vergütungen als Betriebsausgaben der Gesellschaft abgezogen und sodann beim Gesellschafter als nichtgewerbliche Bezüge aus selbständiger/nichtselbständiger Arbeit oder Vermögensverwaltung besteuert werden162. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG gewährleistet, dass die Summe der gewerblichen Einkünfte aus der Mitunternehmerschaft (s. auch Rz. 108) unberührt bleibt; die Sondervergütungen reduzieren zwar den Steuerbilanzgewinn der Gesellschaft, sind aber gleichzeitig beim empfangenden Mitunternehmer als gewerbliche Sonderbetriebseinnahmen anzusetzen. Dieser Qualifikationszweck des Sondervergütungstatbestands unterscheidet die Besteuerung des Mitunternehmers grundl. von der Besteuerung der Kapitalgesellschaft, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Verträge zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern nach dem sog. Trennungsprinzip prinzipiell auch steuerlich respektiert werden (s. § 11 Rz. 1), und bringt die Gleichstellung mit dem Einzelunternehmer, für den die Möglichkeit, sich selbst auf schuldvertraglicher Basis Leistungsvergütungen zu zahlen, naturgemäß nicht besteht, weil Verträge immer mindestens zwei Parteien voraussetzen und niemand einen Vertrag „mit sich selbst“ schließen kann163. Die Vorschrift bewirkt ferner i.Erg., dass es für die Besteuerung des Mitunternehmers keinen Unterschied macht, ob er Vergütungen auf schuldrechtlicher oder auf gesellschaftsrechtlicher Basis (als Gewinnvorab) erhält. Vergütungen auf schuldvertraglicher Grundlage (z.B. ein Geschäftsführergehalt) mindern zwar auf der ersten Stufe den Gesellschaftsgewinn, sind aber beim empfangenden Mitunternehmer auf der zweiten Stufe als gewerbliche Sonderbetriebseinnahmen anzusetzen, so dass die Vergütung die Summe der gewerblichen Einkünfte aus der Mitunternehmerschaft nicht berührt (s.o.). Das steuerliche Ergebnis ist daher das Gleiche wie bei einem Gewinnvorab, das schon nicht den Gewinn der ersten Stufe mindert164. Daher wird der Vorschrift des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG auch eine Vereinfachungsfunktion zugeschrieben; die streitträchtige Abgrenzung zwischen gesellschafts- und schuldrechtlichen Vergütungen mit der hieraus entwickelten Kasuistik der verdeckten Gewinnausschüttung bei Kapitalgesellschaften (§ 11 Rz. 70 ff.) könne bei Personengesellschaften entfallen. Schließlich hat der Sondervergütungstatbestand Ermittlungsfunktion: Er erweitert die Ermittlung der Mitunternehmereinkünfte auf den außerhalb der Gesamthand erwirtschafteten Teil der Mitunternehmereinkünfte. Diesen Regelungszweck bringt der Sondervergütungstatbestand aber nur bruchstückhaft zum Ausdruck, so dass die Auffassungen darüber, wie die Mitunternehmereinkünfte zu ermitteln sind, die dem Gewinnanteil, d.h. dem Anteil am gesamthänderisch erwirtschafteten Gewinn hinzuzufügen sind, erheblich divergieren. c) Aus den beiden Komponenten des § 15 I 1 Nr. 2 EStG ergibt sich folgende Zweistufigkeit der Ge- 104 winnermittlung, für die i.Ü. die §§ 4 ff. EStG anzuwenden sind (vgl. Schaubild Rz. 109). aa) Auf der ersten Stufe wird der Gewinnanteil ermittelt und aus der Gesellschaftsbilanz abgeleitet. 105 Die Gesellschaftsbilanz stellt das Gesellschaftsvermögen dar und ist nach Maßgabe des § 5 I EStG aus der Handelsbilanz der Gesellschaft abzuleiten. Ansatz- und Bewertungswahlrechte auf der Ebene der Gesellschaft (z.B. § 6 II EStG) sind grds. einheitlich auszuüben. Etwas anderes gilt nur für personenbezogene Steuervergünstigungen (sogleich und Rz. 124). Sondervorgänge (z.B. der Eintritt eines neuen Gesellschafters) oder personenbezogene Regelungen (wie z.B. Steuervergünstigungen) können dazu führen, dass die in der Gesellschaftsbilanz ausgewiesenen Wertansätze zu korrigieren sind. Dies geschieht in sog. Ergänzungsbilanzen (s. Rz. 123). Die Ergänzungsbilanz ist Teil der ersten Stufe der Gewinnermittlung (Ermittlung des Gewinnanteils). Sie weist zusammen mit der Gesellschaftsbilanz den für den einzelnen Mitunternehmer steuerlich zutreffenden Wert des Anteils am Gesamthands161 Dazu Kunz, Stbg. 2003, 149; Zähle, DStR 2003, 1328. 162 Zur Gesetzgebungsgeschichte: Begr. zum EStG 1934, RStBl. 1935, 9 (42); BFH v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. II 1991, 691 (697 f.); H.W. Kruse, DStJG 2 (1979), 37 (47 ff.). 163 Krit. zum Sondervergütungstatbestand und Sonderbetriebsvermögen Prinz, FR 2010, 736 (742 f.). 164 Kahle, DStZ 2012, 62 (70).
Hennrichs 707
§ 10 Rz. 106
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
vermögen aus. Die Ergänzungsbilanz ist in die Ermittlung des Gewinnanteils einzubeziehen. Mithin besteht der Gewinnanteil i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 1 EStG aus dem Anteil an dem in der Gesellschaftsbilanz ausgewiesenen Gewinn oder Verlust, der nach Satzung, gesetzlichen Vorschriften und Gewinnverteilungsbeschluss den einzelnen Gesellschaftern zugewiesen wird, sowie dem Ergebnis einer etwaigen Ergänzungsbilanz. 106 bb) Auf der zweiten Stufe ist der außerhalb der Gesamthand erwirtschaftete Gewinn des einzelnen
Mitunternehmers zu ermitteln. Grundlage der Gewinnermittlung auf der zweiten Stufe ist das Sonderbetriebsvermögen (s. Rz. 131 ff.). Zum Sonderbetriebsvermögen gehören alle Wirtschaftsgüter, die der Vermögenssphäre des Gesellschafters zuzuordnen sind und die der Gesellschafter zur Erwirtschaftung seines Gewinns aus der Gesellschaft einsetzt. Das Sonderbetriebsvermögen wird in der Sonderbilanz dargestellt, die den wirtschaftlichen Erfolg der außerhalb der Gesellschaft erbrachten Leistungen des Gesellschafters erfasst. Der Sonderbilanzgewinn oder -verlust resultiert aus Sondererträgen und Sonderaufwendungen; sie werden entspr. der allgemeinen Gewinnermittlungsterminologie als Sonderbetriebseinnahmen und Sonderbetriebsausgaben bezeichnet. Sonderbetriebseinnahmen sind hauptsächlich die Sondervergütungen i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG (s. Rz. 138 ff.). 107 cc) Umstritten ist, auf welche Weise der auf der ersten Stufe ermittelte Gewinnanteil und das auf der
zweiten Stufe ermittelte Sonderbilanzergebnis in dem Gesamtgewinn des Mitunternehmers zusammenzufassen sind. Döllerer165 hat die Theorie einer konsolidierten Gesamtbilanz entwickelt, nach der der Rechnungskreis der Gesellschaft und der des Gesellschafters zu einer wirtschaftlichen Einheit zusammengefasst werden mit der Konsequenz, dass die Rechtsbeziehungen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter bilanziell nicht oder nicht vollständig erfasst werden. Dies widerspricht dem Konzept der partiellen Steuerrechtsfähigkeit der Personengesellschaft (s. Rz. 11 f.). 108 Die h.M.166 bevorzugt demgegenüber eine additive Gewinnermittlung und addiert den Gewinn-
anteil und das Sonderbilanzergebnis. Rechtsbeziehungen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter sind hiernach grds. bilanziell beachtlich. Indessen würde die reine Lehre von der bilanziellen Rechtssubjektivität der Personengesellschaft das Trennungsprinzip verwirklichen, das der Steuergesetzgeber der Kapitalgesellschaft vorbehalten hat (s. Rz. 10 und § 11 Rz. 1). Aus diesem Grunde praktiziert die h.M. die additive Methode mit sog. korrespondierender Bilanzierung, die einerseits die Rechtssubjektivität der Personengesellschaft respektiert, andererseits aber auch dem Erfordernis steuerschuldnerbezogener Gewinnermittlung Rechnung trägt167. Die Methode korrespondierender Bilanzierung bedeutet z.B., dass eine Pensionszusage an einen Gesellschafter zwar auf Gesellschaftsebene durch Passivierung einer Rückstellung in der Gesellschaftsbilanz zu einer Gewinnminderung führt, diese
165 Döllerer, DStZ/A 1974, 211; Döllerer, DStZ/A 1976, 435; Döllerer, JbFSt. 1978/79, 322; Döllerer, FS Flume, Bd. II, 1978, 43 ff.; Döllerer, DStZ 1980, 259; Döllerer, DStZ 1983, 179. Eine Theorie der strukturierten Gesamtbilanz hat Uelner, JbFSt. 1978/79, 311 ff.; Uelner, JbFSt. 1979/80, 338 ff.; Uelner, DStJG 14 (1991), 139 (147), entwickelt. 166 BFH v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. II 1991, 697 im Anschluss an H.W. Kruse, DStJG 2 (1979), 37 (47). Vgl. auch BFH v. 10.11.1980 – GrS 1/79, BStBl. II 1981, 164 (167); v. 14.11.1985 – IV R 63/83; BStBl. II 1986, 58; v. 21.4.1988 – IV R 80/86, BStBl. II 1988, 883; v. 13.10.1998 – VIII R 78/97, BStBl. II 1999, 163 (165); v. 5.6.2003 – IV R 36/02, BStBl. II 2003, 871 (874); v. 2.12.1997 – VIII R 15/96, BStBl. II 2008, 174. 167 Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 404; J. Lang, FS L. Schmidt, 1993, 303 f.; Reiß, StuW 1986, 245; Sieker, Eigenkapital und Fremdkapital der Personengesellschaft, Gesellschaftsrecht, Steuerrecht, Bilanzierungsfragen, Diss., 1991, 93 ff.; Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (55 f.); Kahle, DStZ 2012, 61 (65); NWB Praxishdb. BilStR/Kahle2, Rz. 1455 f.; Herbst/Stegemann, DStR 2013, 176; zu Österreich: Fritz-Schmied/Urnik, ÖStZ 2007, 146; krit. insb. Raupach, DStZ 1992, 692; List, BB 2004, 1473 (1475).; zur Anwendung der Methode der korrespondierenden Bilanzierung bei der Betriebsaufspaltung BFH v. 12.2.2015 – IV R 63/11, BFH/NV 2015, 832 sowie Crezelius, DB 2012, 651 (654).
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Hennrichs
6. Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 110 § 10
aber durch eine (vom Realisationsprinzip losgelöste168) zeit- und betragsmäßig korrespondierende Aktivierung in der Sonderbilanz des Gesellschafters i.Erg. neutralisiert wird (s. Rz. 145; s. außerdem Rz. 144). Sie sorgt dafür, dass sich die Werte der betroffenen Bilanzen nicht überschneiden und keine Lücken der Einkünfteermittlung entstehen. Beide Einkünftekomponenten, also sowohl der Gewinnanteil als auch das korrespondierende Sonderbilanzergebnis, sind einheitlich durch Betriebsvermögensvergleich nach den §§ 4 ff. EStG zu ermitteln (s. Rz. 115). 109 Zweistufige Gewinnermittlung Gesamtgewinn der Mitunternehmerschaft Gewinn des A
Sonderbilanzgewinn
+
+
Gewinnanteil
Gewinn des B
Gewinnanteil
+
Sonderbilanzgewinn
2. Stufe Sonder- Sonderbilanz GuV des A
Sonder- SonderGuV bilanz des B
Sondervergütung
Sondervergütung 1. Stufe
Gesellschaftsgewinn
Gesellschafts-GuV Ergänzungsbilanz des A
Gesellschaftsbilanz
Ergänzungsbilanz des B
Das Schaubild zeigt die Gewinnermittlungsschritte bei einer OHG mit zwei Gesellschaftern, A und B. Dabei wird angenommen, dass A und B ihre Beteiligungen entgeltlich von den Altgesellschaftern C und D erworben haben und dass beide aufgrund von Dienstverträgen Geschäftsführervergütungen von der OHG beziehen. Erste Stufe: A’s „Gewinnanteil“ i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 1 EStG besteht aus seinem Anteil am Gesellschaftsgewinn (wobei die Sondervergütungen an A und B den Gewinn der Gesellschaft gemindert haben) und einem Korrekturbetrag aus seiner Ergänzungsbilanz (s. Rz. 123). Falls A seine Beteiligung zu einem Preis über dem Buchwert der Beteiligung erworben hat, sind die über den Buchwert der Beteiligung hinausgehenden AK auf die Wirtschaftsgüter der OHG zu verteilen und in seiner Ergänzungsbilanz zu aktivieren. Soweit die AK auf abnutzbare Wirtschaftsgüter entfallen, kann A zusätzliche AfA beanspruchen, die als negativer Korrekturbetrag (Aufwand) seinen Gewinnanteil verringern. Hätte A die Beteiligung zum Buchwert erworben oder wäre er seit Gründung der Gesellschaft beteiligt, würde eine Ergänzungsbilanz nicht erforderlich sein, da seine AK und der Buchwert seiner Beteiligung identisch wären. 168 Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 479a.
Hennrichs 709
110
§ 10 Rz. 111
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
111 Zweite Stufe: Hier wird die Geschäftsführervergütung des A zusammen mit seinen anderen Sonderbetriebseinnahmen und Sonderbetriebsausgaben erfasst (s. Rz. 138 ff.). Das Ergebnis der zweiten Stufe, der Sonderbilanzgewinn (oder -verlust), bildet zusammen mit dem Gewinnanteil den Gewinn des A, d.h. die gewerblichen Einkünfte i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG, die er als Mitunternehmer der AB OHG erzielt. Die Gewinnermittlung für B erfolgt in gleicher Weise. 112 Schließlich werden die gewerblichen Einkünfte der Gesellschafter zum „Gesamtgewinn“ der AB OHG zusammengefasst, der als Ausgangsgröße für die Ermittlung des Gewerbeertrags nach § 7 GewStG dient169. Da die Gewerbesteuer erst am Gesamtgewinn der Mitunternehmerschaft und nicht schon am Gesellschaftsgewinn erster Stufe anknüpft, können A und B die Gewerbesteuer nicht durch die Vereinbarung von Geschäftsführervergütungen mindern. Die Erfassung der Sondervergütungen in den Sonderbilanzen der Gesellschafter und schließlich im Gesamtgewinn der Mitunternehmerschaft ist das bilanztechnische Mittel, um die gewerbesteuerliche Gleichbelastung von Einzel- und Mitunternehmer zu erreichen. 113–114
Einstweilen frei.
6.2 Buchführungspflichten 115 Mangels gesetzlicher Regelung speziell für die Mitunternehmerschaft ist unklar, wer in welchem Um-
fang zur Buchführung verpflichtet ist. Die handelsrechtliche Buchführungspflicht verpflichtet allein die Personenhandelsgesellschaft als solche zur Aufstellung der Gesellschaftsbilanz. Den einzelnen Gesellschaftern obliegt dagegen handelsrechtlich keine Buchführungspflicht170. Ergänzungs- und Sonderbilanzen sind rein steuerrechtliche Bilanzen. Die Pflicht zur Aufstellung von Ergänzungs- und Sonderbilanzen kann sich daher nur aus dem Steuerrecht ergeben. Die Begründung einer steuerlichen Buchführungspflicht mit § 141 AO171 überzeugt nicht. Zum einen konstituiert diese Vorschrift die Buchführungspflicht nur bezüglich der dort niedergelegten Grenzen, sie erweitert jedoch nicht den sachlichen Umfang der Buchführung im Allgemeinen. Zum anderen setzt § 141 II AO (anders als die Vorgängernorm des § 161 RAO) eine entsprechende Mitteilung des FA an den Stpf. voraus, an der es bezogen auf Ergänzungs- und Sonderbilanzen relgemäßig fehlen dürfte. Die Erweiterung der Buchführungspflicht lässt sich aber auf § 5 I i.V.m. § 15 I 1 Nr. 2 EStG stützen: Nach dem Wortlaut des § 5 I EStG ist der Betriebsvermögensvergleich zwar nur für die Gesellschaftsbilanz angeordnet. Da jedoch eine Mischung von Betriebsvermögensvergleich (§§ 5 I; 4 I EStG) und Überschussrechnung (§ 4 III EStG) Zusammenballungs- oder Minderungseffekte bei den in § 15 I 1 Nr. 2 EStG zusammenhängend geregelten Einkünften bewirken würde, die mit dem Regelungszweck des § 15 I 1 Nr. 2 EStG nicht zu vereinbaren sind172, sind die gesamten Einkünfte i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG im Wege lückenausfüllender Anwendung des § 5 I EStG einheitlich dem Ermittlungstypus der Bilanzierung zu unterwerfen, damit insb. auch die erforderliche Wertekorrespondenz von Gesellschafts- und Gesellschaftervermögen (s. Rz. 108) verwirklicht werden kann. Anders formuliert: Auf der ersten und der zweiten Stufe der Gewinnermittlung kommt einheitlich die von der Gesellschaft angewandte Gewinnermittlungsmethode zur Anwendung173. Geschieht die Gewinnermittlung auf der Ebene der Gesellschaft durch Bilanzierung (wie regelmäßig, Rz. 121), ist auch auf der zweiten
169 Das Ergebnis der einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellung nach §§ 179 II; 180 I Nr. 2 Buchst. a AO hat allerdings keine Bindungswirkung für die Gewerbesteuer, da diese in einem eigenständigen Verfahren festgesetzt wird. 170 S. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 415, 442. 171 BFH v. 23.10.1990 – VIII R 142/89, BStBl. II 1991, 401; v. 11.3.1992 – XI R 38/89, BStBl. II 1992, 797; v. 25.1.2006 – IV R 14/04, BFH/NV 2006, 874, wo die Ausübung von Bilanzierungswahlrechten aber ausschließlich dem Mitunternehmer vorbehalten wird; dazu ausf. Ley, WPg. 2006, 904. 172 So Raupach, DStZ 1992, 697. 173 Zutreffend Kahle, DStZ 2012, 61 (64).
710
Hennrichs
6. Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 122 § 10
Stufe ein Betriebsvermögensvergleich vorzunehmen. Eine isolierte 4-III-Rechnung allein für die Sonderbereiche ist unzulässig174. Entgegen der h.M.175 kann allerdings nicht die Gesellschaft, sondern nur der jeweils betroffene Ge- 116 sellschafter bezüglich Ergänzungs- und Sonderbilanz buchführungspflichtig sein176. Einstweilen frei.
117–119
6.3 Einzelheiten zur ersten Stufe der Einkünfteermittlung a) Gesellschaftsbilanz und grds. Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen GoB: Die Ermittlung des 120 Gewinnanteils setzt zunächst voraus, dass der Gewinn der Gesellschaft ermittelt wird. Weder §§ 4 ff. EStG noch § 15 I 1 Nr. 2 EStG enthalten hierfür auf die Besonderheiten gemeinschaftlicher Einkünfteerzielung zugeschnittene Vorgaben. So sind Ergänzungsbilanzen als Richterrecht entstanden, die der Gesetzgeber aber in seinen Willen aufgenommen hat, indem er etwa in § 6 V 4 EStG oder § 24 II 1 UmwStG das Instrument der Ergänzungsbilanz voraussetzt. Die Ermittlung des Gewinns der Gesellschaft, aus dem sodann der Gewinnanteil des Gesellschafters 121 abzuleiten ist, erfolgt bei den Personenhandelsgesellschaften (zu freiberuflichen und vermögensverwaltenden Mitunternehmerschaften Rz. 101 f.) durch Bilanzierung. OHG und KG sind Handelsgesellschaften und damit Kaufleute (§ 6 HGB) und folglich gem. §§ 238 ff. HGB zur Buchführung und Bilanzierung nach den handelsrechtlichen GoB verpflichtet. Das Steuerrecht knüpft an diese Buchführungspflicht an (§ 140 AO, abgeleitete steuerliche Buchführungspflicht). Auch inhaltlich werden nach § 5 I 1 EStG grds. die handelsrechtlichen GoB maßgeblich für die Gesellschaftsbilanz (Steuerbilanz erster Stufe). Allerdings werden die handelsrechtlichen GoB vielfach durch besondere steuerliche Gewinnermittlungsvorschriften (§§ 4 ff. EStG) modifiziert. Insb. für die Abgrenzung des Betriebsvermögens gelten nach h.M. die steuerrechtlichen Grundsätze 122 (vgl. auch R 4.2 II, XI, XII EStR). In der Steuerbilanz der Gesellschaft sollen folglich nur die Wirtschaftsgüter auszuweisen sein, die nach den allgemeinen Regeln dem Betriebsvermögen zuzuordnen sind (dazu § 9 Rz. 210 ff.). Liebhabereivermögen und Teile des Gesellschaftsvermögens, die ganz überwiegend für nicht-betriebliche, private Zwecke der Gesellschafter genutzt werden (z.B. eine privat genutzte Wohnung im Betriebsgebäude), werden daher ungeachtet des Maßgeblichkeitsgrundsatzes aus der Steuerbilanz der Gesellschaft ausgeklammert177. Über jeden Zweifel erhaben ist diese Sichtweise nicht. Namentlich Knobbe-Keuk hat mit guten Gründen die Auffassung vertreten, dass das Gesellschaftsvermögen auch bei den Personengesellschaften stets Betriebsvermögen darstelle und die Personengesellschaft (ebenso wie die Kapitalgesellschaft178, s. § 9 Rz. 220) kein Privatvermögen haben
174 BFH v. 25.6.2014 – I R 24/13, BStBl. II 2015, 141; v. 10.12.2014 – I R 3/13, DStR 2015, 629; Kahle, DStZ 2012, 61 (64); Hennrichs, DStR 2015, 1420 (1422); Blümich/Krumm, § 5 EStG Rz. 112. 175 Vgl. BFH v. 23.10.1990 – VIII R 142/85, BStBl. II 1991, 401; H 4.1 EStR; Kahle, DStZ 2012, 61 (64). 176 Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 442 f.; Schön, DStR 1993, 185 (193); Wichmann, DStZ 2017, 254. 177 BFH v. 16.3.1983 – IV R 36/79, BStBl. II 1983, 459; v. 3.10.1989 – VIII R 184/85, BStBl. II 1990, 319; v. 29.7.1997 – VIII R 57/94, BStBl. II 1998, 652; v. 16.10.2014 – IV R 15/11, BStBl. II 2015, 267 (Darlehen, für dessen Ausreichung keine wesentliche betriebliche Veranlassung besteht); R 4.2 XI EStR; Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (49); Kahle, DStZ 2012, 61 (67). 178 Dazu BFH v. 4.12.1996 – I R 54/96, BFHE 182, 123; v. 12.11.2004 – I R 56/03, BFHE 208, 519; v. 22.8.2007 – I R 32/06, BStBl. II 2007, 961; v. 15.2.2012 – I B 97/11, BStBl. II 2012, 697; NWB Praxishdb. BilStR/Kahle2, Rz. 1361 ff.
Hennrichs 711
§ 10 Rz. 123
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
könne179. Eine private Nutzung von Gesellschaftsvermögen sowie eine Nutzung zu nicht fremdüblichen Konditionen wäre danach über die Entnahme-Vorschriften auszugleichen.180 Zur Zurechnung des Gesellschaftsvermögens beim sog. Treuhandmodell s. Rz. 52 (nach der m.E. angreifbaren181 Auffassung des IV. Senats182 soll das Gesellschaftsvermögen beim Treuhandmodell dem „Ein-Unternehmer“-Treugeber zuzurechnen und dieser steuerrechtlich wie ein Einzelunternehmer zu behandeln sein, sog. Bruchteilsbetrachtung). In die Gesellschaftsbilanz gehören zwar alle, aber auch nur die Wirtschaftsgüter des Gesellschaftsvermögens. Wirtschaftsgüter, die zivilrechtlich einem Gesellschafter gehören und von diesem der Gesellschaft zur Nutzung überlassen werden, sind nach h.M. sog. Sonderbetriebsvermögen des Gesellschafters und auf der zweiten Gewinnermittlungsstufe zu erfassen (Rz. 100, 103 und näher sogleich Rz. 131 ff.). 123 b) Ergänzungsbilanzen183 sind Wertkorrekturbilanzen, um insb. im Fall des Anteilserwerbs die AK
eines einzelnen Gesellschafters steuerlich zutreffend zu berücksichtigen184. Sie werden hauptsächlich erforderlich bei dem entgeltlichen Erwerb eines Mitunternehmeranteils (s. Rz. 181), bei der Einbringung eines Betriebs in eine Personengesellschaft zum Buchwert gem. § 24 II UmwStG (s. Rz. 152 f.), bei der Inanspruchnahme personenbezogener Steuervergünstigungen (s. auch Rz. 124) sowie nach § 6 V EStG zur subjektbezogenen Zuordnung stiller Reserven bei der Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern in das Gesellschaftsvermögen (s. Rz. 156). Bei dem Erwerb des Mitunternehmeranteils liegen die AK i.d.R. über dem Buchwert des Mitunternehmeranteils in der Gesellschaftsbilanz, weil im Anteilskaufpreis stille Reserven mitvergütet werden. Würde dieser Vorgang in der Gesellschaftsbilanz erfasst, käme es bei allen Gesellschaftern zu Gewinnauswirkungen. Stattdessen ist der Mehrbetrag der AK gegenüber dem in der Steuerbilanz der Gesellschaft festgehaltenen Buchwert in der Ergänzungsbilanz zu aktivieren. Dies geschieht zunächst dadurch, dass die anteiligen stillen Reserven in der Ergänzungsbilanz bis zum Teilwert der Wirtschaftsgüter, die in der Gesellschaftsbilanz aktiviert sind, durch Aufstockung auf die einzelnen Wirtschaftsgüter verteilt werden185. Reicht die Summe der Teilwerte nicht aus, so ist der verbleibende Differenzbetrag zum Kaufpreis als derivativer Firmenwert (vgl. § 246 I 4 HGB) in der Ergänzungsbilanz anzusetzen. Die Ergänzungsbilanz ist bereits während des Bestehens der Mitunternehmerschaft fortzuentwickeln. Die sich auf der Grundlage der in der Ergänzungsbilanz ausgewiesenen höheren AK ergebenden höheren Abschreibungen mindern den Anteil des Gesellschafters am Gesellschaftsgewinn. Soweit der Aufstockungsbetrag nicht durch erhöhte AfA während der Dauer der Beteiligung an der Gesellschaft verbraucht wird, mindert er als Teil der AK den Gewinn des
179 Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 415 f. 180 Zur Berücksichtigung der Nutzungsentnahme nach der 1 %-Regelung bei Vermietung von Kfz an Personengesellschaften durch ihre Gesellschafter bei der Gewinnermittlung der Gesellschaft gem. § 4 V 1 Nr. 6 EStG vgl. BFH v. 18.9.2012 – VIII R 28/10, BStBl. II 2013, 120. 181 Krit. namentlich Blümich/Gosch, § 5 GewStG Rz. 51 ff.; Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (46). 182 BFH v. 3.2.2010 – IV R 26/07, BStBl. II 2010, 751. 183 Dazu Regniet, Ergänzungsbilanzen bei der Personengesellschaft, Sonderbilanzen der Gesellschafter und Wertkorrekturen der Gesellschaftsbilanz, Diss., 1990; Uelner, DStJG 14 (1991), 139; Gschwendtner, DStR 1993, 817; Niehus, StuW 2002, 116; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 460 ff.; Ritzrow, StWa 2004, 45; Glanegger, DStR 2004, 1686 (betr. persönlich haftenden KGaA-Gesellschafter); Kahle, FR 2013, 873; Schmitt/Keuthen, DStR 2013, 1565; NWB Praxishdb. BilStR/Kahle2, Rz. 1396 ff. 184 Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (52); Rödder, DB 1992, 953 (955). 185 Nach der vom Zivilrecht abw. Bruchteilsbetrachtung werden dabei die Werte der einzelnen Wirtschaftsgüter in der Ergänzungsbilanz aufgestockt. Die Ergänzungsbilanz stellt also nicht nur einen rein rechnerischen Korrekturposten dar (a.A. Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht20, § 6 Rz. 1153). Dazu BFH v. 18.2.1993 – IV R 40/92, BStBl. II 1994, 224 ff.; Beck’sches Hdb. Personengesellschaften/Friedrich4, § 6 Rz. 76 ff.; Gschwendtner, DStR 1993, 817; HHR/Tiede, § 15 EStG Anm. 500; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 460, 463.
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Hennrichs
6. Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 126 § 10
Gesellschafters bei einer späteren Veräußerung seiner Beteiligung. Wahlrechte in der positiven Ergänzungsbilanz sollen unabhängig von der Gesellschaftsbilanz ausgeübt werden können186. Nimmt eine Gesellschaft personenbezogene Steuervergünstigungen (z.B. §§ 7d a.F.; 7h EStG) antei- 124 lig für die Gesellschafter in Anspruch, die die Voraussetzungen der Steuervergünstigung erfüllen, so geschieht dies durch eine negative Ergänzungsbilanz für die begünstigten Gesellschafter187. Dies gilt insb. für die Reinvestitionszulage nach § 6b EStG188, deren Voraussetzungen seit UntStFG v. 20.12.2001 (BGBl. I 2001, 3858)189 wieder in der Person des einzelnen Mitunternehmers verwirklicht sein müssen190. Die auf den Mitunternehmeranteil bezogene Interpretation des § 6b EStG ist u.a. relevant für die Besitzzeit i.S.d. § 6b IV 1 Nr. 2 EStG und für die Möglichkeiten der Übertragung stiller Reserven zwischen Gesellschafts- und Gesellschaftervermögen. Auch die Vornahme der degressiven AfA (s. § 7 V EStG für Gebäude) soll personenbezogen zu interpretieren sein, weil steuerlich gemäß dem Transparenzprinzip der einzelne Gesellschafter als Bauherr anzusehen sei191. Auf dem Boden der hier vertretenen Ansicht zur partiellen eigenen Steuerrechtsfähigkeit der Personengesellschaft (Rz. 5, 12, 14) ist dem nicht zu folgen. Inhaber des Gewerbebetriebs und Bauherr ist die Gesellschaft192. c) Die Gewinnverteilung wird zunächst durch das Gesellschaftsrecht (gesetzliche Vorschriften, 125 Satzung, Gewinnverteilungsbeschluss) bestimmt, jedoch steuerrechtlich modifiziert. Es werden dem gesellschaftsrechtlich bestimmten Gewinnanteil die steuerlichen Mehr- und Minderergebnisse hinzugerechnet, und zwar jeweils dem Gesellschafter, dem die Steuerfolge z.B. einer Entnahme oder nichtabziehbaren Aufwendung (§ 4 V EStG) zuzuordnen ist193. Bei Familienpersonengesellschaften wird die Gewinnverteilung korrigiert, um unterhaltsrechtlich begründete Einkommensverwendungen auszusondern (s. Rz. 79 ff.). d) Nach alledem vollzieht sich die Ermittlung des gesamthänderisch erwirtschafteten Gewinnanteils 126 in folgenden Schritten: – Ausgangsgröße ist die aus der Handelsbilanz abgeleitete Steuerbilanz der Personengesellschaft (Steuerbilanz erster Stufe), die das Gesellschaftsvermögen ausweist. – Der in der Gesellschaftsbilanz ausgewiesene Gewinn oder Verlust ist nach Gesellschaftsrecht und Steuerrecht auf die einzelnen Gesellschafter zu verteilen (Gewinnanteil). – Schließlich ist der dem Gesellschafter zugewiesene Anteil am Gewinn oder Verlust der Gesellschaft bei erfolgswirksamer Veränderung der in der Ergänzungsbilanz ausgewiesenen Werte zu korrigieren. Das 186 187 188 189 190
191 192 193
BFH v. 20.11.2014 – IV R 1/11, BStBl. II 2017, 34. Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 474. BFH v. 13.8.1987 – VIII B 179/86, BStBl. II 1987, 782. Dazu Schneider/Salzer, SteuerStud 2006, 179; zur vorübergehenden Beseitigung der Mitunternehmerbezogenheit durch StEntlG 1999/2000/2002 und dem erneuten Konzeptionswechsel durch das UntStFG Kanzler, FR 2002, 117; Kanzler, FR 2006, 691. BFH v. 9.11.2017 – IV R 19/14, DStR 2018, 292; NWB Praxishdb. BilStR/Kahle2, Rz. 1384 f.; Kahle, DStZ 2012, 61 (69). – Zur Dogmatik s. Schön, Gewinnübertragungen bei Personengesellschaften nach § 6b EStG, Diss., 1986; Selbmann, Die Übertragung stiller Reserven bei Personengesellschaften nach § 6b EStG, Diss., 2003. – Krit. zur „gesellschafterbezogenen“ Anwendung von Steuervergünstigungen aus systematischer Sicht Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (51 f.). Vgl. Kahle, DStZ 2012, 61 (69). Ebenso Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 418 ff. Zur Abweichung vom gesellschaftsvertraglichen Gewinnverteilungsschlüssel BFH v. 23.6.1999 – IV B 13/99, BFH/NV 2000, 29, m.w.N.; v. 7.7.2004 – X R 30/03, BFH/NV 2005, 33 (Verteilung von SonderAfA), m. Anm. Paus, DStZ 2005, 196 f. Lit. zur steuerrechtlichen Gewinnverteilung: Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 429 ff.; Rose, Zur steuerlichen Beurteilung einvernehmlicher inkongruenter Gewinnverteilungen in Personen- und Kapitalgesellschaften, FR 2002, 1; Ritzrow, Änderung der Gewinnverteilung bei Personengesellschaften, StBp. 1999, 29; Ritzrow, Gewinnverteilung bei Personengesellschaften, StuW 2005, 20; Söffing/Hallerbach, Besteuerung der Mitunternehmer5, 2005, 342 ff.
Hennrichs 713
§ 10 Rz. 130
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
Ergebnis ist der auf der ersten Stufe zu ermittelnde Gewinnanteil i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 1 EStG (vgl. Schaubild Rz. 109). 127–129
Einstweilen frei.
6.4 Einzelheiten zur zweiten Stufe der Einkünfteermittlung 130 a) Wie bereits ausgeführt (Rz. 108), besteht der Gesamtgewinn der Mitunternehmerschaft aus der
Addition des gesamthänderisch erwirtschafteten Gewinnanteils i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 1 EStG und des in der Sonderbilanz (zweite Stufe) ausgewiesenen Gewinns oder Verlusts; dabei sind die Ansätze in Gesellschaftsbilanz und Sonderbilanz nach der bereits erwähnten (s. Rz. 108) Methode korrespondierender Bilanzierung aufeinander abzustimmen. Während die Ermittlung der Mitunternehmereinkünfte auf der ersten Stufe immerhin noch an die Handelsbilanz der Gesellschaft und an die gesellschaftsrechtliche Gewinnverteilung anknüpft, wird auf der zweiten Stufe der Boden des Zivilrechts weitgehend verlassen194. Sonderbilanz, Sonderbetriebsvermögen sowie Sonderbetriebseinnahmen und -ausgaben sowie die Methode korrespondierender Bilanzierung sind rein steuerrechtliche Kategorien, die der steuerspezifischen Bestimmung der Mitunternehmereinkünfte in § 15 I 1 Nr. 2 EStG und der Ausrichtung der Mitunternehmerbesteuerung am Einzelunternehmer dienen. 131 b) Sonderbetriebsvermögen195: Als Sonderbetriebsvermögen sind in der Sonderbilanz die Wirt-
schaftsgüter anzusetzen, die der Vermögenssphäre des Gesellschafters zuzuordnen sind (also zivilrechtlich nicht der Gesellschaft, sondern dem Gesellschafter gehören), aber der Gesellschaft zur Nutzung überlassen und damit zur Erwirtschaftung von Einkünften i.S.v. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG eingesetzt werden. Dogmatisch ist das Institut des Sonderbetriebsvermögens nicht über jeden Zweifel erhaben196. Da es nicht die einzelnen Mitunternehmer sind, die den Gewerbebetrieb betreiben, sondern allein die Gesellschaft selbst die steuerbare Tätigkeit entfaltet (Rz. 5, 12, 14), führt kein Weg hin zu einem echten Sonder-„Betrieb“ dieses Gesellschafters; das Sonderbetriebsvermögen ist gleichsam „Betriebsvermögen ohne Gewerbebetrieb“197 oder BV eines fiktiven Sondergewerbebetriebs der Gesellschafter198. Allerdings ist die Figur des Sonderbetriebsvermögens heute als Realität der Besteuerungspraxis zu akzeptieren und mittlerweile auch in § 6 V EStG gesetzlich angedeutet. Seine Grundlage findet die Figur am ehesten in einer teleologischen Auslegung der §§ 15; 16 EStG199. Erfasst werden alle Wirtschaftsgüter, die der Gesellschafter der Gesellschaft entgeltlich gegen eine Sondervergütung oder unentgeltlich zur betrieblichen Nutzung überlässt. Das Gesetz erwähnt in § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 194 Vgl. dazu insb. die dogmatische Gegenposition von Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 437 ff. 195 Dazu Uelner, DStJG 14 (1991), 139 (144 ff.); Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 440 ff.; Schön, DStR 1993, 185; Kempermann, FS Flick, 1997, 445; N. Schneider, Sonderbetriebsvermögen – Rechtsgrundlage und Umfang, Diss., 2000; Ley, KÖSDI 2003, 13907; Tiedtke/Hils, DStZ 2004, 482; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 506 ff.; HHR/N. Schneider, § 15 EStG Anm. 700 ff.; Menkel, Sonderbetriebsvermögen bei der Überlassung von Wirtschaftsgütern, Diss., 2007; Sparrer, Sonderbetriebsvermögen – über die Legitimation zur Definition, Diss., 2007; Wenzel, NWB 2009, 1070; Prinz, DB 2010, 972; Prinz, JbFfSt. 2010/2011, 461; Neufang/Schmid, Stbg. 2012, 337; Wichmann, Stbg. 2012, 539; Neufang/Schmid, Stbg. 2013, 26. 196 Sehr krit. namentlich Knobbe-Keuk, StuW 1974, 1 (35); ferner zutreffend Jakob, Einkommensteuer4, 2008, Rz. 1108 Fn. 64. 197 Schön, DStR 1993, 185 (193); Hüttemann, DStJG 34 (2011), 297, (325); a.A. Reiß, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 177 Rz. 13. 198 Riedel, Das Umwandlungssteuerrecht der Mitunternehmerschaft – Eine Analyse der § 6 Abs. 5 EStG, § 24 UmwStG und der Realteilung anhand der Prinzipien der Umwandlungs- und Mitunternehmerbesteuerung, 2018, 175 ff. 199 Hüttemann, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 39 (54); Schön, DStR 1993, 185 ff.; Riedel, Das Umwandlungssteuerrecht der Mitunternehmerschaft, 2018, 175 ff.
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Hennrichs
6. Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 133 § 10
EStG zwar nur die Sondervergütungen. Die Betriebsvermögenseigenschaft der zur Erwirtschaftung von Sondervergütungen eingesetzten Wirtschaftsgüter folgt aber unmittelbar aus § 15 I 1 Nr. 2 EStG.200 Das Sonderbetriebsvermögen eines Gesellschafters gehört neben dem Gesamthandsvermögen für Zwecke der Zinsschranke nach § 4h EStG zum Betrieb der Mitunternehmerschaft.201 aa) Zuordnung des Wirtschaftsguts zur Vermögenssphäre des Gesellschafters: Sonderbetriebsver- 132 mögen sind zunächst alle im Alleineigentum des Gesellschafters stehenden Wirtschaftsgüter, die dem Betrieb der Personengesellschaft zu dienen bestimmt und geeignet sind. Befand sich das Wirtschaftsgut bislang im Privatvermögen des Gesellschafters, so ist es mit Beginn der Nutzung im Gewerbebetrieb der Gesellschaft in das Sonderbetriebsvermögen eingelegt (§ 6 I Nr. 5 EStG) und fortan steuerverstrickt. Damit wird der Mitunternehmer im Hinblick auf den Umfang des Betriebsvermögens dem Einzelunternehmer gleichgestellt, der betrieblich genutzte Wirtschaftsgüter grds. nicht als Privatvermögen zurückbehalten kann202. Eine Gleichbehandlung mit Kapitalgesellschaften und ihren Anteilseignern ist wegen des Dualismus der Unternehmensbesteuerung allerdings nicht gegeben (Rz. 1 ff.)203 Überlässt ein Mitunternehmer der Personengesellschaft immaterielle Wirtschaftsgüter zur Nutzung, so sind sie in seiner Sonderbilanz zu aktivieren; § 5 II EStG steht nicht entgegen, weil das fragliche Wirtschaftsgut in das Sonderbetriebsvermögen eingelegt wird (s.o.) und die Vorschriften über die Einlage dem § 5 II EStG vorgehen204. Die Rspr. bezieht in das Sonderbetriebsvermögen aber auch zum Eigenbetrieb des Gesellschafters ge- 133 hörende Wirtschaftsgüter ein, wenn diese der Gesellschaft zur Nutzung überlassen werden. Demnach soll in den Fällen der Bilanzierungskonkurrenz205 zwischen Eigenbetriebsvermögen (§ 15 I 1 Nr. 1 EStG) und Sonderbetriebsvermögen (§ 15 I 1 Nr. 2 EStG) Letzteres den Vorrang haben206. Dem ist nicht zu folgen207. Vielmehr ist § 15 I 1 Nr. 2 EStG entspr. seinem Wortlaut und Gesetzeszweck allein eine Qualifikationsnorm, keine Zuordnungsvorschrift. Auch teleologisch ist eine ausdehnende Interpretation im Sinne einer Zuordnungsnorm nicht gerechtfertigt. Nach Aufgabe der Bilanzbündeltheorie (Rz. 11) und vor dem Hintergrund einer auch steuerlich grds. anzuerkennenden Trennung der Gesellschafts200 Zu Leistungen zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern bei vermögensverwaltenden Personengesellschaften, s. Reiß, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 177 Rz. 15; BFH v. 17.12.2008 – XI R 25/08, BFH/NV 2009, 748; v. 25.5.2011 – IX R 22/10, BFH/NV 2012, 14 (Finanzierungsaufwand für Beteiligung an Immobilienfonds). 201 BMF v. 4.7.2008, BStBl. I 2008, 718 Rz. 6; Schmidt/Loschelder36, § 4h EStG Rz. 8; zur Ermittlung des steuerlichen EBITDA bei mehrstöckigen Personengesellschaften FG Köln v. 19.12.2013 – 10 K 1916/12, EFG 2013, 421 (dazu Rev. unter IV R 4/14) entgegen BMF v. 4.7.2008, BStBl. I 2008, 718 Rz. 42. 202 BFH v. 3.5.1993 – GrS 3/92, BStBl. II 1993, 616 (622). 203 Reiß, FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 177 Rz. 14. 204 Kahle, FR 2012, 109 (112 f.), m.w.N. 205 Vgl. dazu insb. Bordewin, DStZ 1997, 98; Bürkle/Knebel, DStR 1998, 1067; Reiß, DStR 1998, 1887; N. Schneider, Sonderbetriebsvermögen – Rechtsgrundlage und Umfang, Diss., 2000, 54 f.; Hiller, StWa 2003, 215; M. Klein, NWB 2003 F. 17, 1727; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 534 ff.; Rättke, StuB 2006, 22; Söffing, DB 2007, 1994; Kahle, FR 2012, 109 (115 f.). 206 BFH v. 27.8.1997 – XI R 72/96, BStBl. II 1979, 750 (753 f.); v. 18.5.1983 – I R 5/82, BStBl. II 1983, 771 (773); v. 6.10.1987 – VIII R 137/81, 1988, 679 (680); v. 28.10.1999 – VIII R 41/98, BStBl. II 2000, 339 (340); v. 18.8.2005 – IV R 59/04, BStBl. II 2005, 830 (832). 207 Wie hier und grundl. Knobbe-Keuk, StuW 1979, 30 f.; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 448 ff.; im Weiteren Bordewin, DStR 1997, 98; Döllerer, DStZ/A 1974, 211 (216, 218); Groh, DStZ 1996, 673 (675 f.); Hallerbach, Die Personengesellschaft im Einkommensteuerrecht, Diss., 1999, 167 ff., 169; Neu, DStR 1996, 1757 (1759); L. Schmidt, FS Haas, 1996, 321 (331); Söffing, DB 2007, 1994; HHR/Tiede, § 15 EStG Anm. 531; Woerner, DStZ/A 1977, 299 (308); dagegen Kempermann, FS Flick, 1997, 445 (449 f.); Pinkernell, Einkünftezurechnung, Diss., 2001, 200 f. Gegen die Verallgemeinerung der Subsidiaritätstheorie BFH v. 24.3.1999 – I R 114/97, BStBl. II 2000, 399 (402); v. 7.12.2000 – III R 35/98, 2001, 316 (319).
Hennrichs 715
§ 10 Rz. 134
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
sphäre von der Sphäre des Gesellschafters (Personengesellschaft als „Steuerrechtssubjekt bei der Feststellung der Einkunftsart und der Einkünfteermittlung“ [Rz. 5, 12, 14]) spricht alles dafür, dem Eigenbetrieb des Gesellschafters den Vorrang einzuräumen208. Die abweichende Zuordnung zum Sonderbetrieb ist ein Rückfall in altes Bilanzbündeldenken. Sinn und Zweck des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG ist es, zu verhindern, dass Leistungen missbräuchlich den gewerblichen Einkünften entzogen werden. Dieses Risiko besteht aber bei ohnehin dem Betriebsvermögen zugerechneten Wirtschaftsgütern nicht, so dass es einer Zurechnung zum Sonderbetriebsvermögen hier zur Verwirklichung des Telos der Norm nicht bedarf (sog. Subsidiaritätstheorie). 134 In den Fällen der doppelstöckigen Personengesellschaft (s. auch Rz. 143) erfolgt die Zurechnung der vermieteten Wirtschaftsgüter nach h.M. folgerichtig zum Sonderbetriebsvermögen bei der nutzenden Untergesellschaft209. Dies resultiert aus der Gleichstellung von mittelbar und unmittelbar beteiligten Gesellschaftern gem. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 2 EStG. 135 Die Frage der Zuordnung von Wirtschaftsgütern bei Bilanzierungskonkurrenz stellt sich nicht nur im
Fall von vertikalen Nutzungsüberlassungen (vom Gesellschafter an die Gesellschaft, Rz. 133, oder im Fall einer doppelstöckigen Personengesellschaft, mittelbare vertikale Ebene, Rz. 134), sondern auch im Fall der Überlassung von Wirtschaftsgütern zwischen Schwesterpersonengesellschaften210 (horizontale Richtung), d.h. Personengesellschaften mit ganz oder teilweise identischem Gesellschafterkreis. Sind beide Schwesterpersonengesellschaften gewerblich tätig (oder gewerblich geprägt), werden die Wirtschaftsgüter (abweichend von Rz. 133 f.) dem (Eigen-)Betriebsvermögen der vermietenden Gesellschaft zugerechnet211. Ebenso entscheidet die Rspr. bei der mitunternehmerischen Betriebsaufspaltung (s. hierzu § 13 Rz. 80).212 Nur bei Vermietung durch eine nicht gewerbliche Schwestergesellschaft werden die Wirtschaftsgüter dem Sonderbetriebsvermögen der mietenden Gesellschaft zugeordnet. 136 Die Ungleichbehandlung der Fälle (Vorrang des Sonderbetriebsvermögens bei unmittelbarer oder mittelbarer vertikaler Nutzungsüberlassung, Rz. 133 f.; Vorrang des Eigenbetriebsvermögens bei horizontaler Nutzungsüberlassung, Rz. 135) lässt sich konstruktiv zwar unter Hinweis auf den Wortlaut des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG begründen. Denn bei Nutzungsüberlassung von einer Schwestergesellschaft an eine andere Schwestergesellschaft handelt es sich um Vermögen der Gesellschaft und nicht des Gesellschafters, so dass § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG dem Wortlaut nach nicht einschlägig ist213. Materiell und unter dem As208 Zutreffend Knobbe-Keuk, StuW 1979, 30 (31), m.w.N. und unter Hinweis darauf, dass das Schrifttum nach Aufgabe der Bilanzbündeltheorie von dieser Subsidiaritätsthese auch beinahe allgemein „als selbstverständlich“ ausgegangen ist; Knobbe-Keuk, DStR 1980, 423 (426). 209 BFH v. 24.3.1999 – I R 114/97, BStBl. II 2000, 399 (402); v. 7.12.2000 – III R 35/98, BStBl. II 2001, 316 (319 f.). 210 Lit.: Groh, DStZ 1996, 673; Brandenberg, FR 1997, 87; Brandenberg, DB 1998, 2488; Meyer/Ball, FR 1998, 1075; Söffing, BB 1998, 1973; Strahl, KÖSDI 1998, 11533; Kroschel/Wellisch, DStZ 1999, 167; Neu, INF 1999, 492 u. 522; Poll, DStR 1999, 477; Pott/Rasche, DStZ 1999, 127; Kloster/Kloster, GmbHR 2000, 111; N. Schneider, Sonderbetriebsvermögen – Rechtsgrundlage und Umfang, Diss., 2000, 216 ff.; Werner, Einkommensteuerrechtliche Zurechnungen bei mittelbaren Beteiligungen an Personengesellschaften, Diss., 2003, 89 ff.; Korn, KÖSDI 2007, 15711; Kamps/Stenert, FR 2015, 1058. 211 BFH v. 16.6.1994 – IV R 48/92, BStBl. II 1996, 82; v. 22.11.1994 – VIII R 63/93, BStBl. II 1996, 93; 23.4.1996 – VIII R 13/95, BStBl. II 1998, 325 (326); v. 26.11.1996 – VIII R 42/94, BStBl. II 1998, 328 (atypisch stille Gesellschaft); v. 24.11.1998 – VIII R 61/97, BStBl. II 1999, 483; v. 9.10.2008 – IX R 72/07, BStBl. II 2009, 231; NWB Praxishdb. BilStR/Kahle2, Rz. 1538 f. 212 BFH v. 6.10.1987 – VIII R 137/84, BStBl. II 1988, 679; v. 18.8.2005 – IV R 59/04, BStBl. II 2005, 830; v. 30.8.2007 – IV R 50/05, BStBl. II 2008, 129; v. 10.5.2012 – IV R 34/09, BStBl. II 2013, 471. – Nach BFH v. 22.9.2011 – IV R 33/08, BStBl. II 2012, 10 und BMF v. 18.2.2013, BStBl. II I 2013, 197 hat für Zwecke des § 4 IVa EStG eine geänderte betriebsvermögensmäßige Zuordnung eines Wirtschaftsguts des Anlagevermögens während des Bestehens einer mitunternehmerischen Betriebsaufspaltung weder eine Entnahme beim abgebenden Betrieb noch eine Einlage beim aufnehmenden Betrieb zur Folge, wenn der Vorgang zu Buchwerten erfolgt (betriebsbezogene Auslegung des § 4 IVa EStG). 213 Hey in 20. Aufl., § 18 Rz. 70; Märkle, DStZ 1997, 233 (248).
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6. Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 137 § 10
pekt der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bleibt aber dennoch ein gehöriges Unbehagen, denn bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise liegen die verschiedenen Fälle doch sehr nah beieinander. Was der materielle (Gerechtigkeits-)Grund sein soll, die Nutzungsüberlassung zwischen Schwesterpersonengesellschaften steuerrechtlich ganz anders zu behandeln als die vom Gesellschafter an die Gesellschaft, bleibt offen214. Die von der Rspr. befürwortete Differenzierung beeinträchtigt außerdem die Finanzierungsfreiheit. Denn es entstehen steuerlich induzierte Anreize zur Änderung der relevanten Finanzierungsstruktur im Konzern (bspw. durch Einschaltung einer Schwestergesellschaft als Zahlstelle für einen Cashpool statt der Muttergesellschaft). Das Steuerrecht sollte aber entscheidungs- und vor allem finanzierungsneutral wirken, also die Wahl zwischen verschiedenen Finanzierungsalternativen nicht verzerren.
bb) Betriebsvermögenseigenschaft des Wirtschaftsguts: Die Rspr. knüpft zunächst an die allgemei- 137 ne Betriebsvermögensterminologie (s. § 9 Rz. 210 ff.) an; dabei kann der Gesellschafter auch gewillkürtes Sonderbetriebsvermögen bilden215. Sodann unterscheidet die st. Rspr. des BFH216 zwei Kategorien von Sonderbetriebsvermögen: Wirtschaftsgüter, die geeignet und objektiv erkennbar bestimmt sind, dem Betrieb der Personengesellschaft zu dienen (Sonderbetriebsvermögen I), und Wirtschaftsgüter, die der Beteiligung des Mitunternehmers zu dienen bestimmt sind (Sonderbetriebsvermögen II). Maßgeblich ist der Veranlassungszusammenhang217. Der BFH rechnet zum Sonderbetriebsvermögen II alle Wirtschaftsgüter, die der Mitunternehmer zur Begründung oder Stärkung seiner Beteiligung einsetzt, u.a. auch Beteiligungen an Kapitalgesellschaften mit der Folge, dass Ausschüttungen als Sonderbetriebseinnahmen zu behandeln sind218. Typischer Fall in der Rspr. sind die Anteile eines Kommanditisten an der Komplementär-GmbH bei einer GmbH & Co. KG, wenn die GmbH keinen wesentlichen eigenen Geschäftsbetrieb führt, sondern allein mit der Geschäftsführung der KG beauftragt ist. Über die Einflussnahme auf die GmbH könne der Kommanditist dann indirekt auch die KG beeinflussen, so dass die Anteile an der GmbH seine Beteiligung an der KG zumindest stärken219. Ausgenom214 Ebenso L. Schmidt, FS Haas, 1996, 321 (331); ferner Neu, DStR 1996, 1757 (1759); mit Recht krit. auch Groh, DStZ 1996, 673 (675); Pinkernell, Einkünftezurechnung, Diss., 2001, 202; Lademann/Bünning/Kaligin/Naujok, § 15 EStG Rz. 580; HHR/Tiede, § 15 EStG Anm. 532. 215 S. BFH v. 23.7.1975 – I R 210/73, BStBl. II 1976, 180; v. 21.10.1976 – IV R 71/73, BStBl. II 1977, 150; v. 5.12.1979 – I R 184/76, BStBl. II 1980, 119; v. 23.10.1990 – VIII R 142/89, BStBl. II 1991, 401; v. 7.4.1992 – VIII R 86/87, BStBl. II 1993, 21; v. 7.7.1992 – VIII R 2/87, BStBl. II 1993, 328 (330 f.); v. 5.9.2012 – X B 129/11, BFH/NV 2013, 37; Beck’sches Hdb. Personengesellschaften/Friedrich4, § 6 Rz. 88; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 527 ff.; krit. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 445 f.; Schön, DStR 1993, 185 (187). 216 BFH v. 24.9.1976 – I R 149/74, BStBl. II 1977, 69; v. 5.4.1979 – IV R 48/77, BStBl. II 1979, 554; v. 11.10.1979 – IV R 123/76, BStBl. II 1980, 40; v. 12.11.1985 – VIII R 286/81, BStBl. II 1986, 55; v. 6.5.1986 – VIII R 160/85, BStBl. II 1986, 838; v. 13.9.1988 – VIII R 236/81, BStBl. II 1989, 37; v. 6.7.1989 – IV R 62/86, BStBl. II 1989, 890; v. 31.10.1989 – VIII R 374/83, BStBl. II 1990, 677 (678); v. 19.2.1991 – VIII R 65/89, BStBl. II 1991, 789 (790); v. 7.7.1992 – VIII R 2/87, BStBl. II 1993, 328 (329); v. 3.3.1998 – VIII R 66/96, BStBl. II 1998, 383 (385); v. 27.6.2006 – VIII R 31/04, BStBl. II 2006, 874 (876). 217 So auch für die Zuordnung von Verbindlichkeiten zum passiven Sonderbetriebsvermögen II BFH v. 27.6.2006 – VIII R 31/04, BStBl. II 2006, 874; dazu Köplin, StuB 2007, 31; Mückl, DStR 2008, 2137; s. auch BFH v. 27.4.2017 – IV B 53/16, BFH/NV 2017, 1032. 218 Zum Sonderbetriebsvermögen II u.a. BFH v. 10.11.1994 – IV R 15/93, BStBl. II 1995, 452; v. 3.3.1998 – VIII R 66/96, BStBl. II 1998, 383; v. 15.10.1998 – IV R 18/98, BStBl. II 1999, 286; v. 28.8.2003 – IV R 46/02, BStBl. II 2004, 216; v. 3.4.2008 – IV R 54/04, BStBl. II 2008, 742; v. 23.2.2012 – IV R 13/08, BFH/NV 2012, 1112; Betriebsaufspaltung: BFH v. 23.9.1998 – XI R 72/97, BStBl. II 1999, 281; v. 13.10.1998 – VIII R 46/95, BStBl. II 1999, 357; v. 10.6.1999 – IV R 21/98, BStBl. II 1999, 715; v. 25.11.2004 – IV R 7/03, BFH/NV 2005, 610; Walter/Stümper, GmbHR 2006, 1187; mittelbare Grundstücksüberlassung: BFH v. 18.12.2001 – VIII R 27/00, BStBl. II 2002, 733; v. 24.2.2005 – IV R 23/03, BStBl. II 2005, 578, m. Anm. Weber-Grellet, StuB 2005, 805; Schulze zur Wiesche, DStZ 2007, 602 (Beteiligungen); Kahle, FR 2012, 109 (112 f.). 219 BFH v. 15.11.1967 – IV R 139/67, BStBl. II 1968, 152; v. 23.1.2001 – VIII R 12/99, BStBl. II 2001, 825. Hierzu Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht20, § 6 Rz. 1179 ff.; Beck’sches Hdb. Personengesellschaften/ Friedrich4, § 6 Rz. 87; Kahle, FR 2012, 109 (113).
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§ 10 Rz. 138
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
men (also kein Sonder-BV II) sind allerdings Minderheitsbeteiligungen, die keinen Einfluss auf die Geschäftsführung der KG vermitteln (im Streitfall: Minderheitsbeteiligung von 10 % und Abstimmungen in den Angelegenheiten der Gesellschaft nach der Mehrheit der abgegebenen Stimmen)220. Wiederum zum SonderBV II gezählt wird dagegen ein Darlehen zur Finanzierung der Beteiligung221. Mit dem Begriff des Sonderbetriebsvermögens II überschreitet der BFH den Wortlaut des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG, da diese Vorschrift die Überlassung von Wirtschaftsgütern an die Gesellschaft voraussetzt222. Hinsichtlich ihrer Rechtsfolgen unterscheiden sich die beiden Kategorien des Sonderbetriebsvermögens nicht. 138 c) Sonderbetriebseinnahmen/Sonderbetriebsausgaben: Der rein steuerrechtliche Abschluss der
zweiten Stufe umfasst neben der Sonderbilanz die Sondergewinn- und -verlust-Rechnung mit den Sondererträgen und Sonderaufwendungen der Gesellschafter. Unter Anwendung der allgemeinen Gewinnermittlungsterminologie spricht man von Sonderbetriebseinnahmen und Sonderbetriebsausgaben. Sonderbetriebseinnahmen/-ausgaben sind alle Bezüge und Aufwendungen, die ihre Veranlassung in der Beteiligung an der Personengesellschaft haben223. Hieran ändert auch die Einschaltung Dritter in den Leistungsaustausch nichts224. Dabei wird die Veranlassung in Übereinstimmung mit dem Sonderbetriebsvermögen I und II abgegrenzt. Neben den in § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG ausdrücklich angesprochenen Sondervergütungen, die der Gesellschafter von der Gesellschaft bezieht, resultieren Sonderbetriebseinnahmen und -ausgaben insb. aus Wertveränderungen des Sonderbetriebsvermögens (AfA und Finanzierungsaufwendungen der Wirtschaftsgüter des Sonderbetriebsvermögens sowie Veräußerungsgewinne und -verluste). Bei dem Ansatz von Betriebseinnahmen/-ausgaben ist zu beachten, dass § 11 EStG (s. § 8 Rz. 192 ff.) unanwendbar ist; es gelten vielmehr die bilanziellen Regeln über Erträge und Aufwendungen (s. Rz. 115)225. § 11 EStG ist nur anzuwenden, wenn die Gesellschaft nicht buchführungspflichtig ist und ihren Gewinn nach Maßgabe des § 4 III EStG ermittelt. 139 Spezifiziert werden die Sonderbetriebseinnahmen durch den in § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG nor-
mierten Sondervergütungstatbestand226. Der Sondervergütungstatbestand stellt Leistungen societatis causa und Leistungen auf schuldrechtlicher Basis i.Erg. gleich. Sondervergütungen berühren die Summe der gewerblichen Einkünfte aus der Mitunternehmerschaft ebensowenig wie z.B. ein Ge220 BFH v. 16.4.2015 – IV R 1/12, BStBl. II 2015, 705. 221 Kahle, FR 2012, 109 (113). 222 Der BFH stützt sich auf § 4 I EStG: Erforderlich sei, dass „das Wirtschaftsgut unmittelbar dem Betrieb der Personengesellschaft dient“, BFH v. 3.3.1998 – VIII R 66/96, BStBl. II 1998, 383 (385). Eine ausreichende Rechtsgrundlage verneinen insb. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 444 f., u. Schön, DStR 1993, 185 (188); Söffing, DStR 2003, 1105 (1106 ff.). Ausf. zu Rechtsgrundlage und Berechtigung der verschiedenen Fallgestaltungen des Sonderbetriebsvermögens II: N. Schneider, Sonderbetriebsvermögen – Rechtsgrundlage und Umfang, Diss., 2000, 116 ff., 127 ff., 219 ff. Weitere Lit.: Schulze zur Wiesche, FR 1999, 14; Söffing, BB 2003, 616; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 517 f.; Betriebsaufspaltung: Lutterbach, DB 1999, 2332; Bock, DStZ 2000, 42; Höhmann, NWB 2003 F. 3, 12293. 223 So die st. Rspr., z.B. BFH v. 15.10.1975 – I R 16/73, BStBl. II 1976, 188; v. 5.12.1979 – I R 184/76, BStBl. II 1980, 119; v. 31.7.1985 – VIII R 261/81, BStBl. II 1986, 304; v. 9.11.1988 – I R 191/84, BStBl. II 1989, 343 (344); v. 8.4.1992 – XI R 37/88, BStBl. II 1992, 812; v. 30.8.2007 – IV R 14/06, BStBl. II 2007, 942 (943); Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 640 ff.; zur Problematik der Sondervergütungen in grenzüberschreitenden Fällen vgl. Ditz/Tcherveniachki, DB 2014, 203; Hagemann/Kahlenberg, Ubg 2013, 770; Kramer, IStR 2014, 21; Pohl, DB 2013, 1572. 224 Zu mittelbaren Leistungsbeziehungen BFH v. 7.12.2004 – VIII R 58/02, BStBl. II 2005, 390; Gschwendtner, DStR 2005, 771; Jachmann, DStR 2005, 2019. 225 Vgl. BFH v. 11.12.1986 – IV R 222/84, BStBl. II 1987, 553; v. 21.6.1989 – X R 14/86, BStBl. II 1989, 881; Groh, DB 1987, 1006 (1012); Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 641. 226 Dazu Reuter, Sonderbetriebseinkünfte im Verfahren der einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellung, Diss., 1995; KSM/Oesens/Blischke, § 15 EStG Rz. F 7 ff.; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 560 ff.; Jachmann, DStR 2005, 2021; zur Berücksichtigung von Sondervergütungen im Rahmen der Zinsschranke (§ 4h EStG) BMF v. 4.7.2008, BStBl. I 2008, 718 Rz. 19.
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6. Ermittlung der Einkünfte von Mitunternehmern
Rz. 141 § 10
winnvorab (Rz. 103). Die Vorschrift dient damit der Gleichstellung von Mitunternehmer und Einzelunternehmer, weil der Einzelunternehmer keine Verträge mit sich selbst schließen kann, deshalb u.a. auch keinen Unternehmerlohn abziehen kann227. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG erfasst nur Vergütungen für Dienste und Nutzungsüberlassungen so- 140 wie Darlehen. Der Terminologie des Sondervergütungstatbestands liegen zwei kausalrechtliche Abgrenzungskriterien zugrunde: Zum einen beruhen Sondervergütungen i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG auf besonderen Vertragsbeziehungen zwischen der Gesellschaft und einzelnen Gesellschaftern228 und unterscheiden sich dadurch vom Gewinnanteil des Gesellschafters229. Zum anderen muss die von der Gesellschaft vergütete Leistung bei wirtschaftlicher Betrachtung als Beitrag zur Erreichung oder Verwirklichung des Gesellschaftszwecks anzusehen sein (sog. Beitragstheorie)230; Leistung und Mitunternehmerschaft dürfen nicht nur zufällig und vorübergehend aufeinander treffen231. Forderungen im Rahmen des laufenden Geschäftsbetriebs, namentlich solche aus Lieferungs- und Leistungsbeziehungen zwischen Gesellschafter und Gesellschaft zu fremdüblichen Konditionen, werden daher grds. nicht erfasst232. Auch Entgelte für Veräußerungsgeschäfte sind keine Sondervergütungen i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG233. Der Begriff des Darlehens i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG wird von der h.M. weit ausgelegt. Hierunter 141 sollen nicht nur Gelddarlehen i.S.d. § 488 BGB fallen, sondern jede Überlassung von Kapital zur Nutzung234. Bspw. soll es nach h.M. zu einer steuerrechtlichen Umqualifizierung von Forderungen auf rückständigen Arbeitslohn oder aus Lieferungs- und Leistungsbeziehungen kommen können, wenn diese der Gesellschaft „wie“ ein Darlehen überlassen werden. Hierfür wird es nicht für erforderlich gehalten, dass zwischen der Gesellschaft und dem Gesellschafter ausdrücklich oder stillschweigend ein Darlehen im zivilrechtlichen Sinne vereinbart wird (zivilrechtliche Schuldumschaffung)235. Ausreichend sei bereits, wenn eine andere Forderung gesellschaftlich veranlasst gestundet wird236.
227 BFH v. 28.10.1999 – VIII R 41/98, BStBl. II 2000, 339 (341). 228 So BFH v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. II 1991, 691. 229 Dazu BFH v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. II 1991, 691 (698); v. 13.10.1998 – VIII R 4/98, BStBl. II 1999, 284 (Abgrenzung zum Gewinnvorab); v. 24.1.2008 – IV R 87/06, BStBl. II 2008, 428; KSM/Desens/Blischke, § 15 EStG Rz. F 282 S. aber auch BFH v. 14.12.2000 – IV R 56/04, BStBl. II 2001, 238; v. 22.6.2006 – IV R 56/04, BStBl. II 2006, 838, wonach Sonderbetriebseinnahmen auch bei Veruntreuung von Gesellschaftsmitteln durch einen Mitunternehmer vorliegen sollen (zw.); zur Abgrenzung von Sondereinnahme und Ergebnisvorab bei vermögensverwaltenden Gesellschaften FG Berlin-Brandenburg, v. 15.1.2013 – 6 K 6188/08, EFG 2013, 928, dazu Wichmann, Stbg. 2014, 1. 230 Grundl. Woerner, BB 1974, 592; Woerner, BB 1975, 645; Woerner, DStZ/A 1977, 299; Woerner, DStZ 1980, 203; Woerner, StbKongrRep. 1982, 193; s. ferner z.B. Kahle, FR 2012, 109 (114). Auf der Grundlage der Beitragstheorie judiziert die st. Rspr.: BFH v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. II 1991, 691 (701); v. 23.2.1979 – I R 163/77, BStBl. II 1979, 757; v. 23.5.1979 – I R 56/77, BStBl. II 1979, 763; v. 8.12.1982 – I R 9/79, BStBl. II 1983, 570 (571); v. 6.7.1999 – VIII R 46/94, BStBl. II 1999, 720 (Leistungen über eine zwischengeschaltete Schwester-Kapitalgesellschaft); v. 7.12.2004 – VIII R 58/02, BStBl. II 2005, 390 (Leistungen über die Komplementär-GmbH); Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 562; Höck, Stbg. 2006, 494., ablehnend: KSM/Desens/Blischke § 15 EStG Rz. F 283 ff. 231 BFH v. 24.1.1980 – IV R 154/77, BStBl. II 1980, 269 (271). 232 BFH v. 6.9.1960 – I R 29/60 U, BStBl. III 1960, 443; v. 18.9.1969 – IV R 338/64, BStBl. II 1970, 43; besonders deutlich BFH v. 8.1.1975 – I R 142/72, BStBl. II 1975, 437; aus der Lit. z.B. Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 535, 549, 562, 568; Jakob, Einkommensteuer4, 2008, Rz. 1112; Frotscher/Geurts/Kauffmann, § 15 EStG Rz. 452; HHR/N. Schneider, § 15 EStG Anm. 728. 233 BFH v. 28.10.1999 – VIII R 41/98, BStBl. II 2000, 339 (340). 234 Vgl. NWB Praxishdb. BilStR/Kahle2, Rz. 1520; Blümich/Bode, § 15 EStG Anm. 526; HHR/Tiede, § 15 EStG Anm. 541; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 594. 235 Vgl. BFH v. 18.12.1991 – XI R 42/88, BStBl. II 1992, 585. 236 BFH v. 18.12.1991 – XI R 42/88, BStBl. II 1992, 585; s. auch BFH v. 18.7.1979 – I R 38/76, BStBl. II 1979, 673; Blümich/Bode, § 15 EStG Rz. 526; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 594.
Hennrichs 719
§ 10 Rz. 142
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
142 Dem ist nicht zuzustimmen. Das Gesetz spricht von „Hingabe“ von Darlehen. Ein „Hingeben“ setzt
begrifflich eine aktive Kapitalüberlassung voraus. Dem kann das passive Stehenlassen von anderen Geldforderungen oder gar eine bloße Stundung nicht gleichgestellt werden. Auch teleologisch ist es nicht gerechtfertigt, eine einfache Stundung von Forderungen beispielsweise aus Lieferungs- und Leistungsbeziehungen als „Darlehen“ i.S.d. § 15 I 1 Nr. 1 EStG zu erfassen. Denn es kann nicht unterstellt werden, dass die Stundung stets ein Beitrag zur Förderung des Gesellschaftszweckes wäre. Stundungen und sogar Forderungsverzichte gegen Besserungsschein sind auch im gewöhnlichen Geschäftsverkehr mit fremden Dritten keineswegs unüblich. Der o.g. Beitragsgedanke (Rz. 140) trifft auf solche Gestaltungen nicht zu. Jedenfalls bei nur kurzfristiger Überlassung von Geld oder Stundung sollte kein Darlehen i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG angenommen werden237. Wollte man bei jeder auch nur kurzfristigen Überlassung von Kapital oder anderen Wirtschaftsgütern bereits Sonderbetriebsvermögen annehmen, so würde dies zu einem bilanziellen Hin und Her nötigen. Das Wirtschaftsgut (beispielsweise ein nur kurzfristig vermietetes Grundstück) würde u.U. in kurzen Abständen je nach Art seiner vorübergehenden Nutzung zwischen Betriebsvermögen und Privatvermögen mit der Folge etwaiger Gewinnverwirklichung schwanken238. Das wäre weder praktikabel noch sachgerecht. 143 Bei mehrstöckigen Personengesellschaften ordnet § 15 I 1 Nr. 2 Satz 2 EStG an, dass auch der mit-
telbar über eine oder mehrere Personengesellschaften beteiligte Gesellschafter der Obergesellschaft für unmittelbare Leistungen an die Untergesellschaft Sondervergütungen bezieht, indem der mittelbar beteiligte dem unmittelbar beteiligten Gesellschafter gleichgestellt wird, wenn er durch eine ununterbrochene Mitunternehmerkette mit der die Vergütung leistenden Gesellschaft verbunden ist. Die durch StÄndG 1992 als Reaktion auf BFH v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. II 1991, 691 (698) eingeführte Regelung hat zur Folge239, dass die an den Gesellschafter der Obergesellschaft geleisteten Sondervergütungen der Untergesellschaft im Gesamtgewinn der Untergesellschaft zu erfassen sind. Wirtschaftsgüter, die der Gesellschafter der Obergesellschaft der Untergesellschaft überlässt, gehören zum Sonderbetriebsvermögen I der Untergesellschaft; ebenso sind die von der Obergesellschaft selbst überlassenen Wirtschaftsgüter als Sonderbetriebsvermögen I der Untergesellschaft zu aktivieren (s. Rz. 134, 137). 144 d) Die bereits in Rz. 108 behandelte korrespondierende Bilanzierung vermittelt zwischen der recht-
lichen Selbständigkeit der Personengesellschaft und dem Ziel der Gleichstellung mit dem Einzelunternehmer. Zwar gelten sowohl in der Gesellschafts- als auch in der Sonderbilanz grds. die materiellen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung. Um zu erreichen, dass Sondervergütungen zeitund betragsgleich in Gesellschafts- und Sonderbilanz erfasst werden, werden die Folgen der Passivierung in der Gesellschaftsbilanz jedoch durch einen entspr. Ansatz in der Sonderbilanz wieder neutralisiert, wenn mit der Belastung der Gesellschaft ein entspr. Vorteil des Gesellschafters korrespondiert. Die Anwendung der handelsrechtlichen GoB hat in der rein steuerrechtlichen Sonderbilanz im Hinblick auf die Gleichbehandlung von Einzelunternehmer und Mitunternehmer zurückzutreten. Zeitliche Verschiebungen werden insb. vermieden, indem das Imparitätsprinzip (s. § 9 Rz. 80) in der Sonderbilanz insoweit nicht zur Anwendung kommt. 237 Insoweit wie hier Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 594; zust. Beck’scher Bilanzkomm./Kozikowski/ Staudacher, § 247 HGB Rz. 771; s. auch N. Schneider, Sonderbetriebsvermögen – Rechtsgrundlage und Umfang, Diss., 2000, 214 ff. 238 Vgl. Raupach, JbFSt. 1975/76, 222 (225). 239 Zu den Rechtsfolgen des § 15 I 1 Nr. 2 Satz 2 EStG Seer, StuW 1992, 35; Sarrazin, FS L. Schmidt, 1993, 393; Ley, KÖSDI 1996, 10923; Ley, KÖSDI 2010, 17148; Seitz, StbJb. 2009/2010, 107; Söhn, StuW 1999, 328 (einheitliche u. gesonderte Feststellungen); Werner, Einkommensteuerrechtliche Zurechnungen bei mittelbaren Beteiligungen an Personengesellschaften, Diss., 2003, 33 ff.; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 615 ff. Zur Behandlung von Tätigkeitsvergütungen an einen atypisch still Unterbeteiligten BFH v. 2.10.1997 – IV R 75/96, BStBl. II 1998, 137. Zur Behandlung von Umstrukturierungen u. Beteiligungskauf Stegemann, INF 2003, 266; L. Mayer, DB 2003, 2034; Gerhold, SteuerStud 2004, 624; Kricheldorf, Ertragsteuerliche Konsequenzen aus der Umstrukturierung doppelstöckiger Personengesellschaften, Diss., 2008.
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Hennrichs
II. Besteuerung von Sondervorgängen
Rz. 145 § 10
Beispiele: Gewährt der Gesellschafter der Gesellschaft ein Darlehen, so ist in der Gesellschaftsbilanz nach handelsrechtlichen GoB in voller Höhe eine Verbindlichkeit zu passivieren und „korrespondierend“ eine entsprechende Forderung in der Sonderbilanz des Gebers zu aktivieren; diese Forderung gehört zum Sonderbetriebsvermögen I. Mit- und Einzelunternehmer stellt die Rspr. gleich, indem sie Teilwertabschreibungen von Forderungen abweichend vom Imparitätsprinzip erst bei Beendigung der Mitunternehmerstellung zulässt240. Ebenso wenig kann der Gesellschafter in der Sonderbilanz Rückstellungen wegen drohender Inanspruchnahme aus persönlicher Haftung oder Bürgschaft zugunsten der Gesellschaft bilden241.
Für Pensionszusagen242 der Gesellschaft an Gesellschafter sind in der Gesellschaftsbilanz nach Maß- 145 gabe der §§ 5 I; 6a EStG; § 249 I 1 HGB Rückstellungen zu bilden. Korrespondierend zu diesen Passivposten sind in der Sonderbilanz des begünstigten Gesellschafters abweichend vom Realisationsprinzip Forderungen zu aktivieren (s. bereits Rz. 108)243. Nur ihm kommt der Vermögensvorteil zugute. Damit hat sich der BFH zutreffend gegen eine Verteilung des neutralisierenden Aktivpostens auf die Sonderbilanzen aller Gesellschafter ausgesprochen. Einstweilen frei.
146–149
II. Besteuerung von Sondervorgängen: Gründung, Umstrukturierungen, Veräußerungen, Erbfolge, Betriebsaufgabe und Realteilung Literatur (Auswahl): Dietel, Die Sachwertabfindung von Mitunternehmern – Ungeklärte Rechtslage bei der Abfindung mit betrieblichen Sachgesamtheiten, DStR 2009, 1352; Hageböke, Die Ausbringung eines Teilbetriebs aus einer Mitunternehmerschaft durch „Upstream“-Abspaltung, Ubg 2009, 105; Wendt, Realteilung und Ausscheiden gegen Sachwertabfindung – Vorrang des Kontinuitätsprinzips?, in FS Lang, 2010, 699; Strahl, Einbringung in Personengesellschaften, Ubg 2011, 433; Rödder/Herlinghaus/van Lishaut (Hrsg.) Umwandlungssteuergesetz2, 2013; Dornheim, Die Übertragung von Wirtschaftsgütern zwischen beteiligungsidentischen Schwesterpersonengesellschaften, Ubg 2012, 618; Rogall/Gerner, Zur Übertragung und Überführung von einzelnen Wirtschaftsgütern nach § 6 Abs. 5 EStG – Anmerkungen zum BMF-Schreiben vom 08.12.2011, Ubg 2012, 81; Schmitt/Franz, Die Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern bei Mitunternehmerschaften – ein gesetzlicher Kompromiss zwischen steuerlicher Systematik und wirtschaftlicher Vernunft, Ubg 2012, 395; Graw, Der Teilbetrieb nach dem Umwandlungssteuer-Erlass 2011, 2013; Heuermann, Einheit, Trennung oder modifiziertes Trennen?, DB 2013, 1328; Hoheisel, Neue Leitlinien bei der Umstrukturierung von Mitunternehmerschaften, StuB 2013, 98; Levedag, Einbringung und Einlage von Privatvermögen in Personengesellschaften, GmbHR 2013, 243; Levedag, Sacheinlagen in betriebliche Personengesellschaften, GmbHR 2013, 969; Strahl, Ausweitung der Einheitstheorie auf Einbringungen gegen Mischentgelt, Ubg 2013, 762; Strahl, Übertragung von Wirtschaftsgütern bei Mitunternehmerschaften – Reichweite der Aufgabe der Trennungstheorie, FR 2013, 322; Wildermuth, Die Einbringung von Betriebsvermögen in eine 240 BFH v. 16.3.2017 – IV R 1/15, BStBl. II 2017, 943; v. 5.6.2003 – IV R 36/02, BStBl. II 2003, 871 (874); Pinkernell, Einkünftezurechnung, Diss., 2001, 202 f.; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 544; Kahle, DStZ 2012, 61 (65). 241 BFH v. 12.7.1990 – IV R 37/89, BStBl. II 1991, 64 (65). 242 Dazu grds. BFH v. 2.12.1997 – VIII R 15/96, BStBl. II 2008, 174; Gschwendtner, DStZ 1998, 777; Paus, FR 1999, 121; Söffing, BB 1999, 40 u. 96; Pinkernell, Einkünftezurechnung, Diss., 2001, 202 f.; Luckey, Direktzusagen im Steuerrecht der Personengesellschaften, Diss., 2002; Lührmann, StuB 2004, 241; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 586 ff.; Schmidt/Weber-Grellet36, § 6a EStG Rz. 34; Otto, DStR 2007, 268; Fuhrmann/Demuth, DStZ 2007, 823; Ley, KÖSDI 2008, 1604 (1605); Sievert/Kardewitz, Ubg 2008, 617; Groh, BetrAV 2009, 40. 243 BFH v. 30.3.2006 – IV R 25/04, BStBl. II 2008, 171, BMF v. 29.1.2008, BStBl. I 2008, 317; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 587; Wacker, FR 2008, 801; krit. Paus, DStZ 2005, 598; Paus, FR 2007, 463; Sievert/Kardekewitz, Ubg 2008, 617 (auch zu Umsetzungsfragen); dazu ferner Fuhrmann/Demuth, WPg. 2007, 77; Lempenau/Schiller, DB 2007, 1045; Hüttemann/Klatt, NWB 2006 F. 17, 2089; Groh, DB 2008, 2391; zuvor schon Gschwendtner, DStZ 1998, 777 (781 ff.); J. Lang, FS L. Schmidt, 1993, 291 (304); Luckey, Direktzusagen im Steuerrecht der Personengesellschaften, Diss., 2002, 179 f.; Jachmann, DStR 2005, 2019 (2022); a.A. P. Fischer, FR 1991, 157 (160); Raupach, DStZ 1992, 692 (698).
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§ 10 Rz. 150
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
Personengesellschaft nach § 24 UmwStG, Ubg 2013, 234; Fuhrmann, Einbringung einer betrieblichen Sachgesamtheit gegen Mischentgelt, NZG 2014, 137; Stohn/Mirbach, Überführung und Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern nach § 6 Abs. 5 EStG, SteuerStud 2014, 143; Dornheim, Ist die Gesamtplanrechtsprechung bei betrieblichen Umstrukturierungen am Ende?, DStZ 2014, 46; Geissler, Die verbilligte Übertragung betrieblicher Sachgesamtheiten – Anwendung der Einheitstheorie bei § 16 EStG und § 24 UmwStG, FR 2014, 152; Potsch, Einschränkung der Gesamtplanrechtsprechung zu Gunsten des Steuerpflichtigen bei vorweggenommener Erbfolge, NZG 2014, 332; Oenings/Lienicke, Betriebliche Umstrukturierungen nach Einschränkung der Gesamtplan-Argumentation durch den BFH, DStR 2014, 1997; Dornheim, Teilentgeltliche Übertragungen einzelner Wirtschaftsgüter bei Mitunternehmerschaften – BFH fordert BMF zum Beitritt auf, FR 2014, 869; Wendt, Ausscheiden gegen Sachwertabfindung – die „unechte“ Realteilung der Personengesellschaft, FR 2016, 536; Kempelmann, Gesamtplan: Vom Schlagwort zu einer Dogmatik, StuW 2016, 385; Reiß, Die Realteilung, FR 2017, 458; 554; Niehus, Zur (Nicht)tauschähnlichkeit von Sacheinbringungen in Mitunternehmerschaften, StuW 2017, 27; Hubert, BFH gibt Antwort auf Sonderfragen der Realteilung, StuB 2017, 617; Rogall/Belz, Ausgewählte Fragestellungen zur Umstrukturierung von Personengesellschaften, Ubg 2017, 79; Schulze zur Wiesche, Einbringungen in eine Personengesellschaft in der neuesten Rechtsprechung des BFH, DStZ 2017, 38; Görgen, Schlusspunkt im Streit um die Realteilung – jüngste Entscheidung des IV. Senats zu Umstrukturierungen von Mitunternehmerschaften weisen den Weg in die Zukunft des Unternehmenssteuerrechts, DStZ 2017, 709; Pupeter, Der neue Realteilungserlass, DB 2017, 684; Steiner/ Ullmann, Steuerneutrale Realteilung bei Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern in das Gesamthandsvermögen einer Schwesterpersonengesellschaft, StuW 2017, 320; Heß, Neues BMF-Schreiben zur Realteilung – eine sehr zurückhaltende Annäherung an die neue BFH-Rechtsprechung, BB 2017, 363; Neu/Hamacher, Abrundung der BFH-Rechtsprechung zur Realteilung von Personengesellschaften, GmbHR 2017, 897; Levedag, Der Der Realteilungserlass vom 20.12.2016 – Anmerkungen aus Sicht der Rechtsprechung, GmbHR 2017, 113; Riedel, Das Umwandlungssteuerrecht der Mitunternehmerschaft – Eine Analyse der § 6 Abs. 5 EStG, § 24 UmwStG und der Realteilung anhand der Prinzipien der Umwandlungs- und Mitunternehmerbesteuerung, 2018. BMF v. 20.12.2016 – IV C 6 - S 2242/07/10002:004, BStBl. I 2017, 36.
1. Überblick 150 Die Umstrukturierung bei Personengesellschaften244 (insb. Aufnahme und Ausscheiden von Ge-
sellschaftern, Einbringung von Betrieben, Teilbetrieben und Mitunternehmeranteilen, Überführung von Einzelwirtschaftsgütern und Auflösung der Gesellschaft) wirft ertragsteuerrechtlich insbes. die Frage nach der Behandlung der stillen Reserven in den Wirtschaftsgütern auf. Einschlägig sind die §§ 6 III, V; 16 EStG sowie § 24 UmwStG. Diesen Vorschriften liegt freilich kein in sich stimmiges System zugrunde245. Tatbestandlich wird unterschieden zwischen entgeltlichen, unentgeltlichen und teilentgeltlichen Vorgängen sowie zwischen Übertragungen von einzelnen Wirtschaftsgütern und von Sachgesamtheiten. Hinsichtlich der Rechtsfolgen gewährt das Gesetz in einer Reihe von Fällen einen Besteuerungsaufschub und toleriert dabei z.T. auch den Übergang stiller Reserven auf andere Steuersubjekte, um wirtschaftlich sinnvolle Umstrukturierungen zu ermöglichen; dies trägt dem Gedanken eigentumsschonender Besteuerung Rechnung (s. § 9 Rz. 421 u. § 3 Rz. 189 ff.). In anderen Fällen (insbes. bei Betriebsveräußerung i.S. des § 16 I EStG) kommt es dagegen ganz oder teilweise zur Aufdeckung der stillen Reserven, wobei die Anwendung der Tarifermäßigung des § 34 EStG freilich Progressionsnachteile auf Grund der Zusammenballung der Einkünfte wieder abmildert (s. § 8 Rz. 813). Die häufigen Gesetzesänderungen der letzten Jahre, die umfangreiche Rspr. sowie die
244 Dazu grundl. Herlinghaus, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 67 ff.; Riedel, Das Umwandlungssteuerrecht der Mitunternehmerschaft – Eine Analyse der § 6 Abs. 5 EStG, § 24 UmwStG und der Realteilung anhand der Prinzipien der Umwandlungs- und Mitunternehmerbesteuerung, 2018; Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 375 („beispiellose […] Prinzipienlosigkeit“); je m.w.N. 245 Herlinghaus, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 67 (94); Riedel, Das Umwandlungssteuerrecht der Mitunternehmerschaft, 2018, 364.
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Hennrichs
1. Überblick
Rz. 150 § 10
Erlasse der FinVerw. zur Besteuerung von Sondervorgängen – insb. zum sog. steuerschädlichen Gesamtplan (s. § 5 Rz. 123)246 – machen die Rechtslage noch unübersichtlicher247. Tatbestandlich betreffen §§ 6 III, 16 EStG und § 24 UmwStG Fälle der Umstrukturierung von Sachgesamtheiten. – § 6 III EStG setzt dabei eine unentgeltliche Übertragung voraus (d.h. ohne Gegenleistung, insbes. aufgrund Schenkung, Erbfall und vorweggenommener Erbfolge)248. – § 16 EStG erfasst demgegenüber den Fall der entgeltlichen Veräußerung des (Teil-)Betriebs oder des MU-Anteils, die Betriebsaufgabe und die Realteilung (gleichsam die „Ausbringung“). – § 24 UmwStG betrifft schließlich die Einbringung von Sachgesamtheiten auf gesellschaftsrechtlicher Grundlage (causa societatis), bei der der Einbringende Mitunternehmer wird. Eine solche Einbringung gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten wird steuerlich ebenfalls als entgeltlich (weil tauschähnlich) beurteilt. Nach den allgemeinen Regeln führt dieser Vorgang auf der Seite des einbringenden Gesellschafters zu einer (ggf. gewinnrealisierenden) Veräußerung und auf der Seite der übernehmenden Gesellschaft zu einem Anschaffungsgeschäft249. Für die Einbringung von Sachgesamtheiten erlaubt § 24 UmwStG gleichwohl ausnahmsweise die Buchwertfortführung, wenn Steuerverstrickung gewahrt ist, um wirtschaftlich sinnvolle Umstrukturierungen nicht unnötig steuerlich zu behindern. Bei teilentgeltlichen Veräußerungen von Sachgesamtheiten (Veräußerung von Betrieben ect. zu einem unangemessen niedrigen Preis) konkurrieren § 16 I und § 6 III EStG miteinander. Die Rspr. löst diese Fälle nach der sog. Einheitstheorie (Rz. 154, 186):250 Hiernach ist der Vorgang insgesamt entweder als entgeltlich oder unentgeltlich zu qualifizieren, je nachdem, ob die erhaltene Gegenleistung die Buchwerte der übertragenen Wirtschaftsgüter übersteigt (dann entgeltlich und § 16 EStG) oder nicht (dann § 6 III EStG)251. Entsteht hiernach kein Veräußerungsgewinn i.S. des § 16 EStG, werden die stillen Reserven nicht realisiert. Das lässt sich damit rechtfertigen, dass bei der Veräußerung einer betrieblichen Einheit alle wesentlichen Betriebsgrundlagen an einen Erwerber übertragen werden und die betriebliche Einheit erhalten bleibt, womit die Verstrickung der stillen Reserven gewährleistet ist.252
Die § 6 IV–VI EStG regeln die Übertragung einzelner Wirtschaftsgüter. – § 6 IV EStG betrifft dabei die unentgeltliche Übertragung in das Betriebsvermögen eines anderen Stpfl. – § 6 V 1, 2 EStG regelt Fälle der Überführung von einzelnen Wirtschaftsgütern zwischen verschiedenen Betriebsvermögen desselben Stpfl. – § 6 V 3 EStG schließlich erfasst Übertragungen einzelner Wirtschaftsgüter zwischen den verschiedenen Betriebsvermögenssphären einer Mitunternehmerschaft; dabei ist sogar der Übergang stiller Reserven auf andere Gesellschafter der Mitunternehmerschaft und damit auf andere Steuersub-
246 Dazu BFH v. 16.12.2015 – IV R 8/12, BFHE 252, 141; v. 30.3.2017 – IV R 11/15, BFHE 257, 324; zur Entwicklung der Gesamtplanrechtsprechung Potsch, NZG 2014, 332; Kempelmann, StuW 2016, 385. 247 Zur Rechtsentwicklung ausf. HHR/Wendt, Jahresband 2002, § 6 Anm. J 01–1 ff. 248 Kirchhof/Schindler17, § 6 EStG Rz. 195. 249 Vgl. BFH v. 24.1.2008 – IV R 37/06, BStBl. II 2011, 617; v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464. 250 BFH v. 10.7.1986 – IV R 12/81, BStBl. II 1986, 811; v. 18.9.2013 – X R 42/10, BFH/NV 2013, 2006; v. 22.10.2013 – X R 14/11, BStBl. II 2014, 158. 251 Kirchhof/Schindler17, § 6 EStG Rz. 196. 252 BFH v. 10.7.1986 – IV R 12/86, BStBl. II 1986, 811; v. 18.9.2013 – X R 42/10, BFH/NV 2013, 2006; v. 22.10.2013 – X R 14/11, BStBl. II 2014, 158; ähnlich auch BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 zur Rechtfertigung des Übergangs stiller Reserven auf ein anderes Steuersubjekt im Gegensatz zu Verlustvorträgen i.S.d. § 10d EStG.
Hennrichs 723
§ 10 Rz. 151
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
jekte möglich. In den Fällen des § 6 V 3 EStG werden außerdem die unentgeltliche Übertragung und die Übertragung gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten gleichgestellt. § 6 V EStG betrifft insgesamt also nur die Übertragung/Überführung von Einzelwirtschaftsgütern, die zu einem Betriebsvermögen (Sonder-BV) gehören, nicht die Übertragung aus Privatvermögen (dazu Rz. 151). Ebenfalls nicht von § 6 V 3 EStG erfasst ist die entgeltliche Veräußerungen zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern im Wege von fremdüblichen Drittgeschäften. Diese sind normale gewinnrealisierende Geschäftsvorfälle253.
2. Gründung 2.1 Sacheinlage einzelner Wirtschaftsgüter 151 Zur Finanzierung einer Personengesellschaft können Bareinlagen und/oder Sacheinlagen im Gesell-
schaftsvertrag vereinbart werden. Bei Bareinlagen erhöht sich das Kapitalkonto des Gesellschafters in Höhe des Nennbetrags. Demgegenüber ist bei Sacheinlagen einzelner Wirtschaftsgüter (zu Sachgesamtheiten s. Rz. 152 ff.) danach zu unterscheiden, ob die eingebrachten Wirtschaftsgüter aus dem Privatvermögen oder aus dem Betriebsvermögen stammen: – Bringt der Gesellschafter einzelne Wirtschaftsgüter aus einem (anderen) Betriebsvermögen ein, so greift § 6 V 3 EStG (dazu Rz. 156 ff.) ein254, d.h. Übertragung zu Buchwerten. Dabei behandelt das Gesetz hier die offene Sacheinlage gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten und die verdeckte Sacheinlage (unentgeltliche Übertragung) gleich255. – Wird das Wirtschaftsgut dagegen aus dem Privatvermögen übertragen, soll nach der Rspr. und h.M. weiter danach zu unterscheiden sein, ob die Übertragung gegen Gewährung von Gesellschafterrechten oder unentgeltlich erfolgt: – Bei Übertragung gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten (offene Sacheinlage) liege ein entgeltlicher, tauschähnlicher Vorgang vor256. Rechtsfolgen: Veräußerung durch den Gesellschafter (innerhalb der Fristen der §§ 17; 20 II; 23 EStG kommt es damit im abgebenden Privatvermögen zur Gewinnrealisation!257) und Anschaffung durch die Gesellschaft zum gemeinen Wert, § 6 VI 1 EStG. – Nur soweit keine Gesellschaftsrechte gewährt werden und die Einlage deshalb unentgeltlich erfolgt (verdeckte Sacheinlage), sei eine Einlage i.S. des § 4 I 8, § 6 I Nr. 5 EStG gegeben258. Rechtsfolgen dann: beim Veräußerer erfolgsneutral und bei der Gesellschaft Einbuchung zum Teilwert.
Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 376. Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 381 ff. Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 384a, 385. BFH v. 19.10.1998 – VIII R 69/95, BStBl. II 2000, 230; vgl. ferner BFH v. 15.7.1976 – I R 17/74, BStBl. II 1976, 748; v. 11.12.2001 – VIII R 58/98, BStBl. II 2002, 420; v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464; BMF v. 29.3.2000, BStBl. I 2000, 462; v. 26.11.2004, BStBl. I 2004, 1190; v. 11.7.2011, BStBl. I 2011, 713; v. 8.12.2011, BStBl. I 2011, 1279 (Rz. 8); Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 698; Riedel, Das Umwandlungssteuerrecht der Mitunternehmerschaft, 2018, 44, 63, 225 und passim; mit zu Recht a.A. Niehus, StuW 2017, 27 (42 ff.); Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 387 (entgeltliche Veräußerung/Anschaffung nur bei Drittgeschäften ohne gesellschaftsrechtlichen Rechtsgrund); dazu auch sogleich im Text. 257 Krit. Reiß, DB 2005, 358; Doege, INF 2005, 306; zur Anwendung der Gesamtplanrechtsprechung: Siegmund/Ungemach, DStZ 2008, 762. 258 BFH v. 19.10.1998 – VIII R 69/95, BStBl. II 2000, 230; BMF v. 11.7.2011, BStBl. I 2011, 713; v. 29.3.2000, BStBl. I 2000, 462 und v. 26.11.2004, BStBl. I 2004, 1190.
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Hennrichs
2. Gründung
Rz. 151b § 10
Eine (angeblich entgeltliche, dagegen sogleich Rz. 151b) Sacheinlage gegen Gewährung von Gesellschafts- 151a rechten wird angenommen, wenn und soweit die Gegenbuchung auf dem Kapitalkonto I des einbringenden Gesellschafters erfolgt. Dagegen soll nach BFH v. 29.7.2015 – IV R 15/14259 keine Einbringung gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten, sondern eine unentgeltliche Einlage gegeben sein, wenn der Gegenwert des (aus dem Privatvermögen) übertragenen Wirtschaftsguts allein dem Kapitalkonto II gutgeschrieben wird und sich sich die maßgeblichen Gesellschaftsrechte gem. Gesellschaftsvertrag nach dem Kapitalkonto I richten. Die Gewährung von Gesellschaftsrechten setze entweder die erstmalige Einräumung eines Mitunternehmeranteils oder eine Erhöhung des Kapitalanteils voraus, nach dem sich die maßgebenden Gesellschaftsrechte richten. Das sei regelmäßig der sog. feste Kapitalanteil. Werde der Wert des in das Gesellschaftsvermögen übertragenen Einzelwirtschaftsguts allein dem Kapitalkonto II gutgeschrieben, liege deshalb keine Einbringung gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten und damit kein entgeltlicher Vorgang vor. Ebenfalls als unentgeltlich beurteilt die h.M. Übertragungen gegen Buchung auf einem gesamthänderischen Rücklagenkonto, weil dieses keine Gesellschaftsrechte ausdrücke260. Wird sowohl auf Kapitalkonto I als auch auf z.B. einem gesamthänderischen Rücklagenkonto gebucht (sog. gesplittete Buchung), soll der Vorgang nach h.M. wiederum insgesamt als gegen Gesellschaftsrechte und damit entgeltlich zu beurteilen sein261. Die Entscheidung BFH IV R 15/14 ist in der Literatur zu Recht auf Kritik gestoßen262. Auch eine Einbringung, deren Gegenwert dem Kapitalkonto II gutgeschrieben wird, ist ein gesellschaftsrechtlicher Vorgang (Zuwendung causa societatis)263 und eine Leistung des Gesellschafters in das Eigenkapital der Gesellschaft, die der Verstärkung seiner Stellung im Gesellschafterverbund dient264. Der Gesellschafter hat nur einen einheitlichen Kapitalanteil, mag dieser auch kautelarisch in mehrere Kapitalkonten untergliedert werden; Gesellschaftsrechte repräsentieren alle Kapitalkonten (einschließlich etwaiger sog. gesamthänderischer Rücklagen)265.
Andererseits passt die Beurteilung als entgeltlicher Vorgang (mit der Folge der ggf. steuerbaren Ver- 151b äußerung seitens des Gesellschafters) insgesamt nicht auf gesellschaftsrechtliche Einbringungen in Personengesellschaften266. In § 6 V 3 Nr. 1, 2 EStG kommt im Gegenteil zum Ausdruck, dass das Gesetz die Fälle der Übertragung von Wirtschaftsgütern in das Gesamthandsvermögen „gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten“ (offene Sacheinlage) einerseits und die unentgeltlichen Übertragungen (verdeckte Sacheinlagen) andererseits gleichstellen will267. Eine unterschiedliche Behandlung der verdeckten und der offenen Sacheinlage, die § 6 V 3 EStG für Übertragungen aus dem Betriebsvermögen verhindert, entbehrt auch für Übertragungen aus dem Privatvermögen der inneren Rechtfertigung268. Richtigerweise sind Einbringungen in Personengesellschaften auf gesellschaftsrechtlicher Grundlage deshalb steuerlich stets Einlagen (und damit beim Gesellschafter erfolgsneutral und bei der Gesellschaft zum Teilwert zu bewerten, soweit sie aus dem Privatvermögen erfolgen und deshalb nicht die Buchwertverknüpfung gem. § 6 V 3 EStG greift), und zwar unabhängig davon, auf welchem Kapital259 BFH v. 29.7.2015 – IV R 15/14, BStBl. II 2016, 593; s. auch BFH v. 4.2.2016 – IV R 46/12, BStBl. II 2016, 607; BMF v. 26.7.2016, BStBl. I 2016, 684; grds. zustimmend, zur Begründung aber krit. Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 384b. 260 BMF v. 11.7.2011, BStBl. I 2011, 713 (unter II. 2.b); Wacker, HFR 2008, 692; Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 695; Brandenberg, FR 2000, 1182 (1185); eingehend HHR/Niehus/Wilke, § 6 EStG Rz. 1560 (05.2017). 261 BFH v. 24.1.2008 – IV R 37/06, BStBl. II 2011, 617; v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464; v. 25.4.2006 – VIII R 52/04, BStBl. II 2006, 847; BMF v. 11.7.2011, BStBl. I 2011, 713. 262 Schulze-Osterloh, BB 2016, 945; s. auch Rätke, StuB 2016, 287. 263 Zutr. Niehus, StuW 2017, 27 (42 f.). 264 Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 382. 265 Zutr. Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 382, 384a, 384b m.w.N. zum Streitstand. 266 Überzeugend Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 384a, 38b; Niehus, StuW 2017, 27; s. HHR/Niehus/Wilke, § 6 EStG Rz. 1502 m.w.N.; außerdem Bareis, FR 2011, 153 (156). 267 Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 384a. 268 Zutr. Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 386.
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§ 10 Rz. 152
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
konto sie verbucht werden (also selbst bei Verbuchung auf Kapitalkonto I). Eine entgeltliche Veräußerung (tauschähnlicher Vorgang) ist nur anzunehmen, wenn und soweit der Gesellschafter für den eingelegten Gegenstand ein Entgelt in Form einer echten Forderung (aus Sicht der Gesellschaft: Fremdkapital) erhält. Die Grenzziehung ist entsprechend der zu § 15a EStG entwickelten Dogmatik vorzunehmen269 (Rz. 73 und sogleich Rz. 161). 2.2 Einbringung von Sachgesamtheiten (Betrieb, Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil; § 24 UmwStG) 152 Sollen Sachgesamtheiten (Betrieb, Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil) in eine Mitunternehmer-
schaft eingebracht werden270, kann dies einmal in toto gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten nach Maßgabe des § 24 UmwStG geschehen. Diese Vorschrift räumt unter bestimmten Voraussetzungen ein Wahlrecht zum Ansatz des Buchwerts, des gemeinen Werts oder eines Zwischenwerts ein.271 Möglich ist aber auch eine Gestaltung durch Übertragung der einzelnen Wirtschaftsgüter zwischen den verschiedenen Betriebsvermögenssphären der Mitunternehmerschaft mit der Rechtsfolge des § 6 V 3 EStG (dazu Rz. 156 ff.). 153 § 24 UmwStG betrifft im Grundfall die Einbringung gegen Gesellschaftsrechte. Erhält der Einbrin-
gende neben dem neuen Mitunternehmeranteil auch sonstige Gegenleistungen (z.B. eine Darlehensforderung gegen die Gesellschaft), schließt dies die Anwendung des § 24 UmwStG zwar nicht aus; die Gutschrift ist jedoch als Entgelt anzusehen, das sich nach Maßgabe des § 24 II 4 UmwStG gewinnrealisierend auswirken kann.272 Maßgebend für die Bestimmung der Gegenleistung (Gesellschafterrechte oder sonstige Gegenleistung) sind die Kriterien, die auch im Rahmen des § 15a EStG zur Abgrenzung von Eigen- und Fremdkapital herangezogen werden.273 Verbuchungen auf Kapitalkonto II sind richtigerweise den Gesellschaftsrechten zuzuordnen (Rz. 151 m.w.N. zum Streitstand). Der Wert, mit dem das Betriebsvermögen in der Bilanz der Personengesellschaft einschließlich der Ergänzungsbilanzen ihrer Gesellschafter angesetzt wird, gilt bei dem Einbringenden als Veräußerungspreis (§ 24 III 1 UmwStG). Entscheidet sich die aufnehmende Personengesellschaft für den Ansatz der Buchwerte, kann die Buchwertverknüpfung (s. § 9 Rz. 405, 430) durch eine negative Ergänzungsbilanz des einbringenden Gesellschafters hergestellt werden (sog. Bruttomethode)274, wenn die eingebrachten Wirtschaftsgüter in der Gesellschaftsbilanz zur Anpassung der Kapitalkonten mit den gemeinen Werten angesetzt werden. Ebenso besteht die Möglichkeit, in der Gesamthandsbilanz das eingebrachte Betriebsvermögen mit den Buchwerten anzusetzen und die steuersubjektbezogene Zuordnung stiller Reserven durch eine Kombination von positiven und negativen Ergänzungsbilanzen bei den Gesellschaftern sicherzustellen (sog. Nettomethode)275. Für die Erfolgsneutralität des Umwandlungsvorgangs ist es jedoch nicht zwingend erforderlich, dass die stillen Reser269 Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 382. 270 Dazu Kerssenbrock/Rundshagen, BB 2004, 2490 (doppelstöckige Personengesellschaft); Rogall, BB 2005, 410; Schulze zur Wiesche, DStZ 2006, 406; Strahl, Ubg 2011, 433; Schmitt/Schaflitzl, Ubg 2017, 353; zur Praxiseinbringung BFH v. 4.12.2012 – VIII R 41/09, BStBl. II 2014, 288; Fuhrmann/Müller, DStR 2013, 848. 271 Zum Teilbetriebsbegriff s. Graw, Der Teilbetrieb im Umwandlungssteuerrecht nach dem Umwandlungssteuer-Erlass 2011. 272 BFH v. 18.9.2013 – X R 42/10, BFH/NV 2013, 2006; FG Münster v. 25.10.2012 – 3 K 4089/10 F, EFG 2013, 338; gl.A. BMF v. 11.11.2011, BStBl. I 2011, 1314 Tz. 24.07; Schmitt/Hörtnagl/Stratz/Schmitt7, § 24 UmwStG Rz. 140; Dötsch/Pung/Möhlenbrock/Patt, § 24 UmwStG Rz. 59 f.; Patt, GmbH-StB 2011, 303 (305); Wüllenkemper, EFG 2011, 491 (495); Brandenberg, Stbg. 2012, 145 (155); Widmann/Mayer/ Fuhrmann, § 24 UmwStG Rz. 527. 273 Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 382. 274 Zu den unterschiedlichen Methoden s. BMF, BStBl. II I 2011, 1314 (UmwStE) Tz. 24.14; Kirchhof/ Reiß17, § 15 EStG Rz. 257; Schmitt/Keuthen, DStR 2013, 1565. 275 Vgl. BMF v. 11.11.2011, BStBl. I 2011, 1314 (UmwStE) Tz. 24.14; Fuhrmann in Widmann/Mayer, § 24 UmwStG Rz. 821; Schmitt/Keuthen, DStR 2013, 1565 (1567).
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Hennrichs
2. Gründung
Rz. 155 § 10
ven des eingebrachten Betriebsvermögens mittels Ergänzungsbilanzen ausschließlich dem Einbringenden zugeordnet werden; sie können vielmehr auch auf andere Gesellschafter überspringen276. Der Gesetzgeber nimmt die interpersonale Verlagerung stiller Reserven als Ausnahme vom Grundsatz der Individualbesteuerung (§ 8 Rz. 22 ff.) bei Umwandlungsmaßnahmen nach dem UmwStG bewusst in Kauf277. Bei der Einbringung eines Betriebes gegen ein sog. Mischentgelt – bestehend aus Gesellschaftsrechten und z.B. einer Darlehensforderung gegen die Personengesellschaft – findet nach Auffassung des BFH (ebenso wie in den Fällen des Teilentgelts, Rz. 150) die Einheitstheorie Anwendung (Rz. 150; 186; § 9 Rz. 431): Eine Buchwertfortführung ist dann möglich, wenn die Summe aus dem Nominalbetrag der Gutschrift auf dem Kapitalkonto des Einbringenden bei der Personengesellschaft und dem gemeinen Wert der eingeräumten Darlehensforderung den steuerlichen Buchwert des eingebrachten Einzelunternehmens nicht übersteigt.278
154
2.3 Beitritt eines neuen Gesellschafters in eine bestehende Personengesellschaft; Aufnahme in ein Einzelunternehmen Die Aufnahme eines Gesellschafters in das bisherige Einzelunternehmen (§§ 24 I, 28 HGB) geschieht 155 handels- wie steuerrechtlich durch Gründung einer neuen Personengesellschaft nebst Einbringung des bestehenden Unternehmens. (Nur) Steuerrechtlich gilt Gleiches im Fall des Beitritts eines neuen Gesellschafters zu einer bestehenden Personengesellschaft. Erfolgt die Aufnahme des neuen Gesellschafters unentgeltlich (z.B. schenkweise im Zuge einer vorweggenommenen Erbfolge), so ordnet § 6 III 1 Hs. 2 EStG zwingend die Buchwertfortführung an. Der Buchwertfortführung gem. § 6 III EStG steht es nicht entgegen, wenn vorher oder gleichzeitig ein funktional wesentliches Grundstück des Sonderbetriebsvermögens zum Buchwert nach § 6 V EStG übertragen279 (Rz. 165) oder vorher veräußert worden ist280. Eine Übertragung i.S. des § 6 III EStG setzt die Übertragung des gesamten Betriebsvermögens voraus, das im Zeitpunkt der Übertragung existiert. Wirtschaftsgüter des Sonderbetriebsvermögens, die zuvor entnommen oder veräußert worden sind, sind nicht mehr Bestandteil des Mitunternehmeranteils. Auch bei einer über- und unterquotalen Übertragung von Sonderbetriebsvermögen soll § 6 III EStG auf den gesamten Vorgang anwendbar sein281. Leistet der Eintretende eine Einlage in das Gesellschaftsvermögen, gilt § 24 II 1 UmwStG mit dem Wahlrecht zwischen Buchwert, Zwischenwert und gemeinem Wert. Zahlt der Beitretende dagegen eine Ausgleichszahlung in das Privatvermögen eines Mitunternehmers, liegt hierin eine Teilanteilsveräußerung. Dieser Fall ist der Aufnahme in ein Einzelunterneh-
276 Vgl. FG Köln v. 22.6.2011 – 4 K 2859/07, EFG 2012, 90; Schmitt/Keuthen, DStR 2013, 1565 (1569), m. Hinw. auf § 24 Abs. 5 UmwStG; Widmann/Mayer/Fuhrmann, § 24 UmwStG Rz. 431, 435, 450. 277 Vgl. FG Köln v. 22.6.2011 – 4 K 2859/07, EFG 2012, 90; Schmitt/Keuthen, DStR 2013, 1565 (1569); Widmann/Mayer/Fuhrmann, § 24 UmwStG Rz. 431, 436 f.; vgl. auch Rödder/Herlinghaus/van Lishaut/Rödder2, Einf. UmwStG Rz. 2 ff. 278 BFH v. 18.9.2013 – X R 42/10, DStR 2013, 2380; a.A. BMF v. 11.11.2011, BStBl. I 2011, 1314 (UmwStE) Rz. 24.07; dazu Dornheim, FR 2013, 1022; Rosenberg/Placke, DB 2013, 2821; Görden, GmbH-StB 2013, 364; Mische, BB 2013, 2866; Kulosa, HFR 2013, 1155; Geissler, FR 2014, 152; Fuhrmann, NZG 2014, 137. 279 BFH v. 2.8.2012 – IV R 41/11, BFHE 238, 135 = DStR 2012, 2118 gegen BMF v. 3.3.2005, BStBl. I 2005, 458 Rz. 6; dazu Blumers, DB 2013, 1625; Krämer, EStB 2014, 33; Förster, DB 2013, 2047; Bohn/ Peters, DStR 2013, 281; Vees, DStR 2013, 681; Vees, DStR 2013, 743; Stein/Stein, FR 2013, 156; Levedag, GmbHR 2013, 673; Rogall/Dreßler, Ubg 2013, 73; Hubert, StuB 2014, 21; Potsch, NZG 2014, 332; ferner BFH v. 12.5.2016 – IV R 12/15, BFHE 253, 556. 280 BFH v. 9.12.2014 – IV R 29/14, BFHE 247, 449. 281 Vgl. BFH v. 2.8.2012 – IV R 41/11, DStR 2012, 2118 gegen BMF v. 3.3.2005, BStBl. I 2005, 458 Rz. 16; dazu Rogall/Freßler, Ubg 2013, 73 (76).
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§ 10 Rz. 156
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
men282 unter Zuzahlung in das Privatvermögen gleichgestellt, indem § 16 I 2 EStG; § 24 II 2 UmwStG den Veräußerungsgewinn dem laufenden, nicht durch § 34 EStG begünstigten Gewinn zuordnen. Damit hat der Gesetzgeber zu Recht Gestaltungsmöglichkeiten (s. etwa „Zwei-Stufen-Modell“283) Einhalt geboten. 3. Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern innerhalb der Mitunternehmerschaft und zwischen beteiligungsidentischen Schwestergesellschaften 156 Seit 1999 ist die die Übertragung von Wirtschaftsgütern bei Mitunternehmerschaften (Über-
tragung einzelner WG aus BV in BV im Rahmen einer Mitunternehmerschaft; BV-Übertragungen zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern) in § 6 V (3) EStG geregelt284, der den früheren Mitunternehmererlass285 ersetzt. Zur heutigen Konzeption hat der Gesetzgeber allerdings erst nach einem einzigartigen Hin und Her von Aufdeckung stiller Reserven und Buchwertfortführung gefunden. Nachdem das StEntlG 1999/2000/2002 die intersubjektive Übertragung stiller Reserven gegenüber dem sog. Mitunternehmererlass stark eingeschränkt hatte286, kehrten das StSenkG287 und das UntStFG288 weitgehend zur alten Rechtslage zurück. Als wesentlicher Unterschied zum Mitunternehmererlass räumt das Gesetz allerdings keine Wahlrechte mehr ein. Vielmehr sind die Buchwerte nach Maßgabe des § 6 V EStG fortzuführen, sofern die Besteuerung der stillen Reserven sichergestellt ist (§ 6 V 1 EStG). 157 Die Buchwerte sind zunächst in den Fällen ohne intersubjektive Übertragung stiller Reserven fort-
zuführen: § 6 V 2 EStG ordnet die Buchwertfortführung für den Transfer zwischen Betriebsvermögen und Sonderbetriebsvermögen desselben Stpfl. an. Die Buchwertfortführung stellt hier die folgerichtige Konsequenz aus der transparenten Besteuerung der Personengesellschaft dar.289 § 6 V 3–6 EStG normieren sodann die Fälle intersubjektiver Übertragung stiller Reserven (Durchbrechung des Prinzips der Individualbesteuerung290, § 8 Rz. 22 ff., § 9 Rz. 430), nämlich – den Transfer zwischen Gesellschafter-Betriebsvermögen (§ 6 V 3 Nr. 1 EStG) oder Sonderbetriebsvermögen (§ 6 V 3 Nr. 2 EStG) und Gesellschaftsvermögen (und umgekehrt); hierbei stellt das Gesetz die Übertragung gegen Gewährung oder Minderung von Gesellschaftsrechten den unentgeltlichen Übertragungen gleich291;
282 Dazu Bode, DStR 2002, 114; Böttner, DB 2002, 1798 (Zuzahlung ins Privatvermögen). 283 BFH v. 16.9.2004 – IV R 11/03, BStBl. II 2004, 1068. 284 Dazu BMF v. 8.12.2011, BStBl. I 2011, 1279; v. 12.9.2013, BStBl. I 2013, 1164; aus der Lit. Bergsteiner, Umstrukturierung von Personenunternehmen mit Einzelwirtschaftsgütern, Diss., 2002; aus betriebswirtschaftlicher Sicht Röhner, Die einkommensteuerrechtliche Behandlung der Übertragung von Wirtschaftsgütern bei Mitunternehmerschaften, Diss., 2003; HHR/Niehus/Wilke, § 6 EStG Anm. 1509 ff.; Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 681 ff.; Wehrheim/Nickel, BB 2006, 1361 (steuersystematische Einordnung); Seitz/Düll, StbJb. 2011/12, 107 ff.; Jäschke, GmbHR 2012, 601 ff.; Schulze zur Wiesche, DStZ 2012, 12 ff.; Scharfenberg, DB 2012, 193 ff.; M. Schmitt/R. Franz, Ubg 2012, 395 ff.; Novosel, StuW 2015, 247; zu grenzüberschreitenden Mitunternehmerschaften Heurung/Dresgen, GmbHR 2014, 187; zur Klagebefugnis BFH v. 7.2.2013 – IV R 33/12, BFH/NV 2013, 1120. 285 BMF v. 20.12.1977, BStBl. I 1978, 8. 286 Lit. zu der Fassung des StEntlG 1999/2000/2002 u. des StSenkG s. 17. Aufl., § 9 Rz. 548 Fn. 104; zur Gesetzesentwicklung vgl. BFH v. 20.5.2010 – IV R 42/08, BStBl. II 2010, 820; Reiß in StbJb. 2001/02, 281 ff. 287 StSenkG v. 23.1.2000, BGBl. I 2000, 1433. 288 UntStFG v. 20.12.2001, BGBl. I 2001, 3858. 289 Reiß, FS P. Kirchhof, 1925 (1933). 290 Hüttemann, DStJG 25 (2002), 123 (135); Reiß, BB 2001, 1125 (1227 f.); differenzierend Hey, GS Trzaskalik, 2005, 219 ff. 291 Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 384a.
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Hennrichs
3. Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern
Rz. 161 § 10
– den unentgeltlichen Transfer zwischen den Sonderbetriebsvermögen von verschiedenen Mitunternehmern derselben Mitunternehmerschaft (§ 6 V 3 Nr. 3 EStG292). Dogmatisch handelt es sich bei § 6 V EStG um eine Entnahme i.S.d. § 4 I 2 EStG aus dem abgehen- 158 den Betriebsvermögen, verbunden mit einer Einlage i.S.d. § 4 I 8 EStG in das aufnehmende Betriebsvermögen, deren Bewertungen abweichend von § 6 I 1 Nr. 4, 5 EStG geregelt sind293. S. auch oben Rz. 151b. Einzelheiten: Für § 6 V EStG ist es unerheblich, ob das fragliche Wirtschaftsgut dem Anlage- oder Umlaufvermögen zuzuordnen ist. Auch wesentliche Betriebsgrundlagen sind erfasst. Für § 6 V 1, 2 EStG ist die gleichzeitige Übernahme von Verbindlichkeiten unschädlich294. Anders für § 6 V 3 EStG, weil das Gesetz dort nach unentgeltlich/entgeltlich differenziert und in der Übernahme von Schulden bei Übertragung einzelner Wirtschaftsgüter ein Entgelt liegt (s. sogleich). Das aufnehmende (Sonder-) Betriebsvermögen muss nicht bereits vor der Übertragung bestanden haben, es genügt, wenn es im Zuge der Übertragung entsteht. Abgebendes und aufnehmendes Betriebsvermögen müssen auch nicht derselben Einkunftsart (§§ 13; 15; 18 EStG) zuzuordnen sein295. § 6 V 1, 2 EStG ist auch anwendbar, wenn mehrere einzelne Wirtschaftsgüter zeitgleich überführt werden, selbst wenn diese zusammen einen Betrieb oder Teilbetrieb bilden296.
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Eine Übertragung erfolgt nur unentgeltlich i.S.d. § 6 V 3 EStG, wenn keine Gegenleistung gewährt 160 wird. Eine Gegenleistung kann im Fall der Übertragung von einzelnen Wirtschaftsgütern (anders als bei der Übertragung von wirtschaftlichen Einheiten gem. § 6 III EStG, s. Rz. 186) auch in der Übernahme von Schulden bestehen. Sehr umstritten ist die Beurteilung von teilentgeltlichen Übertragungen im Anwendungsbereich des § 6 V 3 EStG (z.B. durch Übernahme von Schulden unter dem Verkehrswert des übertragenen Wirtschaftsguts)297. Die Finanzverwaltung vertritt eine sog. strenge Trennungstheorie und verlangt eine Aufteilung in eine entgeltliche Übertragung und eine unentgeltliche Übertragung; die Aufteilung soll dabei nach dem Verhältnis des Entgelts zum Verkehrswert des übertragenen Gegenstands erfolgen298. Dem hat sich der X. Senat des BFH angeschlossen299. Demgegenüber kommt es nach der u.E. zutreffenden Rspr. des IV. Senats des BFH nicht zur Realisierung eines Gewinns, wenn das Entgelt den Buchwert nicht übersteigt (sog. modifzierte Trennungstheorie)300.
Eine Übertragung gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten i.S.d. § 6 V 3 EStG erfolgt, wenn sich 161 dadurch der (Eigen-)Kapitalanteil des Gesellschafters erhöht. Buchmäßiger Ausdruck des Kapitalanteils des Gesellschafters sind die für ihn geführten (echten) Kapitalkonten. Eine Übertragung gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten liegt daher vor, wenn die Gegenbuchung zugunsten der Kapitalkonten des Geselslchafters erfolgt. Welches Kapitalkonto dabei angesprochen wird, ist richtigerweise unerheblich; auch das Kapitalkonto II und ein sog. „gesamthänderisches Rücklagenkonto“ repräsentieren Gesellschaftsrechte (Rz. 151a f. m.w.N. zum Streitstand). Keine Übertragung gegen Gesellschaftsrechte (sondern ein entgeltliches Geschäft) liegt dagegen vor, soweit der Gesellschafter als Gegenleis292 293 294 295 296 297
Ebenso BFH v. 6.7.1999 – VIII R 37/97, BFH/NV 2000, 310. BMF v. 8.12.2011, BStBl. I 2011, 1279, Tz. 1, 8. BMF v. 8.12.2011, BStBl. I 2011, 1279, Tz. 3. BMF v. 8.12.2011, BStBl. I 2011, 1279, Tz. 3, 5. BMF v. 8.12.2011, BStBl. I 2011, 1279, Tz. 6. Dazu anschaulich Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 376a; Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 697; ferner HHR/Niehus/Wilke, § 6 EStG Rz. 1555 (05.2017); eingehend Riedel, Das Umwandlungssteuerrecht der Mitunternehmerschaft, 2018, 303 ff. 298 BMF v. 8.12.2011, BStBl. I 2011, 1279, Rz. 15; zust. HHR/Niehus/Wilke, § 6 EStG Rz. 1555 (05.2017). 299 BFH v. 19.3.2014 – X R 28/12, BStBl. II 2014, 629; v. 27.10.2015 – X R 28/12, BStBl. II 2016, 81. 300 BFH v. 19.9.2012 – IV R 11/12, BFHE 239, 76 = DStR 2012, 2051; v. 21.6.2012 – IV R 1/08, DStR 2012, 1500; dazu M. Wendt, DB 2013, 834; U. Prinz/Cüting, DB 2012, 2597; Heuermann, DB 2013, 1328; Vees, DStR 2013, 681; Levedag, GmbHR 2013, 673; Riedel, Das Umwandlungssteuerrecht der Mitunternehmerschaft, 2018, 318 ff., 326 ff.
Hennrichs 729
§ 10 Rz. 162
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
tung für den eingebrachten Gegenstand echte Forderungen erhält (die dann auf Privat- oder Darlehenskonto zu verbuchen sind). Nicht zuletzt in diesem Zusammenhang wird die Abgrenzung von Eigenkapital- und Darlehenskonten relevant (dazu Rz. 73, 164 m.w.N.). Gem. § 6 V 3 Nr. 1, 2 EStG wird eine Übertragung gegen Gewährung oder Minderung von Gesellschaftsrechten den unentgeltlichen Übertragungen gleichgestellt301. Dies schließt es u.E. aus, in der Gewährung von Gesellschaftsrechten ein (Teil-)Entgelt i.S. der Problematik zu teilentgeltlichen Übertragungen (Rz. 160) zu sehen. Erhält der Gesellschafter zusätzlich zur Gutschrift auf einem Fremdkapitalkonto (Entgelt) noch eine Gutschrift auf einem Kapitalkonto (Gewährung von Gesellschaftsrechten), liegt aber das Entgelt allein unter dem Buchwert, tritt richtigerweise keine Gewinnrealisierung ein, selbst wenn die Gutschriften auf dem Fremdkapitalkonto und auf dem Kapitalkonto zusammen den Verkehrswert des übertragenen Wirtschaftsguts erreichen302. 162 § 6 V 4 EStG sieht einen rückwirkenden Teilwertansatz vor,303 wenn die nach § 6 V 3 EStG zum Buchwert übertragenen Wirtschaftsgüter innerhalb einer dreijährigen Sperrfrist veräußert oder entnommen werden, soweit die stillen Reserven nicht durch eine Ergänzungsbilanz304 dem übertragenden Gesellschafter zugeordnet worden sind. § 6 V 5, 6 EStG305 soll die im Hinblick auf das Teileinkünfteverfahren nach § 3 Nr. 40 EStG bzw. Schachtelprivileg nach § 8b KStG vorteilhafte Übertragung stiller Reserven auf eine Kapitalgesellschaft mittels einer siebenjährigen Sperrfrist unterbinden306. Die Sperrfristbestimmung des § 6 V 4 EStG kommt allerdings im Hinblick auf den Sinn und Zweck in der Situation einer „Einmann-GmbH & Co. KG“ (Einbringung eines WG durch den an der KG zu 100 % beteiligten Kommanditisten) dann nicht zum Tragen, wenn für das vom allein vermögensmäßig beteiligten Gesellschafter eingebrachte Wirtschaftsgut keine Ergänzungsbilanz erstellt wird (teleologische Reduktion).307 Wenn zum Zeitpunkt der Einbringung nur der einbringende Gesellschafter am Ergebnis und dem Vermögen der aufnehmenden Personengesellschaft beteiligt war und sich hieran bis zur Veräußerung des eingebrachten Wirtschaftsguts innerhalb der in § 6 V 4 EStG genannten Sperrfrist nichts ändert, ist die Annahme einer Sperrfristverletzung weder mit dem Zweck der Norm noch dem Willen des Gesetzgebers vereinbar. Die Sperrfristregelung ist gemäß der ratio legis des § 6 V 4 EStG auf solche Vermögensübertragungen zu beschränken, bei denen – ohne einen gegenläufigen Ergänzungsbilanzansatz – der während der Sperrfrist erzielte Veräußerungs- oder Entnahmegewinn nicht nur dem Einbringenden zuzurechnen wäre. 163 § 6 V 3–6 EStG sind lückenhaft. Nach dem Gesetzeswortlaut sind insb. Übertragungen zwischen den
Betriebsvermögen beteiligungsidentischer Schwesterpersonengesellschaften nicht erfasst. Der I. Senat des BFH und das BMF gehen deshalb in solchen Fällen von einer Aufdeckung der stillen Reserven aus.308 Der I. Senat des BFH hält diese Lücke des Gesetzes zwar für sinn- und sogar für verfassungswidrig,309 meint aber, dies beruhe auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers, weshalb eine 301 Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 384a. 302 Zutr. Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 376b m.w.N. zum Streitstand. 303 Dazu v. 8.12.2011, BMF BStBl. I 2011, 1279, Rz. 22; Rogall/Gerner, Ubg 2012, 81 (83); Rogall/Freßler, Ubg 2013, 73 (82). 304 Zur neuartigen Konzeption und Unzulänglichkeiten dieser erstmaligen gesetzlichen Erwähnung der Ergänzungsbilanz Paus, FR 2003, 59; Welke/Hucht, StuB 2002, 422; von Campenhausen, DB 2004, 1282; Ritzrow, StBp. 2005, 20 (24 f.). 305 Dazu Briese, StuB 2003, 248; Schroer/Starke/Underberg, FR 1999, 875. 306 Vgl. Groh, DB 2003, 1403 (1404): „soll verhindert werden, dass die stillen Reserven auf die Kapitalgesellschaft übergehen und von ihren Anteilseignern entsprechend § 3 Nr. 40 EStG bzw. § 8b Abs. 1, 2 und 6 KStG anschließend im Halb- oder Nulleinkünfteverfahren realisiert werden.“ 307 BFH v. 31.7.2013 – I R 44/12, BFHE 242, 240; v. 26.6.2014 – IV R 31/12, BStBl. II 2015, 463; gl.A. HHR/Niehus/Wilke, § 6 EStG Rz. 1634; Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 381c; Prinz, FR 2012, 726; Schroer/Starke, FR 2003, 836 (837); je m.w.N. auch zur Gegenansicht. 308 BFH v. 25.11.2009 – I R 72/08, BStBl. II 2010, 471; BMF v. 20.12.2016, BStBl. I 2017, 36, IV.1; v. 8.12.2011, BStBl. II I 2013, 1164, Tz. 18; dem folgend FG Bad.-Württ. v. 21.8.2013 – IV K 1882/08, DStRE 2015, 261. 309 S. den Vorlagebeschluss des BFH v. 10.4.2013 – I R 80/12, BStBl. II 2013, 1004; Az. beim BVerfG 2 BvL 8/13.
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Hennrichs
3. Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern
Rz. 165 § 10
analoge Anwendung der Vorschrift nicht in Betracht komme. Demgegenüber hält der IV. Senat des BFH diesen Rechtsstandpunkt der Kollegen des I. Senats für „ernstlich zweifelhaft“.310 In der Tat ist teleologisch betrachtet eine Aufdeckung der stillen Reserven in solchen Fällen nicht überzeugend, weil die personelle Zuordnung der stillen Reserven aus Sicht des Transparenzprinzips gewahrt bleibt. Zudem zwingt die Rspr. des I. Senats die Stpfl. zu Umweggestaltungen311 (z.B. Kettenübertragung eines WG zunächst vom Gesellschafts- ins Sonderbetriebsvermögen und anschließend ins Gesellschaftsvermögen der Schwestergesellschaft312), die zum einen ökonomisch unnötige Transaktionskosten auslösen (bei Grundstücken etwa Notarkosten und GrESt, vgl. §§ 1, 5, 6 GrEStG) und zum anderen Gefahr laufen, unter das Verdikt der Gesamtplanrechtsprechung313 (§ 5 Rz. 123) zu geraten. Abgrenzung: § 6 V 3 EStG regelt nicht die Übertragung von Wirtschaftsgütern aus dem Privatver- 164 mögen in das Gesellschaftsvermögen (dazu Rz. 151 m.w.N.). Ebenso betrifft § 6 V 3 EStG nicht die entgeltliche Veräußerung im eigentlichen Sinne. Letztere führt wie bisher zur Gewinnrealisierung314. Konkurrenzen: § 6 III (Rz. 183 ff.); § 16 III 2 EStG (Rz. 201 ff.) und § 24 UmwStG (Rz. 152 ff.) ge- 165 hen § 6 V 3 EStG vor, soweit im Rahmen einer Sachgesamtheit einzelne Wirtschaftsgüter übertragen werden.315 Im Verhältnis zu § 6 IV EStG hat § 6 V EStG Vorrang.316 Bringt der Stpfl. einen Betrieb in eine Mitunternehmerschaft ein und wendet er zugleich einem Dritten unentgeltlich Mitunternehmeranteile zu (z.B. bei Einbringung eines bislang einzelkaufmännischen Unternehmens in eine KG unter Schenkung einer Beteiligung an Kinder im Zuge einer Unternehmensnachfolge), sind auf diesen Vorgang § 6 III EStG und § 24 UmwStG nebeneinander anwendbar, da der Sinn und Zweck der Vorschriften den Ausschluss der jeweils anderen Norm nicht gebietet.317 Bei einer unentgeltlichen Übertragung eines Mitunternehmeranteils und gleichzeitiger Übertragung von Sonderbetriebsvermögen zum Buchwert in das Gesamthandsvermögen einer Mitunternehmerschaft sind § 6 III EStG und § 6 V EStG parallel anwendbar.318 Ist an einer Mitunternehmerschaft eine Kapitalgesellschaft beteiligt, sind bei Sacheinlagen die Vorschriften über die vGA und die verdeckten Einlagen vorrangig.319 Einstweilen frei.
166–179
310 BFH v. 15.4.2010 – IV B 105/09, BStBl. II 2010, 971; hierzu BMF v. 29.10.2010, BStBl. I 2010, 1206; Gosch, DStR 2010, 1173; Hennrichs, FR 2010, 722; Herlinghaus, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, 67 (77 ff.); Ley, Ubg 2011, 274 (277 f.); Ley, DStR 2011, 1208; Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 388a ff.; Dornheim, Ubg 2012, 618; Bernütz/Loll, DB 2013, 665; Tiede, StuB 2013, 883; je m.w.N. 311 Vgl. Ostermayer/Riedel, BB 2003, 1305; Niehus, FR 2005, 278. 312 Für eine steuerrechtliche Würdigung solcher Sachverhalte als abgekürzte Aus- und Einbringung unabhängig von den rechtlichen Gestaltungen Ley, DStR 2011, 1208. 313 Dazu BMF v. 8.12.2011, BStBl. I 2011, 1279, Tz. 19; v. 12.9.2013, BStBl. I 2013, 1164; ferner Förster/ Schmidtmann, StuW 2003, 114; Crezelius, FR 2003, 537; Strahl, KÖSDI 2003, 13918; Strahl, FR 2004, 929; Strahl, StbJb. 2005/06, 97 (101 ff.); Söffing, BB 2004, 2777; Spindler, DStR 2005, 1; Förster, FS Korn, 2005, 3; Förster, StbJb. 2004/05, 227; Dornheim, DStZ 2014, 56. 314 BMF v. 8.12.2011, BStBl. I 2011, 1279, Tz. 15, 38. 315 Gl. A. BMF v. 8.12.2011, BStBl. II I 2011, 1279, Tz. 12; Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 710. Bei der Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils in eine Personengesellschaft gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten geht § 24 UmwStG als lex specialis § 16 I 1 Nr. 1–3 und II EStG vor, s. Rödder/Herlinghaus/van Lishaut/Rasche2, § 24 UmwStG Rz. 13. 316 Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 710. 317 BFH v. 18.9.2013 – X R 42/10, DStR 2013, 2380 gegen BMF v. 11.11.2011, BStBl. I 2011, 1314 Tz. 24.07. 318 BFH v. 2.8.2012 – IV R 41/11, DStR 2012, 2118 gegen BMF v. 3.3.2005, BStBl. I 2005, 458 Tz. 6; v. 12.9.2013, BStBl. I 2013, 1164; zur Problematik s. Förster, DB 2013, 2047; Bohn/Peters, DStR 2013, 281; Vees, DStR 2013, 681; Vees, DStR 2013, 743; Stein/Stein, FR 2013, 156; Levedag, GmbHR 2013, 673; Rogall/Dreßler, Ubg 2013, 73; Dornheim, FR 2014, 869. 319 BFH v. 15.9.2004 – I R 7/02, BStBl. II 2005, 867; Kirchhof/Reiß17, § 15 EStG Rz. 390; Rödder/Herlinghaus/van Lishaut/Rasche2, § 24 UmwStG Rz. 18 f.; Groh, DB 2003, 1403; krit. dazu Briese, GmbHR 2005, 207.
Hennrichs 731
§ 10 Rz. 180
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
4. Übertragung von Anteilen an einer Mitunternehmerschaft 4.1 Veräußerung von Mitunternehmeranteilen 180 Gewinne aus der Veräußerung eines Anteils an einer Mitunternehmerschaft320 gehören gem. § 16 I
1 Nr. 2 EStG zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb (zur Betriebsveräußerung s. auch § 8 Rz. 421; § 9 Rz. 463). Bei Veräußerung des gesamten Mitunternehmeranteils greift die Tarifbegünstigung des § 34 I, II Nr. 1 EStG sowie ggf. die Freibetragsregelung des § 16 IV EStG ein. Der Begriff des Mitunternehmeranteils i.S.d. § 16 I Nr. 2 EStG umfasst nicht nur den Anteil des Mitunternehmers am Vermögen der Gesellschaft, sondern auch das Sonderbetriebsvermögen. Voraussetzung ist daher, dass wesentliche Betriebsgrundlagen, die im Sonderbetriebsvermögen (s. Rz. 131 ff.) des Veräußerers enthalten sind, mitübertragen werden321. Was wesentliche Betriebsgrundlage ist, bestimmt sich quantitativ-funktional322 entsprechend dem Gesetzeszweck der §§ 16; 34 EStG, nur die Aufdeckung zusammengeballter stiller Reserven tariflich zu begünstigen. § 16 I 2 EStG schließt die Tarifbegünstigung richtigerweise für Gewinne aus der Veräußerung von Teilanteilen an einer Mitunternehmerschaft aus323, indem diese dem laufenden Gewinn zugeordnet werden. Zwar sind auch die bei Veräußerung eines Teilanteils realisierten stillen Reserven über einen längeren Zeitraum entstanden, es fehlt aber an der Aufdeckung aller stillen Reserven, wie sie den übrigen Fällen der §§ 16; 34 EStG als Normzweck zugrunde liegt324. 181 Der Mitunternehmeranteil ist handelsbilanziell Vermögensgegenstand, nach st. Rspr. des BFH steuerrechtlich jedoch kein Wirtschaftsgut325 (§ 9 Rz. 158). Das Steuerrecht behandelt die Übertragung von Gesellschaftsanteilen an Personengesellschaften dem Transparenzgedanken folgend als anteilige Übertragung der einzelnen Wirtschaftsgüter des Gesellschaftsvermögens (§ 39 II Nr. 2 AO)326. § 16 I 1 Nr. 2 EStG dient lediglich der Zusammenfassung zwecks Anwendung der Tarifbegünstigung des § 34 EStG. Die Veräußerung eines Kommanditanteils an einer gewerblich geprägten Grundstücksgesellschaft ist steuerrechtlich deshalb als – anteilige – Übertragung so vieler Objekte i.S.d. Rspr. zum gewerblichen Grundstückshan320 Dazu Paus, StBp. 2004, 357 u. 2005, 15 u. 48; Paus, StWa 2003, 49; ferner Brandenberg, DStZ 2002, 512 (unentgeltlich) u. 552 (entgeltlich); Hoffmann, GmbHR 2002, 236 (unentgeltlich); Brandenberg, NWB 2002 F. 3, 12037; Förster, FR 2002, 649; Ley, KÖSDI 2004, 14024; Schoor, SteuerStud 2004, 519; Brandenberg, Stbg. 2004, 65; Mecklenbrauck, Die Abfindung zum Buchwert beim Ausscheiden eines Gesellschafters, Diss., 2004; Kanzler, FS Korn, 2005, 287 (unentgeltlich); Brinkmann, Teilentgeltliche Unternehmensnachfolge im Mittelstand, Diss., 2005; Ley, FS Schaumburg, 2009, 423. Ausführlich Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften4, 168 ff.; Bohn/Peters, DStR 2013, 281; Holln, NWB 2013, 3706. 321 BFH v. 19.3.1991 – VIII R 76/83, BStBl. II 1991, 635; v. 6.12.2000 – VIII R 21/00, BStBl. II 2003, 194 (196 f.); v. 10.11.2005 – IV R 7/05, BStBl. II 2006, 176 (177). Dazu Schulze zur Wiesche, StBp. 2004, 63 u. 110; Schoor, StBp. 2008, 113; zur Zurückbehaltung von Forderungen bei einer Praxiseinbringung nach § 24 UmwStG s. BFH v. 4.12.2012 – VIII R 41/09, BStBl. II 2014, 288.2013; dazu Fuhrmann/Müller, DStR 2013, 848. 322 BFH v. 2.10.1997 – IV R 84/96, BStBl. II 1998, 104. 323 Eingefügt durch UntStFG v. 20.12.2001 (BGBl. I 2001, 3858); zuvor BFH v. 18.10.1999 – GrS 2/98, BStBl. II 2000, 123 (128 f.) (Festhalten an der Tarifbegünstigung für Bruchteilsübertragungen allein aus Gründen der Rechtssicherheit); zweifelnd auch BFH v. 6.12.2000 – VIII R 21/00, BStBl. II 2003, 194 (197). 324 Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 410; Wendt, FR 2002, 127 (128 f.); Geissler, FR 2001, 1029 (1035 f.); a.A. 17. Aufl., § 17 Rz. 46 Fn. 84. 325 BFH v. 6.11.1985 – I R 242/81, BStBl. II 1986, 333; v. 28.11.2002 – III R 1/01, BStBl. II 2003, 250 (255); v. 6.5.2010 – IV R 52/08, BStBl. II 2011, 261; v. 26.4.2012 – IV R 44/09, BStBl. II 2013, 142 (Tz. 18); zust. Sommer, Bilanzierung von Anteilen an Personengesellschaften in Handels- und Steuerbilanz, Diss., 1996, 191 ff.; Kahle, DStZ 2012, 61 (66); a.A. Kirchhof/Reiß17, § 16 EStG Rz. 133; krit. auch Dietel, DStR 2002, 2140 (2144 f.); zur handelsbilanziellen Erfassung ausf. Graf von Kanitz, WPg. 2007, 57. 326 BFH v. 6.5.2010 – IV R 52/08, BStBl. II 2011, 261; v. 26.4.2012 – IV R 44/09, BStBl. II 2013, 142; Ley, Ubg 2011, 274 (278); Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 452, 480.
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Hennrichs
4. Übertragung von Anteilen an einer Mitunternehmerschaft
Rz. 182 § 10
del (Indizwirkung der sog. Drei-Objekt-Grenze) zu werten, wie sich im Gesamthandseigentum der Personengesellschaft befinden327 (s. auch Rz. 47). Veräußerungsgewinn i.S. des § 16 II EStG kann auch eine negative Größe sein. Bleibt der erzielte Veräußerungserlös abzüglich der Veräußerungskosten hinter dem Buchwert des veräußerten Gesellschaftsanteils zurück, so entsteht ein Veräußerungsverlust. Das gilt selbst dann, wenn überhaupt kein Entgelt für den Anteil gezahlt wird. Ein Veräußerungsverlust entsteht nur dann nicht, wenn der Gesellschaftsanteil unentgeltlich i.S. des § 6 III EStG übertragen wird und deswegen die Buchwerte vom Erwerber fortzuführen sind (Rz. 184). Unentgeltlich im Sinne dieser Vorschrift ist eine Übertragung allerdings nur dann, wenn der Übertragende dem Empfänger seinen Anteil schenkweise i.S. des § 516 I BGB überlassen will328. Davon kann nicht ausgegangen werden, wenn die Beteiligten keine nahestehenden Personen sind und der Veräußerer seinen Anteil „loswerden“ will, weil er eine Inanspruchnahme seitens der Gesellschaftsgläubiger oder andere Nachteile aus der Fortführung der Beteiligung vermeiden will329. Die Veräußerung des Gesellschaftsanteils führt im Gegenzug beim Erwerber steuerrechtlich betrachtet zu Anschaffungskosten auf die erworbenen ideellen Anteile an den einzelnen Wirtschaftsgütern des Gesellschaftsvermögens (§ 39 II Nr. 2 AO). Sind die Aufwendungen höher sind als in der Steuerbilanz der Gesellschaft ausgewiesen, hat der Erwerber den Mehrbetrag in einer Ergänzungsbilanz (s. Rz. 105, 123) zu aktivieren und in den künftigen Perioden fortzuentwickeln330. Der zu aktivierende Mehrbetrag ist auf alle bilanzierten Wirtschaftsgüter mit stillen Reserven zu verteilen. Auch immaterielle Wirtschaftsgüter sind anzusetzen (§ 5 II EStG steht nicht entgegen, da die Wirtschaftsgüter entgeltlich erworben worden sind). Ein etwaiger verbleibender Mehrbetrag ist grds.331 als Geschäfts- oder Firmenwert anzusetzen.332
4.2 Ausscheiden von Gesellschaftern gegen (Bar-)Abfindung Scheidet ein Gesellschafter aus der Personengesellschaft aus und erhält er hierfür eine Barabfindung 182 (§ 738 I 1 BGB i.V.m. § 105 III HGB), ist dies steuerlich ebenfalls eine Veräußerung des Anteils i.S.v. § 16 I 1 Nr. 2 EStG333. Zahlt ein übernehmender anderer (ggf. auch neuer) Gesellschafter das Entgelt, liegt eine Veräußerung durch Anteilsübertragung vor (Rz. 180 f.). Wird die Barabfindung (wie nach dem gesetzlichen Regelfall) aus dem Gesellschaftsvermögen geleistet, ist dies steuerlich ebenfalls als Veräußerung an die verbleibenden Gesellschafter einzuordnen334. Zur Sachwertabfindung und Realteilung s. unten Rz. 201 f. Veräußerungspreis ist das vereinbarte Entgelt, bei Abfindung aus dem Gesellschaftsvermögen der Abfindungsanspruch335. Soweit Sonderbetriebsvermögen nicht mit veräußert wird, sondern in das Privatvermögen übergeht, ist der gemeine Wert dieser Wirtschaftsgüter wie ein Veräußerungserlös zu berücksichtigen.336 Dem ist für die Ermittlung des Veräußerungsgewinns der Buchwert des veräußerten Mitunternehmeranteils gegenüber zu stellen. Maßgeblich ist dabei der Buchwert des Mitunternehmer327 BFH v. 28.11.2002, III R 1/01, BStBl. II 2003, 250 (255). 328 BFH v. 10.3.1998 – VIII R 76/96, BStBl. II 1999, 269 (unter II. 2. c cc) zur Vorgängervorschrift des § 7 EStDV a.F. 329 Dazu BFH v. 26.6.2002 – IV R 3/01, BStBl. II 2003, 112. 330 Dazu BFH v. 20.11.2014 – IV R 1/11, BStBl. II 2017, 34; BMF v. 19.12.2016, BStBl. I 2017, 34. 331 Wird der „Mehrbetrag“ der Abfindung nicht als Entgelt für die Übernahme stiller Reserven oder eines Geschäftswerts, sondern für die Freistellung eines „lästigen Gesellschafters“ gezahlt, darf kein Geschäfts- oder Firmenwert aktiviert werden, Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz. 270 ff. 332 Zum Ganzen Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz. 262 ff. m.w.N. 333 BFH v. 10.3.1998 – VIII R 76/96, BStBl. II 1999, 269 (271); v. 14.9.1994 – I R 12/94, BStBl. II 1995, 407; v. 17.9.2015 – III R 49/13, BStBl. II 2017, 37, Tz. 25 f.; Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 450. 334 Vgl. BFH v. 10.3.1998 – VIII R 76/96, BStBl. II 1999, 269; v. 15.4.1993 – IV R 66/92, BStBl. II 1994, 227; v. 17.9.2015 – III R 49/13, BStBl. II 2017, 37, Tz. 26; v. 9.7.2015 – IV R 19/12, BStBl. II 2015, 954; a.A. (bei Abfindung aus dem Gesellschaftsvermögen handele es sich um die Aufgabe eines Mitunternehmeranteils i.S.d. § 16 III 1 EStG) Kirchhof/Reiß17, § 16 EStG Rz. 117. 335 Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 455 f. 336 BFH v. 28.7.1994 – IV R 53/91, BStBl II 1995, 112; v. 24.8.1989 – IV R 67/86, BStBl. II 1990, 132; Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 460.
Hennrichs 733
§ 10 Rz. 183
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
anteils einschließlich Sonderbilanz und etwaiger Ergänzungsbilanz.337 Muss der Ausgeschiedene mit einer Inanspruchnahme durch die Gesellschaftsgläubiger rechnen (s. § 160 HGB) und ist der Aufwendungsersatzanspruch des Gesellschafters (§ 110 HGB) nicht vollwertig (weil die Gesellschaft in wirtschaftlichen Schwierigkeiten ist), mindert dies den Veräußerungsgewinn.338 183 Im Gegenzug haben die verbleibenden Gesellschafter als Erwerber steuerrechtlich339 betrachtet An-
schaffungskosten für die erworbenen ideellen Anteile des Ausgeschiedenen an den einzelnen Wirtschaftsgütern des Gesellschaftsvermögens (§ 39 II Nr. 2 AO). Bei einer Abfindung, die den Buchwert des Kapitalkontos des Ausscheidenden übersteigt, geschieht die anteilige Aufstockung der Buchwerte (Rz. 181) in diesem Fall nach h.M. in der Steuerbilanz der Gesellschaft.340 4.3 Unentgeltliche Übertragung von Mitunternehmeranteilen 184 Für die unentgeltliche (insbes. schenkweise) Übertragung eines Mitunternehmeranteils ordnet § 6
III EStG eine Buchwertverknüpfung an (s. Rz. 155, 181, insb. zum Begriff der Unentgeltlichkeit). Diese Vorschrift grenzt unentgeltliche Zuwendungsvorgänge systemgerecht aus dem Markteinkommenstatbestand aus. Voraussetzung ist nach Verwaltungsauffassung, dass das zugehörige Sonderbetriebsvermögen vollständig mitübertragen wird341. Maßgebend ist allerdings der Zeitpunkt der Übertragung. Wirtschaftsgüter des Sonderbetriebsvermögens, die zuvor entnommen oder veräußert worden sind, sind nicht mehr Bestandteil des Mitunternehmeranteils. Der Gewinnneutralität gem. § 6 III EStG steht es deshalb nicht entgegen, dass wenige Tage zuvor Sonderbetriebsvermögen zum Buchwert nach § 6 V EStG übertragen (Rz. 165) oder unter Aufdeckung der stillen Reserven veräußert worden ist (s. Rz. 155 m.w.N.) 185 Die unentgeltliche Übertragung eines Teilanteils an einem Mitunternehmeranteil ist – anders als im
Fall der entgeltlichen Übertragung (Veräußerung, s. Rz. 180) – in § 6 III 1 Hs. 2 EStG der Übertragung des gesamten Mitunternehmeranteils gleichgestellt. 186 Bei teilentgeltlicher Übertragung (Veräußerung zu einem unangemessen niedrigen Preis) eines Mit-
unternehmeranteils ist nach der vom BFH praktizierten Einheitstheorie (dazu Rz. 150, 154; § 9 Rz. 431) zu unterscheiden: Übersteigt das Entgelt das Kapitalkonto des veräußerten Mitunternehmeranteils, so ist einheitlich von einem entgeltlichen Geschäft auszugehen. Das ermäßigte Entgelt ist Veräußerungspreis i.S.d. § 16 II EStG und der Freibetrag nach § 16 IV EStG ist in voller Höhe zu gewähren. Unterschreitet das Entgelt den Wert des Kapitalkontos, wird das Geschäft insgesamt als unentgeltlich behandelt, d.h. zwingende Buchwertfortführung gem. § 6 III EStG. Für § 6 III EStG ist die Übernahme von Schulden, die zu der betrieblichen Einheit gehören, nicht als Entgelt anzusehen (anders als im Fall des § 6 V 3 EStG, Rz. 156, 159). Denn zu den betrieblichen Einheiten
337 Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 463. 338 Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 465 m.w.N. 339 Anders handelsrechtlich im Fall der Abfindung aus dem Gesellschaftsvermögen, weil die Gesellschaft handelsrechtlich nichts anschafft, vielmehr ihre Vermögenszuständigkeit (§ 124 HGB) unberührt bleibt. Handelsrechtlich ist deshalb eine Aufstockung der Buchwerte des Gesellschaftsvermögens in der Handelsbilanz der Gesellschaft richtiger Ansicht nach unzulässig, vgl. Hennrichs, FS Meincke, 2015, 163 ff.; Lüdenbach, StuB 2013, 744; Höhn, Die Handels- und Steuerbilanz einer OHG nach Ausscheiden eines Gesellschafters bei Abfindung über Buchwert, Diss. Nürnberg 1997, 212 ff., 230, 297; Schulze-Osterloh, NZG 2016, 161; s. auch Priester, ZIP 2016, 949. Für ein Wahlrecht zur Aufstockung dagegen IDW RS HFA 7 (Tz. 59). 340 Zum Ganzen Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 480 ff. (482) m.w.N. 341 BMF v. 3.3.2005, BStBl. I 2005, 458, m. Anm. Emmerich/Kloster, GmbHR 2005, 448; Kai, DB 2005, 794; Korn, KÖSDI 2005, 14633; Wendt, FR 2005, 468; Boeddinghaus, NWB 2006 F. 3, 13621; Stegemann, INF 2005, 344; Wacker, JbFSt. 2005/06, 554; Schulze zur Wiesche, DStZ 2005, 664; Wacker, ZSteu 2005, 358; Wendt, StbJb. 2011/12, 31 (38 ff.).
