Sprachphilosophische Versuche 9783787326112, 9783787302536

Tetens, der als einer der ersten in Deutschland sich mit Hume beschäftigte und starken Einfluß auf Kant ausübte, hat sic

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German Pages 246 [293] Year 1971

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Sprachphilosophische Versuche
 9783787326112, 9783787302536

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JOHANN NICOLAUS TETENS

Sprachphilosophische Versuche Mit einer Einleitung von ERICH HEINTEL

herausgegeben von HEINRICH PFANNKUCH

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 258

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­ sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. isbn 978-3-7873-0253-6 ISBN eBook: 978-3-7873-2611-2

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1971. Alle Rechte vor­ behalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

INHALT

Einleitung: Tetens als Sprachphilosoph Von Erich Heintel 1. Johann Nicolaus Tetens . . . 2. Philosophischer Standpunkt . 3· Etymologie . . . . . . . . 4· Ursprung der Sprache . . . . 5· Sprachfähigkeit des Menschen Anmerkungen . . . . . . . . .

VII XI XVIII XXI . XXXI . XXXV

Sprachphilosophische Versuche Von J ohann Nicolaus T etens I Über die Grundsätze und den Nutzen der Etymologie (1765-1766)

Über die Grundsätze und den Nutzen der Etymologie § 1 § 2 § 3 § 4 § 5 § 6 § 7 § 8 § 9 § 10 § 11 § 12 § 13 § 14 . . . . . . . . . Über den Nutzen der Etymologie

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Inhalt li Über den Ursprung der Sprachen und der Schrift (1772)

I. Nähere Bestimmung der Aufgabe . . . li. Natürliche Fähigkeiten des Menschen III. Der Mensch ohne alle Gesellschaft. Der Mensch in Gesellschaft mit den Tieren. Der Mensch in Gesellschaft mit seinesgleichen IV. Mögliche Anfänge einer Sprache . . . . . V. Mögliche Anfänge einer menschlichen .............. . Sprache VI. Weitere Fortgänge in der Sprache. Vermehrung der Töne und der Begriffe. Entstehungsart der Redeteile. Verschiedenheiten der Sprachen, sowohl in den Wörtern, als in der Grammatik . . . . . . . . VII. Artikulation der Wörter. Erfindung der Buchstabenschrift Beschluß . . . . . . .

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ss 77 86

III Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung (1777)

Eilfter Versuch Über die Grundkraft der menschlichen Seele, und den Charakter der Menschheit I. Ob wir eine Idee von der Grundkraft der Seele haben können, und welche? 1) Was eine solche Grundkraft sein soll? 2) Ist eine Vorstellung von ihr möglich? 3) Ist das Gefühl die Grundkraft der Seele? li. Von dem Unterscheidungsmerkmal der menschlichen Seele, und dem Charakter der Menschheit 1) Wiefern es bei jedweder Hypothese über die Natur der Seele dennoch einen Grundcharakter der menschlichen Seele vor anderen Tierseelen geben müsse . . . . .

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Inhalt

2) Die Eigenheiten der menschlichen Seele vor den Seelen der Tiere . . . . . . . . 3) Ob der Grundcharakter der Menschheit in der Perjektibilität gesetzt werden könne? 4) Ob das Vermögen der Reflexion diesen Grundcharakter ausmache? . . . . . . 5) Prüfung der Herderischen Ideen. Ob das Verhältnis der Extension zur Intension in der Naturkraft für den Grundcharakter zu halten sei? . . . . . . . . . . . . III. Von der inneren Selbsttätigkeit der menschlichen Seele 1) Worin diese Selbsttätigkeit zu setzen ist . . . . . . . . . . . . 2) Ein höherer Grad von ihr gehört zu den Eigenheiten des Menschen . . . . . 3) Wieferne darin der Grundcharakter der menschlichen Seele liege? . . . . . . 4) Ob dieser Grundcharakter bestimmt sei? Anhang zum eilften Versuch Einige Anmerkungen über die natürliche Sprachfähigkeit des Menschen I. Aus der natürlichen V ernunjt- und Sprachfähigkeit des Menschen kann nicht geschlossen werden, daß solche bei ihm auch hinreiche, selbst sich eine Sprache zu erfinden . . . . . II. Der Grund, warum vorzüglich die Töne zu Zeichen der Sachen gebraucht worden sind, liegt nicht sowohl darin, daß der Sinn des Gehörs ein mittler Sinn ist, als darin, daß der Mensch die Eindrücke auf diesen Sinn durch sein Stimmorgan wiederum anderen eben so kann empfinden lassen, als er sie selbst empfunden hat . . . . . . . . . III. Es ist nicht erwiesen, weder, daß der Mensch von selbst keine Sprache erfinden könne; noch daß er notwendig von selbst sie erfinden müsse. Es gibt einen Mittelweg zwischen diesen beiden Meinungen . . . . . . . .

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VI

Inhalt

IV. Die Sprachfähigkeit ist nicht bei allen menschlichen Individuen gleich groß. Bestätigung der Meinung, daß irgend einige Individuen sich selbst überlassen eine Sprache erfinden würden . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen 1. Textgestaltung . . . . . . . . . . . . . 2. Textbezug . . . . . . . . . . . . . . . 3· Zu den Aufsätzen über die Grundsätze und den Nutzender Etymologie . . . . . 4· Zu der Abhandlung über den Ursprung der Sprachen und der Schrift . . 5· Zu philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwicklung Register 1. Sachen 2. Personen 3· Schriften Bibliographie 1. Publikationen von Tetens 2. Bibliographien . . . . . 3· Publikationen zu Sachproblemen 4· Publikationen zu Tetens und seiner Philosophie . . . . . . . . . . . . .

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EINLEITUNG

Tetens als Sprachphilosoph Von ERICH HEINTEL Friedrich Kainz in Freundschaft zum 70. Geburtstag 1

Die Herausgabe der sprachphilosophischen Schriften Johann Nicolaus Tetens' steht in einem gewissen Zusammenhang mit derjenigen der sprachphilosophischen Schriften Herders in der "Philosophischen Bibliothek" (Band 248, 1960, 1964 2). Zwar kann kein Zweifel daran bestehen, daß Herders Gedankengänge bedeutender und auch für die Wirkungsgeschichte der Bemühungen um die Sprachphilosophie wichtiger gewesen sind. Davon abgesehen aber handelt es sich bei Tetens durchaus um den Vertreter eines bestimmten Typus, Sprachphilosophie zu betreiben, der - wie Herder und überhaupt die damalige Zeit- wesentlich am Ursprungsproblem orientiert war. Tetens und Herder stehen nun beidezwischen den radikalen Polen einer rein empirischen Sprachforschung einerseits, der theologischen bzw. transzendentalphilosophischen Position der Sprachphilosophie andererseits.ü Dabei vertritt Tetens entschiedener als Herder eine empirische, weitgehend psychologische Methode: es lassen sich an ihm, wie in der nachfolgenden kurzen Einleitung gezeigt werden soll, paradigmatische Züge dieser Einstellung zum Sprachproblem und insbesondere zum Ursprungsproblem aufzeigen, die von allgemeinem Interesse auch für die gegenwärtige Problemlage sind. Johann Nicolaus Tetens wurde 1736, nach anderen Quellen 1738, in Schleswig geboren. Er studierte an den

VIII

Erich Heintel: Tetens als Sprachphilosoph

Universitäten Kopenhagen und Rostock, und zwar insbesondere Mathematik, Physik und Philosophie. 1759 wurde er Magister und begann seine Vorlesungen. 1760 promovierte er. Nach der Besetzung Rostocks durch die Preußen im Siebenjährigen Krieg zog Tetens als besoldeter Privatdozent in das Landstädtchen Bützow auf die dort neu gegründete Akademie. Er war in Bützow aqch als Leiter des dortigen Pädagogiums tätig. 1763 wurde er ordentlicher Professor. -In philosophischer Hinsicht hat er in den Jahren 1772-1776 am meisten gearbeitet. Erwähnt seien sein Versuch "Über die allgemeine Spekulativische Philosophie" von 1775 und sein Hauptwerk "Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung" (2 Bände) von 1777. - 1776 erhielt Tetens einen Ruf an die Universität Kiel, wo er am 7· Oktober eintraf und durch 13 Jahre ein Lehramt für Philosophie und Mathematik ausübte. 1789 übersiedelte er nach Kopenhagen und trat in den dänischen Staatsdienst, in dem er 1791 "Etatsrat und Deputierter im Finanzkollegium, Mitdirektor in der Königlichen Bank, in der Depositakasse und dem sinkenden Fonds, in der allgemeinen Witwenkasse und der Versorgungsanstalt" 2> wurde. Schon seit 1788 war er ordentliches Mitglied der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Kopenhagen. Er wurde Präses der mathematisch-philosophischen Klasse.- Er starb am 15. (dänische Angabe) oder am 19. (deutsche Angabe) August 1807. Er war in kinderloser Ehe verheiratet. Seine Frau überlebte ihn um elf Jahr~.- Tetens beschäftigte sich auch vielfach mit praktischen Dingen und Zeitfragen, so mit dem Deichbau, aber auch mit Versicherungsproblemen. Er entwarf ein Programm für das Universitätsstudium. Er war ohne Zweifel ein universaler Gelehrter mit ausgeprägter Anteilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten und ist in diesen Hinsichten mit Leibniz verwandt. Der Umfänglichkeit seiner Interessen und seines Wirkens entspricht diejenige seiner Werke. Zu ihnen schreibt M. Dessoir in einer freilich reichlich pauschalen Einordnung Tetens' in die Philosophie seiner Zeit3>: "Ich

1.

Johann Nicolaus Tetens

IX

zähle 65 Aufsätze und Bücher aus seiner Feder, und von diesen können höchstens 16 als philosophische im weiteren Sinne des Wortes angesprochen werden. Was hat der vielgewandte Mann nicht alles behandelt! Über die Vorsichtsmaßregeln beim Gewitter, über die Grundsätze der Leibrenteneinrichtung, über die Ehen zwischen dem königlich dänischen und dem herzoglich mecklenburgischen Hause, über die gegenseitigen Verpflichtungen kriegführender und neutraler Mächte, kurzum über die verscbiedenartigsten Gegenstände hat er geschrieben. Aber in allen diesen Veröffentlichungen zeigt sich eine erstaunliche Belesenheit und eine durch sie nicht beeinträchtigte Selbständigkeit des Urteils. Schon in einem Erstling, der dissertatio de causa caerulei coeli coloris prüft Tetens unbefangen die drei damals sich gegenüberstehenden Vermutungen über den Grund der blauen Himmelsfarbe und gibt eine neue, leidlich originelle Erklärung. Dieser Zug findet sich in dem philosophischen Hauptwerke am deutlichsten ausgeprägt. Unter Beherrschung der Literatur prüft Tetens hierin einzelne Anschauungen der bisherigen Philosophie und stellt ihnen seine eigene Meinung gegenüber, nicht in der Form eines geschlossenen Lehrgebäudes, sondern mehr in der zwanglosen Weise kritischer Erörterungen." Die für die Sprachphilosophie Tetens' aufschlußreichste Schrift ist diejenige "Über den Ursprung der Sprachen und der Schrift". Sie ist die Antwort Tetens' auf die Preisaufgabe der Berliner Akademie für das Jahr 1770: "En supposant les hommes abandonnes a leurs facultes naturelles, sont-ils en etat d'inventer le language et par quels moyens parviendront-ils d'eux memes a cette invention?" Der Streit um den Ursprung der Sprache lief bereits seit 1754, in welchem Jahr der Präsident der Akademie, Maupertuis, eine auf Condillac aufbauende empiristische Erklärung des Sprachursprungs gegeben hatte. Gegen ihn hatte sich sofort das Akademiemitglied Johann Peter Süßmilch gewendet und im Anschluß an Rousseau einen übernatürlichen Sprachursprung vertreten. Seine im Jahre 1766 unter dem Titel "Versuch eines Beweises,

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Erich Heintel: Tetens als Sprachphilosoph

daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen sondern allein vom Schöpfer erhalten habe" herausgegebene Schrift war der Anlaß für die genannte Preisaufgabe der Berliner Akademie für das Jahr 1770. Von den einunddreißig eingegangenen Schriften erhielt Herders "Abhandlung über den Ursprung der Sprache" den Preis. Sie erschien im Jahre 1772 ebenso wie die genannte anonym herausgegebene Schrift Tetens'. Sie ist von der Fragestellung der Preisaufgabe bestimmt, da Tetens bewußt einen Mittelweg zwischen Süßmilch und Herder sucht. Ob Tetens seine Schrift als Bewerber um einen Preis eingereicht hat, ist nicht geklärt. Die Ursprungsschrift ist das sprachphilosophische Hauptwerk unseres Philosophen und steht daher im Mittelpunkt unserer Ausgabe (li). Doch hatte sich Tetens auch schon früher mit sprachphilosophischen Problemen beschäftigt. Seit Leibniz"> wurde im Zusammenhang mit der Ursprungsproblematik der Sprache auch das Problem der Etymologie diskutiert. Ihm hat Tetens zwei Abhandlungen gewidmet, die in den "Gelehrten Beyträgen zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten" als 14.-16. Stück des Jahres 1765 (S. 53ff.) und als 34.-37. Stück des Jahres 1766 (S. 139ff.) erschienen sind, und zwar zunächst unter dem Titel "Über die Grundsätze und den Nutzen der Etymologie" und dann unter dem Titel "Über den Nutzen der Etymologie". Diese Schriften stehen in unserer Ausgabe an erster Stelle (I). Schließlich wurden aus Tetens' Hauptwerk "Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung" (2 Bde.), 1777, der 11. Versuch des ersten Bandes und der "Anhang zum elften Versuch" mit dem Titel "Einige Anmerkungen über die natürliche Sprachfähigkeit des Menschen" eingeschaltet (III). Die "Anmerkungen" schließen motivlieh und inhaltlich an die Sprachursprungsschrift an, während der 11. Versuch selbst den philosophisch-anthropologischen Rahmen erkennen läßt, in dem Tetens' Sprachphilosophie steht. Von gelegentlichen nichts Neues enthaltenden Bezügen bei Tetens abgesehen enthält die Ausgabe damit alle sprachphilosophischen

2.

Philosophischer Standpunkt

XI

Äußerungen Tetens', die im Druck erschienen sind. Sie zeigen, daß er sich über einen Großteil der Zeit seines akademischen Wirkens mit sprachphilosophischen Problemen beschäftigt hat. - Die Anordnung der Schriften in der vorliegenden Ausgabe ist also eine solche in zeitlicher Reihenfolge, doch lassen sich für sie auch sachliche Aspekte ins Treffen führen: mit den Gedanken zur Etymologie setzen Tetens' sprachphilosophische Bemühungen ein, dann werden sie in der Ursprungsschrift in einen geschlossenen Zusammenhang gebracht und schließlich im Hauptwerk auf das Ganze der "menschlichen Natur" bezogen. 2

Der philosophische Standpunkt Tetens', des "deutschen Locke", ist am klarsten der Schrift von 1775 "Über die allgemeine Spekulativische Philosophie" zu entnehmen. Er ist in seinem Hauptwerk von 1777 vorausgesetzt, aber nicht wesentlich weiter entwickelt. Tetens geht von der Bewußtseinsimmanenz aller Vorstellungen aus: "Die Gegenstände außer dem Verstande sind für diesen nichts, als was sie durch ihre Vorstellungen in ihm sind" (6).5 Alle Reflexion kommt darauf hinaus, Vorstellungen mit Vorstellungen zu vergleichen. "Einige unter sich zusammenhängende ... und beständige Ideen" lassen die übrigen Ideen nach ihrer Beziehung auf jene beurteilen. Sie "sind die Mittel, wodurch die Überlegungskraft aus den mannigfaltigen Arten des Scheins, den zuverlässigen und vollständigen herausfindet, der kein leerer Schein ist, der mit sich selbst und unter sich übereinstimmt, der Sachen darstellt, und sie, so wie sie sind, darstellt, nicht von einer Seite nur, nicht so nur, wie sie unter einzeln zufälligen Umständen, oder aus einem eigenen besonderen Standort betrachtet, etwa erscheinen möchten" (7 f.).- Der gemeine Menschenverstand wird durch Irrtum und Verwirrung zur Überprüfung seines Weltbildes gezwungen. Er gelangt so zu Erfahrungen, die im großen und ganzen für die mensch-

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Erich Heintel: Tetens als Sprachphilosoph

liehe Praxis ausreichen. Ähnlich wie für Lichtenberg spielt im natürlichen Weltbild auch für Tetens der alltägliche Sprachgebrauch eine große Rolle. Über die dem gemeinen Menschenverstand nahebleibende Popularphilosophie erhebt sich die spekulativische. Erst mit ihr und nicht mit der Popularphilosophie läßt sich eine tiefergehende Skepsis, wie z. B. diejenige David Humes, wirklich widerlegen. Dazu ist es notwendig, "die Natur der menschlichen Erkenntnis bis in ihre ersten Anfänge" (16) zu verfolgen und "das Verfahren der Denkkraft bei der Erlangung der Kenntnisse genauer und sorgfältiger" (ebenda) zu überprüfen. Diese Art "Vernunftkenntnis" unterscheidet sich von der "unentwickelten Kenntnis des gemeinen Verstandes so weit, als die heutige Astronomie von der alten Himmelskenntnis absteht, die man noch in Senecas Schriften antrifft" (17f.). Sie ist den Philosophen, "die über Gott, über die Seele des Menschen und über das Ganze der würklichen Dinge, nachdenken, ... so unentbehrlich, als Keplern und Newton die Geometrie und Arithmetik waren" (ebenda). Ist nun eine solche Grundwissenschaft als Metaphysik möglich? Tetens bejaht diese Frage. Die Metaphysik ist für ihn eine Art "höhere Analysis der Dinge" (24) und nur dem Grad nach von der mathematischen Physik verschieden. Sie enthält "mehr von den allgemeinen ontologischen Raisonnements" (25) als diese. Tetens setzt seine Grundwissenschaft durchaus in die Analogie zur Mathematik. Diese Einstellung trennt ihn, den Mathematiker und Physiker, von dem herkömmlichen sensualistischen Empirismus, freilich auch von Kant. Auch dieser lehnt sich zwar an die "geistige Revolution" der neuzeitlichen Naturwissenschaft an, unterscheidet aber trotzdem deutlich das Verfahren der Metaphysik in ihrer kopernikanischen Wende von dem Vorgehen der mathematischen Physik.6l - Erforderlich sind für Tetens "reelle Grundbegriffe", d. h. "solche, die den Gegenständen außer dem Verstande entsprechen" und "evidente erste Axiome" (26); damit sind nach ihm die Grundsteine der Metaphysik, ja ihr ganzes Fundament, gelegt.

2.

Philosophischer Standpunkt

XIII

In der Verwirklichung dieses Programms wird man auf den Weg zurückkommen müssen, "auf welchem Locke vorangegangen ist, nämlich zu der Untersuchung des Verstandes, seiner Wirkungsart, und seiner allgemeinen Begriffe, wenn man die Kennzeichen ausfinden will, woran die reellen, den Objekten entsprechenden, von denen, die nur Erscheinungen, und also nur einseitige Vorstellungen sind, ausgekannt werden können" (35). Als Prinzipien sind bei diesem Vorgehen die formallogischen und die materiellen Grundsätze zu unterscheiden. In eigentümlicher Weise, die uns auch noch bei der Sprachphilosophie beschäftigen wird, rekurriert dabei Tetens auf Notwendigkeiten, die aus der Natur des Verstandes resultieren: "Das,. was wir also als eine natürliche Denkart des Verstandes gewahr werden, was wir so und nicht anders denken können, das sehen wir an, als etwas, das außer dem Verstande so sein muß, und machen aus jener Beobachtung einen Objektivischen Grundsatz" (37). Das Prinzip Tetens' ist bei diesem Vorgehen nun durchaus der erkenntnistheoretische Reduktionismus der englischen Empiristen. Alle "allgemeinen Begriffe 7) haben ihren Ursprung aus den Empfindungen. Man muß jene also auf diese wieder zurückführen, das ist, die Empfindungen aufsuchen, woraus die Denkkraft sie gezogen hat. Dann wird das Reelle in ihnen sich von dem Imaginairen von selbst absondern. Dies ist die Vorschrift der neueren Philosophen, nach der Hume in seinen Versuchen über einige allgemeine Notionen, und andere nach ihm gearbeitet haben; und sie ist nach meiner Überzeugung eine richtige Vorschrift" (48). Tetens bemerkt jedoch kritisch folgendes: "Die Vorschrift, man solle die metaphysischen Begriffe auf Empfindungen reduzieren, ist in der Tat nur eine sehr unbestimmte Vorschrift, die etwas aber nicht viel mehr sagt, als die allgemeine Regel, daß man sie realisieren, oder ihre Übereinstimmung mit den Objekten dartun solle. Wie wird eine solche Reduktion vorgenommen, und inwieweit ist sie eine Probe von der Realität der Begriffe? Das sind eben die Fragen, die zu beantworten übrig bleiben, und bei deren praktischer Beant-

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Erich Heintel: Tetens als Sprachphilosoph

wortung so manche Schwierigkeit aufstößt, die schon mehrmalen die Arbeit hat verunglücken lassen. Der genannte scharfsinnige Brite hat in seinen Versuchen über die Entstehungsart der Begriffe, von der Notwendigkeit und Zufälligkeit, von der Kraft und einigen anderen, manches übersehen und ihren inneren Gehalt mangelhaft angegeben. Davon meine ich die Ursachen in seinem Verfahren zu sehen. Er fühlte zwar, daß es nötig sei, nicht allein auf die Materie der Begriffe, sondern auch auf die Bearbeitungsart des Verstandes, wenn dieser Empfindungen zu Vorstellungen umarbeitet, aufmerksam zu sein; allein die unbestimmte Voraussetzung, Begriffe sind aufgelöste Empfindungen, verleitete ihn, zu glauben, es sei alles geschehen, was erfordert werde, und der ganze Gehalt der Begriffe sei schon entdeckt, wenn nur die Empfindungen angegeben werden, woraus sie gezogen sind" (48f.). Zwar entspringen unsere Begriffe aus Empfindungen, d. h. aber nicht mehr, als daß diese die Materie zu allen höheren Bewußtseinsgebilden ausmachen, die aber nicht ohne die "Tätigkeit der Denkkraft" möglich sind. Man kann diese Grundhaltung zu Kant 8) in eine Parallele bringen, die zugleich den Unterschied der beiden Denkweisen klarmacht. Auch für Kant "beginnt" alle unsere Erkenntnis mit Erfahrung im Sinne des Empirismus, "entspringt" aber deshalb nicht überhaupt aus ihr. Erfahrungserkenntnis ist mehr als empiristische Erfahrung. Sie ist eine Synthese des in den apriorischen Anschauungsformen von Raum und Zeit gegebenen Empfindungsmaterials mit den Verstandesformen, den Kategorien. Diese transzendentale "Tätigkeit der Denkkraft", um mit Tetens zu sprechen, hebt Kant freilich von jeder "Physiologie des Verstandes" im Sinne Lockes ab. Tetens aber spricht im gleichen Sinn von der "Physik" des Verstandes. Er versteht also jene "Denkkraft" durchaus psychologisch. Greift er doch - wie wir schon wissen bewußt auf das Yorgehen Lockes zurück. Er betreibt in diesem Sinne eine Art "transzendentale" Erkenntnispsychologie, "vie sie nachkantisch etwa von Fries9l und gewissen Repräsentanten des Positivismus, wie z. B. von

2.

Philosophischer Standpunkt

XV

E. Laas, vertreten wurde. Trotz des Rückbezugs auf Locke spielt nämlich bei Tetens die genannte "Denkkraft" eine viel bedeutendere Rolle als im englischen Empirismus, dessen Empfindungsreduktionismus dadurch nicht unwesentlich modifiziert wird. Tetens führt aus: "Die Träume haben sowohl ihren Stoff in unseren Empfindungen, als unsere wahrsten Gedanken. In dieser gemeinschaftlichen Beziehung aller Begriffe auf die Empfindungen kann also die Ursache nicht sein, warum einige den Gegenständen entsprechen, andere aber leere Bilder sind. Dieser Unterschied entsteht aus der Art und Weise, wie die Denkkraft die Empfindungen zu Vorstellungen von Objekten verarbeitet" (So). Dementsprechend ist auch der Bereich der Philosophie für ihn ein viel weiterer als im Empirismus; er entspricht im Grunde durchaus der traditionellen Philosophie. Seine "Grundwissenschaft soll die allgemeinen Grundsätze enthalten, wonach wir über alle Dinge überhaupt, über alle Gattungen wirklicher Wesen, über Geister und Körper, über das Immaterielle und Materielle, über das Unendliche und Endliche, urteilen und schließen" (51). Wie nun Tetens sein Vorhaben unter Zugrundelegung der Unterscheidung von inneren und äußeren Empfindungen zu verwirklichen sucht, kann uns hier nicht weiter beschäftigen. Jedenfalls ist die Gesamthaltung Tetens' als sympathisch souverän zu bezeichnen, auch wenn er gelegentlich allen Entscheidungen dadurch ausweicht, daß er sich darauf beruft, "nur Methoden" zu untersuchen (59). So sagt er etwa bezüglich der Immaterialität der Seele, daß es zwar sehr schwierig ist, sie "als ein Ding ohne alle Ausdehnung" sich vorzustellen, von dem daraus folgenden Dilemma, daß sie dann "entweder ausgedehnt, oder gar ein Nichts" sei, aber meint er, daß diese Folgerung "keinen besseren Grund hat, als der Schluß jenes Blinden: Wenn die rote Farbe kein Trommelschlag ist, noch eine andere Schallart sein soll; so ist sie ein Unding" (59). Wenn Tetens freilich hinzufügt, daß er "diese unkörperliche Ausdehnung selbst als einen brauchbaren sinnlichen Begriff liebe", dann würden wir nun gerne noch etwas

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Erich Heintel: Tetens als Sprachphilosoph

mehr über diese seine Liebe hören.10) Ich habe dieses Beispiel angeführt, weil es typisch für den Denkstil Tetens' ist, der in dieser seiner Eigenart auch in seiner Sprachphilosophie unverkennbar hervortritt. Es hängt übrigens mit diesem Denkstil eine gewisse Umständlichkeit der Gedankenentwicklung zusammen. Tetens macht sich selber immer wieder Einwände und ergeht sich erbaulich in einer Unzahl kritischer und skeptischer Bemerkungen. Ein weiterer Hinweis auf die Art, wie sich Tetens nach dem Muster des Pilatus aus der Affaire zieht, sei noch deshalb angebracht, weil er wiederum den Vergleich mit Kant nahelegt. Es handelt sich dabei um die Kritik der Kausalität durch Hume, derzufolge wir bei Ursache und Wirkung nur das Aufeinanderfolgen, nicht aber das Auseinanderfolgen der durch die Kausalität verbundenen Phänomene beobachten können. Tetens fragt kritisch: "Findet sich nicht noch etwas mehreres bei dieser Verknüpfung der Ideen in uns, das vielleicht der eigentliche Entscheidungsgrund im Verstande ist, wenn er urteilt: Hier ist Ursache und Wirkung? Ist nicht mit der Ideenassoziation eine gewisse Notwendigkeit verbunden, sie sei entstanden, woher sie wolle? Vielleicht ist sie nichts als eine Folge von der Gewohnheit, vielleicht aber hat sie auch einen tieferen Ursprung aus einer natürlichen notwendigen Denkweise. Genug, es ist doch eine Art von Notwendigkeit oder vom Zwange in dem Verstande da, womit er die Wirkung denken muß, wenn er die Ursache denkt. Und was das Vornehmste ist, es ist diese, nicht die bloße Ideenfolge, so leicht uns auch solche ist, die physische Ursache unseres Urteils. Diese Notwendigkeit fühlen wir; und ist es nicht dieses innere Gefühl, woraus die allgemeine Notion von der Verbindung zwischen Ursache und Wirkung abstrahiert worden? Und wenn dies ist; so werden wir doch den Objekten, wo wir ihnen einewirkende Verknüpfung unter sich zuschreiben, etwas mehr beilegen wollen, als bloß dies, daß sie aufeinander folgen. Es soll noch überdies etwas Objektivisches in ihnen vorhanden sein, was der subjektivischen Notwendigkeit in der Ideenassoziation, und, in anderen Fällen, der Begreiflichkeit

2.

