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German Pages 732 Year 2000
Staat - Souveränität - Verfassung Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 814
Staat - Souveränität - Verfassung Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Dietrich Murswiek, Ulrich Storost und Heinrich A. Wolff
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Staat - Souveränität - Verfassung : Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag / Hrsg.: Dietrich Murswiek Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 814) ISBN 3-428-09623-1
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-9623-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Inhaltsverzeichnis Vorwort
1
Ulrich Storost
Über Helmut Quaritsch
3
I. Standpunkte und Aufgaben der Staats- und Verfassungslehre heute Georg-Christoph von Unruh
Eine andere Metapher für den Staat - der Deich an Küste und Strömen
9
Gerd Roellecke
Souveränität, Staatssouveränität, Volkssouveränität
15
Ulrich Storost
dem Frieden der Welt zu dienen". Gedanken zur Zukunft der Staatlichkeit... Winfried
31
Brugger
Gemeinwohl als Ziel von Staat und Recht
45
Heinrich Amadeus Wolff
Das Verhältnis von Rechtsstaatsprinzip und Demokratieprinzip
73
Rolf Grawert
Demokratische Regierungssysteme. Qualitätsanforderungen an die Regierungssysteme der Mitgliedstaaten der Europäischen Union 95 Klaus König
„Rule of Law" und Gouvernanz in der entwicklungs- und transformationspolitischen Zusammenarbeit 123 Karl Albrecht Schachtschneider
Der republikwidrige Parteienstaat
141
V I n h a l t s v e r z e i c h n i s Rainer Wahl
Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung
163
Masanori Shiyake
Ein Beitrag zur Diskussion über den Begriff der Volkssouveränität in der japanischen Verfassung 183 Günter Maschke
„La légalité tue". Einige Bemerkungen
193
Jean-Jacques Langendorf
Monarchie, politique et théologie chez Marcel Regamey
213
II. Fünf Jahrzehnte Grundgesetz: Ansprüche und Herausforderungen Fritz Ossenbühl
Staat und Markt in der Verfassungsordnung
235
Karl Doehring
Mehrfache Staatsangehörigkeit im Völkerrecht, Europarecht und Verfassungsrecht 255 Gernot Biehler
Ausländerrecht on
und jüdische Emigration aus der früheren
Sowjetuni265
Günter Püttner
Gesetzgebungshoheit versus Vertragstreue
285
Peter Badura
Das politische Amt des Ministers
295
Dietrich Murswiek
Verfassungsfragen der staatlichen Selbstdarstellung. Anmerkungen zur Staatspflege und zur staatlichen Selbstdarstellung im demokratischen Verfassungsstaat 307
Inhaltsverzeichnis Jürgen Schwabe
Grundrechtsschutz hoheitlicher Funktionsträger
333
Reinhard Mußgnug
Die öffentliche Ordnung. Plädoyer für einen unzeitgemäßen Rechtsbegriff
349
Christian Rasenack
Neuorientierung des Steuersystems durch Einfuhrung einer direkten Verbrauchsbesteuerung an Stelle der traditionellen Einkommensbesteuerung? 363 Ingo von Münch
Engagement, Leidenschaft, Fanatismus. Bemerkungen auch zu Wissenschaft, Publizistik und Politik 389 III. Gegenstände der Verfassungsgeschichtsschreibung Olivier Beaud
La notion de constitution chez Montesquieu. Contribution à l'étude des rapports entre constitution et constitutionnalisme 407 Arno Buschmann
Kaiser, Reich und Landesherren. Reichsrecht und Landesherrschaft im Heiligen Römischen Reich 449 Helmut Neuhaus
„Supplizieren und Wassertrinken sind jedem gestattet". Über den Zugang des Einzelnen zum frühneuzeitlichen Ständestaat 475 Detlef Merten
Goethe in Straßburg
493
Wilhelm Brauneder
England als Vorbild in der österreichischen Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts 511 Armin Wolf
Die „Hauptgrundlagen der künftigen Verfassung des wiedererstehenden Römischen Reiches" vom 19. Mai 1814 527
Inhaltsverzeichnis
Vili Rudolf Morsey
Adenauer und Berlin 1901-1949. Ein spannungsreiches Verhältnis
535
Carl Hermann Ule t
Verwehte Spuren II: Zur Mitwirkung eines Hochschullehrers an der Gesetzgebung 551 IV. Positionen und Begriffe Carl Schmitts Piet Tommissen
Erster Einstieg in zwei Desiderate der Carl-Schmitt-Forschung
565
George Schwab
Carl Schmitt, A Note on a Qualitative Authoritarian Bourgeois Liberal
603
Keita Koga
Bürger und Bourgeois in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik. Bemerkungen zur Liberalismuskritik bei Rudolf Smend, Carl Schmitt und Hermann Heiler 609 Joseph W. Bendersky
Schmitt and Freud. Anthropology, Enemies, and the State
623
Hans-Christof Kraus
Verfassungslehre und Verfassungsgeschichte. Otto Hintze und Fritz Härtung als Kritiker Carl Schmitts 637 Antonio Caracciolo
Il rapporto con Carlo Costamagna nella recezione italiana deli' opera di Cari Schmitt 663 Wolfgang Schüller
Nulla poena sine lege in der römischen Republik
683
G. L. Ulmen
Dialectic of Darkness. Reflections on the Congo Conference and the Collapse of the Jus Publicum Europaeum
Bibliographie Helmut Quaritsch
693
707
Vorwort Helmut Quaritsch ist ein Staatsrechtslehrer par excellence. Kaum ein anderer weiß so genau, wovon er spricht, wenn er vom Staat spricht. In seinem opus magnum, „Staat und Souveränität" (1970), hat er mit der Souveränität die Essenz des modernen Staates geschichtlich und systematisch in einer Gründlichkeit und Klarheit herausgearbeitet, wie dies niemand zuvor geleistet hatte. Dieses Buch und seine Thematik sind das Zentrum, um das sich das wissenschaftliche Lebenswerk von Helmut Quaritsch gruppiert und von dem aus Quaritschs Gedanken auf eine Vielzahl von Rechtswissenschaftlern und Verfassungshistorikern ausstrahlen, die sich von ihm haben belehren und anregen lassen und auch weiterhin von ihm lernen. Quaritschs Arbeiten befassen sich durchgehend mit dem Staat, und zwar mit dem, was das spezifisch Staatliche am Staat ausmacht, mit seinen spezifischen Funktionen und Funktionsbedingungen und mit seinen spezifischen Mitteln. Er bearbeitet diese Thematik auf allen Ebenen, die dem Staatsrechtslehrer im Rahmen seiner Wissenschaft offen stehen: Auf der Ebene der Verfassungsgeschichte, auf der Ebene der Allgemeinen Staatslehre und auf der Ebene des Öffentlichen Rechts. In allen diesen Bereichen hat er mit seinen wissenschaftlichen Publikationen in Deutschland, aber auch im Ausland große Beachtung gefunden. In diese drei Bereiche ist auch die Zeitschrift gegliedert, die er jahrzehntelang als einer der Herausgeber und Redakteure mitgeprägt hat: „Der Staat". Dieser Gliederung folgt die vorliegende Festschrift zum 70. Geburtstag von Helmut Quaritsch , deren Autoren mit ihren Beiträgen dem Jubilar Dank abstatten fur die Bereicherung, die sie durch die persönliche Begegnung mit ihm und durch seine Arbeiten erfahren haben. Ein viertes Kapitel dieser Festschrift ist nicht einem der drei Forschungsgebiete gewidmet, sondern durch den Bezug der Beiträge auf Person oder Werk von Carl Schmitt gekennzeichnet. Quaritsch hat mit einem Tagungsband („Complexio Oppositorum" [1988]) und einem Buch („Positionen und Begriffe Carl Schmitts" [1989, 2. Aufl. 1991]) sowie mit weiteren Publikationen weithin beachtete Beiträge zur Diskussion über Carl Schmitt geleistet. Auch hier geht es letztlich um Staat und Souveränität in den historischen, staatstheoretischen und verfassungsrechtlichen Bezügen. - Die Überschriften der vier Kapitel lehnen sich an Titel von Abhandlungen Helmut Quaritschs an. Als Verfassungshistoriker hat Helmut Quaritsch immer in dem Bewußtsein geschrieben, daß der Staat nur als historisch konkrete Institution adäquat ver-
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Vorwort
standen werden kann und daß er als solche dem geschichtlichen Wandel unterworfen ist. Im ausgehenden 20. Jahrhundert ist der souveräne Staat nicht selten totgesagt worden. Quaritsch hat in diesen Ruf nicht eingestimmt, obwohl auch für ihn klar ist, daß angesichts der immer intensiveren europäischen Integration, weltweiten internationalen Verflechtungen, Globalisierung der Wirtschaft und Privatisierung wesentlicher Felder vormaliger Staatstätigkeit Souveränität nicht mehr das gleiche bedeuten kann wie im 19. Jahrhundert. Aber er ist überzeugt, daß die industriellen Gesellschaften auch unter den veränderten Bedingungen auf die Grundfunktionen des Staates angewiesen sind. Sache der Staatsrechtslehre kann es in dieser Lage nicht sein, den Staat zu verabschieden, sondern ihre Aufgabe ist, dazu beizutragen, daß der Staat auch unter gewandelten Verhältnissen seine fundamentalen Ordnungs- und Friedensfunktionen erfüllen kann. Wir haben den Eindruck, daß alle Autoren dieser Festschrift Helmut Quaritsch hierin zustimmen und daß die hier veröffentlichten Beiträge als Ausdruck dieser Auffassung verstanden werden können. Die Herausgeber
Über Helmut Quaritsch Von Ulrich Storost Helmut Quaritsch wurde am 20. April 1930 in Hamburg geboren, wo er seine Jugend im Stadtteil Barmbeck verbrachte und seine Ausbildung erhielt bis hin zur Assistentenzeit und zur Habilitation im Jahre 1965 bei Hans Peter Ipsen und Herbert Krüger. Diese weltoffene Stadt mit der unprätentiösen Art ihrer Bürger, sich auf der festen Grundlage einer pragmatischen Selbstgewißheit dem Wandel der Zeiten zu stellen, hat ihn nicht nur in der Sprechweise geprägt, die durch die Gaben konzentrierter Darstellung und treffsicherer Formulierung besticht. Sie hat auch sein Denken, sein Handeln und seine Haltung zum Zeitgeist wesentlich beeinflußt. Als ich als Jurastudent ihn 1966 an der RuhrUniversität Bochum - seinem ersten ordentlichen Lehrstuhl - kennenlernte, ihm dann 1968 bis 1972 während unruhiger Jahre an der Freien Universität Berlin die Treue hielt und schließlich als Assistent an die Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer folgte, hatte er diese unverwechselbare Prägung bereits erhalten. Auf ihn war - bei allen Meinungsverschiedenheiten im einzelnen - immer Verlaß: Man wußte bei ihm, woran man war, und brauchte weder Opportunismus oder Leisetreterei noch ideologisches Eiferertum zu befurchten. Sein allgemein berühmtes Markenzeichen waren Festigkeit und Freimut in Auftreten und Sprache, keine schlechten Eigenschaften für einen Professor, dessen Amt im klassischen Sinne des Wortes das öffentliche Bekennen ist. So blieb kaum einer der studentenbewegten jungen Leute etwa unbeeindruckt von dem auch photographisch festgehaltenen Bild des Hochschullehrers, der nach einer der damals verbreiteten Farbbeutelattacken fakultätsfremder Störtrupps in den bis zum Ende des Semesters verbleibenden Wochen seine Vorlesungen in dem so verunzierten Anzug unbeirrbar planmäßig und sachbezogen fortsetzte. Diese persönliche Souveränität mag es gewesen sein, die ihm das erkenntnisleitende Interesse und die Kraft vermittelt hat, sich wissenschaftlich besonders mit den Themen zu befassen, unter die auch diese Festschrift gestellt ist. Seine Habilitationsschrift „Staat und Souveränität. Band 1: Die Grundlagen" ist zu dem, was ihr Titel verspricht, das unbestrittene Standardwerk aus der Sicht von Staatslehre und Verfassungsgeschichte geworden. Die Frage wird oft gestellt, warum er keinen Band 2 hat folgen lassen, der Theorie und Praxis der Souveränität im 20. Jahrhundert untersuchen sollte. Bausteine für diese Untersuchung finden sich in vielen seiner Veröffentlichungen zum Staatsrecht in der Bundesrepublik Deutschland, zum Staatskirchenrecht, zur Selbstdarstellung des
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Ulrich Storost
Staates, zum Asyl- und Ausländerrecht, zum Problem legaler Bewältigung illegitimer Vergangenheit und - last but not least - zu Person und Werk des Staatsrechtslehrers Carl Schmitt. Die in dieser Festschrift enthaltene Bibliographie gibt davon beredtes Zeugnis. Beispielhaft sollen hier nur einige Veröffentlichungen erwähnt sein, die insoweit Schlüsselfunktion beanspruchen können. In einer handlichen Schrift mit dem eingängigen Titel „Das parlamentslose Parlamentsgesetz" beschäftigte er sich 1961 am Beispiel des hamburgischen Planungsrechts mit der Aushöhlung des Demokratieprinzips - und das heißt letztlich des Grundsatzes der Volkssouveränität - durch den Versuch, dem Inhalt nach ausschließlich von der Exekutive getroffene Entscheidungen mit Rang und Autorität parlamentarischer Gesetzgebung zu verkleiden. Die dahinterstehende Frage, inwieweit die Produkte des heutigen Parlamentarismus inhaltlich noch von dem demokratischen Postulat einer ununterbrochenen Legitimationskette vom Volke her getragen sind oder ob nicht längst eine faktische Oligarchie weniger Entscheidungsträger in Hinterzimmerrunden die vielen öffentlichen Arenen zu groß geratener Parlamente zur bloßen Schaufassade gemacht hat, hat seitdem eher an Aktualität gewonnen. Man fühlt sich jedenfalls durch das „parlamentslose Parlamentsgesetz" an Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern erinnert, das mit tiefem Sinn auch über die Funktionsbedingungen innerstaatlicher Souveränität belehrt. Damit ist das Thema „Selbstdarstellung des Staates" angesprochen, dem sich Quaritsch 1976 auf einer Speyerer Fortbildungstagung erstmals auf breiter Front widmete und das er 1977 und 1993 durch eigene literarische Beiträge bereicherte. Bedeutung und Wert staatlicher Selbstdarstellung für die Loyalität der Bürger und die Mittel, die hierzu eingesetzt werden können, wurden damals von ihm wie von einem Rufer in der Wüste zur Erinnerung gebracht; auch dies ist bis heute unverändert aktuell. Von den Funktionsbedingungen staatlicher Souveränität in Form der Demokratie handeln auch seine Studien zum Asyl- und Ausländerrecht, mit denen er seit 1981 das seinerzeit nach Vogel-Strauß-Manier hingenommene Faktum „Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland" mit einem kräftigen staatsrechtlichen Fragezeichen versah. Die Willensschwäche von Parlament und Regierung gegenüber diesem Faktum ließ eine Lücke, die von den Gerichten im Geiste eines humanitären Universalismus ausgefüllt wurde, bis die akute Gefahr politischer Desorientierung der Bevölkerung die maßgeblichen Entscheidungsträger 1993 zur Einleitung einer Notbremsung zwang. Die Instrumentalisierung des geltenden Rechts für die Schaffung einer multikulturellen Gesellschaft war für ihn Anlaß, emotionslos auf die Folgen dieses Vorgangs für die Demokratie hinzuweisen und in Kenntnis der nationalen Bedingungen souveräner Staatlichkeit das alternative Modell einer Integration durch „Akkulturation" in die Diskussion zu bringen.
Über Helmut Quaritsch
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In besonderer Weise den Herausforderungen der Gegenwart gestellt hat er sich nach der deutschen Vereinigung, die er im Herbst 1990 als Gastprofessor in Jena persönlich miterlebte. Dieses elementare Ereignis im politischen Leben unseres Volkes hat er nicht nur am Maßstab des Rechts auf Selbstbestimmung staats- und völkerrechtlich auf den Begriff gebracht und damit juristisch überzeugend bewältigt. Darüber hinaus hat er auch der politischen Diskussion der Frage, ob die DDR-Vergangenheit durch Säuberung, Bestrafung oder Amnestie bewältigt werden sollte, anhand eingehender rechtsgeschichtlicher, staatstheoretischer und rechtssoziologischer Analysen eine solide Grundlage geliefert. Daß diese Frage inzwischen nicht politisch, sondern nur apokryph entschieden wurde, hängt mit anderen Faktoren zusammen, die in Staat und Souveränität Band 2 zu behandeln wären. In das Herz jenes bisher unausgeführten Projekts führt der fünfte Schwerpunkt in Quaritschs wissenschaftlicher Arbeit, nämlich sein Anliegen, der Person und dem Werk Carl Schmitts ohne perspektivische Verengung und ohne Schwefeldunst so gerecht zu werden, wie dies seinen hohen Maßstäben an Wissenschaft entspricht. Es spricht viel dafür, daß die Staatslehre Schmitts, mit dem er den etatistischen Ansatz und das Bewußtsein von Ästhetik und Eigenwert der Form gemeinsam hat, von ihm - ähnlich wie die Staatslehre Bodins im Band 1 - gleichsam als Schlüssel für das Verständnis der Wandlungen von Staat und Souveränität in unserem Jahrhundert eingesetzt würde. Die Ästhetik der Form, gepaart mit einer ausgesprochenen Wertschätzung handwerklich-methodischer Korrektheit, war es auch, die Studenten und Zuhörer an Helmut Quaritsch als Hochschullehrer besonders bewunderten. Bei seiner langjährigen Herausgeber- und Redakteurstätigkeit für die Zeitschrift „Der Staat" brachte er beide Eigenschaften ebenfalls konsequent zur Geltung. Aus meiner Studentenzeit erinnere ich mich gut an die Schattenseiten der Rigorosität, mit der er seinen jungen Schülern die Details des methodischen Handwerks juristischer Arbeit einzubleuen suchte, etwa im Wege der Notengebung und des öffentlichen „Auseinandernehmens" im Seminar. Letztlich überwog aber doch die intellektuelle Freude an der von ihm gepflegten Präzision des Ausdrucks, die ein Spiegelbild ausgeprägter Gedankenschärfe war, an den eingestreuten Sarkasmen, mit denen er seine Vorlesungen würzte und lebendig gestaltete, und an dem ansonsten nüchternen, unsentimentalen Realismus, ja der betont unterkühlten Distanz, mit der er brisanten Themen in einer politisch oft aufgeladenen Atmosphäre zu Leibe rückte. Knapp, treffend, elegant und klar war sein Vortrag auch bei spröderen Materien wie dem Verwaltungsrecht oder dem Verwaltungsprozeßrecht. Immer war man dabei zugleich eingefangen von einem weiten geistigen Horizont, der Zuhören und Diskussion selbst dann zum Genuß werden ließ, wenn man in der Sache anderer Auffassung war. Faszinierend wirkte insbesondere sein Sinn für die historische Dimension juristischer und politischer Probleme, der ihm auch da ein fundiertes und abgewogenes
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Ulrich Storost
Urteil ermöglichte, wo wir Adepten je nach Veranlagung entweder unsicher zögerten oder emotional vorauseilten. Die Herausgeber und Autoren dieser Festschrift wünschen Helmut Quaritsch , daß ihm die Weite seines Horizonts und die Kraft seiner Sprache auch in der Zurückgezogenheit des Ruhestandes erhalten bleiben und daß er Freude daran findet, sein Werk in der Geschichte der Staatswissenschaft weiterwirken zu sehen.
I. Standpunkte und Aufgaben der Staatsund Verfassungslehre heute
Eine andere Metapher für den Staat der Deich an Küste und Strömen Von Georg-Christoph von Unruh Den Wert des Staates für seine Bürger mit den sich daraus für sie ergebenden Aufgaben ihnen anschaulich zu machen, verstand der Jubilar mit seiner eindrucksvollen Schilderung vom „Schiff als Gleichnis". Er nahm hierzu das zuerst in der griechischen Antike verwandte Metapher auf, um es dann in seiner Vielfältigkeit als Verstandeshilfe zu entwickeln. Bestimmend für die Wirkung des Schiffsmetapher ist „der Zusammenhang von Autorität und Mitarbeit", der die Sicherheit und den Nutzen dieses Fahrzeuges bestimmt, wozu Quaritsch an Jenks Staatslehre „Ship of state" erinnert. Zutreffend kann der Verfasser am Schluß der Studie feststellen, daß es sich bei der Schiffsmetapher „um ein Bild mit magischer Kraft" handelt, in dem der Mensch das große Wagnis symbolisiert sieht, das zu bestehen ständige Wachsamkeit und „gubernatio" ebenso verlangt wie den Willen zur Selbstbehauptung und zum Überleben - eine zeitlose Wahrheit für die Res publica1. Es gibt wohl kein anderes Metapher mit „solch magischer Kraft", doch läßt sich auch ein anderes von Menschen geschaffenes und betreutes Werk zu einem gewiß viel bescheideneren Vergleich mit dem Staat heranziehen, der Deich im Gezeitengebiet an Küste und Strömen. Mochten es auch zunächst die in diesem Gebiet lebenden Menschen sein, die für einen solchen Vergleich Verständnis aufzubringen vermöchten, so haben doch neuerdings die Bilder von der Wassernot und ihrer schwierigen Bändigung 1997 an der Oder vielen Deutschen eine Kenntnis vom Nutzen und den Schwierigkeiten geeigneter Anlagen für den Schutz vor Hochwassernot für Menschen und ihre Güter anschaulich gemacht, so daß es auf größeres Verständnis stößt, wenn man den Versuch unternimmt, den Deich mit dem Staat zu vergleichen. Wie stark Bau und Unterhaltung des Deiches die Menschen zu genossenschaftlichem Handeln fordert und welche Schwierigkeiten dabei im mitmenschlichen Verhalten entstehen können, hat Theodor Storm in seiner No-
1
Helmut Quaritsch, Das Schiff als Gleichnis, in: Recht über See, Festschrift Wolf Stödter zum 70. Geburtstag am 22. April 1977, S. 251 ff. - Edward Jenks, Ship of state, 1939.
2 FS Quaritsch
Georg-Christoph von Unruh
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velie „Der Schimmelreiter" spannend zu schildern vermocht. Es ist merkwürdig, daß sich in einem stets von Sturm und Wasser bedrohten Gebiet Menschen ansiedelten und allen Gefahren zum Trotz zu bleiben suchten, was ja bereits die Verwunderung von Plinius erregte, der nicht zu verstehen vermochte, daß Menschen solch unwirkliche Verhältnisse lieber ertrügen als die „Freiheit" der Res publica Romana. Lebten die Küstenbewohner damals auf sogenannten Wurten, auf Erdhügeln, unter sehr unsicheren Bedingungen, so dauerte es noch Jahrhunderte, bis man das Siedlungsgebiet durch einen Erdwall zu schützen lernte. Für Friesland ist dieser Vorgang durch die Zehnte Küre des Rüstringer Rechtes mit seiner frühesten schriftlichen Fassung aus dem 12. Jahrhundert überliefert: „Das ist Landrecht, daß wir Friesen eine Seeburg zu stiften und zu erhalten haben, einen „goldenen Ring", der um ganz Friesland liegt: An dem soll jede Elle der anderen gleich sein, dort, wo die salzige See sowohl bei Tag als auch bei Nacht anschwillt. Zur See hin sollen wir Friesen unser Land schützen mit drei Geräten, mit dem Spaten, mit einer Tragbahre und einer Gabel. Ebenso sollen wir unser Land mit dem Schwerte, mit dem Speer und mit dem braunen Schild verteidigen gegen den hohen Helm und den roten Schild und gegen unrechtmäßige Herrschaft. Also soll es gehalten werden mit der Hilfe Gottes und Sankt Peters" 2. Der Inhalt der Küre bezieht sich zwar zunächst auf die Landschaft Rüstringen, wo der Text entstand und zuerst niedergeschrieben wurde, deutet jedoch, wie die Worte „wir Friesen" zeigen, auf eine Verbindlichkeit für den ganzen Stamm, der seit der Zeit, als die Lex Frisionom entstand, zwischen Flandern und der Wesermündung an der Nordseeküste siedelte. Eine „Seeburg" wird der Deich in der Küre genannt, ein zur Verteidigung von Land und Leuten geschaffener Wall, um sie vor der bei Flut „anschwellenden salzigen See" zu schützen. Der weitere Vergleich dieser Deich genannten Dämme an der Küste und an den Flußläufen in ihrem Mündungsgebiet mit einem „goldenen Ring" deutet auf die Kostbarkeit der Anlage, die nicht nur in dem unter großen Mühen erstellten Werk selbst, sondern auch in seinem Zweck, in dadurch geschützten fruchtbaren Flächen der Marsch liegt. Allerdings ist dieses „Gebilde von Menschenhand" ohne ständige Betreuung wenig dauerhaft: Der immer wieder dem Wasser und dem Sturm ausgesetzte Erdwall, der ständig von denen, die von ihm beschützt werden, „erhalten" werden muß. So herrscht der Deich ebenso über die Menschen, wie er ihnen dient und sie durch die Ambivalenz zu einer „kommunalen" Gemeinschaft zwingt, um miteinander die Lasten oder Dienste zu ihrem eigenen Vorteil zu tragen. Um seinen Zweck, das Land zu schützen, zu erfüllen, mußte der „goldene Ring" „um ganz Friesland liegen", weshalb jedes „Land", jede „regionale Landschaft", das
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Jan Buma Wybren und Wilhelm Ebel, Das Rüstringer Recht, Göttingen/Berlin/Frankfurt 1963, S. 90/91. Ernst Siebert, Entwicklung des Deichwesens, in: Ostfriesland im Schutz der Deiche, hrsg. Jannes Ohlig, 1969, Band IV, S. 79 ff.
Eine andere Metapher für den Staat
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Erforderliche für die gemeinsame Aufgabe zu tun hatte, um die Haltbarkeit des Deiches überall zu bewahren. Aus eben diesem Grunde mußte jede Elle des Deiches der anderen gleichen, damit nirgends Flutwasser den Deich durchdringen oder überspülen konnte. Der Inhalt der den Deichbau betreffenden normativen Regelungen ist das Ergebnis einer etwa 300-jährigen Erfahrung der Küstenbewohner zur Behauptung ihres Landes gegen den „blanken Hans" durch einen künstlich errichteten Erdwall, der die benachbarten Wurten miteinander verband, um auf diese Weise nicht nur Haus und Hof, sondern auch die der Viehzucht und dem Ackerbau dienenden Nutzflächen vor weiterer Versalzung zu schützen und damit den Bodenwert beträchtlich zu steigern. Das überforderte die Leistung einer einzelnen Familie und zwang sie zu genossenschaftlichem Wirken, das nicht nur erhöhte Sicherheit, sondern auch größeren Wohlstand zu verheißen schien3. Ein Deich erfüllt nur dann und insoweit seinen Zweck, als er wirklich einem „Ring" gleicht, der ein ganzes Land umschlingt und an keiner Stelle eine Gefahr aufkommen läßt. Die Verwirklichung dieser Erkenntnis war im Mittelalter vor allem dadurch erschwert, als in dem Gezeiten- oder Tide-abhängigen Nordseeraum die Herrschaftsverhältnisse außerordentlich zersplittert und in ihrer Wirksamkeit unterschiedlich waren. Die Zehnte Küre berichtet aber nicht nur vom Bau des Deiches und der Notwendigkeit, dafür zu sorgen, daß er, um seinen Zweck zu erfüllen, an jeder Stelle gleich hoch und gleich stark sein müsse, und nicht nur von den Gerätschaften, die zum Deichbau erforderlich sind, sondern wirkt auch metaphorisch im „politischen" Sinne, wenn sie Feinde nennt, welche außer der ständig drohenden See die Sicherheit und Freiheit der Menschen im Küstengebiet bedrohen: An die Nordvölker, die als Wikinger oder Normannen seit der Zeit der Karolinger die Nordseeküsten heimsuchten und am „hohen Helm und roten Schildern" erkennbar waren. Ebenso wichtig wie die Erhaltung des Deiches war die Pflicht der Friesen, sich „gegen unrechtmäßige Herrschaft" zu schützen, welche die Zeitgenossen mit jeder von außen ins Land drängenden Macht gleichsetzten. Das durften sie tun, weil sich die politischen Verhältnisse an der Küste, vor allem in Friesland zwischen der Zuyder-See und der Ems, von den übrigen Ge-
3 Deich (niederdeutsch: dik, niederländisch: dijk, englisch: dike, mittelhochdeutsch: tich, lateinisch: agger) hängt seinem Ursprung nach mit Teich, piscina, zusammen. Beides bedeutet etwas ausgegrabenes und hat mit Dyken = Graben die selbe Wurzel {Julius von Gierke , Die Geschichte des deutschen Deichrechts, I. Teil, 1901, S. 1 f.). So bildet der dem Deichrecht unterliegende Deich eine aufgeworfene Erderhöhung zum Schutz vor Überschwemmungen des dadurch geschützten Landes. Oft wird auch „Damm" für Deich gebraucht, obwohl man damit ursprünglich eine Erderhöhung meinte, die das Wasser ableiten soll - 1106 schloß Erzbischof Friedrich von Bremen mit Niederländern einen Vertrag zum Zweck der Entwässerung an den Niederungsgebieten, was einen Deichbau voraussetzt (Gierke , ebenda, S. 93 f., 106 ff. und 154).
2*
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Georg-Christoph von Unruh
bieten des Reiches, mit Ausnahme der Schweiz, unterschieden. Hat auch neuere Forschung die Epoche der „Friesischen Freiheit" manchen romantischen Glanzes entkleidet, so nahmen doch terrae genannte Landsgemeinden die Friedenssicherung wahr. Ihre oligarchischen Repräsentanten hielten nachbarschaftliche Verbindungen, wie die seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts belegten Zusammenkünfte am „Upstalsboom". Die dort versammelten jurati repräsentierten die „universitas frisionum", welche die „Sieben Seelande" bewohnten. Mit einem Siegel „totius Frisiae" beurkundete dieser Bund am 13. März 1338 ein Bündnis mit dem König von Frankreich. Doch bald darauf entwickelten sich die verschiedenen Landschaften auf besonderem Wege. In Westfriesland vermochten die Grafen von Holland ihre Landesherrschaft zu festigen, weshalb die Niederlande hinfort zutreffend als Musterland der Wasserwirtschaft, des Hochwasserschutzes und der Binnenentwässerung gelten konnten. Im übrigen Friesland schwächten sich seitdem die Voraussetzungen für eine Verwirklichung des Gebotes aus der Zehnten Küre, daß beim Deich jede Elle der anderen gleich sein müsse. Hierfür reichten kleinräumige Gemeinschaften um so weniger aus, als ihren Angehörigen oft die individuelle Freiheit und Unabhängigkeit mehr galten als die Bereitschaft, Bindungen auch da anzuerkennen, wo sie ihrem eigenen Nutzen entsprachen. Erst am Ausgang des Mittelalters entwickelten sich nach wechselvollen Kämpfen von lokalen oder kantonalen Machthabern untereinander territoriale Herrschaften, die Grafschaften Oldenburg und Ostfriesland. In ihren Herrschaftsbereichen begannen dann planmäßige Küstenschutzmaßnahmen, ein langwieriger Prozeß mit manchen Rückschlägen wie bei der Weihnachtsflut von 1717. Den Behörden des Grafen von Oldenburg gelangen Wiederherstellung der Deiche und Beseitigung der eingetretenen Schäden rascher als in Ostfriesland, das durch einen Zwist zwischen Fürstenhaus und Landständen zerrissen war. Erst mit dem Regierungsantritt Friedrichs des Großen 1744 konsolidierten sich die Verhältnisse in diesem Fürstentum derart, daß die Behörden die erforderlichen Maßnahmen nach dem landesherrlichen „Deich- und Syhlrecht" anordnen und durchzusetzen vermochten 4. Mit dem Erstarken der Territorialgewalten begannen diese, im Küstenbereich „Ordnungen", Gebot und Verbot enthaltende verbindliche allgemeine Regelungen für die Wasserwirtschaft zu erlassen und für ihre Einhaltung zu sorgen. Die auf diese Weise geübte Herrschaft blieb allerdings im Küstengebiet auch weiterhin mit der „Genossenschaft" der „Interessenten" des Deichschutzes
4 Mit Syhl oder Siel bezeichnet man die auch bei einer Seeburg erforderlichen Durchlässe des Deiches, damit das sogenannte Oberwasser aus dem vom Deich geschützten Land abfließen kann. Auch die Durchlässe selbst werden Siele genannt und bedürfen besonderer Sorgfalt bei Herstellung und Unterhaltung. - Als Teil des ostfriesischen Land-Rechts wurde das Deich- und Syhlrecht 1746 publiziert - Hajo van Lengezen, Bauernfreiheit und Häuptlingsherrklichkeit, in: Ostfriesland - Geschichte und Gestalt einer Kulturlandschaft (1995), S. 113 ff.
Eine andere Metapher für den Staat
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funktional verbunden. Bestimmend dabei war und blieb die Erkenntnis, daß sich die Errichtung und Erhaltung der „Seeburg" nicht nur durch Satzung noch Vertrauen auf die Bereitschaft der einzelnen Genossen oder auf nachbarschaftliche Kooperation verwirklichen ließ, sondern daß es zum Erfolg der hoheitlichen Gewalt bedurfte, um effektiv zu wirken. Beispielhaft für dieses Zusammenwirken von Haupt- und Ehrenamt ist ein kleines Bild einer Sitzung des Vorstandes einer „Deichacht" aus der Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Unterschrift „unter Gott's und Fürstenschutz sind wir hier zum Landesnutz". Diesem dient der Einsatz der hoheitlichen Gewalt und der genossenschaftlichen Kräfte, er gewährleistet die Erfüllung der Gebote aus der mittelalterlichen Küre zur Fertigung und Erhaltung des „goldenen Ringes". So lehrt die Geschichte des Deichbaus, daß es, wie ein schwäbischer Jurist im 16. Jahrhundert erkannte, „wenig nutz, gesetze, recht und Ordnung in eyner stat oder commun auffrichten, wann nicht oberkeyten seyn, die darüber halten" 5 . Die Richtigkeit dieser Erkenntnis erlaubt es, den Deich als ein Gleichnis für den Staat zu verstehen.
5 Jakob Lersner, Antwort auf die Frage, ob es besser sey nach beschriebenen Rechten, Gesetz und Ordnung oder nach eygen Vernunft zu regieren (1592). - Auch in der Neuzeit sind noch Katastrophen durch Deichbrüche oder Überschwemmungen eingetreten, doch lassen sie sich auf Mängel beim „Schutz der Deiche" zurückfuhren. Solche Unglücksfalle bedeuten hier einen Ansporn zu noch größerer Sorgfalt, wie sie auch stets zur Wahrung des Staates mit einer freiheitlichen Verfassung geboten ist.
Souveränität, Staatssouveränität, Volkssouveränität Von Gerd Roellecke Warum halten sich die Leute im großen und ganzen an das gesetzte Recht? Stammen die Gesetze nicht von Menschen? Und schließt die Gleichheit aller Menschen nicht aus, daß einer dem anderen befiehlt? Die Leute halten sich im großen und ganzen an die Gesetze, weil sie damit rechnen, daß sich die anderen auch daran halten, wie im Straßenverkehr, in dem man rechts fährt, weil die anderen auch rechts fahren. Diese Antwort genügt indessen nicht, wenn ein Verkehrsteilnehmer links fährt und einen Unfall verursacht. In solchen Fällen erwartet zwar jeder Sanktionen. Die Sanktionen können jedoch nicht eindeutig aus dem Gegenseitigkeitsverhältnis abgeleitet werden. Das Ereignis läßt sich nicht mehr rückgängig machen, sondern nur noch ausgleichen. In den Ausgleich fließen viele Umstände ein, mit denen der individuell Beteiligte nicht rechnen konnte, Vorsatz oder Fahrlässigkeit zum Beispiel. Deshalb muß festgestellt werden, was rechtens ist. Aber wer kann das, wenn alle gleich sind? In hierarchisch gegliederten Gesellschaften verschiebt sich das Problem. Dort kann zwar der Ranghöhere feststellen, was rechtens ist, aber er muß seinen Rang, seine höhere Stellung rechtfertigen. Die gebräuchlichsten Rechtfertigungen sind göttlicher Auftrag und Unterwerfungsverträge, wie Lehnsverträge, die den höheren Rang bestätigen. Die Hierarchie wirkt aber nur nach innen und hängt von der Interpretation des göttlichen Auftrages oder des Vertrages ab. Anschlüsse nach außen kann sie prinzipiell nicht herstellen und abweichende Interpretationen nicht dulden. Das Außen wird zum Feind, die abweichende Interpretation zur Ketzerei. Selbst wenn der Feind zunächst besiegt und der Ketzer hingerichtet wird, bleiben Zweifel. In den europäischen Religionskriegen sind sie auch historisch wirksam geworden. Beseitigen lassen sich solche Zweifel nur mit einer Rechtfertigungsformel, die sie von vornherein unmöglich macht. Eine solche Formel hat Jean Bodin 1 gefunden: Souveränität ist die absolute und zeitlich unbegrenzte Macht eines Staates nach innen und nach außen. Staatliche Macht ist gerechtfertigt, wenn und soweit sie keiner weiteren
1
Les six Livres de la République, Paris 1583 (Neudruck Aalen 1961), I 8 S. 122. Deutsche Übersetzung von Bernd Wimmer, Buch I - III, München 1981, Buch IV - VI, München 1986.
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Rechtfertigung bedarf Souveränität legitimiert dadurch, daß sie alle möglichen Legitimationsangebote, ja, schon die Legitimationsfrage selbst abweist. In seiner grundlegenden Arbeit „Staat und Souveränität" (1970) hat Helmut Quaritsch 2 im Vergleich mit der mittelalterlichen Herrschaftsordnung detailliert gezeigt, welchen Wandel der politischen Strukturen Bodins Souveränitätslehre eingeleitet hat. Sie befreite den politischen Apparat aus allen religiösen, personalen und traditionalen Bindungen und erlaubte völlig neue Problemlösungen. Die Konzentration der Rechtfertigung auf die Spitze zum Beispiel gestattete neue Formen der Delegation politischer Macht, besonders die Umstellung von personaler Treue auf formell-rechtliche, bezahl- und spezialisierbare Ermächtigungen. Die Souveränitätslehre ist auf jeden Staat anwendbar, gleichgültig, welcher politischen Form. In einer Demokratie liegt die Souveränität beim Volk. 3 Heute ist die Souveränitätslehre umstritten. 4 Im Völkerrecht hat die Souveränität inzwischen den Sinn von „Handlungsfähigkeit" und „Zurechenbarkeit" angenommen.5 Einen Bundesstaat kann man mit ihr kaum konstruieren, 6 und der gemeineuropäische Umgang mit der Souveränität erinnert ein wenig an Wolkenschieberei. 7 Wie ungelöst das Problem des Mißbrauchs souveräner Gewalt ist, zeigt die Paradoxie der humanitären Intervention. 8 Angesichts der unbestreitbaren Modernisierungsleistung der Souveränitätslehre lohnt es sich jedoch, nach ihrem spezifischen Legitimationsgehalt zu fragen. Vielleicht wirft die Antwort ein Licht darauf, wie Rechtfertigung in einer modernen Gesellschaft zu denken ist. Ausgangspunkt kann Bodins Lehre sein.
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Vgl. auch: Souveränität, Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jh. bis 1806, Berlin 1986. 3 Six Livres I 8 S. 143. 4 Im einzelnen Manfred Baldus, Zur Relevanz des Souveränitätsproblems für die Wissenschaft vom öffentlichen Recht, Staat 36 (1997) S. 380 - 398. 5 Albrecht Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, HStR I § 15 Rn. 25 ff. 6 Dazu Quaritsch, Staat und Souveränität, Frankfurt a. Μ. 1970, S. 408 ff.; Olivier Beaud, Föderalismus und Souveränität, Staat 35 (1996) S. 45 - 66. 7 Vgl. Karl Doehring, Staat und Verfassung in einem zusammenwachsenden Europa, ZRP 1993 S. 98 - 103; Eibe Riedel, Der gemeineuropäische Bestand von Verfassungsprinzipien zur Begründung von Hoheitsgewalt - Legitimation und Souveränität - , in: Peter-Christian Müller-Graff / Eibe Riedel, Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, Baden-Baden 1998, S. 77 - 97, 96. 8 Siehe Dietrich Murswiek, Souveränität und humanitäre Intervention, Staat 35 (1996) S. 31 - 44; Matthias Herdegen, Der Universalitätsanspruch des Rechtsstaates: Menschenrechtsmission?, in: Hans-Martin Pawlowski / Gerd Roellecke, Der Universalitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaates, ARSP Beiheft 65, Stuttgart 1996, S. 117-127.
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I. Rechtfertigende Kraft Heute ist strittig, ob sich Souveränität auf den Staat bezieht9 oder auf ein Staatsorgan. Bezieht sie sich ausschließlich auf den Staat, läßt sie sich zwar im Verhältnis nach außen verstehen - von außen gesehen ist der Staat eine Einheit - , im Binnenverhältnis aber nur, wenn es innen ein Außen gibt, zum Beispiel einen inneren Feind. Für Bodin konnte das noch kein Problem sein. Zu seiner Zeit gab es den modernen Staatsbegriff noch nicht. Er hat ihn erst ermöglicht. Die politischen Einheiten, die man heute „Staat" nennt, mußte Bodin deshalb als gegeben voraussetzen. Ihre Spitze war der Souverän, der vom Souverän abhängige Apparat das „government", 10 das kraft Machtdelegation öffentliche Gewalt ausüben konnte. Binnendifferenzierung erreicht Bodin also durch Machtdelegation. Eine „Organsouveränität" kann es in diesem Konzept nicht geben. Sie wäre ein Widerspruch in sich. Die Delegation hängt vom Souverän ab. Sie begründet und begrenzt die Kompetenzen der untergeordneten Stellen und kann bis zur gegenständlich unbegrenzten Ermächtigung auf Lebenszeit gehen. Praktischpolitisch war das wichtig, weil die schlechten Nachrichtenverbindungen der damaligen Zeit umfassende Ermächtigungen erzwangen. Konstruktivtheoretisch hatte es den Vorteil, daß Bodin den Souverän nicht präzise zu bestimmen brauchte. Je abstrakter die Delegation, desto abstrakter konnte der Souverän sein. So läßt sich auch das Volk als Souverän verstehen. 11 Die französische Nationalversammlung hätte sich daher 1789 unmittelbar auf Bodin berufen können, als sie feststellte: die Souveränität liegt bei der Nation. 12 Die Möglichkeit der Delegation ermöglichte es Bodin vor allem, scharf zwischen souveräner und nicht-souveräner Machtausübung zu unterscheiden. Auf den tatsächlichen Einfluß kommt es nicht an. Der Ermächtigte mag noch so großen Einfluß haben, solange die Ermächtigung widerruflich ist, ist er nicht souverän. Denn die Widerruflichkeit beweist, daß er nur über abgeleitete Gewalt verfugt. Deshalb gehört die zeitlich unbegrenzte Gewalt zum Wesen der Souveränität. 13 Umgekehrt ist die Ausübung öffentlicher Gewalt nur rechtmäßig, wenn sie vom Souverän abgeleitet ist. Dieser Gedanke kommt zwar dem modernen Gesetzmäßigkeitsprinzip sehr nahe, verdunkelt aber den rechtfertigenden Grund der Souveränität, weil er sie allein aus der Perspektive der Einheit des politischen Apparates sieht und als fraglos gegeben voraussetzen muß.
9 So entschieden Helmut Quaritsch, Souveränität im Ausnahmezustand. Zum Souveränitätsbegriff im Werk Carl Schmitts, Staat 35 (1996) S. 1 - 30, 25. 10 Six Livres II 2 S. 273. 11 Six Livres I 8 S. 143. 12 Art. 3 der Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers vom August 1789. 13 Six Livres I 8 S. 122 f.
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Das ist zwar gerade der Sinn der Souveränität: die Frage der Rechtfertigung politischer Macht von vornherein abzuweisen. Aber die Vergänglichkeit der Macht wirft sie trotzdem auf. Die Vergänglichkeit der Macht zeigt, daß jeder Souverän im Innern einen Feind hat: den, der ihn seiner souveränen Macht berauben will, weil er selbst danach strebt, den Rivalen. Bodin nennt diesen Feind den Tyrannen. Tyrann ist, „wer sich eigenmächtig, ohne sich auf eine Wahl, auf ein Erbfolgerecht, auf einen Losentscheid, auf einen rechtmäßigen Krieg oder besondere Berufung Gottes berufen zu können, zum souveränen Fürsten aufgeschwungen hat". 14 Vom Tyrannen unterscheidet sich der Souverän also nicht durch die Art der Machtausübung. Maßnahmen eines Tyrannen sind nie verbindlich, selbst wenn sie gut sind, Maßnahmen eines Souveräns immer, selbst wenn sie schlecht sind. Auch die Absichten sind unerheblich. Der tugendhafte Tyrann bleibt ein Tyrann, heute könnte man sagen: ein Terrorist, der bösartige Souverän ein Souverän. Der Unterschied besteht darin, daß der Souverän über irgendeinen Legitimationstitel verfugt, der Tyrann aber nicht. Wie der Legitimationstitel lautet, ist gleichgültig. Bodin läßt alles zu, sogar die Berufung auf den Auftrag Gottes. Da es auf den Inhalt des Titels nicht ankommt, bleibt der Streit um die richtige Legitimation ausgeschlossen. Dafür stellt sich die Frage, worin die legitimierende Kraft des Titels besteht. Was rechtfertigt letztlich, wenn fast alles rechtfertigt? Die Antwort gibt ein Grenzfall, der „souveräne Tyrann". Was „zeitlich unbegrenzte Macht" bedeutet, erläutert Bodin mit dem Beispiel: „Wenn nun ein solcher höchster Amtsträger über die ihm gesetzlich auf ein oder mehrere Jahre begrenzte Amtszeit hinaus die ihm verliehene Macht weiterbehält, so muß er dazu entweder das Einverständnis erhalten oder aber Gewalt angewandt haben. Ist Gewaltanwendung der Grund, so liegt zwar eine Tyrannenherrschaft vor, der Tyrann ist aber gleichwohl souverän. Insoweit verhält es sich nicht anders als mit dem aus Gewalt rührenden Besitz des Räubers, der ja auch echter, tatsächlicher Besitz ist, obwohl er gegen das Gesetz verstößt und der Räuber die Vorgänger im Besitz verdrängt. Bleibt aber der Amtsträger dank Einverständnisses an der Macht, dann ist er meiner Meinung nach nicht souveräner Fürst, weil er seine ganze Stellung bloßer Duldung verdankt, vor allem, wenn seine Amtszeit unbestimmt ist; denn dann sind alle seine Vollmachten jederzeit widerruflich". 15 Bodin verweist selbst auf den entscheidenden Rechtsgedanken: den Besitz, die Rechtssicherheit, oder politischer: den Ausschluß des Selbsthilferechts. Das ist eine heute noch geltende Norm. Eigenmacht ist nach §§ 858, 861 BGB auch gegenüber fehlerhaftem Besitz verboten. Stabilität als Rechtfertigungsgesichtspunkt paßt ferner zu Bodins Grundsatz, daß ein Souverän nicht über die eigene Souveränität verfugen, ein König also nicht die Thronfolgeordnung antasten
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Six Livres II 5 S. 297 f.; zum politischen Hintergrund Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 319 ff. 15 Six Livres I 8 S. 126.
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darf, 16 und zu seinen Bemühungen, immer möglichen Streit über die Rechtfertigung politischer Maßnahmen auszuschließen. Die Rechtssicherheit im Sinne blanker Kontinuität unterscheidet daher den Souverän vom Tyrannen. 17 Die Lehre Bodins kann man deshalb in dem Satz zusammenfassen: Souverän ist, wer in der Kontinuität entscheidet.
I I . Zirkularität Die Formulierung lehnt sich an den bekannten Souveränitätsbegriff Carl Schmitts an: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet"18 und soll zunächst zeigen, daß Schmitt im entscheidenden Punkt von Bodin abweicht. In Bodins Kapitel über „Die wahren Merkmale der Souveränität" 19, auf das sich Schmitt beruft, geht es nicht um die Begründung der Souveränität, sondern um ihre wichtigste Folge: um das Recht, jederzeit das Recht zu ändern. 20 Diese Folge war tatsächlich revolutionär. Sie kehrte die alte Regel, nach der das ältere Recht das bessere war, um in die moderne, nach der das jüngere Recht das ältere verdrängt, und ermöglichte die radikale Positivität des Rechtes. Wenn das jüngere das ältere Recht allein deshalb verdrängt, weil es das jüngere ist, kann es weder darauf ankommen, wie das ältere Recht begründet war, noch darauf, wie das jüngere Recht zu begründen ist. Neues Recht wird durch Souveränität legitimiert und durch nichts sonst, auch nicht durch einen Notfall. Souveränität ist ohne Not zu denken. Denn Not ist nur einer von vielen möglichen Rechtfertigungsgesichtspunkten. Wenn Souveränität als solche rechtfertigt, sind andere Rechtfertigungsgesichtspunkte nicht nur entbehrlich, sie stören sogar. Bodins Satz, „daß das Hauptmerkmal des souveränen Fürsten darin besteht, der Gesamtheit und den einzelnen das Gesetz vorschreiben zu können", 21 ist wörtlich zu nehmen. Andererseits zeigt der Vergleich, daß Schmitt den Souveränitätsbegriff tatsächlich auf die Spitze getrieben hat. Wenn Souveränität ihre legitimierende Kraft aus der Kontinuität der öffentlichen Gewalt schöpft, wird sie paradox, weil dann das Zuhöchstsein von der Stabilität der Verhältnisse, oder, ins Juristische gewendet: weil dann die Rechtmäßigkeit des neuen vom alten Recht abhängig wird. Schmitt überwindet dieses Paradox, indem er die öffentliche 16
Six Livres I 8 S. 137; dazu erhellend Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 347 ff. Zum damaligen Interesse an Stabilität vgl. Niklas Luhmann, Staat und Staatsraison im Übergang von traditionaler Herrschaft zu moderner Politik, in: derselbe, Gesellschaftsstruktur und Semantik Band 3, Frankfurt a. M. 1989, S. 65 - 148, 78. 18 Carl Schmitt, Politische Theologie, 2. Aufl. München / Leipzig 1934, S. 11 ff. 19 Six Livres I 10 S. 211. 20 So auch Quaritsch, Staat 35 (1996) S. 22. 21 Six Livres I 10 S. 221. 17
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Gewalt nicht mehr als invariabel begreift, sondern als variabel setzt. Sein Souveränitätsbegriff läßt auch die Frage nach dem Träger, nach dem Subjekt der Souveränität offen und hebt Bodins Satz auf, daß der Souverän nicht über die eigene Souveränität verfügen kann. Nach Schmitt ist eine solche Verfügung von vornherein unmöglich. Wer Träger der Souveränität ist, läßt sich nicht unabhängig von der Souveränität bestimmen. Es erweist sich in der Entscheidung. 22 Schmitt schaltet um von den „klaren Generalisationen des durchschnittlich sich Wiederholenden" auf die „Kraft des wirklichen Lebens",23 letztlich von der Vergangenheit auf die Zukunft. Die Umstellung von Kontinuität auf Ausnahme wirft freilich nicht nur die Frage nach dem Verhältnis von Regel und Ausnahme auf. Diese Frage kann man getrost mit Schmitt dahin beantworten, daß die Ausnahme die Regel erst herstellt, weil sie sie bewußt macht. Sie ist die jeder Regel immanente Unterscheidung, ohne die die Regel nicht beobachtet werden kann. Die Umstellung wirft vielmehr vor allem die Frage nach der Einheit auf, die Regel und Ausnahme zusammenfasst, die Frage nach der Kontinuität in der Diskontinuität. Welche Metaregel bestätigt die Durchbrechung der Regel? Schmitts Antwort scheint eindeutig: der Staat. Ist der Ausnahmefall „eingetreten, so ist klar, daß der Staat bestehen bleibt, während das Recht zurücktritt". 24 „Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft seines Selbsterhaltungsrechtes, wie man sagt". Aber der Schein trügt. Wie schon der distanzierende Verweis auf das Selbsterhaltungsrecht zeigt, ist nicht der real existierende Staat, ist nicht irgendeine historische Kontinuität die Einheit von Regel und Ausnahme. Die Einheit ist die Möglichkeit des Rechtes: „In seiner absoluten Gestalt ist der Ausnahmefall dann eingetreten, wenn erst die Situation geschaffen werden muß, in der Rechtssätze gelten können". 25 Das drückt mehr aus als die inzwischen etwas angestaubte Einsicht, daß Normativität der Normalität bedarf, und natürlich anderes als Hoffnung und Fortschrittsoptimismus. Überlegen wir: Der Ausnahmefall wird negativ beschrieben als eine Situation, in der Rechtssätze nicht gelten können. Aber er ist nicht einfach die Negation des Rechtes, nicht Anarchie und Chaos, sondern „eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung". Und was macht die Ordnung zur Ordnung, wenn nicht das Recht? Schmitt behauptet, die Entscheidung. Aber zugleich gibt er der Entscheidung einen Sinn: die Situation zu schaffen, in der Rechtssätze gelten können. Die Entscheidung soll das Recht ermöglichen. Nur deshalb läuft sie nicht leer. Sie liegt logisch wie zeitlich vor dem neuen Recht. Sie schafft künftiges Recht, das das geltende Recht ablösen wird. Der Gedanke an die Ermöglichung 22 23 24 25
Vgl. Politische Theologie, S. 18. Politische Theologie, S. 22. Politische Theologie, S. 18. Politische Theologie, S. 19.
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des Rechtes projiziert so den Satz, daß das jüngere Recht das ältere verdrängt, in eine Zukunft, in der das heute geltende Recht von gestern sein wird, und diskreditiert insofern das geltende Recht. Der Gedanke legitimiert das geltende Recht aber auch, weil er ihm seine Verwurzelung in der Normalität und damit seine Verbindlichkeit bestätigt. Angesichts der jederzeitigen Änderbarkeit des Rechtes ist das geltende Recht nur so und nicht anders möglich. Für die Souveränität folgt daraus: Sie gewinnt ihre legitimierende Kraft aus ihrer Fähigkeit, Rechtsänderungen zu legitimieren, die sich ihrerseits der legitimierenden Kraft der Souveränität verdanken. Die Souveränität ist selbstbezogen. Ihre Begründung endet in einem Zirkel. Aus diesem Zirkel kann man nicht mit der Berufung auf das positive Verfassungsrecht ausbrechen. Die Positivität des Rechtes, einschließlich des Verfassungsrechtes, ist nichts anderes als die jederzeitige Änderbarkeit des Rechtes, und genau die ist der Inhalt der Souveränität. Aus diesem Grund tragen auch Staatszwecke, und seien sie noch so edel, nichts zur Erklärung der Souveränität bei. 26 Jedes „Umzu" schwächt ihre legitimierende Kraft, weil es die Rechtfertigungsdiskussion neu eröffnet, die die Souveränität beenden will.
I I I . Geschichtlichkeit Natürlich kann auch das Pochen auf negative oder positive historischpolitische Erfahrungen den Zirkel der Souveränität nicht aufheben. Zwar sind die historisch-politischen Erfahrungen dem Souveränitätsgedanken nicht zuträglich. Schließlich waren es Souveräne, die Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ruiniert haben. Aber Souveränität ist nicht ein Kondensat, sondern eine Konstruktion politischer Wirklichkeit. Bodin hat das selbst am eindringlichsten gezeigt. Die Geschichte lehrte ihn, daß Staaten werden und vergehen, Souveräne aufsteigen und abstürzen können,27 daß also Souveränität nicht etwas ist, das ein für allemal feststeht. Seine Erklärung der Geschichtlichkeit ist ebenso einfach wie zwingend. Ein Staat ist souverän oder er ist nicht. Entsteht er, ist er souverän, vergeht er, vergeht auch seine Souveränität. Ein Wechsel der Staatsform, etwa von der Monarchie zur Demokratie, berührt die Souveränität theoretisch nicht. 28 Wenn der Übergang streitig ist, kann er allerdings praktisch den höchsten Gewalthaber schwächen. Die Schwächung hebt aber das Prinzip nicht auf. Letztlich entscheidet der Erfolg. Anders steht es um die Geschichtlichkeit der Souveränitätslehre selbst. Als legitimierende Norm will Souveränität universal, also immer und überall gel26 27 28
Anders Quaritsch, Staat 35 (1996) S. 21. Six Livres IV 1 S. 503. Six Livres IV 1 S. 504 - 507.
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ten. Wegen ihres hohen Abstraktionsgrades läßt sie sich auch auf alle einschlägigen Phänomene anwenden. Aber sie wurde nun einmal erst im 16. Jahrhundert entwickelt. Man kann auch ziemlich genau sagen, warum gerade damals. Inzwischen haben sich die Verhältnisse geändert. Der Realitätsbezug der Souveränität ist verblaßt. Die Berufung auf den Ausnahmezustand erscheint als Ideologie, als eine säkulare Variante der uralten Drohung mit der ewigen Verdammnis für den Fall des Ungehorsams. 29 Dem Ausnahmezustand geht es wie der Hölle: Die Leute lassen es darauf ankommen. Das ist nicht unvernünftig. Die Erde ist entdeckt. Alle Ausnahmezustände sind durchlebt. Die Erinnerung daran wird durch „Vergangenheitsbewältigung" aufrecht erhalten. Seit der Entdeckung der Souveränität stehen auch die Schuldigen fest. Es sind die Politiker. Also glaubt man, das Entstehen von Unheil ungefähr einschätzen und ihm mit Bündnissen von der NATO bis zum „Bündnis für Arbeit" vorbeugen zu können. Folglich mehren sich die Stimmen, die die Souveränität für überflüssig halten. Diese Stimmen kann man nur für utopistisch erklären, 30 wenn man den Ausnahmezustand als eine Realität voraussetzt, der alle zustimmen müssen. Eine solche Realität gibt es aber nicht. Schmitt hat sie auch nicht gemeint und deshalb seine Souveränitätsschrift „Politische Theologie" genannt. Der Titel bedeutet, der Glaube ist die eigentliche Realität. Nur so ist denkbar, daß „zum Beispiel der allmächtige Gott zum omnipotenten Gesetzgeber wurde". 31 Nur hat sich der Glaube eben gewandelt. Der allmächtige Gott ist zur Privatsache geworden und die Privatleute sind dem omnipotenten Gesetzgeber auf die Schliche gekommen. Aber auf all das kommt es letztlich nicht an. Bei der Souveränität geht es weder um mögliche Unbill noch um Werden und Vergehen, sondern um ein gegenwärtiges, bohrendes Problem: Wie ist das Recht zu denken, das Recht zu ändern? Für den Alltag hat bereits Bodin die heute noch geltende Antwort gefunden. Das Rechtsänderungsrecht ist als Delegation und Ermächtigung zu denken, als Gesetzmäßigkeitsprinzip oder als Legitimationskette.32 Aber keine Ableitung des Rechtsänderungsrechtes kann zu mehr berechtigen als der Anfang hergibt. Auf den Anfang kommt es an. Auch deshalb hat Bodin Wert auf Kontinuität gelegt. Der Anfang kann indessen nicht empirisch-historisch verstanden werden. Empirisch-his,torisch verliert er sich im Dunkel der Geschichte. Er ist vielmehr so zu konstruieren, daß er unseren Beobachtungen des Rechtsbetrie-
29 Vgl. C. Schmitt, Politische Theologie S. 49: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe". 30 So Panajotis Kondylis, Jurisprudenz, Ausnahmezustand und Entscheidung, Staat 34(1995) S. 325 -358, 328. 31 Schmitt, Politische Theologie, S. 49. 32 Vgl. BVerfGE 83 S. 60, 73 - Ausländerwahlrecht in Hamburg; BVerfGE 93 S. 37, 66 f. - Mitbestimmungsgesetz Schleswig-Holstein.
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bes entspricht. Die mögliche Alternative hat Kant 33 in seiner Antinomienlehre vorgestellt: Die Welt hat einen Anfang oder sie hat keinen Anfang. Für das Recht wird diese Alternative abgewandelt in: Am Anfang war Unrecht, oder: Am Anfang war kein Unrecht. Am Anfang war Unrecht, bedeutet, vor dem Recht gab es Unrecht. Das Recht, hier also die Ableitung der Ermächtigung, beginnt mit einer unableitbaren Entscheidung, sei es mit einem Verzicht auf Freiheit wie bei Hobbes, sei es mit einem Gesellschaftsvertrag wie bei Rousseau. Am Anfang war kein Unrecht, heißt, das Recht hat keinen Anfang. Die Ableitung der Ermächtigung ist als unendliche Legitimationskette zu denken, die sich im Dunkel der Geschichte verliert. Diesem Konzept kann man die Souveränitätslehre Bodins insofern zurechnen, als sie auf der Kontinuität des Souveräns beharrt. Der radikalste Vertreter ist Hegel 34 , der auch schon den Hauptanwendungsfall gesehen hat, die Verfassunggebung: „Eine andere Frage bietet sich leicht dar: wer die Verfassung machen soll. Die Frage scheint deutlich, zeigt sich aber bei näherer Betrachtung sogleich sinnlos. Denn sie setzt voraus, daß keine Verfassung vorhanden, somit ein bloßer atomistischer Haufen von Individuen beisammen sei. Wie ein Haufen, ob durch sich oder andere, durch Güte, Gedanken oder Gewalt, zu einer Verfassung kommen würde, müßte ihm überlassen bleiben, denn mit einem Haufen hat es der Begriff nicht zu tun. - Setzt aber jene Frage schon eine vorhandene Verfassung voraus, so bedeutet das Machen nur eine Veränderung, und die Voraussetzung einer Verfassung enthält es unmittelbar selbst, daß die Veränderung nur auf verfassungsmäßigem Wege geschehen könne. Überhaupt aber ist es schlechthin wesentlich, daß die Verfassung, obgleich in der Zeit hervorgegangen, nicht als ein Gemachtes angesehen werde; denn sie ist vielmehr das schlechthin an und für sich Seiende, das darum als das Göttliche und Beharrende und als über der Sphäre dessen, was gemacht wird, zu betrachten ist".
Es gibt also nur Verfassungsänderungen. Verfassunggebung ist eine Irreführung, weil es ohne Verfassung kein Volk gibt. 35 Aber das ist so schwer zu begreifen, daß es besser ist, die Verfassung als Werk Gottes auszugeben und sie seiner Schöpfung zuzuordnen. Politik und Recht konnten freilich wegen der Religionsfreiheit Hegels Rat nicht folgen und mußten deshalb ein nichtverfaßtes Volk konstruieren. 36
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Kritik der reinen Vernunft, Β 452 f. Rechtsphilosophie § 273 am Ende. 35 Näher Rüdiger Bubner, Der Akt einer Selbstkonstitution des Volkes nach Rousseau und die Verfassung des Rechtsstaates nach Hegel, in: derselbe, Drei Studien zur politischen Philosophie, Heidelberg 1999, S. 9 - 27. 36 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, in: derselbe, Staat, Verfassung, Demokratie, Frankfurt a. M. 1991, S. 90 - 114, 94 ff.; Gerd Roellecke, Verfassungsgebende Gewalt als Ideologie (1992), in: derselbe, Aufgeklärter Positivismus, hrsgg. von Otto Depenheuer, Heidelberg 1995, S. 149 - 164. 34
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Schmitts Souveränitätsbegriff ist unzweifelhaft der ersten Möglichkeit zuzuordnen. Die primäre Ermächtigung ist unableitbar. Dem alten Einwand: wie kann sie dann Recht werden?, begegnet Schmitt, indem er die Entscheidungssituation gleichsam auf Dauer stellt. Die Entscheidung als solche rechtfertigt, und entschieden wird ständig. Allerdings kann Schmitt nicht bestreiten, daß das Recht mit Delegationen und Ermächtigungen eine geltende Ordnung geschaffen hat, in der sich jeder einzelne ziemlich zuverlässig orientieren kann. Deshalb verlegt er die Entscheidung in einen Ausnahmezustand, der zwar noch nicht da ist, mit dem man aber jederzeit rechnen muß. Da sich jeder Mensch weniger an dem orientiert, was ist, und mehr an dem, mit dem zu rechnen ist, wird die Verweisung auf den Ausnahmezustand plausibel und sozial wirksam. Recht ist jedenfalls verbindlich, weil es gesetzt ist, und deshalb geht jüngeres Recht dem älteren vor. Im Vergleich zum Konzept der unableitbaren ersten Ermächtigung - das man übrigens wie Rousseau auch freiheitlich deuten kann 37 - scheint das Konzept der unendlichen Legitimationskette das Rechtsänderungsrecht nicht plausibel begründen zu können. Es hat mit einem grundlegenden Widerspruch zu kämpfen. Es muß neues Recht mit altem rechtfertigen. Das Entscheidungskonzept wirkt auch zukunftsoffener. Es ist auf alle Fälle eingerichtet. Schaut man allerdings genauer hin, gewinnt man den Eindruck, als entspreche der Grundsatz „Am Anfang war kein Unrecht" besser der politischen Wirklichkeit. Wer einen Anfang macht, will sein Recht beweisen. Nicht nur Hitler wollte legal an die Macht gekommen sein, auch die französischen Revolutionäre haben ihre erste Verfassung 1791 von Ludwig XVI. unterschreiben lassen. Carl Schmitt 38 hat die Legalität freilich als eine Waffe des Bürgerkrieges bezeichnet. Er meinte damit, die Legalität verselbständige das Recht im Verhältnis zu den realen politischen Kräften, gebe damit die Legitimationsfrage frei und ermögliche es auf diese Weise jedem, der Legitimität geltend mache, das positive Recht fur seine Zwecke zu instrumentalisieren. Der Fehler liege in der Unterscheidung zwischen Legitimität und Legalität, zwischen Setzung und Geschichtsmächtigkeit.39 Da sich „ A m Anfang war kein Unrecht" nur auf das gesetzte Recht, also auf die Legalität beziehen kann, bedeutet es im Sinne Schmitts die Leugnung von Geschichtsmächtigkeit. Allerdings fördert auch die Auflösung des Rechts in Dezisionen nicht gerade das Verständnis für seine Geschichte. Dem hätte Schmitt indessen entgegenhalten können, der Dezisionismus lasse jedenfalls der politischen Entwicklung ihren Lauf und entspreche in-
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Vgl. Bubner, Der Akt der Selbstkonstitution, S. 14. Das Problem der Legalität (1950), in: derselbe, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 - 1954, Berlin 1958, S. 440 - 451. 39 Im einzelnen Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität, 2. Aufl. Berlin 1992, S. 249 ff. 38
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sofern der „Natur der Sache". Die Berufung auf die reale politische Geschichte trifft die Unterscheidung zwischen „ A m Anfang war Unrecht" und „ A m Anfang war kein Unrecht" jedoch überhaupt nicht, weil die Unterscheidung eine reine Konstruktion ist. Als Konstruktion scheint sie vom jeweiligen Standpunkt des Konstrukteurs abhängig zu sein. Wer das Recht von weit außen betrachtet, kann es als geschichtliches Ereignis, als unabänderliches Schicksal sehen und sagen: „ A m Anfang war Unrecht". Der außenstehende Beobachter kann auch zoomen, das heißt, sich einzelne Fälle mit Hilfe eines Objektivs porennah vor sein Auge holen. Im Feld von Politik und Recht sieht er dann tatsächlich nur noch einzelne blanke Entscheidungen, absolute Anfänge, die keine Gründe, aber unmittelbare Folgen haben. Insofern liegt zwischen Schmitts Dezisionismus und seiner späteren Legalitätskritik kein Widerspruch, 40 sondern eine andere Sichtweise, gleichsam eine Drehung am Objektiv. Wer dagegen am Recht beteiligt ist, sei es als Normadressat, sei es als Richter, sei es als Rechtslehrer, muß entscheiden, ob er das Recht befolgen soll oder nicht. Befolgen kann er es nur, wenn es mit seiner Selbstdarstellung als unverwechselbare Person vereinbar und in diesem Sinne richtig ist. Selbstdarstellung verlangt Kontinuität der Außenwelt. Deshalb muß sich der Beteiligte vorstellen „ A m Anfang war kein Unrecht", auch wenn er den Anfang nicht kennt, ja, gerade dann. Jeder Anfang wird gesetzt und nach den Anschlüssen konstruiert, die die Entscheidung herstellen soll. Gesetzesentscheidungen sollen allgemein verbindlich werden und bedürfen daher einer rechtmäßigen Rechtsänderungsermächtigung. Also ist der Anfang der Legitimationskette als rechtmäßig zu denken. Welchen der beiden möglichen Standpunkte er einnimmt, steht jedoch nicht im Belieben des Beobachters. Rhetorisch kann er zwar wählen, sich zum Beispiel gegenüber Verbindlichkeitsansprüchen des Rechtes als den alles verstehenden Weltmann begreifen, der Fehler hinnimmt, oder als den pedantischen Schulmeister, der nichts durchgehen läßt. Aber das sind nur eskapistische Gesten, ein Rückzug auf abstrakte Individualität. Denn der Beobachter muß sich selbst darstellen, und wie er sich darstellen muß, hängt von seiner Umgebung ab. Das Individuum ist eine Erfindung der Gesellschaft zur besseren Erfüllung ihrer Funktionen. Und die Gesellschaft hat das Individuum unausweichlich mit Rollen belastet. Die Rollen, die jeder zu spielen hat, zwingen ihn, sich ftir den einen oder anderen Standpunkt zu entscheiden. Stellt er sich konsequent auf den Standpunkt des außenstehenden Beobachters, übernimmt er zum Beispiel die Rolle des Soziologen, dann wird ihm Recht zu einer bestimmten Kommunikation und Souveränität zu einem Trick, Rechtfertigungsparadoxien zu ver-
40 So aber Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958, bes. S. 94 ff.; vgl. auch Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. 251 ff.
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decken.41 Begreift er sich als Beteiligter am Recht, zum Beispiel als Rechtsphilosoph, muß er den offenen Widerspruch zwischen Gleichheit und Befehlsgewalt mit Hilfe von Ermächtigungen überbrücken, die Ermächtigungen als rechtmäßig denken und zu dem Ergebnis kommen: Am Anfang war Recht. Vom Ergebnis kann man auf den Standpunkt schließen. Hegels Verfassungsinterpretation weist ihn als Lehrer des richtigen Rechtes aus. Auch Carl Schmitt argumentiert als Teilnehmer. Der Ausnahmezustand begründet Notrecht. 42 Seine Beobachterposition gewinnt Schmitt allein aus seiner Distanzierung vom normalen Recht. Und er nimmt Abstand vom normalen Recht, weil er hinter ihm das Notrecht freilegen will. Wäre er wirklich außenstehender Beobachter, hätte er sehen müssen, daß Entscheidungen Ungewißheit beseitigen, indem sie Anschlüsse markieren. Die Frage der Anschlüsse blendet Schmitt jedoch aus. Fassen wir zusammen, bevor wir uns abschließend der Volkssouveränität zuwenden. Souveränität fragt nach dem Recht, das Recht zu ändern. Wegen der Gleichheit aller Menschen stellt sich diese Frage verschärft in einem demokratischen Rechtsstaat, in dem eine Rechtfertigung der Rechtsetzung aus Religion, Natur oder Vernunft nicht mehr möglich ist. Aus der Binnenperspektive erscheint Souveränität zunächst als Delegation und Ermächtigung, die eine Binnendifferenzierung der Rechtsordnung erlauben. Delegation und Ermächtigung können Rechtsänderungen jedoch nur rechtfertigen, wenn sie selbst gerechtfertigt sind. Ihre letzte Rechtfertigung ist die Kontinuität im Sinne der Rechtssicherheit. Souverän ist daher, wer in der Kontinuität entscheidet, ohne einer weiteren Rechtfertigung zu bedürfen.
IV. Volkssouveränität Subsumiert man „Volkssouveränität" unter diese Definition, bleibt nur noch die Frage der Entscheidungsfähigkeit des Volkes zu beantworten. Alle anderen Merkmale der Souveränität sind erfüllt. Das Volk als die Summe der Menschen eines Gemeinwesens ist die Kontinuität schlechthin, weit sinnfälliger als alle Rechtskonstruktionen. Endet das Volk, enden auch Staat und Politik. Seine Entscheidungen bedürfen keiner weiteren Rechtfertigung - wenn es sie treffen kann. Das Problem taucht schon bei Bodin auf. Bodin kann Demokratie als eine von den drei möglichen Staatsformen zwar leicht in seiner Lehre unterbringen.
41
Beispiel Luhmann, Staat und Staatsräson, S. 142 f. Zur soziologischen Deutung des juristischen Umgangs mit Ausnahmefallen vgl. Luhmann, (Fn. 41), S. 127. 42
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In einer Monarchie ist der Monarch souverän, in einer Aristokratie die herrschende Klasse und in einer Demokratie das Volk als Ganzes.43 Der Volksbegriff bereitet ihm jedoch Schwierigkeiten. Im Kapitel „Die Demokratie" unterscheidet er zwischen Mehrheit und Minderheit: „Die Demokratie ist jene Staatsform, bei der die Mehrheit des Volkes insgesamt dem Rest als Gesamtheit und jedem einzelnen des ganzen Volkes in Souveränität gebietet. Das für die Demokratie Typische zeigt sich darin, daß die Mehrheit souveräne Befehlsund Herrschaftsgewalt nicht nur über jeden einzelnen besitzt, sondern auch über die Minderheit als Ganzes".44 Die Souveränität liegt also bei der Mehrheit der Bürger. 45 Die Mehrheit ist aber nicht das Volk als Ganzes. Das ist wichtig ftir den Begriff der Souveränität. Bodin differenziert zwischen Souverän und Volk. In einer Monarchie oder Aristokratie „stehen sich zwei Parteien gegenüber: der oder die Inhaber der Souveränität einerseits, das Volk andererseits, und darin liegt auch die Ursache des Streites beider um die Souveränitätsrechte, ein Streit, der in einer Demokratie gar nicht erst aufkommt ... , weil das Volk ein ungeteiltes Ganzes darstellt und sich nicht selbst Bindungen auferlegen kann". Die Frage, warum das römische Volk dann noch geschworen habe, die von ihm selbst erlassenen Gesetze zu halten, beantwortet Bodin damit, „daß jeder einzelne den Schwur für sich persönlich leistete, da die Gesamtheit dies nicht hätte tun können", 46 eine Vorwegnahme der Rousseauschen Unterscheidung zwischen dem Gemeinwillen und dem Willen aller einzelnen. Der Widerspruch zwischen der Souveränität der Mehrheit und der Souveränität des Volkes als Ganzem, ergibt sich daraus, daß Bodin unter Souveränität im Falle der Mehrheit die tatsächliche Entscheidungsgewalt und im Falle des Volkes als Ganzem den normativen Bezugspunkt, die Legitimation von Entscheidungen versteht. Diese Unterscheidung trifft freilich seine Souveränitätslehre im Kern, behauptet die Lehre doch gerade die - wenn auch historisch relativierte - Übereinstimmung von tatsächlicher Macht und normativer Zurechnung. Heute bezeichnet niemand mehr die Mehrheit als souverän, nicht nur, weil sie sich an den Paradigmen für die Richtigkeit des Rechtes, an den Grund- und Menschenrechten bricht, sondern vor allem, weil die Mehrheit evident vom Recht abhängt. Das positive Recht muß das Verfahren, das Stimmrecht und die Gesamtheit festlegen, in der Stimmen gezählt werden, die Entwicklung und Berechtigung der Frage, über die abgestimmt wird, und die Geltungsdauer der Entscheidung. Mehrheitsentscheidungen bedürfen daher einer Geschäftsordnung oder einer Verfassung (vgl. Art. 121 GG), ganz abgesehen davon, daß die
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II 1 S. 251. II 7 S. 332. II 7 S. 337. I 8 S. 143.
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Gerd Roellecke
Mehrheitsregel selbst rechtfertigungsbedürftig ist. 47 Souverän im Sinne Bodins könnte allenfalls der sein, der die Geschäftsordnung oder die Verfassung erläßt. Wenn die Mehrheit nicht souverän ist, kommt in einer Demokratie nur dem Volk als Ganzem Souveränität zu. Das Volk als Ganzes, genauer: als die Summe wirklich aller Staatsangehöriger, als einhundert Prozent der Bevölkerung, gibt es aber nicht als entscheidungsfähige Einheit, sondern nur als Rechtfertigungsgesichtspunkt. Mehr noch. Jede Organisation, die das Volk als solches sichtbar machen will, hebt das Volk als Ganzes auf, weil sie innerhalb des Volkes unterscheiden, etwa (Stimm)Berechtigungen zu- und aberkennen muß. Wenn man den Volksbegriff ernst nimmt, lassen sich daher auf die Souveränität des Volkes keine Forderungen nach „Demokratisierung" im Sinne der Erweiterung von Mitbestimmungsmöglichkeiten stützen. Im Gegenteil. Versteht man unter Volk als Ganzes einhundert Prozent der Bevölkerung, dann ist Demokratie ein Verfahren, in dem, beginnend mit dem Staatsangehörigkeitsrecht und dem aktiven Wahlrecht, so lange immer mehr Leute von der Mitbestimmung ausgeschlossen werden, bis entscheidungsfähige Gremien entstehen. Das wahre Problem der Mitbestimmung ist daher nicht die Zahl der Beteiligten, sondern die Fairness der Ausschluß verfahren. Das Volk als Ganzes ist mit Hegel als etwas Göttliches, Unbeobachtbares zu denken.48 Da Souveränität aber ohnehin nichts anderes ist als ein Rechtfertigungsprinzip, wird der Begriff nicht sinnlos, wenn man sie dem unbeobachtbaren Volk als Ganzem zuschreibt. Fraglich wird aber der Bezug der Volkssouveränität zur politischen Realität. Politisch wirksam wird Volkssouveränität zunächst dadurch, daß sie jede andere Legitimation ausschließt. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) bedeutet für die Politik das Gleiche wie „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben" für die Religion. Die Konsequenzen hat Hermann Heller 49 im Anschluß an Bodin so beschrieben: „Der juristisch präzise Unterschied zwischen der aristokratischen oder monarchischen Autokratie und der Demokratie liegt in der Stellung der Repräsentanten begründet. In der Autokratie ist eine den Regierten gegenüber juristisch ungebundene, souveräne Repräsentation vorhanden, der Staat der Volkssouveränität kennt dagegen nur ausnahmslos juristisch gebundene, magistratische Repräsentation. ... So muß die Ausübung jeder magistratischen Repräsentation, nicht nur der des Parlamentariers, als dauernd, auch in den selbständigen Entscheidungen vom Volk abhängig gedacht werden. In der heutigen Demokratie hat die juristische Abhängigkeit einen so hohen 47 Vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre, 3. Aufl. Berlin 1957, S. 278 ff.: Kritik des Satzes „Mehrheit entscheidet"; Hans Hattenhauer, Zur Geschichte von Konsens- und Mehrheitsprinzip, in: Hans Hattenhauer / Werner Kaltefleiter (Hrsg.), Mehrheitsprinzip, Konsens und Verfassung, Heidelberg 1986, S. 1 - 22; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR I § 22 Rn. 52 ff. 48 Näher Roellecke, Verfassungsgebende Gewalt, S. 160 ff. 49 Die Souveränität, in: derselbe, Gesammelte Schriften Zweiter Band, Leiden 1971, S. 31,97, 99.
Souveränität Staatssouveränität, Volkssouveränität
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Grad erreicht, daß man gezwungen ist, von einer Herrschaft des Volkes als Einheit über das Volk als Vielheit zu sprechen. Damit ist jede Art von Organsouveränität ausgeschlossen, Staats- und Volkssouveränität sind identifiziert".
Daß Staats- und Volkssouveränität identisch sind, kann man freilich nur behaupten, wenn man Staat und Volk für identisch erklärt, und das ist alles andere als selbstverständlich. Aber das eigentliche Problem ist die Souveränität selbst. So richtig es ist, daß alle Machtbefugnisse auf die Souveränität zu beziehen sind, der Rechtfertigungsgesichtspunkt darf in dieser Beziehung nicht verschwinden. Genau das geschieht indessen, wenn man nur auf Delegationen und Ermächtigungen sieht. Wenn sich Volkssouveränität darin erschöpft, daß alle politische Macht rechtlich gebundene Repräsentation ist, kann man Demokratie nicht mehr vom Rechtsstaat unterscheiden. Denn auch der Rechtsstaat muß als ein Gemeinwesen begriffen werden, in dem Politik unter Ausschluß aller anderen Legitimationsgesichtspunkte nur auf der Basis von Recht kommuniziert. 50 Überspitzt kann man sagen: Ginge es nur um die rechtlich kontrollierbare Machtdelegation, dann hätte die Volkssouveränität in Preußen mit § 80 EinlALR begonnen: „Auch Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Oberhaupte des Staats, und seinen Unterthanen, sollen bey den ordentlichen Gerichten nach den Vorschriften der Gesetze erörtert und entschieden werden". Das Problem der Souveränität liegt in der Spitze - zeitlich gesehen am Anfang - , nicht in der Delegation politischer Macht. Deshalb muß die Spitze verdeutlicht werden. Wenn das Volk als Ganzes souverän, aber unsichtbar ist, dann muß es in einer Demokratie so sichtbar gemacht werden wie der Fürst in einer Monarchie oder der Adel in einer Aristokratie. Das Sichtbarwerden des Volkes ist seine politische Realität - und sein Problem. Das Grundgesetz sagt, wie das Volk sichtbar wiFd: in Wahlen und Abstimmungen (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Wahlen und Abstimmungen sind unzweifelhaft Anknüpfungspunkte ftir Ermächtigungen und Delegationen. Aber sie sind nicht „unmittelbarer Ausbruch und Ausdruck des Volkswillens" 51 , sondern sie werden vom Mehrheitsprinzip regiert und können schon deshalb nicht souveräne Entscheidungen sein. Das Wahlvolk ist nicht das Staatsvolk. Man darf Wahlen und Abstimmungen auch nicht als Ermächtigungen verstehen. Als Ermächtigungen sind sie viel zu unbestimmt. Der grundsätzliche Ausschluß des gebundenen Mandats (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) verbietet sogar die juristische Präzisierung des „Wählerauftrages". Zu fragen ist vielmehr, ob und wie das an sich unsichtbare Volk im Ganzen in Wahlen und Abstimmungen erscheint. Nur wenn sie das Volk im Ganzen sichtbar machen, begründen Wahlen und Abstimmungen demokratische Legitimation.
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Vgl. Gerd Roellecke, Rechtsstaat - Nichtrechtsstaat - Unrechtsstaat, Rechtstheorie 28 (1997) S. 299-314,307. 51 So aber Schmitt, Verfassungslehre, S. 279.
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Gerd Roellecke
Das Volk im Ganzen erscheint in Wahlen und Abstimmungen, nicht obwohl, sondern weil das allgemeine, unmittelbare, gleiche und geheime Wahlrecht lediglich rein statistische Wahlergebnisse erzeugt. Carl Schmitt 52 hat zwar Recht: „Die Methode geheimer Einzelabstimmung verwandelt den stimmberechtigten Bürger in einen isolierten Privatmann und ermöglicht es ihm, seine Meinung zu äußern, ohne die Sphäre des Privaten zu verlassen. Eine Zusammenzählung dessen, was Privatleute privatim meinen, ergibt weder eine echte öffentliche Meinung noch eine echte politische Entscheidung". Nur, Wahlergebnisse sollen weder die öffentliche Meinung als allgemeine Diskussion bestimmter Themen noch politische Entscheidungen als bestimmte Anordnungen verdeutlichen. Als Statistiken sind sie in der Tat interpretationsbedürftig. Entscheidend ist aber, daß sie allein im Hinblick auf das unsichtbare Volk im Ganzen interpretiert werden können. Eine Alternative gibt es nicht. Der isolierte Privatmann kann im Wahlakt nur als Repräsentant aller Bürger verstanden werden. Bereits seine Teilnahme an der Wahl wäre sonst völlig unverständlich. Deshalb sind ergebnisoffene Wahlen die Insignien der Demokratie. Aus ihnen ruft das gesamte Volk so wie die Stimme Gottes aus der Wolke: unüberhörbar und gebieterisch, aber dunkel und unbestimmt. Ob Wahlergebnisse dem wirklichen Willen des Volkes entsprechen, schon diese Frage erweist sich als sinnlos. Können Wahlergebnisse auf etwas anderes zurückgeführt werden als auf subjektive Entscheidungen der Wähler, kann das Volk als Ganzes allerdings nicht in ihnen erscheinen. Wenn aber das Prinzip der formalen Chancengleichheit die Wahlen bestimmt, gibt es keine andere Möglichkeit, als ihre Ergebnisse auf den Willen des Volkes als Ganzem zu beziehen. Die politischen Parteien führen das an jedem Wahlabend vor. Sie deuten Wahlergebnisse als Ausdruck des Volkswillens, dem sie politische Direktiven entnehmen. Eine kleine Partei, die mit Mühe fünf Prozent der Stimmen erreicht hat, betrachtet ihren Zugewinn als Bestätigung der Richtigkeit ihrer Politik. Verliert eine große Partei zwei Prozent der Stimmen, gilt ihre Politik als gescheitert. 53 Freie Wahlen machen das Volk als Ganzes tatsächlich zum Souverän, weil sie alle anderen Interpretationen als die Berufung auf den Volkswillen ausschließen. Der Wille des Volkes wird unvorgreiflich, weil er sich in bloßen Verhältniszahlen niederschlägt. Die legitimierende Kraft der Volkssouveränität wächst aus der Differenz zwischen dem Dunkel, in dem das wahre Volk denkt und redet, und der gleißenden Klarheit der Wahlergebnisse.
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Verfassungslehre, S. 280 f. Im einzelnen Gerd Roellecke, Würfeln statt Wählen: Demokratie ein Gesellschaftsspiel?, in: Burkhardt Ziemske u. a. (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik, Kriele-Festschrift, München 1997, S. 593 - 608, 606. 53
... dem Frieden der Welt zu dienen" Gedanken zur Zukunft der Staatlichkeit Von Ulrich Storost
I. „Von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen", hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt das Grundgesetz ftir die Bundesrepublik Deutschland gegeben. So heißt es in der Präambel dieses Grundgesetzes, die den Wesensgehalt der damit getroffenen politischen Entscheidung in einer jedermann einprägsamen Form kennzeichnen soll. 1 Der Präambel kommt jedoch nicht nur politische Bedeutung, sondern auch rechtlicher Gehalt zu. 2 Die mit ihr getroffene Feststellung, daß der Wille, dem Frieden der Welt zu dienen, Motiv der politischen Entscheidung des Volkes ftir die Verfassungsgesetzgebung war, hat deshalb rechtliche Wirkungen. Aus ihr folgt für alle politischen Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland die verfassungsrechtliche Pflicht, den Frieden der Welt mit allen Kräften anzustreben, ihre Maßnahmen auf dieses Ziel auszurichten und die Tauglichkeit fur dieses Ziel jeweils als einen Maßstab ihrer politischen Handlungen gelten zu lassen.3 Dabei ist allerdings offensichtlich, daß auf dieses Gebot nicht das Verlangen gestützt werden kann, die Organe der Bundesrepublik Deutschland müßten bestimmte Handlungen zum Zwecke des Weltfriedens vornehmen. Denn die zu politischem Handeln berufenen Organe müssen in eigener Verantwortung entscheiden, mit welchen politischen Mitteln und auf welchen politischen Wegen sie dieses Ziel zu erreichen oder ihm wenigstens näherzukommen suchen.4 Hinzu kommt, daß der Begriff des Friedens - jenseits der lediglich negativen Abgrenzung zum Krieg - keinen 1 2
Vgl. JÖRN. F. ι (i95i), s. 38.
BVerfGE 5, 85 (127). 3 Vgl. BVerfGE 5, 85 (127) zum Wiedervereinigungsgebot der Präambel. 4 Vgl. BVerfGE 5, 85 (127f.); 36, 1(17); 77, 137 (149); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 509; l von Münch, Rn. 15 zur Präambel, in: von Münch/Kunig, GGK I, 4. Aufl. 1992; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Präambel Rn. 31 f f ; C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, 4. Aufl. 1999, Präambel Rn. 44.
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Ulrich Storost
eigenständigen materialen Inhalt aufweist und deshalb in einer über politische Intentionen hinausgehenden Weise nur schwer bestimmt werden kann.5 Das entbindet den Rechtsanwender jedoch nicht von der Pflicht, die Rechtsnorm im Rahmen des nach der Eigenart des zu ordnenden Lebenssachverhalts Möglichen auszulegen und zu beachten. Negativ bedeutet das Friedensgebot, daß die staatlichen Organe alles zu unterlassen haben, was den Frieden der Welt rechtlich hindert oder faktisch unmöglich macht. Das fuhrt zu der Folgerung, daß die Maßnahmen der politischen Organe auch verfassungsgerichtlich darauf geprüft werden können, ob sie mit dem Friedensgebot vereinbar sind. Die politische Ermessensfreiheit dieser Organe beschränkt sich damit insoweit praktisch auf den allerdings immer noch weiten Bereich der hinsichtlich ihrer Wirkung auf den Weltfrieden zweifelhaften Maßnahmen. Denn das Bundesverfassungsgericht könnte eine Maßnahme der politischen Organe nur dann als verfassungswidrig beanstanden, wenn die Verletzung des Verfassungsgebots, dem Frieden der Welt zu dienen, durch sie evident und die Maßnahme unter keinem Gesichtspunkt zu rechtfertigen wäre. 6 Konkretisiert wird das Friedensgebot insbesondere durch Art. 26 GG, der das Rechtsgut des friedlichen Zusammenlebens der Völker unter besonderen verfassungsrechtlichen und strafrechtlichen Schutz stellt.7 Verfassungsgerichtlich justitiable weitergehende Einschränkungen des Ermessens der jeweiligen politischen Entscheidungsträger bei der Auswahl der Mittel zur Erfüllung dieses Gebots dürften sich daraus jedoch nicht ergeben, zumal der als Beispieltatbestand hervorgehobene „Angriffskrieg" begrifflich unscharf bleibt. 8 Die normative Kraft des Verfassungsgesetzes stößt in diesem Bereich einer außenpolitischen Staatszielbestimmung an unübersteigbare funktionale Grenzen. 9 An das Staatsziel, „dem Frieden der Welt zu dienen", knüpft auch Art. 24 Abs. 2 GG an. Die darin enthaltene Ermächtigung des Bundes, sich „zur Wahrung des Friedens" einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einzuordnen und hierbei in damit verbundene Beschränkungen seiner Hoheitsrechte 5 Vgl. K. Doehring , Das Friedensgebot des Grundgesetzes, in: HStR V I I (1992), § 178 Rn. 18. 6 Vgl. BVerfGE 5, 85 (128) zum Wiedervereinigungsgebot der Präambel. 7 Vgl. BVerfGE 47, 327 (382). 8 Vgl. C. Schmitt , Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz „Nullum crimen, nulla poena sine lege" (1945), hrsg. ν. Η. Quaritsch , 1994; E. Menzel , in: Dolzer/Vogel (Hrsg.), BK Art. 26 Anm. II.4.c; von Mangoldt/Klein , GG, 2. Aufl. 1957, Art. 26 Anm. III.3.c; Stern , S. 509 ff.; AK-GG-G. Frank, 2. Aufl. 1989, Art. 26 Rn. 41; Doehring, Rn. 5 ff.; Τ. M. Menk, Gewalt für den Frieden, 1992, S. 317 ff.; R. Streinz , in: Sachs, GG, 2. Aufl. 1999, Art. 26 Rn. 7, 9, 17 f. 9 Vgl. Stern, S. 80, 122; K.-A. Hernekamp, Rn. 34 zu Art. 26, in: von Münch/Kunig, GGK II, 3. Aufl. 1995.
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einzuwilligen, „die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern", bietet die verfassungsrechtliche Grundlage ftir die Übernahme der mit der Zugehörigkeit zu einem solchen System typischerweise verbundenen Aufgaben und damit auch für eine Verwendung der Bundeswehr zu Einsätzen, die im Rahmen und nach den Regeln dieses Systems stattfinden. 10 Ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit in diesem Sinne ist dadurch gekennzeichnet, daß es durch ein friedenssicherndes Regelwerk und den Aufbau einer eigenen Organisation ftir jedes Mitglied einen Status völkerrechtlicher Gebundenheit begründet, der wechselseitig zur Wahrung des Friedens verpflichtet und Sicherheit gewährt. Ob das System dabei ausschließlich oder vornehmlich unter den Mitgliedstaaten Frieden garantieren oder bei Angriffen von außen zum kollektiven Beistand verpflichten soll, ist unerheblich. Auch Bündnisse kollektiver Selbstverteidigung können deshalb Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG sein, wenn und soweit sie strikt auf die Friedenswahrung verpflichtet sind. 11 Die Vereinten Nationen sind ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit in diesem Sinne. Sie sind darauf angelegt, Streitigkeiten unter ihren Mitgliedern auf friedliche Weise beizulegen und notfalls durch Einsatz von Streitkräften den Friedenszustand wiederherzustellen. 12 Auch die Nordatlantikpakt-Organisation (NATO) ist durch ein friedenssicherndes Regelwerk und den Aufbau einer Organisation gekennzeichnet, die es zulassen, sie jedenfalls dann als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG zu bewerten, wenn sie Mandate des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ausfuhrt. 13 Die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in der NATO ist daher vom politischen Ermessensspielraum des Art. 24 Abs. 2 GG gedeckt, allerdings nur solange der Friedenssicherungscharakter dieser Organisation erhalten bleibt. 14 Art. 24 Abs. 2 GG ermächtigt nämlich nicht generell zur Einordnung in ein System kollektiver Sicherheit, sondern nur „zur Wahrung des Friedens". Jeder Beitritt zu oder Verbleib in einem nicht ausschließlich defensiven Bündnis könnte in keinem Falle auf Art. 24 Abs. 2 GG gestützt werden. 15 Die für die Beurteilung dieses Friedenssicherungscharakters geltenden Grenzen der Judizierbarkeit sind freilich auch hier zu beachten.16 Einschätzungen und Wertungen dieser Art können nämlich vom
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BVerfGE 90, 286 (345 f.). BVerfGE 90, 286 (348 f.). 12 BVerfGE 90, 286 (349). 13 BVerfGE 90, 286 (350 f.). 14 AK-GG-Frank, Art. 24 Abs. 2 Rn. 7, 12; von Münch, Rn. 13. 15 Vgl. A. Randelzhofer, in: Maunz-Dürig, Komm. z. GG, Art. 24 Abs. 2 Rn. 41. 16 C. Tomuschat, in: Dolzer/Vogel (Hrsg.), BK, Art. 24, Rn. 146; AK-GG-Frank, Rn. 10 f f ; weitergehend („keine besondere Bedeutung") Doehring, Rn. 26. 11
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Bundesverfassungsgericht nur am Maßstab der Grenze offensichtlicher Willkür geprüft werden. 17 Schließlich ergibt sich aus Art. 25 GG, daß der Verfassungsauftrag, dem Frieden der Welt zu dienen, nur im Rahmen des Völkerrechts erfüllt werden darf. 18 Aus Art. 25 GG folgt insbesondere, daß die Organe der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich gehindert sind, innerstaatliches Recht in einer Art und Weise auszulegen und anzuwenden, welche die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verletzt. Sie sind auch verpflichtet, alles zu unterlassen, was einer unter Verstoß gegen allgemeine Regeln des Völkerrechts vorgenommenen Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger in Deutschland Wirksamkeit verschafft, und gehindert, an einer gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verstoßenden Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger bestimmend mitzuwirken. 19 Die Berufung auf den Willen, dem Frieden der Welt zu dienen, entbindet deshalb keinen Deutschen von der sich für ihn unmittelbar aus Art. 25 GG ergebenden, den innerstaatlichen Gesetzen vorgehenden Pflicht zur Beachtung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts. Darin liegt kein innerer Widerspruch des Grundgesetzes. Vielmehr ist die in Art. 25 GG enthaltene Verfassungsentscheidung für eine unmittelbare und vollständige Geltung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts im deutschen Rechtsraum Ausdruck des starken Glaubens des Verfassungsgebers an die friedensstiftende Kraft des Rechts, hier des Völkerrechts, auch in den auswärtigen Beziehungen der Staaten.20
II. Gegenstand und Voraussetzung der Verfassung ist der Staat. Dieses Verhältnis von Staat und Verfassung ist auch Thema der Präambel des Grundgesetzes. Mit der Hervorhebung des Willens, dem Frieden der Welt zu dienen, nimmt die Präambel Bezug auf den historischen Zweck, zu dessen Erfüllung sich seit dem 16. Jahrhundert die Organisationsform „Staat" herausgebildet hat und die sie seitdem rational legitimiert: Als souveräne, d.h. von Rechts wegen im Innern allen gesellschaftlichen Kräften überlegene und nach außen unabhängige Machtorganisation war der Staat fähig, die Sicherheit der Bürger nach innen und außen zu wahren und damit eine Friedensordnung durchzusetzen. 21 17
Vgl. BVerfGE 68, 1 (97). Vgl. Τ Oppermann, „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen in: 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland, 40 Jahre Rechtsentwicklung, 1990, S. 29 (31 f.). 19 BVerfGE 75, 1(19). 20 Vgl. Oppermann, S. 32 f. 21 Vgl. H. Quaritsch , Staat und Souveränität, 1970, S. 279 ff. und passim; J. Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR I (1987), § 13 Rn. 71 ff.; A. Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, in: HStR I (1987), § 15. 18
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In die Verfassunggebung des Jahres 1949 hatte das Deutsche Volk allerdings die Erfahrung einzubringen, daß es zur Erfüllung dieses grundlegendsten Staatszwecks nicht ausreichte, den Staat als souveräne Machtorganisation zu verfassen. Als solche war er nämlich in den Jahren zuvor der Versuchung erlegen, sich und sein Volk über alles zu erheben, und hatte dadurch nicht nur jede Friedensordnung nach innen und außen zerstört, sondern auch jede Sicherheit seiner Bürger beendet. Deshalb blieb der Verfassungsgeber nicht bei dem Bekenntnis stehen, daß der neu zu verfassende Staat dem Dienst am Frieden verpflichtet sei. Er verknüpfte vielmehr diese Aufgabenstellung mit einer Abkehr vom überkommenen Bild des „geschlossenen", politisch und völkerrechtlich vor allem auf sich selbst gestellten Staates, indem er bekundete, daß das Deutsche Volk den Dienst am Frieden „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa" erfüllen wolle. Diese Klausel bindet die äußere Souveränität in ähnlicher Weise, wie die innere Souveränität durch das in Art. 1 Abs. 2 GG enthaltene Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt gebunden wird. Einen Staat, der sich kraft seiner Souveränität diesen Bindungen entzieht, wollte das Deutsche Volk nicht wiederherstellen. Um „eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt" herbeizuführen und zu sichern, war das Deutsche Volk gemäß Art. 24 Abs. 2 GG zu einer Vorleistung 22 in Form von „Beschränkungen seiner Hoheitsrechte" bereit, wenn sich dadurch ein „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit" erreichen lasse. Außerdem öffnete Art. 24 Abs. 1 GG die nationale Rechtsordnung derart, daß der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland ftir ihren Hoheitsbereich zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle, nämlich „zwischenstaatlichen Einrichtungen", innerhalb dieses Hoheitsbereichs Raum gelassen wird. 23 Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG konkretisiert und ergänzt diese Öffnung der Staatlichkeit für Bindungen in der Völkerrechtsgemeinschaft und im engeren Rechtsverbund einer zwischenstaatlichen Gemeinschaft durch die besondere Ermächtigung, zur Verwirklichung eines vereinten Europa in den durch Art. 79 Abs. 3 GG gezogenen rechtlichen Grenzen als gleichberechtigtes Glied bei der Entwicklung der Europäischen Union mitzuwirken. 24 Diese Mitwirkung soll allerdings gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG
22
Vgl. JöRN. F. 1,S. 223. BVerfGE 37, 271 (280); 58, 1 (28); 73, 339 (374). Die in Art. 25 Satz 2 GG angeordnete unmittelbare Geltung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts stellt einen weiteren, verfassungsunmittelbaren Anwendungsfall dieser Öffnung dar. 24 Vgl. BVerfGE 89, 155 (179, 183). 23
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nur durch „Übertragung" einzelner Hoheitsrechte, nicht durch Aufgabe der Staatlichkeit selbst verwirklicht werden. 25 Wie die Bindung an Art. 79 Abs. 3 GG zeigt, ermächtigen weder Art. 23 noch Art. 24 GG zur Einräumung von Hoheitsrechten, mit der die Identität der geltenden Verfassungsordnung aufgegeben oder der Wesensgehalt der verfassungsrechtlichen Gewährleistungen abbedungen würde. 26
III. Mißt man die Entwicklung der Verfassungswirklichkeit an diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben, so erscheint die gutgemeinte, dem Begriff des „Verfassungspatriotismus" verbundene Hoffnung, die normative Kraft der Verfassung werde auch ohne das in hochpolitischen Fragen nur sehr begrenzt einsetzbare Damoklesschwert verfassungsgerichtlicher Kontrolle das Handeln der politischen Akteure leiten, als Illusion. 1. Obwohl das Deutsche Volk unter der Geltung des Grundgesetzes auf über ein halbes Jahrhundert des Friedens zurückblicken kann, haben Zweifel an der friedensstiftenden Kraft des universalen Völkerrechts es innerhalb weniger Wochen vermocht, die Schwelle des Art. 25 GG zu überwinden und die Bundesregierung mit Billigung des Bundestages zu veranlassen, unter Abweichung von dem in Art. 2 Ziff. 4 der Charta der Vereinten Nationen niedergelegten, sich aber als ius cogens schon aus dem Völkergewohnheitsrecht ergebenden Gewaltverbot 27 an gegen die territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit eines anderen Staates gerichteter Androhung und Anwendung von Gewalt mitzuwirken, ohne daß die Voraussetzungen des Kapitels V I I der Charta der Vereinten Nationen vorlagen. Die Berufung auf ein - in dieser Charta nicht vorgesehenes - Recht zur humanitären Intervention zur Rettung von Menschenleben und zur Verhinderung von Völkermord im Wege der Nothilfe 28 versagt rechtlich jedenfalls dann, wenn - wie hier - nicht präventive, sondern nur repressive Mittel eingesetzt werden und das dadurch mittelbar oder unmittelbar ausgelöste menschliche Leid unschuldiger Opfer noch zu demjenigen hinzutritt, das Anlaß des Eingreifens war. Da es außerhalb der Vereinten Nationen an einer objektiven Instanz fehlt, die die Verhältnismäßigkeit eines solchen Eingreifens verbindlich beurteilen könnte, wäre die völkerrechtliche 25 AK-GG-M Zuleeg , 2. Aufl. 1989, Art. 24 Rn. 43; H. Mosler , Die Übertragung von Hoheitsgewalt, in: HStR V I I (1992), § 175 Rn. 78; P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: HStR V I I (1992), § 183 Rn. 57, 60. 26 Vgl. BVerfGE 37, 271 (279); 73, 339 (376, 386). 27 Vgl. IGH, Urteil vom 27. Juni 1986 (Nicaragua v. USA), ICJ Rep. 1986, S. 14 (94 ff.). 28 Vgl. Κ Doehring , Völkerrecht, 1999, Rn. 1013.
dem Frieden der Welt zu dienen - Gedanken zur Zukunft der Staatlichkeit
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Zulassung eigenmächtigen Vorgehens in Fällen dieser Art nicht nur von zweifelhaftem Nutzen für Frieden und Menschenrechte, sondern würde auch den fundamentalen Grundsatz des Gewaltverbots, eine große Errungenschaft der Völkerrechtsgeschichte, in unabsehbarem Umfang zur Disposition einzelner Staaten oder Staatengruppen stellen und damit zum Mißbrauch geradezu einladen. 29 Die deutsche Verfassungswirklichkeit folgte deshalb angesichts der laufenden Ereignisse und der von ihnen bewegten Bilder in weiser Zurückhaltung lieber der alten Einsicht der römischen Rechtskultur: Silent leges inter arma. 30 Akzeptiert wurde eine politische Entscheidung, die sich rechtlicher Determinierung in Wahrheit entzog. Die Idee des Verfassungsgebers, im Interesse des Friedens der Welt auch in den internationalen Beziehungen Deutschlands die Stärke des Rechts an die Stelle der Stärke der Waffen zu setzen, ist dabei auf der Strecke geblieben. 2. Obwohl die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland einer der in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze ist 31 und deshalb gemäß Art. 79 Abs. 3 und Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG durch Akte des Verfassungs- oder Vertragsgesetzgebers nicht berührt werden darf, ist im Hinblick auf die „auf unbegrenzte Zeit" geschlossenen Verträge über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in ihrer heutigen Fassung zumindest zweifelhaft, inwieweit die Mitgliedstaaten noch „Herren der Verträge" geblieben und nicht vielmehr ihre Diener geworden sind. 32 Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, Deutschland habe trotz dieser Verträge die Qualität eines souveränen Staates aus eigenem Recht und den Status der souveränen Gleichheit mit anderen Staaten im Sinne des Art. 2 Ziff. 1 der Charta der Vereinten Nationen gewahrt 33, gleicht angesichts der diesbezüglichen Verfassungswirklichkeit eher dem Pfeifen eines Knaben im dunklen Walde. So hat die teilweise Verfehlung der noch 1992 mit Emphase als „eng und strikt auszulegen" gezeichneten Stabilitätskriterien 34 Bundesregierung und Bundestag nicht gehindert, 1998 dem
29 Vgl. A. Randelzhofer zu Art. 2 Ziff. 4 Rn. 49 ff., in: Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Kommentar (1991); J. Isensee, Weltpolizei fur Menschenrechte, in: JZ 1995, S. 421 f f ; D. Murswiek, Souveränität und humanitäre Intervention, in: Der Staat 35 (1996), S. 31 ff. 30 M. T. Cicero, Pro Milone oratio, § 11 a.A. 31 Vgl. Kirchhof, (Fn. 25), Rn. 60; P. Lerche, Europäische Staatlichkeit und die Identität des Grundgesetzes, in: Rechtsstaat zwischen Sozialgestaltung und Rechtsschutz, Festschrift für Konrad Redeker zum 70. Geburtstag, 1993, S. 131 (134). 32 Vgl. T. Oppermann, Zur Eigenart der Europäischen Union, in: Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 87 (95 f.); M. Schröder, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Staates im Prozeß der europäischen Integration, in: DVB1. 1994, S. 316 (320 f.); H. H. Rupp, Ausschaltung des Bundesverfassungsgerichts durch den Amsterdamer Vertrag?, in: JZ 1998, S. 213 (215 f.). 33 BVerfGE 89, 155 (190). 34 Vgl. dazu BVerfGE 89, 155 (163 f., 203).
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Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion ohne Einschränkung zuzustimmen.35 Das Bundesverfassungsgericht hat das mit dem Hinweis gebilligt, in diesem Bereich „rechtlich offener Tatbestände zwischen ökonomischer Erkenntnis und politischer Gestaltung" weise das Grundgesetz die Entscheidungsverantwortlichkeiten Regierung und Parlament zu. 36 Ähnliches gilt im Ergebnis für den mit dem Souveränitätsproblem zusammenhängenden Anspruch des Bundesverfassungsgerichts darauf, letztverbindlich zu prüfen, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen.37 Wird dem Bundesverfassungsgericht nämlich diese Frage gestellt und hält es eine Entscheidung darüber zum Erlaß seines Urteils für erforderlich, so ist es gemäß Art. 234 EGV verpflichtet, die Frage dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zur verbindlichen Vorabentscheidung vorzulegen. Zwar vertritt das Bundesverfassungsgericht den Standpunkt, eine Auslegung von Befugnisnormen durch Einrichtungen und Organe der Gemeinschaften also auch durch deren Gerichtshof -, die im Ergebnis einer Vertragserweiterung gleichkomme, würde für Deutschland keine Bindungswirkung entfalten. 38 Dem ist das Europäische Parlament in einer Entschließung vom 2. Oktober 1997 zu den Beziehungen zwischen dem Völkerrecht, dem Gemeinschaftsrecht und dem Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten39, die allen letztinstanzlichen Gerichten der Mitgliedstaaten förmlich übermittelt wurde, mit großem Nachdruck entgegengetreten. Sollte der damit angesprochene offene Dissens über das Letztentscheidungsrecht jemals entscheidungserheblich werden, wird er mit den Mitteln rechtlicher Auseinandersetzung nicht gelöst werden können, weil es an einer beiden Gerichten übergeordneten gerichtlichen Instanz gerade fehlt. Vielmehr bedarf es dann wiederum einer politischen Entscheidung, die sich rechtlicher Determinierung entzieht40. Im Bewußtsein dessen ist es für beide Kontrahenten ein Gebot der politischen und rechtlichen Vernunft, den Dissens nicht zuzuspitzen, sondern tragfähige Formeln für eine Spruchpraxis zu entwickeln, die den Rechtspositionen beider Seiten Rechnung trägt, das Letztentscheidungsrecht jedoch tatsächlich in der Schwebe läßt. Die These, beim Grundrechtsschutz gegenüber Rechtsakten 35 Vgl. dazu schon H. Quaritsch , Über Gegenwart und Zukunft des deutschen Nationalstaats, in: Staat, Politik, Verwaltung in Europa. Gedächtnisschrift für Roman Schnur, 1997, S. 83 (97). 36 BVerfGE 97, 350 (374). 37 BVerfGE 89, 155 (188). 38 BVerfGE 89, 155 (210). 39 BR-Drucksache 829/97. 40 Vgl. N. MacCormick, Das Maastricht-Urteil: Souveränität heute, in: JZ 1995, S. 797 (800); M. Baldus , Zur Relevanz des Souveränitätsproblems für die Wissenschaft vom öffentlichen Recht, in: Der Staat 36 (1997), S. 381 (397).
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der Europäischen Gemeinschaften ständen Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof in einem „Kooperationsverhältnis, in dem sie sich gegenseitig ergänzen" 41, stellt ungeachtet ihrer dogmatischen Angreifbarkeit 42 einen richtigen Schritt auf diesem Wege dar. In seiner der genannten Entschließung vom 2. Oktober 1997 vorausgegangenen Stellungnahme weist der Institutionelle Ausschuß des Europäischen Parlaments zu Recht daraufhin, der Umstand, daß der Grundsatz des Respekts ftir die Verfassungsstrukturen der Mitgliedstaaten durch politische Garantien und nicht durch Rechtsweggarantien gewährleistet sei, habe in der vierzigjährigen Geschichte des EG-Vertrages seine Wirksamkeit nicht beeinträchtigen können.43 Auch die Fachgerichte können insoweit ihren Teil zum Dienst am Frieden beitragen, indem sie, statt eine „Kriegserklärung" 44 zu provozieren, in Zweifelsfallen zum Mittel harmonisierender Auslegung greifen und damit von sich aus die alte Einsicht beherzigen, daß man zwei Herren am besten dient, wenn man möglichst keinen von ihnen um Weisungen bittet. 45
IV. Die historische Entwicklung, die in dieser Verfassungswirklichkeit erkennbar wird, erlaubt einen Blick in die Zukunft der Staatlichkeit. Der deutsche Verfassungsgeber ging im Jahre 1949 davon aus, daß die Organisationsform „Staat" als Ordnung, die Frieden und Freiheit gewährleisten kann, erhalten bleiben soll, jedoch gerade um dieser Funktion willen eingebunden werden muß in ein auf der Gleichberechtigung der Völker beruhendes, die allgemeinen Regeln des Völkerrechts beachtendes System gegenseitiger kollektiver Sicherheit, das eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführt und sichert. Die damit verbundene Bereitschaft, die zur Staatlichkeit gehörende äußere Souveränität entsprechend zu beschränken, beruhte auf der Erwartung, daß die bisher allein bei den einzelnen Staaten liegende Last der Macht und Verantwortung, den Frieden nach außen zu wahren, in Zukunft auf eine internationale Organisation übergehen würde, die ihrerseits mit dem der Organisationsform „Staat" entlehnten Mittel des Gewaltmonopols diese Aufgabe erfüllen kann. Die so ausgestaltete Charta der Vereinten Nationen hat diese in sie gesetzte Erwartung, zu „gewährleisten, daß
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BVerfGE 89, 155 (178). Dazu vgl. H.-J. Cremer, Europäische Hoheitsgewalt und deutsche Grundrechte, in: Der Staat 34 (1995), S. 268 ff. 43 BR-Drucksache 829/97, S. 16. 44 Vgl. Oppermann (Fn. 32), S. 97. 45 Vgl. dazu U. Storost, Alliierte Kommandantur und Bundesverfassungsgericht, in: Der Staat 21 (1982), S. 113 ff. 42
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Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird" 4 6 , nach heute verbreiteter Auffassung nur unzureichend erfüllt. Die mit dem Umbruch des Jahres 1989 neu aufgekeimte Hoffnung, nun werde man endlich das große Ziel einer neuen Weltordnung erreichen, in der eine Weltinnenpolitik mit den Mitteln einer Weltpolizei künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges und dem damit verbundenen Leid bewahrt, hat sich nach den Ereignissen in Angola, Liberia, Ruanda, Somalia, Afghanistan, Irak, Tschetschenien, Bosnien und Kosovo auf unabsehbare Zeit zerschlagen, weil es den Vereinten Nationen aus verschiedenen Gründen nicht gelang, die rechtliche und tatsächliche Herrschaftsmacht zu erlangen, die der in der Charta vorgesehene universelle Rechtsdurchsetzungsmechanismus voraussetzt. 47 Was danach bleibt, ist der Versuch, statt der sich als unmöglich erweisenden weltweiten Lösung wenigstens regional, nämlich in einem als Raum gemeinsamer politischer Werte verstandenen Europa funktionsfähige Strukturen politischer Krisenbewältigung zu schaffen, die Frieden und Freiheit der Völker dieses Kontinents wahren und festigen. Zu diesem Zweck sollen die NATO und die Westeuropäische Union über die ihnen bisher zukommende Aufgabe kollektiver Verteidigung hinaus sozusagen subsidiär die an sich den Vereinten Nationen zugedachte Funktion übernehmen, regionale Konflikte durch „aktives Krisenmanagement" zu lösen und dadurch politische Stabilität in Europa zu gewährleisten. Dieses neue Sicherheitskonzept wurde vom deutschen Verfassungsgeber des Jahres 1949 zwar nicht vorausgesehen. Es entspricht aber durchaus seinem mehrfach betonten Willen, jedenfalls in Europa eine friedliche und dauerhafte Ordnung herbeizuführen und zu sichern. Es wäre deshalb vermessen, ein solches Konzept, über dessen Gelingen ohnehin nur die Geschichte entscheiden kann, für verfassungswidrig zu halten und sich ihm mit dieser Begründung zu entziehen. Ob der Überforderung der Vereinten Nationen mit der ihr gestellten Aufgabe nur mit Zynismus begegnet werden soll, weil das Völkerrecht außerhalb ihrer Satzung nur tatenloses Zusehen ermöglicht, wenn souveräne Staaten brutale Verletzungen von Menschenrechten ihrer Bürger oder gar Völkermord begehen oder zulassen, ist eine Frage der politischen Verantwortung, die das deutsche Verfassungsrecht nicht verbindlich beantworten kann. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß der Einsatz bewaffneter Streitkräfte des Bundes grundsätzlich der vorherigen konstitutiven Zustimmung des Bundestages bedarf 48, trägt diesem Umstand durch Zuweisung
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So der Vorspruch der Charta der Vereinten Nationen. Ausführlich dazu: T. M. Menk , Frieden durch Weltlegalität, in: Der Staat 32 (1993), S. 401 (408 ff.); Isensee, Weltpolizei für Menschenrechte (Fn. 29). 48 BVerfGE 90, 286 (381 ff.). Kritisch dazu G. Roellecke , Bewaffnete Auslandseinsätze - Krieg, Außenpolitik oder Innenpolitik, in: Der Staat 34 (1995), S. 415 ff. 47
... dem Frieden der Welt zu dienen - Gedanken zur Zukunft der Staatlichkeit
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der Entscheidung an das zentrale politische Repräsentationsorgan des Deutschen Volkes angemessen Rechnung. Entsprechendes gilt für die politische Verantwortung des Bundestages für das Programm der europäischen Integration und seine Durchfuhrung: Ihm müssen im Verhältnis zu den Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben 49; er muß über die Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union, ihren Fortbestand und ihre Entwicklung bestimmen und hat das beabsichtigte Integrationsprogramm hinreichend bestimmbar festzulegen 50; er beeinflußt durch seine Gesetzgebung und durch die parlamentarische Verantwortlichkeit der Bundesregierung die europäische Politik. 51 Das Verfassungsprinzip, das diese politische Verantwortung des Bundestages als Repräsentanten des Deutschen Volkes auch in den Bereichen unverzichtbar macht, in denen politische Entscheidungen von zwischenstaatlichen Einrichtungen supranationalen Charakters getroffen werden, ist der in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG normierte Grundsatz der Volkssouveränität, auf dem die verfassungsgebende Gewalt des Deutschen Volkes selbst beruht und den die konstituierten Organe dieses Volkes deshalb selbst dann nicht antasten dürften, wenn dies in Art. 79 Abs. 3 GG nicht ausdrücklich verboten wäre. 52 Da es sich dabei nur um eine besondere Form der Souveränität als Kennzeichen moderner Staatlichkeit handelt, folgt daraus, daß erst recht diese Souveränität selbst nicht aufgegeben werden darf, solange das Grundgesetz nicht gemäß Art. 146 GG seine Gültigkeit verliert. Außer dieser Vorgabe für die innerstaatliche Willensbildung in den Bereichen, die für die Ausübung supranationaler oder internationaler öffentlicher Gewalt im deutschen Hoheitsbereich geöffnet sind, folgt aus dem Grundgesetz eine weitere Vorgabe, die ebenfalls Ausdruck der Souveränität ist, aber die Willensbildung der Organisationen betrifft, in deren Rahmen der Einsatz bewaffneter Streitkräfte bzw. die europäische Integration stattfindet. Es handelt sich um das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten53, das die Präambel des Grundgesetzes mit den Worten aufnimmt, das Deutsche Volk wolle „als gleichberechtigtes Glied" in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen.
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BVerfGE 89, 155 (186). BVerfGE 89, 155 (187). 51 BVerfGE 89, 155 (191). 52 Vgl. D. Murswiek, Maastricht und der Pouvoir Constituant, in: Der Staat 32 (1993), S. 161. 53 Vgl. Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität (Fn. 21), Rn. 26. 50
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Die Frage der Befriedung Europas und der Welt war im Jahre 1949 nicht neu, sondern stand in einem bestimmten geschichtlichen Zusammenhang.54 Bereits 1815 hatten die gegen das revolutionäre und das napoleonische Frankreich siegreichen europäischen Mächte versucht, den Frieden Europas durch die Heilige Allianz, einen europäischen Bund der Fürsten, zu sichern, um den durch ihren Sieg entstandenen Status quo möglichst dauernd festzulegen. Den damit verbundenen Anspruch auf Interventionsrechte zur Unterdrückung revolutionärer Bewegungen beantworteten die Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 1823 mit der sog. Monroe-Doktrin, mit der sie jeder Intervention europäischer Mächte in Angelegenheiten des amerikanischen Kontinents entgegentraten und damit faktisch ein Monopol zur eigenen Intervention in Angelegenheiten der dort entstandenen Staaten etablierten. Waren diese Bestrebungen nach regionaler Friedenssicherung durch Hegemonie noch in erster Linie durch die offenen Machtinteressen einzelner Großmächte bestimmt, so trat in den Jahren des Ersten Weltkrieges das Bedürfnis nach einer allgemeinen Friedenssicherung in den Vordergrund. Es führte im Jahre 1919 zur Vereinbarung einer Völkerbundssatzung, die der Förderung der Zusammenarbeit unter den Nationen sowie der Gewährleistung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit dienen sollte. Obwohl Deutschland 1926 Mitglied des Völkerbundes wurde und einen ständigen Sitz im Völkerbundsrat erhielt, blieben die ihm durch den Versailler Vertrag auferlegten einseitigen Pflichten zur Entmilitarisierung des westlichen Reichsgebiets, zur Entwaffnung der Streitkräfte, zur Duldung von Kontrollen und zur Zahlung von Reparationen jedoch bestehen. Von einer tatsächlichen Gleichberechtigung in der Staatengemeinschaft konnte insoweit keine Rede sein. Unter Berufung hierauf trat Deutschland im Oktober 1933 aus dem Völkerbund aus und brachte in den folgenden Jahren dessen System der Friedenssicherung zum Scheitern. In der deutschen Staatsrechtlehre versuchte insbesondere Carl Schmitt, diese Politik in Begriffe zu fassen. Unter Anknüpfung an die Monroe-Doktrin stellte er dem geltenden, auf eine Vielzahl nur formal gleichberechtigter und souveräner Staaten gegründeten und allein auf diese bezogenen Völkerrecht eine „völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte" gegenüber. Dadurch sollte wenigen Hegemonialmächten innerhalb ihnen jeweils zugeordneter, von selbständigen Völkern bewohnter Großräume die Gestaltung der erdräumlichen Gesamtentwicklung überlassen werden, wobei die Beziehungen zwischen den Großräumen anderen Regeln unterlagen als die Beziehungen innerhalb der Großräume. 55 Auf diese Weise sollte die dem 54
Vgl. C. Schmitt , Das politische Problem der Friedenssicherung (1943), 3. Aufl. 1993; Menk, Frieden durch Weltlegalität (Fn. 47), S. 402 f. 55 Vgl. C. Schmitt , Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte, 4. Ausg. 1941; dersRaum und Großraum im Völkerrecht (1940), in: ders., Staat, Großraum, Nomos, hrsg. v. C. Maschke , 1995, S. 234 ff.
dem Frieden der Welt zu dienen" - Gedanken zur Zukunft der Staatlichkeit
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europäischen Kontinent entstammende, „land- und erdgebundene Vorstellung" des souveränen Staates an die irreversibel gewordene Erweiterung der Wirtschafträume über den Rahmen einzelner Staaten und Völker hinaus angepaßt werden, ohne die atlantisch-maritimem Denken zugeschriebene Idee eines „universalistisch-imperialistischen, raumaufhebenden Weltrechts" zu übernehmen. 56 Tatsächlich wurde damit die der klassischen Staatlichkeit eigene äußere Souveränität nicht beseitigt, sondern nur auf die Hegemonialstaaten beschränkt. 57 Gerade die für dieses Großraumdenken maßgebliche, tagespolitisch motivierte Vorstellung eines den ihm zugeordneten Großraum jeweils beherrschenden „Reiches" 58 ist mit dem in der Präambel des Grundgesetzes enthaltenen Grundsatz der Gleichberechtigung der Völker in einem vereinten Europa jedoch schlechthin unvereinbar. Denkt man sich den Hegemon hinweg, könnte sich das Konzept völkerrechtlicher Großräume indes als durchaus zukunftsträchtig erweisen. 59 Tatsächlich zeigt nämlich die Entwicklung Europas in den letzten fünfzig Jahren, daß politisches Denken und Handeln in regionalen, durch ein gemeinsames zivilisatorisches Erbe verbundenen Räumen wirklichkeitsnäher und wirksamer ist als der Versuch, Frieden und Gerechtigkeit auf die abstrakte Fiktion einer weltweiten Wertegemeinschaft zu bauen.60 Der Entwicklung einer Europäischen Union, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruht, die europäischen Völker als gleichberechtigt anerkennt und auf dieser Grundlage dem Frieden der Welt dienen will, kann und wird das Grundgesetz deshalb kein Hindernis sein. Die Souveränität der Mitgliedstaaten geht dabei nicht verloren, sondern wird, solange jene Voraussetzungen gegeben sind, von dem so verfaßten Staatenverbund im Umfang der ihm übertragenen Hoheitsrechte für alle seine Mitgliedstaaten zur gesamten Hand und damit einheitlich ausgeübt. Indem die Integrationsoffenheit des Grundgesetzes dies ermöglicht, trägt sie nur der Erkenntnis Rechnung, daß die
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Vgl. C. Schmitt, Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, 2. Aufl. 1973, S. 375 ff.; ders., Raum und Großraum im Völkerrecht (Fn. 55), S. 250 f., 259 ff. 57 Vgl. H. Quaritsch, in: ders. (Hrsg.), Complexio Oppositorum, 1988, S. 410 f. 58 Grundlage war die Terminologie des deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages vom 28. September 1939, der den Grundsatz des Ausschlusses der Intervention raumfremder Mächte aufstellte und dabei von „beiderseitigen Reichsinteressen" sprach. Eine weitere Spielart dieses völkerrechtswidrigen Versuchs, die äußere Souveränität bestimmter Staaten durch ein exklusives Interventionsrecht zum Schutze hegemonialer Interessen einzuschränken, war die sog. Breschnew-Doktrin aus dem Jahre 1968; dazu vgl. Randelzhofer (Fn. 29), Rn. 47 f. 59 Vgl. H. Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, 1989, S. 55. 60 Vgl. W. Schreckenberger, Der moderne Verfassungsstaat und die Idee der Weltgemeinschaft, in: Der Staat 34 (1995), S. 503 ff. 4*
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ökonomische und politische Existenz des Deutschen Volkes tatsächlich von solcher Integration abhängt, weil die wirtschaftliche Verflochtenheit der Staaten in Europa keine andere Entscheidung mehr zuläßt.61 Die einzige, bereits einmal gescheiterte Alternative, die Errichtung eines Hegemonialreichs, wird vom Grundgesetz ausdrücklich ausgeschlossen. Um so nachhaltiger stellt sich angesichts dieses Befundes allerdings die Forderung nach einer demokratischen Legitimation und Kontrolle der von jenem Staatenverbund zu treffenden Entscheidungen. Da das Demokratieprinzip heute die einzige europaweit anerkannte Quelle der Legitimität eines Trägers öffentlicher Gewalt ist, dürfen jene Entscheidungen nicht allein einem „Regime der zentralistischen Technokratie der Machteliten" 62 überlassen bleiben. Sie müssen sich vielmehr jedenfalls solange auf eine Legitimationskette von den Völkern der Mitgliedstaaten zurückfuhren lassen, wie ein europäisches Volk als neue Legitimationsquelle nicht in Sicht ist. 63 Politisch handlungsfähig sind Völker als solche nur durch ihre Staaten und deren Organe. Damit begründen sich auch politisch auf unabsehbare Zeit Möglichkeit und Notwendigkeit einer Bewahrung der Staatlichkeit in der europäischen Integration.
61 62
Vgl. J. Schwarze , Das Staatsrecht in Europa, in: JZ 1993, S. 585 (591 f.). Vgl. Rupp (Fn. 32), S. 216.
63 Vgl. Quaritsch , Über Gegenwart und Zukunft des deutschen Nationalstaats (Fn. 35), S. 99; E. Klein , Völker und Grenzen im 20. Jahrhundert, in: Der Staat 32 (1993), S. 357 (375f.); A. Bleckmann , Die Wahrung der „nationalen Identität" im Unions-Vertrag, in: JZ 1997, S. 265 (268); U. Fink, , Garantiert das Grundgesetz die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland?, in: DÖV 1998, S. 133 (137).
Gemeinwohl als Ziel von Staat und Recht Von Winfried Brugger
I. Idee des Rechts, Gemeinwohl, öffentliches Interesse Wenn wir politisches Handeln als Handeln von Menschen und Gruppen verstehen, das sich letztlich in der Form von Rechtsregeln in einem Staat verwirklicht, dann läßt sich die Frage stellen, was denn Politik bewirken solle, was denn die Ziele von Staat und Recht sein sollen. Diese normative Frage ist zu unterscheiden von der Beantwortung der Frage, welche Motive die Politik faktisch bewegen und welche Ziele sie faktisch verfolgt. Der Unterschied liegt darin, daß in den normativen Zielen die Kriterien zu Wort kommen, deren Beachtung politischen Entscheidungen in Rechtsform im Rahmen eines Staatsverbandes Legitimität und Akzeptabilität vor der Bevölkerung verschaffen kann. Was sind solche Kriterien? Überblickt man das Spektrum möglicher Staatsrechtfertigungen, so stößt man auf eine große Zahl von Kriterien, etwa religiös-theologische, machtorientierte, rechtsorientierte, ethische und psychologische Rechtfertigungen 1. Statt theoretisch mögliche oder geschichtlich konkret aufgetretene Staatsrechtfertigungen zu sammeln, soll hier nach dem Abstraktionsgrad unterschieden werden. Stellt man die Frage, welches auf oberster Ebene die Staatszwecke sein sollten, tauchen immer wieder die Begriffe der Idee des Rechts, des Gemeinwohls und des öffentlichen Interesses auf. Nach Gustav Radbruch umfaßt die Idee des Rechts „ein SpannungsVerhältnis von drei Grundwerten: Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit, Rechtssicherheit ? Weitgehend parallel zu dieser Begrifflichkeit wird oft das Gemeinwohl als höchstes Ziel der Rechts- und Verfassungsordnung genannt: „Die Idee des
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So G. Jellinek in seiner Allgemeinen Staatslehre, 3. Auflage 1976, Kap. 7 II. G. Radbruch, Einfuhrung in die Rechtswissenschaft (1952), 12. Auflage 1969, S. 36. Hervorhebung von W.B. Vgl. auch ders., Rechtsphilosophie, 8. Auflage 1973, § 9, S. 164 ff. Ähnlich H. Henkel, Einfuhrung in die Rechtsphilosophie, 2. Auflage 1977, §§ 31 ff.; F. By dl ins ki, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 290 ff., 317 ff. 2
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Winfried Brugger
Gemeinwohls ist so alt wie die Frage nach dem Sinn der staatlichen Gemeinschaft und nach dem Zweck des staatlichen Handelns ... Sie geht jeder möglichen Verfassung voraus. Das bonum commune bildet das Fundamentalprinzip der politischen Ethik und jeder staatsrechtlichen Programmatik: Salus rei publicae suprema lex esto."3 Wiederum in Parallele zum Gemeinwohlbegriff taucht häufig der Begriff des öffentlichen Interesses als Leitbegriff von Staat und Recht auf: „Der demokratisch-parlamentarische soziale Rechtsstaat findet ... im öffentlichen Interesse bzw. dem Gemeinwohl seine Ermächtigung, Rechtfertigung und Legitimation, aber auch seine Grenzen." 4 Überblickt man diese drei Begriffe, so ist ihnen der hohe Abstraktionsgrad gemeinsam. Sie unterscheiden sich aber insofern, als Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit offenbar die sachliche Qualität von Rechtsnormen ansprechen, ohne die davon Betroffenen explizit zu nennen. Das tut der Begriff des Gemeinwohls, der die Art der Auswirkung auf die Adressaten - deren Wohl - und den Kreis der Adressaten - das Wohl nicht nur einiger, sondern aller - ins Auge faßt. Öffentliches Interesse schließlich kann sich an die letztgenannte Deutung von Gemeinwohl anschließen oder aber Bezug nehmen auf dasjenige, was regelungsbedürftig ist: nämlich nicht alles, sondern nur dasjenige, woran die staatliche Gemeinschaft - zu Recht - mit verbindlichen Regelungen anknüpfen darf. Damit wird ein zweites gemeinsames Element dieser Leitbegriffe deutlich: Sie alle bringen Qualitätsmerkmale staatlichen Handelns zum Ausdruck, sind Werte, Ideale von Rechtsordnungen , an denen das faktische Staatshandeln gemessen werden kann und soll. Die Formulierung solcher „master ideals"5 oder
3 J. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HdbStR III, § 57 Rn. 1. Vgl. auch H. Quaritsch , Staat und Souveränität, Band 1, 1970, S. 323 ff., 388, 391; H.H.v. Arnim , Staatslehre der BR Deutschland, 1984, Kap. 3: Pluralismus und Gemeinwohl, und K.-P. Sommermann , Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, z.B. S. 109 ff., 199 ff. 4 W. Krawietz , Unbestimmter Rechtsbegriff, öffentliches Interesse und gesetzliche Gemeinwohlklauseln als juristisches Entscheidungsproblem, Der Staat 11 (1972), S. 349 f f , 350. Vgl. auch W. Fach , Begriff und Logik des öffentlichen Interesses', ARSP 60 (1974), S. 231 ff.; P. Häberle, ,Gemeinwohljudikatur' und Bundesverfassungsgericht. Öffentliche Interessen, Wohl der Allgemeinheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 95 (1970), S. 86 ff., 260 ff. 5 Zu deren Merkmalen ausfuhrlich P. Selznick, , Sociology and Natural Law 6 (1961), S. 84 ff. Bestimmte normative Begriffe und Strukturen bestehen aus „more than a set of related norms". Vielmehr ist ein komplexes Verhalten samt den einschlägigen spezifischen Normen „governed by a master ideal. Behaviour, feeling, thought, and organization are all bound together by a commitment to the realization of [the pertinent ideal]. It is impossible to understand any of these phenomena without also understanding what ideal states are to be approximated. In addition, we must understand what forces are produced within the system, and what pressures exerted on it which inhibit or facilitate fulfilling the ideal... A normative system is a living reality, a cluster of problem-solving
Gemeinwohl als Ziel von Staat und Recht
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„Erfullungsgestalten" 6 von Staat und Recht ist nur dann Ausdruck utopischen, wirklichkeitsenthobenen Denkens, wenn die inhaltliche Bestimmung solcher Leitbegriffe - wie das Wort Utopie sagt - keinen Platz im Leben der Rechtsgenossen findet 7. Das muß aber nicht sein: Wenn diese Leitbegriffe so gedeutet werden, daß ihre Idealität in und aus der Faktizität verstanden wird, wenn das Sollen aus dem Sein eruiert werden kann, dann sind diese Leitbegriffe konstitutiv in der Spannung von Anspruch und Wirklichkeit zu interpretieren. 8 Dann weiß man darum, daß das ,Sein' dieser Begriffe manchmal hinter ihr ,Sollen' zurückfallen und damit das Ideal verfehlen oder gar pervertieren kann - etwa wenn das Gemeinwohl, wie in der nationalsozialistischen Zeit, im Sinne des ,Du bist nichts, dein Volk ist alles' verstanden wird 9 oder wenn das öffentliche Interesse eines totalitären Staates sich darauf erstreckt, die Lebensführung seiner Bevölkerung im ganzen - total - zu regeln, reglementieren. 10 Versuche zur einseitigen und damit ideologischen Ausbeutung normativer Leitbegriffe kommen immer wieder vor; sie lassen sich nicht vermeiden, weil solche Begriffe ein weites Bedeutungsspektrum haben. Ferner hat die Berufung auf ,Gemeinwohl' auch stark rhetorischen Charakter; der Begriff eignet sich exzellent zur politischen Aktivierung. 11 Zum Teil wird deshalb dafür plädiert, diese abstrakten Leitbegriffe als beliebig auffüllbare und zumindest wissenschaftlich indiskutable Leerformeln anzusehen.12 Ein gewichtiger Faktor, der gegen die Verabschiedung solcher Ideale aus der öffentlichen Diskussion spricht, ist ihre unbezweifelbare Wichtigkeit in
individuals and groups, and its elements are subject to change as new circumstances and new opportunities alter the relation between the system and its master ideal" (S. 86 f.). 6 Hierzu näher Τ. Rentsch, Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, 1990, S. 243: „Sich als Mensch begreifen, heißt, sich im Horizont des Vorverständnisses eines zunächst im weiten Sinn guten Lebens zu bewegen. Dieser transzendental-anthropologisch-praktische Horizont ist selbst dann noch vorausgesetzt, wenn andere Menschen schlecht behandelt werden, um sie z.B. gefügig zu machen. Die defizienten Modi und ihre Praktizierung setzen das Vorverständnis von gelungenen Modi voraus." Diese nennt Rentsch „Erfüllungsgestalten", die es nicht nur im persönlichen, sondern auch in der Politik und im Recht gibt. Vgl. aaO, S. 106, 113, 176, 184 und insbes. 192 zu deren Sein und Sollen übergreifenden Charakter. 7
Utopie kommt aus dem griechischen „ou" (= nicht) und „topos" (= Ort, Stelle, Land), bedeutet also eine Theorie, die keinen Ort in der Lebenswirklichkeit hat. 8 Damit sind sie auch anschlußfahig für empirische Analysen! 9 Vgl. M. Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974, S. 76 ff. 10 Vgl. R. Nisbet, Community and Power, 1962, Kap. 8. 11 Vgl. Isensee (Fn. 3), Rn. 4. 12 Hiergegen Flach (Fn. 4), S. 231 ff.
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der Politik und im Recht: Bürger, Politiker und Juristen benutzen sie immer wieder zur Rechtfertigung dessen, was sie tun oder zu tun gedenken. In nicht wenigen Gesetzen tauchen die Begriffe Gemeinwohl und öffentliches Interesse auf. 13 Damit wird aber die Prüfung um so wichtiger, ob wir diese Begriffe sinnvoll verwenden können oder ob wir resignativ zugestehen müssen: „Es wird nie gelingen, den Begriff des öffentlichen Interesses' in ein System zu bringen." 14 So pessimistisch braucht man indes nicht zu sein. Es ist durchaus möglich, Ordnungsgesichtspunkte im Gemeinwohlverständnis zu entwerfen, die rechtfertigende Kriterien für den Staatsaufbau zum Vorschein bringen.
II. Kontextualität des Gemeinwohlbegriffs Will man den Begriff des Gemeinwohls systematisch entfalten, so muß man drei Differenzierungen einziehen: Zum ersten sind die abstrakten Bestimmungen des Gemeinwohls im Sinne von Rechtssicherheit, Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit als übergreifende Staatsziele oder Staatszwecke von den konkreten Staatszielen einer bestimmbaren Staatsverfassung und noch konkreteren, legislativ aufgenommenen Staatsaufgaben zu unterscheiden. 15 Gemeinwohl ist also eine positiven Verfassungen und Gesetzen vorgeordnete Leitidee im Rahmen des Stufenbaus der Rechtsordnung. Zum zweiten ist nach geschichtlicher Periode und Kulturkreis zu unterscheiden - die konkreten Gemeinwohlgestalten werden sich in manchem unterscheiden. 16 Zum dritten ist auch innerhalb der zuvor genannten Kriterien immer noch die Unterscheidung möglich nach Minimalgehalt und Optimalgehalt, Vorform oder Erfüllungsgestalt. Nimmt man insoweit Gustav Radbruchs Bestimmung der drei Grundwerte der Idee des Rechts näher ins Blickfeld und charakterisiert man diese Grundwerte als die drei wichtigsten Elemente des Gemeinwohls, so zeigt sich, daß seine Erläuterung zunächst auf der Ebene der Staatszwecke ansetzt, aber ausdifferenzierte Organe des Rechts - einen Gesetzgeber und eine die Gesetze durchsetzende Exekutive - voraussetzt: „Weltmaßstab des positiven Rechts, Ziel des Gesetzgebers ist die Gerechtigkeit ... Kern der Gerechtigkeit als einer vor- und übergesetzlichen Rechtsidee ist der Gedan-
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Vgl. die Nachweise oben Fn. 3 f. F. Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 2. Neudruck der 8. Auflage, 1963, S. 143 Fn. 3. 15 Hierzu näher Isensee (Fn. 3), Rn. 5, 115 ff., 132 ff. 16 Vgl. W. Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung, 1913, S. 73: „Die Wertungen der Gesellschaft ändern sich im Laufe der Zeit; namentlich der Begriff des Interesses und des öffentlichen Interesses erhält je nach dem Kulturzustand eines Volkes eine verschiedene Bedeutung." Dazu nähere geschichtliche Hinweise bei Sommermann (Fn. 3). 14
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ke der Gleichheit ... Die Gerechtigkeit enthält in sich eine unüberwindliche Spannung: Gleichheit ist ihr Wesen, Allgemeinheit ist deshalb ihre Form - und dennoch wohnt ihr das Bestreben inne, dem Einzelfall und dem Einzelmenschen in ihrer Einzigartigkeit gerecht zu werden. Man nennt diese erstrebte Gerechtigkeit für den Einzelfall und den Einzelmenschen Billigkeit ... Die große Fülle der Rechtssätze empfängt von der Gerechtigkeit ihre Form, die Gleichheit der Behandlung aller und die Allgemeinheit der gesetzlichen Regelung, während ihr Inhalt durch ein anderes Prinzip bestimmt sein muß, das deshalb gleichfalls der Idee des Rechts angehört: durch die Zweckmäßigkeit ... Da ... das richtige Recht nicht festgestellt werden kann, muß es festgesetzt werden, und zwar durch eine Macht, die das Festgesetzte auch durchzusetzen vermag. Dies ist die Rechtfertigung des positiven Rechts; denn die Forderung der Rechtssicherheit kann nur durch die Positivität des Rechts erfüllt werden. Damit zeigt sich als dritter Bestandteil der Rechtsidee: die Rechtssicherheit." 17
Welcher der drei Grundwerte soll den Vorrang erhalten? Radbruch will sich auf der abstrakten Rechtfertigungsebene nicht festlegen (anderes könnte für eine konkrete Verfassung gelten). Es zeige sich, „daß die drei Wertideen einander zur Ergänzung bedürfen, daß die formale Natur der Gerechtigkeit zu ihrer inhaltlichen Erfüllung den Zweckgedanken benötigt, wie der Relativismus des Zweckgedankens Positivität und Sicherheit des Rechts verlangt. Die drei Wertideen fordern einander, aber zugleich widersprechen sie sich. , Salus populi suprema lex esto4 heißt es auf der einen Seite, allein auf die Zweckmäßigkeit komme es an; justitia fundamentum regnorum' ist die Antwort darauf, Gerechtigkeit sei die Grundlage allen Rechts; von einer dritten Seite heißt es: ,Fiat justitia, pereat mundus', das positive Recht habe zu gelten auf Kosten aller anderen Rechtswerte, während nach einer anderen Meinung wiederum positives Recht in seiner Unbedingtheit selbst zu Unrecht werde, ,summum jus summa injuria'. So bestehen gegenseitige Spannungen innerhalb der Rechtsidee, die nach Lösung verlangen." 18
Radbruch sieht durchaus, daß die Vorrangbeziehungen zwischen diesen drei Bestandteilen des Gemeinwohls nach Kulturkreis unterschiedlich gewichtet werden: „Der Gedanke der Rechtssicherheit hat im englischen Recht den Vorrang ..., und ein englischer Rechtsdenker, Bentham (1748-1832), stimmt einen wahren Panegyrikus auf die Rechtssicherheit an: sie gewährt die Möglichkeit der Voraussicht in die Zukunft und damit der Disposition über die Zukunft, sie ist die Grundlage allen Planens, allen Arbeitens und Sparens, sie bewirkt, daß das Leben nicht nur eine Folge von Augenblicken ist, sondern Kontinuität hat, daß das Einzelleben ein Glied wird in der Kette der Generationen, sie ist das entscheidende Kennzeichen der Zivilisation, sie unterscheidet den Kulturmenschen vom Wilden, den Frieden vom Kriege, den Menschen vom Tier." 19
Radbruch geht auch darauf ein, daß bestimmte Problemlagen zu Verschiebungen in der Gewichtung der Gemeinwohlideen führen können: Lange Peri-
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Einführung (Fn. 2), S. 36-39. Einführung (Fn. 2), S. 41. 19 Radbruch, Einführung (Fn. 2), S. 41.Vgl. auch: Rechtsphilosophie (Fn. 2), S. 169 zu den Prioritäten im Polizeistaat, im Naturrechtszeitalter und im Rechtspositivismus. 18
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oden von Sekurität machen müde und anfällig für Neuerungen, Wagnisse, doch diese Wagnisse wiederum können zu so großen Unruhen fuhren, daß der Wert der Rechtssicherheit erneut in den Vordergrund tritt. Mit Blick auf die schreckliche Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft will Radbruch eine Verhältnisbestimmung treffen, die vergleichbares Unrecht verhindern soll: Zwar soll wegen der Streitigkeit dessen, was Gerechtigkeit meint, in aller Regel das positive Recht und damit die Rechtssicherheit den Vorrang genießen, was diese nach Radbruch selbst zu einem Bestandteil der Gerechtigkeit macht. Aber: „Die Frage ist eine Maßfrage: wo die Ungerechtigkeit positiven Rechts ein solches Maß erreicht, daß die durch das positive Recht verbürgte Rechtssicherheit gegenüber dieser Ungerechtigkeit überhaupt nicht mehr ins Gewicht fällt - in einem solchen Fall hat das ungerechte positive Recht der Gerechtigkeit, einem überpositiven Recht zu weichen." 20
III.Das Gemeinwohl und die drei Säulen des Rechts Vor dem Hintergrund dieser Radbruchschen Überlegungen soll nun der Gemeinwohlbegriff ausfuhrlicher systematisiert werden. Wir beziehen uns dabei historisch und rechtskreisspezifisch auf das Gemeinwohlverständnis, das moderne westliche Staatsverfassungen anleitet, also politische Gemeinwesen mit einer geschriebenen Verfassung, ausdifferenzierten Staatsorganen, Grenzen der Staatsmacht und demokratischer Willensbildung. Der Sache nach schließen wir uns Radbruch an, insoweit wir im folgenden von den drei Säulen des Gemeinwohls (Radbruch: der Idee des Rechts) sprechen. Inhaltlich weicht die folgende Darstellung etwas von der Radbruchschen Terminologie ab 21 und fügt zwei weitere Elemente hinzu: die Konkretisierungsverfahren und die Regelungsebenen.
1. Rechtssicherheit Rechtsnormen konkretisieren die Idee der Rechtssicherheit vor allem 22 in vierfacher Hinsicht: a) Zur Rechtssicherheit gehört Bedeutungssicherheit aller rechtlichen Normen, von welchem Gesetzgeber und aus welcher Periode die Normen auch
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Einführung (Fn. 2), S. 42. Vgl. dazu im einzelnen die oben Fn. 2, 17-20 genannten Radbruch-Stellen. 22 Vollständigkeit der Beschreibung wird nicht in Anspruch genommen. Je nach Konkretionsstufe läßt sich der Begriff anders und genauer fassen. Zum Radbruchschen Verständnis von Rechtssicherheit vgl. Einführung (Fn. 2), S. 39 ff.; Rechtsphilosophie (Fn. 2), S. 166 ff. 21
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immer stammen, und für alle Rechtssubjekte, die wissen müssen, woran sie sich zu halten haben, welches Verhalten vom Staat belohnt oder bestraft wird. Bedeutungssicherheit setzt zunächst Zugänglichkeit und Verständlichkeit der einzelnen Normen voraus. Für die Normen untereinander wird zumindest Widerspruchsfreiheit vorausgesetzt, besser noch Verträglichkeit, günstigstenfalls Einheit im Sinne gegenseitiger Kompatibilität und Unterstützung. Ein wichtiger Weg zur Ermittlung der Bedeutung von Rechtsnormen ergibt sich aus ihrem systematischen Zusammenhang, den der Interpret - das ist der betroffene Bürger, Politiker oder Jurist - im Hin- und Herwenden des Blickes zwischen den für sein Problem einschlägigen Prinzipien und Regeln des Rechts ins Auge fassen kann. b) Wichtig für eine jede Rechtsordnung ist es auch, daß geltendes Recht jedenfalls im Regelfall - nicht nur gesetzt, sondern im Bedarfsfall auch durchgesetzt wird, notfalls mit Zwang, durch einen eigens dafür vorgesehenen Stab von Exekutivorganen. Nehmen Fälle offener Verweigerung von Rechtsgehorsam zu oder gibt der Gesetzgeber zu erkennen, daß ein bestimmtes Gesetz eher symbolischen oder appellativen Charakter hat, als daß es einen realen Geltungs- und Befolgungsanspruch stellt, läßt sich soziologisch daran zweifeln, ob hier geltendes4 Recht vorliegt. c) Rechtssicherheit kommt auch zustande durch klare und stabile Regelungen, die lange gelten und sich im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung verankern können. Soweit doch neu entschieden werden muß, sollten die neuen Regelungen eindeutig sein und die Art und Weise des Abweichens vom früheren Rechtszustand deutlich erkennen lassen. Auf jeden Fall sollte im Interesse der Rechtssicherheit Vorsicht walten vor überstürzten Anordnungen, die dann bald wieder zu erneuten Änderungen fuhren und so zur Orientierungslosigkeit des Rechtsbewußtseins beitragen. d) Rechtssicherheit wird ferner durch klaren Zuschnitt und deutliche Abgrenzung der Zuständigkeiten der einzelnen Zweige der Staatsgewalt gefördert. Wenn klar ist, wie etwa legislative zu judikativen Kompetenzen stehen, kann sich das Volk und können sich die betroffenen Staatsorgane auf ihre jeweiligen Rechte und Pflichten einstellen und bleiben Konflikte berechenbar. Diese vier Dimensionen der Rechtssicherheit lassen sich als semantisch, empirisch, temporal und institutionell oder funktionell bezeichnen. Ihr widerspruchsfreies Zusammenwirken fuhrt zu einer konsistenten Rechtsordnung. Soweit sich die einzelnen Elemente ergänzen und systemimmanent unterstützen, kann man von der internen Kohärenz 23 der Rechtsordnung sprechen.
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Genauer zu Kohärenztheorien des Rechts bzw. der Rechtsrechtfertigung Κ Günther, Ein normativer Begriff der Kohärenz für eine Theorie der juristischen Argumentation, Rechtstheorie 20 (1989), S. 163 ff. Vgl. auch Κ Tuori, Legitimität des modernen
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Rechtssysteminterne Konsistenz und Kohärenz bilden die Erfullungsgestalt, das ,master ideal' der Legalität. Die Positivität des Rechts wird am klarsten durch die beiden ersten Elemente der Setzung und Durchsetzung von Recht gekennzeichnet. Doch bilden diese beiden Ebenen in Verbindung mit der Stabil itätsfünktion von Normen und der klaren Zuständigkeitsabgrenzung von Organen einen sachlichen Zusammenhang: Alle diese Elemente führen nämlich zu Sicherheit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung. Sicherheit und Berechenbarkeit sind das zentrale Anliegen des Rechtspositivismus als einer bedeutsamen Strömung der Rechtstheorie. Ungeachtet der vielen Ausformungen rechtspositivistischer Theorien, die im Detail durchaus differieren 24, erwarten alle Rechtspositivismen von einem modernen Rechtssystem vor allem sichere, berechenbare Regelungen, die, von den zuständigen Organen erlassen, dem Bürger deutlich vor Augen fuhren, was von ihm erwartet wird: „Denn eine der typischen Funktionen des Rechts, im Gegensatz zur Sittlichkeit, besteht darin, ...[Regeln] einzuführen, um die Gewißheit und Voraussagbarkeit des Rechts zu maximieren ,..". 25 Man könnte diese positivistische Betonung auf interner Konsistenz und Kohärenz aller Normen, Funktionen und Organe im Rechtssystem mit Max Weber auch als Optimierung rechtssystemspezifischer formaler Rationalität beschreiben. Deren Merkmal ist größtmögliche Berechenbarkeit, Planbarkeit und Vorhersehbarkeit in einem bestimmten Organisationsbereich. 26
Rechts, Rechtstheorie 20 (1989), S. 221 f f , der interne Rationalität, Gegenstandsrationalität und normative Rationalität unterscheidet und damit auf die hier entwickelten drei Säulen des Gemeinwohls anspielt. 24 Vgl. W. Ott, Der Rechtspositivismus. Kritische Würdigung auf der Grundlage einesjuristischen Pragmatismus, 2. Auflage 1992. 25 H. Hart , Der Begriff des Rechts, 1973, S. 316. Vgl. auch P. Selznick , The Moral Commonwealth. Social Theory and the Promise of Community, 1992, S. 50: „The most striking feature of positivism - social, legal, logical - is a quest for determinacy ... The precise meaning, the operational indicator, the definite objective - these are watchwords of a positivist program", sowie J.Μ. Broekman , The Minimum Content of Positivism, Rechtstheorie 16 (1985), S. 349 ff.: „The general idea [of positivism] is, that there are rules!" (S. 355); „The most important aspect of the function of the minimum content of positivism in law and legal theory is to provide the foundation for the determinative role of rules and legal institutions" (S. 363). 26 Vgl. Μ. Weber , Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Auflage 1972, S. 44, 94, 128, 166, 174, 505.
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2. Legitimität Staatsorgane wollen mit den von ihnen erlassenen Rechtsnormen die Bürger nicht nur zu einem bestimmten Verhalten zwingen, sondern appellieren implizit oder explizit an deren freiwilligen Gehorsam. Gerade dazu dient die Behauptung, eine bestimmte Regelung müsse im öffentlichen Interesse getroffen werden und diene dem Gemeinwohl! Wie ernst oder heuchlerisch immer solche Appelle gemeint sind, auf jeden Fall erlauben sie den Rechtsunterworfenen, das faktische Regime an den in Anspruch genommenen Leitideen zu messen. Dann liegt die Folgerung nahe, daß die Rechtsnormen Integration und Konsens der Bürger anzielen, die aber nur zu erwarten sind, wenn die getroffenen oder in Aussicht genommenen Regelungen legitim sind, von den Bürgern in der Tat als Ausformungen des Gemeinwohls angesehen werden. Legitimität ist wie Rechtssicherheit für sich genommen ein periodenübergreifender Begriff. Seine einzelnen Facetten sind aber stärker geschichts- und kulturgebunden, zumindest was konkrete Ausformungen und Gewichtungen angeht. Max Webers berühmte Typologie verdeutlicht dies. In § 7 der Soziologischen Grundbegriffe formuliert er: legitime Geltung kann einer Ordnung von den Handelnden zugeschrieben werden: a) kraft Tradition·. Geltung des immer Gewesenen; b) kraft affektuellen (insbesondere: emotionalen) Glaubens: Geltung des neu Offenbarten oder des Vorbildlichen; c) kraft wertrationalen Glaubens: Geltung des als absolut gültig Erschlossenen; d) kraft positiver Satzung, an deren Legalität geglaubt wird. Diese Legalität [(d)] kann [den Beteiligten] als legitim gelten ... kraft Vereinbarung der Interessenten fur diese; ... kraft Oktroyierung (auf Grund einer als legitim geltenden Herrschaft von Menschen über Menschen) und Fügsamkeit." 27
Im Rahmen des modernen Staates wird man zumindest eines sagen können: Wenn rechtliche Regelungen ernsthaft die Integration und den Rechtsgehorsam aller - auch der politisch Unterlegenen - anzielen, dann muß über die noch zu behandelnde prozedurale Rechtfertigungsschiene hinaus Raum sein zur Thematisierung materialer Gesichtspunkte von Legitimität, Rationalität oder Vernünftigkeit. Diese materialen Gesichtspunkte lassen sich im geschichtlichen Überblick vielfach ausdifferenzieren. 28 Hier geht es um eine elementare Unterscheidung zur Einordnung konkreter historischer Legitimationskonzeptionen. Die materiale Legitimität einer staatlichen Entscheidung kann sich darauf beziehen, daß das jeweilige Ziel gut und/oder gerecht ist. Mit dieser Unterscheidung ist - vor allen Konkretisierungen - folgendes gemeint: Kollektive Entscheidungen, wie sie für moderne Staaten üblich sind, werden im politischen Prozeß immer auch
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Weber (Fn. 26), S. 19. Beispiele oben in Fn. 1,15, 27.
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material verteidigt, wie die Berufung auf öffentliches Interesse und Gemeinwohl belegt. Kein Entscheidungsträger begnügt sich mit dem Argument: Wir hatten eine Stimme mehr als die anderen! Die materiale Qualität einer Regelung wird oft vorrangig in der Gerechtigkeit gesehen: in den Erfordernissen sozialer Gerechtigkeit oder individueller, auf Leistung beruhender Gerechtigkeit. 29 Nicht alle politischen Entscheidungen lassen sich aber auf Gesichtspunkte der Gerechtigkeit reduzieren, deren zentraler Kern das Postulat angemessener, fairer Verteilung von Vorteilen und Lasten ist. 30 Oft geht es primär um die Frage: Was ist eine für unser Volk passende, angemessene, gute Politik? Etwa: Wer wollen wir als deutsches Volk sein, wofür wollen wir stehen? Über 40 Jahre stellte sich in Bonn die Frage: Wollen wir die deutsche Wiedervereinigung ernsthaft betreiben? Wie sollen wir der Aufforderung in der Präambel des deutschen Grundgesetzes, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden" 31 , nachkommen? Oder, nach der Wiedervereinigung: Wollen wir in Europa ein ,Europa der Vaterländer 1 oder gereinigte Staaten von Europa 4 anstreben? Diese Fragen zielen auf gute Politik im Sinne einer Bestimmung gelungener kollektiver Identität ab, nicht oder jedenfalls nicht primär auf faire Verteilung von Vorteilen und Lasten. Im Vordergrund steht ein konkretes, zeit-, kulturund politikgebundenes Ziel (oder, in Radbruchs Terminologie: ein relativer Zweck 32 ). Damit soll nicht geleugnet werden, daß bei der Durchsetzung eines jeden politischen Ziels Gerechtigkeitsfragen auftauchen können, ja in aller Regel unvermeidbar sind. Etwa, um bei den genannten Beispielen zu bleiben: Wieviel Geld muß Westdeutschland den neuen Ländern zur Verfügung stellen? Sollen die in der DDR-Zeit vorgenommenen Enteignungen rückgängig gemacht werden, oder soll nur entschädigt werden? Darf man insoweit einen Unterschied machen zwischen Enteignungen vor und nach 1949? Oder, was Europa betrifft: Wieviel Solidarität schulden die reicheren Staaten der Europäischen Union den ärmeren Staaten? Läßt sich legitimerweise überhaupt eine Unterscheidung treffen zwischen armen Staaten innerhalb und außerhalb der Europäischen Union?
29 Damit sind in Kurzform die Zentralpunkte zweier Konkretisierungen der Gerechtigkeitsidee angesprochen, nämlich des Sozialliberalismus und des ökonomischen Konkurrenzliberalismus. 30 Vgl. dazu mit Nachweisen W. Brugger, Gesetz, Recht, Gerechtigkeit, JZ 1989, S. 1,5. 31 Dieser Satz galt bis zur Vollendung der Wiedervereinigung Deutschlands. Seit der Grundgesetzänderung vom 23.9.1990 (BGBl. II, S. 885, 890) heißt der Satz: „Die Deutschen in den Ländern ... haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk." 32 Vgl. Radbruch, Einführung (Fn. 2), S. 38 f.; Rechtsphilosophie (Fn. 2), S. 164 f.