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Hennrichs
5. Auflösung und Realteilung
Rz. 200 § 10
i.S.d. § 6 III EStG gehören regelmäßig auch Schulden, so dass bei deren Anrechnung als Entgelt die Anwendbarkeit des § 6 III EStG ausgeschlossen wäre342.
4.4 Tod eines Mitunternehmers und vorweggenommene Erbfolge Erbfall und vorweggenommene Erbfolge bezogen auf einen Mitunternehmeranteil343 sind Haupt- 187 anwendungsfälle der unentgeltlichen Übertragung i.S.d. § 6 III EStG.344 Wird die Gesellschaft mit allen Erben fortgeführt und demzufolge keine Abfindungszahlung geleistet (für den Kommanditisten die gesetzliche Regel, s. § 177 HGB; für persönlich haftende Gesellschafter bei sog. einfacher Nachfolgeklausel im Gesellschaftsvertrag), lässt § 6 III 1 EStG die Fortführung der Buchwerte durch den oder die in die Gesellschaft eintretenden Erben bzw. die verbleibenden Gesellschafter zu345. Auf die einkommensteuerrechtliche Abrechnung der stillen Reserven beim Erblasser wird dann verzichtet. Wird die Gesellschaft dagegen nur unter den verbliebenen Gesellschaftern fortgesetzt und erhalten 188 die Erben des Verstorbenen eine Abfindung (nunmehr gesetzliche Regel für den Tod persönlich haftender Gesellschafter in OHG und KG, §§ 131 III Nr. 1, 161 II HGB, § 738 BGB; oder als gesellschaftsvertragliche Fortsetzungsklausel vereinbart), liegt ein Veräußerungsvorgang i.S.d. § 16 I 1 Nr. 2 EStG vor. In der Person des Erblassers entsteht ein begünstigter Veräußerungsgewinn i.H. der Differenz zwischen dem Wert des Abfindungsanspruchs und dem Buchwert des Mitunternehmeranteils im Todeszeitpunkt346. Die Gesellschafter haben in dieser Höhe spiegelbildlich Anschaffungskosten für die Anteile des verstorbenen Gesellschafters (§ 39 II Nr. 2 AO)347. S. auch Rz. 182 f. und § 9 Rz. 432. Zu teilentgeltlichen Übertragungen Rz. 186; § 9 Rz. 431. Wird die Gesellschaft nur mit einem oder mehreren Erben fortgesetzt, die dafür im Gesellschaftsver- 189 trag qualifiziert sind (sog. qualifizierte Nachfolgeklausel), sind Ausgleichszahlungen an die ausgeschlossenen Miterben zivilrechtlich Instrumente des erbrechtlichen Wertausgleichs und steuerlich der außerbetrieblichen Ebene der Miterben untereinander zuzurechnen (Privatschuld348). Sie führen deshalb bei dem oder den qualifizierten Mitunternehmer-Erben nicht zu Anschaffungskosten für den Anteil und bei den übrigen Erben nicht zu einem Veräußerungsgewinn i.S.v. § 16 I 1 Nr. 2 EStG.349 Zur Erbauseinandersetzung s. auch § 9 Rz. 432. Einstweilen frei.
190–199
5. Auflösung und Realteilung (einschließlich Sachwertabfindung) 5.1 Aufgabe des Gewerbebetriebs der Mitunternehmerschaft und Liquidation Bei Auflösung und anschließender Liquidation der Gesellschaft werden stille Reserven im Gesamt- 200 hands- und Sonderbetriebsvermögen durch Veräußerung bzw. Entnahme von Wirtschaftsgütern in das Privatvermögen der Gesellschafter aufgedeckt. Der Aufgabegewinn ist gem. §§ 16 III, IV; 34 II
342 Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 655. 343 Dazu Felix, KÖSDI 1997, 11064; Märkle, FR 1997, 135; Knebel, DB 2000, 169; Kempermann, FR 2003, 321; Hils, Die Behandlung des Sonderbetriebsvermögens im Erbfall, Diss., 2004; Schulze zur Wiesche, DStZ 2013, 25; Riedel, GmbH-StB 2013, 178; Wachter, DB 2013, 200; Stein, JbFSt. 2013/14, 745; Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 660 ff. 344 Zu Anschaffungsnebenkosten bei einem unentgeltlichen Erwerb BFH v. 9.7.2013 – IX R 43/11, BStBl. II 2014, 878. 345 Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz. 86. 346 BFH v. 15.4.1993 – IV R 66/92, BStBl. II 1994, 227; Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 661. 347 Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz. 81; Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 661. 348 Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 672, 673, m.w.N. 349 Vgl. Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz. 89; Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 672.
Hennrichs 735
§ 10 Rz. 201
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
Nr. 1 EStG begünstigt, wenn die stillen Reserven in einem einheitlichen Vorgang aufgedeckt werden350. Abzugrenzen ist gegenüber dem laufenden Gewinn351. S. § 9 Rz. 463 ff. 5.2 Realteilung (einschließlich Sachwertabfindung) 201 Statt durch Liquidation mit Versilberung des Gesellschaftsvermögens und Barauszahlungen kann ei-
ne Personengesellschaft auch durch Realteilung beendigt werden. Die Rechtsfolgen der zuerst nur richterrechtlich352 behandelten Realteilung sind mittlerweile in § 16 III 2–4 EStG geregelt. An einer gesetzlichen Definition der Realteilung fehlt es aber immer noch353. Nach jüngerer Rspr. des BFH ist eine Realteilung zum einen dann gegeben, wenn die Mitunternehmerschaft aufgelöst, das Betriebsvermögen auf die bisherigen Mitunternehmer verteilt und von diesen in ein anderes BV überführt wird (sog. echte Realteilung). Dabei ist es unschädlich, wenn alle wesentlichen Betriebsgrundlagen auf einen Gesellschafter übertragen werden und dieser den Betrieb unverändert – etwa als Einzelunternehmen – fortführt.354 Eine Realteilung i.S. des § 16 III 2–4 EStG kann aber zum anderen ebenfalls vorliegen, wenn zwar die Mitunternehmerschaft fortbesteht, jedoch mindestens ein Mitunternehmer gegen Sachwertabfindung ausscheidet und die erhaltenen Wirtschaftsgüter weiter als Betriebsvermögen verwendet (sog. unechte Realteilung)355 In Erweiterung seiner bisherigen Rspr.356 bejaht der BFH dabei eine (solche unechte) Realteilung selbst dann, wenn statt Teilbetrieben oder Mitunternehmeranteilen nur Einzelwirtschaftsgüter übertragen werden357. Damit widerspricht er der bisherigen Verwaltungsauffassung358. Werden die Wirtschaftsgüter nicht in ein Betriebs-, sondern in das Privatvermögen überführt, so liegt demgegenüber keine Realteilung, sondern eine gewöhnliche und regelmäßig gewinnrealisierende Sachwertabfindung vor359. Dies kann für die einzelnen Mitunternehmer entsprechend dem Transparenzmodell unterschiedlich zu beurteilen sein.360
350 BFH v. 12.12.2000 – VIII R 10/99, BStBl. II 2001, 282; v. 24.8.2000 – IV R 42/99, BStBl. II 2003, 67: Erstreckung über mehrere Veranlagungszeiträume (bis zu 3) ist unschädlich; BFH v. 22.10.2013 – X R 14/11, BStBl. II 2014, 158: keine Anwendung der Einheitstheorie auf die teilentgeltliche Betriebsaufgabe; BFH v. 30.8.2012 – IV R 44/10, BFH/NV 2013, 376, v. 25.2.2010 – IV R 49/08, BStBl. II 2010, 726. 351 BFH v. 23.1.2003 – IV R 75/00, BStBl. II 2003, 467. 352 BFH v. 1.12.1992 – VIII R 57/90, BStBl. II 1994, 607; BMF v. 25.3.1998, BStBl. I 1998, 268 (betr. UmwStG), 342; v. 11.8.1994, BStBl. I 1994, 601; BFH v. 11.4.2013 – III R 32/12, DStR 2013, 1830. 353 Zu Anwendungsbereich und Rechtsfolgen der sog. Realteilung s. BFH v. 19.9.2015 – III R 49/13, BStBl. II 2017, 37; v. 16.3.2017 – IV R 31/14, DStR 2017, 1381; v. 30.3.2017 – IV R 11/15, DStR 2017, 1376; BMF v. 20.12.2016, BStBl. I 2017, 36; aus der Lit.: Mielke/Brühl, FR 2015, 1097; Hubert, StuB 2017, 617; Neu/Hamacher, FR 2017, 605; Stenert, DStR 2017, 1785; Görgen, DStZ 2017, 709; Steiner/ Ullmann, StuW 2017, 320; Steiner/Ullmann, DStR 2017, 912; Reiß, FR 2017, 458; 554; Bareis, FR 2017, 561; je m.w.N.; aus betriebswirtschaftlicher Sicht Bock, Die Realteilung von Personengesellschaften im Einkommensteuerrecht, Diss. 2010. 354 BFH v. 16.3.2017 – IV R 31/14, BFH/NV 2017, 1093. 355 BFH v. 17.9.2015 – III R 49/13, BStBl. II 2017, 37; v. 16.3.2017 – IV R 31/14, BFHE 257, 292 = DStR 2017, 1381; BFH v. 30.3.2017 – IV R 11/15, BFHE 257, 324 = DStR 2017, 1376. 356 BFH v. 17.9.2015 – III R 49/13, BStBl. II 2017 II, 37. 357 BFH v. 30.3.2017 – IV R 11/15, BFHE 257, 324 = DStR 2017, 1376; ebenso schon Ley, FS Korn, 2005, 335 (348). 358 Vgl. BMF v. 20.12.2016, BStBl 2017, 36. 359 S. hierzu Hubert, StuB 2017, 617 (620 f.). 360 Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften3, 196; Hubert, StuB 2017, 617 (619); zur Verteilung des dann möglicherweise entstehenden Aufgabegewinns, s. Stenert, DStR 2017, 1785 (1787 f.).
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5. Auflösung und Realteilung
Rz. 204 § 10
Hinsichtlich der Rechtsfolgen einer (echten oder unechten) Realteilung gilt gem. § 16 III EStG Fol- 202 gendes: Werden Teilbetriebe, Mitunternehmeranteile oder einzelne Wirtschaftsgüter in das Betriebsvermögen der einzelnen Mitunternehmer übertragen, so sind die Buchwerte fortzuführen, sofern die Besteuerung der stillen Reserven sichergestellt ist (§ 16 III 2 EStG). Dem steht auch die vorherige Einbringung der Anteile an einer Mitunternehmerschaft in andere Personengesellschaften nicht entgegen, wenn diese insoweit beteiligungsidentisch sind.361 Das führt i.d.R. zur personellen Verlagerung stiller Reserven362. Das früher von der Rspr.363 eingeräumte Wahlrecht, die Buchwerte fortzuführen oder die stillen Reserven aufzudecken und zu versteuern, hat der Gesetzgeber analog zu § 6 V 3 EStG abgeschafft. Kommt es innerhalb einer dreijährigen Sperrfrist zur Entnahme oder Veräußerung von zum Buchwert übertragenem Grund und Boden, Gebäuden oder anderen wesentlichen Betriebsgrundlagen, wird rückwirkend der gemeine Wert angesetzt (§ 16 III 3 EStG). Auf diese Weise soll Gestaltungen entgegengewirkt werden. Eine Buchwertfortführung scheidet von vornherein aus, wenn einzelne Wirtschaftsgüter unmittelbar oder mittelbar auf eine Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse übertragen werden (§ 16 III 4 EStG); es wird der gemeine Wert angesetzt. Unverständlich ist, warum der Gesetzgeber die Divergenz zwischen BFH und BMF zur Behandlung 203 von Ausgleichszahlungen nicht entschieden hat. Wird ein Spitzenausgleich gezahlt, weil einer der Gesellschafter mehr Sachwerte erhält als ihm nach seiner Gesellschafterstellung zustehen, nimmt der BFH beim Empfänger laufenden Ertrag (nicht begünstigt!) in Höhe des vollen Ausgleichsbetrags an364. Der zur Zahlung verpflichtete Gesellschafter hat hiernach korrespondierend in voller Höhe Anschaffungskosten. Dagegen beschränkt BMF BStBl. I 2017, 36 den zu versteuernden Gewinn auf die anteilig aufgedeckten stillen Reserven im Verhältnis des gezahlten Betrags zum Teilwert der übernommenen Wirtschaftsgüter, d.h. der Wertausgleich wird um einen anteiligen Buchwert gemindert365. I.Ü. hindert die Ausgleichszahlung nicht die Fortführung der Buchwerte der übernommenen Wirtschaftsgüter/ Teilbetriebe. Beispiel (s. BMF v. 20.12.2016, BStBl. I 2017, 36, Rz. VI): A und B sind Gesellschafter einer OHG mit zwei Kinos. Kino 1 hat einen Buchwert von 100 000 Euro/Verkehrswert 1 Mio. Euro, Kino 2 einen Buchwert von 80 000 Euro/Verkehrswert 800 000 Euro. Nach Realteilung der OHG führt jeder der beiden Gesellschafter jeweils ein Kino als Einzelunternehmen fort. A zahlt an B 100 000 Euro Wertausgleich für das ihm zugeteilte höherwertige Kino. Lösung: Die Kinos bilden Teilbetriebe, so dass die Buchwerte der Kinos nach § 16 III 2 i.V.m. § 6 III EStG in den Eröffnungsbilanzen der Einzelunternehmen fortzuführen sind. Nach BFH hat A zusätzliche AK i.H.v. 100 000 Euro und B den Wertausgleich i.H.v. 100 000 Euro ohne Anwendung der §§ 16 IV; 34 EStG als laufenden Gewinn zu versteuern. Nach BMF erwirbt A 1/10 (100 000 Euro Ausgleichszahlung = 10 % von 1 Mio. Euro) des Kinos 1 entgeltlich. Auf diese 1/10 entfällt ein Buchwert von 10 000 Euro. Es ergeben sich also zusätzliche AK des A i.H.v. 90 000 Euro und entsprechend laufender Gewinn bei B.
Mit dem SEStEG wurde § 16 V EStG eingefügt, durch den verhindert werden soll, dass durch eine 204 Realteilung, bei der Teilbetriebe übertragen werden, Anteile von einem nicht nach § 8b II KStG Steuerbegünstigten auf einen von dieser Norm Begünstigten übertragen werden366. Einstweilen frei.
205–219
361 362 363 364
BFH v. 16.12.2015 – IV R 8/12, BStBl. II II 2017, 766. Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 547. S. u.a. BFH v. 18.5.1995 – IV R 20/94, BStBl. II 1996, 70 (71). BFH v. 1.12.1992 – VIII R 57/90, BStBl. II 1994, 607. Der Ertrag unterliegt allerdings nicht der GewSt, BFH v. 17.2.1994 – VIII R 13/94, BStBl. II 1994, 809; Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften4, 200; 365 Zum Ganzen s. auch Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 549, 618; Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz. 420 ff.; Siegel, DStZ 2017, 414; Siegel, DStZ 2017, 650; Bareis, DStZ 2017, 642; Riedel, Das Umwandlungssteuerrecht der Mitunternehmerschaft, 2018, 334 ff. 366 Hierzu Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften4, 165.
Hennrichs 737
§ 10 Rz. 220
Besteuerung von Mitunternehmerschaften
III. Begünstigung des nicht entnommenen Gewinns (§ 34a EStG) 220 Die Begünstigung des nicht entnommenen Gewinns durch den Sondertarif nach § 34a EStG367 (s. da-
zu auch bereits § 8 Rz. 813, 828 ff.) können auch Mitunternehmer in Anspruch nehmen. Der Gesetzgeber hat die Tarifbegünstigung für Gewinne aus Mitunternehmerschaft gesellschafter- und veranlagungszeitraumbezogen ausgestaltet. Jeder einzelne Mitunternehmer kann gem. § 34a I 2 EStG für jeden Mitunternehmerschaftsanteil und ohne Bindung für die Folgejahre (arg. „für jeden Veranlagungszeitraum gesondert“) einen Antrag auf Tarifbegünstigung stellen, wenn sein Anteil an dem nach §§ 4 I; 5 I EStG ermittelten Gewinn mehr als 10 % beträgt oder 10 000 Euro übersteigt (§ 34a I 3 EStG). Die gesellschafterbezogene Ausgestaltung des Begünstigungsantragsrechts vermeidet eine Anpassung der Gesellschaftsverträge. Jeder Gesellschafter kann individuell anhand seiner persönlichen Einkommensteuerverhältnisse entscheiden, ob der Begünstigungsantrag gegenüber einer sofortigen Regelbesteuerung vorteilhaft ist. 221 Nicht entnommener Gewinn (§ 34a II EStG) und Nachversteuerungsbetrag (§ 34a IV EStG) werden
durch den Saldo der Entnahmen und Einlagen im Wirtschaftsjahr für jeden Mitunternehmer individuell ermittelt. Sondertarifierungsfähig ist der gem. §§ 4 I; 5 I EStG ermittelte, nicht entnommene Gewinn des Mitunternehmeranteils, d.h. unter Einbeziehung von Ergänzungs- und Sonderbilanzen. Entgegen dem Regelungsziel der Verwirklichung von Belastungsgleichheit mit der Kapitalgesellschaft ist daher davon auszugehen, dass § 34a EStG nicht auf das gesellschaftsrechtliche Eigenkapital der Personengesellschaft beschränkt ist, sondern die Gesellschafterebene einbezieht. Folglich mindern Sondervergütungen den gem. § 34a II EStG zu ermittelnden Begünstigungsbetrag nicht, solange keine Privatentnahme aus dem Sonderbereich vorliegt368. Mit Einlagen in das Sonderbetriebsvermögen können Entnahmen aus dem Gesamthandsvermögen saldiert werden. Damit werden in erheblichem Umfang Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. 222 Zur Nachversteuerung kommt es außer durch Entnahme auch durch die Übertragung von Wirt-
schaftsgütern gem. § 6 V 1–3 EStG, soweit nicht der Nachversteuerungsbetrag mit übertragen wird (§ 34a V EStG); ferner in den Fällen des § 34a VI EStG, d.h. infolge Betriebsveräußerung und -aufgabe, Einbringung in eine Kapitalgesellschaft und Formwechsel, Übergang zur Gewinnermittlung gem. § 4 III EStG sowie auf Antrag des Stpfl. In den Fällen des § 6 III EStG sowie bei einer Einbringung zu Buchwerten nach § 24 UmwStG geht der Nachversteuerungsbetrag auf den Rechtsnachfolger oder den neuen Mitunternehmeranteil über (§ 34a VII EStG).
367 Dazu BMF v. 11.8.2008, BStBl. I 2008, 838, m. Anm. Ley, Ubg 2008, 13; OFD Frankfurt/M. v. 19.11.2013 – S 2290aA - 02 - St 213, DStR 2014, 803; Thiel/Sterner, DB 2007, 1099; Forst/Schaaf, EStB 2007, 263; Schultes-Schnitzlein/Keese, NWB 2007 F. 3, 14683; Schulze zur Wiesche, DB 2007, 1610; Ley, KÖSDI 2007, 15737; Ley/Brandenberg, FR 2007, 1085; Hölzerkopf/Taetzner, BB 2007, 2769 (Verwendungsreihenfolge); Schiffers, GmbHStB 2007, 345 (GmbH & Co. KG); Ortmann-Babel/Zipfel, BB 2007, 2205 (2208 ff.); M. Schmitt, Stbg. 2007, 573 (581 ff.); Blum, BB 2008, 322; Fellinger, DB 2008, 1877; Grützner, StuB 2008, 745; Gragert/Wißborn, NWB 2008 F. 3, 15251; Schiffers, DStR 2008, 1805; Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften4, 313 ff.; Harle, SteuerStud 2009, 244; Söffing/ Worgulla, NWB 2009, 916 (doppelstöckige Mitunternehmerschaft); B. Fischer, FS Schaumburg, 2009, 319; Wendt, DStR 2009, 406; Ley, FS Herzig, 2010, 469; Wrede/Friederich, Stbg. 2010, 57; Kessler/Pfuhl/ Grether, DB 2011, 185; Schneider/Wesselbaum-Neugebauer, FR 2011, 166; Bodden, FR 2011, 829; Bodden, FR 2012, 68; Brähler/Guttzeit/Scholz, StuW 2012, 119; Haag, BB 2012, 1966; Maetz, FR 2013, 652; Hellmeier, Forum Steuerrecht 2013, 63; Maetz, FR 2013, 652; Bareis, FR 2014, 581. – Zum Einfluss auf Gesellschaftsverträge Rodewald/Pohl, DStR 2008, 724; Reichert/Düll, ZIP 2008, 1249; Crezelius, FS Spiegelberger, 2009, 65; Bisle, SteuK 2012, 182. – Aus steuerstrafrechtlicher Sicht Pflaum, wistra 2012, 205. 368 Vgl. Thiel/Sterner, DB 2007, 1099 (1102 f.); Schiffers, GmbHR 2007, 841 (842); krit. im Hinblick auf die gesetzgeberische Zielsetzung Hey, DStR 2007, 925 (926 ff.).
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Hennrichs
III. Begünstigung des nicht entnommenen Gewinns
Rz. 224 § 10
Zuständig für den Begünstigungsantrag und die gesonderte Feststellung des Nachversteuerungs- 223 betrags ist das Wohnsitzfinanzamt des Mitunternehmers (§ 34a IX EStG). Die erforderlichen Besteuerungsgrundlagen werden durch das Betriebsfinanzamt für jeden einzelnen Mitunternehmer ermittelt und dem Wohnsitzfinanzamt mitgeteilt (§ 34a X EStG)369. Die Vorschrift des § 34a EStG erreicht ihr Ziel, die steuerliche Belastung von Kapitalgesellschaften 224 und Personenunternehmen im Fall der Thesaurierung anzugleichen, nur unvollkommen und außerdem nur um den Preis einer hochkomplexen Regelung. Sie wird offenbar nur von wenigen Personenunternehmen genutzt. Rechtsform- und Finanzierungsneutralität werden nicht verwirklicht (s. bereits § 8 Rz. 838 und § 13 Rz. 182 ff.). Rechtspolitisch ist die fehlende Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung zu kritisieren. Bei (ggf. optionaler) Einbeziehung der Personenhandelsgesellschaften in die Körperschaftsteuer wäre § 34a EStG weitgehend entbehrlich (bereits Rz. 8 m.w.N.).
369 Vgl. Schmidt/Wacker36, § 34a EStG Rz. 96 ff.
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§ 11 Körperschaftsteuer Rechtsgrundlagen: Körperschaftsteuergesetz i.d.F. der Bekanntmachung v. 15.10.2002, BGBl. I 2002, 4144, zuletzt geändert durch Art. 5 des Gesetzes v. 18.7.2017, BGBl. I 2017, 2730; Körperschaftsteuer-Durchführungsverordnung 1994 i.d.F. der Bekanntmachung v. 22.2.1996, BGBl. I 1996, 365. Kommentare: Erle/Sauter, KStG3, 2010; Streck, KStG8, 2014; Gosch, KStG3, 2015; Mössner/Seeger, KStG3, 2017; Schnitger/Fehrenbacher, KStG2, 2017; Loseblattkommentare: Blümich, EStG/KStG/GewStG; Dötsch/ Pung/Möhlenbrock, Die Körperschaftsteuer; Ernst & Young, KStG; Frotscher/Drüen, KStG; Herrmann/Heuer/ Raupach, EStG/KStG. Lehr- und Handbücher: Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993, 558; Widmann (Hrsg.), Besteuerung der GmbH und ihrer Gesellschafter, DStJG 20 (1997); Seeger (Hrsg.), Perspektiven der Unternehmensbesteuerung, DStJG 25 (2002); Tipke, StRO II2, 2003, 1163; Seer, Die Entwicklung der GmbHBesteuerung, 2005; Frotscher, Körperschaftsteuer – Gewerbesteuer2, 2008; Gosch, § 178: Körperschaftsteuer, in Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013; Grobshäuser/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften4, 2014, Kap. II; Jäger/F. Lang/Künze, Körperschaftsteuer19, 2016; Zenthöfer/Alber, Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer17, 2016; Niehus/Wilke, Die Besteuerung der Kapitalgesellschaften5, 2017; Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht20, 2017, § 6 B.; Dötsch/Alber/Sell/Zenthöfer, Körperschaftsteuer18, 2017; Weiss/Cortez/Brucker, Besteuerung der Kapitalgesellschaften und ihre Gesellschafter, Teil I–IV, SteuerStud 2017, 479, 550, 667, 710. Zum Körperschaftsteuergesetz 1920/1922: Evers, Kommentar zum Körperschaftsteuergesetz in der Fassung vom 30. März 1920/8. April 1922, 1923; zum Körperschaftsteuergesetz 1925: Evers, Kommentar zum Körperschaftsteuergesetz vom 10. August 19252, 1927; zum Körperschaftsteuergesetz 1934: Mirre/Dreutter, Das Körperschaftsteuergesetz vom 16. Oktober 1934, 1939. Zur Entwicklung der Körperschaftsteuer: Rasenack, Die Theorie der Körperschaftsteuer, 1974; HHR/Desens, KStG, Dok. KSt Anm. 1 (2016). Zur Unternehmensteuerreform 2000: s. 18. Aufl., § 11 vor Rz. 10.
A. Allgemeine Charakterisierung I. Dualismus der Unternehmensbesteuerung durch Nebeneinander von Trennungsund Transparenzprinzip Körperschaften unterliegen als eigenständige Steuersubjekte1 der proportionalen Körperschaft- 1 steuer. Im Verhältnis zwischen Körperschaft und Anteilseigner gilt das Trennungsprinzip2. Das Trennungsprinzip besagt, dass sich Körperschaft und Anteilseigner grds. wie zwei fremde Dritte gegenüberstehen. Sie verfügen steuerlich über getrennte Vermögenssphären. Leistungsbeziehungen werden unter der Voraussetzung ihrer Angemessenheit (s. Rz. 74) anerkannt. An Anteilseigner gezahlte Vergütungen sowie für zukünftige Verpflichtungen gebildete Rückstellungen (insb. Pensionsrückstellungen) mindern das Einkommen der Körperschaft. Auf der Ebene des Anteilseigners werden Leistungsvergütungen entspr. der verwirklichten Einkunftsart als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 EStG), aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG) u.s.w. erfasst. Bei Ausschüttung von Gewinnen an natürliche Personen greift zusätzlich zur KSt die ESt ein. Der in einer Körperschaft erwirtschaftete Gewinn wird folglich auf zwei Ebenen besteuert. Die Gesamtbelastung setzt sich zusammen aus der proportionalen Belastung des thesaurierten Gewinns und der Belastung der Ausschüttung. Die Höhe der Gesamtbelastung hängt wesentlich davon ab, ob der Gesetzgeber ein Körperschaftsteuersystem (s. Rz. 6 ff.) zur Anwendung bringt, das die Vorbelastung auf Körperschaftsebene berücksichtigt.
1 Grundl. hierzu Palm, Person im Ertragsteuerrecht, Habil., 2013, 472 ff. 2 Zu Verwirklichung und Durchbrechungen des Trennungsprinzips im KStG Böhmer, StuW 2012, 33.
Hey 741
§ 11 Rz. 2
Körperschaftsteuer
2 Dagegen werden Personengesellschaften nach dem Transparenzprinzip besteuert, so dass der Ge-
winn unmittelbar und ausschließlich beim Gesellschafter der progressiven ESt unterliegt (hierzu i.E. § 10 Rz. 10 ff.). Leistungsbeziehungen zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern wirken sich weder in der ESt noch in der Gewerbesteuer aus (s. § 12 Rz. 21); sie werden dem Gesamtgewinn der Personengesellschaft hinzugerechnet. Zwar ist die Personengesellschaft – was auch ihrer zivilrechtlichen Rechtsstellung entspricht – partiell als Einkünfteerzielungs- und Einkünfteermittlungssubjekt verselbständigt (dazu § 10 Rz. 12). Sie ist aber nicht Steuersubjekt der ESt. Auf diese Weise hat der Gesetzgeber die Besteuerung der Personengesellschaft konzeptionell am Einzelunternehmer ausgerichtet. Denn der Einzelunternehmer verfügt von vornherein nur über eine Besteuerungsebene. Sein Gewinn unterliegt unmittelbar der ESt. Bereits zivilrechtlich ist es ihm wegen § 181 BGB nicht möglich, seine Vermögenssphären zu trennen und Leistungsvergütungen mit seinem Unternehmen zu vereinbaren. 3 Dieses Nebeneinander von KSt und ESt führt zu einem rechtsformabhängigen „Dualismus der Un-
ternehmensbesteuerung“ der Einzelunternehmen und Personengesellschaften einerseits, der Kapitalgesellschaften und sonstigen Körperschaften andererseits (dazu ausf. § 13 Rz. 168 ff.).
II. Bedeutung der Körperschaftsteuer 4 Die Körperschaftsteuer hat seit den 1990er Jahren eine beispiellose Entwicklung mitgemacht; der
Körperschaftsteuersatz ist als Reaktion auf den internationalen Steuerwettbewerb massiv gesenkt worden. Wurden thesaurierte Gewinne von Körperschaften vor 1990 noch entspr. dem damaligen Einkommensteuerspitzensatz mit 56 % belastet, beträgt der Steuersatz seit 2008 infolge der Unternehmensteuerreform 20083 nur noch 15 % (zur Entwicklung s. Rz. 110). Seither ist er allerdings stabil. Mit dieser drastischen Absenkung des Körperschaftsteuersatzes hat sich das Verhältnis zwischen Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer verschoben. Seit 2008 hat die Gewerbesteuer sowohl absolut als auch relativ zur KSt nochmals an Gewicht gewonnen4. Bei einem durchschnittlichen Hebesatz von 400 % geht die Gewerbesteuer mit 14 Punkten in die Gesamtbelastung ein (vgl. § 12 Rz. 1 ff.). Sie wird damit für Kapitalgesellschaften und sonstige Körperschaften mit gewerblichen Einkünften zur gleichberechtigten Unternehmensteuer neben der KSt, bei höheren Hebesätzen übersteigt sie die KSt sogar. Um die Belastung von Kapitalgesellschaften richtig einschätzen zu können, müssen Körperschaft- und Gewerbesteuer – trotz fortbestehender Unterschiede hinsichtlich Steuerobjekt und Bemessungsgrundlage (vgl. § 12 Rz. 3 ff.) – folglich zwingend zusammen betrachtet werden. 5 Einstweilen frei.
III. Körperschaftsteuersystem 1. Vermeidung wirtschaftlicher Doppelbelastung 6 Wird der Gewinn zunächst bei der Körperschaft mit KSt belastet, der ausgeschüttete Gewinn dann
nochmals bei dem Anteilseigner (Aktionär, Gesellschafter einer GmbH u.s.w.) der ESt unterworfen, so ergibt sich eine wirtschaftliche Doppelbelastung5. Die volle Doppelbelastung mit KSt und ESt (sog. klassisches System) versucht man (formal-)juristisch damit zu rechtfertigen, dass Körperschaft
3 UntStRefG 2008 v. 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912. 4 Herzig, DB 2007, 1451; Rödder, DStR 2007, Beihefter zu Heft 40, 3 (zum UntStRefG); Derlien/Wittkowski, DB 2008, 835; Kavcic/Vogel, StuB 2008, 121; Dietrich/Krakowiak, DStR 2009, 661 (zum Optimierungspotenzial bei der GewSt). 5 Wirtschaftliche Doppelbelastung im Unterschied zur juristischen Doppelbesteuerung wegen der Steuersubjektverschiedenheit von Körperschaft und Anteilseigner; zu den Begriffen ausf. Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017, Rz. 15.1 ff.
742
Hey
III. Körperschaftsteuersystem
Rz. 7 § 11
und Anteilseigner je für sich eigenständige Rechtssubjekte seien6. Entgegen der Rspr. des BVerfG reicht dies als Rechtfertigung jedoch nicht aus7. Zwar bedarf es der KSt schon aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit, da Gewinne, solange sie thesauriert werden, nicht beim Anteilseigner erfasst werden können8. In Höhe des thesaurierten Gewinns verfügt die Körperschaft über eine eigene, allerdings nur vorübergehende Leistungsfähigkeit. Insoweit ergänzt die KSt die ESt9. Dies erklärt aber noch nicht, warum ausgeschüttete Gewinne beim Anteilseigner einer Körperschaft nochmals belastet werden, zumal wenn sich dadurch insgesamt eine ungleiche Belastung im Verhältnis zum Einzelunternehmer oder Gesellschafter einer Personengesellschaft ergibt10, denn die Einschaltung einer juristischen Person begründet keine endgültig höhere Leistungsfähigkeit. Richtigerweise müsste die Vorbelastung mit KSt bei Ausschüttung vollständig beseitigt und stattdessen der individuelle EStSatz des Anteilseigners zur Anwendung gebracht werden. International haben sich im Laufe der Zeit unterschiedliche (und jeweils wechselnde) Methoden zur 7 teilweisen oder vollständigen Vermeidung der Doppelbelastung herausgebildet11. In Betracht kommen z.B. eine (vollständige oder teilweise) Steuerbefreiung des ausgeschütteten Gewinns bei der Körperschaft oder beim Anteilseigner, eine (vollständige oder teilweise) Anrechnung der KSt auf die ESt des Anteilseigners oder eine Milderung der Doppelbelastung durch Anwendung eines ermäßigten Einkommensteuersatzes auf Ausschüttungen beim Empfänger. Durch den Wettbewerb der Steuersysteme (insb. in Europa, s. § 7 Rz. 70 ff.) und den dadurch ausgelösten Zwang zu niedrigeren Körperschaftsteuersätzen ist ein Trend zur Wiedereinführung einer mind. teilweisen Doppelbelastung entstanden12. Stand ursprünglich das Bedürfnis nach Entlastung von der körperschaftsteuerrechtlichen Vorbelastung im Vordergrund, bedarf es nunmehr – außer bei Gesellschaftern mit sehr niedrigem individuellem Einkommensteuersatz – einer Nachbelastung auf Anteilseignerebene, um eine Hochschleusung auf die höhere Einkommensteuerbelastung anderer Einkunftsarten zu erreichen. Für 2017 stellen sich die wichtigsten ausländischen Körperschaftsteuersysteme wie folgt dar13: – Klassische Systeme: Irland, Schweiz; – Teilentlastungssysteme (ermäßigte Sondersteuersätze oder Teilfreistellung bei der ESt): Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Slowenien, Spanien, Tschechien, Ungarn, USA; – Teilanrechnungssysteme: Großbritannien, Japan, Kanada; – Vollanrechnungssysteme: Australien14, Malta; – Steuerbefreiung beim Anteilseigner: Estland, Slowakei, Zypern. 6 Dazu ausf. Hey, Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung in Europa, Diss., 1997, 241 ff.; Reich, Die wirtschaftliche Doppelbelastung der Kapitalgesellschaften und ihrer Anteilsinhaber, 2000; Tipke, StRO II2, 1163 ff.; Englisch, Dividendenbesteuerung, Diss., 2005, 96 ff.; Palm, Person im Ertragsteuerrecht, Habil., 2013, 485 ff.; HHR/Desens, KStG, Einf. KSt Anm. 15 ff. (2014) m.w.N. 7 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (198); v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 (250); zur Kritik an dieser Einordnung ausf. § 13 Rz. 172 f. m.N. 8 Zur Bedeutung des Realisationsprinzips in diesem Zusammenhang Schön, DStJG 37 (2014), 217 (231 ff.). 9 J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (62). 10 Jachmann, DStJG 23 (2000), 9 (18 f.); Schön, StuW 2000, 151 (152); Hey, DStJG 24 (2001), 155 (171); Palm, JZ 2012, 297 (302). 11 Sehr instruktiv Ault/Arnold, Comparative Income Taxation. A Structural Analysis3, 2010, 333 ff., 535 ff. 12 Dazu Weinelt, Das deutsche Körperschaftsteuersystem im Spannungsfeld zwischen nationaler Steuerordnung und europäischem Steuerwettbewerb, Diss., 2007, 88 ff. 13 BMF, Die wichtigsten Steuern im internationalen Vergleich 2016; EY, Worldwide Corporate Tax Guide, 2017. 14 S. Born, Die Körperschaftsteuer in Australien und Deutschland, Diss., 2017.
Hey 743
§ 11 Rz. 8
Körperschaftsteuer
Zur Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung in Europa s. § 13 Rz. 143 ff. Teilentlastungssysteme (auch als „Shareholder-Relief-Systeme“ bezeichnet) weichen zwar ab vom Ideal einer synthetischen ESt, da die Dividendenbelastung nicht mehr exakt der Belastung anderer Einkünfte entspricht. Sie haben aber bei der Erfassung grenzüberschreitender Sachverhalte entscheidende Vorteile, indem sie über die (niedrige) KSt im Sitzstaat der ausschüttenden Gesellschaft und die (reduzierte) ESt im Ansässigkeitsstaat des Anteilseigners automatisch zu einer in etwa hälftigen Aufkommensteilung zwischen den beteiligten Staaten führen. Zudem lassen sie sich auf verhältnismäßig einfache Weise europarechtskonform auf Auslandssachverhalte15 erstrecken (dazu Rz. 18). 2. Frühere Körperschaftsteuersysteme in Deutschland 8 In Deutschland wurde das klassische System der Doppelbelastung durch das KStG 1920 eingeführt16.
Von 1953 bis 1976 wurde die Doppelbelastung durch einen gespaltenen Tarif gemildert (ab 1958 15 % für Ausschüttungen, Regelsteuersatz 51 %). Von 1977 bis 2000 praktizierte der deutsche Gesetzgeber die Vollanrechnung der KSt auf den ausgeschütteten Gewinn, kombiniert mit einem ermäßigten Ausschüttungssteuersatz auf Körperschaftsebene17. Die körperschaftsteuerrechtliche Vorbelastung wurde bei Ausschüttung zunächst auf eine einheitliche Ausschüttungsbelastung von 30 % herab- bzw. heraufgeschleust und sodann durch Anrechnung auf die ESt/ KSt des Anteilseigners und ggf. Vergütung vollständig neutralisiert18. Das komplexe Übergangsregime, dessen Aufgabe es war, Mehr- und Minderbelastungen der unter der Geltung des Anrechnungsverfahrens thesaurierten Gewinne zu verhindern, ist im Jahr 2017 ausgelaufen19. 9–10
Einstweilen frei.
3. Seit 2001: Klassisches System mit pauschaler Entlastung auf Anteilseignerebene Literatur (s. ferner 18. Aufl., § 11 vor Rz. 10): Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung, BMF-Schriftenreihe, Heft 66, 1999; Bareis, Das Halbeinkünfteverfahren im Systemvergleich, StuW 2000, 133; Grotherr, Das neue Körperschaftsteuersystem, BB 2000, 849; Pezzer, Kritik des Halbeinkünfteverfahrens, StuW 2000, 144; Schneeloch/Trockels-Brand, Körperschaftsteuerliches Anrechnungsverfahren versus Reformpläne, DStR 2000, 907; Siegel/Bareis/Herzig/Schneider/Wagner/Wenger, Verteidigt das Anrechnungsverfahren gegen unbedachte Reformen!, BB 2000, 1269; Bozza-Bodden, Das deutsche und das italienische Körperschaftsteuersystem im Europäischen Binnenmarkt, Diss., 2002; Bareis, Probleme mit der Hälfte, BB 2003, 2315; Djanani/Herbener, Trends in der Besteuerung von Kapitalgesellschaften und deren Anteilseignern: Einzel- oder Doppelbesteuerung, IStR 2003, 506; Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, Diss., 2004; Englisch, Dividendenbesteuerung (Systemvergleich Deutschland – Spanien), Diss., 2005; Wäckerlin, Betriebsausgabenabzugsverbot und Halbeinkünfteverfahren. Zugleich ein Beitrag zur Besteuerung des Anteilseigners einer Kapitalgesellschaft, Diss., 2006; Scheffler/Christ, Abschaffung der Abgeltungsteuer: Folgewirkung auf die Unternehmensbesteuerung, Ubg 2016, 157.
15 Vgl. hierzu Schraufl, Körperschaftsteuersysteme im internationalen Rahmen unter Effizienzkriterien, Diss., 2004. 16 Zur geschichtlichen Entwicklung s. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993, 558 ff.; Potthast, Die Entwicklung der Körperschaftsteuer von den Vorformen bis zur Unternehmensteuerreform 2001, Diss., 2008; HHR/Desens, KStG, Dok. KSt. Anm. 6 ff. (2016). 17 Zu den Einzelheiten s. 16. Aufl., § 11 Rz. 35 ff., 140 ff. 18 Zum Mechanismus des Anrechnungsverfahrens und zum Übergangsregime s. 22. Aufl., § 11 Rz. 9. 19 Hierzu und zu den zahlreichen Änderungen des Übergangsregimes s. 22. Aufl., § 11 Rz. 10.
744
Hey
III. Körperschaftsteuersystem
Rz. 14 § 11
3.1 Grundstruktur Seit 2001 gilt in Deutschland ein klassisches System mit Entlastung auf Anteilseignerebene. Ge- 11 winnausschüttungen lassen die KSt unberührt. Die Vorbelastung auf der Ebene der ausschüttenden Körperschaft wird aber beim Empfänger berücksichtigt. Dabei ist zwischen einkommensteuerpflichtigen und körperschaftsteuerpflichtigen Gesellschaftern zu unterscheiden. Teileinkünfteverfahren/Abgeltungsteuer in der ESt: Seit dem 1.1.2009 wird zwischen Beteiligungen 12 im Betriebs- und Privatvermögen differenziert. Für im Betriebsvermögen gehaltene Beteiligungen gilt ein Teileinkünfteverfahren20; Beteiligungserträge unterliegen der regulären tariflichen Einkommensteuer, sind aber zu 40 % steuerfrei (§ 3 Nr. 40 Satz 1 EStG). Auf diese Weise wird der Körperschaftsteuervorbelastung i.H.v. 15 % auf Gesellschaftsebene Rechnung getragen. Aufwendungen, die in wirtschaftlichem Zusammenhang mit dem Beteiligungsertrag stehen, dürfen zu 60 % von der Bemessungsgrundlage abgezogen werden (§ 3c II 1 EStG). Erträge aus im Privatvermögen gehaltenen Beteiligungen unterliegen seit dem 1.1.2009 der Abgeltungsteuer i.H.v. 25 % (§§ 20 I Nr. 1; 32d I; 43 I 1 Nr. 1; 43a I 1 Nr. 1 EStG i.V.m. § 52a EStG i.d.F. v. 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912). Der Steuerpflichtige kann Veranlagung beantragen, wenn dies zu einer niedrigeren ESt führt, d.h. wenn sein persönlicher Grenzsteuersatz unter 25 % liegt (§ 32d VI EStG). In diesem Fall ist der volle Beteiligungsertrag in die Bemessungsgrundlage der ESt einzubeziehen. Werbungskosten, die in Zusammenhang mit dem Beteiligungsertrag stehen, können indes auch bei Veranlagung nicht über den Sparer-Pauschbetrag i.H.v. 801/1 602 Euro hinaus geltend gemacht werden (§ 20 IX 1 Hs. 2 EStG), es sei denn, es handelt sich um eine „typischerweise unternehmerische Beteiligung“, für die § 32d II Nr. 3 EStG die Veranlagung im Teileinkünfteverfahren i.V.m. § 3c II EStG vorsieht; zu den weiteren Fällen der Antragsveranlagung s. § 8 Rz. 503; zur Verletzung des objektiven Nettoprinzips bei Veranlagung s. § 8 Rz. 506. Beteiligungsertragsbefreiung in der KSt: Ist eine Körperschaft selbst Anteilseignerin einer ande- 13 ren (Tochter-)Körperschaft, so bleiben bei ihr die von der Tochterkörperschaft ausgeschütteten Dividenden grds. steuerfrei (§ 8b I 1 KStG; s. auch § 13 Rz. 135). Durch die Beteiligungsertragsbefreiung werden Mehrfachbelastungen bei hintereinander geschalteten Körperschaften im Wesentlichen vermieden: Der im Konzern erwirtschaftete Gewinn wird nur einmal mit 15 % KSt belastet. Der danach verbleibende Betrag kann durch Muttergesellschaften „durchgeschüttet“ werden und bildet erst, wenn er die Unternehmensebene verlässt und an eine natürliche Person ausgeschüttet wird, einkommensteuerpflichtige Einnahmen aus Kapitalvermögen gem. § 20 EStG. Seit 2004 ist die ursprünglich zu 100 % gewährte Beteiligungsertragsbefreiung allerdings auf 95 % begrenzt, indem § 8b V 1 KStG pauschal i.H.v. 5 % der Bezüge nichtabziehbare Betriebsausgaben fingiert (dazu i.E. Rz. 42). Eine empfindliche Einschränkung hat das System der Beteiligungsertragsbefreiung durch die seit 1.3.2013 geltende Ausnahme für Streubesitzdividenden erfahren (§ 8b IV KStG, s. Rz. 42). § 8b I 1 KStG kommt nur noch zur Anwendung für unmittelbare Beteiligungen von mind. 10 %. Kaskadeneffekte bei gestaffelten Beteiligungen werden hingenommen (zur Besteuerung von Streubesitzdividenden in der GewSt s. § 12 Rz. 30). Gewinne aus der Anteilsveräußerung: Der von einer Körperschaft erwirtschaftete Gewinn kann 14 dem Anteilseigner nicht nur durch Ausschüttung zufließen, sondern wirtschaftlich auch durch den Verkauf der Beteiligung in Form eines erhöhten Kaufpreises, mit dem der Erwerber bestehende Gewinnrücklagen vergütet. Deshalb gilt auch für den Erlös aus der Veräußerung von Beteiligungen an Körperschaften für natürliche Personen entweder das Teileinkünfteverfahren (im Betriebsvermögen gehaltene Beteiligungen sowie Veräußerungsgewinne i.S.d. § 17 EStG) bzw. die Abgeltungsteuer (im Privatvermögen gehaltene Beteiligungen , 1 %). Bei Veräußerung durch eine Körperschaft ist der Gewinn nach § 8b II 1, III 1 KStG zu 95 % steuerfrei; s. Rz. 39 ff. und § 13 Rz. 41). Dies gilt nach wie vor auch für die Veräußerung von Streubesitz.
20 Für Ausschüttungen vor dem 1.1.2009 Halbeinkünfteverfahren.
Hey 745
§ 11 Rz. 15
Körperschaftsteuer
Die Befreiung von der KSt bzw. die Ermäßigung der ESt auf Veräußerungsgewinne vermeidet Verzerrungen zwischen Ausschüttung und Veräußerung der Beteiligung; sie ist zur Vermeidung einer mehrfachen Belastung jedenfalls insoweit gerechtfertigt, als der Kaufpreis der Beteiligung durch bereits mit KSt belastete Rücklagen bestimmt wird. Die Rechtfertigung ist jedoch fraglich, soweit mit dem Kaufpreis auch sonstige Werte (stille Reserven, Geschäftswert) entgolten werden oder wenn der Kaufpreis etwa durch Börsenkursschwankungen ohne Rücksicht auf die Werthaltigkeit der veräußerten Beteiligung gebildet wird21. Soweit die umfassende Veräußerungsgewinnbefreiung damit gerechtfertigt wird, dass der Erwerber die latente Steuerlast der stillen Reserven in einer Minderung des Kaufpreises auf den Veräußerer überwälzt22, wird zumindest gegen das Individualsteuerprinzip (s. § 3 Rz. 14; § 8 Rz. 22 ff.) verstoßen. 15 Teileinkünfteverfahren und Beteiligungsertragsbefreiung korrespondieren mit Beschränkungen des
Abzugs von Beteiligungsaufwendungen durch § 3c II EStG23; § 8b III, V KStG, die zum Ausschluss von Umgehungen auch für Aufwendungen in Zusammenhang mit Gesellschafterdarlehen gelten (§ 3c II 2–4 EStG; § 8b III 4–7 KStG; s. dazu Rz. 41 f.). Dabei kommt es gem. § 3c II 7 EStG24 für den Ausschluss des Abzugs nicht mehr darauf an, ob dem Stpfl. in dem betreffenden Veranlagungszeitraum tatsächlich steuerbefreite Einnahmen zufließen (so zuvor die Rspr.25). Ausreichend ist, dass der Stpfl. die Absicht zur Erzielung von Betriebsvermögensmehrungen oder Einnahmen i.S.v. § 3 Nr. 40 EStG hat. Die Gesetzesänderung mag Zufälligkeiten und Gestaltungsmöglichkeiten, die sich aus dem Abschnittsprinzip ergeben, vermeiden. Die Ausweitung des Abzugsverbots verdeckt jedoch, dass § 3c II EStG, soweit Aufwendungen erfasst werden, die in Zusammenhang mit laufenden Beteiligungserträgen stehen, insg. verfehlt ist. Statt § 3c II EStG zu verschärfen, hätte der Gesetzgeber die Regelung abschaffen müssen. Die Verknüpfung des Teileinkünfteverfahrens bzw. der Beteiligungsertragsbefreiung mit den Beschränkungen des Abzugs von Aufwendungen durch § 3c II EStG; § 8b V KStG (dazu i.E. Rz. 41 f.) ist entgegen der Rspr.26 nicht gerechtfertigt27. Da die Steuerbefreiungen in § 3 Nr. 40 EStG; § 8b I KStG lediglich ein steuertechnisches Instrument darstellen, um die Vor21 Krit. Bareis, StuW 2000, 133 (141 f.); von Lishaut, StuW 2000, 182 (192 f.); Hey, DStJG 24 (2001), 155 (203); Krause-Junk in Lüdicke, Internationale Aspekte der Unternehmenssteuerreform, 2001, 1 (6); Pezzer, DStJG 25 (2002), 37 (56); Romswinkel, GmbHR 2002, 1059; Spengel/Schaden, DStR 2003, 2192 (2194 ff.); HHR/Watermeyer, § 8b KStG Anm. 5 (2014); a.A. Wenger, StuW 2000, 177 (181); Schön, StuW 2000, 151 (158); J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (92 ff.); Rödder, DStJG 25 (2002), 253 (276); Briese, StuB 2003, 440; Scheffler, DB 2003, 680; Herzig, DB 2003, 1459; Schreiber/Rogall, BB 2003, 497; Englisch, Dividendenbesteuerung, Diss., 2005, 390 f.; ausf. Roderburg, Die Steuerfreiheit der Anteilsveräußerungsgewinne im neuen Körperschaftsteuerrecht, Diss., 2005, 278 ff.; zum Einfluss auf die Bildung von Anteilskaufpreisen Eisgruber/Glass, DStR 2003, 389; Rogall, DStR 2003, 750. 22 BFH v. 19.6.2007 – VIII R 69/05, BStBl. II 2008, 551 (553 f.). 23 Grundl. zu § 3c II EStG Beck, Die Besteuerung von Beteiligungen an körperschaftsteuerpflichtigen Steuersubjekten im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht unter Berücksichtigung der Erwerbsaufwendungen der Steuerpflichtigen, Diss., 2004; Wäckerlin, Betriebsausgabenabzugsbeschränkung und Halbeinkünfteverfahren, Diss., 2006; Münch, Die Abziehbarkeit von Finanzierungsaufwendungen im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht. Insb. § 3c I, II EStG; § 8b III, V sowie § 8a KStG, Diss., 2006, 115 ff.; Stiller, StuW 2011, 75; Zachmann, Die Verfassungsmäßigkeit des § 3c Abs. 2 EStG und seine Anwendung in der steuerlichen Gewinnermittlung, Diss., 2015. 24 Dazu insb. auch zur Rechtsentwicklung Förster, GmbHR 2011, 393; Nacke, FR 2011, 699; Lendewig/ Jaschke, SteuerStud 2011, 174. 25 Vgl. nur BFH v. 6.4.2011 – IX R 61/10, BStBl. II 2012, 8 (m.w.N. der Rspr.); v. 1.10.2014 – IX R 13/13, BFH/NV 2015, 198. 26 BFH v. 19.6.2007 – VIII R 69/05, BStBl. II 2008, 551. 27 Wie hier Schön, FR 2001, 381; Englisch, FR 2008, 230; Intemann, DB 2007, 2797 (2799 ff.); Förster, GmbHR 2011, 393; Frotscher, DStR 2001, 2045; Briese, StuB 2003, 440; Maiterth/Wirth, DStR 2004, 433; S. Wagner, StuB 2004, 495; Herzig, DStJG 28 (2005), 185 ff.; Thömmes, IStR 2005, 685; Heuermann, DB 2005, 2708; Intemann, DB 2007, 1658 (1659); Greulich/Hamann/Krohn, StBp. 2007, 238; Piltz, DStJG 30 (2007), 211 (226 ff.); Weiß, SteuerStud 2008, 287; Seer, GmbHR 2009, 1036 (1045); Eckhoff, FS Steiner, 2009, 118 (132); a.A. ab UntStRef 2008 Zachmann, Die Verfassungsmäßigkeit des § 3c Abs. 2 EStG und seine Anwendung in der steuerlichen Gewinnermittlung, Diss., 2015, 142.
746
Hey
III. Körperschaftsteuersystem
Rz. 17 § 11
belastung der Ausschüttungen mit KSt zu berücksichtigen und eine Mehrfachbelastung zu verhindern, die Ausschüttungen wirtschaftlich also keineswegs steuerfrei sind (unechte Steuerbefreiung), verstößt das Abzugsverbot für damit zusammenhängende Aufwendungen gegen das objektive Nettoprinzip und Art. 3 I GG. Die – zugegebenermaßen großzügige – Typisierung der Vorbelastung durch die (partielle) Steuerbefreiung von Veräußerungsgewinnen (s. Rz. 14) kann entgegen dem BFH zur Rechtfertigung nicht herangezogen werden, da sie in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit den Beteiligungsaufwendungen steht. Das partielle Abzugsverbot für Beteiligungsaufwendungen ist entgegen dem BFH auch nicht im Hinblick auf den nur anteiligen Ansatz der Anschaffungskosten im Rahmen der Veräußerungsgewinnermittlung folgerichtig. Jener ist durch die Technik bedingt, die der Gesetzgeber für die Ermittlung des partiell steuerpflichtigen Veräußerungsgewinns gewählt hat. Der partielle Ansatz der Anschaffungskosten korrespondiert mit dem partiellen Ansatz des Veräußerungspreises. Die Beteiligungsaufwendungen liegen dagegen auf einer Ebene mit den Veräußerungskosten. Beide müssten vollständig zum Abzug zugelassen werden28. 3.2 Gründe für den Systemwechsel vom Anrechnungsverfahren zu einem klassischen System mit Teilentlastung Die Ersetzung des Vollanrechnungsverfahrens durch ein klassisches System mit pauschalem Entlas- 16 tungsmechanismus (Halbeinkünfte-/Teileinkünfteverfahren, Abgeltungsteuer) durch die Unternehmensteuerreformen 2000 und 2008 stellen einen steuersystematischen Rückschritt dar29. Die nur pauschal abgemilderte Doppelbelastung ist mit dem Grundsatz gleichmäßiger Besteuerung aller Einkunftsarten prinzipiell unvereinbar (s. Rz. 19 f.). Die weitere Absenkung der Vorbelastung durch die Unternehmensteuerreform 2008 schwächt das Problem der Doppelbelastung zwar ab (zu den Belastungswirkungen s. Rz. 19), beseitigt es aber nicht. Nicht überzeugend war die Begründung, das Anrechnungsverfahren sei zu kompliziert und miss- 17 brauchsanfällig gewesen30. Auch die Notwendigkeit der Gegenfinanzierung der kontinuierlichen Absenkung des Körperschaftsteuersatzes ist keine Rechtfertigung. Gewichtiger waren jedoch die europarechtlichen Einwände gegen das Anrechnungsverfahren, die zwischenzeitlich durch den Europäischen Gerichtshof bestätigt wurden31. Das Anrechnungsverfahren war auf die Anrechnung inländischer KSt beschränkt; hierin lag ein Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit. In den Rs. Meilicke I und II32 hatte der EuGH den Anspruch auf Anrechnung ausl. KSt, dem der Gesetzgeber für die Zukunft mit dem Systemwechsel begegnet war, dem Grunde nach anerkannt. Hieraus resultiert allerdings weniger eine Gefahr für das inländische Steueraufkommen, es zeigte sich vielmehr, dass die Umsetzung grenzüberschreitender Körperschaftsteueranrechnung ohne aufeinander abgestimmte Systeme im Staat der ausschüttenden Gesellschaft und im Staat des Empfängers eher theoretischer Natur ist, weil es für den Empfänger einer Dividende aus einem anderen Staat fast unmöglich ist, die auf die Dividende entfallende KSt nachzuweisen und die Gutschrift tatsächlich geltend zu machen33.
28 Wie hier Stiller, StuW 2011, 75 (76 f.). 29 S. den von Siegel initiierten Aufruf von 78 Professoren, „Verteidigt das Anrechnungsverfahren gegen unbedachte Reformen!“, BB 2000, 1269 f.; Bareis, StuW 2000, 133 (135 f.); Bareis, BB 2003, 2315. 30 So BT-Drucks. 14/2683, 132 ff. 31 EuGH v. 6.3.2007 – C-292/04, ECLI:EU:C:2007:132 – Meilicke; dazu Schön, DStJG 37 (2014), 217 (242); zuvor schon EuGH v. 7.9.2004 – C-319/02, ECLI:EU:C:2004:484 – Manninen; v. 6.6.2000 – C-35/98, ECLI:EU:C:2000:294 – Verkooijen; v. 15.7.2004 – C-315/02, ECLI:EU:C:2004:446 – Lenz. 32 EuGH v. 6.3.2007 – C-292/04, ECLI:EU:C:2007:132 – Meilicke I; EuGH v. 30.6.2011 – C-262/09, ECLI:EU:C:2011:438 – Meilicke II. 33 S. im Einzelnen das Schlussurteil des BFH v. 15.1.2015 – I R 69/12, BFH/NV 2015, 1037; zu Recht krit. Anm. Meilicke, IStR 2015, 482; Intemann, NWB 2016, 36 (42 f.); Gosch, BFH/PR 2015, 267; s. auch EuGH v. 11.9.2014 – C-47/12, ECLI:EU:C:2014:2200 – Kronos International; hierzu de Werth, DB 2014, 2252.
Hey 747
§ 11 Rz. 18 18
Körperschaftsteuer
Das seit 2001 geltende klassische System mit Teilentlastung vermeidet den Konflikt mit dem Europarecht. Sowohl die teilweise Freistellung nach § 3 Nr. 40 EStG als auch der Abgeltungsteuersatz (mit Anrechnung ausländischer Kapitalertragsteuer gem. § 32d V EStG) und die Beteiligungsertragsbefreiung (§ 8b I KStG) finden unterschiedslos für In- und Auslandsdividenden Anwendung. Die bisherige Benachteiligung beschränkt steuerpflichtiger Anteilseigner, die mangels Veranlagung (vgl. § 50 V 1 EStG i.d.F. des JStG 200834) nicht in den Genuss des Teileinkünfteverfahrens kommen, wird bei Beteiligungen im Privatvermögen seit 2009 durch die Abgeltungsteuer beseitigt; zukünftig kann es auf Grund der regelmäßig eingreifenden DBA-Quellensteuerreduktion sogar zu Vorteilen ausländischer Anleger kommen35. 3.3 Bewertung der Belastungswirkungen beim Anteilseigner
19
In der Unternehmensteuerreform 2000 strebte der Gesetzgeber durch das Halbeinkünfteverfahren für Anteilseigner mit Grenzsteuersatz von 40 % eine exakt der Belastung anderer Einkünfte entspr. Belastung von Beteiligungserträgen an. Bei dieser Betrachtung wurde jedoch nur auf die Vorbelastung mit KSt i.H.v. 25 % abgestellt. Die Gewerbesteuer wurde zu Unrecht ausgeblendet. Unter Einbeziehung von Gewerbesteuer (Hebesatz 400 %) und SolZ musste mit einer Vorbelastung auf Gesellschaftsebene von 38,6 % gerechnet werden, so dass sich beim Anteilseigner stets eine deutliche Mehrbelastung gegenüber anderen Einkünften ergab (z.B. 50,88 % gegenüber 40 %). Durch die Unternehmensteuerreform 2008 sank die Gesamtbelastung auf Grund der Absenkung der Vorbelastung auf 29,825 % (KSt/SolZ/400 % GewSt) für Ausschüttungen im Betriebsvermögen trotz der Anhebung des einkommensteuerpflichtigen Anteils der Dividende von 50 % auf 60 % insgesamt deutlich ab36. Beim Anteilseigner mit Grenzsteuersatz 40 % beträgt die Gesamtbelastung jetzt nur noch 46,7 %. Für Ausschüttungen im Privatvermögen ergibt sich auf Grund der seit 2009 eingreifenden Abgeltungsteuer ein uneinheitliches Bild. Einerseits liegt die Gesamtbelastung unabhängig vom individuellen Grenzsteuersatz bei maximal 47,3 % (ohne SolZ). Andererseits kommt es für Anteilseigner mit Grenzsteuersatz unter 25 % in Zukunft zu einer ungemilderten wirtschaftlichen Doppelbelastung, da bei Veranlagung gem. § 32d VI EStG die volle Dividende versteuert werden muss. Verhindert wird nur die Anwendung des gegenüber dem individuellen Einkommensteuersatz höheren Abgeltungsteuersatzes. Belastungswirkungen von Teileinkünfteverfahren/Abgeltungsteuer seit 2009 I.
II.
Ebene der Kapitalgesellschaft 1.
Gewinn vor Steuern
2.
KSt/SolZ/GewSt (400 %)
100
3.
Ausschüttbarer Gewinn
29,8
Ebene des Anteilseigners 4.
Persönlicher ESt-Satz in %
5.
Einkommensteuerschuld (ohne SolZ)
70,2 0
10
20
30
40
45
a)
Teileinkünfteverfahren (60 %)
0
4,2
8,4
12,6
16,8
18,9
b)
Abgeltungsteuer/Veranlagung
0
7,0
14,0
17,5
17,5
17,5
34 JStG 2008 v. 20.12.2007, BGBl. I 2007, 3150. 35 Rädler, DB 2007, 988; Kube, IStR 2010, 301 (304 ff.): europarechtlich daher unbedenklich. 36 Vgl. auch den Belastungsvergleich BT-Drucks. 16/4841, 46; zu den Belastungswirkungen mit Abgeltungsteuer seit 2009 Schiffers, GmbHStB 2008, 141 u. 262.
748
Hey
III. Körperschaftsteuersystem
Rz. 21 § 11
Belastungswirkungen von Teileinkünfteverfahren/Abgeltungsteuer seit 2009 III. Steuerlast 6.
Gesamtbelastung a)
Teileinkünfteverfahrten (60 %)
29,8
34,0
38,2
42,5
46,7
48,8
b)
Abgeltungsteuer/Veranlagung
29,8
36,8
43,8
47,3
47,3
47,3
Die Abbildung verdeutlicht die Verzerrungen der Belastungsrelation im Vergleich zu anderen Ein- 20 künften. Der aus Art. 3 I GG abzuleitende Grundsatz, dass alle Einkünfte entsprechend der dadurch gesteigerten Leistungsfähigkeit als gleichwertig anzusehen und gleichmäßig zu besteuern sind, wird durchbrochen37. Ob die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele eines einfach zu handhabenden, missbrauchsresistenten und europarechtskonformen Verfahrens die verzerrenden Wirkungen des Teileinkünfteverfahrens rechtfertigen können, ist zweifelhaft. Das BVerfG hat an der Ungleichbehandlung von Dividenden gegenüber anderen Einkünften allerdings mit dem wenig überzeugenden Hinweis auf die Abschirmwirkung der Körperschaft keinen Anstoß genommen38. Legt man diese Rspr. gleichwohl zugrunde, fehlt es aber jedenfalls an einer Rechtfertigung der Ungleichbehandlung je nachdem, ob die Beteiligung im Betriebs- oder im Privatvermögen gehalten wird. Privatanleger werden außer bei sehr hohem individuellem Einkommensteuersatz gegenüber betrieblichen Anlegern in doppelter Weise benachteiligt39, indem einerseits auch bei Veranlagung der volle Beteiligungsertrag in die einkommensteuerrechtliche Bemessungsgrundlage eingeht und andererseits trotz Veranlagung tatsächliche Werbungskosten oberhalb des Sparer-Pauschbetrags von 801/1 602 Euro grds. nicht geltend gemacht werden können (§ 20 IX 1 EStG). Demgegenüber können im Teileinkünfteverfahren gem. § 3c II EStG in wirtschaftlichem Zusammenhang mit den Einnahmen stehende Aufwendungen zu 60 % abgezogen werden. Der Gesetzesbegründung ist die erhebliche Diskriminierung gerade der Kleinanleger keine Zeile einer Begründung wert. Eine Rechtfertigung dieser gleichheitssatzwidrigen Benachteiligung der Privatanleger ist nicht ersichtlich40, zumal frühere Unterschiede im Besteuerungsumfang durch die nunmehr geltende volle Steuerbarkeit privater Veräußerungsgewinne aus Beteiligungen (§ 20 II 1 Nr. 1 EStG) beseitigt wurden. Auch die Optionsmöglichkeit des § 32d II Nr. 3 EStG (Beteiligung von mind. 25 % oder von mind. 1 % und berufliche Tätigkeit für die Gesellschaft) schafft, insb. nachdem die Voraussetzungen des § 32d II Nr. 3 Buchst. b EStG verschärft wurden41, keine Abhilfe. Verletzt ist zudem das Gebot der Finanzierungsneutralität (§ 7 Rz. 7), weil Dividenden im Vergleich 21 mit ebenfalls abgeltungsbesteuerten, aber nicht vorbelasteten Zinseinkünften (§ 20 I Nr. 7 EStG; s. dazu § 8 Rz. 492 ff.) steuerlich benachteiligt werden42. Das erhebliche Belastungsgefälle zugunsten von Zinseinkünften setzt einen massiven Anreiz zur Gesellschafterfremdfinanzierung, dem der Gesetz37 Vgl. BVerfG v. 8.10.1991 – 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348 (363 f.); v. 10.4.1997 – 2 BvL 77/92, BVerfGE 96, 1 (6); v. 30.9.1998 – 2 BvR 1818/91, BVerfGE 99, 88; BFH v. 24.2.1999 – X R 171/96, BStBl. II 1999, 450. 38 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (200). 39 Weitere Einzelheiten Loos, DB 2007, 704. 40 Ebenso Intemann, DB 2007, 1658 (1660 f.); krit. ferner Loos, DB 2007, 704; Fischer, DStR 2007, 1898; Jachmann, DStJG 34 (2011), 251 (261). 41 Durch Gesetz v. 20.12.2016, BGBl. I 2016, 3000, wird entgegen BFH v. 25.8.2015 – VIII R 3/14, BStBl. II 2015, 892, der Anwendungsbereich dadurch eingeschränkt, dass bei Beteiligungen zwischen einem und 25 % die berufliche Tätigkeit in der Gesellschaft allein nicht ausreicht, vielmehr muss durch diese maßgeblicher unternehmerischer Einfluss genommen werden. Dieser Versuch einer einschränkenden Typisierung des unternehmerisch tätigen Kapitalgesellschafters hat keine Entsprechung bei im Betriebsvermögen gehaltenen Beteiligungen und läuft dem Zweck der Vorschrift, Übermaßbesteuerung zu vermeiden – wie der BFH zutreffend festgestellt hatte – zuwider. 42 Hierzu und zu Abhilfemöglichkeiten s. Schön, DStJG 37 (2014), 217 (244 ff.).
Hey 749
§ 11 Rz. 23
Körperschaftsteuer
geber mit § 32d II 1 Nr. 1b EStG zu begegnen versucht, indem für Kapitalerträge i.S.d. § 20 I Nr. 4 u. 7 EStG (Einkünfte aus stiller Beteiligung und Zinseinkünfte) statt des Abgeltungsteuersatzes der reguläre Einkommensteuertarif zur Anwendung kommt, wenn sie von einer Körperschaft an einen zu mind. 10 % beteiligten Gesellschafter oder eine nahestehende Person gezahlt werden. § 32d II 1 Nr. 1c Satz 1 EStG bezieht sog. Back-to-Back-Finanzierungen ein, bei denen ein die Kapitalerträge schuldender Dritter (Bank) im Zusammenhang mit der Kapitalanlage seinerseits Kapital an den Betrieb des Gläubigers überlassen hat; s. auch § 8 Rz. 501. 22
Einstweilen frei.
B. Subjektive Steuerpflicht I. Körperschaftsteuersubjekte i.S.d. §§ 1 I Nr. 1–6, 3 KStG 23
§ 1 I KStG enthält einen Katalog der Körperschaftsteuersubjekte43: a) Kapitalgesellschaften (insb. Europäische Gesellschaften44, AG45, KG auf Aktien46, GmbH47); Unter § 1 I Nr. 1 fällt auch die durch MoMiG v. 23.10.2008 in § 5a GmbHG eingeführte Unternehmergesellschaft (UG). Das SEStEG hat den Katalog der Nr. 1 mit der Aufnahme der Europäischen Gesellschaft (Societas Europaea = SE) sowie durch Öffnung („insbesondere“) für nach ausländischem Recht gegründete Kapitalgesellschaften an die Rspr. des EuGH zur Sitzverlegung angepasst (s. auch Rz. 31). b) Genossenschaften48 einschließlich der Europäischen Genossenschaften49; c) Versicherungs- und Pensionsfondsvereine auf Gegenseitigkeit; 43 Überblick s. Schönwald, SteuerStud 2004, 498; grundlegend Martini, Der persönliche Körperschaftsteuertatbestand. Eine rechtsvergleichend-historische Analyse der Bestimmung von eigenständig steuerpflichtigen Personenvereinigungen, Diss. 2016. 44 Schön/Spindler, IStR 2004, 571; Herzig, Besteuerung der Europäischen Aktiengesellschaft, 2004; Bartone/ Klapdor, Die Europäische Aktiengesellschaft, 2005; Rödder, DStR 2005, 893; Albert, ifst-Schrift 426 (2005); Schaumburg, JbFSt. 2005/06, 105; Erkis, Die Besteuerung der Europäischen (Aktien-) Gesellschaft, Diss., 2006; Kessler/Huck, DK 2006, 352; Eggers, Gründung und Sitzverlegung einer SE aus ertragsteuerrechtlicher Sicht, Diss., 2006; Schäfer-Elmayer, Besteuerung einer in Deutschland ansässigen Holding in der Rechtsform der SE (Societas Europaea), Diss., 2007; Schön/Schindler, Die SE im Steuerrecht, 2008; zur Verbreitung der SE Eidenmüller/Engert, AG 2008, 721; zur Einführung einer europäischen Privatgesellschaft (Europa-GmbH) Hommelhoff/Teichmann, DStR 2008, 925; zu deren Besteuerung Balmes/Rautenstrauch/Kott, DStR 2009, 1557. 45 Müller/Rödder, Beck’sches Hdb. der AG: Gesellschaftsrecht, Steuerrecht, Börsengang2, 2009. 46 Zur Besteuerung der KGaA s. Schaumburg/Schulte, Die KGaA, 2000; Hölzl, Die Besteuerung der KGaA, Diss., 2003; Schütz/Bürgers/Riotte, Die KGaA, 2004; Kessler, FS Korn, 2005, 307; Hageböke/Koetz, DStR 2006, 293 (zu Fragen der Gewinnermittlung); Rohrer/Orth, BB 2007, 1594; Kusterer, DStR 2008, 484; Drüen/von Heck, DStR 2012, 541; Kollruss, DStZ 2012, 650; Wiss. Beirat Steuern Ernst & Young, DB 2014, 147 ff. 47 Historische Lit. s. 17. Aufl., § 11 Rz. 7 Fn. 33; aktuell: Seer, Die Entwicklung der GmbH-Besteuerung, 2005; Seer, GmbHR 2009, 1036; Tillmann/Schiffers/Wälzholz, Die GmbH im Gesellschafts- und Steuerrecht6, 2015; Hottmann u.a., Die GmbH im Steuerrecht4, 2015; Müller/Winkeljohann, Beck’sches Hdb. der GmbH: Gesellschaftsrecht, Steuerrecht5, 2014. 48 Historische Lit. s. 20. Aufl., § 11 Rz. 23 Fn. 34. Stracke, Besteuerung von Genossenschaften in der Europäischen Union, Diss., 1997; Kühnberger/Th. Schmidt, Die Rechnungslegung der Genossenschaften, 2002; Beuthien/Dierckes/Werheim, Die Genossenschaft, Teil 2: Steuerrecht, 2008. 49 Umsetzung der VO Nr. 1435/2003 über das Statut der Europäischen Genossenschaften (SCE), ABl. L 207 v. 18.8.2003, 1.
750
Hey
B. Subjektive Steuerpflicht
Rz. 25 § 11
d) sonstige juristische Personen des privaten Rechts; e) nichtrechtsfähige Vereine50, Anstalten, Stiftungen51 und andere Zweckvermögen des privaten Rechts52; f) Betriebe gewerblicher Art von juristischen Personen des öffentlichen Rechts (dazu Rz. 28 ff.). Das Gesetz knüpft an die Rechtsform an. Deshalb sind alle juristischen Personen des privaten Rechts 24 (a–d) stets Körperschaftsteuersubjekte (KSt als „ESt der juristischen Person“). Nichtrechtsfähige Personenvereinigungen und Vermögensmassen des privaten Rechts (e) sind dagegen nach § 3 I KStG nur dann körperschaftsteuerpflichtig, wenn ihr Einkommen weder nach dem Körperschaftsteuergesetz noch nach dem Einkommensteuergesetz unmittelbar bei einem anderen Stpfl. zu versteuern ist53. Damit ist auf den vorrangig zu prüfenden § 15 I 1 Nr. 2 EStG hingewiesen (s. § 10 Rz. 10 ff.). Der Große Senat des BFH54 hat entgegen anderen Auffassungen in der Literatur55 eine Publikums-GmbH & Co. KG trotz der wirtschaftlichen Vergleichbarkeit (beschränkte Haftung, Gesellschafterstruktur) weder als Kapitalgesellschaft i.S.d. § 1 I Nr. 1 KStG noch als nichtrechtsfähigen Verein i.S.d. § 1 I Nr. 5 KStG oder nichtrechtsfähige Personenvereinigung i.S.d. § 3 I KStG qualifiziert. Die Einordnung als Körperschaftsteuersubjekt scheitert daran, dass die GmbH & Co. KG zivilrechtlich eine Personengesellschaft ist, deren Einkünfte nach § 15 I 1 Nr. 2 EStG den Gesellschaftern zuzurechnen sind. Dies entspricht der im Körperschaftsteuerrecht ursprünglich getroffenen56 und bis heute unveränderten gesetzgeberischen Entscheidung, an die zivilrechtliche Rechtsform anzuknüpfen. Ausnahmen von der strikten Anknüpfung an die Rechtsform würden im geltenden Körperschaftsteuerrecht einen kaum zu rechtfertigenden Systembruch bedeuten. Die gebotene gleichmäßige Besteuerung aller Unternehmensformen ist nur de lege ferenda zu erreichen (s. § 13 Rz. 177 ff.).
Verbundene Unternehmen (§ 15 AktG), insb. Konzernunternehmen (§ 18 AktG), bleiben selbstän- 25 dige Körperschaftsteuersubjekte, auch wenn eine Organschaft (§§ 14 ff. KStG, s. § 14 Rz. 1 ff.) besteht. Handelsrechtlich ist dagegen seit 2005 für kapitalmarktorientierte Unternehmen ein einheitliches Konzernergebnis auf der Grundlage von IAS/IFRS zu ermitteln57. Zur Weiterentwicklung der Organschaft in Richtung einer Gruppenbesteuerung s. § 14 Rz. 28 ff.
50 Zweifelhaft BFH v. 18.12.1996 – I R 16/96, BStBl. II 1997, 361; grundl. Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, Habil., 2003; Lit. zur Besteuerung von Vereinen s. § 20 vor Rz. 1. 51 Braun, Die steuerpflichtige und gemeinnützige Stiftung aus der Betrachtung zweier Rechtsordnungen, Diss., 2000; Wachter, Stiftungen, 2001; Sandberg, Grundsätze ordnungsmäßiger Jahresrechnung für Stiftungen, Habil., 2001; Berndt/Götz, Stiftungen und Unternehmen: Zivilrecht, Steuerrecht, Gemeinnützigkeit8, 2009; Binz/Sorg, Die Stiftung5, 2008; Ohlmann, Die Stiftung als steuerliches Gestaltungs- und Finanzierungsinstrument, 2004; Brandmüller/Lindner, Gewerbliche Stiftungen3, 2005; v. Campenhausen/Richter, Stiftungsrechts-Hdb.4, 2014; Geringhoff, Das Stiftungssteuerrecht in den USA und Deutschland – ein Rechtsvergleich, Diss., 2007; Orth, WPg 2007, 969; Zimmermann, NJW 2011, 2931; weitere Lit. § 20 Rz. 4. 52 Dazu Schmidt, Zum Begriff des „Zweckvermögens“ in Rechts- und Finanzwissenschaft, VerwArch. 60 (1969), 295 ff. u. 61 (1970), 60 ff.; Streck, StuW 1975, 135; Breuninger/Orth/Prinz/Raupach, JbFSt. 1993/94, 341; Blümich/Rengers, § 1 KStG Rz. 113 ff. (2017). 53 Dazu grundl. Martini, DStR 2012, 388. 54 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (756 ff.). 55 Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, 1980, 407 ff.; Walz, Gutachten F zum 53. DJT, 1980, 95 ff.; s. ferner (z.T. de lege ferenda) Schulze-Osterloh, DStJG 5 (1982), 241 (253 f.); Schulze-Osterloh, JbFSt. 1985/86, 232; Uelner, JbFSt. 1980/81, 359 (371 f.); Andreas, Die steuerliche Qualifikation körperschaftlich strukturierter Personengesellschaften und kapitalistisch beteiligter Personengesellschafter, Diss., 1984; Döllerer, StuW 1988, 20; Boles/Walz, GmbHR 1986, 435; zur neueren Reformdiskussion (zwingende Einbeziehung der GmbH & Co. KG in die KSt) Hey, FS Raupach, 2006, 479 (492 f.). 56 Dazu Evers, Kommentar zum KStG 19252, 1927, Einl. 27 f. 57 Dazu Erle/Heurung in Erle/Sauter3, Vor §§ 14–19 KStG Rz. 59 ff.
Hey 751
§ 11 Rz. 26
Körperschaftsteuer
II. Beginn und Ende der Körperschaftsteuerpflicht 26
Die Anknüpfung an die Rechtsform stößt auf Schwierigkeiten, wenn das im Werden begriffene Gebilde bereits vor seiner juristischen Entstehung tätig wird: Die in der Phase bis zur Errichtung (durch Abschluss des Gesellschaftsvertrags oder der Satzung) bestehende Vorgründungsgesellschaft ist entsprechend der zivilrechtlichen Qualifikation als BGB-Gesellschaft bzw. OHG kein Steuersubjekt i.S.d. § 1 I KStG, sondern Mitunternehmerschaft i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG. Verluste aus der Vorgründungsphase werden dementsprechend unmittelbar den Mitunternehmern zugerechnet und gehen nicht auf die künftige juristische Person über. Die in der Gründungsphase zwischen Errichtung und Registereintragung bestehende Vorgesellschaft wird zivilrechtlich überwiegend als Gesellschaft sui generis aufgefasst, die im Wesentlichen nach dem Recht der künftigen juristischen Person behandelt wird. Dementsprechend werden auch im Steuerrecht auf die Vorgesellschaft diejenigen Vorschriften angewendet, die nach der Registereintragung für die juristische Person gelten58. Die Körperschaftsteuerpflicht der Vorgesellschaft entfällt rückwirkend wieder, wenn es letztlich nicht zu einer Eintragung ins Handelsregister kommt59. Dann gilt das Recht der Personengesellschaften.
27
Für die Beendigung der Körperschaftsteuerpflicht gilt Folgendes: Die Körperschaft besteht auch nach ihrer Löschung im Handelsregister fort, solange sie zivilrechtlich besteht, d.h. noch über bilanzierungsund bewertungsfähige Vermögensgegenstände verfügt, vgl. auch § 11 KStG (hierzu Rz. 100)60.
III. Juristische Personen des Öffentlichen Rechts (Öffentliche Unternehmen) Literatur: Selmer, Besteuerung öffentlicher Unternehmen und Wettbewerbsneutralität, DÖV 1978, 381; Riegler, Besteuerung öffentlicher Betriebe 1920–1989, 1990 (Materialsammlung); Seer, Inhalt und Funktion des Begriffs „Betrieb gewerblicher Art“ für die Besteuerung der öffentlichen Hand, DStR 1992, 1751 u. 1790; Bader, Hoheitsbetrieb und Betrieb gewerblicher Art im Umsatz- und Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1997; Siegel, Der Begriff des Betriebs gewerblicher Art, Diss., 1999; F. Kirchhof, Wettbewerbsschutz durch Besteuerung der Betriebe gewerblicher Art?, FS Offerhaus, 1999, 333; Landwehr, Betriebe gewerblicher Art von juristischen Personen des öffentlichen Rechts im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 2000; Seer/Wendt, Strukturprobleme der Besteuerung der öffentlichen Hand, DStR 2001, 825; Steffen, Der Betrieb gewerblicher Art. Die Zusammenfassung von wirtschaftlichen Tätigkeiten der juristischen Person des öffentlichen Rechts, Diss., 2001; Hilgenstock, Besteuerung öffentlicher Unternehmen, Diss., 2002; Hüttemann, Die Besteuerung der öffentlichen Hand, 2002; Seer/Wolsztynski, Steuerrechtliche Gemeinnützigkeit der öffentlichen Hand, 2002; Gastl, Die Besteuerung juristischer Personen des öffentlichen Rechts – eine kritische Bestandsaufnahme, DStZ 2003, 99; Kußmaul/Blasius, Körperschaftsteuerlich relevante Betätigungsfelder der öffentlichen Hand, INF 2003, 21; Wolf, Steuerliche Privilegien staatlicher Wirtschaftstätigkeit, DB 2003, 849; Häck, Die öffentliche Hand im Körperschaft- und Umsatzsteuerrecht, Diss., 2004; Strahl, Die Abgren-
58 BFH v. 8.11.1989 – I R 174/86, BStBl. II 1990, 91; zu Einzelfällen HHR/Klein, § 1 KStG Anm. 68 ff. (2014); a.A. Hüttemann, FS Wassermeyer, 2005, 27 (31 ff.). S. ferner Joswig, Gründungsbilanzierung bei Kapitalgesellschaften nach Handels- und Steuerrecht, Diss., 1995; Klose, Die Gründung der GmbH zwischen Gesellschafts- und Steuerrecht, Diss., 1995; Kautz, Die Vorgesellschaft im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 2000; Crezelius, FS Wassermeyer, 2005, 15. Martini, Der persönliche Körperschaftsteuertatbestand, Diss. 2016, 120 ff., stützt die Körperschaftsteuerpflicht der Vorgesellschaft überzeugend auf die Statutenidentität. 59 Dazu BFH v. 7.4.1998 – VII R 82/97, BStBl. II 1998, 531; v. 18.3.2010 – IV R 88/06, BStBl. II 2010, 991 (auch für Einpersonen-Gründung); zustimmend Levedag, in Rödder/Herlinghaus/Neumann, 2015, § 1 KStG Rz. 56 (2015); anders Martini, Der persönliche Körperschaftsteuertatbestand, Diss. 2016, 126 f., ausschließlich nach der Willensrichtung der Gründer (Eintragungsabsicht) differenzierend, so dass die KStPflicht bei späterer Aufgabe des Eintragungswillens erst ab diesem Zeitpunkt entfallen soll. 60 BFH v. 29.10.1986 – I R 202/82, BStBl. II 1987, 308; v. 13.12.1989 – I R 98-99/86, BStBl. II 1990, 468; Fandrich, Das steuerliche Ende der Kapitalgesellschaften, Diss., 1996; HHR/Klein, § 1 KStG Anm. 72 ff. (2014).
752
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B. Subjektive Steuerpflicht
Rz. 28 § 11
zung hoheitlicher und wirtschaftlicher Tätigkeiten von Körperschaften des öffentlichen Rechts im Ertragsund Umsatzsteuerrecht, in FS Korn, 2005, 489; Beermann, Hoheitsbetriebe von Kirchen und Religionsgemeinschaften, Diss., 2005; Heidler, Besteuerung von juristischen Personen des öffentlichen Rechts und privaten gemeinnützigen Körperschaften. Analyse am Beispiel der Hochschulen, Diss., 2007; 30. Berliner Steuergespräch, FR 2009, Heft 7 mit Beiträgen von Heger, Hüttemann, Müller-Gatermann und Kurth; Seer/ Klemke, Abgrenzung des Betriebs gewerblicher Art vom Hoheitsbetrieb, BB 2010, 2015; Hidien/Versin, Die öffentliche Hand als Steuersubjekt, SteuerStud 2014, 662 u. 718; Hidien/Versin, Betriebe gewerblicher Art im Körperschaftsteuerrecht, SteuerStud 2015, 279 u. 337 u. 394.
Körperschaften des öffentlichen Rechts werden nur insoweit besteuert, als sie mit ihren Betrieben 28 gewerblicher Art (BgA) mit privaten Unternehmen konkurrieren. Dazu bestimmt § 4 KStG (inhaltlich): Betriebe gewerblicher Art von juristischen Personen des öffentlichen Rechts sind alle Einrichtungen, die einer nachhaltigen wirtschaftlichen Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen außerhalb der Land- und Forstwirtschaft dienen und die sich innerhalb der Gesamtbetätigung der juristischen Person wirtschaftlich herausheben61. Die Absicht, Gewinn zu erzielen, und die Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr sind nicht erforderlich (Abs. 1; § 8 I 2 KStG). Ein Betrieb gewerblicher Art ist auch dann Steuersubjekt, wenn er selbst juristische Person des öffentlichen Rechts ist (Abs. 2). Zu den Betrieben gewerblicher Art gehören auch Betriebe, die der Versorgung der Bevölkerung mit Wasser, Gas, Elektrizität oder Wärme, dem öffentlichen Verkehr oder dem Hafenbetrieb dienen (Abs. 3). Als Betrieb gewerblicher Art gilt auch die Verpachtung62 eines solchen Betriebs (Abs. 4). Zu den Betrieben gewerblicher Art gehören nicht Betriebe, die überwiegend der Ausübung der öffentlichen Gewalt dienen (Hoheitsbetriebe). Für die Annahme eines Hoheitsbetriebs reichen Zwangs- oder Monopolrechte nicht aus (Abs. 5). Mehrere Betriebe gewerblicher Art können unter den in Abs. 6 geregelten Voraussetzungen zusammengefasst werden63, um eine Ergebnisverrechnung von Gewinnen und Verlusten zu erreichen (hierzu Rz. 29). Der die Besteuerung der öffentlichen Hand rechtfertigende Grundsatz der Wettbewerbsneutralität findet im Gesetz keinen unmittelbaren Ausdruck, sondern ist im Wege der Auslegung beim Tatbestandsmerkmal des Hoheitsbetriebs zur Geltung zu bringen64. Wettbewerbsschutz ist dort angebracht, wo der Markt für private Wettbewerber offen ist und Angebot und Nachfrage bestehen. Wird die öffentliche Hand im Wege der Eingriffsverwaltung tätig, handelt sie unzweifelhaft hoheitlich. Schwierigkeiten bereitet die Abgrenzung dagegen im Bereich der Leistungsverwaltung und bei gemischter Tätigkeit. Hier kommt es auf das „Überwiegen“ an (s. § 4 V KStG: „überwiegend“, teleologisch unbefriedigend). Die Frage der Zuordnung von Versorgungsbetrieben löst § 4 III KStG dahingehend, dass er die wichtigsten Versorgungszweige dem gewerblichen Sektor zuordnet. Die Rspr. behilft sich i.Ü. mit der ebenfalls nicht trennscharfen Formel, die Tätigkeit müsse der öffentlichen Hand „eigentümlich und vorbehalten“ sein65. Ausgangspunkt ist dabei i.d.R. die verwaltungsrecht61 Dazu grundlegend BFH v. 11.1.1979 – V R 26/74, BStBl. II 1979, 748 f.; v. 3.2.2010 – I R 8/09, BStBl. II 2010, 502. Zu Recht krit. hinsichtlich der Relevanz des Tatbestandsmerkmals der Einrichtung Lock, ZKF 2011, 247 u. 273. 62 Dazu BFH v. 1.8.1979 – I R 106/76, BStBl. II 1979, 717 f.; v. 2.3.1983 – I R 100/79, BStBl. II 1983, 386; v. 25.10.1989 – V R 111/85, BStBl. II 1990, 868; zur Verpachtung von Hoheitsbetrieben s. Buciek, DStZ 1985, 113. 63 Ohne Verlust der grds. bilanziellen Eigenständigkeit, d.h. Beibehaltung der Zuordnung der einzelnen Wirtschaftsgüter zu dem jeweiligen BgA. vgl. Paetsch in Rödder/Herlinghaus/Neumann, 2015, § 4 KStG Rz. 125. 64 Teleologisch überzeugend BFH v. 30.6.1988 – V R 79/84, BStBl. II 1988, 910; v. 23.10.1996 – I R 1-2/94, BStBl. II 1997, 139; krit. Droege, BWVBl 2011, 41 (45 f.); zur Abgrenzung des gewerblichen Betriebs vom hoheitlichen Betrieb s. Laule, DStZ 1988, 183; Altehoefer, FS L. Schmidt, 1993, 677; Boetius, DBBeil. 17/1996; Baldauf, DStZ 2008, 327 u. 717; Seer/Klemke, BB 2010, 2015 ff.; Fiand, KStZ 2010, 61. 65 BFH v. 12.12.1951 – I 95/51 S, BStBl. III 1952, 41; v. 4.2.1976 – I R 200/73, BStBl. II 1976, 355; v. 30.6.1988 – V R 79/84, BStBl. II 1988, 910; v. 25.1.2005 – I R 63/03, BStBl. II 2005, 501; v. 12.7.2012 – I R 106/10, BStBl. II 2012, 837.
Hey 753
§ 11 Rz. 29
Körperschaftsteuer
liche Einordnung, die aber keineswegs immer Aufschluss über die Wettbewerbsrelevanz der Tätigkeit gibt. Jedenfalls der relevante Markt ist unabhängig von der Reichweite der öffentlich-rechtlichen Vorschriften zu bestimmen. Der BFH hat im Fall landesrechtlich der öffentlichen Hand vorbehaltener Tätigkeiten (Betrieb eines Krematoriums) zutr. erkannt, dass auch Wettbewerbsbeeinträchtigungen in anderen Bundesländern oder anderen EU-Mitgliedstaaten das Bedürfnis nach Einordnung als Betrieb gewerblicher Art begründen können66. Beispiele für Betriebe gewerblicher Art sind Blutalkoholuntersuchungen, Mensabetriebe, kommunale Kindergärten, Musikschulen, Parkhäuser.67
Eine abschließende Bestimmung der Reichweite hoheitlichen Handelns i.S.v. § 4 V KStG ist insb. im Hinblick auf die Tendenz zu materieller Aufgabenprivatisierung und dem hierdurch neu entstehenden Wettbewerb mit privaten Anbietern nicht möglich. Ohnehin bleibt der Konkurrentenschutz lückenhaft, da er sich nicht auf den landwirtschaftlichen Sektor und die Vermögensverwaltung (dazu Rz. 30) bezieht. Der Gesetzgeber sollte das durch die umsatzsteuerrechtliche Rspr. des EuGH (s. § 17 Rz. 56 ff.) bedingte Auseinanderlaufen von § 4 V KStG und § 2 III UStG und die Neuregelung in § 2b UStG zum Anlass nehmen, die steuerliche Sphäre der öffentlichen Hand einheitlich zu definieren und konsequent am Wettbewerbsgedanken auszurichten68. 29
Steuersubjekt ist nach Wortlaut und Zweck des § 1 I Nr. 6 KStG der einzelne Betrieb gewerblicher Art. Auf die Rechtsfähigkeit kommt es für die Steuersubjektfähigkeit – wie auch sonst im Steuerrecht – nicht an. Dagegen geht der BFH davon aus, Steuersubjekt sei die Körperschaft des öffentlichen Rechts69. Dennoch verselbständigt die Rspr. den Betrieb gewerblicher Art gegenüber der Trägerkörperschaft70. Der einzelne Betrieb gewerblicher Art ist Gewinnermittlungssubjekt71. Vertragliche Vereinbarungen zwischen Betrieb gewerblicher Art und Trägerkörperschaft werden grds. anerkannt und den Regeln für Vereinbarungen zwischen beherrschendem Gesellschafter und Kapitalgesellschaft unterworfen72. Die unentgeltliche Überführung von Wirtschaftsgütern zwischen dem Betrieb gewerblicher Art und der Trägerkörperschaft ist Gewinnausschüttung und keine Entnahme73. Der Betrieb gewerblicher Art kann an die Trägerkörperschaft spenden74. §§ 20 I Nr. 10; 43 I 1 Nr. 7b u. 7c; 44 VI EStG regeln die Behandlung des Transfers von Gewinnen des Betriebs gewerblicher Art an nicht steuerpflichtige Trägerkörperschaften75.
66 BFH v. 29.10.2008 – I R 51/07, BStBl. II 2009, 1022; BMF v. 11.12.2009 – IV C 7-S 2706/07/10006, BStBl. I 2009, 1597; dazu Schiffers, DStZ 2010, 122. 67 Umfassendes ABC etwa bei Paetsch in Rödder/Herlinghaus/Neumann, 2015, § 4 KStG Rz. 138. 68 S. etwa das Plädoyer von Seer/Klemke, BB 2010, 2015 (2024). 69 BFH v. 13.3.1974 – I R 7/71, BStBl. II 1974, 391. 70 BFH v. 1.9.1982 – I R 52/78, BStBl. II 1983, 147; s. aber auch BFH v. 14.3.1984 – I R 223/80, BStBl. II 1984, 496: Miet- u. Pachtverträge werden nicht anerkannt, wenn sie die wesentliche Grundlage des BgA betreffen; dazu grundl. Damas, DStZ 2005, 866. Zu Unstimmigkeiten dieser Konzeption krit. Hüttemann, FR 2009, 308, 312; Hüttemann, Die Besteuerung der öffentlichen Hand, 2002, 130 ff.; zur Zuordnung von Betriebsvermögen zwischen Trägerkörperschaft und BgA Kronawitter, KStZ 2011, 81. 71 BFH v. 12.10.1978 – I R 149/75, BStBl. II 1979, 193. Zu Gewinnermittlung und Bilanzierung bei BgA Strahl, NWB 2009, 2650 u. 2732. 72 Grenzen BFH v. 17.5.2000 – I R 50/98, BStBl. II 2001, 558; v. 6.11.2007 – I R 72/06, BStBl. II 2009, 246. 73 BFH v. 24.4.2002 – I R 20/01, BStBl. II 2003, 412. Dazu Bauschatz/Strahl, DStR 2004, 489; s. ferner Gröpl, StuW 1997, 131. 74 BFH v. 9.8.1989 – I R 4/84, BStBl. II 1990, 237 (239). 75 Dazu BFH v. 11.7.2007 – I R 105/05, BStBl. II 2007, 841; v. 23.1.2008 – I R 18/07, BStBl. II 2008, 573; v. 21.8.2007 – I R 78/06, BStBl. II 2008, 317; v. 25.3.2015 – I R 52/13, BStBl. II 2016, 172. Zur Kapitalertragsteuer des BgA: BFH v. 16.11.2011 – I R 108/09, BStBl. II 2013, 328 (keine KapErtrSt bei Thesaurierung im BgA); dazu Schüttler/Engels/Schmidt, DStR 2012, 1069; Bott/Gastl, DStZ 2012, 571. Zur aktuellen Verwaltungspraxis: Schiffers, DStZ 2015, 144; Bott, DStZ 2015, 112 u. DStZ 2016, 480.
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B. Subjektive Steuerpflicht
Rz. 30 § 11
Für die Verlusttätigkeit von Betrieben gewerblicher Art hat das JStG 2009 v. 19.12.2008, BGBl. I 2008, 2794, ein nicht zu rechtfertigendes Sonderrecht76 geschaffen: § 8 I 2 KStG schließt zunächst auch für dauerdefizitäre Betriebe gewerblicher Art die Annahme von Liebhaberei ausdrücklich aus. Sodann exkludiert § 8 VII KStG entgegen der Rspr. des BFH77 für Dauerverlustgeschäfte78 die Rechtsfolgen einer verdeckten Gewinnausschüttung zwischen Betrieben gewerblicher Art bzw. GmbH im Mehrheitsbesitz juristischer Personen des öffentlichen Rechts und Trägerkörperschaft. Schließlich enthält § 8 VIII, IX KStG Regeln für den Verlustausgleich bei Zusammenfassung von Betrieben gewerblicher Art. Danach werden die einzelnen Tätigkeiten gesonderten Sparten zugeordnet. Betriebe, die gem. § 4 VI 1 KStG zusammengefasst werden dürfen (bei Gleichartigkeit, enger technisch-wirtschaftlicher Verflechtung oder Versorgungsbetrieben), werden stets einer Sparte zugeordnet (§ 8 IX KStG). Die Zusammenfassung mit einem Hoheitsbetrieb ist unzulässig (§ 4 VI 2 KStG)79. Innerhalb der einzelnen Sparten können positive und negative Ergebnisse einzelner Betriebe gewerblicher Art ausgeglichen werden, nicht aber zwischen den Sparten. Damit wird die bisherige Rechtspraxis des sog. kommunalen Querverbunds80 gesetzlich festgeschrieben. Daneben besteht die Möglichkeit der Ergebnisverrechnung durch Begründung einer Organschaft81. Die Neuregelung führt zu einer Privilegierung öffentlicher gegenüber privater Unternehmen82 und wirft unionsrechtliche Zweifelsfragen im Hinblick auf Art. 107 f. AEUV auf83. Zudem ist sie konzeptionell mit dem Nebeneinander eines erweiterten Verlustausgleichs zwischen einzelnen Betrieben gewerblicher Art im Rahmen der Spartenbildung und dem Ausschluss der vGA im Verhältnis zur Trägerkörperschaft missglückt84. Einkünfte aus der Vermögensverwaltung der öffentlichen Hand (s. § 14 AO) sind grds. nicht steu- 30 erbar. Zu den Einkünften aus Vermögensverwaltung gehören insb. Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sowie Zinsen und Einkünfte aus der Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft; dagegen führen Einkünfte aus der Beteiligung an einer gewerblich tätigen Personengesellschaft stets zur Begründung eines Betriebs gewerblicher Art85. Nur soweit ein Steuerabzug vorzunehmen ist, greift die beschränkte Steuerpflicht des § 2 Nr. 2 KStG ein (s. Rz. 32). Die Steuer ist in diesem Fall durch den Abzug abgegolten (§ 32 I Nr. 2, II KStG). In bestimmten Fällen kann vom Steuerabzug abgesehen werden (§ 44a IV 1 Nr. 2 EStG), in anderen reduziert sich die Kapitalertragsteuerbelastung (§ 44a VIII 1 Nr. 2 EStG)86.
76 Hierzu Anwendungsschreiben BMF v. 12.11.2009 – IV C 7 - S 2706/08/10004, BStBl. I 2009, 1303 (m. Anm. Hüttemann, DB 2009, 2629; Strahl, DStR 2010, 193; Schiffers, DStZ 2010, 119); Bracksiek, FR 2009, 15; Leippe/Baldauf, DStZ 2009, 67. 77 BFH v. 22.8.2007 – I R 32/06, BStBl. II 2007, 961; Anm. Hüttemann, DB 2007, 2508; Augsten/Lissel, WPg 2008, 291; Leippe, ZKF 2008, 78; krit. Geißelmeier/Bargenda, DStR 2009, 1333 (1336). 78 Dazu Meier, FR 2010, 168; Schiffers, DStZ 2017, 275. 79 Wie BFH v. 23.1.2008 – I R 18/07, BStBl. II 2008, 573. 80 Grundl. BFH v. 16.1.1967 – GrS 4/66, BStBl. III 1967, 240. 81 Hierzu Eversberg, DStZ 2012, 278. 82 S. die Kritik v. Hüttemann, FR 2009, 308 (311); Heger, FR 2009, 301 (307). 83 Zur Notwendigkeit der Durchführung eines Notifizierungsverfahrens ausf. Weitemeyer, FR 2009, 1; zuvor schon Weitemeyer, StuW 2003, 326. FG Köln v. 9.3.2010 – 13 K 3181/05, EFG 2010, 1345, rkr. geht von nicht notifizierungspflichtiger Altbeihilfe aus; zust. Paetsch in Rödder/Herlinghaus/Neumann, 2015, § 8 KStG Rz. 1831; a.A. Märtens, FS Gosch, 2016, 279 (289 ff.); Heger in Gosch3, § 4 KStG Rz. 70. 84 Hüttemann, FR 2009, 308 (311). 85 St. Rspr., zurückzuführen auf RFH v. 8.11.1938 – I 347/38, RFHE 45, 155; aktuell BFH v. 25.3.2015 – I R 52/13, BStBl. II 2016, 172 (173); BMF v. 21.6.2017 – IV C 2 - S 2706/14/10001, BStBl. I 2017, 880. 86 Dazu Bürstinghaus, DStZ 2011, 345.
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§ 11 Rz. 31
Körperschaftsteuer
IV. Unbeschränkte und beschränkte Körperschaftsteuerpflicht 31
Wie das EStG grenzt das KStG die Besteuerungshoheit international durch die Unterscheidung zwischen unbeschränkter (§ 1 I KStG) und beschränkter (§ 2 Nr. 1 KStG) Steuerpflicht ab87. Anknüpfungspunkt der unbeschränkten Steuerpflicht sind Geschäftsleitung oder Sitz im Inland; es werden sämtliche Einkünfte (Welteinkommen) erfasst (§ 1 II KStG). Beschränkt steuerpflichtig sind Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen, die weder ihre Geschäftsleitung noch ihren Sitz im Inland haben, mit ihren inländischen Einkünften (§ 2 Nr. 1 KStG; § 49 EStG). Nach ausländischem Recht gegründete Gesellschaften sind Körperschaftsteuersubjekte, wenn ihre rechtliche Struktur und ihre wirtschaftliche Position der einer deutschen Körperschaft entsprechen (sog. Typenvergleich88). Ausländische Gesellschaften mit statutarischem Sitz im Ausland sind als sog. doppelansässige Gesellschaften89 nach § 1 I Nr. 1 KStG unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtig, wenn sie einer deutschen Kapitalgesellschaft entsprechen und ihre Geschäftsleitung (Verwaltungssitz) in das Inland verlegen. Auf die Frage der Rechtsfähigkeit der ausländischen Gesellschaft, die sich nach internationalem Privatrecht beurteilt und die bisher von der Rspr. zur Voraussetzung der Subsumtion unter § 1 I Nr. 1 KStG gemacht wurde90, kommt es auf Grund der Erweiterung des Katalogs der Nr. 1 durch das SEStEG nicht mehr an91. Der EuGH hatte in den Rs. Centros92, Überseering93 und Inspire Art94 gefordert, der Zuzugsstaat müsse die von einem anderen Mitgliedstaat verliehene Rechtsfähigkeit anerkennen. In der Rs. Cartesio95 hat der Gerichtshof EU-Mitgliedstaaten mit Sitztheorie zwar weiterhin zugebilligt, die Rechtsfähigkeit anlässlich des Wegzugs zu entziehen. Ebenso geht der BGH für aus Drittstaaten zuziehende Gesellschaften weiterhin von der Anwendung der Sitztheorie und damit vom Verlust der Rechtsfähigkeit aus96. Dennoch ist die ausländische Gesellschaft u.E. auch in diesen Fällen unter § 1 I Nr. 1 KStG und nicht wie bisher unter § 1 I Nr. 5 KStG zu subsumieren, denn in der Geset-
87 Unterschiede zwischen beschränkter und unbeschränkter Körperschaftsteuerpflicht s. Eckl, Wechsel von beschränkter und unbeschränkter Steuerpflicht bei Kapitalgesellschaften, Diss., 2006, 62–77. 88 Zurückzuführen auf die sog. Venezuela-Entscheidung RFH v. 12.2.1930 – VI A 899/27, RFHE 27, 78; zur US-LLC s. BMF v. 19.3.2004 – IV B 4 - S 1301 USA - 22/04, BStBl. I 2004, 411 und BFH v. 20.8.2008 – I R 34/08, BStBl. II 2009, 263, m. Anm. Flick/Heinsen, IStR 2008, 781; zum Typenvergleich bei beschränkter Stpfl. s. Martini, IStR 2012, 441; zu einer durch das sog. Check-the-Box-Verfahren als Personengesellschaft besteuerten US-Corporation BFH v. 20.8.2008 – I R 39/07, BStBl. II 2009, 234; rechtsvergleichend Kopec/Mroz, Ubg 2014, 164; zur Vereinbarkeit mit EU-Recht Fibbe, ET 2006, 487; Stewens, FR 2007, 1047; Hochheim, Der Typenvergleich aus europarechtlicher Sicht, Diss., 2008. Grundlegend und rechtsvergleichend zur Einordnung ausl. Körperschaftsteuersubjekte s. Martini, Der persönliche Körperschaftsteuertatbestand, Diss., 2016, 130 ff., 365 ff., 421 f. 89 Dazu grundl. Großmann, Doppelt ansässige Kapitalgesellschaften im internationalen Steuerrecht, Diss., 1995; Staringer, Besteuerung doppelt ansässiger Kapitalgesellschaften, Habil., 1999; Stein, Doppelt ansässige Kapitalgesellschaften, Diss., 2007; ferner Hey, DK 2004, 577; Schnitger, IStR 2013, 82; zur britischen Limited: Kessler/Eike, DStR 2005, 2101; Korts, Stbg. 2005, 485; Pohl, JbFSt. 2005/06, 387; Wachter, FR 2006, 358 u. 393; Schnittker, Gesellschafts- und steuerrechtliche Behandlung einer englischen Limited Liability Partnership mit Verwaltungssitz in Deutschland, Diss., 2006; Moschetti, FS J. Lang, 2010, 1167; Piltz, FS Herzig, 2010, 23. 90 BFH v. 23.6.1992 – IX R 182/87, BStBl. II 1992, 972 (973). 91 Wie hier Kahle/Cortez, FR 2014, 673 (681). 92 EuGH v. 9.3.1999 – C-212/97, ECLI:EU:C:1999:126 – Centros. 93 EuGH v. 5.11.2002 – C-208/00, ECLI:EU:C:2002:632 – Überseering. 94 EuGH v. 30.9.2003 – C-167/01, ECLI:EU:C:2003:512 – Inspire Art. 95 EuGH v. 16.12.2008 – C-210/06, ECLI:EU:C:2008:723 – Cartesio. 96 Vgl. BGH v. 27.10.2008 – II ZR 158/06, BGHZ 178, 192 (Trabrennbahn): Behandlung einer schweizerischen AG mit Verwaltungssitz in Deutschland als rechtsfähige Personengesellschaft; Kahle/Cortez, FR 2014, 673 (677 f.).
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B. Subjektive Steuerpflicht
Rz. 35 § 11
zesbegründung (BT-Drucks. 16/2710, 30) werden ausdrücklich auch außerhalb der EU gegründete Gesellschaften einbezogen, ohne zwischen Sitz- und Gründungstheorie zu differenzieren97. Daneben normiert § 2 Nr. 2 KStG eine beschränkte Steuerpflicht sonstiger nicht unbeschränkt steuer- 32 pflichtiger Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen mit ihren inländischen Einkünften, soweit diese vollständig oder teilweise einem Steuerabzug unterliegen. Hauptanwendungsfall sind kapitalertragsteuerpflichtige Einkünfte von Körperschaften des öffentlichen Rechts außerhalb ihrer Betriebe gewerblicher Art (s. Rz. 30), vgl. § 43 EStG; § 32 I Nr. 2, II KStG, und von steuerbefreiten Körperschaften, vgl. § 32 I Nr. 1 i.V.m. § 5 II Nr. 1 KStG98. § 2 Nr. 2 Hs. 2 Buchst. a–c KStG erfassen darüber hinaus Entgelte aus Wertpapierleihe.
V. Subjektive Steuerbefreiungen Das Körperschaftsteuerrecht kennt – anders als das Einkommensteuerrecht – subjektive Steuerbefrei- 33 ungen, die in § 5 KStG aufgelistet sind. Ein Großteil der Befreiungstatbestände betrifft juristische Personen des öffentlichen Rechts (z.B. Bundeseisenbahnvermögen; Kreditanstalten des öffentlichen Rechts) sowie Körperschaften, die öffentliche oder sozialpolitisch erwünschte Aufgaben wahrnehmen (insb. Pensions-, Sterbe-, Kranken- und Unterstützungskassen99; Berufsverbände100 und politische Parteien101; bestimmte Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften; Wirtschaftsförderungsgesellschaften102). Von besonderer Bedeutung ist § 5 I Nr. 9 KStG, wonach Körperschaften, die gemeinnützigen, mildtätigen oder kirchlichen103 Zwecken dienen, von der KSt befreit sind (zum Gemeinnützigkeitsrecht s. § 20). Zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen werden wirtschaftliche Geschäftsbetriebe in dem Umfang aus der Steuerbefreiung ausgenommen, in dem die steuerbefreite Körperschaft mit steuerpflichtigen Unternehmen konkurriert (s. z.B. § 5 I Nr. 7 Satz 2, Nr. 9 Satz 2 KStG; s. Rz. 28 u. § 20 Rz. 6 ff.). Die Befreiungen gelten nicht für die Kapitalertragsteuer (§§ 5 II Nr. 1; 32 I Nr. 1 KStG; § 43 EStG; s. 34 auch § 2 Nr. 2 KStG) und für beschränkt steuerpflichtige Steuersubjekte (§§ 5 II Nr. 2; 2 Nr. 1; 32 I Nr. 2 KStG). § 5 II Nr. 2 Hs. 2 KStG bezieht allerdings infolge der Rs. Stauffer104, beschränkt stpfl. EU-/ EWR-Körperschaften in die Steuerbefreiung des § 5 I Nr. 9 KStG ein (s. dazu § 20 Rz. 2). Außer im KStG finden sich subj. Körperschaftsteuerbefreiungen auch in Spezialgesetzen. § 16 I 35 REITG v. 28.5.2007, BGBl. I 2007, 914, sieht eine körperschaftsteuerbefreite Immobilienaktiengesellschaft vor (sog. G-REIT = German Real Estate Investment Trust)105. Mit der Einführung des G-REIT verfolgt der Gesetzgeber das Ziel einer breiteren Streuung von Immobilienanlagen und trägt der internationalen Verbreitung106 von REITs Rechnung. Zur Besteuerung des REIT-Anlegers s. § 8 Rz. 496. Investmentfonds, die bisher subjektiv von der Körperschaftsteuer befreit waren (§ 11 I 2 InvStG a.F.), unterliegen ab 2018 infolge der Aufgabe der semi-transparenten Besteuerung mit bestimmten Erträgen 97 Wie hier HHR/Klein, § 1 KStG Anm. 26 (2014); Ernst & Young/Kalbfleisch, § 1 KStG Rz. 45 ff. (2011); Kahle/Cortez, FR 2014, 673 (681). 98 Dazu Storg, NWB 2006, Fach 3, 14265. 99 S. auch § 6 KStG; dazu Buttler/Baier, Steuerliche Behandlung von Unterstützungskassen6, 2014. 100 Dazu Schlieder, Die steuerrechtliche Behandlung der Berufs- und Wirtschaftsverbände, Diss., 1960; Blecker, Die Besteuerung der Berufsverbände ohne öffentlich-rechtlichen Charakter, Diss., 1971; Blümich/v. Twickel, § 5 KStG Rz. 65 ff. (2017). 101 Dazu Hüttemann, FS J. Lang, 2010, 321. 102 Dazu BFH v. 26.2.2003 – I R 49/01, BStBl. II 2003, 723; v. 3.8.2005 – I R 37/04, BStBl. II 2006, 141. 103 Dazu Mack, Die kirchliche Steuerfreiheit in Deutschland, Diss., 1916, Nachdruck 1965; BFH v. 24.7.1996 – I R 35/94, BStBl. II 1996, 583. 104 EuGH v. 14.9.2006 – C-386/04, ECLI:EU:C:2006:568 – Centro di Musicologia Walter Stauffer. 105 S. hierzu mit Literaturnachweisen § 8 Rz. 496. 106 Prokisch in Vogel/Lehner, DBA6, 2015, Art. 1 OECD-MA Rz. 55l m.w.N. zur Literatur.
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§ 11 Rz. 36
Körperschaftsteuer
der Körperschaftsteuer (§ 6 II InvStG n.F.; s. hierzu auch § 8 Rz. 496)107. Auch Spezial-Investmentfonds, für die der Gesetzgeber grds. an der Semi-Transparenz festgehalten hat, sind zukünftig nicht mehr subjektiv befreit, können aber für eine weitergehende objektive Befreiung ihrer inländischen Beteiligungserträge optieren (Transparenzoption, § 30 InvStG n.F.).
C. Steuerobjekt I. Einkommen als Steuerobjekt, zu versteuerndes Einkommen als Bemessungsgrundlage 36
Steuerobjekt der KSt ist das Einkommen. Bemessungsgrundlage ist das zu versteuernde Einkommen des Steuersubjekts im Kalenderjahr (§ 7 III KStG) vor Verteilung (Ausschüttung) an die Gesellschafter (§ 8 III 1 KStG). Das KStG definiert den Einkommensbegriff nicht, sondern verweist, auch für die Gewinnermittlung, auf die Vorschriften des EStG und auf Spezialvorschriften des KStG (§ 8 I KStG). Wie die ESt (s. § 8 Rz. 44 ff.) ist die KSt eine Periodensteuer; sie wird nach dem Jahreseinkommen bemessen und veranlagt (§ 7 III, IV KStG). Maßgeblich ist das Nettoeinkommen; es gilt das objektive Nettoprinzip108. In der Terminologie der Wirtschaftswissenschaften kann eine Körperschaft kein Einkommen haben, da Einkommen erst entsteht, wenn Ertragsteile einem privaten Haushalt zufließen und ihm als Kaufkraft zur privaten Verfügung stehen. Das Unternehmen der Körperschaft wirft danach Ertrag ab; die KSt ist Ertragsteuer. Der Steuergesetzgeber ist an diese Terminologie indessen nicht gebunden.
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§ 8 II KStG i.d.F. des SEStEG109 qualifiziert die Einkünfte von unbeschränkt Stpfl. i.S.d. § 1 Nr. 1–3 KStG als Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Auf die Buchführungspflicht nach HGB kommt es seit dem Veranlagungszeitraum 2006 nicht mehr an. Umstritten ist, ob es sich um eine Rechtsgrund- oder eine Rechtsfolgenverweisung handelt. Der BFH vertritt seit 1996110 in nunmehr st. Rspr. die Auffassung, die Tätigkeit einer Kapitalgesellschaft gelte gem. § 8 II KStG auch insoweit als Gewerbebetrieb, als sie nicht unter eine der sieben Einkunftsarten des § 2 I EStG falle. Damit werden auch Verluste auf Grund einer Betätigung ohne Totalgewinnabsicht („Liebhaberei“) anders als im Einkommensteuerrecht zunächst anerkannt. Wird die Verlusttätigkeit im überwiegenden Interesse eines Gesellschafters ausgeübt und der Verlust nicht durch diesen ausgeglichen, findet eine Korrektur über das Rechtsinstitut der vGA statt111. Diese Rspr. ist aus dem Gesetz nicht abzuleiten. Sie spaltet das Steuerobjekt der KSt, weil sie nur für Steuersubjekte i.S.d. § 1 I
107 I.d.F. des Investmentsteuerreformgesetzes v. 19.7.2016, BGBl. I 2016, 1730. 108 Unstreitig Hey, DStR 2009, Beihefter zu Heft 34, 109, u. Heger, DStR 2009, Beihefter zu Heft 34, 117. 109 SEStEG v. 7.12.2006, BGBl. I 2006, 2782. 110 Änderung der Rspr. durch BFH v. 4.12.1996 – I R 54/95, BFHE 182, 123. 111 Ausdrücklich und mit ausf. Begründung BFH v. 22.8.2007 – I R 32/06, BStBl. II 2007, 961; ferner BFH v. 17.11.2004 – I R 56/03, BFHE 208, 519; v. 27.7.2016 – I R 12/15, BStBl. II 2017, 217. Der Rspr. grds. zust. Wassermeyer, FS Haas, 1996, 401; Stolterfoth, FS Kruse, 2001, 485; Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 2004, 65 ff.; Seeger, FS Wassermeyer, 2005, 81; Wassermeyer, DB 2011, 1828 (1830 ff.); Briese, FR 2014, 1001 (1011); Mindermann/Lukas, NWB 2014, 2092 (praktische Konsequenzen) und zuvor schon Thiel/Eversberg, DStR 1993, 1881; Kister, Liebhaberei bei Kapitalgesellschaften, Diss., 2005; Kritik: Weber-Grellet, DStR 1994, 12; Hoffmann, DStR 1999, 269; Pezzer, FR 1998, 1093; Pezzer, StuW 1998, 76; Schön, FS Flume, 1998, 265 (270); Musil, DStZ 2003, 649 (652); Hüttemann, FS Raupach, 2005, 495; Weber-Grellet, BB 2014, 2263 (2265 ff.): grundl. Nippert, Die außerbetriebliche Sphäre der Kapitalgesellschaften im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 2006; anders auch der österr. VwGH v. 20.6.2000 – 98/15/0169; dazu Stangl, Die außerbetriebliche Sphäre von Kapitalgesellschaften, Diss., 2004; Stangl, ÖStZ 2005, 39; Renner, DStZ 2014, 453; Renner, DStZ 2017, 458. Zu Praxisfragen Mindermann/Lukas, NWB 2014, 2092.
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II. Ermittlung des Einkommens
Rz. 40 § 11
Nr. 1–3 KStG, nicht aber für sonstige Körperschaftsteuersubjekte gilt112. Der BFH hat seine Auffassung außer mit den Anforderungen des 2001 abgeschafften Anrechnungsverfahrens vor allem mit der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz begründet und noch einmal ausdrücklich unter Geltung des Halbeinkünfteverfahrens bestätigt.113 Spätestens mit der Aufgabe des Tatbestandsmerkmals der Buchführungspflicht nach HGB in § 8 II KStG ist dieses Argument jedoch hinfällig. Der einheitliche Wortlaut dürfte eine Differenzierung zwischen buchführungspflichtigen Kapitalgesellschaften und sonstigen Körperschaften i.S.v. § 8 II KStG ausschließen. Aber auch wenn man, wie der BFH seit 2013114, nicht länger zwischen buchführungs- und nicht buchführungspflichtigen Kapitalgesellschaften differenziert, kann die Rspr. nicht überzeugen. Weder § 8 I noch § 8 II KStG erweitern das Steuerobjekt. Was als Einkommen gilt, bestimmt sich gem. § 8 I KStG nach dem EStG, insb. nach § 2 EStG. § 8 II KStG hat als Rechtsgrundverweisung lediglich Einkünftequalifikationsfunktion; die Frage der Steuerbarkeit ist der Einkünftequalifikation vorgelagert. Was nach dem EStG nicht steuerbar ist, etwa Lotterieeinkünfte oder (negative) Einkünfte aus Liebhaberei, wird auch vom KStG nicht erfasst. Folglich hat auch die Kapitalgesellschaft eine außerbetriebliche Sphäre.
II. Ermittlung des Einkommens 1. Allgemeines Die Ermittlung des Einkommens geschieht nach den Vorschriften des EStG und den §§ 8 ff. KStG (§ 8 38 I KStG). Da Kapitalgesellschaften, die hier allein berücksichtigt werden, lediglich Einkünfte aus Gewerbebetrieb haben (§ 8 II KStG) und Sonderausgaben (mangels persönlicher Lebensbedarfsaufwendungen, s. allerdings § 9 I Nr. 2 KStG) nicht möglich sind, gilt prinzipiell Folgendes: Einkommen (§§ 7; 8 I KStG) = Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§ 8 II KStG; § 2 I 1 Nr. 2 EStG) = Gewinn (§ 2 II 1 Nr. 1 EStG) = aus der Handelsbilanz abgeleitetes Steuerbilanzergebnis (§ 5 EStG), modifiziert durch die §§ 8 ff. KStG (§ 8 I KStG)115. Ausgangspunkt für die Einkommensermittlung nach § 8 I KStG ist der Jahresüberschuss. Zu Besonderheiten der Ermittlung des Handelsbilanzgewinns von Kapitalgesellschaften s. § 9 Rz. 500 ff.
2. Objektive Steuerbefreiungen, insb. Steuerfreiheit von Beteiligungserträgen (§ 8b KStG) Der aus der Handelsbilanz abgeleitete Jahresüberschuss ist um die nach dem KStG steuerbefreiten 39 Erträge zu mindern. Neben Mitgliedsbeiträgen (§ 8 V KStG)116 sind vor allem Beteiligungserträge i.S.d. § 8b KStG objektiv steuerbefreit.117 Gem. § 8b I KStG bleiben Dividenden und andere Gewinnausschüttungen und gem. § 8b II KStG 40 Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an Körperschaften bei der Ermittlung des Einkommens außer Ansatz118. Diese Beteiligungsertragsbefreiung ist Bestandteil des seit 2001 geltenden klassischen Körperschaftsteuersystems und verhindert durch abschließende Besteuerung auf der Ebene 112 BFH v. 7.11.2001 – I R 14/01, BStBl. II 2002, 861; v. 15.1.2015 – I R 48/13, BStBl. II 2015, 713 (außerbetriebliche Sphäre eines eingetragenen Vereins). 113 BFH v. 22.8.2007 – I R 32/06, BStBl. II 2007, 961. 114 BFH v. 12.7.2013 – I R 109-111/10, BStBl. II 2013, 1024, Liebhaberei verneint bei einer ausl., nicht buchführungspflichtigen Kapitalgesellschaft; s. die Kritik von Piltz, DStR 2014, 684. 115 Einkommensermittlungsschema s. R 7.1 KStR 2015. 116 Dazu Podlinski, Die Mitgliederbeiträge im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1960. 117 Aktuelle Rspr. Weiss, Ubg 2017, 671. 118 Dazu BMF v. 28.4.2003 – IV A 2 - S 2750a - 7/03, BStBl. I 2003, 292, ausf. Anm. u.a. Dötsch/Pung, DB 2003, 1016; Eilers/Schmidt, GmbHR 2003, 613; Füger/Rieger, FR 2003, 589; zu Anwendungsfragen der Steuerfreiheit der Veräußerungsgewinne gem. § 8b II KStG s. Leip, BB 2002, 1839; Müller/Wangler, SteuerStud 2010, 111 (Überblick u. steuersystematische Einordnung); Bruschke, DStZ 2012, 813. Zur Definition der Veräußerungskosten BFH v. 15.6.2016 – I R 64/14, BStBl. II 2017, 182 (unter bestimm-
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§ 11 Rz. 41
Körperschaftsteuer
der Tochtergesellschaft wirtschaftliche Doppelbelastungen innerhalb der KSt (zur Rechtfertigung s. Rz. 14). Seit dem VZ 2014 gilt dies jedoch nur noch, soweit die Bezüge das Einkommen der leistenden Körperschaft nicht gemindert haben (§ 8b I 2 KStG)119. Nachdem die Beteiligungsertragsbefreiung zunächst unabhängig von der Vorbelastung gewährt wurde, hat der Gesetzgeber sukzessive eine Korrespondenz beider Ebenen hergestellt. Die zunächst durch JStG 2007 auf verdeckte Gewinnausschüttungen beschränkte Regelung des § 8b I 2 KStG richtet sich nunmehr grds. sachgerecht120 allgemein gegen Fälle, in denen es an der die Steuerbefreiung rechtfertigenden Vorbelastung fehlt, insb. gegen hybride Finanzierungen durch Nutzung von Genussrechten. Hybride Finanzierungen machen sich die unterschiedliche Qualifikation von Vergütungen für Kapitalüberlassung zunutze, wenn diese im Staat der ausschüttenden Gesellschaft als abzugsfähiger Zins, in Deutschland dagegen als steuerbefreite Dividende eingestuft werden121. Der Zweck, Doppelbelastungen zu vermeiden, wirkt sich zudem auf die Auslegung von § 8b I und II aus. Der BFH verneint daher zutr. die Anwendung von § 8b II KStG auf Stillhalterprämien aus Optionsgeschäften122. Im Umkehrschluss hat der Erwerber in Höhe der Optionsprämie abzugsfähigen Aufwand; § 8b III 3 KStG gilt nicht. 41
Als Kehrseite der Steuerfreiheit können weder Teilwertabschreibungen noch Verluste aus der Veräußerung von Beteiligungen geltend gemacht werden (§ 8b III 3 KStG)123. Dies ist sachgerecht, um eine (doppelte) Verlustnutzung sowohl auf Ebene der Körperschaft als auch beim Anteilseigner zu verhindern, nicht jedoch, wenn sich der Verlust (bspw. infolge von Liquidation) nur noch auf der Ebene des Anteilseigners auswirken kann124 oder es im Fall vergeblicher Aufwendungen (sog. Due-Diligence-Kosten) bei gescheitertem Erwerb später nicht zu einem steuerbefreiten Veräußerungsgewinn kommt125. Der Zusammenhang mit § 8b KStG-Anteilen ist nicht veranlassungsbezogen, sondern objektbezogen zu ermitteln126. Gem. § 8b III 4–7 KStG ist das Abzugsverbot auch auf Gewinnminderungen in Zusammenhang mit Darlehen wesentlich beteiligter Gesellschafter (. 25 %), nahestehender Personen sowie rückgriffsberechtigter Dritter (§ 8b III 4–7 KStG) anzuwenden127. Auf diese Weise sollen Umgehungen durch Fremdkapitalgestaltungen verhindert werden. Die Regelung ist Ausdruck überzogener Missbrauchsabwehr und führt damit zu einer nicht gerechtfertigten Verletzung des objektiven Nettoprinzips. Sie er-
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ten Umständen auch Gemeinkosten); ferner Ditz/Tcherveniachki, DStR 2012, 1161; Riedel, FR 2014, 356. Zur Rechtslage in Österreich Haslinger, Die Veräußerung von Beteiligungen, Diss., 2006. Becker/Loose, IStR 2012, 758; zum Kontext des OECD-BEPS-Projekts Birker/Schänzler, Ubg 2016, 320; zur Vorfrage des Bestehens einer Korrespondenz Kempf/Loose, DStR 2016, 2489. Der Wortlaut geht allerdings über den Gesetzeszweck hinaus, z.B. falls die Einkommensminderung bei der ausschüttenden Gesellschaft nicht dauerhaft ist, s. Desens, DStR-Beihefter 4/2013, 13 (19 f.). HHR/Watermeyer, § 8b KStG Anm. 7 (2014): verfassungsrechtliche Bedenken; krit. auch Richter/Reeb, IStR 2015, 40. S. zu den erfassten Gestaltungen HHR/Watermeyer, § 8b KStG Anm. 49 (2014). BFH v. 6.3.2013 – I R 18/12, BStBl. II 2013, 588. Dagegen Helios/Niedrig, DStR 2012, 1301; krit. auch Schnitger, DStR 2013, 1774. BFH v. 13.10.2010 – I R 79/09, BStBl. II 2014, 943 (verfassungsrechtlich unbedenklich); s. ferner Sell, DB 2004, 2290. Herzig, DB 2003, 1459; ifst-Arbeitsgruppe, ifst-Schrift 471 (2011), 74 f.; aber auch FG Düsseldorf v. 19.10.2012 – 6 K 2439/11 F, EFG 2013, 1068 (1069), rkr.: möglicherweise wünschenswerte Einschränkung, aber nach Wortlaut und Zweck der Vorschrift nicht zu rechtfertigen; ebenso FG München v. 23.2.2010 – 6 K 1177/07, DStRE 2011, 742, rkr. BFH v. 9.1.2013 – I R 72/11, BStBl. II 2013, 343, m. Anm. Ditz/Tcherveniachki, DB 2013, 1634. Herlinghaus in Rödder/Herlinghaus/Neumann, 2015, § 8b KStG Rz. 304. Kritik: Stellungnahme der Centrale für GmbH Dr. Otto Schmidt, GmbHR 2007, 924 (925 f.); Schmidt/ Schwind, NWB 2008, Fach 4, 5223 (verfassungsrechtliche Bedenken); Neumann/Watermeyer, Ubg 2008, 748; Hoffmann, DStR 2008, 857; Altrichter-Herzberg, GmbHR 2008, 337; Prinz, FS Schaumburg, 2009, 459; Gocke/Hötzel, FS Herzig, 2010, 89; Gosch, FS Herzig, 2010, 63 (75 f.); als Missbrauchstypisierung gerechtfertigt s. BFH v. 12.3.2014 – I R 87/12, BStBl. II 2014, 859.
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II. Ermittlung des Einkommens
Rz. 42 § 11
fasst jedwedes Gesellschafterdarlehen, ist also nicht auf eigenkapitalersetzende128 Darlehen beschränkt. Nur wenn der Stpfl. den Nachweis führt, dass auch ein fremder Dritter das Darlehen gewährt bzw. nicht zurückgefordert hätte, können weiterhin Teilwertabschreibungen vorgenommen werden. Durch Zollkodexanpassungsgesetz v. 22.12.2014, BGBl. I 2014, 2417, ist entgegen der Rspr.129 eine entspr. Regelung in § 3c II 2 ff. EStG aufgenommen worden, wonach das Abzugsverbot des § 3c II 1 EStG nunmehr auch für verbilligte Nutzungsüberlassungen, Substanzverluste von Gesellschafterdarlehen und sonstigen überlassenen Wirtschaftsgütern des Gesellschafters gilt130. Seit 2004 ist die Steuerbefreiung für Ausschüttungen und Veräußerungsgewinne131 auf 95 % be- 42 schränkt (§ 8b III 1, V 1 KStG), indem 5 % des Gewinns bzw. der Bezüge als nichtabziehbare Betriebsausgaben fingiert werden (sog. Schachtelstrafe)132. Die Regelung gilt unabhängig davon, ob es sich um eine Beteiligung an einer in- oder ausländischen Kapitalgesellschaft handelt und verdrängt die allgemeine Vorschrift des § 3c I EStG (s. § 8b III 2, V 2 KStG). Nach Auffassung des BVerfG enthält § 8b III, V KStG eine mit Art. 3 I GG vereinbare Pauschalierung der mit steuerfreien Beteiligungseinnahmen in Zusammenhang stehenden Betriebsausgaben133. Die Regelung ist gleichwohl verfehlt134. Zunächst hat das BVerfG außer Betracht gelassen, dass § 8b I KStG nur eine technische, Doppelbelastungen vermeidende Steuerbefreiung enthält. Wie bereits im Beschluss vom 21.6.2006135 hält das Gericht den Gesetzgeber für frei, an die zivilrechtliche Selbständigkeit der juristischen Person anzuknüpfen136. Selbst wenn man dieser Argumentation folgt, lässt sich die durch § 8b III, V KStG begründete Verletzung des objektiven Nettoprinzips jedoch auch unter Vereinfachungsgesichtspunkten nicht rechtfertigen. Die Anknüpfung an die Höhe des Beteiligungsertrags ist ungeeignet, den mit dem Halten einer Beteiligung verbundenen Aufwand in realitätsgerechter Weise zu pauschalieren137. Das BVerfG selbst geht davon aus, dass sich ein Regelfall, der der Pauschalierung zugrunde gelegt werden könnte, nicht feststellen lasse138. Dann aber wäre allenfalls Raum für eine widerlegbare Typisierung. Letztlich basiert die Entscheidung des BVerfG auf der – die Doppelbelastung ausblendenden – Geringfügigkeit der Belastung durch § 8b III, V KStG von maximal 1,25 % des Beteiligungsertrags. Damit ist aber nach wie vor offen, ob die Rechtfertigung auch gegenüber dem Kaskadeneffekt tiefer gestufter Beteiligungsketten durchgreift.
Trotz der 95 %igen Freistellung bei der Empfängerin wird bei der ausschüttenden Körperschaft weiterhin auf die volle Dividende Kapitalertragsteuer erhoben (§ 8 I KStG; §§ 43 I 1 Nr. 1; 43a I 1 Nr. 1 EStG), die aber gem. § 36 II Nr. 2 EStG bei der unbeschränkt steuerpflichtigen Empfängerin auf die KSt angerechnet wird. Ist Empfängerin eine beschränkt steuerpflichtige EU-Gesellschaft i.S.d. Mut128 Zur Reform des Eigenkapitalersatzrechts durch das MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, aus gesellschaftsrechtlicher Sicht Bork, ZGR 2007, 250; Hölzle, GmbHR 2007, 729; Winter, DStR 2007, 1484; Krolop, ZIP 2007, 1738. 129 BFH v. 18.4.2012 – X R 5/10, BStBl. II 2013, 785 u. 791. 130 Dazu Ott, DStZ 2016, 14 ff. 131 § 8b III KStG findet keine Anwendung auf beschränkt steuerpflichtige Kapitalgesellschaften, da Vorausssetzung die Steuerbarkeit des Veräußerungsgewinns in Deutschland ist, vgl. BFH v. 31.5.2017 – I R 37/15, BFH/NV 2017, 1680. 132 Hintergrund war die Europarechtswidrigkeit der zuvor zwischen Inlandsfällen (§ 3c I EStG) und Auslandsfällen (5 %-Regel) differenzierenden Behandlung (EuGH v. 18.9.2003 – C-168/01, ECLI:EU:C: 2003:479 – Bosal; v. 23.2.2006 – C-471/04, ECLI:EU:C:2006:143 – Keller Holding; BFH v. 9.8.2006 – I R 95/05, BStBl. II 2007, 279; v. 13.6.2006 – I R 78/04, BStBl. II 2008, 821 u. v. 9.8.2006 – I R 50/05, BStBl. II 2008, 823; v. 26.11.2008 – I R 7/08, BFH/NV 2009, 849). 133 BVerfG v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224. 134 Kritisch Lammers, DStZ 2011, 483; Krug, DStR 2011, 598; zuvor Graf Kerssenbrock, BB 2003, 2148; Maithert/Wirth, DStR 2004, 433; Oldiges, DStR 2008, 533; Weiss, DK 2017, 174 (zu praktischen Problemen und Gestaltungszwängen). 135 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (198 f.). 136 BVerfG v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 (250). 137 Ebenso der zugrundeliegende Normenkontrollantrag des FG Hamburg v. 7.11.2007 – 5 K 153/06, EFG 2008, 236. 138 BVerfG v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 (258).
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§ 11 Rz. 42
Körperschaftsteuer
ter-Tochter-Richtlinie (90/435/EWG), kann von der Erhebung der Kapitalertragsteuer abgesehen werden (§ 43b EStG); die Einschränkung durch § 50d III EStG, mit der die Inanspruchnahme der MutterTochter-Richtlinie durch Zwischenschaltung von Gesellschaften (sog. Directive Shopping) verhindern werden sollte, ist europarechtswidrig139. Europarechtswidrig war, dass bei beschränkt steuerpflichtigen Empfängern, die nicht unter die Mutter-Tochter-Richtlinie fallen, die Kapitalertragsteuer wegen der in § 32 I Nr. 2 KStG normierten Abgeltungswirkung definitiv wurde140. Statt für beschränkt körperschaftsteuerpflichtige Anteilseigner eine Erstattungsregel vorzusehen141, geht § 8b IV KStG den umgekehrten Weg und nimmt sog. „Streubesitzdividenden“142 nunmehr allgemein aus der Beteiligungsertragsbefreiung aus. Die Steuerbefreiung des § 8b I KStG für Dividenden greift nur noch ein, wenn eine unmittelbare Beteiligung von mind. 10 % am Grund- oder Stammkapital der ausschüttenden Gesellschaft besteht. Maßgeblich sind grds. die Verhältnisse zu Beginn des Kalenderjahres, wobei der unterjährige Hinzuerwerb auf den Beginn des Kalenderjahres bezogen wird und dazu führen kann, dass kein Streubesitz vorliegt143. Veräußerungsgewinne aus Streubesitz sind weiterhin steuerfrei144. Die Körperschaftsteuerpflicht der Streubesitzdividenden wurde unverständlicherweise in ihren Voraussetzungen nicht mit der für Beteiligungen unterhalb von 15 % geltenden Gewerbesteuerpflicht abgestimmt145. Selbst wenn sich der Gesetzgeber aus europarechtlichen (eher fiskalischen!) Gründen gezwungen sah146, zur Beseitigung der Diskriminierung beschränkt steuerpflichtiger Anteilseigner die Steuerpflicht auf Inlandssachverhalte auszudehnen, hätte er zur Abmilderung der hierdurch entstehenden system- und gleichheitssatzwidrigen Doppelbelastung147 die Gewerbesteuerpflicht für Streubesitzdividenden streichen können. Zu bemängeln ist, dass auch die jetzige Regel europarechtswidrig ist, da es bei beschränkt steuerpflichtigen Anteilseignern infolge der Abgeltungswirkung der Kapitalertragsteuer (§ 32 I Nr. 2 KStG) bei einer Bruttobesteuerung bleibt, während inländische Empfänger (sachgerecht) Betriebsausgaben, die in Zusammenhang mit den steuerpflichtigen Bezügen stehen, geltend machen können; § 8b V KStG gilt nicht (§ 8b IV 7 KStG). 139 EuGH v. 20.12.2017 – C-504/16 ECLI:EU:C:2017:1009 – Deister Holding; weitere Vorlage des FG Köln v. 17.5.2017 – 2 K 773/16, EFG 2017, 1518 (EuGH-Az: C-440/17). 140 EuGH v. 20.10.2011 – C-284/09, ECLI:EU:C:2011:670 – Kommission/Deutschland. 141 Eine solche findet sich aufgrund der Rückwirkung der EuGH-Entscheidung allerdings für Altfälle in § 32 V KStG, hierzu Geurts/Faller, DStR 2012, 2357; Anissimov/Stöber, DStZ 2013, 379; Lemaitre, IWB 2013, 269 (275 ff.). 142 Hierzu Benz/Jetter, DStR 2013, 489; Grefe, DStZ 2013, 573; Hechtner/Schnitger, Ubg 2013, 269; Herlinghaus, FR 2013, 529; Hey, KSzW 2013, 353; Intemann, BB 2013, 1239; Haisch/Helios, DB 2013, 724; Schönfeld, DStR 2013, 937 (Fallbeispiele); Watrin/Eberhardt, IStR 2013, 814 (Gestaltungsmöglichkeiten); Wiese/Lay, GmbHR 2013, 404; Kluth, Besteuerung von Streubesitzdividenden – § 8b IV KStG n.F. Gestaltungsempfehlungen, 2015; Kusch, NWB 2013, 1068 (unionsrechtliche Würdigung); Schneider, Die Neuerungen des § 8b IV KStG, Diss., 2016. 143 Hierzu OFD Frankfurt v. 2.12.2013 – S 2750a A - 19 - St 52, DStR 2014, 427, m. Anm. Behrens/Renner/Faller, DStZ 2014, 336; Mössner, IStR 2014, 497. 144 Zu den – bisher nicht umgesetzten – Überlegungen der Einbeziehung von Veräußerungsgewinnen s. Schaaf/Hannweber/Gritsen, GmbH-StB 2015, 104; Haselmann/Albrecht, DStR 2015, 2212 (zur Zulässigkeit der Erfassung in der Vergangenheit entstandener stiller Reserven). 145 Hierzu Richter/Reeb, DStZ 2013, 702. 146 Zu europarechtskonformen Alternativen Fraedrich, IStR 2012, 565; Schiefer/Quinten, IWB 2013, 460; Kollruss, WPg. 2017, 50. 147 FG Hamburg v. 6.4.2017 – 1 K 87/15, EFG 2017, 117 (1121 f.) nrkr., erkennt den Verstoß gegen die Systematik des seit 2001 geltenden Körperschaftsteuersystems, hält diese aber zur Beseitigung des EURechtsverstoßes für gerechtfertigt; a.A. mit ausf. Begründung Hey, KSzW 2013, 353; ebenso Herlinghaus in Rödder/Herlinghaus/Neumann, 2015, § 8b KStG Rz. 435. Nicht möglich ist die Abmilderung der Doppelbelastung durch Anwendung von § 3 Nr. 40 EStG i.V.m. § 8 I KStG, so Rathke/Ritter, DStR 2014, 1207; dagegen zutreffend Joisten/Vossel, FR 2014, 794; Rüsch/Moritz, DStR 2015, 2305. Dies würde zudem wegen der fortbestehenden Abgeltungsbesteuerung ausl. Anteilseigner zu neuerlicher Europarechtswidrigkeit führen.
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II. Ermittlung des Einkommens
Rz. 45 § 11
§ 8b II 4, 5 KStG regeln weitere Ausnahmen von der Steuerbefreiung. Nach Satz 4 ist die Steuer- 43 befreiung nicht anwendbar, wenn die Beteiligung in früheren Jahren (d.h. vor Inkrafttreten von § 8b III 3 KStG) mit steuerlicher Wirkung auf einen niedrigeren Teilwert abgeschrieben wurde. Satz 5 versagt die Befreiung bei vorheriger Inanspruchnahme von § 6b EStG. Die Verlagerung stiller Reserven in den Anwendungsbereich der Beteiligungsertragsbefreiung durch Einbringung verhindert der Gesetzgeber innerhalb einer Siebenjahresfrist durch rückwirkende Versteuerung des Einbringungsgewinns (§ 22 II UmwStG i.d.F. des SEStEG); zur Weiteranwendung von § 8b IV KStG148 für vor der Reform des UmwStG entstandene einbringungsgeborene Anteile s. § 34 VIIa KStG. Durch § 8b VII, VIII KStG sind Kreditinstitute, Finanzdienstleister sowie Lebens- und Krankenver- 44 sicherungsunternehmen mit Anteilen, die zum Handelsbestand/Umlaufvermögen bzw. zu den Kapitalanlagen gehören, von der Steuerbefreiung ausgenommen, um diesen Unternehmen als Kehrseite der Vollbesteuerung den steuerlichen Ansatz von Teilwertabschreibungen und Veräußerungsverlusten zu ermöglichen. In § 8b IX KStG ist mit Blick auf die Vorgaben der Mutter-Tochter-Richtlinie (dazu § 13 Rz. 144) für EU-Gesellschaften eine Rückausnahme vorgesehen. § 8b X KStG i.d.F. des UntStRefG 2008 sanktioniert Umgehungsgestaltungen zur Erzielung steuerfreier Beteiligungserträge durch Wertpapierleihe149; s. auch korrespondierend § 2 Nr. 2 Buchst. a–c KStG. 3. Unterscheidung zwischen betrieblichen und außerbetrieblichen Vermögensmehrungen und -minderungen 3.1 Abgrenzung von Betriebsausgaben, Gewinnausschüttungen und betriebsfremden Aufwendungen Ebenso wie im Einkommensteuerrecht (s. § 8 Rz. 206 ff.) ist auch für die körperschaftsteuerliche Ein- 45 kommensermittlung die betriebliche von der außerbetrieblichen Sphäre abzugrenzen (§ 4 IV EStG; § 8 I KStG). Im Gegensatz zur natürlichen Person ist die betriebsfremde Sphäre der Körperschaft zweigeteilt150: Aufwendungen können mit Rücksicht auf das Gesellschaftsverhältnis getätigt werden (Gewinnausschüttungen); dann handelt es sich um die Verteilung von Einkünften151 (s. § 8 III 1 KStG). Sie können in Geld und sonstigen geldwerten Zuwendungen (Sachwerte152, Nutzungen, Leistungen) bestehen. Derartige Aufwendungen mindern das Einkommen nicht (§ 8 III 2 KStG). Leistungen an den Gesellschafter sind nicht automatisch Gewinnverteilung, sondern schuldrechtliche Verträge zwischen Kapitalgesellschaft und Gesellschaftern werden körperschaftsteuerrechtlich prinzipiell anerkannt (sog. Trennungsprinzip; dazu Rz. 1). Es muss aber stets geprüft werden, ob eine Vermögensmehrung oder -minderung durch Teilnahme am Marktgeschehen erwirtschaftet und damit Ausdruck der steuerlichen Leistungsfähigkeit der Körperschaft ist153 oder ob sie ihre Veranlassung (teilweise) im Gesellschaftsverhältnis hat. So kann statt einer auf einer schuldrechtlichen Vereinbarung beruhenden Betriebsausgabe eine durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasste verdeckte Gewinnausschüttung = Einkommensverteilung (s. Rz. 70) anzunehmen sein, und es kann umgekehrt statt 148 Dazu Kroschewski, GmbHR 2002, 761; Schmitt, BB 2002, 435; Patt, FR 2004, 561; zu Recht krit. (steuerfreie Veräußerung nach steuerneutraler Einbringung ist kein Missbrauch): Müller/Semmler, StuB 2002, 842; Romswinkel, DB 2002, 1679; Roderburg, Die Steuerfreiheit der Anteilsveräußerungsgewinne im neuen Körperschaftsteuerrecht, Diss., 2005, 360 ff.; und ausf. Knepel, Einbringungsgeborene Anteile nach Inkrafttreten des SEStEG, Diss., 2011. 149 Dazu Bergmann, FS Loukota, 2005, 81; Haarmann, FS Raupach, 2006, 233; Wagner, DK 2007, 505; Hahne, BB 2007, 2055; Roser, Ubg 2008, 89; Schnitger/Bildstein, IStR 2008, 202; Kraft/Edelmann, FR 2012, 889 (zur rückwirkenden Anwendung). 150 Zur a.A. der Rspr. s. Fn. 119 u. 120. Alle Aufwendungen mit Ausnahme offener Ausschüttungen sollen „begrifflich“ Betriebsausgaben sein (Wassermeyer, FS Raupach, 2006, 565 [573 f.]). 151 Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986, 50 ff. 152 Tübke, Sachausschüttungen im deutschen, französischen und Schweizer Aktien- und Steuerrecht, Diss., 2002; Orth, WPg 2004, 777 u. 841; Bareis/Siegel, BB 2008, 479. 153 So zutr. Frotscher, GmbHR 1998, 23 (24).
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§ 11 Rz. 46
Körperschaftsteuer
einer auf einer schuldrechtlichen Vereinbarung beruhenden Betriebseinnahme eine durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasste verdeckte Einlage (s. Rz. 92) anzunehmen sein. Daneben gibt es betriebsfremde Aufwendungen, die nicht notwendig durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst sind, z.B. Spenden und Aufwendungen für durch die Verfassung der Gesellschaft vorgeschriebene Zwecke i.S.d. § 10 Nr. 1 KStG (dazu Rz. 48). Sie mindern das Einkommen nur, wenn dies besonders angeordnet ist (insb. Spendenabzug nach § 9 I Nr. 2 KStG; dazu Rz. 47). Systematisch sind sie mit der einkommensteuerlichen Einkünfteverwendung vergleichbar. Insoweit ist dieser Terminus auch im Körperschaftsteuerrecht angebracht (zur außerbetrieblichen Sphäre der Kapitalgesellschaft s. auch Rz. 37). 3.2 Kapitalerhöhungen und Gesellschaftereinlagen, Einlagenrückgewähr 46 Bei dem Betriebsvermögensvergleich sind Vermögensmehrungen der Gesellschaft auf Grund von Ka-
pitalerhöhungen (z.B. Erhöhung des Grundkapitals durch Ausgabe neuer Aktien) und Gesellschaftereinlagen, da nicht von der Gesellschaft erwirtschaftet, gem. § 4 I 1 EStG abzurechnen. Umgekehrt lassen Vermögensminderungen der Gesellschaft, die auf der Rückzahlung von Einlagen beruhen, das Einkommen der Gesellschaft unberührt. Entsprechend bilden zurückgezahlte Einlagen beim Gesellschafter keine Einnahmen aus Kapitalvermögen (§ 20 I Nr. 1 Satz 3 EStG). Um dies zu gewährleisten, werden alle nicht in das Nennkapital geleisteten Einlagen auf einem laufend fortzuschreibenden gesonderten Konto erfasst (steuerliches Einlagekonto, § 27 I 1, 2 KStG)154. Unterjährige Einlagen beeinflussen das Einlagekonto nicht. Maßgeblich ist der Stand des Einlagekontos zum Ende des vorangegangenen Wirtschaftsjahres155. Leistungen der Körperschaft an den Anteilseigner mindern erst dann dieses Konto und stellen eine nicht steuerbare Einlagenrückzahlung dar, wenn kein ausschüttbarer Gewinn mehr vorhanden ist (§ 20 I Nr. 1 Satz 3 EStG i.V.m. § 27 I 3 KStG)156. Über die §§ 27; 28 KStG wird auch der Erwerb eigener Anteile abgewickelt157. Beispiel: Steuerbilanz (Passiva) Gezeichnetes Kapital
1 000 Einlagekonto (§ 27 KStG)
Kapitalrücklage (offene Einlagen)
70
Gewinnrücklage (verdeckte Einlagen)
20
Gewinnrücklage (thesaurierte versteuerte Gewinne) Gewinnvortrag
30 ausschüttbarer Gewinn (§ 27 I 5 KStG) 10
Jahresüberschuss
10
Fremdkapital
90
50
500
154 Anwendungsschreiben BMF v. 4.6.2003 – IV A 2 - S 2836 - 2/03, BStBl. I 2003, 366; zum Begriff des körperschaftsteuerlichen Eigenkapitals ausf. Förster/van Lishaut, FR 2002, 1257 ff.; zur Funktion des steuerlichen Einlagekontos BFH v. 6.10.2009 – I R 24/08, BFH/NV 2010, 248; Ott, DStZ 2016, 227 (Praxisprobleme). 155 BFH v. 13.1.2013 – I R 35/11, BStBl. II 2013, 560. Kritik Siegel, DStZ 2013, 739; Bareis, DB 2013, 2231. 156 S. BT-Drucks. 14/2683, 186 f.; Frotscher/Drüen/Endert, § 27 KStG Rz. 40 (2017). 157 Hierzu BMF v. 27.11.2013 – IV C 2 - S 2742/07/10009, BStBl. I 2013, 1615; Ott, StuB 2014, 163; Schiffers, GmbHR 2014, 79.