Philosophischer Standpunkt

XVII

des einen aus dem anderen, entspricht" {74f.). Ist dieser Rekurs auf das "innere Gefühl" nun ausreichend, um das "Vielleicht eines tieferen Crsprungs" der Notwendigkeit der Kausalverknüpfung zu rechtfertigen? Sicher aber können wir dieser und ähnlichen Stellungnahmen eine gewisse Neigung zu aporetischen Gedankengängen bei Tetens entnehmen: ein Zug von Antidoktrinarismus des Philosophierens läßt ihn die Probleme offenhalten und versöhnt damit, daß die von ihm angebotenen Lösungen häufig sehr fraglich sind. Auch diese Haltung werden wir im Rahmen der Sprachphilosophie wiederfinden. Seltsam ist auch Tetens' Meinung, daß man auf dem Gebiet, welches er als philosophische Grundlehre fordert, "noch nicht so weit fortgerückt ist, als Euklides es schon auf seinem zweiten Blatte war, wo er seine Erklärungen, seine Axiome und seine Postulate hingesetzt hatte" {77). Über diese immerhin erstaunliche Tatsache weiß sich Tetens wiederum mit einer Reihe erbaulich-skeptischer Auslassungen hinwegzusetzen. Jedenfalls ist für ihn "die Zeit der Systeme" {85) noch nicht gekommen. Erst gelte es mit Hilfe der empirisch-analytischen Methode "der Locke, Hume, Condillac" den "vornehmsten und schwierigsten Teil der Arbeit" zu leisten, bevor man zur eigentlichen Spekulativischen Philosophie fortschreiten könne. Dann, so meint Tetens mit Leibniz, werde man vielleicht darauf kommen, daß sogar "auch von den Scholastikern noch etwas zu erlernen sei" (86). Denn die Verachtung der philosophischen Grundwissenschaft rächt sich auf alle Fälle, so etwa auch an Hume und den Engländern, da es jetzt das Ansehen hat, "als wenn die Metaphysik, wie Wissenschaft betrachtet, ein Eigentum der deutschen Philosophen sei" {87). Man wird entfernt an ähnliche Äußerungen Schellings erinnert, wenn Tetens sagt: "Die britischen Philosophen mögen unsere Muster im Beobachten sein; aber sie sollten es nicht sein in der Spekulativischen Philosophie. Sie machen sich aus dieser nichts" {87). In diesem Sinn beruft sich Tetens in seinen Reflexionen über die Philosophie auf "unseren Leibniz" 11), den er über die englischen Denker stellt, und schließt seine Ab-

XVIII

Erich Heintel: Tetens als Sprachphilosoph

handlung mit einem auch sprachphilosophisch interessanten Vergleich: "Die Realisierung der Begriffe ist in der allgemeinen Philosophie eben dasselbige, was bei den Gottesgelehrten die Exegesis ist. Die es für notwendig halten, durch dieneueren Hülfsmittel der Sprachkenntnis, der Philologie und Geschichte, diese von neuem vorzunehmen, und dadurch die festen Gründe des Glaubens von neuem zu legen, oder die gelegten zu prüfen, ehe eine systematische Theologie aufgebaut werde, behaupten ohne Zweifel etwas Vernünftiges. Dennoch möchte ich auf ihrer Seite nicht sein, wenn sie darum, weil die Ausleger der vorigen Zeiten nicht genau auf solche Art verfahren sind, und wohl auch Fehltritte in einzelen Fällen begangen haben, sich für berechtigt halten, die bisherigen Grundsätze für übelgegründet zu erklären, und ein verachtendes Vorurteil gegen sie blicken zu lassen" (93f.). 3 In den beiden Aufsätzen über die Etymologie spricht Tetens nicht als ein "Mitarbeiter an dem Gebäude der Etymologie, sondern als vernünftiger Zuschauer" (62).1 2> Doch finden wir in ihnen die seit Leibniz 13) die Diskussion bestimmenden Aspekte und Bezüge angeführt und behandelt. Worin sieht Tetens den Wert der Etymologie? Sie ist "fast allein unsere Fackel, wenn wir in den entferntesten und dunkelsten Gegenden [der Geschichte] den ersten Ursprung und die Verwandtschaft der Nationen, die Entstehung und die Kindheit der menschlichen Sprachen, und Erkenntnisse aufsuchen; deswegen es auch dem philosophischen Auge, dessen Blick nicht allein auf einzelne Menschen, sondern auch auf das ganze Geschlecht und dessen Schicksale gerichtet ist, eine Menge lehrreicher und angenehmer Aussichten vorzeigt." Da nun aber die Etymologie leicht in Willkür ausarten kann, bedarf sie ihrer eigenen "Vemunftlehre" und ihrer methodischen Grundsätze, die Tetens insbesondere in den §§ 11 und 12 seiner Beiträge ausführt. Mehrmals ist von der Not-

3· Etymologie

XIX

wendigkeit "vollständiger Wörterbücher" die Rede. Bei Sprachen, die die alten Wurzelwörter noch großenteils aufbewahrt haben, könne man mit ihrer Hilfe zu "den ersten Elementen der Sprache und zu den natürlichen Tönen, die der Keim aller Wörter sind, ziemlich weit hinaufkommen" (54). Wir sehen, wie hier für Tetens die Etymologie zu einer Art Hilfswissenschaft im Rahmen der allgemeinen Ursprungsfrage wird. Auch ein "kritisches philosophisches Lexikon der gemeinen Sprache" (143) wird in diesem Zusammenhang gefordert. Bei der Bildung der Sprache sei man "einer gewissen natürlichen Charakteristik" gefolgt, und eine Nation habe anfangs nur die "Empfindungen und Gegenstände bezeichnet, die die Sinne am häufigsten und am stärksten rührten", womit sich insbesondere für diese frühe Zeit ergibt, daß bei weitem nicht so vieles "bloß willkürlieh'' in unserer Sprache sei, oder die "Wörter an sich so gleichgültig sind in Hinsicht ihrer Bedeutungen, als man sich gemeiniglich überredet". Dabei muß freilich der "regierende oder Hauptton der Silbe" bezüglich dieser natürlichen Charakteristik berücksichtigt werden. "In diesem Radikalton muß die natürliche Abbildung der Sache gesucht werden" (55f.). Von hier aus sieht Tetens den philosophischen Nutzen der Etymologie insbesondere darin, daß sie uns die "Benennungsgründe" erkennen lasse, "das ist, die Ideen, welche man sich anfänglich, als man den neuerkannten und bishero noch mit keinen Namen belegten Gegenständen eine eigene Benennung gab, gemacht hatte" (140). Die Etymologie liefert uns damit gewissermaßen die "Geschichte von den Entdeckungen, welche eine ganze Nation bei dem ersten Ursprung der Sprache, über die Gegenstände, die sie mit Namen belegt, gemacht hat" (140). Die Erlernung einer Sprache führt uns damit immer zugleich in die Denkungsart des Volkes ein, das sie spricht. Im Zusammenhang mit der Forderung nach dem "Kritischen philosophischen Lexikon der gemeinen Sprache" (143) finden sich bei Tetens einige Hinweise, die im Zusammenhang der gegenwärtigen Diskussion um

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Wittgenstein nicht uninteressant sind. Wäre doch ein solches Buch für ihn "der Ort, wo alle Streitigkeiten über die Bedeutungen der Wörter, die man sonsten immer in die Philosophie der Gegenstände hineinzieht, entschieden werden müßten". Seine erste und oberste Regel wäre: "daß man dem Sprachgebrauch folgen, das ist, die Ideen, unter denen man im gemeinen Leben die benannten Gegenstände denkt, sie mögen irrig oder wahr sein, ganz genau beibehalten müßte" (143). Tetens folgt damit wieder Leibniz, der schon davon gesprochen hatte, daß "der Gebrauch der Meister ist" 14l. Freilich ist für Tetens in den meisten Fällen "die gemeine Idee der Sache" nicht auch "die richtige", eine Tatsache, die ihn zu folgendem Stoßseufzer an die Adresse der Philosophen veranlaßt: "Mich deucht, die ewigen Zänkereien der Philosophen über die Erklärungen der Wörter, wo jeder den Redegebrauch will beobachtet haben, und doch notwendig eine Partei sich geirrt haben muß, hätten sie schon auf den Argwohn bringen sollen, daß die Festsetzung des Redegebrauchs wohl, ohne Wortforschen sich durch die gemeinen Mittel so leicht nicht erhalten ließe, als man es geglaubt hat" (144). In gleicher Richtung äußert sich Tetens kritisch zu einem Gedanken Leibnizens 15). Die Bemerkung findet sich in dem von uns schon herangezogenen Werk "Über die allgemeine spekulativische Philosophie" von 1775 (a. a. 0. S. 46ff.) und soll an dieser Stelle wiedergegeben werden, an der sie sich zwanglos in die sprachkritischen Gedankengänge Tetens' einordnen läßt. Sie lautet folgendermaßen: "Leibniz gab den Rat, man solle die metaphysischen Kunstwörter, da, wo es zweifelhaft ist, ob in ihnen ein reeller, voller und fruchtbarer Sinn sei, in die gewöhnliche Sprache des Lebens, und besonders in die deutsche, übersetzen. Es würde sich alsdenn, wie er meinte, bald erge/ben, ob man etwas, und wieviel Bedeutendes man an ihnen habe, oder ob es ein leeres Wortwerk sei? Der große Mann bewies hier wohl allzuviel Vertrauen zu unserer Muttersprache, wie in anderen Fällen zu dem Verstande und zu der Wahrheitsliebe der Philosophierenden. Es hat

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keinen Zweifel, - man kann sich, sooft man will, beim Nachdenken davon durch eigene Erfahrung überzeugen,daß eine Substitution der populären Ausdrücke anstatt der kunstmäßigen in vielen Fällen nicht ein Mittel sein sollte, den wahren Gehalt von diesen zu erproben, die ebensohäufig von einigen unter ihrem Wert herabgesetzt, als zu sehr erhoben worden sind. Denn der Verstand der zu schwach oder zu ungeübt ist, sich der allgemeinen Aussichten, die ihm in den Gemeinsätzen der Vernunft gegeben werden, zu bedienen, kann freilich so viel Schätzbares in ihnen nicht antreffen als andere; für jene sind sie also keine Armatur der natürlichen Denkkraft. Wie dem indessen sei; so hat, was Leibnizens Waradierung betrifft, die Erfahrung längst entschieden, daß sie nicht zureiche, das Reelle und Objektivische von dem Erdichteten und bloß Subjektivischen auszukennen. Es ist ebensogut in der deutschen und in der populären Sprache Nichtsinn und sachenleeres Wortwerk geschrieben worden, als es in der lateinischen Kunstsprache geschehen ist. Außerdem sehe ich nicht, wie dadurch etwas weiter, als eine Reduktion der Systembegriffe auf die Begriffe des gemeinen Menschenverstandes erhalten werden können, und von dieser setze ich hier voraus, daß I sie in unserer Gewalt sei. Wie würde denn nun aber die Dunkelheit und Verwirrung, die sich in diesen letzten schon befindet, die Vermischung des bloß Bildlichen, von der Phantasie Hinzugesetzten, mit dem Reellen, mit dem aus reinen Empfindungen Abgesonderten, die auch schon in den Begriffen des gemeinen Menschenverstandes ist, gehoben werden."

4 In der Ursprungsschrift geht Tetens von jener Schwierigkeit aus, die man als das Kreuz aller empirischen und insbesondere aller psychologischen Theorie des Sprachursprungs bezeichnen kann. F. Kainz 16) verfolgt die Frage im Anschluß an den französischen Sprachpsychoogen Delacroix unter der Formulierung, wie denn über-

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haupt der (Mensch und Tier gemeinsame) "natürliche Ausdruck" zum "Symbol" (im Sinne eigentlicher Sprache) werden kann. Ist doch "die Kombination von Affektlaut und zeigender Gebärde bereits etwas Übertierisches, da kein Tier zu Deutegesten gelangt, aber noch nichts eigentlich Sprachliches. Dieses stellt sich erst ein, wenn Affektgeschrei und primitives Zeigen überhöht werden durch ein Symbolisieren mit Lautgebilden, wenn Zeigen und Symbolisieren in Kooperation treten." 17) So wird für Kainz die Sprache zum "Menschlichsten am Menschen", nur ihm kommt "Symboltüchtigkeit und voll ausgebildete Begriffsfähigkeit" 18) zu. Das Problem (Sprache als Symbol) bleibt nach Kainz auch dann bestehen, wenn man die Bemühungen A. Gehlens anerkennt, Sprache- im Gegensatz zu traditionellen Auffassungen, die "grundsätzlich vom Denken und Erkennen" ausgingen- "als motorisches Geschehen"19) zu erfassen. Kurz: "Das Tier bleibt mit seinen affektverursachten und -gebundenen Äußerungen beim Symptom stehen, das Signal wird nur in bezug auf die Wirkung, nicht aber hinsichtlich der zugrundeliegenden Intention erreicht, das nennende Symbol fehlt zur Gänze." 20> Im Grunde handelt es sich bei alldem freilich um ein transzendentalphilosophisches Problem, von dem ich ausführlicher in der Einleitung zu meiner Ausgabe der Sprachphilosophie Herders gesprochen habe. 21> Darauf ist hier nicht einzugehen. Für den Empiriker liegt es in der Tat darin, daß wir eben weder allgemein einen "Übergang" von tierischen Kommunikationsformen zur Sprache des Menschen, noch im besonderen einen Übergang von den sogenannten "Tiersprachen" zur eigentlichen Sprache des Menschen feststellen können. Gilt aber der Satz, daß "eine lineare Ableitung der Sprache aus den Kontaktmitteln der Tiere unmöglich" 22) ist, dann gilt konsequentermaßen auch der Satz, daß eine lineare Ableitung der Sprache aus der "vorsprachlichen" Kommunikation menschenähnlicher Geschöpfe der gleichen Problematik unterliegt. Es resultiert die philosophische Frage nach der "Urschöpfung von Sinn" 23>, mit der sich zugleich eine Grenze aller

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empirisch-genetischen Betrachtung des Sprachproblems ergibt. Ich kann F. Kainz kritisch nur recht geben, daß "in Hinblick auf Sprachentstehung und Entwicklung damit keine sinnvolle, d. h. mit gegebenen Forschungsmitteln angemessen und vollständig zu beantwortende Frage gestellt ist." Der Mensch ist eben "ein ganz einmaliger, sonst nicht versuchter Gesamtentwurf der Natur" 24>. Abgeschlossen seien diese philosophischen Hinweise nur noch mit der Bemerkung, daß die Diskussion der Gegenwart gezeigt hat, daß das Thema des "göttlichen" Ursprungs der Sprache nicht nur ein solches der Aufklärungskontroversengewesen ist, sondern daß es dabei darüber hinaus in theologischer Sprache um die transzendentalphilosophische Seite des Sprachproblems ging. Diese wird eliminiert, wenn man jene Problematik völlig unberücksichtigt läßt. Die Folge ist dann ein reiner und doktrinärer Empirismus im Sprachproblem überhaupt. Doch kann auch dieser exklusive Empirismus nicht übersehen, daß er mit seiner Betrachtungsweise in der Ursprungsfrage in einen eigentümlichen Zirkel gerät. Tetens spricht von der die Erfindung der Sprache betreffenden "eigenen Schwierigkeit", die sich bei der Frage ergibt, "ob Menschen, die ihren natürlichen Fähigkeiten allein überlassen wären, imstande sein würden, eine Sprache von selbst zu erfinden?" Die genannte Schwierigkeit sieht er so: "Man darf nicht viele, und eigentlich gar keine vernünftige Überlegung, voraussetzen, wo die Sprache noch fehlt. Die Sprache muß so alt sein, als der Gebrauch der Vernunft. Kann wohl auch nur der erste Schritt in dem Übergang von dem bloß tierischen zum vernünftigen Zustande, als möglich gedacht werden, ohne daß eine Sprache entweder schon vorhero erfunden sei, oder doch zugleich mit erfunden werde?" (4) 25> Der Zirkel ist einsichtig: ohne Sprache keine Vernunft, ohne Vernunft im Rahmen der natürlichen Fähigkeiten des Menschen keine Möglichkeit, Sprache zu "erfinden". Tetens formuliert diesen Zirkel, der im übrigen ganz generell die sprachphilosophische Diskussion seiner Zeit bestimmt, aber er läßt ihn auf sich beruhen. Eine bloß

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empirische Sprachtheorie kann auch gar nicht anders vorgehen. In diesem Sinne ist die Haltung Tetens' gewissermaßen idealtypisch als eirie bestimmte Möglichkeit der menschlichen Reflexion auf die Sprache zu betrachten. Typisch in dieser Hinsicht ist es schon, daß Tetens für seine Argumentationen die individuelle Entwicklung des Kindes heranzieht. Diese und die Erfahrungen mit außerhalb der menschlichen Gesellschaft unter Tieren aufgefundenen Kindern zeigen, daß der Mensch nicht eigentlich zum Menschen und zur Sprache gelangt, wenn er nicht in menschlicher Gesellschaft erzogen wird. Der Hinweis auf die verwilderten Schaf- und Bär-Menschen gehört ebenfalls generell der Diskussion der Zeit an. 2t.i) Trotz des aufgezeigten Zirkels geht also Tetens neben allgemeinpsychologischen mit entwicklungspsychologischen und vergleichend-psychologischen Methoden an die Ursprungsfrage heran. Seine Grundeinstellung entspricht damit in den Grenzen seiner Zeit paradigmatisch dem Programm der Sprachpsychologie überhaupt, der empirischgenetischen Sprachforschung im besonderen, wie es in universaler und besonnener Weise Kainz herausstellt: 27> "Darf der Genetiker die ,Sprache' der Tiere nicht ohne weiteres als Vorstufe der Sprache betrachten, so ist es doch dem Systematiker, dem Wesensforscher der Sprache sowie dem Er.forscher ihrer Funktionen und Leistungen unverwehrt, ja verbindlich aufgetragen, sämtliche überhaupt möglichen und vorhandenen Systeme des Sozialkontakts, deren vollkommene Erfüllung dann die Sprache ist, zu mustern." Auch die nun weiter zu verfolgenden Gedankengänge Tetens' entsprechen einem grundsätzlich empirischen Programm. Nach einem Hinweis auf primitive Völkerschaften einerseits, auf "unsere Leibnize und unsere Newtone" andererseits kommt er nämlich zu dem Resultat, daß man so "weit voneinander abstehende, Modificationes der menschlichen Natur vor Augen" habe, daß man kaum von einem allgemein natürlichen Zustand des Menschen sprechen könne, vielmehr einsehen müsse, "wie ungemein beugsam, und wie sehr dem Einfluß der äußeren

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Umstände unterworfen, die menschliche Natur sei" {8). Damit betont Tetens freilich nicht das, was man heute unter "Geschichtlichkeit" des Menschen versteht, sondern lediglich die Vielfalt individueller Unterschiede unter den Menschen: sie lassen es von vornherein zweifelhaft erscheinen, daß der Mensch als solcher die Sprache hätte erfinden müssen. Damit ist die Frage aus der Problematik der Urschöpfung von Sinn und ihrer Verbindung mit der Menschwerdung als solcher herausgenommen und gewissermaßen daraufhin zugespitzt, ob man es nicht doch als möglich ansehen kann, daß, wenn scbon nicht alle, so doch einige besonders begabte menschliche Geschöpfe unter entsprechenden Umständen hätten die Sprache erfinden können. "Ähnlich erscheint es dem ... Neurologen A. Leischner zweifelhaft, ,daß die Menschen, als sie die Sprache erlernten, alle ungefähr zur gleichen Zeit diese Funktion erlernt haben. Wahrscheinlicher ist es doch, daß sie zunächst von einzelnen, besonders begabten Individuen entwickelt wurde, daß sie später bei ganzen, weiter entwickelten Menschengruppen zur normalen Hirnfunktion wurde, ehe sie schließlich zu einer allgemein erreichbaren menschlichen Fähigkeit geworden ist'." Freilich können auch "die in diesem Leistungsbereich minderbegabten Phasen und Individuen keine ,Alali' gewesen sein, sondern müssen eine wenngleich dürftigere Sprachfähigkeit, ,potentia' besessen haben, die freilich nicht so wortschöpferisch hervortrat wie bei dem, was ihre begabteren Gefährten aktuell leisteten. Wäre dieser Unterschied über bloß graduelle Differenzierungen hinausgegangen, so hätten die Begabteren mit ihren Schöpfungen niemals Verständnis und Widerhall finden können." 28) Ähnlich spricht auch Kainz selbst von einem "initiativen Urhominiden", der "nach einigen Verständniserfolgen in prägnanten und entscheidenden Situationen das Verstehen der bei solchen Gelegenheiten absichtslos erfolgten Äußerungen ist älter als das bewußte Senden von solchen zu Verständigungszwecken - seine ursprünglich affektiv-expressiven Lautgebärden einmal in bewußter Wiederholung und Selbstnachahmung hervor-

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brachte, um auf seine Gefährten Eindruck zu machen, um auf sie zu wirken, worin der Schritt zur Zeichengebung liegt; indem sich die ursprünglichen expressiven Lautgegebärden allmählich zu Symbolen verfestigten." 29) Zusammenfassend läßt sich nochmals wiederholen, daß also die Methode Tetens' darin besteht, Einsichten der allgemeinen, der vergleichenden und der Entwicklungspsychologie des Menschen für eine plausible Hypothese des Sprachursprungs zu mobilisieren. In diesem Sinne geht er im Rahmen seiner Untersuchungen auch darauf aus, die eigentlich natürlichen Anlagen des Menschen von den hinzugekommenen zu unterscheiden. Antriebe im Sinne der ersteren sind solche, .,die in einer jeden Modifikation seiner [des Menschen] Natur durchbrechen und zur Tätigkeit kommen." Zu ihnen rechnet Tetens auch das schon seiner tierischen Natur zukommende .,Nachahmungsvermögen". Mit einem weiteren dieser Grundvermögen, dem .,bildenden Dichtungsvermögen" aber, geht der Mensch über die Grenze eines bloßen Nachahmens hinaus. Durch Not und Begierden wird dieses Vermögen zum Fortschritt der Menschheit gegen die angeborene natürliche Trägheit in Bewegung gesetzt. Als spezifisch menschliches Vermögen tritt nun freilich die Vernunft hervor, das Denken im eigentlichen Sinn, zu dem kein Tier imstande ist. Seiner empiristischen Grundhaltung entsprechend läßt es Tetens übrigens offen, ob die Vernunft nur ein graduelles Mehr des Menschen über das Tier hinaus bedeute oder nach Wesen und Art von der tierischen Vorstellungskraft unterschieden sei. 30) Jedenfalls muß die Vernunft .,den natürlichen Fähigkeiten des Menschen zugesellt werden, wenn man begreifen will, wie ein Mensch zur Überlegung und zum Gebrauch der Sprache gelangen könne" (16). Nun wissen wir schon: .,Nur in Gesellschaft mit seinesgleichen kann der Mensch ein Mensch werden" (21). Nur im Rahmen der Gesellschaft konnte Sprache entstehen, .,nämlich ein Gebrauch der Stimme, um Empfindungen und Begierden durch natürliche Töne zu erkennen zu geben" (25). Diese .,natürlichen Töne" finden sich auch im Tierreich. Sie sind durch

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den Mechanismus des organischen Köcpers bestimmt und stellen sich gewissermaßen automatisch ein. Der Mensch nun vollzog nicht nur "seine eigenen mechanischen Töne", sondern ahmte auch solche der Tiere nach, ebenso wie die "schallenden leblosen Körper wie Donner, Wind, Meer usw." Mit alledem ist freilich die Darstellungsfunktion der Sprache noch nicht erreicht. Es sind keine "Ideen von den äußeren Gegenständen vorhanden, wenigstens keine solchen, die durch Töne bezeichnet" sind. Auch die Nachahmung der Tiere und der von Natur schallenden Körper ist noch nicht mit der Absicht da, zu "bezeichnen". Auf dieser tierischen Stufe bleibt der Mensch nicht stehen. Nun muß freilich wiederum die Vernunft zitiert werden, die Empfindungen gegeneinander hält, vergleicht und ihre Verschiedenheiten wahrnimmt. Die bloße Vorstellung wird zum Gedanken, dieser mit Hilfe der sehr modifikablen Stimme des Menschen zum Wort. Tetens kommt zu folgendem Resultat: "Die Fähigkeit, unterschiedene Empfindungen auch auf unterschiedene Art anzuzeigen, ist nichts als eine Folge der bloß tierischen aber geschmeidigen und zu mannigfaltigen Bestimmungen aufgelegten Natur des Menschen. Darum nehme ich ihre Anwendung für etwas an, das vor dem Gebrauch der Vernunft vorhergeht" (30). Für Tetens gibt es also vor der eigentlichen Sprachausübung gleichsam ein motorisches Vorstadium, das "die Stelle jener hörbaren Zeichen vertreten könnte". Alles in allem handelt es sich hier gewissermaßen um so natürliche Vorgänge für den Menschen, daß man sich eher wundern müsse, "wenn irgendein Volk bis zu diesem Anfang der menschlichen Sprache nicht gelangt sein sollte, als wenn man sieht, daß sie alle bis dahin gekommen sind" (36). Hier nähert sich Tetens einer Theorie der notwendigen Erfindung der Sprache durch das Geschöpf Mensch. Der vorsichtige Empiriker setzt jedoch sofort hinzu, daß es nichts Unmögliches sei, irgendwo ein abgesondertes Volk in "einem bloß tierischen Zustande" anzutreffen. Betrachten wir die Theorie Tetens' noch einmal auf die methodischen Aspekte hin, insbesondere auch im Zusammenhang der Preisfrage nach der notwendigen Er-

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findung der Sprache durch den Menschen. Wir folgen zunächst Uebele31>: "Tetens unterscheidet unterden Fähigkeiten mehr von innen heraus determinierende, Triebe oder wirkliche Bestrebungen etwas zu verrichten, und andere weniger determinierende, Anlagen etwas verrichten zu können oder gar bloß etwas zu werden. Von letzterer Art sind die geistigen Kräfte, Vernunft und Sprachfähigkeit. Die sind weit mehr als die ersteren auf die Gunst auslösender äußerer Umstände angewiesen. Die spontanen Betätigungen zeigen sich zugleich am hilfsbedürftigsten. So ist der Haupteinwand gegen die ,Hinreichlichkeit' des Sprachvermögens zu wirklicher Erlangung der Sprache aus der Größe des natürlichen Unvermögens und der Trägheit des sich selbst überlassenen Menschen genommen." Diese von Uebele festgehaltene Argumentation bei Tetens entspricht nur wiederum durchaus seinem empirisch-psychologischen Programm. Seine Stellungnahme zur Notwendigkeit der Spracherfindung läßt" sich daher zuletzt auf die Auflösung des Problems durch Herder überhaupt nicht beziehen, sofern dieser nämlich unter dem Einflusse Hamanns den "Zirkel" in der Ursprungsfrage ernst nahm und im theologischen Aspekt die transzendentalphilosophische Frage des notwendigen Zusammenhangs der "Urschöpfung von Sinn" mit der "Menschwerdung" erkannte. Über diese auch heute noch häufig übersehenen Unterschiede der Sinnebenen unseres Problems war sich freilich Tetens (wie immer wieder auch Herder selbst) nicht im klaren, weshalb beide auch nicht jenes Verhältnis zu Kants Transzendentalphilosophie finden konnten, das ein verständnisvolles und fruchtbares Gespräch der Parteien ermöglicht hätte. Sieht man jedoch von diesen schwierigen Zusammenhängen ab, dann läßt sich mit Tetens' Unterscheidung von natürlich-notwendigen und zwar natürlichen, aber nicht im gleichen Maße notwendig determinierenden Anlagen des Menschen ein unbefangener Sinn verbinden, der wiederum Erkenntnissen der gegenwärtigen Sprachpsychologie nahekommt: ich meine jenen von der "Superstruktur der Sprache".

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In ihrem Sinne stellt Kainz fest, daß man es sich in der Ursprungsfrage zu leicht gemacht hätte, wenn man ein "eigenes Sprachvermögen ansetzte, das dem Menschen zufolge seines Menschentums eignen sollte und auf das man die Sprechtätigkeit erklärend zurückführen zu können glaubte." Dieses Sprachvermögen gibt es nun nicht: "Wüchse ein Kind in völliger Isolation auf, so käme es doch zu sämtlichen Empfindungs- und Wahrnehmungsleistungen, auch Vorstellungen usw. würden sich ausbilden. Zur Sprache aber käme es ohne die Unterstützung durch eine sprechende Umgebung nicht." In diesem Sinn bezeichnet Kainz die Sprache als "eine Superstruktur. Sie ist etwas, wozu der Geist erzogen, was gelernt werden muß, ist ein Kulturbesitz, den man erwerben muß, keine Funktion, die sich sozusagen von selbst vollzieht und von vornherein da ist als Auswirkung vorhandener Anlagen, wie die Sinneswahrnehmung eine Auswirkung der vorhandenen, so und so strukturierten Rezeptoren ist. Die Sprache ist eben keine angeborene Leistungsform wie das Saugen etwa, und Sprachreife ist keine angeborene Funktionsreife."32) Auch Tetens' Nachahmungstheorie und seine Unterscheidung natürlicher expressiver Töne des Menschen selbst von "schallenden" Tönen der Außenwelt findet in der modernen Sprachpsychologie ihre differenzierte Bestätigung. Mag es nämlich auch nicht richtig sein, von einer Sprachfähigkeit als Naturanlage zu reden, so ist es doch sinnvoll, "Elementargedanken der Sprachentstehung" 33) anzunehmen: "Unter diesen Elementargedanken verstehen wir die glottogonischen Invarianten, die allgemeinsten, immer wieder zu beobachtenden oder zu erschließenden Bildungsprinzipien, wie sie beim sprachlichen Urschöpfungsvorgang, soweit er sich in verfolgbaren Bereichen abspielt, wirksam sind und von denen sich annehmen läßt, daß sie auch in den ersten Sprachanfängen vorhanden gewesen sein werden." Kainz unterscheidet in dieser Hinsicht zunächst ein "expressives und ein impressives Moment". "In die erste Gruppe gehören vornehmlich die spontan und autonom erzeugten Expressivlautgebilde, in die zweite die

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unter Außenweltanregung gewonnenen Wörter." In der zweiten Gruppe wirkt "an der Formung des Lauterzeugnisses ein gewisser Anschluß an Naturvorbilder" mit in einer freilich nicht bewußten und absichtlichen "Nachahmung". Es ergeben sich Phänomene, die Kainz aus der Verständigungsabsicht gewissermaßen instinktiv und triebhaft resultieren läßt und als Lautnachahmung, Lautmetaphorik und Lautsymbolik näher beschreibt. Wie dem auch sei: jedenfalls ist für Tetens der Gedanke "in dem Augenblick völlig geboren, da er durch ein Zeichen ausgedrückt werden sollte". Wurden dabei in der Wortsprache die Gedanken in Tönen gewissermaßen "eingekörpert", so war damit jener Zustand gegeben, aus dem die weitere Entwicklung der Sprache und ihre Differenzierung erklärbar wird. Die Sprache stärkte dabei den Verstand und der gestärkte Verstand erweiterte und verfeinerte die Sprache (39f.). Zusammenfassend ergibt sich: "Die mechanischen Ausdrücke der ~mpfindungen konnten ebenso mannigfaltige Abänderungen annehmen, als die Empfindungen selbst. Nimmt man dazu die Menge und die Mannigfaltigkeit der nachgeahmten natürlichen Schallarten, und nun noch die Anzahl der Töne, welche aus der Nachahmung der Sachen mit der Stimme entspringen konnten, so hat man schon für eine große Menge von Gegenständen die natürlichen Namen, und für die übrigen alle Wurzelwörter, woraus ihre Benennungen abgeleitet werden konnten" (48f.). Tetens kennt dreierlei Arten dieser Ableitung, durch Übertragung des Namens, durch Ableitung im engeren Sinn, zu der auch die Flexion gehört, und durch Zusammensetzung. In einer Reihe von Beispielen erläutert Tetens diese allgemeinen Prinzipien. In der Ausbildung der Sprache kommen nun auch die Verschiedenheiten der Nationen zum Zug. "Es gibt Begriffe, die bei einem Volk mit Lebhaftigkeit gedacht werden, und die man bei einem anderen entweder ganz vermißt, oder nur teilweise in anderen Wörtern zerstreut antrifft. Die Sprache, welche dem Verstand aufhilft, schränkt ihn auch wieder ein, wenn sie ihn bis zu einem gewissen Umfang gebracht hat. Wer