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Damit läßt sich festhalten: Gute und gerechte Regelungen sind zwar oft miteinander verknüpft, lassen sich aber nicht immer aufeinander reduzieren. Zu einer Theorie des Gemeinwohls, die die wichtigsten Legitimitätskonzeptionen integriert, gehören also sowohl die Kriterien des Guten wie des Gerechten; stärkere, anspruchsvollere Theorien werden zwischen den beiden Ausformungen von Legitimität genauere Verhältnisbestimmungen und Ausrichtungen vornehmen. 33 Dies gilt auch für konkrete Verfassungen, die, ohne die Differenzierung zwischen ,gut' und ,gerecht4 zu treffen, die wichtigsten Legitimitätskriterien in den Verfassungstext aufnehmen. Blickt man insoweit in das Grundgesetz als Leitverfassung des modernen Verfassungsstaates, so kann man Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit als legitimatorische Grundwerte nennen, die in den ersten drei Artikeln an zentraler Stelle genannt werden. Das Politikziel Wiedervereinigung' aus der alten Präambel des Grundgesetzes wird nach der Wiedervereinigung durch die neue Präambel 34 als vollendet charakterisiert. Legitimitätstheorien, die die Gesichtspunkte ,gute' bzw. ,gerechte Regelungen' zum materialen ,Wohle' der Gemeinschaft differenziert entwickeln und darin das vorrangige Gemeinwohlerfordernis sehen, kann man auch als Theorien bezeichnen, denen die praktische oder materiale Rationalität35 der Rechtsordnung am wichtigsten ist. Noch einmal anders formuliert: Bei ihnen muß sich die rechtsinterne Konsistenz und Kohärenz von Normen, Funktionen und Organen dem Inhalt nach ausrichten an moralisch-ethischen Kriterien. Ethische Kohärenz ist das Leitbild, Rechts ideal ismus im weiteren - also nicht auf den ,deutschen Idealismus' beschränkten - Sinn des Wortes. Zum so verstandenen Idealismus gehören alle Naturrechts- und Vernunftrechtskonzeptionen. Diese insistieren darauf, daß das positive Recht der Natur des Menschen - worin immer diese bestehen mag - entsprechen muß oder ihr zumindest nicht widerspre33
Über die Vorrangbeziehung zwischen dem Gerechten und dem Guten streiten in der zeitgenössischen Auseinandersetzung der Neutralitätsliberalismus (Vorrang des Gerechten) und der Kommunitarismus (Vorrang des Guten oder zumindest Nichttrennbarkeit von ,right' = ,good'). Vgl.insoweit die Beiträge von S. Huster und W. Brugger, in: dies., Hrsg., Der Streit über das Kreuz in der Schule. Zur Neutralität des'Staates im religiös-weltanschaulichen Bereich, 1998. 34 Vgl. oben Fn. 31. 35 Vgl. Max Webers Bestimmung materialer Rationalität: Diese „bedeutet ja gerade: daß Normen anderer qualitativer Dignität als logische Generalisierungen von abstrakten Sinndeutungen auf die Entscheidung von Rechtsproblemen Einfluß haben sollen: ethische Imperative oder utilitarische oder andere Zweckmäßigkeitsregeln oder politische Maximen ...": Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 26), S. 397. Vgl. auch aaO, S. 45: „ethische, politische, utilitarische, hedonische, ständische, egalitäre oder irgendwelche andere Forderungen ...". Anders als bei Weber (und Radbruch) wird hier zwischen der Wahl der Zwecke (Legitimität, materiales Gemeinwohl) und der Zweckmäßigkeit der Regelungen bei feststehenden Zwecken (hier: 3. Säule des Gemeinwohls) unterschieden. Vgl. auch oben Fn. 17 ff., 27 und unten Fn. 38.
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chen darf, und daß die Vernunft in mehr bestehen muß als im bloß instinktiven Vollzug empfundener Bedürfnisse. Hierzu zählen auch alle Theorien utilitaristischer Prägung, die in unterschiedlichen Varianten die faktischen Interessen der Menschen, deren Präferenzen, das Wohlergehen und den Wohlstand der Bevölkerung als entscheidende Merkmale richtigen Rechts und staatlichen Handelns ansehen
3. Zweckmäßigkeit Die Forderung der Zweckmäßigkeit an ein Rechtssystem erschließt sich am klarsten in Abgrenzung zu den Charakteristika von Rechtssicherheit und Legitimität. Rechtssicherheit konzentriert sich sozusagen auf das Innenleben der Rechtsordnung als einer Struktur von Normen, Funktionen und Institutionen. Legitimität hat es zentral mit den idealen Anforderungen an das Rechtssystem zu tun, deren Beachtung ihm Respekt, Gehorsam und Loyalität der Bürger verschaffen kann. Sie rekurriert auf die einschlägigen Werte der politischen Gemeinschaft, also alle integrationsfähigen materialen Leitlinien. Diese zwei ersten Säulen des Rechts kann man als formale und materiale Rationalität bzw. als juristische und moralisch-ethische Kohärenz bezeichnen. Rechtsregelungen, die diesen beiden Säulen Rechnung tragen, können das Gemeinwohl aber immer noch verfehlen, wenn sie den Wirklichkeitsbezug ihrer Regelungen, ihr empirisches, soziales, kulturelles Substrat, nicht beachten und berücksichtigen, denn: „Die Norm steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlich-politischen Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muß sich unter Umständen mit ihnen wandeln." 36 Auch die Effektivität der Normverwirklichung hängt von der Welt, ,so wie sie ist', ab; an ihr darf man nicht achtlos vorübergehen. Die Natur der Sache ist zu berücksichtigen, und an dieser Redeweise ist nichts auszusetzen, wenn man sie im Sinne der Analyse der konkreten Strukturen und nicht der Postulierung eines metaphysischen, zeit- und kulturenthobenen Wesens der jeweiligen Sache - etwa von Familie, Religion, Wirtschaft, Solidarität usw. - versteht, an die das Recht regulierend herantritt. 37
36 BVerfGE 34, 269, 288. Vgl. auch W. Krawietz, Das positive Recht und seine Funktion, 1967, S. 58: „Einsicht in die sozialen Tatsachen setzt normatives Denken nicht matt, sondern ermöglicht zu allererst die wirksame Umsetzung normativer Vorstellungen in die soziale Wirklichkeit." 37 Vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 7. Auflage 1998, Rn. 123 ff., der sich kritisch gegen diesen Topos wendet, aber zugesteht, daß die inhaltliche Aufgabe darin besteht, „das in Normtexten enthaltene Wirklichkeitsmodell als sachlich konstitutiv und methodisch konstruktiv in den Vorgang der Konkretisierung einzuführen" (Rn. 124). An die Stelle der Natur der Sache tritt bei Müller der Terminus Sachbereich.
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Damit wird nicht einer kritiklosen Normativität des Faktischen4 das Wort geredet. Nicht alles, was Menschen, Gruppen oder Staaten faktisch tun, ist deswegen schon gut und gerecht. Macht ist nicht gleich Recht. Doch ist auch die Alternative verfehlt: Normative Postulate oder Gerechtigkeitsforderungen verbürgen nicht für sich schon GemeinwohlfÖrderlichkeit. Sollen setzt Können, Gerechtigkeit setzt Zumutbarkeit und Planung setzt Wissen um die einschlägigen Verhältnisse voraus. Zudem sind angesichts der Knappheit vieler begehrter Ressourcen Sparsamkeit und Effizienz wichtige Gemeinwohlelemente. Damit können wir einige wichtige Elemente von Zweckmäßigkeit oder, wenn man so will, Praktikabilität oder instrumenteller bzw. Mittel-Zweck-Rationalität 38 benennen: a) Rechtsentscheidungen sollten von zutreffenden Daten und Einschätzungen des jeweiligen Wirklichkeitsbereichs und der betroffenen Interessen ausgehen. Ohne empirische ,Unterfutterung 4 bleibt jeder Regulierungsversuch ein Hirngespinst. b) Die Voraussetzungen und Folgen rechtlicher Regulierung sind zu bedenken. Was sind die voraussehbaren Folgen, wie steht es mit immer möglichen nichtbedachten Konsequenzen? Was sind die Kosten, was die Vorteile einer neuen Regelung oder des Verzichts auf eine solche, bezogen auf den einschlägigen Bereich, auf andere Lebenswelten, ökonomisch, sozial, rechtlich, moralisch usw.? Angesichts der Knappheit der meisten begehrten Güter sind die effektivsten, kostengünstigsten Lösungen anzustreben. c) Effektivität setzt immer auch die angemessene Berücksichtigung der Leitideen der zu regelnden Bereiche, der ,Natur der Sache4 voraus. In jedem Lebensbereich geht es um ein anderes ,master ideal 4 , eine andere ,Erfüllungsgestalt4, und an diesen in dem jeweiligen Sein angesiedelten Sollen darf das Recht jedenfalls nicht achtlos vorübergehen, will es sich nicht seiner Wirkung (und, damit verbunden, seiner Legitimität) berauben. 39 Theorien, die diese Gesichtspunkte als entscheidend fur ein gut funktionierendes Rechtssystem ansehen, kann man dem Rechtsrealismus, Rechtsinstrumentalismus oder der ökonomischen Theorie des Rechts 40 zurechnen. Darunter
38 Vgl. Max Webers Bestimmung von Zweckrationalität: „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt: Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 26), S. 13. Wie die Formulierung deutlich macht, ist Webers Zweckrationalität sozusagen in sich gespalten: Der eine Teil ist die Mittel-Zweck-NebenfolgenAnalyse bei gegebenem Zweck; dies wird hier Zweckmäßigkeit, instrumenteile oder Mittel-Zweck-Rationalität genannt. Der andere Teil ist die Zweckreflexion und Zweckfestsetzung, die Teil der zur Legitimität gehörenden materialen Rationalität ist. 39 Zu diesen Begriffen schon oben Fn. 5 f.
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ist eine Haltung zu verstehen, die, unter Voraussetzung feststehender (unterstellt: akzeptabler, legitimer) Zwecke und auf den Postulaten der Mittel-ZweckRationalität aufbauend, die sozialregulierende Funktion des Rechts vor allem von der Wahl der besten, geeignetsten, kostengünstigsten Mittel abhängen sieht. Einschlägiges Stichwort ist: Recht als Sozialtechnologie. Prominente Ausformungen dieses Theorietyps sind etwa der von Hans Albert vertretene kritische Rationalismus sowie die ökonomische Theorie des Rechts in ihren diversen Varianten, etwa der Public-Choice-Theorie oder der Chicagoer Schule von Law and Economics.41 Ihre wichtigste rechtswissenschaftliche Ausprägung ist die Gesetzgebungslehre.42 In den drei Säulen sind die wichtigsten Elemente des Gemeinwohls zusammengefaßt. Wie schon diese kurze Skizze deutlich macht, ist Gemeinwohl in der Moderne eine komplexe Idee. Aber moderne Rechtsordnungen sind eben komplexe Gestalten, und Theorien moderner Rechtsordnungen müssen bis zu einem gewissen Grad diese Komplexität widerspiegeln. Sie tun dies aber auf zwei unterschiedlichen Ebenen: entweder, wie hier, in einem ,schwachen', ziemlich offenen Sinn, der eine Integration der wichtigsten Rechts- und Verfassungstheorien ermöglicht, oder in einem ,starken', selektiven Sinn, der anspruchsvolle Forderungen an Recht und Staat stellt und klare Gewichtungen zwischen den einzelnen Elementen des Gemeinwohls enthält. Für alle attraktiven Rechts- und Verfassungstheorien (und weitergedacht: alle Verfassungen) gilt aber, daß sie erst einmal alle drei Säulen in ihrer Wichtigkeit anerkennen müssen, bevor sie dann in einem zweiten Schritt nach Wichtigkeit richten und gewichten und Vorrangverhältnisse bilden. Theorien (oder Verfassungen), die von vornherein eine der drei Säulen ausblenden, müssen als reduktiv eingeschätzt werden; sie taugen nicht zu einer angemessenen Analyse moderner Rechtsordnungen. Wie stehen die drei Säulen des Gemeinwohls zueinander? Es ist nicht ausgeschlossen, daß zwischen den drei Gemeinwohlelementen terminologische Überschneidungen vorkommen, je nachdem, wie weit oder eng man die Begriffe verwendet. Es ist plausibel, einem bedeutungs- oder durchsetzungsunsicheren Recht die Legitimität oder Zweckmäßigkeit abzusprechen, oder zu be-
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Dies ist eine Grobeinteilung und soll Unterschiede zwischen den Theorien nicht leugnen. So verbindet die ökonomische Theorie des Rechts etwa Legitimitätsfragen und Effektivitätsfragen, weil fur sie in der Ebene der Zweckfestlegung ökonomische Gesichtspunkte der Wohlstandssteigerung und der bestmöglichen Präferenzbefriedigung vorrangig sind. 41 Vgl. z.B. H. Albert, Erkenntnis, Recht und soziale Ordnung, ARSP Beiheft Nr. 44, 1991, S. 16 ff., 21 ff.; H. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 1995; J.M. Buchanan, The Limits of Liberty, 1975; R A. Posner, The Economics of Justice, 1981. 42 Näher dazu H. Hill, Gesetzgebungslehre, 1982, Abschnitte IV und V.
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haupten, eine von falschen Tatsachen ausgehende oder die Struktur eines gesellschaftlichen Lebensbereichs verkennende Rechtsnorm sei nicht nur unzweckmäßig, sondern auch ungerecht. Solche partiellen Überschneidungen oder gewisse Differenzen bei der Zurechnung einzelner Punkte zu den drei Säulen des Gemeinwohls sprechen nicht gegen die Fruchtbarkeit des SäulenModells. Bei Begriffsklärungen auf so abstrakter Ebene sind Differenzen in der wissenschaftlichen Diskussion nicht zu vermeiden. Der Rekurs auf das Gemeinwohl hat jedenfalls den Vorteil, daß er an einem seit langem eingeführten und nach wie vor politisch wie rechtlich im Vordergrund stehenden Begriff ansetzt. Weiterhin: Daß starke Parallelen zu neueren Begriffsschöpfungen wie Rationalität und Kohärenz bestehen, spricht nicht gegen, sondern für die nach wie vor bestehende Relevanz des Gemeinwohlbegriffs. Daß das Drei-Säulen-Modell mit seiner internen Differenzierung zur Erkenntnis des modernen Staates beiträgt, liegt auf der Hand 43 : Was die Rechtssicherheit angeht, so wird Bedeutungssicherheit durch die textliche Spezifizierung des geltenden Rechts angebahnt und späterhin durch richterliche Konkretisierung im Rahmen gelungener Funktionsabgrenzungen vollendet. Befolgungssicherheit kommt durch die Möglichkeit staatlicher Durchsetzung geltenden Rechts zustande. Stabilität wird erreicht über die Geltung in der Zeit, insbesondere der Verfassung, aber auch notwendig werdende Neufestlegungen des bindenden Rechts. Zu den Legitimitätskriterien des modernen Verfassungsstaates gehören zeit- und kulturgebundene kollektive Politikziele (wie die schon angesprochene Wiedervereinigung) sowie grundrechtliche Garantien. Die Zweckmäßigkeit kommt im Verfassungsrecht vor allem dadurch zustande, daß sinnvolle Funktionsabgrenzungen vorgenommen werden. Ferner wird bei Grundrechtseingriffen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Mittel im Hinblick auf den relevanten (unterstellt: legitimen) Zweck geprüft.
IV. Prozeduren der Gemeinwohlkonkretisierung Die bisherigen Erörterungen gingen von den materialen Zielen von Recht und Staat im Rahmen des Gemeinwohlbegriffs aus, haben aber noch nicht die Frage beantwortet, auf welche Art und Weise die notwendigen Konkretionen von Rechtssicherheit, Legitimität und Zweckmäßigkeit getroffen werden können. Auf positivrechtlicher Ebene kommen hier Verfassung und Gesetz ins Spiel, doch bedürfen deren Festsetzungen selbst noch einer vorgelagerten Re43
Vgl. schon oben bei Fn. 22 ff. sowie mit weiteren Nachweisen W. Brugger, Konkretisierung des Rechts und Auslegung der Gesetze, AöR 119 (1994), S. 1, 10 ff.; ders., Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? Beobachtungen aus deutschamerikanischer Sicht, Staatswissenschaften und Staatspraxis 3 (1993), S. 319, 324 ff. 5*
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flexionsstufe, die am besten als prozedurales Ergänzungselement zu den materiellen Elementen von Gemeinwohl verstanden und entwickelt wird. In diesem Sinne entspricht der Legitimitätsanforderung, gute und gerechte Regelungen zu erlassen, die die Bürger akzeptieren können, die Forderung der Eröffnung eines moralischen Reflexions- und politischen Entscheidungsprozesses. Was die Öffentlichkeit betrifft, muß auch öffentlich diskutiert werden, bevor darüber entschieden wird 44 , und Entscheidungsträger im modernen Staat sind alle Betroffenen, alle Bürger, das Staatsvolk.45 Die Entscheidung muß demokratisch getroffen werden. So können, vermittelt über Medien und Parteien, alle zu Wort kommen und idealerweise viele Meinungen berücksichtigt werden. Weil in bezug auf dasjenige, was in konkreten Situationen für ein bestimmtes Problem eine gute und gerechte Entscheidung ist, oft Dissens herrscht, dient das demokratische Entscheidungsverfahren auch dazu, diese Streitigkeiten zu kanalisieren und rechtsverbindlich - also bedeutungs- und durchsetzungssicher - zu entscheiden. Damit wird Licht geworfen auf das fruchtbare Wechselspiel von Demokratie und Rechtspositivismus: Die Streitigkeiten der Öffentlichkeit und des politischen Prozesses werden partizipatorisch beigelegt und entschieden. Sicherheit tritt an die Stelle von Unsicherheit. Rechtsfrieden wird hergestellt. Werden dadurch Legalität und Legitimität eins? Geht letztere in ersterer auf? Das wäre nur dann der Fall, wenn man davon ausgehen könnte, daß die materialen Gehalte von Legitimität - also die Güte und Gerechtigkeit staatlicher Regelungen - durch das demokratische Verfahren zureichend und endgültig erschlossen und festgelegt werden. Das ist das Glaubensbekenntnis des Legalitätsglaubens'. Jede staatliche Regelung, die vom zuständigen Gesetzgeber im Rahmen des vorgesehenen Verfahrens beschlossen worden ist, ist deshalb schon richtig und gerecht! Max Weber glaubte für seine Zeit sogar feststellen zu können: „Die heute geläufigste Legitimitätsform ist der Legalitätsglaube: die Fügsamkeit gegenüber korrekt und in der üblichen Form zustandegekommenen Satzungen."46 Ob heutzutage der Legalitätsglaube faktisch das vorherrschende Legitimitätskriterium ist, kann dahinstehen. Konzeptionell und im Lichte geschichtli44 Hier kommt Kants transzendentale Formel des öffentlichen Rechts ins Spiel: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht" - Zum ewigen Frieden, in: Werke (AkademieTextausgabe) VIII, S. 341,381. 45 Hinter dieser Stufung von nicht-identischen Begriffen steckt natürlich ein weiteres Entscheidungsproblem, wenn man an Entscheidungen im Asylbereich denkt oder im staatlichen Innenbereich, soweit Ausländer betroffen sind, die nicht politisch mitbestimmen. 46 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 26), S. 19 (§ 7, 4. der Soziologischen Grundbegriffe).
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eher Erfahrung bestehen Bedenken gegen die These, demokratische Mehrheiten hätten immer recht bzw. unterlegene Minderheiten hätten immer unrecht. Die Minderheiten werden dies oft anders sehen und sich als die ,aufgeklärte Minderheit 4 sehen, die der ,dumpfen Stammtischmehrheit 4 unterlegen sei. Warum sollten sie sich der Mehrheitsentscheidung trotzdem fügen? Nur weil sie die - unterstellt: reale - Chance hatten, selbst die Mehrheit zu erringen? Das ist zweifelhaft. Weil die Kriterien von ,gut4 und ,gerecht4 hoffnungslos subjektiv gefärbt und keiner objektiven Behandlung zugänglich sind und deshalb nach Mehrheitsmacht entschieden werden sollten? Auch dieser Standpunkt des erkenntnistheoretischen Nihilismus wird nicht von allen geteilt. Attraktiver ist da schon der Standpunkt des erkenntnistheoretischen Skeptizismus, der die Frage nach der Objektivierbarkeit der Kriterien von ,gut4 und ,gerecht4 unentschieden läßt und nur darauf beharrt, daß wir trotz unserer subjektiven - aber leider manchmal widersprüchlichen - Überzeugungen keinen objektiven Beweis für deren Richtigkeit vorlegen können.47 Aber auch dann bleibt unklar, warum die Minderheit Entscheidungen der Mehrheit akzeptieren sollte. Solches kann man offenbar nur insoweit annehmen, als die Minderheit davon ausgehen kann, daß die Mehrheit sich mit ihren Entscheidungen innerhalb eines Rahmens nachvollziehbarer, vertretbarer, wenngleich umstrittener Ausdeutungen von materialer Legitimität hält, der von anderen unvertretbaren Ausdeutungen geschieden ist, und soweit rechtliche Gewähr dafür besteht, daß solche unvertretbaren und dann willkürlichen Regelungen der Minderheit nicht aufgezwungen werden. 48 Hier geht es dann aber nicht mehr um das Prozedere, sondern um materiale Grenzen für die inhaltlichen Ergebnisse des Diskurses, vor allem durch grundrechtliche Abwehrrechte. Das weist auf Stärken und Schwächen von rein prozeduralistischen Theorien hin. Das sind solche Theorien, die nicht mehr glauben, ,material Unverfügbares4 für das Verfahren formulieren zu können, weil alles im Fluß ist, es kein Vorgegebenes, Unverfügbares, Unabstimmbares mehr gibt. Zwei Typen solcher Theorien sind hier zu erwähnen: Eine erste, eher optimistische Version stellt darauf ab, daß eine Optimierung der Partizipationsrechte aller im Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung und des gegenseitigen Austauschs von Argumenten - ein idealer Diskurs - zu richtigen und gerechten Ergebnissen im Moralischen und weitergedacht in der demokratischen Entscheidungsbildung führt, es deshalb vorgängiger materialer
47 Hierzu Μ. Kriele, Kriterien der Gerechtigkeit, 1963,§ 4; W. Brugger, Der Kampf der Meinungen, in: J. Schwartländer/E. Riedel, Hrsg., Neue Medien und Meinungsfreiheit im nationalen und internationalen Kontext, 1990, S. 143, 150 ff. Man könnte diese Haltungen auch radikalen und moderaten Relativismus nennen. 48 Näher zu dieser Unterscheidung Brugger (Fn. 47), S. 163 ff.; ders. (Fn. 30), S. 6 ff.
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Ziele und Grenzen nicht bedarf. 49 Der Realismus hält aber in dieser Art von Theorie dort Einzug, wo daraufhingewiesen wird, daß die Voraussetzungen eines idealen Diskurses in der Wirklichkeit von Argumentation und Entscheidung nicht gegeben sind und es deshalb zusätzlicher institutioneller Vorkehrungen zur Feststellung und Durchsetzung verbindlicher Rechtsentscheidungen bedarf. Obwohl diese Theorie also vom idealen Ausgangspunkt aus rein prozeduralistisch ist, läuft sie in der realistischen Variante auf eine Integrationstheorie, also der Sache nach auf eine Ausprägung der drei Säulen des Gemeinwohls hinaus. Robert Alexy formuliert diesen Schritt wie folgt: „Die Diskurstheorie vermag auf der einen Seite die implizite Vernunft der tatsächlichen Praxis der Argumentation ans Licht zu heben. Auf der anderen Seite wird deren idealer Charakter, der sich in den Begriffen des idealen Diskurses und der absoluten prozeduralen Richtigkeit zeigt, deutlich. Auf der Ebene des realen Diskurses erweist sich dies als Schwäche ... Ihren vollen Wert kann die Diskurstheorie erst in einer Theorie des Staates und des Rechts entfalten. Eine solche Theorie ist kein bloßer Anwendungsfall der Diskurstheorie, sondern deren aus theorieinternen Gründen notwendige Vervollständigung. Die Diskurstheorie kommt nicht ohne eine Theorie des Rechtssystems aus, und diese nicht ohne jene. Bei dieser wechselseitigen Abhängigkeit geht es um das Zusammenspiel idealer und nichtinstitutionalisierter Aspekte praktischer Rationalität mit solchen realer und institutionalisierter Art. Um dieses Zusammenspiel zu erfassen, sind zwei Modelle des Rechtssystems zu verbinden: das des Rechtssystems als eines Systems von Prozeduren und das des Rechtssystems als eines Systems von Normen." 50
Eine zweite, eher pessimistische Theorie - die Systemtheorie - teilt erkenntnistheoretisch den Standpunkt entweder des Nihilismus oder des Skeptizismus. Sie ist darüber hinaus der Ansicht, daß die Komplexität der modernen Welt so groß ist, daß von Subjekten und Personen ausgehende Theorien von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Statt dessen müsse man von den Systemen ausgehen, die für bestimmte Regelungsbereiche eine eigene Organisations-, Handlungs- und Sprachstruktur zur Lösung der einschlägigen Probleme entwickelt haben. In diesem Sinne steht dann „Legitimation durch Verfahren" im Vordergrund 51. Für den Bereich der Politik und des Rechts heißt dies: Durch personelle Rekrutierung (Wahl von Abgeordneten), legislative Programmierung (Gesetzeserlaß), exekutive Durchsetzung und gerichtliche Kontrolle soll Konsens oder Akzeptabilität bei den Bürgern geschaffen und verbraucht werden, zumindest Fügsamkeit erreicht werden. Auf objektive Richtigkeit oder individuelle Überzeugungsbildung kommt es letztlich nicht mehr an; Rechtsfrie49
Vgl. die kurze Zusammenfassung von R. Alexy, Idee und Struktur eines vernünftigen Rechtssystems, in: R. Alexy u.a., Hrsg., Rechts- und Sozialphilosophie in Deutschland heute (ARSP-Beiheft Nr. 44), 1991, S. 30 ff. 50 Alexy (Fn. 49), S. 36. 51 Vgl. hierzu den gleichnamigen Titel von Niklas Luhmann, 3. Auflage 1971. Kritisch hierzu W. Brugger, Staatszwecke im Verfassungsstaat, NJW 1989, S. 2425 (2430 f).
Gemeinwohl als Ziel von Staat und Recht
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den im Sinne des Nichtwiderstands genügt im Notfall, vielleicht sogar im Regelfall. Damit sind wir beim juristischen Diskurs angelangt, also der prozeduralen Ergänzung zu den materialen Elementen der ersten Säule des Gemeinwohls, zum Rechtspositivismus. Hier geht es um die Festlegung und Einrichtung von Organen, Funktionen, Kompetenzen und Verfahrensregelungen im engeren Sinne (Antragsberechtigte, Formen, Fristen etc.) zur Festlegung dessen, was als Recht gelten soll; ferner kommen hier spezifische Argumentationsweisen Auslegungsmethoden - ins Spiel. In einem minimalen Sinne könnte man vom Vorliegen eines juristischen Verfahrens schon ausgehen, wenn gälte: ,Was immer Souverän X bestimmt, soll rechtens sein'. Im modernen Staat sind wir über solche Ansätze weit hinausgelangt: Es gibt mehrere Organe - vor allem Legislative, Exekutive, Judikative - mit unterschiedlichen Kompetenzen und spezifischen Verfahrensregeln. Zudem ist man sich inzwischen der unterschiedlichen Normtypen bewußt, die man zur Regelung von Sachverhalten wählen kann. Besonders wichtig sind Regeln und Prinzipien. Erstere lassen sich als tendenziell präzise Normen mit angebbarem Tatbestand und spezifischer Rechtsfolge beschreiben, letztere als offene, meist mehrere Rechtsregeln übergreifende, zusammenfassende und diese rechtfertigende Normen. Rechtsregeln eignen sich zur Regelung von feststehenden Sachverhalten, bei denen keine wesentlichen Neuerungen und Abweichungen im bislang berücksichtigten Umfeld der Norm zu erwarten sind, bei denen also das Regelungsproblem sozusagen nur von der Vergangenheit bis in die Gegenwart reicht. Prinzipien sind in die Zukunft hinein offener; sie erlauben die Berücksichtigung neuer Entwicklungen im Real- oder Idealbereich der Norm. 52 Da Rechtsentscheidungen beiden Aspekten - Kontinuitätswahrung wie auch Innovationsoffenheit - Rechnung tragen sollten, ist es angebracht, beide Normtypen zu benutzen. Dies fuhrt schon zum dritten Diskurs, dem sozialwissenschaftlichen Expertendiskurs als Ergänzungsebene der dritten Säule des Gemeinwohls, der Zweckmäßigkeit. Hier sind Verfahren einzurichten, die Umfang, Grad und Ausmaß der empirischen Betroffenheit von Menschen durch geplante oder existierende Rechtsregelungen testen; die deren Kosten und Nutzen überschlagen, besser noch berechnen; die Gewähr dafür bieten, daß man weiß, wovon man spricht, wenn man spezifische Bereiche wie Wirtschaft, Erziehung, Religion etc. reguliert. Die zureichende Kenntnis zumindest der erstgenannten Punkte wird man weder von Juristen noch von Rechtsbetroffenen erwarten können. Letztere werden zwar in der Regel Vermutungen in Form von Hoffnungen und
52
Genauer zu diesen Unterschieden W. Brugger, Das anthropologische Kreuz der Entscheidung, JuS 1996, S. 674, 680 f.
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Befürchtungen haben, doch über Alltagserfahrungsregeln werden diese oft nicht hinausgehen. Deshalb braucht Politik wissenschaftliche Politikberatung. Und im Parlament sollten Politiker aus allen Lebensbereichen nicht nur deshalb sitzen, weil damit deren Interessen besser, weil gerechter repräsentiert sind (das ist ein Legitimitätserfordernis), sondern weil damit auch mehr Sachverstand zum Zuge kommen kann. Auch im Rechtssystem ist die Erreichung rechtsrealistischer Annahmen keine Selbstverständlichkeit; sie muß organisiert werden. Daß die Daten eines Falles einem Gericht korrekt vorliegen, ist kein Faktum, sondern ein Faziendum. Diesem Ziel dient die Einrichtung von Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsregeln in Prozeßgesetzen, die bis zu Regeln darüber reichen, welchen Sachstand das Gericht zugrundezulegen hat, wenn bestimmte Behauptungen nicht objektiv geklärt werden können. Ob die Berücksichtigung von Nutzen und Kosten einer bestimmten Rechtsnorm von den Richtern zu überprüfen ist oder ob sie diese Frage als von der Legislative vorentschieden unberücksichtigt lassen sollten, ist ebenfalls eine schwierige Frage, die aus dem Arrangement der drei Gewalten heraus zu treffen ist. Gewaltenteilung dient nach klassischer Auffassung zur Eliminierung von staatlicher Willkürherrschaft, also einem Legitimationskriterium. Aus dem gegenseitigen Verweisungsverhältnis der drei Säulen des Gemeinwohls ergibt sich aber, daß auch Optimierungsgesichtspunkte der effektiven Aufgabenerledigung, also Anforderungen von Zweckmäßigkeit, berücksichtigt werden sollten. Auf jeden Fall wird deutlich, daß in der Prozedurebene zwei Expertendiskurse - der sozialwissenschaftliche und der juristische - neben einem Allgemeindiskurs - den die Bürger über die Legitimation von Rechtsregelungen führen - stehen, und daß alle miteinander integrativ verwoben sind. So kann man sich einen Reim auf den Spruch machen, daß die Staatsmacht auf den Volkswillen zurückgeführt werden muß, aber nicht vom Volk ausgeübt werden sollte: Die Legitimitätsüberzeugungen des Volkes sollen das Fundament sein, aber auf ihm aufbauend bedarf es der Eliten, der Experten, um im umfassenden Sinne gemeinwohlförderliche Entscheidungen zu treffen!
V. Ebenen der Gemeinwohlverwirklichung Damit sind wir bei einer dritten Stufe der Gemeinwohlproblematik angekommen, die nicht die Ziele und Prozeduren, sondern den Abstraktions- oder Konkretionsgrad von Rechtsregelungen betrifft. Rechtssicherheit, Legitimität und Zweckmäßigkeit sollen im gesamten Gebäude des Rechts erreicht werden; das ist der Anspruch eines modernen, vernünftigen, rationalen Rechtssystems im umfassenden Sinne. Dieses reicht aber von (1) den einzelnen Lebens- und Handlungsbereichen selbst - etwa der Rechts-, Wirtschafts- oder Bildungsordnung - über die (2) für diese einzelnen Bereiche konstitutiven Prinzipien
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und Regeln - etwa zur Produktion von guten und gerechten Rechtsnormen, von Gütern und Leistungen, von informierten und flexiblen jungen Menschen - bis hin (3) zu einzelnen, konkrete Problemfälle betreffenden Entscheidungen - etwa Verwaltungsakten, Preisfestsetzungen und Abiturzeugnissen. Wichtig ist hier wiederum, die gedankliche Trennbarkeit, aber letzlich unvermeidbare Verschränkung der drei Ebenen zu sehen und zu berücksichtigen. Wer nur den Einzelfall sieht, wenn er ,richtig', ,angemessen' entscheiden will, steht in Gefahr, das Gesamtbild aus den Augen zu verlieren; Einseitigkeit droht, im Extremfall Dezisionismus. Wer nur das Gesamtbild sieht, wird in Versuchung geraten, die Einzelfälle in ihrer Varietät als Störfaktor statt als Material zur Konstruktion und Rekonstruktion eines Gesamtbildes zu sehen. Wer zu stark aus einer intuitiven Gesamtschau eines Regelungsbereichs denkt und fühlt, wird Schwierigkeiten haben, dessen Leitideen in Prinzipien und Regeln auszuformulieren und damit handhabbar, operationabel zu machen für die Binnenstruktur und die Erledigung der ja meist vielfältigen und komplexen Aufgaben. Nehmen wir als Beispiel den Bildungsbereich: Bildung braucht ein Bildungsideal (etwa das Humboldtsche), vielleicht sogar mehrere (umfassende, längere Persönlichkeitsbildung gegen beschränkte, kürzere Spezialistenbildung). Das Bildungsideal muß sich umsetzen in Organisationen (etwa ein mehrstufiges Bildungssystem) mit sächlicher und personeller Ausstattung (etwa Universitäten, Schulen, mit Lehrern, Räumen, Ausbildungsliteratur, Prüfungsordnungen); dazu bedarf es der entsprechenden Rechtsregelungen. Letztlich spielt sich Bildung aber an Ort und Stelle, im Hörsaal und Schulzimmer, mit konkreten Lehrenden und Lernenden ab. Hier wird, hoffentlich unter Einhaltung der entsprechenden Rechtsregelungen und unter Beachtung der einschlägigen Bildungsideale, Wissen vermittelt, werden Lehr- und Lerneinstellungen vorgelebt und eingeübt, und werden schließlich Noten und Diplome vergeben. Wenn wir in der Reihung der Gemeinwohlebenen vom Sachbereich über die Normebene bis hin zum Einzelfall vorgegangen sind, so versteht sich diese Reihung, wenn man von Rechtssystemen spricht, nicht ohne weiteres. Sie ist nur typisch für Rechtsordnungen wie die deutsche, die primär vom Kodifikationsdenken geprägt sind. Kodifikatorische Rechtsordnungen behaupten, große Lebensbereiche vollständig, richtig und zweckmäßig regeln zu können. Es gibt aber neben den ,code law systems' noch andere Rechtsfamilien, insbesondere ,case law systems' bzw. ,common law systems' wie etwa das amerikanische Rechtssystem, die sozusagen umgekehrt verfahren 53: Bei ihnen beginnt das 53 Vgl. zusammenfassend zu den Unterschieden C. Abernathy, Law in the United States, 1995, S. 18 f.; J. Hergei, Contemporary German Legal Philosophy, 1996, S. 114 ff.; P. Hay, Einfuhrung in das amerikanische Recht, 3. Auflage 1990, Kap. 1 C.
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Recht mit dem Einzelfall und dem Präjudiz. Die richtige gerichtliche Entscheidung der Einzelfälle fuhrt zwar zu Normen, doch sind für Fallrechtsjuristen die abstrakten Normen, insbesondere die Prinzipien, von nicht so großer Bedeutung wie für Kodifikationsjuristen; sie sind Arbeitshypothesen, die aber umgestoßen oder revidiert werden können, wenn der nächste Einzelfall zu seiner angemessenen Lösung nach einer anderen Entscheidung verlangt. Noch geringer ist dementsprechend die Rolle von Leitideen ganzer Lebensbereiche. 54 Selbst wenn der Gesetzgeber tätig geworden ist - was auch in Fallrechtssystemen zunehmend vorkommt -, wird ,Recht' nach wie vor vorrangig als ,Recht im Einzelfall' verstanden: „Nicht die Gesetzesvorschrift, sondern die richterliche ,Glosse' ist anzuwendendes Recht." 55 Die Tatsache, daß es solche unterschiedlichen Gewichtungen in Rechtsordnungen gibt, verweist wiederum auf die unterschiedliche kulturelle Ausprägung und Gewichtung des Gemeinwohlkonzepts. Allerdings wissen alle einsichtigen Kommentatoren sowohl von Fallrechts- wie Kodifikationssystemen darum, daß zur angemessenen Lösung von Rechtsfällen in einer modernen Rechtsordnung die Berücksichtigung aller drei Ebenen gehört. 56 Auch hier begegnen wir wieder einer Integrationsthese, die unterschiedliche Gewichtungen nicht aus-, sondern einschließt. Soweit in der Moderne Tendenzen zur Annäherung von Common Law und Code Law diagnostiziert werden, spricht man von einer Konvergenzthese. Nach dem Durchgang durch die drei Ebenen des Gemeinwohlkonzepts (Ziele, Prozeduren, Ebenen) soll dieses in Tabellenform dargestellt werden:
Gemeinwohl als Ziel des Rechts: Die drei Säulen des Rechts 1. Rechtssicherheit
2. Legitimität
3. Zweckmäßigkeit
- Formale Rationalität - Rechtliche Kohärenz -
- Materiale Rationalität - Ethische Kohärenz -
- Zweckrationalität - Empirische Kohärenz -
54
Dies ist selbstverständlich eine idealtypische Einteilung, die nicht ausschließt, daß einzelne Autoren, Gesetze oder Rechtsphilosophien in den USA kodifikatorisch bzw. in Deutschland fallrechtsorientiert sind. Es geht hier um übergreifende Analysen im Hinblick auf Schwerpunkte. Vgl. hierzu W. Brugger, Einfuhrung in das öffentliche Recht der USA, 1993, § 8 I; ders., Konkretisierung (Fn. 43), S. 8. 55 Hay (Fn. 53), S. 10. 56 Vgl. hierzu, neben den Hinweisen in den Fn. 53, J. Esser , Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Auflage 1990, S. 171, 239; W. Brugger. , Legal Interpretation, Schools of Jurisprudence, and Anthropology: Some Remarks From a German Point of View, American Journal of Comparative Law 42 (1994), S. 395 ff.; ders., Concretization of Law and Statutory Interpretation, Tulane European and Civil Law Forum 11 (1996), S. 207 ff.
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Gemeinwohl als Ziel von Staat und Recht
a) b) c) d)
Bedeutungssicherheit Befolgungssicherheit Stabilität Funktionsabgrenzung
Rechtspositivismus
a) Gute Regelungen b) Gerechte Regelungen (Insbesondere über Staatsziele und Grundrechte)
a) Validität empirischer Annahmen und Analyse betroffener Interessen b) Mittel-Zweck- und Kosten-Nutzen-Effizienz c) Berücksichtigung der Sachstrukturen
Rechtsidealismus
Rechtsrealismus
Prozeduren der Gemeinwohlkonkretisierung 1. Juristischer Diskurs
2. Politischer und moralischer Diskurs
3. Sozialwissenschaftlicher Diskurs
(Insbesondere: Gewaltenteilige Verfahren)
(Insbesondere: Öffentliche Meinungsbildung und Demokratie)
(Insbesondere: Wissenschaftliche Politikberatung)
Ebenen der Gemeinwohlverwirklichung
1. Ebene der sozialen Strukturen (Leitideen)
3.
2. Ebene der Rechtsnormen (Regeln und Prinzipien)
2.
3. Ebene der Einzelfalle (Präjudizien, Fallrechtsnormen)
1.
VI. Zum Verhältnis der Gemeinwohlelemente Erst in der Gesamtschau dieser Leitideen wird der Anspruch eines wohlgeordneten, funktionierenden modernen Rechtssystems deutlich: Die ,richtige Entscheidung4 läßt sich kennzeichnen als eine Entscheidung, die auf allen Stufen rechtlicher Regelung das beste Verhältnis der drei Gemeinwohlelemente trifft. Es ist evident, daß damit ein optimales Rechtssystem angezielt wird, dem sich reale Rechtsordnungen nur annähern können. Trotzdem ist dieser Hinweis kein Anzeichen eines unverbesserlichen Optimismus oder gar eines wirklichkeitsfremden Utopismus. Ganz im Gegenteil sind die Gemeinwohlaspekte realistischer Ausdruck der praktischen Rechtswelt: Jede Rechtskritik stützt sich auf den Vorwurf, daß die angegriffene staatliche Maßnahme eines der Gemein-
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Winfried Brugger
wohlelemente oder mehrere derselben verfehlt, mißversteht oder falsch gewichtet! 57 Immer geht es darum, daß die angegriffenen Maßnahmen ,kein Recht4 seien oder zwar den Gesetzen entsprechen, aber ungerecht, schlecht oder unzweckmäßig seien. Wenn das aber so ist, muß eine jede realistische Rechts- und Verfassungslehre diese normative Kritik ernst nehmen und versuchen, im Rahmen ihrer konkreten Ausgestaltung positiv zu thematisieren - genau dies tut das hier entwickelte Gemeinwohlverständnis. Die einzelnen Elemente von Gemeinwohl stellen für sich genommen wichtige Teilstücke zur Konstruktion einer vollentwickelten, attraktiven Rechtsordnung aus Sicht der Gegenwart dar. In diesem Sinne ist die hier gegebene Darstellung weder neu noch besonders originell. Es gibt andere Staats- und Verfassungslehren oder Rechtsphilosophien, die der Sache nach mehr oder weniger die gleichen Elemente thematisieren. Für den hier gewählten Ansatz ist erstens charakteristisch, daß die Elemente einer attraktiven Rechtsordnung im Rahmen des Gemeinwohlkonzepts rekonstruiert werden, und daß dieses Konzept zweitens als Integrationsformel entwickelt wird. Integrationsformel meint hier, daß nur eine gewisse Systematisierung entwickelt wird in Form der drei Säulen des Gemeinwohls sowie der Unterscheidung von Elementen, Prozeduren und Ebenen. Diese drei Stufen lassen sich analytisch unterscheiden, hängen aber der Sache nach zusammen. Über diese ,schwache4 Systematisierung hinaus trifft die hier entwickelte Theorie keine Aussagen. Sie will gerade durch diese Offenheit für stärkere, anspruchsvollere Theorien des Gemeinwohls (und für konkrete Verfassungstheorien und Verfassungen) deutlich machen, wo deren Platz in dem umgreifenden Gemeinwohlkonzept liegt. 58 So lassen sich deren unterschiedliche Schwerpunktbildungen lokalisieren; gleichzeitig wird ein Argumentationsrahmen für mögliche Verständigung geboten.59
57 Daß sich jede Rechtskritik anhand des hier entwickelten Gemeinwohlverständnisses thematisieren oder notfalls rekonstruieren läßt, ist natürlich eine starke Behauptung. Ein Beweis läßt sich für eine solche Behauptung nicht führen, aber vielleicht hat sie plausiblen Charakter oder führt zumindest zu Widerspruch? Vgl. illustratorisch C. Perelman, Über die Gerechtigkeit, 1967, S. 139 f.: „Die Kritik [am Recht] wird die Sittlichkeit, die Gesetzmäßigkeit, die Regelhaftigkeit im weitesten Sinne, die Nützlichkeit und Geeignetheit eines Verhaltens, einer Entscheidung, einer ausgeführten oder vorgeschlagenen Maßnahme betreffen. Damit diese Kritik möglich wird, bedarf es notwendigerweise einer vorläufigen Zustimmung ... zu Normen oder Zielen, in deren Namen die Kritik vorgetragen wird." 58 Weitergeführt nimmt dieses Gemeinwohlkonzept also einen klar bestimmbaren Platz im Stufenbau der modernen Rechtsordnung ein, der vom Gemeinwohlkonzept über konkrete Verfassungstheorien und Verfassungen zum Gesetz und zu den Einzelfallen führt. Dazu einige Hinweise bei Brugger, Konkretisierung (Fn. 43). 59 Die hier entwickelte Integrationslehre ist also auf einer höheren Abstraktionsstufe angesiedelt als die Smendsche Integrationstheorie. Vgl. R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Auflage 1968, S. 136 ff., 198 ff., 475 ff.
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Damit solche Integrationsbegriffe fruchtbar sind, also die angesprochenen Leistungen erbringen, müssen sie für den jeweiligen Bereich die wichtigsten oder doch einige wichtige Charakteristika benennen. Soweit sie dies nach Auffassung der Allgemeinheit oder zumindest der Kundigen tun, stellen sich diese Einzelpunkte als wesentliche Topoi der Sache ,Recht und Staat in der Moderne 4 dar. Diese Topoi werden allerdings nicht nur angesammelt und stückweise vorgeführt, sondern im Rahmen einer schwachen Systematik 6 aufeinander bezogen. ,Schwach' meint hierbei nicht, um den entscheidenden Punkt noch einmal zu betonen, intellektuell schwachbrüstig, sondern nur bis zu dem Maß systematisiert, als sich dies von der Struktur des Lebensbereichs her anbietet, auf weitgehenden Konsens der Betroffenen und insbesondere der Erfahrenen stößt und Raum läßt für ,stärkere', selektivere Theorien oder Lehren über den betreffenden Gegenstandsbereich. Damit liegt, wenn man so will, eine Topik dritter Ordnung vor. Eine solche geht über die unbewußte und bewußte Sammlung der für einen Lebensbereich einschlägigen Leitideen als Ebenen einer ersten und zweiten Topik hinaus. Sie bezieht Stellung zu der inneren Verwobenheit der Leitideen und begreift diese Verweisungsverhältnisse als übergreifenden Sinnund Verständigungszusammenhang, ohne in Anspruch zu nehmen, für konkrete Entscheidungsfragen wie etwa den Entwurf oder die Revision einer Verfassung eindeutige Lösungen deduzieren zu können.60 Die einzige präskriptive Anleitung, die gegeben werden kann unter der Voraussetzung, daß alle wesentlichen oder doch viele wesentliche Topoi der Sache ,moderner Rechtsstaat' angesprochen worden sind, ist: Alle Richtungen bzw. Ebenen des betreffenden Integrationskonzeptes sollten generell berücksichtigt werden, bevor man, nach fallund situationsbezogener Reflexion und Entscheidung, eine Verfassung entwirft und beschließt! In diesem Sinn ist noch auf eine allgemeine Charakteristik der Gemeinwohlaspekte hinzuweisen, die vor aller Konkretion in den Überlegungshorizont eingestellt werden muß 61 : Die einzelnen Gemeinwohlaspekte können in konkreten Fällen drei Arten von Beziehung bilden: Sie können sich gegenseitig unterstützen; sie können indifferent gegeneinander sein; sie können sich widersprechen. Im erstgenannten Fall liegt eine einfache Entscheidung vor, die sich sozusagen von selbst ergibt. Im Rechtsbereich wären dies Entscheidungen für oder gegen institutionelle Arrangements, die optimal gemeinwohlförderlich sind. Ein bei Radbruch schon kurz angesprochenes Beispiel 62 kann als Illustration
60 Zu dieser Weiterentwicklung eines Gedankens von Theodor Viehweg, der von Topik erster und zweiter Ordnung spricht, siehe seine Schrift: Topik und Jurisprudenz, 5. Auflage 1974, S. 35. 61 Vgl. dazu schon oben Fn. 18. 62 Vgl. oben Fn. 17.
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dienen: Wenn Gleichheit der Kern von Gerechtigkeit ist und eine Verfassung demgemäß die Gleichheit als zentralen Verfassungswert verankert wie das Grundgesetz in Art. 3 Abs. 1, dann liegt im Sinne der drei Säulen des Gemeinwohls (1) eine rechtssichere Entscheidung vor, die (2) einen zentralen Legitimitätswert widerspiegelt und die darüber hinaus (3) auch Vorhersehbarkeit, also Effizienz, Ökonomie sichert, wenn und insoweit eben Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln ist. Kein Wunder, daß sich in allen modernen Verfassungen Gleichheitsmaßstäbe finden! 63 Soweit die Gemeinwohlelemente bei einer konkreten Entscheidung sich indifferent zueinander verhalten, werden in der Regel mehrere Optionen als gemeinwohlförderlich vorstellbar sein. Schwieriger ist der Fall der internen Spannung oder gar des Widerspruchs. Für moderne pluralistische und multikulturelle Gesellschaften ist es unausweichlich, daß über eine Vielzahl von Problemen unterschiedliche Legitimitätsvorstellungen vorherrschen - man denke nur an die Stichworte Neutralität des Staates im religiösen Bereich (Schulkreuz), soziale Gerechtigkeit, Strafzwecke, Asyl und Einwanderung. Viele moderne Leistungssysteme sind so komplex und so abhängig von nicht zureichend kontrollierbaren externen Randbedingungen, daß im Hinblick auf effektive Problemlösungen selbst hochqualifizierte Wissenschaftler sich nicht einigen können. Was ist in solchen Lagen zu tun? Die Politik muß sich über das Rechtssystem entscheiden, was oft heißt: im Wissen, daß eine Minderheit die getroffene Lösung als ungerecht oder gar menschenunwürdig ansieht und daß im Hinblick auf die Kosten und die Effizienz der getroffenen Lösung erhebliche Unsicherheit herrscht, im Grunde nur mehr oder weniger begründete Prognosen, manchmal vielleicht nur Hoffnungen vorliegen. Solche Konflikte sind unvermeidbar. Sie sind Teil der Komplexität der empirischen Welt, in der wir leben, der sozial-kulturellen Welt, die wir uns geschaffen haben, der Politik und des Rechts, die Entscheidungen treffen müssen, sowie der Ansprüche idealer Art, die wir alle an unser Rechtssystem richten. Dazu abschließend ein schon weiter oben von Radbruch 64 angesprochenes Beispiel: Der Konflikt zwischen Gleichheit und Allgemeinheit des Gesetzes (als Kerngedanke der Gerechtigkeit) und Billigkeit (als Einzelfallgerechtigkeit) ist unausweichlich; er kann aufbrechen, wie auch immer die gesetzliche Regelung aussehen mag. Immer wieder werden Menschen oder Gruppen aufstehen und behaupten: Aber meine Situation ist in bestimmten Hinsichten anders als in der allgemeinen Regelung vorausgesetzt, und es kommt unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten gerade auf diese Unterschiede an! Ein Rechtssystem kann auf
63 Die Komplikation kommt dadurch zustande, daß zu klären ist, was die wesentlichen4 Gleich- oder Ungleichbehandlungsaspekte sind. 64 Vgl. oben Fn. 17.
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solche Behauptungen eingehen, was heißt, daß statt weniger allgemeiner Regelungen sehr viel mehr Regelungen individueller Art getroffen werden müßten. Vielleicht wären diese Regelungen gerechter! Sie wären aber sicher unpraktikabler, teurer und damit weniger zweckmäßig. Aus Gemeinwohlgesichtspunkten ist also eine Balance zu treffen. Wo diese genau liegen sollte, läßt sich aus dem Gemeinwohl nicht deduzieren. Aber die Richtung der Reflexion ist deutlich gemächt. Die konkrete Entscheidung ist in diesem Horizont durch die jeweilige Rechtsordnung zu treffen, im Rahmen der Verfassung, durch Gesetz und Einzelfallentscheidung sowie richterliche Kontrolle.
Das Verhältnis von Rechtsstaatsprinzip und Demokratieprinzip 1 Von Heinrich Amadeus Wolff
I. Die begriffliche Trennung als deutsches Problem Rechtsstaatsprinzip und Demokratie: das Grundgesetz trennt bekanntlich diese beiden Prinzipien. Nach Art. 28 GG muß die verfassungsmäßige Ordnung der Länder den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen, sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. Eine Trennung beider Prinzipien war demnach 1949 aktuell und ist es heute noch. Der Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR von 1990 verweist auf die demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätze. Nach Art. 2 des Staatsvertrages bekennen sich die Vertragsparteien zur freiheitlichen, demokratischen, föderativen, rechtsstaatlichen und sozialen Grundordnung. Diese begriffliche Trennung der beiden Freiheitsprinzipien versteht sich nicht von selbst. Die angelsächsische Demokratietheorie verbindet von vornherein demokratische Herrschaftsbegründung mit liberalen, an den Rechten des einzelnen orientierten Gedanken, und zwar vor allem im Begriff des rule of law. 2 Deutlich wird diese Verbindung von politischer und individueller Freiheit etwa bei der „Anordnung der amerikanischen Militärregierung" von 1947 an die Regierungen und Parlamente der neuen deutschen Länder in der amerikanischen Besatzungszone, die Verfassunggebung in den Ländern betreffend. Demokratie erfordert (u. a.): daß die „Grundrechte des einzelnen, nämlich Rede-, Religions-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und andere ebenfalls grundlegende Rechte freier Menschen anerkannt und garantiert werden" 3. Die Gründe für dieses Demokratieverständnis kann man nur mutmaßen: die engli1
Überarbeitete Fassung der Antrittsvorlesung, die der Verfasser am 17.12.1998 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften gehalten hat. 2 Ulrich Scheuner, Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats in Deutschland, in: FS zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860-1960, Bd. II, 1960, 229 (237 ff.). 3 G. J. Friedrich, in: Repräsentation und Repräsentativ Verfassung, 1968, 209 (210 Anm. 3).
6 FS Quaritsch
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sehen Freiheitsbriefe, verbunden mit dem amerikanischen Mißtrauen gegen das englische Parlament, gepaart mit der freien Gründung neuer Herrschaftsgewalt. 4 Das Grundgesetz geht gerade nicht den Weg der begrifflichen Verbindung. Was ist der Grund für die deutsche begriffliche Trennung von Rechtsstaatsprinzip und Demokratieprinzip? Historisch gesehen ist der Grund im 18. und 19. Jahrhundert zu sehen. Der Rechtsstaat war eine Alternative zum republikanischen und demokratischen Gedanken, und damit zur französischen und amerikanischen Revolution. Das Rechtsstaatsprinzip ermöglichte die gedankliche Grundlage für eine Staatsreform, ohne dabei die Monarchie aufgeben zu müssen.
II. Die beiden Prinzipien Das Verhältnis von Rechtsstaat und Demokratie ist nicht genauer zu erfassen, wenn nicht wenigstens zunächst die Begriffe für sich kurz dargestellt werden.
1. Das Rechtsstaatsprinzip Beim Rechtsstaat bewegt sich ein deutscher Jurist auf sicherem Boden, und das, obwohl das Grundgesetz den Begriff „Rechtsstaat" nicht definiert. Es verwendet ihn nur in der schon genannten Vorschrift des Art. 28 I 1 GG. Die nähere Bestimmung des Rechtsstaates ist daher Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen.
a) Der Begriff als Schwerpunktsetzung Gängig sind Qualifizierungen, nach denen Rechtsstaat Primat des Rechts bedeute oder auf eine Verknüpfung von Staat und Recht hinweise.5 Dies ist aber mißverständlich. Sie suggerieren im Umkehrschluß, andere Rechtsord-
4
Die nordamerikanischen Verfassungen waren gerade durch die Erfahrungen mit der absoluten und unantastbaren Parlamentssouveränität Englands gekennzeichnet, vgl. //.C. Kraus , Verfassungsbegriff und Verfassungsdiskussion im England der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Zeitschrift für historische Forschung 22 (1995), 495 (510). 5 Vgl. Konrad Hesse, Der Rechtsstaat im Verfassungssystem des Grundgesetzes, in: FG Rudolf Smend, 1962, S. 71 (75); s.a. Rene Marcie , Die Sache und der Name des Rechtsstaates, in: Max Imboden (Hrsg.), Gedanken und Gestalt des demokratischen Rechtsstaates, 1965, 54 (60 f.).
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nungen, die sich nicht ausdrücklich zum Rechtsstaat bekennen, würden nicht in vergleichbarer Weise die Einhaltung ihrer Rechtsordnung verfolgen. Dieser Umkehrschluß ist mit den Umschreibunen nicht bezweckt. Jeder Staat ist auf Rechtsnormen als Maßstab zur Orientierung der Bürger angewiesen. Kein Staat läßt sich nur mit unmittelbarem Zwang regieren. Die Pflicht zur Einhaltung von Rechtsvorschriften wiederum ist schon im Begriff der Rechtsvorschrift notwendig enthalten. Um zu betonen, daß das Recht, speziell das Gesetzesrecht, Beachtung verdient und auch von den Staatsdienern und bis zu seiner gültigen Aufhebung auch vom Gesetzgeber zu befolgen ist, benötigt man nicht den Begriff des Rechtsstaates. Die Frage, inwieweit der absolute Fürst berechtigt war, vom allgemeinen Recht im Einzelfall eine Befreiung zu erteilen, ist kein Problem mehr, das die gegenwärtige Begriffsbestimmung in erwähnenswerter Weise beeinflußt. Der Begriff des Rechtsstaats soll demgegenüber eine Bedeutung des Rechts für den Staat festlegen, die über den begriffsnotwendigen Bindungscharakter der Rechtsvorschriften und die praktisch konstitutive Rolle der Rechtsnormen für den Staat hinausgeht. Er will einen entscheidenden Stellenwert der Rechtsnormen als Aufbauregel, Handlungsform und Grundfestlegung für den Staat sicherstellen. Diese Schwerpunktsetzung hat verschiedene Folgerungen; zwei seien genannt. Die erste Folgerung ist institutioneller Natur und liegt in der ausgebauten Gerichtsbarkeit, vor allem der Verfassungsgerichtsbarkeit. Weiter wird man im Begriff des Rechtsstaats auch eine Absicherung davor sehen können, die Rechtsnormen in besonderen Ausnahmesituationen interpretatorisch außer Kraft zu setzen. Man soll nicht meinen, im Rechtsstaat gäbe es solche Fallgruppen nicht. So ist auf einfachrechtlicher Ebene die Beschränkung des Verteidigerverkehrs im Strafvollzug zu Hochzeiten der RAF ohne ausreichende Grundlage in der StPO bewußt vollzogen worden. Das in Rechtsnormen gefaßte Recht wurde bewußt mißachtet, ohne daß man dies als Aufgabe des Rechtsstaatsprinzips verstand. 6 Auf verfassungsrechtlicher Ebene sind die Fälle anzufügen, in denen das Wortlautgebot überschritten wird, aus welchen Gründen auch immer. Es sollen nur einige Einzelfälle genannt werden, wie etwa (a) die Bundesgesetzgebungskompetenz des Bundes aus der Natur der Sache, (b) die Einschränkung der Glaubensfreiheit und Wissenschaftsfreiheit zugunsten des ethischen Tierschutzes, (c) die Zulässigkeit der Wiederaufnahme des Strafverfahrens zu Lasten des Angeklagten, (d) die Zulässigkeit der Schiedsgerichtssprüche mit verdrängender Wirkung gegenüber staatlichen Gerichten. Wie diese Beispiele zei-
6
(19). 6*
Vgl. dazu H. Quaritsch, Souveränität im Ausnahmezustand, Der Staat 35 (1996), 1
Heinrich Amadeus Wolff
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gen, kann auch der Rechtsstaat eine interpretatorische Umgehung einer Rechtsnorm zumindest faktisch nicht verhindern, er will aber die Voraussetzungen dafür normativ hoch ansiedeln. b) Der formale und der materielle Rechtsstaat Deutlicher wird der Rechtsstaatsbegriff, wenn man sich seine Entwicklung vergegenwärtigt. 7 Die Entwicklung des Rechtsstaatsbegriffs wird üblicherweise in drei Phasen eingeteilt. Die erste Phase des materiellen Rechtsstaatsbegriffs um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts ist eng verbunden vor allem mit den Namen der süddeutschen Staatsrechtslehrer, und wird mit der Formel, der Rechtsstaat sei der Staat der Vernunft. Der Rechtsstaat wurde dabei mit materiellen Gehalten (nicht notwendig grundrechtlicher Art) verbunden. 8 Die zweite Phase, die des formalen Rechtsstaats, wird i.d.R. durch das bekannte Zitat von Friedrich Julius v. Stahl belegt, nach dem der Begriff des Rechtsstaates nicht Ziel und Inhalt des Staates festlege, sondern nur Art und Charakter. Verlangt sei, daß der Staat „die Bahnen und Gränzen seiner Wirksamkeit" sowie die freie Sphäre seiner Bürger in der Weise des Rechts genau bestimme und unverbrüchlich sichere.9 Der dritte Abschnitt versteht sich wiederum als ein materielles Rechtsstaatsverständnis, geprägt vor allem durch das Grundgesetz.
aa) Der formale Rechtsstaat Den formalen Rechtsstaat prägen zwei Grundgedanken: Das Recht soll (a) dem mündigen, wirtschaftlich tätigen, aufsteigenden Bürgertum Handlungsorientierung und Berechenbarkeit des staatlichen Handelns ermöglichen, und (b) die Abgrenzung der staatlichen und gesellschaftlichen Sphäre bewirken und deren Schutz durch Einschaltung einer Volksvertretung bei Einschränkungen der gesellschaftlichen Sphäre garantieren. Dem entsprechend vereint die formale Rechtsstaatsgarantie vor allem zwei Grundelemente. Der erste Kern des formalen Rechtsstaats liegt in der Legalität,
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S. statt vieler D. Merten , Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 10 ff. S. nur C. T. Welcher : Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, Glessen, 1813, zitiert nach dem Nachdruck 1964, S. 91 ff.; Auswanderung, Petitionsrecht, Publizität der Regierungshandlungen, Freiheit der öffentlichen Meinung; s.a. R. v. Mohl , Encyklopädie der Staatswissenschaften, 2. Aufl. 1872, § 14, S. 106 f.; vgl. ausführlich £.W. Böckenförde , Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: FS A. Arndt, 1969, 53 (56) 9 Friedrich Julius v. Stahl, Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung, 2. Abt., Die Staatslehre und die Principien des Staatsrechts, 3. Aufl. 1856, S. 137 f. 8
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d.h. in der Unverbrüchlichkeit der gesetzlichen Ordnung. Die staatliche Vollziehung ist an das verfassungsgemäß erzeugte und ordnungsgemäß kundgemachte Gesetz gebunden. Dort wo Gesetze bestehen, müssen sie auch beachtet werden. Die Verwaltung ist nicht befügt, an Stelle bestehender Gesetze allgemeine Regeln zu setzen oder die Gesetze im Einzelfall als unbeachtlich beiseite zu lassen. Diese Garantie wird seit O. Mayer als der Vorrang des Gesetzes bezeichnet. Das Grundgesetz erkennt diese Notwendigkeit bekanntlich ausdrücklich in Art. 20 GG an. Die Existenz von Gesetzesrecht ist insoweit mitgedachte Vorbedingung. Folgen dieser Teilgarantie sind wiederum die Forderung nach bindungsfähigen Gesetzen, d.h. bestimmten Gesetzen und das Verbot unbeschränkter Rückwirkungen; für das Strafrecht, d.h. den Bereich der schärfsten staatlichen Sanktionen, sind diese Garantien in Art. 103 Abs. 2 GG ausdrücklich niedergelegt. Der zweite Kern des formalen Rechtsstaatsprinzips liegt im Vorbehalt des Gesetzes. Nach dem Vorbehalt des Gesetzes bedürfen Eingriffe in Freiheit und Eigentum einer gesetzlichen Grundlage. Wichtig ist dabei die Entwicklung dieses Grundsatzes. „Eingriffe" bezogen sich zunächst nur auf allgemeine rechtliche Vorgaben der Abgrenzung. Außerdem galt der Grundsatz nur für neue Eingriffsregeln, nicht für die besonderen Gewaltverhältnisse und nicht für Leistungen. An dieser ursprünglichen Reichweite ist die Zielsetzung des Grundsatzes deutlich abzulesen. Es ging um eine Freiheit vom Staat, um eine Abgrenzung der staatlichen und der gesellschaftlichen Sphäre. Die staatliche Sphäre blieb dem Monarchen vorbehalten, bei Einwirkung auf die gesellschaftliche Sphäre wurde aber die Mitwirkung der Volksvertretungen erforderlich. Ende des 19. Jahrhunderts hat sich diese Garantie dahingehend fortentwickelt, daß auch eingreifende Einzelakte einer gesetzlichen Grundlage bedurften. 10 Das Grundgesetz normiert bekanntlich den Vorbehalt des Gesetzes nicht ausdrücklich.
bb) Rechtsstaat und Parlament Der Vorbehalt des Gesetzes setzt begriffsnotwendig die Existenz einer Volksvertretung, d.h. eines Parlaments, voraus. Das Parlament muß dabei aber nicht notwendig der strengen demokratischen Gleichheit entsprechen, da sowohl das Ständewahlrecht, als auch erne zweite, nicht auf allgemeinen und gleichen Wahlen aufgebaute Kammer durchaus als eine mit dem Rechtsstaatsprinzip verträgliche Gestaltungsform verstanden wurde.
10 Richard Thoma, Der Vorbehalt des Legislative und das Prinzip der Gesetzmäßigkeit von Verwaltung und Rechtsprechung, in: HDStR Bd. II, 1932, § 76, 221 (229); Dietrich Jesch, Gesetz und Verwaltung, 2. Aufl. 1968, S. 156 ff.
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Überhaupt wurde im 19. Jahrhundert und Anfang 20. Jahrhundert, deutlich etwa bei G. Jellinek,11 der Parlamentarismus grundsätzlich nicht mit einer Massendemokratie heutigen Ausmaßes gleichgesetzt. Der deutsche Widerstand, der direkt oder indirekt mit dem 20. Juli in Verbindung stand, war ebenfalls stärker von rechtsstaatlichen als von demokratischen Vorstellungen geprägt. Die rechtsstaatlichen Garantien waren möglich, ohne das auf staatsbürgerliche Gleichheit und auf allgemeines und gleiches Wahlrecht aufbauende parteiendemokratische parlamentarische System vom Weimar, mit seiner nicht nur theoretischen, sondern auch praktisch umgesetzten allgemeinen Gleichheit der politischen Gestaltungschance vorbehaltlos bejahen zu müssen.12 Zwischen den Volksvertretungen in der konstitutionellen Monarchie und dem gegenwärtigen System der europäischen Einigung besteht demnach eine gewisse strukturelle Übereinstimmung. Auch hier ist das Parlament allenfalls ein rechtsstaatliches, aber kein den demokratischen Anforderungen genügendes Organ. Wegen der Aufteilung der Sitze nach Mitgliedsstaaten ist die Stimmengleichheit nicht gewährleistet. Wer mit Verachtung auf die konstitutionelle Monarchie des 19. Jahrhunderts herabblickt, sollte sich mit einer euphorischen Bewertung des europäischen Systems zurückhalten. Das eine war ein Übergangsstadium, was das andere gewesen sein wird, wird die Zukunft zeigen. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei der ausdrücklichen Hoffnung Ausdruck verliehen, daß auch das europäische Parlament seinen gegenwärtigen Rechtszustand verlassen und sich zu einem demokratischen Organ im engeren Sinne entwickeln wird.
cc) Der materielle Rechtsstaat Der formale Rechtsstaat hat eine entscheidende Schwachstelle, zumindest im theoretischen Modell: Gegenüber ungerechten Gesetzen ist er machtlos. Dabei kann offen bleiben, inwiefern die nationalsozialistische Zeit als praktischer Beleg ftir diese Schwachstelle angeführt werden kann. Der materielle Rechtsstaat soll dagegen gewappnet sein. Dies ist wiederum nur möglich, indem man Normen aufstellt, die Vorgaben enthalten, die auch der Gesetzgeber nicht durch Gesetze ändern kann und die ihn demnach daran hindern, ungerechte Gesetze zu erlassen. Es muß bei diesem Modell höherrangiges Recht geben. Ein solches Recht ist das Verfassungsrecht. Die Existenz einer Verfassung, der Vorrang der Verfassung, die Grundrechte sowie die Verfassungsgerichtsbarkeit werden als
11 Georg Jellinek , Verfassungsänderung und Verfassungswandel, 1906, S. 44 ff. (vor allem S. 64 ff.). 12 Wolfgang Graf Vitzthum, in: Eher Rechtsstaat als Demokratie, in: FS Klaus Stern, 1997, 97 ff.
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die Bestandteile des materiellen Rechtsstaatsprinzips verstanden. Das materielle Rechtsstaatsprinzip regelt das Grundgesetz mit vorbildlicher Deutlichkeit: Art. 20 III GG und Art. 1 III HS 1 GG, Art. 1-19 GG und Art. 93 GG sind hier primär zu nennen. Der Gesetzgeber kann allerdings durch eine Bindung an die Verfassung am Erlaß von ungerechten Gesetzen nur dann gehindert werden, wenn die Verfassung ihrerseits nicht ungerecht ist. Der materielle Rechtsstaat setzt daher die Kenntnis dessen voraus, was den Kern der Gerechtigkeit ausmacht. An dieser Stelle kann man sich damit begnügen, für das Grundgesetz den allgemeinen Gleichheitssatz, die Menschenwürdegarantie und die allgemeine Handlungsfreiheit zu nennen.
b) Demokratie Das demokratische Prinzip ist im Grundgesetz selbst niedergelegt; so heißt es in Art. 20 II 1 GG: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Ist der Ursprung der Staatsgewalt das Volk, so verlangt dies, daß die staatlichen Willensäußerungen vom Volkswillen getragen werden. „Staatsgewalt" kann in einer Demokratie nur ausüben, wer dazu vom Volk bestimmt ist. Von unmittelbarer Demokratie spricht man, wenn die Entscheidungen unmittelbar vom Volke selbst getroffen werden. Von mittelbarer Demokratie ist dagegen die Rede, wenn die Sachentscheidungen vom Volk nur mittelbar bestimmt werden, indem es die Personen benennt, die entscheiden sollen. Diese mittelbare Demokratie findet ihre theoretische Grundlage in der Möglichkeit einer Trennung von Inhaberschaft der Staatsgewalt, (die liegt beim Volk), und der Ausübung der Staatsgewalt, (die liegt bei den Staatsorganen), wie Art. 20 II 2 GG verdeutlicht. Die verfaßten Organe, vor allem diejenigen, deren Personen unmittelbar vom Volk gewählt werden, werden im theoretischen Modell an die Stelle des Volkes gesetzt, konstruiert über die Repräsentation. 13 Das Parlament repräsentiert den Volkswillen. 14 Die Repräsentation ermöglicht Zurechnung. 15 Die Repräsentation kann aber nur dann als Konvertierungsglied des Staatswillens zum Volkswillen dienen, wenn sie nicht nur ein theoretischer Begriff ist, sondern gewisse tatsächliche Bedingungen erfüllt, d.h., dem Volk muß eine tatsächliche, demokratischen Grundsätzen entsprechende, d.h. vor allem dem
13 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 22 II 5, S. 959. 14 E.-W. Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, HStR Bd. II, 1987, § 30, Rn. 17; s. zur Frage, ob nur das Parlament als Repräsentationsorgan verstanden werden kann, nur K. Stern (s.o. Fn. 13), S. 959. 15 P. Badura, in: BK-GG, Art. 30 (Stand: Oktober 1966), Rn. 23 ff.
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Gleichheitssatz genügende Einflußnahme auf das Repräsentativorgan - als Ersatz der unmittelbaren Demokratie - möglich sein. Notwendig ist die Sicherung der Konkordanz zwischen dem Willen der Herrschenden und dem der Mehrheit des Volkes. Eine Trennung in Inhaberschaft und Ausübung, ohne einen maßgeblichen Einfluß des Staatsvolkes auf das maßgebliche Repräsentativorgan, würde die Demokratie zu einer leeren Hülse werden lassen und die „Inhaberschaft" zum Verschwinden bringen. Ein normatives Bindeglied zwischen dem Volk bzw. dessen Repräsentanten und den sonstigen Organen wird in der „Legitimation" gefunden. So muß nach dem demokratischen Prinzip jeder Staatsakt nicht ausdrücklich vom Volk vorgenommen werden, sondern demokratisch legitimiert sein. Er muß mit Hilfe einer sog. Legitimationskette auf Entscheidungen des Volkes zurückgeführt werden können. Demokratie verlangt demnach v.a. Legitimation des Führenden durch die Geführten, damit aber dessen Herrschaft auf Zeit, das Offenhalten dieses Prozesses, v.a. die Chance der Minderheit, einmal zur Mehrheit zu werden. Die sich gegenwärtig vollziehende, im wesentlichen von beiderseitiger Fairneß und Sachlichkeit geprägte Übergabe der Regierungsgeschäfte kann daher für sich in Anspruch nehmen, demokratische Kultur ersten Ranges zu sein. Deutschland mag spät zur Demokratie vorgestoßen sein, gegenwärtig steht es aber zu ihr.
III. Die Bedeutungsveränderung der Rechtsstaatsgarantie durch den Übergang zur Demokratie
1. Der Wegfall des Dualismus von Monarch und Parlament Die Frage des Verhältnisses von Rechtsstaat und Demokratie stellt sich nur, wenn das Rechtsstaatsprinzip nicht durch die Garantie der Demokratie gegenstandslos geworden wäre. Die diesbezüglichen Garantien im Grundgesetz könnten dann als überflüssiger begrifflicher Ballast aus dem letzten Jahrhundert gewertet werden, dessen selbständige Fixierung durch die Demokratiegewährleistung unnötig geworden wäre. Der Rechtsstaat war in seinem Entstehungszeitpunkt durch die Trennung von Monarchie und Gesellschaft bedingt. Diese Ausgangsposition ist durch den Übergang zur Demokratie entfallen. In der Demokratie kann es keinen in vergleichbarer Weise rechtlich als „fremd" empfundenen Staat geben; denn jeder einzelne Staatsbürger ist Teil des zur Herrschaft berufenen Volksganzen.16 Die Aufhebung des Gegensatzes von Parla16
Ludwig Adamovich, Demokratie und Rechtsstaat, ÖJZ 1971, 202 (203).
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ment und monarchischer Exekutive hätte nach der Freiheitskonzeption, die dem Gesetzesvorbehalt zugrundelag, zu einer allgemeinen Freiheit führen müssen.17 Eigentlich hätte damit auch der strenge Vorbehalt des Gesetzes gelockert werden müssen. Das parlamentarische Regierungssystem sichert die Einflußnahme des Bundestages, der das Volk repräsentiert, auf die Exekutive. Ein zusätzlicher Schutz vor der nun nicht mehr monarchischen Exekutive, wie etwa durch den Vorbehalt des Gesetzes, hat jetzt jedenfalls weniger Berechtigung.
2. Die Ausdehnung des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes Und wie ging die Entwicklung weiter? Der strenge Vorbehalt des Gesetzes wurde nicht etwa zurückgenommen; er wurde vielmehr ausgedehnt und zwar über die sog. Wesentlichkeitstheorie. Eine solche Ausdehnung kann nicht richtig sein. Sie führt zu einem nicht gewollten Zentralismus, nimmt den Freiraum für ein unmittelbar an der Aufgabe orientiertes Handeln der Verwaltung und führt so zu einer Effektuierung der Staatsgewalt, die mit einem Freiheitsverlust unten, d.h. beim Bürger verbunden ist. Wer sich auf diesen Standpunkt stellt, fühlt sich durch die gegenwärtige rückläufige Entwicklung bestätigt. Einige der großen Entwicklungslinien der Verwaltungsmodernisierung bezwecken gerade, auch wenn sie sich Mühe geben, dies zu verschleiern, eine größere Unabhängigkeit der Verwaltung vom Parlament. Die größere Haushaltsveranwortung der Verwaltungseinheiten löst sich vom Kontrollrecht des Parlaments, das mit der Kompetenz zur Feststellung des Haushaltsplans verbunden ist. Die Forderung nach Standardabsenkungen in den gesetzlichen Vorgaben und nach flexibleren Handlungsinstrumenten für die Verwaltung stößt in die gleiche Richtung. Nur begrenzt hierher gehört auch die stärkere Durchdringung des nationalen Rechts mit dem Europarecht. Die Rechtssetzung auf europäischer Ebene wird in erheblichem Maße von der exekutivischen Normsetzung geprägt und stärkt auf diese Weise die Exekutive. Auch wenn man diesen besonderen Bereich ausklammert, zeigt die Entwicklung: Die Verwaltung holt sich ihren Freiraum zurück.
3. Trennung von Staat und Gesellschaft Sieht man von der oben angesprochenen Verschärfung des Vorbehalts des Gesetzes ab, so ist es dennoch richtig, daß der Vorbehalt des Gesetzes seine Geltung nicht durch den Übergang von der konstitutionellen Monarchie zur 17 Vgl. R. Herzog, in T. Maunz/G. Dürig, GG, (Lfg. 1980), Art. 20 VII, Rn. 12; S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 92; H. Hofmann, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht - Politik - Verfassung, 1986, 261 (275 Fn. 60).
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Demokratie verloren hat. Dem Vorbehalt des Gesetzes liegt nicht nur der Schutz vor der monarchischen Exekutive, sondern auch der Gedanke der Trennung von Staat und Gesellschaft zugrunde. Diese Grundunterscheidung ist die Grundlage für das Rechtsstaatsprinzip. 18 Sie ist durch die Einführung der Demokratie nicht überflüssig geworden, der Widerpart des einzelnen und der Allgemeinheit ist in der Demokratie nicht weniger aktuell als in der Monarchie. Auch in der Demokratie steht dem einzelnen die durch die demokratische Mehrheit legitimierte Staatsgewalt übermächtig gegenüber. Die Staatsgewalt steht dem einzelnen teilweise sogar noch mächtiger gegenüber als in der konstitutionellen Monarchie, da die vom Parlament unabhängige Legitimation der Monarchie auch freiheitsfördernd wirken konnte. So wird zu Recht davon gesprochen, daß das Parlament sich in Steuersachen vom „Schutzorgan" gegen übermäßige Steuerbelastungen zum allmächtigen Rechtssetzungs- und Lenkungsorgan gewandelt hat. 19 Wegen des Wegfalls des dualistischen konstitutionellen staatsrechtlichen Systems kann die formale Ausgestaltung der Gesetze, (früher die erzwungene Mitwirkung von Monarchie und Volksvertretung) keine effektive Garantie für die gerechte Ausgestaltung der Steuergesetze mehr bieten, es werden materielle Garantien notwendig. Es ist daher nicht zufällig, daß gerade gegenwärtig die Entwicklung des verfassungsunmittelbaren Schutzes gegen übermäßige Steuerbelastung sehr ausgeprägt ist. Die Trennung von Staat und Gesellschaft verweist zudem auf die Prämisse der rechtsstaatlichen Garantien, zumindest in ihren historischen Erscheinungsformen. Danach wird durch die rechtsstaatlichen Garantien eine vorgegebene Staatsgewalt begrenzt. Hält man diese Ausgangsposition heute nicht mehr flir gültig, unterliegt man leicht der Versuchung, die rechtsstaatliche Freiheit und die demokratischen Prinzipien zu einer einzigen großen Freiheit im Staat, im Recht miteinander zu vermengen. 20 Die Freiheit trägt dabei nur einen Scheingewinn davon. Die Trennung von Staat und Gesellschaft ist die Garantie der tatsächlichen, der gelebten Freiheit und dogmatisch an den rechtsstaatlichen Gedanken gebunden.
18 Ernst Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in FS Carl Schmitt, 1959, S. 59 ff. 19 Christian Waldhoff Verfassungsrechtliche Vorgaben flir die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland-Schweiz, 1997, S. 132. 20 Ansätze dazu bei Κ Hesse (s. o. Fn. 5), in: FG Rudolf Smend, 1962, S. 71 (85, 92); a.A. etwa Hans Hugo Klein , Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1972, S. 58 u. S. 69 ff.; aus schweizerischer Sicht vgl. Kurt Eichenberger , Entwicklungstendenzen in der schweizerischen Demokratie, in: FS Werner Kägi, 1979, 79 (91).
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4. Die Eigenständigkeit der Exekutive Die Aufrechterhaltung der Selbständigkeit des Rechtsstaatsprinzips - trotz Wegfall des Dualismus von Monarch und Volksvertretung - ist auch notwendig, um die Selbständigkeit der Exekutive institutionell abzusichern. Legt man das Rechtsstaatsprinzip und die Demokratie an den Gewaltenteilungsgrundsatz als organisatorisches Prinzip an, so sieht man, daß beide Verfassungsgrundsätze schwerpunktmäßig auf verschiedene Staatsfunktionen und Staatsorgane verweisen. Umschreibt man mit Demokratie die Rückfiihrbarkeit der staatlichen Handlung, d.h. die Ausübung der Staatsgewalt auf den Volkswillen, so spricht dieses Prinzip für das Organ der Legislative. Benennt man mit Rechtsstaatsprinzip die unverbrüchliche Geltung von (einfachrechtlichen, verfassungsrechtlichen oder naturrechtlichen) Rechtsnormen, verweist es auf das Organ, das im Zweifel die Reichweite einer Rechtsnorm verbindlich feststellt, das sind die Gerichte und damit die Judikative. Bei dieser Sichtweise bleibt die Frage, welche Prinzipien die Eigenständigkeit der Exekutive garantieren. Im 19. Jahrhundert war dies keine Frage: Die Exekutive legitimierte sich aus der Existenz der Monarchie. Der Übergang von der Monarchie zur Demokratie war nicht mit der Einführung eines Parlaments verbunden, - in der konstitutionellen Monarchie gab es das Parlament -, sondern mit der Verdrängung der eigenständigen Legitimation der Exekutive durch demokratische Legitimationsstränge. Dies bedeutet aber nicht, daß die Exekutive heute keine eigenständige Stellung mehr hat. Üblicherweise wird dieser Gesichtspunkt mit dem Begriff der Gewaltenteilung verbunden und insoweit wiederum mit dem Rechtsstaatsprinzip. Diesmal aber nicht mit dem Garantieteil des Rechtsstaates, der die Unverbrüchlichkeit der Rechtsnormen garantiert, sondern mit dem Teil des Rechtsstaates, der den Rechtsfrieden als tatsächliches Phänomen in den Blick nimmt. Die Selbständigkeit der Exekutive beruht auf dem Gedanken, daß es Staatsaufgaben gibt, die durch Normen alleine nicht zu erfüllen sind, wie im Bereich der Gefahrenabwehr, des Sozialrechts, aber auch des Strafrechts deutlich wird. Indem das Rechtsstaatsprinzip einerseits auf die Judikative verweist und andererseits der Exekutive ein eigenständiges Gewicht verleiht, wird es von einem inneren Spannungsverhältnis geprägt. Durch die Eigenständigkeit der Verwaltung wird ein selbständiger, an der Sache orientierter Maßstab anerkannt, der dem Einfluß der tatsächlichen Lebensverhältnisse auf die Norm Rechnung trägt. 21 So wie die Rechtsprechung die Spezialistin bei der Ermittlung der rechtlichen Steuerungsrichtung der
21 S. zu der faktischen Freiheit, die die Verwaltung durch die quotenmäßig i.d.R. geringen Anfechtungsfälle bekommt, Eberhard Schmidt-Aßmann, Art 19 IV als Teil des Rechtsstaatsprinzips, N V W Z 1983, 1 (5 f.).
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Norm ist, so ist die Verwaltung Spezialistin bei der Umsetzung dieser Steuerungsrichtung. Es ist die vollziehende Sachgesetzlichkeit, die nur mit einer unabhängigen, professionellen Normanwendung zu erreichen ist. Daneben wird aber auch die davon unabhängige selbständige Bedeutung, die in der Herstellung des inneren Friedens liegt - einer Aufgabe, der auch der Rang eines Staatszwecks eingeräumt wird -, verdeutlicht. Es geht dabei um rechtlich anerkannte Positionen. Der Schutz des Kerngehalts der Exekutive (BVerfGE 68, 1 [87]), aber vor allem die Anerkennug des Berufsbeamtentums, weisen auf ein subsidiäres, gegenüber dem Demokratieprinzip und dem Rechtsstaatsprinzip in seiner Staat-Bürger-Ausrichtung erheblich schwächeres, aber dennoch eigenständiges Legitimitätsprinzip hin. Für diese Schwerpunktbildung gibt es keinen eigenen Begriff. Wenn man die Bezeichnung als Verwaltungsstaat nicht für das Gemeinwesen reserviert, bei dem die Gemeinwohlverwirklichung sich im Wege des Dezisionismus vollzieht, kann man auf den Begriff der Verwaltungsstaatlichkeit zurückgreifen. Ein besserer Begriff ist im Augenblick nicht zu finden.
IV. Das Verhältnis beider Prinzipien im einzelnen
1. Die Grundunterscheidung Ist das Rechtsstaatsprinzip durch den Übergang zur Demokratie nicht überflüssig geworden, muß das nähere Verhältnis beider zueinander geklärt werden. Das Verhältnis zweier Prinzipien zueinander läßt sich am leichtesten in den Griff bekommen, wenn man untersucht, ob das eine ohne das andere denkbar ist. Dabei geht es nicht um abstrakte Begriffsbildung; (abstrakt ist jeder Begriff ohne den anderen möglich); sondern es geht um die dem Inhalt des Begriffs entsprechende Wirklichkeitsgestaltung.
a) Die unterschiedlichen Begriffsgegenstände Ist der Rechtsstaat ohne die Demokratie vorstellbar? Die Antwort ist einfach: ja, das ist gerade die Entstehungssituation des selbständigen Begriffs des Rechtsstaats gewesen. Die Unterscheidung, ob ein Staat als Rechtsstaat verfaßt ist oder nicht, liegt quer zu der Unterscheidung Demokratie und Monarchie. Ist die Demokratie auch ohne den Rechtsstaat möglich? Theoretisch wird man diese Frage bejahen können. So müßte man z.B. die griechische Polis, will
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man ihr den Charakter als Demokratie nicht absprechen, als ein Beispiel dieser Gruppe ansehen.22 Ein Rechtsstaat waren diese Gemeinwesen nicht, die Existenz von Sklaverei steht der Annahme eines Rechtsstaats zwingend entgegen. Außerdem gab es keinen allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes und keine Gewaltenteilung. Deutlich wird dieser Unterschied der beiden Prinzipien auch an dem Umstand, daß rechtsstaatliche Garantien auch Ausländern zukommen, demokratische dagegen nicht. Kann das eine Strukturprinzip ohne das andere verwirklicht werden, so muß dies einen sachlichen Grund haben. Dieser Grund wird deutlich an der Unterscheidung zwischen der Form und dem Inhalt staatlicher Herrschaftsgewalt einerseits und ihrem Träger und der Verantwortlichkeit für das Handeln andererseits. Die Demokratie thematisiert die Inhaberschaft der staatlichen Gewalt und ihre Grundausrichtung. Bildung, Legitimation und politische Kontrolle der staatlich verfassten Organe sind Themen des demokratischen Prinzips. Der Rechtsstaat bezieht sich demgegenüber auf Form, Inhalt, Reichweite und Ablauf staatlichen Handelns. Die Demokratie spricht das materiale Mitwirkungsrecht, der Rechtsstaat die Struktur des Persönlichkeitsrechts des einzelnen an. In der Demokratie soll sich ihrer allgemeinen Ausrichtung entsprechend das Setzen von Zielen vollziehen und der Kampf um diese Ziele entfalten. Der Rechtsstaat dagegen stellt eine dauerhafte Ordnung her. Er legt von Verfassung wegen umrissene Ziele fest, die durch demokratische Prozesse ihre Konkretisierung erfahren. Die Demokratie akzentuiert stärker das bewegende und gestaltende, der Rechtsstaat stärker das beharrende und bewahrende Moment. 23
b) Die Antinomiefrage Diese Grundunterscheidung läßt sich auch so zuspitzen, daß die beiden Prinzipien gegeneinander gerichtet werden. Haben zwei Prinzipien unterschiedliche Zielrichtungen, so muß es notwendig, zumindest im theoretischen Modell zu Friktion bis hin zu Gegensätzen kommen. So lassen sich Demokratie und Rechtsstaat in ihrer reinen Form und bei einseitigem Verständnis auch als unversöhnliche Gegensätze formulieren. 24 W. Kägi hat diese Gegensätze im theoretischen Modell ausführlich dargestellt. 25 Schon an den dort angeführten Bei22
S. dazu auch Hans Hugo Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1972,
S. 55. 23 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, Rn. 272. 24 L. Adamovich (s.o. Fn. 16), ÖJZ 1971, 202 (202). 25 Werner Kägi, Rechtsstaat und Demokratie, in: FG Zaccaria Giacometti, 1953, 107 (108 ff.); s.a. ders., Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, S. 152 ff.
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spielen sieht man, daß diese Antinomien nur bei einem theoretisch verengten, v.a. an die Lehre von Rousseau eng anknüpfenden Verständnis herleitbar sind. Es verwundert daher nicht, wenn für die in der Literatur vorkommende Darstellung, nach einer verbreiteten Auffassung seien Rechtsstaat und Demokratie Antinomien, keine Nachweise jüngeren Datums 26 angeführt werden können.27 Das Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat ist nicht mittels abstrakter Ideen, sondern an Hand der konkret ausgeformten Strukturgarantien zu bestimmen; darüber besteht Einigkeit. Das Grundgesetz nimmt beide Garantien in seinen Normtextbestand nicht deshalb zusammen auf, um auf diese Weise diesen Garantien wegen ihrer angeblichen Gegensätzlichkeit die Wirkungskraft zu nehmen. Durch die Verbindung soll für den Bürger und für den Staat ein Gewinn entstehen; das Grundgesetz geht demnach von der Prämissie aus, beide Prinzipien ließen sich miteinander verbinden und würden zusammen Positives erreichen. Die Literatur steigert diese vom Grundgesetz übernommene Verbindung noch einmal verbal: Nur in einer rechtsstaatlichen Demokratie sei eine sinnvolle Volksherrschaft möglich bzw. die Verbindung müsse als Ausdruck einer hohen politischen Reife verstanden werden. 28 Es bestehen die unterschiedlichsten Versuche, die Verbindung beider Prinzipien durch das Grundgesetz begrifflich zu fassen, so wird von Synthese,29 wechselseitiger Bedingtheit und Ergänzung, 30 wechselseitiger Bedingung und Stützung,31 Bedingung und Formung, 32 enger Verbindung, 33 Verschränkung, 34 Untrennbarkeit, 35 begrenzter Affinität, 36 Prägung durch komplementäre Elemente,37 integralem Bestandteil
26 Gewisse Ansätze in diese Richtung bei Hans Kelsen , Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 10 f.; C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, z.B. S. 200 f. Der Begriff ist dagegen noch geläufig, s. etwa N. Achterberg, Antinomien verfassunggestaltender Grundentscheidungen, Der Staat, 8 (1969), 159 (179). 27 Etwa bei Franz Schneider, Die politische Komponente der Rechtsstaatsidee, in: PVS Bd. 9(1968), 330(331). 28 Klaus Stern , Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1984, S. 624; Werner Kägi (s.o. Fn. 25), in: FG Zaccaria Giacometti, 1953, 107 (134, 141). 29 Kurt Eichenberger (s.o. Fn. 20), in: FS Werner Kägi, 1979, 79 (80). 30 Richard Bäumlin, Die rechtsstaatliche Demokratie, 1954, S: 92 ff. Κ Hesse (s.o. Fn. 5), in: FG f. Rudolf Smend, 1962, S. 71 (92). 31 U. Scheuner, Die Neuere Entwicklung des Rechtsstaats in Deutschland, in: FS zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860-1960, Bd. II, 1960, 229 (234). 32 Otto Kimminich, Die Verknüpfung der Rechtsstaatsidee mit den anderen Leitprinzipien des GG, DÖV 1979, 765 (770). 33 Theodor Maunz/ Reinhold Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 29. Aufl. 1994, § 13, S. 87. 34 W. Vitzthum (s.o. Fn. 12), in: FS Klaus Stern, 1997, 97 (114). 35 Κ Stern (s.o. Fn. 28), S. 623. 36 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: HStR Bd. I, 1987, §22, Rn. 94.
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gesprochen. 38 Auf gleicher Grundlage beruht die bekannte und häufig zitierte Formel von W. Kägi, daß in der Synthese von Rechtsstaat und Demokratie die „Schicksalsfrage" beider läge. Das Verhältnis von Rechtsstaat und Demokratie ist ein Zentralproblem der modernen staatsrechtlichen Entwicklung - die Synthese von Rechtsstaat und Demokratie sei die große Aufgabe unserer Zeit. 39
2. Gemeinsamkeiten Beide Prinzipien verfolgen zunächst gleiche Ziele. Demokratie und sozialer Rechtsstaat gewährleisten beide Legitimität und wirken einheitsbildend. Beide Prinzipien ermöglichen Rationalisierung, Kontinuitätsbewahrung, Machtteilung und Abwehr von Machtmißbrauch. 40
a) Legitimitätsgewähr Der Rechtsstaat vermittelt Legitimität der Herrschaftsgewalt, d.h. die Anerkennung der Herrschaftsausübung durch deren Konkretisierung, Begrenzung und die Festlegung ihrer Entstehungsregeln. Der Anteil der Legalität an der Legitimität darf nicht zu gering geachtet werden. Die Rede, jeder Staat sei ein Gesetzesstaat, aber nicht jeder Staat ein Rechtsstaat,41 verdeckt durch Polemik sachliche Gesichtspunkte. Durch die Bindung der staatlichen Gewalten an die rechtliche Ordnung gilt für Regierende und Regierte, Mehrheit und Minderheit das gleiche Recht. Diese Gleichheit unter dem Recht vermittelt zugleich eine Objektivität, da sie solange - auch gegen Interessen und Wünsche von gesellschaftlichen und politischen Kräften - gilt, bis sie geändert wird. Die Bindung der Exekutive an das Recht verhindert zugleich die einseitige Indienstnahme dieser Gewalt durch eine herrschende Klasse.42 Diese Unabhängigkeit, die die Rechtsbindung der Exekutive vermittelt, wird durch das Berufsbeamtentum noch einmal erheblich erhöht. Die legitimierende Wirkung des Rechts, die eigentlich erst die stabilisierende Basis der Verfassung bildet, wird erhöht, wenn auch der Gesetzgeber in der unbeschränkten Abänderbarkeit der Rechtsordnung durch die Verfassung eingeschränkt wird.
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Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: HStR Bd. I, 1987, § 24, Rn. 96. Gunnar Folke Schuppert, Grundrechte und Demokratie, EuGRZ 1985, 525 (527), auf die Grundrechte bezogen. 39 Werner Kägi (s.o. Fn. 25), in: FG Zaccaria Giacometti, 1953, 107 (107 f.). 40 Κ Hesse, Grundzüge (s.o. Fn. 23), Rn. 272. 41 F. Schneider (s.o. Fn. 27), PVS Bd. 9 (1968), 330 (348). 42 Κ Hesse (s.o. Fn. 5), in: FG Rudolf Smend, 1962, S. 71 (81 f.). 38
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Die Demokratie ermöglicht Legitimität durch die konstitutive Wirkung der demokratischen Mitgestaltungsmöglichkeit, demnach durch den status activus.
b) Freiheitsausrichtung Beide Prinzipien verfolgen nicht nur das gleiche Ziel, sondern besitzen auch einen gemeinsamen Kern. Beide bauen auf der Freiheit des Bürgers auf und sind zugleich auf diese ausgerichtet. 43 Demokratie und Rechtsstaat sind geschichtlich gesehen beides Formen der Relativierung der absoluten Monarchie. Die Freiheit des Bürgers wird „doppelt genäht". 44 Die rechtsstaatliche Freiheit, d.h. die Freiheit vom Staat wurde schon erörtert. Auf welche Weise vermittelt aber die Demokratie Freiheit? Demokratie vermittelt Freiheit in einer komplexen Struktur. Demokratie will Freiheit durch die Möglichkeit der Teilhabe und der Mitwirkung der Menschen an der Herrschaft vermitteln. Die Freiheit ist dabei nicht nur das Ziel i.S.v. freier Mitwirkungsmöglichkeit zum Zwecke realisierbarer Freiheit für das Leben im Staat. Demokratie hat auch die Freiheit als Voraussetzung. Schon das Demokratieprinzip hat zur Voraussetzung, daß die Überzeugungen eines jeden gleiche Achtung verdienen, daß jeder eine dem anderen gleich zu achtende „moralische Instanz" sei. Das Mitbestimmungsrecht aller und die Notwendigkeit des Mitbestimmungsrechts aller beruht gerade auf dieser Voraussetzung. Der Wahlvorgang mit seinem Gleichheitsgebot im Zähl- und Erfolgswert kann nur so verstanden werden, daß alle Menschen in ihrer Entscheidungsfähigkeit gleich und zu einer auf das Gemeinwohl hin gerichteten Entscheidung fähig sind. 45 Die Freiheit besteht nun aber nicht darin, daß die Ausübung der Staatsgewalt im konkreten mit dem Willen aller übereinstimmt. Die Identität von Herrschenden und Beherrschten meint keine zeitlich konkrete Willensübereinstimmung. Der zeitlich konkrete Wille ist wandlungsfähig. Nur der in Gesetzesform gegossene Wille ist stabil. So ist nur entscheidend, daß die Amtsinhaber von keiner anderen Qualität sind, wie die Beherrschten und die Art ihrer Willensbildung objektiven Normen folgt. Die Einschränkung konkreter Willensübereinstimmung liegt zum anderen an dem Mehrheitsprinzip. Die Einschränkung der Mitwirkungsmöglichkeit des einzelnen, die das Mehrheitsprinzip hervorruft, ergibt sich nicht (oder zumindest nicht nur) aus den Bedingungen der Massendemokratie, 46 sondern vielmehr aus der Prämisse der Demokratie 43
E. Schmidt-Aßmann (s.o. Fn. 37), in: HStR Bd. I, 1987, § 24, Rn. 96. E.-W. Böckenförde (s.o. Fn. 36), in: HStR Bd. I, § 22, Rn. 94. 45 Maunz/Zippelius (s.o. Fn. 33), § 13, S. 87. 46 So aber die gängige Begründung, vgl. etwa Hans Ryffel , Pluralismus und Staat, in: FS Kurt Eichenberger, 1982, 59 (68 - „technisches Mittel"). 44
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selbst.47 Ist das Individiuum zur eigenen Willensbildung fähig, so hat das zur Folge, daß es bei mehreren Personen zu verschiedenen Lösungsvorschlägen und daher zwingend zu Meinungsverschiedenheiten kommt. Demokratische Gleichheit heißt nicht, in gleichem Umfang Einfluß auf das Ergebnis der politischen Entscheidung zu haben, sondern heißt, daß sie die gleichen Mitwirkungsrechte an dem Meinungsbildungsverfahren haben und daß die Entscheidungsträger gegenüber jedem Bürger gleichermaßen im „Verhältnis realisierbarer Verantwortlichkeit stehen" (H. H. Klein) 48 . Die Einräumung von Entscheidungsbefugnissen ohne diese Verantwortung ist unvereinbar mit dem Prinzip demokratischer Freiheit. Neben die liberale Freiheit vom Staat ist so eine größere politische Freiheit getreten. Sie ist daneben, aber nicht an die Stelle getreten. So dürfen die rechtsstaatlichen Grundrechte nicht für die Strukturentscheidung der Demokratie in den Dienst genommen werden. Ansonsten käme es zu einer Rangordnung der freien Handlungsweisen. Eine Meinungsäußerung, die politischen Zielen dient, wäre dann mehr wert, als eine Meinungsäußerung, die auf kulturellem Gebiet angesiedelt ist. Dieses Problem sei an einem Beispiel verdeutlicht: Soll der Reporter, der sich auf dem Weg zu seiner Redaktion befindet, um einen flammenden, das Wohl der Nation rettenden Artikel zu schreiben, und eine rote Fußgängerampel mißachtet, ein geringeres Ordnungsgeld auferlegt bekommen, als die Familienmutter, die, müde von der Arbeit, schnell nach Hause will und den gleichen Fußgängerüberweg gemeinsam mit R überschreitet? Sie bekommen beide das gleiche Ordnungsgeld auferlegt, und das ist auch richtig so. Wozu eine gegenteilige Wertung fuhren würde, ist nicht schwer zu prognostizieren. Die Freiheit reduzierte sich auf die demokratische Mitwirkungsfreiheit. Sie bestünde dann nur im demokratischen Prozeß, nicht dagegen gegen diesen. In einer Massendemokratie würde der einzelne aber nur zum Glied des demokratischen Kollektivs. Eine Koppelung der Grundrechte mit der Demokratie führt, sofern ihr eine rechtliche Relevanz zukommen soll, die über die Normauslegung des Grundrechts hinausgeht, tendenziell dazu, die individuelle Freiheit aufzuheben.
3. Verschränkungen Der Rechtsstaat besitzt eine unterstützende Funktion für die Demokratie: Dies ist unbestritten; deutlich wird dies etwa an der rechtlichen Normierung der demokratischen Entscheidungsverfahren. Weil nicht alle über alles entscheiden
47 Ähnlich Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 9 f.; s.a. Dieter Grimm, Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat, JuS 1980, 704 (708). 48 H. H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1972, S. 54.
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können, sind Organe und Verfahren und somit ein rechtliches Rahmengerüst erforderlich. Auch der Wahlvorgang verlangt nach einer Verrechtlichung. Die Methode der demokratischen Willensermittlung kann nicht die Akklamation sein, sondern nur das rechtsstaatlich geordnete Verfahren. Ebenfalls an dieser Stelle zu nennen sind die rechtsstaatlichen Garantien, die als Voraussetzungen des demokratischen Prozesses verstanden werden, z. B. die Parteienfreiheit (Gründungsfreiheit, Handlungsfreiheit), die Vereins- und Versammlungsfreiheit und schließlich die Rede-, Presse-, Informationsfreiheit. Die Demokratie unterstützt wiederum den Rechtsstaat vor allem durch das demokratische Gesetz. Das Gesetz ist das Mittel, mit dem der Rechtsstaat die Ordnung des Zusammenlebens schafft, die notwendig ist, um neben der Freiheit vom Staat auch die Freiheit im Staat zu erreichen. Das Gesetz ermöglicht den bürgerlichen Zustand, innerhalb dessen die zur Selbststeuerung befähigten Bürger - jeweils reflexiv - individuelle Räume schaffen können. Das Gesetz als Form politischer Willensbildung und das Gesetz als rechtsstaatliche Freiheitsgewährleistung sind Erkenntniselemente derselben Wirklichkeit. Die Demokratie stellt dem Rechtsstaatsprinzip somit sein Kernelement zur Freiheitsgewährleistung zur Verfügung. Über das Gesetz erhält auch die Dynamik demokratischer Sozialpolitik Einfluß auf das rechtsstaatliche Ordnungssystem. 49 Die Verschränkung ist dabei nicht flächendeckend. Die Gleichheitsfunktion, der Integrationseffekt, die Vorhersehbarkeit und die Selbststeuerung des Gesetzes können zwar nicht nur vom demokratischen Gesetz geleistet werden, 50 wie umgekehrt das demokratische Gesetz nicht notwendig generell-abstrakte Normen festlegen muß, sondern sich auch auf Einzelakte beschränken kann; als allgemeine Verbindungslinie ist die Verschränkung von Rechtsstaat und Demokratie über das demokratische Gesetz aber dennoch zutreffend. Die Demokratie als notwendige Bedingung für eine rechtsstaatlich gewährleistete Freiheit anzusehen, geht dagegen zu weit. 51
4. Begrenzungen a) Der Rechtsstaat als Grenze der Demokratie Der Rechtsstaat bildet eine Schranke für die Demokratie. Das demokratische Modell ist auf Begriffe angewiesen, die unbestimmte Elemente haben und als
49
Hans F. Zacher , Das soziale Staatsziel, in: HStR Bd. I, 1987, § 25, Rn. 102. So zu recht L. Adamovich (o. Fn. 16), ÖJZ 1971, 202 (203). 51 A.A. O. Kimminich (s.o. Fn. 32), DÖV 1979, 765 (769); F. Schneider (s.o. Fn. 27), PVS Bd. 9 (1968), 330 (350). 50
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Fiktionen wirken. Diese Fiktionen ermöglichen in der praktischen Realisierung einen Spielraum, der auch zur Etablierung einer „politischen Klasse" mißbraucht werden kann. Dies kann dann zu Lasten bestimmter Formen von Minderheiten, etwa der besitzenden Klasse, der kinderreichen Familien, der Beamten usw. gehen. Die Freiheit des einzelnen könnte auf diese Weise faktisch nicht weniger gefährdet werden, als zur Zeit des Absolutismus. Die theoretische Grundlage der Demokratie als Selbstbestimmung des Volkes über sich selbst darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die nicht gebändigte Herrschaft des Volkes in eine ungezügelte Diktatur der Mehrheit umschlagen kann. Vor diesen Auswüchsen soll das Rechtsstaatsprinzip schützen. Die Hauptfunktion der Verbindung von Demokratie mit rechtsstaatlichem Prinzip wird heute in der Begrenzung des demokratischen Prinzips, über die immanenten Grenzen, die sich als Konstitutionsbedingung aus der Demokratie von selbst ergeben, 52 hinaus, durch das rechtsstaatliche Prinzip angesehen.53 Demokratischer Rechtsstaat bedeutet, daß der demokratische Souverän sich nur in den Schranken des Rechtsstaats verwirklichen kann. Im einzelnen werden für diese rechtsstaatliche Begrenzung der demokratischen Allmacht die schon genannten Merkmale angeführt: die Rechtsbindung der staatlichen Gewalt, die Verfassungsbindung des Gesetzgebers, d.h. v.a. die Grundrechtsbindung, die gerichtliche Kontrolle, auch die verfassungsgerichtliche Kontrolle und schließlich der Gewaltenteilungsgrundsatz. Diese inhaltlichen Bindungen werden durch verfahrensrechtliche Bindungen ergänzt. Die Garantie des Rechtsstaats ist zu einer Zeit entstanden, in der die freie Änderbarkeit des Rechts schon Allgemeingut war. Die heutigen Ausmaße der Rechtsetzungsbürokratie einer repräsentativen Demokratie war dieser Zeit freilich noch fremd. Diese freie Änderbarkeit des Rechts schränkt das Rechtsstaatsprinzip durch seinen Freiheitsgedanken ein. Selbstorientierung am Gesetz ist nur möglich, wenn das Gesetz auch eine gewisse zeitliche Stabilität aufweist. Dies gilt auch für die wirtschaftliche Seite der Selbstorientierung. Eine ständige Änderung wesentlicher Prinzipien in rascher Folge, die zugleich effektiv umgesetzt würden, führte zum wirtschaftlichen Niedergang. Umgesetzt wird diese Garantie v.a. durch den schon erwähnten Grundsatz des Vertrauensschutzes. Neben dieses rechtliche retardierende Moment tritt in der Demokratie noch ein rein tatsächliches retardierendes Moment. Die politischen Hürden, v.a. aus dem Bereich der Wirtschaft können eine bremsende Kraft entwickeln, die weit über die rechtlichen retardierenden Momente hinausgehen. Der Verlauf des Rechtsetzungsvorhabens der Bundesregierung über den Ausstieg aus der Atomener-
52 Vgl. dazu E.-W. Böckenförde (s.o. Fn. 36), in: HStR Bd. I, § 22, Rn. 93 i.V.m. 86 ff., allerdings mit einer zu großen Reichweite der Konstitutionsprinzipien. 53 D. Merten (s.o. Fn. 7), Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 8 f.; Werner Thieme, Demokratie, DÖV 1998, 751 (755).
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gie im Zeitraum vom Oktober 1998 bis Ende 1999 bildet dafür ein instruktives Beispiel.
b) Die Demokratie als Grenze des Rechtsstaats Bildet das Rechtsstaatsprinzip eine Schranke des Demokratieprinzips, so drängt sich aus symmetrischen Gründen die umgekehrte Frage der Begrenzung des Rechtsstaatsprinzips durch die Demokratie auf. Auf den ersten Blick ist die Frage zu verneinen, auf den zweiten Blick aber nicht mehr. Der Verlust der selbständigen Begründung der Exekutive hat Auswirkung auf den Gewaltenteilungsgrundsatz. Der Gewaltenteilungsgrundsatz bezieht sich nicht mehr auf die Organisation der Staatsgewalt als solcher, sondern auf die Gliederung einer demokratisch legitimierten Staatsgewalt.54 Außerdem verliert die im Rechtsstaatsprinzip liegende Struktur des Parlaments durch die Verbindung mit der Demokratie einen wesentlichen Teil ihrer Unbestimmtheit (ständische Gliederung).
5. Wechselseitige Verschränkungen auf verschiedenen Rechtsebenen Zum Abschluß soll der Blick auf die unterschiedlichen Ebenen des einfachen Rechts und des Verfassungsrechts und deren Bedeutung für die wechselseitigen Verschränkungen der beiden Verfassungsgrundsätze gelenkt werden. Die Gesetzesebene und die Verfassungsebene sind sowohl für die beiden Prinzipien selbst, als auch für ihr Verhältnis zueinander deutlich zu trennen. Rechtsstaat gewährt zunächst Schutz durch das Gesetzmäßigkeitsprinzip. Die Demokratie beeinflußt und verändert diese Garantie, indem bei ihr das Gesetz zur alleinigen staatlichen Willensäußerung der Volksrepräsentanten wird. Auf diesen Vorgang nimmt wiederum der Rechtsstaat Einfluß, indem er die Existenz einer Verfassung mit gewissen Grundgarantien gebietet. Die Verfassunggebung macht sich wiederum die Demokratie zum Thema, indem sie die Verfassunggebung als Aufgabe der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ausweist.55 Kann der rechtsstaatliche Gedanke nun seinerseits wiederum auch auf dieser Ebene Geltung verlangen, indem er der verfassunggebenden Gewalt Grenzen
54
Ebenso E.-W\ Böckenförde (s.o. Fn. 36), in: HStR Bd. I, § 22, Rn. 87; s.a. W. Thieme (s.o. Fn. 53), DÖV 1998, 751 (756); Theodor Maunz , in: ders./ Günter Dürig , GG, Art. 20 I (Stand 1978), Rn. 39. 55 Vgl. nur Dietrich Murswiek , Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 203.
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setzt?56 Maßgebend muß dabei das Rechtsverständnis des Menschen und seiner Autonomie sein, das - insoweit (wie am Beispiel der Sklaverei ersichtlich) nicht notwendig identisch mit dem allgemeinen Begriff der Demokratie - den Begriff der verfassunggebenden Gewalt hervorbrachte. Die verfassunggebende Gewalt rechtfertigt sich heute ausschließlich über die Autonomie des Menschen als Person und zwar über die gleiche Autonomie, die Kern des Rechtsstaatsgedankens, und speziell der Menschenwürdegarantie ist. Diese Autonomie ist somit eine vorgegebene Grenze der verfassunggebenden Gewalt. Es ist nicht überzeugend, mit dem Vernunftrecht des 18. Jahrhunderts eine Bindung der Hoheitsgewalt herzuleiten und daraus die Forderung einer Fixierung in Gestalt der Verfassung abzuleiten und dann, wenn die Verfassung da ist, diese vernunftrechtliche Bindung über Bord zu werfen mit der Begründung, diese sei nicht positiviert. Wie die eingrenzenden Normen zu nennen sind, ob vorrechtliche Normen, überpositives Recht, Naturrechtsnormen, Grundnormen, Rechtsgrundsätze, ist dafür zunächst zweitrangig.
V. Ergebnis und Schluß Beide Prinzipien gründen sich in der Autonomie des Menschen, betreffen selbständige Ausprägungen, die sich geschichtlich entwickelt haben und eine sinnvolle Spezifizierung für unterschiedliche Problemkreise ermöglichen.
56 Von den selbst gesetzten Grenzen, wie etwa Art. 79 Abs. 3 GG, abgesehen - kritisch dazu etwa Horst Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, JZ 1994, 741 (747 ff.).
Demokratische Regierungssysteme Qualitätsanforderungen an die Regierungssysteme der Mitgliedstaaten der Europäischen Union Von Rolf Grawert
I. Die Europäische Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit, wie Art. 6.1 EUV konstituiert, indem er gleichzeitig feststellt: „diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam". Der Aussagesatz präsentiert sich, wörtlich genommen, als Deklaration jener „Bestätigung" eines „Bekenntnisses" zu den genannten Grundsätzen, die der Vertrag von Amsterdam1 aus dem Maastricht-Vertrag 2 übernommen hat. Aber die Wiederholung der Bestätigung als Feststellung bewirkt mehr: Sie verschafft ihr die Verbindlichkeit von Vertragsnormen. Die dem Entwurf eines Vertragsgesetzes zum Vertrag von Amsterdam beigefügte Denkschrift bemerkt dazu3: „Die Einfügung steht im Zusammenhang mit dem in Artikel F. 1 neugeschaffenen Sanktionsmechanismus." Infolge dieser Verknüpfung wird die normative Feststellung sanktionsbewehrt. Dreifach ist also die rechtliche Bedeutung jener Grundsätze: Durch die Präambel dirigieren die Grundsätze gemäß Art. 31.2 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge 4 die Auslegung des Unionsvertrages5, einschließlich dessen Verhaltensnormen für Mitgliedstaaten; ihre Normierung ergibt rechtsverbindliche Homogenitätsmaßstäbe für die Union und deren Mitgliedstaaten; aufgrund Art. 7 EUV erstarken sie zu Tatbestands-
1 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrages über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte v. 2. 10. 1997 (BGBl. 1998 II S. 387). 2 Vertrag über die Europäische Union v. 7. 2. 1992 (BGBl. II S. 1253). 3 BT-Drs. 13/9339, S. 143. 4 V. 23. 5. 1969 (BGBl. 1985 II S. 926). 5 Dazu Hilf/Pache, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur Europäischen Union (Stand: 5/1998), Präambel zum EUV RN 5 ff.
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merkmalen der SanktionsVorschriften. Deshalb besteht dreifacher Anlaß, den Inhalt der Grundsätze zu bestimmen. Die erforderliche Grundsatzbestimmung beansprucht eine gemeineuropäische Staatsrechtslehre, die es noch nicht gibt. Gewiß weist die staatsrechtliche und politikwissenschaftliche Literatur vieler Staaten Europas zahlreiche Studien zu den großen Begriffen der Grundsätze auf, die jahrhundertelange Verfassungsentwicklungen und Rechtsphilosophien in sich konzentrieren. Aber die staats- und verfassungsrechtlichen Leitbegriffe sind traditionsgemäß für den Nationalstaat interessant, dessen Binnenstruktur sie betreffen. Das zeigt sich, wenn man zum Beispiel die einschlägigen Werke französischer und deutscher Autoren des 19. Jahrhunderts miteinander vergleicht. Bis zur verfassungsrechtlichen Konsolidierung des deutschen Nationalstaates ersetzte die Allgemeine Staatslehre die Verfassunggebung und die Auslegung von Verfässungsnormen und ließ in diesen Intentionen nach, als es Staatsrecht zu kommentieren galt. Allerdings sind auch verfassungsrechtliche Leitbegriffe wie Demokratie und Rechtsstaat auf ein normativ nicht definiertes Programm- oder Funktionsverständnis angewiesen, so daß Auslegung in Verfassungspolitik übergeht; man kann diesen Vorgang in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes vielfach beobachten; viele erfundene Verfassungs„prinzipien" zeugen davon. Auf Unionsebene nimmt der Europäische Gerichtshof diese Aufgabe wahr. Eine gemeineuropäische Staats- und Verfassungsrechtslehre hat ihm die Argumentationswege zu erschließen. Sie hat rechtsvergleichend zu ermitteln und rechtssystematisch zu überlegen, was die konstitutionelle Identität der einzelnen Mitgliedstaaten einerseits, der Union andererseits ausmacht und welche Gemeinsamkeiten festzustellen sowie zu entwickeln sind. Hier soll es zunächst um die Institution eines demokratischen Regierungssystems gehen. Für diesen Ansatz läßt sich anfuhren, daß die Mitgliedstaaten der Union überwiegend Regierungsstaaten sind, in denen die Schwerpunkte politischer Initiativen und Entscheidungen bei den Staatsregierungen liegen, und daß erst recht die Union von dieser Art ist, weil ihre Führung dem Europäischen Rat überantwortet ist, der aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten der Union besteht. Weil das so ist, hängt die Verwirklichung der leitenden Grundsätze, namentlich des Grundsatzes der Demokratie, wesentlich vom demokratischen Charakter der nationalen Regierungssysteme ab. Art. F. 1 des Maastricht-Vertrages definierte bis zum Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam die nationale Identität der Mitgliedstaaten dadurch, daß „Regierungssysteme" vorausgesetzt wurden, „die auf demokratischen Grundsätzen beruhen" 6. Daß dieser Passus im neuen Art. 6.3 EUV nicht mehr enthalten und in der Generalklausel des Art. 6.1 EUV nicht 6
Dazu Grawert, Der wert/Schlink/Wahl/Wieland
Deutschen supranationaler Nationalstaat, in: (Hrsg.), Offene Staatlichkeit, 1995, S. 125, 140.
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eigens ausgewiesen ist, läßt nicht darauf schließen, die Union habe sich nunmehr undemokratischen Staatsregierungen öffnen wollen, obwohl die Ordnung von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat maßgeblich von Regierungsmaßnahmen abhängt. Vielmehr umschließt das nun allgemein vorgegebene Demokratieprinzip auch das Verlangen nach einer demokratischen Regierung im Sinne von Staatsleitung und, sofern diese Funktion auf mehrere Organe verteilt ist, nach einem demokratischen Regierungssystem. Was heißt das: demokratisches Regierungssystem? Die Frage zielt nicht ins staatstheoretisch Ungewisse, sondern auf die Ermittlung rechtsverbindlicher Organisationsanforderungen. Von „europäischen" Staaten, die nachträglich der Union beitreten wollen, wird gemäß Art. 49.1.1 EUV die Achtung der Grundsätze des Art. 6.1 EUV erwartet, mithin auch die Existenz eines demokratischen Regierungssystems. Obwohl die Erwartung in einen schlichten Relativsatz eingekleidet ist, muß sie als unabdingbare Beitrittsvoraussetzung verstanden werden 7; das ergibt sich aus dem Zweck der Norm sowie im Rückschluß aus Art. 7 EUV. Aufnahmeinteressierte Staaten - man denke über Polen, Tschechien und Ungarn hinaus an die Baltischen Staaten, an die Slowakei, an die Balkanstaaten, an die Türkei, an die Ukraine und schließlich auch an Rußland, das ja bereits de Gaulle bis zum Ural Europa einverleiben wollte, - haben ihre Regierungssysteme infolgedessen vor den derzeitigen Mitgliedstaaten der Union als „demokratische" auszuweisen, Nachprüfungen und Nachbesserungsvorschläge zu gewärtigen und schließlich sogar Verfassungsänderungen vorzunehmen, wollen sie in den Genuß der Mitgliedschaft gelangen. Etablierte Mitgliedstaaten sind dank des zweiten Halbsatzes des Art. 6.1 EUV zunächst salviert. Die normative Feststellung ist keine Fiktion, sondern eine Legaldefinition: Sie definiert den Zustand, in dem die Regierungssysteme der derzeitigen Mitgliedstaaten sich im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrages von Amsterdam befanden, als einen, der demokratischen Grundsätzen entspricht. Was Demokratie noch bedeuten könnte, spielt insoweit keine Rolle. Die Union, das ist der Verband der Mitgliedstaaten, verläßt sich auf die von den Mitgliedstaaten in die Union eingebrachten Verfassungslagen, aufgrund der die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat mitgliedschaftlich agieren. Aber die Qualifikation des zweiten Halbsatzes des Art. 6.1 EUV salviert die Mitgliedstaaten nicht für alle Zukunft. Sie verlangt ihnen vielmehr die weitere Bewahrung der Standards ab. Mitgliedstaaten, die die Grundsätze schwerwiegend und anhaltend verletzen, haben mit den Sanktionen des Art. 7 EUV zu
7
Ebenso Vedder, in: Grabitz/Hilf Fn. 5), Art. F EUV RN 18.
(s.o. Fn. 5), Art. Ο EUV RN 2; Hilf, a.a.O. (s. o.
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rechnen. Danach kann der Europäische Rat, der in diesem Falle nur in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs, also ausschließlich des Kommissionspräsidenten, tagt, auf Vorschlag eines Drittels der - derzeit fünfzehn - Mitgliedstaaten oder der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlamentes die Verletzung von Grundsätzen feststellen. Der betroffene Mitgliedstaat darf zuvor eine Stellungnahme abgeben. An dieses Feststellungsverfahren kann sich das Sanktionsverfahren gemäß Art. 7.2 EUV anschließen; die Entscheidung darüber liegt im Ermessen des Rates. Dieser kann mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte des betroffenen Mitgliedstaates auszusetzen, dessen Vertragspflichten aber aufrechterhalten bleiben. Daraus ist zu folgern, daß Art. 7 EUV nicht mit der Sanktion des Ausschlusses aus der Mitgliedschaft rechnet; der Verbandsausschluß ist kein zugelassenes Sanktionsmittel. Mutiert ein Mitgliedstaat von der Demokratie zur Diktatur, riskiert er demnach zwar Rechtsnachteile, aber nicht den Ausschluß aus der Union. Ob in diesem Fall die Geschäftsgrundlage der Mitgliedschaft entfallt 8, kann hier dahingestellt bleiben. Das positive Vertragsrecht läßt eher darauf schließen, daß das Strukturproblem rechtzeitig durch Einwirkung auf den betroffenen Mitgliedstaat bereinigt werden soll. Das in Art. 7 EUV geregelte Verfahren wird insoweit nur als Vorgang anzusehen sein, dem informelle, politische Einwirkungen vorausgehen und, um des Verhältnismäßigkeitsprinzips willen, vorausgehen müssen. So oder so steht aber jeder Mitgliedstaat unter prinzipiell ständiger Beobachtung und Einflußnahme; diese Einbindung kennzeichnet seinen Mitgliedsstatus. Die Intensität dieser Einbindung speziell der Regierungssysteme hängt, wie gesagt, von dem Inhalt der Grundsätze des Art. 6.1 EUV ab. Genauer: Maßgebend sind die in den Grundsätzen enthaltenen Systemanforderungen. Diese können von der Homogenitätsfeststellung, die der zweite Halbsatz des Art. 6.1 EUV formuliert, durchaus abweichen. Die Verweisung des Art. 7.1 auf Art. 6.1 EUV verleiht den dort festgestellten Grundsätzen eine dynamische Kraft. Was „Demokratie" heißt, hängt auch von politischen und rechtlichen Entwicklungen sowie vom Maßstabswandel der Kontrollinstanzen ab, während der zweite Halbsatz des Art. 6.1 EUV einen Zustand festschreibt. Er läßt nur die Annahme zu, daß der von den Mitgliedstaaten in die Union eingebrachte Rechtszustand ceteris paribus den Homogenitätsanforderungen entspricht und deshalb als Ausgangspunkt der Maßstabsbildung verwendet werden kann.
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So Hilf, in: Grabitz/Hilf (s.o. Fn. 5), Art. F EUV RN 18, bzgl. der alten Fassung des Art. F.l EUV zum Regierungsprofil.
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II. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu den Grundsätzen der Demokratie und näherhin zu Regierungssystemen, die auf demokratischen Grundsätzen beruhen, bringt Maßstäbe zur Geltung, die Gründung und Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften begleitet haben. Schon die Erklärung des Europäischen Rates vom 8. April 1978 in Kopenhagen zielte auf die Ideale der Demokratie und trat für die Prinzipien der parlamentarischen Demokratie ein9. Eine bestimmte Ausprägung der Demokratie ist damit zwar nicht vorgegeben. Dies anzunehmen, verbieten die Weite des Demokratiebegriffes und die Vielfalt der in den Mitgliedstaaten üblichen Staats- und Regierungsformen, die inzwischen als Identitätsmerkmale geschützt sind. Sogar das Bundesverfassungsgericht hat davon abgesehen, in seinem Maastricht-Urteil die Demokratie zu definieren, nach der die Union sich zu richten habe, und lediglich Elemente sowie Prinzipien der demokratischen Ordnung punktiert 10 , die für Gestaltung und Entwicklung Raum lassen. Dennoch anerkennt der Vertrag nicht beliebige, sondern nur qualifizierte Demokratien, anders gesagt: nicht Namens-, sondern nur Substanz-Demokratien. In seinem Zusammenhang können demokratische Regierungssysteme also nur solche heißen, die den vertragsgemäßen Kriterien des Demokratischen entsprechen. Diese Kriterien zu bestimmen, ist allerdings schwierig, weil der Vertrag an einen begriffsgeschichtlich, verfassungstheoretisch und staatspolitisch vorbelasteten Begriff anknüpft, dessen heute anerkannter Inhalt aus verschiedenartigen Rechtstraditionen gespeist wird. Man braucht sich nur daran zu erinnern, daß der Begriff der Demokratie länger als zweitausend Jahre so gut wie verschollen war, bis er Ende des 18. Jahrhunderts wieder als abschreckende Alternative zur Republik erschien 11; für diese traten die fortschrittlichen Kräfte seit der Französischen Revolution ein. Kant hielt die Demokratie für einen „Despotism" 12 , und Hegel verwarf „die wüste Vorstellung des Volkes" 13 . Erst Mitte des 19. Jahrhunderts erhält der Begriff konkrete politische Bedeutungen und freundliche Züge, dank der er in sich Idealvorstellungen von guter Regierung vereinigen
9 Bulletin der Europäischen Gemeinschaften 1978/3, S. 5 f.; Europa - Archiv 1978 Dokumente, S.D 284. 10 BVerfGE 89, S. 155, 184 ff. 11 Zur Begriffsgeschichte ausführlich Koselleck u. Conze, Demokratie, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, 1972, S. 821 ff., S. 854 ff. 12 Kant, Zum ewigen Frieden, 1795, 2. Abschn. 1. Def.-Art., in: Kant, Werke in sechs Bänden, hrsg. Weischedel, Bd. VI, 1966, S. 191, 207. 13 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, S. 279; ähnlich ders., Die Verfassung Deutschlands, in: Werke 1, hrsg. Moldenhauer/Michel, 1971, S. 461, 580: „Der gemeine Haufen des Deutschen Volkes".
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kann 14 . Die Gründe für diese neue Bewertung und für die Neukonstituierung der Demokratie hängen wohl mit der Verbreitung von Bildung und mit der Durchlässigkeit der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft zusammen, brauchen hier aber nicht entfaltet zu werden. Denn der Unionsvertrag hält Demokratie und demokratische Regierung offensichtlich für die allein richtigen Staats- und Regierungsformen. Nach den historischen Gegenwartserfahrungen gilt die Demokratie als unbedingt vorzugswürdige Alternative zur Diktatur samt der damit verbundenen Totalitarismen und zur Anarchie. In diesem positiven Sinne ist Demokratie im wesentlichen durch die Idee der Volksherrschaft geprägt, die sich bis in das Mittelalter zurückverfolgen läßt 15 , jetzt aber einer konkreten politischen Gemeinschaft von Menschen angetragen wird. Mitte des 19. Jahrhunderts hielt man das demokratische Prinzip noch fur ein ergänzendes Strukturmerkmal des Staates, das sich auch im Rahmen einer Monarchie organisieren lasse16, also im-Sinne einer gemischten Verfassung. Aber diese Konzilianz versagte vor den Herrschaftsansprüchen der Demokraten und vor der staatstheoretischen Überzeugung, daß das Volk keinen anderen Herrscher neben sich haben könne. Im Begriff der Volkssouveränität trat das Volk die Erbschaft des absoluten Monarchen an und hat sich dadurch als alleiniger Träger der gesamten Staatsgewalt konstituiert. Die Protagonisten dieser Verselbständigung heißen Bodin 17 , Hobbes, Rousseau und Sieyès18, der Rousseaus demokratischen Absolutismus im Begriff der Nation veredelt und durch die Einführung des Repräsentativsystems mäßigt. Die Theorie der Volkssouveränität setzt ein Volk als Zurechnungs- und als Entscheidungseinheit voraus. Als Zurechnungseinheit bleibt das Volk lediglich eine hypothetische Größe, sofern die aus eigener Kraft Herrschenden nur im Namen des Volkes handeln und sich auf die mystische Identität der Regierenden mit den Regierten berufen. Auch Fürsten und Diktatoren haben diesen Bezug in Anspruch genommen. Aber moderne demokratische Verfassungen verlangen mehr: Sie verlangen, daß das Volk auch als Entscheidungseinheit wirksam wird, insbesondere durch Abstimmungen und Wahlen, so daß letzterenfalls eine organschaftliche Repräsentation praktiziert werden kann. Zwar mögen Volk und Nation auch sozio-kulturelle Phänomene sein 19 . Zur Wirk- und 14 Sartori, Demokratietheorie, 1987/1992, S. 284 ff.; unkritischer Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1977, S. 439 ff. 15 Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 1880/6. August 1968, S. 123 ff. 16 So u.a. Biedermann, Demokratie, in: Rotteck/Welcher (Hrsg.), Staats-Lexikon, Bd. 4, 3. Aufl. 1860, S. 344 ff., S. 357; weitere Belege bei Conze (s.o. Fn. 11), S. 880 f. 17 Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970, S. 310 ff. 18 Pasquino, Sieyès et l'Invention de la Constitution en France, 1998, S. 31 ff.; vgl. dazu allgemein Kriele, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, VVDStRL 29 (1971), S. 46,55.
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Handlungsfähigkeit gelangen sie erst durch deren Herstellung. Das demokratische Volk ist kein Natur-, sondern ein Organisationsergebnis. Deshalb bedarf es einer Verfassung. Auch wenn Ethnien sich innerhalb von Staaten oder grenzüberschreitend als Einheit verstehen mögen - Kurden, Armenier, Mexikaner -, können sie zum demos im Rechtssinne erst aufgrund einer gültigen Organisationsentscheidung werden. Diese erfolgt im Europa der Union durch Staatsverfassung. Deshalb dürfen demokratische Regierungssysteme, die im Rahmen der Union anerkannt werden sollen, nur auf staatlich verfaßten Völkern aufbauen. Darauf kommt es bei Belgien an, und darauf wird es in den Fällen Jugoslawien und Zypern ankommen. Wie eine wirkkräftige Demokratie organisiert werden soll, läßt sich dem vielschichtigen Demokratiebegriff jedoch ohne weiteres nicht entnehmen. Verfassungshistorisch und staatstheoretisch gesichert ist jedenfalls der Satz, daß Demokratie ein Prinzip der Staatsordnung ist und deshalb die staatliche Organbildung sowie Funktionsausübung zu dirigieren hat 20 . Daß der Unionsvertrag dieses Verständnis übernommen hat, läßt sich dem normativen Zusammenhang seiner Präambel mit Art. 6.1 und 6.3 EUV entnehmen. Aber die moderne Demokratietheorie hat auch die Gesellschaft und deren wirkmächtige Akteure als Gegenstände demokratischer Gestaltung entdeckt21. Seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts wird auch „soziale Demokratie" gefordert, und § 2 Abs. 3 Satz 1 des 1. Kapitels der schwedischen Verfassung verpflichtet heute das Gemeinwesen, dafür einzutreten, daß die „Ideen der Demokratie in allen Bereichen der Gesellschaft maßgebend werden"; Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG verlangt speziell von den Parteien, daß ihre innere Ordnung „demokratischen Grundsätzen" entsprechen muß; ähnlich lautet Art. 6 Satz 3 der spanischen Verfassung. Man könnte demnach meinen, ein Regierungssystem dürfe sich demokratisch erst dann nennen, wenn die Gesellschaft, aus der es hervorgeht und mit deren öffentlicher Meinung es zusammenwirkt, demokratisch durchformt ist. Für diejenigen, die den Staat als politisches Subsystem der Gesellschaft betrachten 22 , für Theoretiker der political society ist das kein abwegiger Gedanke.
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Dies unterstellt wohl BVerfGE 89, S. 155, 185, ohne dem nachzugehen. Interessant Kap. 1 §§ 1 I, II, 2 III, der schwedischen Verfassung: Das Volk als Grundlage aller „öffentlicher Gewalt"; „Volksherrschaft" durch Repräsentation aufgrund Meinungsfreiheit und Wahlrecht; Maßgeblichkeit der „Ideen der Demokratie in allen Bereichen der Gesellschaft". 21 In Deutschland fand dazu die sog. Partizipationsdiskussion statt. Zu den USA vgl. u.a. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen, 1998, S. 43 ff., S. 256 ff. 22 Z.B. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53 ff.; ders., „Staat" und „Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Problem, in: ders., Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, hrsg. Häberle, 1981, S. 300 ff., S. 319; Hesse, Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterschei20
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Dennoch darf er dem Unionsvertrag nicht angedient werden. Der Vertrag organisiert die Ausübung von Hoheitsgewalt und überläßt den Privaten ihre Selbstorganisation durch Achtung ihrer Grundfreiheiten. Was diese an Ordnung gestatten, dürfen die Mitgliedstaaten zwar ordnen, doch zwingt der Vertrag nicht dazu, eine „soziale Demokratie" einzuführen. Aufgrund der Verbindung des Demokratiebegriffes mit den Grundsätzen der Freiheit und der - teilidentischen - Rechtsstaatlichkeit23 sowie den Individualrechten zwingt der Vertrag aber zur Organisation einer freiheitlichen, pluralistischen Demokratie, in der insbesondere Meinungs-, Medien-, Versammlungsund Vereinigungsfreiheit gelten, die die Bildung einer öffentlichen Meinung auch in politischen Angelegenheiten gestatten und die Regierungsinstanzen dieser Meinung aussetzen, und in der die politische Opposition Chancengleichheit genießt. Insoweit läßt sich folgern, daß ein Regierungssystem nur dann auf demokratischen Grundsätzen beruht, wenn es der öffentlichen Meinung ausgesetzt und mit dem politischen Prozeß, der in und aus der Gesellschaft entsteht, wirkkräftig verbunden ist; als Wirkzusammenhang muß diese Verbindung nachvollziehbar sein. Sie würde zum Beispiel durch Medienlenkung erheblich gestört sein; deshalb muß schon die Staatsverfassung fur die Unmöglichkeit solcher Beschränkungen sorgen. Der Grundsatz der Demokratie inthronisiert zwar das Volk, erfordert aber nicht, daß dieses jede Sachentscheidung selbst trifft. Da die Wegweisungen zur Demokratie sowohl von Rousseau als auch von Sieyès stammen, muß die Demokratietheorie mit Formen und Verfahren ebenso der unmittelbaren wie der mittelbaren, der repräsentativen, Demokratie rechnen. Beide Arten sind in der Moderne propagiert und ausgeführt worden; sie prägen nebeneinander die demokratische Praxis der Gegenwart. Indem Art. 6.1 EUV auf diese Vorgaben Bezug nimmt, veranlaßt er die Anerkennung auch unmittelbar demokratischer Wahrnehmungen der Volksherrschaft. Volksbefragungen und Volksentscheide sind also durchaus vertragskonform. Indem der zwölfte Erwägungsgrund der Präambel des Unionsvertrages die Union als eine „Union der Völker Europas" bezeichnet, unterstützt er die Auslegung, daß diese Völker auch selbst agieren dürfen, insbesondere in Angelegenheiten ihres Integrationsstatus. Aber der Normzusammenhang spricht weder für einen Zwang noch für eine Tendenz zur plebiszitären Demokratie. Er spricht eher für deren Begrenzung. Denn die Union kennt keine plebiszitären Verfahren, untersteht aber demselben Demokratieprinzip wie die Mitgliedstaaten, so daß der strukturellen Homogenität eher
dung von Staat und Gesellschaft, in: ders. ausgewählte Schriften, hrsg. Häberle/Hollerbach, 1984, S. 45 ff., S. 49. 23 Kriele (s.o. Fn. 18), S. 49, identifiziert die parlamentarische Demokratie mit der rule of law; zustimmend Badura, a.a.O. (s. o. Fn. 18), S. 95 f.
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gedient ist, wenn auch die Mitgliedstaaten Zurückhaltung bei der Anreicherung ihrer Verfassungen mit plebiszitären Elementen üben. Der vertragliche Normzusammenhang, in dem das Demokratieprinzip sich gemäß Art. 6.1 EUV entfalten soll, läßt vielmehr eine Präferenz für eine organschaftlich gegliederte Demokratie und für ein organschaftlich-repräsentatives Regierungssystem erkennen. Da Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Verbund gelten, ist eine gewaltenteilende Organisation der Ausübung der Staatsgewalt geboten, das heißt: organisatorisch-institutionelle Gliederung. Repräsentative Regierungssysteme werden sogar als die eigentliche Organisation der Freiheit angesehen24; es liegt dann nahe, den in Art. 6.1 EUV hervorgehobenen Grundsatz der Freiheit zur Begründung heranzuziehen. Eine freiheitliche Demokratie verträgt keinen Gewaltenmonismus. Sie ist deshalb erst dann freiheitssichernd eingerichtet, wenn sie die Herrschaft der Volksmehrheit in Permanenz ausschließt, indem den aus dem „Volk" sich entwickelnden politischen Kräften eine differenzierte Organstruktur bereitgestellt wird, in der diese Kräfte politisch mitwirken können. In diesem Sinne unterschied der bisherige Art. F.l EUV Völker von Regierungssystemen. Er steht wie Art. 6.1 EUV in der Linie der Kopenhagener Erklärung zugunsten parlamentarischer Demokratien. Demnach erfordert der Unionsvertrag regelmäßig Repräsentationsorgane, die des Volkes unmittelbar nicht artikulierten Willen zum Ausdruck bringen können. Repräsentation bedeutet insofern ein Verhalten organisierter Amtswalter im Interesse des Repräsentierten und aufgrund dessen Legitimation. Die mitgliedstaatliche Repräsentations- und Organstruktur ist in erster Linie eine Verfassungsfrage. Sie zu beantworten, sind in erster Linie die Mitgliedstaaten zuständig. Der Unionsvertrag sichert diese Zuständigkeit durch den Identitätsvorbehalt des Art. 6.3 EUV ab. Doch gibt er auch ungeachtet dessen grundsätzliche, homogenisierende Organstrukturen vor, indem er die Union selbst organschaftlich gliedert und eine gewisse grundständige Organisation der Mitgliedstaaten voraussetzt. Demnach ist mit Organen zur Völker- beziehungsweise Volksvertretung und zur laufenden Politikführung zu rechnen. „Volksvertretung" und „Regierung" sind die beiden typischen Funktionsbereiche, die es zu organisieren gilt. Das heißt: Bildung und Legitimation von Organen durch Konstitutionsentscheidungen des Volkes in Verfahren der Verfassunggebung und der Wahl. Durch Wahlen werden Personen zur repräsentativen Amtsführung legitimiert, also ermächtigt. Eine repräsentative Demokratie ist demnach auf Wahlen angewiesen, die das ganze Volk einschließen, ohne dessen Gliederung und Schichtung nachzuvollziehen. Dem Demokratieprinzip des Art. 6.1 EUV läßt sich allerdings nicht ohne weiteres entnehmen, daß nur die Volksvertretung aus unmittelbaren Volkswahlen hervorgehen darf und andere 24 E.-W. Böckenförde, Demokratie und Repräsentation: Zur Kritik der heutigen Demokratiediskussion, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 379 ff.
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Organe auf mittelbare, organschaftliche Wahlen beschränkt sind. Zwar ist es ein Gebot verfassungspolitischer Klugheit, für eine gestaffelte Legitimation zu sorgen. Aber es spricht grundsätzlich nichts dagegen, auch Regierungsorgane durch Volkswahlen zu ermächtigen. Die Folge der Legitimationskonkurrenz kann gewaltenteilende Vorzüge haben. Was heißt in diesem Zusammenhang „Regierung"? Der Vertrag verwendet den Begriff mehrfach: In Art. 4.2 ist von „Regierungschefs" im Unterschied zu „Staatschefs" die Rede; Art. 7.1 und Art. 7.2 behandeln die „Regierung" eines Mitgliedstaates als Stelle der Außenvertretung; auch Art. 48 nennt die „Regierung jedes Mitgliedstaats" als Gesprächspartner der Union und skizziert sie als gegliedertes Organ, das einen „Vertreter" hat; außerdem bezeichnet Art. 203 EGV „Vertreter" der Mitgliedstaaten „auf Ministerebene" als Ratsmitglieder, die „für die Regierung des Mitgliedstaats" verbindlich handeln dürfen. Die Zusammenhänge lassen erkennen, daß „Regierung" hier im institutionellorganisatorischen Sinne und in Abgrenzung zu Volksvertretungen zu verstehen ist. Der Vertrag geht von der - üblichen - Existenz solcher besonderen Regierungsorgane neben Staatsoberhäuptern und Volksvertretungen aus. Er organisiert die Union unter Verwendung dieser Organe. Aber er schreibt bestimmte Organe nicht vor. Aufgrund des Identitätsvorbehaltes ist die Organisation der „Regierung" eine mitgliedstaatliche Verfassungsangelegenheit. Demgemäß rechnet der Vertrag auch mit einer differenzierten Regierungsorganisation, die durch die Unterscheidungen von „Staatschef 1, „Regierungschef und „Minister" angedeutet wird. Infolgedessen läßt sich die gemäß dem Demokratieprinzip einzurichtende „Regierung" nur als Organisationszusammenhang der mit Regierungsfunktionen betrauten Stellen begreifen, eben als „Regierungssystem". Es umfaßt den Komplex von Ämtern, Organen, Aufgaben und Befugnissen, die die Staatsleitung definieren. In diesem Bereich können je nach Verfassungslage Staatsoberhäupter, Ministerkollegien und Volksvertretungen kompetent sein. Demokratisch ist ein Regierungssystem, wenn die Ämter und Organe durch oder aufgrund von Volkswahlen zur Staatsleitung ermächtigt sind. Da das politisch sich verhaltende Volk ein sich ständig verändernder Wirkzusammenhang ist, bedarf die Legitimation der ständigen Erneuerung. Deshalb bestehen die Strukturerfordernisse regelmäßiger Wahlen und der Befristung von Amtsperioden. Über das Verhältnis von Volksvertretung und - organisierter - Regierung sagt der Grundsatz der Demokratie, den Art. 6.1 EUV vorschreibt, an sich wenig aus. Zu verschieden sind die Denkmodelle und historischen Vorbilder für Funktions- und Entscheidungsordnungen, und zu vielfältig ist das Panorama des Verfassungsrechts, das Art. 6.3 EUV mit dem Identitätssiegel versieht. Ob ein präsidentielles oder ein parlamentarisches Regierungssystem eingerichtet wird, ob das Parlament die Regierung ein- und absetzen sowie dirigieren und kontrollieren darf und in welchem Maße, das zu entscheiden bleibt Angelegenheit der nationalen Verfassunggeber. Das Kopenhagener Votum für den Paria-
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mentarismus ist dafür nicht maßgebend. Doch lassen die demokratischen Legitimationsverfahren, die einzurichten und durchzufuhren sind, Schlußfolgerungen zu: Direkte Volkswahlen rechtfertigen Leitkompetenzen; gestufte Verfahren und abgeleitete Legitimationen rechtfertigen Kompetenzbegrenzungen, sei es hinsichtlich der Aufgaben und Befugnisse, sei es durch Mitwirkungs- und Kontrollrechte. Je nachdem kann die Einrichtung getrennter Kompetenzräume oder eines Systems von „checks and balances"25 angemessen sein. Die Ordnung des Verhältnisses von Parlament und Regierung muß jedenfalls so gestaltet sein, daß der Mitgliedstaat politik- und regierungsfähig ist. Zur Regierungsfähigkeit gehören insbesondere Regeln, die die Permanenz der Regierungstätigkeit im Verhältnis der Mitgliedstaaten zur Union und innerhalb derselben sichern. Insoweit kann man ebenso an die Institution einer Geschäftsfìihrenden Regierung, an die Regierung auf Zeit, das heißt: für die feste Dauer einer Legislaturperiode 26 oder an das Konstrukt des Konstruktiven Mißtrauensvotums denken. Da der moderne Mitgliedstaat entwicklungsbedingt Regierungsstaat ist, also ein Staat, in dem die Initiative der Politikgestaltung bei der fachlich kompetenten und entscheidungsfähigen Regierung liegt, und da die Unionsordnung auf die Mitwirkung derartiger Regierungen angewiesen ist, liegt es nahe, auch das Demokratieprinzip des Art. 6.1 EUV für eine stabile Regierung zu reklamieren. Der Volksvertretung gebührt hingegen die Kompetenz zur öffentlichen Debatte, zur Gesetzgebung und zu sonstigen, für die politische Gemeinschaft wichtigen Entscheidungen. Grundlage freier repräsentativer Entscheidungen der Volksvertretung ist das freie Mandat. Es macht ein Essentiale des unionsvertraglichen Demokratieprinzips aus.
III. Die Feststellung gemeinsamer Verfassungsgrundsätze der Mitgliedstaaten erfolgt durch Verfassungsvergleichung. Art. 6.1 EUV geht von einem solchen Vorgang aus, läßt aber dessen Ansätze, Maßstäbe und Ergebnisse ungewiß. Gewiß ist allerdings, daß die derzeitigen Mitgliedstaaten ihre derzeitigen Regierungssysteme als demokratische anerkennen und die Mitgliedsfähigkeit anderer, mitgliedswilliger Staaten nach wesentlichen Übereinstimmungen beurteilen. Den Baltischen Staaten wird beispielsweise vorgegeben, wie sie es mit ihrem Staatsbürger- und Minderheitenrecht bezüglich der in ihnen wohnenden Russen halten sollen, und anderwärts wird nach der Bedeutung der Opposition 25
Bagehot, The English Constitution, 1867 (Ausgabe: Oxford University Press, 1972), No. 5 (S. 116), No. V I I (S. 194 ff.). 26 Vgl. Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee. Plenarsitzungen, in: Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Bd. 2, bearb. v. Bücher, 1981, 3. Stzg. 12. 8. 1948, S. 136, 157 (Leusser). 8 FS Quaritsch
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gefragt oder der Einfluß des Militärs auf die Politik bemängelt. Wo verläuft die gemeinsame Ideallinie, falls es eine solche gibt? Worin stimmt das grundgesetzliche mit dem dänischen Demokratieprinzip oder der französische mit dem britischen Parlamentarismus überein und inwieweit treffen sich diese Systeme mit dem unionsvertraglich konzipierten, so daß von wesentlicher Homogenität gesprochen werden kann, und welche Unterschiede sind unionsvertraglich untragbar, welche unaufgebbare Identitätsmerkmale der Mitgliedstaaten? Um den Vergleich nachvollziehbar anzustellen, konzentriert die nachfolgende Querschnittsbetrachtung sich auf die Gesichtspunkte: Volk, Volksvertretung, Regierungsbildung, Parlament und Regierung. Demnach ergibt sich folgende Skizze der mitgliedstaatlichen Regierungssysteme: Die Verfassungstexte 27 der meisten Mitgliedstaaten legen den Regierungssystemen den Grundsatz der Volkssouveränität ausdrücklich zugrunde. Daß „alle Staatsgewalt" vom Volke ausgeht beziehungsweise, daß das Volk Träger der gesamten Staatsgewalt und Inhaber der nationalen Souveränität ist, gilt als Kernsatz der meisten Verfassungen 28. Die Begriffe „Volk" und „Nation" werden dabei in der Regel gleichbedeutend verwendet, nämlich im verfassungsrechtlichen Sinne der Summe der Staatsangehörigen, selbst wenn der Begriff der Nation noch überschießende Inhalte im Sinne der politischen - so Frankreich - oder kulturell-ethnischen Einheit - so Griechenland und Irland mit sich trägt. Die griechische Vorschrift, die die Abgeordneten als Vertreter der Nation bezeichnet, zielt nicht auch auf die Auslandsgriechen, sondern auf die Staatsnation, das heißt: auf das ansonsten genannte Volk 2 9 . Dagegen rechnet die irische Verfassung - wie einst das Grundgesetz - mit einer das Staatsvolk erweiternden Nation, die es durch „Wiedervereinigung" ganz Irlands herzustellen gelte 30 . Abgesehen von dieser ausnahmsweisen Irridenta wird an der Volks-Nations-Staatseinheit sogar dann festgehalten, wenn die Differenzierung des Staatsvolkes in mehrere „Nationalitäten" - so die spanische Verfassungs-
27 Die Skizze stützt sich auf die von Kimmel hrsg. Verfassungstexte: Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 4. Aufl. 1996. Vgl. ergänzend die ausführliche, systematisch angelegte Studie von Grewe/Fabri, Droits constitutionnels europiens, 1. Aufl. 1995, S. 191 ff. (Ja démocratie"), S. 358 ff. („Les institutions de l'état"); außerdem den politikwissenschaftlichen Übersichtsband von Ismayr (Hrsg.). Die politischen Systeme Westeuropas, 1997, in dem die einzelnen Staaten je für sich abgehandelt werden. 28 Belgien Art. 33 I; Deutschland Art. 20 II 1; Finnland § 2 I; Frankreich Art. 3; Griechenland Art. 1 II, III, 51 I; Irland Art. 1, 6 I; Italien Art. 1 II, 87, 98; Luxemburg Art. 32 I; Österreich Art. 1 S. 2; Portugal Art. 2, 3 I; Schweden § 1 I; Spanien Art. 1 II. 29 Dimitropoulos, Themen des Verfassungsrechts (griechisch), Athen, 7. Aufl. 1997, S. 245 ff.; Manesia, Garantien der Verfassungsbewährung (griechisch), Athen 1980, Bd. II, S. 195. 30 Soweit ersichtlich, ist die zur Beilegung des Nordirland-Konfliktes verabredete Aufgabe des Wiedervereinigungsanspruchs noch nicht Verfassungsrecht geworden; das „ V o l k " umfaßt jedenfalls nur die Staatsangehörigen: Art. 9.
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präambel 31 - oder „Gemeinschaften" - so Belgien - oder Sprachgruppen - so Belgien, Irland, Schweden, Spanien - verfassungsrechtlich anerkannt wird. Man kann mit Blick auf die derzeit zum Zerreißen gespannte sprachpolitische Lage in Belgien sogar sagen, daß die Staatseinheit pluralistischer Staatsgesellschaften nur im Wege der Abstraktion von solchen angeblichen Urphänomenen und nicht auf etwas der Demokratie vermeintlich Vorausliegendes gehalten und entwickelt werden kann. Die Religionszugehörigkeit spielt für den Volksbegriff und das Demokratiesystem auch in den Staaten keine Rolle, deren Verfassungen eine „vorherrschende" Religion - so Griechenland, ähnlich Irland 32 kennen; allerdings verlangen Verfassungen von Monarchien den Monarchen und Thronfolgern die Zugehörigkeit zum - traditionell - vorherrschenden Bekenntnis ab 33 , so daß insoweit eine Ausnahme von der Regel der Bekenntnisneutralität des Staatsvolkes besteht. Demnach bleibt festzuhalten, daß in allen Mitgliedstaaten ein Demokratieprinzip gilt, dem ein rechtsnormativ bestimmter Volksbegriff zugrunde gelegt wird, der kulturelle, sprachliche, religiöse, ethnische und sonstige Heterogenitäten staatsrechtlich überdecken soll. Das ist die Leistung des westeuropäischen Verfassungsrechts und der organisierten Demokratie: den Pluralismus der Gesellschaft in eine Ordnung zu bringen, die die Suche nach unvorgreiflichen Volkssubstanzen überflüssig macht. Die aktuelle und wieder verspätete - Diskussion über die „deutsche Nation" fallt deshalb hinter den Entwicklungsstand zurück, den der moderne Staat bewirkt hat und der im Blickpunkt der Unionsbürgerschaft liegt. Allerdings ist der Rechtssatz von der Volkssouveränität wohlfeil, solange er nicht verfassungsrechtlich derart aufgefüllt wird, daß Diktaturen - einer Partei, des Militärs, einer Priesterkaste, einer ethnischen Mehrheit - von Verfassungsrechts wegen ausgeschlossen sind. Die schwedische Verfassung spricht deshalb aus, was Gemeingut der westeuropäischen Demokratiesysteme ist: Die „Volksherrschaft gründet sich auf freie Meinungsbildung und das allgemeine und gleiche Stimmrecht" 34 . Der Satz schließt an den juristischen Volksbegriff an: Er läßt die politische Willens- und Entscheidungseinheit aus der Vielheit der mitwirkungsberechtigten Staatsangehörigen entstehen; er ist die Grundlage einer pluralistischen Demokratie. Die Verfassungen sämtlicher Mitgliedstaaten gewährleisten diese Qualität, indem sie jedenfalls den Staatsangehörigen Meinungs-, Medien-, Versammlungs-, Vereinigungs- sowie allgemeine Stimm- und Wahlfreiheit garantieren, im wesentlichen übereinstimmend, auch wenn Unter31
Art. 2 span. Verf. Griechenland Art. 3 I mit Art. 13, 51, 55; Irland Art. 6 I (Regierungsgewalt u.a. von „Gott"), 44; Spanien Art. 16 III 1: keine „Staatsreligion". 33 Dänemark § 6; Schweden § 3 mit Thronfolgegesetz § 4; Großbritannien act of settlement 1701 Art. III. 1; ohne ausdrückliche Regelung Belgien, Luxemburg, Niederlande. 34 Schweden Kap. 1 § 1 II. 32
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schiede der Rechtsinhalte und Staatsvorbehalte zu verzeichnen sind. Wesentlich ist insbesondere die Effektivität der Individualrechtsgeltung, die systembildend ist. Von Volkssouveränität kann demnach nur die Rede sein, wenn sie als Prozeß pluraler Willens- und Entscheidungsbildung organisiert ist und so funktioniert. Das heißt vornehmlich: Offenheit des Prozesses für Änderungen der Politik. Parteien haben zwar nur in einigen Mitgliedstaaten verfassungsrechtliche Anerkennung gefunden 35, bestimmen aber überall das Geschehen, so daß die pluralistische Demokratie tatsächlich eine Parteiendemokratie ist. Von einem einheitlichen Prinzip des Parteienstaates zu sprechen, verbietet jedoch der Umstand, daß die Verfassungen einiger Mitgliedstaaten Parteien gerade deshalb nicht zur Kenntnis nehmen, weil sie sie - entgegen der Vorstellung des Bundesverfassungsgerichtes - nicht als Quasi-Staatsorgane etablieren, sondern sie im Raum vorstaatlicher Freiheit belassen wollen 36 . Deshalb setzt ein unionsweites Demokratieprinzip nur die Freiheit und Chancengleichheit der Parteien sowie die Respektierung der Opposition, jedoch keine staatstragende Rolle der Parteien voraus; vielmehr läßt sich folgern, daß es demokratiewidrig wäre, würde ein politisches System auf der staatstragenden Position einer Partei aufgebaut. Das Volk, von dem in den Mitgliedstaaten alle Staatsgewalt ausgehen soll, kann sich allerdings nur ausnahmsweise selbst und unmittelbar zu Sachfragen äußern. In der Regel hat sich die Einsicht des Abbé Sieyès von der Notwendigkeit der Repräsentation durchgesetzt. Verfahren der unmittelbaren Demokratie bilden die Ausnahme 37: Nicht alle Verfassungen sehen sie vor; seltener sind Volksinitiativen; markant sind nur die Volksentscheide über besonders wichtige Angelegenheiten - u.a. Verfassungsrevisionen - und zur Lösung organpolitischer Pattsituationen, weil dann das Volk mit seiner aktuellen politischen Mehrheit als - jetzt verfassungsrechtlich organisierter - Gewaltinhaber in Erscheinung tritt. Solche Verfahren relativieren und schwächen das parlamentarische System, wie Weimar lehrt, doch läßt sich hier kein unionsweiter Grund-
35
Deutschland Art. 21; Finnland § 23 a; Frankreich Art. 4; Griechenland Art. 37 f.; Italien Art. 49; Portugal Art. 10 II, 40, 51, 117, 154; Schweden Art. III §§ 7-9; Spanien Art. 6: „Die politischen Parteien sind Ausdruck des politischen Pluralismus' 4; Dänemark § 78: „politische Vereine 44 genießen eine gewisse Sonderstellung und werden durch das Verhältniswahlsystem der Sache nach vorausgesetzt; ähnlich in Irland Art. 16 II Nr. 5 u. in Luxemburg Art. 51 V. 36 37
Vgl. Grewe/Fabri
(s.o. Fn. 27), S. 231 ff.
Deutschland - nur ausnahmsweise - Art. 29, 118, aber überwiegend in Ländern u. Kommunen; Dänemark §§ 20, 42, 88; Finnland §§ 11, 22a; Frankreich Art. 3 I, 11, 89 II; Griechenland Art. 44; Irland Art. 27, 46, 47; Italien Art. 71, 75, 132, 138; Österreich Art. 41 II, 43, 45, 46, 48, 49 b; Portugal Art. 112, 118; Schweden Kap. 8 §§ 4, 15; Spanien Art. 29 I, 87 III, 92, 167 III, 168 III.
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satz ausmachen. In der Regel bildet das Volk repräsentative Organe, deren Mitglieder legitimiert und befugt werden. Im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Regierungsorganisationen stehen durchweg repräsentative Versammlungen, die das Volk beziehungsweise die Nation als Einheit repräsentieren. Daneben bestehen oft noch zweite Kammern, die ständische oder regionale Differenzierungen zum Ausdruck bringen. Aber das Schwergewicht liegt gemeinhin bei der Einheitsrepräsentation. Diese geht aus allgemeinen, gleichen und unmittelbaren Wahlen hervor, wobei die Wahlsysteme differieren, und funktioniert nach dem Strukturprinzip des freien Mandates38, das die Pflicht zur Gemeinwohlorientierung einschließt; sie ist durchweg für die Gesetzgebung und das Budget verantwortlich, doch nicht durchweg allein, so daß sich vorerst nur der Befund festhalten läßt, daß, vorbehaltlich von Volksentscheiden, Gesetze nicht ohne Beschlußfassung der Nationalrepräsentanz zustande kommen können. Durch volksunmittelbare Wahlen werden in etlichen Staaten auch die Staatsoberhäupter bestimmt und legitimiert 39 , so daß, anders als in Deutschland, eine Legitimationskonkurrenz besteht. Man könnte daraus auf den Umfang und die Bedeutung der Befügnisse der so legitimierten Präsidenten schließen und aus deutscher, durch die Weimarer Verfassung geschulter Sicht die Organisation einer Machtbalance zwischen Präsident und Parlament folgern. Aber die präsidialen Befügnisse zur Regierungsbildung, zur Parlamentsauflösung und bei der Gesetzgebung sind trotz Direktwahl ganz unterschiedlich ausgebildet: Von dem fast monarchischen Präsidenten Frankreichs und der starken finnischen Präsidentschaft besteht ein erhebliches Gefalle zu der Portugals oder Österreichs, die mit der Italiens und Deutschlands trotz der hier nur indirekten Volkslegitimationen vergleichbar sind. Immerhin läßt sich festhalten, daß die unmittelbar und mittelbar gewählten Staatsoberhäupter nur Amtsinhaber auf Zeit sind, die allerdings gewöhnlich etwas länger als eine Parlamentsperiode dauert, so daß hier ein Moment der Kontinuität repräsentativer Organe zum Ausdruck kommt. In dieser Hinsicht übertreffen die monarchischen Demokratien der Union deren republikanische Demokratien. Fast die Hälfte der Mitgliedstaaten, die sich zum Demokratieprinzip bekennen, besitzt eine monarchische Spitze, die nach vordemokratischen Strukturmerkmalen organisiert ist: Der Monarch wird nach dem dynastischen Prinzip bestimmt und amtiert auf Lebenszeit; seine Per38 Belgien Art. 42 (mit der aufschlußreichen Modifikation, daß die Mitglieder der beiden Kammern „die Nation und nicht allein diejenigen, von denen sie gewählt worden sind'4, vertreten); Deutschland Art. 38; Dänemark Art. 56; Frankreich Art. 27; Griechenland Art. 60; Italien Art. 67; Luxemburg Art. 50; Niederlande Art. 67 III; Österreich Art. 56 I; Portugal Art. 152 III; Spanien Art. 67 II. 39 Finnland § 23; Frankreich Art. 6 f.; Irland Art. 12 II; Österreich Art. 60; Portugal Art. 124.