764
Hey
4. Abzug von Aufwendungen
Rz. 47 § 11
Beträgt die Leistung der Körperschaft an den Anteilseigner z.B. 60, so übersteigt sie den ausschüttbaren Gewinn i.S.d. § 27 I 5 KStG um 10 und bildet nur in dieser Höhe eine nicht steuerbare Einlagenrückzahlung gem. § 20 I Nr. 1 Satz 3 EStG.158
§ 27 VIII KStG erweitert den Anwendungsbereich des steuerlichen Einlagekontos antragsabhängig auf EU-Körperschaften mit der Folge, dass auch die von Auslandsgesellschaften zurückgezahlten Einlagen beim Anteilseigner nicht länger als Einnahmen versteuert werden müssen (§ 20 I Nr. 1 Satz 3 EStG). Sowohl gleichheitsrechtlich als auch aus der Kapitalverkehrsfreiheit leitet der BFH zutreffend ab, dass die Möglichkeit steuerneutraler Einlagenrückgewähr grds. auch in Drittstaatenfällen eröffnet sein muss159. 4. Besondere Vorschriften über den Abzug von Aufwendungen 4.1 Abziehbare und nicht abziehbare Aufwendungen nach §§ 9; 10 KStG § 9 KStG erlaubt den Abzug von Aufwendungen, die keine Betriebsausgaben sind. Ein einheitlicher 47 Zweck liegt der Vorschrift nicht zugrunde: Nach § 9 I Nr. 1 KStG sind Gewinnanteile und Geschäftsführervergütungen für persönlich haftende Gesellschafter von KG auf Aktien und vergleichbaren Kapitalgesellschaften abziehbar. Sie sind Einkünfte aus Gewerbebetrieb der Gesellschafter (§ 15 I 1 Nr. 3 EStG). Die Vorschrift dient der Vermeidung von Doppelbelastungen. § 9 I Nr. 2 KStG lässt Zuwendungen zur Förderung steuerbegünstigter (gemeinnütziger) Zwecke i.S.d. §§ 52–54 AO in begrenzter Höhe zum Abzug zu; jedoch darf die Zuwendung nicht allein im Interesse eines Gesellschafters liegen; dann handelt es sich um eine verdeckte Gewinnausschüttung160. Die Vorschrift trägt dem Umstand Rechnung, dass das KStG keine Sonderausgaben kennt. Spenden sind grds. der außerbetrieblichen Sphäre (s. Rz. 37 a.E.) zuzuordnen161. Sie sind nur dann Betriebsausgaben (oder Werbungskosten), wenn sie betrieblich (oder beruflich) veranlasst sind, also z.B. Werbezwecken dienen162 (zum sog. Sponsoring s. § 20 Rz. 9). Auch wirtschaftspolitische, berufsständische oder berufsfördernde wissenschaftliche Zielsetzungen können eine betriebliche Veranlassung darstellen163. Die Förderung allgemeiner politischer Ziele, etwa der Erhaltung und Förderung der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, reicht dagegen für eine betriebliche Veranlassung nicht aus164. Auch gibt es bei Unternehmensspenden keine Vermutung für eine betriebliche Veranlassung165. Vielmehr ist die betriebliche Veranlassung der Ausgaben jeweils im Einzelfall vorrangig zu prüfen. Ist die Betriebsausgabeneigenschaft gegeben, so sind die Aufwendungen unbeschränkt abziehbar. Nur wenn die Aufwendungen Einkünfteverwendung darstellen, greift § 9 I Nr. 2 KStG ein. Der BFH entnimmt aus § 9 I Nr. 2 KStG dagegen zu Unrecht ein all-
158 Weitere Bsp. bei Dötsch in Dötsch/Pung/Möhlenbrock, § 27 KStG Rz. 51 ff. (2015). 159 BFH v. 13.7.2016 – VIII R 47/13, BFH/NV 2016, 1831 (Rz. 15 ff.); dazu Schaflitzl/Laschewski, BB 2016, 3095; Arjes/Foddanu, DB 2017, 688; Benecke/Staats, IStR 2016, 893. 160 Dazu grundl. BFH v. 19.6.1974 – I R 94/71, BStBl. II 1974, 586; v. 9.8.1989 – I R 4/84, BStBl. II 1990, 237 (239); v. 8.4.1992 – I R 126/90, BStBl. II 1992, 849; v. 19.12.2007 – I R 83/06, BFH/NV 2008, 988; HHR/Drüen, § 9 KStG Anm. 38 (2011); krit. gegenüber der vermehrten Annahme von vGA Wagner, DStR 2011, 1594; Jansen, DStZ 2010, 170: Spendenabzug als Regel, und grundl. Zimmermann, Spenden als verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 2011. 161 J. Lang, StuW 1984, 29 m.w.N.; Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986, 52. 162 Nestle, BB 1971, 951; Koch, ifst-Schrift Nr. 223 (1983), 7; J. Lang, JbFSt. 1983/84, 211 (222). 163 Vgl. BFH v. 18.9.1984 – VIII R 324/82, BStBl. II 1985, 92 m.w.N.; von Wallis, DStZ 1983, 136; Kohlmann/Felix, DB 1983, 1060 m.w.N.; Reuter, DStR 1983, 635 (636 f.); Frick, BB 1983, 1336 (1337 f.); a.A. Gérard, FR 1984, 254. 164 BFH v. 25.11.1987 – I R 126/85, BStBl. II 1988, 220.; a.A. List, BB 1984, 465 f. 165 A.A. Reuter, DStR 1983, 636 f.
Hey 765
§ 11 Rz. 48
Körperschaftsteuer
gemeines Abzugsverbot für Spenden, welche die vorgeschriebenen Höchstbeträge übersteigen, auch wenn sie Betriebsausgabencharakter haben166. Allgemein zum Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht s. § 20.
Zur Abziehbarkeit von im Mitgliedergeschäft erwirtschafteten Rückvergütungen der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften an ihre Mitglieder s. § 22 KStG167. 48
§ 10 regelt die Nichtabziehbarkeit von Aufwendungen, die zwar das handelsrechtliche Ergebnis der Körperschaft gemindert haben, bei denen es sich aber (überwiegend) nicht um Betriebsausgaben handelt. Gem. der nicht abschließenden Regelung sind nichtabziehbar168 insb.: (1) Aufwendungen für die Erfüllung von Zwecken, die dem Körperschaftsteuersubjekt durch Stiftungsgeschäft, Satzung oder sonstige Verfassung vorgeschrieben sind, es sei denn, dass es sich um Zwecke i.S.d. § 9 I Nr. 2 KStG handelt (§ 10 Nr. 1 KStG). Es handelt sich nicht um Betriebsausgaben, sondern um Einkommensverwendungen169. Da § 10 Nr. 1 KStG Aufwendungen, die den Gegenstand des Unternehmens betreffen, nicht erfassen will, ist die Bedeutung der Vorschrift für Kapitalgesellschaften gering; sie betrifft insb. Stiftungen und andere Zweckvermögen.
(2) Steuern vom Einkommen und sonstige Personensteuern (insb. die frühere Vermögensteuer), die Umsatzsteuer für Entnahmen oder verdeckte Gewinnausschüttungen, Vorsteuern auf nicht abziehbare Aufwendungen i.S.d. § 4 V 1 Nr. 1–4, 7, VII EStG sowie auf diese Steuern entfallende Nebenleistungen, d.h. insb. Nachzahlungszinsen (§ 10 Nr. 2 KStG entspricht § 12 Nr. 3 EStG)170. Für die Gewerbesteuer gilt § 4 Vb EStG über § 8 I KStG. Bei der Ermittlung des Jahresüberschusses gem. § 8 I KStG sind die nach § 10 Nr. 2 KStG nichtabziehbaren Steuern, wenn sie bereits durch Bescheid festgesetzt sind, als Verbindlichkeiten, wenn sie noch nicht festgesetzt, aber schon entstanden sind, als Rückstellungen ausgewiesen. Zur Ermittlung des Einkommens sind sie dem Jahresüberschuss außerhalb der Bilanz (s. Rz. 88) daher wieder hinzuzurechnen.
(3) Geldstrafen, sonstige vermögensrechtliche Rechtsfolgen mit überwiegendem Strafcharakter und Leistungen zur Erfüllung von Auflagen oder Weisungen171 (§ 10 Nr. 3 KStG entspricht § 12 Nr. 4 EStG). (4) Aufsichtsratsvergütungen und sonstige mit der Überwachungstätigkeit zusammenhängende Aufwendungen, jedoch nur zur Hälfte (§ 10 Nr. 4 KStG). Aufsichtsratsvergütungen sind Betriebsausgaben. Durch die Beschränkung des Abzugs auf die Hälfte soll überhöhten (s. auch § 113 AktG) Aufsichtsratsvergütungen entgegengewirkt werden. Die pauschale Maßnahme ist jedoch weder systematisch noch verfassungsrechtlich gerechtfertigt172.
166 BFH v. 4.2.1987 – I R 58/86, BStBl. II 1988, 215 (221 f.). 167 BFH v. 24.4.2007 – I R 37/06, BStBl. II 2015, 1056; Herlinghaus, DStZ 2003, 865 (Verhältnis zur vGA). 168 Dazu Ehmcke, DStJG 20 (1997), 257; Schönwald, SteuerStud 2005, 544. 169 BFH v. 5.6.2003 – I R 76/01, BStBl. II 2005, 305. 170 BFH v. 6.10.2009 – I R 39/09, BFH/NV 2010, 470 (verfassungsgemäß); v. 15.2.2012 – I B 97/11, BStBl. II 2012, 697 (mangels außerbetrieblicher Sphäre der Kapitalgesellschaft ist BFH v. 15.6.2010 – VIII R 33/07, BStBl. II 2011, 503, zur einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Erstattungszinsen nicht übertragbar); a.A. Brete, DStZ 2009, 692; Paus, DStZ 2012, 432. 171 Dazu J. Lang, StuW 1985, 10; BFH v. 22.7.1986 – VIII R 93/85, BStBl. II 1986, 845. 172 So auch Tipke, NJW 1980, 1082; Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981, 101; Ehmcke, DStJG 20 (1997), 257 (273); Bicanski/Brandis, FS zum 20jährigen Bestehen der Fachhochschule für Finanzen in Nordrhein-Westfalen, 1997, 33 (39); Schulze-Osterloh, FS Offerhaus, 1999, 375; ausf. Schwan, Steuerliche Begrenzungsmöglichkeiten der Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat, Diss., 2012, 135 ff.; a.A. BVerfG v. 7.11.1972 – 1 BvR 338/68, BVerfGE 34, 103; Märtens in Gosch3, § 10 KStG Rz. 40; Haarmann, FS Endres, 2016, 149. Ähnliche Bedenken bestehen gegen weitergehende Maßnahmen eines steuerlichen Abzugsverbots für Managervergütungen (BT-Drucks. 17/13472), dazu Drüen, KSzW 2013, 343; Hey/Hey, FR 2017, 309; zweifelhaft Schiffer, BC 2017, 159 (Fall des § 4 V 1 Nr. 7 EStG); zum Abzugsverbot in Österreich Staringer, ÖStZ 2014, 369 u. 2015, 81.
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Hey
4. Abzug von Aufwendungen
Rz. 49 § 11
I.Ü. gelten über § 8 I KStG die einkommensteuergesetzlichen Abzugsverbote, insb. § 3c I EStG (Ausn. § 8b III 2 KStG) sowie § 4 V EStG173. 4.2 Beschränkung des Abzugs von Finanzierungsaufwand im Konzern (Zinsschranke, § 4h EStG; § 8a I KStG) und Gesellschafterfremdfinanzierung (§ 8a II, III KStG) Literatur (Nachw. zu § 8a KStG a.F. s. 18. Aufl., § 11 vor Rz. 80); weitere Literatur bis 2015 s. 22. Aufl., § 11 vor Rz. 49: Homburg, Die Zinsschranke – eine beispiellose Steuerinnovation, FR 2007, 717; Musil/Volmering, Systematische, verfassungsrechtliche und europarechtliche Probleme der Zinsschranke, DB 2008, 12; Hoffmann, Zinsschranke, 2008; Hey, Die Zinsschranke als Maßnahme zur Sicherung des inländischen Steuersubstrats aus europa- und verfassungsrechtlicher Sicht, FS Djanani, 2008, 109; Blaufus/Lorenz, Die Zinsschranke in der Krise, StuW 2009, 323; Bohn, Zinsschranke und Alternativmodelle zur Beschränkung des steuerlichen Zinsabzugs, Diss., 2009; Herzig/Bohn/Fritz, Alternativmodelle zur Zinsschranke, DStR 2009, 61; Loukota, Internationale Probleme mit der deutschen Zinsschranke, SWI 2008, 105; S. Neumann, Die Zinsschranke „bei schlechtem Wetter“, Ubg 2009, 461; Schön, Zurück in die Zukunft? GesellschafterFremdfinanzierung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung, IStR 2009, 882; Watrin/Pott/Richter, Auswirkungen der Zinsschranke auf die steuerliche Bemessungsgrundlage (empirisch), StuW 2009, 56; Prinz, Bedeutung der Finanzierungsfreiheit im Steuerrecht, FS Herzig, 2010, 147; München, Die Zinsschranke – eine verfassungs-, europa- und abkommensrechtliche Würdigung, Diss., 2010; Herzig/Liekenbrock, Expertenbefragung zu Rechtsunsicherheiten der Zinsschranke, Ubg 2011, 102; Hiller, Die Zinsschranke im Lichte des europäischen Gemeinschaftsrechts, Diss., 2011; Goebel/Eilinghoff, (Nicht-)Konformität der Zinsschranke mit dem Grundgesetz und dem Europarecht, DStZ 2010, 550; Kaminski, Überlegungen zu den internationalen Aspekten der Zinsschranke, IStR 2011, 783; Glahe, Einkünftekorrektur zwischen verbundenen Unternehmen – Vereinbarkeit der deutschen Verrechnungspreisvorschriften und der Zinsschranke mit Europaund Verfassungsrecht, Diss., 2012; Brähler/Kühner, Das Symmetrieverhalten der Zinsschranke, DB 2012, 1222; Kraft/Körner/Türksch, Kritik der konzeptionellen Diskriminierung der Eigenkapitalfinanzierung im deutschen Steuerrecht, DB 2012, 2416; Marquart, Zinsabzug und steuerliche Gewinnallokation, Diss., 2013; Jehlin, Die Zinsschranke als Instrument zur Missbrauchsvermeidung und Steigerung der Eigenkapitalausstattung, 2013; Schön (Hrsg.), Fremd- und Eigenkapital im Steuerrecht, 2013 (mit ausf. Länderberichten); Heuermann, Steuerinnovation im Wandel: Einige Thesen zur Zinsschranke und ihrer Verfassungsmäßigkeit, DStR 2013, 1; Marquart/Jehlin, Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen einer „Steuerinnovation“, DStR 2013, 2301; Heyes, Ursachen, Rahmenbedingungen und neue Rechtfertigungsansätze zur Zinsschranke (§ 4h EStG, § 8a KStG), Diss., 2014; Staats, Zur Verfassungskonformität der Zinsschranke, Ubg 2014, 52; München/Mückl, Die Vereinbarkeit der Zinsschranke mit dem Grundgesetz, DStR 2014, 1469; Ismer, Verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Zinsschranke, FR 2014, 777; Knöller, Die Besteuerung von Sollertrag und Istertrag – Eine Untersuchung am Beispiel der Zinsschranke, Diss., 2015; Glahe, Zinsschranke und Verfassungsrecht, Ubg 2015, 454; Kühbacher, Abzugsverbote für Zinsen und Lizenzgebühren im Licht des Unionsrechts, ÖStZ 2017, 169. Ausland/Rechtsvergleich: Ressler, Die Unterkapitalisierung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 2008; Cryns, Gesellschafterfremdfinanzierung in Frankreich und Zinsschranke – ein Rechtsvergleich, Diss., 2010; Ernst, Gesellschafter-Fremdfinanzierung im deutschen und U.S.-amerikanischen Steuerrecht, Diss., 2010; Schmidt, Zinsschranke und Rechtsformwahl, Diss., 2010; Schmidtpott, Die deutsche Zinsschranke – ein Vergleich mit den niederländischen Thin Capitalisation Rules und den US-amerikanischen Earnings Stripping Rules, Hefte zur Internationalen Besteuerung Nr. 167, 2010; Müller/Hernández, Einführung einer Zinsschranke in Spanien, IStR 2012, 877; Schön (Hrsg.), Fremd- und Eigenkapital im Steuerrecht, 2013 (m. ausf. Länderberichten).
Im Unterschied zu Dividenden (vgl. § 8 III 1 KStG) mindern Zinsen als betrieblicher Aufwand grds. 49 das Einkommen der zinszahlenden Körperschaft. Zwischen verbundenen Unternehmen kann daher durch die Wahl zwischen Eigen- und Fremdkapital (sog. Gesellschafterfremdfinanzierung) beeinflusst werden, ob die Besteuerung auf der Ebene der Tochter- oder der Muttergesellschaft stattfindet.
173 Zum Verhältnis zur vGA s. BFH v. 7.2.2007 – I R 29/05, BFH/NV 2007, 1230.
Hey 767
§ 11 Rz. 50
Körperschaftsteuer
Innerhalb Deutschlands ergeben sich abgesehen von § 8b V KStG und etwaigen – und z.T. durchaus beachtlichen – Gewerbesteuerhebesatzdifferenzen keine Belastungsunterschiede zwischen einer Besteuerung des Gewinns auf der Ebene der dividendenzahlenden Tochtergesellschaft oder der zinsempfangenden Muttergesellschaft. Fremdkapitalgestaltungen können jedoch zur Ausnutzung eines internationalen Steuersatzgefälles eingesetzt werden. Die Ursache des Problems liegt in der fehlenden Finanzierungsneutralität des Internationalen Steuerrechts. Auf Grund der abkommensrechtlich üblichen und EU-rechtlich durch die Mutter-Tochter-Richtlinie sowie die Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie abgesicherten Praxis der gegenläufigen Zuweisung von Besteuerungsrechten an Unternehmensgewinnen einerseits und Zinsen andererseits (s. § 13 Rz. 144, 146) lässt sich grenzüberschreitend steuern, ob Gewinne im Staat der Tochtergesellschaft oder im Staat der Muttergesellschaft versteuert werden. Ein Bedürfnis, den Abzug von Zinsaufwendungen zu limitieren, besteht demnach grds. nur im Verhältnis zum Ausland. Allerdings hatte der EuGH in der Rs. Lankhorst-Hohorst174 den europarechtlichen Rahmen dahingehend abgesteckt, dass allein auf grenzüberschreitende Sachverhalte anwendbare Regeln zur Begrenzung der Gesellschafterfremdfinanzierung gegen die Grundfreiheiten verstoßen. Die Rs. Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation aus dem Jahr 2007 bestätigt dies zwar im Grundsatz, lässt jedoch Spielräume für eine auf Auslandssachverhalte begrenzte Missbrauchsregel175. Zwischenzeitlich ist der Europäische Gesetzgeber mit Art. 4 ATAD (Anti Tax Avoidance-Directive176) tätig geworden. Er hat die grundfreiheitenrechtlichen Spielräume nicht genutzt, sondern schreibt den Mitgliedstaaten ein im Wesentlichen der deutsche Zinsschranke entsprechendes allgemeines, d.h. nicht auf grenzüberschreitende Sachverhalte und Gesellschafterfremdfinanzierungen beschränktes, Zinsabzugsverbot vor177. 50 Seit dem UntStRefG 2008 lassen § 4h EStG; § 8a I KStG Zinsaufwand generell nur noch beschränkt
zum Abzug zu (sog. Zinsschranke). Anders als die Vorgängernorm des § 8a KStG a.F., die sich nur gegen (übermäßige) Gesellschafterfremdfinanzierung richtete, zielt die Zinsschranke auf die Bekämpfung jedweder Fremdfinanzierungsgestaltung178 zum Nachteil des deutschen Fiskus179. Das Abzugsverbot greift, allerdings mit Erweiterungen in § 8a II KStG, in erster Linie bei konzernangehörigen Betrieben ein. Die Zinsschranke ist im EStG geregelt und damit rechtsformübergreifend auch im Personengesellschaftskonzern und auf Kapitalgesellschaften nachgeschaltete Personengesellschaften anwendbar180. Zinszahlungen an Gesellschafter einer Personengesellschaft mindern indes schon wegen § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG den Gewinn der Gesellschaft nicht, so dass insoweit kein Anwendungsbereich für ein Abzugsverbot besteht. Die Hauptbedeutung der Zinsschranke liegt in der KSt.
174 EuGH v. 12.12.2002 – C-324/00, ECLI:EU:C:2002:749 – Lankhorst-Hohorst. Dazu Kube, IStR 2003, 325; Vinther/Werlauff, EC Tax Review 2003, 97; Cordewener, ET 2003, 102; Kessler, DB 2003, 2507. 175 EuGH v. 13.3.2007 – C-524/04, ECLI:EU:C:2007:161 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation. S. Schön, IStR 2009, 882. Zum Teil allerdings zurückgenommen durch EuGH v. 3.10.2013 – C-282/12, ECLI:EU:C:2013:629 – Itelcar, Rz. 36 ff. 176 RL 2016/1164, ABl. EU v. 19.7.2016, L 193/1; dazu Dourado, EC Tax Rev. 2017, 112. 177 Damit wurden Empfehlungen für eine europarechtskonforme zielgenaue Missbrauchsregel (s. Zielke, StuW 2009, 63) nicht aufgegriffen. 178 Zum Vorrang der Abgrenzung zwischen Eigen- und Fremdkapital Goebel/Eilinghoff/Busenius, DStZ 2010, 742. 179 Zu den gängigen Gestaltungen vgl. Rödder/Stangl, DB 2007, 479; zu den künftigen Gestaltungen zur Vermeidung der Zinsschranke Dörr/Fehling, Ubg 2008, 345; zur Notwendigkeit der Zinsschranke Schwarz, IStR 2008, 11. 180 Rechtsformübergreifend, aber nicht rechtsformneutral Prinz, DB 2008, 368; Kollruss/Seitz/Gruebner/ Niedental, DStZ 2009, 117; zur Anwendung auf Personengesellschaften Kollruss, GmbHR 2007, 1133 (1135 f.); van Lishaut/Schumacher/Heinemann, DStR 2008, 2341; Kröner/Bolik, DStR 2008, 1309; Hoffmann, GmbHR 2008, 183; Feldgen, NWB 2009, 998.
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Hey
4. Abzug von Aufwendungen
Rz. 54 § 11
Die im Detail hochkomplexe Regelung stellt sich in ihren Grundzügen wie folgt dar181:
51
Nach § 4h I 1 EStG sind die den Zinsertrag übersteigenden Zinsaufwendungen eines Betriebs (Zinssaldo) nur bis zu 30 % des um den Zinssaldo sowie die Abschreibungen erhöhten Gewinns abziehbar (sog. steuerliches EBITDA = earnings before interest, tax, depreciation and amortization). Nicht ausgenutztes EBITDA ist seit dem VZ 2010 vortragsfähig (§ 4h I 3 EStG)182. § 4h II EStG normiert Ausnahmen: Der Zinssaldo bleibt voll abzugsfähig, wenn a) er weniger als 3 Mio. Euro beträgt
52
(Freigrenze!183);
b) der Betrieb nicht oder nur anteilsmäßig zu einem Konzern gehört; dabei bestimmt § 4h III 5, 6 EStG die Konzernzugehörigkeit anhand eines erweiterten Konzernbegriffs184 nicht nur danach, ob nach dem zugrunde gelegten Rechnungslegungsstandard ein gemeinsamer Abschluss aufgestellt wird, sondern auch, ob er aufgestellt werden könnte bzw. ob die Finanz- und Geschäftspolitik des Betriebs mit anderen Betrieben einheitlich bestimmt werden kann (Anlehnung an IAS 27); c) der Betrieb zu einem Konzern gehört, seine Eigenkapitalquote aber gleich hoch oder höher ist als die des Konzerns; toleriert wird eine Abweichung bis zu 2 %. Dieser Eigenkapitalvergleich wird als sog. Escape-Klausel bezeichnet. Die zugrunde zu legenden Abschlüsse können einheitlich entweder nach IFRS, nach dem nationalen Handelsrecht eines EU-Mitgliedstaats oder nach US-GAAP aufgestellt werden (§ 4h II 8 ff. EStG)185. § 8a II, III KStG normieren Rückausnahmen schädlicher Gesellschafterfremdfinanzierung. Betragen 53 die an einen unmittelbar oder mittelbar wesentlich beteiligten Gesellschafter (. 25 %), eine diesem nahestehende Person oder einen rückgriffsberechtigten Dritten gezahlten Zinsen mehr als 10 % des Zinssaldos, findet § 4h EStG unabhängig von der Konzernzugehörigkeit (§ 8a II KStG; § 4h II 1 Buchst. b, III 5 EStG) oder dem Eigenkapitalvergleich (§ 8a III KStG) Anwendung. Dabei kehrt § 8a III 1 KStG die Beweislast um. Die Inanspruchnahme der Escape-Klausel des § 4h II 1 Buchst. c EStG wird davon abhängig gemacht, dass die Körperschaft nachweist, dass weder sie noch irgendein anderer zu demselben Konzern gehöriger Rechtsträger (Rechtsverhältnisse Dritter!) die 10 %-Grenze überschreitet. Diese Einbeziehung sämtlicher Gesellschaften des Konzerns ist nicht nachvollziehbar186. Gem. § 4h I 1 EStG nicht abziehbare Zinsaufwendungen können als Zinsvortrag in den folgenden 54 Veranlagungszeiträumen abgezogen werden (§ 4h I 5 EStG)187. Der Zinsvortrag unterliegt denselben Restriktionen wie der Verlustvortrag, d.h. Anteilseignerwechsel (§ 8c I KStG, s. Rz. 58), Umwandlung (§§ 4 II; 20 IX; 24 VI UmwStG) und Aufgabe/Übertragung des Betriebs (§ 4h V EStG) führen zum Wegfall. Zudem kann der Vortrag nur dann genutzt werden, wenn das Unternehmen nicht dauerhaft auf eine die restriktive 30 %-Grenze übersteigende Fremdfinanzierung angewiesen ist.
181 S. auch Anwendungsschreiben BMF v. 4.7.2008 – IV C 7 - S 2742-a/07/10001, BStBl. I 2008, 718. 182 Dazu Lenz/Dörfler/Adrian, Ubg 2010, 1; Rödder, DStR 2011, 529; Herzig/Liekenbrock, DB 2010, 690. 183 Zutr. Luck, „Alles oder Nichts“ – Die Freigrenze im Steuerrecht, Diss., 2014, 233–234: verfassungswidrig. 184 Risse, Der Konzernbegriff der Zinsschranke – Systematik, Reichweite und Würdigung, Diss., 2016. 185 Dazu Hennrichs, DB 2007, 2106; Hahne, StuB 2007, 808; Küting/Weber/Reuter, DStR 2008, 1602. 186 Rödder, DStR 2007, Beihefter zu Heft 40, 3. 187 Schaden/Käshammer, BB 2007, 2317; Beußer, FR 2009, 49; bei Bilanzierung nach IFRS oder US-GAAP ist die Bildung eines Deferred Tax Assets möglich, vgl. Kröner, DB 2006, 2084 (2085); Dahlke, BB 2007, 1831 (1837); Loitz/Neukamm, WPg 2008, 196.
Hey 769
§ 11 Rz. 55
Körperschaftsteuer
55 Zinsaufwand ≤ Zinsertrag (Zinssaldo ≤ 0) (§ 4h I 1 EStG)
ja
nein ja
Zinssaldo < 3 Mio. Euro (§ 4h II 1 Buchst. a EStG) nein
ja
Zinssaldo ≤ 30 % des EBITDA (§ 4h I 1 EStG) nein Betrieb weder konzernzugehörig (§ 4h II 1 Buchst. b EStG) noch Kapitalgesellschaft
ja
Konzernangehörige Kapitalgesellschaft
Nicht konzernangehörige Kapitalgesellschaft
Zinssaldo an wesentlich beteiligte Gesellschafter ≤ 10 % (weder selbst noch anderer Rechtsträger im Konzern) (§ 8a III KStG)
Zinssaldo an wesentlich beteiligte Gesellschafter ≤ 10 % (§ 8a II KStG)
ja
ja ja
EK-Quote ≥ Konzernquote (§ 4h II 1 Buchst. c EStG) nein
nein
nein
Zinsschranke, d. h. Zinssaldo > 30 % des EBITDA unterliegt einem Abzugsverbot mit Vortragsmöglichkeit (§ 4h I 2 EStG)
770
Hey
Volle Abzugsfähigkeit des Zinsaufwands
5. Verlustausgleich und Verlustabzug
Rz. 56 § 11
Die Zinsschranke führt zu einem (temporären) Betriebsausgabenabzugsverbot. Zwangsläufig sind 56 damit Doppelbelastungen verbunden, weil der Empfänger der Zinszahlungen den Zinsertrag zu versteuern hat. Die vom Gesetzgeber gewählte Lösung zur Bekämpfung einer Verlagerung von Steuersubstrat durch Fremdfinanzierungsgestaltungen ist inakzeptabel188. Abgesehen von den immensen praktischen Problemen der § 4h EStG; § 8a KStG, die bereits während des Gesetzgebungsverfahrens Gegenstand einer Flut von Aufsätzen waren, ist die Zinsschrankenregelung systematisch verfehlt und verfassungswidrig; der BFH hat das BVerfG angerufen189. Das Abzugsverbot verletzt das objektive Nettoprinzip. Als Rechtfertigungsgründe ungeeignet sind die erwarteten Mehreinnahmen oder das allgemeine Ziel der Sicherung des inländischen Steuersubstrats. Der Abfluss von Steuersubstrat ins Ausland rechtfertigt für sich genommen weder die Abkehr vom Nettoprinzip noch die Missachtung völker- und europarechtlicher Bindungen. Anzuerkennen ist allein das Ziel der Missbrauchsabwehr. Mit § 4h EStG; § 8a KStG schießt der Gesetzgeber aber weit über dieses Ziel hinaus190: Die Zinsschranke ist nicht auf Gesellschafterfremdfinanzierungen begrenzt, sondern erfasst jegliche Zinszahlungen, d.h. unabhängig von etwaigen Rückgriffsansprüchen ist auch die „normale“ Bankenfinanzierung sanktioniert. Damit richtet sie sich nicht spezifisch gegen den missbräuchlichen Entzug deutschen Besteuerungssubstrats und trifft durch die hohe Quote der Nichtabzugsfähigkeit von 70 % auch den Normalfall fremdfinanzierter Unternehmen191. An dieser Einschätzung ändert auch die zwischenzeitlich geschaffene europarechtliche Rechtsgrundlage in Art. 4 ATAD nichts. Es ist bereits zweifelhaft ob Art. 4 ATAD, insbesondere in Bezug auf rein inländische Finanzierungen, überhaupt von Art. 115 AEUV gedeckt ist. Der Verstoß gegen das objektive Nettoprinzip entfällt jedenfalls nicht dadurch, dass er jetzt europarechtlich verpflichtend vorgeschrieben wird. Besonders problematisch ist die Überführung in europäisches Recht zum einen, weil eine Abkehr nur noch einstimmig möglich ist und dem nationalen Gesetzgeber die Möglichkeit besserer Einsicht genommen wird, zum anderen wird zukünftig die verfassungsrechtliche Kontrolle nicht mehr beim BVerfG, sondern beim EuGH stattfinden192. 5. Verlustausgleich und Verlustabzug Literatur: Herzig, Verluste im Körperschaftsteuerrecht, DStJG 28 (2005), 185; Ernst, Neuordnung der Verlustnutzung nach Anteilseignerwechsel, ifst-Schrift 470 (2011); Schmitz, Steuerrechtliche Reaktionen auf den Handel mit Verlustgesellschaften im Rechtsvergleich, Diss., 2012; Gens, Unterneh188 S. die z.T. geharnischte Kritik im Schrifttum insb. Homburg, FR 2007, 717; Eilers, FR 2007, 733 (734 f.); Töben, FR 2007, 739; Hey, BB 2007, 1303 (1305 f.); Knopf/Bron, BB 2009, 1222; Süß/Wilke, SteuerStud 2010, 561; moderater Rödder/Stangl, DB 2007, 479 (483 ff.); Thiel, FR 2007, 729, die für das Grundkonzept Verständnis aufbringen, nicht aber für die konkrete Ausgestaltung; Neumann, Ubg 2009, 461 (Zinsschranke nicht prinzipiell krisenverschärfend). 189 BFH v. 14.10.2015 – I R 20/15, BStBl. II 2017, 1240; dazu zustimmend München/Mückl, DB 2016, 497; Weggenmann, BB 2016, 1175; Hick, FR 2016, 409; a.A. Mitschke, FR 2016, 412. Schon zuvor von Verfassungswidrigkeit ausgehend Hey, FS Djanani, 2008, 109 (121 ff.); Cryns, Gesellschafterfremdfinanzierung, Diss., 2011, 312 ff.; Marquat, Zinsabzug und steuerliche Gewinnallokation, Diss., 2013, 196–217; Heyes, Ursachen, Rahmenbedingungen und neue Rechtfertigungsansätze zur Zinsschranke, Diss., 2014, 404 ff.; Knöller, Die Besteuerung von Sollertrag und Istertrag, Diss., 2015, 358–398; a.A. BMF v. 13.11.2014 – IV C 2 - S 2742-a/07/10001 :009, BStBl. I 2014, 1516 (Nichtanwendungserlass zu BFH v. 16.1.2014 – I R 21/12, BStBl. II 2014, 531); Staats, Ubg 2014, 520; Ismer, FR 2014, 777, der allerdings „teleologische Korrekturen“ für erforderlich hält (783); dezidiert Heuermann, DStR 2013, 1; dagegen Prinz, FR 2013, 145. Überblick über die Rspr. zu § 4h EStG Prinz, DB 2013, 1571. 190 Ebenso Homburg, FR 2007, 717 (719 f.). 191 Eilers, FR 2007, 733 (735). 192 Dourado, EC Tax Rev. 2017, 112 (117 ff.); Lampert/Meickmann/Reinert, European Taxation 2016, 323; zu Vorwirkungen von Art. 4 ATAD auf das anhängige Vorlageverfahren (Fn. 200) Glahe, FR 2016, 829; Replik Mitschke, FR 2016, 834; Duplik Glahe, FR 2016, 412.
Hey 771
§ 11 Rz. 57
Körperschaftsteuer
mensverluste, Verlustabzug und Mindestbesteuerung, Diss. 2014; Klemt, Körperschaftsteuerliche Verluste junger innovativer Unternehmen, Diss., 2015; Hohmann, Beschränkung des subjektbezogenen Verlusttransfers im Kapitalgesellschaftsrecht, Diss., 2017. 57 Für die Verlustberücksichtigung gelten im Körperschaftsteuerrecht grds. dieselben Regeln wie im
Einkommensteuerrecht193. Über § 8 I KStG findet insb. die Mindestbesteuerung des § 10d II EStG (s. dazu krit. § 8 Rz. 67 f.) Anwendung194. Zusätzliche Restriktionen der Verlustverrechnung regelt § 8c I KStG195. Danach führt ein Anteilseignerwechsel unter folgenden Voraussetzungen zum anteiligen oder vollen Untergang des Verlustabzugs bzw. schließt den Verlustausgleich aus: – Werden innerhalb von fünf Jahren mittelbar oder unmittelbar mehr als 25 % der Anteile einer Körperschaft (auch Stimmrechte!) an einen Erwerber, diesem nahestehende Personen196 oder eine Erwerbergruppe mit gleichgerichteten Interessen i.S.d. § 8c I 3 KStG197 übertragen (= schädlicher Beteiligungserwerb), ist der Ausgleich und Abzug der bis zum Erwerb nicht genutzten Verluste anteilig ausgeschlossen (§ 8c I 1 KStG). Bei unterjährigem Beteiligungswechsel bleibt ein Ausgleich mit den bis zu diesem Zeitpunkt im Wirtschaftsjahr erzielten Gewinnen allerdings zulässig198. Höchst unbestimmt sollen darüber hinaus auch den genannten Übertragungsvorgängen „vergleichbare“ Sachverhalte die Rechtsfolge des § 8c KStG auslösen. Mehrere Anteilserwerbe innerhalb des Fünfjahreszeitraums werden zusammengerechnet; nach dem erstmaligen Überschreiten der Beteiligungsgrenze führt ein weiterer Beteiligungshinzuerwerb unterhalb von 50 % nicht zu weiteren anteiligen Kürzungen des Verlustvortrags199. – Bei einer Übertragung von mehr als 50 % (mittelbar oder unmittelbar) innerhalb von fünf Jahren an einen Erwerber sind die zuvor nicht genutzten Verluste vollständig nicht abziehbar. 58 Die mit UntStRefG 2008 eingeführte Grundregel hat in der Folgezeit einige Einschränkungen200 er-
fahren. – Gem. § 8c I 5 KStG (sog. Konzernklausel) werden konzerninterne Umstrukturierungen ausgenommen, allerdings nur bei 100 %iger Beteiligungsidentität (mittelbar oder unmittelbar) zwischen übertragendem und übernehmendem Rechtsträger201. 193 Grundl. Herzig, DStJG 28 (2005), 185 ff. 194 Hierzu grundl. Fischer, FR 2007, 281; ferner Klomp, GmbHR 2012, 675. 195 Dazu BMF v. 28.11.2017 – IV C 2-S 2745-a/09/10002:004, BStBl. I 2017, 1645, erläutert von Neumann/ Heuser, GmbHR 2018, 21; Suchanek/Rüsch, Ubg 2018, 10. Grundl. zu § 8c KStG Ernst, Neuordnung der Verlustnutzung nach Anteilseignerwechsel, ifst-Schrift 470 (2011); Schmitz, Steuerrechtliche Reaktionen auf den Handel mit Verlustgesellschaften im Rechtsvergleich, Diss., 2012. Einzelbeiträge zur Rechtsentwicklung und zu einzelnen Anwendungsproblemen s. 20. Aufl., § 11 Rz. 58, Fn. 127. 196 Zu beschränken auf Personen, die im Interesse des Erwerbers handeln, s. Stollenwerk, Geschäfte zwischen nahestehenden Personen, Diss., 2014, 220–237. 197 Einschränkende Auslegung des Erwerberkreises s. BFH v. 22.11.2016 – I R 30/15, BStBl. II 2017, 921; Anm. Krüger/Bakeberg, Ubg 2017, 523. 198 BFH v. 30.11.2011 – I R 14/11, BStBl. 2012, 360. Zur Aufteilung s. Entwurf BMF-Schreiben zu § 8c KStG v. 15.4.2014, Rz. 31 f.; Adrian, StuB 2014, 464; Adrian/Weiler, BB 2014, 1303; Suchanek/Trinkaus, FR 2014, 889. 199 BT-Drucks. 16/4841, 76. Berechtigte Kritik an der unverständlichen und zu Gestaltungen zwingenden Konzeption Dörr, NWB 2007, Fach 4, 5181 (5187 f.); zur Anwendung der Gesamtplanrechtsprechung auf gestreckte Übertragungen (s. § 5 Rz. 123) BMF v. 4.7.2008 – IV C 7 - S 2745-a/08/10001, BStBl. I 2008, 736, Rz. 19; dazu Pohl, GmbHR 2009, 132. 200 Überblick Niehus/Wilke, SteuerStud 2012, 473. 201 Krit. insb. im Hinblick auf die damit verbaute Möglichkeit einer teleologischen Reduktion in den Fällen einer konzerninternen beherrschungsidentischen Umstrukturierung, die das 100 %-Kriterium nicht erfüllt, J. Lang, GmbHR 2012, 57 (59).
772
Hey
5. Verlustausgleich und Verlustabzug
Rz. 59 § 11
– Gem. § 8c I 6–9 KStG (sog. Stille-Reserven-Klausel) können Verluste auch bei schädlichem Beteiligungserwerb weiterhin insoweit abgezogen werden, wie ihnen zum Zeitpunkt der schädlichen Übertragung im Inland (!) steuerpflichtige stille Reserven gegenüberstehen202. Dies ist zur Vermeidung von Übermaßbesteuerung zwingend. – Die durch Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung v. 16.7.2009, BGBl. I 2009, 1959, in § 8c Ia KStG eingefügte Sanierungsklausel wurde, nachdem sie die EU-Kommission sowie das EuG als unzulässige Beihilfe i.S.v. Art. 107 AEUV eingeordnet hat203, durch BeitrRLUmsG v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2592, bis zur Aufhebung der Beihilfeentscheidung suspendiert (§ 34 VIIc 3 ff. KStG). Damit sind auch Anteilserwerbe zum Zweck der Unternehmenssanierung zunächst wieder den sanierungshemmenden Restriktionen des § 8c I 1 KStG unterworfen204. Die Beihilfeentscheidung wird jedoch durch BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BGBl. I 2017, 1289, in Frage gestellt. Das BVerfG hat deutlich gemacht, dass die Verlustverrechnung auf der Ebene der Körperschaft unabhängig vom Bestand der Anteilseigner die Grundregel ist, so dass sich § 8c Ia KStG nicht länger als Ausnahme vom Referenzsystem verstehen lässt, sondern als Rückkehr zu diesem (zur Beihilfebestimmung s. auch § 4 Rz. 117). – § 8d KStG, eingeführt durch Gesetz zur Weiterentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung bei Körperschaften v. 20.12.2016, BGBl. I 2016, 2998, ermöglicht zusätzlich mit Wirkung ab dem VZ 2016 einen Antrag auf Behandlung von § 8c KStG-Verlusten als fortführungsgebundener Verlustvortrag. Voraussetzung ist die unveränderte Fortführung des Geschäftsbetriebs. Schädliche Ereignisse sind nach § 8d II KStG u.a. die Aufnahme eines zusätzlichen Geschäftsbetriebs (Nr. 3), jede (!) Beteiligung an einer Mitunternehmerschaft (Nr. 4) oder die Begründung einer Organträgerstellung (Nr. 5). In diesem Fall geht der gesamte Verlustvortrag unter, soweit er die stillen Reserven übersteigt, und zwar auch in den Fällen des Anteilseignerwechsels zwischen 25 und 50 %, in denen es nach der Grundregel des § 8c I 1 KStG nur zu einem anteiligen Verlustuntergang kommt. Infolge der extrem restriktiven Ausgestaltung von § 8d ist der Antrag risikoreich205, die Vorschrift ist damit für die Praxis nahezu untauglich206. § 8d II KStG enthält keine verhältnismäßige Missbrauchstypisierung. Unklar ist zudem, ob auch § 8d KStG als unzulässige Beihilfe eingestuft werden wird207. BVerfG v. 29.3.2017 hat § 8c I 1 KStG (25 %-Fall) mit ex tunc-Wirkung für verfassungswidrig er- 59 klärt208 und damit die Kritik209 an der Vorschrift gleichheitsrechtlich bestätigt. Der Gesetzgeber ist 202 Zu den vielfältigen Anwendungsproblemen der Stille-Reserven-Klausel Suchanek/Jansen, GmbHR 2011, 174; T. Wagner, DB 2010, 2751; Roser, EStB 2010, 265; Brinkmann, Ubg 2011, 94; Niehus/Wilke, SteuerStud 2012, 473; Schnitger/Rometzki, Ubg 2013, 1. 203 EuG v. 4.2.2016 – T-620/11, ECLI:EU:T:2016:59 – GFKL Financial Services AG/Kommission; v. 4.2.2016 – T-287/11, ECLI:EU:T:2016:60 – Heitkamp Bauholding; dazu Holtmann, EWS 2016, 61. 204 Umfassend zu den steuerlichen Rahmenbedingungen für Unternehmenssanierungen Kahlert/Rühland, Sanierungs- und Insolvenzsteuerrecht, 2011; Eilers/Bühring, Sanierungssteuerrecht, 2012; ferner Eilers/ Bühring, StuW 2009, 246; ferner Töben, StbJb. 2009/10, 363; Frey/Mückl, GmbHR 2010, 1193; Gänsler, Ubg 2013, 154. 205 Verschärft durch die zahllosen Anwendungsprobleme, z.B. bei der Definition des Geschäftsbetriebs; s. HHR/Suchanek/Rüsch, § 8d KSG Anm. 34 ff. (2017). 206 Kritik an § 8d KStG z.B. Moser/Witt, DStZ 2017, 235 (236 ff.); Engelen/Bärsch, Der Konzern 2017, 22; a.A. Röder, DStR 2017, 1737. 207 So Kußmaul/Palm/Licht, GmbHR 2017, 1009. 208 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BGBl. I 2017, 1289 (Rz. 119 ff.); dazu Ernst/Roth, Ubg 2017, 366; Dreßler, Der Konzern 2017, 326. 209 Hey, BB 2007, 1303 (1306 f.); Jonas, WPg 2007, 407 (409 f.); Kußmaul/Zabel, BB 2007, 967 (971 f.); Watrin/Strohm/Wittkowski, GmbHR 2007, 785 (788); Hüttemann, Stbg. 2007, 559 (560 ff.); Schwedhelm, GmbHR 2008, 404; Thiel, FS Schaumburg, 2009, 515; Schulze-Osterloh, FS Gauweiler, 2009, 275; Drüen, Ubg 2010, 543 (545 ff.); J. Lang, GmbHR 2012, 57; a.A. Möhlenbrock, Ubg 2010, 256 (257); Jo-
Hey 773
§ 11 Rz. 60
Körperschaftsteuer
bis zum 31.12.2018 aufgefordert, rückwirkend auf den 1.1.2008 eine Neuregelung zu schaffen. Zu § 8c I 2 KStG (50 %-Fall) ist eine Richtervorlage des FG Hamburg anhängig210. Die Argumentation des BVerfG lässt sich unmittelbar auch auf diesen Fall übertragen. § 8c KStG verletzt das objektive Nettoprinzip und ist mit der eigenständigen Steuersubjektivität der Körperschaft nicht vereinbar. Das Trennungsprinzip als systemtragender Grundsatz des Körperschaftsteuerrechts wird einseitig außer Kraft gesetzt, indem zwar einerseits daran festgehalten wird, dass Verluste der Körperschaft nur auf Unternehmensebene verrechnet werden können, andererseits aber im Fall des Beteiligungswechsels durch die Körperschaft auf die Anteilseignerebene hindurchgeschaut wird, Anders als die frühere Mantelkaufregelung (§ 8 IV KStG a.F.), an deren Stelle § 8c KStG getreten ist, wird der Verlustuntergang nicht auf Fälle missbräuchlichen Verlusthandels (Erwerb von verlustbehafteten Anteilen zum ausschließlichen Zweck der Verrechnung mit zukünftigen Gewinnen) beschränkt. Zwar darf der Gesetzgeber in typisierender Form Missbrauch verhindern, indem er den Verlustvortrag von der wirtschaftlichen Identität der Körperschaft abhängig macht; der Anteilseignerwechsel allein erlaubt indes, unabhängig von der Höhe der Beteiligung, d.h. auch wenn mehr als 50 % übergehen (Fall des Satzes 2), keinen Rückschluss auf einen missbräuchlichen Verlusthandel211. Auch die Rechtsfolgen sind überschießend, weil sie unter Verstoß gegen den Grundsatz der Individualbesteuerung die Körperschaft und die verbleibenden Altgesellschafter treffen, obwohl diese keinen Einfluss auf die Verwirklichung des schädlichen Anteilserwerbs haben. Die zwischenzeitlich angefügten Einschränkungen (Konzernklausel; stille Reserven-Regel) machen die Grundregel nicht gleichheitssatzkonform212. Offen gelassen hat das BVerfG, ob der ab 2016 mögliche Antrag auf fortführungsgebundenen Verlustvortrag gem. § 8d KStG die Verhältnismäßigkeit der Regelung herzustellen vermag. Angesichts der dargelegten Mängel des § 8d KStG (s. Rz. 58) ist dies zu verneinen213. 60
Neuordnung der Verlustverrechnung: Verfassungs- und Europarechtskonformität der Verlustverrechnung von Körperschaften können nur durch eine grundlegende Reform erreicht werden, wobei auch die Mindestbesteuerung des § 10d II EStG einzubeziehen ist (dazu § 8 Rz. 67–69). Im Körperschaftsteuerrecht sollte der Gesetzgeber statt des inkonsistenten Wirrwarrs von Ausnahmen und Rückausnahmen in §§ 8c, 8d KStG zu einer Mantelkaufregel zurückkehren, die sich darauf beschränkt, Fälle missbräuchlichen Verlusthandels sachgerecht zu typisieren214. Eine auf § 8c I 1 KStG beschränkte Korrektur ist ungeeignet215.
210 211 212 213 214 215
774
chum, FR 2011, 497 (502 ff.: zulässige Typisierung); Schmehl, FS Bryde, 2013, 457 (463 ff.). Die extensive Auslegung von § 8c KStG durch BMF v. 4.7.2008 – IV C 7 - S 2745-a/08/10001, BStBl. I 2008, 736 und durch den Entwurf eines BMF-Schreibens zu § 8c KStG v. 15.4.2014 verschärft die Defizite noch. Krit. aus unionsrechtlicher Sicht Drüen/Schmitz, GmbHR 2012, 485; zu Korrekturbedarf und Alternativmodellen Bethmann/Mammen/Sassen, DStR 2012, 1941; Wiss. Beirat Ernst & Young, DB 2012, 1704. Zu den einfachgesetzlichen Rechtsanwendungsproblemen Kohlhaas/Kranz, GmbHR 2013, 1308. FG Hamburg v. 29.8.2017 – 2 K 245/17, EFG 2017, 1906; dazu Dreßler, DB 2017, 2629. Seer, GmbHR 2016, 394 (395). BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BGBl. I 2017, 1289 (Rz. 157); ebenso Drüen, Ubg 2010, 543 (548 f.). Unabhängig hiervon ist insb. die Stille-Reserven-Klausel zur Vermeidung einer Übermaßbesteuerung zwingend, s. Dorenkamp, ifst-Schrift 461 (2010), 26; Eisgruber/Schaden, Ubg 2010, 73 (74). Zutr. Pauli, FR 2017, 663; Kessler/Egelhof/Probst, DStR 2017, 1289; Ausgangspunkt kann dabei § 8 IV KStG a.F. sein, wenn dessen Schwächen beseitigt werden (dazu Vorschläge von Herzig, DStJG 28 [2005], 185 [198]; Dötsch, DStZ 2003, 25 [29 f.]); Aktueller Vorschlag einer Missbrauchsregel auch Hohmann, DStZ 2017, 550. Zu den Folgerungen aus BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BGBl. I 2017, 1289, auch Rödder/Schumacher, Ubg 2018, 5; Blumenberg/Crezelius, DB 2017, 1405; Gosch, GmbHR 2017, 695; Kahlert, FR 2017, 758 (Vertrauensschutz und rückwirkende Korrektur).
Hey
7. Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen
Rz. 70 § 11
6. Freibeträge Körperschaften i.S.d. § 1 I Nr. 3–6 KStG, deren Leistungen bei den Anteilseignern nicht zu Einnah- 61 men aus Kapitalvermögen führen können216, Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften sowie landund forstwirtschaftliche Vereine erhalten Freibeträge (§§ 24; 25 KStG)217. Einstweilen frei.
62–69
7. Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen 7.1 Verdeckte Gewinnausschüttungen Literatur (w. Nachw. bis 1999 s. 17. Aufl., § 11 vor Rz. 50): Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986; Fiedler, Verdeckte Vermögensverlagerung bei Kapitalgesellschaften, Diss., 1994; W. Müller, Verdeckte Gewinnausschüttung in Zivil- und Steuerrecht, DStJG 17 (1994), 289; Pezzer, Zur Dogmatik der verdeckten Gewinnausschüttung, FR 1996, 379; Reiß, Gesellschaftsrechtlich unzulässige Gewinnausschüttungen und ihre Rückabwicklung, StuW 1996, 337; Frotscher, Verdeckte Gewinnausschüttung, DStJG 20 (1997), 205; Hoffmann, Notwendige Reform der verdeckten Gewinnausschüttung, StbKongrRep. 1997, 81; Schön, Die verdeckte Gewinnausschüttung, in FS Flume zum 90. Geburtstag, 1998, 265; K.-R. Wagner, Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen, 2000; Bauschatz, Verdeckte Gewinnausschüttung und Fremdvergleich im Steuerrecht der GmbH, Diss., 2001; Wassermeyer, Verdeckte Gewinnausschüttung: Veranlassung, Fremdvergleich und Beweisrisikoverteilung, DB 2001, 2465; Heuberger, Die verdeckte Gewinnausschüttung aus Sicht des Aktien- und des Gewinnsteuerrechts, Diss., 2001; Scheffler, Korrektur von unangemessenen Vertragsbeziehungen zwischen einer Kapitalgesellschaft und ihren Anteilseignern, BB 2002, 543; Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 2004; Pel, Die verdeckte Gewinnausschüttung der Nichtkapitalgesellschaften, DB 2004, 1065; Schachtschneider, Steuerverfassungsrechtliche Probleme der Betriebsaufspaltung und der verdeckten Gewinnausschüttung, Diss., 2004; Kohlhepp, Verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaft- und Einkommensteuerrecht, Diss., 2006; Wilhelmy, Lösung für das Problem der verdeckten Gewinnausschüttung, FR 2007, 470; Pelchen, Verdeckte Gewinnausschüttungen im französischen und deutschen Steuerrecht, Diss., 2007; Rüd, Verdeckt ausschütten (vGA), ohne auszuschütten?, FR 2009, 703; Böhmer, Verdeckte Gewinnausschüttungen bei Überschuss erzielenden Körperschaften, DStR 2012, 1995; Haußmann, Verdeckte Gewinnausschüttungen im Dreiecksverhältnis und wirtschaftliche Betrachtungsweise, StuW 2014, 305; Weber-Grellet, Die verdeckte Gewinnausschüttung als Instrument der Fehlerkorrektur, BB 2014, 2263; Briese, Verdeckte Gewinnausschüttung: Zweifelsfragen bei der Gewinnermittlung von Kapitalgesellschaften, DB 2014, 2610; Lange/Janssen, Verdeckte Gewinnausschüttungen12, 2017; Loseblattwerke: Ernst & Young, Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen; Feldgen, Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen. Ausbildungsliteratur: Niehus/Wilke, Verdeckte Gewinnausschüttungen, SteuerStud 2009, 357; Koch/Haußmann, Verdeckte Gewinnausschüttungen im Konzernverbund, SteuerStud 2014, 399.
7.1.1 Voraussetzungen der verdeckten Gewinnausschüttung a) Die Körperschaft kann ihre Einkünfte offen nach gesellschaftsrechtlichen Vorschriften oder in ver- 70 deckter Form verteilen. Die verdeckte Einkünfteverteilung (s. § 8 III 2 KStG) führt dazu, dass die Körperschaft einen zu niedrigen Jahresüberschuss (anders ausgedrückt: einen zu niedrigen Gewinn i.S.d. § 4 I 1 EStG218) ausweist, weil sie eine Zuwendung an den Anteilseigner (z.B. das überhöhte Gehalt) zu Unrecht als Betriebsausgabe behandelt oder weil sie zugunsten des Anteilseigners auf Betriebseinnahmen verzichtet hat (z.B. durch Gewährung eines zinslosen Darlehens, Verkauf von Wirtschaftsgütern zu marktunüblich niedrigen Preisen etc.). Derartige verdeckte Ausschüttungen sind gem. § 8 III 2 KStG dem Einkommen der Körperschaft hinzuzurechnen („… verdeckte Gewinnausschüttungen mindern das Einkommen nicht.“). Das Rechtsinstitut der verdeckten Gewinnausschüttung (vGA) dient dazu, eine durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasste (nicht betriebliche) Verrin216 Dazu Blümich/Schlenker, § 24 KStG Rz. 1, 13 (2017). 217 Dazu BFH v. 5.6.1985 – I R 163/81, BStBl. II 1985, 634; v. 24.1.1990 – I R 33/86, BStBl. II 1990, 470. 218 S. auch Frotscher, GmbHR 1998, 23 (24); Wassermeyer, GmbHR 1998, 157 (159).
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§ 11 Rz. 71
Körperschaftsteuer
gerung des gem. § 8 I KStG i.V.m. § 2 I EStG erzielten Einkommens der Körperschaft zu verhindern; es handelt sich um körperschaftsteuerrechtlich irrelevante Einkommensverteilung (§ 8 III 1 KStG) und nicht um Einkommenserzielung. Die Grenzlinie entspricht prinzipiell derjenigen zwischen Betriebs- und Privatausgaben im Einkommensteuerrecht219 (s. dazu § 8 Rz. 230 ff.). Die im Körperschaftsteuerrecht und Einkommensteuerrecht vergleichbare Abgrenzungsaufgabe erfordert die Entwicklung verallgemeinerungsfähiger Prüfungsmaßstäbe220, um die im Detail allerdings gerungen wird. Grds. findet die aus dem Trennungsprinzip (s. Rz. 1) folgende Anerkennung der schuldrechtlichen Beziehungen zwischen Kapitalgesellschaft und Gesellschaftern dort ihre Grenze, wo der zwischen einander Fremden übliche, hier aber häufig fehlende Interessengegensatz die Vertragsbedingungen oder die Vertragsdurchführung verfälscht. Insoweit weisen Verträge zwischen Körperschaft und Anteilseigner Parallelen zu Verträgen unter nahen Angehörigen auf (s. § 8 Rz. 162 ff.). Hier wie dort können die zivilrechtlichen Vereinbarungen der Besteuerung nur dann zugrunde gelegt werden, wenn sie dem sog. Fremdvergleich standhalten, d.h. nach Inhalt und tatsächlicher Durchführung dem zwischen Fremden Üblichen entsprechen (s. dazu Rz. 74 und allgemein § 8 Rz. 163 ff.). Die Bedeutung der verdeckten Gewinnausschüttung für die Praxis erklärt sich aus ihren Belastungswirkungen. Mit ausschließlich der ESt des Gesellschafters unterliegenden Leistungsvergütungen lassen sich gegenüber der partiellen Doppelbelastung von Gewinnausschüttungen durch das Teileinkünfteverfahren bzw. die Abgeltungsteuer (s. Rz. 12 ff.) und ggf. im Hinblick auf die Gewerbesteuer Belastungsvorteile erzielen221. 71
b) Definition des I. Senats des BFH: § 8 III 2 KStG regelt nur die Rechtsfolgen, nicht aber die Voraussetzungen der verdeckten Gewinnausschüttung. Seit 1989 definiert der I. Senat des BFH folgendermaßen: Verdeckte Gewinnausschüttung i.S.d. § 8 III 2 KStG ist jede Vermögensminderung (verhinderte Vermögensmehrung), die durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst ist, sich auf die Höhe des Einkommens auswirkt222 und in keinem Zusammenhang mit einer offenen Ausschüttung steht223. Problematisch ist die Erweiterung der verdeckten Gewinnausschüttung auf verhinderte Vermögensmehrungen, weil es hierdurch zu der Besteuerung von fiktivem Einkommen kommen kann224.
72
Mit dieser Definition hat der I. Senat unter Aufgabe der früheren Einheitsdefinition225 den Tatbestand der verdeckten Gewinnausschüttung auf Gesellschaftsebene von der Gesellschafterebene abgekoppelt226. Vor 1989 hatte die Rspr. die Annahme einer verdeckten Gewinnausschüttung bei der Gesellschaft von der Zuwendung eines Vermögensvorteils an den Gesellschafter abhängig gemacht227. 219 Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986, 65; Frotscher, GmbHR 1998, 23 (24); Wassermeyer, GmbHR 1998, 157 (158 f.). 220 Insoweit übereinstimmend Gosch, DStZ 1997, 1 (2); Pezzer, StbKongrRep. 1997, 63 (71); Wassermeyer, GmbHR 1998, 157 (161). 221 Zu den Belastungswirkungen ab 2009 Wilhelmy, FR 2007, 470; Binz, DStR 2008, 1820; Bareis, DStR 2009, 600. 222 Im Hinblick auf § 8b II KStG zu verneinen bei Unterpreisverkauf von Beteiligungen, s. Frotscher, Körperschaftsteuer/Gewerbesteuer2, 2008, Rz. 397; krit. Briese, FR 2009, 994. 223 BFH v. 14.3.1989 – I R 8/85, BStBl. II 1989, 633; v. 28.6.1989 – I R 89/85, BStBl. II 1989, 854; v. 2.12.1992 – I R 54/91, BStBl. II 1993, 311; v. 2.2.1994 – I R 78/92, BStBl. II 1994, 479; v. 19.3.1997 – I R 75/96, BStBl. II 1997, 577; verkürzte Definition in BFH v. 17.10.2001 – I R 103/00, BStBl. II 2004, 171 (vGA als „eine durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasste Minderung [verhinderte Mehrung] des Unterschiedsbetrags i.S.d. § 4 I 1 EStG“) ohne inhaltliche Neuerung, s. Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 2004, 14 ff. 224 Sehr deutlich in BFH v. 12.6.2013 – I R 109-111/10, BStBl. II 2013, 1024; krit. zu dieser Erweiterung der vGA s. Gosch3, § 8 KStG Rz. 253; Piltz, DStR 2014, 684 (687). 225 Dazu Kohlhepp, Verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaft- und Einkommensteuerrecht, Diss., 2006, 89 f.; 92 ff.; 102 ff.; für eine Rückkehr zur Einheitsdoktrin jetzt Rüd, FR 2009, 703. 226 Krit. Scholtz, FR 1990, 321, 350 u. 386; Schön, FS Flume, 1998, 265 (274). 227 BFH v. 16.3.1967 – I 261/63, BStBl. III 1967, 626 (früher st. Rspr.).
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7. Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen
Rz. 74 § 11
Inzwischen hat der BFH228 die Verbindung beider Ebenen partiell wiederhergestellt, indem die Vermögensminderung bei der Körperschaft objektiv geeignet sein muss, beim Gesellschafter (irgendwann) einen Bezug i.S.v. § 20 I Nr. 1 Satz 2 EStG auszulösen (sog. „Vorteilsgeneigtheit“229). c) Einen rechtssystematischen Fortschritt bedeutet die Rspr. des I. Senats des BFH insofern, als in 73 der Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis im Unterschied zur Veranlassung durch den Betrieb (§ 4 IV EStG i.V.m. § 8 I KStG)230 das zentrale Tatbestandsmerkmal der verdeckten Gewinnausschüttung gesehen wird. Im Regelfall ist eine Vermögensminderung durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst, wenn die Kapitalgesellschaft ihrem Gesellschafter oder einer diesem nahestehenden Person (s. Rz. 75) einen Vermögensvorteil zuwendet, den sie bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters einem Nichtgesellschafter nicht gewährt hätte231. Das vom Fremdvergleich abw. Verhalten indiziert die Veranlassung im Gesellschaftsverhältnis232. Das Merkmal der „Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“233 hat jedoch nicht die Funktion eines materiell-rechtlichen Tatbestandsmerkmals, sondern dient nur als Denkhilfe zur Würdigung der einzelnen Indizien234 im Rahmen des Fremdvergleichs. Diese Entwicklung der Rspr., die nun schärfer zwischen dem rechtlichen Obersatz (für die verdeckte Gewinnausschüttung: Veranlassung der Vermögensminderung oder verhinderten Vermögensmehrung durch das Gesellschaftsverhältnis) einerseits und der Tatsachenfeststellung und -würdigung anhand von Indizien andererseits trennt, ist durch die Rspr. des BVerfG zur Anerkennung von Ehegattenarbeitsverhältnissen235 inspiriert, nach der Indizmerkmale nicht zu rechtlichen Tatbestandsmerkmalen verselbständigt werden dürfen.
Welches Motiv einer Handlung im Einzelfall zugrunde liegt, ist keine Rechtsfrage, sondern eine Frage 74 der Tatsachenfeststellung, eine Beweisfrage236. Bei der Tatsachenfeststellung muss, wenn die Anhörung des Handelnden keine Klarheit ergibt, auf Grund objektiver Umstände auf die subjektiven Voraussetzungen der verdeckten Gewinnausschüttung (Motivation, Zweck) geschlossen werden (Indizienbeweis, s. § 22 Rz. 193). Die Rspr. hat eine Reihe von Hilfskriterien zur Prüfung der gesellschaftsrechtlichen Veranlassung entwickelt. Von bes. Bedeutung ist der Fremdvergleich237, der sowohl für die Anerkennung dem Grunde nach als auch der Höhe nach (Prüfung der Angemessenheit) herangezogen wird. 228 BFH v. 7.8.2002 – I R 2/02, BStBl. II 2004, 131. 229 Dazu HHR/Wilk, § 8 KStG Anm. 113 (2014). 230 Diesen rechtssystematischen Gegensatz verwischen BFH v. 13.7.1994 – I R 43/94, BFH/NV 1995, 548; v. 26.8.1996 – X B 155/95, BFH/NV 1997, 190 (zum Verhältnis von vGA und nichtabziehbaren Betriebsausgaben i.S.v. § 4 V EStG); BFH v. 22.1.1997 – I R 64/96, BStBl. II 1997, 548; v. 13.8.1997 – I R 85/96, BStBl. II 1998, 161; Wassermeyer, FS Haas, 1996, 401; Wassermeyer, GmbHR 1998, 157 (158); Wassermeyer, GmbHR 2002, 1 (2); Wassermeyer, FS Raupach, 2006, 565 (573 f.); Wassermeyer DB 2011, 1828 (1830 ff.), danach können Aufwendungen gleichzeitig Betriebsausgaben und vGA sein; dagegen Pezzer, StuW 1998, 76 (79 f.); Weber-Grellet, DStZ 1998, 357 (361); Martini, FR 2011, 562 f. 231 Insb. BFH v. 2.12.1992 – I R 54/91, BStBl. II 1993, 311. 232 BFH v. 19.3.1997 – I R 75/96, BStBl. II 1997, 577 (578); Wassermeyer, FS Offerhaus, 1999, 405. 233 Dazu Wassermeyer, GmbHR 1986, 29; Woerner, FS v. Wallis, 1985, 327; Becker, StbJb. 1985/86, 381; Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986, 41; Schuhmann, StBp. 2005, 114. 234 Vgl. Wassermeyer, FR 1989, 219 f.; Wassermeyer, GmbHR 1998, 157 (161): „Unterfall des Fremdvergleichs“; Schmidt-Liebig, FR 2003, 273; Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 2004, 143 ff. 235 BVerfG v. 7.11.1995 – 2 BvR 802/90, BStBl. II 1996, 34; dazu § 8 Rz. 163; ferner Pezzer, StbJb. 1996/97, 25 u. StbKongrRep 1997, 63 (66); s. aber auch BFH v. 27.7.2009 – I B 45/09, BFH/NV 2009, 2005. 236 Dazu § 21 Rz. 204 ff.; speziell für vGA s. Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986, 81 ff.; Wassermeyer, FR 1989, 223; Eppler, DStR 1988, 339; Stolze, Verdeckte Gewinnausschüttung und nahestehende Personen, Diss., 1999, 228 ff.; a.A. Döllerer, Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen bei Kapitalgesellschaften2, 1990, 96 f.; Weber-Grellet, DStZ 1998, 357 (364). 237 Hierzu allgemein § 8 Rz. 164 ff., 244; Bilsdorfer, Der steuerliche Fremdvergleich bei Vereinbarungen unter nahestehenden Personen, Diss., 1996; Wolff-Diepenbrock, FS Beisse, 1997, 581; Wassermeyer, FS
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§ 11 Rz. 75
Körperschaftsteuer
Innerhalb des Fremdvergleichs stellt der BFH u.a. auf die Üblichkeit ab und nimmt auch dann eine verdeckte Gewinnausschüttung an, wenn die Vereinbarung oder ihre Durchführung nicht für den Gesellschafter, sondern für die Gesellschaft wirtschaftlich vorteilhaft ist und der Fremdvergleich ergibt, dass ein fremder Vertragspartner sich auf die für ihn nachteilige (unübliche) Vereinbarung nicht eingelassen hätte. In der Unüblichkeit wird ein Indiz fehlender Ernstlichkeit gesehen238. „Nicht ernstliche“ Vereinbarungen dürften indes als Scheingeschäfte (§ 117 BGB; § 41 II AO) zu beurteilen sein239. Sie sind für die Besteuerung ohnehin unerheblich, verfälschen daher den Gewinn der Gesellschaft nicht, so dass die Anwendung der Korrekturnorm des § 8 III 2 KStG nicht erforderlich ist. Es kommt in Sonderfällen auch in Betracht, dass Verträge zwischen Gesellschaft und Gesellschafter wegen Steuerumgehung (§ 42 AO) nicht anerkannt werden können240. Darüber hinaus kann der Rspr. des BFH nicht gefolgt werden. Die Unüblichkeit zum Nachteil des Gesellschafters begründet kein Korrekturbedürfnis, solange der Vertrag tatsächlich durchgeführt worden ist. § 8 III 2 KStG hat nicht die Aufgabe, Leistungsbeziehungen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter auf ein Standard- oder Durchschnittsmaß zurechtzustutzen. 75
Die gesellschaftsrechtliche Veranlassung setzt voraus, dass Begünstigter der verdeckten Gewinnausschüttung ein Gesellschafter ist. Ausreichend ist jedoch die Verschaffung eines mittelbaren wirtschaftlichen Vorteils, sei es, dass die Gesellschaft den Vorteil einer dem Gesellschafter nahestehenden Person241 gewährt (z.B. einem Verwandten oder einer vom Gesellschafter beherrschten anderen Gesellschaft, insb. Unterpreis-/Überpreisgeschäfte zwischen Schwestergesellschaften242), sei es, dass die Gesellschaft eine Aufgabe wahrnimmt, zu deren Erfüllung der Gesellschafter rechtlich verpflichtet gewesen wäre oder der er sich nicht hätte entziehen können.
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Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der gesellschaftsrechtlichen Veranlassung ist der Abschluss der Vereinbarung (st. Rspr.243), so dass eine spätere Veränderung der Umstände die Angemessenheit weder im Nachhinein begründen noch entfallen lassen kann. Dies gilt auch für den Eintritt in
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Offerhaus, 1999, 405; Wassermeyer, StbJb. 1998/99, 157 ff.; Martini, FR 2011, 562 (Kriterien bei Versagen des Fremdvergleichs); Schnorberger/Billau, DK 2011, 511. Insb. BFH v. 6.12.1995 – I R 88/94, BStBl. II 1996, 383, zu einem in der Bilanz der GmbH als Rückstellung passivierten Honorar, das der Höhe nach angemessen, aber elf Jahre lang nicht ausgezahlt worden war; ferner BFH v. 6.4.2005 – I R 27/04, BFH/NV 2005, 1633 Rz. 15 f.: vGA bei Verdoppelung eines unüblich niedrigen Gehalts auf ein marktübliches Gehalt. Pezzer, StbKongrRep. 1997, 63 (70); a.A. Wassermeyer, GmbHR 1998, 157 (160). Allerdings definiert die Rspr. (BFH v. 18.5.1999 – I B 140/98, BFH/NV 1999, 1516) die vGA grds. unabhängig von § 42 AO, so dass es insb. nicht auf eine Umgehungsabsicht ankommt. Dem ist zuzustimmen, da § 8 III 2 KStG lex specialis gegenüber § 42 AO ist. Zum Verh. von §§ 41, 42 AO zur vGA s. Wichmann, DStZ 2017, 487. Dazu BFH v. 18.12.1996 – I R 139/94, BStBl. II 1997, 301; v. 22.2.2005 – VIII R 24/03, BFH/NV 2005, 1266; v. 6.4.2005 – I R 22/04, BStBl. II 2007, 658; v. 8.10.2008 – I R 61/07, BStBl. II 2011, 62; v. 21.10.2014 – VIII R 22/11, BStBl. II 2015, 687; v. 14.3.2017 – VIII R 32/14, BFH/NV 2017, 1174; Hahnhäuser, Verdeckte Gewinnausschüttung an Nichtgesellschafter, Diss., 1965; Wassermeyer, FR 1989, 221; Kahlert, Verdeckte Gewinnausschüttung an Nichtgesellschafter im Gesellschaftsrecht, Diss., 1994; Stolze, Verdeckte Gewinnausschüttung und nahestehende Personen, Diss., 1999; Rust, Verdeckte Einlagenrückgewähr an Dritte in der Kapitalgesellschaft, Diss., 2000; Ott/Schmitz, INF 2005, 941; Schumann, GmbHR 2008, 1029; Winter, GmbHR 2010, 1073; Dorn, SteuerStud 2011, 703; Stollenwerk, Geschäfte zwischen nahestehenden Personen, Diss., 2014, 77–122. Zu der sich bei Gewinnverlagerungen zwischen Schwesterpersonengesellschaften ergebenden Dreieckskonstellation BFH v. 26.10.1987 – GrS 2/86, BStBl. II 1988, 348; in deutlichem Widerspruch hierzu die Beurteilung im Rahmen der Schenkungsteuer durch BFH v. 30.1.2013 – II R 6/12, BStBl. II 2013, 930. Kritik an der Rspr. s. Koch/Haußmann, SteuerStud 2014, 399; Haussmann, StuW 2014, 305 mit Replik Schwarz, StuW 2015, 191 u. Duplik Haussmann, StuW 2015, 195; s. ferner J. Lang, FR 1984, 629; Sturm, Die verdeckte Gewinnausschüttung im europäischen Konzern, Diss., 1994; Brandis, FS J. Lang, 2010, 719 ff. BFH v. 18.12.1996 – I R 139/94, BStBl. II 1997, 301; v. 8.11.2000 – I R 70/99, BStBl. II 2005, 653.
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7. Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen
Rz. 78 § 11
eine (beherrschende) Gesellschafterstellung244. Nicht mit dieser Rspr. in Einklang steht der Schluss auf eine gesellschaftsrechtliche Veranlassung auf Grund eines späteren Verzichts auf eine angemessene Leistungsvergütung245. Schließlich muss die Vermögensminderung (verhinderte Vermögensmehrung) der Körperschaft zu- 77 gerechnet werden können. Dies ist zu bejahen, wenn die jeweils maßgebende Handlung (oder Unterlassung) durch die vertretungsberechtigten Organe der Körperschaft vorgenommen wird246. Der Körperschaft sind aber auch Handlungen des Anteilseigners zuzurechnen, der selbst nicht Organ (Vorstand, Geschäftsführer) ist, wenn die Handlungen mit Zustimmung des Organs geschehen (im Falle der Unkenntnis jedenfalls mit dessen mutmaßlicher Zustimmung). Nicht mehr der Körperschaft zurechenbar sind jedoch ohne Kenntnis des Organs begangene strafbare Handlungen des Anteilseigners (z.B. Unterschlagung, Untreue), die das Organ nicht billigen könnte, ohne sich selbst strafbar oder gegenüber der Gesellschaft schadensersatzpflichtig zu machen247. Eine verdeckte Gewinnausschüttung kann dann aber darin liegen, dass die Körperschaft den ihr gegen den Anteilseigner zustehenden Schadensersatzanspruch nicht geltend macht. Begeht dagegen ein dem Gesellschafter nahestehender Fremdgeschäftsführer ohne dessen Kenntnis und Billigung eine Unterschlagung, fehlt es an der gesellschaftsrechtlichen Veranlassung248, weil den Anteilseigner insofern keine Überwachungspflichten treffen.
d) Trotz der Besinnung auf die allgemeine Veranlassungsdogmatik hat der BFH bisher prinzipiell an 78 seiner Sonderrechtsprechung zur verdeckten Gewinnausschüttung an beherrschende Gesellschafter249 festgehalten. Eine verdeckte Gewinnausschüttung soll unabhängig von der Angemessenheit der Leistung auch dann vorliegen, wenn eine Kapitalgesellschaft Leistungen an einen beherrschenden Gesellschafter oder eine diesem nahestehende Person erbringt, die nicht auf einer im Voraus getroffenen, klaren und eindeutigen, nicht notwendig schriftlichen250, aber zivilrechtlich wirksamen251 Vereinbarung beruhen252. Die Vereinbarung muss vor der Leistungserbringung durch die Körperschaft abgeschlossen sein (sog. Nachzahlungsverbot oder Rückwirkungsverbot), um zu verhindern, dass der Gesellschafter ex post anhand der tatsächlichen Gewinnentwicklung entscheidet, ob er sich Gewinne als Ausschüttungen oder Leistungsvergütungen auszahlen lässt. Auch eine fehlerhafte Abwicklung – unterlassene Passivierung einer der Höhe nach angemessenen Pensionszusage – soll auf eine mangelhafte Umsetzung schließen lassen253. Der Rspr. ist zuzugeben, dass das Fehlen eines Interessengegensatzes und eingeschränkte Kontrollmöglichkeiten beim beherrschenden Gesellschafter in besonderem Maße die Chance willkürlicher Aufteilung zwischen Gewinnverwendung und Leistungsvergütung schafft. Ob ein solcher Missbrauch aber tatsächlich vorliegt, lässt sich nicht abschließend anhand formaler Kriterien beurteilen. Die Tatsache, 244 BFH v. 29.5.1996 – I R 70/95, BFH/NV 1997, 65. 245 So aber BFH v. 30.3.1994 – I B 185/93, BFH/NV 1995, 164; BFH v. 27.3.2001 – I R 27/99, BStBl. II 2002, 111 (113). 246 BFH v. 14.10.1992 – I R 14/92, BStBl. II 1993, 351 (352); v. 29.4.2008 – I R 67/06, BStBl. II 2011, 55 (bei Irrtum des Geschäftsführers); dazu Paus, DStZ 2008, 650; Schmitz, GmbHR 2009, 910. 247 Flume, DB 1993, 1945; a.A. Wassermeyer, DB 1993, 1948; Wassermeyer, StVj 1993, 208 (220); ferner Kolbe, StuB 2006, 961. 248 BFH v. 19.6.2007 – VIII R 54/05, BStBl. II 2007, 830, m. Anm. Renner, ÖStZ 2007, 454; Steinhauff, NWB 2008, Fach 4, 5233. 249 Dazu Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 2004, 110 ff.; Gosch3, § 8 KStG Rz. 318. 250 S. Gosch3, § 8 KStG Rz. 324. 251 BFH v. 23.10.1996 – I R 71/95, BStBl. II 1999, 35. 252 BFH v. 22.2.1989 – I R 9/85, BStBl. II 1989, 631; v. 14.3.1990 – I R 6/89, BStBl. II 1990, 795; v. 2.12.1992 – I R 54/91, BStBl. II 1993, 311; v. 19.3.2007 – I R 75/96, BStBl. II 1997, 577; v. 26.10.2011 – I B 68/11, BFH/NV 2012, 612; v. 25.1.2012 – I B 17/11, BFH/NV 2012, 1003. Hierzu Woerner, FS v. Wallis, 1985, 327; Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986, 45; krit. Tiedtke, DStR 1993, 933 (937); Sturm, Die verdeckte Gewinnausschüttung im europäischen Konzern, Diss., 1994, 52 ff. 253 BFH v. 13.6.2006 – I R 58/05, BStBl. II 2006, 928 (930), m. Anm. Prinz, WPg 2006, 1409.
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§ 11 Rz. 79
Körperschaftsteuer
dass der Gesellschafter beherrschend ist, darf lediglich bei der Indizienwürdigung im Rahmen des Fremdvergleichs berücksichtigt werden254. Dementsprechend hat der BFH mittlerweile entschieden, dass das Fehlen einer klaren Vereinbarung als solches weder ein Tatbestandsmerkmal der verdeckten Gewinnausschüttung i.S.d. § 8 III 2 KStG ist, noch eine unwiderlegbare Vermutung begründet255 und Unklarheiten notfalls durch Sachverhaltsaufklärung zu beseitigen sind256. Dabei dürfen die Anforderungen an den Gegenbeweis nicht überspitzt werden. Dass die bisherige Praxis nicht mit den allgemeinen Fremdvergleichsgrundsätzen vereinbar ist, bestätigt nun der BFH, wonach die Sonderrechtsprechung zum beherrschenden Gesellschafter in DBA-Fällen durch Art. 9 II OECD-MA (dealing at arm’s length principle) gesperrt wird, so dass insb. das Rückwirkungsverbot in grenzüberschreitenden Sachverhalten nicht gilt257. 79
e) Einzelfälle: Unerheblich ist, in welche Form der Vorteil gekleidet ist. In der Praxis überwiegen Austauschverträge, bei denen der Wert der Leistung der Gesellschaft den Wert der Gegenleistung des Gesellschafters übersteigt. Die Rspr. hat eine reichhaltige, geradezu überbordende Kasuistik hervorgebracht. Anschaulich sind die in H 8.5 V KStR aufgeführten Beispiele für verdeckte Gewinnausschüttungen. Von besonderer praktischer Bedeutung sind folgende Fallgestaltungen:
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aa) Ein Gesellschafter erhält für seine Vorstands- oder Geschäftsführertätigkeit ein unangemessen hohes Gehalt258. In die Angemessenheitsprüfung sind sämtliche (feste und variable) Gehaltsbestandteile einzubeziehen. Entscheidend ist die Gesamtausstattung. Von besonderer Praxisrelevanz ist die Abgrenzung zwischen Arbeitslohn und verdeckter Gewinnausschüttung bei unentgeltlicher Überlassung von Wirtschaftsgütern der Körperschaft zur Privatnutzung, namentlich die (unbefugte) Privatnutzung des Dienst-Kfz durch den Gesellschafter-Geschäftsführer259.
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bb) Zahlt die Gesellschaft an einen Gesellschafter neben einem (angemessenen) festen Gehalt eine erfolgsabhängige Vergütung (Umsatzvergütung; Tantieme)260, so legten Rspr. und FinVerw. bisher star254 A.A. Weber-Grellet, DStZ 1998, 357 (363). 255 BFH v. 11.2.1997 – I R 43/96, BFH/NV 1997, 806; v. 4.12.1991 – I R 63/90, BStBl. II 1992, 362; v. 31.5.1995 – I R 64/94, BStBl. II 1996, 246; v. 25.10.1995 – I R 9/95, BStBl. II 1997, 703, m. Anm. Pezzer, FR 1996, 221; 1999, 35; strenger aber wieder BFH v. 23.2.2005 – I R 70/04, BStBl. II 2005, 882, m. Anm. Pezzer, FR 2005, 891. 256 BFHv. 24.3.1999 – I R 20/98, BStBl. II 2001, 612, m. Anm. Pezzer, FR 1999, 1058; Fritsche, GmbHR 1999, 989. 257 BFH v. 11.10.2012 – I R 75/11, BStBl. II 2013, 1046; hierzu Andresen/Immenkötter/Frohn, DB 2013, 534; Haverkamp, ISR 2013, 96. 258 BMF v. 14.10.2002 – IV A 2 - S 2742 - 62/02, BStBl. I 2002, 972, m. Anm. Derlien, DStR 2002, 622; Niehues, DB 2002, 1579; Engers, DB 2003, 116; Ott, INF 2003, 509; Krupske, GmbHR 2003, 208; Krupske, INF 2004, 188; ferner Evers/Grätz/Näser, Die Gehaltsfestsetzung bei GmbH-Geschäftsführern5, 2001; Zimmermann, GmbHR 2002, 353 (kleine GmbHs); Bascopé/Hering, GmbHR 2005, 741; Hoffmann, DStZ 2005, 97; Schade, SteuerStud 2005, 483; Tänzer, GmbHR 2005, 1256; Schwedhelm, GmbHR 2006, 281; Erhart/Lüke, BB 2007, 183 (AG); Janssen, DStZ 2007, 483. 259 Hierzu BMF v. 3.4.2012 – IV C 2 - S 2742/08/10001, BStBl. I 2012, 478. Bei berechtigter Nutzung geht die Rspr. von Arbeitslohn aus; i.Ü. ist auf den Veranlassungszusammenhang im Einzelfall abzustellen, vgl. BFH v. 23.4.2009 – VI R 81/06, BStBl. II 2012, 262; v. 23.4.2009 – VI B 118/08, BStBl. II 2010, 234; v. 11.2.2010 – VI R 43/09, BStBl. II 2012, 266; v. 21.3.2013 – VI R 46/11, BStBl. II 2013, 1044 (zu Beweisfragen); grds. für einen Vorrang der vGA vor der Annahme von Arbeitslohn Pust, FS Spindler, 2011, 721. 260 Dazu BFH v. 5.10.1977 – I R 230/75, BStBl. II 1978, 234; v. 28.6.1989 – I R 89/85, BStBl. II 1989, 854; v. 19.2.1999 – I R 105-107/97, BStBl. II 1999, 321 (m. Anm. Gosch, DStR 1999, 669; Pezzer, FR 1999, 603); v. 27.3.2001 – I R 27/99, BStBl. II 2002, 111; v. 5.6.2002 – I R 69/01, BStBl. II 2003, 329; v. 10.7.2002 – I R 37/01, BStBl. II 2003, 418; v. 22.10.2003 – I R 36/03, BStBl. II 2004, 307 (Vorschuss); v. 18.9.2007 – I R 73/06, BStBl. II 2008, 314 (Einbeziehung von Jahresfehlbeträgen); BMF v. 1.2.2002
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7. Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen
Rz. 83 § 11
re Grenzen an, wonach eine gewinnabhängige Tantieme höchstens 25 % der Gesamtbezüge261 und höchstens 50 % des Jahresüberschusses262 betragen durfte. In Abkehr von dieser Praxis hat sich der BFH mittlerweile für eine Einzelfallbetrachtung innerhalb von Bandbreiten ausgesprochen263. Den zuvor zugrundegelegten Grenzen wird zu Recht nur noch Indizwirkung beigemessen. Überstundenvergütungen, Nacht-, Sonn- und Feiertagszuschläge für Gesellschafter-Geschäftsführer sind dagegen regelmäßig verdeckte Gewinnausschüttungen, da sie mit der Organstellung grds. unvereinbar sind264. cc) Eine GmbH gibt aus Anlass des Geburtstags ihres Gesellschafter-Geschäftsführers einen Emp- 82 fang265. dd) Die steuerliche Anerkennung von Pensionsrückstellungen266 für beherrschende Gesellschafter- 83 Geschäftsführer von Kapitalgesellschaften macht der BFH nicht nur von einer rechtswirksamen Pensionsvereinbarung, sondern auch davon abhängig, dass ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit für die Inanspruchnahme der Gesellschaft spricht. Die Zusage und nachträgliche Erhöhungen müssen ernsthaft, erdienbar, finanzierbar und angemessen sein. Die Zusage darf grds. erst nach einer bestimmten Probezeit ausgesprochen werden267 und muss mit einer leistungsausschließenden Wartezeit verbunden werden; die sofortige Unverfallbarkeit führt grds. zur Unangemessenheit268. Zwischen Zusage und Auszahlung der Pension müssen mindestens zehn Jahre liegen (Erdienbarkeit)269, dabei wird ein Pensionseintrittsalter von 65 Jahren zugrunde gelegt270. Die Pensionszusage darf nicht an Stelle eines Gehalts gewährt werden (sog. „Nur-Pension“)271, nicht zur Überschuldung der Gesellschaft
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– IV A 2 - S 2742 - 4/02, BStBl. I 2002, 219, m. Anm. Schnittker/Best, GmbHR 2002, 565; Schuhmann, GmbHR 2007, 977. Umsatztantiemen führen grds. zur Annahme einer vGA, BFH v. 19.2.1999 – I R 105-107/97, BStBl. II 1999, 321; v. 12.10.2010 – I B 70/10, BFH/NV 2011, 301. BFH v. 5.10.1994 – I R 50/94, BStBl. II 1995, 549; v. 26.1.1999 – I B 119/98, BStBl. II 1999, 241; Kritik: Pezzer, StbKongrRep. 1997, 63 (76); s. auch Brenner, DStZ 1996, 65; Gosch, DStZ 1997, 1 (4); Hoffmann, DStR 1998, 313 (316); Weber-Grellet, DStZ 1998, 357 (358). BFH v. 15.3.2000 – I R 74/99, BStBl. II 2000, 547, m. Anm. Pezzer, FR 2000, 1277; BFH v. 2.12.2003 – VII R 26/02, BStBl. II 2004, 525: Einbeziehung von Verlustvorträgen, m. Anm. Janssen, BB 2004, 1776. BFH v. 27.2.2003 – I R 46/01, BStBl. II 2004, 132; v. 4.6.2003 – I R 24/02, BStBl. II 2004, 136; v. 4.6.2003 – I R 38/02, BStBl. II 2004, 139. BFH v. 13.12.2006 – VIII R 31/05, BStBl. II 2007, 393; v. 27.3.2012 – VIII R 27/09, BFH/NV 2012, 1127; v. 11.11.2015 – I R 26/15, BStBl. II 2016, 489 (490: Zeitwertkonten als vGA); krit. mit Gestaltungsempfehlungen Schwedhelm/Zapf, DB 2016, 2200. Dazu BFH v. 28.11.1991 – I R 13/90, BStBl. II 1992, 359; v. 14.7.2004 – I R 57/03, BStBl. II 2011, 285. Zur Rspr. Otto, GmbHR 2014, 617; Briese, DB 2014, 801; Demuth/Fuhrmann, KÖSDI 2015, 19213; s. ferner Doetsch/Lenz, Steuerliche Behandlung von Versorgungszusagen an (Gesellschafter-)Geschäftsführer und Vorstände10, 2017; Sabel, Verdeckte Gewinnausschüttung bei betrieblicher Altersversorgung: vGA bei Zusage und Befreiung von Pensionen an Gesellschafter-Geschäftsführer, 2017. BFH v. 24.4.2002 – I R 18/01, BStBl. II 2002, 670; v. 23.2.2005 – I R 70/04, BStBl. II 2005, 882; v. 28.4.2010 – I R 78/08, BStBl. II 2013, 41 (46); Kritik Janssen, NWB 2010, 3455 ff.; Otto, DStR 2011, 106. BFH v. 16.12.1992 – I R 2/92, BStBl. II 1993, 455. BFH v. 21.12.1994 – I R 98/93, BStBl. II 1995, 419; v. 24.1.1996 – I R 41/95, BStBl. II 1997, 440; v. 24.4.2002 – I R 43/01, BStBl. II 2003, 416; v. 23.7.2003 – I R 80/02, BStBl. II 2003, 926; v. 30.11.2005 – I R 26/04, BFH/NV 2006, 616; v. 23.9.2008 – I R 62/07, BStBl. II 2013, 39 (auch für nachträgliche Erhöhungen), m. Anm. Weber-Grellet, StuB 2009, 186; Cramer, DStR 1995, 976; Gosch, FR 1997, 438; BFH v. 5.2.2014 – X S 49, BFH/NV 2014, 728 (keine Altersdiskriminierung). Seit BFH v. 28.4.1982 – I R 51/76, BStBl. II 1982, 612 (615 f.); v. 23.1.1991 – I R 113/88, BStBl. II 1991, 379; v. 5.4.1995 – I R 138/93, BStBl. II 1995, 478. VGA infolge von Weiterarbeit nach Erreichen des Pensionsalters bei gleichzeitigem Pensionsbezug: BFH v. 5.3.2008 – I R 12/07, BStBl. II 2015, 409; krit. Schothöfer/Killat, DB 2011, 896. BFH v. 17.5.1995 – I R 147/93, BStBl. II 1996, 204; v. 9.11.2005 – I R 89/04, BStBl. II 2008, 523; v. 5.7.2012 – VI R 18/10, BStBl. II 2013, 14; BMF v. 13.12.2012 – IV C 6 - S 2176/07/10007, BStBl. I
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§ 11 Rz. 84
Körperschaftsteuer
führen272 und keine Überversorgung begründen, d.h. nicht 75 % der am Bilanzstichtag bezogenen Aktivbezüge übersteigen273. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, nimmt der BFH verdeckte Gewinnausschüttungen an. Auch die Zahlung einer Kapitalabfindung gegen Verzicht auf laufende Pensionszahlungen ist schädlich274. 84
ee) Erhält ein Gesellschafter von der Gesellschaft ein Darlehen, obwohl schon bei der Darlehenshingabe mit der Uneinbringlichkeit gerechnet werden muss, so liegt eine verdeckte Gewinnausschüttung in Höhe der Valuta vor275. Im Fall eines nicht marktgerecht niedrigen Zinses besteht die verdeckte Gewinnausschüttung in der Differenz zum Marktzins.
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ff) Ein Gesellschafter liefert an die Gesellschaft Waren oder erwirbt von der Gesellschaft Waren oder sonstige Wirtschaftsgüter oder erbringt/erhält Dienstleistungen zu nicht marktgerechten Preisen oder erhält besondere Preisnachlässe und Rabatte276. Diese Fallgruppe ist von großer Bedeutung für Zwecke der internationalen Einkünfteabgrenzung zwischen verbundenen Unternehmen durch sog. Verrechnungspreise277. Ergänzt werden die Grundsätze der verdeckten Gewinnausschüttung durch § 1 I, III 1–8 AStG. Das UntStRefG 2008 kodifiziert hier weitreichende Sonderregeln für den Fremdvergleich zum Zweck der Verrechnungspreisermittlung278. Insb. werden den Stpfl. umfassende Dokumentationspflichten aufgebürdet.
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2013, 35. Dabei soll auf Ebene der Gesellschaft bereits die Bildung der Pensionsrückstellung zu versagen sein. Die Rspr. des BFH ist nur haltbar als Indizienwürdigung im Einzelfall, nicht als genereller Rechtssatz. Kritik s. Kempermann, FR 1995, 835; Gschwendtner, DStZ 1996, 7 u. 238; Hoffmann, DStZ 1996, 236; Förster/Heger, DStR 1996, 408; Pezzer, StbJb. 1996/97, 25; Pezzer, StbKongrRep. 1997, 63 (75); Frotscher, GmbHR 1998, 23 (27); Gosch3, § 8 KStG Rz. 1131; Killat, DB 2013, 195 (197). BFH v. 8.11.2000 – I R 70/99, BStBl. II 2005, 653, m. Anm. Hoffmann, GmbHR 2001, 399; v. 20.12.2000 – I R 15/00, BStBl. II 2005, 657, m. Anm. Gosch, DStR 2001, 882; v. 7.11.2001 – I R 79/00, BStBl. II 2005, 659; v. 4.9.2002 – I R 7/01, BStBl. II 2005 662; v. 31.3.2004 – I R 65/03, BStBl. II 2005, 664, m. Anm. Paus, INF 2006, 70. BFH v. 15.9.2004 – I R 62/03, BStBl. II 2005, 176; v. 27.3.2012 – I R 56/11, BStBl. II 2012, 665; v. 20.12.2016 – I R 4/15, BStBl. II 2017, 678; BMF v. 3.11.2004 – IV B 2 - S 2176 - 13/04, BStBl. I 2004, 1045; dazu Briese, GmbHR 2004, 1123; Briese, GmbHR 2005, 207; Paus, FR 2005, 409; Finsterwalder, DB 2005, 1189; Vieten/Schmidt-Rask, DStR 2006, 2142. BFH v. 11.9.2013 – I R 28/13, BStBl. II 2014, 726; krit. Bareis, FR 2014, 493; Briese, BB 2014, 1567; s. außerdem Rz. 93 zu Forderungsverzicht und verdeckter Einlage. Dazu BFH v. 14.3.1990 – I R 6/89, BStBl. II 1990, 795; v. 20.10.2004 – I R 7/04, BFH/NV 2005, 916 (unbesichertes Darlehen einer GmbH an ausl. Muttergesellschaft); Wienands/Teufel, GmbHR 2004, 1301. BFH v. 25.5.2004 – VIII R 4/01, BFH/NV 2005, 105. Überblick Wiensch, SteuerStud 2013, 520. Grundl. zur internationalen Einkünfteabgrenzung zwischen verbundenen Unternehmen BFH v. 17.10.2001 – I R 103/00, BStBl. II 2004, 171; dazu Baumhoff, IStR 2001, 751; Gosch, StBp. 2001, 361; Wassermeyer, DB 2001, 2465; zum Ganzen s. Kaminski, Verrechnungspreisbestimmung bei fehlendem Fremdvergleichspreis, Habil., 2001; Rasch, Konzernverrechnungspreise im internationalen, bilateralen und europäischen Steuerrecht, Diss., 2001; Schoeri, Verrechnungspreise, Gleichheit und steuerliche Leistungsfähigkeit, FS J. Lang, 2010, 1117; Vögele/Borstell/Engler, Verrechnungspreise4, 2015; Schön, IStR 2011, 777 (Fremdvergleich in der EuGH-Rspr.); Baßler, Steuerliche Gewinnabgrenzung im Europäischen Binnenmarkt, Diss., 2011; Sassmann, Verfahrensrechtliche Regelungen zur Einkünfteabgrenzung zwischen nahestehenden Kapitalgesellschaften im deutschen nationalen und internationalen Steuerrecht, Diss., 2011; Luckhaupt/Overesch/Schreiber, StuW 2012, 359. S. die überwiegend krit. Stellungnahmen im Schrifttum Wassermeyer, DB 2007, 535; Fischer/Looks/im Schlaa, BB 2007, 918; Freytag, IWB 2007, Gr. 1, Fach 3, 1133; Lahodny-Karner/Hirschböck, SWI 2007, 207; Kroppen/Rasch/Eigelshoven, IWB 2007, Gr. 1, Fach 3, 2201; Frischmuth, IStR 2007, 485; Kaminski, RIW 2007, 594; Dörr/Fehling, NWB 2007, Fach 2, 9375 (aus europarechtlicher Sicht); Bernhardt/van der Ham/Kluge, IStR 2007, 717 (zum Verhältnis zur vE); Klapdor, StuW 2008, 83; Strahl, KÖSDI 2008, 15861; Roeder, Ubg 2008, 202.
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7. Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen
Rz. 86 § 11
gg) Als einen Anwendungsfall der verhinderten Vermögensmehrung279 hat der BFH seine Rspr. zu 86 Wettbewerbsverbot und Geschäftschancenlehre entwickelt. Umstritten ist, ob eine verdeckte Gewinnausschüttung auch dann vorliegt, wenn der Anteilseigner neben dem Betrieb der Körperschaft auf eigene Rechnung geschäftlich tätig wird (sog. Wettbewerbsverbot280). Mittlerweile erkennt der BFH an, dass der Gesellschafter grds. auch mit steuerrechtlicher Wirkung neben oder an Stelle der Gesellschaft tätig werden kann. Eine verdeckte Gewinnausschüttung liegt erst dann vor, wenn der Gesellschaft auf Grund der Tätigkeit des Gesellschafters im Einzelfall ein zivilrechtlicher Schadensersatzanspruch zusteht, die Gesellschaft ihn aber nicht geltend macht, oder wenn der Gesellschafter eine Geschäftschance der Gesellschaft für sich ausnutzt, für die die Gesellschaft von einem fremden Dritten ein Entgelt verlangen würde281. Diese sog. Geschäftschancenlehre läuft Gefahr, die KSt in eine Sollertragsteuer zu verwandeln282. Abstrakt lassen sich die Geschäftschancen nicht aufteilen. Stattdessen ist anhand allgemeiner Zurechnungskriterien zu entscheiden, wer das Einkommen erzielt. Das Einkommen wird nur dann der Körperschaft zurechenbar sein, wenn sich die Geschäftschance bereits rechtlich bei ihr konkretisiert hat. Auf der Grundlage der Geschäftschancenlehre wurde bereits in der Vergangenheit eine Besteuerung grenzüberschreitender Funktionsverlagerungen diskutiert283. Durch das UntStRefG 2008 hat der Gesetzgeber nun in § 1 III 9, 10 AStG losgelöst von der vGA-Dogmatik und unter gravierender Verletzung sowohl der Grundsätze der Realisation als auch der internationalen Einkünfteabgrenzung die Besteuerung von Funktionsverlagerungen kodifiziert284.
279 Dazu Wassermeyer, FS W. Müller, 2001, 397. 280 S. Thiel, GmbHR 1992, 338; Pezzer, StuW 1992, 270; Niemann, FS Rose, 1991, 387; Döllerer, BB 1993, 1498; Müller, Das Wettbewerbsverbot des GmbH-Gesellschafters und seine körperschaftsteuerlichen Folgen, Diss., 1995; Mechnig, Wettbewerbsverbot und verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 1995; Lawall, Das ungeschriebene Wettbewerbsverbot des GmbH-Gesellschafters, Diss., 1996; Becker, Das gesellschaftsrechtliche Wettbewerbsverbot in der Einmann-GmbH, Diss., 1997; Gosch, DStR 1997, 702; Steck, Wettbewerbsverbot und verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 1999; Wepler, Verdeckte Gewinnausschüttung bei Konkurrenzhandlungen von GmbH-Gesellschaftern zu ihrer Gesellschaft, Diss., 2001. 281 BFH v. 30.8.1995 – I R 155/94, BFHE 178, 371, m. Anm. Pezzer, FR 1995, 906; v. 12.10.1995 – I R 127/94, BFHE 179, 258; v. 11.6.1996 – I R 97/95, BFHE 181, 122; v. 18.12.1996 – I R 26/95, BFHE 182, 190; v. 13.11.1996 – I R 149/94, BFHE 181, 494; v. 13.11.1996 – I R 126/95, BFHE 182, 358; v. 12.6.1997 – I R 14/96, BFHE 183, 459; v. 22.11.1995 – I R 45/95, BFH/NV 1996, 645; v. 16.12.1998 – I R 96/95, BFH/NV 1999, 1125; v. 9.7.2003 – I B 194/02, BFH/NV 2003, 1349; Gosch, DStR 1995, 1863; Buyer, GmbHR 1996, 98; Lawall, DStR 1996, 605; Lawall, NJW 1997, 1742; Wassermeyer, DStR 1997, 681; Frotscher, GmbHR 1998, 23 (30 f.); Fleischer, DStR 1999, 1249; Jakob, DStR 2000, 1122; Schuhmann, StBp. 2004, 35; Gosch3, § 8 KStG Rz. 850a. 282 S. die Kritik v. Schön, FS Flume, 1998, 268 ff.; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993, 656. 283 Vgl. Borstell, StbJb. 2001/02, 206; Serg, DStR 2005, 1916; Wassermeyer, DB 2007, 535; Kroppen/Rasch/ Eigelshoven, IWB 2007, Gr. 1, Fach 3, 2201; Ditz, DStR 2006, 1625; Frotscher, FR 2008, 49; Wassermeyer, FR 2008, 67; Kahle, DK 2007, 647; Looks/Scholz, BB 2007, 2541; Wulf, DB 2007, 2280; Naumann u. Frotscher in Lüdicke, Besteuerung von Unternehmen im Wandel, 2007, 167 u. 183; s. auch Stollenwerk/Willems, GmbH-StB 2012, 81 u. 123. 284 Dazu Funktionsverlagerungsverordnung v. 12.8.2008, BGBl. I 2008, 1680 und VerwaltungsgrundsätzeFunktionsverlagerung, BMF v. 13.10.2010 – IV B 5 - S 1341/08/10003, BStBl. I 2010, 774. Kritik u.a. J. Lang, FS Reiß, 2008, 379 (394 ff.); Hey, BB 2007, 1303 (1307 f.); Blumers, BB 2007, 1757; (Transferpaket als Verstoß gegen Einzelbewertungsgrundsatz); Frotscher, FR 2008, 49; Frischmuth, StuB 2010, 743 (Regelungsziel). Zur Vereinbarkeit mit EU-Recht: Rolf, IStR 2009, 152; Schön, FS Herzig, 2010, 301; Rohler, GmbH-StB 2012, 54 (im Hinblick auf EuGH C-371/10, National Grid Indus); mit Verfassungsrecht: Micker, IStR 2010, 829; mit internationalem Recht/OECD-Grundsätzen: Wehnert/Sano, IStR 2010, 53; Baumhoff/Puls, IStR 2009, 73. Zur praktischen Handhabung Greil/Naumann, IStR 2015, 429; Hentschel/Kraft, IStR 2015, 193.
Hey 783
§ 11 Rz. 87
Körperschaftsteuer
87 hh) Tätigt die Gesellschaft in eigenem Namen verlustträchtige Risikogeschäfte285, so ist die Annah-
me eines Handelns im privaten Interesse des Gesellschafters i.d.R. selbst dann nicht gerechtfertigt286, wenn „das Geschäft nach Art und Umfang der Geschäftstätigkeit der Gesellschaft völlig unüblich, mit hohen Risiken verbunden und nur aus privaten Spekulationsabsichten des Gesellschafter-Geschäftsführers zu erklären ist“. Dass der BFH hiervon abweichend im Fall der Vermietung eines Einfamilienhauses an den AlleinGesellschafter trotz marktüblicher (Fremdvergleich!), aber nicht kostendeckender Miete von einer verdeckten Gewinnausschüttung ausgeht, ist darauf zurückzuführen, dass die Prüfungsstufe der Gewinnerzielungsabsicht (s. Rz. 37) übersprungen und sofort die gesellschaftsrechtliche Veranlassung geprüft wird287. 7.1.2 Rechtsfolgen der verdeckten Gewinnausschüttung 88 Die Rechtsfolgen der verdeckten Gewinnausschüttung sind in § 8 III 2 KStG nur ansatzweise gesetz-
lich geregelt.288 Zu unterscheiden ist zwischen der Gesellschafts- und der Gesellschafterebene. a) Gesellschaftsebene: Verdeckte Gewinnausschüttungen mindern das Einkommen nicht (§ 8 III 2 KStG). Weist die Gesellschaft infolge einer verdeckten Gewinnausschüttung einen zu niedrigen Jahresüberschuss aus, so muss die verdeckte Gewinnausschüttung diesem nach Auffassung des BFH außerhalb der Steuerbilanz289 wieder hinzugerechnet werden. Die daraus resultierende Einkommenserhöhung löst KSt i.H.v. 15 %, SolZ sowie Gewerbesteuer aus. b) Gesellschafterebene: Verdeckte Gewinnausschüttungen bilden Einnahmen aus Kapitalvermögen (§ 20 I Nr. 1 Satz 2 EStG) des Anteilseigners, sobald sie diesem zufließen (§ 11 EStG). Nach der Definition des für diese Einkünfte zuständigen VIII. Senats des BFH ist eine verdeckte Gewinnausschüttung gegeben, wenn die Kapitalgesellschaft ihrem Gesellschafter außerhalb der gesellschaftsrechtlichen Gewinnverteilung einen Vermögensvorteil zuwendet und diese Zuwendung ihren Anlass im Gesellschaftsverhältnis hat290. Bei verdeckten Gewinnausschüttungen durch Leistung an einen Dritten (nahestehende Person s. Rz. 75) hat nur der Gesellschafter Einkünfte i.S.d. § 20 I Nr. 1 Satz 2 EStG. Die steuerliche Behandlung bei dem Dritten hängt grds. nur von seinem Verhältnis zum Gesellschafter ab. Zu den erbschaft- und schenkungsteuerrechtlichen Rechtsfolgen (§§ 7 VIII 2; 15 IV ErbStG) s. § 15 Rz. 31. Für die Bewertung der verdeckten Gewinnausschüttung291 sind Fremdvergleichsmaßstäbe heranzuziehen und nicht Entnahmegrundsätze. So soll ungeachtet der Bewertung beim Gesellschafter die private Pkw-Nutzung für Zwecke von § 8 III 2 KStG nicht mit dem Entnahmewert des § 6 I Nr. 4
285 286 287 288 289
Dazu Paus, FR 1997, 565; Wassermeyer, FR 1997, 563. Vgl. BFH v. 8.8.2001 – I R 106/99, BStBl. II 2003, 487; BFH v. 27.7.2016 – I R 8/15, BStBl. II 214 (2015); entgegen Pezzer, FR 2005, 590. Reiß, StuW 2003, 21; zu steuerstrafrechtlichen Konsequenzen Weidemann, wistra 2007, 201. BFH v. 29.6.1994 – I R 137/93, BStBl. II 2002, 366; v. 12.10.1995 – I R 27/95, BStBl. II 2002, 367; v. 28.1.2004 – I R 21/03, BStBl. II 2005, 841; BMF v. 28.5.2002 – IV A 2 - S 2742 - 32/02, BStBl. I 2002, 603. Dazu Wassermeyer, GmbHR 2002, 617; Wassermeyer, FS Raupach, 2006, 565 (Auseinandersetzung mit der Kritik von Bareis u. Briese); B. Lang, DStZ 2003, 219; zu Recht krit. Dörner, INF 2002, 481; Frotscher, FR 2002, 859; Reiß, StuW 2003, 21 (24 ff.); Bareis, BB 2005, 354; Briese, GmbHR 2005, 597; Bareis, GmbHR 2006, 1308; Harle, GmbHR 2008, 1257; Briese, FR 2009, 991 (mit Replik Kohlhepp, FR 2009, 996); Bareis, GmbHR 2009, 813; Briese, StuB 2017, 391. 290 BFH v. 14.7.1998 – VIII B 38/98, BFH/NV 1998, 1582, m. Anm. Gosch, DStR 1998, 1550; Wassermeyer, DB 1998, 1997; Ahmann, DStZ 1999, 233; Wichmann, INF 1999, 329. Zur Zurechnung der vGA auf Gesellschafterebene: F. Lang, Ubg 2009, 468; Breier/Sejdija, GmbHR 2011, 290. 291 BFH v. 23.2.2005 – I R 70/04, BStBl. II 2005, 882 (883); v. 23.1.2008 – I R 8/06, BStBl. II 2012, 260. Zur Ermittlung des Gewinnaufschlags DPM/Klingebiel, § 8 III KStG Teil C Rz. 420 ff. (2017); Kohlhepp, DStR 2009, 357.
784
Hey
7. Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen
Rz. 90 § 11
Satz 2 EStG anzusetzen sein; im Fall verbilligter Miete soll die Kosten-, nicht die Marktmiete maßgeblich sein292 zuzüglich eines Gewinnaufschlags293. Gesellschafts- und Gesellschafterebene werden bisher getrennt betrachtet. Die Rspr. geht nach Auf- 89 gabe der sog. Einheitsdefinition294 davon aus, dass die verdeckte Gewinnausschüttung auf Gesellschafts- und Gesellschafterebene nicht notwendig übereinstimmen müsse. Dies darf freilich nicht so verstanden werden, dass verdeckte Gewinnausschüttungen auf Gesellschafts- und Gesellschafterebene völlig getrennte Wege gehen. Die Klammer zwischen beiden Ebenen ist die Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis. Deshalb ist entgegen der Rspr. des BFH295 (s. Rz. 88), zur Vermeidung von Doppelbelastungen ein Gleichlauf der Bewertung auf Gesellschafts- und Gesellschafterebene zu fordern296. Die Rechtsfolgen können aber zeitversetzt auftreten: So ist eine Pensionsrückstellung für eine unangemessene Pensionszusage (s. Rz. 83) gem. § 8 III 2 KStG dem Jahresüberschuss der Körperschaft hinzuzurechnen, stellt aber keine Einnahme i.S.d. § 20 I Nr. 1 Satz 2 EStG dar, solange keine Zahlungen an den Gesellschafter geleistet werden. Ein Auseinanderfallen der Rechtsfolgen beider Ebenen vermeidet der Gesetzgeber durch das seit 2008 90 geltende materielle Korrespondenzprinzip sowie die verfahrensrechtliche Korrekturnorm des § 32a KStG297. § 3 Nr. 40 Satz 1 Buchst. d Satz 2, 3 EStG; § 8b I 2–4 KStG machen die Anwendung des Teileinkünfteverfahrens bzw. der Beteiligungsertragsbefreiung davon abhängig, dass die Bezüge das Einkommen der leistenden Körperschaft nicht gemindert haben. Dies soll unabhängig von den anzuwendenden Doppelbesteuerungsabkommen auch für Leistungen ausländischer Körperschaften gelten298. § 8b I 4 KStG enthält eine Rückausnahme insb. für vGA unter Beteiligung von Schwestergesellschaften, um Doppelbelastungen zu vermeiden, soweit das Einkommen einer nahestehenden Person erhöht wurde und § 32a KStG – was vor allem in Auslandsfällen zutrifft – keine Anwendung findet. Eine § 8b I 2 KStG entsprechende Verknüpfung besteht im Rahmen der Abgeltungsteuer; § 32d I 1 EStG greift nicht ein, soweit die Bezüge das Einkommen der Körperschaft gemindert haben (§ 32d II Nr. 4 EStG). § 32a I KStG verknüpft die Ebenen verfahrensrechtlich. Soweit gegenüber einer Körperschaft ein Steuerbescheid hinsichtlich einer verdeckten Gewinnausschüttung erlassen, aufgehoben oder geändert wird, kann (Ermessen!)299 der Bescheid des Gesellschafters entsprechend angepasst werden; zur Festsetzungsverjährung s. § 32a I 2 KStG. Die Regelung ist in mehrfacher Hinsicht imperfekt. Zum einen ist unklar, welche Ermessenserwägungen die FinVerw. dazu berechtigen sollen, von der Änderung abzusehen, wenn es um die Vermeidung einer Doppelbelastung geht. Zum anderen fehlt eine entsprechende Regelung im EStG. Für den einkommensteuerpflichtigen Gesellschafter günstige Anpassungen wird man in analoger Anwendung von § 32a KStG vornehmen können; ob dies auch im umgekehrten Fall gilt300, ist zweifelhaft (zur Zulässigkeit steuerverschärfender Analogien s. § 5 Rz. 81 ff.).
292 293 294 295 296 297
298 299 300
BFH v. 17.11.2004 – I R 56/03, BFH/NV 2005, 793. BFH v. 22.12.2010 – I R 47/10, BFH/NV 2011, 1019. BFH v. 1.2.1989 – I R 73/85, BStBl. II 1989, 522. BFH v. 23.2.2005 – I R 70/04, BStBl. II 2005, 882. Ebenso Briese, GmbHR 2005, 1271, und wohl auch Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 2004, 232 (maßgeblich: Sicht der Körperschaft). Eingeführt durch JStG 2007 v. 13.12.2006, BGBl. 2007, 2878; zum zeitl. Anwendungsbereich BFH v. 16.12.2014 – VIII R 30/12, BStBl. II 2015, 858. Überblicke zu § 32a KStG Bob/Trinks, SteuerStud 2011, 572; Horst, NWB 2009, 2954 u. 3022; Stöber, FR 2013, 448; grundl. Perrar, Grundlagenbescheide im Steuerverfahrensrecht, Diss., 2017, 411 ff.; Brühl/Weiss, Ubg 2017, 510. Zur Anwendung in grenzüberschreitenden Sachverhalten Schnitger/Rometzki, BB 2008, 1648; Becker/ Kempf/Schwarz, DB 2008, 371; Dörfler/Adrian, Ubg 2008, 373; Frase, BB 2008, 2713 (Europarecht). I.d.R. auf null reduziert, BFH v. 20.3.2009 – VIII B 170/08, BFH/NV 2009, 1029. Zur Frage der Berücksichtigung von Vertrauensschutz bei Ausübung des Ermessens Kohlhaas, DStR 2013, 122. So Kohlhepp, DStR 2009, 1416 (1418); zurückhaltender Frotscher/Drüen, § 32a KStG Rz. 42a (2016).
Hey 785
§ 11 Rz. 91
Körperschaftsteuer
91 Bezüglich der Rückabwicklung verdeckter Gewinnausschüttungen301 ist zwischen Zivil- und Steu-
errecht zu unterscheiden: – Zivilrechtlich besteht ein gesetzlicher Rückgewähranspruch nach §§ 62 I; 57 I AktG allenfalls für Aktiengesellschaften302; für sonstige Körperschaften wird ein Rückgewähranspruch häufig im Gesellschaftsvertrag durch Satzungsklauseln303 begründet304. Ausnahmsweise kommt ein Anspruch auf Grund der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht in Betracht305. – Die steuerrechtlichen Folgen der verdeckten Gewinnausschüttung werden durch die Rückgewähr nicht rückgängig gemacht. Der einmal verwirklichte Tatbestand der verdeckten Gewinnausschüttung soll nach st. Rspr. nachträglich nicht wieder entfallen können. Es bleibt bei der Erhöhung des Einkommens der Körperschaft (§ 8 III 2 KStG) und der Versteuerung des Zuflusses beim Gesellschafter (§ 20 I Nr. 1 Satz 2 EStG). Die Rückzahlung behandelt der BFH bei der Gesellschaft als Einlage, beim Gesellschafter als nachträgliche Anschaffungskosten306. Zur Entspannung der vGA-Problematik würde es beitragen, könnten auch die steuerlichen Folgen rückgängig gemacht werden307. 7.2 Verdeckte Einlagen Literatur (bis 1995 s. 17. Aufl.): Marx, Verdeckte Einlagen als Problemfälle der Rechnungslegung und Besteuerung, FR 1995, 453; Beiser, Gesellschaftereinlage oder Leistungsaustausch, StuW 1996, 62; Fischer, Sacheinlage im Gesellschafts- und Steuerrecht der GmbH, Diss., 1997; Hoffmann, Steuergestaltungen durch Einlagen in Kapitalgesellschaften nach der neuesten BFH-Rspr., StbJb. 1998/99, 217; Groh, Ist die verdeckte Einlage ein Tauschgeschäft?, DB 1997, 1683; Weber-Grellet, Die verdeckte Einlage, DB 1998, 1532; Füger/ Rieger, Verdeckte Einlage in eine Kapitalgesellschaft zu Buchwerten, DStR 2003, 628; Beinert, Nutzungseinlage als Gestaltungsinstrument im Halbeinkünfteverfahren, StbJb. 2003/04, 346; Gassner, Die verdeckte Einlage in Kapitalgesellschaften, 2004; Altrichter-Herzberg, Tatbestand und Rechtsfolgen der verdeckten Sacheinlage bei der GmbH sowie die nachträgliche Umwandlung der Bareinlage in eine (offene) Sacheinlage im Zivil- und Steuerrecht, Diss., 2004; Hiort, Einlagen obligatorischer Nutzungsrechte in Kapitalgesellschaften, Diss., 2004; Böth, Die verdeckte Einlage – eine häufig unterschätzte Feststellung, Teil I und II, 301 Dazu Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986, 188; Seeger, StVj 1992, 249; Buyer, DB 1994, 602; Reiß, StuW 1996, 337; Wassermeyer, StbJb. 1995/96, 213; Wichmann, BB 1998, 20; Geißler, GmbHR 2003, 394; Schnorr, GmbHR 2003, 861 (unter bes. Berücksichtigung des Halbeinkünfteverfahrens); Schütz, DStZ 2004, 14; Lay, Rückgängigmachung der verdeckten Gewinnausschüttung bei der GmbH. Änderungen durch den Systemwechsel vom Anrechnungszum Halbeinkünfteverfahren?, Diss., 2006; Assmann, StBp. 2007, 321 (zur Möglichkeit der Qualifikation als Buchungsfehler); Schulz, DStR 2014, 2165. 302 Schneider, ZGR 1985, 280; BGH v. 23.6.1997 – II ZR 220/95, BGHZ 136, 125; Letters, JbFSt. 1978/79, 430; Döllerer, BB 1979, 61; Döllerer, DStR 1980, 399; zur GmbH s. Kleffner, Erhaltung des Stammkapitals und Haftung nach §§ 30, 31 GmbHG, Diss., 1994. 303 Dazu Meyer-Arndt, JbFSt. 1979/80, 297; Schmidt, JbFSt. 1979/80, 314; Theisen, GmbHR 1980, 132 u. 182; Lagemann, Die Steuerklausel, Diss., 1979; Schneider, ZGR 1985, 302; Zenthöfer, DStZ 1987, 185, 217 u. 273. 304 Döllerer, Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen bei Kapitalgesellschaften2, 1990; einschränkend jedoch BFH v. 23.5.1984 – I R 266/81, BStBl. II 1984, 723 f., m. abl. Anm. Brezing, DB 1984, 2059, u. zust. Anm. Schmidt, FR 1984, 540; abl. auch Döllerer, BB 1986, 97; Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986, 194. 305 Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, Diss., 1986, 189, 193. 306 BFH v. 29.4.1987 – I R 176/83, BStBl. II 1987, 733; v. 13.9.1989 – I R 41/86, BStBl. II 1989, 1029; v. 29.5.1996 – I R 118/93, BStBl. II 1997, 92; v. 31.5.2005 – I R 35/04, BStBl. II 2006, 132; dagegen Kohlhaas, DStR 1996, 525. Zum Sonderfall der Rückgewähr einer vGA an nahestehende Personen: BFH v. 25.5.2004 – VIII R 4/01, BFH/NV 2005, 105, m. Anm. Schwedhelm/Binnewies, GmbHR 2005, 65; Replik Wassermeyer, GmbHR 2005, 149; Duplik Schwedhelm/Binnewies, GmbHR 2005, 151. 307 Zu Vorschlägen im bestehenden System s. das Schrifttum in Rz. 91 Fn. 301. Zu weiterreichenden vGAReformüberlegungen s. Stiftung Marktwirtschaft, Kommission Steuergesetzbuch, Steuerpolitisches Programm 2006, 27; auch Hey, StuB 2007, 267 (271).
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Hey
7. Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen
Rz. 93 § 11
StBp. 2005, 341 und 2006, 13; Briese, Die verdeckte Einlage in eine Kapitalgesellschaft. Ein Beitrag für eine rechtsformneutrale Gewinnermittlungskonzeption, GmbHR 2006, 1136; Altrichter-Herzberg, Steuerliche Aspekte der verdeckten Sacheinlage bei der GmbH nach der Neuregelung durch das MoMiG, GmbHR 2009, 1190; Gsödl, Zur verdeckten Einlage bei Kapitalgesellschaften, Ubg 2015, 333. S. auch Nachw. vor Rz. 70.
Die verdeckte Einlage bildet systematisch grds. das Spiegelbild der verdeckten Gewinnausschüt- 92 tung. Verdeckte Einlagen erhöhen das Einkommen der Körperschaft nicht (§ 8 III 3 KStG). Mit dem JStG 2007 hat der Gesetzgeber in § 8 III 3–6 KStG erstmals die Rechtsfolgen der verdeckten Einlage geregelt, nicht jedoch den Tatbestand. Eine verdeckte Einlage liegt vor, wenn ein Gesellschafter (oder eine ihm nahestehende Person) der Gesellschaft einen Vermögensvorteil zuwendet und diese Zuwendung durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst ist. Zur Feststellung der Veranlassung dient auch hier der Fremdvergleich: Es ist zu prüfen, ob ein Nichtgesellschafter bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns den Vermögensvorteil der Gesellschaft nicht gewährt hätte308. Der Maßstab der „Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns“ ist mindestens so problematisch wie die „Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“ für die Prüfung der verdeckten Gewinnausschüttung (s. Rz. 73), zumal der Anteilseigner, der die verdeckte Einlage erbringt, keineswegs Kaufmann sein muss309. Auch hier geht es um die Würdigung von Indizien im Einzelfall. Verdeckte Gewinnausschüttung und verdeckte Einlage entsprechen sich als Spiegelbilder nicht vollständig. So können Nutzungen und Gebrauchsvorteile (z.B. der wirtschaftliche Vorteil aus einem zinslosen/zinsermäßigten Darlehen oder einer verbilligten Miete) zwar Gegenstand einer verdeckten Gewinnausschüttung sein, nicht aber umgekehrt Gegenstand einer verdeckten Einlage. Diese Unterscheidung beruht darauf, dass die Spezialnorm des § 8 III 2 KStG alle durch das Gesellschaftsverhältnis veranlassten Vermögensminderungen der Körperschaft erfasst, während § 4 I 1 EStG als Grundnorm des Betriebsvermögensvergleichs nach h.M. nur solche Vermögensmehrungen als Einlagen neutralisiert, die als Wirtschaftsgüter in eine Bilanz aufgenommen werden können310; zur Nutzungseinlage s. allgemein § 9 Rz. 364 f. Rechtsfolgen der verdeckten Einlage: Der durch die verdeckte Einlage zu hoch ausgewiesene Ge- 93 winn der Gesellschaft ist zu korrigieren, indem die verdeckte Einlage zur Ermittlung des Einkommens außerhalb der Bilanz wieder abgezogen wird (§ 8 III 3 KStG). Sie wirkt sich nicht auf den Gewinn aus, sondern erhöht das steuerliche Einlagekonto (§ 27 KStG; Rz. 46). Aufgrund des Abzugs bei der Gesellschaft muss korrespondierend beim Anteilseigner die durch die verdeckte Einlage bewirkte Vermögensminderung ebenfalls steuerlich neutralisiert werden. Deshalb darf der Anteilseigner, wenn er die Beteiligung an der Gesellschaft im Privatvermögen hält, seine Vermögensminderung nicht als Werbungskosten bei seinen Einkünften aus Kapitalvermögen abziehen. Befindet sich die Beteiligung im Betriebsvermögen des Anteilseigners, so ist die verdeckte Einlage auf dem Beteiligungskonto zu aktivieren311. Die verdeckte Einlage eines Wirtschaftsguts aus dem Betriebsvermögen führt beim Gesellschafter gem. § 6 VI 2 EStG zur Realisierung stiller Reserven. Ein auf dem Gesellschaftsverhältnis beruhender Forderungsverzicht312 des Anteilseigners auf seine nicht mehr vollwertige Forderung gegenüber seiner Kapitalgesellschaft bedeutet bei der Gesellschaft eine ver308 BFH v. 15.10.1997 – I R 80/96, BFH/NV 1998, 624, m. Anm. Wassermeyer, IStR 1998, 149. 309 Streck8, § 8 KStG Rz. 82. 310 BFH v. 26.10.1987 – GrS 2/86, BStBl. II 1988, 348 (354), m. Anm. Schmidt, FR 1988, 166; v. 14.3.1989 – I R 8/85, BStBl. II 1989, 633; a.A. BFH v. 20.8.1986 – I R 41/82, BStBl. II 1987, 65. 311 BFH v. 26.10.1987 – GrS 2/86, BStBl. II 1988, 348 (355) m.w.N. 312 BFH v. 9.6.1997 – GrS 1/94, BStBl. II 1998, 307; dazu Groh, BB 1997, 2523; krit. Hoffmann, DB 1998, 1983; s. auch BFH v. 15.10.1997 – I R 58/93, BStBl. II 1998, 305; v. 16.5.2001 – I B 143/00, BStBl. II 2002, 436 (eigenkapitalersetzendes Darlehen); v. 31.5.2005 – X R 36/02, BStBl. II 2005, 707; v. 10.8.2016 – I R 25/15, BStBl. II 2017, 670 (Rangrücktritt). Zum Verzicht auf zukünftige noch nicht erdiente Pensionsleistungen BMF v. 14.8.2012 – IV C 2 - S 2743/10/10001:001, BStBl. I 2012, 874.
Hey 787
§ 11 Rz. 94
Körperschaftsteuer
deckte Einlage in Höhe des Teilwerts der Forderung; beim Anteilseigner führt dies korrespondierend zum Zufluss des noch werthaltigen Teils der Forderung. § 7 VIII 1 ErbStG i.d.F. des BeitrRLUmsG313 regelt schenkungsteuerrechtliche Rechtsfolgen (disquotaler) Einlagen. Danach gilt die Werterhöhung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, die ein anderer als der Zuwendende erlangt, als Schenkung an die Mitgesellschafter, hierzu § 15 Rz. 31. Im Übrigen schließen sich gesellschaftsrechtlich veranlasste (verdeckte) Einlagen und Schenkung, etwa bei einem Unterwertverkauf von Anteilen an eine GmbH, grds., aus314, weil die Einlage nicht unentgeltlich erfolgt. Hieran ändert auch § 7 VII ErbStG nichts. 94
Um ein Auseinanderfallen von Gesellschafts- und Gesellschafterebene auch bei der verdeckten Einlage zu vermeiden, macht § 8 III 4 KStG die Einkommenskorrektur bei der Gesellschaft davon abhängig, dass die verdeckte Einlage das Einkommen des Gesellschafters nicht gemindert hat315 (zur spiegelbildlichen Handhabung bei der vGA, s. Rz. 90).
95–99
Einstweilen frei.
8. Besondere Fälle der Gewinnrealisierung und ihres Aufschubs 8.1 Liquidation (§ 11 KStG) Literatur: Sarx, Zur Abwicklungs-Rechnungslegung einer Kapitalgesellschaft, in FS Forster, 1992, 547; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, 1993, 935; Schmidt, Liquidationsergebnisse und Liquidationsrechnungslegung im Handels- und Steuerrecht, in FS L. Schmidt, 1993, 227; Jünger, Liquidation und Halbeinkünfteverfahren, BB 2001, 69; Dötsch/Pung, Die Auflösung und Abwicklung von Körperschaften. Das BMF-Schreiben v. 26.8.2003, DB 2003, 434; Förster/Döring, Die Liquidationsbilanz4, 2005; Geier, Die Limited und die steuerlichen Probleme bei Liquidation, DK 2006, 421; Winkeljohann/Förschle/Deubert, Sonderbilanzen. Von der Gründungsbilanz bis zur Liquidationsbilanz5, 2016; Kess, Ertragsbesteuerung bei Liquidationen. Ein Rechtsformvergleich aus verfassungsrechtlicher Sicht, Diss., 2008; Wohltmann, Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer in der Liquidation, NWB 2009, 950; Bergmann, Liquidationsbesteuerung von Kapitalgesellschaften, Diss., 2012; Bergmann, Einheitlicher Besteuerungszeitraum und Zwischenveranlagungen in Liquidation und Insolvenz, GmbHR 2012, 943. Zur Gewinnrealisierung allg. § 9 Rz. 400 ff. 100 Werden unbeschränkt steuerpflichtige Körperschaften i.S.v. § 1 I Nr. 1–3 KStG zum Zwecke der Ver-
teilung des Vermögens aufgelöst und abgewickelt, so gewährleistet § 11 KStG, dass die bisher nicht realisierten Gewinne bei der letzten sich bietenden Gelegenheit versteuert werden (Liquidationsbesteuerung). Gewinnermittlungszeitraum für den Liquidationsgewinn ist die Zeit vom Schluss des der Auflösung vorangegangenen Wirtschaftsjahres bis zur Beendigung der Abwicklung316; er soll drei Jahre nicht überschreiten (§ 11 I 2 KStG). Der Liquidationsgewinn wird durch Vermögensvergleich (Abwicklungs-Endvermögen ./. Abwicklungs-Anfangsvermögen) ermittelt. Abwicklungs-Endvermögen ist das zur Verteilung kommende Vermögen, vermindert um die im Abwicklungszeitraum zugeflossenen steuerfreien Vermögensmehrungen (§ 11 III KStG). Deshalb erfasst der Liquidationsgewinn auch die stillen Reserven.
313 314 315 316
788
Grundlegend zu den stl. Konsequenzen des Forderungsverzichts Nagel, Die Sanierungsfeindlichkeit des deutschen Unternehmenssteuerrechts am Beispiel des Forderungsverzichts, Diss., 2015; Kaczarepa, Steuerfalle Gesellschafter-Forderungsverzicht: Entschuldung der Kapitalgesellschaft ohne Sanierungsgewinn?, Diss. 2015. BeitrRLUmsG v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2592. BFH v. 20.1.2016 – II R 40/14, BFH/NV 2016, 848 (849). Hierzu Mückl/Schnorberger, DStR 2017, 2145. Zur Einordnung dieses besonderen Besteuerungszeitraums s. BFH v. 23.1.2013 – I R 35/12, BStBl. II 2013, 508; zu sich hieraus im Rahmen der Anwendung von § 10d EStG ergebenden Ungleichbehandlungen Bareis, DB 2013, 1265.
Hey
8. Besondere Fälle der Gewinnrealisierung und ihres Aufschubs
Rz. 104 § 11
8.2 Ausschluss oder Beschränkung des Besteuerungsrechts, insb. Sitzverlegung (§ 12 KStG) Literatur: Eckl, Wechsel zwischen beschränkter und unbeschränkter Steuerpflicht bei Kapitalgesellschaften, Diss., 2006; Dötsch/Pung, SEStEG: Die Änderungen des KStG, DB 2006, 2648; Hruschka, Die Internationalisierung des KStG nach dem SEStEG, StuB 2006, 631; Blumenberg/Lechner, Der Regierungsentwurf des SEStEG: Entstrickung und Sitzverlegung bei Kapitalgesellschaften, BB 2006, 25; Eickmann/Stein, Die Wegzugsbesteuerung nach dem SEStEG, DStZ 2007, 723; Köhler, Grenzüberschreitende Outbound-Verschmelzung und Sitzverlegung vor dem Hintergrund der jüngsten BFH-Rechtsprechung, IStR 2010, 337; Wiss. Beirat bei Ernst & Young, Die Systematik der sog. Entstrickungsbesteuerung, DB 2010, 1776; Thömmes, Wegzugsbesteuerung von Gesellschaften verstößt gegen Unionsrecht, IWB 2011, 896; Brinkmann/Reiter, National Grid Indus: Auswirkungen auf die deutsche Entstrickungsbesteuerung, DB 2012, 16; Ruiner, Überlegungen zur deutschen Wegzugsbesteuerung von Gesellschaften im Lichte des EuGH-Urteils in der Rs. National Grid Indus BV, IStR 2012, 49; Rautenstrauch/Seitz, National Grid Indus: Europarechtliche Implikationen für den Wegzug und die internationale Umwandlung von Gesellschaften, Ubg 2012, 14. Lit. zur Sitzverlegung vor 2007 (§ 12 KStG a.F.) s. 17. Aufl., § 11 vor Rz. 81 und 18. Aufl., § 11 vor Rz. 101.
Ein Bedürfnis für die steuerliche Erfassung stiller Reserven besteht auch, wenn stille Reserven aus 101 der deutschen Besteuerungshoheit ausscheiden, insb. durch Sitzverlegung oder Verlagerung einzelner Wirtschaftsgüter in das Ausland. 2006 hat der Gesetzgeber die Sitzverlegung mit dem SEStEG in den Kontext eines neuen, gesetzlich normierten Entstrickungskonzepts gestellt (dazu § 9 Rz. 450). § 12 KStG i.d.F. des SEStEG normiert die Steuerfolgen der Entstrickung stiller Reserven bei Überführung einzelner Wirtschaftsgüter ins Ausland (Abs. 1), Auslandsverschmelzungen (Abs. 2) sowie dem Wegzug von Körperschaften ins Ausland (Abs. 3). § 12 I KStG entspricht § 4 I 3 EStG (dazu § 9 Rz. 470): Die Überführung eines Wirtschaftsguts ins 102 Ausland wird als Veräußerung zum gemeinen Wert fingiert, soweit das Besteuerungsrecht der Bundesrepublik Deutschland bezüglich des Gewinns aus der Veräußerung oder Nutzung ausgeschlossen oder beschränkt wird. Die Rechtsfolge der Sofortversteuerung wird bei Zuordnung des Wirtschaftsguts zu einer Betriebsstätte in einem anderen EU-Mitgliedstaat abgemildert durch die Möglichkeit der Bildung eines über fünf Jahre aufzulösenden Ausgleichspostens nach § 4g EStG (anwendbar auch für Zwecke der KSt, vgl. § 12 I 1 Hs. 2 KStG). Ob diese nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte anwendbare Besteuerungsfolge mit den Grundfreiheiten vereinbar ist, war zunächst Gegenstand der Rspr. des EuGH317. Mittlerweile schreibt Art. 5 ATAD318 den Mitgliedstaaten verbindlich eine Wegzugsbesteuerung vor, der § 12 I KStG bereits entspricht319 (s. auch § 13 Rz. 154). § 12 II KStG schiebt die Besteuerung im Fall von Auslandsverschmelzungen auf, wenn eine be- 103 schränkt stpfl. Körperschaft im Ausland in einem § 2 UmwG entsprechenden Vorgang auf eine andere Körperschaft desselben Staates verschmolzen wird und das deutsche Besteuerungsrecht gewahrt bleibt. Für eine Aufdeckung der stillen Reserven besteht, solange Wirtschaftsgüter in einer inländischen Betriebsstätte steuerverstrickt bleiben, kein Bedürfnis. Hinsichtlich des in § 12 III KStG geregelten Wegzugs einer Körperschaft ist zwischen der Verlegung 104 des (Satzungs-)Sitzes und der Geschäftsleitung (entspricht i.d.R. dem Verwaltungssitz) zu unterscheiden. Gesellschaftsrechtlich führt die Herausverlegung des Verwaltungssitzes einer Kapitalgesellschaft – anders als die Verlegung des Satzungssitzes – nach der Streichung von § 4a II GmbHG und § 5 II AktG durch MoMiG v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026320, nicht mehr zur Liquidation der Ge317 EuGH v. 29.11.2011 – C-371/10, ECLI:EU:C:2011:785 – National Grid Indus; v. 21.5.2015 – C-657/13, ECLI:EU:C:2015:331 – Verder LabTec und v. 21.12.2016 – C-503/14, ECLI:EU:C:2016:979 – Kommission/Portugal; Grundsatzkritik an der Konzeption von § 12 I KStG; § 4 I 3 EStG: Wiss. Beirats von Ernst & Young, DB 2010, 1776. Mitschke, IStR 2012, 6, ging dagegen davon aus, die EuGH-Rspr. erlaube sogar noch eine Verschärfung der deutschen Hinzurechnungsbesteuerung. 318 RL 2016/1164, ABl. EU v. 19.7.2016, L 193/1. 319 Kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf. 320 Dazu Otte, BB 2009, 344.
Hey 789
§ 11 Rz. 105
Körperschaftsteuer
sellschaft. Steuerrechtlich ist zukünftig zwischen der Sitzverlegung innerhalb der EU/EWR und dem Wegzug in einen Drittstaat zu differenzieren. Die Verlegung der Geschäftsleitung in einen anderen EU-/EWR-Staat führt nur unter den Voraussetzungen von § 12 I KStG, d.h. nur bei Ausschluss oder Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts, zu einer Gewinnrealisierung. Bei Wegzug in einen Drittstaat fingiert dagegen § 12 III KStG die Körperschaft unabhängig von ihrem gesellschaftsrechtlichen Schicksal als aufgelöst, wenn sie ihre Geschäftsleitung und/oder ihren Sitz ins Ausland verlegt und dadurch aus der unbeschränkten Steuerpflicht in einem Mitgliedstaat der EU/EWR ausscheidet (Satz 1) oder nach Doppelbesteuerungsrecht infolge der Verlegung von Sitz oder Geschäftsleitung als außerhalb der EU/EWR ansässig gilt (Satz 2). § 11 KStG ist mit der Maßgabe, dass an die Stelle des zu verteilenden Vermögens der gemeine Wert des vorhandenen Vermögens tritt, entsprechend anzuwenden. Mit der Erweiterung auf den EU-/EWR-Raum hat der Gesetzgeber der europarechtlichen Kritik321 an der Schlussbesteuerung ohne Realisationsakt Rechnung getragen. § 12 III KStG greift dem Wortlaut nach auch dann ein, wenn an die Stelle der unbeschränkten die beschränkte Steuerpflicht tritt. Steuersystematisch ist die Aufdeckung der stillen Reserven nicht geboten, soweit sie auf eine im Inland fortexistierende Betriebsstätte entfallen, da die Steuerverstrickung in Deutschland gewahrt bleibt322. Der Wertungswiderspruch zu § 12 I, II KStG ist durch teleologische Reduktion von § 12 III KStG aufzulösen323. 8.3 Eintritt in eine subjektive Steuerbefreiung (§ 13 KStG) 105 Scheidet eine stpfl. Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse aus der Steuerpflicht
überhaupt aus, weil sie subjektiv steuerbefreit ist, so hat sie eine Schlussbilanz aufzustellen, in der die Wirtschaftsgüter regelmäßig mit dem Teilwert anzusetzen sind (§ 13 I, III KStG). Dadurch werden auch in diesen Fällen die bislang nicht versteuerten Gewinne noch von der Steuer erfasst. Eine solche Gewinnrealisierung unterbleibt jedoch für diejenigen Wirtschaftsgüter einer steuerbefreiten gemeinnützigen, mildtätigen oder kirchlichen Körperschaft, die der Förderung steuerbegünstigter Zwecke dienen (§ 13 IV KStG)324. Wird umgekehrt ein bisher steuerbefreites Steuersubjekt körperschaftsteuerpflichtig325, so stellt § 13 II, III KStG sicher, dass die während der Steuerfreiheit entstandenen stillen Reserven unversteuert bleiben326. 106–109
Einstweilen frei.
D. Tarif 110 Der Steuersatz beträgt 15 % des zu versteuernden Einkommens (§ 23 I KStG). Er ist unter dem
Druck des europäischen Steuersatzwettbewerbs von 56 % (1977) auf 50 % (ab 1990), 45 % (ab 1994), 40 % (ab 1999), 25 % (ab 2001) und schließlich 15 % (ab VZ 2008) gesenkt worden. 111 Auch zur KSt wird ein Solidaritätszuschlag erhoben (§ 1 I SolZG). 321 Dazu Hey, DK 2004, 577 (583 ff.); Kessler/Huck/Obser/Schmalz, DStZ 2004, 855; Kleinert/Probst, DB 2004, 674; Wassermeyer, GmbHR 2004, 613 (615 f.); a.A. Körner, IStR 2004, 424 (430). 322 Frotscher, IStR 2006, 67; zu der überschießenden Tendenz von § 12 III KStG auch Haase, BB 2009, 1448. 323 Blumenberg/Lechner, BB 2006, 25 (32); Eickmann/Stein, DStZ 2007, 723 (725); Blümich/Hofmeister, § 12 KStG Rz. 100 f. (2017). Zu weiteren Fragen der Reichweite von § 12 III KStG s. Hölscher, IStR 2013, 747. 324 Dazu Niemann, Steuerentstrickung für gemeinnützige Zwecke, ifst-Schrift 332 (1994). 325 S. BFH v. 16.5.2007 – I R 14/06, BStBl. II 2007, 808. 326 Dazu Selchert, DStR 1985, 195; Schauhoff, DStR 1996, 366; Fuchs/Lieber/Ludwig, DStZ 2003, 765; Schmidt/Fritz, DB 2002, 2509.
790
Hey
§ 12 Gewerbesteuer Rechtsgrundlagen: Gewerbesteuergesetz (GewStG) i.d.F. der Bekanntmachung v. 15.10.2002 (BGBl. I 2002, 4167), zuletzt geändert durch Gesetz v. 27.6.2017 (BGBl. I 2017, 2074); Gewerbesteuer-Durchführungsverordnung (GewStDV) i.d.F. der Bekanntmachung v. 15.10.2002 (BGBl. I 2002, 4180), zuletzt geändert durch Gesetz v. 1.4.2015 (BGBl. I 2015, 434). Die Gewerbesteuer-Richtlinien 2009 (GewStR 2009) v. 28.4.2010 (BStBl. I 2010, Sondernr. 1, S. 2) mit den Gewerbesteuer-Hinweisen 2016. Literatur: Kommentare: W. Blümich, EStG/KStG/GewStG, Bd. 4, Loseblatt; Deloitte (Hrsg.), Gewerbesteuergesetz, Kommentar, 2009; Bergemann/Winkler (Hrsg.), Kommentar Gewerbesteuer, 2012; Frotscher/Drüen, KStG/GewStG/UmwStG, Kommentar, 2017, Loseblatt; Glanegger/Güroff, Gewerbesteuergesetz9, 2017; Lenski/Steinberg, Gewerbesteuergesetz, 2017, Loseblatt; Wendt/Suchanek/Möllmann/Heinemann, GewStG, 2018. Monographien: Zitzelsberger, Grundlagen der Gewerbesteuer, 1990; Schnädter, Die Geschichte des Gewerbesteuerrechts und ihrer Prinzipien, Diss., 1993; Tipke, StRO II2, 2003, 1132 ff.; Schnädter, Die grundlegenden Wertungen des Gewerbesteuerrechts, 1996. Lehrbücher/Lernbücher: Reichert, Lehr- und Trainingsbuch Gewerbesteuer5, 2011; Zenthöfer/Alber, Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer16, 2013; Hidien/Pohl/Schnitter, Gewerbesteuer15, 2014; Kronawitter, Gewerbesteuer (GewStG), 2012; Rose/Watrin, Ertragsteuern21, 2017.
1. Einführung Die Gewerbesteuer wurde historisch nach dem sog. Äquivalenzprinzip als Ausgleich für die unmit- 1 telbaren und mittelbaren Lasten gerechtfertigt, die Gewerbebetriebe für die Gemeinden verursachen1. Seit dem 1.1.2004 sind die Gemeinden nach § 1 GewStG jedoch nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, eine Gewerbesteuer als Gemeindesteuer zu erheben2. Diese Verpflichtung ist nicht nur im Hinblick auf die Finanzautonomie der Gemeinden verfassungsrechtlich bedenklich3. Sie führt in Verbindung mit dem Mindesthebesatz nach § 16 IV GewStG als Abkehr vom Äquivalenzprinzip auch die ursprüngliche Rechtfertigung der Gewerbesteuer endgültig ad absurdum. Das BVerfG teilt diese Bedenken indessen nicht, weil der Kernbereich der kommunalen Finanzautonomie nicht betroffen sein soll4. Auf Basis des Äquivalenzprinzips wurde die Gewerbesteuer als Objekt- oder Realsteuer konzipiert, die losgelöst von den persönlichen Verhältnissen des Steuerschuldners an das Objekt Gewerbebetrieb anknüpft. In ihrer ursprünglichen Grundstruktur wurde sie durch die Besteuerungsmerkmale Ertrag, Kapital und Lohnsumme bestimmt5 mit dem Ziel, über die Anknüpfung an unterschiedliche Besteuerungsgrundlagen nicht nur die objektivierte Ertragskraft des Gewerbebetriebs zu erfassen und dadurch die Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu erhöhen, sondern zugleich zur Konjunkturunabhängigkeit des Gewerbesteueraufkommens beizutragen6.
1 Begr. zum GewStG 1936 in RStBl. 1937, 693, 696; BT-Drucks., IV/3418, 51; BVerfGE 19, 101, 112; 21, 54, 65 ff.; 26, 1, 11; 13, 331, 348; Flämig, DStJG 12 (1989), 33, 36 ff.; Zitzelsberger, Grundlagen der Gewerbesteuer, 146 ff.; Tipke, StRO II2, § 19; Schnädter, Die grundlegenden Wertungen des Gewerbesteuerrechts; P. Kirchhof, Die Gewerbesteuer – historische Vorgabe und gegenwärtige Aufgabe, FS Gosch, 2016, 193. 2 Vgl. zur Neufassung des § 1 GewStG im Rahmen des Gesetzes zur Änderung des Gewerbesteuergesetzes v. 23.12.2003 (BGBl. I 2003, 2922) die Begr. des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Einführung einer Gemeindewirtschaftsteuer (BR-Drucks. 561/03, 32). 3 Dazu Walz/Süß, DStR 2003, 1637; Otting, DB 2004, 1222. Vgl. auch BFH BStBl. II 2005, 143. 4 BVerfG v. 27.1.2010 – 2 BvR 2185/04, BVerfGE 125, 141. 5 BVerfGE 26, 1. 6 Vgl. RT-Drucks. 1937 Nr. 42, RStBl. 1937, 693.
Montag 791
§ 12 Rz. 1
Gewerbesteuer
Inzwischen hat die Gewerbesteuer sich weitestgehend von ihrer ursprünglichen Grundstruktur entfernt7. Wesentliche Entwicklungsschritte waren: – die Einführung der Gewerbesteuerumlage, mit der Bund und Länder am Gewerbesteueraufkommen beteiligt wurden8, und die damit verbundene starke Relativierung des Äquivalenzprinzips9, das ohnehin nie lückenlos verwirklicht wurde und daher seit langem stark umstritten war10, – der Wegfall der Lohnsumme als Besteuerungsgrundlage11, – die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zum 1.1.199812 und die als Ausgleich dafür eingeführte Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer13, – die Abschaffung der Abzugsfähigkeit der Gewerbesteuer als Betriebsausgabe bei der Ermittlung des Gewinns zum 1.1.200814. Damit hat sich die Gewerbesteuer trotz objektivierender Hinzurechnungselemente wie dem Viertel der Summe bestimmter Entgelte für die Nutzung des dem Gewerbebetrieb überlassenen Geld- und Sachkapitals und der zusätzlichen Freibeträge weitgehend zu einer Ertragsteuer entwickelt15, deren Belastungswirkungen durch nicht anrechenbare ausländische Quellensteuern zusätzlich verstärkt werden16. Einen entsprechend hohen Gewerbesteuerhebesatz vorausgesetzt, kann die Gewerbesteuer sogar zur dominierenden Unternehmensteuer werden17. Sie führt insoweit zu einer Sonderbelastung für mittlere und größere Gewerbebetriebe18, für die das Äquivalenz- und Objektsteuerprinzip auf jeden Fall keinerlei Rechtfertigung bieten kann. Notwendig ist vielmehr auch bei der Gewerbesteuer die Orientierung am Leistungsfähigkeitsprinzip19. Auf der Grundlage dieses Prinzips und unter Berücksichtigung der Strukturveränderungen des Gewerbesteuerrechts indiziert die Entwicklung der Gewer-
7 Vgl. dazu Gosch, DStZ 1998, 327 ff. 8 Vgl. Art. 106 V, VI GG i.d.F. v. 12.5.1969, BGBl. I 1969, 359, und das Gemeindefinanzreformgesetz v. 8.9.1969, BGBl. I 1969, 1587, im Anschluss an das Gutachten der Kommission für die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland von 1966 u. das Gutachten zum Gemeindesteuersystem und zur Gemeindesteuerreform in der Bundesrepublik Deutschland sowie die Stellungnahme zum Finanzreformgesetz des Wissenschaftlichen Beirats beim BdF v. 16.3.1968/25.5.1968 (BdF-Schriftenreihe 10, 1968). Vgl. dazu auch § 2 Rz. 67. 9 BVerfGE 46, 224 (236 f.); dazu auch Tipke, StRO II2, 1137. 10 Vgl. i.E. Tipke, StRO II2, 1136 ff. 11 Vgl. Steueränderungsgesetz 1979, BGBl. I 1978, 1849. 12 Vgl. Art. 4 des Gesetzes zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform, BGBl. I 1997, 2590; vgl. dazu i.E. auch Karthaus, DB 1997, 1887. 13 § 5, 5a–5b Gesetz zur Neuordnung der Gemeindefinanzen (Gemeindefinanzreformgesetz i.d.F. v. 10.3.2009 (BGBl. I, 502), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes v. 8.5.2012 (BGBl. I, 1030); Gesetz über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern (Finanzausgleichsgesetz – FAG) v. 20.12.2001 (BGBl. I 2001, 3955), zuletzt geändert durch Aufbauhilfegesetz v. 15.7.2013 (BGBl. I 2013, 2401). 14 Vgl. § 4 Vb EStG i.d.F. des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008, BGBl. I 2007, 1912. Nach Auffassung des BFH ist dies trotz einer Beeinträchtigung des objektiven Nettoprinzips nicht nur bei Körperschaften verfassungsgemäß (BFH v. 16.1.2014 – I R 21/12, BStBl. II 2014, 531), was nunmehr auch das BVerfG durch Nichtannahme der entsprechenden Verfassungsbeschwerde konkludent bestätigt hat (vgl. Beschl. v. 12.7.2016 – 2 BvR 1559/14, BStBl. II 2016, 812), sondern auch bei der Einkommensteuer verfassungsrechtlich sanktioniert (BFH v. 10.9.2015 – IV R 8/13, BStBl. II 2015, 1046). Gewerbesteuermessbescheide ergehen insoweit grds. nicht mehr vorläufig. Vgl. Gleich lautende Erlasse der obersten Finanzbehörden v. 28.10.2016, BStBl. I 2016, 1114; BStBl. I 2017, 66. 15 Vgl. dazu m.w.N. Gosch, DStZ 1998, 327 (328). 16 Vgl. dazu Prinz/Otto, DB 2017, 1988. 17 Vgl. dazu Herzig, DB 2007, 1541. 18 Dazu Tipke, StRO II2, 1147 m.w.N. 19 Vgl. insb. Wendt, BB 1987, 1257 (1259 ff.); Tipke, StRO II2, 1146 ff.; Gosch, DStZ 1998, 327 (329).