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eine kultivierte Sprache erlernt, erlernt auch zugleich ein fremdes Gedankensystem"(61f.). "Willkürliche" Prägungen von Wörtern sind bei diesen Vorgängen nur dort möglich, wo man schon im Vollbesitz einer Sprache ist. Zwar sind die Wörter in den Sprachen durch keine Notwendigkeit dazu bestimmt, diese oder jene Sache zu erkennen zu geben, doch folgt daraus nicht, daß "eine gewisse Auswahl bei der ersten Erfindung der Wörter stattgefunden haben müsse, und also auch eine nach einer erkannten Absicht handelnde Überlegung"(6o),34l In der Etymologie muß man von der wirklichen Aussprache ausgehen, zumal in den einzelnen Silben der Ton eines Buchstabens als der herrschende hervortritt, auch wenn andere Buchstaben zu dieser Stellung mit beitragen. Von diesen uns schon bekannten Grundgedanken leitet Tetens auch die Erfindung der Buchstabenschrift ab. Sie zeichnet sich vor anderen Schreibweisen dadurch aus, daß man "bei den Zügen, wodurch die Sachen gezeichnet werden sollten, sich nach den Tönen"(66), insbesondere aber nach jenen hervorstehenden Elementen, richtete. In der alten sprachtheoretischen Streitfrage nach dem Vorrang würde dementsprechend Tetens die Sprachabhängigkeit der Schrift vertreten müssen. Tetens betrachtet seine Thesen zusammenfassend so, daß er es mit ihnen für erwiesen hält, "es sei dem Menschen durch seine natürlichen Fähigkeiten möglich, sich eine Sprache zu verschaffen, und es sei solches auf die erklärte Art und Weise möglich"(74)· Die Notwendigkeit der Spracherfindung aber leugnet er, insbesondere wenn man meint, "ein Mensch sei von Natur ebenso notwendig zum Sprechen bestimmt, als der Vogel zum Fliegen, und der Hund zum Bellen"(74). 5

An diese Zusammenfassung schließt der Anhang zum 11. Versuch des Hauptwerkes mit einigen Anmerkungen über die natürliche Sprachfähigkeit des Menschen an. Der Anhang bringt weder grundsätzlich noch in einzelnen

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Argumenten etwas Neues. Doch tritt nun Herder als Partner in der Auseinandersetzung in namentlicher Nennung auf.35l Wiederum fragt Tetens: "Ist hier [zur Erfindung der Sprache] nichts weiter nötig, als was der natürlich notwendige Gebrauch vollständiger und gesunder Sinnglieder schon mit sich bringt? oder ist überdies noch eine Anführung von anderen schon bis zur Sprache entwickelten Menschen und eine Instruktion erforderlich, wie eine Art von künstlicher Pflege bei unseren Pflanzen ... , wenn sie zu Blüte kommen und reife Früchte geben sollen"(767)36l. Er erstrebt von hier aus den schon bekannten Mittelweg zwischen der Einsicht, "daß der Mensch von selbst keine Sprache erfinden könne", und derjenigen, "daß er von selbst notwendig sie erfinden müsse"(772). Wieder wird in diesem Zusammenhang der Zirkel der gegenseitigen Voraussetzung von Vernunft und Sprache erwähnt. Den mittleren Weg geht Tetens bezeichnenderweise auch deshalb, um aus der Problematik philosophischer Möglichkeiten zur Beachtung der Erfahrung, der empirischen Genese (Tetens sagt der "Geschichte") .zu kommen. Wieder mündet die Theorie in die Vermutung, daß bei keineswegs gleich stark ausgeprägter Sprachfähigkeit bei allen menschlichen Individuen die Sprache von bestimmten, besonders begabten Individuen unter den entsprechenden Umständen erfunden worden ist. Der 11. Versuch selbst kann als der Höhepunkt des Hauptwerkes Tetens' betrachtet werden. Er zieht die Konsequenzen aus den verzweigten Abhandlungen des 1. Bandes und enthält im Grundsätzlichen alles, was der 2. Band bringt. Der Mensch wird von dem Tier durch "Sprachfähigkeit, Überlegungskraft, Vernunft, Freiheit" (741) unterschieden. An die auf diese Weise in ihrer zentralen Bedeutung für die philosophische Anthropologie herausgestellte "Sprachfähigkeit" schließt der schon charakterisierte "Anhang" unmittelbar an: "Wenn der Mensch so weit gekommen ist, daß er sprechen kann, so sind alle Grundzüge der Seele deutlich entwickelt, und der Mensch der Seele nach, völlig ausgebildet, so daß alles

5· Sprachfähigkeit des Menschen

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was nun noch weiter geschehen kann, bloß im Auswachsen besteht. Ist Sprache da, so ist auch schon ein wirklicher Gebrauch des Verstandes da; und ist dieser da, so wirkt der Mensch schon als ein freies ·wesen. Vielleicht kann man die Seele noch frühzeitiger für völlig gebildet ansehen, ehe es noch zum Sprechen kommt, aber desto gewisser ist sie es in dieser Epoche, in der nicht bloß Anlage zur Vernunft, und Anlage sprechen zu lernen, sondern auch wirkliche Vernunft, und Sprachfähigkeit, als unmittelbare nächste Vermögen vorhanden sind." In diesen Sätzen haben wir gewissermaßen den ganzen sprachphilosophischen Tetens. Das vernünftige Denken entspringt nach Tetens .,aus einem höheren Grade der inneren Modifikabilität und der Selbsttätigkeit. Ein Vorzug von Selbsttätigkeit muß also wohl unter die Grundvorzüge der Menschheit gehören"(752). Diese Selbsttätigkeit versteht Tetens - über Leibniz - im Sinne der aristotelischen Tradition als .,ein inneres Prinzip in der Substanz"(753). Auch die Herdersehe .,Besonnenheit" deutet er von dieser inneren Selbsttätigkeit her (749) und knüpft daran eine Diskussion über die Herdersehe Lehre, daß die Menschenseele im Unterschied zur tierischen .,eine größere Extension zu mehrartigen mit minderer Intension in einzelnartigen Handlungen" (748) besitze. Von diesem über Leibniz entwickelten Aristotelismus her versteht Tetens die Seele freilich primär und generell als .,Entelechie" eines .,organisierten Körpers". Wie Aristo~ teles neigt er daher auch dazu, die Seele nicht vom Leib zu trennen. Damit gerät er in die unsere ganze Tradition beschäftigende Schwierigkeit, wie denn die Seele als menschliches Ich mit der Seele als Entelechie des organischen Körpers vereint werden könne. In gewohnter Weise weicht hier Tetens der Entscheidung aus: .,Die menschliche Seele im psychologischen Verstande genommen, ist das Ich, das wir mit unserem Selbstgefühl empfinden und beobachten können. Es mag aus einem einfachen immateriellen Wesen allein bestehen, oder aus diesem, und einem inneren körperlichen Werkzeug des Gefühls und des Denkens zusammengesetzt sein, oder, um kein

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Erich Heintel: Tetens als Sprachphilosoph

psychologisches System auszuschließen, es mag nichts als der innere organisierte Körper selbst sein. Genug es ist das fühlende, denkende und wollende Eins, der innere Mensch selbst. Dieser hat seinen Charakter, und seine Eigenheiten, worüber sich nach Anleitung der Erfahrung philosophieren läßt, ohne jene theoretische Spekulation über die Natur des Seelenwesens zu berühren"(740). In unserem Zitat findet sich übrigens auch die Unterteilung des Seelenganzen in Fühlen, Denken und Wollen, eine Einteilung, die man gewöhnlich bei Tetens in den Geschichten der Philosophie und der Psychologie erwähnt findet.3il Die "substanzielle Einheit" der wirkenden Seele ist damit in keiner Weise in Frage gestellt. Der höhere Grad von Modifikabilität und Selbsttätigkeit der menschlichen Seele aber läßt die Frage resultieren, ob der "Unterschied zwischen Menschen und Tieren bloß ein Stufenunterschied ist, oder ist Verschiedenartigkeit da?"(761) Diese Frage läßt Tetens offen, wenn er auch - wiederum mit Leibniz - mehr zu der zweiten Ansicht neigt. In diesem Sinne bezieht er sich auf Aristoteles und meint: "In dem ersten Lächeln des Kindes fand Aristoteles schon mit Recht die Merkmale der Vernunft, und die Handlungen der meisten unter den völlig erwachsenen Tieren verraten nicht so viel Vorstellungs- und Beziehungsvermögen, als die Mienen und Gebärden des Säuglings von vier Wochen, wenn er lächelt oder weint. Die angeborene Würde der Menschheit scheint in dem ersten Anblick des Kindes deutlich hervorzuleuchten, da man in den künstlichsten Handlungen der Tiere nichts mehr als ein vernunftloses Tier sieht, das auch da, wo wir am meisten über seine Instinkte erstaunen, nicht anders sich zeigt, als ein \Vesen, dessen wunderbare Organisation zwar die Weisheit seines ersten Urhebers darstellt, das aber selbst keine Bestrebungen oder ·Tätigkeiten einer weisen und überlegenden Seele zu erkennen gibt" (764). In solchen Gedanken haben wir den Kern des Tetensschen Menschenbildes vor uns. Es wird im 2. Band des Hauptwerkes entfaltet und gipfelt in einer Glückseligkeitslehre, die von der "Selbsttätigkeit" her begriffen ist: "Je mehr

Anmerkungen

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also selbsttätige \Virkungskraft in der Seele ist, und je mehr die Einrichtung und die Kräfte der Organisation zu diesem Zwecke sich vereinigen, desto größer ist die Menschheit im Menschen"(651). Weiterhin aber gilt, "daß je mehr der Mensch [in diesem Sinne] vervollkommnet wird, einer desto größeren Glückseligkeit werde er fähig" (815). Wobei freilich der Schlußsatz des ganzen Werkes zu ergänzen ist: "Mich deucht, es sei auffallend, daß es auch hier in unserer Natur Kräfte und Bestrebungen gebe, die nach Punkten hingehen, welche jenseits des Grabes liegen."

AKMERKUNGEK 1) Dazu näher: W. Uebele "Herder und Tetens", in: "Archiv für Geschichte der Philosophie", Band XVIII, neue Folge Band XI, 1905, 216ff. In diesem Aufsatz stellt Uebele in seiner Zusammenfassung (S. 247ff.) die Herdersehe und die Tetenssche Sprachphilosophie einander folgendermaßen gegenüber: "Tetens steht dem Empirismus im guten und schlimmen Sinn näher als Herder. Er teilt mit ihm z. B. die geringere Fähigkeit, den Begriff des Geistigen in seinem Gegensatz statt seinem Zusammenhang mit dem Naturhaften herauszuarbeiten, während Herder wenigstens energische Anläufe dazu nimmt; wohl reserviert Tetens im Hauptwerk dem Denken mit der deutschen Philosophie einen eigenen qualitativ höheren Platz über der Sinnlichkeit, aber es ist wie oft bei den Oberen der Erde, die nominell regieren, faktisch von unten regiert werden: in der Vorstufe der Sinnlichkeit geschieht das eigentlich Entscheidende." Wenn für Uebele auch die Herdersehe Preisschrift "als die glänzendste sprachphilosophische Leistung des 18. Jahrhunderts gilt", so hält er es doch für sinnvoll, "ihr die Tetenssche Position gegenüberzustellen ... [man~ erreicht [damit] den Doppelzweck, einerseits den großen

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Traditionsgrundstock, andererseits das spezifisch Eigene des beiderseitigen Standpunkts deutlicher hervorzuheben." 2) W. Uebele, Johann Nicolaus Tetens nach seiner Gesamtentwicklung betrachtet, mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zu Kant. Unter Benützung bisher unbekannt gebliebener Quellen, "Kant-Studien", Ergänzungsheft 24, 1911, S. 22. 3) "Des Nicolaus Tetens Stellung in der Geschichte der Philosophie"; Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie, 16. Jahrgang, 1892, S. 355ff. 4) Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, 1765 von Raspe herausgegeben, 3· Buch (Philos. Bibi., Band 69, 1926, S. 295-410). - Unvorgreifliche Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache, 17.17 von Eccard ediert (Philos. Bibi., Band 108, 1966 3, s. 519-555)· 5) Die Zahlen beziehen sich auf die Seiten der Originalausgabe, die auch am Rand des Textes in den "Neudrucken seltener philosophischer Werke, hg. v. d. Kantgesellschaft, Band IV ... 1913" angegeben sind, wo die Abhandlung vor dem alten Band I der "Philosophischen Versuche" abgedruckt ist. Wie im Textteil dieser Ausgabe ist in allen Zitaten der Einleitung und ihrer Anmerkungen an der Interpunktion nichts geändert, dagegen die Rechtschreibung modernisiert worden (vgl. Anmerkungen, S.143). 6) Vgl. E. Heintel, Die beiden Labyrinthe der Philosophie, Band I, § 26-29, 1968. 7) Es sei angemerkt, daß sich Tetens im Zusammenhang mit dem "Allgemeinen" auf die Sprache bezieht; folgende Stellen mögen daher als Ergänzungen zu den Texten dieser Ausgabe hier ihren Platz finden: 1. Aus der Abhandlung "Über die allgemeine Spekulativische Philosophie"; dort heißt es im Abschnitt über die "Unterschiedene Entstehungsart der Gemeinbegriffe aus den Empfindungen", S. 65-68: "Einige der allgemeinen Begriffe sind abgezogene oder abstrajhierte. Sie sind aus einer wahrgenommenen Ähnlichkeit anderer mehr bestimmter Ideen entstanden. Die ersten von ihnen, die wir erlangen, werden aus den Ideen einzeler

Anmerkungen

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Dinge genommen, und sind im Anfange nichts, als die in den ähnlichen einzelen Vorstellungen mehrmalen wiederkommenden ähnlichen Züge, die sich ihres häufigen Vorkommens wegen tiefer und lebhafter in der Phantasie auszeichnen. Bis so weit sind sie sinnliche Abstracta, allgemeine Bilder. Es kömmt die Reflexion hinzu, bemerkt diese Ähnlichkeiten genauer, sondert sie sorgfältiger von den Verschiedenheiten ab, und bezeichnet sie durch Wörter. Dann sind sie abgezogene Gemeinbegriffe, oder Vorstellungen von allgemeinen Dingen. Diese Gattung ist unter den allgemeinen Begriffen die größte. Es findet sich aber hier wieder eine Verschiedenheit, welche bemerkt werden muß. Die Abstraktion kann das Allgemeine von reinen Empfindungsideen enthalten, wie die allgemeinen Ideen von den Gattungen und Arten der Tiere, der Pflanzen, und anderer wirklicher Körper, die wir empfunden haben. Diese sind ohne Zweifel reelle Begriffe, die uns die wirklich vorhandenen Gegenstände, oder eigentlich Ähnlichkeiten existierender Dinge, darstellen. Sie sind in dem philosophischen Gedankensystem, was die gesunden Nahrungssäfte in dem Körper sind. Weil aber der größte Teil unserer individuellen Ideen schon mit Zusätzen der bildenden Phantasie vermischt ist; so sind auch die meisten Abstraktiofnen nicht mehr Abstraktionen aus reinen Empfindungsideen. Daher denn auch das Gemeinschaftliche, was sie uns darstellen, nicht in Ähnlichkeiten von wirklichen und empfundenen, sondern von selbst erdichteten Gegenständen, besteht. Es· ist für sich selbst begreiflich, daß die Realität solcher Art von Abstraktionen nicht größer und nicht zuverlässiger sei, als die Realität der individuellen Ideen ist, aus denen sie genommen worden sind. Die zwote Gattung der allgemeinen Ideen befaßt alle selbstgemachten Begriffe, die durch die Auflösung der Abstraktionen in ihre einfacheren Teile, und durch die veränderte Verbindung dieser letzteren entstanden sind. Sie sind Geschöpfe unserer eigenen Denkkraft in der nämlichen Hinsicht, wie die sinnlichen Fiktionen es sind. Die Art der Zusammensetzung bei ihnen ist mannigfaltig. Einige sind nach den Gesetzen des Raisonnements verfertigt worden,

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Erich Heintel: Tetens als Sprachphilosoph

die unter dem ~amen von Raisonnementsideen, oder Demonstrationsbegriffen vorkommen. Die meisten sind aber Entwürfe der selbsttätigen Einbildungskraft, welche die allgemeinen Vorstellungen, ebenso wie die Bilder von einzeln Dingen bearbeitet, voneinander reißt, und wieder vereinigt, und eigene neue ganze aus ihnen zusammensetzt. Dies sind die selbsterfundenen oder selbsttätig ersonnenen allgemeinen Vorstellungen. Dahin muß man auch, woferne nicht etwa noch mehr Klassen gemacht werden sollen, alle solche Begriffe bringen, die zwar meistenteils reine Abstraktionen sind, aber I Zusätze, nähere Bestimmungen und Modifikationen an sich haben, die als einzcle Elemente für sich betrachtet, zwar wahre Abstraktionen sind, aber in die Verbindung mit jenen nur durch die Erdichtung, oder durch das Raisonnement gebracht worden sind. Die geometrischen Notionen, in ihrer geometrischen Schärfe genommen, sind Beispiele von dieser letzteren Gattung." 2. Hauptwerk I. 1. Versuch "Über die Natur der Vorstellungen", XV. Von der bildenden Dichtkraft, 6) Über die allgemeinen sinnlichen Vorstellungen; darin schreibt Tetens S. 134-135: "Außer der Geometrie leisten uns die Wörter, aber auf eine weniger vollkommene Art, dieselbigen Dienste. Diese Zeichen unserer allgemeinen Ideen. sind selbst vollständige Empfindungsvorstellungen; und mit diesen verbinden wir die ausgemerkten Vorstellungen von Kraft, Bewegung, Figur, Stärke, Glück usw. Aber sobald wir diese Zeichen verlassen, so fehlen uns andere substanzielle Grundlagen, um der Vorstellung die Gestalt der bestehenden Empfindungsscheine zu erteilen. Daher fallen uns, wenn wir die allgemeinen Begriffe 1anschaulich mit Unterdrückung des Worts vorstellen wollen, bald diese, bald jene einzelnen Empfindungen ein, aus denen sie genommen sind, welches nicht so geschieht, wenn wir das \Vort gegenwärtig erhalten. Denn das \Vort Kraft hält die verwirrte Idee auf die nämliche Art so abgesondert in uns, wie es die Idee der roten Farbe ist. Die allgemeinen sinnlichen Vorstellungen sind noch nicht allgemeine Ideen, noch keine Begriffe der Denkkraft und

.\nmerkungen

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des Verstandes ..\ber sie sind die :\-Iaterie und der Stoff dazu, darum ist es so wichtig, jene zu untersuchen, wenn man diese kennenlernen will. Die geometrischen Vorstellungen von Punkten, Linien, Zirkeln, Sphären usf. sind, in ihrer geometrischen Bestimmtheit genommen, auch noch aus einem anderen Grunde \Virkungen der Dichtkraft. Ich betrachte nämlich bloß das Bildliehe in ihnen. Es ist z. B. die Vorstellung einer krummen in sich zurückgehenden Linie aus den Empfindungen des Gesichts genommen, und hat eine eigene Gestalt aus dem einzelnen Empfindungsscheinen empfangen, den diese in ihrer Vereinigung hervorbrachten. Nun aber geschieht noch mehr. Die Vorstellung von der Ausdehnung haben wir in unserer Gewalt, und können. diese ideelle Ausdehnung modifizieren, wie wir wollen. Die Phantasie richtet daher das Bild von der Zirkellinie so ein, daß jeder Punkt von dem Mittelpunkt gleich weit abstehe, und keiner um das geringste von ihm weiter entfernt, oder ihm näher sei. Der letztere Zusatz in dem sinnlichen Bilde ist ein Zusatz der Dichtkraft, dergleichen es in allen unseren Idealen gibt. Und wie viele von den Gemeinbegriffen des Verstandes, oder den metaphysischen Notionen mögen wohl, wie Bacon schon gesagt hat, auch in dieser Hinsicht ein Machwerk unserer bildenden Dichtkraft sein?" 3· Hauptwerk I. 4· Versuch "Über die Denkkraft und über das Denken", VII. Vergleichung der verschiedenen Äußerungen der Denkkraft unter sich, 6) Von der Form der Urteile. Inwieferne sie in Vergleichungen bestehen; dort s. 367-368: "Aber sobald wir eine Idee oder ein Urteil mit einem allgemeinen Worte bezeichnen, so setzen wir seine J .\hnlichkeit mit anderen fest, nämlich mit solchen, welche mit demselbigen \Vorte benennet sind. Und dies letztere ist die \Virkung einer angestellten Vergleichung. \Venn ich mich also des simplen Ausdrucks: ist, nur bediene, und sage: das Papier ist weiß, so gebe ich schon so viel an, daß die gegenwärtige Beziehung der Idee von der weißen Farbe, auf die Idee von dem Papier dieselbige sei, welche allenthalben vorkommt, wo wir sagen: ein Ding ist dies, oder

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Erich Heintel: Tetens als Sprachphilosoph

jenes, ich sage; sie ist die Beziehung einer Beschaffenheit auf eine Sache, oder die Beziehung eines Dinges auf ein anderes, in welchem oder bei welchem jenes als eine Beschaffenheit ist." 4· Hauptwerk I. 6. Versuch "Über den Unterschied der sinnlichen Kenntnis und der vernünftigen", II. Von der ~atur der höheren vernünftigen Kenntnisse, 1) Die höhere Vernunftkenntnis erfordert allgemeine Begriffe. Wie diese in der Phantasie vermittelst der Wörter bestehen; S. 460-462:

"Die höheren Vernunftkenntnisse erfordern allgemeine Urteile, und diese setzen allgemeine Begriffe voraus. Was aber diese letzteren betrifft, so darf ich hier nicht wiederholen, was ich anderswo zur Erklärung ihres Entstehens in uns gesagt habe. Ihr Stoff lag in den Empfindungen. Diesen bearbeitete die Einbildungskraft und die Dichtkraft zu allgemeinen Bildern, welche denn durch die Denkkraft auf die nämliche Art, wie die sinnlichsten Bilder verglichen und unterschieden werden. Nur noch eine Anmerkung über die Verbindung der Wörter, als willkürlicher Zeichen, mit jenen Ideen, ist hier nachzuholen, weil einige Philosophen diese Bezeichnung der Begriffe und ihre Hervorbringung von der Denkkraft, verwechselt zu haben scheinen. Es gibt allgemeine Vorstellungen, die sich als gewisse ähnliche Züge mehrerer einzelner Empfindungsvorstellungen von selbst so stark auszeichnen, daß die Phantasie sie in ihrer Verschiedenheit aufbewahren kann, ohne daß es nötig sei, durch eine andere sinnliche Vorstellung, dergleichen die Töne sind, sie noch mehr aus/zuzeichnen. Dahin gehören die allgemeinen Vorstellungen von den Gattungen der Dinge, welche die Natur gemacht hat. Mensch, Tier, Baum, \Vasser sind Ähnlichkeiten mehrerer Empfindungen, deren Teile stark genug zusammenhangen, und die sich als Ganze deutlich genug im Kopf voneinander absondern würden, wenn wir auch gleich ihre Benennungen entbehren müßten. Solche allgemeinen sinnlichen Abstrakta haben für sich ohne \Vorte in der Phantasie Haltung genug, um zu bestehen. Aber auch in den übrigen Fällen, wo die einmal bemerkten

Anmerkungen

XLI

Ähnlichkeiten sich in der ganzen Masse unserer Bilder wieder zerstreuen möchten, wenn man sie nicht durch ein Wort, als durch ein Band zusammen vereinigt hielte, sind dennoch die \Vörter immer nur die Zeichen der Vorstellungen, niemals die Vorstellungen selbst. Der sie vergleichende und urteilende Verstand hält die Vorstellungen sich vermittelst der Worte vor, sieht jene bei diesen, und durch diese, aber nicht diese allein, und die Reflexion, welche Verhältnisse der Vorstellungen denkt, urteilt nicht über die Worte. Die allgemeinen Begriffe von dem Sein, von der Substanz, von der Notwendigkeit usw. sind nun zwar so innig als möglich diesen Zeichen einverleibt, aber wer über solche Ideen nachdenken will, muß nicht die Worte anschauen, sondern die Sachen, das sind hier die Ähnlichkeiten der Empfindungen, welche man mit diesen Worten bezeichnet hat. Es ist nur so oft von den spekulierenden Metaphysikern geschehen, daß gewisse Verhältnisse der Wörter mit den Verhältnissen der Sachen verwechselt worden sind, woraus sachleere \Vortkrämerei entstanden ist. Dennoch gibt es eine gewisse Klasse von allgemeinen Urteilen, wovon man sagen kann, die Reflexion brauche außer den Worten oder den Zeichen nichts vor/ sich zu haben, um richtig über die Sachen zu urteilen. Dies findet erstlieh da statt, wo die Sachen selbst einerlei Beziehungen haben mit ihren Zeichen, wie sich bei den völlig angemessenen Zeichen der Mathematiker, und auch bei den Wörtern der philosophischen Sprache, wenn diese erfunden wäre, am deutlichsten zeigen würde, sonsten aber bis auf einen gewissen Grad, soweit nämlich die Analogie der Wörter mit den Gedanken sich erstreckt, bei jedwedem Ausdruck geschehen kann. Zweitens auch in den Urteilen über die ersten Grund-Gemeinbegriffe, die von einer solchen Allgemeinheit sind, daß sie sowohl die Zeichen, als jede andere Sachen unter sich begreifen. Die ersten Grundsätze des Verstandes sind Urteile, die von keinen besonderen Beschaffenheiten der Vorstellungen abhangen, sondern von jedweder Art von Dingen, von Ideen, von Zeichen der Ideen, und von Objekten gleich richtig sind. Sie bestehen in Verhältnisge-

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Erich Heintel: Tetens als Sprachphilosoph

danken, die bei der Vergleichung und Verbindung jedweder Art von Dingen, Sachen, Wörter, Buchstaben, und was es auch sein mag, das sich der Denkkraft darstellt, überall auf eine und dieselbige Art gedacht werden. Z. B. In dem Grundgemeinsatz, den man das Prinzip der Identität nennt; A ist A, kann man sagen, die verglichenen Begriffe sind die Buchstaben selbst. Aber um den ganzen Umfang des Satzes zu verstehen, muß man nicht bloß bei dem Buchstaben stehenbleiben. Denn hier ist das Zeichen A, obgleich der Satz auch von diesem Zeichen richtig ist, das allgemeinste Zeichen eines jeden Dinges, einer jeden Vorstellung und eines jeden Begriffs." 8) Vgl. meine Einleitung zu Herders "Sprachphilosophischen Schriften" in der Philosophischen Bibliothek (Band 248, 1960, 19642). Das Verhältnis Tetens' zu Kant ist eine der Hauptfragen der Tetensforschung. Dazu Uebele, a. a. 0. Einleitung und IV. Kap. 3- Schluß, und Seidel (Anm. 9). 9) Kant selbst hat gegen Tetens immer wieder den Unterschied der empirischen Analyse von der transzendentalen betont. Zum Verhältnis beider von einem transzendentalen Psychologismus der Fries-Schule her vgl. Artbur Seidel: Tetens' Einfluß auf die kritische Philosophie Kants, Leipziger Dissertation, Würzburg 1932, S. s-8, S. 38. Seidel scheint es bedenklich, daß Kant "es wagt, die relativ bewährte empirisch-psychologische Methode anzugreifen, um an deren Stelle die transdendentale zu setzen." Er bestreitet Kant überhaupt das "Auffinden einer neuen philosophischen l\Iethode", zumal "auch Kant in jedem Abschnitt seiner \Verke Psychologe ist, nur daß er es leider nicht immer ganz und nie mit vollem Bewußtsein gewesen." Dabei berücksichtigt Seidel durchaus den Unterschied der Frage "quid facti" von derjenigen "quid iuris". \Vie er meint dadurch, daß "die Entdeckung des apriorischen Tatbestandes unserer Seele selbst aposteriorisch ist". Es gilt, .,also auf empirisch-psychologischem Wege zu finden, was unsere Seele apriori vermag". Und so ergibt sich, daß "die Vernachlässigung der Psychologie nicht eine verzeihliche Eigenart Kants, sondern ein bedauerlicher Grundfehler seines ganzen Kritizismus ist". Seidel folgt in diesen kriti-

Anmerkungen

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sehen Bemerkungen durchaus Fries: "l!nser \Vissen um die apriorischen Erkenntnisse ist aposteriori. Durch ihre Erfahrung gelangen wir zu dem, was Voraussetzung aller Erfahrung sein muß. Voraussetzung aller kritischen Philosophie muß daher die Beobachtung, eigene und fremde, sein." - Ich halte zwar die Ve;:ständnislosigkeit Seidels für die transzendentale Betrachtungsweise im strikten Sinn keineswegs für einen Fortschritt. Trotzdem hat sich diese Interpretation immer wieder geschichtsmächtig erwiesen. Die Beziehungen zu Brentano und seiner Schule, aber auch zur Phänomenologie, ebenso wie zu Ernst Laas, liegen auf der Hand: es ist jeweils der Ausgang von einem unproblematisch vorausgesetzten Unmittelbaren des Bewußtseins, das- wie schon Tetens und Fries- alle diese Richtungen bestimmt. - Zu Fries vgl. auch Uebele a. a. 0. S. 206-210. Dort heißt es unter anderem: "Auf T. nimmt Fries in seinen Schriften auffallend wenig Bezug. Trotzdem dürfte ihm dieser Philosoph schon früh durch seinen Lehrer Garve, jedenfalls aber dann durch Platner nahegebracht worden sein. \Venn je kein direkter, so liegt doch eben in den Impulsen Platners sicher ein indirekter Einfluß von T. auf Fries vor." 10) Über die "Immaterialität unseres Ich" äußert sich Tetens ausführlich im Hauptwerk (li, S. 175-213, S. 540547); trotz seines Anschlusses an Leibniz weisen seine Gedanken einen nur geringen philosophischen Tiefgang auf.Ähnlich verhält es sich mit den rund 150 Seiten, die er ebenfalls in seinem Hauptwerk - dem Freiheitsproblem widmet. Tetens folgt dabei folgendem Leitsatz (li, S. 2): "Man nehme heraus, was die Beobachtungen unmittelbar von der Freiheit lehren, und was ich mich angewöhnt habe, unter dem Ausdrucke von Selbstmacht der Seele über sich zusammenzufassen, und untersuche dessen Folgen in der Moral, so mag das übrige zu den feineren metaphysischen Spekulationen gerechnet werden, welches ohne Verlust an wichtigen praktischen Einsichten als tinausgemacht dahingestellt bleiben kann." Kant meint dazu ironisch (Uebele, a. a. 0. S.185): "Eskömmtmirvor: daß,daerseinenlangen Versuch über die Freiheit im zweiten Band schrieb, er

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Erich Heintel: Tetens als Sprachphilosoph

immer hoffte, er würde ~·ermittelst einiger Ideen, die er im unsicheren Umrisse sich entworfen hatte, sich wohl aus diesem Labyrinthe herausfinden. Nachdem er sich und seinen Leser ermüdet hatte, blieb die Sache doch so liegen, wie er sie gefunden hat und er rät dem Leser an, seine Empfindung zu befragen--." 11) Von hier aus ist es verständlich, daß "Tetens über die antimetaphysische Wendung Kants enttäuscht war", wie Uebele (a. a. 0. S. 178) mit Recht feststellt. Zur Synthese von Locke und Leibniz meint derselbe Autor zusammenfassend (S. 151f.): "Grundsätzlich steht Tetens ... mehr auf [der Seite von] Leibniz, kongenialer ist ihm Locke." 12) Die Zahlen beziehen sich auf die Seiten der "Beiträge" von 1765-1766, welche in dieser Ausgabe am Rand des Textes angegeben sind. 13) Vgl. Anm. 4). 14) Unvorgreifliche Gedanken ... § 109, a. a. 0. S. 553· 15) Ebenda § 11, a. a. 0. S. 523. 16) F. Kainz, Psychologie der Sprache I., 1941, S. 274. 17) Ebenda S. 283. 18) F. Kainz, Die "Sprache" der Tiere, 1961, S. 1. 19) F. Kainz, Psychologie der Sprache, a. a. 0. S. 278ff.; auch die Bemühungen E. Rossis (Entstehung der Sprache und des menschlichen Geistes, 1962) wären in diesem Zusammenhang anzuführen. 20) F. Kainz, Tiersprache, S. 276. 21) E. Hein tel, J. G. Herder, Sprachphilosophische Schriften, Aus dem Gesamtwerk ausgewählt, mit einer Einleitung, Anmerkungen und Registern versehen, Philosophische Bibliothek Band 248, 19642. - Sprachphilosophie, in: Deutsche Philologie im Aufriß, Bd. I., 19562. - Gegenstandskonstitutionund sprachliches Weltbild, in: SpracheSchlüssel zur \Velt, Festschrift für L. \Veisgerber, 1959· 22) F. Kainz, Tiersprache, S. 2. 23) Vgl. Anm. 21). 24) F. Kainz, Tiersprache, S. 2, nach Gehlen zitiert. 25) Die Zahlen beziehen sich auf die Originalseiten von 1772, die in dieser Ausgabe am Rand des Textes angegeben sind.