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son gilt als unverletzlich; er repräsentiert das Staatsganze aus historischer Legitimation. Sind das Anachronismen? Da der Unionsvertrag den Mitgliedstaaten den Zustand der Demokratie bescheinigt, kann die Frage nicht so, sondern nur dahin lauten, was eine Monarchie zur Demokratie macht. Die Verfassungen geben darauf recht unterschiedliche Antworten. Belgien nennt sich „Föderalstaat"; sein „König" besitzt nur bestimmte „verfassungsmäßige Gewalt", die beachtliche Befugnisse umfaßt und vor allem deshalb das Regierungssystem prägt, weil der König an Verfassungsänderungen einvernehmlich mitzuwirken hat 40 ; dennoch ist er Amtsträger und Staatsorgan, nicht aber Herrscher aus monarchischem Prinzip. Luxemburg nennt sich „Großherzogtum", vorzüglich aber „Staat", und schreibt die „souveräne Gewalt" der Nation zu; der Großherzog übt sie nur „gemäß" der Verfassung und den Gesetzen aus, dies aber in bemerkenswertem Umfang: Namentlich die vollziehende Gewalt.übt er „allein" aus und ist wie der belgische König an Verfassungsänderungen beteiligt; bemerkenswerterweise vertritt die Abgeordnetenkammer „das Land"; diese Formel deutet auf altständische Verhältnisse und verleitet dazu, die Position des Großherzogs nach dem monarchischen Prinzip zu bestimmen, hieße das Großherzogtum nicht ausdrücklich „parlamentarische Demokratie", so daß die Position des Großherzogs diesem System einzuordnen ist 41 . Die Niederlande nennen sich „Königreich", doch schweigt die Verfassung zur Souveränitätsfrage; die Rechtsstellung des Königs wird im Rahmen der „Regierung" als „Amt" organisiert; sie umfaßt auch hier erhebliche Mitwirkungsbefugnisse, insbesondere bei der Regierungsbildung und -fuhrung sowie bei der Gesetzgebung, einschließlich der Verfassungsgesetzgebung; das ergibt eine recht starke, durch die dynastische Kontinuität auch politisch gestärkte Stellung, aber keine monarchische Gewalt; da die Generalstaaten „das gesamte niederländische Volk" vertreten und der König sowie dessen Thronfolge unter dem Gesetz stehen, kann der König nicht jene demokratische, sondern nur die amtliche Staatsrepräsentation in Anspruch nehmen42. Die schwedische Verfassung stellt von vornherein klar, daß im Königreich „alle öffentliche Gewalt" vom „Volk" ausgeht, dessen „wichtigste Vertretung" der Reichstag ist; dem Reich wird die „repräsentative, parlamentarische Staatsform" vorgeschrieben; der König wird auf das vornehmlich idealrepräsentative Amt des „Staatschefs" beschränkt; die Thronfolgeregelung wird der Verfassungsgesetzgebung unterstellt, an der der König keine Mitentscheidungsbefugnis hat 43 . Das Königreich Spanien hat sich ausdrücklich als Demokratie konstituiert, in der allein das spanische Volk Souverän ist; von der Staatsform wird die „politische Form des spanischen Staats" 40
Belgien Art. 85, 88, 105, 195. Luxemburg Art. 1, 32 ff., 114; 50 I, 51 I. 42 Niederlande Art. 24 ff., 50. 43 Schweden Kap. 1 § 1, § 4, § 5 i.V.m. Kap. 5; zur Thronfolge Kap. 1 § 3 i.V.m. Kap. 5 § 4, Kap. 8 § 15 u. Thronfolgegesetz. 41
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unterschieden: diese wird „parlamentarische Monarchie" genannt; diese Bezeichnung und die verfassungsmäßigen Gestaltungsbefugnisse des Königs, der allerdings an Verfassungsänderungen nicht beteiligt ist, könnten auf eine parlamentarisch nur gemäßigte monarchische Gewalt schließen lassen, so daß Demos und Monarch nebeneinander stehen; doch während die Cortes Generales die Vertretung des Volkes - und wie der König „unverletzlich" - sind, wird der König nur als „Oberhaupt des Staates" und als „Symbol seiner Einheit und Dauer" konstituiert; dieser Funktion sind gewisse Mitwirkungsbefugnisse bei der Regierungsbildung und Gesetzgebung beigefugt, die jedoch nur gewaltenhemmend, nicht -führend wirken können44. Aus dem Rahmen dieser konstituierten und demokratisierten Monarchien fallen Dänemark und Großbritannien. Die britische Verfassung hat einen demokratisierten Parlamentarismus in mittelalterlich-altständischen Formen hervorgebracht; der Thron, der seine Legitimation traditional und dynastisch definiert, ist durch die Struktur des King in Parliament in dessen monopolistische Parlamentssouveränität integriert, die ihr politisches Zentrum im Abgeordnetenhaus hat; dennoch lassen die Mitwirkungsbefugnisse des Monarchen und des Oberhauses, insbesondere bei der Gesetzgebung, nur die Qualifizierung: semi-demokratisch zu; daß Demokratie und nicht nur Parlamentarismus ein Wertungsmaßstab ist, ergibt sich aus dem Parlamentsgesetz von 1911, das die Reform des Oberhauses auf „demokratischer Basis" vorsieht; jedenfalls gibt es keine Ansatzpunkte für ein monarchisches Prinzip; der Monarch ist auch in Großbritannien symbolischer Repräsentant; seine Prärogativen sind parlamentarisch gebunden45. Die dänische Verfassung räumt hingegen dem Monarchen eine normativ außergewöhnliche Position ein: er hat nämlich, beschränkt durch die Verfassung, „die höchste Gewalt in allen Angelegenheiten des Königreiches" und „übt" diese Gewalt „durch die Minister" aus; ausdrücklich wird die gesetzgebende Gewalt ihm und dem Folketing „gemeinsam" zugeordnet; die vollziehende Gewalt liegt allein bei ihm; demgemäß heißt die Regierungsform „beschränkt-monarchisch"; das Folketing, das aus allgemeinen Wahlen hervorgeht, besteht neben dem König; die Versicherung, daß alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht und daß das Folketing dessen alleinige oder wichtigste Repräsentanz ist, fehlt im Verfassungstext, so daß für Verfassungsentwicklungen und -auslegungen Raum ist; wer sich auf den Text verläßt, wird allerdings feststellen können, daß hier ein echter Konstitutionalismus tradiert und konstituiert wird, nämlich ein Miteinander von je eigenberechtigter königlicher und parlamentarisch-demokratischer Gewalt; für diese Einschätzung läßt sich auch das Verfahren der Verfassungsänderung anführen, das Parlamentsbeschluß, Volksentscheid und monarchische Bestätigung verbindet 46 . 44
Spanien Art. 1 f., Art. 56 ff., Art. 166 ff. Dazu näherhin Bradley/Ewing, Constitutional and Administrative Law, 12. ed. 1997, S. 54 ff., 253 ff. 45
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Die Skizze zeigt, daß das monarchische Prinzip, das einst die Wiener Schlußakte vorschrieb, in sämtlichen Monarchien der Union überholt ist. Aber sie zeigt auch, daß nicht in allen Mitgliedstaaten „alle" Staatsgewalt ausschließlich vom Volk ausgeht. Die Monarchen amtieren außerhalb der durch Wahlen vermittelten demokratischen Legitimität, üben aber durchweg ein verfassungsmäßig begründetes und begrenztes Amt aus, das allerdings in Dänemark und Großbritannien noch altständische Züge einer dualistischen Herrschaftsstruktur trägt. Eine solche Struktur äußert sich auch in Verfahren zur Verfassungsänderung, die verhindern, daß die verfassungsrechtliche Position des Monarchen gegen dessen Willen modifiziert werden darf. Von einer konstitutionellen Monarchie ließe sich jedoch nur sprechen, wenn dem Monarchen eine dominante Herrschaftsgewalt zukäme und das Parlament auf Mitwirkung beschränkt wäre. Das ist nirgends der Fall. Die monarchischen Ämter sind im wesentlichen traditions- und symbolträchtig; sie markieren die staatliche und politische Einheit einer pluralistischen, häufig multikulturellen Gesellschaft; sie stiften Identität und dienen im übrigen zur Gewaltenhemmung. Da sie nach dynastischen statt nach (partei-)politischen Regeln besetzt werden, lassen sie sich nicht als Vorbilder für lebenszeitliche Präsidentschaften oder für Staatsleitungen in Anspruch nehmen, die ohne demokratische Legitimation von einer „politischen Familie" auf Dauer bestimmt werden, sei diese eine Aufstandsbewegung, eine Militär- oder Priesterclique. Derartige Staatsleitungen fielen auch dann aus dem unionsvertraglich tolerierten Rahmen, wenn sie verdeckt gesteuert würden, wie dies der Regierung der Türkei im Verhältnis zu deren Militär nicht selten nachgesagt wird. Die Verfassungen aller Mitgliedstaaten der Union räumen den Parlamenten nicht nur die hauptsächliche organschaftliche Repräsentation des Volkes ein, sondern auch die maßgebenden Entscheidungsbefugnisse bei der Verfassungund Gesetzgebung, bei der Budgetfeststellung, bei der auswärtigen Gewalt 47 sowie bei der Regierungsbildung, -führung und -kontrolle. Maßgebend kann, typisierend, heißen: Initiativmonopol, Initiativbefugnis, dezisive Vetobefugnis, Kompetenz zu verbindlicher Entscheidung. Im Querschnitt betrachtet, zeichnen die Verfassungen die nationalen Parlamente - man kann sagen: erwartungsgemäß - unterschiedlich aus; aber sie stimmen doch strukturell darin überein, daß die wesentlichen staatsleitenden Entscheidungen auch parlamentarischen Initiativen zugänglich sind und jedenfalls innerstaatlich in den Parlamenten mit
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Dänemark §§ 1 ff., § 12, § 28, § 88. Zur Mitwirkung der Legislative an der auswärtigen Gewalt, insbesondere am Abschluß internationaler Verträge und an Verträgen zum Ausbau der Union vgl. Belgien Art. 167; Dänemark § 19, Deutschland Art. 23 f., 59; Finnland § 33; Frankreich Art. 52 ff.; Griechenland Art. 36; Irland Art. 29; Italien Art. 80, 87 VIII; Luxemburg Art. 37; Niederlande Art. 91 ff.; Österreich Art. 23 a, 50, 65 I; Portugal Art. 164 Buchst, j); Schweden Kap. 10; Spanien Art. 63 II, 93 ff. 47
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Mehrheitsbeschlüssen getroffen werden. Mit der Ausnahme Großbritannien sind die Parlamentsentscheidungen allerdings in gewaltenteilende und hemmende Mitwirkungsverfahren, anders gesagt: in eine organschaftliche Gewaltenbalance eingebunden. Im einzelnen bieten die Verfassungen hier aber ein buntes Bild. Dieses Bild hinsichtlich der Gesetzgebung auszuführen, wäre schon deshalb aufschlußreich, weil die Gesetzgebung nach wie vor und trotz der dank Parteienstaatlichkeit und Verdichtung des Völkerrechtsverkehrs erstarkten Regierungsgewalt die führende Staatsfünktion ist, eben weil das Parlament durch sie den Volkswillen repräsentativ, politisch konzentriert und rechtlich verbindlich äußert. Statt der notwendigerweise umfangreichen Querschnittsstudie genügt hier zur Andeutung der Unterschiede ein Vergleich von Deutschland, Frankreich und Schweden. In den drei Staaten ist das Parlament - Bundestag mit Bundesrat, Nationalversammlung und Senat, Reichstag - das Hauptorgan für Gesetzgebung samt Finanz-, Vertrags- und Verfassungsgesetzgebung. Die parlamentarische Gesetzgebungskompetenz richtet sich in Deutschland zum einen nach der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern, die wie in Österreich zu föderativen Begrenzungen führt, zum anderen nach Gesetzesvorbehalten, die durch die Wesentlichkeitstheorie eine unbestimmt weite Auslegung erfahren haben; deshalb bedürfen Verordnungen bestimmter, inhaltlich definierter Gesetzesermächtigungen. Die schwedische Verfassung normiert ebenfalls Gesetzesvorbehalte, die den Parlamentsgesetzgeber erfordern, aber nicht begrenzen; Regierungsverordnungen sind in diesen Bereichen auf gesetzliche Ermächtigungen angewiesen, dürfen ansonsten aber auch gesetzesvertretend ergehen 48. Dagegen wird der Parlamentsgesetzgeber in Frankreich auf enumerierte Materien beschränkt; die Gesetzesvorbehalte definieren zugleich die Grenze zur verfassungsunmittelbaren Verordnunggebung, für die eine gegenständlich nicht begrenzte Kompetenz vorgesehen ist; die Regierung kann zudem vom Parlament die Ermächtigung zu gesetzesvertretenden Verordnungen verlangen. Man kann daraus schließen, daß parlamentarisch eine Gesetzgebung auch heißen kann, die gegenständlich begrenzt ist und, anders als in Deutschland oder Schweden49, kein unbeschränktes Zugriffsrecht auf beliebige Gesetzgebungsmaterien zur Verfugung hat. Die Gesetzesinitiative steht in den drei und in allen anderen Mitgliedstaaten den Parlamentsmitgliedern, aber auch
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Schweden Kap. 8. Kap. 8 § 14 der schwedischen Verfassung normiert ausdrücklich ein parlamentarisches Zugriffsrecht: „Die Befugnis der Regierung, in einem bestimmten Bereich Vorschriften zu erlassen, stellt für den Reichstag kein Hindernis dar, im selben Bereich Vorschriften durch Gesetz zu erlassen.'4 Anders dagegen Art. 37 der französischen Verfassung: „Die Gegenstände, die nicht zum Bereich der Gesetzgebung gehören, werden auf dem Verordnungswege geregelt. Texte in Gesetzesform, die für diesen Bereich erlassen worden sind, können ... durch Verordnungen geändert werden. 44 49
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- und faktisch in erster Linie - der Regierung beziehungsweise dem Regierungschef zu, an deren Stelle in Belgien, Dänemark, Luxemburg sowie in den Niederlanden die Monarchen gesetzt sind, so daß hier wieder ein konstitutionell-monarchisches Merkmal zu verzeichnen ist 50 . Den maßgebenden Gesetzesbeschluß faßt, abgesehen von Volksentscheiden, durchweg die - demokratisch gewählte - Abgeordnetenkammer, die in Staaten mit Zweikammersystemen aber noch der Mitwirkung, nicht selten auch der Zustimmung der Mehrheit der anderen Kammer bedarf. Das Profil des Parlamentarismus wird dadurch, besonders aber durch die weitere Mitwirkung durch gubernative Organe der Staatsleitung geprägt, die in allen Mitgliedstaaten von der Initiative bis zur Publikation an der Legislative beteiligt sind. In der Regel folgt dem maßgebenden Parlamentsbeschluß noch eine gubernative Zustimmung, und zwar durch das Staatsoberhaupt - Monarch beziehungsweise Präsident - bei Gegenzeichnung durch parlamentarisch verantwortliche Mitglieder der Regierung; nur in Schweden bleibt der König ohne Mitwirkung; die Gegenzeichnung erfolgt dort regierungsintern 51; die Befugnisse zu Zustimmung und Verkündung können Prüfungsbefugnisse umfassen - so in Deutschland trotz der insgesamt schwachen Position des Bundespräsidenten und so in Griechenland, wo der Präsident verabschiedete Gesetze an das Parlament zurückverweisen darf 52 ; der französische und der irische Präsident besitzen überdies die außerordentliche Kompetenz, darüber zu entscheiden, ob ein Gesetz noch dem Volksentscheid zu unterstellen ist 53 : hier sprechen volksgewählte Präsidenten mit dem Souverän. Zusammengefaßt, ergibt der Überblick über das Gesetzgebungsverfahren den Befund, daß die Verfassungen aller Mitgliedstaaten die Gesetzgebung im Sinne einer gemischten Staatsleitung organisiert, dabei aber dem Parlament die maßgebende legislative Inhaltsbestimmung vorbehalten haben. Parlamentarisch kann diese Gesetzgebung heißen, weil sie im Parlament ihr Entscheidungszen-
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Belgien Art. 75 I; Dänemark Art. 21; Deutschland Art. 76; Finnland § 18 (Präsident! und Parlament); Frankreich Art. 39 I (Premierminister u. Parlamentsmitglieder); Griechenland Art. 73 I; Irland Art. 20 (unbestimmt); Italien Art. 71; Luxemburg Art. 47 (konstitutionelles Wechselspiel zwischen Großherzog u. Kammer!); Niederlande Art. 82 f.; Österreich Art. 41; Portugal Art. 170; Schweden Kap. 8 § 1 (unbestimmt); Spanien Art. 87 (Regierung, nicht König u. beide Kammern der Cortes Generales). In Staaten mit zwei Kammern, insbesondere in denen mit einer föderalen Kammer, sind die Initiativbefugnis sowie das Einbringungsverfahren komplexer gestaltet. 51 Belgien Art. 109 mit Art. 106; Dänemark § 22 mit § 12; Deutschland Art. 82 mit Art. 58; Finnland § 19 mit § 34 II; Frankreich Art. 10 mit Art. 19; Griechenland Art. 42 mit Art. 35; Irland Art. 13 III, 25 mit Art. 13 IX; Italien Art. 73, 87 V mit Art. 89; Luxemburg Art. 34 mit Art. 45; Niederlande Art. 47; Österreich Art. 47; Portugal Art. 137 Buchst, b), 139 mit Art. 143; Schweden Kap. 8 § 19 mit Kap. 7 § 7; Spanien Art. 62 Buchst, a), 91 mit Art. 64. 52 Griechenland Art. 42; ähnlich Portugal Art. 139. 53 Frankreich Art. 11 (auf Vorschlag der Regierung oder beider Kammern); Irland Art. 27 (auf Vorschlag einer qualifizierten Mehrheit jeder der beiden Kammern).
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trum hat und sofern sie im Vergleich zur gubernativen Verordnunggebung von substantieller Bedeutung für das Staatsganze ist 54 ; das Beispiel Frankreich und der tatsächliche Anstieg der nationalen und supranationalen gubernativen Rechtsetzung zeigen allerdings, daß die als demokratisch-parlamentarisch geltenden Regierungssysteme ein erhebliches Maß an rechtsetzender Regierungsstaatlichkeit einschließen können. Das demokratisch-parlamentarische Profil eines Regierungssystems hängt deshalb vor allem vom Einfluß des Parlamentes auf die Regierungsbildung, fuhrung und -kontrolle ab. Deshalb hat die Verfassungsvergleichung darauf besonders Bedacht zu nehmen. In den meisten Mitgliedstaaten werden Ernennungen und Entlassungen von Regierungschefs und Ministern formell dem - monarchischen oder präsidentiellen - Staatsoberhaupt überantwortet 55. Die Verfassungen folgen insoweit monarchischen Strukturen. Eine Ausnahme macht nur das Königreich Schweden56: Hier fertigt der Reichstagspräsident im Namen des Reichstages die Ernennung zum Ministerpräsidenten aus, und dieser ernennt „die übrigen Minister"; für Entlassungen gelten die gleichen Kompetenzen. Das materielle Regierungsbildungsrecht ist dagegen vielfach, aber nicht durchweg beim Parlament angesiedelt. Dabei lassen sich Kanzler- und Kollegialsysteme unterscheiden, je nachdem ob nur der Regierungschef vom Parlament bestimmt - gewählt und vorgeschlagen - wird oder auch die übrigen Regierungsmitglieder parlamentarisch legitimiert werden 57. Die parlamentarische Legitimation der Regierungsmitglieder ist allerdings recht unterschiedlich gestaltet: Manche Verfassungen setzen sie als informelle, in Parteien- und Fraktionswesen angelegte, vor-organschaftliche Verfahren voraus; Irland erwartet sie
54 Eine kritische Linie dürfte überschritten sein, wenn die gubernative Verordnungsgewalt sich vom Gesetz lösen kann und an Bedeutung die Parlamentsgesetzgebung überflügelt; insoweit gibt die Verfassung Frankreichs einen unteren Maßstab an. 55 Belgien Art. 96, 104; Dänemark § 14; Deutschland Art. 63 II 2, 64 I; Finnland § 36 II, Frankreich Art. 8; Griechenland Art. 37; Irland Art. 28 I; Italien Art. 92; Luxemburg Art. 77 (Art. 76 spricht von „seiner", des Großherzogs, Regierung); Niederlande Art. 42 f. (gem. Art. 42 I besteht die Regierung aus dem König u. den Ministern, einschließlich des Ministerpräsidenten); Österreich Art. 70 I; Portugal Art. 190 (Art. 186 f. unterscheiden den aus Ministern bestehenden Ministerrat von der die Staatssekretäre einschließenden Regierung); Spanien Art. 99 f. - Ergänzend ist zu berücksichtigen, daß in Monarchien die Parlamente ggf. Regentschaften u. Dynastien bestimmen: Belgien Art. 90 ff.; Dänemark §§ 9 ff.; Luxemburg Art. 7; Niederlande Art. 30, 34 f.; Schweden Kap. 5 §§ 5 f.; Spanien Art. 59 f.; zum Vereinigten Königreich vgl. Bradley/Ewing (s.o. Fn. 45), S. 254 f. 56 Schweden Kap. 6 §§ lf. 57 Kanzlersystem: Belgien Art. 96 II; Deutschland Art. 63; Griechenland Art. 37; Portugal Art. 190 I; Schweden Kap. 6 §§ 1 ff.; Spanien Art. 99 I. - Kollegialsystem: Finnland Art. 36 II; Irland Art. 28 V I I (arg. aus der Norm, daß die wichtigsten Regierungsmitglieder dem Parlament angehören müssen); Italien Art. 94 (Modifikation: 10 Tage nach ihrer Bildung bedarf die Regierung des Vertrauensvotums).
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offenbar aus der Verbindung von Regierungsamt und Parlamentsmandat; Griechenland knüpft das Amt des Ministerpräsidenten an Fraktionsmehrheiten; Portugal macht seine Besetzung von der „Berücksichtigung des Wahlergebnisses" und der „Anhörung der in der Versammlung der Republik vertretenen Parteien" abhängig58; die schwedische Verfassung sieht lediglich eine „Beratung" des Reichstagspräsidenten mit den „Vertretern aller Reichstagsfraktionen" über die Ministerpräsidentschaft vor 59 ; Deutschland stützt sein Kanzlersystem auf eine mehrheitssichernde Parlamentswahl, während die französische und die luxemburgische Verfassung das Regierungsbildungsrecht des Präsidenten beziehungsweise des Großherzogs nicht durch normierte Parlamentsmitwirkungen stören 60; auch der niederländische Ministerrat ist normativ auf den König ausgerichtet, mit dem zusammen er die „Regierung" bildet, und wird formell allein vom König organisiert; ein Ministeramt ist in der Regel sogar inkompatibel mit einem Mandat in den Generalstaaten61. Die Entsetzung von Ministerämtern kann durch Mißtrauensvoten in Dänemark, Finnland, Griechenland, Österreich und Schweden jeden einzelnen Minister, in Dänemark auch, in Deutschland, Irland und Portugal nur den Regierungschef und mit diesem die gesamte Regierung treffen 62 ; Belgien kennt wie Deutschland das Institut des konstruktiven Mißtrauensvotums gegen den Regierungschef 63. Wer diesen Vergleichsbefund auf Stimmigkeit hin untersucht, wird enttäuscht werden. Das Gesamtbild ist durch nationale Besonderheiten geprägt, die weniger Systemdenken als vielmehr nationalstaatliche Traditionen und von dem jeweiligen Verfassunggebern vorgestellte politische Konstellationen ausdrücken. Auffällig sind insbesondere die unbelichteten Flecken. Manche Verfassungen sagen zur parlamentarischen Mitwirkung bei der Regierungsbildung wenig bis gar nichts. Dieser Parlamentarismus hat also Lücken und Dunkelfelder. Zwar zeigt die Staatspraxis die europaweite Bedeutung der Parteien und Fraktionen. Tatsächlich kann man davon ausgehen, daß die Regierungsbildung, -flihrung und -umbildung durch die Wahlergebnisse und die durch diese bestimmten politischen Kräfte gesteuert werden. Aber diese Praxis kann sich ändern. Sie ist nicht überall Verfassungsnorm und taugt daher wenig zur Beurteilung der etablierten Mitgliedstaaten, gar nichts zur Bewertung neuer, in de58
Portugal Art. 190 I. Schweden Kap. 6 § 2 I. 60 Frankreich Art. 8, Luxemburg Art. 76; Österreich Art. 76 III läßt auf eine vorherige Mitwirkung des Nationalrates schließen. 61 Niederlande Art. 43 ff., Art. 57; gem. Art. 49 haben Minister u. Staatssekretäre ihren Verfassungseid vor dem König, nicht vor dem Parlament zu leisten. 62 Dänemark § 15; Deutschland Art. 67; Finnland Art. 36b I; Griechenland Art. 84; Irland Art. 28 Χ, XI; Österreich Art. 74 I; Portugal Art. 198; Schweden Kap. 6 § 5 mit Kap. 12 §4; Spanien Art. 113 ff. 63 Belgien Art. 96 II; Deutschland Art. 67. 59
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nen sich eine parlamentarische Praxis erst noch entwickeln muß, bis sie die Verfassungskrafit des britischen Parlamentarismus erreicht. Derzeit kann jedenfalls nur die Erkenntnis festgehalten werden, daß die Verfassungen der Unionsstaaten die maßgebende Bestimmungsgewalt der Parlamente bei der Regierungsbildung nicht zum selbstverständlichen Inhalt ihres parlamentarischen Regierungssystems erklären. Daß vorstaatliche Kräfte wie Parteien das Geschehen bestimmen, hebt den Lückenbefund für die Staaten nicht auf, die in ihren kodifizierten Verfassungen die wesentlichen Verfassungsstrukturen normiert wissen wollen. So gesehen, läßt der Unionsvertrag bei der Regierungsbildung recht freie Hand. Parlamentarisch wird eine Regierung aber auch deshalb genannt, weil und insoweit sie parlamentarischer Kontrolle untersteht. Dafür gibt es bewährte, differenzierte Verfahren, die sich in dem Begriff der parlamentarischen Verantwortlichkeit zusammenfassen lassen. Gibt es so etwas in allen Mitgliedstaaten der Union, und mit welchen Konsequenzen? Die Antwort fällt hier ziemlich eindeutig aus: Sämtliche Mitgliedstaaten haben die parlamentarische Verantwortlichkeit normiert 64 und sie durch das Institut der Gegenzeichnung auf Akte der Staatsoberhäupter ausgedehnt65. Allerdings markiert Frankreichs Präsidialdemokratie insoweit eine untere Grenze, indem sie die Regierungsverantwortung ebenso begrenzt wie die Gegenzeichnungsbedürftigkeit von Präsidialakten66. In Belgien, Dänemark, Luxemburg, den Niederlanden und in Portugal besteht überdies eine Verantwortlichkeit gegenüber dem Monarchen beziehungsweise Präsidenten 67, die daraufhin eine Regierung notfalls auch gegen das Parlament halten können, da sie die Befugnis zur Parlamentsauflösung besitzen68. Überwiegend lösen parlamentarische Mißtrauensvoten aber die Been-
64 Belgien Art. 101 I, 103; Dänemark §§ 13, 15; Deutschland Art. 65; Finnland §§ 36 I, 43; Frankreich Art. 20 II; Griechenland Art. 84 ff.; Irland Art. 28 IV Nr. 1 (Präsident: Art. 12 X, 13 VIII); Italien Art. 94 f.; Luxemburg Art. 78, 80 ff. mit Art. 51 I; Niederlande arg. Art. 42 II, 48; Österreich Art. 76; Portugal Art. 193 ff.; Schweden Kap. 1 § 6 S. 2; Spanien Art. 108 ff., 113; zur Rechtslage in Großbritannien vgl. Bradley/Ewing (s.o. Fn. 45), S. 113 ff., 300: Questions of Procedere for Ministers i.d.F. v. 1995. 65 Belgien Art. 106; Dänemark § 14; Deutschland Art. 58; Finnland § 34; Frankreich Art. 19; Griechenland Art. 35 (mit Ausnahmen); Irland Art. 13 IX, X (Besonderheit: der Präsident handelt nur auf „Rat" der Regierung); Italien Art. 89; Luxemburg Art. 45; Niederlande Art. 47; Österreich Art. 67 II; Portugal Art. 143 (begrenzt); Spanien Art. 64. Dagegen fehlt in Schweden eine Regelung, offenbar weil dem König keine Handlungskompetenzen zugeschrieben werden. 66 Vgl. o. (Fn. 64); zur Verantwortlichkeit des Präsidenten vgl. u.a. Leclercq, Droit Constitutionnel et Institutions Politique, 9. ed. 1995, S. 639 ff. 67 Belgien Art. 88; Dänemark §§ 12 f., 16; Luxemburg Art. 78; Niederlande Art. 42 II; Portugal Art. 193 (Präsident). 68 Belgien Art. 46; Dänemark § 32 II mit § 15 II; Luxemburg Art. 74; Niederlande Art. 64; Portugal Art. 136 Buchst, e (nach Anhörung der in der Versammlung der Re-
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digung der Regierungsämter aus69. Etliche Verfassungen sehen zudem die Möglichkeit einer Ministeranklage durch das Parlament - das heißt: die Parlamentsmehrheit - vor. Im übrigen und in der Regel bedeutet parlamentarische Verantwortlichkeit die Pflicht der Regierungsmitglieder, ihre Ressort- und die Kollegialentscheidungen vor dem Parlament auch dann zu rechtfertigen, wenn sie nicht persönlich gehandelt haben, und dem Parlament zumindest auf Verlangen umfassend Rede und Antwort zu stehen sowie dafür Belege zu liefern. Die einschlägigen Kontrollinstrumente sind teils in den Verfassungen und Geschäftsordnungen positiviert, teils durch Verfassungsrechtsprechung und Verfassungskonventionen festgelegt. Der britische Parlamentarismus wird insoweit oft als Vorbild akzeptiert 70, obwohl er dank des Mehrheitswahlsystems zur Verstärkung der Regierungsgewalt geführt und den Einfluß des Parlaments während der Legislaturperioden relativiert hat. Was ergibt, zusammengefaßt, die Verfassungsvergleichung für ein Profil des europäischen, demokratisch-parlamentarischen Regierungssystems? Man könnte jenseits aller Besonderheiten ein typisierendes Durchschnittsprofil erstellen, das auf diese oder jene unparlamentarischen Regeln ebensowenig Rücksicht nähme wie auf besonders ausgebildete Parlamentsbefügnisse. Doch riskierte man dann Unwerturteile über die Regierungssysteme mancher Mitgliedstaaten, die stärkeren Wert auf eine stabile gouvernementale Staatsleitung durch einen Präsidenten, Monarchen, Kanzler oder durch ein Regierungskollektiv als auf Parlamentsmehrheiten legen. Solche Unwerturteile wären jedoch unangebracht, wenn die Auslegung des Un ions Vertrages zugrunde gelegt wird, daß die Mitgliedstaaten ein demokratisch-parlamentarisches Regierungssystem ihr eigen nennen können. Deshalb hat die Profilbestimmung dieses Systems sich nach den Minima zu richten. Vertragspolitisch hat dies zur Folge, daß der Systembegriff für Verfassungsentwicklungen und Aufnahmekriterien geöffnet ist. Demnach läßt ein Regierungssystem sich dann als demokratisch-parlamentarisch bestimmen, wenn es ein aus Volkswahlen hervorgegangenes Repräsentativorgan umfaßt, das für die wichtigen staatsleitenden Entscheidungen durch Gesetzgebung dauernd kompetent, an der Regierungsbildung beziehungsweise -ablösung irgendwie beteiligt und zur permanenten Kontrolle der Gubernative derart befugt ist, daß die Staatsleitung sich aus dem Zusammenwirken von Parlament und von Regierung ergibt und ein irgendwie gemischtes System von checks and balances71 funktioniert.
publik vertretenen Parteien!). Auch in Frankreich kann der Präsident eine Regierung halten: vgl. Leclercq (s.o. Fn. 66), S. 640 f. 69 Vgl. o. (Fn. 62, 63). 70 Dazu Bradley/Ewing (s.o. Fn. 45), S. 113 ff.; Leclercq (s.o. Fn. 66), S. 329 ff. (mit der aus französischer Sicht merkwürdigen Frage, ob das britische Regime noch parlamentarisch sei), 633 ff.; Grewe/Fabri (s.o. Fn. 27), S. 521 ff.
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IV. Welche Grundsätze der Demokratie ergeben sich aus der Zusammmenschau von Ideengeschichte, Vertragsauslegung und Verfassungsvergleichung und welche Strukturen kennzeichnen demgemäß die demokratische Regierung? Der erste Eindruck, den die Überblicke vermitteln, ist zwiespältig: Die gemeinte Demokratie bleibt ein Prinzip von hoher Abstraktion, das vielerlei Ausformungen zuläßt, und dies um so mehr, als es nur in seinen Grundsätzen Anerkennung sowie Entwicklung erfordert; seine staatenspezifischen Konkretionen, die im Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten zum Ausdruck gekommen sind und deren Identität profilieren, veranschaulichen hingegen die Vielgestaltigkeit demokratischer Regierungssysteme, und man kann daraus schließen, wie viele Spielräume die Völker der Europäischen Union zur Verfügung haben, um ihre Regierungssysteme in einem vertragsgemäßen Zustand zu halten, und wie viele Toleranzen bei Neuaufnahmen beobachtet werden dürfen. Aber die identitätsstiftenden und deshalb zu respektierenden Besonderheiten sind nur dann tolerabel, wenn sie gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen. Durch diese Gemeinsamkeiten bildet die Union ihre demokratische Struktur insgesamt und dezentral aus. Wahrscheinlich zielt der Unionsvertrag auf ein kohärentes Konzept von parlamentarischer Demokratie, das sich nicht am untersten Niveau der mitgliedstaatlichen Gemeinsamkeiten orientiert, sondern irgendeinen optimierten Parlamentarismus meint. Aber dessen Anforderungen werden nicht ausgedrückt, so daß sie auch nicht als rechtsnormatives Pflichtprogramm gelten können. Die Optimierung bleibt also der europäischen Verfassungspolitik überantwortet. Bis diese einen Konsens gefunden hat, muß man mit Mindestanforderungen rechnen. Dabei kommt es in erster Linie auf die Organisation der Volkssouveränität an. Sie setzt staatsrechtliche Definitionen der Völker derart voraus, daß in der Union Angehörigkeitskonflikte aufgehoben werden und die Unionsbürgerschaft konfliktfrei entwicklungsfähig bleibt; sie erfordert zudem die Begründung eines allgemeinen Wahlrechts, das Repräsentationsorgane einzurichten und zu legitimieren gestattet. Die Verfassungen der Mitgliedstaaten ergeben dazu eine gewisse Typik der Regierungsorganisation. In sämtlichen Mitgliedstaaten besteht eine aus Wahlen hervorgehende Volksvertretung, die an der Gesetzgebung maßgeblich beteiligt ist, diese aber nicht durchweg beherrscht, die an der Regierungsbildung mitwirkt, diese aber nicht alleine in der Hand hat, die jedenfalls die Regierung parlamentarisch kontrolliert und deren Schicksal (partei-)politisch, aber nicht unbedingt verfassungsrechtlich bestimmen kann;
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Ähnlich unbestimmt schon Bagehot (s.o. Fn. 25).
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insoweit beruht der grundsätzlich intendierte Parlamentarismus stärker auf dem Parteiensystem als auf organschaftlichen Verfahren. Die parlamentarische Demokratie setzt die effektive Geltung von Meinungs-, Medien-, Vereinigungssowie Parteifreiheit und die politische Wettbewerbsfreiheit sowie die Chancengleichheit der Opposition voraus 72 ; demnach kann demokratisch nur ein politisches System genannt werden, das dem politischen Pluralismus Raum gibt. Aber in einem demokratischen Grundsätzen entsprechenden Regierungssystem brauchen nicht alle staatsleitenden Organe gleichermaßen demokratisch legitimiert zu werden. Der Unionsvertrag anerkennt auch monarchische Staatsoberhäupter - und bei diesen ressortierende Verwaltungsbefugnisse -, die nicht durch Wahlen legitimiert sind, deren Kompetenzen aber auf der Verfassung beruhen und deshalb jedenfalls regelmäßig - Ausnahme: Großbritannien - durch die verfassunggebende Gewalt des Volkes gestützt werden. Wenn die Demokratie sich mit dem dynastischen Prinzip verträgt, müssen auch lange Amtszeiten und Wiederwahlen republikanischer Präsidenten tolerabel sein. Man kann schließlich auch der kollegialen Regierung - im engeren, institutionellen Sinne - keine Demokratiedefizite vorwerfen, wenn sie dem Parlament gegenüber eine infolge ihrer Initiativbefugnisse, Verordnungs- sowie Verwaltungskompetenzen und außenpolitischen Staatsleitung starke Stellung einnimmt und vom Parlament zwar materiell kontrolliert, aber nicht ohne weiteres ein- und abgesetzt werden kann; es genügt typischerweise irgendein gewaltenbalancierender parlamentarischer Einfluß auf die Regierungsbildung, fiihrung und -kontrolle. Sowohl der Unionsvertrag als auch die Verfassungen der Mitgliedstaaten legen Wert auf eine demokratisch durch Wahlen legitimierte, aber auch regierungsfähige Regierung. Das Regierungssystem der Union weicht von diesen Vorgaben ersichtlich ab. Soll es gleichwohl demokratisch sein oder werden, muß es also strukturähnlich sein. Wie? Wegen der völkerrechtlichen Entstehung und Funktionsbereiche der Union kommt deren Rat der Staatschefs eine Stellung zu, die Funktionen eines starken Staatsoberhauptes und einer starken Regierung umfaßt. Sie sind insoweit zwar nationaldemokratisch rückgebunden, aber nicht unionsparlamentarisch beeinflußt. Ein solcher Einfluß ist aber erforderlich, wenn der Rat supranationale Kompetenzen ausübt, denen eine Durchgriffsgeltung zukommt. Dieses Bedenken betrifft auch die Kommission. Nicht daß sie eine starke Stellung im Organisationsgeflige der Union einnimmt, stimmt bedenklich, sondern daß ihr Kooperationsverhältnis zum Parlament der Union zu schwach ausgebildet ist. Stärkte man aber die Mitwirkungs- und Kontrollkompetenzen des europäischen Parlamentes, dann bliebe immer noch die Frage, ob dessen Legitimation und Legitimationskraft hinreichend demokratisch sind, wenn sie nur aus 72 Bedenklich daher Art. 51 IV der portugiesischen Verfassung, der die Bildung von Regionalparteien untersagt.
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Voten der verschiedenen „Völker" hervorgehen. Wer sich mit dem Bundesverfassungsgericht am nationalstaatlichen Einheitsvolk und an dessen angeblich unteilbarer Souveränität als Vorbildern orientiert, wird das derzeit praktizierte, in den verschiedenen Völkern der Mitgliedstaaten stattfindende Wahlverfahren ftir ungenügend halten und eine Einheitswahl durch ein gesamteuropäisches Volk verlangen. Manche in diese Richtung weisenden Vorschläge zum Ausbau der Union erwecken allerdings den Eindruck, als solle die Formulierung einer solchen reinen Lehre der Demokratie weniger die Union stärken, als vielmehr den traditionellen Nationalstaat erhalten. Doch der Blick auf die nationalstaatlichen Verfassungen lehrt, daß die Souveränität in Bundesstaaten durchaus teilbar, jedenfalls unentschieden73 gedacht werden und daß die demokratische Legitimation auch durch Teilvölker und Volksteile erfolgen kann. Die deutschen Kommunen sowie kommunale Verbände und einige Zweite Kammern der Mitgliedstaaten werden so legitimiert, und die belgischen Gemeinschaften differenzieren das Volk der Belgier inzwischen so stark, daß die staatsrechtliche Einheit zum Verfassungstheorem degeneriert und Form ohne Inhalt geworden ist. Staaten mit starken, selbstbewußten Minderheiten könnten ähnliche Entwicklungen dahin nehmen, daß Volksrepräsentationen auf die Binnengliederung des Volkes Rücksicht nehmen, indem sie etwa nach Quoten besetzt werden. Derartige Differenzierungen der Gestalt des demos passen das abstrakte Prinzip der Demokratie den politischen Entwicklungen an. Sie lassen ein Parlament daher auch dann als demokratisch erscheinen, wenn es aus koordinierten Wahlen verschiedener Staatsvölker hervorgeht. Die so organisierte Demokratie der Union ist, auf den Begriff gebracht, eine Verbandsdemokratie. Sie zeichnet sich dadurch aus, daß sie von Individuen, den Unionsbürgern, statt von einem Kollektiv hervorgebracht wird, dessen Zusammenhang allenfalls ein Produkt der Gemeinschaftsideologie sein könnte. Das moderne Demokratieverständnis leitet sich hingegen aus Menschenrechten statt aus sogenannten Gemeinschaftssubstanzen oder -werten ab.
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Vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre, 4. Aufl. 1928/1965, S. 373.
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„Rule of Law" und Gouvernanz in der entwicklungs- und transformationspolitischen Zusammenarbeit Von Klaus König'
I. Wertmaßstäbe in der internationalen Kooperation Es ist eine offene Frage, ob sich Staat und öffentliche Verwaltung der westlichen Industrieländer und Demokratien in einer Phase des Übergangs von der Moderne zur Post-Moderne befinden. Formeln wie „Reinventing Government", „New Public Management", „Skeleton Administration", „Neues Steuerungsmodell" 1 könnten darauf hinweisen, daß eine klassische Säule der Moderne, nämlich die bürokratische Verwaltung als ausdifferenziertes Funktionssystem für öffentliche Angelegenheiten, bröckelt und der Markt das Band ist, das die post-moderne Gesellschaft und ihren Staat in einer globalisierten Welt zusammenhält. Dann wäre auch der öffentliche Sektor zumindest von Steuerungsmechanismen der Quasi-Märkte und des virtuellen Wettbewerbs beherrscht. Beobachtet man indessen konkrete öffentliche Verwaltungen, wie etwa die eines verstaatlichten Gesundheitswesens, dann fällt es schwer anzunehmen, daß die historische Schwelle zu einer neuen Epoche bereits überschritten ist. Wartelisten für Kranke sind nicht gerade die Symbole einer funktionierenden Marktwirtschaft. Das schließt nicht aus, daß sich der westliche Verwaltungsstaat in einer Spätmoderne befindet, in der Ausschau nach etwas anderem gehalten wird. 2
* Herrn Ass. jur. Stephan Schwamborn danke ich für die Literaturzusammenstellung. 1 Osborne, David/Gaebler, Ted, 1992. Reinventing Government. How the Entrepreneurial Spirit is Transforming the Public Sector, Reading; Ridley, Frederick 1995. Die Wiedererfindung des Staates - Reinventing British Government. Das Modell einer Skelettverwaltung, in: Die Öffentliche Verwaltung, S. 570 f f ; Damkowski, Wulf/Precht, Claus , 1995. Public Management - Neuere Steuerungskonzepte fur den öffentlichen Sektor, Stuttgart/Berlin/Köln; Banner, Gerhard, 1993. Konzern Stadt, in: Hermann Hill/Helmut Klages, Qualitäts- und erfolgsorientiertes Verwaltungsmanagement, Berlin, S. 57 ff. 2 Luhmann, Niklas , 1992. Beobachtungen der Moderne, Opladen; Roellecke, Gerd, 1998. Gesetz in der Spätmoderne, in: Klaus König (Hrsg.), Gesetzgebung und Regie9·
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Eine Phase des Übergangs läßt sich demgegenüber in zwei anderen Gesellschaftsformationen genügend sicher feststellen: erstens in Entwicklungsländern und zweitens in Ländern in Transformation. Das Konzept der Entwicklungsverwaltung läßt sich in zwei Dimensionen verstehen.3 Einmal geht es um die Entwicklung der öffentlichen Verwaltung. Sie befindet sich in einer Übergangsphase von der funktional diffusen Sozialstruktur der traditionalen Gesellschaft zu der funktional differenzierten Sozialstruktur entwickelter Zivilisationen. In der „prismatischen" Übergangsphase mischen sich strukturelle Spezialisationen und noch traditionale Bereiche. 4 Zum anderen geht es um die Verwaltung der Entwicklung. Hier hat sich die öffentliche Verwaltung mit gesellschaftlichen materiellen wie immateriellen Mängelzuständen auseinanderzusetzen: von der mangelnden Befriedigung der Grundbedürfnisse über technologische Rückstände bis zur noch nicht zufriedenstellenden Institutionenbildung.5 Beim Konzept der Transformation handelt es sich darum, die Umwandlung der gesamten Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der realsozialistischen Länder zu erfassen: weg von der Nomenklatur-Herrschaft, der Plan- und Verwaltungswirtschaft, der Kaderverwaltung. 6 Die postsozialistischen Länder befinden sich in einer Übergangsphase, in der eine neue soziale Funktionsorientierung, insbesondere eine Arbeitsteilung zwischen Staat und Wirtschaft mit öffentlichen Interventionen in den Bereichen von Ordnung, Kompensation und Förderung gefunden wird, die öffentliche Verwaltung reorganisiert, der öffentliche Dienst jenseits politisch-ideologischer Qualifikation professionalisiert werden muß usw. Die Finalität dieser historischen Prozesse ist nicht ohne weiteres zu identifizieren. Man hat von „nachholender Modernisierung" gesprochen.7 Daraus spricht die Orientierung an westlichen Vorbildern. Hier ist indessen gleich daran zu erinnern, wie scharf die alten Modernisierungstheorien des ständigen wirtschaftlichen Wachstums und der kapitalistischen Konsumgesellschaft aus den sechziger Jahren kritisiert worden sind. Dennoch werden bei der Transformation des realen Sozialismus zwei Finalitäten weitgehend akzeptiert:
rung. Forschungssymposium anläßlich der Emeritierung von Waldemar Schreckenberger, Speyerer Forschungsberichte 184, Speyer, S. 9 ff. 3 König, Klaus, 1986. Zum Konzept der Entwicklungsverwaltung, in: ders. (Hrsg.), Öffentliche Verwaltung und Entwicklungspolitik, Baden-Baden, S. 11 ff. 4 Riggs, Fred W., 1964. Administration in Developing Countries: The Theory of Prismatic Society, Boston. 5 Balla, Bàlint , 1978. Soziologie der Knappheit, Stuttgart. 6 König, Klaus, 1992. Zur Transformation einer real-sozialistischen Verwaltung in eine klassisch-europäische Verwaltung, in: Verwaltungsarchiv, S. 229 ff. 7 Zapf, Wolfgang, 1998. Modernisierung und Transformation, in: Bernhard Schäfers/Wolfgang Zapf (Hrsg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Opladen, S. 472 ff.; Zapf, Wolfgang/Habich, Roland, 1995. Die sich stabilisierende Transformation - ein deutscher Sonderweg?, in: WZB-Jahrbuch, Berlin, S. 137 ff.
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der Übergang von Diktaturen oder autoritären Systemen in die Demokratie und von der Plan- und Kommandowirtschaft in die Marktwirtschaft. Das Konzept der Marktwirtschaft ist nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staatswirtschaft heute global und auch in Entwicklungsländern anerkannt. Es gibt eine Vielfalt konzeptioneller Varianten bis hin zur Idee einer „sozialistischen" Marktwirtschaft in China. Aber im Grunde nimmt man an, daß der Markt jener Steuerungsmechanismus ist, der Produktion, Distribution und Konsumtion von nicht-öffentlichen Gütern effektiv und effizient zum gesellschaftlichen Wohlstand abstimmt. Schwieriger ist es mit dem Konzept der Demokratie. Hier wird dem westlich-liberalen Demokratieverständnis etwa in nichtokzidentalen Kulturen eine andere Gemeinschaftsorientierung entgegengestellt, so wenn in konfuzianisch geprägten Ländern von „asiatischen Werten" die Rede ist. Dann kann die sozioökonomische Performanz einer Regierung über die demokratische Legitimation gestellt werden. 8 Immerhin ist Demokratie ein wirkungsmächtiges Konzept, das weltweit verbreitet wird wie eben das der Marktwirtschaft. Für andere soziale Handlungssphären sind entsprechende Konzepte nicht vergleichbar globalisiert, so etwa für die öffentliche Verwaltung oder für die Rechtsprechung. Man muß tiefer nach Wertmaßstäben fragen, die an die Weltgesellschaft angelegt werden, und zwar nicht bloß nach theoretischer Einsicht, sondern auch nach praktischer Erfahrung. Hier stößt man auf den Sachverhalt, daß in der Völkergemeinschaft Entwicklungs- wie Transformationsländer aus technologisch fortgeschrittenen modernen „Geberländern" finanzielle, sachliche, personelle Unterstützungsleistungen erhalten. Diese Entwicklungs- und Transformationshilfe entspricht unterschiedlichen Beweggründen: humanitären, aber auch außenpolitischen und außenwirtschaftlichen. Geberländer, die für sich Menschenrechte und Bürgerfreiheiten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zur Geltung bringen, werden aber nicht an Diktatur und Unterdrückung, Folter und Minderheitenverfolgung vorbeigehen. Die Vergabe von Entwicklungs- und Transformationshilfen wird von der Einhaltung bestimmter Wertmaßstäbe abhängig gemacht. Unterstützungsleistungen werden in der internationalen Kooperation politisch konditioniert. 9
8 Bouin, Olivier/Coricelli, Fabrizio/Lemoine, Frangoise, 1998. Different Paths to a Market Economy. China and European Economies in Transition, OECD, Paris; Heinz, Wolfgang S./Pfennig, Werner , 1997. Widerstand gegen Demokratie und Menschenrechtsinterventionen in ASEAN-Ländern, in: Rolf Hanisch (Hrsg.), Demokratieexport in die Länder des Südens?, Hamburg. 9 Pearson, Nehrere , 1995. Conditionality, Human Rights and Good Governance: A Dialogue of unequal partners, in: Konrad Günther/Erik Denters (Hrsg.), Sustainable Development and Good Governance, Dortrecht/Boston/London, S. 289 f f ; Robinson, Marc , 1993. Will Political Conditionality Work?, in: ids bulletin, Vol. 24, No. 1, S. 58-
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Einen signifikanten Anschauungsfall für politische Konditionierung durch einen nationalstaatlichen Geber bietet die Bundesrepublik Deutschland.10 In ihren Orientierungslinien der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit sind fünf Kriterien positiv bewerteter institutioneller Steuerung genannt: Erstens die Beachtung der Menschenrechte; Indikatoren dafür sind: Freiheit von Folter, Rechte bei Festnahme und im Justizverfahren, „Keine Strafe ohne Gesetz", Religionsfreiheit und Minderheitenschutz; zweitens die Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen; Indikatoren dafür sind: demokratische Wahlpraxis, freie Äußerungsmöglichkeiten der politischen Opposition innerhalb und außerhalb des Parlaments, Vereinigungsfreiheit für Parteien, Gewerkschaften, Verbände, Selbsthilfeorganisationen u. a., Presse- und Informationsfreiheit; drittens Rechtsstaatlichkeit und Gewährleistung von Rechtssicherheit; Indikatoren dafür sind: Unabhängigkeit der Justiz, „Gleiches Recht für alle", Transparenz und Berechenbarkeit staatlichen Handelns; viertens marktwirtschaftlich orientierte und sozial orientierte Wirtschaftsordnung; Wirtschaftsindikatoren sind: Schutz des Eigentums, Art des Bodenrechts, Preisfindung durch Markt, realistische Wechselkurse, Gewerbe- und Niederlassungsrecht, Wettbewerb in allen wichtigen Wirtschaftsbereichen; Sozialindikatoren sind: Säuglingssterblichkeit, Einschulung an Grundschulen; fünftens die Entwicklungsorientierung staatlichen Handelns; Indikatoren dafür sind: Ausrichtung der Regierungspolitik auf die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der ärmeren Bevölkerungsteile sowie auf den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, Bevölkerungspolitik, Militärausgaben im Verhältnis zu Gesamtausgaben.11 Eine solche politische Konditionierung jenseits der ökonomischen Absicherung von Finanzhilfen oder des Schutzes von Helfern bei Personalhilfen wirft ihrerseits Wertprobleme auf, nämlich ob Länder anderer politischer Kultur derartigen okzidental geprägten Kriterien unterworfen, ob die Transformation von Staat und Verwaltung der Zweiten Welt und die Entwicklung von Staat und Verwaltung der Dritten Welt in diese Richtung gedrängt werden dürfen. 12 Hier stößt man wiederum auf den kulturellen Relativismus mit unterschiedlichen Bewertungen von Autorität, Gruppenorientierung, Lebensunsicherheiten usw. 13
10 Beiz, Joachim, 1997. Die Demokratieexportpolitik der Bundesrepublik Deutschland, in: Rolf Hanisch (Hrsg.), Demokratieexport in die Länder des Südens?, Hamburg, S. 203 ff. 11 Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, 1996. Zehnter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung, Bonn (Bundestagsdrucksache 13/3342), S. 48. 12 Tetzlaff, Rainer, 1993. „Die Universalität" der Menschenrechte in Theorie und Praxis. Eine Einführung, in: ders. (Hrsg.), Menschenrechte und Entwicklung. Deutsche und Internationale Kommentare und Dokumente, Stiftung Entwicklung und Frieden, Bonn, S. 11-52.
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Die einen werden trotz eines beachtlichen Anteils an armer und extrem armer Bevölkerung auf Indien als alte Demokratie Asiens verweisen. Andere werden sich auf die Verbesserung des Lebensstandards in China, Leistungen in Gebieten von Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Gesundheit usw. trotz autoritären politischen Regimes, aber im Hinblick auf Werthaltungen wie Fleiß, Disziplin, Harmonie, Bildung beziehen.14
II. „Gute" staatliche Steuerung Die unterschiedlichen, insbesondere auch kulturell bedingten Einschätzungen von öffentlichen Werten und staatlichen Prinzipien im globalen Netzwerk bilateraler Zusammenarbeit lassen den Blick auf Analysen und Bewertungen internationaler Förderorganisationen fallen. Ein ganz spezifisch auf den „arbeitenden" Staat eingestelltes Konzept von Entwicklung, aber auch Transformation, ist das des „Good Governance". 15 Mit ihm ist die Frage nach einer leistungsfähigen Steuerung öffentlicher Angelegenheiten von Staats und Verwaltungs wegen und nach ihren Werten gestellt.16 Die Vorgeschichte dieses Konzepts reicht in die achtziger Jahre zurück, als in der internationalen Kooperation mit der Dritten Welt insbesondere im Zusammenhang mit Strukturanpassungsprogrammen die institutionellen Bedingungen im jeweiligen Entwicklungsland stärkeres Augenmerk fanden. Insbesondere Staat und Verwaltung gerieten ins Blickfeld. Demokratie, Achtung der Menschenrechte, Effektuierung des öffentlichen Sektors erschienen als relevante Größen. Der Ausdruck „Governance" in Verbindung mit Wertungen wie „bad" oder „poor" wird erstmals in einer Studie der Weltbank aus dem Jahre 1989 verwendet. 17 Man setzte sich mit den schlechten wirtschaftlichen Zuständen in den afrikanischen Regionen südlich der Sahara auseinander. In einer Bestandsaufnahme wurden die negativen Einflußfaktoren, insbesondere aus dem 13
Hofstede, Geert, 1993. Interkulturelle Zusammenarbeit. Kulturen - Organisationen - Management, Wiesbaden; Bliss, Frank, 1997. Kultur und Entwicklung. Ein zu wenig beachteter Aspekt in Entwicklungstheorie und -praxis, in: Entwicklung und Zusammenarbeit, Jahrgang 38, 5/6/1997, S. 138 ff. 14 Blunt, Peter , 1995. Cultural relativism, „good" governance and sustainable human development, in: Public Administration and Development, Vol. 15, S. 1 ff. 15 Theobald, Christian , 1999. Good Governance - Zur ökonomischen Theorie des Staates in der Perzeption der Weltbank, Dissertation eingereicht bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. 16 König, Klaus, 1998. Gute Gouvernanz als Steuerungs- und Wertkonzept des modernen Verwaltungsstaates, in: Werner Jann/Klaus König/Christine Landfried/Peter Wordelmann (Hrsg.), Politik und Verwaltung auf dem Weg in die transindustrielle Gesellschaft. Carl Bohret zum 65. Geburtstag, Baden-Baden, S. 227 ff. 17 World Bank, 1989. Sub-Saharan Africa. From Crisis to Sustainable Growth. A Long-Term Perspection Study, Washington, D. C.
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Umfeld von Staat und Verwaltung registriert, die die wirtschaftliche Entwicklung behindern. Unfähigkeit der Trennung von privatem und öffentlichem Sektor, schwaches öffentliches Management, unzuverlässiges Rechtssystem, willkürliche Entscheidungen, Korruption, Rentendenken wurden genannt. „Governance" wird umschrieben als „the exercise of political power to manage a nation's affairs". 18 Der „Governance"-Begriff ist in seiner weiteren internationalen Karriere unter vielfaltige intellektuelle Einflüsse geraten: aus der - amerikanischen - Politischen Wissenschaft, der Institutionenökonomik, den Entwicklungsmanagement-Modellen. Unter „Governance" ist verwiesen worden auf die Form des politischen Regimes, auf den Prozeß, durch den Autorität im Management von Wirtschaft und sozialen Ressourcen eines Landes für die Entwicklung ausgeübt wird, auf die Kapazität der Regierung, Sachpolitiken zu entwickeln, zu formulieren und zu vollziehen. In der Umkehrung festgestellter Mängel wurde schließlich eine positive Strategie vorgestellt, nämlich die eines „Good Governance". 19 Vier Bereiche scheinen für diese Strategie von besonderer Bedeutung: Erstens das „Public Sector Management"20 als Leistungssteigerung und verbesserte Steuerung im öffentlichen Sektor; hier sind Maßnahmen der Reduktion öffentlicher Aufgaben und Zuständigkeiten, der Privatisierung öffentlicher Unternehmen, des Auskontrahierens von Teilleistungen öffentlicher Verwaltung, der Partnerschaft von Öffentlichen und Privaten, entsprechende Angleichungen des Personalbestandes, Reformen im Management des öffentlichen Personals, Verbesserungen des öffentlichen Finanzwesens vorzustellen. Zweitens die Verantwortlichkeit als Festlegung von Zuständigkeiten, Rechenschaftspflichten, Kontrollen von öffentlichen Verwaltungen; hierzu gehören nicht nur die feste Zuständigkeitsordnung und ein System gegenseitiger Kontrollen, sondern auch Maßnahmen der Dezentralisierung und Dekonzentration der öffentlichen Verwaltung und die Förderung der Lokalverwaltung. Drittens die Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Entwicklung; hier wird auf die Bedeutung einer verläßlichen Rechtsordnung für die wirtschaftliche Entwicklung - „rule of law", Rechtsstaatlichkeit - verwiesen, wozu auch die Unabhängigkeit der Gerichte, die Absicherung von Eigentumsrechten, die Stabilität des Rechts zählen. Viertens die Transparenz des öffentlichen
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World Bank, 1989. Sub-Saharan Africa. From Crisis to Sustainable Growth. A Long-Term Perspection Study, Washington, D. C., S. 60. 19 Theobald, Christian , 1998. Die Weltbank: Good Governance und die Neue Institutionenökonomie, in: Verwaltungsarchiv, S. 467 ff. 20 Flynn, Norman , 1993. Public Sector Management, 2. Aufl., New York/London/Toronto/Sydney/Tokyo/Singapore; McKevett, David/Lawton, Alan, 1994. Public Sector Management. Theory, Critique and Practice, London u. a.
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Sektors; hier ist der Zugang zu Informationen zu sichern, die Erhältlichkeit und Genauigkeit von Marktinformationen auch zum Abbau von Transaktionskosten sind zu verbessern, Transparenz für die Korruptionsbekämpfung und Akzeptanz von politischen Entscheidungen durch die Bürger zu schaffen. 21 Der Ausdruck Gouvernanz ist für die Staats- und Verwaltungswissenschaft etwa im Vergleich zu rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Analysen von „Corporate Governance" in einem marktwirtschaftlich verfaßten Privatsektor wo es um die Steuerung und Kontrolle der Unternehmen geht - eher undeutlich. 22 Einschlägige Konzepte reichen von der Gleichsetzung von Gouvernanz mit der öffentlichen Verwaltung bis zum Versuch, der Tradition der bürokratischen Verwaltung gleichsam ein Gegenmodell gegenüberzustellen. 23 Unter „Governance" stehen dann Steuern gegen Rudern, Ermächtigen gegen Dienen, Wettbewerb gegen Monopol, Mission gegen Rolle, Kunden gegen Bürokratismen, Partizipation gegen Hierarchie, Markt gegen Organisation usw. Andere assoziieren Gouvernanz von vornherein mit einer hyperpluralistischen Welt der Auflösung aller Angelegenheiten in einem Netzwerk staatlicher, marktlicher und privat-gemeinnütziger Organisationen. Entsprechendes gilt dann in den transnationalen Beziehungen einer „Governance without Government", in der der klassische Staat gegenüber den grenzüberschreitenden Beziehungen seiner Fachressorts und Teilregionen zurücktritt. 24 Weitere Vorlieben für das Wort Gouvernanz rühren daher, daß es Gewichtigkeit, Legitimität, Leistung, Akzeptanz zu implizieren scheint. Trotz solcher eher belastender Vorverständnisse ist der Gouvernanz-Begriff nützlich, wie er als Ausdruck der neuen Lingua franca in öffentlichen Angelegenheiten, dem Englischen, geläufig ist und auch in die alte Staats- und Verwaltungssprache des Französischen als „Gouvernance" - sonst gebräuchlich fur die Regierungsresidenz - mit neuer Bedeutung Eingang findet. Denn mit dem Vordringen des neuen Managerialismus in Staats- und Verwaltungsangelegenheiten auch in der Dritten Welt 25 kann es mit dem „Public Sector Management" nicht nur zu wissenschaftlichen, sondern auch praktischen Mißverständnissen kommen. Management-Modelle, wie sie für die Privatwirtschaft entworfen werden, beziehen sich auf die Steuerung einer Firma, eines Unternehmens, einer „Company" usw. Diese sind Gegenstand des Managements und nicht die 21
World Bank, 1992. Governance and Development, Washington, D. C. Keasey, Kevin/Wright, Mike , 1997. Corporate Governance. Responsibilities, Risks and Renumeration, Chichester u. a. 23 Frederickson, H. George , 1997. The Spirit of Public Administration, San Francisco, S. 78 ff. 24 Rosenau, James N./Czempiel, Ernst Otto , 1992. Governance without government: order and change in world politics, New York. 25 Thedieck, Franz/Müller, Joachim , 1997. Rezeption deutscher Beiträge zur Verwaltungsmodernisierung für die Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern, Berlin. 22
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sozioökonomische Umwelt des Unternehmens, nämlich der Markt. Eine Verbesserung des Managements wird die Stärkung der Stellung des Unternehmens am Markt intendieren. Aber kein Manager wird von sich sagen, er „manage" den Markt, es sei denn, er wolle sich unverhohlen als Monopolist oder Führer eines Kartells bezeichnen. Das ist im „Public Sector Management" des neuen Managerialismus anders. Hier heißt es: „to manage a nation's affairs", was dann auch eine Stadt oder ein Land oder eine internationale Gemeinschaft meinen kann. Es geht nicht um den Betrieb einer öffentlichen Verwaltung, sondern um das „Management" des öffentlichen Sektors, der Bürger, Verbände, Unternehmen, von Wirtschaft und Gesellschaft überhaupt. Die Problematik eines solchen Verständnisses öffentlicher Angelegenheiten liegt darin, daß das, was für die Steuerung einef Organisation entworfen wird, nun unbesehen auf die Steuerung der Umwelt von Organisationen übertragen wird. 26 Was die- Vermengung des Managements von Staats- und Verwaltungsorganisationen mit der Steuerung von Wirtschaft und Gesellschaft als Umwelt zur Folge selbst für öffentliche Verwaltungen in Europa und Nordamerika haben kann, ist im Zusammenhang mit der Modernisierung der modernen Verwaltung zu diskutieren. Für Entwicklungsländer bleibt vorab zu bemerken, daß der neue Managerialismus in öffentlichen Angelegenheiten auf einem Individualismus beruht, wie er vielleicht im Wertewandel spätmoderner Gesellschaften Halt findet, aber kaum in Kultur und Tradition der meisten Entwicklungsländer paßt.27 Das gilt für den Beamten wie für den Bürger gleichermaßen. Von dem öffentlichen Bediensteten erwartet der neue Managerialismus persönliche Verantwortlichkeit, Rechenschaftspflicht für Ergebnisse, Risikobereitschaft, Wettbewerbsorientierung usw., für die in der prismatischen Verwaltung mit ihrer Mischung von modernen und traditionalen Verhaltensmustern kaum Anknüpfungspunkte bestehen. Der Beamte müßte soviel Seile zu prismatischen Eliten, Machthabern, Vorgesetzten, Freunden, Angehörigen, Klientel usw. kappen, daß ihm als Ausweg nur Korruption bliebe. Aber auch dem Bürger der Entwicklungsgesellschaft ist wenig gedient, wenn man ihn angesichts unbefriedigter Grundbedürfnisse, den Lebensrisiken von Ernährung, Gesundheit, Wohnen, des Angewiesenseins auf staatliche Ver-
26 König , Klaus/Beck, Joachim, 1997. Modernisierung von Staat und Verwaltung, Baden-Baden; König, Klaus , 1998. Ein Neues Öffentliches Management - Globale Perzeption und Kritik, in: Heinrich Neisser/Gerhard Hammerschmid (Hrsg.), Die innovative Verwaltung. Perspektiven des New Public Management in Österreich, Wien, S. 141 ff. 27 Verhejen, Tony , 1998. NPM Reforms and other Western Reform Strategies: The Wrong Medicine for Central and Eastern Europe?, in: Tony Verhejen/David Coombes, Innovations in Public Management. Perspectives from East and West Europe, Cheltenham, S. 407 ff.; Schick, Allen , 1998. Why Most Developing Countries Should Not Try New Zealand's Reforms, in: Research Observer 1/1998, S. 123 ff.
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sorgungsleistungen zum Kunden mit freier Konsumentenwahl stilisieren würde. Die Knappheit der öffentlichen Ressourcen ist viel zu groß, um sie auf individuelle Präferenzen hin zu organisieren. Kommerzialisierte Lebensstile einer Postmoderne passen nicht zur Armut. Wenn es um Existenzsicherungen wie in der Dritten Welt geht, muß der kollektive Charakter der Entscheidung über die Produktion und Distribution öffentlicher Güter in den politisch-administrativen Steuerungsmechanismen deutlich bleiben. Entwicklungsstaat und Entwicklungsverwaltung haben jenseits individueller Präferenzen Leistungen der Koordination und Integration im öffentlichen Interesse zu erbringen. 28 Hier erscheint der Gouvernanz-Begriff passend, um die Steuerungsbeziehungen zwischen der öffentlichen Verwaltung und ihrer politischen, ökonomischen, sozialen Umwelt in den Blick zu nehmen. Insofern kann man sich auf vielfaltige analytische Ansätze zur Gouvernanzförschung beziehen. Das gilt flir die politische Ökonomie, wenn untersucht wird, wie eine Wirtschaft oder spezifischer ein industrieller Sektor gesteuert wird. Dann geraten nämlich noch ganz andere Größen als die Parteien eines freien Marktes ins Blickfeld: von den Einflüssen der Gewerkschaften bis zu den Interventionen der Staatsbehörden.29 Ein anderer Ansatz ist der zu den Politiknetzwerken, 30 wenn etwa das Zusammenwirken unterschiedlicher Gruppen und Einrichtungen bei der Generierung wie der Implementation politischer Programme überprüft wird. Relevant ist auch die Erforschung internationaler Beziehungen, wenn zum Staat als klassischen Akteur in auswärtigen Angelegenheiten nunmehr politisch-administrative Teilorganisationen hinzutreten, denen aus regionalen oder fachlichen Gründen soviel Autonomie zugewachsen ist, daß sie transnationale Verhandlungsmechanismen begründen können.31 Inzwischen umfaßt ein weiter Begriff der Gouvernanz Sichtweisen, die die Muster und Strukturen betrachten, wie sie sich in einem sozio-politischen System als Ergebnis interagierender und intervenierender Kräfte aller beteiligten Akteure darstellen. Dabei sollen die Muster nicht auf einen Akteur, insbesondere nicht auf den Staat als Kontrolleur reduziert werden, sondern politische Gouvernanz soll aus der Pluralität der „governing actors" hervorgehen. 32 In 28 König, Klaus, 1986. Evaluation als Kontrolle der Gesetzgebung, in: Waldemar Schreckenberger/Klaus König/Wolfgang Zeh (Hrsg.), Gesetzgebungslehre, Stuttgart u.a., S. 96 ff, 29 Campbell, John L./Hollingsworth, J. Rogers/Lindberg, Leon N., 1991. Governance of the American Economy, Cambridge u. a. 30 Kenis, Patrick/Schneider, Volker (Hrsg.), 1996. Organisation und Netzwerk: Institutionelle Steuerung in Wirtschaft und Politik, Frankfurt. 31 König, Klaus, 1993. Internationalst, Transnationalität, Supranationalität - Auswirkungen auf die Regierung, in: Hans-Hermann Hartwich/Göttrik Wewer (Hrsg.), Regieren in der Bundesrepublik V, Opladen, S. 234 ff. 32 Koimann, Jan, 1993. Modern Governance, London u. a.
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globaler Sicht heißt es schließlich, daß Gouvernanz die Gesamtheit der zahlreichen Wege sei, auf denen Individuen sowie öffentliche und private Institutionen ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln. Es handle sich um einen kontinuierlichen Prozeß, durch den kontroverse oder unterschiedliche Interessen ausgeglichen würden und kooperatives Handeln initiiert werden könne. Der Begriff umfasse sowohl formelle Institutionen und mit Durchsetzungsmacht versehene Herrschaftssysteme als auch informelle Regelungen, die von Menschen und Institutionen vereinbart oder als im eigenen Interesse liegend angesehen werden. 33 Hiernach bedarf es definitorischer Klarstellungen, wenn man den Gouvernanz-Begriff für die Interpretation nicht den Binnenstrukturen öffentlicher Verwaltungen, sondern deren Handlungsbeziehungen mit ihrer Umwelt von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Bürger wie Publikum fruchtbar machen will. Gouvernanz meint nicht jede Interaktion zwischen gouvernementalen und nicht-gouvernementalen Akteuren, sondern das Unterfangen, durch Steuerung auf den anderen Einfluß zu nehmen, wobei die Steuerung der öffentlichen Verwaltung durch ihre Umwelt wie die Steuerung der Umwelt durch die öffentliche Verwaltung zu berücksichtigen sind. 34 Freilich sind die Steuerungsbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft nicht schlicht hierarchischautoritativer Natur, so daß die Verwaltung zum Vorgesetzten des Bürgers gemacht wird. Gerade in prismatischen Gesellschaften verlaufen öffentliche Steuerungsketten noch ganz anders. Gouvernanz meint hiernach nicht die Statistik individualisierter Entscheidungen und Handlungsbeziehungen, sondern die institutionelle Steuerung. Institutionen sind stabile, relativ dauerhafte Muster menschlich-gesellschaftlicher Beziehungen, die tatsächlich gelebt und in ihrer wirklichen Maßgeblichkeit Fakten und Normen verbinden. Wenn so Gouvernanz immer auch normativ-rationale Fragen einschließt, bedeutet das doch nicht, daß von vornherein das richtige Handeln in öffentlichen Angelegenheiten gemeint ist. Denn auch Normen müssen bewertet werden und es gibt auch schlechte Normen. Das Konzept von „Good Governance" macht diese doppelte Fragestellung deutlich. Es geht um die institutionelle Steuerung, dann aber um Steuerungsinstitutionen, die positiv bewertet werden. 35
33 Commission on Global Governance, 1995. Nachbarn in einer Welt: Der Bericht der Kommission für Weltordnungspolitik, Bonn. 34 König, Klaus, 1981. System und Umwelt der öffentlichen Verwaltung, in: Klaus König/Hans-Joachim von Oertzen/Frido Wagener, Öffentliche Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden, S. 13 ff. 35 Amoako, Κ Υ., 1998. Reform der Institutionen, Reform des Staates: Zukünftige Herausforderungen, in: Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung (Hrsg.), Internationaler Round Table „Der leistungsfähige Staat", Bericht, Berlin, S. 57 ff.
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III. „Rule of Law" als Leitbild Die in der internationalen Zusammenarbeit vorgestellten Wertkataloge meinen nicht die Transitivität einer vollständigen Wertordnung, die Einheit eines höchsten Wertes, eine Werthierarchie. Sie verdichten sich aber zu gewissen Prinzipien, die dann als Leitbilder Entwicklung und Transformation eine grundsätzliche Richtung vermitteln. Dazu zählt zuerst wieder Marktwirtschaftlichkeit. Entwicklung und Transformation werden nun einmal vor allem ökonomisch, materialistisch verstanden. Wie die Deskription der Realität beim Bruttosozialprodukt ansetzt, so münden die normativ-präskriptiven Vorstellungen bei der Rationalität von Markt und Wettbewerb, die die individuellen Präferenzen zum gesellschaftlichen Wohlstand abstimmen sollen. Mit dem Leitbild der Marktwirtschaft werden direkt und indirekt eine Vielfalt von Teilprinzipien verknüpft, direkt: Preisfindung durch den Markt, Wettbewerb in allen wichtigen Wirtschaftsbereichen, Schutz des Eigentums, Art des Bodenrechts, Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit, realistische Wechselkurse usw.; indirekt: Reduktion öffentlicher Aufgaben, Privatisierung öffentlicher Unternehmen, Auskontrahieren von öffentlichen Leistungen, Partnerschaft zwischen Öffentlichen und Privaten. 36 Demokratie ist ein schwieriges Konzept, wenn man auf die Vielfalt politischer Kulturen in der Welt sieht. Gleichwohl hält man an diesem Leitbild nicht nur fest, sondern versucht, einen Demokratie-Index zu bilden und fuhrt Statistiken darüber, in wieviel Ländern offen politische Wahlen stattfinden. Der Übergang von Diktatur und autoritärem System zur Demokratie wird überwiegend als Finalität von Entwicklung und Transformation angesehen, und zwar zurückhaltender in der Forderung nach Partizipation der Bevölkerung an politischen Entscheidungen, profiliert in Prinzipien wie freie Äußerungsmöglichkeiten der politischen Opposition, Vereinigungsfreiheit für Parteien, Presseund Informationsfreiheit usw. 37 Eine steigende Aufmerksamkeit, gemessen an einer primären Orientierung an Wirtschaftsfaktoren und dann Demokratievorstellungen erhalten heute für den weiteren historischen Weg von Entwicklungsländern wie Transformationsländern die Einflußgrößen des Rechtslebens, und zwar für alle gesellschaftlichen Sphären. Das gilt für die deskriptiv-faktische wie die präskriptiv36
World Bank, 1992. Governance and Development, Washington, D. C., S. 13 ff.; Israel, Arturo , 1990. The Changing Role of the State. Institutional Dimensions. Policy, Research and External Affairs, Working Paper Series No. 495, Washington, D. C.; Williams, David/Young, Tom , 1994. Governance, the World Bank and Liberal Theory, in: Political Studies, XLII, S. 84-100. 37 Berg-Schlosser, Dirk/Kerstnig, Norbert, 1997. Warum weltweite Demokratisierung? Zur Leistungsbilanz demokratischer und autoritärer Regime, in: Ralf Hanisch (Hrsg.), Demokratieexport in die Länder des Südens?, Hamburg.
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normative Seite. Verwiesen wird einerseits auf das Fehlen für die Entwicklung maßgeblicher Gesetzesgrundlagen, auf die mangelnde Verläßlichkeit der Durchsetzung des Rechts, auf den Mangel an Sicherheit der Eigentumsrechte, auf die allgemeine Rechtsunsicherheit usw. Andererseits werden Postulate einer verläßlichen Rechtsordnung als Rahmenbedingung für Entwicklung und Transformation erhoben und Unabhängigkeit der Gerichte, Transparenz und Berechenbarkeit des Staatshandelns bis zur Korruptionsbekämpfung und dann weiter Bodenrecht, Gewerberecht usw. bis zum „Gleichen Recht für alle" verlangt. 38 Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Menschenrechtsfrage zu. Freiheit von Folter, Rechte bei Festnahmen, „Keine Strafe ohne Gesetz", Religionsfreiheiten, Minderheitenschutz usw. werden gefordert. Zwar stößt man hier wiederum auf einen kulturellen Wertrelativismus. Aber die globale Relevanz dieser Frage ist unübersehbar, seit die Vereinten Nationen sich mit der programmatischen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 zum Ziel gesetzt haben, einen völkerrechtlichen Schutz im weltweiten Rahmen einzuführen und durch Pakte und Übereinkommen umzusetzen.39 Die Gewährleistung der Menschenrechte ist damit auch zu einem Leitbild für die historischen Prozesse von Entwicklung und Transformation geworden. Aber insgesamt fehlt es für Rechtsbildung und Rechtsbindung an einer umfassenden Leitkategorie, wie sie für die ökonomische Handlungssphäre mit der Marktwirtschaft und für das politische Regime mit der Demokratie vorangestellt wird. Selbst die Rule of Law nimmt keinen gleichrangigen Platz ein, obwohl man dies angesichts der auch sprachlichen Wirkungsmächtigkeit des Anglo-Amerikanischen anzunehmen geneigt ist. 40 Daß dieser Grundsatz vielerorts in der internationalen Kooperation nicht als gleichrangiges Leitbild wie Demokratieprinzip und Marktprinzip perzipiert wird, hängt mit dem historischen Vorverständnis in der englischsprachigen Welt zusammen. Dieses Verständnis setzt Gewaltenteilung und Suprematie des Parlaments voraus. Die Gewaltenteilung läßt in der englischen Tradition gewis-
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UNDP, 1997. Reconceptualising Governance. Discussion Paper 2, New York, S. 21 ff.; OECD, 1995. Participatory Development and Good Governance. Development Cooperation Guideline Series, Paris, S. 14 ff. 39 Boekle, Henning, 1998. Die Vereinten Nationen und der internationale Schutz der Menschenrechte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 46-47 vom 6. November, S. 3 ff.; Stuby, Gerhard, 1998. Universalismus versus Partikularismus. Die Menschenrechte der dritten Generation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 46-47 vom 6. November, S 27 ff. 40 UNDP, 1997. Governance for Sustainable Human Development. A UNDP policy document, New York, S. 1 ff.; Palidano, Charles/Hulme, David, 1997. No Magic Wands. Accountability and Governance in Developing Countries, in: Regional Development Dialogue, Vol. 18, No. 2, S. 1-16.
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se politische Verschränkungen zu. Die öffentlichen Befugnisse werden indessen bestimmten Institutionen - Parlament, Kabinett, Appelationsgericht usw. distinkt zugeordnet. Das Parlament ist die oberste Gewalt zur Schaffung von Rechtsnormen, ohne daß es von vornherein zu einem Stufenbau des Rechts nach Verfassungssätzen, Gesetzen, Verordnungen und korrespondierenden Kontrollen kommt. 41 Von hier aus meint die Rule of Law die Spielregeln zwischen bestehenden „guten", nämlich demokratischen - Institutionen. Zu diesen gehört auch der Bürger als Rechtspersönlichkeit einschließlich seiner politischen Freiheitsrechte. Individuelle Freiheiten und Rechte des einzelnen und demgegenüber die höchste Gewalt des Parlaments sind deswegen auch Anknüpfungspunkte für solche Regeln.42 Entsprechend wird die Allgemeingültigkeit der „standing laws" im Hinblick auf Personen und ihre Handlungen gegen die aus dem Stegreif erlassenen, willkürlichen Dekrete der Suprematie gestellt. Zu den Teilprinzipien der Rule of Law kann man heute zählen: die Beständigkeit und Dauerhaftigkeit der Rechtsnormen, die Öffentlichkeit - das heißt Gesetze müssen verkündet und den Betroffenen zur Kenntnis gebracht werden -, Rückwirkungsverbote von Rechtsnormen. Weiter müssen Gesetze im sprachlichen Ausdruck bestimmt sein; sie dürfen nicht widersprüchlich sein und nichts Unmögliches verlangen. Man sollte sich seiner Rechte „not only in safety and security, but in confidence and quietness of mind" erfreuen. 43
IV. Rechtsstaatlichkeit in der Institutionenbildung Die politisch-institutionellen Turbulenzen auf dem europäischen Kontinent im Wechsel von Monarchie und Republik, Diktatur und Demokratie haben an das Rechtsregime noch weitere Anforderungen gestellt. Kennzeichnend dafür ist, daß hier auch nach innen der Staat als juristische Person verstanden wird. Rechte und Pflichten werden nicht einfach bestimmten politischen Institutionen - Parlament, Kabinett, Gerichte - zugeordnet. Es gibt darüber hinaus auch in inneren Angelegenheiten die Zurechnung zu einer Transpersonalität des gesamten Herrschaftsverbandes. 44
41 Harvey , J./Bather, L., 1978. Über den englischen Rechtsstaat. Die 'rule of law', in: Mehdi Tohidipur (Hrsg.), Der bürgerliche Rechtsstaat, Frankfurt/Main, S. 359 ff. 42 Craig, Paul , 1997. Formal and Substantive Conceptions of the Rule of Law: An Analytical Framework, in: Public Law, S. 467 ff. 43 James, 1st Viscount Stair, 1984. Institutions of the Law of Scotland, 2nd edition, Edinburg, 1695; zitiert nach: Neil MacCormick, 1984. Der Rechtsstaat und die rule of law, in: Juristenzeitung, S. 65 ff.
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Großbritannien und die USA können über Jahrhunderte auf die Kontinuität eines politischen Regimes zurückschauen. In welche Konflikte nach außen sie immer verwickelt waren, nach innen blieb die Stabilität der Institutionen des demokratischen Regierungssystems erhalten. 45 Man mußte sich also nicht zwangsläufig auf die Suche nach einem weiteren Zurechnungspunkt von Rechten und Pflichten machen. Anders ist die Geschichte in Kontinentaleuropa verlaufen. Der häufige politische Regimewechsel hat eine Kontinuität öffentlicher Einzelinstitutionen nicht zugelassen. Eine Mindeststabilität auch nach innen mußte jenseits konkreter politischer Institutionen gefunden werden. Der gesamte Herrschaftsverband wurde im Staat als juristischer Person zum Zurechnungspunkt. 46 Auch mit dem Rechtsstaatsprinzip mußte in den geschichtlichen Situationen des europäischen Kontinents weiter als mit der Rule of Law gegriffen werden. Im deutschen Falle tritt das hiernach andere historische Vorverständnis schon deswegen hervor, weil der Rechtsstaat älter als die Demokratie ist. 47 Das Rechtsstaatsprinzip mußte Leistungen erbringen, die sich in der Zivilkultur von politischer Partizipation und Demokratie anderweitig erstellen lassen. So kann man für die Funktionsunterschiede von Rule of Law und Rechtsstaatlichkeit auf vieles Bezug nehmen: eben auf den dem Anglo-Amerikanischen fremden Staatsbegriff bis hin zum Staat als juristischer Person, auf die Bezogenheit zur geschriebenen Verfassung, die die Vereinigten Staaten in manchem näher an Kontinentaleuropa heranrückt als Großbritannien usw. 48 Vor allem aber ist zu berücksichtigen, daß das Rechtsstaatsprinzip zur Schaffung eines öffentlichen Institutionengefüges beigetragen hat, während die Rule of Law ein bereits funktionierendes Gefüge politischer Institutionen voraussetzt und dann deren Spielregeln bestimmt. Charakteristisch für das Rechtsstaatsprinzip in seiner institutionenbildenden Bedeutung ist der Aufbau eines umfassenden Rechtsschutzes durch unabhängige Gerichte. Das gilt herkömmlich für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten einschließlich bestimmter Organisations· und Verfahrensgarantien. Das gilt dann aber insbesondere für den Rechtsschutz gegen alle Akte der öffentlichen Gewalt. 49 44
König, Klaus/Theobald, Christian , 1999. Der Staat als Rechtspersönlichkeit, Beitrag für die Festschrift für Jan Jendroska (im Erscheinen). 45 Heady, Ferrei , 1984. Public Administration, A comparative Perspective, 3. Aufl., New York/Basel. 46 Böckenförde, Ernst-Wolfgang , 1991. Recht, Staat, Freiheit: Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt/Main, S. 143 ff. 47 Hofmann, Hasso, 1995. Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des Rechtsstaats, in: Der Staat 34/1995, S. 1 ff. 48 MacCornick, Neil , 1984. Der Rechtsstaat und die rule of law, in: Juristenzeitung, S. 65 ff. 49 Sobota, Katharina , 1997. Das Prinzip Rechtsstaat, Tübingen, S. 201 ff.
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Ein signifikantes Beispiel bietet insoweit die Geschichte Deutschlands nach 1945. In Westdeutschland war der Aufbau einer stringenten Rechtsstaatlichkeit die historische Reaktion auf das Unrechtsregime des Nationalsozialismus. Man ging über die Rechtsgewährleistungen in der Weimarer Republik hinaus, was zu einer breiten Modernisierung rechtsstaatlicher Institutionen führte. Vielfaltige Innovationen betrafen den gerichtlichen Rechtsschutz. Die verfassungsrechtliche Verbriefung eines Individualrechts auf gerichtliche Überprüfung behördlicher Maßnahmen wurde als „Krönung des Rechtsstaats" verstanden. 50 Der Verfassungsstaat der alten Bundesrepublik brachte Rechtsstaatlichkeit und individuellen Rechtsschutz mit Demokratie und politischer Freiheit in einen Ausgleich. Das Rechtsstaatsprinzip wurde aber nicht zum bloßen Reflex demokratischer Herrschaft, sondern blieb ein eigenständiges Leitbild guter Gouvernanz. In der ehemaligen DDR fehlten alle Voraussetzungen dafür, die Konflikte zwischen Bürger und organisiertem Staat nach rechtsstaatlichen Maßstäben durch unabhängige Gerichte zu entscheiden. Das Recht hatte ohnehin nur den Charakter eines Herrschafts instruments. Es diente der Transmission des Willens der marxistisch-leninistischen Partei, genauer der Kommandogewalt ihrer Nomenklatura. Rechte der Bürger waren keine Individualrechte, sondern Rechte des Kollektivs. Interessengegensätze der Einzelpersönlichkeit zur sozialistischen Gemeinschaft sollte es ohnehin nicht geben. Für den Staat galt das Prinzip der Gewalteneinheit. Für ein gewaltenteilendes Moment unabhängiger Gerichte war kein Platz, usw. Als man schließlich 1988 die gerichtliche Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen aus Gründen der internationalen Glaubwürdigkeit einführte, konnte das nicht anders als halbherzig geschehen.51 Ein umfassender Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte in Zivil- und Strafsachen und schließlich in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wurde in Ostdeutschland erst aufgebaut, als es zur Transformation der gesamten Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der realsozialistischen DDR kam. Mit der Vereinigung Deutschlands gab es eine westliche Referenzgesellschaft und mit dem Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes eine verfassungsrechtliche Vorgabe, die zu einer bestimmten Konkretisierung der Leitbilder von Marktwirtschaft, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit führten. 52 Aber die insti-
50 Mangoldt, Hermann/Klein, Friedrich, 1966. Das Bonner Grundgesetz, Band I, zweite Auflage, Bonn, S. 568 f f 51 Pohl, Heidrun, 1991. Verwaltungsrechtsschutz, in: Klaus König (Hrsg.), Verwaltungsstrukturen der DDR, Baden-Baden, S. 263 f f 32 Klein, Hans //., 1990. Vom sozialistischen Machtstaat zum demokratischen Rechtsstaat, in: Juristenzeitung 2, S. 53 ff.; Heyde, Wolfgang, 1993. Über Schwierigkeiten im praktischen Umgang mit dem Rechtsstaatsprinzip, in: Bernd Bender (Hrsg.), Rechtsstaat zwischen Sozialgestaltung und Rechtsschutz, Festschrift für Konrad Rede-
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tutionenbildende Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips blieb nicht auf den deutschen Sonderfall beschränkt. Andere realsozialistische Länder hatten zwar den Verwaltungsrechtsschutz weiter als in der DDR entwickelt. Die marxistischleninistische Prämisse der Gewalteneinheit für die Gerichte mußte aber auch hier erst außer Kraft gesetzt werden. Danach läßt sich beobachten, daß kontinentaleuropäische und nicht zuletzt deutsche Konzepte der Rechtsstaatlichkeit zum Leitbild für den Aufbau neuer öffentlicher Institutionen wurden. 53 Die Bildung wirklich maßgeblicher Institutionen des Rechtslebens ist auch ein Problem der Dritten Welt. 54 Zwar gibt es traditionale wie moderne Bestände von Normen und Einrichtungen in öffentlichen Angelegenheiten. Die Frage ist indessen, wieweit diese Institutionen in der Lage sind, sozioökonomischen Anforderungen heutiger Tage gerecht zu werden, ihren Eigenwert unter neuen Bedingungen zu erhalten, ihre Grenzen angesichts zunehmender Differenzierung zu bestimmen, die interne Leistungsfähigkeit sicherzustellen und nicht zuletzt zur gesellschaftlichen Integration beizutragen. 55 Die Institutionenbildung in Entwicklungsländern wird seit langem diskutiert. Bemerkenswert ist heute, welche Bedeutung man den Rechtsinstitutionen beimißt und daß man sich jetzt diesem Thema stärker aus dem Blickwinkel einer funktionierenden Marktwirtschaft denn einer funktionierenden Demokratie nähert. 56 Grundlagen einer solchen Wirtschaft sind eben Eigentumsrechte, Verfahrenstransparenz, gerichtlicher Rechtsschutz usw., und dies und weitere Rahmenbedingungen kann eben nur ein wirksames Recht gewährleisten. Von hier aus spricht vieles dafür, das Rechtsstaatsprinzip mit seiner institutionenbildenden Komponente auch als Leitbild für die Entwicklung in der Dritten Welt stärker nach vorn zu rücken. Das ist aus inhaltlichen wie aus sprachlichen Gründen schwieriger als im Falle der Transformation in Mittelund Osteuropa. 57 Dort kann man sich vielerorts auf die europäische Rechtsge-
kerzum 70. Geburtstag, S. 188 ff.; Quaritsch, Helmut, 1992. Eigenarten und Rechtsfragen der DDR-Revolution, in: Verwaltungsarchiv, S. 314 ff. 53 Vgl. bspw. den Einfluß auf die polnische Verfassung. Der Verfassungstext findet sich im Internet unter: http://www.uni-wuerzburg.de/law/pl00000.html; Stern, Klaus, 1999. 50 Jahre deutsches Grundgesetz und die europäische Verfassungsentwicklung, Vortrag an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, im Mai 1999, Veröffentlichung in Vorbereitung. 54 Eaton, Joseph (Hrsg.), 1972. Institution Building and Development, Beverly Hills, London. 55 Mummert, Uwe, 1998. Wirtschaftliche Entwicklung und Institutionen. Die Perspektive der Neuen Institutionenökonomik, in: Entwicklung und Zusammenarbeit, Jahrgang 39, 2/1998, S. 36 ff. 56 World Bank, 1997. The State in a Changing World, World Development Report 1997, New York. 57 Preuß, Ulrich K, 1993. Die Rolle des Rechtsstaates in der Transformation postkommunistischer Gesellschaften, in: Rechtstheorie 24, S. 181 ff.; Karpen, Ulrich, 1997.
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schichte beziehen, und man hat eher Zugang zu den kontinentaleuropäischen Sprechweisen. Wenn es darüber hinaus um die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten und die „Europa-Tauglichkeit" von Beitrittskandidaten geht, dann rückt über benachbarte Nationalstaaten hinaus die europäische Rechtsgemeinschaft ins Blickfeld. 58 In der Rechtspflege dieser Gemeinschaft kann es dann nicht mehr um das Vorverständnis eines einzelnen Mitgliedstaates zur Rechtsstaatlichkeit bzw. zur Rule of Law ankommen. Vielmehr geht es um das prinzipielle Selbstverständnis des Rechtsregimes in der Europäischen Union. 59 In dieser Sicht sind dann Rechtsstaatsprinzip und Rule of Law auf Gemeinschaftsebene zu integrieren. Die internationale Zusammenarbeit der Entwicklungs- und Transformationsländer unterscheidet sich vom supranationalen Zusammenschluß von vornherein dadurch, daß es bei der Kooperation nur ausnahmsweise um das geltende Recht geht - etwa in der Menschenrechtsfrage -, regelmäßig aber Entwicklungs· und Transformationspolitik als Rechtspolitik zur Diskussion stehen. Es fehlt mithin an einer verbindlichen Festlegung der Begriffe. Wie sich das Englische als Lingua franca der internationalen Zusammenarbeit durchgesetzt hat, so tritt dann auch eine anglo-amerikanische Definitionsmacht vielerorts hervor. Man spricht von der Rule of Law und stellt zunächst auf das Vorverständnis jenes Sprachraums ab. Will man demgegenüber die stärkere institutionenbildende Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips betonen, dann werden Sprachstrategien sei es der „Rechtsstaat" als Fremdwort im Englischen, sei es eine neue Kategorie - kaum helfen. Man muß die Sachprobleme identifizieren und sich der Inhalte annehmen. Eine Lingua franca ist eben ihren genuinen Sprechern in gewisser Weise entzogen und anderen Bemächtigungen ausgesetzt.60 Von den Deutschen hat man gesagt, daß sie der Meinung gewesen wären, den Rechtsstaat ohne die Demokratie bekommen zu können.61 Das ist heute eine Frage an die Rechtsgeschichte, wenn man auf West- und Mitteleuropa schaut. Nachdem in Deutschland Demokratie und politische Bürgerfreiheit geConditions of „Rechtsstaat" Efficiency Particularly in Developing and Newly Industrialising Countries, in: Josef Thesing (Hrsg.), The Rule of Law, Sankt Augustin, S. 140 ff. 58 Isak, Hubert , 1998. Der Gedanke der Rechtseinheit mit Blick auf den Beitritt mittel- und osteuropäischer Staaten, in: Jürgen Schwarze/Peter-Christian Müller-Graff, Europäische Rechtseinheit durch einheitliche Rechtsdurchsetzung, Baden-Baden, S. 73 ff. 59 Buchwald, Delf 1998. Zur Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Union, in: Der Staat 37, S. 189 ff.; Schwarze, Jürgen, 1988. Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz als Ordnungspostulate der Europäischen Gemeinschaft, in: Arthur Kaufmann/ErnstJoachim Mestmäcker/Hans F. Zacher (Hrsg.), Rechtsstaat und Menschenwürde. Festschrift für Werner Maihofer zum 70. Geburtstag, Frankfurt/Main, S. 529 ff. 60 Weltbank, 1996. Weltentwicklungsbericht. Vom Plan zum Markt, Kapitel 5, Rechtsinstitutionen und das Rechtssystem, S. 107-120. 61 Neumann, Franz, 1986. The Rule of Law, Leamington Spa u. a. io*
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festigt sind, mag man der These zustimmen, daß zwischen dem Rechtsstaatsbegriff und dem anglo-amerikanischen Begriff der Rule of Law kein wesentlicher Unterschied bestehe. Bei Entwicklungs- und Transformationsländern geht es aber um die Institutionenbildung, und so ist es durchaus ein Problem, ob der Rechtsstaat nur als Reflex der Demokratie zu sehen ist oder ob das Rechtsstaatsprinzip als eigenständiger Grundsatz guter Gouvernanz neben dem Demokratieprinzip steht. Da zu den Finalitäten von Entwicklung und Transformation heute nach allgemeiner Ansicht die Marktwirtschaft gehört, stellen sich schwierige Interdependenzfragen, ob nämlich die Marktwirtschaft ohne Demokratie möglich, die Marktwirtschaft auf den Rechtsstaat angewiesen oder eben der Rechtsstaat ohne Demokratie nicht zu haben ist. 62 Für solche Fragen gibt es ein breites Anschauungsmaterial: etwa eine Militärdiktatur in Lateinamerika, die eine funktionierende Marktwirtschaft ermöglicht hatte und sich dann einer demokratischen Herrschaft beugen mußte, oder ein autoritäres politisches System in Südostasien mit einer Marktwirtschaft, die zunächst florierte, dann aber einbrach, was die Frage auslöste, ob es eine Freiheit der Wirtschaft ohne eine Freiheit der Politik geben könne, oder im Blick auf die Zukunft China mit seinem realsozialistischen politischen Regime und daneben einer „sozialistischen" Marktwirtschaft, oder im Blick auf die Vergangenheit Deutschland mit seinen rechtsstaatlichen Erfahrungen in vordemokratischen Zeiten. Über solche Zusammenhänge läßt sich auf unterschiedliche Weise diskutieren: von der Kausalanalyse über institutionenökonomische Modelle und die Verfassungsinterpretation bis zur politisch-ökonomischen Ideologisierung. 63 Entwicklungs- und transformationspolitische Zusammenarbeit sollte der praktischen Vernunft folgen. Hier wird man den Aufbau von marktwirtschaftlichen Mechanismem fördern, um die Güterversorgung der Bevölkerung zu verbessern, auch wenn man mit dem politisch-partizipativen Entwicklungsstand nicht zufrieden ist, und man wird den Aufbau von rechtsstaatlichen Institutionen unterstützen, um Rechtssicherheit und Rechtsschutz der Bürger besser zu gewährleisten, selbst wenn die Transformation zu einer parlamentarischen Demokratie noch nicht ganz gelungen ist. Die Rule of Law ist rechtspolitisch in der internationalen Kooperation im Sinne des Rechtsstaatsprinzips als institutionenbildend zu begreifen und als eigenständiges Prinzip guter Gouvernanz wie als eigenständige Finalität von Entwicklung und Transformation zu pflegen. Das gilt vom Schutz der Menschenrechte bis zur rechtlichen Sicherung von Investitionen.
62 Wolff, Heinrich Α., 1998. Das Verhältnis von Rechtsstaats- und Demokratieprinzip, Speyerer Vorträge Heft 48, Speyer. 63 Weingast, Barry /?., 1997. The Political Foundations of Democracy and the Rule of Law, in: American Political Science Review 91/1997, S. 245 ff.
Der republikwidrige Parteienstaat Von Karl Albrecht Schachtschneider Die Republik wird durch den Satz Ciceros definiert: Res publica res populi. Der Parteienstaat entwickelt sich typisch in der Republik. Ein Pluralismus von Parteien scheint eine dem Zweck der Republik, der Verwirklichung des guten Lebens aller in allgemeiner Freiheit, angemessene Institution. Aber die Parteien müßten zu diesem Zweck jede einzeln oder doch alle zusammen das ganze Volk repräsentieren. Das gelingt nicht, jedenfalls nicht, wenn Parteien, genauer: deren Führungen, sich der Herrschaft über das Volk bemächtigt haben. Der Parteienstaat ist die Staatsform der pluralen Parteienoligarchie, die Staatsform, in der wir realiter leben und die wir Demokratie zu nennen pflegen. Er ist nicht res populi. Ein solcher Parteienstaat ist mit den Prinzipien einer Republik unvereinbar, auch mit den Prinzipien, welche das Grundgesetz mit dem Begriff Republik meint; denn das Grundgesetz ist eine Verfassung der Freiheit, der allgemeinen Freiheit nämlich, oder der Gleichheit in der Freiheit, also der politischen Freiheit jedes Bürgers. Um die republikanische Kritik des Parteienstaates zu erhärten, werde ich zunächst Prinzipien einer Republik skizzieren1, um diesen die Wirklichkeit des Parteienstaates gegenüberzustellen; denn die Parteien wirken nicht so an der politischen Willensbildungdes Volkes mit, wie sie es nach Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG dürfen und durchaus auch sollen.
I. Die Republik 1. Eine Republik ist das Gemeinwesen von Bürgern. Die Bürgerlichkeit ist durch die Freiheit definiert. Als Autonomie des Willens teilt sich die Freiheit begrifflich in die äußere Freiheit als das Recht zur freien Willkür und die innere Freiheitals die Sittlichkeit. Die äußere Freiheit steht jeder Art von Herrschaft ent-
1 Meine Positionen und Begriffe habe ich in: Res publica res populi, Grundlegung einer Allgemeinen Republiklehre, Ein Beitrag zur Freiheits-, Rechts- und Staatslehre, 1994, näher begründet und belegt. Die republikanische auf Kants Ethik gestützte Freiheitslehre ist weiterentwickelt in: Freiheit in der Republik, Manuskript 1999; vgl. auch: Republikanische Freiheit, FS Martin Kriele, 1997, S. 829 ff.
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gegen; denn sie ist mit Kant die „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür" 2 . Die Sittlichkeit ist die Achtung der äußeren Freiheit der anderen. Diese gebietet das Sittengesetz, der kategorische Imperativ 3. Das Sittengesetz ist die Logik der allgemeinen Freiheit oder der Gleichheit aller Bürger in der Freiheit. Ausweislich des Textes des Art. 2 Abs. 1 GG definiert die Pflicht zur Sittlichkeit, das „Sittengesetz", die „freie Entfaltung der Persönlichkeit", also die Freiheit, welche das Grundgesetz schützt und auf welche dieses Verfassungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Art. 20 Abs. 1 S. 1 GG) gebaut ist. Demnach ist es Sache der Politik, das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit zu ermöglichen, also das Prinzip Recht zu verwirklichen, d. h. Recht zu erkennen, in Gesetzen verbindlich zu machen und es durchzusetzen. Rechtlichkeit muß notfalls erzwungen werden 4. Das bedarf des Staates, den Kant als die „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen" definiert 5. Der Staat ist Institution des Rechts als Wirklichkeit der Freiheit und somit die Republik als Gemeinwesen der Freiheit Rechtsstaat. Praktiziert und meist gelehrt wird demgegenüber ein liberalistischer Freiheitsbegriff, ein Recht zur Willkür, also ein Recht zur Beliebigkeit6, der das Sittengesetz ignorieren muß. Er konzipiert Freiheit als Freiheiten, als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat, welche durch die Gesetze eingeschränkt werden 7. Er
2
Metaphysik der Sitten, ed. Weischedel (diese Ausgabe wird im Folgenden benutzt), Bd. 7, S. 345. 3 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Bd. 6, S. 51 (Pflichtformel), S. 61 (Selbstzweckformel), S. 71 (Naturgesetzformel). 4 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 338 f. 5 Metaphysik der Sitten, S. 431. 6 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, 4. Aufl 1965, S. 126, 130, 158 f., 163 f.; ders., Grundrechte und Grundpflichten, 1932, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, 1958, S. 207 ff.; auch ders., Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung, 1931, daselbst, S. 167 f.; P. Kirchhof, Der demokratische Rechtsstaat - die Staatsform der Zugehörigen, in: J. Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (HStR), Bd. IX, 1997, S. 987 („individuell beliebiges Wollen und Handeln"); dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 441 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 127 ff., mit Belegen. 7 BVerfGE 7, 198 (204); auch BVerfGE 13, 318 (325 f.); 21, 362 (372); 50, 290 (337 f.); 63, 193 (205); J. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 11 ff.; M. Sachs, in: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, (Staatsrecht), Bd. III, 1, 1988, S. 558 ff.; v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 1985, Rdn. 110-112 zu Art. 1 Abs 3, S. 83 ff.; K. Hesse, Grundrechte-Bestand und Bedeutung, HVerfR, 2. Aufl. 1994, S. 134 f.; ders., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rdn. 281 ff., S. 114 ff.; auch J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, HStR, Bd. V, 1992, S. 149 f., 163 ff.; Ch. Link, Staatszwecke im Verfassungsstaat - nach 40 Jahren Grundgesetz, W D S t R L 48 (1990), S. 42 f.; H. Bethge, Der Grundrechtseingriff, W D S t R L 57 (1998), S. 10 ff.; kritisch und genau E. Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, Kritische Untersuchungen zur Dogmatik und Theorie der Freiheitsrechte, 1976, S. 3 ff., 158 ff., 201 ff.; dem liberalen Freiheitsparadigma stellt das republikanische gegenüber J.
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entpolitisiert den Menschen, trennt die Gesellschaft v o m Staat, dogmatisiert staatliche Herrschaft 8 und gibt damit dem Parteienstaat als Herrschaftsform eine freiheitsdogmatische Legitimation. Der Freiheitsdualismusstellt neben diese liberalistische eine demokratische Freiheit, welche Grundlage der staatlichen Herrschaft sei 9 . Er ist v o m Bundesverfassungsgericht aufgegriffen 10 und ein Schritt in Richtung des republikanischen Freiheitsbegriffs des Grundgesetzes. Ergänzt w i r d diese subjektive durch eine objektive Dimension der Grundrechte als Leitentscheidungen der Politik 1 1 .
Habermas, Faktizität und Geltung, Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates. 1992, S. 109 ff., 135 ff., 292 ff., 324 ff. u.ö. 8 So K. Stern, Staatsrecht, Bd. I, S. 592, 594; E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, 1987, S. 888 ff., der aber die demokratische Funktion der Grundrechte, S. 909 ff., 941 ff., hervorhebt und damit seiner vielfach rezipierten Lehre von der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft die Grundlage entzieht; auch v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Rdn. 112 zu Art. 1 Abs. 3, S. 85; P. Kirchhof Mittel staatlichen Handelns, HStR, Bd. III, 1988, S. 146; ders., HStR, Bd. IX, S. 961, 978 („Herrschaft durch das Volk fur das Volk"); davon kann sich auch E. Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, etwa S. 188 ff., nicht lösen, dessen Verfassungsprinzip der Freiheit trotz der substantiellen Kritik der Jellinekschen konstitutionellen Lehre von status negativus (passim, S. 3 ff., 139 ff., 158 ff., 192 ff., 201 ff.) nicht zum republikanischen Freiheitsverständnis der Französischen Revolution zurückfindet, sondern Freiheit positiv in der offenen Sozialpflichtigkeit des Gemeinwesens (S. 205 ff., 235 ff.) aufgehen läßt; das bleibt material und erreicht die republikanisch-demokratische Formalität der inneren Freiheit noch nicht. 9 E.-W. Böckenförde, HStR, Bd. I, S. 909 ff. (politische Freiheit/demokratische Mitwirkungsfreiheit), S. 945 f. (rechtsstaatliche Freiheit); krass dualistisch J. Isensee, Staat und Verfassung, HStR, Bd. I, 1987, S. 652 ff.; ders., Grundrechte und Demokratie - die polare Legitimation im grundgesetzlichen Gemeinwesen, Der Staat 80 (1981), S. 161 ff.; nicht anders R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, S. 331; P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, HStR, Bd. I, 1987, S. 788, der richtig die demokratische Freiheit als „individuelle Selbstbestimmung in ethischer Verantwortung, nicht Herrschaft über andere" vorstellt, im Gegensatz zur „Individualität und Privatheit" der „Freiheit des Individualhandelns"; ders., HStR, Bd. IX, S. 987 f., 1011; ders., HStR, Bd. III, S. 122 ff.; Ch. Starck, Grundrechtliche und demokratische Freiheitsidee, HStR, Bd. II, 1987, S. 4 f., 9 ff., 17 ff.; auch v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1 Abs. 3, Rdn. 113, S. 85 f.; ähnlich H.H. Klein, Öffentliche und private Freiheit, Der Staat 10 (1971), S. 167 f.; ders., Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1972, S. 32 ff., insb. S. 43 ff.; i.d.S. auch K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 153 ff., S. 60 ff., Rdn. 287 f., S. 116 f., der trotz kritischer Ansätze an dem Herrschaftscharakter der Demokratie festhält; dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 501 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 162 ff. 10 BVerfGE 69, 315 (343 ff.). 11 I. d. S. seit BVerfGE 5, 85 (204 ff.); 6, 32 (40 f.); 7, 198 (205); 21, 362 (371 f.); 33, 303 (330); 49, 89 (142); 50, 290 (337); 53, 50 (57); 56, 54 (73 ff.); 57, 295 (319 f.); 81, 242 (256); 89, 214 (231 ff.); st. Rspr.; dazu K. Hesse, HVerfR, S. 135 ff.; Κ Stern, Staatsrecht, Bd. III, 1, § 69, S. 890 ff.; auch ders., Staatsrecht, Bd. III, 2, 1994, S. 1769 ff., auch (mit M. Sachs) S. 72 f., 224; ders., Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, HStR, Bd. V, 1992, S. 68 ff.; Kritik von H.H. Rupp, Vom Wandel der Grundrechte, AöR 101 (1976), S. 176 ff.; E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, 1535; J. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 286 ff.; zurückhaltend kritisch auch H. Bethge, VVDStRL 57 (1998), S. 15 ff.; vgl. Κ. A.
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Karl Albrecht Schachtschneider
Die allgemeine äußere Freiheit läßt sich nur durch eine allgemeine Gesetzgebung des allgemeinen gesetzgebenden Willens verwirklichen; denn: volenti non fit iniuria (Hobbes, Rousseau, Kant) 12 . Die Allgemeinheit des gesetzgebenden Willens erfordert, weil das Gesetz allgemein gilt und gelten muß, die übereinstimmende Erkenntnis des Richtigen für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit und damit als deren Grundlage die Erkenntnis der Wahrheit. Wahrheit ist nach Karl R. Popper die „bestmögliche Annäherung der Theorie an die Tatsachen"13. Entgegen der Wirklichkeit kann es keine Richtigkeit, also kein Recht geben. Wer besondere Interessen zum eigenen Vorteil und zum Nachteil anderer durchsetzen will, versagt sich dieser Erkenntnisaufgabe. Sachlichkeit, Wissenschaftlichkeit, Objektivität oder eben Interessiertheit am Interesse aller, am Gemeinwohl, sind die Haltung, welche die Erkenntnis des Gesetzes ermöglicht, das Recht hervorbringt, nicht „Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht"14, sondern Sittlichkeit, innere Freiheit also, welche das Sittengesetz gebietet. Nur sittliche Gesetzlichkeit verwirklicht somit die allgemeine Freiheit und damit die Republik. Nur in ihr sind die Menschen Bürger. Dem Bürger muß um dessen Selbständigkeit willen im größtmöglichen Umfang Privatheit und darum auch Eigentum15 belassen werden; denn nur, wer selbständig ist, kann frei im Sinne der Autonomie des Willens sein und nur unter derart Freien gibt es (gemäß dem Sozialprinzip) Brüderlichkeit 16. Diese Konzeption folgt der Idee der Französischen Revolution: „Liberté, égalité, fraternité". Diese aufklärerische Idee gehört zur Menschheit des Menschen und bestimmt den modernen Staat, auch die Verfassung der Deutschen, das Grundgesetz von 1949, wie schon die Weimarer Reichsverfassung, aber auch die Europäische Union, u. a. ausweislich des Bekenntnisses zu den Grundrechten der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950, und das Weltrecht der Vereinten Nationen, wie Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 erweist: Schachtschneider, Res publica res populi, S. 461 ff., 819 ff; ders., Freiheit in der Republik, S. 137 ff.; im Euro-Beschluß, BVerfGE 97, 350 (376 f.), reduziert der Zweite Senat allerdings den subjektiven Rechtsschutz gegen Verletzungen der objektiven Dimension in systemverändernder Weise; dazu Κ A. Schachtschneider, Der Euro-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, IHI-Schriften 9/1998, S. 19 ff. 12 Hobbes, Leviathan, II, 21; Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, II, 6; Kant, Metaphysik der Sitten, S. 432; i. d. S. schon Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1134 b 13 f. 13 Objektive Erkenntnis, 4. Aufl. 1984, S. 44 ff., 332 ff. (gestützt auf Tarski)', i. d. S. schon Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd. 4, S. 688; dazu K. A. Schachtschneider, Der Rechtsbegriff „Stand von Wissenschaft und Technik" im Atom- und Immissionsschutzrecht, in: W. Thieme (Hrsg.), Umweltschutz im Recht, 1988, S. 106. 14 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Bd. 9, S. 38. 15 Dazu K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, in: Freiheit und Eigentum (Hrsg. J. Isensee/H. Lechler), FS Walter Leisner, 1999, S. 768 ff. 16 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 234 ff.
Der republikwidrige Parteienstaat
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„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen."
Diese Texte sind alle der Würde des Menschen als Grundprinzip der menschlichen Gemeinschaft verpflichtet, der Würde des Menschen, die seit der Aufklärung nichts anderes ist als seine Freiheit 17. Der liberalistische Freiheitsbegriff, in dessen Konsequenz sich derzeit ein sozialwidriger Kapitalismus durchsetzt 18, vergewaltigt die sittliche Verfassung des Grundgesetzes, deren Fundament der durch das Sittengesetz gekennzeichnete republikanische Freiheitsbegriffist. Ein Gemeinwesen der Freiheit bedarf republikanischer Institutionen, von denen ich im Folgenden drei besonders wichtige erörtere. 2. Die Gesetzgebung muß Sache eines Parlaments sein, in dem Abgeordnete, frei gewählt und nur ihrem Gewissen verpflichtet, das Recht zu erkennen bemüht sind. Art. 38 Abs. 1 GG gibt in Satz 2: „Sie (die Abgeordneten) sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen", einen vorbildlichen republikanischen Text. Die Gesetze sind verbindlich, weil sie der Wille des Volkes sind; denn nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Dieser demokratische Verfassungsgrundsatz ist nicht lediglich ein Legitimationsprinzip, verwirklicht durch Wahlen und Berufungen der Mandatsträgerund Amtswalter 19, sondern erklärt die Bürgerschaft, das Volk also, im Sinne des Satzes: Das Volk, das sind wir, oder: Res publica res populi, zum Inhaber der Staatsgewalt; denn wer sollte sonst die Staatsgewalt innehaben, wenn nicht die Bürger, welche durch die politische Freiheit, also durch ihr Amt zur Gesetzgebung, definiert sind. Textlich zwingt Satz 2 dieser fundamentalen Verfassungsvorschrift zu dieser Argumentation; denn die Staatsgewalt wird entweder vom Volk selbst, durch Wahlen und Abstimmungen, oder eben durch „besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung" ausgeübt. Das Volk wird durch diese Organe vertreten, wie das Art. 38 Abs. 1 GG beweist. Darum spricht der Richter im Namen des Volkes Recht. Die vermeintlich rätselhafte, von Carl Schmitt, aber auch Gerhard Leibholz, wirksam verschleierte Repräsentation20 ist schlicht organschaftliche Vertre-
17 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 69; P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HStR, Bd. I, 1987, S. 848. 18 Dazu Κ Α. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, S. 787 f f , ders., Eigentümer globaler Unternehmen, in: Unternehmensethik und die Transformation des Wettbewerbs (Hrsg. B.N. Kumar/M. Osterloh/G. Schreyögg), FS für Horst Steinmann, 1999, Manuskript S. 17 ff. 19 Vgl. BVerfGE 47, 253 (275); 52, 95 (112, 120, 130); 77, 1 (40); 83, 60 (72 f.); R. Herzog, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz, 1980, Rdn. 46 ff. zu Art. 20, II. Abschnitt; Κ Stern, Staatsrecht, Bd. I, S. 606; E.-W. Böckenförde, HStR, Bd. I, S. 894 ff.; R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 168, 175 f f ; vgl. auch Kant, Metaphysik der Sitten, S. 439. 20 C. Schmitt, Verfassungslehre, insb. S. 204 ff.; G. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im Zwanzigsten Jahrhundert, 1929,
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tung. Vertretungshandlungen binden die Vertretenen; denn sie gelten rechtlich als deren Handlungen21. Der Vertreter ist nicht Herr der Vertretenen, sondern dessen, wenn man so will, Diener. Auch das Parlamentsmandat ist ein Amt des öffentlichen Dienstes. Die Vertretung ist nicht nur notwendig, weil in einem großen Gemeinwesen nicht alle über alles beschließen können, sondern sie ist auch die beste Institution der Sittlichkeit, weil republikanische Sittlichkeit die dem kategorischen Imperativ verpflichtete Erkenntnis des Richtigen für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit auf der Grundlage der Wahrheit ist. Das Erkenntniswesen muß bestmöglich geordnet sein. Es müssen, weil nicht alle in Allem zur Erkenntnis befähigt sind, den am besten Geeigneten die Mandate übertragen werden. Das Auswahlverfahren soll das gewährleisten. Es muß weiterhin eine bestmögliche Erkenntnisweise gestaltet werden; das ist in politicisder Diskurs innerhalb des Parlaments als des Beschlußorgans und außerhalb desselben in der Bürgerschaft, damit alle zur Erkenntnis der richtigen Gesetze beitragen können. Wie ich nur wissen kann, was der andere will, wenn ich mit ihm spreche, so kann die Bürgerschaft ihre vielfältigen Vorschläge vom Richtigen nur im allseitigen Diskurs zur Sprache bringen und der allgemeine Wille, der niemanden verletzt, nur in Kenntnis aller Umstände und aller Wünsche gefunden werden. Die Förderung des öffentlichen Diskurses, der ohne Wahrheitlichkeit nicht zur Richtigkeit führen kann, ist republikanische Aufgabe der Medien 22 . Als Despotie hat es Kant verurteilt, wenn einer dem anderen vorschreibe, wie er glücklich zu sein habe23. Der Interessenausgleich, der unvermeidlich mit jeder Materialisierung des Rechts verbunden ist, ist nur freiheitlich, wenn er dem Sittengesetz genügt, also von persönlicher Moralität dessen bestimmt ist, der das Richtige definiert. Nur im öffentlich diskutierenden Parlament kann diese Moralität nach aller Erfahrung erwartet werden, weil die kleine Zahl dem sachgerechten Diskurs eine Chance gibt und die Publizität die Wahrheitlichkeitfördert; denn Argumente, die nicht öffentlich ausgesprochen werden, können nicht in Vertretung der Allgemeinheit eingebracht werden, weil sie deren Aufmerksamkeit scheuen. Freilich setzt eine sittliche Parlamentskultur eine der Wahrheit und Richtigkeit verpflichtete Kultur
3. Aufl. 1966; auch ders., Der moderne Parteienstaat, 1960, und Strukturprinzipien des modernen Verfassungsstaates, 1963, beides in: ders., Verfassungsstaat - Verfassungsrecht, 1973, S. 68 ff. bzw. 101 ff, ständig; dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 735 ff. 21 So schon Hobbes, Leviathan, II, 17 u. 18; i. d. S. auch Kant, Metaphysik der Sitten, S. 439, 464; ders., Zum ewigen Frieden, Bd. 9, S. 206 f f ; ders., Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Bd. 9, S. 152. 22 Dazu K. A. Schachtschneider, Verbände, Parteien, Medien in der Republik des Grundgesetzes, in: XII. Erlanger Medientage, Die Rolle der Medien im Gefüge des demokratischen Verfassungsstaates, 1997, S. 101 ff. 23 Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, S. 145 f.
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der Redefreiheit, welche die Persönlichkeit schützt, aber kein Argument kriminalisiert, voraus. Die Abgeordneten sollen somit in der Republik Vertreter der Bürger in deren Sittlichkeit, d. h. als Gesetzgeber, sein und müssen darum vorbildliche Moralität gewährleisten. Es gibt somit keinen Republikanismus ohne echten Parlamentarismus. 3. Die Republik ist Verfassungsstaat. Die Verfassung, „ein wirkliches Rechtsgesetz der Natur" (Kant) 24 , ist mit dem Menschen verbunden, nämlich die Freiheit des Menschen und damit die gleiche Freiheit aller Menschen, aber als Menschheit des Menschen auch dessen Menschenrechte, wie das Recht der freien Rede, der Schutz des Eigenen usw. Die menschheitliche Verfassung steht nicht zur Disposition der Politik. Das Verfassungsgesetz, wie das Grundgesetz, muß die Verfassung verwirklichen; denn jeder Mensch hat ein Recht auf Recht25. Mittels des Verfassungsgesetzes organisiert sich eine Menge von Menschen als Volk zum Staat und werden die Menschen, die sich vereinigen, zu Bürgern dieses Gemeinwesens. Im Verfassungsgesetz regeln die Bürger die materialen Grundsätze ihres gemeinsamen Lebens, vor allem in den Grundrechten, die Institutionen einschließlich deren Aufgaben und Befugnisse sowie das Procedere der Freiheit. Das Verfassungsgesetz ordnet zur Verwirklichung des Rechts die sittliche Gesetzlichkeit. Dazu gehört neben der parlamentarischen Legislative die Verfassungsgerichtsbarkeit. Zu dieser gehören alle Gerichte, weil diese alle an die Verfassung gebunden sind. Jedes Gericht ist nach Art. 20 Abs. 3 GG dem Recht verpflichtet, nicht nur dem Gesetz, wie das Art. 97 Abs. 1 GG formuliert. Die Gerichte sind dem Gesetz nur unterworfen, wenn dieses das Recht verwirklicht. Die Verfassungsgerichtsbarkeit vollendet den Verfassungsstaat und soll (stellvertretender) Hüter der Republik, des Rechts nämlich, sein.26 Das Recht findet sich vornehmlich im Verfassungsgesetz, also im Grundgesetz. Dessen politische Entscheidungen sind aber entweder formal, wie die Grundendscheidung für die Freiheit, oder offen, d. h. material wenig bestimmt. Die Grundrechte geben der Rechtserkenntnis nur eine Orientierung, beispielsweise eine zugunsten einer bestmöglichen Eigentumsordnung. Trotz ihrer Formalität oder Offenheit sind diese Leitentscheidungen verbindlich. Nach Art. 19 Abs. 2 GG darf der Wesensgehalt der Grundrechte in keinem Fall angetastet werden. Das folgt schon aus der Grundrechtsbindung der Gerichte nach Art. 1 Abs. 3
24
447.
Metaphysik der Sitten, S. 374; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S.
25 K. A. Schachtschneider (O. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution. Kritik der Altschuldenpolitilc Ein Beitrag zur Lehre von Recht und Unrecht, 1996, S. 29 ff., 50 ff.; ders., Res publica res populi, S. 280 f f ; ders., Freiheit in der Republik, S. 38 ff. (kantianisch), S. 84 ff. (dogmatisch). 26 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 909 ff., 932 ff.
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G G 2 7 . Die formale Freiheit gehört als Ausdruck des Menschenwürdeprinzips zu dem Kern der Verfassung, den das Grundgesetz durch Art. 79 Abs. 3 der Änderung durch den verfassungsändernden Gesetzgeber entzieht, zumal die formale, also die politische, Freiheit auch die Essenz des demokratischen Grundsatzes des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG ist, daß alle Staatsgewalt v o m Volke ausgeht; denn wenn die Bürger die Staatsgewalt innehaben, nicht etwa deren Repräsentanten, müssen sie politisch frei, Politiker sein 2 8 Die Verfassungsrechtsprechung hat namens des Hüters der Verfassung, des Volkes, zu klären, ob die formalen und offenen Grundsätze des Verfassungsgesetzes, die wesentlicher Teil des Rechts sind, aber auch die Kompetenzen und Verfahren, welche das Verfassungsgesetz vorschreibt, beachtet sind. Sie ist dadurch die befriedete und befriedende Institutionalisierung des Widerstandsrechts des Volkes in der modernen Republik 29 . K e i n Staat darf das Recht transzendieren, w i l l er nicht zur Despotie entarten und damit seine eigentliche Staatlichkeit einbüßen. Das V o l k hat sich zur Rechtsgemeinschaft verfaßt und darüber hinaus m i t anderen Völkern zu Rechtsgemeinschaften verbunden, etwa zur Europäischen U n i o n 3 0 . Das Recht beansprucht bestmöglichen Schutz und bestmögliche Verwirklichung. Darum muß das Verfassungsgesetz den Bürgern gegen Verfassungsverletzungen Beschwerderechte einräumen, insbesondere um die Verfassung als solche verteidigen zu können. M i t dem subjektiven Grundrecht auf echten Parlamentarismus, gestützt auf Art. 38 Abs. 1 GG, hat das Bundesverfassungsgericht i m Maastricht-Urteil 1993 den Bürger als Hüter der Verfassung in einem erweiterungsbedürftigen Ausschnitt
27 P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 1962, 3. Aufl. 1983; vgl. auch K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 819 ff. 28 Viele sprechen insofern immer noch von "Souveränität" oder "Volkssouveränität" (etwa R. Herzog, in: Maunz/ Dürig, GG, Rdn. 33 ff. zu Art. 20 (II)), als ob die Bürger die Rolle des Fürsten übernommen hätten. Souverän könnte ein Volk sein, das den Bürgern entgegengestellt wäre und die Bürger zu beherrschen berechtigt wäre. Das würde die Republik in eine Demokratie im Sinne Carl Schmitts verwandeln, die Freiheit in Herrschaft, ebenso ungriechisch wie parteienstaatlich. Grundlegend zur Souveränitätslehre Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1 : Die Grundlagen, 1970; ders., Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jh. bis 1806, 1986. 29 R. Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat. Recht als Maß der Macht. Gedanken über den demokratischen Rechts- und Sozialstaat, 1957, S. 91 f f ; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 945 ff., insb. S. 947. ^ Dazu K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union. Ein Beitrag zur Lehre vom Staat nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag über die Europäische Union von Maastricht, in: W. Blomeyer/K. A. Schachtschneider (Hrsg.), Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 75 ff.; ders., Die Republik der Völker Europas, ARSP-Beiheft 71, 1997, S. 153 ff.
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anerkannt 31, ein Schritt zur Bürgerlichkeit der Bürger, zur Freiheitlichkeit, zur Republik. Mit der Rechtsklärungskompetenz erwächst der Verfassungsrechtsprechung, insbesondere dem Bundesverfassungsgericht,eine gesetzgeberische Funktion und damit eine wesentliche politische Aufgabe 32. Die repräsentative Materialisierung der formalen. Freiheit durch die Gesetzgebung ermächtigt und verpflichtet die Verfassungsrechtsprechung zumindest als Wesensgehaltsschutz des Grundrechts der allgemeinen Freiheit, aber auch als Schutz des Rechts überhaupt, gestützt auf das freiheitliche Rechtsstaatsprinzip, ihrerseits praktische Vernunft zu materialisieren. Die rechtstechnischen Grundlagen der richterlichen Gesetzgebungsfunktion sind vornehmlich das Willkürverbot und das Verhältnismäßigkeitsprinzip, die sich sachlich nicht unterscheiden. Das Willkürverbot, unverzichtbares Prinzip des Rechtsstaates33, ist die Logik der allgemeinen Freiheit, die jedem das Recht auf Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür gibt 34 . Das Willkürverbot wird in der Praxis auf den allgemeinen Gleichheitssatz gestützt, aber die allgemeine Freiheit und die allgemeine Gleichheit sind kein Gegensatz; denn Gleichheit gibt es nur in der Freiheit. Sie wird durch jedes Gesetz materialisiert. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip fordert vom Gesetzgeber das rechte Maß, die aristotelische Mitte 35 , das alte Prinzip des Rechts also. Die objektiven Leitentscheidungen insbesondere der Grundrechte, deren objektive Dimension, sind derart offen, daß die lagegerechte Materialisierung ebenfalls funktional gesetzgeberisch, aber im Verfassungsstaat der Verantwortung der Verfassungsrechtsprechung überantwortet ist. Die Verfassungsrichter sind somit funktional an der Gesetzgebung beteiligt. Wegen des Ranges der Verfassung und des Verfassungsgesetzes binden die Rechtserkenntnisse der Verfassungsrichterdie Legislative, wenn erstere auch eine durchaus andere Wirkung entfalten als letztere; denn sie bleiben Richtersprüche. Aber auch ihre Variabilität und Dynamik, also ihre Positivität, ist hinreichend gesichert. Auch die Gerichte vertreten die Bürgerschaft bei der Verwirklichung der allgemeinen Freiheit durch rechtliche Gesetzlichkeit, durch praktische Vernunft, durch Sittlichkeit also. Die Verfassungsrechtsprechung bleibt subsidiär. Die Prärogative der Rechtserkenntnis hat die Legislativerer die Verfassungsgerichtsbarkeit auch einen erheblichen unangreifbaren Erkenntnisspielraum zumißt (judi-
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BVerfGE 89, 155(171 ff.). K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 819 ff. 33 BVerfGE 84, 90(121). 34 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 987 ff., 990 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 197 ff., jeweils mit Belegen. 35 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Zweites Buch, passim. 32
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cial self-restraint) 36. Das (ordentliche) letzte Wort sprechen aber die Richter des Bundesverfassungsgerichts und zunehmend die des Europäischen Gerichtshofs. In dem Maße, in dem die Parlamente ihrer sittlichen Aufgabe genügen und Vertrauen verdienen, mindert sich die subsidiäre Aufgabe der Verfassungsrechtsprechung, die sittlichen Defizite der Legislative zu kompensieren. Das Bundesverfassungsgericht hat den grundgesetzlichen Verfassungsstaat in weiten Bereichen verteidigt. Es hat aber zugleich den Parteienstaat stabilisiert und dadurch die Entwicklung der Republik behindert. 4. Eine „lebendige Demokratie", wie das Bundesverfassungsgericht sagt37, bedarfbestmöglichen Diskurses und damit bestmöglicher Institutionen des Diskurses, insbesondere der Medien, die nicht erst von den Gesetzen zur Wahrheitlichkeit und Richtigkeit gezwungen werden müssen, sondern deren Ethos der bestmögliche Beitrag zum Recht als Wirklichkeit des gemeinsamen Lebens in Freiheit ist. Nur Beiträge zum Wahren und Richtigen sind (abgesehen von Geschmacksurteilen) Meinungen im Sinne des Art. 5 Abs. 1 GG, der Meinungsäußerungsfreiheit. In der Republik als aufklärerischem Gemeinwesen ist der Versuch, die Menschen zu einer bestimmten Meinung zu drängen, sie zu erziehen, nicht der bestmögliche Beitrag, sondern als geistiger Zwang eine Form der Entmündigung, zumal, wenn sie folgenreich political correctness einfordert. Kants Leitspruch der Aufklärung: Sapere aude! „Habe den Mut, dich des eigenen Verstandes zu bedienen"38, verlangt Information ohne jeden Vorbehalt, ohne jeden Hintergedanken, wahrheitliche Berichterstattung, die allein Grundrecht des Rundfunks ist (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG). Nach dem oben zitierten Art. 1 AEMR ist der Mensch „mit Vernunft und Gewissen begabt", also fähig, sich eine Meinung auch im Politischen zu bilden. Er kann aber am Diskurs nur teilnehmen, wenn er so informiert wird, wie man jemanden informiert, den man als Bürger achtet, als Seinesgleichen. Die informationelle Fremdbestimmung der Menschen spricht diesen die Bürgerlichkeit ab und beansprucht, gestützt durch die (fehlinformierte) Zustimmung der Vielen und das Schweigen verängstigter Opponenten, Herrschaft, weitgehend vereint mit der Parteienoligarchie, Herrschaft sogar über die Verwaltungen und vor allem Gerichte, deren Entscheidungen, wenn sie nicht opportun sind, in einer Weise diffamiert werden, die deren amtliche Unabhängigkeit verletzt. Die genaue Information ist auch ein Akt der Sittlichkeit, nicht der PaternaIismus des Gesinnungsjournalismus, der sich ohnehin nur behauptet, wenn er (illegitimer) Herrschaft dient, und wegen der Bündnisse mit den Herren der Republik besonders abträglich ist. Dieses Bündnis ist das Problem unserer Zeit, in der
36 Vgl. BVerfGE 36, 1 (14 f.); 35, 257 (262); auch BVerfGE 30, 256 (262 f.); 37, 104 (118); 43, 291 (347); 45, 187 (237 f.); 53, 185 (196); 59, 360 (377); st. Rspr., insb. BVerfGE 97, 350 (370 ff.). 37 BVerfGE 89, 155 (LS 3 b, S. 186, 213). 38 Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Bd. 9, S. 53.
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der Widerspruch der parteienstaatlichen Despotie zum Republikanismus in der Krise ist.
II. Der Parteienstaat 1. Im Parteienstaat herrschen die Parteien. Die republikanische Amtsverfassung wird im Parteienstaat von den Parteien für ihre Herrschaft instrumentalisiert, zumal sie diese regelmäßig aus Verfassungsgründen nicht oder nicht ganz beseitigen können. Im extremen Parteienstaat (meist eine staatswidrige Herrschaft einer Partei) werden auch die (vermeintlich) staatlichen durch parteiliche Institutionen (Generalsekretär, Führer) ersetzt 39. Der demokratistische Parteienstaat jedoch nistet sich in den Institutionen der Republik ein. Er benötigt deren Legalität und Legitimität und etabliert seine Herrschaft durch die Besetzung der Ämter. In ihrem Interesse verändern und erweitern die Parteien die Ämterverfassung durch privatistische Einrichtungen, insbesondere etwa im Bereich der Staatsunternehmen. Die Ämterpatronage 40 ist das spezifische Instrument des Parteienstaates im republikanisch verfaßten Gemeinwesen. Der demokratistische Parteienstaat nimmt nicht notwendig alle Ämter in Anspruch, hat aber eine dahingehende Tendenz. 2. Parteiendes Parteienstaates sind die festgefügten (staatlichen, nicht privaten) Parteien, wie sie das Parteiengesetz in § 2 definiert und in § 1 als „verfassungsrechtlich notwendigen Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung" ausweist. Nach Satz 2 dieser durchaus der Verfassungswirklichkeit entsprechenden Vorschrift „erfüllen sie (sc. die Parteien) mit ihrer freien, dauernden Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes eine ihnen nach dem Grundgesetz obliegende und von ihm verbürgte öffentliche Aufgabe." Diese Konzeption stammt von Gerhard Leibholz, zwei Jahrzehnte lang Richter am Bundesverfassungsgericht,der den Parteienstaat trotz der im Grundgesetz verfaßten Republik im Sinne und zum Nutzen der Parteien dogmatisiert hat, wohl wissend, daß diese Doktrin den republikanischen Parlamentarismus, wie er in Art. 38 Abs. 1 GG angelegt ist, „revolutioniert" 41 . Der zitierte Satz kor-
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Dazu K. A. Schachtschneider ( Ο. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution; S. 29 ff. 40 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, ed. Winkelmann, 5. Auflage 1972, S. 839 ff.; Th. Eschenburg, Ämterpatronage, 1961; H.H. von Arnim, Ämterpatronage durch politische Parteien, 1980; ders., Fetter Bauch regiert nicht gem. Die politische Klasse - selbstbezogen und abgehoben, 1997, S. 226 ff., 230 ff.; R. Wassermann, Die Zuschauerdemokratie, 1986/1989, S. 133 f f , 174 ff; schon Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, II, 2. 41 Das Wesen der Repräsentanten, S. 94, 98 ff., 224 ff., 254 ff.; ders., Der moderne Parteienstaat, S. 68 f f , 83; ders., Strukturprinzipien des modernen Verfassungsstaates, S. 25 ff., u. ö.
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rigiert die Verfassung im Kern und soll dies auch. Nach Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG „wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mit", mehr nicht. Als Verfassungsinstitution wären die Parteien für das grundgesetzliche Gemeinwesen notwendig und würden den Charakter der (vermeintlichen)Demokratie bestimmen. Durch Art. 21 Abs. 1 GG sind sie jedoch nur als politische Einrichtungen akzeptiert und sollen bestmöglich, auch begrifflich, in die Republik integriert werden. Insbesondere muß ihre innere Ordnung demokratischen Grundsätzen entsprechen (Abs. 1 S. 3), ein nie verwirklichtes Prinzip 42. §§ 1 und 2 PartG sind (1967), wie das Bundesverfassungsgerichtin seiner Parteienrechtsprechung, den parteienstaatlichenGegebenheitengefolgt. Sie haben die Republik des Grundgesetzes einfachgesetzlich, als wäre die Verfassungsrechtsprechung die Verfassung des Grundgesetzes, in einen Parteienstaat verwandelt. Das Parteiengesetz wird von der Verfassungspraxisnach wie vor gelebt und von der Verfassungsrechtslehre im Kern nicht kritisiert 43 . Dieser Kern ist die verfassungsändernde Ideologie von der Notwendigkeit der (wohlgemerkt festgefügten) Parteien für die Demokratie 44. Diese Ideologie ist wirkungsmächtiger als der Text des Verfassungsgesetzes und dennoch wie jede Ideologie ohne Wahrheitsgehalt. Sie wird aber wirkungsvoll durch die andere verfassungsferne Ideologie, jeder Staat sei Herrschaft 45, gestützt. Wenn Staatlichkeit Herrschaft ist, bedarf es der Herrscher. Weil das Volk auch in der Demokratie nicht selbst herrschen kann, herrschen die Parteien für das Volk über das Volk. Das Parteienprinzip ist an die Stelle des monarchischen Prinzips getreten; der deutsche Konstitutionalismus hat sich behauptet. Die ohnehin wenig politischen Deutschen sind Untertanen geblieben. Die wenigen Bürger aber, die ihrer Pflicht zur Politik im Sinne sittlicher Erkennnis der allgemeinen Gesetze genügen wollen, werden durch die parteilichen Interessenbündnisse von der Politik fernge-
42 Vgl. VerfG Hamburg, N V w Z 1993, 1083 ff.; M. Th. Greven, Parteien und politische Herrschaft. Zur Interdependenz von innerparteilicher Ordnung und Demokratie in der BRD, 1977, S. 260; R. Wassermann, Zuschauerdemokratie, S. 90 ff., 166 f f ; nicht ganz unkritisch D. Grimm, Die politischen Parteien, HVerfR, 2. Aufl. 1994, S. 622 ff. 43 Vgl. BVerfGE 24, 260 (264 ff.); 24, 300 (361); 74, 96 (100); 79, 379 (384); W Henke, Grundgesetz, Bonner Kommentar, Drittbearbeitung, 1991, Art. 21, Rdn. 5 ff., 15 ff., 40 ff.; K. Stern, Staatsrecht, Bd. I, S. 440 f.; dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1054 ff. 44 BVerfGE 1, 208 (223 ff.); 11, 266 (273); 20, 56 (101, 113 f.); 24, 260 (264); 41, 399 (416); 44, 125 (182); 73, 40 (81); 80, 188 (219); 84, 304 (322); 85, 264 (284); jüngst Verfassungsgerichtshof Berlin, Urteil vom 2. Juni 1999 (Az. VerfGH 31 A /99, 31/99), S. 7 f.; G. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, S. 118 ff., 240 ff.; ders., Der moderne Parteienstaat, S. 68 ff.; D. Grimm, HVerfR, S. 509 ff., 605 ff.; P. Badura, Die parlamentarische Demokratie; HStR, Bd. I, 1987, S. 982; vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 772 ff., 1054 ff. Vgl. oben Fn. 8.
Der republikwidrige Parteienstaat
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halten. Die politische Freiheit bleibt versagt. Freiheit gibt es nur unter Bürgern, also nur, wenn alle, die miteinanderleben, frei sind. Festgefugte Parteien sind für die Republik nicht notwendig. Kandidaten ftir die Ämter und Mandate lassen sich auch anders finden. Die Geschichte, andere Länder und vor allem die Wählergemeinschaften beweisen dies. Bürgervereinigungen, die sich um die Suche nach den Besten für die Mandate und Ämter bemühen, sind keine Parteien im Sinne des § 2 PartG, genausowenig wie politische Gesprächskreise, die über das Recht nachdenken. Erkenntnisse des richtigen Rechts hängen nicht von den Parteien ab, wie Rechtswissenschaft und Rechtspraxis beweisen. Die Verbindlichkeit des Rechts bedarf des Staates, nicht der Parteien. Angeblich befrieden die Parteien die Gesellschaft, indem sie die pluralen Interessen ausgleichen46. Allenfalls lassen sie weniger wahlmächtige Interessen nicht zur Geltung kommen, weil sie die politische Meinungsbildung (mit den Medien) beherrschen. Im übrigen verfaßt das Grundgesetz eine Republik und nicht eine Demokratie. Die Bundesrepublik Deutschland soll ein demokratischer und sozialer Bundesstaat sein, also zunächst einmal eine Republik. Unter dem Begriff der Demokratie kann sich auch ein Parteienstaat einrichten, weil wegen der geringen Definitionskraft des Wortes Demokratie eine Form der Freiheit (griechisch) 47 oder eine Form der Herrschaft (Carl Schmitt)48 sein kann. Als Staat ist der griechische Begriff der Demokratie identisch mit dem lateinischen Begriff Republik. Volk ist, wie auch immer in der Antike formiert, die Bürgerschaft, heute gekennzeichnet durch die Gleichheit in der Freiheit und aus deren Logik die allgemeine Gesetzgeberschaft 49. Zur materialen Republik gerät der Parteienstaat in Widerspruch, wenn der Begriff Republik nicht, wie herrschend, angelehnt an Machiavelli, darauf reduziert wird, daß er der Monarchie entgegenstehe50. Erstens können auch
46 BVerfGE 20, 56 (101); P. Badura, Grundgesetz, Bonner Komm., Anhang zu Art. 38, Rdn. 21; M.-P. Schneider, Das parlamentarische System, HVerfR, S. 557; D. Grimm, Parlamente und Parteien, in: H.-P. Schneider/W. Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, S. 200, 202; zum republikanischen Interessenausgleich K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 617 ff. 47 Vgl. Ch. Meier, Demokratie, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, 1972/79, S. 821 ff.; D. Sternherger, Der alte Streit um den Ursprung der Herrschaft, in: ders., Herrschaft und Vereinbarung, Schriften Bd. VI, 1980, S. 18 ff. 48 Verfassungslehre, S. 200 ff. 49 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1 ff., 14 ff., 275 ff., 325 ff., 410 ff., 494 ff., 519 ff., 637 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 38 ff., 56 ff., 84 ff., 93 f f , 113 ff., 197 ff. 50 N. Machiavelli , II principe, ed. Ziegler, 1833, 1. Kap. S. 119; G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1900, 3. Aufl. 1914, 7. Neudruck 1960, S. 710 f f ; R. Hübner, Die Staatsform der Republik, 1919, S. 7 ff.; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 223 f.; K. Stern, Staatsrecht, Bd. I, S. 575 ff.; E.-W. Böckenförde, HStR, Bd. I, S. 947; sachnäher
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Monarchien republikanisch, j a Republiken sein. Rousseau hat als Kriterium der Republik allein auf die Verwirklichung der Freiheit durch Gesetzlichkeit abgestellt 5 1 . Zweitens steht das Prinzip Republik dem monarchischen Prinzip entgegen und verbietet damit das Prinzip Herrschaft 52 . Das V o l k kann als Bürgerschaft nicht herrschen. Bürger können nur frei miteinander sein. Aber das Republikprinzip verbietet auch die Herrschaft über das V o l k . Das schließt weder Ordnung noch Zwang, schon gar nicht Regierung aus, im Gegenteil, ohne Gesetzlichkeit und damit ohne Ordnung und Zwang besteht der „ b e l l u m omnium in omnes" (Hobbes) 5 3 , nicht die Wirklichkeit der Freiheit. Das Recht vermag sich ohne die Zwangsbefugnis des Staates nicht zu behaupten 54 , aber: „Regieren ist nicht herrschen" ( D o l f Sternberger) 55 . Parteien aber herrschen. Sie suchen im Inneren nicht den freiheitlichen, also offenen Diskurs und reduzieren die ihnen vorgeschriebenen demokratischen Grundsätze auf das formelle M i n i m u m der parteiinternen Wahlen 5 6 . Nach außen kämpfen ihre Führungen um die Herrschaft im Staat und die Gefolgschaft um die
F. Bernatzik, Republik und Monarchie, 2. Aufl. 1919, S. 35 ff., 39 ff.; -vgl. aber J. Isensee, Republik - Sinnpotential eines Begriffs. Begriffsgeschichtliche Sinnproben, JZ 1981, 1 ff.; W. Henke, Zum Verfassungsprinzip der Republik, JZ 1981, 249 f f ; ders., Die Republik, HStR, Bd. I, 1987, S. 867 ff.; vor allem Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, II, 6; I. Kant, Zum ewigen Frieden, S. 204; ders., Über den Gemeinspruch, S. 145 f f ; vgl. Κ Α. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 11 f f , passim. 51 Vom Gesellschaftsvertrag, II, 6; vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, S. 206 ff.; vgl. auch Cicero, De re publica, Vom Gemeinwesen, ed. Büchner, 1979, S. 296 f.; R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl. 1968, S. 221; K. Low, Was bedeutet Republik in der Bezeichnung „Bundesrepublik Deutschland"?, DÖV 1979, 819 f f , 812 f.; W. Henke, Recht und Staat, Grundlagen der Jurisprudenz, 1988, S. 367 f.; W. Mayer, Republik, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, vor allem S. 580 ff. 52 Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 11 ff., 14 ff., 71 ff., passim. 53 De Cive, in: G. Geismann/K Herb (Hrsg.), Hobbes über die Freiheit, 1988, S. 128 f.; Leviathan, I, 13; II, 17 u. 18; Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 8; vgl. auch Kant, Metaphysik der Sitten, S. 430; ders., Zum ewigen Frieden, S. 203, 208. 54 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 6; Kant, Metaphysik der Sitten, S. 338 f., 365 f., 464, 527; ders., Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 39; ders., Über den Gemeinspruch, S. 148, 156, und S. 169; ders., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Bd. 10, S. 686 („Gewalt, mit Freiheit und Gesetz (Republik)"); Κ Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 1949, S. 202; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 838 f.; Κ Α. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 545 ff., insb. S. 553 ff. 55 Der alte Streit um den Ursprung der Herrschaft, S. 20, 25 f.; ders., Herrschaft und Vereinbarung. Über bürgerliche Legitimität, 1964/67, in: ders., Herrschaft und Vereinbarung, Schriften Bd. VI, 1980, S. 130 f.; dazu Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 139 ff. 56 Κ Α. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 713 ff., 1060 ff., 1086 ff., 1133 ff.
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staatlichen Ämter 57 . Freilich sind die Parteien durch die häufigen Wahlen gezwungen, auf die Interessen von Wählern und Verbänden Rücksicht zu nehmen. Sie sind im übrigen von den Rechtserkenntnissen der Rechtsprechung abhängig. Das mäßigt ihre Herrschaft. Auch die wirtschaftlichen Gegebenheiten lassen die Herrschaft der Parteien nicht unberührt, zumal die globalen Unternehmen, welche die Politik nicht nur entnationalisieren, sondern vor allem derepublikanisieren 58. Schließlich sind die Medien, von vielen die vierte, von manchen die erste Gewalt genannt, eine Gegenmacht, solange sie nicht allzusehr mit den Parteien verwoben sind 59 . Die Parteien herrschen aber, soweit es ihnen möglich ist. Viele Wähler legitimieren die plurale Parteienoligarchie durch ihre Stimmabgabe bei den Wahlen. Den Verfall des Rechts haben die meisten von ihnen noch nicht recht bemerkt und wenn, zeigen sich noch nicht viele davon betroffen, weil und insoweit nicht eigene Interessen berührt sind. Zunehmend viele Bürger aber sind nicht mehr zur Wahl der Parteienoligarchie bereit, zumal die Politik durch den Internationalismus, vor allem den europäischen Integrationismus, weitgehend entparlamentarisiertund dadurch entdemokratisiert ist 60 . 3. Art. 16 der Deklaration von 1789 hat klargestellt: „Eine jede Gesellschaft, in der weder die Gewährleistung der Rechte gesichert noch die Teilung der Gewalten festgelegt ist, hat keine Verfassung".
Der Parteienstaat unterläuft sowohl die föderale Gewaltenteilung als auch die gewaltenteilige Funktionenordnung, jedenfalls die von Legislative und Exekutive. 61 Die grundgesetzliche durchaus republikanische Bundesstaatlichkeit Deutschlands wird nicht ihrer föderalen Eigenart gemäß gelebt, sondern weitgehend ftir die Zwecke der Parteien instrumentalisiert und damit angesichts der (weitgehend vorgetäuschten) Lagerbildung dem sogenannten neuen parteienstaatlichen Dualismus von Regierung und Opposition unterworfen 62. Die Parla-
57 Vgl. die Hinweise in Fn. 40; dazu Κ A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1113 ff. (mit weiteren Hinweisen). 58 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, S. 785 f f , 792 ff.; ders., Eigentümer globaler Unternehmen, S. 430 ff. 59 Dazu K. A. Schachtschneider, Verbände, Parteien und Medien in der Republik des Grundgesetzes, S. 101 ff. 60 K. A. Schachtschneider, Der Euro-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 46 ff.; ders., Eigentümer globaler Unternehmen, S. 21 f f ; ders., Demokratiedefizite in der Europäischen Union, in: W. Nölling/ders./J. Starbatty (Hrsg.), Währungsunion und Weltwirtschaft, FS W. Hankel, 1999, S. 119 ff. 61 H.H. von Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern, S. 223 ff., 234 ff., 295 ff., insb. S. 330 ff. 62 Dazu N. Gehrig, Parlament - Regierung - Opposition, Dualismus als Voraussetzung ftir eine parlamentarische Kontrolle der Regierung, 1969, S. 65 f f , 103 ff., 140 ff., 178 ff., 203 ff.; W. Steffani, Parteienstaat und Opposition, 1965, in: ders., Parlamentarische und präsidentielle Demokratie, 1979, S. 207 ff.; K. Stern, Staatsrecht, Bd. I, S. 1022 ff.; P. Badura, HStR, Bd. I, S. 962 ff., 984 f.; H. H. Klein, Aufgaben des Bundestages, HStR, Bd. II, 1987, S. 358 f.; H.-P. Schneider, Verfassungsrechtliche
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mente sind in der Realität von den Parteienoligarchien, insbesondere den Führungen der Regierungsparteien, welche die Mehrheit im Parlament bilden, und damit von der Regierung und folglich in der plebiszitären Kanzlerdemokratie 63 von dem jeweils gewählten Parteiführer abhängig. Diese parteienstaatliche Verkehrung des verfassungsgemäßen Verhältnisses von Parlament und Regierung wird wiederum durch das faktische Herrschaftssystem der Europäischen Union, nämlich die Verbindlichkeit der Absprachen der Staats- und Regierungschefs, verstärkt. Der Parlamentarismus hat auch Funktionen im Parteien Staat, etwa die Legitimation der pluralen Parteienoligarchie durch die Parlamentswahlen, die parlamentarische Legalisierung und Stabilisierung der Regierung, insbesondere der Kanzlerschaft (regelmäßig) des Parteiführers der Mehrheitspartei, den Schutz vor einer derart unerträglichen Führung, daß sie die Wiederwahl der Abgeordneten der Regierungspartei(en) gefährdet, durchaus die parlamentarische Legitimation des Haushaltsund der Gesetze, die Befriedung der Bürgerschaft durch die Illusionierung der Mitwirkung an der politischen Willensbildung, vor allem aber die parteiinterne Disziplinierung der Parteien durch die Parlamentarier, welche mehr ihre Partei der Führung gefügig zu machen als auf die Politik einzuwirken haben, und manches mehr. Seiner Substanz als Essentiale des Republikanismus64 aber ist der Parlamentarismus im Parteienstaat beraubt. Die eigentliche Aufgabe des Parlaments, die Erkenntnis des Rechts mittels offenen und öffentlichen Diskurses, findet im parteienstaatlichen Parlament nicht die geeignete Institution. Carl Schmitt hat das mit aller Klarheit herausgestellt65. Gerhard Leibholz hat Schmitts Kritik verstanden und dem Parlament eine parteienstaatliche,plebiszitäre Funktion zugeschrieben66.
Bedeutung und politische Praxis der parlamentarischen Opposition, in: ders./W. Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, S. 1055 f f ; K. A. Schachtschneider, Das Hamburger Oppositionsprinzip, Der Staat 28 (1989), S. 177 f. 63 W. Steffani, Strukturprobleme parlamentarischer Demokratie, in: ders., Parlamentarische und präsidentielle Demokratie. Strukturelle Aspekte westlicher Demokratien, 1979, S. 154 f f ; ders., Strukturtypen präsidentieller und parlamentarischer Regierungssysteme, daselbst, S. 43 f.; J. Küpper, Die Kanzlerdemokratie, 1985; vgl. Κ Stern Staatsrecht, Bd. I, S. 257, 591, 978, 1011; P. Badura, HStR, Bd. I, S. 960 f.; N. Achterberg, Innere Ordnung der Bundesregierung, HStR, Bd. II, 1987, S. 635 ff.; M. Schröder, Aufgaben der Bundesregierung, HStR, Bd. II, 1987, S. 592 f.; 64 Der Sache nach ein Leitprinzip des vom Bundesverfassungsgericht stetig verstärkten Gesetzes- und Parlamentsvorbehalts, etwa BVerfGE 89, 155 (171 ff., 181 ff.); 90, 286 (344 ff., insb. S. 381 ff.); 93, 350 (368 ff.). 65 Verfassungslehre, S. 246 ff.; ders., Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 83 ff., 100 f f ; scharfe Kritik auch von H. Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, 2. Aufl. 1930, S. 8 ff. 66 Das Wesen der Repräsentation, S. 103, 174 ff., 213 ff., bzw. S. 94, 98, 114 ff., 224 ff., 246 ff., 252 ff., 269 ff.; ders., Die Reform des Wahlrechts, W D S t R L 7 (1932), S. 164 ff.; ders., Der moderne Parteienstaat, S. 62 ff., 72 ff., 79 ff.; ders., Struktur-
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Parteilich gebundene Abgeordnete sind unfähig, ihre Meinung vom richtigen Recht zur Geltung zu bringen, sind unfähig, mit allen Abgeordneten die Gesetzesvorhaben öffentlich der Sache gemäß zu erörtern, sind unfähig, ausschließlich ihrem Gewissen zu folgen, wie es ihnen die Verfassung und das Verfassungsgesetz in Art. 38 Abs. 1 S. 2 aufgibt, weil nur die Moralitätder Vertreter des Volkes die Sittlichkeit der Gesetzgebung sichert 67; denn das Gewissen ist der Gerichtshof der Sittlichkeit68. Moralität verträgt sich nicht mit Bündnissen, schon gar nicht mit Interessenbündnissen. Die Abgeordneten überlassen die Erkenntnis des Rechts anderen, auch den Ministerien, den Gerichten, den Rechtslehrern, ja heute weitgehend der Bürokratie der Europäischen Union. Sie sind durch ihre eigentliche Aufgabe nicht nur meist überfordert, sondern oft an ihr nicht interessiert, weil deren Bewältigung ftir die Wiederwahl nicht annähernd so wichtig ist wie die Stellung in der Partei, auch die an der Basis. Die Möglichkeit, wiedergewählt zu werden, ist ein Hindernis des echten Parlamentarismus. Die Überforderung der Abgeordneten könnte gemindert werden, wenn die Parlamente auf das Wesentliche beschränkt würden. Die Ausfiihrungsgesetzgebung kann im weiten Umfang den Regierungen überlassen bleiben. Immerhin hat diesen Effekt die Gemeinschaftspolitik erreicht, deren wesentliche Politik in den Gemeinschaftsverträgen legislativer Zustimmung bedarf, während die Rechtsakte der Gemeinschaften von Organen der Exekutive beschlossen werden69. Nur hat der Bundestag auf die Gemeinschaftsverträge nicht bestimmend eingewirkt, weil die parteienstaatliche Machtverteilung zwischen der Regierung und dem Parlament einen wirklichen Einfluß der Abgeordneten ebenso hindert wie die Vertragstechnik der Europäischen Union, welche die letzten Kompromisse dem Europäischen Rat überantwortet. Das Wesentliche aber sollte wirklich Sache der Parlamente sein, nicht Sache der Regierung 70. Dem steht weniger ein allzu strikter Gesetzesvorbehalt als vielmehr das (problematische) parlamentarische Regierungssystem im Wege, das auf Bundesebene durch Art. 65 S. 1 GG dem Bundeskanzler nicht nur die Befugnis gibt, die Richtlinien der Politik zu bestimmen, sondern vor allem aber zu entscheidender Bundesminister wird und insbesondere bleibt. Die Richtlinienkompetenz ist dem Verfassungsgesetz nach eine Aufgabenteilung in der Regierung zu Lasten der Minister, nicht zu Lasten der Le-
prinzipien des modernen Verfassungsstaates, S. 25 f f ; so aber auch schon C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 83 ff. 67 Κ A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 637 ff., 707 f f 68 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 572 f f ; ders. auch, Kritik der reinen Vernunft, S. 630 ff. 69 Zur Exekutivität der Gemeinschaft K. A. Schachtschneider, Demokratiedefizite in der Europäischen Union, S. 124 ff. 70 In diesem Sinne die Wesentlichkeitsdogmatik des Bundesverfassungsgerichts, etwa BVerfGE 33, 1 (10 f.); 47, 46 (78 ff.); 49, 89 (126 ff.); 57, 295 (320 f.); 58, 257 (268 ff.); 84,212 (226).