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1. Einführung
Rz. 2 § 12
beertragsteuer zu einer Sonderertragsteuer für Gewerbebetriebe einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz20. Dass die Gewerbesteuer gegen Grundrechte verstößt, wird auch nicht dadurch sanktioniert, dass 2 der Gesetzgeber im Rahmen der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer den – untauglichen – Versuch unternommen hat, die verbleibende Gewerbesteuer wirksam abzusichern. Art. 106 VI GG, der die Gewerbesteuer explizit aufführt, und Art. 28 II 3 GG, der den Gemeinden als Grundlage ihrer finanziellen Eigenverantwortung eine wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle mit Hebesatzrecht zugesteht, können den Gleichheitssatz nicht verdrängen21. Das BVerfG hat sich in der Vergangenheit in einer Vielzahl singulärer Einzelfallentscheidungen mit der Verfassungsfrage beschäftigt22. Es hat sich jedoch lange der längst überfälligen umfassenden verfassungsrechtlichen Überprüfung entzogen, indem es die Zulässigkeitsanforderungen exzessiv ausgedehnt hat23. Die Hoffnung, dass der dadurch entstandene Eindruck falsch verstandener politischer Rücksichtnahme durch eine überzeugende Sachentscheidung des BVerfG schließlich doch noch revidiert werden würde, hat sich trotz überzeugender Vorlagebeschlüsse24 leider nicht erfüllt. Im Gegenteil: Das BVerfG25 hat die Rechtfertigung der Gewerbesteuer erneut primär aus dem Äquivalenzprinzip abgeleitet und damit nicht nur seine frühere Auffassung26 konterkariert, ohne sich inhaltlich mit der überzeugenden Kritik des Äquivalenzprinzips auseinanderzusetzen27. Es hat darüber hinaus „vorbeugend“ auch die neuere Entwicklung der Gewerbesteuer hin zu einer objektivierten Ertragsteuer sanktioniert und dem Gesetzgeber insofern unberechtigterweise vermeintlich einen Freifahrtschein ausgestellt28, der dem weiteren Vorstoß in verfassungsrechtlich kritische Grenzbereiche und vermeintliche Freiräume Vorschub leistet. Der Gesetzgeber hat diese Freiräume bedenkenlos genutzt und die Gewerbesteuer im Rahmen der Unternehmensteuerreform 2008 zunächst „revitalisiert“: Er hat die gewerbesteuerlichen Hinzurechnungen erheblich ausgeweitet, um das Steueraufkommen der Kommunen unabhängiger von der wirtschaftlichen Entwicklung der Unternehmen zu machen, was dem Leistungsfähigkeitsprinzip klar und diametral entgegensteht, und im Hinblick auf die finanziellen Interessen der Kommunen letztlich steuerpolitisch zu einer Zementierung des Status quo geführt hat29. Die dann von der Bundesregierung auf Basis des Koalitionsvertrags v. 26.10.2009 im Frühjahr 2010 eingesetzte Arbeitsgruppe Kommunalsteuern ist trotz des verfassungsrechtlich desolaten Zustands der Gewerbesteuer30 gescheitert31, und zwar primär an der kommunalen Furcht vor Aufkom-
20 Vgl. dazu i.E. die überzeugend begründeten Vorlagebeschlüsse des Niedersächs. FG v. 23.7.1997, BBBeil. 16/1997 und v. 5.5.1998, FR 1998, 1041; v. 21.4.2004, FR 2004, 907; v. 14.4.2005, FR 2005, 690. 21 BVerfG Beschl. v. 15.1.2008, FR 2008, 818. Vgl. zum früheren Recht bereits Wendt, BB 1987, 1677 ff.; Maunz/Dürig/Herzog, Art. 106 GG Anm. 88; Zitzelsberger, Grundlagen der Gewerbesteuer, 215 ff.; Tipke, StRO II2, 1134 f. 22 Vgl. BVerfGE 13, 290; 13, 311; 19, 101 (112); 21, 54 (63); 26, 1 (7); 42, 374 (384); 64, 224; BFH/NV Beil. 5/2001, 66. 23 BVerfG BStBl. II 1999, 509. Dazu insb. Tipke, FR 1999, 532; Paus, FR 1999, 534. 24 Vgl. Vorlagebeschl. Niedersächs. FG v. 21.4.2004, FR 2004, 907. Dazu insb. Hey, FR 2004, 876; Niedersächs. FG v. 14.5.2000, FR 2005, 690; Selder, FR 2014, 174. 25 Vgl. Beschl. v. 15.1.2008, FR 2008, 818; Kritik dazu insb. Hartmann, BB 2008, 2490; Keß, FR 2008, 829. 26 Vgl. BVerfG v. 25.10.1977, BVerfGE 46, 224. 27 Vgl. dazu grundl. insb. Tipke, StRO II2, 1198 ff.; Hey, Vom Nutzen des Nutzenprinzips für die Gestaltung der Steuerrechtsordnung, FS J. Lang, 2010, 133 (152 ff.); Solms, Die Ersetzung der Gewerbesteuern, FS J. Lang, 2010, 439 (443); Hey, StuW 2011, 131 (135). 28 Vgl. dazu auch Keß, FR 2008, 829 (831). 29 Dazu insb. Hey, BB 2007, 1303 (1307); Herzig, DB 2008, 1541; S. Neumann, Ubg 2008, 585. 30 Vgl. zusammenfassend dazu Roser, Kritische Bestandsaufnahme der Gewerbesteuer, DStJG 35 (2012), 189 ff. 31 Vgl. Bericht des BMF über die abschließende Sitzung der Gemeindefinanzkommission am 15.6.2011 (www.bundesfinanzministerium.de).
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§ 12 Rz. 3
Gewerbesteuer
mensverlusten und politischer Verantwortung32. Vor dem Hintergrund eines finanzverfassungsrechtlichen Verteilungssystems in Art. 106 GG, das die Kosten des Sozialstaats ungenügend berücksichtigt und dringend der Reformierung bedarf33, sind die Aussichten, zur Wahrung der Grundrechte vollständig auf die Erhebung der Gewerbesteuer zu verzichten und sie verfassungskonform durch eine kommunale Einkommen- und Gewinnsteuer zu ersetzen34, daher ohne einen Paradigmenwechsel beim BVerfG außerordentlich gering. Inwiefern die Entscheidung des BVerfG zur Kernbrennstoffsteuer35, die die verfassungsrechtlichen Grenzen des Gesetzgebers bei der Steuerfindung erfreulicherweise klar konkretisiert, den notwendigen Wechsel einleitet, bleibt abzuwarten. Mit der gleitenden „Mutation“ der Gewerbesteuer von der – ertragsorientierten – Objektsteuer36 zur objektivierten Ertragsteuer37 ist der verfassungsrechtlich gebotene und mögliche Veränderungsrahmen jedenfalls gesprengt. 2. Steuerobjekt 3 Die Gewerbesteuer belastet – als Besteuerungsgut38 – die Erträge von gewerblichen Unternehmen, und
zwar nach Wegfall der Gewerbekapitalsteuer über die Besteuerungsgrundlage Gewerbeertrag ausschließlich den Ist-Ertrag, der durch Hinzurechnungen und Kürzungen modifiziert wird. Jedoch erklärt das GewStG nicht die Erträge gewerblicher Unternehmen zum Steuerobjekt, sondern den Gewerbebetrieb selbst (§§ 2; 35a GewStG; BFH BStBl. II 1991, 358). Diese antiquierte Anknüpfung hängt mit dem ursprünglichen Real- oder Objektsteuercharakter der Gewerbesteuer zusammen, der der Befürchtung des Gesetzgebers entsprechend39 mit der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer gänzlich weggefallen ist und nie konsequent durchgeführt wurde. Denn das Gesetz kennt seit jeher auch subjektive Durchbrechungen, so in §§ 8 Nr. 9; 10a Satz 3 GewStG und im Freibetrag nach § 11 I 3 GewStG (s. auch Rz. 21, zur Berücksichtigung der Ergänzungsbilanzen und Sonderbilanzen von Mitunternehmern). Steuerobjekte sind der stehende Gewerbebetrieb (§ 2 I 1 GewStG) und der Reisegewerbebetrieb (§ 35a GewStG), nicht die freie Berufstätigkeit und die Vermögensverwaltung40. 2.1 Stehender Gewerbebetrieb 4 Stehender Gewerbebetrieb ist jeder Gewerbebetrieb, der kein Reisegewerbebetrieb ist (§ 1 GewStDV).
Der Gewerbesteuer unterliegt er, soweit er im Inland betrieben wird (§ 2 I 1 GewStG), d.h. soweit für ihn im Inland eine Betriebsstätte (§ 12 AO) unterhalten wird (§ 2 I 3 GewStG)41.
32 Hey, StuW 2011, 131 (134). 33 Vgl. J. Lang, Bestandsaufnahme der kommunalsteuerlichen Reformmodelle, DStJG 35 (2012), 323 f. 34 Zur älteren Literatur 22. Aufl., § 12, S. 719, Fn. 13; außerdem auch Wagschal/v. Wolfersdorff/Andrae, Update Gewerbesteuer und Grundsteuer: Steuerentwicklung, Steuerwettbewerb und Reformblockaden, ifst-Schrift 508 (2016). 35 Beschl. v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, www.bverfg.de/e/ls20170413. 36 BVerfG Beschl. v. 13.5.1969 – 1 BvR 25/65, BStBl. II 1969, 424; BFH v. 24.10.1990 – X R 64/89, BStBl. II 1991, 358. Vgl. dazu auch Kempny/Reimer, Gutachten D zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, D 61 f.; Blümich/Drüen, § 1 GewStG Rz. 18. 37 BFH v. 6.10.2009 – I R 102/06, BFH/NV 2010, 462. 38 Dazu § 6 Rz. 23, 36. 39 BT-Drucks. 13/8348, 15. 40 Fettel, Der Gewerbebetrieb als Objekt der Besteuerung bei der Gewerbesteuer, in FS P. Scherpf, Berlin 1968, 123 ff. Vgl. dazu auch § 8 Rz. 413 ff. Zur Anteilsveräußerung bei Immobiliengesellschaften Lüdicke, WPg. 2007, 700. 41 Nach § 2 VII GewStG (vgl. Gesetz v. 25.7.2014, BGBl. I 2014, 1266) gehört zum Inland nicht nur der Anteil am Festlandssockel, sondern auch der Anteil an der Ausschließlichen Wirtschaftszone. Zur Bedeutung für Offshore-Windkraftanlagen Becker, BB 2014, 2270. Zur Zurechnung von im Ausland erbrachten Leistungen u. zur Aufteilung des Gewerbeertrags grds. nach der sog. direkten Methode BFH
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2. Steuerobjekt
Rz. 6 § 12
Soweit ausländische Einkünfte bei der Gewerbesteuer erfasst werden, ist eine Anrechnung der ausländischen Steuer geboten42. Gewerbebetrieb ist ein gewerbliches Unternehmen i.S.d. Einkommensteuergesetzes (§ 2 I 2 GewStG). Mit dem Steuerentlastungsgesetz 1984 v. 22.12.1983 (BGBl. I 1983, 1583) ist in § 15 II EStG eine Legaldefinition des Gewerbebetriebs aufgenommen worden. § 15 II 1 EStG stimmt im Wesentlichen mit dem früheren § 1 I 1 GewStDV überein43. Abgrenzungsschwierigkeiten haben die Gerichte ständig beschäftigt. Irgendein teleologischer Bezug zum angeblichen Äquivalenzprinzip ist dabei nicht zu erkennen44 und systematisch auch nicht intendiert45. Von der Rechtsform des Unternehmens ist es abhängig, welche ergänzenden einkommensteuer- und 5 gewerbesteuerrechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen für einen Gewerbebetrieb zu beachten sind: (1) Einzelunternehmen können nur kraft gewerblicher Tätigkeit i.S.d. § 15 II EStG Gewerbebetrieb und damit gewerbliche Unternehmen i.S.d. § 15 I 1 Nr. 1 EStG sein46. (2) Mitunternehmerschaften (OHG, KG und andere Gesellschaften, z.B. BGB-Gesellschaften, atypi- 6 sche stille Gesellschaften47, Partenreedereien – s. auch § 13 Rz. 70 ff. –, bei denen die Gesellschafter als Unternehmer [Mitunternehmer] anzusehen sind), können kraft gewerblicher Tätigkeit und/oder kraft Fiktion Gewerbebetrieb sein: (a) Soweit Mitunternehmerschaften ein gewerbliches Unternehmen (§ 15 I 1 Nr. 1 und II EStG) betreiben, sind sie kraft Tätigkeit gewerbesteuerpflichtig, und zwar unabhängig von der Rechtsform ihrer Gesellschafter von dem Zeitpunkt an, in dem alle Voraussetzungen des Gewerbebetriebs erfüllt sind48. Dass der Gesellschafter zugleich Mitunternehmer ist (§ 15 I 1 Nr. 2 EStG), hat insoweit nur für den sachlichen Umfang der Steuerpflicht Bedeutung49. Die Personenhandelsgesellschaften (OHG, KG) unterhalten i.d.R. ein gewerbliches Unternehmen50. Besitzpersonengesellschaften im Rahmen einer Betriebsaufspaltung üben eine gewerbliche Tätigkeit aus, ihre Vermietung und Verpachtung ist nicht mehr als Vermögensverwaltung anzusehen51; die Rspr. zur Betriebsaufspaltung52 gilt daher auch nach Aufgabe der Gepräge-Rspr.53 (s. aber § 15 III EStG) fort54. Einen selbständigen Steuergegenstand bildet auch die Tätigkeit einer atypisch stillen Gesellschaft mit der Folge, dass die Mitunternehmer sachlich gewerbesteuerpflichtig sind55. Personengesell-
42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55
BStBl. II 1985, 405; zu Gewinnen aus der Veräußerung von Anteilen an einer ausländischen Kapitalgesellschaft BFH BStBl. II 1985, 160; s. ferner § 2 VII GewStG. Vgl. dazu i.E. Becker/Loose, DStR 2012, 57; Bier, Die Gewerbesteuer aus Sicht der Wirtschaft, DStJG 35 (2012), 219. Zu beiden Vorschriften BFH GrS BStBl. II 1984, 762 f. Vgl. zur Abgrenzung i.E. § 8 Rz. 413 ff. Hey, Vom Nutzen des Nutzenprinzips für die Gestaltung der Steuerrechtsordnung, FS J. Lang, 2010, 133 (153). Zum sachlichen Umfang eines Gewerbebetriebs s. BFH/NV 1987, 55; zur Gewerblichkeit durch Beteiligung an Kapitalgesellschaften BFH BStBl. II 2001, 809; dazu auch Blumers/Witt, DB 2002, 60; Wiese, GmbHR 2002, 293. Vgl. dazu auch § 13 Rz. 4 ff. BFH v. 30.8.2012 – IV R 54/10, BStBl. II 2012, 927; v. 12.5.2016 – IV R 1/13, BStBl. II 2017, 489. S. BFH GrS BStBl. II 1984, 751; s. auch § 10 Rz. 65. Dazu Knobbe-Keuk, JbFSt. 1975/76, 175 (178 ff.); ferner Hönle, DB 1981, 1007 u. Budde, FR 1981, 1. Dagegen weicht der BFH BStBl. II 2006, 557 von seiner st. Rspr. ab und lässt bei einem nach § 3 Nr. 20c GewStG von der Gewerbesteuer befreiten Betriebsunternehmen die Merkmalserstreckung der Gewerbesteuerbefreiung auf das Besitzunternehmen zu. Dazu: Fischer, NWB, Fach 5, 1603. Vgl. § 13 Rz. 80 ff. BFH GrS BStBl. II 1984, 751. Vgl. dazu auch § 10 Rz. 65. BFH BStBl. II 1986, 296. Vgl. dazu auch § 13 Rz. 96 ff.
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§ 12 Rz. 7
Gewerbesteuer
schaften, an denen wie im sog. Treuhandmodell nur ein Gesellschafter mitunternehmerschaftlich beteiligt ist, unterliegen hingegen nicht der Gewerbesteuer56. 7 (b) Durch Fiktionen57 wird die Gewerbesteuerpflicht von Personengesellschaften ausgedehnt, be-
gründet oder ausgeschlossen: (aa) Als Gewerbebetrieb gilt in vollem Umfang die mit Einkünfteerzielungsabsicht unternommene Tätigkeit einer OHG, KG oder anderen Personengesellschaft (z.B. einer BGB-Gesellschaft), wenn die Gesellschaft – neben anderen Tätigkeiten (z.B. freie Berufstätigkeit, Landwirtschaft oder Vermögensverwaltung) – auch eine gewerbliche Tätigkeit i.S.d. § 15 I 1 Nr. 1 EStG ausübt (§ 15 III Nr. 1 EStG)58. (bb) Als Gewerbebetrieb gilt in vollem Umfang auch die mit Einkünfteerzielungsabsicht unternommene Tätigkeit einer sog. gewerblich geprägten Personengesellschaft (insb. der Kapitalgesellschaft & Co. KG einschließlich mehrstöckiger Gesellschaften), die keinerlei gewerbliche Tätigkeit i.S.d. § 15 I 1 Nr. 1 und II EStG ausübt (§ 15 III Nr. 2 EStG)59. Die sachliche Gewerbesteuerpflicht einer gewerblich geprägten Personengesellschaft beginnt nicht bereits mit der Verwirklichung der in § 15 III Nr. 2 EStG genannten Tatbestandsmerkmale, sondern erst mit dem Beginn der werbenden Tätigkeit60. (cc) Als Gewerbebetrieb gilt grds. nicht die Tätigkeit von Arbeitsgemeinschaften (§ 2a GewStG). (dd) Das „Ergebnis der Tätigkeit“ einer Europäischen Wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV) „wird nur bei ihren Mitgliedern besteuert“ (Art. 40 VO [EWG] Nr. 2137/85, ABl. EG L 199 v. 31.7.1985). § 5 I 4 GewStG sieht deshalb vor, dass bei der EWIV die Mitglieder selbst als Gesamtschuldner für die Gewerbesteuer in Anspruch zu nehmen sind (R 5.2 GewStR). Dies deswegen, weil unabhängig von der steuerlichen Gemeinschaftsregelung61 für die ab 1.7.1989 zur Verfügung stehende Rechtsform EWIV, auf die im Übrigen die für eine OHG geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden sind (§ 1 des EWIV-AusführungsG v. 14.4.1988 [BGBl. I 1988, 514]), von der Finanzverwaltung und Teilen des Schrifttums die Gewerbebetriebseigenschaft der EWIV bejaht wird (BMF, DB 1989, 354)62. 8 (3) Kapitalgesellschaften (z.B. SE, AG, KGaA, GmbH), Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften
und Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit gelten – unabhängig von der Art der Tätigkeit – stets und in vollem Umfang als Gewerbebetrieb63 (§ 2 II GewStG), was verfassungsrechtlich vor allem deshalb zulässig sein soll, weil die Vermögenssphäre der Kapitalgesellschaft gegenüber ihrem Gesellschafter abgeschirmt ist64. Ist eine Kapitalgesellschaft Organgesellschaft i.S.d. §§ 14; 17 oder 18 KStG (dazu § 14 Rz. 1 ff.), so gilt sie gem. § 2 II 2 GewStG als Betriebsstätte des Organträgers65. Kapitalgesellschaften i.S.d. § 2 II GewStG sind auch solche ausländischen Gesellschaften, die ihrem Wesen nach inländischen Kapitalgesellschaften entsprechen. Für ihre Gewerbesteuerpflicht mit inländischen Be-
56 Vgl. BFH BStBl. II 2010, 751. Dazu auch Rödder, DStR 2005, 69; Benz/Grundke, StuW 2009, 2009; Hahne, StuB 2010, 420; Keß, FR 2010, 633; Neumayer/Imschweiler, EStB 2010, 345. 57 So BT-Drucks. 10/3663, 8. 58 Vgl. auch § 13 Rz. 74, § 10 Rz. 61. 59 Vgl. auch § 10 Rz. 65. 60 BFH BStBl. II 2004, 464. 61 S. Scriba, Die Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung, 1988, 178. 62 Vgl. Weimar/Delp, WPg. 1989, 89 (97); Authenrieth, BB 1989, 305 (309 f.); Krabbe, DB 1985, 2585; a.A. Hamacher, FR 1986, 557; keine abschließende Aussage bei Ganske, DB-Beil. 20/1985; Saß, DB 1985, 2266. Vgl. auch Glanegger/Güroff9, § 2 GewStG Rz. 406. 63 Das soll eine Typisierung zum Zwecke der Verwaltungsvereinfachung sein (RT-Drucks. IV 1928/586, 110; s. auch BFH BStBl. III 1963, 69 f.); BFH GrS BStBl. II 1984, 763, spricht auch insoweit von einer Fiktion; BFH BStBl. II 1990, 76, dagegen von einer Unterstellung in Form einer unwiderlegbaren Vermutung. Vgl. auch R/H 2.1(4) GewStR. 64 Vgl. BVerfG Beschl. v. 24.3.2010, FR 2010, 670; krit. insoweit aber zu Recht bereits Drüen, GmbHR 2008, 393 (398 ff.); Keß, FR 2010, 672. 65 Vgl. dazu § 14 Rz. 20 ff. Zur sog. Mehrmütterorganschaft § 14 Rz. 6.
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2. Steuerobjekt
Rz. 12 § 12
triebsstätten (s. auch § 2 VI GewStG) gilt die im ESt- und KSt-Recht entwickelte sog. isolierende Betrachtungsweise nicht66.
(4) Als Gewerbebetrieb gilt auch die Tätigkeit der sonstigen juristischen Personen des privaten Rechts 9 (rechtsfähige Vereine, Stiftungen, Anstalten) und der nichtrechtsfähigen Vereine, soweit sie einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb (ausgenommen Land- und Forstwirtschaft) unterhalten (§ 2 III GewStG; § 14 AO)67. (5) Unternehmen von juristischen Personen des öffentlichen Rechts sind gewerbesteuerpflichtig, 10 wenn sie als stehende Gewerbebetriebe68 anzusehen sind (§ 2 I GewStDV)69. 2.2 Reisegewerbebetrieb Reisegewerbebetrieb ist ein Gewerbebetrieb, dessen Inhaber nach der Gewerbeordnung einer Reisegewerbekarte bedarf. Gewerbesteuerpflichtig ist er, soweit er im Inland betrieben wird (§ 35a GewStG; § 35 GewStDV, Abschn. R/H 2.1(3) GewStR).
11
2.3 Mehrheit von Gewerbebetrieben Unterhält eine natürliche Person (nebeneinander oder nacheinander) mehrere gleichartige70 Betrie- 12 be, die eine wirtschaftliche Einheit bilden (= wirtschaftlich, finanziell und organisatorisch innerlich zusammenhängend, je nach Gleichartigkeit/Ungleichartigkeit der Tätigkeiten und Nähe/Entfernung der Ausübung), so liegt nach h.M. ein Steuerobjekt vor71; handelt es sich hingegen, insb. wegen Verschiedenartigkeit der Betriebe, um mehrere wirtschaftliche Einheiten, so wird jede Einheit für sich als Steuerobjekt behandelt. Dies gilt auch beim Zusammentreffen eines stehenden Gewerbebetriebes mit einem Reisegewerbebetrieb, jedoch mit der Subsidiaritätsregel des § 35a II 2 GewStG. Es gilt ferner entsprechend für mehrere Unternehmen einer juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Dagegen bilden nach h.M. mehrere Gewerbebetriebe einer Mitunternehmerschaft72 und einer Kapitalgesellschaft immer eine Einheit. Die Unternehmen mehrerer Personengesellschaften können dagegen auch dann nicht zu einem einheitlichen Unternehmen zusammengefasst werden, wenn sie wirtschaftlich und organisatorisch verflochten und die gleichen Gesellschafter im gleichen Verhältnis beteiligt sind73. In dieser Kasuistik steckt, gemessen an den Folgen, sicher keine Sachgerechtigkeit. Es wäre jedenfalls konsistenter, auch bei einer Mehrheit gewerblicher Betätigungen einer natürlichen Person stets von einem einheitlichen Gewerbebetrieb auszugehen. Die Folgen: Verluste können nur innerhalb ein- und desselben Gewerbebetriebs ausgeglichen und vorgetragen werden. Jeder Gewerbebetrieb erhält einen Freibetrag; also je mehr Gewerbebetriebe, desto mehr Freibeträge74.
66 Vgl. BFH BStBl. II 1979, 447; 1981, 220; 1983, 77. 67 S. auch BFH BStBl. II 1984, 451; s. Lenski/Steinberg, § 2 GewStG Anm. 2714 ff., zu den Tatbestandsvoraussetzungen des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs. 68 Die Gewerbesteuerpflicht der Unternehmen von jPdöR ist also nicht deckungsgleich mit deren Körperschaftsteuerpflicht (§§ 1 I Nr. 6; 4 KStG), da letztere – im Gegensatz zu § 15 II EStG – auch ohne Gewinnerzielungsabsicht und Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr entsteht (§ 4 I 2 KStG); zu besonderen Anwendungsfragen zur Besteuerung von Betrieben gewerblicher Art und Eigengesellschaften von jPdöR vgl. BMF BStBl. I 2009, 1303 (1312); R 2.1 GewStR. 69 Dazu Kohorst, Die Besteuerung der Gemeindebetriebe, Diss. 1965, 28 ff., 58 ff., 66 f. 70 S. auch BFH BStBl. II 1981, 746, m. Anm. Wolff-Diepenbrock, DStZ 1982, 63. 71 S. auch BFH BStBl. II 1989, 901; 1997, 573; R 2.4 GewStR. 72 Zur atypisch stillen Gesellschaft s. § 13 Rz. 93 ff. 73 Vgl. BFH BStBl. II 1980, 465. 74 Kritisch dazu bereits R. Schumacher, StuW 1978, S. 111.
Montag 797
§ 12 Rz. 13
Gewerbesteuer
2.4 Beginn und Ende der Besteuerung 13
Die unterschiedliche gewerbesteuerliche Behandlung der Unternehmen je nach Rechtsform (s. auch § 13 Rz. 36 ff.) schlägt sich auch in einem unterschiedlichen Beginn und Ende ihrer Steuerpflicht nieder75: Bei Einzelgewerbetreibenden beginnt die Steuerpflicht erst mit Erfüllung aller Voraussetzungen eines Gewerbebetriebs i.S.d. § 15 II EStG und endet bereits mit der völligen Aufgabe jeder werbenden Tätigkeit, d.h. mit Beginn der Liquidation (s. auch § 4 GewStDV, R 2.5, 2.6 GewStR)76. Dies gilt auch für Mitunternehmerschaften, allerdings mit der Besonderheit, dass die Aufnahme einer gewerblichen Tätigkeit eine Personengesellschaft in vollem Umfang gewerbesteuerpflichtig werden lässt (s. Rz. 7; § 13 Rz. 38); dies gilt ferner für juristische Personen des öffentlichen Rechts mit ihren gewerbesteuerpflichtigen Unternehmen.
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Bei Kapitalgesellschaften, Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften sowie Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit beginnt die Steuerpflicht mit Erlangung der Rechtsfähigkeit (Registereintragung bzw. aufsichtsbehördliche Erlaubnis) oder auf Grund einer bereits vorher aufgenommenen, auf (nicht notwendigerweise gewerbliche, s. § 8 II KStG) Einkünfteerzielung gerichteten Tätigkeit. Die Steuerpflicht endet mit dem Erlöschen der Rechtsfähigkeit, d.h. erst nach Abschluss der Liquidation (vgl. auch R 2.1 GewStR). Nach der Rspr. des BFH hat dies zur Folge, dass bei Kapitalgesellschaften auch Gewinne aus der Veräußerung von Betrieben und Teilbetrieben dem Gewerbeertrag zuzurechnen sind77. Gewerblich geprägte Personengesellschaften i.S.d. § 15 III Nr. 2 EStG sind hingegen wie Personengesellschaften zu behandeln78. Sonstige juristische Personen des privaten Rechts und nichtrechtsfähige Vereine werden mit ihren wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben den Einzelgewerbetreibenden und Mitunternehmerschaften entsprechend behandelt (s. R 2.1(5) GewStR). Bloß vorübergehende Unterbrechungen des Betriebs heben die Gewerbesteuerpflicht nicht auf (§ 2 IV GewStG)79. 3. Steuersubjekte
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Steuersubjekt (Steuerschuldner) ist der Unternehmer, für dessen Rechnung (d.h. zugleich: für dessen Risiko) ein Gewerbe tatsächlich betrieben wird (§ 5 I 1, 2 GewStG). Im Fall einer gewerblich tätigen Personengesellschaft ist grds. die Gesellschaft Steuerschuldner (§ 5 I 3 GewStG). Bei einer atypisch stillen Gesellschaft ist nur der Geschäftsinhaber Steuerschuldner80. Eine Personengesellschaft, die keine Mitunternehmerschaft, sondern einkommen- bzw. körperschaftsteuerlich als Betriebstätte eines der Gesellschafter anzusehen ist81, ist mangels eines eigenen gewerblichen Unternehmens i.S.d. § 2 I GewStG hingegen nicht Steuerschuldner82. Für die EWIV bleibt es dagegen nach § 5 I 4 GewStG bei der Steuerschuldnerschaft der Mitglieder (Gesellschafter). Zur Organschaft § 14 Rz. 20 ff.
75 S. auch H. Müller, Die persönliche und sachliche Gewerbesteuerpflicht unter besonderer Berücksichtigung von Beginn und Ende der Steuerpflicht, Diss. 1986; krit. dazu insb. auch Bier, Die Gewerbesteuer aus Sicht der Unternehmen, DStJG 35 (2012), 227 ff. 76 S. auch Woltmann, DB 1987, 2008. 77 BFH BStBl. II 1990, 699; 2002, 155. Soll die Ertragskraft des laufenden Gewerbebetriebs besteuert werden, ist dies systematisch nicht zu begründen. Vgl. auch die 20. Aufl., § 12 Rz. 14. 78 Vgl. BFH BStBl. II 1995, 900; 2004, 464. Vgl. auch H 2.5 GewStR. Dazu auch § 13 Rz. 78 ff. 79 Zur Betriebs- u. Teilbetriebsverpachtung im Gewerbesteuerrecht s. Selder in Glanegger/Güroff9, § 7 GewStG Rz. 80, 36 ff. 80 Vgl. BFH v. 8.12.2016 – IV R 8/14, BStBl. II 2017, 538; dazu auch § 13 Rz. 107. 81 Vgl. dazu BFH BStBl. II 1993, 574; 1997, 39; 1999, 401; BMF BStBl. I 1994, 282, Rz. 5; OFD Berlin DStR 2003, 1526. 82 So nunmehr auch BFH BStBl. II 2010, 754.
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Montag
4. Bemessungsgrundlage
Rz. 18 § 12
Die persönlichen Befreiungen von der Gewerbesteuer (§ 3 GewStG) sind an die Befreiungen nach § 5 KStG angelehnt83. 4. Bemessungsgrundlage Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer ist der Gewerbesteuermessbetrag (§ 14 GewStG), der sich 16 durch Anwendung eines Prozentsatzes, der sog. Steuermesszahl, auf den abgerundeten und um Freibeträge gekürzten Gewerbeertrag ergibt. Der Gewerbeertrag wird periodisch, d.h. für den Bemessungszeitraum, ermittelt und grenzt als sog. Besteuerungsgrundlage (§ 6 GewStG) den Umfang der Bemessungsgrundlage ab. 4.1 Bemessungszeitraum Nach dem Periodizitätsprinzip wird die Gewerbesteuer und damit der Gewerbeertrag als Besteue- 17 rungsgrundlage grds. für einen bestimmten Bemessungszeitraum ermittelt und zeitlich abgegrenzt. Ebenso wie das Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht mildert jedoch auch das Gewerbesteuerrecht die Härten des Periodizitätsprinzips durch die Möglichkeit eines periodenübergreifenden Verlustabzugs (vgl. Rz. 36). Nach § 10 GewStG ist zeitlich der Gewerbeertrag maßgebend, der in dem Erhebungszeitraum bezogen worden ist, für den der Steuermessbetrag nach § 14 GewStG festgesetzt wird. Bemessungs- oder Ermittlungszeitraum ist insoweit grds. das Kalenderjahr (§§ 10 I; 14 GewStG). Bei Unternehmen, die nach HGB zur Buchführung verpflichtet sind und ein abweichendes Wirtschaftsjahr haben, gilt der Gewerbeertrag als in dem Erhebungszeitraum bezogen, in dem das Wirtschaftsjahr endet (§ 10 II GewStG). 4.2 Gewerbeertrag (§ 7 GewStG) Die Ausgangsgröße für den Gewerbeertrag ist der nach den Vorschriften des Einkommensteuergeset- 18 zes/Körperschaftsteuergesetzes zu ermittelnde Gewinn aus dem Gewerbebetrieb, der bei der Ermittlung des Einkommens anzusetzen ist (§ 7 Satz 1 GewStG)84. Eine verfahrensrechtliche Bindung an die gesonderte und einheitliche Feststellung der zuzurechnenden Einkünfte besteht jedoch weder dem Grunde noch der Höhe nach85. Da als Besteuerungsgut prinzipiell die „objektivierte“ Ertragskraft eines laufenden Gewerbebetriebs erfasst werden soll86, wird diese Ausgangsgröße durch die besonderen gesetzlichen Hinzurechnungen (§ 8 GewStG) und Kürzungen (§ 9 GewStG) sowie durch allgemeine Modifikationen korrigiert.
83 Dazu § 11 Rz. 33. Zur Gewerbesteuerbefreiung von Kooperationen gemeinnütziger Körperschaften, DStR 2012, 116; zur Steuerpflicht von Lotterieveranstaltungen BFH BStBl. II 2011, 368; zum Umfang der Steuerbefreiung von medizinischen Einrichtungen nach § 3 Nr. 20 BFH v. 9.9.2015 – X R 2/13, BStBl. II 2016, 286; v. 25.1.2017 – I R 74/14, BStBl. II 2017, 650; zu Altenwohn- und -pflegeeinrichtungen BFH BStBl. II 2011, 892; zur Befreiung gewerblicher Einkünfte aus Vermögensanlagen bei öffentlich-rechtlichen Versorgungseinrichtungen BFH v. 9.2.2011 – I R 47/09, BStBl. II 2012, 601. 84 Der BFH stellt dabei selbst dann „pragmatisch“ auf die technische Anknüpfung an den Gewinn aus Gewerbebetrieb ab, wenn vom Gesetzeszweck und insb. vom Objektsteuercharakter der GewSt her Zweifel bestehen. Vgl. BFH BStBl. II 2007, 322. 85 Vgl. BFH BStBl. II 2004, 699 m.w.N. 86 Vgl. z.B. BFH BStBl. II 1988, 374; 1991, 358; 1992, 437.
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§ 12 Rz. 18
Gewerbesteuer
Nach § 7 Satz 2 GewStG gehört auch der Gewinn aus der Veräußerung oder Aufgabe – des Betriebs oder eines Teilbetriebs einer Mitunternehmerschaft, – des Anteils eines Gesellschafters, der als Unternehmer (Mitunternehmer) des Betriebs einer Mitunternehmerschaft anzusehen ist87, – des Anteils eines persönlich haftenden Gesellschafters einer Kommanditgesellschaft auf Aktien zum Gewerbeertrag, soweit er nicht auf eine natürliche Person als unmittelbar beteiligter Mitunternehmer entfällt. Begründet wird dies mit der angeblichen Notwendigkeit, Missbräuche verhindern zu müssen88. § 7 Satz 2 GewStG soll deshalb nach Auffassung des BFH verfassungsgemäß sein, obwohl die Vorschrift nicht nur Missbrauchsfälle erfasst89 und insoweit klar über das Ziel hinausschießt. Letztlich geht es aber offensichtlich ausschließlich um fiskalische Interessen, die die steuersystematisch gebotene Orientierung an der Ertragskraft des laufenden Gewerbebetriebs völlig ignorieren und konterkarieren. Nach § 7 Satz 3 GewStG gilt der Gewinn nach § 5a EStG bei Handelsschiffen im internationalen Verkehr als Gewerbeertrag nach § 7 Satz 1 GewStG, so dass Hinzurechnungen oder Kürzungen nach §§ 8, 9 GewStG nicht vorzunehmen sind90. Nach § 7 Satz 4 GewStG sind §§ 3 Nr. 40; 3c II EStG bei der Ermittlung des Gewerbeertrags einer Mitunternehmerschaft anzuwenden, soweit mittelbar oder unmittelbar natürliche Personen beteiligt sind; im Übrigen ist § 8b KStG anzuwenden. Damit wird gesetzlich klargestellt, dass die Zwischenschaltung einer Personengesellschaft der Anwendung der § 3 Nr. 40 EStG; § 8b KStG entgegen der früheren Verwaltungsauffassung nicht entgegensteht91. Nach § 7 Satz 7 bis 9 GewStG92 werden systemwidrig auch Hinzurechnungseinkünfte nach § 10 I AStG gewerbesteuerlich erfasst93. Mit der Neuregelung „korrigiert“ der Gesetzgeber nicht nur die Auffassung des BFH, der den Hinzurechnungsbetrag als Teil des Gewerbeertrags betrachtet, der auf eine nicht im Inland gelegene Betriebstätte entfällt94. Die Neuregelung geht vielmehr darüber hinaus und durchbricht das Territorialprinzip des § 2 I GewStG, wonach nur inländische Betriebstätteneinkünfte der Gewerbesteuer unterliegen sollen. Von einer Klarstellung kann insoweit entgegen der Gesetzes-
87 Vgl. dazu auch § 13 Rz. 45 ff. Zur Problematik der Steueranknüpfung beim mehrstöckigen Personengesellschaftskonzern vgl. Kleymann/Hidersmann, BB 2006, 2104. 88 Gesetzentw. der Bundesregierung, BR-Drucks. 638/01, Begr. zu Art. 4 Nr. 2. Vgl. dazu auch Behrens, BB 2002, 860; Bonertz, DStR 2002, 795. Durch ein technisches Versehen wurde § 7 Satz 2 GewStG durch das sog. Solidarpaktfortführungsgesetz (BGBl. I 2001, 3955) abgeschafft, bevor die Vorschrift in Kraft getreten ist, so dass zumindest in der Übergangsphase bis zum Inkrafttreten des erneuten „Reparaturgesetzes“ (Fünftes Gesetz zur Änderung des Steuerbeamten-Ausbildungsgesetzes, BGBl. I 2002, 2715) keine Rechtsgrundlage für die Erfassung entsprechender Veräußerungsvorgänge bestand. Vgl. dazu auch Bechler/Schröder, DB 2002, 2238; Schmidt/Hageböke, DStR 2003, 790. 89 BFH BStBl. II 2011, 511; v. 30.8.2012 – IV R 54/10, BFH/NV 2012, 2083; Verfassungsbeschwerde anhängig 1 BvR 1236/11 zu BFH v. 22.7.2010, BFH/NV 2010, 2193 mit mündlicher Verhandlung am 25.9.2017. 90 Vgl. dazu BFH v. 26.6.2014 – IV R 10/11, BStBl. II 2015, 300. 91 BMF BStBl. I 2003, 292, Rz. 57. Vgl. dazu auch Rogall, DB 2004, 2176; Welke, GmbHR 2004, 1146. Zu dem weiterhin und entgegen dem Postulat der Rechtsformneutralität bestehenden Besteuerungsunterschied zwischen Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften vgl. Prinz/Hick, GmbHR 2006, 24. 92 Vgl. das sog. BEPS I-Umsetzungsgesetz v. 23.12.2016, BGBl. I 2016, 3000. 93 Zur Neuregelung i.E. Adrian/Rautenstrauch/Sterner, DStR 2017, 1457; Kollruss, IStR 2017, 522, speziell zum sog. Lizenzmodell Keilhoff/Sejdija, FR 2017, 653; übergreifend dazu auch Scheffler, IStR 2017, 63. 94 Vgl. BFH v. 11.3.2015 – I R 10/14, BStBl. II 2015, 1049, das die Finanzverwaltung nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus angewendet hat (BMF v. 14.12.2015, BStBl. I 2015, 1090). Dazu auch Adrian/Fey, StuB 2015, 470; Becker/Loose, Ubg 2015, 399; Hielscher, BB 2015, 1317; Kollruss, FR 2015, 693; Kramer, IStR 2015, 669; Kröger/Philipp, DB 2015, 1432.
800
Montag
4. Bemessungsgrundlage
Rz. 20 § 12
begründung95 keine Rede sein, was insb. auch hinsichtlich der zeitlichen Anwendbarkeit verfassungsrechtliche Fragen aufwirft.96 4.2.1 Allgemeine Modifikationen Allgemeine Modifikationen des nach einkommen- oder körperschaftsteuerlichen Vorschriften ermit- 19 telten Gewinns aus Gewerbebetrieb ergeben sich über die Regelungen in Einzelgesetzen hinaus97 vor allem aus dem Bemühen von Rspr. und Finanzverwaltung, gewerbesteuerlichen „Besonderheiten“ und „Prinzipien“ Rechnung zu tragen, ohne allerdings diese Besonderheiten und Prinzipien zuvor hinreichend und abschließend zu klären. Daher ergibt sich eine Kasuistik, die jedes systematische Konzept vermissen lässt98 und im Hinblick auf das Nettoprinzip verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen ist99. Während bei der Ermittlung des Gewerbeertrags vorweggenommene Betriebsausgaben z.B. hinzuzurechnen sind100, sind nicht zu erfassen insb. – Veräußerungs- oder Aufgabegewinne i.S.d. § 16 EStG101 bei denjenigen Stpfl., deren Steuerpflicht eine gewerbliche Tätigkeit voraussetzt. Dies gilt daher nicht für Kapitalgesellschaften, Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften sowie Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (s. Rz. 9, 14), – der Spitzenausgleich bei Realteilung einer Personengesellschaft (BFH BStBl. II 1994, 809), – Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an einer Personengesellschaft (H 7.1 GewStR). Soweit Teile eines Mitunternehmeranteils mit Gewinn veräußert werden oder bei der Anteilsveräußerung auf Seiten des Veräußerers und auf Seiten des Erwerbers dieselben Personen Mitunternehmer sind, sind ggf. laufende Gewinne anzunehmen, die nach Auffassung des BFH der Gewerbesteuer unterliegen102, – Gewinne aus der Auflösung von Rücklagen nach § 7g EStG, die vor der Betriebseröffnung gebildet wurden103. Nicht zu berücksichtigen sind auch die Besteuerungsgrundlagen, die erst von der Summe der Einkünf- 20 te (s. § 24b EStG a.F., Ausbildungsplatz-Abzugsbetrag), dem Gesamtbetrag der Einkünfte (s. §§ 10 I Nr. 5; 10d EStG) oder dem Einkommen (s. §§ 24; 25 KStG) abzuziehen sind. Nicht berücksichtigt werden ferner bei allen Stpfl. diejenigen einkommensteuerlichen Vorschriften, die bestimmte Verluste aus Gewerbebetrieb vom allgemeinen Verlustausgleich und Verlustabzug ausschließen (§§ 15 IV; 15a EStG; R 7.1 GewStR).
95 BT-Drucks. 18/9536, 58. 96 § 7 Satz 8 GewStG ist gem. § 36 II a GewStG erstmals auf den 1.1.2017 anzuwenden, im Übrigen soll offensichtlich eine Rückwirkung erfolgen. Vgl. dazu auch OFD Nordrhein-Westfalen v. 26.4.2017, DB 2017, 1118; Adrian/Rautenstrauch/Sterner, DStR 2017, 1457 (1460). 97 Vgl. z.B. §§ 7–14; 21 AStG; §§ 18; 19 UmwStG u. die Aufzählung in Abschn. R/H 7.1(1) GewStR. 98 Vgl. i.E. R 7.1 ff. GewStR. 99 Jackspann, DStJG 23 (2000), 9; Hey, BB 2007, 1303 (1307); Bier, Die Gewerbesteuer aus Sicht der Wirtschaft, DStJG 35 (2012), 232 ff. 100 BFH BStBl. II 1978, 23; krit. dazu z.B. Hidien, StBp. 2008, 125. 101 Vgl. dazu auch § 13 Rz. 45 ff. 102 Vgl. zu § 16 II, III EStG BFH BStBl. II 2004, 754; v. 15.4.2010 – IV R 5/08, BStBl. II 2010, 912; v. 18.12.2014 – IV R 59/11, BFH/NV 2015, 520; v. 3.12.2015 – IV R 4/13, BStBl. II 2016, 544. Für eine teleologische Reduktion des § 7 Satz 1 GewStG besteht danach kein Grund. Zu den Auswirkungen auf die Gewerbesteueranrechnung nach § 35 EStG: BFH v. 14.1.2016 – IV R 5/14, BStBl. II 2016, 875; v. 14.1.2016 – IV R 48/12, BFH/NV 2016, 1024; dazu auch Schrade, FR 2017, 862. 103 BStBl. I 2003, 331.
Montag 801
§ 12 Rz. 21
Gewerbesteuer
In fortschreitender Aushöhlung ihres Charakters als Objekt- und Realsteuer ist die Gewerbesteuer, die für Erhebungszeiträume festgesetzt wird, die nach dem 31.12.2007 enden, gem. § 4 Vb EStG keine Betriebsausgabe mehr104. Das Gleiche gilt für die auf die Gewerbesteuer entfallenden Nebenleistungen wie z.B. Zuschläge und Zinsen. Die Nichtabzugsfähigkeit gilt wegen § 7 GewStG auch für die Ermittlung des Gewerbeertrages.
Bei Personengesellschaften legt die h.M. – obwohl die Personengesellschaft als solche besteuert wird (§ 5 I 3 GewStG)105 – nicht nur den Gewinn der Gesellschaft (§ 7 GewStG: „aus dem Gewerbebetrieb“) zugrunde, sondern sie bezieht auch die Sonderbetriebseinnahmen und -ausgaben der Gesellschafter sowie die Sondervergütungen an die Gesellschafter mit ein106; sie erfasst damit die Summe der gewerblichen Einkünfte der Gesellschafter i.S.d. Einkommensteuerrechts, die sich aus der Steuerbilanz der Gesellschaft sowie etwaigen Ergänzungsbilanzen107 und Sonderbilanzen für einzelne Mitunternehmer ergeben108. 4.2.2 Gesetzliche Sonderregelungen bei der Ermittlung des Gewerbeertrags (§§ 7a, 7b GewStG) 21
Als Reaktion auf Entscheidungen des BFH hat der Gesetzgeber mit §§ 7a und 7b GewStG Sonderregelungen für die Ermittlung des Gewerbeertrags eingeführt. § 7a GewStG zielt darauf ab, die sog. „Schachtelstrafe“ nach § 8b V KStG entgegen der BFH-Rechtsprechung109 auch dann gewerbesteuerlich wirksam werden zu lassen, wenn die entsprechenden Erträge einer Organgesellschaft zufließen. Zu diesem Zweck setzt § 7a GewStG in zwei Schritten an: – Nach § 7a I GewStG sind bei einer Organgesellschaft im ersten Schritt die §§ 9 Nr. 2a, 7 und 8 bzw. § 8 Nr. 1 GewStG für die korrespondierenden Aufwendungen nicht anzuwenden. – Nach § 7a II GewStG sind dann im zweiten Schritt für Gewinne nach § 9 Nr. 2a, 7 und 8 GewStG bzw. die korrespondierenden Aufwendungen bei der Ermittlung des Gewerbeertrags der Organgesellschaft § 15 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 ff. KStG sowie §§ 8 Nr. 1 und 9 Nr. 2a, 7 und 8 GewStG entsprechend anzuwenden110. § 7b GewStG zielt darauf ab, die gewerbesteuerliche Behandlung von Sanierungserträgen gesetzlich111 klarzustellen, nachdem der BFH112 den sog. Sanierungserlass113 als Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung verworfen hat: – Zu diesem Zweck stellt § 7b I GewStG klar, dass die §§ 3a und 3c bei der Ermittlung des Gewerbeertrags entsprechend anzuwenden sind.
104 Geändert durch Art. 1 des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008, BGBl. I 2007, 1912. Vgl. dazu auch oben § 12 Rz. 1. 105 Dazu Rz. 6 ff. 106 Vgl. H 7.1(3) GewStR. 107 BFH BStBl. II 1986, 350. 108 Ausf. § 10 Rz. 120 ff. 109 BFH v. 17.12.2014 – I R 39/14, BStBl. II 2015, 1052. Dazu auch Suchanek/Rüsch, GmbHR 2015, 493; Glanegger/Güroff9, § 9 Nr. 2a GewStG Rz. 8b. 110 Vgl. zur Anwendung i.E. Glanegger/Güroff9, § 7a GewStG Rz. 1 ff.; außerdem auch Adrian/Fey, StuB 2016, 472; Benz/Böhmer, DB 2016, 1531; Hesse/Frieburg, GmbH-StB 2016, 271. 111 Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen v. 27.6.2017, BGBl. I 2017, 2074. 112 Beschl. GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393. 113 BMF v. 27.3.2003, BStBl. I 2003, 240; v. 22.12.2009, BStBl. I 2010, 18.
802
Montag
4. Bemessungsgrundlage
Rz. 23 § 12
– § 7b II GewStG normiert die weitgehend korrespondierenden Minderungen lfd. Gewerbeverluste, vororganschaftlicher Fehlbeträge oder Verlustvorträge durch den geminderten Sanierungsertrag, der nach § 3a II 1 EStG verbleibt, um Doppelbegünstigungen zu vermeiden114. § 7b II GewStG normiert schließlich die entsprechende Anwendung des § 15 Satz 1 Nr. 1a KStG im Falle der Organschaft, so dass wohl insb. ein geänderter Gewerbeertrag der Organgesellschaft beim Organträger zu kürzen ist115. 4.2.3 Hinzurechnungen (§ 8 GewStG) Komplizierte, die Rspr. immer wieder beschäftigende Hinzurechnungen116 und Kürzungen sollen den 22 Gewinn objektivieren, die „objektive“ Ertragskraft – abstrahiert vom jeweiligen Rechtsträger oder Steuersubjekt – erfassen (s. § 7 GewStG; dazu Begr. RStBl. 1937, 693 [695 f.]). Krit. ist zu fragen: Warum stellt sich der Gesetzgeber einen Betrieb vor, den es in Wirklichkeit nicht gibt (einen Betrieb, der nur mit eigenen Wirtschaftsgütern, ohne Fremdkapital arbeitet)? Was ist das für eine Objektivierung, die an der Wirklichkeit des individuellen Betriebs vorbeisieht? Das Schlagwort „Objektsteuercharakter“ vermag die Sachgerechtigkeit der Objektsteuerregel nicht zu ersetzen.
Hinsichtlich der Vereinbarkeit mit EU-Recht hat der EuGH in Bezug auf die Hinzurechnung von Zinsen entschieden, dass kein Verstoß gegen die Zins- und Lizenzrichtlinie vorliegt117. Nach Auffassung des BFH liegt insb. auch kein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit vor118. Hinzuzurechnen sind insb.:
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a) Ein Viertel der Summe bestimmter Entgelte für die Nutzung des dem Betrieb überlassenen Geld- und Sachkapitals, soweit diese Summe den Freibetrag von 100 000 Euro übersteigt (§ 8 Nr. 1 GewStG)119. Die Hinzurechnung erfolgt unabhängig von der Dauer der Überlassung und unabhängig von der steuerlichen Behandlung beim Gläubiger der jeweiligen Entgelte. Durch diesen Wegfall des Korrespondenzprinzips kommt es insb. bei mehrstufigen Beteiligungsverhältnissen zu einer gewerbesteuerlichen Mehrfachbelastung120. Diese Mehrfachbelastung, die durch die Nichtabzugsfähigkeit der Gewerbesteuer als Betriebsausgabe noch verschärft wird121, ist zwar verfassungsrechtlich pro-
114 Vgl. BR-Drucks. 59/17 (B), 14 f.; BT-Drucks. 18/12128, 31. Dazu insb. Glanegger/Güroff9, Anlage, S. 1235, Vorbemerkung, und i.E. Rz. 2 ff. 115 Vgl. Glanegger/Güroff9, Anlage, S. 1241, Rz. 22 ff. 116 Vgl. zu Details insb. Zitzelsberger, Grundlagen der Gewerbesteuer, 241 ff.; Glanegger/Güroff9, § 8 GewStG; Dorenkamp, Die Mär von der Gewerbesteuerverstetigung durch Hinzurechnungen, FS J. Lang, 2010, 755 ff. 117 Vgl. BFH BStBl. II 2012, 507; EuGH-Urt. Scheuten Solar Technology, BStBl. II 2012, 528, als Reaktion auf den Vorlagebeschl. des BFH v. 27.5.2009, RIW 2010, 89. Dazu insb. auch Göbel/Jacobs, IStR 2009, 87 (88); Göbel/Jacobs, IStR 2009, 349; Hahn, IStR 2009, 346; Obser, IStR 2009, 780 (783); Rehm/Nagler, GmbHR 2009, 1223; Hölscher, RIW 2010, 51; Jaschke, RIW 2011, 766; Rehm/Nagler, GmbHR 2011, 937; Thömmes, IWB 2011, 419. 118 BFH v. 7.12.2011 – I R 30/08, BStBl. II 2012, 507. 119 Vgl. dazu auch Gleichlautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder v. 2.7.2012, BStBl. I 2012, 654; dazu insb. Boller/Franke, BB 2012, 2920; Costa/Bennert, StuB 2012, 702; Ritzer, DStR 2013, 558. Zur Behandlung einer negativen Summe der hinzuzurechnenden Finanzierungsanteile vgl. BFH v. 28.1.2016 – I R 15/15, BStBl. II 2017, 62. 120 Vgl. grds. dazu Derlien/Wittkowski, DB 2008, 835; Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler e.V., Existenzgefährdende Hinzurechnungen bei der Gewerbesteuer entschärfen! Sonderinformation 55, 2008; zu den Auswirkungen auf die Betriebsaufspaltung vgl. § 13 Rz. 89 ff. Soweit es innerhalb des Organkreises durch die Hinzurechnung zu einer doppelten steuerlichen Belastung käme, hat diese zu unterbleiben, vgl. dazu R/H 7.1(5) GewStR. Entsprechend auch Rödder, DStR 2007, Beihefter zu Heft 40, 12. Vgl. dazu auch Richter, FR 2007, 1042. 121 Dazu Rz. 1 Fn. 14.
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§ 12 Rz. 24
Gewerbesteuer
blematisch122. Das BVerfG hat den entsprechenden Vorlagebeschluss jedoch verworfen123, ohne in der Sache zu entscheiden. Hinzugerechnet werden 25 % der Summe aus folgenden Beträgen, soweit sie bei der Ermittlung des Gewinns abgesetzt worden sind: 24 aa) Entgelte für Schulden (§ 8 Nr. 1a GewStG). Erfasst werden alle Fremdkapitalzinsen und sonstige
Entgelte. Die Hinzurechnung, die bei grenzüberschreitenden Darlehensverhältnissen zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft nach Auffassung des BFH keinen Verstoß gegen die unionsrechtliche Niederlassungsfreiheit darstellt124, setzt voraus, dass die entsprechenden Betriebsausgaben zuvor bei der Ermittlung des Gewinns abzugsfähig waren (§ 8 Satz 1 GewStG). Insofern kommt eine Hinzurechnung von Zinsen nur in Betracht, wenn ihre Abzugsfähigkeit nicht durch die Zinsschranke gem. § 4h EStG; § 8a KStG eingeschränkt ist. Die Vorschrift enthält ferner Fiktionen für die Annahme von Schuldentgelten bei Gestaltungen, denen als Hauptzweck grds. kein, für den Tatbestand der Hinzurechnung aber eigentlich erforderliches Finanzierungsgeschäft zugrunde liegt. So gelten nach § 8 Nr. 1a Satz 2 1. Alt. GewStG Abschläge aus der vorzeitigen Erfüllung von Forderungen aus Lieferungen und Leistungen als Entgelt, obwohl derartige Abschläge nur der zügigen Abwicklung des Zahlungsverkehrs und u.U. der Kundenbindung dienen und keine Form der Finanzierung darstellen. Erfasst werden aber nur Skonti und wirtschaftlich vergleichbare Vorteile, die nicht dem gewöhnlichen Geschäftsverkehr entsprechen125. § 8 Nr. 1a Satz 2 2. Alt. GewStG schließlich rechnet die Diskontbeträge bei der Veräußerung von Wechsel- und anderen Geldforderungen zu den Schuldentgelten, wodurch hauptsächlich Abschläge bei Factoring und Forfaitierung betroffen sind126. Nach § 8 Nr. 1a Satz 3 GewStG gilt auch der Abschlag auf Forderungen aus schwebenden Vertragsverhältnissen als bei der Ermittlung des Gewinns abgesetzt und ist damit bei der Ermittlung des Gewerbeertrages hinzuzurechnen127. Negative Einlagezinsen sind hingegen nicht hinzuzurechnen128. Nach Auffassung der Finanzverwaltung soll Zinsaufwand auch dann hinzurechnungspflichtig sein, wenn ein sog. Durchlaufkredit vorliegt129. Bei Durchlaufkrediten sind Zinsaufwand und Zinsertrag sachlich indessen so eng verknüpft, dass die objektive Ertragskraft des Betriebs nicht gestärkt wird und eine teleologische Reduktion geboten ist130.
122 Vgl. den Vorlagebeschluss des FG Hamburg v. 29.2.2012, DStRE 2012, 478, Az. des BVerfG 1 BvL 8/12; dazu Grünwald/Fritz, DStR 2012, 2046; Hamsch/Karrenbock, Ubg 2012, 624; Gosch, BFH/PR 2013, 56; Möbus/Krüger, BB 2013, 168; Ritzer, DStR 2013, 558; Kohlhaas, DStR 2014, 297; vgl. allerdings auch BFH-Beschl. v. 16.10.2012, BStBl. II 2013, 30; BFH v. 4.6.2014 – I R 70/12, DB 2014, 2199; Petrak/Karrenbock, DStR 2012, 2046. 123 Beschl. v. 15.2.2016 – 1 BvL 8/12, BStBl. II 2016, 557. Vgl. auch BFH v. 10.9.2015 – IV R 8/13, BStBl. II 2015, 1046. Zur Problematik auch Kohlhaas, DStR 2015, 2805; Petrak/Karrenbrock, DStR 2016, 1790. 124 BFH v. 17.9.2014 – I R 30/13, BStBl. II 2017, 726. 125 Vgl. dazu insb. auch Gleichlautende Erlasse v. 2.7.2012, BStBl. I 2012, 654, Rz. 16; dazu insb. auch Ritzer, DStR 2013, 558; Köhler, DB 2015, 2229. 126 Vgl. dazu insb. Gleichlautende Ländererlasse v. 2.7.2012, BStBl. I 2012, 654; Ritzer, DStR 2013, 558; krit. zur Verfassungsmäßigkeit Osten, DStR 2016, 1145. 127 Zur Forfaitierung insb. auch Gleichlautende Ländererlasse v. 2.7.2012, BStBl. I 2012, 654, Rz. 19 ff. Problematisch ist insb. die Behandlung von Preisanpassungsklauseln in Rz. 20. Dazu auch Neumann, Ubg 2008, 585 (589); Ritzer, DStR 2008, 1613 (1617). Zur Hinzurechnung beim Forderungsverkauf im Asset-Backed-Securities-Modell BFH v. 26.8.2010, BFH/NV 2011, 143; DStR 2010, 2455. 128 Vgl. Gleichlautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder v. 17.11.2015, BStBl. I 2015, 896. Zu anderen Bankentgelten Haase/Geils, DStR 2016, 273. 129 Vgl. Gleichlautende Ländererlasse v. 2.7.2012, BStBl. I 2012, 654, Rz. 11. 130 Vgl. dazu insb. IDW-Stellungnahme, IDW-Fachnachrichten 2008, 144; Neumann, Ubg 2008, 585; Ritzer, DStR 2008, 1613 (1615). Zu den Auswirkungen auf das Cash-Pooling im Konzern insb. Rosenberg in Eilers/Rödding/Schmalenbach, Unternehmensfinanzierung, 2008, 637 ff.
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4. Bemessungsgrundlage
Rz. 27 § 12
Einschränkungen der Hinzurechnung ergeben sich durch das sog. Bankenprivileg des § 19 GewStDV für Kreditinstitute i.S.d. § 1 KWG131, das auch für Konzernfinanzierungsgesellschaften anwendbar ist132, und die Nichteinbeziehung von Abzinsungen gem. § 6 I Nr. 3 EStG133. Motiv: Es soll nicht darauf ankommen, ob der Ertrag mit Eigen- oder mit Fremdkapital erzielt wurde. Das Fremdkapital wird daher wie Eigenkapital behandelt134.
bb) Renten und dauernde Lasten (§ 8 Nr. 1b GewStG). Es werden alle Renten und dauernden Lasten 25 erfasst, auf Grund der Methodik der Summenhinzurechnung des § 8 Nr. 1 GewStG im Ergebnis aber nur zu 25 % hinzugerechnet. Als Ausgleich zur vollen Erfassung aller Renten und dauernden Lasten sieht die Ausnahme des § 8 Nr. 1b Satz 2 GewStG vor, dass Pensionszahlungen auf Grund einer unmittelbar vom Arbeitgeber erteilten Versorgungszusage nicht als dauernde Lasten gelten sollen135. cc) Gewinnanteile eines (typischen) stillen Gesellschafters (§ 8 Nr. 1c GewStG)136
26
Auch diese Hinzurechnung dient dazu, den mit Fremdkapital arbeitenden Betrieb dem Betrieb gleichzustellen, der mit Eigenkapital finanziert wird137. Dementsprechend erhöhen Verlustanteile eines stillen Gesellschafters einen Verlust i.S.d. § 7 GewStG138. § 8 Nr. 1c GewStG ist lex specialis gegenüber § 8 Nr. 1a GewStG, nachdem die letztgenannte Vorschrift auch gewinnabhängige Vergütungen für Fremdkapital erfasst. dd) Miet- und Pachtzinsen (einschließlich Leasingraten) (§ 8 Nr. 1d u. e GewStG)139. Abhängig 27 vom Gegenstand der Sachüberlassung, sind Miet- und Pachtzinsen, einschließlich Leasingraten in unterschiedlich großem Umfang hinzuzurechnen. Grds. sind dabei nur Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens zu betrachten, die im Eigentum eines anderen stehen.
131 Dazu insb. Glanegger/Güroff9, § 8 GewStG Nr. 1a Rz. 93 ff. Zur Erweiterung des sog. Bankenprivilegs auf Finanzierungsleasing- und Factoringgesellschaften Beckert/Schilling, BB 2009, 360; Heinz/SchäferElmayer, BB 2009, 365. 132 BFH v. 6.12.2016 – I R 79/15, BFH/NV 2017, 851, DStR 2017, 774. 133 Vgl. Entwurf eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008, BT-Drucks. 16/4841, Begr. zu Art. 3, Nr. 1, sowie BMF BStBl. I 2005, 699, Rz. 39. 134 Dazu RStBl. 1937, 693 (696) – BVerfGE 26, 1: Hinzurechnung nicht verfassungswidrig (sachgerecht und hinreichend bestimmt). 135 Im Hinblick auf den Zweck, die betriebliche Altersversorgung zu fördern (BT-Drucks. 16/4841. 79 f.), werden von der Finanzverwaltung über den Wortlaut hinaus zu Recht auch andere Versorgungsformen nicht erfasst. Vgl. Gleichlautende Ländererlasse v. 2.7.2012, BStBl. I 2012, 654, Rz. 27. Zur Behandlung von Freistellungsverpflichtungen für Pensionen beim Betriebserwerb BFH v. 29.1.2015 – I K 1/14, BFH/NV 2015, 996; dazu auch Griemla, FR 2017, 14. 136 Zur Abgrenzung gegenüber dem partiarischen Darlehen BFH BStBl. II 1984, 373; 1984, 623; 2006, 334. Vgl. auch § 13 Rz. 107 ff. 137 Zur Kritik an der völligen Hinzurechnung der Gewinnanteile gegenüber der bis zum Erhebungszeitraum 2007 hälftigen Hinzurechnung von Dauerschuldzinsen Schmidt, DB 1984, 424; Entsprechendes gilt für die nur 25 %-Hinzurechnung der übrigen gewinnabhängigen Vergütungen ab 2008. 138 Dazu R/H 8.1(3) GewStR. 139 Die Hinzurechnung verstößt nach Auffassung des BFH weder gegen verfassungsrechtliche Anforderungen noch gegen gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbote (vgl. dazu insb. BFH v. 4.6.2014 – I R 70/12, BStBl. II 2015, 289; v. 8.12.2016 – IV R 55/10, BStBl. II 2017, 722; zur Zwischenvermietung BFH/NV 2014, 1853; v. 4.6.2014 – I R 70/12, BFH/NV 2014, 1850. Dazu i.E. Roser, ifst-Schrift Nr. 497 (2014), Gewerbesteuerliche Hinzurechnungen von Nutzungsentgelten nach § 8 Nr. 1d bis f GewStG, Konzeptionelle Grundprobleme und Lösungsüberlegungen. Die Hinzurechnung von Leasingraten muss aber unterbleiben, wenn der Leasing-Geber in einem EU- bzw. EWR-Staat ansässig ist, mit dem ein DBA besteht, BMF v. 18.10.2006, BStBl. I 2006, 611.
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§ 12 Rz. 28
Gewerbesteuer
Motiv: Es soll eine Gleichbehandlung mit Betrieben erreicht werden, die mit eigenen (nicht gemieteten oder gepachteten) Wirtschaftsgütern arbeiten (s. auch Begr. RStBl. 1937, 693 [696]). Da nicht der (gedachte) Rohertrag (den die Anlagegüter abwerfen), sondern der Reinertrag hinzugerechnet werden soll, wird pauschal ein bestimmter Finanzierungsanteil der Miet- und Pachtzinsen angesetzt. Handelt es sich um bewegliche Wirtschaftsgüter, erfolgt eine Erfassung in der hinzuzurechnenden Summe des § 8 Nr. 1 GewStG, zu 20 % (§ 8 Nr. 1d GewStG), bei unbeweglichen Wirtschaftsgütern dagegen zu 50 % (§ 8 Nr. 1e GewStG). Diese pauschale Festlegung des Finanzierungsanteils soll sich aus dem berücksichtigungsfähigen Werteverzehr für das überlassene Wirtschaftsgut ergeben, der bei beweglichen Wirtschaftsgütern wesentlich geringer ist140. Zwar ist in dieser Pauschalierung eine Angleichung der gewerbesteuerlichen Auswirkungen des Leasings an den Kreditkauf zu erkennen, was vor dem Hintergrund des Objektsteuercharakters der Gewerbesteuer positiv zu bemerken ist141. Die Pauschalierung entzieht sich aber jeder wirtschaftlichen Realität, nach der der Finanzierungsanteil sachrichtig auf Basis des tatsächlichen Marktzinses festzulegen wäre. Liegt kein reiner Miet- oder Pachtvertrag, sondern ein sog. gemischter Vertrag vor, ist die Hinzurechnung nur möglich, wenn die Vermietung oder Verpachtung eine von den übrigen Leistungen trennbare Hauptleistung ist142. Im Ergebnis ist primär darauf abzustellen, ob die Wirtschaftsgüter im fiktiven Erwerbsfall nach dem konkreten Geschäftsgegenstand des Unternehmens und den individuellen betrieblichen Verhältnissen fiktives Anlagevermögen wären143. Bei einer Zwischenvermietung144 oder einer kurzfristigen Anmietung145 stellt der BFH die Hinzurechnung nicht in Frage und hat auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken. 28
ee) Aufwendungen für die zeitlich befristete Überlassung von Rechten (§ 8 Nr. 1f GewStG)146. Hinzugerechnet wird auch der Finanzierungsanteil der Aufwendungen für die zeitlich befristete Überlassung von Rechten, welche insb. Konzessionen und Lizenzen umfassen, mit Ausnahme der sog. Vertriebslizenzen, die ausschließlich dazu berechtigen, daraus abgeleitete Rechte Dritten zu überlassen. Ebenfalls ausgeschlossen von der Hinzurechnung sind Aufwendungen, die nach § 25 des Künstlersozialversicherungsgesetzes Bemessungsgrundlage für die Künstlersozialabgabe sind. Die Ausnahme von Vertriebslizenzen ergibt sich aus der Tatsache, dass es sich bei der Weiterveräußerung eines Rechts ohne dessen Verwertung durch eigene Fruchtziehung i.S. einer gewerblichen Tätigkeit um reine Handelsvertreteraktivitäten handelt und eine Hinzurechnung insoweit nicht gerechtfertigt ist. Hinzuzurechnen sind 25 % aller Aufwendungen für die zeitlich befristete Überlassung von Rechten, womit trotz der anerkanntermaßen regelmäßig unterschiedlichen Laufzeit der einzelnen Rechtsüberlassungen der Finanzierungsanteil pauschaliert wird147. Die Unterstellung eines pauschalen Finanzierungsanteils bedeutet vor allem für forschende und innovative Unternehmen innerhalb eines Konzerns erhöhte Belastungen. Die Hinzurechnung der Aufwendungen läuft zudem in vielen Fällen auf eine Ausdehnung der steuerlichen Belastung über das Steuersubjekt des Betriebes hinaus, wenn z.B. Unternehmen er140 Vgl. Entwurf eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008, BT-Drucks. 16/4841, Begr. zu Art. 3, Nr. 1. 141 Zum Verlust des Leasingvorteils und Kritik an der Pauschalierung insb. Scheffler, BB 2007, 874. S. auch Fehling, NWB, Fach 5, 1617. 142 Für die Hinzurechnung ist nur das Entgelt zu berücksichtigen, das auf die Vermietung oder Verpachtung entfällt, vgl. H 8.1(4) GewStR. Vgl. auch Kohlhaas, FR 2009, 381. 143 Vgl. BFH v. 4.6.2014 – I R 70/12, BStBl. II 2015, 289; v. 25.10.2016 – I R 57/15, BFHE 255, 280. Vgl. auch Cech/Püschel, Ubg 2015, 645; Schneider/Redeker, DB 2017, 1049; zur Einhaltung des Gleichheitssatzes zu Recht krit. Hübner, FR 2015, 341. 144 BFH v. 8.12.2016 – IV R 55/10, BStBl. II 2017, 722. 145 BFH v. 8.12.2016 – IV R 24/11, BFH/NV 2017, 985. 146 Vgl. dazu i.E. auch Gleichlautende Ländererlasse v. 2.7.2012, BStBl. I 2012, 654, Rz. 40 ff.; vgl. auch Mohr, DStR 2013, 1580; Glanegger/Güroff9, § 8 Nr. 1f GewStG Rz. 1 ff. 147 Vgl. Entwurf eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008, BT-Drucks. 16/4841, Begr. zu Art. 3, Nr. 1. Vgl. zu Lizenzzahlungen auch Clemens/Laurent, DStR 2008, 440; zu Know-how-Entgelten Hicken, DB 2008, 257.
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4. Bemessungsgrundlage
Rz. 31 § 12
höhte Aufwendungen durch Konzessionsabgaben für die Nutzung von öffentlichen Flächen an die Endkunden weitergeben müssen. Eine Überlassung von Rechten liegt nicht vor, wenn eine endgültige Rechtüberlassung i.S.d. Einräumung oder Übertragung des Rechts vereinbart ist. Der wirtschaftliche Hintergrund der Hinzurechnungen ist teilweise dem Grunde nach (insb. bei der Überlassung von Rechten), besonders aber der Höhe der pauschalierten Zinsanteile nach wirtschaftlich nicht nachvollziehbar und offenbar primär vom Gegenfinanzierungsgedanken getragen148. Die Hinzurechnungen führen dazu, dass der Gewerbeertrag die Bemessungsgrundlage von Einkommenoder Körperschaftsteuer häufig übersteigen wird und verstärkt149 ertragsunabhängige Elemente besteuert werden. Nach Einführung des Abzugsverbots für die Gewerbesteuer in § 4 Vb EStG ist dies systematisch kaum noch zu rechtfertigen. b) Gewinnanteile und Geschäftsführungsvergütungen persönlich haftender Gesellschafter einer 29 KGaA (§ 8 Nr. 4 GewStG; R 8.2 GewStR). § 8 Nr. 4 GewStG ist eine Korrekturvorschrift zu § 9 Nr. 1 KStG. Durch die Hinzurechnung der Geschäftsführungsvergütung wird insoweit eine Gleichbehandlung mit den Mitunternehmerschaften bewirkt, obwohl die KGaA eine Kapitalgesellschaft ist (s. § 2 II GewStG). Ist der persönlich haftende Gesellschafter seinerseits gewerbesteuerpflichtig, so soll eine Doppelbelastung durch die Kürzung nach § 9 Nr. 2b GewStG vermieden werden150. Soweit bei ihm Betriebsausgaben im Zusammenhang mit der KGaA-Geschäftsführung entstehen, kann es auch zu einer Doppelentlastung kommen, weil diese Aufwendungen bei der KGaA nicht nach § 8 Nr. 4 GewStG hinzugerechnet werden151. c) Gewinnanteile (Dividenden), Bezüge und Leistungen aus Anteilen an einer Körperschaft, Per- 30 sonenvereinigung oder Vermögensmasse, die nach § 3 Nr. 40 EStG; § 8b I KStG freigestellt sind und als sog. Streubesitzdividenden nicht die Voraussetzungen des § 9 Nr. 2a oder Nr. 7 GewStG erfüllen (§ 8 Nr. 5 GewStG)152. Bei Inlandsdividenden erfolgt die Hinzurechnung insb. dann, wenn zu Beginn des Erhebungszeitraums keine Beteiligungsquote von 15 % vorliegt. Bei Auslandsdividenden geht das DBA-Schachtelprivileg den Hinzurechnungsvorschriften vor153. Darüber hinaus kann sich systemwidrig eine Hinzurechnung auch dann ergeben, wenn keine aktiven Einkünfte vorliegen154. Im Gleichlauf mit den Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommen- und Körperschaftsteuergesetzes bleiben Betriebsausgaben, soweit sie nach den Vorschriften der § 3c EStG; § 8b V KStG in Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen oder nach § 8b X KStG in Zusammenhang mit einer Wertpapierleihe steuerlich nicht abzugsfähig sind, auch bei der Ermittlung des Gewerbeertrages unberücksichtigt155. d) Die Anteile am Verlust einer in- oder ausländischen Mitunternehmerschaft (§ 8 Nr. 8 GewStG). § 8 Nr. 8 GewStG betrifft den Fall, dass zum Betriebsvermögen die Beteiligung an einer Personengesellschaft gehört. Dieser Verlust entstammt einem fremden Betrieb, der selbst der Gewerbesteuer unterliegt. Er soll, ebenso wie der Gewinn (s. § 9 Nr. 2 GewStG), eliminiert werden.
148 149 150 151 152
Vgl. dazu auch Rödder, DStR 2007, Beihefter zu Heft 40, 11. Vgl. auch Ott, StuB 2007, 563 (566). Vgl. dazu allerdings Schminke/Heuel, FR 2004, 861. Vgl. BFH BStBl. II 1991, 253, m. Anm. Gosch, FR 1991, 345. Grds. dazu Steinmüller, DStR 2009, 1564; Ernst, Ubg 2010, 494; Heurung/Engel/Seidel, DB 2010, 1551; Beckmann/Schranz, DB 2011, 954. 153 Vgl. BFH BStBl. II 2011, 129; dazu insb. Schönfeld, IStR 2010, 658. Zur Unionsrechtwidrigkeit der rückwirkenden Hinzurechnung für den Zeitraum 2001 BFH v. 6.3.2013 – I R 14/07, BFH/NV 2013, 1325. 154 Vgl. zu den Aktivitätserfordernissen BFH BStBl. II 2010, 1028. Dazu auch Rödder/Schumacher, DStR 2002, 105 (108 ff.); Prinz/Simon, DStR 2002, 149; Rödder, WPg. 2002, 625. 155 Zur Nichtabzugsfähigkeit einer Teilwertabschreibung auf Streubesitzanteile, FG Hamburg EFG 2007, 140. Zur gewerbesteuerlichen Auswirkung des § 8b V KStG vgl. Richter, BB 2007, 751.
Montag 807
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§ 12 Rz. 32
Gewerbesteuer
e) Ausgaben Körperschaftsteuerpflichtiger i.S.d. § 9 I Nr. 2 KStG gem. § 8 Nr. 9 GewStG156. f) Ausschüttungs- und abführungsbedingte Gewinnminderungen gem. § 8 Nr. 10 GewStG157. 32
g) Ausländische Steuern vom Einkommen, die nach § 34c EStG (bereits) bei der Ermittlung der Einkünfte abgezogen werden, mindern grds. auch den Gewerbeertrag (§ 7 GewStG). Sie sind dem Gewinn aus Gewerbebetrieb aber hinzuzurechnen (= Abzugsverbot), soweit sie auf Gewinne oder Gewinnanteile entfallen, die bei der Ermittlung des Gewerbeertrags außer Ansatz gelassen werden (ausländische Betriebstätten) oder nach § 9 GewStG (Schachteldividenden) gekürzt werden (§ 8 Nr. 12 GewStG). Mit Einführung des § 26 VI 3 KStG158 und der Neufassung des § 34c II EStG ist diese Hinzurechnungsvorschrift zumindest für Quellensteuern auf Dividenden bedeutungslos. 4.2.4 Kürzungen (§ 9 GewStG)
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Kürzungen des Gewinns und der Hinzurechnungen sind durch § 9 GewStG vorgeschrieben. a) Da der Betrieb mit eigenem Grundbesitz dem Betrieb mit fremdem Grundbesitz (der die Miete/ Pacht abziehen kann) gleichgestellt werden soll, wird die Summe des Gewinns und der Hinzurechnungen um 1,2 % des Einheitswerts (per 1.1.1964 + 40 %, s. § 121a BewG) des zum Betriebsvermögen gehörenden Grundbesitzes gekürzt (§ 9 Nr. 1 Satz 1 GewStG)159. Die Kürzung setzt voraus, dass der Grundbesitz nicht von der Grundsteuer befreit ist. Hier wird die Gleichstellung also nicht durch Hinzurechnung (beim Betrieb mit fremdem Grundbesitz), sondern durch Kürzung (beim Betrieb mit eigenem Grundbesitz) erreicht. Zur wahlweise alternativen Kürzung um den Teil des Gewerbeertrags, der auf die Verwaltung und Nutzung des eigenen Grundbesitzes entfällt, s. § 9 Nr. 1 Satz 2–4 GewStG160. 156 Vgl. dazu auch Gutachten der Unabhängigen Sachverständigenkommission zur Prüfung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts, Schriftenreihe des BdF 40, 1988, 229–231, 262–264 u. 283. 157 Vgl. dazu auch § 11 Rz. 41. Zur Hinzurechnung im Falle der Organschaft BFH BStBl. II 2010, 646. Dazu auch Trieglaff, StuB 2010, 432. Nach Auffassung des BFH BStBl. II 2010, 301, sind Zuschreibungen auch dann im Gewerbeertrag zu erfassen, wenn die Teilwertabschreibung hinzugerechnet wurde. 158 Jahressteuergesetz 2007, BGBl. I 2006, 2879. 159 Gebilligt von BVerfGE 26, 1 (13). 160 BFH BStBl. II 2003, 355; 2006, 659. Zu der sog. erweiterten Kürzung vgl. insb. Glanegger/Güroff8, § 9 GewStG Nr. 1 Rz. 17 ff.; Jebens/Jebens, BB 2002, 73; Mensching/Tyarks, DStR 2009, 2037; zu Gestaltungsmöglichkeiten Wagenseil, BB 2010, 2079; Wolff, StBp. 2012, 149; Sanna, DStR 2012, 1989; Neu/ Hamacher, Der Konzern 2013, 583; zu den Besonderheiten bei unterjährigem An- oder Verkauf Wagner, Ubg 2014, 183. Bei Unternehmen, die ausschließlich eigenen Grundbesitz oder neben eigenem Grundbesitz eigenes Kapitalvermögen verwalten und nutzen, tritt auf Antrag an die Stelle der Kürzung nach § 9 Nr. 1 Satz 1 GewStG eine Kürzung des Gewinns und der Hinzurechnungen um den Teil des Gewerbeertrags, der auf die Verwaltung und Nutzung eigenen Grundbesitzes entfällt (§ 9 Nr. 1 Satz 2 ff. GewStG). Diese sog. erweiterte Kürzung ist allerdings insb. dann ausgeschlossen, wenn der Grundbesitz ganz oder zum Teil dem Gewerbebetrieb eines Gesellschafters dient (§ 9 Nr. 1 Satz 5 Nr. 1), was nicht nur durch eine unmittelbare Grundstücksnutzung, sondern auch dann gegeben sein kann, wenn das Grundstück dem Gesellschafter allgemein „von Nutzen ist“ (insb. BFH v. 18.12.2014 – IV R 50/11, BStBl. II 2015, 597). Ausgeschlossen ist die Kürzung auch, wenn der Gewerbeertrag auf bestimmte Sondervergütungen an Gesellschafter entfällt und es sich nicht um Vergütungen für die Überlassung von Grundbesitz handelt (§ 9 Nr. 1 Satz 5 Nr. 1a GewStG). Möglich ist die erweiterte Kürzung, wenn der Grundbesitz ganz oder zum Teil dem Gewerbebetrieb eines Gesellschafters dient (§ 9 Nr. 1 Satz 5 GewStG) und das nutzende Unternehmen steuerbefreit ist (BFH BB 2007, 2158). Dazu ist kein Miet- oder Pachtvertrag erforderlich. Es reicht aus, dass der Grundbesitz unmittelbar oder mittelbar den betrieblichen Zwecken des Gesellschafters dient (BFH BStBl. II 2002, 873). Dies ist insb. bei einer mittelbaren, über eine Personengesellschaft gehaltenen Beteiligung an einer vermögensverwaltenden Kapitalgesellschaft (BFH BStBl. II 1999, 169) und auch bei einer relativ geringen Beteiligungsquote der Fall (BFH BStBl. II 2005, 576). Die mittelbare Beteiligung über eine Kapitalgesell-
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4. Bemessungsgrundlage
Rz. 35 § 12
b) § 9 Nr. 2 GewStG161 ist das Gegenstück zu § 8 Nr. 8 GewStG.
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c) § 9 Nr. 2b GewStG korrespondiert als lex specialis zu § 9 Nr. 2 u. 2a GewStG mit § 8 Nr. 4 GewStG. Durch diese Kürzungsvorschrift soll auch für Gewinnanteile einer KGaA (= Kapitalgesellschaft) eine gewerbesteuerliche Doppelbelastung ebenso vermieden werden, wie nach § 9 Nr. 2 GewStG für Gewinnanteile von Mitunternehmerschaften. Die Kürzung kommt nach Auffassung des BFH dann nicht in Betracht, wenn die Komplementärin steuerbefreit ist162. d) § 9 Nr. 5 GewStG bewirkt, dass auch bei Einzelunternehmen und Personengesellschaften sämtliche Spenden i.S.d. § 10b I EStG gewerbesteuerlich abziehbar sind. e) § 9 Nr. 2a, 7 u. 8 GewStG schaffen ein gewerbesteuerliches Schachtelprivileg (ab Beteiligungs- 35 quote 15 %)163. Soweit § 9 Nr. 7 GewStG Einschränkungen gegenüber § 9 Nr. 2a GewStG enthält, ist offen, ob Verstöße gegen das Diskriminierungsverbot oder die Kapitalverkehrsfreiheit vorliegen.164 Bei doppelt ansässigen Kapitalgesellschaften sind § 9 Nr. 2a und Nr. 7 im Hinblick auf Gleichheitssatz und Folgerichtigkeit problematisch165. R 9.3 Satz 5 GewStR verzichtet bei einer im Laufe eines Erhebungszeitraums beginnenden Steuerpflicht auf das Tatbestandsmerkmal „Beteiligung zu Beginn des Erhebungszeitraums“ in § 9 Nr. 2a u. 7 GewStG und stellt im Sinne einer Billigkeitsmaßnahme auf die Höhe der Beteiligung zu Beginn der Steuerpflicht ab. Das Schachtelprivileg gilt jedoch nur für Beteiligungserträge, die laufend als Ausschüttung oder als steuerbare Liquidationsrate (§ 20 I Nr. 1 bis 3 EStG) vereinnahmt werden166, nicht für Gewinne aus der Veräußerung der Beteiligung oder für den Übernahmegewinn im Rahmen der Umwandlung einer GmbH auf den Alleingesell-
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164 165 166
schaft schließt die erweiterte Kürzung demgegenüber nicht aus (BFH BStBl. II 1999, 532), während die erweiterte Kürzung für Einkünfte, die ein Komplementär über eine vermögensverwaltende Personengesellschaft erzielt, beim BFH umstritten ist und deshalb dem Großen Senat vorgelegt wurde (BFH v. 19.10.2010 – I R 67/09, BStBl. II 2011, 367; Beschl. v. 21.7.2016 – IV R 26/14, BStBl. II 2017, 202; dazu auch Bodden, DStR 2014, 2208; Dräger, DB 2015, 1123; Kuhr, Ubg 2016, 663, außerdem Borggräfe/Schüppen, DB 2012, 1644; Sanna, DStR 2012, 1365; Fröhlich, DStR 2013, 377). Bei einer Betriebsverpachtung ist die erweiterte Kürzung grds. nicht anzuwenden, BFH BStBl. II 2005, 778, auch nicht im Rahmen einer Betriebsaufspaltung, BFH v. 22.6.2016 – X R 54/14, BStBl. II 2017, 529. Zum Ausschluss der Einbeziehung von Zinserträgen BFH BStBl. II 2000, 355; zum Ausschluss der Einbeziehung von Veräußerungsgewinnen bei Mitunternehmeranteilen iSd § 7 Satz 2 Nr. 2 GewStG BFH v. 18.12.2014 – IV R 22/12, BStBl. II 2016, 606; v. 8.12.2016 – IV R 14/13, BStBl. II 2017, 494; zur Auflösung von Rücklagen BFH BStBl. II 2001, 251; zur Unschädlichkeit von Hilfstätigkeiten BFH BStBl. II 2001, 359; zur Überlassung von Betriebsvorrichtungen als unschädliche Nebentätigkeit Bahns/Graw, FR 2008, 257; zur Schädlichkeit einer Beteiligung an grundstücksverwaltender Personengesellschaft BFH BStBl. II 2003, 355; 2011, 367; zur Schädlichkeit der Verpachtung an gewerblich tätigen Gesellschafter NV 2009, 85; zur Schädlichkeit der Beteiligung an einer gewerblich tätigen Personengesellschaft BFH/NV 2006, 466; 2008, 821; dazu auch Dieterlen/Käshammer, BB 2006, 1935; zur Unschädlichkeit der Sicherungsgestellung eigenen Grundvermögens für Kredite Dritter, BFH BStBl. II 2006, 434; zur Versagung im Organkreis BFH BStBl. II 2011, 887. S. auch Lehwald, DStR 1982, 18; ferner BFH BStBl. II 1986, 72 (zur KGaA); sowie FG Bad.-Württ. EFG 1986, 466 und Kraushaar, DB 1986, 2302 (zur entspr. Anwendung auf einen Übertragungsgewinn). BFH v. 4.12.2012 – I R 42/11, Der Konzern 2013, 292; krit. dazu Carlé, Der Konzern 2013, 278. Maßgebend ist die Beteiligung am Grund- oder Stammkapital (BFH v. 30.5.2014 – I R 12/13, GmbHR 2014, 996). Im Rahmen des § 9 Nr. 7 Satz 1 GewStG ist dabei keine unmittelbare Beteiligung erforderlich (BFH BStBl. II 2001, 685 ff.). Zu möglichen Auswirkungen der Hinzurechnung nach § 8 Nr. 5 GewStG auf das Schachtelprivileg Prinz/Simon, DStR 2002, 149. Zur Kritik an der Maßgeblichkeit des Beginns des Erhebungszeitraums vgl. Starke/Günther, FR 2008, 814. Vgl. Vorlagebeschluss FG Münster v. 20.9.2016 – 9 K 3911/13 F, Az. des EuGH: Rs. C-685/16, EFG 2016, 323; dazu auch Kraft/Hohage, DB 2017, 1612. Kollruss, FR 2015, 446; Meinig, GmbHR 2015; 309; aA wohl Glanegger/Güroff9, § 9 Nr. 7 GewStG Rz. 4a. BFH BStBl. II 1998, 25; 2004, 462.
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§ 12 Rz. 36
Gewerbesteuer
schafter167. Nachdem der BFH entschieden hat, dass für die Anwendung des § 8b V KStG kein Raum ist, wenn eine Organgesellschaft Schachteldividenden erzielt168, erfolgt die Hinzurechnung nunmehr ab 1.1.2017 (§ 36 II b GewStG) über § 7a GewStG und die entsprechende Anwendung des § 15 Satz 1 Nr. 2 ff. KStG, § 8 Nr. 1, 5 und § 9 Nr. 2a, 7 und 8 GewStG169. f) § 9 Nr. 3 GewStG soll sowohl positive als auch negative Gewerbeerträge erfassen und führt daher im letzteren Fall zu einer Hinzurechnung. § 9 Nr. 3 Satz 1 GewStG erfasst sowohl positive als auch negative Gewerbeerträge eines inländischen Unternehmens, die auf eine nicht im Inland belegene Betriebstätte entfallen, und führt daher im letzteren Fall zu einer Hinzurechnung. Nach § 9 Nr. 3 Satz 2 ff. gelten beim Betrieb von Handelsschiffen im internationalen Verkehr fiktiv 80 v.H. des Gewerbeertrags als auf eine nicht im Inland belegene Betriebsstätte entfallend170. Ergänzung zu b, c, e, f: Die Vorschriften verfolgen mit der Maßgabe, dass die Betriebstättendefinition sich nach innerstaatlichem Recht und nicht nach DBA bestimmt171, das Prinzip, Ergebnisse aus ausländischen Betriebstätten entsprechend § 2 I 1 GewStG („im Inland betrieben“) nicht zu erfassen, was wie bei der Erfassung des Hinzurechnungsbetrages nach § 7 Satz 7 ff. GewStG, §§ 7 ff. AStG indessen nicht durchgängig gilt172.
4.3 Verlustabzug nach § 10a GewStG 36
Nach § 10a Satz 1 GewStG wird der maßgebende Gewerbeertrag bis zu einem Betrag in Höhe von 1 Mio. Euro um die Fehlbeträge gekürzt, die sich bei der Ermittlung des maßgebenden Gewerbeertrags für die vorangegangenen Erhebungszeiträume nach den Vorschriften der §§ 7–10 GewStG ergeben haben, soweit die Fehlbeträge nicht bei der Ermittlung des Gewerbeertrags für die vorangegangenen Erhebungszeiträume berücksichtigt worden sind. Soweit der maßgebende Gewerbeertrag 1 Mio. Euro übersteigt, können nicht berücksichtigte Fehlbeträge der vorangegangenen Erhebungszeiträume nach Einführung der sog. Mindestbesteuerung wie bei der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer nur noch zu 60 % gekürzt werden173. Nach Auffassung des BFH soll diese Einschränkung grds. verfassungsgemäß sein174, zumal im Einzelfall „flankierend“ die Möglichkeit von Billigkeitsmaßnahmen besteht175. Damit mildert das Gewerbesteuerrecht die Härten des Periodizitätsprinzips zumindest partiell durch die Möglichkeit eines periodenübergreifenden Verlustabzugs in Form eines zeitlich unbegrenzten Vortrags sog. Fehlbeträge (= um Hinzurechnungen, Kürzungen, modifizierte Verluste innerhalb der Besteuerungsgrundlage „Gewerbeertrag“) ab. Ein Verlustrücktrag ist anders als nach § 10d EStG bei der Gewerbesteuer nicht möglich. Damit wird insb. dem finanziellen Schutzbedürfnis kleinerer Gemeinden mit wenigen großen Steuerzahlern Rechnung getragen, was verfassungsrechtlich unbedenklich sein soll176. Der Abzug von Gewerbeverlusten setzt nach der Rspr. des BFH allerdings sowohl Unternehmensidentität als auch Unternehmeridentität voraus. 167 Vgl. BFH BStBl. II 2002, 875. 168 BFH v. 17.12.2014 – I R 39/14, BStBl. II 2015, 1052. Vgl. dazu u.a. Schlagheck, GmbHR 2014, 1138; Hageböke, Der Konzern 2014, 313; Adrian, BB 2015, 1113; El Mourabit/Fischnaler, DB 2015, 1552. 169 Dazu Glanegger/Güroff9, § 7a GewStG Rz. 1 ff.; Adrian/Fey, StuB 2016, 472; Hesse/Friburg, GmbH-StB 2016, 271; Benz/Böhmer, DB 2016, 1531. Vgl. auch § 12 Rz. 21. 170 Vgl. auch BFH v. 26.9.2013 – IV R 45/11, BStBl. II 2015, 296; v. 22.12.2015 – I R 40/15, BStBl. II 2016, 537; v. 10.8.2016 – I R 60/14, BStBl. II 2017, 534. 171 Vgl. BFH v. 20.7.2016 – R 50/15, BStBl. II 2017, 230; entsprechend insb. auch Jürgen Lüdicke, IStR 2015, 770; Kahlenberg, IStR 2015, 380. 172 S. dazu auch § 12 Rz. 18. 173 Vgl. zur verfassungsrechtlichen Problematik Lang/Englisch, StuW 2005, 3. 174 BFH v. 22.8.2012 – I R 9/11, BStBl. II 2013, 512; v. 11.10.2012 – IV R 3/09, BStBl. II 2013, 176; dazu Glanegger/Güroff9, § 10a GewStG Rz. 115. 175 Dazu BFH v. 20.9.2012 – IV R 60/11, BFH/NV 2013, 410. 176 Vgl. dazu BFH BStBl. II 1990, 1083; 1991, 25; BFH/NV 1991, 766.
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4. Bemessungsgrundlage
Rz. 36 § 12
Unternehmensidentität liegt grds. dann vor, wenn der Betrieb, der den Verlust erwirtschaftet hat, nach dem Gesamtbild der wesentlichen Merkmale mit dem Betrieb identisch ist, in dem der Verlust verrechnet werden soll177. Nach Auffassung des BFH liegt Unternehmensidentität insoweit nicht vor, als Verluste auf einen Teilbetrieb entfallen, der veräußert wurde178. Der BFH stellt dabei auf die Selbständigkeit des Teilbetriebs und die besondere Behandlung des Veräußerungsgewinns ab und fragmentiert damit den Gewerbebetriebsbegriff, was zumindest bei Kapitalgesellschaften im Hinblick auf die Behandlung der entsprechenden Veräußerungsgewinne nicht gerechtfertigt erscheint. Bei Kapitalgesellschaften179 und Mitunternehmerschaften, bei denen eine Kapitalgesellschaft unmittelbar oder mittelbar über eine Mitunternehmerschaft beteiligt ist180, wurde die Verlustverrechnung darüber hinaus gem. § 10a Satz 10 GewStG; § 8c KStG, davon abhängig gemacht, ob und inwieweit ein Anteilseignerwechsel vorlag. Nachdem das BVerfG die Verfassungswidrigkeit des § 8c I 1 KStG (Übertragung von mehr als 25 v. H. und bis zu 50 v. H. des gezeichneten Kapitals) für die Zeit bis zum 31.12.2015 festgestellt hat181, ist auch die sinngemäße Anwendung des § 8c KStG (§ 10a Satz 10 GewStG) und der damit verbundene quotale Untergang von Gewerbeverlusten insoweit verfassungswidrig182. Neben der Unternehmensidentität setzt der Verlustabzug nach Auffassung des BFH auch Unternehmeridentität voraus. Dies stützt der BFH auf § 10a Satz 3 i.V.m. § 2 V GewStG, was sowohl im Hinblick auf die objektbezogene Betrachtung als auch den Zweck des § 10a GewStG problematisch erscheint183. Ein Unternehmerwechsel führt daher nicht nur in den Fällen des Betriebsübergangs im Ganzen, sondern insb. auch in den Fällen des Wechsels einzelner Gesellschafter einer Personengesellschaft zur anteiligen Versagung des gewerbesteuerlichen Verlustvortrags184. Dies gilt selbst dann, wenn der ausgeschiedene Gesellschafter über eine andere Personengesellschaft weiterhin an der Untergesellschaft beteiligt bleibt185, insb. also auch nach Änderung des § 15 I Nr. 2 EStG186, oder auch dann, wenn der ausgeschiedene Gesellschafter über eine Organgesellschaft mittelbar an der Personengesellschaft beteiligt bleibt187. Umgekehrt bleibt danach der gewerbesteuerliche Verlustvortrag erhalten, sofern ein Einzelunternehmer seinen Gewerbebetrieb in eine Personengesellschaft einbringt188. Bei Beteiligung eines Kommanditisten als atypisch stiller Gesellschafter der KG entsteht eine doppelstöckige Mitunternehmerschaft mit der Folge, dass Verluste nicht verrechenbar sind, soweit der Gewerbeertrag auf den stillen Gesellschafter entfällt189. 177 BFH BStBl. II 1985, 403; BFH/NV 1991, 804; BFH BStBl. II 1994, 764; 1994, 477; BFH/NV 1997, 428; BFH/NV 2003, 81; BFH BStBl. II 2007, 72. BFH v. 11.10.2012 – IV R 38/09, BStBl. II 2013, 958; v. 7.9.2016 – IV R 31/13, BStBl. II 2017, 482; v. 4.5.2017 – IV R 2/14, BStBl. II 1138, zur Unternehmensidentität bei gewerblicher Prägung vgl. auch Rogge, DB 2015, 1182. 178 BFH v. 7.8.2008, BFH/NV 2008, 1960. 179 Zu Einzelheiten vgl. auch § 13 Rz. 43. 180 Dazu insb. Hoffmann, DStR 2009, 257; Suchanek, Ubg 2009, 178 (182). Vgl. dazu auch Behrendt/Arjes/ Nogens, BB 2008, 367. Vgl. K. Weber, Ubg 2010, 201; Schöneborn, NWB 2011, 366. 181 Beschl. v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, RS 1241111, FR 2017, 577. Vgl. dazu auch § 11 Rz. 57 ff., § 13 Rz. 43. 182 Vgl. dazu § 11 Rz. 57 ff., § 13 Rz. 43; außerdem insb. Suchanek/Hesse, Der Konzern 2017, 335. Vgl. zur Anwendung durch die Finanzverwaltung, die § 8c I 1 KStG für mittelbare Übertragungen weiterhin anwendet, Gleichlautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder v. 29.11.2017, BStBl. I 2017, 1643; BMF v. 28.11.2017, BStBl. I 2017, 1643. 183 Dazu Glanegger/Güroff9, § 10a GewStG Rz. 90; die die Kritik mit Bezug auf die Einführung von § 10a Satz 4 u. 5 GewStG allerdings nunmehr als obsolet ansehen. 184 Vgl. BFH v. 11.10.2012 – IV R 3/09, BStBl. II 2013, 176; vgl. i.E. dazu Glanegger/Güroff9, § 10a GewStG Rz. 97 ff.; Kupfer/Göller/Leiber, Ubg 2014, 361. 185 BFH BStBl. II 1997, 179 (181); 1999, 794; vgl. dazu auch Wendt, FR 1999, 1311. 186 Dazu Gschwendter, DStR 1996, 1363; Herzig/Förster/Förster, DStR 1996, 1025 (1031). 187 Dazu BFH BStBl. II 2001, 114. 188 BFH BStBl. II 1993, 616; dazu auch Orth, DB 1994, 1313. 189 Vgl. BFH v. 24.4.2014 – IV R 34/10, BStBl. II 2017, 233.
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§ 12 Rz. 37
Gewerbesteuer
Die Höhe der vortragsfähigen Fehlbeträge ist nach § 10a Satz 6 GewStG gesondert festzustellen, wobei sich die gesonderte Feststellung über die Höhe der Beträge hinaus auch auf deren Abzugsfähigkeit dem Grunde nach erstreckt190. 4.4 Steuermessbetrag (§ 11 GewStG) 37
Der Steuermessbetrag als Bemessungsgrundlage191 der Gewerbesteuer ergibt sich durch Anwendung eines Prozentsatzes, der sog. Steuermesszahl, auf den auf volle 100 Euro nach unten abgerundeten ggf. um Freibeträge gekürzten Gewerbeertrag192. 4.4.1 Freibeträge
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Bei natürlichen Personen und Personengesellschaften ist der Gewerbeertrag vor Anwendung der Messzahl um einen Freibetrag von maximal 24 500 Euro zu kürzen (§ 11 I 3 Nr. 1 GewStG). Für Unternehmen i.S.d. § 2 III und des § 3 Nr. 5, 6, 8, 9, 15, 17, 21, 26, 27, 28 und 29 GewStG sowie für Unternehmen von juristischen Personen des öffentlichen Rechts besteht ein Freibetrag von 5 000 Euro (§ 11 I 3 Nr. 2 GewStG). Kapitalgesellschaften sind also benachteiligt, soweit es sich nicht um eine KapGes. & atypisch Still handelt193. Da jeder „Betrieb“ den Freibetrag erhält, können Vorteile erreicht werden durch Aufspaltung in mehrere (ungleichartige) Betriebe. 4.4.2 Steuermesszahlen
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Nach Abrundung und nach Freibeträgen wird die maßgebende Steuermesszahl angewendet. Die Steuermesszahl beträgt 3,5 %194. 4.4.3 Verfahren
40
Der Steuermessbetrag wird durch den Steuermessbescheid, der vom zuständigen Finanzamt erlassen wird, festgesetzt (§ 184 AO)195. Die Befugnis umfasst auch Billigkeitsmaßnahmen nach § 163 I AO, soweit für solche Maßnahmen in einer allgemeinen Verwaltungsvorschrift Richtlinien aufgestellt worden sind (§ 184 II 1 AO)196. Der Gewerbesteuermessbescheid ist von Amts wegen aufzuheben oder zu ändern, wenn der Einkommensteuerbescheid geändert wird und die Aufhebung oder Änderung den Gewinn aus Gewerbebetrieb berührt (§ 35b I GewStG). Die Änderung ist nicht nur in den Fällen durchzuführen, in denen sich die Höhe des Gewinns aus Gewerbebetrieb verändert197. Notwendig ist die Änderung vielmehr erst recht, wenn die Qualität der Einkünfte dem Grunde nach wechselt198. Voraussetzung ist eine Änderung der Höhe des Gewinns aus Gewerbebetrieb (BFH BStBl. II 1999, 475). Der Steuermessbescheid ist zwar grds. ein Grundlagenbescheid (§ 171 X AO) und insoweit gesondert 190 BFH BStBl. II 2004, 469. Vgl. dazu auch Loose/Suck, FR 2008, 864. Zur Bindungswirkung des Bescheids bei Personengesellschaften BFH BStBl. II 2011, 903. 191 Sachliche Billigkeitsmaßnahmen i.S.d. § 163 Satz 1 AO sind nach dem BFH v. 25.4.2012 – I R 24/11, BFH/NV 2012, 1516, bei der Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrags nicht anzuwenden; krit. dazu Stangl/Hageböke, Ubg 2013, 259. 192 Ausnahmen: § 11 III GewStG für Hausgewerbetreibende. Vgl. dazu auch BFH BStBl. II 2003, 492. 193 BFH BStBl. II 1994, 327; 2008, 200. Dazu auch § 13 Rz. 108. 194 Ausnahmen § 11 III GewStG. Eine Vergleichsrechnung zur Gewerbesteuerbelastung findet sich bei Bergmann/Markel/Althof, DStR 2007, 693. 195 Vgl. dazu § 21 Rz. 132. 196 Vgl. dazu auch Wiese/Lukas, DStR 2015, 1222; Krumm, DB 2015, 2714; Hageböke/Hasbach, FR 2016, 1018. 197 Vgl. BFH BStBl. II 1999, 475. Zur Anwendbarkeit bei Organschaft BFH BStBl. II 2010, 644. 198 So nunmehr zu Recht BFH BStBl. II 2004, 902. Ferner auch BFH BStBl. II 2005, 185, zur Umqualifizierung von Veräußerungs- zu laufendem Gewinn.
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6. Entstehung, Festsetzung und Erhebung
Rz. 43 § 12
anzufechten (§ 351 II AO)199. Er stellt jedoch keinen Grundlagenbescheid für den Verlustfeststellungsbescheid nach § 10a Satz 2 GewStG dar200. 5. Zerlegung des einheitlichen Steuermessbetrags Hat ein Gewerbebetrieb Betriebsstätten201 in mehreren Gemeinden oder erstreckt sich eine Betriebs- 41 stätte über mehrere Gemeinden, so ist der einheitliche Steuermessbetrag in die auf die beteiligten Gemeinden entfallenden Anteile zu zerlegen und jeder Gemeinde ihr Anteil zuzuteilen (§ 28 GewStG; Verfahren: §§ 185 ff. AO)202. Die Zerlegung findet auch in Fällen der Organschaft statt, da die Organgesellschaft als Betriebstätte gilt (§ 2 II 2 GewStG). Zerlegungsmaßstab sind grds. die Arbeitslöhne (§ 29 I Nr. 1 GewStG), bei Windenergieanlagen werden anteilig auch die steuerlichen Buchwerte bestimmter Wirtschaftsgüter des Sachanlagevermögens berücksichtigt (§ 29 I Nr. 2 GewStG)203. 6. Entstehung, Festsetzung und Erhebung 6.1 Entstehung der Steuerschuld Die Gewerbesteuer entsteht gem. § 18 GewStG grds. mit Ablauf des Erhebungszeitraums, für den die 42 Festsetzung vorgenommen wird. Vorauszahlungen auf die Gewerbesteuer entstehen bereits mit Beginn des Kalendervierteljahres, in dem Vorauszahlungen zu entrichten sind, oder mit Begründung der Steuerpflicht, wenn die Steuerpflicht erst im Laufe des Kalendervierteljahres begründet wird (§ 21 GewStG). 6.2 Festsetzung der Gewerbesteuer Die Gewerbesteuer wird durch die Gemeinde festgesetzt. Dabei wendet die Gemeinde gem. § 16 I 43 GewStG auf den Steuermessbetrag den durch Beschluss der Gemeindevertretung festgesetzten Hebesatz an. Dieser Hebesatz ist ein Prozentsatz, der sich grds. nach dem Steuerbedarf der Gemeinde richtet204. Obwohl es dadurch bundesweit zu erheblichen Hebesatzunterschieden kommt205, ist eine Gleichmäßigkeit der Gewerbebesteuerung in den verschiedenen Gemeinden verfassungsrechtlich nicht geboten206. Mit § 16 IV 2 GewStG wurde im Widerspruch dazu ab Erhebungszeitraum 2004 ein Mindesthebesatz i.H.v. 200 % eingeführt, was nach Auffassung des BVerfG mit der Finanzautonomie der Gemeinden zu vereinbaren sein soll207. Die Gewerbesteuer wird mit dem Gewerbesteuerbescheid festgesetzt. Dabei sind grds. die Verfahrensvorschriften der AO anzuwenden (§ 1 II Nr. 1–4 AO). Der Gewerbesteuerbescheid ist als Folge-
199 Vgl. dazu § 22 Rz. 15; zum Klagerecht der Gemeinden im Steuermessverfahren vgl. Söhn, StuW 1993, 354; zum Rechtsschutzinteresse im Aussetzungsverfahren BFH BStBl. II 1997, 136. 200 BFH v. 7.9.2016 – IV R 31/13, BStBl. II 2017, 482. 201 S. auch BFH BStBl. II 1982, 241; 1982, 624. 202 S. auch BFH BStBl. II 1988, 201; 1988, 292; Seitrich, DStZ 1985, 401; zur Verfassungsmäßigkeit Olbrich, DB 1996, 958; zur Beschwer der Gemeinde im Einspruchsverfahren BFH/NV 1997, 308. 203 Dazu Waffenschmidt, FR 2013, 268; Becker, BB 2014, 2270; zur Zerlegung bei Solaranlagen § 29 I Nr. 2 GewStG, dazu Stöbener/Gach, DStR 2012, 1376; Moorkamp, StuB 2014, 61. 204 Dazu Schäfers, Die Festsetzung des Gewerbesteuer-Hebesatzes durch die Gemeinden, Diss. 1964; Schnorr, Das Hebesatzrecht der Gemeinden, Diss. 1973; Fedden, Zur Problematik der Verkoppelung und Genehmigung der Realsteuerhebesätze, Diss. 1974. 205 Vgl. dazu Andrae, ifst-Schrift Nr. 493 (2013), Entwicklung der Hebesätze der Gemeinden mit 20.000 und mehr Einwohnern im Jahr 2013 gegenüber 2012. 206 BVerfGE 21, 54 (68 f.); s. auch BVerfGE 10, 354 (371); 12, 139 (143); 12, 319 (324). Auch unionsrechtlich bestehen vor dem Hintergrund des EuGH-Urt. v. 11.9.2008 – C-428–434/06, UGT Rioja, keine Bedenken. Dazu de Weerth, IStR 2008, 732. 207 Vgl. BVerfG v. 27.1.2010, BVerfGE 125, 141.
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§ 12 Rz. 44
Gewerbesteuer
bescheid an den Gewerbesteuermessbescheid, den Zerlegungsbescheid oder den Zuteilungsbescheid gebunden (§§ 182 I; 184 I; 185 AO)208. 6.3 Vorauszahlungen und Abrechnung 44
Auf die Gewerbesteuer sind grds. vierteljährliche Vorauszahlungen zu entrichten (§ 19 I GewStG). Die Vorauszahlungen werden durch Vorauszahlungsbescheide festgesetzt (§ 155 I, II Nr. 4 AO). Sie basieren grds. auf der Steuer, die sich bei der letzten Veranlagung ergeben hat (§ 19 II GewStG), und werden im Rahmen der Abrechnung über die Vorauszahlungen auf die Steuerschuld des Erhebungszeitraums angerechnet (§ 20 GewStG). 7. Steuererklärungen
45
Steuerpflichtige Gewerbebetriebe haben eine Erklärung zur Festsetzung des Steuermessbetrags und im Falle einer Zerlegung (§ 28 GewStG) außerdem eine Zerlegungserklärung abzugeben (§ 14a GewStG; § 25 GewStDV). Grds. ist der Steuerschuldner (§ 5 GewStG) zur Abgabe der Gewerbesteuererklärung verpflichtet. Für Organgesellschaften (= Betriebsstätten, s. Rz. 9) sind eigene Steuererklärungen abzugeben (§ 25 I Nr. 2 GewStDV), allerdings vom Organträger als Steuerschuldner209.
208 Zur Erweiterung des § 184 II 1 AO und zu den Auswirkungen auf die Gewerbesteuer Hageböke, FR 2015, 539. 209 Vgl. dazu i.E. § 14 Rz. 24. Zur Steuererklärungspflicht der Besitzgesellschaft im Rahmen einer Betriebsaufspaltung s. BFH BStBl. II 1985, 199.
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§ 13 Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung A. Grundsätzliche Unterschiede in der Besteuerung von Personenunternehmen und Kapitalgesellschaften Literatur: HHR/Hey, Einf. KSt (1999); Hey, Besteuerung von Unternehmensgewinnen und Rechtsformneutralität, in DStJG 24 (2001), 155; Seeger (Hrsg.), Perspektiven der Unternehmensbesteuerung, DStJG 25 (2002); Drüen, Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung als verfassungsrechtlicher Imperativ?, GmbHR 2008, 393; Drüen, Das Unternehmenssteuerrecht unter verfassungsrechtlicher Kontrolle – Zur Gestaltungsfreiheit des Steuergesetzgebers zwischen Folgerichtigkeit und Systemwechsel, Ubg 2009, 23; Friese, Rechtsformwahlfreiheit im Europäischen Steuerrecht, 2010; M. Rose, Zur steuerlichen Gleichbehandlung der Gewinne von Unternehmen unabhängig von deren Rechtsform, FS J. Lang, 2010, 641; BDI/VCI, Die Steuerbelastung der Unternehmen in Deutschland, 2013; Krüger/Kalbfleisch u.a., Zweckmäßige Wahl der Unternehmensform7, 2013; Prinz/W.-D. Hoffmann, Beck’sches Handbuch der Personengesellschaften4, 2013; Drüen, Leitlinien des Unternehmenssteuerrechts, DStZ 2014, 564; Heinhold/Hüsing u.a., Besteuerung der Gesellschaften2, 2015; Jacobs/Scheffler/Spengel, Unternehmensbesteuerung und Rechtsform5, 2015; Kessler/Kröner/Köhler, Konzernsteuerrecht3, 2015; König/Maßbaum/Sureth, Besteuerung und Rechtsformwahl: Personen-, Kapitalgesellschaften und Mischformen im Vergleich7, 2016.
Im Rahmen der Besteuerung von Unternehmen knüpft das Steuerrecht an die unterschiedlichen 1 Rechtsformen an, die das Zivilrecht für die rechtliche Strukturierung der Unternehmen vorsieht, so dass die zivilrechtliche Abgrenzung zwischen Personenhandelsgesellschaften als Gesamthandsgemeinschaften einerseits und Kapitalgesellschaften als Körperschaften andererseits grds. auch das Steuerrecht bestimmt1. In ihren Grundzügen werden die Ansatzpunkte und Konsequenzen einer rechtsformabhängigen Un- 2 ternehmensbesteuerung bei der unterschiedlichen Behandlung von Personen- und Kapitalgesellschaften sichtbar. Bestrebungen, die auftretenden Vorteile der Grundtypen zu kombinieren und gleichzeitig ihre Nachteile zu vermeiden, finden ihren Niederschlag in Unternehmensformen, die nicht mit dem zivilrechtlichen Ordnungsrahmen einer Rechtsform übereinstimmen, sondern sich aus mehreren Rechtsformen zusammensetzen. Mit dem Ziel, zunächst die grundsätzlichen Unterschiede in der Besteuerung der Personen- und Ka- 3 pitalgesellschaften offen zu legen, beziehen sich die folgenden Ausführungen zur laufenden Besteuerung und zu den steuerlichen Folgen praktisch besonders bedeutsamer Sondervorgänge ausschließlich auf Unternehmensformen, die mit der zivilrechtlichen Ordnungsstruktur übereinstimmen. In diesem Rahmen werden bei den Personengesellschaften als Mitunternehmerschaften i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG nur OHG und KG2, bei den Kapitalgesellschaften ausschließlich AG3 und GmbH berück-
1 Vgl. § 10 Rz. 1 ff. Zur Rechtsformneutralität darüber hinaus insb. auch BVerfG DStR 2006, 1316; Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16. Zu Reformüberlegungen, die auf eine Annäherung von Personenunternehmen an das Besteuerungssystem für Kapitalgesellschaften gerichtet sind, vgl. Kraus, Körperschaftsteuerliche Integration von Personenunternehmen, Diss., 2009. 2 Dazu § 10 Rz. 9 ff. 3 Zu den steuerlichen Aspekten der Gründung einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE) Förster/Lange, DB 2002, 288 ff.; Herzig/Griemla, StuW 2002, 55; Schulz/Petersen, DStR 2002, 1508; Thömmes, Besteuerung der SE, in Theisen/Wenz (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft2, 2005, 505. Zu den zivilrechtlichen Grundlagen Graf Kanitz/Schüppen & Partner, Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea – SE)4, 2016; Jannot/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft – Societas Europaea2, 2014.
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§ 13 Rz. 4
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
sichtigt; die KGaA bleibt außer Betracht4. Auf die Besonderheiten von Familiengesellschaften5 und die Behandlung von Partnerschaftsgesellschaften6 als besondere Rechtsform für die berufliche Zusammenarbeit von Angehörigen freier Berufe wird nicht eingegangen.
I. Unterschiede in der laufenden Besteuerung von Personenunternehmen und Kapitalgesellschaften 1. Besteuerungsunterschiede bei einzelnen Steuerarten 4 Nach dem Wegfall der Vermögensteuer zum 1.1.1997 (s. § 16 Rz. 61 ff.) und der Abschaffung der
Gewerbekapitalsteuer zum 1.1.1998 (s. § 12 Rz. 1 ff.) reduzieren sich die Belastungsunterschiede zwischen Personen- und Kapitalgesellschaften in der laufenden Besteuerung ausschließlich auf die Ertragsteuern. 1.1 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer 5 a) Steuerpflicht: Während Kapitalgesellschaften nach § 1 KStG selbst körperschaftsteuerpflichtig
sind, unterliegen bei einer Personengesellschaft ausschließlich die Gesellschafter, denen die Einkünfte über die einheitliche und gesonderte Gewinnfeststellung (§§ 179 ff. AO) zugerechnet werden, der Einkommensteuer (§ 1 EStG) oder der Körperschaftsteuer (§ 1 KStG). 6 b) Gewinnanteile: Bei einer Personengesellschaft werden Gewinne den Gesellschaftern als Einkünfte
aus Gewerbebetrieb (§ 15 I 1 Nr. 2 EStG) im Jahre ihrer Entstehung zugerechnet. Wie die Einkünfte versteuert werden, hängt entscheidend davon ab, ob die Gewinne entnommen werden oder im Unternehmen verbleiben und die Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG genutzt wird. – Soweit die Gewinne nicht entnommen werden, kommt auf Antrag des Stpfl. ein proportionaler Steuersatz von 28,25 % (einschließlich Solidaritätszuschlag 29,80 %) zur Anwendung, wenn der Gewinnanteil mindestens 10 % beträgt oder 10 000 Euro übersteigt und der Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich nach § 4 I oder § 5 EStG ermittelt wird (§ 34a I EStG)7. Die entsprechende Einkommensteuer wird durch die Gewerbesteueranrechnung nach § 35 EStG8 um das 3,8fache des Gewerbesteuermessbetrags, höchstens um die tatsächliche Gewerbesteuer gemindert9. – Wird der begünstigte Betrag (§ 34a II EStG) später ganz oder teilweise entnommen, ist er – vermindert um die ermäßigte Steuer sowie den entsprechenden Solidaritätszuschlag – mit einem 4 Vgl. allg. Bürgers/Fett, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien2, 2015; zur GmbH & Co. KG a.A. Kruse/ Domning/Frechen, DStR 2017, 2440; zur steuerrechtlichen Behandlung insb. Kollruss, DStZ 2012, 650; BFH/NV 2010, 1919. Grundl. dazu insb. Drüen/van Heek, DStR 2012, 54 m.w.N.; zur Besteuerung des persönlich haftenden Gesellschafters einer KGaA Wassermeyer, FS Streck, 2011, 259 ff.; Bielinis, DStR 2014, 769; Kusterer/Graf, DStR 2016, 2782; zum Feststellungsverfahren Hageböke, Ubg 2015, 295. 5 Dazu Langenfeld/Gail, Hdb. Familienunternehmen, Loseblatt; Carlé/Halm, KÖSDI 2000, 12383; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 740 ff. m.w.N.; zur Familienstiftung Blumers, DStR 2012, 1, 6; zu den Auswirkungen des § 50i EStG Bodden, KÖSDI 2015, 19249. 6 Zu den zivil- u. steuerrechtlichen Besonderheiten Ulmer/Schäfer, Gesellschaft bürgerlicher Rechts- und Partnerschaftsgesellschaft6, 2013; Meilicke/Graf von Westphalen/Lenz/Wolff, Partnerschafts-Gesellschaftsgesetz3, 2015. 7 Vgl. dazu i.E. § 8 Rz. 828. 8 Vgl. i.E. § 8 Rz. 840. Dazu auch BMF-Schreiben v. 3.11.2016 – IV C 6 – S 2296, BStBl. I 2016, 1187; dazu Grützner, StuB 2017, 18; außerdem auch BFH v. 28.5.2015 – IV R 27/12, BStBl. II 2015, 837; v. 14.1.2016 – IV R S 5/14, BStBl. II 2016, 875; v. 14.1.2016 – IV R 48/12, BFH/NV 2016, 1024; dazu auch Dreßler/ Oenings, DStR 2016, 625; U. Förster, DB 2016, 1398. Zum möglichen Anpassungsbedarf Broer, DStZ 2016, 208. 9 Vgl. i.E. § 8 Rz. 841. Auf Basis der einheitlichen Steuermesszahl von 3,5 % (§ 11 II GewStG) beträgt die Minderung 13,3 % des Gewerbeertrags.
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I. Unterschiede in der laufenden Besteuerung
Rz. 8 § 13
Steuersatz von 25 % (einschließlich Solidaritätszuschlag 26,375 %) nachzuversteuern (§ 34a III EStG)10. – Soweit die Gewinne des laufenden Wirtschaftsjahres sofort entnommen werden oder kein Antrag auf ermäßigte Besteuerung nach § 34a EStG gestellt wird, unterliegen sie wie bisher einmalig der Besteuerung beim Gesellschafter. Der Spitzensteuersatz beträgt 45 %. Unter Berücksichtigung des Solidaritätszuschlags von 5,5 % ergibt sich eine Spitzenbelastung i.H.v. 47,48 %11, die allerdings um die Gewerbesteueranrechnung nach § 35 EStG gemindert wird12. Bei einer Kapitalgesellschaft werden Gewinne unabhängig davon, ob sie thesauriert oder ausgeschüt- 7 tet werden, mit einem einheitlichen Körperschaftsteuersatz13 i.H.v. 15 % (einschließlich Solidaritätszuschlag 15,825 %) versteuert14. Soweit Gewinnausschüttungen erfolgen, gilt Folgendes: Ausschüttungen unterliegen anders als Entnahmen bei einer Personengesellschaft einer Kapitalertrag- 8 steuer, die im Rahmen der Abgeltungsteuer15 25 % beträgt (§§ 20 I Nr. 1; 43 I Nr. 1; 43a I Nr. 1 EStG). Bei den Gesellschaftern ist dann grds. wie folgt zu differenzieren: – Ausschüttungen ins Privatvermögen unterliegen bei einer natürlichen Person grds. der Abgeltungsteuer i.H.v. 25 % (§§ 3 Nr. 40 Satz 2; 32d EStG). Die Steuer ist grds. mit dem Kapitalertragsteuerabzug abgegolten (§ 43 V EStG). – Ausschüttungen ins Betriebsvermögen unterliegen nicht der Abgeltungsteuer (§§ 32d; 20 VIII EStG). Sie sind nach dem Teileinkünfteverfahren zu 40 % freigestellt (§ 3 Nr. 40 Satz 1d, 2 EStG) und werden beim Gesellschafter in Abhängigkeit davon besteuert, ob sie thesauriert16 werden und die Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG genutzt wird oder ob sie entnommen werden17. – Soweit eine Kapitalgesellschaft zu Beginn des Kalenderjahres unmittelbar mit mindestens 10 % am Grund- oder Stammkapital einer anderen Kapitalgesellschaft beteiligt ist, sind Gewinnausschüttungen nach § 8b I KStG bei der empfangenden Gesellschaft grds. freigestellt. Dies gilt auch dann, wenn die Beteiligung über eine Personengesellschaft gehalten wird (§ 8b VI KStG). Nach § 8b V KStG gelten jedoch 5 % der Bezüge als nicht abzugsfähige Betriebsausgaben, so dass die Dividenden im Ergebnis zu 95 % steuerfrei bleiben18. – Ist eine Kapitalgesellschaft unmittelbar zu weniger als 10 % am Grund- oder Stammkapital einer anderen Kapitalgesellschaft beteiligt, werden Gewinnausschüttungen, die nach dem 28.2.2013 zu-
10 Ein Veranlagungswahlrecht i.S.d. § 32d EStG wird dem Personenunternehmer vorenthalten. Krit. dazu Hey, DStR 2007, 928 f. 11 Einschließlich Kirchensteuer (dazu § 10) erhöht sich die Belastung auf 49,52 % Die Berechnung erfolgt ausgehend von einem Einkommensteuersatz e, einem Kirchensteuersatz k und einem Solidaritätszuschlag z nach der Formel: e (1+k+z)/(1+e × k). 12 Vgl. dazu i.E. Rz. 19. 13 Vgl. dazu i.E. § 11 Rz. 110. 14 Vgl. § 23 I KStG, der vom Veranlagungszeitraum 2008 an gilt (§ 34 XIa KStG). Vgl. dazu Schiffers, DStZ 2007, 567. 15 Vgl. §§ 43 V 1; 52a I EStG; dazu i.E. auch § 8 Rz. 492 ff. 16 Vgl. Rz. 19. 17 Vgl. dazu BMF BStBl. I 2008, 838; dazu auch Grützner, StuB 2008, 745; Ley, Ubg 2008, 214; Pohl, BB 2008, 1536; Niehus/Wilke, DStZ 2009, 14. Grds. zur Beurteilung der Regelung insb. Knirsch/Maiterth/ Hundsdörfer, DB 2008, 1406; Fechner/Bäuml, DB 2008, 1652; B. Fischer, Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG-Bewertung aus Sicht eines international tätigen deutschen Personengesellschaftskonzerns, FS Schaumburg, 2009, 319; Wendt, DStR 2009, 406. 18 Vgl. dazu Oldiges, DStR 2008, 533; Rödder/Schumacher, DStR 2003, 1725 (1726); Dötsch/Pung, DB 2003, 151; Rogall, DB 2003, 2185; Rödder, DStR 2004, 1629 (1631). Vgl. auch FG Hamburg EFG 2004, 1639; dazu Frischmuth, StuB 2005, 264; Thömmes, IStR 2005, 685 (692); Rehm/Nagler, IStR 2006, 859 (860); Salzmann, IStR 2007, 73 (Anm. zu BFH v. 13.6.2006).
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§ 13 Rz. 9
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
fließen (§ 34 VIIa KStG), abweichend von § 8b I 1 KStG als sog. Streubesitzdividenden voll19 besteuert (§ 8b IV KStG). Die Hinzurechnung von 5 % der Bezüge nach § 8b V KStG erfolgt insoweit nicht (§ 8b IV 7 KStG). 9 c) Betriebsausgaben und Werbungskosten: Bei Personengesellschaften sind persönliche Aufwen-
dungen der Gesellschafter, die wirtschaftlich durch die Beteiligung verursacht sind, als sog. Sonderbetriebsausgaben in voller Höhe abzugsfähig20. Bei Gesellschaftern einer Kapitalgesellschaft sind persönliche Aufwendungen, die wirtschaftlich durch die Beteiligung an der Gesellschaft und die daraus resultierenden Erträge verursacht sind, demgegenüber nach § 3c II EStG nur eingeschränkt abzugsfähig21. Bei natürlichen Personen gilt Folgendes: – Soweit die Anteile im Betriebsvermögen gehalten werden, sind Aufwendungen, die im wirtschaftlichen Zusammenhang mit den Dividenden stehen, zu 60 % abzugsfähig (§ 3c II EStG)22. – Soweit die Anteile im Privatvermögen gehalten werden, sind Werbungskosten nicht abzugsfähig. Berücksichtigt wird nur der Sparer-Pauschbetrag i.H.v. 801 Euro bzw. 1 602 Euro bei Zusammenveranlagung (§ 20 IX EStG). Bei Kapitalgesellschaften sind Ausgaben, die mit steuerfreien Dividenden in Zusammenhang stehen, prinzipiell voll abzugsfähig. Pauschal gelten jedoch 5 % der Bezüge gem. § 8b V KStG als nicht abzugsfähige Betriebsausgaben23. 10
d) Verlustanteile: Bei einer Personengesellschaft werden die Verluste den Gesellschaftern grds. unmittelbar zugerechnet, so dass den Gesellschaftern in den Grenzen des § 15a EStG grds. neben dem Verlustausgleich auch der Verlustabzug offen steht. Durch die sog. Mindestbesteuerung wird der Verlustausgleich jedoch eingeschränkt24. Eine unbegrenzte Verrechnung ist nach § 10d EStG nur noch für einen Sockelbetrag i.H.v. 1 Mio. Euro möglich. Höhere Beträge können nur noch bis zu 60 % des Gesamtbetrags der Einkünfte verrechnet werden25. Hinzu kommt, dass negative Einkünfte gem. § 34a VIII EStG nicht mit ermäßigt besteuerten Gewinnen ausgeglichen werden dürfen. Bei einer Kapitalgesellschaft werden die Verluste den Gesellschaftern demgegenüber nur im Falle der Organschaft mit Gewinnabführungsvertrag zugerechnet26. Die bei einer Kapitalgesellschaft anfallenden Verluste können daher grds. nur von der Kapitalgesellschaft selbst im Wege des Verlustabzugs (§ 8 KStG; § 10d EStG) verrechnet werden. Der Verlustausgleich ist durch die sog. Mindestbesteuerung wie bei natürlichen Personen beschränkt27.
19 Vgl. dazu i.E. § 11 Rz. 42; darüber hinaus auch Benz/Jetter, DStR 2013, 489; Desenz, Beihefter zu DStR 4/2013; Grefe, DStZ 2013, 577; Haisch/Helios, DB 2013, 726; Hechtner/Schnitger, Ubg 2013, 269; Herlinghaus, FR 2013, 529; Ernst, DB 2014, 449; Lang/Förster, StbJb. 2013/2014, 103; Richter/Reeb, DStZ 2013, 702; Schönfeld, DStR 2013, 937; Wiese/Lay, GmbHR 2013, 404; Watrin/Eberhard, IStR 2013, 814; Binnewies, GmbH-StB 2014, 242; Machiejewsky/Rehr, DStR 2015, 1481; zur europarechtlichen Beurteilung Kollruss, WPg. 2017, 50. 20 Vgl. insb. BFH BStBl. II 1993, 706; 1993, 447 m.w.N.; FG Berlin EFG 1999, 281. Vgl. dazu i.E. auch Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 640 ff. 21 Vgl. BFH BStBl. II 2008, 551; dazu Intemann, DB 2007, 2797. 22 Vgl. § 52a IV EStG. 23 Vgl. dazu auch BVerfG, Beschl. v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224; BFH v. 26.4.2017 – I R 84/15, BFH/NV 2017, 1555. 24 Vgl. dazu i.E. § 8 Rz. 67. 25 Vgl. dazu Rödder/Schumacher, DStR 2003, 1725; Dötsch/Pung, DB 2004, 151; Dötsch, DStZ 2003, 25. 26 Vgl. i.E. § 14 Rz. 1 ff. 27 Vgl. § 8 Rz. 67.
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I. Unterschiede in der laufenden Besteuerung
Rz. 15 § 13
e) Steuerfreie Erträge: Soweit eine Personengesellschaft steuerfreie Erträge erzielt oder sonstige Steu- 11 ervergünstigungen erhält, kommen die Vergünstigungen den Gesellschaftern grds. unmittelbar zugute. Bei einer Kapitalgesellschaft wirken sich Steuerbefreiungen oder Tarifbegünstigungen demgegenüber grds. nur auf der Gesellschaftsebene aus. Soweit die entsprechenden Erträge an die Gesellschafter ausgeschüttet werden, werden sie bei natürlichen Personen im Betriebsvermögen zu 60 % besteuert und im Privatvermögen im Rahmen der Abgeltungsteuer erfasst und daher im Ergebnis teilweise nachversteuert28. Die Nachversteuerung unterbleibt lediglich dann, wenn die Ausschüttungen einer Kapitalgesellschaft zufließen (§ 8b I KStG). f) Leistungsvergütungen: Die rechtlichen Beziehungen zwischen einer Gesellschaft und ihren Gesell- 12 schaftern sind nicht auf die gesellschaftsrechtliche Ebene beschränkt, sie können auch auf besonderen schuldrechtlichen Verträgen beruhen. Die (angemessenen29) Vergütungen im Rahmen eines schuldrechtlichen Leistungsaustauschs, sog. Leistungsvergütungen, sind bei einer Kapitalgesellschaft grds. als Betriebsausgaben abzugsfähig. Die Vergütungen führen bei den Gesellschaftern i.d.R. zu Einkünften i.S.d. §§ 18–21 EStG und damit u.a. zur Berücksichtigung der einschlägigen Pauschbeträge30. Einschränkungen können sich jedoch aus der sog. Zinsschranke ergeben (§ 4h EStG; § 8a KStG), die allerdings grds. auch für Personenunternehmen gilt31. Bei einer Personengesellschaft mindern die Leistungsvergütungen i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG den Gewinn demgegenüber grds. nicht32. Sie gehören bei den Gesellschaftern wegen des Subsidiaritätsprinzips zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb; Pauschoder Freibeträge kommen insoweit nicht in Betracht. g) Sonderbetriebsvermögen: Wirtschaftsgüter, die der Personengesellschaft von einem Gesellschaf- 13 ter zur Nutzung überlassen werden, gehören zum Sonderbetriebsvermögen des Gesellschafters (dazu § 10 Rz. 100 ff., 131 ff.). Das hat zur Folge, dass bei Veräußerung dieser Wirtschaftsgüter der Veräußerungsgewinn, bei Beendigung der Nutzungsüberlassung der Entnahmegewinn zu versteuern ist. Bei der Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft gehören die entsprechenden Wirtschaftsgüter demgegenüber grds. zum Privatvermögen; Veräußerungsgewinne werden daher nur im Rahmen der §§ 17; 20 II; 23 EStG erfasst. h) Pensionsrückstellungen werden für Gesellschafter einer Personengesellschaft einkommensteuer- 14 lich zumindest im Ergebnis nicht anerkannt33, während für die tätigen Gesellschafter von Kapitalgesellschaften lediglich in Ausnahmefällen Einschränkungen gelten34. 1.2 Gewerbesteuer a) Anteile am Gewinn oder Verlust aus der Beteiligung an einer Personengesellschaft unterliegen 15 bei einem gewerbesteuerpflichtigen Gesellschafter gem. § 8 Nr. 8; § 9 Nr. 2 GewStG nicht erneut der Gewerbesteuer.
28 Vgl. dazu i.E. Rz. 6. 29 Zur verdeckten Gewinnausschüttung allgemein § 11 Rz. 70 ff. Zur Angemessenheit der Gesamtbezüge eines Gesellschafter-Geschäftsführers BMF BStBl. I 2002, 972; dazu auch Höfer/Kaiser, DStR 2003, 274; grds. Seer, Die steuerliche Behandlung des beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführers einer Kapitalgesellschaft, in Jahrbuch des Bundesverbandes der Steuerberater 2014, 61. 30 Vgl. z.B. §§ 9a; 20 IX EStG. 31 Zur Zinsschranke allg. § 11 Rz. 49 ff. Zu den Belastungswirkungen insb. Ernst & Young, Die Unternehmensteuerreform 2008, 2007, Rz. 42 ff.; zu rechtsformabhängigen Belastungswirkungen Bachmann/ Schultze, DBW 2008, 9; Prinz, DB 2008, 368; Kollruss/Erl u.a., DStZ 2009, 117. 32 Dazu ausf. § 10 Rz. 103. 33 Vgl. BMF BStBl. I 2008, 317; dazu insb. Groh, DB 2008, 2391; Sievert/Kardekewitz, Ubg 2008, 617. 34 Vgl. BFH BStBl. II 1995, 419; 1996, 420; 1999, 316; 2006, 928; R 41 IX EStR; R 38 KStR 2004; BMF BStBl. I 2005, 387; dazu insb. auch Janssen, DStZ 1999, 741; Mahlow, DB 1999, 2590; Schmidt/WeberGrellet36, § 6a EStG Rz. 17; Prinz, WPg. 2006, 1409.
Montag 819
§ 13 Rz. 16
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
Wie Gewinnausschüttungen einer Kapitalgesellschaft bei einem gewerbesteuerpflichtigen Gesellschafter zu behandeln sind, hängt demgegenüber insb. von der Höhe der Beteiligungsquote zu Beginn des Erhebungszeitraumes ab, was nach dem Wegfall der Körperschaftsteuerbefreiung für Streubesitzanteile (dazu Rz. 8) die Kasuistik und Systembrüche der Regelungen nochmals massiv erhöht35. – Liegt die Beteiligungsquote mindestens bei 15 %, unterliegen die Gewinnausschüttungen nicht erneut der Gewerbesteuer (§§ 9 Nr. 2 a; 8 Nr. 5 GewStG). Nach § 8b V KStG gelten 5 % der Gewinnanteile als nichtabzugsfähige Betriebsausgaben, die mangels Anwendung der Kürzungsvorschriften insoweit auch der Gewerbesteuer unterliegen36. – Bei einer Beteiligungsquote unter 10 % unterliegen die Gewinnausschüttungen nicht nur der Körperschaftsteuer, sondern in voller Höhe auch der Gewerbesteuer. – Soweit die Beteiligungsquote mindestens bei 10 %, aber unter 15 % liegt, erfolgt nach Maßgabe des § 8 Nr. 5 GewStG eine Hinzurechnung, so dass die Ausschüttungen im Ergebnis in voller Höhe erneut der Gewerbesteuer unterliegen. 16 b) Leistungsvergütungen i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG gehen bei einer Personengesellschaft über § 7
GewStG unmittelbar in den Gewerbeertrag ein; bei Kapitalgesellschaften kommt eine Erfassung lediglich im Rahmen der Zinsschranke (§ 4h EStG; § 8a KStG)37 bzw. im Rahmen der Hinzurechnungen nach § 8 Nr. 1 GewStG in Betracht. Die Aufwendungen, die beim Gesellschafter im Zusammenhang mit den Leistungsvergütungen entstehen, mindern bei der Personengesellschaft als Sonderbetriebsausgaben auch den Gewerbeertrag; bei der Kapitalgesellschaft kommt eine entsprechende Entlastung nicht in Betracht. 17 c) Gesellschaftergrundstücke: Während bei einer Personengesellschaft § 9 Nr. 1 GewStG auch für
das in Grundbesitz bestehende Sonderbetriebsvermögen der Gesellschafter anzuwenden ist, ist eine derartige Kürzung bei einer Kapitalgesellschaft nicht möglich. 18 d) Für Personengesellschaften besteht gem. § 11 I 3 Nr. 1 GewStG ein Freibetrag i.H.v. 24 500 Eu-
ro. Nach Wegfall der früheren Messbetragsstaffel beträgt die Messzahl einheitlich 3,5 % (§ 11 II GewStG)38. 2. Zusammenfassender Vergleich laufender Besteuerungsunterschiede 2.1 Wesentliche Belastungsfaktoren 19 Bei einem Rechtsformvergleich sind in der laufenden Besteuerung eine Vielzahl von Entscheidungs-
parametern zu berücksichtigen. In der Praxis ist ein Vorteilhaftigkeitsvergleich daher nur auf Basis der individuellen Verhältnisse des Einzelfalls möglich und aussagekräftig. Pauschalaussagen sind weder theoretisch zu rechtfertigen noch für die Praxis tauglich. An dieser Beurteilung hat auch die Unternehmensteuerreform 2008 nichts geändert. Im Gegenteil: Die nominellen Belastungsunterschiede wurden zwar verringert. Gleichzeitig wurden jedoch insb. mit den Veränderungen bei der Gewerbesteuer39 sowie der Einführung der Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG, der Abgeltungsteuer und dem Teileinkünfteverfahren massive Strukturveränderungen durchgeführt, die isoliert und 35 Vgl. dazu insb. Grefe, DStZ 2013, 573; Richter/Reeb, DStZ 2013, 702 (705 ff.). 36 Vgl. BFH v. 10.1.2007 – BStBl. II 2007, 585; krit. dazu insb. auch Richter, BB 2007, 751. 37 Vgl. dazu § 11 Rz. 49 ff. Zu Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit bereits BFH Beschl. v. 18.12.2013 – I B 85/13, BStBl. II 2014, 947; dazu Nichtanwendungserlass v. 13.11.2014, BStBl. I 2014, 1518; zur Rechtfertigung der Regelung: Ismer, FR 2014, 777; Staats, Ubg 2014, 520. In seinem Beschluss v. 14.10.2015 – I R 20/15 (BFHE 252, 44) geht der BFH von der Verfassungswidrigkeit der Regelung aus und hat daher zu Recht ein Normenkontrollersuchen an das BVerfG gerichtet. Dazu Ditz, DStR 2017, 1561; Hick, FR 2016, 409; München/Mückl, DB 2016, 497; Kollruss, WPg. 2017, 918. 38 Vgl. § 12 Rz. 37. 39 Dazu insb. Herzig, DB 2007, 1541.
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Rz. 21 § 13
I. Unterschiede in der laufenden Besteuerung
im Zusammenwirken über unterschiedliche Bemessungsgrundlagen hinaus verstärkt zu außerordentlich differenzierten Belastungswirkungen führen40. Bei einer Personengesellschaft, an der natürliche Personen beteiligt sind, hängt die Steuerbelastung 20 u.a. davon ab, ob Gewinne einbehalten und nach § 34a EStG begünstigt besteuert, später entnommen oder unmittelbar mit dem Normalsatz versteuert werden. Bei einer Kapitalgesellschaft, an der natürliche Personen beteiligt sind, kommt es insb. darauf an, ob ausgeschüttet oder thesauriert wird, die Beteiligung im Privat- oder Betriebsvermögen liegt, ob im Betriebsvermögen thesauriert, später entnommen oder sofort „normal“ versteuert und die Voraussetzungen des gewerbesteuerlichen Schachtelprivilegs (§ 9 Nr. 2a GewStG) erfüllt sind. 2.2 Bedeutung des Thesaurierungs- und Entnahme-/Ausschüttungsverhaltens Übersicht: Gegenüberstellung wesentlicher Belastungswirkungen
21
Personengesellschaft Keine bzw. Thesaurierung ohne Option
Kapitalgesellschaft
Thesaurierung mit Option 100,00
Privatvermögen
Betriebsvermögen
36,16
Gewinn
100,00
100,00
100,00
100,00
100,00
– GewSt
– 14,00
– 14,00
– 14,00
– 14,00
– 14,00
– 15,00
– 15,00
– KSt – ESt regulär (45 %)
– 45,00
– 16,27
– Thesaurierungstarif (28,25 %)
– 28,25
– 18,03
13,30
13,30
+ GewSt-Anrechnung – SolZ
–
1,74
–
0,82
13,30 –
1,16
– 0,83
–
0,83
verbleiben
52,56
70,23
63,84
70,17
70,17
Steuerbelastung
47,44
29,77
36,16
29,83
29,83
0
100,00
63,84
– EStG (28,25 %)
– 28,25
– 18,03
– SolZ
–
–
nachzuversteuernde Entnahmen (brutto)
Nachversteuerungsbetrag
0,82
0,99
0
70,93
– ESt (25,00 %)
– 17,73
– 11,21
– SolZ
–
–
0,98
44,82
0,62
40 Vgl. dazu insb. auch Binz, DStR 2007, 1692; Blumenberg/Benz, Die Unternehmensteuerreform 2008, 2007; Cordes, WPg. 2007, 526; Endres/Spengel/Reister, WPg. 2007, 478; Ernst & Young, Die Unternehmensteuerreform 2008, 2007; Homburg/Houben/Maiterth, WPg. 2007, 376; Lühn/Lühn, StuB 2007, 253 (259); Rödder, DStR 2007, Beihefter zu Heft 40; Schaumburg/Rödder, Unternehmensteuerreformgesetz 2008, 2007; Derlien/Wittkowski, DB 2008, 835; Kavcic/Vogel, DStR 2008, 573; Müller/Schmidt/ Langkau, StuW 2010, 81. Zur Ermittlung der Belastungswirkungen der Unternehmensteuerreform 2008 mit Hilfe der Teilsteuerrechnung Marx/Hetebrügge, DB 2007, 2381; zum Konzept der Teilsteuerrechnung vgl. grds. 18. Aufl., § 18 Rz. 216 ff.
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§ 13 Rz. 22
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung Personengesellschaft Keine bzw. Thesaurierung ohne Option
Kapitalgesellschaft
Thesaurierung mit Option
Privatvermögen
Betriebsvermögen
70,17
70,17
– ESt
– 17,54
– 18,95
– SolZ
–
–
100,00
36,16
Ausschüttung
Steuerbelastung der Ausschüttung/ Entnahme Gesamtsteuerbelastung 22
0,96
1,04
0
18,71
11,83
18,50
19,99
47,44
48,48
47,99
48,33
49,82
Bei einer exemplarischen Gegenüberstellung der Belastungswirkungen, die sich aus der vorangegangenen Übersicht41 zur Zeit für Personen- und Kapitalgesellschaften ergeben, zeigt sich, dass insb. das Thesaurierungs- bzw. Entnahme-/Ausschüttungsverhalten die Höhe der Steuerbelastung maßgeblich bestimmt. Bei einer Personengesellschaft hängt die Steuerbelastung zudem entscheidend von der Ausübung des Wahlrechtes nach § 34a I EStG ab42. – Bei einer vollständigen Thesaurierung ergibt sich bei Inanspruchnahme der Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG mit einer Belastung von 29,77 % für die Personengesellschaft zwar annähernd die gleiche Belastung wie bei einer Kapitalgesellschaft mit 29,83 % Dies setzt allerdings voraus, dass keine Entnahme der anfallenden Einkommensteuer und des Solidaritätszuschlags erfolgt und auch die Gewerbesteuer aus privaten außerbetrieblichen Mitteln gezahlt wird43. Werden die entsprechenden Steuern aus betrieblichen Mitteln bezahlt, erfolgt insoweit der Übersicht entsprechend nur teilweise i.H.v. 63,84 eine Thesaurierung mit dem Sondertarif, während für die „Entnahme“ der Steuern i.H.v. 36,1644 der Normalsatz zur Anwendung kommt. Die Belastung steigt dann auf 36,16 % an und liegt damit deutlich über der Belastung einer Kapitalgesellschaft45. – Die Steuerbelastung steigt, je höher die Thesaurierung ist, wenn die thesaurierten Beträge später entnommen werden. – Inwieweit diese höhere Steuer durch Zinsvorteile aus der Nutzung der Thesaurierungsbegünstigung (über-)kompensiert wurde, hängt insb. von der Dauer der Thesaurierung und den Zinssätzen ab. – Die Vorteilhaftigkeit der Thesaurierungsbegünstigung relativiert sich darüber hinaus dann, wenn im normalen Progressionstarif niedrige Steuersätze anzuwenden sind, während bei der Nachver-
41 Vgl. dazu Cordes, WPg. 2007, 526. Die Berechnungen beruhen insb. auf folgenden Annahmen: Einkommensteuerspitzensatz 45 %; Gewerbesteuerhebesatz 400 %; keine Kirchensteuerpflicht; im Betriebsvermögen sind die Voraussetzungen des § 9 Nr. 2a GewStG erfüllt, so dass die Ausschüttung nicht der Gewerbesteuer unterliegt. 42 Die erste Spalte zeigt, dass die Höhe der Thesaurierung die Steuerbelastung einer Personengesellschaft nicht beeinflusst, solange von der Option nach § 34a EStG kein Gebrauch gemacht wird. Dazu auch Harle, BB 2008, 2151; Jorde/Götz, BB 2008, 1032; Rauenbusch, DB 2008, 656 (659); Rüd, FR 2008, 413; Schanz/Kollruss/Zipfel, DStR 2008, 1702. 43 Vgl. dazu i.E. Kleineidam/Liebchen, DB 2007, 409 (410); Cordes, WPg. 2007, 526 (527). Zur Vermeidung von Entnahmen durch Darlehens- oder Verrechnungskonten Cordes, WPg. 2007, 526 (527). 44 Zur Ermittlung des Steuerbetrags vgl. die Formel bei Kleineidam/Liebchen, DB 2007, 409 (410). 45 Vgl. dazu insb. Cordes, WPg. 2007, 526 (527); Kleineidam/Liebchen, DB 2007, 409 (409); Klipstein, DStZ 2009, 805.
822
Montag
II. Unterschiede in der Besteuerung von Sondervorgängen
Rz. 36 § 13
steuerung eine Belastung von 48,48 % entsteht. Die Thesaurierungsbegünstigung ist daher primär für Gesellschafter mit dauerhaft hohen Einkommensteuersätzen von Interesse46. – Im Ausschüttungsfall liegt die Belastung bei der Kapitalgesellschaft sowohl im Betriebsvermögen und damit im Rahmen des Teileinkünfteverfahrens (49,81 %) als auch im Privatvermögen und damit der Abgeltungsteuer (48,33 %) über der Belastung bei der Personengesellschaft, bei der keine Thesaurierung erfolgt und der Normalsteuersatz angewandt wird. 2.3 Bedeutung der Gewerbesteuer Neben der Thesaurierungsquote hat vor allem auch die Gewerbesteuer entscheidenden Einfluss auf 23 die Gesamtsteuerbelastung47. Grds. ist Folgendes festzuhalten: – Bei einer Kapitalgesellschaft führt jede Erhöhung der Gewerbesteuer zu einem Anstieg der Thesaurierungsbelastung und zu einer Minderung des Ausschüttungsvolumens. Die Höhe der Gewerbesteuer, insb. die Höhe der Hebesätze, hat daher für Kapitalgesellschaften besondere Bedeutung48. – Bei einer Personengesellschaft werden Gewerbesteuererhöhungen durch die Gewerbesteueranrechnung49 nach § 35 EStG stark relativiert. Bis zu Gewerbesteuerhebesätzen von 380 % wird die Gewerbesteuer voll durch die Gewerbesteueranrechnung kompensiert, während dies bei höheren Hebesätzen nicht mehr in vollem Umfang möglich ist. Die Bedeutung der Gewerbesteuer ist insofern hebesatzabhängig eingeschränkt. Einstweilen frei.
24–34
II. Unterschiede in der Besteuerung von Sondervorgängen Die Unterschiede in der steuerrechtlichen Behandlung von Personen- und Kapitalgesellschaften zei- 35 gen sich nicht nur bei der laufenden Besteuerung. Sie treten auch bei der Besteuerung von Sondervorgängen auf, wie aus der beispielhaften Untersuchung einiger solcher Vorgänge im Folgenden hervorgeht, bei denen neben den Ertragsteuern auch die Grunderwerbsteuer zu berücksichtigen ist. 1. Gründung 1.1 Grunderwerbsteuer Grundstückstransaktionen zwischen Personen- oder Kapitalgesellschaften und ihren Gesellschaftern 36 sind grds. gem. § 1 I Nr. 1 GrEStG steuerbar. Die Steuer beträgt gem. § 11 I GrEStG 3,5 % des Werts der Gegenleistung50. Mit Ausnahme von Bayern und Sachsen haben die Bundesländer allerdings von ihrem Recht Gebrauch gemacht, höhere Steuersätze festzulegen (Art. 105 IIa 2 GG), so dass je nach Belegenheit zur Zeit eine Belastung von bis zu 6,5 % eintreten kann51. Bei Transaktionen zwischen einer Personengesellschaft und ihren Gesellschaftern wird die Steuer jedoch, anders als bei Kapitalgesellschaften, insoweit nicht erhoben, als die Gesellschafter am Vermögen der Gesamthand beteiligt sind (§§ 5; 6 GrEStG)52. 46 47 48 49
Vgl. Cordes, WPg. 2007, 526 (529); vgl. auch Blum, BB 2008, 322. Vgl. dazu i.E. insb. Ernst & Young, Die Unternehmensteuerreform 2008, 2007, 96 ff. Zu Optimierungspotenzialen Dietrich/Krakowiak, DStR 2009, 661. Vgl. i.E. Ernst & Young, Die Unternehmensteuerreform 2008, 2007, 96 ff.; außerdem Bergemann/Markl/ Althof, DStR 2007, 695; Herzig, DB 2007, 1541; Herzig/Lochmann, DB 2007, 1037; Kossow, DB 2008, 1227. 50 Abw. Steuersätze gelten insb. für folgende Bundesländer: Berlin 4,5 %; Brandenburg 5 %; Bremen 4,5 %; Hamburg 4,5 %; Niedersachsen 5 %; Nordrhein-Westfalen 6,5 %; Sachsen-Anhalt 5 %. 51 Vgl. vorige Fn. 52 Vgl. dazu auch § 13 Rz. 39.