Anmerkungen

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26) Ein relativ spätes Kuriosum in dieser Hinsicht bietet die "Fundamentalphilosophie" von J. F. Tafel, Universitätsbibliothekar zu Tübingen, die in ihrem ersten Teil, 1848, diesen Dingen rund 150 Seiten mit unendlichen Anmerkungen über diesbezügliche Berichte aus allen Zeiten widmet, und zwar im § 6: "Urzustand des Menschen. Verwilderte." und im § 7: "Kann nicht schon das bloße Zusammensein mehrerer Menschen ihre Anlagen zur Entwicklung bringen?" 27) Vgl. die allgemeinen methodischen Hinweise im IV. Hauptstück des ersten Bandes (S. 267ff.) seiner Psychologie der Sprache und die entsprechenden speziellen Anmerkungen in seiner "Sprache" der Tiere (S. 1 ff.), aus denen auch unser Zitat stammt. 28) F. Kainz, Tiersprache, a. a. 0. S. 272f. 29) F. Kainz, Sprachpsychologie, a. a. 0. S. 281f.; zur Verschiedenheit der Menschen vgl. auch Tetens, Hauptwerk Il, s. 555-581. 30) Zu dieser Frage sind auch die aus dem Hauptwerk unter III gebrachten Texte heranzuziehen. 31) Archivaufsatz, a. a. 0. S. 245f. 32) Sprachpsychologie, a. a. 0. S. 275· 33) Ebenda, S. 292ff. 34) Diese Einsichten stammen von Leibniz (vgl. Unvorgreifliche Gedanken § 50, a. a. 0. S. 536 und "Neue Abhandlungen ... ", a. a. 0. S. 301). An der letzten Stelle heißt es: "Ich weiß, daß man in den Schulen und auch sonst allgemein zu sagen pflegt, die Bedeutung der Worte sei willkürlich (ex instituto); und es ist allerdings richtig, daß diese Bedeutungen nicht durch eine natürliche Notwendigkeit bestimmt sind; nichtsdestoweniger sind sie es bald durch natürliche Gründe, bei denen der Zufall mitwirkt, bald durch moralische Gründe, bei denen eine Wahl stattfindet." Uebele (Archivaufsatz, a. a. 0. S. 244) erwähnt im Sinne einer "Synthese von Condillac und Leibniz" durch Tetens in der Ursprungsfrage ein "engeres und weiteres Anfangsstadium: 1. Die Interjektionsepoche. 2. Die Wurzelepoche." Die letztere bildet gewissermaßen die

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Erich Heintel: Tetens als Sprachphilosoph

Drehscheibe von der psychologisch-genetischen zur historisch-linguistischen Erhellung des Sprachursprungs. 35) Neben den diesbezüglichen Stellen des 11. Versuches, die in III abgedruckt sind, ist auch noch folgender Bezug im 10. Versuch "Über die Beziehung der Vorstellungskraft auf die übrigen tätigen Seelenvermögen", III. Auflösung einiger psychologischer Aufgaben, aus der Natur unserer Vorstellungen von Aktionen, 4) Auf welche Art das Mitgefühl sich äußere?; darin S. 678, zu erwähnen: "Das Gehör hat eine gedoppelte merkwürdige Eigenschaft. Wir können keine Empfindung aus einem der übrigen Sinne so vollkommen nachmachen, und anderen wiederum zu empfinden geq_en, als die Schallarten und Töne durch das Stimmorgan. Sollte ich den Wald, den ich gesehen habe, anderen wieder sichtbar machen, so müßte ich ihn zeichnen oder malen. Das z"l.vote ist, daß die Töne, welche wir hervorbringen, und in welchen wir unsere Empfindungen ausdrücken, zugleich \"On uns und zwar auf dieselbige Art gehört werden, als von anderen. Machen wir eines anderen Mienen nach, so sehen wir sie doch selbst an uns nicht, oder wir müßten vor dem Spiegel stehen. Die erste Beschaffenheit, welche Hr. Herder nicht bemerkt hat, macht diesen Sinn mehr zu dem natürlichen Sinn der Sprache, als alle die übrigen Eigenschaften, die ihm als einem Mittelsinn zukommen. Die zwote ist aber hier am meisten merkwürdig. Sie macht es begreiflich, warum der ·weg von dem Herzen zu dem Herzen durch das Gehör ohne Ausnahme der kürzeste ist, wenn nur Mitgefühle erregt werden sollen, die von Natur in Töne ausbrechen." 36) Die Zahlen beziehen sich auf die Seiten des Hauptwerkes von 1777, die sowohl in dem 1913 von Uebele herausgegebenen Neudruck wie in dieser Ausgabe am Rand des Textes angegeben sind. 37) Dazu Genaueres bei Seidel a. a. 0. S. 17-21.

I JOHANN NICOLAUS TETENS

Über die Grundsätze und den Nutzen der Etymologie (1765-1766)

Über die Grundsätze und den Nutzen der Etymologie

14tes Stück. 6. April

1765.

/s3a

Das Wortforschen ist eine Beschäftigung die den Witz und die Erfindungskraft beflügelt; den Verstand in eine gelinde Bewegung setzt, kein anhaltendes Anstrengen bei einer einzigen Sache erfordert, das Gemüt angenehm zerstreut, und weil es mit Wahrscheinlichkeiten und mit Mutmaßungen umgeht, unseren Beifall auch an anderen Wahrheiten gewöhnt, als solchen, die sich geometrisch beweisen lassen. Dazu leitet es uns in der Geschichte, und ist fast allein unsere Fackel, wenn wir in den entferntesten und dunkelsten Gegenden derselben den ersten Ursprung und die Verwandtschaft der Nationen, die Entstehung und die Kindheit der menschlichen Sprachen, und Erkenntnisse aufsuchen; deswegen es auch dem philosophischen Auge, dessen Blick nicht allein auf einzelne Menschen, sondern auch auf das ganze Geschlecht und dessen Schicksale gerichtet ist, eine Menge lehrreicher und angenehmer Aussichten vorzeigt. Der Sprache und der Nation, die sich darauf legt, gereicht es zur Zierde und zum Ansehen bei den Ausländern. Daher ich nicht weiß, ob eine Arbeit sei, die/ sich besser anpasse die Nebenstunden derer auszufüllen, deren Hauptbeschäftigung den Verstand an der Kette zusammenhangender allgemeiner Wissenschaften gefesselt hält. §2

Aber Wortforschen ist nicht Beckanisieren. Die allgemeinen Benennungen der Dinge, imgleichen die eigentümlichen Namen der Städte, Flüsse, Berge, Länder, Menschen, usw. aus den Wörterbüchern, Geographien,

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Grundsätze und Nutzen der Etymologie

und Geschichten zusammenzusuchen; darauf Silben und Buchstaben hinzuzusetzen, herauswerfen, herumsetzen, vertauschen, Metonymien, Synekdochen, und Metaphern erdichten, und so lange das Wort zerren und radbrechen, bis man endlich in dieser und jener Sprache die Stammwörter dazu findet, oder die einfachen Silben, woraus es hätte hergeleitet, oder zusammengesetzt werden können; das heißt, die Worte wie Wachs ansehen, aus denen man formen kann, was man will. Auf solche Art ist es leicht mit dem Goropius Becanus, einem Arzt im sechzehnten Jahrhundert, alle in der alten Mythologie /54 a und f Geschichte der Griechen, Römer, der Orientalen, und alle Wörter aller Sprachen in der Welt aus der gotischen und kimbrischen, oder mit Rudbeck, Stiernhielm und anderen aus der schwedischen Sprache herzuleiten. Hermann von der Hardt, der das Hebräische ganz aus dem Griechischen; Prasch, der das Lateinische aus dem Deutschen; Erich, ein Deutscher von Geburt und Professor zu Padua, der alle europäischen Sprachen aus dem Ägyptischen und Griechischen herholte, und eine Menge anderer machten es nicht viel besser. So kann man quidvis ex quovis machen. Auch bei den besten Etymologen finden sich hin und wieder ebenso sonderbare Ableitungen; aber man muß einen großen Unterscheid machen, zwischen dem kühnen Flug der Phantasie, die zuweilen vom Pfade ausschweift, und zwischen dem gemeinen Witz, der sich in solchen Chimären ganz verliert, sich darinnen weidet, und mit ernsthafter Miene uns Einfälle als wichtige Entdeckungen aufbürdet. Doch muß man billig sein und sich erinnern, daß auch unter Drespen sich noch Körner finden. §3 Die Etymologie muß ihre Vernunftlehre haben, und sichere allgemeine aus der Natur der Sache hergenommene Vorschriften. Was ist ihre Absicht? Sie sucht die Verwandtschaft und das Geschlechtsregister der Wörter in der Sprache auf. Alle ihre Aufgaben in Hinsicht der

§ 3

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einfachen Wörter können auf diese allgemeine gebracht werden. Wenn ein Wort, nebst der Sache, die es anzeigt, gegeben ist, zu finden, zu welchem Zweige von Wörtern es gehöre, und wenn man diesen bestimmt, den entfernten Stamm zu finden, und aus diesen die Wurzel, woraus es gesprossen. In Hinsicht der zusammengesetzten Wörter ist es nötig die einfachen zu finden, woraus es besteht; da denn / diese einfachen, als die Elemente angesehen /.i4b werden, außer welchen man gemeiniglich nichts weiter verlangt. Die Hauptsache dabei ist diese, daß ebenderselbe Stammbaum, der es vor die Wörter ist als äußerliche Zeichen, oder als Töne betrachtet, es auch sei in Hinsicht ihrer Bedeutungen: wie die Töne von den Tönen, so sollen die Ideen, die ihnen zukommen, voneinander abhangen, und auseinander fließen. Diese Untersuchungen können sich auf eine Sprache allein einschränken, oder sich über mehrere verwandte, z. E. über die europäischen, oder gar in dem höheren Teil der Etymologie auf alle erstrecken. Diese Absicht vollkommen zu erhalten wäre es nötig, mit vollständigen Wörterbüchern versehen zu sein, in welchen nicht nur die Bedeutung der Wörter, die noch in der Sprache im Gebrauch sind, genau bestimmt, sondern diese auch nach den Wurzelwörtern, die noch übrig sind, geordnet wären. Dazu müßten noch Glossaria vorhanden sein, in denen man die schon ausgestorbenen Wörter, nebst den schon verlorenen, oder etwas abgekommenen Bedeutungen derselben vorfinde; denen man die idiotica, die noch manche Wurzelwörter, oder auch sonst verloschene Spuren davon aufbehalten haben, beifügen muß. Hätten wir denn noch außerdem Wörterbücher von den Sprachen solcher Nationen, die, weil sie sich nach gewissen Winkeln der Erde gezogen, und wenige Veränderungen ausgestanden, in ihrer Sprache die alten Wurzelwörter noch größtenteils aufbehalten haben, als der Irländer, Finnen, Lappen, der Einwohner des Herzogtums W allis, der Nordschottländer, so ließen sich die alten Sprachen, und ihre Veränderungen besser erkennen, und man würde zu den ersten Elementen der Sprache und zu den natürlichen Tönen, die der Keim aller Wörter sind, ziemlich

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Grundsätze und Nutzen der Etymologie

/ssa weit hinaufkommen können. Denn nichts hindert f den Wortforscher mehr, als daß von den älteren Sprachen nur so wenige Trümmer übrig sind. Man hat kein Buch in einer europäischen Sprache, die lateinische und griechische ausgenommen, das älter wäre, als der bekannte Codex argenteus des Ulphilas, wenngleich hin und wieder in Norden einige Runsteine sind, denen man mit Wahrscheinlichkeit ein noch höheres Alter beilegen kann.

Eine solche Analogie zwischen den Tönen und ihren Bedeutungen, da so wie jene von einem Grundton, diese von einigen Grundideen abhangen, setzt die Etymologie in den Sprachen voraus; und wo jene aufhört, hat diese ihre Grenzen. Die Frage ist also, ob sich eine solche in den Wörtern, und wie weit sie sich vermuten lasse; indem sonst zu befürchten wäre, daß der Wortforscher viereckte Zirkel suche. Nichts ist wahrscheinlicher, als daß man bei der Bildung der Sprache einer gewissen natürlichen Charakteristik gefolgt sei, so man noch jetzo in den Sprachen deutlich erkennen würde, wenn die unendlichen Vermischungen, und Veränderungen der Völker und der Zungen die ursprüngliche Ordnung nicht zerrüttet hätten. EineN ation, die vorhero stumm gewesen, und nun auf einmal den Gebrauch ihrer Zunge mit dem Gebrauch der Vernunft erhalten hätte, sich aber selber allein überlassen wäre, würde in der Sprache aller Wahrscheinlichkeit nach solche Schritte nehmen. Sie würde anfangs nur ihre Empfindungen, und Gegenstände bezeichnen, die die Sinne am häufigsten und am stärksten rührten; und deren Anzeige durch Merkmale zur Befriedigung ihrer natürlichen Triebe und Bedürfnisse am unentbehrlichsten ist. Hierzu würde sie einfache Töne gebrauchen, die entweder /ssb wie die Töne der Tiere Folgen der Emjpfindungen der Dinge wären; oder deren Hervorbringung Bewegungen und Äußerungen erforderte, welche einigermaßen die am

§

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§

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meisten rührenden Beschaffenheiten der Gegenstände abbildeten, und also mit diesen in einer natürlichen Verbindung stünden. Dies wäre der erste Grundstoff der Sprache. Bei mehreren Bedürfnissen und mehrerer Erkenntnis würden neue Gegenstände, bei denen man gleiche, und ähnliche Eigenschaften wahrnahm, mit gleichen und ähnlichen Tönen belegt, und die Verschiedenheiten mit kleinen Abänderungen der Silben bemerkt werden. Dies ist der natürliche Weg zur Sprache, auf den zum Teil auch die holländischen Matrosen zu den Namen der 32 Winde gekommen sind.

§5 Hiervon findet man Spuren und Beweise in den würklichen Sprachen. Wir haben noch solche ·wörter in der unsrigen übrig, die einigermaßen Bilder der Gegenstände sind, als rinnen, rieseln, wehen, donnern, flehen, klingen, quaken, brüllen, und fast alle die, womit die Stimmen der Tiere bezeichnet werden. Zudem sind die Stammwörter in allen Sprachen die simpelsten, und es ist kein geringer Grund vor das Alter einer Sprache, und vor die Ehre, daß sie die Mutter vieler anderer sei, wenn sie mit solchen einfachen Wörtern reichlich versehen ist. Und dieses Grundes haben sich verschiedene bedient, die unserer deutschen Sprache, oder eigentlich der keltischen, wovon unsere deutsche ein unvermischter Abkömmling ist, ein Alter beilegen, das sich über die Babylonische Verwirrung hinaus erstreckt. So ist auch die Meinung derer so ungereimt nicht, die mit Cla~tberg, Westhoff, Gerhard Meier, Leibniz und Eccard* in den Buchstaben eine natürliche Bedeutung gefunfden, und dieses mit unzähligen Beispielen aus der /s6a deutschen Sprache bewiesen, so wie Neumann und Löscher von der hebräischen Sprache ein gleiches geglaubt.

*

Man sehe Meieriana.

Leibnitii Collect. Etymol.

P. I I excerpta

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Grundsätze und Nutzen der Etymologie

So soll R eine heftige; W oder V eine gelinde Bewegung; Leine langsamere; H etwas Hohes; K T D etwas, das nicht gerade, sondern gekrümmt ist, etwas Gewaltsames; N einen niedrigen Gegenstand, Qv und dv einen gezerrten, gedrehten; 0 und U eine dunkle, oder wie ich glaube, eine unangenehme Sache überhaupt vorstellen; a, e, i aber ein Zeichen des Lichts, oder eines hellen Gegenstandes sein, welches ich lieber auf das Angenehme überhaupt erweitern möchte. Die Bewegungen, die zur Aussprache dieser Buchstaben erfordert werden, haben nämlich die genannten Beschaffenheiten. Und in der Tat, ob man gleich gestehen muß, daß diesen allgemeinen Regeln viele wenigstens scheinbare Ausnahmen entgegengesetzt werden können, auch bei der Herleitung der Wörter aus diesen Primitiv- oder Anfangszeichen oft harte Metaphern zugelassen werden müssen, so scheint doch die Menge der Beispiele, die man zum Beweise angeführt hat, wenigstens so viel zu erweisen, daß bei weitem nicht so vieles bloß willkürlich in unserer Sprache sei, oder daß die Wörter an sich so gleichgültig sind in Hinsicht ihrer Bedeutungen, als man sich gemeiniglich überredet. Es ist doch merklich, daß die mehresten Wörter in den Buchstaben R Dinge ausdrücken, bei denen eine etwas starke Bewegung sogleich in die Sinne fällt, so wie auch der Schall ist, den die Aussprache dieses Wortes erfordert. Meiner Meinung nach müßte man nicht sowohl auf den Buchstaben, als vielmehr auf den regierenden oder Hauptton der Silbe oder des Worts achten, weil der Schall des einen Buchstabens durch den Schall des fol/56b genden oft gemildert oder gestärkt wird. In diefsem Radikalton muß die natürliche Abbildung der Sache gesucht werden, da denn freilich diese öfters von dem Mitlauter allein oder auch von dem Selbstlauter allein, aber auch oft von beiden zusammengenommen abhangen würde. Dies halte ich indessen für den ersten Grundsatz der Wortforschung, und der philosophischen Sprachlehre, daß die ersten und ältesten Wörter einfache natürliche Töne gewesen.

§ 6

§ 7

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§6

Darum darf man aber nicht behaupten daß diese natürlichen Töne bei allen Nationen einerlei sein müssen. Die Würkungen des Klima dringen so tief in den Menschen, daß sie die Art zu empfinden, und die Empfindungen auszudrücken, so verschieden machen, als die Saiten verschiedener Instrumente sind. Eine Nation nimmt den Mund voll; eine andere spricht heller heraus; der Orientale aspiriert stärker, als die Abendländer; der harte Einwohner Nordens kann eine Verbindung mehrerer Mitlauter vertragen, als die weicheren mittäglichen Völker. Der Selavonier, der Unger, der Pole und Kosacke zischt stärker, als der Deutsche, so wie der Obersachse die Zunge hurtiger bewegt, als der Niedersachse. Dahero hat auch ein Ton dieser oder jener Nation schwer und unangenehm sein können, der einer anderen leichter und angenehm war; und daraus hat eine Verschiedenheit der Sprache entstehen können, die sich bis auf die ersten Elemente erstreckt. Es kann also der Einfall derer, die wesentliche Zeichen in der hebräischen Sprache finden wollen, die aber von denen, welche man in der deutschen sucht, unterschieden sind, zugleich mit dieser letzteren bestehen. Wäre dieses, so würde es ein Beweis sein, daß die orientalischen Sprachen von der keltischen nach ihrem ersten Wesen verschieden, und aus einer gemeinschaftlichen Quelle nicht könnten geflossen sein. 15tes Stück. Sprachen verschiedener Völker, die einerlei natürliche 13. Töne, und Elemente haben, könnten in den Benennungen April der Dinge voneinander weit abgehen. Die Namen folgten 1765.

den Eindrücken, die die Gegenstände machten, und das, /s7a was am vorzüglichsten bei der Sache herausstach, war ihr Charakter, und gab ihr den Titel. Man kann hier ebensowenig tiefsinnige Untersuchungen der Natur der Gegenstände vermuten, als glauben, daß alles auf ein

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Grundsätze und Nutzen der Etymologie

bloßes Ohngefähr angekommen sei, oder daß man die Namen, wie aus dem Glückstopf gegriffen, den Dingen aufgesetzt habe. Wir können aus der Analogie, wie es jetzo bei neuen Namen, sowohl die in Künsten, und Wissenschaften gebraucht werden, als die im gemeinen Leben vorkommen, geschieht, schließen auf das, was anfangs geschehen ist: zuweilen regiert der Zufall, wenn z. E. der bekannte Desaguliers die künstlichen Himmelssysteme von dem angesehenen Liebhaber Mylord Orrery, mit dem Namen Orrery belegt: aber hunfdert Fälle sind gegen einen, worinneo eine vorzüglich einleuchtende Beschaffenheit der Benennungsgrund ist, wovon die oben schon berührten Wörter, die noch den Originalton an sich haben, ein Beweis sind, dahin auch die Wörter äw, aer, aura, haugh, haleine, dTtt6;, athmen,Odem, wie auch das Wort Luft, usw. zu rechnen sind. Man kann leicht mutmaßen, daß eine natürliche Rhetorik hinzugekommen, und Synekdochen und Metonymien gemacht. Das Natürliche war doch zufällig; und wurde von unendlich vielen, und zum Teil kleinen Nebenumständen regiert. Viele Dinge hatten mehr als eine Beschaffenheit, die auf die Ehre, der Hauptcharakter zu sein Anspruch machten. Darf man sich wundern, daß bei Völkern verschiedener Länder so genau sie sonsten vielleicht verwandt sind, einerlei Sache so verschiedeneN amen führt, und daß öfters so viel Witz erfordert worden dem /sSa Faden der Ähnlichkeit, nach welfehern diese von einem Dinge zum anderen übergetragen, und den die Phantasie gezogen hatte, wieder nachzugehen und den Ursprung der Benennung zu finden. Zuweilen verrät er sich. 0 bildete eine runde hervorstehende Sache ab, daher Oge, Auge, Oculus, Oeil, Ochio, Oge, Oeland, eine Insel, und von dieser wieder die Augen, oder die kleinen Kügelchen, die das Fett macht, wenn es oben auf dem Wasser zerteilt schwimmt. Auch den Gegenständen, die ähnliche Eigenschaften hatten, gab man die Namen durch Metaphern. So machen wir es jetzo noch, und fast alle Benennungen unkörperlicher Dinge und ihrer Veränderungen sind aus den äußeren

§ 8

§ 9

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Empfindungen, und der Körperwelt entlehnt. Solche Bedeutungen waren anfangs das, was unsere Nomina impropria translatitia sind, die aber durch die Zeit und den Gebrauch den Dingen eigen, oder propria geworden, und unter die angeborenen (nativa) versetzt sind. §8 Es gibt in den Sprachen bei dem Gebrauch der Wörter in einer uneigentlichen Bedeutung eine gewisse Ähnlichkeit. So können wir die mehresten Wörter in eben den Redensarten uneigentlich gebrauchen, in welchen sie der Lateiner, Grieche, Franzose, und Engländer nimmt. Einiger Unterscheid findet sich indessen, davon man Beispiele aus den Wörterbüchern, und Sprachlehren sammeln kann. Diese Abweichung, wenn man sie auf allgemeine Regeln bringen könnte, würde uns vielleicht etwas weiter hinaufführen zu dem Grunde der Verschiedenheit der Stammwörter in Sprachen, deren erster Stoff einerlei natürliche Töne sind.

§g Sprachen, die außer den ersten Elementen noch mehr Stammwörter, besonders einfache miteinander gemein haben, stehen in einer noch f näheren Verwandtschaft. /sSb Aber in wie viele verschiedene Zweige kann sich ein Ast nicht ausbreiten? Die vorhingedachten Ursachen der Abänderung der Sprachen, die Himmelsgegend, Einrichtung des Staats, Lebensart, Sitten, Nahrung, Gewerbe, dringen bis in den Kern der Sprache, und können sogar Stammwörter dergestalt abändern, daß sich einerlei Wörter einander so unähnlich werden, als der Mensch im 40sten Jahre dem neugeborenen Kinde ist. Plato bezeugt es,* daß die griechischen Wörter niie, iJ~we, ;evwv, ;e{7Jv, von den alten Bewohnern Griechenlands, das ist, von den

* In seinem Cratylo.

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Grundsätze und Nutzen der Etymologie

Kelten abstammten, woraus die, welche mit vieler Wahrscheinlichkeit behaupten, daß die griechische, römische und deutsche Sprache drei Schwestern sind, welche die keltische zu ihrer Mutter haben, schließen, daß diese Wörter mit den lateinischen ignis, aqua, canis, ire, und mit den deutschen Feuer, Für, Wasser, Hund, gehen im Grunde einerlei sind; ahnerachtet in ihnen, wenn man :nüe, Feuer, Für, "vwv, canis, ausnimmt, kein einziges gemeinschaftliches Wurzelzeichen mehr angetroffen wird. §10 Überhaupt sind die Sprachen ebenso vielen Veränderungen unterworfen, als die Völker. Der Strom der Zeit spült Silben, Buchstaben, Verbindungen, Wörter, Bedeutungen, hinweg, und führt neue herzu; und dies ohne daß einmal das Volk sein Land verlassen, oder sich mit anderen vermischen darf. Die Sprache der XII Tafeln war schon zur Zeit des Cicero größtenteils unverständlich, und. wer von uns versteht den Otfried, und die noch jüngere Sprache der mittleren Zeit? Die Wörter haben nicht mehr denselben Verstand; Geduld bedeutet 159a f heutzutage nicht mehr Waffenstillstand. Bescheiden nicht mehr vernünftig, noch bescheidene ] ahre, mündige Jahre, davon das Glossarium medii aevi Haltausianum voll ist. Auch hat sich die Aussprache geändert. So reimt sich nicht mehr Daß sie mich nicht umstossen, Du kannst massen. und hundert andere, die in den alten Gesängen vorkommen. Wir legen dem a und o nicht mehr wie vorhero, einen vermischten Laut bei von beiden, wie jetzo noch von den Engländern und Dänen geschieht. Solche Veränderungen gehen vor unseren Augen fort. Unsere Schriften in der Muttersprache können diesen Lauf der Abwechslungen etwas hemmen, wie sie es bei der griechischen Sprache getan, und wie es auch vielleicht bei der lateinischen würde geschehen sein, wenn nicht so große Veränderungen

§

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§

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des Staats dazugekommen. Gute Wörterbücher und Grammatiken können vieles beitragen, der Sprache eine Art von Fertigkeit zu verschaffen. Aber, nie werden alle diese Mittel sie ewig machen.