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gislative 7 1 . Der Bundeskanzler dominiert die Politik, w e i l er zugleich der Führer der stärksten Parlamentspartei zu sein pflegt, schwer absetzbar ist (konstruktives Mißtrauensvotum nach Art. 67 Abs. 1 S. 1 GG) und weitgehend über die Vergabe der begehrten Ämter entscheidet. In der Kanzlerdemokratie kann sich der Abgeordnete nur schwer seinem Mandat gemäß entfalten. A u c h der Abgeordnete der Opposition verhält sich jedoch selten anders als ebenfalls parteigebunden. Er ist vor allem Gefolgsmann des Führers oder der Führung seiner Partei. Das Bündnis von Führern und Gefolgsleuten ist das Wesen der festgefügten Parteien als Kampfverbänden 7 2 , gestützt durch das Herrschafts- und Amtsinteresse der Führer und durch das Vorteils-, meist auch das Amtsinteresse der Gefolgschaft 73 . Hab-, Herrsch- und Ehrsucht finden sich in den Parteien in besonderer Intensität, meist verbunden mit mediokrer Befähigung für die herausragenden Ämter, die angestrebt werden (Negativauslese) 74 . Ein fraktioniertes Parlament jedenfalls entmachtet die Abgeordneten 7 5 . Das erleichtert es, die Entscheidungen nach au-
71 Dazu M. Schröder, HStR, Bd. II, S. 586 f.; Κ . Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 301 f f ; H. Maurer, Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers, in: FS W. Thieme, 1993, S. 123 ff.; grundlegend W. Hennis, Richtlinienkompetenz und Regierungstechnik, 1964, in: ders. (Hrsg.), Politik als praktische Wissenschaft, 1968, S. 161 ff.; Th. Wieske, Bedarf der Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg einer in der Verfassung verankerten Richtlinienkompetenz?, 1996, S. 17 f f , 30 ff. 72 So W. Henke, Grundgesetz; Bonner Komm., Art. 21, Rdn. 286; auch M. Kriele, Einführung in die Staatslehre. Die geschichtliche Legitimationsgrundlage des demokratischen Verfassungsstaates, 4. Aufl. 1990, S. 321 ff.; B. Zeuner, Innerparteiliche Demokratie, Aus Politik und Zeitgeschichte 33/34, 1969, S. 38 f.; schon M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 837 ff., 857 ff. 73 H.H. von Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern, S. 65 ff., 173 ff., 205 ff. 74 R. Michels, Zur Soziologie des Parteienwesens in der Demokratie, 2. Aufl. 1925, S. 349; M. Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, 1918, Gesammelte Schriften, 2. Aufl. 1958, S. 385 ff.; auch in ders., Wirtschaft und Gesellschaft, S. 838 ff.; C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 8; K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 213; ders., Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen, 1966, 10. Aufl. 1988, S. 117, 182; H. Hamm-Brücher, Abgeordneter und Fraktion, in: H.-P. Schneider/W. Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, S. 695; R. Wassermann, Die Zuschauerdemokratie, S. 112 ff.; E. K. u. U. Scheuch, Cliquen, Klüngel und Karrieren. Über den Verfall der politischen Parteien, Eine Studie, 1992, S. 14, 37, 46, 50, 109, 115 (K. U. von Hassel zitierend), 122, 127, 129, 146, 149 f.; R. Wildenmann, Volksparteien - Ratlose Riesen?, 1989, S. 122 f.; R. v. Weizsäcker, Der Parteienstaat oder die Zukunft der liberalen Demokratie, 1992, S. 150, 160, 165; dazu R. Stöss, Parteikritik und Partei Verdrossenheit, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 21/90, S. 16 f.; Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1064 ff. 75 H. Hamm-Brücher, Abgeordneter und Fraktion, S. 698 f., 690 f.; H. Apel, Die deformierte Demokratie, Parteienherrschaft in Deutschland, 2. Aufl. 1991, S. 188 ff.; D. Lattmann, Die Einsamkeit des Politikers, 1977/1982; R. Wassermann, Die Zuschauer-
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ßen zu verlagern. Die Parteien bemächtigen sich der politischen Macht, schon um das Interesse der Partei zu fördern. Die Parteibürokratie dominiert den Parteiabgeordneten, der die aufreibende Erkenntnispflicht, auf die er selten vorbereitet ist, leichthin aufgibt, zumal sein Status von seinen parlamentarischen Erkenntnisleistungen nicht abhängt. Vor allem läßt das Fraktionswesen, wie der Parteienstaat selbst Konsequenz des Verhältniswahlsystems mit parteilichen Listen und Sperrklauseln 76, es nicht zu, daß alle Abgeordneten wirklich Verantwortung für die Richtigkeit des Gesetzes übernehmen, ganz im Gegenteil, schlechte Gesetze lassen die Opposition auf Wahlerfolge hoffen. Der mißlungene Diskurs ist aber allen Abgeordneten anzulasten. Nach dem Grundgesetz vertreten alle Abgeordneten, jeder allein und alle zusammen als Organ Parlament 77 das ganze Volk. Jede Parteilichkeit ist dem republikanischen Prinzip zuwider. Die Kritik ist nicht neu, wie die Belege in den Fußnoten zeigen. Die Ignoranz gegenüber der Kritik ist allzu verständlich. Das Bemühen um echten Parlamentarismus wäre das Ende des Parteienstaates. Die Macht der Parteien rechtfertigt letztere jedoch genausowenig wie den parteienstaatlichen Parlamentarismus, der der Freiheit im republikanischen Sinne, der Bürgerlichkeit der Bürger, keine Chance läßt und vor allem zur Rechtlichkeit nicht beiträgt. Wichtigste Maßnahmen wären die Änderung des Wahlsystems durch die Einführung des Mehrheitswahlrechts 78 und die Begrenzung der Mandatszeit der Abgeordneten 79, aber auch die Auflösung des faktischen Nominationsmonopols80 der Parteien und die Beseitigung der verfassungswidrigen Sperrklauseln 81.
demokratie, S. 121 ff.; auch H. H. von Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern, S. 190 f f , insb. S. 197 f f 76 H. Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, S. 27; C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1923, 4. Aufl. 1969, S. 28; ders., Der Hüter der Verfassung, S. 83 f f ; G. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, S. 114 f f ; ders., VVDStRL (1932), S. 164 f.; R. Smend, Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl, 1919, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 1955, S. 60 f f ; K. Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, S. 128 f f ; H. H. von Arnim, Entmündigen die Parteien das Volk? Parteienherrschaft und Volkssouveränität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 21/90, S. 31; ders., Fetter Bauch regiert nicht gern, S. 194 f f , 393 f f ; Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1147 ff. 77 BVerfGE 80, 188 (217); 84, 304 (321); vgl. auch BVerfGE 4, 144 (149); 44, 308 (316); 56, 396 (405); dazu Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 647 ff., 707 ff. 78 Dafür R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 190 ff., 193 ff.; F. A. Hermes, Verfassungslehre, 1964, S. 214 f f , 387 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1149 f.; Η. H. von Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern, S. 393 f f ; für die Zulässigkeit eines Mehrheitswahlsystems BVerfGE 1, 208 (246); 34 81 (100). 79 I.d.S. Aristoteles, Politik, 1332 d 20 ff. u. ö.; zu den kurzen Amtszeiten in Athen und Rom W. Henke, Recht und Staat, S. 314, 331. 80 Vgl. BVerfGE 41, 399 (413 ff.); 44, 125 (182); Wahlprüfungsgericht Berlin NJW 1976, 560ff; Κ. A. Schachtschneider, Das Nominationsmonopol der Parteien in Berlin, JR 1975, 89 f f ; ders., Res publica res populi, S. 1103 f.; W. Henke, Grundgesetz,
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4. Das Bundesverfassungsgericht ist eine Chance und zugleich eine Gefahr der Republik. Es kommt auf das republikanische Gewissen der Richter an, wenn das Gemeinwesen zum Recht finden und das Recht wahren will. Nur wenige Medien erfüllen ihre republikanische Pflicht 82 . Die Bürger freilich müssen die Politik in ihre Hand nehmen, wenn sie in einer Republik leben und frei sein wollen. Der Parteienstaatjedenfalls ist keine Republik, er ist auch keine Demokratie. Werner Maihofer beklagt „die Deformation und Perversion von Prinzipien der Demokratie wie der Republik im Parteienstaat der Gegenwart" 83 - zu Recht. Der Parteienstaat ist nicht freiheitlich, wenn auch die Parteienoligarchieden Menschen gewisse Freiheiten lassen und die Wahlen hinnehmen muß. Die Wähler können aber die Parteienoligarchienicht abwählen, sondern nur zwischen der Regierung durch die eine oder die andere Seite der pluralen Parteienoligarchie wählen. Das verschafft ihnen einen begrenzten Einfluß, der aber weder die Parteienoligarchie aufhebt noch die Interessen der politischen Klasse84 wirklich berührt. Dieser Einfluß ist durch die Europäische Union weiter vermindert. Die Europäische Union selbst ist auch nach den bescheidensten Anforderungen an die Demokratie, nämlich der, daß die Wähler die Regierung ablösen können85, nicht demokratisch. Das Demokratiedefizit der Europäischen Union ist unüberwindlich, schon weil diese zu viele Menschen zusammenfaßt, als daß diesen das Maß an politischer Einheit bliebe, das es erlauben würde, die Europäische Union eine Demokratie zu nennen86. Die Legitimation der Unionspolitik durch die nationalen Parlamente, nämlich durch die Zustimmungsgesetze zu den Unionsverträgen und auch den parlamentarischen Einfluß auf die Regierungen und deren Politik in europäischen Angelegenheiten, also das Prinzip der begrenzten Ermächtigung der Unionsorgane, ist eine schöne Dogmatik 87 , nur schade, daß sie keinerlei Realität hat, wie die Verweigerung des Rechtsschutzes gegen die vertragswidrige Euro-Politik 88 und Bonner Komm., Art. 21, Rdn. 91; R. Wassermann, Zuschauerdemokratie, S. 87 f., 121 ff., 166 ff.; H. H. von Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern, S. 101 ff., 167 ff. 81 A. A. BVerfGE 1, 208 (247 ff.); 4, 31 (40); 4, 375 (380); 24, 300 (341); 34, 81 (98 ff.); 41, 399 (421); 51, 222 (234 ff.); 82, 322 (338); K: Stern, Staatsrecht, Bd. I, S. 311, 969; wie der Text K. Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, S. 134; kritisch auch H. Meyer, Demokratische Wahl und Wahlsystem, HStR, Bd. II, 1987, S. 266, 284 ff.; R. Wassermann, Zuschauerdemokratie, S. 97. 82 K. A. Schachtschneider, Verbände, Parteien und Medien in der Republik des Grundgesetzes, S. 101 ff. 83 HVerfR, 2. Aufl 1994, S. 1709. 84 Zum Begriff und zur Sache H.H. von Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern, S. 21 ff., passim. 85 So etwa K. R. Popper, Bemerkungen zu Theorie und Praxis des demokratischen Staates, 1988, S. 10 ff., 14 ff., 17. 86 Dazu K. A. Schachtschneider, Demokratiedefizite in der Europäischen Union, S. 119 ff. 87 BVerfGE 89, 155 (181 ff.); dazu K. A. Schachschneider, Existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 87 f f ; ders., Die Republik der Völker Europas, S. 157 ff. 88 BVerfGE 97, 350 (370 ff.); dazu K. A. Schachtschneider, Der Euro-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 19 f f , insb. S. 22 ff.
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die Zustimmung der gesetzgebenden Häuser zur Einführung des Euro entgegen dem Versprechen, diesen Schritt von der wirklichen Konvergenz abhängig zu machen89, erweist. Diese Politik der Führer Europas hatte jedenfalls keine demokratische Legitimation. Deregulierung, vor allem die des Kapitalverkehrs, und Globalisierung der Unternehmungen verstärken die Entdemokratisierung und damit den Verfall des Republikanismus90. Im europäischen Deutschland hat sich in 50 Jahren der Geltung des Grundgesetzes keine Demokratie und schon gar nicht eine Republik entwickelt, sondern eine parteienstaatliche Oligarchie, die sich als Parteiendemokratie versteht, aber eine Form der demokratistischen,liberalistischen Despotie ist, zumal internationalistisch durch Integrationismus und Globalismus zusätzlich entdemokratisiert. Die Parteienoligarchie muß überwunden werden, wenn Deutschland sich auf den Weg in eine Republik machen will, in der gilt: res publica res populi.
89 Dazu W. Hankel, W. Nölling, K. A. Schachtschneider, J. Starbatty, Die EuroKlage. Warum die Währungsunion scheitern muß, 1998, S. 192 f f ; Entschließungen des Bundestages und des Bundesrates vom 2. bzw. 18.12.1992; BT-Drs. 12/3906 bzw. BRDrs. 810/92. 90 Dazu U. Beck, Was ist Globalisierung? 5. Aufl. 1988, S. 196 ff., 208 ff.; K. A. Schachtschneider, Eigentümer globaler Unternehmen, S. 426 f f , 430 ff. (mit Hinweisen).
Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung Von Rainer Wahl
I. Probleme der Verfassungsvergleichung*
1. Die besondere Situation der Verfassungsvergleichung Rechtsvergleichung generell, Verfassungsvergleichung im besonderen und speziell die Verfassungsvergleichung zwischen zwei unterschiedlichen Kulturkreisen können nicht umstandslos ansetzen und einfach die Texte vergleichen. Die Verfassungsvergleichung übersteigt die „normalen" Probleme der ursprünglich vor allem privatrechtlich ausgerichteten Rechtsvergleichung dadurch, daß sie nicht wie das Privatrecht ein wichtiges Teilgebiet innerhalb des vorausgesetzten Rahmens der Gesamtrechtsordnung, sondern deren Grundlagen betrifft. Angesichts der überall gegebenen Anerkennung des Verfassungsrechts als oberster Rechtsquelle zielt die Verfassungsvergleichung in ganz anderer und grundsätzlicher Weise auf die Grundlagen einer Rechtsordnung 1. Weil damit zugleich auch die Frage nach dem Grund dieser Grundlagen gestellt ist, erweitert sich bei der Verfassungsvergleichung der Raum der Analyse und Reflexion. Verfassungsvergleichung ist umfassender und voraussetzungsvoller als die Rechtsvergleichung in einem Ausschnitt der Rechtsordnung. Hinzu kommt eine Erweiterung der Perspektive, wenn sich dieser Vergleich unterschiedlichen Kulturen zuwendet. Zwischen Deutschland als Teil des westlichen Kulturkreises und Japan als einer ostasiatischen Kultur bestehen hinreichend große Unterschiede in dem Gesellschaftssystem, der die Gesell* Grundgedanken des Textes sind bei einem deutsch-japanischen Symposium im März 1998 in Tokyo vorgetragen worden. 1 Zur Bedeutung der Rechtsvergleichung im Öffentlichen Recht unter anderen Aspekten als im Text jüngst Ch. Starck, Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, JZ 1997, S. 1021 ff., der sich mit den Ansätzen und den vielfaltigen Pionier-Arbeiten zur Rechtsvergleichung im Öffentlichen Recht im Rahmen der Gesellschaft für Rechtsvergleichung befaßt. Das im Text verfolgte Konzept einer Rechtsvergleichung als Kulturvergleichung geht einen anderen Weg.
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schafìt prägenden Kultur und dem Verständnis des Staates, so daß damit gerechnet werden muß, daß diese Unterschiede auch das Rechts- und insbesondere das Verfassungsdenken beeinflussen. Deshalb kann die Verfassungsvergleichung nicht einfach Verfassungstexte miteinander vergleichen. Die Verfassungen der modernen Staaten der Gegenwart verbindet nichts mehr als die Verwendung gleicher Grundbegriffe. Diese Verfassungen trennt aber auch nichts mehr, als die unterschiedliche Bedeutung gleicher oder ähnlicher Begriffe.
2. Verfassungsvergleichung anhand exemplarischer Sachgebiete Aus all dem folgt, daß die Verfassungsvergleichung zwischen Japan und Deutschland mehrere Ebenen der Analyse zu unterscheiden und ihre Themen in mehreren Schritten abzuarbeiten hat. Angesichts der Differenziertheit der Verfassungsvergleichung empfiehlt es sich, diese nicht abstrakt vorzunehmen, sondern konkrete gesellschaftliche Sachbereiche, also aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen als Kristallisationsfelder herauszugreifen und in das Zentrum der Analyse zu stellen2. Im folgenden werden die Probleme der Rechtsvergleichung als Kulturvergleichung exemplarisch an den beiden Problemfeldern „Umweltschutz" und „Biomedizinische Herausforderungen" behandelt. Für ihre Wahl spricht: (1) Beide Sachbereiche haben eine besondere Bedeutung für die Gegenwart und die Zukunft. Die Sachprobleme sind - und dies ist ein wichtiger Ausgangspunkt - in beiden Ländern letztlich die gleichen. Beide Gesellschaften müssen die durch neue technisch-wissenschaftliche Entwicklungen entstandenen Probleme am Anfang und am Ende des menschlichen Lebens lösen; beide Gesellschaften sind den regionalen und globalen Gefährdungen der Umwelt ausgesetzt. (2) Die beiden Sachbereiche sind eng mit der Erörterung grundlegender Verfassungsprinzipien verbunden. Die Umweltproblematik ist zu einem Verfassungs- und Legitimationsproblem des Staates der Gegenwart geworden. Fraglich ist, ob es ein ausdrückliches Umweltverfassungsrecht geben soll und in welche Regelungskategorie - Grundrecht oder als Staatszielbestimmung - eine Umweltklausel gefaßt werden soll. Darüber hinaus geht es grundsätzlich um die Abgrenzung zwischen der Verantwortung des Staates einerseits und der Eigensteuerung der Gesellschaft sowie der Verantwortung des einzelnen andererseits.
2
Als Maxime der Verfassungsvergleichung kann man deshalb das Vermeiden abstrakter Vergleichung oder das Vermeiden einer Vergleichung „von oben" her, die bei den normativen Prinzipien ansetzt und normatives Prinzip und rechtliche Institute nacheinander vergleicht, formulieren.
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Die Biomedizin ihrerseits stellt prinzipielle Herausforderungen an das Verständnis des Konzepts der Menschenwürde und der Bedeutung einzelner Grundrechte für die sich am Anfang und am Ende des Lebens neu stellenden Probleme. Auf dem Prüfstand steht die rechtliche Tragfähigkeit sowohl des Menschenwürdekonzepts als auch des Grundrechts auf Leben und Gesundheit sowie des allgemeinen Persönlichkeitsrechts für die Bewältigung der neuen Herausforderüngen. (3) Das beide Sachbereiche überwölbende Problem ist das Verhältnis zwischen technisch-wissenschaftlicher Entwicklung und dem Verfassungsrecht. Generell geht es um die Probleme der Steuerbarkeit der technischwissenschaftlichen Entwicklung durch das Recht und speziell durch das Verfassungsrecht. Letztlich steht mit dieser (Grund)Frage moderner entwickelter Gesellschaften zugleich die Leistungsfähigkeit ihrer Verfassungen auf dem Prüfstand. (4) Günstig für eine Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung ist es, daß die Sachthematik und die verfassungsrechtliche Problematik eine nahe Verbindung zu kulturellen Grundeinstellungen der jeweiligen Gesellschaft haben. Das Konzept der Menschenwürde und das Verständnis von Natur und Umwelt betreffen zweimal Grundfragen des kulturellen Verständnisses, zum einen in westlichen Gesellschaften, zum anderen in Japan. Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung gelangt erst dann an ihr Ziel, wenn sie in einem fortgeschrittenen Stadium auch zu einem Vergleich im Hinblick auf diese Grundverständnisse vorzudringen vermag.
3. Vier-Ebenen-Modell als Konzept der Verfassungsvergleichung Bei jedem anspruchsvolleren Thema kann Rechtsvergleichung die Fülle der zu beachtenden Aspekte nicht in einem Schritt erfassen. Typischerweise dringt Rechtsvergleichung vom ursprünglichen Kern und der Ausgangsfragestellung in einem Prozeß der Expansion zu immer weiteren Themen vor, die konkrete Vergleichung erweitert ihr Feld in immer weitere Kreise. Um diesen Prozeß zu systematisieren, werden im weiteren vier Ebenen der Verfassungs- bzw. Rechtsvergleichung unterschieden. Ausgangspunkt sind die positiven Regeln im Gesetzes- bzw. Richterrecht; sie werden bei zwei Rechtsordnungen üblicherweise differieren. Diese Unterschiede gilt es nicht nur zu konstatieren, sondern zu erklären. Rechtsvergleichung will nicht nur beschreiben, sondern vor allem auch erklären, warum die Regeln in einem anderen Land so anders sind, wie sie sind, und sie will zugleich auch erklären, warum die Regeln im eigenen Land sind, wie sie sind3.
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Erklären kann man konkrete Regeln des positiven Rechts, indem man sie systematisch einordnet, also ihren Zusammenhang mit generellen Instituten und Systemvorstellungen aufzeigt und ihre Stellung im Koordinatensystem der Rechtsordnung aufdeckt. Dies bedingt neben der ersten beschreibenden weitere Ebenen der Analyse. Als solche werden im folgenden bei der Verfassungsgleichung als Kulturvergleichung drei weitere Ebenen der Analyse und Erklärung vorgeschlagen. Sie repräsentieren verschiedene Schritte der Generalisierung der Vergleichung und der Ausdehnung der berücksichtigten Aspekte. Hervorzuheben ist, daß die vorgeschlagenen Ebenen die im Recht selbst vorhandenen Ebenen oder Schichten des Rechtsstoffes widerspiegeln und ihnen folgen. Die Abfolge der Ebenen beginnt bei positiven Einzelregelungen, geht über Systematisierungen einer mittleren Abstraktion zu Grundprinzipien des Rechtsgebietes und letztlich zu den das Recht tragenden kulturellen Grundverständnissen. Für das Verfassungsrecht und die Verfassungsvergleichung folgt aus diesen Überlegungen ein Vier-Ebenen-Konzept: - 1. Ebene: Die Texte und ihre Auslegung - 2. Ebene: Der Systemzusammenhang der jeweiligen Verfassung (= Abstraktion auf einer mittleren Ebene der Prinzipien und Institute des Verfassungsrechts) - 3. Ebene: Das Staats- und Verfassungsverständnis - 4. Ebene: Rechtsvergleichung als Kulturvergleichung
II. Die erste Ebene: Die Texte und ihre Auslegung Im vorliegenden Zusammenhang, in dem es um die Methode und ein differenziertes Konzept der Rechtsvergleichung als Kulturvergleichung geht, sollen die konkreten Rechtsregeln ftir das Umweltverfassungsrecht und die Pobleme der Biomedizin in den beiden Rechtsordnungen nicht im Detail behandelt werden. Es versteht sich, daß Rechtsvergleichung die zu untersuchenden Rechtsordnungen sorgfältig und detailliert auf die dort geltenden Rechtsregeln zu analysieren hat. Dabei ist auch beträchtliche Phantasie dafür aufzubringen, in welchen zunächst ungewohnten rechtlichen Zusammenhängen andere Rechtsordnungen die Themen regeln, die man nach dem Verständnis der Ausgangsrechtsordnung an ganz anderen Stellen erwarten würde. Bei der Verfassungs-
3 Genau in diesem - besseren - Verständnis des eigenen Rechts liegt einer der zentralen Erkenntnisgewinne und damit auch die große Bedeutung der Rechtsvergleichung.
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vergleichung mag der Überblick über das positive Recht zunächst leicht zu erhalten sein, weil nur die zumeist knappen Verfassungstexte zu berücksichtigen sind. Es ergeben sich aber schon auf dieser ersten Ebene einige generelle Einsichten. Im Recht der Staaten mit einer geschriebenen Verfassung gibt es seit mehr als einem Jahrhundert eine gefestigte Tradition der textlichen Formulierungen. Bei einer Berücksichtigung allein der Verfassungstexte hat es den Anschein, daß praktisch alle Staaten der Welt Verfassungsstaaten in einem anspruchsvollen materiellen Sinne (und nicht nur Staaten mit Verfassungen) sind. Und unter den echten Verfassungsstaaten könnte sich angesichts der Gleichheit oder weitgehenden Ähnlichkeit der Formulierungen der Eindruck beträchtlicher Übereinstimmung ergeben. Zu dieser Thematik hat P. Häberle eine umfassende Theorie einer Textstufenanalyse vorgelegt, in der er sowohl die Übereinstimmungen im Text, als vor allem auch die Wachstumsprozesse in den Texten analysiert 4. Es ist der Vorteil eines Mehr-Ebenen-Konzepts der Rechtsvergleichung, daß aus der Beobachtung gleicher Texte nicht zu schnell auf eine substantielle Übereinstimmung geschlossen wird. Erst auf den nächsten Ebenen, in denen der Text in größere Zusammenhänge eingeordnet wird, muß sich zeigen, ob wirklich ein gemeinsames Verständnis in der Sache vorliegt. Jedenfalls aber erweist schon die Textanalyse, daß bestimmte Themen im Laufe der Zeit verfassungskräftig oder -würdig geworden sind, so im vorliegenden Zusammenhang vor allem das Umweltthema. In Staaten, in denen regelmäßig oder in bestimmten periodischen Abständen die Verfassung reformiert oder geändert wird, sind in den letzten Jahren verbreitet Umweltartikel aufgenommen worden. So ist in Deutschland mit Art. 20a GG eine Umweltklausel in Form einer Staatszielbestimmung aufgenommen. Japan dagegen als ein Land, das Verfassungsänderungen in der Praxis nicht kennt, hat eine solche Erweiterung des traditionellen Bestands an Verfassungsthemen nicht vorgenommen. Das Thema der Bioethik dagegen hat weltweit den Status eines ausdrücklichen Verfassungsthemas noch nicht gewonnen. Nur wenige Staaten haben entsprechende Bestimmungen getroffen 5, in den meisten werden die Sachprobleme der Bioethik im Rahmen der Verfassungsbestimmungen über die Menschenwürde und das Recht auf Leben behandelt. Bei den konkreten Problemen der Biomedizin müssen deshalb Ableitungen aus diesen generellen Prinzipien und Regelungen vorgenommen werden. Dieses Vorgehen ist mit der 4 Programmatisch P. Häberle, Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: FS Partsch, 1989, S. 555 oder ders., Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat - eine vergleichende Textstufenanalyse, AöR Bd. 112 (1987), S. 54 ff. (beides abgedruckt in: ders., Rechtsvergleichung im Kräftefeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 ff. und 139 ff.). 5 So in der Schweiz Art. 119 BV (ähnlich schon Art. 24 novies alte BV) und in PortugalArt. 26 Nr. 3 der Verfassung der Republik Portugal.
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beträchtlichen Gefahr der Überanstrengung des Art 1 I GG verbunden 6. Evident ist, daß nicht alles, was in anderen Verfassungen, wie etwa der schweizerischen, speziell und differenziert geregelt ist, im GG im Wege der „bloßen" Verfassungsinterpretation aus dem einen Menschenwürde-Satz abgeleitet werden kann. In beiden Sachbereichen gibt es einen bemerkenswerten Einfluß von internationalen Dokumenten. So hat das Prinzip der Nachhaltigkeit, das prominent in der Rio-Deklaration formuliert worden ist7, seinen Siegeszug in das Recht vieler Staaten unabhängig davon angetreten, ob es in die Verfassung formell aufgenommen wurde oder nicht. In Deutschland wird das Nachhaltigkeitsdenken als inhaltliche Ausprägung des Staatsziels des Art. 20a GG verstanden8. Gleiches kann im Feld der Biomedizin von den bereichsspezifischen Prinzipien der Bioethik in aktuellen Konventionen erwartet werden. Einschlägig sind insofern die Bioethik Konvention des Europarats 9 einerseits und ein Entwurf der UNESCO 10 andererseits. Auf der ersten Ebene der (Verfassungs-)Vergleichung interessieren natürlich nicht nur die - unterschiedlichen oder übereinstimmenden - Texte, sondern ebenso wichtig sind die Auslegungsergebnisse durch die jeweilige Staatsrechtswissenschaft und Gerichtspraxis. Es kann vermutet werden, daß sich dabei über den Textbefund hinaus beträchtliche zusätzliche Differenzen zwischen den untersuchten Rechtsordnungen ergeben und der erste Eindruck von Übereinstimmung nachhaltig korrigiert werden muß.
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Die umfangreiche ältere Diskussion zu Art. 1 I GG ist in jüngster Zeit durch die große Arbeit von Ch. Enders , Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, die ebenfalls grundsätzliche Kommentierung von H. Dreier , in: ders. (Hrsg.), GGKommentar, sowie die Berliner Antrittsvorlesung von H. Hofmann , Die versprochene Menschenwürde, AöR Bd. 118 (1993), S. 353 ff. (jeweils mit umfangreichen Literaturnachweisen) kräftig neubelebt worden. 7 Das Prinzip der Nachhaltigkeit ist ein Kerngedanke der gesamten Rio-Deklaration; er findet sich am deutlichsten in den Grundsätzen 1, 3, 4 und 8. 8 H. Steiger , in: J. Salzwedel (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, 2. Aufl. 1997, Rdnr. 101 ff. 9 Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde in Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin; angenommen vom Ministerkomitee am 19. November 1996. 10 Vgl. dazu den vorläufigen Entwurf der UNESCO zu einer „Allgemeinen Erklärung zum Menschlichen Genom und zu den Menschenrechten'4.
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III. Die zweite Ebene: Der Systemzusammenhang der einzelnen Verfassungsnormen
1. Die Verortung des Umweltschutzes im GG als Beispiel Die konkreten Verfassungsbestimmungen zu bioethischen und zu Umweltfragen müssen in das Umfeld und in den systematischen Zusammenhang ihrer jeweiligen Verfassung hineingestellt werden. Dabei kann die insoweit anzustellende systematische Interpretation durchaus in unterschiedliche Kontexte führen, weil sich verschiedene Verfassungen trotz der äußerlichen Übereinstimmung und der Texttradition in ihrer Systematik zuweilen beträchtlich unterscheiden. Exemplarisch soll hier die Diskussion um die dem Grundgesetz gemäße Verortung des Umweltschutzes nachgezeichnet werden. In dieser war umstritten, ob der Umweltschutz, der inzwischen längst als wichtiger Staatszweck 11 anerkannt war, in der rechtstechnischen Form des Staatsziels oder eines Grundrechts geregelt werden sollte. Bekanntlich ist dies durch den Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission 12 im Sinne der Staatszielbestimmung entschieden worden. Wichtiger - und an dieser Stelle interessant - ist jedoch, welche Überlegungen dafür, wenn nicht ausschlaggebend, so doch sehr wichtig waren. Es ging nämlich darum, welche rechtlichen Wirkungen von einer Grundrechtsbestimmung und welche von einer Staatszielbestimmung ausgehen. Mit einem Grundrecht ist ein materieller Anspruch des einzelnen verbunden, der in einer Verfassungsordnung wie dem Grundgesetz mit ausgebauter Verfassungsgerichtsbarkeit und Anerkennung der Verfassungsbeschwerde zugleich bedeutet, daß der einzelne gerichtlichen Rechtsschutz und gerichtliche Überprüfung mobilisieren kann. Folglich wäre mit der Formulierung des Umweltschutzes als Grundrecht eine subjektive Position des einzelnen verbunden gewesen. Mit der Staatszielformulierung dagegen wird ein objektiver Auftrag für alle Staatsgewalten ausgesprochen, wobei die Umsetzung dieses Auftrages, insbesondere der Umfang und die einzelnen Mittel, den politischen Instanzen, also insbesondere der Gesetzgebung überlassen bleibt. Die Antwort auf die Alternative Grundrecht oder Staatszielbestimmung erfordert eine Entscheidung über den jeweiligen Grad der Verrechtlichung des politischen Lebens. Mit einer Grundrechtsbestimmung werden dem Staat ausdrückliche negative Grenzen gesetzt, deren Einhaltung vom einzelnen einfor-
11
Dazu Rauschning/Hoppe, Staatsaufgabe Umweltschutz, W D S t R L 38 (1980), S. 167 ff. und 211 ff. sowie insbesondere Murswiek, Umweltschutz als Staatszweck: die ökologischen Legitimitätsgrundlagen des Staates, 1995. 12 Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000 v. 5.11.1993, S. 65 ff. 12 FS Quaritsch
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derbar ist. Zusammen mit der Anerkennung der Rechtsfigur des gesetzgeberischen Unterlassens wären auch Ansprüche auf staatliches Tätigwerden dem Grundsatz nach anerkannt. Die Frage des Wieweit und des Wieviel an Umweltschutz wäre verrechtlicht und zugleich justiziabel gemacht. Insofern betrifft die Entscheidung für eine dieser Alternativen notwendigerweise eine Grundfrage der Verfassungsordnung. Deshalb greifen die Überlegungen hier auch auf die dritte Problemebene über, also auf den Zusammenhang konkreter Bestimmungen einer Verfassung mit der grundsätzlichen Struktur der Verfassung.
2. Einbau des Umweltschutzes in die konkrete Verfassungsstruktur Welche Wirkungen es hat, wenn der Umweltschutz in die Verfassung aufgenommen wird, hängt von der Struktur der Verfassung ab; dementsprechend können die Wirkungen eines gleichformulierten Satzes beträchtlich differieren. Bedeutsam ist insbesondere, ob in einer Verfassungsordnung eine ausgebaute und umfangreiche Verfassungsgerichtsbarkeit besteht oder nicht 13 . Im ersteren Fall ist weiterhin wichtig, ob der einzelne Bürger eine Verfassungsbeschwerde erheben kann und ob er dadurch Teilnehmer und Rechtssubjekt im Verfassungsrechtskreis wird oder nicht. Dies ist in der Bundesrepublik mit der Anerkennung und umfangreichen Praktizierung der Verfassungsbeschwerde der Fall. In einer solchen Verfassungsstruktur muß bei der Formulierung von materiellem Verfassungsrecht Rücksicht auf den Grundsachverhalt genommen werden, daß in einer solchen Verfassung jeder materielle Gehalt zugleich Entscheidungsmaßstab eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens werden kann. Da jeder neue materielle Gehalt zugleich die Überprüfungsbefugnisse des Bundesverfassungsgerichts erweitert, kann man in Deutschland nicht ungezwungen über wünschbare materielle Inhalte diskutieren. Vielmehr muß man sich auch darüber im klaren sein, daß damit zugleich das Verhältnis zwischen dem Raum politischer Gestaltbarkeit und dem der rechtlichen Kontrolle verändert und zugunsten der gerichtlichen Kontrolle ausgeweitet wird 1 4 . Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet zeigt sich, daß es eine bewußte Entscheidung war, das Staatsziel einem Grundrecht vorzuziehen. Mit der Staats-
13
Näher dazu R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat Bd. 20 (1981), S.485ff., 499 f f 14 Zum Stil und zur Formtypik des Grundgesetzes, insbesondere auch zur Grundanlage des Grundgesetzes, rein programmatische Aussagen zu vermeiden und nur rechtlich Verbindliches in den Text aufzunehmen, B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, und Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge, Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge: Bericht der Sachverständigenkommission, 1983.
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Zielbestimmung war eine dimensional geringere rechtliche Bedeutung verbunden als mit dem Grundrecht. Die Diskussion über ein Umweltverfassungsrecht und die Aufnahme des Umweltschutzes in die Verfassung dürfte in Japan einen ganz anderen Hintergrund haben. Vermutlich ist die Diskussion nicht mit der Frage der Justiziabilität und des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes „belastet". Mangels Existenz einer Verfassungsbeschwerde des einzelnen und einer Normenkontrolle gegenüber Gesetzen steht dieses Thema in einem ganz anderen Kontext. Festzuhalten ist der generelle Gesichtspunkt, daß auf der zweiten Ebene der Verfassungsvergleichung die Auswirkungen der Verfassungsstruktur auf die Lösung konkreter Verfassungsprobleme zu untersuchen sind.
IV. Die dritte Ebene: Das Staats- und Verfassungsverständnis Die auf den Ebenen eins und zwei zutage getretenen Unterschiede bedürfen einer weiteren Erklärung. Eine plausible Hypothese ist, daß sich Unterschiede in Einzelregelungen und bei Verfassungsprinzipien aus einem unterschiedlichen Staats- und Verfassungsverständnis ergeben haben, so wie es sich in der geschichtlichen Entwicklung und in der jeweiligen Rechtstradition herausgebildet hat. Ein wichtiger Faktor ist dabei die Rolle und Intensität der Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie trägt nämlich in einem besonderen Maße zur Effektuierung materiell-rechtlicher Verfassungsregelungen bei. Die Dichte der verfassungsgerichtlichen Kontrolle und Rechtsprechung ist zugleich ein Indikator für die Rolle, die das Verfassungsrecht in einer Rechtsordnung spielt. Auf dieser dritten Analyse- und Reflektionsebene sind die spezifischen Staatstraditionen und - darauf antwortend - das jeweilige Verfassungsverständnis hinzuzuziehen. Für das Grundgesetz etwa sind die Lehren, die aus der davorliegenden Gewaltherrschaft gezogen worden sind, grundlegend für das neue Konzept eines materiellen Rechtsstaates, eines ausgeprägten Vorrangs des Verfassungsrechts und einer inneren Expansion der Grundrechtsbedeutung geworden. In ähnlicher Weise sind die Besonderheiten des japanischen Verfassungsdenkens nach 1945 zur Erklärung heranzuziehen. Hier weitet sich die Analyse auf die Gesamtstruktur und Grundanlage der Verfassung aus. Im weiteren geht es um die Alternative, die mit den Formeln „Verfassung als Rahmenordnung" oder Verfassung als „Grundordnung und Grundlegung der Gesellschaft und der Rechtsordnung" schlagwortartig umschrieben werden kann 15 . Diese allgemeine Diskussion ist dann auf die beiden hier betrachteten Sachthemen zu beziehen: Zu fragen ist, ob es nach der Struktur des GG oder der japanischen Verfassung eine Teilverfassung für den Um15
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Zu dieser allgemeinen Diskussion R. Wahl (s.o. Fn. 13), S. 502 ff.
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weltschutz oder die bioethischen Probleme geben soll und kann; ebenso interessiert, ob die beiden Sachproblematiken zu einem gewandelten Verständnis des Staates fuhren müssen - die Stichworte Umweltstaat16 oder bioethische Verantwortung des Staates müssen hier genügen. Auf der dritten Ebene ist nach der Rolle des Staats und der Verwaltung in der Gesellschaft zu fragen. Umfaßt von dieser Problemstellung ist auch die Rolle der Verfassung in der Rechtsordnung und im Verhältnis zur Gesellschaft. Ist der Staat und seine wichtigste normative Grundlage, die Verfassung, eine zentrale Steuerungsinstanz oder wird der Staat viel eher als Moderator gegenüber den gesellschaftlichen Kräften verstanden? Mit anderen Worten: Welche Stelle nimmt im deutschen und im japanischen Denken der Staat in der möglichen Skala zwischen einer minimalistischen und einer maximalistischen Staatsauffassung ein? Herrscht die Interpretation vor, daß der Staat die Spitze einer Pyramide ist, die zentrale Steuerungsinstanz, welche die Gesamtverantwortung für die Gesellschaft und für alle gesellschaftlichen Lebensverhältnisse trägt oder ist der Staat ein Mitspieler unter vielen, insbesondere auch der Moderator zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen? Wenn man diese hier idealtypisch formulierte Alternative weiter verfolgt, werden Binnenvarianten sichtbar: So gibt es im westlichen Rechtskreis und Verfassungsrechtskreis bedeutende unterschiedliche Akzentuierungen zwischen dem kontinentaleuropäischen Staatsverständnis, das dem Staat eine gewichtige Rolle zuschreibt (wenn auch nicht mehr die maßgebliche und allumfassende Steuerungsrolle) und dem angelsächsischen Verständnis von society and government, das von einer zurückgenommenen, bescheideneren Rolle des Staates ausgeht. Im umfassenden Maßstab der Verfassungsrechtsvergleichung über die Kulturen hinweg könnte sich zeigen, daß die Varianten innerhalb des westlichen Verfassungsverständnisses relativ kleinere Binnenvarianten eines Typs sind, der sich im Außenvergleich stark unterscheidet von etwa der japanischen Auffassung und der dort verankerten Vorstellung über die Rolle von Staat und Gesellschaft 17. Die möglichen Alternativen zeigen sich auch in der Beschreibung des Staates im Hinblick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, im Hinblick auf den Wohlstand in der Gesellschaft. Ist der Staat eher der Befürworter der nationalen Wirtschaft, der Repräsentant der gesellschaftlichen und nationalen Wettbe16
Begriff und Sache des Umweltstaates sind durch mehrere Arbeiten M. Kloepfers und durch die Initiierung eines Forschungskollegs zum Thema Umweltstaat bekannt geworden, dazu M. Kloepfer (Hrsg.), Umweltstaat als Zukunft, 1994 (mit Auflistung der einzelnen Veröffentlichungen zum Kolleg Umweltstaat). Zu den Grundfragen jetzt auch R. Steinberg , Der ökologische Verfassungsstaat, 1998. 17 Dazu vorläufig nur CA. Heath , Bureaucracy and the Protection of National Interests in Japan, in: H. Baum (ed.), Japan: Economic Success and Legal System, Berlin 1997, S. 331 ff.
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werbsinteressen oder spielt er eine eigenständige, auch kritische Rolle gegenüber der eigenen Ökonomie? Wie können im Zeichen der Globalisierung und des globalisierten Wettbewerbs die traditionellen Aufgaben, die dem Staat im kontinentaleuropäischen Verständnis zukommen, nämlich Regulator gegenüber der Wirtschaft zu sein und umweltbezogene und sozialstaatliche Ziele der Wirtschaft abzuverlangen, durchgesetzt werden, wenn inzwischen die Hauptaufmerksamkeit im internationalen Wettbewerb auf den Chancen der eigenen Wirtschaft und Gesellschaft in diesem Wettbewerb ruht? Wenn man vom Umweltschutz zu den möglichen Staatsaufgaben im Bereich der biomedizinischen Entwicklung übergeht, dann zeigen sich entsprechende Fragen. Wie verhält sich der Staat gegenüber den Prozessen der Wissenschaft, in denen wissenschaftliche Neugier, Konstruktions- und Schöpferlust zu Entdeckungen und Technologien mit weitreichenden Folgen für die zukünftige Gestalt des Menschen selbst führen. Ist der Staat nur Förderer der neuen Technologien oder hat er eine eigenständige kulturell-ethische Verantwortung für die Menschen, für ein „gutes" Leben, für ein Bild vom Menschen. Es geht um etwas, was bislang zu wenig diskutiert wird, um die kulturell-ethische Verantwortung des Staates angesichts der selbstläufigen Prozesse immer weiterer wissenschaftlicher Entdeckungen und deren Umsetzung in Technik. Die entscheidende Frage in der gesamten Biomedizin und Bioethik ist, ob dem Staat erne eigene kulturellethische Verantwortung zukommt. Ihre Beantwortung hängt entscheidend vom grundsätzlichen Verfassungs- und Staatsverständnis ab, das den einzelnen Verfassungsbestimmungen zugrunde liegt und in diese eingegangen ist. Von beträchtlichen Differenzen zwischen verschiedenen Staats- und Verfassungsordnungen darf ausgegangen werden.
V. Die vierte Ebene: Rechtsvergleichung als Kulturvergleichung
1. Unterschiedliche Rolle des Rechts in den verschiedenen Kulturen Eine wichtige und unerläßliche Ebene der Vergleichung, die Kulturgrenzen überschreitet, ist das Verständnis der Rechts- oder Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung. Beim Überschreiten der Kulturgrenzen ist damit zu rechnen, daß die Rolle des Rechts in der Gesellschaft eine unterschiedliche ist. Der Verrechtlichungsgrad variiert zwischen verschiedenen Gesellschaften und verschiedenen Kulturen beträchtlich. Ebenso ist die Rolle von Gerichtsbarkeit, überhaupt die Rolle von Recht, eine unterscheidende Variable 18 . Ähnliches gilt,
18 Dazu einige Überlegungen bei R. Wahl, Die Person im Ständestaat und im Rechtsstaat, in FS Böckenförde, 1995, S. 81 ff. (auch in Pawlowski/Roellecke [Hrsg.], Der
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wenn Probleme im Grenzbereich zwischen Verfassungsrecht, Ethik und gesellschaftlichen Grundauffassungen zu behandeln sind, weil dann deren - im Zweifel bei zwei Kulturen nicht übereinstimmende - geistesgeschichtliche Wurzeln relevant sind. Welche Antworten werden in Japan und in Europa auf die Folgeprobleme der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung gegeben, insbesondere auf die häufig gestellte Frage, ob der Mensch tun kann, was er kann. Welche Gegengewichte und -prinzipien werden in den verschiedenen Kulturen aufgrund ihrer Traditionen gegen die Eigendynamik und Eigenlogik des wissenschaftlichen Prozesses formuliert und mobilisiert? Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: das Prinzip der Menschenwürde und das Bild vom Menschen. Es bleibt aber die Frage, wie die historischen Erfahrungen über die (Verletzung der) Menschenwürde und die daraus abgeleiteten normativen Festlegungen für die neuen Herausforderungen fruchtbar gemacht werden können..
2. Kultur und Verfassungstheorie Im deutschen Sprachraum ist Kultur als Thema von Verfassungstheorie und -recht von Peter Häberle in großer Nachhaltigkeit und mit breiter und tiefer Wirkung ausgeleuchtet worden. 19 Häberle zeigt die große Bedeutung der Kultur für das Verfassungsleben am Beispiel des deutschen und europäischen Rechts und würdigt die mögliche Rolle der Kultur als verbindendes Element im Prozeß der Einbeziehung Osteuropas in den gewachsenen Bestand westeuropäischen Rechts. Er geht auch manchen Binnenvarianten - etwa im Hinblick auf die Schweiz als Exempel für einen kleinen Staat oder im Verhältnis zwischen Deutschland einerseits und England und dem angelsächsischen Kulturkreis andererseits - nach. Welche Konsequenz ist aus der kulturwissenschaftlichen Betrachtung zu ziehen? Mir drängt sich eine auf, die bislang so nicht im Vordergrund stand: Wenn die Kultur für das Verständnis des westlichen Rechts so wichtig ist, wenn man zum Verständnis nur des deutschen Rechts tief in die deutsche und europäische Geistesgeschichte zurückgehen muß, wenn man so sehr die Verbindung mit philosophischen und allgemeinen kulturellen Strömungen hervor-
Universalitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaats, 1996, ARSP-Beiheft 65) und ders., Individualismus und Gemeinschaftsgebundenheit. Vorüberlegungen zu einem Kulturvergleich, in: D. Leipold, (Hrsg.), Selbstbestimmung in der modernen Gesellschaft aus deutscher und japanischer Sicht, 1997, S. 47 ff., 53 ff. 19 Aus seinen zahlreichen grundlegenden Schriften seien hier nur erwähnt P. Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1981; ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982; ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992; ders., Europäische Rechtskultur, 1994; ders, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998.
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heben muß, wenn man auf die Bedeutung von Klassikertexten usw. eingeht dann legt sich unabweisbar die Folgerung nahe, daß das gleiche auch für andere Rechtskreise, etwa für den ostasiatischen Rechtskreis (oder die ostasiatischen Rechtskreise) gelten muß. Der eigentliche Ertrag der kulturwissenschaftlichen Betrachtung ist also die Generalisierung der Relevanz des kulturellen Arguments. Was für Deutschland und das westliche Recht gilt, wird und muß auch für die anderen Rechtskreise gelten (und zwar auch dann, wenn diese eine Rezeption aus einem anderen Kulturkreis hinter sich haben). Für die Bedeutung, die ein Prinzip wie die Menschenwürde oder die Menschenrechte im gelebten Recht haben, muß es auch auf die jeweilige Kultur ankommen, muß die Verwurzelung, Einwurzelung und Implantation der westlichen Vorstellung in die eigene Kultur wichtig sein 20 . Unter diesem Gesichtspunkt sind auch die Grundeinteilungen der Rechtsvergleichung zu überdenken und gegebenenfalls neu zu ordnen. So wichtig die Unterscheidung zwischen „civil law" und „common law" für die Binnenvarianten des westlichen Rechts ist, so kann vermutet werden, daß es daneben ebenso wichtige oder wichtigere Alternativen und Unterscheidungen gibt, nämlich dann, wenn man das Recht in anderen Kulturkreisen als lebendes Recht untersucht. Dabei muß auch, um der Komplexität und der Grundsätzlichkeit des Vergleichs gerecht zu werden, das Recht nicht nur als Untersystem, als ein Untersystem von Rechtsnormen, von professioneller Rechtssetzung und eines professionellen Rechtsstabes interpretiert werden, sondern der Blick muß sehr viel umfassender sein und auf die Bedeutung von Recht als Konfliktlösungsmechanismus in einer Gesellschaft gerichtet sein. Er fällt dann auf alternative Mechanismen der Konfliktlösung 21 und auf Grundvariablen und Grundmuster des menschlichen Zusammenlebens. Wo gesellschaftliche Verhaltensmuster und gelebte Konventionen in großem Umfang Ordnungsleistungen erbringen, sind positiv-rechtliche Rechtsregeln überflüssig. Treffend findet sich die These, daß das Recht nur einer von vielen Konfliktlösungsmechanismen ist, in einem Aufsatz des amerikanischen Rechtswissenschaftlers John O. Haley mit dem schönen Titel „Does community count?" 22 .
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Für ein wichtiges Problemfeld hat dies grundsätzlich untersucht H. Sasakura, Das Recht der Selbstbestimmung. Zum Stand der Diskussion in Japan, in: Leipold (s.o. Fn. 18), S. 3 ff. 21 Zum großen und vielbehandelten Thema der alternativen Konfliktschlichtung hier nur der Verweis auf Röhl/Scheer (Hrsg.), Außergerichtliche Streitbeilegung - Effektive Konfliktlösung im Zivil-, Wirtschafts- und Strafrecht, 1994; K. Igarashi, Einfuhrung in das japanische Recht, 1990, S. 46; J. Murakami , Einfuhrung in die Grundlagen des japanischen Rechts, 1974; M. Ishibe, Das Schlichtungswesen aus rechtshistorischer und rechtsvergleichender Sicht, in: K. Kroeschell (Hrsg.), Recht und Verfahren, 1993, S. 215 ff. und D. Leipold, Der Schlichtungsgedanke zwischen Realität und Utopie, ebenda S. 237 ff.
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Rechtsvergleichung als Kulturvergleichung führt zur These: civilization matters. Kultur ist ein ausschlaggebender Faktor für das Recht, Kultur ist eine ausschlaggebende Dimension 2 3 . Dies gilt jedenfalls, wenn man, was notwendig ist, entschieden auf das gelebte Recht abstellt und nicht auf das Recht in den Büchern. Im weiteren führt dies zur schon angesprochenen wichtigsten Frage für die Rechtsvergleichung als Kulturvergleichung, auf die Frage nämlich, welche Rolle das Recht im gesellschaftlichen Leben spielt. Was steuert Recht, wieviel Konflikte und Interessenkonflikte werden in den Wegen des Rechts, des Streits und von Juristen als Angehörigen professionalisierter Berufe 2 4 ausgetragen 25 . I m weiteren spricht vieles dafür, daß sich unterschiedliche Kulturen in dem Grade der Verrechtlichung und der Justizialisierung (als Umfang der Gerichtsbarkeit) unterscheiden. Deshalb läßt sich fragen, ob es Optima für den Einsatz des Rechts als Steuerungsinstrument gibt.
VI. Verfassungsvergleichung zwischen Japan und Deutschland Die typischen Diskussionsthemen in der Rechtsvergleichung zwischen Japan und westlichen Rechtsordnungen sind derzeit von der Zivilrechtsvergleichung und der Rechtssoziologie bestimmt. Es geht dabei etwa um die Fragen der - Besonderheiten des japanischen Rechtsbewußtseins 26 ,
22 Der volle Titel lautet: John O. Haley , Relational Contracting: Does Community Count?, in: Baum (s.o. Fn. 17), S. 167 ff. 23 Im weiteren und in der alles entscheidenden konkreten Analyse ergeben sich natürlich sehr viele Probleme. Wie stark die Kulturabhängigkeit und die -geprägtheit des Rechts in den einzelnen Ländern ist, ist eine anspruchsvolle Fragestellung. Vor Vereinfachungen sei ausdrücklich gewarnt. Einen Eindruck von der Komplexität der Probleme gibt etwa H. Baum, Aus fremder Quelle. Rechtsdenken, Rechtssystem und Rechtswirklichkeit in Japan - Rechtsvergleichung mit Japan, Rabeis Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 59, 1995, S. 258 ff. So unbestritten etwa die sehr großen Unterschiede im Gebrauchmachen von gerichtlichen Verfahren zwischen Europa/USA und Japan sind, so kompliziert und strittig ist die Erklärung: es stehen Erklärungsmustern, die auf die kulturspezifische Prägung abstellen, Erklärungen gegenüber, die institutionelle Faktoren (ζ. Β das bewußte Kleinhalten der Zahl der Rechtsanwälte) betonen. 24 Die Rolle der juristischen Berufe, insbesondere die sehr stark variierende Rolle der Rechtsanwälte in Ländern wie den USA einerseits und Japan andererseits kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden; dazu gibt es eine reichhaltige Literatur und in der Bewertung auch anhaltende Mißverständnisse zwischen amerikanischen und anderen Autoren, vgl. dazu den Bericht über eine sehr kontroverse Diskussion in: H. Baum (ed.), (s.o. Fn. 17), S. 376 f. mit pointierter Kritik von Dan F. Henderson (San Francisco). 25 Zu dieser Fragestellung Wahl, Individualismus und Gemeinschaftsgebundenheit (s.o. Fn. 18), S. 47 ff. 26 Zur Diskussion über das Rechtsbewußtsein der Japaner K. Igarashi , (s.o. Fn. 21), S. 48 ff. Grundlegend G. Rahn, Rechtsdenken und Rechtsauffassung in Japan, 1990
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- Besonderheiten beim Umgang m i t Verträgen 2 7 , sowie - Besonderheiten im Gebrauchmachen bzw. Nicht-Gebrauchmachen von gerichtlichen Verfahren und bei der Bedeutung von Schlichtungsmechanismen innerhalb oder außerhalb des Rechts 2 8 . Sucht man nach Parallelen oder eigenen Problemfeldern im Bereich des Öffentlichen Rechts, dann stößt man auf ein weniger stark aufbereitetes Terrain; ausfuhrlich ist vor allem das Institut des Gyosei shido 2 9 (administrative guidance 3 0 oder Verwaltungsanleitung) diskutiert. Unabhängig davon, um welches Rechtsgebiet es sich handelt, stellt sich immer die gleiche Frage, wie festgestellte Unterschiede zwischen dem japanischen und einem westlichen Recht zu interpretieren sind. In der Literatur trifft man dazu auf zwei Deutungsmuster und zwar sowohl in der Fremdinterpretation des japanischen Rechts durch westliche Wissenschaftler wie auch in der Selbstinterpretation durch japanische Autoren.
(dazu ausfuhrlich Baum [s.o. Fn. 23]); Rahn, Recht und Rechtsmentalität in Japan, in: Baum/Drobnig (Hrsg.), Japanisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 1994, S. 1 ff. 27 Die bisherige Diskussion fassen zusammen und fuhren weiter mehrere Beiträge in Baum (s.o. Fn. 24), insbesondere K. Kitagawa, Use or Non-Use of Contracts in Japanese Business Relations, S. 145 ff. Vgl. auch Κ. Zweigert/J. Puttfarken, Zur Vergleichbarkeit analoger Rechtsinstitute in verschiedenen Gesellschaftsordnungen, in: dies. (Hrsg.), Rechtsvergleichung, 1980, S. 406 f. 28 Zum Thema „litigation" gibt es eine ganze Fülle vor allem amerikanischer Arbeiten mit ausgesprochenen „Klassikern" wie T. Kawashima, Dispute Resolution in Contemporary Japan, in: von Mehren (ed.), Law in Japan, Cambridge, Mass. 1963, S. 41 ff., J. O. Haley , The Myth of the Reluctant Litigant, 4 J. Jap. Stud. 359, 364 (1978), ders., Authority without Power, Law and the Japanese Paradox, New York 1991 ; H. Oda, Japanese Law, London 1993, Baum, in: ders. (s.o. Fn. 24), S. 17: A „Non Litigious Society" and a „Death of Lawyer"?; vgl. auch zahlreiche Aufsätze von Μ ark J. Ramseyer (nachgewiesen bei Baum [s.o. Fn. 23], in Anm. 7). Weiterfuhrend und bahnbrechend sind die gründlichen historisch-statistischen Untersuchungen von Ch. Wollenschläger, Historical Trends in Civil Litigation in Japan, Arizona, Sweden and Germany: Japanese Legal Culture in the Light of Judicial Studies, in: Baum (s.o. Fn. 24), S. 88 ff. (mit zahlreichen Tabellen), die die Forschung auf eine neue Grundlage stellen. Treffend stellt Wollenschläger im ersten Satz fest: "The avoidance of litigation is a central element of the Japanese legal culture, perhaps its best-known feature". 29 T. Fujita, Gyoseishido. Rechtsprobleme eines Hauptmittels der gegenwärtigen Verwaltung in Japan, Die Verwaltung Bd. 15, 1982, S. 262 ff.; W. Pape, Gyoseishido und das Anti-Monopol Gesetz in Japan. Eine Untersuchung über Praxis, Hintergrund und rechtliche Problematik von „administrative guidance", 1980; Η. Shiono, Verwaltungsrecht und Verwaltungsstil, in: H. Coing u.a. (Hrsg.), Japanisierung des westlichen Rechts oder Verwestlichung des japanischen Rechts, 1990, S. 45 ff. 30 L. Ködderitzsch, Die Rolle der Verwaltungsvorschriften im japanischen Verwaltungsrecht, 1995; ders., Das neue Verwaltungsverfahrensgesetz in Japan - Versuch einer Bilanz, Zeitschrift für Japanisches Recht, 1996, S. 131 ff. und Y. Ohashi, Verwaltungsvorschriften und informelles Verwaltungshandeln: Zum besseren Verständnis der Verwaltungspraxis Japans, VerwArchiv Bd. 82, 1991, S. 220 ff.
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(1) Die erste Selbst- und Fremdinterpretation ist das Grundverständnis, das im Verlauf großer Rezeptionen auf der ganzen Welt immer zuerst auftaucht 31. Gegenüber dem als moderner eingeschätzten Recht muß es zunächst das Bestreben der aufnehmenden Rechtsordnung sein, sich als gelehriger Schüler zu erweisen und das Ziel zu verfolgen, alsbald oder in Zukunft gleichberechtigt zu werden. In dieser Phase begegnet man dann einem Streben, überall darauf hinzuweisen, daß alles Wesentliche des fremden Rechts übernommen worden ist. In dieser Sicht gilt die eigene Tradition als rückständig. Man verschweigt sie lieber und stellt sie, wenn man darauf angesprochen wird, als Relikt des früheren und bald zu überwindenden Rechts dar. (2) Eine andere Selbst- und Fremdinterpretation gehört einer zweiten Phase von Rezeptionen an. Insbesondere wenn eine eigenständige Kultur fremdes und modernes Recht übernommen hat, zeigt die Geschichte, daß dabei immer etwas Neues, ein eigener Mix herausgekommen ist. Dieser Interpretation begegnet man in den letzten Jahren - naheliegenderweise - immer häufiger, bei japanischen Autoren und bei ausländischen Betrachtern. Für dieses alternative Verständnis sind dann auch Tagungs- und Buchtitel wie „Das Japanische im japanischen Recht" 32 oder „Japanisierung des westlichen Rechts oder Verwestlichung des japanischen Rechts" 33 exemplarisch. Als unbefangener Betrachter möchte man beim letzteren Titel nur anfügen: was anderes als die Japanisierung des rezipierten westlichen Rechts könnte man denn erwarten? Eine bloße Übersetzung rezipierten Rechts hat es in der Rechtsgeschichte nie gegeben, sondern immer eine aktive Aneignung und Anverwandlung. Für den Beobachter des japanischen Rechts stellt sich die derzeitige Situation etwa wie folgt dar: Das Selbstverständnis der Mehrheit der japanischen Praktiker geht offenbar ziemlich unbefangen davon aus, „that they are working within what is basically a Western legal system"34. Dagegen führt der japanische Rechtswissenschaftler Kinoshita - nach meiner Meinung zutreffender aus: „Japanese Law has been ,westernized', but it was and it is not ,Western Law'. It is safer to say that Japanese Law is a hybrid and symbiotic of the four
31 Ein großes Forschungsthema der historischen Rechtsvergleichung ist es, die große Zahl von grundsätzlichen Rezeptionen in der Rechtsgeschichte aller Kulturen strukturell-vergleichend zu behandeln. Selten ist Rechtsgeschichte mit ihrem historischen Erkenntnisinteresse zugleich so nahe und unmittelbar für die Gegenwart relevant. Für Europa werden insoweit schon längst die großen Rezeptionsvorgänge im späten Mittelalter bei der Übernahme des römischen Rechts untersucht und als Vergleichsvorgang angesehen. Für Japan sind die große Rezeption des chinesischen Rechts, später dann die moderne Entwicklung in der Meji-Zeit und im 20. Jahrhundert zu untersuchen. 32 H. Menkhaus (Hrsg.), Das Japanische im japanischen Recht, 1994. 33 H. Coing u.a. (Hrsg.), Japanisierung des westlichen Rechts oder Verwestlichung des japanischen Rechts, 1990. 34 Baum (s.o. Fn. 23), S. 258 ff.
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legal systems of different legal cultures" 35 . Erhellend und für sich sprechend ist insoweit auch die Diskussion darüber, welchem Rechtskreis das japanische Recht zuzuordnen sei: Harald Baum spricht - insoweit zurecht - ironisch von einem großen rechtsvergleichenden Mysterium 36 . In der westlichen Literatur werden insoweit immer mehr euro- oder US-zentristische Positionen verlassen und aufgeklärtere und differenziertere Auffassungen vertreten. Im vorliegenden Zusammenhang ist bemerkenswert, daß diese Diskussion bisher vor allem in der Rechtssoziologie und in der Zivilrechtsvergleichung geführt worden ist 37 , dagegen noch nicht im Öffentlichen Recht. Im Verfassungsrecht stellt sich die Frage nach dem Gehalt und Verständnis von rezipierten Prinzipien mit besonderer Schärfe, wenn etwa die Interpretation der Menschenrechte und der Menschenwürde in Frage steht. Wieweit geht es hier um eine „bloße" Übernahme, um Anverwandlung, Um interpretation oder schöpferische Verbindung von rezipierten und aus der eigenen Tradition stammenden Vorstellungen? Die volle Schwierigkeit der Aufgabe der Rechtsvergleichung zwischen verschiedenen Kulturen wird deutlich, wenn man diese nicht nur auf die Ebene der Rechtsnormen und des geschriebenen Rechts beschränkt, sondern sich vornimmt, das gelebte Recht zu analysieren und zu vergleichen. Diesen Schritt zu tun, ist in der Gegenwart nicht nur ein - schon immer richtig gewesenes - theoretisches Postulat einer vollständigen Rechtsvergleichung, sondern ein eminent praktisches und praxisbezogenes Postulat: In dem Maße, in dem die grenzüberschreitenden realen Kontakte zwischen den verschiedenen Kulturen, Gesellschaften und Völkern in einem bisher nicht dagewesenen Umfang zunehmen und weiter zunehmen werden 38 , steigt das beträchtliche Interesse am gelebten Recht, weil dies die Ebene ist, auf der die realen Kontakte stattfinden und die für die realen Kontakte wichtig ist. Dies bedeutet nichts anderes als eine beträchtliche Ausweitung der traditionellen Rechtsvergleichung. Es interessiert nicht mehr nur, in einem Vergleich des Rechts in den Büchern (law in the 35
Τ. Kinoshita, Japanese and Western law, in: FS Kitagawa, 1992, S. 199 ff., S. 219. Baum (s.o. Fn. 23), S. 258 ff. 37 Insbesondere haben zahlreiche amerikanische Rechtssoziologen, die als Spezialisten für die Fremdinterpretation des japanischen Rechts gelten, auf diesem Feld vorgearbeitet. Auch in der US-amerikanischen Literatur begegnen einem die beiden erwähnten Sichtweisen: zum einen werden fast alle japanischen Eigenarten im Recht(sleben) einer überholten und zu überwindenden Entwicklungsphase zugeordnet, zum anderen setzt sich bei jüngeren Arbeiten die Auffassung durch, daß diese Besonderheiten des japanischen Rechtslebens und Rechtsdenkens Eigenarten einer auf Dauer anderen und eigenständigen Rechtskultur sind, so daß es wichtig und zukunftsträchtig ist, diese Eigenarten zu verstehen und nicht auf ihr Absterben zu warten. 38 Globalisierung ist kein Zustand, sondern ein Prozeß, bei dem wir erst am Anfang stehen. Mag das Ausmaß von Globalisierung heute gegenüber den Verhältnissen vor wenigen Jahrzehnten sehr beträchtlich sein, so ist es hochwahrscheinlich, daß sich in den nächsten Jahrzehnten solche Globalisierungstendenzen noch in beschleunigtem Maße zeigen. 36
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books) festzustellen, welche Rechtsfigur die „beste" ist, sondern es muß interessieren, welche Relevanz das Recht in der gesellschaftlichen Wirklichkeit hat 39 . In der Verfassungsvergleichung gibt es eine exemplarische Fragestellung, die insbesondere bei den Grund- und Menschenrechten deutlich geworden ist, nämlich die Debatte um die Universalität der Menschenrechte. Die Antwort auf diese grundsätzliche Frage prägt die Einstellungen der einzelnen Autoren der Verfassungsvergleichung. Ihre Untersuchungen etwa zum Thema, welchen Gehalt das Konzept der Menschenwürde und der Grundrechte in Japan hat, sind nur schwer von ihrem Vorverständnis in jener Frage zu isolieren. Die Grundfrage der Universalität selbst dürfte in einer Doppelantwort zu lösen sein. Ich folge hier Gedanken von Hasso Hofmann 40 . Danach kann man zwei Schichten unterscheiden: (1) In den Menschenrechten sind historische Erfahrungen, die in Europa und in Nordamerika gemacht wurden (die aber für die ganze Welt generalisierbar sind), rechtlich formuliert, in rechtliche Prinzipien gefaßt worden. Es geht darum, die Grenzen der Staatsmacht gegenüber dem verletzlichen Individuum zu ziehen. Ein Grundsachverhalt ist die Tatsache, daß der Körper des Menschen verletzlich ist, daß sein Leben überall durch die Macht bedroht ist. Der Ansatz der Menschenrechte ist es, rechtliche und in diesem Fall verfassungsrechtliche Schutzwälle gegenüber Machtausübung zu setzen41. Als generalisierbar muß und kann gelten, daß überall auf der Welt der verletzliche Körper des Menschen und sein verletzbares Leben Schutzwürdigkeiten mit sich bringen. Jede historische Erfahrung zeigt, daß gegenüber dieser Verletzbarkeit Schutzwälle gebaut werden müssen. Es ist in diesem Sinne nicht vorstellbar, daß besondere Werte einer Kultur so beschaffen sein könnten, daß sie die Verletzlichkeit des Körpers und des Lebens als geringwertig zurückstellen könnten, daß die Gemeinschaft über alles zu triumphieren habe. Auch die Berufung auf andere als europäische/westliche Werte kann nach dieser Auffassung nicht dazu fuhren oder es rechtfertigen, daß Körper und Leben des Menschen einem unbegrenzten oder ungeregelten Zugriff der jeweiligen politischen Macht ausgeliefert sein könnten oder dürften. Folterverbot und Schutz des Lebens und der Gesundheit sind - so jedenfalls die Position des Westens - überall bedroht, müssen überall geschützt werden. Deshalb der große Nachdruck auf die Rechte des Individuums und auf eine individualistische Staatssicht42.
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Dazu Wahl(s.o. Fn. 18). H. Hofmann, Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des Rechtsstaats, Der Staat Bd. 34 (1995), S. 1 ff. (auch in: Pawlowski/Roellecke [s.o. Fn. 18], S. 9 ff., 27 ff.). 41 (Grund-)Rechte als Palladium des einzelnen. 40
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(2) In der zweiten Schicht kann man im weiteren darüber nachdenken, ob grundrechtliche Vorstellungen der Meinungsfreiheit, der Versammlungsfreiheit oder auch der Berufsfreiheit in gleicher Weise generalisierbar sind - und ob sie es sein sollten. Soweit wirtschaftliche und wirtschaftsbezogene Freiheiten bedroht sind, muß man darüber wohl nicht weiter theoretisieren. Der Siegeszug von Markt und Marktprinzipien auf der gesamten Welt dürfte hier schon die Antwort gegében haben. Eine Gesellschaft oder eine Kultur, die wirtschaftlichen und wirtschaftsbezogenen Ansprüchen des einzelnen entgegensteht, dürfte nicht leistungsfähig sein. Anders mag es sich bei den typisch politischen grundrechtlichen Positionen verhalten. Vom Westen wird (und sollte auch weiterhin) geltend gemacht werden, daß die wirkliche Entfaltung des einzelnen auch diese Rechte umfaßt. Aber hier mag es in der Entwicklung und in den Entwicklungsphasen verschiedener Staaten Alternativen und Spielräume geben. Jedenfalls ist die Ableitung dieser Rechte aus der Menschennatur und aus den Grundbedingungen menschlichen Lebens nicht so eng und so intensiv wie dies bei der Frage der Verletzlichkeit des Lebens ist. 43 Im vorliegenden Zusammenhang, bei biomedizinischen Fragen und bei all den Problemen am Anfang und am Ende des Lebens stellt sich insoweit auch eine unbeantwortete und derzeit unbeantwortbare Frage: Sind die Einstellungen zum Leben, zum verletzbaren und beschädigbaren Menschen kulturunabhängig, oder gibt es gerade bei den Problemen am Beginn und Ende des Lebens kulturabhängig unterschiedliche Einstellungen? Ist bei den alten und insoweit sogar relativ einfachen Fragen des Schwangerschaftsabbruchs mit gleichen Antworten der japanischen Kultur und der westlichen Kulturen zu rechnen? Was bedeutet in diesem Zusammenhang das Prinzip der Menschenwürde und der Schutz des Lebens? Welche unterschiedlichen Grundlagen und Hintergründe bestehen in den einzelnen Kulturen im Hinblick auf diese Probleme? Bezogen auf das vorher gebrauchte Bild der zwei Schichten wäre zu fragen: Gehören diese Probleme zur ersten und generalisierbaren Schicht oder handelt es sich um kulturabhängige Fragen? Exemplarisch diskutiert am Problem des Schwangerschaftsabbruchs: Es könnte sein, daß der Riß, der in diesen Fragen durch die westlichen Gesellschaften geht - und der auf dem Hintergrund christlicher Tradition mit ihren absoluten Ansprüchen verständlich und beinahe unvermeidlich ist - in anderen Kulturen nicht in dieser Weise vorhanden ist. Bezogen auf die Generalisierbarkeit läßt sich zwar sagen, daß auf der ganzen Welt beim Schwangerschaftsabbruch eine Ausnahmesituation besteht und psychische Belastungen vorhanden
42 „Der Staat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Staat", so die pathetische Formel und das Fanal des Herrenchiemseer Verfassungskonvents, der VorläuferVersammlung des Parlamentarischen Rats im Jahr 1948. 43 Dazu Hofmann (s.o. Fn. 40).
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sind. Insoweit kann man von einer generellen und gleichen Ausgangssituation sprechen. Wie diese aber wahrgenommen wird und wie darauf geantwortet wird, könnte bei den Kulturen unterschiedlich sein. Die Zuspitzung, die der Vorgang des Schwangerschaftsabbruchs für das Gewissen des einzelnen im westlich-christlichen Kulturbereich bedeutet, muß in anderen Kulturen nicht ähnlich stark sein. Dies ist eine offene Frage. Insoweit kann man diese Überlegung für den gesamten Bereich der Biomedizin generalisieren und fragen, ob bei all dem vielfaltigen und in Zukunft noch vielfaltigeren Problemen am Anfang und am Beginn des Lebens die gleichen oder unterschiedlichen kulturellen Prägungen vorhanden sind. Wenn Unterschiede vorhanden wären, so müßte dies unvermeidlich Folgen für die rechtlichen Lösungen haben.
VII. Schluß Verfassungsvergleichung beginnt zwar mit knappen Texten, führt aber in die Tiefe der Grundordnung, die die Verfassung in jedem Staat ist. Als Kulturvergleichung führt sie außerdem auf die normalerweise nicht theoretisierten und oft auch nicht mehr bewußten kulturellen Grundlagen in Recht und Verfassung einer Gesellschaft und auf die vorrechtlichen Grundverständnisse.
Ein Beitrag zur Diskussion über den Begriff der Volkssouveränität in der japanischen Verfassung Von Masanori Shiyake
I. Die Debatte über den Begriff der Souveränität in der Verfassung des Japanischen Kaiserreichs von 1889 Wie bekannt, hat sich der Begriff der „Souveränität" in seiner europäischen Geschichte seit dem 13. Jahrhundert und insbesondere im 16. Jh., im französischen Staatsdenken durch Jean Bodin entwickelt. Helmut Quaritsch hat in einem seiner Beiträge zur Verfassungsgeschichte 1 diese Entwicklung eingehend analysiert. Es ist hier aber nicht notwendig, darauf näher einzugehen. Noch heute wird der Begriff im verfassungsrechtlichen bzw. völkerrechtlichen Schrifttum oft nicht immer eindeutig verwendet. Der Verfasser will mit der vorliegenden kurzen Abhandlung dazu beitragen, die deutschen Leser in die Diskussion über den Begriff der Souveränität in Japan unter der alten Verfassung von 1889 und der geltenden Verfassung von 1946 einzuführen. Wenn man die Untersuchung auf die Verfassungsgeschichte Japans seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschränkt, ist festzustellen, daß heftig darüber gestritten wurde, wem die „Souveränität" nach der Kaiserlichen Verfassung zustehe. Zwar kennt die Kaiserliche Verfassung Japans von 1889 (die sog. MeijiVerfassung) das Wort „Souveränität" (auf japanisch: „Shuken") nicht. Der Artikel 4 der Verfassung lautete lediglich: „Der Tenno ist das Staatsoberhaupt des Reiches; er vereinigt in sich die Herrschaftsgewalt und übt sie nach Maßgabe der Bestimmungen dieser Verfassung aus."2
1 Helmut Quaritsch, Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jh. bis 1806. Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 38, 1986. 2 Wilhelm Röhl, Die Japanische Verfassung. Die Staatsverfassungen der Welt, Bd. 4, Frankfurt am Main/Berlin, 1963, S. 147 (Anhang B: Meiji-Verfassung). Beim Zitat jedoch nur teilweise vom Verfasser verändert.
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Es gab und gibt keine offizielle deutsche Übersetzung der Kaiserlichen Verfassung; in der englischen Übersetzung des Kommentars zur Verfassung, welcher seinem Wesen nach mehr halbamtlichen Charakter hatte,3 lautete der betreffende Art. 4: „The Emperor is the head of the Empire, combining in Himself the rights of sovereignty, and exercises them, according to the provisions of the present Constitutions [sic]." Es liegt nahe, daß in diesem Kommentar die Stellung des Kaisers (d. h. des Tenno unter dieser Verfassung) als Souverän sehr deutlich zum Ausdruck gebracht worden ist: „The combination of all the governmental powers of the State in one person, is the essential characteristic of sovereignty, and the carrying of those powers into effect in accordance with the provisions of the Constitution, denotes the exercise of sovereignty." 4 In einem auf Deutsch verfaßten Buch „Japanisches Verfassungsrecht" von Shinichi Fujii, s das Vorworte von Graf Kentaro Kaneko und von Otto Koellreutter enthält und 1940 in Tokyo veröffentlicht worden ist, wird die Stellung des japanischen Tenno dahingehend betont, daß er ausnahmsweise Staatsoberhaupt und Inhaber der Souveränität zugleich sei.6 Dieses Verständnis der Stellung des Tenno wurde aber bekanntlich von den wissenschaftlichen Kreisen der damaligen Zeit nicht einstimmig geteilt. Die sozusagen amtlich-orthodoxe Lehre bis 1945 behauptete, daß der Tenno Souverän mit göttlichen Rechten sei, um damit dem Militär und der Beamtenschaft eine absolutistische Stellung im Staate zu sichern. Der obengenannte Artikel sei nach dieser Lehre die ausdrückliche Formulierung der Tatsache, „daß der Tenno die gesamte Regierungsgewalt in Händen hat, d. h. daß Er der Ursprung und das wahre Wesen der Regierungsgewalt ist." 7 3 Commentaries on the Constitution of the Empire of Japan, by Marquis Hirobumi Ito , translated by Baron Miyoji Ito , Tokyo 1889, S. 7. Hierzu vgl. Masanori Shiyake , Die Rezeption der europäischen Rechtskultur durch Übersetzungen, in: Armin P. Frank u. a. (Hrsg.), Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung, Bd. 8.1: Übersetzen, verstehen, Brücken bauen. Geisteswissenschaftliches und literarisches Übersetzen im internationalen Kulturaustausch, Berlin 1993, S. 376ff, insbes. S. 379. 4 Commentaries, S. 8. 5 Shinichi Fujii, der damals Professor an der Waseda- sowie an der NipponUniversität in Tokyo war, übersetzte in diesem Buch den ganzen Text der Verfassung aus dem Japanischen ins Deutsche, wonach Art. 4 lautet: „Der Tenno steht an der Spitze des Staates. Ihm steht die Ausübung der Staatsgewalt nach Maßgabe der Bestimmungen der Verfassung zu." Das ist aber m. M. keine genaue Übersetzung des japanischen Textes. 6 Fujii, S. 122. Hervorhebung auch von Fujii selbst. Nach Fujii müsse beachtet werden, daß das Staatsoberhaupt nicht immer Inhaber der Souveränität sei. Zum Beispiel sei der König von England zwar Staatsoberhaupt, aber er sei nur dann Träger der Souveränität, wenn er in seiner Eigenschaft als König handele, d. h. wenn er mit dem Parlament in Verbindung stehe, jedoch nicht, wenn er unabhängig vom Parlament handele. Diese Stellung sei von der des Tenno völlig verschieden: Japan sei eine Ausnahme. Die Richtigkeit seines Verständnisses mag dahingestellt sein.
Begriff der Volkssouveränität in der japanischen Verfassung
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Demgegenüber vertrat, um hier nur ein Beispiel anzuführen, Tatsukichi Minobe (1873-1948), seit 1920 Professor an der Kaiserlichen Universität Tokyo, unter dem entscheidenden Einfluß von Georg Jellinek, die Lehre vom Staat als juristischer Person. Minobe ging 1899 als Stipendiat des Kultusministeriums zum Studium der vergleichenden Rechtsgeschichte nach Deutschland, Frankreich und England, und hatte während seines Aufenthalts in Deutschland eines der Hauptwerke Jellineks, die „Allgemeine Staatslehre", gelesen, die gerade 1900 erschienen war und auf ihn einen starken Eindruck gemacht hatte. Seitdem stellte er, Jellineks Staatslehre konsequent folgend, die Behauptung auf, daß der Kaiser kein Souverän des Staates, sondern nur höchstes Organ des Staates sei, womit er der Kaiserlichen Verfassung eine mögliche demokratische Auslegung gab und dem Parlament als Vertretung des Volkes eine eigene Stellung und eigene Befugnisse zugestand.8
II. Hugo Preuss in seinem Entwurf der Weimarer Reichsverfassung Wenn wir die Frage des Souveränitätsbegriffs unter der geltenden japanischen Verfassung zunächst beiseite lassen und uns für einen Moment der Geschichte der deutschen Verfassunggebung zuwenden, so hatte Hugo Preuss, der Vater der Weimarer Reichsverfassung von 1919, schon 1889 in seiner Otto von Gierke gewidmeten Habilitationsschrift „Gemeinde, Staat, Reich" den Souveränitätsbegriff theoretisch verworfen. Das hing auch mit der Erkenntnis zusammen, daß dieser Begriff „das tragende Prinzip des absoluten Obrigkeitsstaates" ist und sogar „nur die Idee des Obrigkeitsstaates zum Ausdruck bringt". Nach Preuss würden in der neuesten Literatur die Schriftsteller, die am Souveränitätsbegriff selbst formell festhalten, gezwungen, diesen Begriff „materiell aufzugeben", weil der Begriff „zum modernen Staat und Recht, vor allem zu dem öffentlichen Recht in allen seinen Erscheinungsformen" in einem „inneren und unlöslichen Widerspruch" stehe.9 Der Gedanke des Obrigkeitsstaates, der zwar „auch im heutigen Staatsleben noch in mannigfachster Weise lebendig" sei, bilde aber nicht mehr den einzigen Grundzug desselben; er sei vielmehr mit anderen Elementen durchsetzt. Eben deshalb ist es nach ihm die Aufgabe der Staatstheorie, das Souveränitätsprinzip zu ersetzen „durch ein
7 Fujii, S. 121. Der Verfasser zitiert diese Zeilen freilich nicht deswegen, weil Fujii einer der führenden Befürworter der Kaisersouveränitäts-Lehre auf der Seite der Regierung war, sondern deswegen, weil dieses Buch fast das einzige war und bleibt, das auf Deutsch die ganze Kaiserliche Verfassung ausfuhrlich beschreibt. 8 Ausführlich hierzu vgl. Wilhelm Röhl, S. 5Iff. 9 Hugo Preuss, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf Grundlage der Genossenschaftstheorie, Berlin 1889, S. lOOff., insbes. S. 135f.
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neues Prinzip, welches Raum hat für die noch bestehenden Reste des Alten und die schon wirkenden neuen Kräfte". 10 Preuss hatte aus diesem Grunde schon bei seinem ersten Entwurf für die Weimarer Reichsverfassung vom 3. Januar 1919 bewußt vermieden, das Wort „Volkssouveränität" zu verwenden; er hatte stattdessen seinen Gedanken lediglich wie folgt zum Ausdruck gebracht: „Alle Staatsgewalt liegt beim Volke" (Art. 2 Abs. 1 des sog. Vorentwurfs). 11 Das sei „der Leitgedanken der freistaatlichen deutschen Verfassung von Weimar". 12 In der demokratischen Republik im Sinne der Weimarer Verfassung gibt es, so sagt Preuss, „nur ein einziges primäres Organ des Gemeinwesens: die Volksgemeinde politisch gleichberechtigter Bürger." „Die herkömmliche Terminologie pflegt dies als das Prinzip der Volkssouveränität zu bezeichnen. Wenn damit nur die Wesenseigenschaften demokratischer Organisation in einem Kunstausdruck zusammengefaßt würden, wäre nichts dagegen einzuwenden. Jedoch haftet hier wie überall dem Souveränitätsbegriff aus der Zeit seiner Entstehung und spezifischen Bedeutsamkeit ein so starkes Element des Absoluten, der Unbeschränktheit und Unbeschränkbarkeit an, daß er dadurch immer wieder das moderne politische Denken, Staatsrecht und Völkerrecht verwirrt und verwüstet." Preuss war der Meinung, daß die Vorstellung der Volkssouveränität und der Fürstensouveränität durch ihren Gegensatz entstanden sind und sich im Kampfe miteinander entfaltet haben. Selbst die „volonté générale" des Volkes, die an die Stelle des Gedankens der Volkssouveränität getreten ist, welcher bei seinem ersten siegreichen Durchbruch den absoluten Fürsten entthront hat, sei aber mit der ganzen schrankenlosen und rechtlich unbeschränkbaren Macht des entthronten Souveräns bekleidet. Im konstitutionellen Zeitalter wurde dann von der Theorie versucht, Jene alte Antithese in der Synthese der Stara/ssouveränität aufzuheben". Nach Preuss' Erkenntnis bricht aber „der unverwischbar antithetische Charakter, der dem Begriff oder gar schon dem Worte Souveränität anzuhaften scheint", immer wieder durch. „Immer wieder suchen Staatslehre und Politik nach dem höchsten und eigentlichen ,Träger 1 der souveränen Staatsgewalt und bringen so jene absolutistische Zersetzung auch in den Verfassungsstaat hinein". Deshalb hat die Reichsverfassung von Weimar die Volkssouveränität verkündet in dem Sinne, daß im Verfassungsstaat das Volk „Träger der gesamten Staatsgewalt" sei.13 10 Siehe dazu auch Hetwig Hintze, Hugo Preuss. Eine historisch-politische Charakteristik, in: Die Justiz, Bd. 2, Heft 3 vom Februar 1927, S. 223, insbes. 226. 11 Vgl. Heinrich Triepel (Hrsg.), Quellensammlung zum deutschen Reichsstaatsrecht, Neudruck der 5. Auflage Tübingen 1931, Aalen 1987, S. 6 u. 10. Die endgültige Fassung der Weimarer Reichsverfassung lautet: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus." (Art. 1, Abs. 2). 12 Hugo Preuss, Staat, Recht und Freiheit. Aus 40 Jahren deutscher Politik und Geschichte. Mit einem Geleitwort von Theodor Heuss, Hildesheim 1964, S. 397.
Begriff der Volkssouveränität in der japanischen Verfassung
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III. Der Grundsatz der Volkssouveränität im Grundgesetz Auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 sagt, wie die Weimarer Reichsverfassung von 1919, im Art. 20 Abs. 2 Satz 1 nur, daß „alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht." Diese Formulierung bringt den tragenden Grundgedanken des demokratischen Prinzips zum Ausdruck, wonach alle staatliche Gewalt auf die Legitimation durch den Volkswillen zurückfuhrbar sein muß. 14 Wenn die Präambel des Grundgesetzes sagt, das Deutsche Volk habe sich kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben, so liegt auch diesem Wortlaut der gleiche Gedanke des obengenannten Art. 20 Abs. 2 zugrunde. Es wäre zwar nicht ganz unrichtig, darin den „Grundsatz der Volkssouveränität" zu sehen,15 da die Volkssouveränität flir den Verfassungsstaat bedeutet, so könnte man in einem gewissen Sinne sagen, daß der „pouvoir constituant" und die Trägerschaft der Staatsgewalt beim Volke liegen. 16 Dabei ist aber zu beachten, daß der Verfassungsgeber das Wort Volkssouveränität nicht verwendet hat, sondern nur den Volkswillen als Legitimationsgrundlage des Grundgesetzes zum Ausdruck brachte. Innerhalb des Verfassungsstaates gibt es insoweit keinen Souverän 17 im Sinne seiner herkömmlichen Terminologie.
IV. Der Grundsatz der Volkssouveränität unter der Japanischen Verfassung von 1946 Wenn wir den Blick auf die Japanische Verfassung (JV) vom 3. November 1946 richtet, so fällt sofort auf, daß sie, anders als die oben erwähnten deutschen Verfassungen das Wort Souveränität (auf japanisch: „Shuken") dreimal verwendet. (A) Zum einen finden wir es in der Präambel Abs. 1: „Wir, das japanische Volk, handelnd durch unsere rechtmäßig gewählten Vertreter im Nationalparlament, entschlossen, für uns und unsere Nachkommen die Früchte friedlicher Zusammenarbeit mit allen Völkern und die Segnungen der Freiheit in unserem ganzen Lande zu sichern und nie wieder durch Handlungen der Regierung die
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Hugo Preuss, Reich und Länder. Bruchstücke eines Kommentars zur Verfassung des Deutschen Reichs. Aus dem Nachlaß des Verfassers herausgegeben von Gerhard Anschütz, Berlin 1928, S. 49f. Hervorhebung von Preuss. 14 Ingo von Münch (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 4. Auflage, Band 1, München 1992, Rn. 30 zu Art. 20. 15 Ingo von Münch, Grundgesetz-Kommentar, Rn. 19 zu der Präambel. 16 Martin Kriele, Einführung in der Staatslehre, 4. Aufl. Opladen 1990, S. 226. 17 Kriele, S. 224; japanische Ausgabe (übersetzt von M. Shiyake u. a., Tokyo 1989), S. 363ff. 13'
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Greuel des Krieges zu entfesseln, erklären hiermit ausdrücklich, daß die Souveränität beim Volke ruht, und bestimmen die Verfassung." 18 [Hervorhebung des Verfassers - ebenso unten] Nach der englischen Übersetzung der Verfassung (The Constitution of Japan), die man sicher für eine amtliche halten kann, 19 lautet der allerletzte Teil des zitierten Abs. 1 : „do proclaim that sovereign power resides with the people and do firmly establish this Constitution." Diese Präambel läßt sich auf den sog. MacArthur-Entwurf vom 13. Februar 1946 zurückführen, wonach der obengenannte Teil der Präambel Abs. 1 lautet: „do proclaim the sovereignty of the people's will and do ordain and establish this Constitution." Auf deutsch nämlich: „erklären hiermit die Souveränität des Volkswillens und bestimmen diese Verfassung." Hier ist das Wort „Souveränität" ausdrücklicher hervorgehoben als in der endgültigen Fassung der JV. Diesem Entwurf entsprechend fertigte dann die damalige japanische Regierung am 6. März 1946 einen Entwurf (den sog. 6.-März-Entwurf) an, wonach die betreffende Formulierung lautete, um sie wörtlich auf deutsch wiederzugeben: „erklären hiermit, daß der allgemeine Wille des Volkes der höchste ist, usw." 20 Im Prozeß der Verfassunggebung im Unterhaus des Parlaments seit Juni 1946 wurde an Hand dieses Entwurfs sehr eifrig darüber diskutiert, wem eigentlich die Souveränität zustehe. Diese Frage bildete im Parlament einen der Kernpunkte der Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und den Parteien. Auf die Frage eines Mitglieds des Unterhauses antwortete Tokujiroh Kanamori (1886-1959), der Minister für Verfassungsfragen, wiederholt, er halte es für unrichtig bzw. irreführend, in der Präambel das Wort „Souveränität" (Shuken) selbst ausdrücklich zu verwenden, weil das Wort sehr mehrdeutig sei 18
W. Röhl, S. 86 verwendet für das japanische Wort „Shuken" nicht „die Souveränität", sondern „die oberste Gewalt", aber er erläutert in S. 87 zu Recht, daß hier Souveränität gemeint ist, „die letzte Entscheidungsgewalt hinsichtlich der Staatsfuhrung". Vgl. auch Günther Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen. Eine Sammlung wichtiger Verfassungen der Vergangenheit und Gegenwart in Urtext und Übersetzungen, Darmstadt 1975, S. 542f.: „...daß die Souveränität allein beim Volke ruht". Betr. andere Übersetzungen siehe „Japanische Entscheidungen zum Verfassungsrecht in deutscher Sprache", hrsg. v. Hans Peter Marutschke u. a., Köln/Berlin/Bonn/München 1998. (Japanisches Recht; Japanische Rechtsprechung; Bd. 1), S. 533ff. (Anhang) und Miyazawa Toshiyoshi, Verfassungsrecht (Kempo), übersetzt, bearbeitet und herausgegeben von Robert Heuser und Yamasaki Kazuaki (Japanisches Recht 21), Köln/Berlin/Bonn/München 1986, S. 297ff. 19 Im Prozeß der Verfassunggebung von März bis Oktober 1946, also bis zur endgültigen Fassung, ist der japanische Text jeweils ins Englische übersetzt worden, um sie zum Gegenstand der Diskussion mit dem Aliierten Hauptquartier (AHQ) zu machen und dessen Einverständnis einzuholen. 20 Die Übersetzung von W. Röhl, S. 170, entspricht nicht ganz dem japanischen Wortlaut dieses Entwurfs.
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und deshalb sehr verschieden ausgelegt werden könne. Der Minister war der Meinung, daß schon mit obigem Wortlaut der Grundsatz der Volkssouveränität so genau zum Ausdruck kommt, daß andere Auslegungen unmöglich werden. Trotz dieser Erwiderung wurde aber der Wortlaut nach zweimonatigen Debatten im Verfassungsausschuß des Unterhauses bis zum 21. August 1946 schließlich wie folgt abgeändert, um noch einmal zu zitieren: „erklären hiermit, daß die Souveränität beim Volke ruht usw." Damit ist der Grundsatz der Volkssouveränität ganz einfach und klar in der Präambel der Verfassung verankert worden, wie der Vositzende des Ausschusses, Hitoshi Ashida (1887-1959) feststellte. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß Minister Kanamori bei diesem Wortlaut der Meinung war, die Souveränität ruhe nach wie vor beim Volke als Ganzem einschließlich des Tenno selbst. Dieser Auffassung entgegneten manche Mitglieder des Parlaments mit dem Hinweis, daß sie angesichts der abendländischen Geschichte sehr widerspruchsvoll und unverständlich sei, weil die Volkssouveränität nichts anders bedeute, als daß der König zur Volksgemeinschaft nicht gehöre. Der Minister erwiderte dagegen, das japanische Volk sei im großen und ganzen auch in der Vergangenheit, wenn auch nicht bewußt genug, überzeugt gewesen, daß der Ursprung des Staatswillens immer in der ganzen Volksgemeinschaft einschließlich des Tenno liege. Der Tenno stand, seiner Lehre entsprechend, gewissermaßen in der „Mitte der Sehnsucht des Volks", und so ist es noch heute; unsere Nation hat sich durch dieses Gefühl vereinigt. Selbstverständlich haben nicht alle Mitglieder der „Lehre des Tenno als sozusagen eines Mittelpunktes der Sehnsucht" zugestimmt. (B) Übrigens gebraucht der japanische Text im Abs. 3 der Präambel noch einmal das Wort „Shuken", aber nicht im gleichen Sinne wie im obengenannten Abs. 1, sondern im Sinne der völkerrechtlichen „Unabhängigkeit" der Nation gegenüber den anderen Nationen: „Wir sind der Überzeugung, daß keine Nation sich nur ihren eigenen Angelegenheiten widmen und die anderen Nationen unbeachtet lassen darf, sondern daß die Regeln der politischen Moral allgemein gültig sind und daß die Befolgung dieser Regeln die Pflicht jeder Nation sind, die ihre Souveränität [also im Sinne der „Unabhängigkeit"] bewahren und in gleichberechtigten Beziehungen zu anderen Nationen stehen will." 2 1 (C) Zum dritten verwendet die JV schließlich im Art. 1 die Formulierung: „Der Tenno ist das Symbol Japans und der Einheit des japanischen Volkes; seine Stellung ist auf den allgemeinen Willen des japanischen Volkes gegründet, bei dem die Souveränität ruht."
21 Nach der amtlichen englischen Übersetzung lautet hier: „that obedience to such laws is incumbent upon all nations who would sustain their own sovereignty and justify their sovereign relationship with other nations."
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Im übrigen wird beim Übersetzen des japanischen Wortes „Tenno" im Titel des Abschnitts 1 sowie in dessen Bestimmungen das deutsche Wort „Kaiser" gebraucht. 22 Das ist aber m. E. deswegen irreführend, weil die Stellung des Tennos in der JV, anders als unter der MV, nicht die eigentliche Eigenschaft des Kaisers in der herkömmlichen Terminologie bedeutet, sondern nur - wenn ich so sagen darf - eine ähnliche Stellung wie die des Bundespräsidenten unter dem Bonner Grundgesetz oder vielleicht eine schwächere als diese. Das Wort „Symbol" erklärt diese spezifische Stellung des Tenno unter der JV. Wahrscheinlich liegt dieser deutschen Übersetzungen die amtliche englische Fassung zugrunde: „The Emperor shall be the symbol of the State and of the unity of the people, deriving his position from the will of the people with whom resides sovereign power." Nach dem MacArthur-Entwurf lautet nun dieser Teil: „The Emperor shall be the symbol of the State and of the Unity of the People, deriving his position from the sovereign will of the People, and from no other source." Auch in diesem Fall meinte der Wortlaut des sogenannten „6.-MärzEntwurfs" ausdrücklich nicht Volkssouveränität, sondern nur, daß „der Tenno, gegründet auf den höchsten allgemeinen Willen des japanischen Volkes, die Stellung eines Symbols Japans und der Einheit des japanischen Volkes hat." Auch dieser Wortlaut wurde nach den Debatten im Verfassungsausschuß des Unterhauses gleichermaßen verändert wie der Ausdruck des Abs. 1 der Präambel, wie schon oben in (A) erwähnt. (D) Es gibt in diesem Zusammenhang noch eines zu bemerken. In der englischen Fassung des Art. 9 Abs. 1 findet man noch ein Beispiel, wo, abweichend von der endgültigen japanischen Fassung, das Wort „sovereign" dahingehend verwendet wird, daß „the Japanese people forever renounce war as a sovereign right of the nation and the threat of use of force as means of settling international disputes". Hier bedeutet natürlich der Ausdruck „ein souveränes Recht der Nation" das Recht des Staates im staats- sowie völkerrechtlichen Sinne. Der Minister für Verfassungsfragen Kanamori gab mehreren Fragestellern seine Zustimmung, wenn er sagte, es sei gewissermaßen treffend, in diesem Wortlaut ein Ausdruck zu finden, daß die Souveränität beim Staat ruhe; dabei erinnerten sich sowohl er als auch die Fragesteller mit der „Staatssouveränität" an die deutsche Lehre des Staats als der juristischen Person. Nach den eifrigen Diskussionen wurde aber der betreffende Wortlaut abgeändert, so daß in der endgültigen japanischen Fassung das Wort „Shuken" nicht mehr gebraucht, sondern anstelle dessen die Wörter „Kokken-no-Hatsudoh", d. h. „die Ausübung
22
W. Röhl, S. 90ff; G. Franz, S. 543ff.; Marutschke, S. 534ff.
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der Staatsgewalt" getreten ist. 23 Insoweit handelt es sich hier nicht um den Gegenstand meines Beitrags. Wie oben beschrieben, bedeutet das Wort „Shuken" in Japan dreierlei: zum ersten die völkerrechtliche „Unabhängigkeit" des Staates, wie im Abs. 3 der Präambel der JV. Zum zweiten bedeutet es die Herrschafitsgewalt an sich, die sich in der Potsdamer Erklärung (vgl. Fußnote 23) findet. Zum dritten steht das Wort schließlich im Zusammenhang mit der Souveränität des Volkes, wie sie im Abs. 1 der Präambel sowie im Art. 1 der Verfassung zum Ausdruck gebracht ist. Es handelt sich grundsätzlich um die letzte Wendung des Wortes, wenn man in wissenschaftlichen Kreisen über die Bedeutung des Begriffs „Shuken" diskutiert.
V. Einige Bemerkungen zum konkreten Inhalt des Grundsatzes der Volkssouveränität in der JV Es ist noch heute umstritten, was das Wort „Souveränität" in der JV (Präambel Abs. 1 und Art. 1) bedeutet. Eine Auffassung betont gewissermaßen das legitimierende Moment der Volkssouveränität. Daß die Souveränität beim Volke ruhe, bedeute, daß das japanische Volk selbst „kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt beschlossen" hat (vgl. die Präambel des GG). Demgegenüber betont die andere vielmehr, die Volkssouveränität solle mehr als dies bedeuten: das Volk sei als lebendes Subjekt der Souveränität berechtigt, seine souveräne Gewalt in der Tagespolitik auszuüben. Während die erstere unter dem Volk die Nation („la nation") als eine mehr oder weniger abstrakte ideelle Einheit versteht, also nicht nur das gegenwärtige Volk, sondern auch das vergangene, sowie das zukünftige nachkommende Volk, versteht die letztere darunter mehr das konkrete, im wirklichen Verfassungsleben unmittelbar wirkende Volk („le peuple"). 24 Da es aber m. E. fraglich ist, ob und wieweit diese Auseinandersetzung zur Auslegung der Bestimmungen der JV beiträgt, will ich hier nicht auf Einzelheiten eingehen. Statt dessen will ich vielmehr zum Schluß aufzeigen, welche Bestimmungen die JV enthält, um die Idee der Volkssouveränität in der JV zu vergegenständlichen:
23 Im ähnlichen Sinne wie hier gebraucht der Absatz 8 der Potsdamer Erklärung vom 26. Juli 1945 das Wort „Souveränität": „Die Bestimmungen der Erklärung von Kairo sind auszuführen. Die Souveränität Japans wird auf Honshuh, Hokkaidoh, Kyuhshuh und Shikoku sowie die von uns bestimmten kleinen Inseln beschränkt." Damit ist natürlich die Staatsgewalt bzw. die Herrschaftsgewalt schlechthin gemeint. 24 Bemerkenswert ist im übrigen, daß die Auseinandersetzungen hierüber insbesondere unter Wissenschaftlern stattfinden, die mit französischen Theorien vertraut sind.
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Erstens ist im Art. 15 Abs. 1 das Recht der einzelnen Volksmitglieder gewährleistet, die öffentlich Bediensteten durch Wahl zu bestimmen und sie aus ihrem Amt zu entlassen, als eines der Grundrechte, und zwar als das „volkseigene" unveräußerliche Recht des Volkes, im Gegensatz zum Grundgesetz (vgl. Art. 38, 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Wenn auch die Souveränität vom Volke grundsätzlich durch die Wahl (Art. 44 JV) wahrgenommen werden soll, ist jede Verfassungsänderung, zweitens, nach der Beschlußfassung des Parlaments mit Zustimmung von mindestens zwei Dritteln aller Mitglieder in jedem Hause, dem Volk vorzuschlagen, und jeder Änderung muß vom Volk mit mehr als der Hälfte aller abgegebenen Stimmen zugestimmt werden (Art. 96). Drittens und zuletzt ist in der JV eine eigenartige Institution verankert: Art. 79 Abs. 2 bestimmt, daß „die Ernennung der Richter des Obersten Gerichtshofs der Prüfung durch das Volk bei Gelegenheit der ersten auf die Ernennung folgenden allgemeinen Wahl der Mitglieder des Unterhauses unterliegt; erneute Prüfungen weiterhin jeweils bei Gelegenheit der ersten allgemeinen Wahl der Mitglieder des Unterhauses nach Ablauf von zehn Jahren seit der vorhergehenden Prüfung stattfinden." 25
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Zitat nach der Übersetzung von Marutschke (Hrsg), S. 533ff.
„ L a légalité tue"
Einige Bemerkungen Von Günter Maschke
I. „Le Peuple Fran9ais veut le maintien de Tautorité de Louis Bonaparte et lui délègue les pouvoirs nécessaires pour établir une Constitution sur les bases proposées dans sa Proclamation du 2 décembre 1851", - dieser Text wurde am 20. und 21. Dezember 1851 dem französischen Volke vorgelegt und von 7 439 216 der 8 116 773 Abstimmenden bejaht1. Der Staatsstreich fand damit seine Rechtfertigung und Louis Bonaparte die berühmten Worte: „Je ne suis sorti de la légalité que pour rentrer dans le droit" 2 . Die Legalität, das war die Verfassung vom 4. November 1848, auf die Louis Bonaparte am 20. Dezember 1848 vereidigt worden war; eine Verfassung, die strikt die gesetzgebende und die vollziehende Gewalt trennte und gemäß der der Präsident, aufgrund des allgemeinen Wahlrechts von 5,4 Millionen Franzosen gewählt, sich einem Einkammerparlament gegenübersah, bei dem sich die force populaire auf 750 Abgeordnete zerstreute. Als Staatschef besaß der Präsident zwar das Recht der Gesetzesinitiative, verfugte über die Streitkräfte - ohne sie befehligen zu dürfen -, verhandelte und ratifizierte die Verträge und ernannte und entließ die Minister, die desungeachtet dem Parlament verantwortlich waren. Obwohl aus der Volkswahl hervorgegangen, besaß er kaum Prärogativen und weder das Recht zum Veto (nicht einmal zu einem bloß suspensiven), noch zur Auflösung der Kammer, während er von dieser, die stets darauf aus war, ihn zum bloßen Ausführungsorgan zu erniedrigen, nicht abgesetzt werden konnte, es sei denn bei Hochverrat. Für den Konfliktfall hatte die Verfassung keinerlei Prozeduren ei1
Nach: G. Geywitz, Das Plebiszit von 1851 in Frankreich, 1965, S. 11, 107. Die Wendung wurde, des öfteren leicht variiert, proverbial. Zum erstenmal benutzte sie Louis Bonaparte in seiner „Présentation du Résultat des Votes émis sur le Projet de Plébiscite" vom 31. 12. 1851: „La France a répondu à l'appel loyal que je lui avais fait. Elle a compris que je n'étais sorti de la légalité que pour rentrer dans le droit. Plus de sept millions de suffrages viennent de m'absoudre en justifiant un acte qui n'avait d'autre but que d'épargner à notre patrie, et à l'Europe peut-ètre, des années de troubles et de malheurs". (Oeuvres de Napoléon III, Paris 1866, III, p. 282). 2
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ner friedlichen Regelung vorgesehen, so daß der Coup des Präsidenten gegen die Versammlung oder, bedeutend schwieriger, aber damals kaum weniger erörtert, der der Versammlung gegen den Präsidenten, der einzige Ausweg blieb 3 . Die Verfassung wollte, daß der Kopf des Präsidenten ein Schilfrohr sei, doch sie billigte ihm großherzig die Wurzeln einer Eiche zu. Als der Präsident, zunächst als leicht lenkbarer dupe verkannt, seinen eigenen politischen Kopf aufsetzte, zögerte man nicht, seine Wurzeln zu beschneiden. Nachdem es bei Nachwahlen zu großen Siegen sozialistischer Kandidaten, unter ihnen Eugène Sue, dem Patenkind der Kaiserin Joséphine, gekommen war, wurde am 31. Mai 1851 das Censuswahlrecht durch die Hintertür wieder eingeführt: wahlberechtigt war jetzt nur noch derjenige, der seit mindestens drei Jahren in einer Gemeinde oder in einem Departementskanton lebte, so daß vor allem die nomadisierenden, wegen der Arbeitsuche häufig den Wohnort wechselnden Proletarier ausgesperrt wurden, und die Zahl der Wahlberechtigten von 9,6 Millionen auf 6,8 Millionen sank4. Eine ausgedehnte Reisekampagne Louis Bonapartes zur Propagierung einer Revision der Verfassung, die im Art. 45 eine sofortige Wiederwahl verbot, mündete in einem dementsprechenden Antrag, der am 19. Juli 1851 im Parlament scheiterte 5. Es gab noch zahllose andere, oft kaum miteinander zu vereinbarende Pläne zu einer Revision und an Anhängern einer Änderung, von denen jeder die seine meinte, mangelte es nicht; zum anderen waren die vorgeschriebenen Bedingungen für eine Revision außerordentlich rigide. Da es unmöglich war, die Verfassung zu ändern, war es unmöglich, sie zu erhalten. Nachdem auch die von Bonaparte geforderte Wiederherstellung des allgemeinen Wahlrechts am 4. November 1851 abgelehnt wurde 6, glaubten die Par-
3 Zu dieser Verfassung vgl. u.a.: R. v. Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, 1860, I, S. 536-576; H. v. Treitschke, Frankreichs Staatsleben und der Bonapartismus (zuerst 1865-1871), in: ders., Historische und Politische Aufsätze, 7. Aufl. III, 1915, S. 43-425, hier S. 253-259; V. Pierre, Histoire de la République de 1848, Paris 1878, I, p. 477-544; P. Bastid, Doctrines et Institutions politiques de la Seconde République, 2 Bde., Paris 1945 (grundlegend); G. Burdeau, Manuel de droit constitutionnel, Paris 1947, p. 140 ff.; M. Erbe, Vom Konsulat zum Empire libéral, 1985, S. 189 ff.; die geistige Konfusion und unerquickliche Atmosphäre in der Verfassungskommission schildert Tocqueville in: „Souvenirs", vgl. die dt. Ausg.: Erinnerungen, 1954, S. 242-264; vgl. a.: Κ . v. Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, 1970, S. 133 ff 4 Dazu u.a.: J Dautry, Histoire de la Révolution de 1848 en France, Paris 1948, p. 226 ff.; A. Dansette, Louis-Napoléon à la conquète du pouvoir, Paris 1961, p. 325 f f ; das Gesetz wurde mit 433 zu 241 Stimmen beschlossen. 5 Zur Kampagne für die Revision vgl.: V. Pierre, s.o. Fn. 3, Bd. II, p. 539-576; P. Guériot , Napoléon III, Paris 1933, I, p. 135-142. Der Antrag auf Revision wurde zwar deutlich bejaht (446 zu 278 Stimmen), die erforderliche 2/3-Mehrheit jedoch verfehlt.
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lamentarier, den Präsidenten genügend demontiert zu haben. Am 17. November 1851 lehnten sie den Antrag der Quästoren der Nationalversammlung ab, daß deren Vorsitzender Armand Marrast die Befehlsgewalt über das zu ihrem Schutze abgestellte Militär erhalte und zu diesem Zwecke auch Truppen requirieren dürfe 7. Man hatte den Präsidenten zwei Jahre lang bis aufs Blut gereizt und desavouiert, jetzt fehlte der Mut zur Konsequenz: sich die Truppe zu unterstellen und sich des Präsidenten, am besten noch in der Versammlung, zu bemächtigen8. Das Parlament hatte bis dahin viel getan, daß man es hasse, aber wenig, daß man es fürchten müsse. Der Coup vom 2. Dezember 1851 machte nicht nur die Putschpläne der Orléanisten (Juli 1851) oder des Generals Changarnier (November 1851) zunichte; er vertrieb auch das „rote Gespenst", mit dessen Erscheinen 1852, nach dem Ende der Präsidentschaft Bonapartes, weithin gerechnet wurde 9. Dann würde es, so eine umlaufende Angstpsychose, zu einer gnadenlosen, sozialistischen Jacquerie kommen, zu einer Serie von Aufständen à la Auguste Blanqui, zu einer blutigen Revanche für die Juni-Schlacht 1851. Infolgedessen nahm der entmachtete bourgeois den Staatsstreich hin, verhieß er ihm doch den Erhalt des Portemonnaies und des Lebens, während der prolétaire der Unterdrückung derer, die ihn um sein Wahlrecht gebracht hatten, wohlwollend zuschaute; den Rest erledigte „une opération de police un peu rude". Cäsarismus heißt, einander feindselige Kräfte durch die Gewalt zu neutralisieren, sie zunächst voreinander zu schützen und dann zur Zusammenarbeit zu zwingen. Doch der Coup vertrieb nicht nur den „spectre rouge" einer gewaltsamen Revolution, er vertrieb auch den einer legalen Revolution; 1851 ist wohl das Geburtsjahr dieses paradoxen Begriffes. Die Wiederherstellung des suffrage universel, unentwegt diskutiert und stets möglich, könnte, so eine zweite, anders geartete Furcht, 1852 dazu führen, daß ein sozialistischer Arbeiter Staatspräsident würde. Tatsächlich wurde dies von Émile de Girardin, immerhin der Begründer der modernen Massenpresse, 1851 lanciert 10. Dieses „rote Gespenst" 6 Die Wiederherstellung des allgemeinen Wahlrechts wurde sehr knapp, mit 355 zu 348 Stimmen, abgelehnt. 7 Dazu bes. interessant: A. Jenny, Jean-Baptiste Charras und die politische Emigration nach dem Staatsstreich Louis-Napoleon Bonapartes, 1969, S. 113 ff. 8 So der Plan von General Changarnier, den Louis Bonaparte im Januar 1851 als Oberbefehlshaber von Paris abgesetzt hatte. Im Januar 1849 wollte Changarnier noch die Constituante gewaltsam auflösen. 9 Vgl. die berühmte Schrift von Auguste Romieu, Le spectre rouge en 1852 (zuerst 1851), dt. in: ders., Der Cäsarismus/Das rote Gespenst, hrsg. v. G. Maschke, 1993, S. 123-171. 10 É. de Girardin, La Révolution légale par la Présidence d'un ouvrier - Solution démocratique de 1852, Paris 1851, Librairie nouvelle, 24 S.; es handelte sich um eine Artikelreihe aus dem Blatt „Bien-etre universel"; dazu u.a. P. Rosanvallon, Le peuple introuvable. Histoire de la représentation démocratique en France, Paris 1996, p. 80 ff.
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fristet im Schrifttum zum 2. Dezember 1851 merkwürdigerweise nur das Dasein des Schattens eines Schattens, - obgleich ihm doch der so viel stärker beachtete 31. M a i gegolten hatte.
II. La légalité tue - das bald Viennet, einem Deputierten der Juli-Monarchie, bald Odilon Barrot zugeschriebene W o r t 1 1 pflegte Carl Schmitt zu gebrauchen, kam die Rede auf die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, auf das Ermächtigungsgesetz v o m 24. März 1933 oder allgemein auf die nationalsozialistische Revolution. Daß diese eine „legale R e v o l u t i o n " 1 2 war, w i r d heute, aus durchsichtigen volkspädagogischen Gründen, gerne bestritten. Doch die Entscheidung von Rechtsfragen erfolgt „stets in einer bestimmten historischen Situation und ist an diese Situation gebunden. Ist diese Situation vorbei, gilt das Recht, das auszulegen und anzuwenden war, nicht mehr, so ist
11 Viennet rief in einer Kammersitzung am 6. Juli 1834 aus: „La légalité nous tue!" Er bezog sich auf die straflos bleibende Verächtlichmachung der Regierung vor den Gerichten und die maßlosen Angriffe der Presse auf das Kabinett Périer, beides typisch ftir die „Manie der Revolte" während der frühen Juli-Monarchie. Vgl. dazu: Le Gouvernement de Juillet. Les Partis et les Hommes politiques. 1830 à 1835. Par l'auteur de l'Histoire de la Restauration, Paris 1835, p. 173, mit dem Kommentar: „Non, ce n'était pas la légalité qui tuait, mais le principe révolutionnaire et son retentissement; la majorité ne voulait pas se l'avouer, mais le mal était là. La légalité n'a jamais tué de gouvernement; et quand au contraire les principes révolutionnaires s'en emparent, ils créent un état de malaise permanent, de luttes incessantes qui en effet tuent les lois et fatiguent la paix du pays à travers mème la repression la plus violente". Vgl. a.: K. Hildebrand , Geschichte Frankreichs von der Thronbesteigung Louis Philipp's bis zum Falle Napoleon's III., 1877, I, S. 421 f.; J. L. Talmon, Politischer Messianismus. Die romantische Phase, 1963, S. 338 (dort fälschlicherweise: Vienne). - Friedrich Engels schrieb den Ausspruch Odilon Barrot (1791-1873), dem Führer der dynastischen Linken zu, der 1849 kurze Zeit Ministerpräsident Louis Bonapartes war, und verwies auf die legalen Möglichkeiten der SPD (s.o. Fn. 47, 51): Der Sozialismus in Deutschland (1891), in: MEW, 22, 1963, S. 244-260, 251; Einleitung zu Marx ' „Klassenkämpfe in Frankreich" (1895), ebd., S. 509-527. 525. Die Herausgeber der Marx-Engels-Werke behaupten ebd., S. 602 f., Barrot hätte damit „die Absicht der französischen Reaktion Ende 1848/Anfang 1849 zum Ausdruck gebracht, einen Volksaufstand zu provozieren, um ihn niederschlagen und die Monarchie wiederherstellen zu können", was außerordentlich fraglich erscheint. Das Barrot zugeschriebene Wort findet sich m.E. nicht in seinem „Mémoires posthumes", Paris 1876, 4 Bde., trotz der dortigen Ausführungen über Verfassungsfragen (Bd. III, p. 80 ff., Bd. IV, p. 128-163) und auch nicht in der biograph. Literatur über Barrot. 12 D. Murswiek , Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz fur die Bundesrepublik Deutschland, 1978, hält den Begriff nur für eine „metaphorische Redeweise" (S. 19): eine Verfassungsumwälzung, die die Verfassung nicht erlaube, sei nicht legal; was eine Verfassung erlaube, sei nicht revolutionär (S. 20). Die politischstrategische Bedeutung des Problems wird von dieser treffenden Kritik nicht berührt.
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nur noch eine rechtshistorische Betrachtung, aber nicht mehr eine rechtsdogmatische Beurteilung m ö g l i c h " 1 3 . Die bei weitem vorherrschende Meinung, selbst bei entschiedenen Gegnern des neuen Regimes, war 1933, daß Hitler legal an die Macht gekommen sei und sie ging dahin, daß das Ermächtigungsgesetz wie der revolutionäre Prozeß insgesamt das Siegel der Legalität trugen, auch wenn sich hierzu im damaligen Schrifttum einige Bedenken und Einschränkungen finden lassen 14 . Heinrich Triepel kam am 2. A p r i l 1933 zu dem Schluß: „Daß die nationale Revolution in erster Linie die Verfassung des deutschen Staates ergriffen hat, kann nicht zweifelhaft sein. Dies ist noch nicht überall zum Bewußtsein gekommen. Mancher vermag sich überhaupt eine Revolution nicht ohne Barrikadenkämpfe und Straßenschlachten vorzustellen. Es gibt aber zum Glück auch Revolutionen ohne solche Zutaten. Und das Eigentümliche an der Umwälzung des Jahres 1933 ist, daß sie sich in ihrem Hauptstück - von ungesetzlichen oder in ihrer Gesetzlichkeit bestreitbaren Einzelakten muß und kann dabei abgesehen werden durchaus im Rahmen des geltenden Verfassungsrechts vollzogen hat. Sie ist eine legale Revolution. Das klingt wie ein Widerspruch und ist doch keiner. Legal ist, was sich in den Formen abspielt, die von den geltenden Gesetzen vorgezeichnet sind, revolutionär, was das geltende Gesetz in grundstürzender Weise verwandelt. Und so kann derselbe Akt legal und revolutionär sein" 15 . Z u einem ähnlichen Ergebnis gelangte damals, nach z.T. detaillierter Untersuchung der politischen Ereignisse und juristischen Schritte, das Gros der rechtswissenschaftlichen Literatur 1 6 . Ein gewichtiges Indiz für die Legalität der Revolution A d o l f Hitlers lieferte Hans Julius W o l f f m i t einem Satz, der zunächst nur wie ein Apercu anmutet: „ M a n kann eine fehlerfreie Chronik des deutschen Staatsrechts seit der Jahreswende 1932/33 schreiben, ohne ahnen [von m i r kursiviert, G . M . ] zu lassen, daß es die Epoche einer Revolution ist, die dargestellt w i r d " 1 7 . Erkennt man, daß unter modernen Bedingungen die le13 C. H. Ule, DVB1. 1959, S. 717 (Besprechung von: Kl. Revermann, Die stufenweise Durchbrechung des Verfassungssystems der Weimarer Republik in den Jahren 1930 bis 1939, 1959); vgl. a. ders., Vor fünfzig Jahren: 30. Januar 1933, DVB1., 3/1983, S. 101-111, 109. 14 So bei dem sonst sehr apologetischen, seine Dissertation sogar Hitler widmenden Konrad Steinbrink: Die Revolution Adolf Hitlers. Eine staatsrechtliche und polit. Betrachtung der Machtergreifung des Nationalsozialismus, Berlin 1934; dazu auch Steinbrinks Lehrer, Edgar Tartarin-Tarnheyden, in: Werdendes Staatsrecht, 1934, S. 4 f. 15 H. Triepel, Die nationale Revolution und die deutsche Verfassung, Deutsche Allgem. Zeitung, 2. 4. 1933. 16 Vgl. die Literaturhinweise bei G. Dannemann, Legale Revolution, Nationale Revolution. Die Staatsrechtslehre zum Umbruch von 1933, in: E. W. Böckenförde, Hrsg., Staatsrecht und Staatsrechtslehre im Dritten Reich, 1985, S. 3-22; W. Meyer-Hesemann, Legalität und Revolution - Zur juristischen Verklärung der nationalsozialistischen Machtergreifung als „Legale Revolution", in: P. Salje, Hrsg., Recht und Unrecht im Nationalsozialismus, 1985, S. 110-137. Die beiden nützlichen Darstellungen sind leider stark der erwähnten „volkspädagogischen" Tendenz verpflichtet. 17 H. J. Wolff Die neue Regierungsform des Deutschen Reiches, 1933, S. 5.
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gale Revolution aussichtsreicher ist als die gewaltsame - schon weil die Legalität der Funktionsmodus der Bürokratie ist - sollte man Wolffs Methode bei der Untersuchung von Revolutionen regelmäßig anwenden. Dabei würde sich u.a. herausstellen, daß auch die Revolution Mussolinis, trotz des Marsches auf Rom, der eher ins Gebiet des Show-Business fällt, legal war; ein Sachverhalt übrigens, den Hitler spätestens 1930 begriffen hatte18.
III. Die strafrechtlich relevanten Gesetzesverstöße einzelner Nationalsozialisten, besonders von SA-Männern, wurden zwar oft nur lasch oder gar nicht geahndet 19 ; im ganzen aber muß man zugeben, daß diese Verstöße der NSDAP eher schädlich als nützlich waren und die Partei immer wieder gefährdeten. Gelegentlich mochte die Führungsspitze der NSDAP solche Verstöße als Drohung einsetzen, weit mehr aber war sie gezwungen, sie hinzunehmen, um den revolutionären Flügel nicht zu verlieren. Daß Hitler unter beträchtlichen Schwierigkeiten und angesichts unbestreitbarer Rückschläge an seinem Legalitätskurs festhielt, ist schlicht eine Tatsache; das Führerprinzip wurde nicht zuletzt deshalb perfektioniert, um diesen Kurs autoritär durchsetzen zu können. Die vier ausschlaggebenden Politiker der Endphase Weimars - Brüning, Groener, Papen, Schleicher - pflegten übrigens die Legalität der Partei stets zu vermuten, wenn sie sie für ihre Pläne, sei es zur Zusammenarbeit, zur Tolerierung, zur Koalitionsbildung oder zur Wehrpolitik benötigten und sie erörterten deren Illegalität, wenn die NSDAP ihren Absichten unbequem wurde 20 . Auch hieraus läßt sich ersehen, daß Legalität ein Gelten ist und kein Sein. Eine PseudoLegalität oder Schein-Legalität kann es schwerlich geben, weil „zwischen Legalität und bloßem Schein der Legalität nicht unterschieden werden kann" 21 .
18 Vgl. Hitlers Bemerkungen im Reichswehrprozeß am 25. 9. 1930, in: P. Bucher, Der Reichswehrprozeß, 1967, S. 276 f. - Aufschlußreich dazu sind einige Reden Mussolinis , vgl. u.a. die Bde. XIX, X X u. X X I der „Opera omnia" (Florenz 1956), S. 46 ff., 61 ff., 137 f f ; auch: V. Pareto , Legalità (zuerst April 1923), in: ders., Scritti sociologici minori, Turin 1966, S. 1174-1179; Μ. Tarchi, La Rivoluzione legale, Florenz 1991. 19 Vgl. Kl. Rüffler , Vom Münchner Landfriedensbruch bis zum Mord von Potempa. Der „Legalitätskurs" der NSDAP, 1994 20 Bes. schwankend Groener, dazu: J. Hürter , Wilhelm Groener - Reichswehrminister am Ende der Weimarer Republik (1928-1932), 1993, u.a. S. 224 f., 285 f f , 314 f., 322 f. 21 G. Krauss , Legalität und Legitimität des Hitler-Regimes (1948), in: P. Tommissen, Hrsg., Schmittiana VI, 1998, S. 313-323, 316.
„La légalité tue'4 - Einige Bemerkungen
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Dies vermag freilich die dazu autorisierte Stelle; dort räusperte man sich gelegentlich, um schließlich zu schweigen.
IV. Hitler verfügte über eine so einfache wie triftige Auffassung von der Weimarer Verfassung: „Die Verfassung schreibt uns die Methoden vor, nicht aber das Ziel", erklärte er am 25. September 1930 im Reichswehrprozeß, und Goebbels stellte am 5. Februar 1931 im Reichstag fest: „... nach der Verfassung sind wir nur verpflichtet zur Legalität des Weges, nicht aber zur Legalität des Ziels" 22 . Das war angewandter Anschütz. Der einflußreichste Kommentator der WRV hatte noch im Februar 1933, als sein Werk „Die Verfassung des Deutschen Reichs" in der 4. Bearbeitung und der 14. Auflage erschien, entschieden und mittels Sperrdruck erklärt, daß an der WRV „alles ohne Unterschied des Inhalts und der politischen Tragweite " 23 geändert werden könne. Daß eine Begrenzbarkeit der Verfassungsänderung sinnvoll sein kann, hat Anschütz sehr wohl gewußt, doch unmißverständlich erklärt: „Diese Lehre darf vielleicht die Eigenschaft einer de lege ferenda beachtlichen politischen Forderung beanspruchen. De lege lata ist sie abzulehnen. Sie findet im geltenden Recht keinen Anhalt" 24 . Das war ohne den geringsten Zweifel der entscheidende Punkt. Anschütz dachte an die Möglichkeiten einer entsprechend zusammengesetzten Legislative, in der es die zur Verfassungsänderung notwendige Mehrheit gab („... die Verfassung (steht) ..„nicht über der Legislative, sondern zur Disposition derselben"); seine Ausführungen galten also nicht für den 30. Januar 1933, als Hitler erst einmal Chef eines Präsidialkabinettes wurde, aber sie ließen sich durchaus auf den 5. und den 24. März 1933 beziehen, auf die Reichstagswahlen und das Ermächtigungsgesetz. Zwar stimmt es, daß der Art. 76 WRV nicht auf die Weise wirksam wurde, wie es viele befürchteten und viele hofften, daß also, verkürzt gesprochen, die viel erörterten 51 vH. die 49 vH. ausschlossen und legalisierten 25 , dennoch kann kaum behauptet werden, daß der Art. 76 WRV 1933 eigentlich keine Rolle mehr spielte: Das Ermächtigungsgesetz wurde im 22 So Hitler im Reichswehrprozeß, zit. b. Bucher, s.o. Fn. 18, S. 270; Die Rede Goebbels' in: Ursachen und Folgen, VIII, Die Weimarer Republik. Das Ende des parlamentarischen Systems, o. J., S. 138-142, hier S. 141. 23 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., 1933, S. 403. In der 3. und 4. Aufl., 1926, findet sich diese Stellungnahme noch nicht. 24 G. Anschütz, s.o. Fn. 23, S. 405. Ähnlich Anschütz in einem Brief an Schmitt v. 16. 7. 1930. 25 Vgl. Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, S. 33; auch in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 286.
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Wege des Art. 76 WRV beschlossen, und die innerpolitische Entwicklung ab 1929/30 wurde von seiner Existenz und seiner einzig korrekten Interpretation mitbestimmt.
V. Den bekannten Einwänden Carl Schmitts gegen Anschütz und ähnlich denkende Autoren, nämlich daß hier „die Wertneutralität eines nur noch funktionalistischen Legalitätssystems bis zur absoluten Neutralität gegen sich selbst (geht) und ... den legalen Weg zur Beseitigung der Legalität selbst (biete)", daß die Neutralität hier bis zum Selbstmord getrieben werde 26 , zuzustimmen, ist das eine. Das andere aber war, dieser Verfassung nicht nur einen veränderungsfesten Kern zuzuschreiben, sondern diesen auch noch zum Ausgangspunkt einer ganz anderen, autoritären Verfassung zu erklären 27; einen Kern, über dessen konkrete Beschaffenheit Schmitt, so wortreich wie elegant, nur wenig zu sagen wußte. Gerade die Suche nach diesem Kern bzw. dessen definitive Bestimmung hätte einen keineswegs nur akademisch bleibenkönnenden Streit entfacht. Betrachtet man das „durchaus bekenntnislose Weimarer System" (Gustav Adolf Walz) und die ihm zugrundeliegenden liberal-demokratischen Ideen näher, so darf man feststellen, daß die WHV „niemals Ernst gemacht hat mit einer positiven Endentscheidung"28 und daß die herrschende Lehre, die implizierte, daß es keine verfassungswidrigen Ziele, sondern nur verfassungswidrige Mittel und Wege gäbe, genau zutraf. Was dem Text der Verfassung in so vollständigem Maße fehlte, ließ sich in diese nicht hineinsehen und konnte ihr durch keine noch so kühne Deutung eingefugt werden; Brechstangen waren dazu besonders ungeeignet.
VI. Zwei besonders schwerwiegende Indizien sowohl für Hitlers Legalität als auch für die These, daß Legalität ein Gelten ist und kein Sein, erheischen noch
26
Schmitt, s.o. Fn. 25, S. 50 bzw. S. 301. Sicher ging es Schmitt 1932 nicht um die Rettung der Weimarer Verfassung gegen Hitler, sondern um eine „andere autoritäre Ordnung" gegen Hitler, dazu treffend D. Grimm, Verfassungserfüllung - Verfassungsbewahrung - Verfassungsauflösung, in: H. A. Winkler, Hrsg., Die deutsche Staatskrise 1930-1933. Handlungsspielräume und Alternativen, 1992, S. 183-199. 27
28 G. A. Walz, Das Ende der Zwischenverfassung, 1933, S. 10. Vgl. auch Walz' zutreffende Kritik an Schmitt, ebd., S. 9-13.
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Beachtung: zum einen das Ergebnis der am 20. Januar 1933 im Reichswehrministerium stattgefundenen Besprechungen über die Maßnahmen, mittels derer Hitler im letzten Moment von der Macht ferngehalten werden sollte, zum anderen das Verhalten der SPD, der größten verfassungstreuen Partei, die, im Gegensatz zum Zentrum, gegenüber der NSDAP durchgehend mißtrauisch blieb und sie auch, was heute gerne vergessen wird, durchaus hartnäckig bekämpfte. 29 Der im Reichswehrministerium erörterte Vorschlag, den Reichstag bei drohendem destruktiven Mißtrauensvotum aufzulösen und die Neuwahlen auszusetzen wie auch der Plan einer Zwangsvertagung durch die Exekutive wären via Art. 48 Abs. 2 WRV nicht zu rechtfertigen gewesen. Der dritte Ansatz: ein destruktives Mißtrauensvotum zu ignorieren und die Regierung durch den Reichspräsidenten zu bestätigen, war sicher weniger bedenklich. Doch er beruhte auf einer höchst gewagten Interpretation des Art. 54 WRV und der Vorwurf des Verfassungsbruchs wäre auch hier laut geworden 30. Entweder eine Regierung Papen-Hitler oder eine Regierung Hitler-Papen, - oder ein Staatsstreich, den man „Staatsnotstand" genannt hätte. Nota bene hätte Hitler auch hier - nicht zum erstenmal! - als Hüter der Verfassung posieren können 31 . Wo der Rekurs auf eine erst - so mühsam wie bestreitbar - zu interpretierende Verfassung nicht gelingt und wo man vor der Beherzigung von Louis Bonapartes Maxime „Sortir de la légalité pour rentrer dans le droit" zurückschreckt, muß man der Legalität dessen Reverenz erweisen, den man zuvor mittels der Festlegung auf die Legalität entweder in die Enge treiben, oder provozieren, oder zähmen wollte. Verfügt der Verfassungstexi nicht über eine gewisse Evidenz und robuste Eindeutigkeit, können die Bemühungen um seine Aus-Deutungen dem Willen zur rettenden Tat nicht den damals für notwendig geglaubten Surplus hinzufügen. Nimia suptilitas injure reprobatur.
29 Außerordentlich reiches Material dazu bei: W. Pyta, Gegen Hitler und für die Republik - Die Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit der NSDAP in der Weimarer Republik, 1989. 30 Diese „Vortragsnotiz" betr. „Vorgehen gegen den Reichstag" ist abgedruckt bei: E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, III, 1966, S. 587; Th. Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP, 1962, S. 488 f.; V Hentschel, Weimars letzte Monate, 1978, S. 159 f.; vgl. dazu: H. Worm , Legalität und Legitimität - Eine fast vergessene „Vortragsnotiz" aus dem Reichswehrministerium, Der Staat, 1/1988, S. 7592. 31
Vgl. Hitlers Briefwechsel mit Brüning im Januar 1932 über die parlamentarische Verlängerung der Amtszeit des Reichspräsidenten, bes. den Brief Hitlers v. 18. 1. 1932 mit seinen Ausführungen über den Vorrang der Volksabstimmung über jede, auch eine verfassungsändernde Mehrheit des Reichstags, in: E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, IV, 3. Aufl., 1991, S. 508 ff. - M.W. ist noch ungeklärt, wer Hitler damals verfassungsjuristisch beriet, - Hans Frank? 14 FS Quaritsch
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VII. Der Sozialdemokratie erschien eine Diktatur Schleicher bedrohlicher als eine legale Regierung Hitler, und damit verwarf sie das Wort Friedrich Eberts: „Wenn der Tag kommt, an dem die Frage auftaucht: Deutschland oder die Verfassung, dann werden wir Deutschland nicht wegen der Verfassung zugrunde gehen lassen!" 313 Die Partei glaubte mehrheitlich, daß Hitler rasch abwirtschaften werde, so wie das auch Teile der national-konservativen Rechten und die Kommunisten glaubten. Wie diese beiden Gruppen sah auch sie sich als baldigen lachenden Erben. Jahrelang hatte die SPD die Überzeugung kultiviert, daß die NSDAP, nicht zuletzt wegen ihres abstrusen Programms und ihrer ideologischen Unausgegorenheit an der Legalität zerbrechen müsse; einmal an der Macht, müsse sie ihre Anhänger enttäuschen: die ihr bis dahin so nützliche Vieldeutigkeit und Beliebigkeit werde sie dann nicht mehr aufrechterhalten können, ihre Wähler würden sich verlaufen. Nur ein Putsch könne sie an die Macht bringen 32 . Stets bemüht, die Illegalität der NSDAP und deren Ambition auf den Putsch zu beweisen, fühlte sich die SPD lange Zeit sicher, da ihr die beträchtliche Stärke des Weimarer Staates, insbesondere des sozialdemokratischen „Bollwerks" Preußen, was die Polizei und die Möglichkeiten zur Repression anlangte, - eine Stärke, die sich beträchtlich von der des italienischen Staates vor 1922 unterschied -, bewußt war. Nur wenige Sozialdemokraten waren so hellsichtig wie der Kölner Wilhelm Sollmann, der aus seinen nur einige Wochen umfassenden Erfahrungen als Reichsinnenminister im Krisenjahr 1923 (v. 13.8.- 3.11.1923) die richtigen Schlüsse gezogen hatte: „Wer diese Panzertürme der Staatsgewalt erobern und ftir sich einsetzen will, muß ihre Besatzung kommandieren, also legal in sie eindringen .... Der Nationalsozialismus, der das begriffen hat, scheint mir eine viel größere Gefahr zu sein als der lächerliche Putschismus des Jahres 1923" 33 .
Stattdessen machte sich die Ansicht breit, daß, falls Hitler überhaupt legal an die Macht gelange, er sich durch Wahlen aus dieser wieder vertreiben lasse, eine Hoffnung, die sogar noch im Hinblick auf den 5. März 1933 gehegt wurde 34 . Die vermeintliche Putsch-Partei, einstweilen zwar nicht durch Wahlen, 31a
O. Gessler, Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit, 1958, S. 324. Dazu W. Pyta, s.o. Fn. 29, bes. S. 266 f f ; auch S. 180 f. 33 Zit. nach Pyta, s.o. Fn. 29, S. 95. 34 Immerhin erklärte der preuß. Landtagsabgeordnete der SPD Rudolf Leiner am 25. 3. 1931, daß Hitler zwar die Macht „legal erobern, aber ... illegal gebrauchen" wolle (bei Pyta, S. 95). Realistischer war man in diesem Punkt meist nur in Gruppierungen links von der SPD, vgl.: K. L. GerstorJf[= d.i. der der SAP zugehörige Fritz Sternberg], Illusionen über Hitler, Weltbühne 1931, S. 950-954. Daß Hitler aus der Regierung nicht legal herausgehen werde, wurde hier jedoch auf die mit Sicherheit eintreffende Enttäuschung der Mittelschichten mit seiner Regierung zurückgeführt: Hitler könne dann nur mit einer Verstärkung des Terrors antworten. 32
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aber via Reichspräsident nicht weniger legal an der Macht, verwandelte sich ftir die SPD flugs in einen bloßen Mit-Träger eines Präsidialkabinetts, eines zwar noch unangenehmeren als die bisherigen, aber eben eines Präsidialkabinetts mehr, in dem zudem Hugenberg und Papen das Sagen vor Hitler hatten, - w e i l das neue Geld und die alte, feudale Elite doch machtvoller sein mußten als eine diffuse Massenbewegung, als ein zusammengewehter Staub. Hitler erschien immer noch als der nützliche Idiot, als der er ab 1923 unentwegt dargestellt wurde. A m 30. Januar 1933 schrieb der „ V o r w ä r t s " in der Abendausgabe unter dem Titel „ H i t l e r - Papen - Kabinett - „Feine Leute" und drei Nazis - Kabinett des Großkapitals": „Der Reichspräsident hat mit der Ernennung dieser Regierung die furchtbarste Verantwortung übernommen, die jemals ein Staatsoberhaupt übernommen hat. Er steht dafür, daß diese Regierung den Boden der Verfassung nicht verläßt und daß sie sofort zurücktritt, wenn sie eine Mehrheit im Reichstag nicht erhält. - Würde ein Versuch gemacht werden, diese Minderheitsregierung, deren Feindschaft gegen die Verfassung offenkundig ist, auch ohne Zustimmung des Reichstags im Amte zu halten, so wäre eine Situation gegeben, die vom arbeitenden Volke die Einsetzung letzter und äußerster Kräfte erfordert ... Sieg oder Untergang hängt von der Bereitschaft und der Geschlossenheit des arbeitenden Volkes in diesem, vielleicht für Jahrzehnte entscheidenden Augenblick ab. Jedes Vorpreschen einer einzelnen Arbeiterorganisation birgt die Gefahr in sich, daß sie das Gegenteil ihrer Absicht erreicht und den schlimmsten Feinden der Arbeiterklasse zum Siege verhilft ... . Die Mächte des Großkapitals werden in dieser Regierung ausschlaggebend sein. Sie werden sich arbeiterfeindlich auswirken. Inwieweit sie faschistische Experimente für vereinbar mit ihren Geschäften halten, muß die nächste Zukunft lehren. Die nächste Zukunft muß auch zeigen, ob die Eide auf die Verfassung, die teils schon geleistet, teils noch zu leisten sind, auf dem Weg zum offenen Faschismus ein wirkliches Hindernis darstellen. ... Gegenüber dieser Regierung der Staatsstreichdrohung stellt sich die Sozialdemokratie und die ganze Eiserne Front mit beiden Füßen auf den Boden der Verfassung und der Gesetzlichkeit. - Sie wird den ersten Schritt von diesem Boden nicht tun. Sie wird vielmehr durch Ausnutzung aller verfassungsmäßigen und gesetzlichen Mittel den all erschärfsten Kampf gegen diese Regierung führen. Sie überläßt die Verantwortung für den Ausbruch eines Ringens, das beiderseits nicht mehr mit den normalen Waffen des politischen Kampfes geführt werden sollte, ausschließlich ihren Gegnern. - Der Reichskanzler Hitler will, wie es heißt, heute nachmittag die Verhandlungen mit dem Zentrum aufnehmen. Nur das Zentrum kann ihm die Möglichkeit einer länger dauernden legalen Amtsführung gewähren. Verweigert es sie ihm und findet er im Reichstag keine Mehrheit, so muß er abtreten. Tut er das nicht, so ist der äußerste Konfliktsfall gegeben .... Die Situation ist voller Gefahren. Sie birgt aber auch die Möglichkeit einer überraschend schnellen günstigen Entwicklung in sich. - Wir wissen, daß an ihrem Ende der Sieg der Arbeiterklasse, der Demokratie und des Sozialismus steht. Er ist vielleicht näher, als mancher denkt! Kaltblütig, zuversichtlich und, wenn es die Sache der Freiheit fordert, zu letzten Opfern bereit, gehen wir der Zukunft entgegen, die unser sein wird trotz alledem" 35!
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14*
Vorwärts, 30. 1. 1933, Abendausgabe, S. 1.
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Damit hatte man dem Feind schon signalisiert, auf welchem Boden und wie man kämpfen würde. R u d o l f Breitscheid erklärte tags darauf im Parteiausschuß: „ ... Wenn Hitler sich zunächst auf dem Boden der Verfassung hält und mag das hundertmal Heuchelei sein, wäre es falsch, wenn wir ihm den Anlaß gäben, die Verfassung zu brechen, ganz abgesehen davon, daß wir in demselben Augenblick die widerstrebenden Kräfte innerhalb des Kabinetts zusammenschweißen würden. Wenn Hitler den Weg der Verfassung beschreitet, steht er an der Spitze einer Rechtsregierung, die wir bekämpfen können und müssen, mehr noch als die früheren; aber es ist dann eben eine verfassungsmäßige Rechtsregierung. - Man wird den Einwand erheben, Hitler denkt nicht daran, auf dem Wege zu bleiben, er wird die Verfassung brechen. - Der Einwand mag allzu berechtigt sein. Aber die Konsequenz ist die, daß wir alles zu tun haben, um für den Augenblick dieses Verfassungsbruches gerüstet zu sein. „Dann ist es zu spät", wird man sagen, „dann hat die Regierung inzwischen die Möglichkeit gehabt, unseren Aktionen Schranken zu setzen". Aber wenn wir heute etwas unternehmen: Glaubt ihr, daß nicht in derselben Minute von Seiten der Regierung alles geschehen würde, um uns durch das Verbot von Zeitungen und Versammlungen, durch Hindernisse aller Art unsere Aktionsfähigkeit zu rauben? ... Bereit sein ist alles! ... für alle Organisationen der Arbeiterschaft, insbesondere für Partei und Gewerkschaft (ist) der Moment gekommen ..., in dem sie sich in ernsten Beratungen darüber klarwerden müssen, was unsererseits zu geschehen hat in dem Augenblick, wenn Hitler die demokratische Maske abwirft ... . Für diese Entscheidungsstunde gilt es bereit zu sein. Für diese Entscheidungsstunde gilt es die Kräfte zu sammeln. Zu früh losschlagen hieße nur die Lebensdauer des Gedankens der „Autorität" verlängern .... Wir müssen alles tun, um im einzelnen gerüstet zu sein für die Stunde, in der wir gerufen werden" 36 . M i t dieser Aktionsfähigkeit war es spätestens am 28. Februar 1933, mit den Verordnungen des Reichspräsidenten, v o r b e i 3 7 ; die SPD hatte auf den offenen Verfassungsbruch gewartet, den Hitler nicht beging. Was aber mag in komplexen Gesellschaften so selten sein wie ein eindeutiger Verfassungsbruch? Die Partei war zum Opfer des seit Kautskys Zeiten von ihr gehegten Traumes einer ganz eigenen, friedlich-„legalen" Revolution geworden, die durch die „Entw i c k l u n g " eines Tages von selber fällig würde; sie behauptete, eine revolutionäre Partei zu sein, die aber keine Revolution „mache" bzw. machen dürfe, da diese durch die Entwicklung der Ökonomie und des Klassenantagonismus unausweichlich sei 3 8 . Die Partei hatte nichts aus dem italienischen Beispiel ge-
36 Sonderdruck d. SPD-Vorstandes, Berlin, Februar 1933. - Zu Breitscheid damals: P. Pistorius, Rudolf Breitscheid. 1874-1944. Ein biographischer Beitrag zur deutschen Parteiengeschichte, Diss. Köln 1970, S. 291 ff. 37 Es handelte sich um die Verordnungen „zum Schutz von Volk und Staat" (Reichtagsbrandverordnung) und „gegen Verrat am Deutschen Volke und hochverräterische Umtriebe", in: I. v. Münch, Hrsg., Gesetze des NS-Staates, 3. Aufl., 1994, S. 63 ff. Für den realen Besitz der Macht waren diese Verordnungen sicher bedeutsamer als das Ermächtigungsgesetz. 38 Vgl. K. Kautsky, Der Weg zur Macht, Berlin 1909; bes. aber das viel kritisierte Hauptwerk: Die materialistische Geschichtsauffassung, 2 Bde., Berlin 1929.
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lernt, das „Italia docet" galt ihr nichts, die Einsicht des Großmeisters aller parlamentarisch-legalen Finessen, Giovanni Giolitti, schlug sie in den Wind: „Ich verdanke Mussolini die Erkenntnis, daß ein Staat sich nicht gegen das Programm einer Revolution verteidigen muß, sondern gegen ihre Taktik" 39 . Stattdessen strapazierte sie die Phrase, daß „Berlin nicht Rom" und „Hitler nicht Mussolini" sei 40 . Gerade wegen des Marschs auf Rom und die die Gewaltanwendung der SA beträchtlich übertrumpfenden Übergriffe der Squadre d'Azione übersah sie, daß auch Mussolini eine legale Revolution betrieben hatte. Wenn SPD-Intellektuelle wie Hermann Heller, der die italienische Szene bestens kannte 41 , prahlerisch verkündeten, man sei willens, die „Weimarer Verfassung ... mit der Waffe in der Hand" 42 zu verteidigen, hätten sie, abgesehen davon, daß man für Relativitäten kaum sein Blut vergießt, einmal fragen müssen, ob denn genügend Waffen vorhanden seien. Vor allem aber mußte man genau wissen, wann denn die Verfassung gebrochen sei. Diese Art von Verfassungsfetischismus 43 war ganz auf einen, imaginären Punkt gerichtet und insofern in einem verqueren Sinne dezisionistisch. Sieht man von der Frage ab, ob das Notverordnungsregime und die Auflösung des Gesetzgebungsstaates nicht eine klare Bestimmung der Grenze der Legalität bereits unmöglich gemacht hatten, ja, ob der Begriff nicht einfach hinfällig geworden sei, sieht man ab von den unzähligen Ergänzungen, Erweiterungen, Aufhebungen, Substitutionen, Verdrängungen, Suspensionen, Hemmungen, Lähmungen, Durchbrechungen, Überschreitungen, Auflösungen usw. der Verfassung ab, die zu unterscheiden und zu gewichten das harte Brot der späten Jahre des Weimarer Verfassungsrechtlers waren: wenn man sich schon an die These der Bestimmbarkeit der Grenzen der Legalität band, dann konnte nur eine klare Bestimmung dieser Grenzen zur Tat ermutigen bzw. überhaupt erst befähigen. Der Sozialdemokrat
39 Mitgeteilt von Curzio Malaparte, Technik des Staatsstreichs, 1968 (erste dt. Ausg. 1932), S. 160. - Das Buch übte 1932 einen großen, eher desorientierenden Einfluß aus: weil M. die Schlagkraft der SA überschätzte, delektierte er sich an Hitlers Unfähigkeit zum Putsch und übersah seine legalen Möglichkeiten. Die seit 1931 kurrente These, Hitler habe weder Talent für die Legalität (so des öfteren die „Weltbühne") noch ftir die Illegalität bzw. gewaltsame Revolution (so Ernst Niekisch) wurde von M. noch einmal bekräftigt. 40 Vorwärts, 8. 2. 1933; hier anknüpfend: E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, in: ders./R. Morsey, Hrsg., Das Ende der Parteien 1933, 1960, S. 101-278. 41 H. Heller, Europa und der Fascismus, 1929; Ndr. in: ders., Gesammelte Schriften, II, Leiden 1971, S. 463-609. 42 H. Heller, Freiheit und Form in der Reichsverfassung (Rede zur Verfassungsfeier 1929), nachgedruckt in: ders., Gesammelte Schriften, s.o. Fn. 41, S. 371-377, 377. 43 „Verfassungstreue darf niemals zum Verfassungsfetischismus werden, wenn nicht im Ergebnis das Einstehen für die Demokratie die unbewußte und tragische Mitarbeit bei deren Beseitigung sein soll", schrieb Ernst Fraenkel in s. Aufsatz „Verfassungsreform und Sozialdemokratie", Die Gesellschaft, 11/1932, S. 486-500, 491.
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Otto Kirchheimer, klug und einflußlos, hatte ab ca. 1930 erkannt, daß der „Funktionsmechanismus der Legalität infolge von Änderungen im sozialen Kräfteparallelogramm" 44 leerlief, so daß legitimes revolutionäres Handeln notwendig wurde. Doch woher sollte die SPD, deren Geschichte Kirchheimer kannte, die Kraft dazu gewinnen? Wieso sollte es obendrein noch möglich sein, wie Kirchheimer es forderte, daß „in die revolutionäre Legitimität die zu bewahrenden Inhalte des positiven Verfassungsrechtes" einflössen und die so „konzipierte Legitimität ... ein politisches Programm (entwerfe), das konsensfähig sein (müsse) durch die sozialen Klassen hindurch" 45 ? Auch das war nur eine hochgestochene Variante einer Revolution mittels der berühmten 51%, die im Zukunftsstaat ihre Aufstockung erfahren würden, eine Variante des crapulösen Glaubens an einen sanft verfahrenden Blitz der Vernunft, der endlich in den naiven Volksboden einschlüge.
VIII. Natürlich kann das Warten auf die bestimmte Stunde, zu der man gerufen wird, sinnvoll sein, natürlich gibt es den politischen Kairos 46 . Doch auf ihn vertrauen darf nur eine Partei, die auch Öl auf der Lampe hat, die wirklich bereit ist, weil sie jenseits von Legalität und Illegalität steht, die fähig ist, der Romantik der Illegalität ebenso zu entgehen wie dem legalen Kretinismus, für die die Frage von Legalität und Illegalität eine rein taktische ist, die sich innerlich von der existenten Rechtsordnung gelöst hat. Wie ein wirklicher Revolutionär sich zur Legalität zu verhalten habe, nämlich bloß utilitaristisch, hatte Lenin 1920 konkret-politisch, Georg Lukäcs im gleichen Jahr philosophischpsychologisch erläutert; Hitler begnügte sich 1925 mit einer oberflächlichen, doch deutlichen Bemerkung en passant47.
44
So V. Neumann, Verfassungstheorien politischer Antipoden: Otto Kirchheimer und Carl Schmitt, in: Der Unrechtstaat II - Recht und Justiz im Nationalsozialismus, 1984, S. 31-50, 47. Die entsprechenden Aufsätze Kirchheimers in den Sammelbänden: Politik und Verfassung, 1964; Politische Herrschaft, 1967; Funktionen des Staats und der Verfassung, 1972; Von der Weimarer Republik zum Faschismus, 1976. 45 S.o. Fn44. 46 Inwieweit die Überlegungen des religiösen Sozialisten und SPD-Mitgliedes Paul Tillich zum Kairos mit der in der Partei vorherrschenden Mentalität vereinbar oder unvereinbar waren, ist einer Prüfung wert. Vgl. Tillich , Der Widerstreit von Raum und Zeit, 1963, S. 9-28, 29-41 (Schriften aus d. Jahren 1922 u. 1926). 47 Lenin, Der „linke Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus, 1920, in: ders., Ausgewählte Werke, III, 1970, S. 388-485; Lukacs , Legalität und Illegalität
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A l s Friedrich Engels 1895, f ü n f Jahre nach dem Ausgang des Sozialistengesetzes, für die SPD erklärte, daß die Legalität deren Gegner töten werde, während sie selbst „ b e i dieser Gesetzlichkeit pralle Muskeln und rote Backen bekommen und aussehen (würde) wie das ewige L e b e n " 4 8 , war dies für den M i t begründer des Historischen Materialismus, der inzwischen eine sozialistische legale Revolution für möglich hielt, ein Bekenntnis zur Legalität als Taktik. Die Partei war zu diesem Zeitpunkt freilich schon dabei, die Legalität als Prinzip zu umarmen 4 9 . Schloß sie in ihren Anfängen illegales und gewaltsames Handeln nicht aus, so fühlte sie sich alsbald nur noch zur Gewaltanwendung berechtigt, wenn die Gegenseite sich einer via Majoritätsbeschluß geforderten Umwälzung widersetze; bereits 1875, im Gothaer Programm, wollte sie ihre Ziele nur noch „ m i t allen gesetzlichen M i t t e l n " erreichen 5 0 . I n der Halb-Legalität des Soziali-
i i 920), in: ders., Geschichte und Klassenbewußtsein, 1923, S. 261-275; Hitler, Mein Kampf (Teil I v. 1925), 464. - 468. Aufl., 1939, S. 104; vgl. Carl Schmitt (-Dorotic), Die Diktatur, 1921, S. VI; Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft (143/44), 1950, S. 32 (auch in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 425 f.); Anhang zu: Das Problem der Legalität (1950), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 450. - Man sollte aber die Legalitätstaktik der Kommunisten (= Anwendung legaler und/oder illegaler Mittel je nach Lage) von der Legalitätsstrategie Hitlers unterscheiden (= weitestgehendste Bevorzugung legaler Methoden bei gleichzeitiger Infiltration der gesellschaftlichen Eliten sowie Vorbereitung auf den späteren, eigenen Staat durch die „Aufbauabteilung" Hierls 1930/32) und ebenso an das beträchtliche „Legalitätsgefalle" zwischen den Kommunisten und den Nationalsozialisten denken: den ersteren konnte man allenfalls konzedieren, daß sie in bestimmten Fällen die Legalität nicht verletzten, den letzteren nahm man z.T., trotz ihrer klaren Ankündigungen, ab, daß sie „insgesamt legal" (hier in einem wenig juristischen Sinne wohl identisch mit „vernünftig", „maßvoll" o.ä.) waren. Eine nationalsozialististische Machtergreifung galt vielen als - der Komparativ sei gestatttet - „legaler" als eine kommunistische, weil die mit ihr einhergehenden Verfassungsänderungen nur von relativer Bedeutung seien und „nicht an die politische Existenz des Volkes als solches" rührten; Kommunismus impliziere aber die Zerstörung der „gesamten Grundlagen der bisherigen volklichen Ordnung", nämlich des Privateigentums, der Ehe und der Verbindung mit der Religion, so O. Koellreutter, Parteien und Verfassung im heutigen Deutschland, FS Richard Schmidt, 1932, S. 107-139, 115. 48 F. Engels, Einleitung zu Marx' „Klassenkämpfe in Frankreich", s.o. Fn. 11, S. 525. 49 Die - natürlich gewissen Schwankungen ausgesetzte - Entwicklung schildert E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, IV, 2. Aufl. 1982, S. 1144-1190, bes. S. 1187 („Legalität als Taktik oder als Prinzip?"). 50 Huber, s.o. Fn 49, S. 1151; vgl. Marx' Polemik, Kritik des Gothaer Programms (geschrieben 1875, publiz. 1890/91) in: MEW, 22, 1962, S. 11-32 („Seine politischen Forderungen enthalten nichts, außer der aller Welt bekannten demokratischen Litanei: allgemeines Wahlrecht, direkte Gesetzgebung, Volksrecht, Volkswehr etc Es sind lauter Forderungen, die ... bereits realisiert sind. Nur liegt der Staat, dem sie angehören, nicht innerhalb der deutschen Reichsgrenze ... das ganze Programm, trotz alles demokratischen Geklingels, ist durch und durch vom Untertanenglauben der Lasalleschen Sekte an den Staat verpestet oder, was nicht besser, vom demokratischen Wunderglauben, oder vielmehr ist es ein Kompromiß zwischen diesen zwei Sorten, dem Sozialismus gleich fernen, Wunderglauben." S. 29, 31).
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stengesetzes zwischen 1878 und 1890 hatte die Partei von der Legalität geträumt; nicht so sehr als von einer „vergifteten Waffe, die man dem politischen Gegner in den Rücken stößt" 51 als von einem diesen allmählich lähmenden, seinen Willen zersetzenden Gift. Diese Noch-Revolutionäre wollten nicht so sehr mittels der Legalität töten, sondern glaubten, daß diese für sie töten würde, - so starben sie an ihr. Als Ordnungsparteiler wieder auferstehend, starben sie einige Jahrzehnte später wieder an der Legalität; inzwischen waren sie unbewaffnet (weil seit dem Juli 1932 ohne Polizei) und nicht einmal Propheten. Friedrich Engels' auf seine Partei gemünztes Wort hätte 1933 ein Nationalsozialist mit größerem Recht sagen können: „Wir die „Revolutionäre", die „Umstürzler", wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und bei dem Umsturz. Die Ordnungsparteien, wie sie sich nennen, gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen Zustand".52. Die legalen Revolutionäre von 1933 verstanden es freilich, in ihren Reihen die Bereitschaft zur Illegalität am Leben zu erhalten, sei es, um zu drohen, sei es, daß man sie duldete, um die radikalen Kräfte nicht zu verlieren. Aber sie sahen sich nicht gezwungen, die Gewaltintensität der „combinazione" Mussolinis erreichen zu müssen.
IX. La légalité tue - das klang schon bei Félicité Lamennais an, als dieser 1829, in der Endphase der Juli-Monarchie, die Aufspaltung des Rechts in Legalität und Legitimität wie ihre von nun an stets mögliche Konfündierung erkannte und die Folgen auf eine freilich erst sehr allgemeine Art und Weise voraussah: daß es mit der einen, geglaubten Legitimität vorbei sei und die jetzt obsiegende Willkür menschlichen Setzens und Machens den Weg in die motorisierte Gesetzgebung und/oder die permanente Revolution öffnete: „Que la souveraineté qu'il [= le gallicanisme, G. Μ . ] appelle légitime , et qui serait nommée plus exactement légale , est inadmissible par son essence; en un mot, que quiconque arrive au pouvoir selon la forme établie par les lois politiques du pays, ne peut plus, en aucun cas, ètre privé de son droit, ou cesser d'etre souverain légitime, füt-il tyran , hérétique, persécuteur, impie ; qu'il n'est jamais permis ni de se soustraire à son empire, ni d'opposer à ses volontés une resistance active, et qu'à quelque degré qu'il opprimat le peuple, le peuple éternellement serait tenu de souffrir I'oppression, par l 'ordre de Dieu" 53.
51
C. Schmitt, Kommentar zu „Das Problem der Legalität" (1950), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 450. 52 F. Engels, Einleitung ..., s.o. Fn. 11, S. 525.
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Wenige Seiten danach bemerkte Lamennais: „Elle [= la royauté, G.M.] a cessé d'etre legitime , selon le sens chrétien du mot, pour devenir simplement légale : de sorte que renverser la souveraineté, c'est renverser un ordre légal, et non pas un ordre divin; car il n'y a d'ordre divin, sous l'empire du christianisme, qu'en Jésus-Christ et par Jésus-Christ, à la fois Pontife et Roi. Il appartieni aux princes surtout d'examiner ce qu'ils ont gagné à ce changement' 04 . Die legale Revolution sah der Bretone - der einige Jahre später, nachdem er sich m i t der Kirche überwarf, die revolutionäre Legitimität entdecken sollte noch nicht, aber schon die Möglichkeit der unentwegten Zerstörung aller Institutionen und konkreten Ordnungen durch den Gesetzgeber, den Terror „ u n aufhörlicher Neu-Setzungen" (Schmitt). Welche Chancen die legale Revolution jedoch bereits besaß und in Zukunft haben würde, verstand als einer der ersten der dem frühen Lamennais so verpflichtete Juan Donoso Cortés, Botschafter Spaniens in Paris während der Präsidentschaft Louis Bonapartes. Seine Depesche v o m 1.8.1851 an seinen Außenminister wurde in der Donoso-Forschung bisher ignoriert, vermutlich w e i l sie von einer der seltenen Fehleinschätzungen des großen Prognostikers begleitet war. Im Umkreis Louis Bonapartes hegte man damals Pläne, daß dieser, obgleich nach der Verfassung v o m 4. November 1848 nicht direkt wiederwählbar, dennoch für die Wahlen 1852 kandidieren solle, - dann werde man sehen. Ein solcher Versuch hätte den Bürgerkrieg heraufbeschworen. Donoso Cortés wußte zwar u m die Pläne zum Staatsstreich, den Spanien, aufgrund seiner Bemühungen, finanziell unterstützen sollte, entschlug sich aber für einen M o m e n t dieses Wissens als er schrieb: 5 5 „Die Gewißheit seines Sturzes [= dem Louis Bonapartes, G.M.] ergibt sich aus folgenden Überlegungen: wird der Präsident wiedergewählt, wäre dies gegen das Gesetz, würde er aber auf diese Weise wiedergewählt, wäre die Legalität auf seiten der Revolution und noch nie wurde eine Revolution überwunden, die die Legalität auf ihrer Seite hatte. Die Geschichte lehrt ..., daß die Legalität die Revolution unbesieglich macht, während sie umgekehrt die legitimen Regierungen verwundbarer macht. Ich sah viele Regierungen untergehen, die zu verteidigen der schwache Schild des Gesetzes nicht mächtig genug war; doch sah ich nie ..., daß jemals eine Revolution existierte, die nicht unbesieglich war, wurde sie von diesem schwachen Schild verteidigt. Diese Vermählung der Revolution mit der Legalität, diese Vereinigung
53 Des progrès de la revolution et de la guerre contre l'église (1829), in: Oeuvres de Μ. Γ Abbe F. de Lamennais, II, Brüssel 1830, S. 115-220, 129. Dazu Schmitt, Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft (1943/1944), 1950, S. 31, auch in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 424. Ähnliches läßt sich schon einige Jahre früher, so bei Fabre d'Olivet und bei Bonald, finden. Zu Lamennais und dem Auseinandertreten von Legalität und Legitimität: W. Gurian, Die politischen und sozialen Ideen des französ. Katholizismus 1789/1914, 1929, S. 127 f.; Th. Würtenherger jun., Legitimität, Legalität, in: Geschichtliche Grundbegriffe, III, 1982, S. 677-740, hier S. 715 ff. 54 Oeuvres ... s.o., S. 142; vgl. auch d. Aufsatz „Des doctrines de l'Avenirzuerst Avenir, 7. 12. 1830, in: Oeuvres completes, X, Paris 1836/37, p. 196-205, 197 f. 55 J. Donoso Cortés , Obras completas, II, Madrid 1970, p. 812.