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§ 13 Rz. 37
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
1.2 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer 37 Personen- und Kapitalgesellschaften werden bei einer Bargründung i.d.R. gleich behandelt. Unter-
schiede ergeben sich jedoch dann, wenn ein Gesellschafter im Rahmen einer Sachgründung Wirtschaftsgüter aus einem anderen Betriebsvermögen in die Gesellschaft einlegt. Während bei einer Personengesellschaft gem. § 6 V 3 i.V.m. § 6 V 1 EStG grds. die Buchwerte fortzuführen sind53, sind für die Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft außerhalb des § 20 UmwStG zwingend die Teilwerte anzusetzen und damit die stillen Reserven zu realisieren. 1.3 Gewerbesteuer 38 Bei Personengesellschaften beginnt die Gewerbesteuerpflicht in dem Zeitpunkt, in dem erstmals alle
Voraussetzungen eines Gewerbebetriebs erfüllt sind. Der Zeitpunkt der Eintragung ins Handelsregister ist für den Beginn bedeutungslos54. Bei Kapitalgesellschaften beginnt die Steuerpflicht demgegenüber grds. mit der Eintragung ins Handelsregister; auf Art und Umfang der Tätigkeit kommt es von diesem Zeitpunkt an nicht mehr an55. Gewerbesteuerpflicht besteht daher auch dann, wenn die Kapitalgesellschaft nicht gewerblich tätig wird. Die vor Eintragung ins Handelsregister bestehende Vor- oder Gründergesellschaft bildet nach der Rspr. des BFH zusammen mit der später eingetragenen Kapitalgesellschaft einen einheitlichen Steuergegenstand, wenn sie bereits vor der Eintragung nach außen tätig wird56. 2. Anteilsveräußerung 2.1 Grunderwerbsteuer 39 Ein Gesellschafterwechsel unterliegt grds. sowohl bei einer Personengesellschaft (§ 1 IIa GrEStG)57
als auch bei einer Kapitalgesellschaft (§ 1 III GrEStG)58 der Grunderwerbsteuer, wenn ein inländisches Grundstück zum Gesellschaftsvermögen gehört und mindestens 95 % der Anteile übergehen59. Ein Gesellschafterwechsel kann nach § 1 IIIa GrEStG auch dann besteuert werden, wenn eine wirtschaftliche Beteiligung i.H.v. mind. 95 % an einer Gesellschaft mit inländischem Grundbesitz entsteht60. Bei Personengesellschaften können sich dabei jedoch insb. aus den personenbezogenen Steu-
53 Vgl. dazu auch BFH BFH/NV 2010, 535; dazu insb. Gosch, DStR 2010, 1173; Hahne, StuB 2010, 611; Schmidt/Kulosa36, § 6 EStG Rz. 641 ff. Vgl. außerdem BMF BStBl. I 2011, 1279; dazu insb. Rogall/Gerner, Ubg 2012, 81. 54 Vgl. R 2.5 (1) GewStR; dazu auch § 12 Rz. 8. 55 Vgl. R 2.5 (2) GewStR; dazu auch § 12 Rz. 9. 56 BFH BStBl. III 1960, 319; II 1977, 561. Dazu auch Baumgartner, Die Vorgesellschaft der Aktiengesellschaft im Steuerrecht, Diss. rer. pol., 1972, 153 ff.; Römer, Die steuerrechtliche Behandlung der Vorformen der Kapitalgesellschaften. Eine Untersuchung über die Körperschaftsteuer-, Vermögensteuerund Gewerbesteuerpflicht der Kapitalgesellschaften im Gründungsstadium, Diss. rer. pol., 1978, 148 ff. 57 Vgl. dazu auch BFH v. 29.2.2012 – II R 57/09, BStBl. II 2012, 917; v. 24.4.2013 – II R 17/10, BStBl. II 2013, 833; dazu insb. auch Behrens/Bock, DStR 2012, 1307; Salzmann, DStR 2012, 1314; Bock, GmbHR 2013, 862; außerdem auch Fuhrmann, KÖSDI 2014, 18768; zur Auffassung der Finanzverwaltung BStBl. I 2014, 561; dazu insb. Stangl/Aichberger, DB 2014, 1509. 58 Zur Auslegung des Begriffs „Anteil der Gesellschaft“ i.S.v. § 1 III GrEStG BFH v. 12.3.2014 – II R 51/12, BFH/NV 2014, 1315; dazu auch Behrens, BB 2014, 2647. 59 Zum Verhältnis von § 1 IIa und § 1 III GrEStG bei Personengesellschaften Boruttau18, § 1 GrEStG Rz. 816 f.; dazu auch Fuhrmann, KÖSDI 2014, 18768. Zur Frage der Abzugsfähigkeit Gadek/Mörwald, DB 2012, 2010. 60 Vgl. dazu auch Gleichlautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder BStBl. I 2013, 1364; Behrens, DStR 2013, 2726; Liekenbrock/Joisten, Ubg 2013, 743; Wagner/Lieber, DB 2013, 1387; dazu insb. auch Fuhrmann, KÖSDI 2014, 18774; Wagner/Mayer, BB 2014, 279.
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Montag
II. Unterschiede in der Besteuerung von Sondervorgängen
Rz. 41 § 13
erbefreiungen des § 3 GrEStG sowie aus § 6 III GrEStG Erleichterungen ergeben61. Bei konzerninternen Umstrukturierungen wird die Grunderwerbsteuer unter den Voraussetzungen des § 6a GrEStG nicht erhoben62. 2.2 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer a) Veräußerungsgewinne: Der Gewinn aus der Veräußerung einer Beteiligung an einer Personen- 40 gesellschaft63 wird gem. § 16 I Nr. 2 EStG grds. unabhängig von der Höhe der Beteiligung und unabhängig davon besteuert, ob die Beteiligung von einer natürlichen Person oder einer Kapitalgesellschaft veräußert wird. Während ein Veräußerungsgewinn bei einer Kapitalgesellschaft ungemildert der Körperschaftsteuer unterliegt und Verluste bei der Veräußerung der Beteiligung durch Kapitalgesellschaften oder natürliche Personen verrechenbar sind, bestehen bei natürlichen Personen für Veräußerungsgewinne insb. die folgenden Vergünstigungen, wenn der gesamte Mitunternehmeranteil veräußert wird und auf der Seite des Veräußerers und des Erwerbers nicht dieselben Personen stehen (§ 16 II 3, III 2 EStG). – Bei Vollendung des 55. Lebensjahres oder dauernder Berufsunfähigkeit kommt auf Antrag einmal im Leben der Freibetrag nach § 16 IV EStG bis zu max. 45 000 Euro zur Anwendung. – Soweit der Veräußerungsgewinn den Freibetrag übersteigt oder der Freibetrag nicht in Anspruch genommen wird, unterliegt der Veräußerungsgewinn bis zu einem Höchstbetrag von 5 Mio. Euro bei Vollendung des 55. Lebensjahres oder dauernder Berufsunfähigkeit auf Antrag einmal im Leben nach § 34 III EStG dem halben Steuersatz. – Wird der Antrag auf Anwendung des halben Steuersatzes nicht gestellt oder der Höchstbetrag überschritten, kommt insoweit auf Antrag der ermäßigte Steuersatz nach der Fünftelregelung des § 34 I EStG zur Anwendung. Bei Anteilen an einer Kapitalgesellschaft ist danach zu differenzieren, wer die Anteile veräußert. – Bei einer Kapitalgesellschaft sind Veräußerungsgewinne nach § 8b II KStG – unabhängig von der Beteiligungsquote64 – grds. steuerfrei65, wobei sich allerdings insb. bei Finanzunternehmen nach § 8b VII KStG66 und für Anteile i.S.d. § 22 UmwStG innerhalb einer Frist von 7 Jahren Restriktionen ergeben können67. Nach § 8b III KStG gelten 5 % der steuerfreien Bezüge i.S.d. § 8b I KStG als nicht abzugsfähi-
61 Vgl. Pahlke6, § 3 GrEStG Rz. 11 ff., § 6 GrEStG Rz. 30; Heine, INF 2000, 389 (392); Koordinierter Ländererlass, BStBl. I 2000, 344 (348). 62 Vgl. dazu Gleichlautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder, BStBl. I 2012, 662; dazu auch Behrens, DStR 2012, 2149; Jorde/Trinkaus, Ubg 2012, 649; Lieber/Wagner, DB 2012, 1772; Behrens, DStR 2013, 2726; Illing, DStZ 2013, 504. Vgl. zur Bewertung nach § 8 II GrEStG §§ 151 I, 157 I BewG sowie zur Problematik einer unzulässigen Beihilfe durch § 6a GrEStG unten § 14 Rz. 58. 63 Zu Grundfragen der Besteuerung betrieblicher Veräußerungsgewinne § 8 Rz. 181 ff. Vgl. auch den Überblick bei Kröner, BB 2012, 2403; BB 2013, 2711. 64 Zur Einführung der Steuerpflicht für Streubesitzdividenden § 13 Rz. 8; Haselmann/Albrecht, DStR 2015, 2212; Helios/Philipp, Der Konzern 2015, 369; Kotten/Heinemann, DStR 2015, 1889; Ritzer/Stangl, DStR 2015, 2203; Rogall/Dreßler, BB 2015, 2009. 65 Vgl. i.E. § 11 Rz. 35 ff. Zur Abziehbarkeit von Veräußerungskosten BFH-Urt. v. 12.3.2014 – IR 45/13, BFH/NV 2014, 1327; außerdem auch Riedel, FR 2014, 356. Zur Verfassungsmäßigkeit des Abzugsverbots BFH v. 12.3.2014 – I R 87/12, BStBl. II 2014, 859. Zur Behandlung von Veräußerungskosten und nachträglichen Kaufpreisänderungen BMF v. 24.7.2015, BStBl. I 2015, 612; außerdem auch BFH v. 22.12.2010 – I R 58/10, BStBl. II 2015, 668; v. 13.10.2015 – IX R 43/14, DB 2016, 88; v. 15.6.2016 – I R 64/14, BStBl. II 2017, 182. Krit. dazu insb. auch Weiss, Der Konzern 2017, 174. 66 Vgl. i.E. § 11 Rz. 44; BFH BStBl. II 2007, 60; 2009, 671; BFH/NV 2012, 263; 2012, 453; 2012, 613; BMF BStBl. I 2002, 712; außerdem auch Breuninger/Winkler, Ubg 2011, 13; Riegel, Ubg 2011, 121; Schaden/Zipfel, StbJb. 2011/2012, 79 ff. 67 Vgl. i.E. § 14 Rz. 73 ff.
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§ 13 Rz. 42
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
ge Betriebsausgaben. Im Ergebnis werden Veräußerungsgewinne daher insoweit grds. nur zu 95 % freigestellt68. – Soweit natürliche Personen Anteile an einer Kapitalgesellschaft veräußern, sind grds. folgende Fälle zu unterscheiden: – Im Privatvermögen werden Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, die vor dem 1.1.2009 erworben wurden (§ 52a III 2 EStG), grds. weiterhin nur dann zur Hälfte besteuert, wenn ein privates Veräußerungsgeschäft vorliegt (§§ 22 Nr. 2; 23 I Nr. 2; § 3 Nr. 40j EStG) oder der Veräußerer innerhalb der letzten 5 Jahre am Kapital der Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar zumindest mit 1 % beteiligt war (§§ 3 Nr. 40c; 17 EStG). – Mit Einführung der Abgeltungsteuer sind Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, die nach dem 31.12.2008 (§ 52a X EStG) erworben und im Privatvermögen gehalten wurden und nicht unter § 17 EStG fallen (§ 20 VIII EStG), unabhängig von der Haltedauer und der Höhe der Beteiligung voll steuerpflichtig (§ 20 II EStG). Der Steuersatz beträgt einheitlich 25 % (§ 32d I 1 EStG)69. Veräußerungsverluste sind insb. bei Aktien nur beschränkt verrechenbar (§ 20 VI EStG). – Bei Anteilen i.S.d. § 17 EStG70 fallen Veräußerungsgewinne nicht unter die Abgeltungsteuer (§ 20 VIII EStG). Nach dem Teileinkünfteverfahren sind Veräußerungsgewinne zu 60 % steuerpflichtig, Betriebsausgaben und Anschaffungskosten sind (vgl. § 52a IV EStG) zu 60 % abzugsfähig (§§ 3 Nr. 40c; 3c II EStG). Dabei kommt der Freibetrag nach § 17 III EStG, nicht aber der ermäßigte Steuersatz nach § 34 EStG, zur Anwendung (§ 34 II Nr. 1 EStG). – Im Betriebsvermögen werden Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft grds. unabhängig von der Höhe der Beteiligung zu 60 % versteuert, soweit der Gewinn nicht nach § 6b X EStG bis zum Höchstbetrag von 500 000 Euro von den Anschaffungskosten für Anteile an Kapitalgesellschaften oder bestimmten anderen Wirtschaftsgütern abgezogen oder in eine entsprechende Rücklage eingestellt wird71. Bei 100 %-Beteiligung liegt ein Teilbetrieb i.S.d. § 16 I Nr. 1 Satz 2 EStG vor, so dass der zu 60 % steuerpflichtige Veräußerungsgewinn (§ 3 Nr. 40 EStG) ggf. um den Freibetrag nach § 16 IV EStG zu kürzen ist. Der ermäßigte Steuersatz nach § 34 I, III EStG dürfte zumindest dann weiter anwendbar sein, wenn der Veräußerungsgewinn wegen Verstoßes gegen die Sperrfrist (§ 3 Nr. 40 Satz 3, 4 EStG) nicht steuerbefreit ist72. – Verluste sind nach § 3c II 1 u. 2 EStG zu 60 % abzugsfähig. Diese vor dem Hintergrund des objektiven Nettoprinzips ohnehin nicht zu rechtfertigende Beschränkung der Abzugsfähigkeit73 ist offensichtlich insb. auch in den Fällen verfehlt, in denen Veräußerungsgewinne voll steuerpflichtig wären74. 42
Wenn eine Personengesellschaft Anteile an einer Kapitalgesellschaft veräußert, ist der Gewinn insoweit zu 40 % steuerfrei, als natürliche Personen beteiligt sind (§ 3 Nr. 40 EStG). Soweit Kapitalgesellschaften beteiligt sind, ist der Gewinn im Ergebnis zu 95 % steuerfrei (§ 8b II, III, VI KStG).
68 Vgl. dazu Roser, GmbHR 2003, 1250; Gocksch/Buge, DStR 2004, 1549; Richter, GmbHR 2004, 1192. 69 Vgl. das Veranlagungswahlrecht in § 32d VI EStG. 70 Zur Rechtsentwicklung Strahl, KÖSDI 2007, 15657. Zur verfassungsrechtlich problematischen Absenkung der Beteiligungsquote von 10 % auf 1 % für bestehende Beteiligungen insb. Schüppen/Sanna, BB 2001, 2397 ff.; Inselmann/van Lengerich, DStR 2002, 705. Zur Beurteilung der Wesentlichkeit im Zeitablauf BFH BStBl. II 2008, 856. Nach BFH BStBl. II 2005, 398, soll indessen eine zulässige unechte Rückwirkung vorliegen; VerfBeschw 2 BvR 735/05, BFH/NV 2006, 725. Vgl. auch Schmidt/Weber-Grellet33, § 17 EStG Rz. 33. 71 Vgl. dazu insb. Förster, DStR 2001, 1913 ff.; Rödder/Schumacher, DStR 2001, 1634 (1638); Schoor, StuB 2001, 837; Strahl, FR 2001, 1154; Kölpin, StuB 2002, 380; Rödder/Schumacher, DStR 2002, 105 (107); Strahl, KÖSDI 2002, 13145. 72 Vgl. dazu insb. Schmidt/Wacker36, § 16 EStG Rz. 161; entsprechend wohl auch Schaumburg/Rödder, Unternehmenssteuerreform 2001, 2000, 182. 73 Schaumburg/Rödder, Unternehmenssteuerreform 2001, 2000, 182. 74 Vgl. allerdings BFH v. 19.6.2007, DStR 2007, 1756.
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II. Unterschiede in der Besteuerung von Sondervorgängen
Rz. 43 § 13
b) Verluste75: Bei einer Personengesellschaft werden Verluste dem Gesellschafter grds. unmittelbar 43 zugerechnet, so dass ein etwaiger Verlustvortrag eines Gesellschafters ihm beim Ausscheiden erhalten bleibt. Bei einer Kapitalgesellschaft steht ein Verlustvortrag demgegenüber zwar der Gesellschaft zu. Gem. § 8c I KStG bleibt der Verlustvortrag gleichwohl aber von einem Gesellschafterwechsel grds. nicht unberührt. Dies ist nicht nur wirtschaftspolitisch verfehlt und systemwidrig76, sondern auch mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren, was das BVerfG nunmehr für § 8c I 1 KStG (Übertragung von mehr als 25 v. H. und bis zu 50 v. H. des gezeichneten Kapitals) zumindest bis zum 31.12.2015 bestätigt hat77. Nach § 8c I 1 KStG entfällt ein bestehender Verlustvortrag grds. quotal, soweit innerhalb von 5 Jahren mehr als 25 % der Anteile übertragen werden. Der Verlustvortrag entfällt grds. vollständig (§ 8c I 2 KStG), soweit innerhalb von 5 Jahren mehr als 50 % der Anteile übertragen werden78. Das quotale oder vollständige Abzugsverbot tritt ausnahmsweise dann nicht ein, wenn die Voraussetzungen der sog. „Konzernklausel“ (§ 8c I 5 KStG) oder der sog. „Stille-Reserven-Regel“ (§ 8c I 6, 7 KStG) erfüllt sind79 oder ein Beteiligungserwerb zum Zweck der Sanierung (§ 8c Ia KStG) vorliegt80. – Nach der Konzernklausel liegt ein schädlicher Beteiligungserwerb nicht vor, wenn – an dem übertragenden Rechtsträger der Erwerber zu 100 % mittelbar oder unmittelbar beteiligt ist, – an dem übernehmenden Rechtsträger der Veräußerer zu 100 % mittelbar oder unmittelbar beteiligt ist und der Veräußerer eine natürliche oder juristische Person oder eine Personenhandelsgesellschaft ist oder – an dem übertragenden und an dem übernehmenden Rechtsträger dieselbe natürliche oder juristische Person oder Personenhandelsgesellschaft zu jeweils 100 % mittelbar oder unmittelbar beteiligt ist81. – Nach der Stille-Reserven-Regel kann ein Verlust auch bei einem schädlichen Beteiligungserwerb insoweit abgezogen werden, als er die zum Zeitpunkt des Beteiligungserwerbs vorhandenen stillen Reserven des inländischen Betriebsvermögens der Körperschaft nicht übersteigt82. 75 Zur grundsätzlichen Bedeutung von Verlusten bei der Rechtsformwahl Meyering/Frieling/Mayer, FR 2016, 785. 76 Grundl. Hey, BB 2017, 1303 (1306 f.); Rödder, DStR 2007, Beihefter zu Heft 40, 12 f.; Dorenkamp, Systemgerechte Neuordnung der Verlustverrechnung, ifst-Schrift Nr. 46, 2010; Ernst, Neuordnung der Verlustverrechnung nach Anteilseignerwechsel, ifst-Schrift Nr. 470, 2011. Zur Anwendung durch die Finanzverwaltung BMF v. 28.11.2017, BStBl. I 2017, 1645. 77 Beschl. v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 108 mit weiteren Nachweisen. Dazu § 11 Rz. 57 f.; außerdem auch Blumenberg/Crezelius, DB 2017, 1405; Dreßler, Der Konzern 2017, 326; Ernst/Roth, Ubg 2017, 366; Hohmann, DStZ 2017, 550; Kessler/Egelhoff/Probst, DStR 2017, 1289; Niemeyer/Lemmen, DStZ 2017, 679; Pauli, FR 2017, 663; Suchanek, FR 2017, 587. Zur Verfassungswidrigkeit von § 8c Satz 2 KStG (Übertragung von mehr als 50 % des gezeichneten Kapitals) FG Hamburg v. 29.8.2017 – 2 K 245/17, FR 2017, 1134. Die Finanzverwaltung wendet § 8c I 1 KStG für mittelbare Anteilsübertragung weiterhin an. Vgl. BMF v. 28.11.2017, BStBl. I2017, 1645, Rz. 66. 78 Grds. zu § 8c KStG insb. auch R. Neumann, Die Kapitalgesellschaft im Würgegriff des § 8c KStG?, FS Streck, 2011, 103. Zu den Auswirkungen des § 8c KStG auf die Bewertung von Unternehmen im Rahmen von Unternehmenskäufen Jacob/Pasedag, WPg. 2010, 92. 79 Vgl. dazu i.E. § 11 Rz. 58; außerdem auch Lang, Der Konzern 2010, 35; Bien/Wagner, BB 2010, 923; Cortez/Brucker, BB 2010, 734; Eisgruber/Schaden, Ubg 2010, 73; Frey/Muckl, GmbHR 2010, 71; Jacob/ Pasedag, WPg. 2010, 92; Haßa/Gasmann, DB 2010, 1198. 80 Vgl. dazu i.E. § 11 Rz. 58; außerdem auch Altrichter-Herzberg, GmbHR 2009, 466; B. Lang, DStZ 2009, 751; Mückl/Remplik, FR 2009, 689; N. Meyer, BB 2009, 2284; Neumann/Stimpel, Der Konzern 2009, 409; Sistermann/Brinkmann, DStR 2009, 1453; Suchanek/Herbst, Ubg 2009, 525. Vgl. auch Verf. OFD Rheinland/Münster, DStR 2010, 929. 81 Zur rückwirkenden Neuregelung der Konzernklausel nach § 8c I 5 KStG auf Beteiligungserwerbe nach dem 31.12.2009 durch das Steueränderungsgesetz v. 2.11.2015 (BGBl. I 2015, 1834) Gohr/Richter, DB 2016, 127; Suchanek/Hesse, DStZ 2016, 27. 82 Vgl. dazu auch Rödder/von Freeden, Ubg 2010, 551.
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§ 13 Rz. 44
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
– Schließlich kann ein Verlust auch dann abgezogen werden, wenn ein Beteiligungserwerb zum Zweck der Sanierung des Geschäftsbetriebs der Körperschaft erfolgt (§ 8c Ia 1 KStG)83. Als Sanierung ist dabei eine Maßnahme anzusehen, die darauf gerichtet ist, die Zahlungsunfähigkeit zu verhindern oder zu beseitigen und zugleich die wesentlichen Betriebsstrukturen zu erhalten (§ 8c Ia 2 ff. KStG). 44
Darüber hinaus tritt das Abzugsverbot gem. § 8d KStG auch dann nicht ein, wenn der Geschäftsbetrieb seit der Gründung oder seit mindestens drei Jahren ununterbrochen fortgeführt, ein entsprechender Antrag gestellt wird und kein schädliches Ereignis i.S.d. § 8d II KStG eingetreten ist84. Ob auch § 8c I 2 KStG verfassungswidrig und wie § 8d KStG zu werten ist, lässt das BVerfG ausdrücklich offen85. Der Gesetzgeber sollte vor diesem Hintergrund die vom BVerfG auferlegte Verpflichtung zur Neuregelung des § 8c KStG als Chance verstehen und für eine systematisch konsistente Lösung nutzen, die das Nettoprinzip wahrt und sich auf echte Missbrauchsfälle beschränkt86. 2.3 Gewerbesteuer
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a) Veräußerungsgewinne i.S.d. § 16 EStG gehören grds. nicht zum Gewerbeertrag87. Bei der Veräußerung eines Mitunternehmeranteils fällt daher keine Gewerbesteuer an, soweit auf der Seite des Veräußerers und des Erwerbers nicht dieselben Personen stehen (§ 16 II 3, III 2 EStG, R 7.1 (3) GewStR)88 und der Gewinn bei einer natürlichen Person entsteht oder bei der Veräußerung durch eine Mitunternehmerschaft auf eine natürliche Person als unmittelbar beteiligter Mitunternehmer entfällt (§ 7 Satz 2 GewStG)89. Einkünfte des laufenden Gewerbebetriebs liegen auch dann nicht vor, wenn nur ein Teil eines Mitunternehmeranteils veräußert wird. Soweit auf Grund der entsprechenden Einschränkung des § 16 I Nr. 2 EStG Gewerbesteuerpflicht angenommen werden sollte, ist dies systematisch nicht gerechtfertigt90. Bei Veräußerung eines Mitunternehmeranteils durch eine Kapitalgesellschaft fällt demgegenüber ebenso Gewerbesteuer an wie bei der Veräußerung durch eine Personengesellschaft, soweit der Veräußerungsgewinn nicht auf eine natürliche Person als unmittelbar beteiligter Mitunternehmer entfällt (§ 7 Satz 2 GewStG)91.
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Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft unterliegen bei einer Kapitalgesellschaft ebenfalls nicht der Gewerbesteuer (§ 8b II KStG; § 7 GewStG). Bei natürlichen Per83 Nachdem die EU-Kommission die Sanierungsklausel als unzulässige Beihilfe angesehen hat, wurden die gegen diese Entscheidung eingelegten Klagen zwischenzeitlich vom EuG abgewiesen (Urt. v. 4.2.2016 – T-620/11, GFKL Financial Services/Kommission, sowie T-287/11, Heitkamp Bau Holding/Kommission). Die eingelegten Rechtsmittel sind beim EuGH anhängig (C-209/16 P zu GFKL und C-203/16 P und C-208/16 P zu Heitkamp Bau Holding). 84 Vgl. dazu Bericht der Arbeitsgruppe „Weiterentwicklung der Regelungen“ zur Verlustverrechnung nach Anteilseignerwechsel (§ 8c KStG)“, FR 2017, 113; sowie auch Bakeberg/Krüger, BB 2016, 2967; Bergmann/Süß, DStR 2016, 2185; Neyer, FR 2016, 928; Engelen/Barsch, Der Konzern 2017, 22; Kußmaul/ Palm/Licht, GmbHR 2017, 1009; Mirbach, KÖSDI 2017, 20330; Moser/Witt, DStZ 2017, 235; Röder, DStR 2017, 1737. 85 Vgl. Beschl. v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082, Rz. 141, 161. Dazu insb. auch Suchanek/ Rüsch, GmbHR 2018, 57. 86 Vgl. Beschl. v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082, Rz. 141, 161. 87 BFH BStBl. III 1962, 438; 1964, 248; II 1971, 182; 1982, 707; Abschn. R 7.1 (3) GewStR. 88 Vgl. auch Rz. 40. 89 Vgl. § 12 Rz. 19. Zur Veräußerung einer doppelstöckigen Personengesellschaft Hülsemann, DStR 2014, 104. 90 Vgl. § 12 Rz. 18. Die als Voraussetzung für die Begünstigung nach § 16 I Nr. 2 EStG geforderte Aufdeckung aller stillen Reserven (BT-Drucks. 14/6882, 34) ist bei der Abgrenzung des Gewerbeertrags nicht entscheidend (vgl. BFH/NV 2000, 1554). 91 Vgl. § 12 Rz. 18; zu den Auswirkungen und Gestaltungsüberlegungen insb. im Hinblick auf die Steuerermäßigung nach § 35 EStG Neu/Hamacher, GmbHR 2014, 841.
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II. Unterschiede in der Besteuerung von Sondervorgängen
Rz. 48 § 13
sonen, die die Anteile im Betriebsvermögen hatten, sind sie demgegenüber zu 60 % steuerpflichtig (§ 3 Nr. 40 EStG; § 7 GewStG). Werden Anteile an einer Kapitalgesellschaft von einer Personengesellschaft veräußert, ist bei der Ermittlung des Gewerbeertrags der Personengesellschaft in Abhängigkeit von der Rechtsform zu differenzieren. Soweit Kapitalgesellschaften beteiligt sind, ist der Gewinn voll steuerbefreit (§ 8b II, VI KStG; § 7 Satz 4 GewStG). Soweit natürliche Personen beteiligt sind, ist der Gewinn zu 60 % steuerpflichtig (§ 3 Nr. 40 EStG; § 7 GewStG). b) Gewerbeverluste: Auch bei einer Kapitalgesellschaft kann sich zukünftig allein durch einen Ge- 47 sellschafterwechsel eine Minderung von Gewerbeverlusten ergeben. Nach § 10a Satz 8 GewStG; § 8c KStG entfällt der Verlustvortrag quotal bei einer Übertragung von Stimm- oder Anteilsrechten von mehr als 25 % bis zu 50 % Der Verlustvortrag entfällt vollständig bei einer Übertragung von mehr als 50 %92. Wird ein Mitunternehmeranteil veräußert, kann ein Gewerbeverlust nur insoweit abgezogen werden, als die Gesellschafter, die den Betrieb fortführen, vor der Änderung der Beteiligungsverhältnisse am Gewinn der Gesellschaft beteiligt waren93. 3. Erbfall und Schenkung 3.1 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer a) Gewinnrealisierung: Die unentgeltliche Übertragung eines Mitunternehmeranteils (dazu auch 48 § 9 Rz. 431) erfolgt nach § 6 III EStG zwingend mit Buchwertverknüpfung94, so dass die stillen Reserven nicht realisiert, sondern auf den Rechtsnachfolger übertragen werden. Im Gegensatz dazu können die Buchwerte bei der unentgeltlichen Übertragung einer Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft grds. nicht fortgeführt werden. Die Anwendung des § 6 III EStG ist auch bei einer 100 %-Beteiligung (Teilbetrieb) nicht möglich95. b) Verluste: Bei einer Personengesellschaft werden Verluste grds. den Gesellschaftern zugerechnet96 und können dort zu Verlustvorträgen führen. Diese Verlustvorträge konnten in der Vergangenheit zwar nicht durch Schenkung übertragen werden97, jedoch in Erbfällen übergehen98. In Abkehr von seiner früheren Rspr. vertritt der BFH die Auffassung, dass der Erbe einen vom Erblasser nicht ausgenutzten Verlustvortrag nicht mehr geltend machen kann99. Bei einer Kapitalgesellschaft verfällt ein Verlustvortrag nach dem Wortlaut des § 8c KStG demgegenüber sowohl bei Schenkung als auch im Erbfall quotal oder vollständig dann, wenn mehr als 25 % oder mehr als 50 % der Mitgliedschaftsrechte übertragen werden100. Vom Zweck der Vorschrift her ist dies nicht zu rechtfertigen, so dass eine teleologische Reduktion geboten ist.
92 Vgl. dazu auch Rz. 43. 93 Vgl. dazu § 12 Rz. 35. 94 Zu den Änderungen durch das UntStFG vgl. Rödder/Schumacher, DStR 2001, 1634 (1635 ff.); Rödder/ Schumacher, DStR 2002, 105 (106); Korn, KÖSDI 2005, 14633. 95 Vgl. BFH BStBl. II 2006, 457. 96 Vgl. Rz. 43. 97 Vgl. BFH BStBl. II 1991, 899. 98 Vgl. H zu 10d EStR 2008; BFH BStBl. II 2000, 622; 2002, 487; 2004, 414; 2005, 262; zur Entwicklung der BFH-Rspr. Schmidt/Heinicke36, § 10d EStG Rz. 13; Marx, FR 2005, 612; Rudisch, DB 2006, 976; Strnad, BB 2006, 1774. 99 BFH BStBl. II 2008, 608; zu der notwendigen Vertrauensschutzregelung BMF BStBl. I 2008, 809. Vgl. auch Birnbaum, DB 2008, 778; Dötsch, DStR 2008, 641; Witt, BB 2008, 1199; Scheffler, BB 2009, 2469. Krit. dazu auch Schmidt/Heinicke36, § 10d EStG Rz. 14; Fischer/Lackus, DStR 2014, 302. 100 Zur Verfassungswidrigkeit des § 8c KStG bis einschließlich 31.12.2015 oben § 13 Rz. 43.
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§ 13 Rz. 49
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
c) Steuerermäßigung: Nach § 36b EStG kann die Einkommensteuer auf Antrag durch Anrechnung der Erbschaftsteuer partiell ermäßigt werden101. Soweit bei der Erbschaftsteuer rechtsformabhängige Belastungsunterschiede bestehen, schlagen sie sich mithin auch auf die Einkommensteuer nieder. 3.2 Gewerbesteuer 49
Bei einer Kapitalgesellschaft bleibt der Gewerbeverlust im Erbfall oder bei einer Schenkung nach § 10a GewStG; § 8c KStG vom Wortlaut her nicht mehr unberührt102. Tritt bei einer Personengesellschaft durch Erbfall oder Schenkung ein Gesellschafterwechsel ein, kann ein vorhandener Gewerbeverlust von den ursprünglichen Gesellschaftern nur entsprechend ihrer Beteiligungsquote im Verlustentstehungsjahr genutzt werden103. 3.3 Erbschaft- und Schenkungsteuer
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Leistungen zwischen einer Personen- oder einer Kapitalgesellschaft einerseits und ihren Gesellschaftern andererseits sind regelmäßig gesellschaftsrechtlich veranlasst und unterliegen daher grds. nicht der Erbschaft- und Schenkungsteuer104. Erbschaft- und Schenkungsteuer kann jedoch insb. bei der Übertragung von Gesellschaftsanteilen entstehen (§§ 1; 7 ErbStG).
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Die Übertragung des Anteils an einer Personengesellschaft ist grds. ebenso wie die Übertragung der Anteile an einer Kapitalgesellschaft, die nicht an einer deutschen Börse zum Handel im regulierten Markt zugelassen sind105, im Erb- oder Schenkungsfall rechtsformneutral mit dem gemeinen Wert zu bewerten (§§ 1; 12 II, V ErbStG; 11 II; 109 II BewG)106. Soweit der gemeine Wert nicht aus Verkäufen unter Dritten abzuleiten ist, die weniger als ein Jahr zurückliegen, kann ein vereinfachtes Ertragswertverfahren angewendet werden (§§ 11 II 4; 199 ff. BewG), wenn dies nicht zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führt107. Rechtsformabhängige Differenzierungen ergeben sich jedoch mit dem sog. Verschonungsabschlag (§ 13a I ErbStG) für begünstigtes Vermögen nach § 13b ErbStG.
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Während Beteiligungen an Personengesellschaften und Anteile an Kapitalgesellschaften, die im Rahmen des Erwerbs ertragsteuerlichen Betriebsvermögens übergehen, unabhängig von der Beteiligungshöhe (§ 13b I Nr. 2 ErbStG) begünstigt werden, sind Beteiligungen an Kapitalgesellschaften im Privat-
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Vgl. dazu Herzig/Joisten/Vessel, DB 2009, 584. Vgl. Rz. 48. Vgl. R 10a.3 (3) GewStR. Dazu insb. auch Ley, KÖSDI 2013, 18366, 18466. Vgl. allerdings für Leistungen zwischen Kapitalgesellschaften und ihren Gesellschaften §§ 7 VIII; 15 IV ErbStG. Vgl. zur Auffassung der Finanzverwaltung BStBl. I 2012, 331; dazu insb. Viskorf/Haag, DStR 2012, 1166; Schulte/Petschulat, ifst-Schrift Nr. 484 (2013); vgl. andererseits dazu BFH v. 30.1.2013 – II R 6/12, BStBl. II 2013, 930, das von der Finanzverwaltung nicht angewandt wird (BStBl. I 2013, 1465); OFD NRW v. 19.1.2016, DB 2016, 206; dazu auch Birnbaum, DB 2013, 1371; Loose, DB 2013, 1080; van Lishaut, FR 2013, 891; Zimmert, DStR 2013, 1654; Buchner, FR 2014, 784; Geck in Kapp/Ebeling, § 7 ErbStG Rz. 209 ff. (2014); Schulze zur Wiesche, GmbHR 2015, 234; zu entsprechenden Leistungsbeziehungen bei Personengesellschaften Geck, KÖSDI 2013, 18290. 105 Vgl. § 11 II BewG. Für börsennotierte Anteile gilt der Kurswert (§ 111 BewG). Vgl. auch Bäuml, GmbHR 2009, 1135; Riedel, GmbHR 2009, 743. Zu den Auswirkungen und Gestaltungsspielräumen der ErbSt-Reform auf die erbschaftsteuerliche Bewertung insb. Bruckmeier/Zwirner/Vodermeier, DB 2017, 797; Bruckmeier/Zwirner/Vodermeier, DStR 2017, 678; Kummer/Wangler, DB 2017, 1917; Lorenz, DStR 2017, 1681. 106 Vgl. dazu allgemein insb. auch Hey, JZ 2007, 564; Seer, ZRP 2007, 116; Dorfleitner/Ilmberger/MeyerScharenberg, DBW 2010, 7. 107 Vgl. dazu Balmes/Felten, FR 2009, 258 (259); außerdem auch Piltz, DStR 2008, 745; Schiffers, DStZ 2009, 548; Demuth, KÖSDI, 2011, 17386.
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II. Unterschiede in der Besteuerung von Sondervorgängen
Rz. 55 § 13
vermögen demgegenüber nur dann begünstigt, wenn eine unmittelbare Beteiligung am Nennkapital von mehr als 25 % oder eine sog. Poolvereinbarung besteht (§ 13b I Nr. 3 ErbStG)108. Nachdem das BVerfG Begünstigungen beim Übergang von Unternehmensvermögen grundsätzlich 53 nicht beanstandet, die konkrete Ausgestaltung der §§ 13a, 13b ErbStG aber als Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 I GG angesehen hat109, ist nach einem überaus kontroversen Gesetzgebungsverfahren eine Neuregelung erfolgt110. Die Neuregelung wird den verfassungsrechtlichen Vorgaben allerdings nicht gerecht, weil sie aufgrund eines komplexen unsystematischen und interdependenten Regelungskonglomerats zu unkalkulierbaren und unvorhersehbaren Belastungen führt111. Einstweilen frei.
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4. Liquidation 4.1 Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer Bei der Liquidation einer Kapitalgesellschaft112 ist der im Abwicklungszeitraum erzielte Gewinn bei 55 der Kapitalgesellschaft zu versteuern, wobei die Rechtslage, insb. auch hinsichtlich des anzuwendenden Steuersatzes, des Veranlagungszeitraums maßgebend ist, in dem der Besteuerungszeitraum endet113. Soweit natürliche Personen beteiligt sind, sind die Liquidationsraten im Betriebsvermögen, bei Einkünften nach § 17 EStG oder den Einkünften aus Kapitalvermögen zu 60 % anzusetzen (§ 3 Nr. 40c EStG)114. Im Privatvermögen unterliegen sie der Abgeltungsteuer, soweit sie nicht unter § 17 EStG fallen und die Anteile nach dem 31.12.2008 erworben wurden115. Bei einer Kapitalgesellschaft sind die Liquidationsraten demgegenüber nach § 8b II KStG grds. steuerbefreit116. 108 Dazu Kreklau, BB 2009, 748; von Oertzen, Der erbschaftsteuerliche Poolvertrag gemäß § 13b 1 Nr. 3 ErbStG. Ein Beispiel interdisziplinärer Beratung, FS Schaumburg, 2009, 1045; Feick/Nordmeier, DStR 2009, 893; Rohde/Gemeinhard, StuB 2009, 709; Söffing/Thonemann, DB 2009, 1836. 109 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BStBl. II 2015, 50; dazu insb. § 15 Rz. 106 ff.; außerdem auch ifst, 506, Zukunft der Erbschaftsteuer; ifst-Stellungnahmen I/2015, Gesammelte Positionen zu den Eckwerten der Erbschaftsteuerreform 2016, Berlin 2015; Bockhoff/Christopeit, DB 2015, 393; Piltz, DStR 2015, 97; Seer, GmbHR 2015, 113; Stalleiken, Ubg 2015, 49; Zipfel/Lahme, DStZ 2015, 64; zu den unmittelbaren Auswirkungen für die Beratungspraxis Reich, BB 2015, 148. 110 Vgl. Gesetz zur Anpassung des Erbschaftsteuer- und Schenkungssteuergesetzes an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts v. 4.11.2016, BGBl. I 2016, 1202. Koordinierter Ländererlass v. 22.6.2017, BStBl. I 2017, 902. Vgl. dazu auch unten § 15; grundlegend krit. zu Recht Seer/Michalowski, GmbHR 2017, 609; darüber hinaus insb. auch Englisch, DB 2015, 637; Beznoska/Hentze, DB 2016, 2433; Geck, ZEV 2016, 546; Hannes, ZEV 2016, 554; Korezkij, DStR 2016, 2434; Stalleiken, Ubg 2016, 569; Thonemann-Mickler, DB 2016, 2312; Viskorf/Löcherbach/Jehle, DStR 2016, 24, 25; Korezkij, DStR 2017, 745; Pauli, WPg. 2017, 282; Wachter, GmbHR 2017, 1; Watrin/Linnemann, DStR 2017, 569. Vgl. insb. zum Ländererlass v. 22.6.2017: Demuth/Bodden, KÖSDI 2017, 20481; Kischisch/Maiterth, DB 2015, 2033; Höreth/Stelzer, DStZ 2016, 901; Korezkij, DStR 2017, 1729; Olbing/ Stenert, FR 2017, 701; Reich, BB 2017, 1879; Reich, DStR 2017, 1858; Stalleiken/Kotzenberg, GmbHR 2017, 673; Wachter, GmbHR 2017, 841. 111 Vgl. grundlegend dazu Seer/Michalowski, GmbHR 2017, 609. 112 Verfassungsrechtlich dazu insb. Keß, Ertragsbesteuerung bei Liquidationen, Diss., 2008. 113 Während der BFH BStBl. II 2008, 319, die Auffassung vertritt, dass für den Zeitraum, für den bei noch nicht abgeschlossener Liquidation eine Körperschaftsteuerveranlagung durchzuführen ist, auch eine Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrags zu erfolgen hat, will die Finanzverwaltung dieses Urteil nach BMF BStBl. I 2008, 542, nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus anwenden. Vgl. auch RFH RStBl. 1939, 589; BMF BStBl. I 2003, 434; außerdem Dötsch/Jost/Pung/Witt, § 11 KStG Rz. 21; Frotscher/Maas, § 11 KStG Rz. 27; Blümich, § 11 KStG Rz. 42; Fuhrmann, KÖSDI 2006, 14906 (14912). 114 Vgl. i.E. Schmidt/Weber-Grellet36, § 17 EStG Rz. 210 ff. m.w.N. 115 Vgl. dazu Rz. 41. 116 Vgl. Jünger, BB 2001, 69.
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§ 13 Rz. 56 56
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
Bei der Beteiligung an einer Personengesellschaft werden Aufgabegewinne (§ 16 III EStG) unabhängig von der Höhe der Beteiligung als Einkünfte aus Gewerbebetrieb versteuert. Bei natürlichen Personen unterliegt ein Aufgabegewinn unter Berücksichtigung des Freibetrags, der nach § 16 IV EStG altersbedingt oder bei dauernder Berufsunfähigkeit einmal im Leben gewährt wird, dem ermäßigten Steuersatz nach § 34 EStG. Wenn der Stpfl. das 55. Lebensjahr vollendet hat oder dauernd berufsunfähig ist, kommt auf Antrag einmal im Leben der halbe Steuersatz nach § 34 III EStG in Betracht. Wird der Antrag nach § 34 III nicht gestellt oder der begünstigte Höchstbetrag von insg. 5 Mio. Euro überschritten, kann die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes nach der Fünftelregelung des § 34 I EStG beantragt werden117. 4.2 Gewerbesteuer
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a) Steuerpflicht: Die Gewerbesteuerpflicht endet bei einer Kapitalgesellschaft nicht (wie bei der Personengesellschaft) bereits mit der Beendigung (d.h. mit der Einstellung) der gewerblichen Tätigkeit118, sondern erst mit der letzten Abwicklungshandlung119. Anders als bei Personengesellschaften unterliegt nicht nur der während der Abwicklung entstehende Gewinn bei der Kapitalgesellschaft der Gewerbeertragsteuer120. Nach der h.M.121 werden auch Gewinne aus der Veräußerung von Betrieben und Teilbetrieben erfasst122.
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b) Liquidationsgewinn: Bei einer Personengesellschaft unterliegt ein Aufgabegewinn i.S.d. § 16 III EStG grds. nicht der Gewerbesteuer123. Liquidationsgewinne aus einer Kapitalgesellschaft unterliegen bei natürlichen Personen demgegenüber im Rahmen eines Gewerbebetriebs zu 60 % der Gewerbesteuer (§ 3 Nr. 40 EStG; § 7 GewStG). Bei Kapitalgesellschaften sind sie grds. in voller Höhe freigestellt (§ 8b II KStG; § 7 GewStG)124.
59–69
Einstweilen frei.
B. Besteuerung zusammengesetzter Unternehmensformen 70
In Anbetracht der bestehenden Unterschiede bei der Besteuerung von Personen- und Kapitalgesellschaften125 ist der Versuch, die steuerlichen Vorteile der vom Gesetzgeber vorgegebenen Rechtsformen zu kombinieren und gleichzeitig ihre Nachteile zu vermeiden, nach wie vor von Bedeutung126. Er findet seinen Niederschlag in Unternehmensformen, die nicht mit dem zivilrechtlichen Ordnungsrahmen einer Rechtsform übereinstimmen, sondern sich aus mehreren Rechtsformen zusammensetzen und in ihrer steuerlichen Behandlung zumindest partiell Besonderheiten gegenüber den zivilrechtlichen Grundtypen aufweisen.
117 Vgl. dazu i.E. auch Rz. 40. 118 Vgl. RFH RStBl. 1938, 910; 1938, 911; 1939, 5; 1941, 386; R 2.5 (1), H 2.5 (1) GewStR. Dazu auch Lenski/Steinberg/Sarrazin, § 2 GewStG Anm. 2468 ff. 119 Vgl. RFH RStBl. 1939, 543; 1940, 116; 1940, 435; BFH BStBl. II 1980, 658; R 2.5 (1), H 2.5 (1) GewStR. 120 Vgl. dazu auch BFH BStBl. I 2008, 312; BMF BStBl. I 2008, 542; R 2.6 (2–4) GewStR. 121 BFH BStBl. II 1990, 699 m.w.N.; H 7.1 (3) Nr. 2, 7.1 (4) GewStR. 122 Glanegger/Güroff9, § 2 GewStG Rz. 475. 123 Vgl. R 2.6 (1) GewStR. 124 Vgl. insoweit auch Rz. 45 zur Behandlung von Veräußerungsgewinnen. 125 Für die wertvolle Unterstützung bei der Überarbeitung des § 13 B danken wir Herrn RA Dr. Christoph Kraus. 126 Vgl. dazu insb. Förster/Brinkmann, BB 2002, 1289; Müller-Gatermann, Stbg. 2007, 145. Zu der Frage, ob die Einführung einer optionalen transparenten Besteuerung der GmbH das Konstrukt der GmbH & Co. KG redundant werden ließe, Fechner/Lethaus, FS H. Schaumburg, 2009, 287.
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I. GmbH & Co. KG
Rz. 74 § 13
I. GmbH & Co. KG Literatur: Mohr, Aktuelle Brennpunkte der Vertragsgestaltung bei GmbH & Co. KG, GmbHStB 2009, 115; Altendorf, Aktuelle Hinweise zur GmbH & Co. KG, GmbHStB 2009, 211; Wagner/Rux, Die GmbH & Co. KG12, 2013; Pflüger, Ist die GmbH oder die GmbH & Co. KG die steuerlich günstigere Rechtsform, GmbHStB 2011, 424; Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, GmbH & Co. KG21, 2016; Söffing, Die GmbH & Co. KG3, 2016; Bauer, Gegenüberstellung relevanter Steuerbelastungsdeterminanten von klassischer Betriebsaufspaltung und GmbH & Co. KG – Rechtsformwahl, StuB 2017, 609; Bauer, Vergleichende Steuerbelastungsmessung in Bezug auf klassische Betriebsaufspaltung und GmbH & Co. KG – Steuerliche Vorteilhaftigkeit, StuB 2017, 668; Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG12, 2017; Hamminger, Einheits-GmbH & Co. KG – Grundsätze und aktuelle Rechtsprechung, NWB 2017, 1670. Zur älteren Lit. vgl. 16.–22. Aufl.
Die GmbH & Co. KG ist handelsrechtlich eine Personengesellschaft127. Alleiniger Komplementär der 71 KG ist i.d.R. eine GmbH128, so dass sich für die beteiligten natürlichen Personen eine vollständige Haftungsbeschränkung ergibt129. Sind die Gesellschafter der Komplementär-GmbH in gleicher Höhe auch als Kommanditisten an der KG beteiligt, liegt eine GmbH & Co. KG i.e.S. vor130. Für die Besteuerung dieser Unternehmensform, gelten grds. die allgemeinen Regeln, so dass sich die 72 Vorteile von GmbH und Personengesellschaft durch entsprechende Vertragsgestaltung zumindest teilweise kombinieren lassen131. Bedeutsam ist vor allem die unmittelbare Verlustzurechnung bei gleichzeitiger Haftungsbeschränkung für die Gesellschafter. Gegenüber der grundsätzlichen Behandlung von Personen- und Kapitalgesellschaften sind jedoch im Wesentlichen die folgenden Besonderheiten zu beachten132. 1. Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer a) Steuerpflicht: Mit dem Beschluss des Großen Senats133 hat der BFH klargestellt, dass eine GmbH & 73 Co. KG auch dann nicht Körperschaftsteuersubjekt ist, wenn sie als sog. Publikums-KG organisiert ist und insoweit körperschaftliche Strukturen aufweist. Steuersubjekte sind vielmehr die natürlichen (§ 1 EStG) und juristischen Personen (§ 1 KStG), die als Gesellschafter an der KG beteiligt sind. b) Einkunftsart: Nach der Aufgabe der Geprägetheorie durch den BFH hat der Gesetzgeber die 74 Grundsätze der früheren Rspr. mit der Einführung des § 15 III Nr. 2 EStG gesetzlich verankert134. 127 Zur GmbH & Co. GbR vgl. von Gronau/Konold, DStR 2001, 1926 ff.; Paus, DStZ 2002, 66; BMFSchreiben v. 17.3.2014 – IV C 6 - S 2241/07/10004; zur GmbH & Co. KGaA: Kohlruss, GmbHR 2003, 709; Sauter, StB 2006, 183; Bauschatz, DStZ 2007, 39. Zur Übertragung des Geschäftsbetriebs einer GmbH & Co. KG auf eine GmbH Schäffler/Gebert, DStR 2010, 636. 128 Zur grundl. Reform des GmbH-Rechts durch das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.10.2008 vgl. BGBl. I, 2026. 129 Mit der Unternehmergesellschaft ist durch das MoMiG eine weitere Gesellschaftsform eingeführt worden, die als Komplementär in Betracht kommt, vgl. dazu Heeg, DB 2009, 719; Koch/Vater/Mraz, BB 2009, 848; Rüdiger, GmbHR 2011, 459. 130 Zur Einheits-GmbH & Co. KG, bei der sich die Anteile an der Komplementär-GmbH im Gesamthandsvermögen der KG befinden Werner, DStR 2006, 706; Hamminger, NWB 2017, 1670. Zur Bedeutung der Willensbildung für die gewerbliche Prägung BFH v. 13.7.2017 – IV R 42/14, BStBl. II 2017, 1126. Dazu auch Werner, NWB 3/2018, 100. 131 Binz/Sorg, GmbHR 2011, 281. 132 Zu ertragsteuerlichen Fragen im Zusammenhang mit der Liquidation einer GmbH & Co. KG Ley, KÖSDI 2005, 14815; Schmidt-Naschke/Rehm, DStR 2013, 2085. 133 BFH BStBl. II 1984, 751; 95, 794. Vgl. dazu auch Herzig, BB 1985, 741; Streck, DStR 1986, 3. Zur Publikums-GmbH & Co. KG vgl. auch Maurer, Die Besteuerung von Anleger-Kommanditgesellschaften, 1999; Zacher, DStR 1999, 1838; Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, GmbH & Co. KG21, § 2 Rz. 2.379 ff. 134 Vgl. dazu insb. Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 211; Ley, KÖSDI 2004, 14032. Vgl. auch BFH BStBl. II 2001, 164; dazu Söffing, DB 2003, 905.
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§ 13 Rz. 75
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
Die Tätigkeit einer GmbH & Co. KG, bei der ausschließlich Kapitalgesellschaften persönlich haftende Gesellschafter sind und bei der nur diese Kapitalgesellschaften oder Nichtgesellschafter zur Geschäftsführung befugt sind, gilt demnach auch dann als Gewerbebetrieb, wenn die Tätigkeit der Gesellschaft an sich nicht unter § 15 I 1 Nr. 1 EStG fällt135. 75
c) Betriebsvermögen: Sind die Gesellschafter der Komplementär-GmbH gleichzeitig Kommanditisten der GmbH & Co. KG, gehören die von den Kommanditisten gehaltenen Anteile an der Komplementär-GmbH zu ihrem Sonderbetriebsvermögen II136. Begründet wird die Zugehörigkeit zum SBV II damit, dass die GmbH-Anteile es dem Kommanditisten ermöglichen, über seine Stellung in der Komplementär-GmbH Einfluss auf die Geschäftsführung der GmbH & Co. KG auszuüben137. SBV liegt allerdings nur vor, wenn sich die GmbH auf die Geschäftsführung für die KG beschränkt oder wenn ein daneben bestehender Gewerbebetrieb von ganz untergeordneter Bedeutung ist138. Dividenden der Komplementär-GmbH stellen Sonderbetriebseinnahmen dar und sind damit Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Je nachdem, ob es sich bei dem Gesellschafter um eine natürliche Person oder eine Kapitalgesellschaft handelt, unterliegen sie dem Teileinkünfteverfahren (§ 3 Nr. 40d EStG) oder können grds. steuerfrei vereinnahmt werden (§ 8b I KStG). Die Gewinne aus der Veräußerung der Anteile erfahren eine entsprechende Behandlung. Sie werden bei natürlichen Personen als Gesellschafter nach dem Teileinkünfteverfahren (§ 3 Nr. 40a EStG) belastet, bei Kapitalgesellschaften als Gesellschafter sind sie nach § 8b II KStG grds. steuerfrei.
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d) Gewinnverteilung: Da die GmbH & Co. KG Personengesellschaft ist, wird ihr Gewinn einheitlich festgestellt und auf die Gesellschafter verteilt (§§ 179; 180 AO). Wenn die Gesellschafter in der Lage sind, ihre gleichlaufenden Interessen in der KG und der GmbH gemeinsam zu verwirklichen, ist die Angemessenheit der Gewinnverteilung zu überprüfen139. Wird dabei die GmbH benachteiligt, liegt eine verdeckte Gewinnausschüttung vor140.
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e) Geschäftsführergehälter: Übt ein GmbH-Gesellschafter, der zugleich Kommanditist einer gewerblichen GmbH & Co. KG ist, die Geschäftsführung der GmbH aus, so erkennt der BFH das Ver135 Da Personengesellschaften die zur Geschäftsführung berechtigten Personen grds. frei bestimmen können, steht einer nicht gewerblich tätigen GmbH & Co. KG faktisch ein Wahlrecht zur Behandlung als gewerblich geprägte Personengesellschaft oder nicht gewerbliche Personengesellschaft zu. Die Verfassungsmäßigkeit des § 15 III Nr. 2 EStG hat der BFH noch einmal ausdrücklich bestätigt in BStBl. II 2004, 464 (466). Der gewerblichen Prägung steht es nicht entgegen, dass der im Grundsatz allein geschäftsführungsbefugten Komplementärin im Gesellschaftsvertrag der KG die Geschäftsführungsbefugnis betreffend die Komplementär-GmbH entzogen und diese auf die Kommanditisten übertragen wird, vgl. BFH v. 13.7.2017 – IV R 42/14, BFH/NV 2017, 1512. 136 BFH BStBl. II 1995, 174; 1999, 286. Vgl. dazu auch Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 714. Ob die GmbH-Anteile wesentliche Betriebsgrundlagen sind, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Vgl. dazu OFD Münster, GmbHR 2009, 108; Brandenberg, DB 2003, 2563. 137 BFH BStBl. II 1991, 510. Krit. zur Rspr. des BFH: Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, § 11 I 2, 444 ff. Die Minderheitsbeteiligung des Kommanditisten an der geschäftsführungsbefugten Komplementär-GmbH von weniger als 10 % ist nicht dem Sonderbetriebsvermögen II zuzuordnen, wenn in den Angelegenheiten der Gesellschaft die Abstimmung nach der Mehrheit der abgegebenen Stimmen erfolgt. Dies gilt auch, wenn die Komplementär-GmbH außergewöhnlich hoch am Gewinn der KG beteiligt ist (BFH v. 16.4.2015 – IV R 1/12, BStBl. II 2015, 705). Vgl. dazu Wendt, FR 2015, 846; Bünning, BB 2015, 2094; Tiede, StuB 2015, 703. 138 Vgl. BFH BStBl. II 1986, 55 (57); 1991, 510. Teile der Rspr. und der Finanzverwaltung (vgl. EFG 1994, 513; DStR 2001, 1032 u. 2002, 1860) nehmen SBV auch bei einer eigenständigen Tätigkeit der GmbH von nicht ganz untergeordneter Bedeutung an, wenn die Komplementär-GmbH über ihre gesellschaftsrechtliche Verbundenheit hinaus auch wirtschaftlich mit der GmbH & Co. KG verflochten ist. Anders OFD Nordrhein-Westfalen, Verfügung v. 17.6.2014, S 2242 - 2014/0003 - St 114. 139 Vgl. dazu insb. Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 722 ff. 140 Vgl. auch BFH BStBl. II 1977, 467; 1977, 477; 1977, 504; Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, Handbuch der GmbH & Co.21, § 7 Rz. 196 ff.; Wassermeyer, GmbHR 1999, 18.
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II. Betriebsaufspaltung
Rz. 79 § 13
tragsverhältnis zwischen GmbH und Gesellschafter nicht an; das Geschäftsführergehalt ist zwar bei der GmbH Betriebsausgabe, gehört beim Gesellschafter-Geschäftsführer jedoch nicht zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, sondern als Vergütung der KG zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb, die im Gesamtgewinn der KG enthalten sind141. Soweit die Komplementär-GmbH eine eigene Geschäftstätigkeit von nicht untergeordneter Bedeutung ausübt, dürfte eine Aufteilung erforderlich sein142. Bei überhöhten Tätigkeitsvergütungen können sich verdeckte Gewinnausschüttungen ergeben143. 2. Gewerbesteuer a) Steuerpflicht144: Nach § 2 I 2 GewStG ist ein Gewerbebetrieb ein gewerbliches Unternehmen 78 i.S.d. EStG145. Damit gelten die Geprägegrundsätze des § 15 III Nr. 2 EStG auch im Gewerbesteuergesetz. Die sachliche Gewerbesteuerpflicht beginnt trotz der gewerblichen Prägung anders als bei einer Kapitalgesellschaft erst dann, wenn sämtliche Tatbestandsmerkmale eines Gewerbebetriebs erfüllt sind, insb. die tatsächliche Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr vorliegt146. Entsprechend endet die Steuerpflicht bereits mit der tatsächlichen Einstellung des Betriebs147. b) Geschäftsführergehälter: Erhält ein Kommanditist, der zugleich Geschäftsführer der Komple- 79 mentär-GmbH ist, für diese Geschäftsführertätigkeit eine Vergütung, so unterliegt diese Vergütung der Gewerbesteuer148.
II. Betriebsaufspaltung Literatur: Schulze zur Wiesche, Die Betriebsaufspaltung in der Rechtsprechung der letzten Jahre, StBp 2010, 256; Neufang/Otto, BB-Rechtsprechungsreport Betriebsaufspaltung 2010/2011, BB 2011, 2967; Crezelius, Die Betriebsaufspaltung – ein methodologischer Irrgarten, in FS Streck, 2011, 45; Kußmaul/Schwarz, Besteuerungsfolgen im Rahmen der echten Betriebsaufspaltung zwischen zwischen Besitzpersonen – und Betriebskapitalgesellschaft, GmbHR 2012, 1055; Micker, Aktuelle Praxisfragen der Betriebsaufspaltung, DStR 2012, 589; Dreßler, Neues zur Betriebsaufspaltung – ein Überblick über die aktuelle BFH-Rechtsprechung, Ubg 2014, 240; Carlé, Die Betriebsaufspaltung2, 2014; Söffing/Micker, Die Betriebsaufspaltung, Formen, Voraussetzungen, Rechtsfolgen6, 2016; Micker/Schwarz, Betriebsaufspaltung – Aktuelle Entwicklungen und Praxisfragen, DB 2016, 1041; Bauer, Gegenüberstellung relevanter Steuerbelastungsdeterminanten von klassischer Betriebsaufspaltung und GmbH & Co. KG - Rechtsformwahl, StuB 2017, 609; Bauer, Vergleichende Steuerbelastungsmessung in Bezug auf klassische Betriebsaufspaltung und GmbH & Co. KG – Steuerliche Vorteilhaftigkeit, StuB 2017, 668; Schulze zur Wiesche, Die Betriebsaufspaltung nach der neuesten Rechtsprechung des BFH, StBp 2017, 144; Kaligin, Die Betriebsaufspaltung10, 2017; Ballof, Die Betriebsaufspal-
141 Vgl. BFH BStBl. II 1993, 792; 1999, 720. Dies gilt auch dann, wenn der Kommanditist die Management-Leistung über die Zwischenschaltung einer Kapitalgesellschaft erbringt. Vgl. BFH BStBl. II 2003, 191; zu Pensionsrückstellungen BFH BStBl. II 2005, 88; 2008, 171; vgl. dazu Fuhrmann/Demuth, WPg. 2007, 77; Kolbe, StuB 2007, 109; Paus, FR 2007, 463. 142 Vgl. Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 717. 143 Vgl. dazu i.E. Wassermeyer, GmbHR 1999, 18; BMF BStBl. I 1998, 90. 144 Zu den geänderten Belastungswirkungen für die GmbH & Co. KG auf Grund der Ausweitung der Gewerbebesteuerung durch das UntStRefG 2008 Stollenwerk, GmbHStB 2007, 276 u. 313; WesselbaumNeugebauer, GmbHR 2007, 1300. 145 Zu der Frage, ob die Freiberufler GmbH & Co. KG einen Gewerbebetrieb darstellt, BFH v. 10.10.2012 – VIII R 42/10, BStBl. II 2013, 79; vgl. dazu Autenrieth, WPg. 2014, 139. 146 BFH BStBl. II 1995, 900; 1998, 745; 2004, 464; 2012, 927. Vgl. auch R 2.5 I GewStR. 147 Vgl. R 2.6 I GewStR; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 232. Zu den gewerbesteuerlichen Auswirkungen bei der Veräußerung von Mitunternehmeranteilen bei der GmbH & Co. KG vgl. Neumayer/Obser, EStB 2008, 445. 148 BFH BStBl. II 1979, 284.
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§ 13 Rz. 80
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
tung im Spiegel der neueren Finanzrechtsprechung, GmbH-Steuerpraxis 2017, 263. Zur älteren Lit. vgl. 16.–22. Aufl. 80
Eine Betriebsaufspaltung (Betriebsteilung, Doppelgesellschaft oder auch Doppelunternehmen) ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Person oder eine Personengruppe (das Besitzunternehmen) Anlagevermögen an eine gewerblich149 tätige Personen- oder Kapitalgesellschaft (das Betriebsunternehmen) verpachtet oder es dem Betriebsunternehmen auf andere Weise zur Nutzung überlässt.150 Ist das Betriebsunternehmen eine Personengesellschaft, liegt eine mitunternehmerische Betriebsaufspaltung vor151.
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Die Betriebsaufspaltung zwischen einer Besitzpersonengesellschaft und einer Betriebskapitalgesellschaft entsteht durch die Ausgründung einer Kapitalgesellschaft aus einer Personengesellschaft (echte Betriebsaufspaltung), durch die Neugründung zweier rechtlich selbständiger Gesellschaften (unechte Betriebsaufspaltung) oder durch die Abspaltung einer Personengesellschaft aus einer Kapitalgesellschaft (umgekehrte Betriebsaufspaltung)152. Steuerlich ist die Betriebsaufspaltung vor allem aus folgenden Gründen interessant: Wie bei einem reinen Personenunternehmen werden Verluste der Besitzgesellschaft unmittelbar zugerechnet, und erbschaftsteuerlich kann von der Begünstigung von Betriebsvermögen Gebrauch gemacht werden. Wie bei einer reinen Kapitalgesellschaft sind die Geschäftsführungsvergütungen der Betriebsgesellschaft abzugsfähig, für Gesellschafter-Geschäftsführer der Betriebsgesellschaft können Pensionsrückstellungen gebildet werden, was vor allem im Hinblick auf die Minderung der Gewerbesteuer interessant war, sich jedoch im Hinblick auf die Anrechnung der Gewerbesteuer nach § 35 EStG relativiert hat153. I.Ü. gelten gegenüber der grundsätzlichen Behandlung von Personen- und Kapitalgesellschaften im Wesentlichen die folgenden Besonderheiten: 1. Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer
82 a) Einkunftsart: Miet- und Pachtverträge zwischen einer Kapitalgesellschaft und ihren Gesellschaf-
tern werden i.d.R. steuerrechtlich anerkannt. Bei personeller und sachlicher Verflechtung zwischen Besitz- und Betriebsunternehmen nimmt der BFH jedoch keine Vermögensverwaltung i.S.d. § 14 AO an, sondern geht davon aus, dass sich das Besitzunternehmen über die Kapitalgesellschaft am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr beteiligt (§ 15 II EStG) und daher mit seinen Pachteinnahmen
149 BFH v. 18.6.2015 – IV R 11/13, BFH/NV 2015, 1398: Der Annahme einer Betriebsaufspaltung steht es nicht entgegen, dass die Tätigkeit des Betriebsunternehmens nur kraft Rechtsform gem. § 8 Abs. 2 KStG als gewerbliche Tätigkeit qualifiziert. 150 Eine Betriebsaufspaltung liegt auch vor, wenn die wesentliche Betriebsgrundlage, die das Besitzunternehmen an die Betriebsgesellschaft vermietet, nicht im Eigentum des Besitzunternehmens steht, vgl. BFH v. 10.5.2016 – X R 5/14, BFH/NV 2017, 8. 151 Zur Behandlung der mitunternehmerischen Betriebsaufspaltung und zum Verhältnis zu § 15 I 1 Nr. 2 EStG BFH BStBl. II 1998, 325; 1999, 483; 2000, 399; 2005, 830; 2008, 129; 2012, 10; FR 2008, 277 m. Anm. Kanzler; BMF BStBl. I 1998, 583; 2006, 766. Vgl. dazu auch Gebhardt, EStB 2007, 65; Kratzsch, StB 2007, 89; Schulze zur Wiesche, StBp. 2010, 256. Zur Frage der Abfärbung auf transparente Betriebsgesellschaften vgl. Dreßler, DStR 2013, 1818. 152 Zur Betriebsaufspaltung über die Grenze vgl. das beim BFH anhängige Verfahren I R 72/16, FG Köln v. 31.8.2016 – 10 K 3550/14, EFG 2016, 1997; Haverkamp, IStR 2008, 165; Jarzynska/Klipstein, StB 2009, 239; Schulze zur Wiesche, BB 2013, 2463; Mroz, IStR 2017, 742. Zu den Implikationen des durch das AmtshilfeRLUmsG (BGBl. I 2013, 1809) eingeführten § 50i EStG auf Fälle der grenzüberschreitenden Betriebsaufspaltung vgl. Crezelius, FR 2013, 1065 (1067 f.); Schulze zur Wiesche, BB 2013, 2463 (2466 f.); Rödder/Kuhr/Heimig, Ubg 2014, 477. 153 Vgl. zu den Vor- und Nachteilen der Betriebsaufspaltung Butz-Seidl, GmbHStB 2007, 240; Baumert/ Schmidt-Leithoff, DStR 2008, 888; Strahl, FS Schaumburg, 493; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 804; HHR/Gluth, § 15 EStG Anm. 772 (2013).
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II. Betriebsaufspaltung
Rz. 84 § 13
gewerbliche Einkünfte erzielt154. Diese Beurteilung wird vom BVerfG gebilligt155, obwohl es an einer Regelung, die die Grundsätze der Betriebsaufspaltung gesetzlich festlegt, nach wie vor mangelt156. Eine sachliche Verflechtung157 von Besitz- und Betriebsunternehmen liegt dann vor, wenn das über- 83 lassene Wirtschaftsgut für die Betriebsgesellschaft eine der wesentlichen Betriebsgrundlagen ist, d.h. nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zur Erreichung des Betriebszwecks der Betriebsgesellschaft erforderlich ist und besonderes Gewicht für deren Betriebsführung besitzt158. Unbebaute Grundstücke sind wesentliche Betriebsgrundlagen, falls sie betriebsnotwendig sind oder von der Betriebsgesellschaft mit Zustimmung des Besitzunternehmens für betriebliche Zwecke bebaut werden159. Der Betriebsgesellschaft zur Nutzung überlassene Gebäude verkörpern nach der zunehmend extensiven Auslegung der Rspr. regelmäßig wesentliche Betriebsgrundlagen160. Auf standardisierte Büro- und Verwaltungsgebäude161 trifft dies mittlerweile ebenso zu wie auf „Allerweltsgebäude“162. Eine Ausnahme gilt praktisch nur dann, wenn das Gebäude für den Betrieb der Betriebsgesellschaft qualitativ oder quantitativ von völlig untergeordneter Bedeutung ist163. Die personelle Verflechtung ist dann gegeben, wenn die an Besitz- und Betriebsunternehmen beteilig- 84 ten natürlichen Personen einen einheitlichen geschäftlichen Betätigungswillen haben, d.h. wenn die Personen, die das Besitzunternehmen beherrschen, in der Lage sind, ihren Willen auch in der Betriebsgesellschaft durchzusetzen164. Bei der Beurteilung der personellen Verflechtung darf nach dem Beschluss des BVerfG v. 12.3.1985165 nicht mehr von der widerlegbaren Vermutung ausgegangen werden, Eheleute verfolgten gleichgerichtete Interessen. Eine Zusammenrechnung von Anteilen der Eheleute ist insofern nur in den Fällen gerechtfertigt, in denen nur an einem der Unternehmen beide Eheleute beteiligt sind und zusätzlich zur ehelichen Lebensgemeinschaft Beweisanzeichen vorhanden sind, die für die Annahme einer personellen Verflechtung durch gleichgerichtete Interessen spre154 Vgl. insb. BFH BStBl. II 1972, 63; 1986, 296; 1994, 466; 1997, 569; 2000, 417; BFH/NV 2001, 1560. 155 BVerfGE 25, 28; 69, 188; HFR 1995, 223; NJW 2004, 2513; FR 2005, 139. Krit. zu dieser Rspr. KnobbeKeuk, StbJb. 1980/81, 335 (349); Döllerer, GmbHR 1986, 165; Seer, BB 2002, 1833; Carlé, Die Betriebsaufspaltung, 4 ff.; HHR/Gluth, § 15 EStG Rz. 773 (2016). 156 Vgl. BR-Drucks. 165/85; BT-Drucks. 10/4513; dazu auch Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 807; Flume, DB 1985, 115; IDW, WPg. 1985, 339; Knobbe-Keuk, BB 1985, 945. 157 Zu dem Kriterium der sachlichen Verflechtung, Ritzrow, StBp. 2009, 54 (111); Micker, DStR 2012, 589; Kußmaul/Schwarz, GmbHR 2012, 834. 158 Vgl. BFH BStBl. II 1970, 17; 1989, 1014; 1997, 565; 2009, 803; 2016, 154; BFH/NV 2010, 208. Maßgeblich für die Beurteilung des Vorliegens einer wesentlichen Betriebsgrundlage sind allein funktionale Gesichtspunkte (BFH BStBl. II 1989, 1014). Anders als bei der Betriebsveräußerung (-aufgabe) ist der Umfang der stillen Reserven irrelevant. 159 BFH BStBl. II 1989, 1014; 1998, 478; 2002, 662. 160 Unbeachtlich für die Beurteilung als wesentliche Betriebsgrundlage ist, ob das Betriebsunternehmen ein gleichwertiges Grundstück jederzeit am Markt mieten oder kaufen könnte, vgl. BFH BStBl. II 1993, 718; 2009, 803. 161 Vgl. BFH BStBl. II 2000, 621; 2003, 757; 2006, 176; 2006, 804. Dazu P. Fischer, FR 2001, 34; Krupske, StuB 2001, 232; krit. LBP/Bitz, § 15 EStG Rz. 344 (2012). Vgl. dazu auch BMF BStBl. I 2001, 634; 2002, 88; 2002, 647; DStR 2004, 727. 162 BFH/NV 2003, 910; BFH BStBl. II 2003, 757; 2006, 804. Dazu Patt, EStB 2006, 454; Prühs, GmbHSteuerpraxis 2007, 33. 163 BFH BStBl. II 1997, 565; 2000, 621; BFH/NV 2001, 894; 2001, 1252; BFH, Beschl. v. 16.2.2012 – X B 99/10, BFH/NV 2012, 1110. 164 BFH BStBl. II 1972, 63; 1997, 437; 1997, 565; 2000, 417; 2002, 363; 2003, 757; 2007, 165; BFH, Urt. v. 23.3.2011 – X R 45/09, BStBl. II 2011, 778; BFH, Beschl. v. 8.9.2011 – IV R 44/07, BStBl. II 2012, 136; BFH/NV 2000, 1804; 2008, 363; 2008, 784; BFH, Urt. v. 16.5.2013 – IV R 54/11, BFH/NV 2013, 1557. 165 BVerfGE 69, 188; vgl. dazu Felix, KÖSDI 1985, 5976; Herzig/Kessler, DB 1986, 2402; BMF BStBl. I 1985, 537.
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§ 13 Rz. 85
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
chen166; dementsprechend ist grds. auch bei minderjährigen Kindern zu verfahren167. Bei einer Gütergemeinschaft liegt die personelle Verflechtung dann vor, wenn sowohl das Betriebsgrundstück als auch die Mehrheit der Anteile an der Betriebsgesellschaft zum Gesamtgut gehören168. 85
b) Gewinnrealisierung: Nach § 6 VI 2 EStG soll die steuerneutrale Übertragung einzelner Wirtschaftsgüter von der Besitzgesellschaft auf die Betriebskapitalgesellschaft seit dem 1.1.1999 nicht mehr möglich sein und damit zur Gewinnrealisierung führen169, während bei einer mitunternehmerischen Betriebsaufspaltung170 wieder Buchwertverknüpfung geboten ist (§ 6 V EStG)171.
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c) Betriebsvermögen: Da die Anteile an der Betriebskapitalgesellschaft unmittelbar der gewerblichen Betätigung des Besitzunternehmens dienen, gehören sie bei der Besitzpersonengesellschaft i.d.R. ebenso zum Sonderbetriebsvermögen172 wie die Wirtschaftsgüter, die ein Gesellschafter des Besitzunternehmens dem Betriebsunternehmen unmittelbar überlässt173, oder Darlehen, die die Gesellschafter der Betriebs-GmbH bei der Gründung für die Dauer ihrer Beteiligung geben174. Beim Besitzunternehmen in Form des Einzelunternehmens liegt notwendiges Betriebsvermögen vor175.
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d) Miet- bzw. Pachtvertrag: Während die Vereinbarung eines überhöhten Miet- oder Pachtzinses176 bei der Betriebskapitalgesellschaft zu verdeckten Gewinnausschüttungen führen kann, wird ein zu niedriges Nutzungsentgelt grds. steuerlich anerkannt. Selbst wenn die Nutzungsüberlassung dazu führt, dass das Besitzunternehmen auf Dauer Verluste erleidet, liegt keine Nutzungseinlage vor177. Er166 BFH BStBl. II 1986, 62; 1986, 362; 1986, 611; FG Köln EFG 2009, 102; BFH/NV 2011, 1859. Dazu auch Herzig/Kessler, DB 1986, 2402; BMF BStBl. I 1986, 537; Unvericht, DB 1989, 995; Micker, DStR 2012, 589 (590 f.). 167 Vgl. 15.7 VIII EStR. Dazu auch Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 849. 168 Vgl. BFH BStBl. II 1993, 876; BFH/NV 2007, 149. Nach BFH BStBl. II 2008, 858 wird die personelle Verflechtung durch die Zwischenschaltung eines Dauertestamentsvollstreckers nicht unterbrochen. Vgl. dazu Kanzler, FR 2009, 86; Bitz, GmbHR 2008, 1047; Knatz, DStR 2009, 27. 169 Vgl. BFH BStBl. II 2001, 771; 2005, 378; 2008, 579; BFH/NV 2010, 2053. Dazu auch Hörger u.a., DStR 1999, 565 (573); Hörger/Pauli, GmbHR 2001, 1139; Lederle, GmbHR 2004, 985. 170 S. Rz. 80. 171 Sachlich ist diese Ungleichbehandlung nicht zu rechtfertigen, so dass die teleologische Reduktion des § 6 VI 2 EStG geboten erscheint und die Buchwertverknüpfung in Anbetracht der wirtschaftlichen Einheit zwischen Besitz- und Betriebsunternehmen auch bei einer Übertragung auf eine BetriebsGmbH zugestanden werden sollte. Zur Bedeutung der wirtschaftlichen Einheit allgemein auch Wehrheim, BB 2001, 913. 172 BFH BStBl. II 2001, 185; 2002, 662; 2010, 593 (597 f.) m.w.N. Dazu auch Roser, EStB 2009, 177. Gewinnanteile aus der Betriebs-GmbH sind grds. nicht phasengleich zu aktivieren. Vgl. BFH BStBl. II 2000, 632; 2001, 185; BMF BStBl. I 2000, 1510; dazu auch Groh, DB 2000, 2444 (2558); Kraft, WPg. 2001, 2. Vgl. zu Bilanzierungsfragen bei Betriebsaufspaltung im Allgemeinen: Hoffmann, StuB 2010, 249; Crezelius, DB 2012, 651. 173 BFH BStBl. II 1989, 714; 1999, 279 (281); 2005, 830; BFH/NV 1998, 1202. 174 Vgl. BFH BStBl. II 1995, 452; 2001, 335; 2010, 593. 175 BFH BStBl. II 1989, 714. Zum notwendigen Betriebsvermögen des Besitzeinzelunternehmens gehören auch die unmittelbaren und mittelbaren Anteile an einer Kapitalgesellschaft, welche intensive und dauerhafte Geschäftsbeziehungen zur Betriebskapitalgesellschaft unterhält, BFH BStBl. II 2005, 694; 2005, 833; BFH v. 12.6.2013 – X R 2/10, BStBl. II 2013, 907; Schießl, StuB 2008, 428; Bode, FR 2014, 68; Prinz, DB 2014, 1218. Zur abkommensrechtlichen Beurteilung der Betriebsaufspaltung vgl. BFH/ NV 2011, 1602; C. Schmidt, IStR 2011, 691; Neufang/Otto, BB 2011, 2967 (2971). 176 Vgl. BFH BFHE 185, 230. Dazu auch Harle, GmbHR 2009, 1093; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 819. Zum erbschaftsteuerlichen Risiko der Vereinbarung erhöhter Nutzungsentgelte (vgl. § 146 BewG) LBP/Bitz, § 15 EStG Rz. 390 (2016). 177 Vgl. BFH BStBl. II 1991, 713. Die Gewinnerzielungsabsicht des Besitzunternehmens wird selbst bei unentgeltlicher Überlassung wesentlicher Betriebsgrundlagen nicht angezweifelt, weil das Besitzunternehmen das Bestreben habe, Beteiligungserträge zu erzielen. Nutzungsentgelte und Ausschüttungen
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II. Betriebsaufspaltung
Rz. 89 § 13
folgt die Nutzungsüberlassung hingegen deshalb (teilweise) unentgeltlich, um Erträge aus der Beteiligung zu erzielen, so findet auf die mit der Nutzungsüberlassung zusammenhängenden Aufwendungen insoweit das Teilabzugsverbot nach § 3c Abs. 2 EStG Anwendung. Dies hat der Gesetzgeber im Rahmen des JStG 2015 für Wirtschaftsjahre, die nach dem 31.12.2014 beginnen, entgegen der bisherigen Rspr. des BFH178 auch für sog. substanzbezogene Aufwendungen festgelegt. e) Wegfall der personellen oder sachlichen Voraussetzungen: Entfallen die Voraussetzungen einer 88 Betriebsaufspaltung, liegt nach Auffassung des BFH179 bezüglich des Besitzunternehmens grds. eine Betriebsaufgabe (§ 16 III 1 EStG) vor: Die zum Betriebsvermögen des Besitzunternehmens gehörenden Wirtschaftsgüter werden mit dem Wegfall der Voraussetzungen notwendiges Privatvermögen; stille Reserven werden also sofort realisiert. Die Fortführung der Buchwerte ist allerdings dann möglich, wenn die Überlassung der wesentlichen Betriebsgrundlagen subsidiär die Voraussetzungen einer Betriebsverpachtung erfüllt180. Dies setzt voraus, dass sämtliche wesentlichen Betriebsgrundlagen als einheitliches Ganzes verpachtet werden181. Eine Betriebsaufgabe wird ferner bei einer Betriebsunterbrechung im engeren Sinne abgelehnt182. Stellt das Betriebsunternehmen die werbende Geschäftstätigkeit ein, wird dabei nach aktueller Rspr. des BFH von der Absicht des Besitzunternehmens, den Betrieb innerhalb eines überschaubaren Zeitraums in gleichartiger oder ähnlicher Weise wieder aufzunehmen, ausgegangen, solange die Fortsetzung objektiv möglich ist und eine eindeutige Aufgabeerklärung nicht abgegeben wird183. Auch nach dem durch das Steuervereinfachungsgesetz 2011184 eingeführten § 16 IIIb EStG gilt die gewerbliche Tätigkeit bis zu einer ausdrücklichen Aufgabeerklärung als fortgeführt. Jedoch gilt dies nur solange, bis dem Finanzamt Tatsachen bekannt werden, aus denen sich ergibt, dass eine Betriebsaufgabe vorliegt185. 2. Gewerbesteuer a) Steuerpflicht: Da das Besitzunternehmen nach Auffassung des BFH keine Vermögensverwaltung, 89 sondern eine gewerbliche Tätigkeit ausübt, unterliegt es ebenso wie das Betriebsunternehmen der Gewerbesteuer.
178 179 180 181 182 183 184 185
bzw. Wertsteigerungen der Anteile werden als Substitute eingeordnet. In dieses Bild der wirtschaftlichen Einheit von Betriebs- und Besitzunternehmen passt die Entscheidung des BFH BStBl. II 2010, 274, nach der die Teilwertabschreibung einer Forderung des Besitzunternehmens gegen das Betriebsunternehmen nur dann in Betracht kommt, wenn im Rahmen einer Gesamtbetrachtung der Ertragsaussichten beider Unternehmen auch der Teilwert der Beteiligung zu einer Abschreibung nötigt (vgl. dazu Hoffmann, StuB 2010, 249; Weber-Grellet, NWB 2010, 742; Wendt, FR 2010, 336). Vgl. BFH v. 28.2.2013 – IV R 49/11, BStBl. II 2013, 802; v. 17.7.2013 – X R 17/11, BFH/NV 2014, 21. Vgl. dazu Binnewies, GmbHR 2013, 1339; Ott, StuB, 2013, 519; Ott, StuB 2013, 879. BFH BStBl. II 1984, 474; 1994, 23; 1998, 325; BFH/NV 2000, 539; BFH-Urt. v. 22.10.2013 – X R 14/11, BStBl. II 2014, 158; BFH v. 5.2.2014 – X R 22/12, BStBl. II 2014, 388. Vgl. dazu auch Schulze zur Wiesche, DStZ 2014, 311; Neufang/Bohnenberger, DStR 2016, 578. Vgl. BFH BStBl. II 1997, 460; 1998, 325; BFH/NV 1998, 578; BStBl. II 2002, 519; 2002, 527; 2002, 722; 2006, 591; 2008, 220; FR 2008, 424, m. Anm. Kanzler. Dazu auch Stamm/Lichtinghagen, StuB 2007, 205; Strahl, KÖSDI 2008, 16027 (16035). BFH BStBl. II 1998, 388; 2002, 722. BFH BStBl. II 1997, 460; 2002, 722; 2006, 591. Dazu Wendt, FR 2006, 828; Steinhauff, NWB Fach 3, S. 14321; Stamm/Lichtinghagen, StuB 2007, 205; Strahl, KÖSDI 2008, 16027 (16035). BFH BStBl. II 2006, 591; BFH/NV 2007, 1004. Dazu Kanzler, FR 2007, 800; Bitz, GmbHR 2007, 548. Die Fortsetzung ist objektiv möglich, solange das vormalige Besitzunternehmen sämtliche für den Betrieb wesentlichen Betriebsgrundlagen zurückbehält. BGBl. I 2011, 2131. Krit. zur Neuregelung: Grottke/Kittl, StuB 2011, 819. Vgl. auch Nacke, DB 2011, 132 (134).
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§ 13 Rz. 90
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b) Steuerbefreiungen: Nach geänderter Rspr. des BFH schlägt die Befreiung der Betriebsgesellschaft von der Gewerbesteuer auf das Besitzunternehmen durch186. Dies bedeutet, dass sowohl die Betriebsgesellschaft als auch das Besitzunternehmen von der Gewerbesteuer befreit sind, selbst wenn bei Letzterem die Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung nicht vorliegen.
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c) Miet- und Pachtzinsen: Die Hinzurechnungstatbestände für Nutzungsentgelte auf bewegliche bzw. unbewegliche Wirtschaftsgüter nach § 8 Nr. 1d, e GewStG187 i.H.v. 5 % bzw. 12,5 % führen bei der Betriebsaufspaltung zu gewerbesteuerlichen Doppelbelastungen, da bei dem Vermieter/Verpächter eine korrespondierende Entlastung unterbleibt.188
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d) Erweiterte Gewerbeertragskürzung: Die erweiterte Kürzung des Gewerbeertrags nach § 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG ist bei der Betriebsaufspaltung nicht möglich189.
III. GmbH (AG) & Stille Gesellschaft Literatur: Crezelius, Steuerrechtsfragen der atypisch stillen Gesellschaft, in FS Schaumburg, 2009, 239; Czisz/Krane, Die Besteuerung von Einkünften aus typisch stillen Gesellschaften unter der Abgeltungsteuer, DStR 2010, 2226; Brinkmann, Die stille Beteiligung in der Außenprüfung, StBp. 2011, 213 u. 241; Stollenwerk/Piron, Steuerneutralität bei GmbH & Still – GmbH & Co. KG & Still, GmbH-StB 2011, 48; Schulze zur Wiesche, Die GmbH & Still in der aktuellen Rechtsprechung, DB 2011, 1477; Suchanek, Die atypisch stille Gesellschaft im Umwandlungsfall, Ubg 2012, 431; von Holtum, GmbH-StB 2013, 311; Schulze zur Wiesche, Die GmbH & Still6, 2013; Volb, Die stille Gesellschaft, 2013; Lipp, Die stille Gesellschaft – Feststellung von Gewinn und Verlust, StuB 2014, 256; Lipp, Die stille Gesellschaft in der deutschen Abkommenspraxis, IWB 2014, 760; Wichmann, Gesellschafts-, handels- und steuerrechtliche Fragen zur GmbH & Still, DStZ 2014, 442; Demuth, GmbH & Still als Gestaltungsalternative, KÖSDI 2015, 19483; Schulze zur Wiesche, Die atypisch stille Beteiligung an GmbH, GmbH & Co KG, StBp 2015, 221; Blaurock, Handbuch Stille Gesellschaft8, 2016; Fleischer/Thierfeld, Stille Gesellschaft im Steuerrecht9, 2016; Paus, Die atypisch stille Beteiligung an einer bestehenden Personengesellschaft, EStB 2017, 284; Suchanek, Die Gleichstellung der atypisch stillen Gesellschaft mit den übrigen ertragsteuerlichen Mitunternehmerschaften, GmbHR 2017, 292. Zur älteren Lit. vgl. die 16.–22. Aufl. 93
Als stille Gesellschaft i.S.d. §§ 230 ff. HGB wird grds. auch die Beteiligung am Handelsgewerbe einer GmbH oder AG anerkannt190. Der stille Gesellschafter191 leistet eine Vermögenseinlage192 in das Vermögen der Kapitalgesellschaft und erhält dafür einen Anspruch auf Gewinnbeteiligung193. Unter186 BFH BStBl. II 2006, 661; 2016, 408. Vgl. dazu Wendt, FR 2016, 30; Demleitner, BB 2016, 2784. Krit. zur geänderten Rspr. Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 871. Einschränkend FinMin. NRW, DStR 2010, 2462. 187 Zu berücksichtigen ist jeweils der Freibetrag des § 8 Nr. 1 GewStG i.H.v. 100 000 Euro. 188 Dasselbe gilt für den Fall, dass zwischen Betriebs- und Besitzunternehmen Finanzierungsverhältnisse bestehen (vgl. § 8 Nr. 1a GewStG). Organschaft setzt zusätzlich zur finanziellen Eingliederung einen Gewinnabführungsvertrag voraus, der allein aus Haftungsgründen regelmäßig nicht vorliegt. Vgl. dazu § 14 A. 189 BFH/NV 2005, 1624; 2009, 1279; 2012, 1176; 2015, 1109; BFH v. 22.6.2016 – X R 54/14, BStBl. II 2017, 529; Goldschmidt/Bolik, DStR 2016, 2891; Mroz, FR 2017, 476. 190 BFH BStBl. II 1954, 336; 1965, 119; 1977, 155; 1995, 171; 1995, 764; 1995, 794. Zur Beteiligung an einzelnen Unternehmenssegmenten Pyszka, DStR 2003, 857. Zur (typisch) stillen Beteiligung an einem Nicht-Handelsgewerbe Milatz, DStZ 2006, 141. 191 Zur Abgrenzung der stillen Gesellschaft gegenüber einem partiarischen Darlehen insb. BFH BStBl. II 1988, 62; 1994, 700; 2006, 334; BGH GmbHR 1992, 747; DStR 1995, 106; OLG Dresden DStR 2000, 649; Lienau/Lotz, DStR 1991, 618; Schön, ZGR 1990, 220; Blaurock, EWiR 1992, 1111. 192 Zur Einlage des Stillen insb. auch Schmid/Hamann, DStR 1992, 950; Groh, Das negative Kapitalkonto des stillen Gesellschafters, FS L. Schmidt, 1993, 439. 193 Zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) auf die stille Gesellschaft vgl. Mock, DStR 2008, 1645.
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III. GmbH (AG) & Stille Gesellschaft
Rz. 97 § 13
schieden wird steuerrechtlich zwischen typischer und atypischer stiller Gesellschaft. Während bei der typischen stillen Gesellschaft das tatsächliche Verhältnis zwischen den Vertragsparteien dem handelsrechtlichen Typus entspricht und nicht über eine Kapitalbeteiligung mit gewinnabhängiger Verzinsung hinausgeht194, hat der atypische stille Gesellschafter auf Grund der Vereinbarungen im Gesellschaftsvertrag entweder maßgeblichen Einfluss auf die Geschäftsführung oder Anspruch auf eine Beteiligung an den realisierten stillen Reserven, d.h. Unternehmerinitiative oder Unternehmerrisiko. Die atypische stille Gesellschaft wird daher im Gegensatz zur typischen stillen Gesellschaft als Mitunternehmerschaft angesehen195. Die atypisch stille Gesellschaft eröffnet ähnlich wie die GmbH & Co. KG die Möglichkeit, die haf- 94 tungsrechtlichen Vorteile der Kapitalgesellschaft mit den steuerlichen Vorteilen der Mitunternehmerschaft zu verbinden196. Zudem eignen sich stille Beteiligungen dazu, Einkünfte zwecks mehrmaliger Ausnutzung der Entlastungswirkung der Progression und der Freibeträge auf mehrere Personen zu verteilen197. 1. Grunderwerbsteuer Erbringt der (typische oder atypische) stille Gesellschafter seine Vermögenseinlage durch Übertra- 95 gung eines Grundstücks oder wird bei der Auseinandersetzung ein Grundstück übertragen, so fällt grds. Grunderwerbsteuer an (§ 1 GrEStG)198. Die Anwendung der §§ 5; 6 GrEStG kommt nicht in Betracht, da die stille Gesellschaft keine Gesamthandsgemeinschaft ist. 2. Einkommen-/Kirchen-/Körperschaftsteuer 2.1 Atypisch stille Gesellschaft Für die atypisch stille Gesellschaft gelten als Mitunternehmerschaft die Ausführungen zur Besteue- 96 rung gewerblicher Personengesellschaften grds. entsprechend (s. § 10 Rz. 60)199. Die atypische Gesellschaft ist i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2, II EStG gewerblich tätig200 und insofern auch selbständiges Subjekt der Gewinnerzielung, Gewinnermittlung und Einkünftequalifikation201. Es gelten allerdings insb. folgende Besonderheiten: a) Betriebsvermögen: Anders als die OHG oder KG besitzt die atypisch stille Gesellschaft als Innen- 97 gesellschaft kein Gesamthandsvermögen. Die Existenz eines Betriebsvermögens der atypisch stillen Gesellschaft wird vor diesem Hintergrund teilweise in Zweifel gezogen202. Die h.M. geht jedoch davon aus, dass das Betriebsvermögen der atypisch stillen Gesellschaft das Betriebsvermögen des Inhabers des
194 BFH BStBl. II 1975, 34; OFD Frankfurt/M. StuB 2001, 90; OFD Erfurt FR 2003, 1299. Vgl. auch Troost, Die steuerliche Abgrenzung zwischen typischen und atypischen stillen Gesellschaften, 1997. 195 BFH BStBl. II 1981, 424; 1986, 311; DB 1994, 125; BFH/NV 2010, 1425; 2010, 2056; vgl. dazu insb. auch Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 340 ff. 196 LBP/Bitz, § 15 EStG Rz. 51a (2016). 197 LBP/Bitz, § 15 EStG Rz. 51 (2016). Zur stillen Gesellschaft als Mittel zur Reduzierung der Steuerbelastung bei Umwandlung von Familienpersonengesellschaften (Richter/Dümichen, Ubg 2012, 748), in Bezug auf Unternehmensfinanzierungen (Eichfelder, Ubg 2013, 178) bzw. in Bezug auf die Hinzurechnungsbesteuerung nach §§ 7 ff. AStG (Kessler/Becker, IStR 2005, 505). 198 BFH BStBl. II 1975, 363. 199 BFH v. 24.4.2014 – IV R 34/10, BStBl. II 2017, 233. 200 BFH BStBl. II 1995, 171; 1995, 794; BFHE 179, 427; BFH/NV 1996, 504; 1996, 506; 1998, 328; 1999, 169. Vgl. auch Kempermann, FR 1995, 22; Ruban, DStZ 1995, 637 (640). 201 Vgl. BFH v. 26.11.1996 – VIII R 42/94, BStBl. II 1998, 328. Vgl. dazu Gschwendtner, DStZ 1998, 335. 202 Döllerer, DStR 1985, 295; Döllerer, StbJb. 1987/88, 289 (299); LBP/Bitz, § 15 EStG Rz. 51 (2016).
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§ 13 Rz. 98
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
Handelsgeschäfts203 und das Sonderbetriebsvermögen des Stillen umfasst204. Letzteres entsteht insb. dann, wenn der Stille dem Inhaber des Handelsgeschäfts neben seiner Einlage Wirtschaftsgüter zur Nutzung überlässt205. Ferner gehören die GmbH-Anteile eines Gesellschafters, der gleichzeitig als Stiller beteiligt ist, grds. zum Sonderbetriebsvermögen206. 98
b) Geschäftsführervergütung: Hinsichtlich der Abgrenzung der gewerblichen Einkünfte geht der BFH207 davon aus, dass der atypisch stille Gesellschafter einer GmbH aus seiner Geschäftsführertätigkeit für die GmbH grds. gewerbliche Einkünfte erzielt208.
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c) Sonderbetriebsausgaben derjenigen atypisch stillen Gesellschafter, die auch GmbH-Anteile in ihrem Sonderbetriebsvermögen halten, unterliegen dem Abzugsverbot nach § 3c II EStG allenfalls insoweit, als sie durch das Gesellschaftsverhältnis zur GmbH veranlasst sind209.
100 d) Verlustverrechnung: Nach § 15 IV 6 ff. EStG ist der Ausgleich von Verlusten eingeschränkt, so-
weit eine Kapitalgesellschaft atypisch still an einer anderen Kapitalgesellschaft beteiligt ist210. Gesellschaftsvertragliche Verluste sind danach weder mit anderen Einkünften noch nach § 10d EStG auszugleichen. Sie sind nur mit Gewinnen zu verrechnen, die der Gesellschafter im vorangegangenen Wirtschaftsjahr oder in den folgenden Wirtschaftsjahren aus derselben Beteiligung bezieht. Verfassungsrechtlich ist diese Einschränkung zumindest insoweit problematisch, als sie auch finale Verluste erfasst.211 2.2 Typisch stille Gesellschaft Für die typisch stille Gesellschaft gilt im Wesentlichen Folgendes: 101 a) Da die stille Beteiligung i.d.R. keine verdeckte Einlage darstellt212, sind die Gewinnanteile des ty-
pischen stillen Gesellschafters bei der Gewinnermittlung der Kapitalgesellschaft grds. als Betriebsausgaben (§ 4 IV EStG) abzugsfähig. Ist der Stille gleichzeitig Gesellschafter der GmbH, ist die
203 Der im Schrifttum (vgl. Schulze zur Wiesche, GmbHR 1982, 114) vertretenen Ansicht, das gesamte Betriebsvermögen des Inhabers des Handelsgeschäftes sei Sonderbetriebsvermögen im Rahmen der atypisch stillen Gesellschaft, ist der BFH (BStBl. II 1984, 820) ausdrücklich entgegengetreten. 204 BFH BStBl. II 1994, 709; Schmidt/Wacker36, § 15 EStG Rz. 348. 205 Döllerer, DStR 1985, 295; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht9, § 9 II 4c; Suchanek/ Hagedorn, FR 2004, 1149. 206 Vgl. BFH BStBl. II 1999, 286; BFH/NV 2010, 2056. Vgl. dazu auch Schulze zur Wiesche, DB 2011, 1477 (1478). 207 BFH BStBl. II 1994, 702; BFH/NV 1999, 773; entsprechend zu Nutzungsvergütungen BFH BStBl. II 1995, 683; BFH/NV 2000, 420; vgl. auch FG Köln EFG 1987, 1503. 208 Krit. dazu insb. Schwedhelm, GmbHR 1994, 445; Felix, KÖSDI 1994, 10156; Horn/Maertens, GmbHR 1995, 816; Schulze zur Wiesche, DStZ 1998, 285. 209 Vgl. dazu i.E. Löher, BB 2002, 2361. 210 Vgl. dazu insb. BMF BStBl. I 2008, 970; Wißborn, NWB 2009, 199; Riegler/Riegler, DStR 2014, 1031. Zum Wegfall des Verlustvortrags bei Ausscheiden des stillen Gesellschafters aus einer atypisch stillen Gesellschaft vgl. BFH/NV 2009, 843. 211 Wacker, NWB 2012, 2462; Riegler/Riegler, DStR 2014, 1031 (1034). Die Verlustverwertungsbeschränkung findet nach verfassungskonformer Auslegung des BFH bei vor dem 21.11.2002 geschlossenen stillen Gesellschaftsverträgen nicht auf Verluste Anwendung, die auf das erste nach Verkündung des StVergAbG am 20.5.2003 im Jahr 2003 abgelaufene Wirtschaftsjahr entfallen (vgl. BFH v. 27.3.2012 – I R 62/08, BFHE 236, 543). 212 BFH BStBl. II 1976, 226; Streck8, § 8 KStG Rz. 42.
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III. GmbH (AG) & Stille Gesellschaft
Rz. 106 § 13
Angemessenheit der Gewinnverteilung in der stillen Gesellschaft im Hinblick auf verdeckte Gewinnausschüttungen zu überprüfen213. Wenn die stille Beteiligung nicht zum Betriebsvermögen des Anteilseigners gehört, führen die Ge- 102 winnanteile im Jahr des Zuflusses zu Einkünften aus Kapitalvermögen (§ 20 I Nr. 4 EStG). Sie unterliegen einer grds. abgeltenden Kapitalertragsteuer i.H.v. 25 % zzgl. SolZ (§§ 32d I 1; 43 I Nr. 3; 43a I 1 Nr. 1 EStG)214. Sofern die Voraussetzungen des § 32d II EStG vorliegen, werden die Kapitalerträge des Stillen allerdings zum individuellen Steuersatz veranlagt215. Dies betrifft insb. den Fall, dass der Stille oder eine ihm nahe stehende Person zu mindestens 10 % an der operativ tätigen Kapitalgesellschaft beteiligt ist (§ 32d II 1 Nr. 1 Buchst. b EStG). Bei beschränkt steuerpflichtigen Anteilseignern gilt die Einkommensteuer mit dem Kapitalertragsteuerabzug als abgegolten (§ 50 II EStG). b) Werbungskosten (z.B. Schuldzinsen im Zusammenhang mit der Finanzierung der Beteiligung, Be- 103 ratungskosten) sind grds. nicht abzugsfähig (§§ 2 II 2; 20 IX 1 Hs. 2 EStG). Insoweit gilt grds. nur der Sparer-Pauschbetrag i.H.v. 801 Euro bzw. 1 602 Euro (§ 20 IX 1 Hs. 1 EStG). In den Fällen von § 32d II 1 Nr. 1 EStG werden die tatsächlichen Werbungskosten hingegen anerkannt (§ 32d II 2 EStG). c) Laufende Verluste, die sich auf Grund gesellschaftsrechtlicher Verlustbeteiligung ergeben können, 104 sind bis zur Höhe der Einlage als negative Einnahmen zu berücksichtigen216. Sie können allerdings nur noch nach Maßgabe des § 20 VI 1 EStG und nicht mehr gegen positive Einkünfte aus anderen Einkunftsarten verrechnet werden. Auch ein Abzug nach § 10d EStG ist insoweit versperrt (§ 20 VI 1 Hs. 2 EStG). Soweit eine Kapitalgesellschaft typisch still an einer anderen Kapitalgesellschaft beteiligt ist, ist zudem die Verlustverrechnungsbeschränkung der §§ 20 I Nr. 4; 15 IV 6 ff. EStG zu beachten217. Ist der stille Gesellschafter über seine Einlage hinaus am Verlust beteiligt, gilt außerdem § 15a EStG entsprechend (§ 20 I Nr. 4 Satz 2 EStG)218. Darüber hinausgehend ist jedoch ein Verlust der Einlage durch Konkurs oder Liquidation als privater Vermögensverlust grds. nicht abzugsfähig219. d) Veräußert der stille Gesellschafter seine im Privatvermögen gehaltene Beteiligung, so sind Gewinne 105 gem. § 20 II 1 Nr. 4 EStG nur steuerpflichtig220, wenn die Beteiligung nach dem 31.12.2008 erworben wurde (§ 52 XXVIII 13 EStG). Sie unterliegen grds. dem Abgeltungsteuersatz i.H.v. 25 % zzgl. SolZ (§ 32d I 1 EStG). e) Wenn der Stille seine Einlage durch Dienstleistungen erbringt221, gehören die Dienstleistungsver- 106 gütungen grds. zu den Einkünften i.S.d. § 20 I Nr. 4 EStG.
213 Dazu BFH BStBl. II 1973, 650; 1978, 427; 1980, 477; 1982, 387; 2001, 299. Vgl. auch Döllerer, ZGR 1977, 504; Heinemann, KÖSDI 1980, 3890; Döllerer, ZGR 1981, 560; Costede, StuW 1983, 308 (313); Bitsch, GmbHR 1983, 56; Streck8, § 8 KStG Rz. 150; Schmidt/Weber-Grellet36, § 20 EStG Rz. 80. 214 Zur Veranlagungsoption nach § 32d IV EStG und zur Günstigerprüfung nach § 32d VI EStG vgl. § 8 Rz. 503. 215 Zur GmbH & typisch Still als steuerliches Gestaltungsinstrument unter der Abgeltungsteuer vgl. Middendorf/Engel, StuB 2010, 738. 216 BMF BStBl. I 2010, 94; vgl. dazu Dinkelbach, DB 2009, 870; Kleinmanns, DStR 2009, 2359; Rockoff/Weber, DStR 2010, 363; Czisz/Krane, DStR 2010, 2226. 217 Vgl. zu verfassungsrechtlichen Zweifeln an dieser Regelung BFH BStBl. II 2011, 272; Buciek, FR 2011, 281. 218 Dazu auch § 10 Rz. 72. 219 FG München EFG 1981, 341; Söffing, FR 1982, 445; Czisz/Krane, DStR 2010, 2226 (2231); Schmidt/ Weber-Grellet36, § 20 EStG Rz. 87. 220 Blumenberg/Benz, Die Unternehmensteuerreform 2008, 45. 221 Auch Dienstleistungen können Vermögenseinlagen i.S.d. § 230 HGB sein. Vgl. BFH BStBl. III 1965, 558; 1965, 560; II 1968, 356; 1972, 187; 1984, 373.
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§ 13 Rz. 107
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
3. Gewerbesteuer 3.1 Typisch stille Gesellschaft 107 Bei der typischen stillen Gesellschaft ist der Inhaber des Handelsgeschäfts Schuldner der Gewerbe-
steuer. Bei der Ermittlung seines Gewerbeertrages wird der Gewinnanteil des typisch Stillen generell zu einem Viertel hinzuaddiert (vgl. § 8 Nr. 1c GewStG). Ob der Gewinnanteil beim Stillen der Gewerbesteuer unterliegt oder nicht, ist ohne Relevanz, so dass die Gefahr der Doppelbelastung besteht222. 3.2 Atypisch stille Gesellschaft 108 Eine Mitunternehmerschaft ist zwar gem. § 5 I 3 GewStG grds. subjektiv gewerbesteuerpflichtig (s.
§ 12 Rz. 15). Der BFH223 geht jedoch bei der atypischen stillen Gesellschaft davon aus, dass allein der Inhaber des Handelsgeschäfts Schuldner der Gewerbesteuer ist224. Objektiv gewerbesteuerpflichtig sind dagegen die Mitunternehmer als Gesellschaft225, wobei die Abgrenzung des jeweiligen Gewerbebetriebs davon abhängt, ob der Stille am gesamten Handelsgeschäft oder an einzelnen Geschäftsbereichen beteiligt ist226. Erstreckt sich die atypische stille Gesellschaft auf das gesamte Handelsgeschäft, liegt auch dann ein einheitlicher Gewerbebetrieb vor, wenn mehrere stille Beteiligungen bestehen227. Der Freibetrag nach § 11 I 3 Nr. 1 GewStG wird in diesem Fall nur einmal gewährt228. Bestehen stille Beteiligungen an einzelnen Geschäftsbereichen, entstehen demgegenüber mehrere Gewerbebetriebe, deren Gewerbeertrag jeweils gesondert unter mehrfacher Berücksichtigung des vollen Freibetrags zu ermitteln ist229. Andererseits ist der Ergebnisausgleich dann auf den einzelnen Gewerbebetrieb beschränkt. 109–130
Einstweilen frei.
C. Internationales und Europäisches Unternehmensteuerrecht I. Grundzüge der Besteuerung grenzüberschreitender Unternehmenstätigkeit Literatur: Homburg, Perspektiven der internationalen Unternehmensbesteuerung, in Andel, Probleme der Besteuerung III, 2000, 9; Günkel, Die Besteuerung grenzüberschreitender Aktivitäten nach der Unternehmensteuerreform, WPg. 2008, 572; Scheffler, Internationale betriebswirtschaftliche Steuerlehre3, 2009; Fuest, Volkswirtschaftliche Aspekte der Besteuerung von Auslandsgewinnen multinationaler Unternehmen, FS Herzig, 2010, 867; Rödder, Globalisierung und Unternehmenssteuerrecht: Wie ist das ertragsteuerliche Besteuerungssubstrat multinationaler Unternehmen sachgerecht auf die betroffenen Fisci aufzuteilen?, FS J. Lang, 2010, 1147; Mössner, Steuerrecht international tätiger Unternehmen4, 2012; West u.a., Key Practical Issues To Eliminate Double Taxation of Business Income, Bull. for International Taxation 2012, 343; Shaviro, Fixing U.S. International Taxation, 2014 (zu Grundlagen der Internationalen Besteuerung); Watrin/ 222 Stollenwerk, GmbHStB 2007, 276 (281); Brinkmann, StBp. 2011, 213 (216). 223 BFH BStBl. II 1986, 311; 1990, 591; 1994, 327; 1994, 709; 1995, 171; 1995, 764; 1995, 794; 2016, 567; 2017, 538. Vgl. dazu auch Behrens, BB 2017, 992; Nöcker, FR 2017, 693; Paus, EStB 2017, 284; Baltromejus, Stbg. 2017, 307. 224 BFH v. 5.2.2014 – X R 1/12, BStBl. II 2016, 567. Zu der Frage der Unternehmeridentität im Rahmen der gewerbesteuerlichen Verlustverrechnung nach § 10a GewStG bei der atypisch stillen Gesellschaft vgl. BFH v. 24.4.2014 – IV R 34/10, BStBl. II 2017, 233. 225 BFH BStBl. II 1995, 794; 1998, 328; vgl. dazu auch BMF BStBl. I 1998, 583. 226 Vgl. BFH BStBl. II 1995, 764; 1998, 685; dazu auch Lindwurm, DStR 2000, 53 (59). 227 Vgl. BFH BStBl. II 1996, 764. 228 Vgl. BFH BStBl. II 1994, 327; 1995, 764. 229 BFH BStBl. II 1998, 685; 2010, 40; vgl. dazu Schulze zur Wiesche, DStZ 2009, 873; Kanzler, FR 2009, 1135.
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Montag/Hey
C. Internationales und Europäisches Unternehmensteuerrecht
Rz. 132 § 13
Ebert, Multinationale Unternehmen und Besteuerung. Aktueller Stand der betriebswirtschaftlichen Forschung, StuW 2013, 298; Jacobs/Endres/Spengel, Internationale Unternehmensbesteuerung. Deutsche Investitionen im Ausland. Ausländische Investitionen im Inland8, 2016; Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 2017.
1. Rechtsformabhängige Zuweisung von Besteuerungsrechten im Internationalen Steuerrecht Die Rechtsformabhängigkeit der Unternehmensbesteuerung setzt sich in der Besteuerung der 131 grenzüberschreitenden Unternehmensbetätigung fort. Nicht nur das deutsche Internationale Steuerrecht knüpft an die Rechtsform an, im Ausland werden Unternehmen in aller Regel ebenfalls nach Rechtsform besteuert230. Zudem weisen Doppelbesteuerungsabkommen (s. § 1 Rz. 92) die Besteuerungsrechte rechtsformabhängig zu. Kapitalgesellschaften werden mit wenigen Ausnahmen auch im Ausland als selbständige Steuersubjekte nach dem Trennungsprinzip (s. § 11 Rz. 1) besteuert231 und sind subjektiv abkommensberechtigt. Stärker differenziert ist die Behandlung der Personengesellschaft232, wobei die Besteuerung auch im Ausland vielfach dem Transparenzprinzip (s. § 10 Rz. 10) folgt233, so dass nicht die Personengesellschaft selbst, sondern die Gesellschafter mit ihren anteiligen Gewinnen besteuert werden mit der weiteren Folge, dass sich Personengesellschaften in eigener Person nicht auf den Schutz der DBA berufen können. Der Einzelunternehmer wiederum ist als natürliche Person abkommensberechtigt. Sind Quellen- und Sitzstaat unterschiedlicher Auffassung über die Einordnung eines Rechtsgebildes, 132 so führt dies zu Qualifikationskonflikten234, in deren Folge es zu Mehr- oder Minderbelastungen gegenüber einer einheitlichen Qualifikation kommen kann. Während Doppelbesteuerung infolge von Qualifikationskonflikten nicht systematisch verhindert wird, haben der deutsche Gesetzgeber ebenso wie die OECD und die EU zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um Gestaltungen zur Erlangung von Steuervorteilen, die aus der Unabgestimmtheit der Steuersysteme entstehen (sog. Hybrid Mismatch Arrangements), zu bekämpfen. § 50d IX 1 Nr. 1 EStG verhindert Besteuerungsvorteile, indem die in DBA vereinbarte Freistellungsmethode im Fall eines Qualifikationskonflikts suspendiert wird (gesetzliche
230 Überblick bei Maier-Frischmuth, StuB 2003, 7. 231 Übersicht bei HHR/Hey, Einf. KSt Anm. 230 ff. (1999), abrufbar unter: http://www.ertragsteuerrecht. de/media/KStG_Einf_196_09-1999_komplett.pdf; zu transparent besteuerten ausländischen Kapitalgesellschaften Loose/Oskamp, BB 2016, 1498. 232 Zur Behandlung der Personengesellschaft im Internationalen Steuerrecht BMF v. 26.9.2014 – IV B 5-S 1300/09/10003, BStBl. I 2014, 1258; hierzu: Hruschka, DStR 2014, 2421; OECD, The Application of the OECD Model Tax Convention to Partnerships, 1999;s. ferner Gündisch, Personengesellschaften im DBA-Recht, Diss., 2004; Kahle, StuW 2005, 61; Weggenmann, Personengesellschaften im Lichte der Doppelbesteuerungsabkommen, Diss., 2005; Hagena, Die Behandlung von Personengesellschaften in den DBA der Bundesrepublik Deutschland mit den Staaten Mittel- und Südamerikas, Diss., 2006; Machens, Ausländische Personengesellschaften im internationalen Steuerrecht, Diss., 2007; Liebchen, Beteiligungen an ausländischen Personengesellschaften, Diss., 2008; Lüdicke, IStR 2011, 91; Wassermeyer, IStR 2011, 85; Spengel/Schaden/Wehrße, StuW 2012, 105; Stemler, Die Behandlung von Sondervergütungen bei Personengesellschaften nach dem Recht der Doppelbesteuerungsabkommen, Diss., 2015; Wassermeyer/Richter/Schnittker, Personengesellschaften im Internationalen Steuerrecht2, 2015. 233 Übersicht Hey/Bauersfeld, IStR 2005, 649; für Spanien s. Woertz, Körperschaftsteuer für Personenunternehmen, Diss., 2009. 234 Hierzu Lamers/Stevens, ET 2004, 155; Geuenich, Qualifikationskonflikte im OECD-MA und deutschen DBA am Beispiel einer atypisch stillen Gesellschaft, Diss., 2005; Lampert, Doppelbesteuerung und Lastengleichheit. Qualifikations- und Zurechnungskonflikte bei der Besteuerung von Personengesellschaften, Diss., 2009; Vogel/Lehner6, 2015, Grundlagen, Rz. 96b ff.; Jacobs/Endres/Spengel, Internationale Unternehmensbesteuerung8, 2016, 392 ff., 500 ff., 1258 ff.; Mechtler, Hybrid Mismatches im Ertragssteuerrecht, Diss. (Österr.), 2017; Beck, Qualifikationskonflikte im Internationalen Steuerrecht, Diss., 2017.
Hey 845
§ 13 Rz. 133
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
„subject-to-tax“-Klausel)235. Die OECD hat unter Aktionspunkt 2 des BEPS-Abschlussberichts236 differenzierte Empfehlungen abgegeben und die EU schreibt den Mitgliedstaaten in Art. 9 ATAD I237 vor, hybride Gestaltungen zu verhindern. 2. Auslandsinvestitionen von Steuerinländern (Outbound-Sachverhalte) 133 Die steuerliche Behandlung von Auslandsinvestitionen hängt wesentlich davon ab, ob mit dem Tä-
tigkeitsstaat ein DBA besteht. Im Folgenden wird die Behandlung der Grundformen238 grenzüberschreitender Unternehmenstätigkeit im Verhältnis zwischen DBA-Staaten auf der Grundlage des OECD-Musterabkommens dargestellt, an dem sich die deutschen DBA orientieren: 134 a) Auslandsbetriebsstätte: Die Steuerpflicht grenzüberschreitender Betätigung von Einzel- und Mit-
unternehmern sowie Kapitalgesellschaften richtet sich danach, ob im Ausland eine Betriebsstätte, d.h. eine feste Geschäftseinrichtung (vgl. § 12 AO; Art. 5 OECD-MA)239, begründet wird. Sie ist regelmäßig Anknüpfungspunkt der beschränkten Steuerpflicht im Tätigkeitsstaat. Auf Ebene der DBA erlaubt das Betriebsstättenprinzip des Art. 7 I 2 OECD-MA dem Betriebsstättenstaat die Besteuerung. Die Aufteilung des Gewinns zwischen Betriebsstätte und Stammhaus erfolgt nach dem sog. separate entity approach240, indem die Selbständigkeit der Betriebsstätte fingiert wird (s. auch § 1 Rz. 89). Im Inland unterliegt der im Ausland erzielte Gewinn nach dem Welteinkommensprinzip der Einkommensteuer, wird aber entspr. der deutschen Abkommenspraxis unter Anwendung des Progressionsvorbehalts (§ 32b EStG) freigestellt (Art. 23 A OECD-MA)241. Infolge der Freistellung finden wegen § 3c I EStG im Ausland erlittene Verluste lediglich im Rahmen des negativen Progressionsvorbehalts des § 32b EStG Berücksichtigung. Dieselben Rechtsfolgen greifen ein, wenn sich ein in Deutschland ansässiger Gesellschafter an einer ausländischen (gewerblichen) Personengesellschaft beteiligt. Die Beteiligung vermittelt dem Gesellschafter nach ständiger Rspr. eine (anteilige) Betriebsstätte im Ansässigkeitsstaat der Gesellschaft242. Der Auslandsgewinn wird den Gesellschaftern unmittelbar und anteilig zugerechnet, ist aber im Inland von der Besteuerung freigestellt. Wird die Personengesellschaft im Quellenstaat ausnahmsweise als Körperschaftsteuersubjekt eingestuft, ändert dies an der Besteuerung in Deutschland grds. nichts243; im Quellenstaat wird Körperschaftsteuer fällig.
235 Zur Verfassungsmäßigkeit von § 50d IX 1 Nr. 1 EStG s. Vorlagebeschluss des BFH v. 20.8.2014 – I R 86/13, BFHE 246, 486 (Az. BVerfG: 2 BvL 21/14); Kirchhof/Gosch17, § 50d EStG Rz. 40a, 42. Zu DBArechtlichen subject-to-tax-Klauseln BMF v. 20.6.2013 – IV B 2-S 1300/09/10006, BStBl. I 2013, 980; Lüdicke, IStR 2013, 721; Schönfeld, IStR 2013, 757. 236 OECD, Neutralisierung der Effekte hybrider Gestaltungen, Aktionspunkt 2 – Abschlussbericht 2015, 2017. Zur Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten Rust in Schön/Heber (Hrsg.), Grundfragen des Europäischen Steuerrechts, 2015, 89 ff. 237 RL (EU) 2016/1164 v. 12.7.2016, ABl. L 193/1, Konkretisiert durch ATAD II, RL (EU) 2017/952 v. 29.5.2017, ABl. L 144/1. 238 Instruktive Übersicht bei Wotschofsky, RIW 2005, 30 (33). 239 Betriebsstättenerlass BMF v. 25.8.2009 – IV B 5-S 1341/07/10004, BStBl. I 2009, 888 (dazu Ditz/ Schneider, DStR 2010, 81); s. ferner insb. zu den Entwicklungen auf OECD-Ebene Kroppen, FS Herzig, 2010, 1071; Bendlinger, SWI 2011, 531; Kofler/van Thiel, ET 2011, 327; Wassermeyer/Andresen/Ditz, Betriebsstätten-Handbuch2, 2017; s. ferner § 1 Rz. 81 ff. m.w.N. 240 Authorised OECD Approach (AOA); zur Umsetzung in nationales Recht Schaumburg, ISR 2013, 197; Ditz, ISR 2013, 261; BMF v. 22.12.2016 – V B 5 - S 1341/12/10001-03, BStBl. I 2017, 182. 241 Vogel/Lehner6, 2015, Art. 23 DBA Rz. 16 u. 63. 242 BFH v. 26.2.1992 – I R 85/91, BStBl. II, 937, 939; s. ferner Pyszka/Brauer, Ausländische Personengesellschaften im Unternehmenssteuerrecht, 2004; Engel/Hilbert, FR 2012, 394; Weggenman in Wassermeyer/Richter/Schnittker, Personengesellschaften im Internationalen Steuerrecht2, 2015, Rz. 6.45. 243 Vgl. aktuell BFH v. 21.1.2016 – I R 49/14, BStBl II 2017, 107 m. Anm. Suchanek, GmbHR 2016, 727; Kahlenberg, ISR 2016, 273; Behrenz, IStR 2016, 514.
846
Hey
C. Internationales und Europäisches Unternehmensteuerrecht
Rz. 137 § 13
b) Kapitalgesellschaft im Ausland: Wird die Auslandstätigkeit durch eine im Ausland ansässige Ka- 135 pitalgesellschaft ausgeübt, greift die inländische Steuerhoheit erst bei Repatriierung der Gewinne durch Ausschüttung ein. Die ausländische Kapitalgesellschaft entfaltet Abschirmwirkung, soweit nicht die Hinzurechnungsbesteuerung der §§ 7 ff. AStG Anwendung findet (s. § 1 Rz. 89). Der Sitzstaat der Tochtergesellschaft hat gem. Art. 10 OECD-MA das Recht, neben der Körperschaftsteuer auf den thesaurierten Gewinn auf die Ausschüttung Quellensteuer zu erheben244. Im Inland befreit § 8b I KStG die Ausschüttung, wenn die Empfängerin eine Kapitalgesellschaft ist und kein Streubesitz i.S.v. § 8b IV KStG vorliegt. § 8b V KStG, der seit 2004 für In- und Auslandsdividenden gleichermaßen gilt (s. § 11 Rz. 18, 42), reduziert die Steuerbefreiung allerdings zur pauschalen Abgeltung von in Zusammenhang mit der steuerfreien Schachteldividende stehenden, nicht abzugsfähigen Aufwendungen auf 95 % des Ausschüttungsbetrags. Im Staat der Tochtergesellschaft erhobene Quellensteuer wird definitiv. Ist Empfänger der Ausschüttung ein Einzelunternehmer oder eine Mitunternehmerschaft, greift das Teileinkünfteverfahren (§ 3 Nr. 40 EStG) ein. Die ausländische Quellensteuer wird gem. § 34c EStG; Art. 23 B OECD-MA angerechnet. 3. Inlandsinvestitionen von Steuerausländern (Inbound-Sachverhalte) a) Inlandsbetriebsstätte: Im Ausland ansässige Einzelunternehmer und Personengesellschafter sind 136 gem. § 49 I Nr. 2 Buchst. a EStG, der über § 8 I 1 KStG auch für ausländische Körperschaften gilt, mit ihren Einkünften aus einer inländischen Betriebsstätte in Deutschland beschränkt einkommen- bzw. körperschaftsteuerpflichtig. Dabei sollen gem. § 50d X EStG entsprechend § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 EStG nicht nur der Anteil am Gesamthandsgewinn, sondern auch Sondervergütungen des ausländischen Personengesellschafters in vollem Umfang als gewerbliche Einkünfte (Unternehmensgewinne) in Deutschland besteuert werden, auch wenn hierin Vergütungen enthalten sind, die vom (Wohn-)Sitzstaat anderen Einkunftsarten zugerechnet werden245; daneben soll § 4i EStG den doppelten Abzug von Sonderbetriebsausgaben im In- und Ausland verhindern246. b) Kapitalgesellschaft im Inland: Ausländische Anteilseigner, die sich an einer inländischen Kapital- 137 gesellschaft beteiligen, sind mit den Ausschüttungen gem. § 49 I Nr. 5 Buchst. a EStG beschränkt steuerpflichtig. Die Besteuerung wird durch den Quellenabzug i.H.v. 25 % (§§ 43 I 1 Nr. 1; 43a I 1 Nr. 1 EStG) abgegolten (§ 50 II 1 EStG); dabei reduziert sich der Quellenabzug nach Art. 10 II 1 Buchst. a, b OECD-MA für Kapitalgesellschaften als Anteilseigner auf 5 %, für natürliche Personen auf 15 %. Hieraus können für ausländische Anteilseigner Vorteile gegenüber der allgemein für Gewinnausschüttungen im Privatvermögen geltenden Abgeltungsteuer entstehen (s. § 11 Rz. 18). Die Anwendung des Teileinkünfteverfahrens für im Betriebsvermögen gehaltene Beteiligungen von Steuerausländern ist mangels Veranlagung ausgeschlossen, soweit die Beteiligung nicht zu einer inländischen Betriebsstätte gehört (§ 50 II 2 Nr. 1 EStG). Handelt es sich bei dem Empfänger um eine beschränkt steuerpflichtige Körperschaft, werden gem. § 44a IX EStG 2/5 der Kapitalertragsteuer unabhängig vom Vorliegen eines DBA auf Antrag erstattet. Bei EU-Kapitalgesellschaften als Empfänger kann der Abzug gem. § 43b EStG entfallen (dazu Rz. 144). Einstweilen frei.
138–142
244 Unter den Voraussetzungen der Mutter-Tochter-RL (s. Rz. 144) ist die Kapitalertragsteuer auf 0 % reduziert; nach Art. 10 II 1 OECD-MA beträgt sie ansonsten 5 % bei Schachteldividenden (Beteiligung mind. 25 %) und 15 % bei Streubesitzdividenden. Zur z.T. abw. Abkommenspraxis s. Vogel/Lehner6, 2015, Art. 10 DBA Rz. 67. 245 Rückwirkend novelliert durch AmtshilfeRLUmsG v. 26.6.2013, BGBl. I 2013, 1809; dazu Mitschke, FR 2013, 694; Hagena/Klein, ISR 2013, 267; Stemler, Die Behandlung von Sondervergütungen bei Personengesellschaften nach dem Recht der Doppelbesteuerungsabkommen, Diss., 2015; Kollruss, FR 2015, 351. Der BFH hält § 50d X EStG sowohl als Treaty Override (dazu § 5 Rz. 26) als auch als rückwirkendes Nichtanwendungsgesetz für verfassungswidrig, vgl. BFH Vorlagebeschluss v. 11.12.2013 – I R 4/13, BStBl. II 2014, 791 (BVerfG-Az.: 2 BvL 15/14); dazu Lehner, IStR 2014, 189. 246 Dazu und zum Verhältnis zu § 50d X EStG Kudert/Kahlenberg, StuW 2017, 344.
Hey 847
§ 13 Rz. 143
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
II. Der Einfluss des Europarechts auf die Besteuerung von Unternehmen Literatur (bis 2002 s. 18. Aufl.; bis 2004 s. 20. Aufl.): Englisch, Dividendenbesteuerung. Europa- und verfassungsrechtliche Vorgaben im Vergleich der Körperschaftsteuersysteme Deutschlands und Spaniens, Diss., 2005; Maiterth, Der Einfluss der Besteuerung auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, StuW 2005, 47; Elschner/Heckemeyer/Spengel, Besteuerungsprinzipien und effektive Unternehmenssteuerbelastungen in der EU, ZEW Discussion Paper No. 09–034 (2009); Hey, Vorrecht des Quellenstaates und binnenmarktkonforme Besteuerung von Kapitalgesellschaften in der Europäischen Union, FS Schaumburg, 2009, 767; Rödder, Wo steht und wohin entwickelt sich das Europäische Unternehmenssteuerrecht?, FS Herzig, 2010, 349; Kuhr, Grundsätze Europäischer Unternehmensbesteuerung, Diss., 2013; Hey, Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung in Europa – Eine Standortbestimmung in Zeiten von BEPS, FR 2016, 554; Kirchmayr/Mayr/Hirschler/Kofler, Anti-BEPS-Richtlinie: Konzernsteuerrecht im Umbruch?, 2017; Braun Binder, Rechtsangleichung in der EU im Bereich der direkten Steuern, Habil., 2017.
1. Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung 143 Obwohl die Beseitigung von Hemmnissen grenzüberschreitender Wirtschaftstätigkeit zu einer der
Kernforderungen der europäischen Verträge gehört, ist das Unternehmensteuerrecht bisher nur punktuell harmonisiert (dazu § 4 Rz. 70 ff.). Die aktuell vorhandenen Richtlinien beeinflussen die Besteuerung von Unternehmen, namentlich das Körperschaftsteuerrecht, wie folgt: 144 Die Mutter-Tochter-Richtlinie247 verhindert die internationale Doppelbesteuerung und Doppelbelastung von Gewinnen, die von einer EU-Tochtergesellschaft an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft bzw. an eine ausländische Betriebsstätte der Muttergesellschaft ausgeschüttet werden. Hierzu berücksichtigt der Sitzstaat der Muttergesellschaft die Vorbelastung der Auslandsdividende durch Anrechnung bzw. Freistellung (gewährleistet durch § 8b I KStG). Im Gegenzug verzichtet der Sitzstaat der Tochtergesellschaft auf die Erhebung von Kapitalertragsteuer (s. § 43b EStG). Zur Vermeidung doppelter Nichtbesteuerung sieht Art. 4 I Buchst. a der RL248 nunmehr die Einführung eines materiellen Korrespondenzprinzips vor, wonach die Freistellung im Staat der Muttergesellschaft im Fall der Gewinnminderung bei der Tochtergesellschaft ausgeschlossen wird; in Art. 1 II u. III der RL wurde zudem eine Missbrauchsklausel aufgenommen249. 145 Die Fusionsrichtlinie250 vermeidet in Fällen grenzüberschreitender Fusionen, Spaltungen, der Einbringung von Unternehmensteilen und des Austausches von Anteilen die Aufdeckung und Besteuerung stiller Reserven. Zur Sicherung des Besteuerungsrechts des Herkunftsstaats ist eine Buchwertverknüpfung vorgeschrieben. 2005 wurde die Fusionsrichtlinie an das seit dem 8.10.2004 unmittelbar geltende Statut einer Europäischen Aktiengesellschaft251 angepasst. Bereits die SE-VO ermöglicht grenzüberschreitende Verschmelzungen unter Beteiligung bzw. zur Gründung einer SE. Durch Verabschiedung der Verschmelzungsrichtlinie252 und der Rspr. des EuGH in der Rs. Sevic253 sind die gesellschaftsrechtlichen Hürden grenzüberschreitender Umwandlungen auch für nationale Unternehmensformen aus dem Weg geräumt. 146 Nach der in § 50g EStG umgesetzten Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie254 sind grenzüberschreitende Zins- und Lizenzgebührenzahlungen zwischen Kapitalgesellschaften zur Vermeidung von Doppelbesteue247 248 249 250 251
RL 90/435 EWG; neugefasst durch RL 2011/96/EU v. 30.11.2011, ABl. L 345/8. Art. 1 Nr. 1 der Änderungsrichtlinie 2014/86/EU v. 8.7.2014, ABl. L 219/40. Art. 1 der Änderungsrichtlinie 2015/121/EU v. 27.1.2015, ABl. L 21/1. 90/434/EWG; neugefasst durch RL 2009/133/EG v. 19.10.2009, ABl. L 310/34. Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Gesellschaft v. 8.10.2001, Dok-Nr. 2157/2001, ABl. EG 2001 Nr. 294; zur Besteuerung der SE s. § 11 Rz. 23 m. Nachw. in Fn. 44. 252 RL 2005/56/EG v. 26.10.2005, ABl. L 310/1; geändert durch RL 2009/109/EG v. 16.9.2009, ABl. L 259/14 hinsichtlich der Berichts- und Dokumentationspflicht bei Verschmelzungen und Spaltungen. 253 EuGH v. 13.12.2005 – C-411/03, ECLI:EU:C:2005:762 _1 – Sevic. 254 RL 2003/49/EWG v. 3.6.2003, ABl. L 157/49. Der Vorschlag einer Neufassung, KOM(2011) 714 endg., wurde bislang noch nicht umgesetzt.
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II. Der Einfluss des Europarechts auf die Besteuerung von Unternehmen
Rz. 149 § 13
rungen im Quellenstaat von jedweder Quellensteuer zu befreien. Auf diese Weise wird das Besteuerungsrecht ausschließlich dem Sitzstaat zugewiesen. Damit erreicht die Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie gerade nicht die angestrebte Finanzierungsneutralität im Verhältnis zu Dividenden, da diese nach der MutterTochter-Richtlinie ausschließlich mit der KSt des Quellenstaats belastet sind (s. auch § 4 Rz. 72). Das Schiedsabkommen255 stellt als multilaterales Abkommen in Fällen der Gewinnberichtigung zwischen verbundenen Unternehmen und der Abgrenzung von Betriebsstättengewinnen sicher, dass es zur Durchführung eines Schlichtungsverfahrens kommt, damit Doppelbesteuerungen vermieden werden können.
147
Mit den Anti-BEPS-Richtlinien, den sog. ATAD (Anti Tax Avoidance Directives)256 verfolgt die EU im Gleichlauf mit der OECD die Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken zum Schutz der inländischen Körperschaftsteuerbemessungsgrundlagen (Art. 3 ATAD I). Sie finden damit grds. nur für körperschaftsteuerpflichtige Unternehmen Anwendung (Art. 1 ATAD I). I.E. werden für folgende Bereiche Vorgaben gemacht:
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– Begrenzung der Abzugsfähigkeit von Zinszahlungen = Zinsschranke (Art. 4 ATAD I)257 – Wegzugsbesteuerung (Art. 5 ATAD I)258 – Allgemeine Missbrauchsvorschrift (Art. 6 ATAD I)259 – Hinzurechnungsbesteuerung (Art. 7, 8 ATAD I)260 – Maßnahmen gegen hybride Gestaltungen (Art. 9 ATAD I u. ATAD II)261. Zu einer Harmonisierung führt die ATAD-Gesetzgebung nicht, da es sich lediglich um die Vorgabe von Mindeststandards handelt; Art. 3 ATAD erlaubt den Mitgliedstaaten schärfere Maßnahmen der Missbrauchsabwehr (sog. Mindestschutzkonzept)262. Im Kontext der Missbrauchsbekämpfung stehen auch die zahlreichen Richtlinien zur Erhöhung der Transparenz, insbesondere durch das sog. Country-by-Country Reporting263 (s. hierzu § 21 Rz. 174). Mit der Anti-BEPS-Gesetzgebung missbrauchen die Mitgliedstaaten den Richtliniengeber, indem sie versuchen, Beschränkungen der Grundfreiheiten sekundärrechtlich abzusichern. Zwar wird hiermit eine gewisse, durch die Ausgestaltung als Mindestschutzkonzept aber nur nach unten begrenzte Einheitlichkeit erreicht, diese steht aber nicht im Interesse der Errichtung und des Funktionierens des Binnenmarktes, so dass sie jedenfalls in Teilen nicht durch Art. 115 AEUV gedeckt ist264.
Die Anti-BEPS-Richtlinie (ATAD) zieht in Teilen (Zinsschranke, allgemeine Missbrauchsklausel, 149 Hinzurechnungsbesteuerung) die Missbrauchsregeln des 2016er Vorschlags einer Gemeinsamen (Konsolidierten) Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage265 vor. Mit dem Vorschlag einer Gemeinsamen Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage vom 25.10.2016 hält die Kommission grds. am Plan einer europaweiten Konzernbesteuerung mit Konsolidierung und formelhafter Gewinnaufteilung fest, strebt aber die Verwirklichung in Etappen an, indem zunächst nur über die Vereinheitlichung der Ge-
255 RL (EU) v. 10.10.2017, ABl. L 265/1. 256 ATAD I u II (s. Rz. 132), dazu Jochimsen/Zinowsky, ISR 2016, 318; Oppel, IStR 2016, 797; Rautenstrauch/Suttner, BB 2016, 2391; Hey, StuW 2017, 248; Kirchmayr u.a. (Hrsg.), Anti-BEPS-Richtlinie: Konzernsteuerrecht im Umbruch?, 2017; M. Lang u.a. (Hrsg.), Die Anti-Tax-Avoidance-Richtlinie, 2017. 257 Dazu Kühbacher, ÖStZ 2017, 169 (Verhältnis zu Grundfreiheiten); van Os, EC Tax Rev. 2016, 184. 258 Dazu Mechtler/Spies, ISR 2016, 430 u. 2017, 9. 259 Dazu Hey, StuW 2017, 248 (258 ff.). 260 Dazu Schnitger/Nitzschke/Gebhardt, IStR 2016, 960; Schönfeld, IStR 2017, 721. 261 Dazu Kahlenberg/Oppel, IStR 2017, 205 (in Bezug auf Drittstaaten). 262 Dazu Fehling, DB 2016, 2862; krit. Hey, StuW 2017, 248 (250 ff., 246 f.). 263 RL (EU) 2016/881 v. 25.5.2016, ABl. L 146/8. 264 de Graaf/Visser, EC Tax Rev. 2016, 199 (202 ff.). 265 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage, COM(2016) 685 final.
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§ 13 Rz. 150
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
winnermittlungsvorschriften entschieden werden soll (GKB/CCTB). Zu diesen weitergehenden Harmonisierungsanstrengungen, s. § 4 Rz. 71 und ausf. § 9 Rz. 59 ff. 150 Die Verabschiedung der ATAD folgt dem Aktionsplan für eine faire und effiziente Unternehmens-
besteuerung in der EU vom 17.6.2015266. Dieser weist der Missbrauchsbekämpfung und der Eindämmung der Folgen des Steuerwettbewerbs Priorität gegenüber den früheren Zielen der Beseitigung steuerlicher Freizügigkeitsbarrieren zu. Zwar ist die Bekämpfung von Steuerwettbewerb (s. § 7 Rz. 70 ff.) kein neues Phänomen. Doch der hierzu bereits 1997 vom ECOFIN beschlossene unverbindliche Verhaltenskodex gegen unfairen Steuerwettbewerb267 (§ 4 Rz. 12) schützt nicht gegen ein allgemein niedriges Steuerniveau im Ausland268 und legitimiert keine diskriminierenden und beschränkenden Abwehrmaßnahmen. Die punktuelle Vereinheitlichung einzelner Missbrauchsnormen in einem ansonsten nicht harmonisierten Unternehmensteuerrecht ist indes ein Torso. Eine einheitliche Missbrauchsabwehr ergibt grds. nur Sinn, wenn auch das zugrunde liegende Recht, dessen Missbrauch verhindert werden soll, vereinheitlicht ist. Insgesamt steht und fällt jede weitere Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung auf Grund des Einstimmigkeitsprinzips mit der Einigungsbereitschaft269 der Mitgliedstaaten. Auf Maßnahmen zur Abwehr von Steuerwettbewerb haben sich die Mitgliedstaaten vor dem Hintergrund der internationalen und öffentlichkeitswirksamen BEPS-Debatte bemerkenswert schnell einigen können. Ob sie diese Einigungsbereitschaft auch für die mit einer massiven Kompetenzverschiebung zugunsten der EU verbundene Harmonisierung der Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage aufbringen können, ist zum jetzigen Zeitpunkt sehr ungewiss. 2. Überprüfung des nationalen Unternehmensteuerrechts am Maßstab der Grundfreiheiten durch den EuGH 151 Handlungsdruck folgt für die nationalen Gesetzgeber auch aus den Entscheidungen des EuGH. Die
Benachteiligung grenzüberschreitender Unternehmensbetätigung bedarf als Beschränkung der Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit der Rechtfertigung, die in der Vergangenheit nur unter engen Voraussetzungen bejaht wurde. Allerdings ist die Rspr. in hohem Maße dynamisch und zeigt in jüngerer Zeit durch Etablierung der Rechtfertigungsgründe der ausgewogenen Verteilung der Besteuerungsrechte und der Missbrauchsvermeidung zunehmend Verständnis für die Fiskalinteressen der Mitgliedstaaten. Mit der Anti-BEPS-Gesetzgebung (s. Rz. 148 ff.) ist der EU-Gesetzgeber dazu übergangenen, die EuGH-Rspr. in Richtlinien umzusetzen, wobei er die richterrechtlichen Vorgaben nicht nur konkretisiert, sondern die Grundfreiheiten über die Rspr. des EuGH hinaus einschränkt. Die bisherige EuGH-Rspr. wird bei der zukünftigen primärrechtlichen Überprüfung und Auslegung des neu geschaffenen Sekundärrechts Berücksichtigung finden müssen.
266 Aktionsplan v. 17.6.2015, COM(2015) 302 final; dazu Oppel, IStR 2015, 813; Roth, Ubg 2015, 705; Krauß, IStR 2016, 59; s. zuvor schon Empfehlung der Kommission v. 6.12.2012, betreffend aggressive Steuerplanung, Com (2012) 8806 final; dazu M. Lang, SWI 2013, 206. 267 Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten v. 1.12.1997, ABl. C 2/2. 268 S. aber EuGH v. 6.9.2006 – C-88/03, ECLI:EU:C:2006:511 – Portugiesische Republik/Kommission; grundl. zur europarechtlichen Bewertung von Niedrigsteuersätzen Hoffmann, Die Besteuerung von Kapitalgesellschaften und ihren Anteilseignern in Irland im Vergleich zu Deutschland, Diss., 2005, 223 ff. 269 Zum Einigungsbedarf für eine gerechte Aufteilung der Steuerquellen Hey in Konrad/Lohse, Einnahmen- und Steuerpolitik in Europa: Herausforderungen und Chancen, 2009, 75; zum Vorschlag eines alternativen „European Tax Allocation Systems (ETAS)“ s. Hernler, FS Herzig, 2010, 1057; zur bisher ergebnislosen deutsch-französischen Konvergenzinitiative Eilers/Nücken, DB 2012, 535; Dorenkamp, Ubg 2012, 421.
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Hey
II. Der Einfluss des Europarechts auf die Besteuerung von Unternehmen
Rz. 152 § 13
Schwerpunkte der Rspr.270 lassen sich wie folgt umreißen:
152
Besonders häufig ist der EuGH mit der diskriminierenden Wirkung mitgliedstaatlicher Körperschaftsteuersysteme befasst. Soweit sie Auslandsdividenden271 oder ausl. Anteilseigner272 benachteiligen273, erkennt der Gerichtshof regelmäßig auf einen Verstoß gegen die Kapitalverkehrs- oder Niederlassungsfreiheit. So hat die Rs. Meilicke I274, gerichtet gegen die Inlandsbeschränkung des bis 2001 in Deutschland praktizierten Vollanrechnungsverfahrens, den vollzogenen Wechsel zum Teileinkünfteverfahren im Nachhinein bestätigt (s. § 11 Rz. 17). Die Diskriminierung von ausl. Anteilseignern war ferner Gegenstand von Entscheidungen zur Gesellschafterfremdfinanzierung275 (dazu i.E. § 11 Rz. 49) sowie zum Abzug von Beteiligungsaufwand276 im Sitzstaat der Muttergesellschaft (s. § 11 Rz. 42). In einer Reihe von Entscheidungen277 hat der EuGH zudem deutlich gemacht, dass die in den meisten Staaten geltenden Beteiligungsertragsbefreiungen (§ 8b I KStG) auch unterhalb der Beteiligungserfordernisse der Mutter-Tochter-Richtlinie nicht nach der Ansässigkeit der Dividenden empfangenden Körperschaft differenzieren dürfen (s. i.E. § 11 Rz. 42), dies gilt auch dann, wenn die Unterschiede vom Bestehen einer ertragsteuerlichen Gruppe/Organschaft abhängig sind und diese auf Inlandssachverhalte beschränkt ist278. Dem Anspruch des EuGH, In- und Auslandsdividenden gleich zu behandeln, ist die Ausweitung der zuvor nur auf Auslandssachverhalte anwendbaren Vorschrift des 8b V KStG auch auf rein innerstaatliche Sachverhalte sowie die allgemeine Körperschaftsteuerpflicht für Streubesitz270 Zum aktuellen Stand der Rspr. Henze, ISR 2016, 397; Herbort, IStR 2015, 15; zu den dem EuGH in jüngerer Zeit vorgelegten Fragestellungen Dobratz, ISR 2017, 1006. 271 EuGH v. 6.6.2000 – C-35/98, ECLI:EU:C:2000:294 – Verkooijen; v. 15.7.2004 – C-315/02, ECLI:EU:C:2004:446 – Lenz; v. 7.9.2004 – C-319/02, ECLI:EU:C:2004:484 – Manninen; v. 12.12.2006 – C-446/04, ECLI:EU:C:2006:774, Test Claimants in the FII Group Litigation; v. 10.2.2011 – C-436/08, ECLI:EU:C:2011:61 – Haribo und Österreichische Salinen; anders zu Dividenden aus Drittstaaten s. EuGH v. 24.5.2007 – C-157/05, ECLI:EU:C:2007:297 – Holböck; dazu Saß, DB 2007, 1327; Schönfeld, IStR 2007, 443; s. ferner Kraft/Gebhardt/Quilitzsch, FR 2011, 593. 272 EuGH v. 24.12.2006 – C-170/05, ECLI:EU:C:2006:783 – Denkavit; v. 8.11.2007 – C-379/05, ECLI:EU:C:2007:655 – Amurta; v. 22.12.2008 – C-282/07, ECLI:EU:C:2008:762 – Truck Center SA; v. 19.11.2009 – C-540/07, ECLI:EU:C:2009:717 – Kommission/Italien; v. 22.1.2009 – C-377/07, ECLI:EU:C:2009:29 – STEKO; v. 18.6.2009 – C-303/07, ECLI:EU:C:2009:377 – Alpha; v. 20.10.2011 – C-284/09, ECLI:EU:C:2011:670_1 – Kommission/Bundesrepublik Deutschland; v. 17.9.2015 – C-10/14, C-14/14 und C-17/14, ECLI:EU:C:2015:608 – Miljoen; anders jedoch EuGH v. 12.12.2006 – C-374/04, ECLI:EU:C:2006:773 – Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation; v. 26.6.2008 – C-284/06, ECLI:EU:C:2008:365 – Burda: kein Anspruch auf Körperschaftsteuergutschrift der ausschüttenden gebietsansässigen Gesellschaft bei Ausschüttung an gebietsfremde Gesellschaft. 273 Zum Ganzen grundl. Englisch, Dividendenbesteuerung, Diss., 2005, 212 ff., 325 ff., 396 ff.; Denys, ET 2007, 221; Saß, DB 2007, 1327; Vanistendael, ET 2007, 210; S. Wagner, Der Konzern 2008, 332; Rust, DStR 2009, 2568; Englisch, Intertax 2010, 197; Kube/Straßburger, IStR 2010, 301; Tenore, EC Tax Review 2010, 74; Duttine/Stumm, BB 2012, 867. Zur eng verbundenen Problematik juristischer Doppelbesteuerung infolge fehlender oder unvollständiger Anrechnung von Quellensteuern durch den Wohnsitzstaat des Anteilseigners s. EuGH v. 14.11.2006 – C-513/04, ECLI:EU:C:2006:713 – Kerckhaert-Morres; v. 16.7.2009 – C-128/08, ECLI:EU:C:2009:471 – Jacques Damseaux (Grundfreiheitenverstoß verneinend); krit. Kühbacher, ÖStZ 2009, 496. Zur gemeinschaftsrechtlichen Beurteilung juristischer Doppelbesteuerung s. auch § 4 Rz. 92. 274 EuGH v. 30.6.2011 – C-262/09, ECLI:EU:C:2011:438 – Meilicke. 275 EuGH v. 12.12.2002 – C-324/00, ECLI:EU:C:2002:749 – Lankhorst-Hohorst; v. 13.3.2007 – C-524/04, ECLI:EU:C:2007:161 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation. 276 EuGH v. 18.9.2003 – C-168/01, ECLI:EU:C:2003:479 – Bosal, m. Anm. Englisch, Unternehmensbewertung & Management 2004, 58; Hahn, GmbHR 2003, 1245; Wagner, DStZ 2004, 185; EuGH v. 23.2.2006 – C-471/04, ECLI:EU:C:2006:143 – Keller Holding, m. Anm. Stahlschmidt, FR 2006, 525. 277 Vor allem EuGH v. 20.10.2011 – C-284/09, ECLI:EU:C:2011:670_1 – Kommission/Deutschland; ferner EuGH v. 8.11.2007 – C-379/05, ECLI:EU:C:2007:655 – Amurta. 278 EuGH v. 2.9.2015 – C-386/14, ECLI:EU:C:2015:524 – Groupe Steria.
Hey 851
§ 13 Rz. 153
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
dividenden (§ 8b IV KStG) zu verdanken. Auch die Zinsschranke des § 4h EStG differenziert zumindest im Grundtatbestand nicht zwischen In- und Auslandskonzernen (s. aber Rz. 156 u. § 11 Rz. 56); diese unterschiedslose Anwendung auf In- und Auslandssachverhalte schreibt nunmehr in Art. 4 ATAD auch der EU-Gesetzgeber vor. Damit bewirkt der EuGH – unbeabsichtigt – häufig das Gegenteil eines Abbaus steuerlicher Verzerrungen im Binnenmarkt (dazu auch Rz. 156). 153 Besonders umstr. ist, ob die Mitgliedstaaten bei einem Verzicht auf die Besteuerung von Auslands-
gewinnen durch Anwendung der Freistellungsmethode gleichwohl im Ausland erlittene Verluste anerkennen müssen (s. hierzu auch § 4 Rz. 98). Die Anerkennung von Verlusten ausl. Tochtergesellschaften im Sitzstaat der Muttergesellschaft hatte der EuGH in der Rs. Marks & Spencer279 zunächst als ultima ratio für geboten erachtet. Der Sitzstaat müsse Auslandsverluste anerkennen, soweit eine Verlustnutzung im Quellenstaat endgültig ausscheidet (sog. finale Verluste). Im Übrigen sei der Ausschluss sofortiger Verlustverrechnung im Hinblick auf die Gefahr doppelter Verlustnutzung und die abkommensrechtliche Verteilung der Besteuerungshoheit gerechtfertigt. Damit wurden die Erwartungen, der EuGH werde die Mitgliedstaaten zu einer umfassenden grenzüberschreitenden Gruppenbesteuerung zwingen, enttäuscht. Mittlerweile scheint es, als habe der Gerichtshof auch die Forderung grenzüberschreitender Verlustverrechnung zur Vermeidung finaler Verluste weitgehend aufgegeben280. Offiziell hält er zwar weiterhin an seiner Marks & Spencer-Rechtsprechung fest281, jedoch wird der Sitzstaat von der Pflicht zur Anerkennung des Auslandsverlusts befreit, wenn die Finalität durch Verlustverrechnungsregeln im Steuersystem des Quellenstaates begründet wird. Unter dieser Prämisse ist kaum ein Fall denkbar, der im Ergebnis zur Anerkennung des Verlusts im Ansässigkeitsstaat führen wird. Im Rahmen der Anrechnungsmethode müssen Auslandsverluste dagegen grds. ohne Einschränkungen berücksichtigt werden. JStG 2009282 hat dementspr. die Anwendung von § 2a EStG auf Drittstaatensachverhalte begrenzt. Damit scheidet auch die Anwendung im Rahmen des negativen Progressionsvorbehalts gem. § 32b EStG aus. Die zunehmend restriktive Rspr. des EuGH zur grenzüberschreitenden Verlustverrechnung lässt sich in erster Linie mit der Unabgestimmtheit der nationalen Steuersysteme erklären. Dies unterstreicht die Bedeutung einer breiter angelegten Harmonisierung mit Vereinheitlichung der Bemessungsgrundlage und der Verlustverrechnungsregeln (s. § 4 Rz. 66 ff.). 154 Verschiedentlich hat sich der EuGH mit den europarechtlichen Vorgaben für die Zuordnung und
Abrechnung stiller Reserven bei Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften283 und Überführung von Einzelwirtschaftsgütern284 befasst. Zwar dürfen gesellschaftsrechtliche Nachteile im Zuzugsfall nicht 279 EuGH v. 13.12.2005 – C-446/03, ECLI:EU:C:2005:763 – Marks & Spencer; auf Betriebsstätten übertragen EuGH v. 15.5.2008 – C-414/06, ECLI:EU:C:2008:278 – Lidl Belgium. Schlussfolgerungen s. BFH v. 9.6.2010 – I R 107/09, BFHE 230, 35; BFH v. 9.6.2010 – I R 100/09, BStBl. II 2010, 1065 (Differenzierung zwischen Finalität aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen); v. 5.2.2014 – I R 48/11, BFHE 244, 371 (Wahrscheinlichkeit späterer Verlustnutzung im Betriebsstättenstaat); Schlussfolgerungen für die deutsche Organschaft s. BFH v. 9.11.2010 – I R 16/10, BFHE 231, 554; FG RheinlandPfalz v. 17.3.2010 – 1 K 2406/07, EFG 2010 (rkr.); s. ferner § 14 Rz. 29. 280 Aktuell EuGH v. 17.12.2015 – C-388/14, ECLI:EU:C:2015:829 – Timac Agro; nachvollzogen in BFH v. 22.2.2017 – I R 2/15, BStBl. II 2017, 709 (Rz. 37 ff.); schon zuvor einschränkend EuGH v. 23.2.2008 – C-157/07, ECLI:EU:C:2008:588 Rz. 49 f. – Krankenheim Ruhesitz am Wannsee – Seniorenheimstatt; v. 21.2.2013 – C-123/11, ECLI:EU:C:2013:84 – A; v. 7.7.2014 – C-48/13, ECLI:EU:C:2014:2087 – Nordea Bank Danmark. Zur jüngeren Entwicklung s. Brandis, FS Wassermeyer, 2015, 433; Danish, European Taxation 2015, 417; Cloer/Sejdija/Vogel, SWI 2016, 81; Schnitger, IStR 2016, 72; Schumacher, IStR 2016, 473; Eisendle, ISR 2016, 37; Linn/Pignot, IWB 2017, 578; Sillich/Schneider, IStR 2017, 809; ferner § 4 Rz. 98. 281 Vgl. EuGH v. 3.2.2015 – C-172/13, ECLI:EU:C:2015:50, Kommission/Großbritannien (Marks & Spencer II). 282 JStG 2009 v. 19.12.2008, BGBl. I 2008, 2794. 283 Lit. bis 2005 s. 20. Aufl., § 18 Rz. 519 Fn. 563. 284 Dazu Tenore, Intertax 2006, 386.