§u Doch gibt es einige Wörter, die der Veränderung mehr Trotz bieten, und dies sind die Benennungen der gemeinsten Dinge, die der Mensch allzuoft im Munde hat, und die dahero das Kind allzugut nachsprechen lernt, als daß sie sich leicht verlieren könnten. Dahero finden wir, daß der Radikalton aller solcher Wörter in den mehreren europäischen Sprachen; einige sogar noch aus der alten keltischen sich erhalten haben. Z. E. Essen, eten, ede, ead, edo, l~w; Acker, ager, dyeo;-; ~apdw, dorno, zähmen, tämen, lammen, usw. Der Inbegriff dieser Wörter macht das Geblüt der Sprache aus, und die, in welchen man sie häufig gemein findet, gehören zu einer und f derselben /59b Familie; wo sie noch alle zusammen sind, ist die Sprache noch dieselbe. § 12

Auf diesen und ähnlichen Grundsätzen sind die Vorschriften des Wortforschens gegründet, wie die Regeln des vernünftigenDenkensauf der Natur der Gedanken. Wenn das Wort und seine Bedeutung gegeben ist, so muß 1) anfangs darauf gesehen werden, ob es eine Sache ausdrücke, davon man Nachricht hat, daß sie uns von anderen Völkern zugeführt worden, es mag im gemeinen Leben vorkommen, oder zu einer Kunst, Wissenschaft, Gewerbe gehören. In diesem Fall ist das Wort ein fremdes, das nur in unsere Sprache eingepfropft worden. 2) Die zusammengesetzten Wörter, die mehr als ein Stammwort enthalten, sind von den einfachen zu unterscheiden. Dies läßt sich aus den verschiedenen Dialekten, Glossariis, idioticis, und aus der Art, wie es in mehreren

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Grundsätze und Nutzen der Etymologie

verwandten Sprachen geschrieben wird, erkennen. Gerhard Meier behauptet mit Grunde, daß das Wort Welt zusammengesetzt sei, weil Otjried es W erold, saeculum, diu durans, schreibt. Leibniz sahe es hingegen für ein einfaches an. 3) Die Nominapropria erfordern eine eigene Betrachtung. 4) Ist es ein einfaches gemeines Wort, so suche man alle Wörter, die einen gleichen und ähnlichen Ton haben, oder denen auch die Buchstaben gemein sind, die in dem Schall des Worts herrschen: ferner alle von eben derselben, oder von ähnlicher Bedeutung. Um zu dem ersten Stammwort zu gelangen, müssen auch die benachbarten und verwandten Sprachen zu Rate gezogen werden. Ohne eine weitläuftige Erkenntnis mehrerer Sprachen und ohne einer ausgebreiteten Einbildungskraft wird man mit der größten Vernunft kein Etymologe. Und doch würde keiner dieser Regel folgen können, wenn alle Sprachen /6oa zu / erlernen wären, die man in dieser Absicht gebrauchen will; wenn nicht Wörterbücher und Grammatiken die Stelle des Gedächtnisses vertreten, und in den mehresten Fällen das Herumsuchen abgekürzt würde. 5) Die Radikalbuchstaben, oder Töne verraten sich in vielen V/örtern gar bald, wenn man sie mit anderen von eben der Wurzel vergleicht. Sie sind wie die Wappen in der Heraldik. Man kann wohl nicht behaupten, daß sie sich in allen Wörtern erhalten hätten, indem die harten, und seinver auszusprechenden mit anderen Buchstaben haben können vertauscht, oder gar weggeworfen sein. Es gibt vielleicht gar keine, oder doch sehr wenige Mitlauter, die nicht mit anderen verwechselt würden, und ebenso wenig unveränderliche Selbstlauter, dahero wie ich oben schon erinnert, man mehr auf den Hauptton, als auf den Buchstaben zu sehen hat. Ist dieser Hauptton verloren, so ist das \Vort wie eine umgeschmolzene Münze anzusehen, auf der keine Spur ihres ersten Gepräges geblieben ist, welches dahero aus ihr selber, wo nicht andere historische Gründe hinzukommen nicht erforscht werden kann.

§ 12

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Dahero hat man 6) alle Nachrichten, welche die Geschichte von den Schicksalen des Worts und der Sache gibt, zur Hand zu nehmen; aber man muß keine zu dem Ende selber erdichten. Diese können oft den an sich unglaublichsten· Ableitungen eine Wahrscheinlichkeit verschaffen. Wegen des oben auge/führten Zeugnisses des Plato halten einige Wortforscher die Wörter :oevwv, canis, Hund vor ein, und dasselbe Wort. Die Herleitung des Namens Danubius von don ubel stützt Eccard auf das Zeugnis des Eustathius. So wie das am meisten Wahrscheinliche oft falsch ist, so ist das höchst Unwahrscheinliche oft wahr; und doch ist es vernünftiger der Wahrscheinlichkeit zu folgen und zu irren, als ungereimt mutmaßen, gesetzt auch man träfe es. 7) Alle Wörter, die zugleich in dem Hauptton, und in der Bedeutung übereinstimmen, sind entweder einerlei, oder gehören zu einer Familie, sie mögen in einer, oder in mehreren Sprachen vorkommen, und das einfachste von ihnen ist die Wurzel. So sind Kopf, Caput, :oeecpail.?]; H uhr, :oe6e1J; Gut, dya06;; Pforte, Poort, Porta, Porte, Port, Door, Düre, Thüre, Ovea; Tochter, Ovyat:eo;, Dotter, und unzählige andere. 8) Man würde wohl tun, wenn man diese Beispiele von den übrigen absonderte, und sie in Hinsicht der Wahrscheinlichkeit ihrer Ableitung in der ersten Klasse setzte. Aus ihnen müßte die Analogie der Verwechslung der Buchstaben gefunden werden. Man kann keine einzige Ableitung den Einfällen der zügellosen Phantasie überlassen; alle müssen einen Grund haben, der sie mehr oder weniger wahrscheinlich macht. 9) Die Größe der Übereinstimmung in dem Tone und in der Bedeutung bestimmt die Größe der Wahrscheinlichkeit der Herleitung. Die Ähnlichkeit in den Gegenständen, gibt den Benennungsgrund. Ist dieser weit hergeholt, und also so viel wie nichts, so bleibt die Wahrscheinlichkeit der Herleitung unendlich geringe: so wie auch bei der größten Übereinstimmung der Bedeutung noch keine Herleitung oder Übereinstimmung der Wörter stattfindet, wenn die Töne ganz voneinander abgehen,

j6ob

16tes Stück. 20.

April 1765. j61a

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Grundsätze und Nutzen der Etymologie

wo man nicht aus anderen Gründen hiervon Grund angeben kann. 10) Solange noch eine ziemliche Übereinstimmung in dem Radikalton und in der Bedeutung zugleich da ist, schließt man mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auf die Verwandtschaft der Wörter. Aber dies ist die Grenze, wo die kühnen Mutmaßungen anfangen, und ... that point, where sense and dulness meet. Alles wird hier zweifelhaft, wo nicht äußere Gründe den Wortforscher unterstützen. Eccard hielt Danubius, Da/61b naster, Danaper und Tanais J vor dasselbe Wort, das nur den Endigungen nach verschieden. Imgleichen wenn eben dieser Gelehrte die in den Fabeln der Griechen vorkommenden Titanes von Theut, Tid, populus herleitet, welches von tyd, tiz, thiot, thiud, dux, rex, abstammt. Daher auch teut, König in den legibus salicis, und bei dem Ulphilas Thiudinassus, regnum, thiudans, rex, wovon auch Tuisch, Duitsch, Teuto, Tuisco, welches letzte Wort, das Tuisto bei dem Tacitus ist. Muß die Ähnlichkeit in den Wörtern, und in ihrer Bedeutung weit hergeholt werden, und fehlen zugleich andere Gründe, so kommen wir auf die ungewissen, zum Teil possierlichen Ableitungen, zu welchen der größte Teil derer gehört, die alle griechischen und lateinischen Wörter zu teutschen machen, oder die griechischen zu hebräischen umgießen wollten, welche Ableitungen uns so oft erinnern an das risum teneatis amici. 11) Je weiter der Benennungsgrund hergeholt wird, desto unwahrscheinlicher ist die Abstammung. Ich ent/6za halte mich der Kürze wefgen vieler Beispiele. Daher wird Berenheuter, Berenhuder, Berenheder besser hergeleitet von Ber Eber, welches Wort hier in Mecklenburg noch gebraucht wird, und von heden, hüten, da es denn so viel heißt, als unser jetziges Schwin-Driver, als von Bären, und Haut, da es einen faulen Menschen anzeigen soll, der nichts tut, als auf Bärenhäuten, das ist, den Betten bei den Alten liegen.

§ 13

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Wenn die Sache aus fremden Ländern gekommen, so ist es wahrscheinlich, daß der Name zugleich mitgebracht sei, und also von der fremden Sprache abstamme. Doch kömmt hier wieder alles auf die vorgedachte Übereinstimmung an, die zuweilen den Mangel des historischen Zeugnisses ersetzt. Engel, Teufel, Düvel, Creuz, Fenster usw. stammen offenbar von äyyeÄ.o_., lhdßoÄ.o_., Crux, Fenestra, usw. 13) Bei zusammengesetzten Wörtern ist die Analogie der Verbindungen mit in Betracht zu ziehen. 14) Bei den Nominibus propriis sind die Schwierigkeiten größer, weil bloß der Name ohne seine eigentliche Bedeutung bekannt ist: wenigstens ist diese nicht bestimmt genug. Weiß man die Sprachen, woraus sie genommen, so hat man vieles gewonnen. Allein wenn, wie in den mehresten Ländern geschehen, verschiedene Völker und Sprachen sich miteinander vermischt haben; und man kann weder aus der Analogie der Zusammensetzungen, noch aus der Geschichte den Benennungsgrund entdecken so muß man glückliche Gedanken haben, wenn nicht lauter leere und chimärische Einfälle herauskommen sollen. 12)

Hat man auf diese Art alle zu einer Klasse gehörigen Wörter unter ein Haupt gebracht, und ist man zu den einfachsten Stammwörtern f gelangt, so ist noch der j62b Schritt übrig zu den ersten Elementen oder zu den natürlichen Tönen. Man kann sich hier durch Hypothesen zu Hülfe kommen, die man anfangs als richtig annimmt; hernach wenn sie bei der Probe nicht völlig bestehen, durch Zusätze und Absondern verändert; welchen Weg man in den gründlichsten Wissenschaften hat nehmen müssen. Am Ende ist die Etymologie, wie die übrigen menschlichen Erkenntnisse. Alles sind Brocken. Wir wissen die Regeln, wie sie gesammelt, zusammengesetzt, und wie die Lücken ergänzt werden müssen; aber es fehlt die Kraft ihnen zu folgen.

Nutzen der Etymologie

Diesen in der Eile niedergeschriebenen Gedanken wollte ich eine Verteidigung der etymologischen Bemühungen beifügen, und etwas von dem Vorteile sagen, den wir von diesen in der Geschichte, besonders in der alten, und auch in der Philosophie uns versprechen können, wovon schon Eccard* vieles Vortreffliches angeführt hat. Diesmal aber ist dieser Aufsatz schon allzu lang geraten: daher ich es bis künftig versparen muß. Ein Privatumstand hat mir hierzu Gelegenheit gegeben. Ein guter Freund sahe dieses Feld der Gelehrsamkeit an, als einen Spaziergang der Gelehrten, wo man bloß tändele, und dachte von diesen Bemühungen verächtlicher, als man nach meiner Meinung von irgendeiner Zunft der gelehrten Republik denken muß. Ich habe damit nicht die Gedanken erregen wollen, als wäre ich ein Mitarbeiter an dem Gebäude der Etymologie; ich bin nur ein Zuschauer, wie ein Vernünftiger bei vielen Dingen sein kann und muß, ohne selber Hand anzulegen. Dahero habe ich auch eigentlich nur davon zu solchen geredet, die dessen Einrichtung noch nicht kennen; denn die, welche ein Geschäfte aus dem Wortforschen machen, habe ich ebensowenig unterrichten können, als · wollen.

35stes

Über den Nutzen der Etymologie

Stück. 30. Au-

In dem 16. Stücke dieser gelehrten Beiträge des Jahres 1765 habe ich den Lesern dieser Blätter versprochen, zu 1766. j139a meinen Gedanken über die Grundsätze der Etymologie noch etwas von dem Nutzen, welchen man von dieser Art /139b der gelehrten Bemüfhungen erwarten kann hinzuzusetzen. Diesem Versprechen will ich gegenwärtig nachkommen. gust

*

in s. oratione de usu historia.

&:

praestant. studii etymol. in

Nutzen der Etymologie Den Nutzen der Etymologie in der alten Geschichte haben Eccard und andere, sowohl in allgemeinen Sätzen,* als durch f den Gebrauch, den sie von ihr gemacht, in ein j14oa solches Licht gesetzt, daß ich diesen fast ganz übergehen kann. Es hat aber eben diese Wissenschaft auch gewisse Beziehungen auf die Philosophie; und von dieser Seite will ich jetzo ihren Nutzen zu zeigen mich vornehmlich bemühen. Die Etymologie führt uns zu den ersten und ursprünglichen Bedeutungen der Wörter der Sprache, und legt uns den ganzen Faden vor Augen, dem man nachgegangen ist, als man die ersten Benennungen von einer Sache zu einer anderen übertrug, oder andere Namen durch die Ableitung aus den ersten Grundwörtern bildete. Sie lehrt uns also die Benennungsgründe, das ist, die Ideen, welche man sich anfänglich, als man den neuerkannten und bishero noch mit keinenNamenbelegten Gegenständen eine eigene Benennung gab, gemacht hatte. Denn diese Ideen sind es eigentlich, die man durch die Namen ausdruckte: und welche man entdeckt, wenn man zu der ersten u. ursprünglichen Bedeutung der Wörter gelangen kann. Man kann also mit Wahrheit sagen, daß die Etymologie uns die Geschichte liefere, von den Entdeckungen, welche eine ganze Nation bei dem ersten Ursprung der Sprache, über die Gegenstände, die sie mit Namen belegt, ge/macht hat: diese liegen in der Sprache, die man als ein /14ob großes Kollektaneen-Buch ansehen kann, in welchem alle, welche zuerst die Sprache angebaut, ihre neuen Ideen und Kenntnisse aufgezeichnet, und zu welchen hernach jeder etwas hinzugeschrieben hat, der sie entweder mit einem neuen Worte oder mit einerneuen Verbindung vergrößerte.

* EccaJ'd de usu

dJ praestantia studii etymologici in historia. Wenn man alle diejenigen anführen wollte, wel-

che sich der Etymologie in der Geschichte bedient haben, so müßte man fast alle Geschiehtschreiber nennen, die entweder von dem Ursprung der Völker insbesondere gehandelt, oder auch sonsten die älteste Historie einer Nation berührt haben.



Nutzen der Etymologie

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36stes Stück. 6. September 1766. (141a

(qtb

Die Wörter, und dies gilt zum wenigsten von dem abgeleiteten, sind im Anfange nicht bloße Zeichen der Gegenstände, an und vor sich betrachtet, gewesen, sondern Zeichen der Ideen, unter welchen man die Objekte gedacht hat, das ist, Zeichen der Sachen wie sie aus einem gewissen Gesichtspunkt betrachtet aussehen: oder abgekürzte aber größtenteils mangelhafte Erklärungen. So sind auch die Verbindungen der Wörter Abdrucke von der Ordnung in der eine Nation die Vorstellungen von den Gegenständen zu setzen gewohnt ist. Denn es ist eine Harmonie zwischen der Denkungsart und der Sprache, wie bei einzelen Personen, so bei einer ganzen Nation; und diese macht, daß die Erlernung einer Sprache zugleich den Vorteil hat, daß man mit der Denkungsart des Volks das sie redet, in etwas bekannt wird. Nun sind freilich nicht allemal die Wörter, der wahren Beschaffenheit der Sache gemäß eingerichtet; es hat so vernünftige Wortmacher nicht gegeben, wie sie Plato* fordert. Der gemeine Mann hat mehr Anteil an der Sprache als der Weise, wenigstens bei denen Sprachen die jetzt in der Welt geredet werden. Denn die erste, wenn sie von Gott selber den Adam, wie verschiedene Ausleger der Heil. Schrift glauben, gelehrt ist, hat notwendig größere Vollkommenheiten hierinnen besitzen müssen. Dahero ist auch der Inbegriff der Kenntnisse, die die Sprache eines Volks enthält, eine Vermischungvon Wahrheitund von Irrtümern, von Witz und vom Abenteuerlichen, vom Scharfsinnigen und Verwirrten, so wie die sich selbst gelassene Vernunft bei der ersten, und sinnlichen Betrachtung der Dinge, die allemal dem Scheine folgt, sie geben konnte. Aber dennoch bleibt eine solche f Sammlung von Begriffen die der rohe Verstand sich anfangs gemacht hat, in vieler Hinsicht auch dem Philosophen lehrreich. Diese Ideen von den benannten Sachen liegen auch in ganzen Redensarten; wo sie nicht mit einzeln sondern mit mehreren Wörtern ausgedruckt werden, auch alsdenn lassen sie sich durch die bloße Zergliederung solcher

*

in Cratylus .



Nutzen der Etymologie

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Redensarten finden, die allemal in unserer Gewalt sein muß, wenn wir den eigentlichen Sinn derselben begreifen sollen. Es ist z. E. nicht genug, überhaupt zu wissen, daß dasjenige was wir eines natürlichen Todes sterben nennen, von den Lateinern ausgedruckt werde: sua morte defungi, oder sua morte mori, und im Griechischen: l6lrp Oavri:rcp Dv'lja"ew. Es wird in diesen ersten Redensarten eine Vorstellungsartdes natürlichen Todes angezeigt, die von der, welche in dem deutschen Ausdruck liegt, abgeht, und die man auch mit erkennen /muß. Bei einzeln Wörtern j142a oder Namen aber wird dieser Benennungsgrund nicht anders als durch die Aufsuchung des Stammworts, wovon der Name abgeleitet ist, entdeckt. Diese Benennungsgründe sind von verschiedener Art, davon ich hernach unten etwas mehreres zu sagen Gelegenheit haben werde. Einige gründen sich auf zufällige und veränderliche, andere auf beständige Beschaffenheiten der Sachen; einige auf innere andere auf äußere historische Umstände; und einige haben ihren Grund mehr in dem zufälligen Zustand derer die die Gegenstände zuerst genannt haben, als in diesen letzten selber. Dahero ist auch ihre Brauchbarkeit verschieden. Zuweilen lehren. sie uns nichts mehr, als was jeder der an die Sache denkt, zugleich mitdenkt. Das Wort Vater oder Fader z. E. kommt von dem alten Wortjähden oder föden, davon nochjodanbei dem Ulphilas welches so viel heißt als Zeugen, und hernach auch die Bedeutung des Ernährens erhalten hat, wovon auch das Wort, Futter abstammt. Diese Herleitung lehrt uns also nichts von der Sache, als etwas Gemeines, worauf ein jeder sogleich verfallen wird. Wenn man aber den Ursprung des Worts: Fus, Foot damit :nov; und pes verwandt ist, aufsucht so kommt man auf das alte Stammwort falten, sich feste halten, wovon auch das Wort: jassen, fest und dergl. herrühren. Die ersten Benenner haben also, die Füße als die Stützen des menschlichen Körpers, worauf er sich feste vor dem Fall hält, betrachtet. Dies ist eine Beschaffenheit, die zwar einem jeden bei den Füßen bekannt ist; aber es ist doch nicht die erste Idee, unter welcher der Fuß bei den mehresten

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Nutzen der Etymologie

gedacht wird. Lehrreicher ist die Etymologie des Worts j142b Ehe, das seifnem Ursprung nach, eben wie das griechische Wort 'llop,o' eine Verbindung anzeigt, die den Gesetzen gemäß ist. Es kommt nämlich her von dem alten Wort: Eh, oder Ehe Echt, ein Gesetz, ein Recht, und enthält also ein wesentliches und sehr merkwürdiges Unterscheidungsstück dieser Gesellschaft von anderen, die etwa ähnliche Absichten haben, ob es gleich keine vollständige Erklärung angibt. Es hat mit allen abgeleiteten Wörtern oder doch mit den mehresten eine gleiche Beschaffenheit.* Man kann meinen daß dieser Nutzen des Wortforschens die Mühe nicht ersetze, die man darauf verwenden muß; daß es weit vernünftiger sei dem Rat des Plato zu folgen, und die Eigenschaften der Dinge aus der unmittelbaren Betrachtung derselben zu suchen, nicht aber den Umweg über ihre Namen zu nehmen, wo man so selten zu einer Merkwürdigkeit kommt, die man bei der geraden Untersuchung nicht gefunden hätte. Allein, dieser Nutzen ist auch nicht der einzige, den die Etymologie gibt, es sollen noch wichtigere angeführt werden: Dazu ist es etwas anderes, die Dinge selbst zu erkennen, und zu wissen, wie sie sind, und ein anderes zu wissen wie der Mensch anfänglich sich selbige vorgestellt hat, als sein Verstand ohne Vorschrift und Kunst, sich selbst überlassen, sie zu denken anfing. Dies letzte lehrt die Etymologie unmittelbar; und ohnstreitig ist vieles hierinnen welches man bei der Untersuchung der Dinge wenigstens als einen Leitfaden mit Nutzen gebrauchen kann. Die Idee von der Welt darf aus dem Worte nicht geholt werden. Ist es aber deswegen unnütze zu wissen daß der Grieche und Lateiner ihr von der Ordnung und Schönheit den Namen gegeben, ;1 43a der I sländer sie Heim, das ist das f Vaterland, das Haus, die Wohnung, und der Gote sie manaseth; denn so heißt sie bei dem Ulphilas; das ist M annsätt, den Wahnplatz der Menschen nennt?

* Man sehe besonders die Beispiele, welche in der Preisschrift des Hrn. Hofrat 1Vlichaelis L'influence des opinions sur le langage vorkommen.

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Ich habe diesen Nutzen nur darum zuerst angeführt, weil er auch aus solchen Beschäftigungen erhalten werden kann, die vielleicht am ersten der Verachtung ausgesetzt sind. Dahin rechne ich die Aufsuchung der Idiotismen, der Provinzial-Redensarten und Sprüchwörter, in welchen manche Überbleibsel der alten verlorenen Sprachen gefunden werden, die entweder noch die Stammwörter unserer Benennungen selber sind, oder uns doch auf die Spur helfen, solche zu entdecken. Will man dergleichen Sachen verächtlich Quisquilien des Parnasses nennen, wie sie in der Tat von einigen genannt worden sind: denn die Einbildung von der Wichtigkeit seiner eigenen Beschäftigungen ist in der gelehrten Republique allgemeiner als in der bürgerlichen: so will ich zu meinem Teile gestehen, daß ich Hochachtung vor solchen Gelehrten hege, die bei diesem Auskehricht eben die Mühe über sich nehmen, welche man, nach dem Bericht des Hn. Winckelmann, einigen Nonnen in Rom bei der Erde die sich in den Katakomben findet, aufgegeben hat, und die darinnen besteht, daß sie solche Erde durchsiebten, und die darin noch übriggebliebenen Reliquien sorgfältig auslesen. So wie man ohne Hülfe der Etymologie die ersten eigentlichen Bedeutungen der Namen nicht finden kann, so halte ich es auch vor unmöglich denjetzigen Redegebrauch (ohne loquendi) zumal bei allgemeinen Ausdrücken festzusetzen, das ist, diejenigen Ideen die man mit den Wörtern im gemeinen Leben verbindet, deutlichrindbestimmt anzugeben, ohne den Ursprung und die Ableitung der Wörter zu Rate zu ziehen: Und daß jenes eine nützliche und zuweilen notwendige Sache sei; ist bei allen Philosophen ausgemacht. Ein kritisches philosophisches Lexikon der gemeinen Sprache, in welchem die eigentlichen und figürlichen, die eingeschränkten und allgemeinen Bedeutungen f welche man den Wörtern im gemeinen Leben /143b gibt, deutlich entwickelt und vollständig angegeben würden, ist nach meinen Gedanken ein Schatz, den man unserer teutschen Sprache sehr zu wünschen hätte. Wenn ein solches Buch einmal von der Nation, oder wenigstens von demjenigen Teil, welcher den Ton in der Sprache und

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in Schriften gibt, angenommen wäre, so hätte man den Veränderungen der Sprache einen Damm vorgeschlagen, und es könnte eine mehr dauerhafte Beständigkeit derselben gehofft werden, als sich bei ihrem jetzigen Zustande erwarten läßt. Außerdem aber hätte man ein ganzes Corpus der gemeinen, und einen großen Teil der wahren Philosophie. Denn diese letztere unterscheidet sich in ihren mehresten Lehren von jener nur an der Deutlichkeit. Sie ist größtenteils nichts als der ausgebildete und entwickelte Mutterwitz: und ihre übrigen Vorzüge, ihr größerer Umfang, ihre Ordnung und Gewißheit sind lauter Folgen des zuerst genannten Vorzuges, nämlich der Deutlichkeit. Ein solches Buch wäre der Ort, wo alle Streitigkeiten über die Bedeutungen der Wörter, die man sonsten immer in die Philosophie der Gegenstände hineinzieht, entschieden werden müßten. Hier würde eigentlich die erste und oberste Regel der Erklärungen diese sein: daß man dem Sprachgebrauch folgen, das ist, die Ideen, unter denen man im gemeinen Leben die benannten Gegenstände denkt, sie mögen irrig oder wahr sein, ganz genau beibehalten müßte. In der Philosophie der Sachen muß man die Dinge erklären wie sie sind, so wie es die Astronomen mit den Sonnenfinsternissen machen, und nicht wie sie irrig vorgestellt werden. Die Erklärungen in dieser letzten würden mit jenen Worterklärungen nur in denen Fällen übereinstimmen, wo die gemeine Idee der Sache auch zugleich die richtige ist, oder wo der Name im gemeinen Leben nur ein bloßes Zeichen der Gegenstände überhaupt ist, ohne daß er die eigentlichen BeschaffenIleiten derselben ausdrückt, als Sonne, Mond, Topf, usw. welche Wörter zwar ursprünglich Zeichen ge/144a wisser Beschafjfenheiten oder Wirkungen gewesen, wie oben erinnert worden ist; allein die ersten Ideen sind nunmehro verloren und können nicht anders als durch die Aufsuchung des Stammworts wieder entdeckt werden. Nun möchte ich wissen, wie ein solches Vorhaben ohne Hülfe der Etymologie auszuführen sei, es wäre denn etwa in solchen Fällen, wo ein Wort nur eine einzige bestimmte

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Bedeutung hat. Aber wie viele gibt es wohl solcher Wörter in der Sprache? Die Regeln welche man gemeiniglich vorschreibt, den Redegebrauch zu bestimmen, die dahin auslaufen, daß man alle Fälle, in welchen das Wort vorkommt, vergleichen, und das Ähnliche und Allgemeine heraussuchen solle, sind meiner Meinung nach so unzureichend, daß wenn man ihnen so schlechthin folgen wollte, ohne die ersten und eigentlichen Bedeutungen von den übergetragenen und uneigentlichen zu unterscheiden, die mehresten Erklärungen dahin gehen würden, daß das zu erklärende Ding ein Ens, das ist, ein Ding überhaupt sei. Da dies ungereimt ist, so kommt alles an auf den Unterschied der verschiedenen Bedeutungen, und, auf die Einsicht der Verbindung zwischen diesen, und wie /eine aus der anderen entstanden sei; wie aber dies ohne Wortforschung könne erkannt werden, ist mir unbegreiflich. Es wundert mich, daß einige von dem Gebrauch der Etymologie in dieser Sache so schlecht geurteilt haben, aus dem eitlen Grunde, daß die ersten ursprünglichen Bedeutungen uns zu nichts dienten, weil solche nun schon in andere jetzo übliche übergegangen, um die man sich hier allein zu bemühen habe. Mich deucht, die ewigen Zänkereien der Philosophen über die Erklärungen der Wörter, wo jeder den Redegebrauch will beobachtet haben, und doch notwendig eine Partei sich geirrt haben muß, hätten sie schon auf den Argwohn bringen sollen, daß die Festsetzung des Redegebrauchs wohl, ohne Wortforschen sich durch die gemeinen Mittel so leicht nicht erhalten ließe, als man es geglaubt hat: und wer durch eigene Versuche davon will überführt werden, dem will ich als ein Problem aufgeben, die im gemeinen Leben vorkommende Bedeutung der Wörter: gegenwärtig und vollkommen zu bestimmen. Denn es ist der Raum hier zu enge, diese Beispiele durchzugehen und die Richtigkeit der obigen Bemerkung darin vor Augen zu legen. Den Nutzen, den uns die Etymologie der Sprache bei Erklärung älterer Schriften in derselben gewährt, will ich ganz übergehen. Dies ist eine jedem Philologen bekannte Sache. Man werfe, was die deutsche Sprache betrifft, die

/144b

37stesStück. 13. September 1766. / 14Sa

Nutzen der Etymologie

Augen auf die Glossaria. Auch finden sich einige Beispiele in den Bützowschen Ruhestunden*. Der bisher angeführte Nutzen der Wortforschung in der /145b Philosophie ist nur mittel/bar. Sie verbessert und erklärt die Sprache, und diese unterrichtet den Philosophen. Sie ist ihm aber neben diesem auch unmittelbar dienlich. Davon will ich noch etwas hinzusetzen: aber erst in der Folge, um die Leser dieser Blätter des Vergnügens aus der Abwechslung in den Materien nicht zu berauben.

*

Ich nenne diese Schrift hier nur, weil ich sie oben wo von den Idiotismen geredet worden, und wo sie dem Leser dieser Blätter von selbsten wird eingefallen sein, anzuführen unterlassen habe. Ich würde ihrer auch hier nicht gedacht haben, wenn ich nicht eine Verbindlichkeit hätte, dem Hrn. Verfasser derselben sowohl meine Hochachtung vor seine gelehrten Bemühungen, besonders um die Landessprache, als auch meinen gehorsamsten Dank vor das angenehme Geschenk, das mir mit Zusendung der Exemplare gemacht wird, öffentlich zu bezeugen. Ich werde das letzte Stück mit eben dem Vergnügen lesen wie das erste, wenn auch ihre Zahl über 100 hinauskommt, welches ich wünsche.