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der moralischen mit der revolutionären Kraft, ist stets verhängnisvoll. Ja, noch mehr: während legitime Regierungen untergehen, die eine unbezweifelbare und klare Legalität besitzen, genügt den Revolutionen, um zu siegen, eine zweifelhafte Legalität. In Frankreich verschaffte 1830 eine zweifelhafte Legalität der Revolution den Sieg ... Die absurde Interpretation eines einzigen Verfassungsartikels verlieh Spanien 1840 der Revolution eine unüberwindliche Kraft; ohne den Vorwand, daß das Munizipalgesetz, in den Cortes verabschiedet, der Verfassung widerspreche, hätte es General Espartero niemals gewagt, Gewalttaten zu begehen und eine Revolution zu entfesseln ..." 56 . Louis Bonaparte entging diesem Schicksal durch den Coup vom 2. Dezember 1851; die zahllosen, verblüffenden Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen ihm und Hitler, den die Reichswehr „ A d o l p h e Légalité" taufte, enden hier: er hatte die Verfassung gegen sich und den V o l k s w i l l e n für sich, Hitler hatte den V o l k s w i l l e n und die Verfassung für sich. M i t dem Coup vom 2. Dezember 1851 gelang Louis Bonaparte, wie Donoso Cortés in einer weiteren Depesche am 10. Januar 1852 feststellte, die Unterdrückung von vier Revolutionen: der von 1789, der von 1830, der von 1848 und der von 1852, die eine legale Revolution hätte sein können, es gelang ihm „die Unterdrückung des Liberalismus, der sein Prinzip in der ersten fand; die Unterdrückung des Parlamentarismus, der seinen Ursprung in der zweiten hatte; die Unterdrückung des Republikanismus, der in der dritten restauriert ward; die Unterdrükkung des Sozialismus, der mit der vierten auf die Welt gekommen wäre" 57 . Der Staatsstreich unterdrückte präventiv die Revolution und den Bürgerkrieg, ebenso aber auch die sich schon abzeichnende „legale Revolution". Seit Lamennais' und Donoso Cortés Tagen ist diese, unter welchen Masken und in welchen Verpuppungen auch immer, stets m ö g l i c h 5 8 . Zwar stimmt es, daß die Formel, präzise-juristisch betrachtet, „als metaphorische Redeweise verstanden werden" kann (Dietrich Murswiek) bzw. sogar muß. Aber „legale Revolution" ist auch ein politischer B e g r i f f und politische Begriffe sind amorph, man denke nur an „ M a c h t " , „ K r i e g " oder an „ R e v o l u t i o n " selbst. Unter modernen Bedingungen kann es immer aufs Neue zum Widerstreit von Legalität und Legitimi56 Dazu u.a.: L Sdnchez Agesta, Historia del constitucionalismo espaftol (18081936), cuarta edición, Madrid 1984, S. 223 ff.; J. L. Cornelias, Historia de Espana contemporanea, 5.a edición, Madrid 1996, p. 164 f. - Nachdem die Königinmutter u. Regentin Maria Cristina in den Cortes eine Ley de Ayuntamientos durchsetzte, gem. der die Krone die Ernennung der Bürgermeister kontrollieren sollte, erhoben sich die progresistas unter General Espartero u. zwangen die Regentin zur Abdankung und zur Flucht nach Paris, wo, 1840-43, Donoso ihr wichtigster Ratgeber war. Das Gesetz bedrohte die starke Stellung der progresistas in den Großstätdten; vgl. u.a.: M. Ballbé , Orden publico y militarismo en la Espafla constitucional (1812-1983), 2.a edición, Madrid 1985, p. 127-133. 57 S.o. Fn. 55, p. 845. 58 Das gilt selbst für den Art. 79 GG, der ja zur Verhinderung einer legalen Revolution konzipiert wurde. Inzwischen ist er durch den Maastrichter Vertrag weitgehend ausgehöhlt.
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tät kommen wie zu ihrer Konfundierung; in revolutionären Situationen schließlich zu ihrer Trennung, die nicht zwangsläufig illegal-gewaltsam überwunden werden muß. Eine „lückenlose" Legalität wird zwar eine Fata Morgana bleiben und es wird zur Einmischung anderer, gewaltsamer Mittel kommen. Doch von diesen wird, wie Triepel meinte, „abgesehen werden" müssen. - Zumindest die Ereignisse in Frankreich 1830, in Spanien 1840, in Italien 1922, in Deutschland 1933, in Frankreich (Vichy) 1940, in Spanien 197659 lassen sich mit diesem paradoxen Begriff erfassen und verdienten eine vergleichende Betrachtung.
59 Zu Vichy: R. Schnur, Die Ermächtigungsgesetze von Berlin 1933 und Vichy 1940 im Vergleich (Tübinger Abschiedsvorlesung am 8. 2. 1993). - Die Ähnlichkeit der Methoden der legalen Revolution von 1933 und der spanischen „Demokratisierung" nach Francos Tod beweist: J. Zafra Valverde, La revolución „legal" en Espafla, in: Estudios en homenaje al Profesor Diego Sevillas Andrés, II, Valencia 1984, p. 10871109.
Monarchie, politique et théologie chez Marcel Regamey Par Jean-Jacques Langendorf
I. Un monarchiste par génération spontanée Dans la nuit du 22 au 23 juin 1982 s'éteignit à Epalinges, dans le canton de Vaud, en Suisse, Marcel Regamey, dans sa septante-sixième année. Dehors un orage violent faisait vibrer les vitres et courbait les arbres du jardin. Avec cet homme disparaissait, en plein solstice d'été, un des penseurs politiques, et aussi penseur tout court, le plus considérable de la Suisse romande du 20e siècle. L'abord de son oeuvre n'est guère aisé car elle compte plusieurs registres mais «le noeud essentiel de la vie de Marcel Regamey pourrait bien avoir été tissé de trois fils - musical, politique et religieux C·.)»1 avec des ramifications vers la jurisprudence, la littérature et l'histoire. Marcel Regamey, né le 19 aoùt 1905 à Lausanne, avait pour pére un gros boucher, notable dans la cité. Ce radicai, franc-ma9on, sous-officier dans l'armée de milice, est une force de la nature, grand tueur de bovins et aiguiseur de couteaux. Son fils, au physique comme au moral, se situe aux antipodes. C'est un chétif, un malingre, un maladif - mais à l'arne trempée dans l'acier (Ne s'écria-t-il pas, la septentaine passée: «Ah! J'étais méchant, autrefois; aujourd'hui je m'amollis, c'est pitoyable... ») 2 qui a hérité la finesse et la dignité, physique et intellectuelle, de sa mère, née Alice Grasset. Sa vie durant il puisera sa force dans la prière, donnant l'exemple d'une foi personnels très impressionnante et dans la musique, qu'il pratiquera jusqu'à son dernier souffle. Très tòt, et c'est bien là une singularité, dans ce canton de Vaud et dans cette Suisse qui se considèrent alors comme «une quintessence de république», l'enfant se découvre la fibre monarchiste. «J'avais peut-ètre trois ou quatre ans. Accompagné de ma bonne, j'ai vu dans une vitrine un tableau qui m'a horrifié. On 1 Jean-Jacques Rapin , «Marcel Regamey et la musique» in: Le chemin de Marcel Regamey. 1905 - 1982. Sa vie, ses écrits, son action. Textes réunis par W. Hentsch, Cahiers de la Renaissance vaudoise, CXVI, Lausanne, 1989, p. 161. 2 William Hentsch , «Esquisse biographique», in Le chemin de Marcel Regamey. Sa vie, ses écrits, son action. Textes réunis sous la direction de W. Hentsch, Cahiers de la Renaissance vaudoise, CXVI, Lausanne, 1989, p. 43.
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y voyait des révolutionnaires brandissant au bout d'une pique, devant les fenètres de la reine Marie-Antoinette emprisonnée au Temple, la tète de la princesse de Lamballe décapitée (...) C'est de là que date mon horreur de la Révolution.»3 En grandissant, il devient un ètre à part, se nourrissant d'idées abstraites ou des rudes réalités que lui transmettent les livres d'histoire. Il commence à jouer excellemment du piano et... de la musique à bouche. Il se forge une devise grecque - il a alors environ treize ans - Dieu, le Roi et moi qui ne tardera pas à devenir, plus modestement, Dieu , le Roi et... .« (...) La devise de l'enfant évoque, relève son biographe, déjà l'un avant l'autre les deux ordres spirituel et temporei, Dieu et César, que l'adulte distinguerà soigneusement sans les opposer, ainsi que la valeur unique de chaque personne humaine... deux fìiturs fondements de l'action et de la pensée de Marcel Regamey.»4 L'adolescent, qui a treize ans au moment de l'armistice, développe déjà - le fait est assez rare pour ètre mentionné - une intelligence politique. La grève générale paralyse la Suisse et la machinerie qui conduira au «Diktat» de Versailles est en train de se mettre en place. Regamey comprend alors que le remplacement des vieilles monarchies par un «ordre nouveau» eher aux rèveurs wilsoniens relève de l'illusion et du charlatanisme et que le «chemin de Genève» n'est qu'un vulgaire cul-de-sac. Avec quelques camarades, il fonde en mars 1919 l'A.I.M., l'Association Internationale Monarchiste. Il s'agit d'un phénomène de génération spontanée car les jeunes gens ignorent à cette époque là l'existence de Maurras et de Léon Daudet et sont persuadés qu'il n'existe plus aucun mouvement royaliste en France. «Hostiles au principe mème qui a inspiré la Révolution: l'optimisme individualiste et sa formule politique de la souveraineté du peuple [ils] trouvèrent chez les maitres fransais de la contre-révolution [...] les principes de l'empirisme organisateur, qu'ils s'efforcèrent d'appliquer aux problèmes de la politique suisse et vaudoise.»5 On ne pouvait mieux aller à contre-courant. L'Association s'occupe surtout de dresser des généalogies des anciennes maisons régnantes et se consacre à l'héraldique, le jeune Regamey se sentant un peu comme un roi régnant sur ses sujets. Mais bientot surviendra la découverte, «extraordinaire» dira-t-il, de l'Action frangaise de Maurras. Au gymnase il aura des maitres de qualité comme le grand helléniste André Bonnard ou l'essayiste et écrivain Edmond Gilliard, à l'esprit caustique et acéré. Mais lorsque le directeur de l'institution, Edouard Payot, donne sa Ιβςοη d'histoire et évoque avec des trémolos dans la voix «La liberté, l'égalité et la fraternité» l'adolescent et ses amis ne peuvent réfréner un fou-rire. De nombreuses lectures lui permettent de mieux cerner ce qu'il n'avait fait qu'entrevoir: Pascal, Maistre, Bonald, Taine, Maurras. Son premier semestre, il le passe à la faculté des lettres de l'université 3
William Hentsch (ann. 2), p. 13. William Hentsch (ann. 2), p. 17. 5 M. Regamey , «Note sur le mouvement de la Renaissance vaudoise» in Cahiers de la Renaissance vaudoise, X X X I V - X X X V , avril 1953, p. 141. 4
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de Vienne. Mais ce qu'il y recherche, c'est moins les legons de professeurs plus ou moins éminents que le contact avec la musique et, surtout, avec Mozart, son compositeur de prédilection. Car il est également mélomane dans l'äme; il chante, il est excellent pianiste, la musique est son oxygène.
II. Une revue et une thèse En juin 1926, Regamey attire sur lui l'attention du public. A la suite d'une polémique entre deux journaux lausannois, l'un de gauche, l'autre de droite, le rédacteur de ce dernier avait affirmé que «cesser d'ètre démocrate... c'est cesser d'etre Suisse». Aussitòt Regamey et deux de ses amis envoient une lettre au journal, dans laquelle ils affìrment que l'on peut ètre un bon citoyen suisse tout en combattant le régime de la pseudo-souveraineté populaire. La polémique s'étant amplifìée dans la presse de Suisse romande, Regamey prend position à nouveau dans un texte intitulé L'ordre dans l'Etat qu'il publie dans le N° 1 d'une revue (qui sera aussi parfois une collection) intitulée Ordre et Tradition , entretiens politiques, philosophiques et littéraires qui allait devenir à partir de 1935 Les Cahiers de la Renaissance vaudoise. Pour lui, la démocratie est devenue une forme creuse, vidée de toute substance car ses tenants déclarent qu'elle n'a plus de parenté ni avec le suffrage universel, ni avec la souveraineté populaire. «La croyance en la souveraineté du peuple, mythe imbécile, mais qui était la base morale de notre organisation politique est abandonné par ceux-là mème dont la raison d'ètre serait de la maintenir.» 6 A partir de là, Regamey se pose la question: comment fonder l'autorité politique? L'homme vit en société, certes, mais il est également animé de passions anti-sociales qui tendent à la destruction de la société. Un pouvoir conservateur doit, par conséquent, protéger cette dernière contre les passions mauvaises et centrifuges. «Avant de se développer, il faut ètre, et pour ètre et durer, il faut pouvoir réagir contre les innombrables causes du désordre et les réprimer.» 7 Si le pouvoir dépend des individus et des partis, l'indépendance de sa souveraineté est menacée par le principe électif mème. Il convient done de revenir au principe héréditaire qui est «le mode naturel de la transmission de l'autorité politique: de mème que la société se perpétue de génération en génération, de mème le pouvoir souverain, son organisme protecteur, doit, s'il veut ètre adéquat à sa fonction, échapper à la mort des individus et reposer si possible dans une famille. Autant la famille qui dure est socialement supérieure à l'individu qui passe, autant le gouvernement héréditaire est supérieur au gouvernement électif.» 8 Mais il y a des peuples qui, de6
Nous empruntons les citations de Regamey à l'étude de André'Manuel, «La pensée politique et philosophique de Marcel Regamey» (ann. 2), p. 48. 7 Cahiers de la Renaissance vaudoise (ann. 2), p. 49. 8 Cahiers de la Renaissance vaudoise (ann. 2), p. 49.
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puis des siècles, ne possèdent plus aucune dynastie nationale, assumant la continuité. Ainsi ce canton de Vaud, dont est originaire Regamey, n'en possède plus depuis les rois rodolphiens et la reine Berthe. Dans ce cas, il convient d'opter pour la cooptation, comme la pratiquaient jadis les villes latines, dites consulaires, Toulouse, Agen, Carcassonne ou Avignon, où les magistrats désignaient leurs successeurs. Avant toute chose, il convient de soustraire l'Etat à l'emprise des partis. «[...]Nous travaillerons inlassablement à enlever des esprits réfléchis, qui forment la partie positive de l'opinion publique, les préjugés démocratiques et les illusions du vote populaire, et nous nous efforcerons de les persuader de la nécessité d'un gouvernement indépendant des partis et ordonné uniquement au bien commun.»9 Ou encore: «Les parlements issus du suffrage de la masse inorganique sont incapables de remplir soit le ròle de l'Etat, soit celui de la représentation nationale. Iis doivent done disparaitre.» 10 C'est dans cette perspective que Regamey et ses amis vont militer, en 1935, pour la suppression du Conseil national, le parlement helvétique. L'affiche demandant sa fermeture sera d'ailleurs interdite. Face au pouvoir souverain, les individus possèdent des droits qui découlent de la loi, qui est elle-mème l'expression de la volonté souveraine. L'Etat trouvera exclusivement ses interlocuteurs, expression de la représentation nationale, dans les délégués des families et des communes, dans les mandataires des corporations professionnelles et dans les corps intellectuels car «les parlements issus du suffrage de la masse inorganique sont incapables de remplir soit le ròle de l'Etat, soit celui de la représentation nationaie. Iis doivent done disparaitre.» 11 En 1929, Regamey soutient sa thèse de doctorat consacrée à La Protection de la Personnalité en droit civil, essai de critique et de synthèse. D'emblée, il avertit ses lecteurs qu'il utilisera parfois le vocabulaire d'Aristote et de saint Thomas d'Aquin. Recourir à une telle référence dans le conformisme d'un cadre universitaire «c'était déjà faire montre d'indépendance réactionnaire.» 12 La thèse de Regamey est simple et tranchée: On a voulu conférer à la personne des droits particuliers, qui lui seraient inhérents. Il s'agit là d'une tentative qui place l'individu au centre du monde juridique et subordonne tout à son libre développement. «Ce qu'a fait la 'Déclaration des droits de l'Homme et du Citoyen' à l'égard de l'Etat, elle prétend le faire sur le terrain du droit privé. Mais, considérée dans son application, elle apparait au contraire comme une conception antiindividualiste, mème socialiste du droit. L'individu comblé de droits nombreux
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Cahiers de la Renaissance vaudoise (ann. 2), p. 51. Cahiers de la Renaissance vaudoise (ann. 2), p. 54. 11 Cahiers de la Renaissance vaudoise (ann. 2), p. 54. 12 André Manuel , «Une dissertation de 1929: 'La Protection de la Personnalité en droit civil, essai de critique et de synthèse'» in Mélanges Marcel Regamey , Cahiers de la Renaissance vaudoise, N° CU, Lausanne, 1980, p. 160. 10
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et étendus ne peut en effet les faire valoir en justice sans qu'autrui n'en conteste la limite ou invoque un droit symétrique pour les paralyser. L'individu a un droit à la vie, à l'honneur, au libre exercice de sa profession, etc., mais le juge peut déclarer légitime la lésion de ses droits. L'individu a tous les droits, mais sitòt qu'il en use, il peut s'entendre dire qu'il en abuse. Comme dans l'Etat collectiviste, la propriété n'est aux mains de l'individu qu'un précaire, de mème l'existence et l'étendue des droits de la personnalité sont entièrement dépendants du sentiment individuel du juge, qui n'est lié à aucune règie précise.» Ainsi toute le doctrine est vouée à l'échec: «[...] D'une idée théoriquement fausse, il n'y a rien à attendre de bon pour la pratique. Dire que la personne est à la fois et sous le mème rapport objet et sujet de droit, c'est en définitive nier un des deux termes dont la relation constitue le droit subjectif.» 13 La vaine théorie des droits inhérents à la personne s'oppose à la conception traditionnelle pour laquelle «les droits sont limités, mais, à l'intérieur des limites du droit, la personne est souveraine; elle n'a pas à tenir compte de l'intérèt ou de la volonté d'autrui. Dans la théorie des droits inhérents à la personnalité, les droits civils sont au contraire illimités, l'individu est en principe absolument libre. Cette liberté est commune à tout justiciable; c'est un domaine public où tout le monde est théoriquement propriétaire du tout, mais où personne ne peut prétendre agir comme bon lui semble. Ces deux conceptions du droit sont inconciliables et ne peuvent subsister simultanément; l'une ne peut se réaliser qu'au détriment de l'autre. [...] Si l'on veut renforcer la personnalité, il faut avant tout préciser et délimiter l'objet du droit, car plus ce droit est défini, plus la personnalité est libre dans sa sphere. Vordre précède et fonde la libertà,» 14 Mais désormais les droits inhérents à la personne, flous, imprécis, mal délimités, drapés dans la formule creuse de la dignité humaine, sont devenus de véritables métastases qui occultent la pensée juridique: droits du nourrisson, droits de l'enfant, droit à l'amour, droit à l'épanouissement sexuel, droit au bonheur...
III. L'empirisme organisateur D'une certame manière, la Dissertation de 1929 clòt un épisode, que Γοη peut qualifier de «romantique», dans le destin de Regamey et d'Ordre et Tradition. Dès cette époque, Regamey, devenu avocat, se place dans la perspective de l'empirisme organisateur, reprenant ainsi une idée chère à Maurras. Il convieni d'observer les faits, de cerner les rapports qu'ils entretiennent et de les analyser, de ne jamais négliger l'usage de la raison qui «doit ètre d'abord un filtre. D'un sentiment brut, d'une réaction affective, elle doit faire une volonté
13 14
Marcel Regamey (ann. 12), pp. 162-163. Marcel Regamey (ann. 12), pp. 166-167.
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intelligente, qui explore la chaine des causes et des effets et étende les clartés de la raison à ce qui nous est contraire, au lieu de le rejeter de prime abord, et, l'ayant assimilé, le corrige ou, si cela n'est pas possible, en accepte la coexistence, comme on dit aujourd'hui.» 15 Les critères établis, hors de l'arbitraire, permettent de décréter certains effets désirables et bonnes les causes qui les font naitre. «[...]Les sociétés humaines sont régies par des lois objectives, indépendantes des variations de l'opinion; normes de droit naturel déterminant la raison d'etre et la fin de la cité, lois positives fixant les conditions de la durée et de la propérité de la société humaine en général et de telle société en particulier. Les faillites de l'idéalisme et du subjectivisme se succédant à intervalles rapprochés depuis 1919 nous ont confirmé dans notre position de départ et, aujourd'hui comme il y a vingt ans, nous conservons toute notre fidélité à la pensée de l'homme que de pseudo-juges ont condamné à la prison perpétuelle pour avoir eu constamment raison.» 16 L'ètre humain, privé de tous ce qui lui a été tranmis par les morts - moeurs et traditions - n'est qu'une abstraction vidée de sève. L'ordre humain ne trouve sa plus haute et durable expression que dans la patrie qui est l'incarnation d'un ordre national. Cet ordre n'est pas nivelleur car les individus qui diffèrent entre eux possèdent chacuns une vérité complexe. Au contraire il est rassembleur et organisateur, s'abreuvant à une conception bien concrète et réelle de la nation. Mais depuis la Révolution et les Lumières l'idéalisme politique et la philosophie démocratique ont masqué la réalité en la romantisant. «C'est le romantisme qui refuse de se donner pour ce qu'il est, c'est-à-dire pour l'expression du drame subjectif empruntant tout juste assez au langage pour se rendre communicable. Le romantisme de la Révolution prétend s'ériger en message universel. C'est pourquoi il se recouvre d'abstractions. Ces abstractions prétendent légitimer le refus du réel concret et la revendication temporelle du bonheur. Elles peuvent étre explosives. La Révolution est une conspiration systématique des révoltes individuelles masquées de raison universelle.» 17 Et cette «romantisation» se double d'une mythification. Comme le relève Pierre Rochat, un des commentateurs avertis de la pensée de Regamey, «au lieu d'édifier ses conceptions sur le terrain solide des faits, de les fonder sur les vérités qu'enseigne l'expérience et l'histoire au sujet de la naissance des sociétés politiques et du ròle décisif qu'y joue le pouvoir, la philosophie démocratique établit son système sur la fiction rousseauiste d'un contrat entre individus souverains dont naitraient l'Etat et son pouvoir; et s'il lui arrive de concéder qu'il s'agit là d'un mythe, elle n'en reste pas moins attachée à toutes les conséquences qu'elle a tirées plus ou moins logiquement de cette vue de 15 M. Regamey , «Le Mythe du Golfe», Cahiers de la Renaissance vaudoise, N° X X X V I , 1960, p. 39. 16 M. Regamey , «Action libre, déterminisme moral et pian providentiel» in Cahiers de la Renaissance vaudoise, N° X X X - X X X I , Octobre 1948, pp. 7-8. 17 Μ. Regamey , «Le Mythe» (ann. 15), p. 38.
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l'esprit [...] Ce mépris des vérités toutes relatives que constituent l'expérience politique - relative parce qu'étroitement dépendantes des conditions qui règnent dans tei lieu à telle époque - , ce dédain du facteur «temps», cette suprématie accordée aux idéees abstraites, aux a priori philosophiquement sans liens avec les nécessités concrètes d'une communauté, tout cela est à l'origine de l'état de choses actuel.»18
IV. Pour un nouveau régime En bonne logique Regamey va done s'efforcer de définir, dans le Cahier N° 9 de janvier 1929, une doctrine d'intèret et d'ordre nationaux qui formeront désormais la pierre angulaire de sa réflexion. Il commence par souligner la spécificité de la Suisse en général et de la Suisse romande en particulier. Nous avons affaire là ni à une «patrie», ni à une nation, comme les autres grands pays européens, mais à une société volontaire, unie par un lien contractuel. Ce qui, en définitive, constitue le ciment de la Suisse, c'est son armée: «La Suisse est une armée et n'est en sommes que cela [...] C'est ce qui rend l'antimilitarisme si dangereux chez nous. L'armée disparue, il n'y aurait plus de Suisse.»19 Regamey dresse ensuite un tableau des différents régimes possibles, décelant l'existence de régimes à gouvernement personnel (Rome, Byzance à partir de Doclétien, Napoléon), de régimes despotiques à gouvernements républicains (les républiques modernes s'inspirant des principes de la Révolution fransaise), les régimes féodaux à gouvernements seigneuriaux, les régimes féodaux à gouvernement républicain (les cantons primitifs de la Suisse), les régimes modérés à gouvernement personnel (ou régimes monarchique) et enfin les régimes modérés à gouvernement républicain (la république de Berne). Regamey constate que c'est sous les gouvernements républicains «purs» que les libertés sont le moins assurées. Pour la Suisse la cassure a eu lieu en 1798 avec la fin de l'ancienne Confédération provoquée par l'invasion des troupes du Directoire. Dès lors, et jusqu'à Γ Acte de Médiation de 1803, le despotisme républicain et centralisateur a régné sur le pays. Quant à la Révolution libérale de 1830, qui affirme la souveraineté populaire, elle consacre en règie générale un régime étatique et despotique. Ainsi Regamey inverse délibérement la perspective historique qui est celle des libéraux. Eux qui se considèrent comme les paragons des vertus progressistes, les voici taxés d'étatistes et de despotes. Quant à l'Ancien Régime, honni et abhorré par toute une historiographie républicaine, il est présenté comme le modèle le plus apte à garantir les libertés personnelles. La question qui se pose ensuite est de savoir quel sera le régime qui conviendra le 18
P. Rochat , «Principes», Cahiers de la Renaissance vaudoise, N° X X X I V - X X X V , avril 1953, pp. 77-78. 19 A. Manuel , «La pensée...» (ann. 2). p. 61. 15*
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mieux au Pays de Vaud. Pour Regamey, il doit s'agir d'un régime modéré, propre à assurer intérèts locaux et intéréts professionnels. Des délégués des communes, groupés dans une chambre, voteront l'impòt en disposant d'un nombre de voix proportionnel au montant des sommes versées à l'Etat par ses commettants. Une chambre cantonale pour l'agriculture et le vignoble, une pour les artisans et le commerce, une pour l'industrie et une pour les professions libérales représenteront les corporations proportionnellement au nombre de leurs membres. Réunies, elles forment les Etats de Vaud. En cas d'unanimité, elles peuvent s'opposer à toute loi touchant les particuliers ainsi qu'à tout changement dans la constitution. Si Regamey considère l'instauration d'un tei régime comme possible dans le canton de Vaud, c'est précisément en raison de la spécificité de son histoire et de sa tradition, qui diffère fortement de celle du reste de la Suisse. La monarchie bourguignonne et la monarchie savoyarde ont faςοηηέ un Etat cantonal dont le républicanisme n'est pas le fondement. S'il vaut, précisément en raison d'autres traditions historiques, pour le reste de la Suisse, il n'est pas applicable aux Vaudois. Il en résulte qu'un seul magistrat détiendra le pouvoir souverain («tout puissant dans son ordre» comme dit Regamey). «Son pouvoir sera viager et non héréditaire en droit. Désigné la première fois par le pouvoir de fait, qui abdiquera en ses mains, il choisira lui-méme, sitòt entré en charge, son successeur présomptif et soumettra son choix à la ratification des communes et des corporations.» 20 Ce gouverneur et chef de l'Etat pourra ètre trouvé parmi les militaires qui possèdent encore le sens de l'ordre et de l'intérèt national. Il nomme et révoque les fonctionnaires, ses conseillers et les directeurs de département formeront le Conseil d'Etat possédant un droit de veto législatif et constitutionnel. Regamey, dont la perspective n'est nullement sécessionniste, n'oublie pas que le canton de Vaud fait partie de la Suisse. Mais pour lui, il s'agit de donner une valeur particulière à cette entité par rapport au reste du pays et ce qui doit compter, c'est le nationalisme vaudois. «Nous avons affirmé l'existence d'un Etat vaudois non contre la Suisse mais comme une autre Suisse, antérieure à la Confédération des vallées et des villes, et complémentaire [...] Nous avons vu dans le Pays de Vaud, l'héritier et le résidu de l'Helvétie romaine, persuadés que la Suisse, issue de ses communautés médiévales, mèlant en une seule notion la commune, la corporation et l'Etat, a besoin pour son équilibre d'un pays territorial où la distinction est nette entre l'Etat et le peuple, entre l'autorité et les libertés.» 21 L'exécutif fédéral - le Conseil fédéral - doit se transformer, aux yeux de Regamey, en une simple autorité technique chargée d'assurer l'application des mesures arrètés par les Etats. Le Conseil des Etats («Ständerat») est maintenu car il représente les cantons et sa fonction est 20
A. Manuel (ann. 2), p. 67. M. Regamey , «La Patrie et l'Univers», La Nation, N° 810, 11 janvier 1969, reproduit in La Piume de Marcel Regamey, Cahier de la Renaissance vaudoise, N° CXVII, Lausanne, 1989, p. 62. 21
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essentielle. En revanche, le conseil national («Nationalrat») expression de la démocratie parlementaire est supprimé. Dans cette perspective, «reconstituer dans l'Etat un Ordre, composé de Vaudois dévoués au bien public et unissant les deux vertus cardinales de la vraie politique, la liberté et la fidélité, la liberté dans le conseil, la fidélité dans l'action [...] point essentiel du programme d'Ordre et Tradition.» 22 Les analyses, les réflexions, les prises de position de Marcel Regamey sont multiples car rien de ce qui est humain ne lui est étranger. Il ne peut ètre question de les analyser toutes dans un cadre aussi restreint. Ne retenons que celles concernant l'économie. Si Ton veut que la libre concurrence ne dégénère pas en anarchie, il faudra que les intéressés acceptent de se soumettre à une autorité. L'Etat ne peut intervenir, sous peine de transformer cette économie en une économie semi-collectiviste. Mais d'autre part, les groupements économiques, en développant, grace à la liberté d'association, un réseau serré de privilèges ont transformé le régime de libre concurrence en un régime d'oligopole et parfois de monopole, doté d'un pouvoir quasi étatique. Alors qu'entreprendre pour éviter la pression de l'Etat ainsi que celle de la puissance croissante des associations économiques? «L'Etat doit s'abstenir de légiférer lui-mème; ce n'est pas lui qui fait la règie du jeu. L'Autorité doit veiller en revanche que le jeu, c'est-àdire une utile concurrence, soit favorisée par la règie. Elle doit se réserver absolument la contrainte et interdire aux groupements économiques tout acte de propre justice. Le Pouvoir est le garant de tous les droits, mais il est spécialement le protecteur des isolés, des personnes hors sèrie qui ne trouvent pas chez des pairs l'appui de la confraternité et du corps professionnel. Cette mission si sympathique, l'Etat la remplit spontanément dans les sociétés fortement hierarchisées. Mais si c'est l'Etat qui doit créer la discipline sociale face à une poussiere d'individus, quelle place restera-t-il dans ses préoccupations pour les ètres et les cas d'exception? La société démocratique moderne a réussi a tout brouiller pour avoir méconnu le droit propre de l'autorité, l'avoir rabaissé à la délégation d'une prétendue souveraineté de la masse et posé comme pierre d'angle la liberté individuelle, qui n'est en réalité que le bouquet qui couronne l'édifice.» 23
22
M. Regamey (ann. 21), p. 70. Μ Regamey , «La liberté n'est pas au principe mais à la fin», La Nation, N° 468, 17 novembre 1955, reproduit in La Piume (ann. 21)., pp. 198-199. 23
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V. Un journal Regamey ne va pas se contenter de poser des principes, aussi bons fussentils et d'indiquer des buts. Il va également s'engager concrètement, sur le terrain de la politique vaudoise ou fédérale. Dès le 17 janvier 1931, il publie à Lausanne avec ses amis de toujours Alphonse Marcel et Victor de Gautard le premier numéro de La Nation 24 à laquelle il donnera, jusqu'à sa mort, environ 1300 articles dans lesquels il traite un immense éventail de questions politiques, historiques, juridiques, théologiques, éthiques, morales, voire esthétiques. Dans son premier éditorial, il explique les raisons de cette publication: «Fonder un parti nouveau, comme d'autre l'ont fait, ce serait aggraver la situation. Aussi avons-nous rejeté d'une fagon définitive l'idée de solliciter pour nous les suffrages des électeurs. La Nation ne sera done ni un journal d'opposition ni une feuille gouvernementale. Nous approuverons le Conseil d'Etat [l'exécutif] tant qu'il agira en gouvernement vaudois, nous le blamerons lorsqu'il agira en Organe de parti ou pour se concilier les suffrages du plus grand nombre [...] La Confédération suisse et son armée n'auront pas de défenseurs plus fidèles, mais la centralisation n'aura pas non plus d'ennemis plus acharnés. Ce petit journal est un commencement d'action libératrice. Il a pour ambition de montrer aux Vaudois qu'ils sont une véritable nation, une belle et grande famille qui, groupée autour de son chef naturel, peut se passer de tuteurs étrangers. D'autres trouvent plaisir et profit à faire de la réclame pour eux-mèmes et leur parti, en dénigrant par système les concurrents de la course aux sinécures. Nous trouvons beaucoup plus digne d'intérèt et d'enthousiasme de faire concevoir au pay dont nous sommes nés un ordre nouveau fondé sur son antique tradition et lui ouvrir enfin les portes magnifiques des Destins trop longtemps reculés que sa force et sa beauté lui donnent le droit d'attendre et nous imposent le devoir de lui préparer.» 25 Artide après article, Regamey, en moraliste, fùstige les vices du temps, la malignité du Zeitgeist et les errements de la politique. Quelques exemples: il ne se lasse pas de dénoncer les intellectuels de son canton - et d'ailleurs - qui ne rèvent que de patrie européenne, planétaire, voire cosmique et dont «l'esprit est ici au large pour construire et imaginer librement des lendemains qui chantent! Mais, parti à la recherche de l'universel, les palabres des congrès terminés, il ne trouvera que soi-mème, ses aspirations dégues et, sous la double phraséologie du 'monde libre' et des 'Démocraties pacifiques', l'affrontement des intérèts impériaux.» 26 Il ne passe rien au libéralisme dont «le principe a pour racine un 24 D'abord mensuel, le journal deviendra bi-mensuel par la suite. Au moment où j'écris ces lignes, il se trouve dans sa 69e année et en est à son 1600e numéro. C'est dire que Regamey a trouvé des continuateurs compétents et dévoués. 25 M. Regamey , «Raison d'agir», La Nation, N° 1, 17 janvier 1931 reproduit in La Piume (ann. 21), p. 10.
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scepticisme foncier à l'égard de toutes les fois religieuses. Il est né au XVIIIe siècle de la fatigue des guerres de religion et des disputes dogmatiques. Il supposait par ailleurs une civilisation raffinée comportant une attitude généralement bienveillante à l'égard des hommes qui, pensait-on, allait de soi lorsque les Eglises cesseraient d'allumer le fanatisme théologique. En réalité, ce septicisme se doublait d'un orgueil immense. Avec Rousseau, l'homme nouveau trouvait en lui-méme toute vérité et toute bonté. Doctrine de consommation, ce libéralisme a détruit le dogmatisme chrétien mais a privé la société occidentale de toute morale et de toute politique objectives. Il a jeté les élites et les foules en proie vivante à des dogmatismes nouveaux qui, tout en se prévalant d'une origine libérale, ont détaché brutalement les populations de leurs nourritures psychiques traditionnelles, ne leur procurant en retour que des phantasmes idéologiques.»27 Cette poussée du libéralisme, cette consécration de valeurs dites progressistes, ont non seulement miné tout un patrimoine social mais elles ont rendu les conservateurs timorés. «A mesure que les structures de l'ancienne société s'effilochent et que l'argent devient le commun dénominateur de tous les intérèts, les intérèts se camouflent d'avantage, ils n'osent se révéler ouvertement si ce n'est dans les conseils d'administration et dans les commissions d'experts, mais ils trouvent plus facilement des oreilles attentives car le langage de l'argent est plus accessible au révolutionnaire installé que ne l'est celui des valeurs traditionnelles. Durant tout le XlXe siècle et jusqu'en 1914, les intérèts conservateurs s'avouaient comme tels. Ils étaient sur la défensive mais leur défense était ouverte, lors mème que, sur le plan des idées, la position conservatrice était d'une rare pauvreté. La chute de la Maison d'Autriche a mis fin à cette période intermédiaire. Dès lors il n'y eut plus de position conservatrice avouée. Les conservateurs anglais ne firent que suivre en la freinant la politique radicale de Lloyd George puis des travaillistes.» 28 Il en découle que «le monde actuel est un chaos aux yeux de la jeune génération, nourrie d'une idéologie léthargique sans rapport aucun avec les forces qu'elle voit à l'oeuvre. La notion de bien commun, défaite par le libéralisme, doit ètre recomposée et située soit par rapport aux forces à l'oeuvre soit par rapport à ce qui dépasse toutes choses.»29 Malheureusement raffirmation du bien commun, basée sur l'intervention de la puissance publique et la justice de l'Etat, est devenue impossible en raison de l'apparition des droits de la personne humaine, sacrés et inaliénables, qu'on lui oppose et qui la courcircuitent. Ainsi «l'Etat n'est que l'addition d'individus et n'existe que pour permettre à chacun d'eux de vivre et de se développer selon
26
Μ Regamey , «La Page bianche», La Nation, N° 450, 10 mars 1955, p. 19. Μ Regamey , «La probité de l'esprit, lien commun de l'Occident», La Nation, N° 600, 8décembre 1960, p. 25. 28 M. Regamey , «L'idéologie et les intérèts», La Nation, N° 817, 26 avril 1969, pp. 29-30. 29 Μ. Regamey , «L'idéologie et les intérèts», p. 30. 27
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son orientation, ses intérèts, ses idées et sa volonté propres. A chacun sa conception propre du monde, sa religion, ses opinions politiques ou philosophiques, le ròle de l'Etat consistant exclusivement dans une sorte de voirie étendue pour éviter des collisions qui rendraient la liberté de principe illusoire. Quant aux décisions communes, elles ne peuvent qu'ètre prises à la majorité, aucune opinion individuelle n'étant en soi meilleure qu'une autre dans cette vision de la société. C'est le talon d'Achille du libéralisme. Du pouvoir de la majorité effective ou supposée sont sorties, par une sèrie d'avatars, les diverses formes d'étatisme, de l'Etat-Providence à l'Etat totalitaire.» 30
VI. Dans l'arène Marcel Regamey ne s'est pas battu seulement au niveau des principes. Interpellé par les grands problèmes de l'époque, il a pris des positions militantes. Dès 1933, lui et ses amis animent une campagne contre un arrèté fédéral destinò à augmenter les impòts. A cette occasion, avec les représentants du mouvement «Ordre et Tradition», ils constituent une «Ligue vaudoise» d'action cantonale «indépendante de tous les partis, ay ant pour but la défense des droits du Canton, des communes, et des citoyens vaudois contre les empiètements, usurpations et abus de pouvoir des Autorités fédérales.» 31 Désormais nombreuses seront les initiatives politiques que prendra, non en fonction d'un programme mais d'une doctrine, cette Ligue - et nous n'en citons que quelques unes - qu'il s'agisse de la campagne pour la fermeture du Conseil national, pour la réforme du fise fédéral, contre le code pénal suisse, pour le retour à la démocratie directe, contre la police fédérale, contre toutes les formes de centralisation, d'étatisme ou de technocratic, contre le suffrage féminin, contre l'objection de conscience et contre son remplacement par un service civil. Pourtant, ce passage de la théorie à la pratique, conduisant à la politique politicienne, n'implique-t-il pas un paradoxe? Dans un texte de 195332 qui dresse un bilan des activités de la Ligue Marcel Regamey s'en explique: «Paradoxe que d'avoir pleine conscience des vices de la démocratie et de mettre la main à la pate pour organiser des referendums et des initiatives populaires ou pour suivre dans le détail le travail des assemblées législatives! C'est ce paradoxe qui fait de la Ligue vaudoise le mouvement le plus en harmonie avec l'opinion générale du peuple vaudois dans le concret des questions qui se posent au jour le 30 M. Regamey , «De la notion de personne au eulte des droits de l'homme», La Nation, N° 1158, 15 mai 1982, p. 35. 31 Texte de raffiche s'adressant «Au peuple vaudois» reproduite in Le Chemin (ann. 6), s.p. 32 M. Regamey , «Une Milice et un Ordre» in Cahiers de la Renaissance vaudoise, N° X X X I V - X X X V , avril 1953, pp. 119-140.
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jour et le plus éloigné des préjugés théoriques répandus dans ce mème peuple par cent vingt ans de démocratie [...] 'Vous vous appliquez done à faire durer le régime que vous réprouvez?', Oui, nous nous efforsons de le préserver des plus graves dangers et des conséquences les plus graves de ces vices congénitaux; mais, par cette action désintéressée, nous entrons en contact avec nombre de personnages du pays légal, qui apprennent à connaitre un esprit national bien différent de l'esprit de rivalité qu'ils connaissent dans leur parti, ainsi que les méthodes d'action les moins semblables aux procédés de la politique électorale. Ce contact, ces exemples répandent plus sürement nos conceptions que la meilleure polémique, füt-elle génialement percutante comme celle de Maurras.» 33 Mais si Regamey est descendu dans l'arène politique, il est aussi descendu dans l'arène pédagogique. Non pas qu'il ait enseigné dans une quelconque université - où il aurait fait un brillant professeur de droit - mais parce qu'il sut regrouper autour de lui des jeunes gens qui le retrouvaient une fois par semaine, avec lesquels il s'entretenait et sur lesquels il agissait un peu comme Socrate avec ses disciples. Il a ainsi formé plusieurs générations qui, à leur tour, ont fécondé dans le sens de ses idées, au niveau moral, social ou politique, à travers la fonction publique, l'université, le journalisme la vie du canton de Vaud.
VII. Le temporel et le spirituel Si la réflexion, puis l'action, politiques de Regamey, sont importantes, elle ne constituent toutefois pas l'unique fondement de son édifice théorique qui, pour une bonne part, repose sur une réflexion théologique. Et comment en pourrait-il ètre autrement pour quelqu'un qui s'attache à définir en profondeur la nature du politique? Regamey commence à établir une stricte distinction entre le temporel et le spirituel. Dans une sorte de «griserie d'absolu» nombreux sont ceux qui repoussent cette distinction, dans laquelle ils voient un accomodement. Communistes ou nationaux-socialistes prétendent à la suprématie sur la religion, à une affirmation sacralisée du temporel. De l'autre coté, les écoles d'un Barth, 34 d'un Maritain ou du néo-libéralisme religieux nient la valeur propre et l'autonomie de l'oeuvre temporelle. Entre ces deux camps, nous assistons à un affrontement absolu car l'un comme l'autre se considère comme l'incarnation mème du bien luttant contre le mal. Or et le temporel et le spirituel ont leur 33
Μ Regamey (ann. 33), pp. 128-129. «Depuis Barth, le spiritualisme est mort. Mais en mème temps la foi a été coupée de la raison. On a passé d'une confiscation de Dieu par l'esprit humain au mépris de la raison, don de Dieu. Après l'avoir enfermée en elle-mème, on la séparé de Dieu.» M. Regamey, «Par quatre chemins», Cahiers de la Renaissance vaudoise, N° C, Lausanne, 1980, p. 21. 34
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importance. Le temporel est le monde de la création humaine, «chair et arne, raison et sentiment. Le spirituel, c'est l'univers du Créateur et, dans la création, ce qui dépasse toute nature créée, c'est-à-dire l'action de la grace divine.» 35 A cette distinction entre l'humain et le divin correspond la distinction entre le pouvoir politique et le pouvoir spirituel. Chez les Grecs, les Romains et les Juifs, la religion est celle de la cité, c'est une religion civique et temporelle. Mais l'Evangile révèle «une doctrine vraiment extraordinaire». En effet, «il proclame, fondé sur des faits surnaturels, mais concrets et sensibles, et dont il certifie l'authenticité, une Vérité éternelle et universelle; il révèle une Autorité spirituelle, dégagée de la puissance politique au point de s'affirmer en la personne d'un détenu accusé de sédition et livré au supplice des esclaves [...]» 36 A partir de là, il est aisé de succomber à un angélisme hautain. La nature humaine est misérable et il est vain de tenter d'organiser la société civile et nationale, réduite à n'ètre que «l'économat de la communauté des ämes». Les questions politiques ne sont plus alors examinées que sous l'angle de la «vocation spirituelle» et la religion chrétienne est rendue solidaire d'une action politique et sociale. «En d'autres termes, pour avoir méprisé l'ordre temporel, on en vient nécessairement à compromettre l'ordre spirituel avec un régime temporel et à confondre pratiquement les deux domaines que le christianisme avait séparés.»37 Il convient de se demander sur quelle base le Chrétien qui demeure, mème en politique, sur le pian spirituel collaborerà avec l'incroyant, pour lequel la cité terrestre existe également. «Il sera obligé de faire abstraction du contenu spécifiquement chrétien de l'ordre spirituel dont il voulait ètre le serviteur intransigeant. Le Saint-Esprit, personne divine transcendante, deviendra l'esprit tout court, principe de progrès, immanent à l'humanité ou au cosmos, et cette dégradation de la doctrine évangélique amènera le chrétien totalitaire à faire cause commune avec l'idéalisme révolutionnaire le plus opposé à sa foi [...] La confusion du temporel et du spirituel par le mépris de l'ordre temporel est l'erreur capitale. Le danger qu'elle engendre est permanent et devient aigu à toutes les époques où l'autorité politique ou l'autorité religieuse se relachent d'une rigueur nécessaire.»38 Le temporel est le lieu des institutions qui relient les générations entre elles, le lieu qui engendre un ordre et unit les ètres transitoires. «La société terrestre a une juridiction intégrale sur la nature humaine. Rien de ce qu'est l'homme ne lui échappe. Il n'y a pas de domaine réservé ni pour l'individu, ni pour la per-
35
M. Regamey , «La beauté et les oeuvres du chrétien ou un aspect de la distinction du temporel et du spirituel» in Cahiers de la Renaissance vaudoise, N° 19, 1938, pp. 89. 36 Μ. Regamey (ann. 35), p. 15. 37 M. Regamey (ann. 35), p. 17. 38 M. Regamey (ann. 35), p. 19.
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sonne.»39 De l'autre coté, le domaine du spirituel est le monde de l'Etre qui ne regoit pas l'existence, mais qui est l'existence mème, qui est le monde de Dieu. L'Evangile ne condamne pas la cité temporelle, il la replace simplement dans l'ordre des choses, relatives et contingentes. Le saint appartieni aux deux univers, celui de la grace et celui de la création. En lui, c'est Dieu lui-mème qui pense et qui agit. Possédé par l'Etre parfait, n'ayant rien à acquérir ou à dépenser, il entre également dans l'ordre de la création et du temporel, le limité retrouvant l'illimité. «Les sacrements, centre et raison d'ètre du eulte chrétien, donnent l'idée la plus exaete de l'amplitude infinie du rythme de la vie chrétienne. La présence réelle des Personnes divines sous les apparences des choses les plus nécessaires à l'homme, l'eau, le pain et le vin, consacre et résumé, perpétue et actualise la communion du temps et de l'éternité.» 40
Vili. Liberté et déterminisme Alors que comme Dante il a dépassé «le milieu du chemin de la vie», Marcel Regamey se pose une question d'une extrème difficulté. «Au mouvement naturel de dégradation et de désintégration de la société, il faut opposer le mouvement également naturel de reconstruction et de regroupement des communautés naturelles restaurées. Mais comment ces deux mouvements se composent-ils? Comment peut-on greffer une vie nouvelle sur des organismes en déliquescence? Cela pose la question de la combinaison de l'action personnelle et libre avec les déterminismes psychologiques et sociaux.»41 A cela s'ajoute encore une question supplémentaire: l'apparition de l'arme nucléaire, qui rend possible à tout moment la destruction de la civilisation ne condamne-t-elle pas l'action temporelle à long terme, «à moins toutefois qu'il n'existe un pian providentiel faisant concourir toutes choses à la fin dernière de l'humanité»?42 L'action libre implique une relation de finalité contrairement au déterminisme enchainé à la causalité, la volonté humaine choisissant les moyens par rapport à la fin, dégagée de toute causalité mécanique. Cette liberté transparait le mieux dans la création artistique, musicale en particulier: «La surprise de la création est impressionnante en musique où la nécessité du discours est liée à sa liberté: liberté des éléments subséquents par rapport aux antérieurs; nécessité des antérieurs par rapport aux subséquents, qui nous éclairent au fur et à mesure sur le pourquoi de ce qui vient d'ètre entendu et se trouve déjà passé au moment où le sens
39
Μ. Regamey (ann. 35), p. 28. M. Regamey (ann. 35), p. 36. 41 Μ Regamey , «Action libre, déterminisme moral et pian providentiel» in Cahiers de la Renaissance vaudoise, N° X X X - X X X I , octobre 1948, p. 8. 42 M. Regamey (ann. 41), p. 9. 40
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en apparait.» 43 A coté de cette liberté dans la fiction, qui est également aspiration au beau, il existe un «art de la vie réelle». L'introduction de cette notion est caractéristique pour la préoccupation de Regamey de ne jamais négliger la partie d'un tout qui reflète «dans le plus petit fragment de matière qu'elle pétrit la splendeur de Tètre éternel.» 44 A ce niveau, l'action libre s'exerce dans un champ limité, celui des actes concrets, soumis au déterminisme, qu'il s'agisse de la famille ou de la profession, du temps et de l'espace. A ce triomphe de la liberté dans le concret et le particulier correspond un triomphe du déterminisme dans l'abstrait et le général. Mais comment alors l'ensemble des actes libres peut-il donner naissance à un déterminisme? En fait ce dernier ne se rapporte qu'à des aspects généraux de l'action, «soit à ces conditions géographiques et historiques qui en sont pour ainsi dire le contenant, soit à la part de l'action humaine qui est manquée et entre pour cela mème dans la chaine inexorable du mécanisme physique.»45 Dans le premier cas nous sommes confrontés à des lois hypothétiques - telle fin implique telle condition sans d'ailleurs nécessairement provoquer le résultat attendu - et dans le second le déroulement d'un enchainement, comparable à celui que nous constatons dans la nature, nous permet de prévoir l'évolution d'une manière générale d'une doctrine, d'une institution, voire d'une civilisation qui finissent par acquérir un mouvement propre. «Ainsi de la centralisation administrative dans l'Empire romain et l'Europe occidentale moderne, ainsi de la systématisation du droit positif, ainsi de l'organisation corporative de l'Ancien régime et du syndicalisme moderne. L'orientation est d'abord volontaire et raisonnable; puis elle devient mécanique et néfaste. En fait, hormis les très rares actes humains parfaitement adaptés au réel et orientés exclusivement vers la fin de l'homme, chaque acte est un composé dont la forme intellectuelle et morale n'intègre pas entièrement la matière, de sorte qu'à coté du résultat positif qui met de nouveaux moyens à la disposition de la volonté, il existe un résidu qui lui échappe. Ce résidu, fruit mort de la liberté, amorce le mécanisme soit psychologique ou sociologique, soit économique ou politique, qui, un jour ou l'autre, dévorera les oeuvres vivantes de l'action.» 46
IX. Dérives La raison, par définition, est incapable de découvrir le pian providentiel. Seul le Créateur connait le pian de la création, les humains n'en connaissant seulement ce qu'il a bien voulu leur en révéler. Cela revient à dire que toutes les
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M. M. M. Μ.
Regamey Regamey Regamey Regamey
(ann. (ann. (ann. (ann.
41), 41), 41), 41),
p. 13. p. 14. pp. 21-22. p. 22.
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questions concernant le sens de l'histoire, l'avenir de l'humanité, les contingences qui sont les nòtres sont théologiques et non pas philosophiques. A toutes les époques, les esprits ont succombé à l'illusion de la possible christianisation du monde. On attribue à un manque de foi le désordre des institutions et des moeurs que l'on constate. Il suffirait de croire à la paix entre les empires pour que cette dernière finisse par s'établir. Au XlIIe siècle - pour Regamey «le siècle parfait 47 - on pouvait croire le triomphe de l'Eglise assuré.48 La France avait un saint pour roi, l'Europe se couvrait de cathédrales, la philosophie thomiste triomphait. Mais des dangers encore diffus la menagaient, dangers que Regamey regroupe sous le vocable de «contre-église». Il s'est agi, d'abord souterrainement, des sectes gnostiques et des cabalistes puis, au grand jour, de la philosophie des Lumières, avec toutes les formes qu'elle revèt. Cette contre-église emprunte à l'Eglise l'idée d'absolu. Mais au lieu d'affirmer l'existence d'un Dieu transcendant, dans lequel seul la perfection peut se réaliser, elle place entre les mains de l'homme le bonheur universel, qui fera descendre sur terre le bien, la paix, la justice. «Tandis que l'Eglise crée dans le coeur des disciples du Christ une liberté entière à l'égard des choses de ce monde, la contre-église place les individus, libérés de la «superstition» et des liens des autorités traditionnelles, dans la dépendance la plus totale à l'égard de la volonté collective.» 49 La fagon dont la contre-église se forme à partir du XVIIIe siècle, toute la machinerie qu'elle met en place, est impressionnante. Dans un premier temps, elle établit une véritable forteresse juridique, dirigée contre la royauté et l'Eglise, en proclamant la primauté des «Droits de l'Homme» et en établissant des constitutions. Puis, dans une deuxième étape, elle éduque la masse pour la démocratie, dans les écoles, dans les partis, dans les loges magonniques; les esprits sont purgés afin qu'ils n'obéissent plus aux autorités sociales et religieuses traditionnelles. Enfin, ultime étape, les esprits, ainsi préparés, regoivent les mots d'ordre des détenteurs du pouvoir, en fonction d'idéologies antagonistes. «L'insertion de l'absolu dans la vie des sociétés humaines détruit les bornes que les anciennes disciplines imposaient aux désirs et aux ambitions. La haine et l'envie, débridées, se déchainent sous le masque de l'idéal et entrarne l'humanité dans un mécanisme de mort, dont la rapidité et l'ampleur vont croissant.
47 «Siècle prestigieux où un saint occupe le trone de France, où la sagesse antique et la théologie chrétienne se composent en une synthèse qui n'a jamais été renouvelée depuis lors.» Me. Regamey , «La beauté et les oeuvres» (ann. 35), p. 21. 48 Regamey , qui se dit «protestant vaudois», rejoint à plusieurs reprises des positions catholiques. Ainsi il écrit de la Vierge: «Nous autres protestants, persuadés que vous faisiez écran à l'accès au Christ, nous vous avons éliminée de notre piété, sauf à Noél. Nous nous sommes privés ainsi du sens complet de l'incarnation. Qui pourrait aimer le Christ sans aimer sa mère, comme il l'a aimée.» «Adresse à Notre Dame», La Nation, N° 987, ler novembre 1975 in La Piume (ann. 21), p. 196. 49
«Action libre» (ann. 41), p. 34.
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La vision apocalyptique des dernières générations de l'humanité est beaucoup plus conforme aux effets constatables de la dégradation de la doctrine évangélique, que l'hypothèse du triomphe de l'Eglise en ce monde. Cette dégradation est la réplique inévitable d'une religion qui exige de la personne le détachement compiei d'elle-mème. Il sera toujours plus facile de supprimer l'injustice chez les autres et de transformer la charité en obligation pour autrui. L'humanitarisme avec ses dérivés collectivistes est un produit adultère du christianisme comme le pharisaì'sme était un produit frelaté de l'ancienne foi.» 50 Marchons nous done irrémédiablement vers la catastrophe? L'hypothèse pessimiste va-t-elle triompher? Certes le chrétien authentique a derrière, et devant, lui un long chemin d'épreuves, de tribulations et de persécutions. Mais en définitive elles agissent comme des «moules purificateurs dans le gigantesque chantier de ce monde où le diable lui-mème porte pierre, inlassablement.»51 Examinant le niveau pratique, sondant la voie dans laquelle l'Eglise des années septante s'engageait hic et nunc, Regamey pousse un cri d'alarme devant les aberrations et les dérives de ce qui constitue, globalement, la théologie de la révolution ou la théologie de la démocratisation. Les tenants de ces dernières sont incapables d'établir la distinction entre le libération matérielle et la spirituelle. Pour eux, c'est en s'extrayant de l'aliénation économique comme de la spirituelle que l'homme trouvera Dieu ici-bas en l'intégrant à lui-mème. L'incarnation, la rédemption, la résurrection ne seront plus que des mythes de la société humaine libérée. Ce qu'on exige désormais des Eglises, c'est qu'elles prennent position non seulement dans la politique, mais dans une politique donnée, révolutionnaire. En 1972, la conférence du Conseil oeucuménique des Eglises à Bangkok compose des litanies comme affirmation de la foi, dans lesquelles le grotesque rejoint l'abject: «Tu étais une intellectuelle chinoise qui a abattu les barrières entre toi et l'ouvrier agricole puant le fumier J'exulte avec toi ma soeur! Tu as trouvé dépourvu de sens le langage traditionnel et tu es devenu 'un athée par la grace de Dieu'. J'exulte avec toi, mon frère!»
Et Regamey de commenter: «'Athée par la grace de Dieu', on ne saurait pousser plus loin la confusion et l'aberration.» 52 Sur le pian temporel, l'idéalisme révolutionnaire ne cesse de se répandre et il faut se résoudre à coexister avec lui. «Mais jusqu'à une époque récente, ce faux christianisme n'avait guère
50
«Action libre» (ann. 41), p. 38. «Action libre» (ann. 41), p. 39. 52 M. Regamey , «Evangile et Politique», Cahier de la Renaissance vaudoise N° L X X X V , Lausanne, 1973, p. 52. 51
Monarchie, politique et théologie chez Marcel Regamey
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pénétré dans l'Eglise. La Croix barrait l'entrée. La théologie politique l'a forcée. L'ennemi est dans la place. Une résistance acharnée s'impose; elle exige un retour à la Bible, lue avec simplicité. Citoyen, le chrétien supporterà l'idéalisme révolutionnaire comme un mal inévitable, qui s'attache au contact des réalités concrètes et des responsabilités assumées. Mais dans l'Eglise, l'idéalisme révolutionnaire est l'oeuvre du diable. L'Eglise peut et doit convaincre ses fidèles de leur propre injustice, mais il ne lui appartieni pas de dénoncer l'injustice des autres et son doigt tendu ne peut désigner que le Christ qui òte les péchés du monde.»53 Dans un siècle qui s'est voulu éclairé, qui a placé au pinacle les grandes notions creuses - avec en plus des majuscules - comme «Droits de l'Homme», «Démocratie», «Humanitarisme», «Idéalisme révolutionnaire», qui a laissé s'effilocher le christianisme authentique et la véritable autorité, qui a étouffé dans l'oeuf toute tentative de discussion avec l'introduction de la perverse notion de «politicai correctness» Marcel Regamey aura été le «Mahner», comme disent les Allemands, celui qui jamais ne se lasse, au nom de la raison, de dénoncer les usurpations de la politique, les dérapages du sentimentalisme philosophique et religieux, les contre-sens de l'esprit du temps, les concessions serviles aux modes ou aux puissants du jour. Ce juriste Vaudois et chrétien a eu le courage de dire aux gens de son canton, de son pays et de son siècle ce que par confort intellectuel, conformisme politique ou social, ils refusaient d'entendre. Ou pire encore: ce qu'ils n'avaient encore jamais entendu car personne n'osait leur parler ainsi. En pensant à Marcel Regamey, à ce qui lui conférait dignité et courage, à ce qui faisait tenir debout, l'épée à la main, cet homme chétif, je ne peux m'empécher de songer à ce que Madame Swetchine, convertie au catholicisme par Joseph de Maistre, écrivait: «Qui gardera les gardes? dit un vers latin. Quis custodiet ipsos custodes? - Je réponds: l'ennemi, c'est l'ennemi qui fait tenir debout la sentinelle.»
53
M. Regamey (ann. 52), p. 160.
I I . Fünf Jahrzehnte Grundgesetz: Ansprüche und Herausforderungen
16 FS Quaritsch
Staat und M a r k t in der Verfassungsordnung 1 Von Fritz Ossenbühl
I. Markt als Thema der Verfassung Der Staat beruht auf der Voraussetzung einer funktionierenden Wirtschaft, und die Wirtschaft kann ohne staatlichen Schutz und ohne die Infrastruktur einer staatlichen Rechtsordnung ihren Zweck nicht sinnvoll erfüllen. Dieser Zusammenhang legt die Annahme nahe, daß die Verfassung als rechtliche Grundordnung eines Staates auch das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft zu ihrem Thema macht und darüber eine grundsätzliche Aussage trifft. 2 Doch das Grundgesetz schweigt. Die Bonner Verfassung enthält keine spezifisch ausgeformte Wirtschaftsverfassung, insbesondere keine ausdrückliche grundsätzliche Aussage über die Institutionalisierung der Marktwirtschaft als einer bestimmten Wirtschaftsform. Daß das Grundgesetz keine bestimmte Wirtschaftsverfassung ausdrücklich zum Verfassungsbestandteil erklärt, hat naheliegende entstehungsgeschichtliche Ursachen. Die Schöpfer des Grundgesetzes haben selbstverständlich auch die Wichtigkeit der Wirtschaftsordnung ftir den Staat erkannt. Jedoch bestanden auf den verschiedenen Seiten der verfassungsgebenden Kräfte, namentlich der politischen Parteien, aber auch innerhalb der Parteien selbst, nach dem damaligen Stand der Erfahrungen und Auffassungen unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten über die Ausgestaltung einer Wirtschaftsverfassung, so daß über dieses Thema kein regelungsfähiger Gesamtkonsens erreichbar war. 3 Das Fehlen einer verfassungsrechtlichen Regelung der Wirtschaftsverfassung beruht also nicht auf einem Versehen des Verfassungsgebers, ist keine Lücke im Grundgesetz, sondern als beredtes Schweigen des Verfassunggebers eine „bewußte Nichtentscheidung", ein bewußtes Offenlassen der Wirtschaftsordnung.
1
Abschiedsvorlesung anläßlich der Emeritierung des Verfassers, gehalten am 1. Juli 1999 im Juridicum der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. 2 Zu einer Verfassungstheorie des Marktes: Peter Häberle, Soziale Marktwirtschaft als „Dritter Weg44, ZRP 1993, 383. 3 Vgl. Martin Kriele, Wirtschaftsfreiheit und Grundgesetz, ZRP 1974, 105 ff.
16*
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Fritz Ossenbhl
Zwar hat das Grundgesetz keine bestimmte Wirtschaftsform ausdrücklich in Geltung gesetzt; aber es hat eine Reihe von wirtschaftsrelevanten Einzelregelungen getroffen, die sich der Sache nach als systemkonstituierende Elemente der Marktwirtschaft erweisen und deshalb als Bau- und Ecksteine des Marktes Systemvorgaben darstellen, die verfassungsrechtlich abgesichert sind. Zu diesen systemkonstituierenden Elementen des Marktes gehören vor allem Privatautonomie, Gewerbefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, Preisbildungsfreiheit, Wettbewerbsfreiheit, Freizügigkeit, Meinungsfreiheit, Werbefreiheit. Diese Elemente und Fundamente, die Markt als Prozeß erst ermöglichen, aber zugleich auch konstituieren, sind im Grundgesetz in der Verbürgung von entsprechenden Einzelgrundrechten verfassungsrechtlich gewährleistet. Die wirtschaftsrelevanten Grundrechte des Grundgesetzes garantieren den Markt als „spontane Ordnung" (von Hayek) und enthalten das Grundmuster einer Wettbewerbsordnung als „Leitbild der marktwirtschaftlichen Ordnung". Unbeschadet der wirtschaftspolitischen Gestaltungsfreiheit des (einfachen) Gesetzgebers dürfte es deshalb den Kern treffen, wenn das Bundesverfassungsgericht formuliert: „Die bestehende Wirtschaftsverfassung enthält den grundsätzlich freien Wettbewerb der als Anbieter und Nachfrager auf dem Markt auftretenden Unternehmer als eines ihrer Grundprinzipien." 4 Die Diskussion um die Wirtschaftsverfassung, die insbesondere in der Frühzeit des Grundgesetzes intensiv gefuhrt worden ist,5 hat in den folgenden Jahren an Interesse verloren und sich entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf die wirtschaftlichen Einzelfreiheiten, insbesondere der Berufs- und Gewerbefreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG verlagert. Daß diese Diskussion eine Renaissance erleben wird, dürfte angesichts der Entwicklung im letzten Jahrzehnt eher zu verneinen sein. Dabei sei auf zwei Entwicklungen hingewiesen, die sich gegenseitig historisch überholt und die gezeigt haben, daß die Frage der Wirtschaftsverfassung heute nicht mehr nur aus der Perspektive der nationalen Verfassung, also für Deutschland aus der Sicht des Grundgesetzes betrachtet werden kann. Die beiden genannten historischen Vorgänge sind zum einen die Wiedervereinigung Deutschlands und zum andern der Fortschritt der Integration Europas durch den Maastricht-Vertrag von 1992. Eines der Hauptprobleme der Wiedervereinigung Deutschlands war neben der Wiederherstellung der Rechtseinheit auch die Integration der ostdeutschen Länder in die marktwirtschaftliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Der Zusammenbruch der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik war außer dem politischen auch ein ökonomischer Konkurs. Die sozialistische
4 BVerfGE 32, 311 (317); vgl. auch Rupert Scholz, Entflechtung und Verfassung, 1981, S. 90 ff. 5 Vgl. Reiner Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 1990, S. 68 f f
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ZentralverwaltungsWirtschaft hatte die Deutsche Demokratische Republik in den wirtschaftlichen Ruin geführt. Die Revolution von 1989 war nicht nur ein Votum für eine freiheitliche demokratische Ordnung, sondern auch für ein freiheitliches Wirtschaftssystem, wie es in Westdeutschland existierte und welches als Wirtschaftsform der freiheitlichen Demokratie empfunden wurde. Die Überfuhrung des ruinierten sozialistischen Zentralwirtschaftssy stems der Deutschen Demokratischen Republik in die Marktwirtschaft war demzufolge in dem der Wiedervereinigung vorausgehenden Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18.05.19906 ein zentrales Thema. In Art. 1 Abs. 3 des genannten Staatsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik wird bestimmt: „Grundlage der Wirtschaftsunion ist die Soziale Marktwirtschaft als gemeinsame Wirtschaftsordnung beider Vertragsparteien." In einem Gemeinsamen Protokoll, das Bestandteil des Staatsvertrages geworden ist,7 werden die Elemente der Sozialen Marktwirtschaft in sieben Punkten formuliert. 8 Hier tauchen in normativer Fassung jene Bestandteile auf, die herkömmlich von der Theorie als die prägenden Elemente der Sozialen Marktwirtschaft betrachtet werden. Ich lasse dahingestellt, ob man in den Vertragsregelungen - wie zum Teil angenommen - eine „verfassungsgestaltende Entscheidung über die Wirtschaftsordnung" erblicken kann. Denn auch diese Entwicklung ist inzwischen historisch überholt.
6 BGBl. II S. 537; abgedruckt bei Stern/Schmidt-Bleibtreu, Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, 1990. 7 Vgl. Art. 4 Abs. 1 Satz 1 des Staats Vertrages. 8 Abgedruckt bei Stern/Schmidt-Bleibtreu, s.o. Fn. 6, S. 145. Diese Punkte lauten wie folgt: „1.Wirtschaftliche Leistungen sollen vorrangig privatwirtschaftlich und im Wettbewerb erbracht werden. 2.Die Vertragsfreiheit wird gewährleistet. In die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung darf nur so wenig wie möglich eingegriffen werden. 3.Unternehmerische Entscheidungen sind frei von Planvorgaben (z.B. im Hinblick auf Produktion, Bezüge, Lieferungen, Investitionen, Arbeitsverhältnisse, Preise und Gewinnverwendung). 4.Private Unternehmen und freie Berufe dürfen nicht schlechter behandelt werden als staatliche und genossenschaftliche Betriebe. 5.Die Preisbildung ist frei, sofern nicht aus zwingenden gesamtwirtschaftlichen Gründen Preise staatlich festgesetzt werden. 6.Die Freiheit des Erwerbs, der Verfugung und der Nutzung von Grund und Boden und sonstiger Produktionsmittel wird ftir wirtschaftliche Tätigkeit gewährleistet. 7.Unternehmen im unmittelbaren oder mittelbaren Staatseigentum werden nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit geführt. Sie sind so rasch wie möglich wettbewerblich zu strukturieren und so weit wie möglich in Privateigentum zu überfuhren. Dabei sollen insbesondere kleineren und mittleren Unternehmen Chancen eröffnet werden."
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In Weiterbildung der Europäischen Union und zur Ausformung einer entwickelten Wirtschafts- und Währungsunion ist durch den Maastrichter UnionsVertrag vom 07.02.1992 der Art. 3a in den EG-Vertrag eingefügt worden. Danach werden sowohl die europäische Gemeinschaft wie auch die Mitgliedstaaten auf den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet". 9 Zwar bleibt jeder Mitgliedstaat für „seine" Wirtschaftspolitik zuständig und verantwortlich, aber in Bekräftigung des Art. 3a bestimmt Art. 102a EGV, daß die Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftspolitik „im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" zu halten haben. Diese Aussage steht vom Rang her auf der Höhe des sog. primären Gemeinschaftsrechts und hat damit Anwendungsvorrang auch vor dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Zugleich bindet Art. 3a Abs. 1 EGV auch den nationalen Verfassungsgeber und versperrt Verfassungsänderungen, die von der „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" wegführen. Das Grundgesetz kann nunmehr nicht anders als im Sinne einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" ausgelegt werden.
II. Verfassungsrechtlicher Standort des Marktes Der verfassungsrechtliche Standort des Marktes ist damit vorgegeben. Ein Grund- und Wesenszug deutscher Verfassungsgeschichte und deutschen Staats- und Verfassungsdenkens ist die Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft. 10 Mit den Begriffen Staat und Gesellschaft werden unterschiedliche Systeme und Rechtsstrukturen bezeichnet. Der Begriff „Staat" steht für die Ausübung verfassungsrechtlich legitimierter Gewalt, der Begriff „Gesellschaft" für die Ausübung von Selbstbestimmung in Freiheit. Das Ordnungssystem der Gesellschaft wurzelt im Prinzip der Freiheit und Autonomie. In der Gesellschaft konstituiert sich die societas freier Menschen als Gegenprinzip zur verfaßten staatlichen Ordnung. In idealtypischer Verallgemeinerung wird der Staat als Zwangsordnung dem Freiheitsbereich der Gesellschaft gegenübergestellt. Der Markt gehört in diesem Beziehungssystem zur Gesellschaft. 11 Er bedeutet die 9 BGBl. II S. 1253 („principle of an open market economy", „principe d'une économie de marché ouverte"). 10 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973; derselbe, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: Festgabe für Wolfgang Hefermehl, 1972, S. 11 f f ; Hans Heinrich Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I, 1987, § 28. 11 Vgl. Josef Isensee, Steuerstaat als Staatsform, in: Festschrift für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 409 f f (417); Klaus Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I, 1987, § 27 Rn. 52.
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institutionelle Verkörperung der wirtschaftlichen Freiheiten in der Gesellschaft, einen Ausschnitt aus der gesellschaftlichen Freiheit und Autonomie. Ob der Markt neben dieser verfassungsrechtlichen Verortung im Feld der Grundrechte auch im Demokratieprinzip enthalten oder mit angelegt ist, mag auf sich beruhen. Im Schrifttum ist nicht nur auf die „Affinität zwischen Demokratie und Verkehrswirtschaft" 12 hingewiesen, sondern der Markt auch als „ökonomische Form der Demokratie", 13 die „Marktwirtschaft als ökonomische Volksherrschaft" 14 apostrophiert worden. Nach der klassischen Vorstellung unterliegt der Markt ebenso wie die Gesellschaft eigenen, gleichsam naturgegebenen Regelabläufen. Jedoch sind die sympathischen Bilder vom freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte, die von „unsichtbarer Hand" (Adam Smith) geleitet sozusagen automatisch zu einer akzeptablen wirtschaftlichen Ordnung führen, längst überholte Marktmetaphorik. Staat und Markt sind wie Staat und Gesellschaft aufeinander angewiesen. Gewiß, der Staat kann zum Feind des Marktes werden. In einer freiheitlichen demokratischen Verfassungsordnung aber ist er seiner Bestimmung nach ein Freund und Förderer des Marktes. Staatliche Aufgabe ist die Sorge und Vorsorge für die Erhaltung und Funktionsfähigkeit des Marktes.
III. Marktrelevante Verfassungsänderungen Diese staatliche Sorge für den Markt hat zu zwei bedeutsamen Verfassungsänderungen geführt.
1. Globalsteuerung durch antizyklische Konjunkturpolitik (fiscal policy) Ende der 60er Jahre, zu Zeiten der Großen Koalition, verbreitete sich unter dem Wirtschaftsminister Schiller der Glaube, der Staat könne Konjunkturen und Krisen der Volkswirtschaft jedenfalls global wirksam steuern. Dementsprechend ist durch eine Verfassungsänderung im Jahre 1967 der Art. 109 GG neu gefaßt und die Grundlage für eine staatliche Globalsteuerung der Wirtschaft geschaffen worden. Danach sind Bund und Länder verpflichtet worden, bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen 12
Reiner Schmidt, Wirtschaftspolitik und Verfassung, 1971, S. 81. Peter Häberle, Verfassungsentwicklungen in Osteuropa - aus der Sicht der Rechtsphilosophie und der Verfassungslehre, AöR 117 (1992), 169 (180). 14 Walter Leisner, Marktoffenes Verfassungsrecht, in: FS für Kriele, 1997, 253 (264). 13
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Gleichgewichts Rechnung zu tragen. Diese Verfassungsänderung wurde vom Erlaß des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967 (BGBl. I S. 582) begleitet. Ihr lag die auf der ökonomischen Theorie von J.M. Keynes beruhende Auffassung zugrunde, der Ablauf der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu beobachtenden kontinuierlichen Konjunkturzyklen lasse sich durch fiskalpolitische Maßnahmen des Staates beeinflussen; daher sei es - zumal in den modernen Industriestaaten ökonomisch angezeigt und politisch geboten, die staatliche Haushalts- und Finanzpolitik im Interesse der Konjunkturstabilisierung auf eine antizyklische Steuerung des Konjunkturablaufs auszurichten und ihr die dazu notwendigen rechtlichen Instrumentarien zu verschaffen. 15 Ob solche globalsteuernden Maßnahmen überhaupt mit dem Maßstab der Grundrechte, die (nur) konkret-individuelle Eingriffe abwehren sollen, erfaßt werden können, ist eine Frage des Einzelfalles, dürfte aber im Grundsatz zu verneinen sein.16 Weitere Betrachtung ist hier entbehrlich. Denn der fiskalpolitische Ansatz hat in der politischen Praxis keine nennenswerte Bedeutung erlangt. Zusätzlich sei bemerkt, daß die stabilitätspolitische Einwirkung des Staates eine grundlegende offene Flanke aufweist. Sie besteht darin, daß mit der Garantie der Koalitionsfreiheit gem. Art. 9 Abs. 3 GG und der in sie eingeschlossenen Gewährleistung der Tarifautonomie der Einfluß auf die Löhne, die sich in der unternehmerischen Preisgestaltung niederschlagen, aus der Hand gegeben und der freien Verfugung der Sozialpartner überantwortet worden ist. 17
2. Privatisierung von Post und Telekommunikation Die zweite hier zu nennende Verfassungsänderung betrifft die Privatisierung des Postwesens und der Telekommunikation und die mit diesem Vorgang einhergehenden marktwirtschaftlichen Konsequenzen. Post und Fernmeldewesen (Telekommunikation) gehören herkömmlicherweise zu den Staatsaufgaben. Im Grundgesetz waren sie als Aufgaben des Bundes verfassungsrechtlich festgeschrieben. 18 Veranlaßt insbesondere durch den Wettbewerbsdruck des an glo-
15
BVerfGE 79, 311 (331). Vgl. dazu Stern/Münch/Hansmeyer, Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, 2. Auflage, 1967, S. 87. 17 Vgl. Ulrich Scheuner, in: derselbe (Hrsg.), Die staatliche Einwirkung auf die Wirtschaft, 1971, S. 54 ff.. Freilich ist das Tarifvertragsrecht durch die Globalisierung unter Druck geraten: vgl. Manfred Löwisch, Arbeitsrecht und wirtschaftlicher Wandel, RdA 1999, 69 (75 ff.). 18 Art. 87 Abs. 1 Satz 1 GG alter Fassung. 16
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balen Maßstäben orientierten Post- und Telekommunikationsmarktes ist die Deutsche Bundespost in mehreren Schüben aufgelöst und das Post- und Telekommunikationswesen in die Privatwirtschaft überfuhrt worden. 19 Durch Einfügung des Art. 87 f in das Grundgesetz im Jahre 1994 sind die Dienstleistungen der Deutschen Bundespost, vormals hoheitliche Aufgaben der Bundesverwaltung, in „privatwirtschaftliche Tätigkeiten" umgewidmet worden, die fortan von den als Nachfolger der Deutschen Bundespost agierenden privatrechtlich organisierten Unternehmen und anderen Anbietern erbracht werden. Damit hat eine echte Aufgabenprivatisierung stattgefunden. Der Bund hat eine ihm bisher verfassungsrechtlich zugeordnete Staatsaufgabe, das Post- und Telekommunikationswesen, aus der hoheitlichen Erfüllungsverantwortung entlassen und den Regeln des Marktes unterstellt, also nunmehr den Markt auch auf dem Gebiet des Postwesens und der Telekommunikation eröffnet. 20 Dieser fundamentale System Wechsel in einem die gesamte Wirtschaft betreffenden und beeinflussenden existentiellen Bereich enthält jedoch Risiken, weil wegen der überkommenen monopolistischen Struktur ein funktionsfähiger Markt nicht von Anfang an existieren kann. Des weiteren besteht die Befürchtung, daß es angesichts der an Kosten orientierten Unternehmen zu Versorgungslücken im ländlichen Raum kommen kann. Deshalb weist Art. 87 f Abs. 1 GG dem Bund die verfassungsrechtliche Aufgabe zu, zu gewährleisten, daß „im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen" erbracht werden. Dieser verfassungsrechtliche Infrastrukturgewährleistungsauftrag (in europarechtlicher Terminologie: „Universaldienstgewährleistung") führt zu einem Restbestand an hoheitlichen Aufgaben im Post- und Telekommunikationsbereich, der unter dem Begriff der „Regulierung" von einer hierzu eingerichteten besonderen Regulierungsbehörde wahrgenommen wird. 21 Die Regulierung wird zum Teil als eine Erscheinungsform der Wirtschaftsaufsicht verstanden. 22 Sie reicht aber über diese Dimension hinaus, wenn man sich die Intentionen der Regulierung vergegenwärtigt. 23 Bei der Regulierung geht es nicht nur um Wettbewerbsaufsicht im Sinne eines Schutzes vor Monopolen, sondern vor allem um die Siche-
19 Vgl. Klaus Stern, Postreform zwischen Privatisierung und Infrastrukturgewährleistung, DVB1. 1997, 309 ff.; Peter Badura, Wettbewerbsaufsicht und Infrastrukturgewährleistung durch Regulierung im Bereich der Post und Telekommunikation, in: Festschrift fur Bernhard Großfeld, 1999, S. 35 f f ; Martin Bullinger, Von administrativer Daseinsvorsorge zu privatwirtschaftlicher Leistung unter staatlicher Rahmengarantie, in: Festschrift für Hans F. Zacher, 1998, S. 85 ff. 20 Vgl. Stern, s.o. Fn. 19, S. 310. 21 Vgl. Badura, s.o. Fn. 19, S. 47. 22 Badura, s.o. Fn. 19, S. 40. 23 Vgl. Jens-Peter Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft durch regulative Marktorganisation, 1999, S. 37.
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rung eines bestimmten wirtschaftlichen Ergebnisses, eben um die Aufrechterhaltung der kommunikativen Infrastruktur durch eine „flächendeckende Grundversorgung", die nicht dem kostenorientierten Unternehmerverhalten zum Opfer fallen darf. Deshalb wird der Regulierungsbehörde ein breites Spektrum tiefdringender Instrumente zur Verfügung gestellt, die von der Verleihung von Lizenzen, der Aufsicht über das Angebot von Teilleistungen bis hin zur Entgeltfestsetzung reichen. Die Wissenschaft hat fur die neue Aufgabe auch schon neue Termini geprägt wie „staatliche Infrastrukturverantwortung" und „Gewährleistungsstaat". 24
IV. Marktinterventionen Ich komme zu den Marktinterventionen des Staates unterhalb der Verfassungsebene.
1. Gründe und Ziele Die Gründe und Ziele staatlicher Einflußnahmen auf den Markt sind höchst unterschiedlich. Seine eigentliche Marktwächterfunktion nimmt der Staat wahr, wenn er die Funktionsfähigkeit des Marktmechanismus 25 schützt. Dies bedeutet vor allem Schutz und Erhaltung eines funktionsfähigen Wettbewerbs und der systemkonstituierenden Elemente der Marktwirtschaft. Dazu gehört etwa die Verhinderung von Monopolen und die Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs. Staatliche Einflußnahmen auf den Markt können ferner durch sozialpolitische Zielsetzungen motiviert sein. Ein bekanntes Verdikt lautet: der Markt ist unsozial. Dieses Urteil beruht vor allem auf der mit dem Markt notwendig verbundenen Ungleichheit der Vermögens- und Einkommensverteilung. Insoweit kann der Staat Korrekturen an den Marktergebnissen vorsehen und vom Markt abweichende Verteilungen von Einkommen und Gütern vornehmen. Die verfassungsrechtliche Grundlage dazu bildet das Sozialstaatsprinzip, welches die deutsche Staatsrechtslehre als verbindliche Staatszielbestimmung einordnet, die vom Gesetzgeber näher zu konkretisieren und umzusetzen ist. 26
24
Georg Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, 1998; Wolfgang Hoffmann-Riem, Telekommunikationsrecht als europäisiertes Verwaltungsrecht, DVB1. 1999, 125 ff. 25 Zum „funktionsfähigen Wettbewerb": Christian Koenig, Die öffentlich-rechtliche Verteilungslenkung, 1994, S. 36 ff. 26 Hans F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I, 1987, § 25 Rn. 80 ff.
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Zu den legitimen sozialpolitischen Zielsetzungen gehören aber auch andere Aspekte, beispielsweise der vom Gleichheitssatz unberührte Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer. So hat das Bundesverfassungsgericht beispielsweise das Nachtbackverbot mit dem Gemeinschaftsgut des „Schutzes vor gesundheitsschädigender Nachtarbeit" gerechtfertigt, 27 obwohl man sehen muß, daß insoweit auch der Schutz des Mittelstandes vor den Großbetrieben eine erhebliche Rolle gespielt hat. Freilich sei hinzugefugt, daß gerade die Kombination von unterschiedlichen Begründungen zur Vernebelung von Rechtfertigungsgründen und zu Vorwänden fuhrt oder fuhren kann. 28 So läßt sich beispielsweise das Ladenschlußgesetz heute nicht mehr mit Gründen des Arbeitszeitschutzes zu Gunsten der Arbeitnehmer überzeugend rechtfertigen.
2. Ansätze und Formen Die Ansätze und Formen staatlicher Einflußnahmen auf die Wirtschaft sind aufgrund unterschiedlicher wirtschaftlicher Entwicklungen und wirtschaftspolitischer Vorstellungen im Laufe der Zeit erheblich angewachsen und drohen gleichsam latent - den Markt zu überwuchern. Sie sind so heterogen wie ihre Anlässe und die ihnen zugrunde liegenden Ordnungsabsichten und -ziele. Deshalb muß jeder Versuch einer (geschlossenen) Systematik scheitern. Nur einige Schlaglichter können auf das Geflecht der „Marktregulierungen" geworfen werden.
a) Wirtschaftsaufsicht Die Grenze zwischen dem Staat als schützendem Wächter einerseits und bestimmendem Vormund andererseits ist leicht und schnell und vor allem unmerklich überschritten. Solche Grauzonen und Übergänge zeigen vor allem die für die Bundesrepublik Deutschland typischen verzweigten Regelungen über die staatliche Wirtschaftsaufsicht. 29 An sich unterscheidet sich Aufsicht grundsätzlich von den Maßnahmen der Wirtschaftslenkung. Aufsicht will nicht steuern oder Marktabläufe beeinflussen, sondern in den Marktmechanismus eingebundene individuelle und allgemeine Interessen vor spezifischen Gefährdungen
27
BVerfGE 23, 50 (58); 41, 360 (370); 87, 363 (385). Friedhelm Hufen, Berufsfreiheit - Erinnerung an ein Grundrecht, NJW 1994, 2913 (2920). 29 Vgl. Martin Bullinger, Staatsaufsicht in der Wirtschaft, VVDStRL 22 (1965), 264 ff.; Ekkehart Stein, Die Wirtschaftsaufsicht, 1967; Peter J. Tettinger, Rechtsanwendung und gerichtliche Kontrolle im Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1980; Heinz Mösbauer, Staatsaufsicht über die Wirtschaft, 1990. 28
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schützen.30 Aber der Unterschied zwischen Prinzip und Praxis kann groß sein und Aufsicht unversehens in Lenkung abgleiten lassen. Die Staatsaufsicht über die Wirtschaft hat in Deutschland eine jahrhundertalte Tradition. 31 Am Anfang standen die Bergaufsicht als Ausfluß der staatlichen Berghoheit, die Apothekenaufsicht, die Gaststättenaufsicht, die Eisenbahnaufsicht, die Schiffahrtsaufsicht und die Fischereiaufsicht. Mit zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung erweiterte sich der Kreis der staatlich beaufsichtigten Bereiche auf beispielsweise die Sparkassenaufsicht, Gewerbeaufsicht, Luftfahrtaufsicht, Kartellaufsicht, Personenverkehrsaufsicht, Güterkraftverkehrsaufsicht, Energiewirtschaftsaufsicht, Atomaufsicht, Immissionsschutzaufsicht, Versicherungsaufsicht, Bankenaufsicht. Die Staatsaufsicht über die Wirtschaft verfugt über ein breites Spektrum von Maßnahmen und Eingriffsmöglichkeiten, angefangen von Informationsbefugnissen und Besichtigungsrechten über Kontrollbefiignisse und Zulassungsentscheidungen bis hin zu Preisgenehmigungen. Die Ziele der Staatsaufsicht beschränken sich nicht auf den Schutz vor Gefährdungen, sondern sie richten sich auch auf die Erfüllung von Erwartungsvorstellungen des Staates in ordnungs-, struktur- und wachstumspolitischer Hinsicht. Aus verfassungsrechtlicher Sicht liegt die Staatsaufsicht über die Wirtschaft im Spannungsfeld zwischen den grundrechtlich garantierten wirtschaftlichen Freiheiten des Grundgesetzes einerseits und dem Gebot einer sozialstaatlichen Rechtsordnung andererseits. In diesem Spannungsfeld ist es Aufgabe des Gesetzgebers, den Ausgleich zu formulieren und zu bestimmen. Häufig wird jedoch, vielfach auch mangels genereller Regelungsfähigkeit, die Konfliktlösungskompetenz durch unbestimmte Regelungen und entsprechende unbestimmte Rechtsbegriffe auf die Exekutive verlagert. 32 Daraus ergeben sich erhebliche verfassungsrechtliche und praktische Probleme, weil die Aufsichtsbehörden damit in die Lage versetzt werden, unter Überdehnung ihres Mandates in die wirtschaftlichen Unternehmensdispositionen hineinzureglementieren. Wenn dies, wie etwa im Bankenwesen durch das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen unter unzutreffender Berufung auf gesetzlich nicht abgesicherte Bewertungsmaßstäbe geschieht, wandelt sich die Staatsaufsicht nicht nur in eine Vormundschaft, sondern in eine Zwangs- und Verhinderungsbürokratie.
30
Bullinger, s.o. Fn. 29, S. 286 f.; Ulrich Scheuner, Die staatliche Einwirkung auf die Wirtschaft, 1971, S. 71. 31 Vgl. Bullinger, s.o. Fn. 29; Mösbauer, s.o. Fn. 29, S. 16. 32 Vgl. insbes. Tettinger, s.o. Fn. 29.
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b) Marktlenkung Marktlenkung geht im Prinzip über die Wirtschaftsaufsicht hinaus und kann durch direkte Verhaltenssteuerung ebenso wie durch indirekte Verhaltenssteuerung stattfinden. Beide Wege einer staatlichen Einflußnahme auf den Markt haben ihre eigenen verfassungsrechtlichen Probleme und Aspekte. Staatliche Marktlenkung durch direkte Verhaltenssteuerung betrifft vor allem den Marktzutritt, grundrechtlich gesprochen die Freiheit der Berufswahl gem. Art. 12 Abs. 1 GG. Die Berufswahl und damit der Marktzutritt wird weitgehend von persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften abhängig gemacht und einer besonderen Zulassungskontrolle in Gestalt eines Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt unterworfen. Im Gewerberecht spielt überdies die persönliche „Zuverlässigkeit" eine durchgehend wichtige Rolle, wobei dieser Begriff bezogen auf das jeweils ausgeübte konkrete Gewerbe ausgelegt wird. Der Zugang zu einer wirtschaftlichen Tätigkeit kann aber nicht nur durch persönliche Voraussetzungen erschwert, sondern auch durch Bewirtschaftungsvorschriften (Kontingentierung, numerus clausus, Monopolisierung) verhindert sein (z.B. Personenbeförderung, Kassenarztzulassung, Zulassung zu kommunalen Märkten). 33 Darüber hinaus gibt es zahlreiche Vorschriften, die die Berufsausübung reglementieren, um Qualitätsstandards zu sichern, den Verbraucher zu schützen oder Preise zu regulieren. Das Bundesverfassungsgericht hat die Kontrolle solcher berufsrelevanter Regelungen vor allem am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG vorgenommen. Diese Rechtsprechung hat im Jahre 1957 mit dem bekannten Apotheken-Urteil, 34 welches die Bedürfnisprüfung beseitigt hat und als wegweisend empfunden wurde, kraftvoll und mutig begonnen, ist dann aber recht schnell wieder erlahmt; und zwar schon im sog. Handwerks-Urteil, 35 als es darum ging, die Meisterprüfung als Voraussetzung fur die Übernahme eines selbständigen Handwerks anzuerkennen. Insgesamt gilt die Rechtsprechung aus jüngerer Sicht als gegenüber dem Gesetzgeber zu nachgiebig.36 In jüngerer Zeit ist das Instrument der indirekten Verhaltenssteuerung wieder mehr in Mode gekommen. Es findet vor allem im Umweltrecht Verbreitung. 37 Durch finanzielle Anreize sollen erwünschte Verhaltensweisen gefördert 33 Vgl. Rüdiger Breuer, Die staatliche Berufsregelung und Wirtschaftslenkung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 1989, § 148 Rn. 47 ff. 34 BVerfGE 7, 377. 35 BVerfGE 13,97. 36 Vgl. Friedhelm Hufen, Berufsfreiheit - Erinnerung an ein Grundrecht, NJW 1994, 2913 ff. 37 Vgl. Michael Kloepfer, Umweltrecht, 2. Auflage, 1998, S. 263 ff.
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und unerwünschte vermieden werden. Öffentliche Abgaben sollen etwa in Gestalt von Produktsteuern oder Emissionssteuern die Umweltnutzung zu einem Faktor der internen Unternehmenskosten machen und damit in den Marktmechanismus einbeziehen mit der Folge, daß über den Preis Konkurrenzmechanismen und Vermeidungseffekte ausgelöst werden. Das damit angedeutete Konzept einer Internalisierung von Umweltkosten wird heute als Methode einer marktkonformen Umweltpolitik allgemein akzeptiert, bietet aber erhebliche Probleme in der rechtlichen Umsetzung. Der Steuerstaat als Element und Fundament des sozialen Rechtsstaates gerät in einen prinzipiellen Gegensatz zur Vision des Umweltstaates.38 Der Steuerstaat gewährleistet Freiheit und Gleichheit seiner Bürger dadurch, daß er sie nicht zu einem bestimmten Verhalten zwingt, sondern durch Abgaben zu den öffentlichen Kosten nach dem Maß ihre Leistungsfähigkeit heranzieht. Freiheitliche Betätigung und Umweltschutz stehen in einem fundamentalen Spannungsverhältnis. Wirksamer Umweltschutz gebietet unter Umständen tiefe Einschnitte in die Freiheit und fuhrt mit dem Mittel der Umweltabgaben zu Verhaltenslenkungen, die nicht nur die Freiheit einschränken, sondern auch mit der Gleichheit und dem Sozialstaatsprinzip in Widerspruch geraten können. Doch sind dies Gefahren, deren Realisierung von der Gestaltung konkreter Steuerungskonzepte abhängig ist. Denkbar sind auch wirksame Instrumente, die verfassungskonform wirken. 39 Ein eigenes Thema indirekter Verhaltenssteuerung bilden kooperative Handlungsformen, beispielsweise Umweltabsprachen, Selbstbeschränkungsabkommen und Selbstverpflichtungen der Wirtschaft. 40 Ihre Erfolgsbilanz ist gemischt. Betont werden die Gefahren von Wettbewerbs Verzerrungen. Sie können sogar - wie in der Verpackungswirtschaft - zu staatsmonopolartigen Konzentrationen fuhren. 41 Vertragliche Abreden stoßen im föderal strukturierten Staat an Kompetenzgrenzen, wenn rechtliche Bindungswirkungen erzeugt werden sollen. Dies zeigt sich erneut bei dem beabsichtigten Deal zwischen Bundesregierung und Kernkraftwerksbetreibern über Modalitäten des Ausstiegs aus der Kernenergie. Zu den Instrumenten indirekter Verhaltenssteuerung gehören auch staatliche Subventionen. Die verfassungsrechtlichen Probleme sind hier weniger gewichtig. Der gebende Staat kann sich immer leichter rechtfertigen als der eingreifende (nehmende) Staat. Im wirtschaftlichen Bereich fuhren Subventionen ein-
38 Michael Kloepfer, Droht der autoritäre ökologische Staat?, in: Baumeister (Hrsg.), Wege zum Ökologischen Rechtsstaat, 1994, S. 42 ff. 39 Beispiel: Abwasserabgabe; vgl. Kloepfer, s.o. Fn. 37, S. 316. 40 Vgl. Udo di Fabio , Selbstverpflichtungen der Wirtschaft - Grenzgänger zwischen Freiheit und Zwang, JZ 1997, 969 ff.; Michael Kloepfer, s.o. Fn. 37, S. 281 ff. 41 Klaus-Peter Schultz, Wettbewerb in der Entsorgungswirtschaft, UTR 38 (1997), S. 507 ff.
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zelner Unternehmen zur Wettbewerbsverzerrung, grundrechtlich gesprochen zu Verletzungen der Wettbewerbsgleichheit und Wettbewerbsfreiheit. 42 Allerdings sind damit Subventionen nicht schlechthin ausgeschlossen. Vielmehr kommt es auf das Maß der Begünstigung und damit der Schlechterstellung des Konkurrenten an. Da für dieses Maß keine verfassungsrechtlichen Kriterien konkreter Art existieren, hängt alles von der Einschätzung der angerufenen Gerichte ab. 43 Wirtschaftssubventionen sind weniger ein verfassungsrechtliches als ein finanzielles Problem. Nach Berechnungen des Instituts für Weltwirtschaft betrugen die staatlichen Subventionen für das Jahr 1997 über 290 Mrd. DM, also mehr als ein Drittel der Steuereinnahmen. 44
V. Kontrolle von Marktinterventionen Aus verfassungsrechtlicher Sicht können Überlegungen zum Verhältnis von Staat und Markt selbstredend nicht abgeschlossen werden, ohne die Frage danach zu stellen, wer den Markt vor staatlichen Eingriffen schützt. Dieser Frage ist die weitere vorgelagert, wer den Markt gefährdet oder gefährden kann. Und hier zeigt sich ein weiteres Mal, daß Betrachtungen über den Markt nicht nur aus der sozusagen introvertierten Brille des deutschen Grundgesetzes angestellt werden können. Markt findet eben nicht nur in Deutschland statt, sondern auch und in erster Linie in Europa, vom Weltmarkt einmal abgesehen. Insoweit zeigen sich durchaus heterogene und teils gegensätzliche Bedrohungspotentiale und Frontlinien, denen ebenso unterschiedliche Schutzinstrumente und Schutzwege entsprechen. Die Bundesrepublik Deutschland als Mitglied der Europäischen Union will zwar auch den Markt schützen und fördern, so wie es Europa auf seine Fahnen geschrieben hat. Aber der deutsche Gesetzgeber steht ebenso unter dem Bann und Zwang des Sozialstaates, der nur unter Eingriffen in den Markt in der Form gewahrt werden kann, in der er sich etabliert hat. Umverteilung, Steuergesetzgebung, Lohnnebenkosten sind jene Stichworte, die mit teils ungleichen Belastungen der Marktteilnehmer verbunden sind und damit ihre marktintervenierende Relevanz deutlich zeigen. Der Wettbewerb als der Motor der Marktwirtschaft wird aus mitgliedstaatlicher Sicht sozialstaatlich mit Geschwindigkeitsbegrenzungen versehen, manchmal gebremst, wenn nicht zum Stillstand gebracht oder sogar zu einem absurden Rückwärtsgang gezwungen. Ich erinnere nur an ein einziges Beispiel. Nach dem Stromein-
42 Breuer, s.o. Fn. 33, Rn. 77; Peter-Michael Huber, Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 1991, S. 135. 43 Sie ist erst bei der „Erdrosselungssubvention" erreicht: Vgl. Breuer, s.o. Fn. 33, Rn. 77. 44
Wolfgang Mulke, Der schwere Kampf gegen die Subventionitis, Bonner Generalanzeiger vom 24./25. April 1999, S. 32.
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speisungsgesetz werden die Energieversorgungsunternehmen verpflichtet, den durch Windenergie erzeugten Strom der Windmüller für einen Preis abzunehmen, der erheblich über dem Marktpreis fur Strom liegt. Die Preisüberhöhung bedeutet eine vom Gesetzgeber beabsichtigte Subventionierung der Windmühlenbetreiber mit dem Ziel, die Kapazität der Windmühlen zu erhöhen. 45 Die hierfür notwendigen Lasten werden aber nicht aus der Staatskasse bezahlt, sondern den Energieversorgungsunternehmen auferlegt. Zur Erreichung eines staatlich angepeilten Zwecks werden also die Energieversorgungsunternehmen verpflichtet, ihre eigenen Konkurrenten großzuziehen und mit erheblichen Subventionskosten den Absatz des eigenen Stroms zu verringern. Dies wird man mit Fug als Rückwärtsgang in der Marktwirtschaft, als eine Pervertierung des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs bezeichnen dürfen. Die Europäische Kommission hat diese Praxis schon vor Jahren deutlich als wettbewerbswidrige Subventionierung bezeichnet und Abhilfe verlangt, ohne daß dies bisher geschehen wäre. In dieser Konstellation kommt die Marktgefährdung vom Staat und der denkbare Schutz von den europäischen Organen. Es kann aber auch umgekehrt sein. Dafür bietet sich das umstrittene Beispiel des europarechtlichen Werbeverbotes für Tabakerzeugnisse an. 46 Unbestritten und unbestreitbar ist die Werbung für Produkte, mit denen zulässigerweise Handel getrieben wird, ein Wesenselement des Wettbewerbs. Werbung ist nicht nur Bestandteil des Unternehmerrechts, seine Produkte auf dem Markt vorzustellen und für sie zu werben. Die Werbung hat auch einen makroökonomischen Effekt. Denn ohne Werbung wird der Grundmechanismus des Marktes, nämlich der Wettbewerb, gestört. Begründet wird das Tabakwerbeverbot erstaunlicherweise nur in zweiter Linie mit dem Gesundheitsschutz der Unionsbürger, wohl deswegen, weil der EG insoweit die Kompetenz fehlt. Vorrangig soll das Tabakwerbeverbot dazu dienen, Handelshemmnisse zu beseitigen und Wettbewerbsverzerrungen zu bekämpfen. In Wirklichkeit nutzt das europaweite Tabakwerbeverbot allein der faktischen Monopolstellung der nationalen staatlichen Tabakunternehmen einiger Mitgliedstaaten der Union, also dem Schutz einheimischer Marken gegen internationale Konkurrenz, die sich der Tabakwerbung bedient, um auch ausländische Marken in diesem Land bekannt zu machen. Europa deshalb sogleich als „Tollhaus" zu apostrophieren, 47 mag zu weit gehen. Es bleibt jedoch die Erkenntnis, daß Marktinterventionen immer
45 Vgl. Fritz Ossenbühl, Zur Verfassungswidrigkeit der Vergütungsregelung des Stromeinspeisungsgesetzes, RdE 1997, 46 ff. 46 Vgl. Fritz Ossenbühl, Verfassungs- und europarechtliche Grundfragen eines Werbeverbotes, ZLR 1999, 107 f f ; Thomas von Danwitz, Produktwerbung in der Europäischen Union zwischen gemeinschaftlichen Kompetenzschranken und europäischem Grundrechtsschutz, 1998. 47 Hans Peter Schneider, NJW 1998, 576 f.
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als verdächtig angesehen werden müssen, auch wenn sie auf sozialpolitischen oder gesundheitsschützenden Samtpfötchen daherkommen. Hier zeigt sich also, daß es die „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb", die im Maastrichter Vertrag laut tönend verkündet worden ist, auch in Europa schwer haben kann, je nachdem wie die Interessen liegen. Marktschützer und Marktschänder in Personalunion können also, wie die beiden genannten Beispiele lehren, sowohl die Bundesrepublik Deutschland wie auch die Europäische Union sein. Und jene beiden Institutionen, bei denen man letzte Hilfe suchen wird, sind dann naturgemäß das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof. Aber haben sie die Instrumente für einen wirksamen Schutz in der Hand und schützen sie wirklich? Dazu nur einige Bemerkungen. Die den Gerichtshöfen zur Verfügung stehenden Instrumente werden vor allem durch die ihnen zugestandenen Kompetenzen und Prüfmaßstäbe bestimmt. Der Europäische Gerichtshof kann Kompetenzüberschreitungen der Europäischen Organe im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens oder einer Nichtigkeitsklage feststellen. 48 Er kann des weiteren Rechtsakte der Gemeinschaft auf Verstöße gegen Grundrechtsgewährleistungen überprüfen. Ob der EuGH, der sich immer noch vorrangig als Motor der Integration versteht, die durchschlagende Motivation mitbringt, gegen Kompetenzüberschreitungen und Grundrechtsverletzungen der Gemeinschaftsorgane einzuschreiten, wird man eher skeptisch zu beurteilen haben. Die bisherige Grundrechtsjudikatur des EuGH ist trotz der vielen zitierten Grundrechte substanzlos und dürftig. Das Eingehen auf Grundrechte in den entsprechenden Urteilen erscheint eher als eine ungeliebte Pflichtübung. Die im Solange Ii-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts 49 geäußerte Auffassung, der nationale Grundrechtsschutz gegenüber Gemeinschaftsrechtsakten könne nunmehr „eingefroren" werden, weil der EuGH durch seine Rechtsprechung den Grundrechtsschutz in Europa auf einen passablen Stand gebracht und stabilisiert habe, ist - wenn man diese Rechtsprechung genauer analysiert - eine Legende. Wer die Grundrechtsjudikatur des EuGH als seine größte prätorische Leistung preist, den sollte man auffordern, konkret jene Entscheidungen zu benennen, aus denen man diese Leistung ablesen kann. Die bisherigen Entscheidungen ergehen sich in dunklen und kurzen Andeutungen. Wenn überhaupt, werden die Gemeinschaftsgrundrechte gegen die Mitgliedstaaten, nicht aber gegen die Politik der Gemeinschaftsorgane eingesetzt.50 Einen grundsätzlichen
48
Vgl. Thomas von Danwitz, s.o. Fn. 46, S. 76 ff. BVerfGE 78, 339 (387). 50 Vgl. auch Ulrich Everting, Die Kontrolle des Gemeinschaftsgesetzgebers durch die Europäischen Gerichte, in: FS für Gündisch, 1999, S. 89 (99). 49
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Klimawechsel wird man hier erst erwarten können, wenn der EuGH erkennt, daß seine Rolle als Motor der Integration inzwischen historisch überholt ist. Ist also nach diesem Befund der Grundrechtsstandard auf europäischer Ebene gegenüber dem auf der Grundlage des Grundgesetzes bestehenden Grundrechtsstandard unterschiedlich in dem Sinne, daß der europäische Grundrechtsstandard hinter dem nationalen Grundrechtsstandard zurückbleibt, so ergibt sich als letztes die Frage, ob dann, wenn der europäische Grundrechtsstandard nicht ausreicht, um eine Marktintervention abzuwehren, auf den Schutz der grundgesetzlichen Grundrechte zurückgegriffen werden kann. Im Solange IiBeschluß hat das Bundesverfassungsgericht bekanntlich eine Kontrolle von Gemeinschaftsakten am Maßstab des Grundgesetzes eingestellt.51 Ob es diese Kontrolle wieder mobilisieren wird, steht dahin. Erkennbar ist, daß dies nur geschehen wird, wenn das Grundrechtsdefizit auf europäischer Ebene ein erhebliches Maß überschreitet. Die für dieses Maß angegebenen Orientierungen sind vage. Zum Teil ist davon die Rede, daß der Wesensgehalt der Grundrechte generell nicht mehr verbürgt werde; 52 zum Teil wird die Eingriffsschwelle definiert als „der vom Grundgesetz unabdingbar gebotene Grundrechtsstandard". 53 Dies sind Formulierungen, die alles offen lassen. Hinzuweisen ist aber unabhängig vom Grundrechtsschutz auf einen weiteren Aspekt. Im Maastricht-Urteil wird ausgeführt, das Bundesverfassungsgericht prüfe auch, „ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen". 54 Weiter heißt es: „Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden". Mit dieser Position ist eine zweite Variante eines Konflikts zwischen EuGH und Bundesverfassungsgericht eröffnet, die praktisch bedeutsam werden kann. Denn wie gezeigt, mag die Differenz im Grundrechtsschutzstandard zwischen Europa und Grundgesetz nicht so groß sein, daß die Schwelle zur Reaktivierung des Grundrechtsschutzes durch das Bundesverfassungsgericht überschritten wird, so kann doch andererseits festzustellen sein, daß jedenfalls die Kompetenzüberschreitung der Kommission sozusagen offenkundig ist und damit jenes Niveau erreicht, welches eine Toleranz des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr erlaubt, wenn man das Gericht an seinen eigenen Maßstäben beurteilt.
51 52 53 54
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
73, 339 (387). 73, 339 (387). (2. Kammer des Zeiten Senats), NJW 1990, 974. 89, 155 (188).
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Solange also die Zurückhaltung des EuGH gegenüber dem Gemeinschaftsgesetzgeber, die erst kürzlich Ulrich Everling 55 mit Nachdruck kritisiert hat, so erhalten bleibt wie bisher und das Bundesverfassungsgericht sich ebenfalls in Zurückhaltung üben wird, um einen offenen Konflikt mit dem EuGH zu vermeiden, kann der Marktschutz auf europäischer Ebene nur als defizitär bezeichnet werden. Auf nationaler Ebene liegt der Schutz gegen marktregulierende und intervenierende Gesetze beim Bundesverfassungsgericht. Das Gericht war bei der Kontrolle wirtschaftsregelnder Gesetze von Anfang an auf eine schwierige Gratwanderung verwiesen, weil die Wirtschaftspolitik in besonderer Weise verfassungsrechtlich ambivalent ist. Auf der einen Seite verzichtet das Grundgesetz auf inhaltliche wirtschaftspolitische Vorgaben, räumt also dem Gesetzgeber ein Höchstmaß an politischer Gestaltungsfreiheit ein, auf der anderen Seite sind nahezu alle wirtschaftlich relevanten Gesetze per se mit Eingriffen in die wirtschaftlichen Freiheitsrechte verbunden. Wirtschaftliche Gestaltungsfreiheit und wirtschaftspolitische Verantwortung des Gesetzgebers auf der einen und Grundrechtsschutz auf der anderen Seite stehen also in einem besonderen Spannungsverhältnis. Dieses Spannungsverhältnis kann nicht durch eine simple Economical-Question-Doktrin aufgelöst werden, wie es vereinzelt im Schrifttum anklingt. 56 Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung das Grundgesetz als durch und durch normative Verfassung verstanden und diese Normativität auch dort betont, wo die verfassungsrechtlichen Prüfmaßstäbe sich in kaum noch handhabbare Formeln auflösen wie beispielsweise im Finanzverfassungsrecht. 57 Dieser Ausgangspunkt wird auch für Wirtschaftsgesetze beibehalten. Es geht nicht darum, ob, sondern (nur) inwieweit Wirtschaftsgesetze einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliegen. Diese Kontrolle kann nicht nach einem starren Schema stattfinden. Sie hängt vielmehr von dem Maß der Rationalität des einzelnen zu kontrollierenden Gesetzes ab, auch von anderen Umständen wie beispielsweise der Ein- griffsintensität oder der Unsicherheit wirtschaftlicher Prognosen, auf denen ein Wirtschaftsgesetz beruht. Eine solche der jeweiligen Materie und dem jeweiligen Gesetz angepaßte Flexibilität der verfassungsrechtlichen Kontrolle wird durch die verwendeten Kontrollformeln leicht ermöglicht. Diese Kontrolle besteht in ihrer wesentli55
Ulrich Everling, s.o. Fn. 50. Vgl. Horst Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 467 f.; Hans Spanner, Zur Verfassungskontrolle wirtschaftspolitischer Gesetze, DÖV 1972, S. 217 f f ; dagegen: Peter J. Tettinger, Rechtsanwendung und gerichtliche Kontrolle im Wirtschaftverwaltungsrecht, 1980, S. 332 f.; Reiner Schmidt, Staatliche Verantwortung für die Wirtschaft, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band III, 2. Auflage, § 83 Rn. 34. 57 BVerfGE 72, 330 (388). 56
17*
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chen Substanz darin zu prüfen, ob dem jeweiligen Gesetz ein den Eingriff rechtfertigender Gemeinwohlbelang zugrunde liegt. Die insoweit rechtfertigenden Gemeinwohlbelange sind aber im Grundgesetz nicht festgelegt. 58 Vielmehr unterliegen sie mehr oder weniger der Disposition des Gesetzgebers, der seinerseits bestimmen kann, was dem Gemeinwohl dient und was nicht. Auf diese Weise erlangt sogar die „Erhaltung eines leistungsfähigen einheimischen Winzerstandes" den Rang eines verfassungsrechtlich relevanten Gemeinwohlbelangs, der Grundrechtseingriffe zu legitimieren vermag. Des weiteren beruhen Wirtschaftsgesetze regelmäßig auf Prognosen und Einschätzungen im wirtschaftlichen Bereich, über die man endlos streiten und geteilter Meinung sein kann. In diesem Falle hängt es vom nachprüfenden Richter ab, inwieweit er sich in die Irrationalität von Prognosen einmischen will. Angesichts der aufgezeigten Prüfungsmaßstäbe und Kontrollformeln wird die Kontrolldichte bei Wirtschaftsgesetzen durch zwei Eckpunkte eingegrenzt. Zum einen wird vom Bundesverfassungsgericht betont, daß dem Gesetzgeber „auf dem Gebiet der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftsordnung ... ein besonders weitgehender Einschätzungs- und Prognosevorrang" gebührt. 59 Andererseits wird hervorgehoben, daß die „Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers" von mehreren Faktoren abhängt, im besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter. 60 Dementsprechend hat die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Überprüfung von Prognosen des Gesetzgebers eine durchaus unterschiedliche Kontrollintensität befolgt und differenzierte Maßstäbe zugrunde gelegt, die ihrerseits von der Evidenzkontrolle über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen. 61 Die Kontrolle geht also kurz und zugespitzt gesagt so weit, wie sie sich rational und plausibel an Hand intersubjektiv verifizierbarer Kriterien und Maßstäbe durchfuhren läßt. Bei wirtschaftlichen Prognosen hat sie ihren Schwerpunkt in der Kontrolle des methodischen Zustandekommens der Prognose, nicht in deren Ergebnis. Ein gewisses Korrektiv fur den Fall, daß Prognosen die zukünftige Entwicklung verfehlen, hat das Bundesverfassungsgericht durch die Statuierung einer Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers geschaffen. 62
58
Vgl. Fritz Ossenbühl , Die Freiheiten des Unternehmens nach dem Grundgesetz, AöR 115(1990), 1 (11). 59 BVerfGE 87, 363 (373). 60 BVerfGE 50, 290 (332 f.). 61 s.o. Fn. 60. 62 Christian Mayer , Die Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers, 1996.
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Eine Gesetzeskontrolle am Maßstab der Grundrechte verengt die verfassungsrechtliche Kontrolle sachbedingt auf die Perspektive des Eingriffs im Einzelfall. Gegenstand der Beurteilung, ob die wirtschaftlichen Freiheiten gerechtfertigt und nicht übermäßig eingeschränkt werden, ist immer (nur) das jeweils angegriffene Gesetz, das eine Zugangsregelung enthält oder eine prohibitive Steuerregelung oder eine Berufsausübungsregelung oder eine Preisfestsetzung. Es kommt nicht zu einer Zusammenschau aller bisher schon die wirtschaftlichen Freiheiten einschränkenden Gesetze. Die summative (kumulative) oder synergetische Wirkung von berufseinschränkenden Gesetzen bleibt außerhalb des Blickfeldes. 63 Niemand kann genau das noch verbliebene Terrain wirtschaftlicher Freiheit bestimmen. Spürbar wird es nur im Einzelfall, wenn ein neues Unternehmen gegründet werden soll. Dann wird immer wieder der Weg zur Selbständigkeit als „bürokratischer Hürdenlauf beklagt. Es kann aber auch sein, daß dieses Bild noch verharmlosend wirkt und in manchen Fällen schon Quantität in Qualität umgeschlagen ist. Wichtig wäre es, die durch die Einzeleingriffsperspektive verursachte Latenz der Überwucherung von Wirtschaftsfreiheiten durch staatliche Regelungen aufzudecken und Methoden zu finden, die solchen Freiheitsverlusten entgegensteuern. Die aufgezeigten Kontrolldichteformeln und das Prüfungsschema für die verfassungsrechtliche Kontrolle von Wirtschaftsgesetzen zeigen, daß alles davon abhängt, wie streng das Bundesverfassungsgericht die Kontrollzügel anzieht. Am Beginn der Rechtsprechung stand das Apotheken-Urteil, 64 welches die Bedürfnisprüfung im Berufsrecht für verfassungswidrig erklärt hat und als freiheitliches Signal verstanden worden ist. Das war im Jahre 1958. Heute, mehr als 40 Jahre später, überwiegt das Gefühl, daß das Bundesverfassungsgericht die Chancen zur Erweiterung der wirtschaftlichen Freiheiten eher verpaßt hat. 65 So erscheint beispielsweise verfassungsrechtlich fragwürdig der nach überkommener Tradition für die deutsche Rechtsordnung typische Branchen- und Berufsschutz, den das Bundesverfassungsgericht eher gestärkt als aufgebrochen hat. Unter dem Gesichtspunkt marktwirtschaftlicher Prinzipien ist er jedenfalls als systemwidrig zu bezeichnen. Berufsschutz und Branchenschutz begünstigen die beati possidentes gegenüber den newcomern, die Arbeitsplatzbesitzer gegenüber den Arbeitslosen. Branchenschutz kann sich indirekt in ganz unterschiedlichen Gesetzen ausdrücken, beispielsweise in Nachtbackverboten, Ra-
63 Vgl. Winfried Kluth, Bundesverfassungsgericht und wirtschaftslenkende Gesetzgebung, ZHR 1998, S. 657 (673); Friedhelm Hufen, Berufsfreiheit - Erinnerung an ein Grundrecht, NJW 1994, 2913 (2916). 64 BVerfGE 7, 377. 65 Vgl. Hufen, s.o. Fn. 63; Peter J. Tettinger, Verfassungsrecht und Wirtschaftsordnung, DVB1. 1999, 679(684).
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battgesetzen oder Steuerregelungen. Das Bundesverfassungsgericht hat solche Gesetze, die etwa dem „Schutz des Mittelstandes", speziell der mittelständischen Bäckereien, vor dem Wettbewerb durch Großbetriebe dienen sollen, für verfassungsrechtlich unbedenklich erklärt. 66 - Der Schutz einzelner Berufsstände geschieht durch Zugangshindernisse und teilweise durch den Zusammenschluß in öffentlich-rechtlichen Organisationen (sog. Verkammerung), die die Berufsstände nach außen abschließen. Hier zeigen sich Reste alter Zünfte und Korporationen, die erbittert gegen Veränderungen verteidigt werden. Das Hauptinstrument der marktmäßigen Abschottung ist das Zugangshindernis, welches dazu geführt hat, daß in der Bundesrepublik Deutschland in den 50er Jahren nur etwa 10 % der Gewerbe ohne Erlaubnis begonnen werden konnten; 67 und es spricht nichts dafür, daß sich dieser Anteil seitdem relevant verändert hat. Läßt man die zahlreichen und umfangreichen gesetzlichen Regelungen Revue passieren, so können Zweifel aufkommen, ob die deutsche Rechtsordnung dem europarechtlich postulierten Typ einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" voll entspricht. Auch in der Wirtschaftspolitik haben nicht nur die Verbands- und Gruppeninteressen, sondern auch die Tradition ihren Tribut verlangt. Die ewige und umstrittene Frage, wieviel Staatseinfluß dem Markt bekömmlich, womöglich notwendig ist, wird kaum zu einem Konsens führen. Aus diesem Grunde bleiben die Grenzziehungen einem ständigen politischen Kampf überlassen. In der Bundesrepublik Deutschland kommt deshalb der Abbau von Einflußnahmen auf den Markt nur langsam vorwärts. Die Notwendigkeit eines solchen Abbaus tritt nicht immer voll ins Bewußtsein, weil Wirtschaftsgesetze in ihrer Eingriffswirkung stets isoliert gesehen werden. Was wir brauchen, sind empirisch fundierte und belegte Aussagen über die summativen Wirkungen, die die zu unterschiedlichen Zeiten, aus unterschiedlichen Anlässen und zu unterschiedlichen Zielen ergangenen, den Markt beschränkenden Gesetze in ihrer Gesamtheit hervorrufen. Eine solche empirische Studie wäre geeignet und erforderlich, das allgemein bestehende Unbehagen über die gesetzliche Einengung der wirtschaftlichen Freiheiten zu verifizieren und das Bestreben nach einer Deregulierung zu stärken.
66 Vgl. die Nachweise bei Fritz Ossenbühl, Die Freiheiten des Unternehmers nach dem Grundgesetz, AöR 115 (1990), 1 (8); ferner BVerfGE 41, 360 (372); 87, 363 (382); Friedhelm Hufen, Berufsfreiheit - Erinnerung an ein Grundrecht, NJW 1994, 2913 (2920 f.). 67
Egon Tuchtfeldt,
Gewerbefreiheit als wirtschaftspolitisches Problem, 1955, S. 64.
Mehrfache Staatsangehörigkeit im Völkerrecht, Europarecht und Verfassungsrecht Von Karl Doehring
I. Zunächst soll eine allgemeine Betrachtung angestellt werden. Das Rechtsinstitut der Staatsangehörigkeit ist nicht so alt wie oftmals angenommen wird. Es entstand in der Zeit, in der eine gewisse Abkehr von der Monarchie zur Republik sich anbahnte; das waren das Ende des 18. Jahrhunderts und insbesondere die Französische Revolution, und das lag daran, daß es zum Wesen der Republik gehört, wenn man annahm, der Staat gehöre nun den Bürgern, die Bürger aber seien nicht nur berechtigt, den Staat zu regieren, sondern auch verpflichtet, ihn aufrecht zu erhalten. Die res publica sollte ein Gebilde sein, das zur gemeinsamen Hand zu beherrschen und zu erhalten sei. Mit so einer Sicht ist sicherlich schwer vereinbar, daß ein Bürger zu mehreren Staaten gehört und damit die Pflicht hätte, mehrere Staaten zu schützen, zu lenken und ihnen zu dienen. Man kann das durchaus in Parallele sehen mit etwa der Zugehörigkeit zu mehreren Religionsgemeinschaften. Jede Religionsgemeinschaft möchte doch ihre Zugehörigkeit als exklusiv auffassen. So wollte auch der im 19. Jahrhundert immer stärker sich entfaltende Nationalstaat den Bürger als nur ihm zugehörig betrachten. Um ein anderes Beispiel noch zu erwähnen, wäre es auch merkwürdig, wenn jemand mehreren politischen Parteien angehören würde, die dann jeweils auch kein Vertrauen in die politische Zuverlässigkeit dieses doppelten Parteiangehörigen mehr haben könnten. Aus dieser Sicht verlangt die Gemeinschaft, der der Mensch zugehört, seine volle Zuwendung. Aus ganz der gleichen Sicht hat man mit guter Berechtigung immer von einem besonderen Schutz- und Treueverhältnis zwischen Staat und Staatsbürger gesprochen. Der Staat schützt den Bürger, der Bürger schuldet dem Staat für diesen Schutz Treue, in der Republik also auch Treue zu sich selbst. Frühzeitig hat sich die lateinische Version dieses Verhältnisses entwickelt, wenn es heißt: protectio trahit subjectionem et subjectio protectionem.
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Karl Doehring
IL Wir wollen uns nun dem allgemeinen Völkerrecht zuwenden. Wie schon bemerkt, entwickelte sich im 18. Jahrhundert immer stärker das Institut des Nationalstaats1. Die klassische Definition des Staates in dieser Zeit - und sie gilt bis heute - lautet: Ein Staat im Völkerrecht ist nur vorhanden, wenn ein abgrenzbares Staatsvolk besteht, ein abgrenzbares Staatsgebiet und eine effektive Staatsgewalt. Unter dieser Sicht sind auch bis heute Staaten nicht nur berechtigt, den Kreis ihrer Staatsangehörigen exakt zu bestimmen, sondern sie sind dazu verpflichtet, denn sie sind in gewisser Weise verantwortlich für ihr Staatsvolk auch in den Außenbeziehungen des Staates2, und das Staatsvolk trägt insgesamt, wie wir es heute nun ganz genau wissen, ein gemeinsames Schicksal im Glück und im Unglück, und auch im Hinblick auf die Verantwortlichkeit gegenüber anderen Staaten. Es geht dabei nicht um Kollektivschuld, doch aber um Kollektivhaftung. Wie verfuhr man nun, als man das Staatsvolk in diesem Sinne exakt bestimmen wollte? Bis heute gibt es zwei Methoden in dieser Hinsicht. Es geht darum, daß ein Staat sein Staatsvolk abgrenzen kann nach dem Grundsatz des ius sanguinis - heute polemisch auch als Recht des Blutes bezeichnet, wobei man wohl an Blut und Boden des NS-Staates erinnern will - und also nach der Abstammung von Eltern, die schon diese Staatsangehörigkeit inne hatten. Das andere System ist die Methode nach dem ius soli, d.h. zum Staat soll derjenige gehören, der auf dessen Territorium geboren ist, gleichgültig, woher seine Eltern stammen. Beide Systeme hat das Völkerrecht immer zugelassen3, wobei das sei hier schon bemerkt - das Prinzip der Abstammung weltweit überwiegt und weitgehend sogar in den Staaten, die dem ius soli folgen, nämlich für die Kinder der dort Geborenen, gleichgültig wo diese dann wiederum geboren sind. Diese zwei Systeme führten dazu, daß Kollisionen entstanden sind. Sie konnten Staatenlosigkeit erzeugen, wenn ein Kind in einem Staat geboren wurde, der das ius soli nicht kennt, und es konnte Mehrstaatlichkeit erzeugt werden, wenn ausländische Eltern im Gebiet eines Staates, der das ius soli anwendet, ein Kind bekamen4.
1
E. R. Huber, Nationalstaat und internationale Ordnung, in: Nationalstaat und Verfassungsstaat, 1965, S. 276. 2 Internationaler Gerichtshof im Teheraner Geisel-Fall, ICJ Rep. 1980, S. 3 ff., 31 ff.; J. Wolf, Zurechnungsfragen bei Handlungen von Privatpersonen, in: ZaöRV, Bd. 45, 1985, S. 232. 3 A. Randelzhofer, Nationality, in: EPIL, Bd. 3, 1997, S. 503 f. 4 K. Hailbronner, in: Hailbronner/Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, 2. Aufl., 1998, S. 124 ff. zur Staatenlosigkeit und S. 95 ff. zur mehrfachen Staatsangehörigkeit.
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Man hat im Völkerrecht diesen Zustand, die Kollision von Staatsangehörigkeiten, bisher immer hingenommen, denn es ging doch wohl meist um sehr begrenzte Zahlen von Staatenlosen und Doppelstaatlern. Doch kann man auch feststellen, daß das Völkerrecht bis heute beide Zustände, die Staatenlosigkeit und Mehrstaatlichkeit, zu vermeiden sucht. Der Grund für diese Tendenz liegt in folgendem: Die Verletzung eines Menschen wurde immer auch gleichzeitig als Verletzung seines Heimatstaates angesehen5, denn er war in gewisser Weise mit dem verletzten Individuum identisch, insbesondere aus der Sicht der Republik. Die Verletzung eines Menschen bedeutete so die Verletzung seines Gemeinwesens, also des Staates, dem er angehört. Aus dieser Sicht war es schwer vorstellbar, daß die Verletzung eines Menschen gleich zwei Staaten betreffen sollte, wenn dieser deren Staatsangehörigkeit gleichermaßen innehat. Und es war zu verstehen, daß die Verletzung eines Staatenlosen deshalb nicht die Verletzung eines Staates sein konnte, weil diese Person eben keinem Staat zugehört 6. Jeder Staat sollte also das Recht haben, seine Bürger gegenüber anderen Staaten schützen zu können, aber nicht das Recht, die Bürger eines anderen Staates zu schützen, denn dessen Rechtsverletzung konnte ihn nicht betreffen 7. Der Grundsatz war also, daß jeder Mensch zu einem Staat und nur zu ihm gehörte. Aus diesen Gründen wurde weit überwiegend das ius sanguinis als Mittel zur Abgrenzung der Staatsangehörigkeit gewählt. Doch hierzu bestand kein Zwang. Die Regel lautet bis heute, daß jeder Staat frei ist, den Kreis seiner Staatsangehörigen zu bestimmen, solange er damit nicht in die Rechte anderer Staaten eingreift oder völlig willkürlich handelt8. Die Erzeugung von Mehrstaatlichkeit hat auch bis heute im Völkerrecht immer erhebliche Schwierigkeiten mit sich gebracht. Hier sollen die wesentlichsten aufgezählt werden: 1.
Ein dritter Staat, zu dem ein Mensch nicht gehört, könnte einen Doppelstaatler in seinen Rechten verletzen. Es entsteht dann die Frage, welcher von den beiden Heimatstaaten zum Schutz berechtigt ist, bzw. ob beide Staaten „verletzt" sind, denn die Verletzung eines Menschen bedeutet im Völkerrecht die Verletzung seines Heimatstaates9.
5
Internationaler Gerichtshof im Falle Barcelona Traction, Second Phase, ICJ Rep. 1970, S. 45-46, unter Hinweis auf frühere Rechtsprechung. 6 T. Jürgens, Diplomatischer Schutz und Staatenlose, 1987. 7 Zur sog. Nationality rule schon der Ständige Internationale Gerichtshof, PCIJ Series A/B, No. 76, 1939, S. 4 ff., 16. 8 A. Randelzhofer (s.o. Fn. 3), S. 504 f. 9 S.o. Fn. 5.
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Karl Doehring
2.
Im Falle der doppelten Staatsangehörigkeit darf kein Staat Schutz für seinen Bürger ausüben gegenüber demjenigen Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Bürger auch innehat, denn jeder der beiden Heimatstaaten ist berechtigt, die betroffene Person als exklusiv seinen Staatsangehörigen anzusehen10. Es tritt dann Schutzlosigkeit ein.
3.
Es erhebt sich die Frage, nach welchem Recht denn bei doppelter Staatsangehörigkeit eine Erbschaft zu behandeln ist. Z.B. Streit tritt dann ein, wenn ein Heimatstaat Pflichtteilsansprüche zuerkennt, der andere aber nicht. Die Beispiele ließen sich vermehren.
4.
Wird eine Person mit doppelter Staatsangehörigkeit aus einem dritten Staat, in dem sie sich befindet, ausgewiesen, fragt es sich, welcher der Heimatstaaten nun zur Aufnahme verpflichtet ist 11 .
5.
Welcher der beiden Heimatstaaten kann den Betroffenen nun zur Steuerleistung heranziehen, wenn keine entsprechenden Verträge bestehen12?
6.
Nach welchem Recht heiratet der Doppelstaatler? Muß jeder der beiden Heimatstaaten eine Ehe, geschlossen im anderen Staat, anerkennen? Darf der Angehörige eines islamischen Staates im Ausland mehrere Frauen heiraten und ihnen dann so auch die Staatsangehörigkeit des anderen Heimatstaates vermitteln?
7.
Es ist auch die Frage, ob nun die Kinder einer Person, die die doppelte Staatsangehörigkeit hat, diese doppelte Staatsangehörigkeit wiederum erhalten.
8.
Muß der Inhaber mehrerer Staatsangehörigkeiten in jedem Heimatstaat die Wehrpflicht ausüben, wenn das dort verlangt wird? Für welchen Staat - falls er sich im Kriegszustand befindet - gilt der Doppelstaatler als „feindlicher" Ausländer? Er könnte interniert und sein Vermögen sequestriert werden 13.
9.
Welcher Staat muß bei Doppelstaatlichkeit und bei Eintreten der Hilflosigkeit für diese Person sorgen? Kann jeder Staat den Standpunkt vertreten, der andere Staat sei nun zur Hilfe verpflichtet?
10
K. Hailbronner (s.o. Fn. 4), S. 99 ff. Zur Aufnahmepflicht der eigenen Staatsangehörigen K. Hailbronner (s.o. Fn. 4), S. 79 ff. 12 Dazu W. Ebke, Double Taxation, in: EPIL, Bd. 1, 1992, S. 1098 ff. 13 K. J. Madders , Internment, in: EPIL, Bd. 2, 1995, S. 1403 ff., T. SeidelHohenveldern, Enemy Property, in: EPIL, Bd. 2, 1995, S. 87 ff. 11
Mehrfache Staatsangehörigkeit
259
10.
Soll die Berechtigung bestehen, in jedem Heimatstaat das Wahlrecht auszuüben? Wie steht es, wenn der Doppelstaatler in beiden Staaten politischen Parteien unterschiedlicher Staatsziele angehört?
11.
Inwieweit können Doppelstaatler im jeweils anderen Staat völkerrechtlichen Minderheitenschutz fordern?
Das ist ein Teil der Gründe, warum das Völkerrecht bis heute bestrebt ist, doppelte Staatsangehörigkeit zu vermeiden. Das besondere Treue- und Schutzverhältnis zwischen Staat und Staatsbürger wurde auch vom Internationalen Gerichtshof nachdrücklich betont 14 . Dennoch besteht auch bis heute kein eindeutiges Gebot zur Vermeidung doppelter Staatsangehörigkeit, bestenfalls kann man von einer völkerrechtlichen Tendenz sprechen, die allerdings vielfältig ihren Niederschlag gefunden hat. Als Mittel zur Vermeidung dieser Situationen gilt nach Völkerrecht die Entscheidung bei Kollisionsfällen darüber, welcher der beiden Staatsangehörigkeiten nun die, wie man sagt, „effektivere" ist 15 . Immer wieder wird also danach gefragt, wohin denn der Mensch endgültig gehören soll, wenn Rechte und Pflichten in Kollision kommen. Aber diese effektivere Staatsangehörigkeit ist schwer zu bestimmen, da enge Bande zu den beiden Staaten durchaus bestehen können und man sich dann in einer Balance entscheiden muß 16 . Ein anderes Mittel war es immer, Verträge zur Vermeidung doppelter Staatsangehörigkeit zu schließen, etwa dadurch, daß man die Einbürgerung nur bei Verlust der anderen Staatsangehörigkeit zulassen möge. So war es schon vorgesehen in einem Vertrag von 1930, der in Den Haag seinerzeit geschlossen wurde 17 . Kollisionen können natürlich immer durch Verträge geregelt werden, aber dazu besteht kein Zwang. Diese völkerrechtlichen Probleme bestanden immer, aber sie werden doch immer stärker in einer Zeit der Migration und in einer Zeit der enger werdenden Welt. Die meisten Staaten wendeten zur Abgrenzung ihrer Staatsangehörigkeit das ius sanguinis an, haben längere Zeit verlangt, daß durch Heirat eine Staatsangehörigkeit verloren geht, haben ebenfalls vorgesehen, daß die Kinder aus gemischten Ehen doch nur eine Staatsangehörigkeit, früher die des Vaters inne haben sollten. Die Gleichheit von Mann und Frau, wie sie sich heute in weltweiten Verträgen findet, brachte dieses System jedoch zum Erliegen. Wenn
14
Internationaler Gerichtshof im Fall Nottebohm, ICJ Rep. 1955, S. 4 f f , 23. K. Hailbronner (s.o. Fn. 4), S. 102 ff. 16 Zu entsprechenden Erwägungen s. amerikanisch-italienische Vergleichskommission im Falle Merge , 10.6.1955, Report on International Arbitral Awards Bd. 14, S. 236, 241. 17 2. Haager Protokoll zum Abkommen vom 12.4.1930, s. K. Hailbronner (s.o. Fn. 4), S. 99 ff. 15
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Karl Doehring
nur der Mann seine Staatsangehörigkeit weitergeben kann, wäre das doch der Frau verwehrt und also gegen diesen Gleichheitssatz verstoßend. Das produzierte viele neuere Fälle der Mehrstaatlichkeit. Es sollen nochmals die völkerrechtlichen Grundsätze in ganz gekürzter Form wiederholt werden: Jeder Staat ist frei, ius soli oder ius sanguinis anzuwenden, oder auch eine Mischform. Das Völkerrecht hält es nach wie vor nicht für verboten, aber doch für unerwünscht, die Herstellung doppelter Staatsangehörigkeit zu begünstigen. Die Vermeidung doppelter Staatsangehörigkeit, etwa Verlust der zweiten Staatsangehörigkeit bei Einbürgerung, gilt als völkerrechtsfreundlicher als die Zulassung doppelter Staatsangehörigkeit. Aber eine Rechtswidrigkeit der weitgehenden Zulassung doppelter Staatsangehörigkeit wird nicht angenommen.
III. Nun soll das Europarecht betrachtet werden. Lange Zeit haben europäische Staaten an der Auffassung festgehalten, daß doppelte Staatsangehörigkeit vermieden werden sollte. Die Gründe hierfür waren die gleichen, wie sie für das Völkerrecht dargestellt wurden. Ein Vertrag von 1963 bestimmt in seinem Art. 1, daß bei Einbürgerung jeder Staat verpflichtet sei, auf die Ablegung einer anderen Staatsangehörigkeit zu drängen 18. Die Einbürgerung war hiernach also regelmäßig zu versagen, wenn eine zweite Staatsangehörigkeit aufrechterhalten werden sollte. Hier trat nun im Jahre 1993 eine Wende ein. Ein Zusatzprotokoll zu diesem Vertrag von 1963 besagte, daß europäische Staaten auch berechtigt seien, die zweite Staatsangehörigkeit bei Einbürgerung zu belassen19. Insbesondere bei gemischten Ehen könne gestattet werden, daß ein Kind beide Staatsangehörigkeiten, die des Vaters und u.U. eine abweichende der Mutter, innehabe. Neuerdings liegt ein Konventionsentwurf von 1997 vor, der besagt, daß europäische Staaten frei seien, entweder doppelte Staatsangehörigkeit zu akzeptieren, oder aber auch frei seien, sie abzulehnen20. Ein neuer Zusatz sagt aber nun, daß die Aufgabe der zweiten Staatsangehörigkeit nicht verlangt werden solle, wenn das „vernünftigerweise" nicht erwartet werden könne. Das soll
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Abkommen über die Verringerung der Mehrstaatigkeit und über die Wehrpflicht von Mehrstaatern vom 6.5.1963 (BGBl 1969 II, S. 1954), Art. 1, Abs. 1. 19 Second Protocol amending the Convention on the Reduction of Cases of Multiple Nationality and Military Obligations in Cases of Multiple Nationality, 2.2.1993, European Treaty Series Nr. 149, Abs. 1. 20 Draft Convention on Nationality, 15.1.1997 (wiedergegeben bei Κ. Hailbronner , s.o. Fn. 4, S. 825 ff.), Art. 14-17.
Mehrfache Staatsangehörigkeit
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auch gelten, wenn keine rechtliche Möglichkeit der Ablegung der zweiten Staatsangehörigkeit besteht. Man sieht, daß hier eine langsame Aufweichung früherer doch recht strikter Prinzipien angestrebt wird. Die Gründe für diese Permissivität sind leicht erkennbar. In allen europäischen Staaten hat offenbar ein früher bestehendes Staatsbewußtsein abgenommen. Die Auffassungen über den Begriff des Staatsvolkes haben sich daher offenbar auch geändert. Man könnte sogar sagen, daß die Übertragung von Hoheitsrechten innerhalb der Europäischen Union für die europäischen Staaten weitgehend die Aufgabe ihrer bisherigen Souveränität bedeutet. Die Währungsunion hat ein übriges getan. So hat sich in Europa jedenfalls das Gefühl verbreitet, wonach der historisch gewachsene Begriff des Staatsvolkes nicht mehr in früherer Art ernst genommen wird. Auch die Einführung des Kommunalwahlrechts unter den europäischen Staaten hat natürlich dazu erheblich beigetragen 21. Gleichzeitig allerdings geht damit auch eine Auflösung des Begriffs der Republik einher, denn die Staatsvölker der europäischen Staaten sind nicht mehr ausschließlich Inhaber der Verwaltung und Regierung ihrer Staaten, sondern haben ihre republikanische Autonomie an europäische Institutionen abgegeben. Kein Staatsbürger einer bisherigen nationalen Republik trägt mehr die Verantwortung für sein Gemeinwesen. Man kann sich fragen, wem gegenüber auch diese Verantwortung bestehen sollte und wo nun noch das gegenseitige Treue- und Schutzverhältnis zu finden ist 22 . Der bisherige Nationalstaat kann den Schutz schon im innerstaatlichen Bereich nicht mehr umfassend ausüben, denn er hat Hoheitsrechte weitgehend abgegeben. Die Europäische Union kann diesen Schutz auch nicht ausüben, denn sie ist kein Staat und hat auch keine umfassende Zuständigkeit. Auch das Bundesverfassungsgericht kann durch den Europäischen Gerichtshof korrigiert werden, woran sich wiederum zeigt, daß ein beachtlicher Teil der Souveränität an europäische Institutionen abgegeben ist. Der Begriff der Allzuständigkeit, der früher mit dem Nationalstaat verbunden war, ist aufgegeben. So kommt es, daß nun behauptet wird, das Recht der Abstammung, das man, um es abzuwerten, auch das Recht des Blutes nennt, sei überlebt. Viele europäische Staaten sind auch zu dem System übergegangen, daß trotz grundsätzlicher Geltung des Abstammungsprinzips auf ihrem Gebiet geborene Kinder unter bestimmten Bedingungen eine Option zur Erreichung der Staatsangehörigkeit haben sollen, wobei überwiegend nicht gefordert wird, daß die frühere Staatsangehörigkeit abgelegt wird 23 .
21 So jetzt auch Art. 28, Abs. 1, S. 3 GG; dazu M. Nierhaus , in: Grundgesetz, Kommentar (Hrsg. M. Sachs), 2. Aufl. 1999, zu Art. 28, Rdn. 21 ff. 22 Zum Mangel eines responsible government in der EG und EU. K. Doehring , Völkerrecht, 1999, Rdn. 239 ff.
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Anders steht es in den USA, wo die Einbürgerung von der Ablegung der früheren Staatsangehörigkeit abhängig gemacht wird. Die USA akzeptieren die doppelte Staatsangehörigkeit durchaus bei Zusammentreffen von ius soli und ius sanguinis und lassen sie auch bestehen, aber jedenfalls bei der Einbürgerung wollen sie diese Konzession nicht machen24.
IV. Nun einige Bemerkungen darüber, wie unsere Verfassung zu dieser Frage steht. Das Grundgesetz sagt nichts ausdrücklich über die Frage der Zulässigkeit doppelter Staatsangehörigkeit. Sicherlich haben die Verfassungsväter im Parlamentarischen Rat das Bild der exklusiven Staatsangehörigkeit zur Grundlage ihrer Betrachtung gemacht und die doppelte sicherlich auch vermeiden wollen, soweit das zumutbar war. Man sollte sich fragen, was im Grundgesetz die Formel bedeutet: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Man muß klären, was die Verfassung unter diesem Staatsvolk versteht. Soll das Staatsvolk sich gestalten wie in früheren Zeiten, d.h. im Sinne des Nationalstaats, oder soll es sich mehr in Richtung auf eine angeblich modernere Sicht entwickeln, d.h. im Sinne einer Wohnbevölkerung? Diejenigen, die die Republik im überkommenen Sinne bewahren wollen, müßten die Einschränkung doppelter Staatsangehörigkeit für angebracht halten. Diejenigen, die zur Aufgabe der bisherigen Staatlichkeit neigen, etwa durch weitere Integration in Europa, sind gegenüber doppelter Staatsangehörigkeit weniger zurückhaltend. Aber das Grundgesetz schweigt. Die schon genannte Aufweichung des Begriffs des Staatsvolkes im überkommenen Sinne begann mit der Einführung des Kommunalwahlrechts für europäische Ausländer. Darin kam zum Ausdruck, daß die deutsche Staatsangehörigkeit, zunächst auf dieser Ebene, durchaus nicht Voraussetzung der politischen Betätigung im und für den Staat angesehen wurde. Diese Abkehr von der früheren Auffassung zeigte, daß eben auch die Wohnbevölkerung einbeziehbar wurde, ein Grundsatz, den auch das ius soli betont.
23
Κ . Hailbronner (s.o. Fn. 4), S. 106 ff. Zum Recht der USA, Restatement of the Law Third. The American Law Institute, Foreign Relations Law, 1987, § 212, Reporters' Notes 3. 24
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Dieser Gedanke setzt sich nun fort, wenn man wegen langen Aufenthalts oder auch des Aufenthalts der Eltern den Kindern die Staatsangehörigkeit des Territorialstaates geben will und dann auch die zweite Staatsangehörigkeit beläßt. Das Bundesverfassungsgericht hat sich seiner Zeit sehr strikt über das besondere Treueverhältnis zwischen Staat und Staatsbürger ausgesprochen, und das Gericht hat auch Nachteile doppelter Staatsangehörigkeit gesehen25, aber ihre verfassungsrechtliche Unzulässigkeit hat es nicht bestätigt. Das Verfassungsgericht hat nur festgestellt, daß jedenfalls im allgemeinen Völkerrecht die hier beschriebene Tendenz zur Ablehnung doppelter Staatsangehörigkeit weiterhin fortbesteht. Wie sollen wir nun das Grundgesetz auslegen, ist die entscheidende Frage. Die oft betonte Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes26 würde nahelegen, daß die immer noch bestehende Tendenz des allgemeinen Völkerrechts, nämlich die Mehrstaatlichkeit zu vermeiden, unserer Rechtsordnung entspricht. Die Europafreundlichkeit des Grundgesetzes, wie sie in Präambel und Art. 23 und 24 zum Ausdruck kommt, tendiert zur Auflösung des überkommenen Nationalbegriffs, jedenfalls im Hinblick auf Europa. Da in diesem Sinne die Zulassung auch der doppelten Staatsangehörigkeit in vielen europäischen Staaten und damit auch eine gewisse Abkehr vom Nationalstaat zu registrieren ist, zeigt sich eine Tendenz zur Zulassung auch sozusagen halber Deutscher zu politischer Mitwirkung, d.h. also von Personen, die nicht die ausschließlich deutsche Staatsangehörigkeit innehaben und auch politische Mitwirkungsrechte in anderen Staaten behalten haben. So stehen wir vor einer Schaukel: Vermeidung mehrfacher Staatsangehörigkeit im Sinne der immer noch geltenden Tendenz des allgemeinen Völkerrechts - oder Hinnahme mehrfacher Staatsangehörigkeit im Sinne einer derzeit bestehenden europäischen Tendenz. Wenn die Verfassung keine eindeutige Antwort hier gibt oder geben kann, ist ihre Ergänzung ein politischer Vorgang, nicht mehr nur eine Rechtsanwendung. Wenn alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, müßte eigentlich das Volk selbst - als Verfassungsgeber wirkend - die Verfassung ergänzen. Aber das Volk ist nicht anfragbar. Das Grundgesetz kennt keinen Volksentscheid und kein Volksbegehren, mit Ausnahme für Gebietsveränderungen gem. Art. 29. Gäbe es eine solche Möglichkeit, hätten wir eine klare Entscheidung des republikanischen Volkes, wie immer sie auch ausfallen würde.
25
BVerfGE 37, 217, 254 ff. Hierzu /?. Streinz , in: Grundgesetz, Kommentar (Hrsg. M. Sachs), 2. Aufl. 1999, zu Art. 24, Rdn. 6. 26
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Die Entscheidung über die Zugehörigkeit zu einem Staatsvolk - d.h. also, ob man auf Halbdeutsche die doppelte Staatsangehörigkeit zu erstrecken wünscht ist eine der wenigen Entscheidungen, die dem bisherigen Staatsvolk selbst überlassen sein sollte. Es ist nicht einzusehen, daß zwar über Gebietsveränderungen das Volk befragt werden kann oder auch muß, nicht aber über die Veränderung der Zusammensetzung des Staatsvolkes. Will die Mehrheit des bestehenden Staatsvolkes den Wandel des Inhalts dieses Begriffs, bestätigt sich der Grundsatz, daß die Demokratie die gerechteste Staatsform ist, denn das Volk bekommt, was es verdient. Will das Volk mit Mehrheit seinen Status wahren, gilt das gleiche. Daher wäre eine Änderung des Grundgesetzes geboten, die es ermöglicht, bei fundamentalen Problemen unseres Staatswesens durch Volksbefragung den Willen des Staatsvolkes festzustellen. Der zur Zeit vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts fördert das Entstehen mehrfacher Staatsangehörigkeit in verdeckter Form. Kinder ausländischer Eltern, die auf dem deutschen Staatsgebiet geboren sind, sollen die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten und sich dann zwischen dem 18. und 23. Lebensjahr für eine der beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden. Entscheiden sie sich ftir die deutsche Staatsangehörigkeit, soll die zweite Staatsangehörigkeit dann doch auch fortbestehen, wenn es nicht möglich oder zumutbar ist, sie abzulegen. Schon die Beweislast, ob nun Unzumutbarkeit vorliegt, bleibt unklar. Der Status innerhalb dieser fünf Jahre ist noch unklarer. Der Doppeltstaatler hat dann offenbar in dieser Zeit die Möglichkeit, in zwei Staaten sich an den Wahlen zu beteiligen. Verliert er die deutsche Staatsangehörigkeit, hat er unsinnigerweise in den Jahren vorher das Wahlrecht ausgeübt. Besonders unklar ist auch die vorgesehene Regelung, daß ein Ausländer, der seit acht Jahren rechtmäßig im Inland wohnt, einen Anspruch auf Einbürgerung innehaben soll. Auch hier ist zwar vorgesehen, daß dann die bisherige Staatsangehörigkeit aufgegeben wird, aber Ausnahmeklauseln sind so weit gefaßt, daß die Doppelstaatlichkeit in der Praxis voraussichtlich überwiegen wird. So soll die Aufgabe der zweiten Staatsangehörigkeit dann nicht gefordert werden, wenn die fremde Staatsangehörigkeit nur unter besonders schwierigen Bedingungen aufgegeben werden kann, wenn der fremde Staat eine solche Entlassung regelmäßig verweigert, wenn die Versagung der Einbürgerung wegen Beibehaltung der fremden Staatsangehörigkeit eine besondere Härte darstellen würde oder wenn erhebliche Nachteile wirtschaftlicher Art zu erwarten wären. Ob es sich hier um Ermessensentscheidungen handelt, erscheint zweifelhaft. Der grundsätzlich gewährte Einbürgerungsanspruch aber eröffnet Rechtspositionen, die das allgemeine Völkerrecht gerade zu vermeiden sucht.
Ausländerrecht und jüdische Emigration aus der früheren Sowjetunion V o n Gernot Biehler 1 Helmut Quaritsch hat sich umfassend zum Ausländer- und Asylrecht geäußert 2 . Für viele Juristen, die nicht so sehr mit den Arcana von Staat und Souveränität vertraut sind, steht sein Name vorrangig für Positionen in diesem Bereich. Die erheblichen rechtlichen und tatsächlichen Wandlungen diese Rechtsgebiets kommentierte er über Jahrzehnte, befördernd oder auch m a l aufhaltend. Immer bereicherte er m i t großem Weit- und Scharfblick die Entwicklung. So mag es recht sein, diesen Faden hier aufzunehmen.
1 Die Ausführungen geben nur die persönliche Meinung des Verfassers wieder, er war in den Jahren 1991 bis 1993 Forschungsreferent bei dem Jubilar an der Verwaltungshochschule in Speyer. 2 Helmut Quaritsch, Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland? Aktuelle Reformfragen des Ausländerrechts, 2. Aufl. 1982; Ausländerpolitik auf dem Prüfstand praktischer Vernunft, Hamburg 1983; Ausländerpolitik im Zielkonflikt, Köln 1982; Wahlrecht für Ausländer (Bespr. H. Rittstieg), in: Der Staat 21 (1982), 615-618; Ausländerrecht (Bespr. zu Kay Hailbronner), in: Die Verwaltung 19 (1986) 400 ff.; Staatsangehörigkeitsrecht und Wahlrecht. Zum Problem des Ausländerwahlrechts. Speyerer Rektoratsrede am 17.5.1982, in: DÖV 36 (1983), 1-15; Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland?, in: Bayerische Verwaltungsblätter 113 (1982) 9-12; Kinder Nachzug und Art. 6 GG. Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Nachzugsbeschränkungen, in: NJW 37 (1984), 2731-2736; Das Grundrecht auf Asyl und die neuen Wirklichkeiten, in: Wirklichkeit als Tabu, hrsg. von Armin Möhler, München 1986, 37-60; Die Rechtsstellung des Gastarbeiters in der Bundesrepublik Deutschland, in: Gastarbeiter. Analyse und Perspektiven eines sozialen Problems, hrsg. von Helga und Horst Reimann, 2. Aufl. 1987, S.95-115; Arbeitsverbot und Sichtvermerk als „flankierende Maßnahmen des Asyl Verfahrens", in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, hrsg. von Walter Fürst und Roman Herzog, Band 1, Berlin 1987, S. 957-980; Einbürgerungspolitik als Ausländerpolitik, in: Der Staat 27 (1988), S. 481-503; Die Einbürgerung der Gastarbeiter in Staat und Völkerrechtsordnung, in: Festschrift für Karl Doehring, Heidelberg, 1989, S.725-744; Die grundrechtliche Stellung des Ausländers, in: Handbuch des Staatsrechts, hrsg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof, Bd.5 (Allgemeine Grundrechtslehren), Heidelberg 1992, S.663-737 u.v.a.m..
1 FS Quaritsch
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I. Einleitung Das Auswärtige Amt und der Auswärtige Dienst haben vordergründig wenig mit Ausländerrecht oder -politik zu tun, obwohl sich ihre Tätigkeit gerade mit und zwischen Ausländern abspielt; aber eben im Ausland, wo die Ausländer Inländer sind. Für das Ausländerrecht werden diese Inländer zu Ausländern, wenn sie ins Inland kommen oder dies jedenfalls wollen. Was sich dann abspielt, ist Ausländerrecht, es ist Sache der inneren Behörden: Auf Bundesebene ist das Bundesministerium des Innern in Fragen des Ausländerrechts federführend, in den Ländern sind die Ausländerämter den obersten Innenbehörden nachgeordnet. Im Normalfall findet der erste Kontakt eines Ausländers mit dem deutschen Staat durch eine deutsche Behörde im Ausland statt; eine Botschaft oder ein Konsulat. Hier wird ein wesentlicher Teil des Ausländerrechts bei der Vergabe von Einreisesichtvermerken, Beurkundungen oder Legalisationen von dem bundeseigenen Auswärtigen Dienst umgesetzt. Er wendet das Ausländergesetz und andere Normen in eigener Verantwortung an und nimmt gegebene Ermessensspielräume wahr. Es handelt sich dabei um Gesetzesanwendung, um klassische Verwaltung. Der Schwerpunkt der auswärtigen Beziehungen und der Tätigkeit des Auswärtigen Dienstes ist ansonsten dagegen politischer Art. Vielleicht erklärt dies, daß im Ausländerrecht, wenn zu der Normanwendung eine scheinbar gegenläufige politische Forderung tritt, die auswärtige Verwaltung viel selbstverständlicher mit diesem Konflikt umgeht, als man es mit an innerstaatlicher Sichtweise geschultem Blick erwartet. Über einen solchen Anwendungsfall, der die Botschaften in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion seit Jahren beschäftigt, sei berichtet:
II. Die jüdische Emigration aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland 1. Das Geschehnis Der damalige Bundeskanzler Kohl sagte 1991 dem damaligen Zentralratsvorsitzenden der Juden in Deutschland Galinski zu, Juden aus der untergehenden Sowjetunion die Zuwanderung in das gerade wiedervereinigte Deutschland zu genehmigen.3 Eine zahlenmäßige oder zeitliche Begrenzung war nicht vorgesehen. Die Ministerpräsidenten der Länder stimmten zu, die Betroffenen im Rahmen ihrer Möglichkeiten aufzunehmen. Die Betroffenen werden als sogenannte „Kontingentflüchtlinge", also auf der Rechtsgrundlage der Genfer Flüchtlingskonvention nach dem Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen hu-
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manitärer Hilfsaktionen aufgenommener Flüchtlinge, in Deutschland aufgenommen.4 In einem vereinfachten Verfahren können die jüdischen Flüchtlinge bei den deutschen Auslandsvertretungen in ihren Heimatstaaten einen Aufhahmeantrag stellen. Der wird an das Bundesverwaltungsamt weitergeleitet, das die Verteilung der Flüchtlinge nach dem Königssteiner Schlüssel, dem Asylverteilungsschlüssel, vornimmt. Liegt von den Ländern eine Aufhahmezusage vor, kann die Botschaft ein Einreisevisum erteilen. Die Flüchtlinge erhalten dann in Deutschland bei Eintreffen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach §§ 15, 24 des Ausländergesetzes, ohne daß es auf die tatbestandlichen Voraussetzungen der letzgenannten Paragraphen ankommt. Motive der ursprünglichen politischen Zusage waren die von Galinski gewünschte Stärkung der jüdischen religösen Gemeinden in Deutschland, der Schutz vor antisemitischer Verfolgung und im weiteren Sinne auch die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts, wobei die Stärkung der Gemeinden im Vordergrund steht, da ein Zusammenhang zu Verfolgung oder Wiedergutmachung bei der Aufnahme von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion konkret nicht herzustellen ist.5 Die Einwanderer erhalten von den Ländern verschiedene Eingliederungshilfen, Unterbringung und gegebenenfalls Sozialhilfe. Der Bund trägt mit Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen, Sozialversicherung und Sprachkursen bei. Über einhunderttausend Personen sind bis heute auf diesem Wege dauerhaft in die Bundesrepublik Deutschland gekommen6. Weitere Zusiedler in entsprechender Größenordnung sind in den nächsten Jahren zu erwarten.