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II. Der Einfluss des Europarechts auf die Besteuerung von Unternehmen
Rz. 155 § 13
länger auf die Sitztheorie gestützt werden285. Des Weiteren lässt sich aus den steuerrechtlichen Entscheidungen Lasteyrie du Saillant286 und N287 zur Wegzugsbesteuerung natürlicher Personen sowie National Grid Indus288 zur Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften der allgemeine Grundsatz folgern, dass eine Aufdeckung stiller Reserven ohne Realisierungsakt bei Grenzüberschreitung unverhältnismäßig ist. Andererseits erkennt der EuGH aber das Besteuerungsrecht des Staats, unter dessen Steuerhoheit die stillen Reserven entstanden sind, an. Eine Besteuerung durch den Wegzugsstaat ist jedenfalls im Zeitpunkt der späteren Realisierung zulässig. Zur Vermeidung von Durchsetzungsschwierigkeiten hat der Gerichtshof weitergehende Maßnahmen zur Sicherung dieses Anspruchs (Verzinsung bei Stundung bzw. ratierliche Erfassung der bei Wegzug bestehenden stillen Reserven) insbesondere in den Rechtssachen DMC289 und Verder LabTec290 akzeptiert291. Zwischenzeitlich hat der EU-Richtliniengeber in Art. 5 ATAD diese Rspr. kurzerhand in der Weise in Gesetzesform gegossen (s. Rz. 148), dass die Mitgliedstaaten nunmehr nicht mehr nur bei Wegzug zur Abrechnung stiller Reserven berechtigt, sondern verpflichtet sind. Der in § 4 I 3 EStG normierte Grundsatz der Sofortrealisierung, die lediglich durch die restriktiv ausgestaltete Stundungsregelung des § 4g EStG (i.V.m. § 12 I 1 Hs. 2 KStG) abgemildert wird, entspricht dieser Vorgabe bereits (s. § 9 Rz. 474). Zu einer Überlagerung von Richterrecht und Richtlinienrecht kommt es auch im Bereich der gegen 155 Steuerverlagerung gerichteten Maßnahmen. In der Rs. Cadbury Schweppes zur britischen Hinzurechnungsbesteuerung hatte der Gerichtshof sehr restriktiv geurteilt, dass Maßnahmen gegen Gewinnverlagerungen nur zur Abwehr „künstlicher Gestaltungen“ zulässig sind292. An diesem Maßstab gemessen dürften auch weite Teile des deutschen Außensteuerrechts gegen die Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit verstoßen293. JStG 2008294 hat daher in § 8 II AStG die Möglichkeit des Nachweises einer tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit der Zwischengesellschaft geschaffen, um den Anforderungen des EuGH zu genügen295; ähnlich § 15 VI AStG für EU-/EWR-Familienstiftungen. Zulässig ist dagegen die zur Gewährleistung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsquellen notwendige Ge-
285 EuGH v. 9.3.1999 – C-212/97, ECLI:EU:C:1999:126 – Centros; v. 5.11.2002 – C-208/00, ECLI:EU:C:2002:632 – Überseering; v. 30.9.2003 – C-167/01, ECLI:EU:C:2003:512 – Inspire Art; anders für den Wegzug EuGH v. 27.9.1988 – C-81/87, ECLI:EU:C:1988:456 – Daily Mail; bestätigt durch EuGH v. 6.12.2008 – C-210/06, ECLI:EU:C:2008:723 – Cartesio. 286 EuGH v. 11.3.2004 – C-9/02, ECLI:EU:C:2004:138 – Lasteyrie du Saillant; dazu Aigner/Tissot, SWI 2004, 293; Beiser, ÖStZ 2004, 282; Deininger, INF 2004, 460; Eicker/Schwind, EWS 2004, 186; Ismer/ Reimer/Rust, EWS 2004, 207; Körner, IStR 2004, 424; Maier-Frischmuth, StuB 2004, 732. 287 EuGH v. 21.1.2010 – C-470/08, ECLI:EU:C:2010:31 – van Dijk, N, m. Anm. van den Hurk/Korving, Bull. Int. Tax 2007, 150. 288 EuGH v. 29.11.2011 – C-371/10, ECLI:EU:C:2011:785 – National Grid Indus. 289 EuGH v. 23.1.2014 – C-164/12, ECLI:EU:C:2014:20 – DMC; dazu Sydow, DB 2014, 265; Musil, FR 2014, 470. 290 EuGH v. 21.5.2015 – C 657/13, ECLI:EU:C:2015:331 – Verder LabTec; ebenso EuGH v. 21.12.2016 – C-503/14, ECLI:EU:C:2016:979 – Kommission/Portugal; Anm. Mechtler/Spies, SWI 2017, 137. 291 Hierzu auch unter Bezugnahme zur ATAD Mechtler/Spies, ISR 2016, 430 u. ISR 2017, 9. 292 EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04, ECLI:EU:C:2006:544 – Cadbury Schweppes. 293 Umfassende europarechtliche Würdigung Wassermeyer, IStR 2001, 113; Bille, Hinzurechnungsbesteuerung in Europa, Diss., 2004; Schönfeld, Hinzurechnungsbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, Diss., 2005; Schönfeld, StuW 2005, 158; Lütke, Die CFC-Legislation im Spannungsfeld zwischen europäischer Kapitalverkehrsfreiheit und weltweiter Kapitalliberalisierung (WTO), Diss., 2006; Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, Diss., 2007; Rust, Intertax 2008, 492; zur reformierten Wegzugsbesteuerung des § 6 AStG: Kraft/Schmidt, RIW 2011, 758; Vogel/Cortez, RIW 2011, 532; Schön, Beihefter zu IStR 2013, 3; zu den Möglichkeiten einer gemeineuropäischen Regelung Maisto/Pistone, ET 2008, 503 u. 554. 294 JStG 2008 v. 20.12.2007, BGBl. I 2007, 3150. 295 Zur Europarechtskonformität der Begrenzung der Nachweisoption auf EU-/EWR-Fälle Vorlage des BFH v. 12.10.2016 – I R 80/14, BStBl. II 2017, 615 (EuGH-Az.: C-135/17); ausf. Kritik bei Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, § 8 AStG Anm. 405 ff. (März 2009).
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§ 13 Rz. 156
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
winnabgrenzung durch Verrechnungspreise296. Zwischenzeitlich hat der ATAD-Gesetzgeber in Art. 7, 8 ATAD I Vorgaben für eine europaweite Hinzurechnungsbesteuerung gemacht, die einerseits über das hinausgehen, was der EuGH zur Missbrauchsabwehr akzeptiert hat, andererseits den nationalen Gesetzgeber zu weiteren Anpassungen des AStG zwingen297. 156
Der EuGH kann die Diskriminierungen und Beschränkungen durch das nationale Unternehmensteuerrecht nur punktuell auf der Grundlage des ihm vorgelegten Fallmaterials aufgreifen. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, nach den Vorgaben des Gerichtshofs einheitliche Regelungen zur systematischen Beseitigung der Hindernisse grenzüberschreitender Unternehmenstätigkeit zu verabschieden. Dies zu erkennen, sind die Mitgliedstaaten allerdings bisher zumeist nicht bereit. Stattdessen werden in einem regelrechten „race to the bottom“ der Steuersystematik298 zur Beseitigung der Diskriminierungen Steuerinländer in die nachteiligen Regeln für Steuerausländer einbezogen. Der deutsche Gesetzgeber nimmt zudem auch bei neuen Reformmaßnahmen erhebliche europarechtliche Ingerenzen in Kauf. Dies gilt namentlich für die Funktionsverlagerung (§ 1 III 9, 10 AStG; s. § 11 Rz. 86) oder die Bruttobesteuerung von Dividenden ausländischer Streubesitzanteilseigner (§ 8b IV i.V.m. § 32 I Nr. 2 KStG, s. § 11 Rz. 42).
157–167
Einstweilen frei.
D. Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung Literatur: Becker/Lion, Ist es erwünscht, das Einkommen aus Gewerbebetrieb nach gleichmäßigen Grundsätzen zu besteuern ohne Rücksicht auf die Rechtsform, in der das Gewerbe betrieben wird?, 33. DJT, 1925; Walz/Knobbe-Keuk/Littmann, Empfiehlt sich eine rechtsformunabhängige Besteuerung der Unternehmen?, 53. DJT, 1980; J. Lang, Reform der Unternehmensbesteuerung, StuW 1989, 3; J. Lang, Reform der Unternehmensbesteuerung auf dem Weg zum Europäischen Binnenmarkt und zur Deutschen Einheit, StuW 1990, 107; Graß, Unternehmensformneutrale Besteuerung, Diss., 1992; Elschen, Institutionalisierte oder personale Besteuerung von Unternehmensgewinnen2, Habil, 1994; Reiß, Rechtsformabhängigkeit der Unternehmensbesteuerung, DStJG 17 (1994), 3; Englisch, Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung bei Ertragsteuern, DStZ 1997, 778; Jachmann, Besteuerung von Unternehmen als Gleichheitsproblem, DStJG 23 (2000), 9; Hey, Besteuerung von Unternehmensgewinnen und Rechtsformneutralität, DStJG 24 (2001), 155; Hennrichs, Dualismus der Unternehmensbesteuerung aus gesellschaftsrechtlicher und steuersystematischer Sicht, StuW 2002, 201; P. Kirchhof, Maßstäbe für die Ertragsbesteuerung von Unternehmen, DStJG 25 (2002), 1; Schreiber, Die Steuerbelastung der Personenunternehmen und der Kapitalgesellschaften. Ein Beitrag zur Weiterentwicklung der Unternehmensbesteuerung, WPg. 2002, 557; Sieker, Möglichkeiten rechtsformneutraler Besteuerung von Einkommen, DStJG 25 (2002), 145; Prasse, Die Unternehmenssteuerreform 1999/2000. Eine verfassungsrechtliche und steuersystematische Untersuchung mit einzelnen Vorschlägen zur Optimierung der Unternehmensbesteuerung, Diss., 2003; Vogt, Neutralität und Leistungsfähigkeit. Eine verfassungs- und europarechtliche Untersuchung der Unternehmensbesteuerung nach dem StSenkG, Diss., 2003; Schneider, Steuervereinfachung durch Rechtsformneutralität?, DB 2004, 1517; Kirchhof, Die Besteuerung von Erwerbsgemeinschaften, FS Bareis, 2005, 133 ff.; Schneider, Vertikale Gerechtigkeit wider Rechtsformneutralität und Lebenseinkommensbesteuerung, FS Bareis, 2005, 275 ff.; Maiterth/Sureth, Unternehmensfinanzierung, Unternehmensrechtsform und Besteuerung, BFuP 2006, 225; Schmiel, Rechtsformneutralität als Leitlinie für eine Neukonzeption der Unternehmensbesteuerung, BFuP 296 EuGH v. 21.1.2010 – C-311/08, ECLI:EU:C:2010:26 – SGI; Jiménez, Bull. Int. Tax 2010, 271; Schwaiger, SWI 2010, 525; Heidenbauer, SWI 2011, 67; zu Schlussfolgerungen bzgl. § 1 AStG BFH v. 25.6.2014 – I R 88/12, BFH/NV 2015, 57; Naumann/Sydow/Becker/Mitschke, IStR 2009, 665; Andresen, IStR 2010, 289; Becker/Sydow, IStR 2010, 195; Englisch, IStR 2010, 139. 297 Im Detail Linn, IStR 2016. 645; Schnitger/Nitzschke/Gebhardt, IStR 2016, 960; Haase, ifst-Schrift Nr. 521 (2017). 298 Hey, StuW 2004, 193 (197); de la Feria/Fuest, FS J. Lang, 2010, 1043; Böwing-Schmalenbrock, Verbösernde Gleichheit und Inländerdiskriminierung im Steuerrecht. Der Einfluss des Unionsrechts aus der Perspektive innerstaatlicher Sachverhalte, Diss., 2010.
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Hey
D. Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung
Rz. 169 § 13
2006, 246; F.W. Wagner, Was bedeutet und wozu dient Rechtsformneutralität der Besteuerung, StuW 2006, 101; Weinelt, Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung, Diss., 2006; Heinrich, Die Rechtsformneutralität der Besteuerung – rechtspolitisches Ziel oder rechtliches Gebot?, FS Ruppe, 2007, 205; Siegel, Rechtsformneutralität – ein klares und begründetes Ziel, FS Schneeloch, 2007, 271; Drüen, Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung als verfassungsrechtlicher Imperativ?, GmbHR 2008, 393; Hey, Verfassungsrechtliche Maßstäbe der Unternehmensbesteuerung, FS Herzig, 2010, 7; J. Lang, Auf der Suche nach rechtsformneutraler Besteuerung von Unternehmen, FS Herzig, 2010, 323; Rose, Zur steuerlichen Gleichbehandlung der Gewinne von Unternehmen unabhängig von deren Rechtsform, FS J. Lang, 2010, 641; Palm, Person im Ertragsteuerrecht, Habil., 2013; Malzahn, Rechtsformneutralität als verfassungsrechtlicher und unionsrechtlicher Maßstab der Unternehmensbesteuerung, Diss., 2015; Weiss, Unternehmensbesteuerung nach dem Transparenzprinzip – Idealmodell mit Zukunft?, Diss., 2016. Weitere Nachweise vor Rz. 1.
1. Ursachen fehlender Rechtsformneutralität Die Rechtsformabhängigkeit des geltenden Unternehmensteuerrechts beruht auf dem Nebeneinander 168 von körperschaftsteuerpflichtigen und einkommensteuerpflichtigen Unternehmen (s. § 7 Rz. 35), von Trennungs- und Transparenzprinzip (vgl. § 11 Rz. 1 f.). Im Dualismus der Unternehmensbesteuerung hat sich der Gesetzgeber entschieden, die Personengesellschaft ungeachtet ihrer zivilrechtlichen Verselbständigung am Leitbild des Einzelunternehmers zu orientieren (s. § 10 Rz. 2). Damit stehen sich Kapitalgesellschaften auf der einen, Personengesellschaften und Einzelunternehmer auf der anderen Seite gegenüber. Das Ausmaß der rechtsformabhängigen Belastungsunterschiede wird erst deutlich, wenn sowohl die Ebene des Unternehmens als auch die Ebene des Unternehmers betrachtet werden. Abstrakte Aussagen zu Vor- bzw. Nachteilhaftigkeit einer Rechtsform sind zudem umso schwieriger, je mehr Faktoren betrachtet werden299. Überdies beschränkt sich die rechtsformabhängige Ungleichbehandlung nicht auf Einkommen- und Körperschaftsteuer, sondern auch Erbschaft- und Schenkungsteuer (§ 15 Rz. 106 ff.) sowie die Gewerbesteuer sind in hohem Maße rechtsformabhängig konzipiert. Zwar fungiert die Gewerbesteuer auf kommunaler Ebene formal als allgemeine Unternehmensteuer. Indes entscheidet sich rechtsformabhängig, in welchem Umfang ein Unternehmen der Gewerbesteuer unterliegt (s. § 12 Rz. 5 ff.). Zudem setzen sich die Rechtsformunterschiede auf Grund der Anknüpfung der gewerbesteuerrechtlichen Bemessungsgrundlage an Einkommen- und Körperschaftsteuer (§ 7 S. 1 GewStG) fort (§ 12 Rz. 18). Auch die Anrechnung der Gewerbesteuer gem. § 35 EStG ist rechtsformabhängig auf Personenunternehmen begrenzt (s. § 8 Rz. 841 ff.). 2. Verfassungs- und europarechtliche Dimension des Gebots der Rechtsformneutralität Der Rechtsformabhängigkeit des geltenden Rechts wird die Forderung nach Rechtsformneutralität der 169 Unternehmensbesteuerung entgegengehalten. Rechtsformneutralität ist ein Gebot ökonomisch rationaler Besteuerung, Konkretisierung des ökonomischen Grundsatzes der Neutralität der Besteuerung300. Das Steuerrecht soll Entscheidungsneutralität (s. § 7 Rz. 3) verwirklichen und die Wahl zwischen verschiedenen Rechtsformen nicht verzerren. Richtigerweise ist Rechtsformneutralität zudem eine Ausprägung des Gebots gleichmäßiger Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Eine Vereinheitlichung der Unternehmensbesteuerung kann überdies zu Vereinfachung führen301. Zwar verheißt die strenge Anknüpfung an die zivilrechtliche Rechtsform Rechtssicherheit, gleichzeitig erzeugt 299 Dynamisches Modell des Rechtsformvergleichs: Müller/Schmidt/Langkau, StuW 2010, 81. 300 Dazu und zu weiteren an die Unternehmensbesteuerung gerichteten Neutralitätsforderungen m. zahlr. Nachw. HHR/Hey, Einf. KSt Anm. 37 ff. (1999), abrufbar unter: http://www.ertragsteuerrecht.de/me dia/KStG_Einf_196_09-1999_komplett.pdf. 301 P. Kirchhof, StbJb. 2002/03, 7; Stapperfend, FR 2005, 74 (77); sehr krit. dagegen Schneider, DB 2004, 1517.
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§ 13 Rz. 170
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
die Rechtsformabhängigkeit aber erhebliches Gestaltungspotential, dem Rspr. und Verwaltung entgegenwirken müssen. Hierin liegt eine der Hauptursachen der Kompliziertheit des geltenden Unternehmensteuerrechts. 170 Dennoch ist die Bedeutung des Postulats der Rechtsformneutralität umstritten. Die Kontroverse über
die Frage, ob das Steuerrecht nach Rechtsform differenzieren darf, ist so alt wie das Nebeneinander von Körperschaft- und Einkommensteuer302, hat in jüngerer Zeit aber neue Impulse erhalten. 171 Von ökonomischer Seite wird in der Debatte um eine Duale Einkommensteuer verstärkt dem Gebot
der Finanzierungs- oder Investitionsneutralität der Vorrang eingeräumt. Rechtsformneutralität allein garantiere keine optimale Allokation von Investitionen303. Dem ist zuzustimmen. Indes setzt die Verwirklichung von Investitionsneutralität Rechtsformneutralität voraus. Beide Ziele schließen sich nicht aus. Die Forderung nach Investitionsneutralität geht aber weiter, indem sie sich allgemein gegen eine Ungleichbehandlung von Fremd- und Eigenkapitalfinanzierung richtet. 172 Verfassungsrechtlich wird das Gebot der Rechtsformneutralität der Besteuerung im Schrifttum un-
mittelbar auf Art. 3 I GG gestützt304. Daneben hat das Neutralitätsgebot eine freiheitsrechtliche Verankerung in Art. 12 I; 14 I GG; gelegentlich wird auch Art. 9 I GG genannt305. Das BVerfG306 vermag dagegen in Art. 3 I GG kein allgemeines verfassungsrechtliches Gebot der Rechtsformneutralität zu erkennen. Das zur Umsatzsteuer aufgestellte Verdikt rechtsformunabhängiger Ausgestaltung307 lasse sich nicht verallgemeinern308. Vielmehr stehe es dem Gesetzgeber frei, die zivilrechtliche Rechtsform zum Anknüpfungspunkt unterschiedlicher Besteuerungsfolgen zu nehmen309. Die Abschirmung der Vermögenssphäre der Kapitalgesellschaft sei hinreichender Rechtfertigungsgrund für eine wirtschaftliche Doppelbelastung des ausgeschütteten Gewinns. Auch der 66. DJT hat keine Pflicht zur Beseitigung der Rechtsformunterschiede zu erkennen vermocht310. Der Hinweis auf die Gestal-
302 S. insb. Becker und Lion anlässlich des 33. DJT, 1925; zur Entwicklung der Reformdiskussion HHR/ Hey, Einf. KSt Anm. 183 ff. (1999), abrufbar unter: http://www.ertragsteuerrecht.de/media/KStG_ Einf_196_09-1999_komplett.pdf. 303 Grundl. F.W. Wagner, Was bedeutet und wozu dient die Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung?, StuW 2006, 101 (109); Rose, FS J. Lang, 2010, 641 (643). 304 J. Lang, StuW 1990, 107 (115 f.); Jachmann, DStJG 23 (2000), 9 (41 f.); Balmes, DStJG Sonderband Unternehmensbesteuerung 2001, 25 (33 ff.); Hey, DStJG 24 (2001), 155 (166 ff.), 180; Weinelt, Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung, Diss., 2006, 99, 138; Lauterbach, Ein neues Unternehmensteuerrecht für Deutschland?, Fehlende Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung und allgemeiner Gleichheitssatz, Diss., 2008, 51 ff.; Hey, FS Herzig, 2010, 7 (14 ff.); Palm, Person im Ertragsteuerrecht, Habil., 2013, 545 ff.; a.A. Drüen, GmbHR 2008, 393 (401); Musil/Leibohm, FR 2008, 807 (813). 305 Insb. von P. Kirchhof, StuW 2002, 3 (11); ferner Weber, JZ 1980, 545 (547); Waldhoff, StuW 2000, 217 (220), und vertieft Merzrath, Die Vereinigungsfreiheit des GG als Maßstab der Steuergesetzgebung, Diss., 2007, 98 ff., 178 f. 306 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (198 ff. zu § 32c EStG 1994); wiederholt in BVerfG v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 (250) zu § 8b V KStG. 307 BVerfG v. 10.11.1999 – 2 BvR 2861/93, BVerfGE 101, 151. 308 Nach Auffassung des Berichterstatters P. Kirchhof, StuW 2002, 3 (11, 18); P. Kirchhof, StbJb. 2002/03, 7, ist diese Aussage auf die Ertragsteuern zu übertragen; Elicker, Entwurf einer proportionalen NettoEinkommensteuer, 2004, 169; dezidiert a.A. Schneider, DB 2004, 1517 (1519). 309 Weber, JZ 1980, 545 (549); Birk, StuW 2000, 328 (333); Pelka, StuW 2000, 389 (392 ff.); Stapperfend, FR 2005, 74 (76); s. auch die ältere Rspr. des BVerfG, BVerfG v. 24.1.1962 – 1 BvR 845/58 BVerfGE 13, 331 (339); v. 11.11.1964 – 1 BvR 488/62, BVerfGE 18, 224 (233); v. 15.7.1969 – 1 BvR 457/66, BVerfGE 26, 327 (334 f.), u. BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (758); v. 14.12.1994 – XI R 37/94, BStBl. II 1995, 329 (330). 310 S. Beschluss III.18 u. 19 des 66. DJT, 2006.
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D. Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung
Rz. 176 § 13
tungsfreiheit des Gesetzgebers kann indes nicht überzeugen (s. § 10 Rz. 4 ff.)311. Die Rechtsform als solche taugt nicht zur Rechtfertigung von Belastungsunterschieden, wenn sich in ihr nicht unterschiedliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit manifestiert. Auch der gestaltungsfreie Gesetzgeber darf Differenzierungskriterien nicht willkürlich wählen. Ohnehin wird der Zusammenhang zwischen zivilrechtlicher Rechtsform und steuerrechtlicher 173 Leistungsfähigkeit immer unklarer. Traditionell galt es, die wirtschaftliche Doppelbelastung ausgeschütteter Gewinne von Kapitalgesellschaften zu rechtfertigen. Hierzu wurde mit der eigenen Leistungsfähigkeit der juristischen Person argumentiert312. Mit zunehmender Senkung des Körperschaftsteuersatzes gegenüber dem Einkommensteuerspitzensatz stellt sich aber genau entgegengesetzt das Bedürfnis nach Rechtfertigung einer Privilegierung des in einer Kapitalgesellschaft erwirtschafteten Gewinns. Hierzu hat sich das BVerfG nicht geäußert. Dabei bedeutet Rechtsformneutralität richtig verstanden nicht einheitliche Besteuerung unter Miss- 174 achtung rechtsformspezifischer Besonderheiten. Vielmehr ist der zivilrechtlichen Ausgestaltung der einzelnen Rechtsformen i.S. steuerrechtlicher Rechtsformgerechtigkeit und Rechtsformangemessenheit insofern Rechnung zu tragen, als sie sich in unterschiedlicher steuerlicher Leistungsfähigkeit niederschlägt (s. § 10 Rz. 4 f.)313. So muss z.B. die persönliche Inanspruchnahme des Gesellschafters bei der Personengesellschaft steu- 175 errechtlich zu ausgleichsfähigen Verlusten führen314; eine Haftungsbeschränkung steht dagegen voller Verlustzurechnung entgegen. § 15a EStG ist unvollkommener Ausdruck dieses Prinzips (s. § 10 Rz. 72 ff.). Allerdings sind längst nicht alle zivilrechtlichen Rechtsformunterschiede geeignet, unterschiedliche Steuerfolgen zu begründen (s. § 10 Rz. 5). Z.B. vermögen unterschiedliche Vertretungsoder Haftungsregeln keine unterschiedliche Besteuerung des in der einen oder anderen Rechtsform erwirtschafteten Gewinns zu rechtfertigen315. Warum sollte der mit dem Risiko voller persönlicher Haftung erzielte Gewinn einer Personengesellschaft höher/niedriger besteuert werden als der einer GmbH? Ebenso wenig sind Fremd- oder Selbstorganschaft oder der Zugang zum Kapitalmarkt bei gleicher Gewinnhöhe als Maßstäbe einer Differenzierung der Steuerlasten geeignet. Ob sich auch dem Europarecht ein Gebot der Rechtsformneutralität entnehmen lässt, wird ebenfalls 176 kontrovers diskutiert. Der EuGH folgert aus Art. 49 I 2 AEUV die uneingeschränkte Wahl der Niederlassung in unterschiedlicher Rechtsform316. Zuzustimmen ist dem Verbot einer Benachteiligung von (beschränkt stpfl.) EU-Unternehmen mit unselbständiger Zweigniederlassung gegenüber (unbe311 Ebenfalls sehr krit. Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16; J. Lang, FS Reiß, 2008, 379 (386 ff.); Seer, FS J. Lang, 2010, 655 (658 ff.); ferner Kanzler, NWB 2006, Fach 3, 14189 (14198); Keß, FR 2006, 869 (870 f.); Stahlschmidt, StuB 2006, 756; Wendt, FR 2006, 775; Palm, JZ 2012, 297; zust. dagegen Wieland, Stbg. 2006, 573 (576). 312 Hierzu ausf. m.w.N. und krit. Tipke, StRO II2, 1190 ff.; Hey, Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung in Europa, Diss., 1997, 241–266; neuerdings wieder Böhmer, StuW 2010, 33 (35); differenzierend Palm, JZ 2012, 297 (300 ff.): Eigene Leistungsfähigkeit nur für Stiftungen und BgA zu bejahen, da hinter diesen keine (natürlichen) Personen stehen; ausf. Palm, Person im Ertragsteuerrecht, Habil., 2013, 485–544. 313 Hey, DStJG 24 (2001), 155 (180); s. auch Hennrichs, StuW 2002, 201 (210); ähnlich Wäckerlin, Betriebsausgabenabzugsbeschränkung und Halbeinkünfteverfahren, Diss., 2006, 110 ff., mit der Schlussfolgerung, dem Gebot der Rechtsformneutralität komme gegenüber dem Leistungsfähigkeitsprinzip keine eigene Bedeutung zu. Seer, FS J. Lang, 2010, 655 (656 ff.), fordert zu Recht die Wahrnehmung der gesellschaftsrechtlichen Rechtswirklichkeit; zu den Rechtstatsachen Kornblum, GmbHR 2017, 739, wonach auch die meisten GmbHs personalistisch strukturiert sind, so dass die Grenzen zwischen den Rechtsformen verschwimmen. 314 Hüttemann, DStJG 25 (2002), 123 (140). 315 Palm, Person im Ertragsteuerrecht, Habil., 2013, 511; a.A. scheinbar Schneider, DB 2004, 1517 (1520 f.). 316 St. Rspr., z.B. EuGH v. 23.2.2006 – C-253/03, ECLI:EU:C:2006:129 – CLT-UFA.
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§ 13 Rz. 177
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
schränkt stpfl.) Tochtergesellschaften. Insoweit geht es um die Verwirklichung der Inländergleichbehandlung317. Ein allgemeines europarechtliches Gebot der Rechtsformneutralität318 lässt sich dagegen nicht begründen (s. § 4 Rz. 91). Die Grundfreiheiten sanktionieren die Ungleichbehandlung von In- und Auslandssachverhalten, können aber u.E. die Gleichbehandlung rechtlich selbständiger und rechtlich unselbständiger Unternehmen nicht erzwingen, soweit die Mitgliedstaaten auch im reinen Inlandssachverhalt nach der Rechtsform differenzieren. Der Satz vom Anspruch auf Gleichbehandlung der Betriebsstätte mit einer Tochtergesellschaft lässt sich nicht umkehren319. 3. Methoden zur Verwirklichung von Rechtsformneutralität und ihre Umsetzung in der Unternehmensteuerreform 2008 177 Über die Methoden zur Herstellung von Rechtsformneutralität gehen die Auffassungen ebenfalls weit
auseinander320. Die Vielfalt der Reformvorschläge321 mag mitursächlich gewesen sein, dass der Gesetzgeber in der Unternehmensteuerreform 2008 das ursprünglich im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD v. 11.11.2005 vorgegebene Ziel „weitgehender Rechtsformneutralität“ frühzeitig aufgegeben und die bestehende Rechtsformabhängigkeit in mancher Hinsicht sogar noch vertieft hat322. 178 Nicht ausreichend ist es, wenn das Umwandlungssteuerrecht einen steuerneutralen Wechsel zwi-
schen den Rechtsformen ermöglicht323. Rechtsformneutralität bedeutet gerade auch Beibehaltung der aus außersteuerlichen Gründen gewählten Rechtsform. Ferner lassen sich Personenunternehmen bei einer signifikant abgesenkten Belastung der Kapitalgesellschaft – abgesehen davon, dass Rechtsformneutralität in Grenzsteuersätzen zu messen ist und daher den Einkommensteuerspitzensatz zur
317 Zutr. Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages auf das Ertragsteuerrecht, Diss., 2006, 290. 318 Hierzu grundl. Friese, Rechtsformwahlfreiheit im Europäischen Steuerrecht, Diss., 2010 (bejahend). Ferner Herzig, GS Knobbe-Keuk, 1997, 627 (633 ff.); HHR/Hey, Einf. KSt Anm. 109 (1999), abrufbar unter: http://www.ertragsteuerrecht.de/media/KStG_Einf_196_09-1999_komplett.pdf; Jacobs, FS Fischer, 1999, 85 (95 ff.); Schön, EWS 2000, 281; Dautzenberg, EWS 2001, 270; P. Kirchhof, StuW 2002, 3 (11 f.); Wattel, EC Tax Review 2003, 194 (197 ff.); Schnitger, IStR 2004, 821 (824); Schnitger, ET 2004, 522 (525); Dörr, Der Konzern 2005, 576 (579 ff.); Thömmes, IWB 2005, Fach 11A, 861; M. Lang, IStR 2006, 397; Heinrich, FS Ruppe, 2007, 205 (219–224); Pezzer, FR 2007, 188; Köhler, FS Herzig, 2010, 953 (974 ff.). 319 So auch Schlussanträge GA Maduro (Tz. 42 ff.) zu EuGH v. 13.12.2005 – C 446/03, ECLI:EU:C:2005:763 – Marks & Spencer, wo die Frage offen geblieben ist. 320 Darstellung der verschiedenen denkbaren Modelle HHR/Hey, Einf. KSt Anm. 192 ff. (1999), abrufbar unter: http://www.ertragsteuerrecht.de/media/KStG_Einf_196_09-1999_komplett.pdf; Hennrichs, StuW 2002, 201 (210 ff.); s. auch Brühler Empfehlungen, BMF-Schriftenreihe 66, 1999, 72 ff. 321 Überblick und Gegenüberstellung Stapperfend, FR 2005, 74; Hey, FS Raupach, 2006, 479; Schreiber/ Spengel, BFuP 2006, 275, u. ausf. Köth, Die Besteuerung von Unternehmen vor dem Hintergrund nationaler und internationaler Reformvorschläge, Diss., 2006; Weinelt, Das deutsche Körperschaftsteuersystem im Spannungsfeld zwischen nationaler Steuerordnung und europäischem Steuerwettbewerb, Diss., 2007, 101 ff. 322 Zum Einfluss des UntStRefG 2008 auf die Rechtsformwahl (z.T. auch Finanzierungswahl) Binz, DStR 2007, 1692; Endres/Spengel/Reister, WPg. 2007, 478 (481 ff.); Harle/Kuhmann, GmbHR 2007, 1138; Homburg/Houben/Maiterth, WPg. 2007, 376; Kaminski/Hofmann/Kaminskaite, Stbg. 2007, 161; Knief/ Nienaber, BB 2007, 1309; Lühn/Lühn, StuB 2007, 253; Merkel, SteuerStud 2007, 539; Scheffler, SteuerStud 2007, 446; Schiffers, GmbHR 2007, 505; Weber, NWB 2007 Fach 18, 4509; Winkeljohann/Fuhrmann, BFuP 2007, 464; zu den Ursachen des Scheiterns der Reformforderungen s. auch J. Lang, FS Herzig, 2010, 323. 323 Watrin, DStZ 1999, 238 (241); Schiffers, FS Herzig, 2010, 823 (824: steuerneutraler Rechtsformwechsel als second best-Lösung).
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D. Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung
Rz. 181 § 13
Orientierung nehmen muss324 – auch nicht mehr auf die vielfach unter der Gesamtbelastung aus Körperschaft- und Gewerbesteuer liegende Durchschnittsbelastung der Einkommensteuer verweisen. Auf der Grundannahme, dass nur die natürliche Person Träger wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit 179 sein könne325, basiert die ökonomische Forderung nach Rechtsformneutralität durch Teilhabersteuer326. Danach sollen auch Kapitalgesellschaften transparent besteuert werden, indem einbehaltene wie ausgeschüttete Gewinne dem Anteilseigner unmittelbar zugerechnet und infolgedessen nur der Einkommensteuer unterworfen werden. Abgesehen davon, dass die Teilhabersteuer gerade nicht den Anforderungen der Rechtsformangemessenheit entspricht, da sie die juristisch-ökonomische Trennung der Vermögensmassen von Kapitalgesellschaft und Anteilseigner ignoriert, dürfte sich dieser Vorschlag auch in der Realität des Steuerwettbewerbs überholt haben. Der Steuerwettbewerb zwingt zu einer Entkoppelung des für Unternehmen geltenden Steuersatzes von dem progressiven Einkommensteuertarif. Nur so lässt sich eine wettbewerbsfähige Niedrigbesteuerung von Unternehmensgewinnen realisieren (s. § 7 Rz. 70 ff.). Deshalb wird auch der Vorschlag P. Kirchhofs327 einer Vereinigung von Einkommen- und Körper- 180 schaftsteuer den Anforderungen des Steuerwettbewerbs nicht gerecht, wenn nicht gleichzeitig die Einkommensteuer insgesamt in eine niedrige Flat Tax umgestaltet wird (dazu § 7 Rz. 86)328. Eine Flat Tax würde das Problem der Rechtsformabhängigkeit auf Grund des derzeitigen Nebeneinanders von progressivem Einkommensteuertarif und proportionalem Körperschaftsteuersatz auf einen Schlag lösen. Auch die Verwendungsneutralität ist bei Freistellung ausgeschütteter/entnommener Gewinne beim Empfänger ohne weiteres gegeben. Dieser Lösungsansatz ist bestechend329, indes wenig realistisch (s. § 7 Rz. 88 ff.). Flexibler bleibt der Gesetzgeber in der Tarifgestaltung, wenn er im Rahmen Dualer Einkommen- 181 steuer (s. § 7 Rz. 76 ff., 88 ff.) Kapitaleinkommen unabhängig davon, in welcher Rechtsform es erwirtschaftet wird, durchgehend niedrig proportional, Arbeitseinkommen dagegen weiterhin (hoch) progressiv besteuert. Wird die Duale Einkommensteuer dabei – wie im Vorschlag des Sachverständigenrats330 – lediglich in das bestehende System dualer Unternehmensbesteuerung implantiert, dient sie allerdings in erster Linie der Verwirklichung annähernder Finanzierungs- und Investitionsneutra324 Jachmann, DStJG 23 (2000), 9 (27); Krawitz, DB 2000, 1721 (1727); Hey, DStJG 24 (2001), 155 (186); Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, Diss., 2004, 17 f. 325 Schneider, DB 2004, 1517 (1518); s. ferner § 3 Rz. 50. 326 Vgl. insb. den Vorschlag von Engels/Stützel, Teilhabersteuer2, 1968; ferner Report of the Royal Commission on Taxation (Carter-Report), Bd. 4, 1966; Friauf, FR 1969, 27; Karl-Bräuer-Institut, Zur Teilhabersteuer, 1969; Ketzel, Teilhabersteuer – Konzeption und Gestaltungsmöglichkeit, Diss., 1969; Stützel, StbKongrRep. 1969, 319; Croneberg, Die Teilhabersteuer, Diss., 1973; Wamsler, Körperschaftsteuerliche Integration statt Anrechnung?, Diss., 1998; aktuell Weiss, Unternehmensbesteuerung nach dem Transparenzprinzip – Idealmodell mit Zukunft, Diss., 2016 (mit Ausnahme börsennotierter Aktiengesellschaften); krit. Tipke, NJW 1980, 1079 (1080); HHR/Hey, Einf. KSt Anm. 185 (1999), abrufbar unter: http://www.ertragsteuerrecht.de/media/KStG_Einf_196_09-1999_komplett.pdf; Schneider, DB 2004, 1517 (1519). 327 P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, 2003, 44 ff., 202 ff.; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, 458 ff. 328 So P. Kirchhof, StuW 2002, 3 (14 f.); P. Kirchhof, StbJb. 2002/03, 7 (21, 26); P. Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, 2003, 44 ff., 202 ff.; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, 459 f.; skeptisch Homburg/Bolik, BB 2005, 2330 (2332 ff.); Spengel, Ubg 2012, 256 (258 ff.). 329 S. auch das Plädoyer für eine Flat Tax von Seer, BB 2004, 2272; ausf. Aufarbeitung des Diskussionsstandes bei Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, 2004, 261 ff. 330 Sachverständigenrat/ZEW/MPI, Reform der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung durch die Duale Einkommensteuer, BMF-Schriftenreihe 79, 2006; zuvor Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2002/03, 5. Kap., I; ferner Wiss. Beirat beim BMF, Flat Tax oder Duale Einkommensteuer? Zwei Entwürfe zur Reform der deutschen Einkommensbesteuerung, BMF-Schriftenreihe 76, 2004; zust. Köth, Die Besteuerung von Unternehmen vor dem
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§ 13 Rz. 182
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
lität und kann auch diese nicht rechtsformunabhängig erreichen331. Wird die Niedrigbesteuerung von Kapitaleinkommen wie in der Unternehmensteuerreform 2008 nur partiell umgesetzt, verschärfen sich die Rechtsformunterschiede sogar noch: Nur Gesellschafter von Kapitalgesellschaften haben in den Grenzen des § 32d II EStG die Chance, Unternehmensgewinne als niedrig abgeltungsbesteuerte Zinsen auf die Gesellschafterebene zu transferieren. Zinszahlungen für Gesellschafterdarlehen einer Personengesellschaft unterliegen dagegen wegen § 15 I 1 Nr. 2 Satz 1 Hs. 2 EStG stets der Regelbesteuerung, weil sie sich als gewerbliche Gewinne nicht für die Abgeltungsteuer qualifizieren (s. § 8 Rz. 499; § 10 Rz. 103 ff.)332. 182
Daneben belegt die Unternehmensteuerreform 2008 mit dem Sondersteuersatz für nicht entnommene Gewinne (§ 34a EStG), dass auch einkommensteuerrechtliche Integrationsmodelle weder Rechtsform- noch Finanzierungsneutralität333 zu erreichen vermögen. Einkommensteuerrechtliche Integrationsmodelle, wie sie im Vorfeld der Reform als Rücklagenmodell334, Tarifoption/Tarifrücklage335, T-Modell336 entwickelt wurden337, basieren auf einem der Kapitalgesellschaftsbelastung angenäherten Sondertarif für einbehaltene Gewinne von Personenunternehmen innerhalb der Einkommensteuer. Zur Verwirklichung der von der Großen Koalition noch im Koalitionsvertrag angestrebten „weitgehenden Rechtsform- und Finanzierungsneutralität“ ist eine derart punktuelle Maßnahme per se ungeeignet, weil sie das Nebeneinander von Transparenz- und Trennungsprinzip nicht überwindet. Aber auch „Belastungsneutralität der unterschiedlichen Rechtsformen“, auf die die ursprünglichen Pläne im Gesetzgebungsverfahren338 zurückgenommen wurden, erreicht § 34a EStG nicht339.
183
Die Unterschiede beginnen bereits bei der Belastung des nicht entnommenen/einbehaltenen Gewinns: Zum einen wird der ermäßigte Steuersatz des § 34a I 1 EStG bei Personenunternehmen auf die Bezugsgröße des nicht entnommenen Gewinns statt wie bei der Körperschaft auf das Einkommen vor Ausschüttung angewendet340. Zum anderen führt das Nebeneinander von einheitlich gesellschaftsbezogener (Kapitalgesellschaft) und individuell gesellschafterbezogener (Personengesellschaft, s. § 10 Rz. 220 ff.) Bestimmung des ermäßigt zu besteuernden Gewinns zwangsläufig zu Abweichungen. Die strukturellen Belastungsunterschiede setzen sich fort bei Ausschüttung/Entnahme: Konsequent und zur Annäherung an die Besteuerung der Kapitalgesellschaft unerlässlich ist zwar, dass der zunächst begünstigte Gewinn des Personenunternehmens bei Entnahme nachbelastet wird. Die Nachbelastungssysteme sind jedoch – ohne erkennbaren Grund – unterschiedlich ausgestaltet. Dividenden unterliegen entweder der Abgeltungsteuer (mit Veranlagungswahlrecht) oder dem Teilein-
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340
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Hintergrund nationaler und internationaler Reformvorschläge, Diss., 2006, 279 ff., 347 ff.; krit. Englisch, Die Duale Einkommensteuer – Reformmodell für Deutschland?, ifst-Schrift Nr. 432 (2005). I.E. Liekenbrock, DStZ 2007, 279. Endres/Spengel/Reister, WPg. 2007, 478 (484); Homburg, DStR 2007, 686 (690); Homburg/Houben/ Maiterth, WPg. 2007, 376 (380). Umlauf, Finanzierungsneutralität im deutschen Steuerrecht, Diss., 2008; Broer, StuW 2010, 57 (Abgeltungsteuer als Hauptursache fehlender Finanzierungsneutralität); Förster, Stbg. 2011, 49. S. Brühler Empfehlungen, BMF-Schriftenreihe 66, 1999, 82 ff. Fechner/Lethaus, Die Tarifrücklage, ifst-Schrift Nr. 437 (2006). Wiss. Beirat bei Ernst & Young, BB 2005, 1653. In eine ähnliche Richtung gehen die Vorschläge von Haase/Hinterdobler, BB 2006, 1191, und Steckmeister, Stbg. 2006, 161 u. 356. BT-Drucks. 16/4841, 31 f. I.E. Hey, DStR 2007, 925 (926 ff.); J. Lang, FS Reiß, 2008, 379 (383 ff.); Klipstein, DStZ 2009, 805 (809); Bodden, FR 2014. 920 (920); s. auch den Aufruf zur Abschaffung von § 34a EStG aus der Wissenschaft Knirsch/Maiterth/Hundsdoerfer, DB 2008, 1405 mit Replik aus der Wirtschaft Fechner/Bäuml, DB 2008, 1652. Der Vorschlag, § 34a EStG zu einem „virtuellen Trennungsprinzip“ auszubauen (s. Schneider/Wesselbaum-Neugebauer, FR 2011, 166), würde an dem Nebeneinander zweier Systeme nichts ändern und birgt daher keinerlei Vorteile gegenüber einer Integration von Personengesellschaften in die Körperschaftsteuer (dazu Rz. 185). Thiel/Sterner, DB 2007, 1099 f.
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D. Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung
Rz. 185 § 13
künfteverfahren. Entnahmen zuvor begünstigter Gewinne von Personenunternehmen werden dagegen stets konstant mit 25 % nachversteuert (s. § 8 Rz. 832), so dass es i.d.R auch bei gleicher Vorbelastung zu einer höheren Steuerlast als bei der Kapitalgesellschaft kommt. Entstanden sind zwei in vielen Details unterschiedliche Systeme der Niedrigbesteuerung um den Preis 184 einer weiteren Komplizierung des ohnehin schon komplexen Personengesellschaftsteuerrechts bei gleichzeitigem Verlust eines der Hauptvorteile des Transparenzprinzips, der Verwendungsneutralität zwischen Einbehaltung und Entnahme. Erreicht wird lediglich die „Erhöhung der Investitionsfähigkeit von Personenunternehmen“341. Für ertragsstarke Personengesellschaften mit Gesellschaftern im Einkommensteuerspitzensatz wird § 34a EStG den Druck zur Umwandlung reduzieren. Sie werden doppelt begünstigt, indem sie sowohl an der bisher Kapitalgesellschaften vorbehaltenen Niedrigbesteuerung investierter Gewinne partizipieren, als auch die angestammten Vorteile der Personengesellschaftsbesteuerung behalten (z.B. Verlustverrechnung, steuerfreie Durchleitung von Auslandsgewinnen an den Gesellschafter, steuerneutrale Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern gem. § 6 V EStG)342. Für Personenunternehmer mit Grenzsteuersatz zwischen 30 % und 45 % stellen sich dagegen kaum beherrschbare Gestaltungsaufgaben, da der temporäre Vorteil der Niedrigbesteuerung einbehaltener Gewinne den Nachteil der konstanten Gesamtbelastung der Entnahme i.H.v. 48,3 % nur bei langfristiger Investition im Unternehmen kompensieren kann. Durchgesetzt hat sich damit nicht das Allgemeininteresse an struktureller Bereinigung und Vereinfachung, sondern das Gruppeninteresse der großen Personengesellschaftskonzerne. Angesichts massiver Ungereimtheiten des geltenden Personengesellschaftssteuerrechts343 ist es umso unverständlicher, dass die Beibehaltung des Dualismus z.T. vehement verteidigt wird. Körperschaftsteuerrechtliche Integrationsmodelle versprechen einen höheren Grad der Zielerrei- 185 chung, indem sie das Nebeneinander von Transparenz- und Trennungsprinzip durch – optionale oder zwingende – Einbeziehung von Personenunternehmen in die Körperschaftsteuer bzw. eine allgemeine Unternehmensteuer überwinden. Allerdings sind, je weiter der Anwendungsbereich des Trennungsprinzips gezogen wird, insb. bei Einbeziehung von Einzelunternehmern in die Körperschaftsteuer, erhebliche praktische Probleme zu bewältigen. Dies hat sowohl das Scheitern des Vorschlags einer Körperschaftsteueroption im Rahmen der Unternehmensteuerreform 2000344 als auch der noch weiter gehende Vorschlag einer Allgemeinen Unternehmensteuer der Kommission Steuergesetzbuch der Stiftung Marktwirtschaft (s. § 7 Rz. 90)345 gezeigt. Die Fülle der erforderlichen Sonderregeln für personenbezogene Unternehmen macht den Vorteil der Einheitlichkeit schnell zunichte. Vorzugswürdig ist deshalb eine moderate Ausdehnung der Körperschaftsteuer346. Eine zwingende Einbeziehung von 341 BT-Drucks. 16/4841, 32. 342 Ähnlich Wilk, DStZ 2007, 216 (219), allerdings mit dem abzulehnenden Schluss, es bedürfe keiner Maßnahmen für Personenunternehmen. 343 S. hierzu die Beiträge zum 35. Berliner Steuergespräch am 14.6.2010 von Hennrichs, Prinz, Brandenberg, Richter/Welling, Schmitt, Fechner/Bäuml, FR 2010, 721. 344 Vgl. § 4a KStG-E i.d.F. des Entwurfs eines StSenkG v. 25.2.2000, BT-Drucks. 14/2683, 77; dazu Schön, StuW 2000, 151 (156 f.); J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (104 f.); Dorenkamp, Nachgelagerte Besteuerung von Einkommen, Diss., 2004, 370 ff.; rechtsvergleichend (Frankreich) Bippus, DStR 1998, 749 (753 ff.); Hahn, DStR 1999, 833; Hellio/Rädler, IStR 2000, 401 (403 ff.). Allgemein für optionale Lösungen Hüttemann, DStJG 25 (2002), 123 (141); w.N. und Kritik bei HHR/Hey, Einf. KSt Anm. 204 (1999), abrufbar unter: http://www.ertragsteuerrecht.de/media/KStG_Einf_196_09-1999_komplett.pdf. 345 Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, Steuerpolitisches Programm, 2006, 29 f.; Hey, StuB 2006, 267 (272); s. ferner die Vorarbeiten einer Inhabersteuer von J. Lang, Brühler Empfehlungen, BMF-Schriftenreihe 66, 1999, Anh. Nr. 1, 19 ff.; J. Lang, DStJG 24 (2001), 49 (106 ff.); dazu Hennrichs, StuW 2002, 201 (212 ff.). 346 S. auch J. Lang, FS Reiß, 2008, 379 (388); Seer, FS J. Lang, 2010, 655 (660 f.), u. § 7 Rz. 90; aus niederländischer Sicht ebenfalls für eine Option zugunsten von public partnerships Essers, FS J. Lang, 2010, 615 (622); ebenfalls rechtsvergleichend (Spanien) Woertz, Körperschaftsteuer für Personenunternehmen, Diss., 2009, 211–271.
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§ 13 Rz. 186
Rechtsformabhängige Unternehmensbesteuerung
kapitalistisch organisierten Personenunternehmen, insb. GmbH & Co. KG sowie Publikumsgesellschaften, käme weitgehend ohne Sonderregeln aus. Daneben könnten Personengesellschaften, insb. Personenhandelsgesellschaften, sich der Körperschaftsteuer optional unterwerfen (hierzu und zu Regelungen zur Gewährleistung leistungsfähiger Besteuerung der Gesellschafter auch § 7 Rz. 89 f. u. § 10 Rz. 8). 186 Überdies belegt die Unternehmensteuerreform 2008, dass rechtsformabhängige Belastungsunter-
schiede nur verringert werden können, wenn die Gewerbesteuer in die Reformüberlegungen einbezogen wird347. Hierzu hatte die Kommission Steuergesetzbuch der Stiftung Marktwirtschaft den Vorschlag einer aufeinander abgestimmten Allgemeinen und Kommunalen Unternehmensteuer (dazu § 12 Rz. 2) gemacht. Doch anstatt die auch vom Sachverständigenrat348 nachdrücklich unterstützte Forderung nach alternativen Formen der Gemeindefinanzierung aufzugreifen, hat der Gesetzgeber die Gewerbesteuer 2008 aufgewertet und ihr noch mehr Bedeutung für die Rechtsformwahl349 zugewiesen. So führen unterdurchschnittliche Gewerbesteuerhebesätze (zwischen 200 und 380 %) künftig nur noch bei Kapitalgesellschaften zum Absinken der Gesamtbelastung (GewSt/KSt/SolZ), im günstigsten Fall auf 22,8 %. Dagegen wirken sich auf Grund der Begrenzung der Anrechnung in § 35 EStG auf die tatsächlich zu zahlende Gewerbesteuer Gewerbesteuersätze unter 380 % bei Personengesellschaften nicht mehr aus (s. § 8 Rz. 841 f.). 187 Schließlich bleibt jede Unternehmensteuerreform unvollständig, solange in der Erbschaft- und
Schenkungsteuer die Übertragung von Personenunternehmen gegenüber Kapitalgesellschaften begünstigt wird. Das BVerfG hat diese Differenzierung freilich nicht beanstandet350 und die §§ 13a ff. ErbStG halten auch nach der jüngsten Reform351 an der Rechtsformabhängigkeit der Begünstigungen fest (dazu § 15 Rz. 106 ff.).
347 S. Hey, DStJG 24 (2001), 155 (204 ff.); Hüttemann, DStJG 25 (2002), 123 (141); Kußmaul/Beckmann/ Meyering, StuB 2003, 1021 (1027); s. auch § 11 Rz. 4. 348 BMF-Schriftenreihe 79, 2006, 30 f.; s. ferner Beschluss III. 21 des 66. DJT, 2006, Bd. II/1, Q 170. 349 Herzig, DB 2007, 1541 (1543); Klipstein, DStZ 2009, 805 (807 ff.). 350 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (63 ff.); v. 14.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136 (206 ff.). 351 Gesetz zur Anpassung der Erbschaftsteuer v. 4.11.2016, BGBl. I 2016, 2464.
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§ 14 Konzern- und Umwandlungssteuerrecht A. Organschaft Literatur: David, Die Organgesellschaft im Reichssteuerrecht, 1933; Schultze-Schlutius, Die Organtheorie, 1955; Jurkat, Die Organschaft im Körperschaftsteuerrecht, 1975; Sonnenschein, Organschaft und Konzerngesellschaftsrecht, Habil., 1976; Rupp, Die Ertragsbesteuerung nationaler Konzerne – Konzernsteuerbilanz oder Weiterentwicklung der körperschaftsteuerlichen Organschaft, 1983; Crezelius, Faktischer Konzern und steuerrechtliche Organschaft, in FS Kropff, 1997, 37; Gassner (Hrsg.), Besteuerung von Unternehmensgruppen: Bestandsaufnahme und Vorschläge zur Reform der Organschaft im Körperschaftsteuerrecht, Wien 1998; Erle, Der Preis der Organschaft, in FS W. Müller, 2001, 557; Krebs, Gedanken zur Neuregelung der ertragssteuerlichen Organschaft, in FS W. Müller, 2001, 301; Staringer, Perspektiven der Konzernbesteuerung, DStJG 25 (2002), 73; Herzig (Hrsg.), Organschaft, 2003; B.A. Fischer, Organschaft und Steuerumlagen, in Lüdicke/Sistermann, Unternehmensteuerrecht, 2008, 599; Herzig/Wagner, Zukunft der Organschaft im EG-Binnenmarkt, DB 2005, 1; Hofer, Grenzüberschreitende Verlustverrechnung bei Organschaft, 2007; Klarmann, Körperschaftsteuerliche Organschaft – Entstehung, Inhalt und Problematik der bestehenden deutschen Regelung, ifst-Schrift Nr. 440, 2006; Witt, Die Konzernbesteuerung, 2006; Rödder, Perspektiven der Konzernbesteuerung, ZHR 171 (2007), 380; Wagner, Denkanstöße zur Modifikation der ertragsteuerlichen Organschaft, StuW 2007, 308; Fuhrmann, Organschaft als steuerliches Gestaltungsinstrument, KÖSDI 2008, 15989; ifst-Arbeitsgruppe, Einführung einer modernen Gruppenbesteuerung, ifst-Schrift Nr. 471, 2011; Niehren, Perspektiven der körperschaftsteuerlichen Organschaft, 2011; Rogge, Die Europarechts(in-)konformität der Vorschriften zur körperschaftsteuerlichen Organschaft, 2011; Stangl/Winter, Organschaft 2013/2014, 2014; Schreiber/Stiller, Ökonomische Anforderungen an eine Reform der Gruppenbesteuerung, StuW 2014, 216; Kessler/Kröner/Köhler, Konzernsteuerrecht3, 2015; Prinz/Witt, Steuerliche Organschaft, 2015; Macke, Ertragsteuerliche Organschaft im grenzüberschreitenden Unternehmensverbund, 2016; Schirmer, Organschaft und Steuerrecht, 2016; Müller/Stöcker/Lieber, Die Organschaft10, 2016. Zur Reformdiskussion darüber hinaus insb. Rz. 28 ff. Zu älteren Dissertationen vgl. die 20. Aufl., § 18 vor Rz. 400.
1. Einführung Im Rahmen einer Steuerrechtsordnung, der kein einheitliches und geschlossenes System für die Be- 1 steuerung von Unternehmen zugrunde liegt, knüpft das Steuerrecht prinzipiell auch bei der Besteuerung rechtlich und wirtschaftlich verbundener Unternehmen an die einzelnen Rechtsträger an1. Mit der sog. Organschaft, die auf die Rspr. des Preußischen Oberverwaltungsgerichts zur Gewerbesteuer im Jahre 1902 zurückgeht2 und über die Gewerbesteuer hinaus heute auch in unterschiedlicher Ausprägung für die Körperschaftsteuer, die Umsatzsteuer3 und die Grunderwerbsteuer4 von Bedeutung ist, geht das deutsche Steuerrecht indessen über die primär am Zivilrecht orientierten Ordnungs-
1 Vgl. dazu § 13 Rz. 1 ff.; dazu auch Herzig in Herzig, Organschaft, 3. 2 Vgl. zur Rechtsentwicklung Herzig in Herzig, Organschaft, 3 ff. m.w.N. 3 Zur Umsatzsteuer § 17 Rz. 64 ff.; darüber hinaus insb. auch Widmann, Organschaft und Umsatzsteuer, in Herzig, Organschaft, 333. 4 Vgl. dazu insb. Koordinierter Ländererlass, BStBl. I 2007, 422; dazu insb. Behrens/Meyer-Wirges, DStR 2007, 1290; außerdem insb. auch Günkel/Lieber, Grunderwerbsteuerliche Organschaft, in Herzig, Organschaft, 352. Vgl. auch BFH BStBl. II 2005, 839; dazu Behrens, BB 2005, 2621; Brinkmann/Tschesche, BB 2005, 2783; Willibald/Widmayer, DB 2005, 2543; Wischott/Schonweiß, DStR 2006, 172. Zur Grunderwerbsteuer als Umstrukturierungshemmnis im Konzern Fuhrmann, KÖSDI 2005, 14591. Zum begrenzten Anwendungsbereich und der unzureichenden Entlastungswirkung durch Einführung des § 6a GrEStG vgl. § 13 Rz. 39.
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§ 14 Rz. 2
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
strukturen hinaus. Gemessen an der prinzipiellen Anknüpfung an die Rechtsform (§ 1 KStG) könnte dies vordergründig zwar als unsystematisch erscheinen. Teleologisch ist die Organschaft i.S. einer wirtschaftlichen Unternehmenseinheit5 jedoch kein Systembruch, sondern der Versuch, den Erfordernissen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit rechtsformübergreifend Rechnung zu tragen6. Im Kern geht es dabei darum, Mehrfach- oder Nichtbelastungen zu vermeiden und den vom Nettoprinzip her gebotenen Ergebnisausgleich bei wirtschaftlich verbundenen Unternehmen sicherzustellen7. Die Organschaft ist insoweit keine Steuervergünstigung8 und steht daher steuersystematisch nicht zur Disposition9. 2. Körperschaftsteuerliche Organschaft 2.1 Voraussetzungen 2 Körperschaftsteuerliche Organschaft10 besteht gem. §§ 14 I; 17; 18 KStG grds. dann, wenn eine Kapi-
talgesellschaft mit Geschäftsleitung und Sitz im Inland (Organgesellschaft) finanziell in ein einziges anderes gewerbliches Unternehmen (Organträger) eingegliedert und verpflichtet ist, ihren ganzen Gewinn an den Organträger abzuführen. I.E. sind dazu folgende Voraussetzungen zu erfüllen: 2.1.1 Organgesellschaft 3 Organgesellschaft kann grds. nur eine Kapitalgesellschaft, d.h. eine AG, KGaA11, GmbH oder SE12
mit Geschäftsleitung im Inland und Sitz in einem Mitgliedstaat der EU oder in einem Vertragsstaat des EWR-Abkommens sein (§§ 14 I 1, 17 KStG). Im Hinblick darauf, dass die Europäische Kommission den sog. doppelten Inlandsbezug (Sitz und Geschäftsleitung im Inland) als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit gewertet hat, lässt § 14 I 1 KStG jetzt auch Kapitalgesellschaften als Organgesellschaften zu, die im EU-/EWR-Ausland gegründet wurden und ihre Geschäftsleitung in Deutschland haben13. Körperschaften, die gem. § 1 I Nr. 2–6 KStG körperschaftsteuerpflichtig sind, können ebenso wenig Organgesellschaft14 sein wie die GmbH & Co. KG und andere Personengesellschaften15.
5 So bereits RFH RStBl. 1930, 148. 6 Vgl. auch Montag, Grundlagen der gewerbesteuerlichen Organschaft, in Herzig, Organschaft, 291 (304). 7 Vgl. dazu auch BFH BStBl. II 1975, 179; 1972, 358; 1986, 73; 1990, 916. Zur wirtschaftlichen Bedeutung Prinz in Herzig, Organschaft, 545. 8 So völlig abwegig in 2002 aber BT-Drucks. 15/480, 22; 15/481, 39. Dazu Graf Kerssenbrock, RIW 2002, 889; Köster/Schiffers, GmbHR 2002, 1218; Prinz/Otto, FR 2003, 53. 9 Dazu auch Rödder/Schumacher, DStR 2002, 1970; Prinz/Otto, FR 2003, 53. 10 Vgl. auch BMF BStBl. I 2003, 437. Dazu auch Dötsch/Pung, DB 2003, 1970; Heurung/Klübenspies, BB 2003, 2483; ergänzend BMF-Schreiben BStBl. I 2005, 1038. 11 Dazu insb. Frotscher, Der Konzern 2005, 139. 12 Vgl. dazu § 11 Rz. 23. 13 Gesetz v. 20.2.2013 (BGBl. I 2013, 285). 14 Ausgeschlossen waren gem. § 14 II KStG aF auch bestimmte Versicherungsunternehmen. Vgl. zur Neuregelung durch das Jahresteuergesetz 2009, die grds. ab dem Veranlagungszeitraum 2009 gilt, Rödder/ Liekenbrock in Rödder/Herlinghaus/Neumann, 2015, § 14 KStG Rz. 555. 15 Zur GmbH & Co. KG BFH BStBl. II 1973, 169; 1973, 562. Darüber hinaus insb. auch Eversberg in Herzig, Organschaft, 75; zur atypisch stillen Gesellschaft BFH BFH/NV 2011, 1397; BFH BFH/NV 2011, 2052; BMF v. 20.8.2015, BStBl. I 2015, 649; dazu Baltromejus, StuB 2015, 817; Hölzer, FR 2015, 1065; Hageböke, DB 2015, 1993; Suchanek, GmbHR 2015, 1031; grundlegend dazu bereits die berechtigte Kritik von Hageböke, Der Konzern 2013, 334.
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2. Körperschaftsteuerliche Organschaft
Rz. 6 § 14
2.1.2 Organträger Über die gewerbliche Tätigkeit hinaus muss der Organträger nach § 14 I 1 Nr. 2 KStG insb. folgende 4 Voraussetzungen erfüllen16: – Organträger muss eine natürliche Person, eine nicht von der Körperschaftsteuer befreite Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse oder auch eine gewerblich tätige Personengesellschaft sein. – Die Beteiligung an der Organgesellschaft muss ununterbrochen während der gesamten Dauer der Organschaft einer inländischen Betriebsstätte i.S.d. § 12 AO zuzuordnen sein17. – Das Einkommen der Organgesellschaft ist der inländischen Betriebstätte des Organträgers zuzurechnen. – Die der inländischen Betriebsstätte zuzurechnenden Einkünfte unterliegen sowohl nach inländischem Steuerrecht als auch nach Abkommensrecht der Besteuerung im Inland. Organträger kann auch eine Personengesellschaft i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG mit Geschäftsleitung im 5 Inland sein, wenn sie eine Tätigkeit i.S.d. § 15 I 1 Nr. 1 EStG ausübt und die Anteile an der Organgesellschaft im Gesamthandsvermögen der Personengesellschaft liegen (§ 14 I 1 Nr. 2 Satz 2 u. 3 KStG)18. Eine gewerblich geprägte Personengesellschaft kommt demnach im Gegensatz zu einer geschäftsleitenden Holding als Organträger nicht mehr in Betracht19. Für einen über die Anforderungen des § 15 III Nr. 1 EStG hinausgehenden Mindestumfang der gewerblichen Tätigkeit ist grds. kein Raum, so dass insb. auch innerkonzernliche Dienstleistungen20 oder die Qualifizierung als Besitzunternehmen im Rahmen einer Betriebsaufspaltung ausreichend sind21. Die Gewerblichkeit muss nicht bereits zu Beginn des Wirtschaftsjahres vorliegen. Sie kann vielmehr auch erst im Laufe des Wirtschaftsjahres begründet werden und muss spätestens im Zeitpunkt der Gewinnabführung vorliegen22. Die Organschaft zu mehreren Organträgern, die sich zur einheitlichen Willensbildung in einer GbR 6 zusammengeschlossen haben (sog. Mehrmütterorganschaft), wurde mit dem StVergAbG23 rückwir-
16 Vgl. dazu i.E. auch Brill, KÖSDI 2012, 18103; Dötsch/Pung, DB 2013, 305; Stangl/Brühl, Der Konzern 2013, 77 (97 ff.); Weigert/Strohm, Der Konzern 2013, 249; Stangl/Winter, Organschaft 2013/2014, 79 ff. 17 Dazu i.E. Schirmer, GmbHR 2013, 797; Dötsch/Pung, DB 2014, 1215; Rödder/Liekenbrock, Ubg 2015, 445. 18 Gosch, Die Personengesellschaft als Organträgerin, FS Raupach, 2006, 461; Frotscher, Ubg 2009, 426; Bäuml, FR 2013, 1121. 19 Zur Implementierung eines Personengesellschafter-Treuhandmodells Joachimsen/Mangold/Zinowsky, DStR 2014, 2045. Nach Auffassung der Finanzverwaltung (zuletzt BMF v. 28.8.2015, BStBl. I 2015, 649) soll auch die GmbH & atypisch Still nicht Organträger sein können. Dazu mit Recht krit. Hageböke, Der Konzern 2013, 334; vgl. auch Rz. 3 Fn. 15. 20 Vgl. zur Auffassung der Finanzverwaltung BMF BStBl. I 2005, 2038; dazu auch Blumers/Goerg, DStR 2005, 397; Dötsch, DB 2005, 2541; Dötsch, Der Konzern 2005, 695; Roser, EStB 2006, 21; Nau/Schiffers/ Watermeyer, GmbHR 2005, 470; Walter, GmbHR 2005, 456. Zur Gewerblichkeit der Organträger-Personengesellschaft außerdem Blumers/Goerg, BB 2003; Schmidt/Hageböke, Der Konzern 2003, 601; Orth, DB 2005, 741; Hageböke/Heinz/Dötsch, DB 2006, 473; Kolbe, StuB 2006, 411; Suchanek, DStR 2006, 836. 21 Vgl. dazu BFH v. 24.7.2013 – I R 40/12, BStBl. II 2014, 272. 22 Vgl. BFH v. 24.7.2013 – I R 40/12, BStBl. II 2014, 272; entgegen BMF BStBl. I 2005, 1038, Rz. 21; dazu auch Rz. 1 Fn. 4. 23 Vgl. Rz. 1 Fn. 4. Dazu auch Rödder, DStR 2002, 1800; Jonas in Herzig, Organschaft, 306.
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§ 14 Rz. 7
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
kend für 2003 abgeschafft, nachdem sie in 2002 gegen die Rspr. des BFH24 erst rückwirkend auch für frühere Veranlagungszeiträume kodifiziert worden war25. Damit wurde der verfassungsrechtlich gebotene Dispositions- und Vertrauensschutz in besonderer Weise beeinträchtigt. Problematisch ist insb. die Behandlung gewerbesteuerlicher Verlustvorträge bei der früheren Mehrmütter-GbR, die grds. entfallen26 und allenfalls im Rahmen einer außerordentlich restriktiven Übergangsregelung, die ggf. im Wege einer teleologischen Reduktion verfassungskonform anzuwenden ist27, genutzt werden können28. Der BFH geht demgegenüber davon aus, dass kein Verstoß gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 II GG) abgeleitete Rückwirkungsverbot vorliegt29, und ist insoweit durch das BVerfG bestätigt worden30. Die Rückwirkungsproblematik wird dabei offenbar vor allem deshalb verdrängt, weil die ältere Rspr. und das neue Recht im Ergebnis übereinstimmen31. Letztlich besteht das verfassungsrechtliche Problem aber gerade darin, dass Stpfl., die im Vertrauen darauf, dass die Verwaltungsauffassung rechtswidrig war, Rechtsbehelfe geführt haben bzw. nach § 363 AO ruhen ließen, durch den BFH zunächst ihr Recht bekommen haben, das ihnen durch den Gesetzgeber und auch durch das BVerfG rückwirkend wieder genommen wurde. 2.1.3 Finanzielle Eingliederung 7 Nach § 14 I 1 Nr. 1, 2 KStG muss die Organgesellschaft finanziell in das Unternehmen des Organträ-
gers eingegliedert sein. Finanzielle Eingliederung liegt dann vor, wenn dem Organträger vom Beginn des Wirtschaftsjahres der Organgesellschaft an32 die Mehrheit der Stimmrechte aus der Beteiligung an der Kapitalgesellschaft zusteht. Eine mittelbare Beteiligung reicht für die finanzielle Eingliederung dann aus, wenn die Beteiligung an jeder zwischengeschalteten Gesellschaft die Mehrheit der Stimmrechte gewährt33. 2.1.4 Gewinnabführungsvertrag 8 Über die finanzielle Eingliederung hinaus ist zusätzlich der Abschluss eines Gewinnabführungsver-
trags i.S.d. § 291 I AktG erforderlich, in dem die Organgesellschaft sich verpflichtet, ihren ganzen Gewinn an den Organträger abzuführen34. Der Gewinnabführungsvertrag muss auf mindestens fünf
24 Vgl. BFH BStBl. II 2000, 695. 25 Vgl. dazu Müller/Orth, DStR 2002, 1737; zur verfassungsrechtlichen Problematik insb. Kirchhof/Raupach, DB 2001, Beil. 3; Raupach, DStR 2001, 1395; Herlinghaus, GmbHR 2001, 956 (962); P. Kirchhof in Herzig, Organschaft, 485. 26 BMF BStBl. I 2005, 1038 (1039, Tz. 9). 27 BFH Beschl. v. 15.2.2012 – I B 7/11, BStBl. II 2012, 751. 28 Vgl. BMF BStBl. I 2005, 1038 (1039, Tz. 10 ff.). Dazu auch Rautenstrauch/Adrian, DB 2005, 1018; Walter, GmbHR 2005, 496. 29 BFH BStBl. II 2006, 549. Dazu auch Pezzer, FR 2006, 651, der eine „betriebswirtschaftliche Betrachtungsweise“ bemüht, um die Verletzung des Rückwirkungsverbots zu rechtfertigen, und dabei offenbar nicht berücksichtigt, dass auch Betriebswirte zwischen der unterschiedlichen Rechtsqualität von Gesetzen, Verwaltungsanweisungen und Gerichtsurteilen differenzieren. 30 Vgl. BVerfG v. 15.10.2008 – 1 BvR 1138/06, HFR 2009, 187; BFH v. 27.11.2008, DStR 2009, 849. 31 Vgl. entsprechend auch Pezzer, FR 2006, 651. 32 Zum Beginn der Organschaft insb. bei Rückwirkungen BFH BStBl. II 2004, 534; BMF BStBl. I 2004, 549; dazu auch Schumacher, DStR 2006, 124; Baldamus, Der Konzern 2003, 813; Dötsch, Der Konzern 2004, 273; zum Verhältnis von Organschaft und Umwandlung allgemein insb. Herlinghaus, FR 2004, 974. Zur Einhaltung der 5-Jahres-Frist bei Änderung des Gewinnabführungsvertrags BFH v. 22.10.2008, DStR 2009, 100; dazu auch Kolbe, StuB 2009, 226. 33 I.E. dazu auch R 57 KStR 2004; Scheidle/Koch, DB 2005, 2656. 34 Zur Bedeutung von kombinierten (festen und variablen) Ausgleichszahlungen im Gewinnabführungsvertrag für die Anerkennung der Organschaft Hasbach/Brühl, DStR 2016, 2361 mit Verweis auf Niedersächsisches FG v. 11.11.2015, DStR 2016, 23, 98; BFH v. 10.5.2017 – I R 93/15, Der Konzern 2017, 543; dazu auch Brühl/Weiss, BB 2018, 94.
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2. Körperschaftsteuerliche Organschaft
Rz. 9 § 14
Jahre abgeschlossen sein35, bis zum Ende des Wirtschaftsjahres der Organgesellschaft, für das erstmals Organschaft bestehen soll, wirksam geworden sein und während seiner gesamten Dauer durchgeführt werden36. Die notwendige Abführung des gesamten Gewinns setzt nach Auffassung der Finanzverwaltung voraus, dass auch Gewinne, die auf der Anwendung des § 253 HGB beruhen, vollständig abzuführen sind und die Ausschüttungssperre nach § 253 VI HGB nicht analog anzuwenden ist37. Nach § 14 I 3 Nr. 3 gilt der Gewinnabführungsvertrag unter besonderen Voraussetzungen auch dann als ausgeführt, wenn die Gewinnabführung oder die Verlustübernahmen auf fehlerhaften Bilanzansätzen beruhen38. Der Gewinnabführungsvertrag ist insb. dann nicht tatsächlich durchgeführt, wenn der Jahresüberschuss der Organgesellschaft nicht mit vororganschaftlichen Verlusten verrechnet wird39. Bei der GmbH setzt die Organschaft nach § 17 Satz 2 KStG weiterhin voraus, dass die Gewinnabführung den in § 301 AktG genannten Betrag nicht überschreitet und eine Verlustübernahme durch Verweis auf § 302 AktG in seiner jeweils geltenden Fassung vereinbart wird40. Abgesehen von den gesetzlichen Rücklagen dürfen Gewinnrücklagen nur insoweit gebildet werden, als dies bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung wirtschaftlich begründet ist (§ 14 I 1 Nr. 4 KStG)41. 2.2 Materiell-rechtliche Folgen 2.2.1 Grundsätze Liegen die Organschaftsvoraussetzungen vor, ergeben sich materiell-rechtlich nicht nur Steuer-, son- 9 dern auch Haftungsfolgen42. Für die Besteuerung gilt grundsätzlich Folgendes: Liegt finanzielle Ein35 Zur Notwendigkeit der Bemessung nach Zeitjahren BFH BStBl. II 2011, 727 (relativierend BFH v. 22.12.2010 – I B 83/10, BStBl. II 2014, 490). Die vertragliche Mindestlaufzeit ist nicht i.S. eines allgemeinen Grundsatzes vertragslaufzeitbezogener Erfordernisse zu verstehen. Daher steht z.B. die temporäre Nichtanerkennung (BFH v. 10.5.2017 – I R 51/15, BStBl. II 2017, 336) oder eine Rückwirkungsfiktion nach UmwStG (BFH v. 10.5.2017 – I R 19/15, BStBl. II 2018, 30) der grundsätzlichen Anerkennung der Organschaft nicht entgegen. Dazu auch Adrian/Fey, DStR 2017, 2409; Brühl/Binder, NWB 2018, 331. 36 Eine vorzeitige Beendigung kann nur aus wichtigem Grund erfolgen (§ 14 Nr. 3 Satz 2 KStG). Dazu BFH-Urt. v. 14.11.2013 – VI R 20/12, BStBl. II 2014, 456; Doege/Holtrup, StuB 2014, 369; außerdem insb. auch Dötsch, Der Konzern 2012, 319; Heurung/Engel/Müller-Thomczik, GmbHR 2012, 1227; Stangl/Brühl, Ubg 2012, 657; Schaefer/Wind/Mager, DStR 2013, 2399; Stangl/Aichberger, Ubg 2013, 685. 37 BMF v. 23.12.2016, BStBl. I 2017, 41; Hageböke/Hennrichs, DB 2017, 18; Oser/Wirtz, DB 2017, 261. 38 Zur Behandlung von Zweifelsfragen aus Sicht der Finanzverwaltung FinMin Schleswig-Holstein v. 22.2.2016 – VI 3011 – S 2770 – 086, DStR 2016, 965; dazu auch Forst/Suchanek/Martini, GmbHR 2015, 408; dazu i.E. Middendorf/Holtrichter, StuB 2013, 123; Benecke/Schnitger, IStR 2013, 143, 155; Dötsch/Pung, DB 2013, 305; Fellinger/Welling, DStR 2013, 1718; Jesse, FR 2013, 629; Müller/von der Laage, FR 2013, 727; Prinz, StuB 2013, 265; Stangl/Brühl, Der Konzern 2013, 77; Stangl/Brühl, DB 2013, 538; Rödder, Ubg 2012, 717; v. Wolfersdorff, Rödder u.a., DB 2012, 2241. 39 BFH-Urt. v. 21.10.2010 – IV R 21/07, BStBl. II 2014, 481. Vgl. dazu grds. Dötsch, Gewinnabführungsvertrag, in Herzig, Organschaft, 408; Neumann, StbJb. 2011/2012, 53; Dötsch, Der Konzern 2012, 104; Gänsler, Ubg 2014, 701.; zur Bedeutung der Zahlungsfähigkeit von Organgesellschaft/Organträger Stangl/Ritzer, Der Konzern 2012, 529. 40 Zum zeitlichen Anwendungsbereich der dynamischen Verweisung auf § 302 AktG vgl. § 17 II KStG, der die Fortgeltung von § 34 Xb KStG regelt; dazu i.E. Ortmann-Babel/Bolik/Zöller, DB 2014, 1570; zur Neuregelung vgl. Scheiffele/Hörner, DStR 2013, 553; außerdem auch Rz. 8 Fn. 38. 41 Dazu insb. Dötsch in Herzig, Organschaft, 97, 103. Zum zeitlichen Zusammenhang zwischen Anlass und Rücklagenzuführung Rödder/Schmidtmann, Ubg 2014, 177. Zu Verfahrensfragen T. Müller, Der Konzern 2009, 167. 42 Zur Haftung bei Organschaft § 73 AO, dazu § 6 Rz. 73; vgl. auch BFH v. 31.5.2017 – I R 54/15, DStR 2017, 2214; grds. auch Schmidt, Die Inanspruchnahme der Organgesellschaft für Steuerschulden des Organträgers gem. § 73 AO, 2014; Schimmele/Weber, Der Konzern 2015, 437.
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§ 14 Rz. 10
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
gliederung und ein Gewinnabführungsvertrag vor, so ist das Einkommen der Organgesellschaft nach § 14 I KStG dem Organträger zuzurechnen, soweit gem. § 16 KStG keine Ausgleichszahlungen an außenstehende Aktionäre geleistet werden. Das bedeutet, dass die Organgesellschaft als selbständiges Körperschaftsteuersubjekt ihr Einkommen gesondert ermittelt, also kein einheitliches Unternehmen mit dem Organträger besteht, sondern nach der sog. Zurechnungstheorie43 lediglich eine Zurechnung des gesondert ermittelten – positiven oder negativen – Einkommens erfolgt44. Die Organschaftsregelungen gehen insoweit als lex specialis den allgemeinen körperschaftsteuerlichen Regelungen vor45. Die Zurechnung erfolgt grds. zu dem Zeitpunkt, in dem das Wirtschaftsjahr der Organgesellschaft endet. Entsprechend wird das Einkommen der Organgesellschaft nur den Gesellschaftern einer Organträger-Personengesellschaft zugerechnet, die im Zeitpunkt der Zurechnung an der Organträgerin beteiligt sind46. Bei der Organgesellschaft mindert eine Gewinnabführung das handelsrechtliche Ergebnis, während ein Verlustausgleich es erhöht. Bei der Einkommensermittlung ist der gesellschaftsrechtlichen Veranlassung der Vorgänge jedoch Rechnung zu tragen, so dass die Gewinnabführung bei der Organgesellschaft hinzuzurechnen, ein Verlustausgleich zu kürzen ist. Korrespondierend dazu wird die Gewinnabführung bei der Einkommensermittlung des Organträgers gekürzt, während eine Verlustübernahme hinzuzurechnen ist47. 2.2.2 Besonderheiten 10
Bei der Ermittlung und Versteuerung des Einkommens der Organgesellschaft und des Organträgers sind im Wesentlichen folgende Besonderheiten zu beachten48: 2.2.2.1 Verlustausgleichsverbot nach § 14 I 1 Nr. 5 KStG
11
Um zu verhindern, dass Verluste doppelt oder einseitig zu Lasten des Inlands abgezogen werden, bleiben negative Einkünfte des Organträgers oder der Organgesellschaft unberücksichtigt, soweit sie in einem ausländischen Staat berücksichtigt werden (§ 14 I Nr. 5 KStG)49.
43 Vgl. bereits RFH RStBl. 1933, 138. Grds. dazu insb. Gosch/Neumann2, § 14 KStG Rz. 1 ff.; Orth, Der Konzern 2005, 79. Vgl. auch BFH BStBl. II 2003, 9 zur Ermittlung des Spendenabzugs. 44 Ob die Zurechnung bei der Ermittlung der Einkünfte oder bei der Ermittlung des Einkommens zu erfolgen hat, ist nicht abschließend geklärt. Vgl. dazu BFH v. 12.10.2016 – I R 92/12, BFH/NV 2017, 685. Dazu auch Pohl, DStR 2017, 1687. 45 Vgl. i.E. insb. Herlinghaus in Herzig, Organschaft, 119 ff. Zur Behandlung von verdeckten Gewinnausschüttungen Thiel, DB 2006, 633. Zur Behandlung mezzaniner Finanzierungen bei Organschaft R. Schmid, GmbHR 2008, 464. 46 Vgl. dazu BFH-Urt. v. 28.2.2013 – IV R 50/09, BStBl. II 2013, 494. 47 Vgl. auch R 14.6 KStR. 48 Zur Anwendung besonderer Tarifvorschriften für die Organgesellschaft vgl. § 19 KStG, der nunmehr klarstellt, dass der Organträger unbeschränkt steuerpflichtig sein muss. Vgl. dazu i.E. Heinz/Scheuch, IStR 2014, 915. Zur Bedeutung bei § 8c KStG Hunkenschröder/Kellersmann/Zwirner, Der Konzern 2013, 531. Zur Anwendung im Rahmen des § 8b X KStG: Schnitger/Bildstein, FR 2012, 117; zu den Auswirkungen der Zinsschranke Herzig/Liekenbrock, DB 2009, 1949; Herzig/Liekenbrock, Ubg 2009, 750; Schuck/Faller, DB 2010, 2186; Bohn/Loose, DStR 2011, 1009; Althoff/Taron, StuB 2012, 67; dies. StuB 2012, 99; zu Konkurrenzen bei Mitunternehmerschaften Letzgus, Ubg 2010, 699; Haase/Brändel, DB 2011, 1128; zur Gewerbesteueranrechnung Schaumburg/Bäuml, FR 2010, 1061; zur Behandlung von Liquidationsgewinnen der Organgesellschaft Hierstetter, BB 2015, 859; zur Anrechnung und zum Abzug ausländischer Steuern Pohl, BB 2017, 1825. Zur Bilanzierung von Ertragsteuern nach IFRS und BilMoG insb. Loitz/Klevermann, DB 2009, 409; Dahlke, BB 2009, 878; Melcher/Murer, DB 2011, 2529; Pilhofer/ Suermann/Müller, StuB 2013, 799. 49 Vgl. Benecke/Schnitger, IStR 2013, 143; Gründig/Schmid, DStR 2013, 617; Polatzky/Seitner, Ubg 2013, 285; Schaden/Polatzky, IStR 2013, 131; Schneider/Schmitz, GmbHR 2013, 281; Wagner/Liekenbrock, Ubg 2013, 133.
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2. Körperschaftsteuerliche Organschaft
Rz. 15 § 14
2.2.2.2 Vorvertragliche Rücklagen und Verluste Die körperschaftsteuerliche Organschaft erstreckt sich grds. nur auf Gewinne und Verluste, die wäh- 12 rend der Laufzeit des Gewinnabführungsvertrags entstanden sind. Daher gilt für vororganschaftliche Verluste und Rücklagen Folgendes: – Verluste, die vor dem Beginn des Organschaftsverhältnisses entstanden sind, sind nach § 15 Satz 1 Nr. 1 KStG nicht abzugsfähig. Soweit vorvertragliche Verluste bei der Gewinnabführung nicht verrechnet werden, steht dies der Durchführung des Gewinnabführungsvertrags entgegen50. – Anders als Gewinnrücklagen, die während der Laufzeit des Gewinnabführungsvertrags gebildet wurden, dürfen vorvertragliche Gewinnrücklagen nicht abgeführt, sondern nur ausgeschüttet werden51. 2.2.2.3 Bruttomethode nach § 15 Satz 1 Nr. 2 KStG Um die systemkonforme Anwendung des Teileinkünfteverfahrens auch dann zu erreichen, wenn eine 13 natürliche Person oder eine Personengesellschaft mit natürlichen Personen als Gesellschaftern Organträger ist, erfolgt die Anwendung der § 8b I–VI KStG; § 3 Nr. 40 u. § 3c EStG; § 4 VI UmwStG sowie der DBA-Regelungen für Gewinnanteile an ausländischen Gesellschaften nicht bei der Organgesellschaft, sondern beim Organträger (§ 15 Satz 1 Nr. 2 KStG)52. Beim Organträger sind auch Sanierungserträge nach § 3a III EStG zu berücksichtigen (§ 15 Satz 1 Nr. 1a KStG)53. 2.2.2.4 Bruttomethode nach § 15 Satz 1 Nr. 3 KStG Die Zinsschranke nach § 4h EStG ist gem. § 15 Satz 1 Nr. 3 Satz 1 KStG bei der Organgesellschaft 14 nicht anzuwenden. Organträger und Organgesellschaft/en sind vielmehr im Rahmen der Zinsschranke als ein Betrieb anzusehen. Dies führt insb. dazu, dass Finanzierungen innerhalb der Organschaft nicht unter die Zinsschranke fallen, die Freigrenze des § 4h II 1a EStG sich einheitlich nur auf den Organkreis bezieht und auch die Escape-Klausel des § 4h II 1c EStG insgesamt nur für den Organkreis zur Anwendung kommt54. 2.2.2.5 Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG und Gewerbesteueranrechnung Soweit der Organträger ein Einzelunternehmen oder eine Personengesellschaft ist, an der natürliche 15 Personen beteiligt sind, dürfte die Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG grds. auch insoweit zu gewähren sein, als der nicht entnommene Gewinn aus der Organgesellschaft stammt. Abgesehen davon, dass der Zweck des § 34a EStG dem nicht entgegensteht, sind die entsprechenden Erträge über die Gewinnabführung auch im steuerbilanziellen Gewinn des Organträgers und damit auch
50 Vgl. BFH, BFH/NV 2011, 151; dazu auch Dötsch, Der Konzern 2010, 99; Krau, StBp. 2010, 65; Heurung/ Engel/Schröder, BB 2011, 599 (603). 51 Gewinne aus der Auflösung organschaftlicher Kapitalrücklagen können nur ausgeschüttet werden. Dazu BFH BStBl. II 2003, 923; BMF BStBl. I 2003, 647; vgl. auch Richter, GmbHR 2004, 79. 52 Vgl. dazu m.w.N. insb. Rödder, Steuerfreie Erträge der Organgesellschaft, in Herzig, Organschaft, 143 ff.; Kollruss, BB 2007, 78; zur Bruttomethode im Verhältnis zu § 8b VII–IX KStG nach der Einführung des § 15 Satz 1 Nr. 2 Satz 3 KStG durch JStG 2009 Heurung/Seidel, BB 2009, 472; zu den Auswirkungen auf die internationale Dividendenbesteuerung Schänzle/Birker, Ubg 2014, 635; zur Behandlung von Dividendenerträgen bei Organträgerpersonengesellschaften Zinowsky/Jochimsen, DStR 2016, 285. 53 Vgl. Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen v. 27.6.2017, BGBl. I 2017, 2074; Inkrafttreten s. Art. 6 des Gesetzes. 54 Vgl. dazu auch Blumenberg/Benz, Die Unternehmensteuerreform 2008, 2007, 121 ff.; Ernst & Young, Die Unternehmensteuerreform 2008, 2007, 149 ff.; Rödder, DStR 2007, Beihefter zu Heft 40, 7; Herzig/ Liekenbrock, DB 2007, 2387.
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§ 14 Rz. 16
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
vom Wortlaut her im maßgebenden Gewinn nach § 34a II EStG enthalten55. Die Gewerbesteueranrechnung nach § 35 EStG kommt nach Auffassung des BFH bei den Gesellschaftern einer Organträger-Personengesellschaft nicht in Betracht, obwohl die Entlastung vom Zweck der Vorschrift her geboten ist56. 2.2.2.6 Ausgleichszahlungen nach § 304 AktG 16
Ausgleichszahlungen an Minderheitsgesellschafter sind Gewinnverwendung und von der Organgesellschaft nach § 16 Satz 1 KStG mit 20/17 selbst zu versteuern57. Dies gilt auch dann, wenn die Ausgleichszahlung vom Organträger geleistet wurde (§ 16 Satz 2 KStG)58. § 16 KStG will gewährleisten, dass Ausgleichszahlungen unabhängig von der Rechtsform des Organträgers mit Körperschaftsteuer belastet werden. 2.2.2.7 Mehr- und Minderabführungen nach § 14 III, IV KStG
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Da die handelsrechtliche Gewinnabführung und das steuerrechtliche Einkommen nach unterschiedlichen Vorschriften zu ermitteln sind und auch während der Organschaft Gewinnrücklagen gebildet oder aufgelöst werden können, können sich zwischen Gewinnabführung bzw. Verlustausgleich einerseits und Einkommenszurechnung Abweichungen ergeben. Ist die Gewinnabführung höher als das zuzurechnende Einkommen, liegen sog. Mehrabführungen, umgekehrt Minderabführungen vor59. In Abhängigkeit vom Verursachungszeitpunkt wird zwischen vororganschaftlichen und organschaftlichen Mehr- und Minderabführungen unterschieden60. (1) Vororganschaftliche Mehr- und Minderabführungen (§ 14 III KStG)
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Nachdem der BFH61 zu Recht entschieden hat, dass Mehrabführungen entgegen Abschn. 59 IV KStR 1995 auch dann nicht als Ausschüttung zu behandeln sind, wenn sie vororganschaftlich verursacht sind, wurde mit dem EuRLUmsG in § 14 III KStG eine Regelung geschaffen, die die frühere Verwal-
55 Die technische Behandlung der Einkommenszurechnung (außerbilanzielle Kürzung der Gewinnabführung und Einkommenszurechnung) steht der teleologisch gebotenen Wertung nicht entgegen. Vgl. auch Pohl, DB 2008, 84; Rogall, DStR 2008, 429. 56 BFH-Urt. v. 22.9.2011 – IV R 3/10, BStBl. II 2012, 14; v. 22.9.2011 – IV R 42/09, BFH/NV 2012, 236; krit. dazu mit Recht Schmidt/Wacker36, § 35 EStG Rz. 54; Prinz/Hütig, StuB 2012, 20; Wacker, JbFSt. 2012/13, 489 ff. 57 Nach BFH BStBl. II 2010, 407, steht eine Ausgleichszahlung der Anerkennung des Gewinnabführungsvertrags entgegen, wenn neben einem Festbetrag ein zusätzlicher Ausgleich vorgesehen ist, der sich am hypothetischen Gewinnanspruch orientiert. Nach BMF BStBl. I 2010, 372, ist dieses Urteil nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus anzuwenden. Vgl. dazu auch Hubertus/Lüdemann, DStR 2009, 2136. Grds. zu verunglückten Organschaften vgl. insb. Schneider/Hinz, Ubg 2009, 738; Hasbach/Brühl, DStR 2016, 2361. 58 Vgl. i.E. Krebühl, DStR 2002, 1246; Orth, DB 2002, 813; Dötsch, Der Konzern 2004, 716; Schumacher, Ausgleichszahlungen an außenstehende Anteilseigner, in Herzig, Organschaft, 194 ff. 59 Vgl. dazu insb. Lauche, Körperschaftsteuerliche Organschaft unter schwerpunktmäßiger Betrachtung inner- und vororganschaftlicher Mehr- und Minderabführungen, 2016; Wassermeyer in Herzig, Organschaft, 208; Sedemund, DB 2010, 1255; S. Neumann, Ubg 2010, 673; Breier, Der Konzern 2011, 11, 84; zu Sonderfragen bei nachgeordneten Personengesellschaften Dötsch/Pung, Der Konzern 2010, 223; zu den Folgewirkungen im Hinblick auf die Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG vgl. von Freeden/Rogall, FR 2009, 785. 60 Vgl. grds. dazu insb. auch Thiel, Nach 50 Jahren immer noch aktuell: Die besonderen Ausgleichsposten in der Steuerbilanz des Organträgers, FS J. Lang, 2010, 755 ff. Zur Abgrenzung insb. Dötsch/Pung, Der Konzern 2008, 150; zur Behandlung bei Umwandlungen Schumacher, Mehr- und Minderabführungen i.S.d. § 14 Abs. 3 u. 4 KStG im Rahmen von Umwandlungen, FS Schaumburg, 2009, 477. Zur Behandlung im Falle von Verschmelzungen insb. Heerdt, DStR 2009, 938; Meining, BB 2009, 1444. 61 BFH BStBl. II 2005, 49. Zur Anwendung des Urteils BMF BStBl. I 2005, 65.
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2. Körperschaftsteuerliche Organschaft
Rz. 19 § 14
tungsauffassung gesetzlich festschreibt. Mehrabführungen, die in vororganschaftlicher Zeit verursacht sind, gelten danach als Gewinnausschüttungen mit der Notwendigkeit, ggf. Kapitalertragsteuer einzubehalten (§ 44 VII EStG); Minderabführungen sind als Einlage zu behandeln. § 14 III KStG ist verfassungsrechtlich allein deshalb problematisch, weil er insb. dann zu einer unzulässigen Rückwirkung führt, wenn die Organgesellschaft ein abweichendes Wirtschaftsjahr oder ein Rumpfwirtschaftsjahr hat, für das die Bilanz bereits vor Wirksamwerden der Verabschiedung des Gesetzes festgestellt wurde62. Darüber hinaus ist die Regelung vom Zweck, den Voraussetzungen und den Rechtsfolgen her außerordentlich unklar63, was den BFH64 aber leider nicht dazu veranlasst, die Verletzung des rechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes zu problematisieren65. (2) Organschaftliche Mehr- und Minderabführungen Soweit die Organgesellschaft zulässigerweise Gewinnrücklagen dotiert oder organschaftliche Abwei- 19 chungen zwischen Gewinnabführung und Einkommenszurechnung entstehen, können sich entsprechend § 14 IV 6 KStG66 Mehr- und Minderabführungen ergeben. Nach § 14 IV 1 KStG sind für diese Mehr- oder Minderabführungen beim Organträger der Beteiligungsquote entsprechend grds. besondere aktive oder passive Ausgleichsposten zu bilden. Ein passiver Ausgleichsposten ist allerdings dann nicht zu bilden, wenn die auf die Organgesellschaft entfallenden Beteiligungsverluste aufgrund außerbilanzieller Zurechnung neutralisiert werden und damit das dem Organträger zuzurechnende Einkommen nicht mindern67. Die Ausgleichsposten sind nach § 14 IV 2 KStG insb. im Zeitpunkt der Veräußerung erfolgswirksam aufzulösen. Damit hat der Gesetzgeber rückwirkend (§ 34 IX KStG) die Auffassung der Finanzverwaltung68 gesetzlich festgeschrieben, nachdem der BFH69 diese Auffassung mit fragwürdiger Begründung verworfen hatte und die Finanzverwaltung dieses Urteil nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus anwendet70. Sinn und Zweck der Ausgleichsposten ist es, eine doppelte bzw. eine Nichtbesteuerung des in vertraglicher Zeit erwirtschafteten Einkommens der Organgesell-
62 Entsprechend nunmehr auch BFH v. 6.6.2013 – I R 38/11, BStBl. II 2014, 398, der eine unzulässige Rückwirkung sieht. Für Mehrabführungen soll § 14 III KStG bei Organgesellschaften anzuwenden sein, deren Wirtschaftsjahr nach dem 31.12.2003 endet (§ 34 IX KStG), obwohl das Gesetz erst v. 9.12.2004 datiert und am 16.12.2004 in Kraft getreten ist (BGBl. I 2004, 2310). A.A. FG Düsseldorf, GmbHR 2013, 828. 63 Vgl. dazu i.E. Rödder, DStR 2005, 217; außerdem Dötsch/Pung, Der Konzern 2003, 278; Dötsch/Pung, DB 2005, 10; Korn/Strahl, KÖSDI 2005, 14510 (14515); Grube/Behrendt/Heg, GmbHR 2006, 1026, 1079; Schumacher, DStR 2006, 310; Schumann/Kempf, FR 2006, 219; Thiel in FS Raupach, 2006, 543 (557); Dötsch/Witt, Der Konzern 2007, 190; Bareis, FR 2008, 649; Dötsch, Ubg 2008, 117; Neumann, Ubg 2010, 673 (675); Bareis, FR 2013, 1121; Mylich, DStR 2014, 2437. 64 BFH v. 6.6.2013 – I R 38/11, BStBl. II 2014, 398; v. 27.11.2013 – I R 26/13, BStBl. II 2014, 651. Suchanek, GmbHR 2013, 1104; Doege/Middendorf, StuB 2014, 682. 65 Dazu allgemein § 3 Rz. 243 ff. 66 Vgl. KStG i.d.F. des JStG 2008, BGBl. I 2007, 3150 (3166). Dazu insb. Dötsch/Pung, DB 2007, 2669 (2672); Trautmann/Faller, DStR 2012, 890. 67 Vgl. BFH v. 15.3.2017 – I R 67/15, BFH/NV 2017, 1276; dazu auch Gosch/Adrian, GmbHR 2017, 965; von Freeden/Lange, DB 2017, 2055; BFH v. 29.8.2012 – I R 65/11, BStBl. II 2013, 555. Nach BMF BStBl. I 2013, 921 ist dieses Urteil nur dann anzuwenden, wenn die Mehrabführungen auf nach § 15a EStG nicht verrechenbaren Verlusten beruhen. Vgl. dazu auch Faller, DStR 2013, 1977; Heurung/Engel/ Schröder, BB 2013, 663; Aichberger/Ritzer, Der Konzern 2014, 219; Tiede, StuB 2013, 93, 606; Trautmann/Faller, DStR 2013, 293; van Freeden/Josten, Ubg 2014, 512. 68 Vgl. R 63 II, III KStR 2004; BFH BStBl. II 1996, 614; außerdem auch die Nachw. im Rahmen des BFH DStR 2007, 895. 69 BFH BStBl. II 2007, 796. Dazu Kußmaul/Richter, BB 2007, 1256; krit. Weber-Grellet, StuB 2007, 623. 70 Vgl. BMF v. 5.10.2007, BStBl. I 2007, 743.
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§ 14 Rz. 20
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
schaft zu verhindern. Inwieweit die gesetzliche Regelung dies sicherstellt, ist allerdings fraglich, da das systematische Grundkonzept und die Rechtsnatur der Ausgleichsposten nicht geklärt wurde und daher eine Reihe von Einzelfragen offen bleibt71. 2.3 Verfahrensrechtliche Folgen 20 Die Organschaft begründet bei der Körperschaftsteuer trotz der wirtschaftlichen Unternehmensein-
heit verfahrensrechtlich keine Einheit zwischen den einbezogenen Rechtsträgern72 mit der Folge, dass für Organträger und Organgesellschaft grds. eigenständige Steuererklärungs- und sonstige Mitwirkungspflichten bestehen und gesonderte Körperschaftsteuerbescheide ergehen. 21 Für Feststellungszeiträume, die nach dem 31.12.2013 beginnen (§ 34 IX KStG), ist jedoch nach § 14
V KStG eine einheitliche und gesonderte Feststellung durchzuführen. Danach wird das dem Organträger zuzurechnende Einkommen der Organgesellschaft und damit zusammenhängende andere Besteuerungsgrundlagen sowie von der Organgesellschaft geleistete und anzurechnende Steuern gegenüber dem Organträger und der Organgesellschaft gesondert und einheitlich festgestellt. Die entsprechende Feststellungserklärung soll mit der Körperschaftsteuererklärung der Organgesellschaft verbunden werden (§ 14 V 5 KStG). Örtlich zuständig ist das Finanzamt, das für die Besteuerung nach dem Einkommen der Organgesellschaft zuständig ist (§ 14 V 4 KStG) und den einheitlichen Feststellungsbescheid an Organträger und Organgesellschaft bekanntzugeben hat. Getroffene Feststellungen sind als Grundlagenbescheid nach § 182 AO für die Besteuerung des Organträgers und der Organgesellschaft bindend (§ 14 V 2 KStG) und können folglich auch von Organgesellschaft und Organträger mit Rechtsbehelfen angefochten werden73. 3. Gewerbesteuerliche Organschaft 3.1 Voraussetzungen 22 Gewerbesteuerliche Organschaft liegt seit dem Erhebungszeitraum 2002 wie bei der Körperschaft-
steuer gem. § 2 II 2 GewStG dann vor, wenn eine Kapitalgesellschaft finanziell in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert und durch einen Gewinnabführungsvertrag i.S.d. § 291 III AktG verpflichtet ist, ihren ganzen Gewinn an den Organträger abzuführen74. Gewerbesteuerliche und körperschaftsteuerliche Organschaft sind daher in ihren Voraussetzungen nunmehr zwingend miteinander verknüpft. 23 Nach § 14 KStG setzt die Organschaft grundsätzlich voraus, dass der Organträger Sitz und Ge-
schäftsleitung im Inland hat. Der BFH geht davon aus, dass im Hinblick auf abkommensrechtliche Diskriminierungsverbote auch ein im Ausland ansässiges Unternehmen Organträger sein kann und die Organgesellschaft darüber hinaus nicht als Betriebsstätte des Organträgers anzusehen ist75. Da 71 Vgl. Dötsch/Pung, DB 2007, 2669 (2672); außerdem auch Wassermeyer in Herzig, Organschaft, 217; Dötsch, Der Konzern 2003, 21 (29); Neumann/Suchanek, Ubg 2013, 549; Suchanek/Jansen/Hesse, Ubg 2013, 280. 72 Vgl. Drüen, StbJb. 2006/2007, 273, 301; Hendricks, Ubg 2011, 711; Drüen, Der Konzern 2013, 433. 73 Vgl. dazu i.E. Rödder, Ubg 2012, 717 (723); Dötsch/Pung, DB 2013, 305 (313); Drüen, Der Konzern 2013, 433 (444); Teiche, DStR 2013, 2197 (2204); zur Bedeutung für die Außenprüfung Brinkmann, StBp 2016, 189. 74 Im Falle einer atypisch stillen Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft geht die Gewerbesteuerpflicht der Mitunternehmerschaft der organschaftlichen Zurechnung nach BFH BFH/NV 2011, 2053, vor. 75 BFH BStBl. II 2012, 106. Zur Diskussion dieser überaus überraschenden und kontroversen Entscheidung und der Frage, ob damit die Möglichkeit eröffnet wird, Gewinne der deutschen Besteuerung zu entziehen, insb. Behrens, Ubg 2011, 665; Buciek, FR 2011, 588; Dötsch, Der Konzern 2011, 267; Ehlermann/Petersen, IStR 2011, 747; Frotscher, IStR 2011, 697; Kotyrba, BB 2011, 1382; Lüdicke, IStR 2011, 740; Mitschke, IStR 2011, 537; Mössner, IStR 2011, 349; Rödder/Schönfeld, DStR 2011, 886; Schnitger/
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3. Gewerbesteuerliche Organschaft
Rz. 26 § 14
die Finanzverwaltung diese Auffassung nicht teilt, wird das Urteil über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht angewendet76. 3.2 Materiell-rechtliche Folgen 3.2.1 Grundsätze Liegt gewerbesteuerliche Organschaft vor, gilt die Organgesellschaft gem. § 2 II 2 GewStG als Betriebs- 24 stätte des Organträgers. Nach der sog. eingeschränkten Einheitstheorie führt die Betriebsstättenfiktion nach Auffassung des BFH und der Finanzverwaltung77 allerdings nicht dazu, dass Organträger und Organgesellschaft als einheitliches Unternehmen anzusehen sind. Infolge der Betriebsstättenfiktion wird dem Organträger lediglich für die Dauer der Organschaft die persönliche Gewerbesteuerpflicht der Organgesellschaft zugerechnet78. Der Organträger wird Steuerschuldner nach § 5 GewStG, während die objektive Steuerpflicht bei der Organgesellschaft verbleibt79. Organgesellschaft und Organträger stellen deshalb keine Einheits- oder Konzernbilanz auf, sondern 25 ermitteln den Gewerbeertrag grds. nach §§ 7 ff. GewStG getrennt. Die getrennt ermittelten Gewerbeerträge werden dann zusammengerechnet und durch Korrekturen relativiert, die ihre Rechtsgrundlage in § 2 II 2 GewStG haben und steuerliche Doppelbelastungen oder ungerechtfertigte Steuerentlastungen vermeiden sollen80. Im Ergebnis wird dadurch bei der Ermittlung des Gewerbeertrags ein Trennungsprinzip praktiziert, das mehr oder weniger kasuistisch durch die Einheitstheorie relativiert wird und weder vom Wortlaut noch vom Zweck her aus § 2 II 2 GewStG abzuleiten ist81. 3.2.2 Gesonderte Ermittlung und Zusammenrechnung bereinigter Gewerbeerträge Auf Grund der Relativierung des Trennungsprinzips durch organschaftsbedingte Korrekturen einer- 26 seits und die Bruttomethode nach § 15 Satz 1 Nr. 2 KStG andererseits vollzieht sich die Ermittlung des Gewerbeertrags für den Organkreis im Wesentlichen in drei Schritten82. Im ersten Schritt erfolgt die getrennte Ermittlung des Gewerbeertrags für Organträger und Organgesellschaft mit der Folge, dass – für Innenumsätze im Organkreis die allgemeinen Gewinnrealisierungsgrundsätze gelten83; – Steuerbefreiungen nach § 3 GewStG und sonstige Steuervergünstigungen gesondert für Organträger und Organgesellschaften zu prüfen sind84; – Gewinnabführungen das Ergebnis der Organgesellschaft nicht mindern und korrespondierend beim Organträger zu eliminieren sind;
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Berliner, IStR 2011, 747; Stöber, BB 2011, 1943; Tetzlaff/Pockelwald, StuB 2011, 414; Glahe, IStR 2012, 128. BMF BStBl. I 2012, 119. Vgl. H 2.3 GewStR m.w.N. Vgl. dazu BFH BStBl. II 1990, 918; 1997, 181. Dazu auch Montag in Herzig, Organschaft, 291 (295). Vgl. dazu auch Glanegger/Güroff9, § 2 GewStG Rz. 518. Vgl. dazu die st. Rspr. des BFH, BFH BStBl. II 1972, 582; 1986, 73; 1992, 630; 1994, 768; 1995, 794; 1997, 181; 2001, 114. Dazu auch Montag in Herzig, Organschaft, 296. Niehaves/Thiemer, DStR 2002, 1703; Montag in Herzig, Organschaft, 296. Dazu Montag in Herzig, Organschaft, 296. Vgl. Glanegger/Güroff9, § 2 GewStG Rz. 523 ff. Vgl. BFH BStBl. II 2004, 244; 2011, 181.
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§ 14 Rz. 27
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
Im zweiten Schritt sind die organschaftsbedingten Korrekturen nach § 2 II 2 GewStG durchzuführen. Daraus folgt insb.: – Hinzurechnungen nach § 8 GewStG entfallen, soweit die entsprechenden Beträge bereits im Gewerbeertrag berücksichtigt werden85. – Gewinne aus der Veräußerung der Organbeteiligung bleiben beim Organträger insoweit außer Ansatz, als während der Dauer des Organschaftsverhältnisses bei der Organgesellschaft Gewinnrücklagen gebildet wurden. – Gewinnminderungen des Organträgers, insb. Veräußerungsverluste oder Teilwertabschreibungen, sind nicht zu berücksichtigen, soweit sie auf Gewinnminderungen der Organgesellschaft beruhen oder auf Gewinnausschüttungen oder Gewinnabführungen der Organgesellschaft zurückzuführen sind (§ 8 Nr. 10 GewStG)86. – Die erweiterte Kürzung für Grundstücksunternehmen (§ 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG) wird versagt, wenn eine Organgesellschaft ihre Grundstücke an eine andere Gesellschaft im Organkreis vermietet87. Im dritten Schritt sind schließlich die Folgewirkungen des § 15 Satz 1 Nr. 2 u. 3 KStG zu berücksichtigen, die sich aus der Anwendung der Bruttomethode ergeben88. Soweit im Gewinn einer Organgesellschaft 1. Gewinne aus Anteilen i.S.d. § 9 Nr. 2a, 7 oder GewStG oder 2. Aufwendungen enthalten sind, die im unmittelbaren Zusammenhang mit Gewinnen nach Nr. 1 stehen, werden § 15 Satz 1 Nr. 2 bis 4 KStG und § 8 Nr. 1, 5 sowie 9 Nr. 2a, 7 und 8 GewStG gem. § 7a II 2 GewStG entsprechend angewandt, allerdings systemfremd nicht beim Organträger, sondern bei der Organgesellschaft89. Sanierungserträge werden gem. § 7b III GewStG demgegenüber wiederum beim Organträger berücksichtigt, was die gesetzgeberische Konsistenz bei § 7a GewStG zusätzlich in Frage stellt. 3.3 Verfahrensrechtliche Folgen 27 Aufgrund der Betriebsstättenfiktion des § 2 II 2 GewStG ist die Organgesellschaft für die Dauer der
Organschaft kein Steuersubjekt, ihre persönliche Steuerpflicht wird dem Organträger zugerechnet90, dessen Finanzamt im Gewerbesteuermessbescheid über die Voraussetzungen der gewerbesteuerlichen Organschaft entscheidet. Eine einheitliche und gesonderte Feststellung der Besteuerungsgrundlagen
85 Vgl. auch R 7.1 V 3, 4 GewStR. 86 Vgl. R 7.1 V, H 7.1 V GewStR; entsprechend BFH BStBl. II 1994, 768; 2004, 751. Werden vororganschaftliche Gewinne ausgeschüttet, können Teilwertabschreibungen jedoch berücksichtigt werden, dazu BFH BStBl. II 2003, 354. Dazu auch Kohlruss, GmbHR 2004, 781. 87 Vgl. BFH BStBl. II 2011, 887; dazu auch Duttiné, DStR 2011, 2033; Huland/Dickhöfer, BB 2013, 2583. 88 Vgl. dazu Rz. 13. Probleme können sich gewerbesteuerlich insoweit insb. auch bei der Zinsschranke im Zusammenhang mit §§ 8 Nr. 1, 9 Nr. 1 GewStG ergeben. Dazu i.E. Klass/Strecker, Ubg 2012, 535; zum Schachtelprivileg Hageböke, Der Konzern 2014, 313. 89 Die Neuregelung ist auf Gewinne anzuwenden, die nach dem 31.12.2016 zufließen (§ 36 IIb GewStG), und die gesetzgeberische Reaktion auf die Entscheidung des BFH v. 17.12.2014 – I R 39/14, BStBl. II 2015, 1052, nach der Schachteldividenden in voller Höhe gewerbesteuerfrei sind. Vgl. dazu auch § 12 Rz. 35; außerdem auch Jochimsen/Zinowsky, DStR 2015, 1999; Kollruss/Weißert/Bauer, Ubg 2015, 137. 90 BFH v. 27.6.1990 – I R 183/85, BStBl. II 1990, 916; BFH v. 28.1.2004 – I R 84/03, BStBl. II 2004, 539; BFH v. 21.10.2009 – I R 29/09, BStBl. II 2010, 644.
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4. Fortentwicklung
Rz. 29 § 14
wie bei der Körperschaftsteuer ist insb. im Hinblick auf die Korrekturvorschrift des § 35b GewStG nicht erforderlich91. 4. Fortentwicklung Obwohl die Organschaft bereits seit langem als wirtschaftliche Einheit rechtlich selbständiger Unter- 28 nehmen anerkannt ist92, liegt nach wie vor kein geschlossenes Besteuerungskonzept vor93. Der Gesetzgeber hat zwar erkannt, dass die Besteuerung verbundener Unternehmen zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes weiterentwickelt werden muss94. Wesentliche Kritikpunkte wie die Notwendigkeit des Gewinnabführungsvertrags95, das „Einfrieren“ vororganschaftlicher Verluste96, die Besteuerung von Zwischengewinnen97 und vor allem die primär auf Inlandsgesellschaften konzentrierte Betrachtung98 wurden jedoch keiner systematischen Lösung zugeführt. Im Gegenteil: Das Organschaftsrecht wurde punktuell massiv verschärft99, ohne dass konzeptionell Fortschritte erkennbar wären. Die Notwendigkeit, dieses Konzeptionsdefizit kurzfristig abzubauen, wurde durch die internationale 29 Entwicklung faktisch dramatisch verstärkt. Die internationalen Verflechtungen der Wirtschaft führen in Verbindung mit dem Wettbewerb der Steuersysteme100 und der Attraktivität ausländischer Konzepte101 wirtschaftlich zu einem Handlungsdruck, dem der deutsche Gesetzgeber sich im Interesse des Standorts eigentlich kurzfristig stellen müsste. Die Hoffnungen, dass dieser Handlungsdruck sich durch die Rspr. des EuGH rechtlich noch zusätzlich verstärken würden, haben sich indessen nicht erfüllt. Der EuGH hat in der Rs. Marks & Spencer entschieden, dass die Begrenzung der Verlustverrechnung innerhalb einer Gruppe auf die im Inland ansässigen Gesellschaften grds. zulässig ist. Auslandsverluste müssen als ultima ratio nur dann innerhalb der Gruppe im Inland berücksichtigt werden, wenn aktuell alle Möglichkeiten der Verlustverrechnung im Ausland ausgeschöpft sind, auch zukünftig keine Verrechnungsmöglichkeit besteht und die Verluste außerdem auch im
91 Vgl. i.E. Benecke/Schnitger, IStR 2013, 143 (157); Dötsch/Pung, DB 2013, 305 (314); Drüen, Der Konzern 2013, 433 (438); Teiche, DStR 2013, 2197 (2201). 92 Vgl. RFH RStBl. 1930, 148. 93 Vgl. insb. Herzig/Wagner, DB 2005, 1; zu den ökonomischen Anforderungen Schreiber/Stiller, StuB 2014, 216. 94 Vgl. Bericht der Bundesregierung zur Fortentwicklung des Unternehmenssteuerrechts, FR 2001, Beil. zu Heft 11, 2. 95 Vgl. Bericht der Bundesregierung zur Fortentwicklung des Unternehmenssteuerrechts, FR 2002, Beil. zu Heft 11, 16; dazu auch Herzig/Wagner, DB 2005, 1 (5); Wagner, StuW 2007, 308 ff. 96 Vgl. Bericht der Bundesregierung zur Fortentwicklung des Unternehmenssteuerrechts, FR 2002, Beil. zu Heft 11, 17. 97 Vgl. dazu insb. Krebühl in Herzig, Organschaft, 595; vgl. außerdem auch die kontroverse Diskussion zu BFH BStBl. II 2012, 106 (Rz. 21 Fn. 6); außerdem auch Witt, Ubg 2010, 737; Kahle/Vogel/Schulz, Ubg 2011, 761; Kosalla, Ubg 2011, 737. 98 Vgl. insb. Schaumburg in Herzig, Organschaft. 99 Z. B. Gewinnabführungsvertrag auch Organschaftsvoraussetzung für Gewerbesteuer, Einschränkungen für Personengesellschaft als Organträger, Ausschluss vorvertraglicher Verluste bei der Gewerbesteuer, Abschaffung Mehrmütterorganschaft. Vgl. auch Krebühl, DStR 2002, 1241; Krebühl in Herzig, Organschaft, 595; Dötsch, Der Konzern 2003, 21; Stollenwerk, GmbHR 2003, 199. 100 Grds. dazu auch ifst, Internationaler Steuerwettbewerb, Vorteile und Gefahren, Bd. 422, 2004. 101 Zum Reformdruck auf Grund des Europäischen Steuerwettbewerbs grundl. Hey, StuW 2004, 206; Birk, FR 2005, 121. Vgl. zum österr. Ansatz, ein attraktives Besteuerungskonzept zu entwickeln, insb. Finenzeller/Hirschler, RIW 2004, 561; Waldens/Foddanu, Praxis Internationale Steuerberatung 2004, 194; Gableitner/Furherr, Der Konzern 2005, 129. Darüber hinaus zur Bedeutung und Ausgestaltung einzelner Besteuerungskonzepte insb. Endres, Intertax 2003, 349; Endres, WPg. 2003, Sonderheft Holding und Organschaft, 35; Günkel, WPg. 2003, Sonderheft Holding und Organschaft, 40; Endres in Herzig, Organschaft, 461; Lüdicke/Rödel, IStR 2004, 549; Nagler/Kleinert, DB 2005, 855; Herzig/Englisch/Wagner, Der Konzern 2005, 298.
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§ 14 Rz. 30
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
Inlandsfall verrechenbar wären102. Der deutsche Gesetzgeber hat bislang noch keine systematisch schlüssigen Konsequenzen aus der Entwicklung gezogen, die von der Entscheidung Marks & Spencer ausgeht103. Klar ist aber, dass der Versuch, die Verrechnung von Auslandsverlusten im Inland entscheidend an die Erfordernis des wirksamen Gewinnabführungsvertrages zu knüpfen, europarechtlich bedenklich104 und daher auf Dauer nicht haltbar ist. Der Gesetzgeber muss insoweit seine bisherige Zurückhaltung105 im Interesse des Standortes und der europarechtlichen Anforderungen schnellstens aufgeben und ein Konzept verwirklichen, das rechtsform- und grenzüberschreitend der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verbundener Unternehmen Rechnung trägt. Eine „echte“ europaweite Konzernbesteuerung würde zwar die Vereinheitlichung der Gewinnermittlung voraussetzen106. Ob und ggf. wann es tatsächlich dazu kommt, ist jedoch nicht abzusehen107. 30
Das Ziel, das derzeitige Organschaftsrecht durch eine moderne Gruppenbesteuerung zu ersetzen108, war insoweit bis zu einer harmonisierten europäischen Lösung ein Schritt in die richtige Richtung109. 102 Dazu i.E. insb. Englisch, IStR 2006, 22; Herzig/Wagner, Der Konzern 2006, 176; Herzig/Wagner, DStR 2006, 1; Maiterth, DStR 2006, 915; Hey, GmbHR 2006, 115; Scheunemann, RIW 2006, 80; Wernsmann/ Nippert, FR 2006, 153. Zur neueren Entwicklung der EuGH-Rspr. Schlussanträge v. 23.10.2014 – C-172/13, IStR 2014, 855; dazu Benecke/Staats, IStR 2014, 862; vgl. außerdem insb. auch Schnitger, IStR 2014, 587; Herbort, IStR 2015, 15. 103 Vgl. EuGH-Urt. v. 13.12.2005 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837; vgl. auch Hey, GmbHR 2006, 119; Schönfeld, IStR 2012, 368; Lüdicke/Lange-Hückstädt, IStR 2013, 611; Mitschke, IStR 2013, 209; Becker/Loose, Ubg 2014, 141. 104 Vgl. i.E. insb. Wiss. Beirat Ernst & Young, BB 2005, 754 (755); Herzig/Wagner, DB 2005, 1 (7); Raupach/Pall, NZG 2005, 489 (492); Scheunemann, Grenzüberschreitende konsolidierte Konzernbesteuerung 2005, 268; Bergemann/Schönherr/Stäblein, BB 2005, 1706 (1715); Hey, GmbHR 2006, 113; Hofer, Grenzüberschreitende Verlustverrechnung bei Organschaft, 2007; Esser, Grenzüberschreitende Gruppenbesteuerung im Konzern, ifst-Schrift Nr. 450, 2008; Trieglaff, StuB 2008, 519; Dörfler/Ribbrock, BB 2008, 304; G. Mayr, BB 2008, 1312; Watrin/Ullmann/Wittkowski, Ubg 2008, 557; Kessler/Arnold, IStR 2016, 226. Zu den möglichen gesellschaftsrechtlichen Auswirkungen eines Verzichts auf den Gewinnabführungsvertrag Schöne/Heurung/Petersen, DStR 2012, 1680. Zur Möglichkeit eines grenzüberschreitenden Gewinnabführungsvertrags Hoene, IStR 2012, 462. 105 Vgl. bereits Hey, GmbHR 2006, 119. 106 Vgl. dazu auch Schaumburg in Herzig, Organschaft, 419 (435); Herzig/Wagner, DB 2005, 1 (9); Hey, GmbHR 2006, 113 (122). Vgl. dazu auch das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats „Einheitliche Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer in der Europäischen Union“ v. März 2007, www. bundesfinanzministerium.de; Herzig, FR 2009, 1037. Vgl. auch den RLEntw. über die Gemeinsame Konsolidierte Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage (GKKB oder nach der englischen Abkürzung CCCTB) v. 16.3.2011, KOM(2011) 121 endg., Beschluss des Bundesrates BR-Drucks. 155/11; Richtlinienentwürfe der Europäischen Kommission v. 25.10.2016, COM (2016) 685 final; COM (2016) 683 final; dazu Krauß, IStR 2017, 479. 107 Vgl. dazu insb. auch Anzinger, StuW 2002, 261 (263); Laule, IStR 2001, 297 (306); Schön, Zur Zukunft der Organschaft in der Europäischen Union, in Herzig, Organschaft, 612; Hey, GmbHR 2006, 113 (123); Rautenstrauch, FR 2009, 114; Kahle/Dahlke/Schulz, Ubg 2011, 491; Prinz, StuB 2011, 462; Rödder, Ubg 2011, 473 (490). 108 Vgl. zum Zwölfpunkteprogramm zur Modernisierung und Vereinfachung des Unternehmensteuerrechts auch Diller/Kittl, StuB 2012, 270. 109 Zur Diskussion insb. auch Schön, ZHR 2007, 409; Krebühl, FR 2009, 1042; Lüdicke, FR 2009, 1025; Richter/Welling, FR 2009, 1049; Witt, FR 2009, 1045; Günkel/Wagner, Ubg 2010, 603; Kessler/Philipp, Ubg 2010, 867; Rödder, Ubg 2011, 473; Frey/Sälzer, BB 2012, 294; Gerlach, FR 2012, 45; Ismer, DStR 2012, 821; zu den Konzepten im Ausland vgl. für Osterreich: Kessler/Jepp, DB 2009, 2737; Leitner/Stetsko, Ubg 2010, 746; Mayr, IStR 2010, 633; Buse, Die österreichische Gruppenbesteuerung und ihre ertragsteuerlichen Rückwirkungen auf in Deutschland ansässige Kapitalgesellschaften, 2011; für Frankreich: Lenz/Seroin/Handwerker, DB 2012, 365; Schultze, IStR 2015, 546; für die Niederlande: Jungnitz, IStR 2006, 266; Boer, IStR 2011, 61; im Überblick Sureth/Mehrmann/Dalke, StuW 2010, 160; Ismer, DStR 2011, 821; ifst-Arbeitsgruppe, Einführung einer modernen Gruppenbesteuerung, ifst-Schrift Nr. 471, 2011, 106 ff.
876
Montag
4. Fortentwicklung
Rz. 32 § 14
Die Ergebnisse der zur Erarbeitung von Lösungsalternativen eingesetzten Facharbeitsgruppe110 waren allerdings ernüchternd: Da die Ersatzmodelle, insb. das sog. ifst-Modell111, mit nicht tragbaren Steuermindereinnahmen verbunden sein sollen, wird primär die Beibehaltung der bestehenden Organschaftsregelungen und des Gewinnabführungsvertrags befürwortet und allenfalls eine Rückführung der Formalien des Gewinnabführungsvertrags sowie der Ersatz der Ausgleichsposten durch eine sog. „Einlagelösung“ in Betracht gezogen. Sollte die Aufkommensneutralität im Rahmen einer Gesamtabwägung in den Hintergrund treten, wird das sog. Gruppenbeitragsmodell empfohlen. Letztlich werden diese Ergebnisse den Anforderungen an ein konsistentes Gesamtkonzept indessen nicht gerecht: Das Gruppenbeitragsmodell ist abzulehnen:
31
– Es sieht die Abschaffung des Gewinnabführungsvertrags vor, Gruppenträger und Gruppengesellschaften schließen stattdessen einen sog. Gruppenvertrag ab, der beim Beitragsleistenden bis zur Höhe des zu versteuernden Einkommens abzugsfähige Beitragsleistungen zulässt, die korrespondierend beim Empfänger steuerpflichtigen Ertrag darstellen112. Es gibt damit die Technik der steuerlichen Ergebniszurechnung zugunsten von Gruppenbeiträgen auf, die zu Vermögensverschiebungen in der Gruppe, zu Gläubigerbenachteiligungen und betriebswirtschaftlichen Fehlanreizen führen können und gesellschafts-, insolvenz- und ggf. auch strafrechtlich neue grundl. Rechtsfragen und Inkonsistenzen aufwerfen, die zurzeit noch völlig ungeklärt sind113. – Soweit offene Rechtsfragen im Hinblick auf die Einlagenrückgewähr, gesellschaftsrechtliche Treuepflichten, Organhaftung, Anfechtungsvorschriften der Insolvenzordnung und strafrechtliche Untreuevorwürfe bestehen, entsteht eine Komplexität, die keinerlei Vorteile mehr gegenüber einem Gewinnabführungsvertrag haben dürfte. – Das Gruppenbeitragsmodell steht auch im Widerspruch zur deutsch-französischen Körperschaftsteuerinitiative114. – Schließlich wirft es gewerbesteuerlich so viele Fragen auf, dass letztlich insoweit nur die Möglichkeit verbleibt, das Gruppenbeitragsmodell gewerbesteuerlich im Ergebnis wieder aufzugeben und die zusammengerechneten gewerbesteuerlichen Ergebnisse der Gruppengesellschaft auf die Kommunen zu zerlegen115. Systematisch ist auch die Beibehaltung der bestehenden Organschaftsregelungen mit „kleineren Mo- 32 difikationen“ abzulehnen, die ausschließlich aus Haushaltsgründen die ursprüngliche Vision einer umfassenden Reform aufgibt, nur noch pragmatische Erleichterungen anstrebt und dadurch ausschließlich die Symptome kuriert und erneut jede grundlegende Neuorientierung vermissen lässt116.
110 Vgl. dazu i.E. Bericht der Facharbeitsgruppe „Verlustverrechnung und Gruppenbesteuerung“ vom 15.9.2011, im Internet abrufbar unter http://www.bundesfinanzministerium.de/nn–306/DE/Wirtschaf t–und–Verwaltung/Steuern/Veroeffentlichungen–zu–Steuerarten/Koerperschaftssteuer–Umwandlungss teuerrecht/001.html. 111 Vgl. ifst, Einführung einer modernen Gruppenbesteuerung, Ein Reformvorschlag, ifst-Schrift Nr. 471, 2011; dazu vertiefend auch Rödder, Ubg 2011, 473. 112 Vgl. dazu i.E. Brusch, DB 2011, Standpunkte, S. 45; Anh. 7 zum Prüfbericht der Facharbeitsgruppe „Verlustverrechnung und Gruppenbesteuerung“ (Rz. 30 Fn. 10); Frey/Sälzer, BB 2012, 294; Lampert/ Grave, DStZ 2012, 463 (499); Schreiber/Stiller, StuW 2014, 216. 113 Vgl. Rödder, Ubg 2011, 473 (481). 114 Vgl. Lenz/Serain/Handwerker, DB 2012, 365 (369). 115 Rödder, Ubg 2011, 473 (482). 116 Zu den Details der „kleinen“ Organschaftsreform im Rahmen des Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts (BGBl. I 2013, 285) v. Wolfersdorff, Rödder u.a., DB 2012, 2241, sowie Rz. 8 Fn. 38.
Montag 877
§ 14 Rz. 33
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
– Der gravierende Nachteil der Verknüpfung der Einkommenszurechnung mit unerwünschten gesellschaftsrechtlichen Folgen wird beim Festhalten am Gewinnabführungsvertrag nicht beseitigt. Das Festhalten am Gewinnabführungsvertrag beruht auf dem Subjektsteuerprinzip, wonach eine steuerliche Verlustzurechnung zum Gruppenträger erfordert, dass der Gruppenträger die Verluste auch trägt. Dieser Gedanke ist jedoch steuersystematisch dann nicht mehr überzeugend, wenn die wirtschaftliche Einheit der Gruppengesellschaften als Basis für die Verlustzurechnung ausreicht, weil der Gruppenträger eine mit Verlusten verbundene wirtschaftliche Belastung trägt. Dies entspricht auch internationaler Sichtweise. – Gegen die Beibehaltung des Gewinnabführungsvertrags spricht auch, dass die handelsrechtliche Verlustübernahme aufgrund der zunehmenden Abweichung zwischen den handels- und steuerrechtlichen Ergebnissen, insb. auch nach BilMoG, nicht mit der steuerlichen Ergebniszurechnung korrespondiert, so dass das Erfordernis der handelsrechtlichen Verlustübernahme noch stärker in Frage gestellt wird. – Schließlich steht die Beibehaltung des Gewinnabführungsvertrags auch im Widerspruch zum EURichtlinienvorschlag zur CCCTB117 sowie der deutsch-französischen Körperschaftsteuer-Initiative v. 16.8.2011118, die einen Gewinnabführungsvertrag selbstverständlich nicht voraussetzen119. 33
Zielführend und vorrangig120 ist nach wie vor vielmehr die Orientierung am ifst-Modell, das an der steuerlichen Ergebniszurechnung zum Gruppenträger festhält und konsistent weiterzuentwickeln ist121. – Das Modell setzt für eine Gruppenbesteuerung eine Mindestbeteiligung von 75 % und einen gemeinsamen Antrag von Gruppenträger und Gruppengesellschaft mit grds. fünfjähriger Bindung voraus. Es ist insoweit gegenüber dem Gruppenbeitragsmodell gesellschaftsrechtlich deutlich unproblematischer. Der Antrag sollte als Geschäftsführungsmaßnahme zu qualifizieren sein, die keine Zustimmung der Gesellschafterversammlungen erfordert, und hinsichtlich Gläubigerschutz, Kapitalschutz, Organhaftung usw. nur die Frage nach Steuerumlagen als Ausgleich des Steuereffektes aufwirft. – Dem steuerlichen Gedanken der Verlustübertragung könnte dadurch Rechnung getragen werden, dass die Verlustzurechnung betragsmäßig durch den fortgeschriebenen Beteiligungsansatz der Organgesellschaft unter Berücksichtigung „nachlaufender Einlagen“ begrenzt wird. Ergänzend könnte als Voraussetzung für die Verrechnung von Verlusten grundsätzlich auch eine weitergehende Haftung des Gruppenträgers für Verluste und Verbindlichkeiten des Gruppenmitglieds in Erwägung gezogen werden. Die Beschränkung von Verlustverrechnungen würde jedoch einerseits eine Verrechenbarkeit der als Gruppengesellschaft entstehenden Verlustvorträge voraussetzen. Andererseits würde jede Begrenzung der Verlustverrechnung die Gruppenbesteuerung verkomplizieren und die angestrebte Entkopplung vom Gesellschaftsrecht konterkarieren.
117 118 119 120
Dazu Rz. 28 Fn. 95. Vgl. BT-Drucks. 17/158, 1. Dazu insb. auch Lenz/Serain/Handwerker, DB 2012, 365. Vgl. dazu insb. Lenz/Serain/Handwerker, DB 2012, 365 (367). Vgl. dazu insb. Hey, FR 2012, 994 (997); außerdem Oesterwinter, DStZ 2012, 867; zum niederländischen Konzept Elsweier/Grave, IStR 2013, 91. 121 Vgl. grundl. dazu Rödder, Ubg 2011, 473 ff.; außerdem insb. auch Lenz/Serain/Handwerker, DB 2012, 365 (369).
878
Montag
B. Umwandlung von Unternehmen
Rz. 33 § 14
– Die besonderen Regelungen für Mehr- und Minderabführungen werden entsprechend der französischen Regelung dann obsolet, wenn Personenunternehmen nur nach Option für die Körperschaftsteuerpflicht Gruppenträger werden könnten und eine Dividendenfreistellung dauerhaft gewährleistet wäre. Werden Personenunternehmen ohne Körperschaftsteueroption als Gruppenträger akzeptiert, gewährleistet das Konzept des Gruppengesellschafts- und Gruppenträgerkontos eine einfache Technik, durch die der Transfer von Vorgruppengewinn zum steuerneutralen Ergebnistransfer bei Gruppengewinn abgegrenzt wird. – Grenzüberschreitend könnte als Schutz gegen eine steuerliche Ergebniszurechnung zu einem nicht in Deutschland steuerpflichtigen Gruppenträger ein Treaty Override eingeführt werden. Auslandsverluste wären zumindest insofern im Inland zu berücksichtigen, als sie im Falle einer echten wirtschaftlichen Liquidation des Investments in der ausländischen Tochterkapitalgesellschaft nicht genutzt werden könnten. Einstweilen frei.
34–39
B. Umwandlung von Unternehmen Rechtsgrundlagen: Umwandlungssteuergesetz i.d.F. des Art. 6 des Gesetzes über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften (SEStEG) v. 7.12.2006, BGBl. I 2006, 2782 (2791)122, zuletzt geändert durch Steueränderungsgesetz 2015 v. 2.11.2015, BGBl. I 2015, 1834. Verwaltungsanweisungen: Anwendung des Umwandlungssteuergesetzes i.d.F. des Gesetzes über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften (SEStEG), BMF-Schreiben v. 11.11.2011, BStBl. I 2011, 1314 (im Folgenden: UmwSt-Erlass). Literatur: Grundlagen/Kommentare: Thiel, Das Umwandlungssteuerrecht im Wandel der Zeiten, in FS Flume II, 1978, 281; Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, Loseblatt; Lutter (Hrsg.), Spaltung, Formwechsel nach neuem Umwandlungsrecht und Umwandlungssteuerrecht, 1995; Herzig (Hrsg.), Steuerorientierte Umstrukturierung von Unternehmen, 1997; Schaumburg/Piltz (Hrsg.), Internationales Umwandlungssteuerrecht, 1997; Zöllner, Grundsatzüberlegungen zur umfassenden Umstrukturierbarkeit der Gesellschaftsformen nach dem Umwandlungsgesetz, in FS Claussen, 1997, 423; Wassermeyer/Mayer/Rieger (Hrsg.), Umwandlungen im Zivil- und Steuerrecht, in FS Widmann, 2000; Schwedhelm, Die Unternehmensumwandlung7, 2012; Brodersen/Euchner u.a., Beck’sches Handbuch Umwandlungen international, 2013; Engl, Formularbuch Umwandlungen3, 2013; Kallmeyer, Umwandlungsgesetz5, 2013; Lutter, UmwG5, 2013; Kraft/Edelmann/Bron, Umwandlungssteuergesetz, 2014; Philipp, Verschmelzung inländischer Kapitalgesellschaften im Umwandlungssteuerrecht, 2014; Eisgruber, Umwandlungssteuergesetz, Kommentar, 2015; Haritz/Menner, Umwandlungssteuergesetz4, 2014; Kallmeyer, Umwandlungsgesetz3, 2016; Klingebiel/Patt/Rasche, Umwandlungssteuerrecht4, 2016; Lademann, Umwandlungssteuergesetz, Kommentar2, 2016; Schmitt/ Hörtnagl/Stratz, Umwandlungsgesetz/Umwandlungssteuergesetz7, 2016; Haase/Hruschka, UmwStG2, 2018; Rödder/Herlinghaus/van Lishaut, UmwStG3, 2017; Sagasser/Bula/Brünger, Umwandlungen5, 2017; Semler/ Stengel, Umwandlungsgesetz4, 2017; Weber/Ott, Fallsammlung Umwandlungssteuerrecht6, 2017. Vgl. zu Dissertationen vor 2003 und zur Literatur vor SEStEG den Überblick in der 20. Aufl., § 18 vor Rz. 450.
122 Das Gesetz gilt für nach dem 12.12.2006 erfolgte Umwandlungen (§ 27 I UmwStG). Für vom 1.1.1995 bis 12.12.2006 erfolgte Umwandlungen gilt das UmwStG i.d.F. der Bekanntmachung v. 15.10.2002, BGBl. I 2002, 4133, ber. BGBl. I 2003, 738, dazu 18. Aufl., § 18 Rz. 450 ff.
Montag 879
§ 14 Rz. 40
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
Überblick Literatur zum UmwSt-Erlass 2011: Benz/Bindl u.a., Der Umwandlungssteuererlass 2011, DB 2012, Beil. Nr. 1; Carlé/Korn/Stahl/Strahl, Umwandlungen – Der neue Umwandlungssteuer-Erlass2, 2012; Drüen/Hruschka/Kaeser/Sistermann, DStR 2012, Beihefter zu Heft 2; Flick Gocke Schaumburg/Bundesverband der Deutschen Industrie e.V., Der Umwandlungssteuer-Erlass 2011, 2012 (zit. FGS/BDI); Ott, Der neue Umwandlungssteuer-Erlass, StuB 2012, 131; Schell/Krohn, DB 2012, 1057, 1119; Schneider/Ruroff/Sistermann, Umwandlungssteuer-Erlass 2011, 2012; Kotyrba/Scheunemann, BB 2012, 224; Kröner/Momen, DB 2012, 71.
I. Gesellschaftsrechtliche Grundlagen 1. Umwandlungsgesetz 40 Von der Auflösung eines Unternehmens und der anschließenden Übertragung seiner einzelnen Ver-
mögensgegenstände ist die Umwandlung zu unterscheiden, die das Unternehmensvermögen insgesamt betrifft. Das Umwandlungsgesetz führt wesentliche gesellschaftsrechtliche Umwandlungsmöglichkeiten in einem Gesetz zusammen123. Die zivilrechtliche Unterscheidung zwischen juristischen Personen, Personengesellschaften und natürlichen Personen ist insoweit teilweise aufgegeben. Sie sind sämtlich Rechtsträger i.S.d. Umwandlungsgesetzes. Das Gesetz unterscheidet vier Arten der Umwandlung (§ 1 UmwG): Verschmelzung, Spaltung, Vermögensübertragung und Formwechsel. Verschmelzung ist die Übertragung des gesamten Vermögens eines oder mehrerer Rechtsträger auf einen anderen bereits bestehenden Rechtsträger (sog. Verschmelzung durch Aufnahme) oder auf einen mit dem Übertragungsakt neu geschaffenen Rechtsträger (sog. Verschmelzung durch Neugründung) gegen Gewährung von Anteilen an dem übernehmenden oder neu gegründeten Rechtsträger. Die Spaltung (Aufspaltung, Abspaltung, Ausgliederung) unterscheidet sich von der Verschmelzung dadurch, dass nicht das Vermögen als Ganzes, sondern nur Vermögensteile (diese jeweils als Gesamtheit) übertragen werden. Machen die auf andere Rechtsträger übertragenen Vermögensteile das gesamte Vermögen des übertragenden Rechtsträgers aus, so dass dieser aufgelöst wird, handelt es sich um eine Aufspaltung. Bleibt der übertragende Rechtsträger mit einem Teil seines Vermögens bestehen, spricht man von Abspaltung oder Ausgliederung. Bei der Abspaltung gehen die Anteile an dem übernehmenden oder neu gegründeten Rechtsträger auf die Anteilsinhaber des übertragenden Rechtsträgers über; bei der Ausgliederung erhält dieser Rechtsträger selbst die Anteile. Die Vermögensübertragung i.S.d. § 174 UmwG ist mit der Verschmelzung und Spaltung vergleichbar; jedoch besteht die Gegenleistung für das übertragene Vermögen nicht in Anteilen an dem übernehmenden Rechtsträger. Beim Formwechsel bleibt die rechtliche und wirtschaftliche Identität des einzigen an diesem Vorgang beteiligten Rechtsträgers unverändert. Dieser ändert lediglich seine Rechtsform.
123 Zu den zulässigen Umwandlungsarten s. Widmann/Mayer, Einf. UmwG Rz. 12.
880
Montag
Rz. 41 § 14
B. Umwandlung von Unternehmen
In der folgenden Übersicht sind die verschiedenen Arten der Umwandlung nach dem UmwG syste- 41 matisch zusammengestellt: Umwandlung (§ 1 UmwG)
mit Vermögensübergang
ohne Vermögensübergang
gegen Gewährung von Anteilen/Mitgliedschaften
gegen Gewährung einer anderen Gegenleistung
Übertragung des Vermögens im Ganzen
Übertragung von Vermögensteilen
Verschmelzung (§§ 2 ff. UmwG)
Spaltung (§§ 123 ff. UmwG)
Auflösung des übertragenden Rechtsträgers
Fortbestand des übertragenden Rechtsträgers
Vermögensübertragung (§§ 174 ff. UmwG)
Vollübertragung
Formwechsel (§§ 190 ff. UmwG)
Teilübertragung
Gewährung von Anteilen/Mitgliedschaften
an die Anteilsinhaber des übertragenden Rechtsträgers
Aufspaltung Abspaltung (§ 123 I UmwG) (§ 123 II UmwG)
an den übertragenden Rechtsträger
Ausgliederung (§ 123 III UmwG)
Montag 881
§ 14 Rz. 42
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
2. Sonstige Umwandlungsmöglichkeiten 42
Das UmwG regelt die bestehenden Umwandlungsmöglichkeiten nicht abschließend. Es erfasst einerseits nicht die Möglichkeiten, die das allgemeine Zivil- und Handelsrecht, z.B. für den Formwechsel durch eine Änderung der Betätigung bzw. der Haftung oder die Anwachsung (§ 738 I BGB), bietet124. Die Anwendbarkeit des UmwG ist außerdem auch grds. auf Rechtsträger mit Sitz im Inland begrenzt (§ 1 I UmwG). Mit Ausnahme der Verschmelzung von Kapitalgesellschaften (§§ 122a ff. UmwG) und der Umwandlung einer Europäischen Aktiengesellschaft, SE, sind grenzüberschreitende Umwandlungen daher nicht möglich125.
II. Steuerrechtliche Folgen 1. Einführung 43
Soweit bei einer Umwandlung Vermögen auf einen anderen Rechtsträger übergeht, können sich daraus sowohl ertragsteuerliche als auch umsatz- und grunderwerbsteuerliche Folgen ergeben. Das Umwandlungssteuergesetz regelt ausschließlich die ertragsteuerliche Behandlung der Umwandlung, während für die Umsatzsteuer und die Grunderwerbsteuer126 grds. die allgemeinen Regeln gelten.
44
Teleologischer Ausgangspunkt des Umwandlungssteuergesetzes ist das prinzipielle Gebot, stille Reserven nach dem Grundprinzip der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit beim Übergang auf andere Rechtssubjekte zu besteuern127. Durch das Markteinkommensprinzip und das Übermaßverbot ist es jedoch gerechtfertigt, das Individualprinzip in Umwandlungsfällen zu durchbrechen, wenn die zukünftige Besteuerung der stillen Reserven gesichert ist128. Das UmwStG knüpft sachlich an die gesellschaftsrechtlichen Strukturen des UmwG an. Die Regelungsbereiche beider Gesetze sind aber nicht deckungsgleich129:
45
Das UmwStG befasst sich nur mit solchen Umwandlungen, die einen Vermögensübergang bewirken, also grds. nicht mit dem Formwechsel; dieser hat keine steuerlichen Folgen, weil der Rechtsträger seine rechtliche und wirtschaftliche Identität behält und lediglich sein Rechtskleid ändert (s. Rz. 40 f.). Den Formwechsel einer Kapitalgesellschaft oder Genossenschaft in eine Personengesellschaft (§ 1 III UmwStG) und den Formwechsel einer Personenhandelsgesellschaft in eine Kapitalgesellschaft (§ 25 UmwStG) behandelt das UmwStG jedoch insoweit abweichend vom UmwG wie einen Fall des Vermögensübergangs. Diese Abweichung ist nach der steuerrechtlichen Systematik erforderlich, weil in diesen Fällen des Formwechsels das Steuersubjekt wechselt (§§ 1 I; 3 I KStG; s. § 11 Rz. 23 ff.). 124 Vgl. dazu insb. Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 24 ff. 125 Vgl. insb. SE-Verordnung, VO (EG) Nr. 2157/2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. EG L 294 v. 20.11.2001; SEEG (Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft v. 22.12.2004, BGBl. I, 3675). Vgl. dazu auch Decher, Der Konzern 2006, 805; Reichert, Der Konzern 2006, 821; Kowalski, DB 2007, 2243. 126 Zur Grunderwerbsteuer als Umstrukturierungshindernis Fuhrmann, KÖSDI 2005, 14591; Neitz/Lange, Ubg 2010, 17; zur Einführung der sog. Konzernklausel nach § 6a GrEStG, die Umstrukturierungen im Konzern erleichtern soll, BMF BStBl. I 2010, 1321; I 2011, 673; dazu insb. auch Stadler/Schaflitzl, DB 2009, 2621; Wischott/Schönweiß, DStR 2009, 2638; Behrens, Ubg 2010, 845; Wälzholz, GmbH-StB 2010, 108; Klass/Möller, BB 2011, 407; Schaflitzl/Götz, DB 2011, 374. 127 Vgl. § 9 Rz. 430 ff. Dazu insb. auch BT-Drucks. 12/6885, 22; Rödder, DStJG 25 (2002), 253; Wassermeyer, BB 1994, 1; Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 1 ff. 128 Vgl. dazu Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 5 ff. Der Gesetzgeber hat darüber hinaus außerdem klargestellt (BT-Drucks. 12/6885, 14), dass das UmwStG dazu dient, betriebswirtschaftlich erwünschte Umstrukturierungen nicht durch steuerrechtliche Folgen zu behindern. Diesem Ziel ist im Rahmen der teleologischen Gesetzesinterpretation (dazu § 5 Rz. 46 ff.) angemessen Rechnung zu tragen. 129 S. Widmann/Mayer, Vor § 1 UmwStG Rz. 2, 16.
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Montag
B. Umwandlung von Unternehmen
Rz. 46 § 14
Andererseits regelt das UmwStG – teilweise über das UmwG hinaus – auch die Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils in eine Kapitalgesellschaft (§§ 20 ff. UmwStG) oder in eine Personengesellschaft (§ 24 UmwStG). Vor seiner Neufassung durch das SEStEG130 erfasste das UmwStG fast ausschließlich inländische Umwandlungsvorgänge131. Es entsprach damit nicht mehr den europäischen Anforderungen, die sich aus geändertem EU-Recht132 und der EuGH-Rspr. ergeben133, und musste daher von seinem Anwendungsbereich her europäisiert werden134. Mit der Neufassung des UmwStG durch das SEStEG trägt der Gesetzgeber der Notwendigkeit zur Europäisierung des Umwandlungssteuerrechts Rechnung135. Nach § 1 I 1 Nr. 1 und 2 UmwStG erstreckt sich das Gesetz grds. auch auf „vergleichbare ausländische Vorgänge“ und erfasst daher nicht nur reine Auslandsumwandlungen, sondern auch grenzüberschreitende Umwandlungen in der EU/EWR136. Eine Globalisierung ist entgegen den ursprünglichen Entwürfen des BMF nicht erfolgt, so dass insoweit erhebliche Lücken bleiben137. Nach § 2 I UmwStG sind Einkommen, Vermögen und die gewerbesteuerliche Bemessungsgrundlage 46 so zu ermitteln, als ob das Vermögen der Körperschaft mit Ablauf des Stichtags der Bilanz, die dem Vermögensübergang zugrunde liegt (steuerlicher Übertragungsstichtag), ganz oder teilweise auf den übernehmenden Rechtsträger übergegangen wäre138. § 2 UmwStG lässt insoweit aus Vereinfachungsgründen die sog. steuerliche Rückwirkung zu und ermöglicht es damit, die steuerlichen Wirkungen der Umwandlung grds. auf einen Zeitpunkt zurückzubeziehen, der bis zu acht Monate vor der Anmeldung zum Handelsregister liegt (§ 17 II 2 UmwG). Durch § 2 IV 3 ff. UmwStG wird die Rückwirkung versagt, um der missliebigen Verrechnung von Verlusten und Zinsvorträgen entgegenzuwirken139. Mit Wirkung ab dem steuerlichen Übertragungsstichtag tritt der übernehmende Rechtsträger grds. in die steuerliche Rechtsstellung der Überträgerin ein (§§ 4 II, 12 III, 15 I, 18 UmwStG). Die Finanzverwaltung schränkt diesen Grundsatz entgegen Wortlaut und Zweck allerdings ein140.
130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140
Vgl. Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 24 ff. Ausnahme: § 23 UmwStG a.F. für bestimmte Einbringungsvorgänge innerhalb der EU. Möglichkeit der grenzüberschreitenden und ertragsteuerlichen Verschmelzung einer SE. Vgl. insb. die Entscheidungen Lasteyrie du Saillant, EuGH v. 11.3.2004 – C-9/02, DStR 2004, 551; N, EuGH v. 7.9.2006 – C-479/04, DStR 2006, 1691; X und Y, EuGH v. 21.11.2002 – C-436/00, DStRE 2003, 400; Sevic Systems, EuGH v. 13.12.2005 – C-411/03, DStR 2006, 49. Vgl. dazu insb. Rödder/Schumacher, DStR 2006, 1525; Rödder/Schumacher, DStR 2007, 369. Vgl. i.E. Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 13; vgl. auch Pietsch, Die Vereinbarkeit umwandlungssteuerrechtlicher Vorschriften mit den Grundfreiheiten der Inländer, 2011. Vgl. auch UmwSt-Erlass, Randnr. 01.20, dazu Hahn, Ubg 2012, 738. Vgl. krit. dazu mit Recht Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 124 ff. Vgl. auch Schnitger/Rometzki, FR 2006, 845; Binnewies, GmbHStB 2007, 117; Schmidtmann, IStR 2007, 229. Vgl. UmwSt-Erlass, Rz. 02.02; dazu insb. Dietrich/Kaeser in FGS/BDI, UmwSt-Erlass 2011, 2012, 83 ff.; Benecke, GmbHR 2012, 113; außerdem grds. auch van Lishaut in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 10 ff., § 2 UmwStG. Dazu Behrendt/Klages, BB 2013, 1815; Viebrock/Loose, DStR 2013, 1364; Melan/Wecke, DB 2014, 1447; Jasper, DStR 2015, 321. Vgl. dazu auch UmwSt-Erlass, Rz. Org 03; van Lishaut in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, § 2 UmwStG Rz. 38 ff.; zur Bedeutung für das gewerbesteuerliche Schachtelprivileg Ernst, Ubg 2012, 678. Nach Auffassung des BFH (Urt. v. 16.4.2014 – I R 44/13, BFH/NV 2014, 1402) kommt eine Besitzzeitanrechnung im Rahmen des § 9 Nr. 2a GewStG insb. auch bei einem qualifizierten Anteilstausch (§ 21 UmwStG) nicht in Betracht. Dazu auch Mattern, DStR 2014, 2376.
Montag 883
§ 14 Rz. 47
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
2. Umwandlungen im Inland 2.1 Vermögensübergang auf eine Personengesellschaft oder eine natürliche Person (§§ 3–10 UmwStG) 2.1.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer 47
Der 2. Teil des Umwandlungssteuergesetzes (§§ 3–10) regelt die ertragsteuerlichen Folgen der Verschmelzung einer Körperschaft auf eine Personenhandelsgesellschaft oder eine natürliche Person (den Alleingesellschafter, s. § 3 I UmwStG; § 3 II Nr. 2 UmwG)141. Diese Vorschriften gelten entsprechend für den Formwechsel einer Kapitalgesellschaft oder Genossenschaft in eine Personengesellschaft (§ 9 UmwStG) und für die Aufspaltung und Abspaltung des Vermögens einer Körperschaft auf eine Personenhandelsgesellschaft (§ 16 UmwStG).