II JOHANN NICOLAUS TETENS

Über den Ursprung der Sprachen und der Schrift (1772)

I

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Nähere Bestimmung der Aufgabe Die Frage: Ob M enschm, die ihren natürlichen Fähigkeiten allein überlassen wären, imstande sein würden, eine Sprache von selbst zu erfinden? wäre leicht beantwortet, wenn man annehmen dürfte, daß sie, unter diesen Umständen, ihre Verstandeskratte entwickelt, vernünftige Gedanken gefaßt, und diese, ehe sie auf eine Sprache gekommen, durch andere Zeichen, etwa durch Mienen und Gebärden, zu erkennen gegeben hätten. Auf diese Art würde die Erfindung einer Sprache nur als eine Erfindung der bequemsten und vollkommensten Zeichen anzusehen sein, und alsdann wäre sie ebenso natürlich, als eine jede andere Erfindung, auf welche der natürliche Witz des Menschen, durch Bedürfnisse, oder durch Lust gereizt, und von besonderen zufälligen Umständen geleitet, ohne fremden Unterricht verfallen ist. Allein hierinnen hat die Erfindung der Sprache eine /4 eigene Schwierigkeit. Man darf nicht viele, und eigentlich gar keine vernünftige Überlegung, voraussetzen, wo die Sprache noch fehlt. Die Sprache muß so alt sein, als der Gebrauch der Vernunft. Kann wohl auch nur der erste Schritt in dem Übergang von dem bloß tierischen zum vernünftigen Zustande, als möglich gedacht werden, ohne daß eine Sprache entweder schon vorhero erfunden sei, oder doch zugleich mit erfunden werde? Dahero führt die Frage über die Selbsterfindung einer Sprache, noch auf eine andere Untersuchung, nämlich auf diese: Kann der Mensch, seinen natürlichen ihm angeborenen Fähigkeiten allein überlassen, ohne Instruktion, und ohne eine Sprache zu besitzen, von selbst einen Anfang in der Entwicklung seiner höheren Erkenntniskräjte, machen? Kann er von diesem A njang weitergehen, und nun auch eine Sprache erfinden? Oder kann er auf eine Sprache kommen ohne

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Ursprung der Sprachen und der Schrift

Vernunft, und alsdenn durch jene auch diese anbauen? Oder kann er beides zugleich, Sprache und Vernunft in Verbindung miteinander, sich verschaffen? Unsere eigenen neugeborenen Kinder lehren uns, was wenigstens wir Menschen sind, wenn wir auf die Welt kommen. Man hat einige Fälle gehabt, wo einzelne Kinder unter Tieren, von aller menschlichen Gesellschaft ab/ 5 gesondert, ernährt und groß gemacht sind.* j Diese lehren, was aus dem Menschen wird, wenn er, ohne seinesgleichen um sich zu haben, in der Gesellschaft von Tieren aufwächst. Es sind Versuche angestellt worden mit mehreren Kindern, die man unter sich beisammen gelassen, aber von allem Umgang mit anderen Menschen entfernt, und ohne ihnen die mindeste Anführung zu geben, bis zu einem gewissen Alter ernährt hat.** In keinem dieser Versuche haben solche Kinder eine menschliche Sprache

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Den in Polen gefundenen und unter Bären aufgezogenen wilden Knaben, und das 1731 bei Chalons in Champagne gefundene wilde Mädchen, welches man nachhero le Blanc genennet hat, (Histoire d'une jemze fille sauvage, Paris 1755,) habe ich besonders vor Augen gehabt. Die Erzählungen von dem Meer-Menschen in dem Tellijamed, und bei anderen Schriftstellern, sind zu fabelhaft, als daß man bei philosophischen Betrachtungen über den Menschen sie zum Grunde legen könnte. Und wenn davon dasjenige, was etwa 'Vahres darunter ist, abgesondert wird, (Pontoppidans Katürliche Geschichte von Norwegen, Cap. 8. § 2. usf.) so gehören sie nicht mehr zu der natürlichen Geschichte des Menschen, sondern der See-Tiere. Von des Ägyptischen Königs Psammetichus Versuchen findet sich die Nachricht bei dem Herodot B. 2. S. 40. Quinctilian B. X. c. 1. redet von mehreren dergleichen. Der Großmogul Akbar, des bekannten Timur Enkel, soll zwölf Kinder von stummen Personen, in einem abgesonderten Zimmer bis zum zwölften Jahr ihres Alters, ohne daß ihnen einiger Unterricht gegeben wäre, haben ernähren lassen. Koenig Schediasm. de hominum inter feras educator~tm statu naturali solitario.

I. Nähere Bestimmung der Aufgabe

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erlernt, sondern höchstens nur gewisse undeutliche Töne von solchen Tieren angenommen, deren Stimme sie gehört hatten. Man hat keine Gründe, die Richtigkeit dieser Erzählungen zu bezweifeln. Wären die Veranstaltungen dieser Versuche, und ihre Wirkungen genauer beschrieben, so würden sie uns dasjenige deutlicher zeigen, was man jetzo nur im allgemeinen aus ihnen erkennt, nämlich: Was aus dem Menschen werden könne, der zwar in Gesellschaft mit I seinesgleichen, aber sich selbst /6 überlassen, und alles Unterrichts und aller Anführung beraubt wäre. In dem südlichen Amerika haben sich Völker von einer bewundernswürdigen Unwissenheit und Wildheit gefunden.* Diese lehren uns, auf welcher niedrigen Stufe seiner Entwicklung der Mensch stehenbleiben könne. Und auf der anderen Seite zeigen uns unsere Leibnize und unsere N ewtone, die bewundernswürdige Höhe, zu welcher Menschen unter günstigen Umständen hinaufkommen können. Diese angeführten Erfahrungen legen uns unterschiedene, und ganz weit voneinander abstehende, Modificationes der menschlichen Natur vor Augen. Läßt sich nun hieraus nicht das Allgemeine und Notwendige in derselben, das nämlich, was man eigentlich die Natur nennen kann, aufsuchen und absondern? und läßt sich alsdenn daraus nicht einsehen, was ein Mensch sein könnte, sein würde, und sein müßte, auch unter noch anderen Umständen, als unter denen er in den vorhergedachten Fällen sich befunden hat, und besonders unter solchen, als bei dieser Untersuchung über die Erfindung der Sprache vorausgesetzt werden müssen. Ich stelle mir nämlich eine Anzahl von Kindern vor, die von ihrer Geburt an, von allem Umgang und von aller Gesellschaft mit anderen Menschen, gänzlich abgesondert, ohne irgend einige Anweisung, so lange ernährt worden

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Dahin gehören die Caaiguas und die Lulles. Charlevoix Geschichte von Paraguay, 1. Th. B. 4· J. 1589-1590, u. 2. Th. B. 8. J. 1630-1631.

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sind, bis sie die Kräfte erlangt haben, sich selbst ihre Nahrung zu sammeln, und ohne fremde Hülfe bestehen /7 zu können. Wenn die Erde mit einer I solchen Rasse von Menschen besetzt, und mit den notwendigen und für sie schicklichen Nahrungsmitteln versehen wäre, würden diese Geschöpfe, sich und ihren Fähigkeiten nunmehro allein überlassen, imstande sein, sich auszubilden, ihre höheren Vernunftkräfte zu entwickeln, und eine Sprache zu erfinden? So verstehe ich die Aufgabe. Die Menschen sollen a) ihresgleichen, und b) auf dieser Erde ihre Nebenbewohner, die Tiere, vor Augen haben. Sie sollen c) mit einer Quelle, und wenn mit nichts anders, doch mit Früchten der Bäume versehen sein, um ihren Durst und Hunger stillen zu können, und dazu mit allen Werkzeugen der Sinne. Die äußeren Umstände unter denen die menschliche Natur sich befinden soll, müssen wenigstens im allgemeinen vorausbestimmt werden, wenn man untersuchen will, was aus ihr werden könne. Das neugeborene Kind, sich sogleich selbst überlassen, muß umkommen. Einige Wartung ist ihm auch schon zum Leben und Bestehen unentbehrlich. Genießt es dagegen aller Anführung, die wir selbst unseren Kindern geben, so wird es unseresgleichen; etwas weniges etwa ausgenommen, worauf hier nicht gesehen werden darf.* Sogar bei der Frage: Was kann aus einem Samen einer /8 Pflanze werden, I versteht es sich von selbst, daß man die Bedingung voraussetze; wenn er in dieses oder jenes Erdreich gebracht werde.

* Die Kinder der Indianer in Paraguay erlernten alle Künste zu denen man sie anführte. Charlevoix Geschichte von Paraguay, 1. Th. 5· B. Und wenn gleich das Kind eines Wilden noch eine nähere ihm angeborene Anlage zur vVildheit, oder eine etwas größere Unfähigkeit zu unseren feineren vVissenschaften, an sich haben sollte, wie Hr. Paw von den Amerikanern behauptet, so würde es doch wenigstens unsere Sprache, unsere gemeinen Künste, erlernen, und die zur Betreibung des bürgerlichen Lebens nötigen Geschicklichkciten, so gut wie unsere eigenen Kinder annehmen.

li. Natürliche Fähigkeiten des Menschen

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Die angeführten Erfahrungen lehren es augenscheinlich, wie ungemein beugsam, und wie sehr dem Einfluß der äußeren Umstände· unterworfen, die menschliche Natur sei. Eigentlich kann ein solches Wesen zu keiner Zeit, und an keinem Orte, in einem bloß natürlichen Zustande, (statu mere naturali,) vorhanden sein, das ist, nirgends und niemals kann die angeborene Natur dergestalt ganz allein wirksam sein, daß nicht andere äußere Ursachen, von denen sie modifiziert wird, in ihre Art zu wirken einen Einfluß haben und diese bestimmen sollten. II Natürliche Fähigkeiten des Menschen Der Engländer F erguson antwortete auf die Frage: wo findet sich der Mensch in seinem natürlichen Zustande? also : Hier, sagt er, wo ich bin ; ich schreibe dieses am Kap, oder mitten in England. Auf eine ähnliche, aber auch ebensowenig befriedigende Art, kann auf die Frage: Welches sind die natürlichen Fähigkeiten des Menschen? geantwortet werden: es sind diejenigen, die ich besitze; ich spreche dies als ein Caaiguas, oder als ein deutscher Philosoph; wenn man nämlich hinter die Vieldeutigkeit des Worts natürlich, sich verstecken will. Was aus dem Menschen wird, das kann auch aus ihm wer/den. Und diese /9 Fähigkeit es zu werden, liegt in seiner Natur. Die Philosophen haben die unterschiedenen Arten von Modifikationen, die sich in unserer Seele wahrnehmen lassen, aufgesucht, und dieser letzteren so viele Fähigkeiten oder Vermögen, zu tun oder zu leiden, zugeschrieben, als sich merkbare Verschiedenheiten, sowohl bei dem, was wir von außen annehmen, als bei dem, was von unserer inneren Selbsttätigkeit gewirkt wird, zeigen. Aber diese Fähigkeiten sind nicht alle auf eine gleiche Art in uns. Einige sind angeborene, andere sind hinzugekommene. Einige sind Triebe, schon wirkliche Bestrebungen, etwas zu verrichten; andere nur Fähigkeiten

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oder Vermögen, etwas verrichten zu können; andere nur bloße Fähigkeiten oder Anlagen, etwas zu werden. Solche Fähigkeiten, die sich bei dem Menschen, der so weit ist, daß er sich in jedem Zustande, worinnen er sich befindet, selbst erhalten kann, wahrnehmen lassen, die in einer jeden Modifikation seiner Natur durchbrechen, und zur Tätigkeit kommen, mögen immer noch die ersten Grundbestimmungen der menschlichen Natur nicht sein, und noch weniger der menschlichen Seele; aber sie sind doch die ersten Ausschößlinge, welche die Natur hervortreibt, sobald sie nur bis dahin gestärkt ist, daß sie sich selbst erhalten und bestehen kann. Was durch diese ersten und allgemeinen Tätigkeiten, unter denen in dem Vorhergehenden bestimmten Umständen, bei dem Menschen geschehen muß, oder geschehen kann, das ist bei ihm sich selbst und seinen natürlichen Fähigkeiten überlassen, notwendig, oder möglich. Zu diesen gehören: 1) Die körperlichen mechanischen Instinkte. 2) Das Vermögen, Eindrücke I von den äußeren Gegenständen mit Gefühl aufzunehmen, und diesen empfundenen Eindrücken gemäß zur Tätigkeit bestimmt zu werden, das ist, Empfindlichkeit und Reizbarkeit. 3) Das Gefühl seiner eigenen inneren Wirksamkeit. 4) Das Nachahmungsvermögen; und S) Das Dichtungsvermögen. Die mechanischen Instinkte, zum Essen und Trinken, zur Bewegung, zur Vermehrung des Geschlechts, und anderem, bestehen in Trieben oder Bestrebungen der tätigen Kraft, auf eine gewisse Weise sich wirksam zu beweisen. Daß eben diese zugleich auf besondere Gegenstände durch ihre Natur schon bestimmt sein sollten, ist man nicht genötigt anzunehmen. Die Objekte werden durch die Empfindung bekannt gemacht. Der Hunger reizt zu einer gewissen Bewegung des Mundes. Das Kind beißt in einen Stein, wirft ihn aber bald wieder von sich weg, weil er der schickliche Gegenstand nicht ist, bei dem die Tätigkeit jenes Triebes fortgesetzt werden könnte. Die innere Not zwingt, alles zu versuchen, bis der Instinkt das Objekt gefunden hat, das ihn befriedigen kann.

II. Natürliche Fähigkeiten des Menschen

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Dies wird bei den Tieren ebenfalls wahrgenommen. Doch sind diese mehr und stärker zu gewissen Arten von Tätigkeiten bestimmt, als der Mensch; und zur Aufsuchung der anpassenden Gegenstände, sind bei ihnen auch mehrere Fähigkeiten zugleich wirksam. Der Hunger reizt auch den Hund, sich nach etwas umzusehen, das seinen Magen sättigt, aber sein Geruch gibt ihm, noch ehe er die Sache berührt hat, ein fast untriegliches Zeichen, ob es ein schicklicher Gegenstand für ihn sei, oder nicht. Das Verlangen nach einem bestimmten Gegenstande entsteht bei dem Menschen auf diese Art. Der innere Instinkt will auf eine gewisse Weise wirken. I Der erste ju Eindruck, der Anfang der Empfindung, die man von einer Sache empfängt, wenn der Gegenstand zur Wirksamkeit aufgesucht wird, lehrt es schon, ob sie sich dazu schicke, oder nicht? Ist das erste, so entsteht das weitere und eigentliche Verlangen zu dieser Sache, und dies wird noch völliger bestimmt, sobald man einen Versuch gemacht, und in dem Genuß des Gegenstandes die Befriedigung des Triebes gefunden hat. Wenn die Philosophen sagen, daß wir nur dasjenige verlangen, was sich uns als etwas Gutes darstellt, und was uns gefällt, so haben sie insoweit nicht unrecht. Aber warum ist uns etwas ein Gut, und warum gefällt es uns? Darum, weil es einen unserer Triebe auf eine seiner inneren Wirksamkeit angemessene Art beschäftigt, oder doch also beschäftigen zu können scheint. Und dieser Trieb beunruhigt uns innerlich, solange er eingeschlossen ist, und nicht gestillt wird, und verursacht diejenige unangenehme Empfindung, welche Locke uneasiness nennt, und die nach ihren verschiedenen Graden, bald als eine Unbehaglichkeit, bald als eine schmerzhafte Unruhe, als Beklemmung und Beängstigung sich empfinden läßt. Das Nachahmungsvermögen oder das Vermögen etwas nachzuahmen, gehört unter die ersten Fähigkeiten, welche sich wirksam beweisen. Auch den Tieren ist es in einem gewissen Grade zuteil geworden. Der Affe ahmt auch Wesen fremder Art nach. Doch ist die Anlage dazu bei keiner anderen Tierart so groß, als bei dem Menschen,

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Ursprung der Sprachen und der Schrift

den schon Aristoteles* ein Cqiov ptpTJTtKdxraTov, ein zur j12 Nachahmung am meisten aufgelegtes Tier, ge/nennet hat. Was wir im Anfang erlernen, erlernen wir durchs Nachahmen. Unsere Kinder hören nur den Schall unserer Worte. Man gibt ihnen keine Anweisung, wie sie die Muskeln des Stimmorgans bewegen müssen. Fehlte ihnen nun das Vermögen nachzuahmen, so würden sie zwar die ihnen vorgesagten Töne empfinden, und in ihrer Einbildungskraft aufbehalten können, aber niemals imstande sein, sie nachzumachen, und das Reden zu erlernen. Das Nachmachen und Nachahmen, ist nicht bloß eine Wirkung der Einbildungskraft allein. Es ist vielmehr eine Folge, welche die ganze tierische Natur voraussetzt. Die Nachahmung erfordert 1) einen lebhaften Eindruck der von außen entstehenden Bewegung, oder überhaupt eine lebhafte Vorstellung desjenigen, welches man nachahmt. Hierzu ist das Tier durch die Empfindungs- und Einbildungskraft geschickt. Sie erfordert 2) einen Übergang oder eine Versetzung in einen Zustand, der demjenigen ähnlich ist, den man in dem Gegenstande empfindet. Dies setzt eine gewisse Geschmeidigkeit in der nachmachenden Natur voraus; sie muß sich in mehrere Gestalten formen lassen. Und 3) gehört dazu ein Bestreben, diesem inneren angenommenen Zustande gemäß tätig zu sein, und ihn, soweit der Mechanismus des Körpers es erlaubt, äußerlich auszudrücken. Sogar von leblosen Dingen nimmt der Mensch Bewegungen oder Modifikationen auf, die mit jenen eine Ähnlichkeit haben, welche sich in jenen befinden, wie Home** bemerkt hat. Wir sympathisieren mit den Lebendigen desto mehr, je mehr diese uns selbst am ähnlichsten sind, und am stärksten mit dem Menschen. ;1 3 f Es entstehen in uns durch die äußere Empfindung ähnliche Modificationes und Zustände; und diese verbreiten sich über unsere Vorstellungskraft, stimmen das Herz zu ähnlichen Begierden, und die Muskeln unseres Körpers zu ähnlichen Handlungen, ähnlichen Sitten, ähnlichen Ma-

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Von der Poesie, Cap. 4· Grundsätze der Critic, B.

1.

Cap.

2.

Th. 6.

II. Natürliche Fähigkeiten des l\Ienschen

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nieren und Gewohnheiten. Die lVIacht der Beispiele und des Umgangs gründet sich auf diese unsere natürliche Anlage, auch unwillkürlich, und ohne daß wir es wissen, nach anderen gebildet zu werden. Das Vermögen, an unseren Vorstellungen und Modifikationen, die entweder durch die äußeren Empfindungen, oder durch andere ürsachen in uns entstehen, etwas selbsttätig zu ändern, solche in Teile zu zerlegen, diese voneinander abzusondern, und alsdenn auf eine neue Art sie miteinander zu verbinden und zusammenzusetzen; dies Vermögen begreife ich hier unter dem Namen des bildenden Dichtungsvermögens. Es ist der Same des neue Erfindungen schaffenden Genies, und scheint sich in keinem Zustande des Menschen, so schwach auch der Funke davon glimmen mag, ganz und gar verlöschen zu lassen. In dem allersinnlichsten, in dem bloß tierischen Zustand, würde es den Menschen, wie die Jungfer le Blanc, zu dem listigsten Tiere gemacht haben. Es verrät sich in den kleinsten Kindern, und in dem dummsten Barbaren, wenn eine Not ihn zwingt, sinnreich zu werden. Daß es auch einigen Tieren zuteil geworden sei, beweist dasjenige in ihrer Aufführung und in ihren Handlungen, wodurch verschiedene Philosophen bewogen worden sind, ihnen einen Grad von menschlichem Verstande beizulegen. Mit dieser Fähigkeit kann der Mensch über die Grenzen eines bloßen N achahmens hinausgehen. Das N achahmungsvermögen ist untätig, wenn es I kein Muster vor /14 sich hat, welches gefällt; ist aber einmal die vorstellende Kraft in Bewegung gebracht, so kann sie weiter gehen, als das Beispiel. Es ist wohl kein Mensch, der nicht in einigen Stücken selbst ein Erfinder, und in einigem Grade ein Original ist. Aber eben dieses Dichtungsvermögen, bei welchem sich die vorstellende Kraft mehr selbsttätig beweist, ist auch von Natur schwächer, als die Empfindungsfähigkeit und Einbildungskraft; und wenn dies auch nicht wäre, so findet es doch weit mehrere Hindernisse, die es zurücke halten, als jene. Denn zu der natürlichen Trägheit, die sich der Auswicklung aller unserer Fähigkeiten entgegenlegt,

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Ursprung der Sprachen und der Schrift

kömmt hier noch der Hang zu dem Gewohnten, und die Zufriedenheit mit demselben, solange nicht ein neues Bedürfnis neue Maßregeln notwendig macht. Sind dahero die ersten schreienden Triebe der Natur einmal gestillt, und entstehen nicht neue und starke Bedürfnisse; wird die erste Erfindung, wenn sie von ohngefähr aus einer inneren vorzüglich lebhaften Tätigkeit hervorbricht, ohne von anhaltender Not erzwungen zu sein, nicht sogleich mit einem angenehmen Erfolg begleitet, und wird nicht eben durch dies Vergnügen, das mit dem Gefühl der Wirksamkeit verbunden ist, die Wirksamkeit dieses Vermögens unterhalten, und zu wiederholter Anwendung angereizt: kurz, wenn nicht durch eine neue Not, oder durch eine neue Wollust, neue Begierden erweckt werden, so wird, sowohl bei einzelnen Personen, als bei ganzen Völkern, die Liebe zu der Lebensart und zu den Einrichtungen, an denen man sich gewöhnt hat, zu überwiegend stark sein, als daß man an ein Weitergehen und Verbessern denken, und das Erfindungsvermögen zu beschäftigen sich bemühen sollte. j15 Diese bisher erwähnten Fähigkeiten gehören ohne Zweifel zu der tierischen Natur des Menschen, und sind bei diesem in einem so hohen Grade reizbar, daß so wie sie sich in jedem Zustande bei dem Menschen tätig bewiesen haben, sie auch unter denen, unter welchen ich hier den Menschen annehme, nicht nur sich tätig beweisen können, sondern sich auch tätig beweisen werden, und tätig beweisen müssen. Dennoch machen sie allein den Keim des vernünftigen Menschen nicht aus, wenn man nicht auch das Vermögen der Vernunft, oder die Fähigkeit vernünftig zu werden, hinzudenkt, man mag dieses auch setzen, worinnen man wolle. Einem Hunde werden auch durch den besten Unterricht, keine Überlegungen, keine Vernunftschlüsse, keine Folgerungen, und überhaupt keine Gedanken eingeflößt, dergleichen die Seele des Menschen wirkt. Das Tier hat eine Empfindung, eine Modifikation, oder ein Bild eines Gegenstandes in sich; der Mensch faßt eine Idee. Das Tier verbindet zwei Bilder oder zwo Empfindungen miteinander; der Mensch denkt ein Urteil; er denkt die Verhältnisse der

II. Natürliche Fähigkeiten des Menschen

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Dinge; nicht bloß die ähnlichen Objekte; sondern ihre Ähnlichkeit. Bei dem Tier vereinigen sich zwar Empfindungen zu einer dritten, wie zwo Seitenbewegungen in einem Körper zu einer dritten Diagonalbewegung: aber der Mensch folgert, und macht Schlüsse. Es fehlt den Wirkungen der tierischen Vorstellungskraft in allen ihren Vorstellungen dasjenige Geistige und Tätige, welches bei uns eine Folge der Vernunft ist. Und dies ist richtig, man mag, mit einigen Philosophen, den ganzen Unterschied zwischen Menschen und Tieren in dem Mehr und Weniger setzen; das Analogon bei dieser für schwache und niedrige Stufen des I eigentlichen Verstandes ansehen, und unsere höheren I 16 Kräfte für nichts anders, als für Verlängerungen und Erhöhungen der niederen Fähigkeiten, die auch den Tieren zukommen: oder man mag, mit anderen, die Vernunft für ein dem Wesen und der Art nach von den Fähigkeiten der tierischen Vorstellungskraft unterschiedenes Vermögen ansehen.* Denn nach jenem System besteht doch die Vernunft in einer angeborenen besonderen Disposition oder Stärke der menschlichen Denkkraft, welche es möglich macht, daß diese bis zu einer vernünftigen Einsicht erhoben werden kann, wohin die Vorstellungskräfte der übrigen Tiere nicht gelangen können, ob diese gleich sonsten mit den vorher erwähnten niederen Fähigkeiten versehen sind. Das Vermögen der Vernunft muß also den natürlichen Fähigkeiten des Menschen zugesellt werden, wenn man begreifen will, wie ein Mensch zur Überlegung und zum Gebrauch der Sprache gelangen könne. Um die gegenwärtige Betrachtung von allen Systemen unabhängig zu machen, will ich folgende zween Erfahrungssätze hier zum Grunde legen, welche dieneueren Untersuchungen über die Wirkungen des menschlichen Verstandes außer Zweifel gesetzt haben. 1) Ein jeder Gedanke, ein jeder allgemeiner Begriff, so wie jede Idee eines einzelnen Gegenstandes, ein jedes Urteil und ein jeder Schluß, läßt sich auf eine äußere oder innere Empfindung reduzieren, das ist, bei jeder dieser

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Reimarus von dem Triebe der Thiere, Cap.

2.

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Ursprung der Sprachen und der Schrift

Tätigkeiten unserer Denkkraft ist eine aus anderen entwickelte und von anderen abgesonderte Empfindung, in uns gegenwärtig; deren Gegenstand wir eben deswegen, weil er so abgesondert von anderen von uns empfunden /17 wird, mit klarem Bewußtsein uns I vorstellen. Es mag nun sein, daß diese abgesonderte Empfindung selbst der Gedanke sei, wie Hume, und vor ihm und nach ihm andere gesagt haben, oder daß sie nur der Stoff zu einem Gedanken sei, und durch eine besondere Tätigkeit unserer Denkkraft zu einem Gedanken umgeschaffen werde. Auch alsdenn, wenn wir uns die Verhältnisse der Dinge z. B. die Ähnlichkeit, Verschiedenheit, Koexistenz und Kausalverbindung usw. anschauend vorstellen, findet sich allemal in unserer Denkkraft eine gewisse Modifikation, die wir empfinden; und deren Empfindung entweder den Gedanken von diesen Verhältnissen der Gegenstände selbst a:usmacht, oder doch mit diesem verbunden ist, und ihn veranlaßt. 2) Die Äußerung unserer Vernunftfähigkeit erfordert eine gewisse Auseinandersetzung unserer Empfindungen; und ebenso umgellehrt, wenn die V ernunjt so weit zurücke bleiben soll, als sie bei den ganz verwilderten Jfenschen wirklich geblieben ist, so müssen die Empfindungen ~tnd Einbildungen gleichfalls unentwickelt bleiben. Werden diese auseinandergesetzt, feiner aufgelöst, und voneinander abgesondert, jede für sich dem Gefühl des Menschen vorgehalten; durch welche Ursachen solches auch geschehen mag, ohne Zutun der Anweisung, oder mit Hülfe derselben; so kann, wird und muß auch das höhere Vermögen des Verstandes erregt und in Wirksamkeit gesetzt werden.

III. :\iensch ohne alle Gesellschaft

III

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Der Mensch ohne alle Gesellschaft Der Mensch in Gesellschaft mit den Tieren Der Mensch in Gesellschaft mit seinesgleichen Ein Mensch mit seinen bloß natürlichen Fähigkeiten in eine Gegend versetzt, wo er weder einen Vogel hört, noch Tiere im Walde, noch seinesgleichen um sich sieht, würde ein Tier sein, das Hunger und Durst empfindet, ißt und trinkt, die übrige Zeit vielleicht schläft, und bald umkömmt. Wie sollte ein Mehreres aus ihm werden? Sein Nachahmungstrieb findet, außer leblosen Wesen, keine Modelle vor sich. Der Trieb zur Vermehrung des Geschlechts könnte ihn beunruhigen. Aber da es an einem schicklichen Gegenstand fehlt, ihn anzuwenden, so wird die Regung desselben sich ba:ld wieder verlieren. Noch weniger ist hier an einen Gebrauch der höheren Fähigkeiten zu gedenken. Diese bedürfen noch mehr der Veranlassungen von außen, und werden von innen allein weit weniger gereizt, als jener natürliche Trieb. Das Nachahmungsvermögen kann in der Gesellschaft von Pflanzen und Bäumen, soweit es wirksam ist, den Menschen zu nichts anders als zu einer Tier-Pflanze machen. Es ist eine schöne Erdichtung, wenn man einen Menschen, der unter diesen Umständen gesetzt wird, von selbst in seiner Auswicklung weitergehen, nach und nach sich fühlen und sich kennenlernen, seine Bedürfnisse sich vermehren, ihn neue Mittel diesen abzuhelfen finden, auf Künste sinnen, und endlich gar phi/losophieren läßt. Lau- /tg ter mögliche Wirkungen, deren Ursachen auch möglich, nur hier nicht wirklich vorhanden sind, denn der trefflichste Samen liegt auf einem nackten Felsen. Der polnische unter Bären aufgewachsene Knabe ging auf vieren, suchte Honig im Walde, lief, raubte, verteidigte sich und brummte, wie das Tier, wonach er geformt war. Es ist eine natürliche Folge des Nachahmungsvermögens, daß der Mensch unter wilden Tieren verwil-

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j2o

Ursprung der Sprachen und der Schrift

dere. Daraus folgt nicht, daß der Mensch von Natur ein wildes Tier sei. Unter den Zahmen erzogen wird er zahm sein. Von Natur ist er weder das eine noch das andere. Die innere Stärke seiner Fähigkeiten macht ihn zur Heftigkeit und Wildheit aufgelegt; hingegen macht ihn die Gelenksamkeit seines Charakters noch weit mehr geschickt, das zahmste Tier auf der Welt zu sein. Der Knabe, der in Irland von Schafen ernährt war, blekte wie ein Schaf, floh vor den Jägern, aß Gras und Heu, und trank Wasser, und bekümmerte sich um weiter nichts.* Außer dem Instinkt zum Essen und Trinken findet man bei dem Menschen keine so stark bestimmten und so unveränderlichen Instinkte, als bei den Tieren: er besitzt mehrere und mannigfaltige, aber unbestimmtere Fähigkeiten. Dahero ist ihm keine Form in dem Grade natürlich, wie dem Tier: aber desto mehrere und desto verschiedenere kann er annehmen. In solchem bloß tierischen Zustande kann der Mensch sein Muster in einigen Fertigkeiten übertreffen; in denen nämlich, wozu er selbst eine bessere Disposition von IN atur besitzt. In anderen muß er zurücke bleiben, wo die vollkommene Nachahmung wegen der Verschiedenheit in dem Mechanismus des Körpers unmöglich ist. Das wilde Mädchen le Blanc schien nach mehr als einer Tierart sich gebildet zu haben; sie kletterte auf Bäume wie eine Katze, lief schneller auf vieren als ein Pferd, griff mit Unerschrockenheit einen auf sie losgelassenen großen Hund an, und erschlug ihn. Es liegt ein großer Vorrat von mechanischen Fähigkeiten in unserem durchnervten und gelenkreichen Körper, wie von Denkoogsfähigkeiten in der Seele. In dem wilden Zustande bleiben viele von diesen; und in unserem gesitteten viele von jenen ungebraucht, oder doch unentwickelt.**

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Die Nachricht von diesem Knaben findet sich bei dem Tulpius in observ. Med. lib. 4. c. IX. Mehrere historische Nachrichten und Betrachtungen die dieses bestätigen, siehe in Krajts Sitten der \\.ilden, Abschn. 1. § 18. 19.