3 Vgl. Spiegel Nr.22 vom 11. Juni 1996, S.22, wobei der Spiegel davon spricht, daß der „humanitäre Pakt" schon 1990 geschlossen worden sei, obwohl die fragliche Abmachung der Regierungschefs des Bundes und der Länder erst im Januar 1991 stattfand. 4 So die einzige Äußerung zu den Rechtsgrundlagen der Einwanderung in: Julius H. Schoeps, Willi Jasper, Bernhard Vogt, Russische Juden in Deutschland 1996, S.13f.; sonstige veröffentlichte Stellungnahmen sind mir nicht bekannt. Das Gesetz ist vom 22. Juli 1980, BGBl. Bd.l,S.1057. 5 FAZ Nr. 178, 1996, „Aus dem Schtetl in die Freiheit", zum Ende der Verfolgung der Juden in der ehemaligen Sowjetunion, mit Verweis auf Berichte des Auswärtigen Amts; vgl. auch Spiegel, s.o. Fn. 3; ferner Stefan Schreiner, Zukunft ohne Hoffnung, Juden in der Sowjetunion, in: Glaube in der 2. Welt, 1991, 19. Jahrgang, S. 37ff. 6 Stand Sommer 1999; davon ist aufgrund der von Julius Schoeps u.a. (s.o. Fn. 4), dort S. 8 zitierten Information des Bundesverwaltungsamtes von 97 197 Aufnahmezusagen bis 1996 auszugehen; die Zusagen sind innerhalb eines Jahres wahrzunehmen,
18*
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Aufgenommen werden Personen mit mindestens einem jüdischen Elternteil nebst Ehepartner und minderjährigen Kindern. Inzwischen liegt eine Studie über die Lebensverhältnisse der aus der ehemaligen Sowjetunion eingewanderten Juden in Deutschland vor, die aufschlußreiches Material über deren Selbsteinschätzung und soziale Integration zusammenfasst. Sie ist von der Kommission der Europäischen Union, dem Land Brandenburg, der Bundesanstalt für Arbeit, der Haniel Stiftung und der Volkswagenstiftung finanziell unterstützt worden. 7 Im Rahmen des Verfahrens waren von den deutschen Auslandsvertretungen in der ehemaligen Sowjetunion und dem Bundesverwaltungsamt viele praktische Fragen zu beantworten: Der starke Auswanderungsdruck der Bevölkerung in der ehemaligen Sowjetunion gerade nach Deutschland führte zu vielen, teils erfolgreichen Versuchen, eine jüdische Identität den deutschen Behörden dokumentarisch vorzuspiegeln, wo sie tatsächlich nicht gegeben war. 8 Deutschen Behörden jüdische Identität vorzuspiegeln, um bestimmte Vorteile zu erhalten, ist, auch fünfzig Jahre nach dem Ende des Krieges, .ein an sich bemerkenswerter Vorgang.
a) Religiöse oder staatliche Abstammungsregel? Der hierfür verantwortliche Auswanderungsdruck führte auch dazu, das an sich enge Verständnis von der Identität eines Juden nach jüdischem Verständnis für das Aufnahmeverfahren von Seiten der deutschen Behörden weiter auszudehnen: In den jüdischen Gemeinden Deutschlands und auch in allen anderen Ländern, gilt der Buchstabe des Religionsgesetzes, der Halacha, wonach nur der Jude ist, der von einer jüdischen Mutter geboren worden ist. Dies ist allgemein anerkannt und wird auch vom Zentralrat der Juden in Deutschland so gesehen. Dies widerspricht jedoch dem herkömmlichen außerjüdischem Verständnis von Volkszugehörigkeit, wie es auch in der Nationalitätengesetzgebung des Vielvölkerstaats Sowjetunion seinen Niederschlag gefunden hatte. Danach wurde die Volkszugehörigkeit eines Kindes nach der seines Vaters bestimmt. Damit haben manchmal auch Kinder allein jüdischer Väter offiziell in der So-
verfallen sonst. Seitdem sind kontinuierlich weitere Zusagen erteilt worden und die tatsächliche Einwanderung hat sich ebenso fortgesetzt. 7 Die Studie liegt der Publikation von Julius Schoeps u.a. (s.o. Fn. 4), zugrunde. 8 Der Spiegel April 1999 gab Beispiele von „massenhaften" Fälschungen.
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wjetunion die Einordnung als Jude, da damals eine Volkszuordnung obligatorisch war, erhalten. Auch der Zentralrat der Juden möchte diese Personen dann aufnehmen, wenn sie in ihrem Heimatland als Juden angesehen und als solche diskriminiert worden sind. Auch ohne Diskriminierung im Einzelfall wird dem von deutscher Seite entsprochen. Deutschland hat sich allen diesen Gruppen geöffnet; nur eine Gruppe blieb außen vor: die getauften Juden; eine durchaus existierende Kleinstgruppe, in der Terminologie der frühen Kirche die „Judenchristen", deren Bekenntnis dem Zweck der politischen Aufnahmezusage von 1991 nicht entspricht. Damit wird dem besonderen Verhältnis von Volkszugehörigkeit und Bekenntnis im Judentum Rechnung getragen.
b) Stellung Israels zur deutschen Einwanderungspolitik
für Juden
Der Staat Israel sieht die Einwanderung von Juden nach Deutschland ungern, da er allen Juden Heimat werden will. So ist das Thema der jüdischen Einwanderung nach Deutschland regelmäßig in deutsch - israelischen Gesprächen vorgebracht worden. Dabei wurde immer wieder betont, daß es Politik Israels sei, jedem Juden, unabhängig von seiner sozialen, wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Lage Aufnahme zu gewähren. Aufgrund der besonderen Geschichte des Staates Israel, die ohne die deutsche Geschichte nicht denkbar wäre, ist die Aufnahme von Juden raison d'ètre Israels, eine Existenzfrage mehr als für jeden anderen Staat. Das gelte insbesondere für das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion als Aufenthaltsort des größten Teils des heutigen europäischen Judentums. Diese offene Tür Israels, die auch die Last sonst nicht emigrationsfähiger Personen auf sich nehme, würde durch die deutsche Praxis der Aufnahme von Juden besonders deutlich betroffen, da hier an die Eigenschaften des Juden angeknüpft werde, um eine Einwanderung nach Deutschland zu privilegieren, die ansonsten nicht den Maßstäben der Emigration unterliege. Als normale Emigranten habe Israel nichts gegen Juden, die sich für Deutschland entschieden. Diese sollten dann aber wie andere Emigranten nach den allgemeinen Maßstäben behandelt werden. Dies sei in der deutschen Praxis in besonderer Weise nicht der Fall. Hier würde jemand allein aufgrund seiner jüdischen Volks- und Religionszugehörigkeit gegenüber anderen Einwanderungsbewerbern in unvergleichlich hohem Maße vorgezogen und ihm die Einwanderung einfacher gemacht, als anderen Einwanderern, einschließlich den deutschen Volkszugehörigen. Damit trete Deutschland tatsächlich in einen aktiven Wettbewerb um die Einwanderung von Juden, die den Staat Israel an einer seiner wesentlichen Wurzeln und Quellen verletze. 9
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So berichtet die Presse10, daß die Bonner Regierung sich nicht mehr wohl mit der Sonderregelung für Juden fühlt: „Ein Ärgernis sieht darin (im Einwanderungsprogramm für Juden nach Deutschland, d. Verf.) auch Israel, das beansprucht, alleiniger Zufluchtsort ftir verfolgte Juden in der Diaspora zu sein. Israel opponiert seit langem gegen die Emigration nach Deutschland. Ein Leben im Land der Nazi-Mörder gilt vielen in Israel als unvorstellbar. Staatspräsident Eser Weizmann hatte erst kürzlich noch Unverständnis geäußert, daß in Deutschland nach dem Holocaust noch Juden leben. Der Platz der Juden sei Israel." 11 Eine Grund ftir viele jüdischer Antragsteller, sich trotzdem für Deutschland statt für Israel zu entscheiden, sind wohl die schwierigeren Lebensverhältnisse in Palästina, mit seinem „latenten Kriegszustand". 12 Um diesen Bedenken deutscherseits entgegenzukommen, werden auch die Antragsteller abgelehnt, bei denen bekannt wird, daß sie schon eine Aufnahmezusage aus Israel erhalten haben. Damit sollen die Belastungen des Verhältnisses Deutschlands mit Israel durch die jüdischen Flüchtlinge möglichst begrenzt werden.
2. Rechtsgrundlage der Einwanderung a) Entsprechende Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes Gemeinhin werden die Emigranten von den deutschen Stellen als Kontingentflüchtlinge 13 bezeichnet und eine entsprechende Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes als Rechtsgrundlage der Einwanderung angegeben.14
9 Vgl. Julius Schoeps (s.o. Fn. 4), S. 58ff. Die israelischen Positionen sind dem Verfasser von der Völkerrechtsberaterin des israelischen Außenministeriums, Frau Mala Tabori, bei einem Gespräch im August 1995 dargelegt worden und lassen sich auch aus diversen öffentlichen Äußerungen israelischer Amtsträger entnehmen. Auffallend ist jedoch, daß trotz eindeutiger Haltung, die auch auf höchster zwischenstaatlicher Ebene geäußert wurde, Israel sein Petitum nur mit begrenzter Energie betreibt. 10 Der Spiegel, Heft 22 vom 11. Juni 1996, S. 23 Ende und S. 24. 11 Der Spiegel, s.o. Fn. 10. 12 Vgl. Projektbericht „Integration sowjetischer Juden in Israel" des Bundesverbands der Arbeiterwohlfahrt e.V., Bonn, und die Stellungnahme der israelischen Jewish Agency, vgl. Schoeps (s.o. Fn. 4), S.56 und S.54f. m.w.N. zum Thema. 13 Zu den Kontingentflüchtlingen allgemein und zu den Rechtsgrundlagen Kay Hailbronner, Die Rechtsstellung der de facto Flüchtlinge in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft, 1993, S.27 ff.
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Ursprünglich stand der B e g r i f f Kontingentflüchtlinge für eine Ausländergruppe, die aufgrund des Kontingentflüchtlingsgesetzes 1 5 in Deutschland aufgenommen wurden. Es handelte sich hierbei vor allem um Flüchtlinge aus Südostasien, Vietnam, Laos und Kambodscha, die insbesondere als sogenannte „boat people" unkomplizierte Aufnahme gefunden hatten und nach § 1 des Gesetzes den Status eines Flüchtlings im Sinne der Genfer Flüchtlingskonventio n 1 6 genießen. § 1 der Konvention lautet: (1) Wer als Ausländer im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vor der Einreise in Form des Sichtvermerks oder aufgrund einer Übernahmeerklärung nach § 33 Abs. 1 des Ausländergesetzes im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufgenommen worden ist, genießt im Geltungsbereich dieses Gesetzes die Rechtsstellung nach den Artikeln 2 bis 34 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge. 17 (2) - entfallen (3) Dem Ausländer wird eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt. Die überwiegend vietnamesischen Flüchtlinge, die unter diese Regelung fallen, waren auch insofern privilegiert, als sie nicht von dem Rücknahmeabkommen betroffen waren, das die Bundesregierung Ende 1994 m i t Vietnam für die ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter in der D D R geschlossen hatte. Die Regierungschefs von B u n d und Ländern haben sich darauf verständigt, daß die Einräumung von Kontingenten zur Aufnahme von Ausländern aus humanitären Gründen davon abhängig gemacht wird, daß 1. die Aufnahme in die Bundesrepublik Deutschland das einzige Mittel ist, Leben und Gesundheit der Betroffenen zu erhalten; 2. die Aufnahme im Rahmen einer internationalen Aktion erfolgt, der sich die Bundesrepublik Deutschland aus politischen und moralischen Gründen nicht entziehen kann; und 3. alle Bundesländer der Aufnahme vorab und vorbehaltlos zustimmen 18 .
14 Wie oben in Fn. 4 schon erwähnt ist m.E. die eher beiläufige Äußerung bei Julius Schoeps (s.o. Fn. 4), S.13, die einzige veröffentlichte Ansicht über die Rechtsgrundlage des Einwanderungsverfahrens. 15 Gesetz über Maßnahmen fur im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommener Flüchtlinge vom 22. Juli 1980, BGBl. Bd. 1 1980, S. 1057, geändert durch Art. 5 des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9.7.1990, BGBl. 1990 Bd.l 1354, 1384. 16 Vom 28. Juli 1951, BGBl. 1953, Bd. 2, S. 559. 17 Vgl. vorige Fußnote. 18 Vgl. Bundesministerium des Innern, Aufzeichnung zum Ausländerrecht, Januar 1991,72.
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Damit wird auch hier die Flüchtlingseigenschaft als auch der internationale Charakter der Aufftahmeaktion als entscheidendes Merkmal einer Aufnahme als Kontingentflüchtling bestimmt. Das Kontingentflüchtlingsgesetz gebraucht den Flüchtlingsbegriff, wie er durch die Genfer Flüchtlingskonvention bestimmt ist. Die im § 1 Abs. 1 des Kontingentflüchtlingsgesetzes in Bezug genommene Genfer Konvention 19 regelt in Artikel 1, wer als Flüchtling anzusehen ist: „Im Sinne dieses Abkommens findet der Ausdruck Flüchtling auf jede Person, Anwendung: ... die ... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und dessen Schutz sie nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will..."
Das Besondere der jüdischen Emigranten ist, daß ihre Aufnahme durch die Bundesrepublik sich nicht in einer auf Flüchtlinge bezogenen humanitären Hilfsaktion vollzieht, sondern eine Flüchtlingseigenschaft der Betroffenen für die Aufnahme gerade keine Rolle spielt. Nun sind die Hauptmerkmale der Definition des Flüchtlings, der Rasse und Religion, historisch gerade auch wegen der Verfolgung von Juden, nicht zuletzt durch Deutschland zur Zeit des Dritten Reiches, so formuliert worden. Auch mochte eine Verfolgung von Juden in der Sowjetunion zu bestimmten Zeiten und Orten mit guten Gründen behauptet werden, wenn dies auch für die heutige Zeit eher schwerer zu belegen wäre. 20 Darauf kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an, da eine Verfolgung der einwanderungswilligen Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ausdrücklich nicht Voraussetzung der Aufnahme ist. So sind unter ihnen durchaus einige höhere Funktionäre der früheren Sowjetunion, bis hin zu Obersten der Roten Armee, deren Teilnahme an dem Aufhahmeprogramm unmißverständlich klarstellt, daß es auf eine Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Kontingentflüchtlingsgesetzes hier nicht ankommt. Dem entspricht auch das Aufnahme verfahren: in den auszufüllenden Formblättern sind keine Fragen zu einer persönlichen Verfolgung des Antragstellers enthalten. Damit ist festzuhalten, daß eine direkte Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes mangels Flüchtlingseigenschaft der Betroffenen nicht stattfindet. Deshalb wird auch nur von einer entsprechenden Anwendung des Gesetzes gesprochen. Eine entsprechende, analoge, Anwendung eines Gesetzes setzt rechtlich ein Bedürfnis nach einer solchen Anwendung und eine Regelungslücke voraus. Es muß sich um vergleichbare Fälle handeln, die zu regeln der Gesetzgeber gewis19 20
BGBl. II 1953, S. 561. S.o. Fn. 5.
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sermaßen „vergessen" hat oder sich noch nicht vorstellen konnte, aber geregelt hätte, wenn er sich ihrer bewußt gewesen wäre. Dies ist hier schwer vorstellbar, da das einzige substantielle Tatbestandsmerkmal des Kontingentflüchtlingsgesetzes gerade die Flüchtlingseigenschaft ist und in den vorliegenden Fällen nichts der Verfolgung vergleichbares zur Anwendung des Gesetzes in Anschlag gebracht wird. Ein Gesetz aber bei einem nicht vergleichbaren Tatbestand nur hinsichtlich der Rechtsfolgen, hier der Erteilung von unbefristeten Aufenthaltserlaubnissen nach § 1 Abs. 3 des Gesetzes, anzuwenden, ist keine Analogie. Eine tatbestandliche Entsprechung ist Voraussetzung einer entsprechenden Gesetzesanwendung; sie liegt hier nicht vor. Auch ist eine Regelungslücke schwer zu erkennen. Das Kontingentflüchtlingsgesetz ist ein besonderer Ausnahmetatbestand zu den allgemeinen Regeln des Ausländerrechts, wie es im wesentlichen abschließend im Ausländergesetz21 normiert ist. Nach geschriebenen Ausländergesetz und -recht besteht dagegen keine Möglichkeit, dem betroffenen Personenkreis eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
b) Anwendung des § 33 des Ausländergesetzes § 33 AuslG wird gelegentlich in Zusammenhang mit dem Kontingentflüchtlingsgesetz genannt. Nach § 33 AuslG kann Aufenthalt gewährt werden, wenn „völkerrechtliche oder humanitäre Gründe oder die politischen Interessen des Bundes" es erfordern. Ermächtigt wird das Bundesministerium des Innern, Aufnahmezusagen auszusprechen. Schon diese Verfahrensvorschrift, die der Praxis im Verfahren für jüdische Einwanderer widerspricht, zeigt, daß § 33 AuslG hier nicht gemeint ist. Weiter macht auch Abs. 2 klar, daß in § 33 AuslG nur eine vorübergehende Aufenthaltsgewährung gemeint ist, da den betreffenden Ausländern nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden soll, eine unbefristete Aufenthalterlaubnis, wie sie den jüdischen Einwanderern erteilt wird, ist hier als Rechtsfolge nicht vorgesehen. Nicht nur von der Rechtsfolge her, auch vom Tatbestand ist, soweit erkennbar, § 33 AuslG deshalb nie als Rechtsgrundlage für die jüdische Emigration aus der ehemaligen Sowjetunion in Anspruch genommen worden. Dies hängt neben der fur das Programm nicht passenden Rechtsfolge einer nur vorübergehenden Aufenthaltsgewährung nach § 33 AuslG wohl in erster Linie mit dem
21
BGBl. I 1990, S. 1354.
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Ausnahmecharakter der Fälle zusammen, für die der Paragraph gedacht ist. Eine normähnliche Regeleinwanderung von Ausländern kann hier nicht subsumiert werden.
c) Gleichbehandlungsfragen Das Verfahren soll bewußt jüdische Volkszugehörige, die sich zu keiner vom jüdischen Glauben abweichenden Religion bekennen, die Einwanderung nach Deutschland ermöglichen. Dies wirft Fragen der Gleichbehandlung mit anderen Personengruppen auf. So ist es verständlich, daß schon zu Beginn des Programms im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages22 gefordert wurde, daß das was für Juden gelte, auch für Sinti und Roma gelten müsse. Der dieser Argumentation zugrunde liegende Gedanke findet sich auch in Art. 3 Abs. 1 und 3 GG. Ausdrücklich enthält Art. 3 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes das Verbot, jemand wegen seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Herkunft oder seines Glaubens wegen zu bevorzugen. Eine dogmatische Subsumtion des jüdischen Einwanderungsprogramms unter dieses Verbot einer Bevorzugung nebst möglicher Rechtfertigungen sei an dieser Stelle erspart, da das Einwanderungsprogramm nach seiner eigenen Vorstellung gerade auf Anwendung der genannten Kriterien beruht und damit sein Bestreben gerade in einer solchen Bevorzugung besteht, und das mit beachtlichem Konsens in Regierung und Parlament. Die hier offene Gleichbehandlungsfrage wird von einem Kreis Betroffener am deutlichsten gesehen; den einwanderungswilligen Rußlanddeutschen. Sie haben erheblich höhere Hürden zu überwinden, um die Einreise nach Deutschland zu erlangen, Sprachexamina zu absolvieren, ununterbrochenes Bekenntnis zum Deutschtum und auch Vertreibungsdruck zu belegen: Das Bundesverwaltungsamt lehnt ethnische Deutsche ab, die ein eindeutiges Bekenntnis zum deutschen Volkstum nachweisen können, weil sie im mittleren Offiziersdienstgrad eines Majors Dienst in der sowjetischen Armee geleistet haben. Sie hätten eine führende Stellung im kommunistischen Regime innegehabt und seien deshalb keinem Vertreibungsdruck unterlegen. Jüdische Bewerber, die hingegen als Oberst der Roten Armee wirkliche Leitungsfunktionen innehatten, werden auf dem Antragswege angenommen.23 Bei dieser Gegenüberstellung ist jedoch zu bemerken, daß die Anzahl der rußlanddeutschen Einwanderer die der jüdischen bei weitem, etwa um das
22
61. Sitzung am 3.3.1993 durch MdB Brecht, SPD. Beispiele nach einem Interview im Focus 1997 mit dem damaligen deutschen Botschafter in Kiew Dr. Alexander Arnot. 23
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Zehnfache, übersteigt. Aber auch dieses Verhältnis verändert sich im Zuge der verschärften Einreisebestimmungen für Russlanddeutsche. Eine zeitliche Begrenzung der jüdischen Einwanderung ist dagegen politisch nicht vorgesehen. Da beide Gruppen von Antragstellern an den gleichen Botschaften, oft am gleichen Schalter, ihre Anträge stellen, sind sie sich der Ungleichbehandlung am stärksten bewußt.
d) Ergebnis Es handelt sich demnach bei dem Einwanderungsprogramm rechtlich um eine besondere Verwaltungspraxis mit erheblichem rechtlichem Klärungsbedarf. Da es sich aber beim Ausländerrecht um ein Gebiet handelt, das umfassend normiert ist, steht es der Verwaltung an sich nicht frei, hier contra sed praeter legem zu handeln, da der Vorbehalt des Gesetzes dies verbietet. Dies gilt auch für die politische Ebene der Exekutive, da es sich bei dem Programm nicht um ein der justitiellen Wertung von der Sache her nicht zugänglichen Kernbereich exekutiver Tätigkeiten handelt, wie er gelegentlich durch Gesetz privilegiert wird 24 , sondern um ein reguläres Einwanderungsverfahren sine, praeter sed contra legem.
3. Gerichtliche Nachprüfung Im Gegensatz zu anderen kontroversen Entwicklungen des Ausländerrechts, wie dem Streit um das Ausländerwahlrecht 25, ist in diesem Falle eine gerichtliche Überprüfung , soweit ersichtlich, bislang noch nicht öffentlich bekannt geworden:
a) Individualklagen Ein etwaig nicht berücksichtigter Betroffener kann sich nicht auf eine gültige Anspruchsgrundlage stützen. Zwar kann er sich gegen einen ablehnenden Verwaltungsakt mit der Anfechtungsklage an das Verwaltungsgericht wenden, sein eigentliches Begehren ginge jedoch auf einen an eine Aufnahmezusage eines Bundeslandes gebundenen Einreisesichtvermerk durch eine deutsche Bot24 Vgl. z.B. neuestens das Gesetz über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes, dessen neuer § 2 b Abs. 2 ausdrücklich den „Kernbereich der exekutiven Eigenverantwortung" von jeder Kontrolle ausnimmt. 25 Vgl. dazu die umfassende Dokumentation „Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht" von Isensee und Schmidt-Jortzig, Heidelberg 1993.
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schaft in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Dies müßte letztlich mit der Leistungsklage versucht werden. Dafür fehlt es aber an einer tragfähigen Rechtsgrundlage; das Kontingentflüchtlingsgesetz ist von seinem Tatbestand her nicht anwendbar, da es sich bei dem Betroffenen nicht um einen Flüchtling handelt, der sich auf eine humanitäre Hilfsaktion i.S.d. § 1 Abs. 1 KontFlG berufen kann, insbesondere wenn in dem betreffenden Einzelfall die Verwaltung/Exekutive den Kläger eben, aus welchen Gründen auch immer, nicht aufnehmen will. Ein Gleichheitsverstoß, in dem Sinne, daß die Verwaltung durch eine ständige Praxis in vielen Fällen die Anwendung des Gleichheitssatzes konkretisiert hätte, so daß sie nun praktisch gebunden sei, im Einzelfall nicht willkürlich (q.e.d.) davon abzuweichen, kann auch nicht gerügt werden: die gesamte hier vorgestellte Praxis besteht aus einzelnen exekutiven Verwaltungsentscheidungen jeweils ohne gesetzliche Grundlage. Dem Einzelnen kann aus dieser Praxis keine, z.B. gewohnheitsrechtliche, Norm als Anspruchsgrundlage einer Leistungsklage hergeleitet werden, da das kodifizierte Ausländerrecht entgegenstehende Regelungen enthält und damit der Entstehung gewohnheitsrechtlicher Einwanderungstatbestände entgegensteht. Gleichheit im Unrecht wird vom Recht nicht gewährt. Mit gleichen Gründen würde auch eine Individualverfassungsbeschwerde vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen werden, da sie offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hätte. b) Abstrakte Normenkontrolle Eine Landesregierung oder ein Drittel der Mitglieder des Bundestags könnten daran denken, ein abstraktes Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anzustrengen. Da der Praxis der Einwanderungsgewährung der Exekutive hier aber eben keine Norm zugrundeliegt, wird es nicht möglich sein, ein Normenkontrollverfahren anzustrengen. Darüber hinaus zeigt der exklusive Kreis der abstrakt Klagebefugten, daß das Grundgesetz diese Art der Überprüfung auf sehr wenige Fälle beschränken wollte.
c) Praktisches Fehlen richterlicher
Kontrolle
Hier zeigt sich ein Fall struktureller praktischer Unüberprüfbarkeit exekutiven Handelns. Eine gerichtliche Überprüfung ist weder im Einzelfall noch generell vorstellbar. Damit liegt hier ein Bereich exekutiven Handelns vor, der zwar nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden ist. Diese Bindung wird jedoch allenfalls im politischen Prozeß, nicht aber justizförmig von der Rechtsprechung, überprüft.
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Man mag deshalb hier von einem Fall nichtüberprüfbaren exekutivischen Handelns sprechen, wie es sonst allenfalls in den Kernbereichen außenpolitischer Diskretionen und dem schon angegebenen Fall der Privilegierung besonderer geheimdienstlicher Tätigkeiten nach § 2b des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes26 hingenommen wird.
4. Der politische Prozeß als Kontrolle Wenn die justitielle Kontrolle der öffentliche Gewalt, ungeachtet des Art. 20 Abs. 3 GG, nicht greift, ist der politische Prozeß von besonderem Interesse, soweit er auf die Rechtmäßigkeit der Verwaltung Einfluß hat. Die besondere Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz, unabhängig von justitieller Kontrolle, mag hier auf eine Verringerung gesetzestechnischer Defizite hinwirken und sich über die politische Zweckmäßigkeit hinaus an den vorgegebenen Normen orientieren. Dieser verwaltungsinterne Prozeß, dem mangels justitieller Überprüfung erhöhte Bedeutung für die Rechtspraxis zukommt, läßt sich im vorliegenden Fall vergleichsweise gut nachvollziehen. Soweit erkennbar erstmalig im März 199327 wurde im Bundestag die Forderung nach Festschreibung unbegrenzter Einwanderung der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion gestellt. Dieser Antrag der Grünen wurde zunächst ausführlich im Innenausschuß beraten, mehrere Gespräche wurden mit der israelischen Botschaft und dem Zentralrat der Juden geführt. Ergebnis dieser Gespräche sei, laut Berichterstatter Vogel im Auswärtigen Ausschuß, der Konsens gewesen, das Ziel der uneingeschränkten Einwanderung nicht weiter zu verfolgen. In der gleichen Debatte warf für die SPD der Abgeordnete Brecht die grundsätzliche Frage der Zuwanderung aus historischer Schuld auf; was für jüdische Zuwanderer gelte, müsse auch für Sinti und Roma und andere gelten. Deshalb bedürfe es einer grundsätzlichen Neufassung der Zuwanderungspolitik. Der Innenausschuß sollte das Thema mit dem Ziel eines Bundestagspienarbeschlusses weiterbearbeiten. Daraus ist, soweit ersichtlich, nichts geworden. Noch einmal wurde das Thema im Bundestag erörtert: Wenn man den Veröffentlichungen des „Spiegels" 28 und der darauf folgenden Bundestagsdebatte29
26 BGBl. Bd.l 1999, Seite 1334, wo der dankbare Begriff des „Kernbereichs der exekutiven Eigenverantwortung" eingeführt wird, der sich jeder, auch parlamentarischer Kontrolle nach diesem Gesetz entzieht und schon deshalb noch nähere Bestimmung verdient. 27 Am 3.03.1993 in der 61. Sitzung des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, aufgrund eines Antrags der Grünen vom 11.3.1993. 28 Spiegel, Nr.22 vom 11. Juni 1996, S. 22 ff.
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zur jüdischen Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion folgt, hat die primär mit der Durchführung des Programms befaßte Behörde, das Auswärtige Amt, bestimmte Fragen der Recht- und Zweckmäßigkeit des Verfahrens mit bestimmter Zielrichtung behandelt: „Mittlerweile erhob das Auswärtige Amt Bedenken. In einem bekanntgewordenen Runderlaß an die deutschen GUS - Botschaften vom 19. Dezember 1995 warnt das Ministerium des Freidemokraten Klaus Kinkel vor den Folgen der Großzügigkeit: - ,Von 1991 bis 30.11.1995 sind in Deutschland in Rahmen des Aufnahmeverfahrens 38 792 Personen eingereist. Hinzu kommen 8535 Personen, die als Touristen eingereist, jedoch anschließend in Deutschland geblieben sind. Zur Zeit haben 110 308 Personen Anträge auf Aufnahme gestellt, davon besitzen über 40000 bereits eine Aufnahmezusage. Weitere Hunderttausende sind in der Warteschlange und beabsichtigen, Anträge zu stellen.4 - ,Nach dem Zerfall der Sowjetunion sind viele der ursprünglichen Gründe für eine Aufnahme weggefallen. Bis auf Einzelfälle in den zentralasiatischen GUS-Staaten werden Juden auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nicht verfolgt und nur in Einzelfällen diskriminiert, meist nur aus persönlichen Motiven.' - ,Die Einreise nach D fuhrt nur noch in vermindertem Umfang zu einer Stärkung der jüdischen Gemeinden. Die Mehrzahl der Ausreisenden hat aufgrund jahrzehntelanger kommunistischer Herrschaft keine religiöse Bindung an jüdische Gemeinden. Die deutschen Gemeinden werden nur so oft benötigt, wie sie materielle Starthilfe gewähren. Nur etwa zwanzig Prozent der Einwanderer werden auf Dauer Mitglieder. 4 - ,Sehr viele der bei der Antragstellung auf Aufnahme vorgelegten Nachweise jüdischer Zugehörigkeit sind gefälscht. Die Antragstellung auf Ausreise erfolgt inzwischen fast ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen. 4 Im vergangenen Oktober veranstaltete das Außenamt zum Problem der Einwanderung eigens eine Konsularkonferenz in Kiew mit Teilnehmern aller Auslandsvertretungen in der ehemaligen UdSSR. Ziel: eine Revision der Einwanderungsregelung. In Ihrem Memorandum scheuten sich Kinkels Ministerialen nicht zu schreiben: ,Offen ist nach wie vor die politische Grundsatzfrage, ob wir angesichts des weitgehenden Wegfalls des mit der Aufnahme angestrebten Zwecks das Aufnahmeverfahren überhaupt noch fortfuhren wollen 4 . Eine Aufhebung ohne den Zentralrat erscheine 4 nicht denkbar', heißt es weiter im A A Papier. ,Es bedarf vielmehr einer revozierenden politischen Absprache zwischen dem Bundeskanzler und dem Zentralrat 4. Die Grundsatzfrage sollte1 bei passender Gelegenheit' gestellt werden - ,fünfzig Jahre nach Kriegsende bot sich hierfür das Jahr 1995 nicht an4.44
Soweit die Informationen des „Spiegels". Diese Stellungnahmen aus dem Auswärtigen Amt führten dann zu einer Anfrage im Bundestag.30 Diese führte jedoch zu nichts.
29 13. Wahlperiode - 115. Sitzung am Mittwoch, den 26. Juni 1996; Plenarprotokoll S. 10310 bis 10316. 30 Anfrage des Abgeordneten der Grünen Volker Beck (s.o. Fn 29), S. 10310.
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Insgesamt hat die Debatte die sachlichen und rechtlichen Überlegungen nicht aufgenommen, die das Auswärtige Amt in dem vom „Spiegel" zitierten Papier formuliert hatte, sondern sich in Einzelheiten bis hin zu Personalia verfangen, die wenig zur Beantwortung der offenen Rechtsfragen des Aufnahmeverfahrens beigetragen haben. Ansonsten, ist wenig öffentliche politische oder rechtliche Diskussion hier sichtbar geworden. Klar ist ein wenn auch schweigender Konsens der Regierungen des Bundes und der Länder erkennbar, am status quo des Verfahrens nicht zu rühren. Dies ist aus den von allen Bundesländern weiterhin regelmäßig erteilten Aufnahmezusagen für jüdische Emigranten und der fortgesetzten Aufnahmepraxis des Auswärtigen Amtes zu erkennen. Auch aus der Mitte des Bundestages ist kein aktiver Widerspruch zu dieser Praxis bekannt, so daß von einem allgemeinen Konsens von Exekutive und Legislative auszugehen ist, dieses Aufnahmeverfahren zu betreiben, ohne die offensichtlichen rechtlichen Fragen des Verfahrens anzugehen, sei es z.B. durch Einbringung eines legitimierenden Gesetzesentwurfs zur Änderung des Ausländergesetzes oder durch Umstellung der Praxis auf die Anforderungen des § 33 AuslG.
III. Auswärtiges und die Aufnahme von Ausländern Wie ist dieser erstaunliche Sachverhalt zu erklären und juristisch zu fassen? Ein Einwanderungsverfahren jenseits des Ausländerrechts, ohne erkennbare rechtliche Grundlage oder justitielle Kontrolle aber mit breitem politischem Konsens in Exekutive und Legislative, durch das in den letzten Jahren über einhunderttausend Menschen dauerhaft nach Deutschland eingewandert sind, ist eine bemerkenswerte Tatsache. Die durchaus zahlreichen juristischen Periodika zum Ausländerrecht schweigen vollständig zu dem Thema, obwohl sonst auch kleinere Entwicklungen dieses Rechtsgebiets gewöhnlich aufmerksam registriert und kommentiert werden. Es soll auch Aufgabe dieses Beitrags sein, den Sachverhalt der juristischen Diskussion zu erschließen. Das berichtete Einwanderungsverfahren wird damit tatsächlich als „normal", jedenfalls stillschweigend, als Teil unserer Rechtsordnung hingenommen, ohne „normal", d.h. normgemäß im engeren Sinne zu sein. An dieser Stelle könnte man im Ergebnis ein hartes Urteil über die Rechtmäßigkeit der jüdischen Einwanderung fällen, über die strukturelle Unüberprüfbarkeit in unserer Rechtsordnung lamentieren und den Zustand des Rechtsstaats philosophieren. Es scheint in der Tat wichtig, die rechtlichen Probleme des dargestellten Sachverhalts zu sehen ohne mit dem Hineinlesen von ungeschriebenen Sonderfällen z.B. in Art. 3 Abs. 3 GG oder das Kontingentflüchtlingsgesetz wenig überzeugende Lösungen de lege lata scripta anzubieten. Ebenso wichtig ist es,
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die bis hierhin gefundene Analyse allenfalls als Zwischenergebnis anzusehen und sich den Blick auf unsere gesamte Rechtsordnung nicht von einzelnen Teilsubsumtionen, ohne deren Wert zu bestreiten, verstellen zu lassen: Helmut Quaritsch bezeichnet Staatsräson als eine Rangordnungsregel ftir die Kollision von Rechtsgütern und Interessen: 1. „Es gehen die (wirklichen oder vermeintlichen) Interessen des Staates im Konfliktfall allen anderen Interessen vor, und 2. wird die Wahl der Mittel zur Verfolgung wesentlicher Staatsinteressen freigegeben, d.h. von der Beachtung der eigenen Rechtsordnung und den eigenen Regeln der Moralität dispensiert." 31
Mit dem Begriff der Staatsräson wird die gesamt Rechtsordnung in den Blick genommen. Normwidrigkeit ja Verfassungswidrigkeit kann, jenseits des geschriebenen Rechts, aus übergeordneten Erwägungen hingenommen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Reihe von Entscheidungen bei ausdrücklichem Erkennen ihrer Verfassungswidrigkeit, Normen aus solchen übergeordneten Erwägungen aufrecht erhalten. 32 Es sei die Umsatzsteuerentscheidung angeführt 33; nach der das überprüfte Gesetz zwar verfassungswidrig sein sollte, aber trotzdem eine Weitergeltung angenommen wurde, da das verfassungswidrige Gesetz „nicht völlig unerträglich" sei. Die große Bedeutung, die das Gesetz, wennngleich verfassungswidrig, „für die Einnahmen des Bundes" 34 habe, lasse die nach der lex scripta zwingende Folge der Nichtigkeitserklärung nicht zu. Denn von den Möglichkeiten der §§ 31 Abs. 2; 79 Abs. 1 BVerfGG abgesehen, ist die ausdrückliche Nichtigkeitserklärung bei Verfassungswidrigkeit die einzige mögliche Tenorierung bei konkreten Normenkontrollen und der mittelbaren oder unmittelbaren Rechtssatzbeschwerde. Dem entspricht das Bundesverfassungsgericht häufig nicht, sondern diskutiert die „Notwendigkeit", das normierte Gebot „zurücktreten zu lassen".35 Dies betrifft verschiedene Fallgruppen 36 von Entscheidungen37. Unverkennbar tritt in diesen Fällen die Entscheidung im umfassenden Sinne, die Dezision, an die Stelle der Normanwendung des geschriebenen Rechts, der Subsumtion. So überrascht es nicht, daß Carl Schmitt daher eine Instanz, die
31
Quaritsch , Staatsraison in Bodins „Republique", in: Roman Schnur (Hrsg.), Staatsräson, Berlin 1975, S. 43-64. 32 Zusammengestellt seinerzeit vom späteren Bundesverfassungsrichter Hans Hugo Klein , Bundesverfassungsgericht und Staatsraison, 1968 (Habilitationsvortrag in der Heidelberger Universität). 33 Vom 20.12.1966, BvfGE 21, 12 f f 34 BVerfGE 21,39 (42). 35 So ausdrücklich in der Sozialversicherungsentscheidung, BVerfGE 22, 349 (361). 36 Pestalozza , Verfassungsprozeßrecht, 1991, 349, stellt den Sachstand und die Entwicklung dieser Rechtsprechung dar.
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281
„zur Entscheidung von Zweifeln und Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung verfassungsgesetzlicher Bestimmungen" berufen ist, nicht mehr als Gerichtsbarkeit, sondern als „Gesetzgebung in Form eines mehr oder weniger justizförmigen Verfahrens" 38 bezeichnet. Wie weit man dem folgt, ist eher eine Frage der Begriffsbildung, als des zugrundeliegenden Sachverhalts. Dies Handeln aus Staatsräson contra sed praeter legem sed constitiitii scripta rundweg mit Hinweis auf den Text des Grundgesetzes oder der in Frage stehenden Gesetze abzulehnen, geht nicht an. Jede Verfassung verpflichtet begriffsnotwendig alle Staatsorgane primär zur Erhaltung des von ihr verfassten Staates.39 In der gegebenen Grenzsituation ist die ratio status gegen die ratio legis oder das staatserhaltende telos der Verfassung im Ganzen gegen den im Ausnahmefall ihr nicht entsprechenden Sinn einzelner ihrer Normen durchzusetzen. Dies gilt in besonderer Weise für die ständig unvorhersehbaren, von innerstaatlichen Normen nicht antizipierten, Sachverhalten ausgesetzte Exekutive in auswärtigen Angelegenheiten. Es ist aber zu fordern, daß derartige Entscheidungsgrundlagen offengelegt werden. Die Sorge, das Verfassungsgericht würde die in auswärtigen Angelegenheiten handelnde Exekutive „im Regen stehen lassen", erscheint in Anbetracht seiner Rechtsprechung unbegründet. 40 Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht in keinem Fall mit außenpolitischen Bezug sich gegen die Linie der Bundesregierung gewandt. Dies, obwohl die Reihe bedeutsamer verfassungsgerichtlicher Entscheidungen nahezu alle Bereiche der deutschen Nachkriegsentwicklung berührten. 41 Eine auf solche übergeordneten rechtlich bedeutsamen Erwägungen sich offen beziehende Begründung wäre überzeugender, als im vorliegenden Fall von analoger Anwendbarkeit des Kontingentflüchtlingsgesetzes oder einer kaum glücklichen Auslegung von Art. 3 Abs. 3 GG auszugehen, die eine Übereinstimmung des Einwanderungsverfahrens mit den Buchstaben des Ausländergesetzes reichlich mühsam annimmt. Wie läßt sich hier für ein Handeln aus Staatsräson argumentieren? 37
Die bis 1988 dazu zusammengetragenen Nachweise finden sich bei Hein, Die Unvereinbarkeitserklärung verfassungswidriger Gesetze durch das Bundesverfassungsgericht, 1988, Iff. 38 Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, S. 77. 39 H. H. Klein, Bundesverfassungsgericht und Staatsraison, S. 36 40 Vgl. die Entscheidung zum Bundeswehreinsatz im Kosovo (m.W. noch nicht veröffentlicht) in ihrer Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung des Gerichts sowie die bei H. H. Klein (s.o. Fn. 41) dargestellten Entscheidungen. 41 Zusammenstellung bei Kunig, Auswärtige Gewalt, Jura 1993, 554, 557f. in Fußnoten 31 bis 43, der ebenso schließt: „in keinem der genannten Verfahren ist das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung oder einer mehrheitlich von dem Bundestag getroffenen Entscheidung im Ergebnis entschieden entgegengetreten.", ebenso S. 558. 19 FS Quaritsch
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Die Bundesrepublik Deutschland will sich weder nach außen noch nach innen dem Vorwurf einer Schlechtbehandlung von Juden aussetzen. Dies begrenzt auch die Möglichkeiten, eine einmal politisch weit- oder kurzsichtig gewährte Vergünstigung für diesen Personenkreis zu beenden. Der andernfalls mögliche außenpolitische Ansehensverlust wäre ein schwerer Schaden für Deutschland, der abzuwenden ist und eine einfache Normanwendung lege scripta gegenwärtig in diesem Bereich ausschließt. Damit wird auf den außenpolitischen Charakter des Vorgangs Bezug genommen, der nicht nur in diesem Fall eine besondere Bewertung erfordert. Anfangs wurde schon darauf hingewiesen, daß das Verfahren wesentlich vom Auswärtigen Dienst in den Botschaften in der ehemaligen Sowjetunion durchgeführt wird, dem Auswärtigen Dienst, der gewohnt ist, mit außenpolitischen Fragestellungen umzugehen, die ihrem Wesen nach nur in verminderter Weise justitieller Kontrolle unterliegen. 42 Dies gilt auch für ausländerrechtliche Sachverhalte, die häufig zunächst ohne weiteres, sachlich unbefriedigend, den inneren Angelegenheiten zugeordnet werden. In einer amerikanischen Entscheidung ist zu lesen, daß „alle Politik über Ausländer und Einwanderer mit der Außenpolitik, mit der Kriegsmacht und mit der Erhaltung einer staatlichen Form der Regierung fest verbunden ist. Solche Fragen sind ausschließlich dem politischen Bereich der Regierung anvertraut. So sind sie weitgehend befreit von Normenkontrollverfahren oder juristischen Interventionen." 43 Kein geringerer als John Locke drückt diesen Gedanken mit folgenden Worten aus: „But what is to be done in reference to foreigners depending much upon their actions, and the variations of designs and interests, must be left in great part to the prudence of those who have this power committed to them to be managed by the best of their skill for the advantage of the commonwealth." 44
Der Bereich der Einwanderung, gerade auch der jüdischen, scheint danach, entgegen dem ersten Anschein, nicht ausschließlich den inneren Behörden zu obliegen, sondern von der Natur der Sache ein Bereich zu sein, der Bezug zur Auswärtigen Gewalt hat. Hier kann der Rechtsbegriff der Staatsräson, wie er von Quaritsch definiert ist, 45 helfen, die tatsächlichen legitimen Erwägungen
42 Ausfuhrlich rechtsvergleichend dazu Giegerich , Verfassungsgerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt im europäisch-atlantischen Verfassungsstaat in ZaöRV 1997, 409 ff. 43 Harisiades vs. Shangnessy 342 U.S. 580 (1952); zitiert aus dem Mehrheitsvotum von Richter Jackson nach T. Franck , Richter und Außenpolitik, 18f. 44 Zitiert nach Wolgast , Auswärtige Gewalt, S. 97. 45 Quaritsch , Staatsraison in Bodins Republik (s.o. Fn. 32), 43, 53.
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der Exekutive auch in diesem besonderen Fall eines Handelns contra lege scripta rechtlich erfassen zu können.
Gesetzgebungshoheit versus Vertragstreue Von Günter Püttner
I. Das Problem Vor langen Jahren hat sich der Jubilar eingehend mit der Frage befaßt, inwieweit der Staat als Verfassungs- oder Gesetzgeber auf Kirchenverträge einwirken kann1. Immer wieder stand dieser Kollisionsfall in der Literatur 2 und auch in der Praxis 3 zur Debatte, und er ist weithin als Rangfrage aufgefaßt worden: Wer hat den Vorrang, der Kirchenvertrag oder das staatliche Gesetz? Daß es auf diese Frage unterschiedliche Antworten gegeben hat und gibt und daß die mehr oder weniger ausgeprägte Kirchenfreundlichkeit der Autoren dabei eine Rolle spielt, kann auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte eigentlich nicht verwundern. Immer nämlich ist die Vorrangfrage, früher die Frage nach der Oberhoheit von Kaiser oder Papst, zu einer Grundsatzfrage gemacht worden, in welcher mehr Bekenntnis und Machtinteressen dominierten als juristische Dogmatik. Bis heute lastet auf jedem Autor, der sich in der einen oder anderen Richtung äußert, der Verdacht, er wolle im Gewände juristischer Deduktionen in Wahrheit seinen vorgefaßten Standpunkt möglichst wirkungsvoll untermauern. Verständlich ist diese Streitlage angesichts der geschichtlichen Erfahrungen durchaus. Der berühmte Investiturstreit im Mittelalter und der Kulturkampf vor 1
Helmut Quaritsch, Kirchenvertrag und Staatsgesetz, in: Hamburger Festschrift für Friedrich Schack (hrsg. von H.P. Ipsen), Hamburg 1966, S. 125; ders.: Neues und Altes über das Verhältnis von Kirchen und Staat, in: Der Staat Bd. 5 (1966), S. 541 (S. 472 f.). 2 Vgl. statt vieler einerseits Alexander Hollerbach, Die vertraglichen Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: J. Listl/D. Pirson, Hdb. des Staatskirchenrechts, Bd. I, 2. Aufl. 1994, S. 253 (S. 276-278) und andererseits Ludwig Renck, Der sogenannte Rang der Kirchenverträge, DÖV 1997, S. 929 (S. 935 ff.); auch Λ**/ ν. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 3. Aufl. 1996, S. 160 f., jeweils mit weiteren Nachweisen. 3 Vgl. z.B. den Streit um die Einrichtung eines Diplomstudienganges Katholische Theologie an der Universität Frankfurt a.M., die nach BVerwGE 101, S. 309 ff. der Zustimmung der betroffenen Kirche bedurft hätte (der Streit hat bekanntlich in der schöngeistigen Literatur als „Finks Krieg" seinen Niederschlag gefunden).
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100 Jahren genügen als Beleg für die fundamentale und machtorientierte Natur der Streits. Dieser kann auch heute wieder aufflammen, wie nicht nur das Cruzifix-Urteil des BVerfG 4 , sondern beispielsweise die noch nicht entschiedene Auseinandersetzung um den Religionsunterricht bzw. um den statt dessen obligatorischen Lebenskunde-Unterricht (LER) zeigen (dazu unten). Bemerkenswert ist immerhin, daß weder der Investiturstreit noch der Kulturkampf bis zum bitteren Ende machtmäßig oder juristisch ausgefochten, sondern durch einen Kompromiß beendet wurden. Dies deutet auf eine prinzipielle Unlösbarkeit des Vorrangstreits hin, genauer darauf, daß der totale „Sieg" der einen oder anderen Seite als unerträglich angesehen wurde und wird. Aber den Juristen schmerzt natürlich die Vorstellung, man könne ein Problem nicht lösen, sondern nur durch ein Arrangement aus der Welt schaffen. Er wird ungeachtet des bisherigen „Patts" in der Literatur die Hoffnung nicht aufgeben wollen, irgendwann doch zu einer wirklich schlüssigen Problemlösung zu gelangen. Wenn dem aber so ist, dann empfiehlt sich wie so oft eine Blickerweiterung und ein Ausgreifen in benachbarte Felder, um die Argumentation nicht nur anzureichern, sondern vor allem von der Einseitigkeit der historischen Vorrangfrage von Staat oder Kirche zu lösen. Dem dienen die folgenden Zeilen, die deshalb auch darauf verzichten, den Streit um die Kirchenverträge, wie ihn die Literatur darbietet, nochmals näher darzustellen.
II. Die Kollision von Vertragstreue und Gesetzgebungshoheit jenseits der Kirchenverträge Es hat nämlich im juristischen Schrifttum wenig Beachtung gefunden, daß es auch andere Verträge zwischen dem Staat und gesellschaftlichen Verbänden oder Institutionen geben kann und gibt, bei denen sich ebenfalls die Frage stellt, inwieweit sich der vertragsgebundene Staat als Gesetzgeber über die Vertragsbindung hinwegsetzen kann oder darf. Auch bei Vertragswerken, an denen der Staat nur mittelbar beteiligt oder involviert ist, kann sich diese Frage stellen, wie die kürzlichen Äußerungen eines Bonner Ministers belegen, der die von ihm gewünschten Einwirkungen auf gültige Verträge per Gesetzgebung als einen Fall von „höherer Gewalt" ansehen und so rechtfertigen wollte, eine juristisch ziemlich abenteuerliche These, die dann auch rasch wieder fallen gelassen wurde. Zum Zwecke der Förderung einer sachlichen Problemlösung sollte auch auf andere als politisch streitige Vertragsbeziehungen zurückgegriffen werden. Das
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BVerfGE 93, S. 1 ff.
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fällt nicht ganz leicht, weil einschlägige Verträge, die nie oder jedenfalls nicht öffentlich streitig geworden sind, lediglich in den Akten schlummern und Dritten, auch interessierten Juristen, nicht zugänglich sind5. Einige Verträge hat die (anschließend vorzustellende) Rechtsprechung ans Licht gebracht, über andere wird man nie etwas erfahren. Als ein Beispiel von nur punktuell öffentlich gewordenen Verträgen zwischen Staat und Verbänden seien die zwischen Landesregierungen und Sparkassen« und Giroverbänden in den fünfziger Jahren geschlossenen Verträge über den gemeinschaftlichen Betrieb von Landesbanken genannt. Regelmäßig wurde vereinbart, daß die von beiden Partnern getragene Landesbank zugleich als Girozentrale der Sparkassen und als Staatsbank tätig werden sollte. Die Beteiligungsverhältnisse an der Landesbank wurden je nach den Landesverhältnissen festgelegt, orientiert an der hälftigen Beteiligung beider Partner. Den Beteiligten war bewußt, daß die Vertragsregelung durch Gesetz vorbereitet oder umgesetzt werden mußte, schon weil es zur Errichtung einer juristischen Person des öffentlichen Rechts, welchselben Status eine Landesbank braucht, eines Gesetzes bedarf. So findet man in allen Sparkassengesetzen der Länder entsprechende Regelungen über die Landesbank. Bei der Änderung dieser Regelungen kann es zu einer Kollision mit dem Vertragsinhalt kommen, und es würde sich eine ähnliche Kollisionsfrage stellen wie bei den Kirchen Verträgen. Interessant ist nun, daß in einem derartigen Vertrag die Gesetzgebung in der Weise angesprochen ist, daß sich die Landesregierung verpflichtet, Gesetzentwürfe, die auf die Errichtung anderer Kreditinstitute des Landes oder auf eine Beteiligung des Landes daran gerichtet sind, dem Sparkassen- und Giroverband vor Einbringung in den Landtag zur Stellungnahme vorzulegen. Die Gesetzgebungshoheit des Landtags wird mit einer solchen Regelung gerade nicht angetastet, so daß verfassungsrechtliche Bedenken kaum auftauchen. Aber es wird doch eine Linie des Zusammenwirkens von Gesetzgebung und Vertragsregelung vorgezeichnet, die für die Lösung der Vorrangfrage Hinweise liefern kann. Hinsichtlich der hier interessierenden Frage der etwaigen Begrenzung der Gesetzgebungshoheit durch den Vertrag findet sich dagegen keine Bestimmung im Vertrag. Angesprochen ist nur die Satzung der Bank, die in ihrer jeweiligen Fassung Bestandteil des Vertrages sein soll, eine etwas dunkle Regelung, die wenig Aufschluß vermittelt. Im Sinn des Vertrages liegt es aber, jeweils Einvernehmen über die Weiterentwicklung der Bank zu erzielen; einseitige gesetzliche Maßnahmen des Landes würden sich damit nicht vertragen. Welche
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Eine Veröffentlichung solcher Verträge ist gelegentlich von Staatsrechtslehrerseite gefordert, aber von der Praxis ernstlich nicht erwogen worden.
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rechtlichen Folgerungen daraus zu ziehen sind, steht freilich auf einem anderen Blatt und wird aufzugreifen sein.
III. Der Beitrag der Verfassungs-Rechtsprechung zur Problemlösung Was den besonderen Fall der Kirchenverträge angeht, so fällt der Blick sofort auf die einzige einschlägige Entscheidung, nämlich die zum Reichskonkordat 6. Das Urteil liefert zur hier aufgeworfenen Frage letztlich keine Antwort, weil die betreffenden Passagen (S. 346 f f , S. 361 ff.) sich schwergewichtig mit der staats- und völkerrechtlichen Natur des Reichskonkordats und mit dem Bund-Länder-Verhältnis bezüglich des Konkordats befassen. Die Auffassung, daß die Länder dem Bund gegenüber nicht zur Einhaltung des Konkordats bei der Gesetzgebung verpflichtet sind, die Verfassung eine solche Bindung nicht statuiert und nicht für erforderlich gehalten habe (S. 363), läßt zwar eine Tendenz in Richtung auf den Vorrang des Gesetzgebers gegenüber dem Vertragsrecht erkennen, schweigt aber zu der Frage, welche Rechte dem Vertragspartner zustehen könnten. Das Urteil hat deshalb auch den oben geschilderten Streit in der Literatur nicht beenden oder präjudizieren können. Dezidierter hat sich einige Jahre später der VGH Baden-Württemberg geäußert7. Es ging um die Abschaffung der katholischen Bekenntnisschulen erst durch Erlasse und dann durch eine Änderung der Landesverfassung. Unter Berufung auf das Konkordatsurteil des BVerfG sowie u.a. auf den Jubilar stellt der VGH lapidar fest, daß Verstöße gegen völkerrechtliches Vertragsrecht (Konkordat) an der Rechtsgültigkeit eines innerstaatlichen Gesetzes nichts ändern könnten. Damit wird die formelle Vorrangfrage eindeutig entschieden, aber von der in der Sache letztlich maßgebenden Frage getrennt, ob oder unter welchen Umständen ein solches gesetzliches Vorgehen eine Vertragsverletzung bedeutet. Letztere Frage ist offen geblieben. Um weiterzukommen, bleibt also nur der Versuch, aus den nicht auf Kirchenverträge bezogenen Entscheidungen Honig zu saugen. Einschlägig ist zunächst das Urteil des BVerfG in Sachen Eingliederung der Stadt Neustadt bei Coburg in den Landkreis Coburg durch den bayerischen Gesetzgeber entgegen einem früher geschlossenen Staatsvertrag 8. Hier bestand über die grundsätzliche Bindung auch des Gesetzgebers an ordnungsgemäß geschlossene Staatsverträge kein Zweifel, aber das Gericht hielt die Grundsätze des Wegfalls der Geschäftsgrundlage ftir anwendbar und bestätigte so den Legislativakt Bayerns,
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BVerfGE 6, S. 309 ff. ES VGH 17, S. 172 ff. (auch S. 177 ff.). BVerfGE 34, S. 216 ff.
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der immerhin in einer grundlegenden Systemänderung der Kommunalverwaltung im ganzen Lande bestand („Maßstabvergrößerung") und unter den gewandelten Verhältnissen für Neustadt keine Ausnahme mehr machen mußte. Mit dem Rekurs auf die clausula rebus sie stantibus hat das Gericht einen wichtigen Fingerzeig gegeben, auf den zurückzukommen sein wird. Einige nützliche Hinweise liefert auch die Entscheidung des BVerfG zu Eingriffen in bestehende Verträge durch das 2. Haushaltsstrukturgesetz 9. Es ging um Rückwirkung und Vertrauensschutz, bekannte Dinge, aber auch darum, ob der Gesetzgeber sich über ein ausdrückliches vertragliches Verbot der Höherverzinsung (S. 177) hinwegsetzen dürfe. Eine Interessenabwägung ergab, daß er dies unter den gegebenen Umständen durfte, nämlich um die Wohnungsbauförderung an gewandelte Verhältnisse anzupassen (S. 199). In die gleiche Richtung geht die Entscheidung zum Zinsanpassungsgesetz bzgl. Baukredite in der früheren DDR 1 0 , ebenso die jüngste Entscheidung zu Sonderabschreibungen bezüglich bestimmter Schiffbauverträge und deren Wegfall für die Zukunft 11 . Von Belang dürfte aber auch eine neue Kammerentscheidung des BVerfG sein zur Unzulässigkeit einer Enteignung mit dem Ziel, „unliebsamen vertraglichen Bindungen der öffentlichen Hand zu entgehen"12. Die Entscheidung mag durch die Besonderheiten des Einzelfalles geprägt sein, sie zeigt aber doch, daß sich auch der Staat Einschränkungen seiner Handlungsfreiheit aufgrund vorangegangenen Tuns, aufgrund vertraglicher Bindungen gefallen lassen muß. Im konkreten Fall ging es um ein Sportgelände; ob die Sache ebenso ausgegangen wäre, wenn unverzichtbare öffentliche Belange auf dem Spiel gestanden hätten, wird man bezweifeln dürfen.
IV. Lösungsansätze Ausgangspunkt der Überlegungen muß, darin ist dem VGH BadenWürttemberg zu folgen, die Trennung der Frage nach der Gültigkeit eines vertragswidrigen Gesetzes einerseits und der Frage nach der darin liegenden denkbaren Vertragsverletzung andererseits sein. Die erste Frage ist relativ einfach zu beantworten, wiederum mit dem VGH BW: Vertragliche Bindungen als solche stellen die Gültigkeit eines widersprechenden Gesetzes jedenfalls normalerweise nicht in Frage. Aber damit ist die zweite Frage nach der Vertragsverletzung in keiner Weise präjudiziell; die Ausübung des Gesetzgebungsrechts 9
BVerfGE 72, S. 175 ff. (S. 196 ff.). BVerfGE 88, S. 384 ff. 11 BVerfGE 97, S. 67 ff. 12 BVerfG NJW 1999, S. 1176. 10
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entbindet das Land nicht von der Vertragstreue, bildet also, anders gewendet, nicht per se einen Rechtfertigungsgrund für vertragswidriges Verhalten. Dieser Ausgangspunkt liegt beispielsweise den Verträgen über die Landesbanken wie selbstverständlich zugrunde und dürfte kaum auf Widerspruch stoßen. Man könnte - in der Sprache der Zivilrechtler - die Konstellation mit dem Begriffspaar dinglich/obligatorisch erfassen: Verträge des Landes binden dieses nur obligatorisch, wirken aber nicht „dinglich" in dem Sinne, daß vertragswidrige Gesetzgebungsakte unwirksam wären. Aber nun stellt sich die eigentlich interessante Frage nach der Vertragsverletzung, die unabhängig von der Gültigkeit des Gesetzes beantwortet werden muß, außer wenn der Vertrag unter den Vorbehalt anderweitiger Gesetzgebung gestellt ist, was aber kaum bzw. höchstens für einzelne Vertragspunkte vorkommen dürfte. Sinn eines Vertrages ist es, daß die Partner sich binden („pacta sunt servanda"); könnte sich ein Partner.beliebig (wenn auch aus seiner Sicht wohlbegründet) über Vertragspflichten hinwegsetzen, brauchte der andere Teil den Vertrag erst gar nicht zu schließen13. Grundsätzlich gebührt demnach der Vertragstreue der Vorrang, und Vertragsverletzungen auch via Gesetzgebung lösen mindestens Schadensersatzansprüche aus. Auf der anderen Seite kann es legitime Interessen des Landes geben, an einem bestehenden Rechtszustand nicht länger festzuhalten, sondern zu Reformen überzugehen und gewandelten Verhältnissen Rechnung zu tragen. Dem müssen früher geschlossene Verträge nicht unbedingt im Wege stehen. Denn einmal geht man bei Dauerschuldverhältnissen regelmäßig davon aus, daß sie irgendwann beendet sein wollen und daß sie aus hinreichend wichtigen Gründen auch dann kündbar sein müssen, wenn nichts darüber im Vertrag steht. Und es gilt, worauf das BVerfG im geschilderten Fall Neustadt bei Coburg zutreffend hingewiesen hat, der Grundsatz der Vertragsanpassung oder Vertragsaufhebung bei einem Wegfall der Geschäftsgrundlage, also bei einer derartigen Veränderung der relevanten Verhältnisse, daß der einen oder anderen Partei das Festhalten am Vertrag nicht mehr zugemutet werden kann 14 . Schwierigkeiten können allerdings entstehen, wenn streitig ist, ob ein solcher Wandel der Verhältnisse oder ein ähnlicher Kündigungsgrund eingetreten ist oder ob das Land lediglich eine andere Politik betreiben will als bisher, was 13 Anders steht es allerdings mit Berufungsvereinbarungen zwischen Universität und Professoren in Baden-Württemberg, die nach § 66 Abs. 8 UG unter dem Vorbehalt stehen, daß die Mittel „nicht für andere Aufgaben benötigt werden", die also letztlich wertlos sind. 14 Ein weiterer verwertbarer Gesichtspunkt kann in dem bekannten Rückwirkungsverbot gesehen werden; in Verträge als „gewachsene Rechtsverhältnisse" darf nicht ohne weiteres eingegriffen werden, vgl. Hartmut Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Hdb. des Staatsrechts Bd. III, 1988, § 60 Rn. 42, 57 ff. sowie Ferdinand O. Kopp, VwVfG, 6. Aufl. 1996, Rn. 5 zu § 60.
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ein sich Hinwegsetzen über geschlossene Verträge nicht rechtfertigen könnte. Es gilt also herauszuarbeiten, welche Veränderungen ein Abgehen vom Vertrag rechtfertigen und welche nicht. Es mag verschiedene Wege geben, sich der Lösung dieser Frage zu nähern. Im folgenden soll versucht werden, aus dem Sinn und dem Stellenwert heutiger Verträge eines Landes mit gesellschaftlichen Institutionen Gesichtspunkte für die Konfliktlösung zu gewinnen.
V. Der Vertragshintergrund: Kooperation oder Konfrontation? Die Zwischenüberschrift wird vielleicht manchen Leser an dieser Stelle überraschen. Soll vom Thema abgegangen werden? Das Gegenteil ist der Fall: Es soll herausgestellt werden, daß der u.U. ganz verschiedene Hintergrund von Verträgen wichtige Bedeutung erlangen kann für die Vertragsauslegung und damit auch für die Frage, wo das Pochen auf die Vertragstreue zu enden hat und wo Änderungen akzeptiert werden müssen. Es lassen sich zwei extreme Ausgangspunkte oder Hintergründe ausmachen. Der Staat bzw. das Land und eine gesellschaftliche Organisation können sich einmal konfrontativ gegenüberstehen, gleichsam fundamentalistisch-unversöhnlich. Jede Seite strebt nach der Vormacht, will sich gegen die andere durchsetzen. Ein solches Verhältnis bestand zeitweise im Mittelalter zwischen Staat und Kirche, zwischen Papst und Kaiser. In der Neuzeit lassen sich die Konfrontation zwischen dem Reich und katholischer Kirche (Kulturkampf) und die zwischen dem Reich und der sozialistischen Bewegung vor der Jahrhundertwende anfuhren 15. In einem solchen grundsätzlichen Gegeneinander bedeutet eine vertragliche Verständigung eine Art modus vivendi, bei dem aber beide Seiten von ihren Grundsatzpositionen nicht abrücken. Eine Vertragsverletzung bedeutet dann im Zweifel, daß sogleich wieder Krieg herrscht; der Rekurs auf „gewandelte Verhältnisse" bildet in den Augen der Gegenseite nur den Vorwand für eine erneute kämpferische Auseinandersetzung. Auch das Pochen der staatlichen Seite auf die Gesetzgebungshoheit ordnet sich ziemlich glatt in diese Sichtweise ein. Der andere Ausgangspunkt kann als dazu konträr mit dem Stichwort ,Kooperation' belegt werden. Der Staat und eine gesellschaftliche Organisation begreifen sich im pluralistischen System als kooperierende, arbeitsteilig agierende Partner. Eine vertragliche Verständigung dient in dieser Denkwelt der Ausgestaltung der Zusammenarbeit im einzelnen, und ftir beide Seiten ist klar, daß gewandelten Verhältnissen durch eine entsprechende Anpassung des Vertrages
15 Die Situation ist insofern mit der Konfrontation unabhängiger Staaten vergleichbar, wie es sie weltweit immer wieder gibt und wie wir sie in Deutschland in Form des Gegensatzes Bundesrepublik (alt) und DDR zu spüren bekommen.
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Rechnung getragen werden muß. Darüber wird man sich wiederum freundschaftlich verständigen. Das einseitige Vorgehen einer Seite z.B. via nicht abgestimmter Gesetzgebung würde so etwas wie ein Ausbrechen aus diesem Modell bedeuten; die Landesbankverträge sehen deshalb, wie geschildert, ein vorheriges Anhörungsverfahren vor einschlägiger Gesetzgebung vor. Man wird feststellen können, daß die Realität nicht eindeutig von einem der Extrem-Modelle geprägt sein muß, sondern irgendwo dazwischen liegen kann. Immerhin wird man für die genannten Fälle im 19. Jahrhundert ein klares Überwiegen der erstgenannten Konstellation feststellen können, heute dagegen umgekehrt eine deutliche Tendenz zum zweiten Modell. Die eingangs zitierten juristischen Stellungnahmen sind noch erkennbar vom Konfrontationsdenken bestimmt. Man braucht sich nur die Autoren und ihr bekanntes „Vorverständnis" anzusehen, um auch ohne Nachschlagen zu wissen, welchen Standpunkt sie vertreten werden. Heute besteht Anlaß, die Argumentation entsprechend dem nun vorhandenen partnerschaftlichen Zusammenwirken zu überdenken. Es kann freilich auch heute einmal „knirschen" und „Krach" geben, aber normalerweise bleibt doch das grundsätzlich kooperative Verhältnis z.B. von Staat und Kirche (genauer: beiden Kirchen 16 ) davon unberührt. Auch bei der Ausübung des Gesetzgebungsrechts nimmt der Staat in der Regel auf diese Gegebenheit Rücksicht und bemüht sich um gegenseitige Abstimmung. Die Gesetzgebung ist nicht mehr ein oder das Mittel, die andere Seite in die Knie zu zwingen, sondern dient der sachgerechten Ausgestaltung der Sozialordnung mit dem Ziel, ein sinnvolles Zusammenwirken von Staat und gesellschaftlichen Organisationen möglichst zu fördern. Wo es einmal anders zugeht, wie jüngst beim Brandenburgischen Schulgesetz, das den Religionsunterricht unter Pochen auf Art. 141 GG nicht vorsieht, dafür aber ftir alle verbindlich den LER (Lebensgestaltung/Ethik/Religionskunde)-Unterricht vorsieht, bricht prompt die alte Konfrontation wieder auf, und sie wird nach den heute üblichen Regeln vor Gericht ausgetragen17. Ob sich in Brandenburg der Kurs wieder ändern und Kooperation einziehen wird, läßt sich schwer voraus-
16 In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, daß auch die beiden großen Kirchen selbst sich nicht mehr in der früher gewohnten Konfrontation gegenüberstehen, sondern im ökumenischen Geist zusammenwirken oder doch wenigstens friedliche Nachbarschaft praktizieren. 17 Das Verfahren, eingeleitet durch einen Normenkontrollantrag der CDU/CSUFraktion des Deutschen Bundestages und durch kirchliche Verfassungsbeschwerden, schwebt noch vor dem BVerfG. Vgl. aus dem umfangreichen Schrifttum zum Problem Stefan Mückl, Staatskirchenrechtliche Regelung zum Religionsunterricht, AöR Bd. 122 (1997), S. 513 (541.544); Günter Püttner/Dorothea Kretschmer, Ethik-Unterricht - aber wie?, in: Festschrift für Martin Heckel, Tübingen 1999, S. 901 ff.
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sagen18. Das Gesamtbild in der Bundesrepublik wird davon nur maßvoll beeinflußt.
VI. Konsequenzen für Einzelfälle Wo Verträge zwischen Staat und gesellschaftlichen Organisationen vom Modell der Kooperation geprägt sind, wie es heute regelmäßig der Fall ist, müssen sich auch die Vertragsbeendigung und die Vertragsanpassung an gewandelte Verhältnisse diesem Grundmuster anpassen. Im Zweifel wird es angebracht sein, daß die Parteien einvernehmlich zu einer geeigneten Lösung finden. Nur „im Notfall" sollte es eine einseitige Kündigung oder Veränderung der Bedingungen durch Gesetzgebungsakte geben. In diesem Punkt vermag die zitierte Neustadt-bei-Coburg-Entscheidung des BVerfG interessante Denkanstöße zu geben. Der Freistaat Bayern hatte nicht in einem auf Neustadt gezielten Gesetzgebungsakt einseitig dieser Stadt den vertragsgarantierten Status genommen, sondern im Zuge einer Gesamtreform im Lande alle vergleichbaren Städte in die vergrößerten Landkreise eingegliedert. Bei dieser Reform, die ähnlich auch in den anderen (alten) Bundesländern durchgeführt wurde und auch nicht indirekt als Attacke gegen Neustadt gemeint war, brauchte Bayern, so das BVerfG mit Recht, diese Stadt nicht auszunehmen; immerhin wurden der Stadt Ausgleichszahlungen zulasten des Freistaates zugestanden. Man kann daraus entnehmen, daß im Zuge von Systemänderungen, die alle betreffen, auch alte vertragliche Bindungen gegebenenfalls zurückstehen müssen, daß dies aber bei einer einseitig nur auf den Partner bezogenen Regelung anders zu beurteilen wäre 19. Eine Rolle spielen dürfte dabei auch der Zeitablauf. In einem überschaubaren Zeitraum ab Vertragsabschluß dürfte eine Neuregelung (auch als Gesamtreform), die dem Vertrag zuwiderläuft, nicht akzeptabel sein und als Vertragsverletzung gewertet werden müssen. Nach längeren Jahren oder gar Jahrzehnten wird dagegen ein Vertragspartner nicht mehr unbedingt auf frühere Rechte pochen können, sondern wird sich - im Sinne der Kooperation - einer Anpassung an die neuen Verhältnisse öffnen müssen. Allerdings bestünde heute Anlaß, bei der Vertragsgestaltung bereits mögliche Neuregelungen ins Auge zu fassen und Klauseln über die Vertragsanpassung im Text des Vertrages zu verankern, wie in den Landesbankenverträgen geschehen. Vorsorge ist bekanntlich beim Vertragsschluß allemal besser als 18 Mit dem brandenburgischen Hintergrund hängt vielleicht die etwas rigide Haltung des Vatikans in der Frage der Eingliederung der katholisch-theologischen Hochschule in Erfurt in die dort wiedergegründete Universität zusammen. 19 In diesem Sinne lautet die in Anm. 12 zitierte Entscheidung.
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Blindheit vor der Zukunft, die dann leicht in unangenehme Überraschungen münden kann.
V I I . Ausblick Der Diskurs kann an dieser Stelle abgebrochen werden. Wie so oft hat sich bei genauerer Prüfung ergeben, daß der im Titel formulierte Gegensatz von Gesetzgebungshoheit und Vertragstreue so schroff gar nicht besteht oder bestehen muß. Vielmehr wird im Zeichen der heute bestehenden Partnerschaft zwischen Staat und gesellschaftlichen Organisationen einschließlich Kirchen auch die Ausübung der Gesetzgebungshoheit sich in dieses Grundmuster einfügen und die Rechtspositionen der Partner angemessen berücksichtigen müssen. Konflikte und Konfrontationen lassen sich zwar auch heute, wie der Fall LER in Brandenburg zeigt, nicht ausschließen, aber Verträge haben heute eigentlich den Sinn, die Kooperation von Staat und gesellschaftlichen Kräften in geordnete Bahnen zu lenken. Daran hat gerade auch der neuestens in seinen Ressourcen eingeengte Staat ein Interesse. Es geht nicht darum, die Souveränität des Staates gesellschaftlichen Mächten zu opfern, sondern darum, diese so zu nutzen, daß möglichst viele Kräfte zum Wohl des Ganzen wohltuend zusammenwirken.
Das politische A m t des Ministers Von Peter Badura
I. Amt und Amtsverhältnis Erst im Jahre 1930 hatte das Reichsministergesetz vom 27. März 1930 (BGBl. I S. 96) die Reichsminister aus der Sphäre des Beamtenrechts herausgehoben und ihre Rechtsverhältnisse unter Berücksichtigung ihrer staatsrechtlichen Stellung als vom Vertrauen des Parlaments abhängiger politischer Faktoren geregelt. Das durch die Verleihung des Ministeramtes begründete öffentlich-rechtliche Verhältnis wurde als Amtsverhältnis eigener Art gestaltet, dessen Rechte, Pflichten und Grenzen durch Gesetz festgelegt waren. Das in der ersten Legislaturperiode des Bundestages verabschiedete Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Bundesregierung (Bundesministergesetz) vom 17. Juni 1953 (BGBl. I S. 407) setzte diese Grundlinie fort 1. Das Gesetz zur Änderung des Bundesministergesetzes vom 27. Juli 1971 (BGBl. I S. 1164) ging im Zuge einer Neuregelung der Versorgung der Mitglieder der Bundesregierung und ihrer Hinterbliebenen einen Schritt weiter und berücksichtigte, daß die Minister nicht mehr, wie es früher oft der Fall gewesen sei, aus dem Beamtenverhältnis kämen, sondern „den Werdegang des Politikers haben". Dem entspreche die Gleichbehandlung aller Minister 2 . In einer Grundsatzentscheidung zur Beamtenversorgung hat das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Verschiedenartigkeit des politischen Amtes eines Mitgliedes der Bundesregierung und des Amtes auch eines Spitzenbeamten die Annahmen des Gesetzgebers als sachlich vertretbar bezeichnet, „die Wahrnehmung eines Ministeramtes bilde einen notwendig vorübergehenden Einschnitt in das Berufsleben und sein Inhaber bedürfe deshalb besonderer wirtschaftlicher Sicherungen" 3. Ungeachtet der Wesensverschiedenheit des politischen Amtes eines Ministers und des administrativen Amtes eines Beamten regelt das Bundesministergesetz das Amtsverhältnis des Ministers und die für notwendig gehaltenen „besonderen wirt-
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Entwurf der BReg. für das Gesetz, BT 1. WP Drs. Nr. 3551, Begründung S. 6. Gesetzentwurf aus der Mitte des Bundestages, BT-Drs. VI/1935, Begründung, S. 3. Beschluß vom 30.9.1987, BVerfGE 76, 256 (344 f.).
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schaftlichen Sicherungen" in Anlehnung an das Besoldungs- und Versorgungsrecht der Beamten. Ebenso verfahren die Landesgesetze, die die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Landesregierungen näher ausgestalten4. Soweit die Landesverfassungen ausdrückliche Bestimmungen über die Rechtsstellung der Minister enthalten, sprechen sie von dem Gehalt, der Besoldung, den Bezügen oder der Vergütung, vom Ruhegehalt, der Versorgung und der Hinterbliebenenversorgung, also weithin in der Sprache des Beamtenrechts5. Dies ändert nichts daran, daß Minister keine Beamte sind und daß sie zum Bund oder dem Land in einem besonderen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis stehen, das im einzelnen durch Gesetz zu regeln ist. Auch darf daraus, daß die landesverfassungsrechtlichen Formulierungen Anleihen von der Begriffsbildung des Beamtenrechts erkennen lassen, nicht geschlossen werden, daß sich auch die gesetzliche Ausformung des Amtsverhältnisses an das Beamtenrecht anpassen muß. Allerdings wird zumindest in den Ländern, die explizite Normen vorgeben, der aus dem Amtsverhältnis fließende und durch Gesetz auszuformende Anspruch ein Äquivalent von Besoldung und Versorgung umfassen müssen. Die Eigenart des Amtsverhältnisses des Regierungschefs und der Minister erklärt sich aus der verfassungsrechtlich begründeten Organstellung und Funktion ihres Amtes und aus den ihre Berufung, ihre Verantwortung und ihrem Amtsverlust bestimmenden Gegebenheiten des parteiendemokratischen Parlamentarismus. Der Anteil an der Staatsleitung, der dem Minister als Mitglied der Regierung und als eigenverantwortlicher Ressortchef zukommt, wird im Rahmen von Verfassung und Gesetz wesentlich durch die Logik des demokratischen politischen Prozesses beherrscht. Der Bundeskanzler, die Bundesminister und die Ministerpräsidenten und Minister der Länder werden zwar nicht unmittelbar vom Volk gewählt und verfugen demgemäß nur über die mittelbare Legitimität ftir ihre Person und ihre Amtsführung, die durch die parlamentarische Volksvertretung vermittelt wird. Doch wird diese Legitimität des „Wählerauftrags" regelmäßig und bis zu einem gewissen Grad zwangsläufig dadurch verstärkt, daß sie aktiv ein Abgeordnetenmandat wahrnehmen und in dieser Hinsicht eine Doppelstellung ausfüllen.
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Z.B. das Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Staatsregierung vom 4. Dez. 1961 (BayRS 1102-1-S), zuletzt geändert durch Gesetz vom 29. Dez. 1998 (GVB1. S. 1014) und das Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Landesregierung Nordrhein-Westfalen (Landesministergesetz), in der Fass, vom 23. Aug. 1965 (GV.NW S. 240), zuletzt geändert durch Gesetz vom 10. Febr. 1998 (GV.NW S. 134). 5 Art. 53 Abs. 1 VerfBW; Art. 58 BayVerf.; Art. 112 Abs. 2 Verf.Br.; Art. 40 Verf.Hbg.; Art. 105 Verf.He.; Art. 45 Verf.MV; Art. 34 Verf.Nds.; Art. 106 Verf.RhPf.; Art. 62 Verf.Sa; Art. 67 Abs. 2 Verf.SA; Art. 33 Verf.SchlH; Art. 72 Abs. 1 Verf.Th.
Das politische Amt des Ministers
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I I . Das Verfassungsorgan Regierung Die Bundesregierung und die Landesregierungen (Staatsregierungen in Bayern und Sachsen, Senate in den drei Stadtstaaten) üben je in ihrem staatlichen Bereich die vollziehende Gewalt aus. Sie sind die oberste leitende und vollziehende Behörde des Staates6. Die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern (Art. 62 GG), die Landesregierungen aus dem Ministerpräsidenten (Regierendem Bürgermeister) und den Ministern (Senatoren), ggf. zusätzlich aus Staatssekretären und ehrenamtlichen Staatsräten als weiteren Mitgliedern. Einige Landesverfassungen legen eine Höchstzahl der Mitglieder der Landesregierung fest, so Bayern (Art. 43 Abs. 2 Bay Verf.: bis zu 17 Staatsminister und Staatssekretären) und Berlin (Art. 40 Abs. 2 Verf.Berl.: höchstens 16 Senatoren). Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, d.h. die Befugnis über die Zahl und die Abgrenzung der Geschäftsbereiche zu entscheiden7, steht im Bund dem Bundeskanzler zu; es ist Teil seines Kabinettsbildungsrechts (Art. 64 GG). Die Organisationsgewalt des Bundeskanzlers ist durch die Verfassung selbst insofern begrenzt, als bestimmte Ressorts von der Verfassung vorausgesetzt werden, so das Bundesministerium der Finanzen (Art. 112, 114 Abs. 1 GG), das Bundesministerium der Verteidigung (Art. 65a GG) und das Bundesjustizministerium (Art. 96 Abs. 2 Satz 4 GG). Die Ressortverteilung und -abgrenzung wird dadurch nur funktional, nicht auch organisatorisch präjudiziell 8 . Eine mittelbare Schranke der Organisationsgewalt des Bundeskanzlers ist das Budgetrecht des Bundestages, der die erforderlichen Mittel für die Geschäftsbereiche der Bundesregierung bewilligen muß (Art. 110 Abs. 2 GG). Eine politische Bindung schließlich kann sich aus Koalitionsabsprachen, aber auch aus Ansprüchen von Flügeln oder regionalen Verbänden der Partei des Kanzlers selbst ergeben. In den Ländern ist die Organisationsgewalt dem Ministerpräsidenten, der Regierung oder - so in Bremen und Hamburg - dem Landtag (Abgeordnetenhaus, Bürgerschaft) zugewiesen. Auch soweit der Ministerpräsident oder die Regierung die Geschäftsbereiche bestimmt, ist dieser Organisationsakt von der Zustimmung des Landtages oder von dessen Bestätigung abhängig, so in Baden-Württemberg (Art. 45 Abs. 3 Verf.BW) und in Bayern (Art. 49 BayVerf.).
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So Art. 43 Abs. 1 BayVerf. für die Bayerische Staatsregierung. E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 1964. 8 Die Rechtsauffassung des VerfGH NW in dem Urteil vom 9.2.1999 (DÖV 1999, 427), daß die Kompetenz des Ministerpräsidenten zur Bildung und Abgrenzung von Ministerien nach einem „Kriterium der Wesentlichkeit" einem Vorbehalt des Gesetzes „im Lichte des Rechtsstaats- und des Demokratieprinzips" unterliege, verdrängt eine eindeutige Zuweisung der Landesverfassung durch theoretische Ableitung aus schwer faßbaren Prinzipien. 7
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Der Bundeskanzler und in den Ländern der Ministerpräsident beruft und entläßt die Minister und ggf. die in die Regierung aufzunehmenden Staatssekretäre: Der Bundeskanzler ist dabei kraft seines Kabinettsbildungsrechts nicht an eine Mitentscheidung des Bundestages gebunden. In der größeren Zahl der Landesverfassungen ist dagegen die Berufung und in manchen Fällen auch die Entlassung der Minister einer konstitutiven Mitwirkung des Landtags unterworfen, insbes. derart, daß die Amtsübernahme der Regierung der Bestätigung durch den Landtag bedarf und eine spätere Berufung eines Ministers von der Zustimmung des Landtags abhängig ist. Einige Landesverfassungen gebieten nur, daß der Ministerpräsident seine Entscheidungen unverzüglich dem Landtag anzeigt (z.B. Art. 52 Abs. 2 Verf.NW). Ein Bundesminister wird vom Bundespräsidenten entlassen, wenn der Bundeskanzler dies vorschlägt (Art. 64 Abs. 1 GG). Der Bundesminister kann ein Rücktrittsgesuch einreichen, nicht aber nach eigenem Belieben zurücktreten 9. Die Ministerpräsidenten und Minister der Länder können jederzeit von ihrem Amt zurücktreten. Das Amt des Ministers endet in jedem Fall mit der Erledigung des Amts des Ministerpräsidenten. Die Minister und ggf. die Staatssekretäre sind Mitglieder des kollegialen Verfassungsorgans Regierung. Sie nehmen damit durch ihr Amt an den politischen Aufgaben der Staatsleitung teil. Die Minister sind außerdem mit der selbständigen und verantwortlichen Leitung eines Geschäftsbereichs betraut. Sie üben als Ressortchef die Dienstaufsicht über die Behörden und Beamten ihres Geschäftsbereichs sowie die Körperschaftsaufsicht des Staates über die ihrem Ressort zugeordneten juristischen Personen des öffentlichen Rechts aus. Mit einem Bild hat man gesagt, daß der Minister die „Gelenkstelle" ist, die Regierung und Administration miteinander verbindet 10 . Die Doppelstellung des Ministers entfällt bei einem mit Sonderaufgaben betrauten Minister ohne Portefeuille. In einem zweiten Sinn bildet der Minister eine „Gelenkstelle" zwischen Exekutive und Parlament dadurch, daß er ftir sein Ressort verantwortlich ist und dem durch seine Leitungs-, Weisungs- und Aufsichtsrechte genügen kann und muß. „Ministerialfreie" Behörden und Stellen sind grundsätzlich ausgeschlossen, weil damit die Reichweite der parlamentarischen Kontrolle beschnitten würde 11 . Der Minister verwirklicht in seinem Geschäftsbereich die Ziele, die durch die vom Regierungschef bestimmten Richtlinien der Politik und durch Beschlüsse der Regierung vorgegeben werden. Seiner Verantwortung ist der Vollzug der Gesetze in seinem Ressort und die Wahrung des rechtsstaatlichen Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zugewie-
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R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 64 (1983), Rn. 51. A. Köttgen, JöR 3, 1954, S. 67 (104); K. Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 285 f., 308 ff. 11 P. Lerche, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 86 (1989), Rn. 70 ff. 10
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sen. Soweit das Gesetz seinem Ministerium die Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen gibt, verfugt der Minister über eine abgeleitete Rechtsetzungsmacht. Das politische Amt des Minister ist wegen der nicht fernliegenden Gefahr einer Interessenkollision mit beruflicher oder wirtschaftlicher Tätigkeit grundsätzlich unvereinbar. Der Bundeskanzler und die Bundesminister dürfen kein anders besoldetes Amt, kein Gewerbe und keinen Beruf ausüben und weder der Leitung noch ohne Zustimmung des Bundestages dem Aufsichtsrate eines auf Erwerb gerichteten Unternehmens angehören (Art. 66 GG, § 5 BMinG). Auch fast alle Landesverfassungen legen in entsprechender Weise, mit etwas variierenden Klauseln derartige Inkompatibiliäten fest. Eine gewisse Variationsbreite zeigt sich in der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Ausnahmen durch den Landtag, durch die Landesregierung oder durch die Landesregierung im Einvernehmen mit dem Landtag oder mit dessen Unterrichtung zugelassen werden dürfen. Ausnahmen kommen hauptsächlich für den Aufsichtsrat von Handelsgesellschaften in Betracht, die im überwiegenden Anteilseigentum des Staates stehen; in wenigen Fällen kann die Beibehaltung der Berufstätigkeit gestattet werden. (Art. 113 Abs. 1 Satz 2 Verf.Br.; Art. 64 Abs. 2 Satz 2 Verf.NW) 12 . Die Zulassung der Nebenbeschäftigung in Organen von Wirtschaftsunternehmen ist mit einer Ablieferungspflicht hinsichtlich dafür gezahlter Vergütungen verbunden (z.B. Art. 3 bis 3c des bayerischen Gesetzes über die Rechtsstellung der Mitglieder der Staatsregierung, § 18 Landesministergesetz NW).
I I I . Staatsleitung im parlamentarischen Regierungssystem a) Wenngleich die Bundesregierung und die Landesregierungen als Kollegialorgane eingerichtet sind, sind die Aufgaben der Staatsleitung nicht auch von vornherein kollegialer Entscheidung zugewiesen. Das Grundgesetz und die Landesverfassungen verbinden nach dem Muster des Art. 56 WRV die Richtlinienkompetenz des Regierungschefs („Kanzlerprinzip") mit der eigenen Verantwortung des Ministers für seinen Geschäftsbereich („Ressortprinzip") und einzelnen kollegial zu beschließenden Agenden 13 . Der Bundeskanzler bzw. der Ministerpräsident bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Minister seinen Geschäfits-
12
Art. 53 Abs. 2 Verf.BW; Art. 57 BayVerf.; 95 Verf.Brbg.; Art 113 Verf.Br.; Art. 39 Verf.Hbg.; Art. 45 Abs. 1 Verf.MW; Art. 34 Abs. 2 Verf.Nds; Art. 64 Abs. 2 und 3 Verf.NW; Art. 62 Abs. 2 Verf.Sa.; Art 67 Abs. 1 Verf.SA; Art. 34 Verf. SchlH; Art. 72 Abs. 2 Verf.Th. 13 M. Oldiges, Die Bundesregierung als Kollegialorgan, 1983. 20*
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bereich selbständig und unter eigener Verantwortung (Art. 65 GG; Art. 37 Abs. 1 Verf.Nds., Art. 63 Verf.Sa., u.a.). Eine Reihe von Landesverfassungen umschreiben die Aufgaben näher, die von der Regierung als Kollegialorgan wahrzunehmen sind. Dazu gehören hauptsächlich die Beschlußfassung über die Einbringung von Gesetzesvorlagen, über die Stimmabgabe des Landes im Bundesrat und über Fragen von grundsätzlicher und weittragender Bedeutung (z.B. Art. 49 Abs. 2 Verf.BW, Art. 64 Abs. 1 Verf.Sa.). Dem Kanzlerprinzip der alten Reichsverfassung hatten die Grundsatzentscheidungen der republikanischen Staatsgewalt zunächst das Kollegialprinzip in einem Reichsministerium entgegengesetzt. Der Rat der Volksbeauftragten setzte sich an die Stelle des Reichskanzlers und übte unter der Bezeichnung „Reichsregierung" die Staatsleitung aus14. Das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Febr. 1919 (RGBl. S. 169) legte es in § 8 Abs. 1 in die Hand des Reichspräsidenten, für die Führung der Reichsregierung ein Reichsministerium zu berufen, dem sämtliche Reichsbehörden und die Oberste Heeresleitung unterstellt waren. Dementsprechend bestimmte der Erlaß des Reichspräsidenten betr. die Errichtung und Bezeichnung der obersten Reichsbehörden vom 21. März 1919 (RGBl. S. 327), daß die Geschäfte des Reichs durch das Reichsministerium geführt werden, das aus Reichsministern, die ein Ressort leiten, und Reichsministern ohne Portefeuille besteht. Einer der Reichsminister mit dem Ressort „Reichsministerium" wurde als „Präsident des Reichsministeriums" bezeichnet. Die Weimarer Reichsverfassung hat sich diese Organisationsentscheidungen nicht zum Vorbild genommen und dem - wieder „Reichskanzler" genannten - Regierungschef eine „verfassungskräftige Prärogative" eingeräumt, unbeschadet der selbständigen Ressortverantwortung der Reichsminister 15 . „Vornehmlich durch die auf Art. 56 beruhende Prärogative des Reichskanzlers ist die Festigkeit der obersten Leitung, die politische Homogenität des Regierungskörpers und die Einheitlichkeit im Betriebe der einzelnen Geschäftszweige (Ressorts) verfassungsmäßig verbürgt" 16 . Die Sonderstellung des Bundesministers der Finanzen reicht nicht so weit, daß er damit aus den Grundregeln des Kanzlerprinzips und des Kollegialprinzips eximiert wäre. Aus der parlamentarischen Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers und des Kollegialorgans, auch im Hinblick auf die gemäß Art. 114 GG notwendige Entlastung, folgt die Einbindung der Befugnis des Bundesministers 14 Aufruf des Rats der Volksbeauftragten an das deutsche Volk vom 12. Nov. 1918 (BGBl. S. 1303); Erlaß der Reichsregierung über das Weiterbestehen der Reichsämter und sonstigen Reichsbehörden vom 11. Nov. 1918 (RAnz. vom 12.11.1918, Nr. 268). Zur Rechtslage unter der Reichsverfassung von 1871 siehe E. Rosenthal, Die Reichsregierung, 1911. 15 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., 1933, Art. 56, Anm. 5. 16 G. Anschütz (s.o. Fn. 15), Anm. 4.
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der Finanzen nach Art. 112 GG in die durch Art. 65 GG festgelegte Verantwortungsordnung der Bundesregierung, des Bundeskanzlers und der Bundesminister. Die Selbständigkeit des Bundesministers der Finanzen gegenüber der Bundesregierung und dem Bundeskanzler zeigt sich jedoch darin, daß dessen Zustimmung, soweit nach Art. 112 GG erforderlich, nicht ersetzt werden kann (§116 Abs. 1 BHO). Ein Konflikt läßt sich nicht verfassungsrechtlich, sondern nur politisch lösen17. b) Die Regierung hat eine selbständige, nicht nur vom Parlament abgeleitete Stellung und Funktion als Verfassungsorgan. Dennoch ist das parlamentarische System der Verfassung das Ordnungsgefüge, das die Stellung der Regierung bei der Wahrnehmung von Staatsleitung und Gesetzesvollzug elementar bestimmt 18 . Demzufolge sind das Amt und die persönliche Rechtsstellung des Regierungschefs und der Minister nur als Element der institutionellen Ordnung des parlamentarischen Regierungssystems zu verstehen. Parlamentarische Regierung bedeutet Staatsleitung durch eine vom Vertrauen des Parlament getragene und dem Parlament verantwortliche Regierung. Sie bedeutet nicht Regierung des Parlaments, wenngleich durch das Budgetrecht und die Mitwirkung beim Abschluß von Staatsverträgen eine „Parlamentarisierung" wesentlicher Wirkungsfelder der Staatsleitung eingetreten ist. Auch in der parlamentarischen Demokratie bleibt doch das Spannungsverhältnis zwischen dem Parlament als Gesetzgebungs- und Kontrollorgan und der Regierung als Spitze der Exekutive bestehen. „Die Regierung ist mehr als Exponent der Regierungsmehrheit" 19. Die Bundesregierung ist nicht das bloß ausführende Organ des Bundestages20. Die selbständige politische Entscheidungsgewalt der Regierung darf auch durch Gesetz nicht beseitigt oder wesentlich beeinträchtigt werden. In jedem Fall müssen der Regierung die Befugnisse erhalten bleiben, die erforderlich sind, damit sie selbständig und in eigener Verantwortung gegenüber Volk und Parlament ihre „Regierungs"-Funktion erfüllen kann 21 . Die Verantwortung der Regierung gegenüber Parlament und Volk „setzt notwendigerweise einen Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung voraus" 22 . In einem richterrecht-
17 BVerfGE 45, 1 (46 ff. und 56 f.), (Sondervotum Niebier). - M.Dauster, Die Stellung des Ministers zwischen Regierungschef, Parlament und Regierung nach dem Verfassungsrecht der Länder, 1984 (Diss. Erlangen), S. 312 ff. 18 B. Herzog (s.o. Fn. 9), Art. 62 (1983/1984), Rn 58, 64 f.; K. Braun, Kommentar zur Verfassung des Landes Baden-Württemberg, 1984, Art. 45, Rn. 6; D. Grimm, Verfassungsrecht, in: ders., H.-J. Papier, Hrsg., Nordrhein-Westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, 1986, S. 1 (34 ff.). 19 BVerfG 10,4(17,19). 20 H. von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, Vorbem. Art. 62, Nr. 2 b. 21 BVerfGE 9, 268 (280, 281). 22 BVerfGE 67, 100 (139), unter Berufung auf R. Scholz, Parlamentarischer Untersuchungsausschuß und Steuergeheimnis, AöR 105, 1980, S. 598.
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lieh geförderten Verfassungswände 1 hat sich unter der Flagge eines „kooperativen Parlamentarismus" neuerdings in außen-, europa- und verteidigungspolitischen Fragen die parlamentarische Kontrolle der Regierung in eine Mitsprache des Bundestages bei staatsleitenden, bisher der Regierung vorbehaltenen Entscheidungen verwandelt 23. Die Handlungsfreiheit der Regierung wird dadurch eingeengt und die Verantwortlichkeiten werden durch diesen neuen Parlamentsvorbehalt parteiendemokratisch verwässert. Das Konglomerat von Bundesregierung und regierungstragender Parlamentsmehrheit ist institutionell niemandem verantwortlich und auch ohne öffentliche Transparenz. Die danach gegebene Unterscheidung zwischen unmittelbarer Geschäftserledigung und Kontrolle der Geschäftserledigung durch einen anderen, auf der die im parlamentarischen Regierungssystem vorhandene institutionelle und funktionale Differenzierung der politischen Gewalt beruht („Ausübung der parlamentarischen Kontrolle", Art. 45 b GG), ist für die Arbeitsweise von Parlament und Regierung von großer Tragweite. Verantwortlichkeit der Regierung und der einzelnen Regierungsmitglieder ist somit das Gegenstück zu der selbständigen Handlungsvollmacht der Regierung, des Regierungschefs und der Minister 24 . „Es liegt in der Dialektik der Ministerverantwortlichkeit, daß diese den Minister nicht nur abhängiger, sondern zugleich unabhängiger macht" 25 . Die „Leistung" eines Ministers, mit der er seiner durch das Amt umrissenen Verantwortung gerecht zu werden hat und zu der auch die Aktivitäten gehören, mit denen er stets erneut das Vertrauen sichern muß, dessen er seitens des Regierungschefs, der Regierungsfraktion und der Wähler bedarf, um sein Amt erfolgreich zu führen, läßt sich nicht mit quantifizierbaren Kriterien messen. Die Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit des Ministers schließt einen kräftigen Gestaltungsspielraum für die Amtsausführung und die Arbeitseinteilung ein. c) Die den Minister für seine Amtsführung treffende „eigene Verantwortung" besteht im Verhältnis zum Regierungschef und - wie es in einigen Landesverfassungen auch ausdrücklich gesagt ist - gegenüber der parlamentarischen Volksvertretung. Diese parlamentarische Verantwortlichkeit des einzelnen Ministers ist eine politische Verantwortlichkeit. Sie äußert sich überall im Zitierrecht des Parlaments, dem der Minister Rede und Anwort stehen muß (Interpellationsrecht), nur in wenigen verfassungsrechtlichen Ausgestaltungen 23
BVerfGE 89, 155 - Maastricht; 90, 286 - Adria, A W ACS, Somalia. G. Leibholz, Regierung und Parlament, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl., 1967, S. 160 (161 f.); U. Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, in: Festschrift für Gebhard Müller, 1970, S. 379; P. Badura, Parlamentarismus und parteienstaatliche Demokratie, in: Festschrift für Karl Michaelis, 1972, S. 9, ders., Verfassungsrechtliche und politische Grundlagen parlamentarischer Demokratie in Deutschland, Bitburger Gespräche, Jb. 1995/1, S. 29. 25 U.M., Mißbilligungsvoten gegen Bundesminister, AöR 76, 1950, S. 338 (342). 24
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aber auch darin, daß der Minister durch ein gegen ihn gerichtetes Mißtrauensvotum sein Amt verlieren kann 26 . Das Grundgesetz ist der Regelung des Art. 54 Satz 2 WRV nicht gefolgt, wonach ein Reichsminister zurücktreten mußte, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzog. Dies wäre mit der intendierten Stellung des Bundeskanzlers als des integrierenden Faktors der Staatsleitung unvereinbar gewesen. Einige Landesverfassungen sehen vor, daß ein Minister aus seinem Amt ausscheidet, wenn ihm der Landtag das Vertrauen entzieht (Berlin, Bremen, Rheinland-Pfalz, Saarland). Nach Art. 56 Verf.BW muß der Ministerpräsident auf Beschluß von zwei Dritteln der Mitglieder des Landtages ein Mitglied der Regierung entlassen. Einige Landesverfassungen halten an der aus der konstitutionellen Epoche stammenden, heute obsoleten Einrichtung der Ministeranklage wegen Verletzung der Verfassung oder der Gesetze fest. Die Ministeranklage durch den Landtag kann zum Amtsverlust kraft Richterspruchs führen.
IV. Der Abgeordnete als Minister Durch das Grundgesetz und - mit Ausnahme von Bremen und Hamburg durch die Landesverfassungen wird weder geboten, daß die Mitglieder der Regierung Abgeordnete sein müssen, noch verboten, daß sie zugleich Abgeordnete sind oder bleiben. Tatsächlich entspricht es der durchaus den Lebensgesetzen der Parteiendemokratie folgenden Staatspraxis, daß die Regierungschefs und die Minister aus den Reihen der die Regierung tragenden Abgeordneten kommen und ihr Abgeordnetenmandat auch beibehalten und weiter ausüben. Das parlamentarische Regierungssystem, besonders ausgeprägt in der sich verstärkenden Ausformung als „kooperativer Parlamentarismus" fügt Parlament und Regierung in ein arbeitsteiliges, nur im wechselseitigen Zusammenwirken funktionsfähiges System der Staatsleitung ein 27 . Der die Staatsorganisation in Bund und Ländern bestimmende Grundsatz der Gewaltenteilung erfährt in dem von Verantwortung und Vertrauen beherrschten Verhältnis von Parlament und Regierung eine durch das Prinzip der parlamentarischen Repräsentation geleitete Ausgestaltung. Für diese Ausgestaltung ist weder die Konfrontationslage der konstitutionellen Monarchie, noch die dualistische Regierungsform des Präsidialregimes maßgebend. Der Grundsatz der Gewaltenteilung, dessen Be-
26 K. Kröger, Die Ministerverantwortlichkeit in der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland, 1972; P. Badura, Die parlamentarische Verantwortlichkeit der Minister, ZParl. 1980, S. 573. - Zu Art. 54 Satz 2 WRV: F. Fhr. Marschall von Bieberstein, Die Verantwortlichkeit der Reichsminister, HStR, I. Bd., 1930, § 45. 27 W. Schreckenberger, Veränderungen im parlamentarischen Regierungssystem, in: Festschrift für Rudolf Morsey, 1992, S. 133; P. Badura, Grundlagen parlamentarischer Regierung (s.o. Fn. 24).
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deutung in der politischen Machtverteilung, dem Ineinandergreifen der drei Gewalten und der daraus resultierenden Mäßigung der Staatsgewalt liegt, gebietet gerade wegen der starken Stellung der Regierung eine Auslegung des Grundgesetzes dahin, daß parlamentarische Kontrolle „wirksam" sein kann 28 . Er schließt aber nicht aus, daß die „Regierungsfraktion", ohne deswegen ihren Anteil an der Kontrolle der Regierung zu vernachlässigen, die Politik der von ihr getragenen Regierung zu stützen und Angriffe der Opposition abzuwehren sucht. Ebensowenig erzwingt dieser Grundsatz als Verfassungsprinzip der parlamentarischen Demokratie eine Unvereinbarkeit von Regierungsamt und Parlamentsmandat29. Im Fall des Grundgesetzes kann überdies aus der abschließenden Regelung der parlamentarischen Inkompatibilität in Art. 137 Abs. 1 GG der Gegenschluß gezogen werden, daß mit einem aus Wahlen hervorgehenden Mandat im Bund, in den Ländern und in den Gemeinden nur die Stellung als Beamter, Angestellter des öffentlichen Dienstes, Berufssoldaten, freiwilligen Soldaten auf Zeit und Richter durch Gesetz fur unvereinbar erklärt werden kann. Art. 28 Abs. 1 GG steht jedoch nicht entgegen, durch die Landesverfassung eine Inkompatibilität von Abgeordnetenmandat und Ministeramt festzulegen. Wenn schließlich Art. 53 a Abs. 1 Satz 2 GG festlegt, daß die für den Gemeinsamen Ausschuß bestimmten Abgeordneten nicht der Bundesregierung angehören dürfen, wird damit ohne weiteres anerkannt, daß es Abgeordnete gibt, die der Bundesregierung angehören und daß dies verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Die Doppelstellung des zum Minister berufenen Abgeordneten kann nur bei Vernachlässigung des parteiendemokratischen Charakters des Parlamentarismus irregulär erscheinen. Die Negierung dieser Möglichkeit würde die gewünschte „Verwurzelung" 30 der Parteiendemokratie im Volk durchkreuzen, wie sie das Wahlsystem der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl anstrebt. Selbstverständlich ist dadurch nicht ausgeschlossen, daß Personen, die nicht Abgeordnete sind oder keiner Partei angehören („Quereinsteiger"), in ein Ministeramt berufen werden. Es entbehrt jedoch nicht der parteiendemokratischen Logik, daß die so ins Amt gelangten Minister sich häufig im nachhinein der Regierungspartei angeschlossen und sich um ein Abgeordnetenmandat beworben haben.
28
BVerfGE 67, 100(130). R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20, Abschn. V (1980), Rn. 46, 47; dagegen H. Meyer, Die Stellung der Parlamente in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, in: H.-P. Schneider/W. Zeh, Hrsg., Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 4, RN. 29 ff. 30 BVerfGE 85, 264 (284 ff.). 29
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Die Verfassungen Bremens und Hamburgs folgen einer besonderen hanseatischen Tradition 31 . Sie wollen den Grundsatz der Gewaltenteilung konsequent im Sinne der Gewaltentrennung verwirklichen und verbieten nach dieser Grundidee die gleichzeitige Ausübung eines Bürgerschaftsmandats und eines Senatsamtes. Mit diesem eher abstrakten Gedanken verbindet sich eine, vor allem für kleine Fraktionen anziehende Überlegung. Das Ausscheiden des Senators aus der Bürgerschaft ermöglicht es seiner Fraktion, einen weiteren Politiker mit einem Mandat auszustatten, einen zusätzlichen „Spieler" auf das „Feld" zu schicken32. Art. 108 Abs. 1 Verf.Br. bestimmt: Die Senatsmitglieder können nicht gleichzeitig der Bürgerschaft angehören. Art. 38a Abs. 1 Verf.Hbg. lautet: Senatoren dürfen kein Bürgerschaftsmandat ausüben. Die beiden hanseatischen Unvereinbarkeitsregeln werden durch die Errichtung des „ruhenden Mandats" flankiert, das dem Senator das Recht einräumt, in die Bürgerschaft wieder einzutreten, wenn er von dem Senatorenamt zurücktritt oder sonst das Amt verliert (Art. 108 Abs. 2 Verf.Br.; Art. 38a Abs. 2 Verf.Hbg., § 39 Bürgerschaftswahlgesetz). Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Einrichtung mit dem Grundsatz des freien Mandats und mit dem Grundsatz der unmittelbaren Wahl, der das Dazwischentreten einer zusätzlichen Disposition zwischen Wahlakt und Mandatserwerb verbietet, sind angebracht 33. Einige Stimmen teilen diese Zweifel nicht und sehen keine verfassungsrechtliche Angreifbarkeit des ruhenden Mandats 34 . Der mit dem ruhenden Mandat gesuchte, verfassungsrechtlich fragwürdige Ausweg belegt, daß sich auch in dieser Facette des politischen Amtes des Ministers die Lebenslinie des parteiendemokratischen Parlamentarismus Bahn bricht.
31
P. Schulz, Stadtstaaten, in: Schneider/Zeh (s.o. Fn. 29), § 65, Rn. 68 ff. U K. Preuß, Landesregierung (Senat), in: V. Kröning/G. Pottschmidt/U. K. Preuß/A Rinken, Hrsg., Handbuch der Bremischen Verfassung, 1991, S. 335 (343 ff.); P. Friedrich, Zur Staatspraxis, ebd., S. 353 (358 f f ) ; K. David, Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, 1994, Art. 38a; W. Thieme, Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, 1998, Art. 38a. 33 HessStGH NJW 1977, 2965 (für ein Gesetz, nicht eine Verfassungsnorm); Κ Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 1053 f.; H. H. Klein, Status des Abgeordneten, HStR, Bd. II, 1987, § 4, Rn. 20; L.-A. Versteyl, Beginn und Ende der Wahlperiode, Erwerb und Verbot des Mandats, in: Schneider/Zeh (s.o. Fn. 29), § 14, Rn. 37; W. Löwer, in: I. von Münch, Hrsg., GG-Kommentar, Bd. 2, 3. Aufl., 1995, Art. 28, Rn. 23; W. Schreiber, Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 6. Aufl., 1998, § 46, Rn. 2d; W. Thieme (s.o. Fn. 32), Rn. 3. 34 P. Schulz (s.o. Fn. 31), Rn. 71; U.K. Preuß (s.o. Fn. 32), S. 344 f.; Κ David (s.o. Fn. 32), Rn. 9, 19, 20 ff.; I. von Münch, in: ders., Hrsg., GG-Kommentar (s.o. Fn. 33), Art. 38, Rn. 78. 32
Verfassungsfragen der staatlichen Selbstdarstellung Anmerkungen zur Staatspflege und zur staatlichen Selbstdarstellung im demokratischen Verfassungsstaat Von Dietrich Murswiek
I· Selbstdarstellung als Problem des Verfassungsrechts In seinen Arbeiten über die Selbstdarstellung des Staates hat Helmut Quaritsch gezeigt, was staatliche Selbstdarstellung ist und was ihre Gegenstände sind, welche Mittel ihr zur Verfugung stehen, welchen Zwecken sie dient und welche Aufgaben sie erfüllt 1 . Er hat Selbstdarstellung im Anschluß an den amerikanischen Soziologen Erving Goffman 2 als „die Gesamtheit der Mittel und Verhaltensweisen, die das eigene Erscheinungsbild bestimmen sollen" definiert 3 . In der Beschreibung und Analyse dieser Mittel und Verhaltensweisen hat er eine wirklichkeitswissenschaftliche Perspektive eingenommen, die Perspektive der Soziologie, der Verhaltenspsychologie, der Allgemeinen Staatslehre. Fragt man aus dieser Perspektive nach der Notwendigkeit der staatlichen Selbstdarstellung, so ergibt sich die Antwort aus den Funktionserfordernissen des modernen Staates in den konkreten Ausprägungen, die sich aus der spezifischen Verfaßtheit des jeweiligen Staates und seiner konkreten Organisation ergeben4. Man kann diese Frage auch aus einer verfassungsrechtlich-normativen Perspektive stellen. Dann muß man die Antwort aus der Verfassung zu gewinnen suchen: Ist Selbstdarstellung verfassungsrechtlich geboten? Und man kann diese Frage durch eine Reihe weiterer verfassungsrechtlicher Fragen ergänzen, insbesondere durch die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen der staatlichen Selbstdarstellung. Diese verfassungsrechtliche Perspektive möchte ich im folgenden einnehmen.
1 Helmut Quaritsch, Probleme der Selbstdarstellung des Staates, 1977; ders., Weiteres zur Selbstdarstellung des Staates, DÖV 1993, S. 1070ff.; vgl. außerdem Helmut Quaritsch (Hrsg.), Die Selbstdarstellung des Staates, 1977. 2 The Presentation of Self in Everyday Life, 1959. 3 Probleme (s.o. Fn. 1), S. 8; DÖV 1993, S. 1071. 4 Vgl. Quaritsch, Probleme (s.o. Fn. 1), S. lOff.
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Die verfassungsrechtliche Fragestellung ist kein Gegensatz zur sozialwissenschaftlichen. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Untersuchungsgegenstände mit je eigener Berechtigung 5. Und die verfassungsrechtliche Untersuchung des Themas Selbstdarstellung ist auf die wirklichkeitswissenschaftliche angewiesen. Inwieweit Selbstdarstellung verfassungsrechtlich geboten oder zumindest zulässig ist, kann davon abhängen, inwieweit sie tatsächlich funktionsbedingt oder ftinktionsnotwendig ist. Da Verfassungen Fragen der Selbstdarstellung entweder gar nicht oder nur sehr punktuell ausdrücklich regeln, lassen sich aus dem Verfassungsrecht regelmäßig nur über den Schluß aus Funktionsbedingungen und Funktionsnotwendigkeiten der Verfassung selbst bzw. ihrer Institutionen normative Folgerungen für die Selbstdarstellung ableiten. Dazu seien zwei normative Thesen vorangestellt: Staatliche Selbstdarstellung ist verfassungsrechtlich geboten, wenn die Existenz einer verfassungsrechtlichen Institution oder die Geltung einer Verfassungsnorm oder eines Verfassungsprinzips auf Selbstdarstellung angewiesen ist. Staatliche Selbstdarstellung ist zumindest insoweit erlaubt, wie sie notwendig mit der Existenz einer verfassungsrechtlichen Institution oder der Geltung einer Verfassungsnorm oder eines Verfassungsprinzips verbunden ist. Beide Thesen lassen sich aus dem Gesichtspunkt der Effektivität des Verfassungsrechts begründen: Eine Verfassungsnorm gilt nur dann effektiv, wenn die realen Bedingungen ihrer Geltung erfüllbar sind. Wenn die Verfassung eine Institution vorsieht, die nicht existieren kann, ohne sich zugleich selbst darzustellen, ist Selbstdarstellung insoweit notwendig als verfassungsrechtlich erlaubt anzusehen. Und wenn die Verfassung eine Institution vorsieht, die nicht dauerhaft existieren könnte, wenn nicht durch Selbstdarstellung die Bedingungen ihrer Existenz ständig gesichert würden, dann ist die existenzsichernde Selbstdarstellung verfassungsrechtlich geboten. Das ist abstrakt betrachtet völlig klar. Problematisch sind „nur" die Voraussetzungen. Wann ist eine Verfassungsinstitution auf Selbstdarstellung - und auf welche Selbstdarstellung - angewiesen? Die verfassungsrechtlichen Fragen verweisen also auf die sozialwissenschaftlichen Fragen. Die sozialwissenschaftlichen Antworten sind verfassungsrechtlich unmittelbar relevant. Allerdings ist nicht jede sozialwissenschaftliche Antwort auf sozialwissenschaftliche Fragen verfassungsrechtlich relevant, sondern die Auswahl dessen, was aus dem sozialwissenschaftlichen
5 Die Kritik, Quaritsch habe die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die staatliche Selbstdarstellung und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen nicht untersucht - vgl. Peter Häberle , DVB1. 1978, S. 512f. -, kann ich nicht teilen. Man sollte einem Autor nicht vorwerfen, daß er nicht ein Buch geschrieben hat, das man selber gern geschrieben hätte.
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Feld der Selbstdarstellungsforschung verfassungsrechtlich relevant ist, wird allein von der verfassungsrechtlichen Fragestellung determiniert.
II. Staatspflege, Verfassungspflege, Selbstdarstellung Inwiefern ist der demokratische Verfassungsstaat auf Selbstdarstellung angewiesen? Eine allgemeine, noch nicht nach einzelnen Institutionen und Prinzipien differenzierende Antwort kann sich an den Arbeiten von Rudolf Smencf, Herbert Krüger 7 und Helmut Quaritsch 8 orientieren: Jede soziale Organisation muß ihr Dasein, ihre Ziele und Zielverwirklichungen dauernd vorweisen, um gegenüber Mitgliedern und Umwelt ihre Existenzberechtigung und Sinnhaftigkeit zu präsentieren. Dazu gehört auch, daß sie sich von anderen Organisationen deutlich abhebt9. Ihre Identität, ihren Zweck und ihre tatsächliche Zweckerfüllung öffentlich darzustellen, gehört zu ihren Existenzbedingungen. Denn soziale Organisationen existieren nicht „von Natur aus". Sie setzen ein sinnvolles, funktionsgerechtes Zusammenwirken von Individuen voraus, und dieses wird nur dann Zustandekommen und dauerhaft aufrechtzuerhalten sein, wenn für den Einzelnen die Sinnhaftigkeit der Organisation erkennbar und verständlich ist. Krüger und Quaritsch haben, auf die Integrationslehre Smends aufbauend, gezeigt, daß dies für den Staat in ganz besonderem Maße gilt. Der moderne Staat ist eine äußerst komplexe Organisation. Er hat es schwer, den Bürgern seine Leistungen erkennbar und seine Notwendigkeit - nicht nur im allgemeinen, sondern hinsichtlich aller seiner Funktionen und besonders im Hinblick auf die der Allgemeinheit zugemuteten Lasten - verständlich zu machen. Auf die Erkennbarkeit und das Verständnis der Existenz, der Zwecke und der Zweckerfullung seiner Institutionen und Organe ist der Staat aber in ganz besonderem Maße schon deshalb angewiesen, weil er „von permanenter Massen-
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Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928; wieder abgedruckt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3. Aufl. 1994 (zitiert nach dem Wiederabdruck), S. 119ff.; ders., Integrationslehre, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 5. Bd., 1956, S. 299ff.; ders., Integration, in: Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl. 1987, Sp. 1354ff. 7 Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 214ff.; ders., Von der Staatspflege überhaupt, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.), Die Selbstdarstellung des Staates, 1977, S. 2Iff. 8 S. o. Fn. 1 - Zur Bedeutung der Selbstdarstellung des Staates vgl. außerdem BVerfGE 81, 278 (293f.); Eckart Klein, in: Bonner Kommentar (Zweitbearbeitung), Art. 22 Rn. 67 ff.; ders., Die Staatssymbole, HStR I, 1987, § 17 Rn. 1 ff.; Klaus Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 282 ff.; Jürgen Hartmann, Staatszeremoniell, 2. Aufl., 1990; Jörg-Dieter Gauger / Justin Stangl (Hrsg.), Staatsrepräsentation, 1992; Heinrich Wefing, Parlamentsarchitektur. Zur Selbstdarstellung der Demokratie in ihren Bauwerken. Eine Untersuchung am Beispiel des Bonner Bundeshauses, 1995, S. 64ff.. 9 Quaritsch, Probleme (s.o. Fn. 1), S. 10.
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Loyalität abhängig" ist 10 . Der Staat agiert „hoheitlich", setzt einseitig verbindliches Recht und kann dieses zwangsweise durchsetzen. Die staatliche Rechtsordnung lebt jedoch davon, daß das Recht in aller Regel freiwillig befolgt und der tatsächliche Einsatz staatlichen Zwanges nicht notwendig ist. Und diese Freiwilligkeit der Rechtsbefolgung setzt ein Mindestmaß an Einsicht in die jedenfalls prinzipielle Berechtigung des Rechts voraus. Dazu gehört auch die prinzipielle Bejahung des institutionellen Zusammenhangs, in dem das Recht entsteht. Loyalität ist natürlich nicht nur von den Beherrschten gefordert, sondern auch und vor allem von denen, die staatliche Herrschaft ausüben, von den Funktionsträgern auf allen Ebenen. Auch diese sind an Verfassung und Recht gebunden, ohne immer zur Beachtung des Rechts gezwungen werden zu können. Sie müssen ihre eigene, dem Recht entsprechende Funktion richtig verstehen und die Bereitschaft zu funktionsgerechtem Verhalten haben, um ihre Funktion richtig ausüben zu können 11 . Es liegt auf der Hand, daß der freiheitliche, demokratische Verfassungsstaat ganz besonders auf die Einsicht der Bürger in seine Zwecke, Funktionen und Funktionsbedingungen angewiesen ist. Er baut sich ja aus seinen Bürgern auf; er existiert nicht unabhängig von ihnen, sondern nur mit ihnen und durch sie. Und seine Funktionsträger haben eine dienende, durch die Verfassung geprägte und begrenzte Funktion. Sie müssen ein entsprechend verfassungsorientiertes Funktionsbewußtsein haben. Sonst kann ein noch so ausgeklügeltes System von checks and balances den Mißbrauch der Macht, Korruption, Klüngelwirtschaft, Bedienung von Gruppenegoismen oder schlichte Selbstbedienung und andere Formen der Entfernung politischer Amtsausübung von der Gemeinwohlorientierung nicht verhindern. Was hier für den Verfassungsstaat und seine Institutionen gesagt wurde, läßt sich entsprechend auch für die Verfassung selbst sagen: Die Verfassung verwirklicht sich nicht von selbst. Als Normenordnung steht sie zunächst nur auf dem Papier. Politische Wirklichkeit wird sie allein dadurch, daß sie täglich gelebt wird. Das heißt, daß die Verfassungsnormen von ihren Adressaten, also insbesondere von Bund und Ländern und ihren einzelnen Staatsorganen in der täglichen Praxis beachtet werden. Das heißt aber darüber hinaus, daß die grundlegenden Entscheidungen der Verfassung von allen am demokratischen Willensbildungsprozeß Beteiligten - von den Staatsorganen, von allen Amtsund Mandatsträgern, aber auch von den politischen Parteien, den Massenmedien und nicht zuletzt vom demokratischen Souverän, vom Volk - geachtet und bejaht werden. Dies setzt voraus, daß die Grundentscheidungen der Verfassung
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Quaritsch , Probleme (s.o. Fn. 1), S. 11. Hierzu und zum folgenden vgl. auch Josef Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte und gesellschaftlicher Konsens, in: NJW 1977, S. 545 (548ff.). 11
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den Akteuren des politischen Willensbildungsprozesses, der demokratischen Öffentlichkeit, immer wieder bewußt gemacht werden. Der demokratische, pluralistische Verfassungsstaat ist also darauf angewiesen, daß alle politischen Akteure sich in einem ständigen Integrationsprozeß auf die Grundentscheidungen der Verfassung hin integrieren. Die Überzeugung von der Notwendigkeit der verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen, das Verständnis der Funktionen und Zwecke der Staatsorgane, die zugrunde liegenden Legitimitätsvorstellungen, die Achtung der rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassungswerte und nicht zuletzt das politische Zusammengehörigkeitsbewußtsein des Staatsvolkes bedürfen der ständigen Aktualisierung und Erneuerung. Was folgt daraus für die Notwendigkeit der Selbstdarstellung? Auszugehen ist von der Erkenntnis, daß Existenz und Funktionsfähigkeit des Staates und effektive Geltung der Verfassung von Bewußtseinsvoraussetzungen abhängig sind. Erkenntnis der staatlichen Zwecke, Funktionen und Funktionsbedingungen, Bejahung der Existenz und Legitimität staatlicher Institutionen sowie der Geltung und Legitimität verfassungsrechtlicher Normen und Prinzipien sind Bewußtseinsphänomene. Der Verfassungsstaat benötigt Staats- und Verfassungsbewußtsein. Und dieses bildet sich nicht von selbst, sondern muß ständig neu erzeugt und aktualisiert werden. Dieser ständige Bewußtseinsbildungsprozeß ist keine rein staatliche Veranstaltung. In der Demokratie müssen vor allem die Bürger sich selbst zu einem politischen Subjekt und zu einer staatlichen Organisation, zum Staat als Wirkungs- und Entscheidungseinheit12 integrieren. Die Bewußtseinsbildung, um die es hier geht, ist Bestandteil der politischen Willensbildung. Und diese muß in der Demokratie grundsätzlich „vom Volke ausgehen", also „von unten nach oben", vom Volk zu den Staatsorganen hin erfolgen, nicht im Wege staatlicher Indoktrination von „oben nach unten", von der Regierung zum Volke hin 13 . Einwirkungen der Staatsorgane auf diesen Prozeß sind mit dem Grundsatz der freien und offenen Meinungs- und Willensbildung des Volkes 14 nur dann vereinbar, wenn sie durch einen besonderen, sie verfassungsrechtlich legitimierenden Grund gerechtfertigt werden können 15 . Aber solche Gründe sind durchaus vorhanden. Die politische Bewußtseinsbildung ist auch im demokratischen Staat nicht freier Beliebigkeit überlassen. Das Volk hat sich die Verfassung gegeben. Diese legt die Grundentscheidungen fest, in bezug auf welche unter den pluralistischen Kräften und politischen Strömungen und Parteien Konsens bestehen sollte. Sie stellt das Programm der 12
Hermann Heller, Staatslehre, 1934, S. 228ff. = in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3,2. Aufl. 1992, S. 339ff. 13 BVerfGE 20, 56 (98, 99) - Parteienfinanzierung II. 14 Dazu auch z.B. BVerfGE 44, 125 (139ff.). 15 BVerfGE 20, 56 (99).
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Integration des Volkes zur politischen Einheit dar. Deshalb ist es nicht nur demokratisch legitim, sondern auch notwendig, daß der Staat sich an dem permanenten Bewußtseinsbildungsprozeß beteiligt und darauf hinwirkt, daß politisches Bewußtsein als Verfassungsbewußtsein entsteht und wachgehalten wird, als Bejahung der Verfassung und ihrer Institutionen 16 . Die aktive Einwirkung des Staates (und auch der Bürger) auf die Bewußtseinsbildung zum Zweck der Aufrechterhaltung der Legitimität von Staat und Verfassung und der bewußtseinsmäßigen Voraussetzungen ihrer Existenz und Funktionsfahigkeit bzw. ihrer effektiven Geltung ist das, was Herbert Krüger „Staatspflege" nennt. Im demokratischen Verfassungsstaat ist Staatspflege notwendigerweise Verfassungspflege: Bewußtseinsbildung zur Sicherung der Verfassungsgrundlagen. „Staatspflege" und „Verfassungspflege" sind keine Gegensätze, sondern Verfassungspflege ist die durch die Verfassung programmierte Pflege des durch die Verfassung konstituierten Staates, seiner verfassungsmäßigen Institutionen und seiner verfassungsmäßigen Rechtsordnung. Die staatliche Einwirkung auf die Bewußtseinsbildung ist also durch die Verfassung gesteuert, inhaltlich an der Verfassung orientiert und zugleich durch die Verfassung begrenzt. Daraus folgt insbesondere, daß sie nicht zu parteipolitischen Zwecken mißbraucht oder in den Dienst ideologischer Bestrebungen gestellt werden darf. Wie verhält sich nun die staatliche Selbstdarstellung zur Staats- bzw. Verfassungspflege? Nach Krüger unterscheidet sich Selbstdarstellung von der Staatspflege, weil die Darstellung den Staat voraussetzt, während die Staatspflege ihn hervorbringt 17 . Quaritsch hat ihm zugestimmt, allerdings zugleich darauf hingewiesen, daß die Selbstdarstellung der Erzeugung und Festigung von Loyalität diene und sich wegen des Zusammenhangs von Hervorbringung und Festigung Staatspflege und staatliche Selbstdarstellung nicht scharf trennen ließen18. Staatspflege dient der Bewußtseinsbildung. Selbstdarstellung wirkt sich ebenfalls auf die Bewußtseinsbildung aus. Sie dient der Bewußtseinsbildung, sofern sie nicht lediglich notwendige Begleiterscheinung staatlicher Funktionsausübung, sondern gezielt zur Meinungs- und Willensbildung eingesetztes Mittel ist. Insofern läßt sich sagen, daß staatliche Selbstdarstellung ein Mittel der Staatspflege sein kann - eines unter vielen anderen. Insofern ist Staatspflege der übergeordnete Begriff. Krügers Unterscheidung von Hervorbringung des Staates durch Staatspflege und Selbstdarstellung des bereits her-
16 Vgl. dazu Isensee (s.o. Fn. 11), S. 551; Hans Hugo Klein , Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, VVDStRL 37 (1979), S. 53 (104ff.) m.w.N. 17 Herbert Krüger , Von der Staatspflege überhaupt, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.), Die Selbstdarstellung des Staates, 1977, S. 2Iff. 18 Quaritsch , Probleme (s.o. Fn. 1), S. 13, m. Hinw. auf H. Krüger (s.o. Fn. 17), S. 25.
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vorgebrachten Staates scheint mir dagegen sehr konstruiert. Der Staat wird nicht nur durch Staatspflege hervorgebracht. Auch die ständige Aktualisierung des Staatsbewußtseins setzt den bereits bestehenden Staat voraus. Nur in der Ausnahmelage der Vorbereitung einer neuen Staatsgründung geht die Bildung von Staatsbewußtsein der Existenz des Staates voran. Richtig an den Beobachtungen von Smend und Krüger ist freilich, daß die Existenz des Staates nichts Statisches ist. Sie ist nicht durch einen einmaligen Gründungsakt auf Dauer garantiert, sondern die Wirklichkeit des Staates als Handlungs- und Wirkungseinheit bedarf der dauernden Erneuerung und Bestätigung. Die Integrierung der politischen Akteure zum Staat mittels Staatspflege und die Selbstdarstellung des Staates im Handeln seiner Funktionsträger stehen in einem dialektischen Zusammenhang. Trägt die Staatspflege zur ständigen Staatshervorbringung bei, so kann der so hervorgebrachte Staat handeln, sich selbst gegenüber der Allgemeinheit darstellen und durch diese Darstellung wiederum auf die Bewußtseinsbildung und damit auf den ständigen Prozeß der Integration einwirken. Unter diesem Aspekt ist die Selbstdarstellung verfassungsrechtlich zu betrachten. Entweder dient sie der - staatsbezogenen - Bewußtseinsbildung, indem sie gezielt hierfür eingesetzt wird, oder sie wirkt sich zumindest auf sie aus. In jeder Hinsicht darf sie nicht in Konflikt zur Verfassung geraten.
I I I . Staatliche Selbstdarstellung als verfassungsrechtliche Aufgabe Die Angewiesenheit des demokratischen Verfassungsstaates auf die Aktualisierung des Staats- und Verfassungsbewußtseins erweist die Notwendigkeit der Staatspflege. Inwieweit sich daraus die Notwendigkeit der Selbstdarstellung als ein spezielles Mittel der Staatspflege ergibt, läßt sich nicht allgemein sagen. Überlegt man, hinsichtlich welcher Ziele, Zwecke oder Institutionen der demokratische Verfassungsstaat auf die Bewußtseinsbildung Einfluß nehmen muß, empfiehlt es sich, diese Frage zunächst unabhängig vom einzusetzenden Mittel (Selbstdarstellung oder sonstige Mittel der Staatspflege) zu beantworten. Für die Bundesrepublik Deutschland lassen sich aus dem Grundgesetz notwendige Aufgaben der Staatspflege ableiten. Die so begründete Staatspflege ist immer Verfassungspflege. - Zunächst sei auf die einzige Bestimmung hingewiesen, die sich ausdrücklich mit Staatspflege - in der Form der staatlichen Selbstdarstellung - befaßt, nämlich Art. 22 GG: „Die Bundesflagge ist schwarzrot-gold." Dies ist zunächst nur die Entscheidung über die Farben der Flagge und damit auch über die Bundesfarben. Das erscheint uns heute marginal, doch war es aufgrund der Erfahrungen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als der Flaggenstreit die Weimarer Republik entzweite19, für den Parlamentari19
Dazu Eckart Klein, Staatssymbole, in: HStR I, 1987, § 17 Rn. 3.
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sehen Rat von größter Bedeutung, diese Frage in der Verfassung zu entscheiden. Wichtig ist diese Entscheidung deshalb, weil die Festlegung der Farben der Bundesflagge und damit zugleich der Nationalfarben keine willkürliche ist, sondern weil mit ihr ein bestimmter Symbolgehalt verbunden ist. Die Entscheidung für „schwarz-rot-gold" impliziert die Entscheidung für den Symbolgehalt dieser Farben: In bewußter Anknüpfung an die Verwendung dieser Farben durch die deutsche Einheitsbewegung des 19. Jahrhunderts, kulminierend in den Jahren 1848/49, waren für den Parlamentarischen Rat diese Farben Ausdruck des Wunsches nach „Einheit in der Freiheit" 20 . Nationale Einheit und politische Freiheit gehörten für die Nationalbewegung zusammen. Und so war es auch für den Parlamentarischen Rat, der eine freiheitliche Verfassung zunächst nur in Westdeutschland verwirklichen konnte, aber das Ziel, die Einheit und Freiheit ganz Deutschlands zu vollenden, zum Staatsziel erklärte und dies insbesondere in der Präambel und in Art. 146 GG zum Ausdruck brachte 21. Die Bundesflagge steht als Symbol also für die Einheit und Freiheit Deutschlands. Sie stand für den politischen Willen, dieses Ziel zu erreichen, und sie steht nachdem wir es am 3. Oktober 1990 erreicht haben - dafür, das Erreichte zu wahren. Die Nationalflagge ist eines der wichtigsten Staatssymbole. Wie die anderen Staatssymbole dient auch sie der staatlichen Selbstdarstellung 22. Sie soll das von ihr symbolisierte Staatsziel sinnlich sichtbar machen, öffentlich vergegenwärtigen. Aus Art. 22 GG ergibt sich daher auch der Auftrag, Bundesflagge und Bundesfarben tatsächlich zu gebrauchen und damit ihre Symbolwirkung zu entfalten 23. Außerdem muß Art. 22 GG der Auftrag entnommen werden, den Symbolgehalt der Allgemeinheit zu vermitteln. Zwar entfaltet eine Nationalflagge ihre integrierende Wirkung regelmäßig allein durch die öffentliche Verwendung. Dazu ist die Kenntnis des spezifischen Symbolgehalts nicht erforderlich. Es reicht aus, daß die Menschen wissen, daß die Farben für die Bundesrepublik Deutschland stehen. Doch wenn eine Flagge - wie die deutsche Bundesflagge einen spezifischen Symbolgehalt hat, der über die Identifizierung mit dem konkreten Staat hinausweist - hier auf nationale Einheit und republikanische Freiheit -, dann kann die Flagge ihre integrierende Wirkung insoweit nur entfalten, 20 So der Abgeordnete Bergsträsser (SPD), JÖR NF 1 (1951), S. 216; vgl. Eckart Klein , HStR I, § 17 Rn. 8. 21 Dazu z.B. Dietrich Murswiek , Das Staatsziel der Einheit Deutschlands nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989, S. 11 ff. 22 Vgl. Eckart Klein , HStR I, § 17 Rn. 1. Daneben hat die Flagge noch andere Funktionen, dazu Klein , Rn. 1 23 Vgl. Eckart Klein , HStR I, § 17 Rn. 2. - Konkrete Flaggenführungspflichten sind im Grundgesetz freilich nicht geregelt. Zur Möglichkeit, solche Pflichten zu schaffen, vgl. Herzog , in: Maunz/Dürig, GG, Art. 22 Rn. 23 ff.
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wenn diese spezifische Bedeutung im Bewußtsein der Bürger wachgehalten wird. Dies ist eine Aufgabe des Schulunterrichts und anderer Formen der politischen Bildung. Außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 22 GG ergibt sich die Staatspflege als notwendige Verfassungsaufgabe aus dem Verfassungszusammenhang. Die Grundentscheidungen der Verfassung, welche die konkrete Art und Form der politischen Einheit des deutschen Volkes bestimmen, sind durch das Grundgesetz einer Verfassungsänderung ausdrücklich entzogen worden (Art. 79 III GG). Weder das Parlament noch das Volk selbst dürfen ein Gesetz beschließen, durch das diese Grundentscheidungen aufgehoben, verändert oder durch andere ersetzt werden. Die Unabänderlichkeit der die Identität der Verfassung ausmachenden Grundentscheidungen läßt sich auf Dauer nur gewährleisten, wenn die Überzeugung wachgehalten wird, daß diese Grundentscheidungen richtig sind, und wenn der aus dieser Legitimitätsüberzeugung gespeiste politische Wille wachgehalten wird, die durch diese Grundentscheidungen geprägte Verfassung zu wahren. Auf die Dauer ist es unmöglich, konkrete Verfassungsstrukturen aufrechtzuerhalten, wenn die große Mehrheit des Volkes sie für illegitim hält und durch eine andere Verfassung ersetzen will. Indem das Grundgesetz bestimmte Grundentscheidungen der Verfassungsänderung entzieht, macht es damit implizit eine auf die Wahrung dieser Grundentscheidungen gerichtete Verfassungspflege zur notwendigen Verfassungsaufgabe 24. Diese Aufgabe ist von allen Staatsorganen im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen wahrzunehmen. Die verfassunggebende Grundentscheidung gibt also die materialen Prinzipien an, auf die hin sich die staatliche Integration vollziehen soll 25 , das Integrationsprogramm, und damit das Programm für die Staatspflege. Der Inhalt dieser Aufgabe soll hier nur skizziert werden. Es geht um die Bewußtmachung der verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen und um die Weckung, Aktualisierung und Aufrechterhaltung eines entsprechenden Verfassungsbewußtseins. Unter den in Art. 79 III GG genannten Grundentscheidungen lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: individualbezogenmenschenrechtliche und staatsorganisatorische. Achtung und Schutz der Menschenwürde und der unveräußerlichen Menschenrechte, Grundrechtsbindung aller Staatsgewalt, Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat, bundesstaatliche Gliederung, Republik, das sind die identitätsbestimmenden Merkmale, auf die Art. 79 III GG sich ausdrücklich bezieht und die im wesentlichen auch im Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (Art. 18, Art. 21 II GG) zusammengefaßt sind.
24 Dazu ausfuhrlicher Dietrich Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 232; Hans Hugo Klein, VVDStRL 37 (1979), S. 53 (104ff.). 25 Murswiek (s.o. Fn. 24), S. 232f.
2Γ
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Diese Grundentscheidungen müssen den Bürgern bekannt gemacht und vor allem in ihrer Bedeutung verständlich gemacht werden. Darüber hinaus muß für sie geworben werden. Die Staatsorgane dürfen sich nicht „neutral" zu diesen Grundentscheidungen verhalten, sondern müssen sie bejahen und verteidigen, und sie müssen im Rahmen der Staatspflege darauf hinwirken, daß sie auch von den Bürgern innerlich bejaht werden. Staatspflege ist auf die Wekkung von „positivem" Verfassungsbewußtsein gerichtet. Neben den ausdrücklich in Art. 79 III GG genannten Verfassungsfundamentalprinzipien gehören alle weiteren Prinzipien und Grundentscheidungen zum Pflichtprogramm der Staatspflege, die ebenfalls der Verfassungsänderung entzogen sind - aus denselben Gründen. Auf die Frage, welche nicht in Art. 79 III GG genannten Prinzipien unabänderbar sind und wie sich ihre Unabänderlichkeit begründen läßt, kann ich hier nicht eingehen. Dies ist ein umfassendes gesondertes Thema 26 . Paul Kirchhof 27 rechnet zu ihnen - als Verfassungsvoraussetzungen - die Verbindlichkeit des Rechts28, das vorgefundene Staatsgebiet in Mitteleuropa 29 , das deutsche Staatsvolk30, die deutsche Sprache31 und vor allem die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland32. Die Bundesrepublik Deutschland ist der - europaoffene - Nationalstaat der Deutschen33. Auch dies ist eine Verfassungsvoraussetzung (Geschichte des deutschen Staates, mit dem die Bundesrepublik Deutschland als Rechtssubjekt identisch ist seit 1867/1871, deutsche Sprache, ethnische Zusammensetzung des Staatsvolks), und der Verfassunggeber hat diese Voraussetzung in der Präambel des Grundgesetzes, im Namen des Staates und in der Überschrift der Verfassung sowie auch in Art. 22 GG deutlich zum Ausdruck gebracht. In der ursprünglichen Fassung der Präambel hieß es, das deutsche Volk habe das Grundgesetz beschlossen, „von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren" 34 . Und die jet26
Dazu ausfuhrlich Dietrich Murswiek , Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes und die Grenzen der Verfassungsänderung. Ein Beitrag zur Diskussion um die Verfassungswidrigkeit der wiedervereinigungsbedingten Grundgesetzänderungen, 1999. 27 Paul Kirchhof Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, HStR I, 1987, § 19 Rn. 47ff. 28 Paul Kirchhof (s.o. Fn. 27), Rn. 49f. 29 Nicht aber die exakten Grenzen, vgl. Paul Kirchhof (s.o. Fn. 27), Rn. 54. 30 Paul Kirchhof (s.o. Fn. 27), Rn. 56ff. 31 Paul Kirchhof (s.o. Fn. 27), Rn. 61. 32 Paul Kirchhof (s.o. Fn. 27), Rn. 51 ff.; dazu auch Hans Hugo Klein , VVDStRL 37 (1979), S. 53 (61 f.); Dietrich Murswiek , Maastricht und der pouvoir constituant. Zur Bedeutung der verfassunggebenden Gewalt im Prozeß der europäischen Integration, in: Der Staat 32 (1993), S. 161 (162ff.). 33 Vgl. beispielsweise Helmut Quaritsch , Über Gegenwart und Zukunft des deutschen Nationalstaats, in: Gedächtnisschrift fur Roman Schnur, 1997, S. 83 ff. 34 Hierzu und zur Unabänderlichkeit dieser Präambelbestimmung, deren Inhalt also nach wie vor gilt, Murswiek (s.o. Fn. 26), S. 57ff.
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zige Fassung der Präambel sagt: „Die Deutschen ... haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk." Auch der verfassungsändernde Gesetzgeber von 1990 sah also den Zusammenhang von Verfassungsgebung und konkreter Nationalstaatlichkeit in Deutschland. Auch diesen Verfassungsvoraussetzungen hat sich die Staatspflege zu widmen. Neben die Pflege des Verfassungsbewußtseins treten die Pflege des Staatsbewußtseins und die Pflege des Nationalbewußtseins - allerdings nicht als selbständige und von der Verfassung losgelöste Gegenstände der Staatspflege. Vielmehr ergibt sich die Aufgabe, die bewußtseinsmäßigen Voraussetzungen auch von Staat und Nation zu pflegen, aus der Verfassung - sowohl dem Grunde als auch dem Umfang nach. Staatspflege ist also auch unter diesen Aspekten Verfassungspflege. So verstandene Staatspflege ist „positiver Verfassungsschutz" durch Einwirkung auf die Bewußtseinsbildung, insbesondere auf die politische Willensbildung. Sie umfaßt den „negativen", abwehrenden Verfassungsschutz durch Bewußtseinsbildung, zu dem z.B. die Verfassungsschutzberichte beitragen sollen, indem sie auf verfassungswidrige Bestrebungen aufmerksam machen und vor ihnen warnen 35. „Positiver Verfassungsschutz" soll darüber hinausgehen, sich nicht nur gegen verfassungswidrige Tendenzen wenden, sondern auf Kenntnis und Verständnis der Verfassung und der notwendigen Verfassungsvoraussetzungen sowie auf die Bildung und Stärkung der entsprechenden Legitimitätsüberzeugungen hinwirken. Die effektive Geltung der Verfassung ist aber nicht nur hinsichtlich ihres unabänderlichen Kernbestands, sondern auch hinsichtlich der übrigen Verfassungsbestimmungen, insbesondere hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der Staatsorganisation, auf Verfassungsloyalität der Bürger und aller Funktionsträger angewiesen. Die Pflege der bewußtseinsmäßigen Voraussetzungen der Verfassungsgeltung ist auch hier daher von großer Bedeutung und muß - abgeleitet wiederum aus dem Prinzip der Effektivität der Verfassung als notwendige Verfassungsaufgabe angesehen werden. Es gibt aber einen wesentlichen inhaltlichen Unterschied zur auf den unabänderlichen Verfassungs35
Die Verfassungsschutzberichte würden diese Aufgabe verfehlen, wenn sie ihren Beurteilungen politischer Parteien und Bestrebungen nicht die verfassungsrechtlichen Kriterien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zugrunde legten und politische Ziele als verfassungsfeindlich brandmarkten, die es gar nicht sind, sondern die lediglich der Auffassung der jeweiligen Verfassungsschutzbehörde von political correctness widersprechen. Solche Verfassungsschutzberichte wären ihrerseits verfassungswidrig. Ob und in welchem Umfang dies in der Praxis vorkommt, kann hier nicht untersucht werden. Mit dieser Thematik beschäftigt sich die von Quaritsch betreute Dissertation von Christiane Hubo, Verfassungsschutz des Staates durch geistigpolitische Auseinandersetzung, 1998.
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kern bezogenen Staatspflege: Der unabänderliche Verfassungskern gilt „absolut". Er darf politisch nicht in Frage gestellt werden. Die übrigen Verfassungsbestimmungen sind abänderbar. Staatliche Einwirkung auf die Bewußtseinsbildung muß dies berücksichtigen. Das Demokratieprinzip impliziert die Offenheit für Gesetzes- und Verfassungsänderungen. Staatspflege darf nicht zu dem Ziel der Versteinerung des bestehenden Zustands mißbraucht werden. Andererseits kann und muß der demokratische Rechtsstaat von seinen Bürgern und Funktionsträgern erwarten, daß das geltende Recht, solange es gilt, beachtet wird, auch von denen, die mit ihm nicht einverstanden sind und die es lieber ändern würden. Es ist Aufgabe der Staatspflege, auf diese Bereitschaft hinzuwirken. Sie kann und muß darüber hinaus aber auch versuchen, Kenntnis und Verständnis der vorhandenen Institutionen, ihrer Zwecke und ihres inneren Sinnzusammenhangs zu wecken. Dies ist keineswegs unzulässige Willensbildung von oben nach unten und verfassungswidrige Verstetigung bestehender Zustände, sondern Teil der Umsetzung dessen, was der demokratische (Verfassungs-)Gesetzgeber beschlossen hat. Beispielsweise gehört es zur Aufgabe der Staatspflege, durch politische Bildung die Funktionsweise des parlamentarischen Regierungssystems in seiner konkreten Ausprägung durch das Grundgesetz zu erklären, dieses System verständlich zu machen und für seine Vorzüge zu werben. Die Grenze der verfassungsrechtlich zulässigen Werbung für das bestehende System wäre jedoch dann überschritten, wenn dieses System als das verfassungsrechtlich einzig mögliche dargestellt und politische Bestrebungen, die auf Einfügung plebiszitärer Elemente oder auf ein Präsidialsystem nach französischem Vorbild gerichtet sind, als verfassungswidrig gebrandmarkt würden. Das wäre der Versuch unzulässiger Versteinerung des Status quo. Politische Bildung muß immer auch die Offenheit für Verfassungsänderungen im dafür vorgesehenen Verfahren und mit den dafür vorgesehenen Mehrheiten - vermitteln. Auch im Hinblick auf staatliches Recht und staatliche Institutionen, die nicht im Grundgesetz, sondern auf der Ebene des einfachen Gesetzesrechts geschaffen worden sind, läßt sich die Notwendigkeit der Staatspflege mit ähnlichen Erwägungen begründen. Allerdings spricht einiges dafür, daß auf dieser Ebene Institutionen oft in einem so klaren Funktionszusammenhang stehen, daß sie selbsterklärend sind und kein besonders großer Erklärungs- und Begründungsund Legitimationsbedarf besteht. Sie beziehen ihre Legitimität aus der Einordnung in den staatlichen Funktionszusammenhang. Das Finanzamt hat und braucht keine (eigenständige) Legitimität. Legitim sein muß der Staat, fur den es die Steuern eintreibt. Rechtfertigungsbedürftig ist die staatliche Ausgaben-, Fiskal- und Verteilungspolitik, die letztlich zur Steuerbelastung des Bürgers führt. Die Organisations- und Arbeitsweise des Finanzamts mag hinsichtlich ihrer Effektivität, hinsichtlich der Freundlichkeit im Umgang mit den Steuerzahlern usw. kritisierbar sein, aber das sind keine Legitimitätsfragen. Staatspflege
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ist hier also nicht in dem Umfang und der Intensität nötig wie in bezug auf die legitim itätsbedürftigen Institutionen auf der Verfassungsebene, während Selbstdarstellung im Sinne der Erzeugung und Erhaltung von Vertrauen auf die funktionsgerechte Aufgabenerflillung auf dieser Ebene durchaus sinnvoll und notwendig sein kann. Ich habe hier aber nicht den Raum, auf Staatspflege und Selbstdarstellung auf der Ebene des einfachen Gesetzesrechts näher einzugehen und beschränke meine Betrachtung auf die verfassungsrechtliche Ebene. Wenn ich hier die Staatspflege als notwendige Verfassungsaufgabe bezeichne, dann meine ich damit, daß eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Erfüllung dieser Aufgabe besteht. Diese Verpflichtung besteht für alle Staatsorgane im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen. Verpflichtet sind vor allem die Gesetzgebungsorgane auf Bundes- und Landesebene und die Regierungen, während die Gerichte im Rahmen ihrer Kompetenzen nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Staatspflege haben; die bewußtseinsprägende Funktion der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte ist aber von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Jedoch macht die Verfassung für die Erfüllung dieser Aufgabe keine näheren Vorgaben. Die Aufgabe ist zweckangemessen zu erfüllen. Wie dies im einzelnen geschieht, mit welchen Mitteln, in welchem Umfang und in welcher Intensität, ist rechtlich im wesentlichen offen. Gesetzgeber und Regierungen haben hier einen großen Gestaltungsspielraum. Dies gilt insbesondere für die Frage, inwieweit die staatliche Selbstdarstellung als Mittel der Staatspflege eingesetzt wird. Abgesehen von der prinzipiellen Verpflichtung, die Bundesflagge und die Bundesfarben zur Selbstdarstellung der Bundesrepublik Deutschland zu verwenden (Art. 22 GG), gibt es keine verfassungsrechtliche Verpflichtung, die verfassungsrechtliche Aufgabe der Staatspflege gerade mit dem Mittel der Selbstdarstellung zu erfüllen. Ob die Staatsorgane das Instrument der Selbstdarstellung zur Staatspflege einsetzen, ist ihnen verfassungsrechtlich somit selbst überlassen, sofern nicht im Hinblick auf konkrete Problemlagen die Notwendigkeit der Einwirkung auf das öffentliche Bewußtsein zur Wahrung bestimmter Verfassungsgüter gegeben ist und ein anderes adäquates Mittel nicht in Betracht kommt. Übrigens ist die Verfassung selbst ebenfalls ein Mittel der Selbstdarstellung des Staates. Neben ihrer primären Funktion, das Gemeinwesen zu konstituieren, hat sie jedenfalls nebenbei auch die Funktion, das Selbstverständnis des Staates hinsichtlich seiner Legitimation, seiner Zwecke und seiner grundlegenden Wertentscheidungen zum Ausdruck zu bringen. Diesen Selbstdarstellungscharakter hat in gewisser Weise der gesamte normative Teil der Verfassung, in besonderem Maße aber die Überschrift, die Bestimmung des Staatsnamens, die Präambel und im Grundgesetz auch der Artikel 1 sowie der Art. 20. Deshalb gehört es zu den Selbstdarstellungsaufgaben des Staates, die Verfassung unter
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seinen Bürgern, aber auch im Ausland bekannt zu machen36. Auch insoweit wird man aber aus dem Grundgesetz keine konkreten Pflichten ableiten können.
IV. Der verfassungsrechtliche Rahmen der staatlichen Selbstdarstellung Der verfassungsrechtliche Rahmen der staatlichen Selbstdarstellung ergibt sich aus drei Gesichtspunkten: 1. Gibt es verfassungsrechtliche Pflichten zur Selbstdarstellung? 2. Welches sind die verfassungsrechtlichen Grenzen der Selbstdarstellung? 3. Gibt es Kriterien, die beachtet werden müssen, wenn der Staat bzw. ein Staatsorgan sich selbst darstellt? Die erste Frage nach verfassungsrechtlichen Pflichten zur Selbstdarstellung wurde im vorigen Kapitel schon beantwortet: Während sich Pflichten zur Verfassungspflege aus dem Grundgesetz in großem Umfang - wenn auch mit weitem Gestaltungsspielraum - ableiten lassen, gibt es grundsätzlich keine Pflicht, auf die öffentliche Bewußtseinsbildung gerade mit dem Mittel der Selbstdarstellung einzuwirken. Eine - sehr begrenzte - Ausnahme bildet Art. 22 GG, der mit der Bestimmung der Bundesflagge und der Bundesfarben prinzipiell auch die Verpflichtung enthält, von diesem Selbstdarstellungsmittel Gebrauch zu machen, ohne jedoch konkretere Pflichten zu konstituieren. Darüber hinaus gibt es eine verfassungsrechtliche Selbstdarstellungspflicht nur in dem wohl rein theoretischen Ausnahmefall, in dem eine hinreichend konkrete Pflicht zur Staatspflege besteht und kein anderes Mittel als die Selbstdarstellung in Betracht kommt. - Die folgenden Ausführungen widmen sich der zweiten und der dritten Frage. Im Verfassungsstaat gibt es keinen verfassungsfreien Raum. Jedes Staatsorgan ist bei allen seinen Handlungen an das Grundgesetz gebunden. Für die Selbstdarstellung gibt es keine Ausnahme. Daraus resultieren zunächst kompetenzrechtliche (1.) und sodann materiellrechtliche Grenzen für die staatliche Selbstdarstellung. Die Frage, ob sich aus dem Grundgesetz inhaltliche Kriterien für die Selbstdarstellung ergeben, läßt sich von der Frage nach den materiellrechtlichen Grenzen nicht trennen. Sie läßt sich aber in zwei Aspekte aufgliedern: Verbotene Inhalte und Formen der Selbstdarstellung, also negative
36 Die kostenlose Verteilung von Grundgesetztexten durch die Bundeszentrale für politische Bildung dient also nicht nur der Verfassungspflege im Sinne der Vermittlung von Kenntnissen über die Verfassung, sondern zugleich der Selbstdarstellung der Bundesrepublik Deutschland als konkreter, durch das Grundgesetz verfaßter und geprägter Staat, was wiederum das Staats- und Verfassungsbewußtsein stärken soll und somit seinerseits eine Maßnahme der Staatspflege ist.
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Selbstdarstellungskriterien (2.), und gebotene Ziele und Zwecke der Selbstdarstellung (positive Selbstdarstellungskriterien) (3.). 1. Kompetenzen Zunächst muß daher auch bei der Selbstdarstellung die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung beachtet werden. Jedes Staatsorgan darf sich selbst bzw. den von ihm repräsentierten Staat nur im Rahmen seiner Kompetenzen darstellen. Im Bundesstaat muß sich die staatliche Selbstdarstellung somit an die Verteilung der Verbandskompetenzen zwischen Bund und Ländern halten. Außerdem darf jedes Staatsorgan auch bei der Selbstdarstellung nur im Rahmen seiner Organkompetenzen handeln. Im Grundgesetz finden sich keine besonderen Kompetenzregeln für die Selbstdarstellung. Dies erscheint auch nicht als notwendig, weil die Selbstdarstellungskompetenz entweder Bestandteil oder notwendiger Annex der jeweiligen Sachkompetenz ist oder aus der Natur der Sache begründet werden kann. a) Selbstdarstellungskompetenz als Bestandteil der Sachkompetenz bzw. der Organisationskompetenz Staatliche Selbstdarstellung findet in aller Regel im Rahmen der Ausübung einer Sachkompetenz statt. In der jeweiligen Sachkompetenz ist insoweit die Kompetenz zur Selbstdarstellung enthalten: Der Bundespräsident repräsentiert die Bundesrepublik Deutschland bei einem Staatsbesuch. Die Art und Weise, wie er das tut, ist notwendigerweise immer auch Ausdruck der Selbstdarstellung der Bundesrepublik Deutschland. Die Kompetenz hierzu ist von der Kompetenz, die Bundesrepublik Deutschland auf internationaler Ebene zu repräsentieren (Art. 59 I GG), mit umfaßt. - Der Bundeskanzler hält eine Rede im Bundestag. Oder er hält im Fernsehen die übliche Neujahrsansprache. Der Bundesjustizminister hält eine Rede auf dem Juristentag. In allen Fällen wird eine Sachkompetenz wahrgenommen, die die Kompetenz zur Selbstdarstellung impliziert. Es ist dem Bundeskanzler oder einem Minister nämlich gar nicht möglich, in dieser Funktion eine öffentliche Rede zu halten, ohne zugleich sich selbst, sein Amt und den Staat darzustellen. Der Organwalter handelt für den Staat. Er macht in seinem Handeln den von ihm repräsentierten Staat und das von ihm ausgeübte Amt sichtbar. Genau dies ist Selbstdarstellung. Dies gilt auch für die Staatsarchitektur. Die Regierung baut neue Regierungsgebäude in Berlin. Der Bundestag läßt in Bonn einen Plenarsaal bauen oder baut das Reichstagsgebäude um. Die Kompetenz hierzu ergibt sich aus der (Selbst-)Organisationskompetenz. Diese umfaßt die Zuständigkeit, über die Schaffung der sächlichen Voraussetzungen der Erfüllung der Sachaufgaben
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einschließlich der erforderlichen Bauvorhaben zu entscheiden. Dies impliziert notwendig die Kompetenz zur Selbstdarstellung. Denn die Staatsarchitektur ist sichtbarer Ausdruck des Staates und seiner konkreten Institutionen. Dies ist unvermeidbar, und es kommt nicht auf eine besondere Selbstdarstellungsabsicht an. So oder so sagen die Bauwerke etwas über den Bauherrn und sein Selbstverständnis aus37. Die in der Sach- bzw. Organisationskompetenz implizierte Selbstdarstellungskompetenz kann nicht davon abhängen, ob der jeweilige Amtsträger seine Kompetenz bewußt und gezielt zu Selbstdarstellungszwecken einsetzt oder jedenfalls die Selbstdarstellungswirkung der Ausübung seiner Sach- bzw. Organisationskompetenz bei der Art und Weise dieser Ausübung berücksichtigt. Ausübung der Sach- bzw. Organisationskompetenz und Selbstdarstellung lassen sich nicht trennen, und die innere Motivation des Amtsträgers für die Art und Weise der Ausübung der Sach- bzw. Organisationskompetenz ist ohnehin meist nicht erkennbar. Die verfassungsrechtliche Grenze für die Selbstdarstellungskompetenz ist allein die Grenze der Sachkompetenz bzw. des (Selbst-) Organisationsrechts.
b) Informationskompetenz
als Annexkompetenz
Mit den Sachkompetenzen eines Staatsorgans ist als Annexkompetenz immer auch eine Informationskompetenz verbunden 38. Die Demokratie lebt von der Öffentlichkeit. Alle Staatsorgane müssen sich gegenüber dem Volk verantworten. Sie müssen also die Öffentlichkeit über ihre Politik und ihre Entscheidungen und Pläne informieren. Für die Regierung und das Parlament liegt dies auf der Hand. In gewissem Maße gilt es aber auch für die Gerichte, die nicht lediglich ihre Urteile veröffentlichen dürfen, sondern auch in Pressekonferenzen oder auf andere Weise über ihre Rechtsprechung, über die Zahl der anhängigen Verfahren oder über ihre Arbeitsplanung oder über die Terminierung konkreter Verfahren die Allgemeinheit unterrichten dürfen. Nicht selten werden aber auch Informationen publiziert, die nicht der Vermittlung von Kenntnissen über die Erfüllung von Sachaufgaben dienen, sondern ausschließlich der Selbstdarstellung des jeweiligen Staatsorgans. Zum Teil ist die selbstdarstellende Information - die Information über das Organ selbst notwendige Voraussetzung für die Erfüllung der Sachaufgaben. Dann ist sie ohne weiteres durch die Sachkompetenz gedeckt. Dazu zählt die Information 37
Zur Bedeutung der Architektur für die Selbstdarstellung des Staates Heinrich Wefing , Parlamentsarchitektur. Zur Selbstdarstellung der Demokratie in ihren Bauwerken. Eine Untersuchung am Beispiel des Bonner Bundeshauses, 1995. 38 Vgl. z.B. Udo Di Fabio , Information als hoheitliches Gestaltungsmittel, in: JuS 1997, 1 (3) m. Hinw. mi Lübbe-Wolff NJW 1987, S. 2705; Heintzen , NJW 1990, S. 1488.
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der Öffentlichkeit über Organisation, organinterne Zuständigkeiten, Adressen, Dienstzeiten und andere Einzelheiten, die Bürger oder andere staatliche Stellen wissen müssen, um mit dem Staatsorgan in Kontakt zu treten. Darüber hinaus gibt es eine Kategorie von Informationen, die unter keinem der beiden eben genannten Aspekte unmittelbar der Wahrnehmung von Sachaufgaben zugeordnet werden kann und die zugleich am deutlichsten der Selbstdarstellung des Staatsorgans dient: Mit Bild und Text, in Broschüren und auf Internet-Seiten, durch Veranstaltung von Führungen durch das Dienstgebäude mit Vortrag über Arbeitsweise und Geschichte der Institution, durch einen „Tag der offenen Tür" und andere Aktivitäten versucht das Staatsorgan, einerseits über seine Tätigkeit, seine Aufgaben, seine Arbeitsweise und sein Selbstverständnis zu informieren, andererseits Verständnis für seine Tätigkeit zu wecken und um Vertrauen zu werben. In der Praxis wird diese Art der Öffentlichkeitsarbeit meist nicht getrennt von den zuvor genannten Kategorien von Informationen vorgenommen werden, sondern mit diesen vermischt sein, wie etwa ein Blick auf die Homepage der Bundesregierung zeigt. Sie geht jedenfalls über die anderen Kategorien inhaltlich hinaus, so daß die Kompetenz insoweit anders begründet werden muß. Soweit ein Staatsorgan Öffentlichkeitsarbeit in bezug auf sich selbst betreibt, also sich selber gegenüber der Öffentlichkeit darstellt, muß es auch die Kompetenz hierzu haben. Diese ergibt sich aus der Natur der Sache: Jedes Staatsorgan kann nur sich selbst selbstdarstellen. Kein Staatsorgan kann das Selbstverständnis eines anderes Staatsorgans formulieren. Freilich könnte man zwischen Formulierung des Selbstverständnisses und Publikation dieses Selbstverständnisses unterscheiden. Letztere ist nicht denknotwendig Sache des Organs, um dessen Selbstverständnis es geht, so daß es fraglich erscheint, ob auch insoweit eine Kompetenz kraft Natur der Sache besteht. Wenn man dies verneint, muß man jedoch auch insoweit eine Annexkompetenz bejahen. Das Werben um Verständnis und Zustimmung für die eigenen Funktionen und Aufgaben gehört zur Pflege der Voraussetzungen für die Ausübung der eigenen Sachkompetenzen. Das Bundesverfassungsgericht hat daher - für die Öffentlichkeitsarbeit im allgemeinen - zu Recht angenommen, daß hinsichtlich der föderalen Kompetenzverteilung die Verfassungsorgane der Länder auf Landesebene und die des Bundes auf Bundesebene - also im Rahmen der für die unterschiedlichen Sachaufgaben bestehenden Bundes- bzw. Landeskompetenzen - für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig seien39.