48 Danach hat die übertragende Körperschaft die Wirtschaftsgüter in ihrer Schlussbilanz grds. mit
dem gemeinen Wert anzusetzen (§ 3 I UmwStG)142. Sie kann jedoch unabhängig von der Bewertung in der Handelsbilanz143 einheitlich auf Antrag insb. dann auch die Buchwerte oder Zwischenwerte ansetzen (§ 3 II UmwStG), wenn die übergehenden Wirtschaftsgüter Betriebsvermögen der übernehmenden Personengesellschaft oder natürlichen Person werden, eine Gegenleistung nicht gewährt wird oder nur in Gesellschaftsrechten besteht und die deutsche Besteuerung sichergestellt bleibt. Sie hat also, wenn ihre stillen Reserven nach der Übertragung steuerlich verstrickt bleiben, ein Wahlrecht, ob sie die stillen Reserven ganz oder teilweise aufdecken und einen entsprechenden Übertragungsgewinn realisieren will, der der Körperschaftsteuer unterliegt oder die Buchwerte fortführen will. 49 Der übernehmende Rechtsträger hat die auf ihn übergegangenen Wirtschaftsgüter mit den Schluss-
bilanzwerten zu übernehmen (§ 4 I UmwStG) und tritt außerdem grds. in die Rechtsstellung der übertragenden Körperschaft ein (§ 4 II UmwStG144). Verluste gehen nach § 4 II 2 UmwStG aber nicht über145. Der „Verlust von Verlusten“ kann durch eine Aufstockung der Buchwerte zwar zumindest partiell vermieden werden. Soweit die Mindestbesteuerung greift (§ 10d II EStG), fallen Verluste jedoch endgültig weg, was zu einer Verletzung des Nettoprinzips führt146. 50 Den Gesellschaftern der umgewandelten Kapitalgesellschaft werden nach § 7 UmwStG anteilig
Einkünfte aus Kapitalvermögen in Höhe des ausschüttbaren Gewinns zugerechnet147. Diese Einkünfte unterliegen nach §§ 43 I Nr. 1; 43a I Nr. 1 EStG einer Kapitalertragsteuer i.H.v. 25 %, die mit dem Wirksamwerden der Umwandlung entsteht. Darüber hinaus kann sich beim Gesellschafter ein Über-
141 UmwSt-Erlass, Rz. 03.01; dazu auch Kutt/Carstens in FGS/BDI, 123 ff.; Stimpel, GmbHR 2012, 123; Förster/Felchner, DB 2006, 1072; Klingebiel, Der Konzern 2006, 600; Müller/Maiterth, WPg. 2007, 249; Ott, StuB 2007, 163; Strahl, KÖSDI 2007, 15513; Stimpel, GmbH-StB 2008, 74; Ott, DStZ 2016, 769. 142 Vgl. UmwSt-Erlass, Rz. 03.07; dazu insb. Bogenschütz, Ubg 2011, 393; Drosdzol, DStR 2011, 1258; Kutt/Carstens in FGS/BDI, 133 ff.; Schumacher/Neitz-Hackstein, Ubg 2011, 409. 143 Zur Eigenständigkeit des § 3 I UmwStG als steuerliche Ansatz- und Bewertungsvorschrift vgl. UmwStErlass, Rz. 03.04; dazu auch Kutt/Carstens in FGS/BDI, 128 ff. 144 Dazu i.E. UmwSt-Erlass, Rz. 04.09; vgl. auch Kutt/Carstens in FGS/BDI, 164 ff. 145 Zur Bedeutung für § 8d KStG Scholz/Riedel, DB 2016, 2562; Feldgen, StuB 2017, 51. 146 Vgl. Strahl, KÖSDI 2007, 15513 (15516); Schaflitzl/Widmayer, BB 2006, Special 8 zu Heft 44, 41; grds. dazu auch Hackemack, Der Verlustabzug im Umwandlungssteuerrecht, 2010. 147 Vgl. dazu auch Benecke/Schnitger, Ubg 2011, 1. Zur Frage, ob die Einlagefiktion des § 5 II, III UmwStG auf § 7 UmwStG durchschlägt, enthält auch der UmwSt-Erlass unmittelbar keine Antwort. Vgl. dazu insb. Bogenschütz, Ubg 2011, 393 (406); Ott, StuB 2011, 771 (776); Cordes/Dremel/Carstens in FGS/ BDI, 217; Förster/Felchner, DB 2008, 2445.
884
Montag
2. Umwandlungen im Inland
Rz. 56 § 14
nahmegewinn oder Übernahmeverlust als Differenz zwischen dem Buchwert des Anteils und dem anteiligen Wert des übernommenen Buchwerts ergeben (§ 4 IV UmwStG). – Ein Übernahmegewinn, der sich insb. um einen Sperrbetrag nach § 50c EStG erhöhen und um die nach § 7 UmwStG separat besteuerten Einkünfte vermindern kann (§ 4 V UmwStG), wird bei als Mitunternehmern beteiligten Kapitalgesellschaften nach § 8b KStG, bei natürlichen Personen nach §§ 3 Nr. 40; 3c II EStG besteuert. – Ein Übernahmeverlust bleibt nach § 4 VI UmwStG außer Ansatz, was nach Auffassung des BFH verfassungsgemäß ist148, aber zumindest dann zu einer systematisch problematischen Vernichtung von Anschaffungskosten führt, wenn Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen voll steuerpflichtig sind149. Durch teleologische Reduktion ist sicherzustellen, dass der Übernahmeverlust aus einer späteren Veräußerung des Mitunternehmeranteils berücksichtigt wird150. Haben zwischen umgewandelter Körperschaft und Übernehmerin Rechtsbeziehungen bestanden, so 51 erlöschen bestehende Forderungen und Verbindlichkeiten infolge der durch die Umwandlung eintretenden Vereinigung der Vermögen (Konfusion). Waren die Wertansätze von Forderungen und Verbindlichkeiten unterschiedlich hoch, z.B. infolge einer Wertberichtigung der Forderungen, so kann ein sog. Umwandlungsfolgegewinn entstehen, der gem. § 6 I 1 UmwStG durch eine steuerfreie Rücklage neutralisiert werden kann151. Die Besteuerung wird dadurch allerdings nur in die Zukunft verlagert, weil die Rücklage in den folgenden drei Jahren gewinnerhöhend aufgelöst werden muss (§ 6 I 2 UmwStG). Einstweilen frei.
52–54
2.1.2 Gewerbesteuer Soweit sich bei Umwandlung einer Kapitalgesellschaft in eine Personengesellschaft bei der übertra- 55 genden Kapitalgesellschaft ein Übertragungsgewinn i.S.d. § 3 UmwStG ergibt, ist dieser Übertragungsgewinn entsprechend § 18 I UmwStG gewerbesteuerlich voll zu erfassen. Ein gewerbesteuerlicher Verlustvortrag nach § 10a GewStG geht nicht auf die übernehmende Personengesellschaft über (§ 18 I 2 UmwStG)152. Soweit sich bei der übernehmenden Personengesellschaft ein Übernahmegewinn oder -verlust er- 56 gibt, ist er gem. § 18 II UmwStG nicht zu erfassen153. Erfolgt innerhalb von fünf Jahren eine Veräußerung oder eine Betriebsaufgabe, unterliegt ein Auflösungs- oder Veräußerungsgewinn jedoch gem. § 18 III UmwStG der Gewerbesteuer154, wobei der Freibetrag nach § 16 IV EStG nicht anzuwenden sein
148 BFH v. 24.6.2014 – VIII R 35/10, BFHE 245, 565; v. 5.11.2015 – III R 13/13, BStBl. II 2016, 468; v. 22.10.2015 – IV R 37/13, BStBl. II 2016, 919; dazu Heurung/Kollmann/Schmidt, StuB 2016, 527. 149 Vgl. Hey, GmbHR 2001, 996; Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 58; Strahl, KÖSDI 2007, 15513 (15519) m.w.N.; van Lishaut in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, § 4 UmwStG Rz. 124. 150 Vgl. Strahl, KÖSDI 2007, 15519. Vgl. jedoch BFH v. 12.7.2012 – IV R 29/09, BStBl. II 2012, 728; v. 12.7.2012 – IV R 12/11, BFH/NV 2013, 200. 151 Vgl. auch UmwSt-Erlass, Rz. 06.02 ff. Dazu auch Bron, DStZ 2012, 609. 152 Vgl. UmwSt-Erlass, Rz. 18.01; dazu auch Möllmann/Carstens in FGS/BDI, 299. 153 Vgl. UmwSt-Erlass, Rz. 18.02. Nach BFH v. 5.11.2015 – II R 12/13, BStBl. II 2016, 42 ist die Nichtberücksichtigung eines Übernahmeverlustes verfassungsrechtlich nicht in Frage zu stellen. 154 Die Gewerbesteuer entsteht auch dann im Zeitpunkt der Betriebsveräußerung, wenn der Veräußerungspreis in Form wiederkehrender Bezüge gezahlt wird. Vgl. BFH v. 17.7.2013 – X R 40/10, BStBl. II 2013, 883.
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§ 14 Rz. 58
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
soll155 und systemwidrig auch neu gebildete oder im Betrieb des aufnehmenden Rechtsträgers bereits vorhandene stille Reserven erfasst werden sollen156. 57
Einstweilen frei. 2.1.3 Grunderwerbsteuer
58
Soweit Grundvermögen auf die übernehmende Personengesellschaft übergeht, entsteht gem. § 1 I Nr. 3 GrEStG Grunderwerbsteuer. Soweit die Voraussetzungen des § 6a GrEStG erfüllt sind157, wird die Steuer jedoch nicht erhoben158, was nach Auffassung des BFH im Vorlagebeschluss an den EuGH keine unzulässige Beihilfe darstellt159. Bemessungsgrundlage sind gem. § 8 II GrEStG die Erbschaftsteuerwerte nach §§ 151 I, 157 I BewG; nachdem das BVerfG die sog. Bedarfsbewertung als verfassungswidrig erkannt hat160. Der Steuersatz beträgt gem. § 11 II GrEStG 3,5 %, wobei die Bundesländer mit Ausnahme von Bayern und Sachsen nach Art. 105 IIa GG zwischenzeitlich höhere Steuersätze festgesetzt haben161. Grunderwerbsteuer entsteht darüber hinaus auch dann, wenn die übertragende Körperschaft zu mindestens 95 % an einer Personen- oder Kapitalgesellschaft beteiligt ist, die über Grundvermögen verfügt (§ 1 IIa, III GrEStG)162.
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Einstweilen frei. 2.2 Vermögensübertragung auf eine andere Körperschaft 2.2.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer
60
Im Falle der Vermögensübertragung von einer Körperschaft auf eine andere Körperschaft gelten für die Verschmelzung und die Vermögensübertragung (Vollübertragung) die §§ 11–13 UmwStG163. Für die Auf- und Abspaltung sowie die Teilübertragung gelten die §§ 11–13 UmwStG grds. entsprechend (§ 15 I 1 UmwStG). Ergänzend sind jedoch zusätzliche Voraussetzungen und Restriktionen zu beachten (§ 15 I 2, II, III UmwStG).
155 BFH v. 26.3.2015, BStBl. II 2016, 553; v. 28.5.2015 – IV R 27/12, BStBl. II 2015, 837; dazu auch Hoheisel/Tippelhofer, StuB 2015, 698. 156 Vgl. UmwSt-Erlass, Rz. 18.09; BFH v. 28.2.2013 – IV R 33/09, BFH/NV 2013, 1122; dazu auch Salzmann, DStR 2013, 1327; außerdem auch Trossen in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, § 18 UmwStG Rz. 57; Neu/Hamacher, GmbHR 2012, 280 (283 ff.); Förster, DB 2016, 789; Weiss, DB 2017, 91. 157 Vgl. dazu Gleichlautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder, BStBl. I 2012, 662; dazu insb. auch Behrens, DStR 2012, 2149; Jorde/Trinkaus, Ubg 2012, 649; Lieber/Wagner, DB 2012, 1772; Behrens, DStR 2013, 2726; Stangl/Aichberger, DB 2013, 2762. Zur besonderen Problematik bei Umstrukturierungen im Ausland Pirner/Könemann, IStR 2013, 423; zu grenzüberschreitenden Umstrukturierungen Karla/Figatowski, Ubg 2014, 439; zur Abzugsfähigkeit Gadek/Mörwald, DB 2012, 2010; Schießl, DStR 2015, 1902; Schmudlach, DB 2015, 703. 158 Zu den Anwendungsproblemen insb. Brühl/Mörwald, Der Konzern 2015, 430; Schwedhelm/Zapf, DStR 2016, 1906, 1967. 159 BFH Beschl. v. 30.5.2017 – II R 62/14, BStBl. II 2016, 167; dazu Heine, UVR 2017, 312; Behrens, DStR 2016, 783. 160 Vgl. Beschl. v. 23.6.2015 – 1 BvL 13/11, 14/11, BStBl. II 2015, 871; dazu Fertig, DStR 2015, 2160; Schade/Rapp, DStR 2015, 2166; Lange, WPg 2015, 1091. Zur Neuregelung durch das Steueränderungsgesetz 2015 v. 2.11.2015, BGBl. I 2015, 1834; Loose, DB 2016, 75. 161 Vgl. § 13 Fn. 50. 162 Vgl. i.E. dazu insb. Bock, DStR 2012, 1307; Fumi, DStZ 2015, 432; Rutemöller, DStZ 2015, 192; Joisten, DStZ 2016, 272; Behrens, BB 2017, 1046. 163 Philipp, Verschmelzung inländischer Kapitalgesellschaften im Umwandlungssteuerrecht, 2014.
886
Montag
2. Umwandlungen im Inland
Rz. 62 § 14
2.2.1.1 Grundsätze Die übertragende Körperschaft164, die nach Auffassung der Finanzverwaltung verpflichtet ist, auf den 61 steuerlichen Übertragungsstichtag eine eigenständige steuerliche Schlussbilanz zu erstellen und abzugeben165, hat die übergehenden Wirtschaftsgüter gem. § 11 I UmwStG grds. mit dem gemeinen Wert anzusetzen166. Dadurch tritt regelmäßig eine Gewinnrealisierung ein, die der Körperschaftsteuer unterliegt. Auf Antrag167 können jedoch einheitlich auch die Buchwerte oder Zwischenwerte angesetzt werden, soweit insb. die deutsche Besteuerung sichergestellt bleibt168 und eine Gegenleistung nicht gewährt wird oder in Gesellschaftsrechten besteht (§ 11 II UmwStG). Eine Gewinnrealisierung wird dadurch ganz oder teilweise vermieden. Die übernehmende Kapitalgesellschaft hat die auf sie übergehenden Wirtschaftsgüter grds. mit den 62 Schlussbilanzansätzen der übertragenden Körperschaft zu übernehmen (§ 12 I UmwStG) und tritt insoweit grds. in die Rechtsstellung der übertragenden Körperschaft ein (§ 12 III UmwStG). Eine Maßgeblichkeit der Wertansätze in der Handelsbilanz besteht nicht169. Steuerliche Verlustvorträge, verrechenbare Verluste und nicht ausgeglichene negative Einkünfte gehen gem. § 12 III 2 i.V.m. § 4 II 2 UmwStG allerdings nicht über170. Soweit die Übernehmerin an der übertragenden Gesellschaft beteiligt ist, kann sich gem. § 12 II 1 UmwStG bei einer Verschmelzung auf die Mutter (up-streammerger) ein Übernahmegewinn oder -verlust (Differenz zwischen Buchwert der Anteile an der übertragenden Gesellschaft und dem Wert, mit dem die übergegangenen Wirtschaftsgüter zu übernehmen sind) ergeben. Nach § 12 II 1 UmwStG bleibt ein Übernahmegewinn oder -verlust außer Ansatz, und zwar nach Auffassung der Finanzverwaltung unabhängig davon, ob eine Aufwärts-, Seitwärts- oder Abwärtsverschmelzung erfolgt171. § 12 II 1 UmwStG setzt indessen das Vorhandensein eines Buchwerts für die Beteiligung an der Übertragerin voraus, so dass § 12 II 1 UmwStG insb. im Falle des downstream-mergers nicht anzuwenden ist. Es gelten vielmehr Einlagegrundsätze, so dass insb. die Kosten des Vermögensübergangs abzugsfähig sind172. Soweit steuerwirksame Teilwertabschreibungen durchgeführt oder steuerfreie Rücklagen gebildet wurden, kann sich jedoch eine Steuerbelastung ergeben 164 Zu den besonderen Fragen bei Organschaftsverhältnissen UmwSt-Erlass, Rz. Org 01 ff.; dazu i.E. Rödder/Jonas/Montag in FGS/BDI, 555 ff.; darüber hinaus auch Vogel, Ubg 2010, 618 ff.; Dötsch, Ubg 2011, 20; Gebert, DStR 2011, 102; Heurung/Engel, BB 2011, 151; Heurung/Engel/Thiedemann, Der Konzern 2012, 16; insb. zu Mehrabführungen Heerdt, DStR 2009, 938; Lohmann/Heerdt, Ubg 2011, 91; Olbing, GmbH-Stb 2012, 188; Suchanek/Schaaf/Hannweber, Ubg 2012, 223; Pichler, Die ertragsteuerrechtliche Organschaft im Umwandlungssteuerrecht, 2015; Berner, DStR 2016, 14. 165 Vgl. UmwSt-Erlass, Rz. 11.02; dazu insb. auch Demuth, KÖSDI 2012, 17784; Rödder/Schmidt-Fehrenbacher in FGS/BDI, 228 ff. 166 Zur Behandlung stiller Lasten und Nichtanwendung der §§ 4f, 5 VII EStG Schmitt/Keuthen, DStR 2015, 2521. 167 Dazu i.E. UmwSt-Erlass, Rz. 11.12 i.V.m. Rz. 03.28; vgl. auch Demuth, KÖSDI 2012, 17784 (17787). 168 Zur europarechtlichen Problematik einer fehlenden Stundungsregelung Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, § 11 Rz. 130; außerdem auch unten Rz. 83. 169 Vgl. UmwSt-Erlass Rz. 12.02 i.V.m. 04.04. Dazu auch Demuth, KÖSDI 2012, 17784 (17791). 170 In diesen Fällen ist die Aufdeckung stiller Reserven in Erwägung zu ziehen, wobei allerdings die Mindestbesteuerung nach § 10d II EStG zu beachten ist. Eine alternative Verschmelzung auf die Verlustgesellschaft kann im Hinblick auf § 8c KStG (Gesellschafterwechsel) problematisch sein. Vgl. auch BFH v. 18.12.2013 – I R 25/12, BFH/NV 2014, 904; dazu Ott, StuB 2014, 488. Steuerpolitisch ist die Abschaffung des Übergangs von Verlustvorträgen außerordentlich fragwürdig. Vgl. dazu Maiterth/ Müller, DStR 2006, 1861 ff.; Dörfler/Wittkowski, GmbHR 2007, 352; insb. Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, § 12 UmwStG Rz. 108 ff. m.w.N. Vgl. dazu auch Kessler/Weber/Aberle, Ubg 2008, 209. 171 Vgl. UmwSt-Erlass, Rz. 12.05; entsprechend auch Dötsch in Dötsch/Jost/Pung/Witt, KStG, § 12 UmwStG Rz. 32. 172 Vgl. insb. Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, § 12 UmwStG Rz. 64; Rödder/Schaden, Ubg 2011, 40 (43); Rogall, NZG 2011, 813; Schumacher/Neitz-Hackstein, Ubg 2011, 414; Demuth, KÖSDI 2012, 17784 (17792).
Montag 887
§ 14 Rz. 63
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
(§ 12 II 2 UmwStG). Eine Steuerbelastung kann sich bei einem Übernahmegewinn auch ergeben, soweit § 8b KStG anzuwenden ist (§ 12 II 2 UmwStG)173. 63 Für die Anteile an der übertragenden Gesellschaft, die im Betriebsvermögen liegen oder im Privat-
vermögen gem. § 17 EStG bzw. nach § 21 UmwStG a.F. als einbringungsgeborene Anteile steuerverstrickt sind174, gilt grds. die Fiktion einer Veräußerung und Anschaffung zum gemeinen Wert (§ 13 I UmwStG)175. Auf Antrag können jedoch gem. § 13 II UmwStG auch die Buchwerte oder die Anschaffungskosten angesetzt werden, wenn das deutsche Besteuerungsrecht für Veräußerungsgewinne nicht ausgeschlossen oder beschränkt wird (§ 13 II UmwStG). Für alle übrigen Anteile ist grds. § 20 IVa Satz 1 u. 2 EStG anzuwenden176. 2.2.1.2 Zusätzliche Voraussetzungen und Restriktionen bei Spaltung und Teilübertragung 64 Gegenüber der Verschmelzung ist die Steuerneutralität von Spaltungen und Teilübertragungen an
zusätzliche Voraussetzungen und Restriktionen geknüpft177. a) Teilbetriebserfordernis 65 Die sinngemäße Anwendung der §§ 11 ff. UmwStG setzt nach § 15 I 2 UmwStG voraus, dass ein
Teilbetrieb übertragen wird und im Falle der Abspaltung oder Teilübertragung bei der übertragenden Körperschaft ein Teilbetrieb verbleibt (sog. doppeltes Teilbetriebserfordernis)178. Bislang war nach übereinstimmender Auffassung von Finanzverwaltung und BFH179 wie bei § 16 EStG grds. auch bei der Auslegung des § 15 UmwStG ein Teilbetrieb anzunehmen, wenn ein mit gewisser Selbstständigkeit ausgestatteter, organisatorisch geschlossener Teil eines Gesamtbetriebs vorliegt, der für sich alleine lebensfähig ist. Nach Auffassung der Finanzverwaltung soll nunmehr jedoch der europäische Teilbetriebsbegriff180 zugrunde zu legen sein. Danach ist ein Teilbetrieb „die Gesamtheit der in einem Unternehmensteil einer Gesellschaft vorhandenen aktiven und passiven Wirtschaftsgüter, die in organisatorischer Hinsicht einen selbstständigen Betrieb, d.h. eine aus eigenen Mitteln funktionsfähige Einheit, darstellen“. Mit diesem geänderten Begriffsverständnis setzt die Finanzverwaltung sich nicht nur über die Ziele des Gesetzgebers hinweg, der die Regelungen zur Spaltung „im Grundsatz materiell unverändert“ fortführen wollte181. Sie zieht aus einem geänderten Begriffsverständnis, das weder im Wortlaut noch im Zweck des Gesetzes begründet ist und i.Ü. auch durch den BFH nicht geteilt wird182, so weitreichende kasuistische und restriktive Folgerungen für die Abgrenzung des Teilbetriebs und die Zuordnung von aktiven und passiven Wirtschaftsgütern, dass in der Gesetzesanwendung unvorhersehbare und willkürliche Rechtsfolgen entstehen, die die mit dem Gesetz angestrebte Erleichterung von
173 Dies soll insb. für die Pauschalierung von Betriebsausgaben nach § 8b III KStG gelten. Differenziert und zu Recht krit. dazu insb. Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, § 12 UmwStG Rz. 82 ff. 174 Vgl. UmwSt-Erlass, Rz. 13.01. 175 Dazu i.E. Förster/Hölscher, Ubg 2012, 729. 176 Vgl. UmwSt-Erlass, Rz. 13.01. Differenzierend dazu Rödder/Schmidt-Fehrenbacher in FGS/BDI, 262 ff. 177 Vgl. auch R. Neumann, GmbHR 2012, 141; Stahl, KÖSDI 2012, 17815. Zur Ermittlung eines Übernahmeergebnisses BFH v. 9.1.2013 – I R 34/12, BFH/NV 2013, 881; dazu auch Riepolt, StuB 2014, 96. 178 Vgl. Heurung/Engel/Schröder, GmbHR 2011, 617. 179 Vgl. BFH BStBl. II 2011, 467 Rz. 22. 180 Vgl. Art 2 lit. j der RL 2009/133/EG, ABREG Nr. L 10, 34 und UmwSt-Erlass, Rz. 15.02. Vgl. auch Gutzeit, Umwandlungssteuerrechtlicher Teilbetriebsbegriff und Europarecht, 2013; Rödl, Der Teilbetriebsbegriff in den Einbringungstatbeständen des Umwandlungssteuergesetzes, 2016; Zapf, Die Europäisierung des Teilbetriebsbegriffs im Umwandlungssteuerrecht, 2016. 181 Vgl. die Gesetzesbegr. in BT-Drucks. 16/2710, 35. 182 Vgl. BFH BStBl. II 2011, 467 Rz. 67.
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Montag
2. Umwandlungen im Inland
Rz. 67 § 14
Strukturmaßnahmen183 obsolet werden lassen und völlig konterkarieren184. Nach dem UmwSt-Erlass 2011 sind bei der Zuordnung von Wirtschaftsgütern drei Kategorien zu unterscheiden: – Funktional wesentliche Betriebsgrundlagen sind dem Teilbetrieb zuzuordnen (Randnr. 15.02), so dass z.B. bei gemischter Nutzung ein Spaltungshindernis besteht (Randnr. 15.08) und Grundstücke ggf. real aufzuteilen sind. – Zuzuordnen sind auch funktional nicht wesentliche Betriebsgrundlagen, wenn sie „nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten“ zuordenbar sind (Randnr. 15.02). – Wirtschaftsgüter, die nicht zuordenbar sind, können „echten“ Teilbetrieben frei (Randnr. 15.09), fiktiven Teilbetrieben hingegen nicht zugeordnet werden (Randnr. 15.11). Maßgebend für die Zuordnung soll in zeitlicher Hinsicht der steuerliche Übertragungsstichtag sein (Randr. 15.03), was dem Gesetz ebenso wenig zu entnehmen ist185 wie die in sachlicher Hinsicht maßgeblichen Kriterien für die wirtschaftliche Zuordnung186. Der Erlass löst sich auch insofern vollständig vom Gesetzeswortlaut und vom Gesetzeswerk und wird daher weder den rechtssystematischen Grundanforderungen noch den praktischen Bedürfnissen an konsistenten und vorsehbaren Regelungen gerecht. b) Missbrauchsverhinderung Zur Verhinderung von Missbräuchen schränkt § 15 II UmwStG die grundsätzliche Anwendung der 66 §§ 15 I; 11 ff. UmwStG ein. Nach § 15 II 1 UmwStG ist eine steuerneutrale Spaltung ausgeschlossen, wenn ein „fiktiver“ Teilbetrieb (Mitunternehmeranteil oder eine 100 %-Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft) innerhalb von drei Jahren vor dem steuerlichen Übertragungsstichtag durch Übertragung von Wirtschaftsgütern, die kein Teilbetrieb sind, erworben oder aufgestockt worden sind187. Nach § 15 II 2 UmwStG ist eine steuerneutrale Spaltung durch die sog. Nachspaltungs-Veräußerungssperre auch dann ausgeschlossen, wenn durch die Spaltung die Veräußerung an außen stehende Personen vollzogen wird oder wenn die Voraussetzungen für eine Veräußerung geschaffen werden (§ 15 II 2 ff. UmwStG)188. 2.2.2 Gewerbesteuer Gewerbesteuerlich gelten die §§ 11–13; 15 UmwStG gem. § 19 I UmwStG entsprechend. Das bedeu- 67 tet, dass der Übertragungsgewinn grds. der Gewerbesteuer unterliegt, während der Übernahmegewinn nicht erfasst wird189. Gewerbeverluste gehen grds. nicht über (§ 19 II UmwStG)190.
183 Vgl. grds. bereits BT-Drucks. 12/6885, 14 zu UmwStG 1995. 184 Dazu auch Köhler, DB 2012, Gastkomm. in Heft 4 (DB0465187); Goebel/Ungemach, DStR 2012, 353; Prinz/Hütig, StuB 2012, 484. Zur Grundstücksnutzung insb. Pyszka, DStR 2016, 2074; zur Interdependenz von Kettenumwandlungen und Teilbetriebsqualifikation Maier/Funke, DStR 2015, 2703. Krit. zum geänderten Teilbetriebsbegriff insb. Schumacher/Bier in FGS/BDI, 270 ff.; andererseits auch Rasche, GmbHR 2012, 149 (152 ff.). 185 Vgl. dazu Stangl/Grundke, DB 2010, 1851; Kessler/Philipp, DStR 2011, 1065. 186 Vgl. Schumacher/Bier in FGS/BDI, 272 ff. 187 Vgl. UmwSt-Erlass, Rz. 15.15 ff. Dazu i.E. auch R. Neumann, GmbHR 2012, 141 (147); Schumacher/ Bier in FGS/BDI, 281 ff. 188 Vgl. UmwSt-Erlass, Rz. 15.22 ff.; dazu auch R. Neumann, GmbHR 2012, 141 (147); Schumacher/Bier, 284 ff. 189 Vgl. dazu i.E. Schmitt/Hörtnagl/Stratz6, § 19 UmwStG Rz. 8, 14; Trossen in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, § 19 UmwStG Rz. 15 ff. 190 Zur Behandlung von Gewerbeverlusten einer Personengesellschaft, deren Gesellschafter auf eine andere Kapitalgesellschaft verschmolzen wird, Behrendt/Arjes, DStR 2008, 811.
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§ 14 Rz. 68
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
2.2.3 Grunderwerbsteuer 68 Soweit die übertragende Gesellschaft Grundstücke hat oder mindestens 95 % der Anteile an einer
Gesellschaft hält, die über Grundbesitz verfügt, fällt Grunderwerbsteuer an (§ I, II, IIa GrEStG), soweit die Voraussetzungen des § 6a GrEStG nicht erfüllt sind191. 2.3 Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils in eine Kapitalgesellschaft gegen Gewährung von Gesellschaftsanteilen (§§ 20–23, 25 UmwStG) 2.3.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer 69 Ein Betrieb, Teilbetrieb192 oder Mitunternehmeranteil kann wie folgt nach § 20 UmwStG in eine Ka-
pitalgesellschaft gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten eingebracht werden193: – durch Verschmelzung, Aufspaltung und Abspaltung (aus) einer Personenhandelsgesellschaft sowie durch deren Formwechsel (s. § 25 UmwStG); – durch Ausgliederung (s. §§ 124 I; 3 I UmwG) aus einer Personenhandelsgesellschaft, einer Körperschaft oder aus dem Vermögen eines Einzelkaufmanns; – außerhalb des Umwandlungsgesetzes: – durch Einzelrechtsnachfolge (Einzelübertragung der Wirtschaftsgüter) auf die Kapitalgesellschaft; – durch Anwachsung gem. § 738 BGB (Beispiel: Alle Kommanditisten einer GmbH & Co. KG scheiden aus der Gesellschaft aus). 70 Die aufnehmende Kapitalgesellschaft hat das eingebrachte Betriebsvermögen in ihrer Steuerbilanz194
grds. mit dem gemeinen Wert anzusetzen (§ 20 II 1 UmwStG). Der gemeine Wert gilt für den Einbringenden als Veräußerungspreis und Anschaffungskosten der Anteile (§ 20 III UmwStG), so dass Gewinnrealisierung eintritt und die stillen Reserven unter den Voraussetzungen des § 20 IV UmwStG nach §§ 16 IV; 34 I, III EStG oder nicht begünstigt nach den allgemeinen Grundsätzen zu versteuern sind195. 71 Auf Antrag der Übernehmerin196 kann das eingebrachte Betriebsvermögen unter bestimmten Voraus-
setzungen197 jedoch einheitlich auch mit dem Buchwert oder einem Zwischenwert angesetzt (§ 20 II 2 u. 4 UmwStG) und die Gewinnrealisierung dadurch ganz oder teilweise vermieden werden198. Der Buchwert- oder Zwischenwertansatz ist gem. § 20 II 2 Nr. 4 UmwStG allerdings nur möglich, soweit
191 Vgl. Rz. 58. 192 Zum maßgeblichen Teilbetriebsbegriff Rz. 65. 193 Vgl. insb. auch Dörfler/Rautenstrauch/Adrian, BB 2007, 1711; Voß, BB 2006, 496; Patt, Der Konzern 2006, 730; Ritzer/Rogall/Stangl, WPg. 2006; 1210; Bauernschmitt/Blöchle, BB 2007, 743; Förster/Wendland, DB 2007, 631; Herlinghaus, FR 2007, 286; Mitsch, INF 2007, 225; Ott, StuB 2007, 10; Schönherr/ Lemaitre, GmbHR 2007, 459; Schröder/Pickhardt-Poremba, DB 2007, 2166; Strahl, KÖSDI 2007, 15442; Langheim, Die Einbringung von Unternehmensteilen nach der Fusionsrichtlinie und ihre Umsetzung im deutschen Umwandlungssteuerrecht, 2008; Rasche, GmbHR 2012, 149. 194 Dazu i.E. Kahle/Vogel, Ubg 2012, 493. 195 Vgl. UmwSt-Erlass, Rz. 20.25 ff.; dazu i.E. auch Hötzel/Kaeser in FGS/BDI, 352 ff.; Ott, GmbHR 2015, 918. 196 UmwSt-Erlass, Rz. 20.25 ff.; dazu i.E. auch Hötzel/Kaeser in FGS/BDI, 346 ff.; BFH v. 15.6.2016 – I R 69/15, BStBl. II 2017, 75. 197 Zur europarechtlichen Problematik der erzwungenen Gewinnrealisierung unten Rz. 83. 198 Auch bei negativem Geschäftswert dürfen keine Werte angesetzt werden, die über den Buchwerten der einzelnen Wirtschaftsgüter liegen. Vgl. BFH v. 28.4.2016 – I R 33/14, BStBl. II 2016, 913.
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2. Umwandlungen im Inland
Rz. 74 § 14
der gemeine Wert von sonstigen Gegenleistungen, die neben den neuen Gesellschaftsanteilen gewährt werden, nicht mehr beträgt als 25 v.H. des Buchwerts des eingebrachten Betriebsvermögens oder 500 000 Euro, höchstens jedoch dem Buchwert des eingebrachten Betriebsvermögens entspricht199. Die Übernehmerin tritt grds. in die Rechtsstellung des Einbringenden ein (§ 23 I u. III UmwStG). Die erworbenen Anteile gelten abzüglich anderer Gegenleistungen als mit den Einbringungswerten angeschafft und bleiben nach § 17 VI EStG weiterhin steuerverhaftet. Dadurch entstehen zusätzlich zu den stillen Reserven der eingebrachten Wirtschaftsgüter auch in den als Gegenleistung erhaltenen Gesellschaftsrechten, den Anteilen an der Kapitalgesellschaft, entsprechende stille Reserven. Diese Verdoppelung wird jedoch idealtypisch über sieben Jahre systematisch konsequent, aber in einem hochkomplexen und mit außerordentlichen Nachweisanforderungen verbundenen Verfahren wieder abgebaut200. Werden die als Gegenleistung erhaltenen oder die eingebrachten innerhalb der Frist von sieben Jahren veräußert, ist grds. wie folgt zu differenzieren: Erfolgt innerhalb von sieben Jahren nach dem Einbringungszeitpunkt eine Veräußerung der – erhal- 72 tenen – Anteile, die nicht zum gemeinen Wert angesetzt wurden, ist der Gewinn aus der Einbringung rückwirkend im Wirtschaftsjahr der Einbringung als sog. Einbringungsgewinn I nach § 16 EStG zu versteuern, wobei §§ 16 IV; 34 I, III EStG nicht anzuwenden sind (§ 22 I 1 UmwStG)201, was nach Auffassung des BFH als typisierende Verhinderung von Umgehungsgestaltungen verfassungsrechtlich gerechtfertigt erscheint202. Der Einbringungsgewinn I ist dabei die Differenz zwischen dem gemeinen Wert des eingebrachten Vermögens nach Übertragungskosten und dem Einbringungswert, vermindert um jeweils ein Siebtel für jedes seit dem Einbringungszeitpunkt abgelaufene Wirtschaftsjahr (§ 22 I UmwStG). Der Einbringungsgewinn I gilt als nachträgliche Anschaffungskosten (§ 22 I 4 UmwStG), so dass der Gewinn aus der Veräußerung der Anteile, der nach den allgemeinen Regeln besteuert wird (§§ 13 ff. EStG; § 8b KStG), sich mindert203. Die übernehmende Gesellschaft kann den Einbringungsgewinn gewinnneutral als Erhöhungsbetrag ansetzen (§ 23 II UmwStG), soweit das eingebrachte Betriebsvermögen noch zum Betriebsvermögen der übernehmenden Gesellschaft gehört, und das daraus resultierende Abschreibungspotential zukünftig nutzen. Wurde das Betriebsvermögen zum gemeinen Wert übertragen, liegt sofort abziehbarer Aufwand vor. Werden die eingebrachten Anteile innerhalb von sieben Jahren veräußert, ist nach § 22 II UmwStG 73 ein sog. Einbringungsgewinn II zu versteuern, soweit die Anteile im Rahmen einer Sacheinlage nach § 20 I UmwStG unter dem gemeinen Wert eingebracht wurden und der Einbringende keine nach § 8b II KStG begünstigte Person war204. 2.3.2 Gewerbesteuer Soweit ein Einbringungsgewinn entsteht, unterliegt dieser Gewinn bei einem Gewerbebetrieb grds. 74 der Gewerbesteuer, soweit er nicht auf eine natürliche Person entfällt (§ 7 Satz 2 GewStG)205.
199 Zu den Entwürfen und der Neuregelung insb. Biletewski/Heinemann, Ubg 2015, 513; Bron, DB 2015, 940; Ott, StuB 2015, 909; krit. vorab zur geplanten Neuregelung Rödder, Ubg 2015, 329; Strahl, KÖSDI 2015, 19329; Benecke/Möllmann, FR 2016, 741; zur Behandlung von Gesellschafterverbindlichkeiten Rapp, DStR 2017, 580. 200 Vgl. UmwSt-Erlass, Rz. 22.28; dazu i.E. auch Stangl/Kaeser in FGS/BDI, 460 ff. 201 Vgl. UmwSt-Erlass, Rz. 22.01 ff.; Pung, GmbHR 2012, 158 ff.; Stangl/Kaeser in FGS/BDI, 386 ff. 202 BFH v. 15.4.2015 – I R 54/13, BStBl. II 2017, 136. 203 Vgl. UmwSt-Erlass, Rz. 22.08 ff.; dazu i.E. auch Stangl, Ubg 2009, 698; Stangl/Kaeser in FGS/BDI, 396 ff.; allgemein dazu auch Kessler, Ubg 2011, 34. 204 Vgl. UmwSt-Erlass, Rz. 22.12 ff.; dazu auch Stangl/Kaeser in FGS/BDI, 402 ff. 205 Vgl. dazu i.E. Glanegger/Güroff9 § 7 GewStG Anh. Rz. 1275 ff.; Herlinghaus in Rödder/Herlinghaus/ van Lishaut2, § 20 UmwStG Rz. 214. Vgl. auch Rz. 77.
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§ 14 Rz. 75
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
2.3.3 Grunderwerbsteuer 75
Soweit Grundstücke auf die Kapitalgesellschaft übergehen, kann gem. § 1 I Nr. 3 GrEStG Grunderwerbsteuer206 entstehen, wenn die Voraussetzungen des § 6a GrEStG nicht erfüllt sind207. 2.4 Anteilstausch (§ 21 UmwStG) 2.4.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer
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Werden Anteile an einer Kapitalgesellschaft gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten in eine andere Kapitalgesellschaft eingebracht, sind die Anteile bei der aufnehmenden Gesellschaft grds. mit dem gemeinen Wert anzusetzen (§ 21 I 1 UmwStG)208. Der gemeine Wert gilt für den Einbringenden als Veräußerungspreis (§ 21 II 1 UmwStG), so dass eine Gewinnrealisierung eintritt, die nach den allgemeinen Regeln zu versteuern ist209. Alternativ kommt insb. dann, wenn die aufnehmende Gesellschaft nach der Einbringung unmittelbar die Mehrheit der Stimmrechte an der erworbenen Gesellschaft hat (sog. qualifizierter Anteilstausch), auch der Ansatz des Buchwertes oder eines Zwischenwertes in Betracht (§ 21 I 2 UmwStG), so dass eine Gewinnrealisierung ganz oder teilweise vermieden werden kann. Soweit die sonstige Gegenleistung bestimmte Grenzwerte übersteigt (§ 21 II 1 UmwStG), ist der Buchwert- oder Zwischenwertumsatz jedoch beschränkt210.Der angesetzte Wert gilt für den Einbringenden als Veräußerungspreis und als Anschaffungskosten der erhaltenen Anteile (§ 21 II 1 UmwStG). Erfolgt die Einbringung nicht zum gemeinen Wert, führt eine Veräußerung der eingebrachten Anteile innerhalb von sieben Jahren nach dem Einbringungszeitpunkt beim Einbringenden rückwirkend zu einer Versteuerung des sog. Einbringungsgewinns II (§ 22 II 1 UmwStG). Der Einbringungsgewinn II ergibt sich dabei aus der Differenz zwischen dem gemeinen Wert im Einbringungszeitpunkt und dem Einbringungswert, vermindert um jeweils ein Siebtel für jedes seit der Einbringung abgelaufene Wirtschaftsjahr. Der Einbringungsgewinn II erhöht die Anschaffungskosten der erhaltenen Anteile (§ 22 II 4 UmwStG), so dass beim Einbringenden spätere Gewinne aus der Veräußerung der Anteile vermindert bzw. Verluste erhöht werden211. Soweit die Steuer auf den Einbringungsgewinn II entrichtet wird, erhöht dieser Gewinn gleichzeitig die Anschaffungskosten der eingebrachten Anteile (§ 23 II 2 UmwStG) und mindert damit einen in der Regel nach § 8b II KStG zu versteuernden späteren Veräußerungsgewinn. 2.4.2 Gewerbesteuer
77
Soweit der Einbringende gewerbesteuerpflichtig ist, kann sowohl ein bei der Einbringung entstehender Gewinn als auch ein späterer Einbringungsgewinn I oder II der Gewerbesteuer (§ 7 GewStG) unterliegen212. 2.4.3 Grunderwerbsteuer
78
Hat die Kapitalgesellschaft, deren Anteile eingebracht werden, Grundbesitz, kann die Einbringung zu einer steuerpflichtigen Anteilsvereinigung führen (§ 1 III GrEStG) und damit zu einer Grunderwerbsteuer führen, wenn die Voraussetzungen des § 6a GrEStG nicht erfüllt sind213.
206 207 208 209 210 211
Vgl. Rz. 58. Vgl. dazu Rz. 58. Vgl. UmwSt-Erlass, Rz. 21.01 ff.; dazu i.E. auch Hageböke/Kröner/Kaeser in FGS/BDI, 362 ff. Vgl. insb. §§ 13; 15; 17; 18; 23 EStG oder § 8b KStG. Vgl. dazu Rz. 71. Die Versteuerung erfolgt nach den allgemeinen Regeln (z.B. §§ 13; 15; 17; 18 oder 23 EStG; § 8b KStG). 212 Vgl. dazu i.E. Stangl in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, § 22 UmwStG Rz. 151. 213 Vgl. dazu Rz. 58.
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3. Grenzüberschreitende und ausländische Umwandlungen
Rz. 83 § 14
2.5 Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils in eine Personengesellschaft (§ 24 UmwStG) 2.5.1 Einkommen-/Körperschaftsteuer Ein Betrieb, Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil kann wie folgt nach § 24 UmwStG in eine Per- 79 sonengesellschaft eingebracht werden214, wobei der Einbringende Mitunternehmer wird: – durch die Umwandlungsarten nach dem Umwandlungsgesetz, die in Rz. 40 f. dargestellt sind; – außerhalb des Umwandlungsgesetzes durch Einzelrechtsnachfolge (Einzelübertragung der Wirtschaftsgüter) auf die Personengesellschaft. Die Anwendung des § 24 UmwStG ist insb. auch dann möglich, wenn ein Einzelunternehmen nach vorheriger Veräußerung wesentlicher Betriebsgrundlagen eingebracht wird215 oder die Einbringung gegen ein sog. Mischentgelt aus Gesellschaftsrechten und einer sonstigen Leistung erfolgt216. Nach § 24 II UmwStG sind sonstige Gegenleistungen aber nur noch beschränkt möglich217. Die Personengesellschaft hat das eingebrachte Vermögen grds. mit dem gemeinen Wert anzusetzen 80 (§ 24 II 1 UmwStG), so dass Gewinnrealisierung eintritt und Einkommensteuer (§ 16 EStG) oder Körperschaftsteuer (§ 8 I KStG) anfällt. Dabei ist § 16 IV EStG bei natürlichen Personen dann anzuwenden, wenn nicht Teile von Mitunternehmeranteilen eingebracht werden. Soweit ab 2009 das Teileinkünfteverfahren nicht anzuwenden ist, ist § 34 I, III EStG anwendbar (§ 24 III 2 UmwStG). Alternativ können jedoch auch die Buchwerte oder Zwischenwerte angesetzt werden, wenn das deutsche Besteuerungsrecht für das eingebrachte Betriebsvermögen nicht ausgeschlossen oder beschränkt wird (§ 24 II 2 UmwStG). In diesem Fall wird die Gewinnrealisierung ganz oder teilweise vermieden218. 2.5.2 Gewerbesteuer Soweit bei der Einbringung ein Gewinn entsteht, unterliegt er der Gewerbesteuer, soweit er nicht auf 81 eine natürliche Person als unmittelbar beteiligter Mitunternehmer entfällt (§ 7 Satz 2 GewStG)219. 2.5.3 Grunderwerbsteuer Soweit Grundstücke oder mindestens 95 % der Anteile an einer Gesellschaft, die Grundbesitz hält, 82 auf die Personengesellschaft übergehen und die Voraussetzung des § 6a GrEStG nicht erfüllt sind220, unterliegt die Übertragung zwar der Grunderwerbsteuer (§ 1 I Nr. 3, IIa 3 GrEStG). Die Grunderwerbsteuer wird jedoch nicht erhoben, soweit Beteiligungsidentität besteht (§§ 6 III, I; 5 GrEStG). 3. Grenzüberschreitende und ausländische Umwandlungen Soweit an einer Umwandlung eine Kapital- oder Personengesellschaft beteiligt ist, die nach dem 83 Recht eines EU- oder EWR-Staates gegründet wurde und Sitz oder Geschäftsleitung in der EU bzw. dem EWR hat, ist das UmwStG grds. dann anwendbar, wenn der Umwandlungsvorgang nach aus214 Vgl. UmwSt-Erlass, Rz. 24.01 ff.; dazu i.E. auch Rogall/Gerner in FGS/BDI, 495 ff.; zur Ausbringung eines Teilbetriebs aus einer Mitunternehmerschaft durch „Upstream“-Abspaltung Hageböke, Ubg 2009, 105; zur Umstrukturierung von Personengesellschaften auch Ley/Brandenberg, Ubg 2010, 767. 215 BFH v. 9.11.2011, BStBl. II 2012, 638. 216 BFH v. 18.9.2013 – X R 42/10, BFH/NV 2013, 2006; dazu insb. Strahl, Ubg 2013, 762. Zur Anwendung des § 24 UmwStG bei Aufnahme neuer Gesellschafter Diers/Diers, DB 2017, 1053. 217 Dazu insb. Rogall/Dreßler, DB 2015, 1981; Krüger, FR 2016, 18; vgl. auch oben Rz. 71. 218 Zur Spaltung von Personengesellschaften insb. Franz/Wegener, Ubg 2008, 608; Hageböke, Ubg 2009, 105. 219 Dazu i.E. Keuthen, Ubg 2013, 480. 220 Vgl. Rz. 58.
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§ 14 Rz. 83
Konzern- und Umwandlungssteuerrecht
ländischem Recht dem deutschen Umwandlungsrecht vergleichbar ist (§ 1 I, II UmwStG)221. Grenzüberschreitende und ausländische Umwandlungen außerhalb von Europa werden also nicht erfasst222. Für Umwandlungen innerhalb von Europa gelten grds. die allgemeinen Regeln223. Der Ansatz eines unter dem gemeinen Wert liegenden Wertes (Buchwert oder Zwischenwert) ist jedoch nur dann möglich, wenn das deutsche Besteuerungsrecht für das übertragene Vermögen durch die Umwandlung nicht ausgeschlossen oder eingeschränkt wird224. Das setzt regelmäßig voraus, dass das übertragene Vermögen auf Dauer in einer Betriebsstätte der Übernehmerin in Deutschland verbleibt. Ist dies nicht der Fall, erfolgt prinzipiell eine sofortige Versteuerung225. Nach § 50i II EStG ist der gemeine Wert im Rahmen vonEinbringungen und Umwandlungen auch dann anzusetzen, wenn Sachgesamtheiten betroffen sind, die aus einem Vermögenstransfer in gewerblich geprägte Personengesellschaften resultieren und einem Stpfl. Im DBA-Ausland zuzurechnen sind226.
221 Vgl. i.E. Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 94 ff.; dazu auch Nowakowski, Die umwandlungssteuerrechtliche Behandlung grenzüberschreitender Verschmelzungen, 2014. 222 Krit. dazu mit Recht Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 124 ff. Vgl. dazu auch Schnitger/Rometzki, FR 2006, 845; Binnewies, GmbHStB 2007, 117; Schmidtmann, IStR 2007, 229. 223 Zur Steuerneutralität bei grenzüberschreitenden Umwandlungen vgl. auch Brähler/Heerdt, StuW 2007, 260; Kahle/Michel, IStR 2012, 882; Kahlenberg/Mair/Strauch, StuB 2013, 698; Schönhaus/Müller, IStR 2013, 174. Bei einer Drittstaatenverschmelzung wird die beschränkte Steuerpflicht des übertragenden Rechtsträgers entgegen UmwSt-Erlass, Rz. 13.04 a.F. nicht mehr gefordert. Vgl. BMF-Schreiben v. 10.11.2016, BStBl. I 2016, 1252, Tz. 13.04; dazu Böhmer/Mundhenke, IStR 2017, 113; Pohl, DStR 2016, 2710; Weiss, IWB 2016, 904. Zur Drittstaatenumwandlung Hruschka, IStR 2012, 844; Becker/ Kamphaus/Loose, IStR 2013, 328; Holle/Keilhoff, IStR 2017, 245. 224 Vgl. i.E. Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, Einf. UmwStG Rz. 97; Riedel, Ubg 2013, 30. 225 Soweit andauerndes deutsches Besteuerungsrecht für einen Gewinn aus der Veräußerung des eingebrachten Betriebsvermögens nicht sichergestellt ist, kommt es mangels einer Stundungsregelung – wie z.B. in § 6 V AStG oder § 4g EStG – zu einer Sofortbesteuerung, was europarechtlich nicht haltbar ist. Nach EuGH v. 23.11.2017 – Rs. C-292/16, A Oy, DB 2018, 27, liegt ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit vor. Vgl. dazu auch Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut2, §§ 20 UmwStG Rz. 165d, 11 UmwStG Rz. 130 ff. Zu den europarechtlichen Anforderungen EuGH v. 23.1.2014 – C-164/12 – DMC, FR 2014, 466; dazu Linn, IStR 2014, 136; Sydow, DB 2014, 265; Quinten, Entstrickungsbesteuerung im Körperschaft- und Umwandlungssteuerrecht, 2014. 226 Vgl. auch BMF v. 21.12.2015, BStBl. I 2016, 7; dazu insb. Benz/Böhmer, DStR 2016, 145; Mroz, FR 2016, 933; Peter/Stegmaier/Peter, DStR 2016, 724; van Lishaut/Hannig, FR 2016, 50; grundlegend insb. auch Rödder/Kuhr/Heimig, Ubg 2014, 477; außerdem auch Bodden, DB 2014, 2371; Bron, DStR 2014, 1849; Liekenbrock, DStR 2015, 1535; von Oertzen/Blusz, BB 2015, 283.
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Montag
§ 15 Erbschaft- und Schenkungsteuer Rechtsgrundlagen: Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz (ErbStG) i.d.F. der Bekanntmachung v. 27.2.1997, BGBl. I 1997, 378; geändert durch das Erbschaftsteuerreformgesetz v. 24.12.2008, BGBl. I 2008, 3018; zuletzt geändert durch Art. 4 des Gesetzes zur Bekämpfung der Steuerumgehung und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (StUmgBG) v. 23.6.2017, BGBl. I 2017, 1682 (1688); ErbschaftsteuerDurchführungsverordnung (ErbStDV) v. 8.9.1998, BGBl. I 1998, 2658; zuletzt geändert durch Art. 18 des Gesetzes v. 29.6.2015, BGBl. I 2015, 1042 (1059). Verwaltungsvorschriften: ErbStR und ErbStH v. 19.12.2011, BStBl. I 2011, Sondernr. 1/2011; Koordinierte Ländererlasse v. 22.6.2017 – 3 – S 371.5/22 u.a., BStBl. I 2017, 902. Literatur: Kommentare zum ErbStG: Fischer/Pahlke/Wachter6, 2017; von Oertzen/Loose, 2017; Viskorf/ Schuck/Wälzholz5, 2017; Meincke/Hannes/Holtz17, 2018; Kapp/Ebeling, Loseblatt; Moench/Weinmann, Loseblatt; Troll/Gebel/Jülicher/Gottschalk, Loseblatt; Wilms/Jochum, Loseblatt. Lehrbücher u.ä.: Brüggemann/Stirnberg, Erbschaftsteuer Schenkungsteuer10, 2017; Schulte/Birnbaum, Erbschaftsteuerrecht2, 2017; Grootens/Koltermann, Bewertung und Erbschaftsteuer9, 2017. Reformvorschläge: P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, 582–810 (Buch 3), dazu Seer, StuW 2013, 239; Wiss. Beirat, Die Begünstigung des Unternehmensvermögens in der Erbschaftsteuer, 2012; Hey/Birk/ Prinz/v. Wolfersdorff/Piltz, Zukunft der Erbschaftsteuer, ifst-Schrift 506 (2015); Wiss. Arbeitskreis „Steuerrecht“, DWS-Institut, Zukunft der Erbschaft- und Schenkungsteuer, 2015.
I. Einführung 1. Rechtfertigung und Charakter der Erbschaft- und Schenkungsteuer Die ErbSt rechtfertigt sich durch die auf Grund des Erbes/der Zuwendung i.S. eines Mittelerwerbs ein- 1 getretene Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Empfängers1. Sie ist eine Steuer auf das Einkommen i.S. eines Reinvermögenszugangs (§ 7 Rz. 38). In ihrer derzeitigen Ausgestaltung knüpft sie als Bereicherungssteuer an die Vermögensmehrung beim Empfänger (dem Bereicherten) an. Gegen diese Rechtfertigung der ErbSt spricht deshalb nicht das häufig vorgebrachte Argument, dass das erworbene Vermögen durch Erbfall/Schenkung nicht größer oder wertvoller werde2. Es vernachlässigt, dass die verschiedenen Steuersubjekte auseinander gehalten werden müssen3. Besteuert wird nicht das vom Erblasser hinterlassene Vermögen, sondern die Bereicherung, die der Erwerb von Erblasservermögen beim Erben bewirkt. Konsequenterweise hat der Gesetzgeber an der Konzeption einer Erbanfallsteuer festgehalten. Sie 2 besteuert nicht die Nachlassmasse als solche (Nachlasssteuer, sog. „Tote-Hand-Steuer“)4, sondern 1 Grundl. bereits von Schanz, Studien zur Geschichte und Theorie der Erbschaftsteuer, FinArch. a.F. Bd. 17 (1900), 553 (672); aus jüngerer Zeit Steuerreformkommission, BMF-Schriftenreihe 17, 1971, 659 Rz. 154; D. Schneider, StuW 1979, 38 (39 f.); Tipke, StRO II2, 873 f., m.w.N.; Meincke, DStJG 22 (1999), 39 (40 ff.); Crezelius, DStJG 22 (1999), 73 (102 ff.); P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, Grundgedanken Rz. 1, § 73 Rz. 3 f. 2 So etwa Ritter, BB 1994, 2285 (2287); Kruse, BB 1996, 717 (718); Zitzelsberger, FS Ritter, 1997, 661 (665). 3 Meincke, FS Tipke, 1995, 391 (394 f.); Meincke, DStJG 22 (1999), 39 (43 f., 46 ff.); Seer, StuW 1997, 283 (285); Birk, StuW 2005, 346 f.; Birnbaum, Leistungsfähigkeitsprinzip und ErbSt, Diss., 2007, 31 ff., 81. 4 Die ErbSt ist derzeit z.B. in Großbritannien u. in den USA als Nachlasssteuer ausgestaltet; s. Albrecht, Die steuerliche Behandlung deutsch-englischer Erbfälle, Diss., 1992, 192 ff.; Wassermeyer, Das US-amerikanische Erbschaftsteuerrecht, Diss., 1996, Rz. 148 ff.; Freckem, Die Besteuerung von Nachlässen in den einzelnen amerikanischen Bundesstaaten, Diss., 2007, passim; instruktiver Überblick von Troll/Gebel/Jülicher/Gottschalk, § 21 ErbStG Rz. 91–138. In Deutschland gab es eine Nachlasssteuer nur über-
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§ 15 Rz. 3
Erbschaft- und Schenkungsteuer
die Bereicherung beim Erben. Im Unterschied zur Nachlasssteuer ist die Erbanfallsteuer weder Objektsteuer noch letzte Vermögensteuer des Erblassers. Vielmehr erfasst sie als Subjektsteuer (§ 7 Rz. 21) beim Bereicherten Einkommen i.w.S. und könnte daher auch dem EStG inkorporiert werden5. Zwar ist dies vor allem aus praktischen Erwägungen technisch nicht geschehen6. Dies ändert aber nichts daran, dass die ErbSt eine Einkommensteuer i.w.S. ist7. Sind Erbschaft- und Schenkungsteuer Einkommensteuern i.w.S., müssen sie derart mit der Einkommensteuer abgestimmt werden, dass möglichst keine Überschneidungen entstehen8. Leider steht die Rspr. des BFH der Kumulation dieser Steuerarten bisher weitgehend unkritisch gegenüber9. Zur gesetzlichen Lösung des § 35b EStG s. Rz. 73 u. § 8 Rz. 815. 3 Die ErbSt unterscheidet sich von der Einkommensteuer allerdings dadurch, dass sie nicht an eine
am Markt gebildete Wertschöpfung, nicht an das Markteinkommen, sondern an einen Vermögenstransfer anknüpft (§ 7 Rz. 40). Deshalb ordnet der BFH die Erbschaft- und Schenkungsteuer nach wie vor als Verkehrsteuer ein10. Diese Qualifikation knüpft aber nur an die formale Ausgestaltung der Steuer an, trifft jedoch nicht ihren materiellen Gehalt. Die ErbSt schöpft des Weiteren nicht vom Ertrag (auch nicht von einem Sollertrag), sondern vom Vermögensbestand ab (§ 7 Rz. 39). Sie ist mithin keine Sollertragsteuer11, sondern – aus der Perspektive des übertragenen Vermögens – eine Substanzsteuer12. Der Substanzsteuereffekt tritt bei der ErbSt daher nicht planwidrig ungewollt, sondern plangemäß intendiert ein13. Folgerichtigerweise betrachtet das BVerfG auch nicht den Ertragswert, sondern den Verkehrswert (gemeinen Wert) als den leitenden Bewertungsmaßstab der ErbSt (Rz. 58). 4 Der Rechtfertigungsansatz als Bereicherungssteuer trägt auch die im ErbStG integrierte Schenkung-
steuer. Der bereits zu Lebzeiten durch eine freigebige Zuwendung Bereicherte (Rz. 22 ff.) hat durch den unentgeltlichen Vermögenserwerb nicht anders als ein Erbe einen Mittelzuwachs (eine Bereicherung) erfahren, die seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erhöht. Die Schenkungsteuer ist damit eine vorweggenommene ErbSt, welche die Steuer auf den Erbanfall zur Vermeidung von Umgehungen
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gangsweise in der Zeit von 1919 bis 1922; zur Rechtsentwicklung u. Unterscheidung s. Timm, FinArch. 42 (1984), 552. Zur Anrechnung ausländischer Nachlasssteuer auf die deutsche ErbSt s. Rz. 47. D. Schneider, StuW 1979, 38 (40); Timm, FinArch. 42 (1984), 553 (561 ff.); Heinz, ZEV 2004, 221; Hey, JZ 2007, 564 (566); Crezelius, FR 2007, 616; Röder, ZEV 2008, 169 (170). Vgl. Steuerreformkommission, BMF-Schriftenreihe 17, 1971, Rz. 155. So auch Friz, Das Verhältnis der Erbschaft- und Schenkungsteuer zur Einkommensteuer, Diss., 2014, 46; zu weitgehend allerdings von Waldenfels, Der Gleichheitssatz im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, Diss., 2008, 93 ff., wonach die Besteuerung von Erbschaften und Schenkungen bereits von Verfassungs wegen geboten sein soll. Tipke, StRO II2, 878 (881); Mellinghoff, DStJG 22 (1999), 127 (134 ff.); Seer, DStJG 22 (1999), 191 (199); Seer, StuW 1997, 283 (293); Hey, JZ 2007, 564 (566); Birnbaum, Leistungsfähigkeitsprinzip und Erbschaftsteuer, 2007, Diss., 42 ff. Eine ausführliche Darstellung verschiedener Lösungsmöglichkeiten zeigt Friz, Das Verhältnis der Erbschaft- und Schenkungsteuer zur Einkommensteuer, Diss. 2014, 103 ff. BFH v. 26.11.1986 – II R 190/81, BStBl. II 1987, 175 (177); BFH v. 17.2.2010 – II R 23/09, BStBl. II 2010, 641 (643 f.) – Verfassungsbeschwerde wurde nicht angemmen, s. BVerfG v. 7.4.2015 – 1 BvR 1432/10; BFH v. 6.12.2016 – I R 50/16, BStBl. II 2017, 324, Rz. 17 (Verhältnis ErbSt/KSt), m. krit. Anm. P. Fischer, FR 2017, 534 (537) m.w.N. Zur aktuellen Rspr. s. auch Crezelius, ZEV 2015, 392 (394 ff.). BFH v. 22.9.1982 – II R 61/80, BStBl. II 1983, 179 (180); BFH v. 9.12.2009 – II R 22/08, BStBl. II 2010, 363; BFH v. 25.1.2017 – II R 26/16, BFHE 257, 341 Rz. 12. Unrichtig Zitzelsberger, FS Ritter, 1997, 661 (665); Nachreiner, ZEV 2005, 1 (5 ff.) folgert aus dem Vermögensteuerbeschluss des BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (§ 3 Rz. 60; § 16 Rz. 61 f.), dass die ErbSt nur als Sollertragsteuer ausgestaltet sein dürfe. Der Besteuerungsgrund besteht aber nicht im Halten von Vermögen, sondern in der Bereicherung durch den Erbfall/die Schenkung. Deshalb ist die Aussage im Vermögensteuerbeschluss des BVerfG auf die ErbSt nicht übertragbar (Hey, JZ 2007, 564 [565], dort Fn. 21). Vgl. Oberhauser, Hdb. Finanzwissenschaft, Bd. II3, 1980, 487 (488); Seer, GmbHR 2002, 873 (874). Seer, StuW 1997, 283 (287).
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2. Reformbedarf
Rz. 6 § 15
sinnvollerweise flankiert14. Dementsprechend gelten die Vorschriften des ErbStG für Schenkungen unter Lebenden sinngemäß (§ 1 II ErbStG). 2. Unveränderter Reformbedarf Das BVerfG hat den Gesetzgeber innerhalb von zwei Jahrzehnten durch drei Entscheidungen Vor- 5 gaben für eine verfassungskonforme Ausgestaltung der Erbschaft- und Schenkungsteuer gemacht15. Gleichwohl ist es dem Gesetzgeber bis heute nicht gelungen, die Erbschaft- und Schenkungsteuer gleichheitskonform auszugestalten. Zunächst war das Jahressteuergesetz (JStG) 199716 daran gescheitert, das Bewertungsgleichmaß (Art. 3 I GG) in der Bemessungsgrundlage durch eine realitätsgerechte Wertrelation (Rz. 58) der unterschiedlichen Vermögen zueinander herzustellen. Daraufhin hatte das BVerfG in dem Beschluss v. 7.11.2006 die Verletzungen des Grundsatzes der realitätsgerechten Wertrelation und damit des Art. 3 I GG i.E. minutiös aufgelistet und eine strenge Zwei-StufenPrüfung durchgeführt. Auf der ersten Stufe hat es gefordert, das Bewertungsgleichmaß i.S. einer folgerichtigen Umsetzung der vom Gesetzgeber durch das ErbStG getroffenen Belastungsentscheidung herzustellen. Auf einer nachrangigen zweiten Stufe hat es allerdings zugelassen, durch möglichst „zielgenaue“ und „normenklare“ Lenkungstatbestände die auf der ersten Stufe folgerichtig konkretisierte Belastungsentscheidung zur Verwirklichung außersteuerlicher Lenkungsziele wieder einzuschränken oder gar aufzuheben (s. Rz. 106 ff.)17. Das ErbStRG 200918 hat versucht, diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben durch eine Reform der betroffenen Regelungskomplexe gerecht zu werden. Ebenso wie das JStG 1997 legte es das durch das BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165 (174 f.) aus Art. 14 I; 6 I GG entwickelte Familienprinzip zugrunde und verschonte weiterhin das familiäre Gebrauchsvermögen (s. Rz. 100; § 3 Rz. 192)19. Gleichzeitig verschärfte es allerdings in § 19 I ErbStG für die Steuerklasse II und III die Steuertarife. I.Ü. behielt auch das ErbStRG 2009 wie bereits das JStG 1997 die Konzeption des Erbschaftsteuergesetzes v. 17.4.1974, BGBl. I 1974, 933, bei. Die drängenden Probleme einer Ehegattenbesteuerung (s. Rz. 103) blieben damit leider weiterhin unbehandelt. Stattdessen legte der Reformgesetzgeber sein Hauptaugenmerk auf die Verschonung des Vermögens 6 von sog. Familienunternehmen. Die zur Erlangung einer „zielgenauen“ Steuerverschonung technokratisch ausgefallenen Regelungen der §§ 13a, 13b ErbStG hat das BVerfG in seinem Urteil vom 17.12.2014 aber ebenfalls für gleichheitswidrig erachtet. Der daraufhin in einem äußerst zähen Gesetzgebungsverfahren mühsam erzielte Kompromiss hat den Grad der Komplexität der Verschonungssubventionsregeln weiter gesteigert (s. Rz. 106). Das Gesetz ist weder gleichheitskonform ausgestaltet noch seinen Buchstaben entsprechend vollziehbar. Es führt im Ergebnis zu willkürlichen Steuerlasten (s. Rz. 112 f., 117). Eine kleine gesellschaftliche Gruppe trägt letztlich eine „Sonderlast“20, die sie gegenüber den Verschonten diskriminiert und in ihren Grundrechten verletzt (s. Rz. 118). Gleichzeitig setzt die Begünstigung Fehlanreize und birgt für die „Begünstigten“ aufgrund der in die Zukunft wirkenden Wohlverhaltensregeln Steuerrisiken, die mehr schaden als nützen (s. Rz. 118). Leider hat es der Gesetzgeber wieder unterlassen, auf spezielle Steuerverschonungen zu verzichten und stattdessen einen (für alle) flachen Steuertarif zu schaffen21. 14 Zur Ergänzungsfunktion der Schenkungsteuer Oberhauser, Hdb. Finanzwissenschaft, Bd. II3, 1980, 487 (500 f.), m.w.N.; krit. Naarmann, Das Verhältnis der Schenkungsteuer zur Erbschaftsteuer, Diss., 1985, 240 ff.; Ergenzinger, Schenkungsteuergesetz, Diss., 2012, 101 ff., welche der Schenkungsteuer eine von der Erbschaftsteuer unabhängige, eigenständige Funktion geben wollen. 15 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165; BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1; BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136. 16 Art. 1, 2 des JStG 1997 v. 20.12.1996, BGBl. I 1996, 2049. 17 Dazu krit. Seer, ZEV 2007, 101 (105 ff.); J. Hey, JZ 2007, 564 (569 ff.). 18 Gesetz zur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts v. 24.12.2008, BGBl. I 2008, 3018. 19 Vgl. hierzu ausführlich Blum, Bewertungsgleichmaß und Verschonungsregelungen, Diss. 2012, 40 ff. 20 Zutreffend Crezelius, ZEV 2009, 1 (2) u. ZEV 2012, 1 (3). 21 Zu den Reformoptionen s. Seer, GmbHR 2015, 113 (117 ff.); s. insb. den Vorschlag des Wiss. Arbeitskreises „Steuerrecht“, DWS-Institut, Zukunft der Erbschaft- und Schenkungsteuer, 2015.
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§ 15 Rz. 7
Erbschaft- und Schenkungsteuer
II. Steuerobjekt 1. Erwerb von Todes wegen (§§ 1 I Nr. 1; 3 ErbStG) 7 Der ErbSt unterliegt der Erwerb von Todes wegen, dessen Tatbestände § 3 ErbStG abschließend auf-
zählt22. Das Gesetz knüpft vor allem in § 3 I ErbStG unmittelbar an die zivilrechtliche Rechtslage als Voraussetzung des erbschaftsteuerlichen Vermögensanfalls an23. Daraus folgt aber keine durchgängige Maßgeblichkeit des Zivilrechts für das Erbschaftsteuerrecht (§ 1 Rz. 31 ff.; § 5 Rz. 71)24. 1.1 Erwerb durch Erbanfall (§ 3 I Nr. 1, 3 ErbStG) 8 Der Tatbestand des Erwerbs durch Erbanfall knüpft an die zivilrechtliche Stellung des Erben an. Der
Erwerb verwirklicht sich unmittelbar mit dem Erbfall, ohne dass es einer Erwerbshandlung des Erben bedarf (§§ 1922 I; 1942 I BGB). Dies gilt unabhängig davon, ob das Erbrecht auf gesetzlicher oder gewillkürter Erbfolge (Testament, Erbvertrag) beruht. Ein von Ehegatten verfügtes gemeinschaftliches Testament (sog. Berliner Testament) i.S. des § 2265 BGB führt damit zum steuerpflichtigen Zwischenerwerb des überlebenden Ehegatten, bevor das Vermögen in die nachfolgende Generation gelangt25. 9 Der Erwerb durch Erbanfall vermittelt dem Erben die dingliche Teilhabe am Nachlass des Verstorbe-
nen, dessen Gesamtrechtsnachfolger er wird (§§ 1922 I; 1967 BGB). Hinterlässt der Erblasser mehrere Erben, so wird der Nachlass gemeinschaftliches Vermögen der Miterben (Erbengemeinschaft, § 2032 I BGB). Das Vermögen ist erbschaftsteuerlich aber nicht der Erbengemeinschaft, sondern den einzelnen Miterben als Steuersubjekte (Rz. 36) nach Maßgabe der Erbquoten26 anteilig zuzurechnen (§ 39 II Nr. 2 AO)27. 10 Die zeitlich nachfolgende Erbauseinandersetzung unter den Miterben berührt die ErbSt grds. nicht
mehr. Die Erben werden mit dem besteuert, was sie beim Erbfall erhalten (Erbanfall!), nicht mit
22 BFH v. 6.3.1991 – II R 69/87, BStBl. II 1991, 412; BFH v. 4.5.2011 – II R 34/09, BStBl. II 2011, 725 (726). 23 BFH v. 22.9.1982 – II R 61/80, BStBl. II 1983, 179; BFH v. 15.10.1997 – II R 68/95, BStBl. II 1997, 820 (822); BFH v. 4.5.2011 – II R 34/09, BStBl. II 2011, 725 (727): Der Erwerb durch Erbanfall (§ 3 I Nr. 1 1. Alt. ErbStG) ist ausschließlich nach bürgerlich-rechtlichen Kriterien zu bestimmen; eine wirtschaftliche Betrachtungsweise ist insoweit ausgeschlossen. Auch ein auf ausländischem Recht beruhender Erwerb kann der inländischen Steuer unterliegen, s. BFH v. 4.7.2012 – II R 38/10, BStBl. II 2012, 782 (785 f.). 24 Nur dort, wo sich das Erbschaftsteuerrecht durch Verwendung der zivilrechtlichen Begriffe oder durch Verweise die Tatbestände des BGB zu eigen macht, folgt es dem Zivilrecht; ansonsten ist es nach dem ihm eigenen Bedeutungszusammenhang auszulegen, vgl. auch BVerfG v. 27.12.1991 – 2 BvR 72/90, BStBl. II 1992, 212 (zur Grunderwerbsteuer); ausf. Kobor, Die Auslegung im Erbschaftsteuerrecht, Diss., 2000; Klein, Ausländische Zivilrechtsformen im deutschen Erbschaftsteuerrecht, Diss., 2000, Rz. 59 ff.; Klein, FR 2001, 118; a.A. aber Crezelius, Erbschaft- und Schenkungsteuer in zivilrechtlicher Sicht, Habil., 1979, 36 f.; Crezelius, FR 2007, 613 (619 ff.). 25 Dieser ungünstigen steuerlichen Folge kann durch die Einräumung von bereits im Todesfall des Erstversterbenden fällig werdenden Vermächtnissen (s. Rz. 13) zugunsten der Schlusserben entgegengewirkt werden. Alternativ dazu können Schlusserben aber auch bereits nach dem Tode des Erstversterbenden ggf. Pflichtteilsansprüche geltend machen (s. Rz. 14). Schließlich kann der überlebende Ehegatte sein Erbe (gegen Abfindung) mit steuerlicher Wirkung ausschlagen (s. Rz. 21). 26 Finanzbehörden u. -gerichte dürfen grds. von der Richtigkeit der in einem Erbschein ausgewiesenen Erbquoten ausgehen (s. § 2365 BGB); allerdings besteht daran keine starre Bindung, s. BFH v. 22.11.1995 – II R 89/93, BStBl. II 1996, 242. 27 Zur Bindungswirkung des gesondert und einheitlich festzustellenden Grundbesitzwerts (Rz. 51) s. BFH v. 8.10.2003 – II R 27/02, BStBl. II 2004, 179 (181); Stegmaier, DStZ 2000, 581 (582).
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1. Erwerb von Todes wegen
Rz. 12 § 15
dem, was als Ergebnis der Erbauseinandersetzung in ihr Vermögen letztlich übergeht28. Konsequenterweise ändert auch eine testamentarische Teilungsanordnung (§ 2048 BGB) an der Besteuerung des Erbteils nichts29. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn die Teilungsanordnung nicht nur eine Auseinandersetzungsregel beinhaltet, sondern darüber hinaus die Erbquoten verschieben soll und damit in Wirklichkeit insoweit ein Vorausvermächtnis (Rz. 13) darstellt30. Im Ausnahmefall kann es im Zuge der Erbauseinandersetzung zu freigebigen Zuwendungen unter den Miterben (§ 7 I Nr. 1 ErbStG; s. Rz. 22) kommen, die dann Schenkungsteuer auslösen. Das Erbschaftsteuerrecht folgt dem Zivilrecht auch insoweit, als eine Ausschlagung (§§ 1942 ff. 11 BGB) die Steuerpflicht rückwirkend entfallen lässt31. Wird die Erbschaft ausgeschlagen, so gilt der Anfall an den Ausschlagenden als nicht erfüllt (§ 1953 I BGB, zur Ausschlagungsfrist s. § 1944 BGB). Die Ausschlagung ist ein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 I 1 Nr. 2 AO (s. § 21 Rz. 440). § 6 I ErbStG stellt klar, dass auch der Erwerb durch den Vorerben (§§ 2100 ff. BGB) ein Erwerb 12 durch Erbanfall ist. Obwohl der Vorerbe in seinen Verfügungsrechten über den Nachlass einem Nießbraucher ähnlich beschränkt ist (§§ 2112 ff. BGB), wird er als Vollerbe behandelt. Die Belastung mit dem Nacherbenrecht kann nicht wertmindernd abgezogen werden32. Der Vorerbe ist Steuerschuldner (Rz. 36). Der durch die Nacherbschaft begrenzten Stellung des Vorerben trägt immerhin § 20 IV ErbStG (s.a. § 2126 BGB) dadurch Rechnung, dass der Vorerbe die durch die Vorerbschaft veranlasste Steuer (nur) aus den Mitteln der Vorerbschaft zu entrichten hat, wodurch der an den Nacherben herauszugebende Nachlass geschmälert wird. Im Ergebnis überwälzt der Vorerbe damit die aus der Vorerbschaft stammende ErbSt auf den Nacherben33. Allerdings unterliegt der Nacherbe vor dem Eintritt des Nacherbfalls (§ 2106 BGB) grds. noch keiner Steuerpflicht (§ 10 IV ErbStG). Stirbt der Vorerbe, so wertet § 6 II 1 ErbStG in Abweichung vom Zivilrecht den Nacherbfall als Erwerb vom Vorerben und nicht vom Erblasser. § 6 II 2 ErbStG gibt dem Nacherben aber das Wahlrecht, der Versteuerung die Verhältnisse zum Erblasser zugrunde zu legen34. Tritt der Nacherbfall bereits zu Lebzeiten des Vorerben ein, so gilt er als aufschiebend bedingter Erwerb des Nacherben vom Erblasser (§ 6 III 1 ErbStG). Abweichend vom Zivilrecht, das insgesamt nur von einem zeitlich gestreckten Erbfall ausgeht, begreift § 6 ErbStG die Vor- und Nacherbschaft als zwei Erbfälle, so dass es zu einem doppelten erbschaftsteuerlichen Zugriff auf das Erblasservermögen kommt35. 28 Statt vieler Meincke/Hannes/Holtz17, § 3 ErbStG Rz. 24; zur einkommensteuerlichen Problematik der Erbauseinandersetzung s. § 9 Rz. 432 ff. 29 BFH v. 10.11.1982 – II R 85-86/78 u.a., BStBl. II 1983, 329; BFH v. 1.4.1992 – II R 21/89, BStBl. II 1992, 669; BFH v. 6.10.2010 – II R 29/09, Rz. 47. 30 Zur Abgrenzung s. BFH v. 17.5.2005 – I B 3/04; BFH v. 6.10.2010 – II R 29/09; Mehne, DStR 1992, 273; Steiger, UVR 1993, 72; Schuhmann, UVR 2005, 375; Brüggemann, ErbBstg. 2011, 165 (167 ff.); Roth, RNotZ 2013, 193. 31 Zur Ausschlagung als erbschaftsteuerliches Gestaltungsmittel s. Christ, ZEV 1995, 446; Hannes, ZEV 1996, 10; Mayer, DStR 2004, 1541; Wälzholz, FS Streck, 2011, 245; Tölle, NWB 2013, 148. 32 Ebenso wenig sind Zahlungen des Vorerben zur Ablösung des Nacherbenrechts als Nachlassverbindlichkeiten i.S.d. § 10 V ErbStG abziehbar, BFH v. 23.8.1995 – II R 88/92, BStBl. II 1996, 137. 33 BFH v. 13.4.2016 – II R 55/14, BStBl. II 2016, 746 Rz. 11 ff., zieht daraus die Konsequenz, dass bei einer Personenverschiedenheit des Erben des Vorerben und des Nacherben der Nacherbe vorrangig für die durch die Vorerbschaft veranlasste ErbSt haftet; a.A. die bisher seit RFH v. 7.11.1935 – III e A 28/35, RStBl. 1935, 1509, vertretene h.M.; zum Ganzen s. Jandl/Kraus, DStR 2016, 2265. 34 Es handelt sich steuerlich weiterhin um einen Erwerb vom Vorerben, bei dem lediglich für die Anwendung der Steuerklasse die Verhältnisse zum Erblasser maßgebend sind. Überträgt der Vorerbe mit Rücksicht auf die angeordnete Nacherbschaft auf den Nacherben Vermögen, handelt es sich um eine davon zu unterscheidende eigenständige freigebige Zuwendung des Vorerben an den Nacherben, s. BFH v. 3.11.2010 – II R 65/09, BStBl. II 2011, 123 (125): beide Erwerbe sind nach § 14 ErbStG (s. Rz. 145) zusammenzurechnen. 35 Die Rspr. hält die Doppelbelastung verfassungsrechtlich für unbedenklich, s. zuletzt BFH v. 13.4.2016 – II R 55/14, BStBl. II 2016, 746 Rz. 8; instruktiv dazu Siebert, BB 2010, 1252.
Seer 899
§ 15 Rz. 13
Erbschaft- und Schenkungsteuer
Gem. § 6 IV ErbStG stehen Nachvermächtnisse und beim Tod des Beschwerten fällige Vermächtnisse oder Auflagen einer Nacherbschaft gleich. 1.2 Erwerb auf Grund von Vermächtnis oder Pflichtteil 13 § 3 I Nr. 1 ErbStG stellt für Zwecke der ErbSt der dinglichen Erbenstellung die durch den Erbfall
ausgelösten schuldrechtlichen Ansprüche gleich. So gilt der Erwerb auf Grund eines Vermächtnisses (§§ 1939; 2147 ff. BGB, Geld-, Verschaffungs- oder Sachvermächtnis) als ein Erwerb von Todes wegen, obwohl der Vermächtnisnehmer zivilrechtlich erst vom Erben bei Erfüllung des Vermächtnisanspruchs erwirbt36. Damit korrespondierend ist die Vermächtnisschuld beim belasteten Erben als Nachlassverbindlichkeit gem. § 10 V Nr. 2 ErbStG abzuziehen (Rz. 126). Steuerpflichtig ist auch ein Vorausvermächtnis, das ein Erbe zusätzlich zu seinem Erbteil erwirbt (§ 2150 BGB). Das Vorausvermächtnis ist im Einzelfall von der Teilungsanordnung (§ 2048 BGB, dazu Rz. 10) abzugrenzen, die über die Erbquote hinaus keinen zusätzlichen Erwerb begründen soll und bei der der zugewiesene Nachlassgegenstand in vollem Umfang auf den Erbteil angerechnet wird. Ist das Vermächtnis formunwirksam, lassen die Beteiligten das wirtschaftliche Ergebnis des Vermächtnisses aber gleichwohl eintreten, so ist es nach § 41 I AO (§ 5 Rz. 95) auch der ErbSt zugrunde zu legen. Allerdings muss es als Vollzug der Anordnung des Erblassers identifizierbar sein37. Als Erwerb von Todes wegen gilt auch jeder Erwerb, auf den die für Vermächtnisse geltenden Vorschriften des bürgerlichen Rechts Anwendung finden (§ 3 I Nr. 3 ErbStG): sog. Voraus des überlebenden Ehegatten (§ 1932 II BGB), sog. Dreißigster zugunsten Familienangehöriger des Erblassers (§ 1969 II BGB). 14 Pflichtteilsansprüche (§§ 2303 ff. BGB) führen noch nicht wegen ihrer bloßen Existenz, sondern
erst dann zur Steuerpflicht, wenn sie geltend gemacht werden. § 9 I Nr. 1 Buchst. b ErbStG schiebt die Entstehung des Steueranspruchs auf den Zeitpunkt der Geltendmachung des Pflichtteils hinaus und trägt so dem Umstand Rechnung, dass dem Pflichtteilsberechtigten im Unterschied zu Erben und Vermächtnisnehmern keine Ausschlagungs- bzw. Zurückverweisungsbefugnis zusteht38. Zugleich respektiert das Gesetz damit die Gründe, die den Gläubiger im Interesse der Erben oder aus Pietät gegenüber dem Erblasserwillen bewogen haben, von der Einforderung des Anspruchs abzusehen39. Wenn der Gläubiger auf die Durchsetzung seines Anspruchs verzichtet, soll nicht auch noch ErbSt anfallen (s. § 13 I Nr. 11 ErbStG). „Geltend gemacht“ ist der Anspruch nicht erst mit Rechtshängigkeit einer zivilrechtlichen Klage, sondern bereits dann, wenn der Gläubiger sich an den/die Erben wendet und zu erkennen gibt, dass er seinen Anspruch verfolgt40. Die Geltendmachung eines Anspruchs auf Auskunft nach § 2314 I BGB reicht dafür zwar noch nicht aus; allerdings ist auch kei36 Zum Kauf- und Übernahmevermächtnis s. BFH v. 13.8.2008 – II R 7/07, BStBl. II 2008, 982: Bereicherung = gemeiner Wert des aufschiebend bedingten Sachleistungsanspruchs gegen den Beschwerten; Hofmann, DStZ 2003, 838 (840); Daragan, ZErb 2008, 353; krit. Billig, UVR 2002, 42 f.; zum Wahlvermächtnis BFH v. 2.7.2004 – II R 9/02, BStBl. II 2004, 1039 (1040 f.); BFH v. 28.3.2007 – II R 25/05, BStBl. II 2007, 461 (463): Bereicherung = gemeiner Wert des schließlich gewählten Gegenstandes (s. auch Crezelius, ZEV 2004, 476; Ebeling, DStR 2005, 1633; von Elsner, JbFfSt. 2005/2006, 584 (590); Viskorf, FR 2004, 1334; zur Behandlung von Vermächtnissen allgemein s. Piltz, ZEV 2005, 469; zur Unterscheidung von bedingten, befristeten u. betagten Vermächtnissen Brüggemann, ErbBstg. 2014, 197; krit. zum Entstehungszeitpunkt Geck, FS Korn, 2005, 557 (559). 37 BFH v. 15.3.2000 – II R 15/98, BStBl. II 2000, 588 (590); BFH v. 28.3.2007 – II R 25/05, BStBl. II 2007, 461 (462). 38 Seer/Krumm, ZEV 2010, 57 (59 f.); zum Hintergrund auch Bühring, Pflichtteilsrecht und Erbschaftsteuer, Diss., 2011, 102 ff.; vergleichend zwischen Pflichtteilsanspruch und Vermächtnis Muscheler, FS Meincke, 2015, 249. 39 Berresheim, RNotZ 2007, 501 (519 ff.); speziell zu den sog. Pflichtteilsstrafklauseln s. Müller/Grund, ZErb 2007, 205 (206 ff.); Geck, FS Korn, 2005, 557 (565 ff.). 40 Einzelheiten zum Tatbestand des „Geltendmachens“ Muscheler, FS Meincke, 2015, 249 (252 ff.).
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Seer
1. Erwerb von Todes wegen
Rz. 16 § 15
ne Bezifferung des Anspruchs erforderlich41. Ein Pflichtteilsanspruch, der seinerseits durch Erbfall erworben wird, soll allerdings unabhängig von der Geltendmachung durch den Erblasser beim Erben der Erbschaftsteuer unterliegen42. Macht der Pflichtteilsberechtigte nur einen Teilanspruch geltend, entsteht die ErbSt auch nur in Ansehung dieses Teilbetrags43. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass er auf den nicht geltend gemachten Anspruchsteil verzichtet44. Geschieht ein Pflichtteilsverzicht gegen Abfindungsleistung, ist die Abfindung als Surrogat nach § 3 II Nr. 4 ErbStG steuerbar45. 1.3 Erwerb durch Schenkung auf den Todesfall (§ 3 I Nr. 2 ErbStG) Die Schenkung auf den Todesfall ist ein Schenkungsversprechen unter der Bedingung, dass der Be- 15 schenkte den Schenker überlebt (sog. Überlebensbedingung, § 2301 I 1 BGB). Als Erwerb von Todes wegen i.S.d. § 3 I Nr. 2 Satz 1 ErbStG ist auch eine bereits zu Lebzeiten vollzogene Schenkung (§ 2301 II BGB) zu behandeln, bei der die Rechtsfolgen des Erfüllungsgeschäfts mit dem Tode des Schenkers eintreten, ohne dass noch irgendeine weitere Rechtshandlung hinzukommt46. Als Schenkung auf den Todesfall fingieren § 3 I Nr. 2 Satz 2, 3 ErbStG den auf einem Ausscheiden des 16 Gesellschafters beruhenden Übergang des Gesellschaftsanteils bei dessen Tod auf einen anderen Gesellschafter (so bei Personengesellschaften) oder auf die Gesellschaft (bei Kapitalgesellschaften), soweit der Steuerwert des Gesellschaftsanteils (Rz. 70 ff.) Abfindungsansprüche Dritter übersteigt (s. auch § 7 VII ErbStG, dazu Rz. 30)47. Gemeint sind hier vor allem die Fälle der Fortsetzungsklausel bei Personengesellschaften (§ 736 BGB)48 sowie der Einziehungsklausel bei Kapitalgesellschaften (z.B. § 34 41 BFH v. 19.7.2006 – II R 1/05, BStBl. II 2006, 718 (719) m. Anm. Messner, ZEV 2006, 515 f. Zur (steuerlich sinnvollen) Geltendmachung eines Pflichtteils durch einen Alleinerben („gegen sich selbst“) s. BFH v. 19.2.2013 – II R 47/11, BStBl. II 2013, 332 (333 f.); Billig, UVR 2014, 314 (316). 42 BFH v. 7.12.2016 – II R 21/14, BFHE 256, 381 Rz. 15 ff.: Im Unterschied zum Pflichtteilsberechtigten stehe es dessen Erben frei, nach § 1942 BGB die Erbschaft im Ganzen auszuschlagen. Da die spätere Geltendmachung des Pflichtteils durch den Erben nicht besteuert werde, komme es auch zu keiner Doppelbesteuerung; s.a. Loose/Riehl, ErbR 2017, 409; Hülsmann, NWB 2017, 1803; zu möglichen Friktionen s. aber Wachter, ZEV 2017, 283 (286) hinsichtlich der Bewertung des Pflichtteilsanspruchs; Schmidt/Holler, ErbR 2017, 412 (413) hinsichtlich des Abzugs der Pflichtteilsverbindlichkeit als Nachlassverbindlichkeit n. § 10 V Nr. 2 ErbStG (dazu Rz. 126). 43 BFH v. 18.7.1973 – II R 34/69, BStBl. II 1973, 798 (800); a.A. früher RFH v. 14.9.1939 – III e 30/39, RStBl. 1940, 3. 44 Seer/Krumm, ZEV 2010, 57 (62). Behält sich dagegen der Pflichtteilsberechtigte die Geltendmachung des restlichen Pflichtteils vor, ist der Pflichtteilsanspruch im Ganzen geltend gemacht, s. FG Hamburg v. 17.4.1978 – V 234/77, EFG 1978, 555 f.; Seer/Krumm, ZEV 2010, 57 (62); Lohr/Görges, DStR 2011, 1939. 45 S. dazu Rz. 21; Bühring, Pflichtteilsrecht und Erbschaftsteuer, Diss., 2011, 114 ff.; Lohr/Görges, DStR 2011, 1939 (1940 ff.); zu einkommensteuerlichen Folgen s. BFH v. 16.12.2004 – III R 38/00, BStBl. II 2005, 554; Lohr/Görges, DStR 2011, 1890. 46 BFH v. 5.12.1990 – II R 109/86, BStBl. II 1991, 181, unter der Voraussetzung, dass die Zuwendung beim Empfänger zu einer Bereicherung führt u. sich die Beteiligten über die Unentgeltlichkeit der Zuwendung einig sind; zum dogmatischen Verhältnis zwischen § 3 I Nr. 2 und § 7 I Nr. 1 ErbStG s. Wiegand, Das Schenkungsversprechen im Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuerrecht, Diss., 2011, 47 ff.; Hasbach, Gesellschaftsvertragliche Abfindungsklauseln in der Erbschaft- und Schenkungsteuer, Diss., 2014, 43 ff. 47 Da es sich um eine gesetzliche Fiktion einer Schenkung auf den Todesfall handelt, brauchen die Beteiligten sich nicht über die Unentgeltlichkeit der Zuwendung einig zu sein, BFH v. 1.7.1992 – II R 20/90, BStBl. II 1992, 912; Hasbach, Gesellschaftsvertragliche Abfindungsklauseln in der Erbschaft- und Schenkungsteuer, Diss., 2014, 137 ff. m.w.N.; a.A. Klein-Blenkers, Die Bedeutung der subjektiven Merkmale im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, Diss., 1992, 234 ff. 48 Nach BFH v. 31.1.1996 – II R 76/93 soll § 3 I Nr. 2 Satz 2 ErbStG auch dann anwendbar sein, wenn der verstorbene Gesellschafter bei lebzeitigem Ausscheiden nach dem Gesellschaftsvertrag gar keinen Abfindungsanspruch gehabt hätte.
Seer 901
§ 15 Rz. 17
Erbschaft- und Schenkungsteuer
GmbHG)49. Die Vorschrift des § 3 I Nr. 2 Satz 2 ErbStG findet auch dann Anwendung, wenn ein Gesellschafter durch Tod aus einer zweigliedrigen Personengesellschaft ausscheidet und sein Gesellschaftsanteil dem verbliebenen Gesellschafter anwächst (§ 738 I 1 BGB)50. Für den Erben bildet nur der Abfindungsanspruch die steuerbare Bereicherung, und zwar selbst dann, wenn er infolge des Erbfalls zuerst Gesellschafter geworden ist, er den Gesellschaftsanteil aber unverzüglich auf Grund einer entsprechenden gesellschaftsvertraglichen Regelung an die Mitgesellschafter bzw. die Gesellschaft überträgt (s. § 10 X ErbStG). 1.4 Erwerb durch Vertrag zugunsten Dritter auf den Todesfall (§ 3 I Nr. 4 ErbStG) 17
Obwohl der Vertrag zugunsten Dritter auf den Todesfall (§§ 330, 331 BGB) außerhalb des Erbrechts steht, qualifiziert ihn § 3 I Nr. 4 ErbStG wegen seiner materiellen Nähe zu den Schenkungsversprechen i.S.d. § 2301 BGB (Rz. 15) als Erwerb von Todes wegen. Die Besteuerung der im Valutaverhältnis (Versprechensempfänger-Dritter) geschuldeten Leistung ist jedoch nur gerechtfertigt, wenn es sich aus Sicht des Versprechensempfängers (Erblassers) um eine freigebige Zuwendung an den Dritten handelt51. Als Hauptanwendungsfälle der Verträge zugunsten Dritter auf den Todesfall sind zu nennen: Lebensversicherungs-52 und Rentenverträge53, aber auch auf den Namen eines Dritten abgeschlossene Sparverträge. 1.5 Erweiterung um Ergänzungs- und Ersatztatbestände (§ 3 II ErbStG)
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§ 3 II Nr. 1–3, 7 ErbStG ergänzen die Grundtatbestände des § 3 I ErbStG um dort nicht erfasste Erwerbsvorgänge, die ebenfalls durch den Tod eines Vermögensinhabers ausgelöst werden (Ergänzungstatbestände). Dagegen treten die in § 3 II Nr. 4–6 ErbStG aufgeführten Erwerbe an die Stelle von Bereicherungen, die infolge einer rechtserheblichen Disposition des Erwerbers entweder nicht endgültig eintreten konnten oder rückwirkend entfallen sind (Ersatztatbestände).
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§ 3 II Nr. 1 ErbStG qualifiziert den Übergang von Vermögen auf eine wegen einer Anordnung des Erblassers im Todesfalle zu errichtende Stiftung als Erwerb von Todes wegen54. Zur möglichen Steuerbefreiung nach § 13 I Nr. 16b ErbStG s. Rz. 123. Das sog. Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 v. 24.3.1999, BGBl. I, 402, hat § 3 II Nr. 1 ErbStG um Satz 2 ergänzt, wonach auch die vom Erblasser 49 Zu den einzelnen Fallgruppen s. Riedel, ZErb 2009, 2 (Teil I) u. 113 (Teil II); Krumm, NJW 2010, 187; Klose, GmbHR 2010, 300 (Teil I) u. 355 (Teil II); Jesse, FR 2011, 201 (Teil 1), 303 (Teil II); Ivens, GmbHR 2011, 465; Baumann/Seer/Krumm, Fachberater für Unternehmensnachfolge, 2011, Rz. 1696 ff., 1749 ff. 50 BFH v. 1.7.1992 – II R 12/90, BStBl. II 1992, 925 (928); a.A. Haas, Erbschaftsteuerrecht und gesellschaftsrechtliche Nachfolge, Diss., 1996, 72 f.: unzulässige steuerverschärfende Analogie (dazu ausf. § 5 Rz. 81 ff.). 51 So bereits RFH v. 21.5.1931 – I D 1/30, RStBl. 1931, 559; s. auch BFH v. 27.11.1985 – II R 159/82; ausf. zur freigebigen Zuwendung bei Dreiecksverhältnissen Gebel, ZEV 2000, 173. 52 BFH v. 24.10.2001 – II R 10/00, BStBl. II 2002, 153 (154) rechnet dazu auch Lebensversicherungsverträge, die zur Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherung abgeschlossen werden. Zum Zeitpunkt des Vermögenserwerbs BFH v. 7.10.2009 – II R 27/07 Rz. 12; zur erbschaftsteuerlichen Behandlung von Lebensversicherungen allgemein s. Fiedler, DStR 2000, 533; Wilms, UVR 2000, 249; Lehmann, ZEV 2004, 398; Gebel, ZEV 2005, 236; Halaczinsky, UVR 2016, 25. 53 Zur Behandlung von Ansprüchen von Hinterbliebenen aus einer zugunsten des Erblassers von dessen Arbeitgeber abgeschlossenen Direktversicherung s. BFH v. 18.12.2013 – II R 55/12, BStBl. II 2014, 323 (324); speziell zu Hinterbliebenen-Pensionen nach tätigen Gesellschaftern s. BVerfG v. 9.11.1988 – 1 BvR 243/86, BStBl. II 1989, 938; BVerfG v. 5.5.1994 – 2 BvR 397/90, BStBl. II 1994, 547; BFH v. 13.12.1989 – II R 23/85, BStBl. II 1990, 322 (324). 54 Zum Charakter der Vorschrift s. BFH v. 25.10.1995 – II R 20/92, BStBl. II 1996, 99; s. außerdem Gebel, BB 2001, 2554; allgemein zu verselbständigten Nachlassvermögen im Vergleich Birnbaum/Lohbeck/Pöllath, FR 2007, 376 (Teil I: Stiftungen und Vereine) u. 479 (Teil II: Trust).
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1. Erwerb von Todes wegen
Rz. 21 § 15
angeordnete Bildung oder Ausstattung einer Vermögensmasse ausländischen Rechts (insb. eines sog. Trusts55) einen Erwerb von Todes wegen ausmacht. Der Tatbestand wird flankiert durch die schenkungsteuerpflichtigen Tatbestände des § 7 I Nr. 8 Satz 2 u. Nr. 9 Satz 2 ErbStG, die auch den Erwerb durch Zwischenberechtigte aus der Masse sowie den Erwerb bei Auflösung besteuern56. Diese Vorschriften künden vom Ungeist des „Steuerbelastungsgesetzes 1999/2000/2002“, das in einer wahren Hypertrophie vermeintliche „Steuerschlupflöcher“ schließen wollte und hier durch fiktive Zwischenerwerbe systemfremde Doppelbesteuerungseffekte verursacht57. § 3 II Nr. 2 ErbStG stellt dem Vermächtnis (Rz. 13) erbschaftsteuerlich die erbrechtliche Auflage 20 (§§ 1940; 2192 ff. BGB) gleich. Nach § 3 II Nr. 7 ErbStG wird als Erwerb von Todes wegen schließlich auch dasjenige erfasst, was der Vertragserbe oder der Schlusserbe eines gemeinschaftlichen Testaments wegen beeinträchtigender Schenkungen des Erblasser nach § 2287 BGB (analog) vom Beschenkten erlangt58. § 3 II Nr. 4, 5 ErbStG erfassen Surrogate (Abfindungen), die der Begünstigte für den Verzicht auf 21 Pflichtteilsansprüche (Rz. 14)59, auf Vermächtnisse (Rz. 13), die Zurückweisung eines Rechts aus einem Vertrag des Erblassers zugunsten eines Dritten (Rz. 17) oder für die Ausschlagung einer Erbschaft (Rz. 11) erhält60. Dem stellt § 3 II Nr. 6 ErbStG das Entgelt gleich, das ein Nacherbe (Rz. 12) für die Übertragung seiner im Vorerbfall entstehenden Anwartschaft erhält. In Gestalt der Surrogationstatbestände legt das ErbStG eine wirtschaftliche Betrachtungsweise an den Tag, um dem Bereicherungsprinzip widersprechende Besteuerungslücken zu schließen (s. außerdem Rz. 29 ff.). Aus Sicht der Stpfl. bieten sich Abfindungsvereinbarungen an, um die Folgen steuerlich ungünstiger testamentarischer Anordnungen (z.B. des sog. Berliner Testaments, s. Rz. 8) abzumildern. Nach bisher st. Rspr. ist auch das Ergebnis eines ernsthaft gemeinten Erbvergleichs der Erbschaftsbesteuerung zugrunde zu le-
55 Überblick über die verschiedenen Arten von Trusts bei Richter/Haag, FS Meincke, 2015, 299 ff. 56 Dazu BFH v. 27.9.2012 – II R 45/10, BStBl. II 2013, 84 (85 f.); allerdings ist es ernstlich zweifelhaft, ob auch satzungsmäßige Zuwendungen ausländischer Stiftungen an ihre satzungsmäßig Berechtigten unter § 7 I Nr. 9 Satz 2 ErbStG fallen, zumal nach § 20 I Nr. 9 Satz 2 EStG (s. § 8 Rz. 496) eine Doppelbesteuerung von Einkommen- und Schenkungsteuer droht (s. BFH v. 21.7.2014 – II B 40/14 Rz. 15; derzeit anhängig: Rev. II R 6/16); zum Problemkreis s. auch Linn/Schmitz, DStR 2014, 2541; Richter/ Haag, FS Meincke, 2015, 299 (310 ff.); Werner, ZEV 2016, 133. 57 Mit Recht krit. Jülicher, IStR 1999, 109 u. 202; Schindhelm/Stein, FR 1999, 880; Schindhelm/Stein, StuW 1999, 31 (dort zum Trust); Söffing/Kirsten, DB 1999, 1626; ausf. Klein, Ausländische Zivilrechtsformen im deutschen Erbschaftsteuerrecht, 2000, Rz. 245 ff. (zum Trust), 267 ff.; zum Trust außerdem: Habammer, DStR 2002, 425; von Oertzen, DStR 2002, 433; Wienbracke, StBp. 2008, 153. 58 BFH v. 6.3.1991 – II R 69/87, BStBl. II 1991, 412, hatte die Erfassung des Anspruchs des Vertragserben aus § 2287 BGB mangels Rechtgrundlage ursprünglich für rechtswidrig erachtet, woraufhin der Gesetzgeber § 3 II Nr. 7 ErbStG mit dem StÄndG 1992 v. 25.2.1992, BGBl. I 1992, 297, ergänzt hat. Dabei übersah er aber, dass § 2287 BGB auch auf den Schlusserben eines gemeinschaftlichen Testaments analog angewendet wird. Die Neufassung des § 3 II Nr. 7 ErbStG durch das ErbStRG 2009 zieht daraus klarstellend die folgerichtige Konsequenz (so bereits zur früheren Fassung BFH v. 8.8.2000 – II R 40/98, BStBl. II 2000, 587 [588]). 59 § 3 Abs. 2 Nr. 4 ErbStG erfasst nur Abfindungen für den Verzicht auf entstandene Pflichtteilsansprüche. Die Abfindung, die ein künftiger gesetzlicher Erbe an einen anderen gesetzlichen Erben für den Verzicht auf einen künftigen Pflichtteilsanspruch zahlt, wird dagegen als eine freigebige Zuwendung i.S. des § 7 I Nr. 1 ErbStG (s. Rz. 22) des künftigen gesetzlichen Erben behandelt, s. BFH v. 25.1.2001 – II R 22/98, BStBl. II 2001, 456 (457 f.); BFH v. 16.5.2013 – II R 21/11, BStBl. II 2013, 922 f. Die Steuerklasse (s. Rz. 136) richtet sich dabei konsequenterweise nach dem Verhältnis zum künftigen Erben (und nicht zum künftigen Erblasser), s. nun BFH v. 10.5.2017 – II R 25/15, BFHE 258, 81 Rz. 11 ff. (insoweit unter Korrektur der vorgenannten Rspr.); auch eine Zusammenrechnung nach § 14 ErbStG mit Vorerwerben (s. Rz. 145) vom künftigen Erblasser findet nicht statt. 60 Dazu ausf. Meincke, ZEV 2000, 214; Berresheim, RNotZ 2007, 501 ff.; instruktiv zu Abfindungen für einen Pflichtteilsverzicht Löhr/Görges, DStR 2011, 1939 (1940 ff.).
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§ 15 Rz. 22
Erbschaft- und Schenkungsteuer
gen61. Dass dies auch für den Fall des Erprätendenten gilt, hat das StUmgBekG vom 23.6.2017 durch Erweiterung des § 3 II Nr. 4 ErbStG (BGBl. I 2017, 1682 [1688]) klar gestellt62. 2. Schenkung unter Lebenden (§§ 1 I Nr. 2; 7 ErbStG) Der Schenkungsteuer unterliegen Schenkungen unter Lebenden, die § 7 ErbStG in einem abschließenden Katalog definiert. 2.1 Grundtatbestand der freigebigen Zuwendung unter Lebenden (§ 7 I Nr. 1 ErbStG) 22 Als Schenkungen unter Lebenden gelten nach dem Grundtatbestand des § 7 I Nr. 1 ErbStG vor-
nehmlich freigebige Zuwendungen unter Lebenden, soweit der Bedachte durch sie auf Kosten des Zuwendenden bereichert wird. Darunter fallen zunächst alle Schenkungen i.S.d. § 516 I BGB. Der steuerrechtliche Begriff der freigebigen Zuwendung ist jedoch als Ausdruck einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise (§ 5 Rz. 70) weiter gefasst. Während die Schenkung nach § 516 I BGB das beiderseitige Einverständnis über die Unentgeltlichkeit voraussetzt, bedarf es bei der „freigebigen Zuwendung“ nur des „Willens zur Unentgeltlichkeit“ auf Seiten des Zuwendenden63. Der Wille zur Unentgeltlichkeit liegt nach der Rspr. dann vor, „wenn der Zuwendende in dem Bewusstsein handelt, zu der Vermögenshingabe weder rechtlich verpflichtet zu sein noch dafür eine mit seiner Leistung in einem synallagmatischen, konditionalen oder kausalen Zusammenhang stehende Gegenleistung zu erhalten“64. Dabei sind zivilrechtliche Gestaltungsfreiheiten zu beachten65. An der Unentgeltlichkeit fehlt es daher bspw., wenn der Erwerber einen Gegenstand absprachegemäß wieder zurückgewähren muss, wie insb. bei Leih- und Treuhandverhältnissen (allerdings kann die bloße Nutzungsmöglichkeit eine steuerbare Bereicherung begründen)66. 23 Der Zuwendende muss die Unentgeltlichkeit seiner Leistung wenigstens „nach Laienart“ erfasst ha-
ben (Parallelwertung in der Laiensphäre). Die innere Tatsache ist anhand objektiver Umstände zu verifizieren, so dass auf einen Willen zur Unentgeltlichkeit etwa dann geschlossen werden kann, wenn 61 So bereits RFH v. 10.10.1935 – III e A 15/35, RStBl. 1935, 1485; RFH v. 27.7.1938 – III e 12/38, RStBl.1938, 929; RFH v. 30.7.1942 – III e 16/41, RStBl. 1942, 1063; später BFH v. 24.7.1972 – II R 35/70, BStBl. II 1972, 886; BFH v. 22.11.1995 – II R 89/93, BStBl. II 1996, 242; zur Auslegung eines Erbvergleichs s. BFH v. 27.9.2012 – II R 52/11; s.a. Berresheim, RNotZ 2007, 501 (525 ff.). 62 S. dazu Kamps, Stbg. 2017, 18; zur alten Rechtslage s. 22. Aufl., Rz. 21. 63 BFH v. 1.7.1992 – II R 70/88, BStBl. II 1992, 921 (923); BFH v. 2.3.1994 – II R 59/92, BStBl. II 1994, 366 (369); BFH v. 14.6.1995 – II R 92/92, BStBl. II 1995, 609; BFH v. 29.10.1997 – II R 60/94, BStBl. II 1997, 832 (834); zum Problem ausf. Klein-Blenkers, Die Bedeutung der subjektiven Merkmale im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, Diss., 1992, 100 ff., 123. 64 S. etwa BFH v. 17.10.2007 – II R 53/05, BStBl. II 2008, 256, für eine Zuwendung von Geld für einen Teilverzicht auf nachehelichen Unterhalt (s. Schlünder/Geißler, FR 2008, 530; Münch, DStR 2008, 26); BFH v. 20.5.2014 – II R 7/13, BStBl. II 2014, 896, für den vorzeitigen unentgeltlichen Verzicht auf ein vorbehaltenes Nießbrauchsrecht; demgegenüber fordert Klein-Blenkers, ZEV 1994, 221 (224) zusätzlich einen auf die Bereicherung gerichteten, weiter gehenden „Willen zur schenkweisen Zuwendung“. 65 BFH v. 12.7.2005 – II R 29/02, BStBl. II 2005, 843 (845): keine freigebige Zuwendung bei Erfüllung einer Ausgleichsforderung auf Grund ehevertraglicher Beendigung des Güterstands der Zugewinngemeinschaft, selbst wenn der Güterstand der Zugewinngemeinschaft im Anschluss an die Beendigung wieder neu entsteht (Modell der „Güterstandsschaukel“; anders aber BFH v. 28.6.2007 – II R 12/06, BStBl. II 2007, 785 [786 f.], wenn der Güterstand der Zugewinngemeinschaft fortgeführt wird); Schlünder/Geißler, ZEV 2005, 505; Wachter, FR 2006, 42; Kensbock/Menhorn, DStR 2006, 1073. 66 S. etwa BFH v. 27.10.2010 – II R 37/09, BStBl. II 2011, 134 (136); BFH v. 27.11.2013 – II R 25/12 Rz. 11; anders jedoch BFH v. 31.3.2010 – II R 22/09, BStBl. II 2010, 806 (807 f.) zur Vermeidung eines Wertungswiderspruchs zu § 3 I Nr. 1 ErbStG (s. Rz. 14) für die zinslose Stundung eines nicht geltend gemachten Pflichtteilsanspruchs; zur freigebigen Zuwendung eines Nutzungsvorteils bei Gewährung eines zinslosen Darlehens s. BFH v. 27.11.2013 – II R 25/12; s.a. Jülicher, ZErb 2007, 361 (362); Noll, FS Schaumburg, 2009, 1025 (1032) m.w.N.
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Seer
2. Schenkung unter Lebenden
Rz. 24 § 15
zwischen Leistung und Gegenleistung ein auffälliges Missverhältnis besteht (zur gemischten Schenkung s. Rz. 25) und die Beteiligten verwandtschaftlich miteinander verbunden sind67. Demgegenüber existiert im Geschäftsleben der Erfahrungssatz, dass sich Kaufleute nichts zu schenken pflegen68. Im Bereich geschäftlicher Beziehungen kann deshalb auch bei objektiver Ungleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung der Wille zur Unentgeltlichkeit fehlen, wenn für die Leistung aus Sicht des Leistenden sein geschäftliches Interesse ganz im Vordergrund gestanden hat69. Eine freigebige Zuwendung liegt auch nicht bereits in der Übernahme einer Bürgschaft. Sie führt erst dann zur Steuerpflicht, wenn nach den objektiven Umständen der Schuldner vom Bürgen endgültig von der gegen ihn weiterbestehenden Forderung befreit werden soll70. Obwohl bereits ein formgültiges Schenkungsversprechen eine Forderung und damit eine vermögensmäßige Bereicherung des Beschenkten ausmacht, entsteht die Schenkungsteuer gem. § 9 I Nr. 2 ErbStG erst im Zeitpunkt der Ausführung (Erfüllung) des Schenkungsversprechens (s. Rz. 131)71. Der Gegenstand der freigebigen Zuwendung richtet sich nach dem bürgerlichen Recht72. Fragen der 24 wirtschaftlichen Zuordnung von Wirtschaftsgütern bleiben im Erbschaftsteuerrecht grds. außer Betracht. Die Zurechnung richtet sich vielmehr vornehmlich nach der zivilrechtlichen Lage73. Der Empfänger ist folglich erst dann bereichert, wenn er über den Zuwendungsgegenstand tatsächlich und rechtlich frei verfügen kann74. Die Bereicherung des Bedachten kann sowohl in einer Mehrung seines Vermögens, in der Verringerung seiner Schulden oder einer bloßen Nutzungsmöglichkeit (z.B. der zinslosen Stundung einer Forderung) liegen. Bei Vermögenstransfers societas causa, d.h. solchen zwischen Kapitalgesellschaft und Gesellschafter, liegt keine freigebige Zuwendung vor75. Um eine sich daraus ergebende Besteuerungslücke zu schließen, hat der Gesetzgeber mit dem BeitrRLUmsG v. 7.12.2011 in § 7 VIII 1 ErbStG mit Wirkung v. 14.12.2011 einen weiteren Steuertatbestand fingiert (dazu Rz. 31). Ist der Begünstigte einer verdeckten Gewinnausschüttung ein nahestehender Dritter, 67 BFH v. 1.7.1992 – II R 20/90, BStBl. II 1992, 912 (914); BFH v. 13.9.2017 – II R 54/15 u. II R 42/16, jeweils Rz. 16: bei Unausgewogenheit gegenseitiger Verträge reicht regelmäßig das Bewusstsein des einseitig benachteiligten Vertragspartners über den Mehrwert seiner Leistung aus; auf die Kenntnis des genauen Ausmaßes des Wertunterschiedes kommt es nicht an; vgl. auch die objektivierende Theorie von Schulze-Osterloh, StuW 1977, 122 (135). 68 Dazu krit. Hartmann, UVR 1996, 39 (41); Hartmann, DStZ 1998, 508; Mößlang, UVR 1998, 13; Viskorf, Stbg. 1998, 337. 69 BFH v. 29.10.1997 – II R 60/94, BStBl. II 1997, 832 (835); zum Sponsoring s. Mückl, StuW 2007, 122; speziell zur freigebigen Zuwendung an Sportvereine s. BFH v. 15.3.2007 – II R 5/04, BStBl. II 2007, 472 (476 ff.) m. krit. Anm. Mückl, BB 2007, 1095; außerdem Viskorf, ZEV 2007, 285 (291); Eggers, DStR 2007, 1752. 70 BFH v. 12.7.2000 – II R 26/98, BStBl. II 2000, 596; dazu Anm. Hartmann, UVR 2000, 448. 71 Dazu ausf. Wiegand, Das Schenkungsversprechen im Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuerrecht, Diss., 2011, 40 ff. 72 BFH v. 12.7.2005 – II R 29/02, BStBl. II 2005, 843 (844); anschaulich für die exakte Bestimmung des Zuwendungsgegenstandes BFH v. 16.1.2008 – II R 10/06, BStBl. II 2008, 631: Mit der schenkungsweisen Einräumung einer typischen Unterbeteiligung an einem Gesellschaftsanteil wird kein Gegenstand zugewendet, wenn es sich um eine reine Innengesellschaft ohne die Bildung von Gesamthandsvermögen handelt. Der Unterbeteiligte erwirbt nur ein „Bündel schuldrechtlicher Ansprüche“. Bereichert ist er erst dann, wenn ihm aus der Unterbeteiligung tatsächlich Gewinnausschüttungen zufließen (a.A. Hübner, ZEV 2008, 254). 73 BFH v. 22.9.1982 – II R 61/80, BStBl. II 1983, 179; BFH v. 29.11.2006 – II R 42/05, BStBl. II 2007, 319 (321); BFH v. 7.11.2007 – II R 28/06, BStBl. II 2008, 258 (259); BFH v. 9.7.2009 – II R 47/07, BStBl. II 2010, 74 (75); BFH v. 9.12.2009 – II R 22/08, BStBl. II 2010, 363 f.; Noll, FS Schaumburg, 2009, 1025 (1027). 74 BFH v. 28.6.2007 – II R 21/05, BStBl. II 2007, 669; BFH v. 22.8.2007 – II R 33/06, BStBl. II 2008, 28; eingehend zu den Zurechnungsfragen bei der „Schenkung unter Vorbehalt“ Escher, FR 2008, 985. 75 Zur verdeckten Gewinnausschüttung BFH v. 13.9.2017 – II R 54/15, II R 32/16 u. II R 42/16; zuvor BFH v. 7.11.2007 – II R 28/06, BStBl. II 2008, 258); BFH v. 30.1.2013 – II R 6/12, BStBl. II 2013, 930 (933); zur verdeckten (disquotalen) Einlage s. nur BFH v. 9.12.2009 – II R 28/08, BStBl. II 2010, 566.
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§ 15 Rz. 25
Erbschaft- und Schenkungsteuer
kann im Verhältnis des Gesellschafters zu diesem Dritten eine freigebige Zuwendung i.S. des § 7 I Nr. 1 ErbStG vorliegen76. 2.2 Gemischte Schenkung/Schenkung unter Auflage 25
Wenn bei einem gegenseitigen Vertrag Leistung und Gegenleistung in einem evidenten Missverhältnis stehen, kann regelmäßig auf eine gemischte Schenkung geschlossen werden (s. Rz. 23). Eine gemischte Schenkung ist gegeben, wenn einer höherwertige Leistung eine Leistung von geringerem Wert gegenübersteht und die höherwertige Leistung neben Elementen der Freigiebigkeit auch Elemente eines Austauschvertrages enthält, ohne dass sich die höherwertige Leistung in zwei selbständige Leistungen aufteilen lässt77. Als gemischte Schenkung ist es auch zu werten, wenn der Erwerber verpflichtet ist, ein Gleichstellungsgeld an einen Dritten zu zahlen78. Von der gemischten Schenkung ist die Schenkung unter Auflage (§ 525 BGB) abzugrenzen79. Während bei der Schenkung unter Auflage der ganze Gegenstand verschenkt wird, setzt sich die gemischte Schenkung aus einem unentgeltlichen und einem entgeltlichen Rechtsgeschäft zusammen. In Anknüpfung an diese zivilrechtliche Ausgangslage zerlegt der BFH die gemischte Schenkung in einen entgeltlichen und einen unentgeltlichen Teil, so dass nach § 7 I Nr. 1 ErbStG („soweit“) nur der unentgeltliche Teil der Besteuerung unterliegt. Folgerichtig hat er für die Schenkungsteuer den Steuerwert der Bereicherung nach §§ 10 ff. ErbStG bisher nur quotal mit der Folge angesetzt, dass ein zusätzlicher Abzug des Werts der Gegenleistung unterblieb80. Der BFH praktizierte dazu bisher eine Verhältnisrechnung, die ergebnisorientiert verhindern sollte, dass sich bei einer gemischten Schenkung durch den Abzug der Gegenleistung von einem niedrigen Steuerwert (z.B. dem bis zum 31.12.1995 geltenden Einheitswert) eine negative Bemessungsgrundlage errechnete, obwohl der Erwerber in Wirklichkeit bereichert war. Nach der vom BVerfG erzwungenen konsequenten Ausrichtung der Bemessungsgrundlage am Verkehrswert (Rz. 58) bedarf es dieser Krücke nicht mehr. Deshalb sieht R E 7.4 ErbStR 2011 nunmehr sowohl für gemischte Schenkungen als auch für Schenkungen unter Auflage wieder eine Saldomethode vor, bei der in den Grenzen des § 10 VI ErbStG (s. Rz. 129) vom vollen Gegenstandswert die Gegenleistung oder Belastung abgezogen wird81.
26
Beim Erwerb einer Beteiligung an einer vermögensverwaltenden Personengesellschaft oder einer anderen Gesamthandsgemeinschaft (z.B. an einer Erbengemeinschaft) fingiert § 10 I 4 ErbStG die Haftung des Erwerbers für die Verbindlichkeiten der Gesamthand (vgl. §§ 130; 128 HGB [analog]) als Gegenleistung, soweit er hierfür gesellschaftsintern, d.h. regelmäßig entsprechend seiner Beteiligungsquote, einzustehen hat82. Auch insoweit können daher die Grundsätze zur gemischten Schenkung zur
76 Zutr. BFH v. 13.9.2017 – II R 54/15, II R 32/16 u. II R 42/16; Rz. 35 ff. bzw. 37 ff., unter Aufgabe seiner in BFH v. 7.11.2007 – II R 28/06, BStBl. II 2008, 258, unter II.2. noch anderslautenden Meinung. 77 BFH v. 30.1.2013 – II R 6/12, BStBl. II 2013, 930 Rz. 12; BFH v. 13.9.2017 – II R 54/15, II R 32/16 u. II R 42/16; Rz. 15 bzw. 14. 78 BFH v. 23.10.2002 – II R 71/00, BStBl. II 2003, 162 (163 f.): Im Verhältnis des Zuwendenden zum Dritten liegt regelmäßig eine (weitere) freigebige Zuwendung (Forderungsschenkung). 79 Ausf. hierzu Hecht, Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen, Diss., 2012, 161 ff. 80 BFH v. 21.10.1981 – II R 176/78, BStBl. II 1982, 83; BFH v. 14.7.1982 – II R 125/79, BStBl. II 1982, 714; BFH v. 12.4.1989 – II R 37/87, BStBl. II 1989, 524; BFH v. 8.2.2006 – II R 38/04, BStBl. II 2006, 475 (476). 81 Zur neugefassten Verwaltungsvorschrift s. Gräfe, DStR 2012, 65. 82 Die Bestimmung wurde mit dem ErbStRG 2009 eingefügt. Ohne § 10 I 4 ErbStG wäre die Haftung in Ansehung der Gesellschaftsverbindlichkeiten keine Gegenleistung (BFH v. 1.7.1992 – II R 108/88, BStBl. II 1992, 923; BFH v. 14.12.1995 – II R 79/94, BStBl. II 1996, 546; BFH v. 17.2.1999 – II R 65/97, BStBl. II 1999, 476 [nur LS]); zur Grundstücksschenkung gegen Übernahme von Grundstückslasten bei Freistellung im Innenverhältnis s. BFH v. 17.10.2001 – II R 60/99, BStBl. II 2002, 165 (166 f.) m. krit. Anm. Sedlaczek, UVR 2002, 243. Aufschiebend bedingte Gegenleistungen sind jedoch erst nach Bedingungseintritt zu berücksichtigen, s. BFH v. 8.2.2006 – II R 38/04, BStBl. II 2006, 475 (476) m. Anm.
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2. Schenkung unter Lebenden
Rz. 28 § 15
Anwendung gelangen. Fällt die Beteiligung hingegen unter § 97 I Nr. 5 BewG, fließen die Verbindlichkeiten bereits in die Bewertung der wirtschaftlichen Einheit mit ein (s. Rz. 70 f., 74). Lediglich in den Fällen, in denen für das übertragene Vermögen ein Verschonungsabschlag (vgl. 27 §§ 13a–13d ErbStG) in Anspruch genommen werden kann, muss dafür Sorge getragen werden, dass die (bereits bei der Bewertung der wirtschaftlichen Einheit berücksichtigte) Gegenleistung nicht in voller Höhe, sondern ebenfalls nur entsprechend dem Verschonungsabschlag Berücksichtigung findet (s. § 10 VI 4 f. ErbStG)83. 2.3 Mittelbare Schenkung Das Tatbestandsmerkmal des § 7 I Nr. 1 ErbStG „Bereicherung auf Kosten des Zuwendenden“ erfor- 28 dert nicht, dass der das Vermögen des Zuwendenden schmälernde Entreicherungsgegenstand mit dem das Vermögen des Empfängers vermehrenden Bereicherungsgegenstand identisch ist84. Es genügt vielmehr, dass der Zuwendende einem anderen mit seinen Mitteln einen Gegenstand von einem Dritten verschafft, ohne dass er selbst zunächst Eigentümer geworden ist. Für die Schenkungsteuer maßgebend ist die tatsächliche Bereicherung, die sich danach richtet, was der Bedachte endgültig erhält85. Schenkt jemand einem anderen z.B. einen Geldbetrag zum Erwerb eines Grundstücks, so ist es eine Frage des Einzelfalls, ob (unmittelbar) der Geldbetrag oder (mittelbar) letztlich das Grundstück zugewendet worden ist. Die Rspr. grenzt dies danach ab, ob in der Schenkungsabrede ein bestimmtes Objekt als Gegenstand der Zuwendung festgehalten ist. In diesem Fall liegt eine mittelbare Grundstücksschenkung vor, wenn der Beschenkte im Verhältnis zum Schenker über das Geld nicht frei verfügen, sondern es nur zum Kauf eines konkret bezeichneten Grundstücks verwenden darf86. Die Bedeutung der mittelbaren Schenkung ergab sich bis zum ErbStRG 2009 vornehmlich daraus, dass nach st. Rspr. als Bereicherung nicht der Geldbetrag, sondern der Steuerwert (des Grundstücks) gelten sollte87. Diese Rspr. war ebenso wie die Judikatur zur gemischten Schenkung (Rz. 25) vom Bemühen getragen, durch Bewertungsschieflagen provozierte Zufälligkeiten (Geld- oder Grundstücksschenkung?) zu vermeiden, aber letztlich zum Scheitern verurteilt. Nach Vereinheitlichung des Bewertungsmaßstabs (Rz. 58) könnte sie getrost aufgegeben werden. Allerdings halten sowohl R E 7.3 I ErbStR 2011 als auch der BFH derzeit weiterhin an der Rechtsfigur der mittelbaren Schenkung fest88.
83 84 85 86
87 88
Seifried, ZEV 2006, 279; zu im Zusammenhang mit Grundstücksübertragungen übernommenen Pflegeverpflichtungen s. ErbStH 7.4 (1), BStBl. I 2014, 891. Dazu Pach-Hanssenheimb, DStR 2009, 466 (467 f.). BFH v. 13.3.1996 – II R 51/95, BStBl. II 1996, 548; BFH v. 10.11.2004 – II R 44/02, BStBl. II 2005, 188 (189); BFH v. 29.6.2005 – II R 52/03, BStBl. II 2005, 800 (801); BFH v. 22.6.2010 – II R 40/08, BStBl. II 2010, 843 (844); BFH v. 28.3.2012 – II R 39/10, BStBl. II 2012, 712 (715). BFH v. 26.9.1990 – II R 50/88, BStBl. II 1991, 32; BFH v. 10.11.2004 – II R 44/02, BStBl. II 2005, 188 (189). BFH v. 11.10.1978 – II R 142/72, BStBl. II 1979, 533; BFH v. 28.11.1984 – II R 133/83, BStBl. II 1985, 159; BFH v. 5.2.1986 – II R 188/83, BStBl. II 1986, 460; R E 7.3 I ErbStR 2011; ausf. zur mittelbaren Schenkung Viskorf, ErbR 2006, 44 (Teil 1), 71 (Teil 2); Lehmann, Gesellschaftsrechtliche Gestaltungen im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, Diss., 2009, 139 ff. (zur mittelbaren Anteilsschenkung). Diese Grundsätze fanden hingegen auf Erwerbe von Todes wegen keine Anwendung (BFH v. 23.1.1991 – II B 46/90, BStBl. II 1991, 310; a.A. Hübner, DStR 2003, 4 [7 f.]). BFH v. 22.6.2010 – II R 40/08, BStBl. II 2010, 843 (844); BFH v. 28.3.2012 – II R 39/10, BStBl. II 2012, 712 Rz. 25 ff.; BFH v. 22.10.2014 – II R 26/13, BStBl. II 2015, 239 Rz. 13, wo aber eine mittelbare Schenkung eines Lebensversicherungsanspruchs bei Übernahme der laufenden Zahlungen der Versicherungsprämien durch einen Dritten verneint worden ist (Gegenstand der Zuwendung ist vielmehr die Versicherungsprämie).
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§ 15 Rz. 29
Erbschaft- und Schenkungsteuer
2.4 Erweiterung um Ergänzungs- und Ersatztatbestände (§ 7 I Nr. 2–10, V–VII ErbStG) 29 Die in § 7 ErbStG ferner aufgeführten steuerpflichtigen Erwerbsvorgänge (§ 7 I Nr. 2–10 ErbStG)
könnten bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise auch als freigebige Zuwendungen i.S.d. Grundtatbestands angesehen werden89. Ihre Aufzählung dient vor allem der Rechtssicherheit. Vergleichbar mit § 3 II ErbStG (Rz. 18 ff.) handelt es sich um Ergänzungs- (§ 7 I Nr. 2–4, 7–9 ErbStG) und Ersatztatbestände (§ 7 I Nr. 5, 6, 10 ErbStG). 30 § 7 V–VII ErbStG enthalten Sonderregelungen zur Gesellschafternachfolge unter Lebenden. Die
Regelung des § 7 VII ErbStG entspricht der Vorschrift des § 3 I Nr. 2 Satz 2 ErbStG (Rz. 16), betrifft das Ausscheiden aus anderen Gründen als durch Tod und fingiert eine gemischte Schenkung für den Fall einer unterhalb des Steuerwerts des Anteils verbleibenden Abfindung (z.B. Buchwertklausel)90. § 7 V ErbStG ist systematisch deplatziert, da er die Wertermittlung (§§ 10 ff. ErbStG) für den Fall der Anteilszuwendung mit Buchwertklausel regelt. § 7 VI ErbStG fingiert – ebenfalls wenig geglückt – eine selbständige Schenkung für den Fall, dass ein Personengesellschaftsanteil mit einem Übermaß an Gewinnbeteiligung ausgestattet wird. 31 Eine disquotale (verdeckte) Einlage eines Gesellschafters einer Kapitalgesellschaft begründet wegen
der gesellschaftsrechtlichen Veranlassung keine freigebige Zuwendung i.S.d. § 7 I Nr. 1 ErbStG an die Kapitalgesellschaft; nach Auffassung des BFH, der sich einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise versagt, fehlt es auch an einer freigebigen Zuwendung an die durch die disquotale Einlage mittelbar bereicherten Mitgesellschafter91. Um den sich daraus ergebenden Steuergestaltungsmöglichkeiten zu begegnen (s. BT-Drucks. 17/7524, 21), fingiert mit Wirkung v. 14.12.2011 der durch das BeitrRLUmsG v. 7.12.2011, BGBl. I, 2592 (2614), angefügte § 7 VIII 1 ErbStG eine Schenkung an den Mitgesellschafter insoweit, als die verdeckte Einlage zu einer Werterhöhung des Anteils der Mitgesellschafter führt. § 7 VIII 1 ErbStG stellt damit die disquotale (verdeckte) Einlage schenkungsteuerlich einer direkten Zuwendung zwischen Mitgesellschaftern gleich. Die Regelung des § 7 VIII 1 ErbStG ist insoweit problematisch, als sie über die Fälle der verdeckten Einlage hinausgeht und auch Zuwendungen Dritter (Nichtgesellschafter) erfasst92. Der überschießende Wortlaut ist aber zumindest in den Fällen, in denen Gläubiger (z.B. Banken) zur Sanierung der Kapitalgesellschaft auf Forderungen verzichten, teleologisch zu reduzieren (vgl. BT-Drucks. 17/7524, 21)93. Im Konzernverbund getätigte verdeckte Gewinnaus-
89 So ordnen BFH v. 25.1.2001 – II R 22/98, BStBl. II 2001, 456 (457 f.); BFH v. 16.5.2013 – II R 21/11, BStBl. II 2013, 922 f. eine in einem Erbschaftsvertrag zwischen Geschwistern (als gesetzliche Erben) für einen Pflichtteilsverzicht versprochene Abfindung als freigebige Zuwendung ein (s. bei Rz. 21; Lohr/ Görges, DStR 2011, 1939 [1940 f.]). Dem entspricht es wertungsmäßig, dass § 7 I Nr. 5 ErbStG eine Abfindung für einen Erbverzicht, den ein gesetzlicher Erbe gegenüber dem Erblasser erklärt hat, als steuerpflichtige freigebige Zuwendung behandelt. 90 Zu den Fallgruppen s. Riedel, ZErb 2009, 2 (Teil I) u. 113 (Teil II); Krumm, NJW 2010, 187; Klose, GmbHR 2010, 300 (Teil I) u. 355 (Teil II); Jesse, FR 2011, 201 (Teil I), 303 (Teil II); Ivens, GmbHR 2011, 465; Baumann/Seer/Krumm, Fachberater für Unternehmensnachfolge, 2011, Rz. 1696 ff., 1749 ff.; Pichler, Das Prinzip der Anwachsung, Diss., 2014, 235 ff. 91 BFH v. 9.12.2009 – II R 28/08, BStBl. II 2010, 566 f.; Christ, ZEV 2011, 10 (11); Christ, ZEV 2011, 63; a.A. gleich lautende Ländererlasse v. 14.3.2012 – 3-S 380.6/84 u.a., BStBl. I 2012, 331, Rz. 2.6.1. u. 2. Ob daran angesichts der Äußerungen des BFH v. 13.9.2017 zur Zuwendung an einen nahestehenden Dritten bei einer verdeckten Gewinnausschüttung (s.o. Rz. 24) festzuhalten ist, erscheint fraglich; s.a. BFH v. 27.8.2014 – II R 43/12, BStBl. II 2015, 241, wenn im Zuge einer Kapitalerhöhung ein Neugesellschafter (Dritter) begünstigt wird. 92 Dazu Ländererlasse v. 14.3.2012 – 3 S 380 6/84 u.a. BStBl. I 2012, 331; van Lishaut/Ebber/Schmitz, Ubg 2012, 1; Höne, UVR 2012, 10; Milatz/Herbst, ZEV 2012, 21; M. Fischer, ZEV 2012, 77; Viskorf/Haag, DStR 2012, 1166; Schulte/Petschulat, Disquotale Einlagen und verdeckte Gewinnausschüttungen im Schenkungsteuerrecht, ifst-Schrift 484 (2013), 30 ff. 93 Kahlert/Schmidt, DStR 2012, 1208; Ebbinghaus/Osenroth/Hinz, BB 2013, 1374 (1380 f.); Seer, DStR 2014/42, Beihefter, 117 (135 f.).
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4. Ersatzerbschaftsteuer bei Familienstiftungen und -vereinen
Rz. 34 § 15
schüttungen (wie auch verdeckte Einlagen) sind aber nur steuerpflichtig, wenn auch ein Bereicherungswille nachweisbar ist (§ 7 VIII 2 ErbStG, s. BT-Drucks. 17/7524, 21). 3. Zweckzuwendung (§§ 1 I Nr. 3; 8 ErbStG) Das sind Zuwendungen von Todes wegen oder freigebige Zuwendungen unter Lebenden, die mit der 32 Auflage verbunden sind, zugunsten eines bestimmten Zwecks verwendet zu werden, oder die von der Verwendung zugunsten eines bestimmten Zwecks abhängig sind. Die Eigenart der Zweckzuwendung besteht darin, dass das Zugewandte keiner bestimmten Person, sondern einem objektiv bestimmten Zweck zugute kommen soll (RT-Drucks. 1/4856, 13, zum ErbStG 1922). Die Steuerpflicht der Zweckzuwendung soll Entlastungswirkungen bei der steuerpflichtigen Zuwendung neutralisieren94. Der Erwerber (einer Zuwendung unter Auflage) hat den eigenen Erwerb nur abzüglich des zur Erfüllung der Zweckauflage erforderlichen Betrages (s. § 10 V Nr. 2 ErbStG, Rz. 126) zu versteuern. Damit dieser insoweit nicht erfasste Betrag der Zuwendung i.Erg. nicht unversteuert bleibt, wird er als „Zweckzuwendung“ der Besteuerung unterworfen. Die Zweckzuwendung führt daher nur insoweit zu einer Steuerpflicht, als hierdurch die Bereicherung des Erwerbers gemindert wird (§ 8 ErbStG). Der Tatbestand der „Zweckzuwendung“ lässt sich mangels einer bereicherten Person95 jedoch im Rahmen einer Bereicherungssteuer (Rz. 1) nicht rechtfertigen und ist ein Überbleibsel des schlichten Verkehrsteuergedankens (Rz. 3). Eine Zweckzuwendung liegt etwa vor, wenn der Erblasser bestimmt, dass der Erbe als Arbeitgeber das 33 Ererbte nur zugunsten von in Not geratenen Mitarbeitern verwenden darf96. Keine Zweckzuwendung liegt vor, wenn der Erblasser eine Person Geld unter der Auflage vererbt oder vermacht, daraus einen Hund zu versorgen97. Dasselbe gilt, wenn der Bedachte ein Sparguthaben mit der Auflage erhält, die zu Lebzeiten mit dem Erblasser vereinbarte Pflege seines Grabes zu besorgen98. 4. Ersatzerbschaftsteuer bei Familienstiftungen und -vereinen (§ 1 I Nr. 4 ErbStG) Literatur: Meincke, Erbersatzsteuer und Gleichheitssatz, StuW 1982, 169; Jülicher, Brennpunkte der Besteuerung der inländischen Familienstiftung im ErbStG, StuW 1999, 363; Seer/Versin, Die Familienstiftung im Steuerrecht, SteuerStud 2006, 281; von Löwe/du Roi Droege, Ist die Erbersatzsteuer bei Familienstiftungen reformbedürftig?, ZEV 2006, 530; Werner, Stiftungen als Instrument der Unternehmens- und Vermögensnachfolge, ZEV 2006, 539; Blumers, Die Familienstiftung als Instrument der Nachfolgeregelung, DStR 2012, 1; von Oertzen, Vorbereitungen für den großen Ersatzerbschaftsteuertermin zum 1.1.2014, DStR 2012, Beihefter zu Heft 11; Feldner/Stoklassa, Die Familienstiftung als Instrument der Unternehmensnachfolge, ErbStB 2014, 201 (Teil I), 227 (Teil II); Frieling, Die Familienstiftung als Gestaltungsinstrument im Rahmen der Unternehmensnachfolge, Diss., 2015; von Oertzen/Reich, Die unternehmensverbundene Familienstiftung – „Gewinnerin“ der Erbschaftsteuerreform?, Ubg 2015, 629; von Löwe, Familienstiftung und Nachfolgegestaltung2, 2016; Wachter, Stiftungen im neuen Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, FR 2017, 69 (Teil I), 130 (Teil II).
Solange Vermögen in einer Stiftung oder einem Verein rechtlich verselbständigt gehalten wird, ist 34 kein Tatbestand des § 1 I Nr. 1–3 ErbStG erfüllt. Um zu verhindern, dass dies genutzt wird, um Vermögen über Generationen hinweg der ErbSt zu entziehen, hat das ErbStG 1974 für Familienstiftungen und -vereine einen Ersatzerbschaftsteuertatbestand eingeführt (BT-Drucks. VII/1333, 3). § 1 I Nr. 4 ErbStG fingiert deshalb im Zeitabstand von 30 Jahren, der nach der Vorstellung des Gesetzgebers einer Generation entspricht, einen Erbfall mit einem Erblasser, der zwei Kinder hinterlässt: Es Meincke/Hannes/Holtz17, § 8 ErbStG Rz. 2. Steuerschuldner ist deshalb der mit der Zweckauflage Beschwerte (§ 20 I ErbStG, dazu Rz. 36). FG Münster v. 13.2.2014 – 3 K 210/12 Erb, EFG 2014, 946. BFH v. 5.11.1992 – II R 62/89, BStBl. II 1993, 161; BFH v. 29.6.2009 – II B 149/08, BFH/NV 2009, 1655. 98 BFH v. 30.9.1987 – II R 122/85, BStBl. II 1987, 861.
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§ 15 Rz. 35
Erbschaft- und Schenkungsteuer
findet die Steuerklasse I (§ 15 I ErbStG, s. Rz. 136) Anwendung99; der persönliche Freibetrag (§ 16 I Nr. 2 ErbStG, s. Rz. 100) wird bei einem Tarifsplitting doppelt gewährt (s. § 15 II 3 ErbStG). Da der Übergang des Vermögens auf eine Stiftung seinerseits nach §§ 3 II Nr. 1; 7 I Nr. 8 ErbStG steuerbar ist, beginnt die Frist im Zeitpunkt des ersten Übergangs von Vermögen auf die Stiftung (s. § 9 I Nr. 4 ErbStG). Die Steuerschuld kann gem. § 24 ErbStG verrentet oder alternativ nach § 28 II ErbStG gestundet werden. Der Anwendungsbereich des vom Wortlaut her insoweit unklaren § 1 I Nr. 4 ErbStG beschränkt sich auf rechtsfähige Familienstiftungen, da es bei einer nichtrechtsfähigen Stiftung nur zu einer treuhänderischen Vermögensübertragung auf einen verselbständigten Rechtsträger (z.B. einer GmbH) kommt100. 35
Der Tatbestand des § 1 I Nr. 4 ErbStG erweist sich zumindest hinsichtlich seiner technischen Ausgestaltung innerhalb des ErbStG insoweit als Fremdkörper, als er nicht an zugewendetes (transferiertes) Vermögen, sondern an den (ruhenden) Vermögensbestand anknüpft. Er bezieht sich allein auf Familienstiftungen und -vereine, worunter er solche versteht, die „wesentlich im Interesse einer Familie oder bestimmter Familien errichtet“ sind. Diese Wendung genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Bestimmtheit von Eingriffstatbeständen (§ 3 Rz. 243 ff.) nicht101. Der BFH versteht darunter (weitgefasste) Vermögensinteressen und rechnet dazu nicht nur Bezugs- und Anfallsrechte, sondern alle Vermögensvorteile, welche die begünstigten Familien aus dem Stiftungsvermögen (potentiell) ziehen können (z.B. auch unentgeltliche/verbilligte Nutzung des Stiftungsvermögens einschließlich des Wohnens)102. Des Weiteren ist es angesichts des vom BVerfG herausgestellten Familienprinzips (Rz. 5, 100) wohl schwer zu rechtfertigen, warum nur Familienstiftungen/-vereine103, nicht aber Nichtfamilienstiftungen (auch nicht: sog. Geliebtenstiftungen) besteuert werden.
III. Subjektive Steuerpflicht 1. Steuersubjekte 1.1 Kreis der Steuerschuldner (§ 20 I ErbStG) 36
Anknüpfend an die unter 2. dargelegten Erwerbsvorgänge (= Steuerobjekt) zählt § 20 I ErbStG die folgenden Steuersubjekte i.S.v. Steuerschuldnern (§ 6 Rz. 6, 19) auf: (1) beim Erwerb von Todes wegen (§ 1 I Nr. 1 ErbStG, dazu Rz. 7 ff.): der Erwerber von Vermögen; (2) bei einer Schenkung unter Lebenden (§ 1 I Nr. 2 ErbStG, dazu Rz. 22 ff.): sowohl der Erwerber als auch der Schenker als Gesamtschuldner (§ 44 AO, dazu § 6 Rz. 58 ff.); (3) bei einer Zweckzuwendung (§ 1 I Nr. 3 ErbStG, dazu Rz. 32 f.): der mit der Ausführung der Zuwendung Beschwerte; 99 In den Fällen von sog. Zustiftungen an bereits bestehende Familienstiftungen findet dagegen die ungünstige Steuerklasse III Anwendung (s. BFH v. 9.12.2009 – II R 22/08, BStBl. II 2010, 363), selbst wenn der Zuwendende der einzige Begünstigte der Familienstiftung ist. 100 BFH v. 25.1.2017 – II R 26/16, BFHE 257, 341 Rz. 12 ff. 101 BVerfG v. 8.3.1983 – 2 BvL 27/81, BVerfGE 63, 312 hegt dagegen keine verfassungsrechtliche Bedenken. 102 BFH v. 10.12.1997 – II 25/94, BStBl. 1998, 114 (116). Angesichts der Unbestimmtheit der Vorschrift verwundert es nicht, dass sich ansonsten die Literaturmeinungen darüber, wann ein wesentliches Familieninteresse vorliegt, in einer Spannweite zwischen 25 % (frühere Grenze des § 17 I EStG), 50 % (Grenze des § 15 II AStG), 75 % bis zu 90 % an den laufenden Bezügen oder am zurückfallenden Vermögen schwanken! Zum Meinungsstand s. Laule/Heuer, DStZ 1987, 495; Jülicher, StuW 1995, 71. 103 Als Familie wird der in § 15 AO aufgeführte Kreis der Angehörigen verstanden, wobei umstr. ist, ob es sich um die Familie des Stifters handeln muss (s. von Oertzen/Loose, § 1 ErbStG Rz. 59 ff., m.w.N.); noch enger Flämig, DStZ 1986, 11 (14), der die „Familie“ auf die Kernfamilie Eltern/Kinder beschränkt.
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III. Subjektive Steuerpflicht
Rz. 38 § 15
(4) für die Ersatzerbschaftsteuer (§ 1 I Nr. 4 ErbStG, dazu Rz. 34 f.): die Familienstiftung oder der Familienverein; (5) die ausländische Vermögensmasse (z.B. sog. trust) im Falle des Erwerbs nach §§ 3 II Nr. 1 Satz 2; 7 I Nr. 8 Satz 2 ErbStG (Rz. 19, 29), wobei im letzteren Fall auch derjenige zum Schuldner wird, der die Vermögensmasse gebildet oder ausgestattet hat (z.B. sog. settlor). Sind Beschenkter und Schenker Gesamtschuldner, kann aus dem Charakter der Schenkungsteuer als Bereicherungssteuer (Bereicherungsprinzip) gefolgert werden, dass sich das FA bei pflichtgemäßer Ausübung seines Auswahlermessens (§ 6 Rz. 59) zunächst an den Beschenkten halten muss (s. Wortlaut: „auch der Schenker“)104. Vom Schenker – als Gesamtschuldner – kann allerdings auch dann noch Schenkungsteuer gefordert werden, wenn gegenüber dem Beschenkten bereits ein bestandskräftiger Schenkungsteuerbescheid ergangen ist, der eine materiell zu geringe Steuer ausweist105. Hat der Schenker im Verhältnis zum Beschenkten die geschuldete Steuer übernommen und ist dies dem FA bekannt, ist ausnahmsweise vorrangig der Schenker in Anspruch zu nehmen106. Übernimmt der Schenker die Schenkungsteuer, erhöht sich nach § 10 II ErbStG sogar die Bemessungsgrundlage um die auf die Schenkung entfallende Schenkungsteuer. Die Steuerschuldnerschaft der Erwerber des zugewandten Vermögens entspricht dem Bereicherungs- 37 prinzip (Rz. 1) und ist systemkonsequent. Ohne Rechtfertigung bleibt es demgegenüber, den (entreicherten!) Schenker auch noch zur Schenkungsteuer heranzuziehen. Seine Gesamtschuldnerschaft ist eine „Verkehrsteuer-Reminiszenz“ (Rz. 3)107. Verfassungsrechtlich kann die Norm allenfalls als (subsidiärer) Haftungstatbestand aufrechterhalten bleiben108. Dasselbe gilt für die Steuerpflicht des mit der Auflage einer Zweckzuwendung Beschwerten (s. Rz. 32). Obwohl die Ersatzerbschaftsteuer nicht die Stiftung/den Verein selbst, sondern die dahinter stehenden Familienmitglieder treffen will, erklärt § 20 I ErbStG die Stiftung/den Verein und nicht die Destinatäre/Mitglieder zum Steuerschuldner. Auch hierdurch wird deutlich, dass die Ersatzerbschaftsteuer innerhalb des ErbStG einen Fremdkörper bildet (s. Rz. 35). Dasselbe gilt für die Besteuerung ausländischer Vermögensmassen (Rz. 19), die nicht die sog. benificiaries, sondern den Trust und bei dessen Ausstattung sogar noch den sog. settlor gesamtschuldnerisch heranzieht. 1.2 Steuersubjektivität von Gesellschaften In Abkehr von einer jahrzehntelangen Rspr. hatte der BFH auch Personengesellschaften (OHG, KG, 38 Partnerschaften, BGB-Gesellschaften) unter Hinweis auf ihre zivilrechtliche Verselbständigung als mögliche Erwerber zu eigenständigen Steuerschuldnern erklärt.109 Hiervon distanzierte sich der BFH 1994 wieder und ist richtigerweise zu seiner früheren Rspr. zurückgekehrt.110 Danach wird der auf der Ebene der Personengesellschaft eingetretene Erwerb erbschaftsteuerlich den Gesellschaftern zugerechnet. Versteht man sowohl die Erbschaft- als auch die Schenkungsteuer als eine Einkommen104 BFH v. 29.11.1961 – II 282/58 U, BStBl. III 1962, 323 (324); BFH v. 1.7.2008 – II R 2/07, BStBl. II 2008, 897 (898). Vor diesem Hintergrund hat das BVerfG v. 18.12.2012 – 1 BvR 1509/10, BVerfGK 20, 171 (175), Rz. 13 ff., die (subsidiäre) Schuldnerschaft des Schenkers gebilligt. 105 BFH v. 13.5.1987 – II R 189/83, BStBl. II 1988, 188 (189 f.); BFH v. 8.3.2017 – II R 31/15, BFHE 257, 353 Rz. 13 ff. 106 BFH v. 1.7.2008 – II R 2/07, BStBl. II 2008, 897 (898); zum Ermessen insb. bei insolvenzbedingten Verstößen gegen die Behaltefrist des § 13a I ErbStG (s. Rz. 112) s. Jülicher, ZErb 2008, 346 (347 f.). 107 Tipke, StRO II2, 878. Zur Steuerschuldnerschaft des Schenkers passt nicht, dass § 10 II ErbStG es als zusätzliche freigebige Zuwendung an den Beschenkten wertet, wenn der Schenker die Schenkungsteuer allein trägt; zu den damit verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten s. Korezkij, DStR 1998, 784; Heinrich, ZEV 2002, 98. 108 So auch BVerfG v. 18.12.2012 – 1 BvR 1509/10, BVerfGK 20, 171 (175), das mit Recht auch dafür einen besonderen Rechtfertigungsgrund fordert. 109 BFH v. 7.12.1988 – II R 150/85, BStBl. II 1989, 237. 110 BFH v. 14.9.1994 – II R 95/92, BStBl. II 1995, 81.
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§ 15 Rz. 39
Erbschaft- und Schenkungsteuer
steuer i.w.S. (Rz. 2), muss – nicht anders als bei der Einkommensteuer – auf die Bereicherung der Gesellschafter als Steuersubjekte abgestellt werden (zur mangelnden Steuersubjektivität der Personengesellschaft s. § 8 Rz. 21)111. Zur mangelnden Steuersubjektivität der Erbengemeinschaft s. bereits Rz. 9. 39
Im Unterschied zur Personengesellschaft wird die juristische Person Kapitalgesellschaft als eigenständiges, von ihren Gesellschaftern zu unterscheidendes Steuersubjekt sowohl für die Körperschaftsteuer (§ 11 Rz. 1) als auch für die Erbschaft- und Schenkungsteuer angesehen. Folgerichtig ist eine Kapitalgesellschaft (und nicht ihre Gesellschafter) Erwerberin einer an sie gerichteten Zuwendung. Daran ändert sich auch nichts durch die als Folge der Zuwendung eintretende Erhöhung des Werts der Gesellschaftsanteile112. 2. Steuerschuldnerschaft und spezielle Haftungstatbestände
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Steuerschuldner (Rz. 36) müssen in vollem Umfang – auch mit ihrem eigenen Vermögen – für die Steuerschuld einstehen. Eine Begrenzung auf den Wert der Bereicherung ist grds. nicht möglich113. Zusätzlich zur Steuerschuld enthalten § 20 III, V–VII ErbStG besondere erbschaftsteuerliche Haftungstatbestände (zur Haftung s. § 6 Rz. 62 ff.). Nach § 20 III ErbStG haftet der Nachlass als ungeteilte Vermögensmasse bis zur Erbauseinandersetzung (§ 2042 BGB, dazu Rz. 10) für die ErbSt der am Erbfall Beteiligten. § 20 V ErbStG erweitert die Haftung auf Dritte, an die der originäre Steuerschuldner seinen Erwerb ganz oder teilweise weiterverschenkt. Die persönliche Haftung des Dritten beschränkt sich dabei auf den Wert der Zuwendung. § 20 VI, VII ErbStG sehen für bestimmte Auslandssachverhalte eine Haftung von Versicherungsunternehmen und Banken vor (zur Anzeigepflicht s. Rz. 149)114. 3. Internationale Abgrenzung der Steuerpflicht/Unionsrecht Literatur: Albrecht, Die steuerliche Behandlung deutsch-englischer Erbfälle, Diss., 1992; Schindhelm, Grundfragen des Internationalen Erbschaftsteuerrechts, ZEV 1997, 8; Watrin, Erbschaftsteuerplanung internationaler Familienunternehmen, Diss., 1997; M. Lang, Europarechtliche Aspekte der Erbschaftsbesteuerung, DStJG 22 (1999), 255; M. Klein, Ausländische Zivilrechtsformen im deutschen Erbschaftsteuerrecht, Diss., 2000; Kaass, Europäische Grundfreiheiten und die deutsche Erbschaftsteuer – zur erbschaftsteuerlichen Behandlung grenzüberschreitender Sachverhalte, Diss., 2000; Nekola, Der Einfluß des Europarechts auf das Erbschaftsteuerrecht, Diss., 2000; Busch, Deutsches Erbschaftsteuerrecht im Lichte der europäischen Grundfreiheiten, IStR 2002, 448 (Teil I), 475 (Teil II); Höninger, Internationale Doppelbesteuerung im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht – Kollisionsbegründende und -auflösende Normen des ErbStG, Diss., 2003; Müller-Etienne, Die Europarechtswidrigkeit des Erbschaftsteuerrechts, Diss., 2003; Wilms/Maier, Europarechtliche Kapitalverkehrsfreiheit und deutsches Erbschaftsteuerrecht, UVR 2004, 327 (Teil I), 362 (Teil II); Scheffler/Zinser, Internationale Doppelbesteuerungen bei der Erbschaftsteuer, StuW 2005, 216;
111 Vgl. Crezelius, DStJG 17 (1994), 135 (160 f.); Crezelius, DStJG 22 (1999), 73 (91 f.); Daragan, ZEV 1998, 367; Haas, Erbschaftsteuerrecht und gesellschaftsrechtliche Nachfolge, 1996, 21 ff.; Hartmann, DB 1996, 2250; Daragan, FS Meincke, 2015, 89 (97 ff.); differenzierend Groh, GS Knobbe-Keuk, 1997, 433, (445 ff.); Lehmann, Gesellschaftsrechtliche Gestaltungen im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, Diss., 2009; zur Vererbung von Gesellschaftsanteilen s. Hils, Die Behandlung des Sonderbetriebsvermögens im Erbfall, Diss., 2004; rechtsvergleichend Taucher, FS Loukota, 2005, 531. 112 BFH v. 25.10.1995 – II R 67/93, BStBl. II 1996, 160; BFH v. 19.6.1996 – II R 83/92, BStBl. II 1996, 616; dazu Hartmann, ZEV 1996, 132; Hartmann, UVR 2003, 330 (332 f.). 113 Etwas anderes gilt aber beim Erwerb von Todes wegen durch Erbanfall i.S. des § 1922 BGB (s. BFH v. 20.1.2016 – II R 34/14, BStBl. II 2016, 482 Rz. 22). Insoweit können die Erben als Gesamtrechtsnachfolger gem. § 1975 BGB in einem Nachlassinsolvenzverfahren die Haftung für die ErbSt (Nachlassverbindlichkeit) auf den Nachlass beschränken. Keine Nachlassverbindlichkeit stellt dagegen die ErbSt auf die übrigen Erwerbe von Todes wegen (z.B. Vermächtnis, Pflichtteil) dar, da die Berechtigten außerhalb des Nachlasses als sonstige Erwerber belastet werden. 114 Dazu BFH v. 18.7.2007 – II R 18/06, BStBl. II 2007, 788.