III. Mensch in Gesellschaft mit Tieren

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In solchem verwilderten völlig sinnlichen Zustand ist keine Spur von Vernunft und Überlegung wahrzunehmen. Alles Denken besteht in einem dunklen und verwirrten Selbstgefühl, wie es bei dem gedachten Mädchen gewesen war. Ein solches dunkles Selbstgefühl scheint auch von der sinnlichsten Anwendung unserer vorstellenden Kraft unzertrennlich zu sein. Es ist also auch hier an keine Erfindung der Sprache zu gedenken. Hat der Mensch Töne erlernt, so sind es nur rohe Ausdrücke seiner dunklen Empfindungen; es ist nur eine Tier-Sprache, wenn diese eine Sprache heißen soll. Ist einmal ein solcher bloß tierischer Zustand zur Gewohnheit und also zur zwoten Natur geworden, so ist es schwer, selbige zu ändern. Die Natur ist in der wilden Form erstarrt. Das Vermögen, das Vernünftige anzunehmen, ist noch da, aber unterdrückt und gefesselt, und kann, ohne daß große Ver/änderungen vorhergehen, nicht befreit werden. Die beiden mehrmals schon erwähnten wilden Personen hatten zum Gesittetwerden weder Lust noch Antrieb; vielmehr die stärkste Abneigung dagegen. Der polnische Knabe hatte weit mehr Gefallen an einem jungen Bären, als an einem jungen Kinde. Sie erlitten schwere Krankheiten, ehe ihr Körper an gekochte Speisen, und Unmut und Traurigkeit, ehe ihre Seele an die milderen Vorstellungen vernünftiger Menschen, sich gewöhnte. Nur in Gesellschaft mit seinesgleichen kann der Mensch ein Mensch werden. Unter den Tieren ahmte er nur allein nach. Und wenn gleich sein natürlicher Witz etwas Neues hinzusetzte, eine neue Art, seine Nahrung zu suchen, oder eine neue List erfand, oder sich in die Höhe richtete, und auf den Beinen zu gehen anfing, und so mehr; so waren doch seine Gesellschafter, ihrer völlig bestimmten und wenig modifikablen Natur wegen, unfähig, seine Erfindung anzunehmen, und ihm darinnen nachzufolgen. Sie verlosch also wie ein Funke, der auf einen Stein fällt. Bei ihm selbst konnte sie sich auch nicht unterhalten. Er ward stärker von anderen gebildet, als von sich selbst. In der Gesellschaft mit Menschen sind die Umstände verschieden. Hier kann ein jedes einzelnes Mitglied von dem

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Ursprung der Sprachen und der Schrift

anderen lernen, und zugleich Lehrer sein. Und so kann wechselsweise einer den anderen ausbilden. Dies kann geschehen. Die mechanischen Triebe finden hier Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigen, durch diese Anwendung sich stärken, und in Begierden nach gewissen bestimmten Objekten verändert werden können. Nächst dem Triebe zum Essen und Trinken regt sich auch der Fortpflanzungstrieb, und so wie der Hunger antreibt, so lange herumzusuchen, bis man etwas I gefunden hat, das den Magen sättigt, so wird auch jener, obgleich mit minderer Heftigkeit, unter dem Haufen der aus Personen von beiden Geschlechtern besteht, den Weg zu seiner Befriedigung nicht lange verfehlen. Sobald aber dieser Trieb in Wirksamkeit gesetzt ist, so ist zugleich eine Menge anderer gesellschaftlicher Neigungen mit erregt worden. Die tierische Zuneigung gegen die Frucht des Leibes rührt sich. Die Bedürfnisse der Kinder verursachen eine neue Art von Not, und reizen und leiten den natürlichen Witz, auf Mittel zu ihrer Abhelfung zu sinnen. Haben sie aber diese ausgefunden, so sind sie bis zum Stande des Bestehens gelangt; so ist ein Geschlecht da, das sich selbst erhalten und fortpflanzen, das also bestehen kann. Bei dieser Fortschreitung zu dem ersten gesellschaftlichen Zustande findet sich aber doch eine Schwierigkeit, die wohl zu erwägen ist. Wenn wir Kinder annehmen, die in solcher Entfernung von anderen aufgezogen sind, daß sie bis auf die Zeit, da sie in einen Haufen mit anderen ihresgleichen zusammengebracht und sich selbst überlassen werden, noch keine anderen Menschen gesehen haben, so haben wir hier Wesen, davon ein jedes einzelne nichts mehr weiß, als Essen und Trinken. Sie besitzen ein Vermögen zum Nachahmen und zum Erfinden. Aber wo ist das Original, welches den übrigen mit seinem Beispiel vorgeht, wo und bei welchem soll denn die Entwicklung ihrer Triebe anfangen? Gesetzt auch, der Trieb zur Vermehrung sei befriedigt, und die Geburt der Frucht erfolge: wie viele neue und mannigfaltige Einrichtungen werden nun nicht zur Er-

III. Mensch in Gesellschaft mit seinesgleichen

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haltung der Kinder notwendig, wovon solche Menschen, als wir hier annehmen, noch ganz und gar keine Begriffe haben? Ist die rohe ungeübte Vorstellungs/kraft der Mut- j23 ter sogleich imstande, darauf zu verfallen, daß sie dem Kinde die Brust reichen und es auf eine andere Art ernähren müsse, als sich selbst? Ein Kind solcher Eltern mag tausend Bedürfnisse weniger haben, als eins der unsrigen:* aber einige Wartung ist ihm dennoch unumgänglich notwendig. Würde nicht das Geschlecht dieser Menschen vielmal eher untergehen, als die Eltern mit der notwendigsten Pflege der Kinder bekannt würden? Macht auf der einen Seite die Not sinnreich, so ist auch auf der anderen Seite die Trägheit des Menschen zu allem, wozu ihn nicht das Gefühl eigener Not antreibt, erstaunlich groß. Die Liebe zu der Frucht ist auch bei dem Menschen so unüberwindlich stark nicht, als bei den Tieren. Verschiedene Nationen haben ihre Kinder ausgesetzt. Dies mag zur Ursache gehabt haben, welche es wolle, so ist es ein Beweis, daß die Mutterliebe unterdrückt werden könne. Kann man also annehmen, daß dieser Trieb bei jenen rohen Menschen mit einer solchen Heftigkeit wirken werde, als erfordert wird, um bei ihrer gänzlichen Unwissenheit in der Kunst, sie zu pflegen und zu erhalten, und bei dem täglichen Gefühl ihrer eigenen Bedürfnisse, durchzubrechen? Vielleicht sieht man bei diesem Einwurf den natürlichen Witz des Menschen für allzu schwach an, und vergrößert die Wirkung, die von ihm erwartet werden müßte. Die listigen Ränke auch der niedrigsten Nationen bei der Jagd und sonsten, und selbst die Ver/schlagenheit einiger /24 Tiere, läßt vermuten, daß die Erfindungskraft so schwach nicht sei, wenn die Not reizt. Allein es sei die Wirkung zu

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Die Mütter bei den \Vilden machen so viele Umstände mit ihren Kindern nicht, als bei uns. Sie baden und waschen sie, reichen ihnen die Brust, legen sie beiseite, und gehen an ihre Arbeit. Das Kind muß bald anfangen zu kriechen, und eben die Speisen verdauen lernen, welche die Eltern essen.

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Ursprung der Sprachen und der Schrift

groß für die Ursache, und es sei dem Menschen, um nur bis zu einer sich erhaltenden Gesellschaft zu gelangen, einige Anführung unentbehrlich; so wird er solche in dem Beispiele finden, das ihm die Tiere geben. Er sieht, wie diese sich die Nahrung verschaffen, sich mit ihresgleichen zusammentun, ihre Jungen säugen, decken, beschützen und verteidigen. Hier hat er also Lehrmeister. Und diese werden von der Natur allein durch völlig bestimmte Instinkte unterrichtet. IV Mögliche Anfänge einer Sprache Wenn die Menschen in eine Gesellschaft vereinigt waren, die unter sich zusammenhält, das Geschlecht fortpflanzt, und ihre Kinder aufzieht, so war auch der Gebrauch der Stimme, seine Empfindungen und sein Verlangen anderen anzuzeigen, ganz natürlich. Fähigkeit und Anlage in dem Körper war vorhanden. Schreien, Winseln und andere Töne, sind mechanische Ausdrücke des Schmerzens, der Begierden und der Tätigkeiten. Bedürfnisse und Anlässe, seinesgleichen durch Töne zu sich zu rufen, finden sich in Menge bei dem Menschen, wie bei einer jeden anderen Tierart. Dazu sind unsere eigenen mechanischen natürlichen Töne denen ähnlich, die andere Tiere von sich geben. Wenn man also diese letzteren nach/25 machte, so I könnte der Gebrauch unserer eigenen dadurch befördert werden. Auf diese Art könnte ein Anfang einer Sprache entstehen, nämlich ein Gebrauch der Stimme, um Empfindungen und Begierden durch natürliche Töne zu erkennen zu geben. Dies ist noch eine bloße Tier-Sprache, und ihre Wörter, wenn man anders diese Töne so nennen will, waren unartikuliert, nur Anzeigen der Empfindungen und Begierden, nur bloß natürliche Töne. Es gibt drei Arten der natürlichen Töne. Es gibt 1) mechanische Töne, die der Mechanismus des menschlichen

IV. Mögliche Anfänge einer Sprache

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Körpers bestimmt, und womit er, wie jedes andere Tier, seinen Hunger und Durst, seine Schmerzen, seinen Zorn, sein Mitleiden, seine Traurigkeit und Freude, usw. an den Tag legt. 2) Es gibt eben solche mechanischen Töne bei den unvernünftigen Tieren, die bei diesen, wie alles, was zu den Instinkten gehört, stärker sind, und sich mehr ausnehmen, als bei dem Menschen. Doch sind auch die mechanischen Töne bei dem Menschen weder von einerlei Laut, noch gleich lebhaft. Wie bei einem Volk eine natürlich größere Geschwätzigkeit gefunden wird, als bei einem anderen, so kann auch das Klima bei dem völlig rohen Menschen allein schon eine Ursache sein, daß die mechanischen Laute bei ihm lebhafter oder matter hervorbrechen. Seine eigenen mechanischen Töne durfte der Mensch nicht erlernen. Aber der Tiere ihre ahmte er nach, und es war desto leichter, je mehr sie seinen eigenen ähnlich waren. Dies sind ohne Zweifel die allerältesten und ersten Töne. 3) Sehr viele auch leblose Körper in der Natur sind schallend: oder auch ihre Bewegungen sind mit I einem /26 Schall verbunden. Der Donner donnert, der Wind bläst, der Stein fällt, das Meer braust, der Bach rieselt, der Baum rauscht, usf. Auch selbst die schnellen Bewegungen unserer eigenen Glieder, werden von einem Geräusch und von einer Art von Schall begleitet, der sie den Ohren wie den Augen empfindlich macht. Dies sind auch natürliche Töne. Der Mensch in demjenigen Zustande, warinnen wir ihn hier noch annehmen, weiß sonst noch nichts, als Empfinden, Begehren und Handeln. Alles was er durch Töne zu erkennen gibt, ist Leiden und Tun. Dieses drückt er durch seine eigenen mechanischen Töne, und durch die jenen ähnlichen mechanischen Töne der Tiere, aus. Seine erste bloß tierische Sprache besteht also in Schreien, Heulen, Pfeifen, Knirschen und dergleichen. Noch sind keine Ideen von den äußeren Gegenständen vorhanden, wenigstens keine solche, die er durch Töne bezeichnet. Er wird sich also der natürlichen Töne der letz-

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Ursprung der Sprachen und der Schrift

teren Art noch nicht bedienen, und auch also der mechanischen Töne der Tiere nicht zu der Absicht, um dieses Wesen dadurch zu bezeichnen. Dieses ist bei den unvernünftigen Tieren, denen es an Vernunft fehlt, die höchste Stufe in der Sprache. Man nimmt nicht wahr, daß der Hund seinen Herrn, sein Essen, ein Haus, oder sonsten irgendeine äußere Sache, durch einen Ton unmittelbar bezeichne; nur seine eigenen Empfindungen gibt er durch Bellen, Schreien, Heulen, zu erkennen. V

Mögliche Anfänge einer menschlichen Sprache Der Mensch kann in Verbindung mit seinesgleichen nicht nur weitergehen, sondern er wird auch schwerlich auf dieser tierischen Stufe stehenbleiben. Er ist in Gesellschaft mit Menschen. Jeder Eindruck, jede Form, die seine beugsame Natur angenommen hat, und die sein Vermögen nachzuahmen äußerlich wieder ausdrückt, wie auch jede Veränderung, welche sein Dichtungsvermögen damit vornimmt, und jede Tätigkeit, die es hinzusetzt, findet bei seinen Gesellschaftern Eingang, Aufnahme und Nachfolge. Kein Strahl fällt von dem einen auf den anderen, der nicht eindringe und dann wieder zurückfahre. Die zu mancherlei Arten von Empfindungen, Begierden und Handlungen aufgelegte Natur, entfaltet sich allmählich, und muß sich entfalten, da es an Ursachen hierzu, an Bedürfnissen nämlich, und an Hindernissen, woran die Begierden anlaufen, abspringen, und sich wie die flüssigen Körper an den festen zerteilen müssen, nicht fehlen kann. Sollten nicht ebensowohl zween solche bloß tierischen Menschen einmal zugleich nach einer Eichel greifen, und dadurch in Zank und Streit miteinander geraten, als zween Hunde, die sich um einen Knochen zausen? Dergleichen Fälle müssen in einem Haufen von Menschen häufiger vorkommen, als unter anderen Tieren, weil ihre Ursachen, nämlich durch Bedürfnisse entflammte Begierden, in

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größerer Menge vorhanden sind. Wenigstens ist es eine Folge der menschlichen Natur, daß sie häufiger bei dieser sein können. Und dies sind die Reizungen für die Erfindungskraft. Die menschlichen Empfindungen können nicht nur auf ; 2 s mehrere und mannigfaltige Art modifiziert, sondern auch mehr auseinandergesetzt werden, als bei den übrigen Tieren. Das Organ der Stimme ist ebenfalls bei dem Menschen mehr modifikabel. Daher denn auch die bloß tierischen Töne, wodurch die Empfindungen ausgedrückt we.rden, mehrere Abänderungen annehmen, mannigfaltiger werden, und ebenso deutlich auseinandergesetzt werden können, als das voneinander unterschieden ist, was sie bezeichnen. Sobald die Empfindungen bis zu einem merklichen Grad ausgewickelt sind, regt sich auch das Vermögen der Vernunft. Es entsteht ein abgesondertes hervorstechendes Gefühl der einen Empfindung vor der anderen, und die Reflexion, oder das Vermögen, eine Empfindung gegen die andere zu halten, sie zu vergleichen, und ihre Verschiedenheit wahrzunehmen, wird tätig. Die Wirkung hiervon ist alsdenn diejenige, was wir Klarheit in den Empfindungen, die Apperzeption oder das Bewußtwerden nennen. Dadurch wird das, was sonsten nur Empfindung, nur eine Veränderung, nur ein Eindruck, eine Modifikation, oder eine bloße Vorstellung war, zu einer Idee und zu einem Gedanken gemacht, so wie der tierische Ton, durch welchen jenes angezeigt wird, nunmehro in ein Wort einer menschlichen Sprache übergeht, wenn man ihm etwa nicht den Titel eines Worts darum versagen will, weil er noch nicht artikuliert ausgesprochen wird. Dies ist eine Hauptsache in der gegenwärtigen Gntersuchung: man muß bei diesem Übergang zum Gedanken die einzelnen Schritte bemerken. Der Hunger z. B. ist eine andere Empfindung als der Durst. Ein Hund ist nicht imstande, diese un/terschie- /29 denen Empfindungen durch seine Töne auf eine verschiedene Art auszudrücken. Aber die geschmeidige Zunge des Menschen kann es tun, und wird es tun. Und wenn nur ein einziger einmal den Anfang gemacht

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hat, dem Ton, der die Begierde überhaupt anzeigt, einige Abänderungen, in der Höhe oder in der Tiefe, oder sonsten, zu geben, und ihn dadurch zu einem besonderen Zeichen des Hungers zu machen; so wird der zweete diese Abänderung schon nachmachen, und etwas von dem Seinigen, nämlich einen Grad der Verschiedenheit mehr, hinzusetzen. Wenn eben dieses mit dem Ton des Durstes geschieht, so entstehen zween merklich voneinander unterschiedene Töne, davon einer die Empfindung des Hungers, oder die Begierde zu essen, und der andere den Durst, zu erkennen gibt. Fehlt das Vermögen der Vernunft, so möchte diese Auswicklung und Absonderung in den Empfindungen, und die Verschiedenheit in den Tönen so weit gehen, als man annehmen will; es würde dennoch kein Bewußtsein, oder kein Gefühl dieses Unterschiedes, kein Gedanke und keine Idee, erzeugt werden. Ein Baum und ein Mensch sind merklich genug unterschieden. Wenn ihre Abdrücke oder ihre Vorstellungen in der Seele des Hundes es ebenso sind, so würde doch noch das Gewahrwerden derselben, und also das Bewußtsein, die subjektivische Klarheit und Deutlichkeit, gänzlich fehlen. Aber wenn bei dem Menschen die Vorstellungen in eben demselbigen Grade auseinandergesetzt, und dazu der Unterschied durch verschiedene hörbare Zeichen noch kenntbarer gemacht ist, so gibt diese objektivische Deutlichkeit nicht nur bloß eine Gelegenheit, wobei die Reflexion und j3o die Vernunft hervorkommen kann, I sondern sie lockt die Anwendung derselben heraus, und reizt sie,.sobald eine Begierde hinzukömmt, die eine dieser auseinandergesetzten Vorstellungen besonders zu erkennen zu geben. Die Fähigkeit, unterschiedene Empfindungen auch auf unterschiedene Art anzuzeigen, ist nichts als eine Folge der bloß tierischen aber geschmeidigen und zu mannigfaltigen Bestimmungen aufgelegten Natur des Menschen. Darum nehme ich ihre Anwendung für etwas an, das vor dem Gebrauch der Vernunft vorhergeht. Das Tier ist auf eine andere Art modifiziert, wenn es hungert; auf eine andere, wenn es durstet. Es hat einen

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Trieb seine Begierde durch die Stimme auszudrücken, und das Organ folgt dem Bestreben der Seele. Nun ist dieses Bestreben in dem einen Fall von dem Bestreben in dem anderen Fall unterschieden. Diese Verschiedenheit in der Ursache hat ihre Folgen in der Wirkung. Das Organ wird ein wenig anders gestimmt bei dem Hunger, als bei dem Durst, und diese beiden Töne werden jeder auf eine etwas unterschiedene Weise hervorgebracht. Dadurch wird die Reflexion zur Wirksamkeit gereizt. Zwo unterschiedene Empfindungen, die durch unterschiedene Töne angegeben werden, haben ihre inneren und äußeren Characteres. Sooft es darauf ankam, zu verstehen zu geben, daß man eben essen und nicht trinken wolle, gab man sich Mühe, den Ausdruck des Hungers recht kenntlich hervorzubringen. Dies erhöhte die Lebhaftigkeit des Unterschiedes, lenkte das innere Gefühl auf denselben, und reizte das Vermögen ihn wahrzunehmen, und, indem die Einbildungskraft die Empfindung des Durstes, welche mit der Empfindung des I Hungers etwas Gemeinschaftliches hat, aber doch davon /31 unterschieden ist, zwischendurch auch wieder zurückrief, so ward die Reflexion, die Fähigkeit, die eine dieser Empfindungen gegen die andere zu halten, und sie beide zu vergleichen, sozusagen mit Gewalt in Bewegung gesetzt. Und also entstand diejenige Wirkung unserer Denkkraft, die wir bezeichnen, wenn wir sagen: mich hungert; es entstund ein Gedanke. Derjenige, der dieses Zeichen des Hungers hörte, lenkte ebenfalls seine Vorstellungskraft auf diese Empfindung, wodurch sie auch bei ihm von anderen abgesondert, und in ihrem Unterschiede bemerkt wurde. Daß diese Entstehungsart der ersten Gedanken möglich sei, wird am einleuchtendsten dadurch bewiesen, weil sie eben dieselbige ist, auf welcher wir bei unseren Kindern, die wir durch die Sprache unterrichten, die ersten Anwendungen der Vernunft hervorlocken. Wir sagen ihnen unterschiedene Töne vor, um ihnen den Unterschied der Dinge bemerklich zu machen: Wir gehen in ihre Seele nicht hinein, und stimmen die Reflexion nicht unmittel-

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bar. :Man wirkt nur auf ihre äußeren Sinne. Aber dadurch daß ihnen die Objekte durch verschiedene äußere Eindrücke auf das Gehör kenntlich gemacht werden, stellen sie sich dem Vermögen der Seele dar, und suchen solches zur \Virksamkeit zu reizen. Unsere Instruktion hat den Vorzug, daß einerlei Übung öfters gleich aufeinander wiederholt, und auf maneherlei Art abgewechselt wird. Will also die Tätigkeit das erstemal nicht erfolgen, so erfolgt sie das zweite- oder drittemaL Der Mensch in der Gesellschaft, die sich selbst überlassen ist, wird weniger und auch nicht so gerade zum Ziel hinleitende Gelegenheiten haben. Dennoch werden sie nicht gänzlich fehlen. !32 Sobald die vorausgesetzte objektivische Deutlich/keit in den mechanischen Tönen schon vorhanden ist, hat er die erwähnten Anreizungen seiner Reflexion alle Tage. Allein, es ist begreiflich, sie wird langsamer zur Fertigkeit werden, und zurücke bleiben. Bei unseren Kindern scheint sich eine gewisse Trägheit bei dem ersten Gebrauch des Reflexionsvermögens und der Sprachfähigkeit zu finden, die so beträchtlich ist, daß man darauf einen Einwurf gegen die Möglichkeit, ohne mündlichen Unterricht zu diesem Gebrauch zu gelangen, gründen könnte. Man plaudert ihnen vor, sobald sie auf die Welt kommen, und es dauert zuweilen länger als ein Jahr, ehe sich Begriffe und Sprache bei ihnen einfinden. Allein dies rührt offenbar daher, weil man den Unterricht allzu früh anfängt. Die Vorstellungskraft ist noch durch das Empfinden und Phantasieren nicht genug gestärkt worden, und die Empfindungen selbst sind auch noch zu schwach, die Einbildungen noch zu unstetig, und fließen zu sehr ineinander, als daß das Vermögen der Reflexion, welches einige Festigkeit in den Vorstellungen voraus erfordert, schon wirken könnte. Ist die Natur hingegen zu einer Arbeit vorbereitet, so wird das, was nur Vermögen war, oft durch eine einzige lebhafte Anwendung zu einer Fertigkeit. Man muß sich verwundern, wie leicht bei Kindern so wie bei Tieren Gewohnheiten in diesen oder jenen Dingen, worauf sie selbst ohne Zwang verfallen, sich festzusetzen pflegen.

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Dies ist der Übergang zu einer menschlichen Sprache. Die Empfindungen werden auseinandergesetzt und mit ihnen die Töne. Beides ging bei dem, der als aixrolillia'Kroc; von sich selbst lernte, und der hernach bei anderen Lehrer war, vor dem Unterscheiden der Vernunft vorher. Bei demjenigen aber, welcher von einem anderen lernte, konnte die Verschiedenheit in den I Tönen, die erhörte, /33 vorangehen, und diese die Gelegenheit geben, die Empfindungen auseinanderzusetzen, und diese Auseinandersetzung der Empfindungen die Reflexion erwecken. So unentbehrlich waren die Töne nicht, daß die Vernunft oder die Reflexion, wie sie gewöhnlicher genennet wird, wenn man sie in ihren ersten Wirkungen betrachtet, solchen nicht hätte zuvorkommen können. Die unterschiedenen Empfindungen waren an sich selbst, an ihren Ursachen und Wirkungen in dem Körper, und an vielen anderen begleitenden und die äußeren Sinne rührenden Bewegungen, an Mienen und Gebärden, kenntlich. Viele von diesen konnten die Stelle jener hörbaren Zeichen vertreten; und also war ein Anfang des Denkens, ohne Töne und ohne Sprache, möglich. Aber dieses letztere Hülfsmittel scheint doch das bequemste und leichteste gewesen zu sein, und ist dahero durchgängig gebraucht worden. Überhaupt aber waren äußere sinnliche Zeichen unentbehrlich. Wäre der Hunger und der Durst immer durch einerlei Ton angegeben worden, so würde ihr innerer Unterschied viel zu schwach gefühlt worden sein, um auf beständig bemerkt zu werden, der äußere Ton würde solche in diesem Fall der Einbildungskraft allemal als einerlei dargestellt, und sie ineinander zusammengeworfen haben. vVas von den Empfindungen gesagt worden ist, kann auf jede andere Art von Modifikationen angewendet werden. Sie wurden Gedanken, sobald man ihren Unterschied von anderen wahrnahm. Aber die Klarheit, die dadurch in einer Vorstellung entstand, war noch nicht sogleich auf alle ihre Teile verbreitet. Von diesen mußte der größte Teil noch in Dunkelheit, und das Ganze unaufgelöst und undeutlich bleiben.

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Die Vorstellung eines Berges, eines Hauses, eines Baums, usw. kommt öfters wieder. Die ähnlicheren Züge in diesen einzelnen Bildern, fallen in der Vorstellungskraft aufeinander; und drucken sich also lebhafter ab, und tiefer hinein. Die Verschiedenheiten hingegen legen sich neben- und zwischeneinander, laufen durcheinander, und verwirren und verdunkeln sich, wie die Farbenstrahlen in dem weißen Licht. So entsteht ein allgemeines Bild von einem Menschen, z. B. das aus den einzelnen aufeinandergeworfenen Bildern von diesem und jenem Menschen zusammengesetzt ist. Diese sinnliche Abstraktion ist bloß eine Wirkung der Einbildungskraft und des Witzes. Gesetzt nun, es werde der gegenwärtige Hunger durch einen gewissen Ton zu erkennen gegeben, so wird, wenn diese Empfindung sich wiederum einstellt, eben derselbige Ton zu ihrem Zeichen gebraucht werden. Wenn auch das Organ sich nach dem individuellen Unterschied der Empfindungen bequemt, und nach den Graden des Hungers den Ton etwas stärker oder schwächer angibt, so würden doch diese Verschiedenheiten der individuellen Zeichen ebenso unmerklich sein, als in den individuellen durch sie bezeichneten Sachen. Es sind also die ersten Zeichen des Hungers, des Baums usw. zugleich allgemeine Zeichen, und die Wörter allgemeine Wörter, das ist, sie sind Ausdrücke von einem jeden Hunger in jedem Fall. Und ebenso sind die ersten Ideen roh, unausgearbeitet, unvollständig-bestimmt, das ist, verwirrte, und darum allgemeine Begriffe, weil nur etwas in ihnen, das nämlich was mehreren Dingen gemeinschaftlich ist, öfters wiederkömmt, und mit Bewußtsein unterschieden wird. Diese sinnliche Abstraktion geht vor der logischen /35 Abstraktion des Verstandes vorher, und unter/stützt diese. Man hat bei dem Ursprung der allgemeinen Begriffe Schwierigkeiten gefunden, weil man den Einfluß von jener übersehen hat. Die Abstraktion des Verstandes setzt, wie sich viele sie vorstellen, voraus, daß die einzelnen wirklichen Dinge schon mit völliger Klarheit von-

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einander unterschieden werden. Diese Ideen einzelner Gegenstände sollen alsdenn von der Denkkraft gegeneinander gehalten, verglichen, das Gemeinschaftliche in ihnen gesammelt, abgesondert und zusammengefaßt, und nun, damit es in derselben Verbindung beisammen erhalten werde, mit einem Ton, oder überhaupt mit einem sinnlichen Zeichen, merkbarer gemacht werden. Wahr ist es, diese Arbeiten der höheren Erkenntniskraft sind notwendig, wenn wir unsere allgemeinen Begriffe genau bestimmen, deutlich machen, und in logische Erklärungen einkleiden wollen. Wahr ist es auch, daß diejenige Vorstellung, welche das Gemeinschaftliche mehrerer Dinge enthält, in unzähligen Fällen wieder auseinanderfließen, sich auflösen, und in ihre Teile zergehen würde, wenn das Wort nicht die Stelle eines Bandes, das sie in der Seele zusammenhält, vertreten würde. Dies würde am meisten alsdenn stattfinden, wo die Ähnlichkeit der wirklichen Gegenstände nur allein aus einem gewissen künstlichen Gesichtspunkte bei ihnen wahrgenommen werden kann. Aber wo die Natur selbst, sozusagen, die Klassen gemacht hat, wie bei den Bäumen, Menschen, Bergen, und dergleichen, da ist ebensowohl möglich, daß die gemeinschaftlichen Züge in den allgemeinen Bildern der Einbildungskraft, zu einer festen und stetigen Verbindung gelangen, ohne Beihülfe der Töne, obgleich diese immer jene Vereinigung noch mehr befördern; als es möglich ist, daß wir täglich tausend äußere einzelne Objekte voneinander vollkommen unterscheiden, I ohne sie mit besonderen Namen belegt zu /36 haben. Bei kleinen Kindern läßt sich die angegebene Entstehung der allgemeinen Begriffe, wie ich glaube, sehr deutlich wahrnehmen. Man sagt einem Kinde, indem man ihm seinen Vater zeigt, das Wort: Papa, vor, und bei der Mutter den Ton: Mama. Das Kind nennt aber im Anfang eine jede Mannsperson Papa, und jedes Frauenzimmer ohne Unterscheid 1Wama. Und aus welcher Ursache? Offenbar daher, weil es im Anfang nur dasjenige bei seinem Vater bemerkt, was ihm mit anderen Manns-

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personen gemein ist, und nicht eher, als nach mehreren Überlegungen und Vergleichungen dieses Mannes mit anderen, seine individuellen Unterscheidungsmerkmale entdeckt. Die Veranlassungen zur Erweckung und Hervorlockung der Vernunftfähigkeit, und zum Bezeichnen der Begriffe mit Tönen, finden sich in einer Gesellschaft von Menschen, an welchem Orte des Erdbodens wir diese auch hinsetzen, so mannigfaltig und in solchem Überfluß, daß es mehr zu bewundern sein würde, wenn irgendein Volk bis zu diesem Anfang der menschlichen Sprache nicht gelangt sein sollte, als wenn man sieht, daß sie alle bis dahin gekommen sind. Indessen ist es doch auch an sich möglich, daß der Mensch auf einer jedweden, auch auf der niedrigsten Stufe, seiner Entwicklung stehenbleibe; und ist einmal ein gewisser Zustand bei ihm festgesetzt, so werden schon außerordentliche Zufälle erfordert, ihn weiter hinaufzubringen. Die ersten Lehrer der Völker sind, wie die Geschichte sagt, mehrenteils Ausländer gewesen; nur sehr wenige haben unter sich selbst ihre Capac Manco gefunden. Dahero ist es auch nichts Unmögliches, daß ein von allen übrigen abgesondertes Volk irgendwo in einem /37 bloß tierischen Zustande angeltroffen würde. Aber, ob es würklich dergleichen gegeben habe, das ist zweifelhaft. Die Erzählungen von dergleichen Völkerschaften* können leicht entweder ein wenig übertrieben, oder mangelhaft sein. Ein schwacher Funke von Vernunft kann sich dem Auge des Beobachters leicht entzogen haben. Die

* Außer den

A.zzuanäern in Afrika, und einigen wilden Stämmen in Peru, wovon Hr. lselin in der Geschichte

der Menschheit, 1. Th. 2. B. 4· Hauptst. die Nachrichten schon angezogen hat, möchte auch die sprachlose Xation, welche Diodor. Sie. Rer. Ant. lib. 4. c. 3. beschreibt, hierher gerechnet werden können. Die Caaiguas und Lulles beweisen ihre Vorzüge vor den Tieren, und es ist, soviel ich weiß, kein Volk in Amerika gefunden worden, welches bloß tierisch gewesen wäre.