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BVerfGE 44, 125 (149) - Öffentlichkeitsarbeit.
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c) Selbständige Selbstdarstellungskompetenz In allen bisher ins Auge gefaßten Fällen knüpft somit die Selbstdarstellungskompetenz an die Sachkompetenz an. Dies ist nicht möglich in den sehr selten vorkommenden Fällen, in denen es um „reine Selbstdarstellung" geht - die also nicht zugleich auch Erfüllung von Sach- bzw. Organisationsaufgaben ist - und in denen ein Staatsorgan nicht lediglich sich selbst beziehungsweise sein Selbstverständnis darstellt, sondern - ohne bezug auf die eigenen Organfunktionen - den Staat im ganzen und sein Selbstverständnis oder einzelne Verfassungsprinzipien darstellt. Beispiele hierfür sind die Entscheidung über Staatssymbole oder ihre Verwendung oder die Entscheidung über die Errichtung von Bauwerken, die ausschließlich der Selbstdarstellung bzw. der Staatspflege dienen 40 . Im Bund-Länder-Verhältnis muß hier, auf die Ebene abgestellt werden, auf der sich der Gegenstand der Selbstdarstellung befindet. Die Länder sind dafür zuständig, sich selbst - also das jeweilige Land und sein Selbstverständnis darzustellen. Der Bund ist für die Selbstdarstellung des Bundes - des Gesamtstaates, seiner Verfassung, seiner Außenpolitik - zuständig41. Die Entscheidung über Symbole des Bundes steht dem Bund, über Symbole der Länder dem jeweiligen Land zu. Die Festlegung eines Nationalfeiertags ist kraft Natur der Sache Bundesangelegenheit, ebenso die Entscheidung über den Sitz der Bundesorgane. Was die Organkompetenz angeht, steht die Entscheidung über besondere Kennzeichen eines bestimmten Organs („Logo", Gestaltung des Briefkopfs, Dienstsiegel) dem jeweiligen Organ zu. Die Entscheidung über Symbole, Kennzeichen oder andere Mittel der Selbstdarstellung des Staates im ganzen ist Sache des für die Repräsentation des Staates zuständigen Organs. Für den Bund ist dies der Bundespräsident 42. Dem Parlament vorbehalten sind solche Entscheidungen, die verbindliche Außenwirkung haben und damit in die Freiheitssphäre der Bürger eingreifen. Sie bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, beispielsweise die Festlegung eines Nationalfeiertags. Außerdem muß das Parlament im Hinblick auf den demokratischen Parlamentsvorbehalt („Wesentlichkeitstheorie") 43 in solchen Fragen entscheiden, die für die Selbstdarstellung 40 Im Unterschied zu Funktionsbauten wie Parlaments- oder Regierungsgebäuden. Als Beispiel könnte man an Nationaldenkmale denken - ein Thema des 19. Jahrhunderts und nicht mehr unserer Zeit. Aber auch andere Denk- oder Mahnmale kommen in Betracht. 41 Vgl. BVerfGE 44, 125 (149) - Öffentlichkeitsarbeit. 42 Vgl. Herzog , in: Maunz/Dürig, GG, Art. 22 Rn. 32 für die „üblichen Staatssymbole": Analogie zu Art. 60 I, II GG. 43 BVerfGE 40, 237 (248ff.); 47, 46 (78f.); 49, 89 (126f.); 57, 295 (320f.); 58, 257 (268f. ).
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des Staates von zentraler Bedeutung sind. Im übrigen kann das Parlament auch andere Entscheidungen wie diejenige über Staatssymbole oder die Errichtung eines Mahnmals an sich ziehen44. Von der Entscheidung über die Symbole selbst ist die Entscheidung über ihre Verwendung zu unterscheiden. Diese trifft jedes oberste Staatsorgan eigenverantwortlich für sich selbst. Die Bundesregierung und die Landesregierungen können sie für die nachgeordneten Dienststellen regeln, natürlich nur im Rahmen ihres Weisungsrechts 45. Denkbar ist es, daß die Behörden des Bundes und der Länder durch Gesetz zur Verwendung der Symbole verpflichtet werden 46.
2. Materiellrechtliche Grenzen der staatlichen Selbstdarstellung Materiellrechtliche Grenzen für die staatliche Selbstdarstellung gibt es sowohl hinsichtlich des Inhalts als auch hinsichtlich der Mittel. Auf die Mittel soll hier nicht näher eingegangen werden, weil es insoweit keine selbstdarstellungsspezifischen Besonderheiten gibt. Der Staat hat beim Einsatz aller Selbstdarstellungsmittel in jeder Hinsicht die Verfassung zu beachten. Als Grenzen kommen insofern insbesondere die Grundrechte in Betracht. Wird beispielsweise für ein der Selbstdarstellung dienendes Bauwerk ein privates Grundstück benötigt, ist Art. 14 GG zu beachten. Setzt sich ein Staatsorgan im Rahmen öffentlicher Selbstdarstellung mit einer Privatperson auseinander, ist deren Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I i.V.m. 1 I GG) zu beachten. Hinsichtlich des Inhalts lassen sich zwei Aspekte verfassungsrechtlicher Grenzen unterscheiden. Der erste Aspekt betrifft die immanente Zweckbegrenzung staatlicher Selbstdarstellung: Es geht um die Darstellung des Staates, seiner Organe und ihres Selbstverständnisses, seiner Verfassung und seiner Verfassungsfunktionen. Es geht also nicht um die Darstellung partikularer Gruppen, politischer Parteien oder Individuen. Es geht um Werbung für das verfaßte Gemeinwesen, nicht um Parteiwerbung. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in seinem grundlegenden Beschluß zur regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit deutlich gemacht und auch auf die Abgrenzungsprobleme hingewiesen47. Der Staat ist bei seiner Selbstdarstellung zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet, und er hat die Freiheit der politischen Willensbildung zu achten. Dies
44 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 22 Rn. 32. - Über den Sitz der obersten Bundesorgane entscheidet jedes Organ kraft seines Selbstorganisationsrechts, sofern nicht der Sitz durch Gesetz festgelegt ist, Herzog, ebd. Rn. 33 ff. 45 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 22 Rn. 23. 46 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 22 Rn. 24. 47 BVerfGE 44, 125ff.
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folgt aus dem Demokratieprinzip und aus dem damit verbundenen Prinzip der Chancengleichheit der politischen Parteien 48. Der zweite Aspekt betrifft den Inhalt dessen, was innerhalb der so vorgegebenen Zweckbegrenzung der Selbstdarstellung zulässig ist. Aus dem Grundgesetz läßt sich diesbezüglich ableiten, was der Staat nicht zum Inhalt seiner Selbstdarstellungsaussagen machen darf: Kein Staatsorgan darf politische Zielvorstellungen formulieren, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten oder gegen sonstige der Verfassungsänderung entzogene Grundentscheidungen der Verfassung. Im übrigen folgt aus der umfassenden Bindung jedes Staatsorgans an die Verfassung (Art. 20 III GG), daß jeder Amtsträger verpflichtet ist, sein Selbstverständnis bezüglich seiner Aufgaben an der Verfassung zu orientieren und bei seiner Amtsausübung nicht von einer mit dem Grundgesetz unvereinbaren Auffassung von seinen Aufgaben und Funktionen auszugehen. Deshalb verstieße es gegen die Verfassung, wenn ein Organwalter in seiner Selbstdarstellung zum Ausdruck brächte, daß er sein Amt unter Verstoß gegen Vorschriften des Grundgesetzes ausüben wolle. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn der Bundespräsident in einer Informationsbroschüre erklärte, er repräsentiere nur die deutschen Männer, oder wenn der Bundeskanzler auf seiner Web-Site sein Amtsverständnis dahingehend erläuterte, daß er nicht dem Wohle des Volkes diene, sondern dem Wohle seiner Partei und ihrer Anhänger, oder wenn die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts öffentlich erklärte, das Verfassungsgericht müsse angesichts der Unfähigkeit des Bundestages, seine Aufgaben zu erfüllen, in die Rolle des Gesetzgebers hineinwachsen. Positiv ausgedrückt: Jedes Staatsorgan muß in seiner Selbstdarstellung seine verfassungsmäßigen Funktionen zum Ausdruck bringen. Negativ: Verfassungswidrig ist jede Anmaßung von Funktionen, die dem Organ nicht zustehen, und jede Verleugnung von Funktionen, die das Organ nach dem Grundgesetz hat. Und verfassungswidrig handelt ein Organ nicht nur dann, wenn es tatsächlich eine ihm nicht zustehende Funktion ausübt, sondern bereits dann, wenn es dies öffentlich ankündigt. Auch die Selbstdarstellung selbst ist ja an das Grundgesetz gebunden. Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung staatlicher Selbstdarstellung müssen natürlich die Besonderheiten der Selbstdarstellung berücksichtigt werden: die besonderen Formen und Wirkungsweisen. Keine Besonderheiten ergeben sich, soweit der Selbstdarstellungsinhalt verbal formuliert wird und es allein um die Beurteilung eines gegebenen Inhalts mit dem von seinem Urheber intendierten Verständnis geht. Was ein Organwalter als seine politischen Ziele, sein Selbstverständnis von seinen Aufgaben formuliert und veröffentlicht, ist unproblematisch am Maßstab der Verfassung zu beurteilen. Die Aussage, die ein Staatsorgan über sich selbst oder über den Staat und seine Verfassung 48
BVerfGE 44, 125 (138ff.).
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macht, läßt sich ebenso rechtlich beurteilen, wie in anderen Zusammenhängen gemachte Aussagen. Die öffentliche Selbstdarstellung aber zielt auf öffentliche Wirkung ab. Und wo sie solche Wirkungen nicht intendiert, hat sie dennoch öffentliche Wirkungen auf die Bewußtseinsbildung der Menschen. Der vom Organwalter intendierte Erklärungsinhalt und die Wirkung der öffentlichen Selbstdarstellungshandlung können auseinanderklaffen. Dies gilt vor allem bei der nichtverbalen Selbstdarstellung: Bei der Verwendung von Symbolen, bei symbolhaften Handlungen und Gesten, beim Gebrauch von Bildern oder von Musik, bei Happenings und Inszenierungen mag es sein, daß der Aussagegehalt vom Publikum ganz anders verstanden wird als er vom Selbstdarstellungssubjekt gemeint war. Deshalb muß auch die Wirkung der Selbstdarstellung in die verfassungsrechtliche Betrachtung einbezogen werden. Kein Problem besteht natürlich dann, wenn die vom Organwalter beabsichtigte Wirkung eintritt, wenn also der Selbstdarstellungsakt so verstanden wird, wie er gemeint war. Für das, was öffentlich geäußert wird, ist der Organwalter auf jeden Fall verantwortlich, selbst wenn im konkreten Fall keinerlei Öffentlichkeitswirkungen eingetreten sind, weil niemand zugehört oder zugeschaut hat. Beschränkt sich aber die Verantwortung des Staatsorgans auf die beabsichtigten Wirkungen seiner Selbstdarstellungsakte, oder ist es auch für nicht beabsichtigte Wirkungen verantwortlich? Da es um die Einwirkung auf die politische Willensbildung geht, ist die Handlung des Staatsorgans objektiv verfassungswidrig, wenn sie tatsächlich geeignet ist, die politische Willensbildung in inhaltlich verfassungswidriger Weise zu beeinflussen. Auf die subjektive Absicht des Organwalters kann es nicht ankommen. Die Bindung an die Verfassung beschränkt sich nicht auf die Motivation. So ist es allgemein anerkannt, daß die Staatsorgane durch die Grundrechte nicht nur verpflichtet werden, gezielte Verletzungen zu unterlassen; sie dürfen auch nicht durch unbeabsichtigte „Neben-" oder „Folgewirkungen" ihrer auf andere Ziele gerichteten Handlungen die grundrechtlichen Schutzgüter verletzen 49. Die Staatsorgane sind insoweit für die absehbaren und wahrscheinlichen Folgen ihres Tuns verantwortlich. Dies folgt aus dem Gedanken der effektiven Verfassungsgeltung und kann deshalb nicht nur für die Grundrechte, sondern muß ebenso für die anderen Schutzgüter der Verfassung gelten. Freilich darf die Verantwortung für unbeabsichtigte Folgewirkungen auch nicht überzogen werden: Ein Staatsorgan kann nicht dafür verantwortlich sein, daß irgendjemand seine Äußerungen oder symbolischen Handlungen in völlig unverständiger Weise mißdeutet. Wenn beispielsweise die Bundesflagge gehißt wird und jemand dies für ein Bekenntnis zu den Zielen der russischen Oktoberrevolution hält, dann ist hier zwar in der Person dieses Betrachters eine Wir49 Vgl. Dietrich Murswiek, nik, 1985, S. 127ff. m.Nachw.
Die staatliche Verantwortung fur die Risiken der Tech-
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kung eingetreten, die einen verfassungswidrigen Inhalt hat. Diese Wirkung kann dem Staatsorgan, das die Bundesflagge gehißt hat, jedoch nicht zugerechnet werden. Ursache der Wirkung ist bei wertender Betrachtung die Uninformiertheit der betreffenden Person über den Symbolgehalt der schwarz-rotgoldenen Flagge. Würde dagegen von einem Staatsorgan auf dem Dienstgebäude die Hakenkreuzflagge gehißt, dann wäre die Wirkung objektiv verfassungswidrig, weil der Symbolgehalt objektiv verfassungswidrig ist. Auf eine möglicherweise entgegenstehende Absicht des Staatsorgans käme es nicht an. Hätte das Staatsorgan die Absicht, in der Art, wie es „Aktionskünstler" gelegentlich tun, mittels eines provokativen Aktes auf die latente Gefahr des Wiedererwachens des Faschismus aufmerksam zu machen und so das Verfassungsbewußtsein zu schärfen 50, dann wäre zwar die Absicht verfassungsmäßig. Jedoch ist das Staatsorgan auch für die nicht beabsichtigte Wirkung verantwortlich. Es darf eine symbolhafte Handlung zumindest dann nicht vornehmen, wenn damit gerechnet werden muß, daß ein unbefangener, vernünftiger Betrachter sie als Ausdruck einer verfassungswidrigen Zielsetzung mißversteht. Und es darf sie auf keinen Fall vornehmen, wenn der Bedeutungsgehalt eines verwendeten Symbols objektiv verfassungswidrig ist und nicht - durch den Kontext, durch schriftliche oder mündliche Erklärungen, durch Konfrontation mit anderen Symbolen oder durch andere Mittel - eindeutig sichergestellt ist, daß die Verwendung dieses Symbols nicht im Sinne einer Identifizierung des Staatsorgans mit diesem Symbolgehalt mißverstanden werden kann. Da ein solches Mißverständnis sich kaum je ausschließen läßt, kommt die Verwendung verfassungswidriger Symbole durch Staatsorgane praktisch nie in Betracht. Selbstdarstellung des Staates ist eben etwas anderes als Aktionskunst, und die Kunstfreiheit, auf die der Aktionskünstler sich berufen kann, steht dem Staatsorgan nicht zu. Während dem Künstler im Zweifel geglaubt werden muß, daß er mit seiner Kunst nur provozieren und nicht im Gegenteil für den verfassungswidrigen Symbolgehalt werben will, und die Kunstfreiheit ihn schützt, soweit die behauptete Intention nicht völlig unglaubwürdig ist 51 , kann sich ein Staatsorgan von der objektiven Wirkung seiner Selbstdarstellung nicht durch eine bloße Erklärung dispensieren, man wolle etwas ganz anderes damit erreichen. Das ist eine Konsequenz des Unterschieds von individueller Freiheit und staatlicher Verfassungsgebundenheit.
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Vgl. z.B. die Meldung „Ermittlungen gegen Aktionskünstler Schlingensief eingestellt", in: Die Welt v. 25.11.1999. 51 Vgl. BVerfGE 82, 43 (52) - Strauß-Transparent; entsprechend zur Meinungsfreiheit 93, 266 (294ff.) - „Soldaten sind Mörder"; vgl. auch z.B. BVerfGE 7, 198 (208,
212); 61, 1 (11).
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3. Das Gebot positiver Verfassungsorientierung der Selbstdarstellung Von der Frage, ob die Staatsorgane zur Staatspflege bzw. zur Selbstdarstellung verpflichtet sind (oben III.), ist die Frage zu unterscheiden, ob sie bestimmte inhaltliche Vorgaben beachten müssen, wenn sie sich selbst darstellen. Der „negative" Aspekt dieser Frage wurde im vorigen Abschnitt behandelt: Welche Inhalte und Mittel der Selbstdarstellung verbietet die Verfassung? Die Selbstdarstellung des Staates, so haben wir gesehen, darf in ihrem Aussagegehalt nicht gegen die Verfassung verstoßen. Jetzt bleibt ergänzend zu fragen: Gibt es positive Inhalte, die die Staatsorgane in ihre Selbstdarstellung einzubringen haben, wenn sie sich oder den Staat selbstdarstellen? Vergegenwärtigt man sich die Bedeutung der Selbstdarstellung für die öffentliche Bewußtseinsbildung und den demokratischen Integrationsprozeß, so kann es nicht ausreichen, daß die Staatsorgane in ihrer Selbstdarstellung Verfassungsverstöße vermeiden und ihren Inhalt ansonsten politischer Beliebigkeit überlassen. Vielmehr muß die Selbstdarstellung positiv darauf ausgerichtet sein, auf die Bewußtseinsbildung mit dem Ziel einzuwirken, die grundlegenden Wertentscheidungen und Institutionen der Verfassung zu stärken. Ziel der Selbstdarstellung muß immer die Stärkung des Verfassungsbewußtseins sein. Sie muß positiv der Orientierung der Amts- und Mandatsträger wie der Öffentlichkeit auf die Verfassung hin dienen. Nur so wird sie ihrer Integrationsfiinktion gerecht. Hinsichtlich der Art und Weise, wie die positiv verfassungsorientierte Selbstdarstellung vorzunehmen ist, lassen sich keine allgemeinen verfassungsrechtlichen Vorgaben machen. Hier sind vielfältige und nicht abstrakt vorprogrammierbare Gestaltungsmöglichkeiten denkbar, und die jeweiligen Staatsorgane haben einen Gestaltungsspielraum. Was im einzelnen einer positiven Verfassungsorientierung entspricht, läßt sich nur situationsbezogen - im Hinblick auf konkrete Selbstdarstellungshandlungen - beurteilen. Ein Staatsorgan verstößt jedenfalls dann gegen seine Pflicht zur positiven Verfassungsorientierung der Selbstdarstellung, wenn es in seiner Selbstdarstellung eine Gleichgültigkeit oder Wertneutralität gegenüber der Verfassung und ihren grundlegenden Wertentscheidungen zum Ausdruck bringt. Kein Staatsorgan darf den Eindruck erwecken, als komme es ihm auf die Wahrung der Verfassungsgrundentscheidungen nicht an und als habe es keine Einwände gegen die Infragestellung dieser Grundentscheidungen durch Dritte.
V. Schlußbemerkung über das Selbstverständliche und das Selbstverständnis Die Selbstdarstellung dient - nicht ausschließlich, aber weitgehend - der Vergegenwärtigung des Selbstverständlichen. Als Instrument der Verfassungs22 FS Quaritsch
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pflege dient sie ja vor allem dem Grundkonsens hinsichtlich der jeder Verfassungsänderung entzogenen Grundprinzipien. Daß diese gelten und beachtet werden müssen, sollte sich von selbst verstehen. Ist es nicht, beispielsweise, selbstverständlich, daß die Volksvertretung das Volk repräsentiert? Zumindest sollte es selbstverständlich sein, in dem Sinne, daß darüber nicht debattiert werden muß, weil jeder weiß, daß es so ist, warum es so ist und daß es richtig ist. Geht es der staatlichen Selbstdarstellung um das Selbstverständliche, dann fragt sich, ob sie nicht überflüssig ist. Muß etwas überhaupt noch ins Bewußtsein gerufen werden, das allgemein als selbstverständlich angesehen wird? Man muß hier unterscheiden zwischen dem individuellen und dem kollektiven Selbstverständlichen. Was der Einzelne als selbstverständlich empfindet, war es nicht schon immer; es mußte erst gelernt werden. Der junge Mensch erwirbt seine Selbstverständlichkeiten im Laufe seiner Sozialisation in Elternhaus, Schule, Beruf usw.. Die Gesellschaft im ganzen muß daher ihre kollektiven Selbstverständlichkeiten fortlaufend an ihre neuen Mitglieder weitervermitteln, damit sie als Selbstverständlichkeiten der Gesamtheit erhalten bleiben. Aber auch unabhängig von dem Aspekt, daß die Individuen wechseln, aus denen sich die Gesamtheit zusammensetzt, ist es nicht selbstverständlich, daß das Selbstverständliche selbstverständlich bleibt. Diejenigen Normen, Werte, Grundentscheidungen, die so selbstverständlich sind, daß man sie, um sie zur Geltung zu bringen, sich nicht erst ins Bewußtsein rufen oder gar geistig erarbeiten muß, sind gerade wegen ihrer Selbstverständlichkeit in Gefahr. Was nicht ständig neu bedacht oder in Auseinandersetzung mit kritischen Herausforderungen immer wieder behauptet werden muß, droht in Routine und Gedankenlosigkeit zu versinken. Dann kann die Beachtung der Grundnormen des Gemeinwesens zu einem substanzlosen Formalismus herunterkommen. Das konstitutionelle Gehäuse kann dann beim nächsten Sturm zusammenbrechen, oder der Wind bläst eine ganz andere Substanz hinein. Auch das Selbstverständliche bedarf also der Pflege, damit es selbstverständlich bleibt. Es scheint nur paradox, aber ist es nicht, daß Staatspflege und staatliche Selbstdarstellung vor allem Arbeit an den Selbstverständlichkeiten des Staates bedeuten. Staatspflege und Selbstdarstellung dienen auch dazu, das Selbstverständliche immer wieder ins Bewußtsein zu rufen, das tägliche Tun des Staates mit seinem Sinn zu verbinden und so das Abgleiten der Staatsroutine in Sinnlosigkeit oder gar Unsinn - praktisch vor allem: in Usurpation aus fehlendem Verfassungsbewußtsein - zu verhindern. Klingt das zu abstrakt? Dann denke man nur an den Umstand, daß nicht wenige Politiker zwischen Staat und Partei, Gemeinwohl und Wohl der Partei oder gar zwischen Amtspflichten und persönlichen Interessen anscheinend nicht mehr hinreichend zu differenzieren vermögen, wie die diversen Affären
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um Parteispenden und Verstöße gegen das Parteiengesetz oder um persönliche Vorteilsannahmen von Ministern oder Ministerpräsidenten demonstrieren 52. Oder: In den achtziger Jahren versuchten prominente Politiker, sich gegenseitig in Beteuerungen zu übertreffen, daß die Wiedervereinigung Deutschlands kein Ziel der Politik mehr sein könne; das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes - ein Staatsfundamentalziel - stellten sie in Abrede oder forderten seine Abschaffung 53. Oder, um noch ein anderes Beispiel zu nennen: Daß das Parlament das Volk repräsentiert, hatte ich gesagt, ist eine der Basisselbstverständlichkeiten der repräsentativen Demokratie. Ist es das heute wirklich noch? Zumindest dem aus elf Abgeordneten (darunter dem Präsidenten, einer ehemaligen Präsidentin und einer Vizepräsidentin) bestehenden Kunstbeirat des Deutschen Bundestages scheint diese Selbstverständlichkeit abhanden gekommen zu sein: Er hat mit großer Mehrheit beschlossen, im Reichstagsgebäude ein Kunstprojekt zu installieren, welches die am Westportal angebrachte Inschrift „Dem deutschen Volke" durch die neue Widmung „Der Bevölkerung" dementieren und zum Ausdruck bringen soll, daß die Bundestagsabgeordneten nicht gegenüber dem Volke, sondern gegenüber der Bevölkerung verantwortlich seien54. Dabei handelt es sich nicht um ein beliebiges Kunstwerk neben anderen, sondern um ein Projekt, das wegen seiner monumentalen Dimension sowie als pointiertes Gegenstück zu der Inschrift am Westportal das Parlamentsgebäude prägen würde. Der Bundestag würde sich, falls er dieses Projekt unverändert realisierte, als ein Parlament darstellen, das nicht mehr das Staatsvolk, sondern die Bevölkerung repräsentieren will 5 5 . Dieses Projekt wäre, wenn es verwirklicht würde, ein groteskes Beispiel verfassungswidriger Selbstdarstellung 56. Zu so etwas kann es nur kommen, wenn 52
Im Spätherbst/Winter 1999/2000 sind die Zeitungen voll davon. Dazu näher Dietrich Murswiek, Das Staatsziel der Einheit Deutschlands nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989, mit Nachweisen in Anm. 4 ff., 73, 80, 83, 84. 54 5. Sitzung des Kunstbeirates der 14. Wahlperiode am 2.11.1999. Die Zwecksetzung des Projekts ergibt sich aus seinen gestalterischen Elementen und aus der Begründung, die der Künstler - Hans Haacke - in einem Papier vom Oktober 1999, das der Sitzung des Kunstbeirats zugrunde lag, formuliert hat. Hiernach soll das Projekt zum Ausdruck bringen, daß der Bundestag nicht mehr gegenüber dem Volk, sondern gegenüber der gesamten Bevölkerung einschließlich der sich in Deutschland aufhaltenden Ausländer verantwortlich sei. Die Begründung soll in ihren tragenden Aussagen auch auf erläuternden Tafeln und auf einer speziellen Internetseite der Öffentlichkeit mitgeteilt werden. 55 Hierzu ausfuhrlich Dietrich Murswiek, Die verfassungsrechtliche Problematik des für den Lichthof Nord des Reichstagsgebäudes vorgesehenen Kunstprojekts. Rechtsgutachten, Januar 2000 (Typoskript). 56 Daß das Staatsvolk und nicht die Bevölkerung das Subjekt der Demokratie ist, hat das BVerfG insbesondere in den Entscheidungen zum Ausländerwahlrecht in aller 53
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die verfassungsmäßige Selbstdarstellung zuvor versagt oder jedenfalls ihr Ziel nicht erreicht hat. Das Beispiel zeigt auch die Grenzen dessen auf, was staatliche Selbstdarstellung leisten kann. Wenn einigen Bundestagsabgeordneten offenbar das Bewußtsein dafür fehlt, wen sie eigentlich repräsentieren, dann ist das ja nicht nur eine Folge mangelnder Staatspflege oder nicht ausreichender staatlicher Selbstdarstellung. Es ist auch eine Folge davon, daß in der allgemeinen Publizistik und auch in politikwissenschaftlichen Veröffentlichungen das Verfassungsprinzip der Volkssouveränität der Sache nach nicht selten zur Bevölkerungssouveränität, Demokratie zur Herrschaft der Betroffenen verfälscht wird. Staatspflege kann eben nicht vom Staat allein geleistet werden. Der Staat ist darauf angewiesen, daß die Gesellschaft - und das heißt hier vor allem die Massenmedien - den verfassungsrechtlichen Grundkonsens mitträgt und nicht im Gegenteil untergräbt 57. Ist die Selbstverständlichkeit des Selbstverständlichen erst verlorengegangen, dann hat es die Staatspflege schwer. Jetzt können und müssen die verfassungsrechtlichen Grenzen der Selbstdarstellung zur Geltung gebracht und der öffentlichen Darstellung eines verfassungswidrigen Selbstverständnisses entgegengestellt werden. Das ist möglich, und das ist notwendig. Aber man kann nur hoffen, daß in einer solchen Lage die rechtliche Grenzziehung nicht zu spät kommt. Das Recht ruht auf dem Fundament des Selbstverständlichen. Bröckelt dies Fundament, wird die Rechtsverwirklichung prekär. Zerstörte Selbstverständlichkeiten des Verfassungsstaats wiederherzustellen, ist schwierig. Es ist aber nicht von vornherein unmöglich 58 . Es ist eine Aufgabe, der die Rechtsordnung sich stellen muß, wenn sie sich nicht aufgeben will.
Deutlichkeit dargelegt, E 83, 37 (50ff.); 83, 60 (7Iff., insb. 75ff.); bestätigt in E 89, 155 (182ff.); 93, 37 (66ff.). 57 Vgl. Josef Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte und gesellschaftlicher Konsens, in: NJW 1977, S. 545 (548ff, insb. 551). 58 Rudolf Smend, Integration, in: Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl. 1987, Sp. 1354 (1355), hat es als ein zentrales Problem der Integration angesehen, angesichts der Desintegration der Welt überkommener Bindungen ein neues positives Verhältnis durch bewußte Eingliederung zu gewinnen. Integration ist so gesehen (Wieder-)Herstellung des - unbewußt - Selbstverständlichen auf der Ebene des Bewußtseins.
Grundrechtsschutz hoheitlicher Funktionsträger Von Jürgen Schwabe Das Thema lautet nicht „Beamte und Grundrechte". Denn die einschlägigen Probleme stellen sich auch bei Staatsangestellten, bei Mandatsträgern und bei Beliehenen. Gleichwohl ist schwergewichtig die Grundrechtsgeltung im Beamtenverhältnis zu diskutieren. A u f den ersten Blick lohnt das gar nicht mehr, trifft man doch für dieses wahrlich nicht neue Problem allenthalben auf ansprechende Lösungsformeln. Der zweite und dritte Blick offenbaren aber eine ganze Reihe von Unklarheiten und, was schwerer wiegt, nicht selten einen Mangel an Problembewußtsein. 1. Für die Grundrechtsträgerschaft von Beamten hat sich eine Zweiteilung eingebürgert, wonach der Beamte „grundsätzlich Grundrechtsberechtigter" ist, „soweit seine persönliche Rechtsstellung aus dem Dienstverhältnis betroffen ist." Hingegen ist im „Amtsbereich der Beamte grundsätzlich kein Grundrechtsberechtigter, sondern Grundrechtsverpflichteter, da er insoweit Amtswalter im Rahmen der Erfüllung öffentlicher Aufgaben ist. Er macht z.B. keinen Gebrauch von seiner Meinungsfreiheit, sondern formuliert amtliche Standpunkte, erarbeitet oder veröffentlicht Stellungnahmen seines Dienstherrn. Der Schutz des Art. 10 GG steht den Beamten bei Gebrauch des Diensttelefons nicht zu. Die Erledigung von Amtsgeschäften kann nicht unter Berufung auf grundrechtliche Freiheiten (z. B. Teilnahme an Demonstrationen) verweigert werden, BVerwGE 42, 79 (82 ff.)" 1 . Schon ein flüchtiger Blick zeigt, daß dies zu undifferenziert ist, daß hier Richtiges und Falsches zusammengebunden wurde. Falsch ist, daß dem demonstrationswilligen Beamten während des Dienstes die Berufung auf Grundrechte verwehrt sei. Die zitierte Entscheidung des BVerwG hat denn auch diese Feststellung nicht einmal erwogen, sondern sogleich eine umfängliche Grundrechtsprüfung vorgenommen. Das erfahrt auch sonst allgemeine Zustimmung. Richtig ist, daß Hoheitshandeln grundrechtlich nicht unterfuttert werden kann wenn man von den bekannten Ausnahmen zugunsten von Kirchen, Rundfimkanstalten und Universitäten und deren Professoren absieht. Im Regelfall gibt es nicht nur keine Grundrechte zugunsten der Hoheitsträger selbst, es müssen für
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Stern, Staatsrecht III 1, S. 1386.
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das Amtshandeln auch die personenbezogenen Grundrechte der Amtswalter außer Betracht bleiben: Eine amtliche Kritik läßt sich nicht unter Berufung auf Artikel 5 I GG rechtfertigen 2. Das gilt in doppelter Richtung: gegenüber dem Dienstherrn und gegenüber den Betroffenen, mögen diese außenstehende Bürger oder gleichfalls Funktionäre sein. Beispiel für die letztgenannte Konstellation: ein Beigeordneter kritisiert den Gemeinderat 3. Nur der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, daß die Irrelevanz von Art. 5 I GG ftir einen Konflikt zwischen einem zu meinungsfreudigen Beamten und dem „bremsenden" Dienstherrn nicht nur am Merkmal der Hoheitstätigkeit anknüpft, die nicht grundrechtsgeschützt, sondern umgekehrt nur grundrechtsgebunden ist. Es kommt hinzu, daß unabhängig davon Art. 5 I GG kein Recht verleiht, für den Dienstherrn eine bestimmte Meinung zu verbreiten, geschehe das in hoheitlicher oder fiskalischer Funktion. Das ist bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts zwar stets eine zusätzliche Begründung, weil auch der Fiskus sich nicht auf Grundrechte berufen kann, verdient aber eine kurze Notiz im Hinblick auf juristische Personen des Privatrechts: Wenn einem Prokuristen ein Vertragsabschluß untersagt wird, ist dieses Handeln für die AG nicht Schutzgut seiner Grundrechte. Der vorstehend zitierte Grundsatz, wonach Hoheitshandeln nicht durch Grundrechte legitimiert werden kann, sieht sich im einzelnen Anwendungsfall der Frage ausgesetzt, wann Hoheitshandeln vorliegt. Vor den problematischen seien die unumstrittenen Fälle erwähnt, wie beispielsweise die bereits aufgeführte Demonstration oder sämtliche Nebentätigkeiten. A l l diese rein privaten Handlungen sind grundrechtsgeschützt. Bevor wir uns den Grenzfällen zuwenden, ist eine Standortbestimmung nützlich: Es geht zunächst um den Grundrechtsschutz von Handlungen gegenüber Verboten. Daneben wird zu fragen sein, inwieweit Geboten eine grundrechtsgestützte Unterlassungsbefugnis entgegensteht. Schließlich muß der grundrechtliche Schutz der Persönlichkeitssphäre und der von individuellen Rechtsgütern, wie etwa der Gesundheit, interessieren. 2. Die für die Grundrechtsgeltung entscheidende Frage, ob Hoheitshandeln vorliegt, stellt sich beispielsweise bei verschiedenen Konstellationen der Raucher-Nichtraucher-Konflikte, zunächst solchen im kommunalrechtlichen Bereich: Ratsmitglieder rauchen nach zutreffender Auffassung des OVG Münster hoheitlich und können sich deshalb nicht auf ihre Grundrechte berufen: „Soweit es um die durch die Sitzungsordnung geregelte Ausgestaltung der mit-
2 Unverständlich OVG Münster, ZBR 1984, 16/17, wo einer amtlichen Äußerung des Bundeskanzlers der Schutz des Art. 5 I GG zuerkannt wurde. 3 Vgl. Erbel, Öffentlichrechtliche Klausurenlehre mit Fallrepetitorium II, 2. Aufl. 1983, S. 500.
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gliedschaftsrechtlichen Befugnisse der Ratsmitglieder geht, die den Gegenstand des vorliegenden Organstreits bilden, sind sie - das gilt für die durch das Gebot der Rücksichtnahme Begünstigten und Belasteten gleichermaßen - nicht Zuordnungsobjekt eigener Rechte und Pflichten und damit im Hinblick auf die Modalitäten ihrer organinternen Amtsausübung auch nicht grundrechtsfähig" 4 . Gleicher Ansicht ist das OVG Koblenz 5 , wenn es bei der Beurteilung eines Rauchkonflikts im Rat mit keinem Wort auf Grundrechte eingeht. Andere Gerichte 6 hingegen operieren zugunsten der rauchenden Ratsmitglieder ohne Vorbehalt mit Artikel 2 I GG. Das wird von Gern 7 mit der Begründung gebilligt: „Das Recht zum Rauchen ist kein Mitgliedschaftsrecht." Selbst für diese wahrlich knappe Begründung muß man dankbar sein angesichts dessen, daß sich in der Fülle der Aufsätze zum Raucher-Nichtraucher-Konflikt keine einzige Auseinandersetzung mit der doch wahrlich nicht abwegigen These des OVG Münster findet. Vielmehr gilt allen Autoren die Grundrechtsgeltung auch bei den rauchenden Beamten oder Mandatsträgern als selbstverständlich, die Mindermeinung offenbar als keiner Auseinandersetzung würdig. 3. Der Erörterung weiterer Beispielsfälle wird es nützlich sein, zuvor die Alternative: Hoheitshandeln oder Grundrechtsbetätigung auszuweiten und zu verfeinern. Bei Hoheitshandeln geht es um die Kompetenzwahrnehmung, jenseits dessen um den Bereich privater Betätigung. Dessen Abschirmung gegen hoheitliche Beeinträchtigungen (des Ratsvorsitzenden, des Vorgesetzten von Beamten) ist Sache der Grundrechte. Daneben muß diese Betätigung aber auch gegen Private geschützt werden, was durch zivilrechtliche Abwehr- und Duldungsansprüche geschieht. Mithin geht es nicht um die Entgegensetzung von Hoheitshandeln und Grundrechtsbetätigung allein, sondern um die von Hoheitshandeln und Privathandeln, dieses doppelt geschützt durch Grundrechte gegen Hoheitsträger und zivilrechtliche Befugnisse gegen Private. Wegen dieser notwendigen Verknüpfung beider Handlungs- und Abwehrbefiignisse ist es sinnvoll, auch die sich in Beispielsfällen ergebende Konstellation eines Konflikts mit Privaten zu würdigen. Es wäre deshalb der Vorwurf verfehlt, diese Abhandlung sei der Grundrechtsgeltung gewidmet und diskutiere beispielsweise ein privates Persönlichkeitsrecht. Vielmehr müßte der Befund, daß wegen
4 OVG Münster, NVwZ 1983, 485/487, ebenso später derselbe (15.) Senat in NVwZ, RR 1991, 260/261. Vgl. auch die gleichlautenden Ausfuhrungen des Vizepräsidenten des Gerichts Fehrmann DÖV 1983, 311/315: „Soweit es um die in der Sitzungsordnung geregelte Ausgestaltung organschaftlicher Befugnisse der Ratsmitglieder geht, sind diese eben nicht Zuordnungssubjekte eigener Rechte und Pflichten und damit im Hinblick auf die Modalitäten ihrer Amtsausübung auch nicht grundrechtsfahig." 5 NVwZ, RR 1990, 98. 6 OVG Lüneburg, DVB1. 1989, 935/936; VG Freiburg, NJW 1978, 2352; VG Köln, NJW 1978, 2354. 7 Kommunalrecht, 2. Aufl. 1997, Rdnr. 477.
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der Amtsausübung ein privates Persönlichkeitsrecht nicht in Betracht kommt, auch zwingend zu dem Ergebnis fuhren, daß in Ermangelung einer privaten Betätigung ein Hoheitshandeln vorliegt, das eines grundrechtlichen Schutzes entbehrt. Das heißt: Im kommunalen Rauchkonflikt müßten all jene, die das Rauchen als Privathandeln betrachten und folglich gegenüber einem Verbot des Ratsvorsitzenden den Artikel 2 I GG einsetzen, bei einem Konflikt mit Privaten eine zivilrechtliche Position, ein Rauchrecht, zubilligen, um das vor dem Zivilgericht gestritten wird. Der Fall wird freilich kaum jemals praktisch werden, weil sich ein rauchempfindlicher Zuhörer an den Ratsvorsitzenden wenden sowie ihn vor dem Verwaltungsgericht 8 und nicht den Raucher vor dem Zivilgericht verklagen wird. Wer hingegen, meines Erachtens zutreffenderweise, das Rauchen als Amtsausübung wertet, muß einen Zivilrechtsstreit ausschließen. Daß dies die richtige Lösung ist, zeigt ein Blick auf eine vergleichbare Konstellation im Beamtenrecht. Das Unterlassungsbegehren eines asthmatischen Behördenbesuchers, der während eines längeren Aufenthalts in einer Dienststelle massiv beraucht wird, würde niemand als privatrechtlich begründet und vor ein Zivilgericht gehörig qualifizieren. Vielmehr ist diese Beeinträchtigung durch hoheitliche Funktionswalter dem Dienstherrn zuzurechnen und nur diesem gegenüber ein Abwehranspruch gegeben, und zwar selbstverständlich ein öffentlich-rechtlicher. Der Grund liegt schlicht darin, daß hier gegen ein Amtshandeln vorgegangen wird. Das schließt nicht nur zivilrechtliche Streitigkeiten aus, sondern auch die Grundrechtsgeltung, so daß von Seiten des in Anspruch genommenen Dienstherrn mit der allgemeinen Handlungs-, hier der Rauchfreiheit des Tabakkonsumenten nicht argumentiert werden könnte. Da diese irrelevant ist, könnte sie auch einem dienstlichen Verbot nicht entgegengesetzt werden. 4. Als vertrackt erweist sich die - von der Handlungs- zur Rechtsgutbeurteilung 9 führende - Frage, ob sich zugunsten der vor den Rauchern zu schützenden Amtsträger, Ratsmitglieder oder Beamten deren Grundrecht aus Artikel 2 II GG einsetzen läßt. Das OVG Münster hat das in den oben zitierten Ausführungen ohne weiteres verneint: Auch die Begünstigten seien nur in „mitgliedschaftlichen Befugnissen" betroffen, folglich „nicht Zuordnungsobjekt eigener Rechte und Pflichten und damit im Hinblick auf die Modalitäten ihrer organinternen Amtsausübung auch nicht grundrechtsfähig." Das erscheint auf den ersten Blick plausibel. Es ließe sich argumentieren, es gehe um mitgliedschaftliche Befugnisse in Form einer störungsfreien Mandatsausübung. Dafür müßte man das unbehinderte Atmen als amtliche, öffentlich-rechtlich zu würdigende
8 9
Ein solcher Fall bei BVerwG, N V w Z 1990, 165. S. oben 1 a. E.
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Handlung qualifizieren. Das könnte durchaus noch akzeptiert werden. Wenn das Debattieren als Hoheitshandeln im weiteren Sinn betrachtet wird, weshalb nicht auch das dafür unerläßliche Atmen? Bedenken stellen sich ein, sobald man das Problem in den Bereich des Beamtenrechts verschiebt und dann fragt, auf welche Weise sich ein Beamter gegen den Tabakrauch eines Kollegen wehren könnte. Verantwortlich für die Störung ist, wie bereits festgestellt, der Dienstherr. Könnte dessen Anordnung, den Rauch hinzunehmen, mit Hilfe von Artikel 2 II GG bekämpft werden? Das OVG Münster müßte das wohl verneinen. Nochmals zur Erinnerung: Die Unergiebigkeit der Grundrechte gegenüber einem Handlungsverbot - betreffe es eine amtliche Presseerklärung oder aber das drittbelästigende Rauchen im Dienst - rührte daher, daß die unterbundene Handlung amtlicher Art war und für einen Hoheitsträger vollzogen wurde, solche Tätigkeit aber nach keiner Richtung Grundrechtsschutz genießen kann. Eine ähnliche Argumentation bei dem hier zu beurteilenden Duldungsgebot müßte dahingehen, daß es um ein nur dem Dienstherrn zurechenbares, gleichsam amtliches Gesundsein gehe, um einen Zustand zur optimalen Funktionserfüllung im Dienst. Damit würde aber das personale Rechtsgut Gesundheit für den Bereich und für die Dauer des Dienstes in einer nicht hinnehmbaren Weise verstaatlicht. Ein Verbot kann man so begründen: „Du begehrst ein Recht zur Vornahme einer Amtshandlung; derlei ist aus Grundrechten nicht ableitbar." Das Duldungsgebot kann hingegen nicht mit dem Argument abgesichert werden: „Du verteidigst Gesundheitsbelange als Voraussetzung für die Erledigung amtlicher Aufgaben und damit ein amtliches Rechtsgut, das grundrechtlichem Schutz bekanntlich nicht zugänglich ist." Als Merkposten sei deshalb notiert: Anders als Befugnisse zu Amtshandlungen können Individualrechtsgüter von Funktionären (immer oder meist?) grundrechtlich abgesichert werden 10 . Wegen der erwähnten Verknüpfung von Grundrechtsschutz und Zivilrechtsschutz privater, nicht ausschließlich amtlicher Belange muß die Grundrechtsgeltung ihre Entsprechung in einer zivilrechtlichen Abwehrbefugnis haben. Ein Beamter müßte also in der Lage sein, gegen Gesundheitsbeeinträchtigungen, die er im Dienst durch Private erleidet, zivilrechtlich vorzugehen. Freilich darf das nicht die einzige Abwehrmöglichkeit sein. Da die Gesundheit auch - aber eben nicht ausschließlich - Vorbedingung für die Erledigung hoheitlicher Auf-
10 Vgl. auch Waechter, Kommunalrecht, 3. Aufl., Rdnr. 347: „Soll z.B. das Rauchverbot dagegen nicht der Sicherung der Mandatswahrnehmung, sondern nur dem individuellen Gesundheitsschutz dienen, so kann ein Anspruch nur aus den Grundrechten abgeleitet werden; es handelt sich dann nicht um einen Kommunalverfassungsstreit, da ein Ratsmitglied sich als solches nicht auf Grundrechte berufen kann." Der Ansatz ist zutreffend, doch wird man beides im Regelfall nicht trennen können. - Pitschas, JA 1983, 668, billigt einem rauchempfindlichen Ratsmitglied einen grundrechtlich fundierten Schutzanspruch zu. Undeutlich Specht, VR 1990, 312/314.
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gaben ist, müssen auch dem Hoheitsträger Befugnisse zur Ausschaltung von Gesundheitseinbußen verfügbar sein. Dieser Doppelschutz ist die Konsequenz dessen, daß das Rechtsgut Gesundheit zwar auch hoheitlichen Funktionen dient, aber nicht ausschließlich, sondern ganz überwiegend der Person des Funktionswalters zugehört und um deren individueller Belange willen geschützt wird. 5. Die Abgrenzung amtlichen und privaten Tuns wirft nicht nur beim Rauchen im Gemeinderat interessante Probleme auf, sondern auch bei Abstimmungen und Meinungsäußerungen. Bei Abstimmungen wird das verwundern - zu Recht. Denn ganz unbegreiflich ist hier eine Entscheidung des BayVerfGH 11 , der ohne jede Diskussion das Verbot für Gemeinderatsmitglieder, sich bei einer Abstimmung der Stimme zu enthalten, an den Grundrechten auf Meinungsund Gewissensfreiheit mißt. Das Plakettetragen eines Ratsmitglieds in der Sitzung (mit einem kommunalpolitisch aktuellen Text) hat das Bundesverwaltungsgericht 12 in Übereinstimmung mit der Vorinstanz 13 dem Bereich der Privatheit und damit der Grundrechtsgeltung zugewiesen. Eine hoheitliche und nicht durch Grundrechte abzusichernde Meinungsäußerung liege nur bei offiziellen Wortmeldungen 14 vor. Erichsen 15 wendet dagegen zutreffend ein, das Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Artikel 5 I 1 GG komme „nicht in Betracht, da es nicht um eine - dem Grundrechtsschutz unterfallende - Meinungsäußerung des Klägers als eines einfachen Bürgers geht, sondern um den Protest eines Ratsmitglieds gegen die Ablehnung eines Fraktionsantrags. Wenn ungeachtet dieser Kontroverse jedenfalls die planmäßige Rede als hoheitliches und nicht grundrechtlich abzusicherndes Tun qualifiziert werden muß, dann gilt das notwendigerweise auch für die in einer Rede enthaltene Ehrbeeinträchtigung. Anders hat jedoch der VGH Mannheim entschieden: „Danach ist die Klage auf Widerruf von Äußerungen mit rein persönlichen Vorwürfen, die ein Gemeinderatsmitglied in einer Gemeinderatssitzung anläßlich einer Aussprache über einen kommunalpolitischen Gegenstand gegenüber einem anderen Gemeinderatsmitglied abgegeben hat, keine öffentlichrechtliche, sondern eine zivilrechtliche Streitigkeit. Denn es handelt sich hier um rein persönliche Äußerungen eines Gemeinderatsmitglieds bei einer Aussprache im Gemeinderat, die nicht in amtlicher Eigenschaft gefallen oder einer
"DVB1. 1984, 621/623. 12 DVB1. 1988, 792. 13 OVG Koblenz, N V w Z 1985, 673. 14 Daß die Rede von Mandatsträgern nicht grundrechtlich abgesichert ist, wird nirgends bestritten. Vgl. u. a. BVerfGE 60, 374/380. 15 JK 89, GO Rh.-Pf. §§ 36, 38/1.
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Körperschaft des öffentlichen Rechts zuzurechnen sind und nicht gegenüber einem außerhalb der Verwaltung stehenden Bürger abgegeben worden sind. Kläger und Beklagte sind Gemeinderatsmitglieder, die sich auf der Ebene der Gleichordnung gegenüberstehen. Die Äußerungen des Beklagten sind allein Ausdruck einer persönlichen Meinung; ihr Widerruf wäre daher auch keine Amtshandlung" 16 . Das sind durchweg sehr fragwürdige Argumente. Debattenbeiträge entziehen sich nicht deshalb dem Bereich des öffentlichen Rechts, weil sie - notwendigerweise - der Kommunalkörperschaft nicht zugerechnet werden können 17 . Auch kennt selbstverständlich das öffentliche Recht die „Ebene der Gleichordnung", und es ist ebenso selbstverständlich nicht auf ein Handeln gegenüber einem Bürger außerhalb der Verwaltung beschränkt. Weshalb es hier an einer amtlichen - sprich: mandatsbezogenen - Eigenschaft der Äußerungen fehlen soll, und sie angeblich „rein persönlichen" Charakter tragen, bleibt im Dunkeln. 6. Bei der Analyse der Rauchkonflikte war danach zu fragen, ob hoheitlich tätige Funktionäre ihre Grundrechte gegen Eingriffe mobilisieren können, konkret: ob sie sich mittels Artikel 2 II GG gegen das Passivrauchen zu wehren vermögen; das war zu bejahen. Diese Frage ist hier zu wiederholen. Kann der in seiner Ehre Beeinträchtigte (im Ausgangsfall ein anderer Ratsherr, ansonsten ein vom Minister oder Vorgesetzten getadelter Beamter 18) sich auf Grundrechte berufen? Wie steht es hier um den grundrechtlichen Schutz eines Individualrechtsguts? Die Antwort wird differenzieren müssen. Es gibt Fälle, in denen sozusagen nur die Amtsehre betroffen wird, ungeachtet dessen, daß Ehre und Ruf natürlich einer Person anhaften und nicht einem abstrakten Amt. Dennoch besteht kein Anlaß, den Grundrechten einen Abwehranspruch gegen ungerechte Bewertungen der Amtsführung zu entnehmen19. Eines verfassungskräftigen Persönlichkeitsrechts auf Verschonung von unzutreffenden dienstlichen Rügen bedarf es auch nicht. Dergleichen ist Sache des Beamtenrechts. Anders hingegen, wenn es nicht nur um den Ruf tadelsfreier Funktion geht, sondern eine ungerechtfertigte Beanstandung über die notwendige Behauptung personalen Fehlverhaltens hinaus die Person trifft: Der Beamte Β oder Ratsherr R habe wegen seiner angeborenen Neigung zur Unwahrhaftigkeit Fakten unterschlagen. Man muß also, so 16
VB1BW. 1990, 186/187(1. Senat). Zutreffend bezeichnet der 9. Senat des VGH Mannheim in VB1BW. 1999, 93/94 den Äußernden als richtigen Beklagten. 18 BVerwGE 99, 56 hat den falschen, öffentlich geäußerten Vorwurf eines dienstlichen Fehlverhaltens als Verletzung der Fürsorgepflicht bewertet und deshalb die Geltung grundrechtlicher Abwehransprüche offengelassen. 19 Α. A. offenbar BVerwG, N V w Z 1998, 403: Die ministerielle Rüge rechtswidriger Amtshandlungen könne das Allgemeine Persönlichkeitsrecht und sogar die Würde eines Soldaten verletzen. 17
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schwierig das im Einzelfall ist, die persönliche Ehre von der Amtsehre als funktionsbezogenes Rechtsgut trennen. Wenn nur die letztere betroffen ist, so hat der Amtswalter weder einen grundrechtlichen noch einen privatrechtlichen Abwehranspruch. Gegen hoheitliche Beeinträchtigung schützt ihn das Amtsrecht (hier im weiteren Sinne unter Einschluß des Kommunalverfassungsrechts verstanden), gegen den Rufmord durch Private muß man dem Dienstherrn eine öffentlich-rechtliche Abwehrbefugnis zuerkennen - und im Fall eines Mandatsträgers diesem selbst. 7. Das oben diskutierte Plakettenverbot im Gemeinderat war ein Einzelfall. Hingegen wurde um die Plaketten von Lehrern ebenso häufig gestritten wie um eine von Religionsgemeinschaften oder Weltanschauungen geprägte Kleidung. Hier bieten sich eher als bei Parlamentariern Ansätze zur Abgrenzung amtlichen und privaten Tuns an. Mandatsträger handeln in den Sitzungen ihrer Gremien für sich und bestenfalls fur ihre .Fraktion, aber nicht für eine Kommune oder den Staat. Hingegen unterrichtet der Lehrer für den Staat und nicht in eigenem Namen. Das eröffnet die Möglichkeit, von diesem amtlichen und dem Staat zurechenbaren Tun noch private Handlungen während der Amtsausübung zu unterscheiden, die dann konsequenterweise unter dem Schutz der Grundrechte stehen. Rechtsprechung und Literatur gehen mit Selbstverständlichkeit von der Geltung der Grundrechte aus. Nur Battis 20 und ihm zustimmend Ronellenßtsch 2X haben eingewandt, bei der Vornahme von Amtshandlungen könne sich ein Beamter nicht auf Grundrechte berufen, „die sich nicht gerade auf die Amtshandlung beziehen"22. Folglich unterfalle das Plakettetragen des Lehrers im Unterricht überhaupt nicht dem Schutzbereich des Artikel 5 I GG. Eine Auseinandersetzung mit dieser Mindermeinung gibt es augenscheinlich nicht einer der leider nicht seltenen Fälle einer Erledigung durch Ignorieren, seien die Autoren auch noch so respektabel. Die h. M. könnte man mit folgender Begründung zu rechtfertigen versuchen: Der Lehrer wolle die Plakettenaussage gewiß nicht als Staatsäußerung verbreiten, sondern als eine persönliche Ansicht. Das „Recht, im Unterricht die eigene Meinung zu äußern" wird in den Schulgesetzen neben die Verpflichtung gestellt, „auch andere Auffassungen, die für den Unterrichtsgegenstand im Rahmen des Bildungsauftrags der Schule erheblich sind, zur Geltung kommen zu lassen". Man könnte folglich an eine Zweiteilung denken, wonach nur Aktionen für den Dienstherrn und in seinem Namen nicht auf Grundrechte gestützt werden können, wohl aber Handlungen, mit denen - wie durch das Plakettetra-
20 21 22
NJW 1981, 959 f.; BBG, 2. Aufl. § 53, R 2, S. 457. VerwArch. 73 (1982), S. 254. So Ronellenßtsch, offenbar mit Blick auf Art. 5 III GG.
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gen - keine Staatsfunktionen usurpiert werden. Indessen ist das kein tragfähiger Ansatz. Es würde bedingen, daß man das betreffende Tun aus dem Bereich des Staatshandelns aussondert und dann konsequenterweise als Privattätigkeit nach den Regeln des Privatrechts beurteilt. Erneut erweist sich eine solche Lösung als ausgeschlossen, sobald man an Abwehrklagen, hier von Schülern gegen die permanente Konfrontation mit der Plakettenaufschrift 23, denkt. Derlei Klagen wären selbstverständlich nicht vor dem Zivilgericht gegen den Lehrer persönlich zu erheben (wo man sich auch mit einem Unterlassungsanspruch nicht ganz leicht täte), sondern vor dem Verwaltungsgericht gegen den Staat als Dienstherrn. Ihm ist auch hier das zuzurechnen, was seine Bediensteten im Amt als Privatmeinung verbreiten. Wenn es demnach zwar nicht um das Verbreiten von Staatsansichten, aber dennoch um Staatshandeln geht, kommt dafür ein Grundrechtsschutz nicht in Betracht. Daß die öffentlich-rechtliche Natur des Handelns an der Rechtsbeziehung nach außen, zu den Schülern, demonstriert wurde, läßt nicht etwa für die Beurteilung des Innenverhältnisses zwischen Dienstherrn und Lehrer ein anderes Ergebnis zu. Im Außen- wie im Innenverhältnis kann Amtshandeln nicht durch Berufung auf Grundrechte gestützt werden. 8.Die Zurechnung eines Verhaltens an den Dienstherrn, die über das Merkmal Amtshandlung entscheidet, ist von diversen Umständen eines Verhaltens, beispielsweise der zeitlichen Dauer abhängig. Eine sehr kurze Präsentation der Plakette wird man ähnlich einzustufen haben wie eine einmalige Meinungsäußerung zu einem bestimmten Sachverhalt. Dergleichen verbleibt jedoch in der privaten Sphäre. Dieser schwierig zu bestimmende Grenzbereich wird im Schrifttum selten angesprochen. Hoffman Riem unterscheidet zwischen einer Rolle als „Amtswalter/Aufgabenwalter", wo nur Zuständigkeiten, aber keine Freiheiten bestehen, und einer Rolle als „Person". Beide Rollen überlagerten sich, „soweit im Interesse einer funktionsgerechten Amtsausübung auf die Individualität der handelnden Personen zugegriffen und ihr persönliches Entfaltungsinteresse bei der Amtsausübung aktiviert wird". „Dies kann etwa für den Hochschul- und Schullehrer oder den beamteten Künstler gelten. Bei ihnen kann die Tätigkeit als Aufgabenwalter unmittelbar mit der Ausübung des subjektiven Freiheitsrechts gekoppelt sein" 24 . Dieses Nebeneinander beider Rollen, und damit die Grundrechtsgeltung, konzediert er jedoch den Plaketteträgern generell, was mir aus den dargelegten Gründen unzutreffend erscheint. Hingegen hält es offenbar Loschelder für möglich, daß die eine Rolle die andere verdrängt: „Der Beamte, der seine politische Meinung äußert, der Lehrer, der seine religiöse Überzeugung durch besondere Kleidung im Unterricht dokumentiert, der Soldat, der sein Lebensgefühl in langer Haar- und Barttracht ausdrückt,
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Vorstellbar wäre auch die Klage eines durch die Plakette Verunglimpften. A K zum GG, 2. Aufl. 1989, R 64 zu Art. 5.
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disponieren - auch - über eigene Güter. Gleichzeitig nehmen sie jedoch Einfluß auf die Verwirklichung von Staatszwecken, die interessenfreie Amtswahrnehmung, den effektiven militärischen Einsatz. Ob sich die eine oder andere Seite durchsetzt, ist keine Frage abstrakter Prioritäten, sondern des stärkeren Gewichts im Einzelfall" 25 . 9. Der Propaganda von Überzeugungen, Glaubensweisen oder Weltanschauungen durch Plaketten steht die durch Kleidung, ob Kopftuch oder Robe, gleich. Auch hier gibt es eine Grenze, an der die bislang private Freiheitsentfaltung dem Staat (wegen der Indoktrinationswirkung) zuzurechnen und folglich als grundrechtlich nicht mehr geschützte Amtshandlung zu werten ist. Gleiches müßte etwa für das Verlangen gelten, die Uniform zu modifizieren, wenn beispielsweise eine Polizeikapelle in einer ihr passend erscheinenden Musikeruniform auftreten wollte. Ein entsprechendes Verbot müßte sich nicht um Grundrechte kümmern, weil diese keine Befugnis verleihen, über das äußere Erscheinungsbild staatlicher Funktionsträger zu bestimmen. Aber warum ist es bei der Haartracht, dem Ohrschmuck von Polizisten anders oder - wie zukünftig zu erwarten - beim Nasenschmuck? Muß und kann man unterscheiden zwischen wesentlichen und unwesentlichen Repräsentationsmerkmalen? Wenn ja, würde man zu den erstgenannten die Förmlichkeiten rechnen: Beispielsweise müßte ein Verbot der Macke, Bürger mit „Euch" statt mit „Sie" anzureden, schwerlich gegenüber grundrechtlichen Positionen legitimiert werden. Zu den unwesentlichen Merkmalen würde man etwa die (nicht belästigende) Zigarette oder die Frühstücksstulle im Mund, die angesetzte Bierflasche oder die abschätzige Geste zählen. 10. Eine lebhafte Diskussion hat die Entscheidung des OVG Bremen 26 zur Registrierung der Dienstgespräche von Hochschullehrern ausgelöst. Zutreffend ist die Auffassung, daß Artikel 10 GG für Amtshandlungen in Form von Dienstgesprächen nicht gelten kann27. Praktische Schwierigkeiten ergeben sich freilich, wenn die Kontrolle auch Privatgespräche erfaßt. 11. Bei der Würdigung eines an einen Journalisten gerichteten Verbots, eine Ratssitzung auf Tonband aufzunehmen, hat das BVerwG 28 betont, es gehe nur um das Funktionsinteresse des Rates, hingegen nicht um das Persönlichkeitsrecht der Ratsmitglieder. Das ist zutreffend 29. Wenn mindestens die Rede nach einer Wortmeldung (und evtl. auch noch die sonstige Äußerung, etwa durch ei-
25
HdbDtStR. Bd. V, § 123, R 33 (mit unergiebigen Belegen in Fn. 81). NJW 1980, 606. 27 von Münch, NJW 1978, 68; Stern (o. Fn. 1); Isensee, HdbdVerfR II, 2. Aufl. 1995, Kp. 7, R 81; R. Scholz, Mitteilungen des Hochschulverbandes 1980, S. 216 f.; ausführlich Erichsen, VerwArch. 80 (1989), S. 429/436 f. 28 BVerwG E 85, 283 = JZ 1991, 304 mit zustimmender Anmerkung von Bethge. 26
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ne Plakette) als Mandatsausübung, mithin als amtliche Tätigkeit, gewertet wird, muß das auch für ihre Modalitäten gelten: unfixiert durch technische Mittel und deshalb psychisch unbefangen vorzutragen. Für Amtshandlungen aber gilt, wie schon mehrfach notiert, ein Doppeltes: Prozessual gehören sie vor die Verwaltungsgerichte, und materiell - rechtlich genießen sie weder Grundrechtsschutz noch kommen sie in den Genuß einer (dem Ratsvorsitzenden obliegenden) grundrechtlichen Schutzpflicht. Auch besteht kein zivilrechtlicher Abwehranspruch des Redners gegenüber dem Störer. Zur Erinnerung: Es wurde oben unter 1. a. E. grob unterschieden zwischen Handlungs- und Unterlassungsbefugnissen, Persönlichkeitsrechten und Rechtsgütern. Nach ausführlicher Befassung mit den Handlungsbefugnissen, sodann mit den Rechtsgütern Gesundheit und Ehre, gelangen wir nun zu den Persönlichkeitsrechten, treffen dabei allerdings auf deren Verknüpfung mit dem bereits diskutierten Handlungsbereich. Nichts anderes als für Tonbandaufzeichnungen kann für Fernsehaufnahmen gelten. Sprache und Bild sind insoweit keine privaten Schutzgüter, die über Grundrechte abgesichert werden, sondern Funktionselemente, Bestandteile und Voraussetzungen von Amtshandlungen. Während der Amtstätigkeit werden Sprache und Bild gleichsam verstaatlicht. Das ist bekanntlich beim seit langem geführten Streit um das Fotografieren und Filmen von Polizeieinsätzen nicht die h.M. Diese geht vielmehr fast einmütig davon aus, daß Polizisten unter bestimmten Umständen aus ihrem privaten Persönlichkeitsrecht einen Abwehranspruch gegen die Bildaufnahmen haben, den sie - mangels eines rechtzeitig eingreifenden Zivilrichters - mit Hilfe des Polizeirechts selbst durchsetzen dürfen. Es gibt meines Wissens nur zwei Stellungnahmen in der Literatur, die das zu Recht - bestreiten. Paeffgen 30 führt aus, daß der Schutzzweck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bei Hoheitshandeln „einen Gutteil seiner Funktionen" verliere. Das Recht diene der Schaffung eines privaten Freiraums, der aber bei öffentlich-hoheitlichem Handeln verlassen werde. Eine staatliche Behörde könne als Funktionseinheit „keinen ungestörten Freiraum zur psychophysischen Entlastung und Regeneration beanspruchen. Gleiches gilt dann aber auch für die in der Behörde Tätigen, soweit sie öffentlich, hoheitlich handelnd auftreten. Denn jene Schutzbereichsextension trifft notwendigerweise zugleich die Amtswalter, durch die allein die Behörde tätig werden kann. Es wird hier also nicht etwa einer Entpersönlichung der Amtsträger bei Vollzug ihrer hoheitlichen Aufgaben das Wort geredet, sondern nur der Umstand einer Entprivatisie-
29 Keine Diskussion dieses Problems bei Stober, DVB1. 1976, 371/374, der sogleich eine Grundrechtsprüfung vornimmt. 30 JZ 1979,516/517.
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rung betont, der - zumindest bei öffentlichem Vollzug hoheitlicher Aufgaben eigentlich ohnehin deutlich sein müßte". Daneben gebe es freilich Augenblicke der „Privatheit im Dienst, die privatrechtlichen Schutz genießen" („der gedankenversunken in der Nase bohrende Amtsarzt"). Prägnanter noch hat von Zezschwitz 31 die Unerheblichkeit privatrechtlicher Positionen betont. Die Fotografien gälten nicht dem Polizisten als Privatmann und den Eigenheiten seiner Physionomie, sondern der Amtsfiinktion der Beamten, deren Verhalten und Auftreten dem Staat zugerechnet wird. „Mit der Übernahme von Amtsfunktionen und deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit tritt der Amtswalter aus den Umhegungen der persönlichen Privatsphäre heraus. Der zivilrechtliche Schutz der Privatheit kann für die mit Hoheitsgewalt wahrgenommene Rolle als Walter eines öffentlichen Amtes nicht in Anspruch genommen werden. Legitimation der Amtsfunktion und Verteidigung der Funktionsfähigkeit administrativer Aufgabenwahrnehmung sind ausschließlich nach öffentlichem Recht und den dort geschaffenen Aufgaben- und Eingriffsnormen zu beurteilen." Das Auftreten und Verhalten von Amtswaltern könne allein öffentlich-rechtlich legitimiert werden. „Bei Angriffen auf die Amtsfunktion sind die Verteidigungsmittel deswegen auch ausschließlich dem öffentlichen Recht zu entnehmen. Nicht die Privatsphäre, das ihr zugehörige Recht am eigenen Bild des handelnden Beamten und ein ziviles Notwehrrecht, sondern allein die Sicherung der Funktionsfähigkeit des wahrzunehmenden Amtes liefert die Parameter, nach denen das Fotografieren von Beamten im dienstlichen Einsatz untersagt werden kann" 32 . Es entspricht - wie bereits oben beklagt - einem weitverbreiteten schlechten Brauch, daß nachfolgende Entscheidungen und Abhandlungen diese wohlbegründeten Mindermeinungen schlicht ignorieren und unkritisch die h. M. reproduzieren 33. Selbst die 1991 vorgelegte Mainzer Dissertation von Anne Kerber führte die 8 Jahre ältere Veröffentlichung von v. Zezschwitz nicht einmal im Literaturverzeichnis, offenbar unbeanstandet von den Votanten ihrer Arbeit. Immerhin setzt sie sich mit den Thesen von Paeffgen auseinander. Sie lehnt sie mit der Begründung ab, Paeffgen berücksichtige nur unzureichend „die eigentümliche Doppelstellung des Organwalters. Dieser ist einerseits Verwirklicher der dem Staat zustehenden Rechte, Pflichten und Kompetenzen, andererseits ein selbständiges menschliches Wesen und damit ein Träger des allgemeinen
31
FS für E. Stein, 1983, S. 395/399 ff. Ebenda, S. 401. 33 Rebmann, AfP 1982, 189/193, dem Thäle, VB1BW. 1999, 48/49, folgt, weiß der Auffassung von Paeffgen nur entgegenzusetzen, die Menschenwürde verbiete es, „den Rechtsschutz des Bürgers in Hinblick auf die von ihm ausgeübte staatliche Funktion untergehen zu lassen." Das ist so rhetorisch wie dürftig. 32
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Persönlichkeitsrechts auch in dessen Ausprägung als Recht am eigenen Bild" 3 4 . Wille und Handeln eines Organwalters seien nur kraft einer normativen Anordnung als Wille und Handlung der juristischen Person zu werten. „Fehlen solche Normen, so muß die Zurechnung unterbleiben, die natürliche Person tritt nicht in den Rechts- und Pflichtenkreis des Organwalters ein, sondern verharrt in dem ihr ursprünglich eigenen. Im Hinblick auf die Ausgangsfrage, ob dem Beamten auch in Ausübung seines Amtes das Recht am eigenen Bild zusteht, ist festzustellen, daß keine Norm ersichtlich ist, die eine Zurechnung dieses Rechtes zum Staat bestimmt, noch weniger eine solche, die den Wegfall dieses Rechtes begründet. Bezüglich des Rechts am eigenen Bild ist der Beamte also gerade nicht in seiner Funktion als Organwalter zu sehen, sondern es bleibt seine ursprüngliche Rechtsposition als die einer natürlichen Person erhalten und damit auch das dieser zustehende Recht am eigenen Bild" 3 5 ! An dieser Begründung ist nicht nur auffällig, daß fortlaufend - auch über die Zitatstellen hinaus - von der Zurechnung von Handlungen und Handeln der Organwalter ausgegangen wird, um dann bei der Schlußfolgerung plötzlich auf die „Zurechnung dieses Rechtes" am eigenen Bild überzuwechseln. Danach kann der Befund nicht weiter überraschen, daß kein Normgeber es bislang für notwendig befunden hat, das Recht am eigenen Bild dem Staat zuzurechnen. Indessen kann ja nicht der mindeste Zweifel bestehen, daß die Handlungen der Polizisten als solche des Staates gelten. Mit der Handlung ist aber - bis auf den seltenen Ausnahmefall vermummter Polizisten - die bildliche Präsentation zwangsläufig verbunden. Die Instrumentalisierung angeblich bestehender Privatrechtsbefugnisse wird beim Vorgehen gegen Fotografen dadurch etwas verdeckt, daß hier durch Zwischenschaltung des Polizeirechts ein Eingriff kraft öffentlichen Rechts erfolgte. Das Problem wird plastischer, wenn man sich eine Herausgabeklage des fotografierten Polizisten vor dem Zivilgericht vorstellt, und mehr noch, sobald man an die Unterlassungsklage eines schon mehrfach fotografierten Polizeiführers vor einem bevorstehenden Großeinsatz denkt. Daß polizeilicher Aufgabenerfüllung vor dem Amtsgericht der Weg gebahnt würde, wäre schlicht absurd. Man denke ferner an den Fall, daß staatliche Funktionswalter bei ihrer Arbeit observiert werden. Einem Privaten verleiht sein Persönlichkeitsrecht die Befugnis, sich gegen eine permanente Beschattung zu wehren. Daß die Beamten mit Hilfe dieses Privatsrechts die Diskretion von Amtshandlungen sichern könnten, wäre erneut gänzlich abwegig. Einschlägig ist hier allein eine öffentlichrechtliche Befugnis des Dienstherrn, sich gegen unangemessene Ausspä-
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S. 43. S. 46.
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hung und die daraus resultierende Beeinträchtigung hoheitlicher Funktionswahrnehmung zu wehren. So bestimmend in fast allen Konfliktfällen die „Verteidigung der Funktionsfähigkeit administrativer Aufgabenwahrnehmung" 36 sein wird, kann dieser Aspekt doch nicht in allen Fällen entscheidend sein. Man denke an eine Zigarettenreklame, die einen (nicht um Einverständnis befragten) Polizisten während einer Einsatzpause rauchend und mit dem Slogan zeigt: „Nach hartem Einsatz eine HB/Camel etc.". Ich möchte auch hier dem Dienstherrn einen öffentlich-rechtlichen Abwehranspruch gegen diesen unberechtigten Werbezugriff auf staatliche Institutionen, Aufgabenerfüllung und deren bildhafte Erscheinung zugestehen - aber gleichzeitig einräumen, daß man sich mit der Liquidation eines Entgelts (zu wessen Gunsten?) ebenso schwer täte wie mit dem Problem eines etwaigen Schmerzensgeldes. 12. Von den oben 1. am Ende skizzierten Grundrechtsschutzbereichen haben wir bislang die Unterlassungsbefugnis und die ihr entgegengesetzten Gebote noch nicht berührt. In Entsprechung zu den Handlungsbefugnissen drängt sich die Frage auf, ob es ein amtliches Unterlassen gibt. Das ist für die Verweigerung von Amtshandlungen zu bejahen, falls die Grundrechte im Außenverhältnis zur Rechtfertigung für die Untätigkeit eingesetzt werden sollten - was wahrlich äußerst selten sein wird. Wenn die Erklärung eines Beamten nicht auf dessen Grundrechte gestützt werden kann, dann auch nicht die Verweigerung einer Verlautbarung auf seine negative Freiheit. Grundrechte geben keine Befugnis zur Steuerung von Hoheitshandeln, bestehe dieses aus aktivem Tun oder Unterlassen. Das wird auch dadurch bestätigt, daß die Unterlassung amtlichen Tuns meist durch eine Aktivität in Form eines Ablehnungsbescheids verfestigt und dieser, wie gezeigt, nicht auf Grundrechte gestützt werden kann. Qualifizierte und einfache Unterlassungen müssen sich aber gleich stehen. Verbot und Gebot verquicken sich ferner bei der Anweisung, anders als geplant zu verfahren: Die beabsichtigte Entscheidung wird verboten, eine qualitativ andere geboten. Nun wird sich freilich kaum jemals ein Funktionsträger gegenüber dem Gebot, einer Kirche oder einem Künstler eine Subvention zu bewilligen, auf seine Religions- oder Kunstfreiheit berufen und diese unsinnigerweise zur Gestaltung amtlicher Kunst- oder Kirchenpolitik einzusetzen versuchen. Eher ist es möglich, daß er unter Berufung auf seine Freiheitssphäre behauptet, zu dieser oder jener Handlung nicht verpflichtet zu sein, ohne daß er damit den soeben erwähnten Gestaltungsanspruch geltend macht; folglich wird er statt Art. 4 oder 5 III den Art. 2 I GG ins Feld führen. Das ist dann jene Konstellation, die man
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von Zezschwitz, S. 400.
Grundrechtsschutz hoheitlicher Funktionsträger
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mit „Grundrechte gegen dienstliche Weisungen?" umschreibt und die sich im Problem der rechtlichen Angreifbarkeit spiegelt. Hier bestreitet die h. M. die Grundrechtsgeltung im „Bereich des Amtes" im Gegensatz zu Fällen persönlicher Betroffenheit. Dabei wird ignoriert, daß die personale Freiheitssphäre unausweichlich berührt ist, sobald ein Beamter seine dienstliche Handlungspflicht unter Berufung auf seine grundrechtliche Unterlassungsbefugnis bekämpft. Das in der Weisung enthaltene Gebot mag aufs erste als eine von Personen abgelöste, an ein Dezernat gerichtete Weisung deutbar sein, es muß aber letztlich von einer natürlichen Person befolgt werden, konkretisiert die ihr obliegende Gehorsamspflicht und ist bei einer Weigerung deren grundrechtlich geschütztem, wenngleich natürlich einschränkbarem Recht auf Nichtstun konfrontiert. Daß dies in wenigstens 98 % aller Fälle erfolglos sein wird, rechtfertigt hier so wenig wie im „Allgemeinen Gewaltverhältnis" die Ausschaltung der Grundrechte und ihrer Maßstäblichkeit als solche. Wenn infolge einer Verwechselung den freiberuflich tätigen A der Befehl erreicht, sich am kommenden Sonntag für einen Sondereinsatz beim Zug 4 der Bereitschaftspolizei einzufinden, kann er dem unbestrittenermaßen sein Grundrecht auf Unterlassung und Nichtstun (aus Art. 12 II GG) entgegenhalten und wird damit Erfolg haben. Solcher Erfolg muß dem Β versagt bleiben, der sich eine Woche zuvor zum Polizisten ernennen ließ. Aber das beruht darauf, daß sein Grundrecht wirksam eingeschränkt wurde und nicht darauf, daß es ihm auf mysteriöse Weise abhanden gekommen ist. Es ist kein Zufall, daß die h. M. die Grundrechtsrelevanz vorwiegend in Fällen einer Grundrechtsver/efcwwg bejaht 37 . Das ist eine Variante jener verqueren Rechtswidrigkeitstheorie, die im verwaltungsprozessualen Bereich schon vor Jahrzehnten als irrig erkannt wurde und nach der ein angreifbarer Verwaltungsakt nur dann vorlag, wenn gegenüber dem Beamten eine (krass) rechtswidrige Weisung erging. Es ist auch kurzschlüssig, den Dienstbefehl deshalb für grundrechtlich unerheblich zu erklären, weil das anbefohlene Tun keinen Grundrechtsschutz genieße, wie es - nicht nur - Isensee 38 tut: Der Beamte sei als Teil der Staatsorganisation Adressat der Grundrechte und nicht ihr Träger. Eine staatliche Weisung treffe ihn nicht in einem eigenen Recht, sondern nur in einer staatlichen
37 So statt vieler Kunig in: Schmidt-Aßmann, BesVwR., 10. Aufl. 1995, 6. Abschn. R. 182: „Das Beamtenrecht ... kennt in den Bereichen der Weisungsrechte (die zwar Regelungscharakter, aber keine Außenwirkung haben), der Gehorsamspflichten und im Organisationsbereich Bereiche, in denen Rechtsschutz nicht offensteht. Hier ist der Beamte regelmäßig (lediglich) als Amtswalter, nicht in Person angesprochen, so daß er selbst objektiv rechtswidriges Handeln nicht individuell gerichtlich bekämpfen kann. Die Ebene seiner subjektiven Rechte kann andererseits auch durchaus durch die Inanspruchnahme etwa des Weisungsrecht betroffen sein, wenn nämlich Grundrechte verletzt sind, etwa im Fall der diskriminierenden Weisung." 38 Wie Fn. 27.
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Kompetenz. So sei beispielsweise die amtliche Stellungnahme keine grundrechtliche Meinungsäußerung nach Artikel 5 I GG. Damit wird verkannt, daß sich ein Beamter bei seiner Weigerung, die amtliche Stellungnahme abzugeben, vernünftigerweise nicht auf Artikel 5 I GG (in seiner negativen Wirkungsweise) berufen wird, sondern auf Artikel 2 I GG. Isensee verwechselt zwei Imperative. „Handele (so) nicht für mich!" ist unbestrittenermaßen grundrechtsfrei. Aber das „Sei mir dienstbar!" ist davon zu trennen, und es ist grundrechtsgebunden.
Die öffentliche Ordnung Plädoyer für einen unzeitgemäßen Rechtsbegriff Von Reinhard Mußgnug
I. 1. Der für das Recht des unlauteren Wettbewerbs zuständige 1. Zivilsenat des BGH hat im Sommer 1995 zwei Urteile gefällt, die auch das Augenmerk des Öffentlichrechtlers verdienen. Das erste1 betrifft zwei im niedersächsischen Sarstedt produzierte Liköre, die ihr Hersteller unter höchst obszönen Namen und in pornographisch etikettierten Fläschchen über den Einzelhandel vertrieben hat. Die ungustiösen, vom BGH sehr detailliert geschilderten Einzelheiten dieses Falles interessieren nicht weiter. Es genügt festzuhalten, daß die Liköre einen Verbraucherschutzverband auf den Plan gerufen haben, der ihrem Produzenten den weiteren Gebrauch der üblen Namen und der zotigen Etiketten gerichtlich verbieten lassen wollte und damit nach zwei Niederlagen in den Vorinstanzen beim BGH durchgedrungen ist. Der BGH meinte, die mit den Namen und Etiketten zum Ausdruck gebrachte Werbeaussage bedeute „ eine Herabsetzung und Diskriminierung der Frau die das sittliche Empfinden der maßgeblichen Verkehrskreise" verletze; „ wegen der damit verbundenen kränkenden Herabsetzung eines Bevölkerungsteils" verstoße sie „in grobem Maße gegen das Anstandsgefühl"; sie wirke „ ärgerniserregend und belästigend"', deshalb sei sie mit den guten Sitten im Sinne des § 1 UWG unvereinbar und müsse daher untersagt werden 2 3 .
1 Das sog. „Busengrapscher-Urteil" vom 18. Mai 1995 (BGHZ 130, 5 ff.), das auch deshalb aus der Masse der BGH-Urteile herausragt, weil es die Etiketten der umstrittenen Likörflaschen nicht nur beschreibt, sondern auch abbildet und damit den auf einem von ihnen deutlich lesbaren Namen und die Telefonnummer des Beklagten verrät, was nebenbei auch datenschutzrechtliche Probleme aufwirft. 2 Dazu kritisch Marly, L M UWG § 1 Nr. 690 und Oellers, EWiR 1995, 811 f., die allerdings allzu großzügig urteilen; sie übersehen, daß die Fläschchen nicht etwa in SexShops angeboten worden sind, wo sie nicht weiter aufgefallen wären, sondern im allgemeinen Handel auch vor den Blicken der an Scherzartikeln dieses Niveaus Desinteressierten vertrieben worden sind.
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Bei dem zweiten Urteil handelt es sich um eines der „Benetton-Urteile" 4 , die der italienischen Firma Benetton untersagen, in Deutschland „mit der Darstellung schweren Leids der Kreatur auf sich aufmerksam " zu machen. Das auch öffentlich-rechtlich Interessante dieser Urteile ist unter dem Stichwort „HIVPositive " bekannt geworden. In ihm geht es um ein überdimensioniertes Farbfoto, das „einen nackten menschlichen Körperteil mit dem Stempelaufdruck ,HIV-Positive"' sowie das Firmenzeichen „United Colors of Benetton " zeigt. Dieses Foto ist von Benetton in Zeitungsannoncen und als Plakat zur ImageWerbung eingesetzt worden. Dagegen hat sich die Zentrale zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs mit einer Unterlassungsklage verwahrt und in allen drei Instanzen obsiegt. Der BGH wirft der Firma Benetton vor, sie habe „den Aids-Kranken als abgestempelt' und damit als aus der menschlichen Gesellschaft ausgegrenzt" dargestellt. Das sei „zynisch und menschenverachtend". Es müsse „zumindest von Personen , die selbst HIV-positiv sind\ als grob anstößig und ihre Menschenwürde verletzend" angesehen werden 5. Daher liege auch hier ein grober Verstoß gegen die guten Sitten im Sinne des § 1 UWG vor. 2. Daß diese beiden Urteile auch einen öffentlich-rechtlichen Aspekt aufweisen, tritt zu Tage, wenn man bedenkt, wie die beiden von ihnen angepackten Fälle bewältigt worden wären, wenn sie sich 40 Jahre eher ereignet hätten. Denn um das, was 1995, im Zeitalter der Postmoderne, den Abmahnvereinen und den Zivilgerichten überlassen bleibt, hätten sich in den frühen Jahren des bundesrepublikanischen Rechtsstaats die Polizeibehörden gekümmert. Die Polizeibehörden jener Jahre hätten sich an das für sie einschlägige Landespolizeigesetz gehalten, das es ihnen zur Aufgabe macht, Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Im Benetton-Fall wären sie, was die öffentliche Sicherheit angeht, zu einem eindeutig negativen Resultat 3 A u f die naheliegenden Fragen, worin das spezifisch Wettbewerbswidrige dieses Falles liegen und was er mit dem Verbraucherschutz zu tun haben soll, geht der BGH nicht ein. Er berücksichtigt vor allem nicht, daß die nur sehr anspruchslose Käufer ansprechenden Liköre den seriösen Spirituosen keine Konkurrenz bereitet haben. Ebenso läßt der BGH unter den Tisch fallen, daß die Namen und die Aufmachung der Liköre dem Verbraucher nichts vorgetäuscht, sondern ihn im Gegenteil deutlich davor gewarnt haben, daß er keine besondere Qualität erwarten darf. Es bleibt daher im Dunkeln, woraus der BGH die wegen des § 13 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 UWG problematische Klagebefugnis des Verbraucherschutzverbandes hergeleitet hat. Sittlichkeitsvereine läßt § 13 UWG auch dann nicht als Verbandskläger zu, wenn sie sich als Verbraucherverbände bezeichnen. 4 BGHZ 130, 196 (ölverschmutzte Ente); NJW 1995, 2490 (Kinderarbeit) und NJW 1995,2492 (HIV-Positive). 5 Das leuchtet freilich nicht ohne weiteres ein. Näher liegt, das Foto als Kritik an der verbreiteten „Abstempelung" der HIV-Positiven zu verstehen. Das ändert jedoch nichts am Ergebnis, weil der BGH auch die in dem Foto enthaltene Ausnutzung des Mitleidseffekts als verwerflich eingeschätzt hat.
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gekommen. Das inkriminierte Foto verstößt gegen kein Gesetz; es verletzt niemanden in seinen subjektiven Rechten; die Funktionsfähigkeit des Staates beeinträchtigt es ohnehin nicht 6 . Bei den Likören aus Sarstedt wäre das wegen des Pornographieverbots des § 184 StGB und der ziemlich üblen Zotigkeit ihrer Namen und Etiketten nicht ganz so klar gewesen; aber letzten Endes scheidet auch hier eine Störung der öffentlichen Sicherheit wohl eher aus. Die Polizeibehörden hätten sich somit auf die öffentliche Ordnung, das andere ihrem Schutz anvertraute Gebiet, zurückziehen müssen. Bei den Sarstedter Likören hätten sie höchstwahrscheinlich mit Verbotsverfügungen reagiert. Sie wären nicht gerade flächendeckend gegen sie eingeschritten. Nach der „St. Pauli Regel"7 hätten sie ihren Verkauf an den Anlaufstellen der Zotenreißer geduldet. Ihren Vertrieb im allgemeinen Ladenverkehr hätten sie indessen unterbunden und so den Verbraucherschutzverbänden nichts zum profitträchtigen Abmahnen übrig gelassen. Den Benetton-Fall hätten die Polizeibehörden wahrscheinlich als bloße Geschmacklosigkeit um mehrere Stufen unterhalb dessen eingeordnet, was die Polizeigesetze unter einer Störung der öffentlichen Ordnung verstehen. Wären sie auch in diesem Fall eingeschritten, so hätte ihnen allen Anzeichen nach spätestens das Bundesverwaltungsgericht Einhalt geboten8. Wie dem auch immer sei: vor 40 Jahren hätten die Polizeibehörden die Sorge um die öffentliche Ordnung nicht den Abmahnvereinen überlassen. Sie hätten sich selbst in die Pflicht genommen gefühlt. Gleichgültig wie sie sich entschieden hätten, sie hätten immerhin entschieden und für ihre Entscheidungen gerade gestanden. Sie hätten die öffentliche Ordnung nicht nur im Ordnungswidrigkeitengesetz, der magna Charta der modernen Politessenpolizei gesucht. Sie hätten sich auch der weniger lukrativen öffentlichen Ordnung des klassischen Polizeirechts angenommen, auf die sie heute nur noch dann zurückgreifen, wenn sie, wie z.B. beim Kampf gegen Gewalt- und Ballerspiele, auf den Beifall der political Correcten zählen dürfen, um die sie aber ansonsten einen weiten Bogen schlagen. 3. Fallen die Polizeibehörden als Hüter der öffentlichen Ordnung so gut wie völlig aus, so nimmt es nicht weiter wunder, daß die Abmahnvereine und in ih-
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Zu der Trias „Objektive Rechtsordnung, subjektive Rechte, Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Verwaltung" als den drei Säulen der öffentlichen Sicherheit Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 12. Aufl. 1995, Rdn. 89. 7 „Was in süddeutschen Wallfahrtsorten unterbunden werden muß, prägt in St. Pauli den genius loci und ist dort polizeifest." 8 Zu dieser Vermutung berechtigt das Urteil in BVerwGE 10, 164 ff. (Kondomverkauf aus Straßenautomaten) aus dem Jahre 1960, in dem das BVerwG auf S. 168 eine beachtliche Bereitschaft zum Widerspruch gegen den in den Fragen von Zucht und Unzucht moralinsauerer urteilenden BGH an den Tag gelegt hat.
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rem Gefolge die Zivilgerichte sich dieser Aufgabe neuerdings um so tatkräftiger widmen. Das zeigt, daß offensichtlich doch ein dringender Bedarf nach obrigkeitlicher Erinnerung an die ungeschriebenen Verhaltensregeln besteht, die das Polizeirecht meint, wenn es neben der auf Rechtsnormen gegründeten öffentlichen Sicherheit auch die öffentliche Ordnung nennt. Aber es läuft etwas falsch, wenn die Polizeibehörden untätig hinnehmen, was die Zivilgerichte als groben Verstoß gegen die guten Sitten unterbinden. Entweder vernachlässigen die Polizeibehörden ihre Pflichten, oder die Zivilgerichte maßen sich Aufgaben an, die sie nichts angehen. Daß die Polizeibehörden nach dem Opportunitätsprinzip handeln, das ihnen auch die Freiheit zum Nichtstun läßt, während ihre Rechtsgewährungspflicht die Gerichte zwingt, über jeden vor ihre Schranken gebrachten Fall zu entscheiden, erklärt zwar, wie es zu dem Abdriften der offentlichén Ordnung in das Wettbewerbsrecht hat kommen können. Aber diese Erklärung läßt die beiden entscheidenden Fragen unbeantwortet: 1. Ist die Vernachlässigung der öffentlichen Ordnung als polizeirechtliche Eingriffsermächtigung auf triftigere Gründe zurückzuführen als auf die bloße Scheu vor einer schwierig zu handhabenden, in den Geruch des Unzeitgemäßen geratenen Eingriffsermächtigung? 2. Kommen die Polizeibehörden den Idealen des demokratischen Rechtsstaats näher, wenn sie die Gestaltung der öffentlichen Ordnung den gesellschaftlichen Kräften überlassen, oder stehlen sie sich damit aus einer Verantwortung, aus der sich auch der Staat der Gegenwart nicht einfach davonschleichen darf? Diese beiden Fragen verlangen nach einer Antwort.
II. 1. Die öffentliche Ordnung steht vor allem deshalb in Mißkredit, weil sie den Polizeibehörden auch dort eine Handhabe zum Einschreiten bietet, wo das Recht mit seinen Ge- und Verboten an sich aufhört. Denn die öffentliche Ordnung ist „die Gesamtheit der im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung liegenden ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Zusammenlebens betrachtet wird. " So definieren die Polizeigesetze Sachsen-Anhalts und Thüringens die öffentliche Ordnung 9. In den übrigen Bundesländern fehlt eine
9 § 3 Nr. 2 sachs.-anh. SOG; § 54 Nr. 2 thür. OBG, die beide dieser Traditionsformel als nicht unwichtiges, aber im Grunde selbstverständliches Novum hinzufügen, daß sie
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solche Legaldefinition. Aber was Sachsen-Anhalt und Thüringen gesetzlich festgeschrieben haben, gehört auch dort zum höchstrichterlich abgesicherten, unangefochtenen Traditionsgut des Polizeirechts. Mit den ungeschriebenen Regeln meint die öffentliche Ordnung nicht etwa die Normen des Gewohnheitsrechts, die allgemeinen Grundsätze des Rechts und das überpositive Recht, die als Rechtsregein die öffentliche Sicherheit mittragen. Sie verweist auf die jenseits der Rechtsordnung angesiedelten und deshalb rechtlich unverbindlichen Normen des sozialen Zusammenlebens , deren Übertretung allenfalls gesellschaftliche, aber keine rechtlichen Abwehrmaßnahmen und Sanktionen nach sich zieht. Wir reden von den Regeln der Sitte, des Anstands, der Moral, der Kultur, der guten Nachbarschaft, der Höflichkeit, kurzum von der Ordnung, die auch dort herrschen muß, wo die Rechtsordnung nicht hinreicht. Wer mit anderen beruflich oder gesellschaftlich auskommen will, muß nicht nur davon absehen, sie zu bestehlen, zu verleumden oder zu verprügeln. Er muß auch einiges andere unterlassen, was ihm die Rechtsordnung nicht verbietet, und er muß manches tun, was ihm die Rechtsordnung nicht befiehlt. Mit der Ermächtigung zum Schutz der öffentlichen Ordnung will das Polizeirecht exakt dafür - also für das Erzwingen jenes Wohlverhaltens, das nicht gesetzlich vorgeschrieben ist, aber von der Gesellschaft erwartet wird - eine gesetzliche Ermächtigung bieten. Das wirkt paradox. Die öffentliche Ordnung verrechtlicht das Nichtrecht. Das geht, wenn überhaupt, so nur an, wenn sich die öffentliche Ordnung selbst äußerste Zurückhaltung auferlegt. Die öffentliche Ordnung kann nicht jedes Höflichkeitsgebot sanktionieren. Sie sanktioniert so denn auch nur die unerläßlichen Regeln des friedlichen Zusammenlebens. Aber das fruchtet wenig. Denn für die Abgrenzung der unerläßlichen von den erläßlichen und daher polizeilich nicht durchsetzbaren Regeln bringt jeder seinen eigenen und jeder einen anderen Maßstab mit. Die Beschränkung der öffentlichen Ordnung auf das Unerläßliche hat daher nicht verhindern können, daß mit ihr viel administrative Torheit und viel politische Unduldsamkeit in Polizeiverordnungen und Polizeiverfügungen umgesetzt worden ist. Wer öffentliche Ordnung sagt, denkt an Sittlichkeit, an religiöse Empfindlichkeiten, in früheren Zeiten auch an die Vaterlandsliebe, heute an die political correctness. Otto Mayers Warnung, „daß in diesen Dingen mit täppischem Dreinfahren viel geschadet werden kann" 10, hat gewiß manchen, aber keineswegs jeden Fehlgriff verhindert.
nur die „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung liegenden ungeschriebenen Regeln" meinen. 10 Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1924, S. 215.
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Das belegt u. a. der Zwickelerlaß vom September 1932, in Wahrheit kein Erlaß, sondern eine preußische Polizeiverordnung 11, die Badebekleidung „mit angeschnittenen Beinen und Zwickeln ' vorgeschrieben, den Damen den „Zweiteiler" verboten und den Männern im Familienbad das Tragen eines auch den Oberkörper bedeckenden Badeanzugs befohlen hat. Der Zwickelerlaß hat die zügige Modernisierung der Bademode freilich nicht aufhalten können. Noch ehe die Badesaison 1933 begann, hatte ihn eine ÄnderungsVO vom März 1933 nachhaltig entschärft. Zur Hebung der Sittlichkeit hat dieser „Erlaß" daher wenig beigetragen. Dafür hat er für um so mehr Heiterkeit gesorgt und sowohl für die Schwimmbadbesucher als auch für die Polizei lehrreich gewirkt. Die Schwimmbadbesucher haben durch den Zwickelerlaß gelernt, daß man nicht jede PolizeiVO ernst nehmen muß, und den Polizisten lieferte er Anschauungsmaterial dafür, daß es Übertretungen gibt, die man besser ignorieren als verfolgen sollte. Es hat freilich Schlimmeres als den Zwickelerlaß gegeben. Im Mai 1938 hat der zuständige Polizeipräsident ein katholisches Krankenhaus geschlossen, weil dessen geistlicher Leiter einen medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch abgelehnt hatte und die betroffene Patientin deshalb gestorben war. Das hatte die SA zum Anlaß genommen, neun Monate später vor dem Krankenhaus zu randalieren, woraus der Polizeipräsident dann gefolgert hat, der weitere Betrieb dieses Krankenhauses provoziere die über die Hilfsverweigerung empörte Bevölkerung 12. 1947 hat das damals noch amtierende, aber bereits unter kommunistischen Druck geratene thüringische OVG das Verbot von Fronleichnamsprozessionen in Städten mit überwiegend protestantischer Bevölkerung gutgeheißen13, weil das Fronleichnamsfest eine gegenreformatorische Demonstration sei, die in Städten mit reformationsgeschichtlicher Tradition wie Eisenach, Weimar und Jena, wo es bis dahin nicht öffentlich gefeiert worden sei, die Gefühle der Protestanten verletze und den konfessionellen Frieden störe. Warum die Prozessionen früher nicht stattgefunden hatten, hat das Gericht leider nicht in seine Überlegungen einbezogen; daß die bis dahin von katholischem Brauchtum freien thüringischen Städte und Dörfer nach 1945 einen starken Zustrom katholischer Heimatvertriebener erlebt haben, hat es nicht bedacht oder nicht bedenken dürfen.
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GS 1932, 324; dazu PrOVG 103, 148. Das pr. OVG (E 103, 139 ff.) hat die Schließungsverfügung allerdings aufgehoben und den Polizeipräsidenten sehr zum Mißvergnügen des Gauleiters Terboven darüber belehrt, daß nicht das Krankenhaus die öffentliche Ordnung, sondern die SARandalierer die öffentliche Sicherheit gestört haben; näheres dazu bei Hempfer , Die nationalsozialistische Staatsauffassung in der Rspr. des Pr. OVG, 1974, S. 127 f. 13 Jahrb. 18, 1948, S. 243 ff. 12
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Auch die Bundesrepublik ist im Umgang mit der öffentlichen Ordnung nicht gänzlich sündenfrei geblieben. Nach dem 17. Juni 1953 haben es einige Ortspolizeibehörden für richtig gehalten, gegen Brechtaufführungen in den Theatern einzuschreiten, weil das als Billigung des von Brecht unterstützten Ulbricht-Regimes hätte aufgefaßt werden können. Man hat sich mit der FKKBewegung herumgeschlagen. Hildegard Knef hat der öffentlichen Ordnung zum Einzug in die Filmgeschichte verholfen; der Film „Die Sünderin" hat die Verwaltungsgerichte bis hinauf zum BVerwG 14 beschäftigt, weil Hildegard Knef in ihm einen kurzen Augenblick unbekleidet in einer Hängematte liegend zu sehen war; minima curaverunt prätores! Auch ein schwedischer Film namens „Sie tanzte nur einen Sommer lang" und später Ingmar Bergmanns „iSchweigen" haben polizeirechtliche Aufregungen heraufbeschworen, die wir heute im Zeitalter von Radio Luxemburg und VOX nicht mehr nachvollziehen können. Es tobten die Rückzugsgefechte, die nie ausbleiben, wenn sich eine bis dahin einige Gesellschaft ändert. Wenn Hierarchien zerbrechen, konfessionelle oder religiöse Einheit der weltanschaulichen Vielfalt weicht, soziale Bindungen neu geordnet werden, wird die Definition der öffentlichen Ordnung automatisch heikel. Es kommt zu Entscheidungen, die später nicht mehr begriffen werden, auch wenn sie zu ihrer Zeit nicht unbedingt falsch gewesen sein mußten. Deshalb verwundert nicht weiter, daß die öffentliche Ordnung einen permanent wachsenden Überdruß ausgelöst hat und der Rückgriff auf sie unpopulär wurde. Die öffentliche Ordnung verfiel dem Verdikt „politisch nicht durchsetzbar". 2. Mit dem Inkrafttreten des GG geriet die öffentliche Ordnung zunehmend auch in das Kreuzfeuer rechtsstaatlicher Kritik. Ihr wird inhaltliche Unbestimmtheit vorgeworfen. Ihr Rekurs auf die ungeschriebenen Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens gilt als Bruch mit dem Gesetzmäßigkeitsprinzip, weil es auf Normen verweist, die ihre Gültigkeit gerade nicht aus den Gesetzen beziehen. Die öffentliche Ordnung erlaube es, Ordnungsvorstellungen ohne vorheriges Votum des demokratischen Gesetzgebers durchzusetzen. Sie begnüge sich mit der diffusen Pseudolegitimation durch die „herrschenden Anschauungen" und vernachlässige, daß im demokratischen Rechtsstaat nur die Anschauungen „herrschen", also das Verhalten des Bürgers und das Handeln der Verwaltung und der Gerichte bestimmen dürfen, die das verfassungsrechtlich vorgeschriebene Verfahren der Gesetzgebung durchlaufen haben und damit zu der Gesetzlichkeit aufgestiegen sind, ohne die der demokratische Rechtsstaat keine normative Herrschaftsmacht anerkennen kann 15 .
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BVerwGE 1,303. So u.a. Denninger in Lisken/Denninger (Hrg.), Handbuch des Polizeirechts, S. 105 ff., 125 (Rdn. 25 f f ) ; Götz (oben Fn. 6) Rdn. 122 ff.; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 1998, Rdn. 75 ff. m.w.N. 15
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Nicht minder scharf wird beanstandet, daß die öffentliche Ordnung wegen ihrer Ausrichtung auf die „herrschenden Anschauungen" ein minderheitenfeindliches Gepräge trage. Sie biete den Polizeibehörden eine Handhabe, auch dort die Unterwerfung unter die Sitten der Mehrheit zu erzwingen, wo die Gesetze den Minderheiten die Freiheit zum Leben nach ihren eigenen Vorstellungen lassen, also der Minderheit z.B. erlauben, die Baseballkappe auch dort aufzubehalten, wo die Mehrheit die Kopfbedeckung abnimmt. Diese Kritik hat Wirkung gezeigt. Sie hat die öffentliche Ordnung „noch" 16 nicht beiseite geräumt. Aber die öffentliche Ordnung beginnt „abzubrökkeln" ]1. Bremen, das Saarland, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben die öffentliche Ordnung bereits aus ihren Polizeigesetzen gestrichen. Zur gleichen Zeit haben zwar die fünf ostdeutschen Bundesländer sie samt und sonders in ihr Polizeirecht aufgenommen. Aber die öffentliche Ordnung gilt dennoch als ein auslaufendes Modell. 3. Mit einem baldigen Ende der öffentlichen Ordnung rechnet man vor allem auch deshalb, weil sie nicht mehr gebraucht werde. Der Gesetzesperfektionismus der Gegenwart halte, so wird gesagt, für so gut wie jede Lage, die früher mit Hilfe der öffentlichen Ordnung habe bewältigt werden müssen, ein Gesetz oder wenigstens eine Rechtsverordnung bereit. Das Lärmen der Rasenmäher, vormals ein wichtiges Bewährungsfeld für die Hüter der öffentlichen Ordnung, hat heute die RasenmäherVO 18 fest in ihrem Griff. Sie regelt genau, wie laut Rasenmäher sein dürfen und verbietet ausdrücklich, mit ihnen die Feiertagsund die gemäß ihrem § 6 Abs. 1 von 19.00 bis 7.00 Uhr dauernde Nachtruhe zu stören. Für die meisten ehedem unter der Überschrift öffentliche Ordnung diskutierten Fragen gilt ähnliches. Die Frage „Wozu noch öffentliche Ordnung, wo wir eine derart lückenlose Gesetzgebung haben?" drängt sich auf. Allein wegen des Nacktbadens, einem der alten Tummelplätze der Polizeirechts-Folklore, brauchen wir sie jedenfalls nicht. Wem die Nacktbaderei nicht gefällt, der schaut weg und leistet damit einen vernünftigeren Beitrag zur Wahrung der öffentlichen Ordnung als die verklemmten Sittenwächter der Vergangenheit, die nach der Polizei gerufen haben.
16 Das Wort „noch" dominiert in den kritischen Auseinandersetzungen um die öffentliche Ordnung auffällig; es findet sich z.B. deutlich hervorgehoben bei Denninger und Knemeyer (oben Fn. 15). 17 Denninger (oben Fn. 15). 18 I.d.F. vom 13. 7. 1992 (BGBl. I 248).
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III. Dennoch ist die öffentliche Ordnung nicht ganz so überflüssig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Es kann auch keine Rede davon sein, daß sie verfassungswidrig wäre. 1. Die öffentliche Ordnung ist eine Generalklausel. Weil sie nicht selbst sagt, wozu sie ermächtigt, bedarf sie der Auslegung. Ihre Tragweite und ihre Grenzen gewinnen erst dann Konturen, wenn man über ihren Wortlaut hinausgreift. Man muß die öffentliche Ordnung zur öffentlichen Sicherheit, ihrem Pendant, ins rechte Verhältnis bringen. Auch die Geschichte des Polizeirechts muß in ihre Auslegung einbezogen werden. Wer sich daran hält, entdeckt rasch, daß die öffentliche Ordnung nicht nur auslegungsbedürftig, sondern durchaus auch auslegungsfähig ist. Daß es nicht der Sinn der öffentlichen Ordnung sein kann, alle Schranken niederzureißen, die sich aus der Anbindung der öffentlichen Sicherheit an das positive Recht ergeben, liegt auf der Hand. Die Ermächtigung des pr. Polizeiverwaltungsgesetzes vom 11. März 1850 zum Erlaß von Polizei Verordnungen und Polizeiverfügungen über „alles, was ... polizeilich geordnet werden muß hat das pr. OVG 1882 mit dem Kreuzberg-Urteil 19 beiseite geschoben. Seither steht fest, daß die öffentliche Ordnung nicht das Einfallstor ist, durch das die Wohlfahrtspflege des frühneuzeitlichen Polizeistaates in den Rechtsstaat der Gegenwart zurückgeholt werden kann. Die öffentliche Ordnung ist daher eng auszulegen. Sie taugt nicht für den alltäglichen Gebrauch. Sie bietet den Polizeibehörden lediglich eine Eingreifreserve ftir manifeste schwere Bedrohungen oder Störungen des sozialen Friedens, die der Gesetzgeber entweder nicht vorhergesehen oder wegen ihrer abnormen Singularität nicht zum Gegenstand einer normativen Regelung hat machen können, denen aber gleichwohl auf der Stelle abgeholfen werden muß. So betrachtet ist die öffentliche Ordnung alles andere als eine vage Generalklausel. Sie ist nicht gerade aus sich selbst heraus verständlich. Aber dem juristisch hinreichend Bewanderten erschließt sich rasch, wozu sie ermächtigt und wozu nicht: sicherlich nicht zum Verbot des Ladenverkaufs aggressiv atheistischer Literatur, aber doch zum Einschreiten gegen ihr demonstrativ provokatorisches Feilbieten vor den Kirchen zur Zeit des Gottesdienstes, wo kaum mit Käufern zu rechnen, dafür aber ein um so größerer Effekt zu erzielen ist. So gesehen zählt auch die öffentliche Ordnung zu den Generalklauseln, die dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot genügen. Was das Bundesverfassungsgericht 1969 zur Rechtfertigung des Straftatbestands des groben Unfugs gesagt hat 20 , gilt fur sie erst recht. 19
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2. Mit ihrem viel getadelten Verweis auf die außerrechtlichen Normen des gesellschaftlichen Lebens steht die öffentliche Ordnung keineswegs allein. Die Scheidelinie zwischen Recht und Sitte überschreiten viele Gesetze. Die §§ 138, 242 und 826 BGB liefern dafür nur die bekanntesten Beispiele. Ein besonders einleuchtendes verdanken wir dem § 346 HGB, der den Handelsbräuchen rechtliche Relevanz verleiht. Das Bauordnungsrecht stellt mit seinem Verunstaltungsverbot auf das rechtlich nicht normierbare ästhetische Empfinden ab und legt dabei ebenfalls - nicht anders als die öffentliche Ordnung - die herrschenden Anschauungen zugrunde. Die verrechtlichende Bezugnahme auf gesellschaftliche Normen wirkt also keineswegs per se bedenklich. Es kommt darauf an, welchen Kreisen der Gesellschaft der Gesetzgeber Definitionsmacht für den Inhalt seiner Normen einräumt, und noch weit mehr darauf, was die von ihm mit rechtlicher Relevanz ausgestatteten gesellschaftlichen Normen von der Freiheit des Individuums übrig lassen. In dieser Hinsicht erweist sich die öffentliche Ordnung als weit unproblematischer als manche andere auf gesellschaftliche Regeln verweisende Rechtsnorm. Sie verlangt nur die Beachtung der für den sozialen Frieden unerläßlichen Regeln, die einzuhalten nicht weiter schwer fällt, weil sie ohnehin einleuchten. Bei den guten Sitten im Sinne des § 1 UWG ist das nicht durchweg der Fall. 3. Ein Diktat der Mehrheit über die Minderheiten errichtet die öffentliche Ordnung schon deshalb nicht, weil zu den auch nach herrschender Anschauung unerläßlichen Regeln des friedlichen Zusammenlebens mit an erster Stelle das Toleranzgebot zählt, das die Mehrheit zur Rücksichtnahme auf die Minderheit verpflichtet. Gerät die Mehrheit mit einer Minderheit in Konflikt, so ist es zudem keineswegs immer die Mehrheit, die es an der nötigen Rücksichtnahme fehlen läßt. Es gibt auch extrem rücksichtslose Minderheiten. Das Menetekel von der sauertöpfischen Mehrheit, die sich durch die Freizeitgebräuche einer vergnügten Minderheit provoziert fühlt und nach der Polizei ruft, schreckt natürlich. Aber es beruhigt, was die Verwaltungsgerichte zu dem bekannten Staatstrauerfall aus dem Jahr 1963 gesagt haben21. Weniger beruhigend wirkt, daß es griesgrämigen Minderheiten schon öfter gelungen ist, der fröhlichen Mehrheit den Spaß an der Freude zu vergällen und 1993 sogar einen ganzen Karneval unter Berufung auf ihre selbstgeschneiderte öffentliche Ordnung abzublasen. 4. Auch die Mißgriffe, die sich die Polizeibehörden im Umgang mit der öffentlichen Ordnung geleistet haben, büßen bei näherem Zusehen viel von ihrer abschreckenden Wirkung ein. Der Zwickelerlaß hat sich wegen seiner eigenen
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BVerfGE 26, 41 ff. DVB1. 1970, 504 ff.
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Lächerlichkeit von selbst erledigt. Die Fehlleistungen aus der Zeit nach 1949 haben die Verwaltungsgerichte rasch abgestellt. Zu ihnen ist es nicht etwa gekommen, weil die öffentliche Ordnung den Polizeibehörden zu viel Freiraum ließe. Sie haben sich ereignet, weil die Polizeibehörden das die öffentliche Ordnung überlagernde Verfassungsrecht außer Acht gelassen haben. Das gilt auch für das rechtsblinde Umspringen mit der polizeirechtlichen Generalklausel in der NS-Zeit und in der sowjetischen Besatzungszone. Das thüringische Verbot der Fronleichnamsprozession verstieß evident gegen die Religionsfreiheit; die Schließung der Essener Klinik wegen des verweigerten Schwangerschaftsabbruchs hatte ohnehin so gut wie nichts mit der öffentlichen Ordnung, dafür aber um so mehr mit der Unrechtsgesinnung der damaligen Machthaber zu tun. An den sonderbarsten Fehlleistungen des Polizeirechts trägt die öffentliche Ordnung im übrigen ohnehin keine Schuld. Das der Form halber in Baden und Bayern noch in den 50er Jahren gültige Konkubinatsverbot 22 beruhte auf förmlichen Gesetzen. Die Polizeibehörden, die es mit Trennungsanordnungen und Geldbußen durchzusetzen versuchten, handelten also nicht im Dienste der öffentlichen Ordnung; sie betrieben das Geschäft der öffentlichen Sicherheit. Auch das NS-Regime hat auffällig selten auf die öffentliche Ordnung zurückgegriffen. Es hat sein Unrecht gesetzlich geregelt.
IV. 1. Es bleibt der Einwand, die öffentliche Ordnung werde nicht mehr gebraucht, weil mittlerweile so gut wie alles, was früher mit ihrer Hilfe bewältigt werden mußte, zum Gegenstand gesetzlicher Normen aufgestiegen sei. Darin steckt ein wahrer Kern. Es fallt auf, daß die öffentliche Ordnung die Verwaltungsgerichte nur noch selten beschäftigt. Das liegt nicht nur daran, daß die Polizeibehörden den Rückgriff auf sie auch dort scheuen, wo er an sich naheläge. Die moderne Gesetzgebung hat der öffentlichen Ordnung in der Tat das Wasser abgegraben. Das gilt vor allem für das weite Feld der Lärm- und Emissionsbekämpfung, auf dem das Bundesimmissionsschutzgesetz und die auf seiner Grundlage ergangenen Rechtsverordnungen für gesetzliche Ordnung sorgen und damit die polizeiliche Ordnung der Dinge erübrigen. In weiten Bereichen hat die Gesetzgebung darüber hinaus klargestellt, daß hingenommen werden muß, was früher 22
§ 72 bad. Polizeistrafgesetzbuch vom 31. Oktober 1863 (RegBl. 439): „Personen, welche in außerehelicher Geschlechtsverbindung zusammenleben, sind mit Geld oder mit Haft bis zu 14 Tagen zu bestrafen und von einander zu trennen". Ähnlich Art. 50a bay. Polizeistrafgesetzbuch vom 26. Dezember 1871 (GesBl. 1871/72, 9).
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unter Berufung auf die öffentliche Ordnung abgestellt worden ist. So liegen die Dinge vor allem im Bereich der Sittlichkeit. Nacktbaden, Prostitution, nichteheliche Lebensgemeinschaften, Pornographie etc. haben aufgehört, die Zankäpfel der öffentlichen Ordnung zu sein. Es gibt zwar noch immer Grenzen, die selbst die einschlägigen Privatsender einhalten müssen; aber diese Grenzen sind gesetzlich geregelt. Die Suche nach neuerer Judikatur zur öffentlichen Ordnung zeitigt dementsprechend nur einen bescheidenen Ertrag. Das VG Neustadt hat 1993 ein auf die öffentliche Ordnung gestütztes Verbot eines „ZwergenweitwurfWettbewerbs" bestätigt23. 1994 hat es das Verbot eines gewerblich veranstalteten Kampfspiels gebilligt, bei dem die Spieler Schießereien mit Laserpistolen simulieren 24. Außerdem hängen einige Prozesse an, in denen es um Spielautomaten mit besonders brutalen „Ballerspielen" geht. Im übrigen ergibt die Durchsicht der Fachzeitschriften Fehlanzeige. 2. Das beruhigt jedoch nur auf den ersten Blick. Der zweite Blick lehrt, daß es mit der Verdrängung der öffentlichen Ordnung durch die Gesetzgebung seine Eigenheiten hat. a) Die bereits erwähnte RasenmäherlärmVO hat sich z. B. ausschließlich den Rasenmäherlärm vorgenommen. Die Motorsägen, Schredder, Laubsauger, Heckenscheren, Motorfräsen, Vertikutierer und sonstigen von einem Benzinmotor angetriebenen Ruhestörer hat der Verordnungsgeber bislang keiner spezialgesetzlichen Regelung gewürdigt. Er mußte mit der RasenmäherlärmVO eine EG-Richtlinie umsetzen, die nur eine Harmonisierung des Rasenmäherrechts verlangt. Also hat es bei den Rasenmähern sein Bewenden gefunden. b) Was der Gesetzgeber aus der Generalklausel des allgemeinen Polizeirechts herausnimmt, koppelt er im übrigen keineswegs immer auch von der öffentlichen Ordnung ab. Die öffentliche Ordnung taucht vielmehr verdächtig oft in den Spezialgesetzen wieder auf, von denen gemeinhin behauptet wird, sie ersetzten sie durch genauer konkretisierte, dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot besser entsprechende Normen. So enthält das OWiG mit seinen §§117 und 118 zwei Bußgeldtatbestände, in denen die öffentliche Ordnung unter den Überschriften „ Unzulässiger Lärm" und „Belästigung der Allgemeinheit" Urstände feiert. Unzulässiger Lärm und Belästigung der Allgemeinheit sind also nur scheinbar zu Störungen der öffentlichen Sicherheit aufgestuft worden. Sie verletzen zwar das objektive Recht, aber das objektive Recht erklärt sie nur dann für rechtswidrig, wenn sie gegen die öffentliche Ordnung
23
NVwZ 1993,98. GewArch 1994, 236; ebenso in der 2. Instanz OVG Koblenz DÖV 1994, 965; a. A. VGH München GewArch. 1994, 376. 24
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verstoßen. Die öffentliche Ordnung entpuppt sich so als Bumerang, der sich nicht einfach wegwerfen läßt. Die öffentliche Ordnung kehrt auch häufig durch die Hintertür anderer Gesetze zurück. Das GG nennt sie in Art. 35 Abs. 2 als Grund für den Einsatz des Bundesgrenzschutzes in den Ländern. Gemäß § 3 der bad.-württ. LBO sind bauliche Anlagen so zu errichten, „daß die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ... nicht bedroht werden". Versammlungen und Demonstrationen können nicht nur aufgelöst werden, wenn sie die öffentliche Sicherheit gefährden; dazu reicht auch eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung aus (§ 13 VersG), was z. B. bei allzu lautstarken oder allzu obszönen Love-Parades durchaus gerechtfertigt erscheint und auch für die sog. Gegendemonstrationen ins Gewicht fällt, denen es weniger um das Vertreten der Gegenmeinung, dafür aber um so mehr um das Niederbrüllen und Niederpfeifen des Gegners geht. § 178 GVG schiebt der Ungebühr vor Gericht, mit anderen Worten also dem Verstoß gegen die vor Gericht gültigen Anstandsregeln, einen Riegel vor. In § 33a GewO kehrt die öffentliche Ordnung in etwas anderer Formulierung und im Gewand einer zwingenden Vorschrift wieder, nach der die für „Schaustellungen von Personen" erforderliche Genehmigung zu versagen ist, wenn diese Schaustellungen gegen die guten Sitten verstoßen. Diese Vorschrift hat dem BVerwG die Gelegenheit verschafft, klarzustellen, daß sog. Peep-Shows nicht genehmigt werden dürfen 25 . In einigen Bundesländern dulden die Polizeibehörden die Peep-Shows seither, ohne auf der gesetzlich vorgeschriebenen Genehmigung zu bestehen. Es drängt sich die Frage auf, wie die zuständigen Beamten das mit ihrem Diensteid vereinbaren, „das Recht zu achten und zu verteidigen'.
V. Kehrt die öffentliche Ordnung in den Spezialgesetzen permanent wieder, so belegt das, daß sie jedenfalls nach dem Urteil des Gesetzgebers nach wie vor gebraucht wird. Daß sie von den Polizeibehörden nur selten bemüht werden muß, beweist mitnichten, daß sie entbehrlich wäre. Es belegt nur, daß sich auf dem Felde von Sitte, Anstand und Moral das Meiste zum Glück von selbst regelt. Man bleibt einander fern, wenn man sich nicht miteinander verträgt, und vermeidet so die Störungen der öffentlichen Ordnung, die eintreten können, wenn miteinander unvereinbare Umgangsformen aufeinanderprallen. Die Gesellschaft verfügt zudem über ein breit gefächertes Instrumentarium, mit dem sie ihre Ordnung autonom wahrt. Ihre Kleiderordnungen z.B. setzt sie mit Hilfe des Hausrechts durch, dessen Verletzung zu einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit führt. Das Hausrecht half nicht zuletzt dem vor kurzem die Gemüter 25
BVerwGE 64, 280.
24 FS Quaritsch
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erregenden Ärgernis ab, daß in Köln viele mit ihrem Hund auf dem kurzen Weg durch den Dom zum Hauptbahnhof geeilt sind. Dennoch gibt es Situationen, in denen nur der Rückgriff auf die Ordnungsklausel des allgemeinen Polizeirechts weiterfuhrt. In Heidelberg haben wir einen solchen Fall erlebt: Ein Geschäft in der Hauptstraße bietet schon seit langem im Schaufenster ein T-Shirt feil, das mit einem großen blauen Kreuz und einer debilen Parodie auf das „Vater Unser" bedruckt ist, die mit „Bier unser " beginnt und mit „Denn Dein ist der Rausch und die Bier Seligkeit, Prost!" endet. Das ist kein Fall der öffentlichen Sicherheit; denn die Verhöhnung religiöser Bekenntnisse ist nur dann strafbar, wenn sie „geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören ", was wegen der notorischen Friedfertigkeit der christlichen Mehrheit nur zu besorgen wäre, wenn andere weniger friedliche Religionen verhöhnt würden. Aber es handelt sich um einen Fall der öffentlichen Ordnung, gegen den die Stadt einschreiten könnte und auch einschreiten sollte. Es war zwar nicht zu besorgen, daß es wegen dieses Hemdes zu Gewalttätigkeiten kommen werde. Dennoch stört es den sozialen Frieden in der Stadt und verletzt die Gefühle vieler, die hätten erwarten dürfen, daß sich die Stadt auf ihre Seite schlägt. Dieser Sachverhalt illustriert, worum es bei der öffentlichen Ordnung geht. Mit der öffentlichen Ordnung ist der soziale Frieden angesprochen. Ihn zu sichern und zu verteidigen ist zuvörderst eine staatliche Aufgabe. Der soziale Friede verlangt mehr als nur Gesetze. Was ihn bewahrt, muß eingeübt werden. Daran beteiligt sich der Staat durch die Schulerziehung. Er wirbt für die gesetzlich nicht erzwingbaren Bedingungen des sozialen Friedens durch seine Öffentlichkeitsarbeit. Aber er griffe zu kurz, wenn er sich auf die politische Bildung beschränkte. Politische Kultur wächst aus der allgemeinen Kultur, die ihrerseits aus Sitte, Anstand und Bildung wächst. Sitte und Anstand gehen daher auch den Staat an. Er muß teilnehmen an dem Bemühen, sie zu erhalten, sie weiter zu entwickeln und sie dem jeweiligen Stand der Zeit anzugleichen. Nimmt der Staat den Verfall von Sitte und Anstand tatenlos hin, so gibt er sich letzten Endes selbst preis. Das schlägt den Bogen zur öffentlichen Ordnung. Wir brauchen sie weiterhin, um Sitte, Anstand und den Frieden in unsrer Gesellschaft verteidigen zu können, wenn Gedankenlosigkeit, Rücksichtslosigkeit, Intoleranz, Schamlosigkeit oder Dummheit sie bedrohen, und keine andere Abhilfe in Sicht ist. Drum halte ich es für falsch, die öffentliche Ordnung aus den Polizeigesetzen zu streichen und auf das Wettbewerbsrecht mit seinen trotz ihrer Geldgier eben doch nur begrenzt einsatzfahigen Abmahnvereinen zu vertrauen. Gewiß! Die öffentliche Ordnung taugt nicht für den Alltagsgebrauch. Aber der Rückgriff auf sie muß möglich bleiben. Sie ist eine Waffe, die der Staat tunlichst nicht gebrauchen sollte, die er aber für den Fall bereit halten muß, daß sie gebraucht wird.
Neuorientierung des Steuersystems durch Einführung einer direkten Verbrauchsbesteuerung an Stelle der traditionellen Einkommensbesteuerung? Von Christian A. L. Rasenack 1. Die Vorstellung, daß der Konsum, dh. also der Aufwand für die tägliche Lebensführung einen geeigneten, wenn nicht den am besten geeigneten Besteuerungsgegenstand abgibt, hat eine lange Geschichte. Freilich nicht in der gegenwärtig diskutierten und vor allem1 von I. Fisher in den 30er Jahren propagierten Form einer (direkten) Ausgabensteuer, die ihr Besteuerungsobjekt als ein Derivat des Einkommens entwickelt (K = Einkommen - Ersparnis) 2. Gemeint ist vielmehr das Akzise-Ideal, das vom Merkantilismus des Absolutismus bis weit in das 19. Jahrhundert hinein mit Hilfe eines Konglomerats aus speziellen (indirekten) Verbrauchs- und Produktionsteuern den Konsum zu erfassen suchte, wo immer er sich zeittypisch zeigte3. Allerdings wurde diese bloß mittelbare Erfassung des Konsums im allgemeinen nur als zweitbeste Lösung angesehen. Der Tradition entsprach es nämlich eher, im Falle eines durch Abgaben zu deckenden Sonderbedarfs das Einkommen oder 4 das Vermögen heranzuziehen - und zwar i.V.m. Schätzungen 1 Lt. J. Popitz, Aufwandsbesteuerung im allgemeinen (direkte und indirekte), in HdBFinWiss 1 Bd. II (1927), S. 198 ff. (203 f.) geht die eigentliche Urheberschaft für eine Ausgabensteuer in der Ableitung aus dem Einkommen allerdings auf K. Elster zurück, vgl. Eine Reichsaufwandsteuer?, in JbNStat, Bd CI (1913) S. 785 ff. sowie Conrads Jahrbücher, Bd. 46 (1913), S. 785 ff. und Bd. 52 (1916), S. 800 ff. Außerdem wäre noch J.A. Schumpeter als ein früher Advokat dieser Steuerart nennen, vgl. den Beitrag: Ökonomie und Soziologie der Einkommensteuer, Der Deutsche Volkswirt Bd. 4 I (1929/30), S. 380 ff. 2 Income in Theory and Income Taxation in Practice, in Econometrica Bd 5 (1937), S. 42 ff. 3 Vgl. dazu F.K Mann, Steuerpolitische Ideale (1937), S. 50 ff. 4 Die Unterscheidung zwischen beidem will lange nicht gelingen, da die große Mehrheit der Wohlhabenden ihr Leben augenscheinlich aus reinem Vermögen bestreitet (dessen Ertragskrafit man als solche nur erahnt), während dort, wo sichtbares Einkommen entsteht, oftmals kein Vermögen vorhanden ist. Entsprechend will z.B. J. Bodin den Steuerpflichtigen u.a. „eu esgard aux biens qu'il avoit" erfassen, wobei der Maßstabsbegriff (Vermögen oder bloße Zahlungsfähigkeit?) allerdings ambivalent bleibt (Les six livres de la République, Paris 4. Aufl. 1579, Buch VI, Kap. II), während es bei Vauban sybellinisch „a proportion de leur revenu et de leur industrie" heißt (zitiert nach
24*
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oder Kontributionen, die von den Ständen einverständlich zu bewilligen waren 5. Entsprechendes legte auch das Verständnis von den ökonomischen Verhältnissen nahe, wie es in der sog. Klassik und Vor-Klassik entwickelt worden ist: Nachdem von den sog. Physiokraten der Grund- und Boden als eigentliche Produktivkrafit entdeckt worden war (Stichwort: Grundrente) und nachdem Adam Smith sowie David Ricardo die anderen Produktionsfaktoren als Kristallisationspunkte der viktorianischen Einkommens- und Kapitalakkumulation hinzugefugt hatten, war es eigentlich eine ausgemachte Sache, daß Steuern wenn sie denn nötig waren - entweder aus dem Einkommen (Ertrag) oder aus dem Vermögen der Wirtschafter bzw. der Volkswirtschaft aufzubringen waren: „Taxes are a portion of the produce of the land and labour of a country, placed at the disposal of the government; and are always ultimately paid, either from the capital, or from the revenue of the country 6 ." Ebenso tendierten die sozial-ethischen Bewertungen bzw. das Gerechtigkeitsgefühl eher in Richtung auf die Besteuerung von Einkommen und Vermögen als auf die Erfassung des Verbrauchs: Einerseits sah man schon damals, daß eine (indirekte) Verbrauchsbesteuerung im Zweifel die Armen höher belastete als die Reichen7. Andererseits ließ sich in Übereinstimmung mit dem Gleichgewichtsdenken der klassischen politischen Ökonomie argumentieren, daß dem (besteuerbaren) Netto-Einkommen ohnehin keine dauerhafte Rechtfertigung zukomme: Denn oszillierend um die natürlichen Preise, die langfristig keinen echten Überschuß ermöglichen sollten, ist der Reinertrag oder das Reineinkommen eine äußerst flüchtige Erscheinung. Warum sollte man dem nicht auch durch die Besteuerung nachhelfen 8? Schließlich war schon im Merkantilismus das (Gewinn-)Einkommen für suspekt gehalten worden. Denn
F.K. Mann (Fn. 3), S. 120) - was natürlich nicht ausschloß, daß auch die Summe der land auf land ab üblichen indirekten Verbrauchsteuern (und vor allem Luxussteuern) für gerechtfertigt gehalten wurde. 5 Dazu das köstliche Zitat bei F.K Mann (Fn. 3), S. 58, in dem der Steuerrat Tenzel (Christianus Teutophilus!) in seinem Traktat „Entdeckte Goldgrube in der Akzise" (1685) die steuerbewilligenden Landtage u.a. deswegen angreift, weil dort „zum öffteren 20, 30 und mehr tausend Thaler verfressen werden". Wie sich die Zeiten gleichen wenn man vom Unterpfand der öffentlichen Verschwendung absieht! 6 D. Ricardo, The Priciples of Political Economy and Taxation, London (1817), Kap. V I I (Einführungssatz) 7 Man beruhigte sich jedoch mit dem Argument, daß trotz der regressiven Belastungswirkung einer jeden indirekten Verbrauchsbesteuerung „reiche Leute (infolge ihrer relativen Verschonung durch eine Verbrauchsbesteuerung) viele arme nähren, und mit ihrem Verlag und Zehrung dem Lande mehr eintragen, als wenn man sie mit Würderung ihres Vermögens abgeschreckt und vertrieben werden", vgl. V.L. v. Seckendorf% Additiones oder Zugaben und Erläuterungen zu dem Tractat des Teutschen Fürstenstaates (1703), S. 203 f., zitiert nach K. Mann (Fn. 3), S. 57. 8 Ähnlich D. Schneider, Einkommensteuer, Konsumsteuer und Steuerreformen der letzten Jahre, in FA Bd. 49 (1991/1992), S. 534 ff. (547 f.).
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wenn man - wie etwa der englische Spätmerkantilist James Steuart - die Preisbildung als ein Ergebnis gegenseitiger Übervorteilung 9 ansah, mußten Einkommen und Vermögen als Derivate derartiger Prozesse ebenfalls fragwürdig erscheinen. Aber die Zeit war noch nicht reif, sich an eine so schwierige Aufgabe wie die Erfassung des Einkommens durch eine umfassende Einkommensteuer heranzumachen. Dem standen nicht nur die Defizite der existenten staatlichen Steuerverwaltungen und ein noch nicht einmal im Ansatz geklärter Einkommensbegriff 0 entgegen. Vielmehr sträubt sich mit dem Ausklingen des Absolutismus als akzeptierter Organisations- und Legitimationsform staatlichen Lebens auch alles gegen das Umfeld, das mit einer Einkommensteuer zwangsläufig verbunden ist. Eine Gesellschaft, die sich allmählich aus der umfassenden Umklammerung der absolutistischen Staatsgewalt zu lösen beginnt, kann es auch nicht dulden, wenn sie ein rationales Steuersystem nur um den Preis eines tiefen Eindringens in die wirtschaftlichen Verhältnisse seiner Steuerbürger (Stichworte: Offenbarung der Buchführung, Amtsveranlagung etc.) bekommen kann. Zudem implizierte die Besteuerung des Konsums in den sich nur langsam wieder erholenden Volkswirtschaften nach dem 30-jährigen Krieg und/oder den napoleonischen Kriegen ohnehin eine Quasi-Erfassung des Einkommens11 - nämlich durch dessen Spiegelbild, den Konsum, und zwar (anders als bei den Kontributionen und Schätzungen) unter gleichzeitiger Schonung des Vermögens. So kommt es dazu, daß der Hoch- und Spätabsolutismus in einem recht ambivalenten Bündnis mit dem entstehenden Bürgertum für ein Bündel von Verbrauchsteuern der unterschiedlichsten Art votiert, indem er die Akzisen als einen Beitrag zu mehr Steuergerechtigkeit feiert - obwohl es ihm politisch lediglich darum ging, ein vom Steuerbewilligungsrecht der Stände unabhängiges Instrumentarium zu gewinnen. Denn natürlich gestatteten die Akzisen anders als die Kontributionen und Schätzungen keine Steuerprivilegien für Adel und Geistlichkeit, waren also in diesem Sinn allgemein. Zugleich erschienen sie gerecht und ökonomisch sinnvoll. Denn wer im Verbrauch - ob nun dem des Individuums oder dem des Staates - immer nur einen letztlich unproduktiven Vorgang 12 sah (weil er zu keiner unmittelbar einsichtigen Mehrung des Vermögens führte), konnte auch von dort her ein Bündel von Verbrauchsteuern gut 9 Dazu W. Hofmann, Sozialökonomische Studientexte (Einkommenstheorie, Bd. 2), 1964/1971, S. 21 f. 10 Einzelheiten dazu etwa bei C. Rasenack, Die Theorie der Körperschaftsteuer (1974), S. 212 ff. oder HG. Ruppe, in: H/H/R, EStG-KStG (1990), Einf. ESt Rdnr. 10 ff. und P. Kirchhof in: K/S, EStG (1992), § 2 Rdnr. A 285 ff. 11 Weil die Neu-Kapitalbildung für die große Mehrzahl der Bevölkerung praktisch ausgeschlossen war und auch im übrigen nur schleppend vorankam, dazu F. Lütge, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 3 (1966), S. 402 f., 421 ff., 454, 459
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rechtfertigen (Stichwort: bloße Verlagerung von ohnehin nutzlosem Konsum). Vollends brauchte man in Zeiten notorischer Verschwendung - ob nun bei den besitzenden Klassen selbst oder den diesen nacheifernden Stutzern - kein Mitleid mit „lustigen und verwegenen Waghälsen (haben), welche der Accise Vermahnung zur Sparsamkeit nicht folgen, sondern frey wacker in den Tag hinein lassen drauff gehen13,,. Und dies hielt auch noch in der anschließenden Epoche des frühen Liberalismus vor: Obwohl nunmehr das Einkommen für die eigentlich vernünftigste Besteuerungsgrundlage gehalten wird, schlägt man auch jetzt noch vielfach eine Verbrauchsbesteuerung (auf breiter Grundlage) vor 14 . Nur bei einem Vertreter der (Spät)Klassik liegen die Verhältnisse anders. Gemeint ist der Beitrag von J.St. Λ//7/15, der trotz seiner grundsätzlichen Übereinstimmung mit dem damals deutlich erwerbsbezogenen utilitaristischen Denken für'eine konsumund nicht eine einkommensorientierte Besteuerung plädiert. Dazu kam er, weil er von einer grundlegenden Andersartigkeit der einzelnen Einkünfte ausging. Lebenszeitbezogenes (terminable) Einkommen (Beamtenbesoldungen, Zeit- und Leibrenten etc.) unterscheidet sich, so geht das Argument, von immerwährendem (perpetual) Einkommen dadurch, daß ersteres anderen Zwängen (necessities) unterliegt als letzteres: Während fundiertes bzw. auf ererbtem Eigentum beruhendes Einkommen keine Vorsorge für das Alter und das Erbe eventueller Kinder erfordert, ist dies bei zeitlich begrenztem Einkommen sehr wohl der Fall. Eine Einkommensteuer, die die diversen Einkünfte ohne Ansehung eines eventuell bestehenden Sparzwanges trifft, hat nun aber den mißlichen Nebenef-
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Deutlich erkennbar z.B. bei D. Ricardo (Fn. 6). passim, in dessen Kapitel (VIII) über die Steuern ab der dritten Auflage dem Begriff Konsum an mehreren Stellen das Adjektiv „unproduktiv" hinzugefugt worden ist. Allgemein dazu auch K. Mann, Abriß einer Geschichte der Finanzwissenschaft, in HdBFinWiss 3 Bd 1 (1977), S. 77 ff. (89) 13 S. wiederum Christianus Teutophilus, zitiert nach K. Mann (Fn. 3). S. 60. Ebenso schon Th. Hobbes, der gleichfalls mit deutlicher Spitze gegen die Verschwendung eine Besteuerung auf der Basis „ o f that which is comsumed" fordert. Nur so „every man payeth Equally for what he useth", Leviathan, London (1651), Teil II Kap. 30. - Zu der sich darin zeigenden neuen Haltung gegenüber Arbeit und Leistung F. Lütge (Fn. 11), S. 374 und 375 ff. 14 S. A. Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London (1776), 5. Buch 2. Kap. 2. Teil (von den Steuern) und dort Steuerregel No 1 einerseits (wo das Einkommen bzw. „revenue" für besonders belastbar gehalten wird) sowie anschließend Art. IV unter der Überschrift Steuern auf konsumierbare Waren bzw. taxes upon consumable Commodilus andererseits (wo in großer Breite die Vor- und Nachteile einer Verbrauchsbesteuerung dargelegt werden) 15 J. St. Mill , Principles of Political Economy (1848), 5. Buch, Kapitel II, § 4. Zur Doppelbesteuerung auch schon W. Petty , Treatise of Taxes and Contributions, London (1662), Kap. 15 sub 12.
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fekt, daß sie das Sparen gegenüber dem Konsum diskriminiert bzw. sogar „doppelt" besteuert: Wer alles sofort konsumieren kann, was er „verdient" hat (weil er nicht Vorsorgen muß), zahlt - unter sonst vergleichbaren Umständen genauso viel (oder weniger) Einkommensteuer wie (als) der, der einen Teil seines Einkommens sparen muß, um später konsumieren zu können (wenn das laufende Einkommen versiegt ist). Und später zahlt eben dieser Sparer noch einmal für das Einkommen, das er ggf. aus dieser Ersparnis erzielt 15 . Muß das nicht als Diskriminierung des Sparens zugunsten des sofortigen Verzehrs gewertet werden - ein Phänomen, das schon den Theoretikern des Merkantilismus wegen der Belohnung von Verschwendung und Müßiggang Kopfschmerzen bereitete? Konsequenz: Nur der zur Verausgabung gelangende Teile des Einkommens sollte besteuert werden, während die Ersparnis von ihr befreit bleiben muß, bzw. indirekte Konsumbesteuerung wie gehabt. Zwar mag man einwenden, daß eine steuerliche Schonung der Ersparnis nunmehr die Armen gegenüber den Reichen diskriminiert. Denn im allgemeinen dürften Wohlhabende die größeren Mittel zum Sparen haben. Dem läßt sich jedoch entgegnen, wie ebenfalls bereits referiert worden ist, daß das Sparen und Wiederanlegen in produktive Bereich schließlich auch die Armen in Brot und Lohn setzen werde 16 . Damit sind die Argumente für eine Besteuerung des Konsums und nicht des Einkommens im Grunde beisammen: • Da das Sparen ökonomische Funktionen besitzt (Kapitalbildung zur persönlichen bzw. Familienvorsorge, Bereitstellung von Produktivkapital), die dem (Augenblicks)Konsum überlegen sind (Verschwendung, mangelnde Produktivität, Gefahr der Kapitalvernichtung), sollte das Sparen steuerlich nicht „diskriminiert" werden; • sozial-ethisch ist dies gerechtfertigt, weil der Sparer ein Opfer erbringt: er verzichtet auf den sofortigen Konsum zugunsten von Vorsorge oder der Schaffung von produktiven Unternehmungen. Demgegenüber ist der Konsument potentieller Verschwender. Letzter Hintergrund der Argumentation ist also die Präferenz für das Sparen gegenüber dem Verbrauch in einer Gesellschaft, die unter chronischem Kapitalmangel leidet und dabei das Sparen fast schon religiös überhöht. Erbringt man nicht große und möglicherweise gott-gefällige Opfer, wenn ein arbeitsames (einkommensreiches) und zugleich sparsames (konsumarmes) Leben ge-
16 v. Seckendorf (Fn. 7): „Bey den Akzisen scheint es zwar, daß die Reichsten am wenigsten geben, in effectu aber schadet solches nichts, sondern es nützte vielmehr, indem reiche Leute viele arme nähren, und mit ihrem Verlag und Zehrung dem Lande mehr eintragen, als wenn sie mit Würderung ihres Vermögens abgeschreckt und vertrieben werden."
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führt wird, damit es der nachfolgenden Generation besser geht bzw. das erforderliche Produktivkapital gebildet werden kann? Daß mit den unterschiedlichen Potenzen zum Sparen unterschiedliche Lebenschancen für die nachfolgenden Generationen entstehen, wird zwar ebenfalls gesehen - beispielsweise vor allem von J.St. Mill· 1. Angesichts des notorischen Harmoniedenkens der klassischen politischen Ökonomie wird aber im allgemeinen davon ausgegangen, daß es zu keinen sozialen Schieflagen kommen werde. Auch bleibt noch unberücksichtigt, daß der Konsum selbst eine wenngleich indirekte, aber durchaus bedeutende Quelle der Kapitalbildung darstellt. Wie wir heute wissen, ist das Sparen in den Haushalten nur die eine Seite der Kapitalbildung. In einer sich zunehmend vermachtenden Wirtschaft ist die Selbstfinanzierung über die Preise dagegen viel gewichtiger (Stichwort: private Besteuerung). Für den weiteren Erfolg einer konsumorientierten Besteuerung wird - das kann man jetzt schon sagen - eine brauchbare Umschreibung der Begriffe Konsum und Sparen daher ebenso entscheidend sein wie die angemessene Berücksichtigung der „sozialen Frage", die durch die forcierte Kapitalakkumulation seit dem 18. und 19. Jahrhundert ein ständiger politischer Zankapfel geworden ist. 2. Wie man weiß, hat die Vorliebe für eine Verbrauchsbesteuerung die Phase des Absolutismus und frühen Liberalismus denn auch nicht 18 überlebt. Bis tief in das 20. Jahrhundert hinein war es vielmehr eine Selbstverständlichkeit, daß Steuern, die an das Einkommen, den Ertrag oder auch das Vermögen anknüpften, einer Konsumbesteuerung - und zwar welcher Art auch immer - in jeder Hinsicht vorgezogen wurden. Woran hat das gelegen? Eine erste, wenn nicht die ausschlaggebende Ursache wird man in der Ablösung der Gleichschaltung von Staat bzw. Fürstenhaus und Individuum im Absolutismus durch den Antagonismus zwischen Staat und Zivilgesellschaft im politischen und wirtschaftlichen Liberalismus der Anschlußepoche sehen müssen: Eine Gesellschaft, die ihre Autonomie (zurück)erkämpft hat, öffnet sich nicht länger - wie zuvor schon die hoch-mittelalterliche Ständegesellschaft dem rechtlich weitgehend unkontrollierten Zugriff auf die gesamte wirtschaftliche Existenz, wie sie sich im Verbrauch zur Lebenshaltung in einer frühen Periode des Wirtschaftens ohne merkliche Kapitalakkumulation offenbarte. Vielmehr kehrt die Vorstellung zurück, daß die Beziehungen zwischen Staat und Individuum in einem Austauschverhältnis 19 begründet liegen, bei denen für die gegenseitigen Inanspruchnahmen Gegenleistungen erbracht werden müssen.
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Er schlägt eine scharfe Besteuerung des Erbfalls und eine Art Bodenwertzuwachssteuer vor, vgl. Fn. 15, 5. Buch, Kap II § 3 i.V.m. 2. Buch, Kap II passim. 18 Zu Ausnahmen (Frankreich) s. F.K Mann (Fn. 3), S. 143
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Wer jedoch die Steuergewalt nicht in einem wie immer beschaffenen ius eminens begründet sieht, sondern in einem Kontrakt zum Schutz oder zur Wahrung der Interessen einer im rechtlichen Sinn autonomen Gesellschaft, muß und das ist der zweite Punkt - über kurz oder lang auch zu einer anderen Besteuerungsgrundlage gelangen: Denn offenkundig lassen sich die Vorteile bzw. Kosten eines Gerichts- oder Polizeiwesens und schließlich die eines stehenden Heeres nicht nach den Lebenshaltungskosten bzw. Konsumgewohnheiten bemessen. Schutz und Vorteilsausgleich CÄquivalenzprinzip bzw. Assekuranzvorstellungen) beziehen sich vielmehr auf die wirtschaftliche Betätigung als solche, also die Produktion und die daraus resultierende Verteilung auf die Produktionsfaktoren. Folglich sind nunmehr die Größe des Haushalts, das Vermögen oder die Erträge und schließlich das Einkommen die geeigneten Maßstäbe zur Messung der Steuerkraft 20 - und dies um so mehr als sich alle genannten Maßstäbe, insbesondere aber der Ertrag und das Einkommen, ebenfalls als Ergebnisse von Marktbeteiligungen ansehen ließen21. Freilich dauerte es noch eine Weile, bis im Zusammenhang mit diesen Überlegungen die ersten wirklich modernen Einkommen- und Vermögensteuern entstehen. Zu stark sind zunächst noch die Vorbehalte, „sich in die Karten schauen zu lassen", dh. den Finanzbehörden, soweit sie dazu überhaupt in der Lage sind, Einblick in die tatsächlichen Verhältnisse von Einkommen oder Vermögen zu erlauben. So kommt es in einer Übergangsperiode lediglich zu einem kruden Bündel von Ertrags-Einkommensteuern, die noch nicht den tatsächlichen, sondern nur einen mutmaßlichen (Soll-)Ertrag etc. erfassen 22. Der weitere Weg ist jedoch vorgezeigt: In dem Maße, in dem die Fähigkeiten zunehmen, das tatsächliche Einkommen und das tatsächliche Vermögen nicht nur auszuweisen sondern auch verläßlich nachzukontrollieren, kommt es unter dem Diktat steigender staatlicher Aufgaben, die nur i.V.m. der Erfassung realer Leistungsfähigkeiten bewältigt werden können 23 , überall in Europa zu
19 Dazu wiederum schon Bodin, der gleich zu Anfang seiner Rechtfertigung der Steuern, seiner sog. siebten (und natürlich subsidiären) Methode der Sicherung der Staatsfinanzen, deutlich assekuranztheoretisch argumentiert, s. Fn. 4, Buch VI, Kap. II. Zur „Tauschwirtschaftlichkeit" im übrigen auch F.K. Mann (Fn. 3), S. 104 ff. sowie derselbe, Abriß einer Geschichte der Finanzwissenschaft (Fn. 12), S. 77 ff. (82) 20 Vgl. auch F.K. Mann (Fn. 3), S. 114 21 und zwar ohne daß dadurch - ganz im Sinne der Ängste und Warnungen aus der Vorperiode - Eingriffe in die Substanz der Einzelwirtschaft oder des Volksvermögens zu befürchten waren: Denn natürlich konnten Reinerträge bzw. Reineinkommen nach den Vorstellungen der früh-liberalen Wirtschaftstheoretiker nur durch Oszillation um die natürlichen Preise entstehen, weswegen die Reproduktionskosten immer garantiert waren, dazu auch Fn 8. 22 Dazu K. Bräuer, Ertragsteuern, in: HdBFinWiss Bd. 2 1 (1927), S. 1 ff. (3 ff.) 23 C. Rasenack, Steuern und Steuerverfahren (1985), S. 12 ff., 16 ff.
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einem Siegeszug der Besteuerung auf der Basis von Einkommen (und Vermögen). Zwar muß gerade im Angesicht steigender Staatsaufgaben alsbald erkannt werden, daß sich die Steuerverteilung nicht länger auf der Basis von Äquivalenzvorstellungen halten läßt: Staatsleistungen zugunsten bedürftiger Bevölkerungsgruppen oder notleidender Wirtschaftssektoren (Stichworte: Interventions- und Umverteilungsstaat), deren Finanzierung wegen der damit einhergehenden Vorteile und Kosten eben diesen Sektoren und Gruppen auferlegt werden müßte, würden sich natürlich selbst ad absurdum fuhren. Inzwischen sind jedoch neue Rechtfertigungsstrategien für die Einkommensbesteuerung auf den Plan getreten, die die „richtige" einkommensteuerliche Belastbarkeit einerseits aus dem Phänomen Einkommen selbst zu erklären versuchen (Stichwort: Grenznutzen-Theorien 24), andererseits einen eher an der Verteilungsgerechtigkeit orientierten Argumentationszusammenhang annehmen (Stichworte: sozialreformerische Spielart des Utilitarismus in England, Kathedersozialismus der Jahrhundertwende in Deutschland25). Gemeint ist das Aufgehen des (einkommen)steuerlichen Leistungsfahigkeitstheorems in die diversen Grenznutzen bzw. sozialethisch inspirierten Opfertheorien, wie sie noch heute weit verbreitet sind 26 : Sieht man die Notwendigkeit (und Rechtfertigung) der Besteuerung nicht länger in zurechenbaren Vorteilen und/oder Kosten für Gegenleistungen sondern in einkommensspezifischen Besonderheiten und/oder der Notwendigkeit einer Korrektur defizitärer gesellschaftlicher Primärverteilungen, dann können die sich daraus ergebenden „Vorteile" nur noch i.S.v. Opfern bzw. Opferfähigkeit umgelegt werden. Denn selbstverständlich ist bei jeder Korrektur und/oder Ergänzung nicht ausreichender gesellschaftlicher Leistungen der einzelne ganz unterschiedlich bevorteilt und belastet. Gleichwohl erscheint eine steuerliche Belastung auch der NichtBevorteilten angemessen, weil bei der Gewährleistung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung nach wie vor jedermann Vorteile empfängt und im übrigen höheres Einkommen ohnehin verzichtbarer ist als niedrigeres.
24
Zu ihrer lehrgeschichtlichen Entwicklung und Kritik z.B. W. Hofmann (Fn. 9), S. 163 ff. 25 Beides i.V.m. der Erkenntnis, daß die Staatstätigkeit im Gegensatz zu früheren Überzeugungen gleichwohl produktiv sein könne (sog. fiscal theory). Dazu u.a. F.K. Mann, in: HdBFinWiss 3 , S. 93 ff. 26 Η Teschemacher, Einkommensteuer in HdBFinWiss 1 Bd. 2 (1927), S. 65 ff. (95 ff.); F.K. Mann, Steuerpolitische Ideale, S. 305 ff.; KH. Ossenbühl, Die gerechte Steuerlast (1972), S. 67 und 79; D. Birk, Das Leistungsfahigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen (1982) S. 14 ff., 37 ff. Zur unterschiedlichen Akzeptanz des Leistungsfahigkeitsgrundsatzes in Rechts- und Wirtschaftswissenschaften: C. Scheer, Steuerpolitische Ideale - gestern und morgen, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik N.F. Bd. 256(1998), S. 155 ff. (176).
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Beinahe schon überflüssig zu sagen, daß bei diesem Stand der Dinge das Konzept einer Verbrauchsbesteuerung weitgehend diskreditiert erscheinen mußte - jedenfalls in der Form, in der sich dieses bislang präsentiert hatte, nämlich in der unpersönlich-proportionalen Erfassung des tagtäglichen Verbrauchs und damit unter Außerachtlassung der Spar- und Investitionsquote: Offenkundiger ließ sich eine evident regressive und damit gegen alle Opferkonzepte verstoßende Besteuerung von Einkommen kaum geißeln27. Außerdem mußte das Argument, daß eine Einkommensteuer den Sektor der Kapitaleinkünfite „doppelt" erfasse, zunehmend verblassen: Denn wer sparte, gewann gegenüber dem Nicht-Sparenden zusätzliches ökonomisches Gewicht. Infolgedessen mußte eine Einkommenssteuer, die u.a. auch auf eine Korrektur der Primärverteilung angelegt war, gerade solche Einkünfte erfassen und nicht von der Steuer befreien 28. Wie man weiß, sind die Hoffnungen, die man auf diese beliebig vertiefungsfähigen Begründungszusammenhänge für die Detail-Strukturen einer ökonomisch „richtigen" und gesellschaftlich „angemessenen" Einkommensbesteuerung gesetzt hat, jedoch längst zerstoben. Einkommen und Einkommen sind in ihrer interpersonalen Wertschätzung nicht gleich. Vor allem entziehen sich Einkünfte von einer bestimmten Höhe bzw. Qualität an jeder „fallenden" Grenznutzenvorstellung (Stichwort: kapitalbildendes Einkommen) 29 . Zugleich untergrub das inzwischen zwar vielfach nur noch lehrgeschichtlich anerkannte, gleichwohl aber fortwirkende Grenznutzenkonzept die sozial-reformatorische Seite des einkommensteuerlichen Leistungsfähigkeitskonzepts: Wer ökonomisches Verhalten quasi-naturwissenschaftlichen bzw. anthropologischen Gesetzmäßigkeiten unterwirft, blendet damit die gesellschaftlich-historischen Hintergründe der Besitzstands- sowie Einkommensbildung30 aus und muß beinahe zwangsläufig zu einer unterschiedslos gleichen Erklärung aller Einkünfte sowie gleichen Rechtfertigung aller Einkommensarten gelangen31. Wie dann
27
Vgl. dazu z.B. die Parteiprogramme der Deutschen Sozialdemokratie von 1869 (Eisenach), 1875 (Gotha) und 1891 (Erfurt), abgedruckt in W. Mommsen (Hrsg.) Deutsche Parteiprogramme 2 (1960), S. 312 ff., 314 ff., 352 ff. 28 P. Mieszkowski, The Choice of Tax Base: Consumption versus Income Taxation, in: Federal Tax Reform, Institute for contemporary studies (Hrsg.), San Franzisko (1978), S. 27 ff. (32 f); J. Lang, Besteuerung des Konsums aus gesetzespolitischer Sicht, in: Konsumorientierte Neuordnung, S. 291 ff. (303) 29 Typischerweise laufen moderne Einkommensteuern daher auch in einem Proportionaltarif aus. 30 Zu ihnen als integraler Bestandteil der Geldrechnung M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie, besorgt von J. Winckelmann, Studienausgabe5 (1972/1985), S. 58 f. 31 B. B. Seligman, Main Currents in Modem Economics, Bd. 2 (The Reaffirmation of Tradition), 1962/1971, S. 257 ff., bes. S. 311 zu J.B. Clark; W. Hofmann (Fn. 9), S. 161 ff.
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aber noch unterschiedliche Qualitäten von Einkommen und die Notwendigkeit von steuerlicher Umverteilung begründen? 3. So kann es nicht verwundern, wenn i.V.m einer nicht abreißenden Literatur zu den defizitären Entwicklungen der modernen Einkommensbesteuerung 32 ein erneuter Paradigmawechsel zur Wünschbarkeit spezifischer Besteuerungsgrundlagen stattgefunden hat. Nachdem, wie bereits angemerkt wurde, gezeigt werden konnte, daß das Konzept einer persönlichen Ausgabenbesteuerung Steuer- und verwaltungstechnisch durchführbar ist 33 , hat es weltweit mehrere Schübe mit dem Ziel der Einführung einer allgemeinen (persönlichen) Ausgabensteuer gegeben34. Welches sind die Hintergründe im einzelnen? Ein erster war soeben genannt worden. Das apologetische Bemühen der Grenznutzenlehre, alle Einkommensarten nach gleichem Muster zu erklären (und zu rechtfertigen), entband langfristig von der Notwendigkeit, Einkommensarten eine unterschiedliche Behandlung aus welchen Gründen auch immer angedeihen zu lassen: Jeder bekam das, was ihm zustand. Zudem waren die Verelendungsvorhersagen des orthodoxen Marxismus offenkundig nicht eingetreten. Im Gegenteil, ab der Mitte des 20. Jahrhunderts zeichnete sich ab, daß das Einkommen obschon keineswegs gleichmäßiger so doch viel ausreichender verteilt wurde, als man sich das lange vorgestellt hatte. Infolgedessen mußte auch in der gesellschaftlichen Realität das Interesse gerade am Einkommen und an seiner ggf. durch die Besteuerung zu korrigierenden ungleichen Verteilung abnehmen. Im Zusammenhang mit der Weltwirtschaftskrise sowie den nachfolgenden weiteren Strukturkrisen der unterschiedlichsten Art - und das ist wohl das eigentlich auslösende Moment - war außerdem erkannt worden, daß das kapitali32 Stichworte: Dualer Einkommensbegriff und Einkommensbegriff überhaupt, Einkommen und Inflation, Überhandnehmen außersteuerlicher Nebenzwecke usw., s. etwa A. Raupach, in: Raupach/Tipke/Uelner (Hrsg.), Niedergang oder Neuordnung des deutschen Einkommensteuerrechts Bd. 1 (1985), S. 15 ff. 33 S. die eingangs unter 1. vorgestellte Konsumformel „ K = E - S". Infolge ihrer Ableitung aus dem persönlichen Einkommen bleibt sie, weil auch die zum Abzug zugelassene Sparquote selbstverständlich eine persönliche ist, insgesamt eine individuelle Bezugsgröße, die demzufolge - je nach den persönlichen Verhältnissen des Verbrauchers und ganz nach dem Vorbild der Einkommensteuer - mit persönlichen Abzügen für das Existenzminimum etc. und einem progressiven Tarif ausgestattet werden kann. 34 Vgl. die Übersicht bei R. Pfeffekoven, Persönliche allgemeine Ausgabensteuer, in: HdBFinWiss 3 (1979), S. 417 ff. (446 f.) und M. Rose (Hrsg.), Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems (1991), passim. In den VS (USA) entspricht dem neuerdings eine verstärkte Parteinahme für unterschiedliche Formen einer Verbrauchsbesteuerung i.V.m. proportionalem Steuersatz und entweder mehrwertsteuerähnlichen Besteuerungsgrundlagen oder einer Kombination von Lohnsteuern und einer Einnahmen/AusgabenUberschußbesteuerung auf der Unternehmensebene, vgl. etwa RG. Hubbard , How Different are Income and Consumption Taxes?, The American Economic Review 1997, S. 138 ff. (138 f.)
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stische Wirtschaftssystem, anders als bis weit über das 19. Jahrhundert hinaus angenommen, nicht notwendigerweise in der Art eines sich selbst regulierenden Systems funktionierte (Stichwort: die „invisible hand" von Α. Smith). Entsprechend rückte man - und zwar vor allem unter dem Einfluß von J.M. Keynes und seinen Nachfolgern - von Erklärungsversuchen ab, die die Wirtschaftsentwicklung auf den Automatismus sich anpassender Teilmärkte zurückführte. Vielmehr nahm man nunmehr eine betont gesamtwirtschaftliche Sicht ins Visier 35. Diskussionsgegenstand war demgemäß nicht mehr die Überlegung, ob z.B. Vollbeschäftigung durch eine Anpassung auf den involvierten Faktormärkten wieder hergestellt werden könnte, sondern ob die insgesamt projektierten Produktionserlöse der Unternehmungen u.a. eine ausreichende Beschäftigungsnachfrage entwickeln würden - oder aber nicht, und dies mit der mißlichen Folge eines Gleichgewichts bei Unterbeschäftigung. Das aber rief wiederum Größen wie Gesamtnachfrage und Gesamtangebot sowie Investition, Sparen und Konsum auf den Plan, weswegen das Einkommen von jetzt an durchgehend in eine Konsum- und eine Sparrate zerlegt wird. Denn natürlich war der Begriff Einkommen ein eher einzelwirtschaftlicher Begriff, während seine Zerlegung in die Begriffe Konsum und Sparen auch makro-ökonomisch instrumentalisiert werden konnte, nämlich als Bezugsgröße für die gesamtwirtschaftlich offenkundig so entscheidende Größe der Produktion. Nur oder doch zumindest von ihrer entscheidenden Stimulation ließ sich infolge der davon ausgehenden allgemeinen Wachstumsfolgen noch Besserung erhoffen. Daher kann es nicht überraschen, wenn diese neue Sicht der Dinge allmählich auch Einfluß auf die praktische Politik nehmen mußte. Verstanden sich Keynes und seine Nachfolger (z.B. R.F. Harrod und E.D. Domar) ohnehin als Wegbereiter einer Denkschule, die den Staat zu mehr Anteilnahme am wirtschaftlichen Geschehen animieren wollte (denn natürlich sind Unterbeschäftigung und säkulare Stagnationen nicht hinnehmbar) 36, so kommt es auch von hier aus zu einem Paradigmawechsel. Ging es in einer Frühphase staatlicher Intervention lediglich um Korrekturen an der primären Einkommensverteilung - sei dies durch direkte Eingriffe oder vermittels einer progressiven Einkommensbesteuerung - so geht es jetzt um die Verantwortung des Staates für das Funktionieren der Wirtschaft insgesamt. Die moderne Einkommensteuer, aber auch andere Steuerarten zeigen zahlreiche Beispielfälle für diese Denkweise37. 35 Zu den sog. Lehren von der Gefährdung des Wirtschaftsprozesses W. Hofman (Fn. 9) (Theorie der Wirtschaftsentwicklung, Bd. 3), S. 176 ff. 36 Dazu etwa B. Seligman (Fn. 31) (The Thrust towards Technique, Bd. 3), S. 730 ff. 37 Für die Einkommensteuer sind z.B. die zahlreichen Sonderabschreibungsmöglichkeiten und die steuerfreien Rücklagen für bestimmte Investitionen zu nennen, aber auch die Einkommensmanipulationen zugunsten der Land- und Forstwirtschaft (Besteuerung nach Durchschnittssätzen) und die Steuerbefreiung für gewisse Vorsorgeaufwendungen.