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III. Subjektive Steuerpflicht
Rz. 41 § 15
Knauf, Determinanten und Gestaltungsansätze der internationalen Nachfolgeplanung, Diss., 2008; Flick/ Piltz, Der internationale Erbfall2, 2008, 350; Strunk/Kaminski, Internationale Aspekte des neuen Erbschaftsteuerrechts, Stbg. 2009, 158; Dehmer, Einmal erben, mehrfach zahlen – Gestaltungsansätze zur Vermeidung doppelter Erbschaftsteuerbelastung, IStR 2009, 454; Krawitz/Dornhöfer, Möglichkeiten zur Vermeidung einer internationalen Mehrfachbelastung mit Erbschaft- und Schenkungsteuer bei der unentgeltlichen Übertragung von ausländischem Unternehmensvermögen, in FS Herzig, 2010, 381; Watrin/Kappenberg, Internationale Besteuerung von Vermögensnachfolgen, ZEV 2011, 105; Hey, Erbschaftsteuer: Europa und der Rest der Welt, DStR 2011, 1149; Wernsmann, Internationale Doppelbesteuerung als unionsrechtliches Problem – am Beispiel grenzüberschreitender Erbschaften und Schenkungen, in FS Bengel/Reimann, 2012, 371; Glöckner, Übertragung des Familienheims im Erbschaftsteuerrecht aus europarechtlicher Perspektive, Diss., 2013; Jülicher, Praxisprobleme im internationalen Erbschaftsteuerrecht, BB 2014, 1367; Bechtold, Vermeidung von Doppelbesteuerung bei internationalen Erb- und Schenkungsfällen, Diss., 2015; Bockhoff, Ausgesuchte internationale Aspekte des neuen ErbStG, ZEV 2017, 186. Rechtsvergleichend: IFA-Cahiers, Vol. 70b (1985), International double taxation of inheritances and gifts, mit Beiträgen v. Lethaus u.a.; Schriftenreihe Internationales Erbschaftsteuerrecht und Nachlassplanung, Köln, mit folgenden Arbeiten: Hoog (zu den Niederlanden, 1996), W. Wassermeyer (zu den USA, 1996), Wilde (zu Kanada, 1997), Stein (zu Irland, 1997), Grote (zu Belgien, 1999), Hechler (zu Frankreich, 1998), Sprengel (zu Italien, 2000), Rohde (zu Neuseeland, 2001), Wanke (zu Luxemburg, 2001), Hellwege (zu Spanien, 2002), Hindersmann/Myßen (2003 zu Schweizer Kantonen); Neumann (2006 zu Australien); Freckem (2007 zu US-Bundesstaaten); s. außerdem Zschau, Erbschaftsteuersysteme in Großbritannien, Frankreich und Deutschland, Diss., 2001; Jochum, Erbschaft- und Schenkungsteuer in der Schweiz, UVR 2001, 63 (Teil 1), 100 (Teil 2); Bürgin/Ludwig/Schmidt/Schwind, Erbschaft-/Schenkungsteuer in der Schweiz unter Berücksichtigung des DBA zwischen beiden Staaten, ZErb 2009, 49; Faltings, Die Vermeidung der Doppelbesteuerung im internationalen Erbschaftsteuerrecht – Deutschland und Großbritannien, 2010; IFA-Cahiers, Vol. 95b (2010), Death as a taxable event (dazu Watrin/Kappenberg, IStR 2010, 546); Stumpf, Erbschaftsteuer in Japan – ein vergleichender Systemüberblick, IWB 2011, 480; Stade, Der deutsch-französische Erbfall: Das Ferienhaus und sonstiges Vermögen in Frankreich, ErbR 2012, 262 (269 f.); ((in pdf ist eine Blockade, die entfernt werden muss))Kneissler-Dall’Acqua/Comolli, Erbschaft- und Schenkungsteuer in Italien, ZErb 2013, 7; Seker, Internationale Schenkungs- und Erbfälle: Türkei – Überblick über das türkische Erbschaftund Schenkungsteuerrecht, ErbStB 2013, 27; Bäßler/Moritz-Knobloch, Der deutsch-japanische Erbfall, ZErb 2014, 37; Ley, Das Erbschaftsteuerrecht in der EU, Fam RZ 2014, 345; Victor-Granzer, Das Erbrecht in Frankreich, IWB 2014, 865; Wohlert, Doppelbesteuerung bei deutsch-südafrikanischen Erbfällen, Diss., 2015; Frank/Wainwright IV, Todesfallbesteuerung von Deutschen mit Vermögen in den USA, ZEV 2015, 568; Kobus, Das Erbrecht und Erbschaftsteuerrecht in den Niederlanden, IWB 2016, 96; Kobus, Das Erbrecht und Erbschaftsteuerrecht des US-Bundesstaates Florida, IWB 2016, 417.
Die unbeschränkte Steuerpflicht knüpft für die Tatbestände des § 1 I Nr. 1–3 ErbStG an zwei per- 41 sönliche Merkmale an (§ 2 I Nr. 1 Satz 1 ErbStG): Erblasser/Schenker oder Erwerber müssen im Zeitpunkt des Erbfalls oder der Ausführung der Schenkung Steuerinländer (§ 2 I Nr. 1 Satz 2 ErbStG) sein. Trifft dies zu, ist bei Erfüllung der Tatbestände des § 1 I Nr. 1–3 ErbStG der weltweite Vermögensanfall (Weltvermögensprinzip, s. § 1 Rz. 88) zu erfassen. Steuerinländer sind nach § 2 I Nr. 1 Satz 2 Buchst. a ErbStG ebenso wie im Bereich der Einkommensteuer (§ 8 Rz. 25 f.) alle natürlichen Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt (§§ 8; 9 AO) haben. Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen sind demgemäß – ebenso wie im Bereich der Körperschaftsteuer (§ 11 Rz. 31) – Steuerinländer, wenn sie ihre Geschäftsleitung oder ihren Sitz (§§ 10; 11 AO) im Inland haben (§ 2 I Nr. 1 Satz 2 Buchst. d, I Nr. 2 ErbStG). Im Unterschied zum Einkommen- und Körperschaftsteuergesetz verwendet § 2 I Nr. 1 ErbStG diese Merkmale jedoch nicht steuersubjekt-, sondern steuerobjektbezogen: Auch Steuerschuldner, die weder Wohnsitz (Sitz) noch gewöhnlichen Aufenthalt (Geschäftsleitung) im Inland haben, sind unbeschränkt steuerpflichtig, wenn auch nur eine der in § 2 I Nr. 1 Satz 1 ErbStG genannten Personen Steuerinländer ist. Nach dem Sinn und Zweck der Norm wirkt sich die Steuerinländerschaft des Erblassers umfassender als die des Erwerbers aus. Nur wenn der Erblasser Steuerinländer war, unterliegt damit auch das gesamte Vermögen der deutschen ErbSt. War der Erblasser hingegen Steuerauslän-
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§ 15 Rz. 42
Erbschaft- und Schenkungsteuer
der, kann sich der „gesamte Vermögensanfall“ i.S.v. § 2 I Nr. 1 ErbStG nur auf den dem jeweiligen inländischen Erwerber zuzurechnenden Anteil am Vermögen beziehen115. 42
Die doppelte Anknüpfung in § 2 I Nr. 1 Satz 1 ErbStG widerspricht dem Charakter der ErbSt, die in ihrer derzeitigen Ausgestaltung keine Nachlasssteuer, sondern eine Bereicherungs- und Erbanfallsteuer ist (Rz. 1 f.). Bereichert wird allein der Erwerber, dessen wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sich durch den Erbanfall oder die Schenkung erhöht. Deshalb ist es nicht systemgerecht, für die ErbSt zusätzlich an die Verhältnisse des Erblassers bzw. Schenkers anzuknüpfen und letzteren sogar noch zum Steuerschuldner zu erklären116. Letztlich dient dies allein der fiskalischen Sicherung des Steuersubstrats.
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§ 2 I Nr. 1 Satz 2 Buchst. b ErbStG erweitert den Kreis der Steuerinländer auf deutsche Staatsangehörige, die, ohne zugleich im Inland einen Wohnsitz zu unterhalten, sich nicht länger als fünf Jahre im Ausland aufgehalten haben (erweiterte unbeschränkte Steuerpflicht für sog. Abwanderer). Das Gesetz orientiert sich hier ausnahmsweise an der Staatsangehörigkeit (Nationalitätsprinzip). Das Nationalitätsprinzip ist jedoch kein sachgerechtes Prinzip des internationalen Steuerrechts. § 2 I Nr. 1 Satz 2 Buchst. b ErbStG diskriminiert unter Verstoß gegen Art. 3 I GG deutsche Staatsangehörige117. Zwar hat der EuGH in einer vergleichbaren niederländischen Regelung keinen Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) gesehen118. U.E. darf ein Mitgliedstaat aber auch seine eigenen Staatsangehörigen nicht ohne Verstoß gegen das Unionsrecht steuerlich schlechter behandeln als andere Unionsbürger.
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Ohne zeitliche Limitierung qualifiziert § 2 I Nr. 1 Satz 2 Buchst. c ErbStG außerdem solche deutsche Staatsangehörige als Steuerinländer, die in einem Dienstverhältnis zu einer inländischen juristischen Person des öffentlichen Rechts stehen und dafür Arbeitslohn aus einer inländischen öffentlichen Kasse beziehen (sog. Auslandsbedienstete, zur Parallelvorschrift des § 1 II EStG s. § 8 Rz. 29).
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Sind weder der Erblasser/Schenker noch der/die Erwerber Steuerinländer i.S.d. § 2 I Nr. 1 Satz 2 ErbStG, so kommt nur noch eine beschränkte Steuerpflicht (§ 2 I Nr. 3 ErbStG) in Betracht, die sich lediglich auf das enumerativ in § 121 BewG aufgezählte Inlandsvermögen erstreckt119. Es gilt das Ursprungsland-/Territorialprinzip (s. auch § 8 Rz. 27). Es ist nach § 19 I ErbStG derselbe Steuertarif (Rz. 139) wie bei einer unbeschränkten Steuerpflicht anzuwenden. Der früher auf beschränkt steuerpflichtige Erwerbe anzuwendende Freibetrag i.H.v. 2 000 Euro blieb deutlich hinter den für unbeschränkt Steuerpflichtige geltenden Freibeträgen des § 16 I ErbStG zurück und verletzte dadurch EUSteuerausländer in ihrer Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 I AEUV)120. Dem hat jüngst das StUmgBG vom 23.6.2017, BGBl. I 2017, 1682 (2688) Rechnung getragen, indem es die Freibeträge des § 16 I ErbStG nun auch in den Fällen der beschränkten Steuerpflicht anwendet (§ 16 II ErbStG n.F.). Dabei wird jedoch der Freibetrag i.S.v. § 16 I ErbStG anteilig um den nicht der inländischen Steuer unterliegenden Weltvermögensanteil gekürzt. Zwar ist dies vor dem Hintergrund der sachgerechten Auf115 S. Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 8.28; Troll/Gebel/Jülicher/Gottschalk, § 2 ErbStG Rz. 7; Kapp/Ebeling/Eisele, § 2 ErbStG Rz. 4; von Oertzen/Loose/Schienke-Ohletz, § 2 ErbStG Rz. 5. 116 Schindhelm, ZEV 1997, 8 (10); ausf. Höninger, Internationale Doppelbesteuerung im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, Diss., 2003, 109 ff. 117 Höninger, Internationale Doppelbesteuerung im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, Diss., 2003, 126 ff.; Müller-Etienne, Die Europarechtswidrigkeit des Erbschaftsteuerrechts, Diss., 2003, 156 ff. 118 EuGH v. 21.2.2006 – C-513/03, van Hilten-van der Hejden, ECLI:EU:C:2006:131; s. aber Hey, DStR 2011, 1149 (1153); a.A. Bron, IStR 2006, 296 (298 ff.); Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, 8.24. 119 Dazu Groß-Bölting, Probleme der beschränkten Steuerpflicht im Erbschaftsteuerrecht, Diss., 1996. 120 EuGH v. 22.4.2010 – C-510/08, Mattner, ECLI:EU:C:2010:216, Rz. 35 ff.; EuGH v. 17.10.2013 – C-181/12, Welte, ECLI:EU:C:2013:662, Rz. 58 ff. (Ausdehnung auf Drittstaaten); EuGH v. 4.9.2014 – C-211/13, Kommission ./. Deutschland, ECLI:EU:C:2014:2148, Rz. 54 f.; EuGH v. 8.6.2016 – C-479/14, Hünnebeck, ECLI:EU:C:2016:412, Rz. 56.
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III. Subjektive Steuerpflicht
Rz. 47 § 15
teilung von Besteuerungshoheiten nachvollziehbar (s. BT-Drucks. 18/11132, 35). Der EuGH hat bisher aber zum Erbschaftsteuerrecht – anders als zum Einkommensteuerrecht (Schumacker-Doktrin, s. § 8 Rz. 28) – einer derartigen Einschränkung nicht das Wort geredet. Vor diesem Hintergrund könnte die anteilige Kürzung des Freibetrages nach § 16 II ErbStG121 ebenso wie der nur auf inlandsradiziertes Vermögen bezogene, anteilige Schuldenabzug nach § 10 VI 2 ErbStG122 weiterhin europarechtswidrig sein. § 4 AStG erweitert die beschränkte Steuerpflicht für Steuerflüchtlinge unter den Voraussetzungen 46 des § 2 I 1 AStG (Wohnsitzverlagerung in ein sog. Steueroasenland, 10-Jahres-Zeitraum ab Wegzug, s. § 8 Rz. 33) über § 121 BewG hinaus auf jedes erworbene Vermögen, dessen Erträge bei unbeschränkter Einkommensteuerpflicht nicht ausländische Einkünfte i.S.d. § 34d EStG wären (sog. erweitertes Inlandsvermögen). Da das multi- und bilaterale Anti-Doppelbesteuerungsrecht (§ 1 Rz. 92 ff.) auf dem Gebiet der ErbSt 47 im Vergleich zur Einkommen- und Körperschaftsteuer immer noch unterentwickelt ist123, spielen unilaterale Maßnahmen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung eine wichtige Rolle124. Nach § 21 I ErbStG ist eine der deutschen ErbSt entsprechende Steuer125 insoweit auf die deutsche ErbSt anzurechnen, als das besteuerte Auslandsvermögen (§ 21 II ErbStG) zugleich der deutschen ErbSt unterliegt126. § 21 II Nr. 1 ErbStG verweist auf § 121 BewG, was eine gegenständliche Beschränkung der Anrechnungsregel zur Folge hat (nicht erfasst sind z.B. Bankguthaben im Ausland127). Der EuGH hat in der Rs. Block entschieden, dass diese Regelung europarechtskonform ist128. Der Steuerrechtsnachteil folge allein daraus, dass zwei Mitgliedstaaten ihre Besteuerungsbefugnisse parallel ausüben würden. Das Unionsrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten zwar nicht, ihre Steuersysteme einander so anzupassen, dass überhaupt keine Doppelbesteuerung entsteht. Dies gilt auch für die Höchstbetragsregelung in § 21 I Satz 1–3 ErbStG, die verhindert, dass eine auf das Auslandsvermögen entfallende (höhere) ausländische Steuer die auf das Inlandsvermögen entfallende deutsche ErbSt mindert129. Führt die fehlende Abgestimmtheit der nationalen Erbschaftsteuersysteme in ihrer Gesamtwirkung aber zu einer konfiskatorischen Besteuerung, reicht es nicht aus, nur die vage Möglichkeit eines Erlasses aus 121 Dazu bereits EuGH v. 17.10.2013 – C-181/12, Welte, ECLI:EU:C:2013:662, Rz. 58 ff.; zum bisherigen Recht s. BFH v. 10.5.2017 – II R 53/14, BStBl. II 2017, 1200 Rz. 35. 122 Zu an den ausländ. EU-Wohnsitz anknüpfenden Abzugsbeschränkungen für Nachlassverbindlichkeiten s. bereits EuGH v. 11.9.2008 – C-43/07, Arens-Siken, ECLI:EU:C:2008:490, Rz. 52 ff.; EuGH v. 11.9.2008 – C-11/07, Eckelkamp, ECLI:EU:C:2008:489, Rz. 45 ff. 123 BMF v. 17.1.2018 – IV B 2-S 1301/07/10017-09, BStBl. I 2018, 239 (243) zählt lediglich folgende ErbSt-DBA auf: DBA mit Dänemark, Frankreich, Griechenland, Schweden, Schweiz u. USA; zum Progressionsvorbehalt s. Rz. 143. 124 Zu den unilateralen Maßnahmen s. Bechtold, Vermeidung von Doppelbesteuerung bei internationalen Erb- und Schenkungsfällen, Diss., 2015, 87 ff. 125 Nach der Rspr. soll zwar eine ausländische Nachlasssteuer (Rz. 2) der deutschen ErbSt entsprechen (BFH v. 21.4.1982 – II R 148/79, BStBl. II 1982, 597), nicht aber die kanadische „capital gains tax“, die mit der sonstigen Einkommensteuer des Erblassers im Kalenderjahr seines Todes zu einer einheitlichen Einkommensteuer verbunden ist, s. BFH v. 26.4.1995 – II R 13/92, BStBl. II 1995, 540 (ebenso BFH v. 15.6.2016 – II R 51/14, BFHE 255, 85 Rz. 13 ff., für eine US-amerikanische Quellensteuer auf Versicherungsleistungen); krit. Jülicher, ZEV 1996, 525 (526); Wilde, Das kanadische „Erbschaftsteuerrecht“, Diss., 1997, Rz. 524 ff.; Höninger, Internationale Doppelbesteuerung, Diss., 2003, 166 ff. 126 Dazu näher Jülicher, ZEV 1996, 295; C. Schmidt, FS Rödl, 2008, 255 (261 ff., 271 ff.); Bechtold, Vermeidung von Doppelbesteuerung bei internationalen Erb- und Schenkungsfällen, Diss., 2015, 100 ff.; zu deutsch-spanischen Nachlässen; Höninger, Internationale Doppelbesteuerung, Diss., 2003, 147 ff. 127 So ausdrücklich BFH v. 19.6.2013 – II R 10/12, BStBl. II 2013, 746 (ausf. besprochen v. Hahn, BB 2014, 23). 128 EuGH, v. 12.2.2009 – C-67/08, Block, ECLI:EU:C:2009:92 (m. Anm. Billig, FR 2009, 298; Dehmer, IStR 2009, 454). 129 BFH v. 5.5.2004 – II R 33/02 hat darin keine Verletzung des Unionsrechts gesehen; s. auch Hey, DStR 2011, 1149 (1156); a.A. Jochum, ZEV 2003, 171 (172); Schnitger, FR 2004, 185 (195).
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§ 15 Rz. 50
Erbschaft- und Schenkungsteuer
Billigkeitsgründen i.S. der §§ 163, 227 AO (s. § 21 Rz. 329 ff.) anzudeuten130. Verfassungsrechtlich lässt sich aus Art. 14 GG eine Schutzpflicht des Staates herleiten, uni- und bilaterale Maßnahmen zu ergreifen, um die nun schon seit Jahren bekannten negativen Wirkungen des divergierenden Auslandsvermögensbegriffs zu begrenzen131. Zudem greift die Judikatur des EuGH auch europarechtlich zu kurz; die grenzüberschreitende Kapitalverkehrsfreiheit sollte auch und gerade vor massiven Beschränkungen aufgrund von staatenübergreifenden steuerlichen Gesamtbelastungen schützen132. Immerhin hat der BFH jüngst den Weg eröffnet, für den Erbfall den Begriff der Nachlassverbindlichkeit i.S. des § 10 V Nr. 1 ErbStG (s. Rz. 125) weit zu interpretieren und die den Nachlass belastende, vom Erblasser herrührende ausländ. Steuer von der Bemessungsgrundlage abzuziehen133. Damit wird die Doppelbelastung wenigstens gemildert134. 48–49
Einstweilen frei.
IV. Bewertung des steuerpflichtigen Vermögens 1. Bedarfsbewertung, Verfahren 50
Die Erbschaft- und Schenkungsteuer ist eine aperiodische Steuer, die an einen außerordentlichen Vermögenserwerb im Erb- oder Schenkungsfall anknüpft. Im Unterschied zur Grund- und Vermögensteuer (s. § 16 Rz. 23, 62) ist das Vermögen daher nicht permanent, sondern nur einmalig zum Bewertungsstichtag (§ 11 ErbStG) zu bewerten (Stichtagsprinzip; s. Rz. 133). Den Bewertungsstichtag setzt § 11 ErbStG grds. auf den Zeitpunkt der Entstehung der Steuer. Bei den Erwerben von Todes wegen ist dies der Todestag des Erblassers (§ 9 I Nr. 1 ErbStG), bei Schenkungen unter Lebenden der Zeitpunkt der Ausführung der Schenkung (§ 9 I Nr. 2 ErbStG). Bezogen auf diese Zeitpunkte („bei Bedarf“) ist das jeweils übertragene Vermögen (einschließlich der Schulden) zu bewerten.
51
Da die für die Festsetzung der Erbschaft- und Schenkungsteuer zuständigen Finanzämter (s. § 35 ErbStG: z.B. Wohnsitz-Finanzamt des verstorbenen Erblassers) häufig nicht in der Lage sind, die örtlich verzweigten wirtschaftlichen Einheiten sachkundig zu bewerten, ordnet § 12 II–VI ErbStG i.V.m. § 151 I BewG für bestimmte Vermögensarten eine gesonderte Wertfeststellung (s. dazu § 21 Rz. 121 ff.) durch Lage-/Betriebsstätten-Finanzämter (s. § 152 BewG) an. Die gesonderte Feststellung ist obligatorisch, wenn die Werte für die Erbschaft- oder Schenkungsteuer von Bedeutung sind. Das JStG 2007 v. 13.12.2006, BGBl. I 2878, hat die gesonderte Feststellung über die Grundbesitzwerte (§§ 138; 157 BewG) hinaus insb. auf den Wert des Betriebsvermögens (§§ 95–97 BewG) und den Wert von Anteilen an Kapitalgesellschaften i.S.d. § 11 II BewG ausgedehnt (§ 151 I BewG)135. Hinzu kommen gem. § 13a IV ErbStG außerdem gesonderte Feststellungen des Betriebsstätten-Finanzamts über die für die Gewährung des Verschonungsabschlages nach § 13a ErbStG (dazu Rz. 113) erforderlichen Merkmale der
130 So aber BFH v. 19.6.2013 – II R 10/12, BStBl. II 2013, 746 (751), wo offengelassen wird, ob und inwieweit ein Erlassantrag überhaupt Erfolg haben könnte. 131 S. Hahn, BB 2014, 23 (28 ff.), der weiterführend Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK ins Feld führt. 132 Wernsmann, FS Bengel/Reimann, 2012, 371 (376 ff.). Da EuGH u. BFH diesen Schutz bisher versagen, empfiehlt Jülicher, BB 2014, 1367 (1371) in aller Deutlichkeit: „Kein Halten von Konten etc. in Staaten, die ohne DBA-ErbSt mit Deutschland hieran ihre beschränkte Steuerpflicht knüpfen (Großbritannien, Irland, Spanien, Italien).“ 133 BFH v. 15.6.2016 – II R 51/14, BFHE 255, 85 Rz. 16 ff., unter Aufgabe der früheren restriktiven Rspr. 134 Diese Judikatur überwindet auch den Umstand, dass abweichend von § 34c II EStG kein Wahlrecht in § 21 ErbStG existiert, die ausländische Steuer an Stelle der Anrechnung von der Bemessungsgrundlage abzuziehen (sog. Abzugsmethode), s. BFH v. 19.6.2013 – II R 10/12, BStBl. II 2013, 746 (752). 135 Zu den Motiven einer gesteigerten Verwaltungseffizienz s. Reg.Begr., BT-Drucks. 16/2712, 88; Moench, ZEV 2007, 12 (15); i.E. s. ErbStR 2011 zu § 151 BewG.
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IV. Bewertung des steuerpflichtigen Vermögens
Rz. 54 § 15
Lohnsumme und Beschäftigtenzahl136. Der von den Bewertungsstellen der Feststellungsfinanzämter (§ 152 BewG) jeweils zu erlassende Feststellungsbescheid ist ein Grundlagenbescheid, der für den Erbschaft-, Schenkung- oder Grunderwerbsteuerbescheid präjudizielle Bindungswirkung besitzt (s. § 21 Rz. 83 ff.). Bei einer Mehrheit von Erben ist die gesonderte Feststellung einheitlich durchzuführen (§ 179 II 2 AO, s. § 21 Rz. 123)137. Für die Bewertung des ausländischen Vermögens bleibt aber nach wie vor das Erbschaftsteuer-Finanzamt zuständig (s. § 151 IV BewG). Ob das gesonderte Feststellungsverfahren tatsächlich zur Verwaltungsvereinfachung beiträgt, erscheint 52 fraglich. Nach Mitteilung des Standesamts über einen Sterbefall (Anzeige des Amtsgerichts oder Notars über Testamentseröffnung bzw. Schenkung, Rz. 149) hat das Erbschaftsteuer-Finanzamt zunächst zu prüfen, ob eine materielle Steuerpflicht überhaupt besteht. Dazu übersendet es den durch Erbfall/ Schenkung Begünstigten ein Steuererklärungsformular. Hält es nach Auswertung der Steuererklärung eine materielle Steuerpflicht für möglich, so teilt es dies dem jeweiligen Feststellungsfinanzamt (§ 152 BewG) mit. Das zuständige Feststellungsfinanzamt fordert daraufhin den Stpfl. oder die jeweilige Gesellschaft, deren Gesellschaftsanteil zu bewerten ist, gem. § 153 BewG zur Abgabe einer Feststellungserklärung auf. Bei mehrstufigen Beteiligungen ergeben sich hinsichtlich der Bewertungskompetenz nicht selten „Kaskaden“-Zuständigkeiten. Der Stpfl. kann dadurch mit mehreren Finanzbehörden konfrontiert sein, da verschiedene Feststellungsfinanzämter Vermögen zu bewerten haben138. Aufgrund der damit verbundenen Unübersichtlichkeit steigt die Gefahr, dass Feststellungen mit Präklusionswirkung bestandskräftig werden. Neben den Stpfl. treffen sogar Dritte (z.B. die Gesellschaft, an der der Erblasser beteiligt war) Erklärungslasten (§ 153 BewG). Zudem besteht nach § 156 BewG bei allen Beteiligten die Möglichkeit einer Außenprüfung (dazu § 21 Rz. 225 ff.). 2. Spannungsverhältnis Verkehrswert/Ertragswert Hermann Veit Simon erkannte bereits vor über einem Jahrhundert, dass der Wert einer Sache „weder 53 eine Eigenschaft derselben noch überhaupt eine Tatsache, sondern vielmehr eine Meinungssache“ sei139. Er wandte sich damit zu Recht gegen die Vorstellung von einem objektiven Wert140. Den objektiven (einzig richtigen) Wert eines Wirtschaftsguts gibt es nicht. Vielmehr bewegt sich der Bewertende innerhalb eines Entscheidungsfeldes, dessen Umfang von den ihm zur Verfügung stehenden Vergleichsmöglichkeiten abhängt141. Eine Wertermittlung kann daher nicht den Anspruch auf absolute Richtigkeit, sondern nur auf relative Vertretbarkeit für sich erheben. Bewerten bedeutet i.e.S. das Zuordnen von Geldeinheiten zu Gütern im Hinblick auf ein bestimmtes 54 Ziel142. Das Ziel der Bewertung besteht im Steuerrecht darin, Wirtschaftsgütern für die Bemessungsgrundlage einer Steuerart einen bestimmten Geldwert zuzuweisen. Dementsprechend hat sich der
136 Eingeführt durch das sog. StVereinfG 2011 v. 1.11.2011, BGBl. I 2011, 2131 (2142); neu gefasst durch Ges. v. 4.11.2016, BGBl. I 2016, 2464. 137 BFH v. 8.10.2003 – II R 27/02, BStBl. II 2004, 179 (181); davon unterscheidet BFH v. 18.8.2004 – II R 22/04, BStBl. II 2005, 19 (20 f.) die freigebige Zuwendung von Miteigentumsanteilen an einem Grundstück, die jeweils für sich den Gegenstand der lediglich gesonderten (aber nicht einheitlichen) Feststellung nach § 151 I BewG bilden. 138 Zu den Feststellungsverfahren s. näher Höne/Krause, ZEV 2010, 179 u. 298; Halaczinsky, UVR 2011, 203. 139 Simon, Die Bilanzen der Aktiengesellschaften und der Kommanditgesellschaften auf Aktien2, 1898, 293. 140 Diese Vorstellung hegten z.B. BFH v. 7.11.1990 – I R 116/86, BStBl. II 1991, 342; Uelner, DStJG 7 (1984), 275 (280). 141 Busse von Colbe, DStJG 7 (1984), 39 f.; ausf. Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 323 ff. 142 Busse von Colbe, DStJG 7 (1984), 39 (40); s. auch Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 105 ff.: „Rechtswert als Funktionsbegriff“.
Seer 917
§ 15 Rz. 55
Erbschaft- und Schenkungsteuer
Bewertungsmaßstab an dem jeweiligen Besteuerungsgut zu orientieren143. Der Wertmaßstab muss daher nicht für alle Steuerarten derselbe sein. Eine verbreitete Ansicht sieht gleichwohl den gemeinen Wert (§ 9 BewG) als den fundamentalen (leitenden) Bewertungsmaßstab des BewG an144. Der gemeine Wert ist der Preis, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr nach der Beschaffenheit des Wirtschaftsguts bei einer Veräußerung zu erzielen wäre (§ 9 II 1 BewG). Der gemeine Wert ist damit gleich bedeutend mit dem Verkehrswert (Veräußerungs-, Verkaufs-, Markt-, Tauschwert). Es sind alle Umstände, die den Preis beeinflussen, zu berücksichtigen. Ungewöhnliche oder persönliche Verhältnisse bleiben jedoch außer Betracht (da sie den gemeinen Wert nicht repräsentieren, s. § 9 II 2 u. 3 BewG). Dem Verkehrswertgedanken widerspricht es allerdings, unter Anwendung des § 9 III BewG in Satzungen oder Gesellschaftsverträgen verankerte Verfügungsbeschränkungen nicht wertmindernd zu berücksichtigen145. Nicht wenige der im BewG verwendeten Wertbegriffe lassen sich als Verkörperungen des Bewertungsmaßstabes „gemeiner Wert“ ansehen: z.B. Kurswert (§ 11 I BewG), Rücknahmepreis (§ 11 IV BewG), Rückkaufswert (§ 12 IV BewG), Kapitalwert (§§ 13 ff. BewG), Sachwert (§§ 76 II, III; 90 I BewG), Bodenrichtwert (§§ 145 III; 179 BewG). 55
Der Ertragswert ist keine bloße Unterart des Verkehrswerts146. Zwar beeinflussen die Erträge von Erwerbsvermögen den Verkehrswert. Gleichwohl fallen Ertrags- und Verkehrswert nicht selten erheblich auseinander, weil sich im Verkehrswert mehr als die Ertragskraft eines Wirtschaftsgutes abbildet (besonders deutlich wird dies bei unbebauten Grundstücken, Edelmetallen, Kunstgegenständen u.ä.). Während der gemeine Wert (Verkehrswert) die Veräußerung als Vergleichsfall vor Augen hat, bezieht sich der Ertragswert auf die laufende Nutzung des Wirtschaftsguts. Verkehrs- und Ertragswert sind mithin zwei leitende Wertbegriffe, die einander nicht über- bzw. untergeordnet, sondern nebengeordnet sind147.
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Der Ertragswert ist dem Verkehrswert als Bewertungsmaßstab für solche Steuerarten vorzuziehen, die als sog. Sollertragsteuern (z.B. Grund- und Vermögensteuer, s. § 16 Rz. 1) an die Ertragsfähigkeit des ruhenden Vermögens anknüpfen. Für Steuern, die nach ihrer Konzeption nicht aus der Substanz, sondern aus dem Ertrag des Vermögens gezahlt werden sollen, bildet nicht der Verkehrswert, sondern der Ertragswert den Belastungsgrund folgerichtig ab148. Demgegenüber erweist sich der Verkehrswert als konsequenter Bewertungsmaßstab, wenn das Gesetz dem Stpfl. bewusst zumutet, für die Steuerzahlung einen Teil des erworbenen Vermögens am Markt zu realisieren. Deshalb ist der Verkehrswert bei der ErbSt der leitende Bewertungsmaßstab149. 143 Tipke, StRO II1, 853 ff. 144 Zum wahrscheinlich realisierbaren Tauschwert als steuerlichen Bezugspunkt s. Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 148 ff.; s. außerdem zur historischen Entwicklung des Begriffs Raupach, DStR 2007, 2037 (2038 f.); Raupach, FS Lang, 2010, 843 (850 f.). 145 So aber BFH v. 30.3.1994 – II R 101/90, BStBl. II 1994, 503 (504); BFH v. 17.6.1998 – II R 46/96; mit Recht abl. Piltz, FR 2013, 115 (116); s. auch Seer, GmbHR 2015, 113 (119 f.); zum jüngst eingeführten sog. Vorab-Abschlag bei Familienunternehmen n. § 13a IX ErbStG s. Rz. 110, der systematisch an sich zu § 9 III BewG gehört, s. Weber, DStZ 2017, 13 (19); Seer/Michalowski, GmbHR 2017, 609 (613); a.A. Kußmaul/Müller, Ubg 2017, 378 (383 f.). 146 S. Vogel, DStZA 1979, 28 (32 f.); P. Kirchhof, DStR 1984, 575 (577); Mark, DStJG 7 (1984), 293 (298 ff.); Kruse, BB 1989, 1349 (1351 f.); Tipke, StRO II1, 853 ff.; Loritz, DStR-Beihefter 8/1995, 8 ff.; Zitzelsberger, FS Ritter, 1997, 661 (666 ff.); Jüptner, StuW 2005, 126 (128 f.). 147 Vogel, DStZ 1979, 28 (33); dazu krit. Osterloh, DStJG 22 (1999), 177 (185 ff.); Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 222 ff. 148 Vorsichtiger BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (143): Charakter der Sollertragsteuer „legt ein Ertragswertverfahren nahe“. 149 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (33 f.); zuvor bereits Seer, StuW 1997, 283 (287); Seer, DStJG 22 (1999), 191 (196 f.); aber krit. zum in der Entscheidung BVerfGE 117, 1, unklaren Verhältnis von Substanz- und Ertragswert Hey, JZ 2007, 564 (565 f.); Raupach, FS Lang, 2010, 843 (858 f.); Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 348 f.; gänzlich abl. Nachrainer, ZEV 2005, 1 (5); Jüptner, StuW 2005, 126 (139 ff.); s. auch § 7 Rz. 38 ff.
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IV. Bewertung des steuerpflichtigen Vermögens
Rz. 58 § 15
Allerdings sollte – in Übereinstimmung mit dem BewG – zwischen Verkehrs- und Ertragswert kein 57 strikter Gegensatz aufgebaut werden. Beide theoretischen Wertansätze nähern sich einander, wenn man unter Ertrag nicht nur die laufenden Erträge, sondern extensiv jeglichen Nutzen, den das Wirtschaftsgut einem jeden Eigentümer vermitteln kann (z.B. Wertsteigerungen, -stabilität), begreift150. Selbst dann aber wird der Ertragswert noch nicht auf den Verkehrswert zurückgeführt, da beide Werte von jeweils unterschiedlichen Vergleichsfällen ausgehen. Am Markt erzielte Verkaufspreise sind häufig von keinem in Zahlen fassbaren Nutzen bestimmt, lassen sich dann rational weder auf erwartete Wertsteigerungen noch auf eine besondere Wertstabilität zurückführen. Deshalb können Verkehrs- und Ertragswert übereinstimmen; sie müssen es aber nicht. 3. Verkehrswert als leitender Bewertungsmaßstab des Erbschaftsteuerrechts Das BVerfG hat mit seinem Beschluss vom 7.11.2006 dem bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer 58 früher bestandenen Konglomerat willkürlicher unabgestimmter Bewertungsmaßstäbe (dazu krit. 18. Aufl. in § 13 Rz. 54 ff.) ein Ende bereitet151. Das BVerfG hält sich streng an das bereits in den Einheitswertbeschlüssen152 postulierte Gebot der realitätsgerechten Wertrelation. Dieser Grundsatz erfordert bei einem einheitlichen Steuersatz eine einheitliche Bemessungsgrundlage für alle verschiedenen Vermögenswerte. Maßgeblich ist der Verkehrswert (gemeine Wert), da nur dieser den durch den Substanzerwerb vermittelten Zuwachs an Leistungsfähigkeit (Belastungsgrund der Erbschaft- und Schenkungsteuer, s. Rz. 1 ff.) zutreffend abbildet153. Die Probleme der Massenverwaltung und die Tatsache, dass es den richtigen Wert an sich nicht gibt (s. Rz. 53), sorgen jedoch dafür, dass der Gesetzgeber zur Realisierung eines praktikablen Besteuerungsverfahrens typisierende und pauschalierende Wertermittlungsregeln aufstellen kann. Allerdings müssen diese für alle Vermögensgegenstände wenigstens zu einem dem Verkehrswert angenäherten Wert (Annäherungswert) führen154. Erst auf einer zweiten Stufe kann der Gesetzgeber durch „zielgenaue und normenklare“ Lenkungsnormen155 einzelne Vermögensarten begünstigen, wenn dafür ausreichende Gemeinwohlgründe vorliegen (dazu Rz. 106 ff.)156. Zu Recht hat das BVerfG in seinem Beschluss vom 7.11.2006, die noch in den Einheitswertbeschlüssen geäußerte Vorstellung fallen lassen, ein Bewertungsmissverhältnis durch differierende Steuersätze wieder ausgleichen zu können. Dem ist der Gesetzgeber mit dem Erbschaftsteuerreformgesetz vom 24.12.2008 gefolgt157.
150 So zutreffend Osterloh, DStJG 22 (1999), 177 (182 ff.); Raupach, DStR 2007, 2037 (2038 ff.); Raupach, FS Lang, 2010, 843 (851 ff.); ebenfalls die Relevanz eines eigenständigen Ertragwerts relativierend Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 222 ff. 151 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1; fast zeitgleich hat auch der österr. Verfassungsgerichtshof mit den beiden Entscheidungen v. 7.3.2007 – G 54/06 – 15 u.a. (Erbschaftsteuer), u. v. 15.6.2007 – G 23/07 – 7 u.a. (Schenkungsteuer), ÖStZ 2007, 316 = ZEV 2007, 237 (m. Anm. Steiner), die gleichheitswidrige Bewertung im österr. Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht für verfassungswidrig erklärt. 152 Zur ErbSt s. BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165 (172 f.). 153 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (33); zust. Seer, ZEV 2007, 101 (102); Seer, GmbHR 2007, 281 (282); Hey, JZ 2007, 564; Schubert, Verfassungswidrigkeit der Erbschaft- und Schenkungsteuer, Diss., 2011, 73 ff. 154 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (36); zweifelnd an der tatsächlichen Möglichkeit eines Annäherungswerts in einem typisierten Verfahren Wälzholz, ZErb 2007, 111 (113 f.); J. Lang, StuW 2008, 189 (193 ff.); Raupach, FS Lang, 2010, 843 (847). 155 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (35, 37, 69); zust. Papier, DStR 2007, 974 (975 f.); Hübner, DStR 2007, 1013 (1014 ff.); Hey, JZ 2007, 564 (565); a.A. Wälzholz, ZErb 2007, 111. 156 Krit. zu den Steuerverschonungen auf der 2. Stufe Seer, GmbHR 2007, 281 (284 f.); Hey, JZ 2007, 564 (569); s. außerdem Rz. 118. 157 BGBl. I 2008, 3018; zur Entstehungsgeschichte ausf. Schmitt, FS Schaumburg, 2009, 1079 ff.
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§ 15 Rz. 59
Erbschaft- und Schenkungsteuer
4. Bewertung des Grundvermögens und der Betriebsgrundstücke Literatur: zur Grundbesitzbewertung nach dem ErbStRG 2009: Mannek/Jardin, DB 2009, 307; Hecht/von Cölln, BB 2009, 810; Broekelschen/Maiterth, DStR 2009, 833; Pauli, FR-Beilage 11/2009, 13; Siegmund/Ungemach, DStZ 2009, 475; Mannek/Roscher, ZNotP 2010, 455; Eisele, NWB 2011, 2289; Droszdol, ZEV 2012, 17; Feldner/Stoklassa, ErbStB 2013, 152 (Teil I), 193 (Teil II) u. 292 (Teil III). Ramb, Bedarfsbewertung bebauter Grundstücke im Sachwertverfahren, SteuerStud 2016, 618. Verwaltungsanweisung: ErbStR 2011 zu §§ 176 ff. BewG; gleich lautende Ländererlasse v. 8.1.2016 – S 3225-101-V A 6 u.a., BStBl. I 2016, 173. 59
Für die wirtschaftlichen Einheiten des Grundvermögens und für Betriebsgrundstücke ist der Grundbesitzwert (§ 157 I BewG) nach Maßgabe der §§ 176–198, 99 BewG zu ermitteln. Den Vorgaben des BVerfG folgend ist dies nach § 177 BewG der gemeine Wert (Rz. 54). Entsprechend der auch außerhalb des Steuerrechts angewandten ImmobilienwertermittlungsVO (ImmoWertV)158 konkretisieren §§ 178 ff. BewG ihn für die einzelnen Grundstücksarten wie folgt: 4.1 Unbebaute Grundstücke
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Unbebaute Grundstücke (definiert in § 178 I, II BewG)159 werden durch einen mittelbaren Preisvergleich (Vergleichswertverfahren) auf der Basis der von den Gutachterausschüssen der Gemeinden nunmehr jährlich zu ermittelnden Bodenrichtwerte (§ 196 BauGB) bewertet. Beim Bodenrichtwert handelt es sich um den durchschnittlichen Lagewert des Grund und Bodens pro Quadratmeter der bebauten und unbebauten Grundstücksfläche in einem Gebiet mit im Wesentlichen gleichen Lageund Nutzungsverhältnissen160. Er ist den Kaufpreissammlungen (§ 195 BauGB) zu entnehmen, welche die Gutachterausschüsse für das jeweilige Gemeindegebiet nach Auswertung der von den beurkundenden Stellen zu übersendenden Kaufverträge (im Idealfall flächendeckend) führen161. Dabei sind Richtzonen zu bilden, die jeweils Gebiete umfassen, die nach Art und Maß der baulichen Nutzung weitgehend übereinstimmen. Durch den Rückgriff auf aktuelle Bodenrichtwerte ist der Gesetzgeber den Anforderungen des BVerfG bereits im JStG 2007 nachgekommen162. Die nach §§ 145 III 1; 179 BewG für die Bewertung des Grund und Bodens relevanten sog. Bodenrichtwerte (§ 196 BauGB) sind jeweils mindestens zum 31.12. jedes zweiten Kalenderjahres (§ 196 I 5 BauGB) durch örtliche Gutachterausschüsse festzustellen. Dadurch soll eine gegenwartsnahe Bedarfsbewertung sichergestellt werden. Gelingt dies den Gutachterausschüssen etwa mangels Grundstücksverkäufen nicht, sind die Finanzämter gem. § 179 Satz 4 BewG berechtigt, einen Vergleichswert aus Werten vergleichbarer Flächen abzuleiten163.
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Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sollen die Bodenrichtwerte so abgeleitet werden, dass der individuelle Bodenwert des einzelnen Grundstücks nur unerheblich von dem Richtwert der zugeordneten Bodenwertzone abweicht (BT-Drucks. 13/4839, 50). Allerdings treten derartige Abweichungen in der Praxis nicht selten auf. Deshalb nimmt die h.M., ohne dass dies im BewG zum Ausdruck käme, am Bodenrichtwert Korrekturen vor, wenn das konkrete Grundstück sich seinem Typus nach vom Bo158 VO über die Grundsätze für die Ermittlung der Verkehrswerte von Grundstücken v. 19.5.2010, BGBl. I 639; ergänzt um die RL zur Ermittlung von Bodenrichtwerten (BRW-RL) v. 11.1.2011, BAnz. 2011 Nr. 24, S. 597 u. die VergleichswertRL v. 20.3.2014, BAnz. AT 11.4.2014B3; zu deren Bedeutung für die Verkehrswertermittlung von Grundstücken s. Drosdzol, ZEV 2010, 403; Eisele, NWB 2011, 2289 u. NWB 2014, 1434; zu Unterschieden zwischen dem BewG und der ImmoWertV s. von Cölln/Behrendt, BB 2011, 2007. 159 Zur Abgrenzung von bebauten Grundstücken s. Stöckel, DStZ 2003, 845; R B 178 ErbStR 2011. 160 Zur Ermittlung und Funktion der Bodenrichtwerte s. Eisele, ZEV 2000, 96; Eisele, NWB 2011, 2289. 161 Jüptner, StuW 2005, 126 (131 f.); Drosdzol, ZEV 2008, 10 (12 f.); Eisele, NWB 2011, 2289 (2290). 162 Viskorf, FR 2007, 624 (625); Hey, JZ 2007, 564 (567); Wachter, DNotZ 2007, 173 (175). 163 § 179 BewG wurde durch das BeitrRLUmsG v. 7.12.2011, BGBl. I, 2592 (2614) um Satz 4 ergänzt, dazu Roscher, DStR 2012, 122 (124 f.).
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IV. Bewertung des steuerpflichtigen Vermögens
Rz. 63 § 15
denrichtwertgrundstück unterscheidet. So wird der Bodenrichtwert bei einer abweichenden Geschossflächenzahl164 durch Anwendung von Umrechnungskoeffizienten165 der abweichenden rechtlichen Bebaubarkeit angepasst (R B 179.2 II–VII ErbStR 2011)166. Orientiert sich der Bodenrichtwert an der Grundstückstiefe, so ist die Grundstücksfläche nach den Vorgaben des Gutachterausschusses in Vorder- und Hinterland aufzuteilen. Außerdem ist bei unterschiedlichen erschließungsbeitragsrechtlichen Zuständen zwischen dem Bodenrichtwertgrundstück und dem zu bewertenden Grundstück eine Anpassung vorzunehmen167. Weitere wertbeeinflussende Merkmale (z.B. Ecklage, Zuschnitt, Beschaffenheit des Baugrundes) sollen nach R B 179.2 VIII ErbStR 2011 aber unbeachtlich sein. Dies überzeugt unter Beachtung des Art. 3 I GG nicht. Sie waren früher mit Rücksicht auf einen Unsicherheitsabschlag von 20 % außer Ansatz geblieben (R 162 Satz 2 ErbStR 2003). Nach Fortfall des Abzugs eines pauschalen Unsicherheitsabschlags ist es jedoch willkürlich, andere individuelle Grundstücksbesonderheiten schlicht außer Betracht zu lassen. Ein schlechter Zuschnitt oder eine Geruchsbelästigung kann den Wert eines Grundstücks ebenso mindern wie eine verringerte Geschossflächenzahl (zur Möglichkeit des Gegenbeweises eines niedrigeren gemeinen Werts s. aber Rz. 68). 4.2 Mietwohn- und Geschäftsgrundstücke Für Mietwohn-, Geschäfts- und gemischt genutzte Grundstücke sieht § 182 III BewG grds. ein Er- 62 tragswertverfahren vor. Das Verfahren ist zur Verkehrswertermittlung sachgerecht, weil bei diesen Objekten der nachhaltig erzielbare Ertrag für die Werteinschätzung am Markt im Vordergrund steht (s. § 17 I ImmoWertV). Im Einklang mit der ImmoWertV sind der Bodenwert und der Wert der baulichen Anlagen getrennt zu ermitteln (§ 184 I BewG). Der Bodenwert entspricht gem. § 184 II BewG dem Wert eines unbebauten Grundstücks (Bodenrichtwert, s. Rz. 60). Ihm ist der sog. Gebäudeertragswert hinzuzurechnen, der sich wie folgt ermittelt (s. R B 184 ff. ErbStR 2011): Der Reinertrag des Grundstücks (= Rohertrag i.S.v. § 186 BewG abzüglich Bewirtschaftungskosten i.S.v. § 187 BewG) vermindert um den Betrag, der sich durch eine angemessene Verzinsung des Bodenwertes ergibt, ist nach Maßgabe des § 185 III BewG zu kapitalisieren. Während der Rohertrag den tatsächlich vereinbarten (Miet- und Pacht-)Entgelten bzw. der üblichen Miete168 entspricht (s. § 186 I, II BewG), werden die Bewirtschaftungskosten nur typisierend berücksichtigt. Sie sind nach Erfahrungssätzen anzusetzen. Soweit die Gutachterausschüsse keine Erfahrungssätze formuliert haben, ist von pauschalierten Kosten auszugehen, die in Anlage 23 zum BewG niedergelegt sind (§ 187 BewG). Auch hinsichtlich des Liegenschaftszinssatzes greift der Gesetzgeber vorrangig auf die Ermittlungen 63 der Gutachterausschüsse zurück (§ 188 II 1 BewG), hält aber subsidiär typisierende Zinssatzvorgaben in Reserve (§ 188 II 2 BewG). Die Summe aus Bodenwert und Gebäudeertragswert ergibt den Ertragswert des Grundstücks (§ 184 III 1 BewG).
164 Die Geschossflächenzahl gibt an, wie viel Quadratmeter Geschossfläche je Quadratmeter Grundstücksfläche zulässig ist (§ 20 II BauNVO). Die Geschossflächenzahl ist mithin der Quotient aus der Geschossfläche u. der Grundstücksfläche. Bsp.: Geschossfläche eines Gebäudes = 300 qm, Grundstücksfläche = 600 qm; Geschossflächenzahl = 0,5. 165 Liegt die Geschossflächenzahl des zu bewertenden Grundstücks unter der des Bodenrichtwertgrundstücks, ist ein Abschlag vorzunehmen. Liegt sie darüber, ist der Bodenrichtwert dagegen zu erhöhen. 166 BFH v. 12.7.2006 – II R 1/04, BStBl. II 2006, 742 (743) unter Zugrundelegung von § 199 BauGB i.V.m. WertV. 167 R B 179.2 VI 6 ErbStR 2011; zu den Anpassungen instruktiv Eisele, NWB 2011, 2289 (2293 ff.). 168 Nach § 186 II 1 Nr. 1, 2 BewG tritt an die Stelle des tatsächlich geschuldeten Entgelts die übliche Miete, wenn das Grundstück eigengenutzt oder unentgeltlich überlassen worden ist oder das tatsächliche Entgelt zu mehr als 20 % von der üblichen Miete abweicht.
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§ 15 Rz. 64
Erbschaft- und Schenkungsteuer
4.3 Ein- und Zweifamilienhäuser, Wohn- und Teileigentum 64
Ein-, Zweifamilienhäuser sowie Wohn- bzw. Teileigentum werden nicht (mehr) im Ertrags-, sondern grds. im Vergleichswertverfahren bewertet (§ 182 II BewG). Dieses Verfahren kommt in der Regel nur bei solchen Grundstücken in Betracht, die mit weitgehend gleichartigen Gebäuden, insb. Wohngebäuden, bebaut sind und bei denen sich der Grundstücksmarkt an Vergleichspreisen orientiert. Das trifft vor allem bei Ein- und Zweifamilien-Reihenhäusern, Eigentumswohnungen, Siedlungshäusern und Garagen zu. Dabei sind die tatsächlichen Kaufpreise solcher Grundstücke heranzuziehen, die hinsichtlich der ihren Wert beeinflussenden Merkmale mit dem zu bewertenden Grundstück hinreichend übereinstimmen (§ 183 I BewG). Für die Anwendung des Vergleichswertverfahrens bedarf es einer ausreichenden Anzahl von Kaufpreisen, die mit dem zu bewertenden Grundstück soweit übereinstimmen, dass die Abweichungen in angemessener Weise berücksichtigt werden können (§ 15 I ImmoWertV)169. Vorbild könnten die Durchschnittspreise je qm Wohn-/Nutzfläche sein, die sich aus den Grundstücksmarktberichten der Gutachterausschüsse ergeben und nach Wohnungsgrößen und Baujahresgruppen gestaffelt sind170. Lässt sich auch anhand der von den Gutachterausschüssen der Kommunen ermittelten Vergleichsfaktoren keine sachgerechte Bewertung durchführen, findet das Sachwertverfahren (Rz. 65 f.) Anwendung (§ 182 IV Nr. 1 BewG). 4.4 Sachwertverfahren als Auffang-Bewertungsmethode
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Sonstige Grundstücke werden nach dem Sachwertverfahren (dazu R B 189 ff. ErbStR 2011) bewertet. Dasselbe gilt für Ein-, Zweifamilienhäuser und Eigentumswohnungen, für die keine Vergleichswerte existieren, sowie bei Mietwohn-, Geschäfts- und gemischt-genutzten Grundstücken, für die sich keine übliche Miete ermitteln lässt. Das Sachwertverfahren erhält damit nach § 182 IV BewG einen Auffangcharakter. Die Bewertung des Grund und Bodens entspricht gem. § 189 II BewG der Bewertung unbebauter Grundstücke (Rz. 60 f.), d.h. den Bodenrichtwerten. Hinzu kommt der Wert der baulichen und sonstigen Anlagen, der sich nach den Regelherstellungskosten richtet (§ 190 I BewG). Dies entspricht §§ 21–23 ImmoWertV und orientiert sich zur Ermittlung des Normalherstellungswerts an den gewöhnlichen Herstellungskosten je Raum- und Flächeneinheit, von denen Abschläge wegen Alters und Baumängeln/-schäden bis zu einem Mindestgebäudewert von 30 % der Regelherstellungskosten zu machen sind (§ 190 IV BewG). Die gewöhnlichen Herstellungskosten richten sich gem. § 190 II BewG nach den vom Statistischen Bundesamt veröffentlichen Baupreisindizes für Neubauten konventioneller Bauart und sind der Anlage 24 zum BewG zu entnehmen. § 190 III BewG ermächtigt das BMF durch Rechtsverordnung zur Aktualisierung dieser Werte, wobei sich das BMF an die Vorgaben des § 190 II BewG halten muss.
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Mit dem vorstehenden Bewertungssystem, das an die auch für nichtsteuerliche Zwecke geläufige Grundstücksbewertung nach der ImmoWertV anknüpft, hat der Gesetzgeber den vom BVerfG aufgestellten Anforderungen auf vertretbare Weise genügt und die Bewertung aller Grundstücksarten folgerichtig auf eine Verkehrswertorientierung ausgelegt. Dabei haben Gesetz- und Verordnungsgeber jedoch die subsidiär – bei Fehlen entsprechender Daten der Gutachterausschüsse – greifenden typisierenden Parameter (Zinssätze, Regelherstellungskosten, etc.) realitätsgerecht-aktuell zu halten und ggf. anzupassen.
169 Zu den Anforderungen an die nach § 183 I 2 BewG vorrangig heranzuziehenden, von den Gutachterausschüssen mitzuteilenden Vergleichspreise s. FG Nds. v. 11.4.2014 – 1 K 107/11, EFG 2014, 1364 Rz. 79, 97, 99 (m. Anm. Fumi) mit Ausführungen zur Feststellungslast (abw. FG Hamburg v. 7.7.2015 – 3 K 244/14, Rz. 19 f.; FG Hamburg v. 31.8.2015 – 3 K 15/15: Gleichrangigkeit von Vergleichswert[§ 183 I BewG] u. Vergleichsfaktorverfahren [§ 183 II BewG]). 170 S. Drosdzol, ZEV 2008, 10 (13); R B 183 ErbStR 2011.
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IV. Bewertung des steuerpflichtigen Vermögens
Rz. 69 § 15
4.5 Erbbaurechte/Gebäude auf fremdem Grund und Boden Die Bewertung von Erbbaurechten richtet sich nach §§ 192 ff. BewG. Die wirtschaftlichen Einheiten 67 „Erbbaurecht“ einerseits und „belastetes Grundstück“ andererseits sind getrennt zu würdigen. Die Bewertung des Erbbaurechts hat vorrangig gem. § 193 BewG anhand von Vergleichswerten zu erfolgen. Fehlt es an Vergleichskaufpreisen, ist der Bodenwertanteil zu ermitteln, der sich wiederum aus der Kapitalisierung der Differenz zwischen dem angemessenen Verzinsungsbetrag des Bodenwertes des unbelasteten Grundstücks und dem vertraglich vereinbarten jährlichen Erbbauzins ergibt (§ 193 III BewG). Der Kapitalisierungsfaktor richtet sich nach der Restlaufzeit des Erbbaurechts. Ist in Ausübung des Erbbaurechts ein Bauwerk errichtet worden bzw. war schon ein Gebäude vorhanden, ist zum Bodenwertanteil noch ein Gebäudewertanteil zu addieren. Ist der bei Ablauf des Erbbaurechts verbleibende Gebäudewert nicht oder nur teilweise zu entschädigen, mindert sich der Gebäudewertanteil entsprechend. Das Gesetz berücksichtigt damit i.Erg. individuelle Gegebenheiten wie die Höhe des Pachtzinses, die Restlaufzeit des Nutzungsrechts und Vereinbarungen zum Heimfall (s. R B 193 f. ErbStR 2011). Das mit dem Erbbaurecht belastete Grundstück ist vorrangig anhand von Vergleichswerten zu bewerten. Liegen solche nicht vor, errechnet sich der Bodenwertanteil als die Summe des über die Restlaufzeit des Erbbaurechts abgezinsten Bodenwerts nach § 179 BewG und der über diesen Zeitraum kapitalisierten Erbbauzinsen (§ 194 III 1 BewG). 4.6 Nachweis des niedrigeren gemeinen Werts § 198 BewG eröffnet dem Stpfl. die Möglichkeit, im Wege eines Gegenbeweises (s. § 22 Rz. 190 ff.) ei- 68 nen gegenüber den in Rz. 60 ff. genannten Wertansätzen niedrigeren gemeinen Wert nachzuweisen171. Ihn trifft die Feststellungslast (§ 22 Rz. 191)172; eine Kostenerstattung durch den Staat ist nicht vorgesehen. Als geeignete Beweismittel (§ 21 Rz. 212; § 22 Rz. 186) erkennt der BFH bisher in der Regel nur Gutachten eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen oder des örtlich zuständigen Gutachterausschusses an173. 5. Bewertung land- und forstwirtschaftlichen Vermögens (§§ 158–175 BewG) Auch die frühere Bewertung des land- und forstwirtschaftlichen Vermögens (§§ 140–144 BewG a.F.) 69 hielt der verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand174. Diesem Zustand versucht das ErbStRG 2009 durch ein vereinfachtes Reinertragswertverfahren abzuhelfen, das an die nachhaltige, objektive Ertragsfähigkeit des Betriebs anknüpft175. Diese wird aus statistischen Daten der Agrarberichte der Bundesregierung abgeleitet. Der Reingewinn umfasst das ordentliche Ergebnis im Durchschnitt der letzten fünf Jahre abzüglich eines angemessenen Lohnansatzes für die Arbeitsleistung des Betriebsinhabers und der nicht entlohnten Arbeitskräfte (§ 163 II BewG). Zur Bestimmung dieses objektivierten Reingewinns sind gem. § 163 III BewG die regionsabhängigen sog. Standarddeckungsbeiträge der selbst bewirtschafteten Flächen und der Tiereinheiten nach einer EU-Typologie zu ermitteln und die Betriebsform zu bestimmen (s. R B 163 ErbStR 2011). Der so ermittelte Reingewinn ist gem. § 163 XI BewG mit einem festen Kapitalisierungsfaktor von 18,6 zu multiplizieren, um auf der Basis eines angenommenen Zinses von 5,5 % zum gemeinen Wert des Wirtschaftsteils zu gelangen. Mit dem Ertragswert sollen auch Wirtschaftsgebäude abgegolten sein. Jedoch darf nach § 162 I 4 BewG ein 171 Zur Öffnungsklausel s. Eisele, INF 2007, 376 (377 f.); von Cölln/Behrendt, BB 2011, 2007. 172 Dazu krit. Hey, JZ 2007, 564 (569 f.); Wachter, BB 2007, 577 (579). 173 BFH v. 10.11.2004 – II R 69/01, BStBl. II 2005, 259 (260 f.); BFH v. 11.9.2013 – II R 61/11, BStBl. II 2014, 363 (366); weitergehend Ländererlasse v. 19.2.2014 – 3 - S 318.6.1 u.a., BStBl. I 2014, 808: auch andere Sachverständige als Gutachter möglich. Als weitere Alternative ist der Nachweis eines zeitnah erzielten, niedrigeren Kaufpreises geeignet, s. BFH v. 2.7.2004 – II R 55/01, BStBl. II 2004, 703; ebenso R B 198 III, IV ErbStR 2011. 174 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (64 ff.). 175 S. dazu Hutmacher, ZEV 2008, 22 u. 182; Hutmacher, ZEV 2009, 22; Jäckel, FR-Beil. 11/2009, 33; Eisele, NWB 2009, 3997; von Cölln, ZEV 2011, 182; R B 158.1–168 ErbStR 2011.
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§ 15 Rz. 69
Erbschaft- und Schenkungsteuer
Mindestwert nicht unterschritten werden, der sich aus dem nach Maßgabe des § 164 BewG ermittelten Wert des Grund und Bodens und dem Wert der übrigen Wirtschaftsgüter zusammensetzt. Der Wert des Grund und Bodens orientiert sich dabei an den Pachtpreisen pro Hektar Land (§ 164 II BewG). Der Wohnteil und Betriebswohnungen bleiben gem. § 167 BewG nach den allgemeinen Regeln über die Grundstücksbewertung (Rz. 59 ff.) zu bewerten. Mit der Ausrichtung des Betriebswerts an einem „objektivierten“, eher fiktiven Ertragswert erfüllt der Gesetzgeber nicht die Vorgabe des BVerfG, das eine Substanzwertermittlung gefordert hat176. Außerdem vermag der Ansatz eines festen Multiplikators nicht zu überzeugen. Allerdings sieht § 162 III 1 BewG i.V.m. § 166 BewG die Bewertung der wirtschaftlichen Einheit mit dem Liquidationswert vor, wenn und soweit der Betrieb, Teilbetrieb oder wesentliche Betriebsgrundlagen innerhalb eines Zeitraums von 15 Jahren veräußert oder entnommen werden (sog. Nachbewertungsvorbehalt, Ausnahme: Reinvestition des Veräußerungserlöses in land- und forstwirtschaftliches Vermögen, s. § 162 III 2 BewG; zur Reinvestitionsklausel für Betriebsvermögen s. Rz. 115). Durch diese lange Bindung erreicht das Gesetz, dass nur langfristig gehaltenes Vermögen in den Genuss der typisierenden Ertragswertermittlung kommt. Außerdem nimmt § 159 BewG solche Grundstücke von der Bewertung als land- und forstwirtschaftliches Vermögen aus, bei denen auf Grund ihrer Lage, ihren Verwertungsmöglichkeiten oder sonstigen Umständen anzunehmen ist, dass sie in absehbarer Zeit anderen Zwecken (z.B. als Bauland) dienen werden. 6. Bewertung des Betriebsvermögens (§§ 95–109; 199–203 BewG) Literatur: Seer, Das Betriebsvermögen im Erbschaftsteuerrecht, DStJG 22 (1999), 191; Spitzbart, Das Betriebsvermögen im Erbschaftsteuerrecht – Geltendes Recht und Reformvorschläge, Diss., 2000; Löhle, Verfassungsrechtliche Gestaltungsspielräume und -grenzen bei der Besteuerung von Erbschaften und Schenkungen, Diss., 2001, 111 ff.; Lennert, Die Unternehmensnachfolgebesteuerung am Scheideweg, Diss., 2006; Löffler, Steuerrechtliche Wertfindung aus Sicht der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre – Analyse des Besteuerungsproblems fehlender Geldtransaktionen und Entwicklung von Lösungsansätzen, Habil., 2008; Dirrigl, Unternehmensbewertung für Zwecke der Steuerbemessung im Spannungsfeld von Individualisierung und Kapitalmarkttheorie – Ein aktuelles Problem vor dem Hintergrund der Erbschaftsteuerreform, Arbeitskreis Quantitative Steuerlehre, Bd. 68, 2009; Koschmieder/Herrmann, Die Bewertung von Betriebsvermögen im reformierten Erbschaftsteuerrecht – eine ökonomische Würdigung des vereinfachten Ertragswertverfahrens, in FS Spindler, 2011, 661; Müller/Sureth, Marktnahe Bewertung von Unternehmen nach der Erbschaftsteuerreform?, ZfbF Sonderheft 63/11, 45; Meyering, Einzug betriebswirtschaftlicher Bewertungskalküle in die Erbschaftsteuer, StuW 2011, 274; Hinz, Unternehmensbewertung im Rahmen erbschaft- und schenkungsteuerlicher Zwecke, BFuP 2011, 304; Wollny, Unternehmensbewertung für die Erbschaftsteuer, 2012; Kappenberg, Unternehmensbewertung im Erbschaftsteuerrecht – eine empirische Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Kapitalkostenableitung, Diss., 2012; Schröder, Unternehmensbewertung für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer, Diss., 2014; Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 65 ff., 368 ff.; Kohl, Steuerliche Unternehmensbewertung, in Fleischer/Hüttemann, Rechtshandbuch Unternehmensbewertung, 2015, § 26; Lorenz, Unternehmensbewertung im Erbschaftsteuerrecht – Eine steuerjuristische Analyse, Diss., 2015; Kowanda, Das vereinfachte Ertragswertverfahren und der bewertungsrechtliche Substanzwert, 2017; Bruckmeier/Zwirner/Vodermeier, Unternehmensbewertung im Erbschaftsteuerrecht: Handlungsempfehlungen und Modellrechnungen (§§ 199 ff. BewG und IDW S 1 nach der Erbschaftsteuerreform 2016 im Vergleich), DStR 2017, 678; Riepolt, Systematik und Unternehmensbewertung für die Erbschaft- und Schenkungsteuer, SteuerStud 2017, 499. Rechtsvergleichend: Ruthard/Hachmeister, Unternehmensbewertung für die Erbschaftsteuer in Deutschland und den USA: Gemeiner Wert vs. Fair Market Value (Teil I), Bedeutung von Prämien und Abschlägen (Teil II), DStR 2016, 1048 (Teil I), 1127 (Teil II). Verwaltungsanweisung: R B 11.1–11.6, 95–109, 199.1–203 ErbStR 2011.
176 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (64 f.); krit. daher Viskorf, FR 2007, 624 (626 f.).
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IV. Bewertung des steuerpflichtigen Vermögens
Rz. 73 § 15
6.1 Ansatz und Zurechnung des Betriebsvermögens Nach § 95 I 1 BewG umfasst das Betriebsvermögen alle Teile eines Gewerbebetriebes i.S.d. § 15 I, II 70 EStG, die bei der steuerlichen Gewinnermittlung zum Betriebsvermögen gehören (Grundsatz der Bestandsidentität)177. Den Grundsatz der Bestandsidentität schränkt § 103 III BewG für Rücklagen ein. Sie sind nur abzugsfähig, soweit das Gesetz dies für Zwecke der ErbSt ausdrücklich vorsieht178. Die wirtschaftliche Einheit ist der einzelne gewerbliche Betrieb. Ein Stpfl. kann mehrere Betriebe haben. Jedoch werden die gewerblichen Betriebe von Kapitalgesellschaften, Genossenschaften und Mitunternehmerschaften als wirtschaftliche Einheit behandelt. Sie bilden einen gewerblichen Betrieb (§ 97 I BewG). Die Wirtschaftsgüter müssen dem Betriebsinhaber gehören (§§ 95 I; 97 I BewG). Ausnahme: Zum ge- 71 werblichen Betrieb einer Mitunternehmerschaft gehören auch die Wirtschaftsgüter, die im Eigentum eines, mehrerer oder aller beteiligten Gesellschafter stehen und bei der steuerlichen Gewinnermittlung zum Betriebsvermögen der Gesellschaft gehören; diese Zurechnung geht anderen Zurechnungen vor. Das gilt auch für Forderungen und Schulden zwischen der Gesellschaft und einem Gesellschafter (vgl. § 97 I Nr. 5 BewG). Zur Aufteilung des Betriebsvermögens auf die an der Personengesellschaft beteiligten Mitunternehmer rechnet § 97 Ia Nr. 1 BewG in einem ersten Schritt die Kapitalkonten aus der Gesamthandsbilanz dem jeweiligen Gesellschafter vorweg zu (Buchst. a), um im zweiten Schritt den verbleibenden Wert nach dem für die Gesellschaft maßgebenden Gewinnverteilungsschlüssel auf die Gesellschafter aufzuteilen (Buchst. b). Auf der Grundlage des Verkehrswertansatzes (s. Rz. 58) können die Kapitalkonten keine alleinige Zurechnungsfunktion besitzen, da auch die Differenz zwischen dem bilanziellen Eigenkapital und dem Verkehrswert auf die Mitunternehmer verteilt werden muss. Hinzu kommt schließlich der additiv hinzuzurechnende Wert der Wirtschaftsgüter und Schulden des Sonderbetriebsvermögens (dazu § 10 Rz. 131 ff.). Dem Gewerbebetrieb steht die Ausübung eines freien Berufes i.S.d. § 18 I Nr. 1 EStG gleich (§ 96 I 72 BewG). 6.2 Erforderlichkeit einer Unternehmensbewertung Unter Anwendung des Grundsatzes der realitätsgerechten Wertrelation (s. Rz. 58) fordert das BVerfG 73 auch für das Betriebsvermögen den Ansatz mit einem dem Verkehrswert (gemeinen Wert) wenigstens angenäherten Wert179. Damit war die früher in § 109 I BewG a.F. vorgesehene Bewertung des Betriebsvermögens mit den Steuerbilanzwerten nicht vereinbar. Nicht auseinander gesetzt hat sich das BVerfG indessen mit der Rechtfertigung der Steuerbilanzwerte durch die Verhinderung einer latenten Steuerbelastung stiller Reserven mit Einkommen- und ErbSt beim Erben/Beschenkten180. Leider hat das BVerfG auch der Doppelbelastung mit Einkommen- und Erbschaftsteuer bisher keine Beachtung geschenkt181. Immerhin hat der Gesetzgeber das sich durch den Verkehrswertansatz verschärfende Problem in einem späten Stadium des Gesetzgebungsprozesses noch gesehen und kurzerhand die bis 1998 bereits gültige Steuerermäßigung des § 35a EStG a.F. in Gestalt des § 35b EStG n.F. reaktiviert. Allerdings greift die sich nur auf Verfügungen von Todes wegen innerhalb eines 5-JahresZeitraums beschränkende Regelung auch und gerade unter den Bedingungen des neuen Erbschaft177 Zum Umfang des Betriebsvermögens im Rahmen der steuerlichen Gewinnermittlung s. § 9 Rz. 210 ff. 178 BFH v. 17.3.2004 – II R 64/01, BStBl. II 2004, 766, versagt deshalb den Abzug von Rücklagen für Ersatzbeschaffung. 179 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (37). 180 Dazu 18. Aufl., § 13 Rz. 48, m.w.N. 181 S. zuletzt BVerfG v. 7.4.2015 – 1 BvR 1432/10, Rz. 11 (Nichtannahmebeschluss), mit Recht krit. Friz, DStR 2015, 2409 (2410 ff.). Immerhin tendiert der BFH (BFH v. 27.8.2014 – II R 44/13, BStBl. II 2015, 249 Rz. 10; BFH v. 20.1.2016 – II R 40/14, BFHE 252, 453 Rz. 15, 21) zu einem Exklusivitätsverhältnis von SchenkSt und ESt; s.a. Thiele/Beckmann, FR 2016, 656.
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§ 15 Rz. 74
Erbschaft- und Schenkungsteuer
und Schenkungsteuerrechts zu kurz (zur Ermäßigung der Einkommensteuer s. § 8 Rz. 815)182. Der Gesetzgeber sollte die Regelung auf Schenkungen erweitern und den Anrechnungszeitraum ausdehnen183. 74
Das BVerfG fordert damit auch für das Betriebsvermögen den Ansatz von Verkehrswerten (Annäherungswerten). Zu Recht hält es den Umstand einer eingeschränkten Fungibilität, ggf. gesteigerter rechtlicher Verpflichtungen und eine mögliche höhere Sozialbindung nicht anders als beim Grundvermögen für bereits durch den Marktwert als erfasst184. In Abkehr von der Einzelbewertung hat der Reformgesetzgeber einen Paradigmenwechsel hin zur Gesamtbewertung des betrieblichen Unternehmens vollzogen. Einige Wirtschaftsgüter werden zwar ungeachtet ihrer (formalen) Betriebsvermögenseigenschaft nach wie vor einzeln bewertet (insb. sog. nicht betriebsnotwendiges Vermögen). Die Gesamtbewertung bildet für betriebliche Organismen aber künftig das bewertungsrechtliche Leitprinzip und zwar rechtsformunabhängig. § 11 Abs. 2 BewG bestimmt das Prinzip der Gesamtbewertung für nicht börsennotierte Kapitalgesellschaften (s. Rz. 80). § 109 BewG wiederum erklärt diese Grundsätze in Ansehung von Betriebsvermögen i.S.v. § 95 BewG und § 97 BewG für entsprechend anwendbar. I.Erg. werden damit nunmehr unabhängig von der zivilrechtlichen Organisationsform die stillen Reserven und der Firmen-/Geschäftswert einbezogen (s. § 13 Rz. 50 ff.).
75
Nach § 11 II 2 BewG findet vorrangig ein Vergleichswertverfahren Anwendung, wonach der gemeine Wert aus Verkäufen unter fremden Dritten, die weniger als ein Jahr zurückliegen, abzuleiten ist185. Diese Regel zielt auf die Bewertung von Gesellschaftsanteilen. Sie entfernt sich vom Stichtagsprinzip und kann in Fällen hoher Wertschwankungen zu zufälligen Ergebnissen mit der Gefahr von Über-/Unterbewertungen führen. § 11 II 2 BewG ist daher dahingehend auszulegen, dass der Verkaufswert unbeachtlich ist, sofern ihm für die Ableitung des gemeinen Werts keine Eignung zukommt186. Regelmäßig wird ein zeitnaher Verkaufswert, an den eine Vergleichsbewertung anknüpfen könnte, fehlen. Dann ist der gemeine Wert unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten des Unternehmens oder einer anderen anerkannten, auch im gewöhnlichen Geschäftsverkehr für nichtsteuerliche Zwecke üblichen Methode zu ermitteln (§ 11 II 2 Hs. 1 BewG). Gem. § 11 II 2 Hs. 2 BewG ist dabei die Methode anzuwenden, die ein Erwerber der Bemessung des Kaufpreises für das Unternehmen zugrunde legen würde. Die Feststellungslast, ob eine „andere anerkannte Methode“ diese Anwendungsvoraussetzungen erfüllt und damit anstelle einer Ertragswertmethode anzuwenden ist, trägt nach der sog. Rosenbergschen Normenbegünstigungstheorie (s. § 22 Rz. 191) der sich jeweils darauf Berufende. I.Erg. streitet damit eine Vermutung für die Anwendung einer Ertragswertmethode. Als Mindestwert dient schließlich die Summe der Verkehrswerte der Einzelwirtschaftsgüter abzüglich der Schulden (§ 11 II 3 BewG). Maßgeblich ist mithin der Substanzwert, der den Gebrauchswert der betrieblichen Substanz abbildet. Die Heranziehung des Substanzwerts überrascht angesichts der Tatsache, dass in der Unternehmensbewertungspraxis der hiervon deutlich zu unterscheidende Liquidationswert als Zerschlagungswert die Untergrenze bildet187. Denn niemand zahlt für eine Rekonstruktion des Un182 Krit. hierzu auch Friz, Das Verhältnis der Erbschaft- und Schenkungsteuer zur Einkommensteuer, Diss., 2014, 103 ff. 183 S. Seer, GmbHR 2009, 225 (236 f.); Herzig/Joisten/Vossel, DB 2009, 584 (592). 184 BVerfG v. 19.11.2002 – 2 BvR 329/97, BVerfGE 107, 1 (53); zust. Seer, ZEV 2007, 101 (106); Viskorf, FR 2007, 624 (627); Hübner, DStR 2007, 1013 (1014); Hey, JZ 2007, 564 (566); Wachter, BB 2007, 577 (580, 584). 185 Verkäufe nach dem Stichtag dürfen grds. nicht herangezogen werden, es sei denn, die Preisbildung war vor dem Stichtag bereits abgeschlossen und lediglich die Vollziehung des Anteilskaufs lag nach dem Stichtag (BFH v. 30.1.1976 – III R 74/74, BStBl. II 1976, 280; BFH v. 22.6.2010 – II R 40/08, BStBl. II 2010, 843 [855]); s. auch BFH v. 22.1.2009 – II R 43/07, BStBl. II 2009, 444, zu nachträglichen Kaufpreisminderungen. 186 Creutzmann, DB 2008, 2784 (2787 f.); Seer, GmbHR 2009, 225 (231). 187 Krit. Creutzmann, DB 2008, 2784 (2790 f.); Gerber/König, BB 2009, 1268; Schulte, FR 2008, 341 (345); Seer, GmbHR 2009, 225 (231); zum Substanzwert s. Wollny, DStR 2012, 716 (Teil I) u. 766 (Teil II); Rüttenauer, ErbStB 2014, 49.
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IV. Bewertung des steuerpflichtigen Vermögens
Rz. 77 § 15
ternehmens, die sich nicht lohnt; ob sie sich lohnt, hängt aber wiederum von den erhofften Überschüssen in der Zukunft ab188. Die Praxis der Unternehmensbewertung ist von einer Methodenvielfalt geprägt. Es gibt nicht die „ei- 76 ne“ Ertragswertmethode. Es gibt verschiedene Verfahren, die die Ertragsaussichten des Unternehmens angemessen berücksichtigen. Der Gesetzeswortlaut verlangt insoweit keine Ausschließlichkeit. Weit verbreitet und damit nunmehr auch für die steuerliche Bewertung relevant sind die vom Berufsstand der Wirtschaftsprüfer erarbeiteten Ertragsbewertungsgrundsätze, die im Standard IDW S 1 ihren Niederschlag gefunden haben189. Danach werden die künftigen Ertragsüberschüsse (in Abgrenzung zu Liquiditätsüberschüssen) mit den Renditeforderungen der Eigenkapitalgeber auf den Bewertungszeitpunkt diskontiert. Besondere Bedeutung kommt damit der Bezifferung der künftigen Erträge und des Kapitalisierungszinssatzes zu. An dem Beispiel dieser Methode zeigen sich die erheblichen Unsicherheiten der Unternehmensbewertung. Die künftigen Erträge müssen geschätzt werden; sie beruhen auf Planungen und damit letztlich auf einer von komplexen Rahmenbedingungen geprägten Prognose. Der Kapitalisierungszinssatz wiederum setzt sich zusammen aus einem Basiswert und einem Risikozuschlag190. Während der Basiszinssatz mit dem Rückgriff auf den marktüblichen Zinssatz für (quasi-)risikofreie Kapitalmarktanlagen noch einer recht objektiven Bestimmung zugänglich ist, spiegelt der Risikozuschlag nicht nur die individuellen Umstände in Ansehung des konkreten Unternehmens, der konkreten Marktlage und ähnlicher Faktoren wieder, sondern naturgemäß auch die subjektiven Einschätzungen des Bewertenden. Ein nach diesen Grundsätzen erstelltes individuelles Bewertungsgutachten ist aufwändig und kosten- 77 intensiv. §§ 199 ff. BewG stellen daher den Beteiligten mit dem sog. vereinfachten Ertragswertverfahren ein von Typisierung geprägtes Alternativverfahren zur Verfügung191. Dem Stpfl. wird insoweit ein echtes Wahlrecht eingeräumt192, sofern das vereinfachte Ertragswertverfahren nicht zu „offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen“ führt. Der die Ausgangsgröße bildende Jahresertrag wird nicht zukunftsorientiert anhand von Planungen ermittelt, sondern richtet sich vergangenheitsorientiert nach dem Betriebsergebnis der letzten drei Jahre vor dem Berechnungsstichtag. Das maßgebliche Betriebsergebnis leitet sich aus dem steuerlichen Gewinn i.S.v. § 4 I 1 EStG ab, der um die in § 202 I BewG genannten Korrekturen zu modifizieren und schließlich um einen pauschalen Abzug von 30 % für die persönliche Steuerbelastung des Betriebsinhabers zu kürzen ist (§ 202 III BewG). Abweichend zur bisherigen Regelung, die den Kapitalisierungsfaktor als Kehrwert der Summe aus einem variablen Basiszinssatz (zuletzt ab dem 1.1.2015: 1,1 %) und einem festen Risikozuschlag i.H.v. 4,5 % ableitete193, schreibt § 203 I BewG i.V.m. 205 XI BewG n.F. rückwirkend ab dem 1.1.2016 einen festen Ka-
188 Großfeld, Unternehmens- und Anteilsbewertung4, 2002, 222; hierauf weist Landsittel, ZErb 2009, 11 (14) hin und folgert, dass der Substanzwert i.S. eines Liquidationswerts auszulegen sei. Lorenz, Unternehmensbewertung im Erbschaftsteuerrecht, Diss., 2015, 173 ff., will den Substanzwert nicht als Mindestwert des vereinfachten Ertragswertverfahrens anwenden und den Liquidationswert dann ansetzen, wenn sich das zu bewertende Unternehmen tatsächlich in der Liquidation befindet. 189 S. IDW (Hrsg.), WPg.-Supplement 3/2008, 68 ff. (Beilage zur Zeitschrift WPg.). 190 S. näher Dirrigl, Unternehmensbewertung, 2009, 62 ff.; Hinz, BFuP 2011, 305 (308 ff.). 191 S. R B 199.1 ff. ErbStR 2011; außerdem Piltz, Ubg 2009, 13 ff.; Seer, GmbHR 2009, 225 (231 f.); ausf. Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 393 ff. Vergleiche zwischen dem vereinfachten und dem IDW S 1 – Ertragswertverfahren bieten: Koschmieder/Herrmann, FS Spindler, 2011, 661 (668 ff.); Hinz, BFuP 2011, 305 (307 ff.); Bruckmeyer/Zwirner/Mugler, DStR 2011, 422; Baumann/Seer/Krumm, Fachberater Unternehmensnachfolge, 2011, Rz. 1587 ff.; Gurn, NWB-EV 2011, 370. 192 Creutzmann, DB 2008, 2784 (2786); Söffing, DStZ 2008, 867 (868); Landsittel, ZErb 2009, 11 (13); Seer, GmbHR 2009, 225 (228); Schulte/Birnbaum/Hinkers, BB 2009, 300 (301); so nun auch ausdrücklich R B 199.1 IV 1 ErbStR 2011. 193 Zur Kritik an der bisherigen Regelung s. 22. Aufl., § 15 Rz. 77.
Seer 927
§ 15 Rz. 77
Erbschaft- und Schenkungsteuer
pitalisierungsfaktor von 13,75 vor194. Damit will der Gesetzgeber einer tendenziellen Überbewertung von Unternehmen, wozu das bisherige vereinfachte Ertragswertverfahren vor allem aufgrund der Niedrigzinspolitik führte195, entgegenwirken. Mit der Einführung des festen Kapitalisierungsfaktors von 13,75 setzt sich der Gesetzgeber indessen dem Vorwurf einer gleichheitswidrigen Nivellierung aus196. Dem BMF wird durch § 203 II BewG n.F. aber immerhin die Möglichkeit eingeräumt, mit Zustimmung des Bundesrates den Kapitalisierungsfaktor an die Zinsstrukturdaten anzupassen197. Für die Verfassungsmäßigkeit des § 203 I BewG n.F. spricht, dass das Normengeflecht der §§ 11, 199 ff. BewG es zulässt, dass der Stpfl. bei einer Überbewertung des Unternehmens einen geringeren Wert durch ein fundiertes Unternehmenswertgutachten (z.B. nach dem IDW-Standard S1) nachweist und dem Finanzamt umgekehrt der Nachweis eines höheren Wertes zusteht, wenn das vereinfachte Ertragswertverfahren zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führt198. Unverändert kritikwürdig bleibt der pauschale Steuersatz von nur 30 %, der die tatsächlich zukünftig bei Unternehmensfortführung auf den Erwerber zukommende Belastung gerade in den Fällen von Personenunternehmen auf eher unrealistisch niedrige Weise abbildet. Schließlich überzeugt es wenig, zur Ermittlung eines zukunftsorientierten Ertragswerts ausschließlich und ungewichtet an steuerbilanziell gewonnene Vergangenheitswerte anzuknüpfen. Unter dem Blickwinkel zukunftsorientierter Werte bleibt ebenfalls unverständlich, nach § 200 IV BewG sog. „junges Betriebsvermögen“ (innerhalb der letzten zwei Jahre eingelegte Wirtschaftsgüter) auszuklammern und gesondert einzeln zu bewerten199. Erfreulicherweise sehen sowohl die Bundessteuerberaterkammer als auch das Institut der Wirtschaftsprüfer mittlerweile das Bedürfnis, die Besonderheiten eigentümergeführter, kleiner und mittelgroßer Unternehmen bei der Verkehrswertermittlung stärker zu berücksichtigen200. Nach deren Empfehlungen sind nicht nur der Unternehmerlohn, sondern auch darüber hinausgehende eigentümerbezogene Erfolgsbeiträge bei der Bewertung zu eliminieren oder wenigstens zeitlich abzuschmelzen. Zudem finden sich gerade bei personalistisch geprägten, nicht börsennotierten Personen- und Kapitalgesellschaften satzungsmäßig Verfügungs- und Thesaurierungsbeschränkungen, die § 9 III BewG bei der Bewertung kurzerhand negiert (s. dazu nun systematisch-deplatziert § 13a IX ErbStG n.F. [Rz. 110]). 194 Dadurch ist der Kapitalisierungsfaktor des vereinfachten Ertragswertverfahrens von zuletzt 17,85 auf 13,75 zum 1.1.2016 gesunken (s. gleich lautende Ländererlasse v. 11.5.2017 – 3-S 323.3/1 u.a., BStBl. I 2017, 751). Die rückwirkende Absenkung des Kapitalisierungsfaktors zum 1.1.2016 kann sich im Einzelfall negativ auf die Verschonungsbegünstigung n. § 13a ErbStG (durch Entstehung eines Missverhältnisses zum sog. Verwaltungsvermögen, dazu Rz. 112) auswirken, s. Wachter, FR 2016, 690 (709); Erkis, DStR 2016, 1441 (1447); Hannes, ZEV 2016, 554 (555). In einem solchen Einzelfall bietet sich eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen i.S. des § 163 AO (s. § 21 Rz. 294 f.) an (Seer/Michalowski, GmbHR 2017, 609 [614]; Eisele, NWB 2017, 1948 [1953 ff.]). 195 So bereits die Prognose von Creutzmann, DB 2008, 2784 (2789 f.); später Hinz, BFuP 2011, 304 (317); Kohl/König, BB 2012, 607; dies empirisch anhand verschiedener Gutachten belegend Kappenberg, Unternehmensbewertung im Erbschaftsteuerrecht, Diss., 2012, 163 ff.; der Fachausschuss für Unternehmensbewertung (FAUB) des Instituts der Wirtschaftsprüfer (IdW) hatte für die Marktrisikoprämie eine Bandbreite von 4,5 %–5,5 % vorgeschlagen und empfohlen, den oberen Wert zu wählen; s. Kohl/König, BB 2012, 607 (609 f.); zu dem Problem auch Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 396 f. 196 Den festen Kapitalisierungsfaktor von 12,5 bei der Bewertung bebauter Grundstücke gem. § 146 II BewG hatte BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (52 f.) aus diesem Grund verworfen. 197 Um keine offensichtlich unzutreffende Besteuerung zu bewirken, hat das BMF die Zinsentwicklung laufend zu beobachten und ggf. zu reagieren, s. Hannes, ZEV 2016, 554 (555). Wachter, GmbHR 2017, 1 (16) hält die RVO-Ermächtigung des § 203 II BewG im Lichte des Art. 80 I 2 GG jedoch mangels hinreichender Bestimmtheit für verfassungswidrig. 198 Seer/Michalowski, GmbHR 2017, 609 (613 f.). 199 Mit dem eigenen gemeinen Wert sind nach § 200 III BewG etwa auch Beteiligungen an anderen Gesellschaften anzusetzen. 200 S. die gleichlautenden Hinweise der Arbeitsgruppen „Bewertung von KMU“ des IDW und der Bundessteuerberaterkammer, IDW-Fachnachrichten, Heft 4/2014, 282 ff. (IDW-Praxishinweis 1/2014).
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Seer
V. Steuerbefreiungen
Rz. 100 § 15
7. Bewertung sonstigen Vermögens 7.1 Geldvermögen, Wertpapiere, Kapitalforderungen, Schulden u.Ä. Das sonstige Vermögen wird zum Bewertungsstichtag (§§ 11; 9 I ErbStG: Zeitpunkt des Todes oder 78 der Ausführung der Zuwendung) gem. § 12 I ErbStG grds. nach den allgemeinen Bewertungsvorschriften (§§ 1–16 BewG) für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer mit dem gemeinen Wert (Verkehrswert) (§ 9 BewG) bewertet201. Ihm entspricht für Geld, Kapitalforderungen und Schulden der Nennwert (§ 12 I BewG), für börsennotierte Wertpapiere der Kurswert (§ 11 I BewG), für Investmentanteile der Rücknahmepreis (§ 11 IV BewG), für noch nicht fällige Ansprüche aus Lebensversicherungen der Rückkaufswert (§ 12 IV BewG) und für wiederkehrende Nutzungen/Leistungen (z.B. Rentenforderungen) der Kapitalwert (§§ 13–16 BewG). Während uneinbringliche Forderungen nach § 12 II BewG außer Ansatz bleiben, gilt dies für Schul- 79 den nicht202. Der im amtlichen Handel notierte Börsenkurs ist der vertypte gemeine Wert des Wertpapiers203. Sachleistungsansprüche (z.B. auf Verschaffung des Eigentums an einem Grundstück) bewertet der BFH nicht (mehr) mit dem Steuerwert der Sache (z.B. Grundbesitzwert), sondern mit dem gemeinen Wert der Forderung204. 7.2 Anteile an nichtnotierten Kapitalgesellschaften Bei Anteilen an Kapitalgesellschaften, die an keiner Börse notiert sind (z.B. GmbH-Anteile), fehlt es an 80 einem Kurswert. Sie sollen nach § 11 II 1 BewG mit dem gemeinen Wert (§ 9 BewG) angesetzt werden. Lässt der gemeine Wert sich nicht aus Verkäufen ableiten, die weniger als ein Jahr zurückliegen, so ist er zu schätzen. § 11 II 2 BewG erklärt grds. nur die in der Betriebswirtschaftslehre zur Unternehmensbewertung entwickelten Methoden für maßgeblich. Eine an den künftigen Ertragsaussichten ausgerichtete Methode genießt dabei den prinzipiellen Vorrang. An ihre Stelle kann aber eine andere anerkannte, auch im gewöhnlichen Geschäftsverkehr für nichtsteuerliche Zwecke übliche Methode treten. I.Erg. deckt sich also die Bewertung von nichtnotierten Anteilen an Kapitalgesellschaften mit der Bewertung von Personengesellschaften und Einzelunternehmen (s. daher eingehend Rz. 73 ff.). Einstweilen frei.
81–99
V. Steuerbefreiungen 1. Persönliche Freibeträge (§ 16 i.V.m. § 15 ErbStG) Nach dem vom BVerfG entwickelten sog. Familienprinzip (s. Rz. 5) ist der erbschaftsteuerliche Zu- 100 griff bei Kindern und Ehegatten derart zu mäßigen, dass jedem dieser Stpfl. der jeweils auf ihn überkommende Nachlass zumindest zum deutlich überwiegenden Teil, bei kleineren Vermögen sogar völlig steuerfrei zugute kommt205. Als Anhalt für das danach steuerfrei zu stellende sog. Gebrauchsvermögen (§ 3 Rz. 192) hält das BVerfG den Wert eines durchschnittlichen Einfamilienhauses für tauglich. Dieser Wert bezieht sich nicht auf ein konkretes Wirtschaftsgut, sondern auf einen Freibetrag, 201 Zur Bewertung des sonstigen Vermögens s. Ramb, SteuerStud 2007, 607; zur Schätzung des gemeinen Werts bei Kunstgegenständen s. BFH v. 6.6.2001 – II R 7/98; Heuer, DStR 2002, 845; Steiner, ErbStB 2004, 17. 202 BFH v. 26.2.2003 – II R 19/01, BStBl. II 2003, 561 (562 f.). 203 BFH v. 1.10.2001 – II B 109/00, BFH/NV 2002, 319: Abweichungen sind nur zuzulassen, wenn der amtlich festgestellte Kurs nicht der wirklichen Geschäftslage des Verkehrs an der Börse entspricht, d.h. seine Streichung hätte erreicht werden können. 204 BFH v. 9.4.2008 – II R 24/06, BStBl. II 2008, 951; s. auch bereits das obiter dictum in BFH v. 2.7.2004 – II R 9/02, BStBl. II 2004, 1039. 205 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165 (174 f.).
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§ 15 Rz. 101
Erbschaft- und Schenkungsteuer
der auch Nicht-Grundeigentümern zugute kommt206. Diesen Anforderungen versucht § 16 I ErbStG auf typisierende Weise durch die folgenden persönlichen Freibeträge nachzukommen: 1.
Ehegatten, eingetragene Lebenspartner
500 000 Euro
2.
Kinder und Kinder verstorbener Kinder
400 000 Euro
3.
Übrige Enkel
200 000 Euro
4.
Übrige Personen der Steuerklasse I (Eltern beim Erwerb von Todes wegen)
100 000 Euro
5.
Übrige Personen
20 000 Euro.
Diese persönlichen Freibeträge finden nach § 16 I ErbStG nur auf Erwerbe Anwendung, die unter die unbeschränkte Steuerpflicht nach § 2 I Nr. 1 ErbStG (Rz. 41 ff.) fallen. 101 Die Freibeträge beziehen sich auf den Erwerb von einem bestimmten Erblasser oder Schenker.
Folglich können Eltern (wenn beide Elternteile Vermögen besitzen) jedem Kind jeweils ein Vermögen mit einem Steuerwert von 400 000 Euro steuerfrei zuwenden. Nach § 14 I ErbStG werden mehrere Erwerbe, die innerhalb eines Zeitraums von 10 Jahren von derselben Person anfallen, zusammengerechnet (Rz. 145), so dass sich der Freibetrag innerhalb dieses Zeitraumes auch nur einmal auswirken kann. Eine darüber hinaus langfristig gestreckte vorweggenommene Erbfolge führt zur mehrfachen Ausnutzung persönlicher Freibeträge, mildert die Erbschaftsteuerprogression (Rz. 141) und lässt Wertsteigerungen des übertragenen Vermögens bereits in der nachfolgenden Generation entstehen. 102
Sofern nicht ohnehin bereits die Steuerbefreiung für das sog. Familienwohnheim eingreift (§ 13 I Nr. 4b u. 4c, dazu Rz. 122), reicht ein Freibetrag i.H.v. 400 000 Euro regelmäßig aus, damit auf jeden Erwerber ein übliches Einfamilienhaus steuerfrei übergehen kann. Im Gegenteil, die hohen Freibeträge erodieren die Steuerbasis und provozieren für die verbleibenden Fälle hohe Steuersätze (s. Rz. 139). Fraglich ist allerdings, ob der Ehegatten-Erwerb durch einen Freibetrag von 500 000 Euro hinreichend freigestellt wird. Das BVerfG hatte gefordert, dass die Erbschaft für den Ehegatten nach Art. 6 I GG noch Ergebnis der ehelichen Erwerbsgemeinschaft bleiben müsse207. Dann sind bereits zu Lebzeiten getätigte sog. ehebedingte (unbenannte) Zuwendungen unter Ehegatten zumindest insoweit von der Schenkungsteuer freizustellen, als sie den Umfang einer hälftigen Teilung des ehelichen Zugewinns nicht überschreiten (Rz. 119 ff.).
103 Wird der gesetzliche Güterstand der Zugewinngemeinschaft (§§ 1363 ff. BGB) durch Scheidung oder
Tod aufgelöst, so ist der Zugewinnausgleich bereits nach geltendem Recht nicht steuerbar. Die Erfüllung des Zugewinnausgleichs ist keine freigebige Zuwendung (insoweit klarstellend § 5 II ErbStG)208. Vielmehr besitzt der Ehegatte mit dem geringeren Zugewinn einen ehebedingten (familienrechtlichen) Teilhabeanspruch auf die Hälfte der Zugewinndifferenz. Demgemäß ist auch im Todesfall der Erwerb des überlebenden Ehegatten, der den ehelichen Zugewinn abgilt, von der ErbSt freizustellen. Dazu folgt das ErbStG jedoch nicht der pauschalierenden erbrechtlichen Regelung des § 1371 I BGB (1/4 206 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (171); Jachmann, StuW 1996, 97 (103); Seer, StuW 1997, 283 (297); krit. zur Höhe des Freibetrages Seer, Ubg 2012, 378 (382). 207 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165 (175). 208 BFH v. 28.6.2007 – II R 12/06, BStBl. II 2007, 785 (786 f.) nimmt den vorzeitigen Zugewinnausgleich bei fortbestehender Zugewinngemeinschaft aus dem Anwendungsbereich des § 5 II ErbStG heraus (sog. fliegenden Zugewinnausgleich; s. auch H E 5.2 ErbStH 2011); anders aber nach BFH v. 12.7.2005 – II R 29/02, BStBl. II 2005, 843 (845), wenn der Güterstand der Zugewinngemeinschaft ehevertraglich beendet wird, selbst wenn der Güterstand der Zugewinngemeinschaft im Anschluss an die Beendigung wieder neu entsteht (Modell der „Güterstandsschaukel“ bei unterbrochener Zugewinngemeinschaft; s. auch Schlünder/Geißler, ZEV 2005, 505; Wachter, FR 2006, 42; Kensbock/Menhorn, DStR 2006, 1073; Fuhrmann, KÖSDI 2013, 18538).
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Seer
V. Steuerbefreiungen
Rz. 105 § 15
der Erbschaft = fiktiver Zugewinnausgleich). Vielmehr verlangt der sog. Zugewinnausgleichsfreibetrag des § 5 I ErbStG unter Anknüpfung an die güterrechtliche Lösung des § 1371 II BGB für steuerliche Zwecke die Berechnung des effektiven Zugewinnausgleichs. Die technisch aufwendige Lösung des § 5 I ErbStG bemüht sich hier um ein Höchstmaß an Präzision, die aber auf Grund praktischer Schwierigkeiten in der Realität nicht geleistet werden kann. R E 5.1 II 5 ErbStR 2011 will bei der Berechnung des steuerfreien Zugewinns nominale Wertsteigerungen, die auf dem Kaufkraftschwund beruhen, zulasten des Stpfl. außer Ansatz lassen. Dies hat der BFH gebilligt209. Solange das Steuerrecht aber am Nominalwertprinzip festhält und keinem Realwertprinzip210 folgt (s. § 3 Rz. 15, 63), ist diese Ausnahme vom Nominalwertprinzip profiskalisch und inkonsequent. Wird die Zugewinngemeinschaft (etwa nachträglich) durch Ehevertrag vereinbart, gilt als Zeitpunkt des Eintritts des Güterstandes (§ 1374 I BGB) nach § 5 I 4 ErbStG der Tag des Vertragsabschlusses211. § 5 ErbStG erfasst auch die Lebenspartnerschaft i.S.d. § 6 LPartG, lässt aber ausländische Güterstände weiterhin unberücksichtigt212. Es spricht de lege ferenda viel dafür, den Ehegatten-Erwerb erbschaft- und schenkungsteuerlich vollständig freizustellen213. 2. Besonderer Versorgungsfreibetrag (§ 17 ErbStG) Dem überlebenden Ehegatten (ebenso dem überlebenden Lebenspartner) steht neben dem per- 104 sönlichen Freibetrag (Rz. 100) ein besonderer Versorgungsfreibetrag von 256 000 Euro zu. Kinder erhalten einen nach ihrem Alter gestaffelten besonderen Freibetrag von 10 300–52 000 Euro (§ 17 II 1 ErbStG). Haben der Ehegatte/Lebenspartner oder/und die Kinder aus Anlass des Todes des Erblassers Anspruch auf nicht der ErbSt unterliegende Versorgungsbezüge, so ist der Freibetrag um den Kapitalwert (§§ 13; 14 BewG) der Versorgungsbezüge zu kürzen (§ 17 I 2, II 2 ErbStG). Zur Vermeidung eines Verstoßes gegen die Kapitalverkehrsfreiheit (s. Art. 63 AEUV) hat das StUmgBG v. 23.6.2017, BGBl. I 2017, 1682 (1688), in § 17 Abs. 3 ErbStG n.F. den Versorgungsfreibetrag auch auf beschränkt steuerpflichtige Erwerber erstreckt, wenn die Staaten, in denen der Erblasser oder der Erwerber ansässig war bzw. ist, Amtshilfe (s. § 21 Rz. 273 ff.) leisten. Der ErbSt nicht unterliegende Versorgungsbezüge sind Hinterbliebenenbezüge aus einer Beamten- 105 oder Abgeordnetenversorgung, gesetzlichen Sozialversicherung, berufsständischen Pflichtversicherung und nach der neueren BFH-Rspr. auch vertragliche Hinterbliebenenbezüge aus einem Arbeitsverhältnis214; Versorgungsbezüge zugunsten des überlebenden Ehegatten eines Personengesellschaf209 BFH v. 27.6.2007 – II R 39/05, BStBl. II 2007, 783 (784 f.). 210 Die zivilrechtliche Rspr. des BGH (s. BGH v. 20.5.1987 – IVb ZR 62/86, BGHZ 101, 65 [67 f.]) will für das Erb- und Familienrecht dagegen das Realwertprinzip umsetzen; zu den Konsequenzen für die Testamentsgestaltung s. Piltz, ZEV 1999, 98 f. 211 Damit versagt § 5 I 4 ErbStG rückwirkenden Güterstandsvereinbarungen seine erbschaftsteuerliche Anerkennung. Zu den Auswirkungen des Güterstandes auf die Erbschaft- und Schenkungsteuer allgemein s. Sontheimer, NJW 2001, 1315; Götz, INF 2001, 417 (Teil 1), 460 (Teil 2). Nach BFH v. 13.4.2005 – II R 46/03; BFH v. 18.1.2006 – II R 64/04 ist diese Regelung verfassungskonform. Zur § 5 I 4 ErbStG überwindenden sog. doppelten Güterstandsklausel unter dem Gesichtspunkt des Gestaltungsmissbrauchs nach § 42 AO s. Holler/Schmidt, FS Spiegelberger, 2009, 239 (242 ff.). 212 Die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) kann es in europarechtskonformer Auslegung gebieten, den Freibetrag auch auf den Zugewinn nach ausländischem Güterrecht analog anzuwenden, soweit dieser seiner Struktur nach dem deutschen Zugewinnausgleich entspricht, s. Schnitger, FR 2004, 185 (192); a.A. wohl Meincke, ZEV 2004, 353 (357). Immerhin findet nach § 5 III ErbStG der Zugewinnausgleichsfreibetrag auf die deutsch-französische Wahl-Zusammenveranlagung Anwendung (eingeführt durch Gesetz v. 15.3.2012, BGBl. II 178 [179]). 213 So auch P. Kirchhof, FR 2013, 97 (98); noch weitergehend Michelsen, Die erbschaft- und schenkungsteuerliche Behandlung von Vermögensbewegungen unter Ehegatten, Diss., 2008, 38 ff., der bereits von Verfassungs wegen jeden Vermögenstransfer zwischen Ehegatten freigestellt sehen will (abl. BFH v. 18.7.2013 – II R 35/11, BStBl. II 2013, 1051 [1052 f.]). 214 Vgl. BFH v. 20.5.1981 – II R 11/81, BStBl. II 1981, 715; BFH v. 20.5.1981 – II R 33/78, BStBl. II 1982, 27; modifiziert durch BVerfG v. 9.11.1988 – 1 BvR 243/86, BStBl. II 1989, 938 (943); BFH
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§ 15 Rz. 106
Erbschaft- und Schenkungsteuer
ters sollen mangels Arbeitnehmereigenschaft des Gesellschafters hingegen nicht von der Besteuerung ausgenommen sein und schmälern den Versorgungsbeitrag dementsprechend auch nicht215. Durch die Kürzung des Versorgungsfreibetrags, welche die Wirkung einer begrenzten indirekten Besteuerung hat, soll im Vergleich zu denjenigen Hinterbliebenen ein angemessener Ausgleich geschaffen werden, denen aus Anlass des Todes des Erblassers keine oder nur geringe Versorgungsbezüge zustehen (BTDrucks. 6/3418, 70 f.). Eine völlige Gleichbehandlung der steuerfreien Versorgungsbezüge mit den steuerpflichtigen Versorgungsbezügen einerseits (s. § 3 I Nr. 4 ErbStG, dazu Rz. 17) und dem übrigen steuerpflichtigen Vermögenserwerb andererseits wird wegen der auf 256 000 Euro begrenzten Anrechnung aber nicht erreicht. Die dem Bereicherungsprinzip entsprechende, systemkonforme Lösung bestünde vielmehr darin, alle Versorgungsbezüge in die erbschaftsteuerliche Bemessungsgrundlage einzubeziehen und den Versorgungsfreibetrag ungekürzt zu gewähren. 3. Sachliche Steuerbefreiungen 3.1 Verschonung des Unternehmensvermögens (§§ 13a-c ErbStG) Literatur: Zur Neuregelung der Verschonungsregelungen durch das Gesetz zur Anpassung des ErbStG an die Rechtsprechung des BVerfG: Zeitschriften: Erkis, DStR 2016, 1441; Viskorf/Löcherbach/Jehle, DStR 2016, 2425; Korezkij, DStR 2016, 2434; 2017, 1729; Reich, BB 2016, 2647; BB 2017, 1879; Crezelius, ZEV 2016, 541; Geck, ZEV 2016, 546; Kußmaul/Müller, Ubg 2017, 173; Wachter, FR 2016, 690; GmbHR 2017, 1; DB 2017, 804; Marx, DStZ 2017, 19; Olbing/Stenert, FR 2017, 701; Seer/Michalowski, GmbHR 2017, 609; Eisele, NWB 2017, 2670 (Teil I), 2751 (Teil II). Monographien: Müller, Unternehmensnachfolge und Erbschaftsteuer, Diss. 2017. Verwaltungsanweisungen: Koordinierter Ländererlass v. 22.6.2017 – S 3900-60-V A 6 u.a, BStBl. I 2017, 902. 106 Die praktische wichtigste und zugleich umstrittenste sachliche Steuerbefreiung statuieren §§ 13a-13c
ErbStG n.F. für das Unternehmensvermögen. Zwar lässt es das BVerfG zu, dass die verkehrswertorientierte Bemessungsgrundlage auf einer 2. Stufe zur Verfolgung von Lenkungszwecken wieder durchbrochen wird216. Es fordert dazu aber, dass das Gesetz den Lenkungszweck deutlich erkennen lässt und den Lenkungstatbestand „zielgenau und normenklar“ ausgestaltet217. Diesen Lenkungsspielraum hatte das ErbStRG 2009 in Gestalt der §§ 13a, 13b ErbStG a.F. zu nutzen versucht, um Familienunternehmen, bei denen die Erbschaft- oder Schenkungsteuer mittelbar einen Liquiditätsentzug bewirken kann, zur langfristigen Sicherung von Arbeitsplätzen von der Erbschaft- und Schenkungsteuer zu verschonen (s. BR-Drucks. 4/08, 52 ff.). Dabei hatte es Ausmaß und Reichweite der Verschonungssubvention aber so überdimensioniert, dass das BVerfG die Regelung für unverhältnismäßig und insgesamt mit Art. 3 Abs. 1 GG für unvereinbar erklären musste218. Mit Rücksicht auf die Interessen der Länderhaushalte hatte das BVerfG seine Entscheidung nur mit einer ex-nunc-Reformpflicht und einer bis zum 30.6.2016 befristeten Weitergeltungsanordnung getroffen (dazu krit. § 22 Rz. 287), die der Gesetzgeber zunächst verstreichen ließ219. Erst am 29.9.2016 und 14.10.2016 stimmten Bundestag bzw. Bundesrat der Reform der Verschonungsbegünstigung für Unternehmensvermögen letztlich zu (s.
215 216 217 218 219
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v. 13.12.1989 – II R 23/85, BStBl. II 1990, 322 (325); bestätigt durch BVerfG v. 5.5.1994 – 2 BvR 397/90, BStBl. II 1994, 547; dazu auch Pietsch, UVR 1995, 336. BFH v. 5.5.2010 – II R 16/08, BStBl. II 2010, 923 (924, 928). BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (36 f.); BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, Rz. 124 ff. BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (32); krit. zur Unbestimmtheit dieser sog. 2. Stufe: Seer, ZEV 2007, 101 (105 f.); Seer, GmbHR 2007, 281 (285 ff.); Hey, JZ 2007, 564 (567 ff.). BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, Rz. 119; ausf. dazu F. Müller, Unternehmensnachfolge und Erbschaftsteuer, Diss., 2017, 173 ff. Zum Verfahrensgang und den Rechtsfolgen krit. Drüen, DStR 2016, 643; Seer, GmbHR 2016, 673.
Seer
V. Steuerbefreiungen
Rz. 108 § 15
Rz. 6). Die sich nun über 5 Paragrafen (§§ 13a, 13b, 13c, 28, 28a ErbStG) mit insgesamt 35 Absätzen und 36.588 Textzeichen erstreckende Regelung hat eine nicht mehr beherrschbare Komplexität erreicht, die zur Unbestimmtheit zumindest des sog. Verwaltungsvermögens führt (sog. Hyperlexie)220. Die Regelung ist im Rahmen dieses Lehrbuchs nicht mehr darstellbar und wird sich im Folgenden auf ihre – noch halbwegs nachvollziehbaren – Grundzüge beschränken221. Begünstigt sind sowohl der Erwerb von Todes wegen (§ 1 I Nr. 1 ErbStG, einschließlich des Sachver- 107 mächtnisses222, s. Rz. 8 ff.) als auch der Erwerb durch Schenkung unter Lebenden (§ 1 I Nr. 2 ErbStG). Begünstigt sind auch erbschaft- oder schenkungsteuerliche Ersatz- bzw. Ergänzungstatbestände (dazu Rz. 16, 30 f.). § 13a I ErbStG n.F. stellt 85 % des begünstigten Unternehmensvermögens i.S. des § 13b II ErbStG n.F. frei, wenn der Erwerb des begünstigten Vermögens den Schwellenwert i.H.v. 26 Mio. Euro nicht übersteigt (sog. Regelverschonung). Bei einem Familienunternehmen in der Rechtsform einer Personen- oder Kapitalgesellschaft, deren Gesellschaftsvertrag/ Satzung Verfügungs-/Abfindungs- und Entnahme-/Ausschüttungsbeschränkungen vorsieht, mindert sich das steuerpflichtige Unternehmensvermögen gem. § 13a IX ErbStG n.F. vorab nach Maßgabe der Beschränkungen um maximal 30 % (sog. Vorababschlag, s. Rz. 110). Für das nach Abzug dieser Abschläge verbleibende begünstigte Vermögen gewährt schließlich § 13a II ErbStG zusätzlich einen gleitenden Abzugsbetrag i.H.v. 150 000 Euro, der bei Übersteigen der 150 000 Euro-Grenze um 50 % des übersteigenden Betrages abschmilzt223. Überschreitet der Erwerb von begünstigtem Unternehmensvermögen danach den Schwellenwert von 26 Mio. Euro (sog. Großerwerb), besitzt der Erwerber ein Wahlrecht: Er kann gem. § 13c ErbStG n.F. von einem sog. Abschmelzmodell Gebrauch machen, bei dem der Verschonungsabschlag in 750 000 Euro-Schritten abschmilzt, soweit der (ggf. nach Anwendung des Vorababschlages) verbliebene Unternehmenswert den Schwellenwert von 26 Mio. Euro übersteigt224. Alternativ (s. § 13c II 6 ErbStG n.F.) kann der „Groß-Erwerber“ gem. § 28a ErbStG n.F. auch eine Verschonungsbedarfsprüfung beantragen. Danach ist die auf den begünstigten Unternehmenserwerb entfallende ErbSt zu erlassen, soweit der Erwerber sie nicht aus seinem verfügbaren Vermögen begleichen kann. Zum verfügbaren Vermögen rechnet § 28a II ErbStG n.F. 50 % des gemeinen Wertes des mit der Erbschaft oder Schenkung zugleich übergegangenen nicht begünstigten Vermögens sowie 50 % des gemeinen Wertes des bei Entstehung der Steuer (§ 9, s. Rz. 130 ff.) ihm bereits gehörenden nicht begünstigten Vermögens225. Für den Restbetrag sieht § 28a III ErbStG bei erheblicher Härte und fehlender Anspruchsgefährdung die Möglichkeit einer (verzinslichen) Stundung von bis zu sechs Monaten vor. Der Gesetzgeber hat damit ein erwerberbezogenes Verschonungskonzept verwirklicht. Demgemäß 108 werden auch mehrere Unternehmenserwerbe durch denselben Erwerber für die Prüfung des Schwellenwerts gem. § 13a I 2 ErbStG n.F. nicht nur hinsichtlich eines Unternehmens, sondern auch bei
220 Eingehend Seer/Michalowski, GmbHR 2017, 609 (615 ff.). 221 Eingehendere Darstellungen finden sich in den vor Rz. 106 zitierten Zeitschriftenaufsätzen. Ein sowohl kritisch-distanzierter, aber gleichwohl detaillierter Beitrag findet sich bei Seer/Michalowski, GmbHR 2017, 609. 222 BFH v. 13.8.2008 – II R 7/07, BStBl. II 2008, 982 (985 f.) – zur alten Rechtslage. 223 Er ist vollständig auf null Euro bei einem (nach Abzug der vorgenannten Abschläge) verbliebenen begünstigten Wert des Unternehmensvermögens von 450 000 Euro abgeschmolzen (s. Bsp. im koordinierten Ländererlass v. 22.6.2017 – 3 - S 371.5/22 u.a., BStBl. I 2017, 902 [903 f.], H 13a.3). Zu ungewollten Wechselwirkungen beim Abschmelzungsmodell s. von Oertzen/Loose/Stalleiken, § 13c ErbStG, Rz. 7 ff.; Korezkij, DStR 2017, 189. 224 Die Regelverschonung von 85 % entfällt damit vollständig ab einem Erwerb von 90,25 Mio. Euro. 225 Die Einbeziehung des im Erb- oder Schenkungsfalle bereits beim Erwerber existierenden sonstigen Vermögens (§ 28a II Nr. 2 ErbStG n.F.) bewirkt eine indirekte Vermögensteuer, krit. auch Wachter, FR 2016, 690 (706 ff.). Zu den Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen des § 28a ErbStG Maier, ZEV 2017, 10.
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§ 15 Rz. 109
Erbschaft- und Schenkungsteuer
ganz unterschiedlichen Unternehmen innerhalb eines 10-Jahres-Zeitraums zusammengerechnet226. Umgekehrt vervielfältigt sich der erwerberbezogene Schwellenwert von 26 Mio. Euro mit der Anzahl der Miterben227. Die vom BVerfG in seinem Urteil v. 17.12.2014 gemachten Vorgaben für die verfassungsrechtlich gebotene Beschränkung der Verschonungssubvention sind leider undeutlich. Das BVerfG schwankt in den Gründen zwischen „Großunternehmen“ und „Großerwerben“228. Zwar ist die Erbschaft- und Schenkungsteuer eine Bereicherungsteuer (s. Rz. 1), so dass es auf dem ersten Blick durchaus folgerichtig erscheint, auf Erwerber des Unternehmensvermögens abzustellen229. Bei der Verschonung des Unternehmensvermögens handelt es sich aber um eine objektive Steuerbefreiung, die im Interesse des Erhalts von Arbeitsplätzen inhabergeführte mittelständische Unternehmen vor einem mit der Bezahlung der Steuer verbundenen Mittelentzug durch die Inhaber schützen soll230. Bei kleinen und mittleren Unternehmen geht das BVerfG von einer unwiderleglichen Gefährdungsvermutung aus; bei größeren Unternehmen bedarf es zur Rechtfertigung der weitreichenden (privilegierenden) Verschonung dagegen nach Vorstellung des Gerichts des Nachweises einer konkreten Gefährdungslage durch eine individuelle Bedürfnisprüfung. Es widerspricht dem Lenkungszweck, auf den einzelnen Erwerb abzustellen; vielmehr böte dazu die Größe des jeweiligen Unternehmens den folgerichtigen Indikator231. 109
Seinem Lenkungszweck entsprechend weist § 13a V 1 ErbStG den Abschlag und Abzugsbetrag nicht formal dem Erben, sondern demjenigen zu, der z.B. aufgrund eines Sachvermächtnisses (auch als Vorausvermächtnis) das Unternehmensvermögen letztlich erhält und fortführt. Bei dem Erben, der mit dem Sachvermächtnis belastet ist, handelt es sich um einen bloßen Durchgangserwerb. Er ist i.Erg. nicht bereichert; sein Erwerb wird durch eine korrespondierende Nachlassverbindlichkeit kompensiert (Rz. 126). § 13a V 2 ErbStG versagt den Verschonungsabschlag und -abzugsbetrag aber auch dann, wenn aufgrund einer Teilungsanordnung begünstigtes Unternehmensvermögen auf einen Miterben zu übertragen ist. Stattdessen soll auch hier der Miterbe, der dieses Unternehmensvermögen letztlich fortführt, in den Genuss der Begünstigung kommen. Diese Regelung kollidiert jedoch (wie bereits die Vorgängernorm) mit dem Erbanfallprinzip, wonach die Teilungsanordnung an der erbschaftsteuerlichen Zuordnung des Unternehmensvermögens nichts ändert232. Mit anderen Worten: Die 1. Stufe der Bemessungsgrundlage mit ihren Bewertungsregeln stimmt mit der 2. Stufe der Steuerverschonung nicht mehr überein. Der weichende Erbe hat auf der 1. Stufe anteiliges Unternehmensvermögen zu Verkehrswerten anzusetzen, ohne auf der 2. Stufe verschont zu werden. Der fortführende Erbe hat auf der 1. Stufe nur anteiliges Unternehmensvermögen anzusetzen, erhält aber nach der Intention des Gesetzes die gesamte Verschonungssubvention233. Der Gesetzgeber verkennt mit der Regelung des § 13a V 3 ErbStG bei der Teilungsanordnung leider unverändert den Zusammenhang, weil dort – anders als beim Vorausvermächtnis – die Weitergabeverpflichtung nach § 10 V ErbStG gerade nicht abgezogen wird234. 226 Wird aufgrund eines späteren, in einem 10-Jahres-Zeitraum (s. Rz. 145) einzubeziehenden Erwerbs der Schwellenwert von 26 Mio. Euro überstiegen, handelt es sich um ein Ereignis i.S. des § 175 I 1 Nr. 2 AO (s. § 21 Rz. 433 ff.), das zum ganzen oder teilweisen Wegfall des Verschonungsabschlags führt. 227 Zu den damit verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten s. Watrin/Linnemann, DStR 2017, 569 (571). 228 BVerfG v. 14.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, Rz. 170-175. 229 So etwa Crezelius, ZEV 2016, 541 (545). 230 S. BVerfG v. 14.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, Rz. 172. 231 Seer/Michalowski, GmbHR 2017, 609 (611), mit dem Nachweis einer nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung. 232 Seer, GmbHR 2009, 225 (232 f.); Baumann/Seer/Krumm, Fachberater Unternehmensnachfolge, 2011, Rz. 1607 f., m. Bsp. zum Risiko eines anteiligen Verlusts des Verschonungsabschlags; a.A. wohl Wälzholz, ZEV 2009, 113 (115). 233 Die dadurch zwischen (gleichwertig bedachten) Miterben entstehende Ungleichbehandlung illustriert das im koordinierten Ländererlass v. 22.7.2017 – 3 - S 371.5/22 u.a., BStBl. I 2017, 902 [914 f.] in H 13a.10 gebildete Bsp. 234 BFH v. 10.11.1982 – II R 85-86/78 u.a., BStBl. II 1983, 329.
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Seer
V. Steuerbefreiungen
Rz. 111 § 15
Auf der Bewertungsebene negiert die h.M. unter Berufung auf § 9 II 3, III BewG die Berücksichtigung 110 von Entnahme-, Ausschüttungs-, Verfügungs- und Abfindungsbeschränkungen bei Gesellschaftsanteilen (dazu bereits krit. unter Rz. 77). Dies hat der Gesetzgeber unangetastet gelassen, stattdessen aber auf der Verschonungsebene in § 13a IX ErbStG n.F. einen an diese Beschränkungen gekoppelten Vorababschlag für Familienunternehmen (max. 30 %) eingeführt. Um in den Genuss der Steuerbefreiung zu gelangen, muss die Satzung bzw. der Gesellschafts-/Stiftungsvertrag gem. § 13a IX 1 ErbStG n.F. eine Entnahme-/Ausschüttungsbeschränkung auf mind. 37,5 % des um die persönliche Steuern geminderten Gewinns und eine Verfügungsbeschränkung zugunsten der Mitgesellschafter, Angehörigen i.S des § 15 AO oder einer Familienstiftung vorsehen235. Ferner darf vertraglich bei Ausscheiden eines Gesellschafters nur eine Abfindung unter dem gemeinen Wert vorgesehen sein. Die konkrete Höhe der Begünstigung bestimmt sich gem. § 13a IX 3 ErbStG n.F. nach der vertraglich vorgesehenen prozentualen Minderung der Abfindung im Verhältnis zum gemeinen Wert. Die Begünstigung soll nur für Personen- und bestimmte Kapitalgesellschaften möglich sein und ist damit nicht rechtsformneutral236. Die Verwechslung von Bewertungs- und Verschonungsebene (zur 2-Stufen-Betrachtung des BVerfG s. Rz. 5) ist auch kein bloßer Schönheitsfehler. Vielmehr verstößt sie gegen den Gleichheitssatz, weil auch bei nicht begünstigten Personen- und Kapitalgesellschaftsanteilen aufgrund der genannten gesellschaftsvertraglichen Beschränkungen eine Wertminderung eintritt, die aber unberücksichtigt bleibt237. Schließlich erweist sich die Fristenregelung des § 13a IX 4, 5 ErbStG n.F. – Entnahme-, Ausschüttungs-, Verfügungs- und Abfindungsbeschränkungen müssen 2 Jahre vor der Steuerentstehung und 20 Jahre danach vorliegen – als unverhältnismäßig238. Als begünstigtes Unternehmensvermögen definiert § 13b I ErbStG das land- und forstwirtschaftliche 111 Vermögen (s. Rz. 69), das Betriebsvermögen (s. Rz. 70 ff.) sowie Anteile an Kapitalgesellschaften mit einer Mindestbeteiligung von mehr als 25 % des Erblassers/Schenkers am Nennkapital der Gesellschaft (s. Rz. 80). Ebenso fallen auch Teilbetriebe und Mitunternehmeranteile239 (vgl. § 16 I EStG; zu den Begriffen s. § 8 Rz. 420; § 10 Rz. 25 ff.)240 unter die Begünstigung. Die Beteiligungsgrenze von 25 % soll ein Indiz dafür sein, dass der Anteilseigner unternehmerisch in die Kapitalgesellschaft eingebunden ist und nicht nur als Kapitalanleger auftritt241. § 13b I Nr. 3 Satz 2 ErbStG trägt erleichternd dem Umstand Rechnung, dass in Familien-Kapitalgesellschaften die Anteile nicht selten durch mehrere Generationennachfolgen unterhalb der maßgeblichen Schwelle liegen und durch eine Stimmrechtsbindung (Stimmrechtspoolvereinbarung) der maßgebliche Einfluss des Familienstamms auf die Geschäftspolitik der Gesellschaft gesichert wird. In einem solchen Fall kommt es für die Min-
235 Zu Fragen des Gewinnbegriffes krit. Weber, DStZ 2017, 13 (14 ff.); zu den übrigen Voraussetzungen instruktiv Wachter, NZG 2016, 1168 (1171 f.); Hannes, ZEV 2016, 554 (556 ff.). 236 A 13a.19 I 4 des koordinierten Ländererlasses v. 22.6.2017 – 3 - S 371.5/22 u.a., BStBl. I 2017, 902 (927) schließt AG-Anteile aus; dazu krit. Wachter, GmbHR 2017, 841 (846). 237 Seer/Michalowski, GmbHR 2017, 609 (613). 238 Zutr. Weber, DStZ 2017, 13 (19); von Oertzen/Loose/Stalleiken, § 13a Rz. 243 m.w.N. plädiert im Hinblick auf die 20jährige Frist für eine einschränkende Auslegung, wonach nicht jeder, sondern nur ein nicht betrieblich begründeter Verstoß zum Wegfall des Wertabschlages führen soll. 239 Der Übertragende muss zuvor Mitunternehmer gewesen und der Erwerber muss es geworden sein (BFH v. 16.1.2008 – II R 10/06, BStBl. II 2008, 631; Noll, FS Schaumburg, 2009, 1025 [1028]; Escher, FR 2008, 985 [987 f.]). Wird der Übertragende nur Gesellschafter, aber nicht Mitunternehmer, ist er bereichert, erfährt aber keine Verschonung nach § 13a ErbStG (BFH a.a.O.). 240 Dazu zählt auch die unentgeltliche Aufnahme von natürlichen Personen in ein Einzelunternehmen, s. Münch, DStR 2002, 1025 (1028 f.). 241 Die Beschränkung auf eine Mindestbeteiligung in dieser Höhe liegt im gesetzgeberischen Ermessen, da hierin eine nachvollziehbare Typisierung einer „unternehmerischen Beteiligung“ zum Ausdruck kommt, ausf. BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, Rz. 179–195; s. auch BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (63); a.A. Scheffler/Wigger, FS Rödl, 2008, 131 (138 ff.), die die Mindestquote als Verstoß gegen Art. 3 I GG qualifizieren (zu den rechtsformspezifischen Auswirkungen s. § 13 Rz. 168 ff.).
Seer 935
§ 15 Rz. 112
Erbschaft- und Schenkungsteuer
destquote auf die Summe der Anteile an, die der Stimmrechtsbindung unterliegen242. § 13b I ErbStG erstreckt die Begünstigung auch auf Unternehmensvermögen, das zu einer Betriebsstätte in einem EU-Mitgliedstaat oder einem EWR-Staat gehört (dem gleichgestellt: Beteiligung von mehr als 25 % an einer EU-/EWR-Kapitalgesellschaft). Den trotz dieser räumlichen Ausdehnung des Kreises der begünstigten Unternehmensvermögen verbliebenen europarechtlichen Zweifeln, dass der Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) auch in Drittstaaten gehaltenes Kapital umfasse und daher § 13b I ErbStG europarechtswidrig sei, ist der EuGH entgegengetreten. Bei Beteiligungen von mehr als 25 % wendet der EuGH vorrangig die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) an, weil die qualifizierte Beteiligung einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft ermöglicht243. Sie schützt aber (anders als die Kapitalverkehrsfreiheit) keine Drittstaatengesellschaften (s. § 4 Rz. 82). 112 Statt der vom BVerfG als untauglich zur Erzielung des Lenkungszwecks (s. Rz. 6) verworfenen
50 %igen-Verwaltungsvermögensgrenze des § 13b II ErbStG a.F.244, hat der Gesetzgeber in § 13b II 1 ErbStG n.F. die Grundsatzentscheidung getroffen, dass das Vermögen i.S.d. § 13b I ErbStG (s. Rz. 111) nur begünstigt ist, soweit es nicht aus schädlichem Verwaltungsvermögen besteht. Davon existieren zwei Ausnahmen und insoweit eine Rückkehr zum Alles-oder-Nichts-Prinzip. Zum einen versagt § 13b II 2 ErbStG n.F. die Verschonung vollständig, wenn das Verwaltungsvermögen – nach einer Reihe von Ausnahmetatbeständen – mindestens 90 % des gemeinen Werts des begünstigungsfähigen Vermögens ausmacht245. Zum anderen soll gem. § 13b VII ErbStG n.F. das Verwaltungvermögen umgekehrt unschädlich sein, wenn es 10 % des um das Netto-Verwaltungsvermögen gekürzten gemeinen Werts des Betriebsvermögens nicht überschreitet (sog. Schmutzzuschlag)246. Nach § 13b IV ErbStG n.F. gelten als Verwaltungsvermögen247: – Grundstücke, Grundstücksteile, grundstücksgleiche Rechte und Bauten, die Dritten zur Nutzung überlassen werden (ausgenommen sind aber insb. Fälle der Betriebsaufspaltung und des Sonderbetriebsvermögens, dazu § 10 Rz. 131 ff., § 13 Rz. 80 ff., der konzerninternen Nutzungsüberlassung, gewerblicher [im Hauptzweck] Wohnungsvermietungsunternehmen248 sowie unter bestimmten Voraussetzungen auch Fälle der sog. Betriebsverpachtung249, dazu § 13 Rz. 88); – im Unternehmensvermögen gehaltene Anteile an Kapitalgesellschaften von bis zu 25 % (sog. Streubesitz), es sei denn, im Wege einer Stimmrechtsbindung wird die Mindestquote überschritten (s. Rz. 111);
242 Zur Poolvereinbarung s. A 13b.6 III–VI des koordinierten Ländererlasses v. 22.6.2017 – 3 - S 371.5/22 u.a, BStBl. I 2017, 902 (936 f.); eingehend Kamps, FR 2009, 353 (356 ff.); Christ, JbFfStR 2011/12, 759; Wachter, ErbR 2016, 114 (Teil I). 174 (Teil II). 243 EuGH v. 19.7.2012 – C-31/11, Scheunemann, ECLI:EU:C:2012:481, Rz. 23 ff.; abl. gegenüber einer obligatorischen Ausweitung der Steuerbefreiungen auf Drittlandsfälle auch Hey, DStR 2011, 1149; krit. aber Wachter, ZEV 2012, 618 (619 f.); zum Problemkreis s. auch Rz. 45. 244 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, Rz. 231–252, s. auch die Kritik in der 22. Aufl., Rz. 110. 245 Krit. zur 90 %-Grenze, insb. im Hinblick auf das Verbot der Schuldenverrechnung bei Finanzmitteln Seer/Michalowski, GmbHR 2017, 609 (617 ff.); Brabender/Winter, ZEV 2017, 81; für eine teleologische Reduktion der Vorschrift auf Missbrauchsfälle Wachter, DB 2017, 804 (808). 246 S. dazu Seer/Michalowski, GmbHR 2017, 609 (611 f.). 247 Hierzu ausf. A 13b.12–23 des koordinierten Ländererlasses v. 22.6.2017 – 3 - S 371.5/22 u.a., BStBl. I 2017, 902 (946 ff.). 248 Für die Frage der Gewerblichkeit kommt es aber nicht allein auf die Zahl der vermieteten Wohnungen an, s. BFH v. 24.10.2017 – II R 44/15, Rz. 27 ff. 249 Krit. in Ansehung des begrenzten Anwendungsbereichs und zur konkreten Ausgestaltung der Betriebsverpachtungs-Ausnahme Hannes/Onderka, ZEV 2009, 10 (13 f.).
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Seer
V. Steuerbefreiungen
Rz. 113 § 15
– Kunstgegenstände250 und ähnliche Wirtschaftsgüter des „guten Geschmacks“ sowie solche Gegenstände, die typischerweise der privaten Lebensführung dienen, wenn der Hauptzweck des Gewerbebetriebes nicht im Handel mit diesen oder in der Verarbeitung dieser Gegenstände besteht; – Wertpapiere sowie vergleichbare Forderungen, die nicht dem Hauptzweck des Gewerbebetriebes eines Kreditinstituts oder Finanzdienstleistungsinstituts i.S.d. § 1 I, Ia KWG zuzurechnen sind; – der gemeine Wert des nach Abzug des gemeinen Werts der Schulden verbleibenden Bestands an Zahlungsmitteln, Geschäftsguthaben, Geldforderungen und anderen Forderungen (Finanzmittel), soweit er 15 % des anzusetzenden Werts des Betriebsvermögens des Betriebs oder der Gesellschaft übersteigt251. In vollem Umfang zum schädlichen Verwaltungsvermögen zählen § 13b IV Nr. 5 Satz 2, VII 2 ErbStG n.F. sog. junge Finanzmittel, d.h. der positive Saldo der innerhalb von 2 Jahren vor Steuerentstehung eingelegten und entnommenen Finanzmittel, sowie junges Verwaltungsvermögen, das dem Betrieb im Zeitpunkt der Steuerentstehung weniger als 2 Jahre zuzurechnen ist. Beide technisch zu unterscheidenden Positionen sollen einem durch kurzfristiges Umschichten des Vermögens möglichen Gestaltungsmissbrauch entgegenwirken252. Mit der Kategorie des sog. Verwaltungsvermögens versucht § 13b IV ErbStG „produktives“ von „nicht produktivem“ Vermögen zu unterscheiden. Bereits die Vorstellung, dass das Verwaltungsvermögen eine weitgehend risikolose Rendite zu erzielen vermöge und keine Arbeitsplätze schaffe/erhalte (BR-Drucks. 4/08, 57), ist eine pure Behauptung und ökonomisch nicht belegbar. Zudem birgt die Abgrenzung des Verwaltungsvermögens vom übrigen Vermögen eine Fülle klärungsbedürftiger Zweifelsfragen. Die Regelung des § 13b ErbStG über das Verwaltungsvermögen chaotisiert das Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht weiter. Besonders schwierig erweist sich die Zuordnung von Schulden (§ 13b IV Nr. 5 Satz 1, VI ErbStG n.F.)253. Die Abgrenzung zwischen schädlichem und unschädlichem Verwaltungsvermögen bedarf eines 15-Ebenen-Regelungsparcours, ist damit undurchsichtiger denn je254 und letztlich nicht mehr vollziehbar (s. Rz. 118). Eine „zielgenauere“ Lenkung gewährleistet immerhin die sog. Arbeitsplatzklausel, die für alle Betrie- 113 be mit mehr als 5 Beschäftigten anzuwenden ist (vgl. § 13a III 3 Nr. 2 ErbStG n.F.). Damit ist der Gesetzgeber auf die Kritik des BVerfG an der aus seiner Sicht im Hinblick auf Art. 3 I GG bisher zu großzügigen „Kleinbetriebs“-Grenze von mindestens 20 Beschäftigten eingegangen255. § 13a III 11–13 ErbStG n.F. bezieht nachgeordnete Gesellschaften (und Gesellschaften im Betriebsaufspaltungsverbund) in die Beschäftigungszahl-Berechnung ein256. Nicht zu überzeugen vermag die Berechnung der Beschäftigtenzahl nach Köpfen anstatt nach Vollzeitäquivalenten. Es besteht kein einleuchtender Grund (Art. 3 I GG) dafür, dass ein Betrieb mit 5 Vollzeit-Arbeitnehmern der Lohnsummen-Bindung
250 Zum Verhältnis von Kunst als Verwaltungsvermögen und Kunst als Gegenstand der Befreiungsvorschrift des § 13 I Nr. 2 ErbStG s. Hoheisel/Nesselrode, DStR 2011, 441. 251 Den Katalog des sog. Verwaltungsvermögens hatte bereits das sog. AmtshilfeRLUmsG v. 26.6.2013, BGBl. I 2013, 1809 (1842) erweitert, um sog. Cash-Gesellschaften aus dem Kreis der förderungswürdigen Gesellschaften zu eliminieren; dazu gleich lautende Ländererlasse v. 10.10.2013 – 3 - S 381.2b/11 u.a., BStBl. I 2013, 1272. 252 Zur erbschaftsteuerlichen Behandlung des „jungen Vermögens“ ausf. Kußmaul/Müller, Ubg 2017, 173 (Teil I), 269 (Teil II). 253 Piltz, ZEV 2017, 255, spricht von einer „Schuldenfalle“. 254 Seer/Michalowski, GmbHR 2017, 609 (615 ff.). Die Komplexität erhöht sich nach § 13b IX ErbStG n.F. noch weiter im Konzernverbund, in dem zur Vermögensverbundaufstellung mehr als 20 Prüfungsschritte erforderlich werden. 255 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, Rz. 216–229. 256 Ursprünglich eingefügt durch das AmtshilfeRLUmsG v. 26.6.2013, BGBl. I 2013, 1809 (1842), um insb. Konzernholdinggesellschaften zu erfassen; zu den praktischen Problemen der Einbeziehung von Beteiligungsgesellschaften s. Immes, Ubg 2011, 855 (857 f.).
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§ 15 Rz. 114
Erbschaft- und Schenkungsteuer
entgeht, während ein gleich großer Betrieb, der eine Stelle mit 2 Halbtagskräften besetzt, davon erfasst wird257. Die Lohnsummenklausel bewirkt, dass der Verschonungsabschlag nur dann ungeschmälert erhalten bleibt, wenn die Lohnsumme des unmittelbar oder über die Beteiligung (mittelbar) fortgeführten Betriebes in den auf den Erwerb folgenden 5 Jahren insgesamt 400 % bzw. 300 % bei mehr als 10, aber nicht mehr als 15 Beschäftigten, oder 250 % bei mehr als 5, aber nicht mehr als 10 Beschäftigten der Ausgangslohnsumme nicht unterschreitet. Ausgangslohnsumme ist die durchschnittliche Lohnsumme (zum Begriff s. § 13a III 6-10 ErbStG n.F.) der letzten 5 vor dem Zeitpunkt der Entstehung der Steuer endenden Wirtschaftsjahre. In die Lohnsumme sind alle Vergütungen, die für Beschäftigungen in Betriebsstätten bzw. Beteiligungsgesellschaften in Mitgliedstaaten der EU oder Staaten des EWR gezahlt werden, einzubeziehen (§ 13a III 11 ErbStG nF.)258. Die Arbeitsplatzklausel ist mithin „europäisch“ ausgestaltet, ohne dass damit aber bereits letzte Zweifel über die Europarechtskonformität der Regelung ausgeräumt wären (s. Rz. 45, 111)259. Arbeitsplatzverlagerungen innerhalb der EU/ des EWR sind für die Anwendung der Verschonungsregelung unschädlich260. Unterschreitet nach 5 Jahren oder bei einer früheren Aufgabe bzw. Veräußerung des Betriebs die Summe der maßgebenden jährlichen Lohnsummen die Mindestlohnsumme, ist eine partielle Nachversteuerung vorzunehmen (zur Anzeigenpflicht des Erwerbers s. Rz. 147). Nach § 13a III 5 ErbStG n.F. vermindert sich der gewährte Verschonungsabschlag mit Wirkung für die Vergangenheit in demselben prozentualen Umfang, wie die Mindestlohnsumme unterschritten wird. 114 Da § 13a ErbStG die Fortführung von Unternehmen im Rahmen der Generationennachfolge erb-
schaftsteuerlich schonen will, enthält § 13a VI ErbStG n.F. noch zusätzlich eine Behaltensfrist. Danach fallen Verschonungsabschlag und Abzugsbetrag mit der Folge einer Nachversteuerung (Korrektur nach § 175 I 1 Nr. 2 AO, dazu § 21 Rz. 437 ff.; s. auch Rz. 147 zur Anzeigepflicht des Erwerbers) rückwirkend insoweit weg, als der Erwerber innerhalb von 5 Jahren nach dem Erwerb – den Betrieb, Teilbetrieb, Mitunternehmeranteil, wesentliche Betriebsgrundlagen oder umwandlungsrechtliche Surrogate (z.B. Kapitalgesellschaftsanteil, s. § 20 UmwStG) veräußert, aufgibt261, entnimmt oder zu anderen betriebsfremden Zwecken verwendet, oder
257 Seer/Michalowski, GmbHR 2017, 609 (612). A 13a.4 II 6 des koordinierten Ländererlasses v. 22.6.2017 – 3 - S 371.5/22 u.a. BStBl. I 2017, 902 (904) will darüber hinaus sogar auch nicht sozialversicherungspflichtige geringfügig Beschäftigte (§ 8 IV SGB IV) mitzählen. Weitergehend hält Erkis, DStR 2016, 1441 (1447) schon die Grenze von 5 Beschäftigten als solche für verfassungswidrig. 258 Nicht einzubeziehen sind Arbeitnehmer von in Drittstaaten ansässigen Beteiligungsgesellschaften, s. § 13a III 11 ErbStG n.F.; A 13a.7 I 7; II 1; III 1 des koordinierten Ländererlasses v. 22.6.2017 – 3 - S 371.5/22 u.a., BStBl. I 2017, 902 (907 ff.). 259 Stiller, ZErb 2011, 2. 260 Zu den immensen Detailproblemen der Anwendung der Lohnsummenregelung im Konzern s. gleich lautende Ländererlasse v. 5.12.2012 – 3 - S 381.2a/24 u.a., BStBl. I 2012, 1250; Hannes/Steger/Stalleiken, BB 2011, 2455; Immes, Ubg 2011, 855; Weber/Schwind, ZEV 2013, 70; Korezkij, DStR 2013, 346. 261 Der Nachversteuerungstatbestand ist nach BFH v. 16.2.2005 – II R 39/03, BStBl. II 2005, 571 (572); BFH v. 4.2.2010 – II R 25/08, BStBl. II 2010, 663 f. selbst dann anzuwenden, wenn der Betrieb durch eine insolvenzbedingte Liquidation oder durch eine gesetzliche Anordnung (z.B. wegen fehlender Berufsqualifikation des noch minderjährigen Sohnes als Alleinerbe der freiberuflichen Arztpraxis des verstorbenen Vaters) aufgegeben wird (BFH schließt auch einen Erlass wegen sachlicher Unbilligkeit i.S.d. § 227 AO aus; s. außerdem A 13a.12 I 2 des koordinierten Ländererlasses v. 22.6.2017 – 3 - S 371.5/22 u.a., BStBl. I 2017, 902 [916]). Die vorzugswürdige teleologische Reduktion der Norm (s. Heidemann/Ostertun, ZEV 2003, 267; Krumm, ZEV 2005, 46) verneint BFH v. 11.11.2009 – II R 63/08, BStBl. II 2010, 305 auch bei Entnahmen, die lediglich zur Schenkungsteuertilgung getätigt worden sind; s. auch BFH v. 26.2.2014 – II R 36/12, BStBl. II 2014, 581, wenn Kommanditanteile zur Erfüllung von Pflichtteilsansprüchen übertragen werden.
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Seer
V. Steuerbefreiungen
Rz. 117 § 15
– sog. Überentnahmen tätigt, welche die Summe der Einlagen und Gewinne/Gewinnanteile innerhalb des fünf-Jahres-Zeitraums insgesamt um mehr als 150 000 Euro übersteigen262, oder – begünstigte Anteile an einer Kapitalgesellschaft veräußert oder einen nach § 13a VI Nr. 4 ErbStG vergleichbaren Tatbestand erfüllt, oder – im Falle des § 13b I Nr. 3 Satz 2 ErbStG die Verfügungsbeschränkung oder Stimmrechtsbindung aufgehoben wird263. Umwandlungen i.S. der §§ 20; 24 UmwStG (s. § 14 Rz. 69 ff., 79 f.) lösen noch keinen Nachver- 115 steuerungstatbestand aus264. Außerdem enthalten § 13a VI 3 u. 4 ErbStG eine sog. Reinvestitionsklausel. Danach ist die Veräußerung unschädlich, wenn der Veräußerungserlös in einer begünstigten Vermögensart verbleibt und innerhalb von 6 Monaten in ein begünstigtes Vermögen, das kein Verwaltungsvermögen sein darf, wieder reinvestiert wird265. Als weitere (Re)Investitionsklausel bietet § 13b V ErbStG n.F. beim Erwerb von Todes wegen die Möglichkeit, schädliches Verwaltungsvermögen durch nachträgliche Umschichtung zur Verbesserung der Verwaltungsvermögensquote in begünstigungsfähiges Vermögen umzuwandeln266. Das Gesetz schweigt zum Verhältnis der Lohnsummenklausel und der Behaltefrist zueinander. Ei- 116 ne schädliche Veräußerung von begünstigtem Vermögen wirkt quotal-vertikal, indem ein bestimmter Teil des Vermögens zeitanteilig überhaupt nicht begünstigt wird. Dagegen wirkt die Unterschreitung der Lohnsumme quotal-horizontal, indem für das gesamte Vermögen der Verschonungsabschlag prozentual reduziert wird. Soweit sich beide Nachversteuerungstatbestände überschneiden, darf die Nachversteuerung nur einmal durchgeführt werden, d.h. bei der zeitlich späteren Nachversteuerung ist der bereits nachversteuerte Anteil abzuziehen267. § 13a X ErbStG n.F. gewährt dem Erwerber i.S. eines Optionsrechts sogar die Möglichkeit einer 117 vollständigen Befreiung des unternehmerischen Vermögens von der ErbSt. Allerdings knüpft die Option tatbestandlich an strengere Kautelen als die Regelverschonung an: – Die Behaltens- und Lohnsummenfrist verlängert sich von 5 Jahren auf 7 Jahre, – die Mindestlohnsumme aus 7 Jahren beträgt 700 % bzw. 500 % bei 6 bis 10 Beschäftigten und 565 % bei 11 bis 15 Beschäftigten, – das begünstigungsfähige Vermögen darf nicht zu mehr als 20 % aus Verwaltungsvermögen i.S.v. § 13b III, IV ErbStG n.F. bestehen § 13a X ErbStG n.F. verlangt vom Erwerber des begünstigten Vermögens eine unwiderrufliche Erklärung, mit der er für die „große Verschonung“ optiert. Nach Auffassung der Finanzverwaltung
262 Zur Überentnahmeregelungstechnik ausf. Christoffel, INF 1999, 588 (Teil I) u. 618 (Teil II); Schütte, DStR 2009, 2356. 263 Fraglich ist, inwieweit die Nachversteuerung eingreift, wenn nur ein Gesellschafter die Poolvereinbarung kündigt. Sie unterbleibt für die übrigen Gesellschafter jedenfalls dann, wenn diese Gesellschafter noch gemeinsam die 25 %-Grenze erreichen (A 13a.16 II Nr. 2 Satz 2 des koordinierter Ländererlasses v. 22.6.2017 – 3 - S 371.5/22 u.a., BStBl. I 2017, 902 [920]); weitergehend, d.h. grds. keine Nachversteuerung bei den verbleibenden Gesellschaftern, wohl von Oertzen, Ubg 2008, 59 [67]). 264 Dies gilt auch bei mehrfach aufeinander folgenden Umwandlungsvorgängen, s. BFH v. 16.2.2011 – II R 60/09, BStBl. II 2011, 454 (455). 265 So A 13a.17 S. 4–6 des koordinierten Ländererlasses v. 22.6.2017 – 3 - S 371.5/22 u.a., BStBl. I 2017, 902 (921). 266 Dazu krit. Kowanda, DStR 2017, 469; zur Regelung s. A 13b.24 des koordinierten Ländererlasses v. 22.6.2017 – 3 - S 371.5/22 u.a., BStBl. I 2017, 902 (955 f.). 267 A 13a.18 III des koordinierten Ländererlasses v. 22.6.2017 – 3 - S 371.5/22 u.a., BStBl. I 2017, 902 (921).
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§ 15 Rz. 118
Erbschaft- und Schenkungsteuer
muss er diese Option einheitlich für alle begünstigten Vermögensarten spätestens bis zum Eintritt der materiellen Bestandskraft (dazu § 21 Rz. 80) ausüben268. 118
§§ 13–13c ErbStG n.F. leiden ebenso wie die Vorgänger der §§ 13a, b ErbStG a.F. an einem fundamentalen Rechtfertigungsdefizit. Es gibt keinen überzeugenden Sachgrund, Immobilienunternehmer und Vermieter von Mietwohngrundstücken zurückstehen zu lassen. Selbst bei fungiblem Geldvermögen wird das gleichheitsrechtliche Fundamentaldefizit der Freistellung von Betriebsvermögen im Gegensatz zu anderen Vermögensarten an einem einfachen Beispiel greifbar: Ist es das erklärte Ziel des Gesetzes, den Unternehmenserwerb als „Garanten von Produktivität und Arbeitsplätzen“ zu fördern, dann fragt man sich, warum nicht erst recht auch der Erbe von Privatvermögen, der mit seinem geerbten Vermögen ein Unternehmen gründet, in den Genuss der Steuerbegünstigung kommt269. Denn er erhält nicht einfach bereits bestehende, sondern schafft sogar neue Arbeitsplätze! Nicht nur in rechtspolitischer Hinsicht ist ferner die technisch hochkomplizierte und in ihrer Starrheit zugleich an der Lebenswirklichkeit vorbeigehende Regelungstechnik zu bemängeln. Mehr als je zuvor bilden die Vorschriften ein verwaltungstechnisches Monstrum, das weder von den Begünstigten und deren Beratern noch von den Finanzbehörden beherrscht wird. Der Regelungswirrwarr von Ausnahme, Rückausnahme und Rück-Rückausnahme verursacht extreme Beratungskosten und birgt aufgrund der in die Zukunft wirkenden langjährigen Arbeitsplatzklausel und Behaltensfrist hohe Steuerrisiken. Die Kernschwäche der Verschonungsregelungen besteht verfassungsrechtlich in der unbeherrschbaren Komplexität der Normen. Durch Interdependenzen zwischen den Normen bzw. Normbestandteilen, kombiniert mit mehrfach gestuften Wechsel- und Rückwirkungen, zeigt sich eine polytele Hyperlexie, die zur juristischen Unbeherrschbarkeit der Regelung führt270. Angesichts der rasanten technologischen und globalwirtschaftlichen Entwicklung sind Zeiträume von 5 bis zu 20 Jahren zudem ein