V. :\Iögliche "\nfänge einer menschlichen Sprache

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alten Geschichtschreiber* reden von völlig stummen und sprachlosen Völkerschaften, die anstatt der Töne sich durch Mienen, \Vinke und Gebärden, einander ihr Verlangen entdeckt haben .•U ela und Plinius führen solche unter den unbekannten äthiopischen Völkern an, aber in Gesellschaft mit vielen anderen Fabeln, welches ihrer Erzählung die Glaubwürdigkeit benimmt. Diodorus setzt seine stumme Nation in der Nachbarschaft der Fischfresser unter die östlichen Äthiopier, und seine Nachricht scheint etwas mehr Achtung zu verdienen. Ein Volk, welches in sandigten Wüsten, oder zwischen nackten Felsen am Ufer des Meeres wohnte, wo es keine anderen Tiere um sich sahe, als stumme Fische, konnte, wenigstens ist dies nicht schlechthin unmöglich, ebensowohl sprachlos bleiben, als die Kinder, mit denen jener Mogul seinen Versuch anstellen lassen. Und wenn es einmal an die Bezeichnung durch Mienen und Winke gewohnt war, so empfand es den Mangel der I Rede viel zu wenig, als daß /38 ihr natürlicher Witz stark genug gereizt wurde, um auf den wörtlichen Ausdruck zu verfallen. Wenn indessen diese Ichthyophagen des Diodor sich doch der sichtbaren \Vinke bedient haben, einander etwas anzuzeigen, so war doch auch dieses eine Anzeige von einigen Ideen einzelner Gegenstände; und also zugleich ein Beweis, daß sie, ohne hörbare Zeichen, das ist, ohne Sprache, zu Gedanken gelangt waren. Ohne Sprache also kann diejenige Fähigkeit des Menschen wenigstens aufkeimen, und seine Entwicklung anfangen, welche bei ihrem weiteren Aufblühen sich als Verstand und Vernunft beweist, und alsdenn von uns auch also genennet wird.

*

Diodorus Siculus a. a. 0. 1\I.Iela B. 3· Aeth. Plinius Geschichte der Natur, B. 6. Cap. 30.

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VI Weitere Fortgänge in der Sprache Vermehrung der Töne und der Begriffe Entstehungsart der Redeteile V crschiedenheiten der Sprachen, sowohl in den Wörtern, als in der Grammatik Es gibt Völker in Amerika, deren Sprache so arm ist, daß man darinnen weiter nichts auszudrücken imstande ist, als einige in die Sinne fallende Gegenstände, und die gemeinsten Handlungen ihres wilden und einfachen Le/39 bens.* Allein so wie hieraus wei/ter nichts folgt, als was ich schon öfters erinnert habe, nämlich, daß der Mensch auf einer jedweden Stufe seiner Entwicklung stehenbleiben könne, und nicht notwendig weitergehen müsse; so erhellt auch aus dem Schicksal, welches alle Künste und Wissenschaften gehabt haben, augenscheinlich, daß da, wo die natürlichen Fähigkeiten sich eine Bahn eröffnen können, da habe es geringere Schwierigkeiten gegeben, eben dieselbige auch weiter zu verfolgen. Doch werden fast zu jedem neuen Schritt, ein vorzüglicher Kopf und günstige Umstände erfordert. Die Auseinandersetzung der Empfindungen, und die Geschicklichkeit des Organs, waren die Ursache von den mannigfaltigen tierischen Tönen, und die Vernunft die

* /39

Alle diese Nachrichten der Reisenden können wohl nicht mit Gründen bezweifelt werden, ob es gleich öfters wohl f nur bloß an der Unbekanntschaft mit der Ökonomie dieser von den unsrigen so weit abgehenden Sprachen gelegen haben mag, wenn die Missionaires in denselben keine Wörter angetroffen haben, allgemeine Begriffe und besonders solche, die zur Religion gehören, damit auszudrücken. Laßtau führt davon ein merkwürdiges Beispiel an in der Geschichte von America, Hauptst. 14. Andere wilde Sprachen werden von Charlevoix ihres Reichtums und ihrer Zierlichkeit wegen gerühmt, und den europäischen gleich geschätzt.

YI. 'Veitere Fortgänge in der Sprache

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Ursache von den Wörtern. Aber die Wirkung wirkte zurück auf ihre Ursache. Derjenige, der zween unterschiedene Begriffe mit zween unterschiedenen Tönen auszudrücken sich bestrebte, gab sich natürlicher Weise einige Mühe, und strengte sich an, diesen Unterschied recht bemerklich zu machen; und indem er dieses tat, nahm er sie desto lebhafter wahr. Der Gedanke ward in dem Augenblick völlig geboren, da er durch ein Zeichen ausgedrückt werden sollte. Ein solcher Fortgang in den Fähigkeiten vergnügte und munterte den Witz auf, auch in anderen Fällen auf eine ähnliche Art sich tätig zu beweisen. Waren einmal die Töne mit den Gedanken verbunden, /40 und diese in jene, sozusagen, eingekörpert, so war dies eine neue Anreizung für die Reflexion, die Dinge noch schärfer zu unterscheiden. Und hieraus erwuchsen wiederum neue Gedanken. Der Ton ist etwas Sinnliches, und in den meisten Fällen leichter zu fassen, leichter zu behalten; zumal im Anfang, als die Worte noch unartikuliert und einfach waren; und leichter wieder hervorzubringen, als die bezeichneten Sachen, und die Gedanken selbst. Dadurch wurde das Mannigfaltige in den allgemeinen Begriffen, das sich sonsten leicht wieder zerstreut haben möchte, beieinander gehalten, und eine Notion des Verstandes so leicht in der Einbildungskraft aufbewahrt, als ein sinnliches Bild. Hierzu kömmt, was eine der vorzüglichsten Bequemlichkeiten der Sprache ist, daß nämlich das Vergleichen der Begriffe, das Trennen und Verbinden derselben, und was sonsten der Verstand mehr mit ihnen vornehmen mußte, nunmehro, wenn nicht ganz allein zu einem Geschäfte der Einbildungskraft und des Gehirns gemacht, dennoch zwischen diesen sinnlichen Fähigkeiten und zwischen der Reflexion auf eine solche Art verteilt war, daß jene allemal woran arbeiten, diese letztere aber gleichsam nur zusehen, jener ihre Arbeiten lenken und weitertreiben durfte. Auf diese Art erweckte, unterstützte und stärkte die Sprache den Verstand, zur Vermehrung und Aufklärung der Begriffe; und der gestärkte Verstand erweiterte und

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verfeinerte die Sprache. Beide wachsen miteinander, wie die Seele mit dem Körper. Dahero bei allen Nationen die Sprache und die unter ihnen verbreiteten Kenntnisse, in gleichem Grade entweder mangelhaft oder vollkommen sind. /41 Die natürlichen Töne gaben einen hinreichenden Stoff für die Benennungen aller Begriffe, die nach und nach hin:::ukamen. Es kam nur darauf an, daß sie weiter ausgewickelt und mannigfaltiger modifiziert würden. Die ersten, wovon man einigen Gebrauch gemacht hat, sind nach aller Wahrscheinlichkeit die mechanischen natürlichen Töne, wie der Mensch sie selbst durch den Mechanismus seines eigenen Körpers hervorbrachte, und wie er dieselben von anderen Tieren, die er um sich hatte, annahm. Durch diese Töne bezeichnete man Empfindungen und Verlangen; im Anfang nur die heftigsten und lebhaftesten, wie der Schmerz, der mit Gewalt ein Geschrei herauspreßt; nachhero auch die schwächeren mehr auseinandergesetzten. Denn da das Organ der Stimme einmal in Bewegung gebracht, und der Mensch zum Gebrauch desselben gereizt war, so ward es ihm natürlich, mit jeder, auch mit einer schwächeren Empfindung, einen Laut zu verbinden. Er pfiff, sang, murmelte, grunzte; knirschte, heulte, und machte allerhand Bewegungen mit der Kehle und dem Munde, je nachdem sein Befinden es mit sich brachte. Hieraus entstund eine neue Klasse mechanischer Töne, die ebenfalls natürlich, aber mehr zufällig waren, und unter dem Namen der abgeleiteten, oder der weiterentwickelten mechanischen Töne, unterschieden werden können. Meier, den Leibniz als einen philosophischen Wortforscher schätzte, hatte die Hypothes angenommen, daß die drei ersten Vokale A, E, I, natürliche Zeichen einer angenehmen und sanften Empfindung, dergleichen das Licht und die Helligkeit verursacht, gewesen wären; die beiden letzteren 0, und U, hingegen, deren Aussprache /42 etwas dumpfiger ist, und den Mund I mehr zuschließt, sollten das lJnangenehme und Unfreundliche, welches durch die Finsternis in der Seele veranlaßt \Vird, zu er-

VI. Vermehrung der Töne und der Begriffe

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kennen gegeben haben.* Vielleicht ist diese Voraussetzung schon allzu bestimmt, um in ihrem völligen Umfang richtig gefunden zu werden. Aber sollte sie nicht etwas Wahres in sich enthalten? Sollten nicht die selbstlautenden Töne vor anderen zu dieser angeführten Klasse der mechanischen Ausdrücke der Empfindungen gerechnet werden können? War das Organ der Stimme einmal in Wirksamkeit gesetzt, so ergoß sich eine jede Empfindung ebenso natürlich in die Muskeln des Gaumens, der Kehle, der Zunge und der Lippen, wie in die Augen und in das Gesicht. War sie angenehm, sanft und milde, so brachte sie einen Laut hervor, der durch leichte und gelinde Bewegungen gebildet wurde: Traurigkeit, Unmut, Verdruß, Zorn und dergleichen spannten die Muskeln auf eine andere Art, und die Töne, wodurch man sie zu erkennen gab, waren ebenso dumpfig, langweilig, verdrießlich oder heftig, als die Gemütsbewegungen, woraus sie entsprungen. Diese Töne waren eigentlich nicht durch die Nachahmung erlernt, sondern Wirkungen des mechanischen Instinkts und des Triebes, das, was man innerlich empfindet, äußerlich durch die Stimme zu erkennen zu geben. Aber ich habe es schon erinnert, daß die Nachahmung der Stimmen der Tiere einen großen Einfluß in selbig~ gehabt haben müsse. Das menschliche Stimmorgan ist nicht so stark und unveränderlich von Natur gestimmt, als es bei den Tieren ist; es wird auch durch die Nachahmung gebildet. Ist nun der Instinkt, sich dessen zu bedienen, erregt: so entsteht I ein Ton, aber ein solcher, /43 wie er von dem, nicht durch den Instinkt allein, sondern auch durch die Empfindung fremder Töne, gestimmten Organ hervorgebracht werden kann. Die Troglodyten haben gezischt wie die Schlangen, die sich unter ihnen aufhielten; der polnische Knabe hat wie die Bären gebrummt; und der wilde Irländer wie ein Schaf geblekt. Die beiden letzteren Fälle gehören zwar nicht eigentlich hierher; allein sie scheinen mir doch, wie das Beispiel der

*

Siehe Leibnit. collect. Etymol. p. 264.

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Troglodyten, Erfahrungen zu sein, die meine letzte Anmerkung bestätigen. Nicht allein einige einzelne Personen haben von Natur eine leichter bewegbare Zunge als andere, sondern man hat auch diesen Unterschied bei ganzen Völkern wahrgenommen, wie bei den mundfaulen Indianern in Domingo, und denen unter ihnen sich befindenden und aus Afrika dahin gebrachten geschwätzigen Mohren. Dieses ist ohne Zweifel eine Wirkung von dem Mechanismus des Körpers, so wie dieser wiederum von anderen äußeren Ursachen, und, bei rohen Völkern vorzüglich von dem Klima, modifiziert wird. Ein lebhaftes Volk war also mehr aufgelegt, dergleichen mechanische Töne hervorzubringen, als ein anderes; es konnte mehr zu dieser Gattung der natürlichen Töne aufgelegt sein, als zu den übrigen, die es von den schallenden Körpern annehmen und nachahmen mußte, und daher seine Sprache auch mehr mit jenen als mit diesen anfüllen. Aber eben diese letzte Wirkung kann, wie in Dingen von dieser Art so oft geschieht, von einer ganz entgegengesetzten Ursache entstehen, nämlich von der Trägheit, und von der Ungeschmeidigkeit der Zunge. Denn wenn eine Nation sich darum mehr der mechanischen Töne bediente, weil sie leichter selbst erfand als nachmachte, so konnte eine andere sich ebenfalls der/44 sel/ben darum am häufigsten bedienen, weil sie zum Nachmachen zu ungelenksam war. Diese mußte sich mit dem begnügen, was die Natur und Not ihr abzwang. Es ist zu vermuten, daß in den vokalreichen Sprachen eine vorzügliche Menge von dieser Gattung der natürlichen Töne enthalten sind. Aber vokalreich sind nicht allein die Sprachen der lebhaften Morgenländer, sondern auch der kalten Huronen.* Die natürlichen Schallarten und Töne der Körper und der körperlichen Bewegungen, waren für den sie empfindenden und sie nachmachenden Menschen eine neue Quelle von Wörtern.

*

Lafttau Geschichte von America, 14. Hauptst.

VI. Vermehrung der Töne und der Begriffe

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In vielen Sprachen findet man eine Menge von Wörtern, die entweder selbst nichts anders sind, als solche nachgemachten Töne, oder deren erster Radikalton dergleichen gewesen ist. Clauberg, Leibniz und andere, haben sie in der deutschen, Borrichius* in der dänischen, andere in anderen Sprachen, aufgesucht. Ich glaube zwar nicht, daß alle Wörter ursprünglich dergleichen nachgemachte Töne gewesen sind; nachgeahmte könnte man sie sonsten wohl in einem anderen Verstande nennen, aber ich vermute, daß in allen Sprachen, die unter einer kälteren Himmelsgegend ihreForm erhalten, dergleichen vorhanden sein werden. Zu diesen kömmt nun noch eine dritte Art von Tönen, die zwar nicht zu den ersten natürlichen gerechnet werden kann, weil sie schon einen Gebrauch des Stimmorgans, und des Verlangens zu sprechen, voraussetzt, aber doch mit zu solchen gehört, die mehr von der Natur des Menschen, als von zufälligen äußeren Umständen, abhängen. Die sind dieNachahmunjgen, nicht der Töne, sondern der /45 Gegenstände selbst und ihrer Beschaffenheiten, vermittelst der Zunge. Plato** hat sie schon bemerkt. Man bezeichnet die Gegenstände mit der Stimme durch eine Art von Nachahmung, mit welcher es auf folgende Weise zugeht. Die Eindrücke, welche die vorstellende Kraft von den Gegenständen außer uns annimmt, die aus jenen entspringenden Gemütsbewegungen, und, man kann allgemeiner reden, überhaupt die Modifikationen, welche in uns durch die Empfindung und Vorstellung der Objekte verursacht werden, haben gewisse Beschaffenheiten, welche mit denen, die sich in den äußeren Dingen als in der Ursache befinden, übereinstimmen, und ihnen entsprechen. Die Empfindung einer heftigen und schnellen Bewegung bringt uns innerlich in eine Art von Wallung; bei dem Anblick einer langsameren und kriechenden Sache wird dem Gange unserer Vorstellungen ebenfalls

* **

Diss. de caussis diversitatis linguarum. Im Cratylus. Er nannte sie p.tp:IJaet' uiiv neayp.ciTwv, und die Wörter p.tp.1)p.aTa niiv neayp.ciTwv auch Twv ÖvTwv!

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etwas Ruhiges und Schleppendes eingeprägt. Die Idee einer verwickelten, einer gezerrten, einer zerrissenen Sache, verwickelt, zerrt, zerreißt auf eine ähnliche Art den Faden unserer inneren Folgen. Diese Modificationes unserer Empfindungen wirken zurück in den Körper, und wo sich die Empfindungen in den Muskeln des Stimmorgans \Vie in den Augen äußerlich abdrücken, da gehen diese Beschaffenheiten sozusagen mit über. Soll nun die Empfindung durch einen Schall zu erkennen gegeben werden, so verfällt man ganz natürlich auf Töne, deren Aussprache jenen Beschaffenheiten angemessen ist, und welche schnell oder langsam, hart /46 oder weich, sanft und in eins fortge/hend, oder raub und unterbrochen, hoch oder tief, gezogen oder fortrollend, über die Zunge gehen, je nachdem die Sache beschaffen ist, die man sich vorstellt, und der Eindruck, den man von ihr aufgenommen hat. Dies ereignet sich auf eine ähnliche Art bei leblosen wie bei beseelten Wesen. Und wie leicht verwandelt nieht die rohe Einbildungskraft jene in diese, und sieht das Feuer für ein gefräßiges Tier an? Plato fand in vielen Wörtern der griechischen Sprache eine solche Harmonie der Töne und der Sachen. Wie es oft geschieht, daß man so etwas, welches man am besten sieht, auch allein sieht, so hielte er diese Entstehungsart der Wörter für die einzige, auf welche sie alle zusammen erfunden sein sollten. Die Aussprache des Buchstabens R führte eine etwas starke und gewaltsame Bewegung mit sich. Diese war gelinder und sanfter bei dem Buchstaben L; und in der Tat bezeichneten auch die Wörter, in denen der Schall dieser Konsonanten der herrschende Ton war, Gegenstände, bei denen dergleichen Bewegungen gefunden werden. Meier und Leibniz, und noch andere bemerkten eben dasselbige in der deutschen Sprache.* Jener ging in seiner

* In der lateinischen Sprache war eben dieselbige "C rsache;

der Ton des Buchstabens R war mit einer stärkeren fortfließenden Bewegung verbunden; und man findet in den

VI. Vermehrung der Töne und der Begriffe

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Hypothes noch weiter als dieser. Ge'wiß ist es, die von /47 Leibniz angeführten Beispiele sind ausnehmend einleuchtend, und machen es mehr als wahrscheinlich, daß unsere Sprache noch ungemein viele Spuren dieser Art von natürlichen Tönen in sich enthalte. Ich will hiermit die einzelnen Einfälle der Worttorscher nicht rechtfertigen, die es genau haben bestimmen wollen, welches die ersten, und wie sie sagen, die wesentlichen. Bedeutungen der Buchstaben, gewesen sind. Sie sind einer Idee nachgegangen, von der sie oft auf leere Mutmaßungen und Einbildungen geführt worden sind. Allein, wenn man erwägt, daß der Schall womit jetzo die einzelnen Buchstaben ausgesprochen werden, anfangs ohne Zweifel eine ganze Silbe und ein ganzes Wort ausgemacht habe, so wird es begreiflich, daß ein Teil derselben auch anfangs durch die hier erklärte Nachahmung der Objekte entstanden sein, und also eine natürliche Bedeutung von dieser Art gehabt haben müsse, die sich nachhero entweder gänzlich verloren hat, oder doch unkenntlich geworden ist. Die Sprachen und am meisten diejenigen, welche man schon viele Jahrhunderte geschrieben hatte, waren zu der Zeit, als man über sie zu philosophieren anfing, so weit von den ersten natürlichen Tönen abgewichen, als unsere jetzige gesittete Lebensart von der ersten Einfalt der Natur. Aber im Anfang, da man noch mehr sang als redete, müssen die Wörter mit den Singtönen der Musik auch mehr Ähnlichkeit gehabt haben. Diese Töne, welche die Nachahmung der Sachen veranlaßte, sind den oben erwähnten abgeleiteten mechanischen Tönen darinnen ähnlich, daß sie von dem Mechanismus des Stimmorgans am \Vörtern Radio, Rapio, Ruo, Rumpo, und anderen, auch dieselbige Wirkung. Wenn aber diese in so vielen anderen \Vörtern nicht bemerkt wird, wo man sie doch nach dem Grundsatz vermuten könnte, so läßt sich solches erklären. Man muß die Silben, in denen ein Buchstabe herrschend ist, von solchen unterscheiden, in welchen er nur nebenher gehört wird. Ich will unten ein Beispiel anführen, das diesen Unterschied erläutert.

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meisten abhangen. Allein hierinnen unterscheiden sie sich deutlich: Jene waren Ausdrücke der Empfindungen und Begierden, welche das einmal gereizte Organ von selbst I 48 hervorstieß; I sie konnten vor aller Überlegung und Vernunft vorausgehen: diese letzteren setzen schon einige Ideen von den Gegenständen voraus, die man ohne Anwendung der Reflexion nicht erhalten konnte, und erfordern ein mit Absicht verbundenes Bestreben, Dinge durch eine Bezeichnung mit der Stimme kenntlich zu machen. Eine solche Zeichenkunst, welche die Beschaffenheiten der Gegenstände, die man nannte, durch den Ton vorstellen ·sollte, den man aussprach, war an sich keiner großen Vollkommenheit fähig. Sobald die Sprache aufhörte, ein Ausdruck von bloßen Empfindungen zu sein, und auch Begriffe des Verstandes bezeichnet werden sollten, ward diese Bezeichnungsart mangelhaft befunden. Dies ist allein Ursache genug davon, teils, daß man mit dieser Art des Verfahrens nicht ausreichen können, teils, daß diese Art von Tönen jetzo so schwer wieder aufzufinden ist. Auch haben wohl nicht alle Völker einen gleich häufigen Gebrauch von dieser Methode gemacht, oder auch vielleicht nicht machen können, oder einer solchen auch nicht in gleichem Grade bedurft, wenn sie auf eine der übrigen Gattungen von Tönen häufiger und leichter verfallen konnten. Inzwischen ist die griechische, und noch mehr die deutsche Sprache, ein hinlänglicher Beweis, daß dieser Weg, zu Wörtern zu gelangen, einer von denen sei, welche dem Menschen von der Natur angewiesen sind. Die mechanischen Ausdrücke der Empfindungen konnten ebenso mannigfaltige Abänderungen annehmen, als die Empfindungen selbst. Nimmt man dazu die Menge und die Mannigfaltigkeit der nachgeahmten natürlichen Schallarten, und nun noch die Anzahl der Töne, welche aus der Nachahmung der Sachen mit der Stimme ent149 springen konnten, so hat man schon für I eine große Menge von Gegenständen die natürlichen Namen, und für die übrigen alle Wurzelwörter, woraus ihre Benennungen abgeleitet werden konnten.

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Diese Ableitung war auf eine dreifache Art möglich, und vielleicht auf noch mehrere. 1) Durch die Über;, tragung des Namens, womit eine Sache belegt war, auf eine andere, mit oder ohne eine Abänderung in dem Ton selbst. 2) Durch die Ableitung, (derivatio,) wohin auch die Flexion gehört. Man behielt nämlich denselbigen Grundton, weil eben dieselbige Grundidee zu bezeichnen war, aber man gab ihm einige Zusätze, und fügte Nebentöne hinzu, um die Nebenideen, welche die :Merkmale der verschiedenen Konjugation ausmachen, zu erkennen zu geben. 3) Durch die Zusammensetzung, da man durch Verbindung mehrerer Grundtöne ein neues \Vort machte, welches nicht allein die Sache im Ganzen anzeigte, sondern auch einige ihrer Beschaffenheiten besonders zu erkennen gab. Ohne mich in eine genauere Betrachtung über die verschiedenen Methoden einzulassen, will ich bloß ein paar allgemeine Anmerkungen hinzusetzen, welche es begreiflich machen, auf welche Art die Einbildungskraft und der Witz sich ihrer bedienen, und welche Folgen in den Sprachen daraus entstehen können. Da der Mensch nur erst so viele Gegenstände sich bekanntgemacht hatte, als er mit den natürlichen Tönen benennen konnte, so traf seine Einbildungskraft nun nicht leicht auf andere, die nicht mit den schon bekannten, von dieser oder von jener Seite betrachtet, eine gewisse Ähnlichkeit besitzen sollten. Eine solche Ähnlichkeit findet sich überall. Sogar das Intellektuelle; das, was in uns selbst vorgeht, was nur durch den inneren Sinn empfunden werden kann, hat/mit den Veränderungen der /so körperlichen Dinge eine fühlbare Ähnlichkeit und Verbindung; diese Ähnlichkeit sage ich, ist nicht allein wirklich vorhanden, sondern die rohe Einbildup.gskraft war, ehe noch die Dinge durch ihre Benennungen unterschieden worden, vorzüglich aufgelegt, selbige zu entdecken. Man hatte einem Kinde mehrmalen einen Stock vorgewiesen, so daß man zugleich mit der einen Hand auf den Knopf desselbigen geschlagen, und ihm dabei das Wort Stock vorgesagt. Einige Zeit nachher verlangte dieses

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Kind einen Stock; aber man merkte, daß es keinen Stock im Sinne habe, und brachte es heraus, daß es eine Stecknadel verstehe. Auf diese Ähnlichkeit würde es wahrscheinlich nicht verfallen sein, wenn es das Wort Stecknadel, wie das Wort Stock gekannt hätte. Die verschiedenen Namen leiten die Aufmerksamkeit mehr auf den Unterschied als auf die Ähnlichkeit der Dinge, und dies hindert ihre Vereinigung von der Seite, wo sie einander ähnlich sind. Dahero mußte die erste Sprache notwendig eine Bildersprache sein, das ist, eine solche, die alles durch Bilder von Dingen bezeichnete, welche in die Sinne fielen. Die ursprünglichen Bedeutungen der Wörter, die sich nachher über ihren hinzugekommenen figürlichen Bedeutungen verloren haben, waren sinnlich, und mußten es bei allen Worten sein, die nicht schon von anderen dieser Art abgeleitet worden. Die Regel, daß ähnliche Dinge mit ähnlichen Tönen benennet werden, ist in der Natur der Einbildungskraft gegründet. Allein die Ähnlichkeit, welche den Dingen den Namen zuwegegebracht, war nur diejenige, welche von der Einbildungskraft, die desto einseitiger die Sache ansieht je roher sie ist, das erstemal, da sie solche bezeichnen wollte, bei ihnen wahrgenommen wurde. /51 Ein einzelner Zug, der vor anderen in der Vorstellung des Objekts hervorstach, konnte die Ursache zur Benennung werden. Und dies Merkmal war öfters ebenso zufällig mit der Sache selbst verbunden, als es zufällig war, daß just eben dieses bei ihr zuerst wahrgenommen wurde. Eine gleiche Beschaffenheit mußte es mit dem Benennungsgrunde ( pars potior a qua fit denominatio) haben, als man den Gegenständen die ersten natürlichen Namen durch die Nachahmung derselben beilegte. Alle Figuren der Rhetorik sind auch Figuren im Denken, und keine ist vielleicht gewöhnlicher, als die Synekdoche. Jede derselben ist bei der Übertragung der Namen von einem Gegenstande zum anderen angewendet worden. Nicht allein die Ähnlichkeit mit einem schon benannten Dinge, sondern auch ein jedes anderes Verhältnis, die Verbindungen, welche aus der Koexistenz entstehen, und

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die Kausalverknüpfungen mit diesem oder jenen, waren ein Grund, sie nach dem schon bezeichneten zu benennen. In den Schriften der Wortforscher finden sich Beispiele in Menge, die dieses erläutern, ich will bloß auf diejenigen verweisen, welche Leibniz in seinem Versuch über den menschlichen Verstand,* angeführt hat. Bei den einzelnen Dingen, als Städte, Berge, Flüsse und dergleichen konnte der Benennungsgrund bloß aus einem individuellen Umstande des ersten Benennens genommen werden. Aber wenn man allgemeine Gegenstände mit einem Ton bezeichnete, so mußte dasjenige, was die Ursache war, warum man mehr auf diesen Ton verfiel, als auf einen anderen, doch wohl eine solche Beschaffenheit bei I der /52 Sache sein, welche von mehreren Menschen bei ihr empfunden werden konnte. Dahero ist die Ausforschung des ersten Benennungsgrundes bei den allgemeinen Dingen noch viel öfterer möglich, als bei den einzelnen Namen. Die Ähnlichkeit in den Gegenständen war die Ursache, warum sie unter einen Begriff, und unter einen gemeinschaftlichen Namen verbunden worden. Gleichwohl konnte diejenige Ähnlichkeit, um derentwillen man ein Ding nach dem anderen benannte, von derjenigen Identität verschieden sein, die man zwischen dem zweeten Gegenstande und einem neuen dritten wahrnahm, und die den Namen der beiden ersten auch diesem dritten zuwegebrachte. Dies hat eine besondere Beschaffenheit vieler unserer allgemeinen Wörter veranlaßt. Z. B. Ist wohl eine logische Erklärung von einem Tier überhaupt möglich? Hr. Bannet hat** bewiesen, und sich darüber gewundert, daß keine einzige Beschaffenheit gefunden werde, die ein Unterscheidungsmerkmal des Tiers von den Pflanzen und Mineralien ist, und welche zugleich auch allen Arten von \Vesen, die wir unter dem Namen des Tiers befassen, ohne Ausnahme zukomme. Aus welchen Merkmalen soll also die Erklärung des Tiers bestehen, die das Tier hinreichend von anderen

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Oeuvres philos. p. 239.241. Betrachtungen über die Natur.

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Wesen unterscheidet, und die zugleich auf alle Arten der Tiere anpassend ist? Die Benennung Tier, ist nämlich immer von einer Art der Dinge zu der anderen, wegen der Ähnlichkeit solcher die sie empfingen mit denen, welche sie schon hatten, übergetragen. Aber dieses Gemeinschaftliche, dieses Ähnliche,