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Ist indessen Wachstum durch Stärkung der Produktion die Losung des Augenblicks, weil nur durch einen solchen Prozeß ausreichende Erlöse zum Faktorzukauf frei werden, kann man sich auch Gedanken machen, ob der steuerliche Ansatz am Einkommensbegriff noch der richtige ist 38 . Denn so gesehen ist das Einkommen lediglich eine mehr oder minder zufällige Zwischenstufe und zur Bestreitung von Ausgaben bzw. Verbrauch sicherlich unabdingbar. Interessanter ist jedoch die Tatsache, daß Einkommen auch gespart und damit instrumentalisiert werden kann. Denn mit einer kräftigen Sparrate läßt sich möglicherweise ein Beitrag zu Akkumulation und Wachstum durch Investitionen leisten. Nur steht diesem - so geht das neue (alte) Kredo - leider die existente Steuerordnung unnötig, dh. wohlfahrtsbehindernd 39 i.S.d. klassischen Steuerregel von der Wohlfeilheit der Besteuerung entgegen. Allerdings jetzt vorwiegend gesamtwirtschaftlich gewendet. Denn nicht nur behindert die vorherrschende traditionelle Einkommensbesteuerung die Kapitalakkumulation als solche (Stichworte: Besteuerung der Sparbildung und Besteuerung des Einkommens aus der Sparbildung) 40. Vielmehr neigt die traditionelle Einkommensbesteuerung mit ihren punktuellen, dh. sektoralen und vielfach auch kapitaltypbezogenen Investitionsanreizen 41 außerdem dazu, die ökonomisch sinnvolle Kapitalallokation zu behindern 42. Schließlich sagt man, daß dadurch zugleich die Fi-
lm Rahmen der Umsatzsteuer sind es z.B. die Vorsteuerpauschalierungen zugunsten wiederum der Land- und Forstwirtschaft, die im allgemeinen dazu fuhren, daß ftir einen Großteil der land- und forstwirtschaftlichen Umsätze keine Zahllast entsteht. 38 Gut zu erkennen ist diese Vorgehensweise bei JA. Schumpeter (Fn. 1), S. 381, 382 f f , der mit dem Heraufkommen des Interventionsstaates und der allseitigen Vermachtung der Wirtschaft die Bedeutung der Größe Einkommen schwinden sieht, weil diese zur Zufallsgröße wird. 39 Zu den „Effizienzgewinnen", die sich i.V.m. dem Übergang zu einer umfassenden Verbrauchsbesteuerung einstellen können, vgl. etwa A.J. Auerbach, Tax Reform, Capital Allocation, Efficiency, and Growth, in: H.J. Aaron/W.G. Gale (Hrsg.), Economic Effects of Fundamental Tax Reform, Washington, DC (1996), S. 29 ff. oder D. W. Jorgenson, The Economic Impact of Fundamental Tax Reform, in: Μ J. Boskin (Hrsg.), Frontiers of Tax Reform, Stanford (1996), S. 181 ff. Vgl. dazu C. Scheer (Fn. 26) S. 168 und 177, der aus den Stichworten „Entscheidungsneutralität" etc. zugleich ein neues steuerpolitisches Ideal ableitet. 40 So für den Fall der Besteuerung bei Sicherheit und Preisniveaustabilität R. Schwinger, Konsum oder Einkommen als Bemessungsgrundlagen direkter Steuern?, StuW 1994 S. 39 ff. (41 ff. m.w.N.). Weniger eindeutig, aber angeblich immer noch makro-ökonomisch bedeutsam unter der Annahme unflexiblen Sparverhaltens (Stichwort: Sparen aus Vorsorge- bzw. Vorsichtsmotiven) EM. Engen/W. G. Gale, Consumption Taxes and Saving: The Role of Uncertainty in Tax Reform, The American Economic Review, 1997, S. 114 ff. (116 ff. m.w.N.). 41 Stichworte: branchenbezogene bzw. wirtschaftsgutbezogene Sonderabschreibungen und Rückstellungen 42 Vgl. etwa G. Hubbard (Fn. 34), S. 138
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nanzstrukturen der Geschäftswelt in unsinniger Weise verzerrt würden 4 3 . Konsequenz: Der R u f nach Ersetzung der Wachstums- und allokationsfeindlichen Einkommensteuer zugunsten einer direkten Ausgabe- bzw. Verbrauchsteuer w i r d immer häufiger 4 4 - und zwar in zwei Alternativen. Einerseits schlägt man getreu der Formel „ K = E - S" eine sparbereinigte 45 Einkommensteuer auf der Haushaltsebene vor, die zur Vermeidung von Steuerevasionen durch eine Ausschüttungssteuer auf der Unternehmensebene abgesichert w i r d (mit Vollanrechnung für die inländischen Anteilseigner). A n dererseits propagiert man eine zinsbereinigte 46 Einkommensteuer, praktisch also eine Lohneinkommensteuer, der eine Gewinnsteuer zur Seite gestellt wird, bei der die Bemessungsgrundlage freilich so ausgestaltet sein muß, daß die in den Unternehmen erwirtschafteten Erträge erst dann belastet werden, wenn sie die durchschnittliche Marktverzinsung 4 7 des Kapitals übersteigen 48 .
43
S. Fn. zuvor. S. etwa M. Rose, Argumente zu einer „konsumorientierten Neuordnung des Steuersystem", StuW 1989, S. 191 ff. - ein Plädoyer, bei dem man gut beobachten kann, wie die keynsianische Skepsis gegenüber dem segensreichen Walten der Märkte wieder einer latenten Zuversicht in die Selbst-Regulierungskräfte der Wirtschaft gewichen ist: Die neue Lehre vom immanenten Gleichgewicht einer „wachsenden" Wirtschaft (R.M. Solow) macht sich bemerkbar, dazu W. Hofmann (Fn. 9) (Theorie der Wirtschaftsentwicklung, Bd. 3), S. 256 ff. - Zur Debatte in den VS s. letztens die Serie von Kurzbeiträgen diverser Autoren in: The American Economic Review 1997, S. 114 ff. und 138 ff. - Die automatische Korrelation zwischen Sparen, Konsum und Investition ist jedoch nach wie vor nicht unbestritten, s. etwa K. Littmann in seinem Kommentar zu D. Pohmer, Wachstumspolitik versus Verteilungspolitik, in: M. Rose (Hrsg.) Konsumorientierte Neuordnung, S. 217 ff., ab 230 ff. (231 f.). Zu den Wirkungen einer Konsumbesteuerung unter Unsicherheit vgl. auch R. Schwinger (Fn. 40), S. 45 f 44
45
Von Sprachfaulen auch ICF- bzw. „individual-cash-flow" Ansatz genannt, um auf den Ursprung (nicht das Wesen) dieser Konsumsteuerart - den Einnahmenüberschuß hinzuweisen. 46 Hier sprechen Freunde des anglo-deutschen Wissenschaftsslangs zuweilen auch von einem ITP- oder „individual-tax-prepayment" Ansatz, womit zum Ausdruck gebracht werden soll, daß die Kapitalakkumulation bzw. Sparrate, die in diesem Zusammenhang wie bei einer regulären Einkommensteuer belastet wird (da Bestandteil des disponiblen Einkommens!), natürlich noch keinen Konsum darstellt, jedoch wegen ihrer Konsumeignung die entsprechende Steuer schon jetzt tragen kann. Dieser Typ der Konsumbesteuerung gilt i.V.m. einer entsprechenden Gewinnsteuer auf den realwirtschaftlichen Überschuß als die zukunftsträchtigere Alternative einer direkten Verbrauchsbesteuerung. 47 Diese Abgrenzung ist erforderlich, weil im Unternehmensgewinn nicht nur das eingesetzte Kapital sondern z.B. auch der Unternehmerlohn und andere kalkulatorische Faktorbeiträge sowie schließlich der eigentliche Unternehmensgewinn abgegolten wird. 48 Einzelheiten bei P. Mieszkowski (Fn. 28), S. 27. ff. (41 ff.); R. Pfeffekoven (Fn. 34), S. 420 ff. oder Μ Rose, Plädoyer für ein konsumbasiertes Steuersystem, in: Konsumorientierte Neuordnung, S. 7 ff. (9 ff.) und vor allem Ch.E. McLure/G.R. Zodrow, Administrative Vorteile des individuellen Steuervorauszahlungs-Ansatzes gegenüber einer direkten Konsumbesteuerung, in: Konsumorientierte Neuordnung, S. 117 ff.,
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Man merkt es: Grundsätzlich neu ist daran wenig. Schon die Merkantilisten hatten erkannt, daß man mit Hilfe einer Verbrauchsbesteuerung möglicherweise die „Commerden" oder das „Aufnehmen" der Territorien überhaupt befördern kann, weil man die Doppelbesteuerung des Sparens vermied, bzw. - wie es jetzt heißt - indem man die Präferenz der Einkommensteuer zugunsten des sofortigen Verbrauchs 49 korrigiert und damit gegenwärtigen und zukünftigen Konsum gleichstellt. Allerdings wird die Argumentation dadurch verbessert, bzw. auf eine neue Ebene gehoben, daß man - verbunden mit der Annahme, alle Steuern blieben letztlich beim Konsumenten hängen50 - glaubt, nicht ausschließlich auf den Konsum zielende Steuern, vor allem also die traditionelle Einkommen- und Körperschaftsteuer, verursachten durch ihre Fehlplazierung im Gestrüpp der Steuervermeidung und Steuerüberwälzung auch noch „Zusatzkosten": I.V.m. empirischen Studien wird versucht nachzuweisen, daß die intertemporale Ressourcenallokation bei einer umfassenden Einkommensbesteuerung den Preis des Zukunftsverbrauchs unangemessen erhöht und damit zu Wohlfahrts- bzw. Effizienzverlusten fuhrt 51 . Schließlich wird - ebenfalls wie schon bei den Merkantilisten - die Gerechtigkeit einer umfassenden Aufwandsbesteuerung hervorgehoben. Natürlich nicht mehr in dem eingeschränkten Sinn zur Herstellung der Allgemeinheit der Besteuerung oder zum Zwecke der „gerechten" Erfassung der Verschwendung. Vielmehr wird gesagt, daß sie i.V.m. einer Lebenszyklus-Betrachtungsweise den Gegenwartskonsumenten und denjenigen, der den Konsum in die Zukunft verlege, gleich behandele52. Auch sei der Konsum im Gegensatz zu dem ganz unterschiedlich leistungsfähigen Einkommen (Stichworte: fundierte versus
(123 f., 146 ff.) Zu den diversen Erscheinungsformen, die die begleitenden bzw. absichernden Unternehmenssteuern im Konsumsteuersystem inzwischen genommen haben, s. ebenfalls Ch.E. McLure/G.R. Zodrow , ebd. und P. Swoboda , Cash-flow-Steuern und Finanzierungsneutralität, in: Konsumorientierte Neuordnung, S. 473 ff., jeweils m.w.N. 49 Sie wird darin gesehen, daß bei sofortigem Verbrauch nur die Einkommensteuer auf das Einkommen bezahlt werden muß, das jetzt verbraucht wird, während beim Konsum aus Ersparnis nicht nur die Sparrate aus bereits versteuertem Einkommen gebildet werden mußte, sondern jetzt auch noch durch die Einkommensteuer auf das Kapitaleinkommen verkürzt wird. 50 Statt vieler M. Rose (Fn. 48), S. 14 51 Zum Zurückgang der Sparrate i.V.m. der Besteuerung von Einkünften aus Kapitalvermögen etwa P.J. Taubman , On Income Taxes, in: Federal Tax Reform, Institute for Contemporary Studies (Hrsg.), San Franzisko (1978), S. 91 ff. (95) unter Hinweis auf M.J. Boskin , Taxation, Saving, and the Rate of Interest, in Journal of Politici Economy 86. Weitere Literatur bei P.M. Musgrave , Internationale Koordinationsprobleme beim Ersatz einer Einkommens- durch eine Konsumbesteuerung, in: Konsumorientierte Neuordnung, S. 535 ff. (535). Skeptisch dagegen z.B. J.A. Pechman, Federal Tax Policy 3 , Washington D.C. (1977), S. 67 und 122 52 Das „gesamtwirtschaftlich" ausgerichtete Doppelbesteuerungsargument hat also ein „privatwirtschaftlich" gewendetes komplementäres Gerechtigkeitsargument!
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nicht-fundierte Einkünfte, sichere gegenüber unsicheren Einkünften usw.) ein viel realistischerer Gradmesser für die steuerliche Leistungsfähigkeit, weil man aus ihm Rückschlüsse auf die tatsächliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen ziehen könne 53 . Zur Abrundung heißt es dann, nur das Konzept einer umfassenden Konsumbesteuerung, das alle unnötigen Umwegbesteuerungen vermeide (Stichwort: Allein-Steuer-Konzept), vermöge den Steuerbürger in die Lage zu versetzen, seinen finanziellen Beitrag zu den Staatsfinanzen wirklich realistisch abzuschätzen54 und ggf. auch umweltbewußt einzuschränken 55. 4. Es fragt sich, ob und wie dieser ideengeschichtliche status quo in der Propagierung eines Konzepts der direkten Besteuerung des Konsums mit den normativen Regulativen des modernen Verfassungsstaats in Einklang gebracht werden kann. Denn was ökonomisch effizient und wettbewerbsneutral ist und politisch ggf. auch noch besonders transparent erscheint, muß nicht den Anforderungen entsprechen, die traditionell an eine gerechte, sozialverträgliche Besteuerung zu stellen sind. Was zunächst die Zuordnung der Besteuerungsgewalt im Zusammenhang mit einer direkten Konsumbesteuerung im (deutschen) Bundesstaat angeht, so ist sicherlich zu recht gesagt worden, daß die Ausgabesteuer, obschon sie eine aus der traditionellen Einkommensteuer abzuleitende Steuer darstellt (K = E S, also: E als E - S), dennoch keine Einkommensteuer ist. Das Wesen einer Einkommensbesteuerung besteht in ihrem Eingriff in den Prozeß der Verteilung, während eine Ausgabesteuer anläßlich der Verwendung abschöpft 56. Warum eine Ausgabebesteuerung dann aber nicht als eine - wenn auch stark modifizierte - Umsatzbesteuerung i.S.v. Art 105 Abs. 2 i.V.m. Art 106 Abs. 3 GG anerkannt werden kann, erscheint nicht recht plausibel. Argumentiert man aus dem Wesen der Einkommensbesteuerung gegen die Anerkennung einer Ausgabesteuer als Einkommensteuer, sollte man bei der Diskussion derselben Frage für die Zuordnungsmöglichkeiten einer Ausgabesteuer zum Typus Umsatzsteuer nicht die Argumentationsebene wechseln. Ihrem Wesen nach ist die
53
N. Kaldor, An Expenditure Tax, London (1955), S. 47 f. Gegenargument seit je: das Ausgabeverhalten des Geizhalses und des Verschwenders, bzw. - modem - des arbeitslosen Konsumenten! 54 So sog. Public-Choice-Argument. Vgl. auch B. Hardorp, Konsumsteuer und Gesellschaft - zum erforderlichen steuersystematischen Bewußtseinswandel, in M. Rose (Hrsg.) Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems (1991), S. 85 ff., der - ein wenig schwärmerisch - von einer besonderen gesellschaftlichen Akzeptanzwürdigkeit der direkten Konsumbesteuerung ausgeht. 55 Angedeutet bei J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs für mittel- und osteuropäische Staaten (im Auftrag des Bundesfinanzministeriums, 1992), S. 69 56 D. Birk, Verfassungsrechtliche Grenzen der Konsumbesteuerung, in: Konsumorientierte Neuordnung, S. 351 ff. (358 ff.). Zustimmend C. Trzaskalik in einem Kommentar dazu, ebd., S. 366 ff. (367 f.) 25 FS Quaritsch
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Ausgabesteuer wie die (indirekte) Umsatzsteuer ganz eindeutig eine Verbrauchsteuer. Der alleinige Unterschied besteht in der Rechtstechnik (Verkehrsteuer versus personale Konsumsteuer), der in der Tat dazu führt, daß die indirekte Konsumbesteuerung die individuellen, in der konkreten Einkommensverwendung zum Ausdruck kommenden unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten nur unvollkommen berücksichtigen kann. Im Zusammenhang mit den traditionellen umsatzsteuerlichen Befreiungstatbeständen und Tarifvergünstigungen zeigt sich jedoch der klare Willen des Gesetzgebers, lebensnotwendige Leistungsaufnahmen anders zu behandeln als weniger zwangsläufige. Entsprechend wird der pauschale Vorwurf von der inneren Regression einer jeglichen Umsatzbesteuerung nur noch selten erhoben. Kein Wunder. Denn wie der Gesetzgeber die unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten seiner Zensiten berücksichtigt, unterliegt letztlich seiner Typisierungskompetenz. Diese entbindet ihn - i.V.m. einer sachgerechten Begründung 57 von der Notwendigkeit, jeder Differenzierung bis in alle Einzelheiten nachzugehen. Er kann diesen Ansatz - wiederum i.V.m. einer sachgerechten Begründung 58 - indessen ändern. Dann läßt sich jedoch argumentieren, daß eine direkte Verbrauchsbesteuerung lediglich die letzten Hürden zu einer wirklich befriedigenden Berücksichtigung unterschiedlicher verbrauchsteuerlicher Leistungsfähigkeiten nimmt, wie sie im Konzept der Verbrauchsbesteuerung seit je angelegt war. Wie dargelegt, ging es nicht lediglich um die Propagierung einer verwaltungstechnisch leicht beherrschbaren Steuerart mit gewissen ökonomischen Effizienzvorteilen. Vielmehr ging es immer auch um den Nachweis, daß sich auch über eine Besteuerung des Konsums reale steuerliche Leistungsfähigkeiten erfassen lassen59. Aber auch im übrigen, d.h. in Hinblick auf die materiellen Grenzen und sonstigen Vorgaben für die staatliche Besteuerungsgewalt lassen sich rein rechtlich keine Einwände gegen die Einführung einer direkten Ausgabenbesteuerung geltend machen.
57 Stichwort bislang: Verwaltungstechnische Unmöglichkeit, den individuellen Konsum i.V.m. bloßen Aufzeichnungen der Konsumenten zu verifizieren. 58 Stichwort jetzt: Indirekte Ermittelbarkeit des Konsums durch die Formel Κ = E - S, weil die Daten für die Einkommensermittlung vorhanden sind und die Sparrate i.V.m. besonderen Aufzeichnungen festgestellt werden muß oder aber - bei Zinsbereinigung nur die steuerbefreiten Zinseinkünfte neu definiert werden müssen. 59 A.A. die beiden vorstehend zitierten Autoren. Diese Ansicht hat dann allerdings zur Konsequenz, daß infolge der Ungleichartigkeit einer persönlichen Ausgabesteuer gegenüber den in Art 105 GG aufgeführten Bundessteuern die Bundesländer bis zu einer entsprechenden Verfassungsänderung die Gesetzgebungszuständigkeit zur Einfuhrung von individuellen Konsumsteuern hätten.
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Bedeutet der insoweit erstrangig zu beachtende Leistungsfähigkeitsgrundsatz 60, daß der Steuergesetzgeber die unterschiedliche Befähigung seiner Steuerbürger nicht übergehen darf, i.V.m. dem gewählten Steuergegenstand61 nicht denselben Steuerbetrag zahlen zu können, so heißt dies alles zunächst, daß eine persönliche Ausgabesteuer in zumindest typisierender Weise denjenigen Konsum frei lassen muß, der unverzichtbar ist. Dieses Problem ist einkommensteuerlich i.V.m. dem sog. privaten Netto-Prinzip gelöst worden 62 . Wie die einschlägige Konsumsteuer-Literatur nachgewiesen hat, ist dies jedoch auch für eine Ausgabesteuer möglich (und auch im bisherigen Recht der Umsatzbesteuerung bereits weitgehend eingelöst)63. Dasselbe dürfte für die Tarifgestaltung zutreffen, hinsichtlich der auch in diesem Zusammenhang gilt, daß die Befähigung zum individuellen Verbrauch gleichfalls ganz unterschiedliche Opferlagen zeigt und der Gesetzgeber dies entsprechend berücksichtigen muß. Da die Besteuerungsgrundlage „Konsum" infolge der Beeinflußbarkeit der Sparrate viel stärker, als dies bei der Einkommensteuer der Fall ist, in das Ermessen der Steuerpflichtigen gestellt wird, dürften für den Fall der (wohl gebotenen64) Wahl eines progressiven Tarifs i.V.m. Schätzwerten in Hinblick auf den (langfristigen) Konsum allerdings einige Schwierigkeiten auftauchen (Stichworte: allokations- und distributionsschädliche Substitutionsanreize im Verhältnis von Gegenwarts- und Zukunftskonsum 65 , Vermeidung dieser Effekte i.V.m. Methoden der Durchschnittsbesteuerung). Gleichwohl lassen sich unter Leistungsfähigkeitsgesichtspunkten wohl kaum gravierende Einwände gegenüber einer entsprechend ausgestalteten Konsumbesteuerung vorbringen 66.
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Die Einschlägigkeit dieses Grundsatzes außerhalb des Einkommensteuerrechts ist str.. Der Streit ist indessen im großen und ganzen semantischer Art. Denn wegen seiner Ableitung aus dem allgemeinen Gerechtigkeitsprinzip kann natürlich so oder so nicht emstlich zweifelhaft sein, daß jede Form der Besteuerung sachgerecht und dem Besteuerungsgegenstand gegenüber angemessen sein muß. 61 Zu diesen Tipke/Lang, Steuerrecht 14 (1994), § 4 Rz. 92 ff. 62 Tipke/Lang (Fn. 61), § 9 Rz. 42, 68 ff. 63 Vgl. etwa P. Mieszkowski (Fn. 28), S. 40 und R. Pfeffekoven (Fn. 34), S. 424 oder J. Lang, in: Konsumorientierte Neuordnung, S. 321 ff. 64 Zweifelnd zu seiner Notwendigkeit H. Pollack, in: Konsumorientierte Neuordnung, S. 373 ff. (377 f.), anders wohl noch in: Anmerkungen zur Gerechtigkeit der Konsumausgabensteuer, in: FS D. Pohmer (1990), S. 69 ff. (97 ff.). Ähnlich die amerikanische Literatur, die insoweit auf die zu erwartende Verbilligungen für lebensnotwendige Konsumgüter hinweist, vgl. D. Fullerton/D.L. Rogers, Neglected Effects on the Uses Side: Even a Uniform Tax would change Relative Goods Prices, The American Economic Review 1997, 120 ff. (124 f.) und RG. Hubbard (Fn. 34), S. 141. 65 Zu den damit verbundenen Problemen im einzelnen s. H. Pollack in ihren beiden vorstehend zitierten Beiträgen. 66 Offenlassend D. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip, S. 36 und 55 m.w.N.; zweifelnd K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung Bd. II (1993), S. 570 ff. m.w.N. 25*
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Unter distributiven, sozialstaatlichen oder schlicht sozial-ethischen Aspekten ist sodann die Eigenart der Konsumbesteuerung - wie übrigens jeder Verbrauchsbesteuerung - in Rechnung zu stellen, daß sie infolge der Freilassung der Sparrate (einschließlich betrieblicher Investitionen) die Kapitalakkumulation naturgemäß nur in der Hand derjenigen steuerfrei läßt, die dazu befähigt sind. Zwar wird hier gerne entgegnet, daß sich jeder Sparakt irgendwann in Konsum verwandele und dann besteuert werden könne. Vor allem wenn der sog. Generationsansatz67 gewählt wird, kann das indessen beliebig weit aufgeschoben werden. Hinzukommt, daß die Abgrenzung zwischen Sparen und Konsumieren keineswegs ausschließt, daß über die Konsumrate ein indirekter Beitrag zu anderer Leute Sparen und Investieren gemacht wird (Stichwort: Finanzierung über den Preis), ohne daß dies in der Bemessungsgrundlage einer Konsumsteuer angemessen berücksichtigt werden könnte. Konsequenz: Um zu verhindern, daß von einer auf diese Weise favorisierten Schonung der Kapitalbildung sozial unverträgliche Impulse für die Vermögensordnung ausgehen, muß augenscheinlich ein steuerlicher Ausgleich her 68 . Die Vorschläge, die insoweit gemacht werden, sind vielfältig. Sie reichen von einer begleitenden Einkommensteuer auf Ersparnisse oder einer allgemeinen Vermögensteuer bis hin zu einer Vermögenszuwachsbesteuerung am Lebensende bzw. eine entsprechende Erbschaftsbesteuerung oder die Einbeziehung von Erbschaften und Geschenken in die Steuerbemessungsgrundlage von Schenker oder Beschenktem69. Natürlich ist das alles machbar, so daß Vorbehalte gegen eine direkte Verbrauchsbesteuerung aus den hier behandelten Gründen ebenfalls überwunden werden könnten. Allerdings wird durch diese Absicherungen i.V.m. vergleichsweise inkompatiblen Steuerarten das GesamtKonzept einer direkten Verbrauchsbesteuerung nicht gerade gestärkt.
67 Dieser impliziert, daß der Vermögensübergang auf die nächste Generation „definitionsgemäß", dh. i.S.d. Wortbedeutung von Konsum niemals Verbrauch sein kann und deshalb konsumsteuerlich irrelevant zu sein hat - bis er ggf. irgendwann einmal (aber nicht notwendigerweise) zu Verbrauch führt. 68 Ebenso K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung (Fn. 66), S. 572 ff. 69 Für eine Vermögensteuer (allerdings nur unter bestimmten Umständen) z.B. P. Mieszkowski (Fn. 28), S. 32 oder H. Naust, Konsumorientierte Steuerreform, FA Bd. 49 (1991/92), S. 501 ff. (503, 517); für eine (begleitende) Einkommensbesteuerung der Sparrate z.B. J. Lang, in: Konsumorientierte Neuordnung, S. 201 ff. (304 f., 318 f., 330 ff), und wohl auch D. Pohmer, Wachstumspolitik versus Verteilungspolitk, in: Konsumorientierte Neuordnung, S. 219 ff. (226 f.); für eine Reinvermögenszuwachssteuer am Lebensende J. Mitschke, Steuer- und Transferordnung aus einem Guß, Entwurf einer Neugestaltung der direkten Steuern und Sozialtransfers in der Bundesrepublik Deutschland (1985), S. 51 ff.; für die Einbeziehung von Geschenken und Erbschaften in die Konsumbesteuerung von Schenker oder (und?) Beschenktem z.B. P. Mieszkowski (Fn. 28), S. 31 (für den Normalfall) und R A. Musgrave, in Konsumorientierte Neuordnung, S. 35 ff. (44) - eine Fiktion, die H. Naust, aaO., S. 44 in Denver-Klan-Mentalität für „dreist" hält.
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Ähnliche Probleme ergeben sich in Hinblick auf die ökonomische Neutralität einer solchen Besteuerung, juristisch also das Erfordernis, daß eine Konsumbesteuerung den Gleichheitssatz nicht verletzen darf. Zwar erscheint ziemlich gesichert, daß durch eine personalisierte Konsumbesteuerung die für die Einkommensbesteuerung typische Diskriminierung zwischen Sofort- und Zukunftskonsum beseitigt wird, insoweit also Gleichbehandlung angenommen werden kann. Dafür verzerrt eine individuelle Verbrauchsbesteuerung jedoch in viel höherem Maß als jede Einkommensbesteuerung die individuellen Wahlentscheidungen der Steuerpflichtigen zwischen Konsum einerseits und Freizeit bzw. Selbstversorgung andererseits 70. Zwar läßt sich dem nun wieder entgegenhalten, daß mit Ausnahme einer Kopfsteuer, die sozial-ethisch allerdings völlig indiskutabel wäre, keine Steuerart völlig verzerrungsfrei ausgestaltet71 werden kann und die Anfälligkeiten für steuerunterlaufende Wahlentscheidungen sich jedenfalls minimieren lassen. Stichwort: „indirekte" Erfassung von freizeitnahem Konsum usw. durch Differenzierung der Konsumbelastung i.V.m. empirischen Annahmen 72. Ebenso kann der Einwand mangelhafter Sachgerechtigkeit bei der Wahl der Besteuerungsgrundlagen entkräftet werden: Nicht nur hat der Gesetzgeber im Zusammenhang mit den Differenzierungen, die er i.R.d. Leistungsfähigkeitsprinzips vornimmt, also z.B. bei der Wahl zwischen der Bemessungsgrundlage „Einkommen" und der Bemessungsgrundlage „Konsum", weite Beurteilungsspielräume. Vielmehr zeigen die gerade vorgeführten Zwangsläufigkeiten und deren mögliche Überwindung i.V.m. Typisierungen, daß sich der Gesetzgeber sogar im Bereich von natürlichen Sachzwängen befinden würde. Erneut muß man jedoch konstatieren, daß auch eine personalisierte Konsumbesteuerung offenbar keinen Königsweg für die Erfassung steuerlicher Leistungsfähigkeiten aufzeigen kann. 5. Infolgedessen sollten die tatsächlichen Realisationschancen einer direkten Konsumbesteuerung nicht überschätzt werden. • Zunächst ist da ohnehin das Beharrungsvermögen der derzeitigen Mischung aus (indirekter) Verbrauchsbesteuerung und direkter Einkommensbzw. Vermögensbesteuerung in Form der ESt, KSt, GewSt und wohl auch der
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Allgemeine Meinung, s. etwa P. Mieszkowski und P.J. Taubman (Fn. 28 bzw. 51), S. 38 bzw. 96. Der Grund hierfür ist die ungleich höhere Steuerbelastung durch eine Konsumbesteuerung infolge der reduzierten Bemessungsgrundlage. Dies kann vor allem für junge Leute, die in Hinblick auf ihr Einkommen viel verbrauchen und wenig sparen, zu einem Problem werden. 71 Das liegt daran, daß Steuern auf den Freizeitgenuß und häusliche produktive und konsumptive Aktivitäten, die die erwähnten Wahlentscheidungen neutralisieren könnten, ebenfalls inakzeptabel sind bzw. verwaltungstechnisch undurchführbar sein dürften. 72 S. M. Rose, in: Konsumorientierte Neuordnung, S. 25 f.
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ErbschSt. Diese Steuern sind „eingespielt" und haben vielfach längst auf die Bedürfhisse einer Privilegierung des Kapitals und seiner Neubildung Rücksicht genommen - obschon zumeist in einer steuersystematisch anfechtbaren Weise. Deswegen hat z.B. J. Lang zu Recht herausgearbeitet 73, daß eine direkte Verbrauchsbesteuerung - jedenfalls in Ländern mit entwickelten Steuersystemen allenfalls in mehreren Schüben und unter sorgfältiger Verwendung aller brauchbaren Versatzstücke der existenten Steuerordnung eingeführt werden kann. • Sodann ist der Umstand nicht zu übersehen, daß auch eine (personalisierte) Verbrauchsbesteuerung von einem Kranz weiterer Steuern begleitet sein muß, die z.T. ganz anders strukturiert sind als diese74, wenn es zwischen Allokationseffizienz, steuerlicher Gerechtigkeit und administrativer Machbarkeit nicht zu Widersprüchen kommen soll. Wie man weiß, kann eine periodisch auf Kapitalgewinne zugreifende Einkommensteuer die distributiven Defizite indessen ganz gut ausgleichen, die sich i.V.m. der Kapitalakkumulation ergeben, und dabei durchaus allokationsgerecht ausgestaltet werden. Warum dann nicht aus der Not eine Tugend machen und versuchen, die vorhandenen Strukturen der Einkommensteuer mit dieser doppelten Zielrichtung weiter auszubauen bzw. zu verbessern, anstatt den Weg eines völligen Umbaus der Steuerordnung anzuvisieren? • Des weiteren ist Skepsis geboten, wenn man sich gewissen Einzelproblemen bei einem eventuellen Übergang zur Ausgabenbesteuerung zuwendet: - Ein erster Problemkomplex hat mit der Bemessungsgrundlage einer solchen Steuer zu tun und betrifft vor allem die Behandlung von Ausgaben für langlebige Konsumgüter und die Kreditfinanzierung von Ausgaben im Rahmen einer sparbereinigten Konsumsteuer. Systemgerecht ist insoweit, die Konsumausgaben in voller Höhe und - im Falle der Kreditaufnahme - mit Zufluß der Darlehn zu besteuern. Denn was ausgegeben wird, kann nicht gespart werden, und denjenigen Einnahmen, die demnächst ausgegeben werden sollen, stehen jedenfalls zur Zeit keine bemessungsgrundlagenmindernde Ersparnisse gegenüber. Da ersteres - vor allem bei einer progressiven Konsumbesteuerung - zu ernsten Liquiditätsproblemen des
73 in Konsumorientierte Neuordnung, S. 291 ff. passim; ebenso skeptisch C. Scheer (Fn. 26), S. 184 ff. Ähnlich zurückhaltend ist man in den VS bei der Beurteilung der Erfolgschancen einer verbrauchsteuerorientierten Total-Steuerreform, vgl. D.W. Jorgenson/P.J. Wilcoxen, The long-run Dynamics of Fundamental Tax Reform, The American Economic Review 1997, S. 126 ff. (131 f.) 74 Bewertungsprobleme, die der Verbrauchsbesteuerung als Ergebnis einer reinen Überschußrechnung weitgehend fremd sind, müßten z.B. für die Zwecke einer Erbschaft- und Vermögensteuer und auch für den einkommensteuerlichen Zugriff auf den gewerblichen Gewinn weitergeführt werden.
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privaten Investors fuhren kann und im zweiten Fall zu einer Besteuerung vor dem tatsächlichen Konsum, sind also augenscheinlich Ersatzlösungen erforderlich - nämlich eine Besteuerung nach dem Nutzungs- oder Mietwert i.V.m. der mutmaßlichen Dauer der „Investition", im praktischen Ergebnis also auf der Basis von Abschreibungen einerseits, und ggf. eine Nichtberücksichtigung von Zuflüssen aus privaten Kreditaufnahmen andererseits. Folge allerdings: Man hat im großen und ganzen ähnliche Probleme wie bei einem Vorgehen im Rahmen von traditionellen Einkommensteuern. Nebenrechnungen für die Verteilung von Anschaffungs- oder Herstellungskosten müssen geführt, die privaten Kreditaufnahmen müssen zur Sicherung der Besteuerung der Ausgaben aufgezeichnet werden. Ein Teil dieser Probleme kann nun selbstverständlich i.V.m. einer zinsbereinigten Konsumsteuer bewältigt werden. Da diese Spielart der Verbrauchsbesteuerung den Konsum über die Kapitalbildung als Zukunfitsverbrauch erfaßt, bleiben hier Kredit- und Vermögenstransaktionen ebenso außer Betracht wie Zins- oder andere Kapitaleinkommen (und natürlich auch gezahlte Kreditzinsen) - freilich, wie unter 3. dargelegt, immer i.R. einer Normalverzinsung, d.h. einer ggf. gesetzlich festzusetzenden Normalverzinsung. Auch die bei einer sparbereinigten Konsumbesteuerung immer erforderliche Überwachung der Kapitalbildung i.V.m. weiteren zusätzlichen Aufzeichnungen (neudeutsch: qualified accounts) würde entfallen 75. Dafür taucht jetzt jedoch die Mißlichkeit auf, daß eine derartige Verbrauchsbesteuerung den tatsächlich Verbrauch nur noch i.V.m. Vermutungen und Typisierungen erfaßt: Es wird unterstellt, daß alle (Lohn) Einkünfte irgendwann, dh. im Verlaufe des Lebens eines Konsumsteuerpflichtigen auch tatsächlich verbraucht werden. Dies ist für die meisten Steuerzahler sicherlich richtig gesehen. Die Zuflucht zu einer Art Durchschnittsbesteuerung zeigt jedoch, daß man wie bei einer umfassenden Einkommensbesteuerung die „reine Lehre" auch hier nicht aufrecht erhalten kann. Außerdem darf nicht übersehen werden, daß infolge der Nichterfassung von Zinseinkünften und der Eigenart einer jeden Konsumbesteuerung, nur noch auf die Zahlungsströme zu achten, das Problem auftaucht, Zinsen sauber von solchen Zinsbestandteilen zu trennen, die in Wahrheit steuerbare Einnahmen sind (Stichworte: Abgrenzung des (Normal-)Zinseinkommens vom ökonomischen Reingewinn, wie er vor allem bei dynamischen innovativen Unternehmen eintritt [!], teilweise oder volle Substituierung von Arbeitseinkommen durch überbewertete Zahlungen auf Kapitalbeteiligungen, Ersatz der Erfolgskontrollen i.V.m. einer einkommensteuerlichen Gewinnrechnung durch die informationsschwache konsumsteuerliche
75
Einzelheiten bei Ch.E. Mc Lure/G.R. Zodrow (Fn. 48), S. 134 ff.
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Überschußrechnung 76). Ist angesichts derartiger Probleme, die fatal an entsprechende Defizite bei der Einkommensteuerveranlagung erinnern, eine komplette Systemumstellung dann noch der Mühe wert? - Der zweite kritische Punkt betrifft die nicht-steuerbaren persönlichen Freibeträge (Existenzminimum, Vorsorgeaufwendungen, außergewöhnlichen Belastungen) und den Tarif. Für die ersteren sind dieselben Schwierigkeiten wie bei der Einkommensteuer zu erwarten. Einerseits gibt es auch hier die Abgrenzungsproblematik zwischen den gerade unter einer Ausgabensteuer zu besteuernden Aufwendungen für die Lebensführung und den nicht steuerbaren Ausgaben für die Einnahmeerzielung. Andererseits müssen die unter Leistungsfähigkeitsgesichtspunkten zu gewährenden steuerfreien Lebenshaltungskosten so bemessen werden, daß sie die - ohnehin schmalere - Bemessungsgrundlage nicht noch weiter aushöhlen. Für die Tarifproblematik gilt schließlich, daß infolge der bereits erwähnten relativen Gestaltungsfreiheit bei den Aufwendungen für die private Lebenshaltung wohl nur eine Tarifgestaltung in Betracht kommt, die den Verbrauch mehr oder weniger i.S. einer Durchschnittsbesteuerung des Konsums an Hand der Verbrauchsfolgen mehrerer Jahre mittelt 77 - beides sicherlich erneut keine besonderen Pluspunkte für die Einführung einer personalisierten Verbrauchsbesteuerung! - Ein besonders gravierender dritter Problemkreis hat sodann mit den internationalen Auswirkungen anläßlich der Einführung einer persönlichen Verbrauchsbesteuerung zu tun. Angesprochen ist damit das Thema, daß jede Verbrauchsbesteuerung der hier skizzierten Art - jedenfalls soweit sie im Alleingang durch einen einzelnen Staat eingeführt wird - auf ein (internationales) Umfeld stößt, das im großen und ganzen durch nicht-kompatibele Steuern geprägt ist, vor allem also durch das Vorhandensein von Einkommensteuern (mit oder ohne besondere Körperschaftsteuer). Die Schwierigkeiten beginnen schon damit, daß nicht geklärt ist, ob eine persönliche Verbrauchsbesteuerung in die etablierten Steuerstrukturen der existenten Doppelbesteuerungsabkommen hereinpaßt oder nicht 78 . So oder so 76 Dazu und zu weiteren Einzelheiten m.w.N. W.F. Richter in seinem Kommentar zu Ch.E. McLure/G.R. Zodrow (Fn. 48), S. 170. 77 Dazu etwa H. Pollak, Gestaltungs- und Folgeprobleme progressiver Ausgabensteuertarife, in Konsumorientierte Neuorientierung, S. 373 f f 78 Dementsprechend ist str., ob ein Land mit umfassender Körperschaftbesteuerung eine Anrechnung von Unternehmensteuern i.R. einer Ausgabenbesteuerung zulassen sollte, vgl. P. Musgrave, in Konsumorientierte Neuordnung, S. 535 f f (564 m.w.N.). Vgl. auch S. Josef/H.J. Vollrath (Hrsg.), Anwendbarkeit des internationalen Steuerrechts bei Einführung einer Ausgabensteuer ( 1991 ), passim.
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müßten derartige Abkommen jedoch wohl neu verhandelt bzw. überhaupt erst abgeschlossen werden, wenn sich ein Staat zu der Einführung eines konsumorientierten Steuersystems entschließt und nicht gravierende steuerliche Doppelerfassungen oder Gegenreaktionen in Kauf nehmen will (Stichworte: Wohnsitz- bzw. Sitzbesteuerung des vollen Einkommens i.V.m. dem Weltprinzip und/oder Devisenkontrollen etc. bei „steuerlicher Auswanderung" 79 ). Des weiteren ist in Rechnung zu stellen, daß eine personalisierte Ausgabensteuer, und zwar auch wenn sie auf der Unternehmensebene mit einer Dividenden- oder Gewinnsteuer kombiniert wird, infolge der Steuerbefreiung der Kapitalakkumulation durch Normalverzinsung Sog-Wirkungen auf das Kapital in solchen Ländern ausüben würde, die die inländische Kapitalverwertung mit Hilfe einer Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer belasten80. Denn selbst wenn die in einem Konsumsteuer-Land erzielten und anläßlich ihrer Rücküberweisung in das Einkommensteuer-Land mit Kapital- oder Dividendensteuer bzw. (fiktiven) Konsumsteuer belasteten Gewinne 81 dort von dieser Belastung durch Anrechnung etc. grundsätzlich frei gestellt werden, so muß das doch keineswegs so sein 82 . Außerdem bleiben die im Einkommensteuer-Land selbst erzielten Gewinne so oder so einkommen- bzw. körperschaftsteuerlich erfaßt. Konsequenz: Kapital wird sich entgegen dem Gebot der Allokationsneutralität möglicherweise dort festsetzen, wo es allokativ nicht optimal eingesetzt werden kann. Eine rationale Abwehrmaßnahme kann nun darin bestehen, daß Staaten mit einem Einkommen- bzw. Körperschaftsteuersystem selbst zu einer persönlichen Konsumsteuer übergehen oder - bei dem gegenwärtigen internationalen Trend allerdings eher unwahrscheinlich - mit einer Kontrolle der Kapitalströme antworten bzw. sich sonstwie - ggf. auch kollektiv - abschotten (Stichwort: Hinzurechnungsbesteuerung). Das kann für Länder, die - wie z.B. Entwicklungsländer - auf den Zustrom von Kapital angewiesen sind, unangenehme Begleitumstände nach sich ziehen. Einerseits wird der erwartete Kapitalzustrom ausbleiben oder zurückgehen, und zwar vor allem wenn sie selbst i.V.m. einem einkommensorientierten Steuersystem besteuern. Andererseits wird das ange-
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Dazu z.B. Reform der internationalen Kapitaleinkommenbesteuerung, Schriftenreihe des BMF Heft 65 (1999), S. 79 ff. 80 R. Goode, in: FS D. Pohmer, S. 87 ff. (97 f. m.w.N.) 81 Eine solche Besteuerung ist auf jeden Fall angezeigt, wenn es sich um den Typ der sparbereinigten Konsumsteuer handelt, weil die „Kontrolle" über das weitere Schicksal des rückfließenden Kapitals verloren geht. Im Falle einer zinsbereinigten Konsumsteuer i.V.m. entsprechender Gewinnsteuer auf der Unternehmensebene ist der Zwang zu einer solchen Besteuerung dagegen weniger dringlich. 82 Dies ist der Fall, wenn es keine Anrechnungsvor- und/oder Rückträge gibt. Darauf hat z.B. K. Vogel in seinem Kommentar zu P. Musgrave (Fn. 51), zu Recht hingewiesen, s. Konsumorientierte Neuorientierung, S. 572 f.
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sichts niedrigen pro-Kopf-Einkommens ohnehin schon niedrige entsprechende Steueraufkommen noch zusätzlich abnehmen, wenn in Reaktion hierauf ebenfalls eine Konsumsteuer eingeführt werden sollte. Denn deren Bemessungsgrundlage ist natürlich grundsätzlich schmaler als die einer Einkommensteuer 83. Ähnliches kann auch in Hinblick auf die Auswirkungen einer Ausgabenbesteuerung auf die Konsumgewohnheiten eintreten - jedenfalls soweit es sich um eine sparbereinigte Konsumsteuer handelt. Da hier erst anläßlich des Entsparens besteuert wird, werden die Steuerpflichtigen versucht sein, ihren Konsum in das Ausland zu verlegen, sofern dort lediglich eine Einkommensteuerund/oder eine geringe Verbrauchsteuerbelastung besteht84. Zwar stehen derartigen Manipulationen die in diesem Zusammenhang zu führenden inländischen Aufzeichnungsverpflichtungen entgegen - jedenfalls im Grundsatz (s.o.). Angesichts der Mobilität des Kapitals und der diesen Tatbeständen gegenüber zumeist machtlosen Finanzbehörden bedarf es jedoch wenig Vorstellungskraft sich zu vergegenwärtigen, wie sich das in der Praxis darstellen wird. - Der vierte und letzte kritische Punkt betrifft schließlich die eigentlichen Übergangsprobleme bei einer Wende zur Konsumbesteuerung. Er ist ähnlich delikat wie der vorherige. Denn wie bei jeder Steuerreform geht es nicht nur um die Meriten des einzuführenden Systems als solchen sondern, was leicht übersehen wird, immer auch um die zusätzlichen Probleme, die sich daraus ergeben, daß das neue System ein bestehendes ablöst und dabei unweigerlich Unruhe stiftet. Da ist zunächst der Umstand, daß das bei einem Übergang zur Konsumbesteuerung vorhandene (Alt)Kapital aus (einkommens-) versteuertem Einkommen gebildet worden ist. Wird die Kapitalbildung im Rahmen des neuen Steuersystem nunmehr erst besteuert, wenn es im Rahmen einer sparbereinigten Einkommensteuer verbraucht wird, so werden die entsparenden Alteigentümer anläßlich ihres Konsums nochmals besteuert , während das in Hinblick auf die später Ansparenden nicht der Fall ist. Wenn insoweit nicht Übergangsregelungen vorgesehen werden, kann eine Konsumbesteuerung also - ironischerweise zu einer Doppelbelastung und - vielleicht gravierender noch - zu einem Wertverlust bei Altkapital führen 85 . Wird dagegen i.d.F. einer zinsbereinigten Einkommensteuer bzw. Lohnsteuer besteuert, so ist dies u.U. ein Glücksfall für die
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Darauf macht zu Recht P. Musgrave , (Fn. 69) S. 464 aufmerksam. Ebenso: Reform der internationalen Kapitaleinkommenbesteuerung (Fn. 79), S. 77. 84 Ebenso H.G. Ruppe (Fn. 15), Rdnr. 46 a.E. 85 Vgl. dazu auch R.E. Hall , Potential Disruption from the Move to a Consumption Tax, American Economic Review 1997, S. 147 ff. (148 f. m.w.N.) und P.M. Taylor , Developing Policy Analysis of Fundamental Tax Reform, The American Economic Review 1997, S. 133 ff. (134 m.w.N.)
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sog. ältere Generation, sofern man annimmt, daß diese kein steuerpflichtiges Einkommen mehr bezieht86. Schließlich läßt sich all dem noch ein allgemeines allokationskritisches Argument hinzufügen. Es betrifft das Verhältnis der kapitalintensiven Industriezweige im Verhältnis zu den arbeitsintensiven (innovativen) und damit letztlich das Verhältnis von Kapital und Arbeit (Innovation). Denn wenn es richtig ist, daß eine allgemeine Verbrauchsbesteuerung die Kapitalkosten senkt, so ist es ebenso richtig, daß dann die Rentierlichkeit von arbeitsintensiven Betrieben gegenüber eher kapitalintensiven fällt 87 . Man wird es kaum Schwarzmalerei nennen können, wenn man dann auch insgesamt negative Konsequenzen für den Faktor Arbeit annehmen muß. 6. Fazit: Trotz ihrer zahlreichen attraktiven Züge geht man darum wohl nicht fehl, wenn man annimmt, daß eine personalisierte (aber auch jede andere Form der) Konsumbesteuerung wenig Chancen hat, in absehbarer Zeit irgendwo auf der Welt flächendeckend eingeführt zu werden 88. Denn abgesehen von noch mimer nicht gelösten Problemen bei der administrativen Implementation erscheinen auch die möglichen Auswirkungen auf die internationalen Kapitalströme angesichts der starken Präsenz nicht-kompatibler Steuersysteme und schließlich die eigentlichen Übergangsprobleme doch zu schwerwiegend 89. Da die gegenwärtigen Plädoyers zugunsten einer Konsumorientierung der Besteuerung vor allem auf die intertemporale Effizienz der Ressourcenallokation in Gefolge einer derartigen Neuorientierung abheben, sind die zuletzt erwähnten Auswirkungen auch besonders gravierend: Man würde die erhofften internen Wohfahrtsgewinne durch höchstwahrscheinliche externe Wohlfahrtsverluste gefährden - angesichts der Liberalisierung von Handel und Wandel weltweit keine sehr attraktive Alternative. Auch ist die Aussicht auf mögliche Konflikte zwischen den Faktoren Arbeit und Kapital nicht gerade ermutigend. Freilich bleibt ein gutes Argument für die isolierte Einführung von Konsumsteuersystemen des Sparbereinigungstyps in solchen Ländern bestehen, in denen institutionelle Widerstände von funktionierenden Besteuerungsbestandteilen des Einkommensteuertyps nicht existieren. Daß dieser Konsumsteuertyp in 86
Dazu D. Fullerton/D.L. Rogers (Fn. 64), S. 120, 123 So D. Fullerton/D.L. Rogers (Fn. 64), S. 123. Zur Diskriminierung innovativer Betriebe: Reform der internationalen Kapitaleinkommenbeteuerung (Fn. 79), S. 78. 88 Sehr zurückhaltend in der Bewertung der präsumtiven Vorteile eines Konsumsteuersystems denn auch seit je RA. Musgrave/P.B. Musgrave, in ihrem viel gelesenen Standardwerk Public Finance in Theory and Practice 5, Neu York etc. (1989), S.226, 408 und R.A. Musgrave in: Konsumorientierte Neuordnung, S. 46 f. sowie neuerdings i.V.m. makroökonomischen Vergleichsanalysen D.W. Jorgenson/P.J. Wilcoxen (Fn. 73), 126 ff., insbes. S. 131. 89 Ähnlich m.w.N. H. Naust (Fn. 69), S. 531 f. Skeptisch auch: Reform der internationalen Kapitaleinkommenbeteuerung (Fn. 79), S. 81 und 81 f. 87
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einer Umgebung ohne eingefahrene Traditionen und vor allem auch ohne etablierte „steuerliche Besitzstände" relativ erfolgreich administriert werden kann, zeigen die bislang gesammelten Erfahrungen in einigen ehemaligen Ostblockländern 90. Angesichts des Fehlens einer entsprechenden einkommensteuerorientierten Steuerordnung gibt es allerdings auch keine Vergleichsmöglichkeiten. Zudem ist damit das Problem der Folgewirkungen einer isolierten Einfuhrung von Konsumsteuern in einer nicht-kompatiblen internationalen Steuerordnung nicht aus der Welt geschafft.
90 Gemeint ist vor allem Kroatien, wo mit Hilfe der GTZ Eschborn und externer Gutachter, Berater und Projektbetreuer Teilstücke eines Ausgabensteuersystems etabliert worden sind, vgl. M. Rose, Konsumorientierung des Steuersystems - theoretische Konzepte im Lichte empirischer Erfahrungen, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik N.F., Bd. 256 (1998), S. 247 ff. (255 ff., 259 ff.).
Engagement, Leidenschaft, Fanatismus Bemerkungen auch zu Wissenschaft, Publizistik und Politik Von Ingo von Münch Wer zählt die Reden, die in Deutschland in jedem Jahr, in jedem Monat, in jeder Woche, an jedem Tage gehalten werden?1 Niemand. Es gibt auch nur wenige Reden, die zählen. Eine solche, vielleicht die wichtigste Rede dieses Jahres, hat der Schriftsteller Martin Walser anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an ihn am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche gehalten2. Wegen dieser Rede wurde Martin Walser vom Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, als „geistiger Brandstifter" gescholten. Ignatz Bubis hat diese Worte nicht impulsiv gebraucht, sondern später wiederholt. Er wußte, oder zumindest konnte er wissen, daß seine Charakterisierung von Martin Walser als „geistigem Brandstifter" wenige Wochen vor dem Gedenken an die Pogrome des 9. November, also der Brandstiftungen der SA an den Synagogen, eine besondere Gedankenassoziation hervorrufen mußte. Die Sätze in der Rede von Martin Walser, die Ignatz Bubis zu seinem Verdammungsurteil veranlaßten, sind seither häufig zitiert worden; sie lauten: „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch solche Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität Lippengebet. Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein normales Volk, eine gewöhnliche Gesellschaft". Martin Walser weiter: „In der Diskussion um das Holocaustdenkmal in Berlin kann die Nachwelt einmal nachlesen, was Leute anrichteten, die sich ftir das Gewissen von anderen verantwortlich fühlten. Die Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit einem fußballfeldgroßen Alptraum. Die Monumentalisierung der Schande. Der Histo-
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Kritisch zur Redenflut Birgit Berg: Lose Worte, Koblenz o.J., S. 49: „Bei manchen Anlässen wäre es passender, die Redner legten statt der Kränze die Manuskripte nieder." „Sonntagsredner - man sollte dringend das Ladenschlußgesetz auch auf Kinnladen ausdehnen." „Ich wäre gern stinkreich: um allen Festrednern ein Schweigegeld zahlen zu können." 2 Text der Rede von Martin Walser und der Laudatio von Frank Schirrmacher: Martin Walser: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998, Frankfurt am Main 1998.
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riker Heinrich August Winkler nennt das „negativen Nationalismus". Daß der, auch wenn er sich tausendmal besser vorkommt, kein bißchen besser ist als sein Gegenteil, wage ich zu vermuten. Wahrscheinlich gibt es auch eine Banalität des Guten."3 War die - inzwischen vieldiskutierte 4 - Rede von Martin Walser eine engagierte Rede, eine leidenschaftliche Rede oder gar eine fanatische Rede? Noch wichtiger: War die Gegenrede von Ignatz Bubis engagiert, leidenschaftlich oder fanatisch? Oder ist der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland kraft seines Amtes immun gegen den Vorwurf des Fanatismus? Kann der Papst fanatisch sein? Kann nicht nur, sondern muß ein Schriftsteller in seiner Schreibe und Rede vielleicht leidenschaftlich sein, zumindest engagiert, aber nie fanatisch?
I. Engagement Das aus der französischen Sprache stammende Wort sich „engagieren" kann auf zweierlei Weise verstanden werden: einmal im Sinne von etwas tun, wozu man nicht verpflichtet ist, zum anderen im Sinne von etwas tun, wozu man verpflichtet ist, dies aber mit Einsatz, Freude, Eifer. Im ersten Sinne, also etwas zu tun, wozu man nicht verpflichtet ist, ist das Wesen ehrenamtlicher Tätigkeit 5 . Ehrenamtliche Tätigkeit ist in der Regel unbezahlt. Eine geringfügige Vergütung hebt den Charakter als ehrenamtlich nicht auf. So ist z.B. darauf 3
s.o. Fn. 2, S. 20. Beiträge zu dieser Diskussion z.B. von Klaus von Dohnanyi: Eine Friedensrede. Martin Walsers notwendige Klage, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 265 vom 14.11.1998; Antwort darauf von Ignatz Bubis: Ich bleibe dabei. Bubis antwortet Dohnanyi, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 266 vom 16.11.1998, S. 45; Erwiderung von Klaus von Dohnanyi: Wir sind verletzbar, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 267 vom 17.11.1998, S. 43; Klaus Podak: Wir sind alle verletzbar. Fehde statt Frieden; zum Streit um Martin Walsers Rede, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 266 vom 18.11.1998; Mariam Lau: Walser mit sich selbst allein. Wer unbeschönigt Zeugnis geben will, spürt die Macht der Bekenntnisfeuilletons, in: Die Welt vom 19.11.1998, S. 11; Richard von Weizsäcker: Der Streit wird gefahrlich. Mußte Walser provozieren?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 270 vom 20.11.1998, S. 41; Rafael Seligmann: Endlich streiten wir uns. Walser contra Bubis: Der deutsch-jüdische Dialog befreit sich aus dem Angstghetto, in: Die Welt vom 21.11.1998, S. 11; Christian Meier, Vielleicht gar ein Beitrag zur Erinnerung. Jedes Gedenken an Auschwitz ist unzulänglich: Walser und Bubis leisten Arbeit an der Vergangenheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 272 vom 23.11.1998, S. 51; Michael Friedmann: „Der Streit über das Erinnern wird gefährlich." Michael Friedmann kritisiert den neuen Umgang deutscher Intellektueller wie Martin Walser oder Klaus von Dohnanyi mit der Nazi-Vergangenheit, in: Die Welt vom 23.11.1998, S. 4. 5 Allgemein zur Frage von Bürgerengagement Otto Depenheuer: Bürgerengagement und Bürgerverantwortung: Was kann der einzelne für sein Gemeinwesen leisten und 4
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hingewiesen worden, daß der von der neuen Bundesregierung ursprünglich geplante Wegfall der sozialversicherungsfreien 620-Mark-Jobs den Sportvereinen „eine wichtige Grundlage" entziehe; das unterdrücke Eigenverantwortung von Menschen, die sich ftir geringes Entgelt ftir gemeinschaftliche Belange einsetzten6. Eine solche ehrenamtliche Tätigkeit kann in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen stattfinden, etwa in karitativen Organisationen, in kulturellen Vereinigungen, im kirchlichen Bereich, in der Jugendpflege, in Heimatvereinen, im Naturschutz 7, in der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft, in Sportvereinen und nicht zuletzt auch in politischen Parteien, in denen - gemessen an den vielen ehrenamtlich tätigen Mitgliedern - nur ganz wenige bezahlte Kräfte angestellt sind. In den 27 000 deutschen Fußballvereinen, in denen es jedenfalls nach der Vorstellung des Deutschen Fußballbundes nicht nur um sportliche Leistung geht, sondern auch um soziale Verantwortung, sind eine Million Ehrenamtliche tätig 8 . Insgesamt betätigen sich allerdings nur 14 Prozent der Deutschen ehrenamtlich, während es z.B. in den Niederlanden 40 Prozent sind9. Die Ursache ftir das geringe Engagement in Deutschland wird in mangelnder Wertschätzung des Ehrenamtes gesehen sowie in veralteten Verbandsstrukturen, die nicht mehr mit der veränderten Arbeitswelt harmonierten. Berufstätige Menschen würden oft zeitlich überfordert. Interessant ist dabei aber, daß einerseits das geringe ehrenamtliche Engagement in Deutschland beklagt, zugleich aber vor der Tendenz gewarnt wird, durch Ehrenamtliche immer mehr bezahlte Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst - vor allem in der Kultur- und Sozialarbeit - zu ersetzen. Dies sei - so die Friedrich-Ebert-Stiftung - Mißbrauch.
was nicht?, in: Friedhelm Hilter haus/Rupert Scholz, Rechtsstaat - Finanzverfassung Globalisierung. Neue Balance zwischen Staat und Bürger, Veröffentlichung der Hanns Martin Schleyer-Stiftung, Bd. 51, Köln 1998, S. 175 ff. - Praktische Vorschläge macht Warnfried Dettling, Ehrenamt in der Bürgergesellschaft - Ein neues Leitbild für freiwilliges soziales Engagement, in: Politische Studien, Sonderheft 1/1999, S. 101 ff. 6 So der Sportsprecher der CDU/CSU-Fraktion Klaus Riegert; zit. nach Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 265 vom 14.11.1998, S. 31. - Die 620-Mark-Jobs sind heute 630-Mark-Jobs. 7 Eine Darstellung der ehrenamtlichen Tätigkeiten im deutschen Naturschutz gibt Wolfgang Geiß: Naturschutz in der Mitverantwortung von Bürgern, Frankfurt/M. 1998. 8 Zahlenangabe vom Vizepräsidenten des DFB, Theo Zwanziger:; er spricht von dieser Million Ehrenamtlicher als „den schlechtestbezahlten Sozialarbeitern der Nation" (zit. nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 265 vom 14.11.1998, S. 32). 9 Diese und die folgenden Angaben sind einem Bericht der Friedrich-Ebert-Stiftung entnommen (vgl. dazu: Das Bürger-Engagement läßt zu wünschen übrig - EbertStiftung fordert Reform ehrenamtlicher Arbeit, in: Die Welt vom 8.8.1998, S. 5). Skeptisch zur Verläßlichkeit solcher Zahlenangaben Ursula Mathieu, Fakten und Erkenntnisse zum ehrenamtlichen und freiwilligen Engagement, in: Politische Studien, Sonderheft 1/1999, S. 41 ff.
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Dem muß man aber wohl entgegenhalten: Man kann nicht beides unberührt haben wollen - das Ei und das Omelette. Wenn die ehrenamtliche Tätigkeit nicht überflüssige Arbeiten verrichtet, berührt sie naturgemäß den Bereich des öffentlichen Dienstes: Der „Job" der Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr ersetzt Arbeitsplätze in der Berufsfeuerwehr. Trotzdem kann auf die Freiwillige Feuerwehr unter gar keinen Umständen verzichtet werden. Sich-Engagieren ist aber nicht auf eine regelmäßige und geregelte ehrenamtliche Tätigkeit in einer Organisation oder Initiative beschränkt. SichEngagieren kann auch bedeuten: Verantwortung übernehmen in vorhandenen sozialen Strukturen, also z.B. sich kümmern um Nachbarschaft, um die Gemeinde, ja sogar um die eigenen Familie. Aus den USA kommt nicht der Kommunismus, wohl aber seit etwa Anfang der achtziger Jahre der Kommunitarismus 10. Die Philosophie des Kommunitarismus geht von einer kritischen Zustandsbeschreibung der derzeitigen Gesellschaft aus; diese werde geprägt durch eine „zunehmende Individualisierung, Atomisierung und Entsolidarisierung der Menschen, die zu Entfremdung, Isolierung und Fragmentierung" führe. 11 Als Abhilfe setzt der Kommunitarismus auf Gemeinschaften. Die Philosophie des Kommunitarismus ist, wenn man seine verschiedenen einzelnen Spielarten zusammenfassend skizzieren will, eine Gemeinschaftsphilosophie. 12 „Demzufolge ist die Identität des einzelnen Bürgers ein Ergebnis seiner Mitgliedschaft in einer identitätsbildenden Wertegemeinschaft." 13 Moral und Werte (in Deutschland würde man sagen: Grundwerte) 14 spielen im Kommunitarismus eine zentrale Rolle.
10
Das Schrifttum zum Kommunitarismus ist inzwischen fast unübersehbar. Neuere Angaben dazu bei Winfried Brugger. Kommunitarismus als Verfassungstheorie des Grundgesetzes, in: Archiv des öffentlichen Rechts Bd. 123, 1998, S. 337, Fn. 1. " Winfried Brugger (s.o. Fn. 10), S. 338/339. - Vgl. auch Walter Reese-Schäfer, Kommunitaristisches Denken - ein angelsächsischer Sonderweg oder auch für uns eine hilfreiche Antwort auf Globalisierungserscheinungen?, in: Politische Studien, Sonderheft 1/1999, S. 55 ff. 12 „Man redet wieder vom Gemeinwohl'4 - so beginnt Bernhard Sutor seinen Beitrag: Traditionelles Gemeinwohl und liberale politische Theorie, in: Theorie und Praxis. Festschrift für Nikolaus Lobkowicz, Berlin 1996, S. 155. Dort auch (S. 206 ff.) Lothar Waas: Gemeinwohl mit oder ohne Gemeinsinn? Die Liberalismus/KommunitarismusKontroverse und der Streit um die „Bienenfabel". 13 So die Beschreibung von Jens Waltermann: Warnung vor aufgedrängter Gemeinschaft - Ein Zuruf aus der neuen Welt (des Kommunitarismus), in: Georg Chatzimarkakis/Holger Hinte (Hrsg.), Freiheit und Gemeinsinn. Vertragen sich Liberalismus und Kommunitarismus?, Bonn 1997, S. 65-66.
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Auch in Frankreich, so wird berichtet, hat der Gemeinschaftsgedanke Auftrieb, und zwar erstaunlicherweise bei der Avantgarde der Gesellschaftskritik hier unter der Fahne des Republikanismus: „Das Individuum, unlängst noch Held der kühnsten Freiheitsträume, soll als Gesellschaftsakteur ausgewechselt werden durch jene Figur, für welche die französische Sprache das stolze Wort „citoyen" bereit hält, die aber auch anderswo im Kommen ist." 15 In Deutschland ist die Philosophie des Kommunitarismus, jedenfalls in der Wissenschaft, eher kritisch aufgenommen worden. 16 Erinnert wird dabei an den politischen Mißbrauch des Gemeinschaftsgedankens in der NS-Zeit („Volksgemeinschaft", „Volksgenosse") und die Gefahr der Ausgrenzung von Meinungen und Lebensmustern, die nicht der vorherrschenden Moral und den Wertgefühlen der Mehrheit entsprechen. Andererseits wird aber immer klarer, daß der fürsorgende Staat dem Bürger das Gefühl nimmt, für sich selbst und für andere (mit-) verantwortlich zu sein. Gerade dieses Sich-Verantwortlich-Fühlen, in etwas altertümlicher Sprache, aber mit durchaus aktueller Relevanz: „Bürgersinn" oder „Tugend des Bürgers" 17 , unterscheidet aber den Bürger vom Untertan. Natürlich ist in den USA nicht alles besser als bei uns. Aber was beispielsweise dem deutschen Betrachter der amerikanischen Universitäten schon positiv auffällt, ist das Engagement nicht nur der Studierenden, sondern auch der früheren Studenten („alumni") für ihre Universität, an der sie studiert haben. Keine Studentin, aber eine große Sportlerin, die Eiskunstläuferin Katharina Witt, wurde kürzlich nach ihren Erfahrungen in den USA befragt; ihre Antwort: Ihr gefalle „die Mentalität der Amerikaner. Die Offenheit, die positive Energie, die Mentalität des , just do it" spricht mich sehr an." 18
14 Vgl. dazu insbes. Otto Kimminich (Hrsg.): Was sind Grundwerte? Zum Problem ihrer Inhalte und ihrer Begründung, Düsseldorf 1977. - Kritisch zum Begriff der Grundwerte Sepp Scholz, in: Carl Schmitt/Eberhard Jüngel/Sepp Scholz, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, S. 108: „Eines ist sicher: die Werte werden wir nicht mehr los. Es kann nicht darum gehen, sie abzuschaffen, sondern nur darum, sie an ihren richtigen Platz zu stellen, und das heißt, sowohl ihre Relativität als auch ihre ideologische Funktion aufzudecken. Dann werden auch komparativische Formen wie Höchstwerte oder Grundwerte nicht mehr verschleiern, worum es sich handelt: bloß um Werte". 15 Joseph Hanimann: Habt keine Angst. Die Trikolore darf nicht in falsche Hände; Frankreichs republikanische Linke entdeckt die Themen Recht und Ordnung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 209 vom 9.9.1998, S. 46. 16 Vgl. dazu z.B. Richard Herziger. Die Gemeinschaftsfalle: Wider die konservative Klage vom Untergang der Werte, in: Die Zeit Nr. 15 vom 4.4.1997, S. 45; Walter Reese-Schäfer: Die politische Rezeption des kommunitaristischen Denkens in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschehen 1996, Β 36, S. 3 ff. 17 Vgl. dazu Bernhard Sutor (s.o. Fn. 12), S. 159, 166. 18 Katharina Witt: „An Amerika gefällt mir die positive Energie", in: Die Welt vom 17.11.1998, S. 31.
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Wir haben bisher über Sich-Engagieren in dem Sinne gesprochen, daß jemand etwas tut, wozu er nicht verpflichtet ist. Man kann aber auch seine Pflichten engagiert oder eben nicht engagiert (gleichgültig) erfüllen. Gestern kam zu uns der Schornsteinfeger, korrekter gesagt: die Schornsteinfegerin. Janina, 23 Jahre alt, ist immer guter Laune, fröhlich, fleißig. Man merkt, daß ihr ihre Arbeit Freude macht. Darauf angesprochen, sagt sie: Die Verbindung von moderner Technik (Überprüfung der technischen Abgaswerte der Heizungen) mit dem Handwerklichen in ihrem Beruf finde sie so interessant. Janina ist bei ihrer Arbeit engagiert. Das Beispiel der Schornsteinfegerin ist hier bewußt gewählt worden, um zu dokumentieren, daß Engagement weder ein schichtenspezifisches noch ein berufsspezifisches Phänomen ist. Auch der sprichwörtliche Maurer kann - je nach seiner inneren Einstellung - engagiert oder unengagiert bei der (seiner) Arbeit sein. Was macht den engagierten Hochschullehrer aus? Vieles: z.B. daß er nicht nur seine Vorlesungen als lästige Pflichterfüllung ansieht, sondern daß er versucht, sein Bestes zu geben; daß er seinen Kontakt zu Studenten nicht auf seine Sprechstunde beschränkt, sondern auf Studenten zugeht; kurz: daß er mehr macht als das Notwendigste und nicht nur das, was seiner wissenschaftlichen Reputation förderlich ist. Engagiert ist, wer seinen Beruf nicht nur als Broterwerb ansieht, sondern als mehr, der an seinem Beruf leidet, nicht weil er ihn nicht leiden kann, sondern weil er meint, ihn (noch) nicht optimal auszufüllen. Das wäre dann ein leidenschaftlicher Hochschullehrer.
II. Leidenschaft Am Abend des 19. Oktober 1992 kamen die Nachbarn eines der damals prominentesten Liebespaare in der Bundesrepublik nach Hause; sie bemerkten, daß der Postkasten im Haus jenes Paares überquoll und daß die Terrassentür offenstand. 19 Die Nachbarn begaben sich in das Haus; ihre grausige Entdeckung: zwei durch Schüsse getötete Menschen. Die Toten, die seit 19 Tagen in dem Haus lagen, waren die frühere Spitzenkandidatin der GRÜNEN, Petra Kelly (45), und ihr langjähriger Partner, der frühere Panzergeneral und spätere Pazifist und Bundestagsabgeordnete Gert Bastian (69). Der Tod des Paares führte zu wilden Spekulationen. Als mögliche Mörder wurden Rechtsextremisten, die Atommafia und die Stasi genannt. Die mit den Ermittlungen in dem Fall befaßte Staatsanwaltschaft bestätigte keines dieser Gerüchte. Das Ergebnis ihrer Ermittlungen faßte die Staatsanwaltschaft in ihrer Presseerklärung vom März
19 Die Schilderung des Falles folgt der Darstellung von Alice Schwarzer. Eine tödliche Liebe - Petra Kelly und Gert Bastian, Köln 1993.
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1993 wie folgt zusammen: „Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft Bonn steht fest, daß die tödlichen Schüsse von Gert Bastian abgegeben worden sind. Mit seiner Pistole Derringer, die er seit 1963 besaß, tötete er die im Bett liegende Petra Kelly mit einem aufgesetzten Schuß in die Schläfe. Anschließend nahm er sich selbst mit einem am Scheitel aufgesetzten Kopfschuß das Leben. Dies wird durch die Untersuchungen, insbesondere die bei Gert Bastian an beiden Händen festgestellten Schmauchspuren, das Fehlen entsprechender Spuren an den Händen von Petra Kelly, sowie eine gerichtsmedizinische Untersuchung der Blutspuren vom Tatort und eine Rekonstruktion der Tat belegt." 20 Also Mord und Selbstmord des Mörders? Der Pazifist als Mörder? Die Staatsanwaltschaft kam zu einem anderen Schluß; nämlich es handele sich um einen Doppelselbstmord: „Auch das Fehlen eines Abschiedsbriefes gibt keinen Anlaß, an dem Selbstmord der beiden ehemaligen Bundestagsabgeordneten zu zweifeln". Alice Schwarzer, die die Liebesgeschichte von Gert Bastian und Petra Kelly ftir ein von ihr darüber geschriebenes Buch recherchiert hat, bestreitet die These vom Selbstmord. Petra Kelly sei überarbeitet gewesen, auch in einer politischen und menschlichen Krise. Nichts aber deute - so Alice Schwarzer - darauf hin, daß Petra Kelly Selbstmord habe begehen wollen. Der von ihr häufig geäußerte Satz „Ich kann ohne Gert nicht mehr leben" sei etwas anderes als das von ihr nicht bekannte Verlangen „Bitte bring mich um." 21 Was tatsächlich an jenem 1. Oktober 1992 in den Köpfen von Gert Bastian und Petra Kelly vor den tödlichen Schüssen vorgegangen ist, wird sich wohl niemals mehr feststellen lassen. Die Bonner Geschichte vom Ausmaß einer griechischen Tragödie wird insoweit im unklaren bleiben. Jedenfalls aber war es eine tödliche Liebe, entstanden aus der leidenschaftlichen Liebe einer 25 Jahre jüngeren Frau zu einem verheirateten Mann, beide zugleich leidenschaftliche Politiker. Von Konrad Adenauer ist der Ausspruch überliefert: „Wer von der Politik einmal gegessen hat, der möchte immer mehr und mehr. Politik ist eine Leidenschaft. Sie kann zum Laster werden, wenn man sich ihr zu sehr ergibt." 22 Ist Leidenschaft also eine Vorstufe der Sucht, mithin einer Krankheit? Was ist Leidenschaft überhaupt? Gibt es vielleicht eine Inflation im Gebrauch des Attributes „leidenschaftlich"? Betrachten wir verschiedene Typen: Der leidenschaftliche Liebhaber ist eine alte und immer neue Figur in Dichtung, Theater und Film (selbst auf der untergehenden Titanic ist er zu bewundern und zu bemitleiden), aber auch - wenn auch wohl seltener - eine Figur des realen Lebens. 20
Zitiert nach Alice Schwarzer (s.o. Fn. 19), S. 22. Alice Schwarzer (s.o. Fn. 19), S. 23. 22 Zitiert nach Nina Grunenberg: Ein Monument wirft Schatten, in: Die Zeit Nr. 44 vom 22.10.1998, S. 3. 21
26*
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An einem leidenschaftlichen Tänzer kann man sich erfreuen, mit einem leidenschaftlichen Esser (wenn es nicht gerade Knoblauch ist) kann man gut leben. Ein leidenschaftlicher Trinker ist im normalen Sprachgebrauch ein Säufer, vornehmer ausgedrückt: ein Alkoholiker. Den leidenschaftlichen Spieler hat Dostojewski meisterhaft geschildert. Ein leidenschaftlicher Autofahrer ist eine Gefahr für seine Mitwelt. Martin Walser wurde in der Laudatio von Frank Schirrmacher als „leidenschaftlicher Leser" gekennzeichnet.23 Die Fernsehmoderatorin Margarethe Schreinemakers (bekannt als „Tränen-Grete") hat sich selbst in einem Werbespot als „leidenschaftliche Mutter" charakterisiert. Ich kann damit nicht viel anfangen. Mit dem Gedenken an seine Mutter verbindet ein dankbares Kind Liebe, Anhänglichkeit, Wärme, Güte, Verständnis, vielleicht sogar Aufopferung. Eine leidenschaftliche Mutter kann eigentlich keine gute Mutter sein; denn Leidenschaft verzehrt, ist maßlos, entzieht sich der Selbstkontrolle und der Selbstbeherrschung. Aus der Griechischen Tragödie (Euripides, später - im französischen Drama - aufgenommen von Racine) ist die Geschichte der Phaedra bekannt: Phaedra, die Gattin des Königs Theseus, liebt ihren Stiefsohn Hippolyte. Als dieser ihre leidenschaftliche Liebe nicht erwidert, verleumdet Phaedra ihren Stiefsohn, indem sie durch ihre Dienerin dem König zutragen läßt, Hippolyte habe sie (Phaedra) begehrt. Das Ende dieser leidenschaftlichen, unerwiderten und damit unerfüllten Liebe ist, daß die ganze Familie ins Verderben stürzt. Weniger dramatisch ausgedrückt war hier die Leidenschaft der Fall (im Sinne von Niedergang) des gesunden Menschenverstandes, d.h. der Tugendeigenschaft, die - entsprechend der Aufklärung „zwischen den verschiedensten Subjekten den Raum der rationalen Gemeinsamkeit verbürgt." 24 In Nachrufen auf Politiker ist nicht selten zu lesen, der Verstorbene sei „ein leidenschaftlicher Politiker" gewesen.25 „Leidenschaftlich" soll hier offensichtlich mehr bedeuten als „engagiert" und weniger als „fanatisch". Die Trias „Engagement, Leidenschaft, Fanatismus" ist offensichtlich eine Skala, die über Zwischenstufen im Aggressiven endet. Ein leidenschaftlicher Politiker - was
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Frank Schirrmacher. Sein Anteil (s.o. Fn. 2), S. 31. Vgl. dazu Georg Kohler. Mit allen Mitteln? Önones Argumente über Tugend und Fall des gesunden Menschenverstandes, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 259 vom 7./8.11.1998, S. 69. 25 So bezeichnete die Vorsitzende der SPD in Bayern, Renate Schmidt, auf einer Trauerfeier für den verstorbenen SPD-Politiker Karl-Heinz Hiersemann diesen als „einen großartigen Menschen und einen leidenschaftlichen Politiker" (zit. nach: Süddeutsche Zeitung, Nr. 198 vom 23.7.1998, S. L 9). Im Nachruf der Landesregierung Nordrhein-Westfalen auf den am 9.12.1998 verstorbenen Staatsminister a.D. Klaus Matthiesen heißt es u.a.: „Er war ein Freund klarer und deutlicher Worte, ein Politiker voller Leidenschaft, der aufrütteln und anspornen konnte und der sich und anderen viel abverlangte (zit. nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 228 vom 11.12.1998, S. 49). 24
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kann das sein? Vielleicht ist es am besten - wenn auch gewagt -, sich der Antwort durch Betrachtung lebender Politiker zu nähern. Sind der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl und der jetzige Bundeskanzler Gerhard Schröder leidenschaftliche Politiker? Beginnen wir in der alphabetischen Reihenfolge, also mit Helmut Kohl. Wer ein Leben lang in verschiedenen politischen Ämtern (Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Fraktionsvorsitzender der CDU im Deutschen Bundestag, schließlich 16 Jahre lang Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland) tätig war, muß mit der Politik verheiratet sein; sein Leben war also eine Ehe mit der Politik. Ehe ist, so hat eine kluge Frau einmal bemerkt, „Sparflamme der Leidenschaft". 26 Das würde - auf das Verheiratetsein mit der Politik bezogen - zunächst bedeuten, daß ein Mensch mit einem solchen politischen Lebenslauf ein leidenschaftlicher Politiker sein muß, nämlich um das zu erreichen, was er erreicht hat, und um dort zu bleiben, wo er angelangt ist. Wenn Leidenschaft Passion ist, der Wille zur Macht, das ein Leben Bestimmende - alles ohne Zweifel Eigenschaften und Lebensleitlinien von Helmut Kohl -, dann ist er ein leidenschaftlicher Politiker gewesen und ist es noch. Und doch sträubt sich die Feder, wenn man dies so niederschreibt. „Leidenschaftlich" bedeutet ja nicht nur passioniert, interessiert, engagiert, durchsetzungsstark, geschickt, machtbewußt, sondern eben auch: hitzig, stürmisch, maßlos, besessen, unbeherrscht - alles Eigenschaften, die selbst seine größten Feinde dem ehemaligen Bundeskanzler nicht anhängen können. Leidenschaft ist wohl auch und gerade eine Frage des Temperaments und des Ausbruchs von Gefühlen. Helmut Kohls Markenzeichen war aber nicht zuletzt das „Aussitzen" von Problemen, eine Taktik oder Strategie, die politisch erfolgreich sein kann (was letztlich zählt), aber wohl das Gegenteil von Leidenschaft signalisiert. Von Gerhard Schröder, dem Jüngeren, weiß man bisher noch weniger als von seinem Vorgänger. Auch Gerhard Schröder hat sich früh der Politik verschrieben, auch seine politische Karriere verlief ohne heftige Ausbrüche. Wenn die Geschichte stimmt, daß er schon als Jungsozialist einmal am Zaun des Bundeskanzleramtes gerüttelt und dabei gesagt habe: „Hier will ich einmal rein", zeigt das mehr als nur das Wissen, was er wollte. 27 Wenn politischer Erfolg allein schon der Beweis für Leidenschaftlichkeit wäre, dann wäre Gerhard Schröder ein leidenschaftlicher Politiker. Aber auch bei ihm zögert man - wenn 26
Birgit Berg {s.o. Fn. 1), S. 15. Vgl. dazu Peter Köpf. Der Neue - Gerhard Schröder - Deutschlands Hoffnungsträger, München 1998, S. 15/16: „Die Geschichte wurde hundertmal erzählt: Auf dem Nachhauseweg von einem Zechgelage in der Bonner Kneipe „Provinz" kam Gerhard Schröder am Kanzleramt vorbei. Der junge Bundestagsabgeordnete rüttelte daran und schrie: ,Ich will hier rein. 4 " Eine Variante dazu bringt Ansgar Graw: Gerhard Schröder. Der Weg nach oben, Düsseldorf 1998, S. 42: „Juso-Weggefahrten aus damaligen Zeiten erinnern sich an eine Italienreise, bei der Schröder an den Ufern des Arno gestanden und geschworen habe: ,Ich werd's. 4 Bundeskanzler nämlich." 27
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auch aus anderem Grund als bei Helmut Kohl - mit dieser Etikettierung. Gerhard Schröder zeigt sich bisher - positiv gesprochen - als ein Pragmatiker, kritischer gesprochen als Lavierer oder gar gelegentlich als politischer Opportunist. Das aber verträgt sich nur schwer mit Leidenschaftlichkeit. Ist diese Beurteilung von Politikern vielleicht zu hart? Gibt es denn überhaupt keine leidenschaftlichen Politiker? Ist Leidenschaft im Zusammenhang mit Politik hier vielleicht zu eng gesehen? Hat nicht Max Weber die Aufgabe des Politikers darin gesehen, dicke Bretter mit Geduld und Leidenschaft zu bohren? Muß ein Politiker, um als leidenschaftlich zu gelten, gewissermaßen vor Erregung zittern? Ist nicht Helmut Kohl jedenfalls ein leidenschaftlicher Europäer? War nicht Thomas Dehler ein leidenschaftlicher Gegner der Todesstrafe? War Herbert Wehner nicht ein leidenschaftlicher Zwischenrufer im Deutschen Bundestag? War Willy Brandt nicht ein leidenschaftlicher Demokrat („Mehr Demokratie wagen") und ein leidenschaftlicher Befürworter einer Versöhnung mit Polen? Ist nicht von Gerhard Schröder selbst der Ausruf überliefert: „Was wir jetzt brauchen, ist Leidenschaft, aber auch einen kühlen Kopf." 28 Das Problem steckt schlicht und zugleich schwer lösbar in der inhaltlichen Bedeutung des Wortes „leidenschaftlich". Wenn Leidenschaft nur eine Vorstufe zur Sucht ist, wenn man eine leidenschaftliche Liebe von einer krankhaften Liebe exakt abgrenzen könnte 29 , dann allerdings hätten wir wenig Probleme damit, viele Politiker als leidenschaftliche Politiker zu charakterisieren. Ein leidenschaftlicher Politiker wäre dann jemand, dem Politik extrem wichtig ist, der sich für ein politisches Thema mit seinem ganzen „Herzblut" einsetzt, der sich der Politik im allgemeinen oder einem speziellen Politikbereich mit „Haut und Haaren" verschrieben hat, dies alles in einer Weise, die über ein bloßes Engagement im Sinne von Engagiert-Sein hinausgeht, ohne aber schon fanatisch zu werden. Sieht man dagegen leidenschaftlich in ein und derselben Bedeutungsreihe 30 mit z.B. besinnungslos, hitzig, hysterisch, jähzornig, maßlos, stürmisch, überspannt, unausgeglichen, unbeherrscht, verzweifelt, wild, zügellos, so würde jeder Politiker sich wohl höchst ungern als „leidenschaftlich" tituliert sehen. Leidenschaft ist, was Leiden schafft - wenn man diesen Satz für richtig hält, wäre es kaum verständlich, warum Politiker von der Politik nicht lassen kön28
Zitiert bei Ulrike Posche: Gerhard Schröder. Nah-Aufnahme, München 1998, S.
13. 29
Eine literarische Bearbeitung dieser scheinbaren Grenzen findet sich bei Ian McEwan: Liebeswahn (aus dem Englischen übersetzt von Hans-Christian Oeser), Zürich 1998. - Aus der Sicht der Psychoanalyse: Sudhir Karkar/John Ross: Über die Liebe und die Abgründe des Gefühls (aus dem Englischen übersetzt von Udo Rennert), München 1986. 30 Die folgenden Charakteristika finden sich - neben anderen - bei Franz Dornseif: Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen, Berlin 1970, S. 204-205 (in der Sachgruppe „Heftigkeit").
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nen, d.h. Daueramtskleber sind - dies, obwohl doch Demokratie Herrschaft auf Zeit bedeutet.31 Vielleicht kommt man zu einem versöhnlichen und gerechten Schluß, wenn man einzelne Interessen, Aktivitäten oder Engagements von Politikern als leidenschaftlich bewertet, hinsichtlich der Tätigkeit oder des Berufes des Politikers insgesamt aber bei der Vergabe dieser Bezeichnung eher zurückhaltend sein sollte. Für den Politiker ist jedenfalls ein gewisses Maß an Gelassenheit (nicht zu verwechseln mit Desinteresse, Passivität, Opportunismus, Lahmheit) eine durchaus wichtige Tugend 32 , wichtiger jedenfalls als Aufgeregtheit. Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Feststeht jedenfalls, daß glücklicherweise weder Helmut Kohl noch Gerhard Schröder Fanatiker sind.
I I I . Fanatismus „Die Welt braucht Harmonie" - mit dieser Äußerung des Fürsten von Metternich gegenüber dem Komponisten Rossini wirbt in großformatigen Anzeigen die Sektmarke „Fürst von Metternich". Der serbische Dichter Vasko Popa glaubt nicht an Harmonie. Vasko Popa sagt: „Wir werden leben im Zeitalter des Messers." 33 Wer von beiden recht behalten wird, hängt nicht zuletzt davon ab, ob das politische Leben von Fanatismus bestimmt wird oder nicht. Was ist Fanatismus? In einem Nachschlagewerk von 1849 findet sich dazu die folgende Erklärung: „Fanatismus, Religionsschwärmerei ist die Verirrung derer, welche bei dem Urtheile über Gott und die göttlichen Dinge nicht der Vernunft oder Schrift, sondern Einbildungen und Gefühlen folgen und von denselben bis zum wüthenden und verfolgenden Religionseifer fortgerissen werden. Sowohl dieser als auch der politische Fanatismus sind gleich gefahrlich, da sie, unfähig zu ruhigem und klarem Handeln, gewöhnlich das Kind mit dem Bade ausschütten."34
31 Vgl. dazu Ingo von Münch: Daueramtskleber, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 134 vom 13.6.1994, S. 12. 32 Zur Tugend der Gelassenheit allgemein vgl. Hans-Martin Schönherr-Mann: Postmoderne Perspektiven des Ethischen. Politische Streitkultur, Gelassenheit, Existentialismus, München 1997, S. 129 ff. 33 Zitiert nach Milo Dor: „... daß man die Dummheit mit Argumenten nicht bekämpfen kann'4. Interview mit dem Andreas-Gryphius-Preisträger von 1998, in: Uni-Journal Jena Heft 11/1998, S. 17. 34 C. F. L. Η off mann: Vollständiges politisches Taschenwörterbuch. Ein Handbuch zur leichten Verständigung der Politik, der Staatswissenschaften und Rechtsuchenden sowie überhaupt eine ausfuhrliche Erklärung aller politischen und socialen Fragen, con-
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Die Herkunft des Begriffes Fanatismus aus dem religiösen Bereich ist für das Erkennen fanatischer Politik durchaus wichtig. Adolf Hitler ist dafür ein Beispiel: Er war nicht kirchlich und auch nicht christlich, aber „Glaube" und „Vorsehung" spielten in seinem Denken und dem seiner Gefolgschaft eine bestimmende Rolle. „Sie müssen an den Führer glauben" war stets das letzte, keine rationale Widerlegung zulassende Argument, wenn jemand es in der NSZeit wagte, leise Zweifel an diesem oder jenem zu äußern, insbesondere nachdem die deutschen Städte unter den alliierten Luftangriffen in Trümmer sanken und nach Stalingrad - am sog. „Endsieg". „Fanatisch" war denn auch ein Lieblingswort Hitlers. Fanatismus erlaubt keine Alternative: Man muß müssen. Entsprechend lauteten die Durchhalteparolen auf Spruchbändern und Aufschriften: „Wir werden siegen, weil wir siegen müssen." Oder auf Bahnhöfen: „Räder müssen rollen für den Sieg." Wird ein unbedingtes Müssen kategorisch gefordert, so ist für Andersdenkende kein Platz. Der Fanatiker läßt - wie der Wiener Psychiater Viktor E. Frankl zutreffend festgestellt hat - ein anderes Denken nicht gelten.35 Nichts ist nach Frankl für den Fanatiker „so kennzeichnend wie gerade der Umstand, daß für ihn alles zum bloßen Trick, zu einem bloßen Mittel zum Zweck wird. Seine Ansicht geht dahin, daß der Zweck die Mittel heilige. In Wirklichkeit ist es wohl so, daß es umgekehrt auch Mittel gibt, die den Zweck entweihen können. Und es gibt auch etwas, das niemals zum bloßen Mittel gemacht und entwürdigt werden dürfte. Kant hat darum genau gewußt: darum, daß es der Mensch sei, der niemals zu einem bloßen Mittel zum Zweck degradiert werden darf! Dies aber geschieht immer wieder, und zwar in der fanatischen Politik, die auch vor dem Menschen nicht haltmacht, sondern den Menschen ganz und gar einspannt in ihre politischen Zielsetzungen. Dadurch, durch solche fanatische Politik, wird der Mensch verpolitisiert - während das Gegenteil so wichtig wäre: daß die Politik vermenschlicht werde." 36 Fanatismus ist eine typische Erscheinung in totalitären Regimen. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Fanatismus nicht auch in demokratischen Gesellschaften im Alltagsleben anzutreffen ist. Fanatismus ist eine glücklicherweise
stitutionellen und staatsrechtlichen Begriffe, Ausdrücke, Parteinamen und Fremdwörter, Leipzig 1849, S. 70. 35 Viktor E. Frankl·. Psychologie des Alltags, Freiburg/Basel/Wien, 6. Aufl. 1992, S. 49. 36 s.o. Fn. 35, S. 50. - Ein „fanatisches Auge" hat Siegfried Wagner nach einem Treffen mit Mussolini bei dem italienischen Diktator wahrgenommen, „aber keine Liebeskraft darin wie bei Hitler und Ludendorff 4 - eine für uns nicht nachvollziehbare Beobachtung. Die diesbezügliche Notiz von Siegfried Wagner ist zitiert bei Renate Schostack: Hinter Wahnfrieds Mauern. Gertrud Wagner: Ein Leben, Hamburg 1998, S. 74.
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nicht besonders häufige, aber auch nicht besonders selten anzutreffende Eigenschaft des Menschen. Gewalttätige Demonstranten sind dafür ein Beispiel, weil sie ihre politischen Meinungen nicht mit den Mitteln geistiger Auseinandersetzungen, sondern eben mit Gewalt durchsetzen wollen. 37 Dies aber widerspricht dem Grundgedanken des demokratischen Rechtsstaates. Wenig ist bisher hier von der Publizistik die Rede gewesen. Auch Journalisten können ihren Beruf engagiert oder leidenschaftlich oder - im schlimmsten Fall - fanatisch ausüben. Spricht man Journalisten auf solche fanatischen Zunftgenossen an, so hört man drastische Bezeichnungen, etwa „er ist ein Triebtäter" oder „er ist ein Fundamentalist". Es gibt Journalisten, die sich in ein Thema verbeißen, eine vorgefaßte Meinung haben und sich davon durch nichts, aber auch gar nichts abbringen lassen. Natürlich kann sich ein Journalist, wie jeder andere Mensch auch, einmal oder mehrmals irren. Innere Größe hat, wer diesen Irrtum eingesteht. Wem dies zu viel ist, sollte wenigstens künftig die vermeintliche Fährte nicht weiterverfolgen und die Öffentlichkeit nicht weiter irreführen. Dies wird solchen Journalisten schwerfallen, die sich selbst als moralische Instanz verstehen, sich als „Gutmenschen" über andere erheben und die die Medien als „Moralisierungsanstalten" mißverstehen. 38 Ein anschauliches Beispiel für journalistischen Fanatismus ist der Medienskandal von Bad Kleinen. 39 Was war geschehen? Am 27. Juni 1993 wurden auf dem Bahnhof in Bad Kleinen bei einem Einsatz von Beamten der GSG 9 zur Festnahme von Terroristen zwei Menschen getötet: der wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gesuchte mutmaßliche RAF-Terrorist Wolfgang Grams und der GSG 9-Beamte Michael Newrzella. Während der Tod des 25jährigen Polizeibeamten Michael Newrzella für viele Journalisten kein Thema war, geriet der Tod des mutmaßlichen RAF-Terroristen zu einer Hinrichtungsgeschichte. Hans Leyendecker verfaßte unter der Überschrift „Tötung wie eine Exekution" eine SPIEGEL-
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Zur Frage der Gewaltanwendung durch Sitzblockaden vgl. die umstrittene (m.E. falsche) Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.1.1995 (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 92, S. 1 ff., S. 16). Wenn zum ersten Mal eine Sitzblockade vor einer Abtreibungsklinik stattfindet, wird man sehen, ob diejenigen, die dem Bundesverfassungsgericht Beifall gespendet haben, auch hier wieder applaudieren werden. 38 Vgl. dazu Mariam Niroumand: ... und ruft zugleich Alarm. Medien als Moralisierungsanstalten, in: Merkur 50 (1996), H. 9/10, S. 840 ff. 39 Die folgende Darstellung folgt den Recherchen von Holger Lösch, Bad Kleinen: Ein Medienskandal und seine Folgen, Frankfurt a.M., 1994. - Vgl. aber auch die abweichende Darstellung von W. Landgraeber/Ekkehard Sieker/Gerhard Wisnewski: Operation RAF: Was geschah wirklich in Bad Kleinen?, München 1994.
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Titelgeschichte, die beweisen sollte, daß Grams keinen Selbstmord verübt hatte, sondern erschossen worden sei.40 Gestützt wurde diese ungeheuerliche Behauptung vor allem auf den Bericht eines angeblichen Zeugen, „der seinen Namen vorerst nicht veröffentlicht sehen will." 4 1 Danach ist, so die SPIEGELStory, „Grams von einem GSG 9-Beamten, noch nicht einmal im Affekt, regelrecht liquidiert worden." 42 Die Frage, welchen Sinn eine solche „Liquidierung" gehabt haben könnte, wird nicht einmal gestellt. Dabei war das Strickmuster nach den Selbstmorden von Ulrike Meinhof im Jahre 1975 und von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Gefängnis Stammheim 1977 bekannt - die Legende von der Ermordung von Gefangenen durch den Staat, der von den Terroristen als „Schweinestaat" bezeichnet wurde. 43 Jene Legendenbildung war aus der Sicht der Terroristen durchaus sinnvoll: Wenn schon der politische Kampf gegen das „System" verloren war, dann sollte wenigstens der Staat diskreditiert und das Vertrauen der Bürger in den Staat erschüttert werden. Schon hier hätte sich jedem einsichtigen Betrachter die Frage aufdrängen müssen, welches Motiv nach (!) der geglückten Befreiungsaktion von Mogadischu für eine Ermordung hätte vorliegen können.44 Genauso fehlte ein solches Motiv in Bad Kleinen. Umso erstaunlicher ist es, mit welchem geradezu fanatischen Eifer von einigen Journalisten die Mordgeschichte von Bad Kleinen verfolgt und damit zu einer Mordsstory gemacht wurde. Jedenfalls hat am Ende weder die mit der Aufklärung des Falles befaßte Staatsanwaltschaft in Schwerin noch das aufgrund einer Klage der Eltern von Grams gegen die Bundesrepublik auf Ersatz der Kosten für die Bestattung und Überführung ihres Sohnes befaßte Landgericht Bonn dessen Tötung durch Beamte der GSG 9 als erwiesen angesehen.45 Wer über Fanatismus redet, darf sich selbst nicht fanatisieren. War die Mordgeschichte von Bad Kleinen bei wohlwollender Betrachtung vielleicht kein Zeichen von Fanatismus, sondern nur engagierter Journalismus oder leidenschaftlicher Journalismus? Das Beispiel zeigt, daß die Grenzen fließend
40
Der Spiegel Nr. 27 vom 5.7.1993, S. 24 ff. s.o. Fn. 40, S. 27. 42 s.o. Fn. 40, S. 27. 43 Zu dieser Legendenbildung vgl. die Hinweise bei Holger Lösch (s.o. Fn. 39), S. 100 ff., und Thomas Meyer: Am Ende der Gewalt? Der deutsche Terrorismus - Protokoll eines Jahrzehnts, 1979, S. 187. 44 Die damit zusammenhängenden Vorgänge sind zusammengestellt in der Dokumentation zu den Ereignissen und Entscheidungen im Zusammenhang mit der Entführung von Hanns Martin Schleyer und der Lufthansa-Maschine 'Landshut' (hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 1977). 45 Bericht dazu in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 227 vom 30.9.1998, S. 4. Vgl. auch schon den Abschlußbericht der Bundesregierung zu der Polizeiaktion in Bad Kleinen vom 3.3.1994. 41
Engagement, Leidenschaft, Fanatismus
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sind. Aber kein Zweifel kann daran bestehen, daß die RAF-Terroristen menschenverachtenden Fanatismus praktiziert haben. Ulrike Meinhof wird über ihre Einstellung zu Polizeibeamten mit dem Satz zitiert: „Wir sagen, der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns auch mit ihm auseinanderzusetzen ... und natürlich kann geschossen werden." 46
46
Abgedruckt in: Der Spiegel Nr. 25 vom 15.6.1970, S. 75; zit. auch bei Reinhard Rauball, Die Baader-Meinhof-Gruppe, 1973, S. 43.
I I I . Gegenstände der Verfassungsgeschichtsschreibung
La notion de constitution chez Montesquieu Contribution à l'étude des rapports entre constitution et constitutionnalisme Par Olivier Beaud «J'ai eu des idées nouvelles; il a bien fallu trouver de nouveaux mots ou donner aux anciens de nouvelles acceptions» (EdL; Avertissement) 1. A la différence de la séparation des pouvoirs ou de la typologie des gouvernements 2 , la notion de constitution n'a pas attiré l'attention des analystes de la pensée de Montesquieu 3 . L a plupart des observateurs, mème les juristes, semble se satisfaire du jugement selon lequel le mot mème de constitution est peu usité dans son oeuvre 4. Si Ton extrapole du mot au concept, on devrait en déduire que le manque d'études sur la constitution chez Montesquieu est dü au fait que ce dernier n'a pas conceptualisé la notion mème de constitution. On essaiera de montrer cependant, à partir de considérations «d'histoire des concepts», que
1 Je donne comme référence en chiffres romains le titre du livre et en chiffre arabe celui du chapitre de l'Esprit des lois. L'édition utilisée est celle proposée par Victor Goldschmidt , (Paris, Flammarion, 1979, collection de poche GF). Une nouvelle édition des CEuvres complètes de Montesquieu est en début de publication à la Voltaire Foundation , à l'initiative de la Société Montesquieu. 2 Concernant sa typologie des régimes (république, monarchie, despotisme), N. Bobbio par exemple rappelle qu'elle est devenue, au X X ° siècle, la «typologie traditionnelle» qui «malgré les corrections et innovations suceesives (..) ne perd rien de son prestige et est reprise également dans les traités de droit public, non comme point d'arrivée, mais comme point de départ obligé de toute discussion sur ce thème.» In «Etat, pouvoir et gouvernement», in N. Bobbio, L'Etat et la démocratie internationale, trad, fr., Bruxelles, éd. Complexe 1998, p. 241. 3 Une exception récente cependant: E. Tillet , «Les ambiguì'tés du concept de constitution au XVIIIème siècle: l'exemple de Montesquieu», in AFHIP, Pensée politique et droit, Presses Universitäres d'Aix-Marseille, 1998, p. 365-399 (Actes du colloque de Strasbourg de septembre 1997). 4 «Le terme de constitution n'est guère fréquent sous [sa] plume»: «Quasiment absent des Lettres persanes , il n'apparait qu'une seule fois dans les Considérations .» (E. Tillet , op. cit., p. 366). Ainsi, selon P. Bastid , le «vocable constitution (..) apparait plus rarement» que celui de lois fondamentales, L'idée de constitution, Paris, Economica, 1985, pp. 117-118. Ce jugement devrait néanmoins ètre nuancé pour ce qui concerne XEsprit des Lois où le mot est fréquent, quoique employé de manière plurivoque.
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Olivier Beaud
l'usage qu'il fait du mot de constitution est suffisamment novateur pour qu'il indique nettement l'existence d'un concept, c'est-à-dire ici de la prise de conscience de la nouveauté de ce qu'il pense à ce sujet. En réalité, la véritable origine de cette situation tient à des raisons qui sont propres aux deux disciplines académiques que sont, d'un coté, l'histoire de la pensée politique, et de l'autre, le droit public. Pendant très longtemps, l'historiographie politique a été dominée par le «paradigme juridico-libéral» 5 . Ceci signifie que «l'écriture de l'histoire de la philosophie politique prend la forme du récit de l'avènement progressif du libéralisme, c'est-à-dire d'une representation selon laquelle les individus tiennent de leur nature, puis développent dans la multitude de leurs interactions sociales et civiles, une sèrie de droits dont ils attendent de la société civile qu'elle leur en offre la protection grace aux garanties qu'offre une loi stable, fixée avant tout comme une règie du jeu qui permet l'anticipation des activités sociales elles-mèmes»6. Un tei récit accorde évidemment la préférence à l'émergence des droits de l'homme (droits naturels) dont la protection serait notamment assurée par la constitution devenue progressivement un instrument de protection contre l'arbitraire étatique - instrument d'ailleurs sophistiqué: une loi supérieure ou fondamentale. Néanmoins, contre cette histoire dominante, fondée sur une conception libérale de la liberté politique, les travaux pionniers de John Pocock7 ont exhumé la tradition enfouie de «l'humanisme civique» et ouvert la piste d'un républicanisme fondé sur une autre conception de la liberté politique qui partagerait avec la conception libérale «l'intuition du pluralismo), mais sans sa dimension individualiste de liberté négative8. Or, il semble qu'à tort ou à raison, on ait longtemps rangé Montesquieu parmi ces théoriciens de la liberté libérale, alors qu'en réalité, sa pensée oscille entre les deux pòles9. Il est avéré par exemple qu'il «conserve le principe méthodologique [de l'humanisme civique] qui, posant la permanence de la nature humaine, nous permet d'etre contemporain des Anciens» 10. Mais dès lors qu'il était «étiqueté» en tant qu'auteur libéral 11 , sa pensée constitution5
J.-F. Spitz , La liberté politique, Paris, PUF, coli. Léviathan, 1995, p. 227. Ibid. p. 225. 7 V. notamment son livre fondateur: Le moment machiavélien. La pensee politique fiorentine et la tradition républicaine atlantique (1975), trad. fr. Paris, PUF, coli. Léviathan, 1997 (avec préface de J.-F. Spitz). 8 Sur ces deux libertés, v. les développements suggestifs de J.-F. Spitz, op. cit. pp. 181 et s.. 9 Bien que J. F. Spitz fasse de Rousseau le représentant fran^ais de cet humanisme civique, de ce «républicanisme» revivifié par Machiavel , il semble hésiter pour ranger Montesquieu parmi les partisans de la conception républicaine de la liberté (pro , p. 182,, p. 213, et contra , chap. 7 pp. et ss.). 10 C. Larrère , «Montesquieu» in Ph. Raynaud I St. Rials (dir.), Dictionnaire de philosophie politique, Paris, PUF, 1996, p. 402. L'auteur indique plus loin que Montesquieu se séparé de l'humanisme civique en ce qu'il «disjoint vertu et liberté» (Ibid.). 6
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nelle a été interprétée en fonction du paradigme du constitutionnalisme libéral ; ceci a conduit à privilégier l'étude des mécanismes constitutionnels, et notamment la fameuse séparation des pouvoirs, au détriment d'autres développements sur la constitution. Or, parallèlement à ce biais libéral de l'historiographie politique, la doctrine publiciste méconnaissait, en partie, la richesse des ape^us de Montesquieu sur la constitution en évaluant sa pensée à partir de la conception juridiconormative de la constitution, dominante aujourd'hui (v. infra). Ainsi, il aurait compris la constitution comme un «Statut fixe et supérieur de l'Etat», mais - et c'est une sorte de faiblesse qu'on lui reproche - sans avoir su «distinguer ces règles par leur forme des règles légales ordinaires» 12 ; en d'autres termes, il n'aurait pas réussi à distinguer entre loi constitutionnelle et loi ordinaire. L'anachronisme de ce jugement est évident quand on connait non seulement la lenteur avec laquelle le mot de constitution est parvenu à acquérir une consistance juridique, mais aussi la manière de raisonner du magistrat bordelais qui ne pouvait littéralement pas penser en termes de hiérarchie des normes 13. C'est d'ailleurs pour lutter contre l'anachronisme de «l'interprétation-juriste» qui attribuait, à tort, à l'auteur de l'Esprit des Lois une doctrine de séparation des pouvoirs, au sens d'une spécialisation des fonctions étatiques confiées à trois pouvoirs indépendants les uns des autres, que Charles Eisenmann, dans son article pionnier sur Γ interpretation du chapitre de l'Esprit des Lois sur TAngleterre (XI, 6), a présenté une lecture décapante de sa prétendue doctrine de la «séparation des pouvoirs» 14 . Mais si cette interprétation corrosive et novatrice mérite d'etre saluée15, elle a eu comme effet secondaire dommageable de contribuer à l'identification de la pensée constitutionnelle de Montesquieu à la seule et unique question de la distribution des pouvoirs étatiques16, comme si sa «doctrine constitutionnelle» devait se résumer au seul chapitre sur la constitution de l'An11 C. Larrère rappelle, pour y adhérer, la formule de Raymond Aron: «l'essence de la philosophic politique de Montesquieu est le libéralisme» Ibid. p. 404. 12 Ibid. p. 118. 13 V. ici les travaux fondamentaux, selon nous, de G. Stourzh: son grand livre (recueil d'articles) Neue Wege der Grundsrechtsdemokratie, Böhlau Verlag, Vienne et Cologne, 1989, et son article séminal: «Constitution: Changing Meanings of the Term from the Early 17th to the Late 18th Century", in T. Ball / J. G. A. Pocock (dir.), Conceptual Change and the Constitution, Lawrence, University Press of Kansas, 1988, pp 35 s. 14 «L'Esprit des Lois et la séparation des pouvoirs», Mélanges Carré de Malberg (1933) repris in Cahiers de philosophie politique, (n° unique), Bruxelles, Ousia, 1985, pp. 3 et s. 15 Comme l'a fait Michel Troper dans sa thèse, La séparation des pouvoirs dans l'histoire constitutionnelle fransaise, 3° éd. Paris, LGDJ, et dans son article incisif «Charles Eisenmann contre le mythe de la séparation des pouvoirs» in Cahiers de philosophie politique, 1985, pp. 67 et s., et plus récemment, «Montesquieu en l'an III», Revue Montesquieu, n°2, 1998, p. 89.
27 FS Quaritsch
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gleterre 17. Une telle réduction de sa théorie constitutionnelle à la «doctrine» de la séparation des pouvoirs tient à la prégnance, ici, du modèle positiviste qui conduit à analyser juridiquement l'Etat en fonction de la tripartition des fonctions juridiques con£ues au sens formel du terme (législative, exécutive, et juridictionnelle). Il nous semble, au contraire, que cette double vision de la constitution chez Montesquieu est à la fois trop réductrice et tout bonnement inexacte. Elle est réductrice, parce que la constitution, au sens où l'entend Montesquieu - la constitution politique si Γοη veut - déborde, et de loin, la seule question du mode de répartition des fonctions de l'Etat et de cette «néo-séparation des pouvoirs» 18 . Elle est inexacte parce que le philosophe fransais n'a jamais envisagé la constitution dans le sens d'un «Statut supérieur de l'Etat», comme nous nous la représentons aujourd'hui. Selon notre hypothèse, la constitution dans l'ceuvre de Montesquieu est profondément originale et le fait de Vétudier peut éclairer du moins on l'espère - le concept mème de constitution. Cette conviction a été forgée lors d'une précédente recherche menée sur les rapports conflictuels qu'entretiennent les deux concepts de constitution et de constitutionnalisme19. Celle-ci a permis de contester le monopole de la conception «normative» de la constitution et d'introduire des considérations d'histoire des concepts (Begriffsgeschichte ). Le projet ici esquissé est de réintroduire Montesquieu dans cette histoire tumultueuse des rapports entre constitution et constitutionnalisme et de montrer la place tout à fait singulière qu'il y occupe20. On rappellera seulement, pour ètre clair, les présupposés théoriques de cette enquète historique. Le concept de constitutionnalisme est plurivoque, tout autant d'ailleurs que celui de constitution. Dans son acception la plus large {lato sensu), il décrit 16 La preuve en est que son article intitulé «La pensée constitutionnelle de Montesquieu» (1954) ne porte en réalité que sur le chapitre 6 du Livre X I au motif que «dans ce chapitre Montesquieu a fait la théorie et a dessiné l'image de la Constitution à ses yeux idéal, la meilleure possible, au moins pour les Etats auxquels il pensait.» (Cahiers de philosophic politique, 1985, Bruxelles, Ousia, p. 34). En réalité, on trouverait ici «ses idées personnelles de politique et de légsilation constitutionnelle» Ibid. 17 Dans ce chapitre, «Montesquieu a dessiné l'image de sa «Constitution», celle qu'il tenait pour idéale et souhaitait pour la France» (p. 241) et il considère que ce chapitre présente la «vision exacte de la doctrine constitutionnelle de l'Esprit des Lois» (p. 244). Ch. Eisenmann , «Le système constitutionnel de Montesquieu et le temps présent», in Actes du Congrès Montesquieu, Bordeaux, Delmas, 1956, p. 241, p. 244. 18 L'expression polémique, dirigée contre Eisenmann , est de Mir/cine-Guetzévitch , «La séparation des Pouvoirs» in La pensée politique et constitutionnelle de Montesquieu. (Bicentenaire de l'Esprit des Lois 1748-1948) Sirey, 1954, p. 164. 19 «Constitution et constitutionnalisme» in Ph. Raynaud / St. Rials (dir.,), Dictionnaire de philosophic politique, Paris, PUF, 1996, pp. 117 et s.. 20 La présente étude était justement destinée à constituer un paragraphe de l'article précité sur «Constitution et constitutionnalisme» que nous avons finalement renoncé à introdurre pour des raisons de place.
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l'obligation selon laquelle «le pouvoir doit s'exercer à l'intérieur de limites institutionnellement déterminées» 21 ou encore la «technique consistant à établir et à maintenir des freins effectifs à l'action politique et étatique»22. Ainsi défini, le constitutionnalisme condenserait deux idées essentielles et anciennes de la philosophie politique: d'abord, la promotion d'un gouvernement limité et, ensuite, le gouvernement de la loi qui se serait substitué au gouvernement des hommes. Ainsi permettrait-il de rendre compte de la limitation tant du pouvoir de la Cité («constitutionnalisme ancien") que du pouvoir de la royauté par un droit coutumier («constitutionnalisme médiéval"). En revanche, dans son acception plus restreinte {stricto sensu), le constitutionnalisme désigne certes l'idée de limitation du pouvoir politique, mais ce pouvoir politique est uniquement l'Etat moderne. Il inclurait alors dans son concept mème des institutions comme la séparation des pouvoirs, le gouvernement représentatif, la responsabilité politique des gouvernants et (ou) le contròie de constitutionnalité. De manière assez paradoxale, tous les auteurs n'incluent pas le concept de constitution dans leur définition du constitutionnalisme. Ce fait curieux s'explique probablement par la difficulté consistant à définir la constitution. Il ne suffit pas de la désigner comme «l'ensemble du cadre légal de l'Etat» 23 pour épuiser son sens. En effet, une telle définition n'empèche pas la constitution d'ètre, selon nous, traversée par une opposition radicale entre deux conceptions qu'on appellerà respectivement institutionnelle (ou organique) et normative. Selon la conception institutionnelle ou «organique», la constitution est l'ordre politique, ou le «principe premier de l'unité politique ou de l'ordre politique» 24 . En tant qu'organisation, elle règie l'action et la vie de l'Etat tout comme la constitution règie la vie et le mouvement du corps physique. D'où il résulte que tout Etat a une constitution, «car tout ce qui existe a une manière d'existence, bonne ou mauvaise, conforme ou non à la raison." 25 . D'une certame manière, cette définition actualise le concept de politeia entendu comme le système éthico-politique tout entier, et non pas une loi suprème de l'Etat. Il se trouve que cette conception de la constitution est souvent, - mais pas toujours - attachée à une pensée politique anti-libérale car cette primauté de l'ordre politique - du Tout - suppose d'admettre une (ou des) autorité(s) capable^) de créer et de maintenir un tei ordre. La constitution est alors ce qui permet de conserver l'unité d'un peuple face aux forces centrifuges (internes à 21 Η. A. Lloyd , «Le constitutionnalisme», chap. IX, in J. Η. Burns (dir.), Histoire de la pensée politique moderne (1991), trad, fr., Paris, PUF, 1997, p. 231. 22 C. J. Friedrich , (1950) La démocratie constitutionnelle, Paris PUF, 1958, p. 00. 23 «The whole legal framework of the state» C. H. Mac Ilwain, Constitutionnalism ancient and modern, Ythaca, Cornell University Press, 1940, p. 26. 24 M. Fioravanti , «Costituzione e Stato di diritto», in Filosofia politica, N°2, dèe. 1991, p. 325. 25 P. Rossi , Cours de droit constitutionnel, 2C ed. Paris, 1877, V. 1, p. 6.
27*
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l'Etat ou externes) qui la menacent de manière permanente. Les auteurs de référence sont dans cette perspective Hobbes, Hegel et Cari Schmitt. Selon ce dernier, «une telle constitution est un choix conscient qu'accomplit pour ellemème et que se donne à elle-mème l'unité politique à travers le titulaire du pouvoir constituant.»26. On peut exprimer autrement cette idée en énongant le fait qu'«une Constitution constitue une communauté politique.» 27 . En revanche, la conception normative per£oit la constitution essentiellement comme une loi dotée d'un Statut spécial: elle est une loi fondamentale, au sens où elle est per9ue comme une norme juridique suprème ou mieux comme une collection de normes juridiques suprèmes 28. Elle se caractérise par la prétention à régir de manière globale et unique, par une loi supérieure à toutes les autres normes, le pouvoir politique dans sa formation et ses modes d'exercice.» 29. Traditionnellement, cette conception normative emprunte son fondement philosophique au courant de la pensée politique qui, remontant à Locke et allant jusqu'à Rawls, envisage la constitution comme une technique de limitation du pouvoir destinée à garantir la liberté de l'individu. Il y a identification entre sa juridicité et sa finalité libérale comme l'atteste la définition suivante de Hayek: «Une constitution destinée à limiter le pouvoir doit, outre des dispositions concernant la dévolution des pouvoirs, inclure des règles positives. (..) L'idée d'une constitution implique done non seulement l'idée d'une hiérarchie des autorités ou pouvoirs, mais aussi celle d'une hiérarchie des lois et règles (..)»3°. Mais depuis l'avènement du positivisme juridique, les juristes ont cessé de corréler constitution normative et finalité libérale. Dans les deux hypothèses (organique et libéral), la constitution est comprise comme un «remède maximal contre l'arbitraire» 31. Mais l'arbitraire n'est pas ρβΓςυ de la mème manière dans chaque camp. Pour les penseurs constitutionnalistes, le plus souvent anglais ou américains, le danger d'arbitraire vient d'abord et avant tout du pouvoir, done de l'Etat (des pouvoirs actifs: législatif et
26
Théorie de la Constitution, 1928, trad, fr., Paris, PUF 1993, p. 152. U. Preuß, «Der Begriff der Verfassung und ihrer Beziehung zur Politik», in U. Preuß (Hg.), Zum Begriff der Verfassung. Die Ordnung des Politischen, Fischer, 1994, p. 9. 28 Par exemple, v. la définition de A. Esmein : «la constitution n'a pas pour but de créer l'Etat qui lui est préexistant et qui résulte du fait naturel de la formation naturelle ; elle a pour objet de déterminer simplement la forme de l'Etat et du gouvernement. C'est une loi qui, au fond est de la mème nature que les autres ; c'est artificiellement, quoique par une combinaison très sage, qu'on a donné aux lois constitutionnelles une stabilité et une force particulière, en les soustrayant au pouvoir de législation ordinaire. Elles sont simplement plus importantes et plus difficiles à protéger. «Eléments de droit constitutionnel fran^ais et comparé, 2° éd. Paris, Sirey, 1896 . p. 234 . 27
29 30 31
D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, Suhrkamp, 1991, p. 37. La Constitution de la liberté, trad, fr., Paris, Litec, 1994, p. 177. M. Fioravanti , loc. cit. p. 326.
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exécutif) auquel on oppose les droits et libertés des individus - et des individus seulement. En revanche, pour les tenants de la conception institutionnelle de la Constitution, le danger d'arbitraire provient des puissances extérieures (Etats ou groupes étrangers) et des forces de la société civile (individus ou groupes) qui menacent toujours l'unité politique et sociale d'un pays. La constitution entend réaliser dans le premier cas, la conciliation entre liberté et pouvoir, et dans le second, la conciliation entre l'ordre de l'Etat et la cohésion sociale. Il en résulte une différence fondamentale d'appréciation des rapports entre le droit et l'Etat. La vision constitutionnaliste considère l'Etat comme limité et dominé par le droit. C'est le thème de la rule of law dont la traduction moderne est l'idée d'Etat de droit, c'est-à-dire l'idée que le droit doit ètre supérieur à l'Etat, doit prévaloir sur la raison d'Etat. A l'inverse, la conception institutionnelle place d'abord l'Etat comme configuration «éthico-politique» (Hegel) avant le droit car elle estime que le droit ne peut exister sans une structure politique sousjacente et préexistante, si l'on ne veut pas assister à une domination de la société civile (des puissances privées). Comment alors se situe Montesquieu par rapport à cette tradition de pensée ? Cari Schmitt le range parmi les auteurs qui défendent la «notion idéale de la constitution libérale bourgeoise» et qui auraient le mieux illustré la «distinction entre constitutions assurant la liberté et constitutions ne l'assurant pas»32. Mais au rebours d'une telle interpretation unilatérale qui classe, trop rapidement, Montesquieu parmi les précurseurs de l'Etat de droit libéral-bourgeois, nous voudrions souligner qu'il occupe, à propos de la constitution, une place originale et atypique dans la configuration du constitutionnalisme européen. D'un coté, comme tous les libéraux, l'auteur de YEsprit des Lois souhaite bätir une théorie politique capable de marier la liberté avec la constitution, et done de proposer une théorie du gouvernement modéré, meilleure forme de gouvernement. Dans cette mesure, il fait partie des auteurs qui ont oeuvre en vue du passage du constitutionnalisme ancien au constitutionnalisme moderne 33. Mais, d'un autre coté, sa pensée constitutionnelle renoue, en partie, avec la tradition de la philosophic politique grecque et de la politeia d'Aristote. Ainsi, quoique libéral et constitutionnaliste- et là se situe le paradoxe -, Montesquieu défend plutòt une conception institutionnaliste proche d'Aristote et de Hegel. On peut alors saisir le paradoxe de Montesquieu: un penseur institutionnaliste de la
32 Théorie de la constitution, trad. fr. Paris, PUF, 1994, pp. 168-169 (Verfassungslehre, Berlin, Duncker u. Humblot p. 30). Schmitt se réfère de manière d'ailleurs peu fidèle à l'Esprit des Lois: «Certaines constitutions visent la gioire de l'Etat, d'autres la liberté politique du citoyen», alors que la citation exacte est: «les monarchies que nous connaissons n'ont pas la liberté pour leur objet direct; elles ne tendent qu'à la gioire des citoyens, de l'état et du prince» (EdL, XI, 7). 33 J. Sklar , Montesquieu, p. 113.
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Constitution qui défendpourtant une conception libérale de la Cité . Le présent article est principalement consacré à ce paradoxe.
I. Montesquieu dans «l'histoire du concept» de la constitution en France du XVIème au XVIIIème siècle La méthode de Γ«histoire des concepts»(Begriffsgeschichte) peut se révéler très fructueuse pour le juriste versé dans les affaires constitutionnelles, comme le prouvent à l'envi les études du dédicataire de ces Mélanges34 ainsi que d'autres études35. «L'histoire des concepts» est définie par son principal théoricien comme «une méthode spécialisée de critique des sources, attentive à l'emploi de notions politiques et sociales essentielles.»36 Elle enseigne l'.historicité des concepts politiques, sans pour autant se limiter à une pure et simple histoire du langage (sémasiologie)37. En d'autres termes, si la sémantique historique est nécessaire à toute histoire des concepts, elle ne l'épuise pas. Celle-ci se distingue, en outre, de l'histoire sociale par le fait qu'elle considère les textes non pas comme un prétexte pour en déduire des faits sociaux, mais comme des sources essentielles de l'histoire, des signes en quelque sorte de l'histoire événementielle. «L'histoire des concepts, en tant que discipline historique, a toujours affaire à des situations et des événements politiques et sociaux - mais seulement à ceux déjà saisis par le langage des sources» 38. Elle présente done l'immense intérèt de relier l'histoire de la pensée politique tant à celle du langage39 qu'à l'histoire sociale. Désormais, les concepts ne sont plus à la remorque de l'his34 V. H. Quaritsch , «Otto Brunner ou le tournant dans l'histoire de l'écriture de l'histoire constitutionnelle allemande», Droits, n° 22, 1995, p. 145 et s. - qui résumé bien pour le lecteur fransais l'apport des travaux de Brunner et Koselleck et de leur fameux Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart, Emst Klett/Cotta (6 Bde). V. en Italie, l'entreprise menée par la revue de Filosofia politica (Il Mulino) qui publie régulièrement des Materiali per un Lessico politico europeo. Pour la constitution, voir le numéro spécial, 19991 N°2 et sur le rapport entre histoire des concepts et philosophie politique, v. les articles de Μ. Richter, J. Pocock, R. Koselleck et G. Duso, dans le récent numéro de Filosofia Politica t. X I (1997), n° 3. 35 On songe à l'ouvrage de D. Grimm / H. Mohnhaupt, Verfassung. Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zum Gegenwart. (Zwei Studien), Berlin, Duncker u. Humblot, 1995. 36 R. Koselleck, Le futur passé, Paris, éditions de l'EHESS, 1990, p. 105.. 37 Koselleck considère que c'est une erreur de vouloir réduire l'histoire des concepts à l'histoire du langage. Il y insiste: elle «ne peut en aucun cas se limiter au sens des mots et à leur changement.» (Ibid., p. 111). Il le montre àpropos de la sécularisation (p. I l i ) ou de l'Etat (p. 116). 38 Ibid., p. 110. 39 Sur cette importante question de méthode, outre Koselleck, v. en langue fran^aise, l'article précité de Quaritsch.
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toire sociale et politique, mais constituent un facteur de développement de cette histoire 40 . Par ailleurs, l'histoire des concepts renouvelle l'histoire des idées ou des doctrines en tentant de «rompre le cercle vicieux naif qui va du mot à la chose»41. (..) Un mot devient concept quand la totalité d'un ensemble de significations et d'expériences politiques et sociales dans lequel et pour lequel ce mot est utilisé, entre dans ce seul mot. Les concepts sont done des concentrés d'une multitude de significations. (..) Un mot contieni des possibilités de signification, un concept réunit en lui un ensemble de significations.» 42 Plus fondamentalement encore, en rappelant la double nécessité d'une sémantique historique et d'une histoire socio-politique, «l'histoire des concepts» {Begriffsgeschichte) peut ètre un moyen d'éviter le piège de l'anachronisme. Elle fait prendre conscience du fait que «les concepts ne sont pas simplement exprimés par des mots, mais qu'ils n'obtiennent leur signification précise qu'au sein d'un contexte général théorico-historique dans lequel ils sont insérés et où ils jouent un role déterminé» 43. On peut done tenter de réexaminer la constitution dans l'oeuvre de Montesquieu sous cet angle de «l'histoire des concepts», en accordant toute sa place à la sémantique historique, mais sans y ètre inféodée. De ce point de vue, comme l'a montré l'étude pionnière d'Elie Carcassonne44, l'Esprit des Lois marque une césure importante dans l'histoire du concept de constitution en France. Cet ouvrage majeur a acclimaté la notion de constitution politique en France.
1. Brève «histoire du concept» de constitution au XVIIIème siècle Afin de montrer dans quelle mesure le magistrat bordelais a innové dans l'usage du mot de constitution par la signification qu'il lui a donné, il convient d'abord de dessiner le tableau sémantique de ce mot dans le XVIIIème siècle frangais. A l'origine, le terme de constitution qui vient du latin constitution renvoie tantot aussi bien à la médecine (où il décrit l'idée d'état, d'ordre ou d'organisa40 «Un concept n'est pas seulement l'indice des rapports qu'il saisit, il est aussi l'un de leurs facteurs.» Ibid., p. 110. Koselleck prend pour exemple l'histoire du concept de fédéralisme en Allemagne, Ibid., p. 111. 41 Ibid., p. 110. 42 Ibid., p. 109. 43 La formule est de G. Duso, «Mandatskontrakt, Konsoziation und Pluralismus in der politischen Theorie des Althusius» in G. Duso / W. Krawietz / D. Wyduckel (Hg.), Konsens, Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, Berlin, Dunckeru. Humblot, 1997, p. 65. 44 Montesquieu et le problème de la constitution fran9aise au X V I I I ° siècle, Paris, PUF, 1927.
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tion d'un tout), qu'au droit, où il désigne à la fois un ensemble de textes pontificaux ou monastiques45 et un acte de procédure ou d'établissement d'un acte authentique (par exemple en droit privé, d'une «constitution de rentes» ou de «constitution d'hypothèques»). De mème, il se réfère autant au corps d'un individu («la constitution humaine») qu'à un corps social ou abstrait - désignant par là, très tòt, «la manière dont une chose est faite, la composition d'une chose»46. La riche polysémie du terme lui a permis un usage très extensif. En trois étapes historiques qui s'échelonnent du XVIème au XVIIIème siècle, ce terme de constitution a acquis une acception politico-juridique (de droit constitutionnel) qui est devenue prédominante depuis les deux Révolutions américaine et fran47
9aise . Pour ce qui concerne le cas particulier de la France, il est avéré que le mot mème de constitution, employé sans qualificatif, n'a pendant longtemps pas eu de réelle signification politique dans l'Ancien Régime. Pendant très longtemps, les dictionnaires indiquent deux acceptions non politiques: d'une part, l'idée d'une composition ou naturelle ou la disposition artificielle des parties d'un ensemble (par exemple: la complexion d'un corps humain) et une autre acception relevant du vocabulaire de la création (en astronomie ou dans l'art poétique). Dans les deux cas, «il manque toute référence explicite du mot - sans complément déterminatif - à la structure du corps politique et à la composition d'un régime» 48 . Deux indices sérieux en attestent. Au milieu du XVIIIème, la «Constitution» tout court (sans complément déterminatif) évoque dans l'esprit public la bulle Unigenitus du pape Clément X I (1713) qui divisa les jésuites et les jansénistes et donna lieu à une rude bataille tout au long de ce siècle49. Ferdinand Brunot, dans son oeuvre de précurseur, a noté l'importance de cette querelle politico-religieuse qui marqua tellement les esprits qu'elle donna naissance aux deux néologismes sans postérité, de «constitutionnaires» (ou «unigénitaires») et d'«anti-constitutionnaires» pour désigner les partisans ou adversaires de la
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Pour le droit, l'origine romano-canonique du terme ne fait aucune doute: «Ce mot re9oit en droit canonique une signification qui lui vient du droit romain où il servait à désigner les prescriptions émanant de l'empereur (v. Ulpien , Dig. I, I, tit IV sont. I, § 1). .. «Constitution» in R. Naz, Dictionnaire de droit canonique, Paris, Letouzey, 1949, t. IV, p. 427. 46 P. Richelet , Dictionnaire fran9ois contenant les mots et les choses , tome I, 2° éd. Genève, 1693, p. 253. Cité par H. Mohnhaupt / D. Grimm , op. cit. p. 39. 47 Nous nous permettons de renvoyer ici à notre article précité «Constitution et constitutionnalisme» pp. 119-121. 48 Μ. Valensise , «La constitution fran9aise», chapitre 24 de K. Baker (ed.), The French Revolution and the Creation of moderne political Culture, Vol. I The Political Culture of the Old Regime, Oxford, New York, Permaon Press, 1987, p. 444. 49 V. sur ce point le beau livre de C. Maire , De la cause de Dieu à la cause de la nation, Paris, Gallimard, 1998 qui peut se lire comme une histoire du jansénisme politique et qui souligne le ròle de l'avocat Le Paige.
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Bulle papale. D'où la pertinence de son diagnostic: «Au commencement du XVIIIème siècle, les querelies religieuses avaient vulgarisé constitution en ce dernier sens [réglement «qui se fait par ordre des Princes ou des Supérieurs]. Il ne s'agissait que de Vappliquer à la politique .»50 D'une certame manière, l'histoire du mot de constitution au XVIIIème siècle correspond à cette autonomisation de sa signification politique qui culminerà dans la célèbre remarque de Turgot à Louis XVI: «la cause du mal, Sire, vieni de ce que voire Nation η' a pas de Constitution ». Comme souvent, les dictionnaires font preuve d'une certaine inertie lexicale, et ils témoignent d'un retard par rapport à la langue (écrite) en train de se créer. La signification politique et constitutionnaliste du mot tarde à apparaitre dans les dictionnaires de l'époque. Sous la rubrique «constitution», le Dictionnaire Furetière (1727) n'évoque pas du tout l'idée de forme de gouvernement mixte. Plus tard, l'Encylopédie de Diderot et d'Alembert est tout aussi discrète: elle renvoie soit à l'acceptation de droit privé de la constitution, soit aux «constitutions ecclésiastiques». L'acception politique et constitutionnaliste de la constitution ne fut d'abord attestée lexicalement qu'en Suisse à l'occasion de la réimpression de la grande Encyclopédie. Par constitution de l'état (et non pas «Constitution» tout court), on entend «le réglement fondamental qui détermine la manière dont l'autorité publique doit ètre exercée. En elle se voit la forme sous laquelle la nation agit en qualité de corps politique» 51 . Cette signification politique ne commencera à cheminer en France qu'aux alentours des années 1770 où s'effectue une rencontre entre la réception de XEsprit des loix et la reception des idées anglaises. Le Dictionnaire critique la langue frangaise (1787) de l'Abbé Féraud illustre un nouvel état d'esprit puisqu'il définit le terme de «constitutionnel» comme suit: «Mot à la mode depuis qu'on parle tant des affaires de l'Angleterre. Il signifie conforme à la Constitution du gouvernement. Il est légal, constitutionnel, indispensable que le peuple retire son dépòt des mains infidèles (des Ministres) qui en auraient négligé le soin.» Malgré bien des reserves, Brissot peut louer en 1787 la constitution anglaise comme étant «le chef d'oeuvre des constitutions populaires». De mème, l'opuscule du marquis de Cazaux, Simplicité de l'idée d'une Constitution marque les esprits et influence considérablement Mirabeau 52 . On ne peut s'empècher de penser que si le mot de Constitution est devenu à la mode à la veille de la Révolution, c'est bien parce que l'oeuvre de Montesquieu a - on le sait - marqué de son empreinte la littérature politique prérévolutionnnaire 53.
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Histoire de la langue frammise des origines à nos jours, Paris, A. Colin, tome VI, 1930, p. 427. 51 «Dictionaire universel et raisonné des connaissances humaines», F.-B. de Felice, Yverdon, vol. 11 (1772), pp. 189-191. (cité par Μ Valensise , loc. cit. p. 445). 52 Textes cités par E. Carcassonne, op. cit. p. Χ.
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Toutefois, l'usage que fait Montesquieu du terme de constitution révèle un intéressant paradoxe. S'il est bien conscient d'avoir formulé une théorie politique originale dans le contexte fransais de l'époque - c'est-à-dire une théorie libérale dans un climat d'absolutisme -, il n'a pas choisi la notion de constitution comme principal vecteur de sa théorie novatrice. En effet, son oeuvre majeure, l'Esprit des Lois, ne contieni, à proprement parler, ni théorie de la constitution ni de véritable définition de la notion de la constitution. Plus éloquent encore, le mot mème ne figure pas dans l'Index. Fait plus troublant encore: Montesquieu se conforme le plus souvent à l'usage lexical de son époque d'après lequel le mot de constitution est peu utilisé dans le vocabulaire politico-juridique 54 . En effet, «le mot constitution, par lui-mème et sans qualificatif était un néologisme et un anglicisme. L'Académie ne l'admit qu'en 1798, et du temps de Montesquieu, il fallait employer la formule entière: «la constitution du gouvernement» ou «la constitution de l'Etat» 55 . Or, Montesquieu l'emploie le plus souvent de cette manière: il évoque fréquemment la «constitution de l'Etat» ou la «constitution de la république», ou encore la «constitution du Gouvernement» (dans le sous-titre à YEsprit des Lois ). Les rares fois, où le mot de constitution est employé seul, c'est le plus souvent pour se conformer à son acception romanocanonique décrite plus haut (constitutio). Ainsi emploie-t-il le mot de constitution pour désigner tantöt les édits ou les capitulaires, tantot les documents ecclésiastiques. Enfin, de manière également orthodoxe, Montesquieu utilise le terme de la Constitution, seul et avec sa majuscule, pour désigner la Bulle Unigenitus de 171356. Toutefois, il innove véritablement dans la sémantique en intitulant le livre X I de l'Esprit des lois «Des lois qui forment la liberté politique dans son rapport avec la constitution». C'est là que l'autonomisation du mot, qui acquiert un sens politique en devenant l'équivalent de la politeia grecque (v. infra II), accompagne un remarquable tournant conceptuel puisque le mot de constitution est associé à l'idée de liberté et de division du pouvoir. Tel est le sens de la «constitution de l'Angleterre» dans laquelle il prétend avoir trouvé une sorte 53 Mohnhaupt / Grimm , op. cit. p. 42 avec renvoi à E. Carcassone (pp. 65 et s). Ce demier a montré qu'à partir de 1752-1753, le discours d'opposition des parlementaires se radicalise, ce qui est dü évidemment aux circonstances politiques troublées, mais ce qui les conduit à un intense travail «doctrinal», d'étude historique où l'influence de Montesquieu a joué un grand ròle. 54 W. Schmale , «Les parlements et le terme de constitution au XVIIIème siècle en France: une introduction», in II pensiero politico, 20, 1987, référence non retrouvée. 55 R. Shackleton , Montesquieu. Une biographie critique, trd. fr., P. U. Grenoble, 1977, p. 221. 56 Dans le mémoire fort intéressant qu'il a consacré à cette affaire au moment du refus de l'enregistrement par les Parlements d'un édit relatif aux demiers sacrements. «Mémoire sur la Constitution Unigenitus» in (Euvres complètes, éd. Masson, Paris, Nagel, t. 3., p. 469 et s., not. pp. 474-475.
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d'éloge de la liberté du citoyen (EdL, XI, 5 et 6). Par ce détour comparatiste, dont il ne faut pas exagérer la portée, Montesquieu va faire désormais rimer en France constitutionnalisme et anglophilie. «Une sorte d'envie, jointe aux besoins réels, ramena perpétuellement l'attention sur ce sujet. Ce fut un débordement d'articles et de livres. Celui de Lolme est célèbre» 57. Si l'on voulait résumer la pensée de Montesquieu sur la constitution, il faudrait le paraphraser et dire qu'il a «eu des idées nouvelles», mais s'est contenté, si l'on peut dire, de donner une «nouvelle acception» à un ancien mot. Le problème qui reste à résoudre est de savoir pourquoi en appliquant ce mot de constitution au régime politique et social (v. infra § 2 et 3), il lui a conféré une nouvelle signification.
2. Le contexte fran£ais: absolutisme versus constitutionnalisme La modernité de Montesquieu s'éclaire au regard du contexte fran9ais caractérisé par la prégnance de la doctrine absolutiste qui a refoulé et marginalisé l'acception «constitutionnaliste» de la constitution. Il faut done ici partir d'une vérité de base: Montesquieu est un penseur libéral qui écrit dans un Etat non libéral: la monarchie fran9aise du XVIIème siècle58. Sa pensée politique est une pensée d'opposition, mème si le prudent magistrat multiplie les précautions pour déjouer une censure vétilleuse. Ainsi, le constitutionnalisme fran9ais, dont il est sans conteste le représentant le plus brillant, est marginai ou marginalisé. On veut dire par là qu'il n'est concrétisé ni dans les institutions, ni dans la langue politico-juridique officielle qui est la langue de la Cour, - celle de l'Etat -. D'où une conséquence méthodologique, indiquée par Koselleck: pour comprenda un concept, il faut, dans la mesure où l'on tient compie des événements politiques et sociaux, prendre en considération les «concepts parallèles ou antonymes», de manière à redonner «la véritable place d'un mot en tant que 'concept' dans la structure sociale donnée ou les affrontements politiques du moment» 59 . Dans notre cas, le constitutionnalisme fran9ais n'est pensable qu'en fonction de sa position par rapport à son concept antonyme de l'absolutisme. Il faut done remonter à l'élaboration de la doctrine absolutiste à partir du X V I ° siècle qui donne à la monarchie fran9aise sa coloration singulière. Les lé57
F. Brunot , op. cit. p. 428. M. Prélot rapporte Γ interpretation ésotérique que fait Mile de Necker (G. de Stael) de l'épigraphe de l'Esprit des Lois: Prolem sine matre creatam: «cette mère qui n'a pas participé à l'Esprit des Lois, c'est la liberté. Un tei livre expliquait à ses intimes, le seigneur de la Brede, doit étre fait dans un pays de liberté. La liberté en est la mère, je l'ai fait sans mère». «Montesquieu et les formes de gouvernement», in La pensée politique et constitutionnelle de Montesquieu., p. 129. 59 Le futur passé, p. 113. 58
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gistes et politiques du Moyen Age avaient élaboré une doctrine constitutionnaliste selon laquelle le roi devait ètre assujetti à divers principes et n'était done pas au-dessus de la loi. Selon le principe essentiel de cette doctrine, fortement marquée par les origines canoniques et ecclésiologiques, le Prince doit gouverner par consentement60. Or, parmi les autorités compétentes pour lui donner son consentement figurent les cours souveraines, et notamment le Parlement de Paris considéré par les auteurs humanistes (surtout Budé) comme l'équivalent du Sénat romain. A cette doctrine du nécessaire consentement s'ajoute l'idée selon laquelle le Prince doit respecter les coutumes et ne peut pas les modifier unilatéralement. Ce constitutionnalisme médiéval invoqué par les juristes humanistes connait cependant des variantes au cours du XVI° siècle à la fois dans la justification de ces pouvoirs de contròie et dans les modes de limitation de la puissance royale, «absolue» seulement en principe. D'après l'une d'elles (Bohier, Chasseneuz), la limitation du pouvoir par le droit (la «lex» ) est fondé sur une réinterprétation de maximes du droit romain, tandis que la seconde plus tardive, qui est celle de l'école des antiquaires (Seyssel, Pasquier, du Haillan) invoque davantage le droit historique, c'est-à-dire la coutume. Quant au domarne et aux autorités du contròie, il s'étend lorsque certains auteurs entendent confier aux Etats-Généraux une fonction de conseil public qui aurait pu en faire le prototype d'un Parlement représentatif moderne 61. On peut done dire que la tradition des juristes fransais est jusqu'à 1572 celle de la monarchie limitée. Pourtant, malgré les efforts de ces légistes favorables à une théorie du gouvernement limité 62 et, ensuite, des auteurs huguenots militant pour le droit de résistance à la tyrannie, la France ne va pas connaitre le mouvement de limitation du pouvoir royal qui a eu lieu en Angleterre au X V I I ° siècle. N i les Parlements de justice, ni les Etats-Généraux n'ont réussi à s'imposer vraiment comme des «dépositaires» de la liberté ou «des lois fondamentales de la nation». A partir des Six Livres de la République de Jean Bodin (1576), la notion de souveraineté de l'Etat fait obstacle au développement non seulement du constitutionnalisme médiéval, mais aussi et surtout du constitutionnalisme moderne. L'opposition entre le constitutionnalisme médiéval et la souveraineté de l'Etat est inévitable: elle sera tranchée en France au détriment du premier pour que la seconde s'impose. Toutefois, la souveraineté n'exclut pas nécessairement le concept de constitutionnalisme moderne, comme le prouve le déve-
60 V. notamment B. Tierney , Religion et droit dans le développement de la pensée constitutionnelle (1150-1650), trad. fr. PUF, coll. Léviathan, 1993. 61 J. Franklin , Jean Bodin et la naissance de la théorie absolutiste, (1973) trad. fr. PUF, Paris, 1993. 62 II faut ici citer l'oeuvre de Guy Coquille qui se fonde essentiellement sur les coutumes du droit privé pour prouver l'existence de simples »degrés de souveraineté« et pour s'opposer à la théorie de Bodin. V. à son sujet, les remarques de H. Lloyd loc. cit. pp. 257-260.
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loppement en Angleterre et en Amérique d'un Etat limité. Mais, en France la souveraineté de l'Etat est interprétée depuis Bodin au sens absolutiste du terme: elle est indivisible au sens où elle est détenue et exercée exclusivement par le Souverain. Une telle conception interdit que d'autres instances aient le droit participer à la co-décision, ou de contròler l'exercice de la puissance souveraine 63. Il n'y a done pas de place pour une pratique du gouvernement mixte, c'est-à-dire une constitution à l'anglaise. On pourrait croire que le triomphe de la souveraineté au sens absolutiste a oblitéré, en France, le mot mème de constitution. Ce serait toutefois commettre une erreur car les théoriciens de la monarchie ne cessent d'invoquer l'existence d'une «constitution monarchique». Le problème qui se pose alors est celui de la signification de cette expression qui fait l'objet d'une intense lutte sémantique entre le Roi et les Parlements. Mme d'Epinay a parfaitement résumé le problème constitutionnel par excellence de l'Ancienne France. «Il est certain que depuis l'établissement de la monarchie fran9aise, cette discussion d'autorité, ou plutöt de pouvoir, existe entre le roi et le Parlement. Cette indécision mème fait partie de la constitution monarchique; car si on décide la question en faveur du roi, toutes les conséquences qui en résultent le rendent absolument despote. Si on la décide en faveur du parlement, le roi, à peu de chose près, n'a pas plus d'autorité que le roi d'Angleterre; ainsi, de manière ou d'autre, en décidant la question, on change la constitution de l'Etat.» 64 . Soulignons que les théoriciens de la monarchie fran9aise ne per9oivent pas du tout la «constitution monarchique» comme étant despotique. A la suite de Bodin qui dissociait déjà «monarchie royale» et tyrannie, mais surtout à la suite de Bossuet, ils distinguent, jusqu'au XVIII° siècle, la «puissance absolue» du Monarque de la «puissance arbitraire» qui est, elle seule, assimilée à la puissance despotique. A l'époque, où le discours constitutionnel est surdéterminé par la question des droits historiques des Francs (sont-ils des Germains ou des Romains ?) 65 , l'abbé Mably défend l'idée de gouvernement royal qui tiendrait «un milieu ambigu entre l'Aristocratie et la monarchie» et aurait l'avantage d'ètre tempéré par le «mélange des anciennes loix et des usages nouveaux». Bien qu'absolu, le pouvoir royal serait done modéré par les coutumes et l'opinion. Il serait dans l'incapacité de changer la forme de gouvernement, comme en témoigne la loi salique, la première des lois fondamentales du royaume. Elle 63 V. sur ce point Η. Quaritsch , Staat und Souveränität, Frankfurt, Athenaeum, 1970, et Souveränität, Berlin, Duncker und Humblot, 1986. 64 Lettre de Mme d'Epinay à l'abbé Galiani, 11 avril 1771, citée par Elie Carcassonne, op. cit. pp. 456-457. 65 V. sur ce point, voir l'intéressant entretien entre Claude Nicolet et Catherine Larrère , »Vers un nouveau Montesquieu« in Revue Montesquieu, n° 2, 1998, pp. 165 et s., dans lequel Nicolet rappelle la question qui hante les Fran9ais de l'époque: »Sommesnous des Romains ou des Germains ? « (p. 165).
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«suffit pour mettre l'Etat au-dessus du Roi» 66 et témoignerait de la supériorité du gouvernement fransais sur le mode de gouvernement anglais. Ainsi, se fondant sur cette loi de succession des monarques, Bossuet écrit que «la France; où la succession est réglée selon ces maximes, peut se glorifier d'avoir la meilleure constitution d'état qui soit possible, et la plus conforme à celle que Dieu mème a établie»67. Dans cette acception, la constitution désigne les lois fondamentales du royaume, et a un sens étroitement juridique. C'est la manière dont s'opère la succession royale qui est selon l'Évèque de Meaux, «le critère de la meilleure constitution d'Etat»68. La constitution n'est rapportée qu'à l'Etat dynastique, et non pas au régime politique. L'équiparation effectuée entre constitution et lois fondamentales, loin de tempérer la puissance royale, correspond à la signification absolutiste du ius regis , de prérogatives indispensables à l'existence de l'Etat, que Jacques Ier Stuart avait voulu imposer en Angleterre. A la veille de la Révolution frangaise, Jacob Nicolas Moreau publie un livre en défense de la monarchie, intitulé Exposition et défense de la Constitution monarchique , cette dernière expression désignant surtout la forme d'organisation du pouvoir spécifique à la monarchie frangaise. Comme on peut s'en douter, l'expression de lois fondamentales fait l'objet d'une bataille sémantique aussi intense que celle de constitution. On le verrà à propos du discours des parlementaires. Mais, dès le début du X V I I P siècle, un monarchiste modéré comme Richer d'Aube rappelle l'exemple de Charlemagne et des Capitulaires pour souligner la nécessité d'un consentement entre tous les ordres de l'Etat pour l'établissement de la législation. Un tei consentement, explique-t-il -, tient «à la Constitution de l'Etat». Conformément à la mode du XVIIIème qui consiste à justifier historiquement des droits qui se passaient auparavant de justification, le mème auteur précise qu'il s'agit en l'occurrence de la «constitution originaire de l'Etat». Ainsi, l'invocation de la «constitution de l'Etat» renverse l'argumentation absolutiste de Bossuet en mentionnant la vieille revendication constitutionnaliste de co-décision à la fonction «législative». Alors que les théoriciens de la monarchie absolue cantonnent les lois fondamentales au domaine de l'institution de l'Etat, les partisans d'un gouvernement limité essaieront au contraire d'étendre leur nombre et leur nature. C'est le cas de Montesquieu - comme on le verrà - qui met au nombre des lois fondamentales de la monarchie l'existence de corps intermédiaires par lesquelles «coule la puissance» (EdL , II, 4) et qui done sont destinés à limiter la puissance
66 R. Mousnier , »Comment les Francais du X V I I ° siècle voyaient la Constitution, X V I I ° siècle«, (1955), in R. Mousnier , La piume, la faucille et le marteau, PUF, 1970, p. 48. 67 Politique tirée, in CEuvres complètes de Bossuet, éd. de Lachat, Paris, Col. XXIII, Paris, 1864 p. 528 (Livre II Art. 1, Xlème proposition). 68 Mohnhaupt, op. cit. p. 41.
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royale. Mais c'est surtout le cas des Parlements de justice, qui après 1750 useront de leur droit de remontrances pour défendre les lois fondamentales qui ne sont plus celles du royaume, mais de la nation. Grace au recours à l'histoire, notamment à la liberté politique des Germains maintenue intacte et au droit de l'époque franque ou mérovingienne (Lex consensu populi fit et constitutiones Regis) les Parlements sont érigés en «dépositaires» des lois fondamentales. D'Argenson résumé les pretentions de ces parlementaires par une formule typique du constitutionnalisme médiéval: «la nation est au-dessus des rois comme l'église universelle au-dessus du pape». Au terme de cette évolution qui s'accélère à la fin du XVIII° siècle, les Parlements réussissent à associer les lois fondamentales, la constitution et les droits de la Nation dans un mème discours argumentatif opposé à la théorie de la toute-puissance royale. Le Parlement de Paris s'estime fondé à qualifier une imposition fiscale du Roi de «voie de fait qui porte atteinte à la constitution du Gouvernement fransais et qui doit rencontrer autant d'obstacles insurmontables qu'il est de tribunaux dépositaires par état des lois inviolables qui forment le droit sacré de la nation.» 69 . Le processus de subversion de l'expression de la loi fondamentale a atteint une sorte de sommet dans les théories parlementaires. Mais à la différence de ce qui s'est passé aux Etats-Unis, le mot de constitution sous Γ Ancien Régime ne réussit pas à se doter d'un contenu juridique susceptible de fonder des décisions de justice. Le verrou absolutiste s'y oppose. Ainsi, en 1774, les membres du Parlement de Paris invoquent à nouveau les «droits inaltérables de la Nation», mais le Monarque répond qu'il se réserve, et lui seul, le droit de défendre «la Constitution de l'Etat, les lois anciennes, les maximes et les principes , les droits des différents ordres et des différents classes de sujets» 70. Ainsi, cette tentative de subversion de la loi fondamentale échouera et le retournement libéral de l'expression qu'a connu l'Angleterre ne se produira pas en France avant l'explosion révolutionnaire de 1789. C'est Sieyès qui réussira à donner un tour révolutionnaire et moderne aux concepts de constitution et de lois fondamentales, en abandonnant l'argument des droits historiques au profit celui, authentiquement révolutionnaire, du droit naturel. C'est peut-ètre d'ailleurs ce triomphe de la théorie révolutionnaire de Sieyès qui va éclipser le sens politique et «organique» de la constitution chez Montesquieu. Après avoir largement planté le décor dans lequel s'inscrit sa pensée constitutionnelle, il convient maintenant de «creuser» son concept de constitu-
69 Remontrance du 16.XII. 1763, in Flammermont, t. II, p. 417, cité par E. Carcassonne, ρ 292. 70 Arrèté du 8 janvier 1775, in Remontrances, Flammermont, t. III, p. 256. Cité par E. Carcassonne , op. cit. p. 466. V. aussi pour cette question du conflit entre le Parlement et le roi, R. Bickart , Les Parlements et la notion de souveraineté nationale au XVIIPs., thèse, Paris, 1931.
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tion qui se situe au confluent de deux traditions, la tradition grecque de la politela et la tradition libérale.
I I . L a constitution comme nouvelle politela Au rebours des anciennes interpretations qui faisaient de Montesquieu le précurseur de la sociologie et de la science politique 71 décrivant de manière objective les faits sociaux et les règles de droit, les nouveaux commentaires tendent plutòt à comprendre son projet comme s'inscrivant «dans la tradition classique de la philosophic politique» 72 ou «dans la grande tradition antique»73. En effet, le magistrat bordelais considère que la «science du bien et du mal politiques est (..); comme chez Aristote, une science à visée normative et pratique, qui doit former des législateurs. «Je dis, et il me semble que je n'ai fait cet ouvrage que pour le prouver: l'esprit de modération doit ètre celui du législateur ; le bien politique, comme le bien moral, se trouve toujours entre deux limites» {EdL, X X I X , l) 7 4 . Contestant le monopole des sciences physiques, Montesquieu semble regretter que le «bien et le mal politiques sont, parmi nous, un sentiment plutòt qu'un objet de connaissances. Ainsi - continue-t-il - n'étant point né dans un siècle qu'il me fallait, j'ai pris le parti (..) de me mettre dans l'esprit que, dans sept ou huit cents ans d'ici, il viendra quelque peuple à qui mes idées seront très utiles» 75 . Il serait done anachronique d'attribuer à Montesquieu l'idée de séparer les faits des valeurs, Tètre du devoir-ètre. Comment pourrait-on alors expliquer sa ferme condamnation du despotisme et de l'esclavage et son vibrant plaidoyer en faveur de la modération du pouvoir ? Homme de son temps, il use d'une raison qui est à la fois descriptive et normative, «qui dit à la fois le fait et le droit» 76 . 71 C'est surtout Durkheim qui a ici montré la voie en soulignant la nouveauté de la »méthode sociologique«. Selon M. Duverger, Montesquieu aurait »fondé la Science politique. (..) L'Esprit des Lois a réalisé une immense revolution intellectuelle, en changeant totalement l'angle d'approche du problème. Il ne s'agissait plus désormais de discuter le droit de gouverner, au point de vue moral ou métaphysique, mais d'analyser le fait gouvernemental, de considérer le pouvoir comme un animai d'une espèce particulière, dont il faut décrire l'anatomie, la morphologie, la physiologie (..) «Montesquieu et notre temps», in Deuxième centenaire de l'Esprit des Lois de Montesquieu, Bordeaux Delmas, 1949 pp. 232-233. 72
C. Larrère , «Montesquieu», p. 401, v. aussi Th. Pangle , Montesquieu's Philosophy of Liberalism, Chicago, 1973. 73 V. Goldschmidt, Introduction à De l'Esprit des Lois, tome 1, Paris, Flammarion, coll. GF, 1979, p. 22. 74 C. Larrère ibid. p. 401. 75 Pensées n°1940, cité par V. Goldschmidt. 76 C. Larrère , loc cit. p. 401. V. également sa remarque dans son compte-rendu du livre de M. Binoche , ouvrage qui évite l'erreur «d'attribuer à Montesquieu une séparation
La notion de constitution chez Montesquieu
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Ainsi s'explique sa perception du droit considéré «comme science et comme art, ce que déjà Ton nommait, ce que Ton nomme encore législation»77. Bien entendu, la constitution, dans son acception politique, n'échappe pas à la règie de cette méthode: elle sera aussi οοηςυε de manière descriptive et prescriptive. C'est en ce sens là qu'elle peut ètre interprétée comme une nouvelle politeia. La théorie constitutionnelle de Montesquieu présente alors l'intérèt d'établir (ou de rétablir) un pont entre le constitutionnalisme ancien et le constitutionnalisme «moderne». Inspirée par l'idée grecque de la politeia , la conception de la constitution chez Montesquieu tente d'articuler ensemble le droit et la politique à partir d'une idée de totalité qui le rapproche des tenants de la conception institutionnelle de la constitution.
1. Retour à la politeia d'Aristote «L'Antiquité classique ne s'est pas posé le problème technique de la constitution, et, d'autre part, on ne peut pas dire qu'il n'y ait aucun rapport entre le concept grec de constitution et le concept moderne» 78. Ce diagnostic de dissemblance et de ressemblance entre la politeia et la constitution normative vaut également pour la comparaison avec la conception de la constitution entendue au sens organique. La politeia grecque spécifiait à l'origine aussi bien la participation des citoyens à la vie politique et la somme des citoyens que la forme de gouvernement, c'est-à-dire aussi bien la citoyenneté que la constitution. Dans le langage politique grec, la politeia a une acception bien plus large que le régime politique par lequel elle est souvent traduit puisqu'elle désigne aussi bien la constitution, la vie politique, le droit de cité que le gouvernement. Mais, malgré l'intérèt d'une étude du terme de politeia dans toute son amplitude et dans son acception concrète (ce que ce terme signifiait pour les Grecs), on s'arrètera surtout ici à la signification qu'il a acquise dans l'oeuvre d'Aristote. En réalité, le mot de politeia revèt, dans celle-ci, deux significations différentes. Selon la première, lato sensu, la politeia se réfere à l'organisation politique dans son ensemble. Dans ce cas, elle «peut désigner le fonctionnement de cette forme d'organisation humaine qu'est la polis,» 79. Il faut - nous recommande Pierre Pelle-
entre fait et valeur, qui lui est cependant étrangère», in Revue Montesquieu, n° 2 (1998), p. 191. 77 J. Carbonnier, «Législation et religion mélés dans la sociologie de Montesquieu», in Revue d'histoire et de philosophie religieuses, oct-déc. 1982, pp. 363. 78 E. Cr osa, «L'idée de la constitution dans l'Antiquité classique» in Revue internationale d'histoire politique et constitutionnelle, 1955, t. 1 (nouv. sèrie), p. 188. 79 P. Pellegrin «Aristote politique: unité et fractures. Eloge de la lecture sommaire» in P. Aubenque (dir.), Aristote politique. Etudes sur la Politique d'Aristote, PUF 1993, 28 FS Quaritsch
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Olivier Beaud
grin - traduire alors politeia, non par «constitution», mais plutòt par «organisation politique» 80 . Mais, d'un autre coté, la politeia ; prise dans un sens plus restreint, peut désigner plus spécifiquement, ce que nous appelons proprement une «constitution». La politeia est alors définie comme «l'ordre des pouvoirs». CPolitique , III, 6, 1278 b-8-la) 8 1 . Le passage le plus révélateur de cette acception est celui dans lequel Aristote écrit: «Car une constitution est une organisation qui concerne les magistratures dans les cités, de quelque manière qu'elles sont partagées, laquelle est souveraine dans la constitution et quelle est la fin de chacune des communautés. Mais les lois sont distinctes des dispositions constitutionnelles et c'est selon les lois qu'il faut que les gouvernants gouvernent et qu'ils les protègent contre ceux qui les enfreignent.»(/ >o////